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Full text of "Philosophie des Unbewussten : Versuch einer Weltanschauung"

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PMlosophie  des  Unbewusste 


\ 


Versxicli  einer  Weltanschauung. 


Von 

f^ourr^  J^^-Se^     ^E.  V.  Hartmann. 

Dr.  phil. 


BpeonlatiT«  Retnltat«  nach   indnctiv  • 
wi88«DflehafUieh«T  Mcfhod«. 


Berlin,  1869. 

Carl    Duncker*8    Verlag. 

(C.  Hejnaoiifl.) 


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21  Auffnst,  1801, 

From  the  Library  of 

F.H.Hedge,D,D, 


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Inhaltsverzeichniss« 


BiBleiteideB.  g^i^ 

I.  AUg0meiii6  Varbemerkangeii 1 

a.  Aufgabe      .    • 1 

b.  Methode 5 

c  Vorgänger 12 

IL  Wie  kommen  wir  asiir  Annahme  von  Zwecken  in  der  Natur?  24 

k.  Die  Bnpekebmi;  des  Uibewusten  ii  der  Leibliebkeil. 

I.  Der  imbewnsste  Wüle  in   den  selbstständigen  Rückenmarks-  and 

Gani^enfonctionen 39 

U.  Die   nnbewnsste   VorsteUnng   bei   Ausftlhrang   der  willkürlichen 

Bewegung 49 

IIl^  Die  xmbewiisste  Vorstellung  im  Instinct 54 

IV.  Die  Verbindung  von  Wille  und  Vorstellung 83 

V.  Das  Ünbewusste  in  den  Reflexbewegungen 89 

VI.  Das  ünbewusste  in  der  KaturheÜkraft 104 

VII.  Der  indirecte  Einfluss  bewusster  Seelenthatigkeit  auf  organische 

Functionen 126 

1)  Der  ESnflnss  des  bewussten  Willens :  a)  die  Muskelcontrac- 
tion;  b)  WHIensströme  in  sensibeln  Kerren ;  c)  der  magne- 
tische Kervenstrom;  d)  die  vegetatiyen  Functionen  126 

2)  Der  Einfluss  der  bewussten  Vorstellung 135 

Vin.  Das  Ünbewusste  im  organischen  Bilden 139 

B.  Dm  UikewiMto  im  Cfeiite. 

I.  Der  Instinct  im  menschlichen  Qeiste 157 

IL  Das  ünbewusste  in  der  geschlechtlichen  Liebe  171 

m.  Das  ünbewusste  un  Gefühle 188 

rV.  Das  ünbewusste  in  Character  und  Sittlichkeit 202 

V.  Das  ünbewusste  im  ästhetischen  Urtheile  und  in  der  küns^rischen 
Production 210 

VL  Das  ünbewusste  in  der  Entstehung  der  Sprache 227 

vn.  Das  ünbewusste  im  Denken 233 

VUL  Das  ünbewusste  in  der  Entstehung  der  sinnlichen  Wahrnehmung  253 

IX,  Das  ünbewusste  m  der  Mystik 273 


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_     IV 

S«ite 

X.  Das  UnbewQBste  in  der  Geschichte 290 

XI.  Das  Unbewusste  und   das  Bewnsstsein  in  ihrem  Werthe  för  das 

menschliche  Leben 301 

C.  Metaplijsik  des  Unbewttssteii. 

I.  Die  Unterschiede   von  bewnsster   und  nnbewusster  Qeistesthätig- 

keit  and  die  Einheit  von  Wille  und  Vorstellang  im  Unbewossten    319 
II.  Gehirn  nnd  Ganglien  als  Bedingung  des  thierischen  Bewosstseins    332 

in.  Die  Entstehung  des  Bewusstseins 345 

IV.  Das  Unbewusste  und  das  Bewusstsein  im  Pflanzenreiche    .    .     .     375 
V.  Die  Materie  als  Wille  und  Vorstellung  (Atomistischer  Dynamismus)    402 

VI.  Der  Begriff  der  Individualität  428 

VII.  Die  All-Einheit  des  Unbewussten 450 

Vm.  Das  Wesen  der  Zeugung  vom  Standpuncte  der  All -Einheit  des 

Unbewussten 465 

IX.  Die  aufsteigende  Entwickelung   des  organischen  Lebens  auf  der 

Erde  (Darwin) 482 

X.  Die  Individuation 505 

XI.  Die  Allweisheit  des  Unbewussten  und  die  Bestmöglichkeit  der  Welt    520 
XII.  Die  Unvernunft  des  Wollens  und  das  Elend  des  Daseins  .     .     .     532 

Orientimng  aber  die  Aufgabe 532 

Erstes   Stadium    der  Ulosion:    das  Glück    wird  als  auf  der 
jetzigen  Entwickelungsstufe  der  Welt  erreicht  und  daher  dem 
Individuum  im  Leben  erreichbar  gedacht  (Alte  Welt — Kindheit)    540 
1)  Kritik  der  Schopenhauer^schen  Theorie  von  der  Kega- 
tivität  der  Lust,     2)  Gesundheit,  Jugend,  Freiheit,  aus- 
kömmliche Existenz   und  Zufriedenheit     3)  Hunger  und 
Liebe.      4)    Mitleid,    Freundschaft    und    Familienglück. 
5)  Eitelkeit,  Ehrgeiz,  Ruhmsucht  und  Herrschsucht.  6)  Reli- 
giöse Erbauung.    7)  Unsittlichkeit.    8)  WissenschafUicher 
und  Kunstgenuss.    9)  Schlaf  und  Traum.   10)  Erwerbstrieb 
und  Bequemlichkeit.   11)  Neid,  Aerger,  Reue  etc.  12)  Hoff- 
nung.    13)  Resumd 
Zweites  Stadium  der  Illusion:   das  Glück  wird   als  ein  dem 
Individuum  in  einem  transcendenten  Leben  nach  dem  Tode 
erreichbares  gedacht  (Mittelalter  —  Jfinglingszeit)       .     .    .    600 
Drittes  Stadium  der  Illusion:  das  Glück  wird  als  in  der  Zu- 
kunft des  Wel^rocesses  liegend  gedacht  (Neue  Zeit  —  Man- 
nesalter).   Schluss  (Greisenalter)  610 

XIII.  Das  Ziel  des  Wel^rocesses  und  die  Bedeutung  des  Bewusstseins.     ^ 

(Uebergang  zur  practisohen  Philosophie) 628 

XrV.  Die  letzten  Principien 644 


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Einleitendes. 


L 

Allgemeine  Vorbemerkimgen. 

a.    Aufgabe  des  Werks. 

,y  YorstelluDgen  zu  haben,  und  sich  ihrer  doch  nicht 
hewusst  zu  sein,  darin  scheint  ein  Widerspruch  zu  liegen,  denn 
wie  können  wir  wissen,  dass  wir  sie  haben,  wenn  wir  uns  ihrer 
nicht  bewusst  sind.  —  Allein  wir  können  uns  doch  mittelbar  be- 
woast  sein,  eine  Vorstellung  zu  haben,  ob  wir  gleich  unmittelbar 
UM  ihrer  nicht  bewusst  sind."  (Kant,  Anthropologie  §.  5.  „Von  den 
f orstellungen ,  die  wir  haben,  ohne  uns  ihrer  bewusst  zu  sein.") 
Diese  klaren  Worte  des  klaren  grossen  Königsberger  Denkers  ent- 
halten den  Ausgangspunct  unserer  Untersuchungen,  wie  das  zur 
Aufnahme  gegebene  Feld. 

Das  Gebiet  des  Bewusstseins  ist  ein  nach  allen  Eichtungen  so 
durchpflügter  Weinberg,  dass  das  Verfolgen  dieser  Arbeiten  dem 
Publikum  fast  schon  zum  üeberdruss  geworden  ist,  und  noch  immer 
ist  der  gesuchte  Schatz  nicht  gefunden,  wenn  auch  unverhoffte 
reiche  Ernten  aus  dem  durcharbeiteten  Boden  hervorgesprosst  sind. 
Dass  man  mit  der  philosophischen  Betrachtung  dessen  begann,  was 
das  Bewusstsein  unmittelbar  in  sich  fand,  war  sehr  natürlich;  sollte 
e»  nun  aber  nicht  verlockend  um  der  Neuheit  willen  und  hoff- 
nungsreich in  Bezug  auf  den  Gewinn  sein,  den  goldenen  Schatz  in 
den  Tiefen  des  Berges,  in  den  edlen  Erzen  seines  Felsgesteins,  statt 
auf  der  Oberfläche  des  fruchtbaren  Erdbodens  zu  suchen  ?  Freilich 
bedarf  es  dazu  des  Bohrers  und  Meisseis  und  langer  mühevoller 
Arbeit,   bis  man  auf  die  goldenen  Adern  trifft,  und  endlich  langer 

T.  Hart  mann,  Phil.  d.  ünbewniaten.  1 


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Bearbeitung  der  Erze,  bis  der  Schatz  gehobeiv  ist  —  wer  die  Mühe 
nicht  flcheut,  der  folge  mir,  in  der  Arbeit  selbst  liegt  ja  der  höchste 
Genuas !  —  Der  Begriff  „unbewusste  Vorstellung**  hat  allerdings  für 
den  natürlichen  Verstand  etwas  Paradoxes,  indess  ist  der  darin  ent- 
haltene Widerspruch,  wie  auch  Kant  sagt,  nur  scheinbar.  Denn 
wenn  wir  nur  von  dem  wissen  können,  was  wir  im  Bewusstsein 
haben,  also  von  dem  nichts  wissen  können,  was  wir  nicht  im  Be- 
wusstsein haben,  welches  Recht  haben  wir  dann  zu  der  Behauptung, 
dass  dasjenige^  dessen  Existenz  in  unserem  Bewusstsein  wir  kennen^ 
nicht  auch  ausserhalb  unseres  Bewusstseins  sollte  existiren  können? 
Allerdings  würden  wir  in  diesem  Falle  weder  die  Existenz  noch 
die  Nichtexistenz  behaupten  können,  und  aus  diesem  Grunde  bei 
der  Annahme  der  Nichtexistenz  stehen  bleiben  müssen,  bis  wir  zu 
der  positiven  Behauptung  der  Existenz  anderswoher  ein  Becht  be- 
kommen. Dies  war  im  Allgemeinen  der  bisherige  Standpunct.  Je 
mehr  indess  die  Philosophie  den  dogmatischen  Standpunct  der 
instinctiven  Sinnlichkeit  und  der  instinctiven  Verstandesüberzeugung 
verliess,  und  die  nur  höchst  indirecte  Erkennbarkeit  alles  bisher 
für  unmittelbaren  Bewusstseinsinhalt  Gehaltenen  einsah,  desto  mehr 
"Werth  musste  natürlich  ein  indirecter  Nachweis  der  Existenz  einer 
Sache  erhalten,  und  so  konnte  es  nicht  fehlen,  dass  hier  und  da 
in  denkenden  Köpfen  sich  das  Bedürfniss  zeigte,  behufs  der  ander- 
weitig unmöglichen  Erklärung  gewisser  Erscheinungen  im  Gebiete 
des  Geistes  auf  die  Existenz  unbewusster  Vorstellungen  als  deren 
Ursache  zurückzugehen.  Alle  die^  Erscheinungen  zusammen  zu 
fassen,  aus  jeder  einzelnen  die  Existenz  unbewusster  Vorstellungen 
und  unbewussten  Willens  wahrscheinlich  zu  machen,  und  durch  ihre 
Summe  das  in  allen  übereinstimmende  Princip  zur  Höhe  einer  an 
Gewissheit  grenzenden  Wahrscheinlichkeit  zu  erheben,  ist  die  Auf- 
gabe der  beiden  ersten  Abschnitte  dieses  Werks.  Der  erste  der- 
selbe betrachtet  Erscheinungen  von  physiologischer  und  zoopsycho- 
logischer Katur,  der  zweite  bewegt  sich  auf  dem  Gebiete  des 
menschlichen  Geistes.  Durch  dieses  Princip  des  Unbewussten  er- 
halten zugleich  die  betrachteten  Erscheinungen  ihre  einzig  richtige 
Erklärung,  die  zum  Theil  noch  nicht  ausgesprochen  war,  zum  Theil 
aber  blos  darum  keine  Anerkennung  finden  konnte,  weil  das  Princip 
selbst  erst  durch  die  Zusammenstellung  aller  hierher  ge- 
hörigen Erscheinungen  constatirt  werden  kann.  Ausserdem  eröflfocn 
sich  aus   der  Anwendung  dieses  bisher   im   embryonalen  Zustande 


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befindüch  gewesenen  Princips  die  bedeutendsten  Perspectiven  auf 
netie  Behandlungsweisen  soheinbar  bekannter  Gegenstände;  eine 
Menge  Gegensätze  und  Widersprüche  früherer  Systeme  und  An- 
sichten finden  ihre  umfassende  Lösung  durch  Herstellung  des  höbereq, 
beide  ßeiten  als  nnTollkommene  Wahrheiten  in  sich  befassenden 
Standpunctes.  Mit  einem  Wort,  das  Princip  erweist  sich  höchst 
fruchtbar  für  Specialfragen.  Weit  wichtiger  als  dies  aber  ist  die 
Art,  wie  das  Princip  des  TJnbewussten  unvermerkt  aus  dem  phy- 
sischen und  psychischen  Gebiet  sich  zu  Ansichten  und  Lösungen 
von  Aufgaben  erweitert,  die  man  nach  dem  gewöhnlichen  Sprach- 
gebrauch als  dem  metaphysischen  Gebiet  angehörig  bezeichnen 
würde.  An  unserem  Princip  aber  spinnen  sich  diese  Besultate  so 
einfach  und  natürlich  aus  naturwissenschaftlichen  und  psychologischen 
Betrachtungen  heraus,  dass  man  den  Ucbergang  in  ein  anderes  Ge- 
biet gar  nicht  merken  würde^  wenn  einem  der  Inhalt  dieser  Fragen 
nicht  schon  anderweitig  bekannt  wäre.  £s  drängt  und  zieht  sich 
alles  nach  dem  Einen  hin,  es  krystallisirt  gewissermassen 
in  jedem  neuen  Kapital  ein  Stück  mehr  von  der  Welt  um  diesen 
Kern  herum,  bis  es  zur  All-£inheit  erwachsen  das  Weltall 
umfawt  und  sich  zuletzt  plötzlich  als  das  darstellt,  was  den  Kern 
aller  grossen  Philosophien  gebildet  hat,  Spinoza's  Substanz,  Fichte's 
absolutes  Ich,  Schelling's  absolutes  Subject-Object,  Plato's  und  He- 
gel's  absolute  Idee,  Schopenhauer's  Wille  u.  s.  w.  — 

Ich  bitte  deshalb,  an  dem  Begriff  der  unbewussten  Yorstellung 
vorläufig  keinen  Anstoss  zu  nehmen,  wenn  er  auch  zuerst  wenig 
positive  Bedeutung  hat;  der  positive  Inhalt  des  Begriffs  kann  sich 
erst  im  Laufe  der  Untersuchung  bilden,  vorerst  genüge  es,  dass 
damit  eine  ausserhalb  des  Bewusstseins  fallende  unbekannte  Ursache 
gewisser  Vorgänge  gemeint  ist,  welche  den  Namen  Vorstellung  des- 
halb erhalten  hat,  weil  sie  mit  dem  uns  im  Bewusstsein  als  Vor- 
stellung Bekannten  das  gemein  hat,  dass  sie  wie  jene  einen  idealen 
Inhalt  besitzt,  der  selbst  keine  Eealität  hat,  sondern  höchstens  einer 
äusseren  Bealität  im  idealen  Bilde  gleichen  kann.  Dem  analog 
brauche  ich  den  Collectivbegriff  „das  Unbewusste"  zur  Bezeichnung 
nicht  des  negativen  Prädicates  „unbewusst  sein",  sondern  des  un- 
bekannten positiven  Subjectes,  welchem  dieses  Prädic^t  zukommt, 
«peciell  für  „unbewusster  Wille  und  unbewusste  Vorstellung"  in 
Eins  gefasst.  — 


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„Die  Philosophie  ist  die  Geschichte  der  Philosophie"  —  dieses 
Wort  unterschreibe  ich  von  ganzem  Herzen.  Wer  aber  das  Wort 
so  versteht,  als  ob  nur  hinter  uns  die  Wahrheit  läge,  der  möchte 
in  tiefem  Irrthum  stecken ,  denn  es  giebt  einen  todten  und  einen 
lebenden  Theil  in  der  Geschichte  der  Philosophie,  und  das  Leben 
ist  nur  in  der  Gegenwart.  So  wird  an  einem  Baume  der  feste, 
den  Stürmen  trotzende  Stamm  von  todtem  Holze,  von  dem  Zuwachs 
früherer  Jahre  gebildet,  und  nur  eine  dünne  Schioht  enthält  das 
Leben  des  mächtigen  Gewächses,  bis  auch  sie  im  nächsten  Jahre 
zu  den  Todten  zählt.  Nicht  der  Blätter-  und  Blüthenschmuck,  der 
die  Beschauer  früherer  Sommer  am  meisten  bestach,  war  es,  was 
dem  Baume  Gedeihen  verlieh,  —  sie  halfen  höchstens  abgefallen  und 
verfault  seine  Wurzeln  düngen,  —  sondern  der  unbeachtete  kleine  Bing- 
zuwachs  am  Stamm,  und  die  unscheinbaren  neuen  Aestchen^  das 
war  es,  was  seine  Ausdehnung,  Höhe  und  Festigkeit  mehrte.  Und 
nicht  blos  Festigkeit  verdankt  der  lebensfrische  Ring  seinen  todten 
Vorfahren,  sondern  indem  er  sie  umfasst,  auch  die  Grösse  seines 
ümfangs;  darum  ist  wie  am  Baume  das  erste  Gesetz  für  einen  neu. 
anschiessenden  Ring,  dass  er  alle  seine  Vorgänger  auch  wirklich 
umfasst  und  in  sich  beschliesst,  das  zweite  aber,  dass  er  selbst- 
ständig aus  den  Wurzeln  von  unten  auf  erwächst.  Die  Aufgabe, 
dies  beides  in  der  Philosophie  zu  vereinigen,  ist  fast  paradox,  denn 
wer  auf  der  Höhe  der  Situation  steht,  pflegt  die  Unbefangen- 
heit verloren  zu  haben,  von  vorn  anfangen  zu  können,  und  wer 
einen  selbstständigen  Anfang  unternimmt,  liefert  meist  ein  dilettan- 
tisch unreifes  Product,  weil  er  die  bisherige  historische  Entwicke- 
lung  nicht  inne  hat. 

Ich  glaube,  dass  das  Princip  des  ünbewussten,  welches  den  alle 
Strahlen  in  sich  vereinenden  Brennpunct  dieser  Untersuchung  bildet, 
in  dieser  Allgemeinheit  gefasst,  wohl  als  ein  neuer  Stand- 
punct  zu  betrachten  sein  dürfte.  Wie  weit  es  mir  gelungen  sei, 
in  den  Geist  der  bisherigen  Entwickelung  der  Philosophie  einzu- 
dringen, muss  ich  dem  Urtheil  der  Leser  überlassen;  nur  bemerke 
ich,  dass  in  Rücksicht  auf  den  Plan  des  Werks  der  Nachweis,  dass 
ziemlich  Alles,  was  in  der  Geschichte  der  Philosophie  als  wahres 
Kernholz  betrachtet  werden  kann,  in  den  letzten  Resultaten  um- 
fasst ist,  sich  nur  auf  kurze,  aber  dem  Kenner  gewiss  genügende 
Hindeutungen  beschränken  muss. 


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b.   Methode  der  ITnterauchung  und  Art  der  Darstellung. 

Man  kann  drei  Haoptmethoden  in  der  forschenden  Wissenschaft 
imteTBcheiden  y  die  dialektische  (Hegel'sche) ,  die  deducirende  (von 
oben  nach  unten),  und  die  inducirende  (von  unten  nach  oben).  Die 
dialektische  Methode  moss  ich,  ohne  mich  hier  auf  Erwägungen  für 
oder  wider  einlassen  zu  können,  *)  schon  rein  um  deswillen  aus- 
sdüiessen^  weil  sie,  wenigstens  in  ihrer  bisherigen  Gtestalt,  der 
Gemeinverständlichkeit  entbehrt,  auf  welche  es  hier  abge- 
sehen ist;  die  Vertreter  derselben,  welche  die  relative  Wahrheit  an 
Allem  ja  mehr  als  jeder  Andere  anzuerkennen  verpflichtet  sind, 
werden  hoffentlich  auch  dieses  Werk  seines  naturwissenschaftlichen 
Characters  wegen  nicht  verdammen,  zumal  es  ihren  Tendenzen  durch 
einen  gewissen  positiven  Gegensatz  gegen  gemeinschaftliche  Gegner  und 
durch  einen  proprädeutischen  Werth  für  Nichtphilosophen  in  vieler 
Hinsicht  entgegen  kommen  dürfte.  Wir  haben  also  noch  das  Vcr- 
hältniss  der  deductiven  oder  herabsteigenden,  imd  der  inductiven 
oder  hinaufsteigenden  Methode  zu  betrachten.  — 

Der  Mensch  kommt  zur  Wissenschaft,  indem  er  die  Summe  der 
ihn  umgebenden  Erscheinungen  zu  begreifen  und  sich  zu  erklären 
versucht.  Die  Erscheinungen  sind  Wirkungen,  zu  denen  er  die  Ur- 
sachen wissen  wilL  Da  verschiedene  Ursachen  die  gleiche  Wirkung 
haben  können  (z.  B.  Eeibung,  galvsmischer  Strom,  und  chemischer 
Process  die  Wärme),  kann  auch  Eine  Wirkung  verschiedene  Ur- 
sachen haben;  die  zu  einer  Wirkung  angenommene  Ursache  ist 
mithin  nur  eine  Hypothese,  die  keinesweges  Gewiseheit,  sondern 
nur  eine  sich  anderweitig  bestimmende  Wahrscheinlichkeit  haben  kann. 

Es  sei  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  Uj  die  Ursache  der  Er- 
scheinung £  sei  =  Ui ,  und  die  Wahrscheinlichkeit ,  dass  Ug  die 
JJr^Hche  von  Ui  sei  =  u^ ,  so  ißt  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  U2 
die  entferntere  Ursache  von  E  ist  =  Uj  .  Ug  ;  woraus  man  sieht;  dass 
bei  jedem  Schritt  rückwärts  in  der  Kette  der  Ursachen  die  Weihr- 
scheinlichkeitscoefficienten  der  einzelnen  Ursachen  in  Bezug  auf 
ihre  näehste  Wirkung  sich  multipliciren,  d.  h.  aber  immer  kleiner 
werden  (z.  B.  %o  neunmal  mit  sich  selbst  multiplicirt  giebt  circa 
Vio)-  Wüchsen  nicht  die  Wahrscheinlichkeitswerthe  der  Ursachen 
beim  Fortschreiten  wiederum  dadurch,  dass  der  anzunehmenden  Ur- 
sachen immer   weniger  werden   und   immer  mehr  Wirkungen   aus 

*)  Meine  Ansichten  über  dieselbe  habe  ich  in  einer  besondern  Schrift: 
„Ueber  die  dialektische  Methode''  (Berlin  1868,  C.Duncker'sVerl.)  niedergelegt. 


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Einer  Ursache  erklärbar  werden,*)  so  würden  bald  die  Wahrschein- 
lichkeiten durch  die  beständige  Mnltiplication  unbrauchbar  kleine 
Werthe  erhalten.  Wären  nun  von  allen  Erscheinungen  in  der  Welt 
die  Ursachen  rückwärts  so  weit  erkannt,  bis  sie  auf  eine  oder 
wenige  letzte  Ursachen  oder  Principien  zurückgeführt  wären,  so 
wäre  die  Wissenschaft,  die  Eine  ist,  wie  die  Welt  Eine  ist,  in 
inductiver  Weise  yollendet.  Denkt  man  sich  nun,  dass  irgend 
Jemand  diese  Aufgabe  in  vollkommenerer  oder  unvollkommenerer 
Form  gelöst  habe,  so  steht  die  Frage  offen,  ob  derselbe,  um  seine 
üeberzeugung  Anderen  mitzutheilen,  besser  thue,  sie  den  Weg  von 
den  Erscheinungen  rückwärts  und  aufwärts  bis  zu  den  letzten  Ur- 
sachen zu  führen,  oder  ihnen  aus  diesen  Principien  von  oben  her- 
unter die  Welt,  wie  sie  ist,  zu  deduciren.  Es  handelt  sich  hier 
um  eine  einfache  Alternative,  denn  wenn  Schelling  in  seinem  letz-? 
ten  System  die  Nothwendigkeit  einer  Verbindung  beider  Wege  be- 
hauptet, indem  er  (s.  Werke  Abth.  IL  Bd.  3.  S.  151.  Anm.)  mit 
einer  negativen,  von  unten  aufsteigenden  Philosophie  beginnt,  und 
mit  einer  positiven,  von  oben  herabsteigenden  Philosophie  sohliesst, 
so  ist  diese  Doppelheit  nur  dadurch  möglich,  dass  er  für  beide  die 
Gebiete  sondert,  und  zwar  erstere  auf  rein  logischem  Gebiete  hält, 
d.  h,  ihre  inductive  Methode  nur  auf  Thatsachen  der  inneren 
Erfahrung  des  Denkens  basirt  (vergl.  Werke  IL  l.  S.  321  u.  326), 
während  er  die  so  als  Eesultat  gewonnene  höchste  Idee  in  seiner 
positiven  Philosophie  als  das  wirklich  Exi stire nde  und  das 
Princip  alles  Seienden  (vgl  IL  3.  S.  150)  zu  erweisen  sucht,  indem 
er  von  derselben  nach  deducirender  Methode  die  Thatsachen  der 
äussern  Erfahrung  abzuleiten  luitemimmt.  Selbst  wenn  die  Be- 
sultate  letzterer  Deduction  den  Ansprüchen  der  Wissenschaft  irgend- 
wie genügten,  so  würde  doch  eine  solche  willkürliche  Trennung  der 
Innern  und  äussern  Erfahrung  wissenschaftlich  nicht  zu  rechtfertigen 
sein,  jedenfalls  aber  für  letzteres  Gebiet  unsere  obige  Alter- 
native sich  wiederholen,  ob  die  aufsteigende  oder  absteigende 
Methode  der  Darstellung  vorzuziehen  sei.  Die  Entscheidung  Mit 
zweifelsohne  zu  Gunsten  der  von  unten  aufsteigenden  oder  indu- 
cirenden  Methode  aus;  denn 

1)  steht  der  Andere  noch  unten,  das  Unten  ist  also  für  ihn 
der  natürliche  Ausgangspunct,  er  kommt  bei  dem  Wege  von 
unten  nach  oben  stets  vom  Bekannten  zum  Unbekannten,  während 


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*)  Das  Wachsen  geschieht  nach  der  auf  S.  33  entwickelten  FormeL 

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er  sich  auf  den  Staodpunct  der  letzten  Principien  nur  duroh  einen 
9(üto  mortale  versetzen  kann,  und  dann  während  des  ganzen  Weges 
Ton  Einem  Unbekannten  zum  anderen  kommt,  und  ganz  zum  Schluss 
erst  wieder  zu  Bekanntem; 

2)  der  Mensch  halt  vorläufig  immer  seine  eigene  Meinung  für 
die  richtige  und  misstraut  folglich  jeder  ihm  neuen  Lehre;  darum 
will  er  wissen,  wie  der  anderd  zu  seinem  sublimen  Besultat  ge- 
kommen ist,  wenn  sein  Misstrauen  sich  nicht  bis  zum  Schluss  er- 
halten soll,  und  dies  kann  nur  auf  dem  von  unten  aufisteigenden 
Wege  geschehen; 

3)  der  Mensch  misstraut  heimlich  seinem  eigenen  Verstände 
ebenso  sehr,  als  er  auf  seine,  einmal  gefasste  Meinung  fast  un- 
erschütterlich baut;  darum  ist  es  sehr  schwer,  jemand  durch  De- 
duction  zu  überzeugen,  weil  er  derselben  immer  misstraut,  auch 
wenn  er  nichts  dagegen  zu  sagen  weiss,  während  er  bei  der  In* 
duction  weniger  scharf  und  anhaltend  zu  denken  braucht,  sondern 
mehr  sehend  und  anschauend  die  Wahrheit  herausfühlen  kann; 

4)  die  Deduction  aus  den  letzten  Principien,  selbst  angenom- 
men, dass  sie  unwiderleglich  richtig  sei,  kann  wohl  imponiren  durch 
ihre  Qrossartigkeit,  Geschlossenheit  und  Geistreichheit,  aber  nicht 
überzeugen,  denn  da  dieselben  Wirkungen  aus  ganz  verschiedenen 
Ursachen  herstammen  können,  so  beweisat  die  Deduction  glücklich- 
stenÜalls  immer  nur  die  Möglichkeit  dieser  Principien,  keines- 
Weges  ihre  Nothwendigkeit,  ja  sie  verleiht  ihnen  nicht  einmal  einen 
bestimmten  Wahrscheinlichkeitscoefficienten,  wie  die  indnctive 
Methode  tbut,  sondern  kommt  über  den  blossen  Begriff  der 
Möglichkeit  nicht  hinaus.  Um  ein  Bild  zu  brauchen,  ist  es 
allerdings  gleichgültig,  wenn  man  den  Ehein  kennen  lernen  will, 
ob  man  stromauf  oder  stromab  wandert,  für  den  Bewohner  der 
Bheinmündung  ist  aber  doch  der  natürliche  Weg  stromauf  und  wenn 
ein  Hexenmeister  kommt,  der  ihn  mit  einem  Luftsprung  an  die 
Quellen  versetzt^  so  weiss  er  ja  gar  nicht,  ob  dies  auch  die  Quellen 
des  Ehe  in  es  sind,  und  ob  er  nicht  etwa  die  ganze  mühsame  Wan- 
derung vergebens  antritt.  Und  kommt  er  dann  an  der  Mündung 
dieses  Flasses  an,  und  findet  sich  in  einer  fremden  Gegend  statt 
in  der  Heimath,  so  macht  ihm  wohl  gar  der  Hexenmeister  weiss» 
dass  dies  seine  Heimath  sei ,  und  mancher  glaubt  es  ihm  um  der 
schönen  Beise  willen.  — 

Nach  alledem  wäre  es  unerklärlich,  wie  jemand,  der  auf  in- 
ductivem  Wege  zu  seinen  Principien  gekommen  ist,  zur  Mittheilung 


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und  zum  Beweis  derselben  die  deductive  Methode  nehmen  sollie; 
dieser  Fall  kommt  auch  in  der  That  niemals  vor.  Vielmehr  sind 
alle  Philosophen,  die  ihr  System  deduciren  (sei  die  Methode  klar 
ausgesprochen,  oder  in  verhüllter  Form),  in  der  That  durch  das 
einzige  Mittel,  was  ausser  der  Induction  übrig  bleibt,  zu  -ihren 
Principien  gekommen,  durch  einen  Luftsprung  von  mystischer  Natur, 
wie  dies  im  Cap.  B.  IX.  besprochen  wird,  und  die  Deduction  ist 
alsdann  der  Yersuch,  von  ihrem  mystisch  erworbenen  Eesultat  zu 
der  zu  erklärenden  "Wirklichkeit  herabzusteigen  und  zwar  auf  einem 
Wege,  der  durch  die  imstatthfiifte  Analogie  mit  der  ganz  anderarti- 
gen Wissenschaft  der  Mathematik  und  durch  die  blendende  Evidenz 
der  in  letzterer  erzielten  B«sultate  für  alle  systematischen  Köpfe 
von  jeher  etwas  Verlockendes  gehabt  hat.  Für  jene  Philosophen 
ist  nämlich  allerdings  die  Deduction  der  natürliche  Weg,  da  das 
Oben  ihr  gegebener  Ausgangspunct  ißt.  Abgesehen  davon,  dass  so- 
wohl die  Deduction  selbst  als  auch  die  zu  beweisenden  Principien 
immer  nach  menschlicher  Weise  mangelhaft  sein  müssen,  und  dass 
demgemäss  die  Deduction  zwischen  sich  und  der  zu  erklärenden 
Wirklichkeit  stets  eine  weite  Kluft  offen  lässt,  ist  das  Schlimme  an 
der  Sache,  dass  die  Deduction  ihre  eigenen  Principien,  wie  schon 
Aristoteles  wusste^  überhaupt  nicht  beweisen  kann,  weil  sie  im 
günstigsten  Fall  ihnen  nur  die  Möglichkeit,  aber  nicht  eine  be- 
stimmte Wahrscheinlichkeit  erobert;  darum  gewinnen  die  Principien 
durch  dieselbe  wohl  etwas  an  Verstand  lieh  keit,  aber  nicht 
an  Ueberzeugungskraft,  und  eine  üeberzeugung  von  ihrer 
Bichtigkeit  zu  gewinnen,  bleibt  ausschliesslich  der  mystischen 
Beproduction  überlassen,  wie  ihre  Entdeckung  in  mystischer 
Production  bestand.  Dies  ist  der  grösste  üebelstand  bei  der  Philo- 
sophie, soweit  sie  sich  dieser  Methode  bedient,  dass  die  üeber- 
zeugung von  der  Wahrheit  ihrer  Resultate  nicht  wie  bei  inductiv- 
wissenschaftlichen Ergebnissen  mittheilbar  ist,  und  selbst  das  Ver- 
ßtändniss  ihres  Inhalts,  wie  bekannt,  grossen  Schwierigkeiten  unter- 
liegt, weil  es  unendlich  schwer  ist,  eine  mystische  Conception  in 
eine  adäquat-wissenschaftliche  Form  zu  giessen.  Nur  zu  häu£g 
täuschen  aber  auch  die  Philosophen  sich  und  den  Leser  über  die 
mystische  Entstehungsweise  ihrer  Principien,  und  suchen  denselben 
in  Ermangelung  guter  JBeweise  einen  wissenschaftlichen  Halt  durch* 
spitzfindige  Scheinbeweise  zu  geben,  über  deren  Unwerth  sie  nur 
die   feste   Üeberzeugung   der   Wahrheit    des  Resultats   verblenden 


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kann.  Hier  liegt  die  Erklärang  jener  Erscheinung ,  dass  man  sich 
(mit  seltenen  Ausnahmen  einer  zufälligen  Geistesverwandtschaft) 
Yon  der  Leetüre  der  Philosophen  unangenehm  abgestossen  fühlt, 
wenn  man  auf  ihre  Beweise  und  Deductionen  blickt,  aufs  Höchste 
angezogen  und  gefesselt  dagegen,  wenn  man  auf  die  imposante 
Geschlossenheit  ihrer  Systeme,  ihre  grossartigen  Weltanschauungen, 
ihre  genialen,  das  Verborgenste  aufhellenden  Lichtblicke,  ihre  tiefen 
Conceptionen,  ihre  geistreichen  Apercus,  ihren  psychologischen  Scharf- 
blick sieht.  Die  Art  der  Beweise  ist  es,  welche  dem  naturwissen- 
schaftlichen Denker  jenen  instinctiven  Widerwillen  gegen  die  Philo- 
sophie einflösst,  jenen  Widerwillen,  der  sich  zu  unserer  Zeit,  wo 
auf  allen  Gebieten  des  Lebens  der  Bealismus  über  den  Idealismus 
triomphirt,  bis  zur  souverainen  Verachtung  gesteigert  hat. 

Aus  der  deductiyen  Methode  der  Philosophen  folgt  ferner,  dass 
sich  über  einzelne  Puncto  nur  insoweit  streiten  lässt,  als  es  Conse- 
qoenzen  von  Principien  betrifft,  über  die  man  von  vornherein  einig 
ist,  und  dass  jedes  System  ziemlich  unabhängig  vom  andern  dasteht^ 
—  dass  keine  derartige  solidarische  Verbindung  unter  ihnen  besteht, 
wie  in  der  inductiven  Wissenschaft,  wo  jeder  einmal  streng  wissen- 
schaftlich gethane  Schritt  allen  anderen  weiter  gehenden  zu  Gute 
kommt,  und  auch  die  kleinste  Gabe  als  Baustein  zum  Ganzen  dank- 
bar angenommen  wird.  Endlich  ergiebt  sich  hieraus,  warum  es  der 
deductiven  Philosophie  noch  niemals  gelungen  ist,  ihr  eng  begrenz- 
tes Publikum  auf  die  Mehrzahl  der  Gebildeten  zu  erweitern,  und 
warum  es  ihr  ebenso  wenig  gelingen  konnte,  die  grosse  Kluft, 
welche  sie  von  der  zu  erklärenden  Wirklichkeit  schei- 
det, auszufüllen. 

Der  Theü  der  Philosophie  dagegen,  welcher  das  inductive  Ver- 
fahren eingeschlagen  hat,  und  die  gesammten  Naturwissenschaften 
im  weitesten  Sinne  des  Worts,  haben  zwar  schätzbare  Resultate 
untergeordneter  Art  und  Baugrund  für  die  Nachfolger  geliefert,  aber 
sie  sind  noch  himmelweit  entfernt  von  letzten  Principien  und  einem 
einheitlichen  System  der  Wissenschaft. 

So  gähnt  für  beide  Seiten  eine  Kluft;  die  Liduction  kommt 
nicht  zu.  letzten  Principien  und  zum  System,  die  Speculation  nicht 
zax  Erklärung  der  Wirklichkeit  und  zur  Mittheilbarkeit.  Man  kann 
hieraus  schliessen,  dass  das  Ganze  sich  nicht  von  Einer  Seite  her 
begreifen  lässt,  sondern  dass  man  die  Sache  zugleich  von  beiden 
Seit^a  an&ssen  muss,   und   sich  von  hüben  und  drüben  nach  den 


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vorspringendsten  Puncten  umthun  muss ,  wo  sich  eine  Brücke  schlar 
gen  lädst.  Denn  so  ganz  hoffnungslos  ist  die  Sache  eben  nicht. 
Wie  in  einem  Gefäss  mit  gesclnnolzenem  Schwefel  krystallisiren  die 
Gedanken  sowohl  vom  Grunde  als  von  oben  aus ,  und  wenn  nur 
erst  die  ersten  am  weitesten  hervorragenden  Nadeln  sich  erfasst  haben, 
dann  wächst  auch  bald  die  ganze  Masse  zusammen.  Wir  sind  an 
diesem  Pancte  in  der  Geschichte  der  Wissenschaft  angelangt,  wo 
sich  schon  die  ersten  Vorläufer  begegnen,  wie  zwei  Bergleute,  die 
sich  aus  sich  unterirdisch  begegnenden  Stollen  durch  die  sie  noch 
trennende  Wand  hindurch  klopfen  hören.  Denn  die  inductive 
Wissenschaft  hat  in  allen  Zweigen  der  unorganischen  und  oi^api- 
schen  Natur  und  auch  in  der  des  Geistes  in  neuester  Zeit  so  ge- 
waltige Fortschritte  gemacht,  dass  derartige  Versuche  einen  ganz 
andern  Boden  xinter  sich  £nden,  als  z.  B.  die  eines  Aristoteles, 
Paracelsus,  Baco  und  Leibniz.  Andererseits  hat  aber  auch  die  alle 
früheren  Perioden  weit  überflügelnde  Glanzperiode  der  Philosophie 
Ende  des  vorigen  und  Anfang  dieses  Jahrhunderts  dem  speculativen 
Geist  so  vielseitige  Bereicherung  zugeführt,  dass  beide  Theile  sich 
wiederum  ebenbürtig  gegenüberstehen.  Aber  freilich  ist  mit  diesen 
Fortscliritten  die  Welt  sich  auch  klarer  geworden  über  den  polaren 
Gegensatz  beider  Gebiete,  der  früher  sich  mehr  dem  ßewusstseim 
entzog,  und  daher  kommt  es,  dass  jeder  Forscher  sich  für  eine  der 
beiden  Richtungen  viel  bestimmter  zu  entscheiden  pflegt,  als  dies 
früher  der  Fall  war.  Darum  fehlt  es  der  Gegenwart  hauptsäch- 
lich an  einer  Persönlichkeit,  welche  beide  Seiten  mit  gleicher  Liebe 
tuid  Hingebung  erfasst,  welche  fähig  ist,  wenn  auch  nicht  zur  my- 
stischen Production,  doch  zur  Keproduction,  und  doch  zugleich 
eine  genaue  üebersicht  des  exacten  Wissens  und  die  Strenge 
der  inductiven  exacten  Methode  sich  zu  eigen  gemacht  hat, 
welche  endlich  die  vorliegende  Aufgabe  klar  erkennt,  die  specula- 
tiven (mystisch  erworbenen)  Principien  mit  den  bisher  höchsten 
Resultaten  der  inductiven  Wissenschaft  nach  inductiver  Methode  zu 
verbinden,  und  damit  die  allgemein  zugängliche  Brücke  zu  den 
Principien  zu  schlagen,  und  diese  bisher  blos  subjectiven  Ueber- 
zeugungen  zur  objectiven  Wahrheit  zu  erheben.  In  Hinblick  auf 
diese  grosse  und  zeitgemässe  Aufgabe  wählte  ich  das  Motto:  »Spe- 
culative  Resultate  nach  inductiv- naturwissenschaftlicher  Methode!" 
Nicht  als  ob  ich  des  Glaubens  wäre,  ein  so  umfassender  Kopf  zu  sein, 
wie  zur  Lösung   dieser  Angabe   erforderlich  ist,  oder  gar  glaubte, 


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in  diesem  Werke  eine  genügende  Lösung  geboten  zu  haben,  —  das 
sei  ferne  Ten  mir;  aber  damit  glaube  ich  Dank  zu  verdienen,  dasB 
ich  dieee  auch  schon  von  anderen  Männern  erkannte  und  auf  ver- 
schiedene Weisen  in  Angriff  genommene  Aufgabe  klar  als  Ziel  der 
gegenwärtigen,  merklich  an  speculativer  Erschöpfung  leidenden 
Philosophie  hinstelle,  dass  ich  in  den  vorliegenden  Untersuchungen 
zur  Lösung  derselben  nach  Kräften  mein  Scherflein  beitrage,  und 
dadurch  anderen  vielleicht  erwünschte  Anregung  gebe,  namentlich 
aber,  indem  ich  die  Sache  an  einer  bisher  vernachlässigten  Seite 
anfasse,  die  ich  jedoch  grade  för  die  fruchtbarste  halten  muss. 
Zugleich  legt  mir  die  ausgesprochene  Auffassung  die  Pflicht  auf> 
mich  vor  jedem  der  beiden  Fora,  sowohl  dem  naturwissenschaft- 
lichen als  dem  philosophischen,  zur  Beurtheilung  zu  stellen.  Dies 
thue  ich  aber  mit  Freuden,  denn  ich  halte  jede  Speculation  für 
falsch,  die  den  klaren  Ergebnissen  der  empirischen  Forschung 
widerspricht,  und  halte  umgekehrt  alle  Auffassungen  und  Auslegungen 
empirischer  Thatsachen  für  folsch,  welche  den  strengen  Ergebnissen 
einer  rein  logischen  Speculation  widersprechen. 

Es  sei  mir  vergönnt,  noch  einige  Worte  über  die  Art  der  Dar- 
stellung zu  sagen.  Der  erste  Grundsatz  war  Gemeinfasslichkcit  und 
Kürze.  Der  Leser  wird  deshalb  keine  Citate  finden,  soweit  sie 
nicht  im  Texte  sich  einflechten,  jede  Polemik  ist  auf  das  möglichste 
vermieden,  ausser  wo  sie  zur  Aufklärung  eines  Begriffs  unerlässlich 
war.  Ich  traue  mehr  auf  die  siegende  Kraft  der  positiven  Wahr- 
heit, soweit  dieselbe  in  meiner  Arbeit  enthalten  ist,  als  ich  glaube, 
dass  jemand  durch  eine  noch  so  schlagende  negative  Polemik  sich 
von  seinen  Ansichten  werde  abbringen  lassen.  Auch  ziehe  ich  es 
vor,  anstatt  die  Lrthümer  und  Schwächen  grosser  Männer  zu  be- 
kritteln, welche  sich  mit  der  Zeit  ganz  von  selber  durch  Vergessen- 
heit richten,  ihre  grössten  Momente  hervorzuheben,  wo  sie  ahn- 
dungsvoll das  in  Andeutungen  vorwegnehmen,  was  erst  die  zukünftige 
Entwickelung  in  ausführlicher  Zusammengehörigkeit  begründet 
Femer  ist  oft  die  Gelegenheit  zu  interessanten  Seitenbemerkimgen, 
zu  gründlicheren,  weiter  ausholenden  Beweisen,  detaillirteren  Aus- 
fährungen  etc.  unbenutzt  gelassen,  um  nur  nicht  in  eine  Ausführ- 
lichkeit der  Darstellung  zu  verfallen,  mit  denen  wenigen  meiner 
Leser  gedient  sein  möchte.  Daher  sind  die  Kapitel  in  der  grösseren 
Mehrzahl,  mit  Ausnahme  der  grundlegenden,  fast  aphoristisch  ge- 
halten, weil  ich  glaube,   dass  die   meisten  Leser  eine  kurze,  viel 


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Anregung  zum  Selbßtdenken  bietende  Darstellung  einer  erschöpfen- 
den Behandlung  des  Stoffs  vorziehen  werden.  Zugleich  ist  die 
Behandlung  der  Kapitel  in  Rücksicht  auf  die  Annehmlichkeit  beim 
Lesen  möglichst  so  eingerichtet,  dass  jedes  derselben  eine  eigene 
kleine  Abhandlung  über  einen  begrenzten  Stoff  darstellt  (nur  wenige 
machen  hiervon  eine  Ausnahme  und  gehören  untrennbar  zusammen, 
wie  z.  B.  Cap.  C.  VI.  und  VII).  Die  Kapitel  der  ersten  beiden  Ab- 
schnitte beweisen  sämmtlich  und  jedes  für  sich  die  Existenz 
des  XJnbewussten j  ihr  Verständniss  und  ihre  Beweiskraft  stützen 
und  erhöhen  sich  aber  gegenseitig  wie  eine  Gewehrpyramide, 
also  auch  die  späteren  die  früheren.  Ich  bitte  deshalb  das  Urtheil 
über  die  ersten  gütigst  zurückhalten  zu  wollen,  mindestens  bis  zur 
Beendigung  des  Abschnitts  A.  Wenn  aber  einem  Leser  auch  der 
Beweis  dieses  oder  jenes  Kapitels  falsch  erscheint,  so  fallen  darum 
keineswegs  die  Beweise  der  andern,  wie  man  aus  einer  grossen 
Gewchrpyramide  ganz  gut  eins  oder  mehrere  der  Gewehre  heraus- 
nehmen kann,  ohne  dass  dieselbe  einfällt.  Endlich  bitte  ich  um 
gütige  Naclisicht  in  Betreff  der  einzelnen  als  Beispiele  benutzten 
phpiologischen  und  zoologischen  Thatsachen,  wo  einem  Laien  gar 
leicht  ein  Irrthum  widerfahren  kann,  der  aber  für  das  grosse  Ganze 
unmöglich  von  Bedeutung  sein  kann. 

c.    Vorgänger  in  Bezug  auf  den  Begriff  des  Unbewussten. 

Wie  lange  hat  es  gedauert,  bis  in  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie der  Gegensalz  von  Geist  und  Natur,  von  Denken  und  Sein, 
von  Subject  und  Objcct  zum  klaren  Bewusstsein  kam,  jener  Gegen- 
satz, der  jetzt  unser  ganzes  Denken  beherrscht.  Denn  der  natür- 
liche Mensch  föhlte  als  Naturwesen  Leib  und  Seele  in  sich  als 
Eins,  er  anticipirte  instinctiv  diese  Identität,  und  seine  bewusste 
Verstandesarbeit  musste  erst  weit  gediehen  sein,  ehe  er  sich  von 
diesem  Instinct  soweit  lossagen  konnte,  um  die  ganze  Tragweite 
jenes  Gegensatzes  zu  erkennen.  In  der  ganzen  griechischen  Philo- 
sophie finden  wir  nirgends  diesen  Gegensatz  mit  voller  Klarheit 
hingestellt,  noch  weniger  seine  Bedeutung  erkannt,  am  wenigsten 
aber  in  ihrer  klassischen  Zeit.  Wenn  dies  schon  von  dem  Gegen- 
satz des  Eealen  und  Idealen  gilt,  was  dürfen  wir  uns  wundern, 
dass  der  Gegensatz  des  Unbewossten  und  Bewusten  noch  viel  we- 
niger dem  natürlichen  Verstände  einfällt,  und  daher  noch  viel  später 


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in  der  Oeachichte  der  Philosophie  zum  Burchbruch  kommt,  ja  dass 
beute  noch  die  allenneisten  Gebildeten  einen  für  närriflch  halten, 
wenn  man  Ton  unbewusstem  Denken  sprioht.  Denn  das  Unbewusste 
ist  dem  natürlichen  Bewusstsein  so  sehr  terra  incognita^  dass  es 
die  Identität  Yon  Vorstellen  und  sich  einer  Sache  bewusst 
sein,  für  ganz  selbstverständlich  und  zweifellos  hält.  Dieser 
naiye  Standpünct  ist  schon  im  Cartesius  (princ.  phil.  I,  9)  und  noch 
ausführlicher  in  Locke  ausgedrückt:  Yersuche  üb.  d.  menschlichen 
Yerstand,  Buch  II.  Cap.  1.  §•  9:  „Denn  Vorstellungen  haben  und 
sich  etwas  bewusst  sein,  ist  einerlei/'  oder  §.19:  „denn  ein  ausge- 
dehnter Körper  ohne  Theile  ist  so  denkbar,  als  das  Denken  ohne 
Bewusstsein.  Sie  können,  wenn  es  ihre  Hypothese  erfordert,  mit 
eben  so  yiel  Ghmnd  sagen:  Der  Mensch  ist  immer  hungrig,  aber  er 
hat  nicht  immer  ein  Gefühl  davon.  Und  doch  besteht  der  Hunger 
eben  in  diesem  Gefühl,  sowie  das  Denken  in  dem  Bewusstsein, 
dass  man  denkf  Man  sieht,  dass  Locke  diese  Sätze  in  aller  Einfalt 
postulirt;  es  ist  deshalb  ganz  unrichtig,  wenn  man  von  ge- 
wissen Seiten  heute  noch  die  Behauptung  hört.  Locke  habe  die 
Mc^lichkeit  imbewusster  Vorstellungen  bewiesen.  Er  beweist  nur 
aus  dieser  postulirten  Voraussetzung,  dass  die  Seele  keine  Vor- 
stellung haben  könne,  ohne  dass  der  Mensch  sich  dessen  bewusst 
sei,  weil  sonst  das  Bewusstsein  der  Seele  und  das  des  Menschen 
zwei  verschiedene  Personen  ausmachen  würden,  und  dass  folglich 
die  Gartesianer  in  ihrer  Behauptung  Unrecht  haben,  dass  die  Seele 
als  denkendes  Wesen  unaufhörlich  denken  müsse.  —  Locke  ist 
mithin  der  erste  und  einzige,  der  diese  stillschweigende  Voraus- 
setzung des  natürlichen  Verstandes  zum  wissenschaftlichen  und 
ausführlichen  Ausdruck  bringt;  mit  diesem  Schritte  war  aber  auch 
naturgemäss  die  Erkenntniss  ihrer  Einseitigkeit  und  Unwahrheit 
und  die  Entdeckung  der  unbewussten  Vorstellungen  durch  Locke's 
grossen  Gegner  Leibniz  gegeben,  während  alle  früheren  Philosophen 
wohl  im  Stillen  mehr  auf  die  eine  oder  die  andere  Seite  neigten, 
aber  sich  das  Problem  überhaupt  nicht  zum  Bewusstsein  brachton. 
Leibniz  wurde  zu  seiner  Entdeckung  durch  das  Bestreben 
geführt,  die  angebomen  Ideen  und  die  unaufhörliche  Thätigkeit  der 
Vorstellungskraft  zu  retten.  Denn  wenn  Locke  bewiesen  hatte, 
dass  die  Seele  nicht  bewusst  denken  kann ,  wenn  der  Mensch 
sich  dessen  nicht  bewusst  ist,  imd  sie  doch  immerfort  denken 
sollte,   so  blieb  nichts  übrig,  als   ein  unbewusstes  Denken, 


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14  . 

E5r  unteracheidet  daher  percepttorij  Voretellung,  nnd  apperception, 
bewusste  Vorstellung  oder  flohlechthia  Bewnsstseia  (Monadologie 
%.  14)  mid  sagt  (gesperrt  gedruckt):  y^Darans,  dass  die  Seele  des 
GedaEnkens  eich  nicht  bewuMt  sei,  folge  noch  gar  mcht,  dass  sie 
zu  denken  aufhdre/^  (Neue  Versuche  üb.  d.  xnenschl.  Verst.  Buch 
n.  Cap.  1.  §.  10).  Was  Leibniz  nnr  positiven  Begründang  seines 
neuen  Begriffes  beibringt,  ist  &>eilich  mehr  als  dürftig,  aber  ein  un- 
geheures Verdienst  ist  es,  dass  er  sogleich  mit  genialem  Blicke  die 
Tragweite  seiner  Entdeckung  übersah,  dass  er  (§.  15)  die  innere 
dunkle  Werkstätte  der  Getühle,  der  Leidenschaften  und  der  Hand- 
lungen, dass  er  die  Gewohnheit  und  vieles  andere  als  Wirkungen 
dieses  Prineips  erkennt;  wenn  er  dies  auch  nur  mit  wenigen  Worten 
andeutet ,  —  dass  er  die  unbewussten  Vorstellungen  für  das  Band 
•erklärt,  „welches  jedes  Wesen  mit  dem  ganxen  übrigen  Universum 
verbindet*',  —  dass  er  durch  sie  die  prästabilirte  Harmonie  der  Mo- 
naden unter  einander  erklärt,  indem  jede  Monade  als  Mikrokosmos 
unbewusst  den  Makroskosmos  und  ihre  Stelle  in  demselben  vor- 
stellt Ich  bekenne  freudig,  dass  die  Leetüre  des  Leibnitz  es  war^ 
was  mich  zuerst -zu  den  hier  niedergelegten  Untersuchungen  ange- 
regt hat. 

Für  die  Auffassung  der  sogenannten  angeborenen  Ideen  findet 
er  ebenfalls  die  bis  jetzt  massgebende  Anschauung  (Buch  I.  £ap.  3* 
§.  20):  „Sie  sind  nichts  anderes  als  natürliche  Fertigkeiten,  gewisse 
active  und  passive  Anlagen."  (Cap.  1.  §.  25):  „Ihre  wirkliche  Er- 
kenntniss  ist  der  Seele  freilich  nicht  angeboren,  aber  diejenige,, 
welche  man  eine  potentielle  Erkenn tniss  (connoissance  virtuelle) 
nennen  könnte.  So  ist  auch  die  Figur,  die  aus  dem  Marmor  ent- 
stehen soll,  in  seinen  Adern  bereits  gezeichnet,  und  also  in  dem 
Marmor  selbst,  noch  ehe  man  sie  beim  Arbeiten  entdeckt.**  Es  ist 
dasselbe  gemeint,  was  später  Schelling  (Werke  Abth.  I.  Bd.  3. 
S.  528 — 9)  präciser  ausdrückte  mit  den  Worten :  „Insofern  das  Ich 
Alles  aus  sich  producirt,  insofern  ist  alles  ....  Wissen  a  priori. 
Aber  insofern  wir  uns  dieses  Froducirens  nicht  bewusst  sind,  in 
sofern  ist  in  uns  nichts  a  priori,  sondern  Alles  a  posteriori  .... 
Es  giebt  also  Begriffe  a  priori,  ohne  dass  es  angeborene  Begriffe 
gäbe.     Nicht  Begriffe,  sondern  unsere  eigene  Natur  und  ihr  ganzer 

Mechanismus  ist  das  Tins  Angeborene Dadurch,  dass  wir  den 

Ursprung  der  sogenannten  Begriffe  a  priori  jenseits  des  Bewusst- 
seins  versetzen,  wohin  für  uns    auch   der  Ursprung  der 


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15 

objectiven  Welt  fällt,  behaupten  wir  mit  derselben  Evidenz 
und  dem  gleichen  Rechte,  unsere  Erkenntniss  sei  ursprünglich  ganz 
imd  darohans  empirisch,  und  sfe  sei  ganz  und  durchaus  a  priori.*' 
—  Nxm  kommt  aber  die  schwache  Seite  ron  Leibnitz  unbewusster 
TorsteUang  hinten  nach,  die  schon  in  ihrem  gewöhnlichen  Namen 
y^ttite  pereeptiofi^^  liegt.  Indem  Leibniz  in  seiner  Erfindung  der 
Infinitesimalrechnung  und  in  rielen  Theilen  der  Naturbetrachtung, 
in  der  Mechanik  (Ruhe  und  Bewegung),  im  Gesetz  der  Continuität 
n.  B.  w.  den  Be^ff  des  (mathematisch  sogenannten)  unendlich 
Kleinen  mit  dem  glänzendsten  Erfolge  einführte,  suchte  er  auch  die 
petUes  perceptions  auf  diese  Weise  als  Vorstellungen  von  so  geringer 
Intensität  zu  fassen,  dass  sie  sich  dem  Bewusstsein  entziehen. 
Hiermit  zerstörte  er  auf  der  einen  Seite,  was  er  auf  der  anderen 
erbaut  zu  haben  schien,  den  wahren  Begriff  des  XJnbewussten  als 
ein  dem  Bewusstsein  entgegengesetztes  Gebiet,  und  die  Bedeutung 
desselben  für  Gefühl  und  Handeln.  Denn  wenn,  wie  Leibniz  selbst 
behauptet,  das  Naturell,  der  Instinct,  die  Leidenschaften,  kurz  die 
mächtigsten  Einj3.üs8e  im  Menscheu leben  aus  dem  Gebiet  des  XJn- 
bewussten stammen,  wie  sollen  sie  durch  Vorstellungen  bewirkt 
werden,  die  so  schwach  sind,  dass  sie  sich  dem  Bewusstsein 
entziehen;  wie  sollten  da  nicht  die  kräftigen  bewussten  Vor- 
stellungen im  entscheidenden  Moment  prävaliren?  Dies  interes- 
sirt  aber  Leibniz  weniger,  und  für  sein  Hauptaugenmerk,  die  an- 
geborenen Ideen  und  die  beständige  Thätigkeit  der  Seele,  reicht 
allerdings  seine  Annahme  des  unendlich  kleinen  Bewusstseins  aus. 
Demgemäss  richten  sich  auch  die  meisten  seiner  Beispiele  von 
petitea  perceptions  auf  Vorstellungen  von  geringem  Bewusstseins- 
gTad,  z.  B.  die  Sinneswahmehmungen  im  Schlaf.  Bei  alledem  bleibt 
Leibniz  der  Ruhm,  zuerst  die  Existenz  von  Vorstellungen  behauptet 
zu  haben,  deren  wir  uns  nicht  bewusst  sind,  und  denselben  eine 
hohe  Wichtigkeit  beigelegt  zu  haben. 

Dass  Kant  den  Begriff  der  unbewussten,  oder  wie  er  sie 
nennt,  dunkeln  Vorstellung  von  Leibniz  entlehnt  habe,  ist  ander 
zu  Anfang  angeführten  Stelle  unschwer  zu  erkennen.  Dass  auch 
er  dem  Gegenstand  grosse  Wichtigkeit  beigelegt  hat,  zeigt  folgende 
Stelle  des  §.  5  der  Anthropologie:  „Dass  das  Feld  unserer  Sinnes- 
anschauungen und  Empfindungen,  deren  wir  uns  nicht  bewusst  sind, 
ob  wir  gleich  unbezweifelt  schliessen  können,  dass  wir  sie  haben, 
d.  i.  dunkler  Vorstellungen  im  Menschen  (und  so  auch  in  Thieren) 


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unermessHch  sei;  die  klaren  dagegen  nur  unendlich  wenige  Puncte 
derselben  enthalten,  die  dem  Bewusstsein  offen  liegen:  dass  gleich- 
sam auf  der  grossen  Charte  unseres  Oemüths  nur  wenig  Stellen 
illuminirt  sind,  kann  uns  Bewunderung  über  unser  eigenes  Wesen 
einflössen/'  Yon  scharfem  Blick  zeigt  es,  dass  Kant  zuerst  das 
Wesen  der  Oeschlechtsliebe  im  ünbewussten  gesucht  hat.  Im 
Wesen  dos  Begriffs  scheint  aber  auch  er  wenig  über  den  Leibniz'- 
schen  Standpunct  des  abgeschwächten  Bewusstseins  hinweggekommen 
zu  sein,  wie  das  Wort  dunkle  Vorstellung  vermuthen  lässt,  ob- 
wohl er  einer  höheren  Auffassung  auch  in  diesem  Puncte  yermöge 
seiner  ganzen  Philosophie  viel  näher  gestanden  haben  muss,  wie 
schon  der  Umstand  beweist,  dass  er  die  Leibnitz'sche  Theorie  vom 
unendlich  kleinen  Bewusstsein  nirgends  ausdrücklich  vorbringt. 
Auch  ihm  lag  der  Gegenstand  zu  fem,  um  demselben  mehr  als 
drei  Seiten  zu  widmen,  von  denen  die  Hälfte  nicht  zur  Sache  ge- 
hört. Viel  näher  lag  der  Begriff  des  Ünbewussten  der  Glaubena- 
philosophie  (Hamann,  Herder  und  Jacobi),  die  eigentlich  auf  ihm 
beruht,  aber  sich  über  sich  selbst  so  unklar  und  so  unfähig  ist, 
ihre  eigene  Grundlage  rationell  zu  begreifen,  dass  sie  nie  dazu 
kommt,  das  Stichwort  ihrer  Partei  zu  finden. 

In  voller  Reinheit,  Klarheit  und  Tiefe  finden  wir  dagegen  den 
Begriff  des  Ünbewussten  bei  Schelling ;  es  verlohnt  sich  daher  eines 
Seitonblicks  auf  die  Art  und  Weise,  wie  er  zu  demselben  gekom- 
men i^t.  Hierüber  giebt  am  besten  folgende  Stelle  Aufschluss 
(Schollings  Werke  Abth.  I.  Bd.  10.  S.  92—93):  „Die  Meinung 
dieses  (des  Fichte'schen)  subjectiven  Idealismus  konnte  nicht  sein, 
dass  das  Ich  die  Dinge  ausser  sich  frei  und  mit  Wollen  setzte, 
denn  nur  zu  vieles  ist,  dass  das  Ich  ganz  anders  wollte,  wenn  das 
äussere  Seiik  von  ihm  abhinge  ....  Um  dies  alles  zeigte  sich  nun 
Pichte  unbekümmert ....  Angewiesen  nun,  die  Philosophie  da  auf- 
zunehmen, wo  sie  Fichte  hingestellt  hatte,  musste  ich  vor  allem 
sehen,  wie  jene  unleugbare  und  unabweisliche  Noth wendigkeit"  (mit 
der  dem  Ich  seine  Vorstellungen  von  der  Aussenwelt  entgegen- 
treten), „die  Fichte  gleichsam  nur  mit  Worten  hinwegzuschelten 
sucht,  mit  den  Fichte'schen  Begriffen,  also  mit  der  behaupteten 
absoluten  Substanz  des  Ich  sich  vereinigen  Hesse.  Hier  ergab  sich 
nun  aber  sogleich,  dass  freilich  die  Aussenwelt  für  mich  nur  da 
ist,  inwiefern  ich  zugleich  selbst  da  und  mir  bewusst  bin  (dies  ver- 
steht sich  von  selbst),   aber  dass  auch  umgekehrt,   sowie  ich  für 


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mich  selbst  d  a ,  ich  mir  b  e  w  u  s  s  t  bin,  dass ,  mit  dem  ausgespro- 
chenen Ich  bin,  ich  auch  die  Welt  als  bereits  —  da  —  seiend 
finde,  dass  also  auf  keinen  Fall  das  schon  bewusste  Ich  die 
Welt  produciren  kann.  Nichts  verhinderte  aber,  mit  diesem  jetzt 
in  mir  sich-bewussten  Ich  auf  einen  Moment  zurückzugehen,  wo 
es  seiner  noch  nicht  bewusst  war,  eine  Begion  jenseits  des 
jetzt  vorhandenen  Bewusstseins  anzunehmen,  und  eine  Thätig- 
keit,  die  nicht  mehr  selbst,  sondern  nur  durch  ihr  Resultat  in  das 
Bewusstsein  kommt."  (Vgl.  auch  ßchellings  Werke  Abth.  I.  Bd.  3. 
S.  348 — 9).  Der  Umstand,  dass  Schelling  keine  andere  Ableitung 
für  den  Begriff  des  Unbewussten  hat,  als  aus  der  Voraussetzung 
des  Fichte'schen  Idealismus,  ist  wohl  der  Grund,  dass  seine  zahl- 
reichen schönen  Bemerkungen  über  diesen  Begriff  auf  die  Bildung 
der  Zeit  nicht  mehr  Einfluss  gehabt  haben,  da  letztere,  um  seine 
Nothwendigkeit  einzusehen,  einer  empirischen  Ableitung  des- 
selben bedurft  hatte.  Ausser  der  vorhin  bei  Gelegenheit  des  Leib- 
niz  schon  angeführten  Stelle  werden  im  Verlauf  unserer  Unter- 
suchungen noch  mehrfach  Citate  aus  Schelling  angezogen  werden. 
Hier  nur  noch  einiges  zur  Orientirung  im  Allgemeinen  (Werke  I.  3. 
S.  624):  „In  allem,  auch  dem  gemeinsten  und  alltäglichsten  Pro- 
duciren wirkt  mit  der  bewussten  Thätigkeit  eine  bewusstlose  zu- 
sammen.'' Die  Ausfuhrung  dieses  Satzes  auf  den  verschiedenen 
Gebieten  der  empirischen  Psychologie  hätte  a  posteriori  die 
Grundlage  des  Begriffes  des  Unbewussten  gegeben;  Schelling  bleibt 
dieselbe  aber  (mit  Ausnahme  für  das  ästhetische  Produciren)  nicht 
nur  schuldig,  sondern  er  behauptet  auch  anderwärts  (Werke  I.  3. 
S.  349):  ,JEine  solche  (zugleich  bewusste  und  bewusstlose)  Thätig- 
keit ist  allein  die  ästhetische."  Wie  rein  und  tief  trotzdem 
Schelling  in  der  Genialität  seiner  Conception  den  Begriff  des  Un- 
bewussten erfasst  hatte,  beweist  folgende  Hauptstelle  (I.  3.  S.  600): 
, JHeses  ewig  Unbewusste,  was,  gleichsam  die  ewige  Sonne  im  Keiche 
der  Geister,  durch  sein  eigenes  ungetrübtes  Licht  sich  verbirgt, 
und  obgleich  es  nie  Object  wird,  doch  allen  freien  Handlungen  seine 
Identität  aufdrückt,  ist  zugleich  dasselbe  für  alle  Intelligenzen,  die 
unsichtbare  Wurzel,  woven  alle  Intelligenzen  nur  die  Potenzen  sind, 
und  das  ewig  Vermittelnde  des  sich  selbst  bestimmenden  Subjecti- 
ven  in  uns  und  des  Objectiven  oder  Anschauenden,  zugleich  der 
Grand  der  Gesetzmässigkeit  in  der  Freiheit  und  der  Freiheit  in  der 
Gesetzmässigkeit."     In  demselben  Maasse  als  für  Schelling  in  seiner 

T.  Hartmaaii,  Phil.  d.  Unbewusst«!!.  2 


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eigenen  Entwickelungsgeschiohte  der  Fichte'sche  Idealismus  in  den 
Hintergrund  trat,  verfiel  auch  der  Begriff  des  Unbewussten  dießem 
Schicksal.  Während  derselbe  im  transcendentalen  Idealismus  eine 
Hauptrolle  spielt,  ist  von  ihm  schon  in  den  bald  nachher  erschie- 
nenen Schriften  kaum  noch  die  Rede  und  später  verschwindet  er 
fast  ganz.  Auch  die  mystische  Naturphilosophie  der  Schelling'schen 
Schule,  welche  (besonders  Schubert)  doch  so  viel  im  Gebiete  de& 
Unbewussten  verkehrt,  hat  sich  meines  Wissens  mit  einer  Ent- 
Wickelung  und  Betrachtung  dieses  Begriffes  nirgends  befasst. 

Bei  Hegel  tritt  ebenso  wie  in  Schellings  späteren  Werken 
der  Begriff  des  Unbewussten  nicht  deutlich  heraus,  ausser  in  der 
Einleitung  zu  den  Vorlesungen  über  „Philosophie  der  Geschichte", 
"^0  er  die  in  Cap.  B.  X.  anzuführenden  Ideen  Schellings  über  die- 
sen Gegenstand  reproducirt.  Gleichwohl  hat  Hegels  absolute  Idee 
in  ihrem  Ansichsein  vor  ihrer  Entlassung  zur  Natur,  also  auch  vor 
ihrer  Rückkehr  zu  sich  als  Geist,  in  jenem  Zustande,  wo  sie  die 
Wahrheit  ohne  Hülle  ist,  gleichsam  die  Gottheit  in  ihrem  ewigen 
Wesen  vor  Erschaffung  der  Welt  und  eines  endlichen  Geistes,  viel 
Aehnlichkeit  mit  dem,  was  ich  das  Unbewusste  nenne,  wenn  sie 
auch  nur  die  eine  Seite  desselben ,  nämlich  die  Seite  des  Logischen 
oder  der  Vorstellung  ist.  Bei  Hegel  erlangt  nämlich  der  Gedanke 
auch  erst  dann  das  Bewusstsein,  wenn  er  durch  die  Vermittelung  seiner 
Entäusserung  zur  Natur  den  Weg  vom  blossen  Ansichsein  zum  Fürsich- 
sein zurückgelegt,  und  als  ein  sich  gegenständlich  gewordener,  als 
Geist  zu  sich  selbst  gekommen  ist.  Der  HegeVsche  Gott  als  Aus- 
gangspunct  ist  erst  „an  sich"  und  unbewusst,  nur  Gott  als  Resultat 
ist  „für  sich"  und  bewusst,  ist  Geist.  Dass  das  zum  Fürsichsein-Ge- 
langen,  sich  Gegenstand- Werden  wirklich  ein  zum-Bewusstsein-Kom- 
men  ist,  spricht  Hegel  in  Werke  XIII.  S.  33  u.  46  deutlich  aus. 

Schopenhauer  kennt  als  metaphysisches  Princip  nur  den 
Willen,  während  ihm  die  Vorstellung  in  materialistischem  Sinne 
Himproduct  ist.  Dem  entsprechend  kann  bei  ihm  nicht  von  unbe- 
wusster  Vorstellung,  sondern  nur  von  unbewusetem  Willen 
die  Rede  sein,  wobei  er  aber  wunderbarer  Weise  nicht  merkt,  dass 
der  unbewusste  Wille  eo  ipso  eine  unbewusste  Vorstellung  als  Ziel, 
Gegenstand  oder  Inhalt  seiner  selbst  voraussetzt.  (Vgl.  Cap.  A.  IV.) 
Jedenfalls  sind  seine  Betrachtungen  bei  der  scharfen  psychologischen 
Beobachtungsgabe,  die  er  besitzt,  meistens  höchst  lehrreich,  z.  B.  über 
den  Instinct,  über  die  Geschlechtßliebe  und  das  Leben  in  der  Gattung. 


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1b  die  neuere  Nataiwissenschaft  hat  der  Begriff  des  Unbe- 
-wnssten  noch  wenig  Eingang  gelinden;  eine  rühmliche  Ausnahme 
macht  der  bekannte  Physiologe  Carus,  dessen  Werke  »yPsyche**  und 
^hysis"  wesentlich  eine  Untersuchung  des  Unbewnssten  in  seinen 
Beziehungen  zu  leiblichem  und  geistigem  Leben  enthalten.  Wie 
-weit  ihm  dieser  Versuch  gelungen  ist,  und  wieviel  ich  bei  dem 
meinigen  von  ihm  entlehnt  haben  könne^  überlasse  ich  dem  XJrtbeil 
des  Lesers.  Jedoch  füge  ich  hinzu,  dass  der  Begriff  des  TJnbe- 
wossten  hier  in  seiner  Eeinheit,  frei  von  jedem  unendlich  kleinen 
Bewusstsein  klar  hingestellt  ist.  Ausser  bei  Carus  hat  auch  noch 
in  einigen  Specialuntersuchungen  der  Begriff  des  XJnbewussten  sich 
eine  Geltung  erzwungen,  welche  indessen  selten  über  das  betreffende 
specielle  Gebiet  ausgedehnt  worden  ist.  So  sieht  sich  z.  B.  Perty 
in  seinem  Buch:  „lieber  das  Seelenleben  der  Thiere"  (Leipz.  u. 
Heidelb.  1865)  zu  einer  Ableitung  des  Listincts  aus  unbewussten 
M^omenten  hingeführt,  und  ebenso  erkennt  Wundt  („Beiträge  zur 
Theorie  der  Sinneswahmehmung**  in  Henle*s  und  Pfeuffer's  Zeitschr. 
£  ration.  Medicin  1858  u.  59)  die  Nothwendigkeit  an,  zur  Erklä- 
Tung  der  Entstehung  der  Sinneswahmehmung  auf  unbewusste  geistige 
Processe,  z.  B.  unbewusste  Schlussfolgerungen,  zurückzugehen,  — 
eine  Darlegung,  welche  yon  Helmholtz  gebilligt  worden  ist.  — 

Herbart  versteht  unter  „ bewusstlosen  Vorstellungen**  solche, 
„die  im  Bewusstsein  sind,  ohne  dass  man  sich  ihrer  bewusst 
ist"  CWcrke  V.  S.  342),  d.  h.  ohne  dass  man  dieselben  „als  die 
aeinigen  beobachtet  und  an  das  Ich  anknüpft'',  oder  mit  anderen 
Worten,  ohne  dass  man  dieselben  mit  dem  Selbstbewusstsein 
in  Verbindung  setzt.  Dieser  Begriff  bietet  keine  Gefahr  der  Ver- 
wechselung mit  dem  wahrhaft  Unbewussten;  dagegen  ist  um  der 
Ton  Pechner  gemachten  Anwendungen  willen  ein  anderer  von  Her- 
bart behandelter  Begriff  zu  berücksichtigen,  nämlich  der  „dtr  Vor- 
stellungen unterhalb  der  Schwelle  des  Bewusstseins" ,  welche  nur, 
ein  von  der  Realisirung  mehr  oder  minder  entferntes  Streben 
nach  Vorstellung  repräsentiren ,  selbst  aber  „durchaus  kein  wirk- 
liehes  Vorstellen"  sind,  vielmehr  für  das  Bewusstsein  nicht  einmal 
Kchts^  sondern  „eine  unmögliche  Grösse"  bedeuten  (Herbart^s  Werke 
V.  S.  339 — 342).  Herbart  kommt  auf  diesen  schwer  zu  fassenden 
Begriff  dadurch,  dass  er  gemäss  der  Anschauungsweise  des  Leibniz 
eine  Continuität  der  Ab-  und  Zunahme  in  dem  TJebergange  von 
urirklichen  Vorstellungen  des   Bewusstseins  zu  solchen,  die  im  Qe- 


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dächtnisB  schlummern,  und  umgekehrt,  festhalten,  auch  die  Möglich- 
keit eines  Aufeinander- Wirkens  dieser  schlummernden  Gedächtniss- 
vorstellungen nicht   aufgeben  wollte,   trotzdem  aber  sich  nicht  zu 
einer  materialistischen  Erklärungsweise  dieser  Processe  herbeilassen 
konnte,  in  der  Art,    dass   er  in  ihnen  nur  materielle  Himprocesse 
Ton  einer  für  die  Bewusstseinserregung  nicht  ausreichenden  Btärke 
gesehen   hätte.     Nun    ist   aber   auf  dem    heutigen   Standpunct  der 
Wissenschaft  unschwer  zn  sehen,  dass  die  sogenannten  schlummern- 
den Gedächtnissvorstellungen  durchaus  nicht  Vorstellungen  in  actu,  in 
Thätigkeit, sondern  bloss  Dispositionen  des  Gehirns  zur  leichteren 
Entstehung   dieser  Vorstellungen   sind.      Wie    eine    Saite  auf    den 
Ton  a  oder  c  resonirt,  je   nachdem  sie  auf  a  oder  c  gestimmt  ist, 
so  entsteht  auch  im  Gehirn  leichter  die  eine  oder  die  andere  Vor- 
stellung, je  nachdem  die  Vertheilung  und  Spannung  der  Himmolecule 
so  beschaffen  ist,  dass  sie  leichter   mit  der  einen  oder  der  andern 
Art  von  Schwingungen  auf  einen  entsprechenden  Reiz    antwortet. 
Was  bei   der   Saite   das   Stimmen  ist,    das  ist  für  das  Gehirn   die 
bleibende    Veränderung,    welche    eine    lebhafte    Vorstellung   nach 
ihrem  Verschwinden    in   Vertheilung   und  Spannung  der   Molecule 
hinterlässt.     Dass  aber  jede  Vorstellung  wirklich  in  endlicher  luid 
swar  ziemlich  kurzer  Zeit  völlig  verklingt,  ist  schon  a  priori  ein- 
zusehen, da  nur  eine  Bewegung,  welche  keinen  Widerstand  findet, 
unendlich  lange  fortdauern  kann,  im  Gehirn  aber  die  Widerstände 
sehr  stark  sind,   die  sich  jeder  Bewegung  widersetzen.     Es  kann 
demnach  Herbarts  unbewusster  Zustand  der  Vorstellung  nur  inner- 
halb   der  Grenzen   bestehen  bleiben,   welche   durch   das  Aufhören 
der  Bewegung   einerseits   und    da«   Aufhören    der   bewussten   Vor- 
stellung bei   noch  fortdauernder  Bewegung  der  Mirnschwingungen 
anderseits  gegeben  sind,    vorausgesetzt,   dass  beide  Grenzen  nicht 
zusammenfallen.     Die  Frage  ist  also 

1)  ob  jede  Stärke  von  Hirnschwingungen  Vorstellung  erweckt, 
oder  ob  die  Vorstellung  erst  bei  einer  gewissen  Stärke  derselben 
beginnt,  und 

2)  ob  durch  jede  Stärke  von  Hirnschwingungen  bewusste 
Vorstellung  erregt  wird  oder  erst  von  einer  gewissen  Stärke  an. 

Diesen  Fragen  ist  Fechner  in  seinem  ausgezeichneten  Werke 
„Psychophysik"  näher  getreten.  Sein  Gedankengang  ist  folgender: 
Nicht  jeder  sinnliche  Reiz  bewirkt  Sinnesempfindung,  sondern  nur 
von  einer  gewissen  Grösse  an,  die  Reizschwelle  heisst;  z,  B.  eine 


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tönende  Glocke  wird  erst  von  einer  gewissen  Entfernung  aus  gehört. 
Addiren  sich  mehrere  gleichartige,  einzeln  nicht  wahrnehmbare  Beize, 
so  entstehen  bewusste  Empfindungen ;  z.  B,  durch  mehrere  zugleich 
tönende  ferne  Glocken,  deren  jede  einzeln  man  nicht  hören  würde, 
oder  das  Blattgeflüster  im  Walde.  Nun  könnte  man  dieses  zwar 
80  erklären ,  dass  der  Beiz  unter  der  Schwelle  nur  darum  keine 
Empfindung  bewirkt,  weil  er  nicht  stark  genug  ist,  um  die  Lei- 
tnngswiderstände  im  Sinnesorgan  und  Nerven  bis  zum  Centralorgan 
ZQ  überwinden,  dass  aber  die  Seele  auf  den  kleinsten ,  im  Centrum 
selbst  angelangten  Beiz  mit  entsprechendier  Empfindung  reagirt 
Biese  Annahme  reicht  aber  allein  nicht  aus ,  denn  sie  passt  nicht 
auf  Empfindungs unterschiede.  Denn  verschieden  starke,  gleich- 
artige Beize  bewirken  verschiedene  Empfindungen;  doch  muss  auch 
hier  der  Unterschied  der  Beize  ein  gewisses  Maass  (die  Unterschieds- 
reiischwelle)  überschreiten ,  wenn  die  Empfindungen  als  verschieden 
wahlgenommen  werden  sollen.  Hier  können  offenbar  die  Leitungs- 
widerstände  nicht  für  die  Erscheinung  verantwortlich  gemacht  wer- 
den, da  jede  der  Empfindungen  gross  genug  ist,  dieselben  zu  über- 
winden. Andererseits  können  aber  für  Beizschwelle  und  Unter- 
schiedsschwelle  auch  nicht  verschiedene  Principien  geltend  gemacht 
w^en,  da  der  erste  Fall  auf  den  zweiten  Fall  zurückführ  bar 
ist,  wenn  in  letzterem  der  eine  Beiz  =  0  gesetzt  wird.  Mithin 
bleibt  nur  die  Annahme  übrig,  dass  die  Schwingungen  am  Gentrum 
einen  gewissen  Grad  überschreiten  müssen,  ehe  die  Empfindung 
erfolgt.  Was  hierbei  für  die  Sinnes-Empfindung  gilt,  gilt  natürlich 
&  jede  andere  Vorstellung  und  ist  somit  die  zweite  Frage  ent- 
schieden. Es  bleibt  die  Ermittelung  offen,  ob  die  Beize  unter  der 
Schwelle  die  Seele  überhaupt  zu  einer  Beaction  bringen,  welche 
dann  unbewnsste  Empfindung  oder  Vorstellung  wäre,  oder  ob  die 
fieaction  der  Seele  erst  bei  der  Schwelle  beginnt. 

Hören  wir  weiter  auf  Fechner.  Das  sogenannte  Weber'sche 
Cteaetz  lautet :  JZwei  gleichartige  Empfindungsunterschiede  verhalten 
sioh  wie  die  zwei  Quotienten  der  zugehörigen  Beize '',  und  die 
Ton  Fechner  hieraus  höchst  geistreich  abgeleitete    Formel   lautet 

y*=ilog-r-,  worin  y  die  Empfindung  bei  dem  Beiz  ß,  b  die  Beiz- 

«Äiwelle,  d,  h.  der  Werth  des  Beizes,  bei  dessen  kleinster  Ueberschrei- 
^  y  den  Werth  o  überschreitet,  und  k  eine  Gonstante  ist,  welche  die 
Benehung  der  Maasseinheiten  von  ß  und  y  enthält.    Wird  nun  ß 


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22 

kleiner  als  h,  d.  h.  der  Reiz  kleiner  als  die  Beizschwelle^  so  wird 
y  negativ  und  sinkt  um  so  weiter  unter  0,  als  /?  unter  b  sinkt 
(bei  /9  =  0  ist  y  ==  —  oo). 

Diese  negativen  y%  nennt  nun  Fechner  ^^unbewusste  Em- 
pfindungen'', aber  auch  mit  dem  vollen  Bewnsstsein,  in  diesem 
Worte  nur  eine  Licenz  des  Ausdrucks  zu  haben,  welche  bedeuten 
soll,  dass  die  Empfindung  ;'  sich  um  so  mehr  von  der  Wirklichkeit 
entfernt,  je  weiter  y  unter  0  sinkt,  d.  h.  dass  ein  immer  grös- 
serer Zuwachs  des  Eeizes  dazu  erfordert  werde,  um  nur  erst 
den  NuUwerth  von  y  wieder  hervorzubringen,  tmd  dieses  an  die 
Grenze  der  Wirklichkeit  zurückzurufen.  Das  negative  Vorzeichen 
vor  Y  bedeutet  also  hier  (wie  anderweitig  oft;  das  Imaginaire)  die 
Unlösbarkeit  der  Angabe,  aus  der  gegebenen  Reizgrösse  eine  Em- 
pfindung zu  berechnen. 

Ueber  die  sachliche  Bedeutung  des  negativen  Vorzeichens,  sagt 
Fechner  sehr  richtig,  kann  nur  die  vernünftige  Vergleichung  dee 
Bechnungsansatzes  mit  den  erfahrungsmässigen  Thatsachen  Aufsohluas 
geben.  Darum  weist  er  den  Seitenblick  auf  Wärme  imd  Kälte  hier 
als  ganz  ungehörig  ziurüok,  und  verbietet,  aus  positiven  und  negativen 
/s  eine  algebraische  Summe  zu  ziehen,  ebenso  wie  dies  bei  Flächen- 
berechnungen durch  rechtwinkliohe  Coordinaten  mit  den  positiven 
und  negativen  Flächenstücken  unzulässig  ist.  „Mathematisch  kann 
der  Gegensatz  der  Vorzeichen  ganz  ebenso  gut  auf  den  Gegensatz 
der  Wirklichkeit  und  Nichtwirklichkeit,  als  der  Zunahme  und  Ab- 
nahme oder  der  Sichtungen  bezogen  werden,  t-  Im  System  der 
Polarcoordinaten  bedeutet  er  den  Gegensatz  der  Wirklichkeit  und 
Nichtwirklichkeit  einer  Linie,  so  aber,  dass  grössere  negative  Werthe 
eine  grössere  Entfernung  von  der  Wirklichkeit  bedeu- 
ten, als  kleinere.  Es  kann  nicht  das  geringste  Hindemiss  sein,  das, 
was  für  den  Radiue  vector  als  Function  eines  Winkels  göltig  ist, 
auf  die  Empfindung  als  Function  eines  Reizes  zu  übertragen*' 
(Psychophysik  IL  S.  40).  Was  hier  für  den  algebraischen  Aus- 
druck der  Function  gilt,  gilt  natürlich  auch  für  ihre  geometrische 
Veranschanlichung  als  Curve,  wo  der  sichtbare  Zusammenhang  des 
positiven  und  negativen  Theils  das  Urtheil  von  neuem  gefangen 
nehmen  könnte.  Man  sieht,  dass  es  schwer  ist,  für  die  negativen 
y%  einen  bezeichnenden  Ausdruck  zu  finden,  der  nicht  zu  Miss*  \ 
Verständnissen  Anlass  geben  könnte ;  das  beste  wäre  vielleicht, ; 
gradezu  „unwirkliche  Empfindung"  zu  sagen.     Indess  ist  Fechner  , 


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I 


23 

aus  der  willkürlichen  Benutzung  des  Wortes  unbewusste  Empfindung 
kein  Vorwurf  zu  machen,  da  er  unsere  positive  Bedeutung  des  Un- 
bewossten  nicht  kennt  oder  wenigstens  nicht  anerkennt.  Schlimmer 
aber  ist  es,  dass  Fechner  später  so  inconsequent  war,  sich  in  der 
That  durch  den  Zusammenhang  der  geometrischen  Curven  unteriialb 
der  Schwelle  täuschen  zu  lassen,  und  yon  einem  realen  Zusammenhange 
der  Bewusstseine  verschiedener  Individuen  unterhalb  der  Schwelle 
zu  sprechen.  — 

Ich  bin  hierauf  so  ausführlich  eingegangen,  weil  ich  mich  vor 
Verwechselung  mit  dem  Fechner'schen  Begrift  der  unbewussten 
Empfindung  wahren,  zugleich  dem  trefflichen  Werke  den  Zoll  meiner 
HochaohtuBg  darbringen  und  endlich  die  Gelegenheit  benutzen 
wollte,  den  Leser  mit  dem  Begriff  der  Schwelle  bekannt  zu  machen, 
der  in  den  verschiedensten  Gebieten  der  Wissenschaft  von  Bedeu- 
tung ist,  und  den  auch  wir  für  unsere  Untersuchungen  nicht  ent- 
behren können.  Dass  übrigens  eine  gewisse  Stärke  des  Himreizes 
dam  gehört,  um  überhaupt  die  Seele  zu  einer  Reaction  zu  nöthigen, 
ist  teleologisch  sehr  begreiflich;  denn  was  sollte  aus  uns  armen 
Seelen  werden,  wenn  wir  fortwährend  auf  die  unendliche  Menge 
unendlich  kleiner  Beize  reagiren  sollten,  die  uns  unaufhörlich  um- 
spielen« Aber  wenn  die  Seele  einmal  auf  einen  Hirnreiz  reagirt, 
«0  ist  auch  eo  'ipso  das  Bewusstsein  gegeben,  wie  in  Cap.  C.  UI. 
gezeigt  wird;  dann  können  diese  Ereactionen  nicht  mehr  unbewusst 
bleiben.  Wollte  man  hier  aber  auf  die  Theorie  vom  unendlich 
kleinen  Bewusstsein  zurückkommen,  so  wird  diesell^  einfach  durch 
das  Experiment  widerlegt,  welches  zeigt,  dass  die  bewusste  Em- 
pfindung stetig  abnimmt  bis  zum  Nullwerth,  dem  die  Beizschwelle 
entspricht^  also  die  unendlich  kleinen  Werthe  in  der  That  ober- 
halb der  Schwelle  durchläuft,  wo  wirklich  noch  unendlich 
kleines  Bewusstsein  vorhanden  ist,  mit  der  Schwelle  selbst  aber  0 
wird,  d.  h,  absolut  aufhört;  ich  verweise  darüber  auf  Fech- 
Ws  Werk. 


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n. 

Wie  kommen  wir  znr  ABnahme  yon  Zwecken  in 
der  Natur? 


Eine  der  wichtigsten  und  bekanntesten  Aeosseiungsformen  des 
TJnbewussten  ist  der  Instinct^  und  dieser  ruht  auf  dem  Zweckbegrüf ; 
deshalb  ist  eine  Untersuchung  des  letzteren  für  unsere  Aufgabe 
nicht  zu  vermeiden,  und  da  dieselbe  sich  in  den  Abschnitt  A  nicht 
wohl  einfügt,  so  habe  ich  sie  hier  in  die  Einleitung  verwiesen. 
Zwar  wird  die  hier  folgende  Behandlung  des  Gegenstandes  leicht 
den  Vorwurf  der  Trockenheit  erfahren,  und  wer  es  scheut,  sich 
durch  Wahrscheinlichkeitsuntersuchungen  durchzuwinden,  der  möge^ 
wenn  er  ohnedies  schon  von  der  Berechtigung  einer  Annahme  voa 
Zwecken  in  der  Natur  überzeugt  ist,  dieses  Capitel  immerhin  un- 
gelesen  lassen.  Doch  muss  ich  hinzufügen,  dass  die  Art,  in  welcher 
die  so  wichtige  Frage  hier  zur  hypothetischen  Entscheidung  ge- 
bracht wird,  meines  Wissens  sowohl  neu,  als  auch  die  einzig  mög- 
liche ist. 

Bei  vielen  grossen  Denkern  hat  der  Zweckbegriff  eine  höchst 
wichtige  Bolle  gespielt,  und  die  Grundlage  eines  grossen  Theils 
des  Systems  ausgemacht,  z.  B.  bei  Aristoteles,  Leibniz;  £ant 
musste  ihm  natürlich  die  Bealität  ausserhalb  des  bewussten  Den- 
kens absprechen;  da  er  sie  für  die  Zeit  nicht  zugestand  (vgl.  Tren- 
delenburg: logische  Untersuchungen  Cap.  YIII.  5);  der  moderne 
Materialismus  leugnet  dieselbe  ebenfalls,  weü  er  den  Geist  ausser- 
halb des  thierischen  Hirns  leugnet;  bei  der  modernen  Naturwissen- 
schaft ist  der  Zweckbegriff  durch  Baco  mit  Becht  in  Misscredit  ge- 
kommen, weil  er  so  oft  als  bequemes  Mittel  der  faulen  Vernunft 
gedient  hat,  sich  das  Suchen  nach  den  wirkenden  Ursachen  zu  er- 
sparen, und  in  dem  blos  mit  der  Materie  beschäftigten  Theil  der 
I^aturwissensohaft  allerdings   der  Zweck,  als  eine  geistige  Ursache, 


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f 


25 

t  aoB^^eschlossen  bleiben  rnuss;    Spinoza   leugnete   den  Zweck  voll- 

i  ständig;  weil  er  sich  nicht  ans  der  Substanz  ableiten  Hess.     Wenn 

/   aber  einerseits   ein  so  grosser  und  so  ehrlicher  Geist  wie  Spinoza 

«     den  Thatsachen  in's   Angesicht   den  Zweck  zu  leugnen  im  Stande 

(     ist,   wenn  dagegen  bei   andern   der  Zweck   eine   so  grosse    Bolle 

spielt,  und  selbst  der  J^reigeist  Voltaire  die  Zwecke  aus  der  Natur 

nicht  wegzuleugnen  wagt,  wie  unbequem  und  unvereinbar  mit  seiner 

.    sonstigen  Ueberzeugung  sie   ihm   auch  seien;  so  muss  es   doch  ein 

'    eigenes  Ding  damit  sein. 

/  Der  Degriff  des  Zweckes  bildet  sich  zunächst  aus  den  Erfah- 

rangen,  die  man  an  seiner  eigenen  bewussten  Geistesthätigkeit 
macht.  Ein  Zweck  ist  für  mich  ein  von  mir  vorgestellter  und  ge- 
wollter zukünftiger  Vorgang,  dessen  Verwirklichung  ich  nicht  direct, 
sondern  nur  durch  causale  Zwischenglieder  (Mittel)  herbeizuführen 
im  Stande  bin.  Wenn  ich  den  zukünftigen  Vorgang  nicht  vor- 
stelle, so  ezistirt  er  für  mich  jetzt  nicht;  wenn  ich  ihn  nicht 
will,  bezwecke  ich  ihn  nicht,  sondern  er  ist  mir  gleichgültig  oder 
zuwider;  wenn  ich  ihn  direct  verwirklichen  kann,  so  Mit  das 
eansale  Zwischenglied,  das  Mittel  fort,  und  damit  verschwindet  auch 
der  Begriff  Zweck,  der  nur  in  der  Belation  zum  Begriff  Mittel  be- 
steht, denn  die  Handlung  folgt  dann  unmittelbar  auf  den  Willen. 
Indem  ich  einsehe,  dass  ich  nicht  im  Stande  bin,  meinen  Willen 
direct  zn  verwirklichen,  und  das  Mittel  als  wirkende  Ursswjhe  des 
Zweckes  erkenne,  wird  mir  das  Wollen  des  Zweckes  Motiv,  d.  i. 
wirkende  Ursache  für  das  Wollen  des  Mittels ;  dieses  wird  wirkende 
Ursache  für  die  Verwirklichung  des  Mittels  durch  meine  That,  und 
das  verwirklichte  Mittel  wird  wirkende  Ursache  der  Verwirklichung 
des  Zweckes.  So  haben  wir  eine  dreifache  Causalität  unter  den 
vier  Gliedern:  Wollen  des  Zwecks,  Wollen  des  Mittels,  Verwirk-  \  \ 
licbnng  des  Mittels,  Verwirklichung  des  Zwecks.  Nur  in  seltenen 
Fällen  wird  alles  dies  auf  rein  subjectiv  geistigem  Gebiete  bleiben, 
z.  B.  beim  Verfassen  eines  Gedichts  im  Kopf,  der  gedanklichen 
Ausarbeitung  einer  anderweitigen  künstlerischen  Conception,  oder 
sonst  einer  Kopfarbeit;  meistentheils  dagegen  finden  wir  von  den 
vier  verschiedenen  Arten  der  Causalität  drei  unmittelbar  dargestellt, 
nämlich  Causalität  zwischen  geistigem  und  geistigem  Vorgang  ''^ 
(Wollen  des  Zwecks,  Wollen  des  Mittels),  geistigem  und  materiellem 
.  Vorgang  (Wollen  und  Verwirklichung  des  Mittels);  und  zwischen 
materiellem  und  materiellem  Vorgang  (Mittel  und  Zweck).     Auch 


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26 

die  vierte  Art  Causalität :  zwischen  materiellem  und  geistigem  Vor- 
gang kommt  öfters  hierbei  vor,  sie  liegt  dann  aber  vor  dem  Beginn 
unserer  Betrachtung  in  der  Motivation  des  WoUens  des  Zwecks 
durch  Sinneseindrücke.  Man  sieht  hieraus,  dass  die  Verbindung 
von  gewolltem  und  verwirklichten  Zweck  oder  die  Finalität,  keines- 
weges  etwas  neben  oder  gar  trotz  der  Causalität  bestehendes 
ist,  sondern  dass  sie  nur  eine  bestimmte  Verbindung  der  verschie- 
denen Arten  von  Causalität  ist,  derart,  dass  Anfangsglied  und  End- 
glied dasselbe  sind,  nur  das  eine  ideal  und  das  andere  real,  das 
eine  in  der  gewollten  Vorstellung,  das  andere  in  der  Wirklichkeit 
Weit  entfernt,  die  Ausnahmslosigkeit  des  Causalitätsgesetzes  zu  ver- 
nichten,^ setzt  sie  dieselbe  vielmehr  voraus,  und  zwar 
nicht  nur  für  Materie  unter  einander,  sondern  auch  zwischen  Geist 
und  Materie,  und  Geist  und  Geist.  Daraus  geht  hervor,  dass  sie 
die  Freiheit  im  einzelnen  empirischen  Geistesacte  negirt,  und  auch 
ihn  unter  die  Nothwendigkeit  des  Causalitätsgesetzes  stellt.  Dies 
möchte  das  erste  Wort  zur  Verständigung  mit  den  Gegnern  der 
Finalität  sein. 

Nehmen  wir  nun  an,  es  sei  M  als  wirkende  Ursache  von  Z 
beobachtet  worden,  und  sämmtliche  im  Moment  des  Eintretens  von 
M  obwaltenden  materiellen  Umstände  als  n.  n.  constatirt  worden. 
Femer  stehe  der  Satz  fest,  dass  M  eine  zureichende  wirkende  Ur- 
sache haben  müsse.  Nun  sind  3  Fälle  möglich:  entweder  ist  die^ 
zureichende  Ursache  von  M  in  n.  n.  enthalten,  oder  sie  erhält  ihr^ 
Vervollständigung  durch  andere  materielle  Umstände,  welche  der 
Beobachtung  entgangen  sind,  oder  endlich  die  zureichende  Ursache 
von  M  ist  überhaupt  nicht  auf  materiellem  Gebiete  zu  finden,  muss 
mithin  auf  geistigem  gesucht  werden.  Der  zweite  Fall  widerspricht 
der  Annahme,  dass  sämmtliche  materielle  Umstände,  die  der  Ent- 
stehung von  M  unmittelbar  vorangehen,  in  n.  n.  enthalten  seien. 
Wenn  diese  Bedingung  auch  in  aller  Strenge  unerfüllbar  ist,  da  die 
ganze  Lage  des  Weltsystems  darunter  begriffen  wäre,  so  ist  doch 
leicht  zu  sehen,  dass  die  Fälle  sehr  selten  sind,  wo  ausserhalb  eines 
engen  örtlichen  Umkreises  für  den  Vorgang  wesentliche  Bedingun- 
gen liegen  können,  und  alle  xm'wesentlichen  Umstände  brauchen 
nicht  berücksichtigt  zu  werden.  Z.  B.  die  wesentlichen  Umstände, 
warum  die  Spinne  spinnt,  wird  niemand  ausserhalb  der  Spinne 
suchen,  etwa  im  Monde.  Es  bleiben  also  nur  die  beiden  Fälle, 
dass  die  zureichende  Ursache  in  n.  n.  enthalten  ist,  oder  geistiger 


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27 

Natur  ist.  Dass  der  eine  oder  der  andere  Fall  statthaben  muss, 
ist  alßo  nunmehr  Gewissheit,  d.  h.  die  Summe  ihrer  Wahrschein- 
lichkeiten ist  =  1   (welche    Gewissheit    bedeutet).      Sei   nun   die 

Wahrcheinlichkeit,  dass  M  durch  n.  n.  verursacht  ist  =  — ,  so  ist 

fol^Kch  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  es  eine  geistige  Ursache  habe 

=  1 = ;  je  kleiner  —  wird,  desto  grösser  wird  x,  desto 

,x — l 
mehr  nähert  sich  der  1 ,  d.  h.   der  Gewissheit.      Die  Wahr- 
er 

scheinlichkeit  —  würde  =0  werden, n wenn  man  den  directen  Be- 
x 

weis  in  Händen  hätte,  dass  M  nicht  durch  n.  n.  verursacht  ist; 
wenn  man  nämlich  einen  Fall  constatiren  könnte,  wo  n.  n.  vorhan- 
den und  M  nicht  eingetreten  ist.  Dies  ist  mit  den  ganzen  n.  n. 
freilich  unmöglich,  da  jede  geistige  Ursache  materielle  Angri£Pis- 
pimcte  braucht;  aber  es  wird  doch  häuBg  gelingen,  wenigstens  einige 
oder  mehrere  der  Umstände  n.  n.  zu  eliminiren,  und  je  weniger 
von  den  Umständen  n.  n,  als  solche  betrachtet  werden  müssen,  bei 
deren  Vorhandensein  der  Vorgang  M  jedesmal  eintritt,  desto  leichter 
wird  die  Bestimmung  der  Wahrscheinlichkeit,  dass  sie  die  zurei- 
chende Ursache  von  M  nicht  enthalten. 

Betrachten  wir  zur  Verdeutlichung  ein  Beispiel.  Dass  das 
Bebrüten  des  Ei*s  die  Ursache  vom  Auskommen  des  jungen  Vogels 
ist,  ist  eine  beobachtete'  Thatsache.  Die  dem  Bebrüten  (M)  un- 
mittelbar vorbeigehenden  materiellen  Umstände  (n.  n.)  sind  das 
Vorhandensein  und  die  Beschaffenheit  des  Ei's,  das  Vorhandensein 
und  die  Körperconstitution  des  Vogels,  und  die  Temperatur  an  dem 
Ort,  wo  das  £i  liegt;  anderweitige  wesentliche  Umstände  sind 
undenkbar.  Die  Wahrscheinlichkeit  ist  höchst  gering,  dass  diese 
Umstände  ausreichen,  um  den  munteren,  bewegungsfrohen  Vogel 
zum  Verlassen  seiner  gewohnten  und  instinctiv  gebotenen  Lebensweise 
und  zum  langweiligen  Stillesitzen  über  den  Eiern  zu  veranlassen; 
denn  wenn  auch  der  vermehrte  Blutandrang  im  Unterleibe  ein  er- 
höhtes Wärmegefühl  herbeiführen  mag,  so  wird  dieses  doch  durch 
das  Stillsitzen   im   warmen  Nest  auf  den  blutwarmen  Eiern  nicht 

vermindert,  sondern  erhöht.  Hiermit  ist  schon  die  Wahrscheinlich- 

\  ^ \ 

keit  —  als  sehr  klein,  also  als  nahe  an  1  bestimmt.  Denken 


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28 

wir  aber  an  die  andere  Frage,  ob  uns  ein  Fall  bekannt  sei,  wo 
Yogel  und  Eier  dieselben  sind,  nnd  doch  das  Bebrüten  nicht  statt 
findet,  so  begegnen  uns  zunächst  Vögel,  die  in  heissen  Treibhäosem 
genistet  haben,  und  das  Brüten  unterlassen,  ebenso  bebrütet  der 
Strauss  seine  Eier  nur  in  der  19 acht,  im  heissen  Nigritien  gar  nicht. 
Hiermit  sind  von  den  Umständen  n.  n.  Vogel  und  Eier  als  nicht 
zureichende  Ursache  für  das  Bebrüten  (M)  erkannt  und  es  bleibt 
als  einziger  materieller  Umstand,  der  die  Ursache  zureichend  oder 
vollständig  machen  könnte,  die  Temperatur  im  Neste  übrig.  Nie- 
mand wird  für  wahrscheinlich  halten,  dass  die  niedrigere  Tempe- 
ratur die  directe  Veranlassung  für  den  Vorgang  des  Bebrütens  sei, 
mithin  ist  das  Vorhandensein  einer  geistigen  Ursache  für  den  Vor- 
gang des  Bebrütens  so  gut  wie  Gtewissheit  geworden. 

Nicht  immer  ist  die  Wahrscheinlichkeitsbestimmung  so  leicht 
wie  hier,  und  in  seltenen  Fällen  wird  sie  bei  einem  einfachen  M 
so  nahe  an  Gewissheit  grenzen.  Dafür  kommt  uns  aber  zur  Hülfe, 
dass  das  M,  die  beobachtete  Ursache  von  Z,  meistens  nicht  einfach, 
sondern  aus  verschiedenen,  von  einander  unabhängigen  Vorgängen, 
Fl,  Pg,  F3,  F4  etc.  besteht.  Wenn  wir  nun  zunächst  wieder  das 
Uebersehen  wesentlicher,  materieller  Umstände  ausschliessen ,  so 
haben  wir  dann  zu  ermitteln: 

Die  Wahrscheinlichkeit, 

dass  Vi  durch  n.  n.  zureichend  verursacht  ist  =  — 


P2 


Ps 


P4 


Pft 

l 


P4, 

Hieraus  folgt  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  M  durch  n.  n.  zu-' 
reichend  verursacht  ist  == — ? • .     Denn  M  ist  die  Summe 

Pi  'P2     PS'Pl 

der  Vorgänge  "Pi,  Pg,  Pa,  P4,  also  wenn  M  durch  n.  n.  verursacht 
sein  soll,  muss  sowohl  P^,  als  auch  P2,  als  auch  Pg,  als 
auch  P4,  gleichzeitig  durch  n.  n.  verursacht  sein;  diese  Wahr- 
scheinlichkeit ist  aber  das  Product  der  einzelnen  Wahrscheinlich- 
keiteo.  (Wenn  z.  B.  beim  ersten  Würfel  die  Wahrscheinlichkeit,  die 
2  zu  werfen  «»  ^  ist,  beim  zweiten  ebenfalls  =  ^,  so  ist  die  Wabr- 


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29 

fichemlichkeit ,  mit  beiden  Würfeln  zugleich  die  2  zu  werfen 
=  -^  .  4).  Mithin  ist  die  Wahrscheinlichkeit ,.  dass  M  nicht  zu- 
reichend durch  n.  n.  verursacht  sei,  dass  es  also  noch  einer  geisti- 

gen  Ursache  bedürfe  =  1 ^ ^PA'PhB^P^^ZiI^ 

Pi'Vt'PZ'lU  Pl'P2'7h'P4, 

Hier  ist  also  Pi-Pi-PsPi,  ^^  vorher  j?  war,  und  man  sieht 
daraus^    dass   pi,   p^,    p^   und  p^    einzeln  nur  wenig   grösser  als 

*  1111 

V'^  2  =  1,189,  also  — ,  — ,  -     und  —  jedes  wenig  kleiner  als  0,84 

Pi     P%     /?s  P4 

zu  sein  brauchen,  so  wird  p^  p^-Pi-P^  ^s  Product  der  4  Factoren 

schon  grösser  als  2,  und  ^^  r^r^P^ grösser   als    4 ;    d.  h,  mit 

Pl  'P2  Pz  Pi 

andern  Worten,  wenn  für  die  einzelnen  Vorgänge  Pj,  P^,  P»,  P4,  die 

Wahrscheinlichkeit  einer  geistigen  Ursache  (1 etc.)  nur  gering 

ist,  so  wird  sie  doch  für  ihre  Summe  M  um  so  bedeutender,  je  mehr 
einzelne  Vorgänge  zu  M  gehören.     Sei  z.  B.  die  Wahrscheinlichkeit 

einer  geistigen  Ursache  im  Durchschnitt  für  jedes  nur  ^  =  (  1 ) 

.1  l  1  1         1        ^«     1  1 

so  ist  —  =s  —  s  —  =  —  =  :J.  ==  0,8  also 


pl      p%      Pz      Pl  Pl  '  P2  Pi   Pl 

0,4096  und  1 =  0,6904,    eine     ganz    respectable 

PlPi'PS'  Pi, 

Wahrscheinlichkeit  von  mehr  als  J.  Man  sieht  leicht  ein,  dass 
diejenigen  Theile  von  M,  welche  gcuiz  sicher  bloss  aus  n.  n.  resul- 
tiren,  sich  von  selbst  aus  der  Rechnung  eliminiren,  da  ihre  Wahr- 
scheinlichkeit als  1  in  das  Product  der  übrigen  eingeht,  d.  h.  dieses 
unverändert  lässt.  — 

Betrachten  wir  auch  hierzu  ein  Beispiel.  Als  Ursache  des 
Sehens  (Z)  ist  ein  Complex  (M)  von  Bedingungen  (Pi ,  P2,  P3,  P4) 
beobachtet  worden,  deren  wichtigste  folgende  sind:  1)  besondere 
Nervenstränge  gehen  vom  Gehirn  aus,  welche  so  beschaffen  sind, 
dass  jeder  sie  treffende  Reiz  im  Gehirn  als  Lichtempfindung  perci- 
pirt  wird;  2)  sie  endigen  in  einer  eigenthümlich  gebauten,  sehr 
empfindlichen  Nervenhaut  (Retina);  3)  unmittelbar  vor  derselben 
befinden  ^ch  Apparate,  welche  die  Lichtschwingungen  verschiede- 
ner Geschwindigkeit  in  diejenigen  Nervenschwingungen  umsetzen, 
welche  als  Farbenempfindungen  percipirt  werden;  4)  vor  derselben 
sieht    eine  Camera  obscura;   5)   die  Brennweite  dieser  Camera  ist 


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•   30 

im  Allgemeinen  für  das  Brechungsverhältniss  von  Luft  und  Augen- 
körper passend  (ausser  bei  Wasserthieren) ;  6)  die  Brennweite  ist 
durch  verschiedenartige  Contractionen  für  Sehweiten  von  einigen 
Zollen  bis  unendlich  zu  ändern ;  7)  die  Linse  ist  durch  eigenthüm- 
lieh  concentrische  Schichtung  so  constrmrt,  dass  sie  ein  achroma- 
tisches Bild  ohne  erhebliche  Fehler  der  Sphäricität  giebt;  8)  die 
einzulassende  Lichtquantität  wird  durch  Verengerung  und  Erweite- 
rung der  Lris  regulirt  und  dadurch  zugleich  bei  deutlichem  Sehen 
im  Hellen  die  peripherischen  Strahlen  abgeblendet;  9)  die  Dupli- 
cität  der  Augen  veranlasst  das  stereoskopische  Sehen  mit  der  drit- 
ten Dimension;  10)  beide  Augen  können  durch  besondere  Nerven- 
stränge und  Muskeln  zugleich  nur  nach  derselben  Seite,  also  un- 
symmetrisch in  Bezug  auf  die  Muskeln  bewegt  werden;  11)  die  von 
der  Peripherie  nach  dem  Centrum  zunehmende  Deutlichkeit  des 
Gesichtsbildes  verhindert  die  sonst  unvermeidliche  Zerstreuung  der 
Au&nerksamkeit ;  12)  das  reflectorische  Hinwenden  des  deutlichen 
Sehpuncts  nach  dem  hellsten  Puncte  -des  Gesichtsfeldes  erleichtert 
das  Sehenlemen  und  das  Entstehen  der  BÄumvorstellungen  in  Ver- 
bindung mit  dem  vorigen;  13)  die  stets  herabrinnende  Thränen- 
feuchtigkeit  erhält  die  Oberfläche  der  Hornhaut  durchsichtig  und  führt 
den  Staub  ab;  14)  die  hinter  Knochen  zurückgezogene  Lage,  die 
reflectorisch  bei  jeder  Gefahr  sich  schliessenden  Lieder,  die  Wim- 
pern und  Brauen  schützen  vor  schnellem  Unbrauchbarwerden  der 
Organe  durch  äussere  Einwirkungen. 

Alle  diese  14  Bedingungen  sind  nöthig  zum  normalen  Sehen 
und  dessen  Bestand;  sie  alle  sind  bei  der  Geburt  des  Bandes  be- 
reits vorhanden,  wenn  auch  ihre  Anwendung  noch  nicht  geübt  ist; 
die  ihrer  Entstehung  vorangehenden  und  sie  begleitenden  Umstände 
(n.  n.)  sind  also  in  der  Begattung  und  dem  Fötusleben  zu  suchen. 
Das  wird  aber  wohl  den  Physiologen  nfemals  gelingen,  in  der  Keim- 
scheibe des  befruchteten  Eies  und  den  zuströmenden  Muttereäften 
die  zureichende  Ursache  für  die  Entstehung  aller  dieser  Bedingun- 
gen mit  nur  einiger  Wahrscheinlichkeit  aufzuzeigen;  es  ist  nicht 
abzusehen,  warum  das  Kind  sich  nicht  auch  ohne  Sehnerven  oder 
ohne  Augen  entwickeln  soll.  .Gesetzt  nun  aber,  man  stützte  sich 
dabei  auf  unsere  Unkenntnisse  obwohl  dies  ein  schlechter  Grund 
für  positive  Wahrscheinlichkeiten  ist,  und  nähme  für  jede  der  14 
Bedingungen  eine  ziemlich  hohe  Wahrscheinlichkeit  an,  dass  sie  sich 
aus   den    materiellen    Bedingungen    des    Embryolebens    entwickeln 


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31 

müsse,  meinetwegen  im  Durchschnitt  |^  (was  schon  eine  Wahr- 
soheinlidikeit  ist,  die  wenige  unserer  sichersten  Erkenntnisse  be- 
sitaen),  so  ist  doch  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  alle  diese  Be- 
dingungen aus  den  materiellen  Yerhältnissen  des  Embryolebens 
folgen,  0,9^*=  0,23,  also  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  für  diesen 
Complex  eine  geistige  Ursache  in  Anspruch  genommen  werden 
mässessO,??,  d.  i.  über  f ;  in  Wahrheit  sind  aber  die  einzelnen 
Wahrscheinlichkeiten  =  0,25,  oder  höchstens  0,5,  und  demnach  die 
Wahrscheinlichkeit  einer  geistigen  Ursache  für  das  Ganze  = 
0,9999999996,  respective  0,99994,  d.  h.  Gewissheit. 

Wir  haben  auf  diese  Weise  erkannt,  wie  man  aus  mate- 
riellen Vorgängen  auf  das  Mitwirken  geistiger  Ur- 
sachen zurückschliessen  kann,  ohne  dass  letztere  der 
unmittelbaren  Erkenntniss  offen  liegen.  Von  hier  zur 
£rkenntniss  der  Finalität  ist  nur  noch  Ein  Schritt.  Eine  geistige 
Ursache  für  materielle  Vorgänge  kann  nur  in  geistiger  Thätigkeit 
bestehen,  und  zwar  muss,  wo  der  Geist  nach  aussen  wirken  soll, 
Wille  vorhanden  sein,  und  kann  die  Vorstellung  dessen,  was  der 
Wille  will,  nicht  fehlen,  wie  dies  in  Cap.  A.  IV.  zur  näheren  Er- 
örterung kommt.  Die  geistige  Ursache  ist  also  Wille  in  Verbindung 
niit  Vorstellung,  und  zwar  der  Vorstellung  des  materiellen  Vor- 
ganges; der  bewirkt  werden  soll  (M).  Wir  nehmen  hier  der  Kürze 
halber  an,  dass  M  d  i  r  e  c  t  aus  einer  geistigen  Ursache  hervorgeht, 
was  keineswegs  nöthig  ist.  Fragen  wir  weiter:  was  kann  die  Ur- 
sache davon  sein,  dass  M  gewollt  wird.  Hier  reisst  uds  jeder 
eamale  Faden  ab,  wenn  wir  nicht  zu  der  ganz  einfachen  und  natür- 
lichen Annahme  greifen :  das  Wollen  von  Z.  Das  Z  nicht  als  reale 
Existenz,  sondern  nur  idealiter,  d.  h.  als  Vorstellung  den  Vorgang 
beeinflussen  kann,  versteht  sich  von  selbst  nach  dem  Satze,  dass 
die  Ursache  früher  als  die  Wirkung  sein  muss.  Dass  aber  Z- 
wollen  ein  hinreichendes  Motiv  für  M- wollen  ist,  ist  ebenfalls 
ein  selbstverständlicher  Satz,  denn  wer  die  Wirkung  vollbringen  will, 
muss  auch  die  Ursache  vollbringen  wollen.  Freilich  haben  wir  an 
dieser  Annahme  nur  dann  eihe  eigentliche  Erklärung,  wenn  uns 
das  Z- wollen  begreiflicher  ist,  als  das  M- wollen  an  sich  ist.  Das 
Z  -  wollen  muss  also  entweder  in  der  Verwirklichung  von  selbst  sein 
genügendes  Motiv  haben,  oder  an  einem  Wollen  von  Zj,  welches  als 
Wirkung  auf  Z  folgt;  bei  diesem  wiederholt  sich  dann  dieselbe 
Betrachtung.     Je  evidenter  das  letzte  Motiv  ist,  bei  dem  wir  stehen 


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32 

bleiben,  um  so  wahrscheinlicher  wird  es,  dass  das  Z  -  wollen  Ursache 
des  M-woUens  sei.  Dass  dies  in  der  That  der  Gang  unserer  Be- 
trachtung den  Naturzwecken  gegenüber  sei,  ist  leicht  zu  sehen. 
Wir  haben  z.  B.  gesehen,  der  Vogel  brütet  deshalb,  weil  er  brüten 
will.  Mit  diesem  dürftigen  Resultat  müssen  wir  uns  entweder  be- 
gnügen, und  auf  alle  Erklärung  verzichten,  oder  wir  müssen  fragen, 
warum  wird  das  Brüten  gewollt?  Antwort:  weil  die  Entwickelung 
und  das  Auskriechen  des  jungen  Vogels  gewollt  wird.  Hier  sind 
wir  in  demselben  Falle;  wir  fragen  also  weiter:  warum  wird  die 
Entwickelung  des  jungen  Vogels  gewollt?  Antwort:  weil  die  Fort- 
pflanzung gewollt  wird ;  diese,  weil  das  längere  Bestehen  der  Gat- 
tung trotz  des  kurzen  Lebens  der  Individuen  gewollt  wird,  und 
hiermit  haben  wir  ein  Motiv,  das  uns  vorläufig  befriedigen  kann. 
Wir  werden  demnach  zu  der  Annahme  berechtigt  sein,  dass  das 
Wollen  der  Entwickelung  des  jungen  Vogels,  die  (gleichviel,  ob 
directe  oder  indirecte)  Ursache  zum  Wollen  des  Bebrütens  ist,  d.  h. 
dass  ersteres  durch  das  Mittel  des  Bebrütens  bezweckt  sei.  (Hier 
handelt  es  sich  nicht  darum,  ob  dieser  Zweck  dem  Vogel  bewusst 
ist  oder  nichts  obwohl  dies  bei  einem  einsam  erzogenen  jungen  Vogel 
unmöglich  angenommen  werden  kann,  denn  woher  sollte  er  die  be- 
wusste  Kenntniss  der  Wirkung  des  Bebrütens  erhalten  haben?) 
Freilich  bleibt  immer  noch  die  Möglichkeit  übrig,  dass  eine  geistige 
Ursache  dem  Vorgang  M  zu  Grunde  liege,  ohne  dass  dieselbe  durch 
das  Wollen  von  Z  motivirt  sei,  mithin  wird  die  Wahrscheinlichkeit, 
dass  Z  bezweckt  ist,  ein  Product  sein  aus  der  Wahrscheinlichkeit, 


dass  M  eine  geistige  Ursache  habe  (  1 1,   und   aus  der,    dass 

diese  geistige  Ursache  das  Z  -  wollen  zur  Ursache  habe  — ;  das  Pro- 

y 


duct    (1 I — muss   aber   natürlich  kleiner  sein,   als  jeder  der 

Factoren,  da  jede  Wahrscheinlichkeit  kleiner  als  1  ist.     Auch  hier 

kann  die  Wahrscheinlichkeit   erheblich  vergrössert  werden,  wenn 

man   die  einzelnen  Bedingungen  (Pj ,  Pg ,  P3 ,  P4)  betrachtet,  aus 

denen  M  sich  gewöhnlich  zusammensetzt.     Die  Wahrscheinlichkeit, 

dass  Z  durch  P^  bezweckt  sei,  ist  nach  obigem  ( 1 )  — ,  wenn 

-,   die  Wahrscheinlichkeit   ist,    dass    die    ir 


— ,   die  Wahrscheinlichkeit   ist,    dass    die    geistige   Ursache   das 


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l 


33 

Z-wollen    zur  Ursache  hat;   demnach  ist  die  Wahrscheinlichkeit, 

duB  P  nicht  auf  Z  abzwecke  =  1  ~  ( 1 1  —  ;    folglich    ist 

die  WahrBcheinlichkeit,  dass  weder  Pj,  noch  Pj,  noch  Pg, 
noch  P4,  Z  zum  Zweck  habe,  d.  h.  dass  Z  auf  keine  Weise  durch 
M  bezweckt  sei  ="  dem  Product  der  einzelnen  Wahrscheinlichkeiten 

oder=)  (1-fl 1.)\ 

£(^glidk  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  M  mit  irgend  einem  seiner 
Theile  Z  bezwecke,  d.  h.  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  Z  überhaupt 
Zweck  von  M    ist,    gleich    dem    Supplement    dieser    Grösse    zu  1^ 

=  1  —  )  (1—  (1 )  — :  — ,  —   etc.    sind    echte    Brüche, 

ebenso  — ,    -  -  etc.,  folglich  auch  1 ,  und  f  1 1  — ,  und 

1  —  (1 ) — ,  und  alle  entsprechenden,  folglich  auch  ihr  Pro- 

^        Pi^  9i 

dnct  )  (1  —  ( l )  -    ;  daraus  folgt,  dass  dies  Product  um  so 

Li  \        PiJgi 

kleiner  wird,  je  grösser   die  Anzahl   n  wird;   denn  wenn  72  um  1 

▼äohst,  so  ist  der  neu  hinzukommende  Factor  1  —  (1 ) ; 

\  pn^l/qn-^l 

dieser  Factor  ist  ebenso  wie  das  Product  ein  echter  Bruch,  also 
111U88  das  Product  aus  beiden  ein  echter  Bruch  sein,  der  kleiner 
i«t,  als  jeder  von  beiden  Factoren,  q,  e.  d.  -  Daraus  nun,  dass 
)  (  mit  wachsendem  n  kleiner  wird,  folgt,  dass  1  —  W  mit  wachsen« 

L.JI  l...»t 

dem  n  grösser  wird;  also  wächst  auch  diese  Wahrscheinlichkeit 
mit  der  Anzahl  der  Bedingungen,  aus  denen  M  sich  zusammensetzt. 

Is  sei  (  1 1 — ,  I  l )  —  etc.  im  Durchschnitt  =-r>  d.  h. 

\      PxJgi   \      p%Ji%  4 

die  Wahrscheinlichkeit,  dass  jede  einzelne  der  Bedingungen  von  Z 
dieses  bezwecke,  sei  im  Durchschnitt  »>  —->  also  schon  sehr  unwahr- 

seheinüch.     Dann  ist  1  —  (1 )  —  durchschnittlich  =  — ,    dies 

\      pJ  q  4 

81  r        /  1  \  1 1*       175 

im  vierten  Potenz  giebt—,alsol-[l-(^l-^j-J   =256  = 

3 

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Phil.  d.  UsbemiBsten. 


/ 


34 

2 

über  —,  d.  h.  es  resultirt  im  Ganzen  schon  eine  recht  hübsche  Wahr- 
o 

Bcheinlichkeit,  denn  man  gewinnt  noch,  wenn  man  2  gegen  1  auf 
das  Bestehen  des  Zweckes   wettet.     Die  Anwendung  auf  das  Bei- 
spiel vom  Sehen  liegt  auf  der  Hand. 
/  Wir  haben  hieraus   gelernt,  dass  ganz  besonders  solche  Wir- 

/  kungen  mit  Sicherheit  als  Zwecke  erkannt  werden  können,  welche 
einen  grösseren  Gomplex  von  Ursachen  zu  ihrem  Zustandekommen 
brauchen ,  deren  jede  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  hat,  Mittel  au 
diesem  Zweck  zu  sein,  ^s  ist  daher  kein  Wander,  dass  gerade  die 
allgemeinsten  NaturerscheinTingen  Ton  jeher  die  ungetheilteste  An- 
erkennung als  Zweck  gefunden  haben.  Z.  B.  die  Existenz  und  der 
Bestand  der  organischen  Katur  als  Zweck  ihrer  eigenen  Einrich- 
tungen, sowie  der  der  unorganischen  Natur.  Hier  wirken  geradezu 
eine  unendliche  Menge  Ursachen  zusammen,  um  diese  G^esammt- 
Wirkung,  das  Bestehen  der  Organismen,  zu  sichern.  Soweit  diese 
Ursachen  in  den  Organismen  selbst  liegen,  theilen  sie  sich  in  solche, 
die  die  Erhaltung  des  Individuums,  und  solche,  die  die  Erhaltung 
der  Gattung  herbeiführen.  Auch  diese  beiden  Puncto  sind  wohl 
selten  als  Waturzwecke  verkannt  worden.  Wenn  wir  nun  einen 
solchen  mit  möglichster  Gewissheit  erkannten  Zweck  Z  nennen,  so 
wissen  wir,  dass  keine  seiner  vielen  Ursachen  fehlen  darf,  wenn 
er  erreicht  werden  soll,  also  auch  z.  B.  M  nicht.  Da  ich  nun 
weiss,  dass  Z  und  M  beide  vor  ihrer  realen  Existenz  gewollt  und 
vorgestellt  waren,  und  ich  sehe,  dass  zum  Zustandekommen  von  M 
unter  andern  die  äussere  Ursache  M,  erforderlich  ist,  so  erhält  die 
Annahme,  dass  auch  M^  vor  seiner  realen  Existenz  gewollt  und 
vorgestellt  war,  durch  diesen  Bückschluss  eine  gewisse  Wahr- 
scheinlichkeit. Mag  nämlich  M  durch  unmittelbare  Einwirkung 
einer  geistigen  Ursache  verwirklicht  sein ,  oder  mittelbar,  indem  es 
aus  materiellen  Ursachen  folgt,  deren  einige  oder  mehrere  geistig 
verursacht  sind,  in  beiden  Fällen  kann  M^  vor  seiner  realen 
Existenz  als  Mittel  für  den  Zweck  M  gewollt  und  vorgestellt 
sein.  Im  letzteren  Falle  ist  dies  ohne  weiteres  klar,  aber  auch 
im  ersteren  Falle  schliesst  die  unmittelbare  Einwirkung  einer 
geistigen  Ursache  bei  der  Verwirklichung  von  M  nicht  aus,  dass 
auch  die  materiellen  Ursachen  von  M,  also  auch  M^,  zum  grösseren 
oder  kleineren  Theil  wieder  aus  geistigen  Ursachen  entsprangen 
sind,  die  M  und  Z  bezweckten;    dies    ist  sogar  in  der  organischen 


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35 

IJatur  der  normale  Sachverhalt.  Mithin  resultirt  aus  diesem  Bück- 
«chluse  jedenfalls  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit,  dass  auch  Mi 
bezweckt  worden  sei,  und  wenn  dieselbe  auch  an  sich  nicht  gross 
sein  mag,  so  ist  sie  doch  immerhin  eine  nicht  zu  vernachlässigende 
Vermehrung  der  direct  gewonnenen  Wahrscheinlichkeitsgrösse,  da 
diese  Unterstützung  nicht  nur  allen  folgenden  Stufen  zu  Gute 
kommt,  sondern   sich  bei  einer  jeden  wiederholt 

Man  sieht  nach  diesen  Betrachtungen,  dass  die  Wege,  auf  welchen 
in^n  Zwecke  in  der  Natur  erkennt,  sich  mannigfach  combiniren. 
Es  kann  von  Benutzung  solcher  Kechnungen  in  Wirklichkeit  frei- 
lieh  keine  Bede  sein,  aber  sie  dienen  dazu,  die  Principien  aufzu- 
klären, nach  welchen  sich  der  logische  Prozess  über  diesen 
€legenstand  mehr  oder  minder  unbewusst  in  jedem  vollzieht,  der 
hierüber  richtig  nachdenkt,  und  nicht  von  erhabenen  Systemstand- 
puncten  von  vornherein  abspricht.  Auch  wird  diese  Betreu^htung 
sicherlich  kleinen  Gegner  der  Annahme  von  Naturzwecken  bekehren, 
denn  dies  können  nur  Beispiele  in  Masse;  aber  sie  wird  vielleicht 
manchen,  der  über  die  Annahme  von  Naturzwecken  weit  erhaben 
zu  sein  glaubte,  vermögen,  Beispiele  darauf  hin  genauer  und 
anbefangener  zu  erwägen,  und  in  diesem  Sinne  eine  Vorbereitung 
ior  den  Abschnitt  A.  der  Untersuchungen  zu  schaffen,  war  auch 
der  alleinige  Zweck  dieses  Capitels. 


3* 

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A. 


Die  Erscheinung  des  Unbewussten  in 
der  Leiblichkeit. 


Die  Mftterialisten  bemfthen  sich,  ta  xeigen, 
dM8  alle  Phinomene,  amch  die  gelBÜgen.  pky- 
•  isch  sind:  mit  Recht;  nnr  sehen  sie  nicht  ein, 
dAM  alles  FhTsische  andererseits  zugleich  ein 
Metaphysisches  ist. 

Schopinhatm: 


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Der  uibewnsste  Wille  in  den  selbststftndigen  Rflcken- 
marks-  nnd  Oanglienfnnctionen. 


Die  Zeit  ist  vorüber,  wo  man  dem  freien  Menschen  die  Thiere 
als  wandelnde  Maschinen,  als  Antomaten  ohne  Seele  gegenüber 
ateüte.  Eine  eingehendere  Betrachtang  des  Thierlebens,  die  eifrige 
Bemühong  um  das  Verständnis  s  ihrer  Sprache  und  die  Motive  ihrer 
Handlangen  hat  gezeigt,  dass  der  Mensch  von  den  höchsten  Thieren, 
ebenso  wie  die  Thiere  unter  einander,  nur  graduelle ,  aber  nicht 
wesentliche  Unterschiede  der  geistigen  Befähigung  zeigt;  dass  er 
Tetrmöge  dieser  höheren  BeflQiigung  sich  eine  vollkommenere  Sprache 
geschaffen,  und  durch  diese  die  Perfectibüität  durch  Generationen 
hindurch  erworben  hat,  welche  den  Thieren  eben  wegen  ihrer  un- 
ToUkommenen  Mittheilungsmittel  fehlt.  Wir  wissen  also  jetzt,  dass 
wir  nicht  den  heutigen  Gebildeten  mit  den  Thieren  vergleichen 
dürfen,  ohne  gegen  diese  ungerecht  zu  sein,  sondern  nur  die  Yölker, 
4ie  sich  noch  wenig  von  dem  Zustande  entfernt  haben,  in  welchem 
sie  aus  der  Hand  der  Natur  entlassen  wurden,  denn  wir  wissen^ 
dass  auch  unsere  jetzt  durch  höhere  Anlagen  bevorzugte  Race  der- 
einst gewesen,  was  jene  noch  heute  sind,  und  dass  unsere  heutigen 
Ufaeren  Gehirn*  und  Geistesanlagen  nur  durch  das  Gesetz  der 
Tererbung  auch  des  Erworbenen  allmälig  diese  Höhe  erreicht  haben. 
80  steht  das  Thierreich  als  eine  geschlossene  Situfenreihe  von  Wesen 
TOT  uns,  mit  durchgehender  Analogie  behaftet;  die  geistigen  Ghrund- 
Termc^en  müssen  in  allen  dem  Wesen  nach  dieselben  sein,  und 
was  in  höheren  als  neu  hinzutretende  Vermögen  erscheint,  sind 
wai  seoundäre  Vermögen,  die  sich  durch  höhere  Ausbildung  der 
gemeinsamen  Grundi^thigkeiten  nach  gewissen  Richtungen  hin  ent- 
wiekeln.     Diese  Grund-  oder  XJrthätigkeiten  des   Geistes    in  allen 


A 


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^  _ 

Wesen  sind  Wollen  und  Vorstellen,  denn  das  Gefühl  lässt  sich  (wie 
ich  Gap.  B.  DI.  zeigen  werde)  aus  diesen  beiden  mit  Hülfe  des 
XJnbewnssten  entwickeln. 

Wir  sprechen  in  diesem  Capitel  bloss  vom  Willen.  Dass  das- 
selbe, was  wir  als  unmittelbare  Ursache  unseres  Handelns  im  Be- 
wusstsein  finden  und  Wille  nennen,  dass  eben  dieses  auch  in  dem 
Bewusstsein  der  Thiere  als  causales  Moment  ihres  Handelns  lebt, 
und  auch  hier  Wille  genannt  werden  muss,  unterliegt  wohl  keinem 
Zweifel,  wenn  man  nieht  so  yomehm  sein  will,  (wie  bei  essen, 
trinken  und  gebären)  für  dieselbe  Sache  beim  Thier  andere  Namen 
zu  gebrauchen  (fressen,  saufen,  werfen).  Der  Hund  will  sich  nicht 
von  seinem  Herrn  trennen,  er  will  das  in's  Wasser  gefallene  Kind 
von  dem  ihm  wohlbekannten  Tode  retten,  der  Vogel  will  seine 
Jungen  nicht  beschädigen  lassen,  das  Männchen  will  den  Besitz 
seines  Weibchens  nicht  mit  einem  anderen  theilen  u.  s.  w.  —  Ich 
weiss  wohl,  dass  es  viele  giebt,  die  den  Menschen  zu  heben  glau- 
ben,  wenn  sie  mögliobst  viel  bei  den  Thieren,  namentlich  den 
unteren,  als  Beflerwirkung  erklären.  Wenn  diese  die  gewöhnliche 
physiologische  Tragweite  des  Begriffes  Befiezwirkimg  als  unwill- 
kürliche Beaction  auf  äussern  Beiz  im  Sinne  haben,  so  kann  man 
wohl  sagen,  sie  müssen  nie  Thiere  beobachtet  haben,  oder  sie  müssen 
mit  sehenden  Augen  blind  sein;  wenn  sie  aber  die  Befiezwirkung 
über  ihre  gewöhnliche  physiologische  Bedeutung  in  ihren  wahren 
BegrijQf  ausdehnen,  so  haben  sie  zwar  Becht,  aber  sie  vergessen 
dann  bloss :  erstens,  dass  auch  der  Mensch  in  lauter  Befiezwirkun« 
gen  lebt  und  webt,  dass  jeder  Willensact  eine  Eeflezwirkung  ist, 
zweitens  aber,  dass  jede  Befi.exwirkung  ein  Willensact  ist,  wie  in 
Cap.  V.  gezeigt  wird. 

Behalten  wir  also  vorläufig  die  gewöhnliche  engere  Bedeutung 
von  Befiex  bei,  und  sprechen  nur  von  solchen  Willensaoten,  welche 
nicht  in  diesem  Sinne  Beflexe,  also  nicht  unwillkürliche  Beactionen 
des  Organismus  auf  äussere  Beize  sind.  Zwei  Merkmale  sind  es 
hauptsächlich,  an  denen  man  den  Willen  von  den  Befiexwirkungen 
unterscheiden  kann,  erstens  der  Affeot,  und  zweitens  die  Consequens 
in  Ausführung  eines  Vorsatzes.  Die  Befieze  vollziehen  sich  me- 
chanisch und  afiectlos,  es  gehört  aber  nicht  allzuviel  Physionomik 
dazu,  um  auch  an  den  niedrigen  Thieren  das  Vorhandensein  y<m 
Affecten  deutlich  wahrzunehmen.  Bekanntlich  führen  manche 
Ameisenarten  Kriege  untereinander,  in  denen  ein  Staat  den  andern 


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41 

unterwirft  und  sich  zu  Sclayen  macht,  um  durch  sie  seine  Arbeiten 
Terrichten  2u  lassen.  Diese  Kriege  werden  durch  eine  Erieger- 
kaste  geführt,  deren  Mitglieder  grösser  und  stärker  und  mit  kräf- 
tigeren Zangen  bewehrt  sind.  Man  braucht  nur  einmal  gesehen  zu 
haben,  wie  diese  Armee  an  den  feindlichen  Bau  anklopft^  die  Ar- 
beiter sich  zurückziehen  und  die  Krieger  herauskommen,  um  den 
Kampf  aufzunehmen,  mit  welcher  Erbitterung  gekämpft  wird,  und 
wie  sich  nach  unglücklichem  Ausgang  der  Schlacht  die  Arbeiter 
des  Baues  gef&ngen  geben,  dann  wird  man  nicht  mehr  zweifeln, 
dass  dieser  prämeditirte  Raubzug  einen  sehr  entschiedenen  Willen 
leigt,  und  nichts  mit  Beflexwirkungen  zu  thun  hat.  Aehnlich  ist 
es  bei  Raubbienenschwärmen. 

Die  Reflexivwirkung  verschwindet  und  wiederholt  sich  mit  dem 
äoseem  Reiz,  aber  sie  kann  nicht  einen  Vorsatz  fassen,  den  sie 
unter  veränderten  äussern  Umständen  mit  zweckmässiger  Aendemng 
der  Mittel  längere  Zeit  hindurclr  verfolgt.  Z.  B.  wenn  ein  geköpfter 
Frosch,  der  lange  nach  der  Operation  ruhig  liegen  geblieben  ist, 
plötzlich  anfingt  Schwimmbewegungen  zu  machen,  oder  fortzuhüpfen, 
so  könnte  man  noch  geneigt  sein,  dies  als  blosse  physiologische 
Reflexwirkungen  auf  Reizungen  der  Luft  an  den  durchschnittenen 
Nerroienden  anzusehen,  wenn  aber  der  Frosch  eine  bestimmte  Rich- 
timg einschlägt  und,  aus  dieser  Richtung  herausgebracht,  mit  selte- 
nem Eigensinn  dieselbe  stets  wieder  zu  gewinnen  sucht,  wenn  er 
sich  unter  Spinde  und  in  andere  Winkel  verkriecht,  offenbar  um 
vor  den  Verfolgern  Schutz  zu  suchen,  so  liegen  hier  unverkennbar 
niohtrefleotorische  Willensacte  vor. 

Aus   diesem  Beispiel  vom  geköpften  Frosch   und  dem  Willen 
aller  wirbellosen  Thiere  (z.  B.  der  Insecten)  geht  hervor,  dass  zum  \ 
Zustandekommen  des  Willens  durchaus  kein  Gehirn  erfbrder-  ] 
lieh  ist.     Da  bei  den  wirbellosen  Tbieren  die  Schlundganglien  das 
Gehirn  ersetzen,    werden   wir  annehmen  müssen,   dass  diese  zum  : 
Willensact  auch  genügen,  und  bei  jenem  Frosch  muss  das  Rücken-  i 
uark  die  Stelle   des   Gehirns   vertreten   haben.     Aber  auch  nicht  ' 
bloss  auf  die  Schlundganglien    der  wirbellosen  Thiere  werden  wir 
den  Willen  beschränken  dürfen,  denn  wenn  von  einem  durchschnit- 
tenen Inseet  das  Vordertheil  den  Act  des  Fressens,  tmd  von  einem 
öderen  durchschnittenen  Inseet  das  Hintertheil  den  Act   der  Be- 
gattung fortsetzt^  ja  wenn  sogar  Fangheuschrecken  mit  abgeschnit- 
Venen  Köpfen  noch  gerade  wie  unversehrte,  Tage  lang  ihre  Weibchen 


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42 

auüsuohen,  finden  und  sich  mit  ihnen  begatten,  so  ist  w<^l  klajr, 
dass  der  Wille  zum  Fressen  ein  Act  des  Schlundringes,  der  Wille 
zur  Begattung  aber  wenigstens  in  diesen  Fällen  ein  Act  anderer 
Gfanglienknoten  des  Bumpfes  gewesen  sei.  Die  nämliche  Selbst- 
ständigkeit des  Willens  in  den  verschiedenen  Ganglienknoten  eines 
und  desselben  Thieres  sehen  wir  darin,  dafis  von  einem  zerschnit- 
tenen Ohrwurm  häufig,  von  einer  australischen  Ameise  regel- 
mässige sich  beide  Hälften  gegen  einander  kehren,  und  unter  den 
unverkennbaren  Affecten  des  Zorns  und  der  Kampflust  sich  mit 
FresBzange  resp.  Stachel  bis  zum  Tode  oder  zur  Erschöpfung  wü- 
thend  bekämpfen.  Aber  selbst  auf  die  Ganglien  werden  wir  die 
Willensthätigkeit  nicht  beschräDken  dürfen,  denn  wir  finden  selbst 
bei  jenen  tiefstehenden  Thieren  noch  Willensacte ,  wo  das  Mikro- 
skop des  Anatomen  noch  keine  Spur  weder  Ton  Muskelfibrin,  noch 
von  Nerven,  sondern  statt  beider  nur  die  Mulder^sche  Fibroine 
entdeckt  hat  und  wo  vermuthlich  die  halbfiüssige ,  schleimige  Kör- 
persubstanz  des  Thieres  ebenso  wie  in  den  ersten  Stadien  der 
EmbryocDtwickelung  die  Bedingungen  selbst  schon  in  untergeordne- 
tem Maasse  erfüllt,  welchen  die  Nerven  Substanz  ihre  Beizbarkeit, 
Leitungsfahigkeit  und  Mittlerschaft  für  die  Bethätigung  der  Willens- 
acte verdankt,  nämlich  die  leichte  Yerschiebbarkeit  und  Polarisir- 
barkeit  der  Molecule.  Wenn  man  einen  Polypen  in  einem  Glas 
mit  Wasser  hat,  und  dieses  so  stellt,  dass  ein  Theil  des  Wassero 
von  der  Sonne  beschienen  ist,  so  rudert  der  Polyp  sogleich  aus  dem 
dunkeln  nach  dein  beschienenen  Theile  des  Wassers.  Thut  man 
femer  ein  lebendes  Inftisionsthierchen  hinein  und  dieses  kommt  dem 
Polyp  auf  einige  Linien  nahe,  so  nimmt  er  dasselbe,  weiss  Gott  wo- 
durch, wahr,  und  erregt  mit  seinen  Armen  einen  Wasserstrudel^ 
um  es  zu  verschlingen.  Nähert  sich  ihm  dagegen  ein  todtes  la- 
fasionsthier,  ein  kleines  pflanzliches  Geschöpf  oder  ein  Stäubchen 
auf  dieselbe  Entfernung,  so  bekümmert  er  sich  gar  nicht  danun. 
Der  Polyp  nimmt  also  das  Thierchen  als  lebendig  wahr,  schlieest 
daraus,  dass  es  für  ihn  zur  Nahrung  geeignet  sei,  und  trifft  die 
Anstalten,  um  es  bis  zu  seinem  Munde  heranzubringen.  Nicht  selten 
sieht  man  auch  zwei  Polypen  um  eine  Beute  in  erbittertem  Kampfe. 
Einen  durch  so  feine  Sinneswahmehmung  motivirten  und  so  deut- 
lieh  kundgegebenen  Willen  wird  niemand  mehr  physiologischen 
Befiex  im  gewöhnlichen  Sinne  nennen  können,  es  müsste  denn  auch 
Beflez  sein,  wenn  der  Qärtner  einen  Baumast  niederbeugt,  um  die 


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.  •   43 

leifen  Früchte  erlangen  zu  können.  Wenn  wir  somit  in  nervenloeen 
Thieren  noch  Willensacte  sehen,  werden  wir  uns  gewiss  nicht 
geoiren  dürfen,  dieselben  in  Ganglien  anzuerkennen. 

Dies  Eesultat  wird  auch  durch  die  vergleichende  Anatomie  unter- 
stützt,  welche  lehrt,  dass  das  Gehirn  ein  Conglomerat  von  Ganglien 
in  Verbindung  mit  Leitungsnerven,  und  das  Rückenmark  in  seiner 
grauen  Central-Substanz  ebenfalls  eine  Reihe  mit  einander  verwach- 
seaer  Qanglienknoten  sei.  Die  Gliederthiere  zeigen  zuerst  ein 
schwaches  Analogon  des  Gehirnes  in  Gestalt  zweier  durch  den 
SeUundring  zusammenhängenden  Knötchen  und  des  Rückenmarks 
im  sogenannten  Bauobstrang,  ebenfalls  Knoten,  die  durch  Fäden 
verbunden  sind,  und  von  denen  je  einer  einem  Gliede  und  Fuss- 
paare  des  Tbieres  entspricht.  Dem  analog  nehmen  die  Physiologen 
Boyiel  selbstständige  Centralstellen  im  Rückenmark  an,  als  Spinal- 
nervenpaare aus  demselben  entspringen.  Unter  Wirbelthieren 
kommen  noch  Fische  Tor,  deren  Gehirn  und  Rückenmark  aus  einer 
Aozahl  Ganglien  besteht,  welche  in  einer  Reihe  gedrängt  hinter 
einander  liegen.  Eine  mehr  als  ideelle,  eine  volle  Wahrheit 
erhält  die  Zusammensetzung  eines  Centralorgans  aus  mehreren 
Ganglien  in  der  Metamorphose  der  Insecten,  indem  dort  gewisse 
Ganglien,  welche  bei  dem  unvollkommeneren  Geschöpfe  getrennt 
sind,  in  einer  höheren  Fntwickelungsstufe  zur  Einheit  verschmolzen 
erscheinen. 

Diese  Thatsachen  möchten  genügen,  um  die  Wesensgleichheit 
von  Hirn  und  Ganglien,  von  Himwille  und  Ganglienwille  zu  be- 
sengen.  Wenn  nun  aber  die  Gkmglien  niederer  Thiere  ihren  selbst- 
ständigen Willen  haben,  wenn  das  Rückenmark  eines  geköpften 
FiQsches  ihn  hat,  warum  sollen  dann  die  soviel  höher  organisirten 
Ganglien  und  Rückenmark  der  höheren  Thiere  und  des  Menschen 
nicht  auch  ihren  Willen  haben?  Wenn  bei  Insecten  der  Wille 
zum  Fressen  in  vorderen,  der  Wille  zur  Begattung  in  hinteren 
Ganglien  liegt,  warum  soll  dann  beim  Menschen  nicht  auch  eine 
solche  Arbeitstheilung  für  den  Willen  vorgesehen  sein  ?  Oder  wäre 
es  denkbar,  dass  dieselbe  Katurersoheinung  in  unvollkommenerer 
Gestalt  eine  hohe  Wirkung  zeigt,  die  ihr  in  vollkommenerer  Gestalt 
gänzlich  fehlt?  Oder  wäre  etwa  im  Menschen  die  Leitung  so  gut, 
daas  jeder  Ganglienwille  sofort  nach  dem  Hirn  geleitet  würde  und 
nni  von  dem  im  Hirn  erzeugten  Willen  ununtersoheidbar  in's  Be- 
wuBstsein  träte  ?     Dies  kann  für  die  oberen  Theile  des  Rückenmarks 


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44    _ 

yielleicht  bis  zu  einem  gewissen  Maasse  wahr  sein,  für  alles  übrige 
gewiss  nicht,  da  ja  schon  die  Empfindungsleitnngen  aus  dem  ünter- 
leibsgangliensystem  bis  zum  Verschwinden  dumpf  sind.  Es  bleibt 
also  nichts  übrig,  als  auch  den  menschlichen  Ganglien  und  Rücken- 
mark selbstständigen  Willen  zuzuerkennen,  dessen  Aeussenmgen 
wir  nur  noch  empirisch  nachzuweisen  haben.  Dass  bei  höheren 
Thieren  die  Muskelbewegungen,  welche  die  äussern  Handlungen 
bewirken,  mehr  und  mehr  dem  kleinen  Gehirn  unterworfen  und 
somit  centralisirt  werden,  ist  bekannt,  wir  werden  also  in  dieser 
Hinsicht  weniger  Thatsachen  auffinden,  und  ist  dies  auch  der  Grund, 
warum  bis  jetzt  die  Selbstständigkeit  des  Gangliensystems  in  höheren 
Thieren  von  Physiologen  wenig  anerkannt  worden  ist,  obwohl  die 
neuesten  Forscher  sie  yertheidigen.  Diejenigen  WiUensacte  dag^en« 
welche  wirklich  den  Ganglien  zuzuschreiben  sind,  hat  man  sich  ge- 
wöhnlich als  Eeflexwirkungen  yorgesteUt,  deren  Reize  im  Organis- 
mus selbst  liegen  sollten,  welche  Reize  dann  willkürlich  angenom- 
men wurden,  wenn  sie  nicht  nachweisbar  waren.  Zum  Theil  mögen 
diese  Annahmen  berechtigt  sein,  dann  gehören  sie  eben  in  das 
Capitel  über  Reflexwirkungen,  ein  grosser  Theil  ist  es  aber  jeden- 
falls nicht,  und  dann  kann  es  auch  nicht  schaden,  selbst  dasjenige, 
was  RefLexwirkungen  sind,  hier  vom  Standpuncte  des  Willens  zu 
betrachten,  da  später  nachgewiesen  wird,  dass  jede  Reflexwirkting 
einen  unbewussten  Willen  enthält. 

Die  selbstständig,  d.  h.  ohne  Mitwirkung  des  Gehirns  und  Rücken- 
marks Yom  sympathischen  Nervensystem  geleiteten  Bewegungen  sind : 
1)  der  Herzschlag,  2)  die  Bewegung  des  Magens  und  des  Darms, 
3)  der  Tonus  der  Eingeweide,  Gefässe  imd  Sehnen,  4)  ein  grosser 
Theil  der  vegetativen  Processe,  insofern  sie  von  Nerventhätigkeit 
abhängig  sind.  Herzschlag,  Tonus  der  Arterien  und  Darmbewegungen 
zeigen  den  intermittirenden  Typus  der  Bewegung,  die  übrigen  den 
oontinuirenden.  Der  Herzschlag  beginnt,  wie  man  an  einem  blossge- 
legten  Froschherzen  sieht,  bei  den  contractilen  Hohlvenen,  dann  folgt 
die  Zusammenziehung  der  Yorhöfe,  dann  der  Ventrikel,  endlich  des 
Bulbus  aortae.  Am  Darm  beginnt  die  Bew^;ung  am  unteren  Theile 
der  Speiseröhre,  und  schreitet  wurmförmig  von  oben  nach  unten 
fort,  aber  eine  Welle  ist  noch  nicht  abgelaufen,  so  beginnt  schon 
die  nächste.  Haben  diese  Darmbewegungen  nicht  die  täuschendste 
Aehnlichkeit  mit  dem  Kriechen  eines  Wurmes,  bloss  mit  dem  Unter- 
schiede, dass  der  Wurm  sich  dadurch  auf  der  Unterlage  fortschiebt. 


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45^ 

während  hier   der  Wiinn  befestigt  ist,  und  die  (innere)  Unterlage, 
die  SpeiBemassen  nnd  die   Fäces  fortgeschoben   werden,  —  sollte 
das  eine  Wille  heissen  dürfen  und  das  andere  nicht?  —  Der  Tonus 
ist  eine  gelinde  Muskelcontraction,  welche  unaufhörlich  bei  Lebzeiten 
an  allen  Muskeln  stattfindet,  selbst  in  Schlaf  und  Ohnmacht.     Bei 
den  der  Willkür,  dem  HimwiUen,  unterworfenen  Muskeln  bewirkt 
um  das  Eückenmark,    und   es  entstehen  nur  deshalb  keine  Bewe- 
gfongen    der   Glieder,   weil    die  Wirkungen   der   entgegengesetzten 
Muskeln  (Antagonisten)  sich  aufheben.     Wo  daher  keine  entgegen- 
gesetzten Muskeln  sind   (wie  z.  B.  bei  den   kreisförmigen  Schliess- 
nmskeln),  da  ist  auch  der  Erfolg  der  Gontraction  deutlich,  und  kann 
nur  durch  starken  Andrang  der  den  Ausweg  suchenden  Massen  über- 
wunden werden.     Der  Tonus  der  Eingeweide,  Arterien  und  Venen 
hängt  vom  Sympathicus  ab  und  ist   letzterer    für   die   Blutcircula- 
tion  durchaus   nothwendig.  —  Was  endlich   die  Absonderung  und 
Brnähnmg  betrifft,   so   können   die   Nerven   dieselben  theils  durch 
Erweiterung    und    Verengerung    der   Capillargefösse ,    theils    durch 
^Innung  und  ErsohlafPäng   der  endosmotischen  Membranen,  theils 
endlich  durch  Erzeugung  von  chemischen,  electrischen  und  thermi- 
schen Strömungen  beeinflussen ;  alle  solche  Functionen  werden  aus- 
schliesslich   Ton   untergeordneten    Ganglien    aus    durch   die    allen 
Körpemerven  beigemengten  sympathischen  Nervenfasern  geleitet,  die 
sieh  namentlich  durch  geringere  Stärke  vor  den  sensiblen  und  mo- 
torischen Fasern  auszeichnen.     Die  sichersten  Beweise  für  die  Un- 
abhängigkeit des  G^ngliensystems  liegen  in  Bidder^s  Versuchen  mit 
Fröschen.     Bei  vollständig  zerstörtem  Rückenmark  lebten  die  Thiere 
oft  noch   sechs,   bisweilen  zehn  Woc}ien   (mit   allmälig   langsamer 
werdendem  Herzschlage).     Bei  Zerstörung  des  Gehirns  und  Rücken- 
markes   mit    alleiniger    Schonung    des   verlängerten   Markes    (zum 
Atbmen)     lebten    sie   noch  sechs  Tage;   wenn  auch  dieses  zerstört 
war,  konnte   man   Herzschlag   und   Blutkreislauf  noch  bis   in  den 
zweiten  Tag  hinein  beobachten.     Die  Frösche  mit  geschontem  ver- 
längertem  Mark   frassen   und  verdauten  ihre   Regenwürmer   noch 
nach  sechsundzwanzig  Tagen,  wobei  auch  die  XJrinabsonderung  regel- 
mässig vor  sich  ging. 

Das  Rückenmark  (inclusive  des  verlängerten  Markes)  steht 
süsser  dem  schon  erwähnten  Tonus  der  willkürlichen  Muskeln 
i^en  unwillkürlichen  Bewegungen  der  willkürlichen  Muskeln 
(Keflexbewegungen,  siehe  Cap.  V.)  und  den  Athembewegungen  vor. 


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46 

Letztere  haben  ihr  Centralorgan  im  yerlängerten  Mark,  und  wirken 
2a  diesen  höchst  complioirten  Bewegungen   nicht  bloss  ein  grosser 
Theil  der  Spinahierren,  sondern  auch  der  n.  phrenicus,  acoeasorius 
WiUisiij  vagus  und  facialis   mit.     Wenn  auch  der  Hirnwille  eine 
kurze  Zeit  lang  im  Stande  ist,  die  Athembewegungen  zu  verstärken 
oder  zu  unterdrücken,   so  kann  er  sie  doch  nie  ganz  aufheben,  da 
nach   kleiner   Pause   der   Bückenmarkswille   wieder  die   Oberhand 
gewinnt.  —  Die  Unabhängigkeit  des  Rückenmarkes  vom  Gehirn  ist 
ebenfalls  durch  schöne  physiologische  Versuche  nachgewiesen.   Eine 
Henne,  welcher  Flourens   das   ganze   grosse  Gehirn   fortgenommea 
hatte,  sass  zwar  für  gewöhnlich  regungslos  da;  aber  beim  Schlafen 
steckte  sie  den  Kopf  unter  den  Flügel,  beim  Erwachen  schüttelte 
sie  sich  und   putzte  sich   mit  dem  Schnabel.      Angestossen  lief  sie 
geradeaus  weiter,  in  die  Luft  geworfen  flog  sie.     Von  selbst  fraas 
sie  nicht,  sondern  verschluckte  nur  das  in  den  Gaumen  geschobene 
Putter.     Kaninchen  und  Meerschweinchen,  denen  das  grosse  G^ehim 
ausgenommen,  laufen  nach  der  Operation  frei  umher;  das  Benehmen 
eines  geköpften  Frosches  war  schon  oben  erwähnt.     Alle  diese  Be- 
wegungen, wie   das  Schütteln  und  Putzen  der  Henne,  das  Herum- 
laufen der  Kaninchen  und  Frösche  erfolgen  ohne  merklichen  äussern 
Reiz,  und  sind  den  nämlichen  Bewegungen  bei  gesunden  Thieren  so 
völlig  gleich,  dass  man  unmöglich  in  beiden  Fällen  eine  Verschie- 
denheit des   ihnen  zu  Ghrunde  liegenden  Princips  annehmt  kann; 
es  ist  eben  hier  wie  dort  Willensäusserung.     Nun  wissen  wir  aber, 
dass    das    höhere    thierische    Bewusstsein    von   der    Integrität    des 
grossen  Gehirns  bedingt  ist   (siehe  Gap.  C.  U.)»  und  da  dieses  zer- 
stört ist,  sind  auch  jene  Thiere,  wie  man  sagt,  ohne  Bewusstsein, 
handeln  also  unbewusst  und  wollen   unbewusst.      Indessen  ist  das 
Hirnbewusstsein   keineswegs    das    einzige   Bewusstsein    im    Thiere, 
sondern  nur  das  höchste,  und  das  einzige,  was  in  höheren  Thieren 
und  dem  Menschen  zum  Selbstbewusstseid,  zum  Ich  kommt,  daher 
auch  das  einzige,  welches    ich   mein  Bewusstsein   nennen   kann, 
—  Dass    aber    auch   die    untergeordneten  Nervencentra    ein    Be- 
wusstsein, wenn  auch  von  geringerer  Klarheit,  haben  müssen,  geht 
einfach   aus  dem  Vergleich    der    allmälig  absteigenden   Thierreihe 
und    des    Ganglienbewusstseins    der   wirbellosen    Thiere    mit    den 
selbstständigen  Ganglien  und  Rüokenmarkscentralstellen  der  höheren 
"Thiere  hervor. 


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47 

Ee  ist  unzweifelhaft  y  dass  ein  des  Oehims  beraubtes  Säuge- 
thier  immer  noch  klareren  Empfindens  fähig  ist,  als  ein  unver- 
selirteB  Insect,  weil  das  Bewusstsein  seines  E4iokenmarkes  jedenfalls 
immer  noch  höher  steht,  als  das  der  Ganglien  des  Insects.  Dem- 
nach ist  der  in  den  selbstständigen  Functionen  des  Bückenmarkes 
und  der  Gkingiien  sich  documentirende  Wille  keineswegs  ohne 
Weiteres  als  unbewusst  an  sich  hinzustellen,  vielmehr  müssen  wir 
vorläufig  annehmen,  dass  er  für  die  Neryencentra,^  von  denen  er 
ausgeht,  gewiss  klarer  oder  dunkler  bewusst  werde;  dagegen  ist  er 
in  Bezog  auf  das  Himbewusstsein,  welche»  der  Mensch  ausschliess- 
Hck  als  sein  Bewusstsein  anerkennt ,  allerdings  unbewusst,  und 
69  ist  damit  gezeigt,  dass  in  uns  ein  für  uns  unbewusster 
Wille  existirt,  da  doch  diese  Neryencentra  alle  in  unserem 
leiblichen  Organismus,  also  in  uns,  enthalten  sind. 

Es  scheint  erforderlich,  hier  zum  Schluss  eine  Bemerkung  an- 
zufogen  über  die  Bedeutung»  in  der  hier  das  Wort  Willen  gefasst 
ist  Wir  sind  davon  ausgegangen,  unter  diesem  Wort  eine  bewusste 
Intention  zu  verstehen,  in  welchem  Sinne  dasselbe  gewöhnlich  ver- 
standen wird.  Wir  haben  aber  im  Laufe  der  Betrachtung  gefun- 
den, dass  in  Einem  Individuum,  aber  in  verschiedenen  Nerven- 
centren  mehr  oder  weniger  von  einander  unabhängige  Bewusstseine, 
mid  mehr  oder  weniger  von  einander  unabhängige  Willen  existiren 
können,  deren  jeder  höchstens  für  das  Nervencentrum  bewusst 
sein  kann,  durch  welches  er  sich  äussert.  Hiermit  hat  sich  die 
gewöhnliche  beschränkte  Bedeutung  von  Wille  selbst  aufgehoben, 
denn  ich  muss  jetzt  auch  noch  anderen  Willen  in  mir  anerkennen, 
als  solchen,  welcher  durch  mein  Gehirn  hindurchgegangen  und  da- 
durch mir  bewQsst  geworden  ist.  Nachdem  diese  Schranke  der 
Bedeutung  gefallen,  können  wir  nicht  umhin,  den  Willen  nun- 
mehr als  immanente  Ursache  jeder  Bewegung  in  Thieren  zu 
&88en,  welche  nicht  reflectorisch  erzeugt  ist.  Auch  möchte  dies 
das  einzige  charakteristische  und  unfehlbare  Merkmal  für  den  uns 
bewussten  Willen  sein,  dass  er  Ursache  der  vorgestellten  Handlung 
ist;  man  sieht  nunmehr,  dass  es  etwas  für  den  Willen  zu- 
fälliges ist,  ob  er  durch  das  Himbewusstsein  hindurchgeht 
oder  nicht,  sein  Wesen  bleibt  dabei  unverändert.  Was  durch  das 
Wort  „Wille"  also  hier  bezeichnet  wird,  ist  nichts  als  das  in  beiden 
Fällen  wesensgleiche  Princip.  Will  man  aber  beide  Arten  Wille 
in  der  Bezeichnung   noch   besonders    unterscheiden,   so   bietet  für 


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48 

den  bewuBsten  Willen  die  Sprache  bereits  ein  diesen  Begriff  genau 
deckendes  Wort :  Willkür,  wahrend  das  Wort  Wille  für  das  allge- 
meine Princip  beibehalten  werden  moss.  Der  Wille  ist  bekannt- 
lich die  Eesultante  aller  gleichzeitigen  Begehrungen ;  vollzieht  sich 
dieser  Eampf  der  Begehrungen  im  Bewusstsein,  so  erscheint  er  als 
Wahl  des  Resultats,  oder  Willkür,  während  die  Entstehung  des 
unbewussten  Willens  sich  dem  Bewusstsein  entzieht,  folglich  auch 
der  Schein  der  Wahl  unt^  den  Begehrungen  hier  nicht  eintreten 
kann.  — 

Man  sieht  aus  dem  Vorhandensein  dieses  Wortes  Willkür,  dass 
die  Ahnung  eines  nicht  erkorenen  Willens,  dessen  Handlungen 
dann  dem  Bewusstsein  als  innerer  Zwang  erscheinen,  im  Yolksbe- 
wusstsein  auch  schon  längst  yorhanden  war. 


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n. 

Die  UBbewnsste  Yorstellimg  bei  AnsftUiniiig  der  will- 
kfirliehen  Bewegung. 


Ich  will  meinen  kleinen  Finger  heben,  nnd  die  Hebung  des- 
selben findet  statt.  Bewegt  etwa  mein  Wille  den  Finger  direct? 
Nein,  denn  wenn  der  Armnery  diirchschnitten  ist,  so  kann  der 
Wille  ihn  nicht  bewegen.  Die  Erfahrung  lehrt,  dass  es  für  jede 
Bewegung  nur  eine  einzige  Stelle  giebt,  nämlich  die  centrale  Endi- 
gmig  der  betreffenden  Nervenfasern,  welche  im  Stande  ist,  den 
Willensimpuls  für  diese  bestimmte  Bewegung  dieses  bestimmten 
Gliedes  zu  emp^EUigen  und  zur  Ausführung  zu  bringen.  Ist  diese 
eine  Stelle  beschädigt ,  so  ist  der  Wille  ebenso  machtlos  über  das 
Glied,  als  wenn  die  Nervenleitung  von  dieser  Stelle  nach  den  be- 
treffenden Muskeln  unterbrochen  ist.  Den  Bewegungsimpuls  selbst 
können  wir  uns,  abgesehen  von  der  Stärke,  für  verschiedene  zu 
erregende  Nerven  nicht  föglich  verschieden  denken,  denn  da  die 
Erregung  in  allen  motorischen  Nerven  als  gleichartig  anzusehen  ist, 
so  ist  es  auch  die  Erregung  am  Centrum,  von  welcher  der  Strom 
ausgeht;  mithin  sind  die  Bewegungen  nur  dadurch  verschieden, 
dass  die  centralen  Endigungen  verschiedener  motorischer  Fasern 
▼cm  dem  Willensimpuls  getroffen  werden  und  dadurch  verschiedene 
Muskelpartien  zur  Contraction  genöthigt  werden.  Wir  können  uns 
also  die  centralen  Endigungsstellen  der  motorischen  Nervenfasern 
gleichsam  als  eine  Glaviatur  im  Gehirn  denken;  der  Anschlag  ist, 
abgesehen  von  der  Stärke,  immer  derselbe,  nur  die  angeschlagenen 
Tasten  sind  verschieden.  Wenn  ich  also  eine  ganz  bestimmte  Be- 
wegung, z.  B.  die  Hebung  des  kleinen  Fingers  beabsichtige,  so 
konmst  es  darauf  an,  dass  ich  diejenigen  Muskeln  zur  Contraction 
Dothige,  weldie  in  ihrer  oombinirten  Wirksamkeit  diese  Bewegung 

T.  HftrtmanB,  Phil.  d.  UnbewQBsten.  4 


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_  50 

hervorbringen,  und  dass  ich  zu  dem  Zweck  denjenigen  Accord  auf 
der  Claviatur  des  Gehirns  mit  dem  Willen  anschlage,  dessen  ein- 
zelne Tasten  die  betreflfenden  Muskeln  in  Bewegung  setzen.  Werden 
bei  dem  Accord  eine  oder  mehrere  falsche  Tasten  angeschlagen,  so 
entsteht  eine  mit  der  beabsichtigten  nicht  correspondirende  Bewe- 
gung, z.  B.  beim  Versprechen,  Verschreiben,  Fehltreten,  beim  unge- 
schickten Greifen  der  Kinder  u.  s.  w.  Allerdings  ist  die  Anzahl 
der  centralen  Faserendigungen  im  Gehirn  bedeutend  kleiner,  als 
die  der  motorischen  Fasern  in  den  Nerveii,  indem  durch  eigene 
thümliche,  in  Cap.  V.  zu  besprechende  Mechanismen  für  die  gleich- 
zeitige Erregung  vieler  peripherischer  Fasern  durch  Eine  centrale 
Faser  Sorge  getragen  ist;  indessen  ist  doch  die  Anzahl  der  dem 
bewussten  Willen  unterworfenen,  mithin  vom  Gehirn  zu  leitenden 
versGJhiedenen  Bewegungen  schon  für  jedes  einzelne  Glied  durcli 
tausend  kleine  Modificationen  der  Eichtung  und  Combination  gross 
genug,  für  den  ganzen  Körper  aber  geradezu  unermesslich,  so  dass 
die  Wahrscheinlichkeit  unendlich  klein  sein  würde,  dass  die  be- 
wusste  Vorstellung  vom  Heben  des  kleinen  Fingers  ohne  oausale 
Vermittelung  mit  dem  wirklichen  Heben  zusammenträfe.  Unmittel- 
bar kann  offenbar  die  bloss  geistige  Vorstellung  vom  Heben  des 
kleinen  Fingers  auf  die  centralen  Nervenendigungen  nicht  wirken, 
da  beide  mit  einander  gar  nidlits  zu  thun  haben ;  der  blosse  Wille 
als  Bewegungsimpuls  aber  wäre  absolut  blind,  und  müsste  daher 
das  Treffen  der  richtigen  Tasten  dem  reinen  Zufall  überlassen. 
Wäre  überhaupt  keine  causalo  Verbindung  da,  so  könnte  die  üebung 
hierfür  auch  nicht  das  mindeste  thun;  denn  niemand  findet  eine 
Vorstellung  oder  ein  Gefühl  dieser  unendlichen  Menge  von  centralen 
Endigungen  in  seinem  Bewusstsein ;  also  wenn  zufällig  einmal  oder 
zweimal  die  bewusste  Vorstellung  des  Fingerhebens  mit  der  aiuige- 
führten  Bewegung  zusammengetroffen  wäre,  so  würde  durchaus  kein 
Anhalt  für  die  Erfahrung  des  Menschen  hieraus  resultiren,  und  beim 
dritten  Mal,  wo  er  den  Finger  heben  will,  der  Anschlag  der  rich- 
tigen Tasten  ebensosehr  dem  Zufall  überlassen  bleiben,  als  in  den 
früheren  Fällen.  Man  sieht  also,  dass  die  Uebung  nur  dann  für  die 
Verknüpfung  von  Intention  und  Ausführung  etwas  thun  kann,  wenn 
eine  oausale  Vermittelung  beider  vorhanden  ist,  bei  welcher  dann 
allerdings  der  üebergang  von  einem  zum  andern  Gliede  durch 
Wiederholung  des  Proceases  erleichtert  wird;  es  bleibt  demnach 
unsere   Au%abe,   diese  causale  Vermittelung  zu  finden;  ohne  die* 


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selbe  wäre  Uebung  ein  leeres  Wort.  Ausserdem  ist  sie  aber  in  den 
meisten  Fällen  gar  nicht  nöthig,  nämlich  bei  fast  allen  Thieren, 
die  bei  den  ersten  Versuchen  schon  ebenso  geschickt  laufen  und 
springen  y  als  nach  langer  Uebung.  Daraus  geht  auch  zweitens 
hervor^  dass  alle  Erklärungsversuche  ungenügend  sind,  welche  eine 
solche  causale  Yermittelung  einschieben,  die  nur  durch  zufallige 
Association  von  Vorstellung  und  Bewegung  erkannt  werden  kann; 
z.  B.  das  bewusste  Muskelgefühl  der  intendirten  Bewegung ,  das 
nur  aus  früheren  Fällen  g^onnen  und  dem  Gedächtniss  eingeprägt 
werden  kann,  könnte  allenfalls  für  den  Menschen  als  Erklärung 
gebraucht  werden,  aber  nicht  für  den  bei  weitem  grösseren  Tbeil 
der  Naturwesen,  die  Thiere,  da  sie  vor  jeder  Erfahrung  von  Mus- 
kelgefuhl  schon  die  umfassendsten  Bewegungscombinationen  nach 
der  bewussten  Vorstellung  des  Zwecks  mit  staunenswerther  Sicher- 
heit ausführen ;  z.  B.  ein  eben  auskriechendes  Insect,  das  seine  sechs 
Beine  so  richtig  in  der  Ordnung  zum  Gehen  bewegt,  als  wenn  es 
ihm  gar  nichts  Neues  wäre,  oder  ein  eben  auskriechendes  Hühn- 
chen, das  auf  eine  Spinne  zustürzt  und  dieselbe  so  geschickt  packt 
und  verzehrt,  als  ob  es  diess  schon  hundert  Mal  gethan  hätte.  — 
Man  könnte  ferner  daran  denken,  dass  die  Gehimschwingungen  der 
bewussten  Vorstellung:  „ich  will  den  kleinen  Finger  heben",  an 
dem  nämlichen  Ort  im  Gehirn  vor  sich  gehen,  wo  die  Central- 
endigungen  der  betxeffenden  Nerven  liegen;  dies  ist  aber  ana- 
tomisch falsch,  da  die  bewussten  Vorstellungen  im  grossen  Gehirn, 
die  motorischen  Nervenenden  aber  im  verlängerten  Mark  oder  kleinen 
Gehirn  liegen;  ebenso  wenig  ist  an  eine  mechanische  Fortleitung 
der  Schwingungen  der  bewussten  Vorstellung  nach  den  Nervenenden 
zu  denken,  da  diese  mechanische  Fortpflanzung  ebenso  gut  alle 
möglichen  anderen  Nervenenden  treffen  mtisste;  auch  spricht  der 
ümi^and  dagegen,  dass  die  Vorstellung  der  beabsichtigten  Bewe- 
gung sehr  wohl  vorhanden  sein  kann,  ohne  dass  dieselbe  erfolgt; 
noch  unbegreiflicher  wäre  alsdann  ein  Fehlgreifen,  und  der  Ein- 
fluss,  den  die  Uebung  auf  eine  so  mechanische  Einrichtung  sollte 
äussem  können. 

Um  endlich  noch  einmal  auf  das  Einschieben  des  Muskelgefühls 
der  intendirten  Bewegung  aus  der  Erinnerung  früherer  Fälle  von 
zufälliger  Association  zurückzukommen,  so  zeigt  sich  diese  Erklärung 
lucht  nur  einseitig  und  unzulänglich,  weil  sie  nur  die  Möglichkeit 
der  Uebung,  aber  nicht  die  angeborene  Fertigkeit  erklären  wollen 


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52 

kann,  sondern  sie  erklärt  in  der  That  anch  nicht  einmal  jene, 
sondern  sie  verschiebt  das  Problem  nnr  um  eine  Stufe.  Voriier 
nämlich  sah  man  nicht  ein,  wie  das  Treffen  der  richtigen  Oehim- 
tasten  durch  den  Willensimpuls,  durch  die  Vorstellung  des  Finger- 
hebens bewirkt  werden  soll;  jetzt  sieht  man  nicht  ein^  wie  dasselbe 
durch  die  Vorstellung  des  Muskelgefühls  im  Finger  und  Unterarm 
bewirkt  werden  soll,  da  das  Eine  mit  der  Lage  der  motorischen 
Nervenendigungen  im  Gehirn  sp  wenig  etwas  jzu  thun  hat,  wie  das 
Andere;  auf  diese  kommt  es  aber  an,  wenn  der  richtige  Erfolg 
eintreten  soll.  Was  soll  eine  Vorstellung,  die  sich  auf  den  Finger 
bezieht,  für  die  Auswahl  des  im  Gehirn  vom  Willen  anzuregenden 
Punctes  für  einen  directen  Nutzen  haben?  Dass  die  Vorstellung 
des  Muskelgefühls  bisweilen,  aber  verhältnissmässig  selten,  vor- 
handen ist,  leugne  ich  keineswegs;  dass  sie,  wenn  sie  vorhanden 
ist,  eine  vermittelnde  Uebergangsstufe  zur  Bewegung  sein  kann, 
leugne  ich  ebenso  wenig,  aber  das  leugne  ich,  dass  für  das  Ver- 
stÄndniss  der  gesuchten  Verbindung  mit  dieser  Einschaltung  etwas 
gewonnen  ist,  das  Problem  ist  nach  wie  vor  da,  nur  um  einen 
Schritt  verschoben.  Interessant  dürfte  übrigens  die  Bemerkung 
sein,  dass  in  der  grössten  Zahl  der  Fälle,  wo  dies  Muskelgefühl  vor 
der  Bewegung  überhaupt  existirt,  es  u^bewusst  existirt. 

Fassen  wir  noch  einmal  zusammen,  was  wir  über  das  Problem 
wissen,  dann  wird  die  Lösung  sich  von  selbst  aufdrängen.  Gegeben 
ist  ein  Wille,  dessen  Inhalt  die  bewusste  Vorstellung  des  Finger- 
hebens ist;  erforderlich  als  Mittel  zur  Ausführung  ein  Willens- 
impuls auf  den  bestimmten  Punct  P  im  Gehirn ;  gesucht  die  Mög- 
lichkeit, wie  dieser  Willensimpuls  gerade  nur  den  Punct  P  und 
keinen  andern  treffe.  Eine  mechanische  Lösung  durch  Fortpflanzung 
der  Schwingungen  erschien  unmöglich,  die  Uebung  vor  der  Lösung^ 
des  Problems  ein  leeres,  sinnloses  Wort,  die  Einschaltung  des  Mus- 
kelgefühls als  bewussten  causalen  Zwischengliedes  einseitig  und 
nichts  erklärend.  Aus  der  Unmöglichkeit  einer  mechanischen 
Lösung  folgt,  dass  die  Zwischenglieder  geistiger  Natur  sein  müssen, 
aus  dem  entschiedenen  Nichtvorhandensein  genügender  bewusster 
Zwischenglieder  folgt,  dass  dieselben  imbewusst  sein  müssen.  Aus 
der  Nothwendigkeit  eines  Willensimpulses  auf  den  Punct  P  folgt, 
dass  der  bewusste  Wille,  den  Finger  zu  heben,  einen  unbewussten 
Willen,  den  Punct  P  zu  erregen,  erzeugt,  um  durch  das  Mittel  der 
Erregung  von  P  den  Zweck  des  Fingerhebens  zu  erreichen ;  und  der 


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Inhalt  dieses  Willens,  P  zu  erregen,  ßetzt  wiederum  die  unbewusste 
Vorstellung  des  Punctes  P  voraus  (vgl.  Cap.  IV.)-  Die  Vorstellung 
des  Pnnctes  P  kann  aber  nur  in  der  Vorstellung  seiner  Lage  zu  den 
übrigen  Pnncten  des  Gehirns  bestehen,  und  hiermit  ist  das  Problem 
gelöst:  ,jede  willkürliche  Bewegung  setzt  die  unbewusste  Vorstel- 
lung der  Lage  der  entsprechenden  motorischen  Nervenendigungen 
im  Gehirn  voraus."  Jetzt  ist  auch  begreiflich,  wie  den  Thieren  ihre 
Fertigkeit  angeboren  ist,  es  ist  ihnen  eben  jene  Kenntniss  und  die 
Kunst  ihrer  Anwendung  angeboren,  die  der  Mensch  vermöge  seiner 
höheren  Geistesanlage  angewiesen  ist,  durch  Erfahrung  zu  erwerben 
und  im  Gedächtniss  zu  behalten.  Jetzt  ist  auch  verständlich ,  wie 
das  Muskelgefühl  bisweilen  als  Zwischenglied  auftreten  kann;  es 
verhält  sich  nämlich  die  Erregung  dieses  Muskelgefühls  zum  Heben 
des  Fingers  auch  wie  Mittel  zum  Zweck,  jedoch  so,  dass  es  der  Vor- 
stellung der  Erregung  des  Punctes  P  schon  eine  Stufe  näher  steht, 
als  die  Vorstellung  des  Fingerhebens;  es  ist  also  ein  Zwischenmittel, 
was  eingeschoben  werden  kann,  aber  noch  besser  übersprungen  wird. 
Wir  haben  also  als  feststehendes  Besultat  zu  betrachten,  dass 
jede  noch  so  geringfügige  Bewegung,  sei  dieselbe  aus  bewusster 
^er  unbewusster  Litention  entsprangen,  die  unbewusste  Vorstellung 
der  zugehörigen  centralen  Nervenendigungen  und  den  unbewussten 
Willen  der  Erregung  derselben  voraussetzt.  Hiermit  sind  wir  zu- 
gleich über  die  B.esultate  des  ersten  Capitels  weit  hinaus  gegangen. 
Bort  war  nur  von  relativ  Unbewusstem  die  Bede;  dort  sollte  der 
Leser  nur  an  den  Gedanken  gewöhnt  werden,  dass  geistige  Vor- 
gänge innerhalb  seiner  existiren,  von  denen  sein  Bewusstsein  (d.  h. 
sein  Himbewusstsein)  nichts  ahnt;  jetzt  aber  haben  wir  geistige 
Voi^nge  angetroffen,  die,  wenn  sie  im  Gehirn  nicht  zum  Bewusst- 
sein kommen,  für  die  anderen  Nervenoentra  des  Organismus  noch 
viel  weniger  bewusst  werden  können,  wir  haben  also  etwas  für  das 
ganze  Individuum  Unbewusstes  gefunden. 


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in. 
Das  Unbewnsste  im  Instinet 


Instinct  ist  zweckmässiges  Handeln  ohne  Be- 
wnsstsein  des  Zwecks.  —  Ein  zweckmässiges  Handeln  mit 
Bewnsstsein  des  Zwecks,  wo  also  das  Handeln  ein  Eesnltat  der 
Ueberlegung  ist,  wird  , Niemand  Instinct  nennen ;  ebenso  wenig  ein 
zweckloses,  blindes  Handeln,  wie  die  Wuthaijsbrüche  rasender, 
oder  zur  Wuth  gereizter  Thiere.  —  Ich  glaube  nicht,  dass  die  an 
die  Spitze  gestellte  Definition  von  denen,  die  überhaupt  einen  In- 
stinct annehmen,  Anfechtungen  zu  erleiden  haben  dürfte;  wer  aber 
alle  gewöhnlich  so  genannte  Instincthandlungen  der  Thiere  auf  be- 
wusste  Ueberlegung  derselben  zurückführen  zu  können  glaubt,  der 
leugnet  in  der  That  jeden  Instinct,  und  muss  auch  consequenter* 
weise  das  Wort  Instinct  aus  dem  Wörterbuch  streichen.  Hiervon 
später. 

Nehmen  wir  zunächst  die  Existenz  von  Instincthandlungen  im 
Sinne  der  Definition  an,  so  könnten  dieselben  zu  erklären  sein: 
1)  als  eine  blosse  Folge  der  körperlichen  Organisation,  2)  als  ein 
von  der  Natur  eingerichteter  Gehirn-  oder  Geistesmechanismus^ 
8)  als  eine  Folge  unbewusster  Geistesthätigkeit.  In  den  beiden 
ersten  Fällen  liegt  die  Vorstellung  des  Zweckes  weit  rückwärts,  im 
letzten  liegt  sie  unmittelbar  vor  der  Handlung;  in  den  beiden 
ersten  wird  eine  ein  für  allemal  gegebene  Einrichtung  als  Mittel 
benutzt,  und  der  Zweck  nur  einmal  bei  Herstellung  dieser  Ein- 
richtung gedacht,  im  letzten  wird  der  Zweck  in  jedem  einzelnen 
Falle  gedacht.     Betrachton  wir  die  drei  Fälle  der  Reihe  nach. 

Der  Instinct  ist  nicht  blosse  Folge  der  körperlichen  Organi- 
sation, denn  a)  die  Instincte  sind  ganz  verschieden  bei 
gleicher  Körperbeschaffenheit.     Alle  Spinnen  haben  den- 


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selben  Spinnapparat,   aber   die   eine  Art  baut  strahlenförmige,  die 

andere  nnregelmässige  Netze,  die  dritte  gar  keine,  sondern  lebt  ift 

Höhlen,  deren  Wände  sie  überspinnt   und  deren  Eingang  sie  mit 

einer  Thür  yerschliesst.     Zam  Nestbau  haben  fast  alle  Vögel  die* 

B^be  Organisation   (Schnabel  und  Füsse),   und  wie  unendlich  Ter- 

aehieden  sind   ihre   Nester   an    Qestalt,  Bauart,  Befestigungsweise 

(stehend,  klebend,  hängend),  Oertliehkeit  (Höhlen,  Löcher,  Winkel, 

Zwiesel,  Sträuoher,  Erde)   und  Güte,  wie  verschieden  oft  bei  den 

Arten  einer  Gattung,   z.  B.  Parus  'Meise).      Manche  Vögel  bauen 

«ach  gar  kein  Nest.     Ebenso  wenig  hängt  die  verschiedene  Sanges- 

weise  der  Vögel  von  Verschiedenheit  der  Stimmwerkzeuge,  oder  die 

eigenthümliche  Bauart  der  Bienen  und  Ameisen  von  ihrer  Körper- 

oTganisation  ab;  in  allen  diesen  Fällen  befähigt  die  Organisation 

nur  zum  Singen  resp.  Bauen  überhaupt,  hat  aber  mit  dem  Wie 

der  Ausführung  nichts  zu  thun.      Die  geschlechtliche  Auswahl  hat 

mit  der  Organisation   ebenfalls  nichts  zu  thun,  da  die  Einrichtung 

der  Geschlechtstheile  für  jedes  Thier  bei  unzähligen  fremden  Arten 

ebenBO  gut  passen  würde,  wie  bei  einem  Individuum  seiner  eigenen 

Art    Die  Pflege,    Schutz  und  Erziehung  der  Jungen  kann  noch 

weniger  von    der  Eörperbeschaffenheit   abhängig  gedacht  werden, 

ebenso  wenig   der  Ort,  wohin  die   Insecten  ihre  Eier  legen,  oder 

die  Auswahl  der  Fisoheierhaufen  ihrer  eigenen  Gattung,  auf  welche 

die  männlichen    Fische    ihren    Samen    entleeren.     Das  Kanindien 

gräbt,  der  Hase  nicht,  bei  gleichen  Werkzeugen  zum  Graben ;  aber 

er  bedarf  der  unterirdischen  Zufluchtsstätte  weniger  wegen  seiner 

grösseren  Schnelligkeit  zur  Flucht      Einige  vortrefflich  fliegende 

Vögel  sind  Standvögel   (z.  B.  Gabelweihe  und  andere  Baubvögel) 

und  viele  mittelmässige  Flieger  (z.  B.  Wachteln)  machen  die  grössten 

Wanderzüge. 

b)  Bei  verschiedener  Organisation  kommen  die- 
Belben  Instincte  vor.  Auf  den  Bäumen  leben  Vögel  mit  und 
ohne  Kletterfüsse ,  Aflen  mit  und  ohne  Wickelschwanz,  Eichhorn- 
oben,  Faulthier,  Puma  u.  s.  w.  Die  Maulwurfsgrille  gräbt  mit  ihren 
ausgesprochenen  Grabscheiten  an  den  Vorderfüssen ,  der  Todten- 
giäberkäfer  gräbt  ohne  irgend  eine  Vorrichtung  dazu.  Der  Hamster 
trägt  mit  seinen  3'^  langen  und  iVs"  breiten  Backentaschen  Winter- 
vorrathe  ein,  die  Feldmaus  ihut  dasselbe  ohne  besondere  Einrich- 
tung. Der  Wandertrieb  spricht  sich  in  Thier^a  der  verschieden- 
sten  Ordnungen    mit    gleicher   Stärke    aus,   mit   welchen   Mitteln 


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56 

dieselben  auch  zu  Wasser,  zu  Lande,  oder  zu  Luft  ihre  Wander- 
schaft antreten. 

Man  wird  hiernach  anerkennen  müssen,  dass  der  Instinct  in 
hohem  Maasse  Ton  der  körperlichen  Organisation  unabhängig  ist 
Dass  ein  gewisses  Maass  yon  körperlicher  Organisation  conditio 
sine  qua  non  der  Ausführung  ist,  versteht  sich  von  selbst ,  denn 
z.  B.  ohne  Geschlechtstheile  ist  keine  Begattung  möglich^  ohne  ge- 
wisse geschickte  Organe  kein  künstlicher  Bau,  ohne  Spinndrnsen 
kein  Spinnen ;  aber  trotzdem  wird  man  nicht  sagen  können ,  daas  der 
Listinct  eine  Folge  der  Organisation  sei.  Im  blossen  Vorhanden- 
sein des  Organs  liegt  noch  nicht  das  geringste  Motiv  für 
Ausübung  einer  entsprechenden  Thätigkeit,  dazu  muss  mindestens 
noch  ein  Wohlgefühl  beim  Gebrauch  des  Organs  treten,  erst  dieses 
kann  dann  als  Motiv  zur  Thätigkeit  wirken.  Aber  auch  dann^  wenn 
das  Wohlgefühl  den  Lnpuk  zur  Thätigkeit  giebt,  ist  durch  die 
Organisation  nur  das  Dass,  nicht  das  Wie  dieser  Thätigkeit  be- 
stimmt; das  Wie  der  Thätigkeit  enthält  aber  gerade  das  zu  lösende 
Problem.  Kein  Mensch  würde  es  Listinct  nennen,  wenn  die  Spinne 
den  Saft  aus  ihrer  überfüllten  Spinndrüse  auslaufen  Hesse,  um  sich 
das  Wohlgefühl  der  Entleerung  zu  verschaffen,  oder  der  Fisch  ans 
demselben  Grunde  seinen  Samen  einfach  in's  Wasser  entleerte ;  der 
Instinct  und  das  Wunderbare  fangt  erst  damit  an,  dass  die  Spinne 
Fäden  spinnt,  und  aus  den  Fäden  ein  Netz,  und  dass  der  Fiseh 
seinen  Samen  nur  über  den  Eiern  seiner  Gattung  entleert  Endlich 
ist  das  Wohlgefühl  im  Gebrauch  der  Organe  ein  ganz  unzureichen- 
des Motiv  für  die  Thätigkeit  selbst;  denn  das  ist  gerade  das  Grosse 
und  Achtungeinflössende  am  Instinct,  dass  seine  G^ote  mit  Hinten- 
ansetzung  alles  persönlichen  Wohlseins,  ja  mit  Aufopferung  des 
Lebens  erfüllt  werden.  Wäre  bloss  das  Wohlgefühl  der  Entleerung 
der  Spinndrüse  das  Motiv,  warum  die  Kaupe  überhaupt  spinnt,  so 
würde  sie  nur  so  lange  spinnen,  als  bis  ihr  Drüsen  behälter  entleert 
ist,  aber  nicht  das  immer  wieder  zerstörte  Gespinnst  immer  wieder 
ausbessern,  bis  sie  vor  Erschöpfung  stirbt  Ebenso  ist  es  mit  allen 
anderen  Instincten,  die  scheinbar  durch  eigenes  Wohlgefühl  moti- 
virt  sind;  sobald  man  die  Umstände  so  einrichtet,  dass  an  Stelle 
des  individuellen  Wohls  das  individuelle  Opfer  tritt,  zeigt  ßioh 
unverkennbar  ihre  höhere  Abstammung.  So  z.  B.  meint  man,  dass 
die  Vögel  sich  begatten  um  des  geschlechtlichen  Genusses  willen; 
warum  wiederholen  sie  dann  aber  die  Begattung  nicht  mehr,  wenn 


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die  gehörige  Anzahl  Eier  gelegt  ist?     Der  Geschlechtstrieb  besteht 
ja  fort,  denn  so  wie  man  ein  Ei   aus  dem  Nest  herausnimmt,  be- 
gatten sie  sich  yon  Neuem  und  das  Weibchen  legt  ein  Ei  zu,  oder 
▼enn  sie  zu  den  klügeren  Vögeln  gehören ,  verlassen  sie  das  Nest 
und  machen  eine  neue  Brut.     Ein  Weibchen  von  tgnea  torquäla 
(Wmidehals) ,    dem   man  das  nachgelegte  Ei  stets  wieder  aus  dem 
Neste  nahm  9   legte  immer  wieder  von  Neuem  begattet  ein  Ei  zu, 
die  nach  und  nach  immer  kleiner  wurden,  bis  man  es  beim  neun- 
nadzwanzigsten  todt  auf  dem  Neste  liegen  fand.     Wenn  ein  Instinot 
die  Probe  eines  auferlegten  Opfers  an  individuellem  Wohlsein  nicht 
anshält,  wenn   er  wirklich  bloss   aus  dem  Bestreben  nach  körper- 
üoher  Lust  hervorgeht,  dann  ist  es  kein  Instinct  und  nur  irrthüm- 
lich  kann  er  dafür  gehalten  werden. 

Der  Instinct  ist  nicht  ein  von  der  Natur  einge- 
pflanzter Gehirn-  oder  Geistesmechanismus,  so  dass  die 
lostincthandlung  ohne  eigene  (wenn  auch  unbewusste)  individuelle 
Oeiftesthätigkeit  und  ohne  Vorstellung  des  Zweckes  der  Handlung  ma- 
scliinenmässig  vollzogen  würde,  indem  der  Zweck  ein  für  allemal 
von  der  Natur  oder  einer  Vorsehung  gedacht  wäre,  und  diese  *nun 
das  Individuum  psychisch  so  organisirt  hätte,  dass  es  nur  mechanisch 
das  Mittel  ausfiihrte.  Es  handelt  sich  also  hier  um  eine  psychische 
Oiganisation,  wie  vorher  um  eine  physische,  als  Ursache  des  In- 
stincts.  Diese  Erklärung  wäre  denkbar,  wenn  jeder  Instinct,  der 
einmal  zu  dem  Thiere  gehört,  unaufhörlich  functionirte; 
aber  das  thut  keiner,  sondern  jeder  wartet,  bis  ein  Motiv  an  die 
Wahrnehmung  herantritt,  welches  für  uns  bedeutet,  dass  die  ge- 
eigneten äussern  Umstände  eingetreten  sind,  welche  die  Erreichung 
des  Zweckes  durch  dieses  Mittel,  das  der  Instinct  will,  gerade 
jetxt  möglich  machen;  dann  erst  functionirt  der  Instinct  als  actueller 
Wille^  welchem  die  ELandlung  auf  dem  Fusse  folgt;  ehe  das  Motiv 
eintritt,  bleibt  der  Instinct  also  gleichsam  latent  und  functionirt 
nicht.  Das  Motiv  tritt  in  Form  der  sinnlichen  Vorstellung  im 
Geiste  auf,  und  die  Verbindung  ist  constant  zwischen  dem  functio- 
nirenden  Instinct  und  allen  sinnlichen  Vorstellungen,  welche  an- 
zeigen, dass  die  Gelegenheit  zur  Erreichung  des  Zweckes  des  In- 
stincts  gekommen  sei  In  dieser  constanten  Verbindung  wäre  also 
der  psychische  Mechanismus  zu  suchen.  Es  ist  also  hier  wieder 
gleichsam  eine  Claviatur  zu  denken ;  die  angeschlagenen  Tasten  sind 
die  Motive,  und  die  erklingenden  Töne  die  functionirenden  Instincte. 


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t 


58 


Das  könnte  man  sich  auch  noch  allenfalls  gefallen  lassen,  wenn 
auch  das  Wunderliche  stattfindet,  dass  ganz  verschiedene  Tasten 
denselben  Ton  geben,  —  wenn  nur  die  Instincte  wirklich  bestimm- 
ten  Tönen  vergleichbar  wären,  d.  h.  ein  und  derselbe  Instinct  auf 
die  ihm  zugehörigen  Motive  auch  wirklich  immer  auf  dieselbe 
Weise  functionirte.  Dies  ist  aber  eben  nicht  der  Fall,  sondern 
nur  der  unbewusste  Zweck  des  Instincts  ist  das  (konstante,  der 
Instinct  selbst  aber  als  der  Wille  zum  Mittel  variirt  eben  so,  wie 
das  zweckmässig  anzuwendende  Mittel  nach  den  äusseren  Umständen 
variirt.  Hiermit  ist  der  Annahme  das  XJrtheil  gesprochen,  welche 
die  unbewusste  Vorstellung  des  Zwecks  in  jedem  einzelnen  Falle 
verwirft;  denn  wollte  man  nun  noch  die  Vorstellung  de«  Geistes- 
mechanismus festhalten,  so  müsste  fUr  jede  Variation  und  Modifica- 
tion  des  Instincts  nach  den  äusseren  Umständen  eine  besondere 
constante  Vorrichtung,  eine  neue  Taste  mit  einem  Ton  von  anderer 
Klangfarbe  eingefügt  sein,  wodurch  der  Mechanismus  in  eine  ge- 
radezu unendliche  Complication  gerathen  würde.  Dass  aber  bei  aller 
Variation  in  den  vom  Instinct  gewählten  Mitteln  der  Zweck  con- 
stant  ist,  das  sollte  doch  schon  ein  genügend  deutlicher  Fingerzeig 
sein,  dass  man  eine  so  unendliche  Complication  des  Geistes  gar 
nicht  braucht,  sondern  statt  dessen  bloss  einfach  die  unbewusste 
Zweckvorstellung  anzunehmen  braucht  So  ist  z.  B.  der  constante 
Zweck  für  den  Vogel,  der  Eier  gelegt  hat,  die  Küchlein  »ur 
Reife  zu  bringen;  bei  einer  hierzu  nicht  genügenden  äusseren  Tem- 
peratur bebrütet  er  sie  deshalb,  nur  in  den  wärmsten  Ländern  der 
Welt  unterbleibt  das  Brüten,  weil  das  Thier  den  Instinctzweok 
ohne  sein  Zuthun  erfüllt  sieht;  in  warmen  Landern  brüten  viele 
Vögel  nur  bei  Nacht.  Auch  wenn  zuföllig  bei  uns  kleine  Vögel 
in  warmen  Treibhäusern  genistet  haben,  so  sitzen  sie  wenig  oder 
gar  nicht  auf  den  Eiern.  Wie  abstossend  ist  hier  nicht  die  An- 
nahme eines  Mechanismus,  der  den  Vogel  zum  Brüten  zwingt,  bo- 
bald  die  Temperatur  unter  einen  gewissen  Orad  sinkt,  wie  einfach 
und  klar  die  Annahme  des  unbewussten  Zwecks,  der  zum  Vf ollen 
des  geeigneten  Mittels  nöthig,  von  welchem  Process  aber  nur  das 
Endglied,  als  unmittelbar  dem  Handeln  vorausgehender  Wille,  in'* 
Bewusstsein  fällt.  Im  südlichen  Afrika  umzäunt  der  Sperling  sein 
Kest  zum  Schutz  gegen  Schlangen  und  Affen  mit  Domen.  Die 
Eier,  die  der  Kukuk  legt,  gleichen  an  Grösse,  Farbe  und  Zeichnung 
immer  den  Eiern  des  Nestes,   wohinein  er  legt;   z.  B.  bei  si/h^ 


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59 

m/a  weiss  mit  violetten  Tüpfeln,  iylvia  hippolats  rosa  mit  schwar- 
zen Tüpfeln,  Sylvia  pkoenicurus  grünspanfarben,  regtdus  ignieapeUua 
nihgewölkt,  und  immer  ist  das  Kukuksei  so  täuschend  ähnlich,  dass 
es  fast  nur  an  der  Structur  der  Schale  unterschieden  werden  kann. 
Haber  brachte  es  durch  besondere  Einrichtungen  dahin,  dass  die 
Bienen  ihre  instinctmässige  Bauart  von  oben  nach  unten  nicht  aus- 
fthren  konnten,  worauf  sie  ron  unten  nach  oben  oder  auch  hori- 
zontal bauten.  Wo  die  äussersten  Zellen  yon  der  Decke  des  Korbes 
•Qsgt^en,  oder  an  die  Wandung  anstossen,  sind  es  nicht  sechsseitige, 
sondern  zu  dauerhafterer  Befestigung  fünf  sei  tige  Prismen,  welche 
mit  der  einen  Basis  angeklebt  sind.  Im  Herbst  yerlängem  die 
Bienen  die  Torhandenen  Honigzellen,  wenn  nicht  genug  da  sind; 
im  Frühjahr  verkürzen  sie  sie  wieder,  um  zwischen  den  Waben 
breitere  Gänge  zu  gewinnen.  Wenn  die  Waben  von  Honig  zu 
Behwer  geworden  sind,  so  ersetzen  sie  die  Wachswände  der  ober- 
sten (tragenden)  Zellen  durch  dickere,  aus  Wachs  imd  Propolis  ge- 
bildete. Bringt  man  Arbeitsbienen  in  die  für  Drohnen  bestimmten 
Zellen,  so  bringen  die  Arbeiterinnen  hier  die  entsprechenden  flachen 
Deckel  statt  der  den  Drohnen  zukommenden  runden  an.  Im  Herbste 
tödten  sie  regelmässig  die  Drohnen,  nicht  aber  dann,  wenn  sie  die 
Königin  verloren  haben,  damit  dieselben  die  aus  den  Arbeiterinnen- 
larven aufzuziehende  junge  Königin  befruchten.  Gegen  Bäubereien 
Ton  Sphinxen  bemerkte  Huber,  dass  sie  ihnen  den  Eingang  durch 
kinstliche  Bauwerke  von  Wachs  und  Propolis  versperren.  Propolis 
tragen  sie  nur  dann  ein^  wenn  sie  welchen  zum  Ausbessem  oder 
zu  besonderen  Zwecken  brauchen.  Auch  Spinnen  imd  Baupen  zeigen 
eine  merkwürdige  Geschicklichkeit  in  dem  Ausbessem  ihrer  zer- 
störten Gewebe,  was  doch  eine  entschieden  andere  Thätigkeit  ist, 
als  die  Neuanfertigung  eines  Gespinnstes.  Die  angeführten  Bei- 
■fiele,  welche  sich  in's  Unzählige  vermehren  Hessen,  beweisen  zur 
Genüge,  daiNs  die  Instincte  nicht  nach  festen  Schematen  maschinen- 
mässig  abgehaspelte  Thätigkeiten  sind,  sondern  dass  sie  sich  viel- 
mehr den  Verhältnissen  auf  das  Innigste  anschmiegen  und  so  grosser 
Modificationen  und  Variationen  föhig  sind,  dass  sie  bisweilen  in 
ihr  Gegentheil  umzuschlagen  scheinen.  Mancher  wird  diese  Modi- 
ieationen  der  bewussten  Ueberlegung  der  Thiere  zuschreiben 
•wollen,  und  gewiss  ist  bei  geistig  höher  stehenden  Thieren  in  den 
meisten  Fällen  eine  Gombination  von  Instinctthätigkeit  und  be- 
WQseter  Ueberlegung  nicht  zu   leugnen;   indessen  glaube  ich,  dass 


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6C^_ 

die  aDgeföhrten  Beispiele  zur  Genüge  beweisen,  dass  es  auch  viele 
Fälle  giebt,  wo  ohne  jede  Complication  mit  der  bewussten  Ueber- 
legung  die  gewöhnliche  und  aussergewöhnliche  Handlung  aus  der- 
selben Quelle  stammen,  dass  sie  entweder  beide  wirklicher  Insdnct» 
oder  beide  Eesultate  bewusster  TJeberlegung  sind.  Oder  sollte  es 
wirklich  etwas  anderes  sein,  was  die  Biene  in  der  Mitte  sechsseitige^ 
am  Bande  funfseitige  Prismen  bauen  heisst,  was  den  Yogel  unter 
diesen  Umständen  die  Eier  bebrüten,  unter  jenen  sie  nicht  bebrüten 
lässt,  was  die  Bienen  dazu  bringt,  bald  ihre  Brüder  unbarmherzig 
zu  ermorden,  bald  ihnen  das  Leben  zu  schenken,  was  die  Vögel  den 
Nestbau  ihrer  Species  und  die  besonderen  Vorkehrungen  lehrt,  was 
die  Spinne  ihr  Netz  weben  und  das  beschädigte  ausbessern  lässt? 
Wenn  man  dies  zugiebt,  dass  die  ModifLcationen  des  Instincts  mit 
seiner  gewöhnlichsten  Grundform,  die  oft  gar  nicht  zu  bestim- 
men sein  möchte,  aus  Einer  Quelle  stammen,  dann  findet  der  Ein- 
wand in  Betreff  der  bewussten  TJeberlegung  seine  Erledigung  später 
von  selbst,  da  wo  derselbe  gegen  den  Instinct  überhaupt  gerichtet 
ist.  Eine  Bemerkung  aus  späteren  Capiteln  andeutend  vorwegzu* 
nehmen,  dürfte  hier  nicht  unangemessen  scheinen ^  dass  nämlieh 
Instinct  und  organische  Bildungsthätigkeit  ein  und  dasselbe  Princip 
enthalten,  nur  in  Bethätigung  unter  verschiedenen  Umständen,  und 
dass  beide  ohne  jede  Grenze  fliessend  in  einander  übergehen.  Hier- 
aus geht  ebenfalls  eclatant  hervor,  dass  der  Instinct  nicht  auf  der 
Organisation  des  Leibes  oder  des  Gehirns  beruhen  kann,  da  man 
viel  richtiger  sagen  kann,  dass  die  Organisation  durch  eine  Bethä- 
tigung des  Instincts  entstehe.     Dies  nur  beiläufig. 

Dagegen  haben  wir  nunmehr  unseren  Blick  noch  einmal  schär- 
fer auf  den  Begriff  eines  psychischen  Mechanismus  zu  richten,  und  da 
zeigt  sich,  dass  derselbe,  abgesehen  davon,  wie  viel  er  erklärt,  so 
dunkel  ist,  dass  man  sich  kaum  etwas  dabei  denken  kann.  Das 
Motiv  tritt  in  Gestalt  einer  bewussten  sinnlichen  Vorstellimg  in  der 
Seele  auf,  dies  ist  das  Anfangsglied  des  Processes;  das  Endglied 
tritt  als  bewusster  Wille  zu  irgend  einer  Handlung  auf;  beide  sind 
aber  ganz  ungleichartig  und  haben  mit  der  gewöhnlichen  Motivation 
nichts  zu  thun,  welche  ausschliesslich  darin  besteht,  dass  die  Vor-^ 
Stellung  einer  Lust  oder  Unlust  das  Begehren  erzeugt,  erstere  zu 
erlangen,  letztere  sich  fem  zu  halten.  Beim  Instinct  tritt  wohl 
meistens  die  Lust  als  begleitende  Erscheinung  auf,  wenn  sie  aucb, 
wie  wir  schon  oben  gesehen  haben,  durchaus  nicht  erforderlich  ist. 


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r^-^^^ 


61 

sonieni  die   ganse  Macht  und  Grösse   sich  erst  in  der  Aufopfe- 
mng  des  Individnums  aeigt;    aber  das  eigentliche  Problem  liegt 
hier  weit  tiefer;  denn  jede  Vorstellung  einer  Lust  setzt  voraus, 
äass  man  diese  Lust  schon  erfahren  hat;  daraus  folgt  aber  wie- 
der, dass  in  dem  früheren  Falle  ein  Wille  Torhanden  war,  in  dessen 
Befriedigung   die  Lust  bestand,  und  woher  der  Wille  kommt,  ehe 
die  Lust  gekannt  ist,    das    ist    eben  die  Frage,  da  man  an  jedem 
einsam  aufwachsenden  Thiere    sehen   kann,    dass    die   instinotiven 
Triebe  sich   einfinden,   ehe  es  die  Lust  ihrer  Befriedigung  kennen 
lernen  konnte.     Es   muss  folglich  beim  Instinct  eine  causale  Ver- 
bindung zwischen  der  motivirenden  sinnlichen  Vorstellung  und  dem 
Wiüen  zur  Listincthandlung  geben,  mit  welcher  die  Lust  der  später 
feigenden  Befriedigung  nichts    zu  thun  hat.     Diese  causale  Ver- 
bindmig  flillt  erfahrungsmässig ,  wie  wir  von  unsem  menschlichen 
Instincten  wissen,   nicht  in^s  Bewusstsein;   folglich   kann  dieselbe, 
wenn  sie   ein  Mechanismus  sein  soll,  nur  entweder  eine  nicht  in's 
Bewusstsein  fallende    mechanische  Leitung    und  Umwandlung  der 
Schwingungen   des    vorgestellten  Motivs   in    die   Schwingungen  der 
gewollten  Handlung  im  Gehirn,  oder  ein  unbewusster  geistiger 
Meehanismus  sein.     Im  ersten  Fall  wäre  es  sehr  wunderbar,  dass 
dieeer  Vorgang  unbewusst  bliebe,  da  doch  der  Process  so  mächtig 
ist,    dass   der   aus   ihm   resultirende  Wille  jede  andere  Bücksicht, 
jeden  anderen  Willen  überwindet,  und  derartige  Schwingungen  im 
Öefaim  immer  bewusst  werden ;  auch  ist  es  schwer,  sich  davon  eine 
Voretellung   zu  machen,   wie  diese  Umwandlung  in  der  Weise  vor 
sieh  gehen  soll,  dass  der  ein  für  allemal  festgestellte  Zweck  durch 
den  resultirenden  Willen   erreicht  werden  soll.     Nimmt  man  aber 
den  andern  Fall,  einen  unbewussten  Geistesmechanismus,  an,  so  kann 
Bum  sich  den  in  demselben  vorgehenden  Process  doch  nicht  füglich 
ia  anderer   Form  denken,   als  in  der  für  den  Geist  allgemein  gül- 
tigen der  Vorstellung  und  des  Willens.     Man  hat  sich  also  zwischen 
toa  bewussten  Motiv  und   dem  Willen  zur  Listincthandlung  eine 
«insale  Verbindung  durch  unbewusstes   Vorstellen  und  Wollen  zu 
denken,  und   ich  weiss  nicht,  wie  diese  Verbindung  einfacher 
gedacht  werden  könnte,  als  durch  den  vorgestellten  und  gewollten 
Zweck.     Damit  sind   wir  aber  bei  dem  allem  Geiste  eigenthüm- 
IMien  und   immanenten  Mechanismus   der  Logik  angelangt,  und 
hüb^i  die  unbewusste  Zweckvorstellung  bei  jeder  ein- 
zelnen Instinct handlung  als  unentbehrliches  Glied  gefunden ^ 


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62 

hiermit  hat  also  der  Begriff  des  todten,  äusserlioh  prädestinirten 
Geistesmechsuiismas  sich  selbst  aufjg^hoben  und  in  das  immaneate 
Geistesleben  der  Logik  umgewandelt,  und  wir  sind  bei  der  letzten 
Möglichkeit  angekommen^  welche  für  die  Auffassung  eines  wirklichen 
Instinctes  übrig  bleibt:  der  Instinct  ist  bewusstes  Wollen 
des  Mittels  zu  einem  unbewusst  gewollten  Zweck 
Diese  Auffiassung  erklärt  ungezwungen  und  einfach  alle  Probleme, 
welche  der  Instinct  darbietet,  oder  richtiger,  indem  sie  das  wahre 
Wesen  des  Instincts  ausbricht,  verschwindet  alles  Problematische 
daran.  In  einem  allein  stehenden  Aufisatz  über  den  Instinct  würde 
vielleicht  der  unserem  gebildeten  Publikum  noch  ui^ewohnte  Be- 
griff der  unbewussten  Geistesthätigkeit  Anstoss  erregen;  aber  hier, 
wo  jedes  Capitel  neue  Thatsachen  häuft,  welche  die  Existenz  dieser 
unbewussten  Geistesthätigkeit  und  ihre  hervorragende  Bedeutung 
beweisen,  muss  jiedes  Bedenken  vor  der  XJngewohntheit  dieses  Ge- 
dankens schwinden. 

Wir  treten  jetzt  der  bis  zuletzt  angesparten  Frage  näher: 
„giebt  es  einen  wirklichen  Instinct,  oder  sind  die  sogenannten  Instinct- 
handlungen  nur  Resultate  bewusster  XJeberlegung?"  Was  zu  Gimsten 
der  letzteren  Annahme  angeführt  werden  könnte,  ist  die  bekannte 
Erfahrung,  dass,  je  beschränkter  der  Gesichtskreis  der  bewussten 
Geistesfahigkeiten  eines  Wesens  ist,  desto  schärfer  im  Yerhält- 
niss  zur  Grösse  der  Gesammtcapacität  die  Leistungsfähig- 
keit in  der  einseitig  beschränkten  Eichtung  zu  sein  pflege.  Di^^ 
an  Menschen  viel  bestätigte  und  gewiss  auch  auf  Thiere  anwend- 
bare Erfahrung  findet  ihre  Erklärung  darin,  dass  die  Höhe  der 
Leistung  nur  zum  Theil  von  der  Geistesanlage,  zum  andern  Theil 
aber  von  der  Uebung  und  Ausbildung  der  Anlage  nach  dieser  be- 
stimmten Hichtung  hin  abhängig  ist  So  ist  z.  B.  ein  Philologe 
ungeschickt  in  juristischen  DenkprocesseX,  ein  Naturforscher  oder 
Mathematiker  in  philologischen,  ein  abstracter  Philosoph  in  poetischen 
Erfindungen,  ganz  abgesehen  vom  speciellen  Talent,  nur  in  Folge 
der  einseitigen  Geistesbildung  und  Uebung.  Je  einseitiger  nun  die 
Richtung  ist,  in  der  die  Geistesthätigkeit  eines  Wesens  sich  bewegt, 
desto  mehr  wird  die  ganze  dem  Geiste  zu  Theil  werdende  Aus- 
bildung imd  Uebung  nach  dieser  einen  Seite  hin  oonoentrirt,  folg- 
lich ist  es  kein  Wunder,  dass  die  schliessUchen  Leistungen  in  dieser 
Richtung  im  Verhältniss  zur  Gesammtanlage  durch  die 
Verengung  des   Gesichtskreises   erhöht  werden.      Wenn  man  aber 


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/ 


63 


dieM  Encl^ei^img  zur  Erklärung  yon  Instincthandlungen  benutsen 
will,  80  darf^man  die  Eiuschränkung:  »»im  Yerhältniss  zur  Qesammt- 
anlage^'  nicht  onberiioksiohtigt  lassen.  Da  indessen  die  Gesammt- 
anlage bei  den  niederen  Thieren  immer  mehr  sinkt,  die  Instinct- 
leistungen  aber  sich  in  ihrer  Vollkommenheit  auf  allen  Stufen  des 
Tbierreichs  ziemlich  gleich  bleiben,  während  diejenigen  Leistungen, 
weldie  unbestritten  aus  bewusster  ITeberlegung  hervorgehen,  augen- 
scheinlich mit  der  Geistesfahigkeit  proportional  gehen,  so  scheint 
fldion  hieraus  hervorzugehen,  dass  wir  es  im  Instinot  mit  einem 
anderen  Princip  als  dem  bewussten  Verstände  zu  thun  haben, 
ferner  sehen  wir,  dass  die  Leistungen  des  bewussten  Verstandes 
der  Thiere  in  der  That  der  Art  nach  mit  den  unserigen  ganz  gleich 
stehen,  dass  sie  durch  Lehre  und  Unterricht  erworben,  und  durch 
Hebung  vervollkommnet  werden;  auch  bei  den  Thieren  heisst  es, 
der  Verstand  kommt  erst  mit  den  Jahren ;  dagegen  ist  den  Instinct- 
handlungen gerade  das  eigenthümlich,  dass  sie  von  einsam  auf- 
wadiaenden  Thieren  gerade  ebenso  vollkommen  vollzogen  werden, 
als  von  solchen,  die  den  Unterrieht  ihrer  Eltern  genossen  haben, 
und  daBs  das  erste  Mal  vor  jeder  Erfahrung  und  Uebung  gerade 
so  gat  gelingt,  wie  die  späteren  Male.  Auch  hierbei  ist  die  Ver- 
sebiedanheit  des  Prinoips  unverkennbar.  Alsdann  lehrt  die  Er- 
&brung,  je  bomirter  und  schwächer  ein  Verstand  ist,  desto  lang- 
samer lösen  sich  in  ihm  die  Vorstellungen. ab,  d.  h.  desto  langsamer 
und  schwerfalliger  ist  sein  bewusstes  Denken;  dies  bestätigt  sich 
sowohl  bei  Menschen  von  verschiedener  Fassungskraft,  als  auch  bei 
Thieren,  insoweit  eben  der  Instinct  nicht  in  s  Spiel  konunt.  Der 
Instinot  aber  hat  gerade  das  Eigenthümliche ,  dass  er  niemals  zau- 
dert und  schwankt,  sondern  momentan  eintritt,  wenn  da«  Motiv  für 
sein  Wirken  in's  Bewusstsein  tritt.  Diese  Rigidität  des  Entschlusses 
bei  Instincthandlungen  ist  beim  niedrigsten  und  beim  höchsten 
Thiere  gleich ;  auch  dieser  Umstand  weist  auf  eine  Verschiedenheit 
des  Frincips  im  Instinct  und  bewusster  Ueberlegung  hin. 

Was  endlich  die  Höhe  der  Leistungen  selbst  betrifft,  so  lehrt 
ein  kurzer  Hinblick  unmittelbar  das  Missverhältniss  zwischen  ihr 
und  der  Stufe  der  geistigen  Entwickelung.  Man  betrachte  die 
£anpe  des  Nachtpfauenaugei  (Bombyx  carpini):  sie  frisst  die 
Blätter  auf  dem  Gesträuch^  wo  sie  ausgekrochen,  geht  höchstens  bei 
Begen  auf  die  Unterseite  des  Blattes  und  wechselt  von  Zeit  zu  Zeit 
ihre  Haut,  —  das  ist  ihr  ganzes  Leben,  welches  wohl  keine,  auch 


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64 

nicht  die  einseitigste  Yerstandesbüdung  erwarten  lässt.  Nun  aber 
spinnt  sie  sich  zur  Yerpuppang  ein  und  baut  sich  aus  steifen,  mit 
den  Spitzen  zusammentreffenden  Borsten  ein  doppeltes  Gewölbe, 
das  von  innen  sehr  leicht  zu  öftaen  ist,  nach  aussen  aber  jedem 
Yersuch,  einzudringen,  genügenden  Widerstand  entgegensetzt.  Wäre 
diese  Vorrichtung  ein  Eesultat  ihres  bewussten  Verstandes,  so  be- 
dürfte es  folgender  Ueberlegung :  „ich  werde  in  Puppenzustand  ge- 
rathen,  und  unbeweglich,  wie  ich  bin,  jedem  Angriff  ausgesetzt  sein ; 
darum  werde  ich  mich  einspinnen.  Da  ich  aber  als  Schmetterling 
nicht  im  Stande  sein  werde,  mir  aus  dem  Gespinnst,  weder  durch 
mechanische  noch  durch  chemische  Mittel-  (wie  manche  andere 
Baupen)  einen  Ausgang  zu  bahnen,  so  muss  ich  mir  einen  solchen 
offen  lassen;  damit  aber  diesen  meine  Verfolger  nicht  benutzen, 
80  werde  ich  ihn  durch  federnde  Borsten  verschliessen ,  die  ich 
wohl  von  innen  leicht  auseinander  biegen  kann^  die  aber  gegen 
aussen  nach  der  Theorie  des  Gewölbes  Widerstand  leist^i.'*  Das 
ist  doch  wirklich  von  der  armen  Baupe  zuviel  verlangt !  Und  doch 
ist  jedes  dieser  Argumente  unentbehrlich,  wenn  das  Resultat  richtig 
herauskommen  soll.  —  Es  könnte  diese  theoretische  XJnterseheidang 
des  Instincts  von  der  bewussten  Verstandesthätigkeit  von  den 
Gegnern  meiner  Auffassungsweise  leicht  dahin  missdeutet  werden, 
als  ob  aus  ihr  auch  für  die  Praxis  zwischen  beiden  eine  trennende 
Kluft  aufgethan  würde^  Letzteres  ist  aber  keineswegs  meine 
Meinung;  im  Gegentheil  habe  ich  schon  weiter  oben  auf  die  Mög- 
lichkeit hingewiesen,  dass  beide  Arten  der  SeelenÜiätigkeit  sich  in 
verschiedenen  Maassverhältnissen  oombiniren,  so  dass  durch  diese 
graduell  verschiedenen  Mischungen  ein  ganz  allmäliger  üebergang 
vom  blossen  Instinct  zur  blossen  bewussten  Ueberlegung  stattfindet. 
Wir  werden  aber  später  (Cap.  B.  VII.)  sogar  sehen,  dass  selbst 
in  der  höchsten  und  abstractesten  Verstandesthätigkeit  des  mensch- 
lichen Bewusstseins  gewisse  Momente  von  der  grössten  Wichtigkeit 
sind,  welche  in  ihrem  Wesen  ganz  mit  dem  des  Instincts  überein- 
stimmen. — 

Für  wen  alles  Bisherige  nicht  entscheidend  sein  sollte,  um  die 
Erklärung  der  Instincte  aus  bewusster  Ueberlegung  zu  verwerfen, 
der  wird  dem  nunmehr  folgenden,  für  die  ganze  Auffassung  des 
Instincts  höchst  wichtigen  Zeugniss  der  Thatsachen  unbedingte  Be- 
weiskraft einräumen  müssen.  So  viel  nämlich  ist  doch  sicher,  dass 
die   Ueberlegung  des    bewussten  Verstandes   nur  solche  Data   in 


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Berechnung  sieben  kann,  die  dem  Bewusstaein  gegeben  und;  wenn 
mm  also  bestimmt  nachweisen  kann,  dass  Data,  welche  für  das 
Braoltat  unentbehrlich  sind,  dem  Bewusstsein  unmög- 
lich bekannt  sein  können,  so  ist  damit  bewiesen,  dass  dies 
Besoltat  nieht  aus  der  bewussteu  Ueberlegung  herroigegangen  sein 
kauL  Der  einsige  Weg,  auf  welchem  nach  der  gewöhnlichdh  An- 
nahme das  Bewusstsein  die  Eenntniss  äusserer  Thatsaohen  erlangen 
kann,  ist  die  sinnliche  Wahrnehmung;  wir  haben  also  zu.  zeigen, 
dass  far  das  Besultat  unentbehrliche  Kenntnisse  unmöglich  durch 
nnnliche  Wahrnehmung  erworben  sein  können.  Dieser  Beweis  ist 
dadurch  zu  führen:  erstens,  dass  die  betreffenden  Thatsachen  in 
der  Zukunft  liegen ,  und  dem  Verstände  die  Anhaitepuncte  fehlen, 
um  ihr  zukünfliges  Eintreten  aus  den  gegenwärtigen  Verhältnissen 
IQ  erschliessen,  zweitens,  dass  die  betreffenden  Thatsachen  äugen« 
sebeinlich  der  sinnlichen  Wahrnehmung  verschlossen  liegen,  weil 
nnr  die  Erfahrung  Mherer  Eälle  über  sie  belehren  kann,  und  diese 
laut  der  Beobachtung  ausgeschlossen  ist.  Es  würde  für  unsere 
lot^easen  keinen  Unterschied  machen,  wenn,  was  ich  für  wahr- 
aeheinüch  halte,  bei  fortschreitender  physiologischer  Erkenntniss 
alle  jetzt  für  den  ersten  Fall  anzuführenden  Beispiele  sich  als  solche 
des  zweit«n  Falle  ausweisen  sollten,  wie  dies  unleugbar  bei  vielen 
Mher  gebrauchten  Beispielen  schon  geschehen  ist;  denn  ein  aprio- 
risches Wissen  ohne  jeden  sinnlichen  Anstoss  ist  wohl  kaum 
wunderbarer  zu  nennen,  a's  ein  Wissen,  welches  zwar  bei  Ge- 
legenheit gewisser  sinnlicher  Wahrnehmungen  zu  Tage  tritt,  aber 
mit  diesen  nur  durch  eine  solche  Kette  von  Schlüssen  und  ange- 
wandten Kenntnissen  in  Verbindung  stehend  gedacht  werden  könnte, 
dass  deren  Möglichkeit  bei  dem  Zustande  der  Fähigkeiten  und 
Bildong  der  betreffenden  Thiere  entschieden  geleugnet  werden  muss. 
Ein  Beispiel  des  ersten  Falls  bietet  der  Instinct  der  Hirschhom- 
iuiferlarve,  sich  Behufs  der  Verpuppung  eine  passende  Höhle  zu 
graben.  Die  weibliche  Larve  grabt  die  Höhle  so  gross  wie  sie 
selbst  ist ;  die  männliche  .  aber  bei  gleicher  Leibesgrösse  noch  ein- 
mal so  gross,  weil  das  ihm  wachsende  Geweih  ziemlich  die  Länge 
des  Thieres  hat  Die  Kenntniss  dieses  Umstandes  ist  für  das  Be- 
sultat der  XJeberlegung  unentbehrlich,  und  doch  fehlt  jeder  Anhalt 
in  der  Gegenwart,  um  auf  dieses  zukünftige  Ereigniss  im  Voraus 
M^iessen  su  können.  Ein  Beispiel  des  zweiten  Falles  ist  folgen- 
dos: Frettchen  und  Bussarde  fallen  über  Blindschleichen  oder  andere 

T.  HwtBiaim,  PUl.  d.  Uibewnssteii.  5 


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66 

nicht  giftige  Schlangen  ohne  Weiteres  her,  und  packen  sie,  wie  es 
kommt;  die  Kreuzotter  aber  greifen  sie,  anch  wenn  sie  vorher  no<^ 
keine  gesehen  haben,  mit  der  grössten  Vorsicht  an,  and  suchen  yor 
allen  Dingen  ^  nm  nicht  gebissen  zu  werden,  ihr  den  Kopf  za  zer- 
malmen. Da  etwas  Anderweitiges,  Furcht  Einflössendes  in  der  Kreuz- 
otter nicht  liegt,  so  ist  zu  diesem  Benehmen,  wenn  es  aus  be- 
wusster  TJeberlegung  hervorgehen  soll,  die  bewusste  Kenntniss  der 
Gefährlichkeit  ihres  Bisses  unentbehrlich.  Da  nun  diese  nur  durch 
Erfahrung  erworben  werden  kann,  und  sich  bei  von  Jugend  an 
gefangenen  Thieren  das  Statthaben  solcher  Erfahrungen  controlliren 
lässt,  so  kann  es  nicht  aus  TJeberlegung  hervorgehen.  Andererseits 
geht  aber  aus  diesen  beiden  Beispielen  mit  Evidenz  das  Vorhanden- 
sein einer  unbewussten  Kenntniss  der  betreffenden  Umstände,  die 
Existenz  einer  unmittelbaren  Erkenntniss  ohne  Vermittelung  der 
sinnlichen  Wahrnehmung  und  des  Bewusstseins  hervor. 

Man  hat  dieselbe  jederzeit  anerkannt  und  mit  den  Worten  Vor- 
gefühl oder  Ahnung  bezeichnet;  indess  beziehen  sich  diese  Worte 
einerseits  nur  auf  zukünftiges,  nicht  auf  gegenwärtiges,  räumlich 
getrenntes  TJnwahmehmbares,  andererseits  bezeichnen  sie  nur  die 
leise,  dumpfe,  unbestimmte  Besonanz  des  Bewusstseins  mit  dem 
unfehlbar  bestimmten  Zustande  der  unbewussten  Erkenntniss.  Da- 
her das  Wort  Vorgefühl  in  Rücksicht  auf  die  Dumpfheit  und 
Unbestimmtheit,  während  doch  leicht  zu  sehen  ist,  dass  das  Gefühl 
für  dasBesultat  gar-keinen  Einfluss  haben  kann,  sondern 
nur  eine  Vorstellung,  weil  diese  allein  Erkenntniss  enthält 
Die  im  Bewusstsein  mitklingende  Ahnung  kann  allerdings  unter 
Umständen  ziemlich  deutlich  sein,  so  dass  sie  sich  beim  Menschen 
in  Gedanken  und  Worte  fixiren  lässt;  doch  ist  dies  auch  im  Menschen 
erfahrungsmässig  bei  den  eigentlichen  Instincten  nicht  der  Falli 
vielmehr  ist  bei  diesen  die  Besonanz  der  unbewussten  Erkenntnis^ 
im  Bewusstsein  meistens  so  schwach,  dass  sie  sich  wirklich  nur  in 
begleitenden  Gefühlen  oder  der  Stimmung  äussert,  dass  sie 
einen  unendlich  kleinen  Bruchtheil  des  Gemeingeföhls  bildet.  Dass 
solche  dunkle  Mitleidenschaft  des  Bewusstseins  ganz  ungenügend  ietr 
um  der  bewussten  Ueberlegnng  Stützpuncte  zu  bieten,  liegt  auf  der 
Hand;  andrerseits  liegt  es  auch  nahe,  dass  die  bewusste  Ueber- 
legnng überflüssig  sein  und  der  betreffende  Denkprocess  sich  be- 
reits unbewusst  vollzogen  haben  wird,  da  ja  doch  jene  dumpfe 
Ahnung   des  Bewusstseins    nur  die  Folge  einer  bestimmten  unbe- 


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67 

wuBsten  Erkenntmss  ist,  und  die  Erkenntniss,  tun  welche  es  sich 
dabei  handelt,  fast  immer  die  Yorsteliung  des  Zwecks  der  Instinct- 
handlung  oder  doch  eine  ganz  eng  damit  zusammenhängende  ist. 
Z.  B.  bei  der  Hirschhomkäferlarye  ist  der  Zweck:  Platz  zu  haben 
foi  das  wachsende  Geweih ;  das  Mittel :  den  Platz  durch  Ausgraben 
so  schaffen;  die  unbewusste  Erkenntniss:  das  zukünftige  Wachsen 
dee  Geweihs.  Endlich  machen  alle  Instincthandlungen  den  Eindruck 
so  absoluter  Sicherheit  und  Selbstgewissheit,  und 
kommt  bei  denselben  niemals,  wie  bei  der  bewussten  Entschliessung, 
ein  Zaudern,  Zweifeln  oder  Schwanken  des  Willens  vor, 
niemals  (wie  Cap.  C.  I.  zeigen  wird)  ein  Irrthum  des  Instincts, 
dass  man  ganz  unmöglich  der  unklaren  Beschaffenheit  der  Ahming 
ein  80  unwandelbar  präcises  Besultat  zuschreiben  kann;  viel- 
mehr ist  dieses  Merkmal  der  absoluten  Sicherheit  so  characteristisch, 
dass  es  als  einzig  scharfes  Unterscheidüngskennzeichen  zwischen 
Handeln  aus  Instinct  und  aus  bewusster  TJeberlegong  gelten  kann. 
HierauB  geht  aber  wiederum  hervor,  dass  dem  Instinct  ein  anderes 
Princip  zu  Gründe  liegen  muss,  als  dem  bewussten  Handeln,  und 
kann  dasselbe  nur  in  der  Bestimmung  des  Willens  durch  einen  im 
XInbewussten  liegenden  Process  gesucht  werden,  für  welchen  sich 
dieser  Character  der  zweifellosen  Selbstgewissheit  inallenfolgen- 
den  Untersuchungen  bewahren  wird. 

Dass  ich  dem  Instinct  eine  unbewusste  Erkenntniss  zugeschrie- 
ben habe,  welche  durch  keine  sinnliche  Wahrnehmung  erzeugt  und 
dennoch  unfehlbar  gewiss  ist,  wird  Manchen  Wunder  nehmen,  doch 
ist  dies  keine  Consequenz  meiner  Auffassung  des  Instincts,  sondern 
vielmehr  eine  unmittelbar  ans  den  Thatsachen  geschöpfte  starke 
Stütze  dieser  'Auffassung  und  darf  darum  die  Mühe  nicht  gescheut 
werden,  noch  eine  Anzahl  Beispiele  darauf  hin  zu  betrachten.  Um 
für  die  unbewusste  Erkenntniss,  welche  nicht  durch  sinnliche  Wahr- 
nehmung erworben  y  sondern  als  unmittelbarer  Besitz  vorgefunden 
wird,  Ein  Wort  setzen  zu  können,  wähle  ich,  weil  „Ahnen"  aus 
den  angegebenen  Gründen  nicht  passt,  das  Wort  „Hellsehen*', 
welches  hier  durchaus  nur  die  Bedeutung  der  gegebenen  Definition 
haben  solL 

Betrachten  wir  nun  nach  einander  einige  Beispiele  aus  den 
Instincten  der  Feindesfarcht,  Ernährung,  des  Wandertriebs  und  der 
For^flanzung.  —  Die  meisten  Thiere  kennen  ihre  natürlichen  Feinde 
vor  jeder  Erfahrung  über  deren  feindliche  Absichten.     So  wird  ein 

5* 


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68 

Fing  junger  Tauben  auch  ohne  ältere  Führerin  scheu  und  fahrt 
auseinander,  wenn  ein  Baubvogel  sich  naht;  Ochsen  und  Pferde, 
die  aus  Gegenden  kommen,  wo  es  keine  Löwen  giebt,  werden  un- 
ruhig und  ängstlich  y  wenn  sich  in  der  Nacht  einer  heranschleicht, 
sobald  sie  denselben  wittern;  ein  junger  Schimpanse  gerieth,  wie 
Grant  beobachtete,  beim  ersten  Anblick  einer  Kiesenschlange  in  die 
höchste  Angst,  und  auch  unter  uns  Menschen  ist  es  nicht  so  selten, 
dass  ein  Gretohen  den  Mephistopheles  herausspürt.  Sehr  merk- 
würdig ist,  dass  ein  Insect  Bombex  ein  anderes  Pamope  angreift 
und  tödtet,  wo  es  dasselbe  findet,  ohne  von  der  Leiche  irgend  einen 
Gebrauch  zu  machen;  wir  wissen  aber,  dass  letzteres  den  Eiern  des 
ersteren  nachstellt,  also  der  natürliche  Feind  seiner  Gattung  ist. 
Die  den  Hirten  von  Rinder-  und  Sohafheerden  unter  dem  Kamen 
„das  Biesen  des  Viehes"  bekannte  Erscheinung  giebt  ebenfalls  einen 
Beleg.  Wenn  nämlich  eine  Dassel-  oder  Biesfliege  sich  einer  Heerde 
naht,  so  wird  diese  ganz  wild  und  rennt  wie  toll  durcheinander, 
weil  die  aus  den  auf  ihrem  Fell  abgelegten  Eiern  der  Fliege  auB- 
kriechenden  Larven  sich  später  in  ihre  Haut  einbohren  und  schmen- 
hafte  Eiterungen  veranlassen.  Da  die  Fliege  anderen  Bremsen  sehr 
ähnlich  sieht,  und  die  Folgen  erst  lange  nachher  eintreten,  so  katm 
man  nicht  ein  bewusstes  Erschliessen  des  Zusammenhangs  an- 
nehmen. Die  Vorsicht  der  Frettchen  und  Bussarde  den  Kreuzottern 
gegenüber  ist  schon  erwähnt;  ähnlich  wurde  beobachtet,  dass  ein 
junger  "Wespenbussard,  dem  man  die  erste  Wespe  vorlegte,  dieselbe 
erst  verzehrte,  nachdem  er  ihr  den  Stachel  aus  dem  Leibe  gedrückt 
hatte. 

Kein  Thier,  dessen  Listinct  nicht  durch  naturwidrige  Gewöhnung 
ertödtet  ist,  frisst  Gifbgewächse ;  selbst  den  durch* den  Aufenthalt 
bei  Menschen  verwöhnten  Affen  kann  man  noch  mit  Sicherheit  in 
den  Urwäldern  als  Vorkoster  der  Früchte  brauchen,  wo  er  die 
giftigen,  die  man  ihm  reicht,  mit  Geschrei  wegwirft.  Jedes  Thier 
wählt  gerade  diejenigen  pflanzlichen  oder  thierischen  Stoffe  zu  seiner 
Nahrung  aus,  welche  seiner  Verdauungseinrichtung  entsprechen,  ohne 
darüber  Unterricht  zu  empfangen,  selbst  ohne  vom  Geschmacks- 
werkzeug  vorher  Gebrauch  zu  machen.  Wenn  man  nun  freilich 
annehmen  muss,  dass  der  Geruch  und  nicht  das  Gesicht  das  fSr 
die  Unterscheidung  der  Stoffe  Bestimmende  ist^  so  ist  es  doch  ebcDSO 
räthselhaft,  wie  das  Thier  am  Gkruchseindruck,  als  wie  es  am  Ge- 
sichtseindruck das  seiner  Verdauung  Zusagende  erkennt.    So  genoss 


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das  Ton  Galen  aus  der  Matter  geschnittene  Zicklein  von  allen  yor- 
geeetzten  I^ahnmgsniitteln  und  Getränken  nur  Milch,  ohne  das 
.Ajidere  zu.  berühren.  Der  Kembeisser  spaltet  den  Kirschkern, 
indem  er  ihn  so  dreht,  dass  der  Schnabel  auf  die  Naht  trif%,  und 
macht  dies  bei  seinem  ersten  Kirschkern  im  Leben  ebenso  wie  beim 
letzten;  Utis,  Marder  und  Wiesel  machen  an  der  entgegengesetzten 
Seite  des  aussusaufenden  Eises  kleine  Löcher,  damit  die  Luft  beim 
Saugen  naehströmen  kann.  Nicht  bloss  die  angemessene  Nahrung 
keimen  die  lliiere,  sondern  auch  angemessene  Heilmittel  suchen  sie 
häufig  mit  richtiger  Selbstdiagnose  und  unerworbener  therapeutischer 
Keimtniss  auf.  So  fressen  die  Hunde  öfters  viel  Gras,  besonders 
aolches  von  Quecken,  wenn  sie  unwohl  sind,  unter  Anderem  nach 
Jj&aZf  wenn  sie  Würmer  haben,  die  dann  in  das  unverdaute  Gras 
eingewickelt  mit  abgehen  sollen,  oder  wenn  sie  Knochensplitter 
aas  dem  Magen  entfernen  wollen.  Als  Abführmittel  gebrauchen 
sie  Stachelkräuter.  Hühner  und  Tauben  picken  Kalk  von  Wänden 
und  Bädiem,  wenn  ihnen  die  Nahrung  nicht  genug  Kalk  zur  Bil- 
dung der  Eierschalen  bietet.  Kleine  Kinder  essen  Kreide,  wenn 
sie  Magensäure  haben,  und  Stücken  Kohle,  wenn  sie  an  Blähungen 
leiden.  Auch  bei  erwachsenen  Menschen  finden  wir  diese  beson- 
deren Nahrungsinstincte  oder  Heilmittelinstincte  unter  Umständen, 
wo  die  unbewusste  Natur  an  Macht  gewinnt,  z.  B.  bei  Schwangeren, 
deren  eapriciöse  Appetite  sich  yermuthlich  dann  einstellen,  wenn 
ein  besonderer  Zustand  der  Frucht  eine  eigenthümliche  Blutmischung 
wünsdienswerth  macht  Die  Feldmäuse  beissen  den  eingesammelten 
Körnern  die  Keime  ans,  damit  sie  im  Winter  nicht  auswachsen« 
Einige  Tage  vor  eintretender  Kälte  sammelt  das  Eichhörnchen  noch 
aaf  s  Fleissigste  ein,  und  yerschliesst  dann  die  Wohnung.  Die  Zug^ 
Tögel  ziehen  aus  unseren  Gegenden  nach  wärmeren  Ländern  zu 
Zeiten,  wo  sie  bei  uns  noch  keinen  Nahrungsmangel  haben,  und 
bei  erheblich  höherer  Temperatur,  als  bei  der  sie  zurückkehren; 
dasselbe  gilt  von  der  Zeit,  wo  die  Thiere  ihr  Winterlager  beziehen, 
was  die  Käfer  häu%  gerade  an  den  wärmsten  Herbsttagen  thun. 
Wem  Schwalben  und  Störche  Hunderte  von  Meilen  weit  ihre 
Heiisath  wieder  finden,  bei  noch  dazu  ganz  verändertem  Aussehen 
der  Landschaftent  so  schreibt  man  dies  der  Schärfe  ihres  Ortssiimes 
so,  wenn  aber  Tauben  und  Hunde  zwanzigmal  herumgedreht  im 
Sack  forttransportirt  sind^  und  doch  im  unbekannten  Terrain  den 
geraden  Weg  nach  Hause  laufen,    da   weiss  man  nichts  mehr  zu 


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»Eigen,  als:  ihr   Instinot  hat  sie   geleitet,   d.  h.  das  Hellsehen  des 
XJnbewussten  hat  sie  den  rechten  Weg  ahnen  lassen.     In  Jahren, 
wo   ein   zeitiger  Winter   eintreten  wird,  sammeln  sich  die  meisten 
Zugvögel   früher   als    gewöhnlich    zum  Abziehen;   wenn  ein  sehr 
milder  Winter  bevorsteht,    ziehen  manche  Arten   gar  nicht,  oder 
nur  eine  kleine  Strecke    nach  Süden;  kommt  ein  strenger  Winter, 
so  macht  die  Schildkröte  ihr  Winterlager  tiefer.     Wenn  Graugänse, 
Kraniche  u.  s.  w.  bald  wieder  aus  den  Gegenden  fortziehen,  in  denen 
sie  beim  Beginn  des  Frühjahrs  sich  gezeigt  hatten,  so  ist  ein  heisser 
und  trockener   Sommer   in  Aussicht,   wo   der    in  diesen  Gegenden 
eintretende  Wassermangel  den  Sumpf-  und  Wasservögeln  das  Brüten 
unmöglich  machen   würde.      In  Jahren,    wo  Ueberschwemmungen 
eintreten,   baut   der   Biber   seine  Wohnung   höher,  und  wenn  eme 
üeberschwemmung  in  Kamschatka  bevorsteht,  ziehen  die  Feldmaufle 
plötzlich  schaarenweise  fort.      Wenn  ein  trockener  Sommer  bevor- 
steht, sieht  man  im  April  und  Mai  die  Hängespinnen  von  der  Höhe 
herab  mehrere  Fuss  lange  Fäden  spinnen.     Wenn  man  im  Winter 
die  Winkelspinnen  oder  Winterspinnen  viel   hin  und   her  rennen, 
kühn  mit  einander  kämpfen,   neue  und  mehrere  Gewebe  über  em- 
ander  fertigen  sieht,  so  tritt  in  9 — 12  Tagen  Kälte  ein;  wenn  sie  sich 
dagegen  verstecken,   Thauwetter.     Ich  bezweifle  keineswegs,  dasa 
viele  dieser  Yorsichtsmaassregeln   gegen  zukünftige  Witterungsver- 
haltnisse   durch  Gefühlswahmehmungen  gegenwärtiger   atmosphän- 
scher  Zustände    bedingt   sind,  welche   uns   entgehen;  diese  Wahr- 
nehmungen beziehen   sich   doch   aber  immer  nur  auf  gegenwär- 
tige Witterungsverhältnisse,  und  was  kann  im  B.e  w  u  s  s  ts  e  i  n  des 
Thieres  die  durch  die  gegenwärtige  Witterung  erzeugte  Affection 
des  Gemeingefühls  mit  der  Yorstellung  des  zukiüiftigen  Wetters  Ba 
schaffen  haben?     Man  wird   doch  wahrlich  nicht  den  Thieren  gor 
muthen  wollen,    durch  meteorologische   Schlüsse   das    Wetter  auf 
Monate  im  Voraus  zu  berechnen,  ja  sogar  Ueberschwemmungen 
vorauszusehen.  Yielmehr  ist  eine  solche  Gefühlswahmehmung  geg^' 
Wärtiger  atmosphärischer  Einflüsse  nichts  weiter,   als  die  sinnliche 
Wahrnehmung,  welche  als  Motiv  wirkt,  und  ein   Motiv   muss  j* 
doch  immer  vorhanden  sein,  wenn  ein  Instinot  fiinetioniren  0OIL 
Es  bleibt  also  trotzdem  bestehen,  dass  das  Voraussehen  der  Witterang 
ein  unbewosstes  Hellsehen  ist,  von  dem  der  Storch,  der  vier  Wochen 
früher  nach  Süden   aufbricht,  so   wenig    etwas  weiss,    als   der 
Hirsch,  der  sich  vor  einem  kalten  Winter  einen  dickeren  Pelf  ^ 


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gewcSmlich  wachsen  lässt.  Die  Thiere  haben  eben  einerseits  das 
gegenwärtige  Witterongsgefuhl  im  Bewusstsein,  daraus  folgt  ande- 
rerseits ihr  Handeln  gerade  so,  als  ob  sie  die  Yorstellung  der 
mkünftigen  Witterang  hätten;  im  Bewusstsein  haben  sie  dieselbe 
aber  nicht,  ako  bietet  sich  als  einzig  natürliches  Mittelglied  die  nn- 
bewusste  Yorstellung ,  die  nun  aber  immer  ein  Hellsehen  ist,  weil 
sie  etwas  enthält,  was  dem  TMer  'weder  durch  sinnliche  Wahr- 
nehmung direct  gegeben  ist,  noch  durch  seine  Yerstandesmittel  aus 
der  Wahrnehmung  geschlossen  werden  kann. 

Am  wunderbarsten  von  allen  sind  .die   auf  die  Fortpflanzung 
bezüglichen  Instincte.   —    Jedes   Männchen   findet  das   Weibchen 
seiner  Species  heraus,  um  mit  ihm  die  Begattung  zu  vollziehen,  — 
iiber  gewiss   nicht   bloss   an   der  Aebnlichkeit   mit  sich;  denn  bei 
vielen  Thierarten,  z.  B.  Schmarotzerkrebsen,  sind  die  Geschlechter 
so  grundverschieden  an  Gestalt,   dass   das  Männchen  eher  auf  die 
Begattung  mit  Weibchen  von  Tausenden  von  anderen  Specien  ge- 
fölirt  werden  sollte,  als  mit  denen  der  seinigen.     Bei  der  Insecten- 
Ordnung  der  Strepsipteren  ist  das  Weibchen  ein  unförmlicher  Wurm, 
der  lebenslänglich  im  Hinterleibe  einer  Wespe  wohnt  und  nur  mit 
dem  linsenförmigen  Kopfschilde  zwischen    zwei   Bauchringen    der 
Wespe  hervorragt.     Das  nur  wenige  Stunden  lebende,  einer  Motte 
ähnlich  sehende  Männchen   erkennt  an  diesem  verkümmerten  Yor* 
stand  sein  Weibchen,   und  vollzieht  durch  eine  unmittelbar  unter 
dessen  Munde  zu  Tage  tretende  Oef&iung  die  Begattung. 
*      Yor  jeder  Erfahrung,  was  Gebären  sei,  treibt  es  das  schwangere 
Sängethier  in  die  Einsamkeit,  um  seinen  Jungen  in   einer  Höhle 
od«r  an  sonst  einem  geschützten  Orte  ein  Lager  zu  bemiten;  der 
Vogel  baut   sein  Nest,  sobald  ihm  die  Eier  im  Eierstock  reifen. 
Die  auf  dem   Lande  lebenden   Sohnecken,  Krabben,  Laubf^sche, 
Kröten  gehen  in's  Wasser,  die  Seeschildkröten  an's  Land,  viele  See- 
fische in  die   Flüsse   hinauf,   um  ihre  Eier  dort  zu  legen,  wo  sie 
allein  die  Bedingungen  zu  ihrer  Entwickelung  vorfinden.     Die  In- 
secten  legen    ihre  Eier  an  die  verschiedensten  i^Orte  in  den  Sand, 
anf  Blätter,  unter  Haut  und  Nägel  anderer  Thiere,  oft  an  solche 
Orte,  wo  erst  später  die  künftige  Nahrung  der  Larve  entsteht,  z.  B. 
im  Herbst  auf  Bäume,  die  erst  im  Frühjahr  ausschlagen,  oder  im 
FrShjahr  auf  Blütben,  die  erst  im  Herbst  Früchte  tragen,  oder  in 
Banpen,  die  erst  als  Puppen  den  Schmarotzerlarven  als  Nahrung 
und  Schutz  dienen-     Andere  Lisecten  legen  ihre  Eier  an  Orte,  von 


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d«nen  ans  sie  erst  auf  vielen  Umwegen  an  den  eigentlichen  Ort 
ihrer  Entwickelnng  befördert  werden  y  z.  'B.  gewisse  Bremsen  aaf 
die  Lippen  der  Pferde,  andere  an  solche  Stellen,  wo  die  Pferde 
sich  zu  lecken  pflegen ,  wodurch  die  Eier  in  die  Eingeweide  der- 
selben^  als  ihren  Entwickelungsort,  gelangen,  und  erwachsen  mit 
dem  Eoth  entleert  werden.  Die  Rinderbremsen  wissen  mit  sokber 
Sicherheit  die  kräftigsten  und  gesündesten  Thiere  ausKuwähleiiy 
dass  die  Viehhändler  und  Gerber  sich  ganz  auf  sie  vwlassen,  und 
am  liebsten  die  Thiere  und  Häute  nehmen,  die  die  meisten  Sparen 
von  Engeriingsfrass  zeigen.  Diese  Auswahl  der  besten  Rinder  durch 
die  Bremsen  wird  doch  gewiss  kein  Resultat  ihrer  bewussten  Prüfung 
und  XJeberlegung  sein,  wenn  die  Menschen,  deren  Gewerbe  es  ist, 
sie  als  ihre  Meister  anerkennen.  Die  Mauerwespe  macht  ein 
mehrere  Zoll  tiefes  Loch  in  den  Sand,  legt  ein  Ei  hinein,  und 
schichtet  ohnfUssige  grüne  Maden,  die  der  Yerpuppung  nahe,  also 
recht  wohl  genährt  sind,  und  lange  ohne  Nahrung  leben  fcönneo, 
so  eng  herum,  dass  sie  sich  nicht  rühren  noch  verpuppen  können, 
und  zwar  gerade  so  viel,  als  die  Larve  bis  zu  ihrer  Verpuppung 
wi  Nahrung  braucht.  Eine  Wanzenart,  cereeris  buprestioiday  die 
selbst  nur  von  Blüthenstaub  lebt,  legt  zu  jedem  ihrer  in  unter- 
irdischen Zellen  aufbewahrten  Eier  drei  Käfer,  deren  sie  sich 
dadurch  bemächtigt,  dass  sie  ihnen  auflauert,  wenn  sie  eben  ans 
ihrer  Yerpuppung  treten,  und  sie  dann,  wo  sie  noch  schwach  sind, 
tödtet,  zugleich  aber  ihnen  einen  Saft  beizubringen  scheint,  welcher 
sie  frisch  und  zur  Nahrung  tauglich  erhält  Manche  Wespenarten 
^Snen  die  Zellen  ihrer  Larven,  gerade  wenn  diese  ihre  Nahrvng 
verzehrt  haben,  um  neue  hineinzulegen,  und  verschliessen  sie  dann 
wieder;  in  ähnlicher  Weise  treffen  die  Ameisen  stets  den  reefattn 
Zeitpunct,  wo  ihre  Larven  reif  zum  Auskriechen  sind,  um  ihnen 
dfts  Gei^innst  zu  öffnen,  aus  dem  jene  sich  nicht  selbst  befreien 
könnten.  Was  weiss  nun  wohl  ein  Lisect,  dessen  Leben  bei  wenigen 
Arten  mehrmals  ein  einmaliges  Eierlegen  überdauert,  von  dem  In* 
halt  und  dem  günstigen  Entwickelimgsort  seiner  Eier,  was  weiss 
es  von  der  Art  der  Nahrung,  deren  die  auskriechende  Larve  be- 
dürfen wird,  und  die  von  der  seinigen  ganz  verschieden  ist,  ^^as 
weiss  es  von  der  Menge  der  Nahrung,  die  dieselbe  verbrancfat,  was 
kann  es  von  alledem  wissen,  d.  h.  im  Bewusstsein  haben?  V^^ 
doeh  beweist  sein  Handeln,  seine  Bemühungen  und  die  k^^ 
Wichtigkeit)  welche  es  diesen  Geschäften  beimisst^  dass  das  Thier 


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eine  Kenntniss  der  Zakuiift  hat;  sie  kann  also  nur  unbewnsste»^^ 
Hellsehen  sein.  Ebenso  unzweifelhaft  mnss  es  Hellsehen  seni^ 
welches  in  den  Thiercn  gerade  in  dem  Moment  den  Willen  erweckt, 
die  Zellen  oder  das  Gespinnst  zu  öffnen,  wo  die  Larven  mit  ihrem 
KahnmgSYorrath  fertig,  resp.  reif  zum  Auskriechen  sind.  Der 
Knkak,  dessen  Eier  nicht,  wie  bei  anderen  Vögeln,  einen  bis  zwei, 
sondern  sieben  bis  elf  Tage  brauchen,  um  im  Eierstock  zu  reifen, 
der  deshalb  seine  Eier  nicht  selbst  bebrüten  kann,  weü  die  ersten 
Terfault  sein  würden,  ehe  das  letzte  gelegt  ist,  legt  dieselben  des- 
halb anderen  Vögeln  in  die  Nester,  natürlich  jedes  Ei  in  ein  an- 
deres Nest.  Damit  nun  aber  die  Vögel  das  fremde  Ei  nicht  er- 
kennen und  hinauswerfen,  ist  es  nicht  nur  viel  kleiner,  als  man 
nach  der  Grösse  des  Kukuks  erwarten  sollte,  weil  er  nur  bei  kleinen 
Vögeln  Gelegenheit  findet,  sondern  auch,  wie  erwähnt,  den  übrigen 
Nesteiem  in  Farbe  und  Zeichnung  täuschend  ähnlich.  Da  nun  der 
Kokuk  sich  einige  Tage  vorher  das  Nest  aussucht,  in  welches  er 
le^n  will,  so  könnte  man  bei  den  offenen  Nestern  daran  denken, 
dass  das  eben  reifende  Ei  darum  die  Farbe  der  Nesteier  annimmt, 
weil  der  tiiichtige  Kukuk  sich  an  denselben  versieht;  aber  diese 
E^läruDg  passt  nicht  auf  die  Nester,  die  in  hohlen  Bäumen  ver- 
steckt sind  (z.  B.  syhia  phoenicurua) ,  oder  eine  backofenförmige 
Qmtalt  mit  engem  Eingang  haben  (z.  B.  sylvia  rufa)\  in  diesen 
FUkn  kann  der  Kukuk  weder  hineinschlüpfen,  noch  hineinsehen, 
er  muss  sogar  sein  Ei  dranssen  ablegen,  und  es  mit  dem  Schnabel 
hineinthun,  er  kann  also  gar  nicht  sinnlich  wahrnehmen,  wie  die 
voriumdenen  Nesteier  aussehen.  Wenn  nun  trotzdem  sein  Ei  dem 
anderen  genau  gleicht,  so  ist  dies  nur  durch  unbewusstes  Hellsehen 
möglieh,  welches  den  Process  im  Eierstock  nach  Farbe  und  Zeich- 
nung regelt. 

Rine  wesentliche  Stütze  und  Bestätigung  für  die  Existenz  des 
Hellsehens  in  den  Thierinsüncten  liegt  in  den  Thatsachen,  welche 
auch  am  Menschen  in  verschiedenen  Zuständen  ein  Hellsehen  doou- 
mentiren ;  die  Heilinstinote  der  Kinder  und  Schwangeren  sind  schon 
erwähnt.  Meistentheils  tritt  aber  hier  der  höheren  Bewusstseins- 
rtnfe  des  Menschen  gegenüber  eine  stärkere  Besonanz  des  Bewusst- 
sems  mit  dem  unbewussten  Hellsehen  hervor,  die  sich  als  mehr 
oder  minder  deutliche  Ahnung  darstellt.  Ausserdem  entspricht  es 
to  grösseren  Selbstständigkeit  des  menschlichen  Intellects,  dass 
£»e  Ahnung  nicht  aiUdschliesslich  Behufs  der  unmittelbaren  Ans- 


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führung  einer  Hemdlung  ointritty  sondern  bisweilen  auch  unabhängig 
von  der  Bedingung  einer  momentan  zu  leistenden  That  als  blosse 
Vorstellung  ohne  bewussten  Willen  sich  zeigt,  wenn  nur  die  Be- 
dingung erfüllt  ist,  dass  der  Gegenstand  dieses  Ahnens  den  Wil- 
len des  Ahnenden  im  Allgemeinen  in  hohem  Grade  interei;- 
si  r  t.  Nach  Unterdrückung  eines  Wechselflebers  oder  einer  anderen 
Krankheit  kommt  es  nicht  selten  vor,  dass  die  Kranken  genau  die 
Zeit  voraussagen,  zu  welcher  ein  Anfall  von  Krämpfen  erfolgen  und 
enden  wird;  dasselbe  findet  fast  regelmässig  bei  spontanem  Som- 
nambulismus statt,  und  häufig  bei  künstlich  erzeugtem;  schon  die 
Fythia  bestimmte  bekanntlich  jedesmal  die  Zeit  ihrer  nächsten 
Ekstase.  Ebenso  sprechen  sich  in  somnambulen  Zuständen  die 
Heilinstincte  ofb  in  Ahnungen  der  geeigneten  Medicamente  aus, 
welche  ebenso  oft  zu  glänzenden  Besultaten  geführt  haben,  als  sie 
dem  heutigen  Standpuncte  der  Wissenschaft  zu  widersprechen 
scheinen.  Die  Bestimmung  der  Heilmittel  ist  auch  gewiss  der 
einzige  Gebrauch,  welchen  anständige  Magnetiseure  von  dem  halb- 
wachen Schlaf  ihrer  Somnambulen  machen.  „Es  kommt  auch  bis- 
weilen vor,  dass  ganz  gesunde  Personen  vor  dem  Gebären  oder  im 
ersten  Anfange  ihrer  Krankheit  ein  sicheres  Vorgefühl  ihres  nahen 
Todes  haben;  die  Erfüllung  desselben  kann  man  schwerlich  für 
einen  blossen  Zufall  erklären,  denn  sonst  müsste  sie  ungleich  selte- 
ner vorkommen  als  die  Nichterfüllung^  was  doch  gerade  umgekehrt 
sich  verhält ;  auch  zeigen  manche  dieser  Personen  weder  Sehnsucht 
nach  dem  Tode,  noch  Furcht  vor  demselben,  und  man  kann  ihn 
daher  nicht  für  eine  Wirkung  der  Phantasie  erklären^'  (Worte  des 
berühmten  Physiologen  Burdach,  aus  dessen  Werk:  „Blicke  in's 
Leben,''  Capitel  Ahnung,  woher  ein  grosser  Theil  der  einschlagenden 
Beispiele  entlehnt  ist).  Diese  beim  Menschen  ausnahmsweise  eintretende 
Vorahnung  des  Todes  ist  bei  Thieren,  selbst  bei  solchen,  die  den  Tod 
nicht  kennen  und  verstehen,  etwas  ganz  Gewöhnliches;  sie  veiMo- 
ohen  sich,  wenn  sie  ihr  Ende  herannahen  fühlen,  an  möglichst  ent- 
legene, einsame  und  versteckte  Orte;  dies  ist  z.  B«  der  Grand, 
warum  man  selbst  in  Stfidten  so  selt^i  den  Leichnam  oder  das 
Gerippe  einer  Katze  findet.  Nur  ist  anzunehmen,  dass  das  bei 
Mensch  und  Thier  weeensgleiohe  unbewusste  Hellsehen  Ahnungen 
von  verschiedener  Deutlichkeit  hervormft,  also  z.  B.  die  Katze  hlo$8 
instinctiv  treibt  sich  zu  verkriechen,  ohne  dass  sie  weiss  weshalb» 
im  Menschen  aber  das  klare  Bewusstsein  seines  nahen  Todes  erweckt. 


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75 

Aber  nicht  bloss  Tom  eigenen  Tode  giebt  es  Ahnungen^  sondern  auch 
Ton  dem  thenrer,  dem  Herzen  nahe  stehender  Personen,  wie  die 
yielen  Ersählnngen  beweisen,  wo  ein  Sterbender  in  der  Todesstunde 
leinem  Freunde  oder  Gatten  im  Traume  oder  in  einer  Vision  er- 
sohienen  ist;  Erzählungen,  welche  sich  durch  alle  Völker  und 
Zeiten  hindurchziehen  und  theilweise  unzweifelhaft  wahre  Facta 
einschliessen.  Hieran  sohliesst  sich  die  namentlich  in  Schottland 
froher  und  den  dänischen  Inseln  jetzt  noch  vorkommende  Fähigkeit 
dei  zweiten  Gesichts,  wo  gewisse  Personen  ohne  Ekstase  bei  voller 
Besinnung  künftige  oder  entfernte  Begebenheiten  vorhersehen,  die 
fiir  sie  Interesse  haben,  wie  Todesfälle,  Sohlachten,  grosse  Brände 
(Swedenborg  den  Brand  von  Stockholm),  Ankunft  oder  Schicksale 
femer  Freunde  u.  s.  w.  (vgl.  Ennemoser:  Geschichte  der  Magie, 
2.  Aafl^  §.  86).  Bei  manchen  Personen  beschränkt  sich  dieses 
Hellseben  nur  auf  Todesfälle  ihrer  Bekannten  oder  Ortsangehörigen ; 
die  Beispiele  soloher  Leichenseherinnen  sind  zahlreich  und  aufs 
Beste,  zum  Theil  gerichtlich  beglaubigt.  Vorübergehend  findet  sich 
diese  Fähigkeit  des  zweiten  Gesichts  in  ekstatischen  Zuständen, 
montanem  oder  künstlich  erzeugtem  Somnambulismus  von  höheren 
Graden  des  Wachträumens,  sowie  auch  in  lichten  Momenten  vor 
dem  Tode  ein.  Häufig  sind  die  Ahnungen,  in  denen  das  Hellsehen 
des  Unbewussten  sich  dem  Bewusstsein  offenbart,  dunkel,  unver- 
itaodlieh  und  symbolisch,  weil  sie  im  Gehirn  sinnliche  Form  an- 
nehmen müssen,  während  die  unbewusste  Vorstellung  an  der  Form 
der  Sinnlichkeit  keinen  Theil  haben  kann  (siehe  Cap.  C.  I.) ;  daher 
luum  man  so  leicht  Zufälliges  in  Stimmungen,  Träumen  oder  krank- 
haften Bildern  für  bedeutungsvoll  halten.  Die  hieraus  folgende 
grosse  Wahrscheinlichkeit  des  Irrthums  und  der  Selbsttäuschung, 
und  die  Leichtigkeit  der  absichtlichen  Täuschung  Anderer,  sowie 
der  überwiegende  Naohtheil,  welchen  im  Allgemeinen  die  Eennt- 
lusB  der  Zukunft  dem  Menschen  bringt,  erheben  die  praotische 
Schädlichkeit  aller  Bemühungen  um  die  Eenntniss  der  Zukunft 
ausser  allen  Zweifel,  dies  kann  aber  der  theoretischen  Wichtigkeit 
dieses  Gebiets  von  Erscheinungen  keinen  Abbruch  thun,  und  darf 
keinenfalls  die  Anerkennung  der,  wenn  auch  unter  einem  Wust 
Ton  Fnsinn  und  Betrug  begrabenen  wahren  Thatsachen  des  Hell- 
•ehens  hindern.  Freilich  findet  es  die  überwiegend  rationalistische 
ond  materialistische  Tendenz  unserer  Zeit  bequem,  alle  Thatsachen 
dieses  Gebietes  zu   leugnen  oder  zu  ignorifen,  weil   sie  sich  von 


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76 


^ 


maierialiBtischen  GeBichtspunoten  atus  nicht  begreifen  lassen,  und 
nicht  nach  der  Inductionemethode  der  Differenz  auf  das  Experiment 
ziehen  lassen;  als  ob  letzteres  bei  Moral,  Socialwissenschaft  nnd 
Politik  nicht  ebenso  unmöglich  wäre!  Ausserdem  aber  liegt  die 
Möglichkeit  des  absoluten  Lengnens  aller  solcher  Erscheinungen 
für  gewissenhafte  3eiirtheiler  nur  in  dem  Nichtkennen  der  Berichte, 
welches  wieder  aus  dem  NichtkennenlemenwoUen  stammt.  Ich  bin 
überzeugt,  dass  viele  Leugner  aller  menschlichen  Divination  anders 
und  mindestens  vorsichtiger  nrtheilen  würden,  wenn  sie  es  der 
Mühe  werth  hielten,  sich  mit  den  Berichten  der  einschlagenden 
Thatsachen  bekannt  zu  machen,  und  bin  ich  der  Meinung,  dass 
heute  noch  Niemand  sich  zu  schämen  braucht,  wenn  er  einer  An- 
sicht beitritt,  der  alle  grossen  Geister  des  Alterthums  (ausser  Epi- 
kur)  gehuldigt  haben,  deren  Möglichkeit  kaum  einer  der  grossen 
neueren  Philosophen  zu  bestreiten  gewagt  hat,  und  welche  die  Vor- 
kämpfer der  deutschen  Aufklärung  so  wenig  geneigt  waren,  in  das 
Gebiet  der  Ammenmährchen  zu  verweisen,  dass  vielmehr  Göthe  aus 
seinem  eigenen  Leben  ein  Beispiel  des  zweiten  Gesichts  erzählt» 
das  sich  ihm  bis  in  die  Details  bestätigt  hat. 

So  wenig  ich  dieses  Gebiet  von  Erscheinungen  für  geeignet 
halten  würde,  um  es  zur  alleinigen  Grundlage  wissenschaftlicher 
Beweise  zu  machen,  so  sehr  finde  ich  es  erwähnenswerUi  als  Ver- 
vollständigung und  Fortsetzung  der  Erscheinungsreihe, 
welche  uns  in  dem  Hellsehen  der  Thier-  und  Menschen -Instincte 
gegenübertritt.  Eben  weil  es  diese  Beihe  nur  in  gesteigerter  Bewusst- 
Seinsresonanz  fortsetzt,  stützt  es  jene  Aussagen  der  Instincthand- 
lungen  über  ihr  eigenes  Wesen  ebenso  sehr,  wie  seine  Wahrseheiur 
üohkeit  selbst  in  jenen  Analogien  mit  dem  Hellsehen  des  Instinctes 
eine  Stütze  findet ^  und  dies,  sowie  der  Wunsch,  eine  Gelegenheü 
zur  Erklärung  gegen  ein  modernes  Vorurtheil  nicht  unbenutzt  zu 
lassen,  ist  der  Grund,  warum  ich  mir  erlaubt  habe,  dies  heutzutage 
80  in  Misscredit  stehende  Gebiet  in  einer  wissenschaftlichen  Arbeit^ 
wenn   auch   nur  beiläufig,  zu  erwähnen. 

Endlich  haben  wir  noch  eine  besondere  Art  von  Instinot  zn 
erwähnen,  der  für  das  ganze  Wesen  desselben  ebenfalls  hödist 
lehrreich  ist,  imd  zugleich  wieder  zeigt,  wie  unmöglich  es  ist»  die 
Annahme  des  Hellsehens  zu  umgehen.  Li  den  bisherigen  Beispielen 
nämlich  handelte  jedes  Wesen  nur  für  sich,  ausser  in  den  Fort- 
pfianzungsinetincten^  wo  sein  Handeln  stets  einem  anderen  Individaum 


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SU  Gute  kommt,  nämlich  seinen  Kindern;  jetzt  haben  wir  noch  die 
FäQe  zu  betrachten;  wo  unter  mehreren  Individuen  eine  Solidarität 
der  Instincte  besteht,  so  dass  einerseits  die  Leistung  jedes  Indi- 
viduums Allen  zu  Gute  kommt,  andererseits  erst  durch  das  ein- 
hellige Zusammenwirken  mehrerer  eine  nützliche  Leistung  heryor- 
gerofen  werden  kann.  Bei  höheren  Thieren  findet  diese  Weohsel- 
wiiinmg  der  Instincte  auch  statt,  doch  sind  sie  hier  um  so  schwerer 
Ton  der  Yereinbarung  durch  bewussten  Willen  auszuscheiden  ^  als 
^e  l^rache  eine  vollkommenere  Mittheilung  der  g^enseitigen  Pläne 
mid  Absichten  möglich  macht.  Wir  werden  trotzdem  diese  gemein- 
same Wirkung  eines  Masseninstincts  in  der  Entstehung  der  Sprache 
und  den  grossen  politischen  und  socialen  Bewegungen  in  der  Welt- 
geschichte deutlich  wieder  erkennen;  hier  handelt  es  sich  um 
mög^chst  einÜEUihe  und  deutliche  Beispiele,  und  darum  greifen  wir 
Ea  niederen  Thieren ,  wo  die  Mittel  der  Gedankenmittheilung  bei 
feUender  Stimme,  Mimik  und  Physiognomie  so  unvollkommen  sind, 
dass  die  Uebereinstimmung  und  das  Ineinandergreifen  der  einzelnen 
leistoDgen  in  den  Hauptsachen  unmöglich  der  bewussten  Yerstän- 
digimg  durch  Sprache  zugeschrieben  werden  darf.  Nach  Hubers 
Beobachtungen  (NouveUes  ohservaiiona  sur  les  abeüles)  nahm  beim 
Baue  neuer  Waben  einTheil  der  grösseren  Arbeitsbienen,  welche 
sich  Toll  Honig  gesogen  hatten,  keinen  Antheil  an  den  gewöhnlichen 
Beschäftigungen  der  übrigen,  sondern  verhielt  sich  völlig  ruhig. 
Kaeh  vierundzwanzig  Stunden  hatten  sich  unter  ihren  Bauohschienen 
Blattchen  von  Wachs  gebildet.  Diese  zog  die  Biene  mit  ihrem 
hinteren  Pusse  hervor,  kaute  sie  und  bildete  sie  in  Perm  eines 
Bandes.  Die  so  zubereiteten  Wachsblättchen  wurden  dann  an  die 
Decke  des  Korbes  aufeinander  geklebt.  Hatte  die  eine  Biene  auf 
diese  Art  ihre  Wachsblättchen  verbraucht,  so  folgte  ihr  eine  andere 
nach,  welche  die  nämliche  Arbeit  ebenso  fortsetzte.  So  wurde 
eine  kleine,  an  den  Bienenkorb  befestigte,  eine  halbe  Linie  dicke, 
ranhe  Mauer  in  senkrechter  Eichtung  gebildet.  Nun  kam  eine  der 
kleineren  Arbeitsbienen,  die  einen  leeren  Unterleib  hatte,  unter- 
rochte  die  Mauer,  und  machte  in  die  Mitte  der  einen  ihrer  Seiten 
eine  flache,  halbovale  Höhlung;  das  abgebissene  Wachs  häufte  sie 
am  Bande  derselben  auf.  Nach  kurzer  Zeit  wurde  sie  von  einer 
anderen  ähnlichen  abgelöst,  und  so  folgten  mehr  als  zwanzig  nach 
«mander.  In  dieser  Zeit  fing  auf  der  entgegengesetzten  Seite  der 
Kaoer  wieder  eine  andere  Biene  an,  dort  eine  ähnliche  Aushöhlung, 


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aber  entsprechend  nur  dem  Bande  der  diesseitigen  Aushöhlnng,  vor- 
zunehmen. Bald  arbeitete  eine  neue  Biene  an  ihrer  Seite  an  einer 
zweiten  solchen  Höhlung.  Auch  diese  wurde  von  immer  neuen 
Arbeitern  abgelöst  Inzwischen  kamen  wieder  andere  Bienen  herbei, 
zogen  unter  ihren  Bauchringen  Waohsschienen  hervor,  und  erhöhten 
damit  den  Rand  der  kleinen  Wachsmauer.  Immer  neue  Arbeiter 
höhlten  darin  den  Grund  zu  neuen  Zellen  aus,  indess  andere  fort- 
fohren,  die  schon  früher  angefangenen  nach  und  nach  in  ganz  regel- 
mässige Form  zu  bringen,  und  zugleich  die  prismatischen  Wandun- 
gen derselben  zu  yerlängem.  Dabei  arbeiteten  die  Bienen  auf  der 
gegenüberstehenden  Seite  der  Wachsmauer  immer  nach  demselben 
Plane  des  Ganzen  in  der  genauesten  TJebereinstimmnng  mit  den 
Arbeitsbienen  der  anderen  Seite,  bis  endlich  die  Zellen  beider 
Seiten  in  ihrer  bewunderungswürdigen  Regelmässigkeit  und  ihrem 
Ineinandergreifen  nicht  nur  der  neben  einander  stehenden^  sondern 
auch  der  durch  ihre  Pyramidenböden  einander  gegenüber  befind- 
lichen vollendet  waren.  Man  denke  sich  nun,  wie  Wesen,  die  sich 
durch  sinnliche  Mittheilungsmittel  über  ihre  gegenseitigen  Absichten 
und  Pläne  einigen  sollten,  in  tausendfache  Meinungsverschiedenheit, 
in  Zank  und  Streit  gerathen  würden,  wie  oft  etwas  verkehrt  ge- 
macht würde  und  zerstört  und  noch  einmal  gemcusht  werden  müsste, 
wie  sich  zu  diesem  Geschäft  zu  viele  drängen,  zu  jenem  zu  wenig« 
finden  würden,  welch'  ein  Hin-  und  Herlaufen  es  geben  würde, 
ehe  jeder  seinen  rechten  Platz  gefunden  hätte,  wTe  oft  sich  jet«t 
mehrere  zur  Ablösung  drängen,  jetzt  wieder  welche  fehlen  würden, 
wie  wir  dies  bei  gemeinschaftlichen  Arbeiten  der  so  viel  b<>her 
stehenden  Menschen  finden.  Von  alle  dem  sehen  wir  bei  den  Bienen 
nichts;  das  Ganze  macht  vielmehr  den  Eindruck,  als  ob  ein  un- 
sichtbarer höchster  Baumeister  den  Plan  des  Ganzen  der  Versamn^- 
lung  vorgelegt  und  jedem  Individuum  eingeprägt  hätte,  als  wenn 
jede  Art  von  Arbeitern  ihre  bestimmte  Arbeit,  Stelle  und  Numm^ 
der  Ablösung  auswendig  gelernt  hätte,  und  durch  geheime  Signal* 
von  dem  Augenblick  benachrichtigt  würde,  wo  sie  an  die  Beine 
kommt.  Alles  dies  ist  aber  eben  Leistung  des  Instincts,  vind  wie 
durch  Instinct  der  Plan  des  ganzen  Stocks  in  unbewusstem  Hei- 
sehen  jeder  einzelnen  Biene  einwohnt,  so  treibt  ein  gemeinsoxaet 
Instinct  jede  einzelne  zu  der  Arbeit,  zu  der  sie  berufen  ist»  ^ 
rechten  Moment;  nur  dadurch  ist  die  wunderbare  Ruhe  und  Gra- 
nung  möglich.      Wie   dieser   gemeinsame   Instinct   zu  denken  ^^> 


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kann  erst  viel  später  aufgeklärt  werden,  aber  die  Möglichkeit  des- 
selben ist  schön  jetzt  einleuchtend,  indem  jedes  Individuum  den 
Plan  des  Ghmzen  und  sämmtliche  gegenwärtig  zu  ergreifende  Mittel 
im  nnbewussten  Hellsehen  hat,  wovon  aber  nur  das  Eine,  was  ihm 
2a  thnn  obliegt,  in  sein  Bewusstsein  fällt.  So  z.  B.  spinnt  eine 
Bienenlarve  sich  ihr  seidenes  Puppengehäuse  selbst,  aber  den 
schHessenden  Wachsdeckel  müssen  andere  Bienen  daran  setzen ;  der 
Plan  des  ganzen  Puppengehäuses  schwebt  also  beiden  Theilen  un- 
bewnast  vor,  aber  jeder  leistet  durch  bewussten  Willen  nur  den 
ihm  zukommenden  Theil.  Dass  die  Larve  nach  der  Verwandlung 
Ton  anderen  Bienen  aus  ihrem  Gehäuse  befreit  werden  muss,  ist 
sdion  firüher  erwähnt,  ebenso  dass  die  Arbeiterinnen  die  Drohnen 
im  Herbste  tödten,  um  nicht  die  nutzlosen  Mitesser  den  Winter 
liindnrch  zu  ernähren,  und  dass  sie  sie  nur  leben  lassen,  wenn  sie 
eine  neu  aufzuziehende  Königin  befruchten  sollen.  Die  Arbeiterinnen 
ban^  ferner  die  Zellen  für  die  reifenden  Eier  der  Königin,  und 
zwar  in  der  Begel  gerade  so  viel,  als  die  Königin  Eier  legen  wird, 
und  nodi  dazu  in  der  Folge,  wie  die  Eier  gelegt  werden,  nämlich 
erst  für  die  Arbeiterinnen,  dann  für  die  Drohnen,  dann  für  die 
Königinnen.  Hier  sieht  man  wieder,  wie  die  Instincthandlungen 
der  Arbeiterinnen  sich  nach  versteckten ,  organischen  Vorgängen 
richten,  welche  doch  offenbar  nur  durch  unbewusstes  Hellsehen 
aof  sie  einen  Einfluss  haben  können.  Im  Bienenstaat  ist  die  arbei- 
tende Thätigkeit  und  die  geschlechtliche,  die  sonst  vereinigt  sind, 
in  drei  Arten  von  Individuen  personificirt,  und  wie  bei  Einem 
Individuum  die  Organe,  so  stehen  hier  die  Individuen  in  innerer, 
unbewusster,  geistig-organischer  Einheit. 

"Wir  haben  also  in  diesem  Capitel  folgende  Kesultate  erhalten : 
der  Instinct  ist  nicht  EesuUat  bewusster  XJeberlegung,  nicht  blosse 
Folge  der  körperlichen  Organisation,  nicht  Hesultat  eines  in  der 
Organisation'  des  Gehirns  gelegenen  Mechanismus,  nicht  Wirkung 
eines  dem  Geiste  von  aussen  angeklebten  todten,  seinem  innersten 
Weski  fremden  Mechanismus,  sondern  selbsteigene  Leistung  des 
Indiiiduums,  aus  seinem  innersten  Wesen  und  Character  entspringend. 
Der  Zweck,  dem  eine  bestimmte  Art  von  Instincthandlungen  dient, 
ist  nicht  von  einem  ausserhalb  des  Individuums  stehenden  Geiste, 
etwa  einer  Vorsehung,  ein  für  allemal  gedacht,  und  nun  dem  Indi- 
vidmim  die  Nothwendigkeit ,  nach  ihm  zu  handeln,  als  etwas  ihm 
Fremdes  äusserlich  aufgepfropft,  sondern  der  Zweck  des  Instinctes 


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wird  in  jedem  einzelnen  Falle  vom  Individuum  unbewusst  gewollt 
und  vorgestellt,  und  danach  unbewuaet  die  für  jeden  besonderoi 
Fall  geeignete  Wahl  der  Mittel  getroffen.  Häufig  ist  die  Kennt- 
niss  des  Zwecks  der  bewussten  Erkenntniss  durch  sinnliche  Wahr* 
nebmung  gar  nicht  zugänglich ;  dann  documentirt  sich  die  FigenthüzO' 
lichkeit  des  XJnbewussten  im  Hellsehen,  von  welchem  das  Bewoaslr 
•ein  theils  nur  eine  verschwindend  dumpfe,  theils  auch,  namentUoli 
beim  Menschen,  mehr  oder  minder  deutliche  Eesonanz  als  Ahnung 
verspürt,  während  die  Instincthandlung  selbst,  die  Ausführung  des 
Mittels  zum  unbewussten  Zweck  stets  mit  voller  Klarheit  in's  Be- 
wusstsein  fallt,  weil  sonst  die  richtige  Ausführung  nicht  möglich  wäre. 
Das  Hellsehen  äussert  sich  endlich  auch  in  dem  Zusammenwirken 
mehrerer  Individuen  zu  einem  gemeinsamen^  unbewussten  Zweck. 

Das  Hellsehen  steht  bis  hierher  noch  als  eine  unverständli^ 
empirische  Thataacho  da,  und  man  könnte  einwenden:  „dann  bleibe 
ich  lieber  gleich  beim  Instinct  als  einer  unverständlichen  Thatsache 
stehen/'  Dem  steht  aber  entg^en,  erstens,  dass  wir  das  Hellsehen 
auch  ausserhalb  des  Instincts  finden  (namentlich  beim  Menschen)f 
zweitens,  dass  bei  Weitem  nicht  bei  allen  Instincten  ein  Hellsehen 
vorzukommen  braucht,  dass  also  Instinct  und  Hellsehen  schon 
empirisch  als  zwei  getrennte  Thatsachen  gegeben  sind,  von  denen 
wohl  das  Hellsehen  zur  Erklärung  des  Instincts  beitragen  kann, 
aber  nicht  umgekehrt,  und  drittens  endlich,  dass  das  Hellsehen 
des  Individuums  nicht  als  eine  so  unverständliche  Thatsache  stehen 
bleiben  wird,  sondern  im  späteren  Verlauf  der  Untersuchung  sehr 
wohl  seine  Erklärung  finden  wird,  während  man  auf  das  Ver- 
ständniss  des  Instincts  auf  jede  andere  Weise  verzichten  müsste. 

Nur  die  hier  ausgeführte  Auffassung  macht  es  möglich,  den 
Instinct  als  den  innersten  Kern  jedes  Wesens  zu  begreifen;  dass 
er  dies  in  der  That  ist,  zeigt  schon  der  Trieb  der  Selbsterhaltong 
und  Oattungserhaltung,  der  durch  die  ganze  Schöpfung  durchgeht, 
zeigt  der  heroische  Opfermuth,  mit  welchem  das  individuelle 
Wohl,  ja  selbst  das  Leben,  dem  Instinct  zum  Opfer  gebracht  wird. 
Man  denke  an  die  Baupe,  die  immer  wieder  ihr  Gespinnst  aus- 
bessert, bis  sie  der  Entkräftung  erliegt,  an  den  Yogel,  der  vor 
Erschöpfung  durch  Eierlegen  stirbt,  an  die  Unruhe  und  Traner 
aller  Wanderthiere,  die  man  am  Wandern  verhindert.  Ein  gefangener 
Kukuk  stirbt  jedesmal  im  Winter  an  der  Verzweiflung,  nicht  fort- 
ziehen zu  können;  die  Weinbergsschnecke,  der  man  den  Wintersohhif 


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yenag^y  ebeiiBo;   das   schwächste  Mutter-Thier  nimmt  den  Kampf 

mit  dem  überlegensten  Gegner  auf  und  erleidet  freudig  für  seine 

Jungen  den  Tod;  ein  unglücklich  liebender  Mensch  wird  wahnsinnig 

«der   gre^   2um   Selbstmord,  wie  jedes  Jahr  mit   einigen  Fällfn 

Ton  Neuem    bestätigt;    eine   Prau,    die  den  Kaiserschnitt  einmal 

glftcklidi  überstanden  hatte,   tiess  sich  durch  die  sichere  Aussicht 

auf  Wiederholung  dieser   furchtbaren,  meist  tödtlichen  Operatioa 

«0  wwg  von   der  ferneren  Begattung  abhalten^  dass  sie  dieselbe 

Opefation   noch   dreimal    durchmachte.      XJnd  eine  so  dämonische 

Gewalt  sollte   durch  etwas   ausgeübt  werden  können,   was  ab  ein 

dem  inneren  Wesen  fremder  Mechanismus  dem  Geiste  aufgepfropft 

iftf  oder  gar  durch  eine  bewusste  üeberlegung,  welche  doch  stets 

nur  im  kahlen  Egoismus  stecken    bleibt,    und  solcher  Opfer  fär 

^6- Gattung  gar  nicht  fähig  ist,  wie  sie  der  For^flan2ungs-  und 

Mntteiinstinct  darbietet! 

Der  Instinct  ist  der  Mittelpunct  der  geistigen  Eigenthümlich- 
keit  jedes  Thieres,  er  ist  es,  der  den  Thiercharacter  ausmacht, 
denn  alle  Züge^  die  man  zusammenstellt,  um  den  Gharacter  einer 
Tliierspecies  zu  zeichnen,  beziehen  sich  auf  die  eigen thümlichen 
Instincte,  welche  das  Leben  derselben  auszeichnen.  Dass  dasselbe 
in  gewissem  Sinne  auch  für  Menschen  gilt,  werden  wir  im  Ab- 
schnitt B.  sehen.  Hier  haben  wir  nur  noch  die  Frage  zu  be- 
rüoksichügen,  wie  es  kommt,  dass  innerhalb  einer  Thierspecies  die 
hiBÜncte  so  gleichmässig  sind,  ein  Umstand,  der  nicht  wenig  dazu 
beigetragen  hat,  die  Ansicht  yon  dem  aufgepfropften  Geistesmecha- 
nismus zu  bestärken. 

Kon  ist  aber  klar,  dass  gleiche  Ursachen  gleiche  Wirkungen 
haben,  imd  hieraus  erklärt  sich  jene  Erscheinung  ganz  tou  selbst, 
dämlich  die  körperlichen  Anlagen  innerhalb  einer  Thierspecies 
sind  dieselben  y  die  Fähigkeiten  und  Ausbildung  des  bewussten 
Geistes  ebenfalls  (was  bei  den  Menschen  und  zum  Theil  den 
böebsten  Thieren  nicht  der  Fall  ist,  und  woher  bei  diesen,  die 
Terschiedenheit  der  Individuen  kommt);  die  äusseren  Lebens- 
bedingungen sind  gleichfalls  ziemlich  dieselben,  und  insofern  sie 
wesentlich  yerschieden  sind,  sind  auch  die  Instincte  yerschieden; 
wofür  es  wohl  keiner  Beispiele  bedarf  Aus  gleicher  Geistes-  und 
Körperbeschaffenheit  und  gleichen  äusseren  Umständen  folgen  aber 
noüiwendig  gleiche  Lebenszwecke  als  logische  Consequeoz,  aus 
gleichen  Zwecken  und  gleichen  inneren  und  äusseren  Umständen 

r.  Hftrtnuum,  Phil.  d.  Cnb«waMt«&.  6 


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üolgt  aber  gleiche  Wahl  der  Mittel,  d.  h.  gleiche  Instincte.  Die 
letzten  beiden  Schritte  würden  nicht  ohne  EinBohränkong  znza- 
i;eben  sein,  wenn  es  sich  um  bewusste  Ueberlegong  handelte»  da 
aber  diese  logischen  ConseqnenBen  Tom  ünbewossten  gezogen 
werden,  welches  ohne  Schwanken  nnd  Zaudern  unfehlbar  das  Rich^ 
iige  ergreift,  so  fallen  sie  auch  ans  gleichen  Prämissen  immer 
gleich  aas. 

So  erklärt  sich  aus  unserer  Auffassung  des  Instinctes  auch  das 
letzte,  was  als  Stütze  entgegengesetzter  Ansichten  geltend  gemacht 
werden  könnte. 

Ich  schliesse  dieses  Ci^itel  mit  den  Worten  Schellings  (L  Bd. 
7.  S.  455):  „Ks  sind  keine  anderen  als  die  Erscheinungen  des 
thierischen  Instinctes,  die  für  jeden  nachdenkenden  Menschen 
zu  den  allergrössten  gehören  —  wahrer  Probirstein  ächter  Philo- 
sophie.'' 


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IV. 
Die  VerbiHduig  tob  Wille  u4  Yorstelliiiig. 


Jedes  Wollen  will  den  üebergang  eines  gegenwärtigen 
Zustandes  in  einen  andern.  —  Ein  gegenwärtiger  Zustand 
ist  allemal  gegeben,  und  wäre  er  selbst  die  blosse  Rnhe;  ans  die- 
iem  gegenwärtigen  Znstand  allein  könnte  aber  nun  und  nimmer- 
mebr  der  Wille  bestehen,  wenn  nicht  die  Möglichkeit,  wenigstens 
die  ideale  Möglichkeit»  von  etwas  anderem  vorhanden  wäre.  Der 
Eine  Zustand,  der  real  und  ideal  nichts  anderes  zuliesse,  wäre  in 
sich  selbst  beschlossen,  ohne  je  auch  nur  idealiter  über  sich  hin- 
auszugehen, denn  dieses  aus  sich  Herausgehen  wäre  dann  ja  eben 
schon  sein  Anderes.  Auch  derjenige  Wille,  welcher  das  Beharren 
des  gegenwärtigen  Zustandes  will,  ist  nur  möglich  durch  die  Vor-* 
Stellung  des  Aufhörens  dieses  Zustandes,  welches  y  er  ab  scheut 
wird,  also  durch  eine  doppelte  Negation;  ohne  die  Vorstel- 
lung des  Aufhörens  würde  ein  Wollen  des  Beharrens  unmöglich 
sein.  Es  steht  also  fest,  dass  zum  Wollen  zunächst  zweierlei  nöthig 
ist,  Ton  denen  eines  der  gegenwärtige  Zustand  ist,  und  zwar  als 
Aofigangspunet.  Das  Andere,  der  Endpunct  oder  das  Ziel  des 
WoUens,  kann  nicht  d^  jetzt  gegenwärtige  Zustand  sein ,  denn  die 
Gegenwart  hat  man  ja  ganz  und  gar  inne,  also  wäre  es  wider- 
sinnig, sie  noch  zu  wollen,  sie  kann  höchstens  Befriedigung  oder 
Unbefriedigung  erzeugen,  aber  nicht  Willen.  Es  kanü  also  nicht 
ein  seiender,  sondern  bloss  ein  nicht  seiender  Zustand  sein, 
welcher  gewollt  wird,  und  zwar  als  seiend  gewollt  wird.  Aus 
dem  Nichtsein  in's  Sein  kann  der  Zustand  nur  durch  das  Werden 
gelangen,  und  wenn  er  durch  das  Werden  zum  Sein  gekommen  ist, 
so  ist  der  briaher  Gegenwart  genannte  Moment  vorüber  und  eine 
neue  Gegenwart  eingetreten,  welche  von  dem  vorigen  Moment 

6* 


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L. 


84 

aus  betrachtet,  noch  Zukunft  ist.  Dieser  yonge  Moment  ist  aber 
der  des  WoUens,  mithin  ist  es  ein  zukünftiger  Zustand,  dessen 
Gegenwärtigwerden  gewollt  wird.  Dieser  zukünftige  Zustand  muss 
also  im  Wollen  als  das  Andere  des  jetzt  gegenwärtigen  Zustandes 
enthalten  sein,  und  giebt  dem  Willen  seinen  Endpunct  oder  sein 
Ziel,  ohne  das  er  nicht  denkbar  ist.  Da  nun  aber  dieser  zukünf- 
tige Zustand  als  ein  gegenwärtig  noch  nicht  seiender  in  dem 
gegenwärtigen  Actus  des  Wollens  realiter  nicht  sein  kann, 
aber  doch  darin  sein  muss,  damit  derselbe  erst  möglich  wird, 
so  muss  er  nothwendiger  Weise  idealiter,  d.  h.  als  Vorstel- 
lung in  demselben  enthalten  sein.  Ebenso  kann  aber  auch  der 
gegenwärtige  Zustand  nur  insofern  Ausgangspunct  des  Willens 
werden,  als  er  empfunden  wird,  d.  h.  als  er  in  die  Yorstellung 
(im  weitesten  Sinne  des  Worts)  eingeht.  Wir  haben  also  im  Willen 
zwei  Vorstellungen,  die  eines  gegenwärtigen  Zustandes  als  Aus- 
gangspunct, die  eines  zukünftigen  als  Endpunct  oder  Ziel;  erstere 
wird  als  Vorstellung  einer  yorhandenen  Bealität  aufgefastt, 
letztere  als  Vorstellung  einer  erst  zu  schaffenden  Bealität  Der 
Wille  ist  nun  das  Streben  nach  dem  Schaffen  dieser  BeaHtät,  oder 
das  Streben  nach  dem  TJebergang  aus  dem  durch  erstere  in  den 
durch  letztere  Vorstellung  repräsentirten  Zustand.  Dieses  Streben 
selbst  entzieht  sich  jeder  Besprechung  und  Definition,  weil  wir  uns 
doch  bloss  in  Vorstellungen  bewegen  und  das  Streben  an  sich 
etwas  der  Vorstellung  heterogenes  ist ;  es  kann  von  ihm  nur  gesagt 
werden,  dass  es  die  unmittelbareUrsache  der  Veränderung 
ist.  Dies  Streben  ist  die  sich  überall  gleichbleibende  leereForm 
des  Willens,  welche  der  Erfüllung  mit  dem  yerschiedenartigsteii 
Vorstellungsinhalt  offen  steht,  und  wie  jede  leere  Form  Abstous- 
tion  ohne  andere  Bealität  ist,  als  die,  welche  sie  an  ihrem 
Inhalt  hat,  so  auch  diese.  Das  Wollen  ist  eadstenziell  oder  aotuell 
nur  an  der  Beziehung  zwischen  der  Vorstellung  des  gegenwärtigen 
und  zukünftigen  Zustandes;  nimmt  man  dem  BegrifE  diese  Belatioo, 
ohne  welche  er  nicht  bestehen  kann,  so  raubt  man  ihm  die  Beali- 
tät, das  Dasein.  Niemand  kann  in  Wirklichkeit  bloss  wollen» 
«hne  dies  oder  jenes  zu  wollen;  ein  Wille,  der  nicht  Etwa» 
will,  ist  nicht;  nur  durch  den  bestimmten  Inhalt  erhalt  der 
Wille  die  Möglichkeit  der  Existenz,  und  dieser  Inhalt  ist  Vor- 
stellung, wie  wir  gesehen  haben.    Daher:  keil  Wollei  «low  V*r- 


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86 

iMSag,  wie  schon  AriBtoteles  sagt  (de  an.  HL  10,  433.  b,  27): 
0(^€Xfix6p  di  ovx  av^v  (pctvzaaiag. 

Ich  bin  deshalb  so  lange  bei  dieser  selbstverständlichen  Be- 
trachtang verweilt,  weil  aas  Yemachlässigang  derselben  die  ganze 
Kgenthnmlichlreit  und  Halbheit  der  Schopenhaner'schen  Philosophie 
entipiingt,  welche  nur  den  Willen  als  metaphysisches  Princip  gelten 
Itot,  und  die  Yorstellnng  oder  den  Intellect  materiallBtisch  ent- 
stehen läset.  Es  wäre  leicht,  die  obige  Behauptung  auch  in  Bei- 
spielen durchzugehen,  ich  halte  sie  aber  für  so  selbsterident,  dass 
ieh  den  Leser  damit  lieber  yerschonen  will;  zumal  da  das  ganze 
zweite  Gapitel  gewissermaassen  als  Beispiel  zu  diesem  allgemeinen 
Satz  angesehen  we)rden  kann,  nur  dass  dort  auf  den  unbewussten 
Willen  weniger  Nachdruck  gdegt  ist. 

Wir  wissen  also  nunmehr,  dass,  wo  immer  wir  einem  Willen 
begegnen,  Vorstellung  damit  yerbunden  sein  muss,  allermindestens 
diejenige,  welche  das  Ziel,  Object  oder  Inhalt  des  Willens  ideell 
▼eigegenwärtigt;  die  andere  Vorstellung,  der  Ausgangspunct,  könnte 
iD^bdierweise  eher  einmal  »s  0  werden,  wenn  der  Wille  sich  aus 
c^  Kichts  erhebt;  indess  haben  wir  bei  empirischen  Erscheinungen 
mit  diesem  Fall  nichts  zu  thun»  yielmehr  ist  hier  der  Ausgangs- 
punct allemal  ab  positive  Empfindung  eines  gegenwärtigen  Zustan- 
de gegeben.  Demnach  muss  auch  jeder  unbewusste  Wille, 
dsr  wirklich  existirt,  mit  Vorstellungen  yerbunden  sein,  denn  in 
QBserer  Betrachtung  kam  nichts  yor,  was  auf  den  Unterschied  yon 
bewnsstem  oder  unbewusstem  Willen  Bezug  gehabt  hätte.  Die 
positive  Empfindung  des  gegenwärtigen  Zustandes  wird  auch  beim 
vibewnssten  Willen  immer  für  das  Neryencentrum  bewusst  sein 
mästen,  auf  welches  der  Wille  sich  bezieht,  da  eine  materiell  er- 
regte Empfindung,  wenn  sie  yorhanden  ist,  stets  bewusst  sein  muss; 
dsgegen  wird  beim  unbewussten  Willen  die  Vorstellung  des  Zieles 
oder  Objectes  des  WoUens  natürlich  auch  unbewusst  sein.  Also 
«Beh  mit  jedem  wirklich  yorhandenen  Willen  in  untergeordneten 
Kerrencentris  muss  eine  Vorstellung  yerbunden  sein,  und  zwar  je 
mwl  der  Beschaffenheit  des  Willens  eine  relatiy  auf  das  Gehirn, 
oder  absolut  unbewusste.  Denn  wenn  der  Qanglienwille  den  Herz- 
moikel  in  bestinmiter  Weise  contrahiren  will,  so  muss  er  zunächst 
die  Vorstellung  dieser  Oontraction  als  Inhalt  besitzen,  denn  sonst 
Unnte  weiss  Gott  was  contrahirt  werden,  nur  nicht  der  Herzmuskel; 


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86 

diese  Yorstellung  ist  jedenfalla  für  das  Hirn  unbewusst,  für  dts 
Ganglion  aber  bewusst.  Nun  mnss  aber  die  Contraotion  dadurch 
bewirkt  werden,  dass,  analog  wie  wir  es  im  zweiten  Capitel  bei 
den  willkürlichen  Bewegungen  dee  Himwillens  gesehen  haben,  ein 
Wille  zur  Erregung  der  betreffenden  centralen  Endigongen  der 
bewegenden  Nervenfasern  im  Ganglion  entst^t;  dazu  gehört  aber 
wiederum  eine  Vorstellung  der  Lage  dieser  cmitralen  Nervenenden, 
und  diese  Vorstellung  muss,  analog  mit  dem  Himwillen,  absolut 
unbewuBst  gedacht  werden,  ebenso  wie  der  eratere  Wille  relativ, 
der  letztere  absolut  unbewusst  zu  denken  isl 

Wir  haben  gesehen,  dass  der  Wille  eine  leere  Form  ist,  die 
erst  an  der  Vorstellung  den  Inhalt  findet,  an  welchem  sie  sich 
verwirklicht,  dass  diese  Form  aber  selbst  etwas  der  VorBtellung 
Heterogenes,  und  darum  nicht  durch  Begriffe  zu  Bestimmendes»  in 
seiner  Art  Einziges  ist^  nämlich  das,  was  zwar  selbst  noch  ideal 
seiend,  in  seinem  Wirken  den  Uebergang  vom  Idealen  zum  Wirk- 
lichen oder  Realen  macht.  Der  Wille  ist  also  die  Form  der 
Causalität  von  Idealem  auf  Reales,  er  ist  nichts  als 
Wirken  oder  Thätigsein,  reines  aus  sich  Herausgehen,  während  die 
Vorstellung  reines  Beisichsein  und  Insichbleiben  ist  Wenn  aber 
in  der  nach  aussen  wirkenden  Oausalität  und  dem  aus  sich  Herans- 
gehen  der  Grunduntersohied  der  Form  des  Willens  von  der  Vor* 
Stellung  liegt,  so  muss  diese  als  in  sich  Beschlossenes  einer  nach 
Aussen  wirkenden  Causalität  entbehren»  wenn  nicht  der  eben 
gesetzte  Unterschied  wieder  aufgehoben  werden  soll.  Denn  beim 
Willen  ist  immer  Vorstellung,  und  wenn  nun  die  Vorstellung  auoh 
die  (kusalität  nach  Aussen  besässe,  so  wäre  der  unterschied  zwi- 
schen Wille  und  Vorstellung  in  der  That  au%ehoben,  während  wir 
innerhalb  eines  jeden  von  ihnen  die  beiden  verschiedenen 
Momente  wieder  finden  würden  und  von  Neu^n  zu  bezeichnen 
hätten.  Darum  behalten  wir  lieber  gleich  für  diese  polarisohen 
Momente  die  Worte  Wille  und  Vorstellung  bei,  und  nehmen  eine 
Verknüpfung  beider  an,  wo  wir  die  Momente  vereint  finden. 
So  haben  wir  es  beim  Willen  bereits  gemacht;  es  bleibt  ^^ 
übrig,  in  Zukunft  in  der  Vorstellung  überall  da  «inen  Willen  an- 
zuerkennen, wo  dieselbe  eine  Causalität  nach  Aussen  zeigt  Auok 
dies  hat  schon  Aristoteles  ausgesprochen  (de  an.  HL  10.  433.  «•  ^)^ 
Mai  ^  g>aptaala  di,  Svav  ^ly/jj  ov  xa^si  av9v  ofi^^iogt  cL  h.: 


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8T 

,,aber  auch  die  Yorstellung,  wenn  sie  nach  Aussen  wirkt,  witkt 
flieht  ohne  einen  Willen.^ 

Anch  dies  habe  ich  nur  deshalb  so  lang  besprochen,  weil 
imseren  heutigen  Physiologen  diese  einfache  Wahrheit  nicht 
g^nwärtig  ist,  indem  sie  die  Yorstellung  als  solche  ohne 
Weiteres  physiologische  Wirkui^en  auf  den  Körper  hervorbringen 


Die  Anwendung,  die  wir  hier  zunächst  von  diesem  Satae  bu 
machen  hätten,  wäre  die  Eückwärtsbestätigung,  dass  die  unbewusste 
Vorstellung  yon  der  Lage  der  centralen  Endigungen  motorischer 
Nervenfasern  nicht  wirken  kann  ohne  den  Willen,  diese  Stellen 
za  erregen,  und  dass  die  blosse  unbewusste  Vorstellung  eines 
Instinctzweckes  nichts  nutzen  kann,  wenn  der  Zweck  nicht  auch 
gewollt  wird;  denn  nur  durch  das  Wollen  des  Zweckes  kann  das 
Wollen  des  Mittels  herrorgerufen  werden,  und  nur  durch  das 
Wollen  des  Mittels  dieses  selbst.  Was  hier  für  den  Instinct- 
zweck  gesagt  ist^  gilt  natürlich  ganz  ebenso  für  jede  andere, 
in  den  folgenden  Gapiteln  sich  ergebende  unbewusste  Zweckyor- 
fltellang. 

Wir  können  endlich  nunmehr  auch  der  Frage  nach  dem  Unter« 
e^ede  des  bewussten  und  unbewussten  Willens  näher  treten.  Ein 
Wille,  dessen  Inhalt  durch  eine  unbewusste  Vorstellung  gebildet 
wird,  könnte  höchstens  noch  seiner  leeren  Form  des  WoUens  nach 
.Tom  Bewusstsein  percipirt  werden^  und  verschiedene  solche  WiUens- 
aete  könnten  sich  dann  für  das  Bewusstsein  höchstens  dem  Grade 
nach  unterscheiden;  dagegen  kann  er  nicht,  mehr  als  dieser 
bestimmte  Wille  vom  Bewusstsein  percipirt  werden ,  da  seine 
Besonderheit  erst  durch  den  Inhalt  bestimmt  wird.  Demnach  ist 
für  einen  solchen  Willen  die  Anwendung  des  Wortes  bewusst  un* 
bedingt  ausgeschlossen,  da  man  keinenfalls  mehr  sagen  kann,  dass 
dieser  bestimmte  Wille  bewusst  werde.  Ausserdem  lehrt  uns 
auch  die  Erfahrung,  dass  wir  yon  einem  Willen  um  so  weniger 
wissen,  je  weniger  yon  den  ihn  begleitenden  Vorstellungen  oder 
Empfindungen  zum  Himbewusstsein  gelangt.  Hiemach  scheint  es 
fast,  als  ob  der  Wille  als  solcher  überhaupt  dem  Bewusstsein 
nicht  zugänglich  wäre,  sondern  dies  erst  durch  seine  Vermählung 
mit  der  VorsteUung  würde,  (Dies  wird  Cap.  C.  III,  in  der  That 
nachgewiesen).      Wie   dem   auch  sei,   so    können  wir  schon  jetzt 


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88 

^ehaup1ei3>  das»  ein  nnbewusater  Wille  ein  Wille  mit 
unbowu88ter  Yorstellnng  als  Inhalt  aei;  denn  ein  Wille 
mit  bewusster  YorBtellong  als  Inhalt  wird  uns  immer  bewnsst 
werden.  Wenn  hiermit  der  Unterschied  von  bewusstem  und  un- 
bewusBtE^m  Willen  auch  nur  auf  den  ebenso  schwierigen  Unter- 
fit^hied  TOB  bewusster  und  unbewusster  Vorstellung  zurückgeführt 
iet^  BO  ist  damit  doch  schon  eine  wesentliche  Vereinfachung  des 
Problems  erreicht. 


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V. 
Das  Unbewisste  in  den  ReflexwirknngeB. 


,^Reflectorieche  Bewegungen  nennt  man  gegenwärtig  solohe,  bei 
welchtti  der  excitirende  Beiz  wed^  ein  contractües  Gebilde,  noch 
einen  motorisclien  Nerven  unmittelbar  trifft,  sondern  einen  Nerven, 
weldier  seinen  Erregungssustand  einem  Oentralorgane  mittiieilt, 
worauf  durch  Yermiiteinng  des  letzteren  der  Beiz  auf  motorische 
Nerven  überspringt,  und  nun  erst  durch  Muskelbewegungen  sich 
geltend  macht.^  (Wagner^s  Handwörterbuch  der  Physiologie  Bd.  II. 
S.  542.  Artikel  Nervenphysiologie  von  Yolkmann.  Ygl.  auch  über 
die  historische  Entwickelang  des  Begriffes  BefLexbewegung  und  zur 
Würdigung  der  Auffassungen  der  öfters  die  Wahriieit  dicht  berühren- 
den früheren  Forscher  die  empfehlenswerthe  Schrift  J.  W.  Amold's : 
»Die  Lehre  von  der  Beflexfnnction/')  —  Diese  Erklärung  scheint 
zair  so  gut,  als  die  Physiologie  sie  zu  geben  im  Stande  ist,  und  es 
laset  sich  keine  Einschränkung  derselben  finden,  die  nicht  gewisse 
Classen  allgemein  als  solcher  anerkannter  BefLexbewegnngen  von 
diesem  Namen  ausschlösse,  und  dennoch  ist  leicht  zu  sehen,  dass 
sie  viel  weiter  ist,  als  die  Physiologie  beabsichtigt,  da  alle  Bewe- 
gungen und  Handlungen  in  derselben  Platz  finden,  deren  Motiv 
nicht  ein  im  Hirne  von  selbst  entsprungener  Gedanke,  sondern  un- 
mittelbar oder  mittelbar  ein  Sinneseindruck  ist  Um  diesen  stetigen 
üebergaog  der  niedrigsten  Befiexbewegungen  in  die  bewussten 
WiUensthätigkeiten  näher  zu  verfolgen,  müssen  wir  in  die  Betrach- 
iong  der  Beispiele  eingehen. 

Wenn  man  ein  frisch  ausgeschnittenes  Froschherz,  welches 
langsam  pulsirt,  durch  einen  Nadelstich  reizt,  so  entsteht  unabhän- 
gig vom  Bhythmus  des  Schlages  eine  Systole  (Zusammenziehung) 
in  der  normalen  Beihenfolge  der  Theile.  Vor  dem  völligen  Erlöschen 


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90 

der  Beizbarkeit  tritt  eine  Zeit  ein,  wo  die  Reizung  nur  eine  ört- 
liche Coutraction  von  abnehmender  Rauihgrösse  zur  Folge  hat. 
Zerschneidet  man  das  Herz  im  noch  kräftigen  Zustande,  aber  so» 
dass  Verbindungsbrücken  zwischen  den  Theilen  bleiben,  so  bewirkt 
Reizung  des  einen  Theils,  in  welchem  ein  Gtinglienknoteu  in  der 
Muskelsubstanz  enthalten  ist;  Contraction  beider  Theile,  dagegen  hat 
Reizung  des  anderen  Theiles,  welcher  keinen  Knoten  enthält,  nur 
örtliche  Contraction  zur  Folge.  Hieraus  geht  hervor,  dass  die  auf 
Reizung  erfolgende  normale  Bystole  keine  einfache  Reizoracheinung 
oontractilen  Gewebes  ist,  sondern  eine  durch  die  eingelagerten 
Ganglienknoten  vermittelte  Reflexbewegung.  Andere  Versuche, 
z.  B.  die  Theilung  des  Rückenmarkes  in  kleine  Querschnitte  u.  s.  w. 
machen  es  wahrscheinlich,  dass  jedes  Nervenoentrum  der  Vermittler 
von  Reflexbewegungen  sein  kann.  Je  höher  das  Kerveneentrum 
entwickelt  ist,  einen  desto  höheren  Grad  von  Zweckmässigkeit  und 
Geschicklichkeit  in  der  Complication  der  Bewegungen  zeigen  seine 
Reflexwirkungen.  Volkmann  sagt  (Hwb.  IL  545):  ,/3ombimren  äoh^ 
verschiedene  Muskeln  zu  einer  Reflexbewegung,  gleichviel  ob  Bjn- 
chronisch  oder  in  der  Zeitfolge,  so  ist  die  Combination  stets  eise 
mechanisch  zweckmässige*  Ich  meine,  die  gleiehzeitig  i^irkenden 
Muskeln  unterstützen  sich,  z.  B.  in  Hervorbringung  einer  Flexion, 
und  die  in  der  Zeitfolge  nach  einander  thätigen  vereinigen  sich  in 
zweckmässiger  Fortfuhrung  und  Vollendung  der  schon  begonnenen 
Bewegung.  Reizt  man  einen  enthaupteten  und  in  gestreckter  Lage 
befindlichen  Frosch  am  Hinterschenkel  hinreichend  kräftig,  so  com- 
biniren  sich  zunächst  die  Flexoren  und  Adduotoren  beider  Schenk^ 
erst  nachdem  die  Schenkel  an  den  Leib  gezogen  smd,  oombiiiireB 
sicii  die  Extensoren  zu  einer  gemeinsamen  Streckung,  und  das  Qe* 
sammtresultat  ist  eine  mehr  oder  weniger  regelmässige  Ortsbewe- 
gung zum  Schwimmen  oder  zum  Sprunge.  —  In  vielen  Fällen 
haben  die  reflectorischen  Bewegungen  nicht  nur  den  Gharacter  der 
Zweckmässigkeit,  sondern  sogar  einen  gewissen  Anstrich  der  Ab- 
sicht Junge  Hunde,  bei  welchen  ich  das  grosse  und  kleine  Gehirn 
mit  Ausnahme  des  verlängerten  Marks  zerstört  hatte,  suohien  mät 
der  Vorderpfote  meine  Hand  zu  entfernen ,  wenn  ich  sie  unsanft 
bei  den  Ohren  faaste.  Bei  enthaupteten  Fröschen  sieht  man  oft, 
dass  sie  eine  heftig  geknippene  Hautstelle  frottiren  (was  nur  durch 
ein  abwechselndes  Spiel  der  Antagonisten  möglieb  ist),  und  Schild- 
kröten, welehc  man  naeh  der  Enthauptung  verletzt,  versteckeit  sieh 


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91 

in  ihrem  Gehäuse.^  —  Dm  verlängerte  Mark,  als  das  nächst  dem 
Gehirn  am  höchsten  entwickelte  Nerrencentram,  ist  es  anch,  welches 
die  complicirtesten  Reflexbewegungen  rermittelt,  wie  z.  B.  das 
Athmen  mit  seinen  Modificationen :  Sehlaohzen»  Seufzen,  Ladien, 
Wemen,  Husten;  femer  das  Niesen  bei  Reizung  der  Nasenschleim- 
hant,  das  Schlucken  und  Erbrechen  bei  leichtem  Druck  (durch 
einen  Bissen)  oder  Kitzel  des  Schlundes  und  Gaumens;  das  Lachen 
erfolgt  auf  Eitsel  der  äusseren  Haut»  das  Husten  auf  Reizung  des 
Kehlkopfes. 

Sehr  .wichtig  für  das  ganze  Leben  des  Menschen  und  auf  schon 
viel  complioirtere  Vorgänge  in  den  Centralorganen  hinweisend  sind 
die  durch  die  Sinneawahmehmungen  hervorgerufenen  RefLezbe- 
wegongen;  allerdings  eine  Classe  yon  Erscheinungen,  denen  die 
Physiologie  noch  nicht  die  gebührende  Aufmerksamkeit  geschenkt 
hat,  weil  ne  sich  nur  am  ganzen  lebenden  Körper  und  zum  Theil 
mir  psychologisch  an  sidi  selber  studiren  lassen.  Es  ist  aber  offen- 
bar, dass  diese  Betrachtungsweise  yor  der  an  verstümmelten  Leichen 
oder  en^imten  Thieren  ihre  groeeen  Vorzüge  hat,  da  man  doch 
keineswegs  bei  Organismen,  die  soeben  den  Tod  erlitten  oder  die 
schwersten  Operationen  ausgehalten  haben,  oder  gar  noch  mit 
Sirychnin  behandelt  sind,  einen  normalen  Zustand  der  Reaotions- 
fiOngkeit  für  die  mit  den  zerstörten  Theilen  in  so  directer  Gorre- 
spendenz  stehenden  niederen  Centralorgane  Toraussetzen  darf.  Dazu 
kommt  noch,  dass  bei  den  geköpften  Thieren  auch  das  yerlängerte 
Mark  und  die  grossen  Himganglien  entfernt  sind^  welche  letztere 
wahrscbeinlieh  auch  noch  zum  Rückenmark  oder  wenigstens  nicht 
zom  Gehirn  gerechnet  werden  müssen.  Aus  alledem  erklärt  sidi 
Hhr  wchX  die  bei  solchen  Experimenten  bisweilen  heryortretende 
UiiTollkoBunfinheit  der  Zweckmässigkeit  in  den  Reflexbewegungen, 
weil  man  die  pathologischen  Elemente  nicht  auszusondern  yermag. 

Bie  nächsten  durch  einen  Sinnesetndruck  heryorgerufenen 
Befleii>ewegungen  bestehen  darin,  dass  das  betreffende  Sinnesorgan 
in  eine  solche  Stellung,  Spannung  tu  s.  w.  gebracht  wird,  wie  zum 
denüieken  Wahrnehmen  erforderlich  ist.  Beim  Tasten  entsteht  ein 
Hiih  und  Herbewegen  der  Finger,  beim  Schmecken  Absondemng 
▼OD  Speichel  imd  Hin-  xmd  Herbewegen  des  schmeckenden  Stoffes 
tm  Munde,  beim  Riech^i  Erweiterung  der  Nasenlöcher  und  kurze, 
MN^  Lotfpirationen,  beim  Hören  Spannung  des  Trommelfelles  und 
Bewegungen  der  Ohren  und  des  Kopfes,  beim  Sehen  Stellung  beider 


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Angenoentra  nach  der  Stelle  'des  grösaten  Beizee,  AccommodmtioB 
der  Linse  zur  Entfernung  und  der  Iris  eur  Lichtstfürke.  Alle  diese 
Bewegungen  können  auch  willkürlich  ausgeführt  werden,  aber  nur 
durch  die  Vorstellung  des  veränderten  Sinneseindruckes ;  nur  schwer 
oder  gar  nicht  durch  directe  Vorstellung  der  Bewegungen.  Z.  B. 
hält  der  untersuchende  Augenarzt  dem  Patienten  den  Finger  dahin, 
wohin  er  sehen  soll,  denn  wenn  er  ihn  das  Auge  nach  rechts  oben 
wenden  heisst,  so  entstehen  Mu%  die  verschrobensten  Bew^;iuigen 
in  den  Augen  und  Lidern,  nur  die  verlangte  nicht  An  diesen 
Reflexbewegungen  nimmt  bei  gesteigerter  Lebhaftigkeit  nicht  selten 
der  Ko^f,  die  Arme  und  der  ganze  Körper  unwillkürlich  AntheiL 
Femer  werden  durch  das  Ohr  Bewegungen  in  den  Sprachwerkzeugen 
reflectirt»  denn  bekanntlich  beruht  alles  Sprechenlemen  der  Kinder 
und  Thiere  darauf^  dass  ein  unwillkürlicher  Trieb  sie  nöthigt,  das 
Gehörte  zu  reproduciren ;  dasselbe  findet  statt  bei  Melodien,  wo  e& 
sich  leichter  auch  bei  Erwachsenen  beachtet;  ohne  diesen  Eeflez 
wäre  es  unmöglich,  Vögel  zum  Pfeifen  von  Melodien  abzurichten. 
Die  reflectorische  Nöthigung  zum  Aussprechen  der  gehörten  Worte 
kann  man  aber  auch  an  sich  selbst  beim  Denken  beobaditeD.  Hier 
ruft  nämlich^  ähnlich  wie  in  erhöhtem  Grade  bei  Entstehung  der 
Traumbilder  und  Hallucinaäonen,  zunächst  der  noch  nicht  sinnliche 
Gedanke  des  Worts  einen  oentnftigal^n  Innervationsstrom  nach  dem 
Hömerven  hervor,  als  dessen  refiectonsche  Folge  ein  centripetaler 
Strom  die  Gehörsempfindung  des  Wortes  zurückbringt,  und  diese 
ruft  in  den  Sprachwerkzeugen  die  BefiexbewegiQigen  des  lauten 
oder  leisen  Aussprechens  hervor.  Der  natürliche  Mensch,  z.  B.  der 
ungebildete  oder  leidenschaftlich  erregte,  denkt  laut,  es  gehört  schxm 
der  Zwang  der  Bildung  dazu,  leise  zu  denken^  und  selbst  hier  wird 
man  sich  fast  immer,  wenn  man  darauf  achtet,  über  einem  Muskel- 
gefühl in  den  Sprachwerkzeugen  ertappen,  welches  in  schwächerem 
Grade  dasselbe  ist,  welches  durch  das  Aussprechen  der  Worte  ent- 
stehen würde,  das  also  offenbar  den  Ansatz  zu  jener  l^iätigkeit 
enthält.     Beim  Lesen  ist  es  ganz  ähnlich. 

Eine  der  wichtigsten  Reflexwirkungen  des  grossen  Gehirns, 
namentlich  auf  Sinneswahmehmungen,  ist  derjenige  c^itrifugide 
Innervationsstrom,  welchen  wir  Aufmerksamkeit  nennen,  und  welcher 
alle  einigermaassen  deutliche  Wahrnehmungen  erst  ermöglicht 
Derselbe  entsteht  als  Reflexwirkung  auf  einen  Beiz,  welcher  die 
sensiblen  Nerven  oder   die  Nerven  der  Sinnesorgane  trifft     Wenn 


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Smb  GFehim  anderweitig  sni  sehr  in  Anspraoh  genommen  ist,  um 
«nf  ^ohe  Beixe  xu  reagiren,  so  bleibt  diese  Wirkung  aus,  und 
aladann  ist  uns  der  Sinneseindraok  entgangen»  ohne  zur  Wahmeh- 
nnmg  zu  werden.  Dieser  Inneryationsstrom  kann  auch  auf  einzekie 
Theile  einer  Sinneswahmehmung  (z.  B.  einen  beliebigen  Theil 
des  Gesichtsfeldes  oder  ein  Instrument  im  Orehester)  gerichtet 
werden^  wodurch  sich  erklärt,  dass  man  oft  gerade  nur  das  sieht 
and  hört,  was  ein  besonderes  Interesse  für  den  gegenwärtigen  Zu- 
stand des  Gehirns  hat,  womit  auch  manche  Erscheinungen  des 
Kachtwaadelns  zusammenhängen.  Das  partielle  Fehlen  dieses  In- 
nenrationsstromes  ist  es  auch,  was  den  sonst  unerklärlichen  Unter- 
sohied  zwischen  fehlenden  und  schwarzen  Stellen  des  Seh- 
fddes  begreiflich  madii  Auch  willkürlich  kann  man  diesen  Inner- 
Yttionsstrom  auf  gewisse  Krärpertheile  richten  und  dadurch  die  für 
gewiämlich  nicht  bemeriEten  Empfindungen,  welche  alle  Eörpertheile 
fortwährend  erzeugen,  als  Wahrnehmungen  zum  Bewusstsein  bringen ; 
z.  B.  ieh  kann  meine  Fingerspitzen  fühlen,  wenn  ich  auf  sie  leb- 
haft achte ;  (man  denke  femer  an  Hypochondrische).  Eine  Grenze 
zwischen  solchen  Inner^ationsströmen ,  die  durch  bewusste  Willkür 
eizevgt  sind,  und  solchen,  die  als  Beflezwirkung  auf  Sinneseindrücke 
ndt  einseitig  vorwiegendem  Interesse  der  Gehimstimmung  erfolgen, 
IsMt  sich  hier  so  wenig  wie  in  irgend  einem  anderen  Gebiete  die- 
MT  Erscheinungen  auffinden  und  fixiren.  Sehr  merkwürdig  sind 
manche  durch  das  ^  Auge  und  den  Tastsinn  yermittelte  Eeflexbe- 
wegongen.  Das  Auge  schützt  nicht  nur  sich  selbst  reflectiy  yor 
Yerletzungen ,  welche  es  herannahen  sieht,  durch  Schliessen,  Aus- 
Viegen  des  Kopfes  und  des  Körpers,  oder  Yorhalten  des  Armes, 
sondern  es  schützt  auch  andere  bedrohte  Körpertheile  auf  dieselbe 
Weise,  ja  sogar  andere  Dinge,  z.  B.  wenn  ein  Glas  yon  dem  Tisch 
beronterfallt;  yor  dem  man  sitzt,  so  ist  das  plötzliche  Zugreifen 
gerade  so  gut  Beflexbewegung ,  wie  das  Ausbiegen  des  Kopfes  yor 
einem  heranfliegenden  Stein,  oder  das  Pariren  der  Hiebe  beim 
fechten ;  denn  im  einen  wie  im  anderen  Falle  würde  der  Entschluss 
Bach  bewusster  Ueberlegung  yiel  zu  spät  kommen.  Sollte  es  wirk- 
)^Heh  ein  yerschiedenes  Princip  sein,  welches  den  enthimten  jungeii 
Hnnd  die  ihn  in's  Ohr  kneifende  Hand  mit  der  Pfote  fortstossen 
Uast,  und  welches  den  Menschen  einen  durch  das  Auge  gewahrten 
übenden  Schlag  durch  plötzlich  erhobenen  Arm  abwehren  lässt? 
Die  wunderbarsten    reflectorischen    Leistungen   des  Gesichts-  und 


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Taateinnes  bestdb^i  aber  in  den  oomplicirien  Bewegangen  im  Wah» 
ren  der  Balance,  wie  sie  beim  Ausgleiten,  Gehen,  Beüen,  Taosen» 
Springen,  Turnen,  Schlittschnhlanfen  o.  s.  w.  theils  von  selbst  statt* 
finden  (namentlich  bei  Thieren),  theils  doroh  XJebnng  erworben  werden» 
wobei  immer  die  nrs{»riingliche  Fähigkeit  dasn  yoransgeseist  wer* 
den  muss.  Wenn  man  über  einen  Oraben  springt,  ist  es  nieht 
leicht,  über  den  jenseitigen  Band  hinaaszaspringen^  auch  wenn  man 
auf  ebener  Erde  viel  weiter  springen  kann;  aber  das  Auge  bewirkt 
durch  eine  unbewusste  H«flexion,  dass  gerade  die  zum  Erreichen 
des  jenseitigen  Bandes  ndthige  Muskelkraft  angewendet  werde,  und 
dieser  unbewusste  Wille  ist  oft  stärker,  als  der  bewusste,  weiter 
zu  springen.  Alle  die  genannten  Functionen  gehen  merkwürdiger- 
weise yiel  leichter,  sicherer  und  sogar  graziöser  yon  Statten,  wenn 
sie  ohne  bewussten  Willen  als  einfache  Reflexbewegungen  der  Ge- 
sichts- und  Tast-Empfindungen  yollzogen  werden;  jede  Einmischung 
des  BUmbewusstseins  wirkt  nur  hemmend  und  störend,  daher  Maal- 
thiere  sicherer  als  Menschen  auf  geiährlichen  W^en  gehen,  weil 
sie  sich  nicht  durch  bewusste  üeberlegung  stören  lassen,  und  19a(dit- 
wandler  im  unbewussten  Zustande  auf  Wegen  gehen  und  klettern, 
wo  sie  mit  Bewusstsein  unfehlbar  yerunglücken.  Denn  die  bewusste 
üeberlegung  führt  allemal  den  Zweifel,  der  Zweifel  das  Zaudern» 
dieses  aber  häufig  das  Zuspätkommen  mit  sich;  die  unbewusste 
Intelligenz  dagegen  ist  allemal  zweifellos  sicher,  das  Bechte  zu  er- 
greifen, oder  yielmehr  der  Zweifel  kommt  ihr  ni&ials  an,  und  darum 
ergreift  sie  fast  immer  das  Bechte  im  rechten  Moment.  '—  Sogar 
Yorlesen  und  Glayierspielen  nach  Noten  könneo,  wenn  das  Bewusst- 
sein anderweitig  beschäftigt  ist  oder  schläft»  als  blosse  Befleidie- 
wegungen  der  Qefühlseindrücke  yorgenommen  werden,  wie  denn 
Falle  beobachtet  sind,  dass  das  laute  Lesen  nach  dem  Einschlafm 
noch  eine  Weile  fortgesetzt  wird,  oder  Musikstücke  in  traumähn- 
lichen, bewusstlosen  Zuständen  besser  yorgetragen  wurden,  als  im 
Wachen.  Dass  man  das  Lesen  oder  yom  Blattspielen  oft  yölüg 
bewusstlos  und  ohne  die  geringste  nachherige  Erinnerung  des  In- 
halts fortsetzt,  wenn  das  Bewusstsein  in  uiderweitige  fesselnde  Ge- 
danken ausschweift,  kann  jeder  an  sich  selbst  beobachten.  Ja  sogar 
plötzliche  kurze  Antworten  auf  schnelle  Fragen  haben  oft  etwas 
reflectorisch  Unbewusstes  an  sich,  wenn  sie  bewusstlos  wie  aus  der 
Pistole  geschossen  werden,  und  man  sich  hernach  gelegentlioh  s^bst 


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darüber  wundert  oder  schämt^  wenn  Bie  den  Umständen  und  Anwesen- 
den  nkht  angemessen  waren. 

Wichtiger  aber  aU  alles  bisher  Betrachtete  ist  die  üeberlegnng^ 
dtss  es  keine,  oder  fast  keine  willkürliche  Bewegung  giebt,  die 
nicht  £ugleich  als  eine  Combination  yon  Reflexwirkungen  aui^efitsst 
▼erden  müsste.  Ich  meine  dies  so.  Anatomische  Untersuchungen 
erg^>«i,  daae  im  oberen  Theile  des  Bückenmarkes  die  Ansahl 
•ommtlicher  PrimitiyfEisem  nur  «einen  sehr  kleinen  Bruchtheil  d^ 
Primitiy£asem  aller  der  Nerven  beträgt,  welche  durch  den  bewussten 
Willen,  also  vom  Gtohiru  aus,  Bew^;ungen  heryorzurufen  bestimmt 
aind.  Da  nun  aber  die  Leitung  vom  Gehirn  zu  den  Muskelnenren 
mit  geringen  Ausnahmen  doch  nur  durch  das  obere  Büekenmark 
geschehen  kann,  so  geht  daraus  hervor,  dass  eine  Faser  im  oberen 
Böekenmark  eine  grosse  Menge  zusammengehöriger  Muskelnerven- 
iuem  zu  innerviren  bestimmt  sein  muss.  Es  Hesse  sich  eine  directe 
Aasstomose  (Ineinandergreifen,  Verknüpfung)  dieser  Fasern  denken, 
doch  erscheint  diese  Annahme  sowohl  nach  den  anatomischen  Be- 
obaehtung«n  höchst  unwahrscheinlich,  als  auch  zwingt  der  Umstand, 
ne  fallen  zu  lassen,  dass  ein  und  dieselben  Bewegungen  bald  vom 
Hiro  aus  angeregt,  bald  in  Folge  irgend  einer  anderen  Anregung 
Ton  den  Eückenmarkscentralorganen  selbetständig  vollzogen  werden, 
and  in  der  Art  ihrer  Complication  eine  Unzahl  der  feinsten 
Modificationen  zulassen,  während  eine  directe  Anastomose  immer 
unverändert  dieselben  Bewegungen  zur  Folge  haben  müsste.  Hierzu 
kommt  noch,  dass  das  Gehirn,  welches  den  Befehl  zur  Execution 
einer  complicirten  Folge  von  Bewegungen  ertheilt,  von  dieser  Com« 
pUeation  selbst  gar  keine  Vorstellung  hat,  sondern  nur  eine  Ge- 
sammtvorstellung  des  Resultats,  (wie  beim  Sprechen,  Singen,  Gehen, 
Tanzen,  Laufen,  Springen,  Turnen,  Fechten,  Reiten,  Schlittschuh- 
laafen)  dass  also  alles  Detail  der  Ausführung,  wie  es  zu  dem  be- 
absichtigten Gesammtresultat  erforderlich  ist,  dem  Rückenmark 
iberlassen  bleibt.  (Man  frage  sich  nur,  ob  man  etwas  von  den 
Moskelcombinationen  weiss,  die  man  zum  Aussprechen  eines  Wortes, 
oder  zum  Singen  einer  Goloratur  braucht.)  Demnach  scheint  mir 
die  allein  übrig  bleibende  Auffassungsweise  die,  dass  der  Innerva- 
tionsstrom,  welcher  den  bewussten  Willen  des  Gesammtreeultates 
der  Bewegung  vom  Gehirn  zum  Centralorgau  dieser  Bewegung  im 
Bäckenmark  leitet,  und  welcher  zwar  für  das  Gehirn  ein  centri« 
fagaler,  für  das  Nervencentrum  der  Bewegung  aber  ein  centripetaler 


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ist»  dass  dieser  Strom  als  Sensation  von  dem  Bewegongscentnim 
empfunden  werde,  gerade  so  gut,  wie  eine  yon  peripherischen  Kör-» 
pertheilen  kommende  Empfindung,  und  dass  die  Folge  dieser  Sen- 
sation das  Eintreten  der  intendirten  Bewegung  seL  Es  ist  aber 
klar,  dass  wir  hiermit  wiederum  den  Begriff  der  Beüexbewegung 
erfüllt  sehen,  sobald  man  sich  nur  entschliesst,  die  relativen  Be- 
griffe centrifugaler  und  centripetaler  Ströme  in  ihren  richtigen 
Belationen  zu  brauchen.  Man  wiid  leicht  einsehen,  dass  es  kaum 
eine  Bewegung  giebt,  welche,  wenn  sie  vom  Himbewusstsein  inten- 
dirt  ist,  nicht  erst  ein  oder  mehrere  Male  zu  einem  anderen  Be- 
wegungscentrum geleitet  und  dort  erst  in  Scene  gesetzt  wird.  Das 
Bewusstsein  kann  freilich  die  Bewegungen  bis  auf  einen  gewissen 
Grad  zerlegen,  und  zu  jeder  Theilbewegung  den  bewussten  Impuls 
geben  (dies  ist  ja  auch  die  Art,  die  Bewegung  zu  lernen),  aber 
erstens  wird  auch  jede  solche  Theilvorstellung  wahrscheinlich  keine 
andere  Leitung  nach  den  Muskeln  finden,  als  durch  die  graue  Masse 
der  Bewegungscentra  hindurch,  also  immer  den  Charaoter  des  Re- 
flectirten  bebalten,  zweitens  erfordern  auch  die  einfachsten  dem 
Himbewusstsein  zugänglichen  Bewegungselemente  noch  höchst  ver- 
wickelte Bewegungscombinationen  zu  ihrer  Ausfuhrung,  in  welche 
das  Bewusstsein  nie  eindringt  (z.  B.  das  Aussprechen  eines  Yocals, 
oder  das  Singen  eines  Tons),  und  drittens  hat  die  ganze  Bew^pung, 
wenn  ihre  einzelnen  Elemente  so  weit  als  möglich  vom  bewussten 
Willen  intendirt  werden,  etwas  überaus  Langsames,  Plumpes^  Un- 
geschicktes und  Schwerfälliges,  während  dieselbe  Bewegung  sich 
mit  der  grössteu  Leichtigkeit;  Schnelligkeit,  Sicherheit  und  Ghrazie 
vollzieht,  wenn  nur  ihr  Endresultat  vom  Himbewusstsein  intendirt 
war,  und  die  Ausführung  den  betreffenden  Bewegungscentren  über- 
lassen blieb.  Man  denke  nur  an  die  Erscheinung  des  Stottems. 
Der  Stotternde  spricht  oft  ganz  geläufig,  wenn  er  gar  nicht  an  die 
Aussprache  denkt,  und  sein  Bewusstsein  sich  nur  mit  dem  Lihalt 
der  Bede,  aber  nicht  mit  deren  formeller  Yerwirklichung  beschäf- 
tigt; sowie  er  aber  an  die  Aussprache  denkt  und  durch  den  be- 
wussten Willen  diesen  oder  jenen  einzelnen  Laut  erzwingen  will, 
so  bleibt  der  Erfolg  aus,  und  statt  dessen  stellen  sich  allerlei  Mit- 
bewegungen ein,  die  bis  zum  Sjrampihaften  gehen  können«  Ganz 
ähnlich  ist  es  mit  dem  Schreibkrampf  und  allen  oben  ange- 
führten körperlichen  Hebungen,  bei  denen  die  Hauptsache  ist, 
dass   sie   einem  erst   zur  Natur  werden,   d.  h.   dass  der  bewusste 


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Wille  sioh  nicht  mehr  um  die  Details  zu  bekümmern  brauoht. 
Pareh  diese  Aoffassongsweifle  wird  auch  erst  die  £c8cheinang  ¥er- 
ftSodlich,  dass  oft  ein  einmaliger  Impok  des  bewussten  Willena 
genügt,  um  eine  lange  Eeihe  periodisch  wiederkehrender  Bewegna- 
g»  herbeizuführen y  die  so  lange  fortdauert,  bis  sie  durch  einen 
asnen  Willensimpuls  unterbrochen  wird.  Ohne  diese  Einrichtung 
würden  alle  unsere  gewöhnlichen  Thätigkeiten,  wie  Gehen,  Lesen» 
Spielen,  Spredien  etc.  eine  Menge  von  Willensimpulsen  des  Gehirns 
«biorbiren,  welche  sehr  bald  Ermüdung  zur  Folge  haben  müseten. 
&  beweist  aber  auch  die  Selbstständigkeit  der  niederen  Nervencentra 
nd  widerlegt  aufs  Entschiedenste  obige  Annahme  einer  direoten 
Anastomose  der  Nerven.  Es  dürfte  jetzt  auch  yerständlich  sein, 
wie  es  zugeht,  dass  so  yiele  Thätigkeiten  und  Beschäftigungen,  deren 
kleinste  Details  wir  beim  Erlernen  derselben  mit  Bewusstsein  yoU* 
sieben  müssen,  später  nach  erlangter  TJebung  und  Gewohnheit  sich 
ganz  nnbewosst  vollziehen,  wie  Stricken,  Clavierapielen ,  Lesen, 
Schreiben  u.  s.  w.  Es  ist  dann  eben  die  ganze  Arbeit,  die  beim 
Erlernen  yom  Gehirn  vollzogen  werden  musste,  auf  untergeordnete 
Nervencenira  übertragen  worden;  denn  diese  können  sich  eine  ge- 
wohnheitsxnässige  Combination  gewisser  Thätigkeiten  so  gut  einüben^ 
wie  sich  das  Gehirn  im  Denken  übt,  oder  etwas  auswendig  lernt 
DiS8  aber  alsdann  die  Thätigkeiten  grossentheils  für  das  Hirn  un- 
bewuBst  werden,  das  verleiht  ihnen  für  das  Hirn  eine  gewisse 
Ärmlichkeit  mit  Instincthandlungen,  während  doch  für  das  der 
Thätigkeit  vorstehende  Norvenoentrum  die  Hebung  und  Gewohnheit 
^  gerade  Gegentheil  des  Instinotes  ist. 

Dass  die  bis  jetzt  betrachteten  Erscheinungen  alle  einen  we- 
sentlicb  gleichen  Kern  zu  Grunde  liegen  haben,  dürfte  wohl  nicht 
schwer  sein,  einzusehen.  Wir  gingen  von  den  durch  Heizung 
peripherischer  Körpertheile  erzeugten  reflectorischen  Bewegungen 
US,  und  fanden  schon  hier  die  Zweckmässigkeit  sowohl  in  dem 
^•cnütat  der  ganzen  Bewegung,  als  in  der  gleichzeitigen  und  auf- 
^nder  folgenden  Combination  der  verschiedensten  Muskeln,  ja 
theilweise  sogar  in  einem  abwechselnden  Spiel  der  Antagonisten  auf 
das  Entschiedenste  ausgesprochen.  Wir  gingen  dann  zu  den  durch 
Sioneswahrnehmungen  erzeugten  Eefiezbewegungen  über,  und  fanden 
liier  dieselbe  Sache,  nur  öfters  mit  einem  Anstrich  höherer  Intelli- 
^^^  dadurch,  dass  die  höheren  Centralpuncte  des  Bückenmarkes 
laebr  in's  Spiel  kamen.  Endlich  betrachteten  wir  die  Eeflexwirkungen, 

V-  HftrtBsnB,  PUl.  d.  Unbewosfton.  7 


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bei  denen  der  ezcitirende  Reiz  ein  durch  den  bewussten  Willen 
enengter  Innervatdonsstrom  yom  Gehirn  nach  den  betreffenden 
anderen  Centralorganen  ist,  nnd  bemerkten  hier  nicht  einmal  mehr 
eine  quantitative  Steigerung  der  Leistungen  gegen  die  durch  Sinnes- 
Wahrnehmungen  erzeugten  Beflezbewegungen ;  ganz  natürlich,  denn 
die  in  dem  Beflex  sich  offenbarende  Intelligenz  hängt  ja  weit  mehr 
Ton  der  Entwickelungsstufe  des  reflectirenden  Centralorgans ,  ab 
Ton  der  Beschaffenheit  des  Beizes  ab.  —  Dass  in  der  That  auch 
das  Qehim  Centralorgan  von  Beflezwirkungen  werden  kann,  dürfen 
wir  nach  der  Analogie  seines  Baues  mit  den  anderen  Centris  mcht 
bezweifeln.  Bei  Beflezwirkungen  des  Gangliensystems  und  enf> 
himten  Individuen  kommt  nicht  einmal  der  Beiz  zur  Ferception  des 
Gehirns,. wohl  aber  geschieht  dies  bei  Beflexen  des  Bückenmarkes 
an  gesunden  Organismen.  In  diesem  Falle  wird  jedoch  im  Hirne 
nur  der  Beiz  und  nichts  von  dem  Willen  der  Bewegung  empfunden ; 
offenbar  muss  aber  auch  letzteres  stattfinden,  wenn  das  Hirn  selbst 
Centralorgan  des  Beflezes  werden  soll.  Solche  Fälle  sind  uns  aber 
schon  bekannt.  Z.  B.  das  Axiffangen  eines  vom  Tische  fallenden 
Glases  oder  das  Fariren  eines  vorhergesehenen  Schlages  mit  dem 
Arme  können  diese  Merkmale  haben.  Dennoch  werden  wir  nicht 
umhin  können,  sie  als  Beflezwirkungen  anzusehen,  wenn  nur 
die  Vermittelung  zwischen  der  Ferception  des  Motives  und  dem 
Willen  der  Ausfuhrung  ausserhalb  des  Himbewusstseins  gelegen 
hat,  was  noch  dadurch  erhärtet  werden  kann,  dass  die  bewusste 
Xleberlegung  offenbar  zu  spät  gekommen  wäre.  Eben  hierher  ge- 
hört ein  Theil  des  noch  nicht  ganz  unbewussten  Yorlesens  und  Vor- 
spielens,  oder  das  schnelle  Antworten  auf  plötzliche  Fragen,  oder 
das  plötzliche  Hutabziehen  auf  den  überraschenden  Gruss  ein^ 
unbekannten  Fersen.  Der  Himreflez  ist  häuflg  den  Bückenmarks- 
reflezen  überlegen  und  verhindert  das  Zustandekommen  dieser; 
z.  B.  ein  geköpfter  Frosch  kratzt  die  geknippene  Hautstelle,  ein 
lebender  hopst  davon.  Man  sieht  hier  den  unmittelbaren  ücber- 
gang  zwischen  Himreflez  und  bewusster  Seelenthätigkeit,  wofür  sich 
gar  keine  Grenze  ziehen  lässt.  Es  folgt  hieraus  die  Einheit  des 
allen  diesen  Erscheinungen  zu  Grunde  liegenden  Frincips.  Damm 
giebt  es  nur  zwei  consequente  Betrachtungsweisen  dieser  Dinge: 
entweder  die  Seele  ist  überall  nur  letztes  Besultat  materieller  Vor- 
gänge,  sowohl  im  Hirn  als  im  übrigen  Nervenleben  (dann  müssen 
aber  auch  die  Zwecke  überall  geleugnet  werden,  wo  sie  nicht  durch 


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be^ru8ste  Nerven thätigkeit  gesetzt  werden),  oder  die  Seele  ist  überall 
das  den  materiellen  Nervenvorgängen  zq  Grunde  liegende,  sie 
schaffende  und  regelnde  Princip,  und  das  Bewusst«ein  ist  nur  eine 
durch  diese  Vorgänge  vermittelte  Ersclieinungsform  desselben.  Wir 
werden  in  der  Folge  sehen,  welche  von  beiden  Annahmen  diesen 
Iliatsacheii  besser  entspricht. 

Das  Nächste,  was  wir  zu  untersuchen  haben,  ist  die  Frage,  ob 
die  betrachteten  Erscheinungen  als  Wirkungen  eines  todten  Mecha^ 
nismos  angesehen  werden  können,  ob  wir  nicht  vielmehr  gezwungen 
werden,  sie  als  Folgen  einer  den  Centralorganen  innewohnenden 
Intelligenz  aufzufassen,  wobei  vorläufig  obige  Alternative  noch  un- 
erortert  bleibt.  Wenden  wir  uns  zunächst  an  die  Physiologie. 
Wir  sehen  auf  einen  Nadelstich  in  die  Froschschenkelhaut  beide 
Schenkel  zucken,  wenn  nur  das  kleine  Stück  Kückonmark  unver- 
sehrt ist,  aus  welchem  die  Schenkelnervon  entspringen.  Der  Nadel- 
stich afficirt  offenbar  nur  Eine  Nervenprimitivfaser ,  da  in  einem 
Kreise  von  gewisser  Grösse  die  Lage  der  gestochenen  Stelle  nicht 
unterschieden  werden  kann ;  die  Zahl  der  durch  denselben  in  Action 
gesetzten  motorischen  Fasern  ist  aber  ungeheuer  gross,  denn  sie 
kann  den  ganzen  Körper  umfassen.  Schon  dadurch  ist  die  directe 
Anastomose  der  sensiblen  und  motorischen  Nerven  höchst  unwahr- 
scheinlich. Noch  mehr  aber  wird  sie  es  dadurch,  dass  dieselben 
motorischen  Fasern  reagiren,  wenn  diese  oder  jene  Stelle  der  Frosch- 
scbenkelhaut  gestochen  wird,  wenn  also  verschiedene  sensible 
Nervenfasern  den  Beiz  zum  Centrum  leiten.  Ausserdem  bieten  die 
mikroskopischen  Untersuchungen  dieser  Annahme  nicht  nur  keine 
Stütze,  sondern  vielmehr  hat  schon  Kölliker  das  HoiTortreten  mo- 
torischer Fasern  aus  Kügelchen  grauer  Nervonsubstanz  (Centralorgan) 
direct  beobachtet,  und  man  nimmt  jetzt  allgemein  an,  dass  der  centrale 
Ursprung  sämmtlicher  Nervenfasern  in  Ganglienzellen,  d.  h.  den  eigen- 
Üiümlichen  kugeligen  oder  strahligen  Zellen  der  grauen  Nervensubstanz, 
zn  suchen  ist.  Es  müsste  demnach  der  von  den  sensiblen  Fasern 
angeleitete  Reiz  jedenfalls  zunächst  vom  Centralorgan  aufgenommen 
nnd  durch  dieses  den  motorischen  Nerven  zugeführt  werden;  auf 
andere  Weise  könnte  unmöglich  fast  jede  sensible  Faser  im  Stande 
»ein,  auf  jede  motorische  Faser  desselben  Centrums  zu  wirken  (wie 
dies  wirklich  der  Fall  ist).  Werden  aber  alle  Reize  zuerst  vom 
Centraloi^an  aufgenommen  und  von  diesem  erst  auf  die  motorischen 
Nerven  übertragen,   so  wird    die    materialistische  Erklärung    der 

7* 


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Beflexwirkungen  durch  einen  eigenthümlichen  MeohanismoB  der 
Leitangsyerhältnisse  ganz  unmöglich ;  denn  nun  lassen  sich  gar  keine 
Gesetze  und  Einrichtungen  mehr  denken,  welche  ein  und  denselben 
Strom  bald  auf  nahe,  bald  auf  ferne  Theile  überspringen,  bald  in 
dieser,  bald  in  jener  Eeihenfolgc  die  Reactionen  auf  einander  folgen 
lassen,  ja  sogar  auf  einen  einfachen  Eeiz  ein  abwechselndes 
Spiel  der  Antagonisten  eintreten  lassen  könnten  (wie  beim 
Frottiren  der  geknippenen  Stelle).  —  Die  Unmöglichkeit  eines  prä- 
stabilirten  Mechanismus  ist  aber  physiologisch  noch  viel  schlagender 
nachzuweisen.  Theilt  man  nämlich  das  Eückenmark  seiner  ganzen 
Länge  nach  durch  einen  Schnitt  yon  yorn  nach  hinten,  so  leidet 
die  Befähigung  zu  Keflexbewegungen  nicht,  nur  sind  sie  dann  auf 
die  jedesmal  gereizte  Körperhälfte  beschränkt;  lässt  man  dagegen 
zwischen  den  beiden  getrennten  Seitenhälften  an  irgend  einer  Stelle 
eine  yerbindende  Brücke  übrig,  oder  durchschneidet  man  in  einiger 
Entfernung  yon  einander  einerseits  die  linke,  andererseits  die  rechte 
Hälfte  des  Rückenmarkes  quer,  so  dass  alle  Längenfasem  desselben 
getr^int  werden,  so  kann  man  durch  Reizung  jedes  Hautpxmctes 
allgemeine  Reflexbewegungen  erregen.  Dies  ist  wohl  der  deut- 
lichste Beweis,  dass  die  motorische  Reaction  nicht  eine  Folge  der 
yorgezei ebneten  Bahnen  der  Leitung  des  Reizes  ist^  sondern 
dass  der  Strom,  um  die  zweckmässigen  Reflexbewegungen  za 
Stande  zu  bringen,  nach  Zerstörung  der  gewöhnlichen  Leitungs- 
bahnen sich  neue  Bahnen  schafft,  wenn  nur  nicht  yöllige 
Isolation  der  Theile  bewirkt  ist.  Es  muss  also  ein  über  den 
materiellen  Leitungsgesetzen  der  Neryenströmungen  stehendes  Frincip 
yorhanden  sein,  welches  die  Yeränderung  der  Umstände  schafit, 
yermöge  deren  die  Bahnen  jener  Strömimgen  yerändert  werden,  und 
dieses  Frincip  kann  nur  ein  immaterielles  sein.  Dasselbe  wird  auch 
durch  den  Umstand  documentirt,  dass  die  Verbindung  der  Reflex- 
bewegungen zum  grössten  Theil  durch  bewussten  Willen  und  Uebung 
lösbar  ist. 

So  schlagend  auch  diese  anatomisch -physiologischen  Gründe 
sind,  so  sind  sie  doch  noch  nicht  die  stärksten.  Wäre  nämlich  die 
in  Reflexwirkungen  erscheinende  Zweckmässigkeit  eine  äusserlich 
prädeterminirte,  durch  einen  materiellen  Mechanismus  in  Scene  ge- 
setzte, so  wäre  die  Acconmiodationsfahigkeit  der  Bewegungen  naoli 
der  Beschaffenheit  der  Umstände,  dieser  unerschöpfliche 
Reiohthum  yon  Combinationen,  deren  jede  für  ihren  besonderen 


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101 

Pall  angemesflen  ist,  geradezu  unerklärlich;  man  miisste  vielmehr 
eine  stete  Wiederkehr  weniger  und  sich  immer  gleich  blei- 
bender Bewegungscomplicationen  erwarten,  während  ein  einziger 
Bück  auf  die  Unendlichkeit  von  Combinationen,  wie  sie  allein  zur 
Wahmng  der  Balance  stattfinden,  hinreicht,  um  die  TJeberzeugung 
einer  immanenten  Zweckmässigkeit,  einer  individuellen  Vor- 
seh  an  g,  zu  begründen,  wie  wir  sie  schon  bei  Betrachtung  des  In- 
stincts  kennen  gelernt  haben.  Wir  müssen  uns  also  unbedingt  den 
Vorgang  so  vorstellen ,  dass  der  B^iz  als  Vorstellung  percipirt  wird, 
und  durch  die  Vorstellung  der  damit  verbundenen  Gefiahr  oder  TJn- 
IiBtempfindung  die  Vorstellung  der  Abhülfe  durch  die  entsprechende 
Oegenbewegung  erzeugt  wird,  welche  nun  Gegenstand  des  Willens 
wird.  Dasfl  die  Nervenoentra  des  Bückenmarkes  tmd  der  Ganglien 
die  Fähigkeit  des  Wollens  besitzen,  haben  wir  früher  schon  be- 
sprochen, dass  sie  ganz  analog  den  dort  angeführten  Parallelen  auch 
Sensibilität  haben  müssen ,  leuchtet  sofort  ein;  da  sich  aber  keine 
Bensation  ohne  einen  gewissen,  wenn  auch  noch  so  geringen  Gi«mI 
von  Bewuflstsein  denken  lässt,  so  haben  sie  auch  ein  gewisses  Be- 
VQsstsein;  es  sind  also  der  Anfang  und  das  Ende  des  Frooesses, 
die  Ferception  des  Beizes  und  der  Wille  zur  Bewegung,  Functionen, 
welche  wir  kein  Bedenken  tragen  dürfen,  jedem  Nervencentrum 
snzoBchreiben ;  es  fhtgt  sich  nur,  ob  die  Vermittelung  zwischen  bei- 
den, die  Zwecksetzung,  auch  eine  Function  bewusster  Vorstel- 
hmgscombination  dieser  Nervencentra  sein  kann.  Dies  muss  nun 
«flerdings  verneint  werden,  denn  wir  haben  ja  gesehen,  dass  die 
Leistimgen  des  Beflexes  für  den  Organismus  gerade  darum  von  so 
grosser  Wichtigkeit  sind,  weil  sie  an  Leichtigkeit,  Schnelligkeit  und 
Sicherheit  die  Leistungen  der  bewussten  TJeberlegung  des  Gehirns 
soweit  überragen.  Dies  ist  aber  gerade  der  Character  der  unbe- 
wnssten  Vorstellung,  wie  wir  ihn  am  Instinct  kennen  gelernt  haben, 
und  femer  überall  anderweitig  kennen  lernen  werden.  Mithin  gilt 
sfies,  wa»  wir  beim  Instinct  gegen  die  Entstehung  durch  bewusste 
Veberlegung  angeführt  haben,  hier  in  noch  viel  höherem  Maasse, 
tbeils  weil  die  Augenblickliehkeit  der  Wirkung  hier  noch  mehr  in 
die  Angen  fällt,  und  noch  mehr  mit  der  Langsamkeit  des  bewussten 
Denkens  in  tiefstehenden  Wesen  contrastirt,  theils  weil  wir  es  hier 
in  den  Thieren  vorzugsweise  mit  den  niederen  Centris  zu  thun 
hiben,  während  wir  doch  erfahrungsmässig  nur  da  einigermaassen 
nennenswerthe  Besultate  der  bewussten  TJeberlegung  finden,  wo  die 


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Hirnfunctiou  der  höheren  Vögel  und  Säugethiere  eintritt;  wenn  wir 
dagegen  die  Thiere  betrachten,  deren  Hauptcentra  ungeföhr  auf 
der  Stufe  der  menschlichen  Nervencentra  stehen ,  so  tritt  uns  auch 
die  grösste  Stupidität  und  Bornirtheit  entgegen  (z.  B.  schon  bei 
den  meisten  Amphibien  und  Fischen)^  gegen  welche  die  bewun- 
derungswürdige Sicherheit  und  Zweckmässigkeit  auf  das  schärfste 
absticht,  mit  der  die  nun  im  Verhältniss  zu  dem  geistigen  Ge- 
sammtleben  des  Thieres  an  Bedeutung  und  Ausdehnung  immer  za- 
nehmenden  Instincthandlungen  vollzogen  werden.  Hier  ist  nichts 
mehr  von  jenem  zweifelnden  Abwägen  des  discursiven  Denkens, 
nichts  von  jenem  vorsichtigen  Zögern  der  Klugheit,  die  wir  an 
höheren  Tlüeren  beobachten,  sondern  auf  das  Motiv  erfolgt  momen- 
tan die  Instincthandlung,  zu  der  die  TJeberlegung  sogar  dem  mensch- 
lichen Hirn  oft  eine  geraume  Zeit  kosten  würde,  und  wenn  die 
Handlung  unzweckmässig  war,  wie  dies  bei  sinnlicher  Täuschung 
in  der  bewussten  Wahrnehmung  der  Motive  wohl  vorkommt,  so 
wird  der  verderbliche  Irrthum  mit  derselben  Sicherheit  erfasst. 
Wir  müssen  diesen  Character  der  unbewussten  Yorstellung  im 
Gegensatz  zum  discursiven  Denken  als  eine  unmittelbare  intellec- 
tuale  Anschauung  bezeichnen,  und  werden,  wo  wir  auch  die  (nicht 
relativ  zu  diesem  oder  jenem  Centrum,  sondern  absolut)  onbewusste 
Vorstellung  noch  antreffen,  dieses  Merkmal  zutreffen  sehen. 

Durch  den  Vergleich  mit  dem  Instinct  sehen  wir  uns  also  ent- 
schieden davor  gewarnt,  die  immanente  Zweckmässigkeit  der  Reflex- 
bewegungen als  durch  bewusstes  Denken  jener  Nervencentra  erzeugt 
zu  betrachten.  Hiermit  stimmt  völlig  die  psychische  Selbstbe- 
obachtung derjenigen  Eeflexbewegung^  überein,  deren  Centralorgan 
das  Hirn  bildet ;  Anfangs-  und  Endglied  des  psychischen  Processes, 
jdle  Perception  des  Beizes,  und  der  Wille  der  Bewegung  fallen  in^B 
Bewuflstsein  des  Organs,  nicht  aber  die  bindenden  Zwischenglieder, 
in  denen  die  Zweckvorstellung  liegen  muss.  Die  einzig  mögliche 
Auffassungsweise,  welche  nach  unserer  Entwickelung  des  Gegen- 
standes übrig  bleibt,  ist  also  die,  dass  die  Beffexbew^gungen  die 
Instincthandlungen  deruntergeordneten  Nervencentra 
seien,  d.  h.  absolut  unbewusste  Vorstellungen,  welche  die  Entstehung 
des  für  das  betreffende  Gentrum  bewussten,  für  das  Gehirn  aber  unbe- 
wussten Willens  der  Beflezwirkung  aus  der  in  demselben  Sinne  be- 
wussten Perception  desBeizes  vermitteln.  Der  Beiz  kann  ausser  dieser 
Perception  im  reflectirenden  Centrum  vermittelst  Leitung  zum  Gehim 


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103 

auch  in  diesem  empfanden  werden,  dies  ist  dann  aber  eine  zweite 
Perception  für  sich,  welche  mit  jener  Eeflexbewegung  und  deren 
ganzen  Yorgang  nichts  zu  thun  hat.  Die  Instinote  und  Beflex- 
irirkungen  sind  sich  auch  darin  gleich,  dass  sie  bei  den  Individuen 
derselben  Thierspecies  auf  gleiche  Eeize  und  Motive  wesentlich 
gleiche  Beactionen  zeigen.  Auch  hier  hat  dieser  Umstand  die  An- 
seht bestärkt  y  dass  statt  unbewusster  Geistesthätigkeit  und  imma* 
nenter  Zweckmässigkeit  ein  todter  Mechanismus  vorhanden  sei; 
dieser  Umstand  wird  aber  als  Oegeugnmd  gegen  unsere  Auffassung 
dadurch  entkräftet,  dass  er  sich  aus  letzterer  mit  Leichtigkeit  auf 
dieselbe  Weise  erklärt,  wie  dies  zum  Bchluss  des  Capitels  über 
den  Insiinct  angedeutet  ist. 


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L ^ 


VI. 
Das  Unbewo^ste  in  der  Natnrheilkraft. 


Wenn  man  dem  Vogel  sein  Nest,  der  Spinne  ihr  Netz,  der 
Baupe  ihr  Gespinnst,  der  Schnecke  ihr  Haus  beschädigt,  dem  Vogel 
ein  Stück  seines  Federkleides  nimmt,  so  bessern  alle  den  Schaden, 
der  ihre  künftige  Existenz  gefährdet,  oder  doch  erschwert,  wieder 
ans.  Wir  haben  gesehen,  dass  die  ersten  dieser  Aeusserongen  dem 
Instinct  zugeschrieben  werden  müssen,  Tind  wir  sollten  die  frappante 
Parallelität  der  beiden  letzten  Erscheinungen  mit  jenen  yerkennen 
können?  Wir  haben  erkannt,  dass  es  eine  unbewusste  Vorstellung 
des  Zweckes  ist,  welche,  verbunden  mit  dem  Willen  ihn  zu  erreichen, 
das  bewusste  Wollen  des  Mittels  dictirt,  und  wir  sollten  zweifeln, 
dass  wir  es  mit  derselben  Sache  zu  thun  haben,  wo  der  Gegenstand 
der  Einwirkung  nicht  mehr  etwas  Aeusseres,  sondern  der  eigene 
Körper  selbst  ist,  da  wir  doch  nicht  die  Grenze  zu  fixiren  im 
Stande  sind,  wo  der  eigene  Körper  anfangt  und  aufhört,  wie  bei 
dem  Gespinnst  der  Baupe,  dem  Haus  der  Schnecke,  dem  Federkleid 
des  Vogels,  wie  zwischen  Excretionen  und  Secretionen?  Nimmt 
man  dem  Polypen  seine  Fangarme  oder  dem  Wurm  seinen  Kop^ 
80  muss  das  Thier  aus  Mangel  an  Nahrung  sterben,  und  wenn  das 
Thier  die  Fangarme  oder  den  Kopf  ersetzt  und  weiter  lebt,  so  sollte 
etwas  anderes  als  die  unbewusste  Vorstellung  dieser  Unentbehrlich- 
keit  die  Grundursache  des  Ersatzes  sein?  Man  wende  nicht  ein, 
der  Unterschied  zwischen  Instinct  und  Heilkraft  läge  darin,  dass 
im  ersteren  Fall  Vorstellung  und  Wollen  wenigstens  des  Mittels 
bewusst,  im  letzteren  Falle  aber  auch  diese  unbewusst  seien.  Denn 
nach  den  Auseinandersetzungen  über  die  Selbstständigkeit  der  nie* 
deren  Nervencentra  wird  man  nicht  bezweifeln,  dass  das  Wollen 
des  Mittels    sehr   wohl   auf  irgend  eine   Weise   und  irgendwo  in 


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105 

niederen  Nerveneentren,  z.  B.  den  kleinen  Ganglienzellen,  ans  welchen 
^6  der  Ernährung  yorstehenden  sympathischen  Nervenfasern  ent- 
springen, zum  Bewusstsein  kommen  kann,  auch  wenn  das  Haupt- 
centrom  des  Thieres  nichts  davon  weiss,  und  andererseits  wird  sich 
niemand  die  Entscheidung  zutrauen,  ob  und  wie  weit  bei  niederen 
Thieren  im  Instinct  auch  nur  das  Wollen  des  Mittels  immer  zum 
Bewttsstsein  kommt. 

Betrachten  wir  nun  die  Wirkungen  der  Heilkraft  etwas  näher: 
Bei  den  Hydren  wird  jeder  Theil  ihrer  Masse  wieder  ersetzt, 
90  dass  aus  jedem  Stücke  ein  neues  Thier  sich  bildet,  man  mag  sie 
in  die  Quere  oder  in  die  Länge  durchschnitten,  oder  auch  in  mehrere 
Streifen  getheilt  haben.  Bei  Planarien  wird  jedes  Segment,  und 
wenn  es  mir  ^/jo — Vg  des  ganzen  Thieres  beträgt,  zu  einem  neuen 
Thiere.  Bei  Anneliden  oder  Würmern  erfolgt  nur  bei  Querthei- 
hmgen  der  Ersatz^  Kopf  oder  Schwanz  wird  immer  regenerirt;  bei 
einigen  kann  man  das  Thier  in  mehrere  Stücke  schneiden,  und 
jedes  einzelne  ergänzt  sich  zu  einem  vollkommenen  Exemplar  seiner 
Gattung.  Es  scheint  hier  deutlich  genug,  dass  wenn  bei  unendlich 
viel  möglichen  Arten  der  Schnittfühmng  der  abgetrennte  Theil  stets 
ein  Exemplar  liefert,  welches  die  typische  Idee  seiner  Gattung 
ausdrückt,  dass  nicht  die  todte  Oauealität  diese  Wirkung  haben 
kann,  sondern  dass  diese  typische  Idee  in  jedem  Stücke  des  Thieres 
Torhanden  sein  muss.  Eine  Idee  kann  aber  nur  vorhanden  sein, 
entweder  realiter  in  ihrer  äusseren  Darstellung  als  verwirklichte 
Idee,  oder  idealiter,  insofern  sie  vorgestellt  wird  und  in  und 
dnrch  den  Vorstellungsact,  es  muss  also  jedes  Bruchstück 
de«  Thieres  die  unbewusste  Vorstellung  vom  Gattungstypus  haben, 
itach  welchem  er  die  Regeneration  vornimmt,  gerade  wie  die  Biene 
vor  dem  Bau  ihrer  ersten  Zelle  und  ohne  je  eine  solche  gesehen 
m  haben,  die  unbewusste  Yorstellung  der  sechsseitigen  Zelle  bis 
itif  die  halbe  Winkelminute  genau  in  sich  trägt,  oder  wie  jeder 
Vogel  die  zu  seiner  Gattungsidee  gehörige  Form  des  Nestbaues  oder 
der  Sangesweide  unbewusst  vorstellen  muss,  noch  ehe  e!*  sie  an 
•Aderen  oder  an  sich  selber  erfahren  hat.  Wenn  man  den  Regene- 
näobsact  z.  B.  bei  einmn  durchschnittenen  Regenwurm  beobachtet, 
M  lidtt  man  an  der  Schnittwunde  ein  weisses  Knöpfchen  hervor- 
^V^9u&a,  welches  alhnälig  grösser  wird,  bald  schmale,  dicht  beisammen 
vtehende,  dann  nach  allen  Seiten  sich  ausdehnende  Ringe  bekommt 
^d  VerUfaigerungen  des   Yerdauungscanals ,  des   BlutgefKaseystems 


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und  des  Ganglienstranges  enthält.  Es  gehört  ein  starker  Glaube 
dazu,  wenn  man  annehmen  wollte,  dass  die  Beschaffenheit  der 
Ausschwitzung  an  der  Wunde  und  die  Nachbarschaft  der  entspre- 
chenden Organe  genügend  wäre,  um  ein  Weiterwachsen  des  Thierea 
zti  bewirken;  wenn  man  aber  sieht,  wie  yon  zwei  gleichen 
Schnittflächen  aus  nach  mehreren  anderen  Bingen  auf  der  einen 
Seite  der  Kopf  mit  seinen  besonderen  Organen  gebildet  wird^  auf 
der  anderen  Seite  der  Schwanz  mit  den  seinigen,  und  zwar 
mit  Organen^  die  in  dem  bildenden  Bumpfstück  gar 
kein  Analogen  finden,  dann  wird  die  Annahme  einer  todten 
Causalität,  eines  materiellen  Mechanismus  ohne  ideelles  Moment  zn 
einer  haaren  Unmöglichkeit. 

Dazu  kommen  noch  yerschiedene  Nebenumstände,  welche  es 
aufs  Deutlichste  bestätigen,  dass  die  Vorstellung  dessen,  was  der 
Gattungsidee  nach  in  dem  bestimmten  Falle  geleistet  werden  mnsfl, 
das  ursprünglich  Bestimmende  bei  diesen  Vorgängen  ist.  Wenn 
das  Thier  noch  nicht  ausgewachsen  ist  und  ihm  ein  Theil  entrissen 
wird,  so  ist  der  regenerirte  Theil  nicht  dem  alten  Zustande  ent- 
sprechend, sondern  so  beschaffen,  wie  jener  Theil  sein  müsste, 
wenn  er  den  der  Gattungsidee  gemässen  Frocess 
durchgemacht  hätte.  Dies  kann  man  sehen^  wenn  man  jungen 
Salamandern  ein  Bein  oder  einer  Froschlarve  den  Schwanz  ab- 
schneidet Etwas  Aehnliches  ist  es  mit  dem  Hirschgeweihe,  welches 
jedes  Jahr  vollkommener  ersetzt  wird,  so  lange  die  Jugendkraft  des 
Thieres  noch  yoriiält;  ist  aber  die  Entwickelung  des  Oiganismns 
auf  ihrer  Höhe  angelangt  und  neigt  sich  wieder  abwärts ,  dann 
bleibt  entweder  das  letzte  Geweih  bis  zum  Tode  stehen,  oder  das 
jährlich  neu  erzeugte  wird  im  höheren  Alter  |[ürzer  und  einfacher. 

Femer  richtet  sich  eine  um  so  grössere  Kraft  auf  den  Wieder* 
ersatz  eines  Theiles,  je  wichtiger  derselbe  zum  Bestehen  des 
Thieres  ist;  so  ergänzen  z.  B.  nach  Spallanzani  die  Würmer  den 
Kopf  früher  als  den  Schwanz,  und  bei  Fischen  erfolgt  der  Ersats 
der  abgeschnittenen  Flossen  in  der  Beihenfolge,  wie  dieselben  für  die 
Bewegung  wichtig  sind,  also  zuerst  die  Schwanzflosse,  dann  die 
Brust-  und  Bauchflossen^  zuletzt  die  Büekenflosse.  Beicht  die  Kraft, 
oder  deutlicher  die  Macht  des  unbewussten  Willens  in  Bewätigang 
des  Stoffes  und  der  äusseren  Umstände  zur  Begeneration  eines  Theils 
in  der  normalen  Weise  nicht  aus,  so  schimmert  der  Typns  der 
Gattung  durch  die  dann  entstehenden  Missbildungen  stets  noch  durch. 


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So  z.  B. :  wenn  an  einem  abgeschnittenen  Schneckenkopf  statt  beider 
nur  ein  Eühlhom  wiedergewachsen  ist,  so  trägt  dies  zwei  Augen, 
und  bei  Menschen,  die  ein  Fingerglied  verloren  haben,  wächst  bis- 
weilen ein  Nagel  auf  dem  zweiten.  Je  mehr  ein  Theil  der  Be- 
schädigung ezponirt  ist,  desto  mehr  ist  derselbe  Ton  solcher  Be- 
schaffenheit gebildet,  welche  einen  leichten  Ersatz  gestattet.  So 
z.  B.  die  Strahlen  der  Asterien,  die  Beine  von  Spinnen,  die  Fühl- 
hörner und  Antennen  der  Sohnecken  und  Eläfer,  die  Schwänze  der 
Eidechsen  besitzen  wegen  ihrer  Gefahrdetheit  eine  grosse  Begene- 
lationskraft.  Meistens  ist  ein  bestimmtes  Gelenk  dasjenige,  von 
dem  die  Eegeneration  am  leichtesten  ausgeht,  dann  ist  das  Glied 
aneh  hier  am  gebrechlichsten,  und  tritt  eine  Beschädigung  wo  anders 
ein,  so  wird  das  Glied  häu£g  nachträglich  an  dieser  Stelle  abge- 
worfen. Dies  thun  z.  B.  die  Krabben.  Die  Spinnen  reissen  sich 
ebenfalls  von  einem  Beine  los,  an  dem  man  sie  gefasst  hat  und 
drückt;  wenn  man  aber  das  Thier  festhält,  während  man  sein  Bein 
zerdrückt,  so  kann  es  nachher  das  Bein  nicht  ohne  Weiteres  ab- 
werfen, sondern  yerwickelt  es  in  sein  Gewebe,  stemmt  sich  dann 
mt  den  anderen  Beinen  an  und  sprengt  es  so  ab.  Dies  ist  doch 
offenbar  Instinct,  und  wenn  die  Krabbe  das  beschädigte  Bein  von 
selbst  abstösst,  das  sollte  etwas  vom  Instinct  Grundverschiedenes 
sein?  Und  das  Abwerfen  des  beschädigten  Gliedes  ist  doch  bloss 
der  erste  Act  des  Ersatzes. 

Je  höher  wir  nun  in  der  Stufenreihe  der  Thiere  hinaufsteigen, 
desto  mehr  nimmt  im  Ganzen  die  Macht  der  BLeilkraft  ab  und  er- 
moht  im  Menschen  ihren  niedrigsten  Grad.  Darum  konnte,  wenn 
inan  ausschliesslich  am  Menschen  Physiologie  treibt,  wohl  eher  der 
Iirtham  entstehen,  dass  ein  bloss  materieller  Mechanismus  die  Heil- 
wirkungen hervorbringt;  aber  wie  die  Anatomie  erst  von  da  an 
erhebliche  Besultate  gab,  als  sie  vergleichend  betrieben  wurde,  und 
die  Psychologie  erst  von  da  an  wahrhafte  Aufklärung  brmgen  wird, 
so  kann  auch  in  der  Physiologie  nur  vergleichende  Untersuchung 
das  rechte  Yerständniss  geben.  Sind  wir  aber  einmal  durch  die 
Uar  liegenden  Yerhältnisse  an  den  niederen  Thieren  auf  den  rechten 
Weg  gekommen,  so  wird  es  nicht  schwer  sein,  diese  Ansicht  auch 
sof  den  höclisten  Stufen  der  Organisation  als  die  einzig  mögliche 
Uizaerkennen. 

Die  Gründe  flir  die  Beschränkung  der  Heilkraft  bei  den  oberen 
Thierelassen   sind  theils  innere,  theils  äussere.     Der  innerste  und 


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tiefste  Qrund  ist  der,  dass  die  oTganisirende  Kraft  sich  yon  den 
Aussenwerken  immer  mehr  und  mehr  abwendet,  und  ihre  ganze 
Energie  auf  den  letzten  Zweck  aller  Organisation,  das  Organ  des 
Bewusstseins  wendet,  um  dieses  zu  immer  höherer  Vollkommenheit 
zu  steigern.  Die  äusseren  Gründe  sind  die,  dass  die  Organe  der 
höheren  Thierclassen  fester  gebildet  sind  und  auch  vermöge  der 
Lebensweise  dieser  Geschöpfe  viel  weniger  dem  Abbrechen  und  der 
Yerstümmelung  unterliegen ,  sondern  für  gewöhnlich  höchstens  Ver- 
wundungen und  Verletzungen  ausgesetzt  sind,  für  deren  Mehrzahl 
die  Heilkraft  ausreicht,  dass  femer  diese  grössere  Festigkeit  der 
Gebilde  einen  Ersatz  in  grösserem  Maassstabe  physicalisch  und 
chemisch  erschwert.  Denn  eines  Theils  sehen  wir  schon  bei  niede- 
ren Thieren,  dass  die  Wasserthiere  wegen  grösseren  EeuchtigkeitS' 
gehaltes  eine  grössere  Eegenerationskraft  besitzen,  als  die  Landthier^ 
derselben  Art  (z.  6.  Wasser-  und  Landregenwürmer),  anderentheils 
besteht  die  Hauptmasse  der  eines  ausgedehnten  Ersatzes  fähigen 
Thiere  aus  denselben  Gebilden,  welche  auch  noch  beim  Menschen 
die  höchste  Kegenerationskraft  zeigen,  z.  B.  Schichtgebilde,  die  den 
wirbellosen  Thieren  meistens  die  Festigkeit  geben  (Haut,  Haare, 
Schalen),  Zellgewebe,  Gefäsraystem,  oder  gar  die  organische  ürmasse 
der  untersten  Classen.  Dass  indessen  diese  äusseren  Gründe  nicht 
zulangen,  sehen  wir  an  den  Wirbelthieren  und  zwar  deren  zweiter 
Classe  von  unten,  den  Amphibien,  deren  viele  eine  ganz  wunder- 
bare Ersatzfähigkeit  zeigen.  Spallanzani  sah  bei  Salamandern  die 
vier  Beine  mit  ihren  achtundneunzig  Knochen  nebst  dem  Schwänze 
mit  seinen  Wirbeln  binnen  drei  Monaten  sechsmal  sich  wieder  er« 
zeugen.  Bei  anderen  regenerirte  sich  der  Unterkiefer  mit  all*  seinen 
Muskeln,  Gefassen  und  Zähnen ;  Blumenbach  sah  sogar  das  Auge  sich 
binnen  Jahresfrist  wiederherstellen,  wenn  der  Sehnerv  unverletzt 
und  ein  Theil  der  Augenbäute  im  Grunde  der  Augenhöhle  zurück- 
geblieben war.  Bei  Fröschen  und  Kröten  regeneriren  sich  die  Beine 
ttttoh  bisweilen ;  aber  nur  so  lange  sie  jung  sind,  und  auch  dann 
nur  langsam.  Wie  die  psychische  Kraft  des  Individuums  zuerst 
ausschliesslich  äusserlich  sich  bethätigt  und  dann  mit  Zunahme  des 
Alters  mehr  und  mehr  nach  innen  sich  zurückzieht  und  sich  auf 
die  Ausbildung  des  bewussten  Seelenlebens  wirft,  so  ist  aueh  bei 
allen  Wesen  die  Heilkraft  um  so  mächtiger,  je  jünger  sie  sind, 
daher  bei  Embryonen  und  allen  Larven,  die  als  Embryonen  be- 
trachtet werden  müssen,   am  grössten;  und  darum  dürfen  wir  uns 


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aoeh  nicht  'vroDdem,  dass  das  nämliche  Gesetz  in  der  nebeneinander 
stehenden  Stufenreihe  der  Thiere  besteht,  wo  sich  ja  auch  in  wei- 
terem Sinne  die  unteren  zu  den  oberen  wie  Embryonen  oder  xm- 
ToUkommene  Entwickelongsstnfen  verhalten. 

Geben  wir  nun  zu  den  Säugethieren  und  speciell  zum  Menschen 
über,  so  finden  wir  allerdings  nicht  mehr  die  fri^panten  Erschei- 
mugen,  wie  an  den  unteren  Thieren,  aber  immerhin  genug,  um  die 
Ueberzeuguog  daraus  zu  schöpfen,  dass  nicht  todte  Causalität  der 
B&teriellen  Vorgänge  genügt,  sondern  dass  eine  psychische  Kraft  es 
ist,  welche  mit  der  unbewussten  Vorstellung  des  Gattungstypus  und 
der  fiir  den  Endzweck  der  Selbsterhaltung  in  jedem  besonderen 
Falle  erforderlichen  Mittel  diejenigen  Umstände  herbeiführt,  yer- 
möge  welcher  nach  den  allgemeinen  physikalischen  und 
chemischen  Gesetzen  die  Wiederherstellung  der  normalen  Zu- 
stande erfolgen  muss:  Bei  jeder  Störung  tritt  dieser  Vorgang  ein, 
wann  nicht  die  Macht  des  unbewussten  Willens  in  der  Bewältigung 
der  Umstände  zu  gering  ist,  so  dass  die  Störung  eine  bleibende 
Almormität  oder  den  Tod  herbei^ihrt.  Keine  Med i ein  kann  etwas 
anderes  thun,  als  diesen  Process  unterstützen  und  die  Bewältigung 
der  störenden  Umstände  erleichtern,  aber  die  positive  Initiative 
(der  Wille)  hierzu  muss  immer  vom  Organismus  selbst  ausgehen. 

Betrachten  wir  zunächst  das  Zusammenheilen  auseinander  ge- 
tramter  Gebilde  und  die  Neubildung  einer  zerstörten  Grenze. 

Die  erste  Bedingung  jeder  Neubildung  (ausser  in  den  Schicht- 
gebilden) ist  Entzündung.  Nach  J.  Müller  ist  die  Entzündung  „zu- 
aammengeeetzt  aus  den  Erscheinungen  einer  örtlichen  Verletzung, 
einer  örtlichen  Neigung  zur  Zersetzung  und  einer  dagegen  wirken- 
den verstärkten  organischen  Thätigkeit,  welche  dem  Zersetzungs- 
streben das  Gleichgewicht  zu  halten  strebt."  Was  Müller  die  „ört- 
liche Verletzung"  nennt,  nennt  Virchow  den  pathologischen  Beiz. 
Er  sagt  (spec.  Path.  u.  Ther.  I.  72):  „So  lange  auf  ein  Irritament 
nur  fonctionelle  Störungen  zu  beobachten  sind,  so  lange  spricht  man 
Ton  Irritation ;  werden  neben  den  functionellen  nutritive  bemerkbar, 
BO  nennt  man  es  Entzündung";  er  nennt  also  weiter  nutritive  Stö- 
niD^  was  Müller  die  örtliche  Neigung  zur  Zersetzung  nennt.  Ganz 
besonders  aber  urgirt  Virchow  das  dritte  Moment,  die  active  Thätig- 
keit der  entzündeten  Zellen.  Die  zunächst  bei  der  Entzündung 
fallende  Erscheinung  ist  der  vermehrte  Blutandrang  nach  der 
Stelle,  wo   die  Neubildung  stattfinden  soll,  welcher  sich  in  Böthe 


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110 

und  erhöhter  "Wärme  zeigt.  Schon  das  Gesetz,  dass  der  einseitig 
yermehrte  oder  yerminderte  Blutandrang  sich  nach  dem  Blutbe- 
dürfiiiss  der  einzelnen  Organe  richtet,  ist  fast  nie  aus  physikalischen 
Ursachen  allein  zu  erklären,  da  das  Pumpwerk  des  Herzens  för  den 
ganzen  Blutlauf  gleichmässig  wirkt;  es  muss  deshalb  schon  hierin, 
insoweit  die  Erscheinung  nicht  durch  die  vermehrte  active  Resorption 
der  entzündeten  Zellen  zu  erklären  ist,  eine  Direction  der  physischen 
Umstände  durch  das  Wollen  des  Mittels  zum  yorgestellten  Zweck 
angenommen  werden.  (Im  normalen  Entwickelungsgange  findet  z.  B. 
eine  Vermehrung  des  Blutandranges  statt  bei  der  Fubertätsent- 
wickelung,  Schwangerschaft,  beim  Vogel  an  den  Bauchhautgefässen 
für  die  Brütwärme;  eine  Verminderung,  wo  Organe  aulhören  zu 
functioniren,  oder  unersetzbare  Gliedmassen  verloren  gegangen  sind. 
Ebenso  wunderbar  wie  diese  Erscheinung  ist,  dass  das  Blut  nur 
innerhalb  der  Blutgefässe  flüssig  bleibt,  während  es  beim  Austritt 
sofort  gerinnt,  auch  ohne  mit  Luft  in  Berülurung  zu  kommen.)  Bei 
jedem  Schnitt  in  den  thierischen  Leib  werden  Gefasse  durchschnitten, 
diese  müssen  zunächst  geschlossen  werden,  was  durch  das  Gerinnen 
des  austretenden  Blutes  geschieht;  bei  grösseren'  Stämmen  bildet 
sich  ein  innerer  und  ein  äusserer  Pfropf,  der  in  der  ersten  Zeit 
ausgestossen  wird,  wenn  der  Blutandrang  durch  äusseren  Reiz  ver- 
stärkt zurückgerufen  wird.  Bei  Arterien,  wo  der  Blutandrang  stark 
,  ist,  hilft  sich  der  Organismus  bisweilen  durch  eine  Ohnmacht.  Das 
Gerinnsel  geht  aber  keine  feste  Verbindung  mit  den  "Wandungen 
ein,  sondern  wird,  wie  jedes  unnöthig  gewordene  Hülfsmittel  eines 
früheren  Stadiums  des  Heilprocesses,  später  resorbirt.  Nach  etwa 
zwölf  Stunden  wird  eine  weisse  Flüssigkeit  (plastische  Lymphe) 
secemirt,  die  sich  meist  unmittelbar  darauf  zu  einem  membranösen, 
undurchsichtigen  Neoplasma  verdichtet,  welches  die  Wunde  schliesst 
und  mit  den  angrenzenden  Theilen  verwächst.  Das  Neoplasma  ist 
nicht  blosses  ausgeschwitztes  Blutserum,  sondern  eine  Secretion  avis 
dem  Blut  von  ebenso  bestimmtem  Character,  wie  jede  andere  Se- 
cretionsflüssigkeit ;  es  ist  auch  kein  formloser  Brei,  sondern  ein  mit 
reichlicher  Intercellularflüssigkeit  durchmengtes  Gewebe  von  Zellen, 
welches  durch  Zellenwucherung  aus  dem  durch  die  Wunde  ent- 
blössten  Bindegewebe  hervorgetrieben  wird.  Es  bildet  den  Mutter- 
boden für  jede  organische  Neubildung,  und  Blutgefässe,  Sehnen, 
Nerven,  Koochen,  Häute,  alles  geht  aus  ihm  durch  allmälige  Um- 
wandlung der  Zellen  hervor.     Li  der  Achillessehne  eines  Hundes 


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in 

hat  man  das  Ergänzen  eines  fünf  Linien  langen  Ausschnittes  in 
Tier  Monaten^  bei  Nerven,  aus  denen  ein  Stück  ausgeschnitten  war, 
ein  Entgegenwachsen  der  beiden  Enden  mit  oder  ohne  endliche 
Vereinigung  beobachtet.  Bewegung  und  Empfindung  kann  auf  diese 
Weise  wieder  hergestellt  werden,  ohne  dass  dabei  die  neugebildete 
Masse,  selbst  wenn  sie  Strehnen  und  Fäden  zeigt,  der  Sehnen-  und 
Nervenmasse  genau  entspricht,  was  bei  Muskelausfüllungen  noch 
weniger  der  Fall  ist.  Doch  nimmt  die  Verähnlichung  der  Neubil- 
dungen allmälig  zu.  Wo  das  Neoplasma  einen  Zwischenraum  gefüllt 
hat,  da  bilden  sich  Blutgefässe  in  demselben,  die  sich  erst 
nachher  mit  den  Gefassen  der  Nachbargebilde  in  Verbindung  setzen, 
und  80  die  Zufuhr  weiteren  Materials  ermöglichen.  Selbst  wo  zwei 
Wundflächen  sich  berühren,  kann  man  unmöglich  an  ein  sich  Wie- 
derfinden der  durchschnittenen  Gefässe  denken,  da  diese  sich  ver- 
stopfen und  zurückziehen,  sondern  es  müssen  die  in  dem  Neoplasma 
neu  gebildeten  Gefilsse  nach  beiden  Seiten  in  die  Wundflächen 
eindringen  und  hier  entsprechende  Anknüp^ingen  aufsuchen.  Wie 
will  man  es  bei  dem  hier  fehlenden  Contact  der  Nachbargebilde 
anders  als  durch  psychischen  Einfluss  erklären,  dass  aus  dem 
gleichmässigen  lockeren  Zellgewebe  des  Neoplasma  nur  gerade 
ein  ganz  bestimmter  Theil  diejenige  Umwandlung,  Vermehrung 
und  Verdichtung  eingeht,  welche  zum  Zustandekommen  von  Blut- 
gefiissen  erforderlich  ist  ?  —  Wo  ein  röhrenförmiges  (^bilde  getrennt 
ist,  bildet  das  Neoplasma  zunächst  eine  Umhüllung ,  Zwinge  oder 
Kapsel  genannt,  welche  durch  ihre  Gefasse  die  verletzte  Stelle  auch 
mit  den  herumliegenden  Gebilden  in  organische  Verbindung  setzt. 
So  z.  B.  bei  einem  Knochenbruch,  wo  diese  Zwinge  zum  proviso- 
risehen  Callus  erhärtet.  Zugleich  werden  die  beiden  Oeffiiungen 
der  Markhöhle  durch  eben  solche  von  der  Markhaut  aus  gebildete 
P&opfe  verschlossen.  Inzwischen  sind  die  Endflächen  des  Knochens 
durch  die  Entzündung  der  umliegenden  Theile  soweit  erweicht,  dass 
sie  selbst  in  Entzündung  übergehen  und  Neoplasma  secemiren  kön- 
nen, welches  im  Ganzen  genommen  langsam  aus  einer  festen  Gallert 
XU  wahrem  Knorpel  wird  und  dann  erst  allmälig  verknöchert,  ob- 
wohl nach  Virchow  aus  ihm  auch  direct  Knochen  oder  Markzellen 
entstehen  können,  so  wie  sich  nach  ihm  Knorpel,  Knochen  und 
Markzellen  alle  drei  direct  in  einander  verwandeln  können.  Wäh- 
rend dieser  Process  die  eigentliche  Neubildung  bewirkt,  werden  die 
HiUftmittel  der  Zwischenstadien,  der  provisorische  CalluE,  sowie  die 


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in  den  umliegenden  Theilen  enthaltene  Gallert  wieder  erweicht  und 
resorbirt,  auch  die  Markböhle  wieder  hergestellt,  indem  die  diohto 
Substanz  der  Pfropfe  zuerst  zellig,  dann  dünner  und  dünner  wird, 
und  endlich  verschwindet  Der  so  verheilte  Knochen  zeigt  einen 
ununterbrochenen  Zusammenhang  mit  den  alten  Enden  und  genau 
dieselbe  Bildung  in  Substanz  und  Geissen.  Ein  sechs  Linien  lang^ 
Ausschnitt  aus  Speiche  und  Ellenbogen  eines  Hundes  w%r  nach 
vierzig  Tagen  völlig  durch  Knochensubstanz  ausgefüllt.  Stirbt  die 
innere  Schicht  eines  Knochenstückes  ab,  so  geht  der  Ersatz  von 
den  äusseren  aus,  und  umgekehrt;  stirbt  der  ganze  Knochen,  so 
ersetzt  ihn  die  Markhaut  und  Beinhaut,  indem  dieselben  sich  erst 
vom  Knochen  lösen;  sterben  auch  diese  ab,  so  wird  das  betreffende 
Stüok  von  einem  neuen  Stück  eingeschlossen,  welches  theils  von  den 
gesund  gebliebenen  Enden  des  Knochens,  theils  von  den  umliegenden 
weichen  Theilen  aus  gebildet  wird. 

Bei  Canälen,  welche  aus  Schleimhaut  gebildet  sind,  wie  der 
Darmcanal,  oder  Ausführungsgänge  von  Drüsen,  bildet  das  Neoplasma 
ebenfalls  eine  Kapsel  oder  Zwinge,  an  deren  innerer  Seite  der  be- 
treffende Canal  sich  wieder  bildet,  während  die  abgestorbenen  Bän- 
der des  alten  Stückes  (z.  B.  die  XJnterbinduDgen)  abge8t<>s8en  und 
durch  den  neugebildeten  Canal  abgeführt  werden.  Bei  Darmver- 
schlingungen oder  eingeklemmten  Brüchen  gehen  manchmal  mehrere 
Zoll,  ja  fußdlange  Stücke  Darm  durch  den  After  ab,. und  trotzdem 
bleiben  die  Menschen  häufig  am  Leben,  und  stellen  sich  die  Ver- 
dauungswege wieder  her.  —  Sollte  wohl  bei  dem  Abstossen  eines 
eingeklemmten  Stückes  Darm  ein  anderes  Prinoip  zu  Grunde  liegen, 
als  bei  dem  Abstossen  eines  beschädigten  Krabbenbeines,  oder  dem 
Absprengen  eines  Spinnenbeines? 

Wenn  die  äussere  Grenze  irgend  eines  Gebildes  zerstört  is^ 
so  wird  dieselbe  ebenfalls  ersetzt,  und  ist  dabei  der  Process  im 
Ganzen  ein  höherer,  als  bei  der  Wiedervereinigung  getrennter 
Theile,  weil  die  chemische  Contactwirkung  des  gleichartigen  Naoh- 
bargebildes  noch  weniger  >von  Einfluss  sein  kann.  Das  Neoplasma 
tritt  hier  als  Granulation  auf,  d.  h.  es  ist  gefässreicher  und  zeigt 
eine  Anzahl  von  röthlichen  Hügelchen.  Auf  diese  Weise  bildet  sich 
neue  Haut  auf  einer  von  Haut  entblössten  Stelle,  welche  zuerst 
wegen  Mangel  an  Fettunterlage  fest  auf  dem  Muskel  aufliegt  spät^ 
aber  sich  der  übrigen  Haut  verähnlicht  Es  kann  sich  Schleimhaut 
in  Epithelialhaut  verwandeln,  wenn  sie  durch  abnorme  Verhältnisse 


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genöthigt  wird,  eine  Grenze  nach  Aussen  zu  bilden  (z.  B.  bei  vor- 
gefallenem und  umgestülptem  Mastdarm,  Fruchtgang  oder  Frucht- 
hälter).  Bei  Amputationen  stellt  der  Organismus  eine  Grenze  her, 
welche  alle  bisherigen  Canäle  (Markhöhle  des  Knochens  und  Gefösse) 
whüesst^  und  dem  nunmehrigen  Gebrauch  des  Gliedes  entspricht; 
der  Knochen  rundet  sich  geschlossen  ab,  die  Doppelknochen  des 
Unterarmes  oder  Unterschenkels  erhalten  durch  Verwachsung  am 
unteren  Ende  die  feste  Verbindung,  welche  ihnen  sonst  das  Hand- 
oder Fussgelenk  giebt,  die  Gefasse  und  der  Blutzufluss  beschränken 
sich  nach  dem  nunmehr  verringerten  Bedürfniss,  und  die  äussere 
Grenze  bildet  eine  starke  sehnige  Haut,  welche  sich  lebhaft  schuppt. 
Die  sehnige  Brschafifenheit  des  Stumpfes  erstreckt  sich  auch  theil- 
weise  auf  die  benachbarten  Muskelfasern,  Nerven  und  ausser  Dienst 
getretenen  Gefasse. 

Betrachten  wir  nun  noch  einige  andere  merkwürdige  Erschei- 
Dongen  der  Heilkraft  am  Menschen  und  8äugethier. 

Bei  Säugethieren,  denen  man  die  Linse  aus  dem  Auge  gezogen 
hatte,  beobachtete  man  häufig  einen  vollkommenen  Ersatz  derselben, 
und  auch  bei  staaroperirten  Menschen  findet  bisweilen  eine  unvoll- 
kommene Regeneration  der  Linse  statt.  Wenn  nach  solcher  Opera- 
tion die  obere  WundHppe  der  Honihaut  vorsteht  und  mit  ihrt  ra 
inneren  Rande  am  äusseren  Rande  der  unteren  Lippe  anklebt,  so 
werden  später  beide  Lippen  weich,  schwellen  an,  und  wenn  die 
Geschwulst  sich  verliert,  liegen  beide  in  gleicher  Ebene.  So  wird 
die  Störung  beseitigt,  welche  eine  solche  Unebenheit  der  Hornhaut 
im  Beben  zur  Folge  haben  müsste.  Wenn  ein  Knochenbruch  nicht 
zusammenheilen  kann,  so  sucht  sich  der  Organismus  anderweitig  zu 
helfen;  die  Bruchenden  schliessen  und  runden  sich  ab,  und  werden 
entweder  durch  einen  sehnigen  Strang,  in  welchen  die  Callupzwinge 
rieh  umgewandelt  hat,  wie  durch  ein  cylindrisches  Gelenkband  an 
«üÄnder  gehalten,  od^r  durch  ein  sogenanntes  falsches  Gelenk  ver- 
eint, indem  das  eine  Ende  eine  Höhle  bildet,  welche  das  andere 
kugelige  Ende  in  sich  aufnimmt;  beide  Enden  werden  von  einer 
»ehnigen  Kapsel  eingeschlossen  und  erhalten  wie  andere  an  einander 
wibcnde  Stellen  durch  eine  neu  gebildete  Synovialblase  die  nöthige 
Schmiere.  Ein  ähnlicher  Process  vollzieht  sich  bei  uneingerichteten 
Verrenkungen;  die  verlassene  Gelenkgrube  füllt  sich  aus,  und  an 
der  Stelle,  wo  der  Gelenkkopf  nun  anliegt,  bildet  sich  eine  neue 
nut  dem  übrigen  Zubehör  des  Gelenkes. 

T.  HartaaAn,  PUL  d.  UnbewastiteB.  8 


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114 

HöqhBt  mexkwi^dig  ist  die  Bildmig  von  zwepkentsprecl^nden 
AtiBführungßcanälen,  wenn  gewisse  Secretionen  im  Innern  eines  ,Qe: 
bildes  keinen,  natürlichei^,  Ausweg  haben,  und  ohne  Bildong  eines 
solchen  das  Organ  zerstören  würden.  Dies  ist  zunächst  bei  allen 
normalen  Secretionen  der  Fall^  wenn  die  natürliche^  Abzugscanäle 
verstopft  sind,  es  entstehen  dann  die  Fistelgänge  auf  dem  flachsten, 
oder  vielmehr  dem  geeignetsten  Wege,  einen  Durchbruch  nach 
Aussen  bahnend  (z.  B.  Thränen-,  Speichel-,  Galjen- ^  Harn-,  Koth- 
Fisteln).  Sie  gleichen  völlig  den  normalen  Abzugscanalen  der  Drü- 
sen, indem  das  Zellgewebe  sich  an  den  Wänden  des  Ganges  in  eine 
gegen  die  betreffenden  Ausführstoffe  unempfindliche 
Schleimhaut  umwandelt.  Sie  sind  unmöglich  zu  verheilen,  so  lange . 
der  natürliche  Abzugsweg  nicht  wieder  hergestellt  ist,  dann^  aber 
heilen  sie  von  selbst  schnell  und  leicht  zu.  Es  ist  gar  kein  ma- 
terieller Grund  abzusehen,  warum  das  Secret,  welches  den  Aus- 
fuhrungsgang allerdings  durch  Auflösung  und  Verflüssigung  des  Zell- 
gewebes herstellen  muss,  gerade  nur  in  der  Einen  Bichtung 
des  Canals  diese  starke  Zerstörung  bewirkt»  während  nach  allen 
anderen  Seiten  die  Angriffe  im  Verhältniss  hierzu  versphwiodend 
sind,  warum  die  Bichtung,  in  welcher  diese  heftige  chemische  Zer- 
setzung sich  äussert,  gerade  die  zweckmässigste  des  nenei;! 
Abzugscanales  ist,  und  warum  dieser  Ganal  nicht  bloss  Folgen  der 
Zerstörung,  sondern  vielmehr  organische  Neubildung  zeigt  Zuweüen 
erstrecken  sich  solche  Canäle,  namentlich  bei  Eiter^steln,  durch 
mehrere  andere  Organe  hindurch^  ehe  sie  nach  Aussen  gelangen 
können,  z.  B.  aus  der  Leber  in  den  Magen  oder  den,  Darm,  oder 
durch  das  Zwerchfell  in  die  Lungen.  Am  Wunderbarsten  ist  dieser 
Vorgang  vielleicht  bei  der  inneren  Nekrose.  Die  Abzugscanäle 
(oder  Cloaken)  entstehen  hier,  wenn  bloss  die  innere  Schicht  des 
Knochens  abstirbt,  in  der  den  Ersatz  vermittelnden  äusseren  Schjleht^ 
wenn  aber  auch  diese  abstirbt,  in  der  neuen  umgebenden  Knochen- 
substanz  gleich  von  Anfang  ihrer  Bildung  an,,  und  zwar 
ohne  dass  man  Vereiterung  wahrnähme.  Sie  sind  runde  oder 
ovale  Canäle  mit  einer  glatten,  von  der  Markhaut  zur  Beinhaut 
gehenden  Membran  ausgekleidet,  öffiaen  sich  nach  Aussen  mit  einem 
glatten  Bande  und  setzen  sich  späterhin  durch  einen  Fistelgang  zur 
äusseren  Oberfläche  fort;  sie  lassen  sich  auf  keine  Weise  dauernd 
verheilen;  so  lange  noch  abgestorbene  Knochen^tUcke  innerhalb  des. 


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116 

neu  erzeugten  EiiooheiLB  liegen,   und   schliesfien    eidi  nach   deren 
Entlenrang  Ton  Belbsl 

In  einem  gewissen  Zusammenhange  hiennit  steht  bei  Unmög- 
lichkeit des  Gebarens  die  Tödtong  der  Frucht,  die  Verzehrung  der- 
selben, die  Ausführung  der  Ueberreste  auf  neu  gebahnten  Wegen, 
oder  die  Einhülhing  dieser  Ueberreste. 

Beaehtenswerth  ist  femer  der  Ersatz  einer  bestimmten  8eQre- 
tion  durch  ganz  andere  Organe,  als  denen  diese  Secretion  eigen- 
tbümlich  zukommt,  wenn  letztere  functionsunfahig  sind.  Die 
Secrete,  welche  im  Haushalte  des  Organismus  eine  so  grosse  Bolle 
spielen,  sind  bekanntlich  nie  als  solche,  sondern  immer  nur  ihren 
ElementeD  naeh  im  Blute  yoihanden,  und  gehen  erst  während 
and  nach  der  Ausscheidung  aus  dem  Blute  in  ihre  eigenthümliche 
chemische  Beschaffenheit  über  (daher  auch  die  Secretionswege  um 
so  langer  sind,  je  höher  die  Secrete  stehen) ;  man  muss  deshalb  mit 
Hecht  für  gewöhnlich  die  Secretionsorgane  als  die  Ursache  der  be- 
sonderen chemischen  Beschaffenheit  der  Secrete  betrachten.  Um  so 
mehr  muss  es  befremden,  wenn  unter  gewissen  Umständen,  wo  dieses 
oder  jenes  Oi^an  nicht  functioniren  kann,  aber  doch  das  Verbleiben 
der  Stoffe,  welche  durch  seine  Secretion  sonst  ausgeschieden  wurden, 
in  dem  Blute  dem  Organismus  gefahrlich  werden  könnte,  dass  unter 
wichen  Umständen  auch  andere  Organe  im  Stande  sind,  diese  Se- 
cretionen  in  annähernd  gleicher  Weise  zu  vollziehen  und  so  das  . 
Fortbestehen  des  Organismus  zu  sichern.  Es  kann  das  materielle 
Hälfinnittel,  dessen  der  unbewusste  Wille  sich  zu  diesem  Ziele  be- 
dient, nur  in  einer  zeitweiligen  Veränderung  der  secemirenden 
Membranen  der  vicarirenden  Seeretionsorgane  gesucht  werden,  wo- 
durch sie  zu  ihren  vioarirenden  Secretionen  accommodirt  werden, 
ähnlich  wie  wir  einen  solchen  Einffuss  des  Willens  auf  Secretions- 
organe im  Schreck,  Zorn  u.  s.  w.  beobachten.  —  Betrachten  wir  einige 
Bei^ele.  Bei  einer  Degeneration  der  Nieren,  wo  dieselben  keinen 
Harn  mehr  absondern  konnten ,  oder  bei  fehlender  Verbindung  mit 
der  Blase  ist  jahrelanger  Harnabgang  auf  normalen  Wegen  beobachtet 
worden,  dieser  konnte  also  nur  von  der  Blase  selbst  secemirt 
^^  Bei  Meerschweinchen,  denen  die  Nierenarterien  unterbunden 
^^aren,  aecemirten  Bauchfell,  Herzbeutel,  Brustfell,  Himhöhlen, 
lügen  und  Barm  eine  braune,  nach  Harn  riechende  Flüssigkeit, 
^'^^  die  Thränen  rochen  nach  Harn,  und  Hoden  und  Nebenhoden 
«Dthidten  eine  dem  Harn  ganz  ähnliche  Flüssigkeit.     Bei  Hunden 


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erfolgte  Hambrechen,  bei  Kaninchen  flüssige  Darmentieerungen. 
Menschen,  deren  Schweiss  einen  entschiedenen  Hamgeruch  besitzt, 
zeigen  meist  bei  der  Obduction  Ursachen  der  unterdrückten  Ham- 
secretion.  Bei  Personen,  deren  natürliche  Harnentleerung  TÖllig 
gehindert  war,  wurde  oft  jahrelang  tägliches  Hambrechen,  bei  einem 
so  geborenen  Mädchen  bis  zum  vierzehnten  Jahre  Abgang  durch 
die  Brüste  beobachtet.  In  anderen  Fällen  xinterdrückter  Urination 
zeigte  sich  Harnabgang  durch  die  Haut  der  Achselhöhlen.  Dabei 
ist  an  ein  Enthaltensein  des  Harns  als  solchen  im  Blute  gar  nicht 
zu  denken,  da  er  sogar  tödtlich  wirkt,  sondern  nur  die  Elemaite 
seiner  Bildung  sind  im  Blute  vorhanden.  —  Eine  grosse  Zahl  von 
Beobachtungen  beweist  die  Secretion  milchiger  Feuchtigkeit  durch 
die  Nieren,  die  Haut  am  Nabel,  an  den  Weichen,  Schenkeln,  Rücken, 
Gtesohwüren  und  Bauchfell  bei  einer  in  Folge  von  unterdrückter 
Milchsecretion  entstandenen  Bauchfellentzündung.  Bei  deqenigen 
Entstehungsweise  der  Oelbsucht,  wo  die  Thätigkeit  der  Leber  (wie 
später  die  Secirung  zeigt)  aufgehoben  ist,  muss  die  Gallensecretion 
in  den  feinsten  Blutgefässen  erfolgen,  da  alle  Organe,  sogar  sehniges 
Gewebe,  Knorpel,  Knochen  und  Haare  von  farbigen  Bestandtheilen 
der  Galle  durchdrungen  sind. 

Eine  sehr  wunderbare  Erscheinung  ist  die  Temperaturoonstan« 
der  warmblütigen  Thiere  bei  dem  mannigfaltigsten  Wechsel  der 
äusseren  Umstände.  Wir  sind  noch  weit  entfernt,  alle  Bedingungen 
zu  kennen,  durch  welche  diese  Ck>n8tanz  ermöglicht  wird;  doch  so 
viel  ist  gewiss,  dass  die  wirksamsten,  vielleicht  die  einzigen  vom 
Thiere  selbst  abhängigen  Momente  die  Regulirung  der  Nahrungs- 
einnahme, der  Excretionen  und  der  Athmung  sind.  Da  nun  offen- 
bar die  constante  Temperatur  einer  Thierclasse  die  Ar  ihre  chemi- 
schen Processe  günstigste  ist,  so  müssen  wir  in  jedem  Act  des 
Organismus,  der  die  Bedingungen  derselben  den  wechselnden  Ver- 
hältnissen aocommodirt,  einen  Act  der  Naturheilkraft  erkennen. 
Hiermit  steht  offenbar  die  Beobachtung  in  Verbindung,  dass  die 
Menge  der  Hautausdünstung ,  wie  der  Lungenausdünstung  (von 
Kohlensäure  und  Wasser)  in  kleinen  Zeiträumen  ohne  bemerkbare 
Veranlassung  schwanken,  sich  aber  in  längeren  Zeiträumen  von 
vielen  Stunden  sich  ziemlich  gleich  bleiben. 

Auffallend  ist  die  mechanische  und  chemische  Widerstands- 
flkhigkeit  lebender  Gebilde,  die  sofort  mit  dem  Tode  erlischt.  Sie 
ist  am  Besten  am  Magen  und  Darm   zu  beobachten.     Die  gallert^ 


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artigen  Medusen  verdauen,  ohne  verletzt  zu  werden,  mit  stacheligen 
Panzern  versehene  Thiere ;  der  Magen  von  Vögeln  zerkleinert  Glas- 
Btücke  und  krümmt  eiserne  Nägel,  ohne  verwundet  zu  werden  (denn 
Magenwunden  heilen  notorisch  sehr  langsam,  würden  also  sich  nicht 
leicht  der  Beobachtung  entziehen).  Der  Darm  von  Schollen  und 
Schleimfischen  ist  oft  von  scharfen  Muschelschalen  ganz  vollgestopft 
und  ausgedehnt  und  wird  nach  dem  Tode  bei  einer  geringen  Er- 
schütterung durchschnitten.  Diese  Erscheinungen  sind,  da  eine 
grössere  mechanische  Festigkeit  des  lebenden  Gewebes  nicht  zu 
denken  ist,  nur  durch  Reflexbewegungen  zu  erklären,  vermöge  deren 
der  bei  einer  Bewegung  der  scharfen  Gegenstände  bedrohte  Theil 
zurückweicht,  und  die  übrigen  Theile  den  scharfen  Gegenstand  in 
eine  ungefährlichere  Lage  bringen.  Ebenso  wunderbar  ist  der 
Widerstand,  den  der  Magen  den  chemischen  Angriffen  eines  be- 
sonders scharfen  Magensaftes  entgegensetzt.  Man  hat  Beispiele,  wa 
der  degenerirte  Magensaft  sogleich  nach  dem  Tode  den  Magen  zu 
lerstören  begann ,  und  auch  einen  frischen  Thiermagen  zersetzte, 
ohne  dass  im  Leben  eine  Beschädigung  eingetreten  wäre.  Aehn- 
liehe«  findet  bei  anderen  scharfen  Secreten  und  ihren  Secretions- 
organen  statt. 

Nach  diesen  Beierpielen  gehen  wir  noch  über  zur  Beseitigung 
einiger  Einwürfe  gegen  die  Heilkraft  als  zweckwirkende  Aeusserung 
unbewussten  WoUens  und  Vorstellens.  Wenn  ich  auch  die  gänz- 
liche Unzulänglichkeit  materialistischer  Erklärungsversuche  durch 
viele  Gründe  dargethan  zu  haben  glaube,  so  scheint  es  dbch  wich- 
tig, das  Ungenügende  der  beiden  hauptsächlichsten  materialistischen 
Gründe  noch  einmal  kurz  in's  Auge  zu  fassen.  Sie  lauten:  1)  durch 
chemische.  Contactwirkung  verähnlicht  jedes  Vorhandene  sich  das 
neu  hinzutretende  Material,'  und  2)  die  Beschaffenheit  jieder  Secre- 
üon  ist  von  der  Beschaffenheit  der  Nährfiüssigkeit  und  der  secer- 
nirenden  Haut  abhängig.  Den  ersten  Grund  trifft  der  Einwand, 
dass  im  Körper  Neubildungen  zu  verschiedenen  Zeiten  eintreten,, 
welche  noch  keinen  Anlehnungspunct  an  gleichen  Gebilden  finden,, 
weil  sie  übei^aupt  oder  an  dieser  Stelle  des  Organismus  zum  ersten 
Hai  erscheiaen ;  so  z.  B.  bei  den  verschiedenen  Stadien  der  em- 
bryonischen Entwiokelung,  der  Geburt,  der  Pubertät  imd  Schwan- 
gerschaft Aber  ausser  den  iiierbei  neu  auftretenden  Bildungen 
^d  Secretionen  setzen  ja  auch  manche  Seoretionen  periodisch  aus 
3Uid  treten  wieder  ein,  sei  es,  da&  s  dies  normal  oder  krankhaft  ist,. 


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118 

und  aiich  dann  kann  das  Wiedereintieten  der  Seoretion  nicht  to& 
der  Contactwirkung  des  Seorets  herrühren,  da  dies  nicht  vorhanden 
ist.  Ebenso  ist  die  Regeneration  fester  Gebilde  nicht  tob  dem 
Boden  der  Entwickelung  direct  abhängig.  So  haben  wir  z.  B:  ge- 
sehen, dasB  das  Neoplasma  zur  Neubildung  von  Enoehenmasse  auch 
zum  grossen  Theil  yon  den  benachbarten  anderweitigen  Qebädea 
ausgeschwitzt  wird,  und  dass  sich  Gerasse  in  dem  Neoplasma  Yon 
Innen  heraus  auch  ohne  den  Contaet  vorhandener  Gefässe  entwickeln. 
Ebenso  bildet  sich  Schleimhaut  in  Fisteigängen  und  Haut  auf  Gra- 
nulationen ohne  Contaet  gleicher  Gebilde.  So  wenig  man  also  einer- 
seits verkennen  kann,  dass  dieses  Princip  der  Yerähnlichung  durch 
chemischen  Contaet  ein  ausgezeichnetes  kraftersparendes  Hülfsmittel 
in  der  Oecononde  des  Oi^anismus  darbietet,  so  wenig  kann  man  sich 
doch  auch  andererseits  den  Thatsachen  entziehen,  welche  zeigen,  dass 
der  unbewusste  Wille  im  Organismus  Verhältnisse  herbeifUhren  kann, 
unter  denen  sich  den  chemischen  Gesetzen  gemäss  Producte  ergeben, 
welche  nicht  durch  benachbarte  gleiche  Gebilde  veranlasst  8in<if 
welche  aber  dem  gegenwärtigen  Lebensstadium  oder  augenblicklichen 
Bedürfiaiss  des  Organismus  auf  das  Zweckmässigste  entsprechen.— 
Was  den  zweiten  Punct,  die  Abhängigkeit  des  Seorets  von  den 
secemirenden  Häuten  betrifft,  so  ist  dies  Princip  im  Allgemeinen 
ebenfalls  richtig,  nur  darf  man  nicht  vergessen,  dass  die  Verschie- 
denheit der  Secrete  eines  und  desselben  Organes  zu  verschiedenen 
Zeiten,  das  Neueintreten  von  Secreten  in  gewissen  Lebensstadien, 
das  Aussetzen  und  Wiedereintreten  anderer,  sowie  die  Lehre  von 
den  vicarirenden  Secretionen  die  Frage  nach  der  Inconstanz  der 
Beschaffenheit  der  secemirenden  Häute  offen  hält,  dass  also  die 
Erscheinung  nach  ihrer  nächsten  wirkenden  Ursache  richtig  erklärt, 
diese  wirkende  Ursache  aber  ihrerseits  nur  eine  einzige  endgültige 
Erklärung,  nämlich  in  ideider  Bichtung,zulä8st.  Mit  solcher  vorläufigen 
Erklärung  hat  der  Naturforscher  seine  nächste  Schuldigkeit  gethan,  und 
Niemand  wird  ihm  dies  bestreiten,  wenn  er  nur  zugiebt»  dass  die 
Frage  noch  ebenso  offen  wie  vorher  ist,  wenn  er  nur  nicht  behauptet, 
mit  dieser  Erklärung  Alles  gethan  zu  haben ,  denn  dann  tritt  «r 
sofort  in  Collisum.  mit  den  Thatsachen. 

Ein  anderer  Einwand  ist  der,  dass  der  Organismus  nicht  immer 
zweckmässig  verfahre»  sondern  dass  dieselben  Erscheinungen,  welche 
das  eine  Mal  Genesung  herbeiführen,  das  andere  Mal  die  Erkran- 
kung  erst   bewirken,   oder    eine  vorhandene  Krankheit,  zu  noch 


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119 

scblimmereiii'Ende  fÜhrön^  als  sie  von  selbst  genotnmen  haben  würde. 
Dies  halte  ich  für  entäcbieden  falsch.  Ich  behaupte  im  Gegentheil : 
entens',  dassKrankheitentiieinals  aus  dempsychischenGrunde 
'  des  Organismus  spontan  hervortreten,  sondern  demselben  von 
Aussen  durch  Störungen  aufgedrungen  und  gezwungen 
werden,  und  zweitens,  dass  Alles,  was  der  Organismus  direct  in 
Bezug  auf  diese  Störungen  an  der  Normalität  seiner  Functionen  ändert, 
tweckmässig  zur  Beseitigung  derselben  ist.  Diese  beiden  Behaup- 
tungen sollten  nach  einander  begründet  werden. 

Es  fragt  sich  zunächst,  was  denn  Krankheit  sei.  Krankheit 
ist  nicht  Abnormität  der  Bildung,  denn  es  giebt  abnorme  Abbildungen, 
wie  Biesen,  Zwerge,  überzählige  Finger,  unregelmässiger  Verlauf 
Yon  Adern,  die  Niemand  zu  den  Krankheiten  zählt.  Krankheit  ist 
nicht  ein  Zustand,  der  das  Bestehen  des  Organismus  gefährdet,  denn 
▼iele  Krankheiten  thuen  dies  nicht;  sie  ist  nicht  ein  Zustand,  der 
dem  Bewusstsein  des  Individuum  Schmerz  und  Beschwerden  verur- 
sacht, denn  auch  dies  ist  bei  vielen  Krankheiten  gar  nicht  der  Fall. 
Krankheit  ist  eine  Abnormität  in  den  organischen  Func- 
tionen, welche  allerdings  Abnormitäten  der  Bildung  sowohl  zurUr- 
ntche,  als  zur  Folge  habeü  kann.  Im  ersteren  Falle  pflegt  man  auch 
die  Abnormität  der  Bildung  schon  mit  als  Krankheit  zu  bezeichnen. 
Streng  genommen  muss  aber  dieser  abnormen  Bildung  schon  eine 
Ahdere  Abnormität  der  Functionen  als  Ursache  vorbeigegangen  sein, 
denn  so  lange  alle  Functionen  normal  vor  sich  gehen,  ist  das  Zu- 
standekommen abnormer  Bildungen  unmöglich.  Z.  B.  die  Lungen- 
suoht  kann  durch  Tuberkeln  verursacht  sein,  diese  aber  müssen 
durch  abnorme  Functionen  entstanden  sein.  Wenn  wir  also  nach 
der  Ursache  einer  Krankheit  fragen,  so  müssen  wir  auf  jeden  Fall 
letzten  Endes  auf  eine  Abnormität  der  Functionen  bei  normaler 
Bildung  der  functionirenden  Organe  zurückkommen;  denn  so  lange 
noch  Abnormitäten  der  Bildung  mitsprechen,  haben  wir  die  Reihe 
der  Krankheitsursachen  nicht  bis  zu  Ende  verfolgt 

Fragen  wir  nun,  wie  die  primäre  Ursache  aller  Krankheiten, 
Abnormität  der  Function  bei  normaler  Bildung  möglich 
sei,  so  antwortet  Erfahrung  und  Speculation  übereinstimmend:  nur 
durch  Störung  von  Aussen,  aber  nicht  von  Innen  durch  einen  spon- 
tanen psychischen  Act  des  Organismus.  Biese  Störungen  können 
•ehr  mannigfacher  Art  sein:  1)  mechanische  Einwirkungen,  wie 
iMe  Art   von  innerer  oder  äusserer  Verletzung;  2)  chemische  Ein- 


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Wirkungen,  und  zwar  a)  durch  Einföhrung  von  Stoffen^  welche  das 
MiBchungsyerhaltniss  direct  stören,  indem  sie  neue  Verbindungen 
eingehen  (z.  B.  Vergiftung  durch  Arsenik,  Schwefelsäure,  die  meisten 
mineralischen  Arzneien),  b)  durch  chemische  Ck)ntactwirkung,  An- 
steckung im  weitesten  Sinne,  auch  atmosphärische  Veränderungen; 
welche  zu  eigentlich  nicht  ansteckenden  Krankheiten  disponiien; 
3)  organische  Einwirkungen,  Einnisten  von  pflanzlichen  oder  thie- 
rischen  (mikroskopisch  kleinen)  Organismen,  welche  durch  ihre  Er- 
nährung und  Fortpflanzung  das  chemische  Mischungsverhältniss  oder 
die  morphologische  Zellenstructur  des  ergriffenen  Organismus  stören ; 
bei  Tielen  Krankheiten  ist  es  noch  zweifelhaft,  ob  ihre  Ansteckung 
auf  chemische  Contactwirkung  oder  Einnisten  von  Organismen  zurück- 
zuführen ist  (z.  B.  Pest,  Syphilis,  Typhoiden,  Cholera) ;  4)  Abnormi- 
tät des  Verhältnisses  von  Einnahme  und  Ausgabe;  überwiegt  letzte- 
res Moment,  so  entsteht  Massenverlust,  Schwäche  u.  s,  w.,  überwiegt 
ersteres,  so  entsteht  allgemeine  Hypertrophie,  die  sich  je  nach  den 
besonders  reichlich  Torhandenen  Stoffen  in  verschiedenen  Gebilden 
äussert  (Tuberkeln,  Skropheln,  Gicht^  Fettsucht  u.  s.  w.);  5)  unge- 
eignete Qualität  der  Einnahmen ;  sie  bewirkt  Störungen  in  den  Ver- 
dauungsorganen und  durch  abnorme  Blutmischung  auch  in  der  Er- 
nährung; schlechte  Luft  kann  auf  diese  Weise  durch  Veränderung 
der  Blutmischung  Faulfleber  u.  s.  w.  hervorrufen ;  6)  unangemessene 
Lebensweise;  z.  B.  absolute  XJnthätigkeit  eines  Muskels  bewirkt 
Schwäche  und  Abmagerung  desselben,  da  seine  Emährungsverhalt- 
nisse  auf  die  Voraussetzung  der  Bewegung  basirt  sind;  sitzende 
Beschäftigung  bei  Menschen  stört  die  Verdauung  aus  demselben 
Grunde,  \md  Versetzung  in  ein  fremdes  Clima  fordert  Accommodation 
des  Körpers  durch  die  Heilkraft  oder  ruft  Krankheiten  hervor; 
7)  ererbte  Körperfehler  oder  Krankheitsanlagen;  hier  liegen  die 
ersten  äusseren  Ursachen  der  Krankheit  in  deijenigen  Generation^ 
von  welcher  die  Vererbung  ausgegangen  ist,  und  alle  nachfolgenden^ 
die  Krankheit  ererbenden  Glieder  der  Familie  empfangen  durch  die 
Stoffe  der  Zeugung  die  Abnormitäten  schon  als  Mitgift  auf  die 
Lebensreise,  welche  ihre  Naturheilkraft  oft  so  wenig  zu  bewältigen 
im  Stande  ist,  wie  eine  direct  durch  äussere  Störungen  erweckte 
chronische  Krankheit. 

Ich  glaube,  dass  auf  diese  oder  ähnliche  Störungen  sich  alle 
Krankheiten  zurückführen  lassen,  wenn  man  nur  immer  dabei  1^* 
rücksichtig^,  dass  man  auf  die  erste  Ursache  der  Erscheinung  zu- 


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121 

TÜdLEugehen  hat  und  nicht  die  symptomatiBch  yorli^ende  Krankheit 
an  sich  betrachte.  Ja  sogar  die  letztere  ist  häufig  schon  ein  Act 
der  Heilkraft,  die  Erisis  einer  Beihe  yoidiergehender  Krankheiten 
oder  Abnormitäten,  welche  sich  nur  mehr  oder  waniger  dem  Be- 
wuBstsein  entzogen  (so  z.  B.  bei  allen  Ausschlagskrankheiten,  Gicht, 
Fiebern,  Entzündungen  u.  s.  w.)-  Die  Heilkraft  kommt  mit  ihrer 
Erids  sogar  mandimal  dem  Ausbruch  deijeuigen  Krankheit  zuvor, 
welche  aus  einer  Abnormität  der  Bildung  folgen  müsste  (z.  B.  die 
Tödtong  und  Abführung  der  nicht  zu  gebärenden  Frucht),  und  in- 
sofern ist  es  richtig,  dass  durch  spontane  psychische  Acte  des 
Organißmus  Erscheinungen  hervorgerufen  werden,  Welche  wir  Krank- 
keit nennen  müssen,  aber  sie  beugen  dann  nur  einer  gefährlicheren 
Krankheit  vor,  sie  sind  die  Wahl  eines  absichtlich  hervorgerufenen 
kleineren  IJebels  zur  Yermeidung  eines  grösseren.  Es  kann  auch 
sein,  dass  bei  dieser  spontan  hervorgerufenen  Krisis  der  Tod  erfolgt, 
weil  dem  unbewussten  Willen  die  nöthige  Macht  zur  Ueberwindung 
der  vorhandenen  Störungen  gebricht,  dann  wäre  er  aber  ohne  die 
versuchte  Krisis  ganz  sicher  erfolgt,  während  hier  noch  die  Mög- 
lichkeit des  Sieges  der  Heilkraft  da  war.  Sollten  sich  einige  Krank- 
heiten noch  nicht  durch  äussere  Störungen  erklären  lassen,  so 
könnte  dies  die  Bichtigkeit  des  Princips  nicht  beeinträchtigen,  dass 
der  psychische  Grund  des  organischen  Bildens  nicht 
erkranken  kann,  denn  für  dieses  Princip  sprechen  fast  alle 
Thatsachen,  gegen  dasselbe  nichts,  da  man  die  Zurückführung 
etwaiger  Ausnahmen  auf  äussere  Störung  noch  von  der  künftigen 
Wissenschaft  zu  erwarten  hätte.  Darum  kann  ich  nicht  mit  der 
Annahme  übereinstimmen,  dass  die  Idee  des  Organismus  von  der 
Idee  einer  Krankheit  gleichsam  ergriffen  und  besessen  werde,  welche 
die  Conformität  der  Krankheiten  erklären  soll;  diese  scheint  mir 
hinreichend  durch  die  gleiche  Beaction  gleicher  Organismen  auf 
gleiche  Störungen  erklärt  zu  sein,  denn  dieselbe  Krankheit  erscheint 
in  der  That  niemals  auf  gleiche  Weise,  sondern  mindestens  so  ver- 
schieden, wie  die  Individuen  unter  einander  sind.  Schon  der  Um- 
stand spricht  gegen  jene  Annahme,  dass  es  keine  pathologische 
Bildung  im  Körper  giebt,  welche  nicht  an  normalen  physiologischen 
Bildungen  ihr  Vorbild  hätte.  Virchow  sagt  (Cellularpathologie  S.  60): 
y^  giebt  keine  andere  Art  von  Heterölogie  in  den  krankhaften 
Gebilden  als  die  ungehörige  Art  der  Entstehung,  und  bezieht  sich 
diese  üngehörigkeit  entweder  darauf,  dass  ein  Gebilde  erzeugt  wird 


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122 

an  einem  Pnnöte;  wo  es  nicht  hingehört,  oder  za  einer  Zeit,  wo  es 
nieht  erzeugt  werden  soll,  oder  in  einem  Grade>  welcher*  Yon  der 
typischen  Bildung  des  Körper^  Abweicht.  Jede  Heterologie  ist  also, 
genauer  bezeichnet,  eine  Heterotopie,  eine  aberratio  locit  oder 
eine  aberratio  temporis,  eine  Heterochronie ,  oder  endlich  eine 
bloss  quantitative  Abweidiung,  Heterometrie".  —  Nur  da  möchte 
jene  Ansicht  von  den  ideellen  Krankheitstypen,  welche  von  den 
Organismen  Besitz  ergreifen,  eine  gewisse  tropische  Berechtigong 
haben,  wo  Thiere  oder  Pflanzen  die  Krankheitsursache  sind,  z.  B. 
Krätze,  Beude,  Bost  des  Getreides  u.  s.  w. 

Was  die  sogenannten  Geisteskrankheiten  betrifft,  so  ist  die 
von  alten  Zeiten  her  dominirende  und  auch  gegenwärtig  trotz  einigen 
Widerspruches  überwiegende  Aufessungsweise  die,  dass  jede  Slörong 
bewusster  Seelenthätigkeit  durch  eine  Störung  des  Gehirns,  als  des 
Organes  des  Bewusstsein^,  bewirkt  werde,  sei  diese  Gehimatörung 
nun  direct,  oder  durch  Rückenmarks-  und  Nervenkrankheiten  ve^ 
mittelt.  Auch  da,  wo  psychische  Erschütterungen  eine  Geistes- 
krankheit veranlassen,  muss  man  wahrscheinlich  eine  vorhergehende 
Disposition  des  Gehirns  dazu  annehmen,  welche  bei  solcher  Gelegen- 
heit nur  zum  Ausbruch  kommt ;  unbedingt  ist  auch  in  diesen  Fällen 
eine  Gehimstörung  als  Ursache  der  Störung  des  Bewusstseins  an- 
zunehmen, nur  dass  diese  Gehimstörung  nicht  durch  materielle, 
sondern  durch  psychische  Erschütterung  hervorgerufen,  jedenfalls 
aber  durch  äussere  Einwirkung  veranlasst  ist,  deren  Träger  und 
Vermittler  nur  bewusste  Seelenzustände  sind.  Es  bleiben  also  die 
Sätze  unangetastet,  dass  das  Unbewusste  weder  selbst 
erkranken,  noch  in  seinem  Organismus  Erkrankung 
bewirken  kann,  sondern  dass  alle  Krankheit  Folge  einer  von 
Aussen  hereingebrochenen  Störung  ist. 

Was  den  zweiten  Punct  anbetrifft,  der  Zweifel  an  der  Zweck- 
mässigkeit der  Gegenmassregeln  der  Heilkraft  gegen  die  Krankheit, 
so  ist  das  wichtigste  Moment,  das  nicht  ausser  Acht  gelassen  wer 
d^n  dar^  die  Beschränktheit  der  Macht  des  Willens  in  Bewältigung 
der  Umstände.  Wäre  der  Wille  des  Individuums  allmächtig,  so 
wäre  er  nicht  mehr  endlich  und  individuell,  also  muss  es  Störungen 
geben,  die  er  nicht  beseitigen  kann.  Da  nun  ferner  die  Angrift- 
puncte  im  Organismus  für  den  Willen  ebenfalls  sehr  beschränkt 
sind,  d.  h.  seine  Macht  in  verschiedenen  Gebilden  ganz  verschiedene 
Grenzen  hat,  so  muss  natürlich  ein  vorgestellter  Zweck  oft  auf  den 


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123 

wunderiicfasten  Umwegen  erreicht  werden,  so  daas  die  Yoretellung 
des  Zweckes  bei  den  vom  Organismus  eingeschlagenen  Mittehi  dem 
ungeübten  Auge  oft  gänzlich  entgeht,  und  nur  rom  tiefer  eindrin- 
genden wissenschaftlichen  Blick  yerstanden  wird,  der  die  Unmög- 
tiehkeit  kürzerer  Wege  zum  Ziele  einsieht.  Da  nun  die  wissen- 
schaftliche Physiologie  und  Pathologie  noch  so  jung  ist,  so  darf 
man  sich  nicht  wundem,  wenn  sie  noch  heute  nur  ganz  oberfläch- 
lich in  die  verschiedenen  Operationen:  des  organischen  Lebens 
eingedrungen  ist,  und  sie  häufig  nicht  nur  eine  Menge  Verbindungs- 
glieder von  Zweck  und  Mittel  zu  ahnen  sich  begnügen  muss,  son- 
dern auch  noch  seltener  sich  Rechenschaft  darüber  geben  kann, 
ob  es  einen  noch  zweckmässigeren  Weg,  als  den  eingeschlagenen, 
gegeben  hätte.  Jede  erkannte  Zweckmässigkeit  ist  wohl  ein  posi- 
tiTer^  ndcht  zu  entkräftender  Beweis  psychischen  Wiricens,  aber 
tausend  unverstandene  Verbindungen  von  Ursache  und  Wirkung 
können  kein  negativer  Beweis  gegen  das  Vorhandensein  psychischer 
Qrundlagen  sein.  So  steht  aber  das  Verhältniss  keineswegs,  sondern 
£ast  überall,  wo  wir  ein  scheinbar  unzweckmässiges  Wirken  des 
Organismus  sehen,  können  wir  uns'  von  den  Gründen  dieser  £r- 
schainung  Rechenschaft  geben.  Die  spontane  Entstehung  von 
Krankheit,  die  hieriier  auch  zählen  könnte,  ist  bereits  beseitigt. 
Ein  grosser  Theil  anderer  Fälle  wird  sich  darauf  reduciren,  dads 
die  Mittel,  welche  j^ur  Beseitigung  einer  Störung  aufgeboten  werden, 
nicht  den  Intentionen  des  Organismus  gemäss  ausfallen,  weil  ander- 
weitig vorhandene  Störungen  dies  hindern,  so  dass  nun  durch  eine 
zweite  Krankheit  die  Anstrengungen  zur  Hebung  der  ersten  ver- 
eitelt werden.  Dieser  Fall  tritt  sehr  häufig  ein,  nur  ist  es  oft 
schwer,  die  zweite  Störung  zu  entdecken,  die  sehr  tief  liegen  und 
zugleich  an  sich  sehr  unbedeutend  sein  kann.  Letzten  Endes  ist 
es  dann  immer  wieder  die  unzureichende  Macht  des  Willens  (hier 
in  Beseitigung  der  zweiten  Störung)  ^  wodurch  die  angewandten 
Mittel  eine  schiefe  Richtung  bekommen  und  nicht  zum  Ziele  führen. 
Ein  besonderer  Fall  der  imzureiohenden  Macht  ist  der,  wo  bei  be- 
sonderer intensiver  Anspannung  nach  einer  bestimmten  Richtung 
der  Wille  ausser  Stande  ist,  die  extensiven  Grenzen  inne  zu  halten. 
So  z.  B.  bei  Enochenbruchheilung,  wo  eine  lebhafte  Tendenz  zur 
Knochenbildung  erfordert  wird,  verknöchern  meist  die  umliegenden 
Muskel-  und  Sehnenpartien  mit;  dann  macht  aber  später  der 
Organismus  seinen  Fehler  möglichst  wieder  gut,  es  werden  also  in 


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124 

dießem  Beispiel  die  verknöcherten  Naohbargebilde  nadi  der  Heilung 
auf  ihre  normale  Beschaffenheit  zurückgebracht. 

Wie  die  Macht  des  Willens  eine  beschränkte  ist,  aeigt  auch 
folgendes  Beispiel:  während  der  Schwangerschaft,  wo  der  unbe- 
wusste  Wille  auf  die  Bildung  des  Kindes  sich  concentriren  mufi«, 
wollen  mitunter  Knochenbrüche  gar  nicht  heilen,  wahrend  sie  nach 
erfolgter  Entbindung  ganz  gut  verheilen. 

Der  letzte  mögliche  Einwand  wäre  der,  dass  in  Folge  eines 
dem  Geschöpfe  anersohaffenen  Mechanismus  auf  jede  Störung  die 
passende  Beaction  folge,  ohne  psychische  Betheiligung  des  Indi- 
viduums. Wer  bis  hierher  meiner  Entwickelung  gefolgt  ist,  wird 
keine  Widerlegung  brauchen.  Die  Unmöglichkeit  eines  materiellen 
Mechanismus  haben  wir  gesehen,  die  eines  psychischen  leuchtet 
Jedem  ein,  der  die  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  vorkommend«! 
Störungen  erwägt,  und  bedenkt,  dass  die  Function  eines  jeden  ein- 
zelnen Organs,  wie  des  ganzen  Körpers,  sich  in  einem  unaufhör- 
lichen Abwehren  und  Ausgleichen  herantretender  Störungen  bewegt, 
tmd  dass  nur  dadurch  das  Dasein  erhalten  wird.  Giebt  man  also 
einmal  die  Zweckmässigkeit  dieser  Ausgleichungen  zum  Zwecke  der 
Selbsterhaltung  zu,  so  kann  man  sich  der  Idee  einer  individuellen 
Vorsehung  unmöglich  entziehen,  denn  nur  das  Individuum  selbst 
kann  es  sein,  welches  die  Zwecke  vorstellt,  nach  denen  es  handelt. 
Es  kann  nicht  fehlen,  dass  die  in  diesem  und  dem  vorigen  Capitel 
so  eclatant  hervorgetretene  Wahrheit  auch  auf  die  Zurückweisung 
desselben  Einwandes  beim  Instinct  eine  rückwirkende  Beweiskraft 
äussert,  da  wir  dies  Alles  als  ein  seinem  Wesen  nach  Gleiches  er- 
kannt haben.  Es  wäre  ganz  thöricht,  ein  besonderes  Vermögen  des 
Instinotes,  ein  besonderes  der  Beflexbewegungen,  ein  besonderCB 
der  Heilkraft  anzunehmen,  da  wir  in  allen  diesen  Erscheinungen 
nichts  weiter  als  ein  Setzen  von  Mitteln  zu  einem  unbewusst  vor- 
gestellten und  gewollten  Zwecke  erkannt  haben,  und  nur  die  ver- 
schiedenen Arten  von  zur  Thätigkeit  auffordernden  äusseren  Um- 
ständen verschiedene  Gattungen  von  Keactionen  hervorrafBO» 
wobei  aber  die  Unterschiede  nicht  einmal  von  der  Art  sind,  das» 
sie  nicht  in  einander  überflössen.  Dass  die  organischen  HeUwif 
kungen  nicht  Besultate  des  bewussten  Vorstellens  und  Wollen» 
sind,  wird  wohl  Niemand  bezweifeln,  der  sich  erinnert,  welchen 
Antheil  sein  Bewusstsein  beim  Heilen  einer  Wunde  oder  eines 
Bruches  genommen  habe;  ja  sogar,  es  gehen  ja  gerade  dann  die 


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mächtigsten  Heilwirkungen  vor  sich,  wenn  das  Bewusstsein  mög- 
liebt zurückgedrängt  ist,  wie  im  tiefen  Schlafe.  Dazu  kommt  noch, 
dass  die  organischen  Functionen,  in  soweit  sie  überhaupt  von 
Nerven  abhängig  sind,  durch  sympathische  Nervenfasern  geleitet 
werden,  welche  dem  bewussten  Willen  nicht  direct  unterworfen 
sind,  sondern  von  den  Ganglienknoten  aus  innervirt  werden,  yon 
denen  sie  entspringen.  Wenn  dennoch  in  den  organischen  Func- 
tionen in  den  Heilwirkungen  eine  so  wunderbare,  Einem  Ziele  su- 
strebende  Ueberein^timmung  herrscht,  so  kann  diese  nun  und  nim- 
mermehr aus  materieller  Communication  dieser  verschiedenen 
Ganglien  begriffen  werden,  sondern  nur  durch  die  Einheit  des  über 
enen  waltenden  Principes,  des  ünbewussten. 


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vn. 

Der  indireete  Einflnss  bewnsster  Seelenthlkigkeit  auf 
organische  Fnnetionen. 


1.    Der  Einflufls  des  bewiissten  Wülena. 
a.  Die  Muskelooiitractlon. 

Die  Mnskelcontraction  ist  offenbar  die  bei  Weitem  wichtigste 
vom  bewnssten  Willen  abhängige  organische  Function,  denn  sie  ist 
es,  durch  die  wir  uns  bewegen  und  auf  die  Aussenwelt  wirken, 
durch  weiche  wir  uns  in  Sprache  und  Schrift  mittheilen.  Sie  er- 
folgt durch  den  Einfluss  der  motorischen  I^erren,  durch  einen  vom 
Centrum  nach  der  Peripherie  verlaufenden  Innervationsstrom,  durch 
einen  Strom,  der  offenbar  mit  den  electrischen  und  chemischen 
Strömungen  verwandt  ist,  da  wir  sehen,  dass  sie  sich  gegenseitig 
in  einander  umsetzen  lassen,  und  von  dessen  Intensität  wir  uns 
keine  zu  geringe  Vorstellung  machen  dürfen,  wenn  wir  die  durch 
ihn  Contrahirten  Muskeln  des  Athleten,  noch  dazu  durch  die  langen 
Hebelsarme  der  Gliedmassen,  mit  Gentnern  spielen  sehen  und  daran 
denken,  welche  colossale  galvanische  Ströme  nöthig  sind,  um  mit 
einem  Electromagneten  Centnerlasten  zu  heben.  Wir  haben  schon 
gesehen,  dass  jede  Muskelbewegung  nur  durch  mehrfache  Yermit* 
telung  von  unbewusstem  Wollen  und  Vorstellen  zu  denken  ist,  weil 
sonst  nie  abzusehen  wäre,  wie  der  Bewegungsimpuls  im  Stande  wäre, 
die  der  bewussten  Bewegungsvorstellung  entsprechende  Nerven- 
centralstelle  anstatt  irgend  einer  anderen  zu  treffen,  dass  femer  die 
unmittelbaren  Centra  fiir  die  allermeisten  Bewegungen  im  Bücken* 
mark  imd  verlängerten  Mark  liegen  und  diese  von  hier  aus  in  ihren 
Details  bestimmt  und  geordnet  werden,  dass  sie  als  Beflexbewe- 
gungen  dieser  Centra  zu  betrachten   sind,  welche  durch  den  Beiz 


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127 

veduiltoissmässig  wenig^Tf  vom  großsen  Gehirn  kommender  Fasern  ver- 
ankfiat  .werden,  so  ia^  4er  erste  Bewegongsimpuls  sich  auf  die  centra- 
len Endigupgen  dieser  Fasern  im  grossen  Gehirn  beziehen  muss.  Es 
kann  wohl  sein,  dass  mehrere  solcher  Beflexwirkungen  in  verschie* 
denen  mehr  und  mehr  vom  Gehirn  entfernten  Nervencentris  ein- 
treten, ehe  eine  complicirte  Bewegung  ausgeführt  wird,  dass  z.  B. 
beim  Gehen  zuerst  einige  wenige  Fasern  den  Impuls  vom  grossen 
Gehirn,  wo  der  bewusste  Wille,  zu  gehen,  entsteht;  an  das  kleine 
Gehirn  überbringen,  welches  Organ  die  Coordination  der  grösseren 
Bewegongsgnippen  leiten  soll,  dass  dann  von  hier  eine  grössere 
Asasitl  Fasern  die  Impulse  an  verschiedene  Centra  des  Kücken- 
marke«  übertragen,  und  zuletzt  an  die  Stellen,  wo  die  Schenkel- 
aerren  sich  einsetzen.  Bei  einem  jeden  solchen  Beflexe  i^richt 
das  unbewusste  Wollen  und  Vorstellen  im  specifischen  Bewegungs- 
instinct  des  betreffenden  Centrums  mit,  xmd  so  wird  es  erklärlich, 
wie  80  complicirte  Bew^ungen  ohne  irgend  welche  geistige  An- 
Etrengong  zweckmässig  und  ordnungsmässig  verlaufen.  In  jedem 
Centnun  wird  der  Impuls  als  Beiz  empfunden  und  in  eineu  neuen 
Impuls  omgesetzt,  so  dass  wir  im  strengsten  Sinne  erst  vom  letzten 
Centnun  an  vom  motorischen  Innervationsstrom  sprechen  dürfen. 
Es  frag;t  sich  nun,  wie  der  Wille  im  Stande  ist,  den  Innervations- 
strom zu  erzeugen.  Wir  können  uns  dabei  nur  an  die  Analogien 
der  Terwandten  physikalisch  bekannteren  Ströme  und  an  die  aprio- 
nsche  Yermuthung  halten,  dass  der  ganze  Apparat  des  motorischen 
Nervensystems  doch  wohl  zu  dem  Zweck  in  den  Organismus  ein- 
geschaltet sein  müsse,  dass  dem  Willen  dadurch  ermöglicht  werde, 
die  nöthigen  mechanisohen  Leistungen  durch  die  möglichst  kleinste 
meduuiische  Kraftanstrengung  hervorzubringen,  mit  anderen  Worten, 
dass  das  motorische  Nervensystem  eine  Kraftmaschine  sei,  wie  die 
^inde,  oder  in  passenderem  Vergleich,  wie  das  mauerzertrümmernde 
Gesdiütz,  welches  der  Mensch  nur  abzufeuern  braucht.  Mechanische 
Bewegung  ohne  mechanische  Kraft  hervorzubringen,  das  ist  un- 
iiiuif^,  aber  die  die  Bewegung  einleitende  Kraft  kann  auf  ein 
^finimum  reducirt  weiden,  und  der  übrige  Theil  der  Leistung 
Kräften  übertragen  werden,  welche  vorher  zum  Gebrauche  au%e- 
^chert  sind.  Dies  ist  beim  Geschütz  die  chemische  Kraft  des 
^Ters,  beim  Ihier  die  der  eingenommenen  Nahrungsmittel,  welche 
daher  aoch  zu  den  Ijoistungen  der  Muskelkraft  im  Yerhältniss  stehen 
^öaaen,  wie   die   Menge   des  Pulvers  zur  Kraft   des  Geschosse^ 


L 


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128 

Ohne  jede  xnccbaDisohe  Kraft  aber  sind  die  aufgespeicberten  Kräfte 
nicbt  aus  ibrem  gebundenen  ZuBtande  zu  befVeien,  also  muss  un- 
bedingt der  Wille  zu  mechanischer  Kraftleistung  beflUngt  sein. 
Wäre  aber  die  Grösse  dieser  Kraft  gleichgültig ,  so  könnte  er  ja 
direct  die  Muskeln  in  Bewegung  setzen,  wir  müssen  also  annehmen, 
dass  die  Pointe  beim  motorischen  System  darin  liege,  die  noth- 
wendige  mechanische  Leistung  des  Willens  auf  ein  Minimum  zu 
'reducireo. 

Betrachten  wir  nun  den  wohl  am  nächsten  mit  den  Nerren- 
strömen  verwandten  electrischen  Strom,  so  müssen  wir  zunächst  die 
Entstehungsweise  durch  mechanische  Einflüsse  (wie  Reibung)  oder 
Wärme  ausschliessen,  weil  erstere  gerade  das  Gegentheil  yon  dem 
wäre,  was  wir  suchen,  und  letztere  ebenfalls  in  Schwingungszu- 
ständen  Ton  grösseren  mechanischen  Schwingungsmomenten  der 
Atome  besteht.  Wir  müssen  jedenfalls  absehen  yon  Erzeugungs- 
weisen,  welche  auf  Verschiebung  der  Molecüle  beruhen,  und  una 
an  solche  halten,  welche  nur  eine  Drehung  derselben  erheischen, 
da  ihre  Drehung  unendlich  viel  weniger  Kraftaufwand  erfordert,  als 
die  Verschiebung.  Hier  kommen  uns  die  Erfahrungen  der  Nerven- 
physiologie zu  Hülfe,  welche  zeigen,  dass,  während  der  motorische 
Strom  den  Nerven  durchläuft,  alle  Molecüle  desselben  eine  gleich 
gerichtete  electrische  Polarität  zeigen,  wie  in  Magneten,  während 
im  völlig  indifPerenten  Zustand  (wie  er  freilich  im  Leben  nicht 
vorkommt)  die  Polaritäten  der  Molecüle  durch  einander  liegen,  wie 
im  unmagnetischen  Eisen,  und  dadurch  sich  gegenseitig  neutralisiren« 
Wir  lernen  aus  diesen  Versuchen,  dass  die  Nervenmolecüle  Polari- 
tät besitzen,  und  dass  diese  durch  Drehung  der  Molecüle  in  gleiche 
Bichtung  zur  Geltung  gebracht  werden  kann.  Wie  der  von  einem 
Draht  umgebene  Eisenstab  magnetisch  wird,  sobald  den  Draht  ein 
galvanischer  Strom  durchläuft,  so  würde,  wenn  auf  irgend  welche 
Weise  das  Eisen  plötzlich  magnetisch  würde,  in  dem  Draht  ein 
galvanischer  Strom  hervorgerufen.  Dem  analog  wird  durch  Drehung 
der  Molecüle  in  der  Weise,  dass  ihre  Polaritäten  gleich  gerichtet 
werden,  eine  Nervenströmung  erzeugt.  Wir  sehen  in  der  Phpik, 
dass  die  polaren  Gegensätze  der  Molecüle  die  Grundlagen  aller  der 
Erscheinimgen  sind,  welche  wir  als  chemische,  galvanische,  reibungs' 
electrische,  magnetische  u.  s.  w.  bezeichnen,  so  dürfen  wir  nicht 
zweifeln,  dass  noch  manche  ähnliclie  Erscheinungen  aus  derselben 
entstehen   können,  und  dass  wir  es   mit  solchen  bei  den  Nerven- 


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129 

itrömen  zu  thun  haben.  Die  Brehxmg  der  Molecüle  in  den  Central- 
ft^n  iBt  also  das  MiniTnum  der  mechanischen  Leistung,  welches 
dem  Willen  überlassen  bleibt,  und  die  Polarität  der  Nerven- 
Molecüle  ist  die  aufgespeicherte  mechanische  Kraft,  welche  die 
mechanischen  Leistungen  der  Muskeln  bewirkt,  welche  durch  längere 
Wirksamkeit  sich  erschöpft;  und  durch  den  rhemischen  Stoffersatz 
in  der  Ruhe  wieder  hergestellt  wird.  So  ist  jeder  Orgjmismus 
einer  Dampfinaschine  zu  yergleichen;  er  ist  aber  auch  zugleich 
Heizer  und  Maschinist,  ja  auch  Beparateur,  und  wie  wir  später 
sehen  werden,  sogar  Maschinenbaumeister  seiner  selbst. 

Weil  die  Verschiebbarkeit  der  Molecüle  in  jeder  Beziehung  im 
flüssigen  Aggregatzustande  grösser  ist,  als  in  festem,  darum  sind 
die  Nerven  halbflüssige  Massen,  weil  aber  in  Flüssigkeiten  bei 
finsseren  Erschütterungen  kein  Molecüle  seinen  Platz  behält,  sondern 
Alles  durcheinander  läuft,  darum  sind  die  Nerven  nicht  ganz 
flüssig,  und  darum  eignen  sich  zu  Wirkungen,  welche  die  Nerven- 
wirkung ersetzen,  die  Gebilde  um  so  mehr,  je  mehr  sie  eine  solche 
halbflüssige  Beschaffenheit  bei  polarischen  Eigenschaften  ihrer 
Molecüle  besitzen.  Daher  eignen  sich  dazu  die  gallertartigen  Kör-* 
pttder  niederen  Wasserthiere ,  femer  alle  thierischen  Keime,  die 
Eischeibe,  die  früheren  Embryozustände  und  das  aus  plastischer 
Flüssigkeit  geronnene  Neoplasma,  aus  dem  alle  Neubildungen  der 
Heilkraft  hervorgehen.  Bei  der  Einfachheit  aller  letzten  Principien 
in  der  Natur  dürfen  wir  nicht  daran  zweifeln,  dass  auch  alle  an- 
deren Wirkungen  des  bewussten  oder  unbewussten  Willens  in  der 
organischen  Natur  auf  demselben  Princip  der  Molecularpolarisation  be- 
ruhen, zumal  da  die  Beschaffenheit  der  Gebilde,  in  denen  der  Wille 
sieh  am  unmittelbarsten  manifestirt,  wie  wir  sehen,  diese  Yoraussetzung 
bestätigt.  So  können  wir  uns  namentlich  das  Eingreifen  des  Willens 
in  chemische  Yorgänge,  wie  bei  Neubildungen  aus  Neoplasma  oder 
im  Embryo,  gar  nicht  anders  vorstellen,  als  in  einer  geschickten 
Benutzung  der  Polarität  der  vorgefundenen  Molecüle  theils  in  dem 
Herde  der  Bildung  selbst,  theils  durch  dahin  geleitete  Ströme,  die 
«n  anderen  Stellen  erzeugt  sind.  Wir  erheben  uns  hiermit  zugleich 
^er  die  Ansicht,  dass  ausschliesslich  die  Nerven  das  Organ 
•eien,  welches  die  Fähigkeit  besitze,  Eindrücke  des  Willens  aufzu- 
ndimen,  über  welche  so  viel  hin  und  her  gestritten  worden  ist. 
Sowohl  die  Analogien  nervenloser  TMere,  als  das  Neoplasma  und 
Embryo   beweisen   die  Möglichkeit    einer  Willenseinwirkung   und 

T.  Hartmaiui,  Plul.  d.  ünbewiisiteii.  9 


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180 

Sensibilität  ohne  Keiren,  dodi  sehliesst  dieee  Ansicht  nicht  aofl^ 
dass  die  Nerven  die,  soweit  nns  bekannt»  höchste  Form  yon  Gebilde 
sind;  welche  sich  der  Wille  zur  Bequemlichkeit  seines  Wirkens 
geschaffen  hat,  und  dass  der  mit  Nerven  ausgerüstete  Organismus 
so  wenig  die  Yermittelung  seiner  Willensäusserungen  durch  die 
Nerven  umgehen  würde,  wie  Jemand  querfeldüber  fährt;  statt  aaf 
der  Cäiaussee.  Ausserdem  ist  aus  Obigem  klar,  dass  die  Willen»- 
macht  des  Individuums  bei  derselben  Anstrengung  unendlich  viel 
weniger  leisten  könnte,  stände  ihm  nicht  die  Kraftmaschine  des 
Nervensystemes  zu  Gebote;  doch  möchte  es  sehr  bedenklich  schei- 
nen; für  den  einzelnen  Fall  eine  Grenze  zu  ziehen,  wie  weit  die 
Leistungsfähigkeit  des  Willens  ohne  Hülfe  der  Nerven  reichen 
könne,  da  die  Intensität  des  Wollens  in  einseitiger  Richtung  und 
auf  kurze  Zeit  den  Mangel  an  Hülfsmitteln  bisweilen  in  hohem 
Grade  ersetzen  kann.  Ich  will  nicht  auf  Beispiele  der  Magie  (Ab- 
lenkung der  Magnetnadel  durch  den  blossen  Willen  des  Magnetiseuis 
u.  dgl.)  verweisen,  weil  sie  zu  wissenschaftlichen  Gründen  stärkerer 
Beglaubigung  bedürften,  aber  verschiedene  Umstände  beweisen  deut- 
lich genug,  dass  die  Wirkungssphäre  des  Willens,  sowie  der  Sen- 
sibilität auch  im  Menschen  über  die  Nerven  hinausreidit;  z.  B.  da» 
plötzliche  Ergrauen  der  Haare  nach  heftigen  Affecten,  die  Verthw- 
lung  der  motorischen  Nervenfasern  in  den  Muskeln,  wonach  die 
Muskelfasern  selbst  Leiter  des  motorischen  Stromes  zu  ihren  Nach- 
barn sein  müssen,  die  Empfindlichkeit  der  Haut  an  ihrer  ganzen 
Oberfläche,  während  die  Tastwärzchen  doch  nur  hier  und  da  unter 
ihr  liegen,  die  Wirkimg  der  Nerven  auf  die  secemirenden  BLäute  in 
ihrer  ganzen  Ausdehnung,  während  die  Nerven  doch  nur  beschränkte 
Theile  berühren  können,  femer  der  Umstand,  dass  auch  nervenlöse 
Theile  des  menschlichen  Körpers  empfindlich  und  schmerzhaft  werden 
können,  sobald  bei  verstärktem  Blutandrange  und  Auflockerung  des 
Gewebes  ihre  Lebendigkeit,  d.  h.  die  Yerschiebbarkeit  und  Folarit$t 
ihrer  Molecüle  erhöht  ist;  so  ist  z.  B.  das  in  heilenden  Wunden 
gebildete  junge  Fleisch  ohne  alle  Nerven  höchst  empfindlich  und 
eine  Entzündung  der  nervenlosen  Knorpel  und  Sehnen  ist  sogar  viel 
schmerzhafter;  als  eine  Entzündung  der  Nerven  selbst;  jondlich  s^* 
gen  auch  Beispiele  der  embryonischen  Missbildungen,  dass  Theile 
ohne  Mitwirkung  der  dazu  hinführenden  Nerven  gebildet  werden 
können;  z.  B.  Schädelknochen  ohne  Gehirn,  Bück^imarksnerven 
ohne  Rückenmark. 


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b.   ¥nileii8iir5Me  in  sensIMeii  NervM. 

Eine  Art  Yon  IniiervationsBtroin  haben  wir  sohon  früher  als 
Reflex¥rirkiiBg  der  Aufmerksamkeit  keimen  gelernt.  Diese  kann 
aber  eben  so  gai  willkürlich  herrorgemfen,  resp.  verstärkt  werden. 
Eine  gespannt  anf  die  genitale  Sphäre  gerichtete  Aufmerksamkeit 
kann  die  grösate  geschlechtliche  Aufregung  zur  Folge  haben,  und 
flypochondristen  fühlen  bisweilen  Schmerzen  in  jedem  Xörpertheil, 
auf  den  sie  ihre  Aufmerksamkeit  richten.  Nicht  selten  soll  es 
Toi^ommen,  dass  zu  Operirende  den  Schmerz  des  Stiches  zu  fühlen 
glauben,  noch  ehe  das  Instrument  des  Operateurs  sie  wirklich  be- 
rührt hat.  Wenn  man  bei  geschlossenen  Augen  den  Einger  lang- 
sam zur  Nasenspitze  führt,  und  vor  der  Berührung  sehr  allmälig 
nähert,  so  fühlt  man  in  der  Nasenspitze  die  Berührung  als  deutlich 
wahrnehmbares  Kribbeln  im  Voraus ;  wenn  ich  die  Aufrntrksamkeit 
angestrengt  auf  meine  Fingerspitzen  richte,  so  spüre  ich  dieselben 
deutlich,  ebenfalls  als  eine  Art  von  Kribbeln.  In  allen  diesen 
Fällen  bewirkt  offenbar  die  Gehimvorstellung  von  der  zu  erwarten- 

h  den  Empfindung,  verbunden  mit  der  auf  diese  Nerven  gerichteten 
Aufmerksamkeit,  einen  peripherischen  Strom,  der  von  der  Peripherie 

I  tum  Centrum  als  Empfindungsstrom  zurückkehrt,  sei  es  nun,  dass, 
wie  in  den  ersten  Beispielen,  die  Empfindung  wesentlich  erst  durch 
clen  centrifugalen  Strom  erzeugt  wird,  sei  es,  dass  derselbe,  wie  bei 
dem  letzten  Beispiel,  nur  die  stets  voriiandenen,  für  gewöhnlich 
aber  unmerklich  schwachen  Reize  verstärkt.  Der  erste  Fall  findet 
auch  bei  jeder  sinnlichen  Vorstellung  ohne  Sinneseindruck  statt; 
die  Lebhaftigkeit  der  Vorstellung  hängt  von  der  Stärke  des  peri- 
pherischen Nervenstromes  ab,  und  diese  theils  von  dem  Interesse 
(Willensbetheiligung)  an  der  Vorstellung,  theils  von  individueller 
Anlage.  Es  giebt  Personen,  welche  durch  willkürliche  Anstrengung 
sieh  Gesichtsbilder,  z.  B.  eines  Freundes,  fast  bis  zur  Deutlichkeit 
einer  Vision  hervorrufen  können.  Bei  anderen  bleiben  die  Bilder 
immer  nur  blass.  Ist  der  Willensstrom  unbewusst  entstanden,  so 
>tdlt  sich  bei  genügender  Lebhaftigkeit  der  rückkehrende  Empfin- 
dongsstrom  als  Vision  dar,  genau  wie  in  jedem  Traum.  Ich  glaube 
^haU),  dass  es  keine  sinnlich  anschauliche  VorstellujQg  im  Gehirn 
P^bt,  die  nicht  mit  einem  Innervationsstrom  nach  dem  betreffenden 
Sinnesorgan  verbunden  ist,  wenn  derselbe  auch  für  gewöhnlich  nicht 
weit  über   die  centrale  Endigung   der  Oi^annerven  hinausreichen 


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132  ^ 

mag.  Ich  glaube  dies  daraus  schliessen  zu  dürfen,  dctös  die  Vision 
von  der  sinnlichen  Vorstellung  nur  dem  Grade  nach  verschieden 
ist,  also  auch  ihre  Entstehungsweise  nur  dem  Grade  nach  verschie- 
den sein  wird. —  Auch  darf  man  annehmen,  dass  der  Innervations- 
ström  desto  weiter  von  dem  Centrum  nach  der  Peripherie  hinaus- 
strahlt;  und  dem  Sinnesorgan  selbst  um  so  näher  rückt,  je  lebhafter 
die  sinnlichen  Vorstellungen  vorgestellt  werden;  denn  tmdeutlioh 
und  schwach  vorstellende  Personen  fühlen  bei  der  Anstrengimg  der 
Aufmerksamkeit  die  Spannung  (welche  freilich  nur  reflectorische 
Spannung  der  Hautmuskeln  ist)  oben  auf  dem  Kopfe ;  je  grösser  das 
sinnliche  Vorstellungsvermögen  ist,  desto  mehr  rückt  bei  Gesichts- 
vorstellungen dieses  Spannnungsgefühl  nach  der  Stirn  herunter,  und 
fällt  beim  höchsten  Grade  in  die  Augen  selbst,  so  dass  sich  diese 
nach  anhaltend  scharfem  Vorstellen  gerade  so  angegriffen  fühlen, 
wie  nach  längerem  Sehen. 

c.   Der  maonetische  NerveistroM. 

Die  Grunderscheinungen  des  Mesmerismus  oder  thierischen 
Magnetismus  sind  nachgerade  als  von  der  Wissenschaft  anerkannt 
zu  betrachten.  Die  electrischen  Entladungen  des  eleotrischen 
Rechens  und  Aales  waren  schon  längst  bekannt,  und  die  Erkennt- 
niss,  dass  diese  Wirkungen  von  der  grauen  !N^ervenmasse  ausgingen, 
gab  die  Veranlassung,  diese  überhaupt  als  die  Centraltheile  des 
Nervensystems  zu  betrachten.  Trotzdem  sträubte  man  sich  lange 
dagegen,  die  ganz  analogen  Wirkungen  der  Magnetiseure  zuzugeben, 
weil  sie  im  Ganzen  zu  schwach  waren,  um  dem  Physiker  direct 
wahrnehmbar  zu  werden.  Indess  habe  ich  diesem  Experiment 
mehrfach  beigewohnt  und  mich  durch  die  sorgMtigste  Untersuchung 
der  Localität  wie  der  Person  des  Hagnetiseurs  gegen  jede  Täuschung 
gesichert.  Wenn  man  nämlich  den  Menschen  auf  ein  eisernes 
Bettgestell  mit  Drahtmatratze  legt,  aber  so,  dass  er  durch  eine 
wollene  Decke  von  dem  Metall  isolirt  ist,  so  erzeugt  man  gewisser- 
massen  eine  Leidener  Flasche,  deren  eine  Belegung  das  Bettgestell, 
deren  andere  der  darauf  liegende  Mensch  ist,  imd  durch  das  Zu- 
sammenströmen (Influenz)  der  Electricität  des  Bettes  nach  der  iso- 
lirenden  Fläche  hin  wird  die  electrische  Wirkung  des  Magnetisirens 
bedeutend  potenzirt.  Ich  habe  mich  auf  die  Weise  magnetisiren 
lassen  und  deutlich  ein  empfindlich  prickelndes  Funkenspröhen  von 
der  leicht  geführten  Hand  des  Magnetiseurs  zu  meiner  Haut  gespürt 


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133 

gerade  bo,  als  ob  durch  seine  BerUhrung  die  Kette  eines  schwachen 
Indnetionsstromes  oder  einer  gleiehmässig  gedrehten  Electrisir- 
maschine  geschlossen  würde ^  aber  unregelmässiger,  je  nach  der 
augenblicklichen  Anstrengung  des  Magnetiseurs.  Wer  das  Gefühl 
kennt»  wird  wissen,  dass  eine  Yerwechselung  der  Empfindung  kaum 
möglich  ist.  Kennt  man  auf  diese  Weise  einmal  die  durch  das 
Magnetisiren  herbeigeführte  Hautempfindung,  so  kann  man  auch 
ohne  weiteren  Vorbereitungen  die  Berührung  einer  magnetisiren- 
den  Hand  bei  genügender  Stärke  des  Agens  mit  Sicherheit  von 
einer  nicht  magneti sirenden  Berührung  unterscheiden,  wie  ich  bei 
mir  zufällige  Gelegenheit  gehabt  habe  zu  beobachten.  Abgesehen 
Ton  der  künstlichen  Erhöhung  der  electrischen  Wirkung,  ist  auch 
die  nervenstärkende  und  belebende,  alle  vitalen  Functionen  an- 
feuCTnde  Macht  des  Mesmerismus  bekannt,  sowie  die  Herbeiführung 
Ton  heilsamem  Schlaf  und  Elrisen  in  demselben.  Wenn  auch  die 
Electricität  bei  diesen  Erscheinungen  nur  ein  begleitender  Umstand 
oder  eine  peripherische  Verwandlung  der  eigentlichen  magnetischen 
Kraft  sein  mag,  so  ist  diese  doch  jedenfalls  mit  diesen  physikalischen 
Kräften  und  dem  motorischen  Nervenstrom  verwandt,  und  entsteht 
vermuthlich  wie  letztere  durch  Aenderung  der  polarischen  Lage  der 
Molecüle  in  den  Centris.  Sie  ist  wie  die  Bewegung  eine  indirecte 
Wirkung  des  bewussten  Willens  (bisweilen  auch  bei  Handauflegen 
der  Heiligen,  Wundercuren  u.  s.  w.  ganz  iinbewusst),  was  er  aber 
eigentlich,  d.  h.  direct  thut,  und  wie  er  es  macht,  weiss  der  Magne- 
üseor  beim  Magnetisiren  so  wenig,  als  beim  Aufheben  seines 
Armes.  Es  tritt  also  hier,  wie  dort  und  überall  die  Vermittelung 
eines  unbewussten  Willens  dazwischen,  welcher  bewirkt,  dass  gerade 
ein  magnetiBcher  Strom  und  kein  anderer  entsteht,  und  dass  dieser 
gerade  nach  den  Etiinden  hin,  und  nicht  nach  irgend  einem  anderen 
Körpertheile,  sich  concentrirt.  (Vgl.  zum  Kennenlernen  des  betref- 
fenden Erscheinungsgebietes  in  weiterem  Umfange:  Beichenbach's 
odisch- magnetische  Briefe). 

d.  Die  vegetativen  Functionen. 

Allen  yegetatiyen  Functionen  des  Organismus  stehen  wahr- 
scheinlich sympathische  Nervenfasern  vor.  Der  bewusste  Wille 
hat  auf  sie  keinen  directen  Einfluss,  wir  haben  aber  gesehen,  dass 
dies  auch  bei  den  motorischen  und  sensiblen  Fasern  nicht  der  Fall 
ist,  Bondem  dass  das  direct  Wirkende  allemal  ein  unbewusster  Wille 


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ist.  Wenn  nun  der  bewusßte  Wille  überhaupt  einen  EinfluBs  auf 
yegetatiye  Functionen  hat,  so  ist  die  IJebereinstimmung  da,  und  der 
Unterschied  kann  nur  in  dem  Grade  der  Leichtigkeit  liegen,  mit 
welcher  durch  den  bewussten  Willen  irgend  einer  Wirkung  der 
unbewusste  Wille  2um  Setzen  der  Mittel  zu  dieser  Wirkung  her- 
vorgerufen wird.  Also  z.  B. :  Wenn  ich  eine  stärkere  Hundspeichel- 
absonderung will ,  so  ruft  der  bewusste  Wille  dieser  Wirkung  den 
unbewussten  Willen  zum  Setzen  der  nöthigen  Mittel  hervor,  näm- 
Hch  er  erzeugt  von  den  gangliösen  Endigungen  der  zu  den  Mund- 
speicheldrüsen führenden  sympathischen  Fasern  aus  solche  Ströme 
in  denselben,  welche  die  beabsichtigte  Wirkung  hervorbrmgen. 
Dies  Experiment  wird  so  ziemlich  Jedem  gelingen.  Aehnlich  ist 
das  Yerhalten  in  den  Absonderungen  der  Genitalsphäre  dem  be- 
wussten Willen  unterworfen,  was  in  Verbindung  mit  der  oben  er- 
wähnten willkürlichen  Erregung  der  betreffenden  sensiblen  Nerven 
bei  reizbaren  Personen  bis  zur  Ejaculation  ohne  mechanischen  Beil 
führen  kann.  Mütter  sollen,  wenn  der  Anblick  des  Kindes  in  ihnen 
den  Willen  zum  Säugen  erweckt,  durch  diesen  Willen  eine  reich- 
lichere Milchabsonderung  bewirken  köuDen.  Die  Fähigkeit  mancher 
Personen ,  willkürlich  zu  erröthen  und  zu  erblassen ,  ist  bekannt, 
namentlich  bei  coquetten  Frauenzimmern,  die  darauf  stndiren,  und 
ebenso  giebt  es  Leute,  welche  willkürlich  Schweiss  hervorrufrai 
können.  Ich  besitze  die  Macht,  durch  meinen  blossen  Willen  den 
stärksten  Schlucken  momentan  zum  Schweigen  zu  bringen,  während 
er  mich  äüher  viel  incommodirte  und  häufig  allen  üblichen  Mitteln 
nicht  weichen  wollte.  Dass  man  einen  Schmerz,  z.  B.  Zahnschmers, 
mitunter  durch  energischen  Willen,  ihn  zu  bekämpfen,  lindem  odtf 
zum  Aufhören  bringen  kann,  ist  bekannt,  trotzdem  dass  durch  die 
dabei  nöthige  Aufinerksamkeit  der  Schmerz  zunächst  gesteigert 
wird.  Ebenso  kann  man  durch  den  Willen  einen  Hustenreiz,  der 
keine  mechanische  Veranlassung  hat,  dauernd  unterdrücken.  Von 
jeher  hat  es  Leute  gegeben,  die  über  ihren  Körper  eine  wunder- 
bare Macht  ausübten,  theils  Gaukler,  theils  solche,  die  ihren  Willen 
auch  nach  anderen  Kichtungen  sehr  ausgebildet  hatten,  Philosophen, 
Magier  und  Büsser.  Ich  glaube  nach  diesen  Erscheinungen,  dass 
man  eine  weit  grössere  willkürliche  Macht  über  seine  Kö^pe^ 
fiinctionen  besitzen  würde,  wenn  man  nur  von  Kind  auf  so  viel 
V(iranlas8ung  hätte,  darin  Versuche  und  üebungen  anzustellen,  wie 
man  es    mit  Muskelbewegungen   und  Vorstellungsbildem  genötihigt 


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136_ 

ist  Denn  als  Kind  weiss  man  so  wenig,  wie  man  es  anfangeii 
«oll,  am  den  Löffel  zum  Monde  zd  fuhren,  als  um  die  Speichel- 
abflouderung  zu  vermehren.  Daneben  ist  jedoch  keineswegs  zu 
Terkeonen,  dass  die  Verknüpfung  des  bewussten  und  unbewussten 
Willens  in  diesem  Gebiete  absichtlich  erschwert  ist,  weil  die  be- 
wußte Willkür  im  Allgemeinen  an  den  vegetativen  Functionen  nur 
verderben  und  nichts  bessern  würde,  und  durch  dieses  Gebiet  von 
«einer  eigentlichen  Sphäre  des  Denkem  und  Handelns  nach  Aussen 
oimätz  abgelenkt  würde. 

2.    Der  TfSlTiflnwi  der  bewussten  Vorstellung. 

Die  bewusete  Vorstellung  einer  bestimmten  Wirkung  kann  oft 
ohne  den  bewussten  Willen  dazu  den  unbewussten  Willen  zum 
Setzen  der  Mittel  hervorrufen,  so  dass  dann  die  Verwirklichung 
der  bewussten  Vorstellung  unwillkürlich  erscheint.  Die  Physiologie, 
welche  diese  Thatsachen  berücksichtigen  muss,  aber  den  Begriff  des 
unbewussten  Willens  nicht  kennt,  sieht  sich  zu  der  ungereimten 
Behauptung  veranlasst,  daas  die  blosse  Vorstellung  ohne  Willen 
Ursache  eines  äusseren  Vorganges  werden  könne.  Wenn  man  aber 
dies  überlegt,  so  findet  man,  dass  hierbei  in  der  That  nichts  gesagt 
ist,  als  dass  der  Begriff  Vorstellung  in  diesen  Fällen  unvermerkt 
nm  den  Begriff  unbewussten  Willen  erweitert  sei,  wie  dies  Cap.  IV. 
6.  86  —  87  erörtert  ist.  Ich  thue  also  nichts,  als  dass  ich  diese 
unvermerkte  Erweiterung  des  Begriffes  Vorstellung  beim  rechten 
Kamen  nenne,  und  als  selbstständiges  Glied  im  Process  hinstelle, 
da  es  doch  unstatthaft  erscheinen  muss,  in  einen  schon  fixirten 
Begriff  die  Merkmale  eines  anderen  ebenfalls  fixirten  Begriffes  noch 
zu  den  seinigen  dazu  hineinzuschachteln. 

In  erster  Reihe  stehen  alle  Geberden  und  Mienen  im  weitesten 
Sinne  genommen.  Hier  liegt  in  der  Vorstellung,  welche  die  Miene 
herrorruft,  nicht  einmal  die  Wirkung,  geschweige  denn  die  Mittel 
dazu,  eingeschlossen,  sondern  die  Geherden  erscheinen  durchaus  als 
Beflezwirknngen,  so  nothwendig  und  übereinstimmend  in  allen 
Individuen  erfolgen  sie.  Wie  zweckmässig  sie  sind,  liegt  wohl  auf 
der  Hand,  denn  ohne  die  Nothwendigkeit  und  Allgemeinheit  der 
Oeberden  würde  Niemand  sie  verstehen,  und  ohne  vorheirgehende 
Yerstaadigung  durch  Geberden  würde  nie  eine  Wortsprache  möglich 
geworden  sein,  und  würden  die  stummen  Thiere  jedes  Versttfndi- 


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136 

gungsmittels,  selbst  die  stimmbegabten  des  bei  Weitem  grössten 
Theiles  ihrer  Sprache  entbehren.  Aber  auch  bei  Henschen  halten 
wir  uns  jetzt  noch,  wo  wir  der  Rede  misstranen,  an  den  Aosdruck 
des  Bedenden.  Ich  überhebe  mich  einer  Aufzahlung  der  einschla- 
genden Erscheinungen,  die  überall  nachzulesen  sind,  —  Die  zweite 
Gruppe  der  Erscheinungen  bilden  die  Nachahmungsbew^ungen,  die 
offenbar  ebenfalls  Reflexwirkungen  sind.  Wenn  wir  einen  Redner 
heftig  declamiren  sehen,  oder  wenn  wir  ein  Duell,  ein  Fechten, 
einen  kühnen  Sprung,  einen  Tanzenden  mit  ansehen,  und  bei  der 
Sache  lebhaft  betheiligt  sind,  so  machen  wir  ähnliche  Bew^:ungen 
mit,  wie  es  uns  gerade  unsere  Positur  erlaubt,  oder  fühlen  doch 
den  Drang  zu  ähnlichen  Bewegtmgen ,  wenn  wir  ihn  auch  unter- 
drücken. Ebenso  singt  der  natürliche  Mensch  gern  die  Melodie  mit, 
die  er  spielen  hört.  Wenn  man  Jemand  gähnen  sieht,  so  ist  es 
sehr  schwer,  das  Gähnen  selbst  zu  unterdrücken,  und  auch  umfang- 
reichere Krämpfe,  wie  Veitstanz,  Epilepsie,  wirken  oft  durdi  den 
blossen  Anblick  auf  reizbare  Personen  ansteckend.  Da  in  allen 
diesen  Fällen  nicht  materieller  Einfluss  die  Vermittelung  über- 
nimmt, so  kann  es  nur  die  Vorstellung  dieser  Bewegungen  sein, 
welche  durch  den  Anblick  so  lebhaft  erregt  wird,  dass  sie  den  un- 
bewussten  Willen  zur  Ausführung  erweckt.  Indem  dieser  Prooess 
innerhalb  eines  Nervencentrums  vorgeht,  auch  wohl  der  letzte  Aus- 
führungswille in  diesem  Centrum  bewusst  wird,  gehört  er  unter  den 
Begriff  Reflexbewegung. 

Die  nächste  Gruppe  enthält  den  Einfluss  bewusster  Vorstel- 
lung auf  vegetative  Functionen.  Die  Einflüsse  der  verschieden- 
artigsten Gemüthsbewegungen  auf  Absonderungsfunctionen  sind  be- 
kannt (z.  B.  Aerger  und  Zorn  auf  Galle  und  Milch,  Schreck  auf 
Harn  und  Stuhlgang,  wollüstige  Bilder  auf  den  Samen  u.  s.  w.). 
Die  Vorstelltmg,  Arzneimittel  (z.  B.  Laxantia)  genommen  zu  haben, 
wirkt  oft  ebenso  wie  die  Arzneimittel  selbst;  die  Einbildung,  ver- 
giftet zu  sein,  kann  die  Symptome  der  Vergiftung  wirklich  hervor- 
rufen; viele  christliche  Schwärmer  haben  an  den  Tagen  der  Mär- 
tyrer die  Schmerzen  derselben  wirklich  gefühlt,  wie  ja  auch 
Hypochondristen  die  Krankheiten  wirklich  fühlen,  welche  zu  haben 
sie  sich  vorstellen,  und  wie  junge  Mediciner  bisweilen  alle  mög- 
lichen K^pankheiten  zu  haben  glauben,  von  denen  sie  hören  (nament- 
lich wird  dies  in  auffallendem  Maasse  von  einem  Schüler  Boerhave's 
erzählt,   der  deshalb   auch   das   Studiiim  verlassen  musste).     Das 


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137 

ncherste  Mittel,  von  einer  ansteckenden  Krankheit  befallen  zu 
werden,  ißt,  wenn  man  sich  vor  ihr  fürchtet,  während  der  Arzt  auf 
einer  solchen  Station  selten  davon  befallen  wird.  Die  lebhafte 
Furcht  und  Vorstellung  der  Krankheit  kann  allein  zum  Entstehen 
derselben  ohne  jede  Ansteckung  genügen,  besonders  wenn  sie  durch 
den  Schreck  potenzirt  wird,  in  Gefahr  gerathen  zu  sein.  Durch 
das  ganze  Mittelalter  hindurch  ziehen  sich  die  Berichte  von  Wund- 
malen und  Blutungen  an  ascetischen  Schwärmerinnen,  und  wir  haben 
keine  Ursache,  diesen  Nachrichten  Glauben  zu  versagen,  wenn  ein 
deutscher  und  ein  italienischer  Arzt  dieses  Jahrhunderts  das  frei- 
willige Bluten  ^zu  gewissen  Zeiten  als  Augenzeugen  bestätigen. 
(Siehe  Salzburger  Medicinische  Zeitung  von  1814.  I.  145 — 158  u. 
n.  17 — 26:  „Nachricht  von  einer  ungewöhnlichen  Erscheinung  bei 
einer  mehrjährigen  Kranken"  vom  Medicinalrath  und  Professor 
T.  Ihuffel  zu  Münster.)  Warum  sollen  auch  nicht  Blutgefässe,  wenn 
sie  das  Erröthen  gestatten  und  gelegentlich  blutigen  Schweiss  ent- 
stehen lassen,  sich  soweit  ausdehnen,  dass  Blutung  durch  die  Haut 
entstehe?  Aehnliche  Fälle  konmien  auch  im  profanen  Leben  vor. 
Ennemoser  berichtet  eine  als  völlig  beglaubigt  bezeichnete  Geschichte, 
wo  die  Streiche  eines  zur  Spiessruthenstrafe  verurtheilten  Soldaten 
am  Leibe  seiner  Schwester  sich  durch  Schmerzen  und  äussere  Haut- 
xeichen  gezeigt  haben  sollen.  Das  viel  bezweifelte  Versehen 
der  Schwangeren  gehört  ebenfalls  hierher.  Die  meisten  Physiologen 
verwerfen  ohne  Weiteres  die  Thatsachen,  weil  sie  sie  nicht  erklären 
können;  Burdach,  Baer  (der  ein  Beispiel  von  seiner  Schwester  er- 
zahlt), Budge,  Bergmann,  Hagen  (letztere  Beide  in  Wagner*s  Hand- 
wörterbuch) erkennen  die  Thatsachen  durchaus  an,  Valentin  stellt 
wenigstens  ihre  Möglichkeit  im  Allgemeinen  nicht  in  Abrede,  J.  Müller 
giebt  das  Versehen  der  Schwangeren  zu,  insoweit  es  nur  Henamungs- 
bildimgen  hervorbringen  soll,  aber  nicht  insofern  es  Verände- 
rungen auf  bestimmten  Theilen  des  Körpers  hervorrufen  soll.  Nun 
ist  aber  einestheils  fast  jede  Hemmungsbildung  eine  bloss  partielle, 
und  andererseits  haben  wir  so  viel  Beispiele  sowohl  von  Vererbung 
ganz  partieller  Abzeichen,  derMuttermäler,  als  auch  von  ganz  partiellen 
Veränderungen  am  eigenen  Körper  (wie  eingebildete  Wirkung  von 
Giften  oder  Arzneien,  Wundmale  der  Stigmatisirten) ,  dass  kein 
Grund  vorliegt,  an  solchen  ganz  partiellen  Einwirkungen  der  Mutter- 
eeele  auf  die  Fötusseele  zu  zweifeln,  welche  letztere  ja  noch  ganz 
in  das  organische  Bilden  versenkt  ist.     Lidem  ich  so  die  Thatsache 


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Toni  Vorsehen  der  Sohwangeren  anerkenne,  bezweifle  ich  keines^ 
iregäj  dosB  neun  Zehntel  derartiger  Erzählungen  Unsinn  sind,  aber 
etreng  genommen  wären  ganz  wenige  beglaubigte  Fälle  genügend. 
An  die  Entstehung  Ton  Yergiftungssymptomen  nach  eingebildeter 
Vßrgii'tung  und  Arznei  Wirkung,  ohne  sie  genommen  zu  haben, 
schüet^stn  sich  eine  grosse  Zahl  der  sympathetischen  oder  Wunde^ 
euren  an.  Wie  dort  die  Vorstellung  der  Wirkung  den  unbewussten 
Will*^n  Äum  Setzen  der  Mittel  und  dadurch  die  Wirkung  selbst 
hanrorruft,  ebenso  auch  hier.  Das  Eigenthümliche  daran  ist  die  Frage, 
auf  welche  Art  durch  die  Vorstellung  der  Wirkung  das  unbewusste 
Wollen  der  Mittel  bewirkt  werde.  Das  bewusste  Wollen  der  Wir- 
kung Bobeint  nicht  wesentlich,  denn  beim  Versehen  der  Schwangeren 
und  bei  dem  Eintreten  der  Wirkungen,  die  man  sogar  fürobtet^ 
kann  doch  der  bewusste  Wille  nur  dagegen  und  nicht  dafiir  sein, 
und  deimoch  tritt  der  unbewusste  Wille  und  die  Wirkung  ein. 
Dagegen  ist  ein  anderes  Moment  imentbchrlich  bei  demjenigen  Theil 
der  Erscheinungen,  die  vom  eigenen  Willen  des  Individumnß 
ausgehen,  und  nicht  (wie  bei  Mutter  und  Fötus)  durch  einen  frem- 
den Willen  magisch  hervorgerufen  werden,, nämlich  der  Glaube  an 
dan  Eintreten  der  Wirkung;  denn  wie  Paracelsus  wunderschön  sagt: 
„Der  Glaube  ist's,  der  den  Willen  beschleusst."  Wo  deshalb  der 
büwuBste  Wille  mit  dem  Glauben  an  seine  eigene  Macht  des  Wider- 
standes opponirt,  da  ruft  dieser  Glaube  einen  unbewussten  Willen 
hervor,  welcher  die  Wirkung  der  ersten  Vorstellung  verhindert 
E»  kommt  dabei  nur  darauf  an,  welcher  Glaube  stärker  ist,  der  an 
das  Eintreten  der  Wirkung,  oder  der  an  die  eigene  Widerstands- 
kraft, je  nachdem  neigt  sich  auch  der  unbewusste  Wille  auf  die 
eine  oder  die  andere  Seite.  Die  Kunst  bei  solchen  Curen  ist  also 
nur  die,  den  Glauben  an  das  Gelingen  einzuflössen,  und  weil  die 
Meneehen  diesen  Zusammenhang  nicht  kennen,  auch  der  daraus 
hervorgehende  Glaube  vielleicht  zu  schwach  zur  Wirkung  wäre, 
tu  US«  der  Aberglauben  den  Glauben  schaffen  und  dazu  dient  allerlei 
Hocuö  Pocus.  Vom  unbewussten  Willen  gilt  buchstäblich  das  Wort: 
„Ja  mehr  Willen,  je  mehr  Macht'',  \ind  das  ist  der  Schlüssel  zur  Magie. 


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j 


vin. 
Das  Unbewnsste  im  organischen  Bilden. 


Wir  kaben  schon  in  den  vorigen  beiden  Absohnitten  bisweilen 
nicht  nmhin  gekonnt,  den  Inhalt  dieses  Gapitels  zu  anticipiren. 
Dies  liegt  daran^  weil  die  nacheinander  behandelten  G^enstände  mit 
dem  Bildungstrieb  so  innig  yerwachsen,  ja  Eines  und  Dasselbe  sind, 
dan  bei  dem  Versuch  eines  scheinbaren  Auseinanderhaltens  ein 
grosser  Theil  der  schlagendsten  Erscheinungen  ganz  unberücksichtigt 
hätte  bleiben  müssen.  Wir  haben  gesehen,  dass  der  allgemeinste 
hegrifliche  Ausdruck,  unter  den  man  alle  diese  Gebiete  zusammen 
fiuflen  kann,  der  des  Instinctes  ist ;  aber  ebenso  gut  kann  man  fast 
lUe  als  Keflexwirkungen  aufpassen,  denn  ein  äusseres  Motiv  zum 
Handeln  muss  immer  yorhandeD  »ein,  und  die  Handlung  erfolgt  auf 
dieses  Motiv  mit  Nothwendigkeit,  also  reflectorisch,  wenn  auch  erst 
mttelbar  durch  verschiedene  Reflectionen  vermittelt.  Eben  so  g\it 
kann  man  aber  auch  alle  diese  Erscheinungen  als  Wirkungen  der 
Katnrheilkraft  ansehen,  denn  nur  wo  dass  äussere  Motiv  ein  frem- 
der, widerstrebender  Stoff  ist,  kann  es  als  Motiv  wirken,  sonst  lässt 
es  indifferent;  die  Bewältigung  des  Materials  ist  aber  ein  Act  der 
Natoheilkraft.  Das  Eigenthümliche  des  Bildungstriebes  wäre  zu 
tetsen  üi  die  Verwirklichung  der  typischen  Idee  der  Gattung  auf 
der  ihr  in  jedem  Lebensalter  zukonunenden  Stufe,  während  die 
laturheilkraft  in  der  Selbsterhaltung  der  verwirklichten  Idee  be- 
stände. Man  sieht  aber,  dass  einerseits  die  Abwehr  einer  Störung 
Bur  durch  Neubildung  möglich  ist,  d.  h.  dass  die  Selbsterhaltung 
der  verwirklichten  Idee  nicht  möglich  ist,  als  durch  gleichzeitige 
Sntwickelung,  also  Verwirklichung  einer  neuen  Stufe  der  Idee,  dass 
Andererseits  die  Verwirklichung  einer  neuen  Stufe  der  Idee  nur  in 
einer  Eeihe  von  Kämpfen  und  Selbsterhaltungsacten  besteht,  da  alle 


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140 

Stellen  des  Organismus  in  jedem  Moment  durch  Störung  bedroht 
sind,  und  dass  drittens  die  bildenden  und  bauenden  Instincte  eben 
so  gut  wie  das  Bilden  innerhalb  des  Körpers  nach  fixen  Ideen 
arbeiten,  welche  unbedingt  als  integrirende  Bestandtheile  der  Gat- 
tungsidee betrachtet  werden  müssen.  Ja  sogar  müssen  im  weiteren 
Sinne  auch  alle  anderen  Instincte  als  Verwirklichungen  specieller 
Theile  der  Gattungsideen  aufgefasst  werden,  denn  die  G^attungsidee 
der  Nachtigall  wäre  offenbar  unvollständig,  wollte  man  die  bestimmte 
Gesangsweise  nicht  zu  ihr  hinajureohnen,  ebenso  wie  die  des  Ochsen 
ohne  das  Stossen,  oder  des  Ebers  ohne  das  Hauen,  oder  der  Schwalbe 
ohne  die  halbjährige  Wanderung. 

Es  bleibt  uns  demnach  in  diesem  Capitel  nur  übrig,  erstens 
einige  Andeutungen  über  die  Zweckmässigkeit  des  organischen 
Bildens  zu  geben^  und  zweitens  zu  zeigen,  wie  es  sich  in  allmäliger 
Stufenfolge  an  die  bisher  betrachteten  Aeusserungsweisen  des  ün- 
bewussten  anschliesst. 

Was  die  Zweckmässigkeit  der  Organisation  betrifft,  so  könnte 
man  einerseits  darüber  allein  starke  Bände  yollschreiben ,  und 
andererseit«  gehört  zu  teleologischen  Detailbetrachtungen  die  grösste 
Yorsicht,  weil  zum  Theil  gerade  dadurch  die  Teleologie  in  Miss- 
oredit  gerathen  ist,  dass  dünkelvolle  Köpfe  der  Natur  Zwecke 
untergeschoben  haben,  die  nicht  selten  die  Grenze  des  Albernen 
und  Lächerlichen  erreichten.  Es  kann  sich  also  hier  nur  um  einige 
flüchtige  Fingerzeige  handeln,  welche  um  so  mehr  für  unseren 
Zweck  genügen,  als  zu  einer  weiteren  Ausfuhrung  derselben  heut- 
zutage die  Kenntnisse  jedes  Gebildeten  ausreichen.  Ich  gehe  davon 
aus,  dass  sich  als  Zweck  des  Thierreiches  uns  die  Steigerung  des 
Bewusstseins  darstellt;  sei  es  nun,  dass  man  den  Zweck  dieses 
helleren  Bewusstseins  in  einer  Steigerung  des  Genusses,  oder  der  Er- 
kenntniss,  oder  zuletzt  eines  ethischen  Momentes  suchen  wolle,  immer 
bleibt  zunächst  die  Erhöhung  des  Bewusstseins  der  directe  Zweck  aller 
thierischen  Oi^anisation  (vgl.  Cap.  C.  Xin.).  Warum  überhaupt  die 
Yerleiblichung  des  Geistes  die  Bedingung  für  die  Entstehung  des  Be- 
wusstseins bilde,  werden  wir  erst  später  sehen  (Cap.  C.  IIL),  hier 
fragt  es  sich  zunächst :  woher  die  Trennung  der  organischen  Natur 
in  Thierreich  und  Pflanzenreich?  Der  erste  Grund  ist  der,  dass  zu 
der  Verwandlung  der  unorganischen  Materie  in  organische,  und  der 
niederen  organischen  Verbindungsstufen  in  höhere,  eine  solche  Auf- 
bietung unbewusster  Seelenkräfte  gehört,  dass  dasselbe  Wesen  keine 


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141 

Energie  zui  Yerinnerliohaug  mehr  übrig  behielte^  weil  sein  Yennögen 
in  der  Vegetation  aufginge.  Nur  wo  keine  Steigerung  der  organisch 
chemischen  Zusammensetzung  der  Materie  mehr  erforderlich  ist, 
0ondem  eine  blosse  Erhaltung  auf  der  schon  vorgefundenen  Stufe^ 
oder  eine  blosse  Leitung  der  von  selbst  erfolgenden  Eückbildung 
auf  niedere  Stufen  yerlangt  wird,  nur  da  behält  das  Individuum 
die  Döthige  Energie  übrig,  um  die  vorgefundene  Materie  zu  dem 
künstlichen  Bau  der  Bewusstseinsorgane  zu  formen,  und  den  Frocess 
der  geistigen  Yerinnerlichung  auf  die  Spitze  zu  treiben.  Darum 
die  Trennung  der  Natur  in  das  producirende  Pflanzenreich  und  das 
consnmirende  Thierreich.  Nun  könnte  man  sich  aber  den  Producenten 
und  Oonsumenten  dennoch  in  einem  Wesen  vereinigt  denken,  indem 
die  eine  pflanzliche  Hälfte  des  Organismus  die  Stoffe  bildet,  von 
deren  Verbrauch  die  andere  thierische  Hälfte  ihr  Bewusstsein 
aasbildet.  Dem  steht  aber  der  zweite  Grund  für  die  Trennung 
von  Thier-  und  Pflanzenreich  entgegen.  Es  leuchtet  nämlich  ein, 
dass  ein  an  die  Scholle,  auf  der  es  wächst,  gebundenes  Thier  (wie 
die  üebergangsformen  niederer  Wasserthiere  in  das  Pflanzenreich 
zeigen)  zu  keiner  ausgedehnteren  Erfahrung  und  dadurch  zu  keiner 
höheren  geistigen  Entwickelung  befähigt  ist;  man  wird  also  als 
Bedingung  einer  höheren  Bewusstseinsstufe  Locomobilität  fordern 
müssen.  Wenn  nun  aber  die  Stoffe,  aus  denen  sich  organische 
(i  h.  zum  Träger  höheren  Bewusstseins  allein  befähigte)  Materie 
büden  lässt,  wesentlich  aus  dem  den  Erdboden  durchdringenden 
Wasser  gezogen  werden  müssen,  und  hierzu  die  Ausbreitung  einer 
grossen  auftauchenden  Oberfläche  unter  der  Erde  (Wurzelfasern) 
Dothwendig  ist^  so  ist  klar,  dass  aus  der  unorganischen  Natur  sich 
direct  keine  Wesen  von  höheren  Bewusstseinsstufen  bilden  können, 
da  eine  Locomotion  bei  solcher  unterirdischen  Verbreitung  unmög- 
lich ist.  Hierdurch  ist  die  Locomobilität  der  Thiere  und  die  Sta- 
büität  der  Pflanzen  und  somit  die  Sonderung  beider  Beiche  bedingt. 
Bie  Thiere  müssen  also  ihre  Nahrung  aufsuchen^  und  brauchen 
Merzu  nicht  nur  Bewegungsorg  an  e,  sondern  auch  Organe,  um 
die  zu  ihrer  Nahrung  geeigneten  und  ungeeigneten  Stoffe  zu  unter- 
seiden,  und  ihre  Bewegungen  mit  Sicherheit  ausführen  zu  können. 
Dies  sind  die  Sinneswerkzeuge.  Der  Organismus  kann  femer  nur 
durch  Eesorption  Materie  assimiliren,  daher  muss  diese  in  flüssiger 
Gestalt  sein.  Die  Pflanzen  finden  ihre  Nahrung  schon  in  dieser 
Gestalt  vor,  die  Thiere  aber  meist  in  fester;  sie  müssen  also  Organe 


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habeiii  um  diese  feste  Nahrung  erst  wieder  in  flüssige  Form  xn  brin- 
gen; hierzu  dient  das  Y erdauungssystem  mit  seinen  Zerkleine« 
rungsorganen  (Mund  und  Magen)^  seinen  auflösenden  Säften  (Mund« 
speichely  Magensaft;  Darmschleim,  (^alle),  seinen  langen  Ganälen,  und 
endlich  der  Ausführmündung  unverdauter  Stoffe.  Die  Ohylusgefasse, 
welche  den  Speisebrei  au&augen,  sind  die  Wurzelfasem  des  Thieres. 
Da  es  wegen  seiner  ungleich  grösseren  dynamischen  Leistungen  viel 
mehr  Stoff  verbraucht,  als  die  Pflanze,  muss  auch  fUr  einen  schnei- 
leren  Ersatz  gesorgt  sein;  hierzu  dient  das  System  des  Blut  lauf  es, 
welches  allen  Theilen  des  Organismus  fortwährend  ^eue  Stoffe  in 
schon  geeignetster  Form  zur  Assimilation  darbietet.  Da  der  ohemische 
ProcesB  im  Thiere  wesentlich  ein  Bückbildungs-,  d.  h.  Oxydations- 
process  ist,  so  muss  für  den  nöthigen  Sauerstoff  Sorge  getragen 
werden.  Die  Pflanzen  brauchen  zur  Wechselwirkung  mit  der 
Atmosphäre  keine  besonderen  Organe,  weil  ihre  zu  ihrem  Inhalt 
ungemein  grosse  Oberfläche  die  Diffusion  genügend  vermittelt;  beim 
Thiere  aber,  dessen  Oberfläche  aus  anderen  Rücksichten  viele  tau- 
sendmal kleiner  als  die  der  Pflanzen  sein  muss,  muss  durch  be- 
sondere Organe  mit  grosser  innerer  Oberfläche  (Luftröhrenveräste- 
lung) mit  kräftiger  Ventilation  und  durch  schnellen  Wechsel  d&t 
anliegenden  Luftschichten  vermittelst  Wimperbewegung,  sowie  durch 
eine  der  Diffusion  günstige  Beschaffenheit  der  trennenden  Membraaoi 
die  nöthige  Menge  Sauerstoff  in  den  Körper  eingeführt  werden; 
dieser  Oxydationsprocess  bringt  zugleich  die  thierische  Wärme 
hervor,  welche  eine  Bedingung  für  die  subtileren  Veränderungen 
der  organischen  Materie  ist,  oder  wenigstens  dem  psychischen  Ein- 
fluss  einen  grossen  Theil  des  Kraftaufwandes  erspart. 

So  haben  wir  aus  dem  Bewusstsein  als  Zweck  des  thierisohen 
Lebens  schon  die  Nothwendigkeit  von  fönf  Systemen  hergeleitet» 
von  dem  der  Bewegung,  der  Sinneswerkzeuge,  der  Verdauung,  des 
Blutlaufes  und  der  Athmung.  Was  die  äussere  Gesammtform  des 
Körpers  bestimmt,  ist  hauptsächlich  das  erstere,  das  System  der 
Bew^ung.  Sein  Grundprincip  ist  Contraction,  wie  wir  es  schon 
bei  der  Wimperbewegung  und  den  Bewegungen  der  niederen  Wasser- 
thiere  sehen.  Sobald  jedoch  die  übrigen  Systeme  einen  gewissen 
Grad  der  Ausbildung  erreicht  haben,  verlangt  die  contraotible  Masse 
Stützpuncte  im  eigenen  Körper,  um  mehr  partielle  Bewegungen  und 
in  mannigfaltigerer  Richtung  vornehmen  zu  können;  namentlich 
tritt  dies  Bedür&ise  sofort  bei  den  Landthieren  (auch  schon  bei  den 


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143 

niedrigsten)  ein.  Diese  Stütspuncte  werden  durch  ein  Skelett  ge- 
wonnen, welcbes  snnächst  aas  verdickten  Epithelialsohichten  oder 
kalkigen  Oberfaantexcrementen ,  später  bei  den  Wirbelthieren  ans 
dem  Knochenskelett  gebildet  wird.  Diese  festen  Theile  dienen  zu- 
gleich den  weichen  zum  Schutz,  sonach  bei  den  Wirbelthieren 
Schädel  und  Wirbelsäule  dem  Hirn  und  Rückenmark.  Die  Orgaue 
sor  äusseren  Locomotion  bilden  sich  schon  bei  ziemlich  niederen 
Hiieren  als  besondere  Gliedmaassen  aus,  die,  je  nach  den  Elementen 
md  Localitäten,  und  je  nach  der  Nahrung,  auf  welche  das  Thier 
angewiesen  ist,  die  mannigfaltigsten  Modiflcationen  zeigen.  —  Zur 
Brmöglichung  einer  leichteren  Wechselwirkung  yon  Seele  und  Leib 
bildet  sieh  als  sechstes  das  Nervensystem  aus,  von  dessen  Bedeutung 
sehen  mehrfach  die  Rede  gewesen  ist,  und  als  siebentes  endlich 
lehliesst  sich  im  Dienste  nicht  des  Individuums,  sondern  der  Gat- 
tung das  Fortpflanzungssystem  an. 

Dies  wäre  in  grossen  Zügen  die  teleologische  Ableitung  der 
Goustmetion  des  Thierreiches  aus  dem  Bewusstsein,  wobei  das 
Pflanzenreich  bloss,  oder  doch  wesentlich  nur  als  Mittel  für  das 
Thierreich  erscheint,  indem  es  ihm  die  Nahrungsmittel  einerseits 
und  das  Brennmaterial  und  den  Sauerstoff  andererseits  bereitet; 
denn  die  fleischfressenden  Thiere  leben  ja  auch  vom  PEanzenreich, 
mir  indirect.  Die  Zweckmässigkeit  der  Einrichtungen  im  Besonde- 
Ten  zu  verfolgen,  würde,  wie  gesagt,  hier  viel  zu  lange  aufhalten. 
Ich  verweise  nur  auf  die  wunderbare  Construotion  der  Sinnesorgane, 
wo  die  Zweckmässigkeit  auf  das  Eclatanteste  hervortritt.  Fast  noch 
mehr  ist  dies  bei  den  Zeugungsorganen  der  Fall,  wo  es  besonders 
Staunen  erregt,  dass  sie  bei  aller  Verschiedenheit  doch  für  die  bei- 
den Geschlechter  einer  Gattung  stets  zusammenpassen,  auch  die 
ührige  Kdrpergestalt  stets  eine  Begattung  zulässt.  Die  Brunst  stellt 
sich  bei  den  Thieren  stets  so  ein,  dass  nach  Verlauf  der  constanten 
Trachtigkeitsdauer  die  Jungen  zu  der  Jahreszeit  auskommen,  wo 
ne  die  reichlichste  Nahrung  finden;  bei  vielen  erwachsen  zur 
feunstzeit  besondere  Theile,  um  die  Begattung  besser  zu  vollziehen, 
▼eiche  nachher  wieder  verschwinden ;  so  bei  vielen  Insecten  Haken 
«n  den  Geeohlechtstheilen  zum  Festhalten  des  Weibchens,  beim 
Frosch  warzige  Erhabenheiten  an  den  Daumen  der  Vorderfüsse, 
die  er  in  den  Leib  des  Weibchens  eindrückt,  beim  männlichen  gemeinen 
Wasserkafer  Scheiben  mit  gestielten  Saugnäpfen  auf  den  drei  ersten 
Handgliedem,  beim  Weibchen  dagegen  Furchung  der  Flügeldecken. 


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144 

Ein  häufig  vorkommender  Irrthum  ist  der,  an  der  zweckmässi- 
gen Einrichtung  der  Organismen  deshalb  zu  zweifehi,  weil  gewisse 
Anforderungen  der  Zweckmässigkeit  ^  welche  wir  zu  stellen  uns 
herausnehmen,  von  ihnen  nicht  erfüllt  werden.  Dass  eine  voll- 
kommene Zweckmässigkeit  im  Einzelnen  unmöglich  ist,  sollte  doch 
Jedem  einleuchten,  denn  dann  dürfte  zunächst  keine  Krankheit  oder 
Schwäche  den  Körper  besiegen,  er  also  unsterblich  sein.  Wenn  man 
fordert,  dass  die  Hirnschale  des  Menschen  den  Schlag  eines  faustgrossen 
Hagelkornes  aushalten  sollte,  und  sie  für  unzweckmässig  erklärt,  weil 
sie  das  nicht  thut,  so  ist  das  offenbar  thöricht,  da  ihre  Einrichtung 
für  solche  Ausnahmefalle  andere  und  viel  grössere  Inconvenienzen  im 
Gefolge  haben  würde.  Dieser  Art  sind  aber  die  meisten  !Fälle,  wo 
behauptet  wird^  dass  Organismen  unzweckmässig  eingerichtet  seien; 
es  reducirt  sich  darauf,  dass  ihnen  Einrichtungen  fehlen,  welche 
für  gewisse  Fälle  zweckmässig  sein  würden,  in  den  meisten 
anderen  Fällen  oder  Beziehungen  aber  unzweckmässig.  Eine  andere 
Art  von  Vorwürfen  der  Unzweckmässigkeit  wird  durch  die  Constan« 
der  morphologischen  Qrundtypen  möglich,  welche  ein  durchgehendes 
Naturgesetz  bildet,  und  die  Einheit  aller  organischen  Formen,  die 
Einheit  des  ganzen  Schöpfongsplanes  nur  in  um  so  helleres  Liciit 
setzt.  Es  ist  das  lex  parsimoniae^  welches  sich  auoh  im  Erfinden 
der  organischen  Formen  bewahrheitet,  indem  es  der  Katur  leichter 
fällt,  hier  und  da  unschädliches  TJeberflüssiges  stehen  zu  lassen,  aU 
immer  wieder  Veränderungen  vorzunehmen  und  neue  Ideen  zu  er- 
denken; sie  bleibt  vielmehr  bei  der  m(%lichsten  Einheit  der  Idee 
stehen,  und  nimmt  an  dieser  gerade  nur  so  viel  Aenderungen  vor, 
als  unumgänglich  nothwendig  sind.  Von  dieser  Art  sind  die  rudi- 
mentären Zitzen  bei  männlichen  Säugethieren,  die  Augen  des  Blind- 
molls,  die  Schwanzwirbel  bei  schwanzlosen  Thieren,  die  Schwimm- 
blase bei  Fischen,  die  immer  auf  dem  Grunde  leben,  die  Glied- 
maassen  der  Fledermäuse  und  Cetaceen  u.  dgl.  m. 

Endlich  ist  zu  bemerken  9  dass  wir  bei  dem  zweckmässigen 
Wirken  des  Bildungstriebes  ebenso  wie  bei  dem  des  Instinctes  ein 
Hellsehen  des  Unbewussten  anerkennen  müssen,  da  aUe  Organe 
früher  im  Fötusleben  entwickelt  werden,  als  sie  in  Gebrauch  treten, 
und  oft  sogar  sehr  bedeutend  früher  (z.  B.  Geschlechtsorgane).  Bas 
Kind  hat  Lungen,  ehe  es  athmet,  Augen,  ehe  es  sieht,  und  kann 
doch  auf  keine  "Weise  anders  als  durch  Hellsehen  von  den  zukünf- 
tigen Zuständen  Kenntniss  haben,  während  es  die  Organe  bildet; 


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_  145 

ftber  ein  Grund  gegen  die  Bildungsthäügkeit  der  individuellen  Seele 
kana  dies  nicht  sein^  da  es  um  nichts  wunderbarer  ist^  als  das 
Hellsehen  des  Instinctes. 

Gehen  wir  nunmehr  dazu  über,  den  stetigen  und  allmäligen 
Aoflchloss  des  orgaaischen  Bildens  an  die  Leistungen  des  Instinctes 
sa  betraohteiL  —  Die  Nester,  den  Bau  und  die  HöhleUi  welche  sich 
die  Thiere  bauen  und  graben,  betrachtet  noch  Jeder  als  Wirkungen 
des  Instinctes.  Der  Pfahlwunn  bohrt  sich  mit  seiner  Schale  m 
Eßiz,  die  Bohrmuschel  in  weichen  Felsen  eine  Höhle;  der  Sand^ 
wunt  bohrt  sieh  in  den  Sand  und  klebt  diesen  mittelst  deis  an  seiner 
^  Hantfläche  ausgeschiedenen  Saftes  zu  £ner  Bohre  zusammen ;  einige 
kleine  Käfer  bilden  sich  aus  Staub,  Sand  und  Erde  einen  Ueberzug 
ikrer  zarten  Haut;  die  Mottenlarren  machen  sich  Bohren  aus  Haaren 
oder  Wolle,  die  sie  mit  sich  herumtragen;  die  Larve  der  meisten 
Phryganeeu  webt  mit  den  aus  ihrem  Spinnirgane  hervorgegangenen 
Faden  Holz,  Blätter,  Mutterschalen  u.  s.  w.  zu  einer  Bohre  zusam- 
men, in  der  sie  wohnt  und  die  sie  mit  sich  trägt  Die  sich  ein- 
spiimende  Kaupenlarve  braucht  keine  fremden  Stoffe  mehr,  die  sie 
in  ihr  GeayiiVQst  einwebt,  sondern  begnügt  sich  mit  diesem  allein, 
am  die  zur  Yerpuppung  oöthige  Abschliessung  und  Buhe  zix  er- 
halten; hier  ist  also  die  Wohnung  des  Thieres  ebenso  wie  das  Netz 
der  Spinnen  und  der  Hautüberzug,  den  einige  Eäferlarven  aus  ihrem 
eigenen  Koth  bilden,  schon  ganz  vom  Organismus  selbst  gebildet. 

Nautilus  und  Spirula  treten  periodisch  aus  ihrem  halbkugeligen 
Gehäuse  heraus  und  bilden  sich  ein  ihrem  inzwischen  eingetretenen 
Wachsthnm  entsprechendes  grösseres,  das  aber  mit  dem  alten  ver- 
buBden  ist,  so  dass  mit  der  Zeit  das  Gehäuse  des  Thieres  aus  einer 
Beihe  solcher  immer  grösser  werdenden  Kammern  besteht.  A^f 
äbnliehe  Weise  wachsen  mit  den  SchneckcA  ihre  Gehäuse,  während 
die  Erustaceen  jährlich  ihre  Schale  durch  willkürliche  Bewegung 
sprengen  und  ausziehen,  ähnlich  wie  die  Arachniden,  Schlangen  und 
Bidecbsen  ihre  Haut,  die  Yögel  und  Säugethiere  ihre  Eedem  und 
Haare,  während  die  Haut  der  höheren  Thiere  sich  fortwährend 
whuppi  Waa  wir  bis  jetzt  am  Bau  im  Ganzen  gesehen  haben, 
kann  man  auch  an  einzelnen  Theilen,  z.  B.  dem  Deckel,  beobcu>hten. 
^e  Spinne  (Mygale  cemeniaria)  lebt  in  einer  Höhle  im  MergeL 
die  ne  mit  einer  Thür  aus  zusammen  gewobenen  Erdklümpchen 
^  einer  Angel  aus  Spinneweben  befestigt.  Die  Weinbergssphnecke 
flchliesst    im  Winter    ihre    Wohnung    mit   einem  Deckel,   den  sie 

V-  Hart  mann,  Phil.  d.  UnbewnssteD.  10 


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146 

sammt  seiner  Angel  durch  Ausschwitzungen  des  eigenen  Körper» 
verfertigt,  der  aber  doch  mit  ihrem  Körper  in  keiner  Verbindmig 
steht.  Bei  anderen  Schnecken  dagegen  ist  der  Deckel  dorch  mus- 
kulöse Bänder  mit  dem  Thiere  permanent  verbunden.  So  sind  vir 
in  stetiger  Folge  vom  Bauinstinct  zum  organischen  Bilden  gelangt, 
und  was  so  in  einander  Eiesst,  sollte  aas  verschiedenen  Qxundprin- 
cipien  hervorgehen  ?  Wie  die  Eichhörnchen  und  andere  Thiere  der 
Instinct  reichlicher  sammeln  und  eintragen  lehrt,  wenn  ein  kalter 
Winter  bevorsteht,  so  bekommen  Hundei,  Pferde  und  Wild  in  solchen 
Jahren  einen  dickeren  Winterpelz;  wenn  man  aber  Pferde  in  heisse 
Glimata  versetzt ,  so  bekommen  sie  nach  wenigen  Jahren  gar  kein 
Winterhaar  mehr.  Bass  der  Kukuk  seinen  Eiern  die  Farbe  der 
Eier  des  Nestes  einbildet,  welches  er  sich  zum  Legen  ausgesucht 
hat;  ist  schon  wiederholt  erwlQmt.  Der  Instinct  der  Spinne  weiat 
sie  auf  Spinnen  an,  die  Bildungsthätigkeit  giebt  ihr  das  Organ  zum 
Spinnen ;  der  Instinct  der  Arbeitsbiene  weist  sie  speoiell  auf  du 
Einsammeln  und  dem  entsprechen  die  Transportmittel,  ja  sogar 
haben  sie  Bürsten  an  den  Füssen  zum  Zusammenkehren  des  BlütheU' 
staubes  und  Ghruben  zum  Einsammeln  vor  den  anderen  Bienen 
voraus.  Die  Insecten,  welche  ihrem  Instinct  nach  ihre  Eier  auf 
frei  herumkriechende  Larven  legen,  haben  sich  nur  einen  gan* 
kurzen  Legestachel  gebildet,  während  andere  sehr  lange  Stacheln 
haben,  die  ihre  Eier  in  Larven  legen  müssen,  welche  tief  in  altem 
Holze  (Cheloatoma  maxiUosa)  oder  in  Tannzapfen  versteckt  sitzen. 
Der  Ameisenbär,  der  seinem  Instinct  nach  auf  Termiten  angewiesen 
ist,  und  bei  jeder  anderen  Nahrung  stirbt,  hat  sich  bei  seiner  Ent- 
stehung darauf  vorbereitet  theils  durch  kurze  Beine  und  starke 
Krallen  zum  Ausgraben,  theils  durch  seine  lange,  schmale,  zahnlose, 
aber  mit  einer  fadenförmigen,  klebrigen  Zunge  versehenen  Schnauze. 
Die  Eulen,  die  auf  Nachtraub  angewiesen  sind,  haben  den  gespen- 
stisch leisen  Flug,  um  die  Schläfer  nicht  zu  wecken.  Die  Banb- 
thiere,  die  durch  ihre  Verdauung  instinctiv  auf  Fleischnahrung  an- 
gewiesen sind,  haben  sich  auch  mit  der  nöthigen  Kraft,  Schnellig- 
keit, Waffen  und  Scharfblick  oder  Geruch  versehen.  Wie  der 
Instinct  viele  Vögel  ihre  Nester  durch  Aehnlichkeit  der  Farbe  mit 
der  Umgebung  verstecken  lehrt,  so  hat  die  Bildungsthätigkeit  un- 
zähligen Wesen  durch  Aehnlichkeit  mit  ihrem  Aufenthaltsort  Schnta 
verliehen  (namentlich  Schmarotzern).  Sollte  es  wirklich  ein  ver- 
schiedenes Princip  sein,  was  den  Trieb  zur  That  einflösst,  und  die 
Mittel  zur  Ausführung  verleiht? 


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Was  die  Beflexbewegungen  betrifPI;,  so  sehen  wir  einen  grossen 
Theü  der  Yerdauungsvorgänge  dnrch  dieselben  vermittelt.  Vom 
Sehlacken  an  werden  die  peristaltischen  Bewegungen  der  Speise- 
röhre, des  Magens  und  der  Därme  grossentheils  dnrch  Eeflezbe- 
wegongen  bewirkt,  indem  der  an  jeder  Stelle  wirkende  Beiz  der 
genossenen  Speise  za  der  Weiterbeförderung  durch  zweckmässige 
Bew^ungen  Anlass  giebt.  Ebenso  ist  die  auf  den  Beiz  der  Speisen 
eintretende  Vermehrung  der  Secretionen  von  Mundspeichel,  Magen- 
Bift,  Barmschleim  u.  s.  w.  Beflezwirkung.  Die  Entleerung  der  an- 
gehäuften Excretionen  erfolgt  gleichfalls  durch  Beflexwirkung. 
Wir  haben  oben  gesehen,  dass  die  Beflexwirkung  durchaus  nichts 
Mechanisches  ist,  sondern  Wirkung  der  nnbewussten  Intelligenz. 

Wir  kommen  nun  zur  wichtigsten  Parallele,  der  mit  der  Natur- 
heilkraft.  Schon  oben  haben  wir  betrachtet,  wie  die  Erhaltung  der 
eonstanten  Wärme  eine  der  wunderbarsten  Leistungen  des  Organis- 
muB  sei,  die  nur  durch  wunderbar  genaue  Begelung  der  Athmung,. 
der  Sgestion  und  Ingestion  bewirkt  werden  könne.  Hierbei  muss 
aher  die  Zukunft  mit  in  Anschlag  gebracht  werden,  wenn  nämlich 
in  Zokimft  eintretende  Störungen  durch  das  Eintreten  ihrer  Ursachen 
sieh  im  Voraus  berechnen  lassen. 

Dem.  entsprechend  sehen  wir  jeder  Ingestion  sehr  bald  eine 
entsprechend  vermehrte  Egestion  folgen,  noch  ehe  dds  Blut  die  neuen 
Stoffe  aa%enommen  haben  kann  (z.  B.  unmittelbar  nach  dem  Trin- 
ken vermehrter  Harnabgang  oder  Schweiss,  vermehrte  Speichel-  und 
GaDenabsonderung  beim  Essen  unabhängig  von  örtlicher  Beizung 
der  Organe).  Da  jeden  Augenblick  eine  wenn  auch  geringe  Störung 
der  WSrmeconstanz  eintritt,  so  muss  die  Heilkraft  oder  Bildungs- 
thHügkeit  schon  mit  diesem  Punct  allein  fortwährend  beschäftigt 
Bein,  Femer  gehört  zur  Verdauung  jeder  Speise  eine  besondere 
Art  der  mechanischen  und  chemischen  Behandlung.  Wir  sehen, 
dass  Fleisch  von  Pflanzenfressern,  Pflanzen  von  Fleischfressern  gar 
nieht  oder  nur  unvollständig  verdaut  werden  kann,  dass  Knochen 
von  Eaubvögeln  verdaut  werden,  von  Krähen  aber  nicht,  dass  der 
Instinct  viele  Thierarten  auf  eine  einzige  Art  von  Nahrungsmitteln 
aßweist,  ohne  welche  sie  sterben,  und  dass  umgekehrt  sich  bei 
Xensehen  und  Thieren  Idiosynkrasien  der  Gattung  oder  des  Indi- 
viduxuns  finden,  durch  welche  gewisse  Stoffe  unbewaltigt  bleiben 
^  dem  Oi^anismus  zum  Nachtheil  gereichen.  Hieraus  geht  her- 
Tor,  dass  die  Verdauung  jedes  Stoffes  andere  Bedingungen  erfordert^ 

JO* 


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148 

Tind  dass  er  unverdaut  bleibt  oder  schadet,  wenn  der  Orgamsmiu 
nicht  im  Stande  ist»  diese  Bedingnngen  herbeu^uführeiL  Benma^ 
setzt  jeder  Yerdauungs%(rt  da^  Herbeiführen  besonderer  Bedii]£:ungen 
voraus,  ohne  welche  ^  störend  ai;f  den  Organismus  wixkt;  hier 
haben  wir  also  wiederom  eine  fortwährende  Heschäfitdgung  der  HeiU 
kraft  in  Abwehr  der  Störungen,  oder,  wenn  man  will,  der  KMong»- 
thätigkeit  in  Aasinu^ation  des  Stoffi^a. 

Wir  haben  gesehen,  dass  bei  jeder  Yerletomg  die  Wirkung 
der  Heilkraft  oder  der  Ersatz  nur  möglich  ist  duirch  NeubUdung, 
durch  die  Entzündung^  welche  das  iN^eoplasma  liefert,  aus  dem  uch 
dann  die  zu  ersetzenden  Theüe  oAtwickeln.  Eben  so  sehr  benibi 
jede  Vermehrung  einer  Egei^tion  bei  Unterdrückung  einer  anderes 
auf  einer  Keubildungy  nämlich  des  nunmehr  vermehrten  Egestions- 
secretes. 

Die  gaoze  Ernährung  des  Körpers,  in  der  nach  beendetem 
Wachsthum  die  Hauptaufig;abe  des  Bildungstriebes  besteht,  ist  m 
und  dasselbe  mit  Neubildung,  und  verhält  sich  zur  iN^eubüdoni 
ganzer  Körpertheile ,  wie  die  fortwährende  Hautabschi^ung  itß 
Menschen  zur  periodischen  Häutung  der  Schlangen  und  Bi4eob9ß9f 
d.  h.  die  Ernährung  ist  eine  Summe  unendlich  vieler,  unwilicfc 
kleiner  Keubüdungen ,  die  Neubildung  bloss  eine  sich  sehr  ac^ell 
addirende  und  darum  mehr  in  die  Augen  fisiUende  Eraätumog* 
Haben  wir  also  die  Neubildung  im  Ersatz  bereits  als  eip  zweck- 
thätiges  Wirken  der  unbewussten  Seele  erkannt ,  so  iiiuss  dasselbe 
für  die  Ernährm^  gelten,  wenn  wir  auch  diese,  wie  wir  ni^t  rmr 
hin  können,  als  zweckmässig  anerkennen  müssen.  Allerdings  wird 
in  dem  allmäligen  Verlauf  der  Ernährung  der  seelische  Eiafl^ 
weniger  in  Anspruch  genommen,  als  bei  rapiden  NeubilduQg^o« 
schon  weil  die  chemische  Contaotwirkung  mehr  behülflioh  imU  dw« 
er  aber  keinesweges  enUs^ehrt  werden  kaon,  beweisen  4ie  d»rek- 
greifenden  Ernährungsstörungen  in  den  Theilen,  deren  Nervenver- 
bindungen  mit  den  Centds  der  zufuhrenden  s3rxQpathisoh«si  Sssßt» 
durchschnitten  sind ;  (theils  Abmagervmg,  theils  Entartung  der  Searete^ 
theils  Blutentmischung,  bei  empfindlicheren  Theileu,  wie  Aug^»- 
Entzündung  und  Zerstörung).  Die  capiUaren  Bluigeiasse,  aus  denen 
durch  Endosmose  die  Gebilde  ihre  Nährflüssigkeit  beziehen,  mögea 
sich  noch  so  fein  vertheilen,  so  wird  doch  für  jedes  Gefass  no^ 
ein  verhältnissmässig  grosses  Gebiet  übrig  bleiben,  in  dem  auch  die 
dem  Gefäss  fern  liegendsten  Theile  versorgt  sein  wollen,  auch  wW 


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149 

hiieig  Ton  demfielben  Q«fafis  Mosliei,  Sebneiii  Knochen  nnd  N6ir?en^ 
sibetanE  gleichmSamg  yersehen  werden  müsBen;  es  mnss  sich  alsc^ 
jedes  Tkeüchen  aas  der  Näkrftisagkeit  heransnefamen ,  yfri»  ihm 
paasi  Wenn  wir  nun  aber  wissen^  dass  naeh  oh^msohen  G^eeetfien 
sowohl  die  sn  exnahnraden  Oebüde,  als  die  Nfihrflüesägkeit  fort^ 
während  die  Tendenz  znr  Zersetzang  halben,  der  sie  nachkommea, 
sobald  dnrdt  den  Tod  oder  anch  vor  dem  Tode  bei  grosser  Körper-* 
si^ywäche  die  Macht  der  nnbewnssten  Seele  übeor  sie  anfgehört  hat, 
eo  köonen  wir  unmöglich  glanben,  dase  ohne  jeden  seelischen  Ein- 
ioss  diese  Assamilation  in  alle  den  feisen  örtlichen  Nuancen  vor 
enh  gdien  kaim^  wie  sie  für  den  Bestand  des  Oiganismns  noth-- 
weadig  ist.  £»  ist  diese  chemische  Beständigkeit  der  organis<^ien 
Gebilde  ganz  analog  der  fortwährenden  mechanischen  Spannnng 
teoh  den  Tonns;  Beides  ist  nur  dnroh  eine  unendliche  Summe 
Qimdlich  kleiner  Clegenimpnlse  gegen  natürliche  Zersetzung  nnd 
natüiücftie  E^hlaffang  zu  erklären,  nnd  diese  Impulse  können  nur 
vom  Willen  ausgehen.  So  folgt  auch  aas  apriorischer  Erwägung^ 
was  dorch  die  empirische  Ansohaumig  der  NervendnrchsehBeidung 
bestätigi  wird. 

besetzt  nun  aber,  diese  beiden  Gründe  im  Verein  mit  der 
Sinerleiheit  von  Neubildmig  und  Ernährung  würden  nicht  zu- 
tieffend  befunden,  um  den  seelischen  Einfluss  bei  der  gewöhnlichen 
^nüirung  zu  beweisen,  und  man  imhme  an,  dass  die  ehemiseke 
Cimtactwirkung  der  vorhandenen  Gebilde  genügende  Ursache  wäre, 
9*  fragte  es  sich  doch:  woher  kommt  diese  Besohaflfenheit  der  Ur- 
sache? Ba  würde  man  denn  sagen  müssen:  diese  Gebilde  haben 
jetet  diese  Beediaffenheit,  weil  sie  sie  früher  hatten.  So  würde 
man  beim  Weiterfiragen  auf  einen  Punct  kommen,  wo  die  Beaohaf- 
feolieit  der  Gebilde  eine  andere  geworden,  nnd  es  würde  zunächst 
diese  Aendemng  zu  erklären  sein;  denn  diese  Aenderung  ist  IJr'* 
lache,  dass  diese  Gebilde  von  jenem  Zeitpucnot  an  zweckmässig 
war^  und  kraft  ihrer  eigenen  Beaehafßsnheit  sich  in  zweckmiüssigem 
Zustande  erhalten  mussten,  und  da. für  diese  zweckmäesige  Aen- 
denmg  keine  materiaUsüsehe  Erklänmg  mehp  existirt,  so  muss  sie 
dem  zwedcihlttigen  Wirken  unbewuasten  Willens  zugeschricfben 
WHden;  damit  ist  aber  dieser  auoh  die  Ursache  deo;  zweckmässigen 
Mialtiing,  und  die  Hothwendigkeit,  einen  seelischen  Einfluss  zu 
Biife^zu  nehmen,  iet  nioht  au%ahoben^  sondern  nur  aufgesehoben. 
A^9e»^«a    davon^  dass  wir  in  jedem  Moment  des  Lebens   an 


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160  ' 

einem  solchen  Zeitpunot  der  Yexänderong  stehen,  könnte  man  noeh 
weiter  zurückgehen,  denn  für  die  jetzige  Beschaffenheit  der  Gebilde 
ist  nicht  bloss  die  Aenderung  selbst,  sondern  auch  ihre  Besohaffen- 
heit  Tor  der  Aenderong  Bedingung.     Verfolgen  wir  diese  Reihe 
rückwärts,  so  konunen  wir  zu  der  ersten  Entstehung  des  Gebildes, 
welche  ihre  Erklärung  verlangt,  während  wir  inzwischen  mindestens 
so  viel  seelische  Einwirkungen  statuiren  müssen,  als  im  Leben  zweck- 
mässige Veränderungen  mit  ihm  vorgegangen  sind.   Da  nun  kein  Ge- 
bilde im  Organismus  überflüssig  ist,  sondern  jedes  einen  bestimmten 
Zweck  hat,   der  wieder  als  Mittel  zur  Erhaltung  des  Individuums 
oder  der  Gattung  dient,  scwird  man  auch  in  diesem  ersten  Ent- 
stehen  ein  zweckthätiges   Wirken  des  Willens  sehen.     So  gewiss 
nun  das  erste  Entstehen  und  die  grossen  Veränderungen  wichtige 
Hül&mittel  und  Erleichterungen  für  das  Bestehen  und  die  Ernäh- 
rung eines  Gebildes  sind,  und  dem  Willen  seine  Arbeit  erleichtern, 
ja  für   den  ganzen   Umfang  des  Organismus  erst  ermöglichen,  so 
gewiss  sind  sie  nicht  die  alleinigen   Bedingungen  der  Ernährung, 
sondern  der  im  Organismus  allgegenwärtige  unbewusste  Wille  nebst 
der  unbewussten  Intelligenz  ist  im  kleinsten  chemischen  oder  physi- 
kalischen Voi^ang  mitbetheiligt,  schon  deshalb,  weil  im  kleinsten 
Vorgang  der   Organismus  bedroht  ist,  und   sei  es  nur  dnrdi  die 
Tendenz  zur  chemischen  Zersetzung,    und  nichts  Anderes  diesen 
unaufhörlichen    materiellen    Störungen    das    Gleichgewicht    halten 
kann  als   eine   psychische  Einwirkung.     Andererseits  aber  ist  nur 
dadurch  das  Leben  möglich,  dass  diese  psychische  Einwirkung  für 
die  gewöhnlichen  Vorgänge  auf  ein  Minimum  reducirt  wird,  und 
der  übrige  Theil  der  Arbeit  durch  zweckmässige  Mechanismen 
geleistet  wird.    Diesen  zweckmässigen  Mechanismen  begegnen  wir 
überall  im  Körper,  aber  so,  dass  der  unbewusste  Wille  sich  jeden 
Augenblick  die  Modification  des  Zweckes  (z.  B.  in  verschiedenen 
Entwickelungsstadien),  sowie  »auch  das  selbstständige  Eingreifen  in 
die  Bäder  der  Maschine  und  unmittelbare  Leistung  einer  Angabe, 
der  der  Mechanismus  nicht  gewachsen  ist,  vorbehält.     Dies  kann 
unser  Staunen  vor  der  unbewussten  Litelligenz  nicht  vermindern, 
sondern  nur  erhöhen,  denn  wie  viel  höher  steht  nicht  der,  welcher 
sich  die  wiederkehrende  Leistung  einer  Arbeit  durch  Construction 
einer  zweckmässigen  Maschine  erspart,  ab  wer  dieselbe  stets  aofs 
Neue   mit   seinen  Händen  zweckmässig   verrichtet.     Und   ^^izten 
Endes   bleibt  doch    immer  noch   der  Seele  jenes  unvermeidlii^ 


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161 

Miniinum  unmittelbarer  Bildung  übrig,  weil  jeder  Moment  andere 
VeiliSltiiifsee  und  andere  Störungen  bringt ,  und  kein  MechanismuB 
anders  als  für  Eine  bestimmte  Gattung  von  Verhältnissen  passen 
kann.  Dies  also  ist  die  Antwort  auf  alle  Einwürfe,  die  im  bis- 
herigen Yerlaufe  £eser  Untersuchung  mit  dem  notorischen  Nach- 
weis Ton  zweckmässigen  Mechanismen  etwa  hätten«  gemacht 
weiden  können:  1)  der  Begriff  Mechanismus  erschöpft  nicht  die 
lliatsachen,  sondern  die  Leistungen  eines  Mechanismnsi  wo  er  vor- 
handen  ist,  lassen  stets  dem  seelischen  Wirken  einen  unmittelbar 
zu  leistenden  Best  übrig;  und  2)  die  Zweckmässigkeit  des 
Mechanismus  schliesst  die  Zweckmässigkeit  seiner  Ent- 
stehung in  sich,  und  diese  bleibt  immer  wieder  der  ^eele  über- 
lassen. 

Wenn  wir  mit  der  Erwägung,  dass  jeder  organische  Yorgang 
zwei  iTJraachen   hat,   eine  psychische   und   eine  materielle,  weiter 
I        mkwärte  gehen  in  der  Kette  der  materiellen  Ursachen,  so  kommen 
'         wir  in    aller  Strenge ,    welchen  Ausgangspunct   wir  auch  wählen 
f        mgßüf  auf  das  eben  befrachtete  Ei  als  letzte  materielle  Ursache; 
wo  die  Entwickelung  des  Eies  ganz  oder  theilweise  im  mütterlichen 
Organismus  geschieht  ^  sprechen  fireilich  auch   die.  materiellen  Ein- 
wirkungen  dieses   mit,    aber    bei    den   ausserhalb  des  weiblichen 
;        Körpers    befrachteten   Eiern  der  Fische  und  Amphibien  ist   auch 
i        moht  einmal  dies  der  Fall     Bei  diesem  Zurücksteigen  ist  aber  zu 
bemerken,  dass  die  psychischen  Ursachen  den  materiellen  gegenüber 
^        im  Allgemeinen  um  so  bedeutender  werden,  je  jünger  das  Indivi- 
damn  ist  (wie  wir  schon  an  der  StSiiie  der  Naturheilkraft  sahen); 
im  höheren  Alter  zehrt   der  Organismus  meist  von  den  Errungen- 
schaften besserer  Zeiten,  Tor  der  Pubertät  dagegen  bringt  er  fort- 
während theils  wachsende,  theils  neue  Leistungen,  und  im  Leben 
äes  Embryo   steigert  sich  wieder  die  Wichtigkeit  der  psychischen 
Einflüsse  um  so  mehr,  in  je  jüngereh  Perioden  wir  es  betrachten. 
Das  eben  befruchtete  Ei  ist  eine  Zelle  (es  besteht  nur  aus  dem 
l>otter),  deren  Wand  die  Dotterhaut,  deren  Lihalt  das  Dotter  und 
deren  Kern  das  Keimbläschen  darstellt.     Bei  den  höheren  Thieren 
ist  die  Eeimscheibe  innerhalb  des  Keimbläschens  (das  beim  Menschen 
®^*  ^/aoo  Linie  gross  ist)  der  Theil,  aus  dem  allein  das  Embryo 
^föüich  unter  Beihülfe   des  Dotters,  sich  entwickelt.     Jeder  Theil 
des  Eies  zeigt  in  sich  eine  durchaus  gleichmässige  Structur  (theils 
körnig   mit    eingelagerten    Fetttröpfchen,   theils    membranös   und 


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152 

schleimig),  und  diese  überall  gieichen  Elemente  genügen,  um  miter 
meist  gleichen  äusseren  umständen  (Bebrütungswärme  bei  Yögeln, 
litift  xmd  Wassertemperatur  bei  Eischen  und  Amphibien)  die  ver- 
schiedensten Gattungen  mit  ihren  feinsten  Unterschieden  und  ihrer 
unermesslichen  Mei^  von  Systemen,  Organen  und  Gebilden  hervor- 
jEubringen;  denn  das  aus  dem  Ei  hervorbrechende  Junge  enthält 
bei  den  höheren  Thieren  fast  alle  Gebilde  und  Difi'erenzeB  des 
erwachsenen  Thieres  in  sich.  Hier  offenbart  sich  der  EinfLuss  des 
Willens  in  der  Umgestaltung  der  Elemente  am  deutlichsten,  wie 
man  denn  in  Fischeiem  einige  Stunden  nach  der  (künstlichen)  Be- 
iruchtung  die  senkrecht  zu  einander  stehenden  meridianiechen  und 
die  äquatoriale  Einschnürung  des  ganzen  Dotters  entstehen  sehen 
kann,  mit  der  die  Entwickelung  beginnt,  und  der  eine  Menge  pa- 
ralleler Einschnürungen  folgen.  Die  längste  Zeit  des  Embryoneo- 
lebens ist  die  Seele  mit  Herstellung  der  Mechanismen  beschäftigt^ 
welche  ihr  später  im  Leben  die  Arbeit  der  Stoffebeherrschung  zum 
grössten  Theil  ersparen  sollen;  es  ist  aber  ikeiB  Gxund  einzusehea, 
warum  wir  die  hier  eintretenden  Neubildungen  nicht  eben  so  gat 
dem  zweckthätigen  Wirken  des  unbewussten  Willens  zuschreibeai 
sollen,  wie  die  späteren  Neubildungen  im  Leben ;  denn  die  grössere 
Ausdehnung  dieser  ersten  Bildungen  im  YerhaltniBs  zum  sohoD 
vorhandenen  Körper  kann  doch  wahrlich  keine  qualitative  Unt^- 
Scheidung  begründen,  und  dass  der  Moment  der  Individualisatkm 
der  neuen  Seele  der  der  Befiruchtung  ist,  kann  doch  gewiss  keinem 
Zweifel  unterliegen;  dass  aber  die  Seele  in  jener  Periode  noch 
keine  bewussten  Aeusseruagen  zeigt,  kann  weder  befremden,  da 
sie  »ich  das  Organ  des  Bewusstseins  erst  bilden  soll,  noch  kann  es 
ihrer  Concentration  auf  die  unbewussten  Leistungen  etwas  anderes 
als  förderlidi  sein,  da  ja  auch  im  späteren  Leben  die  Macht  des 
Unbewussten  bei  gänzliiaher  Unterdrüokuiig  des  Bewusstseins  sieh 
am  glänzendsten  bewährt»  wi»  bei  Heilkrisen  im  tiefen  Schlaf ;  xad 
das  Embryo  Hegt  ja  auch, im  tiefen  Schlaf.  —  Bedachten  wir  aber 
noch  einmal  die  Etage,  ob  denn  ein  unbewusster  Wille  überhaupt 
körperlidie  Wirkungen  hervorbringen  könne,  so  haben  wir  ui 
früheren  Oapiteln  das  Resultat  erhalten,  dass  jede  Wirkung  der 
Seele  auf  den  Körper  ohne  Ausnahme  nur  durch  einen  unbewussten 
Willen  möglich  sei;  dass  solch  ein  unbewusster  Wille  theils  durch 
bewussten  Willen  hervorgerufen  werden  könne,  theils  auch  durch 
die  bewusste   Vorstellung   der  Wirkung  ohne   bewussten  WiU*^' 


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selbst  gegen  den  bewussten  Willen;  warum  soll  er  also  nicht  auch 
durch  unbewußste  Vorstellung  der  Wirkung  hervorgerufen  werden 
können,  mit  der  hier  sogar  nachweislich  der  unbewusste  Wille  der 
Wirkung  verbunden  ist,  weil  die  Wirkung  Zweck  ist.  Dass  aber 
endlich  die  Seele  in  der  ersten  Zeit  des  Embryolebens  ohne  Ner- 
ven arbeiten  muss,  kann  gewiss  nicht  gegen  unsere  Ansicht  spre- 
eilen,  da  wir  ja  nicht  nur  in  den  nervenlosen  Thieren  alle  Seelen- 
wirkungen ohne  Nerven  erfolgen  sehen,  sondern  auch  am  Medschen 
weiter  oben  genug  Bebpiele  der  Art  angeführt  haben,  ausserdem 
aber  das  Embryo  in  der  ersten  Zeit  gerade  diejenige  halbfliissige 
Structur  hochorganisirter  Materie  hat,  welche  Nerven  Wirkungen  zu 
enetzen  geeignet  ist. 

Wenn  wir  nun  erstens  materialistische  Erklärungsversuche  als 
ungenügend  erkenneui  zweitens  eine  prädestinirte  Zweckmässigkeit 
der  Entwickelung  in  Anbetracht  dessen  unmöglich  erscheint,  dass 
jede  Gruppirung  von  Verhältnissen  im  ganzen  Leben  nur  Einmal 
vorkommt,  und  doch  jede  Gruppirung  von  Verhältnissen  eine  andere 
Seaction  fordert,  und  gerade  diese  geforderte  hervorruft,  wenn 
drittens  die  einzig  übrig  bleibende  Erklärungsweise,  dass  die  unbe- 
WQSBte  Seelenthätigkeit  selbst  sich  ihren  Körper  zweckmässig  bildet 
nnd  erhält,  nicht  nur  nichts  gegen  sich,  sondern  alle  nur  mögliche 
Analogien  aus  den  verschiedensten  Gebieten  der  Physiologie  und 
des  Thierlebens  für  sich  hat,  so  scheint  wohl  die  Beglaubigung  der 
individuellen  Vorsehung  und  Bildungskraft  hiermit  so  wissenschaft- 
lidi  sicher,  als  es  bei  Schlüssen  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache 
mir  möglich  ist. 

So  schliesse  ich  denn  diesen  Abschnitt  mit  dem  schönen  Worte 
Schopenhauers:  „So  steht  auch  empirisch  jedes  Wesen  als  sein 
eigenes  Werk  vor  uns.  Aber  man  versteht  die  Sprache  der  Natur 
»icht,  weil  sie  zu  einfach  ist."  — 


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Vi'-:   ■    ■ 


4   *^  ■ 


I  B. 


Das  Unbewusste  im  menschlichen  Geist. 


Der  SeUftsMl  nur  BrkenntDiM  Tom  WesM  des 
bemusten  Seelanlebenfl  liegt  ia  der  Begion  des  TJn- 

C.  &.  Oanu. 


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:^rr-  i 


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L 
Dcü^  iBStimet  im  meBscUMieii  Geist. 


So  wenig  es  iii(^lK)h  int,  Leib  uad  Seele  in  der  Betnushtong 
slTeog  za  BonäeTüt  ao  wmiig  iet  es  lEkö^^ieh  xait  dea  Listincten, 
-welcdie  sich  auf  leihUc)ie,  imd  denen,  welcb»;  sieJbi  auf  aeelisehe 
Be^Kifiiieee  hmiehe^.  So  habeu  wir  demL.a^oh  iu  vorigen  Abechnitt 
schon  Teraobiedene  Ip«tjnote  dee  menaehluAen,  Geiirtea  «rwälmt,  als: 
die  eepmiöaen  Aj^petite  Knunker  oder  Schwangerer,  and  die  Heil- 
üifltinete  der  Kinder  od^  sonmambüLer  Personem;  einige  andere 
schlieeaen  sich  unmittelbar  an  die  leibliehen  iBstincte  an,  z.  B.  die 
Furcht  TOT  dem  noeh  unbekannten  faUen  bei  jungen  Thieren  und 
Kiadei»»  die  Zw  B.  ruhig  eind,  wenn  aie.  die  Treppe  hinauf,  uaruhig, 
wenn  sie  hinab  getragen  wierdaa;  die  grössere  Vorsicht  und  Bedäoh'p 
tigkeit  in  den  Bewegungen  aehwangerer  Pferd«  und  Frauen,  der 
Trieh  der  Mütter,  das  ÜTeugeborene  an  die  Borust  svl  legen,  der  des 
KiBdea  su  saug^,  du»  etgeaitiiüinliQhe  Talent  der  Sünder ,  wahre 
Frenndliehkeit  von  eribbeueheker  zu  untersoheiden,  die  instincinva 
8<^iu«a.Tor  gewissen  uAbelMMmten.  Personen,  die  namentliobbei  reinen, 
unerfahrenen  Mädchen  vorkommt,  die  guten  und  bösen  Ahnungen 
mit  ihrer  namentlich  beim  weiblichen  Oescblecht  grossen  Moti- 
Tationskraft  zum  Begehen  und  Unterlassen  von  Handlungen  u.  s.  w. 
—  Wir  wollen  in  diesem  Capitel  diejenigen  menschlichen  Instinote- 
betrachten,  welche  sich  noch  enger  an  die  Leiblichkeit  anschliessend 
und  denen  m^  deshalb  auch  noch  vorzugsweise  den  Namen  Instinct 
2u  gönnen  pftegt,  während  der  hohle  Dünkel  der  Menschenwiirde 
bei  allen  weiter  von  der  LeibHohkeit  abliegenden,  sonst  aber  ganz 
gleichartigen  Aeusserungen  des  Unbewussten  sich  sträubt,  dieses 
Wort  zuzulassen,  weil  ihm  etwas  Thierisches  anzuhaften  scheint 

Zunächst  haben   wir  einige  repulsive  Instincte  zu  betrachten 


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d.  h.  solche,  die  nicht  za  HandlimgeDi  sondern  2U  Unterlassungen 
nöthigen,  oder  doch  bloss  zu  solchen  Handlungen,  dnrch  welche  der 
Gegenstand  des  inneren  Widerstrebens  entfernt  oder  gemieden  wird. 
Der  wichtigste  ist  die  Todesfdrcht;  dies  ist  nur  eine  bestimmte 
Richtung  des  Selbsterhaltnngsinstinctes,  dessen  anderweitige  Formen 
als  Naturheilkraft,  organisches  Bilden,  Wandertrieb,  reflectorische 
Schutzbewegungeii  u.  s.  w.  wir  schon  kennen.  Nicht  die  Furcht  vor 
dem  jüngsten  Gericht,  oder  anderweitigen  metaphysischen  Hypo- 
thesen, nicht  Hamlets  Zweifel  yor  dem,  was  da  kommen  wird,  nicht 
Egmonts  freundliche  Gewohnheit  des  Daseins  und  Wirkens  würden 
die  Hand  des  Selbstmörders  aufhalten,  sondern  der  Instinct  thut 
es  mit  seinem  geheimnissyollen  Schauer,  mit  seinem  rasenden  Herz- 
klopfen,   das   alles   Blut   tobend    durch   die  Adern  jagt. 

Ein  zweiter  repulsiver  Instinct  ist  die  Scham;  dieselbe  berieht 
^sidi  so  ausschliesslich  auf  die  Genitalsphäre,  dass  diese  Eörperthrile 
sogar  nach  ihr  genannt  w^den;  sie  kommt  in  besonders  hohem 
Grade  dem  weiblichen  Geschlecht  zu,  und  ruft  bei  diesem  die  de- 
fensiye  Haltung  herror,  welche  wesentlich  seinen  Geschlechtscha- 
racter  ausmacht,  und  für  das  ganze  menschliche  Leben  bei  Wilden 
wie  bei  Gulturrölkem  bestimmend  wirkt.  Die  mildere  Form  der 
Brunst,  welche  durch  die  ünperiodicität*)  derselben  bedingt  ißt, 
und  die  Scham  rind  die  beiden  ersten  Grundlagen,  welche  das 
Geschlechtsrerhältniss  der  Menschen  in  eine  heuere  Sphäre  als  das 
der  Thiere  heben.  —  Scham  ist  so  wenig  etwas  vom  Bewusstsein 
Gemaehtes,  dass  wir  sie  vielmehr  schon  bei  den  wilden  Yölkerscbaf' 
ten  finden,  freilich  da  nur  auf  die  eigentliche  Hauptsache  beschränkt} 
während  die  Bildung  Alles,  was  nur  irgend  mit  geschlechtlichen 
Yeriiältnissen  zusammenhängt,  in  die  Sphäre  der  Scham  mit  hin^ 
zieht. 

Ein  ganz  ähnlicher  repuLsiver  Instinct  ist  der  Ekel;  er  berieht 
rieh  80  auf  Yerhältnisse  der  Nahrung,  wie  die  Scham  auf  die  des 
Geschlechts,  und  dient  dazu,  die  Gesundheit  vor  solchen  NahrungS' 
Stoffen  zu  bewahren,  von  welchen  am  leichtesten  zu  befurchten  ist, 
dass  sie  mit  Schmuz  und  TJnreinigkeit,  d.  i.  organischen  Auswurfs- 
stoffen und  halb  in  Zersetzung  übergegangener  organischer  Materie 


*)  Dieses  Moment  schlug  Beaumarchais  so  hoch  an,  dass  er  scherzend 
sagte:  Bo&e  tant  $oif,  et  faire  Vamour  en  tout  tempe,  e'eet  ee  qui  düHngve 
fhomme  ek  la  hH$, 


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yenniflcht  sind.  Seine  Sinne  sind  Geschmack  und  Geruch,  und  e» 
ist  wohl  nicht  richtig ,  wenn  Lessing  ihn  auch  bei  anderen  Sinnen 
för  möglich  halt.  Dabei  ist  natürlich  nicht  nöthig,  dass  man  bei 
den  Dingen,  yor  denen  man  sich  ekelt ,  schon  daran  gedacht  habe^ 
sie  zu  essen,  man  ekelt  sich  >oft  schon ,  damit  man  nicht  auf  den 
Gedanken  k<»nmei  sie  zu  essen.  Ausserdem  giebt  es  noch  einen 
anderen  viel  geringeren  Ekel,  welcher  sich  auf  Reinlichkeit  der 
Haat  bezieht,  damit  nicht  durch  Yerstopfong  der  Poren  die  Trans- 
i^iration  onterdriickt  wird,  bei  diesem  könnte  allenfalk  der  Sinn 
des  Gesichtes  unmittelbar  betheiligt  sein.  —  Der  Mensch  kann 
durch  Gewohnheit  diese  Instinete  wie  alle  anderen  mehr  oder  we- 
niger zurückdrängen,  eben  weil  bei  ihm  das  Bewusstsein  schon  eine 
Macht  geworden  ist,  welche  bei  den  meisten  Dingen,  ausser  ganz 
wichtigen,  dem  Unbewussten  die  Spitze  zu  bieten  vermag,  und  die 
Gewohnheit  des  Handelns  gehört  ja  auch  der  l^häre  des  Bewusst- 
Beins  an.  Es  kann  aber  auch  das  XJnbewusste  zurückgedrängt 
werd^  indem  man  mit  Bewusstsein  und  aus  Gewohnheit  das  thut, 
was  man  ohne  Bewusstsein  und  Gkwohnh^t  instinctiy  gethan  haben 
würde;  daiiin  ist  das  Widerstreben,  das  man  gegen  das  G^entheil 
verspürt,  xiehr  ein  Widerstreben  gegen  das  Ungewohnte,  als  eine 
Repulsion  des  Instinctes.  — 

Man  betrachte  ein  kleines  Mädchen  und  einen  kleinen  Kna- 
ben: die  ein«  nett  und  adrett,  zierlich  und  manierlich,  graziös  wie 
ein  Kätzchen  9  der  andere  mit  zerrissenen  Hosen  von  der  letzten 
Prägelei,  tölpisoh  und  ungeschickt  wie  ein  junger  Bär.  Sie  putzt 
flieh  und  stutzt  sich,  und  dreht  sich,  und  wartet  aufs  Zärtlichste 
^  Puppe,  und  kocht  und  wäscht  und  plättet  in  ihren  Spielen,  er 
haut  dch  in  der  Ecke  eine  Wohnung,  spielt  Bäuber  und  Soldat,, 
^tet  auf  jedem  Stecken,  sieht  in  jedem  Stock  Säbel  oder  Gewehr 
^  geflült  sich  am  meisten  in  den  Aeusserungen  seiner  Kraft,  die 
luttörlich  meist  in  nutzloser  Zerstörung  bestehen.  Welch'  eine 
Etliche  Anticipation  des  künftigen  Berufs,  die  oft  in  den  reizend- 
sten Details  zu  beobachten  ist.  Wenn  auch  Vieles  davon  Nach- 
^^nng  der  Erwachsenen  ist,  so  ist  dennoch  ein  yorahnender  Instinot 
^verkennbar,  der  die  Kinder  schon  in  ihren  Spielen  auf  die  Uebun* 
g^  verweist,  die  sie  künftig  brauchen  sollen,  und  sie  zu  ihnen  im 
Voraus  tüchtig  macht  und  ^übt,  gerade  wie  wir  bei  jungen  Thieren 
^e  Spielinstincte  sich  immer  auf  die  Thätigkeiten  werfen  sehen» 
welche  sie  zu  ihrem  selbstständigen  Leben   später  brauchen  (man 


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denke  an  Kätzchen  und  Eafmel).  Im  äpieitiieb  Bchaü  der  Wäk 
sich  selbst  oft  Widerstände,  die  er  zü  überwinden  hat,  dies  Panip 
dozon  ist  ebenfalls  nur  zu  begroifen,  wenn  der  Spieltrieb  Instioot 
is^  und  den  Zwecken  des  küinftigen  Lebens  nnbewaB8t4ient  Wäie 
der  Spieltrieb  nur  Nachahmung,  so  würden  ja  Enabeii  usd  Mädchen 
^eiichermaassen  nachahmen)  da  sie  dem  Oesohlechtsuntecichied  niehi 
yesstehen  und  streng  genommen  selbst  noch  nicht  hahem  Wi« 
einzig  ist  oft  jene  Tanzwuth,  Eigenheit,  Futzsoioht,  Grazie,  man 
mödite  fast  sagen  kindliche  Coquett«rie  bei  kleinen  Mädchen,  die 
wa£  ihre  künftige  Bestimmung,  Mäamer  zu  erobern^  hinweist,  iBid 
von  welchem  allen  geistig  gesunde  Knaben  so  gar  nichts  habea. 
Wie  characteristisoh  ist  die  unermüdliche  Emsigkeii^  mit  der  sie  ifaie 
Puppen  warten,  kleiden  und  hätscheln,  wie  entsprechend  ist  dias 
nicht  der  Zärtlichkeit»  mit  welchen  erwvoheene  Mädchen  alle  h&Dr 
den.  kleinen  Wartekinder  abküssen  und  liebkosen,  die  jungen 
Männern  in  der  Begel  widerwärtiger  als  junge  Meerkatzen  sind. 

Wie  tief  hn  ünbewussten  solehe  Lastincte,  wie  Bekilidikeit, 
Futzsuchtv  Schamhaflagkeit  wurzeln»  kann  man  besonders  bei  Bün- 
den beobachten,  die  zuglmch  taubstumm  sind.  Wer  nie  über  diesen 
Zustand  nachgedacht  hat,  der  suche  sich  zunächst  eine  klare  Yor- 
Stellung  Ton  demselben  und  der  Armseligkeit  der  Ooninranioation&' 
mittel  zu  machen  ^  welche  einem  solchen  unglücklichen  mit  der 
Anssenweh  zu  Giebote  stehen.  Laura  Bnbdgeman  in  der  Blinden- 
anstalt au  Boston^  die  im  zweiten  Lebemqahre  alle  Sinne  ansier 
dem  Gefühl  verloren  hatte,  war  reindich  und  ordentlich  und  liebte 
sehr  den  Putz  9  wenn  sie  ein  neues  Kleidungsstück  anhatte^  wünsch 
sie  auszugehen  und  gesehen  und  bemerkt  zu  werden ;  vi>ei  die 
Armbänder,  Broohen  und  sonstigen  Putz  besuchender  Dstmea  war 
sie  öfters  ganz  entzückt.  Julie  Braoe  (im  fünften  Jahre  blind  und 
taub  geworden)  war  ebenso;  sie  untersoohte  die  Haartradvt  besu« 
chender  Damen,  von.  sie  an  sich  nachzumachen.  Von  allen  andeiin 
solchen  unglücklichen  Mädchen  wird  dieselbe  Pntzsuoht  berichte^ 
so  dass  dieselbe  ein  Hauptmittel  wurde ,  sie  zu  lohnen  und  zn 
strafbn.  Lucy  Beed  trug  imtmer  ein  seidenes  Tuch  über  daia  Oe- 
sidit,  wahrscheinlich  weil  sie  glaubte,  dass  ihr  Gesicht  entstellt  sei, 
und  war,  als  sie  in  eine  Anstalt  kam,  nur  mit  grösster  Mühe  hier- 
VKm  abzubringen.  Sie  bebte  vor  der  Berührung  etner  mäanticheB 
Person  zurück  und  duldete  von  einer  solchen  durchaus  keine. Lieb- 
kosungen, die  sie  vopi  fremden  Frauen  gem  anAahm  und  erwiderte« 


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Linra  Mdgtoan  be^^  Mefui  eine  noeb  groB^we  ZiMheH  de#  Qt^ 
fäUs,  ohne  daito  maiif  za  emfhen  vennoehtei  wie  sie'  mr  einem 
Begriff  Ton  G^eedileeiit^erhlQtBMBen  getoigt  tfei^  da  ennser  dein- 
Aastalt^roitMier  Br.  Howe  für  gew61inlieh  keM'  Mann-  in  ibi^  Kahe 
ten.  Yoff  Oiiw^r  Caewelly  ebenfiaUe  einbm'  Bündlaubeiuinmcta» 
hatten  äe  viel  yemeiimen,  dar  deeeen  Asdnmfl  in  der  Anstalt  er« 
irsrtet  wurde,  und  war  sehr  neugierig  auf  ihreir  Leideiisgeföhrten ; 
aii  er  nun  eintraf,  küMte  sid  um,  fukr  aber  btiü^hnell  suräcky 
9h  ersdn^äkie  ede  darüber,  etwiM  Unselnokliolite  begaitgen  ou  käbeof. 
Bie  kleimM  etwaiger  Unordnung  in  ihrem  Ansuge^  yerbeeseHe  ne, 
wie  nur  immer  ein  zum  Anatande  streng  eraogenes  MKdtchen*  kann. 
ht  sogar  oof  Lebloaee  übertrug  sie  ihre  SehanAiaftigifeit;  so  ^  B. 
fk  me  mm  Tages  ihre  Puppe'  in's  Bett  legen  wollte,  gin^  sie*  2u^ 
?oif  im  ffimmer  herum,  um*  sich  vu  überaeugen,  wer  zugeged  sei; 
als  sife  den  Br.  How«  fand^  kehrte^  sie  kpchend  um,  und  erst  ala  et 
doh  eintfemt  hattet,  entkleidete  sie  die  Puppe',  ohne  sieh  vor  defr 
Lehrer»  au  scheuen.  -^  Eialem-  blinden,  tanftsl^imntfNl  fiinde  äitf 
Oeseta^  und-  Bi^^rxffe  des  Anirtandes'  bäiaubritogm,  würde  fast  un^ 
mögiieh'  sein,  wenn*  nicht  der  Instinot  sie  auf  das  Biehtige  verwiese, 
nd  die  Oelegenheit  allein  oder  die  leiseste  Andeutung  gienügte,  um 
diese  unmittelbare  unbewus^te  Anschauung  im  Bbuehmen  au  ver- 
wirichdlien.  Daas  dies  Oelühl  der  Sohamhaftigkeit  wirklich  aus 
am  ^ell  der  inneren*  Seelenwesens  stamme ,  beweist  das  Zueftm- 
otentreffen  seiner  höheren  Entwickehing  mit  der  kör|>erlichen  Ent- 
viokelung  der  Pubertät.  So  trat  a.  B.  bei  einer'  blinden  Taub- 
Btoinmen  im  B4><iierbither  Arbeitshanise,  welche  bis  dahii^  ein  völlig 
tinenBches  Leben  geführt  hatten  in  ihrem  siebaehnteü  Jtäre  eine 
gSazliche  TJmwandeking^  ein:  sie  wurde  mit  einem  Mlüe  ebensi»  auf- 
merkiam  auf  Kleiduiig  und  Anstand,  als  andere'  M&dohen  ihres' 
Alters. 

fön  refleetoriseher  instiiiot  des  Geistes  ist  die  SympaUne  oder 
dsft  Mitgefühl.  Wie  die  Gefühle  sich  in  Lust  und  Unlust  oder 
in  Freude  und  Leid  theilen,  so  das  Mitgefühl  in  Mitfii^eude' und 
ICtleid.  Jean  Paul  sagt:  ,^um  Mitleid  gehört  nur  eiri  Mensch,  zur 
Mitfeeude  ein  Engel'';  das  kommt  daher,  weil  die  Mitfreude  nur 
dum  entstehen  kann,  wenn  sie  nicht  durch  ein  anderes  Geft&l,  den 
Iteid^  am  Entstehen*  verhindert  wird;  dies  ist  aber  bei  allen  Men^ 
ach6&>  mehr  oder  weniger  der  Fall,  während  das  Mitleid  weniger 
^bMert  wild,  da  ctie  Schadenfreude  doch  für  gewöhnlich  bei  den 

▼.  Htttnnan,  Phil.  d.  Unbewussten.  1 1 


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162 


meisten  Menschen  sehr  gering  ist,  wenn  nicht  Hass  nnd  Bache  sie 
€>ntstehen  lassen.  So  kommt  es,  dass  die  Mit£rende  von  fast  yer- 
seh windender  Bedeutung  ist,  während  das  Mitleid  die  grösste  Wich- 
tigkeit hat.  Das  Mitleid  entsteht  nun  reflectorisch  durch  die  sinn- 
liche Anschauung  des  Leidens  eines  Anderen.  Die  Zuckungen  und 
Krümmungen  des  Schmerzes,  die  Mienen  und  Geherden  des  Kum- 
mers und  Jammers,  die  Thränen  des  Leidens,  das  Stöhnen  und 
Aechzen,  das  Wimmern  und  Böcheln  sind  Naturzeichen,  die  dem 
gleichartigen  Wesen  durch  unhewusste  Kenntniss  unmittelbar  yer- 
etäudlich  sind;  sie  wirken  aber  nicht  bloss  auf  den  LiteUect,  son- 
dern auch  auf  das  Gemüth  und  rufen  reflectorisch  ähnliche  Schmer- 
zen hervor ;  Fröhlichkeit  und  Traurigkeit  stecken  auf  ähnliche  Weise 
aadere  Menschen  an  wie  Krämpfe.  Wenn  die  sinnliche  Anschauung 
nur  die  Data  des  Schmerzes  im  Allgemeinen  erhält,  so  ist  das 
Mitleid  nur  ein  allgemeines,  ein  Schauer,  oder  ein  stilles  Weh» 
oder  ein  erschütterndes  Grausen,  je  nach  der  Intensität  und  Dauer 
dm  beobachteten  Schmerzes;  wenn  dieser  aber  im  Besonderen  be- 
kannt kt,  so  zeigt  auch  die  Eeflexwirkung  dieselbe  Art  von  Schmers 
im  Mitleid,  sobald  dieses  über  die  niedrigste  Stufe  des  allgemeinen 
Bedauerns  hinweggekommen  ist.  Dass  der  Grad  des  Mitleids  von 
d^r  momentanen  Empfänglichkeft  des  Gemüthes  für  Eeflexwirkun- 
geii,  also  auch,  yon  dem  Grad  des  Literesses,  das  man  sonst  für  den 
Leidenden  nimmt,  abhängig  ist,  ist  unzweifelhaft;  trotzdem  ist  es 
durchaus  nur  Reflexwirkung,  was  strenge  dadurch  bewiesen  wird, 
das»  das  Mitleid  caeteris  paribus  in  directem  Yerhältniss  zu  der 
sinnlichen  Anschaulichkeit  des  Leidens  steht  Wenn  man  z.  B.  von 
einer  Schlacht  liest,  wo  auf  jeder  Seite  10,000  Todte  und  Verwun- 
dete äind,  so  fühlt  man  gar  nichts  dabei,  erst  wenn  man  sich  die 
Todten  und  Verwundeten  sinnlich  anschaulich  vorstellt,  wird  man 
von  Mitleid  ergriffen,  wenn  man  aber  unter  den  Blutlachen  und 
Leichnamen  und  Gliedmaassen  und  Stöhnenden  und  Sterbenden 
eielbit  herumgeht,  dann  packt  wohl  Jeden  ein  tiefes  Grauen.  " 
Welchen  Werth  der  Listinct  des  Mitleides  hat  für  den  Menschen^ 
der  erst  durch  gegenseitige  Hülfe  zum  Menschen  wird,  liegt  wohl 
deutUeh  genug  auf  der  Hand ;  das  Mitgefühl  ist  das  metaphysische 
Band^  welches  die  Grenze  des  Individuums  für  das  Gefühl  über- 
springt, es  ist  der  bedeutungsvollste  Trieb  für  die  Erzeugung  solcher 
Handlungen,  welche  das  Bewusstsein  für  sittlich  gute  oder  schöne, 
für  mehr  als  bloss  pflichtmässige  erklärt;  es  ist  das  Hauptmoment» 


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163 

vrelohee  demjenigen  Gebiet  der  Ethik ,  welches  man  ak  das  der 
Liebespflichten  bezeichnet,  eine  Wirklichkeit  yerleiht,  yon  der  erst 
nachmals  der  Begriff  abstrahirt  wurde. 

Wie  das  Mitgefühl  der  Hanptinstinct  zur  Erzeugung  wohl- 
thätiger,  in  ihren  Wirkungen  über  die  Sphäre  des  Egoismus  über- 
greifender Handlungen  ist»  so  erscheint  der  Instinct  der  Dankbarkeit 
akMultiplicator  derselben.  Wenn  auch  die  Dankbarkeit  mitunter 
zu  Verletzungen  einer  dritten  Person  verfuhrt,  so  sind. dies  doch 
die  selteneren  FäUe,  und  die  Zwecknüissigkeit  dieses  Instinctes  im 
Ganzen  ist  nicht  zu  yerkennen,  wenn  er  auch  an  einer  bereits 
vollendeten  Sittenlehre  sein  Correcäy,  ja  sogar  seinen  Ersatz  flndet. 
Wie  der  Vergeltungstrieb  in  Bezug  auf  Wohlthaten  Multiplicator 
des  sittlich  schönen  Handelns  wird,  so  wird  er  in  Bezug  auf  Ver- 
letzungen als  Bacheinstinct  der  erste  Begründer  emes  BechtsgefÜhls. 
Beim  so  lange  das  Gemeinwesen  es  nicht  übernommen  hat,  die 
Bachsucht  der  Einzelnen  zu  befriedigen,  wird  die  Bache  durch 
Selbsthülfe  mit  Becht  als  etwas  Heiliges,  als  primitive  Bechtsinsti- 
tution  angesehen,  und  sie  ist  es,  welche  allmälig  erst  das  Bechts- 
gefohl  so  weit  bilden,  steigern  und  klären  muss,  dass  die  Becht«- 
anffassung  In  der  Nationalsitte  einen  festen  Boden  gewinnt,  von 
▼0  an  erst  die  Uebertragung  der  Vergeltung  an  das  Gemeinwesen 
erfolgen  kann.  Es  soll  hiermit  keinesweges  behauptet  werden,  als 
seien  Mitgefühl  und  Vergeltungstrieb  diejenigen  Momente,  aus 
welchen  Sittenlehre  und  Bechtslehre  theoretisch  abgeleitet  und  be- 
gründet werden  müssen,  was  ich  im  Gegentheil  nicht  zugeben  würde ; 
nur  das  ist  behauptet,  dass  sie  practisch  in  der  That  die  Wurzeln 
sind,  aus  welchen  diejenigen  Gefühle  und  Handlungen  hervorsprossen, 
Ton  welchen  die  Menschen  zunächst  die  Begriffe  des  sittlich  Schönen 
ond  des  Bechts  durch  Abstraction  gewinnen. 

Der  nächste  wichtige  Instinct  des  Menschen  ist  die  Mutterliebe. 
Blicken  wir  des  Vergleiches  halber  noch  einmal  auf  das  Thierreich 
zurück.  —  Die  meisten  niederen  Thiere  haben  nicht  nöthig,  sich 
^on  ihre  Jungen  zu  kümmern,  weil  diese  schon  genügend  entwickelt 
aus  dem  Ei  hervorgehen,  oder  aber  weil  erstere  durch  schon  erwähnte 
Terechiedenartige  Instincte  die  Eier  an  solche  Orte  direct  oder  in- 
ject gebracht  haben,  wo  die  auskriechenden  Wesen  die  Bedingun- 
gen üirer  weiteren  Entwickelung  bis  zur  Selbstständigkeit  vorfinden, 
z.  B.  nwih  von  der  Mutter  mit  hinzugefügten  Nahrungsmitteln  ver- 
"<^    Der  Ort,   der    die  zur  Entwickelung  nöthigen  Bedingungen 

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164 

liefert,  ist  bei  der  Wel%>iiuifi  ein  gespooBeaer  Bierbeutel,  den  sie 
aioh  doroh  Gespinnst  anheftet,  beim;  Honoottta»  ein  a^ugestäl^r 
Theil  des  Eierganges,  der  als  BievsadB  herrertaritt,  bei  den  Yögek 
das  Kest  in  der  Ybrbiadnng  mit  da:  BtatwMfrme  des  müttefbchen 
Leibes,  bei  einigen  Eisehen  on^  Amphibien  der  Leab  der  llutt» 
selbst;  ebenso  bei  allen  Säugethierei^  abex^  mit  iem  giressen  Unt«f- 
schiede,  dass  bei  letzteren  eiik«  organische  Yisrhindiuig  Yon  Mvtter 
und  Fötiae  bie  zur  Gbbnrt  besteht  (ausgenommen  die  Beutelihiere). 
Man  sieht,  es  itird  hier  mederum  in  einem  Falle  Tom  Instinct  und 
der  Vorsorge  der  Mutter  dasselbe  geleistet,  was  im  anderen  Falle 
duroh  organische  Bildungsthätigkeit  bewirkt  wird,  d.  h.  die  instanctiTe 
mütterliche  Sorge  für  die  Entwicklung  der  Jungen  bia  zor  Selb^ 
ständigkeit  ist  nur  der  Form,  nicht  dem  Wesen  nach  von  der 
Zeugung  und  Bildung  der  IVuoht  yerschiedon.  —  Ea  zeigen  aiek 
nun  zwei  durdigehende  Gesetze ;  das  erste  ist,  dass  der  mütterlieho 
Instinct  so  lange  fo  das  Junge  sorgt,  als  es  noch  moht  selbst  fiiv 
sich  sollen  kann;  daa  zweite,  dasd  diese  Zeit  der  ünmünd^keit 
oder  Kindheit  im  Allgemeinen  um  so  länger  dauert,  je  höhev  die 
Gattung  in  der  Stufenreihe  der  Thlere  steht.  Diese  Yerschiedenheit 
ist  eiJiestheilB  in  den  einfacheren  Smährungsbedingungen  der  nie- 
deren Thtete  (namentlich  der  Wasserthiere) ,  andemtheUs  in  dea 
Metamorphosen  begründet,  wo  die  Kindheit  in  einer  ganz  anderen 
Gestalt  und  unter  anderen  Emährungsbedingungen  (m^eist  in  Gestalt 
einer  tiefeirett  Stufe)  darehldbt  wird;  ausserdem  bleibt  freilich  noch 
etwas  Drittes  alsi  unerklärter  Best  übrig,  was  une  namentlioh  ein- 
leuchtet, wenn  wir  bloss,  die  Beihe  der  Säugethiere  betrachteOr 
z.  B.  die  Kindheitsdauer  einee  E^ninchen,  einer  Katze  und  einss^ 
Pfevdes  verglssicheB.  Aus  den  beiden  ersteui  Gesetzen  setzt  sich 
folgendes  zusammen :  des  Instinct  der  Mutteriiehe*  gewinnt  im  All^ 
genuinen  um  so  grössere  Bedeutung  und  Tn^^weite>.  ai.  je  höheren 
Stufen  des  Thierreiches  wir  aufsteigen,  Stufen  jedooh  nicht  zoolo^sob^ 
sondern  psychologisch  gemeint.  WsUirend  wir  die  Mehrzahl  der 
Fische  und  Amphibien  in  dumpfer  Gleichgültigkeit  gegen  ihre  JuBg0Di 
yerharren  sehen,  zeigen  schon  einige  Insecten  eine  höhere  Mutter- 
liebe ihrer  höheren  geistigen  Regsamkeit  entsprechend.  Man  sehe 
nuf ,  wie  zärtlich^  Ameisen  und  Bienen  ihre  Eier,  ja  selbst  ihre  noeh* 
unvollkommen  entwickelten  Larven  pfl^n,  Gittern  und  beschützen» 
wde'  einige  Spinnen  ihre  Jungen^  wie  die  Henne  ihre  Küchlein  mü 
sich  herumfähren  und  sie  sorgsam  füttern.     Bei  den  Yögdln  «erreseh^ 


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iüe  mfittcfrUche  6oi^  sohon  einen  hohen  Grad,  wie  ja  auc^  >geymM 
Cksaen  der  Vögel,  b,  B.  einige  Baubvögel  und  Singviigel,  an  Oeiät 
der  gemeinen  Masse  der  Säugethiere  entschieden  überlegen  sind. 
Ber  anfopfemde  Mnth^  mit  dem  selbst  die  kleinsten  V^l  ihre 
Inngen  gegen  jeden  Feind  vertheidigen,  die  Selbstverlengfinng,  mit 
der  sie  ihnen  Fntter  bringen,  während  sie  selbst  oft  darb^i  müssen 
Tttd  abmagern,  die  Opferwilligkeit>  mit  der  nie  Brust  und  Leib  von 
Federn  entblössen,  um  ihr^i  nackten  Kleinen  ein  warmes  Lvger  2U 
sehoffen,  die  GMnld,  mit  welcher  sie  dieselben  dann  später  im 
Fli^n,  im  Fangen  Ton  Insedien  und  den  sonstigen  Fertigkeiten 
Bntemehten,  deren  sie  £nm  selbstotändigen  Leben  bedürfen ,  die 
Ungeduld,  die  Jungen  ebenso  geschickt  wie  sich  selbst  2u  sehen, 
mä  die  deutlichsten  Beweise  eines  tief  wurzelnden  Triebes,  wäh- 
rend das  vollständige  Erlöschen  dieser  Bärtlichen  Neigung  mit  der 
Selbstständigkeit  der  Jungen,  ja  das  Umschlagen  derselben  in  Feind- 
eeiigkeit  2«igt.  dass  nicht  Gewohnheit  t>der  bewusste  Wahl,  sondern 
eine  unbewusste  Nöthigung  der  Quell  dieses  Triebes  ist.  Nament- 
lich der  Punet  des  Unterrichtes  ist  bis  jetzt  viel  zu  sehr  über- 
when  worden,  denn  die  geistig  höher  stehenden  Thiere  lernen  in 
der  Diat  viel  mehr  durch  den  Unterricht  ihrer  Eltern,  als  man 
^ubt,  da  die  Katur  nie  doppelte  Mittel  zu  einett 
Zweck  anwendet,  und  da  den  In  st  inet  versagt,  wo  sie 
die  Mittel  zur  bewussten  Leistung  oder  Erlernung  ver- 
liehen hat.  Pinguine  locken  ihre  Jungen,  wenn  sie  nicht  in's 
Wasser  folgen  wollen,  auf  einen  Felsenvorsprung  und  stossen  sie 
▼on  da  hinunter;  Adler  und  Falken  leiten  ihre  Jungen  zu  immer 
h^rem  Aufftiegen,  zum  Fluge  im  Kreise  und  in  Schwenkungen, 
Bowie  zum  Stossen  auf  Beute  an,  indem  sie  zu  letzterem  Zwecke 
über  ihnen  fliegen,  und  zuni&chst  todte,  später  auch  lebende  kleine 
Thiere  fallen  lassen,  welche  die  Jungen  nur  dann  verzehren  dürfen, 
wenn  sie  sie  selbst  aufgefangen  haben.  So  sehr  aber  die  Methode 
dieses  Unterrichtes  bewusstes  Geistesproduct  dieser  Thiere  ist,  so 
sehr  ist  der  Trieb  zum  Unterrichten  der  Jungen  überhaupt 
iMtinct.  —  Wie  bei  den  höher  stehenden  l^ugethieren  die  Kindheit 
länger  dauert,  so  ist  nicht  bloss  die  Pflege  der  Mutter,  sondern  auch  ihr 
Unterricht  umfassender.  Man  beobadhte  nur,  wie  eine  Katze  ihre 
Jungen  erzieht,  schmeichelnd  und  lohnend,  zurechtweisend  und  stra- 
fend, ob  es  nicht  das  getreue  Abbild  der  menschlichen  Erziehung 
durch  ungebildete  Mütter  ist;  selbst  in  den  kleinsten  Zügen  bestätigt 


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sidi  diese  Parallele,  z.  B.  in  dem  Genuas »  den  die  Matter  in  dem 
komisch  altklugen  Selbstgefühl  ihrer  Ueberlegenheit  sichtlich  nr 
8chau  trägt. 

Schon  bei  den  Vögeln  sehen  wir  theilweise  eine  chemische 
Zubereitung  der  Speisen  für  die  Jungen  im  Kröpfe  der  Mutter,  dieser 
Instinct  wird  vollständig  zur  Bildung  beim  Säugethier,  dessen  Milch- 
drüsen lange  vor  der  Geburt  ihre  Absonderung  beginnen ;  eine  Abson- 
derungy  die  durch  den  Anblick  des  Jungen  vermehrt,  durch  seine 
Entfernung  vermindert  wird.  Was  bei  den  Vögeln  sich  nur  erst  in 
schwachen  Spuren  erkennen  lässt,  bei  den  Säugethieren  aber  in  der 
Vererbung  besonderer  mütterlicher  Kennzeichen  oder  Charactereigen- 
schaften,  in  dem  Versehen  der  Schwangeren ,  in  deren  capriciösen  Appe* 
titen  deutlich  hervortritt,  nämlich  die  unmittelbare  unbewusste  Wech- 
selwirkung zwischen  der  mütterlichen  und  Kindesseele,  das  Besessen- 
sein der  Kindesseele  von  der  der  Mutter,  dies  erscheint  in  modi- 
ficirter  Weise  fortgesetzt  nach  der  Geburt,  und  erst  nach  und  nach 
nimmt  es  allmalig  ab.  So  kommt  das  eigenthümliche  Phänomen 
der  Ansteckung  von  Visionen  nirgends  leichter  vor,  als  von  der 
Mutter  auf  den  Säugling,  und  wie  als  Schwangere,  so  auch  nach 
der  Geburt  besitzen  Mütter,  deren  Natur  nicht  durch  Bildung  ver- 
dorben ist,  eine  wunderbare  Divination  für  Bedürfiiisse  des  Kindes; 
fast  wie  die  Wespen,  die  die  Höhlen  öffiien,  um  ihren  Larven 
neues  Futter  einzulegen,  wenn  sie  das  alte  verzehrt  haben,  errätfa 
die  Mutter,  wann  ihr  Kind  der  Nahrung  bedarf,  und  wacht  aa( 
wenn  dem  Kinde  etwas  fehlte  während  kein  Lärm  den  Schlaf  ihrer 
Erschöpfung  zu  stören  vermag.  Wie  gesagt,  nimmt  aber  diese 
directe  Gommunication  von  Mutter-  und  Kindesseele  ziemlich  schnell 
ab,  nur  manchmal  sieht  man  sie  unter  aussergewöhnlichen  Um- 
ständen, z.  B.  bei  gefahrlichen  Krankheiten  des  Kindes,  noch  später 
erwachen.  Man  frage  sich  nun,  ob  beim  Menschen  wirklich  die 
Mutterliebe  etwas  Anderes  als  bei  den  Thieren  sein  soll;  ob  etwas 
Anderes  als  ein  Instinct  es  zu  Stande  bringen  kann,  dass  die  ver- 
ständigsten und  gesetztesten  Frauen,  die  sich  bereits  an  den 
höchsten  Schätzen  menschlicher  Geistescultur  erfreut  haben,  auf 
einmal  Monate  lang  sich  all'  der  aufopfernden  Pflege,  den  Quenge- 
leien und  Schmuzereien,  den  Tändeleien  und  Kindereien  mit  wahrer 
Herzensfreude  unterziehen  können,  ohne  irgend  eine  Erwiderung 
von  Seiten  des  Kindes,  das  die  ersten  Monate  doch  nichts  weiter 
als  eine  sabbernde  und  Windeln  beschmuzende   Fleischpuppe  ist, 

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die  aUenfiedlB  refleotoiisch  die  Augen  naoh  dem  Hellen  dreht  und 
inatinctiy  die  Arme  nach  der  Matter  ausstreckt;  man  sehe  nur, 
vie  solche  verständige  Frau  in  ihr  Kind,  das  von  allen  anderen 
Hiit  Mühe  SU  unterscheiden  ist,  rein  yemarrt  ist,  und  wie  sie,  die 
firöher  an  Sophokles  und  Shakespeare  geistreiche  Ausstellungen  au 
machen  hatte,  nunmehr  vor  Freude  ausser  sich  darüber  werden 
will,  dass  das  Kleine  schon  A  quarrt.  Und  bei  alledem  übernimmt 
das  Weib  nicht  etwa,  wie  wohl  der  Mann,  alle  diese  Unbequem- 
lichkeiten um  der  Hofihung  dessen  willen,  was  künftig  aus  dem 
Kinde  werden  soll,  sondern  sie  geht  in  der  gegenwärtigen  Freude 
und  Mutterlust  rein  auf.  Wenn  das  nicht  Instinct  ist,  dann  weiss 
ich  nicht,  was  man  Instinct  nennen  soll!  Man  frage  sich,  ob  ein 
armes  Kindermädchen  wohl  um  ein  Paar  Breier  täglichen  Lohn 
alle  diese  Ckiälereien  und  Stn^azen  aushalten  könnte,  wenn  ihr 
Listinct  sie  nicht  schon   auf  diese  Beschäftigung  hinwiese. 

Dass  beim  menschlichen  Kinde  die  mütterliche  Pflege  so  lange 
dauert,  ist  bloss  ein  besonderer  Fall  des  oben  angeführten  Gesetzes, 
ond  liegt  darin,  dass  Kinder  von  vier  Jahren  sich  auf  der  Strasse  noch 
lieber  umrennen  lassen,  als  dass  sie  aus  dem  Wege  gehen,  während 
eine  junge  Katze  schon  aus  dem  Wege  springt,  sobald  sie  sehen 
kann.  Was  ist  natürlicher,  als  dass  der  schützende  Instinct  der 
Matter  vorsorglich  eingreift,  und  das  Kleine  instinctiv  der  Mutter 
BockMten  festhält?  Alle  Thiere  nähren,  pflegen  und  beaufsich- 
tigen ihre  Jungen,  bis  sie  sich  selbstständig  ernähren  können,  und 
der  Mensch  bei  seiner  sparsamen  Proüflcation  sollte  von  diesem 
allgemeinen  Gesetze  eine  Ausnahme  machen?  Und  wann  kann 
de&n  ein  menschliches  Kind  sich  selbstständig  ernähren?  Doch 
wohl  nicht  vor  dem  Beginn  der  Pubertät!  Also  muss  auch  die 
instanctive  Eltempflege  mindestens  so  weit  gehen.  Die  Thiere 
lehren  ihren  Jungen  die  Fertigkeiten,  welche  sie  brauchen,  um 
noh  ihrem  Lebensunterhalt  zu  erwerben,  und  der  Mensch  sollte  es 
aioht?  Auch  bei  den  Thieren  ist  die  Art  des  Unterrichtes  theil- 
weise  Resultat  bewussten  Denkens,  aber  das  Unterrichten  selbst 
ist  Naturtrieb,  und  beim  Menschen  sollte  es  anders  sein,  weil  der 
Fertigkeiten  und  Kenntnisse,  die  der  Mensch  zum  Unterhaltserwerb 
hiaacht^  etwas  mehr  sind,  als  beim  Thiere  ?  Aber  es  ist  ja  einge- 
Btanden,  dass  im  ganzen  Thierreich  kein  psychologisch  so  grosser 
Sprung  ezistirt,  wie  vom  höchsten  Thiere  zum  massig  civilisirten 
Menschen,  also   müssen  ja  folgerecht  der  Dinge,  die  der  Mensch 


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arl^raon  mufls,  ieriüeUieih  mehr  «eiii,  als  bei  ^en  höchsten  Thi^nen 
IIP  VerhälioiaB  ?u  jioBi,  «was  er  instinctiy  kann,  weil  eben  sein  te- 
wumiitt  Qeut  zu  dieaen  Leistungen  be^Qihigt  ist ,  und  demoaeh  em 
ItmimGt  fiir  dieaelben  ausserdem  ein  Ueberfluss  sein  vörde« 
und  die  Natur  thut  nichts  yargebmis.  Wohl  aber  ist  der  h^ 
iiLstuiet  in  den  Eltern  Nothwendigkeit ,  weil  die  Jungen  vor  dem 
Erkmen  ohne  Unterricht  zu  Orupde  gegangen  sein  würden,  und 
ditiißT  höheren  Lernfähigkeit  und  diesem  stärkeren  Lehrinstiiiet 
in  Yerblmdung  mit  vollkommener  %rae^e  verdankt  daa  Menscheo- 
geßchlecht  seine  floxtschnittsfähigkcit  durch  Generationen,  und  diiSMr 
fti^irie  ganze  Stellung  und  BedeutuAg  in  der  Katur. 

Bei  den  Thieren  haben  Maon  und  Weib  gleicdbie  Beschäfiaguvg» 
anderfi  htdia^  gebildeten  Mjeusohen,  wo  vorzugsweise  der  Mann  för 
die  Ftimilie  £u  «erwerhen  hat,  also  aach  vorzugsweise  gm  Srnehoof 
basouders  d^  männlichjau  ifiTachkoBunenschaft  befähigt  ist.  Nur  hin 
und  wieder  nimmt  hei  den  TbieneA  4er  männliche  l^eil  an  der 
Sorge  für  die  I^ehkommensehaft  Theil.  &  macht  der  männliehe 
Libche  eine  Grube  für  die  Eier  des  Weibchens,  die  er  zuseharrt^ 
w^n  »ia  befruchtet  sind;  bei  den  meisten  monogamisehen  Vögeln 
hillt  das  Männdien  )>eim  Nestbau,  brütet  abwechselnd,  oder  fütdert 
dae  bjütende  Weihchen,  vertheidigt  die  Eier,  uad  nimmt  an  Pflege» 
Kniahrung  und  Besohü^Eung  der  Jungen  Theil.  Aehnliohes  konmt 
aueh  bei  Menschen  V(^r.  Es  ist  eine  gewiöhnlicfae  Erscheinung,  da«0 
Minnani  alle  kleinen  Kinder  aufs  Höchste  zuwider  isind«  und  dieser 
Widerwille  auf  einmal  aufhört,  wenn  sie  selber  welche  haben.  £i 
i&t  ßl&o  wohl  kein  Zweilel,  dass  es  einen,  wenn  auch  sohwächerea 
Inüänct  der  yaterliebe  giebt,  was  auch  durch  die  «äctliche  Liehe 
der  Tiitor  zn  solchen  Kindern  bewiesen  wird,  die  vermo^  leibr 
lieber  und  geistiger  Erbärmlichkeit  ihnen  unter  allen  «andaiea 
V^rhültnissen  nujr  Wideirwillen  und  Y ecac^tung,  oder  höchstens  Mitleid 
#rregt  hstten;  trotzdc^  aber  glaube  ich,  dass  bei  der  Yaterliebe 
Üml&  die  Pflicht,  der  Anstand  und  die  Sitite,  theils  die  Gewohnheit» 
tb^ilji  bewus#te  freundschaftliche  Zuneigimg  die  Hauptursaohen  ab- 
gebe^, upd  der  Instinct  eines  Ihi^es  nur  in  früherer  Jugend, 
andenitbMU  «her  in  Momenten  der  Gefahr  für  das  Kind  hawortritt 
Endiii:!h  iisit  noch  zu  bemerken  ^  dass  eine  wahre  YatMliebe,  ieh 
m^im  ^ine,  die  über  da^  hinausgeht,  was  Anstand  und  SiUs  ior- 
dem,  und  was  die  fiewobnheit  des  Umganges  erwachsen  lässi,  eine 
viel    s^ltener^  Erscheinung  ist,   als    man   anzun^hnven  geneigt  i^ 


\ 


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169 

^Nilkh  Bocb  lange  -iiieht  so  viel  seltener,  wie  4ie  OeBobwisterliebe 
jls  ihr  Ruf  ist  Was  bS^t  wifklich  yon  «oloher  Taterliebe  eidstiit« 
«ad  nieht  gerade  in  Momenten  der  Gtofahr  hevvterbrielit ,  sondern 
mmen  da  ist,  4a6  ist  bewvMte  ggeandtcJMrff ,  verbunden  mit  der 
bewassten  üeberlegnng,  dase  keiner  für  «ein  Kind  sengt,  wenn  er 
es  nicht  thnt,  für  das  Kind,  das  durch  seine  Behald  dem  Leben 
^«ilEJlen  ist;  eine  ^«jberlegung,  die  allein  «u  4en  grösiton  Opfern 
btfthigen  kann.  Hiemns  ist  es  denn  eridttrlioh,  <dass  die  measob- 
lichen  Kinder  auch  nach  beendeter  Erziehung  den  Eltern  nicht 
BO  fremd  werden,  wie  bei  den  Thieren;  denn  durch  die  so  sehr 
yiel  längere  Kindheit  hat  die  Gewohnheit  Zeit,  ihre  Bande  zu 
Bchlingen^  und  wenn  irgend  geistige  Harmonie  zwischen  Eltern 
Bnd  Kindern  stattfindet,  so  wird  sich  mit  Hülfe  dieser  Gewohnheit 
aoeh  ein  gewisser  Grad  yon  Freundschaft  einstellen;  endlich  aber 
erlischt  im  Menschen  deshalb  der  Instinct  der  Elternliebe  nie  ganz, 
weil  die  Eltern,  so  lange  sie  leben,  immer  noch  die  Möglichkeit 
haben ^  zum  Besten  der  Kinder  Opfer  zu  bringen,  oder  ihnen  aus 
Gefahren  zu  helfen ;  denn  während  das  Thier  ganz  auf  sich  gestellt 
ist,  ist  der  Mensch  nur  in  der  Gesellschaft  im  Stande,  menschlich 
212  leben.  Dazu  kommt  endlich,  dass  die  Menschen  im  höheren 
Alter  nech  einmal  die  Comödie  an  den  Enkeln  durchspielen. 

Wenn  beim  Mann  die  Yaterliebe  weniger  Instinct  ist,  so  ist 
es  dafür  um  so  mehr  der  Trieb,  einen  Hausstand  zu  gründen,  und 
ieine  Bestimmung  als  Familienvater  zu  erfüllen,  wenn  er  auch 
dadurch  sich  und  das  Mädchen,  das  er  heirathet,  ruinirt  und  un- 
^ücklioh  macht,  während  sie  unyerheirathet  Jeder  ganz  gut  zu 
leben  gehabt  hätten«  Ich  spreche  hier  nicht  yon  liebe,  auch  nicht 
Ton  Geschlechtstrieb  im  Allgemeinen;  sondern  wo  erstere  ganz 
fehlt,  und  letzterer  bei  Weitem  kein  genügendes  Motiy  abgeben 
▼ürde,  stellt  sich  in  den  reiferen  Mannesjahren  der  Trieb  ein, 
einen  Hausstand  zu  gründen,  und  wenn  der  arme  Teufel  noch  so 
sehr  einsieht,  dass  er  hungern  muss,  während  er  ledig  sein  gutes 
Anikonmien  hat,  es  wird  doch  geheirathet.  Es  ist  derselbe  Trieb, 
der  yon  der  Familie  seiner  Eltern  den  yier-  bis  fün^ährigen  jungen 
Hengst  mit  einigen  seiner  Schwestern  sich  trennen  heisst,  um  eine 
eigene  Familie  zu  bilden,  und  der  die  Yögel  zum  Nestbau  zwingt; 
fiie  wissen  so  wenig  wie  jener  arme  Teufel,  dass  die  Mühe  und 
&tbehrangen,  die  sie  sich  aus  Instinct  auferlegen,  keinen  anderen 
Zweck  haben,   als  die  Erhaltung  der  Gattung  möglich  zu  machen. 


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170 


Dieser  unbefriedigte  Trieb  ist  es,  der  die  alten  Junggesellen  sich 
80  unbehaglich  fühlen  lässt;  und  wenn  sie  hundert  Mal  einsehen, 
dasd  es  ihnen  im  ehelichen  Leben,  alle  Schererei,  die  sie  dort 
hätten,  zusammengerechnet,  nicht  besser  gehen  würde,  so  ist  doch 
die  Unlust  dieses  unbefriedigten  Triebes  nicht  weg  zu  demonstriren, 
eben  weil  er  Instinct  ist. 

Es  folgt  nun  die  Betrachtung  des  Instinctes  der  Liebe.  Dieser 
Firn  et  ist  jedoch  so  wichtig,  dass  ich  ihm  ein  eigenes  Gapitel 
widme. 


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n. 
Das  Unbewiisste  in  der  geseUeehtlicheH  Liebe. 


Die  Staubgefasse  der  Pflanze  neigen  sich,  wenn  ihr  Pollenstaub 

reif  ist,  und  schütten  ihn  auf  die  Narbe;  die  Fische  ergiessen  ihren 

Samen  über  die  Eier  ihrer  Gattung,  wo  sie  einen  Haufen  derselben 

f       finden;   der  Lachs  grabt   seinem  Weibchen  eine  Grube  dazu;  die 

l      8epien  werfen  einen  als   männliches  Zeugungsglied  ausgebildeten 

!Ana  ab,  welcher  wie  ein  selbstständiges  Thier  das  Weibchen  auf- 
'  Booht  und  in  dasselbe  eingedrungen  das  Begattungsgeschäft  volbdeht ; 
,  die  Flosskrebse  befestigen  im  November  dem  Weibchen  Begattungs- 
tasohen  mit  Samen  unter  dem  Leib,  der  im  Frühjahr  die  gereiften 
Bier  befiruchtet;  die  männlichen  Spinnen  tupfen  die  aus  ihrer  Ge- 
Bchlechtsöf&iung  tropfenweise  hervorquellende  Samenfeuchtigkeit  mit  ' 
einem  äusserst  complicirten ,  in  dem  letzten  ausgehöhlten  Gliede 
ihrer  Taster  enthaltenen  Apparat  au^  und  bringen  sie  vermittelst 
desselben  in  die  weibliche  Geschlechtsöffiiung ;  der  Frosch  umklam- 
mert das  Weibchen  und  ergiesst  seinen  Samen,  indem  gleichzeitig 
das  Weibchen  die  Eier  legt;  der  Singvogel  bringt  die  Oeffnung 
seines  Samenganges  auf  die  Cloake  des  Weibchens,  und  die  Thiere 
mit  Euthe  führen  sie  in  die  weibliche  Scheide  ein.  Dass  die  Fische 
iloen  Samen,  zu  dessen  Entleerung  sie  sich  getrieben  fühlen,  gerade 
nia  anf  die  Eier  ihrer  Gattung  ergiessen,  dass  Thiergattungen,  bei 
denen  Männchen  und  Weibchen  ganz  verschiedene  Formen  zeigen 
(wie  2.  B.  Leuchtwurm  und  Johanniskäfer),  dennoch  zur  Begattung 
sich  ohne  Irrthum  zusammenfinden,  und  dass  das  männliche  ^uge- 
thier  seine  Euthe,  zu  deren  Reizung  es  sich  in  der  Brunstzeit  ge- 
trieben fühlt,  gerade  nur  in  der  weiblichen  Scheide  seiner  Species 
^l>t,  sollte  dies  wirklich  zwei  verschiedene  Ursachen  haben,  oder 
sollte  es  nicht  vielmehr  das  Wirken   desselben  XTnbewussten  sein, 


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) 


172 

welehts  die  Geschlechtstheile  zusammenpassend  bildet,  und 
wolcheB  als  Instinct  zu  ihrer  richtigen  Beuutzung  treibt»  das- 
selbe unbewusste  Hellsehen,  welches  in  Bildung  wie  in  Benutzasg 
die  Mittel  dem  Zwecke  anpasst,  welcher  nicht  in's  Bewosstsein 
faul?  Der  Mensch,  dem  so  mannigfache  Mittel  zu  Gebote  stehen, 
dan  physischen  Trieb  zu  befriedigen,  die  ihm  alle  dasselbe  leisten 
me  die  Begattung,  er  sollte  sich  dem  unbequemen,  eklen,  schäm- 
lu^^eu  Geschäft  der  Begattung  unterziehen,  wenn  nicht  ein  Instinct 
ihn  dazu  immer  von  Neuem  triebe ,  wie  oft  er  auch  erprobt  habe, 
dam  diese  Art  der  Befriedigung  ihm  factisch  keinen  höheren  sinn- 
iichcii  Genuss  gewährt  wie  jede  andere?  Aber  selbst  zu  dieser 
Eingicht  gelangen  nicht  viele,  weil  sie  trotz  der  Erfahrung  den 
^zukünftigen  Genuss  immer  wieder  nach  der  Stärke  des  Triebes 
bemessen,  oder  gar  noch  während  des  Actus  vom  Triebe  so  be- 
nommau  sind,  dass  sie  nicht  einmal  zur  Erfahrung  kommen. 
Mau  wird  vielleicht  einwenden  wollen,  dass  der  Mensch  häufig  die 
Begattimg  begehrt,  obwohl  er  die  Unmöglichkeit  der  Zeugung  kennt, 
jjj,  B.  bei  notorisch  Unfruchtbaren  oder  Prostituirten,  oder  während 
er,  wie  bei  unehelichen  Verhältnissen,  die  Zeugung  zu  verhindeni 
Bucht-  dem  ist  aber  zu  erwidern,  dass  die  Kenntnise  oder  Absieht 
dm  BewusBtseins  auf  den  Instinct  keinen  directen  £influ«6  hat,  da 
der  Zweck  der  Zeugung  eben  ausserhalb  des  Bewusstseins  liegt, 
und  nur  das  Wollen  des  Mittels  zu  dem  unbewussten  Zweck  (wie 
bei  allen  Instincten)  in's  Bewusstsein  fällt.  Ein  Beweis  daför,  dasi 
der  Trieb  zur  Begattung  keine  blosse  Folge  des  physischen  Dranges 
in  den  Genitalien  ist,  liegt  ferner  auch  in  dem  früher  angefahrten 
Beiepiel  von  der  Begattung  der  Vögel  (Cap.  A.  HI.  8.  56 — 57)  imd 
endlich  noch  in  der  Erscheinung,  dass  die  Stärke  des  geschlecht- 
liehen  und  physischen  Dranges  in  gewissem  Grade  von  einander 
imabhängig  ist;  denn  man  findet  Menschen  mit  starker  Neigung  zum 
atideren  Geschlecht,  während  ihr  ph3r8ischer  Trieb  so  gering  ist, 
da8B  er  fast  an  Impotenz  streift,  und  umgekehrt  giebt  es  Menschen 
von  starkem  physischen  Triebe  und  doch  geringer  Neigung  vom 
anderen  Geschlecht.  Dies  liegt  darin,  dass  der  physische  Trieb  von 
Zufälligkeiten  der  physischen  Organisation  der  Genitalien  ab- 
hängig ist,  der  metaphysische  aber  ein  Instinct  ist,  der  aus  dem 
Unbewussten  quillt;  das  schliesst  indess  nicht  aus,  dass  einerseits 
der  metaphysische  Trieb  durch  einen  stärkeren  physischen  IVieb 
mehr  zum  Functioniren  geweckt  werde,  und  andererseits  die  Stärke 


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173 

d«c  physifldien  Tridbes  bei  Bildung  der  Organisati«!  mit  dorok  die 
Skifarke  des  metaiihjsiBehett  Tnebea  bedingt  werde.  Daher  liegt 
«leh  die  Uinabhäiigigkeit  beider  yon  einander  ef  ^BiurangBinässig  nur 
iik  ge^Men  QrenzeiL  Auch,  die  Phseaokgie  erkennt  die  Sonderung 
beider  Trieb»  aa,  denn  während  der  phyttieebei  Dvaag  offenbar  nur 
in  dar  OrgMusaüen  day  Genitalien  und  der.  Reissbarkeit  des  gansen 
Nierreas^Btems  geflucht  werden  kannr^  suoht  die  Phrenologie  — 
gbiclmel  mit  welchem  Beebte  —  die  Stärke  des  geschlechtlichen 
Inet»efl  aofl  dem  kleinen  Gehirn  und  den  lunliegenden  Theilen  zu 
erkeamea 

Nachdem  wir  das  Generelle  des  Geschlechtstriebes  als  etwas- 
hntinotireB  erkannt  haben,  firag^  es  sich,  ob  es  mit  der  Individua- 
lisatioa  desselben  ebenso  sei,  oder  ob  diese  aus  Bedingungen  des 
Bewusstseias  entspringe.    Bei  den  Thieren.  unterscheiden  wir  folgende 
Fälle:  Entweder  ist  der  Geschlechtstrieb  bloss  genereU,   die  Ans- 
mihi  des  IndÜTiduoms  bleibt  dem  Zufall  völlig  überlcwsen,  und  mit 
der  eimnaUgen  Begattung  hört  jede  Gemeinschaft  auf^  wie  z.  B.  bei 
den  niederen   Seethieren,   den  Fischen,    die    sich   begatten,    den 
Frosehen  u.  a. ;  oder  die  sich  paarenden  Individuen  bleiben  für  die 
Zeit  einer  Brunst  zusammen,  wie  die  meisten  Nager  \md  mehrero 
KatzMttrten,  (>der  bis  zum  Gebären,  wie  die  Bären,  oder  noch  eine 
Zeiüang  nachher,  bis  die  Jungen  sich  mehr  entwickelt  haben,  wie 
Äie  meisten  Vögel,  die  Fledermäuse,  Wölfe,  Dachse,  Wiesel,  Maul- 
würfe, Biber,   Hasen;   oder  sie   bleiben   lebenslänglich  beisammen 
uid  bilden  eine:  Familie ;  hier  ist  wieder  Polygamie  und  Monogamie 
zu  naterscheideii ;  ersteore  findet  sich  bei  den  hühnerartigen  Vögeln, 
den  Widerkfiuern,  Eiahufem,  Dickhäutern  und  Eobben,  letztere  bei 
ouiigen  Giusteceen,  Sepien,  Tamben  und  Papageien,  bei  den  Adlern, 
^töniien,   Beben   und  Getaoeen.     Man  wird  mit  Grund  anatmen 
Bnusen ,  dass  bei  den.  monogamischen  Thieren  die  Schliessung  der 
Äen,  die  so  treu  gehalten  w^den,  kein  blosses«  Werk  des  Zufalls 
^  soadem  dass  in  der  Beschaffenheit  der  sidi  zusammenfindenden 
matten  for  dieselben  Motive  liegen  müssen,  warum  sie  einander  vor 
uideieiL  Individuen  einen  gewissen  Vorzug  einräumen.     Sehen  wir 
^  selbst   bei   regellos    sich    begairtPenden   Thieren   von   höherer 
6«»teestttfe   eine   mit    entschiedener  Leidenechaft   verknüpfte   ge- 
^eohtliohe  Auswahl  nichr  selten  eintareten  (z.  B.  bei  edlen  Hengsten 
oder  Hunden).      Eine  Adlerswitt we  bleibt  gewöhnlich  ihr  Leben 
^Qg  tniTermählt;  man  beobaohtete>  dass  ein  Storch,  sein  Weibchen ' 


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174 

welches  einer  Wunde  wegen  nicht  mit  ihm  ziehen  konnte,  drei 
Jahre  hindurch  in  jedem  Frühjahre  wieder  aufsuchte,  in  den  fol- 
genden Jahren  aher  auch  im  Winter  bei  ihm  blieb.  Bei  mon(%8- 
mischen  Thieren  kann  mitunter  das  eine  nicht  ohne  das  andere 
leben,  so  stirbt  z.  B.  von  einem  Paar  Inseparables  das  zweite  oft 
schon  einige  Stunden  nach  dem  ersten.  Aehnliches  hat  man  von 
dein  Kamiohy,  einem  südamerikanischen  Sumpfvogel,  bisweilen  be- 
merkt, sowie  von  Turteltauben  tmd  Mirikina- Affen.  Auch  Wald- 
IcTchen  kann  man  nur  paarweise  im  Bauer  halten.  Wir  können 
nicht  annehmen,  dass  Dasjenige,  was  beim  Storch  den  mächtigen 
Wanderinstinet  überwunden  hat,  was  die  Inseparables  in  kurzer 
Friet  fcödtet,  etwas  Anderes  als  auch  ein  Instinct  sei,  sonst  könnte 
es  nicht  so  schnell,  so  tief  in  den  innersten  Kern  des  Lebens  ein- 
greifen. Dass  die  Formen  der  geschlechtlichen  Beziehungen  Instincte 
emä,  beweist  auch  ihre  XJnveränderlichkeit  iimerhalb  einer  Gattung. 
Nach  Analogie  dieser  Erscheinungen  müssen  wir  auch  beim  Mcd- 
sehen  das  Zusammenleben  der  Gatten  in  der  Ehe  für  eine  Institu- 
tion des  Instincts  und  nicht  des  Bewusstseins  halten,  wobei  ich  an 
den  Instinct,  einen  Hausstand  zu  gründen,  erinnere,  mit  welchem 
dieser  eng  zusammenhängt.  Das  vorsätzliche  Bestreben  der  unehe- 
lichen vorübergehenden  Liebschaft  dagegen  müssen  wir  als 
etwas  Instinctwidriges  betrachten,  welches  nur  durch  bewussten 
Egoismus  hervorgerufen  wird.  Hier  verstehe  ich  aber  unter  Ehe 
nicht  die  kirchliche  Ceremonie,  sondern  die  Absicht,  das  Yer- 
häknias  zu  einem  dauernden  zu  machen.  —  Es  fragt  sich  nun,  ob 
Polygamie  oder  Monogamie  die  dem  Menschen  natürliche  Form  ist, 
und  wie  es  kommt,  dass  die  Menschheit  die  einzige  Thiergattaug 
ist,  wo  verschiedene  Formen  der  Geschlechtsbeziehungen  neben 
einander  vorkommen.  Mir  scheint  sich  dies  Bäthsel  so  zu  lösent 
daBP  der  Instinct  des  Mannes  Polygamie,  der  des  Weibes  Monoga- 
loict  fordert,  dass  daher  überall,  wo  der  Mann  ausschliesslich  dominirt, 
rechtlich  Polygamie  herrscht,  hingegen  da,  wo  der  Mann  durch  höhere 
Bildung  dem  Weibe  eine  würdigere  Stellung  eingeräumt  hat,  auch 
die  Monogamie  zur  gesetzlich  allein  gültigen  Form  geworden  ist, 
w^rond  sie  von  Seiten  der  Männer  factisch  in  keinem  Theile  der 
Welt  streng  innegehalten  wird.  Dass  die  Monogamie  die  Form  sei, 
welche  in  der  Menschheit  für  die  längste  Zeit  ihres  Bestehens  factisch 
herrschen  wird,  ist  schon  in  der  Gleichzahl  der  Individuen  beider 
Geschlechter  angezeigt.     Wenn  für  den  Mann  die  Ehebruchsgelüste 


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176 

flo  sohwex  XXL  benegen  sind,  bo  ist  dies  nur  eine  Wirkung  seines 
Instinctes  sux  Polygamie ;  wenn  aber  ein  Weib,  das  an  ihrem  Manne 
einen  ganzen  Mann  hat,  Ehebmchsgelüste  hat,  so  ist  dies  entweder 
eine  Fo^e  völliger  Entartung  oder  der  leidenschaftlichen  Liebe. 
Die  Yerschiedenheit  des  Instinctes  in  Mann  und  Weib  versteht  man 
wohl,  wenn  man  bedenkt,  dass  ein  Mann  in  einem  Jahre  mit  der 
genügenden  Anzahl  Frauen  bequem  über  hundert  Kinder  zeugen 
könnte,  das  Weib  aber  mit  noch  so  viel  Männern  nur  Eins;  dass 
der  Mann  wohl  unter  günstigen  Umständen  mehrere  Frauen  und 
deren  Kinder  ernähren  kann,  die  Frau  aber  nur  in  eines  Mannes 
Hausstand  wohnen  kann,  und  durch  jede  in  diesen  eingeführte 
Rivalin  sich  und  ihre  Kinder  beeinträchtigt  fühlt. 

Nachdem  wir  den  geschlechtlichen  Instinct  am  Menschen  in 
genereller  und  individueller  Beziehung  erkannt  haben ,  bleibt  die 
Frage  offen,  warum  er  sich  auf  dieses  Individuum  ausschliesslich 
coQcentrire  und  nicht  auf  jenes,  d.  h.  die  Frage  nach  den  Be- 
stimmungsgründen der  so  eigensinnigen  geschlecht  lichenWahl. 

Dass  bei  den  Menschen,  namentlich  den  gebildeteren  Classen, 
die  Zahl  der  zu  begehrenderen  Individuen  anderen  Geschlechtes 
wesentlich  beschränkt  ist,  liegt  an  den  Hemmungen,  die  vorher 
überwunden  werden  müssen,  nämlich  Ekel  bei  beiden,  und  Scham 
YorxugBweise  beim  weiblichen  Geschlecht.  Die  körperlichen  Be- 
rührungen sind  so  enge,  und  werden  durch  die  instinctiyen  Be- 
gleitungshandlungen, wie  Küssen  u.  s.  w.,  so  vervielfältigt,  dass  der 
£kel,  wenn  er  nicht  schon  abgestumpft  ist,  in  sein  volles  Recht 
tritt  und  der  geschlechtlichen  Verbindung  mit  all'  und  jedem  Indi- 
Tiduum  einen  kräftigen  Widerstand  entgegensetzt.  Die  Scham 
beim  weiblichen  Geschlecht,  und  beim  männlichen  die  Kenntniss 
des  Widerstandes,  welchen  diese  Scham  entgegensetzen  wird,  sind 
to  noch  wirksamere  Beschränkungen.  Beides  aber  erklärt  nur 
negativ,  warum  diese  und  jene  Individuen  ausgeschlossen  sind,  und 
lucht  positiv,  warum  dieses  Eine  begehrt  sei.  Der  Schönheits- 
sinn kann  wohl  auch  dabei  mitwirken,  —  so  wie  man  ein  schönes 
Pferd,  auch  abgesehen  von  seinem  Gkinge,  und  auch  wenn  es  Nie- 
mand sieht,  lieber  reitet,  wie  ein  hässliches,  —  obwohl  durchaus 
luoht  abzusehen  ist,  was  die  Schönheit  oder  Hässlichkeit  mit  dem 
^UB8  bei  der  Begattung  oder  überhaupt  mit  den  geschlechtlichen 
Beiiehnngen  zu  thun  habe;  denn  wenn  man,  wie  z.  B.  in  Shake- 
speare^B  ,JSnde  gut,  Alles  gut''  einem  rasend  Verliebten  in  der  Nacht 


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170 

iine  Falsohe  tntearsohiebt,  00  thut  dies  offnibi»  semeife  GKbbqs» 
keinett  Euitlirag«  Es  kihthte  aoeh*  die  Eitelkeit»  vtk  Anderen'  wi 
kübB^hes  Weib  sein  netinen  zu  kömieiii,  mik(9prediten»  wem  stobt 
efst  i^riedet  der  Qegeilstakid'  dieser  Eitelkeit  diefr  Erkläi^ong  biedürfte; 
im  Gninde  geHommeQ'  rücken  wir  mit  alledem  der  FriBkge  kefin^tf 
Bchritt  näherr,  weil  erstens  sehr  viel  hübsche  Menflchen  sind,  und 
zweitens  bei  Weitem  nioht  die  hübsehestete  gesoMeohtüch  am 
meisten  reizen.  Eher  könnte  schon  die»  eine  Antwort  sein:  der 
Mann  hat  die  weibliche  Sohcun  zu  überwinden,  unk  zom  Ziele  su 
kommen;  hat  er  diese  Arbeit ^  die  nur  allmälig  von  Stattet  geht, 
einmal  begonnen,  so  hat  er  nun  bei  diesem  Individwom  nur  nook 
eine  geringere  Arbeit  vor  sich,  als  bei  anderen,  um  seiner  Eitel- 
keit den  Sieg  zu  yerschaffen.  Aber  diese  Antwort  lässt  wieder 
den  ersten  Anfang  ganz  dem  Zufall  anheimgestellt,  und  ist  dem- 
nach gewiss  unzureichend,  wenn  es  auch  oft  genug  sieh  so  zuträgCv 
Ef  scheint  nunifaiehr  nichts  übrig  zu  bleiben,  als  dass  es  geisd^e 
Eigenschaften  sieien,  welche  die  geschlechtliche  Auswahl  bedingeit 
Bif^s  immittelbar  zu  nehmen^  ist  ganz  unmöglich^- da  für  den  gesohlecht- 
üohenGenuss  die  geistigen  Eigenschaf  ken  völlig  gleichgültig  sind,  noch 
gi(:^ichgiiltiger  als  die  körperliche  Schönheit;  es  kann  also  nur  bo 
zu  vüFstehen  sein,  dass  die  geistigen  Eigenschafben  eine  geistig^ 
Harmonie  und  gegenseitige  Anziehung  heitvorrufen,  welche  auf  be- 
wuiäten  Grundlageil  rUht,  und  für  das  künftige  Zusammenleben  das 
efrösstmöglichste  Glück  verspricht.  Dieses  bewusste  Seelenverhältnißs, 
welches  durchaus  identisch  mit  dem  Begriff  der  Freundschaft 
ist,  würde  alsdann  erst  die  geschlechtliche  Wahl  bedingen  müssen^ 
d.  b.  die  Ursache  sein,  da&s  der  geschlechtliche  Umgang  mit  diesem 
besonders*  befreundeten  Individuum  allen  anderen  vorgezogen  wird. 
DiosöT  Process  ist  in  der  That  ein  sehr  gewöhnlicher,  besonders  beim 
weil  liehen  Geschlecht,  das  nicht  wählen  darf,  sondern  gewählt 
wird.  Es  ist  schlechterdings  för  gewöhnlich  nicht  zu  erwarten,  dass 
eine  Braut  eine  andere  Liebe  als  diese  für  einen  Bräutigam  haben 
soll,  den  ihre  Eltern  ihr  vorschlagen^  oder  den  sie  zum  ersten  Mal 
uuter  vier  Augeto  gesprochen,  als  er  sieh  erklärte,  und  für  welche!! 
ide  hieher  kein  imderes  Interesse  haben  konnte,  als  die  Y^muthnag^ 
dase  er  sich  fih:  sie  interessire.  Wenti  sie  nun  Brant  ist,  so  streügt 
&io  ihre  Phantasie  an,  alles' von  Schwärmerei,  was  siie  je  in  Romanen 
gelesen,  hier  auf  diesen  Einen  in>  Nutzai^wendUng  zu*  bifitigsn» 
achwfJrt  ihm  Liebe*,  gkubt   es   bald  selbst,  iAdem   sie  sich  daran 


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177 

gewöhnt   hat,    mit    ihrem  aufgeregten  generellen   Gesohleohtstrieb 
stets  sein  Bild  zu  yerknüpfen,  und  folgt  später  ihrer  Pflicht  und 
ihrer  Neigung  zugleich,   wenn  sie  diesem  Manne,  dem  Vater  ihrer 
Kinder,  treu  bleibt,  für  den  sie  Achtung  und  Freundschaft  gefasst, 
and  an  den  sie  sich  gewöhnt  hat.     Bei  Lichte  besehen  geben  aber 
alle  diese  Ingredienzien,  als :  genereller  Geschlechtstrieb,  Phantasie, 
Achtung,  Freundschaft,   Pflichttreue  u.  s.  w.,  soyiel  man  sie  auch 
mengt   und   schüttelt,   immer   noch   keinen  Funken   von  dem,  was 
einng  und  allein  mit  dem  Namen  Liebe  bezeichnet  werden  kann 
nnd  soll;   und  was  an  ihnen  dennoch  als  solche  erscheint,  das  ist 
meistens   eine   Täuschung  anderer  und   bald   auch  ihrer  selbst,  da 
sie  doch  nach  ihrem   gegebenen  Jawort  sohioklicherweise  auch  ein 
Herz  roll  Liebe  verschenken  müssen,  und  sie  sich  übrigens  bei  den 
bräutlichen   Schäferstündchen   ganz  gut  amüsiren.      Der  Bräutigam 
glaubt  dem  Betrüge  so  gern,  als  die  Braut  ihn  übt,  denn  was  glaubte 
der  Mensch  nicht,  wenn  es  nur  stark  genug  seiner  Eitelkeit  schmei- 
chelt    Nach   der  Hochzeit,  wo  beide  Theile  andere  Dinge  zu  be- 
sorgen haben,  hört  die  Comödie  so  wie  so  bald  genug  auf,  mag  sie 
Bon  im  Ernste  oder  im  Scherz  gespielt  sein.     Das  Wesentliche  von 
der  Sache  ist,  dass  diebewusste  Erkenntniss  geistiger  Eigenschaften 
immer  und  ewig  nur  bewusste  geistige  Beziehungen,  Achtung  und 
Fremidschaft  zu  Stande  bringen  können,  und  dass  Freundschaft  und 
Liebe  himmelweit  verschiedene  Dinge  sind.     Die  Freundschaft  kann 
weh  keine  Liebe  erwecken,  denn  wenn  z.  B.  bei  einer  Freundschaft 
zwischen  zwei  jungen  Leuten  verschiedenen  Geschlechts  sich  leicht 
ein  wenig   Liebe    einschleicht ,  so  ist  dies  nur  ein  Freiwerden  des 
generellen  Geschlechtstriebes   in   einer  durch  Vertraulichkeiten  er- 
leichterten   Bichtung,    oder   aber  sie  hätten    sich   auch  ohne    die 
Freundschaft  in   einander  verliebt,  und  diese  schlummernde  poten- 
tielle Liebe   ist    nur  durch   die  Gelegenheit  wach  gerufen  worden. 
&  kann  aber  sehr  wohl,    wenigstens  von  männlicher.  Seite,    eine 
leine  Freundschaft   ohne   geschlechtliche   Beimischung   geben,   und 
wenn  dies  von  weiblicher  Seite   nicht  möglich  sein  sollte,  so  läge 
dies  nur    daran,    dass   sie   überhaupt  keiner   reinen  und   wahren 
Freundschaft  fähig  wären,  so  wenig  mit  Männern,  wie  sie  es  unter 
«inander  sind,   weil  die   Freundschaft   ein   Product   des  bewussten 
veistes  ist,   sie  aber  zu  Grossem   nur   fähig  sind,  wo  sie  aus  dem 
HueÜ  des  unbewussten   Seelenlebens  schöpfen. 

Auch  zwei  wahrhafte  Freunde  können  nicht  ohne  einander  leben, 

V.  Htftaiun,  Pbil.  d.  UnbewimateD.  12 


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178 

und  äii^d,  fcibi&  einander  jedes  Opfer  zu  bringen,  wie  zwei  liebende, 
aber  welch'  ein  Unterschied  zwischen  Freundschaft  und  Liebe!  Die 
eine  ein  sohöner,  milder  Herbstabend  von  gesättigtem  Colorit,  die 
ftndere  ein  schaurig  entzückendes  Erühlingsgewitter ;  die  eine  die  leicht- 
hin lebenden  Götter  des  Olymps,  die  andere  die  himmelstiu> 
menden  Titaoen;  die  eine  selbstgewiss  und  selbstzufrieden,  die 
audt^re  langend  und  bangend  in  schwebender  Pein;  die  eine  klar 
im  Bewusstsein  ihre  Endlichkeit  erkennend,  die  andere  immer  nur 
imch  dem  Unendlichen  strebend  in  Sehnsucht,  Lust  und  Leid, 
himmelhoch  auQauchzend,  zum  Tode  betrübt;  die  eine  eine  klare 
iiiid  reine  Harmonie,  die  andere  das  geisterhafte  Klingen  und 
Riiu^chen  der  Aeolsharfe,  das  ewig  Unfassbare,  Unsagbare,  Unaus- 
sprechliche, weil  nie  mit  dem  Bewusstsein  zu  Fassende ,  der  ge- 
ht; imniBsyoUe  aus  femer,  femer  Heimath  herübertönende  Klang;  die 
eine  ein  lichter  Tempel,  die  andere  ein  ewig  verhülltes  Mysterium. 
Eä  vergeht  kein  Jahr,  wo  nicht  in  Europa  eine  Menge  von  Selbst- 
morden, Doppelmorden  und  Wahnsinnigwerden  aus  unglücklicher 
Liebe  vorkommen;  aber  ich  weiss  noch  keinen  Fall,  dass  sich  einer 
aua  imerwiederter  Freundschaft  getödtet  oder  den  Verstand  verloren 
hatte.  Bas  und  die  vielen  durch  Liebe  geknickten  Existenzen  (von 
FrAueu  hauptsächlich  und  wenn  es  nur  auf  Wochen  oder  Monate 
wiirej  beweisen  deutlich  genug,  dass  man  es  bei  der  Liebe  nicht 
mit  einem  Possenspiel,  einer  romantischen  Schnurre  zu  thun  habe, 
s»ondem  mit  einer  ganz  realen  Macht,  einem  Dämon,  der  immer  aufs 
Ntue  Keine  Opfer  fordert.  Das  geschlechtliche  Treiben  der  Mensch- 
heit in  allen  seinen  so  o£fenkundig  durchschaut  werden  sollenden 
Masken  und  Verhüllungen  ist  so  wunderlich,  so  absurd,  so  komisch 
unU  läoherlich,  und  doch  grossentheils  so  traurig,  dass  es  nur  ein 
Mittel  giebt,  alle  diese  Schnurren  zu  übersehen,  das  ist:  wenn  man 
mitten  drinsteckt,  wo  es  Einem  dann  geht,  wie  einem  Trunkenen 
unter  einer  Gesellschaft  von  Trunkenen :  man  findet  Alles  ganz  natür- 
lich und  in  der  Ordnung.  Der  Unterschied  ist  nur  der,  dass  jeder 
sich  das  belehrende  Schauspiel  einer  trunkenen  Gesellschaft  aU 
nüchterner  verschafifen  kann,  aber  nicht  so  als  geschlechtsloser,  oder 
man  muss  steinalt  werden,  oder  man  müsste  (wie  ich)  dies  Treiben 
mhon  beobachtet  und  überlegt  haben,  noch  ehe  man  betheiligt 
war,  und  da  gezweifelt  haben  (wie  ich),  ob  man  selber  oder  die 
ganze  andere  Welt  verrückt  sei.  Und  das  Alles  bringt  jener 
Dämon  zu  Stande,  den  schon  die  Alten  so  fürchteten. 


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179 

Was  ist  denn  non  aber  jener  Dämon,  der  sich  00  spreizt  nnd 
io's  unendliche  hinaus  will,  und  die  ganze  Welt  an  seinem  Narren- 
seile tanzen  lässt,  was  ist  er  denn  endlich?  Bein  Ziel  ist  die  Ge- 
schlechtsbefiriedigung,  so  viel  er  sich  auch  drehen  und  wenden  mag, 
um  es  zu  verhüllen  und  zu  verleugnen,  und  so  viel  er  sich  mit 
hohlen  Phrasen  breit  macht.  Denn  wenn  es  nicht  dies  wäre,  was 
sollte  es  denn  sein?  Etwa  die  Gegenliebe?  Nicht  doch!  Mit  der 
heissesten  Gegenliebe  ist  im  Ernste  Niemand  zufrieden,  selbst  bei 
steter  Möglichkeit  des  Yerkehres,  wenn  die  Unmöglichkeit  des 
Besitzes  unabänderlich  ist,  und  schon  Mancher  hat  sich  in  dieser 
Lage  erschossen.  Für  den  Besitz  der  Geliebten  dagegen  giebt 
der  Liebende  Alles  hin ;  selbst  wenn  ihm  auch  die  Gegenliebe  völlig 
fehlt;  weiss  er  sich  mit  dem  Besitz  zu  trösten,  wie  die  vielen  Ehen 
dorch  schnöde  &kaufimg  der  Braut  oder  der  Eltern  mit  Rang, 
Beichthum,  Geburt  u.  s.  w.  beweisen,  letzten  Endes  auch  die  Falle 
der  Nothzucht  bestätigen,  wo  sogar  das  Verbrechen  dem 
Dämon  zu  Liebe  nicht  gescheut  wird.  Wo  aber  das  Geschlechts- 
vermögen erlischt,  da  erlischt  auch  die  Liebe;  man  lese  nur  die 
Briefe  von  Abälard  und  Heloise ;  s  i  e  noch  ganz  Feuer,  Leben  und 
liebe;  er  kühle,  phrasenreiche  Freundschaft.  Ebenso  nimmt  aber 
aach  sofort  mit  der  Befriedigung  die  Leidenschaft  um  ein  Merk- 
liche« ab,  wenn  sie  auch  noch  nicht  gleich  ganz  verschwindet,  was 
jedoch  häufig  auch  nicht  lange  auf  sich  warten  lässt,  wobei  immer- 
hin Freundschaft  und  jene  sogenannte  Liebe  aus  Freundschaft  be- 
stehen bleiben  kann.  Sehr  lange  überdauert  keine  Liebesleiden- 
schaft den  Genuss,  wenigstens  nicht  beim  Manne,  wie  alle  Erfah- 
i'Hngen  zeigen,  wenn  sie  auch  zuerst  noch  kurze  Zeit  wachsen 
kann;  denn  was  später  noch  von  Liebe  in  diesem  Sinne  be- 
hauptet wird,  ist  meistens  aus  anderen  Rücksichten  erheuchelt. 
Die  Liebe  ist  ein  Gewitter;  sie  entlädt  sich  nicht  in  einem  Blitze, 
&her  nach  und  nach  in  mehreren  ihrer  electrischen  Materie,  nnd 
venn  sie  sich  entladen  hat,  dann  kommt  der  kühle  Wind  und  der 
Himmel  des  Bewussteeins  wird  wieder  klar,  und  blickt  staunend  dem 
befrachtenden  Hegen  am  Boden  und  den  abziehenden  Wolken  am 
fernen  Horizonte  nach.  Bas  Ziel  des  Dämons  ist  also  wirklich  und 
wahrhaft  nichts  als  die  Geschlechtsbefriedigung  an  und  mit  diesem 
bestimmten  Individu9m,  und  Alles,  was  drum  und  dran  hängt,  wie 
Beelenharmonie,  Anbetung,  Bewunderung,  ist  nur  Maske  und  Blend- 
werk, oder  es  ist  etwas  Anderes  als  Liebe  neben  der  Liebe;  die 

12* 


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180 

Probe  ist  einfach  die,  ob  es  spurlos  yerschwunden  ist,  wenn  der 
kühle  Wind  kommt;  was  dann  noch  übrig  bleibt,  ist  nicht  liebe 
gewesen,  sondern  Freundschaft.  Damit  ist  jedoch  keinesweges 
gesagt,  dass  der  von  diesem  Dämon  Besessene  das  Ziel  der  Oeschlechts- 
befnedigung  im  Bewusstsein  haben  müsse;  im  Gegentbeil  will 
die  höchste  und  reinste  Liebe  dieses  Ziel  nicht  einmal  eingestehen, 
und  namentlich  bei  einer  ersten  Liebe  liegt  der  Gedanke  gewiss 
fem,  dass  dieses  namenlose  Sehnen  bloss  darauf  hinauslaufen  sollte. 
Bas  Bohnen  und  Streben  ist  in  der  That  ein  Unendliches,  aber 
auch  ohne  entschiedenen  bewussten  Zweck,  trotzdem  jedoch  mit  dem 
einzigen  unbewussten  Zweck  der  Geschlechtsyerbindmig. 
Sowie  die  Begattung  vom  Bewusstsein  als  der  einzige  Zweck 
der  Gefuhlsüberschwenglichkeit  der  Liebe  erkannt  ist,  hört  die 
Liebe  ale  solche  auf,  ein  gesunder  Process  zu  sein;  denn  von  die- 
sem Augenblick  an  erkennt  das  Bewusstsein  auch  die  Absurdität 
der  Ungeheuerlichkeit  dieses  Triebes,  das  Missverhältniss  von  Mittel 
und  Zwock  in  Bezug  auf  das  Individuum,  und  er  geht  nun  in  die 
Leideiii^chaft  mit  dem  Bewusstsein  hinein,  für  sein  Theil  eise 
Dummheit  zu  begehen.  Nur  wo  der  Zweck  der  Liebe  noch  nicht 
bewusiit  geworden,  ist  die  Liebe  ein  gesunder  Process,  ein  Process 
ohne  ioneren  Widerspruch,  nur  da  besitzt  das  Gefühl  diejenige  Un- 
schuld, welche  allein  ihm  den  wahren  Adel  und  Beiz  verleihen 
kann. 

Wir  sind  nun  so  weit,  dass  wir  die  Liebe  zu  einem  bestimmten 
Individuum  als  einen  Instinct  erkannt  haben,  denn  wir  haben  in 
ihr  eine  stetige  Beihe  von  Strebungen  und  Handlungen  gefanden, 
die  alle  auf  einen  einzigen  Zweck  hinarbeiten,  der  jedoch  als  allei- 
niger Zweck  alles  dessen  nicht  in's  Bewusstsein  fallt.  Die  Frage 
ist  ächlieeslich  nur  noch  die,  was  soll  jener  unbewusste  Zweck, 
was  bedeutet  ein  solcher  Instinct,  der  eine  eigensinnige  Auswahl 
in  der  Geschlechtsbefriedigung  hervorruft,  und  wie  wird  er  durch 
den  Anblick  gerade  dieses  Individuums  motivirt?  Von  dem,  was 
den  Hauahalt  der  Natur  interessiren  und  Instincte  nöthig  machen 
kannj  wird  doch  durch  die  geschlechtliche  Auswahl  der  Individuen 
ott'enbBx  nichts  weiter  verändert,  als  die  körperliche  und  geistige 
Beschatleiiheit  des  Kindes,  es  bleibt  also  nach  der  bisherigen  £nt- 
Wickelung  die  einzig  mögliche  Antwort  die,  welche  Schopenhauer 
giebt  (Welt  als  Wille  und  Yorstellung  Bd.  DL.  Cap.  44,  Metaphysik 
der  Geschlechtsliebe),  nämlich,  dass  der  Instinct  der  Liebe  für  eine 


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der  Idee  der  menschlicben  Gattung  mißlichst  entsprechende  Zu- 
sammensetxnng  und  Beschaffenheit  der  nachfolgenden  Generation 
Boigt,  Tmd  dass  die  getränmte  Seligkeit  in  den  Armen  der  Geliebten 
nichte  als  der  trügerische  Köder  ist,  yermittelst  dessen  das  XJnbe- 
wnsste  den  bewnssten  Egoismus  täusoht  und  zu  Opfern  seines 
£ig6nnutze8  zu  Gunsten  der  nachfolgenden  Generation  bringt,  welche 
die  bewusste  Ueberlegung  für  sich  niemals  leisten  würde.  Es  ist 
dasselbe  Princip  in  specieller  Anwendung  auf  den  Menschen,  welches 
Darwin  später  in  seiner  Theorie  der  natürlichen  Zuchtwahl  als  all- 
gemeines Naturgesetz  nachwies,  dass  nämlich  die  Veredelung 
der  Species  ausser  durch  das  Unterliegen  der  untüchtigeren 
Exemplare  der  Gattung  im  Kampf  um's  Dasein  auch  noch  durch 
einen  natürlichen  Instin  et  der  Auswahl  bei  der  Begattung 
hervorgebracht  werde.  Die  Natur  kennt  keine  höheren  Interessen 
ab  die  der  Gattung,  denn  die  Gattung  verhält  sich  zum  Individuum, 
wie  ein  Unendliches  zum  Endlichen;  sowie  wir  nun  schon  Tom 
Einzelnen  verlangen,  dass  er  bewussterweise  seinen  Egoismus,  ja 
Bein  Leben  dem  Wohle  der  Gemeinde  opfere,  so  opfert  die  Natur 
noch  viel  unbedenklicher  den  Egoismus,  ja  das  Leben  des  Indivi- 
dirnins  dem  Wohle  der  Gattung  vermittelst  des  Instinctes  (man 
denke  an  das  Mutterthier,  das  zum  Schutze  der  Jungen  den  Tod 
nicht  scheut,  und  das  brünstige  Männchen,  das  um  den  Besitz  des 
Weibes  auf  Tod  und  Leben  kämpft);  dies  kann  gewiss  nur  weise 
und  mütterlich  genannt  werden.  Wir  erzwingen  die  bewussten 
Opfer  des  Einzelnen  durch  Furcht  vor  Strafe;  die  Natur  ist 
gütiger,  sie  erzwingt  sie  durch  Hoffnung  auf  Lohn;  das  ist 
dodi  wohl  noch  mütterlicher!  Darum  beklage  sich  Niemand  über 
diese  Hoffiaungen  und  ihre  Enttäuschung,  wenn  er  sich  nicht  wie 
Bchopenhauer  über  die  Existenz  der  Natur  und  ihr  Fortbestehen 
tu  beklagen  hat;  im  Uebrigen  ist  der  gaukelnde  Wahn  so  heil- 
sam und  so  unentbehrlich,  wie  der,  den  die  Eltern  Kindern 
«u  ihrem  Besten  vorspiegeln.  Denn  von  allen  natürlichen 
Zwecken  kann  es  offenbar  keinen  höheren  geben,  als  das 
Wohl  und  die  möglichst  g^stige  Beschaffenheit  der  nächsten 
Generation,  da  von  dieser  nicht  bloss  sie  selbst,  sondern  die 
K&uze  Zukunft  der  Gattung  abhängt;  also  ist  die  Angelegenheit 
iu  der  That  höchst  wichtig,  und  der  Lärm,  der  in  der  Welt  davon 
gemacht  wird,  keineswegs  zu  gross.  Trotzdem  aber  bleibt  das  Ver- 
bältniss  von  Mittel  und  Zweck  (Liebesleidenschaft  und  Beschaffenheit 


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1«2 

dm  Kindes)  für  das  BewusstBein  des  Einzelnen,  wenn  es 
einmal  begriffen  ist,  ein  absurdes,  und  der  Process  der  Liebe  für 
ihn  mit  einem  inneren  Widerspruch  gegen  .seinen  Egoismus 
behaftet,  denn  vom  Standpuncte  des  Egoismus  kann  sich  wohl 
dm  bewuBste  Denken  in  abstracto,  aber  schwerlich  der  bewnsste 
Wille  in  concreto  losreissen,  höchstens  kann  er  von  der 
höheren  Einsicht  dazu  gebracht  werden,  seine  Zurücksetzung  gegen 
Natui^rwecke  geduldig  über  sich  ergehen  zu  lassen. 

Den  Nachweis  im  Einzelnen,  wie  die  körperlichen  und  geistigen 
Ei j^en Schäften  auf  ^as  TJnbewusste  wirken,  und  den  unbewussten 
Willen  zur  Zeugung  dieses  bestinmiten  neuen  Menschen  hervor- 
rafen,  welcher  aus  der  Begattung  dieser  Individuen  hervorgehen 
muss,  hat  Schopenhauer  musterhaft  geführt.  Ich  verweise  auf  das 
oben  citirte  Oapitel  und  gebe  hier  der  Vollständigkeit  halber  nur 
einen  kurzen  Auszug.     Zwei  Hauptmomente  sind  zu  unterscheiden: 

1)  wirkt  jedes  Individuum  um  so  mehr  geschlechtlich  reizend,  je 
vollkommener  es  körperlich  und  geistig  die  Idee  der  Gattung  reprä- 
sentirt,  und  je  mehr  es   auf  dem  Gipfel   der  Zeugungskraft  steht; 

2)  wirkt  für  jedes  Individuum  dasjenige  Individuum  am  stärksten 
geschlechtlich  reizend,  welches  seine  Fehler  durch  entgegengesetzte 
Fehler  möglichst  paralysirt,  also  bei  der  Zeugung  ein  Kind  ver- 
spricht, das  die  Idee  der  (Gattung  möglichst  vollkommen  repräsentirt. 
lian  sieht,  dass  im  ersten  Puncte  die  körperliche  und  geistige 
Kraflti  Ebenmaass,  Schönheit,  Adel  und  Grazie  ihre  Stelle  findet, 
um  auf  die  Entstehung  geschlechtlicher  Liebe  zu  wirken,  aber  man 
versteht  nun,  wie  sie  es  anfängt,  nämlich  auf  dem  Umwege  der 
unliewussten  Zweckvorstellung,  während  vorher  die  Möglichkeit 
gar  iiieht  einzusehen  war,  wie  körperliche  und  geistige  Yorzüge  mit  der 
Gea«3hlecht8liebe  etwas  zu  schaffen  haben  könnten.  Ebenso  ist  der 
EiDÜuss  des  Alters  durch  den  Gipfel  der  Zeugungskraft  (18 — 28 
Jahre  beim  Weibe,  24 — 36  beim  Manne)  erklärt;  als  ein  anderes 
Beispiel  führe  ich  noch  den  gewaltigen  Reiz  an,  den  ein  üppiger 
weiblicher  Busen  auf  den  Mann  übt;  die  Yermittelung  ist  die  un- 
bewusste  Zweckvorstellung  der  reichlichen  Ernährung  des  Neuge- 
borenen ;  femer  dass  kräftige  Muskulatur  (z.  B.  Waden)  eine  kräf- 
tige Bildung  des  Kindes  verspricht  und  dadurch  reizt.  Alle  solche 
Kleinigkeiten  werden  auf  das  Sorgfaltigste  durchgemustert,  und  die 
Leute  sprechen  darüber  zu  einander  mit  wichtiger  Miene ;  Keiner 
abex  überlegt  sich,   was   denn  ein  unbedeutendes  Mehr  oder  We- 


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nigex  an  Waden  nnd  Busen  mit  dem  GeschleohtiBgeiiüss  ZU  schaffen 
haben.  — 

Der  erste  Pnnct  enthält  den  Grund  dafür ,  dass  die  geistig 
and  körperlich  vollkommensten  Individuen  dem  anderdn  Gesohlechte 
im  Allgemeinen  genommen  am  meisten  begehrens^vrerth 
erscheinen;  der  zweite  Punct  den  Grund  dafür,  dass  dieselbe 
Wesen  verschiedenen  Individuen  des  anderen  Geschlechtes  ganz 
rerschieden  begehrenswerth  und  ganz  verschiedene  Jedetti 
am  begehrenswerthesten  erscheinen.  Man  kann  beide  Puncte 
überall  auf  die  Probe  ziehen,  und  wird  sie  in  den  kleinsten  Details 
bestätigt  &iden,  wenn  man  nur  immer  dasjenige  in  Abzu^ 
bringt,  was  nicht  aus  unmittelbarer  instinctiver  'Geschlechts- 
neigimg,  sondern  aus  anderen  verständigen  oder  unverständigen 
Rücksichten  des  Bewusstseins  begehrt  und  gewünscht  whrd.  Grosse 
Männer  lieben  kleine  Frauen  und  umgekehrt,  magere  dicke,  stumpf- 
nasige langnäsige,  blonde  brünette,  geistreiche  einfach-naive,  Irohl- 
Terstanden  immer  nur  in  geschlechtlicher  Beziehung,  in  ästhe^chi&r 
fintlezi  sie  meistens  nicht  ihren  polaren  Gegensatz  schön,  sondern 
das,  was  ihnen  ähnlich  ist.  Auch  werden  sich  viele  grosse 
Weiber  aus  Eitelkeit  sperren,  einen  kleinen  Mann  zu  heii^then. 
Man  sieht,  dass  das  geschlechtliche  Wohlgefallen  auf  ganz  and-er  e<ki 
Voraassetziuigen  ruht,  ab  das  practische,  moralische,  äsihetiscbe  und 
gemüthliche;  dadurch  erklärt  sich  auch  die  leidenschaftliche  Liebe  zu 
hidiyiduen,  welche  der  Liebende  im  TJebrigen  nicht  umhin  kann, 
SQ  hassen  und  zu  verachten.  Freilich  thut  die  Leidenschaft  in 
solchen  Fällen  alles  Mögliche,  um  das  ruhige  ürtheil  zuverblenden 
^  zu  ihren  Ghinsten  zu  stimmen,  darum  ist  es  entschieden  richtig, 
dass  es  keine  geschlechtliche  Liebe  ohne  Blindheit  giebt.  Die  bei 
Abnahme  der  Leidenschaft  eintretende  Enttäuschung  trägt  wesent- 
lieh  dazu  bei,  den  Umschlag  der  Liebe  in  Gleichgültigkeit  oder 
Haas  zu  verstärken,  wie  wir  sogar  letzteren  so  häufig  im  Gtiinde 
des  Herzens  nicht  nur  bei  Liebschaften,  sondern  auch  bei  EhelbuteVi 
&>den.  —  Die  stärksten  Leidenschaften  werden  bekanntlich  nicht 
durch  die  schönsten  Individuen  erweckt,  sondern  im  GegeiAheil 
toifiger  gerade  durch  hässliche;  dies  liegt  darin,  dass  die  stärkste 
LeidenBchaftnurinder  c onc e ntrir testen  In dividualisirting 
des  Geschlechtstriebes  besteht,  und  diese  nur  durch  den  Zusamttien^ 
>to8s  polar  entgegengesetzter  Eigenschaften  entsteht  Ih 
Nationen,  wo  das  Leben  überhaupt  weniger  geistig  als  sinnlidh  ii^ 


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werden  die  körperlichen  Eigenschaften  fast  ansschliesslich  den  Aus- 
schlag geben,  daher  auch  bei  diesen  die  momentane  Entstehnngs- 
weise  gerade  der  heftigsten  Leidenschaften;  dagegen  bei  den  ge- 
bildeten Schicht^i  der  Nationen  von  höherer  geistiger  Entwickehmg 
überwiegen  auch  bei  dem  Einfluss  auf  die  unbewusste  geschlecht- 
liche Wahl  die  geistigen  Eigenschaften  über  die  körperlichen,  daher 
ist  zum  Entstehen  der  liebe  meist  eine  nähere  Bekanntschaft  nöih^ 
es  sei  denn,  dass  ein  Hellsehen  des  Unbewussten,  durch  die  physio- 
nomische  Erscheinung  veranlasst,  vicarirend  eintrete,  welcher  Fall 
sich  besonders  bei  Frauen  öfters  ereignet,  welche  eben  dem  Qvell 
des  TJnbewussten  näher  stehen.  Doch  auch  an  Männern  von  hohem 
geistigen  Standpunct  giebt  es  Erfeihrungen  genug,  dass  das  erste 
Zusammensein  mit  einem  seltenen  weiblichen  Wesen  sie  über  ood 
über  in  einen  unzerreissbaren  Zauber  verstrickte,  über  dessen 
Ursache  sich  Bechenschaft  zu  geben,  jede  Geistesanstrengung  ver- 
geblich war.  Ihr,  die  Ihr  noch  zweifelt  an  der  Magie,  an  Wirkon- 
gen  von  Seele  auf  Seele  ohne  die  Yermittelung  bewusster  Wahr- 
nehmung, auf  den  Flügeln  des  Symbols,  das  nur  vom  Unbewussten 
verstanden  wird,  —  wollt  Ihr  auch  die  Liebe  leugnen? 

Das  Resultat  dieses  Gapitels  ist  folgendes :  Instinctiv  sucht  der 
Mensch  zur  Befriedigung  seines  physischen  Triebes  ein  Individamn 
des  anderen  Geschlechtes  au^  in  dem  Wahn,  dadurch  einen  höheren 
Genuss  zu  haben,  als  bei  irgend  einer  anderen  Art;  sein  nnbe- 
wusster  Zweck  dabei  ist  Zeugung  überhaupt.  Instinctiv  sucht  der 
Mensch  dasjenige  Individuum  des  anderen  Geschlechtes  au^  welches 
mit  ihm  zusammengeschmolzen  die  G^ttungsidee  auf  das  möglichst 
YoUkommendste  repräsentirt^  in  dem  Wahne,  in  der  Geschledits- 
verbindung  mit  diesem  Individuum  einen  ungleich  höheren  Genuss 
als  mit  allen  anderen  Individuen  zu  haben,  ja  absolut  genommen 
der  überschwenglichsten  Seligkeit  theilhaftig  zu  werden;  sein  un- 
bewusster  Zweck  dabei  ist  Zeugung  eines  solchen  Individuums, 
welches  die  Idee  der  Gattung  möglichst  vollkommen  repräsentirt 
Dieses  unbewusste  Streben  nach  möglichst  reinem  Yerwirklichung 
der  Gattungsidee  ist  durchaus  nicht  etwas  Neues,  sondern  dasselbe 
Princip,  welches  das  organische  Bilden  im  weitesten 
Sinne  beherrschte,  auf  die  Zeugung  angewandt  (welche 
ja  auch  nur  eine  besondere  Form  des  organischen  Bildens  ist,  wie^ 
4ie  Physiologie  nachweist),  und  durch  die  Masse  und  Feinheit  der 
Differenzen  im  menschlichen  Geschlecht  zu  einem  hohen  Grade  der 


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186 

Sabtilität  hinaofgesohranbi.  Bei  den  Thieren  fehlt  dieses  Moment 
der  geechlecbtlichen  Auswahl  keineswegs,  es  stellt  sich  nur  wegen 
der  geringeren  Differensen  in  einfacherer  G^talt  dar,  und  betrifft 
wesentHeh  nur  den  ersten  Funct,  die  Auswahl  solcher  Individuen, 
welche  selbst  schon  den  Oattungstypus  möglichst  vollkommen  reprä- 
sentiren.  So  kämpfen  bei  vielen  Thieren  (Hühnern,  Robben,  Maul- 
würfen, gewissen  Affen)  die  Männchen  um  den  Besitz  der  Weibchen, 
welche  besonders  begehrenswerth  erscheinen;  diese  besonders  be- 
gehrenswerthen  sind  bei  vielen  bunten  Thieren  die  mit  den  schönsten 
Farben,  bei  verschiedenen  Raoen  oder  Varietäten  innerhalb  einer 
Gattung  die  Individuen  derselben  Bace,  z.  B.  bei  Menschen,  Hunden. 
Köter  bringen  oft  die  grössten  Opfer,  um  mit  einer  Hündin  ihrer 
Baoe  zusammen  zu  kommen,  in  die  sie  sich  verliebt  haben.  Sie 
laufen  nicht  nur  viele  Meilen  weit,  sondern  ich  weiss  auch  einen 
Fall,  wo  ein  Hund  jede  Nacht  trotz  seines  Kreukknüppels  über 
eine  Meile  weit  seine  Geliebte  besuchte,  und  erschöpft  und  durch- 
sdiunden  alle  Morgen  wieder  ankam;  da  der  Knüppel  nicht  half, 
legte  man  ihn  an  die  Kette;  hier  wurde  er  aber  so  ungeberdig, 
dass  man  ihn  wieder  ganz  frei  Hess,  weil  man  befürchten  musste, 
er  würde  toll  werden.  Dabei  waren  auf  seinem  Hofe  Hündinnen 
genug.  Auch  edle  Hengste  sollen  für  gewöhnlich  die  Begattung 
mit  gemeinen    abgetriebenen   Stuten    verschmähen. 

Schopenhauer  bemerkt  sehr  richtig,  dass  wir  von  dem  Instinct 
der  Qeschlechtsliebe,  den  wir  an  uns  erfahren,  auf  die  Thierinstincte 
mrückschliessen  dürfen,  und  annehmen,  dass  auch  bei  jenen  das  Be- 
woBstsein  durch  die  Erwartung  eines  besonderen  Genusses  getäuscht 
würde.  Dieser  Wahn  entspringt  aber  nur  aus  dem  Triebe,  ist  der  Stärke 
des  Triebes  proportional,  und  ist  nichts  Anderes,  als  der  Trieb  selbst 
in  Verbindung  mit  Anwendung  der  bewussten  Erfahrung,  dass  die 
Lost  bei  Befriedigung  des  Triebes  im  Allgemeinen  der  Stärke  des 
Triebes  proportional  sei,  eine  Voraussetzung,  die  sich  eben  bei  den 
Trieben,  deren  hauptsächliches  Gewicht  und  Bedeutung  in's  Unbe- 
wusste  fallt,  nicht  bestätigt  (siehe  Gap.  C.  HI.)  und  darum  zum 
täuschenden  Wahn  wird.  Es  ist  daher  diese  Bemerkung  auf  jene 
Thiere  einzuschränken,  deren  Bewusstsein  zu  solchen  Generalisa- 
tionen  fähig  ist,  bei  den  tiefer  stehenden  hat  es  eben  bei  dem 
zwingenden  Triebe  sein  Bewenden,  ohne  dass  es  zur  Erwarti^g  des 
ÖenuBses  kommt.  —  Wie  nützlich  übrigens  auch  für  die  Individuen 
det  höheren  Thierarten  jener  Wahn  ist,  sieht  man  daran,  dass  gerade 


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186 

ffioier  geschlechtliche  Wahn  das  erste  und  wichtigste  Mittel  in  der 
Fdrtir  ist,  um  den  Individuen  dasjenige  Interesse  für  einander  ein- 
ztiAäBsen,  welches  erforderlich  ist,  um  die  Seele  in  genügendem 
Gmde  fiir  das  Mitgeföhl  empfänglich  zu  machen.  Die  Bande  der  Ehe 
and  Familie  sind  daher  auch  bei  Thieren,  wie  bei  rohen  Menschen 
die  erdton  Stufen,  auf  denen  der  Weg  zur  bewussten  Freundschaft 
und  zur  Sittlichkeit  betreten  wird,  sie  sind  d;as  erste  Morgenroth 
aufdämmernder  Cultur,  schönerer  und  edlerer  Gefühle  und  reinerer 
Opferfreudigkeit. 

Man  wird  vielleicht  einwenden  wollen,  dass  nach  der  Theorie 
der  pol  arischen  (Ergänzung  keine  unglückliche  Liebe  vorkommen 
köQxie,  doch  ist  dies  offenbar  ein  übereilter  und  falscher  Einwurf 
Denn :  wenn  A  sich  in  B  verliebt,  so  heisst  das :  B  ist  für  A  eine 
geeignete  Ergänzung,  oder  A  wird  mit  B  vollkommenere  Kin- 
der zeugen  als  mit  Anderen.  Nun  braucht  aber  keineswegs  auch 
A  für  B  eine  geeignete  Ergänzung  zu  sein,  sondern  B  kann  vielleicht 
mit  vielen  Anderen  vollkommenere  Kinder  zeugen  als  mit  A,  wenn 
z.  B,  A.  eine  ziemlich  unvollkommene  Darstellung  der  Qattungsidee 
iötj  folglich  braucht  keineswegs  B  sich  in  A  zu  verlieben.  Nur 
danuj  wenn  Beides  hochstehende  Individuen  sind,  wird  auch  B 
schwerlich  ein  Individuum  finden,  mit  dem  es  vollkommenere  Kin- 
der zeugen  könnte  aU  mit  A,  und  dann  werden  Beide  gleichzeitig 
von  der  Leidenschaft  ergriffen,  dann  sind  sie  wie  die  sich  wieder 
findenden  Hälften  des  getheilten  Urmenschen  im  Platonischen  My- 
thus. Dazu  kommt  in  einem  solchen  Falle  noch,  dass  nicht  bloss 
deu  Kindern  diese  polarische  üebereinstimmung  zu  Ghite  kommt,  son- 
dern iu  einer  anderen  Beziehung,  als  die  Liebesleidenschaft  wähnt, 
auch  den  Eltern;  weil  nämlich  auch  für  die  höchste  Freundschaft 
die  polarische  üebereinstimmung  der  Seelen  die  günstigste  Bedin- 
gung ieL 

Eine  Ergänzung  zu  diesem  Oapitel  findet  sich  in  Cap.  C.  XII« 
unter  „3)  Hunger  und  Liebe",  ihre  positive  Versöhnung  aber,  die 
hier  nur  kurz  angedeutet  werden  konnte,  erst  in  Cap.  G.  XIIL, 
wo  die  Selbstverläugnung,  d.  h.  Verzichtleistung  auf  individuellcB 
Wohl ,  und  völlige  Hingebung  an  den  Process  und  das  Wohl  des 
Allgemeinen  als  Princip  der  practischen  Philosophie  sich  ausweist, 
also  auch  alle  für  den  bewussten  Egoismus  absurden,  aber  für  das 
Allgemeine  wohlthätigen  Instincte  in  integrum  restituirt  werden. 

Eur  Verständigung  für  Diejenigen,  denen  das  Besultat  des  leta- 


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187 

ten  CapiteU  neu  und  abstossend  erscheinen  möchte,  mache  ich 
schliesslich  noch  einmal  darauf  aufmerksam :  1)  dass,  so  lange  die 
Illusion  des  unbewussten  Triebes  unangetastet  Bestand  hat,  diese 
Hlnsion  für  das  Gefühl  genau  denselben  Werth  -wie  Wahrheit  hat, 
und  2)  dass  selbst  nach  Aufdeckung  der  Illusion  und  Tor  völliger 
Besignation  auf  Egoismus,  also  im  Zustande  des  schärfsten  unge- 
brochensten Widerspruches  zwischen  dem  selbstsüchtigen  bewussten, 
und  dem  selbstlosen,  bloss  für's  Allgemeine  wirkenden  unbewussten 
Willen,  dass  selbst  in  diesem  Zustande,  sage  ich,  das  ünbewusste 
sich  stets  zugleich  als  das  Höhere  und  als  das  Stärkere  des 
Bewusstseins  erweist,  also  die  Befriedigung  des  bewusslen  Willens 
auf  Kosten  der  Nichtbefriedigung  des  Unbewussten  mehr  Schmerz 
Terursaeht  als  das  Umgekehrte. 


iTiriifa  ■' 


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m. 


Das  Unbewnsste  im  Oeftthl. 


Wenn  loh  Zahnfichmerz  und  Fingerschmerz  habe,  so  ist  dies 
augongcheinlioh  zweierlei,  denn  das  Eine  ist  im  Zahn,  das  Andere 
im  Finger.  Hätte  ich  nicht  die  f^higkeit,  meine  Wahmehmnngen 
räiimJich  zu  projiciren,  so  würde  ich  auch  nicht  zwei  Schmerzen 
empfinden,  sondern  einen  gemischten  aus  beiden,  sowie  man  bei  zwei 
reinen  Tönen  (ohne  Obertöne),  die  in  derOctave  erklingen,  absolut  nur 
einen  hört,  den  unteren,  aber  mit  veränderter  Klangfarbe.  Die  Ort«- 
verschiedenheit  der  Wahrnehmung  ertheilt  also  der  Seele  die  Fähig- 
keit^ die  Schmerzensconsonanz  den  ortsyerschiedenen  Wahrnehmungen 
gemä^ft  in  ihre  Elemente  zu  zerfallen,  einen  Theil  mit  dieser,  den 
an f leren  mit  jener  Ortsvorstellung  zu  verknüpfen  und  so  die  Zweier- 
leiheit  zu  constatiren.  Nun  können  aber  Dinge  räumlich  zweierlei 
aein  und  doch  unterschiedslos,  wie  z.  B.  zwei  congruente  Dreiecke. 
Dies  kann  man  l&eilich  von  Zahnschmerz  imd  Fingerschmerz  nicht 
behaupten;  erstens  können  sie  sich  durch  den  Grad,  d.  i.  die  inten- 
eive  Quantität  unterscheiden  und  zweitens  durch  die  Qualität,  denn 
bei  gleicher  Stärke  kann  der  Schmerz  continuirlich  oder  intermit- 
tirend,  brennend,  kältend,  drückend,  klopfend,  stechend,  beissend, 
schneidend,  ziehend,  zuckend,  kitzelnd  sein,  und  eine  Unendlichkeit 
von  Variationen  zeigen,  die  sich  gar  nicht  beschreiben  lassen. 

Wir  haben  bis  jetzt  unter  Schmerz  das  Ganze  verstanden,  es  fragt 
ßich  aber,  ob  man  dies  nicht  philosophisch  verbieten  muss,  und  vielmehr 
in  diesem  gegebenen  Ganzen  die  sinnliche  Wahrnehmung 
tind  deo  Schmerz  oder  die  Unlust  im  engeren  Sinne  unter- 
Buheiden  muss.  Denn  wir  haben  oft  eine  Wahrnehmung  vor  uns,  die 
weder  Lust  noch  Schmerz  erzeugt,  z.  B.  wenn  ich  mir  den  Finger 
leise  drücke   oder   mir   die  Haut  bürste;  während  diese  Wahmeh- 


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mang  qualitatir  unrerändert  bleibt»  und  nur  in  ihrem  Grade  zu- 
oder  abnimmt,  kann  Lust  oder  Unlust  hinzutreten,  und  jetst  sollte 
plötzlich  in  dem  Schmerz  oder  der  Lust  die  Wahrnehmung  mit 
iDbegriffen  sein?  Wir  müssen  also  Beides  sondern,  und  erkennen 
bald,  dass  beide  so  wenig  Eins  sind,  dass  sie  vielmehr  in  causaler 
Beziehung  stehen ;  denn  die  Wahrnehmung  (oder  ein  Theil  derselben) 
ist  die  Ursache  des  Schmerzes,  da  er  mit  derselben  auftritt  und 
yenchwindet,  und  nie  ohne  dieselbe  ^erscheint,  wohl  aber  die  Wahr- 
nehmung unter  besonderen  Umständen   ohne  den  Schmerz. 

Nach  dieser  Sonderung  liegt  die  Frage  nahe,  ob  denn  die  erwähn- 
ten Unterschiede  wirklich  in  Lust  und  Schmerz  liegen  oder  bloss  in 
den  yerursachendMi  und  begleitenden  Umständen,  nämlich  in  der 
Wahrnehmung.  Bass  der  Schmerz  intensiv  quantitative  Unterschiede 
loläast,  ist  klar,  aber  lässt  er  auch  qualitative  zu?  Die  meisten 
unterschiede,  welche  man  mit  Worten  bezeichnet,  kommen  auf  ver- 
schiedene Formen  des  Intermittirens  hinaus,  so  klopfend,  ziehend, 
zockend,  stechend,  schneidend»  beissend,  sogar  kitzelnd;  es  verän- 
dert sich  hier  üreilich  mit  dem  Grade  der  Wahrnehmung  fortwäh- 
rend der  Ghrad  des  Schmerzes  nach  gewissen  mehr  oder  weniger 
regelmässigen  Typen,  aber  von  einer  ursprünglich  qualitativen  Ver- 
schiedenheit des  Schmerzes  selbst  ist  dabei  nichts  zu  finden.  Viel 
eher  könnte  man  dies  vermuthen  bei  der  Lust  oder  Unlust,  die 
durch  verschiedene  Gerüche  und  Geschmäcke  hervorgerufen  wird, 
aber  auch  hier  wird  man  sich  bei  scharfer  Selbstbeobachtung  über- 
xeogen,  dass  die  qualitative  Verschiedenheit  von  Lust  und  Unlust 
durchaus  nur  scheinbar  ist,  und  diese  Täuschung  dadurch  entsteht, 
dass  man  niemals  bisher  die  Sonderung  von  Lust  und  Unlust  und 
Wahrnehmung  vorgenommen  hat,  sondern  beide  mit  der  Wahr- 
nehmung als  ein  einziges  Ganzes  aufzufassen  gewohnt  gewesen  ist, 
80  d^ss  nun  die  Unterschiede  der  Wahrnehmung  sich  auch  als 
Unterschiede  dieses  einigen  Ganzen  hinstellen.  Dass  man  aber  diese 
Sonderung  niemals  vorgenommen  hat,  das  liegt  daran,  weil  man 
&Qfl  der  unendlich  mannigfialtigen  Composition  von  Seelenzuständen 
immer  nur  diejenigen  Gruppen  als  selbstständige  Theile  aussondern 
lernt,  welche  zu  sondern  dem  practischen  Bedürfniss 
dinen  reellen  Nutzen  bringt.  So  z.  B.  sondert  man  in  dem 
Accord,  den  ein  volles  Orchester  angiebt,  nicht  etwa  alle  Töne  einer 
Tonhöhe  aus,  gleichviel  von  welchen  Instrumenten  sie  kommen, 
^intchliesslich  deren  Obertöne,   sondern  man  fasst  die  von  einem 


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Instrument  erzeugten  Obertöne  der  verschiedensten  Lagen  mit  dem 
OruQ^toD  des  Instromentes  zu  seiner  Klangfarbe  zusammen,  und 
die  ^  ^<3 bildeten  Tongruppen,  welche  die  ron  jedem  einzelnen  In- 
ßtrumento  hervorgemfenen  Töne  repräsentiren,  fasst  man  erst  znm 
Aocord  zusammen,  einfeu^h  aus  dem  Grunde,  weil  die  Eenntnies  der 
Obertüne  kein  practisches  Interesse  gewährt»  wohl  aber  die  Eennt- 
uiBS  der  Klangfarben  der  Instrumente.  Und  diese  practisohe  Art, 
die  Tongruppen  zusammen  zu  fassen,  ist  uns  so  eingelebt,  dass  uns 
die  nach  den  blossen  Tonhöhen,  obwohl  sie  offenbar  yiel  leichter 
sein  miLRBf  rein  unmöglich  ist,  so  unmöglich,  dass  erst  vor  wenigen 
Jahren  Helmholtz  die  Entstehung  der  Elangfarben  durch  Combination 
von  Obertönen  wirklich  streng  bewiesen  hat.  Fast  so  unmöglich 
scheint  €16  uns  nun  auch,  aus  dem  Ganzen  von  Lust  oder  Unlnst 
und  d^ü  sie  bewirkenden  und  begleitenden  Wahrnehmungen  diese 
EleineTite  in  der  Selbstbeobachtung  scharf  zu  sondern  und  aiw- 
einand*?r  zu  halten ;  dass  diese  Sonderung  indess  möglich  sein  muss, 
Bieht  JedGT  daran,  dass  beide  Theile  sich  wie  Ursache  und  Wirkung 
verhalten  und  wesentlich  verschieden  sind.  Wem  es  gelingt,  sie 
Toi^tinßhnien,  wird  den  Satz  bestätigt  finden,  dass  Lust  und  Unlust 
mn  intensiv  quantitative,  aber  keine  qualitativen  Unterschiede 
haben.  Es  wird  um  so  leichter  gelingen,  mit  je  einfacheren  Bei- 
spielen man  anfängt,  z.  B.  ob  die  Lust  beim  Anhören  eines  Glocken- 
tones vfcrsohieden  ist,  wenn  der  Ton  c  und  wenn  er  d  ist.  Hat 
man  die  Sache  einmal  bei  solchen  einfachen  Beispielen  eingesehen, 
so  wird  sie  Einem  auch  einleuchten,  wenn  man  allmälig  zu  Bei- 
iipieku  aufiiteigt,  die  grössere  Unterschiede  der  Wahrnehmung  ent- 
halten. Man  kann  auch  rückwärts  eine  Bestätigung  des  Satzes 
darin  &t4ien,  dass  man  im  Stande  ist,  verschiedene  sinnliche  Genüsse 
oder  Sühnterzen  gegen  einander  abzuwägen  (z.  B.  ob  Jemand  für 
den  Tbuler^  den  er  auszugeben  hat>  lieber  eine  Flasche  Wein  trinkt^ 
oder  Knrhen  und  Eis  isst,  oder  Beafsteak  mit  Bier,  oder  ob  er  sich 
dafür  die  Befriedigung  eines  anderen  sinnlichen  Bedürfiiisses  gewährt, 
oder  ob  man  den  Zahnschmerz  noch  Tagelang  erträgt,  oder  sich 
lieh  er  den  Zahn  ausziehen  lässt),  welches  gegenseitige  Abwägen 
nicht  möglich  wäre,  wenn  nicht  Lust  und  Unlust  in  allen  diesen 
Bingen  nur  quantitativ  verschieden  und  qualitativ  gleich  wären, 
denn  nur  mit  Gleichem  lässt  sich  Gleiches  messen. 

Man  sieht  nunmehr  auch  ein,  dass  die  Ortsversohi  eden- 
heit  keineswegs  den  Schmerz  unmittelbar,  sondern  nur  die  Wahr- 


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nehmang  trifft»  und  erst  durch  die  Wahrnehmung  eine  ideelle 
Theilung  des  summarischen  Schmerzes  eintritt,  indem  ein  Theil 
desselben  auf  diese,  ein  anderer  auf  jene  Wahrnehmung  causal 
beaogen  wird.  Wenn  nun  streng  genommen  der  Schmerz  ortlos 
ist  und  nur  die  Wahrnehmung  Ortsbeziehung  hat,  so  kann  auch 
die  durch  die  Ortsverschiedenheit  gesetzte  Zweierleiheit  nur 
auf  die  Wahrnehmung,  aber  nicht  auf  den  Schmerz  Bezug  haben, 
und  der  Schmerz  ist  demnach  nicht  bloss  in  allen  Fällen  quali- 
tativ gleich,  sondern  er  ist  in  demselben  Moment  immer 
nur  Einer. 

Wer  die  Gleichheit  von  Lust  und  Unlust  in  sinnlichen  Qe- 
föhlen  eingesehen  hat,  der  wird  sie  auch  bei  geistigen  bald  zugeben. 
Ob  mein  Freund  A  oder  mein  Freund  B  stirbt,  kann  wohl  den 
Grad,  aber  nicht  die  Art  meines  Schmerzes  verändern,  eben  so 
wenig  ob  mir  die  Frau  oder  ein  Kind  stirbt,  obwohl  meine  Liebe 
zu  Beiden  ganz  verschiedener  Art  gewesen,  also  auch  die  Vorstel- 
lungen und  Gedanken,  welche  ich  mir  über  die  Beschaffenheit  des 
Verlustes  mache,  ganz  verschieden  sind.  Wie  der  Schmerz  über- 
haupt in  diesem  Falle  durch  die  Vorstellung  des  Verlustes  verur- 
sacht worden  ist,  so  wird  auch  in  dem  Complex  von  Gefühlen  und 
Gedanken,  den  man  gewöhnlich  unter  Schmerz  zusammenfasst,  durch 
die  Verschiedenheit  der  Vorstellungen  über  den  Verlust  eine  Ver- 
schiedenheit herbeigeführt;  sondert  man  aber  wiederum  das  ab,  was 
Bchmerz  und  nichts  als  Schmerz  ist,  nicht  Gedanke  und  nicht  Vor- 
stellung, so  wird  man  finden,  dass  dieser  wiederum  ganz  gleich  ist. 
Basselbe  findet  bei  dem  Schmerz  statt,  den  ich  über  den  Verlust  der 
Frau,  über  den  Verlust  meines  Vermögens,  der  mich  zum  Bettler 
inacht,  und  über  den  durch  Verleumdung  verursachten  Verlust 
meines  Amtes  und  meiner  Ehre  empfinde.  Das  was  Schmerz  ist, 
und  nichts  als  Schmerz,  ist  überall  nur  dem  Grade  nach  verschie- 
den. Ebenso  bei  der  Lust,  die  ich  empfinde,  wenn  ein  Anderer 
nach  langem  Sträuben  endlich  meinem  eigensinnigen  Willen  will- 
fahrt, oder  wenn  ich  einen  Lotteriegewinn  mache,  oder  eine  höhere 
^Uong  erhalte.  Dass  Lust  und  Unlust  überall  gleich  sind,  geht 
auch  hier  wiederum  daraus  hervor,  dass  man  die  eine  mit  der  an- 
deren misst,  auf  welchem  Abwägen  von  Lust  imd  Unlust  in  der 
Zukunft  jede  vernünftige  praotische  Ueberlegung,  jedes  Entschluss- 
faseen  des  Menschen  beruht,  denn  man  kann  doch  nur  Gleiches 
mit  Gleichem  messen,  nicht  Heu  mit  Stroh,  oder  Motzen  mit 


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Pfunden.  Dieser  Grund,  der  auch  in  der  Einheit  des  Namens  an- 
gedeutet ist,  ist  es  auch,  welcher  uns  bestimmt,  die  sinnliche  und 
geistige  Lust  für  gleich  zu  halten.  Man  denke  sieh  einen  Menschen, 
der  zwischen  zwei  reichen  Schwestern  die  Wahl  hat  zu  heirathen, 
eine  klug  und  hässlich,  die  andere  dumm  und  schön,  so  wiegt  er 
die  Torausgesetzte  sinnliche  und  geistige  Lust  gegen  einander  ab, 
und  je  nachdem  diese  oder  jene  ihm  überwiegend  scheint,  trifft  er 
seine  Entscheidung.  Der  zweite  Grund  ist  der,  dass  Sinnliches  und 
Geistiges  keineswegs  durch  eine  Kluft  Ton  einander  geschieden  sind, 
s^jodern  mannigfach  in  einander  übergreifen  und  verwachsen,  und 
nur  in  ihren  gewöhnlichen  Extremen  von  einander  zu  unterscheiden 
sind. 

Wir  halten  also  als  Resultat  fest,  dass  Lust  und  Unlust  in  allen 
Gefühlen  nur  Eine  ist,  oder  dass  sie  nicht  der  Qualität  nach,  son- 
dGm  nur  dem  Grade  nach  verschieden  sind.  Dass  Lust  und  Un- 
luBt  u inander  aufheben,  sich  also  wie  Positives  und  Negatives  ver- 
balteu,  und  der  NuUpunct  zwischen  ihnen  die  L[idifferenz  des 
Gefiibls  ist,  ist  klar;  ebenso  klar  ist  es,  dass  es  gleichgültig  ist, 
welches  von  Beiden  man  als  Positives  annehmen  will,  ebenso  gleich- 
gültig als  die  Frage,  ob  man  die  rechte  oder  die  \\uke  Seite  der 
Abaeiesenaxe  als  positiv  annimmt  (dass  also  Schopenhauer  Unrecht 
hat,  wenn  er  die  Unlust  als  das  allein  Positive  erklärt,  und  die 
Lust  als  ihre  Negation ;  er  begeht  dabei  den  Fehler,  den  Gegensatz 
als  einen  contradictorischen  aufzufassen,  der  ein  conträrer  ist). 

Die  Frage   ist  nun  aber  die:  was  sind  denn   Lust  und  Un- 
lust?    Dass  die  Vorstellung   eine  ihrer  Ursachen  ist,    haben    wir 
gesehen,  aber  was  sind  sie  denn  selbst?     Aus  der  Vorstellung  allein 
sind  sie  nun  und  nimmermehr  zu  erklären,  so  sehr  sich  auch  ältere 
und    neuere    Philosophen    darum    bemüht    haben;    die    einfachste 
Selbstbeobachtung  straft   ihre   unbefriedigt   lassenden   Deductionen 
Lügeo,  und  sagt  aus,  dass  Lust  und  Unlust  einerseits  und  Vorstel- 
kug  andererseits  heterogene  Dinge  sind,    die   sich  nur  gewaltsam 
in  einen  Topf  werfen  lassen.     Dagegen  ist  von  den  meisten  bedeu- 
tenden   Denkern    aller  Zeiten  anerkannt   worden,    dass    Lust  und 
irnlust  mit  dem  innersten  Leben  des  Menschen,  mit  seinen  Interessen 
und  Neigungen,    seinen   Begehungen   und    Strebungen,   mit  einem 
Wort©   mit   dem  Eeich    des   Willens   im   engsten   Zusammenhange 
stiihen*     Ohne   auf   die  Ansichten   der   einzelnen  Philosophen  hier 
näher  eingehen  zu  wollen,  kann  man  zusammenfassend  sagen,  dass 


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193 

Aller  Memniigen  sich  auf  2wei  GfundianBchauungen  zurückführen 
lassen,  ientweder  fassen  sie  die  Lüöt  als  Befriedigung,  Unlust  als 
Jßchthefriedigung  des  Begehrens  auf,  oder  umgekehrt  das  Begehren 
als  Yorstellmig  der  zutünftlgön  Lust,  das  Verabscheuen  (negative 
Begehren)  aJs  Vorstellung  det  zukünftigen  Unlust.  Im  ersteren 
Palle  "ist  der  "Wille,  im  letzteren  dds  Gefühl  als  das  Ursprüngliche 
gefesst.  "Welches  von  Beiden  dak  Richtige  ist ,  ist  unschwer  zu 
sehen,  denn  erstens  besteht  im  lÄstinct  der  Trieb  factisch  vor  der 
Vot^tißllung  der  Lust,  sein  eigentliches  Ziel  ist  hier  ein  anderes, 
als  die  individuelle  Lust  der  Befriedigung;  zWeitens  wird  wohl 
dutch  di(B  ErklärurTg  der  Lust' als  feefrieäiguüg  des  'Willens  Alles 
an  der  Lust  genilg^nd  erklärt ,  aber'  nicht  unisekehrt'  Alles  am 
Willen  durch  die  ißrklämng  dässölbeti  als  Vorstellung  der  Lust; 
hierbleibt  ä&i  eigentlich  treib6nd(ö  Moment,  der  "Wille  als  wir- 
kende Causalität,  völlig  unbegreiflich ; — eben  weil  der  Wille  die 
Teräußsertichung,  Ltist  und  Unlust  aber  die  Rückkehr 
ron  dieser  Veräusserlichung  zu  sich  selbst  und  damit  der  Ab- 
ßchluss  äiesfes  ProcesSes  ist,  darum  muss  der  Wille  das  pri- 
märe, die  Lust  das  ^ecundäre  Moment  sein. 

Lassfen  wit  diese  Ansicht  vorläufig  gelten,  so  erhalten  wir  eine 
Tmer«?sartete  Bestätigung  für  die  wesentliche  Gleichheit  der  Lust 
und  Unlust  in  aÜen  Gefühlen.  "Wir  haben  nämlich  iTrüher  gesehen, 
dass  der  Wille  (ebenfalls  immer  ein  und  derselbe  ist,  und  sich 
etstens  ntÜf  dem  Stärkegrade  nach*  und  zweitens  dem  Objecte  nach 
tinterscheidöt,  "Welches  aber  nicht  mehr  Wille,  sondern  Vorstellung 
ist.  Wenn  nun  Lust'  die  Befriedigung,  Unlust  die  Wichtbefriedigung 
des  Willens  ist,  so  ist  klar,  dass  auch  diese  immer  iiur  ein  und 
dieselben  sein'  müssi^h,  und  bloss  dem  Grade  nach  verschieden  sein 
kSnneii,  dass  atle'r  'die  scheinbaifen  qualitativen  Unterschiede,  die 
«ie  eHihälten,  dtttijh'  begleitende  Vorstellungen  gegeben  werden, 
theils ' duifiÜ  dife,  welöhe  das  Willensobject  ausmachen,  theils  durch 
die,  weicht  diö"  Befriedigung  des  'Willens  herbeifiihren.  Hieraiis 
Tegullitt'ftir  alle  Zustände  des  Gimüthes  unbeschadet  ihrer  Mannig- 
faltigkeit' 'ifoiH  ho  gtbsse  Einfachheit,  dass  diese  nach  dem  alten 
Vort:  ^„lnrnpU^)sl§iüum  veri^*  rüökwärts  den  Sätzen  eine  Stütze  sein 
Äuss,  aty  d'ei^n  sie  ehts^Wngf,  sowie  diese 'sich  einander  gegen- 
•eitSg  dftrcii  ''dte'  ft'aöhf 'der  Analogie   stützen  und  verwahrschein- 


'  Das,  Worum  ich  nun   eigentlich   an  diesem  Orte  diese  Fragen 

T.  Hartmann,  Pktl.  d.  Unbewnssten.  13 


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194 

aus  dem  bewussten  Seelenleben  berübrt  habe,  sind  folgende  beiden 
ergänzenden  Sätze  aus  der  Fsyehologie  des  ünbewnssten:  1)  Wo 
man  sieh  keines  Willens  bewusst  ist,  in  dessen, Be- 
friedigung eine  vorhandene  Lust  undünlust  bestehen 
könnten,  ist  dieser  Wille  ein  unbewusster;  und  2)  da» 
unklare,  ünausspreohliehe,  Unsägliche  der  Gefühle 
liegt  in  der  TJnbewusstheit  der  begleitenden  Vorstel- 
lungen. —  Weil  der  Begriff  des  unbewussten  Willens  in  der  bis- 
herigen Psychologie  fehlte,  dämm  konnte  sie  gewissenhafter  -  Weise 
die  Erklärung  der  Lust  als  Befriedigung  des  Willens  nicht  unbe- 
dingt aoceptiren,  und  weil  ihr  der  Begriff  der  unbewussten  Vor- 
stellung fehlte ;  darum  wusste  sie  mit  dem  gesammten  Gebiet  der 
Gefühle  nichts  Bechtes  anzufangen,  und  beschränkte  deshalb  ihre 
Betrachtungen  fast  ausschliesslich  auf  das  Gebiet  der  Vorstellung. 

Als  Beispiel  einer  Lust  aus  unbewusstem  Willen  dcmke  man 
an  die  Instincte^  bei  denen  üer  Zweck  im  Unbewussten  liegt,  z.  B. 
die  Mutterlust  am  Neugeborenen,  oder  die  transcend^ate  Seligkeit 
des  glücklich  Liebenden;  hier  kommt  durchaus  kein  derartiger  Wille 
zum  Bewusstsein,  dessen  Befriedigung  dem  Grade  der  Lust  ent- 
spräche; wir  kennen  aber  die  metaphysische  Macht  jenes  unbe- 
wussten Willens,  als  dessen  specielle  Wirkungen  die  einzelnen 
instinctiyen  Begehrungen  erscheinen  und  dem  durch  die  ErfiUlung 
dieser  Genüge  geschieht;  und  ein  überschwenglich  hoher  und  stu* 
ker  Wille  muss  es  wahrlich  sein,  dessen  Befriedigung  jene  Erschei- 
nungen überschwenglicher  Lust  zur  Folge  hat,  von  denen  die  Dichter 
aller  Zeiten  nicht  hoch  genug  zu  singen  wissen. 

Ein  anderes  Beispiel  ist  die  sinnliche  Lust  und  Unlust,  die 
aus  Nervenströmungen  gewisser  Art  hervorgehen.  Lotze  in  seiner 
„medicinischen  Psychologie^  zeigt ,  dass  die  sinnliche  Lust  stets  mit 
einer  Förderung,  die  Unlust  mit  einer  Störung  des  organisohoi 
Lebens  verbunden  auftritt-,  dieser  gewissenhafte  Forscher  erkennt 
aber  ausdrücklich  an,  dass  hiermit  nur  ein  gesetzmässigea  Zusma- 
menvorkommen  eonstatirt  sei,  keineswegs  jedoch  aus  dem  Begriff 
der  Störung  des  Lebens  der  Begriff  der  Unlust  abgeleitet  werden 
könne,  dass  somit  das  Gesetz,  was  Beide  verbindet ^  tiefer  liegen 
müsse.  Dies  ist  nun  offenbar  der  unbewusste  WUle,  den  wir  ab 
Princip  der  Verleiblichung^  der  Selbsterhaltung  und  Selbslbeistellmig 
kennen  gelernt  haben;  sobald  Störungen  oder  Beförderungen  im 
Bereich  des  organischen  Lebens  so  beschaffen  sind,  dass  sie  durch 


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196 

NerrenfltromTuigQn  mun  Qigan  d^  BewnsfltteiiiB,  dem  Gdiini  tele- 
giaphiri  werden,  so  BoüsaeQ  die  Befiriedignngen  oder  Ni<^tbe£riedi* 
gongen  dieses  nnbewnsslien  Willens  als  Lost  oder  Unlust  empfanden 
werden.  (Was  Widexjlegang  etwaiger  Einwendungen  g^en  obige 
Behaiq^tang  über  die  sinnliche  Lust  und  Unlust  anbetrifft,  so  ver- 
weise ich  auf  Lotse,  ^rweites  Buch,  zweites  Cq^^iteL) 

Dase  wir  sehr  oft  nicht  wisseui  was  wir  eigodtlioh  wollen,  ja 
sogar  oft  das  G^entheil  davon  zu  wollen  glauben,  bis  wir  durch 
die  Lust  oder  Unlust  bei  der  Entscheidung  über  unseren  wahren 
Willen  belehrt  werden,  Tfird  wohl  Jeder  schon  Gelegenh^t  gehabt 
haben,  an  sich  und  Anderen  zu  beobachten.  Wir  glauben  nämlich 
in  solchen  zwei&lhaften  Fällen  häufig  das  zu  wollen,  was  uns  gut 
und  lobenswerth  erscheint,  z.  B.  dass  ein  kranker  Verwandter,  den 
wir  SU  beerben  haben,  nicht  sterben  möge,  oder  dass  bei  einer 
CoUision  zwischen  dem  Gemeinwohl  und  unserem  individuellen  Wohl 
elfteres  vorangesetzt  werde,  oder  dass  eine  früher  eingegangene 
Tezpüchtung  beßtehen  bleiben,  oder  dass  unserer  vernünftigen 
ird)erzeugun^  und  nid^t  unserer  Neigung  und  Leidenschaft  gewill- 
fsiat  werde;  dieser  Glaube  kann  so  fest  sein,  dass  hernach,  wenn 
die  Bntscheidung  unserem  vermeintlichen  Willen  entgegen  ausfallt^ 
imd  uns  trotzde^i  keine  Betrübniss,  sondern  eine  ausgelassene  Freude 
überkömuit)  "wir  uns  vor  Erstaunen  über  uns  selbst  gar  nicht  zu 
lassen  wissen,  weil  wir  nun  an  dieser  Freude  plötzlich  unsere 
Tansehnng  gewahr  werden,  und  erfahren,  dass  wir  unbewusst  daa 
Oegoxtheil  von  dem  gewollt  haben,  was  wir  zu  wollen  uus  vorge- 
stellt hatten.  Da  wir  nun  auf  unseren  eigentlichen  Willen  in  diesem 
Falle  nur  aus  unserer  Lust,  resp.  Unlust  zurückschliessen,  so  besteht 
diese  Lust  bei  ihrem  Eintreten  offenbar  in  der  Befriedigung  eines 
uibewQssten  Willens.  Dies  wird  noch  einleuchtender,  wenn  wir 
li^trachten,  wie  von  dem  übermässigsten  Erstaun^i  an,  dass  solch' 
^  Wille  unbewusst  in  der  eigenen  Seele  ezistirt  haben  könne, 
gani  aUmälig  der  Üebergang  stattfindet  durch  den  leisen  Verdacht, 
den  Zweifel  und  die  Yermuthimg,  dass  man  doch  wohl  jenes  wolle, 
und  nicht  das,  was  man  sich  einbilde,  bis  endlich  zu  dem  offenen 
Selbstbetrugs  wo  man  ganz  gut  weiss ,  dass  man  jenes  wolle,  aber 
nck  und  andere  mit  mehr  oder  weniger  Glück  zu  überreden  sucht» 
man  wolle  das  Gegentheil.  Hieran  schliessen  «ich  dann  die  Fälle» 
wo  nicht  einmal  der  Yersueh  zur  Selbsttäuschung  gemacht  wird» 
und  die  Ueberraschnng»  mit  welcher   die  Lust  auftritt,  nur  darin 

13» 


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196 

bestelit,  dass  man  sich  sehr  l^nge  den  Wiinsch  mcht  amiä  Bewiüdt- 
sein  gebracht  hat»  also  r.  B.  wenn  ein  längst  t<yat  geglaubter  Pröttiid 
pldtzlioh  in  mein  Zitiimer  tiitt;  anoh  dann  ist  eii'ein  onbexnikster 
Wille»  dessen  Befidedigong  als  Frendehs^fi'reck  sich  dai^tält, 
aber  jetzt  branohe  ich  die  Eidäte>n!z  dieses  Willens'  in  mir'  üicht 
erst  aus  dem  Eintritt  der  Luftt  zu  schliessen,  söxkderh  kann  sie 
direct  aus  der  Erinnerung^  Mherer  Zeiten  entnehmen,  Sro  ich 
oft  gewünscht  habe,  deni  verlorenen  Freund  Hoch  einmal  in  ineine 
Arme  zu  schlieseen. 

Wir  wissen  aus  Oap.  Ä.  IV. ,  dass  der  be wütete  tlrid  tiiibe- 
wusstc  Wille  mdh  'wesentlieh  dadurch  unteröcheideni  däös  die  Vor- 
stellung, welche  das  Object'  des  Willens  bildet,  im  'einen  FaDe 
bewusst,  im-  anderen  uftibewusst  ist.  Indem  wir  uns  diesen  Säte 
zurückrufen,  erkenuen  wb^ön  TJebeirgang  von  der  Lu^t  oder  tJtflußt 
aus  uöbewusstem  Wiüeti  zö  deiqenigen  Gefühliöh*;'  \^felch^  dadtoh 
etwas  Unklares  erhalten,  dass^ihre' Qualität  gaijz  ödef 'theilVeisä 
durch  unbewuöste  Vorstelluhgeii  bedirigt  wird;  Wir  sfehin  iifaß- 
lich  jetzt,  dass  das  erstere  nur  ein  sßöcieHer  Fall  d6ö  Wtz^i^n  lüt 
indem  eben  in 'erfiterem  die  Vorstellungen,  t^elche  deii  Inhäß  dö^ 
befriedigten  Willens  bilden,  unbeVrüsst  'bleiben,  und  ViöIlÄöht' 
nur  -die  Vorstellungen,  welche  die  BefriediguÄ'g  hiörbieifilh- 
ren,  bewusst  werden  C#ie' z.  B.  'bei  der  Mutterliebe)^  doch  j^Sarat' 
dies  nicht  ganz  auf  di^e  Ställe,  -^o  sofort*  durch  das  Eintreten  tf^if 
Lust  oder  Unlust  auch  das  VofhandenBein  und  die  KtV-äes  liiib^ 
wiffisteh  WilleuB  vom  Be^jnrsstseih  erdchVossen  wird/  Veil'  dies^^ntr 
zwischen  zwei  oder  doch  nur  wienigen  Artete  von  Willeri  'öchwaaa- 
ken  konnte.  ■"       •:'•"  ^"- -   -" 

Kun  sind  aber  selten  die  VetMHhisse  so  '^MfiacK',  iäös  das 
Gefühl  in'  der  Befriedigung  oder  itlcßtbeMedigTltig  leffaeä  'fe'inzigön 
bestimmten  Begehrens  bestellt,  soiderti  die  veröchf^denKTtigsten 
Gattungen  vt)tt  Begehrungen  dürchl*duüen  sich  in  Je'dem  Augenblick 
auf  das  Mannigfaltigste,  und  durch  dasselbe  Erdignisa  werden  eifaige 
befiriedigt,  andere  nicht  befriedigt »'^^kher  giebt  bs  weder  reine, 
noch'  einfache  Lust  und  Unlust,  di  hl  es  giebt  keine  Lust,  die 
nicht  einen  Schmerz  enthielte,^' tin'd  keiiien  Schmerz,  mit  dem 
nicht  eine  Ltkst  verknüpft  wS^;' aber' ös  giebt  auch  keine  IM 
die-  nicht  aus  der  glwchartigen  Befriedigung'  der'  verächiedehit^ 
Begehrungen  Zusammengesetzt  wäre.  Wie  der  Wille  die  Resul- 
tante  aller  gleichzeitig  ftmctioniifcfndfen  Be^ehnmgon,  so  Ist  äücK 


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J^7 

.4ie  B^iT;iedigiing  d^.  WilUoe  die  Besultaüte  aller  gleiohzei- 
tigen  Befidedigmigao  üod  Nichtbefnedigongen  der  einzelnen  Be- 
g!9luruogQQ;/demi  eß  ist  jagleäcb^  ob  man  eine  Operation  gleich  mit 
der  Eosultante  yornininUy  oder  mit  den  einzelnen  Componenten,  tiid 
dann  eM  die  Eesnltante  der  JPartialresultate  nimmt.     Nun  leoobliBt 

,0m,   daas.  ein  Theil    dißßex  ein^ekieii  Begehrungen    bewusst»   edn 

*  «nderer  .unbewuflet  .sein  k^LOBk^  ja  meistentheils  sein  ivird^  dann  ist 
aach  die  Lust   gemischt   aus   solchen  Lüsten,  die  durch  bewusftte, 

jisd  solohep;  die  dturch  uobewuiste  Yorstellungen  bestimmt  werden. 

^Jhx  letztere  Theil  muss  der  Qualität  des  Gefühles  jown  unklaien 
(%«mcter  geben,  jenen  stete  übrig  bleibenden  Best,  der  bei  aller 
Ao^trengong  niemals  7om  Bewusstsein  erfasst  werden  Icann. 

.  Aber  noch  andere  Puoete  giebt  es  als  den  nnbewussten  Willen, 
vo  unbewnsste  Ypi^itelluag  auf  die  Bigenthümliohkeit  des  Gefahls 
bestimmend  wirkt  :Es  kam!  nandich  die  das  Gefühl  erzeugende  Wahr- 
iwhwung  oder  Vorstellung  selbst  dem  Hirn  unbewtisst  sein,  so  wunder- 
bch  es  auf  den  ersten  Augenblick  klingt.  Denn  man  sollte  meinen, 
die  YorsteUuag,  welehe  die  Befriedigung  des  Willens  herbeiführt, 
kaim  n^r  von  -Aussen  oder  bei  Fhantasiespielen  duroh  hirnbewusstes 

/VossMlen  kommen,  und  in  beiden  Fällen  kann  die  Listanz  des 
BefwnaiUeins.  nicht  umgangen  werdeo.  Man  vergisst  aber  dabei, 
diM  es  noch  andere  N'ervencenlaraltheile  giebt;  die  ebenso  wie  das 
JBim  für  ^eh  ein  Bewusstsein  haben,  wedohes  der  Lust  und  der 
IMvBt  fähig  ist.  Nun  kattn  man  sich  wohl  denken,  dass  die  Lust- 
oder  Unlust -Empfindungen  dieser  Oentra  dem  Gehirn  zugelötet 
tJxd,  ohne  dass  die  Leitung  so  gut  cingeriditet  ist,  dass  diö  Wahr- 
aiohmiuigea.  selbst  y  welche  in  jenen'  Gentns  Lust  oder  Unlust  er- 
seqgeti,  bis  gutn  Gehirn  gelangen  könnten.  So  eriiähr  das  Gdiim 
iwbl  Lust-  und  Unlust -Empfindungen  zugeleitet,  aber  nieht  ihte 
Ibtftekiingsgxüiide,  und  darum  haben  solche  im  Gehirn  aus  anderen 
Cmtris  sieh  wiedecq»iegelnde  Gefühle  und  Btimitaungen  etwas  sehr 
^^FttäadlicheB.  und  Bäthsrihaftes,  -  wenn  auch  ihre  Macht  über 
4mi  Himbewu8sts0in..moht  selten  sehr  gross  ist  Letzteres  skioht 
Mfik  dann  meist  andeote  soheinlMqre.  .Ursachen  seineor  Geföhle  aisf, 
^0:  keineswegs  ;  die .  ri<^igen  sind..  Je  wenigear  si^  das  Himbe- 
^nisstsein  zu  einer  gewissen  Selbstständigkeit  und  HiOie  emporge- 
i^tegea :  hat^  desAo  mehr  Macht  haben  ffie  aus  dem  iektiT'  Unbe- 
3^08«ten.iqiiiUeiidett:  Stimmungen  über  dassdbe,  jmx  beim  ^eibüohen 
^^ttUeefat  :mi6hr  ^tdaabeim  nännliäiea,  bei  Siiideiln; mahv  als  bei 


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198 

>  Erwachflenen,  bei  Kranken  mehr  als  bei  (Gesunden.  Am  deutliek- 
«ten  treten  diese  Einflüsse  anf  bei  HypocHondrie  und  bei  wichtigen 
Mxnellen  Yerändernngen,  als  s.  B.  Pubertät,  Schwangerschaft. 
Biese  Einflüsse  äossem  sich  auch  keineswegs  bloss  in  Stimmnn- 
gen,  d.  h.  in  der  Disposition  zu  heiteren  oder  traorigen  Ge- 
fühlen, sondern  in  höheren  Graden  lassen  sie  direct  Gefühle  im 
Himbewusstsein  entstehen ,  wie  man  wiederum  am  Besten  an 
Hypochondristen  bemerkt. 

^an  sehe  jenes  Kind:  wie  seelenfroh,  wie  freudiges  Hüpfm, 
wie  heiteres  Lachen,  wie  leuchtendes  Auge;  alles  Fragen  nach  der 
Ursache  wäre  yergeblich,  oder  4^e  angegebenen  Ursachen  würden 
mit  der  Ereude  ausser  allem  Verhältniss  stehen.  Und  pl9tslich, 
und  wieder  ohne  allen  bewussten  Grund,  ist  das  Alles  yorbei,  das 
JCind  ist  still  in  sich  gekehrt,  trüben  Auges,  grämlichen  Mundes,  1 
stim  Weinen  geneigt,  es  ist  yerdriesslich  und  traurig,  wo  es  noch  | 
^eben  yergnügt  und  lustig  war.''  (Carus'  Psyche.)  Wo  anders  sollen  ^ 
diese  Gefühle,^  deren  Eigenthümlichkeit  nur  auf  unbewusste  To^ 
.Stellungen  surückzufUhren  ist,  ihren  Ursprung  nehmen»  als  aus 
:vdtalai  Wahrnehmungen  äer  niederen  Neryencentra  ^  Bass  die 
Maoht  dieser  Gefühle  uns  beim  Menschen  um  so  grösser  erscheint^ 
je  geijuiger  die  Selbstständigkeit  des  Himbewusstseins  ist,  lässt  darauf 
ju^hlieesen,  dass  bei  den  Thieren  die  Bedeutung  derselben  ebenfslls 
um  so  grösser  ist,  jö^^efer  wir  in  der  Thierreihe  hinabsteigen,  was 
-ffich  auch  a  pricri  erwarten  lässt,  da  hier  die- übrigen  Genisse 
mishr  und  mehr  yersohwinden. 

Man  wird  jetzt  einsehen,  wie  auch  andere  sinnlidie  GefÖhle, 

die  zum  Theil  durch  klar  bewusste  Himwahmehmungen  bestimmt 

t  und  begleitet  sind,  zum  anderen  Theil  unklar  und  unfasslioh  blci- 

'  beh ,   insofern    sie   durch :  Wahrnehmungen   und   Gefühle   niederer 

Centra  ^lermittelt  sind;   so  yergleiche  man  z.  B.,  wie  leicht  es  ist, 

*  irgend  ein  einlsohes  Gefühl,  das  durch  die  Wahrnehmung  der  direet 

•isum  Hirn  leitenden  oberen  Sinne  bestimmt  ist,  in  der  blossen  V(nr- 

Stellung  yollständig.  und  klar  zu  reproduoiren,  wie  erfolglos  dagegen 

.Alle  Bemühungen  bleiben,  Hunger  und  Durst  oder  G«sdÜBohiage- 

-  nuss  dem  Bewusstsein  klar  und  yoUstäadig  aus  der  Ennnerotig  vn 

yergegenwftrtigen* 

Endlich  bleibt  die  Möglichkeit  übrige  dass  noeh  andere  «a^ 

,wusate  Tonteilungen  bestimmend   anf  die  Bigenthümliühkeü  dr 

Oefühlszustände  einwirken.     Wir  haben  nämlioh  schon  weitercM^ 


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199 

gesehen,   dass  die   sinnliche  Wahrnehmung  häufig  erst  dann  eine 
Lust-   oder  Unlnst-Empfindang  znr  Folge  hat,  wenn  sie   in  einer 
gewissen  Stärke   auftritt ,    während  sie   unter  diesem  Ifaass  als 
objective   indifferente   "Wahrnehmung    für   sich  besteht,    ohne  ein 
solches  Oefühl  2u  yeranlassen.     Nun   ist  aber  fast  keine  sinnliche 
Wahrnehmung  durchaus  einfach,  sondern  aus  einer  Menge  Elementen 
zusamtnengeset^  die  nur  durch  den  gemeinsamen  Act  der  Perception 
tnx  Einheit  verbunden  werden.     Dennoch  können  sehr  wohl  Eine 
oier    einzelne    dieser   Partiahrahmehmungen    Gefühle    zur    Folge 
haben,   wiöirend   die  übrigen  Partialwahmehmungen    dem   Gefühl 
indifferent  bleiben.     Nichtsdestoweniger  werden,  wenn  die  Yerbin- 
dung  dieser  Terschiedenen  Partialwahmehmungen  zu  Einer  summa- 
rischen  Wahrnehmung  keine  zufällige,   sondern  eine  in  der  Natur 
des  Objects  begründete  beständige   ist,   nicht  nur  die  das  Gefühl 
bewirkenden,  sondern  auch  die  indifferenten  Theile  der  ganzen 
Wahrnehmung   mit    dem    Gefühle   yer schmelzen   und    für    die 
Qualität   des   ganzen   Seelenzustandes  mitbestimmend  sein,  weil  ja 
die  Seele  kein  Interesse  hat,  die  Sonderung  der  gefühlerzeugenden 
mid  der  indifferenten  Theile  vorzunehmen.     So  z.  B.  wirkt  für  den 
Oharacter  des  Lustgefühls,  welches  in  mir  durch  das  Anhören  einer 
bestimmten  Sängerin  erzeugt  wird,  jede  characteristische  Eigenthüm- 
hchkeit  des  Timbre  und  Klanges  der  Stimme  mitbestimmend,  und 
ohne  dass  diese  kleinen  unterschiede,  welche  eben  nur  zur  Möglich- 
keit der  Unterscheidung  verschiedener  Stimmen  hinreichen,  einen 
unterschied  in  dem  Grade  des  Genusses  hervorrufen  könnten,  so 
bin  ich  doch  nicht  im  Stande,  mir  den  Genuss,  welchen  ich  beim 
Anhören   gerade    dieser    Sängerin    empflmden,    von    diesen  feinen 
Nuancen  der  indifferenten  Wahrnehmung  zu  sondern,  ohne  die  Eigen- 
thnmlichkeit  des  gehabten   Gefühls  aufzugeben.     Es  beweist  dies 
eb^  nur,  dass  man  das,  was  eigentlich  Lust  und  Unlust  in  den 
Sefilenzuständen  ist,  gar  niemah  auszuscheiden  geübt  hat,  son- 
dern aQe  Seelenzustände,  in  denen  nur  überhaupt  Lust  und  Unlust 
vorkommt^  läber  mit  Einschluss  aller  begleitenden  Wahrnehmungen 
nnd  Yorstellungen  (ja  sogar  Begehrungen)  unter  dem  Ausdruck  Ge- 
fühl zusammenfasst.  —  Man  sieht  nun  ein,  dass  auch  unter  den 
bloss  begleitenden  Wahrnehmungen   unbewusste   für  das  Hirn 
Min  können,  wie  dies  soeben  für  die  gefühl erzeugen  den  gezeigt 
worden  ist;  noch  wichtiger  aber  werden  diese   begleitenden  Vor- 


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_2W  _ 

Btellangeui  wenn  ;wir,  Ton  dem  Gebie^  der  sinnlichen  Wahmehmung 
in  das  der  geistigen  Vorstellung  übergehen» 

So  haben  wir  nun  die  versohiejdenen  Arten,  wie  GefiLhle  durch 
unbewusste  Vorstellungen  bestimmt  werden  können,  im  Allgeipeinen 
entwickelt,  und  vielleicht  ist  bei  dieser  Gelegenheit  auch  schon  die 
Wichtigkeit  der,  unbewussten,  Vorstellungen  für  das  ganze  Gefübby 
leben  sichtbar  geworden.  Diese  Wichtigkeit  ist  gar  nicht  hoch 
genug  zu  veranschlagen.  Man  i^ehme  sich  zur  frohe  nur  ein  Ge- 
fühl vor,  welches  man  wolle,  und  suche  es  in  seinem  ganzen  Um- 
fang mit  völlig  klarem  Bewusstsein  zu  erfassen,  es  ist  ewig  ver- 
gebens; denn  wenn  man  sich  nicht  mit  dem  oberfläqhlichsten  Ver- 
ständniss  begnügt,  so  wird  man  stetsauf  einen  unauflöslichen 
Best  stossen,  der  jeder  Bemühung  spottet,  ihn  mit  dem  Br^nspiegel 
des  Bewusstseins  zu  beleuchteu.  Wenn  man.  sich  jquii  ^er  £n^ 
was  man  denn  mit  dem  klar  gewordenen  Theile  gethan  lfa))e, 
während  man  ihn  mit  vollem,  Bewusstsein  erfaspte,  so  wird  .man 
sich  sagen  müssen,  dass  man  ihn  in  Gedanken,. d,  h.  bewi^s^t-e 
Vorstellungen  übersetzt  habe,  und  nur  soweit  das  Gefühl  sich 
in  Gedanken  übersetzen  lässt,  nur  so  weit  mt  es  klar  beitrusst  ge- 
worden. Dass  sich  aber  4ad  Gefühl,  naß.  wenn  auch  nur  theilw^if^ 
hat  in  bewusste  Vorstellungen  umgi,es,sen  lassen,  das  beweist i.^^ 
wohl,  dass  es  diese  Vorstellungen  schon  unbewusst  enthielt,  i^n 
sonst  würden  ja  die  Gedanken  in  der  That  niphi  da.s/?elbß  ^ui 
können,  was  das  Gefühl  war.  —  Nur  soweit  die  Gefühle  in. Kedwi- 
ken  übersetzt  werden  können,  n^r  so  wei^  sind  sie  mitt^h^ilbafr 
wenn  man  von  der  immerhin  hpc^ist  dürfügen  insti^ctivop  Qeber- 
densprache  absieht;  denn  nur  soweit  die  Gefühle  iii,  Gedai^k^  2U 
übersetzen  sind,  sind  sie  mit  Worten  wiederzugc^b^ttp  Va^wei^ 
aber,  was  es  mit  der  Mitt^^ilung  der  Gefühle,  für.  Soh¥^erigkei* 
hat,  wie  oft  sie  verkannt  und  missverstan4en,  Ja  sogar  yn^iOft^ 
für  unmöglich  erklärt  werden.  Gefühle  k^nn  übeiriiaupt  nur  beg^ 
fen,  wer  sie  gehabt  hat;  nur  ein . Hypoohondrist  vearstehÄ  len 
Hypochondriste^,  nur  wer  schon  geliebt  hat,  den  Verliebten». ..Vi» 
oft  aber  verstehen  wir  uns  selbst  nicht,  wie  räthselhaft  sind  uMi 
oft  unsere  eigenen  Gefühle,  namentlich  wenn  sie  zum  op»t§n  Male 
kommen ;  wie  sehr  ^ind  wir  nicht  in  Betreff  unserer  Gefühle  dea 
gröbsten  Selbsttäuschungen  unterworfen«  Wir  sind,<;|ft  von  . einem 
Gefühle  beherrscht ,  das  in  unserem  innerstan  Weae«  schon«  faftt^ 
Wurzeln  geschlagen  hat,  ohne  es  zu  ahnen,  und  plötzlich  bei  irgend 


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201 


einer  Gelegenheit  fallt  es  mis  wie  Schuppen  von  den  Augen.  Man 
denke  nur,  wie  tief  oft  reine  Mädchenseelen  von  einer  ersten  Liehe 
erfasst  sind,  während  sie  mit  gutem  Gewissen  die  Behauptung  ent- 
riiatet  zurückweisen  würden,  und  wenn  nun  der  unhewusst  Geliehte 
in  Gefahr  kommt ,  aus  der  sie  ihn  retten  können  j  dann  steht  auf 
einmal  das  hisher  schüchterne  Mädchen  im  ganzen  Heroismus  und 
Opfennuth  der  Liehe  da,  und  scheut  keinen  Spott  und  keine  Nach- 
rede; dann  weiss  sie  aher  auch  in  demselhen  Augenblick,  dass  sie 
liebt  und  wief  aie  liebt.  So  ufibenvusst  aber,,  wie  ia  diesem  Beispiel 
die  Liebe  9  hat  mindestens  einmal  im  Leben  jedes  geistige  Gefühl 
in  uns  existirt,  und  der  Process,  vermöge  dessen  wir  uns  ein  für 
allemal  seiner  bewusst  wurden,  ist  das  TJebersetzen  der  unbewussten 
YoprsteUujigen^j  .welche  ^^;G;iefühl  beg^pmpen,  in  bowiw|e  Vorstel- 
Inngexi,  d-j^i.  Gedank,^^  jifnd  .Worte.        .. ,.     ,.      .     /     .,  •  / 


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IV- 
Das  Unbewvsste  in  Charaeter  und  Sittliehkeiit. 


Es  giebt  keine  Erscheimmg  des  Willens  ohne  Er^gangsgnmd, 
Motiv.  Der  Wille  an  sich  ist  ein  potentielles  Sein,  eine  latente 
Kraft»  und  sein  üebergang  in  das  actuelle  Sein,  in  die  Kraflr 
üussening,  erfordert  als  zureichenden  Grand  ein  Mötiy,  welches 
allemal  die  Form  der-Yorstellnng  hat.  Diese  Sätze  aas  der  Psycho- 
logie setze  ich  voraus.  Das  Wollen  ist  nur  der  Intensität  nach 
verschieden;  alle  übrigen  anscheinenden  Verschiedenheiten  des 
Wollens  fallen  in  seine  Objecte,  d.  h.  in  die  Yorstellongen  dessen, 
was  gewollt  wird,  und  diese  Objecto  sind  wieder  durch  die  Motive 
bedingt;  nach  d^i  verschiedenen  Hauptclassen  der  unter  Menschen 
am  Gewöhnlichsten  vorkommenden  Gegenstände  des  Wollens  wird 
Auch  das  Wollen  selbst  in  verschiedene  Hauptrichtungen  unter- 
schieden, als  z.  B.  sinnliche  (}enus6sucht,  Halber  und  Geldgier, 
Eitelkeit,  Ehrgeiz  und  Ruhmsucht,  Liebesdrang,  künstlerischer  Trieb, 
Wissensdurst  und  Forschungstrieb  u.  s.  w. 

Wären  nun  diese  Objecto  allein  von  den  Motiven  abhängig,  so 
wäre  die  Psychologie  sehr  einfSaoh,  und  der  Mechanismus  in  allen 
Individuen  congruent.  Die  Erfahrung  zeigt  aber,  dass  ein  und 
dasselbe  Motiv,  ganz  abgesehen  von  zufalligen  unterschieden  der 
Stimmung,  auf  verschiedene  Individuen  verschieden  wirkt.  Die 
Meinung  der  Menschen  lässt  den  Einen  gleichgültig,  dem  Anderen 
gilt  sie  Alles,  die  Lorbeerkrone  des  Dichters  dünkt  dem  Einen  ver- 
ächtlich, der  Andere  opfert  ihr  sein  Lebensglüok,  ebenso  ein  schönes 
Weib;  der  Eine  bringt  sein  Vermögen  zum  Opfer,  um  seine  Ehre 
zu  retten,  der  Andere  verkauft  sie  für  eine  Summe  Geldes;  gute 
Lehren  und  schöne  Beispiele  spornen  den  ESnen  zur  NacheiferuDg 
an,  den  Anderen  lassen  sie-  unberührt;   vemfiAftige   üeberlegung 


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I 


203 

bestimmt  bei  dem  Einen  alles  Handeln,  bei  dem  Anderen  ist  sie 
nicht  im  Stande,  als  Motiv  zu  wirken,  and  die  sichere  Aussicht  des 
Yerderbens  yermag  ihn  nicht  ron  seinem  Leichtsinn  abzuhalten; 
o.  s.  w.  —  Wie  ein  bestimmtes  Individuum  sich  gegen  dieses  oder 
jenes  Motiv  verhalten  werde,  kann  man  nicht  eher  wissen^  als  bis 
man  es  erfahren  hat;  weiss  man  aber,  wie  ein  Mensch  auf  alle 
möglichen  Motive  reagirt,  so  kennt  man  alle  Eigenthümlichkeiten 
desselben,  so  kennt  man  seinen  Gharaoter.  Der  Character  ist  also 
der  Beaetionsmodus  auf  jede  besondere  Glasse  von  Motiven,  oder 
was  dasselbe  sagt,  die  Zusammenfassung  der  Erregungsföhigkeiten 
jeder  besonderen  Glasse  von  Begehrungen.  Indem  es  kein  Motiv  giebt, 
das  aussohlieeslich  einer  jener  Glassen  zugehört,  so  werden  stets  oder 
doch  in  der  Begel  eine  grössere  Menge  von  Begehrungen  gleichzeitig 
afficirt»  und  die  Besultante  dieser  gleichzeitig  erregten  Begehrungen 
ist  der  aetueUe  Wille,  welcher  unaufhaltsam  und  unmittelbar  zur 
That  schreitet,  wenn  diese  nicht  durch  physische  Ursachen  verhin- 
i  dert  ist.  Fragen  wir  nun,  was  es  denn  für  ein  Process  sei,  diese 
i  Eeaction  des  Willens  auf  das  Motiv,  und  dies  Widerspiel  der  Be* 
f  gehrungen  zu  der  Einen  Besultante,  so  müssen  wir  gestehen,  dass 
wir  zwar  seine  Existenz  durch  unzweifelhafte  Bäcksehlüsse  aus  den 
in'g  Bewusstsein  fallenden  Thatsachen  erkennen,  dass  wir  aber  über 
seine  Art  und  Weise  nichts  aussagen  können,  weil  unser  Bewusst- 
sm  uns  keine  Kunde  davon  giebt.  Wir  kennen  in  jedem  einzelnen 
Falle  nur  das  Anfangsglied,  das  Motiv,  und  das  Endglied,  den 
aktuellen  Willen;  aber  was  der  potentielle  Wille,  das  Beagirende 
sei,  können  wir  niemals  erfahren,  ebenso  wenig  können  wir  je  einen 
fimbliok  in  das  Wesen  der  Beaction  thun,  wodurch  der  potentielle 
in  den  aetuellen  Zustand  übergeht,  eine  Beaction,  die  völlig  den 
Character  der  Beflexwirkung  oder  des  reflectorischen  Instinctes  an 
sich  trägt,  wie  wir  dies  bei  dem  speciellen  Fall  des  Mitleides  schon 
weiter  oben  gesehen  haben.  Yen  dem  Kampfe  der  verschiedenen 
Belehrungen  gegeii  einander  haben  wir  wohl  theilweise  ein  Bewusst- 
Bein,  abcor  nur  in  soweit,  als  wir  in  fH^ieren  ein&eheren  Fällen  die 
simelBen  Begehrungen  gesondert  als  letztä  Besultanten  erfahren 
Bulben,  und  unsere  früheren  Erfahrungen  auf  die  Gegenwart  an- 
iTend^n;  Wie  unvollständig  aber  diese  Erüsdiruiq^  sind,  und  wie 
^vollkommen  sie  benutzt  werden  zum  Yerständniss  eines  gegen- 
^^ärtigen  ßeelenvorganges,  wird  wohl  jeder  schon  ffii  sich  erfahren 
haben* 


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204 

,;  Wie  hsLu&g  gUut]tt  daa  Bewmsstsein,  die  Stärke  all^  in  dem 
Falle  betheili^en  Begehnuigeix  au^  das  Sorgföltigste  gegen  ein^nd^r 
.a,l)gewf|^eji?L,  n^^  ^^f!  ui)ib.9|rÜQksfQhtig^,  geladen  21^  haljenn-und  wean 
C|ij,^  znpi  jp^emdeln  ^mpit,  so  sieht  j^s,  zu,,  seiner  grössten.TJqber- 
x^chon^,  d|as8  »piß  .hei;axi^ekl|^eltes  I'apit  ganz ,  und  gar  nicht 
stimn^j^  sp|i(^e;c|i  plötzlict^  ein^,  ;gan^  jmderA^B^suItante  als  aouvcrändr 
W^le.jI^ry9^tt;,!Man^erii;i^eyj9  Äi<jh  4er  im  yorigenOapitel  (8.  195) 
üljer.TUitp^vfTwten .li?'iUen  gegebeaepi  Andeutui^e^  Es  z^gt »iohalsOr 
^asp  9^  ii^,  ^er  That  nur  ein  sicheres  Kennzeichen  für  de»  eigpnt- 
Ucben^.waJu^qn.  nj^d.e^dgiUifigen  "V^^  da§  ißt   die  Tli^t 

(gleicbyijft^  qIj,  sie,  gjel;ii?\gt,  qder  im  garsten  y^sucb'4\w:ch  äussere 
XJfl^stände  .ß|sticjkt  wird),  4ftß8^  ^^r  jede,  a^dere  Vora^BseJtzung  ^es 
ißewupsti^eins  üb^,  das.^  i^^as  ix^an  eigentlich  will,  unsichere,  häufig 
ti^igiwde  Yennutfii^ig  ;  bleibt ^^  die  keineswegs  auf  einter  unmittel- 
Jbjai'en  .Kenntijij^s  des  Bewusst^eins-T  vom  ,,Willen,  sondern  auf  ^- 
fahrüngsjanalogien  und  künstlichen  Combinationeu  4ije8er  beruht 
Wie  Spreu  vor  dem  Wixide  zerstiebt  oft  der  festest©^  Entschkwe, 
4er  sicherste  Yjorsatz^n  der  That,  wo  erst  der  w^hie  Wille  aus  der 
Kapht  des  ünbew>is|»ten  hervortritt,  während  der  Wüle  des  Vorsaties 
nur  einseitiig^B  Begehren,  oder  gar  nur  vom  Bewusstsein  vorgestellt 
iqid  g^  nicht  vp^handen  war.  Tritt  aber  die  That  niemals  an  äesx 
Menspl^en  l^^xan,  j^.  B.  dadurch,  das?  er  immer  die  TJnn^liohkeit 
iJ3i,jfer  -^s^ihrung  im  Auge  hat,  so  erlogt  er  auch  nie  Gewissheit 
üb^r  das,  was  ey  eigentlich  im  Grunde  seines  Herzens  wilL  We 
sojgponannte  l^ewu^te- Willens  wah^  und  ihr  Schwanken'  ist  keuies- 
W^  e:^  bewusstes  Schw^q^ken  des  W  i  1 1  »n  s^  ßtmAem  ein  Schwanken 
der  Srkenntniftff  über  das  richtige  YerstäadnisB  dej:  Motive  xaA 
^^lifüber,  wie  .die  Verhältnisse  siph  jetat  und  in  Zukunft  dem  Willen 
gegember  ^estc^ten  und;  verhalten.  Ist  aber  die  friLenatniss  erst 
ivi^l  Klaren»  sqr.  ist  es  sofort  auch  der  Wille.  ^.  B,  dm  Schwanken 
i^f[iqer  Wahl,  ob»  ich  die  kluge  und  häsßliehej  oder  die  :  dumme  un^ 
hja^sch^  Schwester  heiratfeen  vBoU,  ist  kein  Schwanken  meines 
IjVillensj ,  der  vorläufig  npch  gar  nicht  ]tiervoi:tiitt^  sondern  meines 
Y,erstandes  über,,  die  Q;rösse  dier^  in  jedem  Falle  zu : erwartenden 
I^t;  ni^hdem  der  ypi;8tfmd:gewJi^  bat»  ist  erat  d^n  Willen  seia 
¥/^y.:  g^cbaffPÄii  ii^üoli^^^^  Yojratellung  .4^?  grö4«nren  «ä  er- 
.i^^rtendioft  Lust  TT  .  r   . 

.,.,:  £8  ii^ij,  alsp  ^festzuhalten,  dass  die  Werkstatt  des  Willem:im 
ünbewussten  liegt,  da«8  man  nur  das  fertige  Resultat  und  zwar 


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205 

cTst  in  dem  Augenblicke  zn  sehen  bekommt,  wo  es  in  cler  That 
zur  practischen  Anwendung  kommt,  und  dass  die  Blicke,  die  es 
etwa  in  die  Werkstatt  hineinzuwerfen  gelingt,  nur  mit  Hälfe  yon  % 
Spiegeln  und  optisclien  Apparaten  einige  immerhin  unsichere  Kunde 
zu  bringen  vermögen,  die  aber  niemals  in  Jeriie  unbewussten  Tiefen 
der  Seele  dringt,  wo  die  Reatotion  des  potentiellen  "Willenfl'  auf  das 
Motiv  tüid  sein  V^heitriit  in  den  Actus  stattfindet. 

Wenn  man  nun  eingestehen  muss,  dass  die  Erregung  des 'Wil- 
lens för  uns  ewig  mi^  dem  Schleier  des  Unbewuästen  bedeckt* 
bleiben  wird,  so  ist  es  nicht  ku  verwundem,  dass  wir  auch'  die ' 
Ursachen  nicht  so  leicht  zu  durchschauen  vermögen,  welche  die 
yerschiedene  Erregungsföhi^eit  der  verschiedenen  Begehrungen, 
oder  die  verschiedene  Reaction  des  Willens  verschiedener  Indivi-' 
duen  auf  dieselben  Motiv^  bedingen;  wir  müssen  uns  eben  Vor- 
läiiÄg  damit  begnügen,  in  ihnen  das  ihrierste  Wesen  des  Individuums 
zij  sehen,  und  nennen  däfum  ihre  Wirkung  sehr  bezeichnend  CKa- 
wtcter,  d.  h.  Merkmal  oder  Kennzeichen  dies  lüdividtiums.  Soviel  jedoch 
haben  wir  drkannt,  dass  dieser  innerste  Kern  dier  individuellen 
Seele,  dessen  Aui^fltiss  der  Character  ist,  jenes  eigeüÜlichste  Ich  des 
Menschen^  dem  man  Verdienst  nnd  Schuld  zurechnet  und  Verant- 
wortlichkeit auferlegt  (ziemlich  dasselbe,  was  Kant  mit  dem  Worte 
inieUigibler  iDharactcr  bezeichnet),  dass  also  dieses  eigenthümÜcfaie 
Wesen,  welches  wir  selbst  sind,  dennoch  uüserem  Bewusstsein  und 
dem  sublimirten  Ich  des  reinen  Selbstb^wüsstseins  femer  liegt,  als 
irgend  etwas  anderes  in  uns;  dass  Wir  vielm'^hr  diesen  tiefinnersten 
Kern  unseret  selbst  nur  auf  deiiselben  W^ge  kennen  lernen  können, 
wie  aÜ  änderen  Mensched,  ilamlich  durch  Rückschlüsse  ^aus  dem 
Händeln.  „An  ihren  ^rttchttÜ  sollt  ihr  sie  eiriennen",  Aes  W^ort 
g:ilt  auch  f&r  die  Selb'stieirKelintniss,  und  wie  sehr  täuschen  wir  uns 
auch  dabei  "Hoch,*  indem  wir  Handlungen  aus  gdhi  anderen,  nament- 
lich besseren  Beweggründen  gethan  zu  haben  glauben;  als  wirklich 
der  Fall  i^  wie  wir  dann  zuweilen  durch  ZufaUlgkeiten  zu  unserer* 
Beschfimunig  erfahren.  in 

Es  dürfte  nicht  überflüssig  sein,  von  diesem*  Standpuncte 
aus  auch  auf  das  Wesen  des  Ethischen  einen  Seitenblick  '  zu 
werfen.  * '  Bs  ist  viel '  darüber  gestiitleii ,  oh  die  Tugenä  leh^bai? 
aeVtnd'theörötisch  lifest  sich'hiutö  üöch  sd  daif&ber  streiten,  wie 
zr'^laWs  'Zeiten,  Üßer'  der'pif^cWöchd  'Psychologe  i^t  'zii'  Veinet' 
Zdt  darüber  %i  Zweifel  geweseii,  dass /^  a'bgeöeheii 'V(>n  öer  ö'e-  ' 
wohnheit,  dieser  zweiten  Natur  der  Seele,  welche  eine  Dressur 


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208 

fBr  ihr  Wirken  TeTftntwortlich  maehen ;  -wit  baiten  alber  wiedemm 
dann  die  Weseti  für  yera&tworäich  för  ihr  Thnn^  vemi  ihf  Be- 
wuftstsein  zu  eiAem  solchen  Grade  enhmkelt  ist,*  diuss  die  selfo^  ^ 
BQgnffe  von  sittlich  und  unsitttioh  T^rstehiött  können, 'und  inacheii 
flie  nur  für  solche  Handltingen  yeittotwortlw^b ,  bei  denen*  ihr' Be* 
-wnsstsein  sieht  verhindert  war,  xKesen  sdneh  eigenen  Mädssstab 
anzulegen.  So  kommt  ee,  -dass  wir  eine  und  dieselbe  Handlung  bei 
einem  Wetten  sittlich  od^r  tmsiittlioh  nennen,  bei  einem  andeiren 
aber  nicht;  z.'  B/  werden  wir  den  strengen  Eigenthnmssinn,  den  Wir 
b»i  manchen  Thieren  innerhalb  ihifer'(Jatttmg  nnd  engeren  L^M- 
gemeinschaft  (z.  B.  bei  wilden  Pferden  innerhalb  ihrer  Heerde  in 
Be^ttg'aof  Weideplätze  und  aufgehobenes  Futter)  nicht  ak 'ein« 
sittlidhe,  sondem  nur  als  eine  gute  Eigenschaft  bezäichhen;  so 
kennen  wir  es  nicht  unsittlich  nennen,  wenn  wilde  Völkerschaften 
dem  Gastfreund  auch  ihre  Weiber  offenren ;  imOegentheil  könnte  fies 
als  Theil  der'Gastfreundschscft  sittlich  genaniit  werden,  weSl  hvi  «u 
dieser  IBtufe  des  Verständiiisses  "ihr  Bewusstsein  ällenftdlfl'ientWiökeK 
ist,  aber  'nicht  bis  '^ra  VdÄtändntss  det  Sittsarnkdit  iin  göschlödit- 
lichen  Umgang.  Bei  einem  kleinen  Eindfe  Tiöiinen'  wir»  ^di^bdlKto 
AnsbrÄöhe'  der  Bosheit' wohl  nui^  höchstens i)öse  nennen ,"fflö' 'in 
iteiferem  Alter  denselbc^ti  €hä:racter  als  tinsittlTch  vetdamtöto  läiteeh. 
Bie  Blutrache  Wäre  bfei  uns  unsittlich,  bÖi'V^lkei^ii'^ii' geringerer 
Oulturist  sie'  öiub  sittliche  Insflttrtron,  bei  gähji  ^6hen  Wilden  eiö 
Messer  Act  der  Leidenschaft,'  der  wedtei^  isittlich  noch  unsittlich  g^ 
nannt 'wei^deh  kann'.  Biese  fieiö^ele  mö^öb*  üim  Beweise  geiiSgeb, 
dass  sittliöh  und  nmsittlifeWiiicht^i^Ötiöchaftefn  der  Wesen  öder  ihr* 
Handlungen  an  siöh  tlitod,-  sondern  liht'ür theil e  über  dlfeselbfeii  toh 
einem  erttt '  dtitch  da*  B^H^rostefein  g*6ÄWiaffeneti  iStahäpunbte'  atii, 
Bezifehuttgeh  zwis6h^n  Jehe^'Weöelri'titid  ihren Hkndlüto^eö'aiif'to 
einen/  imd  diesem  Standpünc^t^  einer  höhten  B^'^usbtseinsstufe  waf 
dörändeten'Seite,  dato  also  die  Natur, ' soweit  *ie  uiibewnsst  M, 
d«h  tFnterschied  von  sittlich  imd  iiüsittlibh  nicht  kennt.  Ja  dfe 
Natur  an  fiTfeh  iät  hiöht  einmial  guf'oÄet  böil^','  sondern  eftng  Äfcte« 
Wöit^  als  natürtich,  d.  h;  sich  selbst' gerÄäss;' denn  der  ÄÜgemelfae 
Naturwille  hat  nichts  ausser  sich,  weil'' er  Allbs  liüiftwst  und'  Alles 
selber  itft,  aläo  kann  föi*'  ihn  'tÜ6hts  'gut'tydeir'böse  sein, 'Condom  nur 
ffir  ^nen  indiViiatiellen  Willen;'  denn  eine  Beziehdng'zwischfeÄ  efciim 
Willeb  nrid'  einem  äusseren  Object,  wii*ä  dtif ch  die?  B^griflfö  '^rt;  i&d 
b«öe  '§cboh  hofhVrbhdig^ '♦^r^Afefeösetet.  '^       '*'     "     '  "^    '  ' 


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209 

Bei  alledem  soll  aber  keineBwegs  der  Werth  dieses  yom  Bewusst- 
seiB  geschaffenen  kritisohen  Btandpunctes  erniedrigt  werden,  nurder 
Iirthum  soll  beseitigt  werden,  als  gäbe  es  ausserhalb  dieses  speoifischen 
Standpunctes  die  Möglichkeit  dieser  Begriffe,  die  erst  in  der  Beziehung 
SU  ihm  entstehen.  Nimmt  man  freilich  ausser  and  vor  der  Natur  ein  Be- 
wnsstsein  (in  einem  persönlichen  Gotte)  an^  so  kann  man  auch  tob  dem 
Btandpuncte  dieses  Bewusstseins  aus  den  Maassstab  jener  Begriffe 
an  die  Welt  legen;  leugnet  man  aber,  wie  wir  aus  später  zu  ent- 
wickelnden Gründen  thun  müssen,  ein  Bewusstsein  ausserhalb  der 
Yerbindung  Ton  Geist  und  Materie,  so  verschwindet  auch  die  Mög- 
lichkeit, den  Maassstab  jener  Begriffe  an  die  ganze  unbewusste 
Welt  zu  legen;  eine  Sache,  an  die  schon  viele  unnütze  Arbeit  ver- 
sehwendet  ist. ,  Alles  dies  aber  drückt  keineswegs  auf  den  Werth 
jener  Begriffe,  denn  wie  trotz  aller  Einseitigkeit  und  Beschränktheit 
das  Bewusstsein  doch  für  diese  Welt  an  Wichtigkeit  über  dem  Un- 
bewussten  steht,  so  steht  letzten  Endes  auch  das  Sittliche  höher  als 
das  Natürliche;  ja  indem  das  Bewusstsein  schliesslich  doch  auch 
nur  ein  unbewusstes  Naturproduct  ist,  so  ist  auch  das  Sittliche  nicht 
ein  Gegensatz  des  Natürlichen,  sondern  nur  eine  höhere  Stufe  des- 
selben, zu  welcher  sich  das  Natürliche  kraft  seiner  selbst  und  durch 
die  YermiAtelung  des  Bewusstseins  emporgeschwungen  hat. 

Mit  diesen  kurzen  Andeutungen  muss  ich  mich  hier  begnügen, 
da  eine  in  diesem  Sinne  ausgeführte  Ethik  ein  eigenes  Werk  ab- 
geben würde.  Auch  glaubte  ich  auf  die  Darstellung  verzichten  zu 
nrässen,  warum  und  wie  der  Standpunct  der  Beurtheilung  mit  den 
Prädicaten  sittlich  und  unsittlich  aus  einer  gewissen  Höhe  des  Be- 
wusstseins hervorgehen  müsse,  und  was  der  Inhalt  jener  Begriffe 
sei;  ich  glaubte  dies  um  so  eher  zu  dürfen,  als  mir  für  die  Zwecke 
luiserer  jetzigen  Untersuchung  die  allgemeine  Fassung  jener  Begriffe, 
wie  sie  im  bürgerlichen  Leben  statt  hat,  ausreichend  scheint. 


T.  Harimann,  Phil.  d.  UnbewiiMton.  14 

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1  .  . 


V. 

Das  ÜBbewifiSto  kn  ägthetiselira  Urtkeil  iBd  die  Vkasb- 
lerisehe  Pr«dii€ti#B. 


In  der  Auffiu8«ng  de»  Sehönen  lubben  nok  -^n^  jebv  sm 
extreme  Assiolitea  gegenüber  gestandoiy  die  in  iierMliiedeneQ  Vcr- 
mittelnngsreMaohen  yersoliiedeneii  Baom  in  Anspnush  n^aea. 
Die  Eineik  stütaen  nek  daraaf ,  dius  die  memchlicbe  Seele  in  d<r 
Kunst  über  die  ron  der  üTator  gegebene  Scbönbeit  hinnaigehi» 
und  halten  dies  Üir  unmeglicb,  weim  nieht  der  Seele  eine  Idee  dM 
Sohenen  inne  irohnt,  welehe,  nach  einer  bestbnmten  Biohtniif  hin 
aufgefasst,  Ideal  heiset,  und  deren  Yergleieli  mit  der  veiiumdenen 
Natur  erst  bestimmt,  was  an  jener  seliön  sei,  was  ni^it,  se  das» 
das  ästhetisdie  Urtheil  ein  apriorisch  syntlwtisches  ist.  D&s  An* 
d^^i  weisen  nach,  dass  in  den,  den  vorgeblichen  Idealen  am  nächsten 
k(»nmenden  Kunstsohöi^angen  keine  Slemente  enthalten  seieii, 
welche  die  ISTatnr  nicht  auch  bietet,  dase  die  idealisiraide  IMtig- 
keit  des  Künstlers  nur  in  einem  Ausmerzen  des  Häsaliehen  und 
Zusammentragen  und  Vereinigen  de^enigen  Schönen  bestehe,  wel- 
ches die  Natur  gedr^int  darbietet,  und  das«  die  ästbetisehe  Wis* 
senschaft  in  ihrem  Fortschritt  mehr  und  mehr  den  psychischsn' 
Entstehungsprocess  des  .ästhetischen  Urtheils  aus  den  gegebenen 
psychologischen  und  physiologischen  Bedingungen  demonstrirt  habe, 
so  dass  eine  yollständige  Aufhellung  dieses  Gebietes  und  Beinigoog 
von  allen  apriorischen  Wunderbegriffen   in  Aussicht    stände. 

Ich  glaube,  dass  beide  Theile  theils  Becht,  theils  Unrecht  haben. 
Die  Empiriker  haben  Recht,  dass  sich  jedes  ästhetische  Urtheil  ans 
anderweitigen  psychologischen  und  physiologischen  Bedingungen 
begründen  lassen  muss,  und  darum  sind  sie  es  eigentlich  nur,  die 
die  wissenschaftliche  Aesthetik   schaffen,    während   die  Idealisten 


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211 

iMli  die  Mdi^ohkeit  dieser  Wissemokafl  mit  ihrer  Hypothese  ab- 
schneideB.  Gesetst  aber,  die  Empiriker  hätten  ihren  Zweck  er- 
reicht, und  hätten  das  ästhetische  Urtheil  vollständig  analysirt,  so 
hätten  sie  doch  dadurch  nur  seinen  objectiren  Zusammenhang  mit 
utderen  Gebieten,  gleichsam  sein  Weltbürgerreeht  im  Geiste  als 
einem  Natarwesen  nachgewiesen,  aber  die  subjectiTe  Entstehung 
desselben  im  indiTidoellen  Bewnastsein  hätten  sie  unberührt  ge- 
lassen, oder  hätten -^  mit  der  ihrer  Auffassung  stillschweigend  zu 
Grande  Hegenden  Behauptung,  dass  der  objeetive  Zusammenhang 
und  der  Bntstehungsprooess  im  subjeetiren  Bewusstsein  identisch 
sei,  etwas  geradezu  Unwahres  behauptet,  dem  jede  unbefangene 
Selbstbeobachttlng  und  das  Zeugniss  des  einftichsten  wie  des  ge- 
bildetsten Schönheitssinnes  widersprechen.  Die  Idealisten  werden 
Tielmehr  Becht  behalten,  dass  dieser  Process  etwas  jenseits  des 
Bewussteeins  Tor  dem  bewussten  ästhetisohen  Urtheil  Liegendes, 
miäiin  ftbr  dieses  etwas  Aprionsches  sei,  sie  werden  aber  wieder 
darin  Unrecht  bekommen  müssen,  wem  sie  den  Process  in  die- 
sem Apriorischen  durch  ein,  ein  für  allemal  flortiges  Ideal  yemich- 
ten,  das,  weiss  Gott  woher,  kommt,  von  dessen  Existenz  das 
Bewusstsein  nichts  weiss,  dessen  objectirer  Zusammenhang  mit  an- 
deren pfljchischen  Gebieten  ewig  unbegreiflich  bleiben  muss,  und 
dess^  gegebene  Starrheit  sich  schliesslich  doch  der  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  der  einzelnen  Fälle  gegenüber  als  unzureichend 
erweist.  Wollte  man,  um  letzterem  Vorwurf  auszuweichen,  das 
Ideal  nicht  als  fest,  sondern  als  etwas  Flüssiges  annejiunen,  so 
wirde  man  statt  des  Einen  Wunders  unendlich  riele  statuiren» 
worauf  dimn  freilich  auch  nicht  mehr  viel  ankommt,  wenn  man 
erst  Eines  zugelassen  hact.  —  Um  ein  Beispiel  zu  nehmen,  müssten 
^  Idealifften  Ton,  Harmonie  und  Klangfarbe  nach  einem  idealen 
Ton,  idealer  Harm<mie  und  idealer  Klangfarbe  beurtheilen,  und  je 
nach  ihrer  Annäherung  an  diese  ihre  KlangÜEurbe  bestimmen,  wäh- 
lend HelnüioltB  („Ueber  Tonempfindungen^  nachweist,  dass  in  allen 
drei  Fällen  die  Lust  ale  Negation  einer  Unlust  zu  fassen  ist,  weldie 
durch  dem  Flackern  des  Lichts  ähnliche  Störungen  im  Ohre  bei 
Oeraoseh,  Dissonanz  und  hässlicher  Klangfarbe  entst^t.  Diese 
Uahst  ist  nicht  mehr  ästhetbch,  sondern  ebensogut  ein  schwacher 
physisoher  Schmerz,  wie  Baachgriminen,  Zahnschmerz  oder  der 
Bchmerz  beim  Ometscfa«!  eines  Tafelsteins  auf  der  Schiefertafel, 
M  ist  also  hiermit  die  äsilietische  Lusd  «m  sinnlichen  Theile  der 

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I 


212 

MuBik  in  ihrem  objectiren  Zusammenhange  mit  physischem  Schmerz 
nachgewiesen,  aber  keineswegs  ist  Ton  dem  ästhetischen  ürtheile: 
„dieser  Ton,  diese  Harmonie,  diese  Klangfarbe  ist»  schön''  das  die 
Entatehungsweise ,  dass  ich  mir  beim  Anhören  derselben  bewusst 
werde:  „ich  empfinde  jetzt  keinen  Schmerz  durch  Störungen  und 
doch  eine  gelinde  Anregung  der  Function  des  Organs,  ergo  empfinde 
ich  Lust'';  Ton  alledem  oder  ähnlichen  Vorgängen  findet  sich  nichts 
im  Bewusstsein,  sondern  die  Lust  ist  eo  ipso  mit  dem  Anhören  im 
ß^wusfitsein,  sie  steht  da  wie  hervorgezaubert,  ohne  dass  die  an- 
geäpa,niite8te  Aufmerksamkeit  im  subjectiven  Vorgänge  einen  Finger- 
zeig über  die  Entstehungsweise  zu  finden  im  Stande  wäre.  Dies 
echliosst  keineswegs  aus,  dass  jener  objectiy  erkannte  Zusammen- 
hang sich  im  ünbewussten  wirklich  als  Process  vollzieht,  dies  ist 
BQgar  meiner  Ansicht  nach  das  allein  Wahrscheinliche,  aber  dss 
Resultat  derselben  ist  das  Einzige  was  in^s  Bewusstsein  tritt  und 
icwar  erstens  momentan  nach  der  vollständigen  Ferception  der 
sinnlichen  Wahrnehmung,  so  dass  sich  auch  hier  wieder  die  Mo- 
ment anität  des  Frocesses  im  ünbewussten,  seine  Gompression  in  den 
zeitlosen  Augenblick,  bewahrheitet,  und  zweitens  nicht  als  ästhe- 
tiaohoB  ürtheil,  sondern  als  Lust-  oder  Unlust- Empfindung. 
Der  letztere  Funct  ist  noch  näher  zu  betrachten  und  wird  den 
besten  Aufschluss  über  etwa  noch  bestehende  Unklarheit  geben. 
Wie  schon  Locke  nachwies,  haben  die  Worte,  welche  sinnliche  Be- 
schaffenheiten der  Körper  bezeichnen,  wie  „süss,  roth,  weich",  eine 
doppelte  Bedeutung,  welche  vom  gemeinen  Menschenverstände  ohne 
^achtheil  für  die  Fraxis  identificirt  wird.  Erstens  bezeichnen  sie 
den  Seelenzustand  bei  der  Wahrnehmung  und  Empfindung,  und 
zweitens  diejenige  Beschaffenheit  der  äusseren  Objecto,  welche  als 
Ursaehe  dieses  Seelenznstandes  supponirt  wird.  Jede  Empfindong 
an  sich  ist  ein  Einzelnes,  aber  indem  von  verschiedenen  Eeihen 
ähnlicher  Empfindungen  die  gemeinsamen  Stücke  abstrahirt  werden, 
werden  die  Begriffe:  „süss,  roth,  weich"  gewonnen;  indem  nun  die 
objektiven  Ursachen  dieser  abstrahirten  Empfindungen  als  eigen- 
ach af t liehe  Bestandtheile  in  Dinge  verlegt  werden,  die  schon  aus 
tiud  er  weitigen  Einwirkungen  bekannt  sind,  so  entstehen  die  ür- 
theile: „der  Zucker  ist  süss,  die  Hose  ist  roth,  der  Felz  ist 
weich*'.  —  Dieselbe  Entwickelung  liegt  dem  ästhetischen  Ürtheile 
2U  Grimde.  Die  Seele  findet  in  sich  eine  Menge  von  Empfindimgeo, 
die  2war  mit  individuellen  Besonderheiten  verknüpft,  doch  so  viel 


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213 

Aehnlichkeit  haben,  dass  sich  ein  gemeinsames  begriffliches  Trenn- 
stiick  ausscheiden  lässt,  dieses  erhält  den  Na^en  schön.  Indem 
nim  die  Ursache  dieser  Empfindung  in  äussere  Objecte  verlegt 
wird,  wekhe  aus  den  gleichzeitig  auftretenden  Wahrnehmungen 
conBtmirt  sind,  so  wird  diese  Ursache  als  Eigenschaft  dieser  Ob- 
jecte gestempelt  und  erhält  ebenfalls  den  Namen  schön;  so  ent; 
steht  das  Urtheil:  ,,der  Baum  ist  schön^.  Es  darf  uns  nicht  be- 
fremden, dass  der  gemeine  Verstand  den  Begriff  schön  fast  immer 
nur  auf  die  Ursache,  selten  auf  die  Empfindung  bezieht,  denn  das- 
selbe findet  auch  bei  „süss»  roth,  weich*'  statt,  und  hat  seinen  guten 
Onmd  in  der  Praxis,  da  den  praktischen  Menschen  seine  eigenen 
Empfindungen  nur  in  so  weit  interessiren  können,  als  sie  ihn  über 
die  Aussenwelt  unterrichten. 

Wem  das  ästhetische  Gefühl  für  das  Schöne  fehlt,  wer  keine 
Freude  am  Schönen  hat,  dem  ist  das  ästhetische  Urtheil  entweder 
unmöglich,  oder  es  ist  eine  empfindungslose  Abstraotion  aus  allge- 
meinen erlernten  Begeln  ohne  subjective  Wahrheit.  Hieraus  folgt, 
dass  das  ästhetische  Urtheil  nichts  Apriorisches  ist,  sondern  etwas 
Aposteriorisches  oder  Empirisches,  denn  sowohl  das  äussere  Object, 
als  die  ästhetische  Lust  sind  durch  Erfahrung  gegeben,  und  die 
äussere  Ursache  der  Lust  kann  nur  in  jenem  Objecte  liegen,  wie 
die  Ursache  der  süssen  Geschmacksempfindung  nur  in  dem  Zucker. 
Die  ästhetische  Lust  selbst  aber,  welche  als  ein  ebenso  unerklär- 
liches Factum  im  Bewusstsein  gefunden  wird,  wie  die  Empfin- 
dung des  Tones,  Geschmackes,  der  Farbe  u.  s.  w.,  und  wie  diese  als 
etwas  Fertiges,  Gegebenes  der  inneren  Erfahrung  gegenüber  tritt, 
kann  ihre  Entstehung  nur  einem  Processe  im  Unbewussten  verdan- 
ken; diese  also  könnte  man  so  gut  wie  jede  ändere  Empfindung 
etwas  Apriorisches  nennen,  wenn  nicht  dieser  Ausdruck  bloss  für 
Begriffe  und  Urtheile  üblich  wäre.  —  Die  Fähigkeit,  ästhetisch  zu 
empfinden  (analog  der  Fähigkeit,  süss,  sauer,  bitter,  herbe  u.  s.  w. 
2u  empfinden),  Geschmack  genannt,  kann  freilich,  wie  der  Geschmack 
der  Zange  und  des  Gaumens,  gebildet  und  darin  geübt  werden,  auf 
feine  Unterschiede  zu  reagiren,  er  kann  auch  durch  gewaltsame 
Gewöhnung,  diese  zweite  Natur,  seiner  ersten  Natur,  dem  Instincte, 
abtrünnig  gemacht  und  verdorben  werden,  aber  in  allen  Fällen 
steht  die  Empfindung  als  eine  gegebene,  keiner  Willkür  unterwor- 
fene Thatsache  da.  Die  ästhetische  Empfindung  unterscheidet  sich 
non  aber  von  bloss  sinnlichen  Empfindungen  dadurch,  dass  sie  auf 


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214 

deft  Schultern  jen^r  steht,  daBs  eie  dieselben  wohl  als  Mateiiil 
benutzt,  auch  als  begleitende  Vorstellungen,  durch  welche  ihre  be- 
sondere Qualität  in  jedem  Falle  bestimmt  wird,  dass  sie  aber  als 
Empfindung  über  jenen  steht  und  sieh  auf  ihnen  erbaut.  Wenn 
daher  der  unbewusste  Entstehungsprocess  der  sinnlichen  QuaUtäten 
eine  unmittelbare  Beaction  der  Seele  auf  den  Nerrenreiz  ist,  so  ist 
der  onbewuBste  Entstehungsprooess  der  ästhetieohen  Empfindung 
vielmehr  eine  Beaction  der  Seele  aiuf  fertige  sinnliche  Empfin- 
dungen, gleichsam  eine  Beaction  zweiter  Ordnung*  Dies  ist  der 
Grund,  warum  die  Entstehung  der  sinnlichen  Empfindung  uns  wohl 
ewig  in  undurchdringliches  Dunkel  gehüllt  bleiben  wird,  wahrend 
wir  den  Entstehungsprocess  der  ästhetischen  Empfindung  schon 
theilweise  in  der  discursiven  Form  des  bewussten  Yontellene 
reconstruirt  und  begriffen,  d.  h.  in  Begriff  aufgelöst  haben« 

Um  das  Wesen  des  Schönen  haben  wir  un3  hier  so  wenig  m 
bekümmern,  wie  im  vorigen  Capitel  um  das  Wesen  des  Sittliehon; 
wie  uns  dort  das  Besultat  genügte,  dass  das  Brädioat  sittlich  erst 
vom  Standpuncte  des  Bewusstseins  auf  Handlungen  angewandt  we^ 
den  könne,  die  Handlungen  selbst  aber,  welchen  dies  Prädicat  su- 
oder  abgesprochen  wird,  in  letzter  Instanz  unbereehenbare  Beaotio- 
nen  des  XJnbewussten  seien ,  so  kommt  es  uns  hier  nur  auf  die 
Erkenntniss  an,  dass  das  ästhetische  Urtheil  ein  empirisch  bogrin- 
detes  Urtheil  sei,  seine  Begründung  aber  in  der  ästhetischen  Em- 
pfindung habe»  deren  Entotehungsprooess  durchaus  in*s  Unbewusste 
falle. 

Gehen  wir  nun  von  der  passiven  Aufnahme  des  Schemen 
zu  seiner  activen  Production  über,  so  scheint  eine  kurze  Be- 
trachtung der  schöpferischen  Phantasie  und  somit  der  Ph^taaie 
oder  Einbildungskraft  überhaupt  unerlässlich.  —  Das  einnliche 
Yorstellungsvermögen,  die  Einbildungskraft  oder  Phantasie  im  wei- 
testen Sinne,  hat  bei  verschiedenen  Personen  sehr  verschiedene 
Grade  der  Lebhaftigkeit.  Nach  Fechner's  Ai^aben,  die  durch  meine 
vielfachen  Prüfungen  Anderer  bestätigt  werden,  haben  die  Frauen 
dies  Vermögen  in  höherem  Grade  als  Männer,  und  von  letzteren 
die  am  weniipsten*  welche  abstract  zti  denken  und  die  Aussenwelt  an 
vernachlässigen  gewohnt  sind.  Beim  geringsten  Grade  können 
Farben  gar  nicht ,  Gestalten  nur  höchst  undeutlich ,  ohne  festsn- 
utehen,  mit  schwimmenden  Oonturen  und  nur  für  kurze  Momente 
überhaupt  erkennbar  vorgestellt  werden ,  bei  höheren  Graden  ^^' 


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916 

lbehe>  nicht  zu  umfaiseiide  Bilder  ohne  Mühe  deutlioh,  festoteiieiid, 
in  lebhaften  Farben  >    bei   Ec^fdrehumgen   nach  Willkür   objeetiv 
izirt  oder    mitgehemd.    Bei   den   höchsten  Öraden  giebt  die  Leb- 
beftagkeit  und  Deatiidikeit  dem  l^neseindmoke  nii^ts  nach,    es 
können  die  Büder  sowohl  in    das   sohwarze  Sehfeld  des  geschlos^ 
B&um  Aages,   als  in  das   yon  äusseren  Sinneseindriioken  etfülHe 
Sehfeld  beliebig  eingereiht   werden    (wie  jener    Malet,    der  seine 
Modelle  anr  V4  Stunde  sitcen  Hess  nnd  dann  sieh  ihr  Bild  will^ 
körlich  als  auf  dem  Stahle  sitzend  vorstellte»  und  danach  portrai^ 
tirte,  so  dass  er  die  Person,  so  oft  er  die  Augen  aufschlug, 
in  voUer  Klsarheit  auf  dem  Stuhle  sitzen   sah) ;    es  können  femer 
ganze  Compositioneii,  Aufzüge  von  vielen  Figuren,  oder  im  Detail 
ausgearbeitete  Orehestercompositionen  monatelang  bloss  in  der  Vor« 
steUung  herumgetragen  werden,  ohne  an  Schärfe  zu  verlieren,  wie 
sisn  von  Mozart  weiss,  dass  er  immer  erst  dann  seine  Compositionen 
sa  Fapier  gebracht  hat,  wenn  ihm  das  Feuer  auf  die  Nägel  brannte, 
dann  aber  auch  oft  die  einaelnen  Orohesterstimmen  ohne  Partitur 
liedergeschrieben  hat  (wie  z.  B.  bei  der  Don  Juan-Ouvertüre)  und 
ihm  diese  Arbeit  doch  noch  so  mechanisch  geweeen  ist,    dass   er 
dubei  andere  Compositionen  ooncipirt  haben   soll.     Ich  hielt 
diese  Anführungen  nicht  für  imnütz,  «m  den  Lesern,  welchen  diese 
Ansehauungsgabe  fehlt,  einen  Begriff  von  der  Möglichkeit  umfas- 
Bender  einheitlicüier  Conoeptionen  au  geben.    Die  Srfahmng  bezeugt, 
dtss  es  noeh  kein  wahres  Genie  gegeben  hat,  wekhes  diese  FcUiig- 
keit  der  sinnlichen  Anschauung,  wenigstens  in  seinem  Fache,  nicht 
in  hohem   Grade  besessen  hätte,     überdies  ist  es   keiiw    Frage, 
dass,  wdm  in  unserem  nüchternen  Verstandeszeitalter  noch  aolohe 
Beispiele  möglich  sind,  dass  früher  in  Zeitaltem,  wo  die  sinnliche 
ijiBchacnuig  noch  viel  mdir  geübt  und  gepflegt  und  wenig  dorch 
sbfltractes  Denken  unterdrückt  wurde,    und  der  Mensch  sich  noeh 
röekhaliloeer  den   guten  und  bösen  Einflüsterungen  seines  Genius 
oder  Dfbnons  hingab,  es  wohl  denkbar  ist,  dass,  wie  in  Heiligen, 
Märtyrern,  Propheten  und  Mystikern,  so  auch  in  begeisterten  Künst- 
lern eine  Veorsehmelzung  von   willkürlicher  Sinnesanschauung  und 
vn#illkürlicher  Hallucinolion  stattgefunden  habe,  w^die  für  diese 
mit  ihrer    hehren    Mutter    noch    nicht    entzweiten    Kinder    einer 
giiioklioheren  Katur  nichts  Auffallendes  gehabt  haben  mag ,    viel- 
iMhr   so    sehr   als   Bedingung  jedes   Musenerzeugnisses  angesehen 
wurde,  dass  der  göttliche  Plato  uns  den  Ausspruch  (Phädrus)  hin- 


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216 

terlasaen  hat:  ,,Was  ein  trefflicher  Mann  im  göttlichen 
Wahnsinn,  der  besser  ist  als  nüchterne  Besonnen- 
heit, hervorbringt,  nämlich  das  Göttliche,  daran  die  Beele  als  an 
einem  hellglänzenden  Nachbilde  dasjenige  wieder  erkennt,  was  sie 
in  der  Stunde  der  Entzückong  schaute,  Gott  nachwandelnd,  und 
welches  schauend,  sie  nothwendig  mit  Lust  und  Liebe  erfüllt."  — 
flicht  ein  Uebel  schlechthin  ist  der  Wahnsinn,  sondern  darch 
ihn  kamen  die  grössten  Güter  über  Hellas/'  Und  noch  zu  Gicero's 
Zeiten  hiess  dichterische  BegeisteTung:  furor  poetieus,  — 

Betrachten  wir  nun  aber  die  Gebilde  der  Phantasie  selbst,  so 
linden  wir  bei  der  Zergliederung  in  ihre  Elemente,  selbst  wenn  wir 
die  wildesten  Ausgeburten  orientalischer  Ueberschwenglichkeit  vor- 
nehmen, nichts,  was  nicht  durch  sinnliche  Wahrnehmung  kennen 
gekrnt  und  im  Gedächtnisse  aufbewahrt  worden  wäre.  Keine  neue 
eontache  Farbe,  keinen  einfachen  Geruch,  Geschmack,  Ton,  Laat 
können  wir  entdecken,  selbst  im  Gebiete  des  Raumes,  der  der  Neu- 
gestaltung den  grössten,  Spielraum  lässt,  finden  wir  in  Arabesken 
nur  die  bekannten  Elemente  der  geraden  Linie,  des  Kreises,  der 
Elipse  und  anderer  bekannten  Krümmungen  wieder,  ja  sogar  man 
wird  bei  Phantasiethieren  selten  Stücke  aus  der  unorganischen  oder 
Pflanzenwelt  finden  und  umgekehrt.  Alles  beschränkt  sich  anf 
Trennung  bekannter  Vorstellungen  und  Combination  der  Trennstücke 
in  veränderter  Weise.  Hat  nun  Jemand  ein  lebhaftes  Vorstel- 
1  uiigE vermögen ,  zugleich  einen  feinen  Sinn  für  das  Schöne  und  ein 
reiches  und  sich  willig  darbietendes  Gedächtnissmaterial,  worin  be- 
sonders die  schönen  Elemente  reich  vertreten  sind,  so  wird  es  ihm 
nicht  schwer  werden,  durch  Anlehnung  an  die  Natur,  d.  h.  an  ge- 
gebene Sinnes  Wahrnehmungen ,  Ausscheidung  hässlicher  und  Ein- 
fügung schöner  und  doch  gegen  die  Wahrheit  und  Einheit  der 
dargestellten  Idee  nicht  verstossenden  Elemente,  künstlerisch  xa 
schaffen.  Z.  B. :  Wenn  Jemand  ein  Portrait  malt,  so  ist  die  Wahr- 
heit der  Idee  inne  gehalten,  wenn  er  die  sich  zufällig  darbietende 
Ansicht  der  Person  copirt.  Dies  wäre  eine  handwerksmässige,  keine 
künstlerische  Leistung.  Wenn  er  aber  die  Person  in  solche  Be- 
bucbtung,  Stellung,  Bichtung  und  Haltung  bringt,  dass  sie  sich 
möglichst  vortheilhaft  präsentirt,  wenn  er  von  den  verschiedenen 
Stimmungen  und  Ausdrücken  während  der  Sitzung  denjenigen  fest- 
hält, der  am  schönsten  wirkt,  und  demnächst  alle  unvortheilhaften 
and  unschönen  Züge  und  Einzelheiten  so   sehr  zurückdrängt  oder 


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217 

fortläset,  alle  yortheilhaften  Zöge  und  Einzelheiten  dagegen  so  sehr 
hexTorheht  und  in  günstiges  Licht  seist,  auch  wohl  neu  hinzufügt, 
als  ee  die  Wahrheit  der  Idee,  d.  h.  die  Aehnlichkeit  erlaubt,  dann  hat 
er  eine  künstlerische  Production  geliefert,  denn  er  hat  idealisirt. 
So    arbeitet    das    gewöhnliche    Talent,    es    producirt    künst- 
lerisch durch  verständige  Auswahl  und  Combination,  geleitet 
durch    sein-  ästhetisches    TJrtheil.      Auf  diesem  Standpuncte 
steht  der  gemeine  Dilettantismus  und  der  grösste  Theil  der  E[ünst> 
1er  Ton  -Fach ;  sie  alle  können  aus  sich  heraus  nicht  begreifen,  dass 
diese   Mittel,    unterstützt  durch   technische  Routine,    wohl  recht 
Tüchtiges  leisten  können,  aber  nie  etwas  Grosses  zu  erreichen,  nie 
aus  dem  gebahnten  Geleise  der  Nachahmung  zu  schreiten,  nie  ein 
Original  zu  schaifen  im  Stande  sind;  denn  mit  diesem  Anerkennt- 
nisse mÜBsten  sie  sich  ihren  Beruf  absprechen  und  ihr  Leben  für 
Terfehlt   erklären.     Hier  wird  noch  Alles  mit  bewusster  Wahl  ge- 
macht, es  fehlt  der  göttliche  Wahnsinn,  der  belebende  Hauch  des 
Vnbewussten,   der  dem  Bewusstsein   als  hiäiere  unerklärliche  Ein- 
gebung erscheint,  die  es  als  Thatsache  erkennen  muss,  ohne  je  ihr 
Wie  eiiträthseln  zu  können;    die   bewusste  Combination  lässt  sich 
durch  Anstrengung  des  bewussten  Willens,  durch  Fleiss  und  Aus- 
dauer und  dadurch  gewonnene  Uebung  mit  der  Zeit  erzwingen,  die 
Conception    des   Genies   ist    eine  willenlose  leidende  Empfftngniss, 
816  kommt  ihm  beim  angestrengtesten  Suchen  gerade  nicht,  sondern 
ganz  unyermuthet  wie  yom   Himmel    gefallen,    auf  Beisen,    im 
Theater,    im  Gespräch,   überall  wo  es  sie  am  wenigsten  erwartet 
and  imifler  plötzlich  und  momentan;  —  die  bewusste  Combination 
arbeitet  mühsam  aus  den  kleinsten  Details  heraus  und  erbaut  -sich 
qualvoll  zweifelnd  und  kopfzerbrechend  unter  häufigem  Verwerfen 
und  Wiederaufnahme  des  Einzelnen  allmählich  das  Ganze ;  die  ge- 
niale Conception  empfangt  als  müheloses  Geschenk  der  Götter  das 
Ganze  aus  Einem  Guss,   und  gerade  die  Details  sind  es,  die  ihm 
noch  fehlen,  schon  deshalb  fehlen  müssen,  weil  bei  grösseren  Com- 
positionen  (Gruppenbildern,  Dichtwerken)    der  Menschengeist  zu  eng 
ist,    um    mehr    als    den    allgemeinsten  Totaleindruck   mit  Einem 
Blicke  zu  überschauen ;  —  die  Combination  schafft  sich  die  Einheit 
deB  Ganzen    durch    mühsames   Anpassen    und    Experimentiren   im 
Einzelnen,  und   kommt  deshalb  trotz  aller  Arbeit  nie  mit  ihr  or- 
dentlich zu  Stande,   sondern  lässt  immer  in  ihrem  Machwerke  das 
Konglomerat  der   vielen  Einzelnen  durcherkennen;    das  Genie  hat 


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218 

yermöge  der  Cbnoeption  aas  dem  Unbewuisten  eine  in  der  Uneot- 
behrlidikeit,  Zweckmässigkeit  und  Wechselbeziehung  aller  eiasel- 
neo  Tkeile  so  vollkommene  Einheit,  dass  sie  sioli  nur  mit  dei 
ebenfalls  ans  dem  Unbewuwte«  staamenden  Einheit  der  Orgsnia- 
men  in  der  Katar  vergleichen  lässt»  und  es  hat  nur  die  Kl^pe  za 
Termeiden,  dase  es  diese  Einheit  bei  der  versiändigeii  Detailaat- 
führuDg  nicht  wieder  verdirbt,  wie  leider  so  oft  gesohiehi  — 
Diese  E^rsoheinungen  werden  von  allen  wahrhaften  Genies^  die  ds^ 
über  6elbetbeobaohtung  angestellt  und  mitgetheilt  haben,  beeUtig^ 
und  Jeder  kann  sie  an  sich  selbst  als  richtig  finden,  der  jemals 
einen  wahrhaft  origtaalen  Gedanken  in  irgend  einer  Richtung  ge- 
habt hat.  Ich  will  hier  nur  Eine  Bemerkung  des  ebenso  künst- 
lerischen als  philosophischen  Schelling  anfuhren  (transoend.  Idet- 
lism.  S.  459 — 60):  „. .  .  so  wie  der  Künstler  unwillkiuüeh  and 
selbst  mit  innerem  Widerstreben  zur  Produotion  getrieben  wird 
(daher  bei  den  Alten  die  Aussprüche :  pati  Deum  n.  s.  w.,  daher 
überhaupt  die  Vorstellung  von  Begeisterung  durch  fremden  Anhaueh) 
ebenso  kommt  auch  das  Objective  zu  seiner  Produktion  gl^chsam 
ohne  sein  Zuthua,  d.  h.  selbst  bloss  objeotiv  hinzu.  [S.  454  ssgt 
er:  „Objectiv  ist  nur,  was  bewusstlos  entsteht,  das  eigentlich  Ob- 
jective in  jener  Anschauung  muss  also  auch  nicht  mit  Bewusstsein 
hinzugebracht  werden  können.'*]  Ebenso  wie  der  v^rhftngnissvolle 
Mensch  nicht  vollfuhrt,  was  er  will  oder  beabsichtigt,  sondern  was 
er  durch  ein  unbegreiflidiies  Sohickaal,  unter  dessen  Einwirkung  er 
steht,  vollführen  muss,  so  scheint  der  Künstler,  so  absichtsvoll  er 
ist,  doch  in  Ansehung  dessen,  was  das  eigentlich  Objectiv%  in  sei- 
ner.  Hervorbringung  ist,  unter  der  Einwirkung  einer  Macht  za 
stehen,  die  ihn  vor  allen  anderen  Menschen  absondert,  und  ihn  Dinge 
auszusprechen  oder  darzustellen  zwingt,  die  er  selbst  nicht  voll- 
stftndig  durchsieht,  und  deren  Sinn  unendlich  ist"  — 

Um  jedoch  Missverständnisse  zu  vermeiden,  muss  ich  noch 
Folgende^  hinzufügen.  Erstens  ist  es  keineswegs  gleichgültig,  wei- 
chen Boden  das  Genie  in  seinem  Geiste  bereitet  hat,  dass  die  Keime, 
die  aus  dem  IJnbewussten  hineinfaUea,  in  üppigen  organischen  Formea 
auÜBchiessen,  denn  wo  sie  auf  Fels  oder  Sand  fallen,  da  verkümmero 
sie.  D.  h,  das  Genie  muss  in  seinem  Fache  geübt  uad  gebildet  sein, 
einen  reichen  Yorrath  einschlagender  Bilder  in  seinem  .Gedäohtmsse 
aufgespeichert  haben,  und  zwar  in  einer  Auswahl  des  Schönen,  die 
mit  feinem  Sinne  vollzogen  sein    muss.    Denn  dieses  Material  ist 


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?. 


if.' 


219 

der  8toff,  in  welchem  sich  die  im  ünbewossten  aoeh  formloBO  Idee 
gestalten  wilL     Hat  der  Künstler  sein  ästhetisches  Urtheil  verdor- 
ben, imd  in  Felge    dessen    unsohönes  Material   in   sieh  mit  Liebe 
«u^eoommen,    so  wird    anoh    dieser   schlechte  Boden  unpassende 
Bestandtheile  in  das  Saamenkom   einführen,   das    aus   Ihm   seine 
Kahmng  sangt,  und  so  wird  die  Pflanze  nieht  gedeihen.  — >  Zweitens 
ist  mit  dem  Getagten  nicht  behauptet,  dass  jedes  Kunstwerk  aus 
einer  einzigen  Conoeption  entspringe,  schon  die  Episoden  zeigen  in 
einfacheter   Gestalt    die    Verbindung    versohiedener    Gonoeptionen. 
MeistentheÜB  jedoch   ist  es   eine    einzige  Conception,   welche    die 
Grundidee  lieÜNrt,  wo  nicht,  da  leidet  auch  immer  die  Eipheit  des 
Kunstwerkes.  Die  Einheit  der  ursprünglichen  Totalooneeption  sohliesst 
aber  keineswegs  aus,  sie  erfordert  sogar  bei  grösseren  Werken  die 
{Jnterstütmng    durch   Partialconceptionen,    gleichsam   Conceptionen 
zweiter  Ordnung;    denn    wenn    die    verständige  Arbeit  allein  das 
ganze  Intervall  zwischen  der  ersten  Conception  und  dem  vollende- 
ten Werk  ausfüllen  soll,  so  liegt  bei  dem  in  des  ersten  Ck>noeption 
grosseter  Werke   unvermeidlichen  Mangel    aller   Specialitäten    die 
Ge&hr  nahe,   dass  in  den  verschiedenen  Theilen  des  Werkes   der 
Kangel  an  Conception,  gerade  wie  in  kleineren  Werken  bloss  ver- 
ständiger Combination  fühlbar  wird,  oder  dass  durch  grössere  Aön- 
denmgen  in  den  Theilen  die  Einheit  der  ganzen  Idee  beeinträchtigt 
vird.     Allemal   aber  bleibt    der   verständigen   Arbeit  ein    grosses 
Feld    übrig,    und    wenn   dem  Geoie    die  hierzu  nöthige   Energie, 
Ausdauer,  Fleiss  und  verständiges  Urtheil  fehlen,  so  wird  die  ge- 
siale  Conception  dem  Künstler  und  der  Menschheit  keine  Erüchte 
tragen,  denn  das  Werk  bleibt  entweder  unbegonnen,  oder  unvoU- 
.«adet,  oder    wird  durch  falsche  Zusätze  verdorben.     Hieraus  geht 
kervor,  dass  das  Genie  ohne  die  verständige  Combination  und  Ar- 
beit Bo  weoug  ein  wahres  Kunstwerk  zu  Stande  bringen  kann,  wie 
di^se  ohne  jenes.  —  Drittens  ist  die  Bemerkung,  dass  der  bewusste 
Wille   auf   das  Zustandekommen    der  Conoeption  keinen  Einfluss 
babe,  nicht  misszuverstehen.     Der  bewusste  Wille  im  Allgemeinen 
ist  nämlich  geradezu  die  unentbehrliche  Bedingung  desselben ,  denn 
vxa^  wenn  die  ganze  Seele  des  Menschen  in  seiner  Kunst  lebt  und  webt, 
alle  Eftden  seines  Inleresses  in  ihr  zusammenlaufen,  und  es  keine 
Macht  giebt,    die  im  Stande  wäre,  den  Willen  von  diesen  seinem 
höchsten  Streben  dauernd  abzuwenden,    nur    dann  ist  die  Einwir- 
faiBg  des   bewussten  Geistes    auf   das  ünbewusste   kräftig  genug. 


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220 

um  wahrhaft  grosse,  edle  und  reine  Eingebungen  zu  erzielen.  Da- 
^'egcn  bat  der  bewusete  Wille  auf  den  Moment  der  CJonception 
keinen  Einfluss,  ja  ein  angestrengtes  bewusstes  Suchen  danach, 
6ine  einseitige  Concentration  der  Aufmerksamkeit  nach  dieser  Bich- 
tung  verhindert  geradezu  die  Empfangniss  der  Idee  aus  dem  Un- 
bci\\niBsten ,  weil  die  causale  Yerbindung  beider  Glieder  in  Bezug 
auf  solche  aussergewöhnliche  Inanspruchnahmen  des  ünbewussten 
äo  subtil  ist,  dasB  jede  Präoocupation  des  Bewusstseins  in  dieser 
Richtung  störend  wirken  muss,  jede  schon  vorhandene  einseitige 
Spannung  der  betreffenden  Gehirntheile  das  Aufhahmeterrain  an- 
ebiD  macht.  Darum  das  Eintreten  der  Gonception,  wenn  ganz 
andere  Himtheile  mit  ganz  anderen  Gedanken  beschäftigt  sind,  so- 
bald nur  durch  eine  noch  so  lockere  Ideenassooiation  der  Impuls 
zur  Causalitat  des  Unbewussten  gegeben  wird,  —  aber  ein  solcher 
Anätoss  muss  da  sein,  wenn  er  auch  meistens  gleich  wieder  ver- 
^ti&mn  wird,  denn  die  allgemeinen  Gesetze  des  Geistes  können  audi 
hier  nicht  übersprungen  werden.  — 

Viertens  endlich  ist  zu  berücksichtigen,  dass  auch  bei  dem  ver- 
ständigen  Arbeiten  des  blossen  Talents  die  befruchtende  Gonception 
niemals  ganz  fehlt,  Bondem  sich  bloss  auf  solche  Minima  beschrftnkt, 
(lai^ä  sie  der  gewöhnlichen  Selbstbeobachtung  entgehen.  Hat  man 
jiber  einmal  das  CharakteristiBche  dieses  Vorganges  beim  extremen 
beide  begriffen,  und  bedenkt,  dass  unzählige  Vermittelungen  von 
liier  durch  das  Talent  zum  talentlosen  Herumquälen  des  nackten 
VcrBtandes  mit  Hülfe  erlernter  Kegeln  hinabführen,  so  wird  sich 
bald  eine  Fülle  von  Beispielen  darbieten,  die  mehr  oder  weniger 
den  Charakter  der  Gonception  aus  dem  Unbewussten  zeigen,  wie 
einem  bei  dieser  Arbeit  plötzlich  jene  Verbesserung  zu  ganz  an- 
derer Stunde  eingefallen  u.  dergl  Wer  aber  hieran  zweifelt,  dem 
will  ich  endlich  beweisen,  dass  jede  Combination  sinnlicher  Vo^ 
Stellungen,  wenn  sie  nicht  rein  dem  Zufalle  anheimgestellt  wird, 
tjondern  zu  einem  bestimmten  Ziele  führen  soll,  der  Hülfe  des  Un- 
bewussten bedarf. 

Die  Gesetze  der  Ideenassooiation  oder  Gedankenfolge  enthal- 
t^D  drei  einflussreiche  Momente:  1)  die  hervorrufende  Vorstellung; 
2i  die  hervorgerufene  Vorstellung  und  3)  das  Interesse  an  der 
Kiiietehung  der  letzteren.  Auf  die  beiden  ersten  Puncte  brauchen 
wir  hier  nicht  Bücksicht  zu  nehmen,  was  aber  den  letzteren  be- 
ini^ti  so  kann  Jeder  sich  sagen,  dass  bei  jeder  beliebigen  Vorstel- 


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221 

lung  die  sich  an  dieselbe  ansohliesseiiden  ganz  verschieden  ausfal- 
len, je  nach  dem  Ziele ,  anf  das  er  seine  Gedankenfolge  hinlenkt. 
Z.  B.  wenn  ich  ein  rechtwinkliges  Dreieck  aiisehe,  so  können 
sich  ohne  ein  besonderes  Interesse  alle  möglichen  Yorstellungen 
daran  reihen,  wenn  ich  aber  nach  dem  Beweis  eines  Lehrsatzes 
über  dasselbe  gefragt  bin,  welchen  nicht  zn  wissen  ich  mich 
sdiamen  würde,  so  habe  ich  ein  Interesse,  an  die  Yorstellong  des 
Breiecks  diejenigen  Yorstellungen  zu  knüpfen,  welche  zu  diesem 
Beweise  dienen.  Nur  wenn  man  seine  Gedankenfolge  ganz  dem 
Zttfedle  überlässt,  so  fehlt  der  Impuls  eines  Zieles,  nach  dem  man 
seine  Gedanken  hinlenkt,  dieses  Ziel  kann  man  sich  aber  nur  dann 
Torhalten,  wenn  man  ein  Interesse  für  dasselbe  hat,  und  dieses 
Interesse  am  Ziele  ist  es,  was  die  Yerschiedenheit  der  Ideenasso- 
eiation  in  den  verschiedenen  Fällen  bedingt.  Denn  wenn  mir  bei 
dem  Dreieck  sonst  alle  mißlichen  anderen  Yorstellungen  einfallen 
würden,  nur  nicht  gerade  die,  welche  ich  brauche,  und  das  Inter- 
esse am  Finden  des  Beweises  bewirkt,  dass  eine  diesem  Zwecke 
^tsprechende  Yorstellung  auftaucht,  welche  sonst  höchst  wahr- 
scheinlich nicht  entstanden  wäre,  so  muss  doch  das  Interesse  die 
Ursache  davon  sein.  Selbst  wenn  man  sich  ganz  dem  unwillkür- 
I  liehen  Träumen  überlässt,  so  walten  noch  zu  einer  Stunde  andere 
I  Hauptinteressen  als  zu  einer  anderen  im  Gemüth ,  und  auch  diese 
zeigen  ihren  Einfluss.  Wer  ist  nun  aber  der  Yerständige,  der  die 
^  zweckentsprechende  Yorstellung  auf  Antrieb  des  Interesses  unter 
^  den  unzähligen  möglichen  heraussucht?  Das  Bewusstsein  ist  es 
wahrlich  nicht,  denn  bei  halb  unbewusstem  Träumen  ohne  Absicht 
kommen  zwar  immer  nur  solche  Yorstellungen ,  die  dem  augen- 
blicklichen Hauptinteresse  entsprechen,  aber  bei  dem  absichtlichen 
Suchen  des  Bewusstseins  in  den  Schubfächern  des  Gedächtnisses 
wild  man  gerade  von  diesem  sehr  oft  im  Stiche  gelassen ;  man 
kaui  wohl  Hülfsmittel  anwenden,  wenn  Einem  das,  was  man 
braucht,  nicht  einfallen  will,  aber  ertrotzen  lässt  es  sich  nicht, 
Tmd  oft,  wenn  man  durch  solches  Ausbleiben  in  Verlegenheit  gesetzt 
ist,  kommt  die  betreffende  Yorstellung  Stunden,  ja  Tage  lang  nach- 
ber  plötzlich  in's  Bewusstsein  hereingeschneit,  wo  man  am  wenigsten 
daran  gedacht  hatte.  Man  sieht  also,  dass  nicht  das  Bewusstsein 
der  Auswählende  ist,  da  es  sich  völlig  blind  verhält,  und  jedes  aus 
dem  Gedftchtnissachatze  hervorgeholte  Stück  als  Geschenk  erhält. 


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222 

Wäre  das  BewaBstsein  der  AuswUilende,  8o  müsste  es  ja  das 
Answählbare  bei  seinem  eigenen  Lichte  besehen  können,  wis 
es  bekanntlich  nicht  kann,  da  nnr  das  schon  Ausgewählte  aus  der 
Nacht  des  UnbewosstseniB  hervortritt.  Wenn  also  das  Bewnsstseia 
doch  wählen  sollte,  so  würde  es  im  absoiat  Finfitem  tappen, 
kÖDiite  also  unmöglich  zweckmässig  wählen,  sondern  nur  lu- 
fällig  herausgreifen.  Jener  unbekannte  aber  wählt  in  der 
That  zweckmässig,  nämlich  den  Zwecken  des  Interesses  ge- 
mäss. Nach  der  Pffj'ehologie ,  die  nur  bewnsste  Seelenthätigkeit 
kennt,  liegt  hier  ein  o£fener  Widersprach  yor.  Denn  die  Erfoh- 
ning  bezeugt,  dass  eine  zweckmässige  Auswahl  der  YorsteliungeB 
Yor  der  Entstehung  stattfindet,  und  leugnet,  dass  das  Bewusstseia 
diese  Auswahl  vornimmt.  Für  uns ,  die  wir  die  Zweckthtttigksit 
des  Unbewussten  schon  vielseitig  kennen  gelernt  haben,  liegt  hier 
nur  eine  neue  Stütze  unserer  Auffassfung  vor;  es  ist  eben  eine 
lieeiction  des  Unbewussten  auf  das  Interesse  des  bewussten  Wil* 
lens,  die  durch  die  Form  ihres  Auftretens  und  durch  ihr  zeitwei- 
g&g  Ausbleiben  bei  starker  einseitiger  Spannung  des  Hirns  völlig 
mit  der  künstlerischen  Coneeption  übereinstimmt.  Die  eben  ange* 
stellte  Betrachtung  gilt  für  die  Ideenassociation  sowt>hl  beim  ab* 
stracten  Denken,  als  sinnlichen  Vorstellen  und  künstlerischen  Com* 
biuiren;  wenn  ein  Erfolg  erzielt  werden  soll,  muss  sich  die  redite 
Vorstellung  zur  rechten  Zeit  aus  dem  Sehatze  des  Gedächtnisses 
willig  darbieten,  und  dass  es  eben  die  rechte  Vorstellung  sei, 
welche  eintritt,  dafür  kann  nur  das  XJnbewusste  sorgen;  alle  Hüll»- 
mittel  und  Kniffe  des  Verstandes  können  dem  Unbewussten  nur 
seiti  Geschäft  erleichtern,  aber  niemals  es  ihm  abnehmen. 

Ein  passendes  und  doch  einfaches  Beiepiel  ist  der  Witz,  der 
zwischen  künstlerischer  und  wissenschaftlicher  Production  die  Ißtle 
hält,  da  er  Kunstzwecke  mit  meist  abstractem  Materiale  veifolgt 
Jeder  Witz  ist  nach  dem  Sprachgebrauche  ein  Einfall;  der  Ver- 
stand kann  wohl  Hülfsmittel  dazu  aufwenden,  um  den  Einfsll  sn 
erleichtem,  die  Uebung  kann  namentlich  im  Gebiete  der  Wortspiele 
ä&B  Material  dem  Gedächtnisse  lebhafter  einprägen  und  daa  Wort- 
gedächtniss  überhaupt  stärken,  das  Talent  kann  gewisse  Bevsöiilich- 
ktiten  mit  einem  immer  sprudelnden  Witze  ausstatten,  trotz  alle- 
dem bleibt  jeder  einzelne  Witz  ein  Geschenk  von  oben,  und  selbst 
dm,  welche  ak  Bevorzugte  in  dieser  Hinsicht  den  Witz  völlig  in 
ihrer  Gewalt  zu  haben  glauben,  müssen  erfahren,  dass  gerade,  wenn 


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ne  um  reckt  evvwiagen  wollen,  ihr  Talent  ihnen  den  Dienst  Ter- 
sagt»  das8  dann  nichts  als  fade  Albernheiten  oder  auswendig  gellte 
Witie  «aa  ihrem  Hirn  heraus  wollen.  Biese  Leute  wissen  auch 
sehr  wohl,  dass  eine  Flasche  Wein  ein  viel  besseres  Mittel  ist, 
mn  ihren  Wits  in  Bewegung  zu  setzen ,  als  die  absichtliche  An- 
ipaannng  des  Geistes. 

Wenn  wir  naeh  alledem  Ter^landen  haben,  dass  alle  künsi- 
lerische  Prodnctiott  des  Menschen  in  einem  Eingreifen  des  TJnbe- 
WQssteii  wnmeUt,  so  wird  es  uns  nunmehr  nicht  Wunder  nehmen 
können,  in  den  Organismen  der  Katnr,  welche  wir  als  die  unnüt- 
telbarste  Erscheinung  des  Unhewussten  etkaiuit  haben,  die  Qesetze 
der  8chl>nheit  so  sehr  als  mögHch  inne  gehalten  zu  finden.  Dieser 
Pnnot  konnte  nicht  früher  als  hier  seine  Erwähnung  finden»  er  ist 
tber  ein  gewichtiger  Grund  mehr  für  die  planmässige  Entstehung 
der  Organismen  nach  vorher  existirenden  Ideen.  Man  betrachte 
mr  eile  Pfauenfeder.  Jede  Wimper  der  Feder  erhält  ihre  Nah- 
rung aus  dem  Kiel ;  die  Nahrung  für  alle  Wimpern  ist  dieselbe ; 
die  Faibestoffe  sind  im  Kiel  meist  noch  nicht  vorhanden»  sondern 
werden  erst  in  dea  Wimpern  selbig  ans  der  gemeinschaftlichen 
Kahrflnssii^eit  ausgesdbieden.  Jede  Wimper  lagert  auf  versohie- 
denen  Entfernungen  vom  Kiele  verschiedene-  Farbestoffe  ab»  die  sich 
s^arf  von  einander  abgrenzen;  die  Entfernungen  dieser  Farben- 
grenzen vom  Kiek  sind  auf  jeder  Wimper  andere,  und  wodurch 
werden  sie  bestimmt?  Durch  den  Zweck,  in  der  Nebeneinander- 
lagerong  der  Wimpern  geschlossene  Figuren,  Pfauenaugen  zu  geben, 
und  wodurch  kann  dieser  Zweck  gesetzt  sein?  Nur  durch  die 
Schönheit  der  Zeichnung  und  Farbenpracht 

Wie  ungenügend  erscheint  vom  ästhetischem  Standpunote  aus 
fie  Darwin'sche  Theorie !  8ie  zeigt,  dass  unter  der  Vocaussetzung, 
dies  die  Fähigkeit,  Farbenzeichnungen  im  Gefieder  zu  erzeugen, 
«blich  sei,  der  ästhetische  Geschmack  der  Thiere  bei  der  ge- 
i^lechtlii^ett  Auswahl  durch  überwiegende  For^flanzung  schön- 
geseichneter  Individuen  die  Schönheit  des  Gefieders  generationen- 
weise  erhöhen  müsse.  Unzweifelhaft!  So  kann  sich  ans  dem 
Weniger  ein  Mehr  entwickeln,  aber  wo  kommt  das  Weniger  her? 
Wenn  nicht  schon  Farbenzeichnung  im  Gefieder  vorhanden  ist^  wie 
soll  dann^eine  geschlechtliche  Au8wa);ü  nach  der  Farbenzeichnung 
BaiigUeh  sein,  also  muss  doeh  das,  was  erklärt  werden  soll,  schon 
^^  sein,  wenn  auch  in  geringerem  Grade.     Die  Darwin'sche  Theeide 


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224 

beruht  auf  der  Yorauesetzung ,  dass  solche  Fähigkeit,  wie  hier  die 
der  Farbenzeichnungserzeagong y  erblich  sei;  die  Vererbung  einer 
Fähigkeit  auf  die  Nachkommen  setzt  doch  aber  ihr  Yorhandensein 
in  den  Yorfahren  voraus!  Und  gesetzt,  der  Begriff  der  Yererbung 
wäre  etwas  Klares,  was  er  keineswegs  ist,  so  erklärt  er  doch  in 
dem  Nachkommen  keineswegs  die  Fähigkeit  selbst,  sondern  nur, 
wie  dieses  Individuum  zum  Bes.itz  dieser  Fähigkeit  gelangt  sei; 
die  Fähigkeit  selbst  bleibt  auch  bei  Darwin  die  quaUtas  occuUot 
er  macht  gar  keinen  Yersuch,  inihrWesen  zu  dringen,  es  konunt 
ihm  ja  nur  auf  den  Nachweis  an,  dass  die  Yererbong  in  Verbin- 
dung mit  der  geschlechtlichen  Auswahl  im  Stande  sei,  eine  sdche 
in  einzelnen  Exemplaren  vorhandene  Fähigkeit  theils  intensiT 
zu  erhöhen,  theils  ihr  extensiv  weitere  Verbreitung  zu  verschaf- 
fen; zur  Erklärung  ihres  Wesens  und  ihrer  ersten  Entste- 
hung leistet  sie  gar  nichts,  sie  kann  nie  zeigen,  wie  der  einzelne 
Vogel  es  anfängt,  die  Farbenablageruugen  auf  seinen  Federn  so  sa 
vertheilen,  dass  sie,  auf  den  einzelnen  Federn  und  Wimpern  schein- 
bar unregelmässig,  in  ihrer  Nebeneinanderlagerung  regelmässige  und 
schöne  Zeichnungen  hervorbringen.  Wenn  aber  endlich  für  die 
intensive  und  extensive  Steigerung  solcher  Fähigkeit  die  ge- 
schlechtliche Auswahl  mit  Becht  als  Grund  angeführt  wird,  so  ist 
doch  die  nächste  Frage  die:  wie  kommt  das  Individuum  zu  einer 
geschlechtlichen  Auswahl  nach  SchÖnheitsräcksichten  ?  Können  wir 
diese  Frage  nur  durch  einen  Instinct  beantworten,  dessen  unbe- 
wusster  Zweck  in  Verschönerung  der  Gattung  liegt,  so  dreht  sich 
Darwin  offenbar  im  Kreise  herum;  wir  aber  werden  in  diesem 
Instincte  ein  Mittel  erkennen,  dessen  sich  die  Natur  bedient,  um 
mit  leichterer  Mühe  zu  ihrem  Zwecke  zu  kommen,  als  wenn  sie, 
ohne  die  Hülfe  der  Steigerung  der  körperlichen  Disposition  durch 
Vererbung  in  Generationen,  auf  einmal  die  grösstmöglichste  Schön- 
heit in  allen  Individuen  einzeln  erzeugen  wollte,  d.  h.  wir  be- 
wundem statt  schwerer  directer  eine  mühelosere  indirecte  Errei- 
chung des  Zieles ,  wie  schon  früher  in  den  Mechanismen  des  ein- 
zelnen Organismus,  und  diesen  Mechanismus  in  seiner  Allgemeinheit 
aufgedeckt  zu  haben,  ist  das  unbestreitbare  Verdienst  Darwin's; 
nur  darf  man  nicht,  wie  der  Materialismus,  glauben,  damit  das 
letzte  Wort  gesprochen  zu  haben. 

Auf  ähnliche  Weise  kann  man  an  der  Veredelung  der  Blüthen 
sehen,  wie  in  dem  geheimnissvollen  Leben  und  Webai  derPflanse 


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226 

sei  bat  der  Trieb  zur  Schönheit  liegt,  der  im  wild^  Zustande  nur  zu 
sehr  im  Kampfe  um' s  Dasein  erdrückt  unders  tickt  wird. 
So  wie  man  ^ie  Pflanzen  von  diesem  Kampfe  einigermassen  befreit,  so 
bricht  das  Schönheitsbestreben  durch,  und  aus  den  unscheinbarsten 
Blüthen  wilder  Gewächse  werden  unter  unseren  Augen  die  pracht- 
Tollsten  Blumen.  Nie  hat  Darwin  den  Erklärungsversuch  gemacht, 
wie  der  Pflanze  jene  Spielarten  oder  Abweichungen  vom  Normal- 
typus möglieh  sind,  welche  diesen  an  Schönheit  übertreffen,  und 
welche  der  Mensch  nur  vor  ihrem  Wiederuntergang  im 
Kampfe  um's  Dasein  zu  schützen  braucht,  um  sie  sich  zu 
erhalten. 

Basselbe  gilt  aber  für  alle  Schönheit  im  Pflanzen-  und  Thier- 
reiche,  auch  ^ie  der  allgemeinen  Form.     Ich  spreche  es  als  Grund- 
satz aus,  dass  jedes  Wesen  so  schön  ist,  als    es   in  Bücksicht  auf 
Beine  Lebens-  und  Fortpflanzungsweise  sein  kann.    So  wie  wir  frü- 
her gesehen  haben,   dass  die  absolute  Zweckmässigkeit  jeder 
einzehien  Einrichtung  beschränkt    wird:    einerseits    durch   andere 
Zwecke,    deren  Erfüllung   sie  widersprechen  würde,    andererseits 
durch  den  Widerstand  des  starren  Materials,   dessen  Gesetzen  das 
organisirende  XJnbewusste  sich  beugen  und  anbequemen  muss,  gerade  so 
wird  die  Schönheit  jedes  Theiles  beschränkt  durch  seine  Zweck- 
mässigkeit nach  allen  den  Bichtungen  hin,    wo  er  für  das  Wesen 
praktisch  in  Betracht  kommt,  und  zweitens  durch  den  Widerstand 
des  spröden  Materials,    dessen  Gesetze  respectirt  werden   müssen. 
So  interessant   auch   eine  Betrachtung   der  organischen  Natur  vom 
ästhetischen  Standpuncte  au^  ist,    so    können    wir  doch  hier   des 
Baumes  wegen   nicht  darauf  eingehen  und  müssen  uns  mit  diesen 
Andeutungen  begnügen  ^  deren  Ausföhrung  wir  dem  Leser  anheim- 
stellen. —  Nehmen  wir  indessen  unsere  Behauptungen  als  zugege- 
ben an,    so   beruht   der  Unterschied  der  künstlerischen  Production 
des  Menschen  und    der  Natur   letzten  Endes  nicht  im  Wesen  und 
Ursprung  der  Conception  der  Idee,    sondern  nur  in  der  Art  ihrer 
Verwirklichung»      In    der  Natursohönheit   wird   die   Idee  vor   der 
Ansfährung   nirgends   einem   Bewusstsein   präsentirt ,    sondern '  das 
Individuum,    das   Marmor    und    Bildhauer  zugleich    ist,    verwirk- 
licht   die    Idee    völlig    unbewusst;     in    der    künstlerischen   Pro- 
duction  des   Menschen    dagegen    wird    die   Instanz    des   Bewusst- 
seins  eingeschoben;    die   Idee   verwirklicht   sich  nicht   unmittelbar 
als   Naturwesen,    sondern    als    Hirnschwingungen,    die    dem    Be- 

T.  Hartroann,  Phil.  d.  ünbewni»ten.  15 


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226 

wuBstsein  des  Künstlers  als  Phantasiegebilde  gegenüber  tretes, 
dessen  Uebertragung  in  äussere  Realität  von  dem  bewassten  Willon 
des  Künstlers  abhängt.  — 

Fassen  wir  zum  Schlüsse  das  Besultat  dieses  Capitels  zuBa»- 
men,  so  ist  es  folgendes:  Das  Schönfinden  und  das  SchönschafMi 
des  Menschen  geh^i  aus  unbewussten  Processen  hervor,  ah  deren 
Resultate  die  Empfindung  des  Schönen  und  die  Erfindung 
des  Schönen  (Gonception)  sich  dem  Bewusstsein  darstellen.  Diese 
Momente  bilden  die  Ausgangspuncte  der  weiteren  bewussten  Arbeit, 
welche  aber  in  jedem  Augenblicke  mehr  oder  weniger  der  Unte^ 
Stützung  des  Unbewussten  bedarf.  Der  zu  Grunde  liegende  u»- 
bewusste  Prooess  entzieht  sich  durchaus  der  Selbstbeobachtung,  doch 
yera^igt  er  unzweifelhaft  in  jedem  einzelnen  Falle  dieselben  Glie- 
der, welche  eine  absolut  richtige  Aesthetik  in  discursirer  Reihen- 
folge als  Begründung  der  Schönheit  geben  würde.  Dass  eine  solche 
Umwandlung  und  Zerlegung  in  Begriffe  und  diseursiTes  Denken 
überhaupt  möglich  ist,  giebt  nämlich  den  Beweis  dafür,  dass  wir  es 
in  dem  unbewussten  Processe  nicht  mit  etwas  wesentlich  Fremdetn 
zu  thim  haben,  sondern  dass  nur  die  Form  in  diesem  und  dem 
ästhetisch  wissenschaftlichen  AuflÖsungsprooesse  sich  unterscheideB 
wie  intuitives  und  discursives  Denken  überhaupt ,  dass  aber  in 
beiden  das  Denken  an  sich,  odeo  das  Logische,  und  die  Momente, 
aus  deren  logischer  Yerkntipfnng  die  Schönheit  resultirt,  gemeinsam 
und  gleich  sind.  Wäre  der  Begriff  des  Schönen  nicht  logisch 
auflösbar,  wäre  das  Schcme  nicht  bloss  eine  besondere  Er- 
scheinungsform des  Logischen,  so  müssten  wir  allerdings 
in  dem  schöpferischen  Unbewussten  neben  dem  Logischen,  das  wir 
bisher  allein  thätig  gefunden,  noch  etwas  Anderes,  Heterogenes, 
was  jeder  Yermittelung  mit  diesem  entbehrt,  anerkennen.  Aber 
die  Geschichte  der  Aesthetik  zeigt  das  Ziel  dieser  Wissenschaft, 
die  Herleitung  aller  und  jeder  Schönheit  aus  logischen  Momenten 
(allerdings  in  Anwendung  auf  reale  Data),  zu  unverkennbar  as, 
als  dass  man  sich  durch  die  gegenwärtige  Unvollkommenheit  die- 
ser Yermiohe  von  dem  Glauben  an  dieses  Endziel  abwendig  machen 
lassen  sollte.  — 


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VL 
Das  UnbewBSSte  in  der  EntstehHBg  der  Spraebe. 


,J)a  sich  ohne  Sprache  nicht  nur  kein  philoiophisches,  sondern 
überhaupt  kein  menschliches  Bewosstsein  denken  lässt,  so  konnte 
der  Grand  der  Sprache  nicht  mit  Bewnsstsein  gelegt  werden,  und 
dennoch^  je  tiefer  wir  in  sie  eindringen,  desto  bestimmter  entdeckt 
sich,  dase  ihre  Tiefe  die  des  bewusstvoUsten  Erzeugnisses  noch  bei 
▼eitern  übertrifft.  —  Es  ist  mit  der  Sprache  wie  mit  den  orga- 
nißchen  Wesen;  wir  glauben  diese  blindlings  entstehen  zu  sehen, 
und  können  die  unergründliche  Absichtlichkeit  ihrer  Bildung  bis 
in's  Einzelnste  nicht  in  Abrede  ziehen.''  In  diesen  Worten 
Schellings  (Werke,  Abthl.  II,  Bd.  1,  S.  52)  ist  der  Inhalt  dieses 
Capitels  vorgezeichnet. 

Betrachten  wir  zunächst  den  philosophischen  W^rth  der  gram- 
oiatiBchen  Formen  und  der  Begriffsbildung.  In  jeder  höher  stehenden 
Sprache  finden  wir  den  Unterschied  von  Subject  und  Prädicat,  y#n  Snb- 
ject  und  Objecto  von  Substantivnm,  Yerbum  und  Adjectir,  und  die 
n&mlichen  Bedingungen  in  der  Satzbildung;  in  den  minder  entwickel- 
ten Sprachen  sind  diese  Grundformen  wenigstens  durch  die  Stellung 
in  Satze  unterschieden.  Wer  mit  der  Geschichte  der  Philosophie 
l>ekannt  ist»  wird  wissen,  wie  viel  dieselbe  schon  diesen  sprach- 
Hehen  Formen  allein  yerdankt.  Der  Begriff  des  ürtheils  ist  ent- 
schieden abstrahirt  rom  grammatischen  Satze  mit  Weglassung  der 
Wortform;  aus  Subject  und  Frädicat  wurden  die  Kategorien  der 
Substanz  und  Accidenz  auf  dieselbe  Weise  herausgezogen;  einen 
entsprechenden  begrifflichen  Gegensatz  von  Substantivurn  und  Yer- 
bum zn  ünden,  ist  heute  noch  ein  ungelöstes,  yielleicht  sehr  frucht- 
^Tes  philosophisches  Problem;  hier  ist  die  bewusste  Speculation 
i^oeh  weit    hinter    der    unbewussten    Schöi^ing    des    Genius    der 

16* 


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228 

Mensohheit  zurück.  Dass  die  philosophischen  Begriffe  des  8ab- 
jects  and  Objeots ,  welche  streng  genommen  dem  antiken  Bewusst- 
sein  fehlten y  und  heute  die  Speculation  gradezu  beherrschen,  sidi 
aus  den  grammatischen  Begriffen  entwickelt  haben,  in  denen  sie 
unbewusst  vorgebildet  eingehüllt  lagen,  ist  gewiss  nicht  unwahr 
soheinlich,  da  schon  ihr  Name  es  andeutet.  Eine  entsprechende 
philosophische  Ausbeute  der  anderen  Satztheile,  z.  B.  des  soge- 
nannten entfernteren  Objects  oder  der  dritten  Person,  ist  meiner 
üeberzeugung  nach  noch  zu  erwarten.  Es  werden  durch  solches 
Zum -Bewusstsein- bringen  des  metaphysischen  Qedankens;  dem  die 
Wortform  zum  Kleide  dient,  zwar  keine  neuen  Beziehungen  ge- 
schaffen, aber  es  werden  solche,  die  bisher  nur  auf  grossen 
Umschweifen  im  Bewusstsein,  einheitlich  aber  nur  in  der  Ahnung 
oder  im  Instinct  existirten,  auf  eine  einheitliche  Form  im  Be- 
wusstsein gebracht,  und  können  nun  erst  zum  sicheren  Funda- 
ment weiterer  Speculation  dienen,  ähnlich  wie  in  der  Mathematik 
die  Kreis-,  elliptischen  und  Abelschen  Functionen  plötzlich  gewisse 
längst  bekannte  Beihen  in  eine  einheitliche  Form  schliessen  und  da- 
durch erst  die  Möglichkeit  allgemeiner  Benutzung  derselben  gewähren. 
Indem  der  Menschengeist  in  der  Weltgeschichte  zum 
ersten  Male  vor  sich  selber  stutzt  und  anfangt  zu  philosophiren, 
findet  er  eine  mit  allem  Beichthum  von  Formen  und  B^;riffdn 
ausgestattete  Sprache  vor  sich,  und  „ein  grosser  Theil,  vielleicht 
der  grösste  Theil  von  dem  Oeschäfte  seiner  Yernunft  besteht  in 
Zergliederungen  der  Begriffe,  die  er  schon  in  sich  vorfindet,'^  ine 
Kant  sagt.  Er  findet  die  Casus  der  Declination  in  Substantir, 
Verbum,  Adjectiv,  Pronomen,  die  Genera,  Tempora  und  Modi  des 
Verbums,  und  den  unermesslichen  Schatz  fertiger  Gegenstands- 
und  Beziehungsbegnffe.  Die  sämmtlichen  Kategorien,  welche  gröss- 
tentheils  die  wichtigsten  Eelationen  darstellen,  die  Grundbegriffe 
alles  Denkens,  wie  Sein,  Werden,  Denken,  Fühlen,  Begehren,  Be- 
wegung, Kraft,  Thätigkeit  etc.,  liegen  ihm  als  fertiges  Material  vor, 
und  er  hat  Tausende  von  Jahren  zu  thun,  um  sich  nur  in  diesem 
Schatze  unbewusster  Speculation  zurecht  zu  finden.  Noch  bis  heute 
hat  der  philosophirende  G^st  den  Fehler  des  Anfängers,  siöh  zu 
sehr  in  der  Feme  umzuthun  und  das  ^Nächstliegende ,  vielleicht 
auch  Schwierigste,  zu  vernachlässigen,  noch  heute  giebt  es  keine 
Philosophie  der  Sprache;  denn  was  wir  wirklich  davon  haben, 
sind  winzige  Bruchstücke  und,  was  meistens  geboten  wird,  phrasen* 


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229 

kafte  Appellationen  an  den  menschlichen  Instinct ,  der  ja   doch  so 
schon  weise,    was   gemeint   ist  (ähnlich  wie    in    der   Aesthetik). 
Aber  wenn  die  ersten  griechischen  Philosophen   sich   bloss   an  die 
AoBsenwelt  hielten,  so  hat  doch  die  Philosophie,  je  weiter  sie  fort- 
geschritten ist,  um  so  mehr  erkannt,  dass  das  Yerstehen  des  eigenen 
Denkens  die  nächstliegendste  Aufgabe   ist,   dass   dieses  durch  He- 
bung der  Gteistesschätze,    welche  in  der  Sprache  des  Finders  har- 
ren,  trefflich  gefördert  wird,    und  dass  die  graue  TJeberlieferung 
der  Sprache,  das  Kleid  des  Denkens,  nicht  durch  bunte  aufgeklebte 
Lappen  entweiht  werden  darf;    denn    die   Sprache   ist   das  Wort 
Gottes,  die  beilige  Schrift  der  Philosophie,  sie  ist  die  Offenbarung 
des  Genius  der  Menschheit  für  alle  Zeiten.  —  Wie  viel  ein  Plato, 
Aristoteles,  Kant,  Schelling  und  Hegel  der  Sprache  verdanken,  wird 
der  sie  aufmerksam  Studirende  nicht  verkennen,  öfters  scheint  sogar 
den  Betreffenden  die  Quelle,    aus   der  sie   die  erste  Anregung  zu 
gewissen  Besultaten  geschöpft  haben,    ziemlich  unbewusst  zu  sein 
(2.  B.  bei  Sohelling   das  Subject  des  Seins   als  Nichtseiendes   oder 
Potenz  des  Seins,  und  das  Objeot  des  Seins  als  bloss  Seiendes).  — 
Die  nächste  Betrachtung  betrifft   die  Frage,    ob    die  Spräche 
sich  mit  der    fortschreitenden  Bildung  vervollkommnet.      Bis   auf 
einen  gewiafien  Punct  ist  dies   unzweifelhaft   der  Fall;    denn  die 
Sprächet  der  ersten  Urmenschen  ist  gewiss  eine  von  der  Laut-  und 
6eberdenq>rache  der  Thiere  kaum    unterschiedene    gewesen,    und 
▼ir  wissen ,    dass  jede  Sprache ,   welche  jetzt  Flexionssprache  ist, 
sieh  durch  die  Stufen  der  einsilbigen  (z.  B,  Chinesisch)  agglutini- 
renden  (z.  B.  Türkisch)    und   incorporirenden   (z.  B.  Indianerspra- 
chen) Sprache  ganz   allmälig  zu    ihrer  gegenwärtigen  Vollendung 
^aufgearbeitet    hat.     Wenn   man  aber   obige   Frage  so  versteht, 
ob  nach  Erreichung    deqenigen  Bildungszustandes,    welcher    von 
vornherein   als  Bedingung  einer  Flezionssprache  angesehen  werden 
"luss,  bei  weiter  steigender  Cultur  die  Sprache  sich  ver- 
Tollkonunene,  so  muss  diese  Frage  nicht  nur  verneint,  sondern  ihr 
Gegentheil  bejaht  werden.     Allerdings  treten  mit  fortschreitender 
Ooltnr  neue  Gegenstände,   folglich   neue  Begriffe  und  Beziehungen 
derselben,    also    auch   neue  Worte  auf.     (Z.  B.,  Alles  was  Eisen- 
bahnen, Telegraphen    und  Actiengesellschafben  betrifft.)     Hieraus 
^ebt  sich  eine  materielle  Bereicherung  der  Sprache.    Diese 
^thält  jedoch   nichts    Philosophisches.     Die    philosophischen  Be- 
firiffe  (die  Kategorien  u.  s.  w.)  bleiben  dieselben,  sie  werden  nicht 


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230 

mehr  nooh  weniger,  mit  geringen  Ausnahmen,  wie  Bewnsstsein  und 
dergl  ,  Begriffe,  welche  die  Alten  der  olaasischen  Zeit  nur  divi- 
natorisch,  aber  nicht  explicite  und  bewusst  besaseen.  Ebeon 
erleiden  die  AbBtraotionsreihen ,  welche  die  unendliche  Mannig- 
faltigkeit der  sinnlichen  Erscheinungen  £um  Gebrauch  in  Abstraota 
verschiedener  Ordnungen  zusammenfassen,  keine  irgend  erhebliohea 
Veränderungen;  denn  wenn  die  Specialwissensohaften»  z.  B.  Zoolo- 
gie, Botanik,  ihre  Artbegriffe  bisweilen  ein  wenig  ändern,  so  be- 
rührt dies  theils  das  praktische  Leben  gar  nicht,  theils  sind  diese 
Aenderungen  gegen  die  Gonstanz  der  meisten  Begriffisgebiete  ver- 
schwindend  klein.  Worin  aber  der  eigentlich  philosophische  Werth 
liegt,  der  formelle  Theil  der  Sprache,  der  ist  in  einem  mit  dem 
Culturfortschritt  gleichen  Schritt  haltenden  Zersetzungs-  und  Ve^ 
flachungsprocesse.  Ein  noch  eclatanteres  Beispiel,  als  die  Deutsehe 
Sprache  im  Gothischen,  Althochdeutsch,  Mittel-  und  Neuhochdeutsch, 
bildet  die  Yerflaohung  der  romanischen,  namentlich  der  innam- 
sehen  Sprache.  Die  ein-  für  allemal  bestimmte  Stellung  der  Satz- 
theile  und  Sätze  lässt  der  Prägnanz  des  Ausdruckes  keinen  Bpiei- 
raum  mehr,  eine  Declination  existirt  nicht  mehr,  ein  Neutrum 
ebenso  wenig,  die  Gonjugation  beschränkt  sich  auf  vier  (im  Deut- 
schen sogar  auf  zwei)  Zeiten,  das  Passivum  fehlt,  alle  Endsilben 
sind  abgeschliffen,  die  in  Natursprachen  so  ausdrucksvolle  ye^ 
wandtschaft  der  Stammsilben,  durch  Absohleifyingen ,  Consonant- 
ausstoBsungen  und  andere  Entstellungen  meist  unkenntlich  gewo^ 
den  und  die  Fähigkeit,  Worte  zu  Einem  zusammenzusetzen,  i^ 
verloren  gegangen.  Je  weiter  wir  dagegen  historisch  rückwÄrtß 
gehen,  desto  grösser  wird  der  Formenreichiiium;  das  Griechische 
hat  sein  Medium,  Dualis  und  Aorist,  und  eine  unglaubliche  Zu- 
sammensetzungsfShigkeit.  Der  Sanskrit,  als  die  älteste  der  uns  be- 
kannten Fiesionssprachen,  soll  an  Schönheit  und  Formenreichtfaum 
alle  anderen  übertreffen.  Aus  dieser  Betrachtung  geht  hervor, 
dass  die  Sprache  zu  ihrer  Entstehung  durchaus  kdner  höheren 
Culturentwickelung  bedarf,  sondern  dass  ihr  eine  solche  vielmehr 
schädlich  ist,  indem  sie  nicht  einmal  im  Stande  ist,  das  fiertig 
üeberkonmiene  vor  Verderbniss  zu  bewahren.  Sowohl  dieses 
Resultat,  als  die  speculative  Tiefe  und  Grossartigkeit  der  ^fache, 
sowie  endlich  ihre  wunderbare  organische  Einheit,  die  weit  über 
die  Einheit  eines  methodisch- systematischen  Aufbaues  hinausgeht, 
sollte    uns    abhalten,    die   Sprache  für  ein  Erzeugniss  bewusster 


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soharfrinniger  Ueberlegung  zu  halten«  Schon  Sohelling^  sagt: 
ffiet  Geist,  d^  die  Sprache  schuf,  — ^  und  das  ist  nicht  der  Oeist 
der  ein2«lnen  Glieder  des  Volkes,  —^  hat  sie  als  Ganzes  ge* 
daokt:  wie  die  sehaffmde  Natur,  indnn  sie  den  Schädel  bildet» 
sehon  den  Kerren  im  Auge  hat,  der  seinen  Weg  durch  ihn  neh«» 
mOD  soll.'' 

Dazu  kommt  noch  Folgendes:  Fttr  die  Arbeit  eines  Ein- 
leinen  ist  der  Gnmdbau  viel  zu  oomplioirt  und  reichhaltig, 
die  Sprache  ist  ein  Werk  der  Kasse,  des  Volkes.  Für  die 
Vewnsste  Arbeit  Mehrerer  aber  ist  sie  ein  zq  einheit- 
licher Ot^ganismus,  Nur  der  Masseninstinct  kann  sie  ge* 
sehaffdn  haben,  wie  er  im  Leben  des  Bienenstockes,  des  Th^- 
miten-  und  Ameiaenhanfens  waltet.  —  Femer.  w^enn  auch  die  aus 
Tenehiedenen  Entwiekelungsheerden  entsprungenen  Sprachen  we^ 
senüioh  von  einander  abweichen,  so  ist  doch  der  Gang  der  Ent- 
wickelung  der  Hauptsache  nach  auf  all  den  verschiedenen  Schau- 
plätzen menschlicher  Bildung  und  bei  den  verschiedensten  Natio- 
nsldiarakteren  sich  so  ähnlich,  dass  die  Uebereinstimmung  der 
Qnmdformen  und  des  Satzbaues  in  allen  Stadien  der  Entwickelung 
nur  aus  einem  gemeinsamen  Sprachbildungsinstincte  der  Mensch- 
heit erklärlich  wird,  aus  einem  in  den  Individuen  waltenden 
Geiste,  der  überall  die  Entwickelung  der  Sprache  nach  denselben 
Gesetzen  des  Emporblühens  und  des  Verfalles  leitet.  —  Wem  aber 
alle  diese  Gründe  nicht  entscheidend  vorkommen,  der  wird  in 
Terbindung  mit  ihnen  den  einzigen  als  durchschlagend  zugeben 
müssen,  dass  jedes  bewusste  menschliche  Denken  erst 
mit  Hülfe  der  Sprache  möglich  ist,  da  wir  sehen,  dass  das 
menschliche  Denken  ohne  Sprache  (bei  unerzogenen  Taubstummen) 
das  der  klügsten  Hausthiere  bestenfalls  sehr  wenig  übertrifft. 
Ganz  unmöglich  ist  also  ohne  Sprache  oder  mit  einer  bloss  thie- 
riflchen  Lautsprache  ohne  grammatische  Formen  ein  so  scharf- 
sinniges Denken,  dass  als  sein  bewusstes  Erzeugniss  der  wunder- 
volle tiefsinnige  Organismus  der  überall  gleichen  Grundformen  her- 
vorginge ;  vielmehr  wird  jeder  Fortschritt  in  der  Entwickelung  der 
Sprache  erst  die  Bedingung  von  einem  Fortschritte  in  der 
Ausbildung  des  bewussten  Denkens,  nicht  seine  Folge  sein,  indem 
er  (wie  jeder  Instinct)  zu  einer  Zeit  eintritt ,  wo  die  gesammte 
Ooltnrlage  des  betreffenden  Volkes  einen  Fortschritt  in  der  Aus- 
büdnng  des  Denkens  zum  Bedürfnis s  macht.  —  Ghinz  ebenso 


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232 


ako,  wie  anbezweifelter  Weise  die  zum  Theil  so  hoch  ausgebil- 
dete Sprache  der  Thiere,  oder  die  Minen-,  Qesten-  und  l^aturlsnt- 
Bpraohe  der  Urmenschen  in  Froduction  wie  in  Yerständniss  ein 
Werk  dos  Instinctes  ist,  ganz  ebenso  muss  auch  die  menschliche 
Wo rtap räche  eine  Conception  des  Genies,  ein  Werk  des  MasseniB- 
Btincteß  sein,  da  man  wohl  auf  die  theologische  Ansicht  der  götlr 
liehen  Ueberlieferung  der  Sprache  im  letzten  Drittel  des  neunzehn- 
ten Jahrhunderts  keine  Bücksicht  mehr  zu  nehmen  braucht.  Trots 
dem  Mangel  einer  anderweitigen  Erklärung  aus  Principien  des  Be- 
wustitaoins  ist  durch  Herders  Verdienst  diese  Ansicht,  dass  der  den 
Spraehorganismus  schaffende  Instinct  nicht  mechanisches  Werk 
eines  bewussten  Gk>ttes  sei,  in  der  Wissenschaft  allgemein  durch- 
gedrungen, —  wann  wird  dieselbe  Ansicht  in  Bezug  auf  den 
leiblichen  Organismus  endlich  allgemeine  Geltung  erlangen?  — 


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vn. 

Das  Unbewnsste  im  Denket. 


Im  vorletzten  Capitel  hatten  wir  gesehen  ^  dass  jeder  Eintritt 

einer  Erinnening  zn  einem  bestimmten  Zwecke  der  Hülfe  des  Unbe- 

wussten  bedarf,  wenn  gerade  die  rechte  Vorstellung  einfallen  soll, 

weil  das  Bewnsstsein   die  schlummernden  Erinnerungen  nicht  um- 

fasst,  also   auch  nicht  unter  ihnen  wählen  kann.     Wenn  eine  un^ 

passende  Yorstellung  auftaucht,  so  erkennt  das  Bewnsstsein  dieselbe 

sofort  als  unzweckmässig  und  verwirft-  sie,  aber  alle  Erinnerungen, 

welche  noch  nicht  aufgetaucht  sind,  sondern  erst  auftauchen  sollen, 

liegen  ausser  seinem  Gesichtskreise,  also  auch  ausser  seiner  Wahl; 

nur  das  TJnbewusste  kann  die  zweckmässige  Wahl  vollziehen.     Es 

kömite  etwa  Jemand  meinen,  dass  die  Erinnerungen  absolut  zufällig 

in  Bezug    auf   das   Interesse  auftauchen,  und  das  Bewnsstsein   so 

lange  die  falschen  verwirft,    bis   endlich  auch  die  richtige  kommt. 

Beim  abstracten   Denken  kommen  allerdings  solche  Fälle  vor,  wo 

man  fünf,  auch  mehr  Vorstellungen  verwirft,  ehe  Einem  die  richtige 

einfällt.     In  solchen  Fällen  handelt  es  sich  aber,  wie  beim  Käthen 

von  Bäthselny  oder  Lösen  von  Aufgaben  durch  Probiren,  darum,  dass 

das  Bewnsstsein  selbst  nicht  recht  weiss,   was   es  will,  d.  h.  dass 

es  die  Bedingungen  der  Zweckmässigkeit  nur  in  Gestalt  abstracter 

Wort-  oder   Zahlformeln,   aber  nicht  in  unmittelbarer  Anschauung 

kennt,   so    dass    es  in  jedem   einzelnen  Falle   erst   den  concreten 

WerÜi  in  die  Formeln  einsetzen  muss,  und  zusehen,  ob  die  Sache 

Btinmit;   hiermit  leuchtet  aber   auch  ein,   dass  die  Beaetion  eines 

Interesees   auf  das  TJnbewusste,   welches  sich  selbst  so  unklar  ist, 

dass  ea   sich  nur  durch  Anwendung   auf  den  concreten  Fall  über 

Bich  klar  werden  kann,   eine  unvollkommenere  sein  muss,  als  da, 

wo  das  Interesse  sich  in  unmittelbar  concreter  und  anschaulicher 


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234 

Weise  von  selbst  versteht,  wie  beim  Sachen  einer  passenden  Theil- 
Vorstellung  zu  einem  im  XJebrigen  fertigen  Bilde,  oder  Melodie, 
oder  Verse,  wo  ein  so  langes  Probiren  viel  seltener  vorkommt  Bei 
dem  Einfall  eines  Witzes  kommt  solch'  ein  Frobiren  noch  weniger 
vor;  herausprobirte  Witze  sind  vielmehr  immer  schlecht.  Aber 
auch  in  solchen  Fällen,  wo  die  Erfahrung  ein  mehrmaliges  Ver- 
werfen der  auftauchenden  Vorstellungen  zeigt,  sollte  man  nicht 
vergessen,  dass  alle  diese  verworfenen  Vorstellungpn  keineswegs  in 
Bezug  auf  den  Zweck  des  Interesses  absolut  zufiülig  sind,  sondern 
durchaus  diesem  Ziele  zustreben,  wenn  sie  auch  noch  nicht  den 
Nagel  auf  den  Kopf  treffen.  Aber  selbst  wenn  dieses  Merkmal 
ihnen  fehlte,  wird  man  zugeben  müssen,  dass  die  Vorstellungen, 
welche,  abgesehen  vom  Ziel  des  Interesses,  bloss  nach  den  anderen 
Gesetzen  der  Gedankenfolge  entstehen  würden ,  geradezu  zahllos 
sind,  und  dass  dann  in  sehr  seltenen  Fällen  schon  nach  fünf  bis 
zehn  verworfenen  Vorstellungen  die  passende  auftauchen  würde, 
meistens  aber  eine  viel  grossere  Anzahl  Versuche  erforderlich  wiure; 
die  Folge  hiervon  wäre  die  Unmöglichkeit,  irgend  eine  geortete 
Gedankenfolge  zu  produciren,  man  würde  diese  unverhältnissmässige 
Anstrengung  bald  ermüdet  aufgeben  und  sich  nur  dem  willkürlosen 
Träumen  und  den  Sinneseindrüoken  hingeben,  ähnlich  wie  tiefsiehende 
Thiere. 

Alles  kommt  beim  Benken  darauf  an,  dass  Einem  die  rechte 
Vorstellung  im  rechten  Moment  einfällt,  nur  hierdurch  untersoheidet 
sich  (abgesehen  von  der  Schnelligkeit  der  Gedankenbewegung)  das 
Denk^rgenie  vom  Dummen,  Thoren,  Narren,  Blödsinnigen  und  Ver- 
rückten. Denn  das  Schlieseen  findet  bei  allen  auf  gleiche  Weise 
statt;  kein  Verrückter  und  kein  Träumender  hat  je  ein«n  fabohen 
einfachen  Schlu^s  gedacht  aus  den  Prämissen,  die  ihm  gerade  gegen« 
wärtig  waren,  nur  die  Prämissen  derselben  sind  häufig  unbrauchbar; 
theils  sind  sie  falsch  an  sich,  theils  sind  sie  zu  dem  Zweok,  wozu 
der  Bchluss  dienen  soll,  zu  eng,  theils  zu  weit ;  theils  auch  werden 
beim  Bchliessen  gewisse  hier  unzulässige  Prämissen  gewohnheits- 
mässig  vorausgesetzt,  theils  aiuf  diesem  Wege  mehrere  hinter  einan- 
der folgende  Schlüsse  in  Einen  zusammengezogeny  und  dabei  Fehler 
begangen,  weil  nicht  jeder  einzelne  SchloBs  wirklich  gedadit  wird, 
auch  jeder  folgende  Bchluss  stillschweigend  eine  neue  Prämisse 
voraussetzt.  Aber  bei  gegebenen  Pränüssen  einen  ein&ohen  Schhiss 
Msch  vollziehen,  das  liegt  nach  meiner  Aufiiassung  gerade  so  ansser 


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236 

dem  Bereich  der  Möglichkeit,  als  dass  ein  von  zwei  Kräften  ge- 
stossenes  Atom  anders  als  in  der  Diagonale  des  Parallelogramms 
der  Kräfte  gehen  sollte. 

Alles  kommt  beim  Denken  darauf  an,  dass  Einem  die  rechte 
Yorstellang  im  rechten  Moment  einföUt.  Diesen  Satz  wollen  wir 
noch  genauer  prüfen.  Man  verBteht  unter  Denken  im  engeren  Sinne 
das  Theüen,  Vereinen  und  Beziehen  der  Vorstellungen.  Das 
Th eilen  kann  in  räumlichem  oder  zeitlichem  Zerschneiden  oder 
m  abstrahirendem  Theilen  der  Vorstellungen  bestehen.  Jede  Vor- 
stellung kann  auf  unendlich  yiele  Arten  getheilt  werden,  es  kommt 
also  wesentlich  darauf  an,  wie  der  Schnitt  geführt  wird  zwischen 
dem  Stück 9  was  man  behalten,  und  dem,  was  man  fallen  lassen 
will.  Wieviel  und  was  Ton  einer  Vorstellung  man  aber  behalten 
will,  das  hängt  davon  ab,  zu  welchem  Zwecke  man  es  braucht. 
Ber  Hauptzweck  beim  abstrahirenden  Theilen  ist  das  Zusammen- 
(dssen  vieler  sinnlicher  Einzelnen  zu  einem  gemeinsamen  Begriff; 
dieser  kann  nur  das  in  allen  Gleiche  enthalten,  die  Schnitte  müssen 
also  so  gefuhrt  werden,  dass  man  von  allen  Einzelvorstellungen  nur 
das  Qleiche  übrig  behält,  und  die  ungleichen  individuellen  Beste 
fallen  lässt.  Mit  anderen  Worten,  wenn  man  die  vielen  Einzelnen 
hat,  muss  Einem  die  Vorstellung  des  allen  gemeinsamen  gleichen 
Stückes  einfallen.  Dies  ist  ebenso  gewiss  ein  Einfallen,  was 
nicht  erzwungen  werden  kann,  wie  in  früheren  Beispielen;  denn 
Millionen  Menschen  starren  dieselben  Einzeli^rstellungen  an  und 
Bin  genialer  Kopf  packt  endlich  den  Begriff.  Wie  viel  reicher  an 
B^riffen  ist  nicht  der  Gebildete,  als  der  Ungebildete?  Und  der 
einzige  Grund  hiervon  ist  das  Interesse  am  Begriff  welches  ihm 
dnrch  die  Erziehung  imd  Lehre  eingeflösst  wird ;  denn  direct  lehren 
kann  man  Niemandem  einen  Begriff,  man  kann  ihm  wohl  beim  Ab'» 
strahiren  durch  Angabe  recht  vieler  sinnlicher  einzelner  und  Aus- 
schliessung anderer  ihm  schon  bekannter  Begriffe  u.  s.  w.  behülf- 
lieh  sein,  aber  finden  muss  er  ihn  zuletzt  doch  selbst.  Einen  er- 
hebliehen Talentsunterschied  aber  kann  man  zwischen  Gebildeten 
und  Ungebildeten  doch  im  Durchschnitt  gewiss  nicht  annehmen, 
also  kann  es  nur  das  Interesse  am  Finden  sein,  was  den  Unter- 
fiohied  des  Begriffreichthumes  bedingt.  Dasselbe  gilt  auch  für  den 
Terschiedenen  Begriffreichthum  von  Mensch  und  Thier,  wenn  auch 
hier  allerdings  die  Begabung  mitspricht.  Die  grössten  Erfindungen 
der  theoretischen  Wissenschaft  bestehen  oft  bloss  im  Finden  eines 


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236 

neueD  Begriffes,  in  der  Erkenntniss  eines  bisher  unbeachtet  geblie- 
benen gemeinsamen  Stückes  in  mehreren  anderen  Begriffen,  z.  B.  die 
Entdeckung  des  Begriffes  Gravitation  durch  Newton.  Wenn  das 
Interesse  es  ist,  welches  die  Auffindung  des  Gemeinsamen  bedingt, 
so  ist  das  erste  Auffeuchten  des  Begriffes  die  zweckmässige  Beaction 
des  Unbewussten  auf.  diesen  Antrieb  des  Interesses. 

Wenn  dies  schon  für  Begriffe  gilt,  die  nur  in  dem  Aussohoi- 
den  eines  vielen  gegebenen  Vorstellungen  gemeinsamen  Stückes 
bestehn,  um  wie  viel  mehr  für  solche,  die  Beziehungen  vei- 
schiedener  Vorstellungen  auf  einander  enthalten,  z.  B. 
Gleichheit,  Ungleichheit,  Einheit,  Vielheit  (Zahl),  Allheit,  Negation, 
Disjunction,  Causalität  u.  8.  w. ;  denn  hier  ist  der  Begriff  eine  wahr- 
hafte. Schöpfong,  allerdings  aus  gegebenem  Material,  aber  doch 
Schöpfung  von  etwas  als  solchem  in  den  gegebenen  Vorstellangen 
gar  nicht  Liegendem.  —  Z.  B. :  Die  Gleichheit  als  solche  kann  nicht 
den  Würfeln  A  und  B  inhäriren,  denn  wenn  B  noch  nicht  ist,  so 
kann  A  nicht  die  Gleichheit  mit  B  haben;  wenn  aber  B  entsteht, 
so  kann  dies  die  Beschaffenheit  von  A  nicht  yerändem,  also  kann 
A  nicht  durch  das  Entstehen  von  B  eine  Eigenschaft  bekommen, 
die  es  vorher  nicht  hatte,  also  auch  nicht  die  Gleichheit  mit  B. 
Der  Begriff  der  Gleichheit  kann  also  in  den  Dingen  nicht  liegen, 
ebenso  wenig  in  den  durch  die  Dinge  erzeugten  Wahrnehmungen 
als  solchen,  denn  för  diese  lässt  sich  derselbe  Beweis  führen, 
folglich  muss  der  Begriff  der  Gleichheit  erst  von  der  Seele  geschaf- 
fen werden ;  aber  die  Seele  kann  auch  nicht  willkürlich  zwei  Vor- 
stellungen für  gleich  oder  ungleich  erklären,  sondern  nur  dann, 
wenn  die  Vorstellungen,  abgesehen  von  Ort  und  Zeit,  idenüsoh  sind, 
d.  h.  wenn  die  beiden  Vorstellungen,  an  einem  Orte  des  Gesichts- 
feldes ohne  Zeitintervall  sich  ablösend,  den  Eindruck  einer  einzigen 
unverändert  bleibenden  Vorstellung  machen  würden.  Da  diese  Be- 
dingung realiter  nie  erfüllt  werden  kann,  so  kann  der  Frocess  nur 
der  sein,  dass  die  Seele  das  identische  Stück  beider  Vorstellungen 
begrifflich  ausscheidet;  erkennt  sie  dann,  dass  die  individuellen 
Beste  nur  in  Ort  und  Zeit  der  Vorstellungen  bestehen  und  den 
Inhalt  derselben  nicht  mehr  berühren,  so  nennt  sie  dieselben  gleich, 
und  hat  so  den  Begriff  der  Gleichheit  gewonnen.  Es  ist  aber  leicht 
zu  sehen,  dass,  wenn  dieser  ganze  Frocess  im  Bewusstsein  vollzogen 
werden  sollte,  die  Seele  die  Fähigkeit  der  Abstraction  und  mithin 
den  Begriff  der  Gleichheit,  um  das  beiden  Vorstellungen  gemeinsame 


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237 

gleiche  Stück  ausscheidea  ku  können»  schon  beaiizen  mikste,  nm 
ea  ihnen  zu  gelangen,  was  ein  Widerspruch  ist;  es  bleibt  also,  da 
jede  Menschen-  und  Thierseele  diesen  Begriff  wirklich  hat,  nichts 
als  die  Annahme  übrig,  dass  dieser  Process  sich  in  seinem  Haupt- 
theile  unbewusst  vollzieht,  und  erst  das  Resultat  als  Begriff  der 
Gleichheit,  oder  als  TJrtheil:  ,^/L  und  B  sind  gleich''  in's  Bewusst- 
sein  fallt. 

Wie  unentbehrlich  die  Fähigkeit  der  Abstraction  und  der  in 
ihr  enthaltene  Gleichheitsbegriff  selbst  zu  den  ersten  Grundlagen 
alles  Denkens  sei,  will  ich  kurz  an  der  Erinnerung  zeigen. 

Jeder  Mensch  und  jedes  Thier  weiss,  wenn  in  ihm  eine  Vor- 
stellung oder   eine  Wahrnehmung  entsteht,   ob  es  den  Inhalt  der- 
selben kennt  oder  nicht,  d.  h.  ob   ihm  die  Wahrnehmung  neu  ist, 
zum  ersten  Male  entsteht,  oder  ob  es  dieselbe  früher  schon  gehabt 
hai.     Eine   blosse  Vorstellung,    die  auftaucht,  yerbunden  mit  dem 
Bewusstsein,  dass  sie  schon  früher  dagewesen  sei,  heisst  Erinnerung. 
Das  Wiedererkennen  sinnlicher  Wahrnehmungen  wird  nicht  mit  die- 
sem Namen  bezeichnet,  ist  aber  mindestens  ebenso  wichtig.   Es  fragt 
sich,  wie  kommt  die  Seele  zu  dem  Merkmal  des  Bekanntseins, 
welches  doch  in  der  Vorstellung  selbst  nicht  liegen  kann,  da  jede 
Vorstellung  an  und  für  sich  als  etwas  Neues  auftritt.     Die  nächst- 
liegende Antwort  ist :  durch  die  Ideenassociation,  denn  eine  Haupt- 
henrorrufung    derselben    ist    die    Aehnlichkeit.       Wenn    also    eine 
Wahrnehmung   neu   eintritt,    welche   schon  früher  dagewesen  war, 
so  wird  die  schlummernde  Erinnerung  wach  gerufen,  und  die  Seele 
hat  nun  statt  eines  Bildes  zwei,  ein  lebhaftes  und  ein  schwaches, 
und  letzteres   einen  Moment  später,  während  sie  bei  neuen  Wahr- 
nehmungen nur  eins  vorfindet.    Da  sie  von  dem  zweiten  schwachen 
Bilde  sich  nicht  als  Ursache  weiss,  so  nimmt  sie  das  der  Zeit  nach 
frühere  lebhafte  als  Ursache  desselben  an;  da  aber  andererseits  die 
Ursache  davon,  dass  das  schwache  Bild  in  einigen  Fällen  erscheint, 
in  anderen  nicht,  in  den  Wahrnehmungen  nicht  wohl  liegen  kann, 
80  setzt  sie   die  Ursache   dieser  Erscheinung  in  eine  verschiedene 
Disposition   des   Vorstellungsvermögens.     Hätte   die  Seele   bei    der 
Bchwachen    Vorstellung   ohne  Weiteres   das   Bewusstsein,    dass  sie 
schon  früher  dagewesen  sei,  so  wäre  die  Sache  erklärlich,  aber  das 
ist  eben  nicht  zu  begreifen ,   wie   sie  zu  diesem  Bewusstsein  aus 
dem  bisher  Angeführten  kommen  soll;  die  Frage  wäre  damit  nicht 
gelöst,  sondern  nur  ihr  Object  eine    Stufe   zurückgeschoben.     Hier 


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hill't  nun  aber  die  Betrachtung  von  gleichen  Sinneseindrücken  aas, 
die  80  schnell  auf  /einander  folgen,  dass  das  Nachbild  des  ersten 
beim  Eintreten  des  zweiten  noch  nicht  verklungen  ist. 

Hier  weiss  die  Seele  1)  das  Nachbild  des  ersten  Eindruckes 
mit  demselben  yermöge  der  Stetigkeit  des  Abklingens  als  eins; 
2)  weiss  sie  aus  dem  Grade  der  Abschwächung,  dass  das  äussere 
Object  aufgehört  hat  zu  wirken,  und  nur  sein  Nachbild  übrig 
ist ;  3)  weiss  sie,  dass  die  unmittelbar  nach  dem  zweiten  Eindruck 
eintretende  plötzliche  Verstärkung  des  Nachbildes  eine  Wirkung 
jenes  ist;  4)  erkennt  sie  die  Inhaltsgleichheit  des  zweiten  Ein- 
druckes mit  dem  verstärkten  Nachbilde  des  ersten. 

Aus  diesen  Prämissen  schliesst  sie,  dass  die  Bisposition  des 
Yorstcllungsvermögens,  welche  die  Entstehung  des  schwachen  Bildes 
nach  dem  zweiten  Eindruck  bedingte,  das  Vorhandensein  des  Nach- 
bildes des  ersten  war,  und  dass  der  zweite  Eindruck  derselbe  war, 
wie  der  erste.  Indem  nun  solche  Beispiele  sich  bei  verschiedenen 
Graden  des  Abgeklungenseins  wiederholen,  wird  nach  Analogie  ge- 
schlossen, dass  auch  da,  wo  das  Nachbild  des  ersten  beim  Eintre- 
ten des  zweiten  Eindruckes  nicht  mehr  vorhanden  ist,  die  fragliche 
Disposition  des  Vorstellungsvermögens  in  einem  sohlummemden 
Nachbilde  bestehe,  und  somit  ergiebt  sich  das  Bewusstsein  d«8  Be- 
kanntseins jedesmal,  wenn  eine  Vorstellung  eine  ihr  gleiche  schwä- 
chere hervorruft.  So  z.  B.  wenn  beim  wachen  Träumen  Einem 
Bilder  aufsteigen,  so  müssen  dieselben  erst  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  der  Vollständigkeit  gediehen  sein,  ehe  sie  durch  Association 
für  einen  Moment  das  Qanze  der  erlebten  Situation  als  zweites 
Bild  vor  die  Seele  führen,  und  erst  in  diesem  Moment  springt 
plötzlich  das  Bewusstsein  hervor,  dass  man  ja  die  Sache  erlebt  hat, 
erst  dann  wird  die  angestiegene  Erinnerung  als  Erinnerung  be- 
wusst.  — 

Man  sieht,  welch*  ein  ungeheuerer  Apparat  von  complicirter 
Ueberlegung  erforderlich  ist,  um  ein  scheinbar  so  einfaches  Funda- 
mentalphänomen zu  erzeugen,  und  dass  ganz  unmöglich  in  jenen 
Zeiten  der  Kindheit  von  Mensch  und  Thier,  wo  diese  Begriffe  meh 
bilden ,  ein  solcher  Process  sich  im  Bewusstsein  vollziehen  könnte, 
zumal  da  alle  hier  angewandten  Schlüsse  die  Fähig- 
keit, die  Vorstellungen  als  bekannt  anzuerkennen, 
längst  voraussetzen.  Darum  bleibt  nichts  übrig,  als  dass 
auch   dieser  Process  sich  im  Unbewussten   vollzieht  und  nur  sein 


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Besoltat  instinetiT  in's  Bewnsstsem  fallt.  Auoh  die  Gewissheit 
des  BekanntseinB ,  welche  bei  nicht  zu  grosser  Zwischenzeit  beider 
andrücke  die  Etinnenmg  bietet,  könnte  bei  diesem  künstlichen 
Gebäude  Ton  Hypothesen  und  Analogien  nie  erreicht  werden. 

Ein  anderes  Beispiel  bietet  die  0  a u  s  a  1  i  t  ä t.  Allerdings  ist  die- 
selbe l<^sch  zu  entwickeln,  nämlich  aus  der  Wahrscheinliohkeits- 
rechnimg,  welche  mit  der  blossen  Yoraassetzong  des  absoluten 
Zufalls,  d.  i.  der  Causalitätslosigkeit  rechnet.  Wenn  nämlich  unter 
den  und  den  Umständen  ein  Ereigniss  n  Mal  eingetroffen  ist,  so 
ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  es  unter  denselben  Umständen  das 

nächste  Mal  wieder  eintrifft  — r—;    gesetzt  nun,   wir  nennen  den 

n-T~2 

Eintritt  des  Ereignisses  nothwendig,  wenn  die  Wahrscheinlichkeit 
desselben  =  1  wird,  so  lässt  sich  hieraus  die  Wahrscheinlich- 
keit davon  entwickeln,  dass  der  Eintritt  des  Ereignisses  noth- 
wendig, oder  nicht  nothwendig  sei.  Weiter  liegt  aber,  wie  schon 
Xant  nachwies,  keine  Bedeutung  in  der  Causalität,  als  die  Noth- 
wendigkeit  des  Eintretens  unter  den  betreffenden 
Umständen,  da  der  Begriff  der  Erzeugung  ein  willkürlich 
hineingelegter,  und  am  Ende  doch  nur  ein  unpassend  gebraudi- 
t^  Bild  ist. 

Also  köxmen  wir  die  Wahrscheinlichkeit  zeigen,  dass  diese  oder 
jene  Erscheinung  von  diesen  oder  jenen  Umständen  verursacht  sei, 
and  weiter  geht  in  der  That  unser  Erkennen  nicht.  Gewiss  wird 
Niemand  glauben,  dass  dies  die  Art  sei,  wie  Kinder  und  Thiere 
zQm  Begriff  der  Causalität  kommen,  und  doch  giebt  es  keine  andere 
Ari^  über  den  Begriff  der  blossen  Folge  hinaus,  zu  dem  der  noth- 
wendigen  Folge  od^  Wirkung  zu  gelangen,  folglich  muss  auch  die- 
ser Frocesfl  im  Unbewussten  vor  sich  gehen ,  und  der  Begriff  der 
Causalität  als  sein  fertiges  Resultat  in's  Bewusstsein  treten. 

Derselbe  Nachweis  lässt  sich  auch  für  die  anderen  Beziehungs- 
l>egriffe  führen,  sie  alle  lassen  sieh  logisch  discursiv  entwickeln, 
aber  diese  Entwickelungen  sind  alle  so  fein  und  zum  Theil  so  compli- 
cirty  dass  sie  ganz  unmöglich  im  Bewusstsein  der  Wesen  vollzogen 
werden  können,  die  diese  Begriffe  zum  ersten  Male  bilden;  darum 
treten  sie  als  etwas  Fertiges  vor  das  Bewusstsein.  Wer  nun  auf 
die  Unmöglichkeit,  diese  Begriffe  von  aussen  zu  erhalten,  und  die 
Nothwendigkeit,  sie  selbst  zu  bilden,  sieht,  der  behauptet  ihre 
Apriorität;   wer  dagegen    sich  darauf  stützt,  dass  solche  Bildungs- 


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240 

Torgäoge  im  Bewusstsein  gar  nioht  Platz  greifen  können,  sondem 
diesem  yielmehr  die  Besultate  als  etwas  Fertiges  gegeben  wer- 
den, der  muss  ihre  Aposteriorität  behaupten.  Plato  ahnte  Beide«, 
indem  er  alles  Lernen  Erinnerung  nuinte,  Schelling  sprach  es  am 
in  dem  Satz :  „Insofern  das  Ich  Alles  aus  sich  produoirt,  ist  alles  . . . 
Wissen  a  priori;  aber  insofern  wir  uns  dieses  Producirens  nicht 
bewusst  sind,  insofern  ist  . . .  Alles  a  posteriori, . .  Es  giebt  also  Be- 
griffe a  priori^  ohne  dass  es  angeborene  Begriffe  gäbe/'  (Vgl.  obee 
S.  14  —  15). 

Das  Vereinen  yon  Vorstellungen  kann  wiederum  ein 
räumliches  oder  zeitliches  Ajieinanderfügen,  wie  bei  bildenden  oder 
musikalischen  Compositionen  sein,  dann  fallt  es  unter  die  künstle- 
rische Production,  oder  ein  Zusammensetzen  iron  Begriffen  zu  einer 
einheitlichen  Vorstellung,  wie  beim  Bilden  von  Definitionen,  oder 
ein  Vereinen  von  Vorstellungen  durch  Beziehungsformen,  wo  man 
also  zur  Folge  den  Grund,  zur  Form  den  Inhalt,  zu  dem  Gleichen 
das  Gleiche,  zur  einen  Alternative  die  andere,  zum  Besonderen  das 
Allgemeine  sucht  oder  umgekehrt.  In  allen  Fällen  hat  man  die 
eine  Vorstellung  und  sucht  eine  andere,  welche  die  gegebene  Be- 
ziehung erfüllt.  Entweder  man  hat  die  gesuchte  als  schlummernde 
Erinnerung  in  sich  oder  nicht.  Im  letzteren  Falle  hat  man  sie 
erst  direct  oder  indirect  zu  erfinden ,  im  ersteren  kommt  es  nur 
darauf  an,  dass  Einem  yon  den  vielen  Gbdächtnissvorstellungen 
gerade  die  rechte  einfällt.  Beidesfalls  ist  eine  Reaction  des  IJnbe- 
wussten  erforderlich.  Die  Beziehung  des  Allgemeineren  zum  Be- 
sonderen hat  ihren  einfachsten  sprachlichen  Ausdruck  im  ürtheil« 
wo  das  Subject  das  Besondere ,  das  Prädicat  das  Allgemeine 
repräsentirt.  Zu  jedem  Besonderen  giebt  es  aber  sehr  viele  Allge- 
meine, die  alle  in  ihm  enthalten  sind,  darum  kann  jedes  Subject 
mit  Eecht  viele  Prädicate  annehmen;  welches  aber  gerade  passt, 
das  hängt  nur  von  dem  Ziele  des  Gedankenganges  ab;  es  kommt 
also  auch  beim  Urtheilen  wieder  darauf  an,  dass  Einem  gerade  die 
rechte  Vorstellung  einfallt,  ebenso  wenn  man  zum  Subject  da« 
Prädicat,  als  wenn  man  zum  Prädicat  das  Subject  sucht,  denn  von 
einem  AJlgemeinem  sind  ja  auch  wieder  viele  Besondere  umfasst. 

Besondere  Wichtigkeit  für  das  Denken  hat  noch  die  Beziehung 
von  Grund  und  Folge.  Dieselbe  wird  stets  durch  den  Syllogismu« 
vermittelt,  welcher  in  seiner  einfachen  Form,  wenn  er  vollzogen 
wird,    immer  richtig  vollzogen  werden  muss,   und  durch  den  Sati 


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241 

Tom  Widerspruch  bewiesen  werden  kann.  Nun  zeigt  sidi  aber  sehr 
bald,  dasB  der  Syllogismus  durchaus  nichts  IsTeues  bietet,  wie  von 
John  Stuart  Hill  u.  A.  dargethan  worden  ist,  denn  der  allgemeine 
Obersatz  enthält  implioite  den  besonderen  Fall  schon  in  sich,  der 
im  Schlüsse  nur  explicirt  wird;  da  nun  Jedermann  Ton  dem  Ober- 
aatze  ab  Allgemeinem  nur  dadurch  überzeugt  sein  kann,  dass  er 
von  allen  seinen  besonderen  Fällen  überzeugt  ist ,  so  muss  er  auch 
von  dem  Schlussatie  schon  überzeugt  sein,  oder  er  ist  es  auch  nidit 
Tom  Obersatze;  und  hat  der  Obersatz  keine  gewisse ,  sondern  nur 
wahrscheinliche  Geltung,  so  muss  auch  der  Schlusssatz  denselben 
Wahrscheinlichkeitscoefficienten,  wie  der  Obersatz  tragen.  Hiermit 
ist  dargethan^  dass  der  Syllogismus  die  Erkenntniss  auf  keine  Weise 
vennehrt,  wenn  einmal  die  Prämissen  gegeben  sind,  was  damit 
völlig  übereinstimmt,  dass  kein  vernünftiger  Mensch  sich  bei  einem 
Syllogismus  aufhält,  sondern  mit  dem  Denken  der  Prämissen  eo 
ip90  schon  den  Schlusssatz  mitgedacht  hat,  so  dass  der  Syllogismus 
als  besonderes  Glied  des  Denkens  niemals  in's  Bewusstsein  tritt. 
Demnach  kann  der  Syllogiennus  für  die  Erkenntniss  keine  unmittel- 
bare, sondern  nur  eine  mittelbare  Bedeutung  haben.  In  Wahrheit 
handelt  es  eich  in  allen  besonderen  Fällen  (wo  also  der  Unter- 
satz gegeben  ist)  um  das  Auffinden  des  passenden  Obersatzes,  ist 
dieser  gefunden,  so  ist  auch  sofort  der  Schlusssatz  im  Bewusstsein, 
ja  sogar  der  Obersatz  bleibt  oft  unbewusstes  Glied  des  Processes. 
Natürlich  kann  derselbe  Untersatz  zu  vielen  Obersätzen  stehen^  wie 
ein  Subject  zu  vielen  Prädicaten,  aber  wie  für  den  vorliegenden 
Zweck  eines  UrÜieils  immer  nur  ein  Prädicat  diejenige  Bestimmung 
des  Subjects  giebt,  welche  zur  Fortsetzung  der  Gedankeufdlge  auf 
das  voi^esteokte  Ziel  hin  dienen  kann,  so  kann  auch  nur  ein  be- 
stimmter Obersatz  denjenigen  Schlusssatz  erzeugen  helfen^  welcher 
diese  Gedankenfblge  fordern  kann.  Es  handelt  sich  also  darum, 
unter  denjenigen  allgemeinen,  im  Gedäohtniss  aufbewahrten  Sätzen, 
mit  denen  der  gegebene  Fall  sich  als  Untersatz  verbinden  lässt^ 
gerade  den  Einen  in's  Bewusstsein  zu  rufen,  welcher  gebraucht 
wird,  d.  h.  unsere  allgemeine  Behauptung  bestätigt  sich  auch  hier. 
Z.  B.  wenn  ich  beweisen  will,  dass  in  einem  gleichschenkeligen 
Breieck  die  Winkel  an  der  Grundlinie  einander  gleich  sind,  so 
biaodie  ich  mich  bloss  des  allgemeinen  Satzes  zu  erinnern^  dass  in 
jedem  Dreieck  gleichen  Seiten  gleiche  Winkel  gegenüber  liegen; 
sobald   mir  dieser   früher  klar   geworden   ist  und  ich  mich  seiner 

T.  HArtmann,  Phil.  d.  Unbewussten.  16 


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242 

erinnere,  ist  eo  ipso  auch  die  Conclnsion  fertig.  Ebenso  wenn  mich 
Jemand  fragt,  was  ich  vom  Wetter  halte,  und  dabei  die  Bemerkung 
macht,  dass  das  Barometer  stark  gefallen  sei,  so  brauche  idi  mich 
bloss  des  allgemeinen  Satzes  zu  erinnern,  dass  nach  jedem  starken 
Fallen  des  Barometers  das  Wetter  umschlägt,  so  bin  ich  selbstver- 
ständlich mit  der  Conclusion  fertig:  „das  Wetter  wird  morgen  um- 
schlagen"; hier  wird  sogar  zweifelsohne  der  allgemeine  Obersate 
unbewusst  bleiben,  und  die  Conclusion  ohne  Weiteres  eintreten. 

Fragen  wir  aber,  wie  wir  mit  Ausnahme  der  Mathematik  zu 
den  allgemeinen  Obersätzen  kommen,  so  zeigt  die  Untersuchung» 
dass  es  auf  dem  Wege  der  Induction  geschieht,  indem  aus  einer 
grösseren  oder  geringeren  Anzahl  wahrgenommener  besonderer  Fälle 
die  allgemeine  B^gel  mit  grösserer  oder  geringerer  Wahrscheinlich- 
keit abgeleitet  wird.  Diese  Wahrscheinlichkeit  steckt  wirklich 
implicite  in  dem  Wissen  yom  Obersatze  darin,  und  man  kann  sie 
bei  gebildeten  und  denkgewohnten  Menschen  durch  Handeln  und 
Feilschen  um  die  Bedingungen  einer  für  den  nächsten  besonderen 
Fall  proponirten  Wette  als  Zahlenausdruck  herausholen;  natürlich 
aber  hat  man  für  gewöhnlich  yon  dieser  Zahlengrösse  des  Wahr- 
scheinlichkeitscoefficienten  nur  eine  unklare  Vorstellung,  die  mühin 
auch  eine  grosse  üngenauigkeit  enthält,  so  dass  z.  B.  eine  einiger- 
maassen  hohe  Wahrscheinlichkeit  stets  mit  der  Gewissheit  verwech- 
selt wird.  Nichtsdestoweniger  werden  sich  durch  den  Vorschlag 
einer  Wette  sehr  bald  Grenzen  nach  oben  und  unten  finden  lassen, 
durch  welche  die  Grösse  der  Wahrscheinlichkeit  immerhin  bw  zn 
einem  gewissen  Grade  bestimmt  wird,  und  bei  feinen  Köpfen  werden 
diese  Grenzen  durch  fortgesetztes  Handeln  um  die  Bedingungen 
der  Wette  ziemlich  nahe  an  einander  gerückt  werden  können. 

Die  Frage,  wie  kommt  man  zu  dem  Glauben  an  die  allgemeine 
Kegel,  theilt  sich  also  in  die  zwei  Fragen:  1)  wie  kommt  mm 
überhaupt  dazu,  Tom  Besonderen  auf  das  Allgemeine  überzugehen, 
und  2)  wie  kommt  man  zu  dem  Coefficienten ,  welcher  die  Wahr- 
scheinlichkeit einer  realen  Geltung  des  gefundenen  allgemeinen 
Ausdruckes  vorstellt.  —  Ersteres  erklärt  sich  nur  durch  das  prac- 
tische  Bedürfniss  allgemeiner  Begeln,  ohne  welche  der  Mensch 
im  Leben  ganz  rathlos  wäre,  da  er  nicht  wüsste,  ob  die  Erde 
seinen  nächsten  Schritt  aushält,  oder  der  Baumstamm  das  nächste 
Mal  wieder  auf  dem  Wasser  mit  ihm  schwimmt;  es  ist  also  audi 
dies  ein  glücklicher  Einfall,  der  durch  die  Dringlichkeit  des  Be- 


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243 

diirfnisses  heryorgenifen  worden,  denn  in  den  besonderen  Fällen 
selbst  liegt  nicht  das  Mindeste,  was  zu  ihrer  Zusammenfassung  in 
eine  allgemeine  Begel  hintriebe.  Das  Zweite  aber  wird  durch  die 
inductive  Logik  erklärt,  insofern  dadurch  die  Induction  als  logische 
Dednction  eines  Wahrscheinlichkeitscoef&cienten  begriffen  wird. 
Hiermit  ist  zwar  der  objectiye  Zusammenhang  erklärt  >  aber  der 
Bubjeotiye  Vorgang  des  Bewusstseins  kennt  diese  künstlichen  Me- 
thoden nicht;  der  natürliche  Verstand  induoirt  instinctiv,  und  findet 
das  Besnltat  als  etwas  Fertiges  im  Bewusstsein,  ohne  iiber  das  Wie 
nähere  Bechenschaft  geben  zu  können.  Daher  bleibt  nichts  übrig, 
als  die  Annahme,  dass  das  unbewusste  Logische  im  Menschen  dem 
bewusst  Logischen  diesen  Prooess  abnimmt,  der  für  das  Bestehen 
des  Mensehen  erforderlich  ist,  und  doch  die  Kräfte  des  unwissen- 
Bchaftlichen  Bewusstseins  übersteigt.  Denn  wenn  ich  bei  den  und 
den  Anzeichen  am  Himmel  so  und  so  oft  habe  Bogen  oder  Gewitter 
eintreten  sehen,  so  bilde  ich  die  allgemeine  Begel  mit  einer  von 
der  Anzahl  der  Beobachtungen  abhängigen  Wahrscheinlichkeitsgrösse 
der  realen  Gültigkeit,  ohne  dass  ich  Etwas  von  den  Liductions- 
methoden  der  TJebereinstimmung,  des  Unterschiedes,  der  Bückstände 
oder  der  sich  begleitenden  Veränderungen  weiss,  und  dennoch  stimmt 
mein  Besnltat  mit  dem  wissenschaftlichen  überein,  soweit  die  Un- 
klarheit meines  Wahrscheinlichkeitscoe^cienten  eine  Uebereinstim- 
mung  bestätigen  kann,  und  wenn  man  die  etwa  einwirkenden  posi- 
tiven Quellen  des  Irrthums,  wie  Interesse  u.  s.  w.,  dabei  in  Be- 
tracht zieht 

Bisher  haben  wir  immer  nur  ziemlich  einfache  Frocesse  des 
Benkens,  gleichsam  seine  Elemente  betrachtet;  es  bleiben  uns  nun 
aber  die  Fälle  zu  berücksichtigen,  wo  mitten  in  einer  bewussten 
Gedankenkette  mehrere  logisch  nothwendige  Glieder  vom  Bewusst- 
sein  übersprungen  werden,  und  doch  fast  immer  das  richtige  Be- 
snltat eintritt.  Hier  wird  sich  uns  das  Unbewusste  wieder  einmal 
recht  deutlich  als  Intuition,  intellectuelle  Anschauung,  unmittel- 
Wes  Wissen^  immanente  Logik  offenbaren. 

Betrachten  wir  zuerst  in  diesem  Sinne  die  Mathematik,  so  zeigt 
sich,  dass  in  derselben  zwei  Methoden  sich  durchdringen,  die  de- 
dactive  oder  discursive  und  die  intuitive.  Erstere  führt  ihre  Be- 
weise durch  stufenweise  Schlus^folgerungen  nach  dem  Satze  vom 
Widerspruch  au0  zugegebenen  Prämissen,  entspricht  also  überhaupt 
dem  bewusst  Logischen  und  dessen  discursiver  Natur;  sie  wird  in 

16* 


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2U_ 

der  Eegel  für  die  einzige  und  aussohliesBliche  Methode  der  Mathe- 
matik gehalten,  weil  sie  allein  mit  dem  Ansprach  auf  Methode  und 
Beweisführung  hervortritt.  Die  andere  Methode  muss  sich  jedes 
Aßspruches  auf  Beweisführung  begeben,  ist  aber  nichtsdestoweniger 
Begründungsform,  also  Methode,  weil  sie  an  das  natürliche  Gefühl, 
au  den  gesunden  Menschenyerstand  appellirt,  und  durch  intelleotuelle 
Anschauung  in  einem  Blicke  dasselbe,  ja  sogar  mehr  lehrt,  als  die 
d^ducdve  Methode  nach  einem  langweiligen  Beweise.  Sie  tritt  mit 
ihrem  Resultat  als  etwas  logisch  Zwingendem  Tor's  Bewusstsein, 
und  zwar  ohne  Schwanken  und  TJeberlegung ,  sondern  momentan, 
hat  also  den  Character  des  unbewusst  Logischen.  Z.  B.  wird  kein 
Mensch,  der  ein  gleichseitiges  Dreieck  ansieht,  wenn  er  erst  ver- 
stau den  hat,  um  was  es  sich  handelt,  einen  Augenblick  zweifeln, 
ob  die  Winkel  gleich  sind;  die  deductive  Methode  kann  es  ihm 
tiilcrdings  aus  noch  einfacheren  Prämissen  beweisen,  aber  die  Oe- 
wiesheit  seiner  intuitiven  Erkenntniss  wird  damit  sicherlich  keinen 
Zu\\-aohs  bekommen,  im  Gegentheil,  wenn  man  es  ihm  z.  B.  ohne 
Aü  Behauung  der  Figur  durch  Rechnung  vollkommen  bündig  beweist, 
80  wird  er  weniger  haben,  als  durch  einfache  Anschauung,  er  weiss 
dann  nämlich  bloss,  dass  es  so  sein  muss,  und  nicht  anders  sein 
kann,  aber  hier  sieht  er,  dass  es  wirklich  so  ist,  und  doch  noch, 
daH!^  es  nothwendig  so  ist,  er  sieht  gleichsam  als  lebendigen  Orga- 
nismus von  Innen,  was  ihm  durch  die  Deduction  bloss  als  Wir- 
kung eines  todten  Mechanismus  erscheint^  er  sieht  so  zu  sagen  das 
,,Wie*'  der  Sache,  nicht  bloss  das  „Dass",  kurz  er  fühlt  sich 
Tiel  mehr  befriedigt. 

Es  ist  Schopenhauer's  Verdienst,  den  Werth  dieser  intuitiven 
Methode  gebührend  betont  zu  haben,  wenn  er  auch  die  deductive 
M e t hode  darüber  ungebührlich  zurücksetzt.  Alle  Grundsätze  der 
Mathematik  stützen  sich  auf  diese  Form  der  Begründung,  obwohl 
sie  »ich  ebenso  gut  wie  complicirtere  Sätze  aus  dem  Satze  vom 
Widerspruch  deduoiren  lassen;  nur  wirkt  der  Einfachheit  des 
Gegenstandes  wegen  die  Anschauung  hier  so  schlagend  für  die 
Ueberzeugung,  dass  man  den  fast  als  Narren  betrachtet,  der  solche 
Grundsätze  deduciren  will;  daher  kommt  es,  dass  noch  Niemand 
deij  nöthigen  Scharfsinn  aufgeboten  hat,  um  alle  Grundsätze  der 
Mathematik  wirklich  auf  den  Satz  vom  Widerspruche  in  Anwendung 
aui'  gegebene  Raum-  und  Zahlenelemente  zurückzufuhren,  und  da^ 
her  die  bei  vielen  Philosophen  (z.  B.  bei  Kant)  festgesetzte  Meinung, 


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245 

dass  diese  Zurückführung  nicht  möglich  sei.  Aber  so  gewiss  diese 
Ornndsätze  logisch  sind,  so  gewiss  ist  ihre  Dedaction  vom  alleinigen 
Grundgesetz  der  Logik,  dem  Satze  vom  Widerspruche,  möglich.  — 
Schon  die  Grundsätze  der  Mathematik  sind  für  helle  Köpfe  sehr 
umiütz,  für  solche  könnte  man  die  Mathematik  mit  Ghrundsätzen 
viel  complicirterer  Natur  anfangen ;  aber  unsere  Mathematik  ist  für 
Schulen  bearbeitet,  wo  auch  die  Dümmsten  sie  begreifen  sollen,  und 
diese  haben  Noth,  die  Ghrundsätze  als  logisch  nothwendig  zu  be- 
greifen. Die  discursive  oder  deductive  Methode  schlägt  bei  Jedem 
an,  weil  sie  eben  nur  Schritt  für  Schritt  geht,  aber  die  Intuition 
ist  Sache  des  Talents,  für  den  £inen  versteht  sich  von  selbst^  was 
der  Andere  erst  auf  langen  Umwegen  einsieht.  Kommt  man  ein 
wenig  weiter,  so  kann  man  allerdings  durch  Umformung  der  geo- 
metrischen Figuren,  Umklappen,  Aufeinanderlegen  und  andere 
Oonstructionshülfen  die  Anschauung  tmterstützen,  aber  bald  kommt 
man  doch  an  einen  Punct,  wo  auch  der  helle  Kopf  nicht  weiter 
kann  und  zur  deductiven  Methode  seine  Zuflucht  nehmen  muss. 
Z  B.  am  gleichschenkelig- 
rechtwinkeligen  Dreiecke 
ist  darch  Umklappen  des 
Hypothenusenquadrats  der 
pythagoräische  Lehrsatz 
noch  anschaulich  zu  ma- 
chen, aber  beim  ungleich- 
schenkeligen  ist  er  nur 
deductiv  zu  begreifen.'  — 
Hieraus  geht  hervor,  dass 
imsere  beföhigtsten  Mathe- 
matiker die  Fähigkeit  der 
Intuition  viel  zu  schnell 
im  Stiche  lässt,  um  irgend 
wie  damit  vorwärts  zu 
kommen,  dass  es  aber  eben 

nnr  von  dem  Grade  der  Befähigung  abhängt,  wie  weit  dies  gehen 
könne,  und  dass  der  Möglichkeit  nichts  im  Wege  steht,  sich 
einen  höheren  Geist  zu  denken,  der  so  vollkommen  Herr  der 
intuitiven  Methode  ist,  dass  er  die  deductive  völlig  entbehren 
kann.  Die  Schwierigkeit  der  Intuition  zeigt  sich  namentlich  sehr 
bald  bei   der  Algebra    und  Ajialysis;   nur   monströse  Talente,  wie 


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246    " 

Dahse,  bringen  es  hier  zu  einer  Anschauung,  welche  grosse  Zahlen 
einheitlich  aufzufassen  und  zu  behandeln  im  Stande  ist.  Häufiger 
findet  man  bei  Mathematikern  die  Fähigkeit,  in  einer  geordneten 
Schlusskette  intuitive  Sprünge  zu  machen  und  eine  Menge  Glieder 
geradezu  auszulassen,  so  dass  aus  den  Prämissen  des  ersten  Schlos- 
ses gleich  der  SchluBssatz  des  Dritt-  oder  Fünffcfolgenden  ins  Be- 
wusstsein  springt.  Alles  dies  ^sst  sphliessen,  dass  die  discursiye 
oder  deductive  Methode  nur  der  lahme  Stelzengang  des  bewosst 
Logischen  ist,  während  die  logische  Intuition  der  Pegasusflug  des 
XJnbewussten  ist,  der  in  einem  Moment  von  der  Erde  zum  Himmel 
steigt;  die  ganze  Mathematik  erscheint  aus  diesem  Qesichtspuncte 
wie  ein  Werkzeug  und  Rüstzeug  unseres  armseligen  Geistes,  der 
mühsam  Stein  auf  Stein  thürmen  muss,  und  doch  nie  mit  der  Hand 
an  den  Himmel  fassen  kann,  wenn  er  auch  über  die  Wolken  hinaus- 
baut. Ein  mit  dem  XJnbewussten  in  näherer  Verbindung  stehender 
Geist  als  wir  würde  von  jeder  gestellten  Aufgabe  die  Löstuig  intuitif 
und  doch  mit  log:ischer  Nothwendigkeit  momentan  erfassen,  wie  wir 
bei  den  einfachsten  geometrischen  Aufgaben,  und  ebenso  ist  es 
hiemach  kein  Wunder,  dass  die  verkörperten  Rechnungen  des  Un- 
bewussten,  ohne  demselben  Mühe  gemacht  zu  haben,  so  mathema- 
tisch genau  stimmen,  wie  z.  B.  in  der  Bienenzelle  der  Winkel,  in 
dem  die  Flächen  zu  einander  geneigt  sind,  so  genau  es  sich  nach- 
messen lässt  (auf  halbe  Winkelminuten),  mit  dem  Winkel  stimmt, 
welcher  bei  der  Gestalt  der  Zelle  das  Minimum  von  Oberfläche, 
also  von  Wachs,  fiir  den  gegebenen  Rauminhalt  bedingt. 

Bei  alledem  können  wir  nicht  zweifeln,  dass  bei  der  Intuition 
im  Unbewussten  dieselben  logischen  Glieder  vorhanden  sind,  —  nur 
in  einem  Zeitpunct  zusammengedrängt,  was  in  der  bewussten  Logik 
nach  einander  folgt;  dass  nur  das  letzte  Glied  in's  Bewusstsein 
fällt,  liegt  daran,  weil  nur  dieses  Interesse  hat,  dass  aber  alle  an- 
deren im  Unbewussten  vorhanden  sind,  kann  man  erkennen,  wenn 
man  die  Intuition  absichtlich  in  der  Weise  wiederholt,  dass  erst 
das  vorletzte,  dann  das  vorvorletzte  Glied  u.  s.  w.  in's  Bewusstsein 
fällt.  Das  Yerhältniss  zwischen  beiden  Arten  ist  also  so  zu  denken: 
das  Intuitive  durchspringt  den  zu  durchlaufenden  Raum  mit  einem 
Satze,  das  Discursive  macht  mehrere  Schritte;  der  durohmessene 
Raum  ist  in  beiden  Fällen  ganz  derselbe,  aber  die  dazu  gebrauchte 
Zeit  ist  verschieden.  Jedes  zu-Boden-Setzen  des  Fasses  bildet  näm- 
lich einen  Ruhepunct,   eine    Station,   welche  in  Himschwingungen 


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besteht,  die  eine  bewuaste  Vorstellung  erzeugen  und  hierzu  Zeit 
brauchen  (^/4 — 2  Secunden).  Das  Springen  resp.  Schreiten  selbst 
ist  dagegen  in  beiden  Fällen  etwas  Momentanes,  Zeitloses,  weil  er- 
fahrungsmässig  in's  Unbewusste  Fallendes ;  der  eigentliche  Prooess 
ist  also  immer  unbewusst,  der  Unterschied  ist  nur,  ob  er  zwischen 
den  bewussten  Haltestationen  grössere  oder  kleinere  Strecken  durch- 
läuft. Bei  kleinen  Schritten  fühlt  sich  auch  der  schwerfällige  \md 
ungeschickte  Denker  sicher,  dass  er  nicht  fehltritt;  bei  grösseren 
Sprüngen  aber  wächst  die  Gefahr  des  Strauohelns  und  nur  der  ge- 
wandte und  leicht  bewegliche  Kopf  wendet  sie  mit  Vortheil  an. 
Der  schwerfiQlige  Kopf  hat  bei  seiner  grösseren  Disoursiyität  des 
Denkens  einen  doppelten  Zeitverlust;  erstens  ist  der  Aufenthalt 
auf  der  einzelnen  Station  bei  ihm  grösser,  weil  die  einzelne  Vor- 
stellung längere  Zeit  braucht,  um  mit  derselben  Klarheit  bewusst 
.zu  werden,  und  zweitens  muss  er  mehr  Stationen  machen.  —  Dass 
aber  wirklich  der  eigentliche  Process  in  jedem,  auch  dem  kleinsten 
Schritte  des  Denkens  intuitiv  und  unbewusst  ist,  darüber  kann  wohl 
naeh  dem  bisher  Gesagten  kein  Zweifel  mehr  obwalten. 

Aber  auch  ausser  der  Mathematik  können  wir  das  Ineinander- 
wirken  der  discursiven  und  intuitiven  Methode  verfolgen.  Der  ge- 
übte Schachspieler  überlegt  wohl  den  Erfolg  dieses  und  jenes 
Zuges  nach  drei  oder  vier  Zügen,  aber  hundert  Tausend  andere 
mögliche  Züge  zu  überlegen,  faUt  ihm  gar  nicht  ein,  von  denen 
der  schlechte  Schachspieler  vielleicht  noch  fünf  oder  sechs  über- 
legt, ohne  auf  die  beiden  zu  verfallen,  welche  allein  die  Aufmerk- 
samkeit des  guten  Spielers  in  Anspruch  nehmen.  Woher  kommt 
68  nun,  dass  letzterer  diese  fünf  bis  sechs  Züge  gar  nicht  beachtet, 
die  sich  wahrscheinlich  doch  auch  erst  nach  Verlauf  von  zwei  bis 
drei  anderen  Zügen  als  minder  gut  herausstellen?  Er  sieht  das 
Schachbrett  an,  und  ohne  XJeberlegung  sieht  er  unmittelbar  die 
beiden  einzig  guten  Züge.  Es  ist  dies  das  Werk  eines  Momentes, 
aach  wenn  er  als  Zuschauer  an  eine  fremde  Partie  herantritt. 
So  sieht  der  geniale  Feldherr  den  Punot  für  die  Demonstration 
oder  den  entscheidenden  AngrifiE*,  auch  ohne  XJeberlegung.  XJebung 
ist  ein  Wort,  welches  hier  gar  nicht  die  Frage  berührt,  üebung 
kann  die  XJeberlegung  erleichtem,  aber  nie  die  fehlende  ersetzen, 
ftosser  bei  mechanischen  Arbeiten,  wo  ein  anderes  Nervencentrum 
für  das  Gehirn  vicarirend  eintritt.  Aber  hier,  wo  davon  nicht  die 
^e  sein   kann,    fragt  es  sich:   was   vollzieht  die  zweckmässige 


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248 

Wahl  momentan ;    wenn   die   bewusste  Ueberlegung   es  nicht  ist? 
Offenbar   das   Unbewusste.  — 

Betrachten  wir  die  Sprünge  eines  jungen  Affen.  Cuvier  eizählt  von 
einem  jungen  Bhunder  (Mticaeua  Rkemis)  (s.  Brehm's  illustr.  Thierleben 
I.  64):  y^twa  nach  yierzehn  Tagen  begann  dieses  sieh  von  seiner 
Mutter  loszumachen  und  zeigte  gleich  in  seinen  ersten  Schritten  eine 
Gewandtheit,  eine  Stärke,  welche  Alle  in  Erstaunen  setzen  musste,  weil 
beidem  doch  weder  Uebung,  noch  Erfiahrung  zu  Ghrnnde  liegen  koimte« 
Der  junge  Bhunder  klammerte  sich  gleich  Anfangs  an  die  senkrechten 
Eisenstangen  seines  Käfigs  und  kletterte  an  ihnen  nach  Laune  auf 
und  nieder,  madite  wohl  auch  einige  Schritte  auf  dem  Stroh,  sprang 
freiwillig  yon  der  Höhe  seines  Käfigs  auf  seine  vier  Hände  herab, 
und  dann  wieder  gegen  die  Gitter,  an  welche  er  sidii  mit  einer 
Behendigkeit  und  Sicherheit  anklammerte,  die  dem  erfahrensten 
Affen  Ehre  gemacht  hätte/^  Wie  kommt  dieser  zum  ersten  Male 
aus  dem  Eell  seiner  Mutter,  unter  deren  Brust  er  bisher  gehangen, 
sich  losmachende  Affe  dazu,  die  Elraft  und  Bichtung  seiner  Sprünge 
richtig  zu  bemessen.  Wie  berechnet  der  zwölf  Fuss  weit  nach 
seinem  Baube  springende  Löwe  die  Wurfcurye  mit  Anfangswinkel 
und  Anfangsgeschwindigkeit)  wie  der  Hund  die  Curve  des  Bissens, 
den  er  so  geschickt  auf  jede  Entfernung  und  in  jedem  Winkel 
fangt?  Die  Uebung  erleichtert  nur  die  Wirkung  des  TJnbewussten 
auf  die  Nervencentra,  und  wo  diese  schon  ohne  Uebung  g^%end 
dazu  vorbereitet  sind,  sehen  wir  auch  diese  Uebung  nicht  erförder- 
lich, wie  bei  jenem  Affen;  aber  das,  was  die  fehlende  mathemar 
tische  Beirechnung  ersetzt,  kann,  wie  bei  dem  Zellenbau  der  Biene,, 
nur  die  mathematische  Loituition  sein^  verbunden  mit  dem  Instinet 
der  Ausführung  der  Bewegung. 

Was  das  Ueberspringen  von  Schlüssen  beim  gewöhnlichen 
Denken  betrifft,  so  ist  dasselbe  eine  ganz  bekannte  Erfahrung;  das 
Benken  würde  ohne  diese  Beschleunigung  so  schneckenlangsam  sein, 
dass  man,  wie  es  denklangsamen  Menschen  jetzt  noch  häufig  gelüt 
bei  vielen  practischen  Ueberlegungen  mit  dem  Besultat  zu  spät 
kommen  würde,  und  die  ganze  Arbeit  des  Denkens  ihrer  Beschwer- 
lichkeit wegen  so  hassen  würde,  wie  sie  jetzt  bloss  von  besonders 
Denkfaulen  gefasst  und  gemieden  wird.  —  Der  einfachste  Fall  des 
Ueberspringens  ist  der,  wo  man  aus  dem  Untersatze  sofort  den 
Sehlusssatz  erhält,  ohne  sich  des  Obersatzes  bewusst  zu  werden. 
Aber  auch   ein  oder  mehrere  wirkliche  Schlüsse  werden  bisweilen 


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249 

fortgelassen,  wie  wir  es  in  der  Mathematik  schon  gesehen  haben. 
Dies  geschieht  gewöhnlich  nnr  beim  eigenen  Denken,  bei  der  Mit- 
theilong  nimmt  man  Bücksicht  auf  das  Yerständniss  des  Anderen 
and  holt  die  hauptsächlichen  der  vorher  unbewusst  gebliebenen 
ZwisdiengUedeir  nach ;  Frauen  und  ungebildete  Menschen  versäumen 
dies  häufig,  «nd  dann  entsteht  das  Springende  in  ihrem  Gedanken- 
gange, das  für  den  Sprechenden  zwar  Begründungskraft  hat,  wo 
der  Hi^er  aber  gar  nicht  weiss,  wie  er  von  Einem  zum  Anderen 
kommen  soll.  Jeder,  der  gewohnt  ist,  Selbstbeobachtungen  anzu- 
stellen, wird  sich  über  einem  stark  springenden  Gedankengange 
imd  SchlUBsfolge  ertappen  können,  wenn  er  sich  nach  einer  solchen 
Ueberlegung  dieselbe  recapitulirt,  welche  einen  ihm  neuen  und  sehr 
ifiteressanten  G^enstand  mit  Eifer  und  glücklichem  Erfolge  verfolgte. 
Interessant  ist  eine  dies  Gebiet  nahe  berührende  Bemerkung 
des  Psychiatrikers  Jessen  (Psychologie  S.  235 — 236),  welche  ich 
mir  hierher  zu  setzen  erlaube:  „Wenn  wir  mit  der  ganzen  Kraft 
des  Geistes  über  etwas  nachdenken ,  so  können  wir  dabei  in  einen 
Zustand  von  Bewusstlosigkeit  versinken,  in  welchem  wir  nicht  nur 
die  AuBsenwelt  vergessen,  sondern  auch  von  uns  selber  und 
den  in  uns  sich  bewegenden  Gedanken  gar  nichts 
wissen.  Nach  kürzerer  oder  längerer  Zeit  erwachen  wir  dann 
plötzlich,  wie  aus  einem  Traume,  und  in  demselben  Augen- 
blick tritt  gewöhnlich  das  Resultat  unseres  Nachden- 
kens klar  und  deutlich  im  Bewusstsein  hervor,  ohne 
dass  wir  wissen,  wie  wir  dazu  gekommen  sind.  — 
Auch  bei  einem  weniger  angestrengten  Nachdenken  kommen 
Momente  vor,  in  welchen  sich  mit  dem  Bewusstsein  der  eigenen 
Geistesanstrengnng  eine  völlige  Gedankenleere  verbindet,  worauf 
alsdann  in  dem  nächsten  Augenblicke  ein  lebhafteres  Zuströmen 
von  Gedanken  nachfolgt  Es  gehört  freilich  einige  Uebung  dazu, 
um  ein  ernsthaftes  Nachdenken  mit  gleichzeitiger  Selbstbeobachtung 
zu  Tereinigen,  indem  das  Bestreben,  die  Gedanken  bei  ihrem  Ent- 
Btehen  und  in  ihrer  Aufeinanderfolge  zu  beobachten,  sehr  leicht 
Btdnmgen  des  Denkens  und  Stockungen  in  der  Gtedankenentwicke- 
lung  hervorbringt;  fortgesetzte  Versuche  setzen  uns  aber  in  den 
^taod,  deutüoh  wahrzunehmen,  dass  eigentlich  bei  jedem  angestreng- 
te Nachdenken  gleichsam  ein  stetiges  innerliches  Pulsiren  oder 
ebe  wechselnde  Ebbe  und  Fluth  der  Gedanken  stattfindet:  ein 
Moment,  in  welchem  alle  Gedanken  aus  dem  Bewusstsein  verschwin- 


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260 

den,  und  nur  das  Bewnsstsein  einer  innerlichen  geistigen  Spannimg 
bleibt,  und  ein  Moment,  in  welchem  die  Gedanken  in  grösserer 
Fülle  zuströmen  und  deutlich  im  Bewusstaein  hervortreten.  Je 
tiofet  die  £bbe  war,  desto  stärker  pflegt  die  nachfolgende  Fluth  zu 
geiü;  je  stärker  die  vorhergehende  innere  Spannung,  desto  stärker 
und  lebhafter  die  Fülle  der  hervortretenden  Gedanken."  —  Die 
rein  empirischen  Bemerkungen  dieses  feinen  ßeelenbeobachters  sind 
eine  um  so  unverfänglichere  Bestätigung  unserer  Anschauungsweise, 
uk  derselbe  unseren  Begriff  des  unbewussten  Denkens  gar  nicht 
kennt  I  und  trotzdem  durch  die  reine  Gewalt  der  Thataachen  zur 
wörtlichen  Anerkennung  unserer  Behauptungen  (in  den  unterstriche- 
nen Stellen)  gezwungen  wird,  obwohl  seine  nachherigen  Erklärungs- 
v<&rs  liehe  die  im  Wesentlichen  (dem  hirnlosen  Denken)  ganz  richtig 
sind,  nur  deshalb  den  Nagel  nicht  auf  den  Kopf  treffen,  weil  sie 
nicht  den  Begriff  des  Unbewussten  als  Princip  des  hirnlosen  Bcd- 
kens  erfassen.  Daa  bei  diesen  Vorgängen  beobachtete  Bewuflst- 
geJiL  geistiger  Anstrengung  ist  nur  das  Gefühl  der  Spannung  des 
Hiruea  und  der  Kopihaut  (durch  Reflex  Wirkung).  Die  beschriebe- 
IH3Ü  Momente  der  Leere  des  Bewusstseins,  welchen  das  Resultat 
folgt,  ohne  dass  man  weiss,  wie  man  dazu  gekommen 
ifitf  fiin^  eben  die  Momente,  wo  im  productiven  Denken  eines  mit 
Eifer  verfolgten  Gegenstandes  ein  TJeberspringen  einer  längeren 
HeliluaBfolge  stattfindet. 

Ereilich  ist  der  Mensch  so  sehr  an  das  Finden  von  Resultaten 
in  seinem  Bewusstsein  gewöhnt,  von  denen  er  nicht  weiss,  wie  er 
dazu  gekommen  ist>  dass  er  sich  in  jedem  einzelnen  Falle  nicht  im 
mindesten  darüber  zu  wundem  pflegt,  und  darum  ist  es  auch  na- 
türlich, dass  ein  Forscher  von  diesem  Ausgangspuncte  nicht  zuerst 
zum  Begriffe  des  Unbewussten  kommen  konnte.  Wie  aber  überhaupt 
die  Roaction  des  Unbewussten  gerade  dann  am  liebsten  ausbleibt, 
wenu  man  sie  absichtlich  hervorrufen  will,  so  dürfte  auch  beim 
eiMgen  und  absichtlichen  Nachdenken  über  einen  Gegenstand  dieses 
wirkungsreiche  Eingreifen  des  Unbewussten  den  Meisten  weniger 
leicht  zu  constatiren  sein,  als  bei  sogenanntem  geistigen  Verdauen 
und  Verarbeiten  der  eingenommenen  Nahrungselemente,  welches 
nicht  auf  bewussten  Antrieb,  sondern  zu  nicht  zu  bestimmender  Zeit 
stattfindet,  und  sich  nur  durch  die  bei  Gelegenheit  hervortretenden 
Beaultate  ankündigt,  ohne  dass  man  sich  bewussterweise  mit  der 
^üßhe   beschäftigt  hätte.     So  geht  es  mir  z.  B.  regelmässig,  wenn 


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261 

ich  ein  Werk  gelesen  habe,  was  wesentlich  neue  Gesichtspunote 
meinen  bisherigen  Ansichten  gegenüberstellt.  Die  Beweise  solcher 
genialen  Ideen  sind  oft  ziemlich  schwach,  und  selbst  wenn  sie  gut 
und  scheinbar  unwiderleglich  sind,  lässt  sich  doch  kein  Mensch  so 
schnell  von  seinen  alten  Ansichten  abbringen,  denn  er  kann  für 
letztere  eben  so  gute  Gründe  aufistellen,  oder  wenn  er  das  selbst 
nicht  kann,  so  traut  er  sich  und  dem  neuen  Autor  nicht  und  glaubt : 
Gegenbeweise  wird  es  schon  geben,  wenn  ich  sie  auch  jetzt  noch 
nicht  weiss.  Bann  kommen  andere  Geschäfte  dazwischen,  die  Sache 
ist  Einem  nicht  wichtig  genug,  um  sich  nach  den  Gegenbeweisen 
umzuthun,  wozu  man  oft  Wochen,  ja  Monate  lang  in  Büchern  suchen 
müsste;  kurz,  der  erste  Eindruck  schwächt  sich  ab,  und  die  ganze 
Geschichte  wird  mit  der  Zeit  vei^essen.  Bisweilen  ist  es  aber 
auch  anders.  Haben  die  neuen  Ideen  auf  das  Interesse  einen 
wirklich  tiefen  Eindruck  gemacht,  so  kann  man  sie  wohl  vorläufig 
unangenommen  als  schwebende  Frage  zu  den  Gedäohtnissacten  re- 
poniren,  kann  auch  durch  anderweitige  Beschäftigung  verhindert 
sein  oder,  noch  besser,  absichtlich  unterlassen,  wieder  daran  zu 
denken.  Trotzdem  schläft  die  Sache  nur  scheinbar,  und  nach  Tagen, 
Wochen  oder  Monaten,  wo  die  Lust  und  die  Gelegenheit  erwacht, 
über  diese  Frage  eine  Meinung  zu  äussern,  findet  lüan  zu  seinem 
grÖBsten  Erstaunen,  dass  man  in  dieser  Beziehung  eine  geistige 
Wiedergeburt  durchlebt  hat;  dass  die  alten  Ansichten,  die  m€ui  bis 
za  dem  Augenblicke  für  seine  wirkliche  Ueberzeugung  gehalten  hatte, 
völlig  über  Bord  geworfen  sind,  und  die  neuen  sich  schon  ungenirt 
einquartiert  haben.  Diesen  unbewussten  geistigen  Verdauungs-  und 
Afisimilationsprocess  habe  ich  mehreremals  an  mir  selbst  erlebt,  imd 
habe  von  jeher  einen  gewissen  Instinct  gehabt,  diesen  Process  bei 
wirklichen  Principienfragen  der  Welt-  und  Geistesemschauung  nicht 
vorzeitig  durch  bewusste  TJeberlegung  zu  stören. 

Ich  bin  der  Ansicht,  dass  die  Bedeutung  des  geschilderten 
Processes  auch  bei  unbedeutenderen  Fragen,  sobald  sie  nur  das 
Interesse  lebhaft  genug  berühren,  also  bei  allen  practischen  Lebens- 
^cn,  allemal  die  eigentliche  und  wahre  Entscheidimg  giebt,  und 
^Ms  die  bewussten  GWinde  erst  hinterher  gesucht  werden,  wenn 
^e  Ansicht  schon  fertig  gebildet  ist.  Der  gewöhnliche  Verstand 
*l>er,  der  auf  diese  Vorgänge  nicht  achtet,  glaubt  wirklich  durch 
^ö  aufgesuchten  Gründe  in  seiner  Meinung  bestimmt  zu  sein,  wäh- 
i^end  die  schärfere  Selbstbeobachtung  ihm  sagen  würde,  dass  diese 


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262 

in  den  hierher  gehörigen  Fällen  erst  kommen,  wenn  seine  Ansicht 
schon  fixirt,  sein  Entschluss  gefasst  ist.  Hiermit  ist  keineswegs 
^eeagt,  dass  das  Unbewusste  nicht  durch  logische  Gründe  bestimmt 
werde,  dies  ist  sogar  zweifellos  der  Fall,  nur  ist  es  für  die  Sicher- 
heit der  Entscheidung,  wenigstens  die  erste  Zeit  nach  derselben, 
^emlich  gleichgültig  y  ob  die  nachher  vom  Bewusstsein  herausge- 
suchten Ghründe  mit  diesen  Gründen,  welche  das  Unbewusste  be- 
stimint  haben,  übereinstimmen  oder  nicht.  Bei  scharf  denkenden 
Köpfen  wird  Ersteres,  bei  der  grossen  Mehrzahl  das  Letztere  über- 
wiof^end  der  Fall  sein,  und  daher  erklärt  sich  die  Erscheinung,  dass 
die  Menschen  oft  aus  so  schlechten  Gründen  so  sichere  Ueberzeu- 
giini;^  £u  schöpfen  scheinen  und  von  dieser  sich  durch  die  besten 
Oegengründe  so  schwer  abbringen  lassen ;  es  liegt  eben  darin,  dass 
die  eigentlichen  unbewussten  Gründe  ihnen  gar  nicht  bekannt  und 
dämm  auch  nicht  zu  widerlegen  sind.  Hierbei  ist  es  gleichgültigi 
ob  ihre  Ueberzeugung  Wahrheit  enthält  oder  nicht,  auch  von  den 
Irrthümem  (die  bekanntlich  nie  aus  falschen  Schlüssen ,  sondern 
auis  der  Unzulänglichkeit  und  Falschheit  der  Prämissen  entstehen) 
siiad  diejenigen  am  schwersten  auszurotten,  welche  das  Resultat 
eineB  unbewussten  Denkprocesses  sind  (z.  B.  in  der  politischen 
^ieiimng  die,  welche  unbewusst  in  Standes-  und  Berufsinteressen 
wurzeln).  — 


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J 


vnL 

Das  Umbewisste  in  der  Entetehnng  der  sinnlichen 
Wahrnekmans. 


Kant  behauptete  in  seiner  transcendentalen  Aesthetik,  dass  der 
Baum  von  der  Seele  nioht  irgend  wo  anders  )ier  passiv  empfangen, 
sondern  von  derselben  selbstthätig  erzeugt  würde,  und  brachte  mit 
diesem  Satze  einen  totalen  Umschwung  in  der  Philosophie  herror. 
Weshalb  hat  nun  aber  von  jeher  dieser  richtige  Satz  sowohl  dem 
gemeinen  Menschenyerstande ,  als  auch  der  naturwissenschaftlichen 
Denkweise  mit  wenigen  Ausnahmen  so  völlig  widerstrebt? 

1)  Weil  J[ant,  und  nach  ihm  Fichte  und  Schopenhauer,  aus 
dem  richtigen  Satze  falsche  und  dem  Instincte  der  gesunden  Vernunft 
widerstrebende,  einseitig  idealistische  C!onsequenzen  zogen; 

2)  weil  Kant  falsche  Beweise  för  seine  richtige  Behauptung 
gegeben  hatte,  die  in  Wahrheit  gar  nichts  bewiesen ; 

3)  weil  Kant,  ohne  sich  selbst  darüber  Bechenschaft 
la  geben,  von  einem  unbewussten  Process  in  der  Seele  spricht, 
während  die  bisherige  Anschauungsweise  nur  bewusste  Processe  der 
Beele  kennt  und  für  möglich  hält,  das  Bewusstsein  aber  eine  selbst- 
thätige  Erzeugung  von  Baum  und  Zeit  leugnet,  und  mit  vollem 
Recht  ihr  Gegebensein  durch  die  sinnliche  Wahrnehmung  als  fait 
accompli  behauptet; 

4)  weil  Kant  mit  dem  Baume  die  Zeit  gleichstellte,  von  wel- 
cher dieser  Satz  nicht  gilt 

Diese  vier  Puncte  haben  wir  der  Beihe  nach  zu  betrachten, 
da  die  unbewusste  Erzeugung  des  Baumes  die  (Grundlage  für  die 
Butstehung  der  sinnlichen  Wahrnehmung  ist,  mit  welcher  erst  das 
Bewusstsein  beginnt  und  welche  wieder  die  Grundlage  alles  be- 
wuMten  Denkens  ist. 


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254^ 

Ad  1,  Nehmen  wir  zunächst  als  bewiesen  an,  dass 
Baum  und  Zeit  auf  keine  andere  Weise  in  das  Denken  hinein 
gelangen  können,  als  dass  dieses  sie  selbstthätig  aus  sich  pro- 
ducirt,  so  folgt  daraus  auf  keine  Weise,  dass  Baum  und  Zeit  aus- 
schliesslich  im  Denken  reale  Existenz  haben  können  und  nicht 
auch  ausserhalb  des  Denkens  im  Sein.  Die  Uebereiltbeit  dieses 
Schlusses,  den  Kant  wirklich  macht,  und  womit  er  zur  Leugnimg 
der  transcendentalen  Bealität  des  Baumes  und  zur  einseitigen 
Idealität  seines  Systemes  kommt,  ist  schon  von  Schelling  (BarsteUung 
des  Naturprocesses ,  Werke  I.  10,  314 — 321)  aufgezeigt  worden  ^ 
wir  haben  jetzt  kurz  die  Gründe  zu  betrachten^  welche  es  wahr- 
scheinlich machen,  dass  Baum  und  Zeit  wirklich  eben  so  gut  Formen 
des  Seins,  als  des  Denkens  sind. 

a)  Wir  haben  uns  zunächst  die  Gründe  für  die  reale  Existenz 
eines  jenseit  des  Ich  liegenden  Nichtichs  oder  einer  Aussenwelt 
klar  zu  machen.  Zwei  Hypothesen  sind  consequenterweise  nur 
möglich ;  entweder  spinnt  das  Ich  sich  selber  unbewusst  die  schein- 
bare Aüssenwelt  aus  sich  heraus,  dann  hat  nur  das  loh  Existenz, 
also  muss  jeder  Leser  die  Existenz  nicht  nur  der  äusseren  Dinge, 
sondern  aller  anderen  Menschen  leugnen,  oder  es  existirt  ein  vom 
Ich  unabhängiges  Nichtich,  und  die  Vorstellung  der  Aüssenwelt  im 
Ich  ist  das  Product  beider  Factoren.  Welche  von  beiden  Hypo- 
thesen die  wahrscheinlichere  ist,  muss  dadurch  entschieden  werden, 
welche  die  Ercheinungen  der  Vorstellungswelt  ungezwungener  er- 
klärt; möglichjBiQd.J^de. 

a)  Die  Sinneseindrücke  haben  einen  Grad  der  Lebhaftigkeit, 
welchen  blosse,  durch  eigene  Geistesthätigkeit  erzeugte  Vorstellungen 
nur  in  krankhaften  Zuständen  zu  erreichen  pflegen.  Ausserdem 
bringen  sie  (namentlich  in  den  Kindeijahren)  oft  Neues,  während 
letztere  immer  nur  aus  bekannten  Erinnerungen  und  Theilen  solcher 
zusammengesetzt  sind.  Dies  erklärt  sich  leicht  durch  Einwirkung 
einer  Aüssenwelt,  schwer  aus  dem  Ich  allein. 

ß)  Zur  Entstehung  eines  Sinneseindruokes  ist  das  Gefühl  des 
geöffiieten  Sinnes  erforderlich,  dagegen  bewirkt  das  Geföhl  des  ge- 
öffneten Sinnes  nicht  nothwendig  einen  SiDneseindruck,  z.  B.  bei 
Dunkelheit,  Geruchlosigkeit.  Dies  erklärt  sich  leicht  aus  Einwirkung 
einer  Aüssenwelt,  schwer  aus  dem  Ich  allein. 

y)  Die  sin^chen  Vorstellungen  entstehen  nach  dem  Gesetz 
der  Gedankenfolge   aus   der   jedesmal    vorhergehenden   unter  Ein* 


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255 

Wirkung  der  Stimmung  u.  s.  w.  —  Die  Sinnegeindrücke  treten  meist 
plötzlich  und  unerwartet  ein,  und  stets  ohne  Zusammenhang  mit 
der  inneren  Gedankenkette.  Diese  Erscheinung  ist  nur  dann  ohne 
Einwirkung  einer  Aussenwelt  möglich,  wenn  das  Gesetz  der  Ge- 
dankenfolge im  Geiste  bald  gilt,  bald  nicht  gilt,  eigentlich  erklär- 
bar ist  sie  auch  bei  dieser  Annahme  aus  dem  Ich  allein  noch 
nicht 

S)  Den  meisten  Eindrücken  kommt   die  Eigenthümlichkeit  zu, 
dass  auf  das  Object,  auf  welche  man  sie  bezieht,  auch  gleichzeitig 
durch  einen   anderen   Eindruck   eines   anderen   Sinnes   geschlossen 
wird   (z.  B.    eine    Speise    kann   man    gleichzeitig    sehen,   riechen^ 
schmecken,  fiihlen).      Dies   erklärt   sich    leicht   durch  Einwirkung 
einer    Aussenwelt,    schwer    durch    bloss    innere    Geistesvorgänge; 
denn  wollte   man   annehmen,    dass  die  zusammengehörigen  Sinnes- 
eindrücke  sich  gegenseitig  hervorrufen,  z.  B.  der  Gesichtseindruck 
einer  Speise  den  Gteruchseindruck  derselben  bei  geöffnetem  Geruchs- 
sinn mit  sich  fuhrt,  so  wird  dies  dadurch  widerlegt,  dass  man  Ge- 
rachs- und   Gesichtssinn   abwechselnd   öffiien  imd   schliessen  kann, 
i       and  doch  jedesmal   den  betreffenden  Sinneseindruck  der  Speise  er- 
hält    Wollte   man  hiergegen  die  weitere  Annahme  machen,  dass 
nicht  bloss    der   gleichzeitige,   sondern   auch   der  vorhergegangene 
[;       öesichtseindruck  der  Speise  den  Geruchseindruck  derselben  bewir- 
ken könne  und  umgekehrt,  so  steht  dem  wieder  der  Umstand  ent- 
gegen, dass  bei  dem  abwechselnden  Oeffhen   und  Schliessen  beider 
Sinne  das  eine  Mal  der  Gesichtseindruck  da  sein  kann,  das  andere 
Mal  nicht,  wenn  nämlich  die  Speise  entfernt  ist,  so  dass  also  der 
j       Oeruchseindruck  unter  sonst  gleichen  Umständen  das  eine  Mal  den 
J       (^chtseindruck  hervorrufen  müsste,   das   andere   Mal  nicht,  was 
\       dem  Oesetlse  „gleiche  Ursachen ,  gleiche  Wirkungen"  widerspricht. 
f       (Näheres  siehe  bei  Wiener,  „Grundzüge  der  Weltordnung",  Buch  3, 
;,       nnter  ,3eweis  für  die  Wirklichkeit  der  Aussenwelt"). 
I'  i)  Die  Objecte  der  Sinneseindrücke  wirken  auf  einander  nach 

^  ganz  bestimmten  Gesetzen;  wollte  man  nun  die  Sinneseindrücke 
bloB«  aus  dem  Ich  erklären,  so  müssten  diese  Gesetze  auf  die  inneren 
(^istesvorgänge  übertragbar  sein.  Dies  sind  sie  aber  nicht;  denn 
Qür  in  den  seltensten  Fällen  folgen  die  Sinneseindrücke  von  Ursache 
^d  Wirkung  einander  ebenso,  wie  Ursache  und  Wirkung  draussen ; 
häufig  dagegen  nimmt   man  zu  einer  Zeit  die  Wirkung  wahr,  und 


L 

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266 

einer  ganz  anderen  späteren  Zeit  die  Ursache;  es  kann  aber  m<^ 
ein  späterer  Sinneseindruck  die  Ursache  eines  früheren  sein. 

K)  Jedes  Ich  erhält  nächst  der  Vorstellung  seines  eigenen 
Leibes  auch  Vorstellungen  von  einer  grossen  Menge  fremder,  dem 
seinigen  ähnlicher  Leiber  ^  welchen  den  seinigen  ähnliche  CteisteB- 
fahigkeiten  einwohnen;  es  findet^  dass  alle  diese  Wesen  über  Ich 
und  Nichtich  dieselben  Vorstellungen  kundgeben »  und  dass  ihre 
Aussagen  über  die  Beschaffenheit  der  Aussenwelt  in  auffallender 
Weise  theils  mit  einander  übereinstimmen,  theik  sich  gegenseitig 
berichtigen  und  von  ihren  Irrthümern  überföhren.  Jedes  Ich 
sieht  diese  wie  sich  selbst  geboren  werden,  erwachse^,  sterbes, 
es  erhält  von  denselben  Schutz,  Hülfe  und  Unterweisung  zur  Zeit 
der  Kindheit,  wo  die  eigene  Kraft  und  Keimtniss  nicht  ausreicht, 
und  erhält  zu  jeder  Zeit  seines  Lebens  von  anderen  direct  oder 
indirect  (durch  Bücher)  Belehrungen,  in  welchen  Gedanken  vor- 
kommen, die  es  selbst  zu  fassen  sich  als  unfähig  bekennen  muss. 
Es  lernt  aus  Ueberlieferungen  die  Eeihe  seiner  Mitmenschen  rück- 
wärts verfolgen,  und  in  der  Geschichte  einen  Plan  erkennen,  in  dem 
es  sich  als  ein  Glied  betrachten  muss.  Dies  Alles  ist  fast  unmög- 
lich aus  der  alleinigen  Existenz  des  Ich,  leicht  aber  bei  Existenz 
einer  Aussenwelt  zu  erklären. 

t])  Die  inneren  Vorstellungen  können  durch  den  bewusstea 
Willen  beliebig  hervorgerufen,  festgehalten  und  wiederholt  werden, 
die  Sinneseindrücke  sind  bei  geö&etem  Sinnesorgane  vom  bewuss- 
ten  Willen  völlig  unabhängig.  Dies  ist  leicht  durch  Einwirkung 
einer  Aussenwelt  zu  erklären,  schwer  aus  dem  Ich  allein;  es  müsst« 
eben  ein  unbewusster  Wille  sie  schaffen  und  dem  in  der  weiten 
Welt  mit  sich  einsamen  Bewusstsein  des  Ich  den  Schein  einer 
Aussenwelt  vorspiegeln ;  ein  Gaukelspiel,  in  dem  gar  kein  Sinn  und 
Vernunft  wäre  und,  wie  die  vorigen  Nummern  daxthun,  die  tollst© 
Laune  und  Willkür  mit  der  strengsten  Gesetzmässigkeit  sich  auf 
unbegreifliche  Weise  vereinen  müsste  und  die  höchste  Weisheit  auf 
eine  Seifenblase,  einen  wahnwitzigen  Traum,  verwendet  wäre. — 

Man  sieht  nach  dem  Angeführten,  dass  die  Wahrscheinlichkeit 
für  die  Existenz  eines  dem  Ich  gegenüber  selbstständig  existirenden 
und  das  Ich  causal  beeinflussenden  Nichtich  so  gross  ist,  wie  nur 
möglich,  und  dass  auch  hier  wieder  der  natürliche  Instinct  von  der 
wissenschaftlichen  Betrachtung  gerechtfertigt  wird.  Dieser  Notii- 
wendigkeit,  zur  Entstehung  der  Sinneseindrücke  eine  äussere  Cau- 


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257  _ 

aaiität   zu  habeu,   konnten    sich   auch  lElant   und  Fichte  nicht  ent- 
ziehen;   denn    bei   Kant    ist    der    Inhalt    der    Anschauung 
schlechthin   gegeben,  und  wenn  er  es  auch  nicht  ausspricht, 
00  muss   doch   die  Yermuthung,   wodurch  dieser  Inhalt   gegeben 
sei,  auf  das   Ding   an    sich  fallen.      Fichte  wiederum  kommt  nach 
allen   missglückten    Yersuchen,    das    Nichtich    ganz    aus    dem   Ich 
heraufizuspinnen,  nicht  darüber  hinweg,  eines  äusserenAnstosses 
für  diese   Thätigkeit   des  Ich  zu  bedürfen,  und  dieser  Anstoss  re- 
präsentirt  bei  Fichte  erst  das   wahre  Nichtich.     Wenn  es  nun  fest- 
steht, Jltssa   selbst  die   consequentesten  Idealisten   nicht   den   Muth 
gehabt  haben,   ihre  Consequenz  bis  zur  Lengnung  eines  selbststän- 
digen Nichtich  zu  treiben,  wenn  das  Gefühl  nicht  los  zu  werden  ist, 
dass  die  Wahrnehmung  im  Ganzen  etwas  wider  den  eigenen  Willen 
Yon  Aussen  Aufgezwungenes    ist,   das   nur   durch   Annahme    eines 
Nichtich  verständlich  wird,  so  geht  aus  dem  Angeführten  mit  der- 
selben Gewissheit  hervor,  dass  die  Unterschiede  in  den  sinn- 
lichen Wahrnehmungen  nicht  vom  Ich  erzeugt,  sondern  die- 
sem Yom  Nichtich  aufgezwungen  sind.     Denn  die  Einsicht  wäre  um 
gar  nichts   gefördert,   wenn   das  Nichtich  immer  ein  und  dasselbe 
wäre  und  folglich  immer  auf  ein  und  dieselbe  Weise  wirkte,  indem 
es  bloss  einen  äusseren  Anstoss  lieferte.     Denn  dann  bliebe  es  dem 
leb  wiederum  überlassen,   dem  ewig  gleichen  Impuls  des  Nichtich 
io  sonderbarer  Gaprice  bald  diese,  bald  jene  räumliche  oder  zeitliche 
Bestimmung  oder  Kategorie  des   Denkens  wie  einen  gleichgültigen 
Hantel  umzuhängen,   und    sich   so    das  ganze  Wie  und  Was  der 
Aussenwelt  selber  zu   erbauen,   während   ihm  der  Impuls  nur  das 
Dass  derselben   garantirt.     Hierbei  würden   sich  alle  angeführten 
Schwierigkeiten   unverändert  wiederholen.     'Es   muss   folglich  jede 
einzelne  Bestimmung  in  der  Wahrnehmung  als  Wirkung  des 
Nichtich  aufgefasst  werden,    und  da  verschiedene  Wirkungen  ver- 
schiedene Ursachen   voraussetzen,   so   erhalten   wir   ein  System  so 
vieler  Yerschiedenheiten  im  Nichtich,  als  Unterschiede  in  der  Wahr- 
nehmung bestehen.    Nun  könnten  allerdings  diese  Verschiedenheiten 
im  Niehtich   unräumlicher   und  unzeitlicher  Natur  sein,  und  Baum 
^d  Zeit  dem  Denken  allein  angehörige  Formen ;  dann  müssten  sich 
ftl)er  diese  Verschiedenheiten   in  zwei    anderen    objectiven  Formen 
Wegen,  welche   den  subjeetiven  Formen  von  Baum  und  Zeit  pa- 
rallel  laufen   müssten,    da   ohne    andere  Seinsformen,    welche   im 
Niehtioh  Baum   und  Zeit  ersetzten,  in  demselben  überhaupt  keine 

V-  Hartmuin,  Phil.  d.  UnbewuMten.  17 


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f 


etit^preohenden  Unterschiede  statt  haben  könnten.  Diese  Annahme  aa- 
derer,  aber  correspondirender  Formen  im  Nichtich,  welche  BchonEein- 
hoidund  später  Herbart  bei  seinem  intelligiblen  Baum  und  Zeit  vorg«- 
]!}(^hwcbt  zu  haben  scheint,  würde,  ganz  abgesehen  davon,  dass  sie  die 
Möglichkeit  jeder  objectiven  Erkenn tniss  der  Dinge  ausschli essen,  ohne 
dafür  irgend  einen  Nutzen  zu  gewähren,  dem  allgemein  beobachte- 
ten Gesetze  widersprechen,  dass  die  Natur  zu  ihren  Zwecken  stets 
ditj  einfachsten  Mittel  wählt ;  warum  sollte  sie  vier  Formen  anwen- 
den, wo  sie  mit  zweien  eben  so  gut  und  noch  besser  auskommt 
Das  Parallellaufen  je  zweier  von  diesen  Formen  in  Sein  und  Den- 
ken und  ihre  Wechselwirkung,  welche  factisch  beim  Wahrnehmen 
und  beim  Handeln  besteht,  erforderte  eine  prästabilirte  Harmonie, 
die  sich  bei  unserer  Annahme  in  die  Identität  der  Formen  auflöst 
Aach  Hegel  sagt  (grosse  Logik  Einleit  S.  VIII):  „Wenn  sie  (die 
Formen  des  Verstandes)  nicht  Bestimmungen  des  Dinges  an  sich 
seiu  können,  so  können  sie  noch  weniger  Bestimmungen  des  Ver- 
st  lindes  sein,  dem  wenigstens  die  Würde  eines  Dinges  an  sich  zn- 
gf^HfÄiiden  werden  sollte."  — 

b)  Die  Mathematik  ist  die  Wissenschaft  von  den  Baum-  und 
Zeitvorstellungen,  wie  unser  Denken  sie  bildet,  und  nicht  anders 
bilden  kann.  Wenn  wir  nun  einen  nicht  durch  Denken,  sondern 
durch  Wahrnehmung  gegebenen  realen  Körper,  dessen  eine  ebene 
Oberfläche  drei  geradlinige  Kanten  hat,  ausmessen,  und  finden  bei 
allen  ähnlichen  Messversuchen  dasselbe  Gesetz  bestätigt,  was  uns  das 
reine  Denken  gab,  dass  die  Winkelsumme  =  2  R.  ist,  wenn 
wir  femer  berücksichtigen,  dass  die  Bestimmungen  der  Wahrnehmung 
etwas  durch  das  System  der  Verschiedenheiten  im  Nichtich  der 
Seele  mit  Nothwendigkeit  Aufgezwungenes  sind,  also  in  Verschieden- 
heilen  des  Nichtichs  ihre  Ursachen  haben,  so  geht  aus  der  aos- 
niihmBlosen  empirischen  Bestätigung  der  mathematischen  Gfesetxe 
hervor,  dass  die  Verschiedenheiten  im  Nichtioh  Gesetzen  folgen, 
wulehe  zwar  den  Formen  jenes  entsprechen  müssen,  aber  so  völlig 
mit  den  Denkgesetzen  des  Raumes  und  der  Zeit  parallel  gehen, 
das»  hier  wiederum  die  Annahme  einer  prästabilirten  Harmonie 
UQTermeidlich  ist,  während  eine  mit  der  Identität  der  Formen  so- 
ttammenhängende  Identität  der  Gbesetze  keine  solche  gewaltsame 
Annalime  erfordert. 

e)  Gesichtssinn  und  Tastsinn  erbalten  ihre  Eindrücke  aus  gans 
verNchiedenen  Eigenschaften  der  Körper,   durch  ganx  verschiedene 


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269 

MedieB  und  gams  yerschiedene  physiologische  Processe;  trotzdem 
erhalten  wir  aas  ihnen  räumliche  Wahrnehmungen,  welche  eine 
Bieglichst  grosse  Uebereinstimmang  zeigen  nnd  sich  gegenseitig  be- 
statten. Wären  nnn  die  Objecte  nicht  selbst  räumlich ,  sondern 
existirten  in  irgend  einer  anderen  Form  des  Beins,  so  wäre  es 
höchst  wunderbar,  dass  sie  auf  so  verschiedenen  Wegen  so  über- 
einstimmende räumliche  Gestalten  in  der  Seele  erzeugen  können, 
daas  uns  z.  B.  die  gesehene  Kugel  niemals  als  gefühlter  Würfel 
oder  sonst  Etwas  erscheint,  sondern  als  gefühlte  Kugel.  Bei  der 
Amiahme  des  Baumes  als  realer  Form  des  Seins  verschwindet  dies 
BttthseL 

d)  Nur  Gesicht  und  Tastsinn,  aber  keiner  von  den  übrigen 
Sinnen,  ist  im  Stande,  die  Seele  zum  räumlichen  Wahrnehmen  zu 
▼eranlassen.  (Denn  wenn  wir  hören,  wo  ein  Ton  herkommt,  so 
giebt  uns  die  Yergleichung  der  Stärke  des  Tones  in  beiden  Ohren 
hierzu  den  hauptsächlichen  Anhält.)  Dies  hat  Kant  gar  nicht  bemerkt, 
sonst  hätte  er  nicht  seine  Eintheilung  des  äusseren  (Baumsinnes) 
^d  inneren  (Zeit-)  Sinnes  machen  können.  Für  den  subjectiven 
Idealismus  ist  diese  Caprice  der  Seele  schlechterdings  unbegreiflich, 
welche  gleichwohl  mit  dem  Scheine  der  äusseren  Nothwendigkeit 
c^vi^ti,  aber  eben  so  unbegreiflich,  wenn  man  dem  Sein  andere 
coir^pondirende  Formen  unterlegt ;  nur  die  physiologische  Betrach- 
^g  der  räumlichen  C!onstruction  der  verschiedenen  Sinnesorgane 
^ann  hier  eine  Erklärung  an  die  Hand  geben,  aber  wenn  der  Leib 
^d  die  Sinne  nicht  räumlich  existiren»  so  ist  auch  hier  jede  Mög* 
Hchkeit  des  Yerständnisses  abgeschnitten.  — 

Biese  vier  Gesichtspuncte  zusammen  lassen  es  höchst  wahr- 
^heinlich  werden»  dass  der  gemeine  Menschenverstand  Recht  hat, 
^  Baum  nnd  Zeit  ebensowohl  objective  Formen  des  Seins,  als 
sabjective  Formen  des  Denkens  sind.  — 

Ad  2,  Da  wir  die  diesem  Capitel  vorangestellte  Behauptung 
^t's  nicht' bestreiten,  sondern  annehmen  wollen,  so  liegt 
k«ni  Grund  vor,  zu  zeigen,  weshalb  die  Kant'sche  Begründung 
keine  Begründung  sei,  und  die  Frage  völlig  offen  lasse;  wohl 
••her  haben  wir  andere  Gründe  an  deren  Stelle  zu  setzen. 

£ine  kindlich  unmittelbare  Anschauungsweise  betrachtete  die 
^neaeindrücke  als  Bilder  der  Objecto,  die  diesen  völlig  entsprä- 
^D,  wie  das  Spiegelbild  seinem  Gegenstande.  Als  Locke  und  die 
^^eme  Naturwissenschaft  die  völlige  Heterogenität  der  Empfindung 

17* 


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260 

und  der  EigenBchafb  des  Objectes  zum  wisBcnschaftlichen  Gemein- 
gute  gemacht  hatten,  sollte  das  Retinabild,  welches  man  an 
Augen  fremder  Wesen  erblickte,  die  frühere  Stelle  des 
O  b  j  e  0  1 6  s  vertreten,  und  die  Empfindung  ihrem  Inhalte  nach  jetzt 
m  identiaoh  mit  dem  ßetinabilde  als  früher  mit  dem  Objecte  sein, 
eine  Ansicht,  die  noch  jetzt  eine  gewöhnliche  ist.  Man  vergaM 
aber  dabei^  dass  es  etwas  ganz  Anderes  ist,  ein  objectives  Bild  in 
der  Grösse  eines  Auges  auf  einem  fremden  Auge  mit 
»ein OD  eigenen  Augen  wahrzunehmen,  oder  selbst  die  nur  nach 
Winkelgraden  bestimmbare  Gesichtsempündung  ohne  abso- 
lute Flächengrösse  zu  haben;  man  vergass,  dass  die  Seele 
nicht  alä  ein  zweites  Auge  hinter  der  Eetina  sitzt,  und  sich  die- 
äei  Bild  beguckt,  man  bemerkte  nicht,  dass  man  denselben 
Fehler  wlo  bisher  mit  den  Objecten,  nur  in  versteckterer 
Weist!  beging;  denn  was  einem  fremden  Auge  auf  der  Eetina  als 
B  \  Id  erscheint,  ist  in  diesem  Auge  selbst  nichts  als  mole- 
culure  Schwingungszustände,  gerade  so  gut  wie  das,  was 
an  den  Objecten  dem  Beschauer  als  Farbe,  Helligkeit  u.  s.  w.  er- 
ächeiulf  in  den  Objecten  nur  moleculare  Schwingungszustände  sind. 
Man  liem  sich  also  von  der  Freude,  im  Auge  eine  Camera  obscura 
entdeckt  zu  haben,  dupiren,  und  liielt  das  frühere  Problem  für  ge- 
löst, indem  man  es  um  eine  äusserliche  Instanz  verschob.  Die 
Physiologie  des  Auges  hat  seitdem  begriffen,  dass  das  Auge 
nicht  eine  Camera  ist,  um  der  Seele  Bilderchen  auf  dem  Grunde  der 
Retina  zu  zeigen,  sondern  ein  photographischer  Apparat,  der  die 
moleculnren  Schwingungszustände  der  Ketina  chemisch -dynanusch 
HO  verändert,  dass  Schwingungsarten,  welche  mit  den  Lichtschwin- 
gimgea  im  Aether  kaum  noch  eine  Aehnlichkeit  haben,  den  Seh' 
nerve ö  zur  Fortpflanzung  übergeben  werden,  so  dass  z.  B.  weiß» 
und  schwarz,  welche  objectiv  die  zusammengesetztesten  Schwingun- 
gen haben,  in  den  physiologischen  Nervenschwingungen  die  relativ 
elnfaeheti  Zustände  sind,  die  objectiv  einfachen  Farbenschwingungeo 
dagegen  im  Nerven  complicirtere  Modificationen  der  einfeusheren 
Sohwingungszustände  erzeugen. 

Fei'uer  hat  das  Licht  eine  Geschwindigkeit  von  etwa  vierag 
tauBend  Meilen  in  der  Secunde,  der  Process  im  Sehnerven  nur  eine 
von  etwa  achtzig  Fuss.  So  viel  steht  fest,  dass  die  qualitative  und 
quantitative  Umwandlung  der  Lichtschwingungen  beim  Eingehai 
in   die   Retina   von    der  grössten  Bedeutung   ist,    und    der  Ansicht, 


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261_ 

welche  dem  tod  anderen  Angen  zufällig  zu  beobachtenden  Bilde  auf 
der  Betina  eine  Bedeutung  beimisst,  den  letzten  Todesstoss  giebt, 
wenn  nicht  die  Idee  an  sich  schon  zu  absurd  wäre,  dass  der  Seh- 
nerv wie  ein  zweites  Auge  dieses  Bild  besieht,  und  dann?  Doch 
yermuthlich  ein  drittes  Auge  das  Bild  des  Sehnerven,  und  so  fort 
ins  Unendliche! 

Femer  erkennt  die  Physiologie  jetzt  an,  dass  frühestens 
in  dem  Centraltheil,  in  den  der  Sehnerv  mündet,  in  den  Yierhügeln, 
die  Emp^ndung  des  Sehens  zu  Stande  kommen  kann,  aber  nicht  im 
Laufe  des  Sehnerven  selbst.  Beim  Eintritt  des  Nerven  in  den 
Centraltheil  aber  müssen  wir  eine  abermalige  Umwandlung  der 
Schwingungsweisen  annehmen,  schon  wegen  des  veränderten  Baues 
der  Nervenmasse,  und  weil  die  Bedeutung  der  Centraltheile  für  die 
Wahrnehmung  aufhörte,  wenn  die  Sohwingungsform  unverändert 
bliebe,  weil  dann  die  Seele  schon  auf  die  Schwingungen  des  Seh- 
nerven mit  der  Empfindung  reagiren  müsste.  Letzten  Endes  wissen 
wir  über  das  Zustandekommen  der  Empfindung  nur  so  viel,  dass 
die  Seele  auf  eine  bestimmte  Schwingungsform  mit  einer  bestimm- 
ten Empfindung  reagirt,  oder  nach  materialistischer  Ausdrucksweise, 
dasB,  was  von  Aussen  gesehen  eine  gewisse  Schwingungsform  ist, 
für  einen  gewissen  inneren  Standpunct  als  Empfindung  erscheint. 

Wir  kennen  aber  noch  ein  zweites  Gesetz,  wenigstens  mit 
lM>ber  Wahrscheinlichkeit ;  dieses  lautet  :identi8cheSchwingun- 
gei^  verschiedener  Centralmolecüle  bringen  ununter- 
scheidbare  Empfindungen  hervor,  so  dass  mehrere  gleich- 
zeitig schwingende  Molecüle  von  identischer  Schwingungsform  eine 
Empfindung  hervorbringen,  welche  jeder  durch  ein  Einzelnes  dieser 
Holeeöle  erregten  Empfindung  qualitativ  gleich  ist,  quanti- 
tativ aber  den  Stärkegrad  der  Summe  aller  einzelnen  Empfin- 
dungen besitzt.  Wenn  man  mit  Einem  Nasenloch  riecht,  so  hat 
aan  dieselbe  Empfindung,  nur  schwächer,  als  wenn  man  mit  beiden 
riecht,  und  wenn  nicht  di^  Tastnerven  der  Nase  den  durchziehen- 
den Luftstrom  fühlten,  würde  der  Riechnerv  allein  den  Geruch  des 
linken  und  rechten  Nasenloches  im  normalen  Zustande  nicht  als 
verschieden  wahrnehmen.  Dasselbe  gilt  für  den  Geschmack ,  wenn 
«r  einen  kleineren  oder  grösseren  Theil  der  Zunge  und  des  Gau- 
incns  afficirt;  nur  die  gleichzeitigen  Tastgefühle  der  Berührung,  des 
Zitoanimenziehens  der  Haut  u.  s.  w.  unterscheiden  die  Berührungs- 
«t^e,  der  Geschmack  selbst  wird  nur  stärker  oder  schwächer.   Ob 


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"v  r-'k^^'^'-'-'ir*.' 


262 

ein  Ton  das  linke  oder  rechte  Ohr  trifft,  wird  nur  durch  die 
gleichzeitig  im  Ohre  theils  direct,  theils  ref.ectorisoh  erregten  8pan- 
nungsgefiihle  erkannt ;  es  ist  auch  hier  gar  nicht  der  Hörnerv,  soo- 
dem  Tastnerven  vorzugsweise  in  dem  reich  durchsetzten  Trommel- 
felle, welche  das  Localisationsgefuhl  bedingen,  wie  deutlich  daraw 
hervorgeht,  dass  man  nach  Ed.  Weber's  Versuchen  dieses  Localge- 
fühl  beim  Untertauchen  unter  Wasser  nur  behält,  so  lange  die  Ge- 
hörgänge mit  Luft  gefüllt  bleiben,  aber  verliert,  wenn  durch  An- 
fdllung  der  Gehörgänge  mit  Wasser  die  Trommelfelle  ausser  Wirk- 
samkeit gesetzt  sind.  Beim  Sehen  hat  man  von  demselben  Licht- 
punote  zwar  verschiedene  Eindrücke,  wenn  sein  Bild  verschieden 
gelegene  Stellen  eines  oder  beider  Augen  trifft,  aber  nicht  zu  unter- 
scheiden sind  die  Eindrücke,  wenn  sie  auf  correspondirende  Stellen 
beider  Augen  fallen.  Man  weiss  bei  einem  geschickt  hergerichte- 
ten Arrangement  des  Versuches  schlechterdings  nicht,  ob  man  ein 
Licht  mit  dem  rechten,  oder  mit  dem  linken,  oder  mit  beiden  Augen 
zugleich  sieht,  wenn  man  sich  nicht  durch  anderweitige  HülfsmiUel 
darüber  orientiren  kann«  Die  Gesichtseindrücke  correspondirender 
Stellen  beider  Augen  combiniren  sich  zu  einem  einfachen  ver- 
stärkten Eindrucke. 

Nach  Lotze's  Ansicht  vnirden  wir  geradezu  nicht  zu  unter- 
scheiden im  Stande  sein,  ob  ein  Schmerz,  Gefühl,  Berührung  u.  s.  w. 
unsere  rechte  oder  linke  Körperhälfte  trifft,  wenn  nicht  durch  die 
bis  in's  Kleinste  gehenden  Asymmetrien  beider  Körperhälften  mit  der 
nämlichen  Empfindung  in  der  rechten  Körperhälfte  andere  beglei- 
tende Empfindungen  der  Spannung,  Dehnung,  des  Druckes  u.  s.  w.  vor- 
handen wären,  als  in  der  linken,  so  dass  wir  durch  diese  qualita- 
tive Incongruenz  der  Empfindungen  mit  Hülfe  der  Uebung  in  Stand 
gesetzt  werden ,  rechts  und  links  an  unserem  eigenen  Leibe  su 
unterscheideiL  Auch  bei  Gehör,  Geschmack  und  Geruch  sind,  wie 
erwähnt,  solche  begleitende  Umstände  vorhanden,  welche  eine  ge- 
wisse Unterscheidung  congruenter  Empfindungen,  je  nach  dem  Orte 
der  Einwirkung  möglich  machen,  doch  ist  es  wichtig,  dass  hier  die 
Nervenstämme,  welche  die  eigentliche  Sinnesempfindung,  und  die? 
welche  die  begleitenden  Differenzen  vermitteln,  verschieden  sindt 
woraus  sich  die  Folgerung  ergiebt,  dass,  wenn  man  durch  Ze^ 
schneiden  der  letzteren  oder  anderweitige  geschickte  Eliminatioa 
der  begleitenden  Differenzen  aus  dem  Versuche  die  reinen  Sinnea- 
wahmehmungen    ausscheidet,    diese    nicht   mehr   im  Stande  «ind* 


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263 

üntersehiede  des  Ortes  tarn  Bewusstsein  zu  bringen,  also  überhaupt 
unfähig,  räumliche  Anschauungen  zu  erzeugen.  Anders 
ist  dies  beim  Tast-  und  Gesichtssinne.  Jede  gleiche  Tastempfindung 
an  Terschiedenen  Hautstellen  ist  mit  ganz  verschiedenen  begleiten- 
den Unterschieden  yerbundeui  welche  in  der  beim  Drucke  auf  die 
Haut  je  nach  der  Weichheit  oder  Härte,  je  nach  der  Gestalt  des 
Gliedes,  der  Beschaffenheit  der  darunter  liegenden  Theile,  der  Dich- 
tigkeit der  empfindenden  Tastwärzchen  u.  s.  w.  ganz  yerschieden 
ausfallenden  Yerschiebung,  Spannung,  Dehnung  und  Mitbetheiligung 
neben-  und  unterliegender  empfindender  Theile  begründet  sind,  und 
welche  fast  alle  durch  dieselben  Nervenstämme  dem  Gehirne  zugeleitet 
werden.  Ebenso  erhalt  eine  gleiche  Farben-  oder  Helligkeitsem- 
pfiodung  ganz  verschiedeno  begleitende  Unterschiede,  je  nach  dem 
Pancte  der  Netzhaut,  von  dem  sie  ausgebt,  welche  b^ründet  sind : 
1)  in  der  vom  Centrum  nach  der  Peripherie  abnehmenden  Deutlich- 
keit der  Perception  gleicher  Eindrücke,  2)  in  den  in  den  benach- 
barten Fasern  inducirten  Strömen,  welche  wieder,  je  nach  der  Lage 
der  letzteren,  zum  Puncte  des  deutlichsten  Sehens  yerschieden  aus- 
^Edlen,  3)  in  dem  refiectorischen  Bewegungsimpulse  der  Augapfel- 
drehong^  welcher  bei  jeder  Affection  einer  Netzhautstelle  in  dem 
Sinne  eintritt,  dass  der  Punct  des  deutlichsten  Sehens  die  Stelle 
des  af&cirten  Netzhautpunctes  zu  ersetzen  strebt. 

Diese  drei  Momente  in  Verbindung  geben  der  gleichen  Empfin- 
dong  jeder  Netzhautfaser  ein  yerschiedenes  Gepräge,  welchem  Lotze, 
der  £ifinder  dieser  Theorie,  den  Namen  Localzeichen  giebt.  Auch 
diese  Unterschiede  werden  theils  durch  den  Sehnerv  dem  Gehirne 
angeleitet,  theils  im  Gehirne  selbst  durch  den  Widerstand  empfun- 
den, welchen  der  Wille  dem  refiectorischen  Bestreben  der  Drehung 
des  Auges  entgegensetzen  muss,  um  diese  zu  verhindern.  Es  ist 
jetzt  im  Gegensatze  zu  den  Geruchs-,  Geschmacks-  und  Gehörs- 
empfindungen  verständlich,  wie  gerade  die  Gesichts-  undTast- 
empfindungen  die  Seele  zur  räumlichen  Anschauung  an- 
regen können,  weil  bei  diesen  der  von  jeder  einzelnen  Nerven- 
primitiy&ser  zugeleitete  Beiz  seine  qualitative  Bestimmtheit 
durch  ein  wohlorganisirtes  System  begleitender 
unterschiede  hat,  so  dass  die  von  gleichen  äusseren  Beizen  in 
▼enchiedenen  Nervenfasern  erregten  Schwingungszustände  in  soweit 
▼erschieden  ausfallen,  dass  sie  in  der  Seele  nicht  in  eine  ein- 
zige verstärkte  Empfindung  zusammenüallen  können,   aber   doch 


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264 

noch  so  ähnlich  sind,  dass  das  qualitativ  gleiche  Stück  in  den  durch 
sie  heryorgerafenen  Empfindungen  von  der  Seele  mit  Leichtigkeit 
erkannt  werden  kann.  Hiernach  können  wir  auch  durch  die  schein- 
baren Ausnahmen  das  allgemeine  Gesetz  nur  bestätigt  finden,  dass 
identische  Schwingungen  verschiedener  Himtheile  zu  Einer  nur  dem 
Grade  nach  verstärkten  Empfindung  zusammenfli essen ;  ein  GesetjE, 
welches  sowohl  i^riorisch  höchst  plausibel  erscheint,  als  auch  em- 
pirisch nicht  nur  keine  Thatsache  gegen  sich  hat,  sondern  ohne 
welches  die  erwähnten  Erscheinimgen  der  niederen  Sinne  geradem 
unerklärlich  wären.  Im  Sinne  dieses  Gesetzes  ist  das  sohwingoide 
Molecüle  der  Seele  völlig  gleichgültig,  nur  seine  Schwingungsart  hat 
einen  Einfluss  auf  die  Seele,  und  wenn  wir  gewisse  Theile  des 
Leibes  (die  Nerven),  gewisse  Theile  des  Nervensystems  (die  graue 
Substanz),  gewisse  Theile  des  Gehirnes  besonders  zu  höheren  Ein- 
wirkungen bestimmter  Art  beftihigt  sehen,  so  können  wir  dies  nur 
dem  Umstände  zuschreiben,  dass  diese  Theile  sich  wegen  ihrer 
molecülaren  Bescha£fenheit  gerade  ausschliesslich  oder  vorzugsweise 
zur  Hervorbringung  der  Art  von  Schwingungen  eignen,  welche 
allein  oder  vorzugsweise  dieser  Einwirkungen  auf  die  Seele  fähig  sind. 
Betrachten  wir  nun  dies  Gesetz  als  feststehend  und  Lotze's 
Theorie  der  Localzeichen  (abgesehen  davon,  ob  die  von  ihm  haupt- 
sächlich benutzten  gerade  die  richtigen  sind)  für  gesichert,  so  sind 
wir  immer  erst  zu  dem  Resultate  gelangt,  dass  die  Seele  beim  Sehen 
oder  Tasten  von  jeder  Nervenprimitivfaser  eine  besondere  Empfin- 
dung erhält,  welche  durch  ihr  individuelles  Gepräge  verhindert  wird, 
mit  anderen  zusammenzufi-iessen ,  aber  doch  den  anderen  so  ähn- 
lich ist,  dass  es  der  Seele  ein  Leichtes  ist,  die  in  allen  enthaltene 
gleiche  Grundlage  als  solche  zu  erkennen.  Auf  keine  Weise  aber 
kommen  wir  von  dieser  Summe  gleichzeitiger  qualitativ 
ähnlicher  und  doch  verschiedener  Empfindungen  m 
einer  räumlichen  Ausbreitung  derselben,  wie  sie  im  Sehfelde 
und  im  Tastfelde  der  Haut  vorliegt,  wir  bleiben  immer  bei  qualita- 
tiven und  intensiv  quantitativen  oder  graduellen  Unter- 
schieden der  einzelnen  Empfindungen  stehen  und  können  auf  keine 
Weise  die  Möglichkeit  absehen,  wie  das  extensiv  Quantitative  oder 
räumlich  Ausgedehnte  aus  den  Schwingungen  der  Gehimmoleonle 
in  die  Empfindung  hineingetragen  werden  soll,  da  nicht  die  Lage 
des  einzelnen  Molecüls  im  Gehirn,  sondern  nur  die  Dauer,  Gestalt 
u.  s.  w.  seiner  Schwingungen  auf  die  Empfindung  von  Einfiuas  ißt, 


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265^ 

und  diese  Momente  niohts  extensiv  Quantitatives  enthalten,  was  mit 
dem  extensiv  Quantitativen  des  Betinabildes  noch  irgend  in  Bezie- 
himg  stände.  Dagegen  ist  vermöge  des  Systemes  der  Localzeichen 
die  extensive  Nähe  und  Entfernung  der  Puncte  des  Betinabildes 
von  einander,  resp.  ihre  BerühruDg,  in  grössere  oder  kleinere 
qualitative  Unterschiede  der  entsprechenden  Empfin- 
dungen, resp.  Minimaldifferenz  derselben,  umgewandelt,  und 
ist  somit  der  Seele  ein  Material  geliefert,  welches,  wenn  sie  ein- 
mal selbstthätig  dieses  System  qualitativer  Unterschiede  in  ein 
System  räumlicher  Lagenverhältnisse  zurückverwandelt,  nun- 
mehr die  Seele  mit  Nothwendigkeit  zwingt,  jeder  Empfindung 
im  räumlichen  Bilde  einen  solchen  Platz  anzuweisen ,  welcher  ihrer 
qualitativen  Bestimmtheit  entspricht,  so  dass  der  Seele  in  Betreff 
der  räumlichen  Bestimmungen  einer  durch  eine  Summe  qualitativ 
verschiedener  Empfindungselem^nte  gegebenen  Gestalt  keine 
Willkür  bleibt,  sondern  sie  dieselbe  nothwendig  in  den  Ver- 
hältnissen reconstruiren  muss ,  wie  sich  das  Betinabild  einem 
fremden  Auge  darstellt,  wie  es  der  Erfahrung  entspricht.  —  Bei 
alledem  bleibt  die  Beconstruction  der  Bäumlichkeit  der  Seele  über- 
lassen; wir  haben  wohl  begreifen  können,  wie  es  kommt,  dass  nur 
Gesichts-  und  Tastsinn,  aber  nicht  die  übrigen  Sinne  Bauman- 
schaoung  in  der  Seele  hervorrufen,  wir  haben  auch  den  Causalzu- 
sammenhang  begriffen,  warum  die  Seele  gerade  diejenigen  räum- 
lichen Verhältnisse  zu  reconstruiren  gezwungen  ist,  welche  den 
objectiven  Baumverhältnissen  auf  der  Betina,  resp.  Tastnervenhaut, 
^^rechen,  aber  warum  die  Seele  überhaupt  die  S^mme  qua- 
litativ verschiedener  Empfindungen  in  ein  extensiv  räumliches  Bild 
verwandelt,  dazu  können  wir  in  dem  physiologischen  Processe 
nicht  nur  keinen  Grund  sehen,  wir  müssen  sogar  bestreiten,  dass 
einer  da  ist,  und  können  nur  einen  teleologischen  Grund  erkennen, 
weü  eben  erst  durch  diesen  wunderbaren  Process  die  Seele  sich 
die  Grundlage  zur  Erkenntniss  einer  Aussenwelt  schafft,  während 
sie  ohne  Baumanschauung  nie  aus  sich  heraus  könnte. 

Ad  3.  Wenn  wir  diesen  ''Zweck  als  einzigen  Grund  erken- 
J*Dr  80  müssen  wir  den  fraglichen  Process  selbst  als  eine  Instinct- 
handlong,  als  eine  Zweckthätigkeit  ohne  Zweckbewusstsein  an- 
sprechen. Wir  sind  hiermit  wiederum  auf  dem  Gebiete  des  Un- 
^^^wuBsten  angelangt,  und  müssen  das  Baumschaffen  der  Seele  als 
eine  Thätigkeit  des  Unbewussten  anerkennen,  da  dieser  Process  so 


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»«br  der  Möglichkeit  jedes  Bewusstseins  vorhergeht,  dass  er  ninir 
nicrinehr  als  etwas  Bewusstes  betraehtet  werden  kann.  Dies  hat 
aber  Kant  nirgends  ausgesprochen,  und  bei  der  sonstigen  Klarheit 
und  Furchtlosigkeit  dieses  grossen  Denkers  muss  daraus  geschlos- 
sen werden,  dass  er  sich  die  völlige.  TJnbewusstheit  diese«  Processee 
selbst  niemals  zum  Bewusstsein  gebracht  habe.  Aus  diesem  Man- 
gel seiner  Darstellung  entstand  aber  die  Opposition  des  gesunden 
mitürlichen  Verstandes  gegen  seine  Lehre,  der  den  Baum  als  eine 
von  seinem  Bewusstsein  unabhängige  Thatsache  demselben  gegeben 
wuBste,  und  zwar  in  den  räumlichen  Beziehungen,  aus  denen  ei;^ 
t^ine  lange  fortgesetzte  Abstraction  den  Begriff  des  ißaumes  aus- 
schied, welchen  ganz  zuletzt  die  Negation  der  Qrenze  als  ein  Un- 
endliches bestimmte,  während  nach  Kant  der  unendliche  Raum  das 
ursprüngliche  Product  des  Denkens  sein  soll,  vermöge  dessen  erst 
die  räumlichen  Beziehungen  möglich  würden.  In  allem  Diesem 
hatti^  der  natürliche  Verstand  Becht  und  Kant  Unrecht ,  aber  in 
dem  Eioen^»  und  das  war  die  Hauptsache,  hatte  Kant  Becht,  dass 
tliß  Form  des  Raumes  nicht  durch  physiologische  Procease  in  die 
Stiele  von  aussen  hineinspaziert,  sondern  durch  dieselbe  selbst- 
thätig  erzeugt  wird. 

Ad  4,  Die  Zeit  hat  mit  dem  Räume  als  Form  des  Denkens 
und  Seins  so  viel  Analoges,  dass  man  von  jeher  beide  zusammen 
behandelt  und  Ein  Denker  über  beide  stets  gleichmässige  An- 
Hichten  gehabt  hat.  Dies  hat  auch  Kant  verleitet,  bei  der  trana- 
üen dentalen  Aesthetik  beide  in  einen  Topf  zu  werfen.  Dennoch 
sind  die  jedem  Menschen  geläufigen  Unterschiede  zwischen  Baum 
und  Zeit  bedeutend  genug,  um  auch  hierin  einen  Unterschied  be^ 
bei  KU  führen.  Wäre  die  Zeit  nicht  aus  dem  physiologischen  Pro" 
cesse  unmittelbar  in  die  Wahrnehmung  übertragbar,  so  würde 
tiic  ohne  Zweifel  von  der  Seele  ebenso  selbstständig,  wie  der  Baum 
ur^eugt  werden,  dies  hat  sie  aber  beim  Wahrnehmen  nicht  nöthig- 
Denn  wenn  wir  angenommen  haben,  dass  auf  Gehimschwingangeo 
von  bestimmter  Form  die  Seele  mit  einer  bestimmten  Empfindung 
reagirt,  so  liegt  hierin  schon  ausgesprochen,  dass,  wenn  der  Bei^ 
sieh  wiederholt,  auch  die  Reaction  sich  wiederholt,  gleichviel  ob 
die  Reize  sich  in  stetiger,  ununterbrochener  Reihe,  oder  intermit- 
tirend  folgen;  hieraus  folgt  weiter,  dass  die  Empfindung  so  laog^ 
dauern  muss,  als  diese  Formen  der  Schwingungen  dauern,  und  erst 
mit    Aenderung    der  Schwingungsweise    eine    andere    Empfindung 


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267 

folgt,  die  abermals  nach  einer  bestimmten  Daaer  durch  eine  andere 
tbgt'löst  wird.  Damit  ist  aber  die  Zeitfolge  gleicher  oder  ver- 
achiedener Empfindungen  unmittelbar  gegeben,  ohne  dass  man,  wie 
beim  Baume,  zu  einem  selbstthätigen  instinctiven  Behauen  der 
Seele  seine  Zuflucht  zu  nehmen  braucht,  gleichviel,  ob  man  die 
Sache  materialistisch  oder  spiritnalistisch  auffasst,  denn  beidesfalls 
ist  die  objectiye  Zeitfolge  von  Schwingungszuständen  in  eine  sub- 
jectiTe  Zeitfolge  von  Empfindungen  übertragen. 

Man  könnte  hiergegen  die  Behauptung,  dass  die  Zeit  nicht  unmit- 
telbar aus  den  Himsohwingungen  in  die  Wahrnehmung  hineingetragen 
werde,  dadurch  aufrecht  erhalten  zu  können  glauben,  dass  man  jede 
einzelne  Empfindung  als  eine  momentane,  also  zeitlose  Seelenreaction 
betrachtet;  dann  würde  allerdings  aus  einer  Beihe  solcher  momen- 
taner zeitloser  Beelenacte  unmittelbar  keine  zeitliche  Wahmeh- 
romig  entstehen  können,  da  die  Distanzen  zwischen  diesen  Momenten 
absolut  leer  wären  und  folglich  auch  nicht  beurtheilt  werden  könn- 
ten. Bei  näherer  Betrachtung  zeigt  sich  sogleich  die  Unmöglich- 
keit. Denn  zwei  Fälle  sind  nur  möglich,  wenn  die  Empfindung 
etwas  Momentanes  sein  soll:  entweder  sie  entspricht  dem  mo- 
mentanen Zustande  des  Gehirnes,  oder  sie  tritt  erst  am  Ab-^ 
Bc blasse  einer  gewissen  Zeit  der  Himbewegung  ein.  Ersteres  ist 
an  sich  unmöglich,  denn  der  Moment  enthält  keine  Bewegung, 
also  Nichts,  was  auf  die  Seele  wirken  kann;  Letzteres  aber  ist  eben- 
falls leicht  ad  absurdum  zu  führon,  weil  nicht  abzusehen  ist,  wo 
der  Grund  liegen  sollte ,  dass  gerade  nach  einer  bestimmten 
Zeitdauer  die  Seele  mit  Empfindung  reagirt,  und  nicht  vorher  und 
nicht  nachher,  wo  doch  die  Bewegung  ruhig  in  derselben  Weise  fort- 
geht. Wollte  man  eine  vollständige  Oscillations-Dauer  als  diese 
Zeit  willkürlich  annehmen,  so  ist  nicht  einzusehen,  wo  die  Oscil- 
lation  anfängt  und  aufhört,  da  der  Anfangspunct  etwas  von  uns 
▼illkärlioh  Gewähltes  ist ;  oder  es  ist  nicht  einzusehen,  warum  nicht 
eine  halbe  Oscillation  Dasselbe  leisten  sollte,  oder  eine  Viertel-, 
oder  ein  noch  kleineres  Stück,  da  ja  in  dem  kleinsten  Stücke  der 
Schwingung  das  Gesetz  der  ganzen  Schwingung  vollständig 
enthalten  ist.  Dies  führt  uns  auf  den  rechten  Weg  zurück.  Da 
das  denkbar  kleinste  Stück  schon  das  Gesetz  der  ganzen 
Schwingung  enthält,  muss  es  auch  zu  dieser  seinen  Beitrag  lie- 
fern, und  so  kommen  wir  wieder  zur  Stetigkeit  der  Empfindung. 
Dass  diese,  so  zu  sagen,  Differenziale  der  Empfindungen  nicht  bewusst 


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268 

werden,  dass  vielmehr  ein  nicht  unbeträchtlicher  Bruchtheil  emer 
Secnnde  erforderlich  ist,  ehe  eine  Empfindung  einzeln  für  sich  yom 
BewQBstsein  percipirt  werden  kann,  möchte  wohl  darin  liegen, 
erstens,,  dass  eine  die  Aenderung  der  Empfindung  herbeiführende 
Aenderung  der  Schwingungsform  nicht  nach  dem  Bruchtheile  einer 
Schwingung,  auch  noch  nicht  nach  einer  einzigen  ganzen  Schwin- 
gung, sondern  erst  nach  mehreren  Schwingungen  durch  allmählichen 
XJebergang  einer  Schwingungsform  in  die  andere  phjBikalisch  zu 
begreifen  ist,  und  zweitens,  dass,  wie  bei  einer  durch  einen  klin- 
genden Ton  in  Mitbewegung  versetzten  Saite,  jede  einzelne  Schwin- 
gung allein  zu  wenig  ausrichtet,  und  dass  erst  die  sich  nach  und 
nach  addirenden  Wirkungen  vieler  gleichen  Schwingungen  einen 
merklichen  Einfluss  gewinnen  können,  welcher  die  Reizschwelle 
übersteigt  (s.  Einleitendes  I.  c.  S.  20  ff.)«  Diese  zeitliche  Addition  in 
Verbindung  mit  der  räumlichen  Addition  der  Wirkungen  vieler 
auf  dieselbe  Art  gleichzeitig  schwingender  Molecüle  ist  erst  im 
Stande,  uns  begreiflich  zu  machen,  wie  so  minutiöse  Bewegungen, 
wie  die  im  Hirne  sind,  in  der  Seele  so  mächtige  Eindrücke,  wie 
z.  B.  einen  Kanonenschuss  oder  Donnerschlag,  hervorrufen. 
•  Wir  haben  nunmehr  die  vier  oben  bezeichneten  Puncte  durch- 
sprochen  und  hoffe  ich,  hiermit  zu  einer  Verständigung  zwischen  Philo- 
sophie und  Naturwissenschaft,  zwischen  welchen  sich  seit  Kant  eine 
weite  Kluft  aufgetban,  nicht  unwesentlich  beigetreten  zu  haben.  Unser 
Besultat  ist  dies:  Raum  und  Zeit  sind  sowohl  Formen  des  Seins» 
als  des  (bewussten)  Denkens.  Die  Zeit  wird  aus  dem  Sein,  ans 
den  Himschwingungen  unmittelbar  in  die  Empfindung  übertrageD, 
weil  sie  in  der  Form  der  einzelnen  Hirnmol ecularschwingungen 
auf  dieselbe  Weise  wie  im  äusseren  Reize  enthalten  ist;  der  Raum 
muss  als  Form  der  Wahrnehmung  erst  durch  einen  Act  des  ünbe- 
wussten  geschaffen  werden,  weil  die  in  der  einzelnen  Himmole- 
cularschwingung  enthaltene  räumliche  Gestalt  zu  der  räumlichen 
Gestalt  der  Objecto  gar  keine  Beziehung  hat;  die  räumlichen  Be- 
stimmungen der  Wahrnehmungen  aber  sind  'durch  das  System  der 
Localzeichen  im  Gesichts-  und  Tastsinn  gegeben.  Sowohl  räum- 
liche, eis  zeitliche  Bestimmungen  treten  mithin  dem  Bewusstsein  als 
etwas  Fertiges,  Gegebenes  entgegen,  werden  also  auch,«  da  das  Be- 
wusstsein von  den  erzeugenden  Processen  derselben  keine  Ahnung 
hat,  mit  Recht  als  empirische'  Facta  aufgenommen.  Aus  diesen 
gegebenen   concreten   Raum-   und  Zeitbestimmungen  werden  später 


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269__ 

allgemeinere  abstrahirt,  nnd  als  letzte  Abstraction  die  Begriffe 
BaTun  und  Zeit  gewonnen,  welchen  als  subjectiven  Vorstel* 
langen  mit  Becht  die  Unendlichkeit  als  negatives  Fradicat  zuge- 
sprochen wird,  weil  im  Subjecte  keine  Bedingungen  liegen,  welche 
der  beliebigen  Ausdehnung  dieser  Yorstellungen  eine  Ghrenze  setzten. 
Haben  wir  uns  auf  diese  Weise  den  Ursprung  der  räumlichen 
snd  zeitlichen  Bestimmungen  als  Fundament  aller  Wahrnehmungen 
gesichert,  so  müssen  wir  auf  die  Frage  nach  dem  Zusammenhange 
von  Gehimschwingung  und  Empfindung  zurückkommen,  auf  die 
Frage,  warum  die  Seele  auf  diese  Form  der  Schwingung  gerade 
mit  dieser  Empfindung  reagirt.  Dass  hierin  eine  TöUige  Constanz 
herrscht,  dürfen  wir  bei  der  allgemeinen  Qesetzmässigkeit  der 
Natar  nicht  bezweifeln.  Wir  sehen  bei  demselben  Individuum 
auf  dieselben  äusseren  Beize  stets  dieselben  Empfindungen  erfol- 
gen, wenn  nicht  eine  nachweisbare  Yeränderung  der  körperlichen 
Bisposition  stattfindet,  welche  sich  natürlich  in  veränderten  Ge- 
lumschwingungen  kund  geben  muss.  Dass  auch  bei  verschiedenen 
Individuen,  soweit  körperliche  Uebereinstimmung  stattfindet,  dieselben 
Beize  gleiche  Empfindungen  hervorrufen,  können  wir  zwar  niemals 
direct  constatiren ;  da  aber  alle  nachweisbaren  Abweichungen  sicher 
auf  abweichendem  Bau  der  Sinnesorgane  und  Nerven  beruhen,  so 
haben  wir  keinen  Grund,  in  diesem  Puncto  von  der  allgemeinen 
Gesetzmässigkeit  der  Natur  eine  Ausnahme  zu  supponiren,  und 
nehmen  demzufolge  an,  dass  gleiche  Gehimschwingungen  bei  allen 
Individuen  gleiche  Empfindungen  hervorrufen.  Dass  diese  gesetz- 
mässige  Causalverbindung  zwischen  dieser  Schwingungsform  und 
dieser  Empfindung  an  sich  nicht  wunderbarer  ist,  wie  jede  andere 
uns  unverständliche  gesetzmässige  Causalverbindung  im  Beiche  der 
Materie  unter  sich,  z.  B.  von  Eleotricität  und  Wärme,  liegt  wohl 
anf  der  Hand.  Andererseits  aber  werden  wir  unbedenklich  zu  der 
^Jifiicht  hinneigen,  dass  hier  wie  dort  causale  Zwischenglieder  vor- 
handen seien,  welche  die  bis  jetzt  vorhandene  Oomplication  dieser 
Vorgänge  auf  einfache  Gesetze  zurückführen,  deren  mannigfaltiges 
Ineinanderwirken  die  Vielheit  der  beobachteten  Erscheinungen  zu 
Stande  bringt.  Wenn  wir  uns  mithin  nicht  entschliessen  können, 
bei  dem  gewonnenen  Besultate  als  einem  letzten  stehen  zu  bleiben, 
sondern  in  diesen  Processen  verschiedene,  sich  aneinander  schlies- 
B^de  Glieder  vermuthen  müssen,  so  ist  doch  so  viel  > klar,  dass 
dieselben,  insoweit   sie   auf  psychisches  Gebiet  fallen,  aussohliess-r 


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270 

lieh  dem  Bereiche  des  Unbewnssten  angehör^i  müsseiL  Es  ist  also 
ein  nnbewuflster  Process^  dass  uns  die  Säure  sauer,  der  Zucker  säss, 
dieses  Licht  rotb,  jenes  blau,  diese  Luftschwingungen  als  der  Ton 
A,  jene  als  c^  erscheinen.  Dies  ist,  was  sich  über  die  Entstehung 
der  Qualität  der  Empfindung  nach  dem  jetzigen  Stande  unserer 
Kenntnisse  si^en  Hesse. 

Mit  allen  diesen  qualitativen,  intensiv  und  extensiv  qoan- 
titatiyen  Bestimmungen  der  Empfindung  kommen  wir  aber  nie 
über  die  Sphäre  des  Subjectes  hinaus.  Denn  der  QesichtssimL 
stellt  räumlich  ausgedehnte  Bilder  in  Flächengestalt,  aber  ohne 
irgend  eine  Bestimmung  über  die  dritte  Dimension  dar,  so  daes 
der  Flächenraum  bis  jetzt  rein  innerhalb  der  Seele  liegt, 
rein  subjectiv  ist,  so  dsiis  die  Seele  das  Auge  als  Organ  des  S^ens 
gar  nicht  kennt,  alscf  das  Gesichtsbild  weder  vor  dem  Auge,  noch 
in  dem  Auge  weiss,  sondern  bloss  in  sicSh  selber  hat,  gerade  wie 
eine  matte  Erinnerungsvorstellung  nur  in  dem  subjectiven  Banm 
der  Seele  und  ohne  Beziehung  zum  äusseren  Baume  gedacht  werden 
kann.  Aehnlich  ist  es  mit  den  Wahrnehmungen  des  Tastsinnes. 
ATioh  hier  ist  nur  Flächenausdehnung,  die  der  Eörperoberflache 
entspricht,  nur  viel  unbestimmter,  als  beim  Gesicht.  Erst  durch  die 
Gleichzeitigkeit  derselben  Wahrnehmung  an  mehreren  Stellen,  yeat- 
bunden  mit  gewissen  Muskelbewegungsgefühlen,  treten  hier  Erfah- 
rungen ein,  mit  deren  Hülfe  die  Seele  durch  anderweitige  Pro- 
oesse  die  Fixirung  der  Tastwahmehmungen  auf  die  Oberhaut  be- 
werkstelligen kann,  so  dass  diese  nun  gleichsam  in  Hinsicht  der 
dritten  Dimension  ßzirt  sind.  Manche  Physiologen  behaupten  zwar, 
dass  dies  nach  dem  Gesetz  der  excentrischen  Erscheinung  sofort 
der  Fall  sei,  und  will  ich  hierum  nicht  streiten;  soviel  steht  fest, 
dass,  wenn  dieser  Punct  erreicht  ist,  wo  die  inneren  Empfindungen 
in  Hinsicht  der  dritten  Dimension  so  fixirt  sind,  dass  sie  objectiT 
mit  der  Oberhaut  des  Körpers  und  meinetwegen  beim  Auge  mit 
der  Ketina  zusammenfallen,  dass  dann  immer  noch  nicht  abzusehen 
ist,  wie  der  Schritt  aus  dem  Subjectiven  heraus  vermöge  der 
Wahrnehmung  oder  des  bewussten  Denkens  gemacht 
werden  solle.  Denn  die  Wahrnehmung  weist  besten  Falles  nie 
über  die  Grenze  des  eigenen  Körpers  hinaus,  meiner  Ansicht  nadi 
bleibt  sie  rein  innerhalb  der  Seele,  ohne  irgend  auf  den  eigenen 
Körper  hvfeudeuten.  Auch  kein  an  den  bisherigen  Erf^^irungeii 
sich'   entwickelnder    bewusster   Denkprooess    leitet    auf    die   Ter- 


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271 

muthnsg  eines  äasseren  Objectes,  es  mnss  hier  wiederam  der  In- 
stinct  oder  das  ünbewnsste  helfend  eingreifen,  um  den  Zweck  der 
Wahrnehmung,  die  Erkenntniss  der  Aussenwelt  eu  erfüllen. 
Damm  projicirt  das  Kind  iostinctiy  seine  Sinneswahmehmnngen 
als  Objecte  nach  Aussen,  und  darum  glaubt  noch  heute  jeder  un- 
befangene Mensch  die  Dinge  selbst  wahrzunehmen,  weil  ihm  seine 
Wahrnehmungen  mit  der  Bestimmung,  draussen  su  sein,  instinc- 
tiv  zu  Objecten  oder  Bingen  werden.  Darum  ist  es  möglich, 
dasB  die  Welt  der  Objecte  für  ein  Wesen  fertig  dasteht,  ohne 
dass  ihm  die  Ahnung  des  Subjectes  aufgegangen  ist,  während 
im  bewussten  Denken  Subject  und  Object  nothwendig  gleichzeitig 
ans  dem  Yorstellungsprocesse  herausspringen  müssen.  Darum  ist 
68  falsch,  den  Causalitätsbegriff  als  Yermittler  fUr  eine  bewusste 
Ausscheidung  des  Objectes  zu  setzen,  denn  die  Objecte  sind  lange 
Torher  da,  ehe  der  Causalitätsbegriff  aufgegangen  ist;  und  wäre 
dies  auch  nicht  der  Fall,  so  müsste  auch  dann  das  Subject  gleich- 
zeitig mit  dem  Objecte  gewonnen  werden.  Allerdings  ist  für  den 
philosophischen  Standpunct  die  OausaHtöt  das  einzige  Mittel, 
um  über  den  blossen  Yorstellungsprocess  hinaus  zum  Subjecte  und 
Objecto  zu  gelangen ;  allerdings  ist  für  das  Bewnsstsein  des  gebil- 
deten Verstandes  das  Object  in  der  Wahrnehmung  nur  als  deren 
äussere  Ursache  enthalten;  allerdings  mag  der  unbewusste 
Process,  welcher  dem  ersten  Bewusstwerden  des  Objectes  zu  Grunde 
liegt,  diesem  philosophischen  bewussten  Brocesse  analog  sein,  —  so 
▼iel  ist  gewiss,  dass  der  Process,  als  dessen  Besultat  das  äussere 
Object  dem  Bewusstsein  fertig  entgegentritt,  ein  durchaus  unbe- 
wusster  ist,  und  mithin,  wenn  die  Causalität  in  ihm  eine  Bolle 
spielt,  was  wir  übrigens  nie  ermitteln  können,  darum  doch  keines- 
&ll8  gesagt  werden  kann,  wie  Schopenhauer  thut,  dass  der  aprio- 
risch gegebene  Causalitätsbegriff  das  äussere  Ob- 
ject schaffe,  weil  man  in  dieser  Ausdrucks  weise  den  B^riff 
als  einen  bewussten  auffassen  müsste,  was  er  entschieden  nicht 
sein  kann,  weil  er  viel,  idel  später  gebildet  wird,  und  zwar  zuerst 
aus  Beziehungen  der  bereits  fertigen  Objecte  untereinander. 
Sind  wir  nun  auf  diese  Weise  dazu  gelangt,  in  den  Wahrneh- 
mungen äussere  Objecte  zu  sehen,  so  handelt  es  sich  um  die  Aus- 
bildung der  Wahrnehmungen,  z.  B.  beim  Sehen  um  das  Sehen 
Ton  Entfernungen  yom  Auge  ab  gerechnet^  um  das  einfache  Sehen 
mit  zwei  Augen ,  um  das  Sehen  der  dritten  Dimension  an  Körpern 


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272 

u.  s.  w.>  und  dem  entsprechend  bei  anderen  Sinnen,  wie  es  in  so 
YJclen  Lehrbüchern  der  Physiologie,  Psychologie  n.  s.  w.  weitläufig 
ausgeführt  ist.  Die  Processe,  welche  dieses  nähere  Yerständniss 
herbeiführen,  gehören  zwar  theilweise  dem  Bewusstsein  an,  zum 
grösseren  Theile  aber  fallen  sie  in's  Bereich  des  Unbewossten,  wie 
leicht  zu  erkennen  ist,  wenn  man  beachtet,  wie  gering  die  Aosbil- 
dung  des  bewussten  Denkens  bei  Kindern  zu  der  Zeit  ist,  wo  sie 
dieses  Yerständniss  der  Wahrnehmung  schon  in  hohem  Qnde  be- 
sitzen, wie  sicher  sich  Thiere  schon  bald  nach  ihrer  Gebart 
bc  wegen,  und  wie  passend  sie  sich  der  Aussenwelt  gegenüber  be- 
nehmen, was  nicht  möglich  wäre,  wenn  sie  nicht  instinctiy  dieses 
Vorätändniss  der  Sinneswahmehmungen  hätten.  Wenn  man,  wie 
nma  wohl  füglich  thnn  muss,  unter  sinnlicher  Wahrnehmung  im 
weiteren  Sinne  dieses  yolle  Yerständniss  der  Sinneseindrücke  mit 
begreift,  so  haben  wir  gesehen,  dass  das  Zustandekommen  der 
Binnlichen  Wahrnehmung  ^  welches  die  Grundlage  aller  bewussten 
fi  Ocistesthätigkeit  bildet,   Ton  einer  ganzen  Reihe  unbewiisster  Pio- 

ccsse  abhängig  ist,  ohne  welche  Hülfen  des  Instinctes  Mensch  wie 
Thier  hülflos  auf  der  Erde  verkümmern  müssten,  weil  ihnen  jedes 
Mittel  fehlen  würde,  die  Aussenwelt  zu  erkennen  und  zu  be- 
nutzen. 


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IX. 
Das  Unbewnsste  in  der  Mystik. 


Das  Wort  y^mystisoh'^  ist  in  eines  Jeden  Munde,  Jeder  kennt 
die  Namen  berühmter  Mystiker,  Jeder  kennt  Beispiele  des  Mysti- 
schen. Und  doch,  wie  Wenige  verstehen  das  Wort,  dessen  Bedeu- 
timg selbst  mystisch  ist,  und  deshalb  nur  von  Dem  recht  begriffen 
Verden  kann,  der  selbst  eine  mystische  Ader  in  sich  trägt,  und 
sei  sie  noch  so  schwach.  Wir  wollen  versuchen,  dem  Wesen  der 
Sache  naher  zu  kommen,  indem  wir  die  verschiedenen  in  der  My- 
stik verschiedener  Zeiten  und  Individuen  vorkommenden  haupt- 
sächlichen Erscheinungen  betrachten. 

Wir  finden  bei  dem  grössten  Theile  der  Mystiker  eine  Abwen- 
dung vom  thätigen  Leben  und  Zurückziehung  auf  quietistische  Be- 
schaulichkeit, sogar  Streben  nach  geistigem  und  körperlichem  Nihi- 
lismus; das  kann  aber  das  Wesen  der  Mystik  nicht  ausdrücken,  denn 
der  grösste  Mystiker  der  Welt,-  Jacob  Böhme ,  führte  seinen  Haus- 
stand ordnungsmässig ,  arbeitete  und  erzog  seine  Kinder  wacker; 
andere  Mystiker  haben  sich  so  sehr  in's  Practische  gestürzt,  dass 
sie  als  Weltreformatoren  auftraten,  noch  andere  übten  Theurgie 
imd  Magie,  oder  practische  Medioin  und  naturwissenschaftliche 
Beisen.  Eine  andere  Reihe  von  Erscheinungen  bei  höheren  Graden 
der  Mystik  sind  körperliche  Zufälle,  wie  Krämpfe,  Epilepsien,  Ek- 
stasen, Einbildungen  und  fixe  Ideen  hysterischer  Frauenzimmer 
und  hypochondrischer  Männer,  Visionen  ekstatischer  oder  spontan- 
somnambuler  Personen.  Diese  alle  tragen  so  sehr  den  Character 
der  körperlichen  Krankheit  an  sich,  dass  in  ihnen  das  Wesen  des 
Mysticismus  gewiss  nicht  bestehen  kann,  wenn  sie  auch  grossen- 
theils  durch  freiwilliges  Fasten,  Askese  und  beständige  Concentra- 
tion  der  Phantasie  auf  Einen  Punct  absichtlich  hervorgerufen  sind. 

T.  Hartmann,  Phil.  d.  ünbewnssten.  18 


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274 

Bie  sind  es,  die  in  der  Geschichte  der  Mystik  jene  widerlichen 
Ereclieinungen  hervorrufen,  die  wir  heute  noch  in  IrrenhäuBcrn 
bemitleiden,  die  aber  zu  ihrer  Zeit  als  Propheten  vergöttert  und 
ak  Märtyrer  verfolgt  und  getödtet  wurden,  solche  Unglückliche 
2.  B.,  die  sich  für  Christus  hielten  (Esaias  Stiefel  um  1600)  oder 
fUr  Gott  Vater  selbst.  Gleichwohl,  könnte  man  sagen,  gehen  die 
Viaionen  und  Ekstasen  stufenweise  in  jene  reineren  und  höheren 
Formen  über,  denen  die  Geschichte  so  viel  verdankt;  gewiss  zu- 
gegeben, —  nur  vdrd  man  dies  Wandelbare  nicht  für  das  Wesen 
des  My&ticismus  ansprechen  dürfen.  Als  Drittes  tritt  uns  die  As- 
kese entgegen ;  sie  ist  ein  hirnloser  Wahnsinn  oder  eine  krankhafte 
Wollust ,  wenn  sie  nicht  als  ethisches  System  gefasst  wird  ,  was 
über  £iuch  sowohl  bei  indischen  als  neupersischen ,  als  christlichen 
BüfiBern  stattfindet.  Auch  hierin  liegt  an  sich  keine  Mystik,  da 
uns  eiuorseits  Schopenhauer  den  Beweis  geliefert  hat,  dass  mau 
tfin  ganz  klarer  Denker  sein  und  doch  die  Askese  für  das  einzig 
richtige  System  halten  kann,  und  da  andererseits  die  Mystik  sieb 
eUeu  sowohl  mit  der  zügellosesten  Genusssucht  und  Ausschweifung, 
als  mit  der  strengsten  Askese  verträgt.  Eine  vierte  Eeihe  von 
Erscheinungen  in  der  Geschichte  der  Mystik  sind  die  sich  durch 
alle  leiten  hinziehenden  Wunder  der  Propheten,  Heiligen  und 
Magier.  Das  Einzige,  was  nach  massig  strenger  Kritik  von  diesen 
Sugeu  übrig  bleibt,  reducirt  sich  auf  Heilwirkungen,  die  sich  theili 
eJBtach  medicinisch,  theils  durch  bewusstes  oder  unbewusstes  Mag- 
setisirüii,  theils  durch  sympathetische  Wirkung  begreifen  und  in  die 
Heihe  der  Naturgesetze  einfügen  lassen,  wenn  man  eben  die  magisch- 
sympathetische  Wirkung  durch  den  blossen  Willen  als  Naturgeseu 
gelten  itisst.  So  lange  man  dies  nicht  thut,  bleibt  freilich  letzteres  an 
sich  mystisch,  sobald  man  sich  aber  dazu  bequemt,  ist  es  nicht 
mystiBcher  als  die  Wirkung  jedes  anderen  Naturgesetzes ,  von  denen 
allen  wir  keines  begreifen,  und  darum  doch  keines  mystisch  nennen. — 
Bisher  sprachen  wir  davon,  wie  Mystiker  gehandelt  und  ge- 
lebt haben,  jetzt  haben  wir  noch  zu  erwähnen,  auf  welche  Art 
sie  gei«  prochen  und  geschrieben  haben.  Wir  begegnen  hier  zu- 
nächst einer  überwiegend  bildlichen  Ausdrucksweise ,  die  theils 
eehiieht  und  einfach,  öfter  aber  schwülstig -bombastisch  ist,  und 
häuüg  einer  phantastischen  XJeberschwengliohkeit  des  Inhaltes 
wie  der  Form.  Dies  liegt  theils  an  den  Nationen  and  Zei- 
ten»   denen   die    betreffenden    Mystiker    angehören,    theils    finden 


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275 

wir  dieselbe  Erscheinung  bei  Dichtem  nnd  anderen  Schriftstel- 
lern wieder,  können  also  darin  nicht  den  Ciiaracter  des  Mysti- 
sehen  finden.  Femer  sehen  wir  in  den  mystischen  Schriften  eines- 
theÜB  eine  Masse  von  allegorisirenden  >  willkürlich  spielenden 
Deuteleien  mit  Worten  (der  Bibel,  des  Korans,  anderer  Schriften, 
oder  Sagen)  oder  Formalien  (des  jüdischen,  muhamedanischen,  christ- 
lichen Gottesdienstes),  andemtheils  einen  phantastisch  gebärenden 
and  formalistisch  parallelisirenden  Schematismus  einer  imwissen- 
schafthchen  Naturphilosophie  (Albertus  Magnus,  Paracelsus  u.  A. 
im  Mittelalter;  Schelling,  Oken,  Steffens,  Hegel  in  der  neuesten 
Zeit).  Auch  in  diesen  beiden  dem  Wesen  nach  gleichen  und  nur 
im  O^enstande  yerschiedenen  Erscheinungen  können  wir  den 
Character  des  Mystischen  nicht  finden;  wir  sehen  darin  nur  das 
dem  Menschengeiste  eigenthümliche  Bestreben,  zu  systematisiren, 
durch  IJnkenntniss  oder  Ignorirang  des  Materiales  und  der  Prin- 
cipien  der  Naturwissenschaften  irregeleitet,  sich  spielend  Karten- 
hänser  bauen,  die  sich  oft  der  andere  Kartenhäuser  bauende  Nach- 
folger nicht  einmal  die  Mühe  giebt  umzublasen,  die  vielmehr  von 
selbst  einfallen,  obwohl  nicht  ohne  vorher  manchem  anderen  Kinde 
imponirt  zu  haben.  Ein  Merkmal,  an  das  man  oft  geglaubt  hat, 
sich  halten  zu  dürfen,  ist  die  Unverständlichkeit  und  Dunkelheit 
der  Sprache,  weil  sie  ziemlich  allen  mystischen  Schriften  gemein 
ist  Jedoch  ist  nicht  zu  vergessen,  erstens,  dass  die  allerwenig- 
sten Mystiker  geschrieben,  viele  auch  nicht  einmal  gesprochen 
haben,  oder  doch  nichts  weiter  als  die  Erzählung  der  gehabten 
Visionen,  und  zweitens,  dass  noch  sehr  viele  andere  Schriften  un- 
Terständlich  und  dunkel  sind,  welchen  weder  ihre  Verfasser,  noch 
andere  Leute  das  Prädirat  mystisch  geben  möchten;  denn  Unklar- 
heit des  Ausdruckes  kann  von  Unklarheit  des  Denkens,  mangelhaf- 
ter Beherrschung  des  Materiales,  Ungeschicklichkeit  der  Schreib- 
weise und  vielen  anderen  Gründen  herrühren. 

Mithin  sind  alle  bisher  betrachteten  Erscheinungen  nicht  ge- 
eignet, das  Wesen  des  Mystischen  zu  ergründen,  sondern  es  kann 
▼ohl  jede  derselben  zum  Ausdrucke  eines  mystischen  Hintergrundes 
werden,  ist  aber  dann  nur  ein  von  der  Mystik  zufällig  angezogenes 
Kleid,  und  kann  ebensogut  ein  andermal  mit  Mystik  gar  nichts  zu 
thnn  haben.  Es  handelt  sich  also  nunmehr  um  den  gemeinsamen 
Kern  und  Mittelpunct  aller  dieser  Erscheinungen  in  den  Fällen, 
wo  wir  sie  als  Gewand  eines  mystischen  Hintergrundes  betrachten* 

18* 


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276 

Kau  würde  sehr  irren,  wenn  man  die  ^Religion  als  diesen  gemein- 
samen Kern  betrachtete;  die  Beligion  als  unbefangener  Glaube  an 
die  Offenbarung  ist  durchaus  nicht  mystisch,  denn  was  mir  durch 
eine  von  mir  als  vollgültig  anerkannte  Autorität  offenbar  ge- 
worden ist,  was  sollte  daran  für  mich  noch  mystisch  sein,  so  lange 
icii  mich  schlechterdings  mit  dieser  äusseren  Offenbarung  be- 
gnüge? und  mehr  verlangt  keine  Beligion.  Femer  ist  aber  auch 
I  leicht  zu  sehen,  dass  es  eine  Mystik  des  irreligiösen  Aberglaubens 

giebt  (z.  £.  schwarze  Magie),  oder  eine  Mystik  der  Belbstvergöt- 
terong,  welche  allen  guten  und  bösen  Göttern  Trotz  bietet,  oder 
eine  Mystik  der  irreligiösen  Philosophie,  obwohl  die  Erfahrung 
seigi,  dass  letztere  dann  wenigstens  gern  ein  äusseres  Bündniss 
mit  einer  positiven  Religion  schliesst  (z.  B.  Neuplatonismus). 
Bei  alledem  wollen  wir  nicht  verkennen,  dass  die  B.eligion  de^ 
j  dB  ige  Grund  und  Boden  ist,  an  dem  die  Mystik  am  leichtesten 
ünil  üppigsten  emporwuchert,  aber  sie  ist  keinesweges  deren  ein- 
zige Pflanzstätte.  Die  Mystik  ist  vielmehr  eine  BchUngpflanze, 
die  an  jedem  Stabe  emporwuchert,  und  sich  mit  den  extremsten 
Gegensätzen  gleich  gut  abzufinden  weiss:  Hochmuth  und  Demutb, 
Herrschsucht  und  Duldung,  Egoismus  und  Selbstverleugnung,  Ent- 
haltsamkeit und  sinnliche  Ausschweifung,  Selbstkasteiung  und  Ge 
nutässucht,  Einsamkeit  und  Geselligkeit,  Weltverachtung  und  Eitel- 
keit,  Quietismus  und  thätiges  Leben,  Nihilismus  und  Weltrefor- 
matton,  Frömmigkeit  und  Gottlosigkeit,  Aufklärung  und  Aberglau- 
ben, Genie  und  viehische  Bornirtheit,  Alles  verträgt  sich  gleich 
gut  mit  der  Mystik.  —  Somit  sind  wir  dazu  gelangt,  in  allen  sol- 
chen Extremen,  in  allen  den  oben  angeführten  historisch  an  des 
^  Mystikern  sich  darbietenden  Erscheinungen  nicht  das  Wesen  der 

ÄK^  Mystik,  sondern  Auswüchse  zu  sehen,  die   herbeigeführt  waren 

Üicils  durch  den  Zeitgeist  und  Nationalcharacter,  theils  durch  in- 
dividuell  krankhafte  Anlage,  theils  durch  verkehrte  religiöse,  mora- 
lische und  practische  Grundsätze ,  theils  durch  das  ansteckende 
Beispiel  der  geistigen  Yerirrung,  theils  durch  die  Unzufriedenheit 
mit  dem  Drucke  rauher  Zeiten,  welche  dem  höher  Strebenden  im 
%T eltlichen  Leben  so  gar  nichts  Verlockendes  zu  bieten  hatten,  ßon- 
dem  nur  abschrecken  konnten,  theils  durch  eine  später  zu  betrach- 
te q  de,  im  letzten  Ziele  der  Mystik  selbst  liegende  Gefiethr  des  Vebet- 
fliogens,  theils  durch  eine  Verkettung  von  allerlei  aus  dem  Ange- 
führten und  anderen  Umständen  sich  ergebenden  Ureachen. 


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277 

£6  schien  mir  diese  negaÜTe  Betrachtung  unerlässlich,  um  die 
Vorstellungen  über  das  Mystische  2u  läutern,  welche  sich  bei  den 
meisten  Menschen  nur  aus  einer  Summe  dieser  krankhaften 
AuBWüchBe  der  Mystik  zusammensetzen,  und  dadurch  verhindern 
dürften,  die  Mystik  in  ihren  reineren  Erscheinungsformen  wieder- 
zuerkennen. Kehren  wir  nun  abermals  zu  dem  Kerne  aller  jener 
Erscheinungen y  zu  der  wahren  Mystik  zurück,  so  wird  zunächst 
BD  viel  einleuchten,  dass  sie  tief  im  innersten  Wesen  des  Menschen 
begründet  sein  muss  (wenn  sie  auch^  wie  künstlerische  Anlagen, 
noh  nicht  in  jedem  entwickelt,  am  wenigsten  in  jedem  gleichmässig 
oder  nach  gleichen  Richtungen  hin);  denn  sie  zieht  sich  ohne  Un- 
terbrechung nur  mit  mehr  oder  weniger  grosser  Verbreitung  von  den 
ältesten  vorhistorischen  Zeiten  bis  auf  die  Gegenwart  durch  die  Cul- 
targe»chichte  hinduroh.  Sie  hat  wohl  mit  dem  Zeit^eiste  ihren  Cha- 
racter  geändert,  aber  kein  Culturfortschritt  ist  je  im  Stande  ge- 
wesen, sie  zu  verdrängen,  sie  hat  ebenso  unbesiegbar  gegen  den 
Unglauben  des  Materialismus,  wie  gegen  die  Schrecken  der  Inqui- 
lition  Stand  gehalten.  Die  Mystik  hat  aber  auch  dem  Menschen- 
geschlechte  unschätzbare  culturhistorische  Dienste  geleistet.  Ohne 
die  Mystik  des  Neuplatonismus  wäre  nie  das  Johanneische  Christen- 
thum  entstanden,  ohne  die  Mystik  des  Mittelalters  wäre  der  Geist 
des  Ghristenthumes  in  katholischem  Götzendienste  und  scholastischem 
Formalismus  untergegangen,  ohne  die  Mystik  der  verfolgten  Ketzer- 
gemeinden seit  dem  Anfange  des  11.  Jahrhunderts,  die  trotz  aller 
Unterdrückungen  immer  wieder  mit  erhöhter  Kraft  unter  anderem 
Namen  neu  erstanden,  hätten  nie  die  Segnungen  der  Reformation 
die  finsteren  Schatten  des  Mittelalters  verjagt  und  der  neuen  Zeit 
die  Thore  geöffnet ;  ohne  die  Mystik  in  dem  Gemüthe  des  Deutschen 
Volkes  und  in  den  Heroen  der  neueren  deutschen  Dichtung  und 
Philosophie  wären  wir  von  dem  seichten  Triebsande  des  franzö- 
Bischen  Materialismus  schon  im  vorigen  Jahrhunderte  so  vollständig 
überschwemmt  worden ,  dass  wir ,  wer  weiss  wie  lange,  noch  die 
Köpfe  nicht  wieder  frei  bekommen  hätten.  Wie  für  das  Menschen- 
geschlecht im  Ganzen,  so  ist  auch  für  das  Individuum,  so  lange 
es  sich  von  krankhaften  Auswüchsen  imd  einer  überwuchernden 
Einseitigkeit  frei  hält,  die  Mystik  von  unschätzbarem  Werthe. 
Denn  wir  sehen  ja  in  der  That,  dass  alle  Mystiker  sich  in  der 
Ausübung  ihrer  mystischen  Anlagen  überaus  glücklich  gefühlt  und 
freudig  alle  Entbehrungen   und  Opfer  getragen   haben,    um  ihrer 


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278  • 

Bichtung  getreu  zu  bleiben;  man  denke  nur  an  Jacob  Böhme  und 
Beine  namenlose  Freudigkeit,  die  ihn  durch  alle  Prüfungen  beglei- 
tete, die  doch  gewiss  aus  lauterer  Quelle  stammte,  und  ihn  weder 
Yon  seinen  bürgerlichen  Pflichten  abzog,  noch  durch  unkluge 
Helbstquälereien  getrübt  war;  man  denke  an  die  mystischen  Hei- 
ligen des  Alterthumes,  einen  Pythagoras,  Plotin,  Porphyrius  u.  s.  v^ 
welche  zwar  hohe  Massigkeit  und  Enthaltsamkeit,  aber  keine 
Selbstquälereien  übten.  Die  wahre  Mystik  ist  also  etwas  tief  im 
innersten  Wesen  des  Menschen  Begründetes,  an  sich  Gesundes, 
%^enn  auch  leicht  zu  krankhaften  Auswüchsen  Hinneigendes,  und 
sowohl  für  das  Individuum,  als  die  Menschheit  von  hohem  Werthe. 

Was  ist  sie  aber  endlich?  Wenn  wir  immer  das  Sohlechte  in  der 
EfBcheinung  hinwegdenken,  so  wird  ims  Gefühl,  Gtedanke  und  Ville 
übrig  bleiben,  und  zwar  wird  der  Inhalt  jedes  der  Drei  auch 
auäsermystisch  vorkommen  können,  nämlich  des  Gedankens  und 
Gefühles  in  Religion  und  Philosophie,  des  Willens  als  bewusste 
njEigische  Willenswirkung  (nur  ein  einziger  Gefühlsinhalt  macht 
eme  Ausnahme,  weil  er  immer  nur  mystisch  erzeugt  werden  kann, 
wie  wir  sogleich  sehen  werden).  Wenn  nun  aber  in  allen  anderen 
Fällen  .nicht  der  Inhalt  es  ist,  der  das  specifisch  Mystische 
tnthält,  so  muss  es  die  Art  und  Weise  sein,  wie  dieser  Inhalt 
£um  Bewusstsein  kommt  und  im  Bewusstsein  ist,  und  hierüber  wollen 
wir  zunächst  einige  Mystiker  hören,  wo  man  sich  nun  aber  nach 
obigen  Erklärungen  schon  nicht  mehr  wundem  möge,  Namen  zu  fin- 
den, die  man  sonst  nicht  unter  die  Mystiker  rechnet,  weil  diese  ge- 
rade die  Mystik  am  reinsten  von  störendem  Beiwerke  repräsentiren. 

Alle  Eeligionsstifter  und  Propheten  erklärten,  theils  ihre 
Weisheit  von  Gott  persönlich  erhalten  zu  haben,  theils  bei  Abfas- 
Bixag  ihrer  Werke,  beim  Halten  ihrer  Beden  und  Thun  ihrer  Wun- 
der vom  göttlichen  Geiste  inspirirt  zu  sein,  woraus  die  muhame- 
danische  und  christliche  Kirche  Glaubensartikel  gemacht  haben. 
Auch  von  den  späteren  Heiligen,  die  irgend  eine  neue  Lehre  oder 
Lebens-  imd  Bussweise  einführten,  glaubte  man,  dass  nicht  der 
Mensch,  sondern  der  göttliche  Geist  aus  ihnen  rede,  und  sie  glaub- 
ten ^s  selbst.     Näheren  Aufschluss  giebt  uns  Jacob  Böhme:    ,^ch 

fiage  vor  Gott dass  ich  selber  nicht  weiss,  wie   mir  daniit 

geächiehet,  ohne  dass  ich  den  treibenden  willen  habe,  weiss  ich 
auch  nichts  was  ich  schreiben  soll.  Denn  so  ich  schreibe,  dictiret 
08   mir    der  geist   in  grosser,  wunderlicher   erkäntniss,    das»  ich 


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■   279 

offte  nicht  weiss,    ob  idi  nach  meinem   geist  in  dieser  Welt  bin, 
nnd  mich  des  hoch  er&ene,    da    mir   denn    die   stäte  und  gewisse 
erkäntnisB    wird   mitgegeben ,    und  je    mehr   ich    suche ,  je  mehr 
£nde  ich;  und  immer  tiefer,  dass  ich  auch  offte  meine  sündige  Per- 
son 2u  wenig  und  unwürdig  achte »   solche   geheimniss    anzutasten, 
da  mir  denn  der  Geist  mein  Panier    aufschlägt   und   sagt:     Sihe, 
du  Bolt  ewig  darinnen  leben,    und  gekrönet  werden,  was  entsetzest 
du  dich?*'    Ebenso  giebt  er  seinem  Leser  den  Eath  in  der  Aurora: 
„dass  er  Gott  um  seinen  Heiligen  Geist  bitten  solte.     Denn  ohne 
erleuchtung    desselben   wirst    du  diese   geheimnisse  nicht   verste- 
hen >  denn  es  ist  des  menschen  geist  ein    fest  schloss  dafür,    das 
mnss  von  ehe  aufgeschlossen  werden.     Und  das  kann  kein  mensch 
thon^  denn  der  Heilige  Geist  ist  allein  der  Schlüssel  dazu/'    Ebenso 
wenig,  wie  er  es  von  einem  anderen  Leser  für  möglich  hält,  konnte 
er  selbst  seine  Schriften  verstehen,  wenn  der  Geist  ihn  verlassen 
hatte.  —   Wir  gehen   weiter  und  finden,    dass    die   Öuäker    den 
Grundsatz  aufstellten,  Schulsatzung,  Menschenweisheit  und  geschrie- 
benes Wort  hintenan  zu  setzen,  und  allein  dem  eigenen  inneren 
Lichte  zu  vertrauen.    —    Bernhard   von   Clairveaux  sagt:     „Der 
Glaube  ist  eine  mit  dem  Willen  ergriffene  sichere  Yorempfindung 
einer  noch  nicht  ganz  enthüllten  Wahrheit  ^   und   gründet  sich  auf 
Autorität    oder  Offenbarung,    dahingegen    die  (innere)  Anschauung 
{eontemplaiiö)  die    gewisse  und  zugleich  offenbare  Erkenntniss  des 
Unsichtbaren  ist.^     Weiter  ausgeführt  wird  dies  in  seiner  Schule 
(Richard  und  Hugo  von  Si  Victor),  von  welcher  die  innere  Offen- 
barung  bezeichnet    wird    als    die    tiefere    mystische   Erkenntniss, 
welche  nur  den  Auserwählten  zu  Theil  wird,  als  Yernunft-Erleuch- 
tong  durch  den  Geist,  als  übernatürliche  Erkenntnisskraft,  als  innere 
uimuttelbare  Anschauimg^  welche  über  die  Vernunft  erhaben  ist.  — 
Der  Vorkämpfer  des  modernen  Mysticismus  gegen   die   ratio- 
nalistische Aufklärerei  ist  Hamann;  derselbe  will   den  Lihalt  der 
äusseren  göttlichen  Offenbarung  lebendig  aus  dem  Boden  des  eige- 
nen Geistes   wiedererzeugt  wissen,   iind   die  Lösung  aller  Wider- 
Bprüche  in   dem  an  sich  selbst  gewissen  Glauben  finden ,   der   ihm 
aus  dem  Gefühle,  aus  der  unmittelbaren  Offenbarung  der  Wahrheit 
hervorgeht.     Was   er  angedeutet,  hat  Jc^obi   ausgeführt.     Er  sagt 
(an  verschiedenen  Stellen):    „Die  üeberzeugung  durch  Beweise  ist 
eine  Gewissheit   aus   der  zweiten  Hand,  beruht  auf  Vergleichung 
und  kann  nie  recht  sicher  und  vollkommen  sein.    Wenn  nun  jedes 


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280 

Fürwahrhalten ,  welches  nicht  aus  Yernanftgründen  entspringt, 
Glaube  ist,  so  muss  die  Ueberzeugung  aus  Yemunftgründea  selbet 
aus  dem  Glauben  kommen  und  ihre  Kraft  allein  Ton  ihm  empfan- 
gen. —  ^er  weiss,  muss  sich  am  Ende  auf  Sinnesempfindung  oder 
auf  Geistesgeföhl  berufen.  —  Wie  es  eine  sinnliche  Anschauung 
giebt  durch  den  Sinn,  so  giebt  es  auch  eine  rationale  durch  die 
Vernunft.  Beide  sind  in  ihrem  Gebiete  das  Letzte  unbedingt  Gel- 
tende. —  Die  Vernunft ,  als  das  Vermögen  der  GtefQhle,  ist  das 
unkörperliche  Organ  für  die  Wahrnehmungen  des  XJebersinnlichen. 
Die  Vemunftansohauung ,  obgleich  in  überschwenglichen  Gefühlen 
gegeben,  ist  doch  wahrhaft  objectiv.  —  Ohne  das  positive  Ver- 
nunftgefühl eines  Höheren,  als  die  Sinnenwelt,  wäre  der  Verstand  nie 
aus  dem  Kreise  des  Bedingten  getreten.''  Fichte  und  Schelling 
haben  diese  Ansichten  aufgenommen,  während  Kant  in  seinem 
kategorischen  Imperativ  nur  einen  hinter  formellem  Verstandeswis- 
sen  versteckten  Gebrauch  davon  machte.  Fichte  sagt  in  £inlei* 
tungsvorlesungen  zur  Wissenschaftslehre :  ,J)iese  Lehre  setzt 
voraus  ein  ganz  neues  inneres  Sinnenwerkzeug,  durch  welches  eine 
neue  Welt  gegeben  wird,  die  für  den  gewöhnlichen  Menschen  gar 
nicht  voriianden  ist.  Sie  ist  nicht  etwa  Erdenken  und  Schaffen 
eines  Neuen,  nicht  Gegebenen,  sondern  Zusammenstellung  und  Er- 
fassung in  Einheit  eines  durch  einen  neu  zu  entwickelnden 
Sinn  Gegebenen."  Dieser  „Vemunftglaube"  Jakobi^s  erhält  bei 
Schelling  seinen  treffendsten  Namen:  intellectuelle  Anschauung^ 
welche  derselbe  als  das  unentbehrliche  Organ  alles  transcenden- 
talen  Fhilosophirens  hinstellt,  als  das  Princip  aller  Demonstration, 
und  als  den  unbeweisbaren,  in  sich  selbst  evidenten  Grund  aller 
Evidenz,  m^t  einem  Wort  als  den  absoluten  Erkenntnissact,  —  als 
eine  Art  der  Erkenntniss,  welche  für  den  bewussten  empirischen 
Standpunct  stets  unbegreidüch  bleiben  muss,  weil  sie  nicht  wie 
dieser  ein  Object  hat,  weil  sie  gar  nicht  im  Bewusstsein 
vorkommen  kann,  sondern  ausserhalb  desselben  fallt  (vgl 
Schelling  I.  1,  S.  181  —  182).  —  So  haben  wir  diese  Art  des  in's 
Bewusstseingelangens  eines  Inhaltes  von  dem  rohen  bildlichen  Aus- 
drucke einer  persönlichen  göttlichen  Mittheilung  bis  zu  Schellings  in- 
tellectualer  Anschauung  verfolgt,  und  haben  hierin  Dasjenige  gefunden, 
was  ein  Gefühl  oder  einen  Gedanken  der  Form  nach  mystisch  macht 
Fragen  wir,  wie  wir  uns  dieses  .unmittelbare  Wissen 
durch  intellectuale  Anschauung   zu  denken  haben,    so  geben  auch 


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281 

hierauf  Fichte  und  Schelling  uns  Antwort.  Fichte  sagt  in  den 
„Thatsachen  des  Bewusstseina^' :  ,,Der  Mensch  hat  überhaupt 
nichts  denn  die  Erfahrung,  und  er  kommt  zu  Allem,  wozu  er 
kommt,  nur  durch  die  Erfahrung,  durch  das  Leben  selbst.  Auch 
in  der  Wissenschaftslehre  als  der  absolut  höchsten  Potenz,  über 
welche  kein  Bewusstsein  sich  erheben  kann,  kann  durchaus  nichts 
vorkommen,  was  nicht  im  wirklichen  Bewusstsein  oder  in  der  Er- 
fahrung, der  höchsten  Bedeutung  des  Wortes  nach  liegt."  Und 
Schelling  bestätigt  (Werke  IL  Bd.  l.  S.  826):  „Denn  allerdings 
giebt  es  auch  solche,  die  yon  dem  Denken,  wie  einem  Gegensatz 
aller  Erfahrung  reden,  als  ob  das  Denken  selber  nicht  eben 
auch  Erfahrung  wäre!"  Das  unmittelbare  oder  mystische 
Wissen  wird  hier  sehr  gut  unter  den  Begriff  Erfahrung  ge- 
fssst,  weil  es  sich  „im  wirklichen  Bewusstsein"  als  Gegebenes 
vorfindet,  ohne  dass  der  Wille  etwas  daran  ändern  könnte. 
Gleichviel,  ob  dies  Gegebene  von  Linen  oder  von  Aussen  gegeben 
ist,  der  bevnisste  Wille  hat  in  beiden  Fällen  nichts  damit  zu 
schaffen,  und  das  Bewusstsein,  welchem  öein  unbewusster  Hinter- 
grund eben  unbewusst  ist,  muss  mithin  dessen  Eingebungen  ebenso, 
wie  etwas  Fremdes  aufnehmen,  woher  der  Glaube  an  göttliche  oder 
dämonische  Eingebung  der  intellectualen  Anschauung  in  früheren 
Zeiten  und  bei  philosophisch  Ungebildeten  stammt.  Da  das  Be- 
wusstsein weiss,  dass  es  aus  Sinnenwahrnehmung  direct  oder  indi- 
rect  sein  Wissen  nicht  geschöpft  hat,  weshalb  es  ihm  eben  als 
unmittelbares  Wissen  gegenübertritt,  so  kann  es  nur  durch 
Eingebung  aus  dem  Unbewussten  entstanden  sein,  und  wir  haben 
somit  das  Wesen  des  Mystischen  begriffen:  als  Erfüllung  des 
Bewusstseins  mit  einem  Inhalte  (Gefühl,  Gedanke, 
Begehrung)  durch  unwillkürliches  Auftauchen  des- 
selben aus  dem  Unbewussten.  Wir  müssen  demnach  das 
Hellsehen  und  Ahnen  als  etwas  Mystisches  ansprechen,  —  als  Un- 
terabtheilung der  Mystik,  insofern  sie  sich  auf  den  Gedanken  be- 
zieht, —  und  werden  nicht  umhin  können,  auch  in  jedem  Listincte 
etwas  Mystisches  zu  finden,  insoweit  nämlich  das.unbewusste  Hell- 
sehen des  Listinctes  als  Ahnung,  Glaube  oder  Gewissheit  in's  Bewusst- 
sein tritt  Man  wird  mir  ferner  nach  diesen  Betrachtungen  und  denen 
der  früheren  Capitel  beistimmen,  wenn  ich  auch  bei  den  gewöhnlich- 
sten psychologischen  Processen  alle  diejenigen  Gedanken  und  Gefühle 
aU  der  Form  nach  mystisch  bezeichne,  welche  einem  unmittelbaren 


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282  V 

Eingreifen  des  ünbewussten  ihre  Entstehung  verdanken,  also  vor 
uLlen  daß  ästhetische  Gefühl  in  der  Betrachtung  und  Production,  die 
Eiitätehung  der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  die  unhewussten  Vo^ 
gängti  beim  Denken,  Fühlen  und  Wollen  überhaupt  Gegen  diese 
völlig  gerechtfertigte  Anwendung  sträubt  sich  nur  das  gemeine 
Vorurtheil,  welches .  das  Wunder  und  das  Mysterium  nur  im  Ausser- 
ordeutliohen  sucht,  am  Tagtäglichen  aber  nichts  Unklares  oder 
Wunderbares  findet  —  nur  deshalb,  weil  eben  nichts  Seltenes  und 
ungewöhnliches  daran  ist.  Freilich  nennt  man  einen  Menschen, 
der  eben  nur  diese  überall  wiederkehrenden  psychologischen  My- 
sterien in  sich  trägt,  noch  keinen  Mystiker,  denn  wenn  dies 
Wort  mehr  als  Mensch  bedeuten  soll,  so  muss  es  eben  für  die 
Menschen  aufgespart  werden,  welchen  die  selteneren  Erscheinungen 
dtir  Mystik  zu  Theil  werden,  nämlich  solche  Eingebungen  des  ün- 
bewusaten,  welche  über  das  gemeine  Bedürfniss  des  Individuuma 
oder  der  Gattung  hinausgehen»  z.  B.  Hellsehende  aus  spontanem 
B<>tuuambulismus  oder  natürlicher  Disposition,  oder  Personen  mit 
dunklerem,  aber  häufig  fungirendem  Ahnungsvermögen  (Soorate» 
Diiimonion) ;  auch  würde  ich  nicht  Anstand  nehmen,  alle  eminen- 
ten üonies  der  Kunst,  welche  ihre  Leistungen  überwiegend  den  Ein- 
gebungen ihres  Genius  und  nicht  der  Arbeit  ihres  Bewusstseins 
verdanken,  mit  dem  Namen  Mystiker  zu  bezeichnen,  sie  mögen  in 
allen  anderen  Eichtungen  des  Lebens  so  klare  Köpfe  sein,  wie  sie 
wollen  (z.  B.  Phidias,  Aeschylos,  Raphael,  Beethoven).  Li  der  Phi- 
losophie möchte  ich  den  Begriff  noch  weiter  ausdehnen,  und  jeden 
originellen  Philosophen  einen  Mystiker  nennen,  in  soweit  er  wahr- 
haft originell  ist;  denn  eine  neue  Richtung  in  der  Geschichte  der 
Philosophie  ist  niemals  durch  mühsames  bewusstes  Probiren  und 
liiduciren  erquält  worden,  sondern  stets  durch  einen  genialen  Blick 
erftisBt  und  dann  mit  dem  Verstände  weiter  ausgeführt  worden. 
Dazu  kommt,  dass  die  Philosophie  wesentlich  ein  Thema  behandelt, 
welches  mit  dem  Einen  nur  mystisch  zu  erfassenden  Gefühle 
mkh  Engste  zusammenhängt,  nämlich  das  Yerhaltniss  des  In- 
dividuums zum  Absoluten.  Alles  Bisherige  betraf  nur  sol- 
chi^n  Bewusstseinsinhalt ,  der  auch  auf  andere  Weise  entstehen 
kann  oder  könnte,  also  hier  nur  deshalb  mystisch  heisst,  weil  die 
Form  seiner  Entstehung  mystisch  ist,  jetzt  aber  kommen  wir 
SU  einem  Bewusstseinsinhalte,  der  in  seiner  Innerlichkeit,  nur  my- 
siiath  zu  erfassen  ist,  der  also  auch  als  Inhalt  mystisch  genannt 


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283 

werden  kann;  und  ein  Mensch,  der  diesen  mystischen  Inhalt  pro- 
duciren  kann,  wird  ganz  vorzngsweise  Mystiker  genannt  werden 
müssen. 

Der  bewusste  Gedanke  kann  nämlich  die  Einheit  des  In- 
dividuums mit  dem  Absoluten  mit  rationeller  Methode  begreifen^ 
wie  auch  wir  uns  in  unserer  Untersuchung  auf  dem  Wege  zu  die- 
sem Ziele  befinden,  aber  das  Ich  imd  das  Absolute  und  ihre  Einheit 
stehen  ihm  als  drei  Abstractionen  da,  deren  Verbindung 
«um  Urtheil  durch  die  vorangehenden  Beweise  zwar  wahrschein- 
lich gemacht  wird,  —jedoch  ein  unmittelbares  Gefühl  dieser 
Einheit  erlangt  er  nicht.  Der  Autoritätsglaube  an  eine 
äussere  Offenbarung  kann  den  Lehrsatz  einer  solchen  Einheit  gläu- 
big nachsprechen  y  das  lebendige  Gefühl  derselben  kann  nicht  von 
Aussen  eingepflanzt  oder  au%epfiropft,  es  kann  nur  aus  dem  eigenen 
Geiste  selbst  herausgeboren  werden,  mit  einem  Worte,  es  ist  weder 
durch  Philosophie  noch  durch  Offenbarung  von  Aussen  her,  sondern 
nur  mystisch  dazu  zu  gelangen,  wenn  auch  bei  gleicher  mystischer 
Anlage  um  so  leichter,  je  vollkommenere  und  reinere  philosophische 
Begriffe  oder  religiöse  Vorstellungen  man  mitbringt.  Darum  ist 
dieses  Gefühl  der  Inhalt  der  Mptik  xat  k^oxijVy  weil  er  nur  in 
ihr  seine  Existenz  findet  und  zugleich  das  höchste  und  letzte, 
wenn  auch;  wie  wir  früher  gesehen  haben,  keineswegs  das  einzige 
Ziel  aller  derer,  die  ihr  Leben  der  Mystik  geweiht  haben.  Ja  wir 
können  sogar  so  weit  gehen,  zu  behaupten,  dass  die  Erzeugung  eines 
gewissen  Grades  von  diesem  mystischen  Gefühl  und  des  in  demselben 
liegenden  Genusses  das  einzige  innere  Ziel  aller  Eeligion  ist,  imd 
dass  es  deshalb  nicht  unrichtig,  wenn  auch  weniger  bezeichnend  ist, 
den  Namen  religiöses  Gefühl  für  dasselbe  anzuwenden. 

Wenn  femer  in  diesem  Gefühl  für  den,  der  es  hat,  die  höchste 
Seligkeit  liegt,  wie  die  Erfahrung  an  allen  Mystikern  bestätigt,  so 
liegt  offenbar  der  Uebergang  zu  dem  Bestreben  nahe,  dies  Gefühl 
dem  Grade  nach  zu  steigern  dadurch,  dass  man  die  Vereinigung 
zwischen  dem  Ich  und  dem  Absoluten  immer  enger  und  inniger 
zu  machen  sucht.  Es  ist  aber  auch  unschwer  zu  sehen,  dass  wir 
hier  an  den  schon  vorhin  angedeuteten  Punct  gekommen  sind,  wo 
die  Mystik  von  selbst  in  etwas  Krankhaftes  umschlägt,  indem  sie 
ihr  Ziel  überfliegt;  freilich  müssen  wir  uns  dazu  ein  wenig  über 
den  in  unseren  Untersuchungen  bis  jetzt  erreichten  Standpunct  er- 
heben.    Es  ist  nämlich    die  Einheit  des  Absoluten  und  des  Indivi- 


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284 

duums,  dessen  Individualität  oder  Ichheit  durch  das  Bewusstsein 
gegeben  ist>  also  mit  anderen  Worten  die  Einheit  des  ünbewussten 
und  Bewussten  ein  für  alle  Mal  gegeben,  untrennbar  und  unzer- 
störbar, ausser  durch  Zerstörung  des  Indiyiduums ;  darum  ist  aber 
auch  jeder  Versuch,  diese  Einheit  inniger  zu  machen,  als  sie  ißt, 
so  widersinnig  und  nutzlos.  Der  "Weg,  der  historisch  fast  immer 
dazu  eingeschlagen  wird,  ist  der  der  Vernichtung  des  BewussteeinB, 
das  Streben,  das  Individuum  im  Absoluten  aufgehen  zu  lassen; 
derselbe  enthält  aber  den  grossen  Irrthum,  als  ob,  wenn  das  Ziel 
der  Vernichtung  des  Bewusstseins  erreicht  wäre,  das  Individuum 
noch  bestände ;  das  Ich  will  sich  zugleich  vernichten,  und  zugleich 
bestehen  bleiben,  um  diese  Vernichtung  zu  gemessen.  Es  wird 
mithin  dies  Ziel  nach  beiden  Seiten  hin  immer  nur  unvollständig 
erreicht,  obgleich  uns  die  Berichte  der  Mystiker  erkennen  lassen, 
dass  manche  es  auf  diesem  Wege  bis  zu  einer  bewunderungswür- 
digen Höhe  oder  vielmehr  Tiefe  gebracht  haben,  so  dass  ich  Einiges 
davon  anführen  will;  die  wahre  Selbstvernichtung  ist  natürlich 
nur  der  Selbstmord,  aber  hier  liegt  der  Widerspruch  zu  klar  zu 
Tage,  als  dass  er  oft  das  Resultat  der  Mystik  geworden  wäre.  . 

Michael  Molinos,  der  Vater  des  Quietismus,  sagt  unter  den 
achtundsechzig  von  Innocenz  VI.  verdammten  Sätzen  seines  berühm- 
ten „geistlichen  Wegweisers":  „Der  Mensch  muss  seine  Kräfte  ver- 
nichten, und  die  Seele  vernichtet  sich,  indem  sie  nichts  wirkt.  Und 
ist  es  mit  der  Seele  bis  zum  mystischen  Tode  gekommen,  so  kann 
sie  —  indem  sie  nun  zu  ihrer  Grundursache,  zu  Gott,  zurückgekehrt 
ißt,  weiter  nichts  wollen,  als  was  Gott  will."  Die  Mystiker  des 
früheren  Mittelalters  unterschieden  auf  verschiedene  Art  eine 
grössere  oder  geringere  Anzahl  Stufen;  die  letzte  ist  immer  die 
Absorption,  derselbe  Zustand,  den  wir  schon  bei  den  buddhaistischen 
Gymnosophisten,  bei  den  neupersischen  Ssu£'s  und  den  Hesychasten 
oder  Quietisten  oder  Kabelbeschauem  auf  dem  Berge  Athos  be- 
schrieben £nden.  Es  wird  gesagt,  dass  in  der  Absorption  der 
Mensch  nicht«  mehr  von  seinem  Leibe  fühlt,  überhaupt  nichts 
Aetisseres,  ja  nicht  einmal  mehr  sein  Inneres  wahrnimmt  „An  die 
Absorption  nur  denken,  heisst  schon  aus  der  Absorption  heraus- 
f allen."  Der  Eigenheit  absterben,  die  Persönlichkeit  völlig  ver- 
nichten und  im  göttlichen  Wesen  aufgehen  lassen,  wird  ausdrück- 
lich gefordert.  Ja  sogar  die  wesentlichen  Formen  des  Bewusstseins, 
Raum  und  Zeit,  müssen  verschwinden,  wie  wir  aus  einem  Gespräche 


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285 

des  Propheten  mit  Seaid  entnehmen,  wo  Letzterer  sagt:  „Tag  und 
Nacht  sind  mir  wie  ein  Blitz  verschwunden,  ich  umfasste  zumal  die 
Ewigkeit  vor  und  nach  der  Welt,  so  dass  in  solchem  Zustande 
hundert  Jahre  oder  eine  Stunde  dasselbe  sind/'  Alles  dies  bestätigt 
ims  das  Streben  nach  Identifioirung  mit  dem  Absoluten  durch  Yer- 
nichtung  des  indiyiduellen  Bewusstseins. 

Der  andere  ebenfalls  denkbare  Weg  zur  Steigerung  der  Einheit 
wäre  das  Bestreben,  das  Absolute  im  loh  aufgehen  zu  lassen ;  auch 
dieser  Weg  ist  Ton  hochfahrenden  Gemüthem  yersucht  worden,  aber 
er  ist  so  vermessen,  und  das  Ziel  und  die  dem  Individuum  zu 
Gebote  stehende  Macht  und  Mittel  dazu  so  unverhältnissmässig,  dass 
wir  ihn  nicht  weiter  zu  berücksichtigen  brauchen. 

Ton  Mystikern  gingen  die  religiösen  Offenbarungen  aus,  von  Hy- 
itikem  die  Philosophie ;  die  Mystik  ist  die  gemeinschaftliche  Quelle  bei- 
der. Es  ist  wahr^  dass  die  Furcht  zuerst  auf  Erden  Götter  geschaffen, 
insoweit  die  Furcht  es  war,,  welche  zuerst  die  Phantasie  der  mysti- 
schen Köpfe  in  Bewegung  setzte,  aber  was  sie  schufen ^  war  ihr 
eigen,  und  die  Furcht  hatte  keinen  Theil  daran.  Als  aber  die 
ersten  Götter  einmal  da  waren,  da  zeugten  sie  unter  einander 
weiter,  und  die  Furcht  war  ausser  Dienst  gesetzt.  Darum  ist  die 
alte,  von  den  Theologen  so  hoch  gehaltene  Behauptung  von  dem '  im 
Menschen  wohnenden  Gottesbewusstsein  keine  Fabel,  wenn  es  auch 
Töllig  gottlose  Individuen  und  Völker  gäbe,  in  denen  es  nicht,  zum 
Burchbruch  gekommen;  die  Mystik  ist  ein  Erbtheil  von  Adam  her 
nnd  ihre  Eliiider  sind  die  Vorstellungen  der  GRJtter  und  ihres  Ver- 
hältnisses zum  Menschen.  Wie  erhaben  und  rein  diese  Vorstellun- 
gen schon  in  ganz  frühen  Zeiten  in  den  esoterischen  Lehren  man- 
cher Völker  gewesen  seien,  zeigen  uns  die  Inder,  die  eigentlich  die 
ganze  Geschichte  der  Philosophie  implicite  besessen  haben,  aber 
in  bildlicher  und  unentwickelter  Form,  was  wir  nur  allzu  abstract 
in  allzu  viel  Schriftstellern  und  Bänden* 

So  erkenne  ich  in  der  ganzen  Geschichte  der  Philosophie  nichts 
Anderes  als  die  Umsetzung  eines  mystisch  erzeugten  Inhaltes  aus 
der  Form  des  Bildes  oder  der  unbewiesenen  Behauptung  in- die  des 
rationellen  Systems,  wozu  allerdings  häufig  eine  mystische  Neu- 
production  einzelner  Theile  erfordert  wird,  die  man  denn  später 
«TBt  in  den  alten  Schriften  wieder  erkennt.  —  Es  ist  natürlich  kein 
Wunder,  dass  von  dem  Augenblicke  an,  wo  Philosophie  und  Eeligion 
sich  trennen,  sie  beide  ihren  menschlich  -  mystischen  Ursprung  ver- 


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•  286 

lou^cn;    erBtere   sucht  ihre  Besultate  als  rationell  erworbene  dar- 
ZU6 tollen,   letztere   als   äussere  göttliche  Offenbarungen.     Denn  so 
lauge  der  Mystiker  bei   seinen  Besultaten  stehen  bleibt,  ohne  eine 
rationelle   Begründung   derselben   zu  versuchen,  ist   er  noch  nicht 
Philosoph,  und  wird  dies  erst  dadurch,  dass  er  die  bewusste  Ver- 
nunft in  ihre  Rechte  einsetzt;   dies  wird   er  aber  nicht  eher  thirn, 
alä  hia  er  dieser  vor  der  Mystik  den  Vorzug  giebt,  und  dann  wird 
er  gern  den  mystischen  Ursprung  seiner  Resultate  verleugnen  und 
vergessen,  was  ihm  bei  der  Unklarkeit  ihrer  Entstehungsweise  nicht 
schwer  wird.      Wenn   dagegen   der   Mystiker  von    der  bewussten 
Vemuntt   gering   denkt,   oder  von  Natur  zur  phantasievollen  Dar- 
atellung  hinneigt,  so  wird  er  einen  bildlich -symbolischen  Ausdruck 
tiir  seine  Resultate  suchen,  der  natürlich  immer  nur  ein  zufalliger 
und    TuiTollkommener  sein   kann;   sobald  nun   er  selbst  oder  seine 
Nachfolger  unfähig  werden,  die  hinter  den  Symbolen  steckende  Idee 
zu   erfassen,   und  jene  selbst   als   das  Wahre  nehmen,  so  hören  sie 
wiederum  auf,  Mystiker  zu  sein  und  werden  religiös;  da  sie  ihre 
Symbole  weder   mystisch   selbst  wiedererzeugen   können,  noch  sie 
rettiouell  begreiflich  sind,  so  müssen  sie  sich  auf  die  Autorität  des 
Stifters  für  die  Wahrheit   derselben  berufen,  und  da  menschliche 
Autorität   für   so  wichtige    Sachen  zu  gering  erscheint,  auch  wohl 
düT  Stitter  selbst  schon   göttliche  Mittheilungen   behauptet  hat,  so 
wird  ihre  Wahrheit  auf  die  göttliche  Autorität  selbst  zurückgeführt. 
So  eitstehen  die  Gebilde,  welche  den  dogmatischen  Inhalt  der  Be- 
ligiori  bilden.     Je  adäquater  die  Symbole  der  mystischen  Idee  sind, 
diäto  reiner  und  erhabener  ist  die  Religion,  desto  abstracter  und 
philo Bophischer  müssen  aber  auch  die  Symbole  sein;  je  inadäquater 
und  sinnlicher  sie  sind,  desto   mehr  versinkt  die  Religion  in  aber- 
gläubiachen    Götzendienst    und   priesterliches   Formelwesen.      Wer 
nun  alöo  die  Symbole   der  Religion  wieder  bloss  als  Symbole  ver- 
steht und  die  hinter  ihnen  wohnende  Idee  ergreifen  will ,  der  tritt 
aufl  der  Religion  als  solcher  heraus,  welche  Buohstabenglauben  an 
die  Symbole  verlangt  und  verlangen  muss,  und  wird  wieder  Mysti- 
ker;   und    dies    ist  der    gewöhnlichste    Weg,    auf   welchem  der 
Mystit-iamus  sich  bildet,  indem  hellere  Köpfe  an  der  historisch  ge- 
gebenen Religion   ein  Ungenüge  finden  und   die  tieferen  Ideen  er- 
fassen wollen*^   die  hinten-den  Sjrmbolen  derselben  wohnen.    Man 
siaht  jetzt,  wie  nahe  verwandt  Religion  und  Mysticismus  sind  und 


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287 

wie  sie  doch  etwas  principiell  Yerschiedenes  sind ;  man  sieht  auch, 
warum  eine  fertige  Kirche  der  Mystik  immer  feindlich  sein  muss. 
Fragen  wir  nun,  woher  es  kam,  dass  die  Mystik,  welche  den 
Menseben  die  ersten  Offenbarungen  des  Uebersinnlichen  brachte, 
nicht  bei  sich  stehen  blieb,  sondern  in  Philosophie  und  Beligion" 
umechlug,  so  zeigt  sich  der  Grund  hiervon  in  der  Formlosigkeit  des 
rein  mystischen  Besultates,  welches  nothwendig  streben  muss,  eine 
Form  zu  gewinnen;  so  wenig  das  Mystische  an  sich  mittheilbar  an 
einen  Anderen  ist,  so  wenig  ist  es  fassbar  für  das  Bewusstsein  des 
Denkers  selbst;  es  ist  eben  wie  alles  TJnbewusste  erst  dann  dem 
Bewusstsein  ein  bestimmter  Inhalt,  wenn  es  in  die  Formen  der 
Sinnlichkeit  eingegangen,  als  Licht,  Klarheit,  Vision,  Bild,  Symbol 
oder  abstraoter  Gedanke;  vorher  ist  es  nur  absolut  unbestimmtes 
Gefühl,  d.  h.  das  Bewusstsein  erfährt  nichts  als  Seligkeit  oder  Un- 
seligkeit  schlechthin.  Wird  nun  das  Gefühl  erst  durch  Bilder  oder 
Gedanken  der  Art  nach  bestimmt,  so  ruht  in  diesem  Bild  oder  Ge- 
danken allein  für  das  Bewusstsein  der  Inhalt  des  mystischen  Be- 
soltates  und  es  ist  mithin  kein  Wunder,  dass,  wenn  bei  Abschwä- 
ohnng  der  mystischen  Kraft  neue  Eingebungen  ausbleiben,  das 
Bewusstsein  sich  an  diese  sinnlichen  Residuen  hält,  —  am  wenigsten, 
wenn  Andere  dies  thun,  denen  nur  jene  Besiduen  und  nicht  die 
damit  verknüpften  Gefühle  mitgetheilt  werden  können,  nicht  jenes 
unbestimmte  Etwas,  welches  dem  productiven  Mystiker  sagt,  dass 
seine  Bilder  und  Gedanken  immer  noch  ein  unvollkommener  Aus- 
druck der  übersinnlichen  Idee  sind.  Die  Mittheilung  verlangt  aber 
noch  mehr,  der  Andere  will  nicht  bloss  das  Was  der  mystischen 
Besultate  haben,  sondern  auch  das  Warum,  denn  der  productive 
Mystiker  erhält  zwar  durch  die  Art,  wie  er  dazu  kommt,  eine  un- 
mittelbare Gewissheit,  aber  woher  soll  ein  Dritter  die  XJeberzeugung 
nehmen?  Die  Beligion  hilft  sich  hier  eben  mit  dem  das  selbst- 
ständige TJrtheil  vernichtenden  Surrogat  des  Autoritätenglaubens, 
die  Philosophie  aber  versucht  das,  was  sie 'mystisch  empfangen, 
rationell  zu  beweisen,  und  dadurch  das  Alleingut  des  Mystikers 
2um  Gemeingut  der  denkenden  Menschheit  zu  machen.  Kur  zu 
häufig  sind,  wie  es  bei  der  Schwierigkeit  des  Gegenstandes  nicht 
anders  sein  konnte,  diese  rationellen  Beweise  verunglückt,  indem 
sie,  abgesehen  von  dem,  was  an  ihnen  wirklich  \inrichtig  ist,  selbst 
wieder  auf  Voraussetzungen  beruhen,  von  deren  Wahrheit  nur 
mystisch  die  üeberzeugung  gewonnen  werden  kann;  und  so  kommt 


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288 

es,  dass  die  verschiedenen  philosophischen  Systeme^  so  Vielen  sie 
auch  imponiren,  doch  nur  für  den  Verfasser  und  für  einige  Wenige 
volle  Beweiskraft  haben,  welche  im  Stande  sind,  die  zu  Grunde 
liegenden  Voraussetzungen  (z.  B.  Spinoza's  Substanz  ^  Eichte's  Ich, 
Schelling's  Subject-Object,  Schopenhauer's  Wille)  mystisch  in  sich 
zu  reproduciren,  und  dass  diejenigen  philosophischen  Systeme,  welche 
sich  der  meisten  Anhänger  erfreuen,  gerade  die  6tllerärmsten  und 
unphilosophischsten  sind  (z.  B.  der  Materialismus  und  der  rationa- 
listische Theismus). 

Sollte  ich  den  Mann  nennen,  den  ich  für  die  Blume  des  phi- 
losophischen Mysticismus  halte,  so  sage  ich  Spinoza:  als  Ausgangs- 
punct  die  mystische  Substanz,  als  Endpunct  die  mystische  liebe 
Gottes,  in  der  Gott  sich  selber  liebt,  und  alles  Uebrige  sonnenklar 
—  nach  mathematischer  Methode. 

Gewiss  hat  Spinoza  nicht  geglaubt,  Mystiker  zu  sein,  sondern 
vielmehr  vermeint,  Alles  so  sicher  bewiesen  zu  haben,  dass  Jeder 
es  einsehen  müsse,  und  doch  hat  sein  System,  so  sehr  es  imponirt, 
gar  nichts  üeberzeugendes  und  so  Wenige  überzeugt,  weil  man  zu- 
nächst von  der  Substanz  in  Spinoza's  Sinne  überzeugt  sein  mnss, 
was  nur  ein  Mystiker  kann,  oder  ein  Philosoph,  der  zum  Schlüsse 
seines  Systemes  dieselbe  auf  andere  Weise  erreicht  hat,  und  dann 
den  Spinozismus  nicht  mehr  braucht  Aehnlich  ist  es  aber  mit 
allen  anderen  Systemen,  ausgenommen  die  wenigen,  die  von  unten 
anfangen,  wie  Leibniz  und  die  Engländer,  dann  aber  auch  nicht  weit 
kommen,  und  eigentlich  nicht  mehr  Systeme  zu  nennen  sind.  Der 
vollständige  rationelle  Beweis  für  die  mystischen  Eesultate  kann 
erst  am  Schlüsse  der  Geschichte  der  Philosophie  fertig  sein,  denn 
letztere  besteht,  wie  gesagt,  ganz  und  gar  in  dem  Suqhen  dieses 
Beweises. 

Endlich  dürfen  wir  nicht  unterlassen,  auf  die  Gefahr  des  In- 
thums  aufmerksam  zu  machen,  welche  in  der  Mystik  liegt,  und 
welche  in  dieser  darum  so  viel  schlimmer  ist,  als  im  rationellen 
Denken,  weil  letzteres  in  sich  selbst  und  in  der  Mitwirkung  An- 
derer die  Controle  und  Hoffnung  der  Verbesserung  hat,  der  in 
mystischer  Gestalt  eingeschlichene  Irrthum  aber  unaustilgbar  fest 
eingewurzelt  sitzt.  Dabei  darf  man  aber  nicht  daran  denken,  als 
ob  das  Unbewusste  falsche  Eingebungen  ertheilte,  sondern  es  ertheilt 
dann  gar  keine,  und  das  Bewusstsein   nimmt  die  Bilder  seiner  un- 


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in^irirten   Phantasie  dennoch  fUr  Inspirationen  des  ünbewussten, 
weil  es  sich  nach  diesen  sehnt. 

Es  ist  im  wachen  Zustande  bei  mystischer  Stimmung  ebenso 
Bohwer,  eine  wahrhafte  Eingebung  des  XJnbewussten  von  blossen 
Einfallen  der  Phantasie  zu  unterscheiden ,  als  einen  hellsehenden 
Traum  von  einem  gemeinen ;  wie  hier  nur  der  Erfolg,  so  kann  dort 
nur  die  Reinheit  und  der  Werth  des  Besultates  diese  Frage  ent- 
scheiden. Da  aber  die  wahren  Inspirationen  immerhin  seltene  Zu- 
stände sind,  so  ist  leicht  einzusehen,  dass  bei  Allen,  die  solche 
mystische  Eingebungen  herbeisehnen,  sehr  viele  Selbsttäuschungen 
auf  eine  wahre  Eingebung  kommen  müssen,  es  ist  also  nicht  zu 
yerwundem,  wie  viel  Unsinn  die  Mystik  zu  Tage  gefördert  hat, 
imd  dass  sie  deshalb  jedem  rationellen  Kopfe  zunächst  heftig 
▼iderstehen  muss. 


▼•  HtttBMui,  PhU.  d.  üiib«ini88teB.  19 

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1 


Das  Unbewnsste  in  der  CfescMchte. 


Natur  und  Geschichte ,  oder  die  Entstehung  der  OrganismeB 
und  die  Entwiokelung  des  Menschengeschlechtes  sind  zwei  parallele 
Prableme.  Die  Frage  heisst  in  beiden  Fällen :  particuläre  Zufallig- 
keji  oder  allgemeine  Nothwendigkeit  der  Resultate,  todte  Cauaalitäi 
oder  lebendige  Zweckmässigkeit,  blosses  Spiel  der  Atome  und  Indi- 
viduc^n  oder  einheitlicher  Plan  und  Leitung  des  Ganzen?  Es  wiid 
dem,  welcher  die  Frage  für  die  Natur  zu  Gunsten  der  Zweckmässig- 
keit entschieden  hat,  nicht  schwer  werden,  dies  auch  für  die  Ge- 
i^chichte  zu  thun.  Was  dabei  täuschen  kann,  ist  der  Schein  der 
Froiheit  der  Individuen.  Zunächst  glaube  ich  mich  darauf  berufen 
^u  können,  dass  die  neuere  Philosophie  einstimmig  die  Frage  der 
Willims&eiheit  dahin  entschieden  hat,  dass  yon  einer  empirischen 
Freiheit  des  einzelnen  Willensactes  im  Sinne  der  unbedingt- 
hoit  keine  Bede  sein  könne,  da  dieser  wie  jede  andere  Naturer- 
gchcujung  unter  dem  Gesetze  der  GausaHtät  steht  und  aus  dem 
augenblicklich  gegebenen  geistigen  Zustande  des  Menschen  und  den 
auf  ihn  wirkenden  Motiven  mit  Nothwendigkeit  folgt,  dass  vielmehr, 
wenn  von  einer  ausserhalb  der  naturgesetzlichen  Causalitat 
titchc^nden  Willensfreiheit  die  Bede  sein  kann,  diese  nur  in  dem 
üb€rHimilichen  Gebiet  (nrnndus  notd/menon),  in  Kant's  intelligibelm 
Character,  gesucht  werden  kann,  aber  nicht  im  einzelnen  Willens- 
mt0  wohnen  kann,  da  jeder  solche  in  die  Zeit  fällt,  also  in  das 
Gebiet  der  Erscheinungswelt  gehört  und  damit  dem  Causalitötsge- 
Betze,  d.  h.  der  Nothwendigkeit,  unterworfen  ist  Dies  und  die 
Gründe,  warum  wir  dem  Schein  einer  Willensfreiheit  unterworfen 
sind,  ist  nachzulesen  in  Sehopenhauer's  Schrift:  „über  die  Freiheit 
6m  Willens." 


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291 

Aber  gesetzt  d^i  Fall,  wir  lieBsen  Bogar  die  empirisohe  Wil- 
lensfreiheit gelten,  so  würde,  wenn  wir  überhaupt  einen  planyoUen 
Bntwiokelungsgang  in  der  Geschichte  anerkennen,  dieser  doch  nur 
dann  das  Besoltat  der  Freiheit  der  Individuen  sein  können  ^  wenn 
das  Bewusstsein  des  nächsten  zu  thuenden  Schrittes  mit  seiner 
ganzen  Bedeutung  und  seinen  Folgen  in  jedem  mit  Freiheit  an  der 
Geschichte  Mitwirkenden  yorhanden  wäre,  ehe  er  thätig  eingreift. 

Allerdings  nähern  wir  uns  seit  dem  letzten  Jahrhundert  jenem 
idealen  Zustande^  wo  das  Menschengeschlecht  seine  Geschichte  mit 
BewQBstsein  macht,  aber  doch  nur  sehr  von  Weitem  und  in  hervor- 
ragenden Köpfen,  und  Niemand  wird  behaupten  wollen,  dass  der 
bei  Weitem  grössere  schon  zurückgelegte  Theil  des  ganzen  Weges 
auf  diese  Weise  überwunden  sei.  Denn  die  Zwecke  des  Einzelnen 
nnd  immer  selbstsüchtig.  Jeder  sucht  nur  sein  Wohl  zu  fordern^ 
und  wenn  dies  zum  Wohle  des  Ganzen  ausschlägt,  90  ist  es  sicher 
nicht  sein  Verdienst;  die  Ausnahmen  von  dieser  Eegel  sind  so 
selten^  dass  sie  für  das  grosse  Ganze  gar  nicht  in  Betracht  kommen. 
Bas  Wunderbare  aber  ist  eben  dabei,  dass  auch  der  Geist,  der  das 
Böse  will,  das  Gute  schafft,  dass  die  Besultate  durch  Combination 
der  vielen  Tcrschiedenen  selbstsüchtigen  Absichten  ganz  andere 
werden,  als  jeder  Einzelne  gedacht  hatte,  und  dass  sie  letzten 
Endes  doch  immer  zum  Wohle  des  Ganzen  ausschlagen,  wenn  auch 
oft  der  Nutzen  etwas  weitaussehend  ist,  und  Jahrhunderte  des 
B&cksehrittes  dem  zu  widersprechen  scheinen;  aber  dieser  Wider- 
sprach ist.  nur  scheinbar,  denn  sie  dienen  nur  dazu,  die  Kraft  eines 
alten  Gebäudes  zu  brechen,  damit  ein  neues,  besseres  Platz  findet, 
oder  eine  Vegetation  verwesen  zu  lassen,  damit  sie  den  Dünger  zu 
einer  neuen ,  schöneren  giebt.  Auch  Jahrtausende  des  Stillstandes 
auf  einer  Stelle  der  Erde  dürfen  uns  nicht  beirren,  wenn  nur  diese 
ColtnrBtufe  zu  irgend  einer  Zeit  irgend  einen  bestimmten  ihr  eigen- 
ihümlichen  Beruf  erfüllt  hat,  und  wenn  nur  zu  derselben  Zeit  an 
eiser  anderen  Stelle  der  Entwickelungsprocess  vorwärts  geht. 

Ebensowenig  darf  man,  wie  so  häufig  unbilliger  Weise  geschieht, 
Terlangen,  dass  an  ein  und  derselben  Stelle  alle  verschiedenen 
Zweige  oder  Bichtungen  gleichzeitig  einen  ungehemmten  Fortgang 
nehmen,  und  sich  über  StiUstand  oder  Bückschritt  beklagen,  wenn 
legend  ein  bestimmter  Zweig,  dem  man  vielleicht  gerade  seine  per- 
Bonliche  Vorliebe  zugewandt  hat,  in  Verfall  gerathen  ist  Die  Ent- 
wiokelung  im  Grossen  und  Ganzen  geht  fort,  wenn  auch  nur  immer 

19* 


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292 

£m   oder  wenige  Momente  im  Fortschritte  begriffen  aind  und  die 
Felder  der  übrigen  braoh  liegen. 

Das  schönste  und  zugleich  einfachste  Beispiel,  wie  sich  der 
Schein  der  Freiheit  im  Einzelnen  mit  der  Nothwendigkeit  im  Qm- 
zen  vereinigt,  ist  die  Bildung  des  Staatsverbandes  aus  dem  JS^^nr- 
zustande.  Kant  braucht  das  schöne  Bild  eines  Waldes,  wo  jeder  Baom 
den  anderen  verdrängen  will,  und  eben  darum  alle  so  gerade  und 
hoch  wachsen,  dass  der  Wald  ein  regelmässiges  und  schönes  Gimxe 
wird,  während  die  einzeln  stehenden  Bäume,  die  sich  unbehindert 
ausbreiten  können,  krumm,  schief  und  knorrig  wachsen.  Sowohl 
der  Geselligkeitstrieb,  als  der  Absonderungstrieb,  sowohl  die  Freund- 
schaft und  Liebe,  als  Feindschaft  und  Hass  sind  im  Menschen 
Theile  der  Selbstsucht  und  bezwecken  nur  das  eigene  Wohl  und 
den  eigenen  Genuss  am  fremden  Schmerze  öder  Glücke,  und  doch 
baut  sich  aus  diesen  egoistischen  Elementen  der  Staatsverband  aii( 
indem  der  Gteselligkeitstrieb  die  Menschen  zur  Familie,  und  die 
Feindschaft  der  Familien  unter  einander  mehrere  zu  engerer  Ye^ 
bindung,  zu  Horden,  Stämmen,  endlich  zu  Staaten  zusammenführt. 
Wie  die  Feindschaft  der  Stämme  den  Staatsverband  schafft,  so  schafft 
die  Feindschaft  der  Einzelnen  im  Staate  den  Bechtsverband.  Nieht 
Bousseau's  Fiction  eines  eontrtxt  aodaly  sondern  Hobbe's  Feindschaft 
Aller  gegen  Alle  in  Verbindung  mit  dem  Geselligkeit^rincip  des 
Grotius,  mit  einem  Worte  der  Mensch  als  ^cciov  JtokitiMV  des 
Aristoteles,  d.  h.  ein  menschlicher  Instinct,  ist  die  Ursache  der 
Staatenbildung.  Was  wir  bei  Entstehung  des  Staates  überhaupt 
sehen,  das  kehrt  in  noch  viel  wunderbarerer  Gestalt  bei  der  histo- 
rischen Entwickelung  der  Staatsidee  zu  immer  vollkornmeneren 
Formen  wieder,  worin  doch  eine  der  wichtigst^i  Seiten  der  Geschichte 
besteht.  Denn  die  Herstellung  des  vollkommensten,  die  ganze  bewohn- 
bare Erde  umfassenden  Staatsverbandes  ist  offenbar  das  Ziel  def  poli- 
tischen Geschichte ;  nur  in  ihm,  nur  im  gesicherten  Frieden,  wo  alle 
Ausgaben  auch  wirklich  der  Gultur  wieder  zu  Gute  kommen,  können 
alle  menschlichen  Anlagen  der  Individuen  sich  ungehindert  ent- 
wickeln, und  diese  Entwickelung  aller  vorhandenen  Anlagen,  die 
Verwirklichung  aller  im  Menschengesehlechte  schlummernden  Mö^ 
Uchkeiten  ist,  wenn  nicht  die  positive  AuiJi^abe  der  Menschheit 
selbst,  so  doch  ihre  unmittelbare  Vorbedingung. 

Ich  will  versuchen,   mit  wenig  Strichen  das  Skelett  der  Ent- 
wickelung der  Staatsidee  zu  zeichnen,  wie  ich  sie  mir  denke.    Die 


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298 

Geeehiehte  seigt  drei  Hauptgegensätxe  im  8taatenleben^  Grossstaat 
und  Kleinstaat,  Republik  und  Monarchie ,  indireote  und  directe 
Verwaltung.  Die  Aufgabe  ist,  Grossstaat  und  Bepublik  als  die  vor- 
süglieheren  Formen  mit  einander  zu  verbinden,  das  Mittel  dazu  die 
iodirecte  Verwaltung.  —  Die  patriardialischen  Stammhäuptling- 
sekaftai  und  Eönigthümer  zeigen  uns  die  Verbindung  von  Klein- 
staat xmd  Monarchie,  die  asiatischen  Despotien  die  von  Grossstaat 
ond  Monarchie.  Hier  hat  nur  £iner  bürgerliche  Freiheit,  alle 
Anderen  sind  unfreie  Sclayen  oder  Leibeigene  des  Herrschers.  Die 
griechischen  Städte  und  Landschaftsrepubliken  sind  das  erste  Bei- 
spiel der  Bepublik;  von  ihrem  zerrissenen  Ländchen  begünstigti 
konnten  die  Griechen  selbst  in  ihren  kleinen  Kleinstaaten  die  Be- 
publik  erst  als  Aristokratie  der  freien  Bürger  darstellen,  welche 
über  die  doppelte  Anzahl  Sclaven  herrschen.  Das  römische  Welt- 
reich verbindet  die  griechische  Stadtrepublik  mit  dem  asiatischen 
Oroflsstaatsdespotismus;  an  die  Stelle  des  Despoten  tritt  die  römische 
Bürgerschaft,  und  alle  unterworfenen  Länder  enthalten  nur  Sclaven. 
Als  daher  die  republikanische  Kraft  der  römischen  Bürger  erschlaffte, 
fiel  es  ebenJßEdls  in  die  Grossstaatsmonarchie  zuiück.  —  Das  Ger- 
manenthum  bringt  durch  das  Lehenswesen  ein  neues  Frincip  in  die 
Staatsidee,  das  der  indirecten  Verwaltung  oder  des  pyramidalen 
Stofenbaues  der  Herrschaft,  während  das  Alterthum  nur  directe 
Terwaltung  gekannt  hatte.  Die  Alten  hatten  nur  Freie  und  Sclaven, 
jetzt  tritt  aber  vom  Könige  bis  zum  leibeigenen  Bauer  herunter 
eine  Abstufung  der  Freiheit  ein,  indem  Jeder  der  Herr  seiner  Lehns- 
mannen ist.  Ich  möchte  deshalb  den  Staat  des  Mittelalters  die 
Konarchienpyramide  nennen.  —  Die  Neuzeit  endlich  spricht  mit  dem 
Postolat  der  allgemeinen  Menschenfreiheit  das  entscheidende  Wort, 
sie  strebt  nach  Grossstaat'Cn,  die  an  den  Nationalitäten  ihre  natür- 
liehen  Grenzen  haben,  sie  führt  die  griechische  Städterepublik  in 
der  Selbstverwaltung  der  Städte  und  Gemeinden  zurück,  und  findet 
in  dem  Princip  der  Vertretung  durch  gewählte  Abgeordnete  das 
Mittel  zum  Aufbau  einer  Bepublikenpyramide,  von  der  bis  jetzt  das 
l>C8te,  keineswegs  vollkommene  Beispiel  in  Nordamerika  best^t» 
▼elohe  aber  dereinst  nach  allgemeiner  Verbreitung  der  Cultur  alle 
Länder  der  Erde  in  sich  fassen  muss  und  wird.  —  Die  Constitution 
als  Mittelding  von  Monarchie  und  Bepublik  ist  nichts  als  eine  un- 
geheuere offene  Lüge,  und  hat  eine  historische  Berechtigung  eben 
nur  als  TJebeigangsformation  und  politische  Schule  der'  Völker.  —  In 


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294 

— T 

dfiT  Staatenrepublik  y  welche  freilich  erst  zu  Stande  kommen  wird, 
wean  die  einzelnen  Staaten  Republiken  geworden  sind,  wird  der 
Naturzustand  der  Staaten  unter  einander  in  den  Rechtszustand, 
und  der  Selbstschutz  durch  den  Krieg  in  den  Rechtsschutz  dareh 
die  Btaatenrepublik  übergehen,  wie  der  Naturzustand  und  Selbst- 
schutz des  Einzelnen  in  den  Rechtszustand  und  Rechtsschuts  bei 
Entatehung  des  Staates  übergeht. 

Neben  dieser  Entwickelungsreihe  her  läuft  eine  andere  tod 
tifit  ergeordneter,  aber  immerhin  nicht  zu  unterschätzender  Wichtig- 
keit, nämlich  die  von  der  nationalen  Theokratie  des  JudentixomB 
zum  Versuche  der  kosmopolitischen  Theokratie  des  Katholicismns. 
Die  kosmopolitische  Vorbildung  durch  die  christlichen  Ideen  des 
Katholicismus  hat  nicht  wenig  zur  Machtentfaltung  des  modernen 
Ko,Hmopolitismus  beigetragen. 

Eine  zweite,  mit  der  politischen  gleichberechtigte  Seite  der 
Geachichte  ist  die  sociale  Ent Wickelung.  Sie  zeigt  vier 
Hattptphasen.  Die  erste  ist  der  freieNaturzustand,  wo  Jeder- 
mtmn  nur  für  sich  und  seine  Familie  arbeitet,  wie  z.  B.  bei  den 
indianischen  Jägerstämmen.  Aus  diesem  Zustande  ist  ein  Aufschwung 
mi  grösserer  Wohlhabenheit,  und  dadurch  zu  grösserer  Cultur  unmög- 
lich,  weil  es  bei  der  atomistischen  Freiheit  der  Einzelnen  kein 
Mut  IT  giebt,  welches  sie  zur  Arbeitst  h  eilung  bringen  könnte» 
dtiruh  welche  allein  diejenige  Arbeits  er  sparniss  möglich  wird, 
wo  l  che  zu  einer  Mehrproduction  über  die  augenblicklichen  Lebens- 
bedüi&isse  hinaus,  d.  h.  zu  einer  Erhöhung  des  NationalwohlstandeA 
durch  Gapitalansammlung,  unentbehrlich  ist. 

Die  zweite  Phase  ist  die  der  persönlichen  Herrschaft, 
wo  der  Herr  der  Eigenthümer  der  Personen  oder  doch  der  Arbeits- 
kräfto  seiner  Sclaven,  resp.  Leibeigenen  ist.  Hier  findet  der  Herr 
eü  ^ßhi  bald  in  seinem  Interesse,  eine  Arbeitstheilung  unter  seinen 
Sckven  einzuführen,  deren  Arbeit  nun  einen  Ueberschuss  über  ihre 
und  Beine  Lebensbedür&isse  abwirft,  welcher  zur  Herstellung  pro- 
ductiver  Anlagen  (Capital)  yerwerthet  wird.  So  wächst  der  National- 
reichihum  durch  Capitalaufhäufung,  kommt  aber  freilich  nur  den 
Herren,  nicht  den  Knechten  zu  Gute.  Ein  Beispiel  dieser  Btde 
giebf  das  römische  Reich  und  das  Mittelalter. 

Die  dritte  Phase  ^  welche  erst  durch  längere  Wirksamkeit  der 
iwoiten  mißlich  gemacht  wird,  ist  die  der  Capitftlsherrschaft 
In  dieser  Periöd«  wird  das,  bisher  allein  wichtige^  immobile  Capital 


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296 

durch  das  mobile  überholt,  und  gezwungen,  sich  selbst  mehr  und 
mehr  zu  mobilisiren,  wenn  es  nicht  unverhältnissmässig  an  Werth 
Terlieren  will  Dieser  Process  vollzieht  sich  gleichzeitig  und  in 
Wechselwirkung  mit  der  allmähligen  Milderung  und  Aufhebung  der 
Leibeigenschaft,  durch  welche  die  Arbeitskraft  zur  freien  Waare 
wird,  und  den  allgemeinen  Gesetzen  des  Preises  (der  sich  durch 
Nadifrage  und  Angebot  bestimmt)  yerfäUt.  Da  das  Capital  die 
Arbeitstheilung  in  weit  grossartigerem  Maassstabe  organisiren  kann, 
60  wird  nun  auch  eine  weit  grössere  Quote  der  Gesammtarbeit  für 
die  Gegenwart  entbehrlich  und  für  die  Zukunft,  d.  h.  zu  productiven 
Anlagen,  verw^idbar,  also  muss  auch  die  Gapitalsyermehrung  und 
daa  Wachsen  der  nationalen  Wohlhabenheit  in  weit  schnellerer 
Progression  als  in  der  vorigen  Phase  vor  sich  gehen.  Aber  auch 
hier  kommt  diese  Vermehrung  des  Nationalreichthums  wesentlich 
nar  den  Capitalsbesitzem  zu  Gute,  da  derjenige  Theil  davon,  welcher 
auf  den  Arbeiterstand  entfallt,  sofort  eine  Vermehrung  der  Kopf- 
sahl  des  Arbeiterstandes  zur  Folge  hat,  welche  den  bei  der  Re- 
partirung  auf  den  Einzelnen  entfallenden  Antheil  stets  auf  der 
Höl^e  des  gewohnheitsmässig  erforderlichen  Minimums  des  Lebens- 
imterhaltes  erhält.  Dies  bestätigt  die  Erfahrung  wenigstens  für  die 
dem  Weltmarkt  zugänglichen  industriellen  Arbeitskräfte.  —  Aber 
auch  das  mobile  Capital  ist  eine  Idee,  die  sich  entwickelt  und  zur 
Blüthe  gelangt,  um  nach  erfüllter  Aufgabe  abzusterben  und  anderen 
Gebilden  Platz  im  machen ;  auch  seine  historische  Aufgabe  ist  eine 
Torübergehende  und  besteht  nur  darin,  der  folgenden  Stufe  die 
Stätte  zu  bereiten,  sowie  die  Aufgabe  der  Sclaverei  nur  darin  be- 
stand, die  Capitalsherrschaft  vorzubereiten  und  möglich  zu  machen. 
Diese  vierte  und  letzte  Phase  ist  die  der  freien  Associa- 
tion. Wenn  nämlich  der  Werth  der  Sclavarei  und  Capitalsherr- 
adiaft  nur  danach  zu  bemessen  war,  in  wieweit  sie  eine  Arbeits- 
theilong,  und  dadurch  Arbeitserspamiss,  ermöglichten  und  herbei- 
föhrttti,  so  müssen  diese  immerhin  noch  höchst  unvollkommenen 
Zwangsmittel  der  Geschichte,  die  nebenher  unsägliches  Elend  im 
Geleite  fähren,  überflüssig  werden,  sobald  Character  und  Verstand 
des  Arbeiters  bis  zu  dem  Grade  der  Bildung  entwickelt  sind,  um 
durch  freies,  bewusstes  Uebereinkommen  einen  ihm  angemessenen 
Theü  der  Arbeit  in  der  allgemeinen  Arbeitstheilung  zu  übernehmen. 
Wie  es  voriier  die  Schwierigkeit  war,  den  freigelassenen  Solaven 
übeibaupt    zur   freiwilligen    Arbeit   zu  erziehen,    so  ist  jetzt  die 


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Scbwierigkeit  die,  den  Arbeiter  zu  der  Reife  zu  erziehen»  um  ans  dem 
Joche  der  Oapitalsherrschaft  freigelassen,  in  der  Association  den  ihm 
zukommenden  Platz  angemessen  auszufüllen.  Diese  Erziehung  zu 
üben  (durch  Schultze-Delitzsch'sche  Vereine,  bessere  Schulbildimg, 
Arbeiterbildungsvereine  u.  s.  w.)>  das  ist  die  wichtigste  sociale 
Aufgabe  der  Gegenwart.  Die  freie  Association  wird  die  Zukunft 
von  selbst  hervorbringen,  wenn  man  auch  noch  nicht  genau  sagen 
kann,  mit  welchen  Ifiitteln  und  Wegen. 

Wenn  schon  die  Oapitalsherrschaft  in  der  Arbeitstheilung  viel 
mehr  leistete,  als  die  Sclaverei,  so  wird  die  freie  Association  die 
erstere  noch  in  ungleich  höherem  Ghrade  übertreffen  (man  denke 
an  eine  einheitliche  Organisation  von  Production  und  Absatz  aof 
der  ganzen  Erde,  analog  der  einheitlichen  politischen  Organisation 
auf  der  ganzen  Erde);  dem  entsprechend  wird  aber  auch  das  Wadu- 
thum  des  Erdenreichthums  in  so  viel  schnellerer  Progression  stat^ 
finden,  als  gegenwärtig,  vorausgesetzt,  dass  derselbe  nicht  auch  hier 
durch  Vermehrung  der  Bevölkerungszahl  paralysirt  oder  gar  über- 
boten wird,  welcher  freilich  durch  das  Maximum  der  Ton  der  ge- 
sammten  Erde  hervorzubringenden  Nähr-  und  Futterpflanzen  und 
der  vom  Wasser  zu  liefernden  Fische  ihr  Maximum  gesetzt  wird. 

Das  Endziel  dieser  socialen  Entwickelung  würde  das  sein,  da» 
Jeder  bei  einer  Arbeitszeit^  die  ihm  für  seine  intellectuelle  Ansr 
bildung  genügende  Müsse  lässt,  ein  comfortables,  oder  wie  man  mit 
einem  volltönenderen  Ausdrucke  zu  sagen  beliebt,  ein  menschen- 
würdiges Dasein  führe.  So  würde,  wie  der  politische  Endzustand 
die  äussere,  der  sociale  Endzustand  dem  Menschen  die  mate- 
rielle Möglichkeit  gewähren,  nunmehr  endlich  seine  positive, 
eigentliche  Au%abe  zu  erfüllen. 

Wenn  die  politischen  und  socialen  Fragen  für  uns  augenblick- 
lich noch  die  dringendsten  sind,  so  steht  doch  jener  eigent- 
lichen und  letzten  Aufgabe  des  Menschen  bei  Weitem  näher  die 
dritte  Seite  der  Geschichte,  welche  den  Fortschritt  der  intellee- 
tuellen  Bildung  zeigt,  und  welche  insofern  wohl  als  der  wichtigste 
Theil  derselben  zu  bezeichnen  sein  dürfte.  Zu  ihm  gehört  die 
Entwickelung  von  Kunst,  Religion  und  Wissenschaft.  Wenn  der 
Ursprung  der  beiden  ersteren  in  Cap.  B.  V  und  IX  wesentlich  dem 
Unbewussten  zugeschrieben  werden  musste,  so  ist  die  Wissenschaft 
ailerdingB  dasjenige  Gebiet ,  wo  das  Bewnsstsein  am  meisten  seine 
eigene  Kraft  entfaltet.     Dennoch  wird  maii  nicht  fürchten  dürfen, 


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irre  zu  gehen,  wenn  man  behauptet,  dass  auch  groBse  und  wiohtigiß 
wissenschaftliche  Erfindungen,  welche  in  irgend  einer  Beziehung 
eme  neue  Wendung  geben,  fast  immer  nur  dann  gemacht  werden, 
wenn  die  betreffende  Zeit  im  Gkmzen  und  Grossen  für  diese  Wen- 
dtmg  oder  Neuerung  reif  ist,  und  schon  anfängt  ihr  Bedürfhiss  zu 
fahlen. 

Auch  wird  man  bei  der  Wissenschaft,  die  ihrem  Begriffe  nach 
die  Wissenschaft  xar  Hoxijv  und  die  Einheit  der  übrigen  sein 
will,  bei  der  Philosophie,  sowohl  Obiges  bis  in's  Kleinste  bestätigt 
finden,  als  auch  überhaupt  in  deren  Geschichte  nach  dem  Vorgänge 
Hegers  einen  so  organisch  gegliederten  Bau  erkennen,  dass  man 
ihn  selbst  dann  noch  nicht  dem  bloss  bewussten  Schaffen  der 
Denker  zuschreiben  könnte,  wenn  man  nicht  wüsste,  wie  dieselben 
groBsentheils  von  der  vorangegangenen  Entwickelung  gar  keine  oder 
nur  sehr  bruchstückweise  und  ungenaue  Kunde  hatten,  und  oft  ihre 
eigene  Stellung  in  dieser  ganzen  Entwickelung  gar  nicht  verstanden. 

Kehren  wir  von  dieser  Abschweifung  über  den  Inhalt  der 
Geschichte  zu  unserem  eigentlichen  Thema'  zurück. 

Wenn  wir  in  diesem  Ganzen  der  Entwickelung  einen  einheit- 
lichen Plan,  ein  klar  vorgeschriebenes  ZiA,  welchem  alle  Ent- 
wickelungsstufen  zustreben,  nicht  verkennen  können,  wenn  wir 
andererseits  zugeben  müssen,  dass  die  einzelnen  Handlungen,  welche 
diese  Stufen  vorbereiteten  oder  herbeiführten,  keineswegs  dieses 
Ziel  im  Bewusstsein  hatten,  sondern  dass  die  Menschen  fast  immer 
ein  Anderes  erstrebten,  ein  Anderes  bewirkten  (z.  B.  Alezander, 
Kreuzzüge,  Napoleon),  so  müssen  wir  auch  anerkennen^  dass  noch 
etwas  Anderes  als  die  bewusste  Absicht  der  Einzelnen,  oder  die 
zufällige  Gombination  der  einzelnen  Handlungen  in  der  Geschichte 
Terborgen  wirkt,  jener  „weitreichende  Blick,  der  schon  von  ferne 
entdeckt,  wo  diese  regellos  schweifende  Freiheit  am  Bande  der 
Nothwendigkeit  geleitet  wird,  und  die  selbstsüchtigen  Zwecke  des 
finzelnen  bewusstlos  zur  Vollführung  des  Ganzen  ausschlagen.'^ 
(Schiller,  Bd.  VII.  S.  29—30).  Schelling  drückt  dies  im  System 
des  transcendentalen  Idealismus  (Werke  I.  3.  S.  594)  so  aus:  ,Jn 
der  Freiheit  soll  wieder  Nothwendigkeit  sein,  heisst  also  ebensoviel 
als:  durch  die  Freiheit  selbst,  und  indem  ich  frei  zu  handeln 
glaube,  soll^  bewusstlos,  d.  h.  ohne  mein  Zuthun,  entstehen,  was  ich 
nieht  beabsichtigte;  oder  anders  ausgedrückt:  der  bewussten,  also 
jener  freibestimmenden  Thätigkeit,  die  wir  früher  abgeleitet  haben, 


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soll  eine  bewusstloBe  entgegenstehen,  durch  welche  der  nneing^ 
Bchränktesten  Aeusserong  der  Freiheit  unerachtet  Etwas  ganz  im- 
willkürlich,  und  vielleicht  selbst  wider  den  Willen  des  Handelnden, 
entsteht,  was  er  selbst  durch  sein  Wollen  nie  hätte  realisiren  kour 
nen.  Dieser  Satz,  so  paradox  er  auch  scheinen  möchte,  ist  dooh 
nichts  Anderes  als  der  transcendentale  Ausdruck  des  allgemein  an- 
genommenen und  vorausgesetzten  Verhältnisses  der  Fseiheit  zu 
einer  verborgenen  Nothwendigkeit,  die  bald  Schicksal,  bald  Vor- 
sehung genannt  wird,  ohne  dass  bei  dem  einen  oder  dem  andere 
etwas  Deutliches  gedacht  würde,  jenes  Verhältnisses,  kraft  dessen 
Menschen  durch  ihr  freies  Handeln  selbst,  und  doch  wider  ihren 
Willen,  Ursache  von  Etwas  werden  müssen,  was  sie  nie  gewollt, 
oder  Kraft  dessen  umgekehrt  Etwas  misslingen  und  zu  Schanden 
werden  muss,  was  sie  durch  Freiheit  und  mit  Anstrengung  aller 
ihrer  Kräfte  gewollt  haben."  (Ebd.  S.  598.)  ,J)iese  Nothwendig- 
keit selbst  aber  kann  nur  gedacht  werden  durch  eine  absolofte 
Synthesis  aller  Handlungen,  aus  welcher  Alles,  was  geschieht,  also 
auch  die  ganze  Geschichte  sich  entwickelt,  und  in  welcher,  weil 
sie  absolut  ist,  Alles  zum  Voraus  so  abgewogen  und  berechnet  ist, 
dass  Alles,  was  auch  ^schehen  mag,  so  widersprechend  und  dishar* 
monisch  es  scheinen  mag,  doch  in  ihr  seinen  Vereinigungspunct 
habe  und  finde.  Diese  absolute  Synthesis  selbst  aber  muss  in  das 
Absolute  gesetzt  werden,  was  das  Anschauende  und  ewig  und  all- 
gemein Objective  in  allem  freien  Handeln  ist''  Wer  diese  Stelle, 
von  der  man  wohl  sagen  kann,  dass  sie  die  Ansicht  aller  Philo- 
sophen seit  Kant  repräsentirt,  und  deren  Inhalt  von  Hegel  in  der 
Einleitung  zu  seinen  „Vorlesungen  über  Philosophie  der  Oeschiohte' 
ausführlich  reproducirt  worden  ist,  recht  verstanden  hat,  für  den 
habe  ich  nichts  hinzuzufügen.  Wer  bei  den  Begriffen  Schicksal 
oder  Vorsehung  stehen  bleiben  will,  dem  kann  man  eben  nur  ent- 
gegenhalten, dass  er  sich  dabei  nichts  Deutliches  zu  denken  ver- 
mag, wie  meine  That,  sei  sie  nun  das  Werk  meiner  Freiheit,  oder 
das  Product  meines  Gharacters  und  der  wirkenden  Motive,  wie 
diese  meine  That  einen  anderen  als  meinen  Willen  zur  Ver- 
wirklichung bringen  solle,  etwa  den  eines  im  Himmel  thronenden 
Gottes.  Nur  einen  Weg  giebt  es,  auf  dem  diese  Forderung  erfüll- 
bar ist,  wenn  dieser  Gott  in  meinen  Busen  hinabsteigt,  und  mein 
Wille  mir  unbewusster  Weise  zugleich  Gottes  Wille  ist,  d.  h.  wenn 
ich  nnbewusst  noch  ganz   etwas  Anderes   will,   als  was  mein  Be- 


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WQSstsein  aoBschliesslich  zu  wollen  glaubt,  wenn  ferner  das  Be- 
woBstBein  aioh  in  der  Wahl  der  Mittel  zu  seinem  Zwecke  irrt,  der 
onbewusste  Wille  aber  dieses  selbe  Mittel  für  seinen  Zweck  an- 
gemessen erwählt.  Anders  als  so  ist  dieser  psychische  Process 
Bchlechterdings  nicht  denkbar,  und  dasselbe  ist  auch  in  der  ersten 
Hälfte  der  ScheUing'schen  Stelle  gesagt.  Wenn  wir  nun  aber  ohne 
einen  unbewussten  Willen  neben  dem  bewussten  Willen  nicht  aus- 
kommen, wenn  wir  andererseits  das  uns  längst  bekannte  Hellsehen 
der  unbewussten  Vorstellung  hinzunehmen,  wozu  dann  noch  einen 
Gott  in's  Spiel  bringen,  wo  das  Individuum  mit  den  uns  bekannten 
Fähigkeiten  allein  fertig  werden  kann?  Was  ist  dies  Schicksal  oder 
Yoisehung  denn  weiter,  als  das  Walten  des  Unbewussten,  des  histo- 
rischen Instinctes  bei  den  Häufungen  der  Menschen,  so  lange  eben 
ihr  bewusster  Verstand  noch  nicht  reif  genug  ist,  die  Ziele  der 
Geschichte  zu  den  seinigen  zu  machen?  Was  ist  der  Staaten- 
bildongstrieb  sonst  als  ein  Masseninstinct  wie  der  Sprachbildungs- 
trieb,  oder  der  Staatenbildungstrieb  der  Insecten,  nur  mit  mehr 
EingrifEim  des  bewussten  Verstandes  gemischt? 

Wenn  beim  Thiere,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Instinct  immer 
gerade  dann  eintritt,  wenn  ein  auf  andere  Weise  nicht  zu  befriedi- 
gendes Bedürfniss  vorhanden  ist,  was  Wunder,  wenn  auch  in  allen 
Zweigen  der  geschichtlichen  Entwickelung  der  rechten  Zeit  stets 
der  rechte  Mann  geboren  wird,  dessen  inspirirter  Genius  die  unbe- 
wussten Bedürfoisse  seiner  Zeit  erkennt  und  befriedigt?  Hier  ist 
das  Sprüchwort  Wahrheit:  wenn  die  Noth  am  höchsten,  ist  die 
Hülfe  am  nächsten. 

Warum  sollen  wir  beim  *  historischen  Instincte  des  Menschen 
eben  Gott  bemühen;  wenn  wir  ihn  bei  den  anderen  Instincten 
allen  nicht  för  nöthig  befanden  haben?  Nur  wenn  sich  im  Fort- 
gange  der  Untersuchung  zeigen  sollte,  dass  das  Unbewusste  der 
Individuen  nichts  Individuelles  mehr  an  sich  hat,  dann  wird  Schel- 
ling  auch  im  zweiten  Theil  der  angeführten  Stelle  Becht  behalten, 
dass  das  Absolute  das  Anschauende  (Hellsehende)  in  allem  solchen 
Handeln  und  desen  absolate  Synthesis  (Ineinsfassung)  ist,  oder  wie 
Kant  es  einmal  ausdrückt  (Werke  VIL  367),  dass  „der  Instinct 
die  Stimme  Gh>ttes  ist/' 

Wenn  wir  das  Stehenbleiben  bei  der  Vorstellung  eines  Fatums 
oder  einer  Vorsehung  für  unzulässig  befunden  hatten,  so  ist  damit 
nicht  gesagt,  dass   diese  Anschauungsweisen,   ebenso  wie   die  der 


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300 

aufiBcliHesBlichen  Selbstthätigkeit  der  Individuen  in  der  Geschichte, 
ait  flieh  anber^chtigt ,  sondern  nur,  dass  sie  einseitig  seien.  Die 
kriechen,  Bomer  und  Muhamedaner  haben  mit  der  Yorstellong  der 
%i^a^^ivri  oder  des  Fatums  ganz  rechte  insofern  dies  die  absolnte 
Noth wendigkeit  alles  Geschehenden  am  Faden  der  Gausalität  bedeu- 
tet, ^o  dass  jedes  Glied  der  Reihe  durch  das  vorhergehende,  also 
die  ganze  Reihe  durch  das  Anfangsglied  bestimmt  und  voriierbe- 
atimmt  ist.  Das  Christenthum  hat  mit  der  Vorstellung  der  Vor- 
sebung  Rechte  denn  Alles,  was  geschieht,  geschieht  mit  absoluter 
Webheit  absolut  zweckmässig,  d.  h.  als  Mittel  zu  dem  vorge- 
sehenen Zweck,  von  dem  nie  irrenden  XJnbewussten,  welches  daB 
absolut  Logische  selbst  ist.  In  jedem  Moment  kann  nur  Bines 
lofcbth  sein,  und  darum  kann  immer  nur  das  Eine  und  mnBS 
rlici^  Bine  logisch  Geforderte  geschehen,  ebenso  zweckmässig  als 
iiothwendig.  Die  moderne  rationalistisch-empirische  Auffassung  end- 
lich bat  Recht,  dass  die  Geschichte  das  ausschliessliche  Resultat 
der  Selbstthätigkeit  der  nach  psychologischen  Gesetzen  sich 
»i^lbt^i  bestimmenden  Individuen  ohne  jedes  Wunder  eines  Eingriffes 
höherer  Mächte  ist.  Aber  die  Anhänger  der  beiden  ersten  Ansich- 
ten haben  Unrecht ,  die  Selbstthätigkeit,  die  der  letzten  Unrecht, 
Faiiim  und  Vorsehung  zu  ne^en,  denn  die  Vereinigung  aller  drei 
Staiujpuncte  ist  erst  die  Weihrheit.  Gerade  diese  Vereinigung  war 
ab(T  äioh  selbst  widersprechend,  so  lange  man  bloss  bewusste  Seelen- 
thäti^^keit  des  Individuums  annahm;  erst  die  Erkenntniss  des  Üb- 
be-wuasten  macht  dieselbe  möglich  und  erhebt  sie  zugleich  zor 
Kvidenz. 


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XL 

Das  Unbewusste  und  das  Bewnsstsein  in  ihrem  Werth 
ffir  das  menschliche  Leben. 


Ben  Werth  des  Unbewussten  habe  ich  bisher  genug  henror- 
g^ioben,  so  dass  es  scheinen  könnte,  als  wollte  ich  mich  einer 
Parteilichkeit  fär  dasselbe  dem  Bewnsstsein  gegenüber  schuldig 
aiaohen.  Biesen  Vorwurf  zurückzuweisen,  den  Werth  des  bewussten 
Benkens  in  Erinnerung  zu  bringen,  und  den  Werth  des  Bewussten 
und  Unbewussten  und  ihre  verschiedene  Stellung  zum  Leben  mit 
einander  zu  yergleiohen,  ist  die  Aufgabe  dieses  Capitels. 

Betrachten  wir  zunächst  den  Werth  des  Bewussten,  also  der 
bewussten  Ueberlegung  und  der  Anwendung  der  erworbenen  be- 
wussten Erkenntniss  für  den  Menschen. 

Bie  Grundfrage  würde  die   sein:  ,ykann  Ueberlegung  und  Er- 
kttintniss  auf  das  Handeln  und  auf  den  Gharacter  bestimmend  ein- 
wirken, und  auf  welche  Weise?"      Bie    bejahende    Antwort,   mit 
welcher  der  gemdne  Menschenverstand  nicht  zögern  würde,  könnte 
durch  die  Erwägung  in  Zweifel  gestellt  werden,   erstens,  dass  der 
bestimmte  Wille^  aus  welchem  die  Handlung  hervorgeht,  aus  einer 
Eeaction  des  Characters  auf  das  Motiv  entspringt,  ein  Frocess,  der 
dem  Bewnsstsein  ewig  verschlossen  bleibt,  und  zweitens,  dass  Wol- 
len und  Vorstellen  incommensurable  Binge  sind,  weil  sie  ganz  ver- 
schiedenen Bphären  der  Oeistesthätigkeit  angehören.     Bie  Hetero- 
genität   und    Incommensurabilität    beider   findet    aber    daran   ihre 
Grenze,  dass  eine  Yorstelking   den  Inhalt  des  Willens  bildet,  und 
eine  Vorstellung  sein  Motiv  oder  Erregnngsgrund,   und  die  ewige 
Unbewusstheit    des  den  Willen  erzeugenden  Processes    würde  nur 
dann  jede   Erkenntniss   der  Zusammengehörigkeit  von  Motiv  und 
Begehrung  völlig  unmöglich  machen,  wenn  entweder  der  Character 


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302 

an  sich  schnell  yeränderlich  wäre,  oder  keine  nothwendige  Ge- 
setzmässigkeit in  dem  Processe  der  Motivation  bestände.  Da 
beide  Bedingungen  nicht  zutreffen,  so  steht  J'edem  die  Möglichkeit 
offen,  sich  wie  der  *Arzt'  yon  denjenigen  Arzneien,  deren  physio- 
logische Wirkung  ihm  unbegreiflich  ist,  eine  empirische  Kenntniss 
zu  sammeln ;  welche  Begehrung  durch  jedes  Motiv  hervorgerufen 
werde  und  in  welchem  Ghrade.  So  weit  die  menschlichen  Gharac- 
tere  sich  im  Allgemeinen  gleichen,  wird  diese  Erkenntniss  allge- 
meine empirische  Psychologie  sein,  insofern  aber  die  Charactere 
verschieden  sind,  wird  sie  specielle  Selbst-  und  Menschenkenntniss 
sein.  Verbindet  man  hiermit  die  Kenntniss  derjenigen  psycholo- 
gischen Gesetze,  nach  welchen  die  Erregbarkeit  der  verschiedenen 
Arten  von  Begehrungen  zeitweise  sich  ändert,  als  z.  B.  das  Gesetz 
der  Stimmung,  das  der  Leidenschaft,  das  der  Gewohnheit  vu  s.  w^  und 
stellt  man  sich  auf  bald  zu  betrachtende  Weise  vor  den  Täuschungen 
des  Intellectes  sicher,  die  durch  Affecte  herbeigeführt  werden,  so  wird 
man,  alle  diese  Bedingungen  in  idealem  Maasse  erfüllt,  für  jedes 
Motiv  die  Art  und  den  Grad  der  aus  demselben  folgenden  Begierde 
in  jedem  Augenblicke  vorherwissen,  und  werden  alsdann  die  in 
Gapitel  III.  und  IV.  erwähnten  Irrthümer  über  den  Ausfall  des 
unbewussten  willenerzeugenden  Frocesses  von  selbst  fortfallen. 

Da  nun  jedes  Motiv  nur  die  Form  der  Vorstellung  haben  kann, 
und  das  Erzeugen  von  Vorstellungen  dem  bewussten  Willen  unter- 
worfen ist,  so  folgt  aus  dem  Gesagten  die  Möglichkeit,  durch  will- 
kürliche  Erzeugung  einer  Vorstellung,  die  man  als  Motiv  ein^ 
gewissen  Begehrung  kennt,  mittelbar  diese  Begehrung  zu  erwecken. 
Da  femer  der  Wille  nichts  ist  ab  die  Resultante  aller  gleichzei- 
tigen Begehrungen,  und  da  die  Vereinigung  aller  Componenten  zu 
der  einen  Besultante  die  einfache  Form  einer  algebraischen  Summe 
hat,  weil  ja  alle  Componenten  in  Hinsicht  auf  eine  zu  thuende  oder 
zu  unterlassende  Handlung  nur  die  zwei  Baohtungen,  positive  oder 
negative,  haben  können,  so  folgt  weiter  die  Möglichkeit,  den  Aus- 
fall der  Besultante  dadurch  zu  beeinflussen,  dass  man  durch  will- 
kürliches Sichvorhalten  der  geeigneten  Motive  eine  oder  mehrere 
neue  begehrungen  in  sich  erweckt,  oder  bereits  vorhandene  ver* 
stärkt.  Dasselbe  Mittel  gilt  auch,  um  solche  Begehrungen  zu  unter- 
drücken, welche  zwar  zu  einer  Aeusserung  im  Handeln  aus  äusser- 
liohen  Gründen  doch  so  bald  nicht  gelangen  würden,  welche  aber 
durch  Störung   der   Stimmung,   Beirrung  des  Intelleots,  Erzeugung 


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303 

nutsloeer  ünlustempfindungen  u.  s.  w,  uachtheilig  wirken.  Niemals 
aber  kann  die  bewnsste  XJeberlegnng  unmittelbar  eine  vorhandene 
Begierde  beeinflussen,  sondern  nur  durch  mittelbare  Erregung 
einer  entgegengesetzten.  —  Dass  die  angeführte  Art  und  Weise  der 
Beeinflussung  des  Willens  durch  den  Intellect  in  der  That  die 
einzig  mögliche  und  überall  practisch  vorkommende  ist,  wird  Jeder 
leicht  zugeben,  der  dieses  Gebiet  der  Psychologie  ein  wenig  zum 
Gegenstande  seines  Nachdenkens  macht;  dies,  sowie  dass  der 
Gegenstand  unserem  eigentlichen  Thema  schon  femer  liegt ,  hält 
mich  von  weiterer  Ausführung  desselben  ab.  Ich  will  nur  noch 
anführen,  dass  sich  allein  von  diesem  Standpuncte  aus  eine  Cha- 
racterveränderung  aus  bewusster  Ueberlegung  erklären  lässt.  Wir 
haben  nämlich  die  Möglichkeit  gesehen,  in  jedem  einzelnen  Palle 
den  Ausfall  der  Besultante  anders  zu  bestimmen,  als  es  beim 
blossen  Ueberlassen  an  das  Wirken  der  sich  von  selbst  darbieten- 
den Motive  geschehen  würde,  und  dadurch  die  Möglichkeit,  in 
jedem  einzelnen  Falle  erfolgreich  gegen  die  Aflecte  anzu- 
kämpfen, welche  in  Folge  des  einmal  bestehenden  Characters  am 
leichtesten  erregbar  sind  und  daher  am  häuflgsten  aiiftauchen. 
Wenn  nun  diese  Unterdrückung  bei  jeder  Gelegenheit  regel- 
mässig eine  längere  Zeit  hindurch  eintritt,  so  wird  sich  nach  dem 
Gesetze  der  Gewohnheit  durch  die  dauernde  TJnthätigkeit  und 
Nichtbefriedigung  des  betretenden  Triebes  seine  Erregungsfähigkeit 
schwächen,  d.  h.  der  Character  wird  sich  ändern.  So  haben  wir 
anch  die  Möglichkeit  einer  Characterveränderung  durch  bewusste 
Ueberlegung,  freilich  nur  mit  Hülfe  langer  Gewohnheit,  begriffen. 

Hiermit  ist  die  oben  gestellte  Grundfrage  in  ihren  beiden 
Theilen  bejahend  beantwortet  und  wir  können  nun  einen  kurzen 
üeberblick  nehmen  über  das,  was  bewusste  Ueberlegung  und  Er- 
kemitniss  dem  Menschen  in  practischer  Beziehung  zu  bieten  vermag. 

1.  Verhinderung  von  Täuschungen  der  Erkennt- 
nisB  durch  den  Einfluss  von  Affecten.  Schon  früher 
haben  wir  gesehen,  wie  das  Auftauchen  der  Vorstellungen  wesent- 
lich vom  augenblicklichen  Interesse  abhängig  ist.  Daher  kommt 
M,  dass  bei  vorwaltendem  einseitigen  Interesse,  z.  B.  Affecten, 
▼onugsweise  immer  Wahrscheinlichkeitsgründe  für  den  dem  In- 
teresse zusagenden  Fall  vor  das  Bewusstsein  treten,  und  weniger 
Qegengrönde,  dass  Scheingründe  pro  zu  gern  angenommen  werden, 
vm  als  falsch  erkannt   zu  werden,  dass  aber  Scheingründe  contra 


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304 

wenn  sie  überhaupt  auftauchen,  sogleich  entlarvt»  und  selbst  wahre 
Oriinde  contra  unterschätzt,  oder  durch  Scheingründe  widerlegt  "Verden, 
und  80  entsteht  der  Irrthum.  Kein  Wunder  also,  dass  uns  Schreokf  Jäh- 
zorn, sinnliche  Begierde  so  die  Besinnung  rauben  können,  dass  wir 
nicht  mehr  wissen,  was  wir  sagen  oder  thun,  dass  der  Haas  wha 
an  den  Feinden  lauter  Fehler,  die  Liebe  lauter  Vorzüge  an  den 
Geliebten  sehen  lässt^  dsAs  Furcht  in  schwarzem,  Hoffiiung  in  rosi- 
gem Lichte  malt,  dass  erstere  uns  oft  die  auf  der  Hand  liegenden 
Rettungsmittel  nicht  mehr  erkennen  lässt»  letztere  uns  das  Unwalir- 
scheinlichste  wahrscheinlich  macht,  wenn  es  nur  unseren  Wünschen 
entspricht,  dass  wir  uns  meist  zu  unserem  Yortheil,  selten  zu  un- 
serem Nachtheil  irren,  und  nur  zu  häufig  das  für  billig  und  gerecht 
halten,  was  für  uns  Tortheilhaft  ist. 

Selbst  in  die  reine  Wissenschaft;  schleicht  sich  das  Interesse 
ein,  denn  eine  Lieblingshypothese  schärft  den  Blick  für  Alles,  was 
sie  bestätigt,  und  lässt  das  Naheliegendste,  was  ihr  zuwiderläuft, 
übersehen,   oder  zu  einem  Ohr  herein,  zum  anderen  hinausgehen. 

Hiergegen  giebt  es  zwei  Mittel;  das  erate  ist,  dass  man  sieh 
ein-  für  allemal  einen  vom  Grade  des  Affects  oder  Interesses  ab- 
hängigen empirischen  Reductionscoefficienten  bildet,  und  mit  diesem 
in  jedem  einzelnen  Falle  den  gewonnenen  Wahrscheinlichkeits- 
coefücienten  des  ürtheils  multiplicirt,  das  zweite,  dass  man  keinen 
Affect  in  sich  bis  zu  dem  Grade  aufkommen  lässt,  wo  er  das  TJr- 
theil  in  merklicher  Weise  zu  trüben  anfangt.  Letzteres  Mittel  ist 
allein  stichhaltig,  aber  in  der  Welt  missliebig,  weil  unbequem  und 
nur  durch  lange  andauernde  Gewöhnung  an  Selbstbeherrschung  zu 
erreichen;  ersteres  versagt  bei  starken  AfPecten  und  Leidenschaften, 
wo  alle  Geisteskräfte  sich  auf  einen  Punct  concentriren,  völlig  den 
Dienst;  auch  ist  die  Grösse  des  B.eductionscoe£ficienten  schwer  zu 
bestimmen,  noch  schwieriger  die  jedesmalige  Schätzung  des  Grades 
des  eigenen  AfiTects.  —  Der  Werth  der  Klarheit  des  Intellects 
{a(aq>Qoavvfj)  ist  sehr  hübsch  bei  einem  Wortstreit  zu  beobachten^ 
wo  der  Eine  sich  vom  Affecte  hinreissen  lässt,  der  Andere  nicht 
Bei  Weibern  geht  fast  jeder  sachliche  Streit  in  einen  persönlichen 
über,  gleichviel  ob  in  feinste  Ironie  oder  in  Hökerschimpfirorte 
gekleidet.  Noch  eclatanter  ist  der  Werth  der  Besonnenheit  ond 
des  Niederhaltens  von  Affecten  bei  Gefahren. 

2.  Verhinderung  der  Unbedachtsamkeit  und  Un- 
schlüssigkeit.    Der  grösste  Theil  aller  Reue  in  der  Welt  ent- 


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305 

steht  auB  anbedachtsamem  Handeln ,  bei  welchem  die  möglichen 
Folgen  der  That  nicht  nach  allen  Bichtungen  hin  überlegt  waren, 
80  dafis  man  alsdann  von  ihrem  Eintritt  schmerzlich  überrascht 
wird.  Fallen  die  Übeln  Folgen  auf  den  Thäter  selbst  zurück,  so 
wird  die  Unbedachtsamkeit  zum  Leichtsinn.  Alle  diese  Eeue  wäre 
also  durch  Ueberlegung  beim  Handeln  zu  verhindern.  —  Die  Un- 
Bchlüssigkeit  andererseits  geht  theils  aus  Mangel  an  Muth  zum 
Handeln,  theils  aus  Mangel  an  Vertrauen  zur  eigenen  Ueberlegung 
hervor.  Die  Oharactereigenschaft  des  Muthes  lässt  sich  aber  auch 
durch  bewusste  Vernunft  ersetzen,  da  Muth  das  Riskiren  eines 
Uehek  zur  Vermeidung  eines  zweiten,  oder  zur  Erlangung  eines 
Vortheils  ist,  unter  der  Voraussetzung,  dass  die  Chancen  für  den 
Tersuch  günstig  sind,  sei  es  in  Folge  des  Verhältnisses  der  Grösse 
der  beiden  Uebel,  oder  der  Wahrscheinlichkeiten  ihres  Eintretens. 
Den  Mangel  an  Vertrauen  zur  eigenen  Ueberlegung  corrigirt  eben- 
üalls  die  Ueberlegung  selbst,  indem  sie  sich  sagt,  dass  Niemand 
mehr  thun  kann,  als  in  seinen  Kräften  steht,  dass  er  daher,  wenn 
er  dieses  Mögliche  gethan  hat,  den  Erfolg  der  Handlung  ruhig  ab- 
warten muss,  dass  aber  das  zu  lange  Ueberlegen  nicht  bloss  in  der 
Begel  nicht  weiter  führt,  als  ein  kurzes,  sondern  durch  die  Ver- 
2ögerung  der  Handlung  viel  mehr  schadet,  als  eine  etwaige  Ver- 
besserung des  Besnltates  nutzen  kann. 

3.  Angemessene  Auswahl  der  Mittel  zum  Zweck. 
Wenn  ein  Zweck  unvernünftig  ist,  so  ist  er  selbst  ein  zweckwidri- 
ges Mittel  zu  dem  Endzweck  jedes  Wesens,  grösstmöglichem  Gesammt- 
glüok  des  Lebens,  der^  wenn  er  nicht  Jedem  klar  bewusst  ist,  doch 
als  dumpf  durchklingender  Orgelpunct  allen  Accorden  des  Lebens 
«u  Grunde  liegt.  Aber  auch  wo  die  Zwecke  vernünftig  sind,  oder 
ihre  Wahl  und  Beurtheilung  dem  Einzelnen  gar  nicht  anheimsteht, 
sondern  ihm  nur  die  Wahl  der  Mittel  ganz  oder  theil weise  über- 
lassen ist,  wird  durch  unvernünftige  Wahl  der  Mittel  unsäglich  viel 
übel  gemacht,  was  nie  wieder  gut  gemacht  werden  kann.  Bei 
wichtigen  Sachen  fällt  dies  genügend  auf,  aber  weit  grösser  ist  der 
Eiofluss  bei  den  tausend  kleinen  Sorgen,  Plackereien,  Bequemlich- 
keiten und  Unbequemlichkeiten,  Annehmlichkeiten  und  Unannehm- 
lichkeiten des  Tages,  in  dem  Verkehr  des  Geschäftes,  des  Dienstes, 
der  Berufsthätigkeit,  der  Geselligkeit,  des  Familienlebens,  der 
Herrschaft  und  Dienerschaft;  hier  ist  es  besonders,  wo  die  vor- 
liegenden  Zwecke   theils  durch   unpassende  Mittel  verfehlt,  theils 

▼.  Hartmann,  Phil.  d.  Unbemusten.  20 


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306 

mit  einem  imverhältniBsmässigen  Aufwand  erreicht  werden,  und  wo 
auf  solche  Weise  die  Leute  sich  und  Anderen  durch  allerlei  Noth, 
Plage,  Schererei,  Aerger  und  Verdruss  das  Leben  noch  schwerer 
und  bitterer  machen,  als  es  ohnehin  schon  ist.  Und  weit  mehr 
Toii  allem  diesen  kommt  ^  auf  die  bomirte  Mittelmäßsigkeit  der 
Narmalmenschen  und  ihre  unpassende  Wahl  der  Mittel  zu  den 
vorliegenden  Zwecken  als  von  bösem  Willen,  so  dass  man  manchee 
Mal  versucht  sein  könnte,  auszurufen:  „wenn  die  Menschen  lieber 
stihlechter  wären,  wenn  sie  bloss  nicht  so  dumm  wären!" 

4.  Die  Bestimmung  des  Willens  nicht  nach  dem 
Hiigenblicklichen  Affect,  sondern  nach  dem  Princip 
den  grösstmöglichsten  eigenen  Gesammtglückes.  Das 
Thier  ist  mit  den  wenigen  Ausnahmen  der  höchststehenden,  vom 
Menschen  geschulten  Thiere  in  seiner  Willensbestimmung  wesent- 
lich vom  augenblicklichen,  sinnlich  und  instinctiv  erregten  Affect 
ai^hiingig;  wo  der  Instinct  nicht  die  Zukunft  mit  in  Berechnung 
bringt,  befasst  sich  auch  das  Bewusstsein  des  Thieres  nicht  leicht 
mit  derselben,  und  nur  zu  oft  muss  es  unter  den  Folgen  seines  ab- 
soluten Leichtsinnes  leiden.  Der  Mensch  geniesst  durch  sein  höher 
entwickeltes  Bewusstsein  den  Vorzug,  den  Affecten  der  sinnlichen 
tjt'genwart  Begehrungen  gegenüberstellen  zu  können,  welche  durch 
Vorstellungen  der  Zukunft  willkürlich  erzeugt  sind,  und  hat  hierin 
eui  Mittel,  dem  Ich  der  Zukunft  seine  ideelle  Gleichberechtigung 
mit  dem  Ich  der  Gegenwart  zu  sichern.  Nun  ist  aber  durch  die 
geringere  Lebhaftigkeit  der  willkürlichen  Vorstellungen  der  Stärke- 
grad der  gegenüber  zu  stellenden  Begehrungen  erheblich  beschränkt, 
und  einem  einigermaassen  starken,  durch  sinnliche  Gegenwart  er- 
zeugten Affect  sind  sie  nicht  mehr  erfolgreich  Trotz  zu  bieten  im 
Stunde,  vielmehr  führt  ein  solcher  den  Menschen  auf  den  Stand- 
punct  der  Thierheit  zurück ,  und  wenn  er  mit  massigem  Schaden 
und  Reue  davon  kommt,  so  hat  er  es  dann  nur  noch  seinem  guten 
Glück  zu  danken;  wenn  also  das  Eecht  der  zukünftigen  Ich's  und 
dfti^  Princip  des  grösstmöglichsten  eigenen  Gesammtglückes  gewahrt 
werden  soll,  so  bleibt  nichts  übrig,  als  das  Aufkommen  der  Affecte 
bis  au  einem'  solchen  nicht  mehr  zu  bewältigenden  Grade  zu  ver- 
hindern, d.  h.  sie  früher  zu  unterdrücken,  am  sichersten  und  leich- 
festen im  Entstehen.  Hier  haben  wir  den  zweiten  Grund  zur 
Unterdrückung  der  Affecte  geftinden,  —  Eine  wichtige  Aufgabe 
dor  üeberlegung   ist  femer    die,   zu  entscheiden,  welcher  von  den 


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•         307 

yielen  gleichzeitigen,  in  einem  Menschen  sich  kreuzenden  Zwecken 
des  Lebens  in  jedem  Augenblicke  am  besten  gefördert  werde,  um 
iu  jedem  Augenblicke  möglichst  viel  für  das  Gesammtglück  beizu- 
tragen; denn  die  sich  fortwährend  ändernden  Yerhältnisse  verlangen 
auch,  dass  man  die  Zwecke,  an  deren  Erreichung  man  gerade  ar- 
beitet, fortwährend  ändert,  theils  ganz  fallen  lässt,  theils  zu  gün- 
stigerer Zeit  wieder  anfiiimmt. 

5.  Werth  der  bewussten  Vernunft  für  die  Sittlich- 
keit Die  allermeisten  unsittlichen  Handlungen  werden  durch 
einen  klugen  Egoismus,  der  nach  dem  Princip  des  grösstmöglichsten 
eigenen  Gesammtglückes  verfahrt,  vollkommen  verhindert,  nament- 
lich in  einem  Staat  mit  geordneter  Rechtspflege  und  einer  Gesell- 
schaft, welche  solche  ünsittlichkeiten ,  die  der  Staat  nicht  strafen 
kann,  mit  ihrer  Verachtimg  bestraft.  Dass  nicht  viele  Fälle  übrig 
bleiben,  in  denen  das  Gebot  der  Sittlichkeit  sich  nicht  auf  egoistische 
Weise  begründen  Hesse,  wird  schon  dadurch  bewiesen,  dass  so  viel 
Ethiken  offen  oder  versteckt  auf  dem  Egoismus  und  dem  Princip 
des  grösstmöglichsten  eigenen  Gesammtglückes  basiren,  z.  B.  die 
Epikurische,  Stoische,  Spinozistische.  Für  alle  solche  Fälle  sieht 
man  ein,  dass  die  bisher  besprochene  Vemunftanwendung  für  die 
Sittlichkeit  ausreichen  muss,  und  in  der  That  ist  nächst  der  Ge- 
wohnheit durch  Zwang  diese  Zurückführung  auf  den  Egoismus  fast 
die  einzig  erfolgreiche  Art,  Moral  zu  lehren,  und  zu  bessern;  was 
durch  sie  nicht  erreicht  wird,  dürfte  wohl  schwerlich  überhaupt 
erreicht  werden. 

Wenn  man  aber  von  dem  practisch  lebendigen  Wirken  der 
Sittenlehre  absieht,  und  den  theoretischen  Werth  der  ethischen 
Systeme  ins  Auge  fasst,  so  möchte  wohl  kein  Zweifel  obwalten, 
dass,  welche  theoretischen  Grundlagen  der  Ethik  man  auch  für  die 
wahren  halte,  es  nur  solche  sein  können,  die  in  Grundsätzen  der 
bewussten  Vernunft  bestehen,  wenn  dieselben  irgend  welchen 
wissenschaftlichen  Halt  besitzen  und  fähig  sein  sollen,  ein  System 
zu  tragen;  weiter  will  ich  mich  hier  nicht  aussprechen,  um  nicht 
zu  weit  vom  Thema  abzukommen. 

6.  Richtige  Wahl  des  Berufes,  der  Mussebeschäf- 
tigung,  des  Umganges  und  der  Freunde.  Wer  mit  einem 
Talent  zu  einem  Talent  geboren  ist,  findet  in  demselben  sein 
schönstes  Dasein  (Göthe),  darum  ist  es  sehr  wichtig,  einerseits 
das  TaFent   in    sich  zu  erkennen,   das  schon   recht  bedeutend  sein 


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.J- 


308 


und  Einem  dennoch  völlig  entgehen  kann,  und  andererseits  sioh 
nicht  in  jugendlicher  Begeisterung  für  eine  Sache  ein  Talent  ein- 
zubilden,  das  man  nicht  hat.  Wäre  nicht  Beides  häufig  der  Fall, 
so  würden  nicht  so  viele  Menschen  ihren  Beruf  verfehlen,  dessen 
Wahl  trotz  aller  Beschränkungen  doch  dem  Individuum  noch  ziem- 
lich viel  Spielraum  lässt.  Noch  schwerer  ist  es,  von  mehreren 
Talenten  das  grösste  herauszufinden,  leichter  dagegen  die  ebenfalls 
wichtige  Wahl  der  dilettantischen  Mussebeschäftigung,  weil  von  ihrem 
Wechsel  nicht  so  viel  abhängt,  und  man  dadurch  Zeit  zum  Ve> 
suchen  gewinnt.  —  Wie  die  Wahl  des  Berufes  eine  grosse  Selbst- 
kenntniss,  so  erfordert  die  Wahl  des  Umganges  und  der  Freunde 
eine  grosse  Welt-  und  Menschenkenntniss.  Es  ist  dies  einmal  ein 
menschliches  Bediirfniss,  und  nicht  ob,  sondern  mit  wem  man  um- 
gehen will,  hat  man  zu  wählen.  Die  Bedeutung  der  Sache  ermisst 
man,  wenn  man  erwägt,  wie  der  Besitz  eines  einzigen,  völlig  hai- 
monirenden  und  wahren  Freundes  über  die  grössten  Unglücksfälle 
zu  trösten  vermag,  wie  bittere  Enttäuschungen  aber  die  Wahl  un- 
geeigneter Personen  bereiten  kann.  Trotzdem  sieht  man  oft  Freund- 
schaften schliessen  und  lange  Zeit  bestehen,  die  so  gar  nicht  zu- 
sammenpassen, dass  man  denken  sollte ,  die  Leute  müssten  mit 
Blindheit  geschlagen  sein;  in  der  That  aber,  betrachteten  die 
Menschen  im  Stillen  sich  nicht  wirklich  als  so  unvernünftig,  wie 
sie  sind,  so  wäre  auch  das  nicht  möglich,  dass  so  gewöhnlich  Ver- 
söhnungen nach  Vorfallen  stattfinden,  die  auf  Gharacterfehler  be- 
zogen nie  vergeben  werden  könnten  und  nur  durch  Unvernunft  zu 
entschuldigen  sind,  daher  auch  die  Menschen  ihre  schlechten  Streiche 
gern  als  Verirrungen  bezeichnen.  —  Am  bittersten  rächt  sich  die 
unverständige  Freundeswahl  in  der  Ehe ,  weil  hier  die  Lösung  des 
Verhältnisses  am  schwersten  ist,  und  doch  sieht  man  hier  gerade 
auf  alle  anderen  Bücksichten  (Schönheit,  Geld,  Stand,  Familie) 
mehr  als  auf  die  Harmonie  der  Charactere.  Wären  die  Leute  nicht 
hernach  so  geistig  indifferent,  sich  wohl  oder  übel  in  einander  zu 
schicken,  wenn  sie  sehen,  dass  sie  sich  in  einander  geirrt  haben, 
so  würde  es  noch  viel  mehr  schlechte  Ehen  in  der  Welt  geben,  als 
es  80  schon  giebt. 

7.  Unterdrückung  nutzloser  Unlustempfindungen. 
Lust  und  Unlust  besteht  in  Befriedigung  und  Nichtbefiriedigung  des 
Begehrens,  welche  von  Aussen  gegeben  werden,  und  welche  der 
Mensch   nur   dadurch  beeinflussen   kann,   dass   er  in   die  äusseren 


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309 

Umstände  entsprechend  eingreift,  was  der  Zweck  alles  Handelns 
ist.  Wenn  seine  Macht  dazu  nicht  ausreicht,  die  Befriedigung 
seiner  Begehrungen  herbeizuführen,  so  muss  er  eben  die' Unlust 
tragen,  und  kann  dann  diese  nur  dadurch  vermindern  oder  ver- 
nichten, dass  er  die  Begehrung  vermindert  oder  vernichtet,  in  deren 
Kiihtbefriedigung  die  Unlust  besteht.  Wenn  man  dies  consequent 
bei  jeder  Unlust  durchfährt,  so  stumpft  man  nach  dem  Gesetz  der 
Gewohnheit  die  Erregungsfahigkeit  der  Begehrungen  ab,  vermin- 
dert mithin  ebenso  die  zukünftigen  Lustempfindungen  als  die  zu- 
künftigen Unlustempfindungen.  Wer  mit  mir  der  Ansicht  ist,  dass 
im  Menschenleben  durchschnittlich  die  Summe  der  Unlustempfin- 
dungen die  Summe  der  Lustempfindungen  bei  Weitem  überwiegt, 
wird  dieses  allgemeine  Princip  der  Abstumpfung  als  logische  Conse- 
qnenz  dieser  Ansicht  zugeben  müssen;  wer  aber  dieser  Ansicht 
nicht  oder  nur  bedingungsweise  beitritt,  den  verweise  ich  auf  die 
nicht  unbeträchtliche  Anzahl  derjenigen  Unlustempfindungen,  denen 
gar  keine  Lustempfindung  gegenübersteht,  d.  h.  bei  denen  die  Be- 
friedigung der  zu  Grunde  liegenden  Begehrung  ausser  dem  Bereich 
der  Möglichkeit  liegt,  als  z.  B.  Schmerz  über  vergangene,  nicht 
mehr  zu  redressirende  Ereignisse,  Aerger,  Ungeduld,  Neid,  Miss- 
gunst, diejenige  Eeue,  welche  keinen  sittlichen  Nutzen  bringen 
kann,  femer  übermässige  Empfindlichkeit,  grundlose  Eifersucht, 
übermässige  Aengstlichkeit  und  Besorglichkeit  für  die  Zukunft,  zu 
hoch  verstiegene  Ansprüche  im  Leben  u.  s.  w.  —  Man  erwäge  nur, 
wie  viel  das  Leben  der  Menschheit  gewinnen  würde,  wenn  man 
jeden  einzelnen  dieser  Feinde  des  Seelenfriedens  aus  der  Welt 
streichen  könnte,  —  der  Vortheil  wäre  unberechenbar ;  und  doch  steht 
einem  Jeden  frei,  durch  Anwendung  der  bewussten  Vernunft  sein 
Leben  von  diesen  Störenfriedeü  zu  reinigen,  wenn  er  nur  bei  eini- 
gen misslungenen  Versuchen  nicht  gleich  den  Muth  zum  Kampfe 
verliert.  —  So  haben  wir  ^  hier  einen  dritten  Grund  zur  Unter- 
drückung der  AfTecte  gefunden. 

8.  Gewährung  des  höchsten  und  dauerndsten 
m-enschlichen  Genusses  im  Forschen  nach  Wahrheit. 
Je  eoncentrirter  und  heftiger  ein  Genuss  ist,  desto  kürzere  Zeit 
kann  er  nur  dauern,  bis  die  Reaction  eintritt,  und  desto  länger 
muss  man  bis  zu  seiner  Wiederholung  warten;  man  denke  an  die 
Tafelfreuden  und  besonders  den  Geschlechtsgenuss.  Je  ruhiger, 
klarer  und  reiner  ein  Genuss  ist,  desto  dauernder  kann  er  anhalten, 


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310 

(U'Bto  geringere  J^ausen  zur  Erholung  erfordert  er;  man  vergleiche 
dpii  musikalischen,  poetischen  und  wissenschaftlichen  Genuss.  So 
koütnit  es,  dass  die  stärksten  Genüsse  wegen  der  Kürze  ihrer  Dauer 
und  ihrer  nothwendigen  Seltenheit  nicht  die  grössten  sind,  da*s 
vielmehr  die  geistigsten,  vor  allen  der  wissenschaftliche,  wegen 
ihvGT  Dauer  eine  viel  grössere  Summe  von  Lust  in  derselben  Zeit 
geben.  Die  anderen  Gründe,  dass  der  im  Streben  nach  Wahrheit 
liegende  Genuss  der  höchste  sei,  sind  so  bekannt,  dass  ich  meine 
Lcsor  damit  verschonen  will.  Auch  wird  Niemand  zweifelhaft  sein, 
dass  wir  die  Hauptmasse  der  Wissenschaft,  namentlich  die  Fülle 
ihre»  Materials  und  die  Verarbeitung  desselben,  der  b^wussten 
Tc^niunft  verdanken. 

9.  Die  Unterstützung  der  künstlerischen  Pro- 
duction  durch  bewusste  Arbeit  und  Kritik.  Ich  kann 
loii  h  hier  wesentlich  auf  das  in  Cap.  B.  V.  Gesagte  berufen.  Wenn 
iiuch  das  Unbewusste  die  Erfindung  zu  liefern  hat,  so  muss  doch 
erstens  die  Kritik  hinzutreten,  das  Schwache  gar  nicht  ausführen 
nnd  das  Gute  von  Ausschweifungen  der  Phantasie  reinigen,  und 
JEweitens  die  bewusste  Arbeit  die  Pausen  ausfüllen,  wo  die  Eiu- 
ge>mugen  des  XJnbowussten  schweigen,  und  die  bewusste  Concen- 
trntion  des  Willens  mit  eisernem  Fleiss  das  Werk  zu  Ende  fuhren, 
WEun  nicht  die  Begeisterung  für  dasselbe  bei  halbfertiger  Arbeil 
Oll  Ueberdruss  ersterben  soll.  — 

Das  bisher  über  den  Werth  der  bewussten  Vernunft  und  Et- 
kcnntniss  Gesagte  konnte  in  Ansehung  unseres  Hauptzweckes  nur 
in  skizzenhaften  Andeutungen  bestehen,  die  leicht  AUzubekanntt^s 
gobracht  haben  mögen;  die  Gelegenheiten  zu  interessanten  psycho- 
logischen Bemerkungen  mussten  unbenutzt  vorübergelassen  werden, 
uülI  dem  Leser  die  lebendige  Bekleidung  der  dürren  Abstractionen 
an  heimgestellt  bleiben,  und  doch  konnte  eine  solche  Zusammen- 
s*  eilung  nicht  unterlassen  werden,  um  dem  Werth  des  Unbewussten, 
wü icher  in  allen  früheren  Gapiteln  hervorgehoben  wurde,  ein  Gegen- 
gewicht  zu  bieten. 

Auch  diesen  noch  einmal  ganz  kurz  zusammenzufassen,  sei 
mir  hier  vergönnt. 

l.  Das  Unbewusste  bildet  und  erhält  den  Organismus,  stellt 
innere  und  äussere  Schäden  wieder  her,  leitet  seine  Bewegungen 
zweckmässig,  und  vermittelt  seinen  Gebrauch  für  den  bewussten 
Willen. 


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i, 


311 

2.  Das  IJiibewusste  giebt  im  Instincte  jedem  Wesen  das,  was 
€6  zu  seiner  Erhaltung  nöthig  braucht,  und  wozu  sein  bewusstes 
Benken  nicht  ausreioht-,  z.  B.  dem  Menschen  die  Instincte  zum 
Verständniss  der  Sinneswahmehmung,  zur  Sprach-  und  Staaten- 
bildung und  viele  andere. 

3.  Das  Unbewuöste  erhält  die  Gattungen  durch  Geschlechts- 
trieb und  Mutterliebe,  veredelt  sie  durch  die  Auswahl  in  der  Ge- 
schlechtsliebe, und  führt  die  Menschengattung  in  der  Geschichte 
unverriiokt  dem  Ziele  ihrer  möglichsten  Vollkommenheit  zu. 

4.  Das  ünbewusste  leitet  die  Menschen  bdm  Handeln  oft 
durch  Ahnungen  und  Gefühle,  wo  sie  sich  durch  bewusstes  Denken 
nicht  zu  raÜien  wüssten. 

5.  Das  TJnbewuflste  fordert  den  bewussten  Denkprocess  durch 
seine  Eingebungen  im  Kleinen  wie  im  ßrossen,  und  führt  die 
Menschen  in  der  Mystik  zur  Ahnung  höherer^  übersinnlicher  Ein- 
heiten. 

6.  Es  beglückt  die  Menschen  durch  das  Gefühl  für's  Schöne 
und  die  künstlerische  Production.  — 

Vergleichen  wir  nun  Bewusstes  und  Unbewusstes  mit  einander, 
so  springt  zunächst  in  die  Augen,  dass  es  eine  Sphäre  giebt,  welche 
überall  dem  Unbewussten  allein  überlassen  bleibt,  weil  sie  dem 
Bewnsstsein  ewig  unzugänglich  ist ;  wir  finden  zweitens  eine  Sphäre, 
welche  bei  gewissen  Wesen  nur  dem  Unbewussten  gehört,  bei  an- 
deren aber  auch  dem  Bewnsstsein  zugänglich  ist ;  sowohl  die  Stufen- 
leiter der  Organismen,  als  der  Gang  der  Weltgeschichte  kann  uns 
belehren,  dass  aller  Fortschritt  in  Vergrösserung  und  Vertiefung 
der  dem  Bewnsstsein  aufgeschlossenen  Sphäre  besteht,  dass  also  das 
Bewnsstsein  in  gewissem  Sinne  das  Höhere  von  beiden  sein  muss. 
Betrachten  wir  femer  im  Menschen  die  sowohl  dem  Unbewussten, 
als  dem  Bewnsstsein  angehörige  Sphäre,  so  ist  soviel  gewiss,  dass 
Alles,  was  irgend  das  Bewusstsein  zu  leisten  vermag,  vom  Unbe- 
wussten ebenfalls  geleistet  werden  kann,  imd  zwar  immer  noch 
treffender,  und  dabei  schneller  und  für  das  Individuum  bequemer, 
da  man  sich  för  die  bewusste  Leistung  anstrengen  muss,  während 
die  ünbewusste  von  selbst  imd  mühelos  kommt.  Diese  Bequemlich- 
keit, sich  dem  Unbewussten,  seinen  Gefühlen  und  Eingebungen  zu 
überlassen,  kennen  auch  die  Menschen  recht  wohl,  und  darum  ist 
bei  allen  feulen  Köpfen  die  bewusste  Vemunftanwendung  in  Allem 
und  Jedem   so   verschrieen.     Dass   das   Ünbewusste   wirklich  alle 


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Leifttungen  der  bewiissten  Yernunft  überbieten  kann,  das  läset  sich 
nicht  nur  von  vornherein  aus  dem  Hellsehen  des  TJnbewussten 
erwarten,  sondern  wir  sehen  es  auch  realisirt  in  jenen  glücklichen 
Naturen,  die  Alles  besitzen,  was  andere  mühsam  erwerben  müssen, 
die  nie  einen  Kampf  des  Gewissens  haben,  weil  sie  immer  von 
Rc4b&t  ihrem  Gefühle  nach  richtig  und  sittlich  handeln,  sich  nie 
auders  als  tactvoll  benehmen  können,  Alles  spielend  lernen.  Alles, 
wa&  sie  anfangen,  mit  glücklichem  Griffe  vollenden,  und  in  ewiger 
ilannonie  mit  sich  leben,  ohne  je  viel  zu  überlegen,  was  sie  thun, 
oder  überhaupt  im  Leben  Schwierigkeiten  und  mühevolle  Arbeit 
konncE  zu  lernen.  In  Bezug  auf  Handeln  und  Benehmen  sieht 
iBuii  die  schönsten  Blüthen  dieser  instinctiven  Naturen-  nur  bei 
Prauen,  die  dann  aber  auch  an  bezaubernder  Weiblichkeit  Alles 
überbieten.  —  % 

Was  liegt  nun  aber  für  ein  Nachtheil  in  dem  sich  Ueberlassen 
im  das  XJnbewusste  ?  Der,  dass  man  niemals  weiss,  woran  man  ist 
und  was  man  hat,  dass  man  im  Einstem  tappt,  wahrend  man  die 
Laterne  des  Bewusstseins  in  der  Tasche  trägt;  dass  es  dem  Zufall 
über  lassen  ist,  ob  denn  auch  die  Eingebung  des  ünbewussten  kom- 
men wird,  wenn  man  sie  braucht;  dass  man  kein  Kriterium  als  den 
Erfolg  hat,  was  eine  Eingebung  des  TJnbewussten  und  was  ein 
que*rkÖpfiger  Einfall  der  launischen  Phantasie  sei,  auf  welches  Ge- 
fühl man  sich  verlassen  könne,  und  auf  welches  nicht;  endlich,  daes 
man  das  bewusste  Urtheil  und  Ueberlegung,  welche  man  nie  ganz 
entbt!hren  kann,  nicht  übt,  und  dass  man  sich  dann  vorkommenden 
Falles  mit  elenden  Analogien  statt  vernünftiger  Schlüsse  und  all- 
bcitigex  Uebersicht  begnügen  muss.  Nur  das  Bewusste  weise 
mau  als  sein  Eigen,  das  TJubewusst«  steht  Einem  als  etwas  Unbe- 
greiiüches.  Fremdes  gegenüber,  von  dessen  Gnade  man  abhängig 
ist;  das  Bewusste  hat  man  als  alle  Zeit  fertigen  Diener,  dessen 
Gehorsam  man  stets  erzwingen  kann,  —  das  XJnbewusste  schirmt  Einen 
wie  eine  Fee  und  hat  immer  etwas  unheimlich  Dämonisches;  auf 
die  Leistung  des  Bewusstseins  kann  ich  stolz  sein,  als  auf  meine 
That,  die  Frucht  meines  Schweisses,  —  die  Leistung  des  Unbe- 
wußtsten ist  gleichsam  ein  Geschenk  der  Götter,  und  der  Mensch 
nuT  ihr  begünstigter  Bote,  sie  kann  ihn  also  nur  Demuth  lehren; 
das  Unbewusste  ist,  sobald  es  da  ist,  fix  und  fertig,  hat  über  sich 
ftolber  kein  Urtheil  und  muss  daher  so  genommen  werden,  wie  es 
einmal  ist,  —  das  Bewusste   ist  sein  eigenes  Maass,  es  beurtheilt 


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sich  selbst  und  verbessert  sich  selbst,  es  ist  jeden  Augenblick  zu 
verändem,  sobald  eine  neu  gewonnene  Erkenntniss  oder  yeränderte 
Umstände  es  verlangen ;  ich  weiss,  was  an  meinem  bewusst  erwor- 
benen Resultat  Gutes  ist,  und  was  ihm  zur  Vollkommenheit  fehlt, 
danun  giebt  es  mir  das  Gefühl  der  Sicherheit,  weil  ich  weiss,  was 
ich  habe,  aber  auch  das  der  Bescheidenheit,  weil  ich  weiss,  dass 
88  noch  unvollkommen  ist;  das  TJnbewusste  lässt  den  Menschen 
fertig  dastehen,  er  kann  sich  nie  in  den  Leistungen  des  TJnbe- 
wnssten  vervollkommnen,  weil  seine  erste,  wie  seine  letzte  als  un- 
willkürliche Eingebungen  auftauchen,  —  das  Bewusstsein  enthält  die 
unendliche  Perfectibilität  im  Individuum  und  in  der  Gattung  in 
sich^  und  erfüllt  deshalb  den  Menschen  mit  dem  beseligenden  un- 
endlichen Streben  nach  Vervollkommnung.  Das  Unbewusste 
ist  unabhängig  vom  bewussten  Willen  jedes  Momentes,  aber  ganz 
abhängig  vom  unbewussten  Willen,  den  zu  Grunde  liegenden  Affec- 
ten,  Leidenschaften  und  Grundinteresaen  des  Menschen,  —  das 
Bewusste  ist  dem  bewussten  Willen  jedes  Momentes  unterthan  und 
kann  sich  vom  Interesse  und  den  AfPecten  und  Leidenschaften  völlig 
emancipiren ;  das  Handeln  nach  den  Eingebungen-  des  Unbewussten 
hängt  mithin  ausschliesslich  von  dem  angeborenen  und  anerzogenen 
Character  ab,  und  ist  je  nach  diesem  gut  oder  schlecht,  —  da«  Han- 
deln aus  dem  Bewusstsein  lässt  sich  nach  Ghnindsätzen  regeln,  welche 
die  Vernunft  dictirt. 

Man  wird  nach  diesem  Vergleich  nicht  zweifelhaft  sein,  das 
Bewusstsein  für  uns  als  das  Wichtigere  anzuerkennen  und  hiermit  un- 
seren obigen  Schluss  aus  der  organischen  Stufenordnung  und  dem  Fort- 
schritt der  Geschichte  zu  bestätigen.  XJeberall,  wo  das  Bewusstsein 
das  Unbewusste  zu  ersetzen  im  Stande  ist,  soll  es  dasselbe  ersetzen, 
eben  weil  es  dem  Individuum  das  Höhere  ist  und  alle  Einwände  hier- 
gegen, als  ob  die  stete  Anwendung  bewusster  Vernunft  pedantisch  mache, 
zu  viel  Zeit  koste  u.  s.  w.,  sind  falsch,  denn  Pedanterie  entsteht  erst  aus 
unvollkommenem  Vemunftgebrauch,  wenn  man  bei  Anwendung 
der  allgemeinen  Regel  den  Unterschieden  des  Besonderen 
nicht  B^hnung  trägt,  und  zu  viel  Zeit  kostet  die  Ueberlegung  nur 
bei  mangelndem  Erkenntnissmaterial  und  ungenügender  theoretischer 
Vorbereitung  für  die  Praxis,  oder  hei  Unschlüssigkeit,  welche  nur 
dorch  den  Vemunftgebrauch  selber  beseitigt  werden  kann.  Man 
soll  also  die  Sphäre  der  bewussten  Vernunft  möglichst  zu  erweitem 
Buchen,   denn    darin  besteht    aller  Fortschritt    des   Weltprocesses, 


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rillDS  Heil  der  Zukunft.  Dass  man  diese  Sphäre  nicht  positiv  über- 
schreite, dafür  ist  schon  durch  die  Unmöglichkeit  gesorgt:  aber  eine 
andere  Gefahr  liegt  bei  diesem  Bestreben  allerdings  nahe,  und  Tor 
ihr  zu  warnen,  ist  hier  der  Ort.  Die  bewusste  Vernunft  ist  uäm- 
lich  Qur  negirend,  kritisirend,  controlirend ,  corrigirend,  messend, 
vergleichend,  combinirend,  ein-  und  unterordnend,  Allgemeines  aus 
Besonderem  inducirend,  den  besonderen  Fall  nach  der  allgemeinen 
Regel  einrichtend,  aber  niemals  ist  sie  schöpferisch  productiv,  nie- 
mals erfinderisch;  hierin  hängt  der  Mensch  ganz  vom  ünbewussten 
ab^  wie  wir  früher  gesehen  haben,  und  wenn  er  das  ünbewusste 
verliert,  verliert  er  den  Quell  seines  Lebens,  ohne  den  er  im  trocke- 
nen Schematismus  des  Allgemeinen  und  Besonderen  sein  Dasein 
c-i II tonnig  weiter  schleppen  würde.  Darum  ist  ihm  das  Unbewusste 
unentbehrlich,  und  wehe  dem  Zeitalter,  das  es  gewaltsam 
uiuordrückt,  weil  es  in  einseitiger  TJeberschätzung  des  Bewusst- 
Tcrüünftigen  ausschliesslich  dieses  gelten  lassen  will ;  dann  fallt  es 
unrettbar  in  einen  wässerigen,  seichten  Rationalismus,  der  sich  in 
kindisch  greisenhafter  Altklugheit  brüstend  überhebt,  ohne  für  seine 
Kinder  irgend  etwas  Positives  thun  zu  können,  wie  die  jetzt  von 
uns  belächelte  Zeit  der  Wolff- Mendelssohn -Nicolai'schen  Aufkläre- 
rci.  Nicht  mit  roher  Faust  zerdrücken  darf  man  die  zarten  Keime 
der  ünbewussten  Eingebungen,  wenn  sie  wieder  kommen  sollen» 
i^ondem  kindlich  andächtig  ihnen  lauschen,  und  mit  liebevoller 
rhjintasie  sie  erfassen  und  gross  nähren.  Und  dies  ist  die  Gefahr, 
der  sich  Jeder  aussetzt,  welcher  einseitig  ganz  von  bewusster  Ver- 
nunft sein  Dasein  abhängig  zu  machen  sucht,  wenn  er  sie  onf 
Kuuat  und  Gefühl  und  Alles  übertragen  will,  und  das  Walten  des 
Ünbewussten  sich  zu  verläugnen  sucht,  wo  es  ihm  nur  immer  mög- 
lich scheint.  Darum  ist  gegen  die  verstandesmässige  Erziehung 
unserer  Zeit  die  Beschäftigung  mit  den  Künsten  ein  so  nöthiges 
(Gegengewicht,  als  in  welchen  das  Unbewusste  seinen  unmittelbarsten 
Au^^druck  findet,  freilich  nicht  ein  solches  technisches  Kunstexer- 
citium,  wie  es  heut  zu  Tage  aus  Mode  und  Eitelkeit  getrieben  wird, 
ficmdern  Einführung  in  das  Gefühl  für's  Schöne,  in  das  Verständ- 
oiss  und  den  wahren  Geist  der  Kunst.  Ebenso  ist  es  wichtig,  die 
Jugend  mit  dem  Thierleben  als  dem  unverfälschten  Born  reiner 
Katur  mehr  bekannt  zu  machen,  damit  sie  in  ihm  ihr  eigenes  We- 
sen in  vereinfachter  Gestalt  verstehen  lerne,  und  an  ihm  sich  von 
der  Unnatur    und  Verzerrung    unserer   gesellschaftlichen   Zustände 


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erquicke  und  erhole.  Feraer  sollte  man  sich  ganz  besonders  hüten, 
das  weibliche  GeBchlecht  zu  vernünftig  machen  zu  wollen,  denn 
wo  das  Fnbewusste  erst  zum  Schweigen  gebracht  werden  muss, 
gelingt  dies  doch  nur  in  widerlichen  Zerrbildern;  wo  aber  die  un- 
bewusste  Anlage  mit  den  Forderungen  des  Bewusstseins  überein- 
stimmt, ist  es  eine  unnütze  imd  für  das  Allgemeine  schädliche  Arbeit. 
Das  Weib  verhält,  sich  nämlich  zum  Manne,  wie  instinctives  oder 
unbewusstes  zum  verständigen  oder  bewussten  Handeln,  darum  ist 
das  echte  Weib  ein  Stück  Natur,  an  dessen  Busen  der  dem  Unbe- 
wussten  entfremdete  Mann  sich  erquicken  und  erholen  und  vor  dem 
tiefinnersten  lauteren  Quell  alles  Lebens  wieder  Achtung  bekommen 
kann ;  und  um  diesen  Schatz  des  ewig  Weiblichen  zu  wahren,  soll 
auch  das  Weib  vom  Manne  vor  jeder  Berührung  mit  dem  rauhen 
Kampfe  des  Lebens,  wo  es  die  bewusste  Kraft  zu  entfalten  gilt, 
möglichst  bewahrt  werden,  und  den  süssen  Naturbanden  der  Familie 
aufbehalten  bleiben.  Freilich  liegt  auch  der  hohe  Werth  des  Weibes 
für  den  Mann  nur  in  der  üebergangsperiode,  wo  die  Spaltung  zwi- 
schen Bewusstem  und  TJnbewusstem  schon  erfolgt,  aber  die  Wieder- 
versöhnung beider  noch  nicht  vollzogen  ist.  —  Endlich  sollte  man 
Alles,  was  wir  dem  Fnbewussten  verdanken,  als  Gegengewicht 
gegen  die  Vorzüge  der  bewussten  Vernunft  beständig  sich  und 
Anderen  vor  Augen  halten,  damit  der  schon  halb  versiegte  Quell 
alles  Wahren  und  Schönen  nicht  vollends  eintrockene,  und  die 
Menschheit  in  ein  vorzeitiges  Greisenalter  eintrete;  und  auf  dieses 
BedürfiiisB  hinzuweisen,  war  ein  mächtiger  Lnpuls  mehr,  mich  zur 
schriftlichen  Ausführung  der  in  diesem  Werke  vorliegenden  Gedan- 
kenarbeit zu  bestimmen. 


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-      i 


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c. 


Metaphysik  des  Unbewussten. 


.JKommot  her  zur  Physik  and  erkennet  das 
Ewige!" 


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lu 


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I. 

Die    Unterschiede    von    bewHSster   und    unbewnsster 

Oeistesthätigkeit  und  die  Einheit  von  Wille  nnd  Vor- 

Stellung  im  Unbewnssten. 


1.  Das  ünbewusste  erkrankt  nicht,  aber  die  be- 
wuBSte  Geistesthätigkeit  kann  erkranken,  wenn  ihre  materiellen 
Organe  Störungen  erleiden ,  sei  es  durch  körperliche  Ursachen ,  sei 
es  durch  heftige  Erschütterungen,  welche  von  starken  Gemüthsbe- 
wegungen  herrühren.  Dieser  Punct  ist,  soweit  wir  auf  denselben 
eingehen  können,  schon  in  dem  Capitel  über  die  Naturheilkraft 
(S.  118-  122)  berührt  worden. 

2.  Das  ünbewusste  ermüdet  nicht,  aber  jede  be- 
wusste  Geistesthätigkeit  ermüdet,  weil  ihre  materiellen  Organe  zeit- 
weise gebrauchsunthätig  werdep  in  Folge  eines  schnelleren  Btoff- 
verbrauchs ,  als  die  Ernährung  in  derselben  Zeit  ersetzen  kann. 
Allerdings  lässt.  sich  durch  einen  Wechsel  des  besonders  bean- 
spruchten Sinnes,  oder  des  Gegenstandes  des  Denkens  oder  der 
Sinneswahmehmung  die  Ermüdung  beseitigen ,  weil  nun  andere 
Organe  und  Gehimtheile,  oder  wenigstens  dieselben  Organe  in  eine 
andere  Art  von  Thätigkeit  versetzt  werden ,  aber  die  allgemeine 
Ermüdung  des  Centralorganes  des  Bewusstseins  ist  selbst  beim 
Wechsel  der  Gegenstände  nicht  zu  verhindern  und  tritt  bei  jedem 
neuen  Gegenstand  um  so  schneller  eia ,  je  länger  die  Aufmerksam- 
keit schon  bei  anderen  Gegenständen  thätig  war,  bis  zuletzt  vollständige 
Erschöpfung  erfolgt,  die  nur  durch  neue  Sauerstoffaufnahme  während 
des  Schlafes  wieder  auszugleichen  ist.  Je  mehr  wir  uns  dem  Gebiet 
des  Unbewnssten  nahem,  desto  weniger  ist  eine  Ermüdung  zu  bemer- 
ken, so  z.  B.  im  Gebiet  der  Gefühle,  und  um  so  weniger,  je  weni- 
ger Bestimmtheit  für's  Bewusstsein  dieselben  besitzen^   denn    desto 


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mehr  gehört  ihr  eigentliches  Wesen  dem  Unbewussten  an.  Wäh- 
rend ein  Gedanke  nicht  wohl  länger  als  zwei  Secunden  ohne  TJn- 
lerbrechung  im  Bewusstsein  festzuhalten  ist,  und  das  Denken  in 
wenigen  Stunden  ermüdet,  bleibt  ein  und  dasselbe  Gefühl  zwar 
mit  schwankender  Intensität ,  aber  ununterbrochen  oft  Tage  und 
Nächte  hindurch,  ja  Monate  lang  bestehen,  und  wenn  es  sich  end- 
lieh  abstumpft,  so  erscheint  doch  im  Gegensatz  zum  Denken  die 
Empfänglichkeit  für  andere  Gefühle  nicht  beeinträchtigt,  und  diese 
enuüden  dann  nicht  früher,  als  sie  es  ohnehin  gethan  hätten.  Letz- 
tere Behauptung  bedarf  nur  insoweit  der  Einschränkung,  als  das 
tweeetz  der  Stimmung  mit  zu  berücksichtigen  ist.  —  Vor  dem 
Einachlafen,  wo  der  Intellect  ermüdet,  treten  die  uns  belastenden 
Gefühle  gerade  um  so  mächtiger  hervor,  weil  sie  nicht  von  Ge- 
danken behindert  sind,  s^  stark,  dass  sie  öfters  den  Schlaf  verhin- 
dern. Auch  im  Traume  sind  lebhafte  Gefühle  viel  häufiger,  als 
klare  Gedanken ,  und  sehr  viele  Traumbilder  verdsmken  augen- 
acheinlich  den  vorhandenen  Gefühlen  ihren  Ursprung.  Femer 
denke  man  an  die  unruhige  Nacht  vor  einem  wichtigen  Ereigniss, 
aii  das  Erwachen  der  Mutter  bei  dem  leisesten  Weinen  des  Kin- 
der bei  gleichzeitiger  (Jnempfindlichkeit  gegen  andere  stärkere  Ge- 
räusche, an  das  Aufwachen  zur  bestimmten  Stunde,  wenn  man  den 
ontüchiedenen  Willen  dazu  hat  u.  dergl.  Alles  dies  beweist  das 
unermüdliche  Fortbestehen  der  Gefühle,  des  Interesses  und  des 
Willens  im  Unbewussten  oder  auch  mit  ganz  schwacher  Affection 
deä  Bewusstseins,  während  der  ermüdete  Intellect  ruht,  oder  hoch- 
stc-ns  dem  (Gaukelspiel  der  Träume  müssig  zuschaut.  Wo  wir  es 
mit  demjenigen  Zustand  zu  thun  haben,  welcher  von  allen,  die 
übL-rhaupt  noch  unserer  Beobachtung  zugänglich  sind,  am  tiefsten 
im  Unbewiissten  steckt  und  am  wenigsten  in's  Bewusstsein  hinübe^ 
reicht,  der  Entrückung  der  Mystiker,  da  schwindet  auch  der  Be- 
gritf  der  Ermüdung  auf  ein  Minimum  zusammen,  denn  „hundert 
Jahre  sind  wie  eine  Stunde",  und  selbst  die  körperliche  Ermüdung 
wird  wie  im  Winterschlaf  der  Thiere  durch  unglaubliche  Verlang- 
samung aller  organischen  Functionen  fast  getilgt;  —  man  denke  an 
diti  ewig  betenden  Säulenheiligen,  oder  die  indischen  Büsser  und 
ihre  vertrackten  Stellungen. 

3.  Alle  bewusste  Vorstellung  hat  die  Form  der 
Sinnlichkeit,  das  unbewusste  Denken  kann  nur  von 
unstnnlicher    Art    sein.      Wir    denken    entweder   in  Bildern« 


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dum  nehmen  wir  direct  die  Sinneseijidrücke  und  ihre  ümgestal- 
tuDgen  nnd  Combinationen  ans  der  Erinnerung  auf ,  oder  wir  den- 
ken in  Abstractionen.  Diese  Abstractionen  sind  aber  doch  auch 
bloae  Ton  Sinneseindriioken  abstrahirt,  und  mag  man  beim  Abstra- 
hiren fallen  laseen,  so  viel  man  will,  —  so  lange  man  überhaupt 
etwas  übrig  bebält,  kann  es  nur  etwas  sein»  was  in  dem  Ganzen 
sehon  steckte,  aus  welchem  man  erst  abstrahirt,  d.  h.  es  sind 
auch  die  Abatracta  für  uns  nur  Beste  von  SinneseindrUcken 
vnd  haben  mithin  die  Form  der  Sinnlichkeit»  —  Dass  die 
Sinneseindrücke ,  die  wir  von  den  Dingen  empfangen,  mit  diesen 
keine  Aehnlichkeit  haben,  ist  schon  aus  der  Naturwissenschaft  ge- 
nügend bekannt.  Da  nun  das  IJnbewusste  offenbar  an  der  Sin- 
neswahmehmung  nicht  Theil  nehmen  kann,  weil  eben  jede  Sinnes- 
wahraehmung  schlechterdings  Bewussisein  voraussetzt,  und  wo 
es  nicht  ist,  erzeugt,  so  kann  auch  die  unbewusste  Vorstellung 
unmöglich  die  Form  der  Sinnlichkeit  haben.  Da  aber  das  Bewusst- 
ficdn  schlechterdings  gar  nichts  vorstellen  kann ,  es  sei  denn  in 
Porm  der  Sinnlichkeit,  so  folgt ,  dass  das  Bewusstsein  nun  und 
nimmer  mehr  sich  eine  directe  Vorstellung  machen  kann 
von  der  Art  und  Weise ,  wie  die  unbewusste  Vorstellung  vorge- 
stellt wird,  es  kann  nur  negativ  wissen,  dass  jene  auf  keine 
Weise  vorgestellt  wird,  von  der  es  sich  eine  Vorstellung  machen 
knuL  Höchstens  kann  man  noch  die  sehr  wahrscheinliche  Ver- 
mathung  äussern ,  dass  in  der  unbewussten  Vorstellung  die  Dinge 
vorgestellt  werden,  wie  sie  an  sich  sind,  da  nicht  abzusehen  wäre, 
woher  für  das  Unbewusste  die  Dinge  anders  scheinen  sollten, 
tlfi  sie  sind;  jedoch  giebt  uns  diese  Erklärung  durchaus  keinen 
positiven  Halt  für  die  Vorstellung,  und  wir  werden  in  Ansehung 
der  Art  und  Weise   des  iinbewussten  Vorstellens  nicht  klüger. 

4.  Das  Unbewusste  schwankt  und  zweifelt  nicht, 
68  braucht  keine  Zeit  zur  Ueberlegung,  sondern  erfasst 
momentan  das  Besultat  in  demselben  Moment,  wo  es  den 
ganzen  logischen  Process,  der  das  Besultat  erzeugt,  auf  einmal  und 
aiokt  nach  einander,  sondern  iii  einander  denkt,  was  dasselbe  ist, 
als  ob  es  ihn  gar  nicht  denkt,  sondern  das  Besultat  unmittelbar  in 
intellectualer  Anschauung  mit  der  unendlichen  Kraft  des  Logischen 
bia- sieht.  A.uch  diesen  Punct  haben  wir  schon  öfter  erwähnt  und 
überall  so  sehr  bestätigt  gefunden,  dass  wir  ihn  geradezu  als  ein 
uafehlbares  Kriterium  benutzen  konnten,    um  im  besonderen  Fall6 

▼.  Hartman  n»  Phil.  d.  CnbewnsHten.  21 


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J 


322 


zu  entficheiden,   ob  wir  es  mit  einer  Einwirkung  des  UnbewnMten 
oder   mit  einer  bewussten  Leistung  zu  thun  hatten.     Banun  miiss 
die  üeberzeugung  dieses  Satzes  wesentlich  aus  der  Summe  unserer 
bisherigen  Betrachtungen  gewonnen  sein.  —  Hier  will  ich  nur  noch 
Folgendes  anschliessen :     Die  Ideal-Philosophie  fordert  eine  intelii- 
gible  Welt  ohne  Eaum  und  Zeit,  welche  der  Erscheinungswelt  mit 
ihren  für  bewusstes  Denken  und  Sein  geltenden  Formen :  Raum  und 
Zeit,    gegenüber    steht.     Wie    der  Baum   erst   in   und  mit  d^r 
Natur  gesetzt  ist,  werden  wir  später  sehen,  hier  handelt  es  ftieb 
um  die  Zeit.     Wenn  wir  nun  annehmen  dürfen,    dass  das  ünbe- 
wusste  jeden  Denkprooess    mit   seinen   Resultaten   in  einen  Mo- 
ment, d.  h.  in  Null-Zeit  zusammenfasst,  seist  das  Denken  des 
Unbewussten  zeitlos,  obwohl  noch  in  der  Zeit,    weil  der  ¥(►■ 
ment,  in  welchem  gedacht  wird,  noch  seine  zeitliche  Stelle  in  der 
übrigen  Reihe    der    zeitlichen  Erscheinungen  hat     Bedenken  vir 
aber,  dass  dieser  Moment,  in  welchem  gedacht  wird,  nur  an  dem 
lu-Erscheinung-Tretcn    seines   Resultates    erkannt   wird,    und  das 
Denken  des  Unbewussten  in  jedem  besonderen  Falle  nur  for  ein 
bestimmtes  Eingreifen   in   die  Erscheinungswelt  Existenz  gewinnt 
(denn  Yorüberlegungen  und  Vorsätze  braucht  es  nicht),  so  liegt  der 
Schluss  nahe,  dass  das  Denken  des  Unbewussten   nur  insofern  in 
der  Zeit  ist,  als  das  In-Erscheinung-Treten  dieses  Denkens  in  der 
Zeit  ist,  dass  aber  das  Denken  des  Unbewussten,  abgesehen  von 
der  Erscheinungswelt   und    vom  Eingreifen    in  diese,    in  der  That 
nicht  nur  zeitlos,    sondern    auch    unzeitlich,    d.    h.    ausser 
aller  Zeit  wäre.      Dann  würde   auch   nicht  mehr  von  Vorstd- 
lungs-Thätigkeit    des    Unbewussten   im  eigentlichen  Sinne   die 
Rede  sein  können,  sondern  die  Welt  der  möglichen  Vorstellungen 
würde  als  ideale  Existenz  im  Schoosse   des  Unbewussten  beschlos- 
sen liegen,   und  die  Thätigkeit,    als   welche  ihrem  Begriffe  nach 
etwas  Zeitliches,  zum  mindesten  Zeit  setzend  es  ist,  würde  erst  in 
dem  Moment  und  damit  beginnen,  dass  aus  dieser  ruhenden  idea- 
len Welt  aller  m<^lichen  Vorstellungen  die  Eine  oder  die  Andere 
in  reale  Erscheinung  tritt,    was   eben  dadurch  geschieht,  dass  sie 
vom  Willen  als  Inhalt  erfasst  wird,  wie  wir  später  sehen  werd«i 
zu   Ende    dieses  Capitels    S.    330  —  331.     Damit  hätten  wir  das 
Reich  des  Unbewussten  als  die  intelligible  Welt  Kaufs  begriffen.  — 
Hiermit  stimmt  völlig  überein,  dass  die  Zeitdauer  in  das  bewusste 
Denken   erst  durch    das    materielle   Organ    des  Bewusstaeins 


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hineinkommt»  dass  das  bewusste  Denken  nur  darum  Zeit  erfordert, 
weil  die  Himschwingungen ,  auf  denen  es  beruht ,  Zeit  brauchen, 
wie  ich  dies  im  Capitel  B.  YIII.  S.  267  —  268  kurz  gezeigt  habe. 
5.  Das  ünbewusste  irrt  nicht.  Die  Begründung  die- 
ses Satzes  muss  sich  auf  den  Nachweis  beschränken,  dass  das- 
jenige, was  man  bei  oberflächlicher  Betrachtung  für  Irrthümer  des 
ünbewussten  halten  konnte,  bei  näherer  Erwägung  nicht  als  solche 
angesehen  werden  kann.  So  lassen  sich  z.  B.  die  vermeintlichen 
Irrthümer  des  Instinctes  auf  folgende  vier  Fälle  zurückfuhren: 

a)  Wo  gar  kein  besonderer  Instinct  existirt,  sondern  bloss  eine 
Organisation,  welche  durch  besondere  Stärke  gewisser  Muskeln  den 
allgemeinen  Bewegnngstrieb  vorzugsweise  auf  diese  Muskeln  hin- 
lenkt. So  z.  B.  das  unzweckmässige  Stossen  junger  Rinder,  die 
noch  keine  Homer  haben  ^  oder  wenn  der  Schlangengeier  all  sein 
Futter  mit  seinen  starken  Beinen  vor  dem  Fressen  zerstampft,  ob- 
wohl dies  nur  bei  lebenden  Schlangen  einen  Zweck  hat.  In  die- 
sen Fällen  ist  die  Organisation  dazu  da,  einen  besonderen  Instinct 
überflüssig  zu  machen  und  zu  ersetzen,  der  für  gewisse  Fälle 
zweckmässig  wäre;  die  Organisation  aber  treibt  zu  denselben  Be- 
wegjmgen,  die  in  gewissen  Fällen  zweckmässig  sind,  auch  in  an- 
deren Fallen,  wo  sie  überflüssig  und  nutzlos  sind«  Da  aber  das 
ünbewusste  sich  durch  die  Maschinerie  der  Organisation  ein-  für 
allemal  die  Arbeit  leistet,  die  es  sonst  in  jedem  einzelnen  Falle 
thun  müsste,  so  würde  man  wegen  der  Krafterspamiss  des  TJnbe- 
wnssten  diese  Einrichtung  selbst  dann  noch  als  zweckmässig  aner- 
kennen müssen,  wenn  in  gewissen  Fällen  diese  Organisation  nicht 
nur  überflüssig,  sondern  sogar  zweckwidrig  und  nachtheilig  wirkte, 
wenn  nur  die  Anzahl  der  Fälle,  wo  sie  zweckmässig  ist,  stark 
überwöge.  Aber  hiervon  ist  mir  nicht  einmal  ein  Beispiel 
bekannt. 

b)  Wo  der  Instinct  durch  naturwidrige  Gewohnheit  ertödtet 
ist,  ein  Fall  der  vielfach  beim  Menschen  und  seinen  Hausthieren 
eintritt,  wenn  z.  B.  letztere  auf  der  Weide  giftige  Kräuter  und 
Pflanzen  fressen,  die  sie  im  ^Naturzustände  vermeiden,  oder  wenn 
der  Mensch  manche  Thiere  künstlich  an  eine  ihrer  Natur  wider- 
sprechende Nahrung  gewöhnt. 

c)  Wo  der  Instinct  aus  zufälligen  Gründen  nicht  functionirt, 
also  die  Eingebung  des  ünbewussten  ganz  ausbleibt,  oder  in  so 
schwachem  Grade  eintritt,  dass  andere  entgegenstehende  Triebe  sie 

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überwinden,  z.  B,  wenn  ein  Thier  seinen  natürlichen  Feind  nicht 
scheut  und  ihm  dadurch  zum  Opfer  fällt,  den  andere  Thiere  seiner 
Art  instinctiy  zu  fliehen  pflegen,  oder  wenn  bei  einem  Schweine 
die  Mutterliebe  so  gering  ist,  dass  der  Nahrangstrieb  es  zum  Aof- 
fressen  seiner  Jungen  bringt. 

d)  Wo  der  Instinct  zwar  auf  die  bewusste  Vorstellang,  auf 
welche  er  functioniren  soll ,  richtig  functionirt,  aber  diese  bewuaste 
Vorstellung  einen  Irrthum  enthält.  Wenn  z.  B.  eine  Henne  auf 
einem  untergelegten  eirunden  Stücke  Kreide  brütet,  oder  die  Spinne 
ein  mit  ihrem  Eierbeutel  vertauschtes  Enäulchen  Baumwolle  sorg- 
fältig pflegt,  so  irrt  in  beiden  die  bewusste  Vorstellung  in  Folge 
mangelhafter  Sinneswahmehmung,  die  die  Kreide  für  ein  £i,  <i&> 
Baumwollenknäulchen  für  einen  Eierbeutel  hält;  der  Instinct  aber 
irrt  nicht,  denn  er  tritt  auf  diese  Vorstellung  ganz  richtig  ein. 
Es  wäre  unbillig,  zu  verlangen,  dass  hier  das  Hellsehen  des  In- 
stinctes  eintreten  solle,  um  den  Irrthum  der  bewussten  Vorstellung  zu 
corrigiren ;  denn  das  Hellsehen  des  Instinctes  betrifft  ja  gerade  im- 
mer nur  solche  Puncto,  welche  die  bewusste  Wahrnehmung  über- 
haupt nicht  zu  erreichen  vermag,  aber  nicht  solche,  für  welche  der 
Mechanismus  der  sinnlichen  Erkenntniss  in  allen  gewöhnlichen 
Fällen  ausreicht.  Aber  selbst  wenn  man  diese  Anforderung  stellte, 
würde  man  immer  noch  nicht  sagen  können,  dass  das  ünbewusste 
irrte,  sondern  nur,  dass  es  mit  seinem  Hellsehen  nicht  eingriff,  wo 
es  hätte  eingreifen  können. 

Auf  diese  vier  Fälle  lässt  sich  mit  Leichtigkeit  AUes  zurück- 
bringen, was  man  versucht  sein  könnte,  für  scheinbare  Irrthümer 
des  Instinctes  zu  halten.  Was  man  im  menschlichen  Geiste  für 
falsche  und  schlechte  Eingebungen  des  Unbewussten  halten  könnte, 
würde  noch  leichter  sein  zu  widerlegen;  wo  man  von  falschem 
Hellsehen  hört ,  kann  man  so  sicher  sein  ,  mit  absichtlicher  oder 
unabsichtlicher  Täuschung  zu  thun  zu  haben ,  wie  bei  nicht  zu- 
trcflenden  Träumen,  dass  sie  nicht  Eingebungen  des  Unbewussten 
sind ;  ebenso  kann  man  im  Voraus  überzeugt  sein,  dass  alle  krank- 
haften und  schlechten  Auswüchse  an  der  Mystik  oder  an  künst- 
lerischen Conceptionen  nicht  aus  dem  Unbewussten,  sondern  aus 
dem  Bewusstsein  stammen,  nämlich  aus  krankhaften  Ausschwei- 
fungen der  Phantasie,  oder  von  verkehrter  Erziehung  und  Bildung 
der  Grundsätze,  des  Urtheiles  und  des  Geschmackes.  .  Endlich  mußs 
man  unterscheiden ,    in   wie  weit    und  bis  zu   welchem  Grade  in 


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einem  bestimmten  Falle  die  Einwirkung  des  ünbewussten  gereicht 
hat.  Denn  ich  kann  z.  B.  über  einer  Erfindung  grübeln,  und  dazu 
einen  Anlauf  in  bestimmter  Richtung  genommen  haben;  wenn  ich 
mir  nun  über  einen  gewissen  Punct  den  Kopf  zerbreche,  der  mir 
zur  Vollendung  des  Ganzen  bloss  noch  zu  fehlen  scheint,  so  wird 
68  allerdings  einer  Einwirkung  des  ünbewussten  zu  verdanken  sein, 
wenn  mir  dieser  plötzlich  einfallt;  nun  braucht  aber  keineswegs 
hiermit  die  Erfindung  in  brauchbarer  Weise  abgeschlossen  zu  sein, 
denn  ich  kann  ja  in  meinem  Glauben  geirrt  haben,  dass  nur  dieser 
£ine  Punct  zur  Vollendung  des  Ganzen  noch  fehle,  oder  das  Ganze 
kann  vollendet,  aber  überhaupt  nichts  werth  sein,  und  dennoch 
darf  man  nicht  behaupten,  dass  jene  Eingebung  des  Ünbewussten 
falsch  oder  schlecht  gewesen  sei,  sondern  sie  war  entschieden  gut 
und  richtig  für  den  Punct,  den  ich  gerade  suchte,  nur  dass  der  ge- 
suchte Punct  nicht  der  richtige  war.  Wenn  ein  andermal  eine 
Eingebung  des  ünbewQssten  gleich  die  Erfindung  in  den  Grund- 
zügen fix  und  fertig  hinstellt,  so  ist  eben  diese  letztere  nur  weiter 
gegangen ,  aber  richtig  und  gut  für  den  Zweck ,  bis  zu  dem  sie 
gerade  reichen ,  sind  beide ,  sind  alle  Einwirkungen  des  Ünbe- 
wussten. 

6.  Das  Bewusstsein  erhält  seinen  Werth  erst 
durch  das  Gedächtniss,  d.  h.  durch  die  Eigenschaft  der  Him- 
schwingnngen ,  bleibende  Eindrücke  oder  moleculare  Lagerungsver- 
änderungen von  der  Art  zu  hinterlassen,  dass  von  nun  an  dieselben 
Schwingungen  leichter  als  das  vorige  Mal  hervorzurufen  sind,  in- 
dem das  Hirn  nunmehr  auf  denselben  Reiz  gleichsam  leichter 
resonirt;  dies  ermöglicht  erst  das  Vergleichen  gegenwärtiger  Wahr- 
nehmungen mit  früheren,  ohne  welches  alle  Begriffsbildung  fast 
unmöglich  wäre,  —  es  ermöglicht  überhaupt  erst  das  Sammeln  von 
Erfahrungen.  -Das  bewusste  Denken  nimmt  mit  dem  Gedächtniss- 
materiale,  dem  fertigen  Begriffs-  und  TJrtheilsschatze,  und  der  Uebung 
des  Denkens  an  Vollkommenheit  zu.  Dem  ünbewussten  da- 
gegen können  wir  kein  Gedächtniss  zuschreiben,  da 
wir  das  letztere  nur  mit  Hülfe  der  im  Gehirne  verbleibenden  Eindrücke 
zu  begreifen  vermögen ,  und  dasselbe  ganz  oder  stückweise  durch 
Beschädigungen  des  Gehirnes  zeitweise  oder  für  immer  verloren  gehen 
kann.  Auch  denkt  das  Unbewusste  Alles,  was  es  zu  einem  bestimm- 
ten Falle  braucht,  implicite  in  einem  Momente  mit,  es  braucht 
also  keine  Vergleichungen  anzustellen;    ebenso  wenig   hat 


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m  Erfahrangen  nöthig,  da  es  vermöge  seines  Hellsehens  Alle« 
wei&a  oder  wissen  kann,  sobald  nur  der  Wille  es  dringend  genug 
verlangt.  Daher  ist  das  ünbewuBste  immer  bis  zu  dem  Grade 
vollkommen,  wie  es  überhaupt  seiner  Natur  nach  sein  kann, 
und  ist  oine  weitere  Vervollkommnung  in  dieser  Bichtting  undenk- 
bar; wean  darüber  hinausgegangen  werden  soll,  so  muss  es  durch 
eine  Äanderung  der  Eichtung  selbst  geschehen,  d.  h.  durch  den 
üebergang  vom  ünbewussten  in's  Bewusstsein. 

7.  Im  ünbewussten  ist  Wille  und  Vorstellung  in 
untrennbarer  Einheit  verbunden,  es  kann  nichts  gewollt 
werden,  was  nicht  vorgestellt  wird,  und  nichts  vorgestellt 
werden,  was  nicht  gewollt  wird;  im  Bewusstsein  dagegen 
kann  zwar  auch  nichts  gewollt  werden,  was  nicht  vorgestellt  wird, 
aber  ea  kann  Etwas  vorgestellt  werden,  ohne  dass  erf  gewollt 
würde:  das  Bewusstsein  ist  die  Möglichkeit  derEman- 
cipatioo  des  Intellectes  vom  Willen.  —  Die  Unmöglicb- 
keit  eines  Wollens  ohne  Vorstellung  ist  schon  Cap.  A.  IV.  be- 
öprochca  worden;  hier  handelt  es  sich  um  die  Unmöglichkeit  einer 
ünbewussten  Vorstellung  ohne  den  ünbewussten  Willen  zu  ihrer 
Verwirklichung,  d.  h.  ohne  dass  diese  unbewusste  Vorstellung  zu- 
gleich Inhalt  oder  (Gegenstand  eines  ünbewussten  Willens  wäre. 
Am  klarsten  ist  dies  Verhältniss  beim  Instincte  und  den  auf  leib- 
liehe Vorgänge  bezüglichen  ünbewussten  Vorstellungen,  Hier  ist 
jode  eimielne  unbewusste  Vorstellung  von  einem  ünbewussten  Wil- 
len begleitet,  welcher  zu  dem  allgemeinen  Willen  der  Selbsteriial- 
ttrng  und  G^attungserhaltung  im  Verhältnisse  vom  Wollen  des 
Kittelä  zum  Wollen  des  Zweckes  steht.  Denn  dass  alle  Instincte 
mit  wenigen  Ausnahmen  die  beiden  Hauptzwecke  in  der  Natur, 
Selbst-  und  Gattungserhaltung,  verfolgen,  dürfte  wohl  keinem  Zwei- 
fel unterliegen,  mögen  wir  nim  auf  die  Entstehung  der  Reflexbe- 
wegungen, Naturheilwirkungen,  organischen  Bildungsvorgänge  und 
thieri&eben  Instincte  sehen,  oder  auf  die  Instincte  zum  Verständ- 
nlasü  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  zur  Bildung  der  Abstracta  und 
Unentbehrlichen  Beziehungsbegrilffe,  zur  Bildung  der  Sprache,  oder 
auf  die  Instincte  der  Scham,  des  Ekels,  der  Auswahl  in  der  ge- 
eohlechtliühen  Liebe  u.  s.  w.;  es  würde  übel  aussehen  mit  Men- 
schen und  Thieren,  wenn  auch  nur  Eines  von  allen  diesen  ihnen 
fehlte,  z,  B.  die  Sprache  oder  die  Bildung  der  Beziehungsbegriffe, 
Beides    für  Thiere  und  Menschen    gleich    wichtig.     Alle  Instincte, 


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die  nicht  auf  Selbst-  cnier  Gattungserhaltung  gehen,  beziehen  eich 
auf  den  dritten  Hauptzweck  in  der  Welt,  Yervollkommnung  und 
Veredelung  der  Gattung,  etwas  beim  MenBchengeBchlechte  beson- 
ders Hervortretendes.  Unter  das  allgemeine  Wollen  dieses  Zweckes 
fällt  das  Wollen  aller  besonderen  Fälle  als  Mittel,  wo  das  ünbe- 
wusste  in  die  Geschichte  fördernd  eingreift,  sei  es  in  Gedanken 
(mystische  Gewinnung  von  Wahrheiten),  oder  Thaten,  sei  es  in  Ein- 
zelnen (wie  bei  Heroen-  der  Geschichte)  oder  in  Massen  des  Volkes 
(wie  bei  Staatenbildungen,  Völkerwanderungen,  Kreuzzügen,  Kevo- 
lutionen  politischer,  kirchlicher  oder  socialer  Art  u.  s.  w.)-  £& 
bleibt  uns  noch  die  Einwirkung  des  XJnbewussten  im  Gebiete  des 
Schönen  und  in  dem  des  bewussten  Denkens.  In  beiden  Fällen 
haben  wir  schon  anerkennen  müssen,  dass  das  Eingreifen  des  TJn- 
bewusstea  zwar  yom  bewussten  Willen  des  Augenblickes  unab- 
hängig, aber  dafür  ganz  und  gar  abhängig  ist  vom  innerlichen  In- 
teresse am  Gegenstande,  von  dem  tiefen  Bedürfnisse  des  Cteistes  und 
Herzens  nach  Erreichung  dieses  Zieles,  dass  es  zwar  davon  ziemlich 
unabhängig  ii^,  ob  man  sich  gerade  augenblicklich  lebhaft  im  Be- 
wusstsein  mit  dem  Gegenstande  beschäftigt,  dass  es  aber  sehr  von 
einer  dauernden  und  angelegentlichen  Beschäftigung  mit  demselben 
abhängt  Wenn  nun  das  tiefinnere  Geistesinteresse  und  Herzens- 
bedürfoiss  schon  selber  wesentlich  unbewusster,  nur  zum  kleineren 
Theüe  in's  Bewusstsein  fallender  Wille  ist,  oder  doch  ebenso  wie 
die  angelegentliche  Beschäftigung  mit  der  Sache  höchst  geeignet 
ist,  den  unbewussten  Willen  zu  erwecken  und  zu  erregen,  wenn 
femer  die  Eingebung  um  so  leichter  erfolgt,  je  mehr  sich  das  In- 
teresse vertieft  und  von  den  lichten  Höhen  des  Bewusstseins  in 
die  dunkeln  Gründe  des  Herzens,  d.  h.  in's  ünbewusste,  zurückge- 
zogen hat,  so  werden  wir  gewiss  berechtigt  sein,  auch  in  diesen 
Fällen  einen  unbewussten  Willen  anzunehmen.  In  der  blossen 
Anfi^suDg  des  Schönen  aber  werden  wir  gewiss  einen  Instinct 
anerkennen  müssen,  der  zu  dem  dritten  Hauptzwecke,  der  Vervoll- 
kommnung des  Geschlechtes,  gehört,  denn  man  denke  nur,  was  das 
Menschengeschlecht  wäre,  was  es  glücklichsten  Falles  am  Ende 
der  Geschichte  erreichen  könnte,  und  wie  viel  elender  das  elende 
Kenschenleben  sein  würde,  wenn  Niemand  das  Gefühl  des  Schönen 
kennte. 

Es    bleibt    uns    nun    nur   noch  Ein  Bunct   übrig,    der   frei- 
lich den  meisten  Lesern  wohl  keine  Bedenken  machen  wird^   ich 


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328 

meii^e  das  Hellsehen  in  WahrtnUunen,  Yisionem,  spontanem  und 
kuui^tlichem  Somnambulismus.  Aber  auoh  wer  diese  Erscheinimgen 
gelten  lässt,  wird  sich  bald  überzeugen,  daas  immer  der  unbewusste 
Wille  mitspielt.  Wo  sich  das  Hellsehen  auf  Angaben  von  Heil- 
[uitteln  für  sich  selbst  bezieht,  leuchtet  dies  sofort  ein,  und  eine 
hellsehende  Angabe  von  Heilmitteln  für  fremde  Personen  möchte 
Ich  stark  bezweifeln,  es  sei  denn,  dass  diese  dem  Herzen  der  bell- 
i^ehouden  Personen  sehr  nahe  stehen,  und  ihr  Interesse  fast  so 
sehr  wie  ihr  eigenes  Wohl  erregen.  Wahrsagende  Träume,  Ah- 
umigQn,  Visionen  oder  Gedankenblitze,  welche  andere  Q^enstande 
haben,  beziehen  sich  entweder  auf  wichtige  Puncto  der  eigenen 
Zukunft,  Warnung  vor  Lebensgefahr,  Tröstung  über  Schmerz 
Göthe's  Doppelgesicht)  und  dergleichen,  oder  sie  geben  AufschlnsB 
über  die  am  nächsten  geliebten  Personen,  Gatten  und  Kind,  ver- 
künden z.  B.  den  Tod  des  £ntfemten,  oder  bevorstehendes  Un- 
glück; oder  endlich  sie  beziehen  sich  auf  Ereignisse  von  erschüt- 
ternder Grösse  und  Tragweite  ^  die  jedes  Menschen  Herz  nahe  ge- 
heD,  z.  B.  die  Brände  grosser  Städte  (Swedenborg),  besonders  der 
tHgenea  Vaterstadt  u.  s.  w.  In  allen  diesen  Fällen  sieht  man,  ^wie 
eng  die  Eingebui^  des  ünbewussten  mit  dem  innersten  Willensin- 
t€re@äe  des  Menschen  verknüpft  ist,  in  allen  diesen  Fällen  ist  man 
daher  auoh  berechtigt,  einen  ünbewussten  Willen  anzunehmen, 
welcher  eben  das  für  diesen  besonderen  dem  Bewusst- 
«ein  noch  unbekannten  Fall  specificirte  allgemeine 
Interesse  repräsentirt  Nie  wird  das  Hellsehen  eines  Men- 
schen von  selbst  auf  Dinge  gerathen,  die  nicht  aufs  Innigste  mit 
dem  Kerne  seines  eigenen  Wesens  verwoben  sind,  was  aber  die 
A Kit  werten  der  künstlichen  Somnambulen  auf  ihnen  vorgelegte 
glcif^hgoltige  Fragen  betrifft,  so  sei  es  mir  so  lange  erlaubt,  an 
(tereiL  Abstammung  aus  dem  Ünbewussten  zu  zweifeln,  als  ich  mich 
verpflichtet  fiihle,  diejenigen  Magnetiseure  als  eitle  Prahler  oder 
l>e trügerische  Charlatane  zu  verachten,  welche  den  Somnambulen 
andere  als  auf  das  eigene  Wohl  bezügliche  Fragil  vorzulegen  sich, 
nicht  Bcheuen.  Wenn  auch  der  somnambule  Zustand  für  die  Ein- 
gebungen des  ünbewussten  empfönglicher  ist,  als  jeder  andere,  so 
ist  darum  doch  nur  das  Wenigste,  was  einer  Somnambule  einzufallen 
beliebt,  Eingebung  des  ünbewussten,  und  erfahrene  Magnetiseure 
wissen  sehr  wohl  zu  berichten,  wie  sehr  man  sich  zu  hüten  habe, 
dasfi  Einen  nicht  die  dem  Weibe  angeborene^Laune  und  Verstellung 


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329 

sogar  im  somnambulen  Zustande  betrüge,  ohne  dass  die  Bomntunbüle 
Person  irgend  die  bewusste  Absicht  der  Täuschung  hätte. 

Wir  dürfen  als  Eesultat  dieser  Betrachtung  annehmen,  dass  wir 
keine  unbewusste  Vorstellung  kennen,  welche  nicht  mit  unbewusstem 
Willen  verbunden  wäre,  und  zwar  wenn  wir  bedenken,  dass  die  un- 
bewusste Vorstellung  etwas  ganz  Anderes  ist,  als  das,  was  als  Con*- 
ception  od^  Eingebung  des  ünbewussten  im  Bewusstsein  erscheint, 
dass  yielmehr  erstere  und  letztere  sich  wie  Ding  an  sich  und  Er- 
scheinung, aber  zugleich  auch  wie  Ursache  und  Wirkung  verhalten, 
so  werden  wir  es  sehr  einleuchtend  finden,  dass  der  mit  der  ün- 
bewussten Vorstellung  direct  verbundene  unbewusste  Wille,  wel- 
cher die  Anwendung  des  allgemeinen  Interesses  auf 
den  besonderen  Fall  repräsentirt,  in  nichts  Anderem  be- 
stehe, als  in  dem  Wollen  der  Verwirklichung  seiner 
ünbewussten  Vorstellnng,  wenn  man  unter  Verwirklichung 
das  Zur -Erscheinung- Bringen  in.  der  natürlichen  Welt  versteht, 
und  zwar  hier  unmittelbar  im  Bewusstsein  als  Vorstellung 
in  Porm  der  Sinnlichkeit  durch  Erregung  der  betref- 
fenden Gehirnschwingungen.  Dies  ist  aber  die  wahre 
Einheit  Ton  Wille  und  Vorstellung,  daßs  der  Wille  eben 
nichts  als  die  Verwirklichung  seines  Inhaltes,  d.  h.  der  mit  ihm 
verbundenen  Vorstellung,  wilL  Betrachten  wir  andererseits  das 
Bewusstsein  und  den  grossartigen  zu  seiner  Erzeugung  in  Scene 
gesetzten  Apparat,  und  erinnern  wir  uns  aus  dem  letzten  Glei- 
te! des  vorigen  Abschnittes,  was  wir  erst  im  Oapitel  XTII. 
dieses  Abschnittes  näher  begründen  werden,  dass  aller  Fortschritt 
in  der  Stufenreihe  der  Wesen  und  in  der  Geschichte  in  der  Er- 
weiterung des  Gebietes,  wo  das  Bewusstsein  herrscht,  besteht,  dass 
aber  diese  Erweiterung  der  Herrschaft  nur  durch  Befreiung  des 
Bewusstseins  von  der  Herrschaft  des  Affectes  und  Interesses,  mit 
einem  Worte  des  Willens,  und  durch  alleinige  Unterwerfung  unter 
die  bewusste  Vernunft  erkämpft  werden  kann,  so  liegt  der  Schluss 
n^be,  dass  die  fortschreitende Emancipation  des  Intellectes  vom 
Willen  der  eigentliche  Eernpunct  und  nächste  Zweck  der  Erschaf- 
inng  des  Bewusstseins  ist.  Dies  wäre  aber  widersinnig,  wenn  das 
Unbewusste  an  sich  schon  die  Möglichkeit  dieser  Emancipation 
enthielte,  denn  der  ganze  grosse  Apparat  für  Herstellung  des  Be- 
wusstseins wäre  dann  in  dieser  Absicht  überflüssig.  Hieraus  und 
aus  der  Erscheinung,    dass  wir  nirgends   eine  unbewusste  Vorstel- 


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330 

lang  ohne  unbewussten  Willen  kennen,  schlieBse  ioh,  dass  Wille 
und  V'orstellung  im  Unbewussten  nur  in  untrennbarer  Einheit  eii- 
itircji  kann;  denn  es  wäre  doch  mindestens  sehr  wunderlich,  wenn 
unbewusste  Vorstellung  abgesondert  existirte ,  und  wir  nirgends 
etwixs  davon  merkten.  —  Dazu  kommt  noch  folgende  bestätigende 
Betrachtung.  — 

Das  Denken  oder  Vorstellen  als  solches  ist  völlig  in  eich 
begeh loBsen,  hat  gar  kein  Wollen,  kein  Streben  oder  Demähn- 
iiches  ,  es  hat  auch  als  solches  keinen  Schmerz  oder  Lust ,  abo 
auch  kein  Interesse;  Alles  dieses  haftet  nicht  am  Vorstellen,  son- 
dern am  Wollen.  Mithin  kann  das  Vorstellen  an  sich  niemals  ein 
zur  ^Veränderung  treibendes  Moment  in  sich  selber  finden,  es  wird 
sich  absolut  indifferent  nicht  nur  gegen  sein  Sosein  oder 
Anderssein,  sondern  auch  gegen  sein  Sein  oder  Nichtsein  ver- 
halten, da  ihm  Alles  dies  ganz  gleichgültig  ist,  weil  es  ja  überhaupt 
mteresaelos  ist.  Hieraus  geht  hervor,  dass  das  Vorstellen,  da  es 
weder  ein  Interesse  an  seiner  eigenen  Existenz,  noch  irgend  ein 
Btreben  nach  derselben  hat,  auch  in  sich  selber  durchaus  keinen 
Grund  finden  kann,  aus  dem  Nichtsein  in*s  Sein,  oder,  wenn  man 
lieber  will,  aus  dem  potentid"  Sein  in's  actu  -  Sein  überzugehen,  d.  L 
dass  es  zu  jedem  actu  eilen  Vorstellen  eines  Grundes  bedarf,  der 
nicht  im  Vorstellen  selber  liegt.  ^  Dieser  Grund  ist  für  das  be- 
wusste  Vorstellen  die  Materie  in  ihren  Sinneseindrücken  und  Hin* 
äi^hwiDgungen,  für  das  unbewusste  Vorstellen  kann  es  diese  nidit 
seiD,  sonst  würde  es  eben  auch  zum  Bewasstsein  kommen,  wie  im 
dritten  Gapitel  zu  zeigen  ist,  folglich  kann  es  für  diese  nur  der 
unbewusste  Wille  sein.  Dies  stimmt  vollkommen  mit  unseren 
Erfahrungen,  denn  überall  ist  es  das  Interesse,  der  Wille,  der  auf 
den  besonderen  Fall  losgehend  die  Vorstellung  erst  in's  Dasein  zwingt 
Weim  aber  im  Unbewussten  die  Vorstellung  nur  vom  Willen 
herv^argemfen  werden  kann,  so  versteht  es  sich  von  selber,  dass 
gerade  immer  nur  diejenigen  Vorstellungen  zur  Existenz  kommen, 
welclie  dem  Willen  zum  Inhalte  oder  Gegenstande  dienen.  Ich  will 
hier  noch  einmal  die  Bemerkung  anfügen;  dass,  da  dem  Willen 
unmittelbar  die  That  folgt,  es  keine  Geistesthätigkeit  im  Unbewuss- 
ten geben  kann,  als  im  Moment  der  beginnenden  That,  und  so  lange 
ab  der  Wille  zur  Fortsetzung  der  That  erforderlich  ist  Selbst 
wenn  der  Wille  zur  Verwirklichung  seines  Inhaltes  und  Uebei^ 
Windung  der  vorliegenden  Widerstände  zu  schwach  ist,   trifft  dies 


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331 

zu;  denn  entweder  besteht  die  That  im  migslingenden  Yersuche, 
oder  das  Unbewusste  denkt  statt  dieses  Zweckes  gleich  die  geeig- 
neten Yorbereitenden  Mittel.  — 

Es  könnte  hier  noch  ein  Einwand  erhoben  werden,  nämlich 
der,  dass  ja  doch  das  TJnbewnsste  nur  die  letzten  Eesnltate  will, 
aber  den  genzen  Denkprocess  denken  mubs,  der  zu  diesen  Besulta- 
ten  fahrt.  Wer  aber  das  4.  dieses  Capitels  aufoierksam  gelesen 
hat,  wird  darin  schon  die  Beantwortung  dieses  Einwandes  gefunden 
haben.  Das  unbewusste  Denken  fasst  eben  eile  Glieder  eines  Pro- 
cesses,  Grund  und  Folge,  Ursache  und  Wirkung,  Mittel  und  Zweck 
Q.  B.  w.,  in  einen  einzigen  Moment  zusammen,  und  denkt  sie  nicht 
vor,  neben  oder  ausser,  sondern  in  dem  Resultate  selbst,  sie  denkt 
sie  gar  nicht  anders  als  d  u  r  c  h  das  Resultat.  Daher  kann  dieses  Den- 
ken nicht  als  ein  besonderes  Denken  ausserhalb  des  Resultates 
geltend  gemacht  werden,  es  ist  yielmehr  implicite  im  Denken  des 
Besultates  mit  enthalten,  ohne  jemals  explicirt  zu  werden;  folglich 
ist  das  allein  in  unserem  gewöhnlichen  Sinne  Gedachte  das  Resul- 
tat, und  der  Satz  bleibt  bestehen,  dass  nur  Das  unbewusst  gedacht 
werden  kann,  was  gewollt  wird.  —  Ueberdies  kann  man  sogar  bei 
der  gewöhnlichen  Kategorie  des  unbewussten  Denkens ,  bei  Mittel 
and  Zweck  sagen,  dass  auch  der  in  der  Vorstellung  des  gewollten 
Mittels  implicite  mit  gedachte  Zweck   implicite  mit  gewollt  werde. 

Nach  alle  dem  besteht  die  einzige  Thätigkeit  des  Unbe- 
wofisten  im  Wollen,  und  die  den  Willen  erfüllende  unbewusste 
Vorstellung  ist  auch  fiir  die  Thätigkeit  nur  der  unzeitliche,  gleich- 
sam in  die  Zeitlichkeit  bloss  mit  hineingerissene  Inhalt;  Wollen 
und  Thätigsein  sind  demnach  identische  oder  Wechselbegriffe; 
nur  durch  sie  wird  die  Zeit  gesetzt,  nur  durch  sie  wird  die  Vor- 
stellung aus  dem  potentiä^Sem  in's  oc^-Sein,  aus  dem  Sein  im 
Wesen  in's  Sein  in  der  Erscheinung,  und  damit  in  die  Zeit,  hin- 
eingeworfen. Ganz  anders  mit  der  bewussten  Vorstellung,  die  ein 
Product  aus  yerschiedenen  Factoren  ist,  von  denen  der  eine,  die 
Hirnschwingungen,  von  vornherein  mit  der  Dauer  behaftet  ist. 


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n. 

Oehirn  und  Ganglien  als  Bedingung  des  tliierischeii 
Bewnsstseins. 


Fast  alle  Naturforscher,  Physiologen  uud  Aerzte  sind  Mate- 
rialisten, und  je  mehr  die  Kenntniss  und  Denkweise  der  Natur- 
wissenschaften und  Physiologie  sich  unter  das  gebildete  Publicnm 
ausbreitet,  desto  mehr  greift  die  materialistische  Weltanschaaiing 
um  sich.  Woran  liegt  das?  An  der  Einfachheit  und  schlagenden 
Evidenz  der  Tliatsachen,  auf  die  sich  die  materialistische  Auffas- 
(tung  der  Thier-  und  Menschenseele  ^  des  einzigen  uns  bekannten 
iri'i^tes,  stützt.  Nur  wer  diese  Thatsachen  nicht  kennt,  wie  die 
nin^issenschaftliche  Menge,  oder  die  Gelehrtenwelt  ohne  natui^ 
\\ifisen schaftliche  und  physiologische  Kenntnisse,  oder  wer  mit  den 
Viirgefassten  Meinungen  religiöser  oder  philosophischer  Systeme  an 
diese  Thatsachen  herantritt,  nur  der  kann  sich  ihrem  Einflüsse  ent- 
;jriehen;  jeden  unbefangenen  denkenden  Menschen  aber  müssen  de 
schlGchterdings  überzeugen,  weil  sie  eben  nur  genommen  zu  werden 
>>ra liehen,  wie  sie  sind;  sie  sprechen  ihre  Bedeutung  mit  so  naiver 
Klarheit  von  selber  aus,  dass  man  gar  nicht  nöthig  hat,  dieselbe 
z%x  iäuchen«  Und  diese  naive  Klarheit  und  Unmittelbarkeit  des 
Ktisiiltates,  diese  drastische  Evidenz  desselben,  die  sich  nur  mit 
(Gewalt  verläugnen  lässt,  dies  ist  es,  was  der  materialistischen  kd- 
tn^Hiing  des  Geistes  ein  so  grosses  Uebergewicht  über  die  schwie- 
rigiii  und  spitzfindigen  Deductionen  und  Wahrscheinlichkeitsbeweise, 
liegen  die  willkürlichen  Annahmen  und  oft  schiefen  Consequenien 
tler  Bpiritualistischen  Psychologie  sichert,  was  alle  klaren,  den 
TU VKti seh- philosophischen  Speculationen  abgeneigten  Köpfe  zur  Fahne 
tk.^  Materialismus  schwören  lässt,  der  einfach  ist  wie  die  Nator,  die 
ihn  lehrt  und  klar  und  zutreffend  in  allen  seinen  richtigen  Conae- 


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333 

quenzeDy  wie  diese  seine  hehre  Matter.  Dass  der  Materialismus 
dabei  die  religiösen  Systeme  vor  den  Kopf  stösst,  kann  ihm  in 
unserer  Zeit  nur  um  so  mehr  Anhänger  gewinnen,  dass  er  aber  mit 
der  speoulatiyen  Philosophie  in  Widerspruch  geräth^  daraus  macht 
er  aich  erst  gar  nichts;  denn  wie  wenig  Menschen  haben  ein  spe- 
colatiTes  Bedttrfiiiss,  wie  viel  weniger  noch  philosophische  Bildung  ? 
Darum  hat  der  Materialismus  weder  das  Bedürfnisse  noch  die 
Fähigkeit,  die  unyerstandenrn  Abstractionen ,  wie  Kraft,  Stoff 
u.  8.  w.,  aus  denen  sein  Gebäude  besteht,  zu  untersuchen,  und  den 
höheren  Fragen  der  Philosophie  gegenüber  verhält  er  sich  theils 
skeptisch,  indem  er  läugnet,  dass  ihre  Lösung  diesseits  der  Grenzen 
des  menschlichen  Verstandes  liege  ^  theils  läugnet  er  die  Berechti- 
gang  dieser  Fragen  überhaupt.  So  weiss  er  sich  nach  allen  Bich- 
tangen  hin  in  seiner  Haut  am  wohlsten  zu  fühlen,  und  ist  mit  den 
täglich  fortschreitenden  Entdeckungen  der  Naturwissenschaften  völlig 
befriedigt,  in  dem  guten  Glauben,  dass  Alles,  was  der  Mensch  er- 
fahren kann,  im  Verfolge  der  specipllen  Wissenschaften  liegen  müsse. 
£s  ist  mithin  kein  Wunder,  dass  der  Materialismus  Terrain  gewinnt, 
vährend  die  Philosophie  Terrain  verliert,  denn  nur  eine  Philosophie, 
welche  allen  Eesultaten  der  Naturwissenschaften 
Tolle  Eechnung  trägt,  und  den  an  sich  berechtigten  Aus- 
gaogspunct  des  Materialismus  ohne  Einschränkiing  in  sich  auf- 
nimmt, nur  eine  solche  Philosophie  kann  hoffen,  dem  Materialis- 
mus Stand  zu  halten,  wenn  sie  zugleich  die  Bedingung  erfüllt,  ge- 
meinverständlich zu  sein,  was  die  Identitätsphilosophie  und  der 
absolute  Idealismus  eben  leider  nicht  ist 

Den  ersten  Versuch,  den  Materialismus  in  die  Philosophie  auf 
verständliche  Weise  aufzunehmen,  machte  Schopenhauer,  und  es 
liegt  in  diesem  Versuche  nicht  der  geringste  Theil  sowohl  seines 
Verdienstes,  als  seiner  seit  einigen  Jahren  beginnenden  Popularität. 
Aber  sein  Compromiss  war  ein  halber,  er  liess  dem  Materialismus 
den  Inteüect,  und  reservirte  der  Speculation  den  Willen.  Diese 
gewaltsame  Zerreissung  ist  sein  schwacher  Punct,  denn  wenn  dem 
Materialismus  einmal  das  bewusste  Vorstellen  und  Denken  einge- 
räumt ist,  so  hat  er  volles  Becht,  auch  das  bewusste  Fühlen  und 
damit  das  bewusste  Begehreu  und  Wollen  in  Anspruch  zu  nehmen, 
da  die  physiologischen  Erscheinungen  für  alle  bewusste  Geistes- 
thätigkeiten  das  Gleiche  aussagen.  —  In  der  That  giebt  es  kein 
Mittel,  als  Ignoriren  oder  spitzfindiges  Wegdeuteln^  um  den  ersten 


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334 

FimdamentalBatz  des  Materialismiis  umzustossen :  ^^alle  bewußste 
GeistestMtigkeit  kann  nur  durch  normale  Function  des  Gehirnes  zu 
Stande  kommen/*  80  lange  man  nun  '  aber  keine  andere  als  be- 
wusste  Geistesthätigkeit  kennt  oder  kennen  will,  so  sagt  dieser 
Satz :  „alle  Geistesthätigkeit  kann  nur  durch  Function  des  Gehirnes 
zu  Stande  kommen" ;  der  Sohluss  liegt  auf  der  Hand :  „entweder  ist 
alle  Geistesthätigkeit  blosse  Function  des  Gehirnes,  oder  ein  Pro- 
duct  Ton  Himfunction  und  einem  anderen,  welches  für  sich  zu 
keiner  Aeusserung  kommen  kann,  sondern  rein  potentiell  ist,  und 
erst  in  und  an  der  normalen  Himfunction  zur  Aeusserung  gelangt, 
welche  sich  nunmehr  als  Geistesthätigkeit  darstellt"  Man  sieht, 
dass  die  Entscheidung  dieser  Alternative  auf  Beseitigung  jenes 
Anderen  als  eines  nutzlosen,  nichtssagenden  Ballastes,  nicht  zu  nm- 
gehen  ist.  Gkmz  anders  stellt  sich  die  Sache,  sobald  man  die  un- 
bewusste  Geistesthätigkeit  bereits  als  ursprüngliche  und  erste  Form 
derselben  kennt,  ohne  deren  Beihülfe  die  bewusste  Geistesthätigkeit 
auf  Schritt  und  Tritt  gelähmt  sein  würde.  Dann  sagt  der  Satz  nur: 
„die  bewusste  Geistesthätigkeit  kann  nur  durch  die  Function  des 
Gehirnes  zu  Stande  kommen",  über  die  unbewusste  Geistesthätig- 
keit dagegen  sagt  er  gar  nichts  aus,  sie  bleibt  also,  da  alle  Er- 
scheinungen ihre  Unabhängigkeit  von  den  Himfunctionen  beweisen, 
als  etwas  Selbstständiges  bestehen,  und  nur  die  Form  des  Bewusste 
seins  erscheint  durch  die  Materie  bedingt. 

Wir  gehen  nun  zu  einer  kurzen  Darstellung  der  Thatsachen 
über,  deren  theoretischer  Ausdruck  jener  Satz  ist. 

1)  Das  Gehirn  ist  in  formeller  und  materieller  Beziehung  dss 
höchste  Product  organischer  Bildungsthätigkeit. 

„Wir  finden  im  Gehirne  Berge  und  Thaler,  Brücken  und  Was- 
serleitungen,  Balken  und  Gewölbe,  Zwingen  und  Hacken,  Klauen 
und  Ammonshömer;  Bäume  und  Garben,  Harfen  und  Elangstäbe 
u,  8.  w.  u.  s.  w.  Niemand  hat  den  Sinn  dieser  sonderbaren  Ge- 
stalten erkannt."  (Huschke  in  „Schädel,  Hirn  und  Seele  des 
Menschen"). 

Es  giebt  kein  thierisches  Oi^an,  was  zartere,  wunderbarere, 
mannigfaltigere  Formen,  feinere  und  eigenthümlichere  Structur 
hätte.  Die  Ganglienkügelchen  des  Gehirnes  lassen  theils  Primitiv- 
fasem  aus  sich  entspringen,  theils  sind  sie  durch  solche  mit  einan- 
der verbunden,  theils  von  ihnen  umgeben;  diese  Primitivfasem, 
hohle,  mit  einem  öligen,  gerinnbaren  Inhalte  versehene,  etwa  *'ioqo 


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335 

Linie  starke  Bohren,  gehen  mit  einander  wieder  die  eig^ithämlich- 
sten  Yerschlingnngen  und  Borchkreozangen  ein.  Leider  ist  die 
80  schwierige  Anatomie  des  Gehirnes  noch  ebenso  weit  zurück,  wie 
seine  chemische  TJntersuchnng,  aber  auch  aus  letzterer  wissen  wir 
sobon  soviel,  dass  die  chemische  Zusammensetzung  des  Gehirnes 
keineswegs  so  einfach  ist,  als  man  früher  wohl  glaubte,  dass  sie 
namentlich  an  verchiedenen  Stellen  verschieden  ist,  dass  in  ihr  die 
eigenihümlichen  Qehimfette  mit  ihrem  Phosphorgehalte  eine  grosse 
Bolle  spielen,  und  sich  noch  andere  Stoffe  daselbst  finden,  welche 
in  keinem  anderen  Gebilde  in  derselben  Weise  wiederkehren,  z.  B. 
Cerebrin  und  Lecithin.  Wie  weit  übrigens  unsere  Chemie  für  solche 
Untersuchungen  noch  zurück  ist,  das  entnehme  man  aus  dem  Bei- 
^iele,  dass  sie  Blut  oder  Eiter,  welches  mit  einem  Ansteckungsstojffe 
infioirt  ist,  nicht  von  gesundem  zu  unterscheiden  vermag,  dass 
die  unterschiede  zwischen  isomeren  Stoffen  (von  gleicher  Zusammen- 
setzung, aber  von  ungleichen  Eigenschaften  in  Folge  verschiedener 
Atomlagerung,  wie  die  verschiedene  Lichtbrechung  und  Drehung  sie 
zeigt)  ihr  bei  der  Analyse  meist  verschwinden,  sowie  dass  sie  erst 
jetzt  anfangt,  eine  Menge  fein  vertheilter  Metalle  durch  Spectral- 
analyse  zu  entdecken,  von  denen  Minimalquantitäten  in  organischen 
Stoffen  von  grösster  Wichtigkeit  sein  können.  Alle  diese  Sachen 
gewinnen  um  so  mehr  an  Bedeutung,  mit  je  höheren  organischen 
Gebilden  man  zu  thun  hat. 

2)  Im  Gehirne  ist  der  Stoffwechsel  schneller,  als  in  jedem  an- 
deren Theile  des  Leibes,  weshalb  auch  die  Blutzufuhr  unverhält- 
nissmässig  viel  stärker.  Dies  deutet  auf  eine  Concentration  leben- 
diger Thätigkeit  im  Gehirne,  wie  sie  in  keinem  anderen  Theile  des 
Körpers  stattfindet. 

3)  Das  Gehirn  hat  für  die  oi^anischen  Functionen  des  körper- 
liehen  Lebens  keine  unmittelbare  Bedeutung.  Dies  beweisen  die 
Tersuohe  Flourens,  der  nachwies,  dass  Thiere,  denen  das  Gehirn 
herausgenommen  ist,  Monate  und  Jahre  lang  leben  und  gedeihen 
können.  Es  gehört  dazu  freilich,  dass  die  Operation  selbst  und  der 
dabei  stattfindende  Blutverlust  nicht  zu  heftig  sei  und  die  Kräfte  des 
Thieres  zu  sehr  herunterbringt,  daher  der  Versuch  nur  bei  solchen 
Thieren  völlig  gelingen  kann,  wo  das  Hirn  ohne  zu  grosse  Schwie- 
rigkeiten entfernt  werden  kann,  z.  B.  bei  Hühnern.  Aus  diesen 
drei  ersten  Puncten  läset  sich  schon  schliessen,  dass  das  Hirn,  die 
Blüthe    des  Organismus   und  der  Heerd   der  lebendigsten  Thätig- 


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336 

keit ,    eine   geistige   Bestimmiing   haben   müsse,    da   es  keine 
leibliche  hat. 

4)  Mit  steigender  Yollkominenheit  des  Grehimes  oder  Aex  es 
vertretenden  Oanglienknoten  steigt  die  geistige  Befähigung  im  Thie^ 
reiche,  wahrend  die  leiblichen  Punctionen  von  allen  Thieren,  ob  klng 
oder  dumm,  durchschnittlich  gleich  gut  vollzogen  werden.  Dieser 
Hatz  ist  evident  selbst  für  den  Laien. 

5)  Die  geistigen  Anlagen  und  Leistungsfähigkeit  stehen  im  Y^- 
hfiltnisse  zur  Quantität  des  Gehirnes,  insoweit  nicht  die  Qualität 
de6:^clben  Abweichungen  herbeiführt.  „Nach  den  genauen  Messon- 
gea  des  Engländers  Peacock  nimmt  das  Gewicht  de«  menschliche 
Gehirnes  stetig  und  sehr  rasch  bis  zum  funfnndzwanzigsten  Lebens- 
jtilire  zu,  bleibt  auf  diesem  Normalgewiohte  stehen  bis  zum  fünfzigsten, 
und  nimmt  von  da  an  stetig  ab.  Nach  Sims  erreicht  das  Gkfaim, 
Wülches  an  Masse  bis  zum  dreissigsten  oder  vierzigsten  Jahre  wächst, 
erst  zwischen  dem  vierzigsten  und  fünfzigsten  Lebensjahre  das 
Miiximum  seines  Volumens.  Das  Gehirn  alter  Leute  wird  alrc^hisch, 
d.  li.  kleiner,  es  schrumpft,  und  es  entstehen  Hohlräume  zwischen 
ilcii  einzelnen  Gehirnwindungen,  welche  vorher  fest  an  einander 
Ingen.  Dabei  wird  die  Substanz  des  Gehirnes  zäher,  die  Farbe 
graulicher,  der  Blutgehalt  geringer,  die  Windungen  schmaler  und 
dii^  chemische  Constitution  des  Greisengehimes  nähert  sich  nach 
Schlossberger  wieder  derjenigen  der  jüngsten  Lebensperioda" 
^Büchner,  Kraft  und  Stoff,  5te  AnfL  S.  109.)  Das  Durchschnitts- 
gewicht des  Gehirnes  beträgt  nach  Peacock  beim  Manne  flinfzig, 
beim  Weibe  vierund vierzig  Unzen;  nach  Hoffmann  betrüge  der 
Uli t erschied  nur  zwei  Unzen;  Lauret  zog  aus  den  Messungen  von 
srv^eitausend  Köpfen  das  Eesultat,  dass  sowohl  der  Umfang,  als  an 
verschiedenen  Stellen  genommene  Durchmesser  bei  Weibern  stets 
geringer  sind,  als  bei  Männern.  Während  das  Normalgeiricht 
3  —  3  V2  Pftuid  beträgt,  wog  Cuviers  Gehirn  weit  über  vier  Pfund.  Ange- 
borener Blödsinn  zeigt  immer  ein  auffallend  kleines  G^im,  umge- 
kehlt  ist  regelwidrige  Kleinheit  des  Gehirnes  immer  mit  Blödsinn 
Terbunden.  Panhappe  beweist  aus  782  fällen  die  allmälige  Ge- 
wichtsverringerung des  Gehirnes  im  Verhältniss  zur  Verstandesab- 
nahnn3  beim  Wahnsinn  oder  der  Tiefe  der  geistigen  Störung.  Bii 
allen  Cretins  zeigt  Gehirn  und  Schädel  auffiEdlende  Kleinheit,  letz- 
terer Asymmetrie  und  Missgestalt ;  besonders  verkümmert  sind  die 
Hemisphären.     Das  Gehirn  des  Negers  ist  viel  kleiner,  als  das  des 


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337 

Europäers»  die  Stirn  zurückliegend,  der  Schädel  minder  umfangreich, 
überhaupt  thierähnlicher ;  den  Eingeborenen  Neuhollands  fehlen  die 
höheren  Theile  des  Gehirnes  in  auffallendem  Maasse.  Auch  der 
Sohädelbau  der  europäischen  Menschheit  hat  in  der  historischen 
Zeit  sich  nicht  unbedeutend  yervollkommnet ,  namentlich  triti^  mit 
dem  Fortschritt  der  Ciyilisation  die  vordere  Kopfgegend  auf  Kosten 
der  hinteren  hervor ,  wie  Ausgrabungen  aus  den  verschiedensten 
Zeiten  beweisen.  Dasselbe  Verhältniss  ündet  auch  zwischen  den 
rohen  und  gebildeten  Ständen  der  heutigen  Zeit  im  Allgemeinen 
statt,  wie  unter  anderen  die  Erfahrungen  der  Hutmacher  beweisen. 
Dass  hier  nicht  einzelne  Fälle,  sondern  nur  Durchschnittszahlen 
beweisend  sein  können,  versteht  sich  von  selbst;  die  einzelnen  Ab- 
weichungen, dass  z.  B.  kluge  Leute  einen  kleinen,  dumme  einen 
grossen  Schädel  haben  können,  kommen  auf  Eechnung  theils  der 
Sehädeldicke,  theils  des  Unterschiedes  von  Anlage  und  Ausbildung, 
theils  der  Gestalt  der  Windungen  und  der  Qualität  des  Gehirnes. 

Was  wir  von  der  Einwirkung  der  Qualität  wissen,  ist  wenig, 
aber  doch  etwas.  Z.  £.  ist  das  Kindergehim  breiiger,  wasserreicher, 
fettärmer,  als  das  der  Erwachsenen;  die  Unterschiede  zwischen 
grauer  und  weisser  Substanz,  die  mikroskopischen  Eigenthiimlich- 
keiten  bilden  sich  erst  allmälig  heraus;  die  an  Erwachsenen  sehr 
deutliche  sogenannte  Faserung  des  Gehirnes  ist  am  Kindergehirne 
nicht  zu  erkennen ;  je  deutlicher  diese  Faserung  wird ,  um  so  be- 
stimmter tritt  auch  die  geistige  Thätigkeit  hervor;  das  Fötushim 
hat  sehr  wenig  Fett  (und  damit  Phosphor),  und  steigt  der  Fettge- 
halt bis  zur  Geburt  und  beim  Neugeborenen  ziemlich  rasch  mit 
vorrückendem^  Alter.  Auch  bei  Thieren  hat  das  Gehirn  durch- 
schnittlich um  so  mehr  Fett,  je  höher  sie  stehen,  und  je  kleiner 
das  Gehirn  im  Verhältniss  zum  Verstände  des  Thieres  ist,  z.  B. 
heim  Pferd.  Dieses  Fett  scheint  sehr  wichtig  zu  sein,  denn  bei 
Thieren,  die  man  himgern  lässt,  verliert  das  Hirn  nicht,  wie  andere 
Organe,  einen  Theil  seines  Fettgehaltes.  —  Von  der  Zahl,  Tiefe 
und  Gestalt  der  Hirnwindungen  hängt  bei  gleichem  Volumen  die 
Grösse  seiner  Oberfläche  ab,  —  ein  höchst  wichtiger  Factor,  der 
ein  geringeres  Gewicht  paralysiren  kann.  Im  Durchschnitt  sind 
auch  die  Windungen  und  Furchungen  um  so  zahlreicher,  tiefer,  und 
verworrener,  je  höher  eine  Thierart  oder  Menschenrace  steht. 

Es  würde  jetzt  begreiflich  sein,  wenn  das  Gesetz  des  ^'er- 
hältnisses  von  Himmasse  und  geistiger  Begabung  bei  einigen  wenigen 

▼.  Harimann,  Phil.  d.  Unbewussten.  22 


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338 

Thieren,  den  grösßten  der  Gegenwart,  eine  Ausnahme  erlitte,  indem 
sie  das  lienschenhim  an  Masse  übertreffen ;  gleichwohl  beruht  selbst 
diese  scheinbare  Abweichung  nur  in  einem  Ueberwiegen  derjenigen 
Gehimtheile,  welche  dem  Körpemervensystem  als  Centralorgan  der 
willkürlichen  Bewegung  und  Empfindung  dienen,  und  welche  theils 
wegen  der  grösseren  Menge  und  Dicke  der  in  ihnen  zusammen- 
laufenden Nervenstränge,  theils  wegen  der  zur  Bewegung  einer 
grösseren  Meisse  nothwendigen  grösseren  mechanischen  Eraftent- 
wickelung  ein  grösseres  Volumen  darbieten  müssen.  Dagegen  er- 
reichen die  vorzugsweise  den  Denkfunctionen  vorstehenden  vorde- 
ren Theile  des  Hirnes  bei  keinem  Thiere  auch  nur  an  QuantiÄt 
die  Ausbildung,  wie  beim  Menschen. 

6)  Das  bewusste  Denken  kräftigt  das  Gehirn,  wie  jede  Thäüg- 
keit  ihr  Organ,  und  ist  die  Kraftäusserung  des  Denkens  stets  von 
Stoffverbrauch  begleitet.  Wie  jeder  Muskel,  wenn  er  vorzugsweise 
geübt  wird,  kräftiger  wird  und  an  Masse  zunimmt  (z.  B.  die  Waden 
der  Tänzerinnen),  so  wird  auch  das  Gehirn  durch  Denkübung  tüch- 
tiger zum  Denken  und  nimmt  an  Qualität  und  Quantität  zu. 

Albers  in  Bonn  erzählt,  er  habe  die  Gehirne  von  mehreren 
Personen  secirt,  welche  seit  mehreren  Jahren  geistig  sehr  viel  ge- 
arbeitet hatten;  bei  allen  fand  er  die  Gehimsubstanz  sehr  fest, 
die  graue  Substanz  und  die  Gehirnwindungen  auffallend  entwickelt 
Die  Zunahme  an  Masse  wird  theils  durch  den  Unterschied  bei  ge- 
bildeten und  niederen  Ständen,  theils  durch  den  Zuwachs  in  Folge 
der  fortschreitenden  Civilisation  in  Europa  bewiesen,  was  beides 
freilich  nur  mit  Hülfe  der  Vererbung  sich  so  weit  summirt,  dass  es 
constatirt  werden  kann.  —  Dass  alles  Denken  mit  Stoffverbrauch 
im  Gehirn  verbunden  ist,  geht  schon  aus  der  einfachen  Erscheinung 
der  Ermüdung  des  Denkens  hervor,  die  ohne  dies  gar  nicht  zu  be- 
greifen wäre.  Geistige  Arbeit  vermehrt  ebenso  gut  wie  körperliche 
nicht  nur  die  Esslust,  um  den  Stoffverbrauch  zu  ersetzen,  son- 
dern nach  Dary^H  Messungen  sogar  auch  die  thierische  Wärme,  was 
beschleunigte  Athmung  anzeigt,  welche  eintritt,  um  das  durch  den 
schnelleren  Stoffwechsel  schneller  verkohlende  Blut  wieder  zu  ent- 
kohlen. Femer  sind  bekanntlich  die  sitzenden  Handwerke  ohne 
körperliche  Anstrengung,  als  Schneiderei,  Schusterei,  leichte  Fabrik- 
arbeit, diejenigen,  welche  die  meisten  Grübler,  die  religiös  und 
politisch  Verdrehten  erzeugen,  während  die  körperlich  anstrengen- 
den Handwerke  dem  Gehirne  keine  Kraft  zum  Denken  übrig  lassen, 


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339 

denn  der  Körper  hat  wie  jede  Maschine  nur  über  eine  gewisse 
Somme  lebendiger  Kraft  zu  yerfügen,  und  wenn  dieselbe  in  Muskel- 
kraft umgesetzt  wird,  bleibt  für  das  Spiel  der  Gehimmolecüle  zum 
Denken  keine  übrig.  Dies  kann  auch  jeder  an  sich  selbst  sehen: 
Niemand  wird  im  Stande  sein,  während  eines  tüchtigen  Sprunges 
eine  begonnene  Gedankenreihe  weiter  zu  denken,  oder  gleichzeitig 
schnell  zu  laufen  und  eine  Ueberlegung  anzustellen;  schon  im  lang- 
samen Gehen  bleibt  man  unwillkürlich  stehen,  wenn  die  Gedailken 
sich  concentriren,  und  im  tiefsten  Nachdenken  verfallt  nicht  selten 
der  äussere  Mensch  in  völlige  Starrheit.  Dies  Alles  deutet  auf 
einen  Verbrauch  von  lebendiger  Kraft  beim  Denken,  oder  was  das- 
selbe ist,  einen  chemischen  StofiPverbrauch,  denn  dieser  erzeugt  die 
lebendige  Kraft 

7)  Jede  Störung  der  Integrität  des  tjfehimes  bringt  eine  Stö- 
rung der  bewussten  Geistesthätigkeit  hervor,  es  sei  denn,  dass  die 
Fmiction  einer  Hemisphäre  von  der  entsprechenden  Partie  der 
anderen  Henoisphäre  ersetzt  wird ;  denn  wie  jeder  Mensch  vorzugs- 
weise mit  einem  Auge,  Ohr,  Nasenloch,  sieht,  hört  und  riecht,  und 
nach  IJnbrauchbarwerden  einer  Seite  der  Sinnesorgane  die  Sinnes- 
wahmehmung  vermöge  der  anderen  Seite  noch  fortbesteht,  so  denkt 
auch  jeder  Mensch  vorzugsweise  mit  einer  Himhälfte,  wie  oft  schon 
die  Physiognomie,  namentlich  die  Stirn  erkennen  lässt,  und  ebenso 
kann  nach  theilweisem  Unbrauchbarwerden  einer  Himhälfte  die  andere 
Hälfte  die  g^ze  Denkfnnction  übernehmen,  wie  eine  Lungenhälfte 
die  ganze  Athemfunction.  Immerhin  ist  diese  Ersetzung  beim  Ge- 
hirne der  seltenere  Fall^  und  tritt  nur  dann  ein,  wenn  erstens  die 
kranke  oder  beschädigte  Stelle  die  Functionen  des  übrigen  Gehirnes 
nicht  mit  beeinträchtigt,  was  aber  auf  die  eine  oder  die  andere 
Art,  z.  6.  durch  Fortpflanzung  des  Druckes,  meistens  stattfindet, 
uid  zweitens  die  Schädigung  derart  ist,  dass  sie  die  Functionen  der 
betreffenden  Partie  ganz  aufhebt,  aber  nicht  sie  bestehen  lässt  und 
bloss  abnorm  macht,  denn  alsdann  entwickelt  sich  in  derselben 
eben  die  gestörte  Geistesthätigkeit,  welche  die  Besultate  der  ge- 
sunden Functionen  der  übrigen  Theile  werthlos  macht.  Wenn  nun 
solche  gestörte  Functionen  kranker  Theile  auf  einmal  ganz  aufhören, 
oder  das  übrige  GehiAi  von  dem  Drucke,  den  sie  bisher  ausgeübt 
haben,  entlasten,  so  tritt  die  normale  Function  der  übrigen  Gehim- 
theile  wieder  als  klare  Geistesthätigkeit  auf,  ein  Fall,  der  sich 
namentlich    bei  fortschreitender   Zerstörung    der    kranken   Partien 

22* 


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_  340_^ 

kurz  Tor  dem  Tode  nicht  selten  ereignet,  und  dann  die  den  Laien 
überraschende  Erscheinung  einer  letzten  geistigen  Yerkiärong  nach 
langem   Wahnsinn   darbietet. 

Bei  den  schon  erwähnten  Flourens'schen  Versuchen  an  Hüh- 
nern mit  ausgenommenem  Gehirne  blieben  die  Thiere,  wie  in 
tiefem  Schlafe,  auf  jeder  Stelle  sitzen ,  wo  man  sie  hinsetzte, 
jede  Fähigkeit,  Sinneseindrücke  zu  erhalten ,  war  vollkommen  er- 
loschen und  sie  mussten  daher  durch  künstliche  Fütterung  erhalten 
werden;  dagegen  waren  die  Tom  Rückenmark  ausgehenden  Ee£ex- 
bewegungen,  z.  B.  das  Schlingen,  Fliegen,  Laufen,  erhalten.  „Trägt 
man  die  beiden  Hemisphären  eines  Säugethieres  schichtweise  ab, 
so  sinkt  die  Geistesthätigkeit  um  so  tiefer,  je  mehr  der  Masscn- 
verlust  durchgegriffen  hat.  Ist  man  zu  den  Himhöhlen  vorgedrun- 
gen, so  pflegt  sich  vollkommene  Bewusstlosigkeit  einzufinden."  (Va- 
lentin.) „Welchen  stärkeren  Beweis  für  den  nothwendigen  Zu- 
sammenhang von  Seele  und  Gehirn  will  man  verlangen,  als  denjenigen, 
den  das  Messer  des  Anatomen  liefert,  indem  es  stückweise  die 
Seele  herunterschneidet  ?"  (Büchner.) 

Gehirnentzündung  macht  Irrwahn  und  Tobsucht,  ein  Blutaus- 
tritt in  das  Gehirn  Betäubung  und  vollkommene  Bewusstlosigkeit, 
ein  andauernder  Druck  auf  das  Gehirn  (z.  B.  G^hirnwassersucht, 
Wasserkopf  der  Kinder)  Verstandesschwäche  und  Blödsinn,  eine 
IJeberfüllung,  z.  B.  bei  Ertrinkenden  und  schwer  Betrunkenen^  oder 
Entleerung  der  Blutgefässe  des  Hirnes  erzeugen  Ohnmächten  und 
Bewusstlosigkeit,  die  schnellere  Blutcirculation  eines  einfachen  Fie- 
bers bewirkt  die  Fieberphantasien,  die  doch  auch  ein  zeitweiser 
Wahnsinn  sind,  der  Blutandrang  im  Alkoholrausch  führt  die  als 
betrunkener  Zustand  bekannte  Geistesstörung,  Opium,  Haschisch 
und  andere  Narkotica  jedes  einen  anderen  ihm  eigenthümlichen 
Zustand  des  Rausches  herbei,  deren  jeder  mit  gewissen  Zuständen 
des  Wahnsinns  identisch  ist. 

Parry  vermochte  Anfälle  von  Tobsucht  durch  eine  Compression 
der  Halsschlagader  zu  unterdrücken,  und  nach  Flemming's  Ver 
suchen  erzeugt  dasselbe  Verfahren  bei  Gesunden  Schlaf  und  jagende 
Träume.  Kurzhalsige  Menschen  und  Thiere  sind  im  Durohscbnitt 
sanguinischer,  als  langhalsige,  weil  in  Folge  der  geringeren  Ent- 
fernung vom  Herzen  in  ihrem  Hirne  eine  lebhaftere  Blutcirculation 
stattfindet.      Alle    sogenannten    Nachkrankheiten    des    Gehirnes   in 


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341 

Folge  stärkerer  Verletzungen  oder  auch  innerer  Krankheiten,  auch 
?iele  Apoplexien,  betreffen  ganz  vorzugsweise  das  Gedächtniss, 
rauben  es  entweder  ganz  oder  schwächen  es  im  Allgemeinen,  oder 
raaben  das  Qedächtniss  für  gewisse  Kategorien  des  Wissens,  z.  B. 
bloss  für  die  Sprache,  ohne  jede  Lähmung  der  Sprachorgane  (Aphasie), 
bei  sonst  klarem  Verstände;  oder  ausschliesslich  für  alle  Eigen- 
namen, oder  eine  bestimmte  Landessprache,  oder  für  die  Erlebnisse 
gewisser  Jahre  oder  Zeitabschnitte  (besonders  bei  Zerstörung  oder 
Auflserthätigkeitsetzen  bestimmter  Himtheile).  Mannigfache  höchst 
frappante  Beispiele  hierüber  und  das  Wiedererhalten  des  Verlorenen 
nach  Entlastung  des  betreffenden  Gehirntheiles  sind  nachzulesen 
in  Jessen  ß  Psychologie.  —  Stärkere  Beweise,  dass  das  Gedächtniss 
auf  bleibenden  Veränderungen  gewisser  Himtheile  beruht,  welche 
auf  gewisse  Anregungen  zur  leichteren  Reproduction  der  früheren 
Schwingungen  beitragen,  kann  man  doch  wahrlich  nicht  verlangen, 
als  dass  gewisse  Erinnerungsgebiete  die  Fähigkeit,  im  Gedächtniss 
aufzutauchen,  mit  Unbrauchbarwerden  gewisser  Himtheile  verlieren, 
und  mit  deren  Rückkehr  in  den  normalen  Zustand  wieder  ge- 
winnen. 

8)  Es  giebt  keine  bewusste  Geistesthätigkeit 
ausserhalb  oder  hinter  der  Hirnfunction;  denn  wenn 
wir  mit  Obigem  als  bewiesen  annehmen  dürfen,  dass  jede  Störung 
der  normalen  Hirnfunctionen  die  Thätigkeit  des  Bewusstseins  stört, 
so  düirfen  wir  wohl  als  gewiss  annehmen,  dass  mit  der  völligen 
Aufhebung  der  Himfunction  die  Bewusstseinsthätigkeit  ebenfalls 
wirklich  aufgehoben  und  nicht  bloss  ihr  zur  Erscheinung  Kotamen 
verhindert  wird. 

Wäre  nicht  diese  stetig  fortschreitende  Stufenfolge  der  Be- 
wusstseinsstörung,  vorhanden,  die  stets  der  Tiefe  der  Himfunctions- 
störung  parallel  geht,  und  durch  alle  Stufen  des  Blödsinns  ganz 
allmälig  mit  der  Aufhebung  alles  Bewusstseins  (ausser  dem  in  ,den 
reflectorischen  Listincten  des  Küokenmarkes  sich  äussernden)  zu- 
sammenhängt, so  wäre  allerdings  die  Vermuthung  möglich,  dass 
eine  Zurückziehung  des  Bewusstseins  auf  sich  selber  stattfinden 
könne,  wo  bloss  jede  .Aeusserung  desselben  unterdrückt  sei,  aber 
80  hat  diese  Möglichkeit,  auf  welche  man  überhaupt  nur  durch 
einen  Eettungsversuch  von  Vorurtheilen  eines  vorgefassten  Systemes 
kommen  kann,  zu  sehr  alle  Wahrscheinlichkeit  gegen  sich,  als  dass 
sie  dem  unbefangenen  Forscher  Berücksichtigung  ver4iente.  Ausser 


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342 

dor  erwähnten  Stufenreihe  und  den  Umstand,  das«  der  ganze  Natur- 
apparat zur  Herstellung  des  Hirnbewusstseins  überflüssig  wäre, 
wenn  auch  ohne  denselben  das  Bewusstsein  existiren  könnte,  spricht 
noch  der  Mangel  der  Erinnerung  dagegen,  denn  wenn  das  Bewusst- 
sein sich  während  der  TJnthätigkeit  des  Hirnes  auf  sich  selber 
zurückzöge,  so  müsste  doch  eine  Erinnerung  für  später  daran  zu- 
rückbleiben. Diesen  Umstand  glauben  Andere  zu  beseitigen,  wenn 
sie  ein  doppeltes  individuelles  Bewusstsein  (also  auch  doppelte  Per- 
sönlichkeit f!]  in  Jedem)  annehmen,  nämÜch  ein  leibfreies  und  ein 
Himbewußstsein ,  wobei  ersteres  für  letzteres  unbewusst  sein  soll. 
Was  für  diese  Annahme  Triftiges  angeführt  wird,  bezieht  sich  Alles 
auf  den  für  uns  als  das  Unbewusste  erkannten  geistigen  Hinter- 
grund des  Hirnbewusstseins,  den  freilich  diejenigen,  welche  nur 
bewusste  Geistesthätigkeit  kennen,  für  ein  zweites  Bewusstsein 
halten  müssen;  was  aber  ausdrücklich  für  die  Zweiheit  des  Be- 
wusstseins  angeführt  wird,  ist  sehr  unglücklich  gewählt.  Zu- 
nächst wird  das  Bewusstsein  des  magnetischen  Schlafes  als  leib- 
freies Bewusstsein  in  Anspruch  genommen,  welches  sich  doch  vom 
Bewusstsein  des  Traumes  im  gewöhnlichen  Schlafe  nur  dadurch 
unterscheidet,  dass  die  Communication  mit  den  äusseren  Sinnen 
etwas  weniger  behindert  und  in  beiden  Fällen  der  functionirende 
Theil  des  Gehirnes  sich  bei  ersterem  in  einem  Zustande  künst- 
licher Hyperästhesie  (Ueberreizung,  Ueberempfindlichkeit)  befindet, 
welcher  zur  Folge  hat,  dass  erstens  die  Einwirkungen  des  Unbe- 
wussten  leichter  in  s  Bewusstsein  treten  könuen,  und  dass  zweiteuÄ 
die  Ausschlagsweite  der  Himschwingungen  bei  gleicher  Lebhaftig- 
keit der  Vorstellung  geringer  als  sonst  ist,  und  folglich  geringere 
Gedächtnisseindrücke  hinterlässt,  welche  gerade  wie  bei  den  meisten 
gewöhnlichen  Träumen  nach  Verschwinden  der  Himhyperästhesie 
zwar  vorhanden  bleiben,  aber  zu  schwach  sind,  um  auf  die  gewohn- 
lichen Beize  in  die  bewusste  Erinnerung  zurückzukehren. 

Demnach  ist  es  kein  Wunder,  dass  das  Traumbewusstsein  so- 
wohl die  Erinnerungen  des  wachen,  als  seine  eigenen  in  sich  fassen 
kann,  aber  nicht  umgekehrt.  Ueberhaupt  ist  der  somnambule  Traum 
mit  dem  gewöhnlichen  durch  die  Schlafbewegungen  und  die  ver- 
schiedenen Stufen  des  Nachtwandeins  und  des  spontanen  Somnam- 
bulismus so  stetig  verknüpft,  dass  es  ganz  unmöglich  ist,  in  ihm 
ein  leibfreies  Bewusstsein  erkennen  zu  wollen ;  und  dann  ist  es  auch 
mit  dem  Bewusstsein   dieser  Zustande    nicht  weit  her,  sie  sind 


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343 

eher  ein  träumerisches  Halbbewnsstsein ,  als  ein  gesteigertes  Be- 
wusstsein  zu  nennen,  und  die  bisweilen  beobachteten,  stets  nur 
kurzen  lichtblitzen  gleichenden  erhöhten  geistigen  Leistungen  kom- 
men theils  auf  Bechnung  der  erleichterten  Eingebung  des  Unbe- 
wussten,  theils  auf  Rechnung  der  Hirnhyperästhesie  an  sich,  welche 
ein  leichteres  Auftauchen  der  Erinnerungen  zur  Folge  hat,  wie  denn 
in  solchen  Zuständen  Erinnerungen  aus  frühen  Zeiten  von  schein- 
bar längst  vergessenen  Dingen  zum  Vorscheine  kommen,  die  so 
schwach  waren,  dass  im  normalen  Himzustande  keine  zu  ihrer  Er- 
weckung genügenden  Beize  vorgekommen  waren. 

So  erklärt  sich  Alles  natürlich  aus  bekannten  Gesetzen ,  ohne 
dass  irgendwo  jene  geschraubte  Hypothese  nutzbar  würde.  Eine 
noch  upglücklichere  Anführung  i^r  das  leibfreie  Bewusstsein  ist 
das  schon  erwähnte  bisweilen  stattfindende  Wiederkehren  des  Be- 
wusstseins  vor  dem  Tode.  Auch  hier  spielt  jene  innere  Hyper- 
ästhesie des  Hirnes  bei  äusserer  Anästhesie  mit,  welche  mitunter 
jene  Verklärung  des  Geistes  hervorbringt,  die  ihre  Wahrsagungen 
und  Gedächtnissschärfe  mit  dem  somnambulen  Zustande,  ihre  freu- 
dige Buhe  und  stille,  schmerzlose  Äeiterkeit  mit  dem  gleichen  Nerven- 
zustande  (Analgesie)  bei  den  höchsten  Graden  der  Tortur  oder  gewissen 
narkotischen  Bauschen  gemein  hat.  Die  Anästhesie  nach  Aussen 
ist  dabei  nur  das  natürliche  Gegengewicht  gegen  die  innere  Hyper- 
ästhesie, wir  finden  dieselbe  ebenfalls  bei  der  Entrückung  der 
mystischen  Asketiker,  bei  den  Somnambiilen,  bei  schwachen  Graden 
des  Ghloroformirens  und  bei  vielen  anderen  Narkosen,  z.  B.  Haschisch; 
auch  bei  manchen  Zuständen  des  Wahnsinns  zeigt  sie  sich  bisweilen ; 
es  beweist  also  dieses  Gefühl  der  Leibfreiheit  keineswegs  eine 
Minderung,  sondern  vielmehr  eine  Steigerung  des  Gehimreizes,  und 
nichts  weniger  als  die  Leibfreiheit  des  Bewusstseins.  Ganz  ähn- 
liche Umstände  fuhren  die  ähnlichen  Erscheinungen  kurz  vor  dem 
Ertrinken  herbei.  Wenn  endlich  als  Kriterium  des  leibfreien  Be- 
wosstseins  die  Aufhebung  der  Zeit  in  der  Gedankenfolge  behauptet 
wird,  so  wäre  dies  gleichbedeutend  mit  dem  intuitiven,  zeitlosen, 
momentanen,  impliciten  Denken,  welches  jedem  Bewusstsein,  als 
welches  Vergleichen  expliciter  Vorstellungen  verlangt,  widerspricht. 
Bs  wird  aber  auch  in  den  Beispielen  nur  der  schnellere  Gedan- 
kenlauf angeführt,  wie  er  eben  bei  Zuständen  der  höchsten  G^him- 
reizung,  bei  narkotischen  Vergiftungen,  vor  dem  Ertrinken  u.  dgl. 
Torkommt,  und  seit  jeher  als  die  Ideenflucht  bei  gewissen  Formen 


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344  _ 

des  Wahnsinnes  bekannt  ist.  Was  Wunder,  dass  in  einem  über- 
reizten Gehirne  die  Vorstellnngen  schneller  als  gewöhnlich  auf  ein- 
andor  folgen?  So  lange  überhaupt  noch  die  Vorstellungen  zeitlich 
auf  einander  folgen,  beweisen  sie  die  Einwirkung  der  Materie,  durch 
deren  Schwingungen  erst  die  Zeit  in's  Denken  kommt,  so  wie  aber 
das  Denken  leibfrei  ist,  ist  es  zeitlos  und  damit  unbewusst. 

Was  wir  in  diesem  Capitel  Tom  menschlichen,  als  dem  höchsten 
uns  bekannten  Bewusstsein,  bei  welchem  man  am  ehesten  eine 
Selbstständigkeit  vom  Leibe  vermuthen  könnte,  nachgewiesen  haben, 
gilt  aelbstredend  auch  von  den  Ganglien  der  niederen  Thiere,  welche 
daß  Gehirn  der  Wirbel  thiere  ersetzen,  und  es  gilt  ebenso  von  dem 
gpeci@llen  Bewusstsein  jedes  selbstständigen  Gkinglienknotens  in 
Menschen,  höheren  und  niederen  Thieren,  es  gilt  endlich  auch  von 
den  Substanzen,  welche  bei  den  niedrigsten  Thieren  das  Central- 
nervensystem  ersetzen,  und  sollte  sich  bei  Pflanzen  oder  unorga- 
niäehen  Stoffen  ebenfalls  ein  Bewusstsein  herausstellen,  so  gilt  es 
auch  fiir  dieses. 

Zum  Schluss  dieses  Capitels  finde  eine  Stelle  von  Schelling 
Platts  (Werke  L  3,  497),  welche  den  Inhalt  desselben  in  wenigen 
Worten  enthält,  wenn  auch  die  Behauptung  in  Schelling's  Munde 
durch  den  Hintergrund  des  transcendentalen  Idealismus  einen  «ftww 
a  od  ereil  Sinn  erhält:  „Nicht  die  Vorstellung  selbst,  wohl  aber  daß 
Bewusstsein  derselben  ist  durch  die  Affection  des  Organismus  be- 
dingt, und  wenn  der  Empijismus  seine  Behauptung  auf  das  letztere 
einschränkt,  so  ist  nichts  gegen  ihn  einzuwenden," 


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in. 
Die  EntstehnBg  des  Bewusstseins. 


Bas  Bewiisstsein  ist  nicht  ein  ruhender  Zustand,  sondern  ein 
ProoesSy  ein  stetiges  Bewusstwerden.  Dass  dieser  geistige  Process, 
dem  das  Bewnsstsein  seine  Entstehung  verdankt,  nicht  unmittelbar 
Tom  Bewusstsein  des  Beobachters  erfasst  werden  kann ,  versteht 
sich  von  selbst,  denn  das,  was  erst  das  Bewusstsein  erzeugt,  muss 
natürlich  hinter  dem  Bewusstsein  liegen ,  und  der  bewussten 
Selbstbeobachtung  unzugänglich  sein.  Wir  können  also  nur  auf  in- 
directem  Wege  zum  Ziele  zu  gelangen  hoffen.  Die  erste  Bedin- 
gung ist,  dajss  wir  den  Begriff  des  Bewusstseins  schärfer  abgrenzen, 
als  es  bisher  nöthig  war,  —  Zunächst  ist  es  vom  Selbstbewusstsein 
m.  unterscheiden.  Mein  Selbstbewusstsein  ist  das  Bewusstsein 
meiner  selbst,  d.  i.  das  Bewusstsein^  des  Subjectes  meiner  Geistes- 
tbätigkeit;  unter  Subject  meiner  Geistesthätigkeit  verstehe  ich  aber 
denjenigen  Theil  der  vollständigen  Ursache  meiner  Geistesthätigkeit, 
welcher  nicht  äusserlich  ist,  also  die  innere  Ursache  derselben. 
Bas  Selbstbewusstsein  ist  also  nur  ein  specieller  Fall  der  Anwen- 
dung des  Bewusstseins  auf  ein  bestimmtes  Object,  nämlich  auf  die 
sQpponirte  innere  Ursache  der  Geistesthätigkeit,  welche  mit  dem 
Namen  Subject  bezeichnet  wird.  Das  Bewusstsein  als  solches  ist 
mithin  seinem  Begriffe  nach  frei  von  der  bewussten  Beziehung  auf 
das  Subject,  indem  es  an  und  für  sich  nur  auf  das  Object  geht, 
und  wird  nur  dadurch  Selbstbewusstsein,  dass  ihm  zufällig  die 
Vorstellung  des  Subjects  zum  Object  wird.  Hieraus  folgt, 
dass  kein  Selbstbewusstsein  ohne  Bewusstsein,  wohl  aber  Bewusst- 
sein ohne  Selbstbewusstsein  gedacht  werden  kann.  Nur  für  die 
bewusste  Keflexion,  wie  sie  im  Kopfe  des  in  Gedanken  ausserhalb 
des  Processes  stehenden  und  denselben  objectiv  betrachtenden  Philo- 
sophen stattfindet,  nicht  aber  für  das  Subject  des  Processes  selbst 


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346^ 

musB  Objeot  und  Subject  sich  gleichzeitig  und  in  gleichem  Ver- 
hältnisae  auslösen.  (Näheres  siehe  später  in  diesem  Capitel.)  Noch 
woni ger  hat  das  Bewusstsein  mit  dem  Begriffe  der  Persönlichkeit 
oder  der  Identität  aller  Subjecte  meiner  verschiedenen  Geistesthä- 
tigkeiten  zu  thun,  ein  Begriff,  welcher  meistens  in  das  Wort  Selbst- 
hcwüägtsein  mit  einbegriffen  wird,  wie  wir  der  Einfachheit  halber 
künftig  auch  thun  werden.  Das  Bewusstsein  bezieht  sich  also  rein 
auf  das  Object  des  Yorstellens,  d.  h.  nicht  das  correspondirende 
äuaeere  Object,  sondern  auf  die  Vorstellung,  insofern  sie  als  ge- 
genetäadliches  Resultat  des  Yorstellungsprocesses  Object  des  Vor- 
stellens  genannt  werden  kann. 

Was  ist  nun  aber  das  Bewusstsein?  Besteht  es  bloss  in  der 
Form  der  Sinnlichkeit,  so  dass  bdide  Begriffe  identisch  sind?  Nein, 
denn  auch  das  TJnbewusste  muss  die  Form  der  Sinnlichkeit  ge- 
dacht haben,  sonst  hätte  es  dieselbe  nicht  so  zweckmässig  schaf- 
fen können;  wir  könnten  uns  aber  auch  ein  Bewusstsein  mit  gani 
anderen  Formen  als  möglich  denken,  wenn  eine  Welt  anders  ge- 
Bchatt'en  wäre,  oder  wenn  neben  und  jenseit  unserer  Raum -Zeit -Welt 
aoch  andere  Welten  in  anderen  Daseins-  und  Bewusstseinsformen 
existiren,  was  keinen  Widerspruch  in  sich  hat,  da  diese  (meinet- 
wegen beliebig  vielen)  Welten  einander  gar  nicht  stören  oder 
berühren  könnten ,  und  das  Eine  von  allen  diesen  Formen  freie 
UnbawuBste  für  alle  dasselbe  wäre.  Die  Form  der  Sinnlichkeit 
limm  Qho  für  das  Bewusstsein  nur  als  etwas  Hinzukommendes,  Ac- 
cid^ntielles ,  nicht  als  etwas  Wesentliches,  Essentielles  betrachtet 
werden.  —  Oder  soll  vielleicht  das  Bewusstsein  in  der  Erinnerung 
beetehen?  Die  Erinnerung  ist  allerdings  kein  sohlechtes  EJriterion 
dm  Bewusstseins,  denn  je  lebhafter  das  Bewusstsein  ist,  desto  stär- 
ker müssen  die  Gehimschwingungen  sein,  und  je  stärker  diese 
sind,  einen  desto  stärkeren  bleibenden  Eindruck  im  Gehirn  müssen 
8141  hinterlassen,  d.  h.  um  so  leichter,  und  bei  gleicher  Anregong 
um  m  stärker,  wird  die  Erinnerung.  Man  übersieht  aber  leicht, 
daB3  die  Erinnerung  nur  eine  mittelbare  Folge  aus  dem  Wesen  des 
BewuEstseins  ist,  daher  kann  sie  unmöglich  sein  Wesen  selber 
ausmachen.  —  Ebenso  wenig  kann  das  Wesen  des  Bewusstseins  in 
di^r  Möglichkeit  des  Yei^leichens  von  Vorstellungen  bestehen,  denn 
diese  ist  wieder  nur  eine  Folge  der  Form  der  Sinnlichkeit,  beson- 
ders der  Zeit,    ausserdem  aber  kann   das  Bewusstsein   in  grösster 


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347 

Schärfe  vorhanden  sein ,    wenn  nur    eine  einzige  Vorstellung   ohne 
jedes  Vergleichungsobject  den  Geist  erfüllt. 

Wir  haben  nach  alledem  nur  Einen  sicheren  Anhalt,  der  uns 
auf  den  rechten  Weg  leiten  muss,  nämlich  den  Satz  des  vorigen 
Gapitels:  die  Gehimschwingungen ,  allgemeiner  die  materielle  Be- 
weguDg,  als  conditio  sine  qua  7ion  des  Bewusstseins.  Auch  wenn 
wir  beliebig  viele  Welten  mit  andern  Formen  als  Baum  und  Zeit 
setzen,  so  muss  doch,  wenn  der  Farallelismus  von  Sein  und  Den* 
ken  beibehalten  ist,  etwas  der  Materie  entsprechendes  in  ihnen 
vorhanden  sein,  und  eine  der  Bewegung  entsprechende  Thätigkeit 
dieses  muss  alsdann  ebenfalls  Bedingung  des  Bewusstseins  sein.  — 
Setzen  wir  somit  das  Wesen  des  Bewusstseins  als  in  seiner  mate- 
riellen Entstehung  begründet,  und  erinnern  wir  uns  zugleich,  dass 
die  unbewusste  Geistesthätigkeit  nothwendig  als  etwas  Immateriel- 
les angesehen  werden  muss ,  so  bieten  sich  bei  der  näheren  Be- 
trachtung zwei  Fälle  dar:  entweder  wir  halten  „Wille  und  Vor- 
stellung" als  das  unbewusster  und  bewusster  Vorstellung  Gemein- 
aohaftliche  fest,  setzen  die  Form  des  Unbewussten  als  das  Ur- 
sprüngliche, die  des  Bewusstseins  aber  als  ein  Product  des  unbe- 
wussten Geistes  und  der  materiellen  Einwirkung  auf  denselben; 
oder  wir  vertheilen  das  ganze  Gebiet  geistiger  Thätigkeit  unter 
Materialismus  und  Spiritualismus  so,  dass  ersterem  der  bewusstei 
letzterem  der  unbewusste  Geist  zufällt;  d.  h.  wir  nehmen  an,  dass 
zwar  der  unbewusste  Geist  ein  von  der  Materie  unabhängiges 
selbst  ständiges  Dasein  habe,  der  bewusste  Geist  aber  ein  aus- 
schliessliches Product  materieller  Vorgänge  ohne  jede  Mitwirkung 
unbewussten  Geistes  sei.  Die  Alternative  ist  nach  unseren  voran- 
gegangenen Untersuchungen  über  die  Mitwirkung  des  Unbewussten 
bei  Entstehung  all  und  jeden  bewussten  Qeistesprocesses  nicht 
schwer  zu  entscheiden;  schon  die  Wesensgleichheit  der  bewussten 
und  unbewussten  Geistesthätigkeit  lässt  einen  grundverschiedenen 
Ursprung  beider  als  undenkbar  erscheinen;  mindestens  würde 
diese  Zerschneidung  des  geistigen  Gebietes  und  die  Vertheilung 
ihrer  Trennstücke  an  verschiedene  philosophische  Grundan- 
Bchaunngen  noch  willkürlicher  siöin,  als  die  Schopenhauer's  in  Be- 
2ug  auf  Wille  und  Intellect.  Dazu  kommt,  dass  wir  im  Cap.  V. 
die  Materie  selbst  in  Wille  und  Vorstellung  auflösen  und  so  die 
Vesensgleichheit  von  Geist  und  Materie  darthun  wer- 
den, dass  uns  also  der  Materialismus  doch  keinen  endgültigen  Halt 


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348 

gewähren  könnte.  Wir  müssen  also  die  erstere  der  beiden  Annah- 
men zu  der  unsrigen  machen.  —  Nun  leuchtet  aber  sofort  ein,  dass 
wir  wiederum  das  Wesen  des  Bewusstseins  noch  nicht  ergriffen 
haben,  denn  wir  kennen  erst  seine  Factoren,  auf  der  einen  Seite 
den  Geist  in  seinem  ursprünglichen  unbewussten  Zustande,  auf  der 
anderen  Seite  die  Bewegung  der  Materie ,  die  auf  ihn  einwirkt. 
Jedenfalls  kann  die  Entstehung  des  Bewusstseins  nur  in  der  Art 
und  Weise  gegeben  sein,  wie  das  Vorstellen  zu  seinem  Gegen- 
stande kommt.  Von  der  Materie  weiss  das  Bewusstsein  nichts, 
also  muss  der  bewusstseinerzeugende  Process  im  Geiste  selber 
liegen,  wenn  auch  die  Materie  den  ersten  Anstoss  dazu  giebt  Die 
materielle  Bewegung  bestimmt  den  Inhalt  der  Vorstellung,  aber 
in  diesem  Inhalte  liegt  die  Eigenschaft  des  Bewusstseins  nichts 
denn  derselbe  Inhalt  kann  ja,  abgesehen  von  der  Form  der  Sinn- 
lichkeit, auch  unbewusst  gedacht  werden.  Wenn  nun  aber  das 
Bewusstsein  weder  im  Inhalte,  noch  auch,  wie  wir  früher  gesehen, 
in  der  Form  der  Vorstellung  liegen  kann,  so  kann  es  überhaupt 
nicht  in  der  Vorstellung  liegen,  sondern  muss  ein  Aceidens 
sein,  was  von  anderswoher  zur  Vorstellung  hinzukommt.  Dies  ist 
das  erste  wichtige  Resultat  unserer  Untersuchung,  das  zwar  auf 
den  ersten  Atiblick  etwas  den  gewöhnlichen  Anschauungen  Wider- 
strebendes zu  haben  scheinen  mag,  aber  bei  schärferer  Betraohtong 
bald  seine  Kichtigkeit  jedem  Beschauer  zeigen  muss,  und  sogleich 
nähere  Beleuchtung  erhalten  soll.  Der  gewöhnliche  Irrthum 
schreibt  sich  daher,  dass  das  Bewusstsein  eben  nur  als  etwas  der 
Vorstellung  Inhärirendes  uns  bekannt  ist  und  existirt,  und  daher 
nimmt  man  dasselbe  ohne  Untersuchung  auf  Treu  und  Glanben 
als  etwas  der  Vorstellung  Immanentes,  besonders  so  lange  man  die 
unbewuBste  Vorstellung  nicht  genauer  kennt,  und  kommt  mithin 
gar  nicht  zu  der  Frage,  wem  denn  die  Vorstellung  das  Aoddens 
des  Bewusstseins  verdankt,  wer  ihr  gleichsam  dies  Prädicat  bei- 
legt, wo  man  denn  bald  merken  würde,  dass  sie  selber  es  sich 
nicht  geben  kann.  Wenn  aber  dennoch  der  bewusstseinerzeugende 
Process  trotz  seines  materiellen  Anstosses  schlechterdings  geistiger 
Natur  sein  muss,  so  bleibt  für  jenes  nichts  übrig,  als  der  Wille. 

Wir  haben  im  Cap.  I.  dieses  Abschnittes  gesehen,  wie  Will© 
und  Vorstellung  im  Unbewussten  zu  untrennbarer  Einheit  verbun- 
den ist,  und  werden  im  XII.  und  XIII.  Cap.  femer  sehen,  wie 
das  Heil  der  Welt  auf  der  Emancipation  des  Intelleotes  vom  Willen 


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349 


II 


beruht,  deren  Möglichkeit  im  BewnsstBein  gegeben  ist,  und  wie  der 
ganze  Weltprooess   einzig   auf  dieses   Ziel   hinarbeitet.     Das  Be- 
wusstsein   einerseits  und  die  £mancipation   der  Vorstel- 
lung Tom  Willen  andererseits    haben    wir   also    bereits   als  im 
engsten  Zusammenhange  stehend  kennen  gelernt ;  wir  brauchen  nur 
einen  Schritt  weiter    zu    gehen    und    die    Identität   beider    auszu- 
sprechen,   so  haben   wir  das  Wort    des  Bäthsels  übereinstimmend 
mit  dem  soeben    erhaltenen  Resultate  getoiden.     Bas  Wesen  des 
Bewnsstseins  ist   die  Losreissung   der  Vorstellung   von  ihrem  Mut- 
terboden, dem  Willen  zu  ihrer  Verwirklichung,  und  die  Opposition 
des  Willens  gegen  diese  Emancipation.    Vorhin  hatten    wir  gefun- 
den,  dass    das  Bewusstsein  ein  Prädicat   sein  muss,    welches   der 
Wille  der  Vorstellung  ertheilt,  jetzt  können  wir   auch  den  Inhalt 
dieses  Prädicates  angeben,  es  ist  die  Stupefaction  des  Willens  über 
die  Yon  ihm  nicht  gewollte  und  doch  empfindlich  vor- 
handene Existenz  der  Vorstellung.     Die  Vorstellung  hat  näm- 
lich, wie  wir  gesehen  haben,  in  sich  selber  kein  Interesse  an  ihrer 
Existenz,  kein  Streben  nach  dem  Sein,  sie  wird  daher,  so  lange  es 
kern  Bewusstsein    giebt,    immer   nur  durch  den  Willen  hervorge- 
rufen, also  ist  der  Geist  vor  der  Entstehung  des  Bewusstseins  ge- 
w&uxif    keine   anderen  Vorstellungen  zu  haben,    als   die,    welche 
durch  den  Willen  erzeugt,    den  Inhalt  des  Willens   bilden.     Da 
greift  plötzlich   die   organisirte  Materie  in   diesen  Frieden  mit  sich 
selber  ein,  und  schafft  eine  Vorstellung,  die  dem  erstaunten  Geiste 
wie  vom  Himmel  fällt,    denn    er  findet  in  sich  keinen  Willen  zu 
dieser  Vorstellung;  zum  ersten  Male  ist   ihm   „der  Inhalt  der  An- 
schauung von  Aussen  gegeben.^     Die  grosse  Revolution  ist  gesche- 
hen,   der  erste  Schritt  zur  Welterlösung  gethan ,    die  Vorstellung 
ist  von  dem  Willen  losgerissen;    um   ihm   in  Zukunft   als    selbst- 
ständige Macht  gegenüber  zu  treten,    um  ihn  sich  zu  unterwerfen, 
dessen  Sclave   sie   bisher  war.      Dieses  Stutzen   des  Willens  über 
die  Auflehnung  gegen  seine   bisher   anerkannte  Herrschaft,    dieses 
Aufsehen,    den  der  Eindringling  von  Vorstellung  im  Unbewussteu    d-^^    ^ 
macht,  dies  ist  das  Bewusstsein.  —  Um  weniger  bildlich  zu 
sprechen,   denke  ich  mir  den  Vorgang  folgendermaassen :     Es  ent- 
steht die    von    aussen    imprägnirte  Vorstellung.      Das  IJnbewusste 
stutzt  über  das  Ungewohnte ,  dass  eine  Vorstellung  existirt ,   ohne 
gewollt  zu  sein.    Dieses  Stutzen  kann  nicht  von  dem  Willen  allein 
ausgehen,  denn  der  Wille  ist  ja  das  absolut  Dumme,  also  auch  zu 


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350 

iimtim  Eum  Wundern  und  Stutzen;  es  kann  aber  auch  nicht  7on 
(iur  Yorstellung  allein  ausgehen,  denn  die  von  aussen  imprägnirtc 
VDr.*4toUung  ist  wie  sie  ist,  und  hat  keinen  Grund  sich  über  sich 
gelber  zu  wundem,  alles  Andere  von  Yorstellung  aber  ausser  die- 
ser I Milien  ist  ja,  wie  wir  wissen,  im  XJnbewussten  in  unzertrenn- 
licbi  r  Einheit  mit  dem  Willen  verknüpft.  £s  kann  folglich  erstens 
das  Stutzen  nur  yon  dem  ganzen  TJnbewussten,  Wille  und  Vorstel- 
liiTig  im  Verein,  yollzogen  werden,  und  kann  zweitens  das,  was  an 
dtmi  Stutzen  Vorstellung  ist,  nur  durch  einen  Willen  existiren,  des- 
tjfjD  Itihalt  es  bildet.  Mithin  ist  die  Sache  nur  so  zu  denken, 
dass  die  Ton  aussen  imprägnirte  Vorstelluug  als  Motiv  auf  den 
Willi.'n  wirkt,  und  zwar  einen« solchen  Willen  hervorruft,  dessen 
Inlialt  es  ist,  sie  zu  negiren;  denn  würde  der  nun  erregte 
Wille  eich  affirmativ  zu  ihr  verhalten,  so  gäbe  es  wieder  keine 
<>ppuBition  und  kein  Bewusstsein;  der  erregte  Wille  muss  sich 
aim  aegirend  zu  ihr  verhalten,  und  das  Stutzen  ist  der  Entste- 
hmigsmoment  dieses  negirenden  Willens,  das  plötzliche,  momentane 
Kiotrt  ten  der  Opposition  des  Willens.  Weiter  aber  bedeutet  das 
Wort  Stutzen  auch  in  der  gewöhnlichen  Sprache  nichts,  nur  das« 
der  Process  in  unserer  menschlichen  Erfahrung  eine  zwischen  be- 
w  u  B  s  t  e  n  Momenten  plötzlich  eintretende  Opposition  ist,  hier  aber 
/.wittdien  unbewussten  Momenten  stattfindet.  Dies  nur  «nr 
Refbtfertigung  des  öfter  gebrauchten  Ausdruckes.  —  Wenn  ich  öfter 
g^ei^'igt  habe,  Stutzen  des  Willens,  so  ist  damit  selbstverständ- 
lichtr  Weise  schon  ein  mit  Vorstellung  erfüllter  und  bestimm- 
ter Wille  gemeint.  —  Es  ist  endlich  zu  erwähnen,  dass  der  oppo- 
nircnde  Wille  der  von  aussen  imprägnirten  Vorstellung  gegenüber 
zu  schwach  ist,  um  seine  negirende  Intention  durchzusetzen,  er 
ist  also  ein  ohnmächtiger  Wille,  dem  Befriedigung  versagt  bleibt, 
der  i'olglich  mit  Unlust  verknüpft  ist.  Also  jeder  Ftocess  des  Be- 
wujäst Werdens  ist  eo  ipso  mit  einer  gewissen  Unlust  verknüpft,  es 
ist  dies  der  Aerger  des  Unbewussten  über  den  Eindringling  v(m 
Vün^tellung,  den  es  dulden  muss  und  nicht  beseitigen  kann;  es  ist 
<lie  bitt43re  Arznei,  ohne  welche  es  keine  Genesung  giebt,  freilich 
eine  Arzenei ,  die  jeden  Moment  in  solchen  Minimaldosen  ver- 
schluckt wird,  dass  ihre  Bitterkeit  der  Selbstw&hmehmung  entgeht 
Einigermaassen  verständliche  Andeutungen  einer  solchen  fintste- 
hung  ilcs  BewuBstseins  aus  einer  Opposition  verschiedener  Momente 
im  Unbewussten  habe  ich  nur  bei  Jac.  Böhme  und  Schelling  gefunden. 


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351 

Ersterer  sagt  (von  der  göttlichen  BeBchaulichkeit  C.  I,  8):  „Kein 
I>mg  ohne  Widerwärtigkeit  mag  ihm  selber  offenbar  werden. 
Denn  so  es  nichts  hat,  das  ihm  widerstehet,  so  geht's  immerdar 
für  sich  ausy  und  gehet  nicht  wieder  in  sich  ein:  So  es  aber  nicht 
wieder  in  sich  eingehet,  als  in  das,  daraus  es  ist  ursprünglich  ge- 
gangen, so  weiss  es  nichts  von  seinem  Urstande."  —  Aehnlich 
sagt  Schelling  (Werke  I.  3,  S.  576):  „Soll  aber  das  Absolute  sich 
sdbst  erscheinen,  so  muss  es  seinem  Objectiven  nach  von  etwas 
Anderem,  von  etwas  Fremdartigem  abhängig  erscheinen.  Aber  diese 
Abhängigkeit  gehört  doch  nicht  zum  Absoluten  selbst,  sondern  bloss 
zu  seiner  Erscheinung."  — 

Der  Gegensatz  zwischen  Wille  und  Vorstellung  wird  noch 
dadurch  erhöht,  dass  die  Vorstellung  nicht  unmittelbar  durch  die 
materielle  Bewegung  gegeben  ist,  sondern  erst  durch  die  gesetz- 
mäsaige  Beaction  des  Unbe  wussten  auf  diese  Einwir- 
kung, es  tritt  also  noch  hinzu,  dass  das  Unbewusste  mit  einer 
Thätigkeit  antworten  muss,  welche  ihm  gleichsam  aufge- 
Döthigt  wird.  Auf  diese  Weise  entstehen  zunächst  die  einfeu^hen 
Qualitäten  der  Sinneseindrücke,  wie  Ton,  Farbe,  Geschmack  u.  s.  w., 
aus  deren  Beziehungen  zu  einander  sich  dann  die  ganze  sinnliche 
Wahrnehmung  aufbaut,  aus  welcher  wieder  durch  Keproduction 
der  Qehimsohwingungen  die  Erinnerungen  imd  durch  theilweises 
Fallenlassen  des  Inhaltes  der  letzteren  die  abstracten  Begriffe 
entstehen.  In  allen  Fällen  des  bewussten  Denkens  haben  wir  es 
mit  Gehirnschwingungen  zu  thun,  welche  das  unbewusste  affi- 
oiren  und  zur  gesetzmässigen  Eeaction  nöthigen  (an  diesem  Affi- 
ciren  ist  nichts  Wunderbares  mehr,  sobald  in  Cap.  V.  die  Wesens- 
gleichheit von  Geist  und  Materie  erkannt  sein  wird);  in  allen  Fäl- 
len sind  die  sinnlichen  Qualitäten  die  Besultate  dieser 
Beaction  und  aus  diesen  Elementen  setzt  sich  die  gesammte  be- 
wusste  Vorstellungswelt  zusammen.  Wenn  nun  diese.  Elemente 
allemal  den  Bewusstsein  erzeugenden  Process  erregen,  und  dadurch 
bewuBst  werden,  so  darf  es  uns  nicht  Wunder  nehmen,  dass  auch 
die  Combinationen  dieser  Elemente  an  dem  Bewusstsein  Theil 
haben,  wenn  gleich  die  Art  der  Combination  oft  durch  den 
Willen  selbst  herbeigeführt  ist.  Daraus  erklärt  sich  der  schein- 
bare Widerspruch,  dass  Vorstellungen,  die  vom  Willen  hervorge- 
rufen sind,  also  mit  dem  Willen  doch  nicht  in  Opposition  sind, 
dennoch  bewusst  sein  können,  weil  sie  eben  aus  Elementen  beste- 


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362 

heiL ,  welche  durch  abgeüöthigte  Reactionen  des  Unbewuseten  zu 
Voratelluagen  geworden  sind.  Der  Wille  kann  nämlioh  eine  be- 
wudäie  Vorstellung  nur  dadurch  hervorrufen,  dass  die  betreffende 
Eriunening  geweckt  wird,  d.  h.  dass  fHihere  Himschwingungen 
ffprodueirt  Verden;  ehe  die  bewusste  Vorstellung  da  ist,  muss  sie 
im  unbewussten  Willen,  freilich  in  unsinnlicher  Form  als  Inhalt 
enthalten  sein,  sonst  würde  ja  der  Wille  nicht  diese  Yorstellang 
2u  erregen  im  Stande  sein;  als  Mittel  zu  diesem  Zweck  muss  fer- 
ner der  AngrifFspunct  im  Gehirn  unbewusst  vorgestellt  werden, 
Tou  wo  aus  die  betreffenden  Erinnerungsschwingungen  erregt  wer- 
ä^n  können  und  die  Anregung  desselben  gewollt  werden;  weiter 
geht  aber  auch  der  unbewusste  Wille  nicht,  denn  die  Voratellang 
iu  der  i^innlichen  Form  kann  er  erst  als  Keaction  auf  diese  Schwin- 
puugcn  hervorbringen;  nun  treten  die  Schwingungen  ein  und  die 
Heaetion  des  Unbewussten  geschieht  wie  immer  durch  das  Beac- 
iioüBgeBt!tz  erzwungen ,  und  damit  ist  auch  das  Bewusstsein  der 
Vorst-cllung  da.  Dasselbe  gilt  auch  von  der  Mitwirkung  des  Unbe- 
wussten am  Zustandekommen  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  wie  sie 
früher  betrachtet  ist;  es  gilt  auch  dann,  wenn  die  bewusste  Vor- 
stellung Inhalt  eines  Willens  wird,  der  alsdann  bewusster  Wille 
lieiset,  denn  die  bewusste  Vorstellung  muss  vorher  in  bewusster 
Form  da  iein,  ehe  der  Wille  sie  in  dieser  Form  erfassen  und  zu 
seinem  Inhalte  machen  kann ;  wenn  aber  die  Vorstellung  einmal  die 
bewusste  Form  besitzt,  so  verliert  sie  dieselbe  dadurch,  dass  der 
WiUo  sich  mit  ihr  vereinigt,  nicht  wieder,  weil  ihre  Elemente,  die 
aioh,  BD  lange  sie  besteht,  fort  und  fort  neu  reproduciren -müsBen, 
fHos  s^tets  in  bewusster  Form  thun. 

Wetm  wir  bisher  immer  nur  vom  Bewusstwerden  der  Vor- 
ätel  lang  gesprochen  haben,  so  war  dies  nicht  so  gemeint,  als  ob 
es  ielb^i  verständlich  oder  auch  nur  thatsächlich  richtig  wäre,  dass 
die  Vorstellung  das  einzige  Object  des  Bewusstseins  sei;  vielmehr 
war  dar  ausschliessliche  G^nd  für  diese  Beschränkung  das  Bestre- 
ben ,  dm  Eindringen  in  dies  schwierige  Gebiet  nicht  durch  vorzei- 
tige Vermehrung  der  Objecte  und  Gomplication  der  Gesichtsponcte 
noch  mehr  zu  erschweren..  Nur  aus  diesem  Grunde  haben  wir 
statt  ih^  allgemeinen  „Objectes  des'Bewusstwerdens'*  einen  beson- 
dera  characteristischen  Fall  als  Beispiel  gewählt.  Soll  nun  aber 
dm  60  einseitig  gewonnene  Frincip  der  Bewusstseinsentstehnng 
richtig  sein,   so   muss  es   für  jeden  möglichen  Inhalt  des  Bewusst- 


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353 

Werdens  paseen,  es  muss  sich  aus  ihm  logisch  deduciren  lassen, 
welche  Elemente  in's  Bewnsstsein  eintreten  können,  welche  nicht, 
indem  man  sie  eins  nach  dem  andern  in  die  Formel  einsetzt. 
Dies  wollen  wir  jetzt  mit  Unlust ,  Lust  und  Willen  thun,  welche 
ausser  der  Vorstellung  als  mögliche  Ohjecte  des  Bewusstseins 
übrig  hleiben.  Wag  wir  so  a  priori  als  Consequenz  unseres  Prin- 
dpes  ableiten,  das  muss  sich  dann  a  posteriori  vor  der  Erfahnmg 
als  richtig  ausweisen ;  an  dieser  aposteriorischen  Bestätigung  haben 
wir  dann  die  Eechnungsprobe  des  Principes,  dass  Alles ^ das,  was 
die  Erfahrung  uns  als  zu  Erklärendes  bietet,  auch  wirklich  aus 
ihm  fliesst,  während  wir  das  Princip  selbst  ursprünglich  a  priori 
durch  Elimination  der  unrichtigen  Annahmen  von  allen  Möglichem 
gewonnen  haben,  wo  uns  zuletzt  nur  das  Eine  übrig  blieb.  Wollte 
man  nun,  wenn  das  Princip  a  priori  und  a  posteriori  gerechtfer- 
tigt sein  wird,  etwa  noch  verlangen,  dass  ich  zeigte,  wie  undauf 
welche  Weise  aus  dem  dai^elegten  Processe  gerade  Dasjenige 
resultirt,  was  wir  in  der  inneren  Erfahrung  als  Bewusstsein  kennen, 
ao  wäre  diese  Anforderung  so  unbillig,  als  die  an  den  Physiker, 
m  zeigen,  wie  aus  den  Luftwellen  und  der  Einrichtung  unseres 
Ohres  das  resultirt,  was  wir  in  der  inneren  Erfahrung  als  Ton 
kennen.  Der  Physiker  zeigt  uns  nur,  und  kann  nur  zeigen,  dass 
das,  was  subjectiv  als  Ton  empfunden  wird,  objectiv  betrachtet  in 
einem  Processe  besteht ,  welcher  sich  aus  den  und  den  8chwin- 
gungen  zusammensetzt;  so  kann  ich  nur  zeigen,  dass  das,  was 
wir  in  subjectiver  Auffassung  als  Bewusstsein  kennen,  objectiv  be- 
trachtet ein  Prooess  ist,  der  sich  aus  den  und  den  Gliedern  und 
Momenten  so  und  so  aufbaut.  Mehr  zu  erfahren  halte  ich  für  un- 
möglich, und  darum  mehr  zu  fordern  für  unbillig,  denn  man  würde, 
mn  das  Wie  der  Verwandlung  des  objeotiven  Processes  in  subjec- 
tire  Empfindung  zu  verstehen,  einen  dritten  Standpunct  müssen 
einnehmen  können ,  der  weder  subjectiv  noch  objectiv ,  oder  was 
dasselbe  sagen  will.  Beides  mit  einem  Schlage  ist;  diesen  Stand- 
punct besitzt  aber  nur  das  Unbewusste,  während  das  Bewusstsein 
eben  die  Spaltung  in  Subject  und  Object  ist. 

Das  Gefühl  kann  Lust  oder  Unlust,  Befriedigung  oder  Nioht- 
befriedigung  des  Willens  sein;  alles  Andere  sind,  wie  im  Cap.  B.  III. 
gezeigt  ist,  nähere  Bestimmungen,  welche  dem  Gebiete  der  Vorstel- 
lung angehören.  Die  NichtbeMedigung  des  Willens  muss  immer 
bewnsst  werden,  denn  der  Wille  kann  nie  seine  eigene  Nichtbe- 

▼•  Hartman a,  PUl.  d.  XJnbewnsflten.  ^  23 


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354 

friedtgung  wollen,  folglioh  mass  ihm  die  Nichtbefriedigong  Ton 
auAscn  aufgezwungen  sein,  folglich  ist  die  Bedingung  zur  £ntfite- 
huiig  des  Bewusstseins,  das  Stutzen  des  Willens  über  etwas  nicht 
von  ihm  Ausgehendes  und  doch  real  fizistirendes  und  sieb 
fiihlbar  Machendes,  erfüllt,  und  die  ErfekhruDg  entspricht  dem 
TÖÜig  i  indem  nichts  nachdrücklicher  zum  Bewosstsein  spricht,  als 
der  Schmerz,  der  Schmerz  auch  abgelöst  gedacht  von  den  näheieo, 
der  Tor&tellung  aogehörigen  Bestimmungen. 

Das  Gefühl  der  Lust  oder  die  Befriedigung  des  Willens  kami 
nn  und  für  sich  nicht  bewusst  werden,  denn  indem  der  Wille  sei- 
nen Inhalt  verwirklicht  und  dadurch  seine  Befriedigung  herbei- 
j'ührt,  ereignet  sich  nichts,  was  mit  dem  Willen  in  Oppodtion 
käme,  üud  da  jeder  Zwang  von  aussen  fehlt,  und  der  Wille  nur 
seinen  eigenen  Consequenzen  Baum  giebt,  kann  es  zu  keinem  Be- 
wu«Bt!?ein  kommen.  Anders  stellt  sich  die  Sache,  wo  sich  bereilB 
dn  Bewu».<)tsein  etablirt  hat,  das  Beobachtungen  und  Erfah- 
rungen sammelt  und  vergleicht.  Dieses  lernt  bald  aus  den 
rieten  Nichtbefriedigungen  die  Widerstände  kennen,  welche  sich 
jedem  Willem  in  der  Aussenwelt  entgegen  stellen,  sowie  die  äusse- 
ren Bedingungen,  welche  nöihig  sind,  wenn  die  Verwirklichung 
des  Willüna  gelingen  soll.  Sobald  es  diese  äusseren  Bedingungen 
den  Öalingf^nB  und  damit  die  Befriedigung  als  etwas  theilweise  oder 
ganz  To»  aussen  Bedingtes  anerkennen  muss,  tritt  auch  für  die  Lust 
duB  BawuBtitsein  ein.  —  Alles  dies  bestätigt  die  Erfahrung  auf  das 
Baste. 

^iiBüchst  sieht  man  an  Säuglingen,  dass  sie  Monate  lang  schon 
t«ehr  nachdrückliche  Aeusserungen  des  Schmerzes  von  sich  geben, 
che  dies  leiseste  Spur  von  Lust  in  ihren  Mienen  und  Geberden  zu 
lesen  ist;  auch  bestätigt  es  sich  sehr  deutlich  an  verhätschelten 
Kindern,  denen  stets  der  Wille  gethan  wird,  und  die  gar  nicht 
wissen,  wie  es  ist,  wenn  ihr  Wille  ihnen  einmal  nicht  befriedigt 
wird.  Dieselben  haben  factisch  so  gut  wie  gar  keinen  Oenuss  von 
ihren  Willensbefri^digungen,  weil  dieselben  eben  grösstentheils  un- 
bewnsgt  bleiben.  Ziemlich  den  einzigen  Genuas  haben  sie  von 
■innliclien  Befriedigimgen  (Qenäsch),  weil  ihnen  hier  die  Sorgfalt 
der  Umgebung  die  unangenehmen  Yergleit^he  nicht  ersparen  kann. 
Wie  **ehr  aber  unsere  Behauptung  auch  bei  E^achsenen  zutrift 
wird  wohl  jeder  Menschenkenner  zugeben,  denn  jede  Art  von  B»- 
friedjgun^iren,  welohe  ohne  Unterbrechung  durch  Nichtbefriedigangeo 


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355 

danemd  wiederkehrt,  hört  auf,  eine  bewnsete  Befriedigung,  d.  h. 
ein  bewuBster  Genuss  zu  sein,  sobald  man  anfangt  zu  denken:  es 
muss  ja  so  und  kann  gar  nicht  anders  sein.  Dagegen  tritt  auch 
eine  kleine  Befriedigung  um  so  lebhafter  als  Lust  in's  Bewusstsein, 
je  deutlicher  man  erkennt,  doss  man  sie  äusseren  Umständen  ver* 
dankt,  weil  man  sie  sich  trotzdem ,  dsuss  man  sie  immer  gewollt 
bat,  so  selten  hat  verschaffen  können. 

Was  nun  den  Willen  selbst  betrifft,  so  haben  wir  densel- 
ben bisher  bewusst  genannt,  wenn  er  eine  bewusste,  unbewusst, 
wenn  er  eine  unbewusste  Vorstellung  zum  Inhalte  hat.  Es  ist  aber 
leicht  zu  sehen,  dass  dies  nur  ein  uneigentlicher  Ausdruck  ist,  da 
er  sich  nur  auf  den  Inhalt  des  Willens  bezieht;  der  Wille  selbst 
aber  kann  niemals  bewusst  werden,  weil  er  nie  mit  sich  selbst  im 
Widerspruche  sein  kann.  Es  können  wohl  mehrejre  Begehrungen  mit 
einander  im  Widerspruche  sein,  aber  das  Wollen  jedes  Augenblickes 
ist  ja  erst  die  Besultante  aller  gleichzeitigen  Begehrungen,  folglich 
kann  es  immer  nur  sich  selbst  gemäss  sein.  Wenn  nun  das  Bewusstsein 
ein  Accidens  ist,  das  der  Wille  Demjenigen  verleiht,  wovon  er  nicht 
sich,  sondern  etwas  Fremdes  als  Ursache  anerkennen  muss,  kurz 
was  mit  ihm  in  Opposition  tritt,  so  kann  der  Wille  niemals  sich 
selber  das  Bewusstsein  ertheilen,  weil  hier  das  zu  Vergleichende 
und  der  Vergleichungsmaassstab  ein  und  dasselbe  sind,  also  nie 
Terscbieden  oder  gar  mit  einander  im  Widerspruche  sein  können; 
auch  kommt  der  Wille  niemals  dazu,  etwas  Anderes  als  seine  Ur- 
sache anzuerkennen ;  vielmehr  ist  der  Schein  seiner  Spontaneität 
unzerstörbar,  da  er  das  erste  Actuelle,  und  alles  hinter  ihm  Lie- 
gende potentiell,  d.  h.  unwirklich  ist.  —  Während  also  Unlust  im- 
mer bewusst  werden  muss,  Lust  es  unter  Umständep  werden  kann, 
soll  der  Wille  niemals  bewusst  werden  können.  Dieses  letztere 
Besultat  scheint  vielleicht  unerwartet,  dennoch  bestätigt  die  Er- 
fahning  es  vollkommen. 

Wir  hab^i  in  Cap.  A.  VII.  gesehen,  dass  eine  bewusste  Vor- 
stellung allein  schon  im  Stande  ist,  den  unbewussten  Willen  zu 
irgend  einer  Bewegung  oder  Handlung  zu  erregen,  selbst  ohne  dass 
in  der  Vorstellung  ein  eigentliches  Motiv  enthalten  wäre.  Enthält 
aber  gar  die  Vorstellung  ein  Motiv,  einen  eigentlichen  Erregungs- 
gnmd,  so  muss  die  Erregung  des  unbewussten  Begehrens  mit 
Sicherheit  erfolgen.  Wenn  nun  der  Mensch  die  bewusste  Vorstel- 
lung einer  Bewegung  hat,   und    sich   darauf  diese  Bewegung   voll- 

23* 

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zieban  sieht,  mit  der  Gewissheit,  nicht  von  aussen  genöthigt  zu 
Bein,  so  schliesst  er  instinctiv,  dass  die  Ursache  der  Bewegong  in 
ütm  liegt,  und  diese  innere  unbekannte  Bewegungsursache  nennt 
er  W  iÜen.  Bass  der  so  erlangte  Begriff  nur  auf  Oausalität  be- 
ruht, schadet  dem  instinctiven  Erfassen  seiner  Eealität  eben  bo 
wenig,  als  es  der  der  äusseren  Objecto  schadet,  dass  wir  sie  nur 
ab  unbekannte  äussere  Ursachen  iinserer  Sinneseindrücke 
beiitzeu ,  und  als  es  dem  Subjecte  des  Yorstellens  oder  dem  Ich 
schadet,  dass  wir  es  nur  als  unbekannte  innere  Ursache 
des  Vorstellens  kennen;  Eines  wie  das  Andere  glauben  wir  unmit- 
telbar zu  erfassen  ,  weil  wir  nicht  durch  bewusste  Ueberlegung, 
sondern  durch  unbewusste  Frocesse  dazu  gelangen,  und  erst  die 
philosophische  Betrachtung  muss  uns  lehren,  dass  alle  diese  Be- 
griffe unfassbare  Wesenheiten  für  uns  sind,  deren  einzige  Hand- 
habe für  unser  Denken  in  ihrer  Oausalität  liegt,  ohne  dass  dieee 
Erkemitniss  der  tinmittelbaren  instinctiven  Oewissheit  ihres  direc- 
teil  Besitzes  Eintrag  thut  Ebenso  glaubt  ein  Schreibender  das 
GefüM  unmittelbar  in  der  Federspitze  selber  zu  haben,  während 
ihu  die  einfachste  Betrachtung  lehrt,  dass  er  es  nur  in  den  Fin- 
gern hat,  und  unbewusste  Schlüsse  auf  Oausalität  baut^^ohne  seine 
unbewusste  Täuschung  des  Tastsinnes  dadurch  berichtigen  zu  kön- 
ueu,  nur  dass  hier  die  Berichtigung  doch  noch  eher  gelingt,  als  bei 
jenen  tief  eingewurzelten  psychologischen  Täuschungen. 

Hat  der  Mensch  einmal  auf  die  angedeutete  Weise  den  Be- 
griff des  Willens  (freilich  in  unbewusstem  Denkprocesse)  erfasst,  so 
merkt  er  sehr  bald,  dass  gewöhnliche  Vorstellungen  selten  Bewe- 
gung nerscheinungen  nach  sich  ziehen,  immer  aber  solche,  welche 
das  Gefühl  einer  Lust  oder  Unlust  enthalten,  und  zwar,  je  nach- 
dem festhaltende  und  an  sich  ziehende,  oder  abwehrende  Haud- 
luBgen.  Hieraus  lernt  er  empirisch  das  Gesetz  der  Motivation 
kennen,  wonach  jede  Lustvorstellung  positives  Begehren,  jede  Un- 
laätYorstellung  negativei^  oder  abstossendes  Begehren  err^.  Die- 
ees  Gesetz  ist  ausnahmslos  und  alle  Anführungen  dagegen  berohea 
auf  einem  Lrrthume;  z.  B.  wenn  ein  vergangener  Genuas  vorgestellt 
und  doch  nicht  wieder  begehrt  oder  zurückgewünscht  wird,  so  folgt 
daraus,  dass  er  gegenwärtig  kein  Genuss  mehr  sein  würde.  Wenn 
andere  entgegengesetzte  Begehrungen,  welche  gleichzeitig  entstehen, 
das  Aufkommen  dieses  Begehrens  unterdrücken,  so  wird  doch  Ton 
diesen  zu  der  Unterdrückung  so  viel  Kraft  verbraucht,  als  die  Be- 


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gehnmg  gehabt  haben  würde ,  wenn  sie  entstanden  wäre.  —  Hat 
nun  der  Mensch  dieses  Motivationsgesetz  als  .ausnahmslos  erkannt, 
80  weiss  er,  dass  jedesmal  mit  der  Vorstellung  eines  Lust-  oder 
UnlustgefUhles  ein  Begehren  verbunden  ist,  und  wenn  nicht  andere 
Begehmngen  oder  äussere  Umstände  die  Ausführung  der  entspre- 
chenden Bewegung  hindern,  so  sieht  er  diese  darauf  erfolgen. 
Dieser  Process  vollzieht  sieh  wiederum  unbewusst,  und  während 
der  Mensch  den  Begriff  des  Wollens  vorhin  nur  als  Ursache  einer 
Wirkung  besass,  hat  er  ihn  jetzt  als  Wirkung  einer  Ursache;  da- 
mit hat  er  aber  die  Möglichkeit,  ihn  auch  dann  in  sich  zu  erken- 
seo,  wenn  seine  Wirkung,  die  Ausführung,  durch  andere  Begeh- 
rungen oder  äussere  Umstände  verhindert  ist  —  Femer  sieht  der 
Mensch  ein  Gradverhältniss  zwischen  der  sinnlichen  Lebhaftigkeit 
der  Yorstellung  und  der  Grösse  der  vorgestellten  Lust  und  Unlust 
einerseits  und  der  Heftigkeit  der  Bewegungen,  der  Energie  der 
Handlang,  der  Dauer  der  Handlungsversuche  andererseits,  und 
sehliesst  daraus,  dass  auch  das  Mittelglied  beider  causaler  Endglie- 
der in  einem  Gradverhältniss  zu  jedem  der  beiden  stehen  müsse; 
hierdurch  gewinnt  er  einen  Anhalt  für  die  Stärke  des  Willens. 
Die  angeführten  Puncto  würden  für  die  mittelbare  Kenntniss  und 
den  Schein  einer  unmittelbaren  Kenntniss  des  Willens  allerdings 
schon  genügen,  indess  sind  sie  noch  etwas  äusserlicher  Natur,  und 
die  Täuschung  wird  durch  andere  begleitende  Umstände  noch  viel 
grösser.  Nämlich  in  den  allerseltensten  Fällen  kann  das  Begehren 
sofort  im  Moment  der  Entstehung  seinen  Lihalt  verwirklichen,  es 
verstreicht  immer  kürzere  oder  längere  Zeit,  ehe  es  zur  Ausfüh- 
rung kommt,  und  so  lange  dauert  ein  allerdings  meistens  durch 
die  Hoffnung  versüsstes  Gefühl  der  Unb  efriedigung, 
der  unangenehmen  Erwartung  und  des  Entbehrens 
(Spannung , ^Ungeduld ,  Sehnsucht,  Schmachten),  welches  entweder 
bis  zum  allmäligen  Verschwinden  der  Begehrung  sich  verlängert, 
oder  durch  Einsicht  der  Unmöglichkeit  und  Zerstörung  der  Hoff- 
nung- die  volle  Nichtbefriedigimg  und  Unlust  (bei  unvermindert 
fortbestehendem  heftigen  Begehren  Verzweiflung)  herbeiführt,  oder 
endlich  in  Befriedigung  und  Lust  übergeht  Diese  Gefühle  sind 
die  beständigen  Begleiter  resp.  Nachfolger  des  Begehrens,  und  kön- 
nen nur  durch  dieses  entstehen;  auch  sie  fallen  in's  Bewusstsein, 
^d  sind  hier  die  eigentlichen  und  unmittelbarsten  Vertreter  des 
hegehrens,  welches  man  zwar  eigentlich  wieder  nur   als   Ursache 


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derselben  eifassen  kann,  welches  man  aber  durch  die  schon  erwähnte 
Täuschung  in  dense)ben  unmittelbar  zu  erfassen  glaubt.  80  wie 
das  Begehren  im  Allgemeinen  an  den  genannten  Gefühlen  erkannt 
wird,  so  >vird  jede  besondere  Art  von  Begehren  an  der  besonderen 
und  eigenthümlichen  Art  der  es  begleitenden  Gefühle  erkannt  Der 
constante  Zusammenhang  beider  wird  dadurch  erkennbar,  dass  die 
besondere  Axt  des  Begehrens  ja  scbon  durch  die  Art  der  Motive 
und  die  Art  der  folgenden  Handlungen  für  das  Bewusstsein  bestimmt 
ist ;  doch  ist  darin  auch  die  Möglichkeit  des  Irrthums  offen  gelassen, 
namentlich  in  den  Fällen,  wo  die  begleitenden  Gefühle  (Behnsucbt 
und  Hoffnung  im  Allgemeinen)  die  einzigen  Zeichen  von  dem 
Vorhandensein  des  Willens  sind.  Dann  liegt  nämlich  der  Irrthnm 
nahe^  das  diese  Gefühle  verursachende  Begehren  in  anderweitig 
bekannten  Begehrungen  zu  suchen,  während  dieselben  ganz  unschnl- 
dig  daran  sind. 

Dieser  Fall  liegt  z.  B.  bei  den  Instincten,  am  deutlichsten 
der  Liebe  vor,  wo  das  Wollen  des  metaphysischen  Zweckes  dem 
Liebenden  unbekannt  ist,  der  deshalb  die  überschwengliche  Sehn- 
sucht und  Hoffnung  irrthümlich  bloss  auf  Rechnung  des  gewollten 
Mittels  (der  Begattung  mit  diesem  Individuum)  setzt,  demgemäse  in 
der  Begattung  mit  diesem  Individuum  einen  ganz  besonderen  Ge- 
nusg  vermuthet,  und  dann  von  der  Enttäuschung  so  unangenehm 
betroffen  wird.  Dass  trotzdem  eine  überschwengliche  Seligkeit  be- 
stehen kann,  widerspricht  dem  nicht,  weil  das  unbewusste  Hellseben 
des  metaphysischen  Zieles  eine  überschwengliche  Sehnsucht  erzeugt, 
welche  wieder  eine  überschwengliche  Hoffnung  auf  einen  ober 
achwenglichen  Gonuss  erweckt,  dessen  Wesen  aber  das  Bewusstsein 
nie  auszusprechen  vermag,  und  der  sich  nie  realisirt.  Hier  heisst 
es  auch:  „Die  Hof&aung  war  dein  zugemessen  TheiL" 

Jene  begleitenden  Gefühle  der  Begehrungen  sind  meist  höchst 
eigenthümlicher  und  characteristischer  Natur,  was  grossmitheils 
durch  körperliche  Gefühle  mitbedingt  ist,  welche  durch  die  betref- 
fenden Gehimaffectionen  reflectorisoh  in  angrenzenden  Körpemerven 
hervorgerufen  werden.  Man  denke  an  den  Jähzorn  und  seinen 
Blutandrang,  an  die  Furcht  und  den  Schreck  mit  ihrer  Blutstockung 
Athembeschwerden  und  Zittern,  den  heruntergeschluckten.  VerdrusB 
und  Aerger  mit  ihren  das  Leben  zernagenden  Einflüssen,  die  ohn- 
mächtige Wuth  mit  ihrem  Ersticken-  und  Zerplatzenwollen,  die 
Eührung   mit  ihren   Thränen    und  ihrer   Flauigkeit  in   Brust  nnd 


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Ifegen,  die  Sehnsucht  mit  ihrem  verzehrend^i  Wehe,  die  sinnliGhe 
liebe  mit  ihrer  rieselnden  Gluth,  die  Eitelkeit  mit  ihrem  Hers- 
hüpfen,  das  Denkenwollen  and  angestrengte  üeberlegen  oder  Be- 
sinnen mit  seinen  eigenthümliohen  reflectorischen  Spannungsge- 
fdhlen  an  verschiedenen  Stellen  der  Kopfhaut  je  nach  dem  an- 
gestrengten Gehimtheil,  den  Trotz,  unbeugsame  Starrheit,  und  feste 
Entschlossenheit  mit  ihrer  eigenthümlichem  Muskelcontraotion ,  den 
Ekel  mit  seinen  antiperistaltischen  Bewegungen  des  Magens  und 
Schlundes  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Wie  sehr  der  Qiaracter  dieser  Gefühle  von  solchen  körper- 
lichen Beimischungen  abhängig  ist,  wird  Jeder  leicht  zugeben ;  wie 
sehr  er  von  begleitenden  unbewussten  Vorstellungen  mitbedingt  ist, 
ist  Ende  des  Cap.  B.  m.  besprochen.  —  Wenn  nun  der  Mensch 
den  Willen  dreifach  unmittelbar  im  Bewusstsein  zu  erfassen  glaubt, 
1)  aus  seiner  Ursache,  dem  Motiv,  2)  aus  seinen  begleitenden  und 
nachfolgenden  Gefühlen,  und  3)  aus  seiner  Wirkung  der  That,  und 
dabei  4)  den  Inhalt  oder  Gegenstand  des  Willens  als  Vorstellung 
wirklich  im  Bewusstsein  hat,  so  ist  es  kein  Wunder,  dass  die 
TäoBchui^,  sich  des  Willens  selbst  unmittelbar  bewusst  zu  sein, 
sehr  hartnäckig  und  durch  lange  Gewohnheit  festgesetzt  ist,  so  dass 
sie  die  wissenschaftliche  Einsicht  von  der  ewigen  ünbewusstheit 
des  Willens  selbst  schwer  aufkommen  und  festen  Fuss  in  der 
üeberzeugung  fassen  lässt.  Aber  man  prüfe  sich  nur  einmal  sorg- 
föltig  an  mehreren  Beispielen  und  man  wird  meine  Behauptung 
bestätigt  finden.  Wenn  man  zuerst  glaubt,  sich  des  Willens  selbst 
bewusst  zu  sein,  merkt  man  bei  schärferer  Betrachtung  bald,  dass 
man  sich  nur  der  begrifflichen  Vorstellung:  „ich  will" 
bewusst  ist,  und  zugleich,  der  Vorstellung,  welche  den  Inhalt  des 
Willens  bildet,  und  wenn  man  weiter  forscht,  findet  man,  dass  die 
begriffliche  Vorstellung:  „ich  will^'  stets  auf  eine  der  angeführten 
drei  Arten  oder  auf  mehrere  zugleich  entstanden  ist,  und  weiter 
findet  man  bei  schär&ter  Prüfung  nichts  im  Bewusstsein.  Eins 
aber  ist  noch  sehr  merkwürdig,  wenn  man  sich  nämlich  darüber 
ärgert  (was  Jeder  thut),  dass  man  seine  bisherige  Ansicht  aufgeben 
•oll,  und  sich  sagt:  „verdammt,  ich  kann  doch  wollen,  was  und 
wann  icii  will^  und  weiss,  dass  ich  wollen  kann,  und  jetzt  z.  B. 
will  ich,"  so  ist  das,  was  man  für  directe  Wahrnehmung  des  Willens 
hält,  niehts  Anderes,  als  reflectorische  körperliche  Gefühle 
von  unbestimmter  Looalisation,  und  zwar  Gefühle  des  Trotzes,  des 


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360 

Eigensinnes,  oder  auch  bloss  des  entschiedenen  festen  YorsabEeB; 
hier  entsteht  also  der  Schein  des  Bewusstseins  des  Willens  selber 
auf  die  zweite  Art,  ans  begleitenden  Gefühlen.  Auch  dies  -wird 
mao  bewahrheitet  finden,  freilich  nur,  wenn  man  sich  die  Mühe 
giebt,  es  zu  versuchen. 

Endlich  aber  habe  ich  noch  einen  letzten  schlagenden  Grand 
für  die  Unbewusstheit  alles  Willens  anzuführen,  der  die  Frage  gans 
direet  entscheidet.  Jeder  Mensch  weiss  gerade  nur  insoweit 
was  er  will,  als  er  die  Kenntnis s  des  eigenen  Characteis 
uud  der  psychologischen  Gesetze,  der  Zusammengehörigkeit  von 
Motiv  und  Begehrung,  von  Gefühl  und  Begehrung,  und  der  Stärke 
der  Terschiedenen  Begehrungen  besitzt,  und  aus  diesen  das  Eesul- 
tat  ihres  Kampfes  oder  ihre  Eesultante,  den  Willen,  im  Voraus 
bt^ref^hnen  kann.  Biese  Anforderung  vollständig  zu  erfüllen,  ist  das 
Ideal  der  Weisheit,  denn  nur  der  ideale  Weise  weiss  immer,  wa» 
er  will,  jeder  andere  Mensch  aber  weiss  um  so  weniger,  was  er 
will,  je  weniger  er  gewohnt  ist,  sich  und  die  psychologischen  Ge- 
set^e  zu  studiren,  sich  stets  das  TJrtheil  von  Trübung  durch  Affecte 
trei  zu  halten,  und  mit  einem  Worte  die  bewusste  Vernunft  (wie 
in  Cap.  B.  XI.  angedeutet)  zur  Biohtschnür  seines  LebenB  zu 
machen.  Daher  weiss  der  Mensch  um  so  weniger,  was  er  will,  je 
mehr  er  sich  dem  ünbewussten,  den  Gefühlseingebungen  überlässt, 
Ei  oder  und  Weiber  wissen  es  selten  und  nur  in  den  einfachsten 
Fällen,  Thiere  vermuthlich  noch  seltener.  Wäre  das  Wissen  vom 
Willen  nicht  ein  indirectes  constructives  Berechnen,  sondern  ein 
directes  Erfassen  im  Bewusstsein,  wie  bei  Lust,  Unlust  und  Vor- 
stellung, so  wäre  es  schlechterdings  nicht  zu  begreifen,  woher  es 
1^0  häufig  kommen  sollte,  dass  man  ein  anderes  zu  wollen  sicher 
glaubty  ein  anderes  gewollt  zu  haben  durch  die  That  belehrt  wird. 
(Vgl.  oben  S.  195  u.  204).  Bei  etwas  direot  in's  Bevnisstsein 
Fallendem,  z.  B.  dem  Schmerz,  kann  von  solch'  einem  Irrthum  gar 
nicht  die  Eede  sein;  was  man  da  in  sich  weiss,  das  hat  man  aach 
in  @ich,   denn  man   erfasst   es  unmittelbar  in  seinem  Wesen. 

Da  der  Wille  an  und  für  sich  unter  allen  Umständen  unbewasst 
ist;  so  ist  nunmehr  auch  begreiflich,  dass  zu  dem  Bewusstwerden  der 
Lust  oder  Unlust  sich  der  Wille  selbst  ganz  gleich  yerhält,  sei  es 
But],  dass  er  mit  einer  bewussten  oder  einer  ünbewussten  Vorstel- 
lung verbunden  ist.  Für  das  Bevnisstwerden  der  Unlust,  welche  ja  so 
wie  öö  schon  mit  dem  Willen  in  Opposition  ist,  ist  es  selbstverständ- 


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361 

licher  "Weise  gleichgültig,  ob  die  Vorstellung,  welche  den  Inhalt  des 
Willens  bildet,  bewnsst  oder  unbewnsst  ist,  höchstens  könnte  es  für 
das  Bewnsstwerden  der  Lost  von  Wichtigkeit  scheinen.  Ist  der  In- 
halt des  Willens  eine  bewnsste  Vorstellung,  so  ist  die  Möglichkeit  des 
Bewusstwerdens  seiner  Befriedigung  ohne  Weiteres  klar;  aber  auch, 
wenn  es  eine  unbewusste  Vorstellung,  ist  diese  Möglichkeit  vorhanden, 
mit  Hülfe  der  begleitenden  Gefühle  und  Wahrnehmungen.  Wenn  nämlich 
unter  n  Fällen  diese  begleitenden  Geföhle  und  Wahrnehmungen  m  Mal 
eine  Unlust  zur  Folge  gehabt  haben,  und  n — m  Mal  keine,  so  schliesst 
man  instinctir,  dass  diese  Gefühle  und  Wahrnehmungen  das 
Merkmal  eines  unbewussten  Willens  seien,  welcher  m  Mal  nicht 
befriedigt  wurde,  d.  h.  Unlust  erzeugte,  woraus  unmittelbar  hervor- 
geht, dass  er  n — m  Mal  befriedigt  sein  muss;  so  kann  diese  Be- 
friedigung, d.  h.  die  Lust,  auch  bei  einem  Willen  zum  Bewusstsein 
kommen,  dessen  Inhalt  immer  unbewusst  bleibt,  wenn  er  nur  von 
regelmässig  wiederkehrenden  Merkmalen  begleitet  ist,  welche  statt 
der  Yorstellung,  die  seinen  Inhalt  bildet,  als  Bepräsentant  des  an 
sich  ewig  unbewussten  Willens  figuriren  können.  Dies  muss  als 
Vervollständigung  zu  Cap.  B.  III.  hinzugefugt  werden,  wo  diese 
Puncte  noch  nicht  zur  Erwägung  gebracht  werden  konnten. 

Die  so  eben  gewonnene  Einsicht  von  der  Unbewusstheit  des 
Willens  au  sich  wirft  interessante  Lichter  auf  immer  wiederkehrende 
Bestrebungen  in  der  Geschichte  der  Philosophie,  den  Willen  in 
Vorstellung  aufzulösen;  ich  nenne  bloss  die  hervorragendsten:  Spi- 
noza, und  in  neuerer  Zeit  Herbart  und  seine  Schule  mit  dem  aus- 
führlichsten Versuch  in  dieser  Hinsicht.  Es  wäre  dies  Bestreben, 
das  in  geringerem  Maasse  auch  bei  Hegel  sich  zeigt,  rein  uner- 
klärlich bei  so  grossen  Denkern,  wenn  der  Wille,  welcher 
in  seinem  Wesen  der  Vorstellung  völlig  heterogen  ist,  etwas  un- 
mittelbar im  Bewusstsein  Gegebenes  wäre ;  sie  werden  aber  dadurch, 
dass  man  nie  den  Willen  selbst,  sondern  immer  nur  die  Vor- 
stellung des  Willens  im  Bewusstsein  findet,  nicht  nur  etwas 
Erklärliches,  sondern  etwas  für  den  ausschliesslich  bewuss- 
ten  Standpunct  berechtigtes  und  gefordertes,  da  der  Wille 
nur  im  Gebiete  des  Unbewussten  seine  wirkliche  Existenz  hat. 
Damm  ist  es  auch  charaoteristisch,  dass  gerade  der  dilettantischeste 
aller  namhaften  Philosophen,  Schopenhauer,  sich  über  diese  Anfor- 
derung des  strengen  Denkens  hinwegsetzend,  den  Willen  als  Kern 
des  eigenen  Wesens  unmittelbar  im  Bewusstsein  zu  finden  behauptet. 


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362 

Wie  das  PhiloBophiren  des  gemeinen  Menschenverstandes  in  der 
äiiB8eren  Wahrnehmung  die  Dinge  unmittelbar  zu  erfassen  glaubt, 
ebcQ&o  dogmatisch  vermeinte  Schopenhauer  in  der  inneren  Wahr- 
nehmung den  Willen  unmittelbar  zu  erfSassen.  Die  Kritik  vernichtet 
dun  einen  wie  den  anderen  dogmatischen  Schein  des  Instinctea^ 
aher  die  Wissenschaft  giebt  der  Erkenntniss  als  bewussten  mittel- 
hüTGTL  Besitz  wieder ,  was  sie  an  blindem,  unmittelbarem  Instinot- 
glauben  zerstört  hat. 

Unser  Prinoip  hat  sich  nunmehr  noch  in  einer  letzten  Probe 
EU  bewähren.  Wenn  nämlich  unsere  Annahme  richtig  ist,  dass  daa 
Bewusstsein  eine  Erscheinung  ist,  deren  Wesen  in  der  Opposition 
den  Willens  gegen  etwas  nicht  von  ihm  Ausgehendes  und  dennoch 
tunjjfindlich  Vorhandenes  besteht,  dass  also  nur  diejenigen  Vor- 
bitiUiings-  oder  Gefiihlselemente  bewusst  werden  können,  welche  auf 
Ol  neu  mit  ihnen  in  Opposition  befindlichen  Willen  treffen,  d.  L  auf 
eimm  Willen,  welcher  sie  nicht -will  oder  negirt,  so  folgt  darau«, 
dass  das  Bewusstsein  so  wenig  wie  das  Nicht  oder  die  Negation 
Gradunterschiede  in  sich  haben  kann.  Es  handelt  sich  dabei  am 
emc  reine  Alternative:  „ Bewusstwerden  oder  Unbewusstbleiben"; 
Verhält  sich  der  Wille  affirmativ,  so  tritt  letzteres,  verhält  er  doh 
Dü;[^ntiv,  so  tritt  ersteres  ein.  Es  giebt  kein  Stärker  oder  Schwächer 
dtr  Negation,  denn  Negation  ist  ein  positiver,  kein  comparativer 
Bi;j::riff;  es  giebt  wohl  ein  theilweises  und  vollständiges  Negiren, 
dw^  ist  aber  kein  Unterschied  des  Negirens,  sondern  des  negirten 
Qtgcctes,  kann  also  keinen  Gradunterschied  des  Negirens  selbst 
begründen;  ein  theilweises  Negiren  müsste  in  unserem  Falle  das 
Bmw  ui^twerden  des  einen  und  das  Unbewusstbleiben  des  anderen 
Theiles  zur  Folge  haben,  aber  keinesfalls  könnte  aus  demselben 
eitvc  Oradverschiedenheit  des  Bewusstseins  als  solchen  hervorgehen. 

Es  kann  also  dasjenige ,  was  bewusst  wird,  das  Object  oder 
der  Inhalt  des  Bewusstseins,  ein  Mehr  oder  Weniger  zeigen,  aber 
da»  Uewnsstsein  selbst  kann  nur  sein  oder  nicht  sein,  niemals  mehr 
oder  weniger  sein.  Allerdings  kann  auch  der  Wille,  welcher  durdi 
^eiii  Negiren  des  Objectes  das  Bewusstwerden  desselben  setzt, 
üradonterschiede  zeigen,  stärker  oder  schwächer  sein;  aber  die  Stärke 
diciif  a  Willens  hat  auf  die  Alternative :  „Bewusstwerden  oder  nicht*' 
gar  keinen  Einfluss,  nur  ob  sein  Inhalt  sich  zu  dem  Objeote  de« 
Bcw'iisstwerdens  affirmativ  oder  negirend  verhält,  nur  das  entscheidet 
diif  Alternative;   darum   kann   auch  von  der  Stärke  des  opponiren- 


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363 

den  Willens  kein  Gradunterschied  des  Bewusstseins  abgeleitet 
w^erden;  entweder  wird  etwas  bewusst  oder  es  wird  nicht  bewusst» 
keinesfalls  kann  es  mehr  oder,  weniger  bownsst  werden.  Ich  will 
dieses  Verhältniss  noch  durch  ein  Beispiel  aip  Willen  verdeutlichen. 

Wenn  ich -einem  Bettler  etwas  schenken  will,  so  will  ich 
freilich  mehr,  wenn  ich  ihm  einen  Thaler  schenke,  als  wenn  ich 
ihm  einen  Groschen  gebe;  dies  ist  das  Mehr  oder  Weniger  des 
Inhaltes,  welches  die  Frage  nach  der  Stärke  des  Willens  als  solchen 
noch  gar  nicht  berührt,  denn  der  Wille  selbst  kann  in  beiden  Fällen 
ganz  gleich  stark  sein,  ob  ich  einen  Thaler  oder  einen  Groschen 
XU  schenken  beabsichtige.  Dagegen  kann  bei  demselben  Inhalte 
der  Wille  ganz  verschieden  stark  sein ;  z.  B.  wenn  von  zwei  Men- 
schen jeder  dem  Bettler  einen  Groschen  schenken  will,  so  kann  der 
Eine  möglicherweise  durch  eine  sehr  unbedeutende  Yeranlassuug 
davon  zurückgebracht  werden,  während  der  Wille  des  Anderen 
starke  Gegenmotive  überwindet.  Dies  ist  der  Gradunterschied  des 
Willens  als  solchen.  Den  Gradunterschied  des  Inhaltes  haben  wir 
beim  Bewusstsein  auch,  der  Gradunterschied  des  Bewusstseins  als 
solchen  muss  dagegen  nach  der  apriorischen  Ableitung  aus  unserem 
Principe  fehlen ;  würde  sich  diese  apriorische  Consequenz  des  Prin- 
cipes  in  der  Erfahrung  nicht  bestätigen,  so  wäre  dies  ein  indirecter 
Angriff  auf  das  Princip  selbst. 

Was  der  empirischen  Anerkennung  jenes  'ScUzes  zunächst  im 
Wege  steht,  ist  die  Verwechselung  des  Begriffes  Bewusstsein  mit 
zwei  anderen  nahe  liegenden  Begriffen,  erstens  Aufmerksamkeit, 
zweitens  Selbstbewusstsein.  Die  Aufhierksamkeit  haben  wir  schon 
mehrfach  (vergl.  S.  92  —  93,  131—132,  auch  214  —  215)  als 
einen  sowohl  reflectorisoh,  als  willkürlich  zu  erzeugenden  Nerven- 
sirom  kennen  gelernt,  welcher  in  sensiblen  Nervenfasern  vom 
Oentram  nach  der  Peripherie  verläuft  und  dazu  dient,  die  Lei- 
iangsfähigkeit  der  Nerven,  namentlich  für  schwache  Beize  und 
schwache  Beizunterschiede  zu  erhöhen.  Die  Aufmerksamkeit  be- 
steht mithin  in  materiellen  Nervenschwingungen;  indem  diese  vom 
Centram  nach  der  Peripherie  hin  verlaufen,  kann  es  unmöglich 
auBbleiben,  dass  dieselben,  auch  ohne  auf  eine  Wahrnehmung  ge- 
troffen zu  sein,  von  der  Peripherie  nach  dem  Centrum  rejQ^ectirt 
werden;  ausserdem  werden  durch  die  .^ufmerköamkeit  für  jedes 
Sinnengebiet  eine  Menge  Muskeln  in  Spannung  versetzt,  um  zur 
besseren  Aufnahme  der  Wahrnehmung  durch  das  Organ  zu  befÜhi- 


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364 

gen,  uud  endlich  werden  gewisse  andere  Muskeln,  namentlich  Eopf- 
hautmnskeln  refleotorisch  gespannt.  Diese  drei  Momente  Btimmen 
da^  überein  y  dem  Organe  des  Bewusstseins  Empündungen  durcli 
materielle  Schwingmigen  zuzuführen,  d.h.  die  Aufmerksamkeit 
als  solche  ist  ein  Gegenstand  der  Wahrnehmung  und 
folglich  des  Bewusstseins.  Hiervon  kann  man  sich  leicht 
überzeugen,  wenn  man  in  schweigender  Nacht  Veranlassung  hat, 
aufmerksam  auf  ein  Signal  zu  horchen,  oder  auf  den  Horizont  zu 
blicken,  ob  eine  Eakete  steigen  wird.  Wenn  für  das  blosse  Vor- 
stellen allerdings  auch  die  Muskelspannung  des  Sinnesorganes  fort- 
fällt, so  bleibt  doch  die  reflectorische  Spannung  der  Kopfhautmuskeln 
(daher  das  Wort  Kopfzerbrechen)  und  diö  Wirkung  der  Nerven- 
schwingungen als  solche  bestehen ;  daher  wird  auch  diejenige  Auf- 
merksamkeit deutlich  empfunden,  welche  nicht  auf  einen  äusseren 
Sinn,  sondern  bloss  auf  das  innere  Vorstellungsleben  des  Gehirnes 
gerichtet  ist,  wie  Jeder  leicht  an  sich  bemerken  kann^  wenn  er  ein 
entfallenes  Wort  sucht. 

Die  Aufmerksamkeit  erhöht  die  Reizbarkeit  der  Theile,  welche 
sie  trifft,  und  erleichtert  dadurch  sowohl  das  Auftauchen  der  Ge- 
dächtnissTorstellungen,  als  auch  die  Wahrnehmung  schwacher  Beize 
und  Eeizunterschiede^  Man  kann  nicht  mit  Bestimmtheit  behaupten, 
dass  sie  die  Amplitude  der  Schwingungen  vergrössert,  weil  die 
Stärke  einer  Empfindung  (z,  B,  Tonstärke)  durch  Erhöhung  der 
Aufmerksamkeit  scheinbar  nicht  vermehrt  wird;  doch  kann  dies 
auch,  wie  ich  für  höchst  wahrscheinlich  halte,  bloss  scheinbar  sein, 
indem  die  Vermehrung  der  Stärke  schon  unbewusst  in  Abzug  ge- 
bracht wird,  wie  die  Vergrösserung  eines  Gegenstandes  durch  Näher- 
rücken nicht  leicht  wahrgenommen  wird,  imd  die  Vergleichung 
zweier  gleichweit  vom  Auge  entfernten  Zirkelöffnungen  nicht  wesent- 
lich leichter  ist,  als  die  zweier  ungleich  weit  entfernten.  — 
Sei  dem  wie  ihm  wolle,  so  viel  steht  fest,  dass  wir  eine  doppelte 
Schätzung  bei  jeder  Empfindung  haben,  sowohl  über  die  Stärke  der 
Empfindung,  soweit  sie  vom  Beiz  abhängt,  als  auch  über  den  Grad 
der  angewandten  Aufinerksamkeit,  dass  also  der  Wahrnehmung 
durch  die  Gehimschwingungen  der  Aufmerksamkeit  ein  Bestandtheil 
hinzugefügt  wird,  welcher  die  Totalwahmehmung  reicher  und  um- 
fassender macht  (ganz  abgesehen  davon,  dass  alle  Sinnesempfindun- 
gen ohne  einen  gewissen  Grad  reflectorischer  Aufmerksamkeit  gar 
nicht  bis  zum   Gehirne  und  Bewusstsein  kommen).     Dasselbe  gilt 


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365 

aber  auch  für  blosse  Gehimvorstellungen ,  xmd  in  noch  höherem 
Maasse. 

Auch  eine  aus  dem  Gedächtnisse  auftauchende  Vorstellung 
wird  durch  die  Au^erksamkeit  bereichert  und  verschärft;  sie  wird 
zwar  ihrem  allgemeinen  Inhalte  nach  nicht  verändert,  aber  während 
bei  einer  YorsteUung,  für  die  man  unau&nerksam  ist.  Alles  nebel- 
haft und  verschwommen,  blass  und  farblos,  gleichsam  durch  weite 
Feme  unerkennbar  ist,  werden  die  Umrisse,  Farben  und  Detail- 
ausföhrung  um  so  bestimmter,  lebhafter  und  näher  gerückt,  je  höher 
der  QtTüd  der  Aufmerksamkeit  steigt.  Dies  hat  darin  seinen  Grund, 
dass  alle  unsere  Vorstellungen  auf  Sinneseindrücken  beruhen ,  und 
in  diesen  erst  die  bleichen  BegrifEsgespenster  sich  mit  Fleisch  und 
Blut  bekleiden,  dass  aber  die  sinnlichen  Vorstellungen  um  so  pla- 
stischer und  lebhafter  werden,  ein  je  grösserer  Theil  des  speci eilen 
Sinnescentraloi^anes  und  Sinnesnerven  in  Mitleidenschaft  gezogen, 
je  weiter  die  Vorstellung  peripherisch  hinausprojicirt  wird.  Bei 
der  Sinneswahmehmung  tritt  also  durch  die  Steigerung  der  Auf- 
merksamkeit nur  insofern  eine  Bereicherung  des  Inhaltes  ein,  als 
durch  die  gesteigerte  Leitungsfähigkeit  auch  geringere  begleitende 
Details  bis  zum  Gehimbewusstsein  gelangen  und  die  Wahrnehmung 
der  Aufmerksamkeitsschwingungen  selbst  intensiver  wird;  bei  der 
GedächtnissYorstellung  aber  tritt  ausser  diesen  Momenten  noch  die 
Steigerung   der  sinnlichen  Lebhaftigkeit    und  Bestimmtheit  hinzu. 

Dazu  kommt  noch^in  allen  Fällen  die  bis  jetzt  unerwähnt«  Ver- 
hinderung der  Störung  durch  andere  "Wahrnehmungen,  welche^ von 
der  höchfiten  Wichtigkeit  ist  Für  gewöhnlich  besteht  nämHch  im 
wachen  Zustande  ein  gewisser  Tonus  der  Aufmerksamkeit  im  gan- 
zen sensiblen  Nervensysteme,  der  natürlich  für  jeden  einzelnen 
Punct  desselben  schwach  ist  und  erst  durch  einen  stärker  wirken- 
den Beiz  refLectorisch  in  dieser  Bichtang  erhöht  wird.  Dadurch 
entsteht  für  gewöhnlich  eine  grosse  Theilung  und  Zerstreuung  der 
Au^erksamkeit,  so  dass  das  Bewusstsein  einen  unendlich  gemisch- 
ten Inhalt  von  lauter  schwachen  Wahrnehmungen  in  sich  findet. 
Entsteht  aber  nun  eine  starke  Anspannung  der  Au&nerksam- 
keit  in  bestimmter  Bichtung,  also  z.  B.  auf  einen  Sinn,  oder  auf 
das  Gehirn  allein,  so  kann  dies  bei  der  begrenzten  Kraftsumme 
des  Organismus  nur  auf  Kosten  der  Aufmerksamkeit  in  allen  ande- 
ren Bichtungen  geschehen,  und  daher  ist  jede  einseitig  erhöhte 
Aufmerksamkeit  eine  Concentration  derselben,  welche  mit  der 


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366 

iäeratreuiing  einen  Gegensatz  bildet.  Statt  der  naendlich  vielen 
iottwachen  Wahrnehmungen  findet  nun  das  Bewusstsein  eine  euer- 
gimhe  Vorstellung  als  seinen  Inhalt,  während  die  Summe  aller 
übrigen  Wahrnehmungen  auf  ein  Minimum  reducirt  ist.  Man  sieht» 
dmf^  ßich  der  Inhalt  wesentlich  verändert  hat,  so  sehr,  dass  er  zur 
Erklärung  des  veränderten  Zustandes  vollkommen  genügt ,  es  ist 
Ki<  litfi  vorhanden,  was  auf  eine  graduelle  Veränderung  des  Bewusst- 
6fm%  an  sich  hindeutete.  Andererseits  liegt  es  aber  auf  der  Hand, 
wie  leicht  eine  mangelhafte  Unterscheidung  der  Aufmerksamkeit 
und  dtn  Bewusstseins  zu   der  Meinung  führen  kann,  dass  das  Be> 

|~  '  wusHteein   ebenso   wie   die   Aufmerksamkeit  Grade  habe,  und  sehr 

häuüg  wird  man  finden,  dass  Bewusstsein  gesagt  wird,  wo  Aufmerk- 
samkeit gemeint  wird.  Die  Aufmerksamkeit  kann  Grade  haben, 
weil  sie  in  Nervenschwingungen  besteht,  und  bei  allen  Nerven- 
i^chwingungen  die  Grösse  der  Schwingungsamplitude  die  Starke  der 
Knipiiridung  bedingt ;  das  Bewusstsein  aber  kann  keine  Grade  haben, 
weil  sie  eine  immaterielle  lleaction  ist,  die  entweder  eintritt  oder 
nichts  aber  wenn  sie  eintritt,  immer  in  derselben  Weise  erfolgt. 
Der  Unterschied  von  Bewusstsein  imd  Selbstbewusstsein  ist  schon 
zu  Anfange  dieses  Capitels  angedeutet  worden.  Das  Selbstbewasst^ 
Bein  kann  natürlich  nicht  ohne  Bewusstsein,  wohl  aber  das  Be- 
wiiftit.Hein  ohne  Selbstbewusstsein  gedacht  werden;  wie  weit  ein 
vc)Uigf^&  Fehlen  des  Selbstbewusstseins  in  der  Wirklichkeit  zu  con- 
Btatiren  ist,  muss  noch  dahingestellt  bleiben,  da  ja  auch  das  Selbst- 
bo\rut)st8ein  zunächst  instinctiv  als  sogenanntes  dumpfes  Selbstgefühl 

M  geboren  wird;  so  viel  ist  gewiss,  dass  ein  sehr  klares  Bewusstsein 

bei  einem  verschwindenden  Minimum  von  Selbstbewusstsein  häufig 
genug  vorkommt;  ja  sogar,  je  klarer  bei  demselben  Individuum  das 
gGgöii.^tündliche  Bewusstsein  wird,  desto  mehr  verschwindet  das 
Selbstbewusstsein.  Niemand  ist  im  Stande,  ein  Kunstwerk  wahrhaft 
zu  geuitissen,  es   sei  denn,    dass    er   wahrhaft  sich  selbst  vei^^t 

m.  Ebenöo    hört  das    Selbstbewusstsein   fast   ganzlich   auf,   wenn  man 

sich  in  wissenschaftliche  Leetüre  vertieft;  wenn  man  aber  producirt 
ttud  in  tiefes  Nachdenken  versunken  ist,  so  ist  man  so  abwesend 
nicht  nur  von  der  Umgebung,  sondern  auch  von  sich  selbst,  dasB 
man  kein  Gedächtniss  für  seine  wichtigsten  Interessen  hat,  ja  sogar, 
dasä  mau  sich,  plötzlich  angerufen,  auf  seinen  eigenen  Namen  erst 
be^nneu  muss.  Und  doch  ist  in  diesen  Momenten  das  Bewusstsein 
atn  klarsten,   weil   es   eben    ganz   in  den  G^enstand  versenkt  ist, 


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367 

d.  h.  die  Aufmerksamkeit  den  höchsten  Grad  von  Concentration  er- 
'  reicht  hat.  Diese  Versenkung  in  den  Gegenstand  ist  aber  bei  allen 
Dingen  nothwendig,  wo  der  Yorstellnngsprocess  etwas  Erhebliches 
leisten  soll,  ausgenommen  bei  practischen  Fragen  des  eigenen  In« 
teresses,  weil  hier  alle  Zwecke  des  ganzen  Lebens  in  ihrer  Wich- 
tigkeit gegen  einander  berücksichtigt  werden  sollen,  also  die  Iden«- 
tität  der  Ich's  yerschiedener  Zeiten,  die  Persönlichkeit  eine  Haupt- 
rolle spielt.  Aus  demselben  Grunde  entbehren  aber  auch  ezclusiv 
practische  Naturen,  die  nie  sich  selbst  und  ihre  vielen  Ziele  und 
Interessen  vergessen  können,  regelmässig  jeder  höheren  wissen- 
schaftlichen und  jeder  künstlerischen  Befähigung, 

Man  sieht  also,  dass  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  sehr 
verschiedene  Dinge  sind;  nichtsdestoweniger  ist  die  Verwechselung 
beider  etwas  ganz  Gewöhnliches.  Man  sagt  z.  B.  von  einem  Schlaf- 
wandler, dass  er  in  diesem  Zustande  ohne  Bewusstsein  sei,  während 
doch  seine  Leistungen  (Gedichte,  schriftliche  Arbeiten)  ein  sehr 
klares  Bewusstsein  beweisen;  aber  er  ist  allerdings  ohne  volles 
Selbstbewusstsein,  da  seine  Aufmerksamkeit,  in  einen  einseitigen 
Gegenstand  vertieft,  für  alle  anderen  Wahrnehmungen,  die  mit  die- 
sem Gegenstande  nicht  zusammenhängen,  abwesend  ist,  und  darum 
auch  keine  Erinnerung  seiner  sonstigen  Ziele  und  Literessen  in  ihm 
aoitaucht,  welche  nicht  diesen  Gegenstand  berühren. 

Insofern  das  vollständige  Selbstbewusstsein  die  Erinnerung  aller 
Ziele  und  Interessen  einschliesst,  die  frühere  Ich's  jemals  gehabt 
haben,  sagt  man  auch  öfters  Besinnung  dafür,  und  wo  man  mit 
Recht  sagen  kann,  ein  Mensch  sei  in  dem  und  dem  Augenblicke, 
bei  der  und  der  Handlung  ohne  Besinnung  oder  ohne  Selbstbe- 
wusstsein gewesen,  sagt  man  oft  unrichtigerweise,  er  sei  ohne  Be- 
wusstsein gewesen;  andererseits  aber  sagt  man  häufig,  wo  Jemand 
das  Bewusstsein  verliert  oder  verloren  hat  (z.  B.  in  Ohnmacht, 
Betäubung),  er  sei  oder  werde  besinnungslos,  oder  verliere  das 
Selbstbewusstsein;  in  diesem  Falle  sagt  die  Verwechselung  der 
Worte  zu  wenig,  wie  im  anderen  zu  viel.  Nun  ist  aber  klar, 
dass  das  Selbstbewusstsein  Grade  hat;  denn  es  ist  am  unvollkom- 
mensten, wenn  es  bloss  das  Ich  der  gegenwärtigen  Geistesthätigkeit 
erfiisst,  und  ist  um  so  vollkommener,  d.  h.  sein  Grad  um  so  höher, 
je  mehr  Ich's  vergangener  oder  zukünftiger  Handlungen  es  umfasst. 
Denn  das  Selbstbewusstsein  ist  ja  nicht,  wie  das  Bewusstsein,  blosse, 


1 


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368 

leere  Form;  sondern  es  ist  Bewusstsein  eines  ganz  bestimmten 
Inhalts,  des  Belbst,  und  da  dieser  bestimmte  Inhalt  schon  zu 
seinem  Begriffe  gehört,  so  muss  auch  der  Grad  des  Selbstbewußt- 
Belna  mit  dem  Grade  dieses  Inhaltes  steigen  und  fallen.  Das  Bewusst- 
&eiii  dagegen  lässt  seinen  Inhalt  ganz  imbestimmt;  es  yerlangt  nur 
einisn  Inhalt  überhaupt,  wenn  es  zur  Erscheinung,  zur  Wirklichkeit 
kommen  soll,  seinem  Begriffe  nach  aber  ist  es  blosse  Form,  mid 
kaan  daher  sein  Begriff  nicht  dadurch  graduelle  Yerschiedenheiten 
annehmen,  .dass  der  ihm  yöllig  gleichgültige  Inhalt  yersdiieden 
auäfdllt.  Ist  aber  dieser  Unterschied  zwischen  Bewussteein  und 
Selbfitbewusstsein  noch  nicht, 'oder  wenigstens  nicht  in  dieser  Hin- 
sicht geklärt,  so  ist  es  kein  Wunder,  dass  man  sich  durch  die 
hLiufige  Verwechselung  beider  Begriffe  unvermerkt  gewöhnt,  audi 
im  Bewusstsein  an  sich  an  graduelle  Verschiedenheiten  zu  glauben. 
Noch  verzeihlicher  wird  die  Täuschung,  wo  Auhnerksamkeit  und 
8elbBtbewusstsein  sich  vermischen;  wenn  ich  z.  B.  auf  ein  Signal 
horche  mit  vollstem  Selbstbewusstsein,  indem  ich  weiss,  dass  mein 
gauzcs  Lebensglück  von  demselben  abhängig  ist,  und  es  trifft  end- 
lich der  Schall  eines  fernen  Schusses  mein  Ohr,  so  kann  ich  leicht 
iu  den  Irrthum  verfallen,  dass  das  Bewusstsein,  mit  welchem  ich 
jetzt  den  Schall  gehört  habe,  graduell  höher  sei,  als  dasjenige, 
womit  ich  ihn  zufällig  als  Spaziergänger  vernommen  hätte.  Zieht 
mmk  aber  gewissenhaft  die  einzelnen  Momente  davon  ab:  zuerst 
den  Gedanken,  dass  das  ganze  Ich  der  Zukunft  an  der  Sinnes- 
wahmehmung  des  nächsten  Momentes  hängt,  dann  den  Gedanken, 
dasB  ich  selbst  es  bin,  der  absichtlich  seine  Aufmerksamkeit  an- 
strengt, dann  die  Muskelspannung  und  die  Wahrnehmung  der  Auf- 
merksamkeit als  solcher,  endlich  die  Verstärkung  der  sinnlichen 
Wahrnehmung,  ihre  grössere  Bestimmtheit  u,  s.  w.,  so  wird  man 
migeben  müssen,  dass  der  für  das  Bewusstsein  als  solches  übrig 
bleibende  Best  in  beiden  Fällen  derselbe  ist,  und  dass  die  Unter- 
schiede nur  theils  den  dem  Bewusstsein  vom  Gehirne  dargebotenen 
Inhalt,  theils  das  Selbstbewusstsein  treffen. 

2^achdem  so  die  gewöhnlichen  Täuschungen  der  menschlichen 
Selbstbeobachtung  dargelegt  sind,  wird  die  Behauptung  ihr  Para- 
doxes verloren  haben,  dass  das  sogenannte  höchste  und  niedrigst« 
Bewusstsein,  das  des  Menschen  und  der  niedrigsten  Thiere,  als 
Bewusstsein  sich  ganz  gleich  sind  und  sich  nur  durch  den  ihnen 
gebotenen  Inhalt  unterscheiden. ,  Wir  haben  gesehen,  dass  die  ein- 


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369 

&oheii  Bianliohen  Qualitäten,  aus  denen  sich  alle  Sinneswahmehmung 
zusammensetzt,  Beaotionen  des  Unbewussten  auf  die  materiellen 
Schwingungen  des  Centralorganes  (Gehirn,  Gfanglien,  organische  ür- 
masse)  sind;  es  versteht  sich,  dass  die  Beaotionen  sich  nach  der 
Art  der  Schwingungen  richten,  um  so  stärker  und  lebhafter  aus- 
fallen, je  stärker  die  Schwingungen  sind,  und  um  so  bestimmter  in 
sich  g^liedert  und  um  so  deutlicher  von  anderen  ähnlichen  Em- 
pfindungen unterschieden  sind,  je  bestimmter  und  reicher  die  Schwin- 
gangen  uch  in  sich  gestalten,  und  je  geringere  Unterschiede  der 
äusseren  Beixe  sie  im  Centralorgane  zur  Erscheinung  bringen. 

Somit  liegt  auf  der  Hand,  dass  das  Auge  der  Schnecke,  welches 
ihr  nach  genauen  Beobachtungen  buchstäblich  alle  fünf  Sinne  er- 
setsen  mnss,  ohne  dass  sie  mit  demselben  mehr  als  hell  und  dunkel 
im  Allgemeinen  unterscheiden  kann,  dass  dieses  Auge  Schwingungen 
im  Centralorgane  erweckt,  welche  weder  für  Gesicht,  Geruch, 
Oesohmack,  Gehör  und  Gefühl  so  grosse  Unterschiede  zeigen,  wie 
bei  Thieren  mit  gesonderten  Sinneso]^;anen,  noch  auch  erheblicher 
Kannigfaltigkeit  innerhalb  jedes  besonderen  Empfindungsgebietes 
fähig  sind«  Was  ai^r  der  Wahrnehmung  anderen  Wahrnehmungen 
gegenüber  die  Unterscheidbarkeit  giebt,  das  verleiht  ihr  für  sich 
betrachtet  die  Bestimmtheit,  und  darum  sind  die  Wahrnehmun- 
gen um  so  unbestimmter,  je  tiefer  wir  in  der  Thierreihe  hinab- 
steigen. Biese  Unbestimmtheit  ist  nur  so  zu  denken,  dass  in  der 
Wahrnehmung  das  Detail  fehlt,  welches  bei  höherer  Organisation 
die  Unterschiede  begründet;  nimmt  man  dieses  Detail  aus  der 
Wahrnehmung  heraus,  so  wird  sie  aber  ärmer  an  Inhalt,  denn 
es  bleibt  ihr  bloss  das  Allgemeine  übrig,  was  an  dem  Yer- 
Bohiedenen  noch  gleich  ist;  alle  Unbestimmtheit  der  Wahr- 
nehmung beruht  also  auf  Armuth,  während  der  Beichthum  an  Inhalt 
die  Bestimmtheit  und  Unterscheidbarkeit  begründet.  Jetzt  können 
wir  aussprechen,  worin  der  Unterschied  eines  scheinbar  tieferen 
Bewusstseins  besteht:  in  der  geringen  Intensität  und  der 
Armuth  des  ihm  gebotenen  Inhaltes,  in  der  materiel- 
len Dürftigkeit  sowohl  der  einzelnen  Wahrnehmung 
undVorstellung,  als  der  gesammten  zugänglichen  Yor- 
atellungsmasse.  Wenn  ich  einen  einzelnen  lichtpunct  in  fin- 
sterer Nacht  sehe,  so  sehe  ich  ihn  scharf  abg^;renzt  als  Punct,  in 
bestimmtem  Kelligkeitsgrade  uud  den  Hintergrund  in  bestimmtem 
Bunkelheitsgrade ,  ich   sehe  auch  beide  in  ganz  bestimmter  Farbe ; 

T.  Haitmann,  Phil.  d.  Unbewussten.  24 


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370 

das  ist  der  Beiohthuin,  der  in  dieser  einfachen  Wahmehmimg  lie^ 
Die  Schnecke  aber  sieht  diesen  Pnnct  gar  nicht,  oder  wenn  er  B«Aa 
hell  ist,  so  sieht  sie  einen  schwachen  Helligkeitsschinmier  Tor  sich, 
und  von  .all'  dem  Anderen  sieht  sie  nichts;  das  ist  die  Anmitli 
ihrer  Yorstellnng. 

Ausserdem  aber  sieht  die  Schnecke  mit  yiel  geringerer  Inten- 
sität, weil  mit  geringerer  Aufin^ksamkeit.  Die  Schwächung  der 
Aufmerksamkeit  in  allen  anderen  Biehtungen  bei  Ooncentratioa 
•mich  einer  einzigen  beweist  die  begrenzte  summarische  Ghrösse  der- 
selben für  ein  bestimmtes  Wesen,  welche  offenbar  mit  seiner  sam- 
marischen Nervenkraft  in  Beziehung  steht.  Nichts  li^t  näher,  als 
dass  die  summarische  Mazimalgrösse  der  Aufmerksamkeit  mit  der 
Stufe  des  ganzen  Nerrensystems  in  der  Thierreihe  sinkt,  also  wird 
eine  Schnecke  bei  möglichster  Anspannung  der  Aufmerksamkeit  auf 
einen  Lichtpunct  kaum  so  yiel  Aufinerksamkeit  auf  denselben  tst^ 
wenden  können ,  als  ich,  w&m  ich  ganz  und  gar  nicht  an  jenen 
Lichtpunct  denke ;  denn  das  Centralorgan  der  Schnecke  steht  jeden- 
falls tiefer,  als  meine  Yieiiittgel,  welche  die  Gesichtseindrücke  ao^ 
nehmen,  und  über  welche  sie  nicht  hinauskommen,  wenn  das  Ge- 
hirn anderweitig  in  Anspruch  genommen  ist.  Jetzt  hat  man  ein 
ungefähres  Bild  von  dem  Bewusstsein  der  niederen  Thiere  bei  einer 
einzelnen  Wahrnehmung;  und  doch  ist  das  Bewusstsein  immer  das 
nämliche,  nur  der  ihm  gebotene  Inhalt  ist  so  viel  schwächer  nnd 
dürftiger. 

Das  Yerhältniss  steigert  sich  noch,  wenn  wir  das  ganze  yo^ 
Stellungsmaterial  in  Erwägung  ziehen,  welches  dem  Yergleichen, 
Abstrahiren  und  Combiniren  zu  Grunde  liegt,  dann  sehen  wir  als- 
bald, dass  die  Unbestimmtheit  und  Dunkelheit  der  einzelnen  Vor- 
stellung noch  weit  übertroffen  wird  von  der  Armuth  der  ganien 
Summe  von  Erfahrungen,  die  einem  soldien  Thiere  zu  Oeboie 
stehen,  und  von  der  Unfähigkeit  seines  Centralorgattes,  die  einmal 
gemachten  Er&hrungen  genügend  im  Gedächtniss  zu  b^ialten,  oder 
gar  sie  zu  handlicheren  Theilvorstellungen  (Begriffen)  zu  verorbeitefl. 
Dies  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Ausführung.  Das  Besultat  von 
dem  Allen  ist  die  Bestätigung  des  aus  unserem  Principe  abgeleite- 
ten Satzes,  dass  das  Bewusstsein  als  solches  überall  dasselbe  ist, 
und  nur  in  dem  ihm  gebotenen  Inhalte  sich  unterscheidet;  denn 
nirgends  fanden  wir  Yeranlassung,  dem  Bewusstsein  selbst  graduelle 
Unterschiede  zuzuschreiben ,   wie   wir  es  z.  B.  beim  Willen,  auch 


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371 

abgesehen  vcm  seinem  Inhalte,  thnn  müwen;  das  Princip  hat  sich 
also  auch  in  dieser  letzten  Probe  bewährt. 

Zum  Schlüsse  dieses  Capitels  drängt  sich  uns  die  Frage  auf: 
„was  ist  Einheit  des  Bewusstseins?"  Wir  können  natür^ 
iioh,  unseren  Grondsätsen  gemäss,  die  Frage  nur  yon  empirischer 
Seite  betrachten  ,*  so  dürfen  wir  uns  z.  B.  nicht  anf  die  Einheit  des 
zu  Grunde  liegenden  individuellen  Seelenwesens  beziehen,  weil  wir 
Ton  diesem  Seelenwesen,  seiner  Individualität  und  seiner  Einheit 
Doeh  gar  nichts  wissen,  sondern  im  Gegentheil  erst  durch  Beant* 
wortung  dieser  Frage  etwas  erfahren  können.  Ausserdem  werden 
die  Anhänger  einheitlieher  individueller  Seelen  zugeben  müssen, 
dasB  sogar  die  Einheit  des  Bewusstseins  in  eine  Mehrheit  streng 
gesonderter  und  völlig  unzusammenhängender  Bewusstseine  zerspal* 
t^  sein  kann,  während  sie  die  Einheit  der  diesen  verschiedenen 
Bewusstseinen  zu  Grunde  li^^enden  Seele  anerkennen  müssen,  ich 
erinnere  nur  an  solche  Beispiele,  wie  Jessen  in  seiner  Psychologie 
eines  anführt,  von  einem  Mädchen ^  das  nach  einem  soporartigen 
Schlafe  alle  Erinnerung  verloren  hatte  ohne  Schwächung  der 
Geistesfihigkeit  und  des  Lemvermögens.  Dieselbe  musste  wieder 
mit  dem  Alphabet  zu  lernen  anfangen.  Die  Anfalle  wiederholten 
sich,  und  nach  jedem  war  das  Gedächtmss  des  ietztvorhergehenden 
Lebensabschnittes  verschwunden,  während  das  des  nächstvorher* 
gehenden  ungeschwächt  dafür  wiedererschien,  so  dass  sie  stete  ihre 
Studien  so  aufnahm,  wie  sie  dieselben  vor  dem  vorletzten  Anfall 
verlassen  hatte.  Dieses  Beispiel  führt  nur  Erscheinungen  in  ecla- 
tanter  und  totaler  Form  vor,  die  man  in  schwächerem  Maasse  und 
partieller  Weise  überall  beobachten  kann.  JTur  da  können  wir 
eine  Einheit  des  Bewusstseins  zwischen  einem  vergangenen 
und  gegenwärtigen  Moment  anerkennen,  wo  in  der  Gegenwart 
die  Erinnerung  dieses  vergangenen  Momentes  vorhanden  ist,  oder 
wo  zum  mindesten  die  Möglichkeit  dieser  Erinnerung  unbehindert 
offen  steht.  Streng  genommen  kann  von  einer  wirklichen  oder 
aotuellen  Einheit  des  Bewusstseins  nur  bei  actuelier  Erinnerung 
die  Bede  sein,  während  bei  bloss  möglicher  Erinnerung  auch  die 
Einheit  des  Bewusstseins  eine  bloss  mögliche  oder  potentielle  ist. 

Sehen  wir  weiter  zu,  was  wir  an  der  actuellen  Erinnerung  haben, 
was  zu  einer  Vorstellung  dadurch  hinzukommt,  dass  ich  sie  als  eine 
bekannte  Yorstellung  oder  Erinnerung  weiss,  so  ist  es  nach 
Cap.  B.  Vn.  S!  237 — 239  ein  instinctives  Gefühl,  welches  in  seine  dis- 

24* 


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372 

curitven  Momente  zerlegt  folgende  Bedeutung  hat:  ich  habe  neben 
der  Hauptvorstellung  noch  eine  sehr  Tiel  schwächere,  durch  ersten 
angferegte  Nebenvorstellung,  welche  ich  als  mit  einer  ihr  gleichen 
trüberen  Yorstellung  in  causalem  Zusammenhange  weiss.  Ort  and 
Zeit  dieser  früheren  Yorstellung  kann  durch  die  im  Gedächtniflse 
anfauchenden,  begleitenden  Umstände  derselben  ebenfalls  fixiit 
werden. 

Es  ist  also  nichts  als  der  Vergleich  einer  gegenwärtigen 
luid  einer  vergangenen  Vorstellung,  worin  die  Einheit  des  Bewnsst- 
^cioa  zwischen  zeitlich  getrennten  Momenten  besteht;  die  MögUoh- 
ktit  dieses  Vergleiches  wird  dadurch  erreicdit,  dass  von  zwei 
gegenwärtigen  Vorstellungen  die  eine  die  Gegenwart,  die  an- 
dere die  Vergangenheit  darstellt,  und  Letzteres  wird  wieder  dadurch 
möglich,  dass  ich  die  gegenwärtige  Vorstellung  als  mit  einer  ver- 
gangenen ihr  gleichen  in  causalem  Zusammenhange  weiss.  Indem 
mm  von  den  zwei  Vorstellungen  die  eine  die  Vergangenheit  repiä- 
ei^ntirt,  so  fasst  das  Bewusstsein  in  dem  einheitlichen  Acte  des 
Vergleiches  die  Kepräsen tauten  des  gegenwärtigen  und  des  vergan- 
genen Bewusstseins  in  Eins  zusammen,  und  wird  sich  damit  der 
Einheit  des  Bewusstseins  für  jene  vergangene  und  die  gegenwärtige 
Yt Erstellung  bewusst.  Wenn  ich  nämlich  zwei  bewusste  Vorstellun- 
gen habe,  so  besteht  ein  Bewusstsein  der  einen  und  ein  Bewusst* 
seia  der  anderen  Vorstellung,  und  ich  würde  niemals  das  Recht 
haben,  eine  Einheit  dieser  beiden  Bewusstseine  zu  behaupten,  wenn 
ioli  sie  nicht  beweisen  könnte.  Indem  ich  aber  nun  beide  Vor- 
stellungen im  Vergleich  zusammenfasse,  so  hebe  ich  beide  Bewusst- 
ieine  in  dem  dritten  Bewusstsein  des  Vergleiches  auf,  und  habe  so 
ihre  Einheit  zur  immittelbaren  Anschauung  gebracht.  Der  Vep 
gleich  ist  also  das  Moment,  welches  den  Gedanken  einer  Einheit 
deti  Bewusstseins  allererst  möglich  macht,  und  mit  der  Möglichkeit 
des  Vergleiches  hört  auch  die  Möglichkeit  der  Bewusstseinseinheit  auf. 

Wie  wir  hier  den  Vergleich  über  die  Einheit  des  Bewusst- 
seins einer  vergangenen  und  einer  gegen wärtigen,  d.  h.  also  zeitlich 
getrennter  Vorstellungen  haben  richten  sehen,  so  richtet  er  auch 
über  räumlich  getrennte  Vorstellungen,  d.  h.  solche,  die  durch  ver- 
sehiedene  materielle  Theile  erregt  werden.  Ein  Menschenhim  hat 
eine  gewisse  Grösse,  und  die  Vorstellungen,  welche  an  einem  Ende 
de.^flelben  entstehen,  sind  viele  Zolle  weit  von  den  am  anderen  Ende 
toiatehenden  ab;  gleichwohl  zweifeln  wir  nicht  an  <Jer  Einlieit  de« 


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373 

Himbewnsstseios.  Der  Grund  ist  einflAoh  der,  das«  im  gesunden 
wachenden  Zustande  jede  irgendwo  im  Hirne  auftauchende  Yor- 
stellung  mit  jeder  anderswo  auftauchenden  verglichen  werden 
kann.  Dagegen  haben  die  YorsteUungen  des  Eückenmarkes  und  der 
Ganglien»  wie  sie  z.  B.  bei  Beflexbewegungen  u.  s.  w.,  bei  Yer- 
letzungen  der  Eingeweide  u.  dgL  nothwendig  existiren  müssen,  im 
Allgemeinen  keine  Einheit  des  Bewusstseins  mit  den  Himvorstel- 
lungen,  sie  haben  vielmehr  jede  ihre  gesonderte  bewusste  Exi- 
stenz, weil  sie  nicht  in  Einem  gemeinsamen  Bewusstseinsacte  des 
Yergleiches  au%ehoben  werden  können.  Nur  für  einige  starke 
Empfindungen  der  niederen  Nervencentra  tritt  diese  Yergleichbar- 
keit  ein,  und  damit  auch  insoweit  eine  Einheit  des  Bewusstseins, 
wie  sie  sich  im  Gemeingefühl  darstellt.  Wahrend  für  die  verscbie- 
denen  Nervencentra  eines  Organismus  diese  Bewusstseinseinheit  bei 
stärkerer  Erregung  des  einen  oder  des  anderen  hergestellt  wird, 
ist  sie  für  die  Nervencentra  verschiedener  Individuen  auf  keine 
Weise  herzustellen,  es  sei  denn  bei  theilweiser  Yerwachsung  zwei^ 
Organismen  durch  Missgeburt,  oder  zwischen  Mutter  und  Fötus,  wo 
sich  auch  Anklänge  solcher  Bewusstaeinseinheit  für  starke  Erregun- 
gen finden. 

Die  Ursache  dieser  Erscheinungen  liegt  auf  der  Hand. 
Im  Gehirne  gehen  ausser  den  besonderen  Commissuren  unzählige 
Nervenüasem  durch  die  ganze  Masse  und  stellen  eine  mannigfache 
innige  Yerbindung  jedes  Theilchens  mit  dem  andern  her;  das  Eücken- 
mark  hat  schon  viel  unvollkommenere  Yerbindung  mit  dem  Gehirn^ 
das  sympathische  Nervensystem  ist  nur  durch  den  einzigen  nercus 
vagus  mit  dem  Gehirne  verknüpft^  bei  zusammengewachsenen  Indi- 
viduen können  nur  mehr  oder  minder  zufallige  Yerwaohsungen  von 
mitergeordneten  Nervensträngen  stattfinden,  bei  getrennten  Indi- 
viduen fehlt  jede  Yerbindung.  Je  vollkommener  die  Leitung  zwi- 
schen den  functionirenden  Centralnervenparthien  ist,  desto  geringerer 
Erregung  bedarf  es  in  diesen,  um  die  Erregung  der  einen  bis  zu 
dei  anderen  ungeschwächt  und  ungetrübt  fortzupflanzen;  je  unvoll- 
kommener und  länger  die  Leitungswege,  desto  grösser  die  Leitungs- 
widerstände,  desto  stärker  müssen  die  Erregungen  sein,  wenn  sie 
bis  zur  anderen  Centralstelle  fortgepflanzt  werden  sollen,  und  desto 
unklarer  und  verwischter  langen  sie  dort  an.  Für  Denjenigen,  welcher 
Ui  das  unendliche  Durcheinander  der  physikalischen  Schwingungs- 
erscheinungen ohne  irgend  eine   gegenseitige  Störung  gewohnt  ist. 


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374, 

ktiuu  diese  Anschauungsweise  der  Nervenprocesse ,  wonach  jeder 
G«f danke  an  einer  Stelle  des  Hirnes  nach  allen  anderen  SteUen  des- 
ielbeu  gleichzeitig  telegraphirt  wird,  nichts  Auffallendes  haben;  es 
ist  unmöglich,  die  anatomische  Coostruction  des  Hirnes  mit  ihien 
zahllosen  Faserverbindungen  anders  als  so  zu  deuten.  Die  Lei- 
tungsfähigkeit  ist  es  also  in  der  That,  welche  die  Einheit 
des  Bewusstseins  bedingt,  und  mit  welcher  diese  propor- 
ÜQUäl  geht.  Wir  stellen  es  also  als  Grundsatz  hin:  Getrennte 
materielle  Theile  liefern  getrenntes  Bewusstseiuiein 
Satz,  der  sich  a  priori  ebenso  empfiehlt,  als  die  getrennten  Indi- 
Ticiaen  um  empirisch  bestätigen.  So  lange  die  australische 
Ameise  Ein  Thier  ist,  handelt  ihr  Vorder-  und  Hinterleib  mit  ein- 
ho  tlichem  Bewusstsein,  sobald  man  sie  zerschnitten  hat,  ist  die 
Bt^wusstseinseinheit  aufgehoben,  und  beide  Theile  kehren  sieh 
kämpfend  gegen  einander.  —  Wir  nehmen  femer  an:  Nur  dadurch 
wird  die  Vergleichung  zweier  an  verschiedenen  Orten  erzengtea 
Torstellungen  möglich,  dass  die  Schwingungen  des  einen  Ortes  mi- 
geächwäoht  und  ungetrübt  nach  dem  anderen  hingeleitet  werden; 
nur  durch  die  Vergleichung  beider  Vorstellungen  ist  die  Aufhebiuf 
ihrer  beiden  Bewusstseine  jn  das  einheitliche  Bewusstsein  des  Te^ 
■  glcLchungsactes  möglich,   mit  ihr  aber,  können  wir  hinzufügen,  ist 

H  sie  auch  eo  ipse  gegehei.     Die  Siamesischen  Zwiliuige  weigerten 

'  ibh,  mit  einander  Bretspiele  zu  spielen,  indem  sie  meinten,  diei 

wäre  so,  als  ob  die  rechte  Hand  mit  der  linken  spielen  sollte;  — 
drehte  man  sich  aber  die  Verbindung  der  Gehirne  zweier  Mensdien 
durch  eine  ebenso  leitungsCähige  Brücke  möglich,  als  die  zwischoi 
den  beiden  Hemisphären  desselben  Gehirnes  ist,  so  würde  hiermit 
sofort  ein  die  Gedanken  beider  Gehirne  umfassendes  gemeinschnft- 
lichea  und  einheitliohee  Bewusstsein  die  bisher  getrennten  Bewnaet- 
P  seine  beider  Personen  umfassen,  jeder  würde  seine  Gedanken  nicht 

mehr  Ton  denen  des  anderen  unterscheiden  können,  d.  h.  sie  wnideo 
sieh  zusammen  nicht  mehr  als  zwei  Ich's,  sondern  nur  noch  al* 
Eiö  Ich  wissen,  wie  meine  beiden  HimhemisphSren  sich  auch  nm 
als  Eiin  Ich  wissen. 


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IV. 
Das  Unbewisste  uid  das  Bewusstsein  im  Pfenzenreiche. 


Dk  Frage  nach  der  Beeeelung  des  Pflanzenreiches  ist  alt; 
«usaerhalb  des  Judenthums  und  Christenthums  ist  sie  fast  überall 
bejaht  worden.  Unsere  Zeit,  die  in  den  Ansohaoungen  der  letzteren 
beiden  aufgewachsen  ist^  und  die  vom  Christenthume  angerissene 
Kluft  zwischen  Oeist  und  Sinnlidikeit  noch  lange  nicht  wieder 
überbrückt  hat,  hat  mit  Mühe  die  Thiere  in  das  Bruderrecht  mit 
dem  Menschen  wieder  eingesetzt;  kein  Wunder,  dass  sie  bis  zur 
Anerk^inung  der  Pflanzenbeseelung  sich  noch  nicht  hat  erheben 
können,  da  ihre  Physiologie  auch  am  Thiere  die  organischen  Eunc- 
tionen  und  Beflexwirkungen  nur  als  materielle  Mechanismen  zu 
betrachten  gewöhnt  ist.  Am  besten  ist  die  Frage  von  Fechner  be* 
handelt  worden  in  der  Schrift  ,yNanna,  oder  über  das  Seelenleben 
der  Pflanzen,  Leipzig  1848%  wenn  auch  manches  Phantastische  mit 
unterläuft;  vgl.  femer  Schopenhauer  „Ueber  den  Willen  in  der 
Katur"  Cap.  Pflaiizenph3rBielogie;  und  Autenrieth  ,,  Ansichten  über 
Katar  und  Seelenleben".  Es  bleibt  mir  hier  theils  nur  ein  kurzer 
AusjKug  zu  geben,  theils  aber  auch  die  erheblich  grössere  Klarheit 
hervorzuheben  übrig»  welche  über  diese  ganze  Frage  durch  die  Un-» 
ierscheidung  unbewusster  und  bewusster  Seelenthäügkeit  yerbreitet 
wird.  Ich  bin  überzeugt^  dass  Mancher,  der  der  bisherigen  Behand- 
lungsweise  gegenüber  eine  verneinende  Stellung  behaupten  musste, 
yermittekt  der  gesonderten  Betrachtung  des  Unbewussten  und  des 
Bewuastaeins  sich  mit  der  Pflanzenbeseelung  aussöhnen  wird. 

1.  Me  mnbewisfle  Seelentiiitigkeii  der  FlUum.  Die  Pflanze 
hat  organische  Bildungsthätigkeit,  Naturheilkraft,  Beflezbewegungen, 
Instinot  und  Schönheitstrieb  wie  das  Thier;  und  wenn  in  dem 
Thiere  diese  Erscheinungen  als  unbewusste  Wirkungen  einer  Seele 


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376 


betrachtet  werden  müsseD,  sollten  sie  es  dann  bei  der  Pflanze  nicht 
auch  Bein  ?  Wenn  die  unbewussten  seelischen  Leistungen  der  Pflanse 
dch  nicht  zu  den  geistigen  Processen  des  Thieres  erheben,  sondern 
ganz  in  der  Leiblichkeit  versenkt  bleiben,  sollte  darum  ihre  8eele 
weniger  Seele  sein,  wenn  das,  was  sie  leistet,  in  ihrem  Gebiete 
ebenso  vollkommen  ist,  als  was  das  Thier  in  dem  seinigen,  ja  sogar 
Tiel  höher  steht ,  weil  sie  die  widerspenstigen  unorganischen  Stoffe 
za  höheren  und  höheren  organischen  Stufen  hinaufbildet,  während 
dac)  Thier  im  Ganzen  nur  ihre  aaturgemässe  Rückbildung  leitet  nnd 
überwacht  ?     Betrachten  wir  die  einzelnen  Momente  der  Beihe  nach. 

a)  Die  organische  Bildungsthätigkeit;  sie  arbeitet  wie 
beim  Thiere  nach  einer  typischen  Gattungsidee,  welche  zwar  in 
Betrofi  der  Zahl  der  Aeste,  Blätter  u.  s.  w.  einen  grossen  Spiel- 
raum läset,  aber  nichtsdestoweniger  doch  völlig  bestimmt  ist  in 
dem  Gesetze  der  Stellung  der  Blattform,  Bliithe  und  inneren  Stmctor. 
Zwar  kimn  mm  die  Pflanzen  theilen,  wie  man  niedere  Thiere 
theilen  kann,  so  dass  jeder  Theil  noch  die  Fähigkeit  besitzt,  den 
TjpuB  wieder  aus  sich  zu  vervollständigen;  aber  wie  bei  den 
Thierein,  so  ist  auch  bei  den  Pflanzen  das  Theilen  keines weges  un- 
beiäcliTänkt,  wenn  eine  Ergänzung  möglich  bleiben  solL  Auch  bd 
der  Pflanze  stehen  alle  Theile  in  Wechselwirkung;  jeder  der  Erde 
nähere  Theil  verarbeitet  die  Stoffe  gerade  so,  wie  der  nächstfemere 
Theil  sie  zur  Weiterverarbeitung  erhalten  muss ;  eine  Bichenwurxel 
würde  nie  eine  Buche,  eine  Tulpenzwiebel  nie  eine  Hyacinthe  er- 
nähren; es  findet  auch  bei  der  Pflanze  ein  harmonisches  Ineinan- 
derwirken  aller  Theile  statt;  und  nur  dies  kann  zu  dem  Ziele  der 
Barste  11  ung  des  G^ttungstypus  in  allen  der  Zeit  nach  auf  einander 
folgenden  Entwickelungsstufen  führen. 

Wenn  man  im  Winter  einen  Ast  eines  im  Freien  stehenden 
Baumes  in  ein  -Treibhaus  leitet,  so  entwickelt  dieser  seine  Blätter 
und  Blumen,  während  der  übrige  Baum  erstarrt  bleibt.  Das  hierro 
vom  Baiime  gebrauchte  Wasser  saugen  die  Wurzeln  auf,  wie  die 
Beobachtung  nachweist,  also  sind  diese  durch  vermehrte  Lebea»- 
thätigkeit  eines  Astes  zu  vermehrter  Aufsaugung  angeregt  worden 
(Pecaudolle,  Pflanzenphysiologie,  I.  76).  Wie  weit  eine  direote  Yer- 
bindung  durch  Leitung  zwischen  den  einseinen  Pflanzentheilen  vor- 
handen ist,  wissen  wir  nicht,  obwohl  die  Spiralgefasse  darauf  hin- 
audeijten  scheinen,  aber  wir  wissen  ebensowenig  beim  Thiere,  in 
wieweit   das    harmonische    Ineinandergreifen    der    Leistungen   der 


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einzelnen  Theile  durch  Leitung  vermittelt,  und  in  wieweit  es  ein 
unmittelbar  helkehendes  ist,  wie  das  der  Individuen  im  Bienen- 
oder AmeiseuBtaate.  Die  Fortpflanzung  geschieht  in  Thier-  und 
Pflanzenreich  ganz  nach  denselben  Frincipien,  durch  Zellentheilung, 
Sporen-  oder  Knospenbildung»  und  geschlechtliche  Zeugung;  die 
Gleichheit  in  beiden  Gebieten  ist  namentlich  in  den  ersten  Stadien 
der  Zeugung  so  schlagend,  dass  ganz  dieselben  Ghründe  zur  Annahme 
eines  unbewusstpsychischen  Einflusses  bei  Entstehung  der  Pflanze 
wie  bei  Entstehung  des  Thieres  nöthigen. 

Die  embryonischen  Zustände  gehen  freilich  hernach  sehr  bald 
auseinander,  wie  es  nach  der  Yerschiedenheit  der  zu  erzeugenden 
Typen  nicht  anders  zu  erwarten  ist;  aber  bei  beiden  ist  die  fort- 
schreitende Eniwickelung  ein  unausgesetzter  Kampf  der  organisiren- 
den  Seele  mit  dem  Zersetzungs-,  Eückbildungs-  und  Formzerstörungs- 
streben der  materiellen  Elemente.  Nur  durch  stetes  Verhindern 
dieser  Bückbildimgsprocesse  und  unaufhörlich  neues  Herstellen  der 
zur  Fortbildung  treibenden  Umstände  ist  die  Bewältigung  der  form- 
losen, unorganischen  zur  geformten,  organischen  Materie,  und  die 
Yerwirklidiung  einer  neuen  höheren  Stufe  des  Gattungstypus  in 
jedem  Momente  möglich.  Jede  einzelne  Zelle  ist  dabei  thätig,  denn 
ans  der  Summe  der  lebendigen  Zellen  besteht  der  lebendige  Theil 
jeder  Pflanze,  wie  jedes  Thieres,  nur  dass  bei  den  Thieren  im 
Durchschnitt  die  Formveränderungen  und  Verwachsungen  der  Zellen 
etwas  weitgreifender  sind,  und  die  von  den  Zellen  aus  abgesonderte 
und  ernährte  Interoellularsubstanz  reichlicher  ist.  Die  Zelle  ist  das 
chemische  Laboratorium  für  die  Bereitung  der  yersohiedenen  orga- 
nischen Verbindungen,  die  Theilung  und  Verwachsung  der  Zellen 
sind  die  alleinigen  Mittel  für  die  Herstellung  der  äusseren  Gestalt. 
Dabei  ist  eine  eben  so  strenge  Arbeitstheilung  wie  im  Thiere 
durchgeführt,  die  eine  Art  Zellen  hat  diesen  Stofl  zu  bilden,  eine 
andere  jenen ;  wie  im  Thiere  sich  die  Zellen  zu  Knochen,  Muskeln, 
Sehnen,  Nerven,  Bindegewebe  xmd  Epithelialzellen  ausbilden,  so  in 
der  Pflanze  zu  Mai^ellen,  Holzzellen,  Bastzelleo,  Saftzellen,  Stärk- 
mehlzellen  u.  s.  w.  Jede  Zelle  nimmt  nur  di^enigen  Stoffe  durch 
Resorption  der  Wände  auf,  die  sie  brauchen  kann,  oder  wenn  sie 
noch  andere  aufgenommen  hat,  so  giebt  sie  diese  unbenutzt  weiter. 
In  jeder  einzelnen  Zelle  findet  ein  Saftkreislauf  statt,  und  in  der 
ganzen  Pflanze  ebenfalls.  Zwar  sind  keine  offenen  Gefasse  vor- 
handen, sondern  der  Saftlaul  wird  darch  die  Endosmose  und  Ezos- 


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moeo  der  einzelnen  Zellen  vermittelt,  aber  dennoch  ündet  ein  voll- 
kommen  er  Kreislauf  von  auf-  und  absteigenden  Säften  statt,  eben 
ao  wie  ein  solcher  Kreislauf  in  allen  den  Theilen  des  thienschen 
EÖrpera  stattfindet,  wo  ernährende  Gefasse  fehlen,  z.  B.  in  dem 
hinfälligen  Theile  des  Nabelstranges,  den  Knochen,  Sehnen,  Horn- 
haut u,  s.  w.,  oder  mit  welchen  die  nährenden  Gefässe  nicht  direct 
in  Berührung  stehen.  Haies  kittete  an  dem  oberen  Ende  eines 
7  Zoll  langen  beschnittenen  Weinstockes  eine  Bohre  an;  bei  den 
ersten  Versuche  betrug  die  Höhe  des  aus  der  Schnittfläche  in  die 
Bohre  aufgestiegenen  Saftes  21  Fuss,  bei  dem  zweiten  wurde  oben 
eingegossenes  Quecksilber  38  Zoll  hoch  gehoben.  Haies  berechnet 
füeraus  die  Kraft  des  aufsteigenden  Saftes  gleich  dem  Fünfiachen 
von  der  Kraft  des  Blutes  in  der  Schenkelschlagader  eines  Pferdes. 
Man  siebt,  was  bei  dem  höheren  Thiere  Wirkung  des  Herzens  ist, 
ißt  bei  der  Pflanze  Summe  der  vereinigten  Besorptionswirkungea 
alUr  Safizellen.  Dieser  Unterschied  kehrt  häufig  wieder,  dass  die- 
selben Wirkungen  im  Thiere  durch  Centralisation,  in  der  Pflaose 
durch  Becentralisation ,  im  Thiere  monarchisch ,  in  der  Pflanse 
republikanisch  hervorgebracht  werden.  Aber  bloss  mechanisch  ist 
die  Kesorption  durch  die  Zellen  auch  keineswegs,  sie  geschieht 
vielmehr  mit  Auswahl  der  Sichtung  und  des  Stofles,  denn  sonst 
konnte  eben  kein  Kreislauf  und  keine  Yertheilung  der  Nährstoffe 
an  verschiedene  Zellen  stattfinden. 

Auch  an  organischer  Zweckmässigkeit  hält  das  Pflanzenreich 
den  Vergleich  mit  dem  Thierreiche  aus,  es  ist  sogar  Vieles,  was 
bei  den  Thieren  der  Instinct  besorgt,  von  den  Pflanzen  wegen  ihrer 
gröiseren  Schwerfölligkeit  durch  organische  Mechanismen  vorgesehen, 
welche  selbst  wieder  nur  durch  unbewusst  psychische  Thätigkeit 
hergestellt  sein  können«  Auch  hier  sind  die  üebergänge  derartf 
dasd  KIT  das,  was  Mechanismen  und  was  Instincte  sind,  nicht  immer 
scliarf  trennen  können. 

Zunächst  eine  Beihe  von  Erscheinungen  zur  besseren  Ernährung 
der  Pfiaoze  durch  Festhalten  verwesender  thierischer  Stoffe.  Die 
verwachsenen  Blätter  der  gemeinen  Weberdistel,  Dipsacus  fiälonum 
bilden  um  den  Stamm  her  eine  Art  von  Becken,  welches  sich  mit 
RegeuwaBser  füllt  und  in  dem  oft  viele  zufallig  ertrunkene  Insecten 
gefuDden  werden;  ähnlich  ist  es  bei  einer  tropischen  Sohmaiotcer* 
pflanze  £  TiUandsia  ulrioulata.  Die  Sarraoenien  haben  Blätter, 
welche  seitlich  zusammengerollt  eine  Tute  bilden,  und  zum  Theile 


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mit  Deckeln  versehen  sind;  kurze ,  steife  Haare  verhindern  trin* 
kende  Insecten  an  der  Rückkehr  aus  der  wasserhaltenden  Tute. 
Nepenthes  de^düatoria  hat  die  Urne  mit  Deckel  als  Anhang  der 
flachen  Blätter.  I^e  sohüesst  den  Deckel  hei  Nacht  und  sondert 
Büssliches,  die  Insecten  anlockendes  Wasser  ah,  welches  hei  Tage 
aus  der  offenen  Urne  allmälig  wieder  verdunstet.  Das  Süsse  des 
Wassers  wird  durch  haarformige,  drüsige  Ausscheidungsorgane  he- 
wirkt  Dionaea  muadptda  hat  einen  lappenförmigen,  getheilten 
Anhang  an  jedem  Blatte,  welcher  dicht  mit  kleinen  Drüsen ,  mit 
sechs  Stacheln  in  der  Mitte  und  horstigen  Wimpern  am  Bande  be- 
setzt ist.  Sowie  sich  ein  von  dem  Saft  angelocktes  Insect  auf  die 
beiden  Lappen  setzt,  klappen  diese  zusammen  und  öffnen  sich  erst 
wieder,  wenn  das  Thier  ganz  ruhig  geworden,  d.  h.  wenn  es  todt 
ist.  Gurtis  fand  zuweilen  die  gefangene  Fliege  in  einer  schleimi- 
gen Substanz  eingehüllt,  welche  auf  dieselbe  auflösend  zu  wirken 
schien.  Der  Sonnenthau,  Drosera y  hat  borstenartige,  hochrothe 
Haare  auf  den  Blättern,  deren  jedes  mit  einer  Drüse  endigt,  aus 
welcher  bei  heissem  Wetter  eine  kleine ,  klebrige  Saftperle  aus- 
schwitzt. Dieser  klebrige  Saft  hält  kleinere  Insecten  fest,  die 
Haare  krümmen  sich  schnell  über  demselben  zusammen  und  all- 
mälig biegt  sich  das  ganze  Blatt  mit  der  Spitze  gegen  die  Basis 
um.  (A.  W.  Both,  Beiträge  zur  Botanik,  1.  Thl.  1782.  S.  60). 
Dieser  Saft  ist  zugleich  giftig  für  die  Insecten  (auch  für  Schafe 
uiigesaud),  und  ersetzt  dadurch,  was  der  Pflanze  an  schneller  Eeiz- 
barkeit  abgeht.  Both  fiänd  öfters  im  Freien  zusammengebogene 
Blätter  des  Sonnenthaues,  welche  jedesmal  mehr  oder  weniger  ver- 
weste Insecten  einschlössen.  „Würde  man  sich  vorstellen,  es  be- 
fSxAeü  sich  in  einem  Sumpfwasser  kleine  in  eine  hohle  Röhre  zu- 
sammengezogene schlauchartige  Blätter  mit  offener  Mündung,  an 
deren  Bande  reizbare,  haarähnliche  weiche  Fäden  wären,  während 
die  Mündung  zugleich  giftig  auf  kleine  Thiere  wirkte  und  die  innere 
Fläche  der  cylindrischen  Eöhre  zur  Einsaugung  geeignet  wäre ;  ein 
kleines  Wasserinsect  oder  ein  kleiner  Wasserwurm  berührte  die 
reizbaren  Haare,  die  um  ihn  sich  krümmend,  denselben  an  die 
Mündung  der  einsaugenden  Höhle  brächten,  wobei  er  aber  bald 
^hirch  das  Gift  derselben  getödtet  und  nun  in  die  Höhlung  des 
Blattes  au^enommen  würde;  so  hätte  man  ein  Bild,  das  aus  dem 
der  taten-  oder  umenförtnigen  Blätter  der  Sarracenia  und  Nepen- 
thes, aus  der  Eeizbarkeit  der  Blattanhänge  der  Dioaaea,  und  dem 


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Bilde  der  ebenfells,  wenn  gleich  schwächer,  reizbaren,  dafür  aber 
Gift  absondernden  Haare  der  Drosera  zusammengesetzt  wäre.  Mas 
hat  aber  damit  auch  das  wirkliche  Büd  von  der  Einrichtong  eines 
kleinen,  durch  seinen  Instinct  merkwürdigen  Thieres,  des  grünen 
Armpolypen  des  süssen  Wassers,  Hydra  viridis  i."  (Autenrieth), 
denn  auch  die  Mundberührung  dieses  Geschöpfes  wirkt  giftig. 
Das&  solche  Pflanzen  durch  von  den  Blättern  resorbirte  animalische 
Yerwesungsproducte  wirklich  üppiger  wachsen,  ist  bei  der  Dionaea 
experimentell  nachgewiesen. 

Am  Wunderbarsten  sind  auch  bei  den  Pflanzen  diejenigen 
Kinrichtungen,  die  der  geschlechtlichen  Fortpflanzung  dienen.  Bei 
stehenden  Blüthen  sind  im  Allgemeinen  die  Staubgefasse  länger  als 
der  Stempel,  bei  hängenden  umgekehrt.  Wo  die  Pollenkömer  nicht 
ohne  Weiteres  auf  die  Narbe  fallen  können,  und  der  Wind  nicht 
aiifiroicht,  sie  dahin  zu  tragen,  müssen  Insecten  die  Yermittelung 
übernehmen.  Darum  die  anlockenden  lichten  Farben  der  Blüthen, 
dariim  ihr  weitreichender  Duft,  der  immer  zu  der  Ta^szeit  am 
stärksten  sich  entwickelt,  wo  die  für  diese  Blüthe  geeignetsten  In- 
secten schwärmen;  darum  der  süsse  Saft  auf  dem  Grunde  der 
Blüthe,  welcher  das  naschende  Thier  tief  genug  hineinzukriechen 
zTS'ingt,  so  dass  es  mit  seinem  meist  borstigen  Leibe  die  Pollen- 
küriier  abwischt,  welche  dann,  sei  es  in  derselben,  sei  es  in  einer 
anderen  Blüthe,  auf  der  Narbe  kleben  bleiben.  Bei  den  Asklepiap 
deeii  imd  Orchideen  kleben  die  Pollen  durch  einen  vogelleimartigen 
Kfo0  den  Insecten  an.  Aristolochia  clematitis  hat  eine  bauchige 
Blüthe  mit  einem  engen  Eingange,  welcher  durch  abwärts  gerichtete 
Haare  den  hineingekrochenen  kleinen  Schnacken  den  Ausgang  Ter- 
wehrt.  Dieselben  schwärmen  so  lange  in  ihrem  Geföngniss  herumi 
bis  sie  mit  ihren  befiederten  Fühlhörnern  den  Pollenstaub  abge- 
streift und  auf  die  Narbe  gebracht  haben.  Gleich  nach  der  Be- 
frachtung fangen  die  Haare  an  zu  vertrocknen  und  abzufallen,  und 
erlösen  die  Fliegen  aus  ihrem  Kerker.  —  Wenn  die  Pollenkömer 
iiȣ6  werden,  so  dehnen  sie  sich  aus  und  platzen,  dann  ist  die  Be- 
fraehtimg  unmöglich.  Auf  diese  Art  wird  regnige  Witterung  bei 
dem  Blühen  des  Obstes  und  des  Kornes  diesen  sehr  naohtheilig. 
Die  Vorkehrungen  der  Blüthen ,  um  der  Nässe  zu  entgehen,  sind 
sehr  mannigfach.  Beim  Weinstook  und  den  Bapunzelarten  geschieht 
die  Befruchtung  unter  dem  Schutze  der  mit  ihren  Spitzen  yerbun- 
doiiea   Blumenblättern,    bei    den   Leguminosen    gewährt  denselben 


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Schutz  die  Ysiime  (vejnllum)^  bei  den  Labiaten  die  Oberlippe  der 
Blumenkrone,  bei  den  Kalyptranthes- Arten  der  deckelförmige  Kelch. 
Viele  Pflanzen  schliessen  ihre  Blnmenkrone,  wenn  es  regnen  will 
(dies  ist  schon  Instinct),  viele  auch  des  Nachts  gegen  den  Thau; 
andere  bengen  znr  Nacht  die  Blmnenstielchen  um,  so  dass  die  offene 
8eite  der  Krone  abwärts  gekehrt  ist!  Impatiens  noli  me  längere 
verbirgt  sogar  Nachts  seine  Blumen  unter  den  Blättern.  Bei  den 
meisten  Wasserpflanzen  wird  die  trockene  Befruchtung  dadurch  er- 
möglicht, dass  sie  nicht  eher  blühen,  als  bis  ihre  Stengel  die  Ober- 
fläche des  Wassers  erreicht  haben.  Das  am  Grunde  des  Meeres 
befestigte  Meergras  blüht  in  Blattfalten,  welche  zwar  seitlich  offen 
sind,  aber  den  Zutritt  des  Wassers  durch  abgesonderte  Gase  ver- 
hindern. Der  Wasserhahnenfuss  (Ranuneidus  aquaticus) ,  dessen 
Blüthen  bei  hohem  Wasserstande  überschwemmt  werden,  schützt 
sich  dadurch,  dass  der  Blumenstaub  zu  einer  Zeit  aus  den  Staub- 
beuteln heraustritt,  wo  die  Blume  noch  eine,  geschlossene  Luft 
haltende,  Knospe  ist.  Die  Wassemuss,  Trapa  natanSy  lebt  auf  dem 
Boden  des  Wassers  bis  zur  Blüthezeit,  wo  die  zu  einer  Art  Blatt- 
rose  neben  einander  gestellten  Blattstiele  zu  zelligen,  mit  Luft  an- 
gefüllten Blasen  anschwellen,  und  die  ganze  Pflanze  an  die  Ober- 
fläche des  Wassers  heben.  So  findet  die  Blüthe  und  Befruchtung 
an  der  Luft  statt;  ist  dies  vorüber,  so  füllen  sich  die  Blasen  mit 
Wasser,  und  die  Pflanze  sinkt  wieder  zu  Boden,  wo  sie  dann  ihren 
Samen  zur  Reife  bringt.  Noch  complicirter  ist  die  Einrichtung  der 
XJtricula  -  Arten  zu  demselben  Zwecke.  Ihre  stark  verzweigten 
Wurzeln  sind  mit  einer  Menge  kleiner  rundlicher  Schläuche  (utriculi) 
besetzt,  welche  eine  Art  beweglicher  Deckel  besitzen  und  mit  einem 
Schleim  erfüllt  sind,  der  schwerer  als  Wasser  ist.  Durch  diesen 
Ballast  wird  die  Pflanze  am  Grunde  des  Wassers  zurückgehalten,  bis 
zur  Blüthezeit  der  Schleim  durch  abgesonderte  Gase  verdrängt  wird. 
Nun  steigt  sie  langsam  bis  an  die  Oberfläche,  vollzieht  das  Blühen 
und  die  Befruchtung  und  wird  alsdann  wieder  hinabgezogen,  indem 
die  Wurzel  abermals  Schleim  absondert,  welcher  nun  seinerseits  die 
Luft  aus  den  Schläu&hen  verdrängt.  (Decandolle,  Pflanzenphysio- 
logie, n.  87.)  Die  Vallisnerie  ist  eine  auf  dem  Grunde  festge- 
wachsene Wasserpflanze  von  getrenntem  Geschlecht  (Diöcist).  Die 
Blüthe  der  weiblichen  Pflanze  sitzt  auf  einem  langen,  schrauben- 
förmig gewundenen  Stiel,  der  sich  später  streckt  und  so  die  Blüthe 
über  Wasser  hebt.     Die  männliche  Pflanze  hat   einen  gerade  auf- 


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BtJ'eb enden  Schaft.  Die  vierblätterige  Blüthenscheide  wird  durch 
weitere  Ausdehnung  der  inneren  Theile  in  vier  Stücke  zersprengt, 
und  nun  schwimmen  die  männlichen  Befruchtnngsorgane  2u  Tau- 
senden frei  auf  dem  Wasser  herum.  Sobald  eine  weibliche  Blntbe 
Yon  ihnen  befruchtet  ist,  zieht  sich  deren  Stengel  wieder  spiral- 
törmig  zusammen  und  so  werden  unten  die  Samen  zur  fieife  ge> 
bratht.  —  Auch  bei  SerpictUa  verticillata  lösen  sich  die  dem  Auf- 
Ijrechen  nahen  männlichen  Blütben  aus  den  geöffneten  Blüthen- 
sobeiden  ab  und  schwimmen  zu  den  weibliehen  hin,  wobei  sie  aof 
den  Spitzen  der  zurückgeschlagenen  Kelch-  und  Kronenblätter  rahen. 
,,Die  reifen  Samenkörner  schnellt  künstlich  die  eine  Pflanzenart 
durch  die  Elasticität  der  von  selbst  aufspringenden  Behälter  weit  umher. 
Die  Orannen  des  Flughabers  sind  dagegen  schraubenförmig  gewnn- 
d(?D^  und  so  hyproskopisch,  dass  der  erste  Eegen  sie  aufwickelt  uod 
dikii  dadurch  rückwärts  fortgeschobene  Korn  zwingt,  sich  kriechend 
uuter  die  nächste  Scholle  zu  verbergen,  und  so  sich  selbst  zum 
künftigen  Keimen  unter  die  Erde  zu  bringen.  Andere  Pflanzen- 
tarnen  eind  mit  Elügeln  oder  Eederkronen  versehen,  um  durch  die 
Luft  fortgetragen  zu  werden;  ja  andere  haben  Häkchen,  um  an 
^orüb (ergehende  Thiere  sich  zu  heften,  damit  sie  durch  diese  wieder 
an  andere  Orte  abgestreift  werden  können."  (Autenrieth  151.)  Viele 
Barnen  uxnhüllen  sich  zum  Schutze  mit  einer  harten  Schale,  nnd 
um  von  Thieren  gefressen  und  forttransportirt  zu  werden,  wobei  sie 
in  ihrem  Kotho  gleich  Dünger  zu  finden,  umgeben  sie  sieh  mit 
»chnmokhaftem  Pleisch  (Steinobst,  Weintrauben,  Stachelbeeren, 
Johaimisbeeren  u.  s.  w.)  oder  sie  umgeben  peripherisch  einen  fla- 
fchigen  Kern  (Erdbeeren  u.  s.  w.).  Die  Samenkörner  von  Wasser- 
pilan2en  sind  gewöhnlich  schwerer  als  Wasser  und  fallen  somit  auf 
dessen  Boden,  die  der  meisten  hohen  Bäume  dagegen  sind  leicht 
und  wtsrden  auf  Wasserflächen  schwimmend  durch  Wind  und  Stri)- 
mung  weithin  an  neue  Standorte  txansportirt.  Der  Manglebaam 
(Rkimphora  mangle)  wächst  an  Flussmündungen  und  flachen  Mee- 
resufern  im  Sohlamme,  soweit  derselbe  von  salziger  Fluth  überdeckt 
wird ,  gedeiht  also  nur  auf  einem  schmalen  Striche ,  weshalb  die 
Bamün  neben  den  Mutterbäumen  festen  Fuss  fassen  müssen.  Auf 
dem  Fmchtboden  der  Blüthe  dieses  Baumes  erzeugt  sich  nun  all- 
mälig  ein  fleischiges  hohles  Gewächs ,  von  welchem  der  Same  mit 
Hülfe  feines  IV2  Zoll  langen  Stieles  soweit  hinausgeschoben  wird, 
dass   er   nach  fast   einem  Jahre   senkrecht  herabhängt     Der  Same 

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selbst  ist  zehn  Zoll  lang,  gegen  dae  freie  Ende  dicker  und  schwe- 
rer, aber  mit  einer  p^emenformigen  Spitze  endigend;  innerhalb 
seiner  Hülle  keimt  derselbe  nnd  entwickelt  schon  eine  bedeutende 
Wurzel.  Durch  seine  Gestalt  und  Schwere  durchdringt  der  ab- 
fallende Scuoae  drei  bis  vier  Fuss  Wasser  und  Schlamm  und  dringt 
noch  einen  Zoll  weit  in  den  Boden  ein,  wo  er  sich  dann  mit  seiner 
Wurzel  bald  befestigen  kann.  Diese  Beispiele  mögen  genügen,  um 
zu  zeigen,  dass  auch  die  Pflanzenseele  in  der  Herstellung  zweck- 
mäBfiiger  Kechanismen,  deren  Zweck  sogar  zum  Theil  ziemlich  ent- 
fernt Hegt,  ganz  Wunderbares  leistet. 

b)  Naturheilkraft.  Die  Thiere  haben  jedes  Organ  nur 
gerade  so  oft,  als  der  ganze  Organismus  zu  seinem  Bestehen  es 
bratioht;  daher  das  Bestreben,  ein  verloren  gegangenes  in  derselben 
Weise  zu  ersetzen.  Die  Idee  der  Pflanze  fordert  eine  numerisch 
unbeschränkte  Wiederholung  derselben  Organe,  weshalb  auch  ein 
theilweiser  Verlust  gewöhnlich  nicht  dem  Bestände  des  Gbinzen 
gefährlich  wird.  Hier  ist  also  kein  Grund  vorhanden,  die  verloren 
gegangenen  Theile  an  derselben  Stelle  und  in  derselben  Weise 
wieder  zu  ersetzen,  da  die  Pflanze  es  viel  leichter  hat,  den  Ersatz 
an  anderen  Stellen  durch  die  schon  vorhandenen  Knospen  zu  leisten. 
Nichtsdestoweniger  giebt  es  Gelegenheiten  genug,  um  zu  sehen, 
dasB  auch  in  der  Pflanze  die  Naturheilkraft  vorhanden  ist;  man 
braucht  nur  einer  Pflanze  eine  gewisse  Classe  von  Organen  zu 
rauben,  die  zu  ihrem  Bestehen  nöthig  ist,  z.  B.  alle  Wurzeln,  so 
wird  sie  sofort  neue  Wurzeln  treiben,  oder  sterben,  wenn  sie  dazu 
nicht  mehr  die  Kräfte  hat.  Auch  der  Vemarbungsprocess  von  Ver- 
wundungen oder  Trennungsfläohen  ist  ganz  analog  dem  bei  Thieren. 

]^dlich  ist  bei  der  Pflanze  wie  beim  Thiere  das  ganze  Leben 
eine  unendliche  Summe  unendlich  vieler  Naturheilkraftsacte,  da  in 
jedem  Momente  die  zerstörenden  physikalischen  und  chemischen 
Einflüsse  paralysirt  und  überboten  werden  müssen. 

c)  Reflexbewegungen.  Die  Physiologen  unterscheiden 
BefLexbewegung  und  „einfache  Reizerscheinung  contractilen  Gewe- 
bes"; dies  ist  richtig,  wenn  man  nach  dem  Orte  fragt,  wo  die 
Reflexion  des  Reizes  in  Bewegung  stattfindet,  ob  nämlich  der 
Reactionsheerd  an  der  gereizten  Stelle  selbst  oder  an  einer  anderen 
liegt;  falsch  aber  ist  es,  hierin  einen  Unterschied  des  Principes 
finden  zu  wollen.  Das  Wesentliche  des  Reflexes  ist  in  beiden 
Fällen   Umsatz   eines    einwirkenden  Reizes  in  reactive  Bewegung; 


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384 

eine  absolute  Beschränkung  auf  den  gereizten  Punot  findet  dabei 
nit^mtils  statt;  ob  aber  die  Leitung  ein  wenig  weiter  föhrt  oder 
nichts  kann  keinen  Unterschied  des  Frincipes  begründen.  Daa^  was 
eine  reactive  Bewegung  zur  Reflexwirkung  stempelt,  ist  nur  die 
Ihi^fulänglichkeit  allgemein  gültiger  Naturgesetze  zu  ihrer  Reryat- 
bringung;  nur  wo  wir  mit  solchen  uns  begnügen  können  (z.  B.  in 
Elustioität,  chemische  Eeaction),  nur  da  kann  man  die  Beflexwirkung 
laugnen,  deren  Inwendiges  eine  unbewusst  -  psychische,  eine  instino- 
tive  Reaction  ist.  Ob  ein  Eeflex  durch  Nerven  und  Muskebi  ver- 
mittelt wird,  oder  durch  andere,  diese  ersetzende  Mechanismen, 
kann  ebensowenig  einen  principiellen  Unterschied  rechtfertigen. 

Wenn  man  das  Wasser,  in  dem  ein  Polyp  wohnt,  erschüttert, 
^0  zieht  sich  dieser  in  einen  Knäuel  zusammen;  dies  wird  Jeder- 
mann Keflex Wirkung  nennen,  gleichviel  ob  künftig  in  der  gleich- 
förmig schleimigen  Masse  des  Polypen  noch  Nerven  und  Muskeln 
aiit  gefunden  werden  mögen  oder  mcht;  und  wenn  die  Mimosa  pu- 
tlica  vom  Tritt  des  Vorübergehenden  erschüttert  mit  ihren  Blättern 
auii&mmenkriecht,  so  sollte  dies  nicht  Be£exwirkung  sein?  Wenn 
diu  gereizte  Penis  durch  Aenderung  der  Blutcirculation  in  Erection 
kommt,  so  wird  dies  als  Beflexbewegung  anerkannt,  und  bei  den 
Pflanzen  sollte  die  veränderte  Saftcirculation  nicht  ein  ebenso  voll- 
gtlltiges  Mittel  zu  Reflexbewegungen  sein?  Denn  der  anhaltend 
Hehnellen  Bewegungen,  zu  welchen  das  Thier  seine  Muskeln  braucht, 
ir^t  ja  die  Pflanze  nicht  benöthigt;  also  wären  Muskeln  für  sie  ein 
urmützer  Luxus.  Beim  Thiere  gilt  als  Zeichen  des  Reflexes,  dass 
ungefähr  dieselbe  Reaction  eintritt,  ob  man  einen  mechanischen, 
c>Le mischen,  thermischen,  galvanischen  oder  electriscben  Reiz  an- 
ueade;  dasselbe  ist  aber  auch  bei  Pflanzen  der  Fall,  während  todte 
^1  t'chanismen  nur  auf  einen  ganz  bestimmten  Reiz  zu  antworten 
pflegen.  Starke  electrische  Schläge  vernichten  thier ische  wie  pflanz- 
lii'hc  Reizbarkeit.  Steckt  man  durch  den  Stiel  einer  Berberis- 
Blume  eine  mit  dem  positiven  Pole  einer  galvanischen  Batterie 
verbundene  Nadel,  und  verbindet  den  Draht  des  negativen  Poles 
mit  einem  Blumenblatte  durch  ein  leise  aufgelegtes  feuchtes  Papier- 
stückchen, so  schnellt  im  Momente  der  Schliessung  der  Kette  der 
zu  dem  Blatte  gehörige  Staubfaden  zum  Pistill  über.  Wechselt  man 
dit'  Pole,  so  ist  der  Strom  weniger  wirksam,  gerade  vne  thier  ische 
i' ritparate  kräftiger  reagiren,  wenn  der  negative  Pol  mit  dem  peri- 
]  limschen   Ende   verbunden   ist.      Bei    Oeffnung   der  Kette  findet, 


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386 

ebenso  wie  bei  Frosohschenkeln ,  keine  Bewegung  statt.  Ein  ge- 
reizter thierischer  Theil  kehrt  bei  Wegfall  des  Eeizes  langsam 
in  seine  Stellung  zurück ;  so  zieht  eine  gereizte  Auster  oder  Polyp 
sich  schnell  zusammen ,  aber  öfEhet  sich  langsam.  Eine  Wieder- 
holung des  Beizes  stumpft  die  Beizbarkeit  ab.  Buhe  stellt  sie  wie- 
der her.  Die  Beizbarkeit  äussert  sich  femer  nach  Gesundheitszu- 
stand, Alter,  Oeschlechtsyerhältnissen 9  Jahreszeit,  Witterung  und 
anderen  äusseren  Umständen  verschieden.  Alles  dieses  ist  bei  Pflan- 
zen gerade  so  wie  bei  Thieren. 

Die  Beflezbewegungen  der  Dionaea  muaciptda  habe  ich  schon 
oben  erwähnt;  setzt  sich  auf  ein  Blatt  derselben  ein  Inseot, 
so  wird  es  daselbst  zuerst  durch  Umlegen  der  Haare  festgehal- 
ten, und  erst  allmalig  rollt  sich  das  ganze  Blatt  um.  Hier 
haben  wir  auf  einfachen  Beiz  an  einer  Stelle  eine  theils  gleich- 
seitige^ theils  zweckmässig  auf  einander  folgende  Betheiligung 
Tieler  Stellen  des  Blattes,  ganz  so,  wie  wir  es  bei  Thieren  gewohnt 
sind,  nur  dass  statt  des  monarchischen  Befehles  eines  Nerven- 
centmms  wieder  eine  republikanische  Betheiligung  aller  Stellen  in 
harmonischer  Uebereinstimmung  stattfindet.  Schon  centralisirter  und 
daher  thierähnlicher  ist  die  Erscheinung  bei  allen  Blättern, 
Btaubgefassen  u.  s.  w.,  wo  der  Beactionsheerd  in  den  Gelenken  zu 
suchen  ist,  mit  welchen  diese  Theile  befestigt  sind. 

Bei  yielen  Blüthen  neigen  sich  die  reifen  Staubgefasse  von 
selbst  allmalig  zum  Stempel  hinüber,  bei  einigen  ist  ein  Gelenk  ge- 
bildet, welches  auf  den  Beiz  irgend  eines  Insectes  den  Staubfaden 
zur  Narbe  hinübersohnellt.  Bei  anderen  ist  auch  der  zusammen- 
gebogene Stempel  reizbar  und  streckt  sich  auf  einen  ihn  treffenden 
Beiz  aus,  wobei  er  Pollenkömer  von  den  Staubbeuteln  abstreift. 
Aßmoaa  pudica  hat  doppelt  gefiederte  Blätter  und  die  Blättohen, 
Blattrippen,  Hanptblattstiel,  ja  selbst  der  Zweig  haben  jedes  ihre 
besondere  Bewegung.  Bringt  man  vorsichtig  mit  Vermeidung  jeder 
Erschütterung  etwas  starke  Säure  auf  ein  Blättchen,  so  schliessen 
sich  nach  und  nach  alle  nahestehenden  Blätter;  nach  Dutrochet 
beträgt  diese  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  acht  bis  fünfzehn  Milli- 
meter in  einer  Secunde  in  den  Blattstielen,  im  Stempel  höchstens 
zwei  bis  drei  Millimeter.  Hier  hat  man  die  Leitungsfähigkeit  vor 
Angen.  Dasselbe  erreicht  man,  wenn  man  ein  Blättchen  sachte 
brennt ;  die  Blätter  legen  sich  dabei  viel  weiter  hin  zusammen,  als 
die  Wirkung  der  Wärme  reicht. 

▼.  HftrtmMn,  Phil.  d.  Unb«inugteii.  25 


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386 

Es  ist  unmöglich,  die  durchgreifende  Analogie  zwischen  den 
Beflexwirknngen  der  Thiere  und  Pflanzen  zu  verkennen;  die  Ver- 
schiedenheiten reichen  gerade  nur  so  weit^  als  die  Gesammtein- 
richtung  der  Organismen,  und  als  die  besonderen  Zwecke  jeder 
Reaction  verschieden  sind.  Hat  man  nun  einmal  die  Beflexwir» 
kungen  bei  Thieren  als  Acte  von  letzten  Endes  psychischer  I^atur 
anerkannt,  so  kann  man  nicht  umhin,  dieses  IJnbewusst-Psjchische 
auch  den  Pflanzen  zuzusprechen,  ebenso  wie  man  es  jedem  thieri- 
sehen  Theile  zuerkennen  muss,  welcher  noch  für  sich  der  Beflez- 
bewegungen  fähig  ist. 

d)  Instinct  Schon  im  Thierreiche  haben  wir  Untrennbar- 
keit  von  Instinct,  Reflexbewegung  und  organischem  Bilden  gesehen, 
im  Pflanzenreiche  lassen  sie  sich  noch  viel  weniger  sondern,  denn 
einerseits  muss  wegen  der  mangelhaften  Bewegungsmittel  der  Pflanze 
das  organische  Bilden  Vieles  durch  zweckmässige  MechanismeD 
leisten,  was  die  Thiere  mit  instinctiver  Bewegung  machen  (man 
denke  an  die  Begattung  und  die  Ausbreitung  der  Saamen),  und 
andererseits  steht  das  Bewusstsein  der  Pflanzen  so  tief,  dass  der 
Unterschied  zwischen  dem  Beize  der  Reflexbewegung  und  dem 
Motive  der  Instincthandlung  auf  ein  Minimum  zusammenschrumpfen. 
Trotzdem  werden  wir  doch  noch  reichliche  Spuren  flnden,  welche 
uns  unverkennbar  als  das  Nämliche  entgegentreten,  was  wir  im 
Thierreiche  Instinct  nennen.  Ein  Polyp  begiebt  sich  von  d»  be- 
schatteten Hälfte  seines  Gefasses  instinctiv  nach  der  von  der  Sonne 
beschienenen,  und  wenn  die  Sonnenblume  sich  fast  den  Hals  Ter- 
renkt,  um  ihr  Gesicht  der  Sonne  zuzudrehen,  das  sollte  nicht  In- 
stinct sein?  Dutrochet  erzählt  in  s.  rech,  p.  131:  ,Jch  sah,  dass 
wenn  man  die  obere  Fläche  des  Blattes  einer  in  freier  Luft  stehen- 
den Pflanze  mit  einem  kleinen  Brette  bedeckt,  dies  Blatt  sich 
diesem  Schirme  durch  Mittel  zu  entziehen  sucht,  welche  nicht 
immer  dieselben,  aber  immer  von  der  Art  sind,  wie  sie  am  leich- 
testen und  schnellsten  zum  Ziele  fuhren  müssen;  so  geschah  es 
bald  durch  eine  seitliche  Biegung  des  Blattstieles,  bald  durch  eine 
Biegung  desselben  Blattstieles  nach  dem  Stengel  hin." 

Enight  sah  ein  W^einblatt,  dessen  Unterseite  das  Sonnenlicht 
beschien  und  welchem  er  jeden  Weg,  in  die  naturgemässe  Lage  zu 
konmien,  versperrt  hatte,  fast  jeden  möglichen  Versuch  machen,  um 
dem  Lichte  die  rechte  Seite  zuzuwenden,  mit  welcher  es  haupt- 
sächlich athmen  muss.     Nachdem  es  während  einiger  Tage  sich  dem 


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Lichte  in  einer  gewissen  Bicfatung  zu  nähern  gesucht  und  durch 
Zorückbeugong  seiner  Lappen  fast  seine  ganze  Unterseite  damit 
bedeckt  hatte,  breitete  es  sich  wieder  aus  und  entfernte  sich  wei- 
ter Tom  Glashauefenster,  um  in  der  entgegengesetzten  Bichtung 
dem  Lichte  sich  wieder  zu  nähern.  (Treviranus,  Beiträge  119.) 
Bntrochet  bedeckte  das  Endblättchen  eines  dreiblättrigen  Bohnen- 
blattes (Fhaseolus  vulgaris)  mit  einem  Brettchen.  Da  die  Kürze 
des  besonderen  Blattstieles  dem  Blättchen  das  Ausweichen  unmög- 
boh  machte,  so  erfolgte  dies  durch  Beugung  des  gemein- 
Bohaftlichen  Blattstieles,  während  im  Dunkeln  das  Brett- 
dien gar  nicht  geflohen  wurde.  ,,Wenn  man/'  sagt  dieser  Forscher, 
„sieht,  wie  viel  Mittel  hier  angewendet  werden,  um  zu  demselben 
Zwecke  zu  kommen ,  so  wird  man  fast  versucht  zu  glauben ,  es 
walte  hier  im  Geheimen  ein  Verstand,  welcher  die  angemessensten 
Mittel  zur  Erreichung  des  Zweckes  wählt/'  So  spricht  ein  Natur- 
forscher durch  die  blosse  Macht  der  Thatsachen  gedrängt  eine 
Wahrheit  aus,  die  ihm  nur  deshalb  unfasslich  ist,  weil  er  die  un- 
bewusste  Seelenthätigkeit  nicht  kennt.  Dass  hier  nicht  eine  blosse 
Beflexwirkung  auf  einen  Beiz  vorliegt,  ist  wohl  leicht  zu  sehen, 
denn  es  ist  ja  eben  das  Fehlen  eines  noth wendigen  Beizes,  wel- 
ches geflohen  wird. 

Ziemlich  bekannt  sind  die  Erscheinungen  des  Püanzenschlafes, 
wobei  die  Blätter  sich  theils  senken,  theils  umlegen,  die  Blüthen 
ihre  Köpfchen  senken  oder  sich  schliessen.  Zum  Theil  sind  diese 
Erscheinungen  schon  erwähnt  und  finden  ihren  Zweck  in  dem 
Schutz  der  Pollenkömer  vor  dem  Thau.  Dass  das  Niedersenken 
der  Blüthenstiele  jedoch  nicht  auf  blosser  Erschlaffung  beruht,  da- 
von kann  man  sich  leicht  überzeugen;  sie  sind  vielmehr  in  ihrem 
gebogenen  Zustand  gespannt  und  elastisch.  Mcdva  peruviana  bildet 
durch  das  Aufrichten  der  Blätter  um  den  Stengel  oder  die  Spitze 
der  Zweige  im  Schlafzustande  eine  Art  von  Trichter,  worunter  die 
jungen  Blumen  oder  Blätter  geschützt  sind;  Impatiena  noU  me 
tätigere  bildet  aus  den  herabgesenkten  obersten  Blättern  ein  Ge- 
wölbe für  die  jungen  Triebe,  einige  andere  schliessen  die  Blüthen 
durch  das  Zusammenlegen  der  Blättchen  ihrer  zusammengesetzten 
Blätter  ein.  Die  Zeiten  für  Schlaf  und  Wachen  sind  für  die  Pflan- 
zen so  verschieden  wie  für  Thiere.  Manche  unserer  Pflanzen  rich- 
ten sich   nach  der  Sonne;  andere   halten  bestimmte  Zeiten  genau 

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inne,  gleichviel,  in  welches  Klima  sie  yersetzt  werden,  gleichTiel, 
ob  Sommer  oder  Winter  ist.  Man  sieht  hieraus,  dasa  auch  diese 
periodischen  Bewegungen  theilweise  Ton  äusseren  Reizen  unabbän- 
gig  sind  und  rein  aus  inneren  Bedingungen  der  Pflanze  selbst  ent- 
springen,  es  sind  eben  instinotiY  geregelte  Bewegungen.  —  In  vielen 
Pflanzen  neigen  sich  zur  Befruchtung  die  Staubfaden  zum  Pistille, 
schütten  ihren 'Staub  aus,  und  kehren  dann  in  ihre  Lage  zurück; 
bei  anderen  wandert  das  Pistill  zu  den  Staubfaden,  in  noch  anderen 
suchen  sich  beide  wechselseitig  auf.  (Treviranus^  Physiologie  der 
Gewächse  n.  389.)  Bei  LiUum  superbunif  ArmaryVis  formom- 
sima  und  Pancratium  maritimum  nähern  sich  die  Suiubbeutel  nadi 
einander  der  Narbe.  Bei  PritiUaria  persica  biegen  sie  sich  we<A- 
selsweise  nach  dem  Qriffel  hin.  Bei  Rhus  coriaria  heben  sieb 
zwei  oder  drei  Staubfaden  zugleich  liervor,  beschreiben  einen  Vier 
telkreis,  und  bringen  ihre  Staubbeutel  ganz  nahe  an  die  Narbe. 
Bei  Saaifraga  tridact^tesy  mvscoides  ^  aizoon^  granukUa  und 
cotyledon  neigen  sich  zwei  Staubföden  von  entgegengesetzten  Sei* 
ten  über  der  Narbe  gegen  einander,  und  breiten  sich,  nachdem  sie 
ihren  Staub  ausgestreut  haben,  wieder  aus;  um  anderen  Platz  zn 
machen.  Bei  Pamassia  palustris  bewegen  sich  die  männlichen. 
Theile  zu  den  weiblichen  in  der  nämlichen  Ordnung,  in  weleher 
der  Saamenstaub  reift,  und  zwar,  wenn  sie  sich  der  Narbe  nahem, 
schnell  und  auf  einmal ,  wenn  sie  sich  nach  der  Befruchtung  von 
derselben  wieder  entfernen,  in  drei  Absätzen.  Pei  Tropaecbm 
richtet  sich  von  den  anfänglich  abwärts  gebogenen  Staubfaden  bei 
völligem  Aufblühen  einer  nach  dem  anderen  in  die  Höhe,  und 
beugt  sich,  nachdem  die  Anthere  ihren  Staub  auf  die  Narbe  hat 
fallen  lassen ,  wieder  hinab ,  um  einer  anderen  Platz  zu  madien. 
Deutlicher  als  in  diesen  Beispielen  kann  man  den  Instinct  nicht 
verlangen;  denn  hier  ist  das  Motiv  das  Vorhandensein  der  Nai^ 
und  die  Beife  des  Pollenstaubes,  aber  die  Ordnimg,  in  welcher,  und 
die  Art  und  V^eise  nach  welcher  sich  die  Staubgefasäe  hin  and 
her  bewegbn ,  trägt  ebenso  sehr  den  Schein  der  "Willkür ,  wie  es 
nur  irgend  eine  thierische  Bewegung  kann.  —  Merkwürdig  sind  die 
Instinctbewegungen  der  Schlingpflanzen  (s.  Mohl,  lieber  das  Winden 
der  Banken).  Eine  solche  Pflcmze  wächst  zuerst  ein  Stück  senk- 
recht in  die  Höhe,  dann  biegt  sich  ihr  Stengel  wagerecht  um,  nnd 
beschreibt  Kreise,  um  sich  in  der  Umgebung  eine  Stütze  zu  suchen, 
gerade   wie   eine  augenlose  Baupe  mit  ihrem   Vordertheile   Kreise 


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389 

beschreibt^  um  ein  neues  Blatt  zu  sachen.  Je  länger  der  Stengel 
wächst,  desto  grösser  werden  natürlich  die  Kreise,  d.  h.  wenn  die 
Pflanze  in  der  Nähe  keine  Stütze  findet,  so  sucht  sie  sie  im  wei- 
teren Umkreise.  Endlich  kann  der  Stengel  sein  eigenes  Gewicht 
nicht  mehr  tragen,  er  fallt  zu  Boden  und  kriecht  nun  gerade  «oa 
weiter.  Findet  sie  nun  eine  Stütze,  so  könnte  sie  ja  entweder  gar 
nichts  davon  merken,  oder  aus  Bequemlichkeit  doch  auf  der  Erde 
weiter  laufen,  um  nicht  in  die  Höhe  steigen  zu  müssen;  in  der 
That  ergreift  sie  aber  sofort  die  Stütze  und  klettert  spiralig  an  der- 
selben hinauf.  Doch  auch  hierbei  verfahrt  sie  noch  mit  Auswahl ; 
die  Flachsseide  (namentlich  im  jüngeren  Alter)  windet  sich  nicht 
um  todte  organische  oder  unorganische  Stützen,  sondern  nur  um 
lebende  Pflanzen,  an  denen  sie  begierig  emporklettert,  denn  ihre 
in  der  Erde  haftenden  Wurzeln  sterben  bald  ab  und  sie  ist  dann 
ganz  auf  die  Nahrung  angewiesen,  die  sie  mit  ihren  Papillen  aus 
dem  umrankten  Gewächse  saugt.  Hat  sie  dadurch  das  letztere  ge- 
tödtet,  so  erweitert  sie  von  Neuem  ihre  Windungen,  ob  sie  viel- 
leicht ein  anderes  Gewächs  erfassen  kann.  Jede  Schlingpflanze  ist 
von  Natur  entweder  rechtsläufig  oder  linksläufig.  Wickelt  man 
einen  jungen  convolvolus  von  seiner  Stütze  ab  imd  windet  ihn  in 
entgegengesetzter  Eichtung  wieder  um,  so  wird  er  in  seine  ur- 
sprüngliche Spiralriohtung  zurückkehren,  oder  in  diesem  Streben 
sein  Leben  lassen.  Auch  dies  entspricht  ganz  den  Thierinstincten. 
Lässt  man  aber  zwei  solche  Pflanzen  ohne  fremde  Stütze  sich  ge- 
genseitig umschlingen  und  so  an  eiaander  aufsteigen,  so  ändert  die 
eine  freiwillig  ihre  Drehungsrichtung,  um  diese  gegenseitige  Um- 
sohlingung  zu  ermöglichen.  (Farmer's  Magazine,  wiederholt  in  der 
Times  vom  13.  Juli  1848.)  Also  statt  sich  der  gewaltsamen  Ab- 
änderung zu  fügen,  opfert  die  Pflanze  lieber  das  Leben,  aber  so 
wie  diese  Abänderung  zweckmässig  wird,  nimmt  sie  sie  von  selber 
vor.  Hier  findet  man  sogar  die  Yariabilität  des  Thierinstinctes  in 
eclatantester  Weise  wieder. 

e)  Der  Sohönheitstrieb  der  Pflanzen  kann  hier  nicht 
weiter  bewiesen  werden.  Ich  halte  auch  für  das  Pflanzenreich  die 
Behauptung  aufrecht»  dass  jedes  Wesen  sich  so  schön  baut ,  als  es 
mit  den  Zwecken  seines  Daseins  verträglich  ist,  und  als  es  das 
spröde  Material  zu  bewältigen  vermag.  Man  betrachte  das  Grösste 
oder  das  Kleinste  im  Pflanzenreiche,  die  stattliche  Eiche  oder  das 
mikroskopische  Moos,    man  sehe  aufs  Ganze  oder  aufs  Einzelne, 


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auf  den  prächtigen  Urwald  oder  auf  den  Tannzapfen,    immer  wird 
man  jene  Wahrheit  bestätigt  finden. 

So  haben  wir  denn  die  fünf  Momente  im  Pfianzenreiche  wie- 
der gefunden,  in  welchen  wir  beim  Thierreiche  die  Wirkungen  des 
Unbewussten  in  der  Leiblichkeit  erkannt  haben.  Demnach  sind 
wir  nicht  mehr  berechtigt,  der  Pflanze  unbewussten  Willen  und 
unbewusste  Yorstellung  abzusprechen.  Dass  wir  keine  höheren 
geistigen  Erscheinungen  an  der  Pflanze  wahrnehmen,  darüber  brau- 
chen wir  uns  nicht  zu  wundern»  da  ja  der  Zweck  des  Ffiamsen* 
reiches  im  Grossen  und  Ganzen  nur  der  ist,  den  Boden,  die  Nah- 
rungsmittel und  die  Atmosphäre  für  das  Thierreich  Torzubereiten, 
wenn  auch  dabei  nicht  verkannt  werden  darf,  dass  zu  gleicher  Zeit 
das  schaffende  Princip  sich  nebenher  im  Pflanzenreiche  auf  seine 
Weise  selbstständig  auswirkt. 

2.  Das  Bewusstsein  ia  der  Pflance.  Bas  bisherige  Besultat 
war  wohl  vorauszusehen,  und  bedurfte  keines  besonderen  Scharf- 
sinnes; schwieriger  aber  ist  die  Frage,  ob  denn  in  der  Filanxe 
auch  ein  Bewusstsein  wohne.  —  So  alt  wie  die  Naturwissenschaft 
ist  der  Streit  über  die  pflanzliche  oder  thierisohe  Beschaffenheit 
gewisser  Geschöpfe,  und  er  ist  heute  noch  so  wenig  zu  entscheiden, 
wie  zu  Aristoteles'  Zeiten,  weil  er  als  Alternative  überhaupt  nicht 
zu  entscheiden  ist  Pflanze  und  Thier  haben  als  organische  We- 
sen gewisse  Eigenschaften  gemeinschaftlich;  durch  andere  Eigen- 
schaften werden  sie  gemäss  ihrer  verschiedenen  Bestimmung  im 
Haushalt  der  Natur  unterschieden.  Wenn  nun  aber  die  gaoien 
Lebenserscheinungen  sich  auf  so  einfache  Gestalt  reduciren,  daas 
jene  unterscheidenden  Eigenschaften  mehr  oder  weniger  verschwin- 
den, und  wesentlich  nur  die  beiden  Reichen  gemeinschaftlichen 
übrig  bleiben,  so  müssen  eben  auch  die  Unterschiede  zwischen 
Thier  und  Pflanze  verschwinden,  und  es  ist  thdricht,  einen  Streit 
aufrecht  zu  erhalten,  der  seiner  Natur  nach  ohne  Resultat  bleiben 
muss.  Die  mikroskopische  Beobachtung  ist  so  weit;  dass,  wenn  es 
sichere  Kriterien  für  pflanzliche  oder  thierisohe  Beschaffenheit  gäbe, 
sie  sicher  dem  Forscher  nicht  entgehen  könnten,  und  der  Streit 
längst  geschlossen  wäre;  dass  es  aber  in  der  That  keine  von  den 
streitenden  Partheien  gemeinschaftlich  anerkannten  Kriterien  giebt, 
beweist  eben,  dass  man  sich  gar  nicht  klar  ist,  worüber  man  sieh 
streitet.     Würde  man  die  Thatsaohen  unbefangen   aofiaehmen,  so 


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würde  daraus  eben  nur  das  herroi^ehen,  dass  man  das  Gebiet  der 
beiden  Beicheo  gemeinscbaftlichen  Eigenschaften  bisher  zu  eng  ge- 
sogen hat,  dass  der  Unterschiede  zwischen  Thier  und  Pflanze  viel 
weniger  sind,  als  man  bi^er  geglaubt  hat,  und  dass  diese  TJnter- 
•cbiede  nur  in  ihren  gesteigerten  Formen  so  eclatant  werden,  dass 
Niemand  sie  verkennen  kann.  —  Diese  Anschauungsweise  ist  auch  die 
einzige,  welche  von  der  Geologie  gebilligt  werden  kann.  Während 
jetzt  die  Schöpfung  der  Erde  durch  das  Gleichgewicht  der  Pro- 
dnotionen  des  Thier-  und  Pflanzenreiches  besteht,  konnte  offenbar 
der  erste  Grundstein  zur  organischen  Natur  nur  mit  solchen  Wesen 
gelegt  werden,  welche  dieses  Gleichgewicht  in  sich  enthielten, 
ond  somit  noch  auf  dem  Indifferenzpunct  zwischen  Thier  und 
Pflanze  standen.  Erst  von  diesem  unscheinbaren  Anfang  aus  konnte 
im  Fortschreiten  die  Entwickelung  nach  den  verschiedenen  Seiten 
beginnen,  indem  Meer-Thiere  entstanden,  welche  von  diesen  in- 
differenten Pflanzeninfusorien  lebten  (Polypen  u.  s.  w.)»  uiid  als 
deren  Gegengewicht  die  ersten  Stufen  entschiedenerer  Pflanzenge- 
bilde möglich  wurden.  Je  mehr  beide  Reiche  sich  bevölkerten, 
desto  mehr  Nahrungsmittel  für  höhere  Thierclassen  wurden  dispo- 
nibel, desto  mehr  höhere  Pflanzenclassen  konnten  wieder  von  den 
Lebens-  und  Todesproducten  dieser  Thiere  bestehen,  und  so  hielt 
die  Entwickelung  in  beiden  Reichen  immer  gleichen  Schritt,  wie 
die  Geologie  es  lehrt,  während  innerhalb  eines  jeden  Reiches  die 
niederen  Stufen  im  Allgemeinen  immer  den  höheren  vorangehen. 
Hieraus  sollte  man  aber  auch  den  Schluss  ziehen,  dass  Pflanzen- 
reich und  Thierreich  im  Ganzen  nicht  subordinirte,  sondern  coor- 
dmirte  Schöpfungsgebiete  sind,  und  dass  das  Thierreich,  wenn  es 
sich,  auf  die  höhere  Bewusstseinsentwickelung  gestützt,  über  das 
Pflanzenreich  überheben  zu  dürfen  vermeint ,  es  dies  nur  dadurch 
vermag,  weil  das  letztere  ihm  um  ebenso  viel  in  organischer  Be- 
siehung  überlegen  ist,  da  es  ihm  die  Stoffe  bildet,  deren  müssigem 
Verbrauche  es  sein  höheres  Bewusstsein  verdankt  Dies  Bilden 
und  Verbrauchen  ist  der  eigentliche  und  wesentliche  unter- 
schied beider  Reiche;  wo  Ersteres  überwiegt,  ist  der  Charaoter 
▼orwiegend  pflanzlich,  wo  Letzteres  thierisch,  wo  Beides  im  Gleich* 
gewicht  steht^  ist  der  Indifferenzpunct  von  Thier  und  Pflanze.  Alle 
anderen  üntersdiiede,  die  gewöhnlich  angeführt  werden,  sind  durch- 
ans  nur  seoundärer  und  abgeleiteter  Natur,  wie  ich  eine  solche  Ablei- 
tung für  das  Thierreich  in  Cap.  A.  VIII.  S.  140— 143imGrundrifls  ver- 


L. 


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392 

sucht  habe.  Keineswegs  aber  ist  meine  Absicht ,  2a  bdumpten, 
dass  die  Pflanze  bloss  produdrt,  das  Thier  bloss  consomiit; 
denn  in  jedem  Thiere  sehen  wir  auch  Processe  theils  der  Höher- 
bildnng  angenommener  Stoffe  (z.  B.  die  Bildung  der  Oehimfette]^ 
theils  der  Umbildung  derselben  ohne  Bückgang;  andererseits  sehoi 
wir  in  jeder  Pflanze  einen  stellenweisen  Verbrauch  der  Prodaote^ 
die  sie  selbst  an  anderen  Stellen  gebildet  hat  (man  denke  nur  ai 
die  Bückbildungsprocesse  in  den  Blüthen,  ihre  Sauerstoffeinathmong 
und  Kohlensänreausscheidung).  Wir  finden  sogar  bei  den  Hefen 
und  einigen  anderen  einzelligen  Gewächsen  eine  ZwittersteUai^ 
der  Alt,  dass  sie  zwar  den  zu  ihren  organischen  ProduGtioiie&. 
nöthigen  Stickstoff  aus  Ammoniak »  den  Kohlenstoff  aber  nur  aos 
höheren  temären  Verbindungen  aufzunehmen  vermögen.  Es  ksim 
mithin  auf  beiden  Seiten  nur  von  einem  Mehr  oder  Weniger  die 
Bede  sein;  jedes  Thier  ist  zum  Theil  pflanzlicher,  jede  Pflanze 
zum  Theil  thierischer  Natur;  wo  eine  Seite  die  andere  deutÜGh 
dondnirty  benennt  man  mit  Becht  das  Ganze  nach  dieser  Seite;  wo 
aber  beide  sich  ziemlich  die  Waage  halten,  wird  die  Benennusg 
nach  einer  Seite  schwierig ,  ja  sogar  unzulässig.  Wir  dürfen  es 
jetzt  auch  nicht  mehr  wunderbar  flnden,  wenn  ein  und  dasselbe 
Wesen  einen  Theil  seines  Lebens  tLberwiegend  pflanzliche,  einen 
andern  Theil  hindurch  überwiegend  thierische  Beschaffenheit  zeigt; 
es  ist  dies  keine  grössere  Metamorphose  auf  jenen  dem  Indifferenz- 
punct  nahen  Stufen,  als  die  der  Insecten,  Frösche  oder  Fische  ist 
Wer  freilich  die  Thiere  als  beseelte  Organismen,  die  Pflanzen  aber 
als  lauter  seelenlose  leere  Gehäuse  ansieht,  den  muss  jene  Flüsflig- 
keit  der  Grenze  beider  Beiche  und  das  harmlose  XJeberschlagen 
aus  dem  Einen  in's  Andere  zur  Verzweiflung  bringen.  Wir  jedoch 
werden  im  Anschlüsse  an  die  bisherigen  Betrachtungen  dieses  Ga- 
pitels  in  diesen  Thatsachen  nur  einen  Beweis'  mehr  sehen,  da» 
Pflanze  und  Thier  yiel  mehr  Gemeinsames  haben,  als  unsere  Zeh 
anzunehmen  gewöhnt  ist. 

Was  zunächst  die  äussere  allgemeine  Form  anbetrifft,  so  Ter 
lieren  die  Pflanzen  auf  niedrigeren  Stufen  ihren  blätterigen  Typitf^ 
und  nehmen  einfach  gegliederte,  oder  rundliche,  mehr  oder  weniger 
geschlossene  Formen  an  (z.  B.  Conferven,  Pilze).  Dagegen  findet 
man  frappante  Aehnlichkeiten  mit  höheren  Pflanzenformen  unter 
den  niedrigeren  Thieren.  „Einige  (Corallenthiere)  wachsen  als  über 
einander  gerollte,  einem  Kohlkopfe  ähnliche  Blätter,  andere  beete- 


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893 

hen  ans  zarten,  gekiäuselten,  unregelinäsBig  angeordneten  Blättohen. 
Die  Oberfläche  jedes  Blattes  ist  mit  Folypenblüthen  bedeckt,  durch 
deren  Wachsthnm  und  Seoretion  es  entstanden  ist.  Nicht  minder 
lassen  sich  Aehnlichkeiten  mit  einem  Eichen-  und  Acanthuszweige, 
mit  Piken  y  Moosen  und  Flechten  auffinden''  (Dana  in  Schleiden's 
und  Fror.  Not.  1847,  Juni  Nr.  48).  —  Die  chemischen  Stoffe  können 
gewiss  nicht  einen  Unterschied  begründen;  die  Aehnlichkeit  der 
pflanzlichen  und  thierischen  Proteinstoffe  ist  bekannt;  die  Pike 
namentlich  sind  reich  an  thierähnlichen  Verbindungen;  in  dem 
Mantel  der  Asoidien  und  übrigen  salpenartigen  Tunccaten  findet 
sieh  Hokfaserstoff;  Chorophyll  (Blattgrün)  ist  in  Turbellarien  (Stru- 
delwürmern) und  in  Infusorien  nachgewiesen  worden. 

Oft  gehören  Terschiedene  Speoies  eines  Geschlechtes  theils  zum 
Pflanzenreich,  theils  zum  Thierreich,  z.  B.  die  Aloi/anium^ATten  sind 
alle  von  einer  in  der  Hauptsache  so  übereinstimmenden  Beschaffen- 
heity  dass  Linn^  gewiss  nicht  Unrecht  hatte,  sie  in  ein  Geschlecht 
zusammenzufassen. .  Gleichwohl  sind  einige  yon  ihnen  die  recht 
eigentlichen  Ammalia  ambigita  (nach  Pallas),  die  sonach  sehr  wohl 
unter  den  Amorphozoarien  rangiren,  z.  B.  Aloyonimn  cidaris  (Do- 
nati), cydofdum  (Leba)  und  fidforfne  (Solander,  Ellis  und  Marsigli). 
Andere  werden  allgemein  zur  Pflanzenwelt  gerechnet,  so  nament- 
lich z.  B.  mehrere  Arten  in  dem  bezüglich  synonymen  und  an 
Specien  so  reichen  Geschlechte  FezizcL  Bei  noch  anderen  ist  nicht 
nur  die  animalische ,  sondern  sogar  die  Polypen-Natur  so  entschie- 
den erwiesen,  dass  sie  von  den  Spongozoen  abgetrennt,  und  bei  den 
Polyparien  aufgenommen  worden  sind,  gleichzeitig  unter  Beilegung 
eines  zweiten,  insofern  ihnen  gegebenen  Geschlechtsnamens,  so  dass 
Lobularia  digüxda,  pahneiata  und  arborea,  aus  den  Alcyonien  der 
Zookorallien,  mit  Alcyonwm  lobaium,  pabnatum  und  arboreum 
B3rnonym  sind.  Die  vorweltliche  Species  Manon  peziza  ist  aus 
einem  Thier-  und  einem  Pflanzennamen  zusammengesetzt.  Wir 
finden  hier  nur  Erscheinungen  aus  anderen  Gebieten  des  Thier- 
reiehes  wieder,  wo  z*.  B.  einige  Botatorien  zu  den  Würmern,  andere 
zu  den  Infusorien,  eine  Speoies  Cerearia  zu  den  Würmern,  andere 
Specien  desselben  Gesohlechtes  zu  den  Spermatozoon  (?)  gerechnet 
werden. 

Die  kleinen  Bläschen,  aus  welchen  die  rothfärbende  Materie 
des  Schnees  besteht  (Frotococcua  nwoZi«),  wurden  von  Agardh,  De- 
caodolle,  Hooker,  Unger,  Martins,  Harvey,  Ehrenberg  für  Algen 


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394 

angesehen;  Letzterer  eäete  sie  sogar  auf  Maohen  Schnee  und  be- 
obachtete ihre  Fortpflanzung;  die  jungen  Pfiänzohen  trugen  einen 
feinkörnigen  ,  gelappten  Keimboden  und  Würzelchen ,  aber  keine 
Spur  von  thierischem  Gharacter  an  sich.  Voigt  und  Meyen  fSandeD 
später,  dass  die  rothfärbende  Materie  yielmehr  Gestalt  und  Bewe- 
gungen Yon  Infusorien  darbot,  und  Shuttleworth  endlich  unte^ 
schied  tbeils  Algen,  Üieils  Infusorien  darin.  Diese  Widersprüdie 
klären  sich  auf  durch  Flotow^s  sorgfaltige  Beobachtungen  an  einem 
ganz  verwandten  in  Eegenwasser  lebenden  Pflänzohen  oder  Thie^ 
chen  (HaemcUococcus  pluviaUs).  Dieses  zeigte  anfangs  bloss  pflani- 
liche  Natur,  verwandelte  sich  aber  in  Aufgüssen  unter  geeigneten 
Umständen,  durch  verschiedene  Zwischenstufen  deutlich  verfolgbar, 
in  ein  Infusionsthierchen  {Astasia  pbiviaUs)  mit  rüsselformigem, 
mitunter  selbst  gabelig  gespaltenem  Fühler  und  allen  Zeidien 
selbstständiger  Bewegung  um.  Es  zeigte  sichShuttleworth's  A»- 
tasia  nivalis  im  rothen  Schnee  verwandt.  Eützing  („lieber  die 
Verwandlung  der  Infusorien  in  niedere  Algenformen,  Nordhausen 
1844")  beobachtete;  dass  das  Infusorium  Chlarnid&maruzs  pulmeur 
lus  gar  vielfach  sich  verwandele,  z.  B.  in  eine  entschiedene  Algenr 
species,  Siygeoleönium  stellare ,  und  in  andere  Bildungen  von  AI* 
gencharacter,  welche  zwar  in  der  Gestalt  noch  theilweise  rahen- 
den Infusorienformen  glichen  {Tetraspora  lubrica  oder  getatinosOj 
Palmella  botryoides  f  Protococcus»  und  Gyges  -  Arten),  Ebenda- 
selbe  behauptet  die  Verwandelung  des  Infusorium  Enckelys  pdr 
visculus  in  einen  Protocoocus  und  zuletzt  in  eine  Oscillatorie. 
Bei  einer  ganzen  Reihe  von  Algen  {Zoospermae)  und  noch  anderen 
niederen  Gewächsen  (Pilzen,  Kostok)  haben  die  Eeimkömer,  Sporen 
oder  Sporidien  eine  infusorienartige  Gestalt  und  Bewegung  mittelst 
Wimpern  oder  peitschenformigen  Organen,  und  es  sind  zum  The^ 
Formen  unter  ihnen  bekannt,  welche  Ehrenberg  als  Infusorien  e^ 
kannt  hat.  Ganz  ebenso  verhalten  sich  aber  auch  die  Embryonen 
vieler  Polypen  und  Medusen,  auch  sie  machen  eine  Zeit  dnroh) 
wo  sie  mittelst  Wimpern  eine  zugleich  drehende  und  fortschreitende 
Bewegung  erzeugen,  ehe  sie  sich  zur  Weiterentwickelung  festsetzen, 
auch  sie  haben  infüsorielle  Gestalt  und  keine  Mundöffaung.  üngei 
(„die  Pflanze  im  Moment  der  Thierwendung^')  beobachtete  bei  den 
Sporidien  von  der  kleinen  Alge  (Vaucheria  clavcUa,  oder  Ecto- 
sperma  davata),  dass  sie,  vom  Mutterschlauohe  befreit,  zuerst  sidi 
im  Wasser  erheben  und  in  rascher  Bewegung  ähnlidi  einem  Infii:- 


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395    - 

soriiim  mehrere  Male  hemmkreisen,  dass  dann  Momente  der  Bnhe 
mit  Bewegung  willkürlich  wechseln»  und  dass  sie  in  höchst  auf- 
fallender Wefse  alle  Hindemisse  sorgfältig  Termeiden,  sich  höchst 
geschickt  durch  das  Sprossengewehe  der  Yaucheria  winden,  und 
sich  immer  so  ausweichen,  dass  niemals  zwei  zusammenstossen.  — 
Eine  kleine  fadenförmige  Algenart  zeigt,  so  lange  sie  lehhaft 
vegetirty  eine  dreifache  Bewegung,  eine  ahwechselnde  geringere 
Krümmung  des  Torderen  Fadens,  ein  halb  pendelartiges,  halb  elasti- 
sches Hin-  und  Herbiegen  der  vorderen  Hälfte  imd  ein  allmäliges 
Torrücken.  „Diese  Bewegungen  haben  etwas  Seltsames,  ich  möchte 
sagen  Unheimliches  an  sich"  (Schieiden,  Grundzüge  II.  549).  Die 
Oscillatorien  ziehen  sich  ebenso  wie  Polypen  nach  der  beleuchte- 
ten Stelle  des  Ge&sses  hin. 

Wir  sehen,  dass  alle  Kennzeichen,  welche  von  verschiedenen 
Seiten  als  maassgebend  aufgestellt  worden  sind,  nicht  Stich  halten, 
als  da  sind:  partielle  oder  totale  Locomotion,  spontane  Bewegung, 
morphologische  Unterschiede,  Mundöffnung  und  Magen.  Was  die 
tfundöffhung  betrifft,  so  fehlt  dieselbe  bei  vielen  Eingeweidewür- 
mern, Oercarien,  Infnsorieii  und  Embryonen;  die  Gregarinen,  welche 
heerdenweise  als  Schmarotzer  in  dem  Nahrungscanale  von  Inseoten 
und  anderen  Thieren  vorkommen,  haben  nicht  nur  keine  Mundöff- 
nnng,  sondern  auch  keine  Wimpern,  überhaupt  keine  sichtbaren 
Oi^ne;  es  sind  einfache  Zellen  mit  sichtbarem  Kerne.  Von  einem 
Magen  zu  sprechen,  wo  der  Mund  fehlt ,  ist  bedeutungslos,  denn 
dann  kann  man  das  Innere  jeder  Zelle  ihren  Magen  nennen. 

Es  mögen  diese  Anführungen  genügen,  um  die  vorausgeschick- 
ten allgemeinen  Bemerkungen  zu  rechtfertigen.  —  Was  nun  diese  Be- 
trachtung zur  Lösung  der  Frage  nach  dem  Bewusstsein  der  Pflanzen 
beiträgt,  ist  Folgendes:  Wir  haben  gesehen,  dass  Pflanze  und  Thier 
Einiges  verschieden.  Anderes  gemeinsam  haben,  und  dass  wir  die 
Summe  des  Gemeinsamen  ungefähr  erkennen  können,  wenn  wir  in 
beiden  Reichen  die  Stufenreihe  der  Organisation  so  weit  hinabstei- 
gen, bis  wir  bei  solchen  Gebilden  angekommen  sind,  wo  die  Un- 
terschiede verschwinden,  und  wesentlich  nur  das  Gemeinsame  übrig 
geblieben  ist.  Wenn  wir  nun  finden,  dass  in  diesem  G^meinsam^ai 
noch  Empfindung  und  Bewusstsein  mit  eingeschlossen  ist,  dass  also 
die  niedrigsten  Pflanzenorganismen  Empfindimg  und  Bewusstsein 
besitzen,  so  werden  wir  uns  nach  den  materiellen  Bedingungen 
umsehen,  an  welche  hier  Empfindung  und  Bewusstsein  geknüpft  zu 


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^  396 

Bein  scheinti  und  yorauBgesetzt^  dass  diese  materiellen  Bedingnsgen 
bei  höheren  Pflanzen  in  demselben  oder  noch  höherem  Maasse  er- 
füllt sind,  werden  wir  nns  berechtigt  halten  dürfen,  anch  den  höhe- 
ren Pflanzen  ein  eben  solches  resp.  höheres  Maass  von  Empfindung 
und  Bewusstsein  zuzuschreiben,  als  wir  bei  jenen  niederen  Toraoa- 
setzen  dürfen.  Da  wir  unmittelbar  nicht  wissen,  wie  der  Pflanse 
zu  Muthe  ist,  sondern  nur,  wie  uns  selbst  zu  Muthe  ist,  so  steigen 
wir  durch  Analogie  die  Stufenleiter  der  Thiere  hinab,  wend^  am 
Indifferenzpunot  von  Thier  und  Pflanze,  welcher  das  verknüpfende 
Band  beider  Beiche  bildet,  wieder  um,  und  steigen  ebenfalls  durch 
Analogie  auf  der  anderen  Seite  die  Stufenleiter  der  Pflanzen  hinauf. 

Femer  erinnern  wir  uns  bei  dieser  Betrachtung  des  Besul- 
tates  aus  deni  Schluss  des  I.  einleitenden  Capitels  und  des  Cap. 
0.  HL,  wonach  jede  durch  materielle  Bewegung  erregte  Empfindung, 
sobald  sie  überhaupt  entsteht,  auch  mit  Bewusstsein  entsteht,  wah- 
rend, wenn  die  materielle  Bewegung  unterhalb  der  Eeizschwelle 
liegt,  nicht  nur  keine  bewusste,  sondern  überhaupt  gar  keine  Em- 
pfindung zu  Stande  kommt.  So  weit  wir  also  Zeichen  einer  durch 
materielle  Beize  erregten  {Impfindung  värfolgen  können,  so  weit 
werden  wir  auch  die  Empfindung  für  bewusst  halten  müssoi, 
also  die  Existenz  eines  Bewusstseins  zugeben  müssen,  gleichviel, 
wie  dürftig  sein  Inhalt  sein  mag. 

Wir  müssen  hier  noch  einmal  auf  das  schon  mehrfiaeh 
(vergl.  Cap.  A.  Vn.  i.  a.,  S.  128—  130)  zurückgewiesene  Yor- 
urtheil  zurückkonmien,  als  ob  die  Nerven  die  conditio  sine  gua 
non  der  Empfindung  wären.  Dass  sie  auf  Erden  und  bis  jetst 
die  zur  Empfindungserzeugung  geeignetste  Form  der  Materie  smd, 
ist  gewiss  nicht  zu  bezweifeln,  daraus  folgt  aber  keineswegs ,  dass 
sie  die  einzige  sind ;  im  Gegentheil  beweisen  eine  Menge  Thatsaoh^ 
dass  sie  durch  andere  Formen  ersetzt  werden  können.  Die  Tast- 
wärzchen  an  der  Oberhaut  stehen  an  manchen  Körperstellen  in 
ziemlich  grossen  Intervallen  (wie  die  Grösse  der  Ellipsen  beweist, 
innerhalb  deren  zwei  Berührungen  als  Eine  empfanden  werden), 
trotzdem  ist  jede  Stelle  der  Haut  gleich  empfindlich,  auch  gegen 
thermische  und  chemische  Beize,  bei  welchen  man  sich  nicht  auf 
blosse  Fortpflanzung  des  meohanischen  Druckes  oder  Leitung  der 
Wärme  berufen  kann.  Burdaoh  giebt  an,  dass  auch  nervenlose 
Theile  des  menschlichen  Körpers  empfindlich  werden  können,  sobald 
bei  vermehrtem  Blutandrange  und  Auflockerung  des  Oewebes  ihre 


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Lebendigkeit  gesteigert  ist;   so  sei  z.  B.  das  in  heilenden  Wunden 
gebildete  junge  Fleisch  ohne  alle  Nerren   höchst   empfindlich  nnd 
eine  Entzündung   der   nervenlosen  Knorpel   und  Sehnen   sei    sogar 
▼iel  schmerzhafter,  als   eine  Entzündung  der  Keryen  selbst.     Hier 
liegt  freilich  der  Schmerz,    welcher  dem  Menschen   bewusst  wird» 
erst  im  Gehirne,  aber  die  nervenahnliche  LeitungsfHhigkeit  jener 
Theile  ist  damit  bewiesen ^    d.  b.  also  ihre  Fähigkeit,  Ströme  von 
Molecularschwingungen  fortzupflanzen,    die  denen  in  den  Nerven 
Shnlich  sind.     Wo  aber  Schwingimgszustände  vorhanden  sind,    die 
denen  der  Nerven  ähnlich  sind,    werden    sie   auch  Empfindungen 
anregen,  die  den  von  den  Nerven  erregten   ähnlich   sind ,    voraus- 
gesetzt, dass  sie  nicht  unterhalb  der  Beizschwelle  liegen.    Letzteres 
ist  keines  Falls  anzunehmen,  da  der  nach  so  grossen  Widerständen 
im  Gehirne  anlangende  Theil  noch  so  starke  Schmerzen  verursacht. 
Femer  haben  wir  vielfach   die  Seele   auf  den  Leib   ohne  Nerven 
wirken  sehen,    z.  B.  in   den  embryonischen  Zuständen  vor  Ausbil- 
dung der  Nerven ,   in  der  Wirkung  der  Nerven  über  ihre  eigenen 
(lenzen  hinaus  in  Muskeln,  secemirenden  Häuten,  wo  überall  die 
Masse  der  betreffenden  Organe  selbst  die   letzte  Strecke  der  Lei- 
tung  übernehmen    muss ,    in   dem  plötzlichen  Ergrauen  der  Haare 
nach  Affecten  u.  s.  w.     Wenn  nun   aber  die  Seele   auf  den  Leib 
auch    ohne    oder    jenseit  der  Nerven  wirken  kann,    so  wird  doch 
wohl    bei  der    durchgehenden  Eeciprocität    des   Verhältnisses   von 
Leib  und  Seele  auch  der  Leib  ohne   und  jenseit   der  Nerven  auf 
die  Seele  wirken,  d.  b.  Empfindung  hervorrufen  können.  —  Alsdann 
ist  nach  Allem  wahrscheinlich,  dass  die  niedrigstek  Thiere  (Polypen, 
Infasorien,  manche  Eingeweidewürmer)  keine  Nerven  haben.    Denn 
Nerven  und  Muskeln  gehen  überall  Hand   in  Hand  und  nach  Du- 
jardin  und  Ecker  haben  sie  nicht  einmal  Muskeln;  statt  des  Mus- 
kelfibrins und  der  Nervensubstanz  findet  sich  bei  ihnen  nur  die  Mul- 
dei^sche  Fibroine.  Dieser  Stoff  verhält  sich  ungefähr  wie  das  Neoplasma 
der  Wunden;  auch  in  ihm  wirken  sich  die  organischen  und  moto- 
rischen Willensacte  der  Thierseele  ihren  Zwecken  gemäss  aus,  und 
haben  wir  daher  keinen  Grund,  an  der  Möglichkeit  einer  Wirkung  dieser 
Materie  auf  die  Seele  zu  zweifeln.  —  Dazu  kommen  die  verhältniss- 
mässig  hohen  psychischen  Kundgebungen  dieser  Thiere.     Denn  der 
Büsswasserpolyp  unterscheidet  schon  auf  die  Entfernung  von  einigen 
Linien  ein  lebendes  Infusorium,  ein  pflanzliches    Wesen,  ein  todtes 
und  ein  unorganisches  Geschöpf;  von  allen  zieht  er  nur  das   erstere 


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durch  einen  mit  seinen  Armen  erregten  WasBerstmdel  an  dob, 
während  er  eich  um  die  anderen  nicht  kümmert,  oder  wenn  er  eins 
zufällig  erfasst  hat,  es  sogleich  wieder  loslässt.  Der  Polyp  mnss 
also  doch  von  diesen  yersohiedenen  Dingen  verschiedene  Wahmeli» 
mungen  hahen,  und  diese  können  nur  als  Empfindungen  über  der 
Schwelle,  d.  h.  als  bewusste  Empfindungen,  gegeben  sein.  Er  be- 
wegt sich  femet  aus  dem  Schatten  nach  dem  sonnenbeschienene& 
Theile  des  Geflisses,  und  öfters  kämpfen  zwei  Polypen  um  ihren 
Raub.  Letzteres  ist  nur  möglich,  wenn  der  Polyp  das  Bewusstsein 
hat ,  dass  der  andere  ihm  die  Beute  entreissen  will.  Wenn  ako 
ein  nervenloses  Thier  so  hohe  Bewusstseinsäusserungen  zeigt,  80 
werden  wir  uns  nicht  wundem  dürfen,  die  Bewusstseinsäusserungen 
der  nächst  niederen  Thierstufe,  der  Infusorien,  mit  denen  viekr 
niedrigen  Pflanzen  auf  gleichem  Niveau  zu  finden.  Das  aber  wird 
man  doch  wohl  gewiss  nicht  behaupten  wollen,  dass  mit  der  vor- 
letzten Thierstufe  Empfindui^  und  Bewusstsein  aufhöre,  denn 
warum  gerade  mit  der  vorletzten,  die  doch  noch  so  reichen  Be- 
wusstseinsinhalt  zeigt,  dass  sich  bis  zum  vollständigen  Verschwin- 
den noch  unendlich  viele  ärmere  Stufen  denken  lassen,  denen  nichte 
in  der  Welt  entspräche,  wenn  es  nicht  eben  jene  Infusorien  und 
einfachen  Pflanzen  wären. 

Was  die  Nerven  so  geeignet  macht,  sowohl  zur  Yermitr 
telung  der  Ausführung  von  Willensacten ,  als  zur  Erzeagong 
von  Empfindungen,  ist  die  halbflüssige  Consistenz  der  ganzen 
Masse,  welche  die  Verschiebbarkeit  und  Drehbarkeit  der  Mole- 
cüle  befordert,  und  die  polarische  Beschaffenheit  der  einzelnen 
Molecüle,  welche  eine  hohe  chemische  Organisationsstufe  der  Ma- 
terie zur  Bedingung  hat.  Das  Erstere  zeigt  die  Xörpermasse  der 
niederen  Thiere  und  Pflanzen  auch.  In  jeder  Zelle  ist  mindestens 
ein  flüssiger  Inhalt  und  eine  feste  Wand,  in  der  Begel  auch  ein 
Kern  zu  unterscheiden ;  sowohl  der  Kern  oder  dooh  seine  Umgebung, 
als  auch  die  Grenze  von  Wandung  und  Inhalt,  häufig  aber  der 
ganze  Zelleninhalt,  zeigen  diese  halbflüssige  Consistenz  von  hoher 
chemischer  Organisationsstufe ,  aus  welchen  physikalischen  und 
chemischen  Momenten  sich  auf  eine  polarische  Beschaffenheit  der 
Molecüle,  wem  auch  in  geringerem  Grade  als  bei  Nerven,  und  der 
centralen  Ganglienzellen,  die  ebenfalls  aus  Kern,  Wandung  und 
Inhalt  bestehn,  mit  Wahrscheinlichkeit  schliessen  lässi  Diese 
Bedingungen   kehren   aber  in  allen   eigentlich   lebendigen  Tbeilsn 


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399 

der  h(>heraQ  Pflansen  wieder,  yermathlioh  sogar  in  gesteigerter 
Fonn,  da  die  chemische  Organisation  der  Stoffe  in  höheren  Oi^- 
oismen  sich  offenbar  steigert,  keines  Falles  aber  sinkt.  Es  ist 
also  ganz  gewiss  kein  Orond  zu  der  Behauptung ,  dass  die 
£mp&idung  und  das  Bewusstsein  der  höheren  Pflanzen  unter 
dem  der  niedrigsten  Pflanzen  und  Thiere  stände,  im  Qegen- 
theile  dürfen  wir  yermuthen,  dass,  wenn  auch  die  totale  und 
partielle  Locomobilität  der  Pflanzen  in  höheren  Formen  ihren 
Lebensbedingungen  gemäss  abnimmt ,  dass  die  Empfindungen  minde- 
stens in  gewissen  bevorzugten  Theilen  über  der  der  niederen 
Pflanzen  steht 

Je  mehr  wir  in  der  Thierreihe  hinabsteigen  ^  desto  mehr 
nimmt  die  Wichtigkeit  der  aus  der  eigenen  Verdauung  und 
Genitalsphäre  herrührenden  Empfindungen  gegen  die  von  äusse- 
ren Beizen  herrührenden  zu;  bei  den  Pflanzen,  wo  die  Ober- 
fläche sich  mehr  und  mehr  gegen  die  unbedeutenden  äusseren 
Reize  abschliesst,  wird  diese  Zunahme  sich  noch  mehr  steigern; 
für  die  Pflanze  verliert  die  Aussenwelt  ausser  dem  Licht  und  der 
chemischen  Beschaffenheit  der  Luft  immer  mehr  alles  Interesse, 
nnd  nur  besonderen  Fällen  verdanken  wir  die  Kenntniss,  dass  auch 
höhere  Pflanzen  von  gewissen  Vorkommnissen  Notiz  nehmen ,  die 
(üi  sie  Wichtigkeit  erlangen,  z.  B.  die  Liseoten  fangenden  Pflanzen 
von  Beizen,  welche  die  Blätter  treffen,  die  Bankengewächse  von 
Stutzen  u.  s.  w. 

Es  wird  nach  dem  Vorhergehenden  nicht  mehr  befremden, 
wenn  wir  den  Pflanzen  eine  Empfindung,  und  selbstverständ- 
lich bewusste  Empfindung ,  von  den  Beizen  beilegen ,  auf 
welche  sie,  sei  es  nun  reflectorisch  oder  instinctiv,  reagirt;  wenn 
wir  behaupten,  dass  die  Oscillatorie  so  gut  wie  der  Polyp  das 
Licht  empfindet ,  wenn  sie  nach  deiü  beleuchteten  Theil  ihres  Ge- 
^Sisses  binwandert,  nnd  dass  ganz  ebenso  das  Weinblatt  das  Licht 
empfindet,  dem  es  auf  alle  Weise  seine  rechte  Seite  zuzukehren 
bemüht  ist,  und  jede  Blüthe  das  Licht  empfindet,  dem  sie  sich  öff- 
nend das  Xöpfchen  zukehrt.  Wir  behaupten,  dass  das  Blatt  der 
Dianaea  und  der  Mimoaa  pudica  das  Sträuben  des  Insectes  empfin- 
det, ehe  es  auf  diese  Empfindung  mit  Zusammenlegen  reagirt,  denn 
CS  liegt  ja  schon  im  Begriff  der  Beflexwirkung,  als  einer  psychischen 
Beaction,  dass  eine  psychische  Perception  derselben  vorhergehen 
muss;     dies    ist   aber  die   bewusste    Empfindung.     Wir  behaupten 


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400 

ferner,  daBs  diA  Pflanze  eine  Empfindung  von  den  physiachen  yo^ 
gangen  der  Organisation,  welche  der  thierischen  Verdauung  ent- 
sprechen, und  des  Geschlechtslebens  hat,  dass  namentlich  das  letz- 
tere sich  in  Theilen  vollzieht,  wo  die  höchste  Lebendigkeit  des 
Pflanzendaseins  concentrirt  ist,  wo  die  Bildungsthätigkeit  während 
der  Blüthenzeit  nicht  mehr  aufsteigende,  sondern  absteigende  che- 
mische Processe  bewirkt  (wie  das  Sauerstoffeinathmen  und  Kohlen- 
säureausathmen  der  Blüthen  erkennen  lässt),  woraus  hervorgeht, 
dass  hier  die  bildenden  Kräfte  sich  vom  materiellen  Aufbauen  in 
eine  gewisse  thierahnliche  Yerinnerlichung  zurückgezogen  nnd  für 
mehr  recipirende  Processe  disponibel  geworden  sind.  Dass  der 
Inhalt  dieses  Bewusstseins  immerhin  noch  sehr  arm  sein  mnas, 
viel  ärmer  als  z.  B,  der  des  schlechtesten  Insectes,  unterliegt  wohl 
keinem  Zweifel ,  denn  woher  sollte  der  Beichthum  und  .die  Be- 
stimmtheit kommen,  wie  sie  den  Thieren  schon  durch  die  niediigst 
stehendsten  Sinnesorgane  gewährt  wird? 

Wir  haben  also  in  der  Pflanze  in  der  That  Bewusstsein  ge- 
funden. Wie  weit  kann  aber  nun  eine  Binlieit  des  Bewusstseins 
in  der  Pflanze  bestehen?  —  Wir  haben  gesehen,  dass  die  Einheit 
des  Bewusstseins  zweier  Vorstellungen  oder  Empfindungen  auf  der 
Möglichkeit  des  Vergleiches  und  diese  auf  dem  Vorhandensein  einer 
genügenden  Leitung  zwischen  den  beiden  Empfindung  erzeugenden 
Orten  beruht.  Die  Frage  i«t  abo  die:  ist  eine  solche  Leitong  in 
der  Pflanze  vorhanden?  Schon  im  Thiere  war  der  Verkehr  zwischen 
verschiedenen  Nervencentren,  obwohl  durch  Nervenstränge  vermit- 
telt, nur  höchst  mangelhaft  und  die  Bewusstseinseinheit  f actisch 
nur  für  sehr  durchgreifende  Erregungen  vorhanden.  Die  Fortpflan- 
zungsgeschwindigkeit des  Nervenstroms  im  Menschen  beträgt  nach 
Helmholz  achtzig  Fuss  in  der  Secunde,  die  in  der  Mimosa  pudica 
wie  erwähnt  nur  einige  Millimeter;  man  kann  von  diesen  Ge- 
schwindigkeiten einen  ungefähren  Schluss  auf  die  Leitungswider- 
stände und  demgemäß  auf  die  Störungen  und  Veränderungen  der 
fortgepflanzten  Eesultate  ziehen.  Es  ist  möglich,  dass  die  Spiral- 
gefässe  solchen  Leitungszwecken  dienen,  aber  erwiesen  ist  es  nicht 
Jedenfalls  ist  es  mit  der  Bewusstseinseinheit  von  zwei  benachhar- 
ten  Blättern  noch  unendlich  viel  dürftiger  bestellt^  als  mit  der  von 
Hirn  und  Ganglien  im  Menschen.  Eine  genügend  treue  und  starke 
Leitung  wird  immer  nur  zwischen  ganz  nahe  aneinander  liegenden 
Pflanzentheilen  bestehen  können ;  ich  möchte  nicht  behaupten,  dsss 


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401 

mao  Ton  dem  einbeitlichen  Bewusstsein  einer  Bliithe  sprechen 
darf,  yielleicht  l:aam  von  dem  eines  Staubfadens.  Die  Pflanxe 
braucht  aber  auch  eine  solche '  Einheit  des  Bewnsstseins  nicht,  wie 
das  Thier;  sie  braucht  keine  Vergleiche  anzustellen,  und  braucht 
nicht  über  ihre  Handlungen  zu  refiectiren.  Sie  braucht  sich  nur 
den  einzelnen  Empfindungen  hinzugeben,  und  dieselben  als  Motiv 
für  die  Eingriffe  des  ünbewussten  auf  sich  wirken  zu  lassen,  dann 
haben  diese  ihren  Zweck  erfüllt,  und  dies  leisten  Empfindungen 
mit  getrenntem  Bewusstsein  ebenso  gut,  wie  solche  mit  ein- 
heitlichem. 


▼.  HArtmann,  Phil.  d.  Unbewnsaten.  26 

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Die  Materie  als  Wille  und  y^rgteliwig. 


Die  Naturwissenschaft  beschäftigt  sich   mit  drei  in  einander 
greifenden  Gegenständen:  den  Gesetzen,  den  Kräften  und  dem 
Stoffe.     Diese  Trennung  ist   durchaus  nur  zu  billigen,  denn  sie 
fasst   verschiedene  Ghnippen  von   Erscheinungen  unter  einheitliche 
Gesichtspuncte  übersichtlich  zusammen    und    erleichtert   die  Aus- 
drucksweise.     Die  Frage  ist  nun,  ob  diese  Drei  wirklich  verschie- 
dener Natur   sind,   oder  ob  sie  eigentlich  nur  Eins  sind,  welches, 
bloss   von  verschiedenen   Gesichtspuncten   aus   betrachtet,  auf  drei 
verschiedene  Weisen  erscheint.     Von  den  Gesetzen  dürfte  dies 
wohl   ohne  Umstände   zugegeben  werden ,    denn   es   liegt  auf  der 
Hand,  dass  sie  nicht   in  der  Luft  schwebende  Existenzen,  sondern 
blosse  Abstractionen  von  Kräften  und  Stoffen  sind;  nur  weil  diese 
Kraft   und   dieser  Stoff   eine   solche   und    ein  solcher   sind,  nur 
darum  wirken  sie   auf  diese  Weise,  und  so  oft  wir  einer  eben 
solchen  Kraft  begegnen,  müssen  sie  auf  eben  solche  Weise  wirken. 
Diese    Constanz    des    So-wirkens    aber   ist  es,  was  wir  Gesets 
nennen.     Dieses  Yerhältniss  ist  auch  wohl  allgemein  anerkannt,  nnd 
wir  hören  in  der  That  von  den  Materialisten  stets  nur  Kraft  nnd 
Stoff  als  ihre  Principien  nennen,   als   welche  selbstverständlich 
die  Gesetze  includiren.     Wir  haben  im  Cap.  C.  IL  den  Materialis- 
mus  vertheidigt,   insofern   er   die  organisirte  Materie  als  c(mdüu> 
sine  qua  non  der  bewussten  Geistesthätigkeit  behauptet ;  wir  haben 
in  den  ganzen  vorhergehenden  Untersuchungen  ein  unbewusst  psy* 
chisches   Princip   als  über  der  Materie  stehend  nachgewiesen,  und 
damit    schon    die    Einseitigkeit   desjenigen   Materialismus  gezeigt, 
welcher  keine   anderen   als  materielle  Principien   kennt;  wir  sind 
jetzt   an  den  Punct  gelangt,  wo  wir  uns  mit  demjenigen  beschäf- 


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I 


403 

tigen  müssen,  was  der  einseitige  Materialismus  als  ausschliessliche 
Piincipien  alles  Daseins^  d.  h.  als  philosophische  ürprincipien,  auf- 
stellt,  Kraft  und  Stoff.  Ich  würde  es  für  nutzlos  halten,  hier  eine 
dialectische  Erörterung  dieser  Begriffe  anwenden  zu  wollen;  man 
würde  dabei  weder  sicher  sein,  wirklich  genau  diejenigen  Begriffe 
la  behandeln,  welche  der  Materialismus  meint,  noch  würde  dadurch 
je  ein  Materialist  zur  Aenderung  seiner  Ansicht  gebracht  werden. 
Ich  halte  für  den  einzig  angemessenen  Weg  die  Yertiefdng  der 
naturwissenschaftlichen  Untersuchung  der  Materie.  Zwar  kann  die 
Zukunft  noch  unschätzbare  Au&chlüsse  in  dieser  Eichtung  bringen, 
welche  wir  bis  jetzt  nicht  ahnen,  indessen  glaube  ich,  dass  die 
Gnmdzüge  der  für  die  Materie  allein  möglichen  AufPassungsweise 
durch  die  jüngsten  Erfolge  der  Physik  und  Chemie  nicht  nur  so 
sicher  gestellt  sind,  dass  keine  Zeit  jemals  mehr  daran  wird  rütteln 
können,  sondern  dass  sie  auch  völlig  genügende  Anhaltepuncte 
bieten,  um  bis  in  die  letzten  Tiefen  dieses  Geheimnisses  einzu- 
dringen. Wenn  dies  bis  jetzt  noch  nicht  geschehen,  oder  wenig- 
stens noch  nicht  yon  Seiten  der  Naturwissenschaft  geschehen  ist, 
so  liegt  es  einfach  daran,  weil  die  Naturwissenschaft  im  Grunde 
immer  nur  insoweit  ein  Interesse  für  Hypothesen  hat,  als  ihr  die- 
selben entweder  Anleitung  zu  neuen  Experimenten  geben,  oder  als 
sie  ihr  zum  Ansätze  des  Calcüls  unentbehrlich  sind;  was  darüber 
hinausgeht,  davon  sieht  sie  keinen  practischen  Werth  und  darum 
ist  es  ihr  gleichgültig.  Wir  werden  also  zunächst  zu  recapituliren 
haben,  was  die  Naturwissenschaft  von  der  Constitution  der  Materie 
nnd  der  ihr  inhärirenden  Kräfte  weiss,  und  dann  zusehen,  ob  diese 
Resultate  auf  einfache  und  ungezwungene  Weise  einer  Yertiefong 
iahig  sind. 

Wenn  man  einen  chemisch  homogenen  Körper,  z.  B.  kohlen- 
saueren Kalk,  sich  fortgesetzt  getheilt  denkt,  so  kommt  man  an 
Theile  von  gewisser  Grösse,  die  sich  nicht  mehr  theilen  lassen, 
wenn  sie  kohlensaurer  Kalk  bleiben  sollen;  gelingt  es, 
sie  zu  spalten,  so  erhält  man  als  Trennstücke  einen  Theil  Kohlen- 
saure tmd  einen  Theil  Kalk.  Diese  kleinsten  Theile  eines  Körpers 
nennt  man  Molecüle.  *)     Dieselben  wirken  nach  verschiedenen  Seiten 


*)  Ich  nnterscheide  hier  Molec&le  nnd  Atom,  obwohl  der  letztere  Aus- 
drack  Ton  Physikern  h&nfig  auch  statt  des  ersteren  gesetzt  wird.  Solche 
phflosophische  Leser,  welche  mit  einer  gewissen  Voreingenommenheit  gegen 

26* 


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■r^^f^wf 


404 

mit  yerschiedener  Kraft,  weil  sie  im  Allgemeinen  die  krystalliniBche 
Ghnindfonn  des  betreffenden  chemischen  Stoffes  haben,  oder  eine 
solche,  aus  der  diese  sich  leicht  bilden  kann.  Die  Molecöle  ver- 
schiedener Stoffe  unterscheiden  sich  also  durch  verschiedene  Ge- 
stalten. Wenn  zwei^  Körper  yerschiedener  Art  zusammenkommen, 
Bo^^ren  sieh  die  nach  yerschiedenen  Biohtungen  yerschieden  vi^ 
kenden  Kräfte  der  Molecüle  an  den  Grenzen  beider  Körper  gegen- 
seitig in  ihren  Gleichgewichtslagen,  welche  Störungen  sich  als 
electrische  Erregung  darstellen,  respectiye  sich  als  galyamsche 
Schwingungen  fortpflanzen;  ist  die  Störung  stark  genüge  so  findet 
eine  bleibende  Timlagerung  und  chemische  Verbindung  der  yersohie- 
denartigen  Molecüle  zu  zusammengesetzteren  Molecülen  statt  Die 
yerschiedenen  chemischen  Verbindungen  unterscheiden  sich  durch 
Angfthl  und  Lagemngsweise  der  zusammentretenden  Molecüle.  Die- 
jenigen Molecüle,  welche  weiter  zu  zerlegen  uns  bis  jetzt  noch  nicht 
gelungen  ist,  nennen  wir  chemisch  einfiach,  obgleich  wir  yon  man- 
chen ziemlich  gewiss  wissen,  dass  sie  noch  zusammengesetzt  sind 
(z.  B.  Jod,  Brom;  Chlor  sind  yermuthlich  Sauerstoffyerbindungen, 
wie  aus  ihrem  bei  sehr  hohen  Temperaturen  sich  yerändemden 
Spectrum  heryorgeht,  die  Metalle  yielleicht  sämmtlich  Wasserstoff- 
yerbindungen) ,  so  dass  sich  möglicherweise  die  Anzahl  der  chemi- 
schen Elemente  noch  sehr  yereinfachen  kann.  Diese  Molecüle 
repräsentiren  dann  gewisse  Grundformen,  die  aber  unter  sich  noch 
yerschieden  sind,  und  jedenfalls  letzten  Endes  als  yerschiedene  La- 
gerungsformen einer  yerschiedenen  Anzahl  gleichartiger  Mole- 
cüle zu  denken  sind,  weil  nur  auf  diese  Weise  die  Einfachheit  der 
Zahlenyerhältnisse  der  chemischen  Aequiyalente^  die  üebereinstim- 
mung  derselben  mit  dem  specifischen  Gewichte  der  Gkse  und  mit 
der  specifischen  iWärme  begreiflich  wird.  Biese  gleichartigen 
Molecüle  müssen  nach  allen  Eichtungen  mit  gleicher  Kraft  wir- 
ken, können  also,  wenn  sie  stofflich  gedacht  werden  sollen,  nur 
kugelförmig  gedacht  werden;  sie  heissen  Körper-Atome. 

Ausser  ihnen  giebt  es  noch  Aether-Atome,  welche  sowohl  in 


die  physikalische  Atomtheorie  an  dieses  Oapitel  herantreten,  yenreise  ich  auf 
Fechner's  Schrift:  „Ueher  die  physikalische  and  philosophische  Atomlehre**, 
Leipzig  1855,  namentlich  auf  S.  18 — 63  und  129—141,  obwohl  die  physl* 
kaiische  Atomenlehre  seitdem  durch  Ausbildung  der  Wärmetheorie  sehr  viel 
weiter  gefördert  ist 


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405 

jedem  Körper  zwieohen  den  EörpermolecüleD ,  als  auch  zwiBchen 
den  Himmelskörpern  vertheilt  sind,  und  welche  man  an  dem  Wider- 
stände gegen  den  Enke'schen  Kometen  und  ihrer  Bigenschaft,  Wärme 
fortznstrahlen,  erkennt.  (Ein  gewisser  Theil  der  Wärmescala  wird 
durch  die  Einrichtung  unserer  Augen  yon  uns  als  Licht  empfunden.) 

Körper  und  Körper -Atome  ziehen  sich  an,  und  zwar  im  um- 
gekehrt quadratischen  Verhältnisse  der  Entfernung ;  d.  h.  die  Kraft 
eines  Körper-Atomes  nach  allen  Eichtungen  des  Baumes  zusamm^ 
genommen  bleibt  sich  auf  jede  Entfernung  gleich. 

Aether  und  Aether- Atome  stossen  sich  ab,  und  zwar  im  um- 
gekehrten YerhältnisBe  einer  höheren,  als  der  zweiten  Potenz  der 
Entfernung,  mindestens  der  dritten;  d.  h.  die  Kraft  eines  Aether- 
Atomes  nach  allen  Eichtungen  des  Baumes  zusammengenommen 
wächst  mindestens  im  umgekehrten  Verhältnisse  der  Entfernung. 

Alle  Körper-Atome  würden  auf  einen  Funct  zusammenschiessen, 
wenn  nicht  die  herumgelagerten  Aether -Atome  gleichsam  Hüllen 
um  jedes  Körpermolecüle  bildeten,  welche  eine  Berührung  derselben 
Terhindem.  Zwei  Aether- Atome  können  nie  znsammenstossen,  weil 
üure  Abstossung  auf  unendlich  kleine  Entfernungen  unendlich  gross 
wird.  Zwei  Körper -Atome  aber  könnten  sich  nie  wieder  trennen, 
gesetzt  den  Fall,  dass  sie  einmal  sich  berühren,  weil  dann  ihre 
Anziehung  unendlich  gross  ist.  Daher  müssen  die  Körpermolecüle 
auch  innerhalb  der  chemischen  Verbindungen  noch  durch  Aether- 
Atome  auseinander  gehalten  sein,  weil  sie  sich  durch  Aetherschwin- 
gangen  (Wärme,  Galyanismus)  wieder  scheiden  lassen. 

Körper-  und  Aether-Atome  stossen  sich  ab.  Früher 
nahm  man  an,  dass  sie  sich  anziehen ;  bis  zu  einem  gewissen  Puncte 
nämlich  werden  die  Erscheinungen  durch  jede  der  beiden  Annahmen 
gleich  gut  erklärt;  da  man  sich  doch  aber  des  Calcüles  halber 
nothwendig  für  eine  entscheiden  musste,  wählte  man  zufällig  die 
Anziehung.  Wiener  hat  gezeigt  (ygl.  Poggendorffs  Annalen,  Bd. 
118,  8.  79,  und  Wiener,  ,J)ie  Grundzüge  der  Weltordnung",  erstes 
Buch),  dass  die  Erklärung  des  flüssigen  Aggregatzustandes  die  An- 
nahme der  Abstossung  fordert,  und  dass  diese  sich  überhaupt  besser 
mit  unseren  sonstigen  physikalischen  Anschauungen  verträgt.  Es 
ist  nun  nicht  mehr,  wie  in  Bedtenbacher's  „Dynamidensystem",  um 
jedes  Körpermolecüle  eine  dichte  Hülle  von  Aether- Atomen,  sondern 
im  Gegentheile,  der  Aether  ist  unmittelbar  neben  den  Körpermole- 
eülen  am  dünnsten,  also  innerhalb  der  Körper  dünner,  ab  im  leeren 


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406 

Ranme,  weil  die  dichtgedrängten  Körpermolecüle  den  Aether  Üieil- 
weise  ausstossen. 

Die  soweit  ausgearbeitete  Atomtheorie  erklärt  anf  überraschende 
Weise  die  Gesetze  der  Wärme  und  die  von  den  Wärmeverände- 
rungen herbeigeführten  verschiedenen  Aggregatzustände  (siebe 
Wiener,  „Grundzüge  der  Weltordnung",  erstes  Buch).  Sie  gewährt 
den  Vortheil,  dass  alle  die  vielen  sogenannten  Kräfte  der  Materie, 
wie  Gravitation,  Elasticität,  Wärme,  Galvanismus,  Chemismus  u.  s.  ▼., 
sich  als  Aeusserungen  oombinirter  Molecülar-  und  Atom-Kräfl«  dar- 
stellen, d.  h.  dass  man  die  Entwiokelung  jener  aus  diesen  auch 
wirklich  sieht  und  berechnet,  während  derjenige  Dynamismus,  wel- 
cher, wie  der  Kantische,  von  Atomen  und  Atomkräften  nichts  wissen 
will,  die  Entstehung  der  höheren  materiellen  Kräfte  aus  Anziehung 
u^d  Abstossung  nur  schlechthin  behaupten,  aber  nicht  im  Mindesten 
sagen  kann,  wie  sie  geschieht.  —  Es  bleibt  noch  eine  materielle 
Kraft  zu  erwähnen,  das  Beharrungsvermögen,  von  welchem 
der  Atomismus  bis  jetzt  entweder  unrichtiger  Weise  geläugnet  hat, 
dass  es  unter  den  Begriff  Kraft  gehöre,  oder  welches  er  als  eine 
neu  hinzukommende  Kraft  hat  bestehen  lassen,  während  er  doch 
schon  von  Kant  (Neuer  Lehrbegriff  der  Ruhe  und  Bewegung,  vgl 
Kant's  Werke,  Bd.  V.  S.  282  —  284,  287  —  289  und  409—417) 
hätte  lernen  können,  was  das  Beharrungsvermögen  ist,  dass  nänüich 
dasselbe  einzig  und  allein  auf  der  Reciprocität  oder  Rela- 
tivität der  Bewegung  beruht,  welche  schon  von  Leihni« 
klar  hingestellt  worden  ist  (Mathemat  Werke  VI.  p.  252).  Denkt 
man  sich  nämlich  ein  Atom  allein  im  Räume,  so  kann  der  Begriff 
von  Ruhe  oder  Bewegung  auf  dasselbe  noch  gar  keine  Anwendung 
finden,  weil  es  keinen  bestimmten  Ort  im  Räume  hat, 
also  auch  diesen  Ort  nicht  verändern  kann.  Es  giebt  demnach 
keine  absolute  Ruhe  oder  absolute  Bewegung,  sondern  nur  relative. 
Daraus  geht  hervor,  dass  man  nicht  mehr  Recht  hat,  zu  sagen: 
A  bewegt  sich  gegen  B,  als:  B  bewegt  sich  gegen  A,  die  Kugel 
bewegt  sich  gegen  die  Scheibe,  als :  die  Scheibe  bewegt  sich  gegen 
die  Kugel,  dass  also  der  Widerstand,  den  die  Scheibe  der  Kugel 
entgegengesetzt,  nicht  sowohl  ein  Widerstand  der  ruhenden,  als  d« 
bewegten  Scheibe,  oder  ihre  lebendige  Kraft  ist.  Was  hier  beim 
StoBse  sofort  in  die  Augen  fällt,  findet  sich  bei  Druck  und  Zug 
wieder,  nur  als  eine  Integration  unendlich  vieler  einzelner  Ab- 
stossungs-  oder  Anziehungsmomente   der  Atome  und  Moleoüle.    In 


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407 

beiden  Fällen  beruht  der  zu  überwindende  Widerstand  daa  B@* 
bammgs Vermögens  auf  der  Reciprocität  von  Anziehung  uud  Ab- 
stossnng  und  der  Relativität  der  Bewegung. 

Für  das  Beharrungsvermögen  brauchen  wir  also  in  der  ITiat, 
trotzdem  dass  es  selbst  als  oppositionelle  Kraft  wirkt,  keine  neue 
Kraft,  wir  reichen  vielmehr  mit  der  Anziehung  und  AbstQa^uug 
der  Körper-  und  Aether-Atome  vollkommen  aus.  —  Beben  wir  nun 
XU,  wie  sieh  die  bisher  angeführten  Principien  bei  näherer  Betraeh- 
tang  ganz  von  selbst  vereinfachen. 

Denken  wir  uns  zwei  Körper-Atome  A  und  B,  so  würden  die- 
selben sich  auch  dann  noch  beide  gegen  einander  bewegen,  wctnn 
nur  A  Anziehungskraft  besässe;  denn  indem  A  das  Atom  B  an^teht^ 
zieht  es  wegen  der  Relativität  der  Bewegung;  nothwendig  eich 
eben  so  sehr  zu  B  hin,  als  es  B  zu  sich  hinzieht.  Das^selba 
gilt  aber  für  B;  indem  nun  sowohl  A,  als  auch  B  anziehend  wirkt,  m 
bewirkt  jedes  von  ihnen  die  gegenseitige  Annäherung,  also  wird  ihre 
thatsächliche  Anziehung  die  Summe  ihrer  Einzelkräfte  sein.  Dasselbe 
gilt  für  die  Abstossung  von  Aether- Atomen.  Merkwürdigerweise 
soll  nun  aber  ein  und  dasselbe  Körper-Atom  zwei  entgegengesetzte 
Kräfte  besitzen,  nämlich  Anziehungskraft  für  Körper -Atoma  und 
AbstoBsungskraft  für  Aether- Atome.  Ein  Aether- Atom  hat  daim  eot- 
weder  dem  entsprechend  eine  besondere  Abstossungskraft  tnr 
Aether -Atome  und  eine  besondere  Abstossungskraft  für  Korper- 
Atome,  oder  aber  seine  Abstossungskraft  ist  gegen  Körper-  unä 
Aether -Atome  gleich  gross,  d.  h  ein  und  dieselbe.  Letztere 
Annahme  hat  nichts  gegen  sich,  wird  also  als  die  einfachere  jedeE- 
&ll8  den  Vorzug  verdienen,  denn  principia  non  sunt  mtUHplicatida 
praeter  necessikUem,  Nach  letzterer  Annahme  also  yerhält  sich 
ein  Aether- Atom  gegen  jedes  andere  Atom  auf  dieselbe  Weis« 
abstoBsendy  gleichviel,  welche  Kräfte  diesem  Atome  sonst  noch  zu- 
kommen; d.  h.  wenn  ihm  ein  Körper-Atom  begegnet,  so  st^^at  m 
dieses  ebenso  ab,  wie  ein  Aether -Atom,  gleichviel,  wie  groHB  die 
Kraft,  mit  welcher  das  Körper- Atom  das  Aether- Atom  abstösät,  im 
Verhältnisse  zur  abstossenden  Kraft  eines  Aether- Atomes  auch  sei; 
natürlich  ist  die  totale  gegenseitige  Abstossung  die  Bumme 
beider  Kräfte.  Wenn  aber  die  Grösse  der  abstossenden  Kral^  des 
Körper-Atomes  für  die  abstossende  Kraft  des  Aether- Atomes  gleich* 
gültig  ist,  so  muss  es  ihr  auch  gleichgültig  sein,  wenn  dieae  Kraft 
=*  0  wird,  oder  wenn  sie  negativ,  d.  h.  zur  Anziehung  wird, 

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408 

immer  yorauBgesetzt,  dass  die  GesammtabBtossung  beider  die  8nmme 
der  Einzelkräfte  ist.  In  letzterem  Falle  würde  also  das  Gesammt- 
resultat  Abstossung  bleiben,  so  lange  die  abstossende  Kraft  des 
Aether-Atomes  grösser  ist,  als  die  anziehende  des  Körper-Atomes,  um- 
gekehrt würde  es  Anziehung.  Hiermit  werden  wir  aber  auf  einmal  die 
unnatürliche  Annahme  zweier  sich  widersprechender  Kräfte  im  Körper- 
Atome  los ;  denn  die  Abstossung  zwischen  Aether-  und  Körper-Atinii 
bleibt  als  solche  für  alle  die  Entfernungen  bestehen,  wo  die  Abstossimg 
des  ersteren  stärker  ist,  als  die  Anziehung  des  letzteren,  und  das 
Körper- Atom  verhält  sich  gegen  jedes  andere  Atom  auf  gleiche 
Weise  anziehend,  ebenso  wie  sich  das  Aether- Atom  gegen  jedes 
andere  Atom  auf  gleiche  Weise  abstossend  verhält.  Baas  aber  in  der 
That  nicht  auf  alle,  sondern  nur  auf  kleine  und  mittlere  Ent- 
fernungen sich  Aether-  und  Körper-Atome  abstossen,  scheint  mir 
aus  Folgendem  hervorzugehen:  Das  materielle  Weltgebäude  iit 
sowohl  nach  apriorischen  Betrachtungen,  als  aus  astronomischen 
Gründen  unbedingt  für  endlich  zu  halten;  der  Aether  aber  müsst» 
sich  in's  Unendliche  ausdehnen,  wenn  nicht  eine  Grenze  käme,  vo 
die  Anziehung  der  gesammten  Körper -Atome  die  Abstossung  der 
gesammten  Aether-Atome  überwiegt;  eine  Eotation  des  Weltgebäodes 
um  eine  oder  mehrere  Axen  würde  durch  die  Centrifngalkraft  den 
fortwährenden  Abfiuss  der  Aether-Atome  nur  verstärken  und  selbst 
bei  der  schlimmen  Annahme  einer  unendlichen  Anzahl  von  Aether- 
Atomen  auf  eine  endliche  Anzahl  von  Körper- Atomen  würde  der 
fortwährende  Abfluss  der  Aether-Atome  in  den  unendlichen  Baum 
eine  fortwährend  zunehmende  Verdünnung  des  Aethers  im  Welt- 
gebäude  herbeiführen,  wofür  Nichts  zu  sprechen  scheint. 

Sind  wir  dem  zufolge  durch  die  Endlichkeit  des  materiellen 
Weltgebäudes  genöthigt,  eine  endliche  bestimmte  Entfemimg 
anzunehmen,  wo  die  Abstossung  des  Aether-Atomes  auf  das  Körper- 
Atom  gleich  der  Anziehung  des  Körper- Atomes  auf  das  Aether- 
Atom  ist,  so  folgt  daraus  unmittelbar  das,  was  wir  brauchen,  dass 
nämlich  auf  kleinere  Entfernungen  die  Abstossung  die  Anziehung 
überwiegen  muss,  da  die  Abstossung  des  Aether-Atomes  viel 
schneller  mit  Yerminderung  der  Entfernung  abnimmt,  als  die  An- 
ziehung des  Körper-Atomes.  Wie  man  also  auch  die  Sache  betrach- 
ten mag,  in  jeder  Beziehung  empfiehlt  sich  die  einfachste  Annahme 
am  meisten,  dass  das  Körper- Atom  nur  Anziehungskraft^  das  Aether^ 
Atom  nur  Abstossungskraft  hat,   die  sich  gegen  beide  Gattux^en 


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Ton  Atomen  gleiohmäBsig  äussert.  In  einer  bestimmten  Ent- 
fernung (welche  offenbar  nach  der  Grösse  der  beabsichtigten  Welt 
bestimmt  worden  sein  mnss)  sind  beide  sich  gleich,  das  verschie- 
dene Gesetz  ihrer  Aenderung  mit  der  Entfernung  lässt  auf  grössere 
Entfernungen  die  Anziehung,  auf  kleinere  die  Abstossung  zuneh- 
mend überwiegen.  In  den  Entfernungen,  wie  sie  zwischen  den 
Molecülen  eines  Körpers  bestehen,  muss  daher  die  Abstossung  schon 
in  ungeheuerem  Uebergewicht  sein;  dies  ist  aber  auch  nöthig, 
da  die  Aether- Atome  innerhalb  der  Körper  noch  sparsamer 
■tehen,  als  im  leeren  Baume,  und  trotzdem  genügen  müssen, 
um  der  gegenseitigen  Anziehung  der  so  dichtgedrängten  Körper- 
molecüle  das  Gleichgewicht  zu  halten. 

Da,  wenn  man  nicht  in  den  Widerspruch  einer  als  solchen 
fertig  dastehenden,  d.  h.  vollendeten  Unendlichkeit  gerathen 
will,  die  Anzahl  der  Aether -Atome  wie  die  der  Körper -Atome 
endlich  sein  muss,  so  haben  wir  gar  keinen  Grund,  anzunehmen, 
dass  beide  verschieden  seien;  wir  dürfen  sie  im  Gegentheil  eher 
für.  gleich  halten,  da,  was  die  Aether- Atome  an  grösserer  Yerbrei- 
tong  durch  den  Baum  zu  gewinnen  scheinen^  die  Körper-Atome  an 
Dichtigkeit  der  Zusammendrängung  ersetzen.  Wir  haben  dann  auf 
jedes  Körper-Atom  ein  Aether-Atom,  die  sich,  abgesehen 
von  dem  Gesetze  ihrer  Kraftänderung  mit  der  Entfernung,  nur 
durch  die  positive  und  negative  Richtung  ihrer  Kraft  unter- 
scheiden. Dächte  man  sich  je  ein  Körper-Atom  und  je  ein  Aether- 
Atom  verschmolzen,  so  würde  plötzlich  alle  Kraft  aus  der  Welt 
verschwinden,  denn  die  Gegensätze  hätten  sich  neutralisirt. 
So  sehen  wir  hier  das  Auseinandergehen  in  einen  polarischen 
Dualismus  als  das  die  materielle  Welt  erzeagende  Frincip. 

Fragen  wir  weiter  ^  was  wir  unter  der  Masse  eines  Körpers 
zu  verstehen  haben.  Zunächst  misst  man  die  Masse  nach  dem 
Gewichte;  sobald  aber  die  Wissenschaft  bis  zur  Annahme  des 
Aethers  gekommen  ist,  der,  weil  er  keine  Anziehung  hat,  auch  kein 
Gewicht  haben  kann,  so  muss  man  etwas  Anderes  statt  des  Gewich- 
tes ZI^n  Maasse  der  Masse  nehmen,  und  zwar  IJtwas,  das  Aether 
und  Körper  gemeinschaftlich  ist;  als  solches  bietet  sich  nur 
das  Beharrungsvermögen.  Wenn  man  nun  auch  an  diesem 
die  Masse  messen  kann,  so  giebt  es  doch  keinen  Begriff  der 
Masse,  wenn  man  sich  nicht  damit  begnügen  will,  sie  als  das 
ujnbekannte    Substrat   gleicher  Beharrungskräfte   zu 


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t 

fassen.  Damit  begnügt  sich  aber  gewiss  Niemand  in  CManken.  — 
Die  Naturwissenschaft  erklärt  die  Masse  als  das  Product  ans 
Yolamen  und  Dichtigkeit,  and  dies  führt  allerdings  auf  die 
Art,  wie  jedes  unbefangene  Vorstellen  den  Begriff  der  Masse  eifasst, 
vorausgesetzt  nämlich,  dass  man  bei  der  Erklärung  von  Dich- 
tigkeit den  Girkel  vermeidet,  und  nicht  wieder  den  Begrif  der 
Masse  benutzt.  Dann  ist  nämlich  Dichtigkeit  nur  noch  zu  tsissen 
als  die  Auseinanderstellung  gleichwerthiger  Theil- 
chen;  bleibt  nun  das  Product  des  Volumens  und  der  Dichtigkeit 
unverändert,  so  ist  klar,  dass  dies  nur  dadurch  möglich  ist,  dasB 
die  Anzahl  der  gleichwerthigen  Theilchen  unTerändort 
bleibt;  wir  können  also  Masse  schlechthin  als  die  Anzahl 
gleichwerthiger  Theilchen  definiren,  vorausgesetzt,  dass  wir 
in  allen  zu  vergleichenden  Dingen  die  Theilung  soweit  fortsetze]), 
bis  wir  überall  auf  gleich werthige  Theilchen  gekommen  sini 
Man  sieht  sofort,  dass  nur  die  Atome  dieser  Anforderung  ge- 
nügen; aber  diese  thun  es  auch  wirklich,  selbst  die  Aether-  und 
Körper-Atome  sind  als  gleichwerthig  zu  betrachten,  da  jedes  Aethe^ 
Atom  jedes  Körper-Atom  gerade  so  abstösst,  wie  jedes  Aether-Atom 
und  umgekehrt,  mithin  die  Eeciprocität  ihrer  Kräfte,  d.h. 
ihr  Beharrungsvermögen,  gleich  ist  Wir  haben  also  die 
Masse  eines  Dinges  nunmehr  zu  definiren  als  die  Anzahl  seiner 
Atome,  und  haben  hiermit  erst  den  einzig  möglichen,  streng 
wissenschaftlichen  Ausdruck  für  das  hingestellt,  was  jeder  sich 
klarer  oder  unklarer  bei  dem  Worte  Masse  denkt.  Hieraus  geht 
aber  unmittelbar  hervor,  dass  es  keinen  Sinn  mehr  hat,  von  der 
Masse  eines  Atomes  zu  sprechen,  denn  man  könnte  sich  das- 
selbe nur  nochmals  in  gleichwerthige  Theile  zerlegt  denken,  und 
würde  damit  nicht  weiter  kommen,  als  man  schon  ist.  Man  kann 
wohl  von  der  Masse  eines  Molecüles  reden,  denn  dieses  besteht  ja 
eben  aus  Atomen;  man  kann  also  auch  vergleichend  sagen,  ein 
Körpermolecüle  ist  von  sehr  viel  grösserer  Masse,  als  ein  Aethe^ 
Atom ;  aber  die  Massen  zweier  Atome  kann  man  nicht  mehr  ver- 
gleichen, denn  jedes  von  ihnen  ist  ja  die  Massen  ei  nheii  Bs 
wäre  ferner  denkbar,  dass  7i  Körper-Atome  sich  ohne  zwischenge- 
lagerte Aether -Atome  zu  Einem  vereinigt  hätten,  so  dass  sie  ucfa 
nie  mehr  trennen  können;  dann  würde  ein  Aether-Atom  jedes 
dieser  vereinigten  Atome  mit  einfacher,  also  den  Complex  mit 
n -fache r  Kraft  abstossen,   und  der  Complex  hätte  allerdings  die 


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Masse  n ;  aber  eben  darum  wäre  es  falsch ,  ihn  Ein  Atom  mit 
fi-facher  Masse  nennen  zu  wollen;  es  bleibt,  solange  die  Atome 
als  stoffliche,  undurchdringliche  Kugeln  gedacht  werden,  immer  ein 
Complex  von  nAtomen.  —  üebrigens  haben  wir  gar  keine  Ver- 
anlassung, an  die  wirkliche  Existenz  solcher  unmittelbaren  Ter* 
Schmelzungen  von  Körper -Atomen  zu  glauben,  denn  es  ist  anzu- 
nehmen, dass  die  Körper -Atome  in  dem  Molecüle  eines  bis  jet^t 
als  solchen  betrachteten  chemischen  Elementes  ebensowohl  durch 
Aether-Atome  aus  einander  gehalten  werden,  wie  die  Molecüle  der 
chemischen  Elemente  in  dem  Molecüle  ihrer  chemischen  Verbindung, 
welches  letztere  dadurch  bewiesen  wird,  dass  sie  sich  durch  Aether- 
schwingungen  (Wärme,  Galvanismuß  u.  s.  w.)  wieder  trennen  lat^sen* 
Auch  können  wir  uns  unbedenklich  die  Anzahl  der  in  einem  Elc- 
mentarmolecüle  vereinigten  Körper- Atome  sehr  gross  vorstellen,  wenn 
wir  daran  denken,  dass  in  dem  Molecüle  einer  höheren  organischen 
Verbindung   oft   Hunderte   von   Elementarmolecülen  vereinigt  mmA, 

Das  Resultat  von  alle  dem  ist,  dass  das  Atom  die  Einheit  ist, 
aus  der  sich  erst  jede  Masse  zusammensetzt,  wie  sich  aus  der  Eins 
alle  Zahlen  zusammensetzen,  dass  es  daher  so  wenig  einen 
Sinn  hat,  nach  der  Massengrösse  eines  Atomes,  als 
nach  der  Zahlengrösse  der  Eins  zu  fragen. 

Wir  kommen  nun  zu  der  letzten  und  schwierigsten  FTagg: 
ist  das  Atom  sonst  noch  etwas  als  Kraft,  hat  das  Atom  Stotf^ 
und  was  ist  bei  diesem  Worte  zu  denken  ?  —  Erinnern  wir  uns  zu- 
nächst, wie  wir  zu  den  Atomen  gekommen  sind.  Wir  stossen  uua 
als  Kind  an  den  Kopf  und  fühlen  den  Schmerz,  wir  betasten  die 
Dinge  und  bekommen  Gesichts-  und  sonstige  Sinneseindrücke  von 
ihnen.  Wir  supponiren  zu  diesen  instinctiv  räumlich  hinauaproji- 
cirten  Wahrnehmungen  ebenso  instinctiv  Ursachen,  welche  wir 
Gegenstände  nennen.  Diese  supponirten  Gegenstände,  welche  auf 
nns  einwirken,  besonders  aber  Das,  woran  wir  uns  drauB??en 
stoBsen,  nennen  wir  Materie  oder  Stoff.  Die  Wissenschaft 
bleibt  bei  dieser  rohen,  instinctiv  sinnlichen  und  practisch  aud^ 
reichenden  Hypothese  nicht  stehen,  sondern  verfolgt  die  UrsaLlien 
unserer  Wahrnehmungen  weiter  und  untersucht  sie  genauer,  6ie 
zeigt  uns,  dass  die  Gesichtswahrnehmungen  durch  Aetherschwin- 
gungen,  die  Gehörwahmehmungen  durch  Luftschwingungen,  die  Ge~ 
ruchs-  und  Geschmackswahmehmungen  durch  chemische  Schwingun- 
gen in   unseren  Sinnesorganen   erregt   werden,  dass  also  alle  diese 

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Wahrnehmungen  keineswegs  einen  Stoff ,  sotidem  eine  Bewegimg 
betreffen,  zu  deren  Erklärung  sie  wiederum  Kräfte  sapponiren 
muBs,  welche  sich  letzten  Endes  als  Aeusserungen  von  combi- 
nirten  Molecular-  und  Atomkräften  ausweisen.  Sie  zeigt  uns  femer, 
dass  die  Grundlage  aller  unserer  Tastwahmehmungen,  die  sogenannte 
TJndurchdringlichkeit  des  Stoffes,  oder  der  Widerstand,  den 
er  fremden  Körpern  beim  Versuche  einer  gewisse  Grenzen  über- 
schreitenden Annäherung  entgegensetzt,  Resultat  der  Abstos- 
sung  der  Aeth er- Atome  sei,  welche  auf  unendlich  kleine 
Entfernungen  unendlich  viel  grösser  als  die  anziehende  Kraft  der 
Körper-Atome  wird,  dass  aber  eine  directe  Berührung  der  Atome, 
also  eine  nicht  als  Folge  der  Kraft  sich  ergebende,  sondeni 
dem  Stoffe  als  solchem  inhärirende  Undurchdringliohkeit 
überhaupt  nirgends  yorkommt.  Alle  Erklärungen,  welche  die 
Naturwissenschaft  giebt  oder  zu  geben  versucht,  stützen  sich  axd 
Kräfte;  der  Stoff  oder  die  Materie  bleibt  dabei  höchstens  als  ein 
im  Hintergrunde  müssig  lauerndes  Gespenst  bestehen,  das  aber 
immer  nur  an  den  dunkelen  Stellen  sich  zu  behaupten  vermag^ 
wo  das  Licht  der  Erkenntniss  noch  nicht  hingedrungen  ist;  je 
weiter  die  Erkenntniss,  d.  b.  die  Erklärung  der  Erscheinungen,  ihr 
licht  verbreitet,  desto  mehr  zieht  sich  im  historischen  Verlaufe 
der  Stoff  zurück,  der  in  der  naiv  sinnlichen  Anschauung  noch  den 
ganzen  äusseren  Eaum  der  WcJimehmung  einnimmt. 

Niemals  aber,  soweit  die  Naturwissenschaft  reicht,  oder  reichea 
wird^  kann  sie  etwas  Anderes  als  Kräfte  zu  ihren  Erklamngen 
brauchen;  wo  sie  dagegen  heutzutage  das  Wort  Stoff  braucht, 
versteht  sie  darunter,  wie  unter  Materie,  nur  ein  System  von 
Atomkräften,  ein  Dynamidensystem ,  und  braucht  die  Worte 
Stoff  und  Materie  nur  als  un-entb ehrliche  Summenzeichen 
oder  Formeln  für  diese  Systeme  von  Kräften. 

Da  nun  naturwissenschaftliche  Hypothesen  sich  niemals  weiter 
erstrecken  dürfen,  als  ein  Erklärungsbedürfniss  es  fordert» 
der  Begriff  Stoff  aber  gar  keinem  naturwissenschaftlichen  Erklärang»- 
bedürfnisse  dient  tmd  dienen  kann,  so  folgt  daraus,  dass  ein  Begriff 
Stoff,  der  etwas  Anderes  als  Kräftesystem  bedeutet,  in  der 
Naturwissenschaft  keine  Berechtigung  und  keinen  Platz  hat, 
da  sie  ja  eben  selbst  alles  Das,  was  die  sinnliche  Auffassung  Wir- 
kungen des  Stoffes  nennt,  als  Wirkungen  von  Kräften  nach- 
gewiesen hat.  —  Allerdings  ist  nichts  schwerer,  als   sich  von  des 


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sinnlioh  unmittelbaren  VorBtellungen  los  zu  machen,  welche  man 
gleichsam  mit  der  Muttermilch  eingesogen  hat,  welche  man  als 
erste  rohe,  aber  practisch  genügende  Hypothese  instinctiT 
erfasst  hat,  und  die  durch  die  Gewohnheit  eines  Lebens  mit 
£mem  yerwachsen  sind.  Schon  dazu  gehört  Fleiss,  Buhe,  Klar- 
heit und  Kraft  des  Denkens,  die  aus  der  Sinnlichkeit  entspringen- 
den und  die  übrigen  Vorurtheüe  des  Denkens  als  solche  zu  er- 
kennen; noch  mehr  Muth  gehört  dazu,  mit  dem  einmal  üeber- 
wondenen  in  allen  seinen  Consequenzen  rücksichtslos  zu 
brechen;  aber  selbst  wenn  man  Alles  dies  erreicht  hat,  so  gehört 
noch  eine  fast  übermenschliche  Energie  des  Verstandes  und  Cha- 
racters  dazu,  sich  nicht  doch  wieder  yon  dem  schon  abgethan 
Geglaubten  überrumpeln  oder  mindestens  heimlich  beeinflussen 
zu  lassen;  denn  keine  Au^be  ist  schwerer  als  die,  sich  nur  eine 
Tolle,  negatiye  Freiheit  des  Denkens  zu  erringen.  Gerade  weil  die 
ans  der  Sinnlichkeit  entspringenden  Yorurtheile  nicht  bewusste 
Schlüsse  des  Verstandes,  sondern  instinctiye,  practisch  zureichende 
Eingebungen  sind,  sind  sie  so  schwer  durch  bewusstes  Denken  zu 
yemichten  und  zu  beseitigen.  Man  mag  sich  tausendmal  sagen, 
dass  der  Mond  am  Horizonte  dieselbe  WinkelgrÖsse,  also  dieselbe 
scheinbare  Grösse  hat,  wie  oben  am  Himmel,  dass  es  ein  Irrthum 
des  Verstandes  ist,  ihn  oben  am  Himmel  für  kleiner  aussehend  zu 
halten,  als  unten  am  Eande,  derselbe  Irrthum,  der  uns  das  Him- 
melsgewölbe nicht  als  Halbkugel,  sondern  als  flachen  Kugelabschnitt 
erscheinen  lasst,  das  Alles  kann  Einen  nicht  dazu  bringen,  den  Mond 
in  beiden  Fällen  gleich  gross  zu  sehen,  eben  weil  trotz  der  besseren 
bewussten  Erkenntniss   die  instinctiye  Annahme  sich  behauptet. 

Ein  solches  aus  der  Sinnlichkeit  stammendes  instinc- 
tiyes  Vorurtheil  ist  auch  der  Stoff.  Kein  Naturforscher  hat 
in  seiner  Wissenschaft  mit  dem  Stoffe  etwas  zu  thun,  ausser  inso- 
fern er  ihn  in  Kräfte  zerlegt,  wobei  sich  also  die  schein- 
baren Stoffwirkungen  als  Kraftwirkungen  herausstellen,  d.  h.  der 
Stoff  mehr  und  mehr  in  Kraft  aufgelöst  wird;  dennoch  ^rd  man 
selbst  heutzutage  noch  wenige  Naturforscher  finden,  die  die  letzte 
Consequenz  ihrer  eigenen  Wissenschaft  zugeben  würden,  dass  der 
Stoff  nichts  als  ein  System  yon  Kräften  ist;  und  der  Grund  hier- 
von Hegt  rein  im  sizmlichen  Vorurtheil.  Man  yergisst,  dass  wir  doch 
denStoff  so  wenig  unmittelbar  wahrnehmen,  wie  die  Atome, 
sondern  nur  seinen  Druck,  Stoss,  Schwingungen  u.  s.  w.,  dass  also 


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der  Stoff  doch  auch  bloss  eine  Hypothese  ist,  die  sich  erst  vor 
dem  Tribunal  der  Naturwissenschaft  zu  rechtfertigen  hat,  aber 
eben  diese  Eechtfertigung  nicht  bloss  ewig  schuldig  bleibt, 
sondern  statt  dessen  bei  jedem  in  irgend  welcher  Eichtung  ange- 
stellten  Verhöre  in  Kräfte  verduftet;  man  vergisst  dies,  weil  man  sich 
dabei  fTufUUig  am  Ellbogen  stösst,  und  die  instinctire  Sinnlichkeit 
auf  t^inmal  „Stoff*'  in  dies  Baisonnement  hineinschreit.  —  Geht  maa 
noB  einem  solchen  Vorurtheil  einmal  ernstlich  zu  Leibe,  so  sacht 
e^  Mch  mit  Sophismen  zu  behaupten;  der  Naturforscher  vergisst 
die  E^eln  seiner  Methode  und  rückt  sogar  mit  apriorischen  Gran- 
den vor,  um  nur  sein  liebes  Vorurtheil  zu  retten. 

Da  heisst  es  zunächst:  „Ich  kann  mir  keine  Kraft  ohne 
Stoff  denken,  die  Kraft  muss  ein  Substrat  haben,  an  welchem, 
und  ein  Object,  auf  welches  sie  wirkt,  und  eben  dies  ist  der 
Stoff*;  Kraft  ohne  Stoff  ist  ein  Unding."  —  Gehen  wir  auch  anf 
die  apriorische  Seite  der  Betrachtung  ein,  nachdem  wir  erkannt 
h^ben,  dass  von  empirischer  Seite  die  Hypothese  eines  Stoffe« 
keine  Berechtigung  hat. 

Zunächst  kann  man  behaupten,  dass  der  Mensch  so  organisiit 
ist,  dass  er  Alles  denken  kann,  was  sich  nicht  widerspricht^ 
d.  h.  dass  er  jede  in  Worten  gegebene  Verbindung  von  Begriffen 
vollziehen  kann,  vorausgesetzt,  dass  die  Bedeutung  der  Begriffe 
ihm  klar  und  präcis  gegeben  ist,  und  die  verlangte  Ver- 
knüpfung keinen  Widerspruch  enthält.  Obige  Behaoptnng 
sai]^:  „Kraft  lässt  sich  nicht  in  selbstständiger  realer  Existeni, 
sondern  nur  in  unlöslicher  Verbindung  mit  Stoff  denken^.  Kraft 
ist  ein  deutlicher  Begriff,  selbstständige  reale  Existenz  ebenfalls, 
abo  muss  jeder  gesunde  Verstand  die  Verbindung  beider  Begriffe 
vollziehen  können,  wenn  nicht  diese  Verbindung  einen  Wider- 
Bprtiüh  in  sich  trägt.  Letzteres  zu  beweisen,  dürfte  wohl  schwer 
fallyn,  folglich  ist  der  erste  negative  Theil  der  Behauptung  falsch. 
Wohlverstanden  handelt  es  sich  hier  nur  darum,  ob  die  Verbindung 
denkbar  sei,  nicht  ob  sie  real  exi stire;  sonst  wäre  eben  die 
Betrachtung  nicht  mehr  apriorisch.  —  Der  zweite  positive  Theil 
deB  Satzes  behauptet,  „dass  Kraft  in  Verbindung  mit  Stoff  zu 
denken  sei".  Dieser  Theil  ist  eben  so  falsch;  man  kann  die  Ve^ 
bindung  von  Kraft  und  Stoff  nicht  denken,  weil  man  den  Stoff 
nickt  denken  kann,  denn  diesem  Worte  fehlt  jeder 
Begriff.     Gehen  wir  die  verschiedenen  Bedeutungen   durch,  die 


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man  möglicherweiBe  dem  Worte  zuschreiben  könnte.  Die 
sinnliche  Bedeutung  ist  zwar  ganz  bestimmt:  Ursache  des  ge- 
fühlten Widerstandes,  aber  er  löst  sich  in  repulsive  Atom- 
Kräfte  auf,  kann  also  nicht  dem  Begriffe  Kraft  gegenüber- 
gestellt werden.  Der  Begriff  Masse,  der  schiefer  Weise  dem 
Begriffe  8toff  untergeschoben  werden  könnte,  ist  weiter  oben  in 
Atomkräfte  zerlegt  worden,  von  ihm  gilt  also  dasselbe;  seine 
Yerwechselung  mit  Stoff  ist  obenein  nur  in  Bezug  auf  die  grob- 
sinnliche Bedeutung  von  Stoff  vermittelst  des  Begriffes  der  Dichtig- 
keit möglich.  Der  physikalische  Begriff  der  Undurchdringlich- 
keit ist  ebenfalls  in  die  auf  unendlich  kleine  Entfernungen 
unendlich  grosse  Abstossungskraft  der  Aether- Atome  aufgelöst, 
und  kommt  ausserdem  nur  den  repulsiven  Aether- Atomen  und  den 
Körpern,  d.  h.  Dynamidensystcmen ,  vermöge  der  in  ihnen  enthalte- 
nen Aether- Atome  zu,  nicht  aber  den  attractiven  Körper- Atomen, 
da  nicht  einzusehen  wäre,  warum  nicht  zwischen  zwei  Körper- 
Atomen,  die  nicht  durch  Aether- Atome  auseinandergehalten  werden, 
in  der  That  eine  voUkonmiene  Durchdringung  und  Yerschmel- 
zong  statthaben  sollte. 

Endlich  bliebe  noch  die  Bedeutung  übrig:  „Substrat  der 
Kraft '';  indess  muss  ich  zu  meinem  Bedauern  gestehen,  dass  ich 
mir  hier  bei  Substrat  so  wenig  etwas  zu  denken  vermag,  wie  bei  Stoff. 
Schon  Schelling  sagt  (System  des  transcend.  Idealism.  S.  317 — 318, 
Werke  I.  3,  S.  529 — 53ü):  „Wer  sagt,  dasa  er  sich  kein  Handeln 
ohne  Substrat  zu  denken  vetmöge,  gesteht  eben  dadurch,  dass  jenes 
vermeintliche  Substrat  des  Denkens  selbst  ein  blossesProduct 
leiner  Einbildungskraft,  also  wiederum  nur  sein  eigenes 
Benken  sei,  das  er  auf  diese  Art  in's  Unendliche  zurück  als  selbst- 
ständig  vorauszusetzen  gezwungen  ist.  Es  ist  eine  blosse 
Täuschung  der  Einbildungskraft,  dass,  nachdem  man 
einem  Object  die  einzigen  Prädicate,  die  es  hat,  hinweg- 
genommen hat,  noch  etwas,  man  weiss  nicht  was,  von  ihm  zu- 
rückbliebe.  So  wird  z.  B.  Niemand  sagen,  die  Undurchdring- 
lichkeit sei  der  Materie  eingepflanzt,  denn  die  Undurchdringlichkeit 
ist  die  Materie  selbst"  (was  freilich  nur  die  Hälfte  der  Wahrheit 
ißt).  Substrat  bedeutet  manchmal  dasselbe  wie  Subject,  man  wird 
«tber  doch  nicht  behaupten  wollen,  dass  der  todte  Stoff  etwas  Sub- 
jectiveres  sei,  als  die  Kraft.  Manchmal  bedeutet  Substrat  „das  zu 
Orunde  Liegende",  d.h.  ein  c  aus  al  es  Moment;  davon  kann  hier 


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noch  weniger  die  Bede  sein.  Gewöhnlich  bedeutet  es  Unterlage, 
schlechtweg  in  sinnlicher  Bedeutung  des  Wortes;  das  Grobsumliche 
muss  aber  hier  ausgeschlossen  bleiben,  damit  sind  wir  schon  f^tig. 
Kurz  und  gut,  man  kann  sich  hier  bei  Substrat  gar  nichts  daiken. 
Aber  selbst  wenn  dies  möglich  wäre,  blieben  die  Vertheidiger  d» 
Stoffes  immer  noch  den  Beweis  der  Berechtigung  ihrer 
Hypothese  eines  Substrates  der  Kraft  schuldig;  denn  ich  kann 
das  Bedürfniss  einer  Hypothese  noch  hinter  der  Kraft  nicht 
einsehen,  da  ich  behaupte,  dass  man  die  Kraft  ganz  gut  selbst^ 
ständig  existirend  denken  kann.  Kurz  und  gut,  Stoff  ist  ein  f&r 
die  Wissenschaft  leeres  Wort,  denn  man  kann  keine  einiige 
Eigenschaft  angeben,  welche  denf  damit  bezeichneten  Begriffe 
zukommen  soll;  es  ist  eben  ein  Wort  ohne  Begriff,  wenn  es 
nicht  mit  dem  eines  ,,  Systems  von  Kräften"  sich  b^;nägt,  wofür 
wir  lieber  „Materie**  setzen.  Demnach  steht  fest,  dass  die,  welche 
behaupten,  die  Kraft  nicht  selbstständig  denken  zu  können,  sie  in 
Verbindung  mit  dem  Stoffe  erst  recht  nicht  denken  können. 

Femer  wird  behauptet,  ,,die  Kraft  müsse  ein  Object  haben, 
auf  welches  sie  wirkt,  sonst  könne  sie  nicht  wirken".  Dies  iat 
unbedingt  zuzugeben,  nur  das  ist  zu  bestreiten,  dass  dieses  Object 
der  Stoff  sein  müsse.  „Die  Kraft  jedes  Atomes  hat  andere 
Atome  zu  ihrem  Objecto'*,  das  ist  Alles,  was  die  naturwissenschaft- 
liche Hypothese  verlangt;  was  an  den  Atomen  dasjenige  sei,  was 
als  Object  dient,  darum  kümmert  sich  die  Naturwissenschaft 
gar  nicht;  wir  aber  haben  zu  constatiren,  dass  wir  bis  jetzt  am 
Atom  nur  die  Kraft  kennen,  dass  nichts  im  Wege  steht,  die 
Kraft  als  dasjenige  am  Atom  zu  betrachten,  was  der  Kraft  de» 
anderen  Atomes  als  Object  dient,  dass  also  schon  aus  diesem 
Grunde  jede  Veranlassung  fehlt,  eine  neue  Hypothese  des  Stoffes 
aufzustellen.  Dazu  kommt  noch  die  Analogie  der  geistigen  Kräfte^ 
welche  ebenfSalls  einander  zu  Objeeten  haben,  z.B.  die  ^Is  Motir 
wirkende  Vorstellung  hat  den  Willen  als  Object,  der  Wille  hat 
wieder  die  Vorstellung  als  Object  u.  s.  f.  Schon  die  reine  Gegen- 
seitigkeit in  der  Beziehung  der  Atomkräfte  auf  einander  sollte  Tor 
der  Annahme  eines   anderen  Objectes  als  der  Kraft  selbst  warnen. 

Nehmen  wir  aber  nun  wirklich  einen  Augenblick  an,  die  Atome 
beständen  ausser  der  Kraft  auch  noch  aus  Stoff,  und  betrachten, 
welche  Schwierigkeiten  für  die  Vorstellung  beim  Aufeinanderwirkwi 
zweier  Atome  A  und  B  dadurch  entstehen,  und  wie  man  die  eine 


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417 

unberechtigte  und  überflüssige  Annahme  stets  duroh  neue,  ebenso 
willkürliehe  stützen  mnss.  Die  KxB,ft  yon  A  soll  wirken  auf  den 
8toff  von  B  und  umgekehrt ,  dadurch  nahem  sich  die  Stoffe  von 
A  und  B,  während  die  Kräfte  ausser  jeder  Beziehung  zu 
einander  stehen,  was  man  doch  yon  vornherein  gerade  umge- 
kehrt erwarten  sollte,  da  die  Kraft  es  ist,  welche  in  die  Ferne 
wirkt,  aber  nicht  der  Stof^  da  Kraft  und  Kraft  gleichartiger, 
Kraft  und  Stoff  aber  ungleichartiger  Natur  sind.  Die  Stoffe 
von  A  und  B  nähern  sich  also  in  Folge  der  momentcmen  Anziehung 
der  gegenseitigen  Kräfte.  Was  folgt  daraus?  Offenbar,  dass  Kraft 
und  Stoff  jedes  Atomes  sich  trennen  müssen,  denn  der  Stoff  wird 
durch  die  fremde  Kraft  veranlasst,  seinen  Platz  zu  ändern,  die 
Kraft  aber  nicht.  Soll  nun  dennoch  Kraft  und  Stoff  jedes  Atomes 
beisammen  bleiben,  und  dennoch  die  Kraft  nicht  durch  die 
Kraft  des  fremden  Atomes  direct  zur  Ortsveränderung  genöthigt 
werden  können,  so  folgt  mit  logischer  Nothwendig^eit ,  dass  die 
Kraft  von  A  durch  den  Stoff  von  A  zur  Ortsveränderung  genöthigt 
werden  muss.  Damit  ist  dem  Stoffe  aber  Wirken,  also  A  et i v  i  - 
tat  zugeschrieben,  während  er  im  Allgemeinen  gerade  die  absolute 
Passivität  gegenüber  der  Activität  der  Kraft  vertreten 
soll.  Die  Art  und  Weise  dieses  Wirkens  ist  aber  völlig  un- 
begreiflich, denn  wenn  der  Stoff  activ  wirkend  wird,  90 
wird  er  ja  schon  wieder  Kraft.  Anstatt  dass  also  die  Kraft  A, 
wie  natürlich  wäre,  die  Kraft  B  zu  sich  heranzieht,  bewegt  sie  den 
Stoff  von  B,   und   der  Stoff  von  B  bewegt  erst  die  Kraft  von  B. 

Wie  Kraft  an  Stoff  „gebunden"  sein  soll,  was  der  Liebliogs- 
aofidrack  der  Anhänger  des  Stoffes  ist,  dabei  muss  ich  gestehen,  kann 
ich  mir  gar  nichts  denken.  Auch  möchte  es  denselben  schwer 
Men,  Folgendes  zu  beantworten:  Soll  man  sich  die  Kraft  an  den 
Hittelpunct  des  stofflichen  Atomes  gebunden  denken,  oder  auf  den 
ganzen  Stoff  desselben  gleichmässig  vertheilt?  Denn  ein  stoffliches 
Atom  muss  doch  eine  gewisse  Grösse  haben! 

Erstere  Annahme  umgeht  die  mit  der  anderen  verknüpften 
Bchwierigkeiten  allerdings,  aber  dann  ist  die  Kraft  eigentlich  nicht 
mehr  an  den  Stoff  gebunden,  sondern  an  einen  mathema- 
tischen Punct,  der  doch  unmöglich  stofflich  sein  kann, 
uid  der  nur  zufällig  mit  dem  Mittelpuncte  einer  stofflichen  Kugel 
zusammenfallt;  dann  ist  das  Wirken  des  Stoffes  auf  die  Bewegung 
der  Kraft  erst  recht   nicht  zu  begreifen,  vielmehr  die   stoffliche 

T.  Hartnumi,  Phil.  d.  ünbevnusten .  27 


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418 

Kugel  ein  fiinfteB  Rad  am  Wagen,  da  nur  der  Pnnct,  das  ideelle 
Centrum  derselben  zur  Sprache  kommt.  Bei  der  zweiten  Annahme 
sind  £e  Schwierigkeiten  jedoch  noch  weit  grösser,  denn  dann  wirkt 
ja  von  jedem  Puncto  des  stofflichen  Atomes  ein  Theil  der 
Kraft  und  jeder  dieser  Puncto  hat  eine  andere  Entfernung  Ton  dem 
Atome ,  auf  welches  gewirkt  wird.  Es  ist  dann  erst  von  allen 
diesen  Partialkxäften  die  Eesultante  zu  nehmen,  deren  AngrifQspnnct 
nun  heim  Wirken  auf  endliche  Entfernungen  keineswegs  mebi  in 
den  Mittelpunct  der  stofflichen  Atomkugel  fallt,  sondern  nach  jeder 
Richtung  des  Wirkens  ei^  anderer  wird.  Zu  dieser  Betrachtong 
aber  muss  man  sich  offenbar  das  Atom  in  unendlich  viele  Th^e 
zerlegt  denken,  deren  jeder  mit  dem  unendlichsten  Theile  der  Kraft 
behaftet  ist.  Mag  man  sich  solch  ein  Atomtheilchen  so  klein 
denken,  als  man  will,  so  ist  es  doch  immer  noch  Stoff  und  noch 
kein  mathematischer  Punct,  also  kann  die  Verbindung  desselben 
mit  der  Kraft  doch  wieder  nur  begriffen  werden,  indem  man  die 
Kraft  gleichmässig  innerhalb  desselben  vertheilt  denkt;  so  ist  man 
abermals  zur  un^idlichen  Theilung  gezwungen  u.  s.  f.,  d.  h.  man 
muss  das  stoffliche  Atom  unendlich  mal  in's  üendliche  theilen,  und 
kommt  trotz  alledem  doch  niemals  dazu,  zu  begreifen,  wie  die 
Kraft  an  den  Stoff  vertheilt  ist,  da  man  die  Aeusserung  der  ein- 
fachen Kraft  schlechterdings  nur  auf  den  mathematischen 
Punct  bezogen  denken  kann,  und  dieser  wieder  nicht  mehr 
stofflich  ist  (Dies  haben  die  bedeutendsten  Physiker  und  Mathe- 
matiker^  wie  Ampfere,  Cauchy,  W.  Weber  u.  a.  m.,  anerkannt,  und 
deshalb  zugegeben,  dass  die' Atome  als  absolut  ausdehnungsloß 
gedacht  werden  miissten.) 

Betrachten  wir  dagegen,  wie  sich  die  Sache  ohne  Stoff  stellt 
Wir  haben  nichts  zu  thun,  als  die  Vorstellung  über  Atomkraft  fest- 
zuhalten, welche  auch  die  Vertheidiger  des  Stoffes  haben,  dass  sie 
die  letzte  unbekaunte  Ursache  der  Bewegung  ist,  deren  Wirkuugs- 
richtungen  rückwärts  verlängert,  sich  sämmtlich  in  einem  mathe- 
matischen Puncto  schneiden.  Selbst  wer  die  Atomkraft  auf  den 
ganzen  Stoff  des  Atomes  gleichmässig  vertheilt  annimmt»  kann,  wie 
gesagt,  sich  dieser  Anschauungsweise  nicht  entziehen,  denn  er  muss 
die  Gesammtkraft  des  Atomes  als  Resultante  einer  unendlichen 
Masse  punctueller  Kräfte  innerhalb  des  Atomes  auffassen,  wie  wider- 
spruchsvoll auch  diese  Anforderung  ist 

Femer  nehmen  auch   die  Vertheidiger  des  Stoffes  die  Mög- 


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liohkeit  einer  relatiTen  Ortsyeränderung  dieses 
Panctes  an,  in  welchem  sich  die  Bichtnngen  der  KraftäusBenin- 
gen  schneiden.  Wir  lassen  yorläofig  die  Frage  nnerörtert,  ob  die 
Kraft  als  solche,  abgesehen  von  ihren  Aeusseningen,  etwas  ist»  dem 
man  Bänmliohkeit  oder  einen  Ort  im  Eaume  beilegen  kann;  w6nn 
sie  einen  Ort  hat,  so  ist  es  jedenüalls  dieser  Burchschnitts- 
pnnct,  und  wir  nennen  deshalb  vorläufig  diesen  den  Sitz  der 
Kraft.  Wir  nehmen  femer  an,  dass  die  Atomkräfte  sich  gegensei- 
tig als  Objecte  dienen,  d.  h.  dass  die  gegenseitige  Anziehung  von 
A  und  B  die  Ortsyeränderung  des  Sitzes  der  Kräfte  bewirkt,  in 
dem  Sinne,  dass  dieselben  sich  einander  nähern;  bei  Abstossung 
sich  entfernen.  Ich  sehe  nicht,  wo  man  hier  Schwierigkeiten  finden 
könnte.  Die  Kräfte  wirken  nach  naturwissenschaftlicher  Annahme 
in  die  Feme,  und  sind  gleichartiger  Natur,  warum  sollen  sie  nicht 
auf  einander  wirken,  wenn  man  doch  bisher  eine  Wirkung  der 
Kraft  auf  den  ihr  heterogenen  Stofif  und  eine  Wirkung  des  todten 
Stoffes  auf  die  ihm  heterogene  Kraft  zugegeben  hat?  Wir  brauchen 
nur  Annahmen,  die  bisher  schon  da  waren,  streichen  yon  den  frühe- 
ren mehrere  als  überflüssig  und  ungerechtfertigt  weg,  kommen 
trotzdem  nicht  nur  ebenso  gut,  sondern  um  Vieles  einfacher  und 
plausibler  zum  Ziele,  und  yermeiden  alle  Schwierigkeiten,  die  sich 
im  Gefolge  jener  nutzlosen  Annahmen  einstellten.  Rechnen  wir 
dazu,  dass  jene  Annahmen  auf  einem  leeren  Worte  ohne  jeden 
Begriff  beruhen,  so  wird  der  aus  der  Vereinfachung  der  Frinci- 
pien  heryorgehende  Gewinn  nicht  gering  angeschlagen  werden  dürfen. 
Dazu  kommt  noch  als  Feuerprobe,  dass  unsere  nunmehrige 
Auffusung  der  Materie  die  beiden  bisher  getrennten  Parteien  der 
Atomisten  und  Dynamisten  in  sich  aufhebt,  da  sie  aus  dem 
Umschlag  des  Atomismus  in  Dynamismus  entstanden  ist, 
alle  bisherigen  Vorzüge  des  Atomismus,  die  ihm  seine  ausscfaliess- 
lidie  Geltung  in  der  heutigen  Naturwissenschaft  gesichert  haben, 
imangetastet  beibehält,  ihn  yon  allen  nur  zu  berechtigten  Vor- 
würfen der  Dynamisten  reinigt^  und  das  Grundprincip  des 
Dynamismus,  die  Lenkung  des  Stoffes,  auf  einem  neuen,  yiel  gründ- 
licheren Wege  aus  sich  gebiert.  Wir  können  diese  Auffassung 
daher  mit  Recht  atomistischen  Dynamismus  nennen.  Der 
l^ynamismus  in  seiner  bisherigen  Gestalt  konnte,  abgesehen  yon  dem 
Hangel  einer  .empirischen  Begründung^  schon  darum  niemals  yon 
der  Naturwissenschaft   acceptirt  werden,  weil  seine  Formlosigkeit 

27* 


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420 

jeden  Bechnungsansatz  unmöglich   machte.     Wenn  Kräfte  räamlich 
wirken  sollen,   so   müssen   sie  znnächst  ihre  Wirkungen  räamlich 
hestdmmen,  also  dieselben  auf  bestimmte  Ansgangspnncte  beziehen; 
hiermit  ist  unmittelbar  der  Pnnct  als  Ausgangspunct  der  materiel- 
len Kraft  gegebep,  daher  musste  auch  der  Dynamismus,  sobald  er 
sich  formell  näher  zu   bestimmen    suchte,  nothwendig  aus  sich  in 
Atomismus  umschlagen,  denn  er  gewann  eben  erst  dann  eine  greif* 
bare    Gestalt,    wenn    er  das  Spiel    entgegengesetster    Kräfte   auf 
Kraftindividuen,   d.h.  Atome,  bezog;  diesen  Standpunct  rer- 
tritt  schon  Leibniz  in  einer  ziemlich  ausgesprochenen  Weise.    „U 
riy  a  qae  les  points  mStaphi/siques^    ou  de  suhatance^   q^ 
soieni  exactea  et  rieh.  —  II  riy  a  que  les  atomes  de  substancif 
c^est  h  dire^  les  unitis  rSelles  et  absolumerU  dSstituSea  de  pariksy 
qui  soient  les  sources  des  actions  et  les  premiers  principes 
ahsolus  de  la  composüion  de  choses^   et  comme  les  demiers  äi- 
mens  de  JJanalyse  des   substances.*'  —   (Systeme  nouoeau  de  la 
naiure,   No,  IL)      Leibniz  begreift  die  „Substanz"  durchaus  nnr 
als  Kraft,  und  die  Kraft  ist  ihm  die  einzige  und  wahre  Substanx, 
vgl.  de  'primae  pkilosophiae  emendatione  ^  de  notione  substcmtiae; 
dass  er  dies  thut ,    und  mit  dem  Begriff  der  Kraft   implidte   den 
Begriff  des  Willens  in  die  Substanz  hineinlegt,  ist  sein  hauptsäch- 
licher metaphysischer  Fortschritt  gegen  Spinoza.    Freilich  war  da- 
mals die  Naturwissenschaft  noch  zu  weit  zurück,  als  dass  er  sich 
mit    ihr   in   wirksame   Verknüpfung    hätte    setzen   können.      Yiel 
näher  hätte  dies  Schelling  gelegen,   der   sich  ganz  entschieden  za 
einer  dynamischen  Atomistik  bekennt,  aber  principiell   seine  Be- 
hauptungen apriorisch  deducirt,  weshalb  auch  seine  Anschauungs- 
weise   auf   die   Naturwissenschaft   keinen    Einfluss    hat    gewinnen 
können.     Er  sagt  (Werke  L,  3,  S.  23): 

„Was  untheilbar  ist,  kann  nicht  Materie  sein,  so  wie  umge- 
kehrt, es  muss  also  jenseits  der  Materie  liegen;  aber  jenseits  der 
Materie  ist  die  reine  Intensität  —  und  dieser  Begriff  der 
reinen  Intensität  ist  ausgedrückt  durch  den  B^riff  der  Action."  — 
(S.  22):  „Die  ursprünglichen  Actionen  aber  sind  nicht  selbst  im 
Kaum,  sie  können  nicht  als  Theil  der  Materie  angesehen  wer- 
den. Unsere  Behauptung  kann  sonach  Princip  der  dynamischen 
Atomistik  heissen.  Denn  jede  ursprüngliche  Action  ist  für  uns, 
ebenso  wie  der  Atom  für  den  CJorpuscularphilosophen,  wahrhaft  in- 
dividuell, jede  ist  in  sich  selbst  ganz  und  beschlossen,  und  stellt 


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gkichBam  eine  Naturmonade  yor.^  (S.  24):  ,^m  Baum  aber  ist 
nur  ihre  Wirkung  dar8tellbar>  die  Action  selbst  ist  eher  als  der 
Baam^  eatensione  prior/'  — 

Wenn  so  einerseits  der  Dynamismus,  selbst  wo  er  zu  ato- 
mistisoher  Individualisation  der  Kraft  gelangte,  nicht  im  Stande 
war  y  sich  als  etwas  empirisch  Berechtigtes  auszuweisen ,  so 
konnte  andererseits  der  Atomismus  sich  zu  keiner  Zeit  gegen  den 
Vorwurf  der  logischen  Widersprüche  genügend  vertheidigen,  wel- 
cher Yon  jeher  gegen  seine  stofflichen  Atome  geltend  ge- 
macht worden  ist;  wenn  trotzdem  die  Naturwissenschaft  sich  mit 
immer  wachsender  Entschiedenheit  zu  ihm  hingewandt  hat,  so 
beweist  dies  doch  wohl  gewiss  eine  starke  innere  Nöthigung> 
mit  welcher  trotz  des  anerkannten  Widerspruches  die  Gewalt  der 
Thatsachen  den  Naturforscher  immer  und  immer  wieder  zur  ato- 
mistischen  Erklärung  hindrängte.  Der  atomistische  Dynamismus 
leistet  allen  Anforderungen  G^üge,  indem  er  die  positiven  Prin- 
cipien  beider  Seiten  in  sich  yereint. 

Becapituliren  wir  noch  einmal  kurz»  diese  Principien,  so  lauten 
sie :  Es  giebt  gleich  viel  positive  und  negative,  d.  i.  anziehende  und  ab- 
stossende  Ejräfte.  Die  Wirkungsriohtungen  jeder  Kraft  schneiden  sich 
in  einem  mathematischen  Punct,  welchen  wir  den  Sitz  der  Kraft  nen- 
nen. Dieser  Sitz  der  Kraft  ist  beweglich.  Jede  Kraft  wirkt  auf  jede  an- 
dere auf  dieselbe  Weise,  gleich  viel,  welches  Vorzeichen  dieselbe  hat. 
Die  positive  Kraft  heisst  Körper- Atom,  die  negative  Aether-Atom. 
Auf  eine  gewisse  endliche  Entfernung  ist  die  Abstossung  eines 
Aether-Atoms  und  die  Anziehung  eines  Körper- Atoms  einander  gleich, 
aber  da  das  Gesetz  ihrer  Veränderung  mit  der  Entfernung  ver- 
schieden ist^  überwiegt  zwischen  Aether-  und  Körper- Atom  auf  klei- 
nere Entfernungen  die  Abstossung,  auf  grössere  die  Anziehung.  Kör- 
per-Atome mit  zwischengelagerten,  sie  auseinander  haltenden  Aether- 
Atomen  vereinigen  sich  zu  den  Molecülen  der  chemischen  Elemente, 
diese  auf  dieselbe  Weise  zu  den  Molecülen  der  chemisch  zusam- 
mengesetzten Körper,  diese  zu  den  materiellen  Körpern  selbst. 
Die  Materie  ist  also  ein  System  von  atomistischen  Kräften  in  einem 
gewissen  Gleichgewichtszustande.  Aus  diesen  Atomkräften  in  den 
verschiedenartigsten  Combinationen  und  Beactionen  entstehen  alle 
Bogenannten  Kräfte  der  Materie,  wie  Gravitation,  Schwere,  Expan- 
sion, Elasticität,  Krystallisation ,  Electricität,  Galvanismus,  Magne- 
tismus, chemische  Verwandtschaft,  Wärme,  Licht  u«  s.  w.;  nirgends, 


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so  lange  wir  un0  im  unorganischen  Gebiete  bewegen,  branolieti  vir 
andere  als  die  Atomkräfte  zu  Hülfe  zu  rufen. 

Wir  haben  somit  gesehen,  dass  Ton  den  beiden  materialisti- 
sehen  Principien  Kraft  und  Stoff  das  letztere  unter  d^  Hand  in 
das  erstere  zerflossen  und  aufgegangen  ist,  und  wissen  jetzt  genat, 
was  wir  unter  der  Kraft  zu  verstehen  haben,  nämlich  einen  an- 
ziehenden oder  abstossenden  y  positiv  oder  negativ  wirkoiden 
Kraft punct.  Jetzt  ist  der  Begriff  der  Kraft  so  präcisirt,  dass 
wir  unmittelbar  auf  denselben  losgehen  können,  ohne  bei  der  Un- 
tersuchung befürchten  zu  müssen,  dass  wir  den  Begriff  anders  ge- 
fasst  haben,  als  die  Naturwissenschaft  und  der  Materialismus  ihn 
meint.     Sehen  wir  zu,  als  was  dieser  Begriff  sieh  ausweist. 

Die  anziehende  Atomkraft  strebt  jedes  andere  Atom  sieh 
näher  zu  bringen;  das  Resultat  dieses  Strebens  ist  die  Ausföhrong 
oder  Verwirklichung  der  Annäherung.  Wir  haben  also  in  der 
Kraft  zu  unterscheiden  das  Streben  selbst  als  reinen  Aotos, 
und  das,  was  erstrebt  wird,  als  Ziel,  Inhalt  oder  Objeot 
des  Strebens.  Das  Streben  liegt  vor  der  Ausführung;  insoweit  die 
Ausführung  schon  gesetzt  ist,  insoweit  ist  das  Streben  ver- 
wirklicht, ist  also  nicht  mehr;  nur  das  noch  zu  verwirk- 
lichende, also  noch  nicht  verwirklichte  Streben  ist.  Mithin 
kann  die  resultirende  Bewegung  nicht  als  Realität  in  dem  Stre- 
ben enthalten  sein,  da  beide  in  getrennten  Zeiten  liegen.  Wäre 
sie  aber  gar  nicht  in  dem  Streben  enthalten,  so  hätte  dieees 
keinen  Grund,  warum  es  Anziehung  und  nicht  irgend  etwas 
Anderes,  z.  B.  Abstossung  erzeugen  sollte,  warum  es  sich  nach  diesem 
und  nicht  nach  jenem  Gesetze  mit  der  Entfernung  ändert,  es  ivüte 
dann  leeres,  rein  formelles  Streben  ohne  bestimmtes  Ziel 
oder  Inhalt,  es  müsste  also  ziellos  und  inhaltslos  und  dem 
zufolge  resultatlos  bleiben,  was  der  Erfahrung  widerspriefat 
Die  Erfahrung  zeigt  vielmehr,  dass  ein  Atom  nicht  auf  sn- 
fällige  Weise  bald  anzieht,  bald  abstosst,  sondern  in  dem  Ziele 
seines  Strebens  völlig  consequent  und  immer  sich  selbst  ^eieh 
bleibt.  Es  bleibt  mithin  nichts  übrig,  als  dass  das  Strebe  ^er 
Anziehungskraft  die  Annäherung  und  das  Gesetz  der  Aendenmg 
nach  der  Entfernung  in  sich  enthält,  und  dennoch  nieht 
als  Realität  in  sich  enthält. 

Diese  Anforderungen  sind  nur  zu  vereinigen,  wenn  es  dasselbe 
als  einen   der  Realität  gleichenden  Schein,   gleicdisam  als 


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Bild  besitzt,  d.h.  aber,  wenn  es  dasselbe  ideell  oder  als  Vorstel- 
lung besitart.  Ich  wüsste  wenigstens  nicht,  was  sonst  noch  für  Er- 
focdemisse  zum  Ideellen  gehören  könnten,  als  dass  es  dasselbe  ist, 
wie  das  Beale,  aber  ohne  Kealität»  so  wie  umgekehrt  die  Bealität  an 
den  Bingen  das  Einzige  an  denselben  ist»  was  ni  cht  durch  das  Ben- 
ken gescha£fän  werden  kann,  was  über  ihren  ideellen  Inhalt  hinaus- 
geht. (Vgl.  SchelUng's  Werke,  Abth.  I.  Bd.  3,8. 364,  Z.  13—14.)  Nur 
wenn  in  dem  Streben  der  Atomkraft  das  „Was"  des  Strebens  ideell 
Torgezeiohnet  ist,  nur  dann  ist  überhaupt  eine  Bestimmtheit 
des  Strebens  gegeben,  nur  dann  ist  ein  Resultat  des  Strebens, 
nur  dann  jene  Consequenz  möglich,  die  m  demselben  Kraftiüdivi- 
duum  stets  dasselbe  Ziel  des  Strebens  festhält.  Selbstverständlich 
wird  man  hier  nur  an  unbewusste  Vorstellung  zu  denken  haben.  — 
Was  ist  denn  nun  aber  das  Streben  der  Kraft  anders 
als  Wille,  jenes  Streben,  dessen  Inhalt  oder  Object  die  un- 
bewusste Vorstellung  dessen  bildet,  was  erstrebt  wird?  Man 
vergleiche  nur  Cap.  A.  IV.;  was  wir  hier  aus  der  Kraft  ab- 
geleitet haben,  haben  wir  dort  aus  dem  Willen  abgeleitet.  Bass 
der  Wille  seiner  Natur  nach  etwas  direoter  Weise  ewig  Unbe- 
wusstes  ist,  haben  wir  Cap.  C.  in.  gezeigt,  dass  er  hier  auch  mit- 
telbar unbewuset  bleiben  muss,  da  sein  Inhalt  eine  unbewusste 
Vorstellung  ist»  versteht  sich  von  selbst  Nicht  gewaltsam  haben 
wir  den  Begriff  des  Willens  so  viel  erweitert,  dass  man  den  der 
Kraft  hineinschachteln  kann;  sondern  indem  wir  von  dem  als  sol- 
chem anerkannten  Willen  des  Himbewusstseins  ausgingen,  hat  die- 
ser Begriff  von  selbst  die  ihm  vom  Bewusstsein  unberechtigter 
Weise  gezogenen  Schranken  zerbrochen,  und  sich  nach  und  nach 
als  das  in  allen  Thätigkeiten  des  Thier-  und  Pflanzenreiches  wirk- 
same Prinoip  ausgewiesen.  Jetzt  sehen  wir  zu  unserem  Erstaunen, 
dass,  wenn  wir  unter  dem  Begriff  einer  (nicht  mehr  abgeleiteten,^ 
sondern  selbstständigen)  Kraft  irgend  Etwas  denken  wollen,  wir 
genau  dasselbe  dabei  denken  müssen,  was  wir  bei  Willen  ge- 
dacht haben 4  dass  also  beide  Begriffe  identisch  sein  würden, 
wenn  nicht  Kraft  durch  conventioneile  Beschränkung  seines 
Iidialtes  enger  wäre ,  und  ausserdem  noch  ganz  vorzugsweise  für 
abgeleitete  Kräfte  gebraucht  würde,  d.  h  für  bestimmte  Combina- 
tionen  und  Aeusserungen  der  Atomkräfte,  z.  B.  Elastioität,  Magne- 
tismus, Muskelkraft  u.  s.  w.  —  Es  wäre  also  schlecht,  den  Begriff 
Willen  duroh  den  Begriff  Kraft  zu  ersetzen,  oder  gar  ihn  unter  den 


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letzteren  za  BubBummiren,  weil  Kraft  ursprünglich  das  Abgeleitete» 
erst  im  strengsten  wissenschaftlichen  Sinne  das  Primäre,  dagegen 
Wille  immer  das  Primäre  bedeutet,  and  weil  Kraft  in  der  ge> 
wohnlichen  Sprachbedeutung  und  der  Anschauung  des  gemeinen 
Verstandes  ein  viel  unverstandenerer  Begriff  ist,  als  Wille,  man 
auch  durch  die  grobsinnliche  Auffassung  gewöhnt  ist,  sich  vor* 
zugrweise  etwas.  Materielles  bei  Kraft  zu  denken ,  da  d^  Begriff 
erst  Tom  Muskelkraftgefühle  auf  andere  äussere  Gegenstände  äbe^ 
tragen  ist.  So  viel  innerlicher,  wie  der  Wille  als  das  Muskelkraftr 
gefühl  ist,  so  viel  bezeichnender  ist  das  Wort  Wille  für  das  Wesen 
der  Sache  als  das  Wort  Kraft.  (Ygl.  Schopenhauer,  Welt  als  Wille 
und  Vorstellung  §.  22.) 

Die  Aeusserung  der  Atomkräfte  sind  also  indiyiduelle  Willens- 
acte,  deren  Inhalt  in  unbewusster  Vorstellung  des  zu  Leistenden 
besteht.  So  ist  die  Materie  in  der  That  in  Wille  und 
Vorstellung  aufgelöst.  Damit  ist  der  radicale  Untersofaied 
zwischen  Geist  und  Materie  aufgehoben,  ihr  Unterschied  beateht 
nur  ngch  in  höherer  oder  niederer  Erscheinungsform  desselben 
Wesens,  dös  ewig  ünbewussten.  Die  Identität  Ton  Geist  and 
Materie  hat  hiermit  aufgehört,  ein  unbe^ifPenes  und  unbewiesenes  * 
Postulat,  oder  ein  Product  mystischer  Gonception  zu  sein,  indem 
sie  zur  wissenschaftlichen  Erkenntniss  erhoben  ist,  und  zwar  nicht 
durch  Tödtung  des  Geistes,  sondern  durch  Lebendigmachung  der 
Materie. 

Betrachten  wir  jetzt,  wie  sich  der  Atomwille  zum  Baum  yer- 
hält.  Ohne  dass  wir  irgend  wie  nöthig  haben,  uns  auf  die  Frage 
nach  dem  Wesen  des  Baumes  einzulassen,  können  wir  so  viel  sagen: 
der  Baum  kann  eine  zwiefach^  Existenz  haben,  eine  reale  an  Kör- 
pern oder  begrenzten  Leeren,  und  eine  ideale  in  der  Vorstellung 
Ton  Körpern  und  b^prenzten  Leeren.  Wenn  der  ideale  Baum  in 
der  Vorstellung  ist,  so  kann  das  Vorstellen  nicht  im  idea- 
len Baume  sein,  den  es  erst  schafft;  wenn  Himschwingungen  das 
Fnbewusste  zu  einer  Beaction  mit  bewusster  Wahrnehmung  nöthi- 
gen,  so  hat  diese  Wahrnehmung  mit  dem  Ort  der  schwingenden 
Stelle  im  Hirn,  oder  dem  Ort  dieses  wahrnehmenden  Mensoheo 
auf  der  Erde  nichts  zu  thun,  die  Vorstellung  ist  also  auch  nioht 
im  realen  Baum.  Der  Wille  ist  das  Uebersetzen  des  Idea- 
len in's  Beale;  er  fügt  dem  Idealen,  seinem  Inhalt,  dasje- 
nige hinzu,  was  das  blosse  Denken  ihm  nicht  geben  kann,  indem 
er  ihn  realisirt;  indem  dieser  sein  Inhalt,   welcher  allemal  eine 

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Yontelliiiig  ist,  auch  ideell-räumliche  Bestunmungen  enthält,  reali- 
sirt  der  Wille  aach  diese  räumlichen  Bestimmungen  mit,  und  setzt 
so  auch  den  Baum  aus  dem  Idealen  in's  Eeale,  setzt 
so*  den  realen  Baum.  (Wie  der  Baum  im  Idealen  entsteht, 
geht  uns  hier  nichts  an,  genug  dass  der  Wille  es  ist,  der  den 
realen  Baum  setzt.)  Das,  was  der  Wille  erst  schafft,  kann 
nicht  Tor  vollendetem  Wollen  schon  yorhanden  sein,  der  Wille 
als  solcher  kann  also  nicht  realräumlioh  sein.  Mit  dem 
idealen  Baum  aher  hat  der  Wille  erst  recht  nichts  zu  thun,  denn 
der  existirt  ja  hloss  in  der  Idee,  d.  i.  in  der  Yorstellung.  Kurz 
and  gut,  Wille  und  Vorstellung  sind  beide  unräum- 
licher Natur,  da  erst  die  Vorstellung  den  idealen 
Baum,  erst  der  Wille  durch  Bealisation  der  Vorstel- 
lung den  realen  Baum  schafft.  Hieraus  folgt,  dass  auch 
der  Atomwille  oder  die  Atomkraft  nichts  Bäumliches  sein 
kann,   weil  sie,   wie  Sohelling  sagt,    extmsione  prior  ist. 

Dies  möchte  der  gewohnten  Auffassung  für  den  Augenblick  auf- 
fallend erscheinen,  das  Auffallende  yersch windet  aber  sofort,  wenn 
man  es  mit  den  räumlichen  Wirkungen  des  Willens  in  Organis- 
men yergleioht.  Der  Wille  bew^  in  mir  gewisse  Nervenmolecüle 
in  der  Weise,  dass  durch  Forlpflanzung  des  Stromes  und  Benutzung 
der  polarischen  Kräfte  in  Nerven  und  Muskeln  mein  Arm  einen 
Gentner  hebt.  Der -Wille  hat  also  gewisse  räumliche  Lagen- 
Teränderungen  hervorgebracht,  welche  wir  zwar  nicht  genauer 
kennen,  von  denen  wir  aber  so  viel  sagen  können,  dass  ihre  Be- 
wegungsrichtungen  sich  keineswegs  in  einem  gemeinschaft- 
lichen Durchschnittspuncte  treffen,  sondern  vermuthlich  in  Dre- 
hungen einer  grossen  Anzahl  von  Molecülen  um  ihre  Axe  bestehen. 
Die  Bewegung  erfolgt  gerade  in  dieser  Weise  deshalb,  weil  die 
unbewusste  Vorstellung,  welche  den  Inhalt  des  Willens  bildet,  ge- 
rade diese  Art  von  Bewegung  ideell  enthält  Enthielte  dagegen 
diese  Vorstellung  ideell  solche  Bewegungen,  welche  sich  in  einem 
gemeinschaftlichen  Puncto  schneiden,  so  würde  der  Wille  auch 
solche  Bewegungen  realisiren,  und  dies  thut  er  in  dem  Atom- 
willen. Man  sieht  also,  dass  der  gemeinschaftliche  Durchschnitts- 
ponct  aller  Aeusserungen  des  Atomwillens  etwas  rein  Ideelles, 
ich  möchte,  um  nicht  missverstanden  zu  werden,  noch  lieber  sagen : 
Imaginäres,  ist,  und  nur  mit  einer  grossen  Licenz  des  Aus- 
druckes der  Sitz  des  Willens  oder  der  Kraft  genannt  werden  kann; 


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denn  das  einzig  Baumliche  an  der  ganzen  Sache  sind  die  Ktaft- 
äusserungen,  welche  nie  und  nimmer  den  gemeinsamen  Buröh- 
BChnittspnnet  erreichen,  indem  dieser  immer  nnr  in  ihrer  idea- 
len Terlängening  liegt.  Trotzdem  muss  dieser  Ponct  ein  be- 
stimmter im  Yerhältniss  zn  allen  ührigen  sein  (denn  zum  oder 
im  hlossen  Banme  giebt  es  keinen  bestimmten  Funot),  da  nur  lo 
die  Lage  der  Eraftäusserungen  zu  einander  eine  bestimmte 
sein  kann,  d.  h.  also  die  Entfernung  des  idealen  DarchsdmittB- 
punctes  yon  allen  ähnlichen  Durohschnittspuncten  ist  bestimmt 
Baraus  folgt  natürlich,  dass  er  sich  auch  ändern  kann,  d.  h.  das« 
er  bewegungsföhig  ist. 

Was  geschieht  also  in  Wirklichkeit,  wenn  zwei  anziehende 
Kräfte  sich  einander  nahem?  Erstens  die  Anziehung  wäobst; 
zweitens  ihre  Wirkungen  auf  alle  seitlich  liegenden  Atone 
ändern  ihre  Kichtung  in  der  Art,  dass  ihre  nunmeh- 
rigen idealen  Durchschnittspuncte  einander  näher  gerüekt  gedadit 
werden  müssen;  die  «rste  und  die  zweite  Aenderung  stehen  in 
einem  solchen  Verhältnisse,  dass  die  Anziehung  um.  das  n^aehe 
gewachsen  ist,  wenn  die  aus  der  Eichtungsverschiebung  der  mir 
liehen  Eraftäusserungen  abgeleitete  Verminderung  der  Entfemnng 
der  Durchschnittspuncte  das  nfache  beträgt.  Das  Keale  sind  alio 
immer  nur  die  Kraft äusserungen,  die  eine  gewisse,  Bichtnng 
und  Stärke  haben,  und  die  Veränderungen  dieser  Bichtnng  nad 
Stärke,  während  die  Durchschnittspuncte  etwas  Ideales  sind  nnd 
bleiben.  Ersteres  Beides  bildet  aber  als  Vorstellung  den  Inhalt 
des  Atomwillens,  und  man  wird  nunmehr  verstehen,  wie  der  Wille 
selbst  etwas  ünräumliches  sein  kann,  und  keineswegs  indem 
idealen  Durchschnittspuncte  zu  wohnen  und  mit  diesem  ber- 
umzuwandern  braucht,  während  doch  die  Bealisationen 
seines  Inhaltes  räumlicher  Natur  sind  und  einen  gemeinschaft- 
lichen ideellen  Durchsehnittspunct  haben,  dessen  Lage  zu  anderen 
solchen  ideellen  Durohschnittspuncten  bestimmt  und  variabel  ist  — 

Es  konnte  hier  die  Frage  erhoben  werden,  ob  die  Atome 
ein  BewuBstsein  haben;  jedoch  glaube  ich,  dass  zu  einer  Entschei- 
dung derselben  zu  sehr  alle  Daten  fehlen,  da  wir  über  die  znt 
Bewusstseinserzeugung  erforderliche  Art  und  den  zur  Ueberschrei- 
tung  der  Empfindungsschwelle  nöthigen  GFrad  der  Bewegung  noeh 
so  gut  wie  gar  nichts  wissen.  So  viel  aber  können  wir  mit  Be- 
stimmtheit behaupten:  wenn  die  Materie  ein  Bewusstsein  hat,  so 


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ist  es  ein  atomis  tisch  es  Bewusstsein,  und  zwischen  den  Be- 
wasstseinen  der  einzelnen  Atome  ist  keine  Gemeinschaft 
möglich.  Damm  ist  es  entschieden  falsch,  Ton  dem  Bewusst- 
sein  eines  Krystalles  oder  eines  Himmelskörpers  zu  sprechen,  denn 
in  unorganischen  Körpern  können  höchstens  die  Atome  jedes  für 
sich  ein  Bewusstsein  haben.  Natürlich  würde  dieses  Atombewusst- 
sein  an  Axmuth  des  Inhaltes  die  denkbarst  letzte  Stufe  einneh- 
men. —  Leibniz,  welcher  das  Ph&nomen  der  Empfindungsschwelle 
noch  nicht  kennt,  glaubt  noch  berechtigt  zu  sein,  aus  dem  Gesetz 
der  Cbntinuität  (natura  non  facü  saUita)  und  dem  der  Analogie 
{ovfiTtvoia  Ttavta)  für  jede,  auch  die  niedrigste  Monade  einen  ge- 
wissen Grad  yon  Bewusstsein  ableiten  zu  dürfen«  Indess  durch 
das  Gesetz  der  Schwelle  verschwindet  diese  Berechtigung.  Wenn 
man  z.  B.  Eohlensäuregas  immer  mehr  comprimirt,  so  nimmt  es 
swar  einen  immer  kleineren  Baum  ein,  bleibt  aber  immer  noch 
Gas;  plötzlich  jedoch  kommt  man  an  einen  Punct,  wo  es-  nicht 
mehr  zusammendrückbar  ist,  sondern  flüssig  wird;  dies  ist,  so  zu 
sagen,  die  Schwelle  des  gasförmigen  Zustandes.  So  m^  auch  in 
der  Stufenreihe  der  Individuen  oder  Monaden  das  Bewusstsein  zu- 
nächst immer  ärmer  und  ärmer  werden,  aber  immer  noch  Bewusst- 
sein bleiben,  bis  plötzlich  ein  Punct  kommt,  wo  die  Abnahme  zu 
Ende  ist,  und  das  Bewusstsein  aufhört,  indem  die  Schwelle  der 
Empfindung  nach  unten  überschritten  ist.  Wer  vermag  aber  die- 
son  Punct  in  der  Natur  mit  Sicherheit  anzugeben? 

Wir  werden  schliesslich  die  Frage  zu  berücksichtigen  haben, 
ob  wir  bei  tinserer  jetzigen  Auffassung  der  Atome  als  Willensacte 
dieselben  noch  als  viele  Substanzen  ansehen  dürfen,  oder  nicht 
vielmehr  als  Erscheinungen  Einer  Substanz,  ob  also  jedem  Atom 
ein  gesonderter,  selbstständiger,  substantieller  Wille,  —  selbstver- 
ständlich dann  auch  mit  gesondertem  Yorstellungsvermögen  ausge- 
i^Miety  —  entspricht,  oder  ob  diesen  vielen  gegen  einander  wir- 
kenden AMionen  und  Thätigkeiten  ein  einziger  identischer  Wille 
zu  Grunde  Hegt.  Nachdem  wir  als  das  Reale  nur  die  Opposition, 
das  Widerspiel  der  Aotionen  erkannt,  die  Kräfte  selbst  aber  als 
etwas  schlechthin  Unräumliches  begriffen  haben,  verschwindet  jeder 
Grand,  Wille  und  Vorstellung  im  ewig  Unräumlichen  in  ^e  zahl- 
lose Vielheit  von  Einzelsubstiuizen  zu  zersplittern,  sobald  das  In- 
dmdnum  überhaupt  in  die  Sphäre  der  Erscheinung  herabsinkt,  wie 
wir  dies  in  Cap.  C.  VI.,  TD.,  und  X.  sehen  werden. 


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VL 

Der  Begriff  der  Individualität. 


Individotim  heisst  ein  ÜQiÜieilbares  (ebenso  wie  Atom),  doeh 
weif»  Jeder,  dass  Individuen  zerschnitten  und  getheilt  werden  kön- 
nen. Man  darf  also  bei  Indiyiduam  nur  an  iBtwas  denken »  w» 
seiner  Natur  nach  nicht  getheilt  werden  darf,  wenn  es  i» 
bleiben  soll ,  was  es  ist;  dies '  ist  aber  der  Begriff  der  Einlieh, 
griechisch  Monas  (nicht  zu  yerwei^iseln  mit  dem  Zahlbegriff  da 
Eins,  griechisch  ev).  Hiemach  würden  die  Begriffe  Einheit  od« 
Monas  und  Individuum  zusammenfiELllen,  doch  sieht  man  sehr  bald, 
dass  Einheit  ein  weiterer  Begriff  ist  als  Individuum,  d.  h.  jed« 
Individuum  ist  eine  Einheit,  aber  nicht  jede  Einheit  ist  ein  Indi- 
viduum. So  ist  z.  B.  jede  zusammenhängende  Gestalt  vermiß  der 
Gontinuität  des  Baumes  eine  Einheit,  ich  kann  dieselbe  nicht 
theilen,  ohne  sie  zu  vernichten ,  dennoch  werde  ich  nicht  die  so- 
MLige  Oestalteinheit,  wie  eine  Erdscholle,  ein  Individuum  nennen. 
Femer  hat  jede  Bewegung  oder  jeder  Vorgang  vermöge  der  Gonti- 
nuität der  Zeit  eine  Einheit,  z.  B.  ein  Ton,  auch  diese  Einheit  ist 
kein  Individuum.  (Vgl  v.  Kirchmann,  Philosophie  des  Wissen^ 
Bd.  I,  8.  131  —  141,  285  —  307.)  Die  Einheit  des  Ineinander 
seins  oder  der  gegenseitigen  Durchdringung,  wie  sie  z.  B.  bei  Ftf- 
ben,  Geschmacks-  oder  Geruchsmischungen  und  bei  verschiedenen 
Eigenschaften  in  demselben  Dinge  vorkommt,  roducirt  sich  theili 
auf  das  an  derselben  Stelle  sein,  theils  auf  das  zeitüolie 
Zugleichsein  der  verschiedenen  Eigenschaften,  theils  sof  die 
nim  folgende  caiisale  Einheit,  kann  also  nicht  als  besimdere  Art 
der  Einheit  betrachtet  werden.  Die  causale  Beziehnngseinheit  iflt 
die  stärkste,   welche  es  giebt;    wir  haben  von  ihr  drei  Arten  n 


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onteiBeheiden :  1)  die  Einheit  durch  Einerleiheit  der  Ursache  (wie 
bei  den  verschiedenen  Wahrnehmungen  eines  Dinges),  2)  die  Ein- 
heit dnroh  Einerleiheit  des  Zweckes  (wie  bei  den  vielen  Einrich- 
toogen  des  Auges  zum  Sehen),  3)  die  Einheit  durch  Wechselwir- 
kung der  Theile,  so  dass  die  Fiuction  jedes  Theiles  die  Ursache 
für  das  Eortbestehen  des  anderen  ist.  —  Auch  diese  Einheiten  ge- 
nagen  nicht  für  den  B^^riff  der  Individualität.  Ein  Beispiel  der 
ersten  ist  die  Einheit  der  vielen  Wahrnehmungen  eines  Dinges,  inso- 
fern dieselben  die  Identität  des  Ortes  und  der  Zeit  nicht  unmit- 
telbar in  sich  enthalten,  sondern  nur  auf  das  Ding  als  identische 
Ursache  bezogen  werden;  Niemand  wird  behaupten,  dass  die  Ein- 
heit der  Wahrnehmungen  eines  Dinges  ein  Individuum  sei.  Wenn 
zweitens  die  Einheit  des  Zweckes  in  einem  auszuführenden  Bau 
besteht,  so  wird  man  die  Summe  der  Arbeiter,  welche  diesen  Zweck 
haben,  nicht  ein  Individuum  nennen;  wenn  drittens  ein  Lcmd  von 
den  Katurproducten  seiner  Golonien  lebt,  und  die  Golonien  nur 
durch  den  Import  der  Kunstproducte  aus  dem  Mutterlande  existi- 
ren,  so  ist  eine  vollkommene  Wechselwirkung  da,  und  doch  wird 
Niemand  die  Summe  von  Golonien  und  Mutterland  ein  Individuum 
nennen. 

Jede  dieser  Einheiten  erweist  sich  also   als  ungenügend,  um 
^     den  Begriff  des  Individuums  zu  fixiren.     Ebenso  unzureichend  sind 
t     die  äusserlichen  Kennzeichen,    welche  man  hier  xmd  da  als  Merk- 
mal der  Individualität  aufgestellt  findet,  z.  B.  die  Entstehung  aus 
^em  Ei  oder  Einem  Saamenkeim.    Danach  müssten  alle  Trauer- 
weiden Europa's  ein  Individuum  sein,   da  sie  historisch  nachweis- 
lich von   einem    einzigen    aus    Asien  nach   England    eingeführten 
^     Baume  durch  Ableger  gezogen  sind,    also  alle  aus  Einem  Saamen- 
keim stammen;  danach  müsste  der  aus  einem  Ei  hervorgewachsene 
■      Polypenstock  Ein  Individuum  sein  und   man  müsste  den  einzelnen 
k     Polypen  die  Individualität  absprechen.      Ebenso    wenig,    wie    die 
y      Abstammung  aus  Einem  Ei   kann   die  typische  Idee  der  Gattung 
:      JÜfl  Merkmal  des  Individuums  gelten;    denn  die  typische  Gattungs- 
idee ist  die  Idee  eines  Normalindividuums,  welches  die  Gat- 
tung repräsentirt,  weil   es   frei  von  zufälligen  Besonderheiten   ist, 
uid  man  gewinnt  diese  Idee  des  Normalindividuums,    indem    man 
Ton  allen  Individuen  einer  Gattung  die  zufälligen  Besonderheiten 
^en  lässt,  und  nur  das  gesetzmässig  Gemeinsame  in  der  Abstrac- 
tion  festhält.     Man  sieht  hier  sofort,  da^s   man   das  Merkmal   des 


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Individaums  schon  haben  mnas,  um  die  vielen  Individuen  Te^ 
gleichen  und  den  normalen  Typus  aussondern  £u  können,  dass  also 
unmöglich  dieser  Typus  rückwärts  als  Merkmal  des  Individatuna 
gelten  darf,  da  man  sich  dabei  bloss  im  Kreise  drehen  würde. 
Ausserdem  aber  haben  wir  ja  unzweifelhafte  Individuen,  aoch  vo 
dieselben  die  Gattungsidee  nicht  oder  unvollständig  repräsentiren. 
So  gehört  zur  Idee  der  Pflanze  die  Wurzel,  zur  Idee  des  Polypen 
die  Pangarme;  wenn  ich  aber  einen  Pflanzenzweig  oder  ein  Stock 
der  Polypenröhre  abschneide ,  so  haben  diese  keine  Wurzeln  resp. 
Fangarme  und  führen  dennoch  ein  selbstständiges  Leben  weiter, 
da  sie  alle  Bedingungen  der  Eortexistenz  in  sich  tragen,  man  kaoB 
ihnen  unmöglich  die  Individualität  absprechen.  Die  Abstammang 
von  Einem  Eie  und  die  typische  Qattungsidee  erweisen  sich  also 
als  ganz  unbrauchbar  zu  Merkmaien  des  Individuums;  kehren  vir 
deshalb  zu  dem  B^;riff  der  Einheit,  wie  wir  ihn  vorher  fassten,  zuräok« 

Zwar  waren  die  einzelnen  betrachteten  Arten  der  Einheit 
ebenfalls  unzureichend,  aber  wenn  jede  einzelne  für  die  Begren- 
zung des  Begrifles  Individuum  zu  weit  ist,  so  kann  doch  die  Ve^ 
bindung  aller  dieser  Arten  von  Einheit  in  Einem  Dinge  die  nothi- 
gen  Beschränkungen  gewähren.  Wir  hatten  nämlich  für  das  Ibt 
dividuum  deshalb  die  Einheit  gefordert,  weil  es  seiner  Natur  nach 
nicht  getheilt  werden  können  sollte;  nun  ist  aber  klar,  dass  diese 
Anforderung  nur  dann  erfüllt  ist,  wenn  es  nicht  bloss  in  dieser 
oder  jener  Beziehung,  sondern  in  allen  möglichen  Beziehungen 
wesentlich  untheilbar  ist,  d.  h.  wenn  es  alle  möglichen  Arten 
der  Einheit  in  sich  vereinigt.  Dass  die  fünf  oben  besprochoien 
Arten  der  Einheit  in  der  That  alle  möglichen  und  die  einzig  mög- 
lichen sind,  ist  unschwer  zu  sehen,  denn  sie  erschöpfen  die  drei 
subjectiv-objectiven  Formen:  Baum,  Zeit  und  Gausalität 

Damit  haben  wir  also  eine  genügende  Definition  des  Indiri- 
duums  gewonnen;  das  Individuum  ist  ein  Ding,  welches  alle  fonf 
möglichen  Arten  von  Einheiten  in  sich  verbindet:  1)  räumliche 
Einheit  (der  Gestalt),  2)  zeitliche  Einheit  (Continuität  des  Wir- 
kens), 3)  Einheit  der  (inneren)  Ursache,  4)  Einheit  des  Zw  eck  es, 
5)  Einheit  der  Wechselwirkung  der  Theile  unter  einander  (so- 
fern welche  vorhanden  sind ;  sonst  fällt  natürlich  die  letzte  fort).  — 
Wo  die  Einheit  der  Gestalt  fehlt,  wie  beim  Bienenschwarm, 
spricht  man  trotzdem,  dass  alle  übrigen  Einheiten  auf  das  Schla- 
gendste vorhanden  sind,  nicht  von  Individuum.    Wo  die  Continnitit 


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dee  Wirkens  fehlt ,  wie  bei  erfrorenen  nnd  wieder  aufgethauten 
Fiflchan,  bei  eingetrockneten  und  wieder  aufgeweichten  Räderthier- 
cheuy  ist  zwar  eine  Einheit  des  Dinges  vorbanden,  doch  würde  ich 
es  für  falsch  halten,  von  Einheit  des  Individuums  zu  sprechen; 
man  hat  dann  eben  zwei  Individuen,  die  durch  die  Pause  in  der 
Lebensthätigkeit  geschieden  sind,  so  wie  ich  von  einem  vor  1000 
Jahren  lebenden  Menschen  geschieden  bin.  Bass  von  den  drei 
causalen  Einheiten  dem  Individuum  keine  fehlen  darf,  ist  wohl 
selbstredend. 

Es  ist  von  entscheidender  Wichtigkeit  für  den  Begriff  des 
Individuums  y  dass  keine  dieser  Einheiten  etwas  absolut  Starres, 
nach  aussen  Abgeschlossenes  ist,  sondern  jede  niedere  Einheiten 
derselben  Art  in  sich  befassen  und  mit  mehreren  ihres  gleichen 
von  einer  höheren  Einheit  gemeinschafliich  ufasst  sein  kann.  Es 
ist  ein  ganz  vergebliches  Bemühen,  für  irgend  welche  Art  der  Einheit 
einen  Abschluss  zu  suchen,  es  sind  immer  wieder  höhere  Einhei- 
ten denkbar,  welche  sie  mit  einschüessen ,  sowie  Alles  zuletzt  in 
der  Einheit  der  Welt  aufgehoben  ist  und  diese  wieder  von  einer 
metaphysischen  Einheit  verschiedener,  uns  unerkennbarer  coordinir^- 
ter  Welten  überragt  sein  kann.  Wenn  dies  für  den  Begriff  der 
Einheit  gilt,  so  zeigt  es  schon  an,  dass  es  auch  für  den  Begriff  des 
Individuums  gelten  wird,  und  dass  auch  für  dieses  die  Abscbliessung 
nach  aussen  und  die  starre  Besonderung  nur  Schein  ist.  Die- 
ser Schein  für  die  oberflächliche  Betrachtung  entspringt  nämlich 
daraus,  dass  das  Individuum  erst  durch  Zusammensetzung  aller 
oben  genannten  Einheiten  entsteht;  sollen  nun  mehrere  Individuen 
in  einem  Individuum  höherer  Ordnung  enthalten  sein,  so  gehört 
dazu  sowohl  in  den  Individuen  der  niederen  als  in  dem  der  höhe- 
ren Ordnung  ein  Zusammentreffen  aller  dieser  Arten  von  Ein- 
heiten-,  wenn  dagegen  in  ersteren  oder  letzteren  irgend  eine  Art 
der  Einheit  fehlt,  so  bleibt  zwar  die  Unterordnung  der  übrigen 
Einheiten  unter  die  höheren  bestehen,  aber  es  ist  dann  nicht 
mehr  ein  IJmfasstsein  mehrerer  Individuen  durch  ein  höheres 
vorhanden.  Selbst  Spinoza,  der  Monist  vom  reinsten  Wasser,  sagt 
(Eth.  Th.  2,  Satz  7,  Post  l):  „Der  menschliche  Körper  besteht 
aus  vielen  Individuen  von  verschiedener  Natur ,  von  denen  jedes 
sehr  zusammengesetzt  ist%  und  Leibniz  führt  diese  Idee  in  seiner 
Monadologie  weiter  aus. 


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Betrachten  wir  die  Sache   zunächst  an   geistigen  Indiyidaen, 
wo  die  Verhältnisse  yiel  einfacher  liegen.     So   weit  wir  Dämlich 
bisher  von  Individuen  gesprochen  haben,   war  nur  yon  materiellen 
Individuen   die   Bede;   etwas   ganz  Anderes  als  diese   und  keines- 
w^s  mit  ihnen  zusammenfallend   sind   die    geistigen  Indiyidaent 
welche  4aher  eine  ganz  besondere  Untersuchung  verlangen.    Hatte 
man  sich  schon  früher  zur  Trennung  der  Untersuchung  für  geistige 
und  materielle  Individuen  entschlossen,    so  würde  in  dem  Gebiete 
dieses  Begriffes  bei  Weitem  nicht  die  jetzt  erschreckende  Yerwimmg 
herrschen.  —  Wir  haben  hier  wieder  bewüsst-geistige  und  unbeTiniflat- 
geistige  Individuen  zu  unterscheiden,  und  sprechen  vorläufig  nur  von 
ersteren.  Schon  Locke  hat  es  ausgesprochen,  dass  die  Identität  der  Pe^ 
son  ausschliesslich  auf  der  Idenülät  desBewusstseins  beruhe,  und  diese 
Wahrheit  ist  von  allen  späteren  Philosophen  bereitwillig  anerkannt 
worden.     Die  nicht  getheilt  werden  dürfende  Einheit,  in  welcher 
das  Individuum  seinen  Bestand  hat,  ist  also  hier  die  Einheit  dei 
Bewusstseins,  welche  wir  im  Cap.  C.  III.  betrachtet  haben.    Denn 
erst  dadurch,  dass  die  zeitlich  oder  räumlich  im  Gehirn  getrennten 
Bewusstseine  zweier  Vorstellungen  unter  das  gemeinsame  BewoBst- 
sein    des  Vergleiches   aufgehoben  werden,    d.  h.    in   diesem  ihre 
höhere  Einheit  finden,  erst  dadurch  wird  es  möglich,  dass  das  Sab- 
ject   oder   die  instinctiv  supponirte  Ursache   der  einen  und  der 
anderen  Vorstellung  als  ein  und  dasselbe  erkannt   und  somit  beide 
auf   eine   gemeinschaftliche   innere  Ursache  (Ich)  bezogen  werden. 
Kur  so  weit  die  Einheit  des  Bewusstseins  reicht,  reicht  die  Einheit 
der  Seelenvorgänge  durch   causale  Beziehung  auf  ein  gemeinschaft- 
liches Subject,    nur  so   weit  reicht  das    bewusst  -  geistige  Indiri- 
duum.     Nun  wissen  wir^  dass  in  den  untergeordneten  Nervencentren 
der  Menschen    und  Thiere    bewusste    geistige    Brocesse    vor  sich 
gehen,    welche  innerhalb  eines  jeden  Oentrums   vermöge  der  Güte 
der  Leitung  zu  einer  innigen  Einheit  verbunden  sind;   wir  werden 
also  in  diesen  Einheiten    nothwendig  geistige  Individuen  anerken- 
nen müssen.     Man  darf  hiergegen  nicht  einwenden,  dass  diese  an- 
deren Centra  geistig    zu   tief  stehen,    um  zum  Selbstbewusstsein, 
zum  Ich  zu  kommen;  dieses  Ich  wird  eben  instinctiv  supponirt» 
d.  h.  es  braucht   gar  nicht   als  Selbstbewusstsein  aufzutreten,  es 
wird  doch  so  gehandelt,  als  wenn  das  Selbstbewusstsein  vorhanden 
wäre,  und  alle  Handlungen   auf  das  loh  bezöge.     Dies   sehen  wir 
ja  noch  bei  den  niedrigsten  Thieren  und  Pflanzen,  und  nennen  es 


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433 

zoopsjchologisoh  Selbstgefühl.     Es  steht  also  Nichts  im  Wege,  die 
niederen  Nervencentra  als  Träger  bewusstgeistiger  Individuen  anf- 
Anfassen;  wenn  wir  aber  weiter  sehen,  dass  Empfindungen  yerschie- 
dener  Nervenoentra  unter  besonderen  umständen  in  Ein  Bewusst- 
sein  aufgehoben  werden  können,  was  mehr  oder  weniger  im  Ge- 
meingefühle fortwährend  stattfindet,    so    kann   man  nicht    umhin, 
diese  Bewusstseinseinheit  als  ein  höheres  geistiges  Individuum  an- 
zuerkennen, welches  die  niederen  Individuen  in  sich  befEisst.   Wenn 
wir  femer  erwägen,   dass  die  eigentlich  thätigen  Theile  der  bloss 
2ar   Leitung    bestimmten     weissen    Nervenfasern,    nämlich    ihre 
Azencylinder,    ganz   dasselbe  wie   die  graue  Masse  ist,    und    das 
weisse  Ansehen  bloss  durch  die  zur  Isolirung  der  Fasern  bestimmte, 
zwischen  Axencjiinder  und  Fasermembran  abgelagerte  Harkmasse 
hervorgerufen  wird,  so  kann  man  sich   dem  Schlüsse  nicht  entzie- 
hen,  dass    die  thätigen  Theile  auch  der  weissen  Nervenmasse  ein 
eigenes  Bewusstsein  irgend  einer  Art  von  den  Schwingungen  haben, 
welche  sie  freilich  in  der  Oekonomie  des  Ganzen  nur  fortzuleiten 
b^timmt    sind.     Ebenso    haben    die   sich    contrahirenden  Muskel- 
fasern oder  die  auf  Nervenanregungen  sich  verändernden  secemiren- 
den  Häute  ganz   sicher  eine  gewisse  Empfindung  von   diesen  Vor- 
gängen, da  de  ja  geeignet  sind,  die  sie  anregenden  Nervenschwin- 
gongen  über  die  Grenzen  der  Nervenfasern  hinaus  zu  den  benach- 
barten Theilen  fortzupflanzen.     Erinnert   man  sich  femer  der  Ke- 
snltate  des  Cap.  G.  lY.,  wonach  wir  auf  ein  Zellenbewusstsein  in 
den  Pflanzen  gekommen  sind,    so    liegt   die  Annahme   sehr  nahe, 
dass  auch  die  theüweise  noch  höher  als  die  Pflanzenzellen  o^ani- 
flirten  thierischen  Zellen  ihr  Sonderbewusstsein  haben,  eine  Annahme, 
die  später   in    diesem  Gapitel    noch   weitere  Bestätigungen  finden 
wird.     So  viel  ist  gewiss,  dass  die  thierischen  Zellen  zum  grossen 
Theile  ebenso  selbstständig  leben ,  wachsen ,  sich  vermehren ,    und 
ihren  speciflschen  Beitrag  zur  Erhaltung  des  Ganzen  liefern,  als  die 
Pflanzenzellen;  warum  sollen  sie,   wenn  sie  ein  ebenso  selbststän- 
diges Leben  führen,  nicht  ebenso  selbstständige  Empfindung  haben? 
Virchow  sagt  (Cellularpathologie  3.  Aufl.  S.  105):  „Erst  wenn  man 
die  Aufiaahme  des  Emährungsmaterials  als  eine  Folge  der  Thätig- 
kät  (Anziehung)  der  Gewebselemente  selbst  auffasst,  begreift  man, 
dass  die  einzelnen  Bezirke  nicht  jeden  Augenblick  der  üeberschwem- 
mung  vom  Blute  aus  preisgegeben  sind,   dass  vielmehr  das  darge- 
botene  Material  nur  nach   dem  wirklichen  Bedarfe   in  die  Theile 

T.  HartinABn,  Fhil.  d.  ünbewoBsfeen.  28 


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434 

angenommen  und  den  einzelnen  Bezirken  in  einem  solchen  Maasse 
zugeführt  wird,  dass  im  Allgemeinen  wenigstens,  so  lange  irgend 
eine  Möglichkeit  der  Erhaltung  besteht,  der  eine  Theil  nicht  durch 
die  anderen  wesentlich  benachtheiligt  werden  kann.^  Wenn  diese 
selbsteigene  Thätigkeit  der  Zelle  schon  für  die  Aufnahme  der 
Ernährungsstoffe  gilt ,  um  wie  riel  mehr  für  ihre  chemische  und 
formale  Umwandlung;  giebt  es  doch  grosse  Gebieie  im  thierischeii 
Körper ,  die  der  Nerven  und  OefHsse  Töllig  entbehren ,  z.  B.  die 
Substanz  der  Oberhaut,  Sehnen,  Knochen,  Zähne,  Easerknorpel,  und 
doch  findet  eine  Saftcirculation  durch  die  Zellen  wie  bei  Pflanz^i 
statt,  und  ein  Leben  und  eine  Yermehrung  der  Zellen  ohne  An- 
regung von  Nerven.  Wenn  die  thierischen  Zellen  so  individueller 
Leistungen  fähig  sind,  gerade  wie  in  der  Pflanze,  sollten  sie  dt 
nicht  auch  wie  jene  Träger  eines  individuellen  Bewusetseins  sein? 
Der  Unterschied  ist  nur  der:  im  Thiere  verschwindet  die  Bedeu- 
tung der  Bewusstseinsindividuen  der  Zellen  gegen  die  Bewusstseini- 
individuen  höherer  Ordnungen,  in  der  Pflanze  aber  sind  die  Zellen- 
bewusstseine  die  Hauptsache,  weil  es  überhaupt  nur  in  gewissen 
empflndlichen  und  bevorzugten  Theilen,  wie  Blüthen  u.  s.  w.,  xn 
der  Rede  werthen  Bewusstseinsindividuen  hölierer  Ordnung  kommt 

Würde  endlich  jemals  die  Frage  nach  dem  Bewusstsein  der 
Atome  bejahend  zu  entscheiden  sein,  so  würden  die  Atome  schliesslidi 
die  Bewusstseinsindividuen  unterster  Ordnung  sein.  So  haben  wir 
für  bewusst-geistige  Individuen  die  Ineinanderschachtelung  der  b- 
dividuen  höherer  und  niederer  Ordnungen  als  richtig  befanden, 
wir  haben  sie  jetzt  bei  materiellen  Individuen  zu  betrachten. 

Yirchow  sagt  (Vier  Beden  über  Leben  und  Kranksein,  IL, 
über  Atome  und  Individuen,  S.  62):  ,J>em  Einen  gilt  die  ganse 
Pflanze  als  Individuum,  dem  Anderen  der  Ast  oder  Spross,  dem 
Dritten  das  Blatt  oder  die  Knospe,  dem  Vierten  die  Zelle,  und 
jede  dieser  Ansichten  hat  gewichtige  Gründe  für  sich.''  Natürli(di, 
es  hat  Jeder  von  den  Vieren  Becht,  dass  er  dies  oder  jenes  als 
Individuum  behauptet,  unrecht  aber,  dass  er  die  Behauptongen 
der  Anderen  bestreitet,  denn  es  handelt  sich  hier  nicht  um  ^ 
entweder,  oder,  sondern  um  ein  sowohl,  als  auch.  Sow(^ 
die  ganze  Pflanze,  als  auch  jeder  Ast  und  Spross ,  als  auch  jedes 
Blatt,  als  auch  jede  Zelle  verlandet  in  sich  alle  Einheiten,  wel<^ 
zur  Individualität  nöthig  sind;  ganz  falsch  aber  wäre  es,  und 
völlig    unhaltbar,    wenn    man    räumliche    Besonderung    und   Äh- 


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435 

flcUiesAimg  als  Bedingimg  der  Individaalität  behaupten  wollte, 
denn  dann  würden  die  zahlreichen  Beispiele  yon  äosserlich  an 
irgend  einer  Kautstelle  yerwachsenen  Zwillingsgeburten ,  welche 
mitunter  30  —  40  Jahre  lebten ,  stets  als  nur  Ein  Individuum  zu 
betrachten  gewesen  sein,  was  doch  gar  zu  widersinnig  wäre. 
Ebenso  gewiss  ist  es  falsch,  von  einem  Individuum  Selbstständig- 
keit der  Existenz  ohne  die  Unterstützung  anderer  Individuen  zu 
fordern;  man  denke  nur,  was  aus  dem  Säugling  würde,  wenn  die 
Mutter  ihm  nicht  die  Brust  reichte,  oder  aus  jungen  Raubthieren, 
wemi  die  Eltern  sie  nicht  mit  auf  die  Jagd  nähmen ,  und  doch 
wird  Nienmnd  den  Kindern  und  jungen  Thieren  die  Individualität 
absprechen  wollen.  —  An  einem  Folypenstock  ist  so  gewiss  jedes 
einzelne  Thier  ein  Individuum,  als  der  ganze  Stock  ein  Individuum 
ist,  da  seine  Theile,  wie  die  Glieder  eines  sogenannten  einfachen 
Thieres,  durch  die  Gemeinschaft  des  Emährungsprocesses  auf  einan* 
der  angewiesen  sind,  und  trotz  dem  ihre  morphologische  Selbst- 
ständigkeit behaupten.  „Jeder  zusammengesetzte  Zoophyt  entspringt 
aus  einem  einzigen  Polypen  und  wächst  (wie  eine  Pflanze)  durch 
fortgesetzte  Knospenbildung  zu  einem  Baume  oder  zu  einer  Kup- 
pel heran.  Ein  12  Fuss  Durchmesser  haltender  Asträastamm  ver- 
einigt etwa  100,000  Polypen,  deren  jeder  Vs  Quadrat-Zoll  einnimmt; 
bei  einer  Porites,  deren  Thierchen  kaum  1  Linie  breit  sind,  würde 
deren  Zahl  5^2  Million  übersteigen.  Bei  ihr  sind  also  eine  gleiche 
Anzahl  von  Mäulem  und  Magen  zu  einem  einzigen  Pflanzenthier 
verbunden,  und  tragen  gemeinschaftlich  zur  Ernährung, 
Knospenbildung  und  Yergrösserung  des  Ganzen  bei,  sind  auch  unter 
einander  seitlich  verbunden.'^  (Dana  in  Schleiden's  und  Fror.  Not. 
1847,  Juni  No.  48.) 

Wer  einem  Eichbaum  Individualität  zuschreibt,  muss  sie 
auch  einem  solchen  Polypenbaum  zuerkennen.  —  Volmx  globator, 
das  Kugelthier,  gehört  zwar  nicht  zu  den  Korallenthieren,  ist  aber 
auch  ein  von  vielen  einzelnen  Thierchen  gebildeter  Polypenstock, 
die,  am  Umfange  einer  Kugel  sitzend,  nur  durch  fedemartige  Bxih- 
Ten  verbunden  sind.  „Thut  man  etwas  blaue  oder  rothe  Farbe 
in's  Wasser  unter  dem  Mikroscop,  so  erkennt  man  sehr  deutlich 
eine  kräftige  Strömung  um  die  Kugeln.  Diese  ist  eine  Folge  der 
äesammtwirkung  aller  Einzelthierchen,  die  wie  Thierheerden,  Vo- 
gelzüge, selbst  singende  oder  tanzende  Menschen  und  Yolkshaufen 
einen  gemeinsamen  Ehythmus  und  eine  gemeinsame  Eichtung  an- 

28* 


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•-H^r 


436 

nehmen,  oft  selbst  ohne  Commando,  und  ohne  sich  des  Willou 
dazu  klar  bewusst  zu  werden.  So  schwimmen  alle  Folypenstöcke, 
und  der  gemüthliche,  wie  der  kälter  ortheilende  NatarfoTBcher 
erkennt  hierin  einen  Gesellschaftstrieb,  welcher  aus  Kraft  und 
Nachgiebigkeit  für  gemeinsame  Zwecke  besteht,  einen  Zustand, 
der  eine  geistige  Thätigkeit  verlangt,  die  allzugering  anzuschlagen 
man  nicht  berechtigt,  nur  verfuhrt  sein  kann.  Nie  darf  man  auch 
vergessen,  dass  alle  Einzelthierchen  Empfindongsorgane  besitzen, 
die  den  Augen  vergleichbar  sind,  und  dass  sie  mithin  nicht  blind 
sich  im  Wasser  drehen,  sondern  als  Bürger  einer  unserem  üriheila 
femliegenden  grossen  Welt  den  Genuss  einer  empfindungsreichen 
Existenz,  so  stolz  wir  uns  auch  geberden  mögen,  mit  uns  theü^*' 
(Ehrenberg  in  seinem  grossen  Infosorienwerk,  S.  69.)  Es  ist  dieses 
Urtheil  deshalb  so  interessant,  weil  es  zeigt,  wie  der  schlichte,  aber 
grosse  Naturforscher,  von  den  einfachen  Thatsachen  überwältigt^ 
einen  Masseninstinct  und  ein  reges  Geistesleben  auf  jenen  niederen 
Thierstufen  anerkennt.  „Im  Mittelmeere  giebt  es  ein  reiches  Ge- 
schlecht prächtiger  Schwimmpolypen,  welche  namentlich  Carl  Vogt 
{Recherches  sur  les  animaux  infSrieura  de  la  MSdilerranSe)  der 
Eenntniss  der  Gebildeten  zugänglich  gemacht  hat.  Aus  einem  £i 
entwickelt  sich  ein  junger  Polyp.  Frei  im  Meer  schwimmend  be- 
ginnt er  zu  wachsen.  An  seinem  oberen  Ende  bildet  er  eine 
Blase ,  in  welcher  Luft  firei  wird ,  die  ihn  trägt.  An  seinem 
unteren  Ende  gestalten  sich  in  immer  reichlicherer  und  schönerer 
Ausstattung  Fühler  und  Fangschnüre  mit  sonderbaren  Nesselorganen. 
An  seinem  Stamme,  der  sich  immer  mehr  verlängert,  findet  sich 
eine  durchlaufende  Röhre.  Von  diesem  Stamme  entstehen  knospen- 
artige Sprossen.  Die  einen  davon  bilden  Schwimmglocken,  die 
sich  und  damit  das  Ganze  fortbewegen.  Die  anderen  wandeln  sich 
in  neue  Polypen  um ,  welche  Mund  und  Magen  besitzen  und  die 
Nahrung  für  das  Ganze  nicht  bloss  sammeln,  sondern  auch  ver- 
dauen,  um  sie  endlich  in  die  gemeinschaftliche  Stammröhre  abzu- 
geben. Endlich  noch  andere  Knospen  gewinnen  ein  quallenartiges 
Aussehen  lud  besorgen  die  Fortpflanzimg ;  sie  bringen  Eier  henroTr 
welche  wieder  frei  schwimmende  Polypen  aus  sich  hervorgehen 
lassen.  Was  ist  hier  Individuum?  Der  junge  Polyp  erscheint  uns 
einfach,  aber  aus  ihm  bildet  sich  ein  Stock,  gleich  einer  Pflanxe. 
Der  Stock  treibt  Fangfäden,  wie  Wurzeln,  aber  sie  bewegen  siA 
willkürlich  und  greifen  die  Beute;    er   bildet   einen   Stamm  mi^ 


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einem  Nahnmgekanale ,    aber  er  bat  keinen  Mund,  nm  den  Kanal 
zu  benutzen ,    so   wenig  wie   die  Pflanze.     Er  treibt  Knospen  und 
Sprossen,   wie   die  Pflanze,    aber  jede  Knospe  hat  besondere  Auf- 
gaben,   die    sie   mit   dem  Anscheine   ureigener  Thätigkeit   erfüllt. 
Besondere    mit   eigener  Bewegung   v^ersehene  Sprossen    oder  Aeste 
besorgen    die    einen   die    Aufnahme  und  Verdauung  der  Nahrung, 
die  anderen    die  Fortpflanzung.     Der  Eumpf  ist  nichts  ohne   die 
Glieder,    die   Glieder    sind  nichts    ohne  den  Rumpl'*     (Virchow, 
Vier  Eeden,  8.  65  —  66.)     Wer  an  dem  Entweder-Oder  festiiält, 
den   müss    freilich    solch    ein  Beispiel   zur  Verzweiflung   bringen, 
wir  aber   sehen   in  den  einzelnen  Gliedern  Individuen  theils  von 
Polypenform,  theils  von  Quallenform^  und  in  dem  Ganzen  ein  Indi- 
viduum höherer  Ordnung,    welches    alle   diese  Individuen  in  sich 
eioschliesst.     Schon  im  Bienen-    und  Ameisenstock  fehlt  uns,^   um 
das  Ganze  als  Individuum  höherer  Ordnung  zu  betrachten,    nichts 
als  die  räumliche  Einheit,  d.  h.  die  Gontinuität   der  Gestalt;   hier 
ist  diese  ebenfalls  vorhanden  xmd  darum  ist  das  Individuum  unbe- 
streitbar.    Wie   hier   das  System   der  Bewegung,  der   Verdauung, 
der  Fortpflanzung  auf  verschiedene  Individuen   vertheilt  sind,   die 
räumlich  Beben  einander  liegen,  so  auch  in  höheren  Thieren,  wenn 
auch  bei   ihnen  die  räumliche  Sonderung  nicht  mehr  so  streng  ist, 
mid    die    einzelnen    Systeme   keine    Aehnlichkeit   mehr    iliit    dem 
Typus  besonderer  Thiergattungen  haben;    nichtsdestoweniger  sind 
wir  entschieden  berechtigt,   die  verschiedenen  Systeme  in  höheren 
Thieren,  das  des  Blutlaufes,  der  Athmung,  der  Verdauxmg,  der  Fort^ 
Pflanzung,  der  Nerven,  sowie  die  einzelnen  Sinnesorgane  als  Indi- 
yidnen  zu  fassen,   da  dieselben   alle  Kennzeichen  des  Individuums 
in  sich  tragen,  nur  dass  sie  räumlich  mehr  in  einander  verschränkt 
sind  und  ihre  Verknüpfung  zum  Individuum  höherer  Ordnung  weit 
inniger  ist,   so   innig,   dass  man   ihre  Selbstständigkeit  über  ihrer 
Leistung  für  das  Ganze  fast  zu  vergessen  gewöhnt  ist. 

Wie  im  Bienenstaat  die  Geschlechtsthätigkeit  in  Drohnen  und 
^Önig^n  personificirt  ist,  so  auch  in  den  diöcischen  Pflanzen,  d.  h.  bei 
denen,  wo  die  eine  Pflanze  bloss  männliche,  die  andere  bloss  weibliche 
Bluthen  trägt;  und  bei  den  monöcischen,  wo  männliche  und  weib- 
liche Blüthen  auf  einer  Pflanze  stehen,  sollten  diese  Blüthen  nicht 
Individuen  sein,  weil  sie  zufallig  durch  andere  Theiie  der  Pflanze 
länmlich  Terbunden  sind?  Lässt  sich  nicht  aus  den  Blüthen  oder 
Blättern    einer  Pflanzenart   ebensowohl   eine  typische  Idee  dieser 


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Blüthenart  oder  Blattart  abstrahiren,  als  aus  den  gaiuseai  fflanian 
die  Idee  der  Pflaozenart?  Kann  man  dies  nicht  ebensowohl  yon 
den  Kopfhaaren  eines  Menschen ,  and  muss  man  nicht  auch  jed« 
Haar  sammt  seiner  Wurzel  eben  so  gut  als  ein  IndividuaiD  aose- 
hen,  wie  ein  Fflanzenblatt? 

Yon  Wichtigkeit  hierfür  ist  auch  der  pathologische  Begriff 
parasitischer  Bildungen.  Ich  lasse  eine  Autorität  in  diesem  f  elde, 
Prof.  Virchow ,  für  mich  sprechen.  (Cellularpathologie,  S.  427  — 
428):  ,,Eiinnere  man  sich  nur,  dass  der  Parasitismus  nur  gra- 
duell etwas  Anderes  bedeutet,  als  der  Begriff  der  Autonomie  jed» 
Theiles  des  Körpers.  Jede  einzelne  Kpithelial-  und  Muskelsellie 
führt  im  Yerhältnisse  zu  dem  übrigen  Körper  eine  Art  von  Para- 
sitenezistenZy  so  gut  wie  jede  einzelne  Zelle  eines  Baumes  im  ye^ 
hältnisse  zu  den  anderen  Zellen  desselben  Baumes  eine  besondere» 
ihr  allein  zugehörende  Existenz  hat,  und  den  übrigen  Elementen 
für  ihre  Bedürfnisse  (Zwecke)  gewisse  Stoffe  entzieht  Der  Begriff 
des  Parasitismus  im  engeren  Sinne  des  Wortes  entwickelt  sich  ai» 
diesem  Begriff  yon  der  Selbstständigkeit  der  einzelnen  Theile.  So 
lange  das  Bedürfhiss  der  übrigen  Theile  die  Existenz  eines  Theilea 
Yoraussetzt ,  so  lange  dieser  Theil  in  irgend  einer  Weise  den  an- 
deren Theilen  nützlich  ist,  so  lange  spricht  man  nicht  von  einem 
Parasiten;  er  wird  es  aber  yon  dem  Augenblicke  an,  wo  er  d^ 
übrigen  Körper  firemd  oder  schädlich  wird.  Der  Begriff  des  Pan^ 
siten  ist  daher  nicht  zu  beschränken  auf  eine  einzelne  Beihe  von 
Geschwülsten,  sondern  er  gehört  allen  plastischen  (formatiyen)  Fo^ 
men  an,  yor  Allem  aber  den  heteroplastischen,  welche  in  ihrer 
weiteren  Ausbildung  nicht  homologe  Producte,  sondern  Neubil- 
dungen hervorbringen,  welche  in  der  Zusammensetzung  des  Kö^ 
pers  (an  dieser  Stelle)  mehr  oder  weniger  ungehörig  sind«"  Ana  < 
der  nicht  zu  yerkennenden  indiyiduellen  Selbstständigkeit  der  P»* 
rasiten  und  dem  rein  graduellen  Unterschiede  zwischen  ihnen  vnd 
normalen  Bildungen  lässt  sich  rückwärts  auch  auf  die  indiyidoelle 
Selbstständigkeit   der   letzteren  schliessen. 

Noch  deutlicher  wird  die  individuelle  Selbstständigkeit  sa 
solchen  Gebilden,  welche  auch  morphologisch  yon  dem  übrigem 
Körper  eine  gewisse  räumliche  Absonderung  zeigen,  und  den* 
noch  in  ihren  selbstständigen  Functionen  eine  für  die  Zweckt 
des  ganzen  Organismus  dienende  Leistung  darstellen.  Ich  O' 
innere   z.  B.    an   die    Samenfäden.       Die    Zeit    ist    yorüber,  ^^ 


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man  die  Spennatozoiden  als  den  Eingeweidewürmetn  analoge 
selbstständige  Thiere  betrachtete,  denn  ihre  chemisohe  Zu- 
sammensetzDBg,  die  Homogenität  ihrer  Substanz  und  yor  Allem 
ihre  Entwiekelungsgeschichte  zeugen  dag^^en.  —  Nichtadesto- 
weniger  kann  man  diesen  Gebilden  eine  Individualität  nioht 
absprechen.  Im  verdünnten  Sperma  sieht  man  die  Fäden  zucken, 
sich  um  ihre  Axe  drehen,  mit  dem  Schwänze'  schlagen,  das  Kopf- 
ende nach  vorwärts  schnellen  und  nach  allen  Bichtungen  frei  um- 
herschwimmen, indem  die  wri^ende  oder  schraubenförmige  Bewe- 
gung des  Schwanzes  die  Bewegung  bewirkt.  Diese  Bewegungen 
erscheinen  bei  den  Spermatozoiden  der  Tfaierarten  am  willkürlich- 
sten, wo  die  Befruchtung  am  schwierigsten  i9t,  d.  i.  bei  den 
Säugethiereuy  und  werden  um  so  einfacher  und  regelmässiger,  je 
leichter  in  der  absteigenden  Thierreihe  duroh  Zahl,  Grösse  der 
Eier  und  Einrichtung  des  Befruohtungsortes  die  Befruchtung  wird. 
Dass  eine  gewisse  Abhängigkeit  der  Existenz  von  bestimmten  um- 
gebenden äusseren  Verhältnissen,  bezüglich  eine  Verknüpfung  mit 
der  Existenz  anderer  Organismen ,  nichts  gegen  die  Individualität 
beweist,  haben  wir  schon  früher  erwähnt  (man  d^ike  an  Schma- 
rotzerthiere),  aber  die  Spermatozoiden  haben  sogar  auch  ausserhalb 
der  Scunenflüssigkeit  in  jeder  blutwarmen,  chemisch  indifferenten 
Flüssigkeit  ein  ziemUoh  langes  Leben,  wenn  sie  nur  nicht  durch 
dieselbe  hygroskopisch  deformirt  werden;  in  den  weiblichen  Geni- 
talien der  Säugethiere  leben  sie  Tage,  ja  Wochen  lang  fort,  und  in 
den  Samentascben,  welche  z.  B.  die  brünstigen  männlichen  Fluss- 
krebse  den  Weibchen  im  Herbst  anheften,  leben  sie  bis  zum  Früh- 
jahre fort,  um  dann  erst  die  inzwischen  reit  gewordenen  Eier  zu 
befruchten.  Dies  beweist  schon  einen  hohen  Grad  selbstständiger 
Lebensfähigkeit  nach  der  Trennung  von  dem  sie  erzeugenden 
Organismus.  Wollte  man  die  autonomen  Bewegungen  der  Sper- 
matozoiden durch  eine  Parallele  mit  den  Bewegungen  der  Flim- 
merhaare  entkräften ,  so  muss  ich  erwidern,  dass  meiner  Ansicht 
nach  umgekehrt  die  Autonomie  der  ersteren  für  die  der  letzteren 
sprechen.  Eine  altemirende  Bewegung  eines  der  Form  nach  ge- 
Bonderten  Gebildes,  welche  nachweislich  weder  auf  blossen  äusseren 
Beiz  erfolgt,  noch  auch  von  centralen  Partien  aus  hervorgerufen 
wird  (da  sie  nach  der  Isolirung  des  kleinsten  Stückes  Flimmerepi- 
theliom  fortdauert),  muss  eben  aus  einer  im  Gebilde  selbst  liegen- 


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den  ÜTBaohe  entspringen,  d.  h.  trägt  den  Character  einer  gewiBsen 
IndiTidnalität. 

Dass  die  Bewegongen  der  Flimmerhaare  einer  Fläche  hSdig 
mit  einander  so  übereinstimmen,  dass  regelmässig  Totalbewegongen, 
fortlaufende  Wellen  o.  s.  w.  entstehen,  kann  dieser  Ansicht  keinen 
Abbruch  thun.  Dasselbe  findet  sich  auch  bei  bündelwcis  Te^ 
einigten  Spermatozoiden,  wo  an  jedem  Bündel  regelmässige  Wellen 
nach  einander  herablaufen,  oder  bei  solchen,  die  in  dicht  gedrängter 
Masse  zusammengelagert  sind  (z.  B.  beim  E.egenwurme) ,  wo  das 
schöne,  regelmässige  Wogen  mit  dem  eines  Kornfeldes  yergleich- 
bar  sein  soll.  Es  ist  eben  dasselbe  Zusammenwirken  vieler  Indi- 
viduen zu  einem  Ziel,  wie  im  Organismus  überhaupt. 

Es  giebt  Infusorien  (Amoeba  diffluens  und  porrecta),  deren 
einzige  Locomotion  darin  besteht ,  dass  sie  Strahlen  ausschiessen, 
in  deren  einen  oder  auch  mehrere  sich  mit  den  Spitzen  vereini- 
gende der  Inhalt  des  Thieres  nachfiiesst,  während  das  bisherige 
Centrum  sich  dadurch  zum  zurückbleibenden  Strahl  verengt»  der 
sich  nun  auch  nach  dem  neuen  Schwerpunct  zurückzieht 
Ganz  nach  demselben  Frincip  bewegen  sich  (nach  van  Beck- 
linghausen) die  Eiterkörperohen ,  so  lange  sie  lebendig  sind;  auch 
sie  schiessen  an  der  Peripherie  radienformige  Fortsätze  auB  nnd 
ziehen  dieselben  zurück,  und  zeitweise  beobachtet  man,  dass  der 
zähflüssige  Inhalt  der  Zelle  in  einen  solchen  Strahl  nachsohiesst 
Aehnliche  Bewegungserscheinungen  beobachtete  Yirchow  an  den 
grossen  geschwänzten  Zellen,  welche  sich  in  einer  soeben  ausge- 
schnittenen Knorpel^eschwulst  vorfanden;  an  den  Blutkörperchen 
mancher  Thiere  waren  schon  früher  Bewegungen  entdeckt  worden. 
Man  erkennt  auch  hier  eine  gewisse  Individualität  Ohne  morpho- 
logisch, chemisch  oder  physiologisch  die  Eiterkörperchen  und  ähn- 
liche freibewegliche  Gebilde  entsprechenden  niederen  Thieren  irgend 
wie  gleichstellen  zu  wollen,  von  denen  sie  sich  schon  durch  ihre 
Entwickelungsgeschichte  so  vollständig  unterscheiden,  meine  ick 
doch,  dass  dieselben  ein  gleiches  Eecht  der  Individualität  wie  jene 
beanspruchen  dürfen,  da  sie,  wenn  auch  nicht  Thiere  im  zoologi* 
sehen  Sinn,  doch  Wesen  sind,  die  sich  in  ihrer  Umgebung  ebenso 
zweckentsprechend  und  mit  demselben  Anschein  von  Willkür  nnd 
Beseelung  bewegen,  wie  die  niederen  Infusorien.  Dass  die  Ver^ 
hältnisse  der  Ernährung  dem  Medium  accommodirt  sind,  entq)rieht 
ganz  den  allgemeinen  Yoi^ängen  in   der    organischen  Natur,  nnd 


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441 

dass  sie  demgemäss  keinen  Mund  und  Magen  haben ,  kann  ihre 
IndiTidnalität  nicht  beeinträchtigen ,  da  es  ja  aach  Thiere  giebt, 
denen  Beides  fehlt. 

Gehen  wir  weiter  in's  Einzelne,  so  finden  wir  in  der  Zelle 
wiederum  alle  an  das  Individuum  zu  stellenden  Anforderungen 
erfüllt.  ,y  Alles  Leben  ist  an  die  Zelle  gebunden  und  die  Zelle 
ist  nicht  bloss  das  GefUss  des  Lebens ,  sondern  sie  ist  selbst 
der  lebende  Theil"  (Virchow,  Vier  Eeden,  S.  54).  .»Was  ist 
der  Organismus?  Eine  Gesellschaft  lebender  Zellen ,  ein  kleiner 
Staat,  wohl  eingerichtet  mit  allem  Zubehör  von  Ober-  und  Unter- 
beamten, von  Dienern  und  Herren,  grossen  und  kleinen"  (8.  55). 
„Bas  Leben  ist  die  Thätigkeit  der  Zelle,  seine  Besonderheit  ist  die 
Besonderheit  der  Zelle"  (S.  10).  „EigenthümHch  erscheint  uns  die 
Art  der  Thätigkeit,  die  besondere  Verrichtung  des  oi^anischen 
Stoffes,  aber  doch  geschieht  sie  nicht  anders,  als  die  Thätigkeit 
und  Verrichtung  y  welche  die  Physik  in  der  unbelebten  Natur 
kennt.  Die  ganze  Eigenthümlichkeit  beschränkt  sich  darauf,  dass 
in  den  kleinsten  Baum  die  grösste  Mannigfaltigkeit  der  Stoffcom- 
binationen  zusammengedrängt  wird,  dass  jede  Zelle  in  sich  einen 
Heerd  der  allerinnigsten  Bewirkungen,  der  allermannigfaltigsten 
Stoffcombinationen  durch  einander  darstellt,  und  dass  daher  Erfolge 
erzielt  werden,  welche  sonst  nirgend  wieder  in  der  Natur  vorkom- 
men, da  nirgend  sonst  eine  ähnliche  Innigkeit  der  Bewirkungen 
bekannt  ist"  (8.  11).  ^^i^l  ^^t^  6i<^h  nicht  entschliessen,  zwischen 
Sammelindividuen  und  Einzelindividuen  zu  unterscheiden ,  so  muss 
der  Begriff  des  Individuums  in  den  organischen  Zweigen  der 
Naturwissenschaft  entweder  aufgegeben ,  oder  streng  an  die  Zelle 
gebunden  werden.  Zu  dem  ersteren  Resultate  müssen  in  folgerich- 
%em  Schlüsse  sowohl  die  systematischen  Materialisten,  als  die 
Spiritualisten  kommen;  zu  dem  letzteren  scheint  mir  die  unbefan- 
gene realistische  Anschauung  der  Natur  zu  führen,  insofern  nur 
auf  diese  Weise  der  einheitliche  Begriff  des  Lebens  durch  das 
ganze  Gebiet  pflanzlicher  und  thierischer  Organismen  gesichert 
bleibt**  (8.  73  —  74).  Dies  ist  das  letzte  Eesultat  Virchow's;  man 
sieht,  dass  er  an  die  Wahrheit  rührt,  ohne  den  Muth  zu  haben, 
ne  kräftig  zu  ergreifen.  Was  uns  hier  angeht,  ist  seine  woblbe- 
grondete  Auffassung  der  Zelle ,  welche  er  nach  Schleiden's  und 
Sehwann's  Vorgange  weiter  ausgebildet  und  damit  die  thierisohe 
Physiologie  und  Pathologie   so  zu   sagen   auf  eine  neue  8tufe  er- 


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442 

hoben  hat;  ygL  Virchow,  Cellulaipathologie,  bes.  Cap.  1  and  14.^ 
Base  die  Orgamsmen  überhaupt  aus  Zellen  besteben,  und  zwar  aiu 
80  vielen  mikroskopisch  kleinen,  dafür  ist  der  teleologische  Grand 
der,  dass  die  £mähnmg  nur  durch  Endosmose  bewirkt  werden 
kann,  die  Endosmose  nur  durch  sehr  dünne,  feste  Wände  mogUch 
ist,  also  wenn  bei  diesen  dünnen  Wänden  doch  noch  die  nöthige 
Festigkeit  erreicht  werden  soll^  das  Ganze  ein  Gomplex  sehr  kleiner 
Zellen  sein  muss.  Wie  gross  die  Anzahl  der  Zellen  ist,  beweise 
folgendes  Oitat: 

„Zu  Zürich  bei  dem  Tiefenhof  steht  eine  alte  linde;  jedes  Jakr, 
wenn  sie  ihren  Blätterschmuck  entfaltet,  bildet  sie  nach  der  Schätzung 
Yon  Nägeli  etwa  zehn  Billionen  neuer  lebender  Zellen.  Im  Blnte 
eines  erwachsenen  Mannes  kreisen  nach  den  Bechnungen  yonYierotdt 
und  Welcker  in  jedem  Augenblicke  sechzig  Billionen  (man  denke: 
60,000,000,000,000)  kleinster  Zellkörper**  (Yirchow,  8.  55). 

Wir  können  nach  alledem  nicht  bezweifeln,  dass  wir  in  jeder 
Zelle  ein  Individuum  Yor  uns  haben,  ob  wir  aber  mit  der  Zelle 
die  niedrigste  Stufe  vom  Individuum  erreicht  haben,  welche  noch 
Organismus  ist,  dies  möchte  noch  zweifelhaft  erscheinen. 

Wir  unterscheiden  nämlich  in  jeder  Zelle :  Zellenwand,  Zellen- 
inhalt,  Kern  oder  nucleus,  und  in  den  allermeisten  Eemchen  oder 
ntudeolus.  Biese  Theile  sind  mit  Bestimmtheit  als  Organe  der 
Zelle  zu  betrachten,  welche  ihre  besonderen  Functionen  haben. 
Die  Zellenwand  leitet  die  Einnahme  und  Ausgabe  naeh  Qoantital 
und  Qualität,  der  nudeoluH  besorgt  die  Fortpflanzung  oder  Yer- 
mehrung  der  Zellen  (Zellen  ohne  nucleoltts  sind  unfruchtbar),  def 
nudeus  sichert  ^en  Bestand  der  Zelle  und  leitet  wahrscheinlich 
die  chemischen  Umwandlungen  und  Productionen  im  Innern  der 
Zelle.  Wenn  die  relative  Sell^tständigkeit  dieser  Oi^^e  als  üesi* 
stehend  zu  betrachten  ist,  so  kann  man  denselben  auch  kaum  be- 
streiten, dass  sie  noch  organische  Individuen  sind,  denn  unzweifel- 
haft findet  innerhalb  einer  jeden  solchen  Sphäre  eine  organis^ 
Wechselwirkung  der  Theile  zum  Behufe  der  auszuübenden  Function 
statt  — 

Dies  wären  denn  die  niedrigsten  Individuen,  welche  orga- 
nische genannt  werden  könnten.  Es  fragt  sich  aber,  ob  wir  über- 
haupt berechtigt  sind,  von  einem  Individuum  zu  fordern,  dass  es 
Oiganiamus  sei.  So  viel  ist  gewiss,  so  lange  ein  Ding  noch  Theile 
hat,  so  lange  müssen   diese  Theile  in  organischer  Wechselwirknng 


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443 

stehen,  wenn  die  cansale  Beziehongseinheit  nicht  fehlen  soll;  d.  h* 
60  lange  ein  Ding  noch  Theile  hat,  rnnss  es  Organismas  sein,  wenn 
es  IndiTiduum  sein  will.  Wie  aber,  wenn  ein  Bing  keine  Theile 
mehr  hat?  Wenn  man  von  einem  Dinge  mit  Theilen  nur  darum 
die  innigste  oansale  Beziehung  der  Theile  verlangt,  damit  es  die 
gröBstmögliohste  Einheit  nach  allen  Bichtungen  hin  besitze,  sollte 
dann  diese  grösstmögliohste  Einheit  nicht  in  noch  viel  höherem 
Kaasse  vorhanden  sein,  wo  das  Ding  seiner  Natur  nach  einfach, 
d.  h,  ohne  Theile  ist,  also  diese  Anforderung  von  vornherein  über- 
flüssig gemacht  wird  ?  Die  Einheit  des  Ortes,  der  Ursache  und  des 
Zweckes  ist  mit  der  Einfachheit  des  Dinges  eo  ipso  g^;ebeny  die 
Anforderung  der  Wechselwirkung  der  Theile  aber,  welche  bei  dem 
zusammengesetzten  Dinge  ein  nothwendiges  XJebel  war,  ist  hier 
glücklicherweise  schon  vor  ihrer  Aufstellung  überwunden  worden, 
da  alle  Theile  in  Einen  fallen,  der  zugleich  das  Ganze  ist;  die 
Einheit  der  Einfachheit  ist  also  viel  stärker,  als  die  Einheit  der 
Wechselwirkung  der  Theile.  Esthut  dem,  worauf  es  hierbei 
ankommt,  keinen  Eintrag^  wenn  man  den  Begriff  der  Einheit  als 
auf  das  Einfache  unanwendbar  behauptet,  denn  wir  waren 
ja  auf  den  Begriff  der  Einheit  nur  dadurch  gekommen,  dass  wir 
dasjenigl  suchten,  was  Individuum  ist,  d.  h.  was  seiner  Natur 
nach  nicht  getheilt  werden  darf.  Dies  ist  aber  bei  dem 
Einfachen  unzweifelhaft  mindestens  ebenso  sehr,  als  bei 
dem  Einheitlichen  der  Fall,  ja  sogar  noch  mehr  als  bei  diesem, 
denn  die  aus  vereinigten  Theilen  bestehende  Einheit  trägt  doch 
immer  noch  die  Möglichkeit  der  Auflösung  in  Theile  in  sich,  das 
EinÜEUihe  aber  nicht. 

Ein  solches  einfaches  Ding,  welches  also  den  höchsten  Anspruch 
auf  den  Begriff  des  Individuums  hat,  kennen  wir  aber  in  der  stoff- 
losen, punctuellen  Atomkraft,  welche  in  einem  einfachen  continuir- 
liehen  Willensacte  besteht.  Ausser  den  Atomen  aber  kann  es  im 
Unorganischen  keine  Individuen  geben,  denn  jedes  Ding,  das 
aus  mehreren  Atomen  besteht,  hat  diese  zu  seinen  Theilen,  und  muss 
demzufolge  Organismus  sein,  wenn  es  Individuum  sein  will.  Es  ist 
also  ÜBklsch,  einen  Ejystall  oder  einen  Berg  ein  Individuum  zu 
nennen«  Dagegen  kann  man  wohl  die  Himmelskörper,  insoweit  sie 
noch  lebendig  sind,  Individuen  nennen,  denn  sie  sind  dann  in  der 
That  Organismen ;  mit  ihrem  Absterben  aber  stirbt,  wie  bei  Thieren 
und  Pflanzen,   auch  die  Individualität.     Wer  daran  zweifelt,  dass 


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ein  lebender  Himmelskörper  wie  die  Erde  ein  Organismus  ist,  der 
studire  nur  die  Wechselwirkong  von  Atmosphäre  und  Innerem  der 
Erde  durch  den  Kreislauf  des  Eegens,  die  Wechselwirkung  toh 
Schichtenformation  und  niederem  Thierreiche,  sowie  der  Schichten 
unter  einander  in  der  Metamorphose  der  Gesteine,  und  der  orga- 
nischen Beiche  unter  einander,  kurz  der  studire  Geologie,  Meteoro* 
logie  und  den  Naturhaushalt  im  Grossen  überhaupt;  überall  wird 
er  das  Wesen  des  Organischen,  Erhaltung  und  Steigerung 
der  Form  durch  Wechsel  des  Stoffes,  in  vollem  Maasse 
bestätigt  finden,  ohne  dass  damit  behauptet  werden  sollte,  dass 
dazu  gerade  directe  Willensbetheiligungen  des  Unbewussten  (ausser 
den  Atomkräften  in  den  vorhandenen  Combinationen  und  den  bei 
der  Schichtenbildung  betheiligten  Organismen)  erforderlich  seien« 

Betrachten  wir  nun,  wie  sich  das  Bewnsstseinsindividuum  zu 
dem  materiellen,  oder  besser  ausgedrückt,  äusserem  Individuum 
verhält.  Es  leuchtet  sofort  ein:  nur  wo  ein  äusseres  Individuum 
gegeben  ist,  kann  ein  Bewnsstseinsindividuum  möglich  werden,  aber 
nicht  in  jedem  äusseren  Individuum  braucht  ein  Bewusstseinsindi- 
viduum  zu  Stande  zu  kommen;  das  äussere  Individuum  ist 
also  eine  Bedingung,  aber  nicht  die  zureichende  Ur- 
sache des  Bewusstseinsindividuums. 

Wir  haben  gesehen,  dass  eine  gewisse  Art  von  materieller 
Bewegung  in  gewisser  Stärke  die  Bedingung  der  Bewusstseinsent- 
stehung  ist;  es  müssen  also  schon  alle  solche  äussere  Individuen 
von  Erzeugung  eines  Bewusstseinsindividuums  ausgeschlossen  sein, 
welche  an  Art  oder  Stärke  ihrer  Bewegungen  jene  Bedingungen 
nicht  erfüllen.  Es  ist  wohl  mögb'ch,  dass  die  Atomkräfte,  vielleicht 
auch  noch  manche  Zellen  von  zu  fester  oder  zu  flüssiger  Beschaf- 
fenheit sich  in  diesem  Falle  befinden,  unorganische  Massen  ohne 
äussere  Individualität  haben  selbstredend  auch  keine  Bewusstseins- 
individualität ,  denn  selbst  wenn  die  einzelnen  Atome  ihr  Bewusst- 
sein  haben  sollten,  so  würde  dies  aus  Mangel  an  verbindender 
Leitung  stets  in  atomistischer  Zersplitterung  bleiben,  aber  nie  zu 
einer  höheren  Einheit  gelangen.  Wo  wir  zuerst  deutliche  Spuren 
von  Bewusstsein  finden,  ist  an  der  Zelle  mit  halbflüssigem  Inhalt 
(niedrigste  Thiere  und  Pflanzen) ;  hier  ist  unzweifelhaft  die  Einheit 
des  Bewusstseins  durch  dieselben  Bedingungen  herbeigeführt,  wie 
seine  Entstehimg,  da  der  diese  Bedingungen  erfüllende  Theil  des 
Zelleninhaltes  ziemlich  homogen  auf  allen  Seiten  der  Zelle  vertheilt 


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445 

ist  Wir  werden  also  annehmen  dürfen,  dass,  wo  in  einer  Zelle 
BewnBetsein  vorhanden  ist,  der  äusseren  Individualität  auch  eine 
innere  BewuBstseinsindividualität  entspricht. 

Wo  mehrere  Zellen  zu  einem  Individuum  höherer  Ordnung 
jrasammentreten ,  brauchen  darum  die  Bewusstseine  der  einzelnen 
Zellen  noch  keineswegs  zu  einer  höheren  Einheit  verbunden  zu 
sein,  denn  dies  hängt  von  dem  Vorhandensein  und  der  Güte  der 
Leitung  ab.  Indess  dürfte  die  Behauptung  wohl  nicht  gewagt  er- 
scheinen,  dass  zwischen  frischen ,  lebenskräftigen  Zellen  stets  ein 
gewisses,  noch  so  geringes  Maass  von  Leitung  stattfindet^  mindestens 
immer  zwischen  zwei  benachbarten  Zellen ;  es  fragt  sich  nur,  ob 
der  Grad  der  Erregung  auch  die  Eeizschwelle  überschreitet.  Wird 
erst  durch  die  Empfindung  einer  Zelle  in  der  benachbarten 
ebenfjEiIls  eine  Empfindung  hervorgerufen,  so  findet  offenbar  ein  in- 
directer  Einfluss  von  jeder  Zelle  auf  jede  andere  statt,  und 
wenn  auch  eine  s6  indirecte  und  auf  mehrere  Zellen  hin  offenbar 
verschwindend  kleine  Beeinflussung  nothwendig  sehr  bald  unterhalb 
der  Beizschwelle  bleiben  muss  und  folglich  nicht  von  einer  Be- 
wusstseinsindividualität  des  Ganzen  zu  reden  berechtigt,  so  ist  doch 
eine  gewisse  Solidarität  der  Literessen  dabei  nicht  zu  verkennen. 
Wenn  hiemach  keineswegs  jedem  äusseren  Individuum  höherer  Ord- 
nung ein  Bewusstseinsindividuum  höherer  Ordnung  zu  entsprechen 
braucht,  so  ist  doch  so  viel  sicher,  dass  verschiedene  Bewusstsein»- 
individuen  nur  dann  sich  zu  einem  Bewusstseinsindividuum  höherer 
Ordnung  verbinden  können,  wenn  die  ihnen  entsprechenden  äusseren 
Individuen  zu  einem  Individuum  höherer  Ordnung  verknüpft  sind; 
denn  die  zur  Bewusstseinseinheit  nöthige  Leitung  kann  nur  durch 
hoch  organisirte  Materie  hergestellt  werden,  diese  aber  stellt  un- 
mittelbar die  Einheit  der  Gestalt,  der  organischen  Wechselwirkung 
TL  8.  w.,  kurz  das  äussere  Individuum  höherer  Ordnung  her. 

Es  bewahrheitet  sich  also  in  jeder  Hinsicht  unsere  Behauptung, 
dass  die  äussere  Individualität  wohl  Bedingung,  aber  nicht  zurei- 
chende Ursache  der  Bewusstseinsindividualität  ist,  weil  letztere 
auch  noch  drei  andere  Bedingungen  voraussetzt:  eine  gewisse  Art, 
eine  gewisse  Stärke  der  materiellen  Bewegung,  und  bei  Individuen 
höherer  Ordnung  eine  gewisse  Güte  der  Leitung.  Wenn  Eine  die- 
ser drei  Bedingungen  nicht  erfüllt  ist,  so  kann  dem  äusseren  Indi- 
viduum kein  Bewusstseinsindividuum  entsprechen. 

Ich  glaube,  dass  die  hier  durchgeführte  Trennung  und  Aus- 


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einandersetzung  des  äusseren  und  inneren  Individuums  wesentlich 
zur  Elärung  der  Individualitätsfrage  beitragen  dürfte;  dieselbe  ist 
die  nothwendige  Ergänzung  zur  Erkenntniss  der  Eelativität  des 
Individualitätsbegriffes. 

Die  [Relativität  des  Individualitätsbegriffes  ist  übrigens  keine 
neue  Erkenntniss.  Spinoza  sagt :  ,;Ber  menschliche  Körper  besteht 
aus  vielen  Individuen  von  verschiedener  Natur,  von  denen  jedes 
sehr  zusammengesetzt  ist^'  (Ethik,  Th  2.  Postul.  1),  und  Gotha: 
„Jedes  Lebendige  ist  kein  Einzelnes,  sondern  eine  Mehrheit;  selbst 
insofern  es  xms  als  Individuum  erscheint,  bleibt  es  doch  eine  Ver- 
sammlung von  lebendigen,  selbstständigen  Wesen,  die  der  Idee,  der 
Anlage  nach  gleich  sind ,  in  der  Erscheinung  aber  gleich  oder  ahn* 
lieh,  ungleich  oder  unähnlich  werden  können.  Je  unvollkommener 
das  Geschöpf  ist,  desto  mehr  sind  diese  Theile  einander  gleich  oder 
ähnlich,  und  desto  mehr  gleichen  sie  dem  Ganzen.  Je  vollkomme- 
ner das  Geschöpf  wird,  desto  unähnlicher  werden  die  Theile  ein- 
ander. Je  ähnlicher  die  Theile  einander  sind,  desto  weniger  sind 
sie  einander  subordinirt.  Die  Subordination  der  Theile  deut^  auf 
ein  vollkommeneres  Geschöpf/'  (Letztere  Bemerkung  sagt  dasselbe, 
was  wir  uns  mit  dem  Gleichnisse  der  moncurchischen  und  republi- 
kanischen Begierungsform  zu  veranschaulichen  gesucht  habea) 

A.m  ausföhrlichsten  ist  die  Relativität  des  Individualitätsbegriffes 
von  Leibniz  behandelt  worden,  wenn  auch  seine  Auffassung  in  Folge 
seines  abweichenden  Begriffes  von,Jieib''  wesentlich  von  derunserigen 
abweicht.  Bei  Leibniz  hat  zunächst  jede  Monade  einen  ihr  eigen- 
thümlichen  unveränderlichen  und  unvergänglichen  Leib,  welcher 
ihre  Schranke  bildet,  und  durch  welchen  erst  ihre  Endlichkeit  ge- 
setzt wird.  Dieser  Leib  ist  nicht  Substanz,  so  wenig  wie  die  Seele 
der  Monade,  einseitig  gefasst,  Substanz  ist,  und  zwischen  diesem 
Leibe  und  der  Seele  existirt  keine  prästabilirte  Harmonie,  da  sie 
hier  überflüssig  wäre,  sondern  sie  sind  Beides  nur  Momente»  ver- 
schieden gerichtete  Kräfte,  einer  und  derselben  einfachen  Substanz, 
der  Monade,  welche  ihre  natürliche  Einheit  ist,  und  dies  ist  Leib- 
niz's  Identität  von  Seele  und  Leib  (Denken  und  Ausdehnung). 
Dieser  unveräusserliche  Leib  ist  jedoch  etwas  rein  Metaphysisches 
und  nichts  Physisches;  höchstens  bei  den  Atomen  kann  man  in 
gewissem  Sinne  die  Leibniz'sche  Auffassung  in  physischer  Hinsicht 
gelten  lassen.  Bei  allen  Individuen  oder  Monaden  höherer  Ord- 
nung  dagegen  ist   die  Yorstellung   eines  unveräusserlichen  Leibes 


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447 

atisser  dem  sichtbaren,  aus  anderen  Monaden  oder  Atomen  zusam- 
mengesetzten Leibe  (eine  Yorstellong,  die  lange  Zeit  unter  dem 
Namen  eines  Aetherleibes  heromgespnkt  hat),  von  der  Wissenschaft 
glücklich  beseitigt  worden;  wir  wissen  jetzt,  dass  alle  Organismen 
nnr  durch  den  Stoffwechsel  ihr  Bestehen  haben.  Wir  wollen 
aber  Leibniz  nicht  Unrecht  thun;  was  er  sich  unter  dem  der  Mo- 
nade eigenthümlichen  Körper  gedacht  hat,  ist  jedenfieills  ein  meta« 
physisch  viel  haltbarerer  Gedanke;  ich  vermuthe,  dass  er  damit 
nichts  weiter  hat  ausdrücken  wollen,  als  die  Fähigkeit  der  imma- 
teriellen Monade,  bestimmte  räumliche  Wirkungen  zu  setzen, 
eine  Fähigkeit,  die  allerdings  allen  Monaden,  der  höchsten  wie  der 
niedrigsten  zukommt,  und  die  nur  durch  die  eigenthümliche  Be- 
ziehung der  Wirkungsrichtungen  auf  Einen  Punct 
in  den  Atom-Monaden  und  deren  Combinationen  für  die  sinn- 
liche Wahrnehmung  von  Aussen  den  Schein  der  Körperlich- 
keit hervorruft.  Immerhin  aber  ist  es  kein  glücklich  gewähltes 
Wort,  das  Yermögen,  räumlieh  zu  wirken,  mit  dem  Namen  Körper 
zu  belegen,  da  nur  die  CJombination  der  niedrigsten  Art  von  räum- 
lichen Kräften  dieses  Wort  in  Anspruch  nehmen  kann.  Lassen  wir 
^er  diesen  unveräusserlichen  Monadenkörper  bei  Seite  und  betrach- 
ten, wie  Leibniz  die  Zusammensetzung  der  Monaden  auffasst. 

Wenn  mehrere  Monaden  zusammentreten,  so  bilden  sie  ent- 
weder ein  unorganisches  Aggregat,  oder  einen  Organismus.  Im 
Organismus  sind  höhere  und  niedere  Monaden,  in  dem  unorganischen 
Aggregat  nur  niedere  Monaden  enthalten,  daher  findet  in  ersterem 
Subordination,  in  letzterem  nur  Goordination  der  Monaden  statt. 
Auf  je  höherer  Stufe  der  Organismus  steht,  desto  mehr  tritt  das 
üebergewicht  Einer  Monade  an  Vollkommenheit  gegen  alle  übrigen 
hervor ;  diese  heisst  alsdann  Oentralmonade.  Die  höheren  Monaden 
werden  von  den  niederen  unklar  und  unvollkommen  vorgestellt,  die 
niederen  von  den  höheren  dagegen  klar  und  vollkommen.  ,fEt 
une  crSature  est  plus  parfaite  qü'une  autre  m  ce  qu*on  trouve 
en  eile  ce  qui  sert  h  rendre  raison  a  priori  de  ce  qui  se passe 
dans  r autre  y  et  c'est  par  Ih^  qu'on  dity  qu'eÜe  agit  sur  lautre. 
Mais  dans  les  substances  simples  ce  n*est  qtiune  influence 
idSale  dune  Monade  sur  Vautre^^  (Monadologie  Nr.  50,  51, 
p.  709.) 

Leibniz  läugnet  den  influxus  physicus  zwischen  den  Monaden, 
indem  er  sagt,   dieselben   hätten   keine  Fenster,  durch  die  Etwas 


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hineinBcheinen  könnte ;  der  mfluxua  tdealisj  den  er  an  dessen  Stelle 
setzt,  besteht  ihm  nur  in  einer  XJ  eher  eins  timmung  a  priori 
dessen,  was  die  Monaden  vorstellen,  d.  h.  in  einer  prästabilir- 
ten  Harmonie.  Nun  ist  aber  das  Yerhältniss  der  Central- 
monade  in  einem  Organismus  zu  der  Summe  der  subordinir- 
ten  Monaden  das,  was  man  zu  allen  Zeiten  das  Yerhältniss  yon 
Seele  und  Leib  genannt  hat;  zwischen  diesem  Leibe  und  der 
Seele   besteht   also    prästabilirte    Harmonie. 

Das  Yerhältniss  zwischen  der  Seele  und  dem  complexen 
wandelbaren  Leibe  hat  Leibniz  von  Aristoteles  übernommen;  es 
ist  das  Yerhältniss  von  ivigysia  und  vir],  von  sich  auswirkender 
Eorm  und  Idee  und  dem  Material,  in  welchem  die  Idee  sich  aus- 
wirkt. Das  Yerhältniss  von  Seele  und  unveräusserlichem  eigenthüm- 
lichen  Leibe  dagegen  hat  Leibniz  von  Spinoza  übernommen,  nach 
welchem  die  Eine  Substanz  überall  mit  den  beiden  unzertrennlichen 
Attributen :  Denken  und  Ausdehnung,  erscheint  Beide  Yerhältnisse 
fallen  merkwürdiger  Weise  in  den  niedrigsten,  den  Atom-Monaden 
zusammen,  und  zwar  durch  den  einfachen  Kunstgriff  der  NatuTi 
sämmtliche  Wirkungsrichtungen  einer  solchen  Monade  auf  einen 
Punct  zu  beziehen.  Leider  hat  Leibniz  diese  beiden  zur  Yerweoh- 
selung  Anlass  gebenden  Bedeutungen  von  Leib  oder  Körper  nicht 
genügend  getrennt,  und  ist  deshalb  vielfach  missverstanden  worden. 

Das  Wesentliche  für  uns  an  der  Leibniz'schen  Lehre  ist  die  Ag- 
gregation vieler  Monaden  oder  Individuen  zu  einem  Complex,  welcher 
als  Körper  einer  Monade  oder  einem  Individuum  höherer  Ordnung 
als  Seele  subordinirt  wird.  Hätten  Leibniz  die  Resultate  der  heu- 
tigen Physik,  Anatomie,  Physiologie  und  Pathologie  zu  Gebote  ge- 
standen, so  würde  er  nicht  versäumt  haben,  seine  Theorie  mit 
Bücksicht  auf  Atome,  Zellen  und  Organismen  weiter  auszuführen; 
so  aber  war  und  blieb  es  nur  ein  genialer  Griff,  der  der  nöthigen 
empirischen  Stützen  entbehrte.  Was  wir  dagegen  nicht  acceptiren 
können,  ist  die  künstliche  und  ungenügende  Hypothese  der  prästa- 
bilirten  Harmonie,  welche  durch  die  unmotivirte  Läugnung  des 
inßuxus  phi/sicus  der  Monaden  unter  einander  nothwendig  wurde. 
Die  Monaden  sind  gleichartige,  räumlich  wirkende.  Wesen;  worauf 
sollen  sie  räumlich  wirken,  wenn  nicht  aufeinander?  Wenn  wirk- 
lich der  inßuxus  phydcxAS  sich  in  einen  influxus  idecUis  und  dem« 
gemäss  alle  Causalität  sich  in  logischen  Process  auflöst,  so  ist  dies 
schlechterdings   nicht  vom  Standpuncte   der   Monadologie,  wo  die 


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449 

Indiriduen  Wesen  Bind,  sondern  nnr  von  dem  des  Monismns^  ^wo  sie 
zu  Erscheinungen  herabsinken,  zu  begreifen.  —  Was  nns  femer  von 
Leibniz  unterscheidet,  ist  die  gewonnene  Erkenntniss,  erstens,  dass 
das  organische  Individuum  höherer  Ordnung  nur  in  der  betreffenden 
Einheit  der  Individuen  niederer  Ordnung  besteht,  und  dass  das 
Bewusstseinsindividuum  überhaupt  erst  durch  eine  Wechselwirkung 
gewisser  materieller  Theile  des  organischen  Individuums  mit  dem 
Unbewussten  entsteht.  Es  folgt  hieraus,  dass  die  Centralmonade 
oder  das  Centxalindividuum  weder  in  Bezug  auf  den  Organismus, 
noch  in  Bezug  auf  das  Bewusstsein  etwas  jenseit  oder  ausser- 
halb der  subordinirten  Monaden  oder  Individuen  Stehendes  ist, 
sondern  dass,  wenn  im  höheren  Individuum  noch  irgend  etwas  neu 
Hinzukommendes  ausser  der  Verbindung  der  niederen  Individuen 
enthalten  ist^  dies  nur  ein  unbewusster  Factor  sein  kann. 
Wir  kommen  hiermit  auf  die  letzte,  bisher  noch  nicht  berührte 
Frage  nach  der  Individualität  des  unbevmsst  Psychischen;  diese 
Betrachtung  führt  uns  so  unmittelbar  in  das  nächste  Capitel  hin- 
über, dass  wir  sie  erst  dort  beginnen  wollen. 


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vn. 
Die  AU-EiBheit  deg  Unbewiissteii. 


Baal*  es  dem  ünbewuBtteM  f  wie  es  si^  m  einem  ergaBisohen 
und  BewPBstseipsindiTidniim  wirkend  zeigt,  nicht  an  starker  Einheit 
Mut»  ist  wohl  BpÜQirt  eialenchtead.  Wir  erkennen  ja  überhaupt  das 
Unbewnsste  nor  düroh  die  Causalität,  es  ist  eben  die  Ursaehe  aller 
derjenigen  Yoiginge  in  einesai  orgaaisehen  nnd  Bewnsstseinsindi- 
yidnnm,  welche  eine  psychiscbe  und  dodi  nicht  bewnsste  Ursache 
Toranssetzen  lassen.  Alles,  was  wir  innerhalb  dieses  TJnbewussten 
an  Unterschieden  oder  Theilen  gefonden  haben,  beschränkt  sich  auf 
die  beiden  Momente  Wille  nnd  Yorstellung,  und  von  diesen  haben 
wir  doch  auch  wiederum  die  untrennbare  Einheit  im  ünbewussten 
erkannt.  Insofern  man  aber  dabei  stehen  bleiben  will,  Wille  und 
Yorstellang  als  verschiedene  Theile  des  Einen  ünbewussten 
zu  fassen,  so  ist  doch  ihre  Wechselwirkung  in  Motivation  des 
Willens  durch  die  Vorstellung  und  Erweckung  der  Yorstellung  durch 
das  Interesse  des  Willens  ganz  unverkennbar.  Was  wir  im  Orga- 
nismus noch  als  Einheit  durch  Wechselwirkung  der  Theile  fassen 
müssen,  ist  in  der  Einen  Ursache  dieser  Yorgänge  in  die  Einheit 
des  Zweckes  aufgehoben,  zu  welchem  diese  einzelnen  Thätigkeiten 
des  einen  und  des  anderen  Theiles  alle  nur  als  gemeinsame  Mittel 
gesetzt  x^rden.  Die  Einheit  der  Zeit  in  der  Continuität  des 
Wirkens  ist  ebenüalls  vorhanden,  ^e  Einheit  des  Baumes  kann  hier 
natürlich  nicht  mehr  zur  Sprache  kommen ,  weil  wir  es  mit  einem 
unräumlichen  Wesen  zu  thun  haben ;  und  doch  ist  sie  in  den  W  i  r  > 
kungen  ebensowohl  vorhanden,  als  die  Einheit  der  Zeit.  So  viel 
steht  also  fest,  dass  die  Einheit  des  psychisch  Ünbewussten  im  Indi- 
viduum die  stärkste  ist,  die  man  nur  finden  kann.  Damit  ist  aber 
noch  nicht  gesagt,  dass  es  unbewusst  psychische  Individuen  giebt» 


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deiin  wenn  die  Einheit  im  Unbe^nsdtett  äo  stark  wate,  dass  sie 
alles  ünbewuSBtpsychische ,  wo  es  änob  in  der  Welt  wil*kän  tnöge, 
in  sich  ohne  Theile  befasste,  so  gäbe  es  nur  noch  Ein  ünbewusstes 
nnd  nidit  mehrere  ünbeWasst^,  dann  gäbe  es  auch  keine  Indi- 
viduen mehr  im  ünbewnssten,  solidem  das  ganze  Unbewnsste  "v^kre 
#in  einziges  Individuum  ohne  subordinirte ,  coordinirte  odet 
flupefotdiilirte  Individuen.  Da  auch  Materie  und  Bewusstsein  nüt 
Erscheinungsformen  des  ünbewussten  sind,  so  wäre  danii  dieses 
Wesen  das  Alles  umfassende  Individuum,  welch  esAllesSeiende 
ist,  das  Absolute  Individuum,  oder  das  Individuum  tat  iSox^ji'. 

Bei  den  Organismen  brauchten  wir  die  Frage  ^  ob  wir  denn 
auch  wirklich  mehrere  Bingö  und  nicht  Eines  vor  uns  häbeh, 
gar  nicht  aufimwörfen,  weil  die  räumliche  Besondie.rung  der  Gestalt 
sie  im  Toraus  beantwortete;  b^i  den  Bcv^tisstseinen  haben  wir  die 
FMtge,  die  apriorisch  wohl  kaum  zu  entscheideti  Wäre,  der  inneren 
Erfabrtlfig  gemäss  beatitwortet,  welche  uns  lehrt,  dads  das  Bewüsdt- 
sein  von  Peter  und  Paul,  von  Hirn  und  ünterleibsganglien,  nidit 
Eines,  sondern  mehrere  verschiedene  sind;  beim  TTnbewussten  aber 
tritt  diese  Präge  in  ihrem  ganzen  Ernste  an  uns  heran,  da  das 
Wesen  des  TJnbewussten  unräumlich  ist,  und  diä  intiere  Erfahrung 
des  BewuBStseins  selbstverständlich  gar  nicbts  über  das  tfnbeWusste 
aussagt.  IViemand  keimt  das  unbe^usste  Sübject  seiiles  eige- 
nen Bewüsstseins  diröct,  Jeder  kennt  es  nur  als  die  an 
sieh  unbekannte  psychische  Ursache  seines  Bewüsstseins; 
laichen  Grund  könnte  er  zu  der  Behauptung  haben,  dass  diese 
tillbekannte  Ursache  deines  Bewußtseins  eine  andere,  als  die 
seines  Nächsten  sei,  welcher  deren  Ansich  ebenso  wenig  kennt? 
Mit  einem  Worte,  die  unmittelbare  iiinere  oder  äussere 
Btfahrunggiebt  uns  garkeineb  Ahhaltspunct  zur  Entscheidung  \ 
di^er  wichtigen  Alternative,  die  mithiil  vorläufig  völlig  offfehe 
Ftagöist;umsiözu  entscheiden,  ttrerden  wiif  und  nach  Analogien 
und  itrdirecten  Argumenten  umsehen  lUüsden,  sb  lange  ^r  in  der 
Bötrachtuflg  a  posterior  bleiben  wolletl. 

Ktir  deshalb,  weil  der  eine  'Rieil  meines  Himeö  mit  dem  anderen 
leitend  verbunden  ist,  itsi  dad  Bewusstsein  beider  Theile  geeint,  und 
könnte  miin  die  Gehirne  zweier  Menschen  durch  eine  den  Gehilmfas^ni 
gleichkommende  Leitung  verbinden,  öo  würden  die  beiden  nidtt  meht 
2  W  e  i  y  sondern  e  i  n  Bewusstsein  haben.  Sollte  fibefhaupt  einö  Yäteini- 
gimg  zweier  B^wuint^eine  in  Eins,  wie  die  fieurtisöh  überall  statt  hat» 

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möglich  sein  können,  wenn  das  ünbewosste  y  ans  welchem  auf  den 
materiellen  Beiz  das  Bewnsstsein  geboren  wird,  nicht  schon  an  sich 
Eins  wäre? 

Die  ganze  Ameise  hat  ein,  die  zerschnittene  zwei  Bewosstseine^ 
und  wenn  man  die  Hälften  zweier  verschiedener  Polypen  (also  zwei 
Torher  getrennte  Bewnsstseine)  zusammennäht,  so  wird  Ein  Polyp 
mit  Einem  Bewnsstsein  daraus.  Beiohthum  und  Axmuth  des  Be- 
wusstseins  kann  bei  diesen  principiellen  Untersuchungen  keinen 
Unterschied  machen.  So  wenig  es  nach  den  Mheren  Betrachtungen 
Jemand  läugnen  kann,  dass  er  so  yiele  (mehr  oder  weniger  ge> 
trennte)  Bewnsstseine  hat;  als  er  Nervencentra ,  ja  sogar  als  er 
lebende  Zellen  hat,  so  sehr  wird  Jeder  sich  mit  Becht  gegen  die 
Behauptung  sträuben,  dass  er  so  viele  unbewusst  wirkende  Seelen 
habe,  als  er  Nervencentra  oder  Zellen  habe;  die  Einheit  des 
Zweckes  im  Organismus,  das  richtige  Eingreifen  jedes  einzelnen 
Theiles  im  richtigen  Moment,  kurz  die  wunderbare  Harmonie  des 
Organismus  wäre  unerklärlich,  in  der  That  nur  als  prästabilirte 
Harmonie  zu  fassen ,  wenn  nicht  die  Seele  im  Leibe  Eine  unge* 
theilte  wäre,  welche  aber  gleichzeitig  in  allen  Theilen  des 
Organismus  wirkt,  wo  ihr  Wirken  nöthig  ist,  —  wenn  es  nicht 
Ein  und  dieselbe  Seele  wäre,  welche  hier  die  Athmung,  dort  die 
Excretion  regulirt,  welche  hier  im  Gehirn  das  Himbewusstsein,  dort 
im  Ganglion  das  Ganglienbewusstsein  zu  Stande  konomen  lässtr 
Wenn  die  Zerschneidung  der  niederen  Thieire  uns  zeigt,  dass  die- 
selbe Seele,  die  vorher  in  dem  ganzen  Thiere  die  verschiedenen 
Theile  leitete,  und  die  verschiedenen  Bewnsstseine  erzeugte,  mm 
auch  nach  der  Trennung  unverändert  weiter  functionirt,  könnw 
wir  dann  glauben,  dass  die  körperliche  Durchschneidung  auch  die 
Seele  zerschnitten  und  in  zwei  Theile  getrennt  habe,  kann  über- 
haupt durch  Trennung  eines  blossen  Aggregats  von  Atomen  die  sie 
zufällig  beherrschende  unräumliche  Seele  afdcirt  gedacht  werden^ 
ausser  insofern  die  Bedingungen  ihrer  Wirksamkeit 
geändert  sind?  Wenn  aber  die  Seele  in  zwei  künstlich  ge- 
trennten Thierstücken  noch  Eine  ist,  sollte  sie  nicht  auch  bei  der 
spontanen  Ablösung  von  Knospen,  Scheren  u.  s.  w.  ungetheilt  blei* 
ben?  Und  nicht  auch  bei  der  zweigeschlechtlichen  Zeugung,  wo- 
Ein  hermaphroditisches  Thier  sich  selbst  begattet  (z.  B.  Bandwurm)? 
Wenn  die  unbewusste  Seele  in  den  Trennstücken  eines  Insectes 
oder  in  dem  Mutterstocke  und  den  abgelösten  Knospen  noch  £in& 


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ist,  sollte  sie  nicht  auch  in  den  von  Natur  getrennten  Insecten 
eines  Bienen-  oder  Ameisenstaates  dieselbe  sein,  welche  auch  ohne 
ränmliche  Verbindung  der  Organismen  dennoch  gerade  so  harmonisch 
in  einander  wirken,  wie  die  einzelnen  Theile  desselben  Organismus  ? 
Sollte  nicht  das  Hellsehen,  welches  wir  überall  in  den  Eingriffen 
des  ünbewussten  wiederkehrend  gefunden  haben,  und  welches  in 
<tem  beschränkten  Individuum  so  höchst  auffallend  ist,  sollte  nicht 
-dies  allein  schon  zu  dieser  Lösung  auffordern,  dass  die  schein- 
bar in  diyiduellen  Acte  des  Hellsehens  eben  nur  Kund- 
gebungen des  in  Allem  identischen  ünbewussten 
seien,  womit  auf  einmal  alles  Wunderbare  des  Hellsehens  ver- 
.schwindet,  da  nun  das  Sehende  auch  die  Seele  des  Gesehenen  ist? 
und  wenn  es  der  ünbewussten  Seele  eines  Thieres  möglich  ist,  in 
allen  Organen  und  Zellen  des  Thieres  gleichzeitig  anwesend  und 
2weokthätig  wirksam  zu  sein,  warum  soll  nicht  eine  unbewusste 
Weltseele  in  allen  Organismen  und  Atomen  zugleich  anwesend  und 
2weckthätig  wirksam  sein  können,  da  doch  die  eine  wie  die  andere 
unräumlich  gedacht  werden  muss? 

Was  sich  gegen  diese  Auffassung  sträubt,  ist  nur  das  alte  . 
Torurtheil,  dass  die  Seele  das  Bewusstsein  sei;  so  lange  I 
man  dies  nicht  überwunden  und  jeden  heimlichen  Best  dayon 
Töllig  in  sich  ertödtet  hat,  so  lange  muss  jene  All -Einheit  des 
ünbewussten  freilich  von  einem  Schleier  bedeckt  sein;  erst  wenn 
man  erkannt  hat,  dass  das  Bewusstsein  nicht  zum  Wesen,  M 
.sondern  zur  Erscheinung  gehört,  dass  also  die  Vielheit  des  [  \ 
JBewusstseins  nur  eine  Vielheit  der  Erscheinung  des 
Einen  ist,  erst  dann  wird  es  möglich,  sich  von  der  Macht 
des  prsctisehen  Instinctes,  welcher  stets  „leh,  Ich''  schreit,  zu 
-emancipiren,  und  die  Wesenseinheit  aller  körperlichen  und  geistigen 
Erscheinungsindiyiduen  zu  begreifen,  welche  Spinoza  in  mystischer 
Conception  erfasste  und  als  die  Eine  Substanz  aussprach.  Es  ist 
kein  Widerspruch  gegen  die  All-Einheit  des  ünbewussten,  dass  das 
individuelle  Selbstgefühl,  welches  zuerst  nur  als  dumpfer  practischer 
Ihstinct  vorhanden,  mit  steigender  Ausbildung  des  Bewusstseins 
immer  mehr  gesteigert  und  zum  reinen  Selbstbewusstsein 
zugespitzt  wird,  dass  also  der  für  das  bewusste  Denken  unzer- 
störbare Schein  der  individuellen  Ichheit  nur  um  so  schärfer 
hervortritt,  je  schärfer  das  bewusste  Denken  wird;  es  ist  dies,  sage 
ich,  kein  Widerspruch   gegen  den  Monismus  des  ünbewussten, 


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4&4 

denn  alles  bewr^B^te  Denken  bleibt  ja  in  den  Bedingi^ing^a  de» 
Bei^uBsts^ips  beft^en,  xmd.  k:a^n  sich  meiner  Natur  nacdi  über 
dieselbe  niemals  in  directer  Weise  erheben,  muss  vielmehr  mit  dem 
Trqgschleie;  der  Uaja  aioh  um  so  enger  umspinnem  je  mebr  e» 
seine  eigenthümliche  Natur  zur  Entfialtung  bringt.  Dabei 
kann  sdir  wohl  die  Einheit  des  Unbewusaten  bestehen,  nämlioh 
de^en,  was  i^e  in's  Bewusstßein  fallen  kani^,  weil  es  hinter 
demselben  lifigt,  wie  der  Spiegel  nie  sich  selber  spiegehn  kann 
(hitichstens  sein  Bild  in  einem  Eweiten  Spiegel).  So  lange  man 
f];eilich  das  TJnb^wusste  nicht  streng  anageschieden  und  entwickelt 
hat,  SQ  lange  besteht  jener  Einwand  in  yoUer  !E^xaft,  und  so  lange 
kaiMi  die  Idee  der  All-£inheit  nicht  rationell  begrifEen  imd  gebilligt^ 
sondern  nur  mystisch  concipirt  werden,  trotj?  dem  Widerspruche 
des  Bewusstseina. 

Bisher  haben  wir  erstens  gezeigti  dass  es  keinen  Gbruad  giebt 
und  geben  kann,  der  gegen  die  Einheit  des  Unbewussten  spräche, 
uixd  haben  zweitens  verschiedene  aposteriorische  Wahrscheinliob- 
keitsgründe  für  dieselbe  beigebracht.  Wir  kömiben  aber  auch  die 
]S*rege  ganz  direct  a  priori  erledigen. 

Das  ünbewusste  ist  un^rämnlich,  denn  es  setzt  erst  den 
!^(^um  (die  Yorstellung  dei^  idealen,  der  WiUa  den  realen).  Das 
TJi^bewusste  ist  also  weder  gross  noch  klein,  weder  hier  noch  dort» 
weder  in^  Endlichen  noch  im  Unendlichen,  weder  in  der  Gestalt 
noch  im  Puncto,  weder  irgendwo  noch  nirgends.  Daraus  iolgty  das» 
dßs  XJnbewu^ste  keine  Unterschiede  räumlicher  Natq^r 
in  sich  haben  kann,  ausser  sofern  es  dieselben  im  YorBtellea  ood 
'Wirken  setzt.  Das,  was  in  einem  Atem  des  Sirius  wirkt»  iat  alao 
nicht  etwaS' Anderes,  als  das,  was  in  einem  Atome  der  ISrde  wirkte 
sondern  wirkt  nur  auf  andiere  Weise,  nämlich  räuqüidL  ver- 
schieden«  Wir  haben  also  zwei  Wirkungen,  ohne  das  Eecht,  jEwei 
^esei»  für  diese  Wirkungen  zu  supponiren;  denn  die  Verschiedeil- 
heilt  d^  Wirkungen  lässt  nur  auf  eine  YerschiedenheU  der 
Yorstellungen  im  Wesen,  die  Verschiedenheit  zweier  Vw- 
steUungen  aber  keineswegs  auf  die  Nichtidentitäi  der 
81^  vorstellenden  Wesen  schliessen.  Kuj^  und  gi^^ty  räum* 
liehe  Unterschiede  können  dem  Unbewussten  picht  zukommen»  alao 
ap^fa  keine  Vielheit  des  Wesens  dU]:ch  räiumliche  Be- 
stiq^mungen.  Bei  s^eitlicben  Unterschieden  i^t  dies  noch  viel 
klarer^  da  wir  ja  ajuch  so  gewöhnt  ai^d»  die  Identität  des  continuir- 


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46& 

lieh  wkkttQcIcii  Weten«  tarots  aller  jiMiliofaeii  Ycondkiedenhait,  trots 
des  friiiiMr  oier  Bgüier  der  Wirkniigeiiy  «nmerkenneiu  Nun  giebi 
es  aber,  oftijeotiy  genommen,  keine  anderen^  ak  rämiliohe  Unter- 
sehiede;  denn  waa  wir  eonat  noch  an  Untetsohieden  kennen,  die 
UnterBohftede  der  Yorstellnngen  unter  einander  «ad  der  UnterBelded 
dea  WoUena  und  YorstellenB,  sind  innose  /  sul^eotiTB  üniteiiBdiiede 
yeraduedener  Thätigkeiten  desselben  Wesens  oder  Sulifectes,  nicht 
aber  ein  Unterschied  verschiedener  Wesen  oder'Subjecte.  Von  dem 
Unterschiede  veiachiedener  Yorstenungen  unter  einander  ist  dies 
oline  Weiteres  klar,  aber  es  gilt  auch  für  den  durch  idle  Indm« 
dnen  der  Natur  sich  durchEiehenden  Unterschied  der  beiden  Grund- 
thätigk^ten  Wollen  und  Yorstellen,  denn  das  Unbewusste  ist  Bines 
im  Weilen  wie  im  Yorstellen,  nur  dass  es  hist  will  und  dort  var- 
stelli,  es  yerhält  sich  xu  jenen  Thätigkeiten  wie  Spinona's  Substanz 
m  ihren  Attributen:     (Näheres  darüber  in  Gbtp.  0.  XIY.) 

Weim  ako  dem  Wesen  das  Unbewussten  weder  durch  ränm- 
Heke,  no<A  sonstige  Unterschiede  eine  Yielhdt  des  Wesens  auige*- 
burdet  weiden  kann,  so  mass  es  eben  eine  einfiEtche  Einheit  sein. 
Eb  stimmt  mithin  das  BesnUat  dieser  apriorischen  Betrachtung  Tiällig 
mit  dem  der  aposteriorischen  Wahrscbeinlichkeitsdemonstratian 
überein,  und  ist  demnach  die  All-Sinheit  des  Unbewussten  als  be^ 
wiesen  ansusehen»  Es  haben  hierdurch  die  Individiien '  oder 
Monaden  des  Leibniz  ihre  selbstständige  fiubstansialitäi  an  die 
höchste  Monade  verloren,  oder  sind  so  unselbstständigen  Erschei- 
nungsfomsn  (modu)  dieser  höchsten  Monade  geworden,  die  aber 
auch  eben  damit  dmk  im  Leibniz'schen  Systeme  ihr  anhaftenden 
Widerspmch  abgestreift  hat,  indem  sie  sich  wiederum  mit  der 
Siubstans  Spinosa's  identüLcirt  hat. 

Dieses  Zurückgehen  von  Leibniz  auf  Spinoaa  ist  aber  so  wenig 
Mn  Bückschritt,  wie  das  Zuräckgdien  von  dem  Standpuncte  der 
heutigen  Naturwissenschaft;  in  beiden  Fällen  ist  man  durch  di« 
Fortschritt»  der  Empirie  und  Inducti<m  in  Btand  gesetat,  mystisch^ 
geniale  Gonceptionen  eines  Früheren  a  posteriori  zu  begreifen  und 
sn  begründen,  ein  solches  Zurückgehen  auf  die  grossen  Yorginger 
ist  ako  ein  wahrhafter  Fertsdnitt  und  ein  bleibender  Gewinn; 
denn  es  sei  mir  vergönnt,  noch  eimnal  daran  au  emnem,  daas  der 
Gang  der  Philosophie  die  Umwandlung  mystisch  genialer  Goncep- 
tionen in  ratioi^lle  Erkenntniss  ki     (Ygl  Cap.  B.  IX.) 

Wo  wir  uns  auch  umbUchen  unter  den  genialen  j^ulosophiscfaen 


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456 

oder  religiösen  Syvtemen  ersten  Banges,  überall  begegnen  wir  dem 
Streben  nach  Monisrnns,  nnd  es  sind  nnr  Bteme  zweiten  und  dritten 
Banges  9  die  in  einem  äosserlichen  Ihialisikins  oder  noch  grösserer 
Zersplütemng  Befriedigung  finden.     Selbst  in  ausgestochen  poly- 
theistischen Beligionen,  wie  die  griechische  nnd  die  yersohiedenen 
nordischen  Ifythologien,  erkennt  man  dies  Streben  nach  Monismos 
sowohl  in  den  ältesten  Fassungen,  als  in  den  späteren  A.nffassnngen 
tieferer  religiöser  O^mnther,  nnd  aneh  in  den  philosophischeren  Auf- 
ÜEusnngen  des  christlichen  Monotheismus  ist  die  Welt  nnr  eine  Ton 
Gott  gesetzte  Eischeiniuig,    die  nnr  so  lange  Bestand  hat,  als  m 
Ton  Oott  erhalten,  d.  h.  nnanfhörlich  neu  gesetzt    wird.     Ea  ist 
nicht  allen  nach  Monismus  strebenden  Systemen  gelungen,  denselben 
wirklich   zu  erreichen,  doch  fühlt  man  das  unverkennbare  Bedarf- 
nias  nach  einer  einheitlichen  Weltanschauung  heraus,  und  nur  die 
seichteren  religiösen  und  philos<^hischen  Systeme  haben  sich  mit 
einem  äusserlichen  Dualismus  (z.  B.   Ormuzd   und  Ahriman,  Gott 
und  Welt,  Weltordner  und  als  Chaos  gegebene  Materie,  Kraft  und 
Stoff  u.  s.  w.)  oder  gar  einer  Vielheit  begütigt     Es  giebt  gar  keine 
nidier  liegende  Gonception  for  den  mystisch  Erregbaren,  als  die,  die 
Welt  als  einheitliches  Wesen  aufzufassen,   sidi  als  Theil  dieses 
Wesens   zu   fühlen,    aber  als  Theil,  in  dem  zugleich   das  Game 
wohnt,  und  in  dem  Contrast  des  Ich  mit  jenem  die  Elrhabenheit 
des  letzteren  und  die  Theilnahme  des  Ich  an  derselben  religiös  za 
gemessen.      Seit  dem  Christenthume  hat   man   dies  Eine  Wesen 
Gott  genannt,  und  die  Ansdiauung,  welche  behauptet,  dass  dieses 
Eine  Wesen   das  All  oder  das  Ganze  ist,  demgemäss  Pantheismus 
(im  weitesten  Sinne  des  Wortes)  betitelt     'Recht  Torstanden  kann 
man  sich  das  Wort  gewiss  gefallen  lassen,   ich  ziehe  aber  wegen 
der  Missyerständnisse ,  denen  es  ausgesetzt  ist,  das   nach  unserer 
Erklärung  yon  Pantheismus  mit  demselben  gleichbedeutende  Wort 
Monismus  vor.     Der  orthodoxe  Katholicismus  freilich  und  der  seicht 
rationalistische   Protestantismus,    welche    beide   Gott  zu    erheben 
glaubten,  indem  sie  ihn  anthropathisirend  Terkleinerten,  haben  frei- 
lich die  tieferen  Geister  in  der  christlichen  Kirche,  welche  das  Be- 
dürfriiss   dieses  Monismus    erkannten  und  aussprachen,  stets  yer- 
ketzert  und  verbrannt  (z.  B.  Giordano  Bruno) ,  aber  ich  meine,  die 
Zeit  ist  nahe,  wo  das  Cfaristentiium  monistisch  werden  oder  unter- 
gehen muss.     Schelling  sagt:  „Dass  bei  Gott  allein  das  Sein,  und 
daher  alles  Sein  nur  das  Sein  Gottes  ist,  diesen  Gedanken  läset 


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467 

rieh  weder  die  Yemonft,  noch  das  Gefühl  raaben.  Er  ist  derd^ 
danke  ^  dem  allein  alle  Herzen  schlagen^^  (Werke  Abth.  IL,  Bd.  2, 
8.  39);  und:  JDasa  AUes  aoB  Qott  sei)  hat  man  yon  jeher  gleichsam 
gefiih]t>  ja  man  kann  sagen :  eben  dieses  sei  das  wahre  XJrgefühl  der 
Menschheit^  (Werke  Abth.  IL  Bd.  3.  S.  280).  Dieses  mystische 
Urgefühl  der  Menschheit  zieht  sich  als  ein  zwar  oft  nur  höchst 
mangelhaft  reaUsirtes,  aber  mit  Ausnahme  der  Skeptiker  stets  er- 
kennbares Streben  nach  M<mismns  wie  ein  rother  Faden  durch  die 
gesammte  Philosophie  von  den  ersten  indischen  Ueberliefemngen 
bis  anf  die  neueste  Zeit.  Da  ein  noch  so  flüchtiger  üeberblick 
über  das  Ganze  für  unseren  Raum  unthunlich  ist,  so  beschränke  ich 
mich  darauf,  die  neueste  Bpoche  in  dieser  Hinsicht  mit  wenigen 
Strichen  zu  skizziren. 

Das  Weseiy  welches  der  Erscheinung  des  Aussendinges  zu 
Grunde  liegt,  nannte  Kant  das  ,^Ding  an  sich*'.  Es  ist  merkwür- 
dig, dass  Kant  hieraus  und  aus  seiner  Lehre  von  der  transcenden- 
taleH  Idealität  des  Baumes  und  der  Zeit  niemals  die  so  auf  der 
Hand  liegende  Consequenz  gezogen  hat,  dass  es  nicht  Dinge  an  sich, 
sondern  nur  Ding  an  sich  im  Singular  geben  kann,  da  alle  Viel- 
heit erst  durch  Baum  und  Zeit  entsteht;  dagegen  hat  er  selbst 
(Eant's  Werke  IL  288 — 289  u.  303)  die  Bemerkung  ausgesprochen, 
dass  wohl  das  Ding  an  sich  und  das  dem  empirischen  Ich  zu 
Grunde  liegende  Intelligible  ein  und  dasselbe  Wesen  sein  könnte, 
da  sich  zwischen  beiden  schlechterdings  kein  Unterschied  mehr 
angeben  lässt.  Dies  ist  einer  der  Züge,  wo  das  unwillkürliche 
Slsreben  grosser  Geister  nach  Monismus  sich  nicht  yerläugnen  kann. 
Dass  Kant  trotzdem  in  solchen  Consequenzen  so  zaghaft  war,  liegt 
darin,  dass  er  den  Anfang  der  modernen  Epoche  der  Philosophie 
bildete,  einer  Epoche,  in  welcher  die  früher  auf  ein  oder  zwei 
Genies  ooncentrirte  Arbeit  auf  die  Schultern  mehrerer  vertheilt 
werden  musste,  weil  diese  Arbeit  um  so  schwieriger  wurde,  je  öfter 
die  alten  Probleme  in  neuer  und  zugespitzterer  Form  wieder  auf- 
tauchen, und  je  mehr  der  Umkreis  des  Wissens  und  der  Erfahrung 
sich  erweitert. 

Was  Kant  als  zaghafte  Yermuthung  aufstellte ,  dass  das  Ding 
an  sich  und  das  thfttige  Subject  ein  und  dasselbe  Wesen  sein 
möchten,  das  sprach  Schopenhauer  als  kategorische  Behauptung 
aus,  indem  er  als  den  positiven  Character  dieses  Wesens  den 
Willen  erkannte.     Es  ist  schon  erwähnt,  dass  Schopenhauer's  Wille 


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«ioli  giui2  so  beuuami,  ala  #b  er  inii  Yorsielliiiicp  verbundiB  wibe, 
oliiie  da«8  aohopenhanw  diaa  zui^bt 

Fichte  YBikannte  die  Waiirheit  jener  Ktat'sehiGnL  Andeutaiig; 
er  sprkht  ier  Erscheinung  des  Dinges  iedes  Tom  erkennondn 
Snbjeet  unabhängige  Wesen  ab,  und  maebt  sie  au  einer  gans  yom 
T erstellenden  Subjeote  gesetaten  Ersebeinung.  8e  verHert  das  Bing 
an  sieh  seine  Wesenheit  in  unmktelbarev  Weke  an  das  Ich,  Idtr 
-was  in  4er  Form  eines  loh  existirt,  hat  bei  Fichte  Wesen,  und 
die  todte  Natur»  soweit  sie  in  diese  Form  nicht  eingeht,  bLaibt  eine 
rein  salQectiye»  d.  h.  bloss  vom  Bubject  geselscte  Erscheinung. 

Aber  aueh  Fiehte  muss  auf  seine  Weiae  auf  deot  HewsmoB 
matireban ;  das  loh  streift  desk  vaMJüg^  Charaoter  dieses  oder  jenes 
beschränkten  empirischen  Ich's  ab,  indem  es  bMl  zam  absolotn 
Ich  eihebtk  Das  absolute  Ich  ist  das  Wesen,  welches  allein  alle 
die  yessohiedenen  mfölligenx  empirischen  beschränkten  Ich's  ist, 
denn  das  Weaeiv  wdches  aidi  im  Frocess  des  abeeluten  I^V  ent- 
wickelt,  ist  dasselbe,  welches  diesen  Froc«iis  in  seiner  lufälligan 
empiriechen  Besehränknng  heirvorbringt,  so  daes  hiermit  die  riefen 
Ich's  auch  wieder  nur  sa  ErBcheinungen  des  Einen  absoluten  herab- 
gesetzt werden. 

Sehe  Hing  sucht  in  seinem  tranaeend^italen  Idealismus  den 
Beichikum  der  bei  Fichte  in  das  kahle  Abetractum  des  Hichti^'s 
zusammengeschrumpften  Anssenwelt  in  der  Mannigfaltigkeit  ifarar 
Bestimaumgen  aus  i&c  Thätigkdt  des  Ich's  zu  deduciren;  ktdea 
er  aber  die  üebereinstimmung  der  Anschauungen  der  Terschiede- 
nen  beschränkten  Ich's  aus  der  ebenfalls  stark  betonten  Einheit  der 
unendlichen  Int^igenz  oder  des  absoluten  Ich's  in  den  endlichen 
Intelligenzen  oder  beschränkten  Ich's  erklärt,  führt  ihn  noihwendig 
der  Standpunct  des  transcendentalen  Idealismus  zur  Katuri^loaqihie, 
wo  er  ohne  Berücksichtigung  des  beschränkten  Ich's  die  Deduction  der 
aosserwelüiohen  BestiniBMmgen  unmittalbar  vom  absoluten  Ich  oder 
reinen  Subject  aus  vernimmt»  und  hier  unter  anderen  natürlichen  Be- 
stimmungen selbstverständlich  auch  auf  den  Qeiai  und  seine  Prodade 
trifft.  In  beiden  Systemen  geht  er  von  der  Identität  des  Subjeetes 
und  Obiectes  aus,  nur  erseheint  dieses  absolute  Subjeet^Obgeet  das 
eine  Mal  mehr  von  der  subjeotiven,  das  andere  Mal  mehr  Ten  der 
db^eetivein  Seite^ 

Die  hierbei  benutzte  Methode  des  sich  atufonweise  als  Object 
seteenden  reijoen  Su^eetes,  das  sieh  aus  jeder  Objectivatioia  in  seine 


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46» 

Btnfe^weiae  geatcugofte  Subjecti^tät  ^mrücknioMBi,  fUnte  Hof^m 
semer  dialectiiichwi  Meüiode  au«. 

^ie  MeÜiod^.  ist  nur  die  Bewegung  des  BegrifTef  sellMty  ab&t 
mit  der  SedeutuDg,  dMB  der  Begriff  Alles  imd  seii^  Bewegui^ 
die  imgemeine  absolute  T)uitigkeit  ist." 

Hegel  erkannte,  dass  die  SoheUing'sehe  Deductioa  eotuteder 
gav  l^einen  oder  einen  rein  logischen  Werth  ab  Prooess  im  Eeiobe 
des  Benkens  habe,  aber  er  erbob  den  Ansproob»  dass  seine  hieraitf 
gebaute  Logik  zugleich  Ontologie,  dass  der  Begriff  Alles^  d.  h* 
alleinige  Substanz  und  alleiniges  absolutes  Subject, 
und  dass  der  Weltprocess  reine  dialectische  Selbstbewegang  des 
Begriffes  sei,  dass  also  für  ein  eigentlicli  Unlogisches,  d.  h.  Al<^i- 
sches  (nicht  AntUogisches)  kein  Baum  xur  £zistenz  bleibe,  denn 
in  seinem  imposant  geschossenen  System  war  die  Welt  erschöpft 
mit  dem  zur  absoluten  Idee  geste^rten  Begriffe,  mit  der  in  der 
Natur  ausser  sich  gekommenen  und  im  Geiste  wied^  zu  mtx  ge* 
kommenen  absoluten  Idee. 

Schelling  in  seinem  letzten  Systeme  behauptete  die  NegatiTitSti 
d-  h«  rein  logische  oder  rein  rationale  Beschaffenheit  der  Hegerschen 
Philosophie;  er  sprach  ihr  also  ab,  dass  sie  sagen  könne,  was  und 
wie  ea  sei»  und  gab  nur  zu,  dass  sie  sagen  könne:  wenn  etwas 
ist,  so  muss  es  so  sein.  Er  erklärte,  dass  in  des  Hegersohen  und 
allen  ihr  vorausgehenden  Philosophie^  nur  von  einem  ewigen 
Qeaohehen  die  Kode  sein  könne ;  „ein  ewigea  Geschehen  ist  aber 
kein  Geschehen.  Mitbin  ist  die  ganze  Yorstellung  jenes  Processee 
und  jener  Bewegung  eine  selbst  iUusonsohe,  ea  ist  eigentlich  niehta 
gasaohehen,  Alles  ist  nur  in  Gedanken  vorgegangen  und  diese  ganze 
Bewegung  war  nur  eine  Bewegung  des  Denkeins"  (Werke  I.  10« 
8,  124—125).      • 

£r  erklärt  die  Existenz  för  das  wahrhaft  U  eher  vorn  ünf - 
tige,  was  als  Wirklichkeit  nun  und  nimmermehr  in  der  Yernunfk^ 
sood/om  nvx  in  der  Erfahrung  sein  kann  (Werke  IL.  3.  &  C;9). 
und  nennt  in  dieser  Hinsicht  die  lü^atur  und  Srfahrnng  das  der 
Yemnnft  Fremdartige  (ebenda  8.  70).  Wenn  schon  die  absolute 
oder  höchste  Idee  keinen  realen  Werth  bat^  wenn  aie  nicht  mehr 
alz  blosse  Idee,  wenn  sie  nicht  das  wirklich  ilzistirende  ist 
(IL  3.  8.  150),  sa  könnte  selbst  diese  Idee  nicht  einmal  atls 
Qedcinke  sein,  wenn  sie  nicht  Gedanke  eines  sie  d.enkanden. 
B.Urb|ectes   wäre   (I.    10.  8.  132);   man  must  also  in  doppeltem 


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460 

Hinsicht  über  die  Idee  als  solche  hinausgehen  zu  einem  ausser  und 
unabhängig  yom  Denken  Seienden,  zu  etwas  allem  Benken  Zuyor- 
kommenden  (11,  3.  S.  164),  zu  einem  unvordenklichen  Sein. 
So  lange  man  yom  Standpuncte  der  rein  rationalen  oder  negativen 
Philosophie  vom  Seienden  spricht,  spricht  man  also  eigentlich  von 
demselben  nur  seinem  Wesen  oder  seinem  Begriffe  nach,  mehr 
kann  man  eben  a  priori  nicht  erreichen;  die  Frage  aber,  mit  der 
die  positive  Philosophie  beginnt,  steht  nach  demjenigen,  welches 
(grammatikalisches  Subject)  das  Seiende  (grammatikalisches  Ob- 
ject)  ist,  oder  wie  Schelling  sich  auch  ausdrückt,  welches  das 
Seiende  istet,  oder  „diesem,  das  nicht  seiend  {ß^  ov)  blosse  All- 
möglichkeit ist,  Ursache  des  Seins  {altla  zov  elvai)  wird.**  „Er- 
kannt ist  das  Eine  dadurch  oder  darin,  dass  es  das  allgemeine  We- 
sen ist,  das  irtSVf  das  Seiende  dem  Inhalte  nach  (nicht  das  effecüv 
Seiende).  Damit  ist  es  erkannt  und  unterschieden  von  anderen 
Einzelwesen,  als  d a s  Einzelwesen,  das  Alles  ist."  (II.  8.  S.  174). 

Man  vergleiche  hiermit  die  schon  in  der  Einleitung  S.  17  an- 
geführte Stelle  aus  dem  transcendentalen  Idealismus,  so  wird  man 
finden,  dass  Schelling  schon  in  seinem  ersteh  Systeme  unter  dem 
„ewig  ünbewussten"  sich  im  Wesentlichen  das  Nämliche  gedacht 
hat,  was  er  in  seinem  dritten  Systeme  zur  Grundlage  der  positiven 
Philosophie  erhebt. 

So  haben  wir  in  allen  Philosophien  der  neueren  Epoche  dieses 
Streben  nach  Monismus  auf  die  eine  oder  andere  Art,  vollständiger 
oder  unvollständiger  realisirt  gesehen.  Was  in  der  historischen 
Entwickelung  als  der  letzte  Gipfel  der  speculativen  Arbeit  der 
Neuzeit  sich  darstellt,  das  Schelling^sche  „Einzelwesen,  das  alles 
Seiende  ist,"  dasselbe  haben  wir  a  posteriori  auf  inductivem  Wege 
entwickelt  oder  vielmehr  gleichsam  unwillkürlich  gewonnen, 
nun  aber  nicht  mehr  als  ein  Wenigen  zugängliches  speculatives 
Princip,  sondern  mit  dem  vollgültigen  Nachweis  seiner  empirischim 
Berechtigung.  Indem  wir  nämlich  das  Gebiet  des  ünbewussten 
sorgfältig  von  dem  des  Bewusstseins  trennten,  und  das  Bewusstsein 
als  eine  blosse  Erscheinung  des  ünbewussten  erkannten  (Oap.  C.  HL), 
zerflossen  die  Widersprüche,  in  welchen  das  natürliche  Bewusstsein 
sich  bei  seinem  Streben  nach  monistischer  Anschauung  unvermeid- 
lich verstrickt  und  verfangt.  Aber  nicht  bloss  das  Bewusstsein, 
sondern  auch  die  Materie  hatte  sich  (Cap.  C.  T.)  uns  als  eine  blosse 
Erscheinung  des  Ünbewussten  ausgewiesen,  und  Alles  in  der  Welt, 


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461 

-was  Dicht  durch  die  Begriffe  Materie  und  Bewosstsein  erschöpft  ist, 
-wie  das  organische  Bilden,  die  Instincte  u.  s.  w.,  hatte  sich  (in 
den  Abschnitten  A,  und  B)  als  die  unmittelbarsten  und  am  leich- 
testen erkennbaren  Wirkungen  des  XJnbewussten  herausgestellt 

Hiermit  war  1)  Materie,  2)  Bewusstsein  und  3)  organisches 
Bilden,  Instinct  u«  s.  w.  als  drei  Wirkungsweisen  oder  für  uns  drei 
Erscheinungsweisen  des  XJnbewussten,  und  letzteres  als  das 
Wesen  der  Welt  begrifESon.  Nachdem  wir  endlich  den  Begriff  der 
Individualität  einerseits  und  die  eigenthümliche  Natur  des  Unbe- 
THissten  andererseits  mit  dem  Yerständnisse,  so  weit  erforderlich, 
durchdrungen  hatten,  war  uns  der  letzte  Grund  zur  Annahme  einer 
Wesensvielheit  im  XJnbewussten  unter  den  ffiinden  entschwunden^ 
alle  Vielheit  gehörte  nunmehr  nur  noch  der  Srscheinüng  an,  nicht 
dem  Wesen,  welches  jene  setzt,  sondern  dieses  ist  das  Eine  abso- 
lute Individuum,  dad  Einzelwesen^  das  Alles  ist,  während  die 
Welt  mit  ihrer  Herrlichkeit  zur  blossen  Erscheinung  herabgesetzt 
wird,  aber  nicht  zu  einer  subjectiyen  gesetzten  Erscheinung,  wie 
bei  Xant,  Fichte  und  Schopenhauer,  sondern  zu  einer  objectiv.  (wie 
SchelHng  sagt  [Werke  IL  3.  S.  280]  „göttlich'')  gesetzten  Erschei- 
nung, oder,  wie  Hegel  es  ausdrückt  (Werke  YL  8.  97),  zur  „blossen 
Erscheinung  nicht  nur  für  uns,  sondern  an  sieh.''  Was  uns  als 
Stoff  erscheint,  „ist  blosser  Ausdruck  eines  Gleichgewichtes  ent- 
gegengesetzter Thätigkeiten^'  (Schelling's  Werke  L  3.  S.  400),  was 
uns  als  Bewusstsein  erscheint,  ist  ebenfSalL» .  blosser  Ausdruck  eine» 
Widerstreites  entg^engesetzter  Thätigkeiten.  Jenes  Stück  Materie 
dort  ist  ein  Conglomerat  Ton  Atomkräften,  d«  h.  von  Willensacten 
des  XJnbewussten,  von  diesem  Puncte  des  Baumes  aus  in  dieser 
Stärke  anzuziehen,  von  jei^em  Puncte  in  jener  Stärke  abzustossen; 
dam  XJnbewusste  unterbreche  diese  Willensacte  und  hebe  sie  auf,  so 
hat  in  demselben  Moment  dieses  Stück  Materie  aufgehört  zu  exi- 
atiren;  das  XJnbewusste  wolle  yon  Neuem,  und  die  Materie  ist 
ndeder  da.  Hier  verliert  sich  das  XJngeheuerliohe  der  8c)iÖpfang 
der  materiellen  Welt  in  das  alltägliche,  jeden  Augenblick  sich  er- 
neuernde Wunderihrer  Erhaltung,  welche  eine  continuirliche 
Schöpfung  ist.  Die  Welt  ist  nur  eine  stetige  Eeihe  von  Sum- 
men eigenthümlich  combinirter  Willensacte  des  XJnbewussten,  denn 
sie  ist  nur,  so  lange  sie  stetig  gesetzt  wird;  das  XJnbewusste 
höre  aui^  die  Welt  zu  wollen,  und  dieses  Spiel  deh  kreuzender 
^Thätigkeiten  des  XJnbewussten  hört  auf  zu  sein. 


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462 

E^  ist  eine  vor  der  gHindliehen  Betttiehtiing  Tdrschwindeiide 
TänBchungy  eine  Sinnestänsohtmg  im  wetteren  Sinne,  wenn  wir  an 
der  Welt,  an  dem  Niohtioh,  etwas  unmittelbar  Beales  zn  haben 
glauben;  ee  ist  eine  T&nsdnmg  des  egtyistischen  Instinetes,  wtdnn 
wir  an  uns  selber,  an  dem  lieben  Ich  etwas  unmittelbar  Beates  su 
haben  glauben;  die  Welt  besteht  nur  in  einer  Summe  von  üifitig- 
keiten  oder  Will«Maoten  des  ünbewussten,  und  das  Idi  besteht  in 
einer  anderen  Summe  von  Thätigkeiten  oder  Willensacten  des  Uli- 
bewuBston ;  nur  insoweit  erstere  Thätigkeiten  letztere  kreuzen,  idrA 
mir  die  Welt  empfindlich,  nur  insoweit  letztere  die  ei'steren 
kreozen,  wetde  ich  mir  empfindlich.  (Hierbei  ist  natfirHch  mein 
Leib,  ao^  mein  Gehirn,  zum  Nichtich,  zur  Welt  gerechnet)  Nur 
dadurch»  dasa  ein  Willensaet  mit  dem  anderen  in  Opposition  tritt, 
nnd  sie  sich  gegenseitig  Widerstand  leisten  und  beschränken, 
nur  dadurch  entsteht  das,  was  wir  Realität  nennen,  und  was 
auf  in  dem  Wollen  erreichbar  ist,  weil  im  Gebiete  der  Vorstellung 
das  ideell  Bnfgegeagesetzte  fdedUch  nebeneinander  besteht,  ehe  der 
Wille  es  erf^t  hat.  Auch  dieses  Wirken  der  Willensacte  auf 
einander  ist  ma  verständlich,  wenn  sie  Thätigkeiten  eines  und 
desselben  Wesens  sind. 

Bas  ÜnbewoBste  ändere  die  Oombination  von  Thätigkeiten  oder 
WiUeiMaoten,  welche  mich  ausmacht,  und  ich  bin  ein  Andei^r  ge- 
worden; das  Unbewnsste  lasse  diese  Thätigkeiten  aufhören,  und  idi 
habe  aufjuehört  zu  sein.  Ich  bin  eine  &scheinung  wie  der  Regenbogen 
in  der  Wolke;  wie  dieser  bin  ich  geboren  ans  dem  Zusammen- 
treffen von  Verhältnissen,  werde  ein  Anderer  in  jeder  Secuude,  weil 
diese  Verhältnisse  in  jeder  Seeunde  andere  werden,  und  werdd  zer- 
fliessen,  wenn  dieee  Verhältnisse  sich  lösen;  was  an  mir  Wesen 
ist,  bin  ich  nicht.  An  derselben  Stelle  kann  einmal  ein  andeter 
Begenbogem  stehen,  der  diesem  völlig  gleicht,  aber  doch  ist  er  nic!rt 
derselbe,  denn  die  zeitliche  GontinuitSt  fehlt;  so  kamt  au^  an 
mein^  •  Statt  einmal  ein  mir  völlig  gleiches  Ich  stehen,  aber  das 
werde  ich  nicht  mehr  sein;  nur  die  Sonne  st^sAdt  ewig,  die  auek 
in  dieser  Wolke  spielt,  nur  das  Unbewusste  waltet  ewig,  das 
a«ch  in  meinem  Hirn  sich  bricht. 

Die  hier  in  grossen  Zügen  verzeichneten  Resiütate  werden  iii 
den  nannten  drei  Capiteln  eine  mannigftkltige  Anwendung  und  Aus- 
fähcong  im  Sinzcteen  flnden,  welche  hoff^itlich  dazu  beitragen 
werden,  sie  dem  bisher  in  d^  Anschauungsweise  des  practisch  sinen- 


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468 

liehen  lastinctes  be^euigeneii  Leser  aiiader  abstosBend  erBoheinen  zu 
Ittssen.  —  Eör  BetqenigeQ  abeir,  der,  in  den  Aneokaiimigen  des 
ofadifitliehen  TheMnnifi  an%ewaeii8eiiy  Bioh  geneigt  föhie«i  mööbte,  dett 
Namen:  „QoW^  auf  „daa  Biae  Wesen,  das  Alles  ist*",  ansawenden, 
und  nnr  damn  Anstoss  nehmen  ^w«Ute,  dass  Gott,  abgesehen  ▼<>& 
dem  endüdien  Individuen,  keim  B^vmsstsein  haben  M>lle>  ml^te  ick 
hier  die  £nanefnng  ansokliessen ,  dass  das  Bennisstsein  niehts  ire- 
niger  als  einen  abeolxtan  Wer&  hat,  das»  es  vielmehr  eine  Be- 
iMJhnlnkiing  ist,  wacher  iHt  eadtidhen  indi^g'idaen  antr  deshalb  imter* 
woriSsa  siikd,  nm  einen  einmal  begangenen  Pehler  wieder  gut  2u 
machen  (vgl  untdr  Gap.  G.  XIII;),  das«  aber  das  christliche  Vor* 
Qftheil,  €btt  noch  aosserhalb  der  Indiridnen  ein  eigenes  persön- 
liches BadruBstaeui  aoBiidiohten ,  h»ine  geringer«  anthropopaüdsohe 
Verirrang  ist,  als  die  des  jüdischen  Testamentes,  wenn  dasselbe  ihm 
Zorn,  Bachsucht  und  ähnliche,  nach  den  an  uns  selbst  gemachten 
ErfiEihrungen  bemessene  Eigenschaften  zuschreibt.  Das  Eine  wie 
das  Andere  ist  eine  unwürdige  Beschränkung  der  reinen  und  erha-^ 
benen  Sphäre  der  Göttlichkeit,  welche  so  von  der  zeitlosen  Allwissen- 
heit der  Idee  erfüllt  ist,  dass  sie  zu  einer  Beflexion  in  sich 
so  wenig  Veranlassung  hat,  als  zu  einer  Beflexion  in  Anderes^  über- 
haupt bei  dem  intuitiven  Gharacter  ihres  Wissens  zu  gar  keiner 
Beflexion  kommen  kann,  welche  nur  auf  der  Voraussetzung  discur- 
siven  Denkens  einen  Sinn  hat,  —  am  allerwenigsten  aber  mit  dem, 
was  wir  als  Bewusstsein  und  Selbstbewusstsein  kennen,  etwas  zu 
schaifen  haben  kann,  da  beides  nur  auf  dem  Boden  der  Sinnlichkeit 
erst  möglieh  wird.  Hätte  Gbtt  wirklich  ein  Bewusstsein  vor  der 
Schöpfung,  so  wäre  diese  ein  unentschuldbares  Verbrechen,  da  ihr 
„Dass''  nur  als  Besultat  eines  blinden  Willens  verzeihlich  und 
begreiflich  ist,  —  so  wäre  der  ganze  Weltprocess  eine  bodenlose 
Thorheit,  da  sein  einziges  Ziel,  ein  starkes  selbstständiges  Bewusst- 
sein, schon  ohne  ihn  vorhanden  wäre.  (Dies  kann  erst  durch 
Gap.  C.  Xn.  u.  XIII.  begründet  werden).  —  Nur  deshalb  hat  man 
bisher  so  sehr  danach  gerungen,  fUr  das  Absolute  eine  selbstbe- 
wusste  Persönlichkeit  zu  retten,  um  nicht  als  ausschliessliches 
Produet  blinder  Naturkräfte  dazustehen;  mit  der  Erkenntniss 
aber,  dass  im  Absoluten  eine  unbewusst«  Intelligenz  existirt,  deren 
hellsehende  Weisheit  (vgl  Gap.  G.  XI.)  der  jedes  möglichen  Be- 
wusstseins  überlegen  ist,  und  dass  diese  den  Inhalt  der  Schöpfung 
und  des  Weltprocesses  bestimmt,  verschwindet  jenes  Motiv.     Dass 


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464 

ich  aber  die  niibewiisste  Intelligenz  an  Stelle  der  bewußten  gesetst» 
und  damit  dem  All -Einen  die  Persönlichkeit  abgesprochen 
habe,  ist  in  der  That  der  einzige  Unterschied  dieses  von  dem  Gotte 
desgenigen  Theismus  oder  MonotheiBrnns,  bei  welchem  die  Welt  nicht 
Ck>tt  entgegengesetzt»  sondern  ihm  immanent  ist.  Denn  Individua- 
lität hat  das  XJnbewnsste  ja  auch  (s.  oben  S.  45 1),  da  es,  wenn  irgend 
etwas,  gewiss  untheilbar  ist.  —  Auch  das  Absolute  der  neuerei^  Philo- 
sophie hat  weder  bei  Fichte^  wo  es  bloss  durch  die  moralische  Welt- 
ordnung repräsentirt  wird,  noch  bei  Schelling  (ygL  seine  Werke  I. 
1.  S.  180;  I.  3.  S.  497;  I.  4.  8.  256;  L  7.  53-54  u,  67—68), 
noch  bei  Hegel  (was  allerdings  der  reactionäre  Theil  der  HegeF- 
sehen  Schule  zu  bestreiten  sucht),  noch  bei  Schopenhauer  ein  Be- 
wusstsein  ausserhalb  der  yon  ihm  durchwehten  Individuen« 


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vm. 

Das  Wesen  der  Zeu^ng  ven  Stradpnncte  der 
AU-Einlieit  des  ünbewnssten. 


Wir  wollen  nunmehr  unseren  neugewonnenen  Standpunet  zur 
Beleuchtung  einiger  Fragen  benutzen,  welche  theilB  seit  Jahrtausen- 
den die  Philosophen  beschäftigen,  theils  gerade  in  der  Gegenwart 
sich  ein  besonderes  Literesse  im  Publicum  erobert  haben.  Es  wird 
sich  zeigen,  wie  die  Lösungen,  welche  aus  unseren  bis  hierher  ge- 
wonnenen Principien  fli  essen,  anf  s  Beste  mit  dem  übereinstimmen, 
was  die  zu  erklärenden  Thatsachen  fordern^  und  was  eine  mühelose 
Xritik  Ton  Erklärungsmöglichkeiten  übrig  lässt. 

Die  erste  dieser  Fragen  betrifft  die  Natur  der  Zeugung.  Es 
stritten  sich  früher  zwei  Ansichten  um  die  Zeugung,  der  Creatia- 
nismuB  und  Traducianismas.  Der  erstere  nahm  eine  seelische  Neu- 
schöpfhng  bei  jeder  Zeugung,  der  letztere  eine  üeberführung  Ton 
Theilen  der  Eltemseelen  in  das  Kind  an.  Erstere  Ansicht  statuirt 
also  bei  jeder  Zeugung  ein  ErschafGen  aas  dem  Nichts,  ein  neues 
Wunder,  und  ist  schon  deshalb  den  gesunderen  Anschauungen  der 
Neuzeit  unannehmbar,  letztere  aber  widerspricht  den  Thatsachen. 
Denn  wenn  ein  Mann  mit  der  nöthigen  Anzahl  Frauen  jährlich 
bequem  über  hundert  Kinder  zeugen  könnte,  während  der  Zeit  seiner 
Zeugungsfähigkeit  also  viele  Tausende,  und  doch  notorisch  keine 
Abnahme  an  seiner  Seele  sich  einstellt,  so  muss  der  bei  jeder  Zeu- 
gung an  das  Kind  abgegebene  Theil  kleiner  gewesen  sein,  als  der 
yieltausendste  Theil  yon  dem  Minimum  der  Abnahme,  welches  als 
Verlust  an  der  Seele  noch  eben  gespürt  werden  würde.  Mit  einem 
so  winzigen  Stückchen  Seele  könnte  sich  aber  offenbar  das  Kind 
auf  die  Dauer  nicht  begnügen ,  noch  weniger  seine  Kinder  und 
Kindeskinder,    die    in    abnehmender    Progression    bald    nur    noch 

T.  H*rtiDaim,  Phil.  d.  UnbewoMten.  30 


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466 

Billiontel-Seelen  bekommen  würden ;  demnach  könnte  das  übertragmie 
Stück  nnr  als  Keim  betrachtet  werden,  der  eines  Wachsthumes 
fähig  ist.  Unter  einem  Keime  versteht  man  aber  eine  formelle 
Macht,  welche  fremde,  materielle  Elemente  an  sich  zu  ziehen 
und  zu  assimiliren,  nnd  dadnrch  zn  wachsen  im  Stande  ist. 
Wäre  also  die  Kindesseele  bei  der  Zeugung  erst  ein  Keim,  so  fragt 
sich,  wo  sollen  die  fremden  Elemente  zu  suchen  sein,  ausdenen 
sie  sich  vergrössert.  Die  Materialisten  antworten  sehr  einfach:  die 
Seele  ist  ja  nur  ein  Resoliat  mateneller  Combiuationen .  also  mit 
dem  Wachsen  des  Organismus  und  seiner  edlen  Theile  wächst  auch 
die  Seele.  Diese  Ansicht  können  wir  natürlich  nicht  aocep- 
tiren,  aber  sie  ist  wenigstens  in  sich  klar  und  consequent.  Fragen 
wir  aber,  wo  sonst  noch  die  anzuziehenden  Elemente  gesucht  wer- 
den könnten,  so  bleibt  nichts  übrig,  als  die  allgemeine  Oeistheit» 
das  impersönlich  Psychische,  mit  ^nem  Wort  das  TJnbewusste; 
aus  diesem  also  müsste  das  von  den  Eltemseelen  zur  Kindesseele 
abgegebene  Stück  seinen  Yeigrösserungsstoff  zieh^i.  Wozu  braucht 
man  aber  dann  noch  den  Seelenkeim,  da  der  organische  Keim 
dasselbe  kann?  Braucht  das  Kind  im  Mutterleibe  eine  andere 
Seelenthätigkeit  als  die  des  organischen  Bildens? 

Und  wenn  durch  diese  unbewusste  Seelenthätigkeit  im  Gehirn 
ein  Werkzeug  zu  bewusster  Seelenthätigkeit  geschaffen  ist,  braucht 
es  dann  noch  eines  anderen  Anziehuagsmittels,  damit  das  Unbe- 
wusste auch  hierauf  seine  Thätigkeit  lenke,  als  das  Yorhandenseiii 
dieses  Organes  selbst?  Wozu  dann  noch  diese  widernatürliche 
Hypothese  Ton  den  abgegebenen  Seelenkeimen,  bei  denen  man  sich 
entweder  einseitige  Richtungen  der  Eltemseelen  denken  mvas, 
die  zur  Erklärung  nichts  nützen,  oder  gleichsam  abgeschnürte,  -vorher 
ausgebrütete  Diminutivseelohen  —  eine  horrible  Vorstellung! 

Und  wie  kämen  denn  diese  Seelenknospen  dazu,  gerade  in  die 
organischen  Zeugungskeime  hineinzufahren ,  da  doch  beide  unab- 
hängig von  einander  entstehend   gedacht  werden  müssten? 

Wenn  die  Kindesseele  aus  dem  Borne  des  allgemeinen  Welt- 
geistes  geschöpft  ist»  gleichsam  das  an  dem  neu  entstandenen  orga- 
nischen Keime  ankrystallisirte  psychische  Zubehör  darstellt,  so  ist 
das  immer  schon  eine  wesentlich  andere  Vorstellung,  als  die  des 
Oreatianismus,  wo  die  Seele  im  Moment  der  Zeugung  yon  Gott  aus 
dem  Nichts  geschaffen  wird.  Femer  raubt  diese  Auffassung 
nicht  wie  der  GreatianismiBs  das  Verständniss  für  die  Erblichkeit 


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467 

der  peychisdien  Eigenschaften ,  indem  der  organische  Keim 
dnrch  die  Eigenschaften  der  Eltern  bedingt  ist  nnd  der  ans 
dem  IJnbewasaten  gleichsam  anschiessende  Q  e  i  st  e  8  k  r  y  B  t  a  1 1  wieder 
flieh  nach  den  Eigenschaften  des  organischen  Keimes 
modificirt^  in  diesem  Sinne  können  sich  durch  Vererbung 
der  Beschaffenheit  des  Gehirnes  geistige  Eigenschaf- 
ten gerade  so  gut  wie  ein  überzähliger  Einger  oder  eine  Krank- 
faeitsanlage  von  den  Eltern  auf  die  Kinder  übertragen.  Anderei^ 
•eits  bleibt  das  Hinzutreten  eines  durch  höhere  historische  Bück- 
sichten  geforderten  Genius  zu  der  Kindesseele  unbenommen;  denn 
w^enn  das  XJnbewusste  besondere  Werkzeuge  seiner  Offenbarung 
braucht,  so  bereitet  es  sich  dieselben  auch  rechtzeitig  zu,  es 
irird  sich  also  dann  in  einem  sich  als  besonders  geeignet  darbie- 
tenden Oi^;anismus  ein  Bewusstseinsorgan  schaffen,  welches  zu  un- 
gewöhnlich hohen  psychischen  Leistungen  befähigt  ist. 

Wenn  wir  auf  diese  Weise  auch  den  Hauptübelstanden  des 
Tradueianismus  und  Creatianismus  entgehen,  so  ist  doch  immerhin 
nicht  SU  läugnen,  dass,  so  lange  man  die  Seele  des  Individuums 
nicht  bloss  ihrer  Thätigkeit  nach,  sondern  auch  ihrem  Wesen,  ihrer 
Sabstanz  nach  für  etwas  in  sich  Abgeschlossenes  und  sowohl  gegen 
die  übrigen  individuellen  Seelen,  als  auch  gegen  den  allgemeinen 
Geist  Abgegrenztes  betrachtet,  dass  so  lange  die  Lehre  von  der 
Zeugung  ihre  grossen  Schwierigkeiten  hat;  denn  das  Losreissen 
einer  neuen  Seele  vom  Allgemeinen  und  das  Fixiren  derselben  an 
den  neuen  oiqganischen  Keim  hat  sein  sehr  Bedenkliches,  mag  man 
min,  wie  wir  eben  thaten,  dieses  Lidiyidualisiren  einer  neuen  Seele 
als  einen  allmähligen  Kry stallisationsprocess  ansehen,  der  mit  der 
leiblichen  Entwickelung  des  Keimes  Hand  in  Hand  geht^  oder  mag 
Bian  denselben  als  einen  einmaligen  momentanen  Act  auffassen, 
in  welchem  die  neue  Seele  fix  und  fertig  fur's  ganze  Leben  dem 
Keime  eingepflanzt  wird. 

Sowie  man  sich  jedoch  der  Besultate  unseres  vorigen  Capitels 
erinnert,  kommt  Klarheit  in  die  Sache,  denn  nun  ist  die  Seele  so- 
wohl jedes  der  Eltern  als  auch  des  Kindes  nur  die  Summe  der 
auf  den  betreffenden  Organismus  gerichteten  Thätig- 
keiten  des  Einen  XJnbewussten. 

Jetzt  sind  die  Seelen  der  Eltern  keine  gesonderten,  für  sich 
bestehenden  Substanzen  mehr,  können  also  auch  von  ihrer  Sub- 
stanz nichts   abgeben,  und  das  Kind  braucht  keine  besondere 

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468 

indiyidualisirte  Seele  mehr  am.  bekommen,  aondem  seine  Seele  ist 
ebenfalls  nur  die  Summe  der  in  jedem  Moment  wai  seinen  Oigaois- 
muB  gerichteten  Thätigkeiten  des  XJnbewassten.  Könnten  wirkUok 
die  Eltern  dem  Kinde  von  ihren  Seelen  non  noch  etwas  abgd[>eii, 
so  schöpften  sie  doch  nur  aus  der  grossen  Schüssel,  ans  der  sie  so 
wie  so  alle  drei  gespeist  werden, 

Nun  ist  auch  nichts  Wunderbares  mehr  daran,  dass  die  Kinde»- 
Seele  nur  allmählig  nach  Maassgabe  des  Leibes  wachst,  denn  je 
entwickelter  der  Organismus  wird,  um  so  mannichfaltiger,  reidier 
und  edler  wird  die  Summe  der  auf  ihn  gerichteten  Thätigkeiten 
des  ünbewussten.  £s  verliert  sich  mit  unserem  Princip  nicht  nur 
das  Wunderbare,  sondern  auch  das  in  seiner  Art  Einzige,  was 
sonst  die  Zeugung  hat,  sie  wird  zu  einem  mit  der  Erhaltung  und 
Neubildung  wesensgleichen  Acte  auch  in  geistiger  Be- 
ziehung, wie  sie  als  solcher  in  materieller  Beziehung  von  der  Phy- 
siologie längst  anerkannt  ist  Würde  das  Unbewusste  in  einem 
beliebigen  Moment  aufhören,  seine  Thätigkeit  (als  Empfindung,  Vor- 
stellung, Wille,  organisches  Bilden,  Instinct,  Beflexwirkung  u.  s.  w.) 
auf  irgend  einen  bestehenden  Organismus  zu  richten,  so  würde 
derselbe  in  demselben  Augenblicke  der  Seele  beraubt,  d.  h.  todt 
sein,  und  schonungslos  von  den  Gesetzen  der  Materie  zermalmt 
werden,  ebenso  wie  die  Materie  dieses  Organismus  aufhören  würde 
zu  sein,  sobald  das  Unbewusste  die  Willensacte  unterliesse,  in  denen 
seine  Atomkräfte  bestehen.  Gerade  so  gut  aber,  wie  das  Unbe- 
wusste jeden  beseelbaren  Organismus  in  jedem  Moment  beseelt,  wird 
es  auch  den  neu  entstehenden  Keim  nach  Maassgabe  seiner  Beseel- 
barkeit  beseelen.  Dazu  kommt  noch,  dass  der  Moment  durohaos 
nicht  zu  bestimmen  ist,  wo  der  Keim  aus  einem  Theile  des  müt- 
terlichen zum  selbstständigen  Organismus  wird,  wenn  man  nicfadt 
etwa  die  Loslösung  bei  der  Geburt  als  solchen  gelten  lassen  wüL 
So  lange  aber  der  Kindesorganismus  ein  Theil  des  mütterlichen 
ist  und  von  diesem  ernährt  wird,  so  lange  hat  man  es  noch  mit 
einem  Vorgänge  zu  thun,  der  sich  von  allem  anderen  organischen 
Bilden  in  seinem  Wesen  nicht  unterscheidet.  Dies  wird  am  deut- 
lichsten werden,  wenn  wir  auf  den  allmäligen  Fortgang  von  den 
niederen  Arten  der  Fortpflanzung  bis  zu  der  geschlechtlichen  Zeugung 
einen  Blick  werfen. 

Die  einfachste  Art  ist  die  Theilung,  ein  gewöhnlicher  Fall  der 
Vermehrung  von  Zellen,  ebet  auch  nicht  selten  bei  Lifusorien  und  an- 


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469 

deren  Thi^ren.  Bass  bei  einer  Theilung  eines  Thieree  in  zwei  TM^e 
nicht  Von  einer  Theilung  der  Substanz  der  Seele  die  Bede  sein  kann, 
i»l  schon  mdirfSaeh  erwähnt  worden.  Yon  der  Theilnng  führt  ein  all- 
mäliger  Uebergang  zor  Knospenbildung,  denn  auch  die  Knospe  ent- 
wibkeH  sich  als  Theil  des  mütterlichen  Organismus,  bis  sie,  znr 
selbstständigen  Existenz  befähigt,  sich  ablöst  (Polypen,  Bandwür- 
mer n.  8.  w.). 

Einen  principiellen  Unterschied  in  dem  Vorgänge  des  Bildens 
kann  man  nicht  bdianpten,  sei  es  nnn,  dass  ein  Thier  verloreii 
gegangene  Körpertheile  neu  ersetzt,  sei  es,  dass  es  Knospen  zur 
Yermehrung  bildet.  In  den  Fällen  jedoch,  wo  die  Knospen  sich 
eharacterifttiseh  als  solche  darstelien,  und  nicht,  mehr  mit  einfacher 
Theilung  zu  yerwechseln  sind,  läset  sich  stets  ihre  Entwickelung 
aus  einer  in  das  mütteriiche  Gewebe  an  irgend  einer  Körperstelle 
«ingelagerten  einzelnen  Zelle  —  Keimzelle  —  erkennen.  Offenbar 
kann  ea  nun  keinen  wesentlichen  Unterschied  machen,  an  welcher 
Stelle  des  mütterlichen  Organismus  sich  die  Keimzelle  befindet, 
aus  der  der  neue  Organismus  sich  entwickelt,  ob  diese  Stelle  an 
der  Längsseite,  oder  an  einem  Ende^  oder  an  den  Armen,  oder  in 
der  Bauchhöhle  des  Thieres,  oder  iu  einer  besonderen  Bruthöhle 
liegt.  Letztere  beiden  Fälle  unterscheidet  man  von  der  Yermehrung 
durch  Knospenbildung  als  Yermehrung  durch  Keimzellen  im  enge- 
ren Sinne.  Die  Keimzellen,  die  in  der  Bauchhöhle  oder  in  einer 
besonderen  Bruthöhlo  sich  entwickeln,  zeigen  meistens  schon  eine 
entschiedene  äussere  Aehnlichkeit  in  Gestalt  und  Grösse  mit  den 
Siem  der  höheren  Thiere,  ja  meui  kann  geradezu  behaupten,  sie 
«nterscheiden  sich  morphologisch  gar  nicht  yon  diesen. 

Bei  manchen  Thieren  (z.  B.  Blattläusen)  wechselt  bereits  die 
Yermehrung  durch  Keimzellen  mit  der  geschlechtlichen  Fortpflan- 
zung ab,  oder  genügt  auch  eine  Begattung,  um  mehreren  auf 
einander  folgenden  Generationen  hindurch  die  Keimzellen  (oder 
Eier)  zu  befrucfateh.  Die  Keimzelle  entwickelt  sich  ganz  analog 
dem  befhiohteten  Ei,  nur  dass  sie  nicht  des  Anstosses  der  Befruch- 
tung bedarf ;  doch  hat  man  auch  beglaubigte  Beispiele,  dass  Eier 
Ton  nur  geschlechtlich  sich  vennehrenden  Thieren,  die  notorisch 
unbefruchtet  waren,  in  den  Botterhirchungsprocess  eintraten,  als 
ob  eie  befruchtet  wären;  fireilieh  reichte  ihre  Kraft  nicht  weit, 
und  fiie  blieben  auf  den  ersten  Stadien  der  embryonalen  Ent- 
wickelung etehto.     Das  mit  seiner  Kop&pitze  sich  in  die  Dotter- 


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470 

haut  einbohrende  und  dort  wahrscheiBlloh  Beinen  Inhalt  mit  dem 
Dotter  endosmotiseh  austauschende  Samenkörperchen  bewirkt  also 
nichts  Anderes,  als  dass  es  der  Dottermasse  einen  nadUialtigen  In^ 
puls  zum  Eintritt  in  den  Forchungsprocess  verleiht,  einen  Impula, 
der  unter  günstigen  Umständen  bei  Eiern,  unter  allen  Umständen 
bei  Keimzellen  entbehrlich  ist. 

Wir  können  nach  alle  dem  in  dem  Bilden  neuer  Organismen 
durch  ein  Mutterthier,  sei  es  nun  mit  oder  ohne  Hülfe  eines  yäter- 
liohen  Organismus,  nichts  weiter  sehen,  ab  ein  organisches  Bilden« 
welches  sich  Ton  anderem  organischen  Bilden,  z*  B.  der  Neaent- 
Wickelung  gewisser,  yorher  nicht  bestehender  Organe  zu  gewissen 
Zeiten  des  Lebens,  nicht  in  dem  Wesen  des  Vorganges,  sondern 
nur  durch  den  Zweck  unterscheidet,  welchem  das  Neugebildete 
dient,  indem  dieser  Zweck  bei  allem  anderen  organischen  Bilden 
(mit  Ausnahme  der  Milchbildung  bei  8ängethieren)  innerhalb 
und  nur  bei  der  Zeugung  ausserhalb  des  bildenden  Individuums 
liegt.  Ist  nun  die,  gleichviel  aus  welchen  An&ngen,  entsprossene 
Keubildung  bis  zu  einem  Grade  gediehen,  der  sie  zu  einer  Bxistens 
als  selbstständiger  Organismus  beföhigt,  so  erfolgt  die  Losldsung 
vom  mütterlichen  Organismus,  ein  Act,  dem  man  kaum  wohl  geneigt 
sein  möchte,  irgend  eine  psychische  Bedeutung  snizuschreiben,  welche 
über  die  reflectorisch-instinctive  Accömmodation  an  die  veränderten 
Lebensbedingungen  (z.  B.  bei  Säugethieren  Eintritt  der  Aihmung) 
hinausgeht 

So  bestätigt  sich  auch  empirisch,  dass  der  Organismus  des 
Embryo  9  des  Fötus  und  des  Elindes  gerade  so  gut  wie  jeder  an* 
dere  Theil  eines  fertigen  Organismus,  in  jedem  Stadium  und  jedem 
Moment  seines  Lebens  genau  so  viel  Seele  hat,  als  et  für 
seine  leibliche  Erhaltimg  und  Fortentwickelung  braucht  und  ak  seine 
Bewusstseinsorgane  zu  fassen  im  Stande  sind.  Dass  aber  das  Unbe* 
wusste  das  Leben  überall  packt,  wo  es  dasselbe  nur  packen 
kann,  und  dass  auch  in  dieser  Beziehuiig,  ganz  abgesehen  von  seinem 
Zusammenhange  mit  dem  mütterlichen  Organismus,  die  Beseelung 
des  neuen  Keimes  nach  Maassgabe  seiner  Beseelbarkeit  nur  detf 
specielle  Fall  einer  allgemeinen  Naturerscheinung  ist,  mag  nodi 
durch  einige  Beispiele  erläutert  werden. 

In  Autenrieth's  „Ansichten  über  Natur-  und  Seelenleben"  finden 
sich  S.  265—266  folgende.  Notizen:  „So  haben  auch  Lister  (Kirby 
und  Spenoe,   Einleitung  in  die  Entymobgie  aus  dem  £i^  übers. 


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471 

Bd.  2.  S.  50S),  Bonnet  und  Süokney  gesehen^  wie  Baupen  und 
Poppen  Ton  Sohmetterlingen  und  Larven  der  Tiptda  oleraeea  xu 
Sisklompen  froren  und  beim  Aufthauen  wieder  lebten*  —  Nach 
den  genaueren  Beobaehtungen  toa  Spallanzani  (Opuscoli  di  fisiea 
animaU  e  vegetabüßf  Modena^  voL  2,  p.  236 )  leben  die  Bäder- 
tluerchmiy  Fureularia  redivwa  Lamarcky  die  im  Sumpfwaaser  und 
im  Sande  Yon  Dachrinnen  angetroffen  werden,  wenn  sie  nur  nicht 
«a  Ireier  Luft^  sondern  bedeckt  in  einem  Sandhäufchen  und  mit 
diesem  austrockneten,  2um  Theil  noch  nach  drei,,  selbst  vier  Jahren» 
innerhalb  welcher  der  nebst  ihnen  ganz  trocken  gewordene  Sand  in 
•inem  Glase  oder  einer  Schachtel  aufbewahrt  wird,  wieder  auj^ 
sobald  der  dürre  Sand  auf»  Neue  mit  Wasser  befeuchtet  wird,  nur 
dauy  je  längere  Zeit  sie  in  ausgedörrtem  Zustande  aufbewahrt 
wurden,  eine  desto  kleinere  Zahl  von  ihnen  wieder  lebendig  wird 
imd  alle  seine  gewöhnlichen  Lebensverrichtungen  aAif*8  NeiM  voll- 
bringt. '  Sie  lebten  aber  wieder  auf,  obschon  me  durch  das  Aus- 
taroeknen  in  so  erhärteten  Zustand  kamen,  da  sie  sonst  lebend  bloss 
einen  gi^lertartigen  Köiper  haben,  dass^  wenn  man  einige  von  ihnen 
mit  ein«r  Nadelspitze  anstach,  der  Körper  wie  ein  Körnchen  Salz 
in  viele  Stücke  zer^nrang.  So  können  diese  Thierchen  bis  zum 
elften  Male  abwechielnd  eingetrocknet  und  leblos  gemacht  werden,^ 
und  in  Wasser  ausweicht  ihr  Leben  wieder  erhalten.  Sie  ver* 
lieren  auch  diese  ihre  Fähigkeit^  wieder  belebt  zu  werden,  nicht, 
wenn  sie  mit  dem  Wasser  einfrier  an,  und  dann  selbst  einer  Kälte 
von  19  Grad  B.  unier  dem  Eispuncte  ausgesetzt  werden;  sowie  sie 
m  ihrem  ausgetrockneten  Zustande  einer  Hitze  bis  auf  49,  selbst 
zum  Theil  bie  auf  54  Grad  über  dem  Gefrierpuncte  ausgesetzt 
Werden  können,  ohne  jene  Fähigkeit,  mit  Hülfe  von  Wasser  wieder 
aufzuleben,  zu  verlieren,  während,  wenn  sie  im  Zustande  des  Leben» 
sind,  sie  schon  bei  26  Grad  Wärme  de^  Wassers  Iöt  immer  sterben," 
Ebend.  8.  20 :  „John  Franklin  (erste  Beise  an  den  Küsten  des 
Folanneeres^  in  neuer  Bibliothek  der  wichtigsten  Beisebesohreibun- 
gen,  Bd.  d6.  a  302)  sah  hn  Winter  von  1820—1821  aof  seiner 
ersten  Beise  an  die  nordamerikanisehen  Küsten  des  Eismeeres 
Fttche,  unmittelbar  nachdem  sie  aus  dem  Wasser  an  die  Luft  ge« 
kommen,  geficieren,  die  zu.  einer  so  fSssten  Eismasse  wurden,  dass 
man  sie  mit  der  Axt  in  Stücke  schlagen  konnte  und  dass  selbst 
ihr»  Eingeweide  bloss  einen  festen,  gefiporenen  Klumpen  darstellten« 
Deszennngeacfatet    erhielten   einige  solcher    Fische,   welche    man^ 


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472 

ohne  sie  vorher  zu  rerietzoiiy  am  Feuer  aofthaute,  ihr  Leben 
wieder.  Ein  Karpfen  erholte  aich,  ungeachtet  er  BechsonddrelBsig 
Stunden  lang  vollkommen  gefiroren  gewesen  war,  so  vollkommen 
wieder,  dass  er  sich  mit  vieler  Kraft  umherwerfen  konnte. 

Als  Bllis  (})oyage  h  la  baye  de  Hudson  ^  trad.  de  Fangl,  p. 
236)  am  NelsonfLasse  an  der  Hudsonsbay  überwinterte,  fand  ma& 
einen  völlig  zusammengefrorenen  Klumpen  sohwarser  Stechfliegen; 
dem  Feuer  genähert,  lebten  sie  wieder  auf.  £r  berichtete,  daas 
man  dort  häufig  an  den  Ufern  der  Seen  Frösche  findet,  die  so  fest 
als  das  Bis  selbst  gefroren  seien,  und  welche  doch,  in  mäaaiger 
Temperatur  aufgethaut,  wieder  bis  zu  dem  Grade  auflebten,  daae 
sie  von  einem  Orte  zum  anderen  krochen. 

Auch  durchaus  gefrorene  Bäume  können  nach  langsamem  Auf» 
thauen  sich  wieder  beleben  und  frische  Blätter  treiben« 

Hanter  fand  abw  bei  seinen  Versuchen,  dass  ein  Fisch  nur 
langsamer  in  der  ELälte  sterben  und  dann  gefrieren  dürfe, um  durdi 
Aufthauen  nicht  wieder  in's  L^en  zurückgerufen  werden  zu  können, 
weswegen  es  aucdi  nicht  gelingt,  ein  ganzes  warmblütiges  Thier 
gefrieren  und  durdi  Aufthai[ien  sich  wieder  beleben  zu  lassen,  und 
wir  der  Hoffnung  entsagen  müssen,  etwa  einen  der  im  Polar-Bise 
ganz  unverdorben  aufbewahrten  Elephanten  der  Yorwelt,  oder  ein 
dortiges  Nashorn  unter  günstigen  Umständen  wieder  lebendig  werden 
zu  sehen,  wie  man  Kröten  mitten  im  Felsen  fand,  in  welchen  sie 
Jahrhunderte,  vielleieht  Jahrtausende  müssen  eingeschlossen  gewesen 
sein,  imd  die  dann  do<^  befreit,  lebend  umherhüpften. '^ 

Weinn  gleich  neuere  Autoritäten  bestreiten,  dass  gefrorene 
Fische  unter  irgend  welchen  Umständen  jemals  wieder  lebendig 
werden  können,  weil  das  Blut  bereits  durch  den  Frost  zersetxi 
sei,  oder  dass  Kröt^i  ohne  jede  Spur  von  Athmung  durch  Diffusion 
lebensfähig  bleiben  können  (obwohl  mir  über  beide  Fragen  die 
Acten  noch  nidit  geschlossen  scheinen),  so  genügen  doch  die  ange- 
führten Beispiele  im  Allgemeinen,  um  die  a  porUyri  einleu<ditende 
Wafarh^t  plausibel  zu  machen,  dass  aus  einem  Organsamus  jede 
Spur  von  Leben  entwichen  sein  kann,  und  dass  trotzdem  demselben 
die  Fähigkeit,  unter  günstigen  Umständen  eine  neue  Lebensthäüg« 
keit  zu  beginnen,  erhalten  bleiben  kann,  wenn  nur  keine  derarügen 
VeränderungMi  in  demselben  vorgegangen  sind,  weldie  die  Wied^c- 
aufnähme  der  LebeHsfunctionen  nach  Wiederherstellung  normalfir 
Umstände  anatomisdi  oder  physiokgiaeh  unmöglich  machen.  -Hiana. 


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473 

gehört»  dass  sowohl  während  des  leblosen  Znstandes  .(dofch  die  ein- 
getrocknete oder  gefrorene  Beschaffenheit,  oder  durch  allseitig  her« 
metisehen  Abschlnss),  als  auch  beim  Uebergange  aus  dem  normet 
lebendigen  in  den  leblosen  Zustand  (z.B.  durch  die  Geschwindig- 
keit des  Er&ierens)  eine  die  zukünftige  Lebensfähigkeit  bedrohende 
ehemische  oder  histologisdie  Veränderung  verhindert  ist;  dagegen 
sind  solche  Yeränderungen  für  das  Wiederaufleben  gleichgültig, 
welche  nur  die  Normalität  d^r  zukünftigen  Lebensfunctionen  yernich- 
ten,  und  den  Orgimismus  bloss  noch  zu  edn«m  pathologischen  Leben 
erwachen  lassen^  welches  doch  bald  wieder  von  selbst  erlischt. 

Bei  Bäderthierchen  könnte  man  annehmen,  dass  die  Yertrock* 
nung  immer  noch  nicht  3ü  dem  Grade  gelangt  sei;  um  nicht  irgend 
einen  Stofiwjistaaseh  zuzulassen,  so  dass  man  es  slareng  genommen 
nicht  mit  einer  absoluten  Sistirung  der  Lebensfunctionen,  sondern 
nur  mit  deren  Beduction  auf  ein  Minimum  zu  thun  hätte  (ähnlich 
wie  beim  Winterschlaf,  aber  auch  diese  Annahme  wird  hinfällig, 
wo  es  sich  um  steinhart  gefrorene  Körper  in  der  Winterkälte  der 
Polargegenden  oder  um  Kröten  handelt,  welche  Jahrhunderte  und 
JahrtaoBende  im  Felsen  eingeschlossen  waren. 

Bei  letzteren  müsste  auch  ein  Minimum  Ton  Stoffaustauscb, 
den  BUin  sich  etwa  durch  das  den  Felsen  durchsickernde  Wasser 
yermittelt  zu  denken  hätte,  in  des  enorm  langen  Zeit  ssmx  Yerzeh- 
rung  des  Thiares  geführt  haben;  bei  geftoTen&a,  Thieren  aber  kann 
nur  noch  eine  geringe  Ob^rflächenyerdunstung  Statt  haben,  Lebens- 
function  jedoch  ist  unmöglich  gemacht  sowohl  durch  das  Fehlen 
der  allgemeinsten  physikalischen  Bedingungen  des  organischen  Stoff- 
wechsels, der  Endosmose,  als  auch  durch  die  Unentbehrlichkeit 
eines  flüss^n  Zustandes  für  jede  chemische  Beaciion. 

Gtebt  man  nun  zu,  dass  im  starr  gefrorenen  Körper  jede 
Olganisehe  Function,  d.  h.  jede  Lebensthätigkeit  unmöglich  ist,  so 
entbehrt  derselbe  jeder  Spur  des  Lebois,  d.  h.  er  ist  absolut 
leblos;  sein  Zustand  ist  also  von  allen  Zuständen  der  deprimirten 
Lebensfiinetionen,  wie  Schlaf,  Winterschlaf,  Ohnmacht^  Starrkrampf^ 
Scheintod,  specifisch  tind  total  yerschieden;  der  Körper 
yeibalt  sieh  zum  Leben  iri^end  der  Dauer  dieses  Zustandes  nicht 
anders  wie  ein  unorganischer  Körper. 

Es  ist  natürlich  an  sich  gleichgültig,  ob  man  dem  Körper  das 
Wort  todt  beilegen  will,  denn  das  kommt  nur  auf  die  Bestimmung 
des  Begriffes  todt  an;  identifioirt  man  absolut  leblos  und  todt,  wie 


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474 

das  wohl  natüzlioh  ist,  so  wird  man  es  thun;  unt^nolieidet 
aber  beide  Begriffe»  und  nennt  iodt  nur  das^nige  Leblose,  uras  nicht 
wieder  lebendig  werden  kann,  so  wird  man  es  nioht  thun.  Letstere 
Auffassung  dürfte  aber  wohl  nor  ans  dem  Vorortheil  hervorgehen^ 
dass,  was  todt  ist,  nicht  wieder  lebendig  werden  kann^  ein  natSir* 
lieh  nicht  a  priori  zu' beweisender,  sondern  nur  aus  der  Erfahroag 
zu  induoirender  Satz,  der  lange  Zeit  ÜSot  richtig  gelten  konnte. 
Kommen  aber  nun  solche  Thatsachen  zum  Vorschein,  die  da  zeigen» 
dass  etwas  Todtes  unter  Umständen  doch  wieder  lebendig  werden 
kann,  so  sollte  man  lieber  die  Ausnahme  von  der  bisher  als  altge« 
mein  gültiger  Grundsatz  angenommenen  Induetion  als  solche  aner- 
kennen, als  um  des  alten  Yorurtheiles  willen  den  Begriff  todt  will- 
kürlich beschränken.  Diese  Bemerkung  wäre  gewiss  müssig,  wenn 
nicht  jene  yorurtheilsrolle  Einschränkung  des  Begriffes  todt  aueh 
das  Yorurtheil  nach  sich  ziehen  könnte,  als  ob  dieui  absolute  LeiH 
lose  nicht  auch  seelenlos  zu  sein  brauche,  was  doch  so  selbstver- 
ständlich als  mögUeh  sein  sollte,  denn  die  Seele  eines  Körpers  kt 
ja  nur  die  Summe  der  auf  ihn  bezüglichen  Functionen  oder  Tha- 
tigkeiten  des  ünbewussten,  welche  kurzweg  seine  Lebess* 
functionen  genannt  w^den. 

Daraus  nun,  dass  ein  Organismus,  so  lange  er  gefroren  ist^ 
weder  des  Lebens,  noch  einer  Seele  theilhaftig  ist,  folgt,  das»,  wenn 
nach  einer  gewissen  Zeit  Leben  und  Seele  in  ihn  zurückkehrt, 
diese  Seele  nicht  mehr  als  ein  und  dieselbe  mit  der  vor  dem 
Uebergange  in  den  gefrorenen  Zustand  ihm  einwohnenden  betrachtet 
werden  kann,  da  zur  Dieselbigkeit  zweket  zeitlich  getrennter  Seelen 
die  zeitliche  Continuität  der  Thätägkeiten  der  ersteren  mit  den 
Thätigkeiten  der  letzteren  erforderlich  ist^  keineswegs  aber  die 
Dieselbigkeit  des  bezüglichen  Organismus  und  die  auf  demselben 
beruhende  gleiche  Beschaffenheit  der  Seelen  als' ausreiohead 
erachtet  werden  kann;  es  könnte  ja,  um  mit  der  gemeinen  Yor- 
stelhmg  zu  reden,  wenn  beim  Aufhören  des  Lebens  die  alte  Beele 
ausgeftüiren  ist,  beim  Wiedereinziehen  des  Lebens  gerade  so  gni 
wie  dieselbe  auch  eine  eben  solche  andere  Seele  in  ihn  hinein- 
gefahren sein.  Die  Scfaielheit  der  Frageertellong  leuchtet  indMs 
sofort  ein,  wenn  man  an  die  All-Einheit  des  Unbewnssten  denkt 
und  berücksichtigt,  dass  alte  wie  neue  Seele  auf  denselben  Oi^^ 
nismus  gerichtete  Thätigkeiten  desselben  Wesens  des  AU'^Bin^ea 
sind,  welches  eben  das  Leben  sofort  wieder  in  diesem  (kgan»* 


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476 

nma  ergreift,  sowie  es  nach  den  Gesetzen  der  Materie  mög- 
lich ist. 

Man  sieht  an  diesen  Beispielen,  dass  es  der  Natur  keinen 
Unterschied  macht,  ob  wie  gewöhnlich  die  lebensfähigen  Organismen 
in  einer  Continuität  ihrer  Lebensfanctionen  stehen,  oder  ob  ein 
noch  eben  lebensunfähiger  Körper  in  diesem  Moment  lebensfähig 
wird;  sowie  die  Möglichkeit  des  Lebens  gegeben  ist,  durch* 
seelt  ihn  das  TJnbewusste.  Nehmen  wir  also  den  Fall  an,  dass 
der  Keim  eines  jungen  Organismus,  den  wir  in  der  Begei  als 
integrirenden  Bestandtheil  in  der  Lebenskette  des  mütterlichen 
Organismus  haben  entstehen  sehen,  dass  solch'  ein  Keim,  losgelöst 
Ton  jeder  Anlehnung  an  ein  schon  bestehendes  Leben,  plötzlich  ent- 
stünde, so  müsste  er  ebenso  unfehlbar  wie  der  wieder  an%ethaute 
Fisch  oder  das  wieder  aui^weichte  Bäderthierohen  im  ersten 
Moment  seiner  organischen  Lebensfähigkeit  Tom  ünbewussten 
dnrchseelt  werden,  und  es  würde  nunmehr  eine  solche  Erscheinung 
nidit  mehr  als  einzelstehender  Ausnahmefall  angesehen  werd^i  dürfen. 

Auf  diese  Anschauung  Terweise  ich  denjenigen,  der  etwa  be* 
haupten  wollte,  dass  das  unbefruchtete  £i  noch  unbeseelt  sei,  und 
erst  im  Moment  der  Befruchtung,  die  ja  bei  niederen  Thieren  meist 
ausserhalb  des  mütterlichen  Organismus  stattfindet,  seine  Seele  em- 
pfinge,  obwohl  diese  Auffassung  sowohl  unserer  Ansicht  Von  der 
Beseeltheit  jeder  Zelle,  als  auch  der  Analogie  mit  der  Entwicke- 
hmg  der  Keimzelle  ohne  Befruchtung  zuwiderläuft.  Jedenfalls 
aber  findet  dieselbe  eine  zutreffende  Anwendung  bei  dem  Begriffe 
der  Urzeugung,  oder  Entstehung  organischer  Wesen  aus  unor- 
g^isirter  Materie  ohne  Mutterorganismus.  Eine  solche  Urzeugung 
■luss  stattgefunden  haben;  denn  die  Geologie  weist  nach, 
dass  die  Erde  ebenso  wie  alle  anderen  Himmelskörper  aus  einer 
^feurig-flüssigen  Masse  alhnälig  iis  zu  ihrer  jetzigen  Temperatur 
^Laltet  sei ;  da  nun  bei  einer  höheren  als  der  Gerinnungstempera^ 
tor  des  Eiweisses  keine  Oi^anismen  bestehen  können,  so  muss  die 
Erde  die  längste  Zeit  ihres  Bestehens  unbewohnt  gewesen  sein, 
und  da  sie  jetzt  factisch  yon  Organismen  bevölkert  ist,  so  muss  es 
nothwendig  einen  Zeitpunct  gegeben  haben,  wo  das  oder  die 
ersten  Wesen  entstanden,  während  yor  diesem  Zeitpuncte  nur  un- 
organische Materie  vorhanden  war.  Hier  ist  der  Begriff  der  Urzeu- 
gung erfüllt. 

leh  sage  nicht,    dass  in  jenem  Zeitpuncte   keiae  oi^Bfanisohe, 


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476 

sondern  nor,  dass  keine  organisirte  Materie  vorhanden  geweeen 
sei ;  im  Gegentheil  glaube  ich  annehmen  zn  müssen,  dass  anter  dem 
Einflüsse  der  höheren  Wärme,  des  Lichtes  und  der  zahlreichen 
Gewitter  sich  wohl  schon  auf  anorganischem  Wege  Yerbindong^a 
höherer  Ordnung  aus  Kohlenstoff,  Wasserstoff  Sauerstoff  und  Stick- 
stoff gebildet  hatten,  welche  die  heutige  Chemie  wegen  ihres  Yor- 
zugsweisen  Vorkommens  in  organischen  Wesen  mit  dem  uneigentr 
liehen  Namen  organische  Stoffe  bezeichnet« 

Den  neuesten  chemischen  'Forschungen  ist  es  gelungen,  die 
frühere  Annahme,  dass  oi^anisehe  Stoffe  nicht  auf  unorganischem 
Wege  darstellbar  seien,  durch  so  schlagende  Thatsachen  zu  wider- 
legen, dass  es  nur  noch  als  eine  Frage  der  Zeit  erscheint,  wann 
der  Mensch  die  absolute  Herrschaft  auch  im  Gebiete  der  organi- 
schen Chemie  erobern  wird.  (Z.  B.  stellte  Berthelot  aus  Sdiwefel- 
kohlenstoff  und  Schwefelwasserstoff  bei  Gegenwart  yon  Kupfo' 
Aethylen  dar,  aus  diesem  Alkohol,  und  aus  diesem  wieder  Benaol; 
Harnitz-Hamitzky  erhielt  aus  Benzoldämpfen  und  Eohlenozydilorür 
in  einer  erhitzten  Eetorte  unter  Einwirkung  Ton  Sonnenlicht 
Benzoylchlorür  und  aus  der  Zersetzung  dieses  mit  Wasser  die 
kohlenstoffreiche  Benzoesäure.  Femer  zeigten  Berthelot  and  Worts 
die  Darstellung  von  ChLorkohlonoxyd  und  Kohlenwasserstoffen  ans 
den  Elementen;  aus  Chlorkohlenozydgas  und  Sump%as  bildet  sich 
bei  120  Grad  Chlorwaöserstoff  und  Chloracetyl,  letzteres  zer&llt 
mit  Wasser  wieder  in  Chlorwasserstoff  und  Essigsäure.  Ebenso 
liefern  Chlorkohlenoxyd  und  Amylwasserstoff  endlich  Kapronsäure.) 

Yon  der  sogenannten  organischen  Materie  unterscheidet  sich 
die  oi^ganisirte  Materie  dadurch,  dass  sie  durch  eine  von  Aussen 
an  sie  herantretende  Kraft,  nämlich  die  directe  Einwirkimg  des 
Willens  des  Unbewussten  (nicht  wie  der  Krystall  durch  die  blossen 
Atomkräfte  selbst),  eine  organischeForm  angenommen  hat,  d.  h. 
ein  Exemplar  einer  typischen  Idee  geworden  ist,  und  dieee 
Form  durch  Wechsel  des  Stoffes  erhält  und  erweitert, 
nicht  wie  eine  unorganische  Form  (z.  B.  Krystall,  Tropfen)  durah 
passiven  Widerstand  und  blosses  Festhalten  dea  angeeignetem 
Stoffes  zu  behaupten  sucht. 

Ich  sagte  also,  es  ist  wahrscheinlioh,  dass  vor  der  Entstehmi^ 
des  einfachsten  Organismus  schon  sogenannte  organische  Verl^B- 
dungen  niederer  Stufe  vorhanden  gewesen  seien,  die  den  Aufban 
eines  Organismus   aus  iljmen  etwas  leichter  machten,  als  Wasser, 


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477 

KohlenBäure  und  Ammoniak,  ans  denen  fertige  Organismen  sich  nähren. 
Bs  würden  dann  diese  organischen  Stoffe  für  den  zu  bildenden  Ur- 
kefin  mindestens  die  Bolle  des  Dünger  s  gespielt  haben,  der  jetzt  ans 
dem  BüokbilduDgsprocesse  von  Organismen  entsteht.  Die  Wahr- 
scheinlichkeit, dass  jene  ersten  Organismen  im  Wasser  lebten,  ist 
allgemein  anerkannt;  dass  es  sehr  einfache  Wesen ,  einfache,  auf 
dem  Indifferenzpunct  Ton  Pflanze  und  Thier  stehende  Zellen  sein 
moBsten,  ist  schon  Gap.  0.  lY.  gezeigt  worden.  Wie  nun  auch  der 
Vorgang  selbst  in  seinen  Einzelheiten  gedacht  werden  möge,  so 
muss  das  festgehalten  werden,  dass  das  ünbewusste  die  erste 
eingetretene  Möglichkeit  des  organischen  Lebens  erfasste  und 
verwirklichte.  Wenn  wir  bisher  bei  der  Eltemzeugung  den  Moment 
der  Beseelung  des  entstehenden  Keimes  so  aufgefasst  hatten,  als 
-wenn  das  Ünbewusste  das  erst  an  den  gebildeten  Keim  mit 
der  Beseelung  Herantretende  wäre,  so  war  dies  nur  darum  zulässig, 
weil  wir  im  Anschluss  an  die  herkömmliche  Anschauungsweise  die 
zur  Bildung  des  Keimes  erforderlichen  unbewusst- psychischen 
Tbätigkeiten  stillschweigend  als  von  den  eltemlichen  Organismen 
ansgehend  voraussetzten;  da  nun  aber  eine  solche  Unterscheidung 
bei  der  All-Einheit  des  Unbewussten  ganz  hinfällig  ist,  so  müssen 
ivir  jetzt  uns  daran  erinnern,  dass  die  Beseelung  des  Keimes 
der  Entstehung  des  Keimes  nicht  folgt,  sondern  vorangeht, 
d.  h.  dass  der  Keim  erst  dadurch  entstehen  kann,  dass  das  ün- 
bewusste zu  seiner  Entstehung  eine  besondere  Tätigkeit  wirken 
lässt,  welche  seine  typische  Form  im  Anschluss  an  die  durch  die 
vorhandenen  Bedingungen  gegebenen  Möglichkeiten  prädestinirt, 
gerade  so,  wie  beim  organischen  Bilden  der  Naturheilkraft  die 
typische  Form  des  dem  Salamander  wieder  wachsenden  Beines 
durch  die  Thätigkeit  des  Unbewussten  prädestinirt  wird.  Hier  wie 
dort  wird  keinem  anorganischen  Naturgesetze  widersprochen,  keines 
auch  nur  auf  einen  Moment  ausser  Wirksamkeit  gesetzt,  sondern 
Bie  werden  nur  zu  einem  höheren  Zwecke  benutzt;  es  wird  etwas 
gebildet,  was  durch  das  Zusammenwirken  der  anorganischen  Natur- 
gesetze allein  nicht  zu  Stande  kommen  könnte,  und  was  erst  da- 
durch möglich  wird,  dass  der  Wille  des  Unbewussten  eingreift  und 
Yerhältnisse  herbeiführt,  in  welchen  nunmehr  durch  das  normale 
Wirken  der  anorganischen  Naturgesetze  eine  neue,  zu  neuen  Leistun- 
gen fähige  Form  geschaffen  wird.  —  Wie  das  Ünbewusste  stündlich 
in    Millionen    Keimen    das   Leben    zu    realisiren  und   festzuhalten 


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478 

Bucht,  die  doch  aus  Ungunst  der  Verhältnisse  durch  die  unerbitt- 
liche Ifothwendigkeit  der  anorganischen  Gesetze  bald  wieder,  oft 
schon  im  Entstehen,  zermalmt  werden,  so  mögen  auch  damals^  als 
zuerst  das  Leben  an  der  Erdoberfläche  gährte,  Millionen  Ton  Ur- 
keimen  schon  in  der  Entstehung  verunglückt  sein,  ehe  es  dem 
Leben  gelang,  gleichsam  festen  Fuss  auf  Erden  zu  Geusen;  war  es 
aber  einmal  gelungen,  einen  oder  einige  wenige  Organismen  herzo- 
etellen,  so  hatte  das  Unbewusste  von  dieser  eroberten  Operations- 
basis  aus  leichteres  Spiel,  es  konnte  nun  die  Eltemzeugung  su 
Hülfe  nehmen  und  mit  Hülfe  dieser  das  eroberte  Terrain  mit  yer- 
hältnissmässig  geringer  Anstrengung  behaupten  und  erweitem. 

Denn  es  ist  offenbar  sehr  viel  leichter,  die  im  Wasser  yer- 
dünnt  und  vertheilt  vorhandenen  organischen  Stoffe  um  einen  vor- 
handenen Organismus,  als  um  einen  idealen  Punct  herum  zusammen 
zu  ziehen,  es  ist  sehr  viel  leichter,  die  an  denselben  noch  erforder- 
lichen chemischen  Umbildungen  und  Modiflcationen  durch  Assuni- 
lation  mit  Hülfe  der  Gontactwirkung  von  einem  gegebenen  Olga- 
nismus  aus,  als  ohne  solche  zu  bewirken,  und  es  ist  sehr  viel  leich- 
ter, die  typische  Form  der  Zelle  mit  ihrer  immerhin  schon  reichen 
inneren  Gliederung  durch  den  einfachen  Kunstgriff  der  Zellentheilung 
mit  Hülfe  von  Einschnürung,  als  aus  formlosem  Stoffe  herzustellen. 

Es  bedarf  also  jedenfalls  einer  unendlich  viel  geringeren  An- 
strengung des  Willens,  um  Organismen  mit  Hülfe  von  schon  Be- 
stehendem zu  bilden,  als  ohne  dieselbe,  gerade  so,  wie  es  bei  einem 
höheren  Thiere  einer  weit  geringeren  Anstrengung  bedarf  um  mit 
Hülfe  der  Nerven  auf  Gewebe  zu  wirken,  als  ohne  dieselbe.  Man 
kann  also  annehmen,  dass  derselbe  Krafb-  oder  WUlens -Aufwand, 
durch  welchen  eine  Zelle  vermittelst  Urzeugung  zu  Stande  kommt» 
hinreicht,  um  viele  Millionen  von  Zellen  durch  Theilung  vor- 
handener zu  bilden. 

Nun  haben  wir  aber  gefunden,  dass  die  Natur  durchweg  darauf 
ausgeht,  ihre  Ziele  bei  dem  mindestmöglichsten  Ejraf tauf  wände  sn 
erreichen,  dass  sie  es  überall  vorzieht,  sich  mechanische  Yonicb- 
tungen  herzustellen  zur  Benutzung  der  doch  einmal  vorhandenen 
anorganischen  Molecularkräfte,  als  dass  sie  selbst  auf  direote  Weise 
eingreift;  wenigstens  aber  sucht  sie  diese  Eingriffe,  da  sie  letzten 
Endes  doch  nie  ganz  entbehrlich  werden,  auf  ein  Minimum  von 
Kraftaufwand  zu  beschränken. 

So  sahen  wir  Gap.  A.  YIL   1.  a),  dass  das  Nervensystem  der 


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479 

Thiere  nichtfl  Anderes  ak  eine  solche  kraftersparende  Maschine  ist» 
die  mit  den  leisen  Drückern  und  Hebeln  des  Gehirnes  Centner- 
lasten  in  den  Qliedmaassen  überwindet;  wir  sahen  (Gap.  A.  UI.  Y. 
YI.  Yin.)  eine  Menge  von  Einrichtungen  bei  Thieren  und  Pflanzen 
flo  getroffen  y  dass  die  aus  diesen  Yorkehrungen  herrorgehenden 
Beize  öder  auch  ihre  rein  mechanische  Wirkungsweise  besondere 
Instincte  überflüssig  macht^^i,  wir  sahen  femer  umgekehrt  Instincte 
benutzt»  um  umfeuBsende  Anstrengungen  im  organischen  Bilden  ent- 
behrlich zu  machen»  z.  B.  (Cap.  B.  U.  u.  Y.)  den  Instinct  der  ge- 
0<dileehtlichen  Auswahl»  um  eine  Yeredelung  der  Gattung  in  Hin- 
sieht der  Schönheit  und  anderweitig  zu  erzielen;  das  nächste  Gapitel 
wird  uns  noch  mehr  solcher  Beispiele  bringen»  welche  beweisen, 
mit  welcher  Eeinheit  das  ünbewusste  überall  bemüht  ist»  seine 
Ziele  auf  mögliehst  mechanische»  d.  h  mühelose  Weise  zu  erreichen.  - 

Yen  diesem  Gesiohtspuncte  aus  stellt  sich  uns  nun  auch  die 
£liems6Ugung  bloss  als  ein  die  Urzeugung  mit  ungeheuerer  £raft- 
erspamiss  ersetzender  Mechanismus  dar. 

Bo  wenig  wie  ein  Temünftiger  Mensch  querfeldüber  fahrt, 
wenn  die  Chaussee  ihm  2ur  Seite  liegt»  so  wenig  wie  das  ünbe- 
wusste nach  Herstellung  eines  Kervensystemes  in  einem  Thiere 
noeh  die  Muskeloontraction  durch  directe  Einwirkung  des  Willens 
suf  die  Muskelfasern  bewirkt»  so  wenig  wird  es  sich  bei  der 
offenstehenden  Elternzeugung  noch  der  Urzeugung 
bedienen. 

Dieser  hier  aus  dem  Wesen  der  Urzeugung  abgeleitete 
Satz  hat  in  der  neuesten  Zeit  seine  volle  empirische  Bestätigung 
g^efunden,  indem  das  Mikroskop  überall»  wo  man  früher  Urzeugung 
vermuthet  hatte»  Eltemzeugang  nachgewiesen  hat»  und  heutigen 
Tages  kein  einziger  Fall  einer  wirklichen  Urzeugung^  beobach- 
tet worden  ist,  trotzdem  dass  das  Mikroskop  dieses  Gebiet  des 
kleinsten  Lebens  schon  nach  allen  Bichtungen  recht  sorgfältig 
durchsohweifl;  hat 

loh  bestreite  nicht  nur  keineswegs»  dass  bis  jetzt  jeden  Augen- 
blick die  Möglichkeit  offen  steht»  eine  Urzeugung  in  der  Gegen- 
wart zu  constatiren,  sondern  ich  gebe  sogar  zu»  dass  der  negative 
Nadiweis»  dass  es  jetzt  keine  Urzeugung  mehr  geben  könne»  seiner 
Natur  nach  für  die  Empirie  ewig  eine  Unmöglichkeit  bleiben 
muBS;  nichts  desto  weniger  aber  kann  man  wohl  annehmen ,  dass 
eine   Behauptung»   in  der   rationelle  Betrachtung   und    empirische 


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4») 

Beobachtung  übereinstimmen,   eine  grosse  WahrscheinliohkMt 
für  sich  habe. 

Für  den  mit  den  hierher  gehörigen  interessant^i  Thatsachen 
nicht  vertrauten  Leser  füge  ich  eine  kurze  Notiz  über  dieselben  bei 

Aristoteles  glaubte  noch,  dass  die  meisten  niederen  Thiere 
durch  Urzeugung  entstehen.  Vor  einigen  Jahrzehnten  nahm  man 
noch  die  Urzeugung  für  die  Eingeweidewürmer  und  Infusorien  an, 
obwohl  schon  seit  längerer  Zeit  Stimmen  laut  wurden,  die  an  ein 
mögliches  Uebersehen  elterlicher  Keime  erinnerten.  Zuerst  wurd^ 
die  Einwanderungswege  und  yerschiedenen  Zustände  der  Eingeweide- 
würmer wissenschaftlich  festgestellt;  dann  zeigte  man^  dass  abge- 
kochte Aufgüsse,  die  nur  mit  geglühter  Luft  in  Berührung  kamen, 
keine  Organismen  entstehen  Hessen.  Die  Vertreter  der  Urzeugung 
beriefen  sich  aber  mit  Eecht  darauf  dass  das  Glühen  der  Luft  aadi 
die  Fähigkeit  zur  Erzeugung  yon  Organismen  benehmen  müsse. 

Schröder  und  Dusch  zeigten  zuerst,  dass  ein  zwanzig  Zoll 
langer  Baumwollenpfropf  die  Luft  so  filtrirt,  dass  sie  keine  Organismen 
mehr  zu  Stande  kommen  lässt.  —  Pasteur  untersuchte  die  in  der 
Luft  schwebenden  Keime,  indem  er  sie  durch  Sohiessbaumwoile 
auffing  und  diese  in  Aether  und  Alkohol  löste.  Er  fand  dieselben 
in  jeder  Hinsicht  den  sonst  bekannten  Keimen  der  niedrigsten 
Thiere  entsprechend.  Er  wies  auch  positiv  nach,  dass  sie  die  Ur- 
sache der  Entwickelung  von  Organismen  in  den  Angüssen  sind, 
indem  er  mit  der  geglühten  Luft  einen  kleinen  Baumwollenpfropf 
mit  Keimen  einführte,  und  jedesmal  entstanden  die  Organismen,  aU 
ob  die  Luft  freien  Zutritt  gehabt  hätte.  Pasteur  yerglich  sogar 
durch  eine  sinnreiche  Methode  die  relativen  Mengen  der  an  ver- 
schiedenen Localitäten  in  der  Luft  enthaltenen  Keime.  Hiermit 
ist  die  Annahme  einer  Urzeugung  in  Angüssen  ein  für  allemal 
wissenschaftlich    erledigt. 

Einen  anderen  Fall  will  ich  noch  erwähnen,  die  Ent- 
stehung der  Monas  amyU.  Man  sah  in  Stärkemehlkömem  ein 
Gewimmel  von  einzelligen  Infusorien  entstehen  und  glaubte, 
darin  eine  Urzeugung  zu  erkennen.  Als  man  aber  die  Ge- 
schichte dieser  Wesen  weiter  verfolgte,  sah  man  dieselben  beim 
endlichen  Zerfallen  des  Stärkemehlkomes  frei  werden,  jedes  von 
ihnen  ein  frisches  Stärkemehlkorn  aufsuchen,  und  dieses,  nach  Art 
der  Amoeben  sich  ausdehnend,  völlig  überziehen.  Dieses  dünne  Haut- 
eben  auf  der  Oberfläche  des  Kornes,  das  Thier,  welches  gleichsam  das 
Korn  verschlungen  hat  und  nun  langsam  schichtweise  verdaut,  war 

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481 

Yorher  der  Beobachtung  entganges.  Nnn  war  natürlich  die  £nt- 
stebong  der  Brut  als  endogene  Yermehrang  erkannt. 

Das  Gesetz  der  Eltemzeugong  ist  in  der  Natnr  so  allgemein 
durchgeführt,  dass  uns  nicht  nur  kein  Fall  der  elternlosen  Ent- 
stehung eines  Thieres  oder  einer  Pflanze,  sondern  selbst  nicht 
einmal  ein  Fall  der  elternlosen  Entstehung  einer 
Zelle   in  einem  bestehenden  Organismus  bekannt  ist 

Wenn  irgendwo  noch  eine  Urzeugung  vorkäme,  so  sollte  man 
doch  gewiss  erwarten,  sie  in  einer  spontanen  Entstehung  von  Zellen 
in  den  Säften  eines  vorhandenen  Organismus  zu  finden,  wo  sowohl 
die  Temperatur,  als  die  chemische  Zusammensetzung  der  organischen 
Materie  die  denkbarst  günstigsten  Voraussetzungen  liefert;  aber 
vergeblich  —  auch  innerhalb  des  Organismus  entsteht 
nur  aus  der  Zelle  die  Zelle. 


▼.  Hartmann,  Phil.  d.  Unbewuwten.  31 

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IX. 

Die  anfSsteigende  Entwickelnng  des  orguisdiei  Lebens 
auf  der  Erde. 


Wir  haben  im  Yorigen   Capitel   den  Satz   all  ifahrsoheinliok 
nachgewiesen  y    dass  das  TJnbewusste  nur  so  lange  dem  Eraftttof- 
wand  der  Urzeugung  sich  unterzog,    als  es  durchaus  nöthig  var, 
d.  h.  bis  die  Eltemzeugung   sie   ersetzen  konnte.     Aus  demselben 
allgemeinen     Naturprincip    der     grösstmöglichsten     Krafterspamiss 
folgt  unmittelbar   auch   der   andere,   bei  den   vorhergehenden  Be- 
trachtungen als  selbstverständlich  vorausgesetzte   Satz^    dass   eioe 
Urzeugung,  d.  h.  eine  unmittelbare  Erzeugung  aus  unorganisir- 
ter  Materie,   sich   nur  auf  die  allereinfachsten  Formen  organischen 
Lebens   beziehen   kann,    dass    dagegen    zur    Darstellung    höherer 
Lebensformen    das  TJnbewusste  keinenfalls   den  schon  fiir  die  ein- 
fachsten  Wesen    so    schwierigen    Weg    unmittelbarer    Erzeugung, 
sondern  eine  durch  Zwischenstufen  vermittelte  Entstchungs- 
weise  einschlagen  wird.     Nicht   als  ob .  ich   damit   die    absolute 
Unmöglichkeit  der  directen   Urzeugung    eines  höheren  Thieres  be- 
haupten wollte,  —  im  Gegentheil,  ich  habe  ja  stets  behauptet:  der 
Wille  kann,  was  er  will,   wenn  er  nur   stark  genug  will,    um  die 
entgegenstehenden  Willensacte  zu  überwinden,  —   auch  nicht  ab 
ob  ich   die   theoretische  Möglichkeit  läugnen   wollte,    dass    selbst 
innerhalb  der  anorganischen  Naturgesetze    in  gewissen 
Momenten   der  Erdentwickelung   das  Unbewusste   eine  directe  Ur- 
zeugung höherer  Thiere   hätte  in's   Werk  setzen   können,   darüber 
sich  ein  Urtheil  anzumassen,  wäre  Thorheit,  —  nur  so  viel  behaupte 
ich,  dass  eine  directe  Urzeugung  höherer  Organismen  einen  unge- 
heuren Kraftaufwand  erfordert  hätte,  einen  Kraftaufwand,  welcher 
den  zur  Urzeugung  der  einfachsten  Zelle   nöthigen   unendlich  viel 


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483 

Mal  übertrofien  hätte,  dass  deshall^  das  unfehlbare  Logische  im 
Unbewussten,  gemäss  dem  Pnncipe  der  'Erreicbiuig  aller  Ziele  mit 
möglichst  geringem  Ejaftaufwand,  nnzweifelhaft  der  Urzeugung 
höherer  Organismen  eine  durch  mannigfache  Durohgangsstufen  ver- 
mittelte Erzeugungsweise  vorziehen  musste^  deren  jede,  ausserdem 
dass  sie  vermittelnde  Durohgangsstufe  au  höheren  Wesen  war, 
noch  für  sich  anderen  und  selbstständigen  Zwecken 
diente,  und  dabei  mit  relativ  geringem  Kraftaufwand  vermittelst 
einer  modificirten  Elternzeugung   erreichbar  war* 

Fragen  wir  uns  nämlich  einfach,  was  zur  Urzeugung  eines  höheren 
Organismus  gehören  würde,  so  ist  die  Antwort:  zunächst  organische 
Stoffe  von  nicht  zu  niedriger  chemisoher  Zusammensetzung  in  ge- 
nügender Menge  und  hinreichender  Concentration ;  wo  wären  diese 
aber  leichter  zu  finden  gewesen,  als  in  einem  schon  vorhan- 
denen niederen   Organismus?    Jedenfalls  würde  also  schon 
diedirecte   Verwandlung  eines  schon  bestehenden   niederen 
Organismus  in  einen  höheren  (z.  B.  eines  Wurmes  in  einen  Fisch) 
wem'ger  Schwierigkeiten  darbieten,  als  die  Urzeugung  des  letzteren 
ohne   Zuhülfenahme    eines    bestehenden    Organismus.      Aber    auch 
hier  wären   die  Schwierigkeiten  immer  noch    so   gross,    dass   ein 
enormer  Kraftaufwand    des  Unbewussten    zu  ihrer  Ueberwindung 
gehören  würde ,    denn  es  müssten  die  schon  festgestellten  Formen 
und  schon  ausgebildeten  Organe  des  niederen  Organismus  grossen- 
theils  in  ihrer  Beschaffenheit  erst  vernichtet  werden,  um  den  an- 
derartigen entsprechenden  Formen  und  Organen  des  höheren  Wesens 
Baum  SU  geben.     Diese  nicht  unbeträchtliche  negative  Arbeit,  die 
Dur  erst  Das  wieder  zu  vernichten  hat,  was  in  der  embryona- 
len   Entwickelung     des    niederen    Organismus    geschaffen 
wurde,  wird  offenbar  ganz  vermieden,  wenn  der  Verwandlungspro- 
eess  in  so   frühen  Stadien   der  individuellen  Entwickelung  be- 
ginnt,   dass   diese    spedfischen  Formen  und  Organe  der  niederen 
Stufe  gar    nicht  erst  zur  Ausbildung   kommen,    sondern  an  ihrer 
Statt  sofort  die  der  höheren  Stufe.    Dann  kann  man  eigentlich  nur 
noch  in  idealem  Sinne  von  einem  Yerwandlungsprocesse  sprechen, 
denn  nur  der  ideelle  Typus,  der  nach  dem  gewöhnlichen  Gange  der 
Entwickelong  aus   dem  Keime  des  niederen  Organismus  hervorge- 
gangen wäre^    ist  der  Yerwirklichung    eines  anderartigen  ideellen 
Typus  gewichen,  in  Wirklichkeit  hat  aber  keine  Verwandlung,  son- 
dern   nur    eine    embryonale    Entwickelung    stattgefunden.     Selbst 

31* 


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484 

Agassiz ,  ein  Hauptvertreter  der  getrennten  Erschaffung  der  Arten, 
räumt  ein,   dass  nur  in  Oestalt  von  Eiern  diese  Erschaffong  habe 
stiattfinden  können,  nnd  dass  für  die  Entwickelung  dieser  elternlos 
erschaffenen    Eier   zugleich    ähnliche    Bedingungen    mitgescfaaffen 
worden  sein  müssten,  wie  die,  unter  denen  die  elterlich  erzengten 
Eier  sich  jetzt  entwickeln,  d.  h.  aber  doch  wohl,  dass  für  die  der 
elterlichen  Pflege  bedürftigen  Eier  Pflegeeltern,   natürlich  von  an- 
deren Arten,  eingesetzt  worden  seien.    Nun  trage  ich  aber,  welche 
Vorstellung  ist  ungeheuerlicher,  die   dass   aus   dem  Eie  einer  nie- 
deren Art  sich  ein  Individuum  einer  höheren  Art  entwickele,  oder 
die,  dass  das  Ei  der  höheren  Art  fix  und  fertig  durch  Urzengung 
gebildet  worden   sei,    und   zwar    ein    solches    Ei,    aus   dem  nan 
schlechterdings    nichts    als    diese    höhere    Art    mehr    hervorgehen 
konnte,  und  in  welchem  folgerecht  sämmtlich^  Oharactere  der  höhe- 
ren Art  implicite  bereits  enthalten  waren?  Zu  bemerken  ist  dabei, 
dass  die  Eier  der  allerhöchsten  und  die  der  allemiedrigsten  Thieie 
morphologisch  und  chemisch  sich   so  ähnlich  sind,   und   die  ersten 
Entwickelungsstadien    der    embryonalen    Entwickelung    so    gleich- 
massig   durchlaufen,    dass    sie   gar  .nicht    oder    wenig,    und  selbst 
dann   noch  meist  nur  an  zufälligen  Kennzeichen,  zu  unterscheiden 
sind.     Es  hilft  nichts,  sich  darauf  zu  stützen,  dass  füx  gewöhnlich 
im   befruchteten  Ei   einer  Art   wirklich  sämmtliche  Charactere  der 
Gattung  implicite    enthalten  seien;  mag  diese   (übrigens  unbeweis- 
bare) Ansicht  noch  so  richtig  sein,  so  muss  doch  ein  Ei  immer  schon 
eine   Menge   Entwicklungsstadien   durchgemacht  haben,   ehe  es  so 
weit  kommt,  dass  es  selbstständig  existiren  und  durch  Einwirkung 
der  Sonnenwärme    oder    der    thierischen  Wärme   der  Pflegeeltern 
oder  der  damaligen  Erdwärme  das  Junge  ausgebrütet  werden  kann, 
abgesehen  davon,  dass  die  Eier  der  lebendig  gebärenden  Thiere  nie 
diese  Selbstständigkeit  erlangen.     Wo  soll  nun  diese  Entwickelang 
des  Ei's   vor  der  Selbstständigkeit  stattgefunden  haben,  woher  soll 
es   die  Menge   Albumin  geschöpft  haben,    wenn   nicht  aus  einem 
Mutterthier ,   woher  *  soll   der  erste   sammelnde  Brennpunct  für  die 
primitive   Dotterzelle   gekommen    sein,    wenn   er  nicht  in  einem 
Eierstocke  lag?    Das  Albumin   ist  wahrlich  nicht  so   häufig  in  der 
anorganischen  Natur,    dass  die  Urzeugung  einer  Dotterzelle  etwa« 
Leichtes  wäre.     Jedenfalls   ako  hätte   es  für  das  ünbewusste  un- 
endlich viel  mehr  Schwierigkeiten  haben  müssen,    ein  solches  mit 
allen  Characteren  der  neu   zu  schaffenden  höheren  Art   bdiaftete» 


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485 

£i  doreh  ürzengong  herzustellen,  ab  entweder  aus  einem  die 
Ghaiaotere  einer  anderen  niedero^  Art  enthaltenden  Ei  durch 
Verwischung  dieser  doch  immer  bloss  im  Keime  ^angedeuteten 
Gharactere  und  Hinzufügung  neuer ,  ein  IndiTiduum  der  neuen  hö- 
heren Art  zu  entwickeln,  oder  aber  das  die  Gharactere  der  neuen 
höheren  Art  yollständig  enthaltende  £i  in  dem  Eierstocke  eines 
Individuums  einer  niederen  Art  zu  entwickeln,  oder  endlich  beide 
Hülfsmittel  zugleich  anzuwenden,  d.  h.  ein  besonderes  gün- 
stig schon  nach  der  Eiohtung  der  neuen  Art  hin  angelegtes  £i 
Bowohl  in  dem  Eierstock  des  niederen  Indiyiduums,  als  auch 
nach  Verlassen  desselben  mit  den  zur  Erzielung  der  höheren  Art 
nothwendigen  Modificationen  zu  entwickeln.  Wo  ist  der  natlirliche 
Ursprung  des  Individuums,  wenn  nicht  aus  dem  Ei  ?  Wo  ist  der 
natürliche  Ursprung  des  Ei's,  wenn  nicht  im  Eierstocke  eines 
Mutterthieres  ?  Wie  unerheblich  erscheinen  die  Schwierigkeiten, 
welche  das  XJnbewusste  bei  der  Entwiokelung  eines  höheren  Orga- 
nismus aus  dem  Mutterschooss  eines  niederen  zu  überwinden  hat, 
gegen  die  oolossalen  Schwierigkeiten,  welche  sich  ihm  bei  der  Ur- 
zeugung des  höheren  Organismus  entgegenstellen  würden.  Wenn 
wir  also  nur  zwischen  diesen  beiden  Annahmen  die  Wahl  haben» 
so  werden  wir  uns  unbedenklich  zu  der  ersteren  entscheiden,  dass 
die  höhere  Art  durch  Eltemzeugung  aus  der  niederen  hervorgeht, 
aber  durch  eine  Zeugung  mit  modificirter  Entwiokelung  des  Eies, 
wie  KöUiker  (Siebold  und  KöUiker,  Zeitschrift  für  wissenschaftl. 
Zool(^.  und  Medic.  1865,  Heft  3),  der  sich  zu  dieser  Anschauungs- 
weise bekennt,  es  nennt:    „Heterogene  Zeugung^'. 

Hiermit  haben  wir  für  die  zur  Erzeugung  höherer  Thiere  gleich 
anfangs  vorausgesetzten  Zwischenstufen  einen  bestimmten  Anhalt  ge- 
wonnen, es  ist  eine  Stufenleiter  von  immer  höheren  und  höheren  Arten, 
auf  welcher  das  organisirende  Unbewusste  zur  Darstellung  der  höch- 
sten O^anismen  gelangt.  So  gewiss  dies  allgemeine  Eesultat  rich- 
tig ist,  so  gewiss  brauchen  wir  dabei  noch  nicht  stehen  zu  bleiben. 

Wenn  wir  auch  im  Cap.  A.  VIH.  nachgewiesen  haben, 
dass  in  jedem  Moment  des  organischen  Bildens  an  jeder  Stelle  des 
OrganismuB  das  Unbewusste  thätig  eingreift,  und  seine  Einwirkung 
ganz  besonderes  in  der  relativ  so  stürmischen  embryonalen  Ent- 
wickelung  geltend  macht,  so  ist  doch  andererseits  nicht  zu  ver- 
kennen >  dass,  wie  überall,  wo  es  angänglich  ist,  so  auch  für  die 
Entwiokelung    des    Ei's    das    Unbewusste    durch    vorher    berge- 


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486 

Btellte  Mechanismen  sich  sein  Eingreifen  möglichst  erleichtert  xnA 
auf  materielle  Minimalwirknngen  reducirt  hat.  Es  findet  also  in 
den  männlichen  und  weiblichen  Zengungsstoffen  allem  Yermathen 
nach  eine  yon  ihm  selbst  in  früheren  Stadien  absichtlich  hineinge- 
legte Disposition  vor,  welche  diese  Stoffe  heföhigen,  sich  unter  der 
nöthigen  psychischen  Leitung  leichter  nach  der  durch  die  elterlichen 
Organismen  yorge^seichneten  Eichtung,  als  nach  irgend  einer  an- 
deren zu  entwickeln.  Da  nun  das  XJnbewusste  es  sich  stets  so  be- 
quem wie  möglich  macht,  wenn  es  keinen  hesonderen  Gnmd  bat^ 
sich  Unbequemlichkeiten  aufzuerlegen,  und  ein  solcher  Grand  fti 
die  gewöhnliche  Zeugung,  wo  es  nur  auf  die  Erhaltung 
der  Art  ankommt,  fehlt,  so  schlägt  es  bei  der  psychischen  Lei* 
tung  der  embryonalen  Entwickelung  für  gewöhnlich  den  durch  die 
von  ihm  selbst  den  Zeugungsstoffen  vorher  imprägnirten  Eigen* 
schalten  als  den  leichtesten  bezeichneten  Weg  ein,  d.  h.  das  Er- 
zeugte gleicht  den  Erzeugern,  und  diese  Erscheinung  nennt 
man  die  „Vererbung  oder  Erblichkeit  der  Eigenschaften*. 

Von  einer  solchen  allgemein  nützlichen  Kegel  weicht  dass  ünbe- 
wusste  um  so  weniger  gern  ab,  je  allgemeiner  ihre  Geltung  ist,  z.  B.  von 
den  anorganischen  Naturgesetzen  gar  nicht.  Da  nun  die  Schwie- 
rigkeiten schon  gross  genug  sind,  welche  durch  das  Hinausgehen 
über  die  alte  Art  und  das  Hinzufügen  neuer  Charaotere  entstehen, 
so  wird  das  Unbewusste  suchen,  sich  denjenigen  Schwierigkeiten 
möglichst  zu  entziehen,  welche  es  bei  der  Vernichtung  solcher 
Charaotere  der  alten  Art  zu  überwinden  hätte,  die  in  die  nete 
Art  nicht  mit  hinüber  genommen  werden  können  oder  sollen,  und 
wird  es  zu  diesem  Zwecke  die  neue  höhere  Art  aus  solchen 
Arten  hervorzubilden  suchen,  bei  denen  nur  neue  Charaotere  hin* 
zuzufügen,  aber  möglichst  wenig  oder  gar  keine  hestehenden 
positiven  Charaotere  zu  vernichten  sind,  d.  h.  aas  relativ  un- 
vollkommenen, mit  wenig  speoifischen  Characteren  versehenen, 
der  weiteren  Entwickelung  viel  Spielraum  bietenden  Arten, 
nicht  aber  aus  bereits  hoch  entwickelten,  stark  differeniir- 
ten  und  mit  vielen  und  hestimmten  Characteren  ausgestatteten  Arten. 

Dies  wird  durch  die  paläontologisohe  Entwickelungsge- 
schichte  des  Thierreiches  vollkommen  bestätigt.  Jede  Hauptord* 
nung  des  Thierreiches  gleicht  einem  Aste  des  grossen  Baumes,  und 
entwickelt  sich  in  einer  bestimmten  geologischen  Periode  aus  ein- 
fachen Anfängen  zu  hochstehenden  Formen.      Diese   letzteren 


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467 

üh&t,  die  den  finden  des  Astes  glei«keni  eind  es  nieht,  ans  vrel- 
oben  bei  den  Teränderten  VerhüHnisBen  eiber  spä4eren  geologischea 
Fenode  eine  neue  Tlüer(»rdnQng  entspringt,  denn  sie  haben  sich 
durch  Beichthnm  entschiedener  Ghoraotere  gleichkam  i'n  ein« 
Sackgasse  yerrannt,  sondern  jene  unvollkommenen  primitiven 
Stammformen  der  Ordnimg,  die  sich  mit  Mühe  nnd  Noth  jene  Pe- 
riode hinduroh  gegen  ihre  weit  überlegenen  Sprofsformea  im 
Kampfe  um's  Dasein  behauptet  haben,  gleichsam  die  dem  Stamnke 
am  näohsften  stehenden  schüchternen  Spröeslinge  jenes  Astes  ^  sie 
sind  es,  «ns  deaen  durch  Hinzmüigang  neuer,  bisher  nooh 
nicht  dagewesener  Urdiaraetore  später  die  neue  Ordnung  er- 
wächst So  mangelhaft  auch  unsere  Kenntnisse  der  XJehaigang»- 
stofen  nach  den  bis  in  die  heutige  Fauna  eriialtenem  Formen  und 
nach  den  bis  jetzt  gefundenen  paläontologisehen  Besten  sind ,  so 
genügen  «ie  doeh  vollständig,  um  unsere  Behauptung  zu  erweisen. 

Nachdem  die  Chrustaceen  in  den  Krebsen  gegipfelt,  setzen  die 
Ataohniden  mit  den  unvollkommensten  Milben  ein;  nachdem  diese 
sieh  flsur  Spinne  vervoUkomamet,  erfolgt  in  den  Insecten  der  Büok- 
sohlag  zu  den  tiefiitehenden  Läusen.  Die  höchsten  Formen  der 
Weickthiere  sind  die  Sepien,  der  Gliederthi«re  die  Hatdiflügler; 
beid«  sind  weit  höher  organisirt  als  die  niedrigsten  uns  bekannten 
Fisohe,  heide  lebten  in  einer  der  heutigen  gleichkommenden  Voll- 
kommenheit,  ehe  et  Wirbelthiere  auf  der  Erde  gab.  Aber  sie 
mxnsi  eu  einseitig  und  au  reich  differenzirt;  um  von  ihnen  aus 
eine  auf  ganz  anderen  Grundbedingungen  des  Baues  beruhende 
Ordnung  au  beginnen.  Die  Fische  entwickelten  sich  vielmehr  aus 
Wormern)  Nacktschneeken  und  Gmstaeeen.  Die  ältesten  fossilen 
Fisdie  gehören  aus  dem  leicht  begreiflichen  Grunde  nur  den 
Ifehet^gangsformin  der  Orustaceen  an,  weil  die  beiden  anderen 
Arten  zu  weich  waren,  um  fossile  Beste  zu  hinterlassen;  dagegen 
haben  sieh  die  üebei;gangBformen  aus  letzteren  bdden  in  zwei 
Specien  bis  heute  lebend  erhalten.  Das  im  den  Küsten*  der  Nord- 
see und  des  Mittelmeeres  lebende,  zwei  Zoll  lange,  fast  durchsich- 
tige Lanaettfischen,  Atnphioauß  kmceolcUus  Fedl.  besitzt  noch  keinen 
Sohädel  und  keine  Wirbelsäule^  sondern  nur  eine  einfache  massive 
Knorpeiaoite  als  Unterlage  des  Büokenmarkes ,  kein  vom  Bücken- 
matke  abgesondertes  Gehini,  noch  kein  Herz,  keine  Milz,  statt  der 
Leber  nur  einen  Blinddarm,  kein  gefärbtes  Blut,  keine  Flosseu- 
strahlan«  aondem  nur  eine  zarte  häutige  (embryonale)  Schwanzflosse. 


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Pallas  hatte  es  noch  für  eine  Nacktschneoke  {Umax)  gehaltok, 
erst  neuere  anatomische  Untersachungen  zeigten,  dass  es  bereits 
nach  dem  Typus  der  Wirbelthiere  gebaut  ist,  die  niedrigste  be- 
kannte Stufe  der  Fische  darstellt  und  überhaupt  als  Prototyp  oder 
Urform  des  ganzen  Wirbelthierreiches  ^  als  unmittelbarer  Naoh- 
komme  der  ältesten  Wirbelthiere  der  Urwelt  gelten  kann,  dessen 
Verwandte  gewiss  in  unzahligen  Massen  die  urweltlichen  Meere 
bevölkert  haben.  Aehnlich  hatte  noch  Linn^  einen  anderen  Fisch 
(Myxine)  für  einen  Wurm  angesehen.  —  Gehen  wir  weiter  ^on  den 
Fischen  zu  den  Amphibien^  so  zeigt  sich  wiederum  ein  Uebergang 
nur  in  unyollkommenen  und  tiefstehenden  Formen,  während  beide 
Ordnungen  sich  um  so  mehr  yon  einander  entfernen ,  jemehr  ue 
sich  in  ihrer  characteristischen  Einseitigkeit  entwickeln.  Der  im 
Amazonenstrome  lebende  Schuppenmolch  oder  Lepidosiren  paradota 
Natu  ist  ein  drei  Fuss  langes  Thier  von  fischartiger  Körperform^ 
mit  Fischkiemen  und  einer  Schuppenbekleidung,  die  ganz  der  der 
Enochenfbsche  entspricht.  Zwei  Flossen  am  Xopfe  und  zweie  am 
Bauche  deuten  die  Vorder-  und  Hinteigliedmassen  an.  Ausser  den 
Kiemen  aber  hat  das  Thier  auch  noch  eine  paarige  Lunge,  die 
sich  durch  einen  Luftgang  in  den  Schlund  ö&et,  mithin  eine  Or- 
ganisation, wie  sie  nie  bei  Fischen,  wohl  aber  bei  fischartigea 
Lurchen,  z.  B.  Proteus y  vorkommt.  Athmung  und  Kreislauf  ver^ 
weisen  also  den  Schuppenmolch  in  die  höhere  Klasse  der  Amphi- 
bien, während  die  ganze  übrige  Organisation  noch  die  eines  Fisches 
ist.  Betrachten  wir  nun  aber  die  Entwickelungsstufe  des  Thieres 
als  Wirbelthier  überhaupt,  so  steht  es  so  tief  als  möglich.  Sein 
Skelett  ist  erst  unvollkommen  verknöchert,  die  Wirbelsäule  besteht 
noch  in  einem  ungetheilten,  knorpeligen  Strange,  auf  dem  die  ver- 
knöcherten Wirbelbogen  aufsitzen.  Aehnlieh  wie  Lepidosiren  ist 
der  in  Westafrika  lebende  Protopterus  gebaut,  der  in  den  übe^ 
schwemmten  Sümpfen  nur  der  Kiemen,  in  den  ausgetrockneten 
aber  der  Ltngen  bedarf.  —  Diese  Beispiele  mögen  genügeD>  um  un- 
sere Behauptung  zu  belegen  und  zu  veranschaulichen.  (Beiläufig 
will  ich  bemerken,  dass  die  Darwin'sche  Theorie,  welche  diese 
Thatsache  wohl  anerkennt,  dieselbe  dadurch  zu  erklären  sucht, 
dass  die  vollkommenen  Formen  durch  die  längere  Dauer  ihres  Be- 
stehens das  Oesetz  der  Vererbung  sich  strenger  zu  eigen  gemacht 
haben  und  weniger  leicht  vom  Artcharacter  variiren,  als  die  un- 
vollkommenen.   Dabei  ist  nur  übersehen  worden,   dass  gerade  die 


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nnyollkonunraen  Formen  älter  sind,  als  die  yollkommenen ,  and 
dass  auch  die  nnyollkommenen  Formen  gerade  erst  dann  in 
die  neue  Ordnung  überschlagen,  wenn  innerhalb  der  alten  Ord- 
nung der  Beichthum  der  vollkommeneren  Formen  erschöpft  ist. 
Das  Alter  einer  Species  vermehrt  also  thatsächlich  die  Yariations- 
föhigkeit  ebensowenig,  als  die  Strenge  des  Erblichkeitsgesetzes. 
Vollkommenere  Arten  variiren  factisch  eben  so  leicht  und  eben 
so  sehr,  als  unvollkommenere,  wenn  sie  durch  veränderte  Yerhält- 
nifise  dazu  genöthigt  werden,  nur  schlagen  erstere  nicht  so  leicht 
in  höhere  Ordnungen  um  wie  letztere^  und  warum  dies  nicht 
der  Fall  ist,  kann  die  Darwin'sche  Theorie  nun  und  nimmermehr 
aus  ihren  Yoraussetzungen  nachweisen.) 

Nachdem  wir  dies  eine  Hülfsmittel  kennen  gelernt  haben^ 
dessen  das  Unbewusste  sich  bedient,  um  sich  die  Ausbildung 
neuer  Arten  zu  erleichtem,  wollen  wir  uns  weiter  nach  solchen 
umschauen.  Bis  jetzt  haben  wir  noch  gar  nicht  in  £rwägung  ge- 
zogen, wie  gross  bei  der  heterogenen  Zeugung  die  Verschiedenheit 
des  Erzeugten  von  den  Eltern  sein  darf.  Es  ist  aber  klar, 
dass  das  Unbewusste'  in  der  Fortbildung  der  Arten  zu  höheren 
keine  unnütz  grossen  Sprünge  machen,  sondern  die  Grenzen  so  eng 
als  möglich  an  einander  rücken  wird.  Ein  Sprung  bleibt  freilich 
immer  bestehen,  denn  sonst  müssten  von  einer  Art  zur  nächsten 
unendlich  viele  Zeugungen  hinüberführen,  was  bei  der  end- 
liehen Entwickelungszeit  der  Organisation  auf  der  Erde  unmöglich 
ist.  Aber  zum  mindesten  wird  der  jedesmalige  Schritt  keine  im 
geraden  Entwickelungsgange  liegende  Art  überspringen,  son- 
dern höchstens  von  einer  Art  zur  nächst  höheren  übergehen. 

Hier  tritt  die  Frage  an  uns  heran,  wieweit  denn  eine  Art  von 
der  nächstverwandten  abliege,  oder  wie  sich  der  Begriff  Art  abgrenze 
einerseits  von  den  unterschieden,  die  grösser  als  Artunterschiede, 
andererseits  von  denen,  die  kleiner  als  Artunterschiede  sind,  oder 
mit  einem  Wort  die  Frage  nach  der  Definition  des  Artbe- 
griffes. Nun  räumt  aber  jeder  vorurtheilsfreie  Naturforscher  ein, 
dass  solche  Grenzen  des  Artbegriffes  in  der  Natur  gar  nicht  vor- 
handen sind,  sondern  dass  derselbe  einerseits  in  den  Begriff  der 
Varietät  oder  der  Bace  und  andererseits  in  den  der  Familie ,  oder 
wie  man  den  nächst  allgemeinen  Begriff  nennen  will ,  mit  völlig 
flüssigen  üebergängen  hinüberführt,  dass  es  mithin  wie  bei  allen 
quantitativen  Begriffen,    eine   Sache    der  subjectiven  Willkür  und 


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Aes  gegemeiügen  üeber6mk<MiueQetiB  ist,  wie  weit  fliaxi  disn  AiÜwgtiS 
ii^Bdehnen  will;  dass  man  2war  im  Gro«««!i  und  Gänsen  sick 
über  diejenigen  anatomiBchen  und  äusseren  Abzeichen  geeinigt  halt, 
welche  ku  einem  Artunterschiede  gehören,  dass  aber  natürlich  an 
den  Grenzen  immer  Meinungsrersohiedenheiten  ttber  die  Anwen* 
düng  des  Begriffes  bestehen  bleiben  werden.  Einige  haben  ge- 
meint, den  Streit  dadurch  zu  sohliohten,  dass  sie  als  Kriterien  der 
Artyerschiedenheit  zweier  Thiere  die  Unmöglichkeit  der  Erzeugung 
fruchtbarer  Nachkommen  durch  dieselben  aufstellten;  aber 
erstens  sind  zwei  Thiere  nicht  deshalb  über  ein  gewisses  Mcmss  hin- 
aus verschieden,  weil  sie  keine  fruchtbaren  Nachkommen  zeugen 
können,  sondern  sie  können  deshalb  keine  fruchtbaren  Nachkom- 
men zeugen,  weil  sie  über  ein  gewisses  ICaass  hinaus  verschieden 
sind,  und  dieses  Merkmal  würde  mithin  immer  nicht  das  Weaen» 
sondern  nur  eine  Folge  der  Artverschiedenheit  betreffen;  zweitens 
jedoch  ist  die  Gremte  der  Zeugung  fruchtbarer  Nachkommen  eben 
so  flüssig,  wie  der  Artbegriff,  da  eben  nur  die  Anzahl  der  fmoht- 
bare  Nachkommen  liefernden  Begattungen  unter  ein  und  derselben 
Gesammtzahl  von  Begattungen  um  so  kleiner  wird,  je  v^reohte- 
dener  die  Thiere  werden,  ab^  Niemand  früher  als  naoh  unend^ 
lieh  vielen  Yersuchen  behai^ten  kann,  dass  eine  Zeugung  fraehi- 
barer  Nachkommen  zwischen  diesen  beiden  Thieren  unmög* 
lieh  ist;  drittens  endlich  ist  factisch  dieses  Merkmal  in  nicht 
wenigen  Fallen  mit  dem  durch  allgemeine  Uebereinstimmung  fSsst« 
gestellten  Gebrauch  des  Artbegriffes  in  Widerepruoh,  denn  von 
allgemein  als  aitverschteden  betrachteten  Thieren  sind  durch  Kreu- 
zung fruchtbare  Nachkommen  erzielt  worden,  z.  B.  von  Pferd  und 
Esel  (in  Spanien),  von  Schaf  und  Ziege,  von  Stieglitz  und  Zeisig, 
r&a  Matkiola  madermm  und  mcono,  von  Calceclaria  pUmtaginea 
und  integrifoUa  u.  a.  nt,  ja  sogar  freiwillige  Bastardfteugungen  ohne 
Dazwisehenkunft  des  Menschen  zwischen  wilden  oder  dooh  halb-> 
wilden  Thieren  conetatirt  worden  (zwisehen  Hund  und  Wölfin, 
Fuohs  und  Hündin,  Steinbook  und  Ziege,  Hund  und  Schakal  u.  s.  w.X 
und  zahlreiohe  Bastardraoen  giebt  es,  welche  unter  einander  bis 
in's  Unendliche  fruchtbare  Nachkommenschalt  liefern,  z.  B.  Ba- 
starde von  Hase  und  Kaninchen ,  von  Wolf  und  Hund^  Ziege  und 
Sohaf,  Kameel  und  Dromedar,  Lama  und  Alpaca,  Vigogne  und  AI- 
paca,  Steinbock  und  Ziege  u.  s.  w.  Andererseits  veriialten  sieh 
au(^  die  Eacen  s^r  verschieden;    eilige  können,    andeie  wollen 


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4»! 

sich  durehftm  sieht  mit  di&ander  vermiMheii,  bei  wieder  anderen 
ist  thatsKehlieh  die  Fmehtbarkeit  in  der  Oeneratiensfolge  eehr 
beschränkt. 

Wenn  wir  demnach  an  der  Flüssigkeit  nnd  Conventionalität  des 
Artbegriffes  festhalten  müssen,  wenn  wir  zugeben  müssen,  dass  es 
in  der  Natur  mir  kleinere  und  grössere  Yersohiedenheiten  giebt, 
aber  in  so  reich  vertretenen  Abstofungen,  dass  von  der  unmerk- 
lichsten individuellen  Nuance  Jbis  eam  Unterschiede  des  höchsten 
Tom  niedrigten  Organismus  ein  in  fttr  uns  unmerklich  kleinen 
Schritten  dahin  fliessender  TJebergang  stattfindet ,  so  kann  auch 
weder  im  Artbegriff  noch  einem  ihm  ähnlichen  engeren  oder  wei- 
teren Begriff  mehr  ein  Zwang  für  das  XJnbewusste  liegen,  welcher 
die  Minimalgrösse  seiner  Schritte  in  der  Fortentwickelung  der  Or- 
ganisation noTmirte,  sondern  das  kleinste  Maass  für  die  Sprünge 
der  heterogenen  Zeugung  wird  nur  noch  im  ünbewussten  selbst, 
in  seiner  Bequemlichkeit  und  den  sonst  von  ihm  rerfolgten  Zielen 
(£.  Z.  Erreichung  gewisser  Organisationsstufen  in  gewissen  Zeit- 
räumen) zu  suchen  sein.  Nun  findet  aber  schon  ron  selbst  be- 
kanntlich nicht  Gleichheit^  sondern  nur  Aehnlichkeit  zwi- 
schen Erzeugern  und  Erzeugten  statt,  denn  die  yerschiedenen  ma* 
tenellen  Umstände  bewirken  bei  der  Zeugung  individuelle  Abwei- 
chungen vom  ideellen  Normaltypus,  welche  follständig  zu  nivel- 
liren  einen  ganz  unnützen  Kraftaufwand  des  Ünbewussten  in 
Anspruch  nehmen  würde,  da  diese  individuellen  Abweichungen  für 
gewöhnlich  und  der  Hauptsache  nach  sich  durch  Kreuzung  der 
Familien  von  selbst  wieder  ausgleichen.  Trotzdem  hat  man  sieh 
nicht  über  die  Ungl^chheit,  sondern  über  die  Gleichheit  von  Eltern 
und  Eind  zu  wundern,  denn  wenn  das  Unbewusste  eich  bei 
allen  Zeugungen  innerhalb  derselben  Art  auf  dieselbe  Weise  ver- 
halten und  Bi(^  die  Arbeit  eines  fortwährend  ausgleichenden  Ein- 
greifens ersparen  wollte,  so  würden  die  Abweichungen  zwisohen 
Erzeugern  und  Erzeugten,  welche  durch  die  Unterschiede  der  ma- 
teriellen Verhältnisse  entstehen  würden,  noch  weit  grösser  sein,  als 
die  Erfahrung  sie  uns  jetzt  zeigt.  Sehen  wir  dodi  trotzdem  Fälle 
eintreten,  wo  das  Unbewusste  lieber  Missgeburten  zur  Welt  schickt, 
ah  dass  es  sich  mit  Ueberwindung  der  vorliegenden  materiellen 
Schwierigkeiten  abquälte.  —  Die  so  übrig  bleibenden  individuellen 
Unterschiede  sind  unzweifelhaft  gross  genug,  um  schnell  zu  einer 
wesentlichen  Abänderung  des  Typus   zu   führen,   und    das  Unbe- 


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492 

wusste  braucht  nur  die  Ausgleichung^  dieser  unterschiede  durch  'Kreu- 
zung für  diejenigen  Fälle,  wo  die  Abweichungen  seinem  Fortbil- 
dungsplane entsprechen,  zu  yerhindem,  sei  es  nun  durch  directes 
Festhalten  oder  durch  einen  äusserlichen  Mechanismus,  so  wird  schon 
wieder  ein  grosser  Theil  Kraftaufwandes  auf  diese  Weise  erspart  sein. 

Dass  solche  Artentstehungen  durch  Snmmation  individu- 
eller Abweichungen  wirklich  vorgekommen  sind,  zeigen  mehr- 
fache Thierclassen  in  den  geologi^hen  Sammlungen,  wenn  die 
Sammler  nicht  die  unbequemen  Mittelstufen  ausmerzen ,  die  in 
keine  Arteintheilung  mehr  passen  wollen.  ^^Zahllos  sind  die  Arten 
von  beschriebenen  Ammoniten,  alljährlich  kommen  zu  den  alten 
noch  neuC)  und  füllen  sich  ganze  Schränke  mit  Büchern  nur  über 
Ammoniten.  Ordnet  man  dieselben  in  eine  Beihe,  so  sind  die 
Unterschiede  zwischen  je  zwei  Exemplaren  in  der  That  so  unbe- 
deutend, dass  Jeder  sie  unbedingt  bloss  für  individuelle  Eigenthüm- 
lichkeiten  ansehen  muss.  Bei  einem  Dutzend  aber  summiren  sich 
die  kleinen  Differenzen  und  bei  zwei  Dutzend  ist  die  Summe  der 
Differenzen  so  gross  geworden,  dass  sich  gar  keine  Aehnlichkeit 
mehr  zwischen  dem  Ersten  und  Letzten  beobachten  lässt  Bier 
halt  kein  Artbegriff  mehr  Stich ,  sobald  man  nur  genug  Exemplare 
beisammen  hat,  welche  die  Uebergänge  veranschaulichen.'^  (Fraas: 
Vor  der  Schöpfung,  S.  269.)  Ziemlich  ebenso  steht  die  Sache 
mit  den  Trilobiten,  und  manchen  anderen  Glassen.  Hier  nur  noch 
ein  Gitat  über  Schnecken:  „Bei  Steinheim  (Würtemberg)  erhebt 
sich  ein  tertiärer  Hügel,  der  zu  mehr  als  der  Hälfte  aus  den 
schneeweissen  Schalen  der  Valtata  multtformU  besteht;  das  eine 
Extrem  dieser  Schnecke  ist  hoch  gethürmt,  wie  eine  Faludine 
(noch  einmal  so  hoch  als  dick),  das  andere  hat  einen  ganz  flachen 
Kabel  (scheibenförmig,  ein  Viertel  so  hoch  als  dick).  Selbst  der 
ängstlichste  Gelehrte,  der  alle  Unterschiede  benutzt  zur  Aufstellung 
einer  Species  steht  rathlos  vor  dem  Klosterberg  zu  Steinheim, 
imd  muss  gestehen,  dass  alle  die  Millionen  Formen,  auf  die  sein 
Fuss  tritt,  so  leise  und  unvermerkt  in  einander  verlaufen,  dass  nur 
von  Einer  Art  die  Bede  sein  kann.*'  (Fraas,  S.  30.)  Zu  unterst 
im  Hügel  li^en  die  flachsten,  zu  oberst  die  gethürmtesten  For- 
men; in  den  Jahrtausenden,  die  zum  Aufbau  dieses  Hügels  gehör- 
ten, hat  sich  also  die  Species  auf  diese  Weise  verändert. 

Wenn   es  sonach  als  feststehend  zu  betrachten  ist,    dass   das 
Unbewusste  zur  Herstellung    einer   neuen  Art  häufig  eine  Summe 


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49g 

zufälliger  mdiyidueller  Abweiohimgen  wird  benutzen  können,  so 
ist  damit  doch  keineswegs  gesagt,  dass  diese  sich  dem  ünbewuss- 
ten  anoh  immer  in  allen  denjenigen  Bichtangen  darbieten,  welche 
es  einzuschlagen  beabsichtigt;  es  bleibt  yielmehr  die  Möglichkeit 
offen,  dass  gerade  die  allerwichtigsten  Fortschritte  nicht  durch 
zufällige  Abweichungen,  sondern  nur  durch  planmässig  abwei- 
chende BildungsYorgänge  begriffen  werden  können;  ich 
glaube  sogar  annehmen  zu  müssen,  dass  alle  Erhebungen  zu 
wesentlich  höheren  Stufen,  welche  Herstellung  von  vorher 
nicht  Torhandenen  Organen  voraussetzten,  nicht  durch  zufällige  indi- 
viduelle Abweichungen  erklärt  werden  können,  wenn  letztere  auch 
für  die  erschöpfende  Durchbildung  eines  vorhandenen 
Typus  nach  allen  Richtungen  hin  die  Hauptarbeit  verrichtet 
haben  mögen. 

Wie  kann  erst  gar  eine  an  verschiedenen  Eörper- 
t heilen  gleichzeitig  auftretende  Yeränderang,  die  sich  in 
ihren  verschiedenen  Theilen  planmässig  ergänzt,  durch  zu- 
fällige Abweichung  genügend  begriffen  werden,  z.  B.  die  Bildung 
der  Euter  beim  ersten  Beutelthier,  die  nothwendig  mit  dem  Leben- 
diggebären Hand  in  Hand  gehen  musste,  wenn  die  Jungen  nicht 
nach  der  Geburt  jämmerlich  umkommen  sollten,  oder  auch  die 
Hand  in  Hand  gehen  müssende  Veränderung  der  männlichen  und 
weiblichen  G^chlechtstheile,  wenn  eine  Begattung  möglich  bleiben 
soll?  Ebenso  wenig  kann  das  Princip  der  zufälligen  Abweichung 
da  als  ausreichend  erachtet  werden,  wo  gewisse  Thiergestalten 
Sigenthihnlichkeiten  des  anatomischen  Baues  aufweisen,  die  für 
sie  selbst  werthlos,  nur  als  vermittelnde  Durchgangs- 
formen für  höher  entwickelte  Stufen  eine  Bedeutung  haben,  wo 
man  also  das  vorweggenommene  Dasein  um  des  künftigen 
Zweckes  willen  deutlich  sieht,  z.  B.  die  erste  Bildung  von  einem 
knorpelichen  Rückenstrang  in  den  primitiven  Fischformen,  welche 
durch  ein  äusseres  Schalgerüst  vollkommene  Festigkeit  wie  die 
Crustaoeen  besassen,  von  denen  sie  abstammen,  so  dass  das  primi- 
tive innere  Knochengerüst  nicht  für  sie  selbst,  sondern  nur  für  ihre 
späteren  Nachkommen  eine  Wichtigkeit  hatte ,  welche  den  Schal- 
panzer  in  ein  Schuppenkleid  verwandelten.  —  Die  Darwin'sche  Theo- 
rie, hat  das  Verdienst,  auf  die  Summirung  der  individuel- 
len Abweichungen  nach  einer  bestimmten  Richtung  und  die 
dadurch   vermöglichte  Veränderung    eines  Typus   in  den  einer  an- 


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deren  Yarietät  oder  Art  hingewieBen  und  mit  reichen  Beispielen 
belegt  zu  haben;  es  ist  sehr  verzeihlich  für  eine  yerdienstvolle 
neue  Ansioht^  wenn  sie  ihre  Tragweite  überschätzt  und 
alles  zu  erklären  glaubt,  wenn  sie  in  Wirklichkeit  nur  einiges, 
yielleic^t  auch  das  Meiste,  erklärt. 

Betrachten  wir  nun,  welcher  Hülfsmittel  das  Unbewusste  sich 
in  den  fällen  bedient,  wo  seine  einzig  übrig  bleibende  Aufgabe 
darin  besteht,  die  zufallig  entstandenen  individuellen  Abweichungen 
nach  einer  bestimmten  Eichtung  festzuhalten,  und  ihre  nor- 
male Wiederausgleichung  und  Verwischung  durch  Kreuzung  zu 
verhindern.  — 

Das  eine  uns  schon  bekannte  Hülfsmittel  ist  der  Instinct 
der  individuellen  Auswahl  bei  de.r  Befriedigung  des  Ge- 
schlechtstriebes. Im  Capitel  B.  Y.  haben  wir  gesehen,  wie  die 
Schönheit  im  Thierreiche  durch  dieses  Mittel  gemehrt  und  gehoben 
wird,  im  Capitel  B.  IL  haben  wir  den  Werth  desselben  für  die 
Veredelung  des  Menschengeschlechtes  in  jeder  Hinsicht  erkannt 
und  einen  Seitenblick  auf  die  Möglichkeit  ähnlicher  Voi^^nge  in 
den  höheren  Classen  des  Thierreiches  geworfen.  Wenn  dieses  Hülfs- 
mittel  in  den  niederen  Thierclassen  fast  bedeutungslos  ist,  so  wächst 
es  mit  steigender  Entwickelung  an  Wichtigkeit,  wirkt  aber  freilich 
immer  mehr  zur  Befestigung  und  Veredelung  einer  Species 
in  sich,  als.  zur  XJeberführung  in  eine  andere.  Häufig 
tritt  an  Stelle  der  activen  Auswahl  der  Männchen  eine  passive 
Auswahl  der  Weibchen,  indem  die  brünstigen  Männchen,  durch 
einen  besonderen  Kampftrieb  beseelt,  um  den  Besitz  der  Weib* 
chen  kämpfen,  und  natürlich  die  kräftigsten  und  gewandtesten  den 
Sieg  behalten.  —  Viel  eingreifender  wirkt  zur  Veränderung  der  Art 
ein  anderer  Umstand,  welchen  zur  Geltung  gebracht  zu  haben,  das 
allereigentlichste  Verdienst  der  Darwin'schen  Theorie  ist,  die 
natürliche  Auslese  {natural  selection)  im  Kampfe 
um's  Dasein.  — 

Jede  Pflanze ,  jedes  Thier  hat  in  doppelter  Hinsicht  einen 
Kampf  um's  Dasein  zu  führen,  erstens  in  negativer  Hinsicht  eine 
Abwehr  gegen  seine  es  zerstören  wollenden  Feinde ,  als  z.  B.  die 
Elemente,  die  Häuber  und  Schmarotzer,  die  von  ihm  leben  wollen, 
und  zweitens  in  positiver  Hinsicht  eine  Conourrenz  im  Erwerben 
resp.  Festhalten  des  zum  Weiterieben  Erforderlichen,  als  Nahrung, 
Luft,  Licht,  Boden  u.  s.  w.    Die  schnellsten  Thiere,  welche  sich 


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am  betWa  &n  venteoken  wissen,  oder  durch  ihre  Farbe  und  Ge- 
stalt in  der  Umgebung  am  wenigsten  auffallen,  werden  sieh  am 
leiobtesten  den  Verfolgungen  ihrer  Feinde  entziehen;  yon  Thieren 
und  Pfimzen  werden  den  Unbilden  der  Witterung,  Sturm ,  Frost, 
Hitae,  Nässe ,  Trockenheit  u.  s.  w.,  diejenigen  am  wenigsten  zum 
Opfer  fallen,  welche  gegen  diese  YerhältniBse  duroh  ihre  äussere 
oder  innere  Organisation  am  fabigsten  zum  Widerstände  sind;  von 
Eaubthieren  werden  bei  Nabrungsmangel  nur  die  gewandtesten« 
sehnelisten ,  kräftigsten  und  listigsten  dem  Hungert ode  entgehen ; 
von  Pflanzen  werden  diejenigen,  welche  sich  unter  gleichen  Yer* 
hältnissen  am  kräftigsten  nähren«  die  anderen  überwiM^bem  und  in 
Bezug  auf  den  Genuss  von  Licht ,  Luft  und  Begen  in  um  so  ent- 
sehiedeneren  Vortheil  gelangen,  so  dass  sie  die  am  meisten  zurück- 
gebliebenen ersticken.  Wir  sehen  diesen  Kampf  um's  Dasein  häu- 
fig zwischen  verschiedenen  Arten  entbrennen  und  mit  der  völligen 
Vernichtung  der  einen  sobliessen,  z.  B.  der  Hausratte  durch  die 
Wanderratte;  weniger  beachtet,  aber  weit  allgemeiner  ißt  der  unter 
abweichenden  Individuen  derselben  Art  Letzterer  führt  natürlich 
eine  Veredelui^  der  Art  herbei,  denn  es  sind  in  allen  F/Qlen  die 
scbwächlichsten  Individuen,  welche  durch  frühere  Vernichtung  vom 
Fortpflanzungsgeaohäfte  ausgeschlossen  werden,  während  dasselbe 
vorzugsweise  den  tüchtigsten  «nd  kräftigsten  Individuen  die  läogste 
Zeit  hindurch  zu&llt.  Es  kann  aber  ausser  der  Veredelung  auch 
eine  derartige  Veränderung  der  Art  stattfinden,  dass  daraus  zu- 
nächst  Varietäten  und  Racen  und  endlich  neue  Arten  entstehen. 
Dieser  Fall  kann  natüriioh  nur  dann  eintreten,  wenn  die  äusseren 
Lebeasverhältnisse  andere  werden;  dann  wird  die  natürliche  Aus- 
lese bei  der  Fortpflanzung  diejenigen  Individualcharactere  begün- 
stigen ,  welche  besonders  in  den  neuen  Verhältnissen  besondere 
Leb^iskraft  zeigen;  die  Folge  wird  also  allemal  eine  Accommo- 
dation  an  die  äusseren  Lebensbedingungen  sein.  Da  nun  das  Un- 
bewusste  ebenfalls  diese  Accommodation  will,  so  darf  es  die  na- 
türliche Auslese  im  Kampfe  um's  Dasein  nur  unbehindert  walten 
lassen,  um  di^en  Zweck  ohne  jedes  Eingreifen  mühelos  erreicht 
zu  sehen.  — 

Solche  Veränderungen  der  äusseren  Lebensbedingungen  kön- 
nen auf  sehr  mannigfache  Weise  entstehen.  Erstens  kann  die 
Pflanze  oder  das  Thier  durch  Wanderung  dieselben  aufsuchen,  und 
so  durdi  räumliche  Absonderung,  oder  Golonienbildung,  die  neu  zu 


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bildende  Varietät  vor  dem  sonst  drohenden  Wiederontergehen  in 
die  Stammart  schützen;  zweitens  kann  ihr  Gebiet  durch  fremde» 
auf  der  Wanderschaft  befindliche  Pflanzen  und  Thierarten  au^* 
sucht  werden,  und  sie  genöthigt  sein,  ihre  Kräfte  im  Kampfe  mit 
diesen  zu  proben  und  zu  stärken ;  drittens  können  durch  Hebungen 
oder  Senkungen  die  Terrainverhältnisse  und  die  Höhe  über  dem 
Meere  verändert  werden,  es  können  Gebii^  zum  Hügelland,  Ebene 
zu  Gebirgen,  Seegrund  zur  Ebene,  Strand  zum  Festland,  getrennte 
Länder  vereinigt,  vereinigte  getrennt  werden  u.  s.  w. ,  es  können 
viertens  klimatische  Veränderungen,  auch  abgesehen  von  den  schon 
genannten  Ursachen,  eintreten,  und  fünftens  endlich  sind  Verän- 
derungen im  Pflanzenreich  veränderte  Lebensbedingungen  für  das 
Thierreich  und  umgekehrt.  Diese  Verhältnisse  bieten  eine  reiche 
Mannigfaltigkeit.  —  Wenn  eine  Pflanze  auf  einen  mehr  gleichmässig 
durchfruchteten  Boden  übersiedelt,  werden  ihre  Blätter  im  Allge- 
meinen weniger  zertheilt,  kahler  und  grasgrün,  die  Blüthen  kleiner 
und  dunkler;  umgekehrt,  wenn  eine  Pflsuize  auf  einem  mehr  porö- 
sen und  trockenen  Boden  sich  ansiedelt,  werden  ihre  Blätter  blauer, 
gelappter,  zertheilter  oder  zerfaserter,  die  Blüthen  grösser  und  hel- 
ler, und  sie  hüllt  sich  in  einen  dichten  Haarpelz.  So  geht  auf 
trockenem,  kalkhaltigen  Boden  Hutchtnsia  bremcaulis  in  H,  aJ^pim^ 
Arahis  coerulea  in  belUdlfoliOy  Alchemüla  fissa  in  vulgaris,  Beitda 
pubescena  in  alba  über ;  auf  feuchtem  kalklosem  Boden  verwandelt  sich 
Dianthus  alpinus  in  deltoides  (na(4i  A.  Kemer  in  der  Oester.  bot 
Zeitschrift).  Ln  Thierreich,  wo  die  veränderten  äusseren  Verhält- 
nisse nicht  so  nahe  beisammen  liegen,  wie  für  die  Pflanze  der 
verschiedene  Boden  ,  sind  für  uns  bei  der  gegenwärtigen  durch- 
schnittlichen Constanz  der  geologischen  und  klimatischen  VeAält- 
nisse  Artveränderungen  durch  natürliche  Auslese  noch  nicht  be- 
obachtet worden,  wohl  aber  Bildung  von  stark  abweichenden  Varie- 
täten besonders  unter  dem  unabsichtlichen  Einflüsse  des  Mensohen, 
z.  B.  Entstehung  von  sehr  verschiedenen  Hausthierracen  (Hunde, 
Rindvieh,  Schafe,  Pferde),  und  kann  man  bei  der  schon  erwähn- 
ten Flüssigkeit  des  üeberganges  von  der  Race  zur  Varietät  mit 
Recht  annehmen ,  dass  in  früheren  Zeiten ,  wo  nicht  selten  eine 
schnellere  Umwandlung  der  äusseren  Verhältnisse  eingetreten  sein 
mag,  als  das  Menschengeschlecht  erlebt  hat,  dass  in  diesen  frühe- 
ren Zeiten  mannigfache  Entstehungen  neuer  Arten  durch  natürliche 
Auslese   im  Kampfe   um's   Dasein   vorgekommen    sein   mögen.    & 


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wird  hiergegen  foehanpiat,  dass  man  akdann  die  onendlich  .yieleii 
Mitteifnrtteii,  durch  welche  eine  Art  in  die  andere  ühecgegangen 
ist,  in  den  Schichten  nachweisen  k<kin«i  müsate,  während  doch  die 
foedlen  Arten  meist  eben  so  scharf  und  noch  schärfer  wie  die 
lebenden  von  einander  unterschieden  sisd.  Dies  beweist  gar  nichts ; 
denn  es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  diejenige  Form  die 
Endibrm  sein  niuss,  welche  lebensflihiger  ist  als  alle  yorhergehen- 
den  Stufen  der  Aenderung,  welche  also  alle  diese  im  Kampfe 
um's  Dasein  besiegt,  d.  h.  ausrottet;  wenn  sie  aber  von  der  End- 
form  bald  verdrängt  werden,  so  haben  sie  nur  ein  kurzes  Bestehen 
gehabt  ini  Verhältmsse  zur  Endform,  welche  nun  als  die  den  Yer- 
hiütnissen  möglichst  angepasste  mindestens  so  lange  als  diese  Ter- 
hältoisse  besteht;  demnach  kann  man  sich  nicht  wundem,  wenn 
nan  bis  jetjct  so  wenig  XJebergangsformen  swisohen  verschiedenen 
Arten  gefunden  hat.  Dass  man  aber  gar  keine  gefanden  hat,  ist 
nicht  richtig,  im  Gegentheil  fmden  sich  bei  niedrigen  Thieren 
überraschend  reiche  Uebergänge,  wie  wir  schon  oben  in  Beispielen 
gesehen  haben.     (S.  487  —  488  und  492.) 

Wenn  wir  nun  auch  somit  die  natürliche  Auslese  im  Kampfe 
uro's  Daaein  als  ein  wichtiges  Hülfsmittel  zur  Entstehung  neuer 
Arten  anerkannt  haben  ,  so  kann  ich  doch  keineswegs  zugeben, 
dass  mit  diesem  Pnncip  überhaupt  die  Entstehungsgeschichte  der 
organisehen  Welt  erschöpft  sei.  Nicht  als  ob  sich  diese  Annahme 
nicht  ganz  gut  mit  unseren  Voraussetzungen  vom  Wesen  des  ün- 
bewussten  vertrüge,  —  denn  wenn  dieses  sich  die  Sache  so  be- 
quem als  möglich  macht,  so  wäre  es  ihm  natürlich  gerade  recht, 
wenn  es  sich  nur  um  das  Individuum  zu  bekümmern  brauchte,  und 
die  Fortbildung  der  Arten  ganz  von  selbst  mechanisch  weiter  ginge,  — 
irar  deshalb,  weil  die  zu  erklärende  Thatsacben  weit  reicher 
als  die  Tragweite  des  Erklärungsprineips  sind,  kann  ich  dasselbe 
nicht  für  ausreichend  erachten. 

Bei  dem  gegenwärtigen  allgemeinen  Interesse  an  der  Darwin'- 
sehen  Theorie  und  der  so  häufig  stattfindenden  Ueberschätzung 
ihrer  Tragweite  dürfte  es  sich  lohnen,  noch  einige  Augenblicke  bei 
der  Betrachtung  zu  verweilen,  in  wieiem  sich  dieselbe  als  unzu- 
länglieh  herausstellt.    (Vgl.  auch  oW  8.  223  —  225.) 

Wenn  man  annimmt,  dass  durch  den  Kampf  umV  Dasein 
aliein  eich  die  Organisation  von  der  primitiven  ürzelle  bis  zu  ihrer 
gegenwärtigen  Höhe  entwickelt  habe,    dass  abo  jede  höher   cnt- 

▼.  Hftrtnsnn,  PhiL  d.  Unbewvsatoo.  32 


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498 

wickelte  Art  nur  dadnroh  aus  der  nächst  niederen  henro^egangen  sei, 
daes  sie  derselben  gegenüber  einen  höheren  Qrad  yon  Lebensfähigkeit 
besass,  so  liegt  darin  die  nothirendige  Conseqnenz,  dass  jede  höhere 
Art  auf  ihrem  Terrain  jeder  niedem  Art  an  Lebensfähigkeit  überlegen 
sei,  und  zwar  in  um  so  höherem  Grade  überlegen,  je  gröeser  der 
Abstand  ihrer  beiderseitigen  Organisationsstufe  ist,   da  sich  ja  bei 
jedem  neuen  Entwickelüngsschritt  ein  neuer  Zuwachs   an  Lebens- 
flihigkeit  ei^ebt,  und  diese  Zuwachse  sich  addiren.     Diese  unmit- 
telbare Consequenz  ist  nun  aber   im   vollkommenen   Widerspruch 
mit  dem  Thatbestand,  welcher  ergiebt,  dass  jede  Organisations- 
stufe im  Ganzen  genommen   die    gleiche   Lebensfähigkeit 
besitzt    und  dass    nur  innerhalb  derselben  Organisationestofe 
die  verschiedenen  Arten  oder  Varietäten  sich  durch  eine 
grössere  oder  geringere  Lebensfähigkeit  unterscheiden,  womit  auch 
übereinstimmt,  dass  der  Kampf  um's  Dasein  in  der  Concurrenz  um 
die  Lebensbedingungen  um  so  häufiger  vorkommt,    um  so  er- 
bitterter ist,  und  um  so  sicherer  mit  gänzlicher  Y ernichtuag 
des  einen  Theils  endet,  je  näher  verwandt  die  ooncurrirenden 
Arten  oder  Varietäten  sind,  während  die  Arten  um  so  friedlicher 
neben  einander  wohnen  und  um  so  mehr  sich  gegenseitig  in  der 
Lebenserhaltung  unterstützen,  je  femer  sie  in  dem  verwandt- 
schaftlichen Stammbaum   der  Organisation  sich  stehen.     In  jeder 
Localität,   wenn    man   von   dem  Unterschiede  zwischen  Land  und 
Meer  absieht ^    findet  man  alle  Organisationsstufen  vertreten,  und 
alle  gedeihen  trefflich  neben  einander,  während  nach  der  Darwin'* 
sehen  Theorie  streng  genommen  an  jeder  Localität  zuletzt 
nur  Eine  Art,  und  zwar  die  höchste  übrig  bleiben  dürfte,  weil 
diese  alle  anderen  an  Lebensfähigkeit  für  diese  Verhältnisse  über- 
träfe.    Das  ist  ja  aber  gerade  das  Wunderbare  und  Grossartige  an 
der  Natur,    dass   jeder  Schlusstypus  einer  Classe   so  vollkom- 
men in  sich  ist,  dass  man  wohl  darüber  hinaus  gehen  kann,  je- 
doch   nur  indem  man    neue    anatomisch-morphologische 
Voraussetzungen  des  Baues  hinzunimmt,  nicht  aber  darch 
Steigerung  der  bisherigen  Form   oder  ihrer  Accommodation  m 
den  Lebensbedingungen;    denn   beide   sind    vollendet     Hatten 
nicht  wirklich  alle  Organisationsstufen  im  Durchschnitt  die  gleiche 
Lebensfähigkeit  y  so  müssten  ja  in  dem  Millionen  Jahre  bestehen- 
den Kampfe  um's  Dasein   alle  niederen  Arten  von    den    höheren 
längst  vollständig  verdrängt  sein,  während  doch  die  fossilen  Beste 


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erweiseD,  dass  €8  unter  den  allerrerBchiedensten  Umständen  yer- 
luLltnissmässig  wenige  GlasBen  yon  Thieren  und  Pflanxen  gegeben 
hat,  die  nicht  auch  in  der  Gegenwart  ihre  yöUig  lebensfähigen 
Vertreter  hätten. 

Die  Aecommodationsfahigkeit  einer  Classe  nnd  selbst  einer  Art 
innerhalb  ihrer  eigenen  Grenzen  ist  im  Allgemeinen  weit 
grösser  als  man  glanbt;  dies  folgt  theils  aus  dem  Fortbestehen 
nieht  weniger  Arten  seit  ihrer  Entstehung  bis  zur  heutigen  Zeit, 
wo  sich  doch  wahrlich  die  Verhältnisse  genug  geändert  haben, 
theils  aus  den  grossen  Yerbreitungskreisen  heutiger  Glassen 
nnd  Arten.  Manche  Glassen  bevölkern  die  ganze  Erde  oder  das 
ganze  Meer,  yiele  Arten  haben  eine  Yerbreitung  über  20  bis  40 
Breitegrade.  Endlich  wird  es  durch  die  Aoclimatisationsfähig- 
keit  der  Arten  bewiesen,  die  oft  in's  Erstaunliche  geht,  wenn  die 
Erfahrungen  sich  nur  über  genügende  Zeiträume  erstrecken.  So 
wollte  der  Pfirsichbaum,  der  vermuthlich  ein  indisches  Gewächs  ist, 
KU  des  Aristoteles  Zeiten  in  Griechenland  noch  nicht  gedeihen, 
während  wir  heute  in  Korddeutschland  recht  gute  Pfirsiche 
ziehen.  !Es  ist  also  die  Aecommodationsfahigkeit  der  Arten  inner- 
halb ihrer  specifischen  Grenzen,  theils  durch  innere  physiologische 
Abänderungen,  die  sich  der  Beobachtung  entziehen,  theils  durch 
Bildung  von  Varietäten ,  eine  so  grosse,  dass  sie  einer  schon  recht 
erheblichen  Aenderung  des  Elima's  u.  s.  w.  sich  yöllig  anzube- 
quemen im  Stande  sind,  ohne  aus  der  Art  zu  schlagen.  Höchst 
zahlreich  sind  die  Beispiele,  wo  nah  verwandte  Arten  auf  einer 
localität  neben  einander  wohnen  ohne  merkliche  Veränderung  ihrer 
relatiyen  Anzahl,  und  doch  ist  gerade  innerhalb  der  Artgrenzen  zwi- 
schen Varietäten  und  noch  geringeren  Unterschieden  der  Kampf  um's 
Basein  am  heftigsten;  mag  aber  dieser  Kampf  in  einem  bestimm- 
ten Falle  eintreten  oder  ausbleiben,  so  wird  doch  in  keinem  Falle 
ein  TJeberschreiten  der  Artgrenze  sich  herausstellen.  Endlich  wird 
nicht  leicht  an  eine  Art  eine  so  grosse  Veränderung  der  äusseren 
Verhältnisse  herantreten,  oder  eine  Art  in  so  abweichende  Verhält- 
nisse hineinwandern,  dass  nicht  die  von  uns  als  so  beträchtlich  e^ 
kannte  Aecommodationsfahigkeit  und  Acclimatisationsföbigkeit  in- 
nerhalb der  Artgrenzen  diesen  Ansprüchen  genügte.  Tritt  dann 
aber  später  eine  abermalige  Veränderang  der  Lebensbedingungen 
an  demselben  Orte  ein,  so  wird  dieselbe  meistens  eine  Bückkehr 
zu  den  schon  früher  dagewesenen  Verhältnissen  sein,  also  wird  die 

32* 


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. «p 

'Art  dieser  ¥0]fäadenmg  einfadi  dadunsh  G«D%e  thus,  daai  «k  die 
früher  gethanen  Sdnritte  m  nmgedi:ehrter  Eicfatanj^  liiiit  (wie  dies 
bei  den  vorhia  erwähnien  Yersachen  mit  Tetsetiniig  von  Pfluiaeft 
in  verschiedene  Bodenarten  beobachtet  ist),  und  wieder  liegt  keine 
Yeranüassiuig  vor  zum  Uebetgange  in  eine  nece  oder  ^ar  in  eine 
femer  -stebeade  Aii. 

Wie  könnte  a«ch  das  Anheben  einer  neuen  BntwiekelvBS»- 
riohtung  nach  ersehöpfender  Durchbildung  der  kAzterreiokten  Or- 
ganiBatkmsstaife  und  vielleicht  Jahrtausende  langvr  Pause  a«s  dem 
Kanäle  um's  Dasein  zu  begreifen  sein?  Wir  haben  gesehen,  dasi  es 
gerade  die  unvollkommeneren  Formen  der  vorigen  Stufe  sind,  von  denen 
die  Sntwickelung  der  höheren  Stufe  ausgeht.  Abgesehen  von  ^tm 
schon  erwähnten  Umstand,  dass  diese  unvollkommeneren  Fonneii 
von  allen  Arten  der  niederen  Stufe  die  am  längsten  unverändert 
bestehenden  sind,  also  nach  Darwin's  Ansicht  die  stabilsten  und 
am  wenigsten  einer  individuellen  Abweichung  und  Weiterbildung 
fähigen  sein  müssten,  abgesehen  auch  davon,  dass  wenn  allein  der 
Kampf  um's  Dasein  die  späteren  Formen  der  niederen  Stufe  ge- 
schaffen hätte,  diese  Piimitivformen  sidi  alle  bereits  aus  dem- 
selben Grunde  und  durch  denselben  Process  in  ent- 
wickeltere Formen  derselben  Stufe  verwandelt  haben  müssten, 
oder  doch  von  den  einmal  entstandenen  lebensfähigeren  Formen  in 
den  unermesslichen  Zeiträumen  längst  hätten  vernichtet  sein 
müssen,  abgesehen  von  alle  dem,  sollte  man  doch  meinen  ,  dass, 
wenn  wirklich  aus  wer  weiss  welchen  Ursachen  diese  sidi  be- 
hauptet habenden  Primitivformen  einen  Anstoss  zur  Weiterent- 
wickelung erhalten  hätten,  dass  dann  durch  den  Kampf  um's  Dasein 
doch  immer  nur  eine  Wiederholung  der  ihnen  viel  näher 
liegenden  Entwickelung  zu  den  schon  vorhandenen  höheren  For- 
men derselben  Stufe  hervorgerufen  werden  müsste,  als  ein 
üebergang  zu  der  morphologisch  so  abweichenden  höheren  Stufe, 
da  ja  notorisch  sich  die  höheren  Fonaen  der  niederen  Stufb  an  eh 
unter  den  neuen  Verhältnissen  medstene  ebenso  le¥eaiB&hi^ 
erweisen,  als  die  Arten  der  höheren  Stufe.  Am  «nbegfeiflichsten 
aus  den  Darwin'eehen  Voraussetzungen  ist  der  üebergang  ans  des 
einzelligen  zu  den  mehrzelligen  Organismen'^  da  gerade  die  wt 
glaubliche  Indifferenz  der  einzelligen  Gewächse  gegen  übte  Umf»- 
bung,  d.  h.  ihre  Fähigkeit  sich  auch  den  aUerabwuLdienddia 
Verhältnissen  durch  ^relativ  geringe  Modifioailionen  zu  aoeonuiiodiraB» 


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dus  M«Bgel  eine«  H^ym  g»m.  TJaberaoUiagBii  im  aroMnwmiigemtgtg 
Tljf^ü  veoht  demtli<äi  herrortveten  lüBst 

Fragt  man  endlieh  positiv,  yon  weLoher  Art  die  doich  den 
Kampf  om^  Dasein  entsteh^ftdan  nütslichen  Anpasaungen  aind^  ao 
iit  die  Antwort:  sie  aind  auaachliesBlieh  phyaiologiaeher 
Natur.  Hier  liegt  die  eigentlidie  Grense  des  Darwin'sclton  Pri^- 
dlpB  deutlich  yor  Augen:  es  reicht  aus,  ao  lange  es  «ich  um 
Ausbildung  und  Umbildung  eines  bestehenden  Ocgans  sa 
einer  durch  die  Yerhältniase  erforderten  physiologi- 
sollen  Verrichtung  handelt,  es  verlässt  uns,  so  wie  eine  mor- 
phologische Veränderung  za  erklären  ist.  Daas  auch  morpho- 
logische  Veränderungen  durch  Summirung  individueller  Abwei- 
chungen möglich  sind,  ist  nicht  zu  bezweifeln,  und  Darwin  beweist 
es  mit  vielen  Beispielen,  namentlich  am  Skelett  von  Tauben;  aber 
in  allen  den  angeführten  Fällen  findet  eine  künstliche  Züchtung 
statt.  Ein  Paar  Zähne,  Wirbel,  oder  eine  Zehe  mehr  oder  weniger, 
ein  so  oder  anders  gestalteter  Wirbel  sind  für  den  Kampf  um's 
Basein  ganz  indifferent,  und  gerade  dies  sind  die  Merkmale, 
an  denen  der  Zoologe  am  sichersten  die  Arten  unterscheidet 
Beim  Thierreich  stösst  die  durchgehende  Anerkennung  der  Behaup- 
timg, dass  nur  die  physiologischen,  nicht  aber  die  morphologischen 
Veränderungen  für  den  Grad  der  Lebensföhigkeit  entscheidend  sind, 
deshalb  auf  Schwierigkeiten,  weil  das  auch  von  Darwin  einge- 
räumte Vorkommen  der  sympathischen  Veränderungen  häufig  mit 
der  physiologischen  Veränderung  eines  Organs  auch  morphologische 
Veränderungen,  oft  an  ganz  anderen  Körpertheilen ,  Hand  in  Hand 
gehen  lässt^  welche  Erscheinung,  aus  eigenthümlichen  Gesetzen  der 
organisdien  Bildungsthätigkeit  des  Unbowusoten  entspringend,  ganz 
geeignet  ist,  das  Urtheil  zu  verwirren ;  in  voller  Klarheit  aber  tritt 
unsere  Behauptung  im  Pflanzenreich  zur  Erscheinung.  Das  com- 
petante  Urtheü  des  Prof.  Dr.  Nägeli  (Entstehung  und  Begriff  der 
aaturhistorischen  Art,  München,  1865,  S.  26)  lautet  hierüber:  „Die 
böehate  Organisation  thut  sich  in  zwei  Mom^iten  kund,  in  der 
mannigfaltigsten  morphologischen  Gliederung  und  in  der  am  weite- 
sten durchgeführten  Theilung  der  Arbeit  Beide  Momente  fallen 
im  Thierreich  in  der  Begel  zusammen,  da  das  nämliche  Organ 
auch  die  gleiche  Verrichtung  besitzt.  Bei  den  Pflanzen  aber  sind 
sie  unabhängig  von  einander;  die  gleiche  Function  kann  von  ganz 
versidiisdQnen  Organen,  selbst  bei  nahe  verwandten  Pflanzen  über- 


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602 

nommen  werden,  das  nämliche  Oi^an  kann  alle  mi^liohen  physiolo- 
gischen Yerrichtungen  vollziehen.  Es  ist  nun  hemerkenswerth, 
dass  die  nützlichen  Anpassungen,  weiche  Darwin  für  Thiere  anführt 
und  die  man  in  Menge  für  das  Pflanzenreich  anfinden  kann,  aus- 
schliesslich physiologischer  Natur  sind,  dass  sie  immer  die  Ausbil- 
dung und  IJmbildimg  eines  Organs  zu  einer  besonderen  Function 
aufzeigen.  Eine  morphologische  Modiflcation,  welche  durch  die 
Darwin'sche  Theorie  zu  erklären  wäre,  ist  mir  im  Pflanzenreiche 
nicht  bekannt,  und  ich  sehe  selbst  nicht  ein,  wie  die- 
selbe erfolgen  könnte,  da  die  aligemeinen  Processe 
der  Gestaltung  sich  gegen  die  physiologische  Ver- 
richtung so  indifferent  yerhalten.  Die  Darwin'sche 
Theorie  yerlangt  die  auch  von  ihr  ausgesprochene  Annahme,  dass 
indifferente  Merkmale  variabel,  die  nützlichen  dagegen 
constant  seien.  Die  rein  morphologischen  Eig^nthümlich- 
keiten  der  Gewächse  müssten  demnach  am  leichtesten,  die 
durch  eine  bestimmte  Verrichtung  bedingten  Organisationsvc;^- 
hältnisse  am  schwierigsten  abzuändern  sein.  Die  Erfahrung 
zeigt  das  Oegentheil.  Die  Stellungsverhältnisse  und  die  Zu- 
sammenordnung der  Zellen  und  Organe  sind  sowohl  in  der  Natur 
als  in  der  Cultur  die  constantesten  und  zähesten  Merkmale.  Bei 
einör  Pflanze,  die  gegenüber  stehende  Blätter  und  vierzählige  Blü- 
thenkreise  hat,  wird  es  eher  gelingen,  alle  möglichen  die  Function 
betreffenden  Abänderungen  an  den  Blättern,  als  eine  spiralige 
Anordnung  derselben  hervorzubringen,  obgleich  diese  als  für  den 
Kampf  um  das  Dasein  ganz  gleichgültig  durch  die  natürliche  Züch- 
tung zu  keiner  Gonstanz  hätte  gelangen  können.'^  Hätte  Darwin 
seine  Bebpiele  mehr  von  Pflanzen  als  von  Thieren  entlehnt,  so 
wäre  er  vielleicht  selbst  auf  die  natürliche  Grenze  für  die  Wir- 
kung des  Kampfes  um's  Dasein  aufmerksam  geworden.  Es  ist  kUr, 
dass  derselbe  nur  das  Verhalten  der  Organismen  zu  den  äussere 
Lebensbedingungen  alteriren  kann,  d.  h.  ihre  Verrichtungen  und 
die  Organe  nur  so  weit  die  Verrichtungen  von  ihnen  abhängig  sind, 
dass  eir  aber  auf  solche  Eigenschaften  der  Organismen  keinen  Ein- 
fluss  haben  kann,  deren  Abänderung  für  die  Beziehungen  zwischen 
den  Organismen  und. der  Aussenwelt  den  ersteren  weder  Vortheil, 
noch  Nachtheil  bringt.  Zu  letzteren  Eigenschaften  gehören  aber 
bei  den  Pflanzen  und  selbst  bei  den  Thieren  die  meisten  Grund- 
principien  des  morphologischen  Typus,  s.  B.  namenfliA 
die  für  denselben  gewählten  Zahlenverhältnisse. 


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603 

Wir  haben  bierin  eine  Bestätigung  gefunden  für  unsere  obige 
Behauptung ,  dass  die  natürliche  Auslese  im  Kampfe  um's  Dasein 
wohl  ein  höchst  schätzenswerthes  Hülfsmittel  für  die  erschö- 
pfende Durchbildung  eines  einmal  vorhandenen  Typus  in- 
nerhalb derselben  Organisationsstufe  ist,  nicht  aber  zur  Er- 
klärung des  Ueberganges  yon  einer  niederen  zu  einer  hö* 
bereu  Organisationsstufe  dienen  kann,  da  mit  einem  solchen 
allemal  auch  eine  Steigerung  des  morphologischen  Typus 
yerbunden  ist  In  seinen  neuesten  Untersuchungen  (Botan.  Mit- 
theilungen 1868)  über  das  Verhalten  der  Individuen  einer  und 
derselben  Pflanzenart  einerseits  unter  den  gleichen ,  andrerseits 
unter  yersohiedenen  äusseren  Umständen  '  kommt  Nägeli  zu  dem 
Resultat,  dass  ebensowohl  die  Bildung  ungleicher  Varietäten  unter 
gleichen,  als  die  Bildung  gleicher  Varietäten  unter  ungleiehen  Ver- 
hältnissen vorkommt,  woraus  Folgendes  zu  schliessen  ist:  1)  die 
äusseren  Verhältnisse  reichen  als  alleinige  Ursache  zur  Varietä- 
tenbildung  niohthin,  sondern  setzen  als  zweite,  entgegenkommende 
Bedii^uuLg  eine  der  Pflanze  innewohnende  Eigenschaft,  eine  „Ten- 
denz a'bzuändern'^  voraus;  2)  wohl  aber  kann  diese  innere 
Eig^schaft  der  Pflanze  allein  hinreichen,  um  auch  unter  gleichen 
äusseren  Verhältnissen  eine  Bildung  verschiedener  Varietäten  her- 
beizufuhren.    Dies   bestätigt  unsere  oben  gemachten  Annahmen.  — 

EasBen  wir  den  Gedankengang  dieses  Capitels  noch  einmal 
kurz  zusammen,  so  ergab  sich  aus  dem  Princip,  das  vorgesetzte 
Ziel  stets  mit  kleinstmögliohstem  Kraftaufwand  zu  erreichen.  Fol- 
gendes: 

1)  Das  Unbewusste  verzichtet  bei  der  Darstellung  höherer 
Organisationsstufen  auf  die  Urzeugung,  es  knüpft  vielmehr  an 
die  schon  bestehenden  Oiganisationsformen  an. 

2)  Es  verwandelt  nicht  direct  die  niedere  Form  in  die 
höhere,  sondern  bildet  letztere  aus  einem  günstig  angelegten  Keim 
der  niederen  Art  heraus. 

3)  Es  macht  möglichst  kleine  Schritte,  und  bildet  die  grösse- 
ren Differenzen  durch  Bummirung  einer  Menge  kleiner  indi- 
vidueller Unterschiede. 

4)  Es  benutzt  die  bei  Jeder  Zeugung  zufällig  entstehenden 
individuellen  Abweichungen,  so  weit  solche  in  denjenigen 
Bichtungen  vorhanden  sind,  die  seinem  Zwecke  ent- 
sprechen. 


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604 

5)  £0  b^iutzt  zum  Festhalten  der  gleichviel  wie  entstandenen 
Abweichungen  die  natürliche  Auslese  im  Kampfe  um's  Dasein, 
8»  weit  dieselbem  in  letzterem  den  Organismen  eine 
grössere  Lebensfähigkeit  yerleihen. 

6)  Das  UnbewuBste  muss  (abgesehen  von  seinem  fortwähre- 
den  fängreifen  bei  jedem  organischeH  Bilden,  also  auch  bei  jed^ 
Zeugung)  bei  der  Fortentwiokelung  der  Organisation  eine  directe 
Thätigkeit  entiSalten:  einerseits  um  bei  neuen  Eeimea  die  nioht 
zufällig  entstehendea  und  doch  in  seinem  Plane  liegenden 
Abweichung^:!  hervorzurufen,  und  andererseits  um  die  ent- 
standenen Abweichungen  y  welche  zu  seinem  Plane  gehören ,  aber 
den  Organismen  keine  gesteigerte  Fähigkeit  zum  Kampfe 
um's  Dasein  yerleüien,  vor  dem  Wiederverlöschen  durohKreu- 
zung  am  bewahren«  — 

Schliesslich  sei  noch  bemerkt,  dass  aus  demselben  Grande, 
wie  nach  &mdgliohung  der  Eltemzeuguag  keine  XJrsieugung  mehr 
stattfindet,  so  aueh  die  Entwiokelung  einer  neuen  Art  aus  niederen 
nur  dann  stattfindet,  wenn  die  Art  noch  nicht,  oder  wenig- 
stens nidil  auf  dieser  Localität  besteht.  Es  würde  also  die  Ent- 
wiokelung einer  neuen  Art  als  ein  nur  einmaliger  oder  dooh  jnur 
wenige  Male  auf  yersohiedenen  Localitäten  unter  gleichen  Umstän- 
den Torkommender  Precess  au&ufassen  sein,  während  nach  der  ein- 
maligen Entstehung  der  neuen  Art  die  gleichartige  od«r  wenig 
modifieirte  Fortpflanzung  derselben  der  normale,  immer  wiederholte 
Process  ist,  bis  zum  etwaigen  Untergange  der  Axt.  Mag  man  sich 
also  immerhin  den  Entwickelungsprocess  einer  neuen  Art  ziemlich 
langsam  denken  (etwa  einige  Hunderte  oder  Tausende  Ton  Jahren 
einndnnend),  so  wird  er  dennoch  von  dem  Zeitraum  der  wesent- 
lieh  gleichen  Fortdauer  d^  fertigen  Art  (einige  Hunderttau- 
sende bis  Hunderte  Millionen  Ton  Jahren)  immer  nur  ein  uner- 
heblich kleiner  Theii  sein. 

Dies  ist  ein  zweiter  Grund  zu  anderen  schon  oben  ange- 
führten, weshalb  maa  so  Tiel  mehr  gleichartige  fossile  Exemplare 
Yon  gesonderteiti  Artcharaeteren  findet,  als  soldie,  die  Uebeff^uiga- 
stufen  zwischen  nächst  verwandten  Arten  darsiellen. 


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Die  IidiTidiutiMi. 


Wenn  daa  in  der  Welt  erscheinende  Wesen  ein  mimgen,  m- 
tfidAciieft  ist,  Weber  kdmmt  dam  die  Yielhek  der  erscheiiiDenden 
^idiridoem»  witor  die  Eiikdgkeit  eioeB  jeden  derselben,  wozu  ist 
sie  da,  wie  ist  sie  möglich? 

Bm  Beantwortung  dieser  Fragen  ist  Yon  jeher  eine  fiaupt- 
aofawierigkeit  für  jede  aasgesprochen  momstisohe  Philosopbaie  ge- 
wesen. Das  Yon  der  Hand  Weisen  oder  ungenügende  Beantworten 
derselben  war  es  hauptsächlich,  was  stets  dem  Bücksdilage  des 
Monismos  in  einen  realistischen  Folyismus  oder  Pluralismtls  den 
Weg  bahnte  (z.  B.  Leibniz  nach  Spinosai  Herbart  nach  S(^lling 
und  Hegel).  Spinooa  lässt  obige  Fragen  ebenso  wie  die  Alten  an- 
berüoksiehtigt,  er  erklärt  dogmatisch  die  Individuen  fax  modi  der 
Einen  Substanz,  aber  die  Entwickelung  des  modus  aus  der  Substanz, 
oder  den  Nachweis,  warum  jeder  modm  sidb  vom  anderen  unter- 
seheide  und  eine  in  seiner .  Art  einzige  Existenz  bilde  y  bleibt  er 
gänzlich  schuldig.  Der  subjectiye  Idealismus  (£ant,  Fichte,  Scho- 
penhauer) glaubt  genug  gethan  zu  haben,  wenn  er  die  Vielheit  in 
d<Hr  Welt  als  subjectiye n  Schein  erklärt^  entstehend  durch  die 
Formen  der  snbjectiven  Anschauung:  Baum  und  Zeit,  unbekämm^rt 
darum,  dass  erstens  die  Schwierigkeit  nur  aus  dem  objectiyen  in's 
subjectiye  Gebiet  hinttbergespielt  ist,  aber  hier  gerade  so  ungelöst 
fiHTtbesteht,  als  sie  dort  bestand,  und  dass  zweitens  die  Frage  un- 
beantwortet bleibt»  wie  denn  dieses  in  seiner  Art  einzige,  y<m  jedem 
ihm  ähnlichen  sich  unterscheidende  anschauende  Individuum 
naeh  monistischen  Principien  möglich  sei. 

Letztere  Seite  der  Frage  erkennt  Schelling  allerdii^  an  (Welke 
I.  3.  S.  48^):  „Die  Aufgabe  ist  nun  aber  diese,  wie  a«s  einem 


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506 

Handeln  des  absoluten  Ich's  die  absolute  Intelligenz,  und  wie 
wiederum  aus  einem  Handeln  der  absoluten  Intelligenz  das  ganze 
System  der  Beschränktheit,  welche  meine  Individualität  constituirt» 
sich  erklären  lasse''.  Die  Antwort  folgt  auf  der  nächsten  Seite: 
„Bliebe  nun  die  Intelligenz  Eins  mit  der  absoluten  Synthesis,  so 
würde  zwar  ein  Universum,  aber  es  würde  keine  Intelligenz  sein. 
Soll  eine  Intelligenz  sein,  so  muas  sie  aus  jener  Synthesis  heraus- 
treten können,  tun  sie  mit  Bewusstsein  wieder  zu  erzeugen ,  aber 
dies  ist  abermals  unmöglidi,  ohne  dass  in  jene  erste  Beschränkt- 
heit eine  besondere  oder  zweite  kommt,  welche  nun  nicht  mehr 
darin  bestehen  kann,  dass  die  Intelligenz  überhaupt  ein  TJniversum, 
sondern  dass  sie  das  Universum  gerade  von  diesem  bestimmte 
Puncte  aus  anschaut^'. 

Ich  gestehe,  dass  ich  denjenigen  beneiden  würde,  der  aus  dieser 
Stelle  in  ihrem  Zusammenhange  die  Wahrheit  herauszulesen  im 
Stande  ist,  wenn  er  sie  nicht  schon  vorher  besitzt 

Für  das  Hegel'sche  System  ist  unsere  Frage  geradezu  eine  der 
schlimmsten  Blossen.  Nach  Hegel  ist  der  BegrifP  die  alleinige 
Substanz,  es  ist  nichts  ausser  dem  Begriffe,  und  der  Naturprooess 
eine  objeotive  Dialektik.  Andererseits  giebt  er  selbst  zu,  dass  der 
Begriff  so  wenig  wie  das  Wort  im  Stande  ist,  das  einzelne  Dieses 
in  seiner  Einzigkeit  zu  erfassen,  dieses  Individuum,  welches  man  als 
solches  nur  noch  zeigen,  nicht  mehr  beschreiben  kann.  Die  indi- 
viduelle Einzigkeit  steht  ausserhalb  der  Tragweite  des  Begriffes  und 
damit  ausser  der  des  HegeVschen  Systemes,  wenn  dieses  eich,  selbst 
consequent  bleiben  will.  Schon  die  Vielheit  als  reale  Erscheinung 
kann  dasselbe  nicht  erklären,  denn  es  ist  kein  Grund  abzusehen, 
warum  bei  der  Entlassung  der  absoluten  Idee  zur  Natur  jede  £nt- 
wickelungsstufe  des  logischen  Processes  mehr  als  eine  entsprechende 
Entwickelungssinfe  des  Naturprooesses  haben  solle.  Die  dialedasche 
Selbstzersplitterung  des  Eins  in  die  Vielen  giebt  zwar  die  Vielheit 
als  reinen  Begriff  aber  nicht  die  Vielheit  als  Acoidenz  realer  Er- 
scheinungen, denn  nie  würde  Hegel  die  Selbstzersplittenmg  eines 
Thalers  in  viele  Thider  oder  G(ros<dien  behauptet  haben,  und  so 
wenig  wie  auf  diesen  realen  Fall  wäre  die  Selbstzersplittenuig  des 
Eins  auf  eine  Selbstzersplitternng  einer  Weltseele  in  viele  reale 
Individuen  anzuwenden.  Die  reale  Vielheit  ist  mehr  als  der  Be- 
griff der  Vielheit;  es  ist  eine  Summe  von  Individuen,  deren  keines 
dem  anderen  gleicht,  deren  jedes  ein  Dieses,  ein  Namenloses,  Ein- 


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507 

siges  ist  (geradeso  wie  ich  ein  Namenloser,  Einziger  bin),  deren  Jedes 
durch  keinen  Begriff  mehr  zu  erreichen  ist,  sondern  nur  noch  durch 
Anschauung. 

Wer  nie  das  Bedürfniss  gehabt  und  die  Schwierigkeit  gefühlt 
hat,  Tom  Standpuncte  des  Monismus  ans  die  Indiriduation  zu  be- 
greifen, der  mag  die  erste  Hälfte  dieses  Capitels  bis  zur  Betrach- 
tung des  Charaoters  hin  getrost  überschlagen,  er  würde  ihr  doch 
kein  Interesse  abgewinnen. 

Aus  unseren  bisherigen  Besultaten  ei^ebt  sich  die  Lösung  der 
Fragen  ohne  Mühe.  Wir  lassen  aber  die  Frage:  Wozu  ist  die 
Indiyiduation  da?  yorläu%  unerörtert  und  betrachten  nur  die  andere : 
Wie  ist   sie  nach  monistischen  Principien  möglich? 

Allgemein  gesprochen  lautet  die  Antwort :  „Die  Individuen  sind 
objectir  gesetzte  Erscheinungen,  es  sind  gewollte  (bedanken  des 
ünbewussten  oder  bestimmte  Willensacte  desselben;  die  Einheit  des 
Wesens  bleibt  unberührt  durch  die  Vielheit  der  Individuen,  welche 
woa  Thäügkeiten  oder  Combinationen  von  gewissen  Thätigkeiten 
des  Einen  Wesens  sind.**  Aber  gerade  damit  diese  allgemein  ge- 
haltene Antwort  plausibel  wird,  muss  man  in's  Einzelne  gehen,  und 
sieh  noch  einmal  vergegenwärtigen,  durch  welche  Combination 
welcher  Thätigkeiten  ein  Individuum  entsteht,  und  inwiefern  jedes 
Individuum  nothwendig  von  jedem  anderen  verschieden,  also  einzig 
sein  muss. 

Die  Individuen  höherer  Ordnung  entstehen,  wie  wir  (Cap.  C. 
YL)  gesehen  haben^  durch  Zusammensetzung  aus  Individuen  niede- 
rer Ordnung  unter  Hinzutritt  neuer  auf  das  Resultat  der  Zusammen- 
setzung gerichteter  Thätigkeiten  des  ünbewussten;  man  muss  also 
mit  dem  Begreifen  der  Individoation  bei  den  Individuen  niedrigster 
Ordnung,  d.  h.  den  Atomen,  anfangen.  Hier  haben  wir  nach  dem 
jetzigen  Standpuncte  der  naturwiBsenschaftlichen  Hypothesen  nur 
zwei  verschiedene  Arten  von  Individuen,  Abstossungs-  und  An- 
ziehungskräfte, zu  unterscheiden;  innerhalb  jeder  dieser  Ghnppen 
findet  zwischen  den  Individuen  völlige  Gleichheit  statt,  mit  alieini- 
ger Ausnahme  des  Ortes. 

Weil  die  Atomkräfte  A  und  B  auf  dieselben  anderen  Atome 
verschieden  wirken,  nur  dadurch  sind  sie  verschieden,  und  weil  die 
Wirkungsrichtnngen  von  A  und  die  Wiriningsriohtungen  von  B 
neh  in  je  einem  Poncte  schneiden  ^  drückt  man  aueh  wohl  diese 
Verschiedenheit  kurz  so. aus:  A  und  B  nehmen  verschiedmie  Orte 


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508 

ein,  während  doch  sireng  genommen  die  Kraft  gar  keinen  Ort  ein- 
nimmt, sondern  nur  ihre  Wirkungen  sich  räumlich  untersoheideH. 
Dächte  man  aber  zwei  Atome  in  einem  mathematischen  Ponote 
vereinigt,  so  hörten  sie  damit  nicht  nur  au^  nnterscheidbar, 
sondern  sogar  verschieden  zu  sein,  denn  sie  hörten  auf,  zwei 
Kräfte  zu  sein,  und  würden  Eine  doppelt  so  starke  Kraft  sein. 

Hier  ist  also  die  Anwendung  der  oben  allgemein  gegebenen 
Antwort  an  sich  klar  und  verständlich :  Bas  Unbewusste  hat  gleich- 
zeitig verschiedene  Willensacte,  welche  sich  durch  ihren  Vorstel- 
lungsinhalt insofern  unterscheiden,  als  die  räumlichen  Beziehungen 
ihrer  Wirkungen  verschieden  vorgestellt  werden.  Indem  aber  der 
Wille  seinen  Inhalt  realisirt,  treten  diese  vielen  Willensacte  als 
ebenso  viele  Kraftindividuen  in  die  objective  Bealität;  sie  sind  die 
erste,  primitive  Erscheinung  des  Wesens.  Weil  jede  Atomkraft- 
Wirkung  von  jeder  anderen  verschieden,  also  einzig,  voi^eatellt  ist, 
daxum  ist  natürlich  auch  ihre  Kealisation  von  der  jeder  anderen 
Atomkraft  verschieden,  also  ebenfalls  einzig,  unbeschadet  dessen» 
dass  sie  ihrem  Begriffe  nach  ununterscheidbar  sind;  die  an- 
schauende Vorstellung  des  Unbewussten  unterscheidet  sie  aber  ohne 
Begriff  in  ihren  räumlichen  Beziehungen,  so  gut  wie  man  durch 
Anschauung  den  rechten  Handschuh  als  rechten  erkennt,  was  kein 
Begriff  und  keine  Begriffscombination  je  im  Stande  ist. 

Hier  erinnere  man  sich  auch,  was  Cap.  G.  L  3)  u.  4)  über  die 
Art  und  Weise  gesagt  ist,  w  i  e  das  Unbewusste  vorstellt.  Ber  Begriff 
ist  ein  Eesultat  eines  Scheidungs-  oder  Abstraetionsprocesses»  aber  das 
Unbewusste  erfasst  stets  die  Totalität  seines  Vorstellungsinhaltea,  dme 
sich  auf  eine  Scheidung  innerhalb  desselben  einzulassen;  der  Be- 
griff ist  ein  Product  des  discursiven  Benkens^  ein  trauriger  Koth- 
behelf  seiner  Schwäche»  aber  das  Unbewusste  denkt  nicht  disouruT, 
Boiiidem  intuitiv,  es  denkt  die  Begriffe  nur,  insofern  sie  in  der  In- 
tuition als  integrirende,  aber  unausgeschiedene  Beatandtbeile  ent- 
halten sind,  folglich  kann  es  nicht  aoÜ'allei^  wenn  unter  den  In- 
tuitionen des  Unbewussten  auch  s<^che  sind,  aus  denen  si«^  settMl 
für  das  discursive  Benken  keine  Begriffe  mehr  auascheideB.  laB8e% 
wie  z.  B.  die  Anschauung ,  dass  die  Wirkungen  der  Atomkraft  A 
so  gerLohtet  sein  sollen,  dass  ihre  Bichtungslinie  sieh  in  dieae» 
Puncto  hier,  die  des  Atoms  B  so^  dass  sie  sich  in  jenem 
Puncto  dort  sohneiden.  Somit  reducirt  steh  bei  den  Atomen 
die  Verschiedenheit  und  Einxigkeit   der   Individuen   in  der  Tb^i 


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509 

in  d«T  nAimtlelbaroicni  Weise  auf  die  Terfiohiedenheii  und  Einzig- 
keit d«!r  YoT^toHungen,  welehe  die  Witlensacte,  in  denen  sie  be- 
stehen,  als  Islralt  eif&lkny  eo  dass  je  einen  Indifidirom  je  ein 
«iz^acher  WiUenBact  entspricht.   - 

Leider  wnrde  die  Materie  nie  als  eine  Com^nation  Ton  Wii- 
leBBseten  'des  ünbewusst^i  rentanden,  so  dass  man  das  einsige 
Beispiel,  wo  das  Verständniss  der  Indiyidnadon  so  ein&di  iiETt,  nicht 
fsuT  Hand  hatte;  in  allen  and^^n  FSllen  aher,  wo  es  sich  um  In- 
diriduen  höherer  Ordnungen  )ieindelt,  wird  das  Verständniss  der 
IndlTiduation  dadurch  enc^rwert,  dass  erst  eine  complicirte,  sich 
jeden  AugenhHok  aaderade,  Combination  von  WiUensacten  das 
IndiTiduum  bildert. 

Bleiben  wir  noch  einen  Augenblick  bei  den  Atomkräften  der 
Materie  stehen,  und  fragen  wir  nach  dem  Medium,  durch  welches 
die  IndiTidnation  auf  diesem  Gebiete  möglich  wird,  nach  dem  sogenann- 
ten yjprificipiuin  individuationis",  so  kennzeichnet  sich  als  solches 
unzweifelhaft  die  Verbindung  von  Raum  und  Zeit ;  denn  wir  hatten 
ja  gesehen,  dass  die  begrifflich  gleichen  Atomkräfte  A  und  B  sich 
nur  durch  die  verschiedenen  räumlichen  Beziehungen  ihrer 
Wirkungen,  uneigentlich  und  kurz  gesprochen  durch  ihre  Oerter 
unterscheiden,  imd  haben  damals  nur  unterlassen ,  zu  ,4hrer  Wir- 
kungen^ hinzuzufügen :  „in  demselben  Zeitpuncte^ ;  dieser  Zusatz  ist 
aber  zur  VerroUflrtändigung  nothwendig,  weil  ja  mit  der  Zeit  der 
Ort  eines  Atomes  wechseln  kann.  Das  Wort  principrum  htdivi- 
duatumis  ist  aber  nicht  gut  gewählt,  es  sollte  heissen:  medium 
individmcHonis;  denn  die  Urheberschaft  oder  der  Ursprung 
der  Individuation  kommt  ebenso  wie  der  von  Baum  und  Zeit  allein 
dem  'Unb^wussten  zu,  nämlich  der  Vorstellung  die  ideale  Ver- 
sohiedenheit  und  Einzigkeit  der  Atome,  dem  Willen  aber  die 
Bealität  derselben. 

Es  könnte  mm  der  oberdächiichen  Betrachtung  scheinen,  dass 
hier  nur  dasselbe,  wie  von  Schopenhauer  gesagt  ist,  der  auch  Baum 
und  Z^  als  das  prinoipimn  indwiduafionis  in  Anspruch  nimmt; 
jedoch  waltet  zwischen  seiner  und  meiner  Auffassung  die  Grund- 
Verschiedenheit  ob,  dass  bei  Schopenhauer  Baum  und  Zeit  nur 
Formen  der  subjeotivenG^ehirnanschauung  sind,  mit  denen 
die  transcendente  Realität  gor  nichts  zu  schaffen  hat,  dass  für  ihn 
also  die  ganze  Individuation  ein  bloss  subjeetiver  Schein  ist,  dem 
«Qsserbailb  des  ^Himbewusstseins  keine  Wirklichkeit  entspricht. 


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610 

Nach  meiner  Auffassung  dagegen  sind  Baum  und  Zeit  «ben- 
fiowohl  Formen  der  äusseren  Wirklichkeit  als  der  subjectiyen 
fiimanschauung,  freilich  nicht  Formen  des  transcendenten  Wesens, 
sondern  nur  seiner  Thätigkeit,  so  dass  die  Individuation  nicht 
bloss  eine  Scheinrealität  für  das  Bewusstsein,  sondern  eine  Realität) 
abgesehen  von  allem  Bewusstsein,  hat,  ohne  doch  darum  Vielheit 
der  Substanz  zu  bedingen. 

Hätte  sich  Schopenhauer  nicht  so  sehr  in  seine  unglückliche 
Anlehnung  an  Kant  verrannt,  so  hätte  er  nothwendig  das  Richtige 
aussprechen  müssen,  während  er  jetzt  dabei  beharrt,  dass  die  ganze 
Vielheit  der  Welt  erst  Existenz  erhält  durch  das  erste  thierische 
Bewusstsein  und  in  dessen  Anschauung.  Das  Zweite  aber,  worin 
ich  von  Schopenhauer  abweiche,  ist  das,  dass  er  gar  keine  Atome 
kennt,  weshalb  er  bei  „Individuation  der  Materie''  sich  eigentlich 
gar  nichts  Bestimmtes  denken  kann,  weil  er  nicht  sagen  kann,  was 
Individuen  der  blossen  unorganischen  Materie  seien.  Das  Dritte  ist 
endlich,  dass  er  die  organischen  Individuen  naiver  Weise  als  ebenso 
unmittelbare  Objectivationen  des  Willens  ^  wie  ich  die  Atomkräfte 
betrachtet,  während  ich,  der  Naturwissenschaft  folgend,  dieselben 
durch  Zusammensetzung  von  Atomindividuen  entstehen  lasse;  bei 
Schopenhauer  ist  also  Raum  und  Zeit  für  organische  Individuen 
in  demselben  Sinne  principium  tndioiduationts  wie  för  die 
Atome,  während  ich  für  die  Individuen  höherer  Ordnung  immer 
nur  diejenigen  Individuen  niederer  Ordnung  als  unmittelbares 
principium  individuationis  gelten  lassen  kann,  aus  welchen  jene 
sich  zusammensetzen,  wenn  auch  Raum  und  Zeit  natürlich  in 
letzter  Reihe  immerhin  als  mittelbares  principium  tndividucUianiB 
bestehen  bleibt,  da  ja  aus  Atomkräften  die  ganze  Welt  sich  auf- 
baut. Nur  sein  subjectiver  Idealismus,  dem  die  Materie,  also  auch 
der  organische  Leib  ein  bloss  subjectiver  Schein  ohne  entsprechende 
Realität  jenseits  des  Bewusstseins  ist,  konnte  Schopenhauer  dazu 
bringen,  den  Leib  für  eine  unmittelbare  Objectivation  des  indi- 
viduellen Willens  zu  erklären,  eine  Behauptung,  welche  gegenüber 
den  Thatsachen  der  so  höchst  mangelhaften  Herrschaft  des  Willens 
über  den  Leib  und  des  Stoffwechsels,  der  die  erste  Bedingung  alles 
organischen  Lebens  ist,  gar  nicht  aufrecht  zu  halten  ist  Die  Er- 
fahrung lehrt  uns  erstens,  dass  die  Materie,  welche  unseren  Leib 
constituirt,  etwas  uns  Fremdes  und  Gleichgültiges  ist,  dass  sie 
fortwährend  ausgeschieden  und   durch   andere   ersetzt  wird,  ohne 


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611 

cUuM  der  Leib  al»  solcher  ein  anderer  geworden  ist;  zweitens,  dass 
die  Materie  unseres  Leibes  unserer  8eele  gegenüber  eine  ganz  reale 
Macht  bildet»  mit  der  man  rechnen  mnss,  mn  sie,  soweit  als  practisch 
DÖthig^  beherrschen  zvl  können,  der  man  aber  sofort  unterliegt,  sowie 
man  sie  entweder  yemaohlässigen  zu  können  glaubt,  oder  Anfor- 
demngen  an  sie  stellt,  deren  Erzwingung  die  psychische  Macht 
nicht  gewachsen  ist.  Die  Erfahrung  lehrt  mit  einem  Worte,  dass 
die  Materie  sich  als  ein  bereits  Torgefundener,  bis  zu  einem  ge- 
wissen Maasse  indifferenter  roher  Baustoff  verhält,  welchen  die 
bildende  psychische  Macht  nach  Bedürfhiss  an  sich  zieht  und  Ton 
sich  stösst,  dessen  Gesetze  sie  aber  achten  muss  und  nicht  unge- 
straft verletzt. 

Erinnern  wir  uns  nun  der  Eesultate  von  Gap.  C.  VIU.,  wo- 
nach das  XJnbewusste  das  Leben  realisirt,  wo  sich  ihm  nur  die 
Möglichkeit  des  Lebens  bietet,  denken  wir  dann,  dass  das  organische 
Leben  nur  in  der  organischen  Form  denkbar  ist  und  zu  seiner 
Verwirklichung  der  Materie  bedarf ^  so  leuchtet  ein,  dass  durch 
diese  Momente  die  Individuation  des  organischen  Lebens  gesetzt 
ist;  denn  es  muss  zu  seiner  Verwirklichung  eben  einen  Complex 
von  räumlich  in  gewisse  Grenzen  beschlossenen  Atomen  erfassen^ 
und  diese  in  die  betreffenden  Lagerungszustände  und  Gruppirungen 
versetzen,  welche  den  omanischen  Stoffwechsel  ermöglichen;  die 
erfassten  Atome  aber  sind  L:idividuen,  d.  h.  jedes  von  ihnen  ist 
einzig^  folglich  muss  auch  der  organisch  constituirte  Complex 
dieser  Atome  und  die  ausschliesslich  auf  ihn  gerichtete  Thätigkeit 
des  XJnbewussten,  welche  zusammen  das  höhere  Lidividuum  aus- 
machen, einzig  sein. 

So  stellt  sich  hier,  wie  schon  oben  angedeutet  wurde ^  die 
niedere  Ordnung  von  Individuen  für  die  höhere  als  medium  indi' 
viduationxa  heraus.  —  Es  hat  für  das  Ziel  dieser  Betrachtung  keinen 
besonderen  Werth^  in  der  Entwickelung  weiter  zu  gehen,  und  aus- 
zuführen, wie  für  die  mehrzelligen  Lidividuen  die  Zellen  ebensowohl 
eine  Macht  sind,  deren  Gesetze  respecürt  werden  müssen,  als  die 
Materie  für  die  Zellen,  wie  im  Körper  ebensowohl  ein  Zellen- 
wechsel als  ein  Stoffwechsel  stattfindet,  wenn  auch  viel  langsamer 
u.  s.  w.  Bas  Wesentliche  ist,  dass  die  Lidividuation  des  organischen 
Lebens  nur  in  und  durch  die  Materie  stattfindet,  die  Individuation 
der  Atome  aber  in  und  durch  Baum  und  Zeit.  Bei  allen  höheren  Indivi- 
duen braucht  die  allgemeine  Form  einen  Inhalt  oder  Stoff,  um  concret 


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5i2 

2m  werdmi;  dasselbe,  was  für  die  IndiTidvieB  hlAierer  Ordnang  Stoff 
war,  wird  für  die  der  niederen  ürdnnnif  Form,  nur  bei  der  Materie 
wird  da»  Endglied  dieser  Reihe  erreicht,  n nr  h  i  e r  wird  die  typtsi^ie 
Form  Ton  selbst  ooncret,  wird  gleichsam  sich  selber  Stoff 
durch  den  einfachen  Kunstgriff  der  Fixation  an  den  ränmlic^en 
Pnnct,  durch  den  Kunstgriff,  dass  hier  die  Wirkungsriehtungen  der 
Kraft  sich  sännntlich  in  ein  und  demselben  Puncto  schneiden.  Weil 
die  Atomkräfte  keinen  ausser  sich  liegenden  Stoff  mehr  haben,  an 
dem  sie  sich  individualisiren,  sondern  nur  ihren  Ort,  so  untersdiei» 
den  sie  sich  auch  (abgesehen  von  dem  Unterscbiede  zwischen  K$r- 
per-  und  Aether- Atomen)  nur  durch  ihren  Ort,  der  eben  ihr  ein* 
ziges  medium  individuatioms  ist ;  höhere  Individuen  dagegen,  welche 
die  Materie  zum  medium  mdwiduaUonut  haben,  finden  auch  ausser 
der  Verschiedenheit  des  eingenommenen  Ortes  an  der  Ton  ihnen  in 
Besitz  genommenen  Materie  ein  reiclicf^  Feld  für  indiyiduelle  Unter* 
Bobiede. 

Hiermit  ist  erst  bei  Individuen  höherer  Ordnungen  die  Mög^ 
liohkeit  eines  Individualcharacters  gegeben,  und  diesem 
müssen  wir  jetzt  noch  einige  Aufmerksamkeit  schenken,  denn  er 
tritt  uns  auf  der  ganzen  Stufenleiter  des  organischen  Lebens  von 
dem  Individualcharaoter  der  einfachsten  Zelle  an  bis  zu  dem  der 
menschlichen  Geistesanlagen  als  eine  bei  monistischen  Principien 
anfanglich  überraschende  Erscheinung  entgegen. 

Ueber  den  menschlichen  Character  giebt  es  zwei  extreme  An- 
sichten: Die  eine  (Rousseau,  Helvetius  u.  s.  w.)  behauptet,  daas 
alle  Menschen  bei  der  Geburt  gleich  sind,  d.  h.  also  eines  Indivi- 
dualcharacters entbehren ,  dass  ihre  Seele  in  Bezug  auf  Gharacter 
ebenso  eine  tahda  rasa  sei,  als  in  Bezug  auf  Vorstellungen,  und 
dass  sie  eines  wie  das  Andere  erst  durch  äussere  Eindrücke  erwerbe, 
den  'Character   also  vornehmlich  durch  Erziehung  und  Schicksale 

Die  andere  Ansicht  (Schopenhauer)  behauptet,  dass  der  (%ia- 
racter  unveränderlich  sei,  dass  er  sich  zwar,  wie  natürlich, 
bei  verschiedenen  äusseren  'Gelegenheiten,  z.  B.  in  versi^edenen 
Lebensaltem,  verschieden  äussere,  aber  seinem  Wesen  nach  zugl^oh 
des  Menschen  unveräusserliche  und  unveränderliche  Natur  und 
Grundlage  sei,  mithin  von  der  Geburt  bis  zum  Tode  derselbe  bleibe. 

Jede  der  beiden  Ansichten  erklärt  einen  Theil  der  Thatsaehen 
sehr  gut,  muss  sich  aber  gegen  einen  anderen  Theil  derselben  ves^ 
sehliessen.     Fragen  wir,  welche  der  beiden  Ansichten  metaphysiaoli 


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513 

annehmbarer  scheint,  so  tritt  der  merkwürdige  Fall  ein,  daas  sich 
gegen  die  Antfaeeung  der  französischen  Naturalisten  yon  metaphy- 
flisoher  Seite  nichts  einwenden  lässt,  dass  dagegen  die  des  Meta- 
physikers  Schopenhauer,  der  die  Fesstellung  des  Charaoters  durch 
einen  ausserzeitliohen  ein  für  allemaligen  Entsohluss  annimmt,  vor 
der  Kritik   aus    seinen   eigenen  Principien    kaum   bestehen   kann. 

Schopenhauer  selbst  will  absoluter  Monist  sein ;  wenn  also  der 
Wille  der  Welt  dem  Wesen  nach  Einer  ist,  wenn  femer  der  Cha- 
racter  ebenfalls  nach  seiner  eigenen  Behauptung  nichts  als  die 
Eigenthümlichkeit  des  individuellen  Willens  ist,  so  kann  offenbar 
die  Individualität  des  Charaoters  nur  in  einer  iadividualisirten 
Thätigkeit  des  allgemeinen  Willens  als  möglich  gedacht  werden, 
nicht  aber  als  im  Wesen  des  allgemeinen  Willens  unmittelbar 
begründet,  da  dieses  immer  allgemein  bleibt.  Wie  aber  die 
Thätigkeit  des  Willens,  welche  den  Gharacter  erzeugt ,  ausser- 
zeitlich  zu  denken  sei,  davon  habe  ich  keinen  Begriff;  ich  kann 
nur  ein  We^en,  nicht  aber  seine  Thätigkeit  als  ausserzeitlich  den- 
ken, da  die  Thätigkeit  sofort  die  Zeit  setzt,  es  sei  denn,  dass  man 
auch  in  Null-Zeit  eine  Thätigkeit  als  möglich  annehmen  wolle,  in 
welchem  Falle  sie  eben  auch  im  Moment  wieder  erlischt;  der 
Charaoter  aber,  der  die  Lebenszeit  des  Individuums  hindurch 
dauern  soll,  fordert  offenbar  auch  eine  Thätigkeit  des  allgemeineu 
Willens,  die  ebenso  lange  dauert.  Anders  ausgedrückt,  die  Lehre 
vom  intelligibeln  Individualcharacter  ist  ein  Wider- 
spruch gegen  das  monistische  Princip,  ein  Widerspruch  auch  gegen 
die  transcendentale  Idealität  von  Baum  und  Zeit.  Denn  im  Intelli- 
gibeln fehlt  das  principium  individtuUionis,  folglich  auch  die  Viel- 
heit und  die  Individualität,  folglich  auch  die  vielen  Individual- 
charactere.  Der  Individualcharacter  setzt  das  Individuum  oder  viel- 
mehr die  Individuen,  also  die  Vielheit,  die  Individualität,  kurz 
die  Welt  der  Erscheinung  voraus,  er  wird  wie  diese  erst  mög- 
lich durch  die  Zeit,  durch  die  zeitliche  Thätigkeit  des  allgemeinen 
intelligibeln  Wesens. 

Wenn  sich  dies  nun  so  verhält,  so  ist  erstens  nicht  ohne 
Weiteres  einzusehen,  warum  die  Charactere  der  verschiedenen  Indi- 
viduen nicht  alle  typisch  gleich  sind,  was  doch  viel  natürlicher 
wäre ;  zweitens  aber  ist  noch  weniger  einzusehen,  warum,  wenn  die 
Charactere  doch  einmal  factisch  unter  einander  so  verschieden  sind, 
jeder  einzelne  sich  während  der  Dauer  des  Lebens,  d.  h.  die  ganze  Zeit, 

T.  Hartmum.  Phil.  d.  ünbeimsBten.  33 


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614 

wo   diete  bestimmte  Tbätigkeit    des  allgemeiiien  Willens  exisüit» 
sich  gleich  bleiben  und  nicht  vielmehr  sich  beständig  ändern  aolle. 

Die  Annahme  der  französischen  Natuialisten  ist  metaphysisch 
yiel  plausibleTi  dass  nur  typische  Artcharactere,  nicht  aber  Indiyidual- 
charaetere  angeboren  seien,  dass  aber  durch  Aendenmg  des  Gha- 
raoters  in  verschiedenem  Sinne  die  Individnalcharactere  sich  all- 
malig  herausbilden.  Bei  dieser  Annahme  befreundet  man  sich 
rückwärts  viel  leichter  mit  der  All-Einheit  des  allgemeinen  Wesens 
denn  die  individuellen  Abänderuugen  des  ursprünglich  gleichen 
Artcharacters  lassen  sich  alsdann  auf  verschiedene  Himeindrüoke 
zurückführen  y  deren  jeder  eine  bleibeude  Yeränderung  im  Hirne 
zurücklässt,  welche  bewirkt,  dass  hinfort  eine  Molecularbew^ong 
in  demselben  Sinne,  wie  die  durch  jene  Eindrücke  hervorgerufene, 
leichter  als  eine  im  heterogenen  Sinne  entsteht.  Es  ist  dies  die  Art, 
wie  überhaupt  die  Gewohnheit  eine  Macht  wird,  in  specieller 
Anwendung  auf  den  Character.  Das  erste  Handeln  in  einem  be- 
stimmten Sinne  wird  unter  Annahme  eines  noch  unbestimmten 
Characters  rein  durch  die  Motive  entschieden;  in  welcher  Art  und 
Stärke  dieselben  an  den  Menschen  herantreten,  hängt  von  äusseren 
Verhältnissen  ab.  Ist  aber  die  erste  Handlung  in  einem  bestimm- 
ten Sinne  ausgefallen,  so  werden  für  den  nächsten  ähnlichen  Fall 
die  Motive,  welche  für  die  nämliche  Entscheidung  wie  das  vorige 
Mal  wirken,  einen  gewissen,  wenn  auch  noch  so  unmerklichen  Yor- 
2ug  gegen  die  entgegengesetzten  Motive  erlangt  haben,  welcher  sich 
bei  jeder  in  demselben  Sinne  ausfallenden  Entscheidung  erhöht 

So  bildet  sich  die  Eigenschaft  heraus,  dass  gewisse  Motive  bei 
diesem  Individuum  eine  grössere,  andere  eine  geringere  Wirkung 
üben,  als  durchschnittlich  auf  den  typischen  Artcharaoter ,  und  die 
Summe  aller  dieser  Prävalenzen  ist  d^  Individualcharaeter. 

Nach  dieser  Ansicht  entsteht  mithin  der  Individualcharaeter 
zunächst  durch  eine  individuelle  Beschaffenheit  des  Hirnes,  die 
durch  frühere,  von  äusseren  Verhältnissen  bedingte  Eindrücke  er- 
zeugt ist;  denn  nur  auf  das  Organ  des  Bewusstseins,  nicht  auf  dss 
XJnbewusste  kann  die  Gewohnheit  einen  directen  Einfluss  haben. 
Nichtsdestoweniger  ändert  sich  mit  der  Beschaffenheit  des  Hirnes 
auch  die  Art  der  Thätigkeit,  welche  das  Unbewusste  auf  dasselbe 
richtet;  denn  diese  ändert  sich  mit  jeder  Aendenmg  des  Organis* 
mus,  und  das  Hirn  ist  einer  der  wichtigsten  Theile  desselben. 
Das  ünbewussste  ruft  auf  ein  Motiv  im  Gehirn  für  gewöhnlich  mm& 


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516 

die  am  leichtesten  sich  ergehende  Beaction  hervor;  nur 
wo  hesonders  wichtige,  namentlich  generelle  Interessen  hei  einer 
Handlang  auf  dem  Spiele  stehen,  kann  man  annehmen^  dass  es  sich 
der  Mühe  unterzieht,  mit  einer  anderen  als  dieser  am  leichtesten 
sich  ergehenden  Beaction  auf  den  Beiz  des  Motives  zu  antworten, 
wie  dieser  Fall  eintritt  hei  allem  Handeln  nach  unhewussten 
Zwecken,  wo  also  die  Beaction,  welche  sonst  unmittelhar  dem 
Motive  entsprechen  würde,  aushleiht  oder  üherhoten  wird  durch 
eine  andere,  ausschliesslich  durch  unhewusste  Zwischenglieder  he- 
dingte.  In  allen  Eällen  aher,  wo  das  Unhewusste  kein  so  erhehliches 
Interesse  hat,  dass  es  der  Mühe  lohnen  würde,  die  am  leichtesten 
sich  ergehende  Beaction  durch  eine  andere  zu  ersetzen,  wird  auch 
eine  gewohnheitsmässige  Aenderung  dieser  am  leichtesten  sich  er- 
gebenden Himreaction  eine  Aenderung  der  Thätigkeit  des  TJnhe- 
^rnssten  zur  Eolge  hahen;  die  Art  dieser  Thätigkeit  ist  aher  der 
Charaoter  seihst,  wie  wir  früher  (Cap.  B.  IV.)  sagten»  des  Menschen 
eigenstes  Wesen.*  Es  ist  kein  Widerspruch,  dass  dieser  Gharacter 
im  Unhewussten  li^t,  und  doch  seine  Beschaffenheit  durch  das 
Hirn,  das  specifische Organ  des Bewusstseins,  mit  hedingt  werden 
soll;  denn  in's  Bewusstsein  treten  nur  die  actuellen  Schwin- 
gangazustände  des  Hirnes,  dasjenige  aher  am  Hirn,  was  die  Art 
der  Thätigkeit  des  Unhewussten  bestimmt,  sind  ja  nicht  die  actuel- 
len Schwingungszustände,  sondern  die  latente  Disposition  zu 
Schwingungszuständen  in  diesem  oder  jenem  Sinne,  und  diese  muss 
doch  ihrer  Natur  nach  hinter  oder  vielmehr  vor  dem  Bewusstaein 
liegen. 

Aus  dieser  Betrachtung  geht  hervor,  dass  der  Mensch,  seihst 
wenn  er  ohne  Individualcharaoter  geboren  wäre,  als 
Erwachsener  einen  mehr  oder  weniger  vom  typischen  Artcharacter 
abweichenden  Individualcharaoter  sich  erworben  haben  müsste. 
Wenn  dieser  Mensch  nun  aher  Kinder  zeugt,  so  wissen  wir,  dass 
nach  dem  Gesetze  der  Vererbung  die  von  dem  typischen  Menschen- 
hime  abweichenden  eigenthümlichen  Dispositionen  seines  Hirnes 
waiirscheinlich  auf  einige  seiner  Binder  mehr  oder  weniger  voll- 
ständig ühergehen.  Dann  wird  solches  Kind  schon  mit  diesen  la- 
tenten Dispositionen,  welche  den  Individualcharaoter  bedingen,  ge- 
boren, und  sobald  es  in  Verhältnisse  tritt,  wo  diese  Dispositionen 
wirksam  werden,  kommt  sein  angeborener  Gharacter  zum  Vorschein. 
Die   Erscheinungen   des  Bückschlages   in   väterlicher  und  mütter- 

33* 

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_^16 

lieber  Linie,  und  die  Yermischung  solcher  von  yerschiedenffli  Seiten 
überkommenen  Eigenschaften  machen  die  üntersnchimg  im  einzel- 
nen Falle  sehr  schwierig,  woher  die  verschiedenen  Eigenschaften 
eines  angeborenen  Charaoters  stammen;  dennoch  ist  die  unlängbare 
Thatsaohe  des  angeborenen  Gharacters  nur  so  zu  erklären.  Ob 
der  erste  Mensch  einen  Indiyidualcharacter  gehabt  habe,  ist  eine 
ganz  müssige  Frage:  sein  Artcharacter  war  ja  sein  Indiyidual- 
character. 

Jeder  Mensch  bringt  heutzutage  den  Haupttheil  seines  Gha- 
racters mit  auf  die  Welt;  wie  gross  im  Terhältniss  zu  diesem  der 
Theil  ist,  den  er  sich  hinzu  erwirbt,  hängt  von  der  TJngewöhnlich- 
keit  und  abnormen  Beschaffenheit  der  Verhältnisse  ab,  in  denen  er 
sich  bewegt.  In  den  allermeisten  Fällen  reicht  die  Gewohnheit 
eines  Menschenlebens  nicht  aus,  um  in  dem  ererbten  Oharaoter 
tiefeingreifende  Veränderungen  hervorzubringen.  Gewöhnlich  be- 
schränkt sich  der  erworbene  Theil  des  Gharacters  auf  neu  hinzu- 
tretende unwichtigere  Eigenschaften,  oder  Verstärkung  vorhandener, 
oder  Schwächung  anderer  durch  Nichtgebrauch.  Bas  letztere  findet 
relativ  im  geringsten  Maasse  statt,  denn  wie  von  allem  Lernen  das 
schwerste  das  Vergessen  des  Erlernten  ist,  so  von  allen  Character- 
änderungen  die  schwierigste  die  Unterdrückung  und  Abschwächung 
vorhandener  Eigenschaften.  Dies  ist  es  besonders,  was  Schopen- 
hauer dazu  veranlasste,  die  ünveränderlichkeit  des  Gharacters  fu 
behaupten.  —  Wer  an  der  Thatsache  der  Vererbung  auch  der  er- 
worbenen  Gharactereigenschaften  zweifeln  sollte,  den  verweise 
ich  auf  Beispiele  von  der  Vererbung  anderweitiger  erworbener 
Eigenschaften. 

Niemand  wird  bezweifeln,  dass  die  in  gewissen  Familien 
erblichen  Krankheitsanlagen,  wenn  man  im  Stammbaume  rückwärts 
geht,  auf  einen  Vorfahren  hinführen  müssen,  der  sie  nicht  mehr 
ererbt,  sondern  erworben  hat.  Dass  sich  amputirte  Arme  und 
Beine  und  dergleichen  Verstümmelungen  nicht  vererben,  beweist 
gegen  unsere  Behauptung  gar  nichts,  denn  es  sind  zu  grobe  und 
handgreifliche  Eingriffe  in  die  typische  Idee  der  Gattung,  als  da» 
man  ihre  Realisation  im  Kinde  erwarten  könnte ;  dagegen  vererben 
sich  in  der  That  erworbene  Eigenschaften  um  so  leichter,  je  weni- 
ger sie  den  Arttypus  stören,  in  je  minutiöseren  organischen  Ver- 
änderungen sie  bestehen.  Letzteres  ist  aber  bei  allen  Dispositionen 
des  Gehirnes  zu   gewissen  Schwingungszuständen   der  FalL    Es  ist 


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617 

eine  bekannte  Erf abrang,  dass  die  Jungen  von  gezäbmten  Tbieren 
sabmer  werden,  als   die  jung  eingefangenen  Von  wilden,  dase  von 
Haostbieren  wieder  diejenigen  Jungen  am   zahmsten,  folgsamsten, 
gelehrigsten  n.  s.  w.  zu  werden   versprechen,   die   von  den  zabm- 
Bten,   folgsamsten,    gelehrigsten   Eltern   stammen.       Jede   Dressur 
eines  Tbieres  nach  einer  bestimmten  Richtung  bietet  um  so  mehr 
Aussicht  auf  Erfolg,  je  weiter  die  Dressur  der  Eltern  in  derselben 
Richtung  gediehen  war.     Junge  undressirte  Jagdhunde  von  ausge- 
zeichneten Eltern  machen  bei  der  Jagd  fast  von  selbst  Alles  ziem- 
lich richtig,  während  bei  Hunden,  die  von  Eltern  stammen,  welche 
nie  zur  Jagd  gebraucht  wurden,  die  Jagddressur  eine  furcbtbare 
Arbeit  ist     Dies  Alles  sind  Beispiele  von  erworbenen  Eigenschaften, 
welche    sich    dennoch  .vererben.      Sie  gehören   ganz  und  gar  mit 
zum  Gegenstande  unserer  Betrachtung,  dem  Individualcharacter  im 
weiteren  Sinne,  d.  h.  der  Summe  von  körperlichen  und  geistigen 
Merkmalen,   welche   ein  Individuum  höherer  Ordnung  (auch  abge- 
sehen von  seiner  räumlichen  Besonderung  durch  den  eingenomme- 
nen Ort  und  den  in  Besitz   genonunenen  Sto^O  'V'on  allen  anderen 
Indiyiduen  unterscheidet. 

Wenn  wir  bei  der  Betrachtung  des  menschlichen  Individual- 
characters  bisher  den  engeren  Sinn  von  Gharacter  in's  Auge 
fassten,  so  geschah  dies  nur,  weil  sich  um  letzteren  die  Contro- 
versen  hauptsächlich  bewegen  ^  nicht  als  ob  die  Unterschiede  in 
den  geistigen  Anlagen,  Fähigkeiten  und  Talenten  nicht  ebenso 
wesentlich  bei  Begründung  individueller  Unterschiede  wären.  Wer 
jedoch  unserer  Entwickelung  über  den  Gharacter  im  engeren  Sinne 
beistimmend  gefolgt  ist,  der  wird  ohne  Weiteres  einsehen,  dass 
letztere  Unterschiede  noch  viel  weniger  auf  eine  andere  Weise 
entstehend  gedacht  werden  dürfen,  und  es  wäre  deshalb  eine 
Wiederholung  der  Entwickelung  für  dieselben  ganz  üherflüssig. 

Ich  füge  nur  noch  hinzu,  dass,  während  der  Gharacter  im 
engeren  Sinne  sich  durch  Kreuzung  immer  wieder  ausgleicht,  und 
im  Wesentlichen  für  das  Menschengeschlecht  ziemlich  auf  derselben 
Stufe  bleibt,  dass  die  geistigen  Anlagen  und  Fähigkeiten  im 
Menschengescbleohte  in  einer  fortwährenden  Steigerung  begriffen 
sind. 

Dies  kommt  daher,  dass  die  verschiedenen  Gharactere,  inso- 
weit sie  nicht  gar  zu  ezcentrische  Ausgeburten  sind,  ziemlich 
gleich  gut  durch*s  Leben  kommen,  der  mit  höheren  geistigen  An- 


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618 

lagen  begabte  Mensch  aber  im  Kampfe  um's  Daaein  allemal  Im 
Vortbeil  ist.  Noch  mehr  als  bei  Individuen  tritt  die  Wahrheit 
dieses  Gegensatzes  bei  Völkern  auf;  ihr  Character  hat  für  ihren 
Kampf  nm's  Dasein  eine  verschwindend  kleine  Bedeutung  im  Ver- 
hältniss  zu  ihrer  geistigen  BeflQiigung  und  Bildung. 

Bald  bleibt  das  offene,  gerade  und  tapfere,  bald  das  listige, 
verrätherische  und  feige,  bald  das  langsame  und  ausdauernde,  bald 
das  schnell  fertige  und  schnell  wieder  abspringende,  bald  da« 
sittenstrenge,  bald  das  verderbte,  immer  aber  auf  die  Dauer  das 
geistig  höher  stehende  Volk  der  Sieger  im  Kampfe  um's  Dasein. 
Die  höher  stehenden  Kaukasier  führen  denselben  natumothwendigen 
Vernichtungskrieg  gegen  die  zu  sehr  zurückgebliebenen  Bacen,  wie 
die  Wanderratte  gegen  die  Hausratte. 

So  wirkt  auch  in  diesem  Gebiete  der  Kampf  um's  Dasein 
befestigend  und  steigernd  auf  die  individuellen  Unterschiede,  seien 
dieselben  nun  durch  Zufälligkeiten  oder  unbewusst«  Absicht  bei 
der  Zeugung,  seien  sie  durch  -äussere  Lebensverhältnisse  oder  eige- 
nen bewussten  Fleiss  zuerst  entstanden. 

Dieselben  Eesultate,  welche  wir  hier  auf  einem  anderen  Wege 
zu  gewinnen  vorzogen,  hätten  wir  natürlich  auch  erhalten,  wenn 
wir  auf  die  Besultate  der  beiden  vorigen  Capitel  unmittelbar 
weiter  gebaut  und  von  der  Entstehung  der  ürzeüe  an  noch  ein- 
mal die  verschiedenen  Ursachen  der  individuellen  Abweichungen 
in's  Auge  gefasst  hätten.  Die  Uebereinstimmung  des  Zieles,  xa 
welchem  beide  Wege  führen,  mag  zur  Bekräftigung  dienen.  Der 
Unterschied,  welcher  dabei  noch  auszugleichen  wäre,  ist  folgender: 

Bei  niederen  Organismen,  wo  die  Abweichungen  wesentUch 
im  Körperbau  und  den  organischen  Functionen  liegen,  suchten  wir 
dem  entsprechend  die  Entstehung  der  individuellen  Abweichungen 
vorwiegend  in  derjenigen  Periode  des  Lebens,  welche  Modifioa- 
üonen  den  geringsten  Widerstand  entgegensetzt;  beim  Menschen 
aber,  wo  die  Abweichungen  der  geistigen  Eigenschaften  ein  die 
der  körperlichen  weit  überragendes  Interesse  verdienen,  mussten 
wir  natürlich  die  Entstehung  dieser  Abweichungen  in  deijemgen 
Periode  des  Lebens  suchen,  wo  die  geistigen  Functionen  bereits 
in  Thätigkeit  sind,  also  nach  der  Geburt  und  nicht  in  der 
allerersten  Zeit  nach  derselben;  aber  auch  hier  werden  wir 
dieselben  nicht  in  die  epäteren  Perioden  des  Lebens  setsen 


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519 

dürfen,  wo  die  Entwickelung  gleichsam  yerhärtet,   sondern  in  das 
empfangliche  Kindes-  und  Jagend  alter. 

Im  Wesentlichen  aber  ist  die  Quelle  der  individuellen  Unter- 
schiede durch  das  ganze  Beich  der  Organisation  dieselbe:  äussere 
Verhältnisse  bedingen  einen  abweichenden  Bau  des  Organismus, 
und  der  abweichende  Bau  des  Organismus  bedingt  eine  Abweichung 
der  auf  ihn  gerichteten  Thätigkeit  des  All -Einigen  ünbewussten. 
Biese  Unterschiede  treten  hinzu  zu  dem  bereits  durch  die  Yer- 
sebiedeidieit  des  erfassten  Stoffes  bedingten,  und  bilden  feusamttMn 
diejenige  Summe  yon  Unteibchieden ,  welche  jedem  Individuum 
seine  Einzigkeit  verbürgt. 


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XL 

Die  Allweisheit  des  Unbewnssten  nnd  die  BesteSglieh- 
keit  der  Welt. 


Zu  allen  Zeiten  und  unter  allen  Völkern  hat  man  die  Weis» 
heit  des  Weltschöpfers,  Weltordners  oder  Weltlenkers  bewundert 
und  gepriesen.  Keines  von  allen  Völkern  ^  welche  im  Laufe  der 
Geschichte  nur  eine  mittlere  Cultarstufe  errungen  haben,  wie  immer 
seine  sonstigen  Ansichten  in  religiöser  und  philosophischer  Be> 
Ziehung  beschaffen  sein  mochten,  war  so  roh,  dass  nicht  diese  Er- 
kenntniss  bei  ihm  Eingang  gefunden  hätte  und  zum  mehr  oder 
weniger  begeisterten  Ausdruck  gelangt  wäre.  Wenn  auch  dieser 
Ausdruck  zum  Theil  auf  Eechnung  einer  aus  gewinnsüchtiger 
Absicht  gegen  die  Götter  gerichteten  Schmeichelei  zu  stellen  sein 
mag,  so  bleibt  doch  jedenfalls  der  grössere  Theil  desselben  ak 
Kundgebung  einer  wahrhaften  Ueberzeugung  bestehen.  Diese  Ueber- 
zeugung  drängt  sich  schon  dem  kindlichen  Gemüthe  auf,  sobald  es 
die  wunderbare  Combination  von  Mitteln  und  Zwecken  in  der 
Natur  zu  begreifen  anfangt.  Nur  wer  die  Naturzwecke  längnet^ 
kann  sich  dieser  Ueberzeugung  verschliessen ;  eine  solche  Ansicht 
aber  kann  sich  erst  aus  systematisch  geordneten  philosophischen 
Abstractionen  entwickeln,  da  sie  der  ersten  natürlichen  Auffassung 
der  Naturerscheinungen  zuwiderläuft.  £he  noch  die  Menschen  ab- 
strahiren,  werden  sie  von  der  Macht  des  concreten  Falles  auf  das 
Stärkste  ergriffen,  und  die  tiefer  angelegten  Köpfe  einer  kindlichen 
Nation  können  über  die  Erkenntniss  eines  auffalligen  Naturzweokes 
schon  in  einem  einzelnen  Falle  in  tiefes  Staunen  und  Ehrforoht 
gerathen.  So  erzählt  man  von  einem  Braminen  der  Vorzeit,  da» 
er  über  eine  Insecten  fangende  Pflanze  in  solches  Staunen  yersiin- 
ken  sei,  dass  er,  ohne  Speise  und  Trank  zu  nehmen,  vor  derselben 


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621 

bis  an's  £iide  seineB  Lebens  sitzen  geblieben  sei.  —  Kommt  dann 
der  Mensch  zu  Induotionen  aus  den  ooncreten  Fällen,  so  sind  es 
solche  Sätze,  wie:  „Die  Natur  thut  nichts  yergebens;  die  Natur 
macht  Alles  aufs  Beste;  die  Natur  bedient  sich  zu  ihren  Zwecken 
der  einfachsten  Mittel  und  Wege^';  in  welchen  er  schon  frühe  die 
in  der  Natur  waltende  Weisheit  anerkennt  Ihren  stärksten  ra- 
tionellen Ausdruck  findet  jene  Ueberzeugung  in  der  Periode  des 
Leibniz  und  Wolf.  Wenn  auch  Leibniz  in  seiner  Wegläugnung 
des  XJebels  aus  der  Welt  über  das  Ziel  hinw^schoss,  wenn  auch 
ein  grosser  Theil  der  schwärmerischen  Lobpreisungen  von  den 
Nachbetern  der  „besten  Welt^  nur  hohle,  phrasenreiche  Declama- 
tionen  waren,  die  der  yon  ihnen  vertretenen  Sache  in  den  Augen 
der  Nachwelt  bloss  schadeten,  so  bleibt  doch  ein  ewig  wahrer 
Kern  davon  bestehen. 

Betrachten  wir  nämlich  die  Sache  im  Anschluss  an  unsere 
früheren  Besultate,  so  stellt  sie  sich  folgendermaassen :  Nach  Ci^. 
C..L  kann  das  ünbewusste  niemaLs  irren,  ja  nicht  einmal  zwei- 
feln oder  schwanken,  sondern  wo  der  Eintritt  einer  unbe- 
wussten  Vorstellung  gebraucht  wird,  erfolgt  derselbe  m.omen- 
tan,  den  im  Bewusstsein  sich  zeitlich  auseinanderzerrenden  Be- 
flexionsprocess  implicite  in  den  Einen  Moment  des  Eintrittes  zusam- 
menschliessend,  und  zweifellos  richtig,  da  dem  ünbewussten  kraft 
seines  absoluten  Hellsehens  alle  nur  irgend  zur  Sprache  kommen- 
den Data  zu  Gebote  stehen,  und  zwar  immer  und  momentan 
Ba  Gebote  stehen,  nicht  wie  die  Data  bei  der  bewussten  Beflexion 
erst  durch  mühsames  Nachsinnen  aus  dem  Gedächtnisse  eines  nach 
dem  anderen  herangeholt  werden  müssen,  und  noch  öfter  gänzlich 
fehlen.  Alle  zukünftigen  Zwecke,  die  nächsten  wie  die  fernsten, 
und  alle  Rücksichten  auf  die  Möglichkeit  des  Eingreifens  in  dieser 
oder  jener  Weise  wirken  auf  diese  Art  im  Entstehungsmomente 
der  bedurften  Vorstellung  zusammen,  und  so  kommt  es,  dass  jedes 
Eingreifen  des  Ünbewussten  gerade  in  dem  angemessensten 
Moment  eintritt,  wo  das  gesammte  Zweckgerüst  der  Welt  es  er- 
fordert, und  dass  die  ünbewusste  Vorstellung,  welche  die  Art  und 
Weise  des  Eingreifens  bestimmt,  die  diesem  gesammten  Zweck- 
gerüste angemessenste  von  allen  möglichen  ist.  Ein 
solches  Eingreifen  des  ünbewussten  in  einer  sich  ganz  nach  der 
Besonderheit  des  Falles  richtenden  Weise  findet  nach  unseren 
Untersuchungen    im   Gebiete   des    organischen   Lebens  in   jedem 


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Momente  statt ;  sowahl  die  in  einem  durch  Emährong  hergesteUtm 
Ersatz  des  abgenutzten  Materials  und  in  einem  unaufhörlichen 
Kampfe  gegen  eingreifende  Störungen  bestehende  Erhaltung, ak 
auch  die  theils  in  einer  Neubildung  zufällig  zerstörter  Theile,  theils 
in  einer  Steigerung  der  indiyiduellen  Lebensform  sich  äussernde 
Fortbildung,  als  auch  die  durch  Herstellung  neuer  Individuen 
zur  Fortpflanzung  werdende  Fortbildung,  sie  alk  drei  sind 
nur  denkbar  durch  ein  unaufhörliches,  in  jedem  Moment  sidi  er- 
neuerndes Eingreifen  des  ünbewussten  an  jeder  einzelnen  Stelle 
des  Organismus  gleichzeitig;  jeder  dieser  Eingriffe  modificirt  sich 
nach  den  besonderen  Umständen,  auf  die  er  sich  bezieht,  und  jeder 
behalt  doch  gleichmässig  die  grossen  Zwecke  im  Auge,  denen  ne 
alle  gemeinschaftlich  dienen. 

Jede  natürliche  Ursache  zeigt  sich  hiemach  als  Mittel  für  die 
grossen  Zwecke  der  Vorsehui^,  jede  natürliche  Ursache  im  Belize 
des  Organischen  stellt  sich  dar  als  eine  unmittelbare  BetheiHgnng 
des  Ünbewussten  einschliessend.  Aber  diese  unausgesetzten  Ein- 
griffe der  Yorsehung  sind  selbst  natürlich,  d.  h.  nicht  will- 
kürlich, sondern  gesetzmässig,  nSakilieh  durch  den  ein  för 
alle  Mal  feststehenden  Endzweck  und  die  augenbHcklich  yorliegeo- 
den  Verhältnisse,  in  welche  eingegriffen  wird,  mit  logischer 
ISToth wendigkeit  bestimmt. 

Wenn  die  christliche  Auffassung  es  so  sehr  herrortiebt,  dasB 
Gottes  Wirken  nicht  bloss  eine  Leitung  im  Ganzen  und  Grossen 
sei,  sondern  dass  seine  unermessli<^e  Grösse  gerade  darin  sich  an 
wimderbarsten  offenbare ,  dass  sie  allgegenwärtig  in  jedem  Klein- 
sten wirksam  sei,  so  ist  diese  Ansicht  durch  unsere  Betn&chtuDgen 
in  Bezug  auf  das  organische  Leben  in  der  That  nur  bestätigt 

Aber  hiermit  ist  die  Zweckmässigkeit  der  Thätigkeit  des  ün- 
bewussten noch  nicht  erschöpft,  sondern  um  wie  riel  mehr  die 
Klugheit  dessen  zu  loben  ist,  der  sich  einer  stets  wiederkehrenden 
Arbeit  durch  die  Gonstruction  einer  sinnreiche  Maschine  übediebt, 
als  dessen,  der  dieselbe  in  jedem  einzelnen  Falle  auf  s  Geschioktesle 
selbst  Terrichtet,  so  müssen  wir  auch  die  Weisheit  des  Ünbewussten 
weit  mehr  noch  da  bewundem,  wo  dasselbe  sich  einen  Theil  seiner 
Eingriffe  durch  eigetis  dazu  hergestellte  Mechanismen  oder  auch  doicb 
geschickt  benutzte  schon  yorhandene  äussere  YerhältnisBe  erspart, 
als  da,  wo  dasselbe  die  yorhandenen  Aufgaben  durch  fortwährendes 
directes  Eingreifen  in  yortrefflichster  Weise  löst 

Beiapiele  hieryon  haben   wir  während  des  Verlaufes  unserer 


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TJutersnchtingen  so  zahlreich  gefunden ,  dass  ich  hier  kaum  eine 
besondere  Verweisung,  geschweige  denn  Aufzählung  für  nöthig  halte. 
Der  umfassendste  und  wichtigste  yon  allen  aber  ist  das  System  der 
physikalisch -chemischen  Naturgesetze. 

Wie  yiel  Mechanismen  aber  auch  das  XJnbewusste  zur  Erleich- 
terung seiner  Arbeit  benutzen  möge,  so  können  diese  doch  niemals 
das  fortwährende  direete  Eingreifen  entbehrlich  machen,  denn  sie 
gehen  ihrer  Natur  nach  auf  eine  Classe  gleichartiger  Fälle, 
während  in  Wirklichkeit  jeder  Fall  sich  vom  anderen  unterscheidet ; 
es  lässt  also  der  besteingerichtete  Mechanismus  immer  einen  Best 
Ton  Arbeit  übrig,  der  nach  wie  ror  der  directen  Thätigkeit  des 
Unbewussten  anheimföllt,  und  welcher  in  der  vollständigen  An- 
passung an  die  Einzigkeit  des  vorliegenden  Falles  besteht.  Sobald 
der  Kraftaufwand  zur  Herstellung  eines  Mechanismus  grösser 
würde,  als  die  durch  den  Mechanismus  erreichte  Krafterspamiss 
(was  bei  allen  solchen  TJmstandscombinationen  der  Fall  ist,  die 
ihrer  Natur  nach  nur  selten  eintreten,  oder  wo  sich  aus  anderweitigen 
Gründen  ein  Mechanismus  nur  schwer  construiren  lässt);  da  muss 
natürlich  die  direete  Thätigkeit  des  ünbewuBsten  ohne  Weiteres 
einstehen.  Solcher  Art  sind  z.  B.  die  Eingriffe  des  Unbewussten 
in  menschlichen  Oehimen,  welche  den  Yerlauf  der  Gfeschiohte  auf 
allen  Gebieten  der  Culturentwickelung  im  Sinne  des  vom  Unbe- 
trussten  beabsichtigten  Zieles  bestimmen  und  leiten. 

Wenn  wir  nun  nach  alle  dem  nicht  umhin  können,  dem  Unbe- 
wussten erstens  absolutes  Hellsehen  (welches  dem  theologischen 
Begriffe  dar  Allwissenheit  entspricht) ,  zweitens  eine  unfehlbare 
und  zweifellose  logische  Yerkntipfung  der  umfassten  Data  und  mög^ 
liehst* zweckmässiges  Handeln  im  mc^lichst  angemessenen  Moment 
(theologisch  mit  der  Allwissenheit  vereinigt  in  Allweisheit),  und 
drittens  ein  unaufhörliches  Eingreifen  in  jedem  Moment  und  an 
jeder  Stelle  (theologist^h  Allgegenwart,  man  müsste  hinzufügen  all- 
zeitliche Allgegenwart)  zuzuschreiben,  wenn  wir  femer  erwägen,  dass 
im  ersten  Mbment,  wo  das  Unbewusste  in  Thätigkeit  trat,  also  im 
Moment  der  ersten  Setzung  und  Veranlagung  dieser  Welt,  eben 
^selbe  ideale  Welt  aller  möglichen  Vorstellungen,  also  auch 
aller  mögücheti  Welten  und  Weltziele  und  Weltzwecke  und  ihrer 
möglichen  Mittel  im  allwissenden  Unbewussten  ruhte,  —  wenn  wir 
endlich  berücksichtigen,  dass  die  Kette  der  Finalität  ihrer  Natur 
nach  nicht  unendlich  gedacht  werden  kann,  wie  die  der  Causalität, 
sondern  in  einem  letzten  Zweck  endigen  muss,  weil  jedes  vorher- 

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524 

gehende  Glied  der  Kette  bei  der  Finalität  durch  das  folgende 
bedingt  wird,  also  eine  vollendete  Uiendlichkeit  von  Zwecken 
in  der  Vorstellung  befasst  werden  müsste,  und  doch  noch  alle  die 
unendlich  vielen  Finalglieder  als  unmögliche  in  der  Luft  schweben 
würden,  weil  sie  vergebens  des  Endzweckes  harren,  der  sie  erst 
bestimmen  soll,  —  so  dürfen  wir  uns  wohl  mit  Becht  dem  Ver- 
trauen hingeben,  dass  die  Welt  so  weise  ulid  trefflich, 
als  nur  irgend  möglich  ist,  eingerichtet  und  geleitet 
werde,  dass  wenn  in  dem  allwissenden  Unbewussien 
unter  allen  möglichen  Vorstellungen  die  einer  bes- 
seren Welt  gelegen  hätte,  gewiss  diese  bessere  statt 
der  jetzt  bestehenden  zur  Ausführung  gekommen 
wäre,  dass  sich  das  irrthumsunfähige  ünbewusste  weder 
bei  der  Setzung  dieser  Welt  über  ihren  Werth  hätte  täuschen 
können,  noch  auch,  dass  bei  der  allzeitlichen  Allgegenwart  des  Un- 
bewuBsten  jemals  eine  Pause  seines  Wirkens  möglich  gewesen 
sein  könne,  wo  durch  eine  solche  !N'achlässigkeit  in  der  Weltregie- 
rung die  besser  angelegte  Welt  sich  hätte  von  selbst  verschlech- 
tern können.  Somit  können  wir  die  Behauptung  des  Leibni^ 
„dass  die  bestehende  Welt  die  beste  von  allen  möglichen  sei'',  nur 
für  vollkommen  gerechtfertigt  halten.  Freilich  ist  der  Weg,  auf 
welchem  wir  zu  der  überwiegenden  Wahrscheinlichkeit  dieser  An- 
nahme gekommen  sind,  ein  indirecter.  Auf  directem  Wege 
dahin  zu  streben,  ist  ja  auch  eine  offenbare  Unmöglichkeit,  denn 
wie  sollten  wir  je  die  unendlich  vielen  möglichen  Welten  be- 
greifen, wie  die  bestehende  ausreichend  erkennen,  um  sie  mit  jenen 
erschöpfend  zu  vei^leichen?  Wohl  aber  war  es  uns  möglich,  im 
Unbewussten  die  Existenz  derjenigen  Eigenschaften  nachzuweiseni 
denen  zufolge  es  die  möglichen  Welten  gleichsam  mit  einem  Blicke 
überschauen,  und  von  diesen  möglichen  Welten  diejenige  realisiren 
musste, welche  den  vernünftigstenEndzweck  auf  die  zweok- 
mässigste  Weise  erreicht. 

Wenn  wir  nun  aber  auch  in  dieser  Hinsicht  mit  Leibniz  über- 
einstimmen, so  können  wir  doch  keineswegs  seine  Aufißftssung  des 
TJebels  billigen,  welche  er  vom  Athanasius  und  Augostinn^ 
übernommen  hat,  und  welche  dann  besteht,  dasselbe  für  etwaa 
rein  Privatives,  für  einen  geringeren  Grad  des  Wohles  »i 
erklären*  Würde  es  für  etwas  Negatives  im  wahren  Sinne  des 
Wortes  erklärt,  so  könnte  man  dies,  recht  verstanden»  nur  billigen, 


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626 

denn  Lust  und  Schmerz,  Wohl  und  XJebel  yerhalten  sich  in  der 
That  wie  Positives  und  Negatives,  d.  h.  wie  Thesis  und  Antithesis ; 
nur  ist  zu  bemerken,  dass  das  Negative  genau  so  viel  Eealität 
hat,  wie  das  Positive,  dass  es  rein  eine  Sache  des  subjectiven 
Standpunctes,  mithin,  da  dieser  ein  selbstgewählter  ist,  eine  Sache 
der  WiUkilr  ist,  welches  von  zwei  Entgegengesetzten  man  als 
positiv,  welches  man  als  negativ  bezeichnen  woUe. 

Leibniz  ist  aber  auch  ein  zu  feiner  und  im  Besonderen  zu 
mathematischer  Kopf,  um  aus  der  Negativität  des  üebels  seine 
rrnrealität  aufzeigen  zu  wollen;  —  da  es  ihm  aber  doch  allein  um 
diese  m  majorem  T)ei  gloriam  zu  thun  ist,  so  thut  er  den  That- 
sachen  Gewalt  an,  und  schreibt  dem  XJebel  nicht  einen  negativen, 
sondern  einen  bloss  privativen  und  zwar  relativ-privativen 
Character  zu,  d.  h.  er  behauptet:  „Das  Hebel  ist  nicht  der  Gegen- 
satz, sondern  der  Mangel  des  "Wohles,  und  zwar  wäre  nur  das 
absolute  XJebel  der  absolute  Mangel  des  Wohles,  jedes  relative 
XJebel  aber  ist  nur  ein  relativer  Mangel,  d.  h.  ein  geringerer 
Grad  des  Wohles." 

Dies  ist  eine  thatsächliche  Unwahrheit,  denn  aus  dem  Satze 
würde  ohne  Weiteres  folgen,  dass  ich  die  Verbindung  des  XJebels 
a  mit  dem  Wohle  x\  dem  Besitze  des  letzteren  allein  vor- 
ziehen mtisste,  da  ja  das  XJebel  a  noch  lange  nicht  absolutes  XJebel, 
d.  h.  Null- Wohl  ist,  sondern  nur  ein  geringerer  Grad  von  Wohl  ist, 
also  den  in  A  enthaltenen  Ghrad  von  Wohl  noch  um  den  seinigen 
vermehrt.  Das  non  plus  ultra  des  Wahnsinns  aber  wäre  nach 
dieser  Ansicht,  wenn  Jemand,  um  ein  grosses  XJebel  zu  vermeiden, 
auf  ein  Wohl  verzichtet,  und  der  Mensch,  der  alle  nur  denkbaren 
körperlichen  und  geistigen  Qualen  gleichzeitig  im  äussersten  Mansse 
erduldet,  wäre  glücklich  zu  preisen  selbst  in  diesem  Moment  gegen 
den  unempfindlichen  Zustand  des  Chloroformirten,  um  nicht  zu  sagen 
gegen  den  friedlichen  Schlummer  des  Todes.  In  solche  unnatür- 
liche Verzerrungen  führt  eine  falsche  Hypothese,  die  um  tenden- 
ziöser Zwecke  willen  erfunden  wird. 

Fragen  wir  aber  nach  der  Tendenz,  in  welcher  sie  aufgestellt 
wurde,  so  erweist  sich  dieselbe  merkwürdiger  Weise  als  ein  Irr- 
thum,  also  die  ganze  Hypothese  als  überflüssig. 

Man  glaubte  nämlich  in  der  Existenz  eines  realen  XJebels 
einen  Widerspruch  gegen  die  vollkommene  Welt  vor  sich  zu  haben. 
Mit  dem  Worte  „vollkommen"  ist  von  jeher  viel  XJnfug  getrieben 


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worden;  schon  Plato  (Timäoe  7)  and  Aristoteles  hielten  die  Welt 
für  eine  Kugel  and  die  astronomischen  Bewegungen  für  kreisförmige, 
weil  die  Engel  die  vollkommenste  Gestalt  und  die  Kreisbewegang 
die  vollkommenste  .^wegung  sei,  und  auch  in  alten  Lehrbücheni 
der  Artillerie  kann  man  lesen,  dass  man  deshalb  mit  Kugeln  schiesst, 
weil  die  Kugel  die  vollkommenste  Gestalt  ist 

Wenn  „vollkommen'*  überhaupt  einen  Sinn  haben  soll,  so  kann 
es  nur  der  sein:  „das  Bestmöglichste  seiner  Art**,  denn  besser  als 
möglich  kann  doch  nichts  sein,  auch  nur  in  diesem  Sinne  hatte 
man  Grund,  die  Welt  iiir  vollkommen  zu  halten.  Nun  schob  man 
aber  unvermerkt  dem  Vollkommenen  einen  anderen  Begriff  unter, 
den  des  Makellosen,  oder  Mangellosen,  einen  absoluten  Werth 
Bepräsentirenden ,  den  Besitzer  mit  ungetrübter  Seligkeit  erfüllen- 
den. Von  einer  solchen  Vollkommenheit  der  Welt  war  aber  nicht 
das  Mindeste  auch  nur  im  Entferntesten  wahrscheinlich  gemacht, 
es  war  eine  grundlose  Unterstellung,  durch  Begriffisverwirrung  ent- 
standen. Man  meinte,  das  Bestmöglichste  müsse  auch  gut  sein, 
und  dachte  gar  nicht  daran,  dass  die  Bestmöglichkeit  einei 
Sache  nicht  das  Mindeste  über  ihre  Güte  aussagt,  dass  sie 
deshalb  so  schlecht  sein  kann,  wie  sie  will,  ja  dass  in  gewissen 
Fällen  das  mögliebst  Beste  und  das  möglichst  Schlechte  geradezu 
identisch  ist,  wo  nämlich  nur  ein  Fall  möglich  ist,  oder  auch,  wo 
alle  möglichen  Fälle  an  Güte  einander  gleich  sind.  Also  deshalb, 
weil  diese  Welt  die  bestmöglichste,  kann  sie  immer  noch  herzlich 
sohlecht  sein,  und  da  eben  ihre  Bestmöglichkeit  gar  nichts  über 
ihre  Güte  aussagt,  so  kann  auch  der  stärkste  Nachweis  ihrer 
Schlechtigkeit  niemals  ein  £inwand  gegen  ihre  Best- 
möglichkeit werden,  und  folglich  können  die  Widerlegun- 
gen dieser  £inwände  nie  eine  Stütze  für  die  Behauptung  der 
Bestmöglichkeit  werden,  sind  also  in  dieser  Beziehung  ganz  über- 


Nur  wenn  die  aufgezeigten  Mängel  und  Schlechtigkeiten  eine 
Anwendung  unangemessener  Mittel  zu  nachweislich  vor- 
handenen Zwecken  bewiesen,  nur  dann  würden  sie  eüien  Zwei- 
fel an  der  Allweisheit  des  Unbewussten  und  dadurch  indireet^  aber 
nur  indirect,  auch  an  der  Bestmöglichkeit  der  Welt  begründen. 
Dies  ist  aber  weder  in  Bezug  auf  das  Uebel,  noch  in  Bezug  auf 
das  moralisch  Böse,  noch  in  Bezug  auf  das  Wohlleben  der  Unsitt- 
lichen und  Leiden  der  Tugendhaften  der  Fall-,  die  Zwecke,  zu 


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welchen  diese  Umstände  unangemessene  Mittel  wären,  müssten  das 
Walten  allgemeiner  Glückseligkeit,  Sittlichkeit  nnd  Qereohtigkeit 
sein.  Was  zonächst  die  Sittlichkeit  nnd  Gerechtigkeit  betrifft,  so 
haben  beide  nur  eine  Bedeutong  auf  dem  Standpnncte  der  Indivi* 
dnation,  d.  h.  sie  gehören  nur  der  Welt  der  Erscheinung,  nicht 
dem  Wesen  derselben  an.  Die  Individuation  verlangt  als  Grund- 
instinot  zur  Erhaltung  der  Individuen,  also  als  Grundbedingung 
ihrer  Möglichkeit,  den  Egoismus;  ohne  Egoismus  keine  Indi- 
viduation; mit  Egoismus  nothwendig  sofort  Verletzung  des  Anderen 
Behufs  des  eigenen  Vortheils,  d.  h.  Unrecht,  Böses,  Unsittlichkeit 
u.  8.  f.  Dies  Alles  ist  also  ein  nothwendiges,  um  der  Individuation 
willen  unvermeidliches  Uebel,  wie  ich  schon  Cap.  A.  VIIL  S.  144 
im  Gebiete  organischer  Einrichtungen  darauf  hingewiesen  habe,  dass 
gewisse  unvermeidliche  Uebelstände  trotz  ihrer  Zweckwidrigkeit  gegen 
gewisse  Zwecke  ertragen  werden  müssen,  weil  ihre  Umgehung  eine 
Zweckwidrigkeit  gegen  noch  wichtigere  Zwecke  sein  würde. 

Zu  bewundem  ist  also  nur  die  Weisheit  des  Unbewussten,  die 
erstens  als  Gegengewicht  gegen  den  nothwendigen  Egoismus  jene 
anderen  Instincte,  wie  Mitleid,  Wohlwollen,  Dankbarkeit,  Billigkeils- 
gefühl  und  Yergeltungstrieb ,  in  des  Menschen  Brust  gelegt  hat, 
welche  zur  Verhütung  vieles  Unrechtes  und  Erzeugung  positiver 
Wohlthaten  dienen,  und  von  welchen  der  Vergeltungstrieb  und  das 
Billigkeitsgefühl  in  Verbindung  mit  dem  Staatenbildungstriebe  nach 
Uebertragung  der  Vergeltung  an  die  Staatsgewalt  die  Idee  der 
Gerechtigkeit  erzeugen ,  welche  nun  ihrerseits  durch  die  in  Aussicht 
gestellte  Strafe  die  Unterlassung  des  Unrechtes  zu  einer  Sache  des 
Egoismus  macht,  so  dass  dieser  sich  selbst  in  seinen  Ueberschrei- 
tongen  aufhebt. 

Aber  ganz  abgesehen  von  dieser  bewunderungswürdigen  Ein- 
richtung sind  und  bleiben  doch  Sittlichkeit  und  Gerechtigkeit  immer 
nur  Ideen,  die  bloss  in  Bezug  auf  das  Verhalten  der  Indivi- 
duen zu  einander,  oder  zu  den  aus  den  Individuen  gebil- 
deten Corporationen  eine  Bedeutung  haben,  aber  auf  das  innere 
Wesen  der  Individuen  angewendet,  d.  h.  auf  das  All-Einige  Un- 
bewusste  —  abgesehen  von  der  Form  seiner  Erscheinung  — 
bedeutungslos  werden.  Da  nun  aber  das  All-Eine  letzten  Endes 
nur  insoweit  an  der  Welt  interessirt  sein  kann,  als  es  mit 
seinem  Wesen  an  ihr  betheiligt  ist,  in  ihr  drin  steckt,  und  da 
die  Form  der  Erscheinung  wohl  wichtiger  Durchgangspunct» 


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528 

aber,  abgesehen  von  ihrer  Bückwirkung  auf  das  Wesen  selbst,  im» 
möglich  letzter  Zweck  sein  kann,  so  werden  auch  Sittlichkeit  imd 
Gerechtigkeit  als  formelle  Ideen  in  Bezug  auf  ihren  teleologischen 
Werih  für  das  Unbewusste  nur  nach  einem  solchen  Maassstabe 
gemessen  werden  können,  der  ausschliesslich  ihre  Wirkung  aof 
dessen  Wesen  berücksichtigt. 

Diesen  giebt  aber  allein  die  durch  Sittlichkeit  und  Unsittlich- 
keit,  durch  Gerechtigkeit  und  Ungerechtigkeit  in  sämmtlichen  Be- 
theiligten, handelnden  wie  leidenden  Individuen,  erzeugte  Summe 
von  Lust  und  Schmerz,  denn  diese  erst  sind  etwas  gani 
Beales,  nicht  wie  Sittlichkeit  und  Gerechtigkeit  blosse  Be- 
wusstseinsideen,  und  das  Unbewusste  ist  das  gem«iD- 
Schaft  liehe  Subject,  welches  sie  in  allen  den  yerschiedenen 
Bewusstseinen  fühlt.  Also  nicht  an  sich  kann  sittliches  Handeki 
für  das  Unbewusste  einen  Werth  haben,  sondern  nur,  insofern  es 
die  Summe  des  von  ihm  zu  fühlenden  Leides  verringert;  nicht  an 
sich,  auch  nicht  um  der  Sittlichkeit  willen  kann  die  Gerechtigkeit 
einen  Werth  haben,  sondern  nur  insofern  sie  durch  VermindeniDg 
unsittlichen  Handelns  das  zu  fühlende  Leid  vermindert  .  Wenn 
also  auch  Sittlichkeit  und  Gerechtigkeit  als  solche  nicht  Zwecke 
im  Weltprocesse  sein  können,  so  könnten  sie  es  wohl  um  der 
Glückseligkeit  willen  sein,  wenn  diese,  als  ein  das  Weswi 
des  Unbewusstien  unmittelbar  betreffender  Gegenstand,  als  Zweck 
betrachtet  werden  darf,  was  man  zunächst  wohl  meinen  sollte. 
Als  Zwecke  in  solchem  relativen  Sinne  können  aber  Sittlichkeit 
und  Gerechtigkeit  allerdings  ohne  Widerspruch  mit  den  Thatsachen 
betrachtet  werden,  da  in  der  That  die  schon  erwähnten  Instinot«, 
besonders  aber  die  mehr  und  mehr  sich  vervollkommnende  Gereoh* 
tigkeitspüege  als  Mittel  zur  Verminderung  des  unsittlichen  und 
ungerechten  Handelns  anerkannt  werden  müssen.  Gänzlich  ablegen 
aber  müssen  sie  ihren  Anspruch  auf  absolute  GKiltigkeit^  und  sich 
mit  einer  sehr  untergeordneten  relativen  Bedeutung  bescheiden, 
wobei  noch  hinzukommt,  dctös,  wie  die  Unsittlichkeit  ein  unv^- 
meidlicher  Uebelstand  ist,  ohne  den  keine  Individuation  möglich 
ist,  so  die  Anforderung  einer  directen  göttlichen  GerechtigkeitB- 
pflege  ein  theologischer  Unverstand  ist,  der  um  eines  ganz  gering- 
fügigen Nutzens  willen  die  Welt  unaufhörlich  aus  den  Fugen  ihrer 
Gesetze  rücken  müsste.  Von  der  Glückseligkeit,  d.  h.  der  möglich- 
sten Verminderung  des   Schmerzes  und   der  möglichsten  Erhöhung 


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^  _ 

der  Lost,  sollte  man  nun  allerdings  meinen,  dass  sie  als  etwas  das 
If  esen  des  Unbewnssten  selbst  Betreffendes,  gana  Eeaies,  eo  ipso 
Zweck  sein  müsste,  besonders  da  kein  anderes  Snbjeot  mm 
Fahlen  des  Schmerzes  und  der  Lost  da  ist,  als  das  All-Einige 
Unbewuaste;  dem  entsprechend  sehen  wir  auch  in  der  That  eine 
Menge  Veranstaltungen  zur  Abwehrung  des  Schmerzes  und  Erhöhung 
der  Lost  getroffen. 

Ebenso  wenig  können  wir  läugnen,  dass  unter  Yoransseitzung 
^er  Individuation  und  des  dam^t  zusammenhängenden  Egoismus  die 
unabwebbare  Nothwendigkeit  des  Schmerzes  im  Kampfe  um's 
Dasein  und  im  Tode  des  Individuums  gegeben  ist;  gleichwc^  finden 
wir  eine  Menge  Thatsachen,  die  in  Bezug  auf  die  Glückseligkeit 
als  zweckwidrig  erscheinen,  und  nur  dadurch  zu  begreifen  sind, 
wenn  die  anderen  Zwecke,  denen  sie  dienen,  z.  B.  Yerrollkomm- 
nang  des  Bewusstseins  u.  s.  w.,  wichtiger  als  die  Glückseligkeit 
sind;  ja  schon  bei  der  Individuation  selbst  ist  dies  der  FalL  Nun 
können  wir  aber  schlechtbin  nicht  begreifen,  wie  es  einen  Zweck 
geben  soU,  der  der  Glückseligkeit  vorangehen  könne,  da  doch  nichts 
directer  als  diese  das  Wesen  des  ünbewussten  angehen  kann;  wir 
können  nicht  begreifen,  wie  es  etwas  geben  könne,  was  ein  Opfei^ 
an  Glückseligkeit  lohnt,  es  sei  denn  die  Aussicht  einer  höheren 
Olückseligkeit,  oder  was  das  Aufsichnehm  n  eines  Schmerzes  lohnt, 
es  sei  denn  die  Aussicht  auf  Vermeidung  eines  grösseren  Schmer- 
zes; das  hiesse  ja  sonst  die  Zähne  in  sein  eigenes  Fleisch 
schlagen.  Wenn  also  wirklich  Glückseligkeit  der  höchste  Zweck 
sein  soll,  so  kann  es  nur  solche  Leiden  geben,  die  unvermeidlich 
sind,  \im  dafür  auf  einer  anderen  Seite,  oder  in  einem  späteren 
Stadium  des  Processes  eine  um  so  höhere  Glückseligkeit  zu  erlan- 
gen. Wenn  aber  hierzu  keine  Aussicht  wäre,  so  wäre  die  Existenz 
eines  Weltprooesses  oder  einer  Welt  überhaupt  vernünftigerweise 
nicht  zu  begreifen,  und  die  Erreichung  weiss  Gott  welcher  ande- 
ren Zwecke  könnte  für  die  XJebemahme  eines  die  Lust  über- 
wiegenden Schmerzes  keinen  vernünftigen  Grund  abgeben. 

Hier  ist  nun  der  Punct,  von  dem  aus  wir  wieder  auf  Leibniz 
zurückkommen  können.  Denn  es  wäre  doch  zu  sehr  zu  verwun- 
dem, wenn  die  Begriffsverwechselung  zwischen  der  vollkommenen 
Welt  als  bestmöglichsten,  und  der  vollkommenen  Welt  als 
durchweg  guten  und  makellosen,  bei  einem  so  feinen  Kopfe 
wie   Leibniz   nicht   eine   versteckte   Unterlage    hätte,  welche   die 

T.  Uartmann,  Phil.  «l.  Unbewiisflteii.  34 


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630 

Tendens  der  Theodicee  in  gewissem  Sinne  rechtfertigt  Diese  ist 
aber  auch  allerdings  vorhanden;  denn  nicht,  wie  vorgegeben,  um  die 
fiestmöglichkeit  der  Welt  zn  retten,  sachte  Leibniz  ihren  Werth 
durch  die  Frivativität  des  üebels  und  des  Bösen  zu  erhöhen,  son- 
dem  um  den  Schöpfer  wegen  seiner  Schöpfung  zu  recht- 
fertigen. 

Nämlich  unter  allen  möglichen  Welten  ist  der  Fall  nicht 
mit  inbegriffen,  dass  keine  Welt  geschaffen  werde,  weil  eben 
keine  Welt  auch  keine  Welt,  also  auch  keine  der  möglichen 
Welten  ist;  sollte  sich  nun  herausstellen,  dass  diese  bestehende 
Welt  schlechter  als  keine  ist,  so  würde  den  Schöpfer  der 
Vorwurf  treffen,  warum  er  sie  überhaupt  geschaffen  habe,  da  es 
doch  vernünftiger  gewesen  wäre,  keine  zu  schaffeiL  Dann  würde 
die  Schöpfung  als  solche,  ganz  abgesehen  davon,  wie  sie  ausge- 
fallen ist,  einem  unvernünftigen  Act  ihren  Ursprung  verdanken, 
und  man  hätte  dann  nur  die  Wahl,  entweder  anzimehmen,  daas 
die  Vernunft  des  Schöpfers  an  diesem  ursprünglichen  Acte  keinen 
Antheil  habe,  tind  dass  ihr  nur  die  Aufgabe  zugefallen  sei,  den 
ohne  ihr  Zuthun  gesetzten ,  über  die  Existenz'  entscheidenden  An- 
fang auf  die  bestmöglichste  Weise  fort-  und  durchzufuhren,  oder 
aber  zuzugeben,  dass  die  im  Einzelnen  unbestreitbare  Weisheit 
des  Schöpfers  im  Qanzen  in  einen  fundamentalen  Lrrthum  ver- 
fallen und  mithin  sich  selbst  völlig  untreu  geworden  sei,  wenn  man 
nämlich  die  Behauptung  aufrecht  erhalten  will,  dass  bei  jenem 
ursprünglichea  Acte  die  Totalität  des  Schöpfers  betheiligt  ge- 
wesen sei,  also  auch  seine  Vernunft.  *  Die  zweite  Annahme 
ist  zu  monströs;  wie  könnte  die  Allweisheit  sich  selbst  so  untreu 
werden,  gerade  in  dem  wichtigsten  Momente  die  grösste  Dummheit 
zu  begehen?  Auf  die  erste  Annahme  wollte  und  konnte  aber 
Leibniz  ebenso  wenig  eingehen,  weil  er  innerhalb  Gbttes  keine 
Mehrheit  der  Attribute  anerkannte.  Folglich  blieb  ihm  nur  übrig» 
sich  im  Voraus  gegen  die  Möglichkeit  zu  sichern,  dass  diese 
Welt  sich  als  schlechter  wie  keine  herausstellen  könnte, 
und  zu  diesem  Zwecke  erfand  er  die  Lehre  von  dem  privatrven 
Character  des  üebels. 

Wir,  die  wir  uns  die  Unbefangenheit  der  Betrachtung  vor 
Allem  zu  wahren  suchen,  werden  im  nächsten  Capitel  die  Frage 
empirisch  zu  lösen  versuchen,  ob  diese  Welt  ihrem  Nichtsein 
vorzuziehen  oder  nachzustellen  sei.     Sollte  sich  dann  das  Letztere 


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531 

eigebeii,  so  werden  wir  nns  der  GoliBequenz  nicht  yerschliessen,  dass 
die  Ezistenx  der  Welt  einem  anyernünftigen  Act  ihre  Ent- 
stehung verdanke,  werden  aber  nicht  annehmen,  dass  die  Ver- 
nunft selbst  in  diesem  einen  Pnncte  plötzlich  unvernünf- 
tig geworden  sei,  sondern  dass  derselbe  nur  deshalb  ohne  Ver- 
nunft vollzogen  sei,  weil  die  Vernunft  nicht  bei  ihm  betheiligt 
war.  Dies  wird  uns  dadurch  m^lich,  weil  wir  zwei  Thätigkeiten 
im  ünbewussten  kennen,  von  denen  die  eine,  der  Wille,  eben 
die  an  sich  unlogische  (nicht  antilogische,  sondern,  alogische),  un- 
vernünftige ist  Da  wir  nun  rückwärts  schon  längst  wissen,  dass 
alle  reale  Existenz  dem  Willen  ihre  Entstehung  verdankt,  so  wäre 
schon  a priori  nur  das  zu  bewundern,  wenn  diese  Existenz 
als  solche  liokt  unvernünftig  wäre. 

Wie  aber  auch  die  Entscheidung  ausfallen  möge,  keinenfalls 
wird  aus  ihr  ein  Einwand  gegen  die  Allweisheit  des  ünbe- 
wussten imd  gegen  den  Satz  herzuleiten  sein:  dass  von  allen 
möglichen  Welten  die  bestehende  die  beste  sei 


34* 

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Die  Uiyenuift  dM  WoUens  ud  dM  Elend  des 
Daeeins. 


Qrimtmuig  über  die  Ajdgske. 

Di«  Aufgabe  dieses  Capitels  ist,  zu  uotersacheiii  ob  das  Sein 
oder  das  Nichtsein  dieser  bestehenden  Welt  den  Vorzug  ver- 
diene. Mehr  als  irgend  vorher  muss  hierbei  um  die  Nachsicht  dei 
Lesers  gebeten  werden  ^  da  eine  einigermaassen  erschöpfende  Be- 
handlung des  Gegenstandes  ein  ganzes  Werk  in  Anspruch  nehmen 
würde.  Dennoch  kann  hier  sowohl  aus  äusseren  Gründen,  als  auch 
besonders  deshalb  nur  eine  episodische  Behandlung  gestattet  sein, 
weil  das  Resultat  dieser  Untersuchung  zwar  für  die  Klämng  der 
letzten  Principien  der  Philosophie  von  Wichtigkeit,  aber  nicht  von 
unmittelbarem  Einflüsse  auf  den  im  Titel  des  Werkes  versproche- 
nen Hauptinhalt,  „das  Unbewusste",  ist.  Gleichwohl  hoffe  ich  in 
einer  kurzen,  mannigfleushe  neue  Gesichtspuncte  bietenden  Betrach- 
tung auch  den  Gegnern  der  hier  vertretenen  Ansichten  Anregungen 
zu  geben,  welche  für  das  Durchlesen  dieser  Abschweifung  einiger- 
meutssen  entschädigen  dürften. 

Wenn  wir  auf  die  persönlichen  TJrtheile  der  grössten  Geist^ 
aller  Zeiten  blicken,  so  sprechen  diejenigen  unter  ihnen,  die  übe^ 
haupt  Gelegenheit  nahmen,  über  diesen  Punct  ihre  Meinung  zn 
äussern,  sich  entschieden  in  verurtheilendem  ^inne  aus. 

Plato  sagt  in  der  Apologie:  „Ist  nun  der  Tod  ohne  alle  Em- 
pfindung und  gleichsam  wie  ein  Schlaf,  in  dem  der  8chlunimem<lfi 
keinen  Traum  sieht,  so  wäre  er  ja  ein  ^Sonderbarer  Gewinn. 
Denn  ich  meine,  wenn  Jemand  eine  solche  Nacht,  in  der  er  so  fest 
geschlafen,   dass    er   keinen  Traum  gehabt,   herausgriffe,  und  die 


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533 

andereD  Nfichte  and  Tage  seines  Lebern  neben  diese  Naoht  stellte, 
und  dann  nach  emstlioher  üeberlegong  sagen  sollte,  wie  yiele  Tage 
und  Nächte  er  in  seinem  Leben  besser  mid  angenehmer  zugebracht 
habe,  als  diese  Nacht,  dass  nicht  etwa  bloss  ein  gewöhnlicher 
Mann,  sondern  der  grosse  König  von  Persien  selbst  diese  leicht 
werde  zählen  können,  den  anderen  Tagen  und  Nächten  gegenüber.'' 
^ächckier  nnd  ansdiaulicher  lässt  sich  der  Yorzng,  den  im  Durch- 
sofaaitt  das  Nichtsein  Tor  dem  Sein  verdient,  kaum  ausdrücken. 

Kant  sagt  (Werke  VIL  8.  381):  „Man  muss  sich  zwar  nur 
•chleoht  auf  die  S^iätzimg  des  Werthes  desselben  (des  Lebens) 
yerstehen,  wenn  man  noch  wünschen  kann,  dass  es  länger  währen 
solle,  als  es  wirklich  dauert,  denn  das  wäre  doch  nur  eine  Verlan- 
genmg  eines  mit  lauter  Mühseligkeiten  beständig  ringenden  Spieles.'' 
8.  3i^3  nennt  er  das  Leben  ,^mne  Erüfdngszeit ,  der  die  Meisten 
unterliegen  und  in  welcher  auch  der  Beste  seine»  Lebens  nicht 
troll  wird." 

Schelling  sagt  (Werke  L  7.  8.  899):  „Daher  der  Schleier  der 
Schwermuth,  der  über  die  ganze  Natur  ausgebreitet  ist,  die  tiefe 
unzerstörbare  Melancholie  alles  Lebens."     Femer  hat  er  (Werke  I. 

10.  8.  266 — ^268)  eine  sehr  schöne  Stelle,  welche  ich  ganz  durch- 
zulesen empfehle ;  hier  kann  ich  nur  einige  Bruchstücke  anführen : 
,J?^ilich  ist  es  ein  Schmerzensweg,  den  jenes  Wesen,  • .  .  das  in 
in  der  Natur  lebt,  auf  seinem  Hindurchgehen  durch  diese  zurück- 
legt, davon  zeugt  der  Zug  des  Schmerzes,  der  auf  dem  Antlitz  der 
ganzen  Natur,  auf  dem  Angesicht  der  Thiere  liegt.  .  .  .  Aber  dieses 
Unglück  des  Seins  wird  eben  dadurch  aufgehoben,  dass  es 
als  Nichtsein  genommen  und  empfanden  wird;  indem  sieh  der 
Menseh  in  der  möglichsten  Freiheit  dayon  zu  behaupten  sucht.  .  .  . 
Wer  wird  sich  noch  über  die  gemeinen  und  gewöhnlichen  Unfälle 
eines  Torübergdienden  Lebens  betrüben ,  der  den  Schmerz  des 
allgemeinen  Daseins  und  das  grosse  Schicksal  des  Ganzen 
erfasst  hat?"  „Angst  ist  die  Qrundempfindung  jedes  lebenden 
Gesehöpfes^'  (L  8,  322).  „Schmerz  ist  etwas  Allgemeines  und 
Nothwendiges  in  allem  Leben.  .  . .  Aller  Schmerz  kommt  nur  von 
dem  Sein^^  (L  8,  335).  „Die  Unruhe  des  unablässigen  Wollens 
und  Begehrens,  von  der  jedes  Gbsoh^^f  getrieben  wird,  ist  an  sich 
selbst  die  Unseli^^eit"    (IL  1,  473;   vgl.  auch  L  8,  235  —  236; 

11.  1,  556—557,  560). 

Idi  will  mich  mit  diesen  Citaten   begnügen,   einige   weitere 


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534 

findet  man  in  Sohopenhauer  8  Welt  alB  Wille  und  Yorstellang  U. 
Capitel  46. 

Was  bewei«en  aber  solche  Bubjectire  Meinungsäusaerangen  ohne 
beigefügte  Gründe?  Mass  man  ihnen  nicht  vielmehr  gerade  des- 
halb misstrauen,  weil  sie  von  hervorragenden  Geistern  aosgdieii, 
die  von  jener  melancholischen.  Trauer  angesteckt  sind»  welche  dis 
Erbtheil  fast  aller  Genies  ist,  weil  sie  sich  in  der  ihnen  unter- 
legenen Welt  nicht  heimisch  fühlen  können  (rergL  Aristoteles 
Probl.  30,  1)?  Gewiss,  der  Werth  der  Welt  muss  mit  ihrem  eige- 
nen Maassstabe,  nicht  mit  dem  des  Genies  gemessen  werden.  Sehen 
wir  deshalb  weiter. 

Man  denke  sich  Einen,  der  kein  Qeme  ist,  aber  einen  Mann 
von  universeller  modemer  Bildung,  mit  allen  äusseren  Gütern  einer 
beneidenswerthen  Lage  ausgestattet,  in  den  kräftigsten  Mannesjahien, 
der  sich  des  Vorzuges,  welchen  er  vor  den  niederen  Ständen,  vor 
den  ungebildeten  Nationen  und  vor  den,  Mitgliedern  roherer  Zeiten 
geniesst,  in  vollem  Maasse  bewusst  ist,  und  die  von  allerlei  ihm 
ersparten  Unbequemlichkeiten  geplagten,  über  ihm  Stehenden  keines- 
wegs beneidet,  einen  Mann,  der  weder  durch  übermässigen  Qewm 
erschöpft  und  blasirt,  noch  jemals  durch  besondere  Schicksalssdiläge 
niedergedrückt  worden  ist 

Nun  denke  man  sich  den  Tod  zu  diesem  Manne  treten  nnd 
sprechen:  ,, Deine  Lebenszeit  ist  abgelaufen  und  in  dieser  Stunde 
fällst  Du  der  Vernichtung  anheim ;  doch  luüagt  es  von  Deiner  jetzi- 
gen Willensentscheidung  ab,  nach  vollständigem  Vergessen  alles 
Bisherigen  Dein  jetzt  beschlossenes  Leben  noch  einmal  genau  in 
derselben  Weise  durchzumachen.     Nun  wähle  !^ 

Ich  bezweifle,  dass  der  Mann  die  Wiederholung  des  vorigen 
Spieles  dem  Nichtsein  vorziehen  wird,  wenn  er  bei  uneingesohüeh- 
terter  rahiger  Ueberlegung  und  nicht  überhaupt  einfältig  ist  Wie 
viel  mehr  aber  muss  nun  dieser  Mann  das  Nichtsein  erst  einem 
Wiedereintritt  in's  Leben  vorziehen,  welcher  ihm  nicht  die  gün- 
stigen Bedingungen  verbürgt,  wie  sie  sein  voriges  Leben  bot^  wel- 
cher im  Gegentheil  es  völlig  dem  Zufidl  überliesse,  in  welche  neuen 
Lebensbedingungen  er  einträte,  welcher  also  mit  einer  an  Gewiss- 
heit  grenzenden  Wahrscheinlichkeit  ihm  schlechtere  Lebensbedin* 
gungen  bietet,  als  die,  welche  er  soeben  verschmähte. 

In  der  Lage  dieses  Mannes  befände  sich  aber  das  UnbewoBste 
in  jedem  Augenblick  einer  neuen  Geburt,  wenn  es  wirklioh  die 
Möglichkeit  einer  Wahlentscheidung  hätte. 


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635 

Aber  aach  bei  diesem  Beispiele  ist  der  die  Ansichten  der 
Oenies  treffende  Vorwurf  nicht  zu  vermeiden,  dass  man  eine  durch 
Bildung  weit  über  das  Durchschnittsmaass  erhöhte  Intelligenz  be- 
fragt habe,  dass  aber,  da  jede  einzelne  Erscheinung  nach  ihrem 
eigenen  Maassstabe  beurtheilt  werden  muss,  die  Welt  im  Oanzen 
nur  dann  annähernd  richtig  beurtheilt  werden  könne,  wenn  die 
Beurtlrailung  nach  dem  Durchschnittsmaasse  aller  einzelnen 
Erscheinungen  stattfindet.  Es  bleibt  aber  aus  obigem  Beispiele, 
wenn  es  an  sich  richtig  ist,  immerhin  Das  bestehen,  dass  diese 
Btufe  der  Intelligenz  bereits  die  Erscheinung^  yon  der  sie  getragen 
ist,  Terurtheilt,  wozu  sie  unbestreitbar  der  allein  competente  Ge- 
riditshof  ist,  wogegen  der  Irrthum  nur  darin  li^,  dass  sie  sich 
für  competeiit  hält,  auch  das  unter  ihr  stehende  zu  yerurtheilen, 
während  dieses  doch  ebenfalls  allein  nach  seinem  eigenen  Maasse 
gemessen  werden  darf. 

Dieser  Irrthum  ist  aber  nicht  zu  rerwundem,  denn  er  findet 
auch  da  ganz  allgemein  statt,  wo  die  Intelligenz  nicht  so  hoch 
steht,  um  die  Erscheinung,  yon  der  sie  getragen  wird,  zu  yerur- 
theilen; man  frage  z.  B.  einen  Holzhauer  oder  einen  Hottentotten, 
oder  einen  Orang-Utang,  ob  er  lieber  Vernichtung  oder  Wieder- 
geburt in  einem  Nilpferde  oder  einer  Laus  wählen  würde ;  sie  alle 
würden  yermuthlioh  die  Vernichtung  yorziehen,  aber  trotzdem  die 
Wiederholung  ihres  eigenen  Lebens  der  Vernichtung  yorziehen, 
gerade  ebenso  wie  das  Nilpferd  und  die  Laus  eine  Wiederholung 
ihres  Lebens  der  Vernichtung  yorziehen  würden. 

Dieser  Irrthum  entspringt  aber  daher,  dass  der  (Gefragte  sich 
im  Moment  der  Entscheidung  mit  seiner  jetzigen  Intelligenz  in 
das  Leben  der  niederen  Stufe  versetzt ,  wo  er  es  natürlich  uner- 
träglich finden  muss,  und  yergisst,  dass  ihm  dann  auf  der  niederen 
Stufe  auch  nur  die  Intelligenz  dieser  niederen  Stufe  zu  ihrer  Be- 
ortheilung  zu  Gebote  steht. 

Es  bleibt  also  in  der  That  nichts  übrig,  als  jede  Erscheinungs- 
stufe des  ITnbewussten  nach  ihrem  eigenen  Maasse  zu  beurtheilen 
und  dann  von  diesen  sämmtlichen  Specialurtheilen  die  algebraische 
Summe  zu  ziehen;  jede  Beurtheilung  von  einem  fremden  Stand- 
puncte  liefert  unbrauchbare  Besultate;  denn  jedes  Wesen  ist  gerade 
so  glücklich,  wie  es  sich  f&blt,  nicht  wie  ich  mich  an  seiner  Stelle 
ndt  meiner  Intelligenz  fühlen  würde,  da  dies  eine  unwirkliche 
Unterstellung  ist. 


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686 

Schmers  und  Ltist  Bind  niir,  iiiBofern  sie  empfanden  wer* 
den;  sie  haben  also  überhaupt  keine  Realität  ausser  im  empfin- 
denden Bubjecte;  mithin  kam  ihnen  eine  objectire  Baalitiit 
nidit  unmittelbar,  sondern  nur  vermittelst  der  ol^eotiven  Beah- 
tat  des  Subjectes  su,  in  welchem  sie  existiren,.  d.  h.  ihre  Beaüttt 
ist  unmittelbar  eine  subjectiye,  und  nur  insofern  sie  subjee* 
tiye  Beelität  haben,  haben  sie  mittelbar  auch  olqectiYe.  Hierais 
folgte  dass  es  für  die  Bealität  der  Empfindung  keinen  anderen  var 
mittelbaren  Maassetab  giebt,  als  den  subjeotiyen,  und  da»  den- 
nach  eine  Täuschung  oder  Unwahrheit  des  Gefühles  als  sol- 
chen unmöglich  ist. 

Wohl  kann  das  Gefühl  insofern  unwahr  genannt  werden, 
als  die  Vorstellungen  unwahr  sind,  durch  welche  es  eiregt 
wird,  aber  dann  liegt  die  Täuschung  doch  immer  nur  in  der  Y<h^ 
Stellung  über  das  Object,  aber  das  Gefühl  selbst,  gleichviel  ob 
es  auf  realer  Basis  od^  auf  einer  Illusion  beruht,  ist  immer 
gleich  wahr  und  gleich  berechtigt,  in  der  grossen  Suimfie 
in  Bechnung  gestellt  lu  werden. 

Wenn  nun  der  Unterschied  in  dem  Urtheile,  welches  die  In- 
telligenz der  Laus  über  ihr  Leben  flAlt,  und  dem,  welches  mdne 
Intelligenz  über  ihr  Leben  Wli,  einzig  darauf  beruht,  dass  sich  die 
Laus  in  Illusionen  befindet,  welche  ich  nicht  theile,  und  dass  'üsr 
diese  Illusionen  einen  üeberschuss  von  gefühlter,  also  realer  Glück- 
seligkeit gewähren,  welcher  sie  ihr  Leben  der  Nichtezistenz  des- 
selben vorziehen  lässt,  so  hätte  offenbar  die  Laus  Becht  und  idi 
Unrecht.  So  einfadi  ist  aber  die  Entscheidung  dodi  nicht,  denn 
es  bleibt  ausser  dieser  Quelle  des  Lrrthums  von  meiner  Seite  noeb 
eine  Quelle  des  lrrthums  in  der  Antwort  der  Laus  übrig,  weloke 
ihr  TJrtheil  v^r&lscht,  wie  erstere  das  meinige.  Wenn  nämliok 
auch  allerdings  der  Lebenswerth  jedes  Wesens  nur  nach  seinem 
eigenen  subjectiven  Maassstabe  in  Anschli^  gebracht  werden  kam, 
und  hierbei  jede  Illusion  gleich  der  Wahrheit  gill^  so  ist  doch  da- 
mit keineswegs  gesagt,  dass  jedes  Wesen  aus  den  sämmtlichea 
Äffectionen  seines  Lebens  die  richtige  algebraische  Summe  zido, 
oder  mit  anderen  Worten,  dass  sein  Gesammturtheil  überaß 
eigenes  Leben  ein  in  Bezug  auf  seine  subjectiven  Srlebmsse  rich- 
tiges sei.  Ganz  abgesehen  von  dem  zur  Fällung  eines  solchen 
summarischen  Urtheiles  nothwendigen  Grade  von  Intelligenz^  blttbi 
doch  erstens   die  Möglichkeit  von  Gedächtniss-  und  OombinatioBS- 


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M7 

iehlemy  und  zweitens  von  einer  Beeinflassung  des  Urtheils 
dnrch  den  Willen  nnd  das  unbewusste  Gefü^il  übrig. 

Wenn  man  annehmen  darf,  dass  erstere  Fehler  sich  bei  den 
IJrtheilen  einer  grossen  Anxahl  von  Indiiddoen  aufheben  dürften, 
so  föUi  dag^;en  letztere  Fehlerqu^e  um  so  schwerer  in's  Gewicht. 
Wer  da  weiss,  wie  gewaltig  die  unbewusste  Beeinflussung  der  Vor- 
stellung und  des  Urtheiles  durch  den  Willen,  durch  Instincte, 
Affeete  und  Gefühle  ist,  der  wird  sofort  die  grosse  Bedeutung  der 
kierdurch  möglichen  Fehler  anerkminen.  Man  denke  zunächst 
daran,  wie  sich  im  Gedächtnisse  die  unangenehmen  Eindrücke  ver- 
wischen und  die  angenehmen  haften  bleiben,  so  dass  ein  in  der 
Wirklichkeit  höchst  fatales  Ereigniss  oder  Abenteuer  in  der  Er- 
innerung im  lieblichsten  Lichte  prangt  QunDat  fneminiaae  malorum) ; 
man  erwäge  femer,  dass  die  närrische  Eitelkeit  der  Menschen  weit 
genug  geht,  nicht  nur  gut,  sondern  auch  glücklich  lieber  scheinen, 
als  sein  zu  wollen,  so  dass  Jeder  sorgfaltig  verheimlicht,  wo  ihn 
der  Schuh  drückt,  und  dafür  mit  einer  Wohlhabenheit,  einer  Zu- 
friedenheit und  einem  Glücke  zu  prunken  sucht,  die  er  gar  nicht 
besitzt  Man  sieht  schon  hieraus,  mit  welcher  Vorsicht  man  die 
Urtheile  der  Menschen  über  ihren  eigenen  Glückszustand  auf- 
nehmen muss. 

Wenn  man  endlich  bedenkt,  wie  a  priori  zu  vermuthen  steht, 
dass  derselbe  unbewusste  Wille,  der  die  Wesen  mit  diesen  Instincten 
und  Affecten  geschafEen  hat,  auch  durch  diese  Instincte  und  A&cte 
auf  die  bewusste  Vorstellung  in  dem  Sinne  des  nämlichen  Lebens- 
dranges influiren  wird,  so  würde  man  sich  nur  darüber  zu  wundem 
baben,  wie  die  instinctive  Liebe  zum  Leben  im  Bewusstsein  über 
dieses  selbe  Leben  ein  den  Stab  brechendes  Urtheil  sollte  aufkom- 
men lassen  können. 

In  diesem  Sinne  sagt  Jean  Paul  sehr  gut:  „Wir  lieben  das 
Leben  nicht,  wdl  es  schön  ist,  sondern  weil  wir  es  lieben  müssen, 
und  daher  kommt  es,  dass  wir  oft  den  verkehrten  Sdüuss  ziehen: 
da  wir  das  Leben  lieben,  so  sei  es  schön.^  Was  hier  liebe  zum 
Leben  genannt  ist,  ist  nichts  Anderes  als  der  instinctive  Selbster- 
haltungstrieb, die  eondiUo  sine  qua  non  der  Individuation,  dessen 
negativer  Ausdruck  die  Vermeidung  und  A.bwehr  von  Störungen 
und  im  höchsten  Grade  die  Todesftircht  ist,  deren  schon  im  Beginne 
des  Gap.  B.  I.  Erwähnxing  gethan  ist.  Der  Tod  an  sich  ist  gar 
kein  üebel,   denn   der  damit  verknüpfte  Schmerz  fällt  ja  noch 


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538 

in's  Leben  und  würde  nicht  mehr  als  der  gleiche  Sohmen  in 
Krankheiten  gefürchtet  werden,  wenn  nicht  das  Aufhören  der 
individuellen  Existenz  damit  yerknüpft  wäre,  was  nicht  mehrem- 
pfunden  wird,  also  doch  erst  recht  kein  üebel  sein  kann«  So 
wenig  also  die  Todesforcht  anders  als  aus  dem  blinden  Selbsterhal- 
tungstriebe begriffen  werden  kann,  so  wenig  die  Liebe  zum  Leben. 
Wie  es  sich  im  Allgemeinen  mit  der  Todesfurcht  und  d^  Liebe 
zum  Leben  yerhält,  so  im  Besonderen  mit  yielen  einzelnen  Bich- 
tungen  des  Lebens,  welche  festzuhalten  und  eifrig  durchzuleben 
uns  der  instinctiye  Trieb  spornt,  infolge  dessen  unser  ürtheil  über 
die  algebraische  Summe  der  aus  dieser  Eichtung  erwachsenden  Ge- 
nüsse und  Schmerzen  yerfalscht  und  der  Eindruck  der  soeben  erst 
gemachten  Erfahrung  durch  die  neue  trügerische  Hoffiiung  über- 
tüncht wird.  Dies  ist  bei  allen  eigentlich  treibenden  Leidea- 
schaften,  dem  Hunger,  der  Liebe,  der  Ehre,  d^  Habsucht  u.  s.  ir. 
der  Fall. 

Es  müsste  nun  hier,  streng  genommen ,  in  Bezug  auf  die  yer- 
schiedenen  Triebe  und  Bichtungen  des  Lebens  untersucht  werden« 
in  wie  weit  der  Trieb  und  Affeot  selbst  eine  VerMschung  des 
ürtheils  über  den  durch  die  betreffende  Bichtung  summarisch  e^ 
langten  Genuss  oder  Schmerz  bewirkt,  doch  wäre  dies  eine  sehr 
schwierige  Angabe,  weil  die  Beistimmung  eines  jeden  Lesers  davon 
abhängen  würde,  dass  derselbe  sich  zur  Beurtheilung  seines  bis- 
herigen ürtheiles  in  jeder  dieser  Bichtungen  gegenwärtig  von 
diesem  verfälschenden  Einflüsse  des  Triebes  und  Affectes  völlig 
frei  mache,  was  wohl  schwerlich  zu  erwarten  ist,  denn  das  vtfmag 
kaum  eine  gewissenhafte  jahrelange  Selbstbeobachtung  zu  leisten. 
Abgesehen  von  der  geringen  Aussicht  auf  Erfolg,  welche  diese  Be- 
mühung ihrer  Natur  nach  bieten  würde,  wäre  noch  eine  äussef- 
liehe  Unbequemlichkeit  damit  yerknüpft.  Diese  Betrachtung 
nämlich  würde  uns  keineswegs  der  Au%abe  überheben,  hinteriier 
alle  diejenigen  Gefühle  einer  Kritik  zu  unterwarfen,  welche  unbe- 
schadet ihrer  vollen  Bealität  auf  Illusionen  beruhen,  und  welche 
daher  mit  Zerstörung  dieser  Illusionen  bei  wachsen- 
der bewusster  Intelligenz  mit  zerstört  werden. 

Diese  Untersuchung  können  wir  uns  nicht  erspar^  weil  aller 
Fortschritt  in  der  Welt  auf  Steigerung  der  bewussten  Intelligeitf 
abzielt. 

Die    niederen  Thiere   und  Pflanzen  werden   seit  Beginn  des 


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589 

organisohen  Lebens  mehr  und  mehr  durch  höhere»  die  höheren 
Thiere  durch  den  Menschen  verdrängt,  und  die  Menschheit  wird 
mit  der  Zeit  in  ihrer  Durchschnittsmasse  auf  einen  Standpunct  der 
Intelligenz  und  WeltanBchauung  kommen,  wo  jetsst  nur  wenige  Ge- 
bildete stehen. 

Die  Frage,  in  wie  weit  die  Gefühle  auf  Dlusionen  beruhen,  ist 
also  für  die  Entscheidung  unseres  Problems  von  höchster  Wichtigkeit, 
da  das,  was  aus  der  Welt  *wird,  das  wohin-  sie  zielt,  für  die  Be- 
urtheilung  ihres  Werthes  offenbar  eine  noch  weit  grössere  Bedeu- 
tung hat,  als  das  proyisorische  Entwickelungsstadium,  in  welchem 
sie  sich  zufallig  jetzt  befindet 

Wir  würden  also  dann  die  nämlichen  Triebe  und  Lebensrich- 
tungen  noch  einmal  unter  diesem  zweiten  Gesichtspuncte  zu  be- 
trachten haben,  und  es  leuchtet  ein,  dass  hierbei  manche  Wieder- 
holungen Torkommen  müssten,  theils  um  das  Yerständniss  nicht  zu 
stören,  theils  weil  im  concreten  Falle  die  beiden  Gesichtspuncte 
80  eng  in  einander  greifen,  dass  es  oft  kaum  möglich  scheint,  sie 
streng  zu  sondern.  Ich  ziehe  es  daher  vor,  die  Betrachtung  nach 
beiden  Gesichtspuncten  mit  einander  zu  verweben. 

Bei  Vielem,  von  dem  der  Leser  nicht  geneigt  sein  würde,  zu- 
zugestehen, dass  die  gewöhnliche  Annahme  eines  überwiegenden 
Genusses  auf  einem  Irrthume,  d.  h.  auf  einer  Verfälschung  des 
Urtheiles  durch  den  Trieb  beruht,  dürfte  derselbe  sich  kaum  wei- 
gern, einzuräumen,  dass  der  von  ihm  supponirte  überwiegende  Ge- 
nuas auf  einer  Illusion  beruht,  also  mit  gründlicher  Zerstörung  der 
Illusion  unmöglich  gemacht  wird.  Beides  kommt  aber  für  das  Ziel 
unserer  Betrachtung  fast  auf  dasselbe  heraus;  denn  wenn  es  wahr 
ist,  dass  bei  dem  fortschreitend  wachsenden  Maasse  der  Intelligenz 
in  der  Welt  auch  die  Dlusionen  des  Daseins  mehr  und  mehr 
untergraben  werdea  müssen,  bis  zuletzt  ,, Alles  als  ganz  eitel"  er- 
kannt wird,  so  würde  der  Zustand  der  Welt  immer  unglücklicher, 
je  mehr  sie  dem  Ziele  ihrer  Entwickelung  sich  nähert,  woraus  zu 
folgern  wäre,  dass  es  vernünftiger  gewesen  wäre,  die  Entwickelung 
der  Welt  je  früher  je  besser  zu  hindern,  am  Besten  die  Entstehung 
im  Entstehungsmomente  zu  unterdrücken« 


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540 


ErstM  Stadiam  dar  Illvnoii. 

Dag  Cßftek  wird  als  ein  auf  ier  jetiigeii  Bntmckelingsstafe   ier 

Welt  erreiehtes,    also  dem  heitigeii  IiidiYidiiiM  im  irdiseken  Lekea 

erreiehkares  gedacht. 

1.  Kritik  der  Sebopoiiliaiier'scbea  Theorie  von  der  Nofattviat  der  LmL 

Ich  moss  bei  dieser  Betrachtung  den  sogenannten  Schopen- 
hauer'schen  PesBimismus  als  bekannt  voranssetzen  (siehe :  Welt  als 
Wille  und  Vorstellung,  Bd.  I.  §.  56  —  59,  Bd.  ü.  Cap.  46,  Pa- 
rerga,  2.  Aufl.  Bd.  I.  S.  430—39  und  Bd.  IL  Cap.  XI.  und  XD) 
und  bitte  die  angeführten  Abschnitte  einmal  in  der  bezeichneten 
Reihenfolge  durchzulesen,  was  bei  Schopenhauei^s  pikantem  Styl 
ein  Ansuchen  ist,  für  das  mir  der  noch  damit  unbekannte  Leser 
gewiss  Dank  wissen  wird.  In  wie  weit  ich  von  den  dort  ange- 
nommenen Auf^sungen  abweiche,  geht  grösstentheils  schon  aus 
früher  Gesagtem  herror.  Der  (Welt  als  W.  und  V.  3.  Aufl.  Bd.  II. 
8.  667  —  668)  versuchte  Beweis,  dass  diese  Welt  die  sohlechtefite 
unter  allen  möglichen  sei,  ist  ein  offenbares  8ophisma;  überall 
sonst  will  auch  Schopenhauer  selbst  nichts  weiter  behaupten  und 
beweisen,  als  dass  das  Sein  dieser  Welt  schlimmer  sei  als  ihr 
Nichtsein,  und  diese  Behauptung  halte  ich  für  richtig.  Das  Wort 
Pessimismus  ist  also  eine  unangemessene  Nachbildung  des 
Wortes  Optimismus.  —  So  nutzlos  ich  femer  die  Versuche  des  Leib- 
niz  erachten  musste,  zur  Bettung  der  Allweisheit  und  der  best- 
möglichsten Welt  das  Elend  der  Welt  wegzudemonstriren,  so 
wenig  kann  ich  es  billigen,  dass  Schopenhauer  die  Weisheit  der 
Welteinrichtung  über  dem  Elend  der  Welt  so  sehr  übersieht,  und 
wenn  er  sie  auch  nicht  ganz  läugnen  kann,  doch  möglichst  unbe- 
.  achtet  lässt  und  gering  schätzt.  —  Alsdann  yerwahre  ich  mich  ge- 
f  gen  den  Begriff  der  Schuld,  welchen  Schopenhauer  in  die  Welt- 
schöpfnng  hineinträgt.  Schon  mehrmals  habe  ich  mich  g^en  eben 
transcendenten  Gebrauch  ethischer  Begriffe  ausgesprochen,  weil 
diese  nur  für  Bewusstseinsindividuen  im  Verkehr  mit  Bewusstseins- 
indiyiduen  eine  Bedeutung  haben.  Nur  das  kann  ich  mit  Sohopen- 
/  hauer  aus  dem  Elend  des  Daseins  folgern,  dass  die  Weltschöpfong 
ihren    ersten  Ursprung    einem    unvernünftigen  Acte  verdankt, 


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d.  h.  einem  solchen,  bei  welchem  die  Venranft  nicht  mitgewirkt 
hat,  also  dem  blossen  grundlosen  Willen.  —  Endlich  aber 
habe  ich  noch  Sohopenhauer's  fialsohe  Benutiung  des  B^^es  der 
Kegativität  hervorsuheben.  Wie  nämlich  Leibnia  der  Unlust,  so 
will  Sohop&ihauer  der  Lnst  einen  ausschliesslich  negativen  Cha- 
racter  beilegen,  zwar  nicht  ganz  in  dem  privativen  Sinne  wie  Leib- 
niz,  aber  doch  so,  dass  der  Schmers  allein  das  direct  Entstehende 
sein,  die  Lust  aber  nur  indireot,  durch  Aufhebung  oder  Ver- 
minderung des  Schmerzes  möglich  werden  soll  Nun  beabsichtige 
ich  nicht  im  mindesten,  zu  bestreiten,  dass  jede  Aufhebung  oder 
Yerminderung  eines  Schmerzes  eine  Lust  ist,  aber  nicht  jede  Lust 
ist  eine  Aufhebung  oder  Verminderung  des  Schmerzes,  und  umge- 
kehrt gilt  es  gerade  so  gut»  dass  die  Aufhebung  oder  Verminderung 
der  Lust  eine  Unlust  sei 

Allerdings  findet  dabei  s(dion  eine  Einschränkung  statt,  welche 
zu  Gunsten  des  Schmerzes  wirkt.  Nämlich  Lust  wie  Schmerz 
greifen  das  Nervensystem  an ,  und  bringen  dadurch  eine  Art  Er- 
müdung hervor ,  welche  bei  den  höchsten  Graden  der.  Lust  zur 
tödtliehen  Erschlaffung  werden  kann.  Hieraus  ergiebt  sich  ein 
mit  der  Dauer  und  dem  Grade  des  Gefühles  wachsendes  Bedürfiiiss, 
d.  h.  ein  (bewusster  oder  unbewusster)  Wille,  das  Aufhören  oder 
Nachlassen  des  Gefühles  eintreten  zu  lassen;  bei  der  Unlust  wirkt 
dieses  aus  dem  Angriff  auf  die  Nerven  stammende  Bedürfniss  mit 
dem  directen  Widerwillen  gegen  die  Ertragung  eines  Schmerzes 
zusammen,  bei  der  Lust  dagegen  wirkt  er  der  directen  Begierde 
nach  Festhaltung  der  Lust  entgegen,  und  vermindert  dieselbe  alle- 
mal i  ja  er  kann  sie  zuletzt  überwiegen  (man  denke  an  die  Er- 
schöpfung im  Geschlechtsgenuas).  Der  Schmerz  wird  (abgesehen 
von  völliger  Nervenabstumpfnng  durch  grosse  Schmerzen)  um  so 
schmerzlicher,  die  Lust  um  so  gleichgültiger  und  überdrüssiger,  je 
länger  sie  dauert. 

Hier  li^  schon  der  erste  Grund  versteckt,  warum  bei  völlig 
gleichachwebender  Waage  für  das  Maass  der  directen  Lust  und 
Unlust  in  der  Welt  durch  die  hinzukommende  Nervena^ection  zu 
Gtmsten  des  Schmerzes  der  Ausschlag  gegeben  werden  würde.  — 
Indem  aber  femer  durch  diese»  hinzukommende  Bedürfniss  des  Nach- 
lassens  in  Bezug  auf  jedes  andauernde  Gefühl  die  indirecte  (d.  h. 
durch  Aufhören  einer  Lust  entstandene)  Unlust  relativ  vermindert  da- 
gegen die  indirecte  (d.  h.  durch  Aufhören  einer  Unlust  entstandene) 


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LuBt  relativ  vetmehrt  wird,  zeigt  sich  schon  a  priori^  dass  ein  Ter- 
hältnissmässig  viel  grösserer  Theil  der  Lust,  als  der  Unlust  in  der 
Welt  aof  eine  indirecte  Entstehung  aus  dem  Nachlassen  seines 
Gcgentheiles  hinweist.  Da  es  nun  aber,  wie  sich  aus  dieser  ganzen 
Untersuchung  ergeben  wird,  wahr  ist,  dass  im  Ganzen  weit  mehr 
Schmerz,  als  Lust  in  der  Welt  ist^  so  ist  es  kein  Wunder,  dass  in 
der  That  durch  das  Nachlassen  dieses  Schmerzes  schon  der  bei 
Weitem  grösste  Theil  aller  Lust,  der  man  in  der  Welt  beg^net, 
seine  genügende  Erklärung  findet,  und  für  directe  Entstehung  nur 
wenig  Lust  mehr  übrig  bleibt. 

Mithin  kommt  es  für  die  Praxis  nahezu  auf  das  heraus, 
was  Schopenhauer  behauptet  (nämlich  dass  die  Lust  indirecte  Ent- 
stehung habe,  und  nur  der  Schmerz  directe);  dies  darf  aber  die 
principielle  Auffassung  nicht  alteriren,  denn  es  ist  und  bleibt 
unbestreitbar,  dass  es  auch  Lust  giebt>  welche  nicht  durch  Nach- 
lassen eines  Schmerzes  entsteht,  sondern  sich  positiv  über  den  In- 
differenzpunct  der  Empfindung  erhebt;  man  denke  an  die  Genüsse 
des  Wohlgeschmackes  und  die  der  Kunst  und  Wissenschaft,  welche 
letzteren  Schopenhauer  wohlweislich,  weil  sie  ihm  nicht  in  seine 
Theorie  der  Negativität  der  Lust  passten,  hinauswarf  und  als 
schmerzlose  Freuden  des  willenfreien  Intellectes  behandelte,  — 
als  ob  der  willensfreie  Litellect  noch  geniessen  könnte,  als 
ob  es  eine  Lustempfindung  geben  könnte,  ohne  einen  Willen, 
in  dessen  Befriedigung  sie  besteht!  Wenn  wir  nicht  umhin 
können,  den  Wohlgeschmack,  den  Geschleohtsgenuss  rein  physisch 
genommen  und  abgesehen  von  seinen  metaphysischen  Beziehungen, 
und  die  Genüsse  der  Kunst  und  Wissenschaft  als  Lustempfin- 
dungen in  Anspruch  zu  nehmen,  wenn  wir  zugeben  müssen,  dass 
dieselben  ohne  eineii  vorherigen  Schmerz,  ohne  ein  vorheriges 
Sinken  unter  den  Indifferenzpunct  oder  NuUpunct  der  Empfindung 
sich  positiv  über  denselben  erheben,  wenn  wir  endlich  an  unserem 
Principe  festhalten,  dass  die  Lust  nur  in  der  Befriedigung  eines 
Begehrens  bestehe,  so  muss  nothwendig  Schopenhauer's  Behauptung 
falsch  sein,  dass  die  Lust  nur  ein  Nachlassen  oder  Aufhören  des 
Schmerzes  sei. 

Nun  sagt  er  aber  zum  Beweise  derselben:  der  Wüle  ist, 
so  lange  er  besteht,  unbefriedigt,  denn  sonst  bestände  er  ja 
nicht  mehr,  der  unbefriedigte  Wille  aber  ist  Mangel,  Bedürf- 
niss,  Unlust;  wird  er  nun  befriedigt,  so  wird  diese  Unlust  aufge- 
hoben, und  darin  besteht  die  Befriedigung  oder  Lust;    eine  andere 

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543 

giebt  68  nicht.  Dies  Argument  scheint  unwiderleglich  und  doch 
ist  seine  Gonsequenz,  wie  gezeigt,  im  Widerspruch  mit  der  Erfah- 
rung. Die  Yermittelung  und  Vereinbarung  ergiebt  sich  leicht, 
wenn  man  sich  den  Genuss  des  Wohlgeschmackes  oder  einen 
Eunstgenuss  näher  darauf  ansieht  und  sich  fragt,  wo  denn  der 
Wille  stecken  sollte,,  der,  so  lange  er  unbefriedigt  ist,  Unlust  ist. 
Es  ist  weder  eine  Unlust,  noch  ein  unbefriedigt  existireifder  Wille 
aufzufinden.  Es  bleibt  also  nichts  übrig,  als  anzunehmen,  dass  der 
Wille  in  demselben  Moment  erst  hervorgerufen  werde,,  wo  er  auch 
schon  befriedigt  wird,  so  dass  zu  seiner  unbefriedigten  Existenz 
keine  Zeit  vorhanden  ist.  Dies  stimmt  damit  überein,  dass  es  ja 
ein  und  dasselbe  ist,  was  den  Willen  motivirt  (erregt)  und  was 
ihn  befriedigt,  wie  man  sieh  sofort  überzeugen  kann,  wenn  man 
einen  übelschmeckenden  /  Bissen  zwischen  wohlschmeckenden  ge- 
niesst,  oder  wenn  in  einem  Musikstück  fehlerhafte  Dissonanzen 
gegriffen  werden;  dann  wird  nämlich  der  Wille  zwar  motivirt  (er- 
regt), aber  er  wird  nicht  befriedigt,  und  nun  ist  sofort  die  Unlust 
da.  Hier  an  dem  Willen,  der  im  Entstehen  sofort  der  ihn  wieder 
vernichtenden  Befriedigung  anheimfallt ,  zeigt  sich  nun  auch  deut- 
lich, dass  die  Lust  der  Befriedigung  allerdings  etwas  ganz  Positives, 
nicht  aus  der  Yerminderung  des  Schmerzes  direct  und  allein  Her- 
vorgehendes ist,  dass  vielmehr  selbst  die  bei  der  Verminderung  des 
Schmerzes  sich  zeigende  indirecte  Lust  verstanden  werden  muss 
als  directe  Befriedigung  des  Willens,  den  Schmerz  los  zu  werden. 
Hätte  Schopenhauer  nicht  das  Vorurtbeil  von  dem  willensfreien 
Geniessen  des  Intellectes  an  diese  Betrachtung  mit  herangebracht, 
so  hätte  er  dieses  Verhältniss  wohl  erkannt  und  wäre  nicht  bei 
seiner  Auffassung  der  Negativität  der  Lust  stehen  geblieben. 

Das  Alles  aber  hätte  vielleicht  noch  nicht  genügt,  um  diese  Ueber- 
zeugung  in  ihm  festzustellen,  wenn  nicht  zu  seiner  Entschuldigung 
noch  Eins  hinzukäme.  Wir  haben  nämlich  Gap.  G.  HI.  S.  354  bis 
355  gesehen,  dass  die  KichtbefHedigung  des  Willens  zwar  ihrer 
Natur  nach  immer  bewusst  werden  muss ,  die  Befriedigung  aber 
keineswegs  unmittelbar^  sondern  nur  dann,  wenn  der  bewusste 
Verstand  sich  durch  Vergl eich ung  mit  entgegengesetzten 
Erfahrungen  zum  Bewusstsein  bringt,  dass  auch  die  Befrie- 
digung von  äusseren  Umständen  abhängig  und  nichts 
weniger  als  eine  unmittelbare  und  unfehlbare  Gonsequenz  des 
Willens    ist.      Ich   bitte    die  daselbst   angeführten  Beispiele  noch 


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einmal  nachleseii  zu  wollen  ^    damit  ich  sie  hier  nicht  sn  wieder- 
holen brauche. 

Besondere  Be^htong  verdient  es,  dass  man  bei  dem  gesama- 
ten  Pflanzenreich  und  den  niederen  Stulen  des  Thierreiehes  den 
Grad  von  fertigem  Bewusstsein,  welcher  zur  Yergleichung  Ton  Sr- 
ffldirongen  und  Anerkennung  ihrer  Abhängigkeit  Ton  äusseren  Ur- 
sachen gehört,  nicht  yoraussetzen  darf,  dass  man  demnach  diesel- 
ben auch  keines  Bewusstwerdens  von  Willensbefriedigungen,  also 
keiner  Ln^mpfindungen  fähig  erachten  darf^  während  Schmers 
und  Unlust  sich  auch  dem  dumpfesten  Bewusstsein  mit  unerbitt- 
licher Nothwendigkeit  aufdringen.  Aber  selbst  höhere  Thiere  dürf* 
ten  im  Allgemeinen  sich  viel  wenigerer  Willensbefriedigungen  be- 
wusst  werden,  als  man  gewöhnlich  nach  mensdilicher  Analogie 
anzunehmen  geneigt  ist.  Was  den  Menschen  selbst  betrifft,  so 
werden  auch  ihm,  da  natürlich  nicht  jeder  Mensch  in  jedem  Mo- 
ment einer  kleinen  Willensbefriedigung  sich  zu  Yergleichen  mit 
entgegengesetzten  Erfahrungen  nöthigt,  im  Allgemeinen  nur  solche 
Willensbeiriedigungen  bewusst,  d.  h.  als  Lust  empfanden,  deren 
begleitende  Umstände  den  Menschen  ohne  sein  Zuthun  auf  den 
Contrast  mit  entgegengesetzten  Erfahrungen  hinweisen,  z.  B.  unge- 
wöhnliche, seltene,  sei  es  ihrer  Art  oder  ihrem  Grade  nach,  oder 
solche,  welche  durch  Ideenassodation  an  entgegengesetzte  Erfah- 
rungen, sei  es  fremde,  sei  es  frühere  eigene,  erinnern. 

Alle  zur  Gtewohnheit  und  Begel  gewordenen  Willensbefirie- 
digoHgen  werden  immer  weniger  als  solche,  d.  h.  als  Lust  empfim- 
den,  je  weniger  sie  noch  die  Erinnerung  an  en^egengesetzte  Er- 
fahrungen aufkommen  lassen.  Es  ist  klar,  dass  der  bei  Weitem 
grössere  Theil  (nicht  dem  Grade  sondern  der  Anzahl  naeh)  der 
Willensbefriedigungen  dadurch  dem  Bewusstsein  verloren  gdien, 
während  alle  Nichtbefriedigungen  unverkürzt  empfunden  werden. 
Daher  sagt  Schopenhauer  ganz  richtig  (Welt  als  W.  und  Y.  3.  Aufl. 
Bd.  n.  S.  657):  „Wir  fühlen  den  Wunsch,  wie  wir  Hunger  und 
Durst  fühlen ;  sobald  er  aber  erfüllt  worden,  ist  es  damit,  wie  mit 
dem  genossenen  Bissen,  der  in  dem  Augenblick,  da  &p  verschlackt 
wird,  für  unser  G^efühl  da  zu  sein,  aufhört 

Genüsse  und  Freuden  vermissen  wir  sehmerzlioh,  sobald  sie 
ausbleiben;  aber  Schmerzen,  selbst  wenn  sie  nach  langer  Anwe- 
senheit ausbleiben,  werden  nicht  unmittelbar  vermisst,  sondern 
höchstens  wird  absichtlich  vermittelst  der  Reflexion  ihrer  gedacht. 


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In  dem  Maaste,  als  die  (^enÜBse  zunehmen,  nimmt  die  £m- 
pfänglichkeit  für  sie  ab;  dae  G^ewohnte  wird  nicht  mehr  als  Ge- 
noss  empfunden.  Eben  dadurch  aber  nimmt  die  Empfänglichkeit 
für  das  Leiden  zu;  denn  das  Wegfallen  des  Gewohnten 
wird  schmerzlich  gefühlt."  (Parerga,  2.  Aufl.  Bd.  II. 
8.  312):  „Wie  wir  die  Gesundheit  unseres  ganzen  Leibes  nicht 
fühlen,  sondern  nur  die  kleine  Stelle,  wo  uns  der  Schuh  drückt, 
«0  denken  wir  auch  nicht  an  unsere  gesammten,  vollkommen  wohl 
gehenden  Angelegenheiten ,  sondern  an  irgend  eine  unbedeutende 
Kleinigkeit,  die  uns  verdriesst.'^  Falsdi  aber  ist  es,  wenn  er  hin- 
zufugt: „Hierauf  beruht  die  yon  mir  öfter  hervorgehobene  Nega- 
tivität  des  Wohlseins  und  Glücks,  im  Gegensatz  der  Fositivität  des 
Schmerzes.^  Allerdings  existirt  für  dasBewusstwerden 
Ton  Lust  und  Schmerz  ein  gewisses  Analogon  dieser  Begriffe,  in- 
M^em  der  Schmerz  von  sich  allein,  die  Lust  aber  nur  im  Gegen- 
satz zur  YorstelluDg  des  Schmerzes  bewusst  wird;  allerdings  sind 
die  Wirkungen  häuflg  dieselben,  als  ob  die  SchopenhauerWhe 
Auffassung  der  Negativität  der  Lust  richtig  wäre ,  dennoch  aber 
ist  zwischen  beiden  ein  himmelweiter  üntersdbied ,  und  es  bleibt 
ab  Princip  stehen,  dass  Lust  xmd  Schmerz  im  Allgemeinen  sich 
wie  das  mathematische  Positive  und  Negative  unterscheiden,  d.  h. 
80,  dass  es  gleichgültig  ist,  welches  Vorzeichen  man  dem  Einen, 
welches  dem  Anderen  giebt. 

Es  hat  sich  wieder  einmal  recht  deutlich  gezeigt ,  wie  un- 
endlich viel  fruchtbarer  als  blosse  Kritik  das  Naehdenkan  über 
die  Gründe  ist,  durch  welche  grosse  Männer  zu  falschen  Hypothe- 
sen verleitet  sind.  Indem  wir  nämlich  die  H3rpotheae  von  der 
^Negativität  der  Lust  ebenso  unrichtig  als  die  des  Leibniz  von  der 
Negativität  des  Uebele  fanden,  haben  wir  sugleioh  drei  Momente 
erfasst,  deren  jedes  zu  Gunsten  des  Schmerzes  in  unsere  Waag- 
schale fällt,  und  welche  in  ihrer  Vereinigung  practisch  fast  das- 
selbe Besultat  geben,  wie  die  Schopenhauer^sohe  Theorie;  es  eind 
dies  1)  die  Erregung  und  Ermüdung  der  Nerven  und  das  daraus 
entspringende  Bedtirfuiss  naoh  dem  Aufhören  dres  Genusses,  wie  dee 
Schmerzes ;  2)  die  Nothwendigkeit,  alle  Lust  als  indirecte  sa  berück- 
sichtig^i,  welobe  nur  durch  Aufhören  oder  Nachlassen  einer  Un- 
lust, aber  nicht  durch  momentane  BeMedjgung  eines  Willens  im 
Angenblick  der  Erregung  desselben  entsteht;  3)  die  Schwierigkei- 
ten; weiche  dem  Bewusstwerden  der  Willensbefriedigung  entgegen- 

▼.  Hftrtmann,  Fhil.  d.  UnbewQMten.  35 


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646 

stehen,  während  die  Unlust  eo  ipso  Bewnsstaein  eizeugt;  —  wir 
können  hinzufügen:  4)  die  kurze  Dauer  der  Befriedigung ,  die 
wenig  mehr  als  ein  ausklingender  Augenhlick  ist,  während  die  Nicht- 
befriedigung  so  lange,  wie  der  actuelle  Wille  währt,  also,  da  es 
kaum  einen  Moment  giebt,  wo  nicht  ein  actueller  Wille  yorhanden 
wäre,  so  zu  sagen ,  ewig  ist,  und  nur  allenfalls  limitirt  durch  die 
Befriedigung,  welche  die  Hoffiiung  gewährt. 

Dem  zweiten  Punct  müssen  wir  noch  einige  Berücksichtigung 
schenken.  Wenn  wir  Beispiele  solcher  Lustempfindungen  suchen, 
welche  nur  in  einem  Aufhören  oder  Nachlassen  der  Unlust  beste- 
hen, so  ist  sorgfaltig  darauf  zu  achten,  dass  man  nicht  solche  FäUe 
mit  hineinzieht,  wo  die  Lust  noch  durch  eine  anderweitig  hinzu- 
kommende Willensbefriedigung  verstärkt  wird,  wie  z.  B.  zur  Be- 
friedigung des  Hungers  und  Durstes  der  Wohlgeschmack  der  Spei- 
sen und  die  kühlende  Erquickung  des  Trankes,  zur  Stillung  der 
Liebessehnsucht  der  physische  Geschlechtsgenuss  hinzukommt 
Beine  Beispiele  sind  für  das  sinnliche  Gebiet  ein  nachlassender 
Zahnschmerz,  für  das  geistige  die  Genesung  eines  Freundes  aus 
tödtlicher  Krankheit  So  wie  man  solche  reine  Beispiele  betrach- 
tet, wird  kein  Mensch  mehr  zweifelhaft  sein,  dass  die  durch  Auf- 
hören der  Unlust  entstehende  Lust  sehr  viel  geringer  ist,  als  jene 
Unlust  war,  gerade  wie  umgekehrt  die  durch  Aufhören  einer  Lust 
entstehende  Unlust  weit  geringer  als  jene  Lust  ist. 

Diese  Erscheinung  könnte  im  ersten  Augenblick  überraschen, 
da  man  die  Stärke  des  Geüihles  nur  von  dem  Gbtide  der  Aen- 
derung,  nicht  aber  von  der  Lage  des  Anfangs-  oder  Endpunk- 
tes der  Veränderung  zum  Lidifferenzpuncte  der  Empfindung  ab 
abhängig  betrachtet,  jedoch  erklärt  sich  dieselbe  meines  Eraohtens 
bei  der  aufhörenden  Unlust  aus  dem  die  Lust  beeinträchtigenden 
nachwirkenden  A erger ,  dass  man  die  Unlust  so  lange  habe  ertra- 
gen müssen;  man  fühlt  sich  gleichsam  seinem  Schicksale  für  die 
Befreiung  Tom  Schmerz  weniger  zum  Dank  verpflichtet,  als  für  die 
Auflegung  des  Schmerzes  zum  Murren  und  Bechenschaftfordem 
berechtigt,  weil  die  ganze  Bewegung  unterhalb  des  Laditfer^iz- 
punctes  vor  sich  ging,  während  bei  der  aufhörenden  Lust  der  um- 
gekehrte Fall  eintritt,  dem  noch  die  nervöse  Ermüdung  hinzukommt 
Dieser  Erklärung  entspricht  es  vollständig,  dass  diese  Schmälemng 
der  Lust  im  Yerhältniss  zu  der  Unlust,  in  deren  Aufhören  sie  besteht, 
nur  dann  eintritt,  wenn  der  Umstand,  dass  die  ganze  Bewegung  unter- 


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547 

halb  des  NnUpunotes  der  Empfindung  vor  sich  gegangen  ist,  anch 
wirklich  in's  Bewnsstsein  fällt.  Je  weniger  das  Bewusstsein  des 
Betheiligten  die  Bewegung  unterhalb  den  Nullpunct  der  Empfin- 
dung verlegt,  desto  mehr  wird  factisch  die  Lust  dem  Grade  nach 
der  Unlust  gleich,  in  deren  Aufhören  sie  besteht  Dies  ist  bei 
sinnlichem  Schmerz  am  wenigsten  mögHoh ,  daher  sich  Memand 
auf  die  Folter  spannen  lassen  wird,  um  das  Vergnügen  des  Auf- 
hörens  der  Schmerzen  zu  gemessen;  auf  geistigem  Gebiet  aber  ist 
der  Kampf  mit  der  Noth  und  die  Freude  über  jeden  errungenen, 
die  nächste  Zukunft  sichernden  Sieg  der  Beweis  davon.  Sobald 
sich  die  Menschen  klar  machen  werden,  dass  diese  Freude  zu  der 
vorangehenden  Sorge  sich  nicht  anders  verhält,  wie  das  Nachlassen  der 
Schmerzen  zu  den  Folterqualen,  und  dass  diese  Bewegung  ebenso 
wie  jene  völlig  unterhalb  des  Nullpunctes  der  Empfindung  fällt, 
sobald  werden  sie  auch  jene  Siege  über  die  Noth  so  wenig  mehr 
geniessen,  wie  der  Gefolterte  das  Nachlassen  der  Stricke  ge- 
niesst. 

Was  man  heutzutage  das  Gespenst  der  Massenarmuth  nennt, 
ist  nichts  als  dies  in  den  Massen  auftauchende  Bewusstsein,  dass 
der  Kampf  mit  der  Noth,  die  Sorge  und  ihre  Linderung  ganz  auf 
der  negativen  (Schmerz-)  Seite  des  NuUpunctes  der  Empfindung 
liegt,  während  früher,  wo  die  Massenarmuth  zehnmal  grösser  war, 
dies  Bewusstsein  fehlte  und  die  Leute  ihre  Armuth  wie  von 
Gottes  Gnaden  trugen.  Auch  wieder  ein  Beweis,  wie  die  fort-  1 
schreitende  Intelligenz  die  Menschen  unglücklicher  macht.  —  Dieser  | 
Kampf  der  Menschen  mit  der  Noth  ist  aber  erst  Ein  Beispiel;  j 
wenn  man  sich  unter  den  möglichen  Freuden  der  Welt  umsieht, 
80  wird  man  jedoch  sehr  bald  gewahren,  dass  mit  der  Ausnahme 
der  physisch  -  sinnlichen ,  der  ästhetischen  und  der  wissenschaft- 
lichen Genüsse  kaum  ein  Glück  zu  gewahren  ist,  welches  nicht 
auf  der  Befreiung  von  einer  vorangegangenen  Unlust  beruhte, 
ganz  besonders  aber  wird  dies  für  grosse,  lebhafte  Freuden  gelten. 
Voltaire  sagt :    „ü  n^eat  de  vrais  plaisirs  qu^avec  de  vrms  besoinaJ' 

Es  sohliesst  sich  hieran  unmittelbar  die  interessante  Frage 
an,  ob  denn  überhaupt  die  Lust  ein  aufwiegendes  Aequivalent  für 
den  Schmerz  sein  könne,  und  welcher  Coefficient  oder  Exponent 
zu  einem  Grade  der  Lust  gesetzt  werden  müsse,  um  einen  gleichen 
Ghrad  von  Schmerz  für  das  Bewusstsein  aufzuwiegen.  Schopenhauer 
stellt  unter   Anführung  des  Petraroa'schen  Verses :    ,,Mäle  piacer 

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648 

non  vagliono  tm  tormento*^  (Tausend  Gbnüese  sind  nicht  Eine  Qual 
werth)  die  exoentrische  Behauptung  auf,  dass  ein  Schmerz  über- 
haupt nie  und  durch  keinen  Grad  von  Lust  aufgewogen  werden 
könne,  dass  also  eine  Welt,  in  der  überhaupt  der  Schmerz  vor- 
kommen könne^  unter  allen  Umständen  bei  noch  so  überwiegendem 
Glück  schlechter  als  das  Nichts  sei.  Diese  Ansicht  dürfte  wohl 
kaum  Unterstützung  finden^  ob  aber  nicht  insofern  ein  richtiger 
Kern  in  ihr  liegt ,  als  der  zur  Aequivalenz  nöthige  Coefficirat 
durchaus  nicht  =»  1  zu  sein  brauche ,  wie  man  gewöhnlich  an- 
nimmt, das  wäre  wohl  einer  Betrachtung  werth.  —  Wenn  ich  die 
Wahl  habe,  entweder  gar  nichts  zu  hören,  oder  erst  fünf  Minuten  lang 
Misstöne  und  dann  fünf  Minuten  lang  ein  schönes  Tonstöck 
zu  hören ,  wenn  ich  die  Wahl  habe ,  entweder  nichts  zu 
riechen,  oder  erst  einen  Gestank  und  dann  einen  Wohlge- 
ruch  zu  riechen,  wenn  ich  die  Wahl  habe,  entweder  nichts 
zu  schmecken,  oder  erst  etwas  sohlecht  Schmeckendes  und  dann 
etwas  Wohlschmeckendes  zu  kosten,  so  werde  ich  mich  auf  alle 
Fälle  zu  dem  Nichts  -  hören,  -riechen  und  -schmecken  entscheiden, 
auch  dann,  wenn  die  auf  einander  folgende  gleichartige  Unloit- 
und  Lustempfuidung  mir  nach  gleichem  Grade  bemessen  sckeineD, 
obwohl  es  freilich  sehr  schwer  sein  dürfte ,  die  Gleichheit  des 
Grades  zu  coustatiren.  Hieraus  sohliesse  ich,  dass  die  Lust  dem 
Grade  nach  merklich  grösser  sein  musSi,  als  «ine  gleichartige 
Unlust,  wenn  beide  sich  für  das  Bewusstsein  so  aufwiegen  sollen, 
dass  man  ihre  Verbindung  dem  Nullpunot  der  Empfindung  gleich 
setzt  und  sie  demselben  bei  einer  kleinen  Erhöhung  der  Lust  oder 
Erniedrigung  der  Unlust  vorzieht.  Wahrscheinlich  schwankt  übrigeas 
dieser  Goefdcient  bei  verschiedenen  Individuen  zwischen  gewissen 
Grenzen,  und  dürfte  nur  seine  mittlere  Grösse  grösser  als  1  sein. 
Ueber  die  dieser  merkwürdigen  Erscheinung  zu  Grunde  lie- 
genden Ursachen  wage  ich  keine  Yermuthungen  aufzustellen«  So 
viel  ist  gewiss,  dass,  wenn  die  Thatsache  richtig  ist,  auch  dieser 
Umstand  zu  Ungunsten  eines  überwiegenden  Glückes  in  der  Welt 
spricht.  Die  Welt  gleicht  dann  einer  Geld-Lotterie:  die  einge- 
setzten Schmerzen  muss'  man  voll  einzahlen,  aber  die  Gewinne  er- 
hält man  nur  mit  Abzug  ausbezahlt  So  sagt  Schopenhauer  <Ps' 
rerga  ü.  313):  „Hiermit  stimmt  auch  dies,  dass  wir  m  dwEegel 
die  Freuden  weit  unter,  die  Bchm^zen  weit  über  unserer  Erwai^ 
tung  finden.''  (S.  321):  „Sehr  zu  beneiden  ist  Niemand,  sehr  zu 
beklagen  Unzählige."     (W.    a.    W.   u.  V.  11.  658):    „Ehe  man  so 


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znyerBichtlioh  ausspricht,  dass  das  Leben  ein  wünschenswerthes 
oder  dankenswerthes  Ghit  sei,  vergleiche  man  einmal  gelassen  die 
Sonnne  der  nur  irgend  möglichen  Freuden ,  welche  ein  Mensch  in 
seinem  Leben  geniessen  kann,  mit  der  Summe  der  nur  irgend 
möglichen  Leiden,  die  ihn  in  seinem  Leben  treffen  können.  Ich 
glaube,  die  Bilanz  wird  nicht  schwer  zu  ziehen  sein/' 

Es  ist  nun  unsere  Au%abe,  im  Leben  des  Lidiyiduums  nach- 
zuforschen, ob  die  Summe  der  Lust  oder  der  Unlust  überwiegt, 
und  ob  in  dem  Lidividuum  als  solchem  die  Bedingungen  gegeben 
sind ,  um  unter  den  denkbarst  günstigsten  Umständen  in  seinem 
Leben  einen  Ueberschuss  der  Lust  über  die  Unlust  zu.  erwichen. 
Ba  das  zil  betrachtende  Feld  zu  gross  zu  einem  gleichzeitigen 
Ueberschauen  ist,  so  wollen  wir  uns  die  Lösung  erleichtern,  indem 
wir  die  Summe  der  Lust  und  Unlust  nach  den  Hauptrichtungen 
des  Lebens  gesondert  betrachten.  Immer  aber  muss  während  der 
künftigen  Betrachtungen  der  Leser  die  vorangeschickten  allgemei- 
nen Bemerkungen  im  Sinne  behalten,  da  die  in  denselben  erwähn- 
ten Umstände  fortwährend  als  wesentlich  beschränkende  Coefficien- 
ten  der  Lust  in  Wirksamkeit  sind ,  wohingegen  sie  den  Schmerz 
entweder  vollgültig  bestehen  lassen,  oder  gar  noch  vermehren. 

2.    Gesiiulheit,  Jugeml,  Freiheit  und  ausk5nnllche  Existenz  als  Bedingungen 
des  Nullpunotes  der  Empfindung,  und  die  Zufriedenlielt.     ^ 

Die  genannten  Zustände  werden  meistens  als  die  höchsten 
Güter  des  Lebens  in  Anspruch  genommen,  und  nicht  ohne  Grund; 
gleichwohl  gewähren  sie  durchaus  keine  positive  Lust,  ausser  wenn 
sie  durch  Uebergang  aus  den  ihnen  entgegengesetzten  Unlustzu- 
ständen  soeben  erst  entstehen;  während  ihres  ungestörten  Bestan- 
des aber  stellen  sie  durchaus  nur  den  NuUpunct  der  Empfindung 
und  keineswegs  eine  positive  Erhebung  über  denselben  dar,  den 
Batihorizont,  auf  dem  erst  die  zu  erwartenden  Genüsse  des  Lebens 
errichtet  werden  sollen.  Hiermit  stimmt  überein,  dass  der  Bestand 
dieser  Zustände  so  wenig  ein  Lust-  als  ein  Unlustgefühl  erweckt, 
da  am  Nullpuncte  überhaupt  nichts  zu  fühlen  ist,  dass  aber  jedes 
Herabsinken  von  diesem  Bauhorizont  in  Krankheit,  Alter,  Unfrei- 
heit und  Noth  schmerzlich  empfunden  wird.  Diese  Güter  haben 
also  in  der  That  den  rein  privativen  Character,  den  Leibniz  dem 
Uebel  zuschreiben  wollte,  sie  sind  die  Frivation  von  Alter,  Krank- 
heit, Knechtschaft  und  Noth,  und  sind  ihrer  Natur  nach  unfähig, 
«nch  über  den  NuUpunct  der  Empfindung  nach  der  Seite .  der  Lust 


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zu  erheben,  also  unfähig,  eine  Lust  zu  erzeugen,  es  sei  denn  durch 
Nachlassen  einer  vorangehenden  Unlust,  und  sollte  diese  auch  nur  als 
Furcht  oder  Sorge  in  der  Vorstellung  bestehen.  Bei  der  Gesundheit  ist 
Alles  dies  ganz  von  selbst  einleuchtend;  Niemand  fühlt  ein  Glied,  als 
wenn  er  krank  ist,  nur  der  Nervenkranke  fühlt,  dass  er  Nerven,  nur  der 
Augenkranke,  dass  er  Augen  hat;  der  Gesunde  aber  nimmt  nur 
durch  Gesichts  -  und  Tastsinn  wahr ,  dass  er  einen  Leib  hat.  Mit 
der  Freiheit  ist  es  ebenso.  Niemand  fühlt,  wenn  er  selbst  seine 
Handlimgen  bestimmt,  denn  dies  ist  der  selbstverständliche  natür- 
liche Zustand;  wohl  aber  empfindet  er  schmerzlich  jeden  Zwang 
von  aussen,  jeden  Eingriff  in  seine  Selbstbestimmung  gleichsam 
als  eine  Verletzung  des  ersten  und  ursprünglichsten  Naturrechtes, 
das  er  mit  jedem  Thiere,  mit  jeder  Atomkraft  theilt  —  Die  Jugend 
ist  erstens  das  Lebensalter,  in  welchem  allein  eine  vollkommene 
Gesundheit  und  ungehinderter  Gebrauch  des  Körpers  und  Geistes 
gefunden  wird,  während  mit  dem  Alter  auch  seine  Gebrechen  sich 
einstellen,  welche  schmerzlich  genug  empfunden  werden.  Zweitens 
aber  besitzt  allein  die  Jugend,  was  eigentlich  schon  aus  dem  un* 
behinderten  Gebrauch  des  Körpers  und  Geistes  folgt,  die  volle 
Genussfähigkeit,  während  im  Alter  wohl  alle  Beschwerden, 
Unbequemlichkeiten,  Verdruss,  Widerwärtigkeiten  und  Plagen  sich 
doppelt  fühlbar  machen,  die  Fähigkeit  zum  Geniessen  aber  mehr 
und  mehr  abnimmt.  Diese  Genussfahigkeit  hat  aber  doch  aach 
nur  den  Werth  des  Bauhorizontes,  sie  ist  nur  Fähigkeit,  d.  h.Mög- 
lichkeit  (nicht  Wirklichkeit)  des  Genusses ;  was  nützen  mir  z.  B. 
die  besten  Zähne,  wenn  ich  nichts  zu  beissen  habe !  —  Endlich  kann 
auch  die  auskömmliche  Existenz,  oder  das  Gesichertsein  vor  Noth 
und  Entbehrung  nicht  als  ein  positiver  Gewinn  oder  Genuss  ange- 
sehen werden,  sondern  nur  als  die  conditio  sine  qua  non  des 
nackten  Lebens,  das  erst  seiner  genussreichen  Erfüllung  harrt 
Hunger,  Durst,  Frost,  Hitze  oder  Nässe  zu  ertragen,  ist  schmen- 
lich;  der  Schutz  vor  diesen  Uebeln  durch  nothdürftige  Wohnung, 
Kleidung  und  Nahrung  kann  kein  positives  Gut  heissen  (der  Ge- 
nuss beim  Essen  gehört  nicht  in  diese  Betrachtung).  Wäre  näm- 
lich das  in  seinen  Existenzbedingungen  gesicherte  nackte  Leben 
schon  ein  positives  Gut,  so  müsste  das  blosse  Dasein  an  sich  selbst 
uns  erfüllen  und  befriedigen.  Das  Gegentheil  ist  der  Fall:  das 
gesicherte  Dasein  ist  eine  Qual,  wenn  nicht  eine  Erfüllung  des- 
selben hinzukommt.    Diese  Qual,    welche  sich  in   der  Langeweile 


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aosaphcht,    kann   so  unerträglich   werden,    daes  selbst  Schmerzen 
und  Uebel  willkommen  sind,   um  ihr  zu  entgehen. 

Die  gewöhnlichste  Erfüllung  des  Lebens  ist  die  Arbeit; 
es  kann  kein  Zweifel  obwalten,  dass  die  Arbeit  für  den,  der 
arbeiten  muss,  ein  Hebel  ist,  mag  sie  auch  in  ihren  Folgen 
für  ihn  selbst,  wie  für  die  Menschheit  und  den  Fortschritt 
in  ihrer  Entwickelung  noch  so  segensreich  sein;  denn  Niemand 
arbeitet,  der  nicht  muss,  d.  h.  der  nicht  die  Arbeit  als  das 
kleinere  von  zwei  üebeln  auf  sich  nähme,  sei  nun  das  grössere 
Hebel  die  Noth,  die  Qual  des  Ehrgeizes  oder  auch  bloss  die  Lange- 
weile. Alles,  was  man  über  den  Werth  der  Arbeit  sagen  kann, 
reducirt  sich  entweder  auf  rolkswirthsehaftlich  günstige  Folgen 
(wovon  wir  später  handeln),  oder  auf  die  Yermeidung  grösserer 
Uebel  durch  dieselbe  (Müssiggang  ist  aller  Laster  Anfang) ,  und 
das  höchste  was  der  Mensch  erreichen  kann  ist,  „dass  er  fröhlich 
sei  in  seiner  Arbeit,  denn  das  ist  sein  Theil'S  d.  h.  dass  er  das 
XJnäbwendliche  durch  Gewohnheit  so  gut  als  möglich  ertragen  lerne, 
wie  das  £arrenpferd  zuletzt  auch  den  Karren  mit  leidlich  guter 
Laune  zieht,  üeber  der  Arbeit  tröstet  sich  der  Mensch  mit  der 
Aussicht  auf  die  Müsse,  und  über  die  Müsse  haben  wir  uns  soeben 
nprch  den  GManken  an  die  Arbeit  trösten  müssen.  So  kommt 
das  Wechselspiel  von  Müsse  und  Arbeit  darauf  heraus ,  dass  der 
Kranke  sich  im  Bette  wendet,  um  aus  seiner  unbequemen  Lage 
herauszukommen;  bald  findet  er  die  neue  Lage  ebenso  unbequem, 
and  wendet  sich  wieder  zurück.  —  In  der  Eegel  ist  nun  die  Ar- 
beit der  Preis,  um  welchen  die  gesicherte  Existenz  erkauft  wird. 
Nicht  genug  also,  dass  die  gesicherte  Existenz  an  sich  kein  posi- 
tives Ghit,  sondern  nur  den  Nullpunct  der  Empfbdung  repräsentirt, 
muss  dieses  rein  privative  Gut  noch  durch  Unlust  erkauft 
werden,  im  Gegensatz  zu  G^undheit  und  Jugend,  welche  man 
nur  geschenkt  bekommt.  Und  wie  gross  ist  häu%  die  Unlust^ 
welche  dem  Armen  durch  die  Arbeit  auferlegt  wird.  Ich  will 
nioht  an  die  Sclavenarbeit  erinnern,  nur  an  die  Fabrikarbeit  un- 
serer Grossstädte.  „Im  Alter  von  fünf  Jahren  eintreten  in  die 
Qamspinnerei  oder  sonstige  Fabrik,  und  von  dem  an  erst  zehn, 
dann  zwölf,  endlich  vierzehn  Stunden  darin  sitzen  und  dieselbe 
mechanische  Arbeit  verrichten,  heisst  das  Yergnügen,  Athem  zu 
holen,  theuer  erkaufen."  (W.  a.  W.  u.  V.  IL  661).  Nicht  minder 
grosse  Opfer,  wie  der  Erwerb   des  Lebensunterhaltes,   fordert   das 


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£rkämpfen  einer  relativen  Freiheit,  denn  volle  Freiheit  erlangt 
man  nie.  Dafür  haben  aber  die  Sicherang  der  Existenz  nnd  der 
erreichbare  Qrad  der  Freiheit  den  Yortheil ,  dass  man  sie  doch 
überhaupt  durch  eigene  Kraft  erobern  kann,  während  man  sich  sa 
Jugend  und  Gefundheit  ganz  paaeiv  ^npfangend  verhält 

Hat  man  nun  wirklich  diese  vier  privativen  Güter  im  Beutz,  so  sind 
die  äusseren  Bedingungen  zur  Zufriedenheit  gegeben«  tritt  dann 
die  erforderliche  innere  Bedingung,  die  Besignation,  das  sieh 
Bescheiden  bei  dem  l^othwendigen,  hinzu,  so  wird  in  dem  Be- 
treffenden Zufriedenheit  herrschen,  so  lange  als  keine  erheblichen 
Unglücksfiille  und  Schmerzen  ihn  betreffen.  Die  Zufriedenheit  ver- 
langt kein  positives  Glück,  sie  ist  gerade  die  Yerzichtlei- 
stung  auf  solches,  sie  verlangt  nur  das  Freisein  von  erheblichen 
Uebeln  und  Schmerzen,  also  ungefähr  den  Nullpunct  der  Empfin- 
dung; positive  Güter  und  positives  Glück  können  der  Zufrieden* 
heit  nichts  hinzufügan,  wohl  aber  können  sie  dieselbe  ge- 
fährden, denn  je  grösser  die  positiven  Güter  und  das  Glück,  desto 
grösser  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  durch  ihren  Verlust  grosse 
Schmerzen  zu  erleiden,  welche  die  Zufriedenheit  zeitweilig  auf- 
heben. Die  Zufriedenheit  kann  also  so  wenig  als  ein  Zeichen  von 
positivem  Glück  betrachtet  werden,  dass  vielmehr  der  Aermste  und 
Bedürfnissloseste  ihrer  am  leichtesten  dauernd  habhaft  wird. 
Wenn  trotzdem  so  vielfach  die  Zufriedenheit  als  ein  Glück,  ja  als 
das  höchste  erreichbare  Glück  gepriesen  wird  (Ajristot.  Eth.  Bad. 
YII.  2 :  ^  aifdaifioi^ia  zcjp  avTaQxatv  ktni ,  das  Glück  gehört  den 
Selbstgemügsam^;  Spinoza,  Eth.  Th.  4,  Satz  52  Anm. :  ZuMede»- 
heit  mit  sich  selbst  ist  wahrhaft  das  Höchste,  was  wir  hoffen  kön- 
nen), so  kann  dies  nur  dann  richtig  sein,  wenn  der  Zustand  der 
Schmerzlosigkeit  und  freiwilligen  Besignation  auf  alks 
positive  Glück  vor  dem  seiner  Natur  nach  dauerlosen  Besitze 
positiven  Glückes  den  Vorzug  verdient  Ueberhanpt  wenn, 
wie  ich  glanbe^  es  berechtigt  ist,  Gesundheit,  Jugend,  Freiheit  und 
sorgenfreies  Dasein  die  höchsten  Güter,  und  ZuMedenheit  das 
höchste  Glück  zu  nennen,  so  geht  daraus  von  vomher^  hervor, 
ein»  wie  missliche  Bewandtniss  es  mit  allen  positiven  Gutem  nad 
positivem  Glück  haben  mtLsse,  dass  man  die  privativen,  d.  h.  in 
blosser  Freiheit  von  Schmerz  bestehenden,  ihnen  mit  Eedit 
voransetzen  darf.  Denn  was  bietet  denn  die  Freiheit  vom 
Schmerz?     Doch  nicht   mehr   als   das  Nichtsein!     Wena  also  mit 


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den  positiven  Gütern  und  Glück  noch  ein  Aber  yerknüpft  ist,  was 
sie  im  Ganzen  noch  unter  die  Zufriedenheit,  d.  h.  noch  unter  den 
Nullpunet  der  Empfindung  stellt,  auf  dem  das  Nichtsein  permanent 
steht,  so  ist  eben  damit  erklärt,  dass  sie  auch  unter  dem  Nichtsein 
stehen.  Dem  Nichtsein  an  Werth  gleich  stehen  würde  nur  das 
absolut  zufriedene  Leben,  wenn  es  ein  solches  gäbe;  es  giebt  aber 
keines,  denn  auch  der  Zufriedenste  ist  nicht  immer  völlig  und  in 
jeder  Hinsicht  zureden,  folglich  steht  alles  Leben  an  Werth 
unter  dem  absolut  Zufriedenen,  folglich  unter  dem  Nichtsein. 

3.    Hunger  und  Liebe. 

„So  lange  nicht  den  Bau  der  Welt 

Philosophie  zusammenhält, 

Bewegt  sich  das  Getriebe 

Durch  Hunger  und  duirch  Liebe'^ 
sagt  Schiller  sehr  richtig.  Sie  beide  sind  sowohl  für  den  Fort- 
sehritt  und  die  Entwickelung  im  Thierreiche  als  auch  für  die 
Entwiokelungsanfange  der  Menschheit  und  die  roheren  Zustände, 
welche  dieselbe  characterisiren,  fast  die  einzigen  wirkenden  Trieb- 
federn. Wenn  über  den  Werth  dieser  beiden  Momente  für 
das  Lidividuum  der  Stab  gebrochen  werden  muss,  so  ist  schon 
wenig  Aussicht,  den  Werth  des  individuellen  Lebens  um  seiner 
selbst  willen  auf  anderen  Wegen  zu  retten. 

Der  Hunger  ist  qualvoll,  was  freilich  nur  der  weiss,  der  ihn 
schon  empfunden  hat;  seine  Befriedigung,  der  Sättigungsgenuss,  ist 
fiir  das  Gehirn  die  blosse  Aufhebung  des  Schmerzes,  während  er 
für  untergeordnete  Nervencentra  allerdings  eine  positive  Erhebung 
über  den  NuUpunct  der  Empfindung  in  dem  Wohlbehagen  der  Ver- 
dauung nach  sich  ziehen  mag;  diese  wird  jedoch  für  das  Gemein- 
gefühl oder  Gesammtwohl  des  Individuums  um  so  weniger  in's 
Gewicht  fallen,  jemehr  die  untergeordneten  Nervencentra  relativ  in 
Bezog  auf  das  Gehirn  zurücktreten,  welches  von  dem  Wohlbehagen 
der  Verdauung  nur  schwache  Spuren  zugeleitet  erhält,  desto  mehr 
aber  in  seiner  geistigen  Stimmung  und  Arbeiisbefahigung  durch  die 
Sättigung  sich  deprimirt  fühlt.  Wer  sich  in  der  glücklichen 
Lage  befindet,  jedesmal,  wenn  der  Anfang  des  Hungers  sich  meldet, 
denselben  sofort  zu  sättigen,  und  wen  die  Depotenzirung  des  Ge- 
hirnes durch  die  Sättigung  nicht  incommodirt,  bei  dem  mag  aller- 


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dings  der  Hunger  durch  das  Yerdauungsbehagen  einen  gewiflto 
UeberschuBs  von  LuBt  erzeugen;  aber  wie  Wenige  sind  in  dieser 
zwiefach  b^eidenswerthen  Lage!  Die  meisten  der  1300  Millionen 
Erdenbewohner  haben  entweder  eine  kärgliche ,  unbeMedigende 
und  das  Dasein  kümmerlich  fristende  Nahrung,  oder  sie  leben  eine 
Zeitlang  in  üeberfLuss,  wovon  sie  keinen  überwiegenden  Genuw 
haben,  und  müssen  eine  andere  Zeit  wirklich  darben  und  Nahrungs- 
mangel leiden,  wo  sie  also  den  peinigenden  Hunger  lange  Zeiten 
hindurch  ertragen  müssen,  während  das  Sättigungsbehagen  bei 
YÖlUger  Stillung  des  Hungers  nur  einige  Stunden  des  Tages  ein- 
nimmt. Nun  vergleiche  man  aber  einmal  dem  Grade  nach  das 
dumpfe  Behagen  der  Sättigung  und  Verdauung  mit  dem  für  das 
Himbewusstsein  so  deutliche  Nagen  des  Hungers,  oder  gar  den 
Höllenqualen  des  Durstes,  denen  die  Thiere  in  Wüsten ^  Steppen 
lind  solchen  Gegenden,  die  in  der  heissen  Jahreszeit  völlig  aus- 
trocknen, nicht  selten  ausgesetzt  sein  mögen.  Wie  viel  mehr  muss 
aber  erst  bei  vielen  Thierarten  der  Schmerz  des  Hungers  die  Lust 
der  Sättigung  im  Laufe  des  Lebens  überwiegen,  welche  in  gewissen 
Jahreszeiten  aus  Nahrungsmangel  oft  zu  erheblichen  Bruchtheiien 
ihrer  Gesammtzahl  verhungern,  oder  doch  nur,  Wochen  und  Monate 
lang  an  der  Grenze  des  Hungertodes  hinstreifend,  ihre  Existenz  in 
günstigere  Lebensbedingungen  hinüberfristen.  Dies  ündet  sowohl 
bei  Pflanzenfressern  im  Winter  der  Polar-  und  gemässigten  Zone 
und  in  der  Dürre  der  Tropen,  als  auch  bei  Fleischfressern  und 
Eaubthieren  statt,  die  oft  wochenlang  vergebens  auf  Beute  herom- 
streifen,  bis  sie  entkräftet  verenden.  Die  Zeit  ist  noch  nicht  so 
lange  her,  wo  man  in  Europa  auf  je  sieben  Jahre  eine  Hungers- 
noth  rechnete,  und  wenn  diese  durch  unsere  jetzigen  Communioa- 
tionsmittel  in  blosse  Theuerung,  d.  h.  in  Hungersnoth  bloss  für  die 
ärmsten  Classen,  verwandelt  ist,  so  besteht  dies  oder  ein  ähnlioheB 
Verhältniss  doch  gewiss  in  dem  bei  Weitem  grössten  TheUe  der 
bewohnten  Erde  noch  fort. 

Aber  auch  in  unseren  Grossstädten  lesen  wir  immer  und  immer 
wieder  von  Fällen  des  buchstäblichen  Yerhungems  aus  Noth.  Kann 
die  Yöllerei  von  tausend  Schlemmern  die  Qual  eines  verhungerten 
Menschenlebens  aufwiegen? 

Aber  der  eigentliche  Hungertod  ist  das  unter  uns  seltenere 
und  kleinere  IJebel,  welches  der  Hunger  herbeiführt;  weit  fiiroht- 
barer  ist  die  leibliche  imd  geistige  Yerkümmemng  der  Eace^  dna 
Hinsterben  der  Kinder  und  die  eigenthümlichen,  sich  einfindenden 

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Krankheiten;  man  lese  nur  die  Berichte  aas  schlesischen  Weher- 
districten  oder  ans  den  Höhlen  des  grossstädtischen  Elends  in 
London.  Je  weniger  aber  der  fortschreitenden  Yermehrung  der 
Menschheit  durch  verheerende  Kriege  Einhalt  gethan  wird,  je  mehr 
durch  zunehmende  Eeinlichkeit  die  Heerde  der  Epidemien  ver- 
schwinden und  durch  Prophylaktika  ihre  Ausbreitung  verhindert 
wird,  um  so  mehr  muss  sich  die  Emährungsfähigkeit  als  einzige 
natürliche  Gfrenze  herausstellen,  welche  die  Vermehrung  beschränkt, 
da  das  Yerhältniss  der  Geburten  ziemlich  dasselbe  bleibt,  und  die 
Annahme  Carey's,  dass  später  die  Zeugungs-  und  Vermehrungsfahig- 
keit  des  Menschengeschlechtes  abnehmen  werde ,  ganz  willkürlich 
und  durch  keine  Analogien  der  Oeschichte  gerechtfertigt  ist. 

Mag  Landwirthsohaft  und  Chemie  noch  so  grosse  Fortschritte 
machen,  zuletzt  muss  doch  ein  Punct  kommen,  über  den  die  Pro- 
duction  der  Nahrungsmittel  nicht  hinaus  kann;  die  Vermehrung  der 
Menschenzahl  durch  Zeugung  hat  aber  keine  Gfrenze,  wenn  sie  ihr  nicht 
durch  die  Unmöglichkeit  der  Ernährung  gesteckt  wird;  sie  ist  von 
jeher  die  Hauptgrenze  der  Vermehrung  gewesen,  und  wird  es  je 
länger,  je  ausschliesslicher  werden.  Diese  Grenze  aber  ist  nicht 
scharf  und  jäh,  sondern  sie  geht  von  der  auskömmlichen  Existenz 
zu  der  unmöglichen  durch  unendlich  viele  Abstufungen  über,  von 
denen  jede  folgende  hungriger  und  elender  ist.  Um  den  Instinct 
zu  täuschen,  wird  dann  zunächst  der  Magen  mit  Stoffen  gefüllt,  die 
weder  Geschmack,  noch  Emährungsfähigkeit  haben;  so  z.  B.  isst 
die  ärmste  Classe  in  China,  die  nicht  genug  Eeis  mehr  kaufen 
kann,  eine  Seetang -Art,  die  fast  gar  keinen  Nahrungsstoff  enthält 
Ueberblickt  man  diese  Massen,  welche  von  geschmacklosen  oder 
wenig  schmeckenden  Nahrungsmitteln  (Eeis,  Kartoffeln)  leben,  so 
wird  man  auch  nicht  mehr  behaupten,  dass  für  den  grossen  Ueber- 
schuss  von  Unlust,  den  der  Hunger  in  der  Welt  erzeugt,  die  mit 
dem  Essen  verknüpfte  Gesohmackslust  ein  einigermaassen  in  die 
Wagschaale  fallendes  Gegengewicht  bieten  könnte. 

Das  Besultat  in  Bezug  auf  den  Hunger  ist  also  das,  dass  das 
Individuum  durch  Stillung  seines  Hungers  als  solchen  nie  eine 
positive  Erhebung  über  den  Nullpunct  der  Empfindung  erfahrt,  dass 
es  unter  besonders  günstigen  Umständen  allerdings  durch  den  mit 
der  BefHedigung  des  Hungers  verknüpften  Wohlgeschmack  und 
Verdauxmgsbehagen  einen  positiven  Ueberschuss  an  Lust  gewinnen 
kann,  dass  aber  im  Thierreiche  und  Menschenreiche  im  Ganzen  die 


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dnroh  den  Hunger  und  seine  Folgen  geschaffene  Qual  und  Unlust 
bei  Weitem  die  mit  seiner  Befriedigung  verknüpfte  Lust  überwiegt 
und  stets  überwiegen  wird.  An  sich  selbst  betrachtet  ist  also  das 
Nahrungsbedür&iss  ein  üebel,  nur  der  Fortschritt  in  der  £nt- 
wickelung^-  zu.  welchem  es  durch  den  Kampf  um  die  Kahrung  als 
Triebfeder  wirkt,  nicht  sein  eigener  Werth,  kann  dieses  Hebel 
teleologisch  rechtfertigen. 

Ich  kann  mich  nicht  enthalten,  hierzu  die  Worte  Schopen- 
hauer's  anzuführen  (Parerga  11.  313):  „Wer  die  Behauptung,  dass 
in  der  Welt  der  Genuss  den  Schmerz  überwiegt,  oder  wenigstens 
sie  einander  die  Wage  halten,  in  der  Kürze  prüfen  will,  vergleiche 
die  Empfindung  des  Thieres,  welches  ein  anderes  frisst,  mit  der 
dieses  anderen.'' 

Was  die  andere  Triebfeder  der  Natur,  die  Liebe,  betrifft, 
so  muBS  ich  in  Bezug  auf  ihre  principielle  Auffcissung  auf  Gap.  B.  IL 
verweisen.  Im  Thierreiche  ist  von  einer  activen  geschlechtlichen 
Auswahl,  welche  vom  männlichen  Theile  ausginge,  noch  wenig  die 
Eede,  kaum  bei  den  höchsten  Vögeln  und  Säugethieren ;  von  einer 
passiven  Auswahl  durch  den  Kampf  der  Männchen,  in  denen  das 
stärkste  Sieger  bleibt,  auch  nur  bei  einem  geringen  Theile  höherer 
Thiere.  Im  XJebrigen  hat  der  Geschlechtstrieb  nichts  IndividueUes, 
sondern  ist  rein  generell.  Nun  existiren  aber  bei  dem  unendlich 
viel  grösseren  Theile  des  Thierreiches  nicht  einmal  Wollustoi^ne, 
welche  zur  Begattung  reizen ;  ohne  solche  ist  mithin  die  Begattung 
ein  dem  Egoismus  des  Individuums  gleichgültiges  Geschäft,  welches 
durch  den  treibenden  Zwang  des  Instinctes  ausgeführt  wird  wie 
das  Spinnen  des  Netzes  von  der  Spinne,  oder  das  Bauen  des  Yogel- 
nestes  für  die  später  erst  zu  legenden  Eier.  Auf  die  Genusslosig- 
keit  des  Befruchtungsgeschäftes  bei  den  meisten  Thieren  weist 
auch  die  mannigfache,  von  der  unmittelbaren  Begattung  abweich^ide 
indirecte  Form  dieses  Geschäftes  hin.  Wo  bei  den  Wirbel- 
thieren  ein  individueller  physischer  Genuss  einzutreten  scheint,  ist 
derselbe  zu  Anfang  gewiss  noch  so  dumpf  und  nichtssagend  wie 
möglich;  bald  aber  tritt  auch  der  Kampf  der  Männchen  um  das 
Weibchen  hinzu,  der  bei  vielen  Thierarten  mit  der  grössten  Er- 
bitterung geführt  wird,  und  häufig  schmerzliche  Verletzungen,  nicht 
selten  auch  Tödtung  eines  Theiles  zur  Folge  hat.  Dazu  kommt  boi 
solchen  Thieren,  welche  in  der  Brunstzeit  von  dem  siegroichea 
Männchen  geführte  Heerden  bilden,  die  unfreiwillige  Enthaltsasi- 


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keit  der  Junggesellen ,  sei  es,  daas  dieselben  sich  in  besonderen 
Heerden  absondern,  sei  es,  dass  sie  bei  der  Hauptheerde  bleiben, 
wo  dann  ein  Eingreifen  in  die  Beohte  des  Familienhauptes  von 
diesem  in  grausamster  Weise  gestraft  wird.  Biese  unfreiwillige 
Enthaltsamkeit  des  grössten  Theiles  der  Männchen,  und  die  den 
Unterliegenden  durch  die  Kämpfe  yerorsaohten  Schmerzen  und 
Aerger  scheinen  mir  an  Unlust  die  den  beglückten  Männchen  aus 
dem  Geschlechtsgenuss  erwachsende  Lust  hundertfach  zu  über- 
bieten. Was  aber  die  Weibchen  betrifft,  so  kommen  diese  erstens 
bei  den  meisten  Thieren  viel  seltener  zur  Begattung,  als  die  bevor- 
zugten Männchen,  und  zweitens  überwiegen  bei  ihnen  die  Schmerzen 
des  Gebarens  offenbar  bei  Weitem  die  bei  der  Begattung  empfun- 
dene Lust. 

Beim  Menschen,  namentlich  dem  cultivirten,  ist  die  Geburt 
sohmerzhafter  und  schwieriger  als  bei  irgend  einem  anderen  Thiere, 
und  zieht  meist  sogar  ein  längeres  Krankenlager  nach  sich ;  um  so 
weniger  kann  ich  Anstand  nehmen  >  die  summarischen  Leiden  des 
Gebarens  für  das  Weib  grösser  zu  erklären,  als  die  summarischen 
physischen  Freuden  der  Begattung.  Es  darf  uns  nicht  beirren,  dass 
der  Trieb  das  Weib  in  practischer  und  vielleicht  auch  theoretischer 
Hinsicht  die  umgekehsrte  Entscheidung  treffen  heisst;  hier  haben 
wir  einen  recht  eclatanten  Fall,  wo  der  Trieb  das  Urtheil  ver- 
fälscht. Man  erinnere  sich  an  jene  Frau,  die  durch  das  mehrmalige 
Ueberst^en  des  Kaisessolmittes  sich  dooh  nicht  von  der  Begattung 
abhahen  Ums  ,  -  und  man  wird  den  Werth  eines  solchen  Urtheiles 
richtigear  würdigen.  Der  Mann  scheint  in  dieser  Hinsicht  besser 
daran  zu  sein ;  aber  er  scheint  es  nur. 

Kaat  sagt  in  «einer  Anthropologie  (Werke  VIL  Abth.  2.  §.  266) : 
,^ach  der  ersteren  (der  Naturepoche  seiner  Entwickelnng)  ist  er 
im  Katurztistande  wienigstens  in  seinem  fünfzehnten  Lebensjahre 
durch  den  C^chlechtsixntinct  angetrieben  und  vermögend,  seine 
Art  zu  eiaeugen  und  zu  erhalten.  Nach  der  zweiten  (der  bürger- 
lichen Epeohe  der  Entwickelung)  kann  er  -es  (im  Durchschnitt)  vor 
dem  zwanzigsten  schwerlich  wagen.  Denn  wenn  der  Jüngling 
gleich  früh  genug  das  Vermögen  hat,  seine  und  seines  Weibes 
Neigung  als  Weltbürger  zu  befriedigen,  so  hat  er  doch  lange  noch 
nicht  das  Vermögen,  als  Staatsbürger  sein  Weib  und  Kind  zu  er- 
iMÜten.  —  Er  muss  ein  Gewerbe  erlernen,  sich  in  Kundschaft  brin- 
gen,  um  ein   Hauswesen  mit   seinem  Weibe  anzufangen,  worüber 


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aber  in  der  geschliffeneren  Yolksclasse  auch  wohl  das  fiinfiind- 
zwanzigste  Jahr  verfdessen  kann,  ehe  er  zu  seiner  Bestimmung 
reif  wird.  Womit  füllt  er  nun  diesen  Zwischenraum  einer  abge- 
nöthigten  und  unnatürlichen  Enthaltsamkeit  aus?  Kaum  anders, 
als  mit  Lastern«^' 

Diese  Laster  aber  beschmutzen  den  ästhetischen  Sinn,  stumpfen 
das  Zartgefühl  des  Geistes  ab  und  verfuhren  nicht  selten  zu  un- 
sittlichen Handlungen.  Endlich  zerrütten  sie  durch  das  ihnen 
fehlende  immanente  Maass  und  aus  anderen  Gründen  die  Gesund- 
heit und  legen  nur  zu  oft  schon  in  die  folgende  Generation  den 
Keim  des  Verderbens. 

Wer  aber  wirklich  ausnahmsweise  sich  von  allen  das  Provi- 
sorium erfüllenden  Lastern  frei  hält  und  mit  der  Anstrengung  der 
Vernunft  die  Qualen  der  erregten  Sinnlichkeit  in  ewig  erneutem 
Kampfe  überwindet,  der  hat  in  dem  Zeiträume  von  der  Pubertät 
bis  zur  Verheirathung,  dem  Zeiträume,  wenn  auch  nicht  der  nach- 
haltigsten Kraft,  doch  der  ledernsten  sinnlichen  Gluth,  eine  solche 
Summe  von  Unlust  zu  ertragen,  dass  die  in  dem  spateren  Zeiträume 
folgende  Summe  der  geschlechtlichen  Lust  sie  nimmermehr  aufwiegen 
und  wieder  gut  machen  kann.  Das  Alter  der  Verheirathung  der 
Männer  rückt  aber  mit  fortschreitender  Cultur  immer  höher  hinauf, 
der  provisorische  Zeitraum  wird  also  immer  länger  und  ist  am 
längsten  gerade  bei  den  Classen,  wo  die  Nervensensibilität  und 
Reizbarkeit,  also  auch  die  Qual  der  Entbehmng  am  grössten  ist. 

Nun  ist  aber  die  rein  physische  Seite  der  Geschlechtsliebe 
beim  Menschen  die  untergeordnete,  weit  wichtiger  ist  der  indivi- 
dualisirte  Geschlechtstrieb,  welcher  sich  von  dem  Besitze  gerade 
dieses  ^LidividuumB  eine  überschwengliche  Seligkeit  von  nie  enden- 
der Dauer  verspricht. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Folgen  der  Liebe  im  Allgemeinen. 
Der  Eine  Theil  liebt  in  der  Regel  stärker,  als  der  andere;  der 
weniger  liebende  zieht  sich  gewöhnlich  zuerst  zurück,  und  ersterer 
fühlt  sich  treulos  verlassen  und  verrathen.  Wer  den  Schmer»  ge- 
täuschter Herzen  um  gebrochener  Liebesschwüre  willen,  so  viel 
davon  gleichzeitig  in  der  Welt  ist,  sehen  und  wägen  könnte,  der 
würde  finden,  dass  er  ganz  allein  schon  alles  gleichzeitig  in  der 
Welt  bestehende  Liebesglück  übertrifft,  schon  aus  dem  Grunde,  weil 
die  Qual  der  Enttäuschung  und  die  Bitterkeit  des  Verrathes  viel 
länger  vorhält,    als  das  Glück  der  Illusion.     Noch  grausamer  wird 


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der  Schmerz  bei  dem  "W^eibe,  das  ans  wahrer,  tiefer  Liebe  dem 
Geliebten  Alles  geopfert,  um  nur  als  Schlingpflanze  an  ihm  fort- 
zuleben; wird  eine  solche  abgerissen  und  fortgeworfen ,  dann  steht 
sie  wahrhaft  gefallen,  d.  h.  haltlos  in  der  Welt,  ihre  eigene  Kraft 
gebrochen,  des  Schatzes  der  Liebe  beraubt,  muss  sie,  eine  geknickte 
Blume,  verdorren  und  vergehen,  —  oder  frech  sich  in  Gemeinheit 
stürzen,  um  zu  vergessen. 

Wie  viel  ehelicher  und  häuslicher  Frieden  wird  nicht  durch 
die  sich  einschleichende  Liebe  zerstört!  Welch'  colossale  Opfer 
an  sonstigem  individuellen  Glück  und  Wohlsein  fordert  nicht  der 
unselige  Geschlechtstrieb.  Vaterfluch  und  Ausstossung  aus  der 
Familie,  selbst  aus  dem  Lebenskreise,  in  dem  man  eingewurzelt  ist, 
nimmt  Mann  oder  Mädchen  auf  sich,  um  sich  nur  dem  Geliebten 
zu  vereinen.  Die  arme  Näherin  oder  Dienstmagd,  die  ihr  freuden- 
loses Dasein  im  Schweisse  ihres  Angesichtes  fristet,  auch  sie  föllt 
eines  Abends  dem  unwiderstehlichen  Geschlechtstriebe  zum  Opfer; 
um  seltener,  kurzer  Freuden  willen  wird  sie  Mutter  und  hat  die 
Wahl,  entweder  Kindesmord  zu  begehen,  oder  den  grössten  Theil  ihres 
für  sie  allein  kaum  ausreichenden  Erwerbes  auf  die  Erhaltung  des 
Kindes  zu  verwenden.  So  muss  sie  Jahre  lang  Sorge  und  Noth 
mit  dreifacher  Härte  ertragen,  wenn  sie  sich  nicht  einem  Laster- 
leben in  die  Arme  werfen  will,  das  für  die  Jahre  der  Jugend  ihr 
einen  müheloseren  Erwerb  sichert,  um  sie  nachher  einem  um  so 
schrecklicheren  Elende  zu  überliefern.  Und  das  Alles  um  das 
bischen  Liebe! 

Es  ist  Schade^  dasa  es  keine  statistischen  Tabellen  darüber 
giebt,  wieviel  Frocent  aller  Liebesverhältnisse  in  jedem  Stande 
zu  einer  Ehe  führen.  Man  würde  über  die  geringe  Procent- 
zahl erschrecken.  Ganz  abgesehen  von  alten  Junggesellen  und 
Jungfern,  wird  man  selbst  unter  den  Hochzeitspaaren  keine  allzu 
grosse  Procentzahl  von  Lidividuen  fbden,  die  nicht  ein  kleines, 
wieder  auseinander  gegangenes  Verhältniss  hinter  sich  haben,  viele 
aber,  die  deren  mehrere  aufzuweisen  hätten«  Li  der  grössten  Mehr- 
zahl dieser  Falle  hatte  also  die  Liebe  ihr  Ziel  nicht  erreicht,  und 
in  denen  sie  es  ohne  Ehe  erreicht  hatte,  hatte  sie  die  Leute  im 
Ganzen  wohl  schwerlich  glücklicher  gemacht,  als  in  denen,  wo  sie 
es  gar  nicht  erreicht  hatte.  Von  den  geschlossenen  Ehen  wiederum 
ist  nur  der  kleinste  Theil  aus  Liebe,  die  anderen  aus  anderen 
Bücksichten  geschlossen;  man  kann  sich  daraus  abnehmen^  ein  wie 


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geringer  Theil  aller  Liebesverhältiiisse  in  den  Hafen  der  Ehe  an- 
läuft. Von  diesem  geringen  Theile  aber  erreichen  wieder  sehr 
Wenige  eine  sogenannte  glückliche  Ehe ;  denn  die  glücklichen  Ehen 
sind  überhaupt  viel  seltener,  als  man,  zufolge  der  YerBtellang 
der  Menschen  zur  Wahrung  des  Glücklichscheinens,  meinen  sollte, 
factisch  aber  sind  die  glücklichen  Ehen  am  allerwenigsten  unter 
den  aus  Liebe  geschlossenen  zu  finden,  so  dass  von  dem  geringen 
Theile  der  in  den  Hafen  der  Ehe  eingelaufenen  Liebesyerh^tnisse 
wiederum  die  Mehrzahl  schlechter  fortkommt,  als  wenn  sie  nicht 
mit  einer  Ehe  geschlossen  hätten.  Diese  Wenigen  endlich,  welche 
zur  glücklichen  Ehe  führen,  yermögen  dies  nicht  durch  die 
Liebe  selbst,  sondern  nur  dadurch,  dass  die  Charactere  und 
Personen  zufallig  so  zusammenpassen,  dass  Conflicte  vermieden 
werden,  und  die  Liebe  durch  Freundschaft  abgelöst  wird«  Diese 
seltenen  Fälle,  in  welchen  das  Glück  der  Liebe  sanft  und  unmerk- 
lich in  das  der  Freundschaft  hiuübergeleitet  und  ihr  jede  bittere 
Enttäuschung  erspart  wird,  sind  so  selten,  dass  sie  selbst  durch 
diejenigen  schlechten  Ehen,  welche  aus  Liebe  geschlossen  sind,  auf- 
gewogen werden.  Von  allen  nicht  mit  Ehe  schliessenden  Liebes- 
yerhältnissen  aber  erreicht  der  grössere  Theil  sein  Ziel  gar  nidit, 
und  der  kleinere  Theil,  der  es  erreicht,  macht  die  Leute,  wenig- 
stens den  weiblichen  Theil,  noch  unglücklicher,  als  wenn  sie  es 
nicht  erreicht  hätten. 

Wir  können  schon  nach  dieser  allgemeinen  Betrachtung  nicht 
zweifelhaft  sein,  dass  die  Liebe  den  betheiligten  Individuen  weit 
mehr  Bchmera,  als  Lost  bereitet.  Kaum  irgendwo  wird  sich  der 
Trieb  so  sehr  gegen  dies  Eesultat  stemmen«  wie  hier,  und  vielleicfat 
werden  es  wenig  Andere  zugeben^  als  solche,  bei  denen  der  Trieb 
durch  das  Alter  seine  Macht  verloren  hat. 

Betrachten  wir  jedoch  den  Vorgang  bei  der  befriedigten  Liebe 
im  Einzelnen,  um  zu  erkennen,  dass  selbst  hier  die  Lust  wesenU 
lieh  auf  einer  Dlusion  beruht.  Allerdings  ist  im  Allgemeinen  die 
Grösse  der  Lust  proportional  der  Stärke  des  befriedigten  Willens, 
vorausgesetzt,  dass  die  Befriedigung  in  vollem  Maasee  in's  Bewusst- 
sein  fällt,  eine  Voraussetzung,  welche  in  voller  Streng«  am  so 
weniger  zulässig  ist,  je  unklarer  der  Wille  und  sein  Inhalt  aus  der 
Begion   des  Unbewusstseins   in  die   des  Bewusstseins  hinübefragt 

Lassen  wir  dies  aber  bei  Seite  und  geben  wir  zu,  dass  ein, 
•gleichviel  wie   entstandener,   sehr  starker  Wille  nach  dem  Bestec 


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der  Geliebten  im  Bewnssisein  yorhanden  sei;  dann  muss  allerdings 
die  BeMedigung  dieses  Willens  als  starke  Last  empfunden  werden, 
und  um  so  mehr,  je  deutlicher  sich  der  Betreffende  der  Erfüllung 
seines  Wunsches  als  einer  durch  äussere  Umstände  ermöglichten 
Thatsaohe  bewusst  wird,  je  grösser  also  der  Contrast  der  Er^lung 
mit  einer  vorhergehenden  Anerkennung  yon  Schwierigkeiten  und 
Hindernissen  ist. 

Ein  Kalif  dagegen,  der  sich  bewusst  ist,  dass  er  jedes  Frauen- 
zimmer, das  ihm  gefällt,  sich  nur  anzuschaffen  braucht,  um  sie  zu 
besitzen,  wird  sich  der  Befriedigung  seines  Willens  fast  gar  nicht 
bewusst  werden,  und  sei  er  in  einem  besonderen  Falle  noch  so 
stark.  Hieraus  geht  aber  schon  das  hervor,  dass  die  Lust  der  Be- 
friedigung nur  erkauft  wird  durch  vorangehende  Unlust  über  die 
vermeintliche  Unmöglichkeit,  zum  Besitze  zu  gelangen;  denn 
Schwierigkeiten,  deren  Besiegung  man  als  gewiss  voraussieht,  sind 
auch  schon  keine  Schwierigkeiten  mehr. 

Nach  unseren  allgemeinen  Vorbetrachtungen  wird  aber  die  voraus- 
gehende Unlust  über  die  Gewissheit  oder  Wahrscheinlichkeit  des  Nicht- 
reussirens  grösser  sein,  als  die  correspondirende  Lust  bei  der  Erfüllung. 
So  gewiss  nun  aber  der  endliche  Genuss  bei  der  Erfüllung  ein 
realer  ist,  weil  er  in  der  Befriedigung  eines  wirklich  vorhandenen 
Willens  beruht,  so  gewiss  ist  die  Vorstellung,  worauf  der  Genuss 
beruht,  eine  Illusion.  Das  Bewusstsein  nämlich  findet  in  sich  eine 
h^tige  Sehnsucht  nach  dem  Besitze  des  geliebten  Gegenstandes, 
welche  an  Stärke  und  Leidenscbaftlichkeit  jede  ihm  sonst  bekannte 
Willenserscheinung  übertrifft.  Da  es  aber  zugleich  das  unbcwusste 
Motiv  dieses  Willens  (welches  in  der  Beschaffenheit  des  Erzeugten 
besteht)  nicht  ahnt,  so  supponirt  es  einen  in  Aussicht  stehenden 
überschwenglichen  Genuss  als  Motiv  jenes  überschwenglichen  Seh- 
nens,  und  der  Listinct  unterstützt  diese  Täuschung,  da  der  Mensch, 
wenn  er  erst  merken  würde,  dass  es  auf  eine  Prellerei  seines 
Egoismus  zu  Gunsten  fremder  Zwecke  abgesehen  ist,  bald  suchen 
würde,  den  Listinct  der  leidenschaftlichen  Liebe  zu  unterdrücken. 
So  kommt  die  Illusion  zu  Stande,  mit  welcher  der  Liebende  zum 
Begattungsacte  schreitet,  und  welche  als  solche  dadurch  experimen- 
tell bewiesen  werden  kann,  dass  die  Befriedigung  des  Willens  nach 
dem  Besitze  der  Geliebten  ganz  die  nämliche  bleibt,  wenn  es  ge- 
lingt,   dem   Liebenden    unvermerkt    eine   falsche    Person   unterzu- 

T.  Hart  mann,  Phil.  d.  UnbewossUn.  36 


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sehieben^   mit  welcher  sein  Wille  die  Begattimg  yerBchmiUien  und 
verabsohenen  würde. 

Nichtsdestoweniger  ist  die  Lost  an  der  BeMedigang  des  durch» 
gesetsten  Willens  ganz  real»  —  aber  auf  diese  Lost  war  es  ja 
Ton  dem  Liebenden  gar  nicht  abgesehen,  sondern  yielmehr  auf 
jene  überschwengliche  Seligkeit,  durch  welche  er  sich  den  hef* 
tigen  Willen  nach  dem  Besitze  erst  motiyirt  denkt! 

Yon   einer  solchen  Seligkeit  oder  Lost  existirt  aber  niigends 
etwas,  da  sich  der  Genuss  rein  aus  der  Befriedigung  jenes  erst  zu 
motivirenden   heftigen  Willens  nach  dem  Besitze  und  aus  dem  ge- 
meinen physischen  Gk^chlechtsgenusse  zusammensetzt.     Sowie  die 
Heftigkeit  des  Triebes  das  Bewusstsein  gewissermaassen  oufathmea 
und  zu  einiger  Klarheit  kommen  lässt,  wird  es  der  Enttäuschung 
seiner  Erwartung  inne.     Jede  Enttäuschung  über  einen  erwarteten 
Genuss  ist  aber  eine  Unlust,  und  zwar  eine  um  so  grössere  ünlast, 
je  grösser  der  erwartete  Genuss  war^  und  je   sicherer  er  erwartet 
wurde.     Hier  also,  wo  sich  eine  mit  absoluter  Sicherheit  erwartete 
überschwengliche  Seligkeit  als  baare  Täuschung  erweist  (denn  die 
beiden  reellen  Momente  des  Genusses  waren  ja  ausser  dieser  Selig- 
keit   selbstverständlich    miterwartet),    muss    die  Unlust    der  Ent- 
täuschung einen  hohen  Grad  erreichen,  einen  so  hohen  Grad,  daas 
sie  den   real  existirenden   Genuss  yöUig  aufwiegt,   wo  nicht  über- 
wiegt.     Freilich  yerhindert  der  nicht  mit  einem  Schlage  vernich- 
tete, sondern  einige  Zeit  hindurch  sich  stetig,  wenn  auch  mit  all- 
mählig   abnehmender    Stärke    erneuernde   Trieb,    dass    diese  Ent- 
täuschung sogleich  und  in  vollem  Maasse  vom  Bewusstsein  anfge- 
fasst   werde;    das    von   Neuem    nach   Befriedigung   schmachtende 
Sehnen  verfälscht  das  Urtheil,  es  verhindert  das  Nachdenken  über 
die  Beschaffenheit  des  vergangenen  Genusses,  indem  es  die  Illusion 
der  widersprechenden  Erfahrung  zum  Trotz  für  die  Zukunft  aufreckt 
erhält 

Aber  nicht  immer  dauert  diese  Dupirung  des  bewusst^i  Ur- 
theiles  durch  den  Trieb.  Der  erlangte  Besitz  wird  bald  gewolm- 
heitsmässiges  Eigenthum,  die  Yorstellung  des  Gontrastes  mit  den 
Schwierigkeiten  der  Erlangung  schwindet  mehr  und  mehr,  der 
Wille  nach  dem  Besitze  wird  latent,  da  keine  Störung  des  Besitses 
droht,  und  die  Befriedigung  dieses  Willens  wird  immer  weniger  als 
Lust  empfunden.  Jetzt  bricht  sich  die  Enttäuschung  mehr  und 
mehr  im  Bewusstsein  Bahn. 


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Aber  nieht  bloss  diese  Enttäuschung  kommt  zum  Bewnsstsein, 
sondern  noch  viele  andere.  Der  Liebende  hatte  gewähnt ,  in  eine 
neue  Aera  einzutreten ;  duroh  den  Besitz  gleichsam  von  der  Erde 
in  den  BEimmel  versetzt  zu  werden,  und  er  findet,  dats  er  in  seinem 
neuen  Zustande  der  Alte  und  die  Plackereien  des  Tages  dieselben 
geblieben  sind;  er  hatte  gewähnt,  an  der  Geliebten  einen  Engel 
zu  erwerben,  und  findet  nun,  wo  der  Trieb  sein  Urtheil  nicht  mehr 
wie  friUier  entstellt,  einen  Menschen  mit  allen  menschlichen  Fehlem 
und  Schwächen;  er  hatte  gewähnt,  dass  der  Zustand  der  über- 
schwenglichen Seligkeit  ewig  sein  würde,  und  er  fangt  jetzt  an  zu 
zweifeln,  ob  er  sich  nicht  schon  in  der  bei  d^r  Besitzergreifung 
erwarteten  Seligkeit  sehr  getäuscht  habe.  Kurz,  er  findet,  dass 
Alles  beim  Alten  ist,  dass  er  aber  in  seinen  Erwartungen  ein 
grosser  Narr  war.  Der  einjsige  reale  Genuss  in  der  ersten  Zeit 
nach  der  Besitzergreifung,  die  Befriedigung  des  durchgesetzten 
Willens,  ist  geschwunden,  aber  die  Enttäuschung  über  die  als  ewig 
dauernd  vorausgesetzte  Seligkeit  ist  in  allen  Bichtungen  eingetreten, 
und  unterhält  eine  bleibende  Unlust,  die  erst  sehr  langsam  durch 
das  gewohnheitsmässige  Ergeben  in  den  Schlendrian  des  Tages  er- 
lischt. 

Wohl  sehr  selten  sind  bei  Schliessung  einer  Ehe  nicht  wenig- 
stens von  einer  Seite  Opfer  gebracht  worden,  und  sei  es  selbst  nur 
an  Freiheit ;  diese  Opfer  treten  jetzt  als  dem  erwarteten  Ziel  nicht 
entsprechende  in's  Bewusstsein  und  vermehren  die  Unlust  der  Ent- 
täuschung. Wenn  sonst  nxur  die  Eitelkeit  dazu  bringt,  Unlust  und 
Unglück  zu  verbergen  und  mit  nicht  vorhandenem  Glücke  und  Lust 
zu  prahlen,  so  wirkt  hier  noch  die  Scham  zu  demselben  Ziele,  da 
man  ja  die  Ikittäuschung  seiner  eigenen  Dummheit  zuzuschreiben 
hat ;  die  früheren  Liebenden  suchen  die  Unlust  über  die  Enttäuschung 
nicht  nur  der  Welt  und  einander,  sondern  wo  möglich  auch  jeder 
sich  selbst  zu  verhehlen,  was  wiederum  dazu  beiträgt,  die  Unbehag- 
lichkeit  des  Zustandes  zu  erhöhen. 

So  muss  also  der  reale  Genuss  bei  der  Vereinigung  der  Lieben- 
dßu  nicht  nur  im  Voraus  mit  Furcht,  Angst  und  Zweifel,  ja  oft; 
zeitweiser  Verzweiflung,  sondern  nachträglich  noch  einmal  mit  der 
Unlust  der  Enttäuschung  bezahlt  werden,  —  jener  Genuss,  welcher 
während  der  Zeit  des  Geniessens  selbst  nur  durch  die  Heftigkeit 
des  das  Urtheil  aufhebenden  oder  doch  verfälschenden  Triebes  da- 

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vor    bewahrt   werden   kann,   in  Beiner   illnfiorischen  BeschafiPenheit 
durchschaut  zu  werden. 

Nun  haben  wir  bis  jetzt  den  Zustand  vor  der  Vereinigung  der 
Liebenden  wenig  beachtet,  und  doch  ist  es  gerade  hier,  wo  die 
zartesten 9  beseligendsten  Empfindungen  ihre  Stelle  haben,  wie 
namentlich  jenes  Schwimmen  im  ersten  Morgenroth  des  geöffiaeien 
Himmels.  Worauf  beruht  jene  unzweifelhaft  reale  Lust?  Auf  der 
Hoffnung,  auf  nichts  als  der  Hoffnung,  die  ihren  zukünftigen  Gegen- 
stand nur  ahnt,  und  nur  weiss,  dass  er  eine  überschwengliche  Selig- 
keit sein  wird,  auf  einer  Ho£Pnung,  die  sich  ihrer  selbst  als  Hoff- 
nung kaum  bewusst  ist,  aber  sich  in  jedem  Augenblicke  über  sich 
selbst  klarer  wird.  Die  grössten  Schwierigkeiten,  die  sich  der 
Vereinigung  entgegensetzen,  können  diese  Hoffnung  und  ihr  Glück 
nicht  tödten,  dass  es  aber  wirklich  nichts  als  Hoffnung  ist,  beweist 
sich  dadurch,  dass  die  Liebenden  verzweifeln  und  sich  auch  wohl 
tödten,  wenn  die  Unmöglichkeit  einer  Vereinigung  ihnen  fui  immer 
zur  Gewissheit  geworden  ist.  Ist  nun  dieses  der  Vereinigung  vor- 
ausgehende Liebesglüok  nur  Hoffnung  auf  das  nach  der  Vereinigung 
ihrer  wartende  Glück,  so  wird  es  illusorisch,  wenn  jenes  als  illu- 
sorisch erkannt  ist. 

Dies  ist  der  Grund,  warum  nur  die  erste  Liebe  wahre  Liebe 
sein  kann;  bei  der  zweiten  und  den  folgenden  findet  der  Trieb 
schon  zu  grossen  Widerstand  an  dem  Bewusstsein,  das  bei  der 
ersten  Liebe  die  illusorische  Natur  derselben  mehr  oder  weniger 
deutlich  erkannt  hat. 

So  sagt  auch  Göthe  in  „Wahrheit  und  Dichtung"  bei  Gelegen- 
heit des  Werther:  „Nichts  aber  veranlasst  mehr  diesen  Ueberdruss 
(diesen  Ekel  vor  dem  Leben),  als  eine  Wiederkehr  der  Liebe  .  .  . 
Der  Begriff  des  Ewigen  und  Unendlichen,  der  sie  eigentlich  hebt 
und  trägt,  ist  zerstört;  sie  erscheint  vergänglich  wie  alles  Wieder- 
kehrende/' 

Wer  einmal  das  Hlusorische  des  Liebesglückes  nach  der  Ver- 
einigung und  damit  auch  desjenigen  vor  der  Vereinigung,  wer  den  in 
aller  Liebe  die  Lust  überwiegenden  Schmerz  verstanden  hat,  fai 
den  und  in  dem  hat  die  Erscheinung  der  Liebe  nichts  Gesundes 
mehr,  weil  sich  sein  Bewusstsein  gegen  die  Octroyirung  von  Mitteln 
zu  Zwecken  wehrt,  die  nicht  seine  Zwecke  sind;  die  Lust  der 
Liebe  ist  ihm  untergraben  und  zerfressen,  nur  ihr  Schmerz  bleibt  ihm 
unverkürzt  bestehen.  Aber  wenn  ein  solcher  sich  auch  nicht  völlig  des 


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565 

Triebes  wird  erwehren  können ,  so  wird  dies  doch  das  Bestreben 
seiner  Yemunft  sein,  und  es  wird  ihm  wenigstens  das  gelingen,  im 
bestimmten  J'alle  den  Grad  der  Liebe,  in  welchen  er  als  Unbe- 
fangener gerathen  wäre^  zn  erniedrigen,  und  damit  auch  den  Grad  des 
Schmerzes  und  das  Maass  des  XJeberschusses  von  Schmerz  gegen 
Lust  zu  ermässigen,  welchem  er  sonst  verfallen  wäre.  Er  wird  sich 
aber  zugleich  dessen  bewusst  sein,  dass  er  sich  wider  seinen 
bewussten  "Willen  in  eine  Leidenschaft  verwickelt  findet,  die  ihm 
mehr  Schmerz  als  Lust  verursacht ,  und  mit  dieser  Erkenntniss  ist 
vom  Standpuncte  des  Individuums  der  Stab  über  die  Liebe  ge- 
brochen. * 

Die  letzten  Betrachtungen  beziehen  sich  nur  auf  diejenige  Liebe, 
welcUe  so  glücklich  ist,  ihr  Ziel  zu  erreichen;  fassen  wir  aber  noch 
einmal  Alles  zusammen,  so  stellt  sich  die  Eechnung  für  den  Werth 
der  Liebe  höchst  ungünstig.  Illusorische  Lust  und  überwiegende 
Unlust  selbst  im  glücklichsten  Falle,  meistens  Hemmung  des  Willens 
ohne  Erreichung  des  Zieles  unter  Gram  und  Verzweiflung,  Ver- 
nichtiing  der  Zukunft  so  vieler  weiblichen  Individuen  durch  Ver- 
lust der  weiblichen  Ehre,  ihres  einzigen  socialen  Haltes,  das  sind 
die  Besultate,  die  wir  gefunden  haben. 

Es  könnte  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  die  Vernunft  nur 
gänzliche  Enthaltung  von  der  Liebe  anrathen  müsste,  wenn  nur 
nicht  die  Qual  des  nicht  zu  vernichtenden  Triebes,  welcher  nach 
Erfüllung  seiner  Leere  lechzt ,  ein  noch  grösseres  Uebel  wäre, 
als  ein  maassvolles  Befassen  mit  der  Liebe.  Man  muss  also  dem 
Spruche  des  ioiakreon  vollständig  Becht  geben,  welcher  lautet: 
XccAenov  to  firj  q>ik^aaij  Schlimm  ist  es,  nicht  zu  lieben, 
XaXenov  de  xae  (piXijaat,        Schlimm  aber  auch,  zu  lieben. 

Wenn  die  Liebe  einmal  als  Uebel  anerkannt  ist  xmd  doch  als 
das  kleinere  von  zwei  Uebeln  gewählt  werden  muss,  so  lange  der 
Trieb  besteht,  so  fordert  die  Vemimft  mit  Nothwendigkeit  ein 
drittes,  nämlich  Ausrottung  des  Triebes,  d.  h.  Verschneidung, 
wenn  durch  sie  eine  Ausrottung  des  Triebes  erreicht  wird.  (Vgl. 
Matth.  19,  11 — 12:  „Das  Wort  fewset  nicht  Jedermann,  sondern 
denen  es  gegeben  ist.  Denn  es  sind  etliche  verschnitten,  die  sind 
aus  Mutterleibe  also  geboren;  und  sind  etliche  verschnitten,  die 
von  Menschen  verschnitten  sind;  und  sind  etliche  verschnitten, 
die  sich  selbst  verschnitten  haben;  um  des  Himmel- 
reiches willen.     Wer  es  fassen  mag,  der  fasse  es!'') 


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Yom  Standptmcte  der  Eudämonologie  des  Indiyiduiims  ist  dies 
meiner  Ansicht  nach  das  einzig  mögliche  Besultat  Wenn  etwas 
Triftiges  dagegen  yorzubringen  ist,  so  können  es  nur  solche  Er- 
wägungen sein,  welche  vom  Individuum  ein  Hinausgehen  über  den 
Standpunct  seines  Egoismus  verlangen.  Das  Besultat  für  die  Liebe 
ist  also  dasselbe,  wie  für  den  Hunger,  dass  sie  an  sich  und  für 
das  Individuum  ein  Uebel  ist,  und  ihre  Bereohtigosg  nni 
daraus  herleiten  kann,  dass  sie  auf  die  in  Oi^.  B.  IL  nachgewiesene 
Art  zum  Fortschritte  der  Entwickelung  beiträgt. 

4.    Mitleid,  FreinidSGliaft  md  FaniliengÜolL 

Das  Mitleid ,  auf  welchem  nach  Aristoteles  (aber  nicht  taxii 
meiner  Ansicht)  hauptsächlich  das  Gefallen  am  Tragischen  und 
nach  Schopenhauer  alle  Moralität  beruhen  soll,  ist  eine  aus  XJnlnft 
und  Lust  gemischte  Empfindung,  wie  Jeder  weiss.  Der  Grund  der 
Unlust  ist  klar,  es  ist  eben  das  Mit -Leiden  mit  sinnlich  wahrnehm- 
barem fremden  Schmerz,  welches  so  stark  werden  kann,  dass  es 
keine  Spur  von  Lust  im  Mitleide  mehr  aufkommen  lässt,  sondern 
es  ganz  in  herzzerreissenden  Jammer  verwandelt,  dessen  Granen 
zum  Hinwegwenden  antreibt.  Man  denke  sich  den  Anblick  eines 
Schlachtfeldes  nach  der  Schlacht,  oder  einen  Menschen,  der  in 
totalen  Ejrämpfen   liegt. 

Woher  aber  die  gewöhnlich  in  massigem  Mitleid  sich  findende 
Lustempfindung  stammt,  ist  schwerer  zu  begreifen.  Von  der  dnieh 
etwaige  Hülfeleistung  bedingten  Befriedigung  ist  natürlich  hier 
nicht  die  Eede,  denn  diese  liegt  jenseits  des  Mitleides  selbst  Ke 
Schadenfreude  der  Bosheit  ist  die  einzige  Lustempfindung,  welche 
der  Anblick  fremden  Leides  auf  directe  Weise  zu  erwecken  im 
Stande  ist;  diese  aber  weiss  Jeder  von  der  milden  Lust  des  Mit* 
leides  sehr  wohl  zu  unterscheiden. 

Ich  sehe  keine  andere  Möglichkeit^  um  die  Lust  im  Mitleid 
zu  begreifen,  und  habe  auch  noch  nirgends  den  leisesten  Yersnch 
einer  anderen  Erklärung  gefunden,  als  die,  dass  der  Oontrast  des 
fremden  Leides  mit  dem  eigenen  Freisein  von  diesem  Leide  den 
latenten  Widerwillen  gegen  die  Ertragnng  solches  Leides  zugleich 
erregt,  befriedigt  und  die  Befriedigung  zum  Bewnsstsein 
bringt  Dadurch  wird  freilich  die  Lust  des  Mitleides  för  eine  rein 
egoistische   erklärt,  "indessen  sehe  ich  nicht,    inwiefern  dies  der 


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667 

Würde  oder  den  edlen  Folgen  des  Mitleidet  Eintrag  thun  soU. 
Es  stimmt  damit  völlig  iiberein,  dass  für  sehr  feinföhlige^ 
BelbstrerläagAende  Oemüther  das  Mitleid  eine  höchst  nnan^mehme 
Erregung  ist,  eine  wahre  Qual,  der  sie  auf  jede  Weise  aas  dem 
Wege  zu  gehen  suchen ,  während  der  Mensch  «ich  mit  um  so 
grösserem  Behagen  an  seinem  Mitleid  weidet,  je  roher  er  ist^  und 
dass  femer  das  mit  Ansehen  eines  sehr  grossen  Leides  auch  das 
rohere  GemüÜi  soweit  sich  seUbst  über  dem  fremden  Wohle  ver- 
gessen iSflst,  dass  dieselbe  Wirkung  entsteht,  wie  in  zartfühlende- 
zen  Se^n  auch  bei  kleinerem  Leide,  dass  eben  das  MiÜeid  nur 
noch  ünlustempfindung  ist  Wenn  der  rohe  Haufe  sieh  aa  firemdem 
Leide  weidet,  so  darf  man  nicht  vergessen,  dass  derselbe  auch 
Bestialität  genug  besitzt»  um  mit  dem  Mitleide  mehr  oder  weniger 
die  Wollust  der  Grausamkeit  zu  vereinigen,  welche  sieh  an  der 
fremden  Qual  als  solcher  ergötzt;  man  darf  also  die  rohe  Masse 
nur  mit  Vorsicht  zu  der  Entscheidung  benutzen,  ob  in  dem  Mitleid 
als  iN>lchem  die  Lust  oder  Unlust  überwiegt  Meinem  subjectiven 
TJrtheil  nach  ist  entschieden  das  letztere  der  Jall;  wie  aber  aueh 
4as  TJrtheil  Anderer  sich  zu  dem  meinigen  stellen  möge,  so  ist  das 
ausser  Zweifel,  dass  die  Gefühlsrohheit  der  Menschheit  duroh- 
sohnittlioh  mehr  und  mehr  abnimmt,  und  dass  mit  almehmender 
Gefühlsrohheit  die  Unlust  im  Mitleid  über  die  Lust  mehr  imd  mdiir 
die  Oberhand  gewinnt. 

Nun  stellt  sich  aber  das  Verhältniss  noch  ungünstiger  für  die 
Luat.  wenn  wir  die  unmittelbaren  Folgen  des  Mitleides  in  der  Seele 
mit  in  Anschlag  bringen.  Das  Mitleid  erweckt  nämlich  sofort  die 
Begierde,  das  fremde  Leid  zu  stillen,  und  dies  ist  auch  der  Zweck 
dieses  Listinctes.  Biese  Begierde  findet  aber  nur  in  sehr  seltenen 
Fällen  eine  partielle,  noch  seltener  eine  totale  Befriedigung,  sie 
wird  also  weit  häufiger  Unlust  als  Lust  erwecken. 

Wenn  also  auch  dem  Listincte  des  Mitleides  als  Correotiv  und 
Limitiv  des  Egoismus  und  der  aus  ihm  entspringenden  Ungerechtig- 
keit die  Berechtigung  des  kleineren  von  zwei  Uebeln  nicht  abge- 
sprochen werden  kann,  so  ist  es  doch  an  sich  betrachtet  immer- 
hin ein  Uebel,  denn  es  bringt  mehr  Unlust  als  Lust. 

Yergl.  Spinoza  Eth.  Th.  4.  Satz  50 :  „Mitleiden  ist  bei  einem 
Menschen,  der  nach  der  Leitung  der  Vernunft  lebt,  an  sich  schlecht 
und  unnütz.  Beweis:  Denn  Mitleid  ist  (nach  J>et  18)  Unlust, 
also  (nach  S.  48)  an  sich  schlecht     Das  Gute  aber,  das  aus  ihm 


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568 

folgt  ....  Buchen  wir  nach  dem  blossen  Gebote  der  Yemonfb  zu 
thun;**  u.  s.  w. 

Von  der  Geselligkeit  und  Freundschaft  lässt  sich  nicht 
dasselbe  beweisen,  obwohl  es  vielfach  behauptet  worden  ist,  und 
für  eine  gewisse  Gemüthsart  auch  mit  Becht.  So  sagt  z.  B.  La 
Bruy^re :  „Tcmt  notre  mal  vierU  de  ne  pouvoir  itre  smls"  (Man 
vergleiche  auch  Schopenhauer,  Parerga  I.  444 — 458.) 

Wohl  aber  wird  sich  das  behaupten  lassen,  dass  der  Gesellig- 
keitstrieb ein  aus  der  Schwäche  und  Ohnmacht  des  Einzelnen  ent- 
springendes instinctives  Bedürfniss  ist,  dessen  Erfüllung  den  Menschen 
wie  Gesundheit  und  Freiheit  erst  auf  den  Banhorizont  stellt,  auf 
welchem  Geselligkeitsfundamente  er  nun  erst  im  Stande  ist,  sich 
gewisse  positive  Genüsse  zu  errichten,  und  dass  nur  ein  geringer 
Theil  der  wahren  Freundschaft;,  welche  überdies  so  selten  ist,  einen 
den  NuUpunct  der  Empfindung  positiv  überragenden  Werth  reprä- 
sentirt. 

Wie  es  in  der  Natur  Herdenthiere  giebt,  so  ist  der  Mensch 
ein  geselliges  Thier;  ohnmächtig,  schutzlos  jeder  Naturmacht  und 
jedem  Feinde  preisgegeben,  weist  ihn  sein  Instinct  auf  Gemein- 
schaft; mit  seinesgleichen  an.  Hier  ist  es  wirklich  der  gefühlte 
Mangel,  der  das  Bedürfniss  erzeugt,  und  die  Lust  dieser  Ge- 
selligkeit ist  nur  die  Aufhebung  der  Unlust  jenes  Mangels  oder 
Bedürfnisses. 

Ausser  zur  Abwehr  der  Noth  und  feindlicher  Angriffe  befähigt 
die  gesellige  Gemeinschaft  zweitens  auch  mehr  als  die  Einsamkeit 
zur  Erzeugung  positiver  Leitungen,  z.  B.  zur  wirthschaftlichen  Arbeit» 
volkswirthschaftlichen  oder  künstlerischen  Production,  zur  geschlecht- 
lichen Liebe,  zur  Vermehrung  der  Bildung  oder  Kenntniss  durch 
Gedankenaustausch,  zum  Einsammeln  von  interessanten  Neuigkeiten. 
Zu  alle  diesem  befähigt  die  gesellige  Gemeinschaft,  aber  sie 
bewirkt  es  nicht,  sie  ist  eben  nur  der  Bauhorizont,  der  sowohl 
unbenutzt  bleiben,  als  in  der  verschiedensten  Art  und  Weise  be- 
nutzt werden  kann.  Sie  ist  also  in  diesem  Puncto  nur  die  Mög- 
lichkeit der  Lust,  aber  nicht  die  Lust  selbst;  diese  fallt  vielmehr 
ganz  in  die  auf  diesem  Bauhorizont  zu  errichtenden  Gebäude,  und 
muss  bei  diesen,  nicht  bei  der  Geselligkeit  betrachtet  werden,  ja 
sogar  die  positive  Lust,  welche  auf  ihrem  Grunde  errichtet  werden 
kann,  l&sst  sich  grossentheils  in  unveränderter  oder  wenig  modifi- 
oirter  Weise  auch  in  der  Einsamkeit  erlangen. 


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669 

Dass  dagegen  die  Geselligkeit  durch  die  Bücksiohten  auf  die 
Anderen  und  den  Zwang,  welche  sie  dem  Einzelnen  auferlegt,  gans 
reale  ünbeqnemlichkeiten  macht ,  und  zeitweise  mit  yerzweiflungs* 
ToUer  Unlust  erfüllen  kann,  beweisen  unsere  „Gesellschaften^'. 

Aus  der  geselligen  Gemeinschaft  entspringt  ein  grösseres  gegen- 
seitiges Interesse,  d.  h.  ein  gesteigertes  MitgefühL  Würde  in  jedem 
Einzelnen  die  Summe  der  Lust  die  Summe  der  Unlust  überwiegen, 
so  würde  auch  in  Bezug  auf  jeden  Einzelnen  die  Summe  der  Mit- 
freude die  Summe  des  Mitleides  überwiegen  können,  wenn  nicht  die 
Schwächung  der  Mitfreude  durch  den  Neid,  welche  auch  dem  besten 
Freunde  gegenüber  unvermeidlich  ist,  dies  verhinderte.  Da  aber 
im  Leben  des  Einzelnen  die  Summe  der  Unlust  die  Summe  der 
Lust  überwiegt,  so  muss  das  Mitgefühl  für  denselben  ebenfallB  in 
überwiegender  Unlust  bestehen,  und  dies  kann  keinenfalls  dadurch 
ausgeglichen  werden,  dass  man  des  Mitgefühls  für  seine  eigenen 
Leiden  und  Freuden  im  Freundesbusen  gewiss  ist  Freilich  strebt 
man  nach  Trost,  aber  was  kann  es  denn,  wenn  man  es  sich  recht 
überlegt,  für  einen  Trost  gewähren,  dass  man  mit  seinen  eigenen 
Unannehmlichkeiten  und  Plackereien  auch  noch  dem  Freunde  die 
Laune  verdirbt? 

Gleichwohl  ist  das  einsame  Ertragen  des  Kummers  oder  A er- 
gers so  peinigend,  dass  man  sich  relativ  glücklich  fühlt ,  ihn  ein- 
mal ausschütten  zu  können,  wenn  man  auch  dafür  nun  die  Yer- 
drieselichkeiten  des  Freundes  vice  versa  über  sich  muss  ausschütten 
lassen.  Auch  hier  kommt  es  darauf  heraus,  dass  die  Steigerung 
des  gegenseitigen  Mitgefühles  in  der  Freundschaft  das  kleinere 
Uebel  von  zweien  ist,  von  welchen  das  andere  nur  um  der  eigenen 
Schwachheit  willen  als  das  grössere  erscheint. 

Wenn  daher  das  so  hoch  gepriesene  Glück  der  Freundschaft 
einer  richtigen  Schätzung  unterworfen  wird,  so  beruht  dasselbe 
theils  auf  der  menschlichen  Schwachheit  im  Ertragen  der  Leiden, 
wie  denn  auch  sehr  starke  Charactere  am  wenigsten  der  Freund- 
schaft bedürfen,  theils  aber  auf  Verfolgung  eines  gemeinsamen 
Zieles,  mit  einem  Worte  auf  Gleichheit  der  Interessen,  woher  auch 
die  seheinbar  unzertrennlichsten  Frexmdschaften  sich  lösen  oder  im 
Sande  verrinnen,  wenn  in  dem  einen  Theile  die  leitenden  Interessen 
wechseln,  so  dass  sie  nunmehr  mit  denen  des  anderen  auseinander 
gehen.  Die  durch  die  gemeinschaftlich  verfolgten  Interessen  er- 
längte  Lust  kann   aber  auch  nur  auf  Eechnung  dieser  Interessen, 


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670 

nicht  anmittelbar  «uf  die  der  Freuadschaft  gesetet  werden.  Die 
festeste  Gemeinsamkeit  der  Interessen  besteht  in  der  Ehe;  die 
Oemeinschaft  der  Güter,  dee  Erwerbes»  des  gesohlediÜichen  Yo^ 
kehres  und  der  Eindererziehung  sind  starke  Bande.  Dan 
kommt  noch  die  gewaltige  Macht  der  Gewohnheit.  Wie  dei 
Hund  die  erhabenste  und  rührendste  Freundschaft  und  Treue 
dem  Herrn  bewahrt,  an  welchen  ihn  nicht  eigene  Wahl,  senden 
Zufall  und  Gewohnheit  geknüpft  haben,  so  ist  auch  dsß  VerhältniM 
der  Glitten  wesentlidi  ein  Zusammenhängen  aus  Gewohnheit,  wes- 
halb auch  die  Cony^itions-Ehen  und  die  aus  Neigung  nadi  einer 
Reihe  yon  Jahren  im  Durchschnitt  dieselbe  Physiognomie  seigen. 

Bühring,  der  in  seinem  ^^Werth  des  Lebens''  der  liebe  das 
Wort  redet  und  behauptet,  dass  sie  in  der  Ehe  nidit  verschwände» 
kommt  S.  113 — 114  selbst  zu  folgendem  Besultate:  „Die  Liebe 
der  Gatten  möchte  daher  in  Mächtigkeit  ihrer  Wirkungen  yielleicht 
nicht  hintet  der  leidenschaftlichen  Liebe  zurückstehen.  Die  Em- 
pfindung ist  gleichsam  nur  gebunden,  tritt  aber  mit  ihrer  ganzen 
Ejiaft  heryor,  wenn  es  gilt,  irgend  einem  friedlichen  Schicksale  zu  be- 
gegnen. Die  Kräfte,  welche  einst  ein  lebendiges  Spiel  der  Empfindung 
unterhielten,  halten  nun  in  dem  gereiften  Verhältnisse  einander  die 
Wage,  um  bei  jeder  Störung  des  Gleichgewichtes  wieder  für  die 
Empfindung  merklich  zu  werden.''  Wenn  die  Empfindung  gebun- 
den ist,  so  existirt  sie  eben  nicht  für's  Bewusstsein»  und  wmin  sie 
bloss  bei  einer  Störung  in's  Bewusstsein  tritt,  so  wird  sie  nur  als 
Unlust  empfunden,  spricht  also  in  beiden  Fällen  nicht  für  dea 
Werth  des  Lebens,  worauf  es  hier  doch  bloss  ankommt;  die  Grösse 
der  Wirkungen  aber  lässt  sich  aus  der  Freundschaft  und  Gewohn- 
heit ebensowohl  begreifen. 

Bei  alledem  giebt  es  so  viel  ünfirieden  und  Yerdruss  in  den 
meisten  Ehen,  dass,  wenn  man  mit  unbefangenem  Blicke  hineinsohaut 
und  sich  nicht  durch  die  eitle  Yerstellung  der  Menschen  täuschen  lässt, 
man  unter  Hunderten  kaum  Eine  findet,  die  man  beneiden  mochte. 
Es  liegt  dies  eben  an  der  ünklugheit  der  Maischen»  die  sich  im 
Kleinen  ihren  gegenseitigen  Schwächen  nicht  zu  accommodiren  Srer- 
stehen,  an  der  Zufälligkeit ,  mit  der  die  Gharaotere  sich  zur  Ehe 
zusammenfinden,  an  dem  gegenseitigen  Pochen  auf  Bechte,  wo  nur 
die  Nachsicht  und  Freundschaft  die  Yermittelung  findet,  an  der 
Bequemlichkeit,  allen  Unmuth,  Yerdruss  und  üble  Laune  an  der 
näohststehenden  Person  auszulassen,  die  Einem  stillhalten  mxum,  ao 


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671 

der  g^enseitigeii  Gereiztheit  und  Yerbittemng,  die  dnroh  jeden 
neuen  Fall  einer  vermeintlichen  Bechtsrerletzung  gesteigert  wird^ 
an  dem  leidigen  Bewusstsein  des  Aneinandergekettetseins ,  dessen 
Fehlen  eine  Menge  yon  Eüoksichtslosigkeiten  und  Disharmonien  im 
Entstehen  durch  Furcht  vor  den  Folgen  verhindern  würde.  So 
kommt  es  sra  jenem  ehelichen  Kreuz,  welches  so  wenig  als  Aus- 
nahme betrachtet  werden  dar^  dass  Leasing  meht  Unrecht  hat,  wenn 
er  sagt: 

„Ein  einzig  böses  Weib  giebt's  höchstens  in  der  Welt, 
Nur  schade,  dass  ein  Jeder  es  für  das  seine  bäU.^ 

Dies  widerspricht  durchaus  nicht  der  niatsache,  dass  die  Maoht 
der  Gewohnheit  sofort  ihr  Becht  behauptet  und  sich  aufs  Heftigste 
widersetzt,  wenn  von  Aussen  eine  Störung  oder  Trennung  der  Ehe 
droht.  In  beiden  FäÜen  ist  es  immer  nur  die  schmerzliche  Seite 
des  Yerhältnisses ,  welche  sich  in's  Bewusstsein  drängt.  Die  Zer- 
reissung  der  sohlechtesten  Ehe,  die  den  Betheiligten  eine  wahre 
Hölle  bereitete,  macht  dem  üeberlebendMi  immer  noch  so  grossen 
Schmerz,  dass  ich  von  einem  erfahrenen  Manne  sagen  hörte,  wenn 
einmal  eine  Ehe  zerrissen  werden  solle,  dann  je  früher,  je  besser; 
je  langer  und  enger  die  Gewohnheit,  desto  unverwindbarer  werde 
die  Trennung.  Man  braucht  aus  diesem  gewiss  richtigen  ürtheile 
BOT  die  letzte  Consequenz  zu  ziehen,  so  ist  die  Trennung  am  vor- 
theilhaftesten  vor  der  Verbindung. 

Yerständige  Leute,  deren  ürtheil  nicht  vom  Triebe  befangen 
ist,  sind  sich  auch  gewöhnlich  ganz  klar  darüber,  dass  vom  ratio- 
nellen Standpuncte  des  individuellen  Wohlseins  Nichtheirathen  besser 
als  Heirathen  ist.  Wenn  keine  Liebe  und  keiue  äusseren  Zwecke 
(Bang,  Reichthum)  zur  Eheschliessung  antreiben,  so  giebt  es  in  der 
That  auch  nur  noch  den  Einen  Grund,  die  Ehe  als  das  vermeint- 
lich kleinere  von  zwei  Hebeln  zu  wählen,  also  für  ein  Mädchen, 
um  den  Schrecken  des  Alljungfemthums ,  einen  Mann,  um  den 
Unbequemlichkeiten  des  Junggesellenlebens ,  für  Beide,  um  den 
Qualen  des  unbefriedigten  Instinctes,  beziehungsweise  den  Folgen 
einer  ausserehelichen  Befriedigung,  zu  entgehen. 

In  der  Kegel  machen  sie  aber  die  Erfahrung,  dass  sie  sich 
über  das  grössere  der  beiden  Uebel  bitter  getäuscht  haben,  und 
nur  Scham  und  rücksichtsvolles  Zturtgefühl  verbietet  ihnen,  dies 
zu  gestehen.  Wie  unbehaglich  allerdings  auch  der  unbefriedigte 
Listinet,  einen  Hausstand  und  Familie  zu  gründen,  für  ältere  Jung- 


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672 

gesellen  und  Jungfern  werden  kann,  ist  schon  Capitel  B.  I.  er- 
wähnt. — 

Sind  nun  die  Leute  verheirathet ,  so  sehnen  sie  sich  nach 
Kindern^  —  wieder  ein  Instinct,  denn  der  Verstand  kann  sich  kaom 
danach  sehnen.  Der  Instinct  geht  so  weit,  in  Ermangelung  eigener, 
fremde  Kinder  anzunehmen  und  wie  eigene  zu  erziehen. 

Dass  auch  letzteres  keine  That  aus  TJeherlegung  ist,  sieht  man 
schon  aus  den  Instincten  der  Affen,  Katzen  und  vieler  anderen 
Säugethiere  xmd  Vögel,  die  ganz  ebenso  yerfiahren.  Ausserdem  wird 
bei  diesem  Thun  aber  auch  ein  schon  eristirendes  Kind  genommen, 
uoid  nur  in  eine  bessere  Lebenslage  versetzt,  als  ihm  sonst  beschie- 
den gewesen  wäre.  Anders  aber,  wenn  es  sich  darum  handelt,  ein 
noch  erst  zu  schaffendes,  meinetwegen  in  der  Betorte  auf  chemi- 
schem Wege  zu  fabricirendes  Kind  statt  des  fehlenden  eigenen 
anzunehmen. 

„Man  denke  sich  einmal *',  sagt  Schopenhauer  (Parerga  IL 
S.  321 — 322),  „dass  der  Zeugangsact  weder  ein  Bedür^ss,  noch 
von  Wollust  begleitet,  sondern  eine  Sache  der  reinen,  vernünftigen 
Ueberlegung  wäre :  könnte  wohl  dann  das  Kenschengeschlecht  noch 
bestehen?  Würde  nicht  vielmehr  Jeder  so  viel  Mitleid  mit  der 
kommenden  Generation  gehabt  haben,  dass  er  ihr  die  Last  des 
Daseins  lieber  erspart  oder  wenigstens  es  (die  Verantwortlichkeit) 
nicht  hätte  auf  sich  nehmen  mögen,  sie  kaltblütig  ihr  auf- 
zulegen ?" 

Ausser  dem  unmittelbaren  Listincte,  Kinder  aufziehen  zu 
wollen,  hat  der  Wunsch  nach  Kindern  bei  solchen  Leuten,  deren 
Leben  in  Mehrung  der  Wohlhabenheit  oder  des  Beichthumes  be- 
steht, noch  einen  anderen  Grund.  Diese  fangen  nämlich  in  einem 
gewissen  Lebensalter  an  zu  merken,  dass  sie  selbst  von  dem  Ueber- 
schusse  des  Beichthumes  doch  keinen  Genuss  haben ;  wenn  sie  aber 
dem  gemäss  auf  weiteren  Erwerb  verzichten  wollten,  so  wäre  ihre 
Lebensader  unterbunden  und  sie  fielen  der  ödesten  Leere  des  Da- 
seins und  der  Langeweile  anheim. 

Um  diesem  Uebel  zu  entgehen,  wünschen  sie  sich  das  kleinere 
XJebel,  Besitz  von  Kindern,  um  an  dem  auf  diese  ausgedehnten 
Egoismus  ein  Motiv  zum  Fortsetzen  der  Erwerbsthätigkeit  zu  haben. 

Vergleicht  man  aber  in  objectiver  Weise  die  Freud-^n  einer- 
seits und  den  Kummer,  Aerger,  Verdrues  und  Sorgen  andererseits, 
welche  Kinder  den  Eltern  bringen,  so  dürfte  das  TJeberwiegen  der 


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573 

Unlust  wohl  kaum  zweifelhaft  sein,  wenn  auch  das  vom  Instinct 
beeinflusste  üriheil  sich  dagegen  sträubt,  besonders  bei  Frauen, 
bei   welchen  der  Instinct  zum  Einderaufziehen  yiel  stärker  ist. 

Man  vergleiche  vorerst  die  Summe  der  Freude,  welche  durch 
die  Geburt  und  die  Summe  des  Schmerzes  und  Kummers,  welche 
durch  den  Tod  eines  Kindes  in  den  Gemüihem  sämmtlicher  Be- 
theiligten hervorgerufen  wird.  Erst  nach  Anrechnung  des  hierbei 
sich  ergebenden  Schmerziiberschusses  kann  man  an  die  Betrachtung 
ihres  Lebens  selbst  gehen.  Dazu  empfehle  ich  das  Gapitel  „Mütter- 
wahnsinn'' aus  Bogumil  Goltz :  „zur  Characteristik  und  Naturgeschichte 
der  Frauen." 

In  der  ersten  Zeit  überwiegt  die  Unbequemlichkeit  und  Sche- 
rerei der  Pflege,  dann  der  Aerger  mit  den  Nachbarn  und  die  Sorge 
um  Krankheiten,  dann  die  Sorge ,  die  Töchter  zu  verheirathen  und 
der  Kummer  über  die  dummen  Streiche  imd  Schulden  der  Söhne; 
zu  alledem  kommt  die  Sorge  der  Aufbringung  der  nöthigen  Mittel, 
die  bei  armen  Leuten  in  der  ersten,  bei  gebildeten  Classen  in  den 
späteren  Zeiten  am  grössten  ist.  Und  bei  aller  Arbeit  und  Mühe, 
allem  Kummer  und  Sorge  und  der  steten  Angst,  sie  zu  verlieren, 
was  ist  das  reelle  Glück,  das  die  Kinder  dem  bereiten,  der  sie  hat? 
Abgesehen  von  der  gelegentlichen  Befriedigung  der  Eitelkeit,  durch 
die  heuchlerische  Schmeichelei  der  gefälligen  Frau  Nachbarin,  — 
die  Hoffnung,  nichts  als  die  Hoffnung  auf  die  Zukunft. 

Und  wenn  die  Zeit  kommt,  diese  Hoffnungen  zu  erfüllen,  und 
die  Kinder  nicht  vorher  gestorben  und  verdorben  sind,  verlassen 
sie  das  elterliche  Haus  und  gehen  ihren  eigenen  Weg.  Soweit  also 
jene  Ho&ung  egoistisch  ist,  trügt  sie  immer,  soweit  sie  aber 
bloss  für  das  Kind,  nicht  auf  das  Kind  hofft,  wie  da? 

Von  Allem  kommen,  wie  wir  sehen  werden,  die  Menschen  im 
Alter  zurück,  nur  von  der  Einen  Illusion  des  einzigen  ihnen  ge- 
bliebenen Instinctes  nicht,  dass  sie  auf  dasselbe  erbärmliche  Dasein, 
dessen  Eitelkeit  sie  an  sich  selbst  in  jeder  Beziehung  erkannt 
haben,  für  ihre  Kinder  ihre  Hoffnungen  bauen.  Wenn  sie  alt  ge- 
nug werden,  so  dass  sie  auch  ihre  Kinder  alte  Leute  werden 
Bchen,  kommen  sie  freilich  auch  davon  zurück,  doch  dann  fangen 
aie  bei  den  Enkeln  und  Urenkeln  von  vorne  an-,  —  der  Mensch 
lernt  nie  aus. 


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574 


5.   BfefkeK,  BirgefliM,  Ehrgeii,  IMmielit  onI  ttorrsoksiiolit 

Liebe,  £bre  und  Erwerbstrieb  sind  im  geistigen  Gebiete  wohl 
die  drei  mäobtigsten  Triebfedern.  Hier  befassen  wir  uns  mit  der 
iweiten.  Man  kann  die  Ehre  in  eine  objectiTe  und  subjective  Ehre 
trennen.  Die  objective  Ehre  eines  Menschen  ist  allgemein  aus- 
gedrückt seine  Werthschätzang  durch  Andere. 

Man  kann  die  objective  Ehre  eintheilen  in: 

A.  Ehre  des  äusseren  Werthes: 

a.  Ehre  des  Besitzes, 

b.  „         ff     Standes, 

c.  „         „     Banges, 

d.  „       der  Schönheit. 

B.  Ehre  des  inneren  Werthes: 

a.  Ehre   der  Arbeit, 

b.  „         „     Intelligenz  und  Bildung, 

c.  moralische  Ehre, 
a)  der  Nächstenliebe, 
ß)  der  Gerechtigkeit, 

d.  bürgerliche  Ehre, 

e.  weibliche  (Sexual-)  Ehre. 

Die  negative  Ehre  besitzt  Jeder  von  selbst,  bis  er  sie  verliert, 
die  positive  Ehre  muss  man  durch  Umstände  (Geburt,  Handlungen, 
Leistungen)  erlangt  haben.  Erstere  bezeichnet  nur  den  Nullpunct 
des  Werthes,  letztere  übersteigt  denselben  positiv.  Die  Ehre  des 
Besitzes  beruht  auf  Macht,  die  des  Standes  auf  Macht  und  Leistun- 
gen, verknöchert  aber  leicht  in  aus  früheren  Zeiten  herübeixagen- 
den  Formen;  die  Ehre  des  Banges  ist,  insoweit  sie  über  die  Ehre 
der  mit  dem  Bange  verknüpften  Macht  und  Arbeit  hinausgeht,  eine 
künstliche  Schöpfung  des  Staates,  um  niedrigere  Gehalter  zahlen  zu 
können;  die  Ehre  der  Schönheit  muss  man  nicht  bei  uns,  sondern 
bei  Völkern  suchen,  die  Sinn  für  Schönheit  haben  (alten  Griechen); 
die  Ehre  der  Arbeit  ist  dem  volkswirthschaftlichen  Werthe  der 
Arbeit  proportional;  die  der  Litelligenz  und  Bildung  ersetzt  beson- 
ders da  die  Ehre  der  Arbeit ,  wo  die  geistige  Arbeit  gar  nicht  als 
Arbeit  begriffen  wird;  die  moralische  Ehre  ist  positiv  nur  in  der 
werkthätigen  Liebe,  die  der  Gerechtigkeit  ist  bloss  negativ,  ebenso 
wie  die  bürgerliche  und  sexuale  Ehre,  welche  letztere  nur  beim 
Weibe  existirt. 


•5    9 


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575 

Die  snbjeotiTe  Ehre  ist  doppelter  Natur ;  die  direote  sub« 
jeetiye  Ehre  eines  Menschen  ist  seine  Werthsebätzong  seiner  selbst, 
die  indirecte  ist  seine  Werthschätzong  der  Werthschätzung  seiner 
dnrob  Andere,  oder  seine  Werthschätzung  der  objectiyen  Ehre. 

Entere  beisst  Selbstsch&tznng, Selbstachtung,  Selbstgefühl^  Stolz; 
wenn  die  Schätzung  unter  dem  wahren  Werthe  ist:  Bescbeidenheity 
Bemnih;  wenn  sie  über  dem  wahren  Werthe  ist:  Selbstüber- 
schätzung,  Dünkel,  Hochmuth;  letztere  dagegen  heisst  Eitelkeit; 
wenn  sieh  auch  die  Menschen  wehren  mögen,  bei  edleren  Bestre- 
bungen dies  Wort  zuzulassen,  —  der  Sache  nach  ist  es  dasselbe, 
ob  ein  Mädchen  auf  den  Buf  ihrer  Schönheit,  oder  ein  Dichter  auf 
den  Enf  seiner  Werke  eitel  ist.  Beide  Theile  zusammen,  also  Stolz 
und  Eitelkeit,  machen  die  subjectiye  Ehre  aus,  die  nun  nach  den 
Gegenständen  der  Werthschätzung  derselben  Eintheilung  unterliegt, 
wie  die  objective  Ehre«  In  Bezug  auf  den  negi^tiven  Theil  heisst 
sie  Ehrgefühl,  in  Bezug  auf  den  positiyen  Ehrgeiz.  Der  directe  und 
indirecte  Theil  der  subjecüven  Ehre  kann  in  sehr  verschiedenem 
Yerhaltnisse  der  Stärke  zu  einander  stehen,  in  der  Begiel  aber  wird 
der  letztere  überwiegen,  ja  so  sehr  überwiegen,  dass  man  häufig 
der  Anschauung  begegnet,  als  bestände  die  subjectiye  Ehre  nur  in 
dieser  Werthschätzung  der  Werthschätzung  seiner  durch  Andere, 
während  dies  doch  die  reine  Eitelkeit  ist,  auf  Anderer  ürtheil 
über  seinen  Werth  etwas  zu  geben,  während  man  selbst  sich  zu- 
gleich allen  Werth  abspricht,  also  das  fremde  TJrÜieil  für  falsch  hält. 

Der  Stolz,  die  eigene  Hochschätzung,  ist  eine  beneidenswerthe 
Eigenschaft,  gleichviel,  ob  die  Schätzung  wahr  oder  falsch  ist,  wenn 
man  sie  nnr  für  richtig  hält  ' 

Freilich  ist  ein  uners^ütterlicher  Stolz  selten,  meist  hat  er 
abwechselnde  Kämpfe  mit  dem  Zweifel  oder  gar  der  Verzweiflung 
an  sich  zu  bestehen,  welche  mehr  Schmerz,  als  der  Stolz  selbst 
Lust,  yerursachen.  Auch  steigert  der  Stolz  die  Empfindlichkeit  nach 
Anssen  und  ist  seinerseits  gezwungen,  die  heuchlerische  Maske  der 
Bescheidenheit  yorzunehmen,  weann  er  sich  nicht  Unannehmlich- 
keiten bereiten  wilL  Dies  zusammen  möchte  wohl  die  Lust  des 
hohen  Selbstgefühles  ziemlich  wieder  auflegen.  —  Was  nun  aber 
gar  jenes  Ehrgefühl  und  Ehrgeiz  betri£Pt,  die  zum  grössten  Theile 
oder  ausschliesslich  auf  Eitelkeit  beruhen,  so  mögen  dieselben  ein 
für  nnser  Stadium  der  Entwickelung  noch  so  praotischer  Instinot 
sein,  man  wird  doch  nicht   läugnen  können,  dass  sie  erstens  eitel 


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Bind,  d.  h.  auf  Illusionen  beruhen,  und  dass  sie  zweitens  dem,  der 
von  ihnen  besessen  ist,  tausendmal  mehr  Unlust  als  Lust  bereiten. 

Das  weibliche  sexuelle  Ehrgefühl  allein  schützt  die  socialen 
Verhältnisse  yor  yölliger  Zerrüttung;  das  bürgerliche  Ehrgefühl  halt 
den  noch  Unbescholtenen  von  Verbrechen  oder  Vergehen  ab,  tob 
denen  ihn  weder  die  Furcht  vor  zeitlichen,  noch  vor  ewigen  Stra- 
fen zurückschrecken  könnte;  der  Ehrgeiz  der  Bildung  spornt  den 
Knaben  und  Jüngling  bei  seiner  mühevollen  Erlernung  des  von 
unserer  Zeit  geforderten  Bildungsmateriales ;  der  Ehrgeiz  der  Arbeit, 
welcher  in  Bezug  auf  seltene  und  bedeutende  Leistungen  und  Tha- 
ten  Ruhmsucht  heisst,  hält  den  hungernden  Künstler  und  Gelehrten 
aufrecht,  dessen  Schaffensnerv  gelähmt  wäre^  wenn  man  ihm  die 
Unmöglichkeit  beweisen  könnte,  jemals  seinen  Ehrgeiz  oder  Buhm- 
sucht  im  Geringsten  zu  befriedigen.  So  verhindert  das  Ehrgefühl 
grössere  Uebel,  und  fördert  der  Ehrgeiz  den  Entwickelungsprooess 
der  Menschheit;  aber  abgesehen  davon,  dass  die  subjective  Ehre 
bei  höherer  Ausbildung  und  Macht  der  Vernunft  sehr  wohl  ent- 
behrt und  ihre  guten  Wirkungen  anderweitig  hervorgebracht  werden 
können,  so  muss  doch  jedenfalls  der  Einzelne,  dajs  Werkzeug  des 
Triebes,  unter  demselben  leiden. 

Der  Besitz  der  negativen  Ehre  kann  keine  Lust  gewähr^i,  aU 
wenn  sie  aus  scheinbarem  Verlust  (z.  B.  durch  Verläumdung)  wieder 
hergestellt  wird;  an  sich  entspricht  sie  nur  dem  Nüllpuncte  der 
Empfindung,  wie  sie  nur  den  NuUpunct  des  Werthes  repräsentirL. 
Sie  ist  also  wie  alle  ihr  ähnlichen  Momente  eine  ergiebige  Quelle  des 
Schmerzes,  aber  keine  Cluelle  der  Lust,  ausser  durch  das  hier  noch 
ganz  besonders  selten  vorkommende  Bückgängigmachen  der  Unlust 

Der  Ehrgeiz  aber  ist  allerdings  ein  positiver  Trieb,  und  zwar 
einer  von  denen,  „nach  denen  man,  wie  nach  Salzwasser,  um  so 
durstiger  wird,  je  mehr  man  trinkt." 

Wohin  man  auch  hört,  so  wird  man  die  Klagen  der  Beamten 
und  Offiziere  über  Zurücksetzung  und  schlechtes  Avancement,  die 
Klagen  der  Künstler  und  Gelehrten  über  Unterdrückung  durch 
Neid  und  Cabale,  überall  den  Aerger  über  die  unverdiente  Bevor- 
zugung Unwürdiger  vernehmen.  Auf  hundert  Kränkungen  des  Ehr- 
geizes kommt  kaum  eine  Befriedigung;  erstere  werden  bitter  em- 
pfunden, letztere  als  längst  verdienter  Zoll  der  Gerechtigkeit  hin- 
genommen, womöglich  mit  dem  Verdruss,  dass  sie  nicht  früher  ge- 
kommen.    Die  allgemeine  Selbstüberschätzung  läast  jeden  Einzelnen 


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wo.  hohe  Ansprüche  stellen,  die  allgemeine  gegenseitige  Missgonst 
und  Herabwürdigung  des  Verdienstes  lässt  selbst  gerechten  An- 
sprüchen die  Anerkennung  versagen.  Jede  Befriedigung  des  Ehr- 
geizes dient  nur  dazu,  seine  Ansprüche  höher  zu  schrauben,  und  in 
Folge  dessen  muss  es  ein  den  vorigen  überbietender  Triumph  sein, 
der  eine  neue  Befriedigung  erzeugen  soll,  während  jede  der  vorigen 
nicht  gleichkommende  Anerkennung  wegen  dieses  Defioits  Unlust 
erweckt 

Man  denke  z.  B.  an  eine  junge  Bühnensängerin,  sie  steigt  von 
Stufe  zu  Stufe  auf  eine  gewisse  Höhe  in  der  Gunst  des  Publicums; 
die  mit  dieser  Stufe  der  Gunst  verbundenen  Triumphe  nimmt  sie 
als  ihr  Becht  in  Anspruch,  das  Leben  in  ihnen  ist  ihr  wie  die 
Luft,  die  sie  athmet,  sie  ist  empört,  wenn  sie  einmal  ausbleiben» 
Aber  eine  jüngere  kommt  endlich  und  drängt  sie  in  die  zweite 
Reihe,  wie  sie  es  mit  ihren  Vorgängerinnen  gemacht  hat,  und  das 
Herabsinken  von  ihrer  Höhe  ist  ihr  tausendmal  schmerzlicher,  als 
das  Ersteigen  derselben  ihr  genussreich  war,  während  sie  das  Ver- 
weilen auf  derselben  kaum  als  Glück  empfunden. 

Wie  in  diesem  Beispiele,  so  ist  der  Verlauf  mit  allem  Ehr- 
geiz und  Huhm sucht;  selbst  wo  die  Leistungen  oder  Werke  bleiben, 
behaupten  sie  nicht  immer  das  gleiche  Interesse  im  Publicum 

Nun  kommt  aber  zu  alledem  noch  hinzu  ^  dass  der  Ehrgeiz 
eitel  ist ,  d.  h.  auf  Illusion  beruht.  Selbst  die  Werthschätzung, 
wie  sie  in  der  objectiven  Ehre  vorliegt,  beruht  schon  zum  Theil 
auf  Illusion;  ich  erinnere  nur  an  die  künstlich  aufgeblähte  Ehre 
des  Banges  und  des  aus  dem  Mittelalter  überkommenen,  aber  bei 
uns  in  seiner  Bedeutung  bereits  fast  abgestorbenen  Adels.  Und 
selbst  wo  der  Werth,  den  die  objective  Ehre  schätzt,  kein  illuso- 
rischer ist,  ist  doch  ihre  Schätzung  gar  zu  oft  falsch.  Das  vox 
popuU  vox  dei  gilt  nur  in  Fragen,  die  für  die  Entwickelung  des 
Volkes  Lebensfragen  sind,  und  wo  in  Folge  dessen  das  ünbewusste 
instinctiv  das  Urtheil  der  Masse  leitet.  In  allen  anderen  Dingen 
ist  die  vox  popuU  so  blind,  vom  Scheine  geblendet,  von  Claqueurs 
verführt,  dem  Gemeinen  ergeben  und  verständnisslos  für  das  Gute, 
Wahre  und  Schöne,  dass  man  vielmehr  immer  darauf  rechnen  kann^ 
sie  sei  auf  Irrwegen.  (Vgl.  Schopenhauer,  Parerga  IL  Cap.  XX.) 
Man  kann  in  allen  solchen  Sachen,  die  nicht  Lebensfragen  der  Ent- 
wickelung, oder  gar  von  der  Wissenschaft  schon  endgültig  gelöst 
sind,  a  priori  darauf  schwören,  dass  die  Majoritäten  Unrecht  und 

▼.  Hartmann,  Phil.  d.  Unbewussten.  37 


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die  Minoritäten  Beoht  haben ;  ja  sogar  das  Gemeinsamurtheilen  ist  so 
sobwer,  dass,  wo  eine  Menge  gescheater  Leute  siob  yereinig^a,  sie 
zusammen  gewiss  bloss  eine  Dummheit  zu  Stande  bringen. 

Einem  solchen  Urtheile  giebt  derjenige  sein  Lebensglück  in  die 
Hände  y  welcher  den  Ehrgeiz  zu  seinem  Leitstern  macht.  Schon 
im  Kleinen  würde  sich  gewiss  Keiner  mehr  um  die  Urtheile  der 
Menschen  kümmern ,  dem  man  alle  Yerläumdungen  und  schlechten 
Beurtheilungen  auf  einmal  vorlegen  könnte,  die  von  seinen  Freun- 
den und  Bekannten  hinter  seinem  Rücken  über  ihn  ausgesprochen 
sind.  Und  nun  gar  der  Ehrgeiz,  welcher  nach  Orden,  Würden  und 
Titeln  hascht!  Jedermann  weiss,  dass  sie  nicht  dem  Verdienst, 
sondern  dem  Dienstalter,  dem  mit  Vetterschaften  und  Fürsprechern 
Versehenen,  dem  Kriecher  und  Schmeichler,  oder  auch  als  Lohn 
für  unsaubere  Gefälligkeiten  zu  Theil  werden,  und  doch  —  unglaub- 
lich zu  sagen  —  sind  die  Menschen  danach  lüstern ! 

Gesetzt  nun  aber,  der  Gegenstand  der  objeotiven  Ehre  hätte 
einen  Werth,  und  die  Beurtheilung  derjenigen,  in  deren  Uitheil  die 
objective  Ehre  besteht,  wäre  richtig,  so  wäre  der  Ehrgeiz  doch 
eitel.  Denn  was  kann  es  für  den  Menschen  für  einen  Werth  haben^ 
was  Andere  von  ihm  denken  und  urtheilen?  Doch  keinen. anderen« 
als  insofern  die  Art  ihres  Handelns  gegen  ihn  durch  ihr  Urtheil 
über  ihn  mitbestimmt  wird !  Hierbei  ist  einem  aber  die  Meinung  als 
solche  ganz  gleichgültig,  und  wird  nur  als  Mittel  betrachtet,  um  dadurch 
ein  bestimmtes  Handeln  der  Menschen  zu  erzielen ;  die»  ist  also  kein 
Ehrgeiz  im  gewöhnlichen  Sinne,  so  wenig  man  den  geldgeizig 
nennen  kann,  der  nach  vielem  Gelde  strebt,  aber  Alles,  was  er 
einnimmt,  auch  ausgiebt;  erst  dass  man  in  die  objective  Ehre  ala 
solche  einen  Werth  setzt,  macht  den  Ehrgeiz  und  das  Ehrgefühl 
aus,  und  dass  mit  der  objectiven  Ehre  dann  theilweise  auch  die 
Handlungsweise  der  Menschen  gegen  den  Geehrten  eine  andere, 
ihm  vortheilhaftere  wird,  ist  nur  eine  gern  mitgenonunene  acciden* 
tielle  Folge. 

Meistens  wird  sich  ja  auch  die  Modiflcation  des  Handebs 
darauf  beschränken,  dass  das  Benehmen  ehrerbietiger  wird» 
also  auf  einen  Ausdruck  der  Zuerkennung  der  objeotiven  Ehre, 
der  dem  Verständigen  ebenso  gleichgültig,  als  die  Meinung  der 
Menschen  selbst  sein  muss ;  wahrer  Nutzen  fliesst  aus  der  positiven 
objectiven  Ehre  fast  gar  nicht,  nur  Schaden  aus  der  vorletzten 
negativen  Ehre,  so  dass  schliesslich  alle  reale  Bedeutung  der  objec- 


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tiyen  Ehre  darin  besteht,  dass  man  sich  vor  Schaden  durch  Yer- 
letÄung  der  negativen  Ehre  zu  hüten  hat  Jeder  subjective  Werth 
einer  objectiven  Ehre  als  solchen  beruht  aber  offenbar  auf  Ein- 
bildung, denn  der  Schauplatz  meiner  Leiden  und  Freuden  ist  doch 
mein  Kopf  und  nicht  der  Kopf  Ander  er ,  also  kann  es  meinem 
Wohle  und  Wehe  an  und  für  sich  doch  nichts  nehmen  oder  hin- 
zufügen, was  andere  Leute  über  mich  denken,  mithin  kann  ihre  Mei- 
nung als  solche  für  mich  keinen  effectiven  Werth  haben,  folglich  ist 
der  Ehrgeiz  eitel.  Das  Ehrgefühl,  das  sich  nach  unserer  Erklärung 
auf  die  negative  Ehre  bezieht,  ist  zwar  an  und  für  sich  ebenso 
nichtig,  aber  es  kann  doch  wenigstens  mit  Eecht  für  sich  anführen, 
dass,  wenn  man  einmal  unter  Menschen  lebt^  man  doch  wenigstens 
so  thun  müsse,  als  läge  einem  etwas  an  der  objectiven  negativen 
Ehre,  weil  sonst  die  Anderen  über  einen  herfallen,  wie  die  Krähen 
über  die  Eule  bei  Tage. 

Wenn  ich  hiermit  Ehrgefühl  und  Ehrgeiz  für  eitel  und  illuso- 
risch erkläre,  so  ist  damit  über  den  Werth  der  Gegenstände  der 
Ehre  noch  keineswegs  ein  ürtheil  gefallt;  ich  habe  sogar  theilweise 
vor  denselben  die  grösste  Hochachtung,  z.  B.  vor  der  Sittlichkeit. 
Wenn  aber  solche  Gegenstände  einen  Werth  haben,  so  haben  sie 
ihn  nicht  deshalb,  weil  sie  Gegenstände  der  Ehre  sind,  wie  wohl 
gar  die  verkehrte  Welt  meint,  sondern  weil  sie  unmittelbar  be- 
glücken. Am  deutlichsten  ist  dies  beim  Nachruhm;  ein  Spinoza 
kann  doch  wahrlich  davon  nichts  haben,  dass  der  Studiosus  N.  sagt : 
„das  war  ein  gescheuter  Kopf;  sondern  dass  er  im  Stande  war, 
solche  Gedanken  zu  fassen,  davon  hatte  er  etwas.  Allerdings  kann 
das  Beglückende  für  mein  Bewusstsein  auch  darin  liegen,  dass  ich 
mir  bewusst  bin,  zum  Besten  Anderer  etwas  zu  thun  oder  zu 
leisten,  aber  das  ist  doch  immer  die  Mitfreude  über  ein  reales 
Glück,  wohingegen  die  Anerkennung  des  Werthes  meiner  Thaten 
oder  Leistungen  jen^i  Anderen  keineswegs  Lust,  sondern  eher  Un- 
lust bereitet.  Der  Unterschied  ist  derselbe,  wie  wenn  ich  einem 
Bettler  eine  Gabe  reiche;  £reue  ich  mich  darüber,  dass  er  durch 
die  Gabe  seine  Noth  augenblicklich  gelindert  sieht,  so  hat  meine 
Freude  einen  realen  Gegenstand;  lauere  ich  aber  auf  sein  „Schön 
Dank"  oder  „Gott  lohn'  es",  um  mich  darüber  zu  freuen,  so  bin  ich 
ein  eitler,  thöriohter  Mann. 

So  hat  sich  auch  der  Trieb  nach  Ehre  als  ein  wenn  auch 
nützlicher,  doch  auf  Illusion  beruhender  Listinct  herausgestellt,  der 

37* 


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weit  mehr  Unlust  ala  Lust  verursacht.  (Vgl.  Schopenhauer  Panerga 
L,  Aphorismen  zur  Lehensweisheit,  Cap.  I,  11  und  besonders  lY.) 
Mit  der  Herrschsucht  verhält  es  sich  ganz  analog.  Soweit 
dieselbe  blosses  Streben  nach  Freiheit  ist»  ist  sie  noch  nicht  posi- 
tiver Trieb;  so  weit  die  Macht  des  Herrschens  nur  gesucht  wird» 
um  sich  mit  ihrer  Hülfe  anderweitige  Genüsse  zu  verschaffen,  ist 
sie  blosses  Mittel  für  fremde  Zwecke  und  inuss  nach  dem  Werthe 
jener  gemessen  werden.  Es  giebt  aber  auch  eine  Leidenschaft  de» 
Befehlens  und  Herrschens  als  solche.  Es  ist  klar,  dass  diese  zu- 
nächst nur  auf  Kosten  der  Verletzung  desselben  Triebes  und 
ausserdem  des  Freiheitstriebes  in  den  Beherrschten  möglich  ist; 
femer  aber  gilt  von  ihr  dasselbe,  wie  vom  Ehrgeiz  und  der  Kuhm- 
sucht:  je  mehr  man  von  ihnen  trinkt,  desto  durstiger  wird  man. 
Die  gewohnte  Macht  wird  nicht  mehr  genossen,  wohl  aber  jeder 
Widerstand  gegen  dieselbe  aufs  schmerzlichste  empfunden  und 
zu  seiner  Beseitigung  die  grössten  anderweitigen  Opfer  gebracht 
Im  Ganzen  genommen  und  mit  Eücksicht  auf  die  Folgen  für  An- 
dere ist  also  die  Herrschsucht  eine  noch  viel  verderblichere  Lei- 
denschaft, als  der  Ehrgeiz. 


6.    ReHgiöse  Erbauung. 

Schon  im  Cap.  B.  IX.  haben  wir  erwähnt,  dass  die  Erhebung 
des  religiösen  Gefühles  in  der  Andacht  und  Erbauung,  welche 
stets  mehr  oder  weniger  mystischer  Natur  ist,  eine  so  hohe  Be- 
seligung zu  gewähren  im  Stande  ist,  dass  sie  über  alle  Erdenlei- 
den hinwegsetzt.  Aber  erstens  sind  diese  hohen  Grade  der  Erhe- 
bung selten,  denn  sie  können,  da  sie  wesentlich  mystischer  Natur 
sind,  nicht  durch  Fleiss  und  Mühe  erworben  werden,  sondern 
setzen  eine  Anlage,  ein  Talent  dazu  voraus,  so  gut  wie  der  Kimst- 
genuss,  und  zweitens  sind  sie,  wie  jede  Lust,  nicht,  ohne  eigen- 
thümliche  Unlust  mitzubringen.  Man  versteht  dies  am  besten, 
wenn  man  das  Leben  der  Büsser  und  Heiligen  darauf  ansieht  Die 
höchsteu  Grade  religiöser  Erhebung  sind  kaum  denkbar  ohne  eine 
lange  fortgesetzte  Abtödtung  des  „Fleisches'^  d.  h.  nicht  nur  der  sinn- 
lichen Begierden,  sondern  aller  weltlichen  Lüste  überhaupt.  Selten 
wird  diese  Entsagung  von  dem  Bewusstsein  der  illusorischen  Be- 
schaffenheit der  irdischen  Lust  und  des  Ueberwiegens  der  aus  dem 
irdischen  Verlangen  gleichzeitig  hervorgehenden  Unlust  getragen, 


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denn  dazn  gehört  schon  Philosophie,  sondern  meistens  wird  die  Yer- 
zichtleistung  auf  irdisches  Glück  als  ein  wahres  Opfer  empfanden, 
dnrch  welches  das  höhere  mystische  religiöse  Glück  erkauft  wer- 
den soll,  so  dass  der  Betreffende  das  Bedauern  über  den  Yerlust 
des  irdischen  Glückes  an  sich  eigentlich  nie  los  wird.  Aber  wie 
dem  auch  sei,  die  lange  iinterdrückten  natürlichen  Triebe  bäumen 
sich  von  Zeit  zu  Zeit  nur  um  so  mächtiger  auf,  und  die  Heftigkeit 
der  Kämpfe,  welche  die  Entsagenden  in  freilich  immer  selteneren, 
aber  immer  gewaltigeren  Bückfällen  zu  bestehen  haben,  giebt  für 
die  Grösse  der  von  ihnen  um  des  Himmelreiches  willen  erlittenen 
Qualen  Zeugniss,  bis  endlich  Gewohnheit  und  körperliche  Schwächung 
allmälig  einen  gleichmässigeren  Zustand  herstellt.  —  Yon  den  leib- 
lichen Schmerzen  und  Entbehrungen  der  Askese  selbst  will  ich 
schweigen y  da  sie  ein,  wenn  auch  entschieden  sehr  wirksames, 
doch  nicht  unentbehrliches  Mittel  zur  Erlangung  der  religiös -my- 
stischen Erhebung  ist. 

Kommen  wir  auf  die  niederen  Stufen  der  Erbauung,  welche 
mit  dem  weltlichen  Leben  vereinigt  werden,  so  tritt  ein  oben 
nicht  erwähntes  Moment  der  Unlust  besonders  wichtig  hervor:  die 
Furcht  vor  der  eigenen  IJnwürdigkeit,  der  Zweifel  an  der  göttlichen 
Gnade,  die  Angst  vor  dem  zukünftigen  Gericht,  die  Qualen  über 
die  Last  der  begangenen  Sünden ,  mögen  letztere  den  Augen  An- 
derer auch  noch  so  geringfügig  erscheinen.  Alles  in  Allem  wird 
sich  Lust  und  Unlust  auch  bei  dem  religiösen  Gefühl  ziemlich 
aufwiegen.  Sollte  aber  wirklich  ein  Ueberschuss  von  Lust  sich 
ergeben,  wovon  ich  die  Möglichkeit  auf  diesem  Gebiet  eher  als 
auf  allen  anderen  (mit  Ausnahme  von  Kunst  und  Wissenschaft) 
einräumen  würde,  so  tritt  die  andere  Erwägung  ein,  dass  auch  diese 
Lust  illusorisch  ist.  Wir  haben  diese  Illusion  schon  Cap.  B.  IX. 
au%edeckt;  sie  besteht  in  der  Kürze  darin,  dass  das  Bestreben, 
die  Identität  des  All -Einigen  Unbewnssten  mit  dem  Bewusstseins- 
Subjecty  welche  in  Wirklichkeit  existirt  und  als  rationelle  Wahr- 
heit vom  Verstände  leicht  begriffen  werden  kann,  in  der  bewuss- 
ten  Empfindung  unmittelbar  zu  erfassen  und  zu  geniessen,  seiner 
Natur  nach  nothwendig  resultatlos  bleiben  muss,  weil  das  Bewusst- 
sein  unmöglich  über  seine  eigenen  Grenzen  hinaus  kann,  also  das 
Unbewusste  nicht  als  solches,  also  auch  nicht  die  Einheit  des  Un- 
bewnssten und  des  Bewusstseinsindividuums  erfassen  kann.  Wenn 
die  Burchschauung   und  Befreiung  von  der  Illusion  in  der  fort 


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schreitenden  Entwickelung  der  Menschheit  auf  irgend  einem  Ge- 
biete klar  vor  Augen  liegt,  so  ist  es  im  religiösen.  Man  kann 
nicht  sagen,  dass  die  gegenwärtige  Zeit  des  Unglaubens  ebenso 
yorübergehend  sein  wird,  als  etwa  die  der  gebildeten  alten  Welt 
um  Christi  Geburt;  wenn  auch  religiösere  Perioden  als  jetzt  wie- 
derkommen werden,  so  ist  doch  eine  ähnliche  Glaubensperiode,  wie 
das  katholische  Mittelalter  war,  durch  die  moderne  universelle 
Geistesbildung  für  immer  unmöglich  gemacht.  Auch  d€LS  Mittel- 
alter war  nur  möglich,  weil  die  classische  Geistesbildung  unter 
Trümmern  begraben  wurde,  und  dies  haben  wir  wohl  gegenwärtig 
nicht  mehr  zu  befürchten.  Je  mehr  die  Völker  ihre  rationellen 
Anlagen  cultiviren,  je  mehr  sie  auf  eigenen  Füssen,  d.  h.  auf  ihrem 
Bewusstsein,  stehen  und  gehen  lernen,  desto  mehr  yerlieren  sich 
ihre  mystischen  Anlagen;  diese  sind  die  Surrogat  -  Talente  der 
Jugend,  die  Eeife  des  bewussten  Verstandes  füllt  das  Mannesalter 
der  Völker  aus.  Man  kann  aus  der  allmälig  fortschreitenden  Zer- 
störung der  religiösen  Illusionen  nach  Analogie  darauf  schliessen, 
dass  auch  die  Zerstörung  der  anderen  Illusionen  mit  Sicherheit  in 
der  Geschichte  sich  vollziehen  wird,  sobald  dieselben  als  Trieb- 
federn des  Fortschrittes  nicht  weiter  gebraucht  werden,  sei  es  nun, 
dass  sie  von  anderen  mächtig  gewordenen  Triebfedern  (Vernunft) 
abgelöst  werden,  sei  es,  dass  das  Ziel  in  der  Bichtung  ihrer  spe- 
oiellen  Wirksamkeit  erreicht  ist.  Insoweit  der  religiöse  G^uss  in 
der  Hoffnung  auf  transcendente  Seligkeit  nach  dem  Tode  besteht, 
wird  er  erst  weiter  unten  seine  Erledigung  finden. 


7.    UnsittHchkeit 

Das  unsittliche  Handeln  oder  ünrechtthun  geht  aus  dem 
mit  der  Individuation  als  unausbleibliche  Folge  gesetzten  Egois- 
mus hervor,  und  besteht  ursprünglich  darin,  dass  ich,  um  mir 
einen  Genuss  zu  verschaffen  oder  einen  Schmerz  zu  ersparen,  kurz 
zur  Befriedigung  meines  individuellen  Willens,  einem  oder  mehre- 
ren anderen  Individuen  einen  grösseren  Schmerz  anthue.  Alle 
anderen  Formen  des  Unrechtthuns  sind  erst*  aus  dieser  ursprüng- 
lichen abgeleitet.  Es  ist  also  klar,  dass  das  Wesen  des  Unrechtes 
oder  Unsittlichen  darin  besteht,  das  ohnediess  in  der  Welt  bestehende 
Verhältniss  von  Lust  und  Unlust  zu  Ungunsten  der  Lust  zu  verändern, 
da  eben   der  Schmerz   des  Unrechtleidenden    grösser    ist,    ak   die 


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Lost  (oder  der  ersparte  Schmerz)  des  ünrechtthuenden.  Hieraus 
folgt,  je  grösser  die  Unsittlichkeit ,  desto  grösser  das  Leiden  der 
Welt.  (Den  Begriff  der  Gerechtigkeit  auf  dieses  Verhältpiss  anzuwen- 
den, ist,  wie  schon  oben  gezeigt,  ganz  unstatthaft.)  Gesetzt  also,  das 
YerhältnisB  von  Lust  und  Unlust  wäre  ein  völlig  gleichsch^^bendes 
in  der  Welt  (welcher  Fall  freilich»  als  einer  unter  unendlich  vielen 
möglichen  Verhältnissen,  a  priori  eine  unendlich  kleine  Wahr- 
scheinlichkeit hat),  so  würde  die  Existenz  der  Unsittliohkeit  sofort 
der  Unlust  das  Uebergewicht  zufuhren.  In  einer  an  sich  schon 
-elenden  Welt  aber  wird  sie  das  Maass  des  Elends  zum  Ueberlau- 
fen  bringen ,  um  so  mehr  als  den  Menschen  kein  vom  Schicksal, 
auferlegtes  Leid  so  bitter  schmerzt ,  als  das ,  welches  seine  Mit- 
menschen ihm  auferlegt  haben.  Auch  in  Bezug  auf  die  Schlech- 
tigkeit, Nichtswürdigkeit,  Bosheit  und  Gemeinheit  der  Menschen 
ergeht  sich  Schopenhauer  in  lebhaften  Schilderungen,  welche  kaum 
übertrieben  genannt  werden  dürften,  und  deren  Wiederholung  ich 
mich  hier  überhebe.  Nur  Eines  will  ich  hier  noch  hinzufügen, 
nämlich,  dass  der  Unverstand  der  Menschen  gar  oft  dieselbe  Wir- 
kung hervorbringt^  wie  die  Bosheit,  indem  er  die  Menschen  der  Um- 
gebung oft  auf  das  Bitterste  quält,  ohne  auch  nur  einen  Nutzen  oder 
OenuBs  davon  zu  haben,  wie  doch  die  Bosheit  offenbar  hat. 

Wenn  aber  das  Unrechtthun  das  Leid  der  Welt  vermehrt,  so 
ifft  im  Gegentheil  das  Rechtthun  keineswegs  im  Stande,  dasselbe 
2U  vermindern,  denn  es  ist  ja  nichts  Anderes  als  die  Au^echter- 
haltung  des  Status  quo  vor  dem  ersten  Unrechti  also  kein  positives 
Hinausgehen  über  den  Bauhorizont;  Niemand ,  dem  sein  klares 
IRecht  geschieht,  wird  darüber  eine  Freude  haben,  es  sei  denn, 
dass  ihm  die  Furcht  vor  dem  Unrecht  benommen  ist;  derjenige 
aber,  der  dem  Anderen  sein  Recht  widerfahren  lässt,  hat  doch  erst 
recht  keinen  Grund  zur  Lust,  denn  er  hat  damit  seinem  indivi- 
duellen Willen  Abbruch  gethan  und  doch  nicht  mehr  als  seihe 
Schuldigkeit  gethan.  Eine  wahre  Freude  kann  erst  die  Ausübung 
der  positiven  Sittlichkeit,  der  werkthätigen  Nächstenliebe  gewi&ren, 
doch  wird  sie  beim  Ausübenden  immer  mit  der  Unlust  des  Opfers, 
heim  Empfänger  mit  der  Unlust  der  Beschämimg  über  die  empfan- 
gene Wohlthat  verbunden  sein.  Diese  Erhöhung  der  Lust  der 
Welt  durch  thätige  Nächstenliebe  kommt  gegen  die  Masse  Unsitt- 
lichkeit  gar  nicht  in  Betracht. 


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8.    Wissenschaftlicher  und  Kunst -Genuss. 

Wie  dem  ermüdeten  Wandereri  wenn  er  nach  langem  Pilgern 
in  der  Wüste  endlich  auf  eine  Oase  trifft,  so  ist  uns  jetzt  xa 
Muthe,  wo  wir  auf  Kunst  und  Wissenschaft  treffen,  —  endlich  ein 
freundlicher  Sonnenbliok  in  der  Nacht  des  Bingens  und  Leidens. 
Wenn  Schopenhauer  den  Gemüthszustand  beim  künstlerischen  oder 
wissenschaftlichen  Empfangen  oder  Froduciren  als  blosse  Schmerz- 
losigkeit  bestimmen  konnte,  so  muss  er  wohl  nie  den  Zustand  der 
Ekstase  oder  Verzückung  kennen  gelernt  haben,  in  den  man  über 
ein  Kunstwerk  oder  eine  neu  sich  aufthuende  Sphäre  der  Wissen* 
Schaft  gerathen  kann.  Wenn  er  aber  die  Positivität  eines  solchen 
Zustandes  des  höchsten  Genusses  eingesehen  hätte,  so  hätte  er  nicht 
mehr  behaupten  können,  es  dabei  mit  einem  willensTreien  und  in- 
teresselosen Zustand  zu  thun  zu  haben,  sondern  er  hätte  eingese- 
hen, dasB  es  der  Zustand  höchster  und  vollkommener  positiver  Be- 
friedigung  sei^  —  und  Befriedigung  wessen,  wenn  nicht  eines 
Willens?  Freilich  nicht  des  gemeinen  practischen  Interesses  oder 
Willens,  sondern  des  Strebens  nach  Erkenntniss,  respectlve  nach 
jener  Harmonie,  nach  jener  unbewussten  Logik  unter  der  Hülle 
der  sinnlichen  Form,  kurz  nach  jenem  Etwas,  worin  die  Schönheit 
besteht,  gleich  viel  nun,  worin  sie  besteht.  Jenes  ekstatische  Ent- 
zücken (z.  B.  über  eine  Musik auf^hrnng,  über  ein  Bild,  eine 
Dichtung,  eine  philosophische  Abhandlung)  ist  freilich  etwas  sehr 
Seltenes;  schon  die  Fähigkeit  dazu  ist  nur  begnadigten  Katuren 
verliehen,  und  auch  diese  werden  sich  nicht  allzuvieler  aolohor 
Momente  in  ihrem  Leben  zu  rühmen  haben.  Es  ist  dies  gleich- 
sam eine  Entschädigung,  welche  solchen  sensiblen  Wesen  zu  Theil 
wird,  für  die  Schmerzen  des  Lebens,  welche  sie  viel  stärker  als 
andere  Menschen  empfinden  müssen,  denen  ihre  Stumpfheit  Vieles 
erleichtert. 

Ob  letztere  dabei  nicht  doch  im  Ganzen  besser  fahren,  ist 
kaum  fraglich.  Denn  da  die  Unlust  im  Leben  so  sehr  überwi^t, 
so  dürfte  ein  stumpferes  Gefühl  für  dieselbe  mit  der  Entbehrung 
einer  nicht  einmal  vermissten  y  wenn  auch  noch  so  hohen ,  doch 
immer  auf  wenige  Lebensmomente  beschränkten  Lust  nicht  zu 
hoch  bezahlt  sein.  Dies  wird  dadurch  bestätigt,  dass  die  Men- 
schen durchschnittlich  um  so  geringer  über  den  Werth  des  Lebens 
denken,   je  feinfühliger  und   geistig  hochstehender  sie  sind.     Was 


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für  den  extremen  Fall  gilt,  gilt  aber  auch  ebenso  gut  för  die 
Mittelstufen,  welche  den  Zwischenraum  von  der  Fähigkeit  für  die 
höchste  Ekstase  bis  zur  XJnempfindlichkeit  gegen  all'  und  jede 
Kunst  ausfällen.  Baraus,  dass  Jemand  gegen  diese  oder  jene  Kunst 
gleichgültig  ist,  kann  man  freilich  noch  nicht  auf  die  Stampfheit 
seiner  Empfindung  überhaupt  schliessen,  wohl  aber,  wenn  Jemand 
gegen  die  Kunst  überhaupt  gleichgültig  ist. 

Kon  frage  man  sich,  wie  yiel  Procent  der  Erdenbewohner 
überhaupt  in  einem  nennenswerthen  Grade  für  künstlerischen  und 
wissenschaftlichen  Oenuss  empfänglich  sind,  und  man  wird  die 
Bedeutung  von  Kunst  und  Wissenschaft  für  das  Glück  der  Welt 
im  Allgemeinen  schon  nicht  mehr  zu  hoch  anschlagen.  Man  er- 
wäge femer,  wie  wenig  Procent  von  den  Empfänglichen  wiederum 
im  Stande  sind,  sich  den  Genuss  des  Selbstschafifens,  der  künstle- 
rischen oder  wissenschaftlichen  Production,  welcher  doch  erheblich 
über  dem  des  Empfangens  steht,  zu  verschaffen. 

Bei  dem  Ermessen  der  Empfänglichkeit  des  gemeinen  Volkes 
vergesse  man  aber  auch  nicht>  die  nicht  auf  der  Kunst  selbst  be- 
ruhenden Gründe  des  Interesses  auszusondern,  so  z.  B.  die  Neugier 
oder  die  Lust  am  Entsetzlichen  oder  Graulichen  beim  Interesse  für 
Tolkssänger  oder  Volkserzählungen,  die  Lust  am  Tanzen  beim  In- 
teresse für  Volksmusik,  die  Eücksicht  auf  practischen  Nutzen  beim 
Interesse  für  wissenschaftliche  Mittheilungen  u.  s.  w.  Unter  den 
Gebildeten  aber  affectiren  Viele  ein  Interesse  und  mithin  eine  Ge- 
nussfähigkeit  in  Bezug  auf  Kunst  und  Wissenschaft,  welche  sie  gar 
nicht  besitzen.  Man  denke  nur,  wie  Viele  durch  die  Aussichten 
der  Oarriere,  die  ihnen  vielleicht  ihrer  Freiheit  wegen  besser  ge- 
fällt, sich  verlocken  lassen.  Gelehrte  oder  Künstler  zu  werden,  ohne 
einen  eigentlichen  Beruf  dazu  zu  haben.  Wollte  man  die  Unbe- 
rufenen und  Talentlosen  alle  ausmerzen,  die  Beihen  der  Gelehrten 
und  Künstler  würden  gewaltig  zusammenschmelzen.  Zur  Gelehrten- 
laufbahn verlocken  mehr  die  Aussichten  der  künftigen  Stellung  und  die 
Erleichterungen  beim  Eintritt  in  die  Oarriere  (Stipendien  u.  s.  w.),  zur 
Künstlerlaufbahn  mehr  die  Ungebundenheit  des  Berufes,  und  die  Be- 
schaffenheit der  Arbeit,  welche  mehr  als  heiteres  Spiel  erscheint,  oft 
aber  auch  die  blosse  Hoffnung  auf  Erwerb ;  man  denke  an  die  un- 
glücklichen Mädchen,  welche  sich  zu  Musiklehrerinnen  ausbilden. 
Femer  bringe  man  in  Abrechnung  Alles,  was  nicht  durch  lautere 
Liebe    zur  Kunst   und  Wissenschaft,    sondern   durch  Ehrgeiz    und 


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Eitelkeit  bewirkt  wird.  Man  gebe  einmal  einem  Künstler  oder 
Gelehrten  die  Gewissheit,  dass  nie  Jemand  seinen  Namen  zvl  seinen 
Werken  erfährt,  —  obwohl  hierdnrch  der  Ehrgeiz  noch  keineswegs 
gon^  beseitigt  ist,  da  ja  doch  der  Name  des  Menschen  etwas  Zu- 
fälliges  und  Gleichgültiges,  zumal  für  die  Zukunft,  ist,  —  so  wird 
dennoch  dem  Betreffenden  mehr  als  die  Hälfte  der  Lust  zu  seinen 
Leistungen  benommen  sein.  Gäbe  es  aber  ein  Mittel,  allen  Künst- 
lern und  Gelehrten  wirklich  allen  Ehrgeiz  und  Eitelkeit  gleich- 
zeitig zu  benehmen,  so  würde  gewiss  die  Production  ziemlidi  still- 
stehen, wenn  sie  nicht  noch  um  des  Broderwerbs  willen  mechanisch 
weiter  gehen  müsste. 

Aber  nun  gar  die  Schaar  der  Dilettanten  I  Wie  wenig 
Sinn  und  Liebe  für  die  Sache,  wie  erschreckend  der  Mangel 
alles  Verständnisses,  wie  so  ganz  abhängig  von  gemachter  Mode 
uud  prunkendem  Schein  ,  —  und  doch  dieser  dilettantische  An- 
drang zu  den  Künsten  und  Wissenschaften!  Das  Räthsel  löst  sich 
so:  nicht  um  ihrer  selbst  willen  werden  die  Künste  gesucht,  son- 
dern als  bunter  Flittertand,  um  seine  liebe  Person  damit  auszu- 
putzen. Die  ebenso  UDyerständigen  Beurtheiler  sind  über  den  Putz 
entzückt,  wenn  ihnen  die  Person  gefallt  und  yerachten  ihn,  wenn 
sie  keinen  sonstigen  Grund  haben,  der  Person  zu  schmeicheln;  sie 
verachten  dann  die  dilettantische  Leistung  um  so  tiefer,  je  mehr 
inneren  Werth  sie  hat,  weil  sie  gleichsam  die  freche  Anmassung 
einer  Sache,  sich  um  ihres  eigenen  Werthes  willen  darzulegen,  mit 
gebührender  Entrüstung  zurückweisen  zu  müssen  glauben.  Natür- 
lich kommt  es  unter  solchen  Umständen  nur  auf  schillernden 
Schein  nach  möglichst  vielen  Kichtungcn  an,  um  jeden  Dummkopf 
auf  die  ihm  zugänglichste  Weise  zu  blenden. 

Dies  das  Princip  der  modernen  Erziehung,  besonders  dar  Mäd- 
chen: ein  Paar  Salonpiecen  für  Ciavier,  einige  Lieder,  ein  wenig 
Baumschlag-ZeichneD  und  Blumen  -  Malen ,  einige  neuere  Sprachen 
plappern  und  die  literarischen  Sudeleien  des  Tages  lesen ,  dann 
sind  sie  vollkommen.  Was  ist  das  Anderes  als  systematisoher  Un- 
terricht in  der  Eitelkeit  nach  allen  Bedeutungen  des  Wortes?  Und 
bei  diesem  Gaukelspiel  sollte  man  an  künstlerischen  Genuss  glau- 
ben? An  künstlerischen  Ekel  höchstens,  der  sich  auch  sofort 
nach  der  Hochzeit  o£Penbart,  wenn  die  Eitelkeit  nicht  länger  die 
Bequemlichkeit  überwindet.  Mit  den  Knaben  geht  es  nicht  viel 
besser,  auch  sie  müssen  um  der  Eitelkeit  der  Elt^n  willen 
dilettiren.      Und     dazu     nun     in     der  Musik     als    Universalmittel 

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das  unglüokliohe,  eneyclopädische,  seeleDlose  Clavier!  In  der  Wis- 
Benschaft  moss  ebenfalls  Ehrgeiz  und  Eitelkeit  aushelfen.  Nur  die 
ehrgeizigen  Knaben  sind  im  Stande  gern  zur  Schule  zu  gehen;  ohne 
Ehrgeiz  ist  das  Lernen  bei  unseren  Hsuptgegenständen  und  unserer  Art 
des  Schulunterrichtes  ohne  die  höchste  Verdrossenheit  kaum  denkbar. 

Dazu  kommt  noch,  dass  in  der  Wissensohaft,  ganz  anders 
als  bei  der  Eunst^  der  reoeptive  Gennss  vor  dem  productiyen  fast 
verschwindet,  weil  die  heisse  Sehnsucht  nach  derjenigen  Erkennt- 
niss  fehlt,  von  deren  sicherer  und  leichter  Erlangung  man  im  Vor- 
aus überzeugt  ist.  Wer  ist  heute  noch  im  Stande,  an  der  Er- 
kenntniss  der  Photographie  oder  elektrischen  Telegraphie  einen 
nur  annähernd  so  grossen  Genuss  zu  haben,  als  die  Erfinder,  oder 
selbst  die,  welche  zur  Zeit  der  Erfindung  jeden  neuen  Fortschritt 
mit  Begierde  erwarteten? 

Bringen  wir  nun  alle  Empfänglichkeit  und  Genüsse  in 
Bezug  auf  Eimst  und  Wissenschaft  in  Abzug,  welche  auf  blos- 
sem Schein,  auf  Affeetation  beruhen,  sei  es  nun,  dass  sie 
aus  Ehrgeiz  und  Eitelkeit  oder  um  des  CFewinnes  willen,  oder 
weil  man  aus  anderweitigen  Gründen  einmal  eine  solche  Carriere 
eingeschlagen  hat,  afi'ectirt  werden,  so  wird  von  dem  scheinbar  in 
der  Welt  existirenden  Kunst-  und  Wissenschaftsgenuss  ein  sehr 
erheblicher,  ich  glaube ,  der  bei  weitem  grössere  Theil  wegfallen. 
Der  übrig  bleibende  Theil  aber  existirt  auch  nicht,  ohne  durch 
eine  gewisse  Unlust  erkauft  zu  werden,  wenn  ich  auch  keineswegs 
bestreiten  will,  dass  die  Lust  des  Geniessens  überwiegt.  Bei  der 
Lust  des  Producirens  ist  dies  am  deutlichsten;  bekanntlich  ist  noch 
kein  Meister  vom  Himmel  gefallen,  und  das  Studium,  welches  er- 
forderlich ist,  ehe  man  zu  einem  lohnenden  Produciren  reif  ist, 
ist  unbequem  und  mühsam  und  gewährt  meistens  wenig  Freude,  es  sei 
denn  an  überwundenen  Schwierigkeiten  und  in  Hoffnung  auf  die  Zu- 
kunft. In  jeder  Kunst  muss  die  Technik  überwunden  werden,  und  in 
der  Wissenschaft  muss  man  erst  auf  die  Höhe  der  eingeschlagenen 
Eicbtung  gelangen,  wenn  nicht  das  Produoirte  hinter  schon  Vor- 
handenem  zurückstehen  soll.  Was  muss  man  nicht  für  langweilige 
Bücher  lesen,  nur  um  sich  gewissenhaft  zu  überzeugen,  dass  nichts 
Brauchbares  darin  8teht>  und  andere  wieder,  um  aus  einem  Haufen 
Sand  ein  Kömchen  Gold  herauszusuchen  ?  Wahrlich  daa  sind  keine 
kleinen  Opfer!  Ist  man  dann  endlich  mit  den  Vorbereitungen  und 
Vorstudien  so  weit  gekommen,  um  zu  produciren,  so  sind  die  eigent- 
lich süssen  Augenblicke  doch  nur  die  der  Conception,  ihnen  folgen 

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aber  lange  Zeiträume  der  mechanisch  -  technischen  Ausarbeitang. 
Und  nicht  immer  ist  man  zum  Produciren  aufgelegt;  wäre  nicht 
der  dringende  Wunsch  da,  das  Werk  in  bestimmter,  nicht  zu  lan- 
ger Frist  zu  vollenden,  stachelte  nicht  der  Ehrgeiz  oder  die  Ruhm- 
sucht, trieben  nicht  äussere  Verhältnisse  zur  Vollendung  an,  stände 
nicht  endlich  das  gähnende  Gespenst  der  Langenweile  hint^  der 
Faulheit,  so  würde  sehr  häufig  die  von  der  Production  zu  erwat^ 
tende  Lust  die  Bequemlichkeit  nicht  besiegen,  ja  trotz  alledem  mag 
man  oft  genug  an  dem  so  theueren  Werke  zeitweilig  nicht  weiter 
arbeiten. 

Dem  Musiker  und  wissenschaftlichen  Lehrer  wird  ausserdem 
sein  Beruf  durch  die  gezwungene  handwerksmässig  gleichförmige 
Ausübung  leicht  verleidet.  Der  Dilettant  ist  mit  seinem  Broduciren 
noch  schlimmer  daran;  er  ist  mit  seinem  Oeschmacksuriheil  und 
Verständniss  meist  seiner  Leistungsfähigkeit  voraus,  und  darum 
befriedigen  ihn  seine  Leistungen  nicht ,  er  wäre  denn  sehr  eitel 
und  eingebildet.  —  Belativ  kleiner  sind  die  den  receptiven  Genuas 
begleitenden  Ünlustempfindungen.  Bei  der  Wissenschaft  sind  sie 
indessen  noch  grösser  als  bei  der  Kunst;  z.  B.  ein  streng  wissen- 
schaftliches Buch  zu  lesen,  ist  an  sich  schon  eine  Arbeit,  welcher 
sich  zu  unterziehen  immerhin  einige  üeberwindung  kostet,  eine 
IJeberwinduDg ,  zu  der  es  die  meisten  Leute  bloss  um  des  zu  er- 
wartenden Genusses  willen  niemals  briogen  würden. 

Am  mühelosesten  ist  der  reoeptive  Kunstgenuss,  und  ich  dürfte 
fast  kleinlich  erscheinen,  wenn  ich  die  damit  verknüpften  Unbequem- 
lichkeiten aniuhre ;  dennoch  sind  sie  wichtig,  da  sie  bei  wachsender 
Bequemlichkeitsliebe  (z.  B.  im  Alter)  factisch  die  meisten  bloss  receptiv 
geniessenden  Menschen  vom  Kunstgenuss  abzuhalten  im  Stande  sind. 
£s  sind  dies  das  Besuchen  der  Ghilerien,  die  Hitze  und  Engigkeit 
der  Theater  und  Ck)ncert8äle,  die  Gefahr  sich  zu  erkälten,  die  Er- 
müdung vom  Sehen  und  Hören,  die  sich  besonders  darum  so  gel- 
tend macht  9  weil  man  sich  beim  Galerienbesuch  für  seinen  Chuig, 
beim  Concertbesuch  für  sein  Entr^e  bezahlt  machen  will,  wahrend 
man  an  der  Hälfte  vollständig  genug  hätte;  vom  Geniessen  dilet- 
tantischer Leistungen  und  der  nachherigen  Verpflichtung  der  Com- 
plimente  will  ich  lieber  ganz  schweigen,  da  meine  Leser  doch  auch 
Dilettanten  sein  könnten. 

Das  Resultat  ist  also  das,  dass  von  den  wenigen  Bewohnern 
der  Erde,  welche  zum  wissenschaftlichen  oder  Kunstgenüsse  berufen 


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scheinen,  noch  weit  weniger  dazu  berufen  sind,  nnd  die  meisten 
den  Beruf  dazu  aus  Ehrgeiz,  Eitelkeit,  Erwerbstrieb  oder  anderen 
Gründen  affectiren,  dass.  diejenigen ,  welchen  wirklich  solche  Ge- 
nüsse zu  Theil  werden,  sie  noch  mit  allerlei  kleineren  oder  grösse- 
ren Opfern  an  Unlust  bezahlen  müssen,  dass  also  in  Summa  der 
TJeberschuss  an  Lust,  welche  durch  Wissenschaft  und  Kunst  als 
solche  in  der  Welt  erzeugt  werden,  verschwindend  klein  ist  gegen 
die  Summe  des  yorhandenen  Elendes,  und  dass  dieser  Lustüber- 
schuss  noch  dazu  auf  solche  Individuen  vertheilt  ist,  welche  die 
Unlust  des  Daseins  stärker  als  andere,  um  so  viel  stärker  als  an- 
dere fühlen,  dass  ihnen  hierfür  durch  jene  Lust  bei  weitem  kein 
Ersatz  wird.  Endlich  kommt  noch  dazu,  dass  diese  Art  des  Ge- 
nusses mehr  als  jeder  andere  geistige  Genuss  auf  die  Gegenwart 
beschränkt  ist,  während  andere  meist  in  der  HoflPnung  vorweg  ge- 
nossen werden.  Dies  hängt  mit  der  weiter  oben  besprochenen 
Eigenthümlichkeit  zusammen  9  dass  dieselbe  Sinneswahmehmung, 
welche  die  Befriedigung  gewährt,  auch  den  Willen,  welcher  be- 
friedigt wird,  erst  hervorruft. 

9.    Schlaf  und  Traum. 

LiBofem  der  Schlaf  ein  traumloser  ist,  ist  er  eine  vollständige 
IJnthätigkeit  des  Hirnes  und  Himbewusstseins ,  denn  sobald  das 
Hirn  nur  irgend  in  Thätigkeit  ist ,  fangt  es  an ,  mit  Bildern  zu 
spielen.  Ein  solcher  bewusstloser  Zustand  macht  auch  jede  Lust 
oder  Unlustempfilndung  unmöglich;  tritt  aber  eine  Nervenerregung 
ein ,  welche  Lust  oder  Unlust  anregen  muss ,  so  unterbricht  sie 
auch  den  unthätigen  Zustand  des  Hirnes.  Der  bewusstlose  Schlaf 
steht  also  in  Bezug  auf  das  eigentlich  menschliche  oder  Him-Be- 
wusstsein  mit  dem  l^ullpunct  der  Empfindung  gleich.  Dies  schliesst 
nicht  aus,  dass  nicht  andere  Nervencentra,  wie  Rückenmark  und 
Ganglien  ihr  Bewusstsein  fortsetzen;  dies  ist  sogar  für  den  Fort- 
gang der  Athmung,  Verdauung,  Blutbewegang  u.  s.  w.  nöthig;  aber 
dieses  ist  doch  bloss  ein  tief  animalisches  Bewusstsein,  etwa  auf 
der  Stufe  eines  niederen  Fisches  oder  Wurmes  stehend,  welches 
bei  dem  Ansatz  des  menschlichen  Glückes  nur  eine  sehr  ge- 
ringe positive  Bedeutung  haben  kann.  Aber  auch  in  diesem  ani- 
malischen Bewusstsein  der  niederen  Nervencentra  wechseln  Lust 
und  Unlust  ab,  eine  Lust  kann  nur  bei  normalem  lud  ungestörtem 
Fortgang   der   vegetativen   Functionen   stattfinden,    falls  jenes  ani- 


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malische  BewnsBtsein  genügt^  diese  Lust  zu  percipiren;  jede  Stcnimg 
aber  wird  sofort  als  Unlust  empfanden,  und  die  Unlust  schafft  sich 
immer  den  Grad  des  Bewusstseins,  der  zu  ihrer  Perception  nöthig  ist« 

Es  liegt  ein  Irrthum  nahe ,  welcher  dazu  verleiten  kann ,  ein 
deutlicheres  Wohlbehagen  im  bewusstlosen  Schlaf  anzunehmen, 
als  in  der  That  vorhanden  sein  kann;  dies  ist  das  behagliche  Ge- 
fühl, das  man  öfters  beim  Einschlafen  und  Aufwachen,  d.  h.  bei 
den  XJebergangszuständen  von  Schlaf  und  Wachen  verspürt.  Hier 
ist  aber  das  Hirnbewusstsein  noch  wirklich  vorhanden  und  jenes 
Behagen  offenbar  eine  Perception  des  Himbewusstseins ;  man  ver- 
gisst  also  dabei,  dass  ja  gerade  diese  Himperception  des  Behagena 
im  traumlosen  Schlaf  verschwindet.  Von  dem  Behagen  aber,  wel- 
ches meine  niederen  Kervencentra  empfinden,  kann  ich  mir  keine 
Vorstellung  machen,  weil  ich  ja  eben  nur  mein  Hirnbewusstsein 
bin.  Bei  alledem  ist  der  bewusstlose  Schlaf  der  relativ  glück- 
lichste Zustand,  weil  er  der  einzige  uns  bekannte  schmerzlose 
im  gesunden  Leben  des  Gehirns  ist.  — 

Was  den  Traum  betrifft,  so  treten  mit  ihm  alle  Plackereien 
des  wahren  Lebens  auch  in  den  Schlafzustand  hinüber,  nur  das 
Einzige  nicht;  was  den  Gebildeten  einigermassen  mit  dem  Leben 
aussöhnen  kann:  wissenschaftlicher  und  KunStgenuss.  Dazu  kommt 
noch,  dass  sich  eine  Freude  im  Traum  nicht  leicht  anders  als  in 
angenehmer,  freudiger  Stimmung  ausdrücken  wird,  z.  B.  als  Ge- 
fühl der  Körperlosigkeit,  des  Sohwebens,  Eliegens  u.  dgl.,  während 
sich  Unlust  nicht  nur  als  Stimmung,  sondern  auch  in  allerlei  be- 
stimmten Unannehmlichkeiten,  Aerger,  Yerdruss,  Zank 
und  Streit,  unbegreiflicher  Unmöglichkeit,  das  Gewollte  zu  errei- 
chen ,  oder  sonstigen  Chicanen  und  Widerwärtigkeiten  ausspricht. 
Im  Durchschnitt  wird  daher  sich  das  Urtheil  über  den  Werth  des 
Traumes  nach  dem  über  das  wahre  Leben  richten,  aber  immerhin 
noch  ein  ganz  Theil  schlechter  ausfallen.  — 

Das  Einschlafen  ist,  wenn  man  schnell  einschlafen  kann,  eine 
Lust,  aber  doch  nur  deshalb,  weil  die  Müdigkeit  das  Wachen  xu 
einer  Qual  gemacht  hatte  und  das  Einschlafen  mich  von  dieser 
Qual  befreit.  Das  Aufwachen  soll  für  manche  Leute  auch  eine 
Lust  sein ;  ich  habe  das  aber  nie  finden  können,  glaube  auch,  dass 
diese  Behauptung  auf  einer  Verwechselung  mit  deijenigen  Lust 
beruht ,  welche  darin  besteht ,  bei  noch  vorhandener  Müdigkeit 
nicht  aufstehen  zu  müssen,  sondern  mit  halbem  Bewusstsein  fort- 
schlummern  zu  können.     Aber    wie    wenig  Menschen   sind   in   der 


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Lage ,  diese  Lust  geniesen  zu  können !  Dass  ein  schnell  in  yöllige 
Munterkeit  übergehendes  Erwachen  irgend  Jemandem  eine  Lust  sein 
solle,  kann  ich  nicht  glauben,  halte  es  vielmehr  für  eine  Unlust, 
die  darin  ihren  Grund  findet ,  dass  man  die  Bequemlichkeit  der 
Buhe  und  des  Schlafes  nun  wieder  mit  den  Plackereien  des  Tages 
yertauiM)hen  muss.  Dass  nach  völliger  Ermunterung  und  genügen- 
der Dauer  des  Schlafes  die  Müdigkeit  des  vorigen  Abends  ver- 
schwunden und  der  Status  quo  der  Leistungs-  und  Genussfähigkeit 
wieder  hergestellt  ist,  kann  doch  unmöglich  als  positive  Lust  gel- 
ten, da  damit  nur  der  Bauhorizont  der  Empfindung  wieder  erreicht 
ist.  Wohl  aber  ist  es  eine  entschiedene  UnluBt,  wenn  man  nach 
dem  Aufistehen  noch  Müdigkeit  verspürt,  weil  man  nicht  ausge- 
schlafen hat.  In  dieser  Lage,  nicht  genügende  Schlafenszeit  vor 
Arbeit  erübrigen  zu  können,  befindet  sich  aber  ein  grosser  Theil 
der  ärmeren  Classe  aller  Völker.  Selbst  von  westphälischen 
Bauern  habe  ich  gehört,  dass  die  ganze  Familie  nach  der  Feldar- 
beit des  Tages  noch  mehrere  Stunden  in  die  Nacht  hinein  spinnen 
muss,  obwohl  diese  Arbeit  die  Stunde  kaum  mit  drei  Pfen- 
nigen lohnt. 

IOC    Erwerbstrieb  und  Bequemlichkeit. 

Unter  Erwerbstrieb  verstehe  ich  hier  vorzugsweise  das  über 
das  Unentbehrliche  des  Besitzes,  d.  h.  über  Wohnung,  Nahrung  und 
Kleidung  für  sich  und  die  Familie  hinausgehende  Streben.  Ich  er- 
spare mir  den  Hinweis  auf  die  geringe  Procentzahl  der  Bevölkerung 
selbst  in  Culturstaaten ,  welcher  eine  Befriedigung  dieses  Triebes 
möglich  wird,  da  die  moderne  Statistik  dieses  Verhältniss  in  er- 
schreckender Weise  klar  gelegt  hat.  Fragen  wir  uns  aber, 
was  ein  über  das  Nothwendige  hinausgehender  Besitz  für  Vor- 
theile  bieten  kann,  so  ist  es  zunächst  der,  dass  er  uns  durch 
seinen  Capital werth,  noch  besser  aber  durch  die  abgeworfene  Capi- 
talrente  vor  zukünftiger  Noth  schützt  und  die  Furcht  vor  zukünf- 
tiger Noth  benimmt.  Aber  dieser  Nutzen  ist  noch  kein  positiver, 
er  sichert  eben  nur  vor  zukünftiger  Unlust  und  beseitigt  gegen- 
wärtige (die  Furcht  und  Sorge).  Zweitens  verleiht  der  Besitz  die 
Macht  zur  Erreichung  der  positiven  Genüsse;  er  erzeugt  die  Ehre 
des  Besitzes ;  er  gewährt  Macht  und  Herrschaft  über  die,  welche 
von  meinem  Besitz  Vortheile  erwarten,  er  erkauft  die  Genüsse  des 
Gaumens  und  sogar  die  Freuden  der  Liebe,  kurz  der  Besitz  oder 
sein  Symbol,  das  Geld,  ist   der  Zauberstab,   welcher  alle  Genüsse 

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des  Lebens  öfftiet.  Nun  wissen  wir  aber  bereits,  dass  alle  diese 
Genüsse  nicht  nar  auf  Illusionen  beruhen,  sondern  sogar  das  Stre- 
ben nach  ihnen  in  Summa  immer  mehr  Unlust  bereitet,  als  Lust, 
dass  also  alles  Streben  nach  ihnen  aus  doppeltem  Grunde 
thöricht  ist.  Ausgenommen  davon  sind  nur  die  Genüsse  des 
Gaumens  und  der  wissenschaftliche  und  Eunst-Genuss.  Entere  aber 
haben  wieder  den  Nachtheil,  dass  man  ihre  Entbehrung,  wenn  sie 
durch  Aenderung  der  Yerhältnisse  entzogen  werden,  weit  schmen- 
licher  fühlt,  als  man  vorher  ihren  Besitz  angenehm  fand.  Um  sich  wis- 
senschaftliche und  künstlerische  Genüsse  zu  verschaffen,  dafür  hat  das 
Geld  seine  grosse  Annehmlichkeit,  indess  gehört  dazu  nicht  gerade 
viel.  Was  aber  die  Erkaufung  der  Liebe  betrifft,  so  denke  man 
dabei  noch  an  folgende  zwei  Puncto,  zuerst  was  Göthe  sagt: 

„Umsonst,  dass  du,  ihr  Herz  zu  lenken, 

Der  Liebsten  Schooss  mit  Golde  füllst,  — 

Der  Liebe  Freuden  lass  dir  schenken, 

"Wenn  du  sie  wahr  empfinden  willst." 
Und  dann,  was  von  erkauftem  Besitz  von  Weibern  noch  weit  mehr 
als  von  freiwilliger  Hingebung  derselben  gilt,  dass  das  Weib  da- 
durch und  durch  die  Folgen  für  ihr  Leben  viel  mehr  Unlust  er- 
fahrt,  als  der  erkaufende  Mann  jemals  Lust  davon  erlangen  könnte. 
Insoweit  also  der  Besitz  zum  Hang  zu  den  Weibern  verführt,  und 
den  Ehrgeiz  und  die  Herrschsucht  steigert,  ist  er  dem  Lebens- 
glück geradezu  schädlich.  Noch  verderblicher  aber  wird  der  Er- 
werbstrieb ,  wenn  er  vergisst ,  dass  der  Besitz  nur  ein  an  sich 
werthloses  Mittel  zu  fremden  Zwecken  ist  und,  ihn  als  Selbstzweck 
betrachtend,  in  Habsucht  und  Geiz  umschlägt.  Dann  beruht  er 
nämlich  ebenso  wie  Ehrgeiz  und  Liebe  selbst  nur  auf  einer  Illu- 
sion, und  wird  durch  die  Unersättlichkeit  des  Triebes,  dessen 
Durst  durch  keine  Befriedigung  gelöscht  wird,  dessen  kleinste 
Nichtbefriedigung  aber  Schmerz  verursacht,  zur  wahren  QuaL 

Wäre  dem  Bisherigen  nichts  hinzuzufügen,  so  wäre  die  reelle 
Bedeutung  des  Erwerbstriebes  für  das  Lebensglück  mit  dem  Schuta 
vor  zukünftiger  Noth  und  mit  dem  Yerschaffen  wissenschaftlicher 
und  Kunst-Genüsse,  allenfalls  noch  der  Genüsse  des  Gaumens  er- 
schöpft; dann  würde  man  auch  diesem  Triebe  mehr  einen  volks- 
wirtbschaftlichen  Werth  als  einem  für  die  zukünftige  Entwickelung  der 
Menschheit  sorgenden  Instinct,  als  eine  directe  Bedeutung  für  das 
Wohl  des  Betheiligten  zuschreiben  müssen;    aber  wir  haben  seine 


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ygichtigßpd  B^eutniig  in  letzterer  Beziehung  oooh  gar  nicht  erwähnt; 
dies  jst  i?mnUoh  das  Bequem  machen  des  Lebens.  Das  Her- 
ten von  Pienerscbafty  £quipagep,  bequemen  Wohnungen  in  der  fitadt 
und  auf  dem  Lande,  yon  Haushofmeistern  und  YermögensyerwalterD, 
wozu  weiter  dient  das  Alles,  als  um  sich  das  Leben  bequem  zu 
machen?  Denn  der  Werth  des  Luxus  als  solchen  ist  doch  ganz 
gewiss  illusorisch. 

Ist  aber  die  Bequemlichkeit  eine  positive  Lust,  oder  besteht 
ihre  Annehmlichkeit  nicht  yielmehr  bloss  in  der  Aufhebung  der  Un- 
bequemlichkeit und  Zuriickfiihrung  derselben  auf  den  Bauhorizont 
der  Empfindung?  Active  Bewegung,  Thätigkeit»  Anstrengung  und 
Arbeit  ist  unbequem,  passive  Bewegung  und  Ruhe .  dagegen  ist  bo- 
quem;  aber  wenn  man  auch  begreifen  kann,  wie  Anstrengung  und 
Bewegung  vermittelst  ^es  durch  den  Kraftverbjcauch  auf  den  ;KQr- 
per  hervoTgebrachten  Angriffs  Unlust  erzeugen  können,  so  ist  doch 
schlechterdings  nicht  einzusehen,  wie  die  Buhe,  das  unveränderte 
Verharren,  eine  positive  Lust  hervorbringen  solle,  sie  kann  eben 
offenbar  nur  dem  Nullpunct  der  Empfindung  repräsentiren. 

Wir  kommen  mithin  bei  dem,  was  den  höchsten  Neid  erweckt, 
dem  Beiohthum,  wunderlicher  Weise  zu  demselben  negativen  Re- 
sultate, wie  bei  der  nackten  Fristung  des  Daseins,  womit  wir  an- 
fingen. Dies  ist  gewiss  bedeutsam  und  characteristisch  für  den 
Werth  des  Lebens. 

Festzuhalten  ist,  dass  der  Erwerbstrieb  immer  nur  Mittel  für 
anderweitige  Zwecke  sein  kann,  und  sein  Werth  nach  dem  Werthe 
dieser  bemessen  werden  muss,  dass  er  aber  keinenfalls  einen  Werth 
an  und  für  sich  beanspruchen  darf,  und  dass  er,  wenn  er  dies  thut, 
sofort  in  die  Reihe  der  überwiegende  Unlust  erzeugenden  illuso- 
rischen Triebe  tritt  —  Vgl.  hierzu  Luc.  12,  15:  „Sehet  zu  und 
hütet  Euch  vor  der  Habgier,  denn  auch  im  Ueberfiusse  kommt 
Keinem  das  Leben  aus  seinen  äusseren  Hnlfisquellen. ''  Und 
Math.  6,  19—21  u.  24—34. 


IL   Neid,  Missgunst,  Aerger,  Schnerz  und  Trauer  Ober  Vergangeues,  Reue, 
Haas,  Rachsucht,  Zorn,  Enpflndlichkeit 

und  andere  Eigenschaften  und  Affecte,  von  denen  auch  der  gewöhn- 
liche Menschenverstand  einsieht,  dass  sie  mehr  Unlust,  als  Lust 
bringen  (vgL  S.   309),   mag  ich  nicht   erst  näher  berücksichtigen, 

▼.  HArtmann,  Phil.  d.  Unbewntales.  38 


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xomal  da  man  hoffen  darf,  dass  dieselben  mit  der  Zeit  mehr  und 
mehr  von  der  Vernunft  unterdrückt  werden.  Zur  Beurtheilung  des 
gegenwärtigen  Zustandes  der  Welt  fallen  sie  aber  noch  schwer  in  die 
Wage. 

12.   HoiriMBg. 

„Und  damit,  was  er  auch  trage, 
Er  verzweifle  nicht  am  Hiil, 
Führt  ihn  Schicksal  bis  zum  Qrabe 
An  der  Hoffnung  Narrenseil  !^ 

Wenn  es  dem  Menschen  noch  so  schlecht  geht,  —  so  lange 
noch  ein  Fünkchen  Lebenskraft  in  ihm  gümmt,  klammert  er  sich 
an  die  Hoffnung  auf  zukünftiges  Glück.  Wäre  die  Hoffnung  nicht 
in  der  Welt,  so  wäre  die  Verzweiflung  an  der  Tagi»sordnung  und 
wir  würden  dem  Selbsterhaltungstriebe  und  dei*  Todesfurcht  zum 
Trotze  unzählige  Selbstmorde  zu  registriren  haben. 

So  ist  die  Hoffnung  der  noihwendige  Hülfsinstinct  des  Selbstr 
erhaltungstriebes,  sie  ist  es,  die  uns  armen  Namn  die  Liebe  zum 
Leben,  unserem  Verstände  zum  Hohne,  erst  möglich  macht 

Die  Hoffnung  ist  ein  Characterzug.  Es  giebt  Menschen, 
welche  stets  schwarz,  und  andere,  welche  stets  rosig  in  die  Zukunft 
sehen.  Sie  entspringt  aus  einer  gewissen  Eiasticität  des  Oeistesi 
einer  Fülle  an  Lebenskraft  und  Lebenstrieb,  die  durch  die  hand- 
greiflichsten Erfahrungen  nicht  vermindert  wird,  und  nach  den 
schwersten  Schlägen  des  Schicksales  das  Haupt  mit  dem  alten 
Muthe  erhebt.  Keine  Charactereigenschaft  ist  so  sehr  wie  diese 
von  der  allgemeinen  körperlichen  Constitution  und  den  Einflössen 
des  Blutlebens  auf  das  Nerven-  und  Gehimleben  abhängig.  Keine 
Charactereigenschaft  ist  aber  auch  so  wichtig  in  Bezug  auf  die 
subjective  Beeinflussung  des  Denkens  bei  Betrachtung  der  Frage 
über  Werth  und  ünwerth  des  Lebens.  Da  nun  offenbar  auch  bei 
dem  grössten  Unwerthe  des  Lebens  die  Hoffnung  ein  nützlicher 
Listinct  ist,  (während  andererseits,  wenn  das  Leben  wirklich  einen 
Werth  hätte,  nicht  einzusehen  wäre,  wozu  eine  Schwarzseherei  als 
Charactereigenthümlichkeit  dem  Menschen  nützen  könnte),  so  hat 
man  sich  auf  das  Aeusserste  vor  einer  Bestechung  und  Verfälschung 
seines  Urtheiles  durch  ersteren  Instinct  zu  hüten. 

Ohne  Zweifel  ist  die  Hoffnung  eine  ganz  reale  Lust  Aber 
worauf  hofft  man  denn?     Doch  wohl  darauf,  das  Glück  im  Leboi 


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tu  erwiBohen  und  festzuhalten.  Wenn  aber  das  Glück  im  Leben 
nicht  zu  finden  ist,  weil,  so  lange  man  auch  lebt,  immer  die  Unlust 
die  Lust  überwiegt,  so  folgt  doch  wohl  daraus,  dass  die  Hoffnung 
yerkehrt  und  nichtig,  dass  sie  recht  eigentlich  die  Illusion 
xar  i^o^ijv  ist,  dass  sie  recht  eigentlich  dazu  da  ist,  um  uns  zu 
dupiren,  d.  h.  zum  Narren  zu  haben,  damit  wir  nur  aushalten, 
um  unsere  anderweitige,  von  uns  noch  nicht  begriffene,  Aufgabe  zu 
lösen.  Wer  aber  einmal  die  Ueberzeugung  gewonnen  hat,  dass  das 
Hoffen  selbst  so  nichtig  und  illusorisch  wie  sein  Gegenstand  ist, 
bei  dem  muss  doch  sehr  bald  der  lostinct  der  Hoffnung  durch 
diese  Erkenntniss  des  Verstandes  abgeschwächt  und  niedergedrückt 
werden;  das  Einzige,  was  ihm  als  Gegenstand  der  Ho£fnung  noch 
möglich  bleibt,  ist  nicht  das  grösst- möglichste  Glück,  sondern  das 
kleinst -möglichste  Unglück.  Dies  spricht  schon  Aristoteles  (Eth. 
Nicom.  YIL  12)  aus:  6  q^gdviiitoc:  t6  akvjtov  dtioyei,  ov  %6  r^dv. 
Damit  ist  aber  auch  der  Hofihung  jede  positive  Bedeutung  ab- 
geschnitten. 

Aber  selbst  wer  niemals,  oder  nicht  vollständig  hinter  die 
illusorische  Bedeutung  der  Hoffnung  kommt,  dürfte  doch,  wenig- 
stens für  seine  Vergangenheit  (denn  für  die  Zukunft  beirrt  ihn  ja 
der  Instinct),  gezwungen  sein,  zuzugeben;  dass  neun  Zehntel  aller 
Hoffnungen,  ja  weit  mehr  noch,  zu  Schanden  werden,  und  dass  in 
den  allermeisten  Fällen  die  Bitterkeit  der  Enttäuschung  grösser 
war,  als  die  Süssigkeit  der  Hoffnung.  Die  Eichtigkeit  dieser  Be- 
hauptung wird  durch  die  Kegel  der  ganz  gemeinen  Lebensklugheit 
bestätigt,  dass  man  an  alle  Dinge  mit  möglichst  geringen  Erwsr- 
tnngen  herangehen  solle ,  da  man  dann  erst  das  Gute,  was  an  den 
Dingen  sei,  zu  gemessen  vermöge,  während  einem  sonst  der  un- 
mittelbare Genuss  der  Gegenwart  durch  die  getäuschte  Erwartung 
beeinträchtigt  würde.  Sonach  ergiebt  sich  auch  für  den  Listinct 
der  Hoffnung  das  Besultat,  dass  er  sowohl  illusorisch  sei,  als  auch 
innerhalb  dieser  Illusionen,  in  denen  er  sich  bewegt,  eher  mehr 
als  weniger  Unlust  wie  Lust  bringe. 

13.   Resun^  des  ersten  Stadiuns  der  lllnsioD. 

Gesetzt,  es  läge  in  der  Natur  des  Willens,  gleichsam  in  Brutto 
ein  gleiches  Maass  Lust  wie  Unlust  zu  produciren,  so  würde  das 
Hettoverhältniss   von  Lust  und  Unlust  schon  ganz  im  Allgemeinen 

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durch  fblgoftde  vier  Komente  selir  «u  Omisteii  der  XJnlast  modift- 
ehrt  werden: 

ta)  die  Nervenermüdung  yennehrt  das  Widerstreben  geger  die 
TJnlnsty  yevmindert  das  Bestreben ,  die  Lust  festzobalten,  Tenacv^rt 
also  die  Unlust  an  der  Unlust,  yermindert  die  I^ust  an  der  Lust; 

b)  die  Lust,  welidie  durch  Aufhören  oder  Nadüassen  eioer 
Unlust  entsteht,  kann  nicht  entfernt  diese  Unlust  aufwi^en; 

c)  die  Unlust  erzwingt  sioh  das  Bewusstsein,  welches  sie  em- 
pfinden muss,  die  Lust  aber  nicht,  sie  muss  gleichsam  yom  Be- 
wusstsein  entdeekt  und  erschlossen  werden,  und  geht  daher  sehr 
oft  dem  Bewusstsein  yerloren,  wo  das  Motiy  zu  ihrer  Entdeckuag 
fehlt; 

d)  die  Befriedigung  ist  kurz  und  yerklingt  schnell,  die  Unlo^ 
dauert,  insoweit  sie  nicht  durch  Hoffnung  limitirt  wird,  so  lange 
wie  das  Begehren  ohne  Befriedigung  besteht  (und  wann  besjtäode 
ein  solches  nicht?). 

Diese  yier  Momente  bringen  durch  ihr  Zusammenwirken  {urao- 
tisch  annähernd  dasselbe  Eesultat  heryor,  als  wenn  die  Lust,  wie 
Schopenhauer  will,  etwas  Negatiyes,  Unreelles,  und  die  Unlust  das 
allein  Positiye  und  Beeile  wäre. 

Betrachtet  man  die  einzelnen  Eichtungen  des  Lebens,  die  ver- 
schiedenen  Begehrungen,  Triebe,  Äffecte,  Leidenschaften  und  Seden- 
zustände,  so  hat  man  ihrer  eudämonologischen  Bedeutung  nadi 
folgende  Gruppen  zu  xmterscheiden : 

a)  solche,  die  nur  Unlust  oder  doch  so  gut  wie  gar  keine 
Lust  bringen  (ygl.  Nr.  13); 

b)  solche,  die  nur  den  Kullpunct  der  Empfindung,  od^  den 
Bauhorizont  des  Lebens,  die  Priyation  yon  gewissen  Gattungen  der 
Unlust  vepräsentiren,  als  da  sind,  Gesundheit,  Jugend,  Freiheit,  aus- 
kömmliche Existenz,  Bequemlichkeit  und  ssum  grössten  Theile  aiuh 
Gemeinschaft  mit  Seinesgleichen  oder  Geselligkeit; 

c)  solche,  die  nur  aIs  Mittel  zu  ausser  ihnen  liegenden  Zwecken 
eine  reale  Bedeutung  haben,  deren  Werth  also  nur  nach  dem 
Werthe  jener  Zwecke  bemessen  werden  kann,  die  aber,  als  Selbst- 
zweck betrachtet,  illusorisch  sind,  z.  B.  Streben  nach  Besitz,  Macht 
und  Ehre,  theilweise  auch  Geselligkeit  und  Freundschaft; 

d)  solche,  die  zwar  dem  Handelnden  eine  gewisse  Lost,  dem 
oder  den  leidend  Betheiligten  aber  eine  die  Lust  weit  überwiegende 
Unlust   bringen,   so  dass  der   Totaleffect,  und,  bei  yorausgesetstor 


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697 

Beoipfooität  auch  der  Effect  für  jeden  Einzelnen,  Unlust  ist»  — 
£.  B.  TJnrechtthan^  HerrBcbsncht,  Jähzorn,  Hass  und  Eaohsucht 
(selbst  insoweit  sie  sich  in  den  (Frenzen  des  Eeohtes  halten),  ge- 
sdileebtliche  VerfUhrong  und  der  Nahmngstrieb  der  Fleischfresser ; 

e)  solche,  die  dnrchsclmiUlich  dem  sie  Empfindenden  weit  mehr 
Unlnst  als  Lost  yemrsachen,  z.  B.  Hnnger,  Geschlechtsliebe,  Kinder- 
liebe, Mitleid,  Eitelkeit,  Ehrgeiz,  Buhmzucht,  Herrschsucht,  Ho&ong; 

f)  solche,  die  auf  lUnsionen  beruhen,  welche  im  Fortschritt  der 
geistigen  Entwickelung  durchschaut  werden  müssen ,  worauf  denn 
zwar  die  durch  sie  entM^ende  Unlust  zwar  ebensowohl  als  die 
Last  vermindert  wird,  letztere  aber  in  viel  schnellerem  Maasse,  so 
dass  kaum  etwas  von  ihr  übrig  bleibt,  z.  B.  liebe,  Eitelkeit,  Ehr- 
geiz, Buhmsucht,  religiöse  Erbauung,  Hoffnung; 

g)  solche,  die  mit  vollem  Bewusstsein  als  Uebel  erkannt  und 
doch  freiwillig  übernommen  werden,  um  anderen  Uebeln  zu  ent- 
gehen, die  für  noch  grösser  gehalten  werden  (gleichgültig,  ob  sie 
ea  sind  oder  nicht),  z.  B.  Arbeit  (statt  Noth  und  Langeweile),  Ehe- 
siand,  angenommene  Kinder,  und  auch  das  sich  Hingeben  an  solche 
Triebe,  von  denen  man  erkannt  hat,  dass  sie  überwiegende  Unlust 
bringen,  derep» unterdrückte  Widenpenstigkeit  man  aber  für  noch 
quälender  hält; 

h)  solche,  die  überwiegende  Lust  bringen,  wenn  auch  eine 
durch  mehr  oder  weniger  Unlust  erkaufte  Lust,  z.  B.  Kunst  mid 
Wissenschaft,  welche  aber  yerhältnissmässig  Wenigen  zu  Tfaeil  wei^ 
den  und  bei  noch  Wenigeren  auf  eine  wahre  Liebe  und  Genuss- 
fl&igkeit  für  sie  stossen,  welche  Wenigen  dann  wieder  gerade  solche 
Individuen  sind,  die  die  übrigen  Leiden  und  Schmerzen  des  Lebens 
um  so  stärker  empfinden. 

Bei  alle  diesem  hat  man  sich  fortwährend  den  Satz  des  Spinoza 
vor  Augen  zu  halten,  ^dass  wir  niehts  erstreben,  wollen, 
▼erlangen,  noch  begehren,  weil  wir  es  für  gut  halten, 
sondern  vielmehr,  dass  wir  deshalb  etwas  für  gnt 
halten,  weil  wir  es  erstreben,  wollen,  verlangen  und 
begehren''  (Eth.  Th.  3.  S.  9.  Anm.),  und  diese  Wahrheit  als  Be- 
richtigungsmittel seines  gegen  die  Besultate  der  rationellen  Be- 
trachtung sich  auflehnenden  Gefühlsortheiles  stets  und  überall  in 
Anwendung  bring^i. 

Fasst  man  dann  die  allgemeine  und  speoielle  Betrachtung  zur 
sMnmen,   so  ergiebt  sieh  das  unzweifelhafte  Besultat,  dass  gegen- 


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598 

wärtig  die  Unlust  nicht  nnr  in  der  Welt  im  Allgemeinen  in  hobem 
Grade  überwiegt,  sondern  auch  in  jedem  einaselnen  Indi- 
viduum) selbst  dem  unter  den  denkbarst  günstigsten 
Yerhältnissen  stehenden.  £s  geht  daraus  femer  herror}  da» 
die  minder  empfindlichen  und  die  mit  einem  stumpferen  Nervensysteme 
begabten  Individuen  besser  daran  sind,  als  die  sensibleren  Natureni 
weil  bei  dem  gleichzeitigen  Minderwerthe  der  percipirten  Lust  und 
Unlust  auch  die  Differenz  zu  Gunsten  der  Unlust  kleiner 
ausfsLllt.  Dies  stimmt  durchaus  mit  dem  an  Menschen  empirisch 
Constatirten  überein,  hat  aber  vermöge  seiner  allgemeinen  Ableitung 
auch  allgemeine  Gültigkeit,  so  dass  es  auf  Thiere  und  PfUmien  mh 
auszudehnen^  ist. 

£rfahrung8massig  sind  die  Individuen  der  niederen  und  ärmeren 
Classen  und  rohen  Naturvölker  glücklicher,  als  die  der  gebildeten 
und  wohlhabenden  Classen  und  der  Gulturvölker,  wahrlich  nicht 
deshalb,  weil  sie  ärmer  sind  und  mehr  Noth  und  Entbehrungen  sa 
tragen  haben,  sondern  wei||  sie  roher  und  stumpfer  sind ;  man  denke 
an  „das  Hemd  des  Glüok$chen'',  in  welcher  Erzählung  eine  tiefe 
Wahrheit  liegt.  So  behaupte  ich  denn  auch,  dass  die  Thiere 
glücklicher  (d.  K  minder  elend)  als  die  Menschen  sind,  weil  der 
Ueberschuss  von  Unlust,  welchen  ein  Thier  zu  tragen  hat^  kleiner 
ist  als  der,  welchen  ein  Mensch  zu  tragen  hat  Man  denke  nnr, 
wie  behaglich  ein  Ochse  oder  ein  Schwein  dahin  lebt,  fast  als  hätte 
es  vom  Aristoteles  gelernt,  die  Sorglosigkeit  und  Kummerlosigkeit 
zu  suchen,  statt  (wie  der  Mensch)  dem  Glücke  nachzujagen.  Wie 
viel  schmerzvoller  ist  schon  das  Leben  des  feinfühligeren  Pferdes 
gegen  das  des  stumpfen  Schweines,  oder  gar  des  Fisches  im  Wasser, 
dem  ja  sprichwörtlich  wohl  ist,  weil  sein  Nervensystem  auf  so  viel 
tieferer  Stufe  steht. 

So  viel  beneidenswerther ,  wie  das  Fischleben  als  das  Fferde- 
leben  ist,  mag  das  Austerleben  als  das  Fischleben  und  das  Pflan- 
zenleben  als  das  Austerleben  sein,  bis  wir  endlich  beim  Hinab- 
steigen unter  die  Schwelle  des  Bewusstseins  die  Unlust  ganz  ver- 
schwinden sehen.  Andererseits  erklärt  sich  jetzt  schcm  rein  aas 
der  höheren  Sensibilität,  warum  die  Genies  sich  so  viel  unglück- 
licher im  Leben  fühlen,  als  die  gewöhnliche  Menschheit,  wozu  aber 
meist  noch  (wenigstens  bei  Denkergenies)  die  Durchschauung  der 
meisten  Illusionen  hinzukommt  —  Dies  ist  nämlich  das  Dritle^  was 
wir  aus   der  bisherigen  Betrachtung  gelernt  haben ,  dass  das  Indi- 


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599 

▼iduum  um  so  besser  daran  ist,  je  mehr  es  in  der  durch  den  instino- 
tiyen  Trieb  geschaffenen  Illusion  befangen  ist  („selig  sind,  die  arm 
an  Geist,  vinox'U  it^t  7rvii'f/iaiif  sind")  denn  erstens  wird  sein  Ur^ 
theil  über  das  wahre  Yerhältnis^s  der  vergangenen  Lust  und  Unlust 
gefälscht,  und  es  fühlt  in  Folge  dessen  sein  Elend  nicht  so  sehr 
und  wird  von  diesem  Gefühle  des  Elends  nicht  so  bedrückt,  und 
zweitens  bleibt  ibm  noch  allen  Eichtungen  das  Glück  der  Hoffioiung, 
über  deren  Enttäuschung  es  sich  möglichst  schnell  durch  neue 
Hoffnungen,  sei  es  in  derselben,  sei  es  in  einer  anderen  Bichtung, 
hinwegsetzt.  £s  lebt  also  gleichsam  von  Dusel  zu  Dusel,  und 
tröstet  sieh  über  alles  gegenwärtige  Elend  mit  der  Illusion,  die  ihm 
eine  goldene  Zukunft  yerheis'st.  (Man  denke  an  das  Eäthchen  von 
Heilbronn  oder  an  den  Mr.  Micawber  in  David  Copperfield.) 

Dieses  Glück  des  Illusionsdusels  ist  besonders  der  Character 
der  Jugend.  Jeder  Jünglinge  jedes  Mädchen  sieht  sich  mehr  oder 
weniger  als  den  Helden  oder  die  Heldin  eines  Komanes  an,  und 
tröstet  sich  über  die  gegenwärtigen  Unglücksfalle  oder  Widerwärtig- 
keiten wie  bei  der  Roman lectüre  mit  der  Aussicht  auf  den  glän- 
zenden Schluss ;  bloss  mit  dem  Unterschiede,  dass  er  ausbleibt,  und 
dass  sie  vergessen,  dass  hinter  dem  scheinbar  glänzenden  Boman- 
schlusse  auch  bloss  die  gemeine  Misere  des  Tages  lauert. 

Yen  der  reichen  Auswahl  der  Jugendhoffnungen  wird  aber  bei 
zanehmendim  Alter  und  Erfahrung  eine  nach  der  anderen  als  illu- 
sorisch erkannt,  und  der  Mann  steht  schon  verhältnissmässig  viel 
ärmer  an  Illusionen  da  als  der  Jüngling;  ihm  ist  gewöhnlich  nur 
noch  Ehrgeiz  und  Erwerbstrieb  geblieben. 

Auch  diese  beiden  werden  vom  Greise  als  illusorisch  erkannt, 
wenn  nicht  der  Ehrgeiz  in  kindische  Eitelkeit,  der  Erwerbstrieb  in 
Geiz  sich  verknöchert^  und  unter  verständigen  Greisen  wird  man 
in  der  That  nicht  mehr  viel  Illusionen  finden,  die  auf  das  Leben 
des  Individuums  Bezug  haben,  ausgenommen  natürlich  die  instinctive 
Liebe  zu  ihren  Kindern  und  Eltern. 

Das  Resultat  des  individuellen  Lebens  ist  also, 
dass  man  von  Allem  zurückkommt,  dass  man  wie 
Koheleth  einsieht:  „Alles  ist  ganz  eiteTS  d.  h.  illu- 
aorisoh,  nicbtig. 

Im  Leben  der  Menschheit  wird  dieses  erste  Stadium  der  Illu- 
sion und  das  Zurückkommen  von  derselben  d9rch  die  alte  (jüdisohr 
griechisch-römische)  Welt  repräsentirt.    In  den  früheren  asiatischen 


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600 

Bisichen  sind  die  efp&i^  gesonderten  Richtnngen  der  Lebens-  m^ 
Weltsnschauimg  noch  zu  unklar  gemischt.  Das  Judenthum  spricht 
deil  Glauben  an  die  Erreichbarkeit  der  individuelle  irdiachen 
Glückseligkeit  sowohl  in  seinefn  Yeifiiäissungen,  als  auch  in  seiner 
lülgemeinen  optimistischen  Weltänschanung  ohne  transcendeoten 
Hintergnind)  aufs  UnTerhohlenste  adsl  Im  Gtiechenthuni  macht 
dasselbe  Strebeö  sich  auf  edlere  Weise  im  Kunst-  und  Wissen^ 
sdiaftsgenusse  und  in  einer  gleichsam  ästhetischen  Auffassung  des 
Lebens  geltend;  auch  das'  Hellenenthum  geht  in  einem.  Wenn  aodi 
verfeinerten  individuellen  irdischen  Glückseligkeitsstrebeii  auf,  dt 
diei  TtoXiteia  nur  Erhaltung  utid  Schutz  gewähren  soll.  Man 
denke  an  den  Ausspruch  des  todten  Achill  iü  der  Odyssee  (XL 
488-491): 

„Nicht  mehr  rede  vom  Tod'  ein  Trostwort,  edler  Odysseos! 
Liebei'  ja  wollt*  ich  das  Feld  als  Tagelöhner  bestellen, 
Einem  dürftigen  Mann  ohn'  Erb*  und  eigenen  Wohlstand, 
Als  die  sämmtliche  Schaär  der  geschwundenen  Todten  beherrschen.'' 
Die   bekannte   pessimistische  Chorstelle   in  dem  Meisterwerke 
des  greisen   Sophocles  kann   nicht   als   Ausdruck  der  hellenischen 
ijischauung  im  Allgemeinen  gelten. 

Die  römische  Eepublik  bringt  allerdings  ein  neues  Moment 
hinzu:  das  Glück seligkeitsstreben  in  und  durch  die  Erhöhung  des 
Glanzes  und  der  Macht  des  engsten  Vaterlandes.  Nachdem  dieses 
Streben  nach  Erreichung  der  Weltherrschaft  sich  für  die  Glück- 
seligkeit als  illusorisch  erweist,  wird  auch  vom  Bömerthume  die 
in's  Gemeine  herabgezogene  griechische  Weltanschauung  in  Gestalt 
des  seichtesten  Epikuräismus  adoptirt,  und  die  alte  Welt  überlebt 
sich  bis  zum  äussersten  Ekel  am  Leben. 


Zweites  Stadium  der  HlusioA. 

Das  (Mek  wird  als  eii  den  Individanm    in  einen  traBSceilsitei 
Leben  \aeh  den  Tode  erreichbares  gedacht. 

In  di(S0en  äuEsersten  Lebensekel  der  alten  Welt  sohlKgt  der 
zündende  Blitz  der  christlichen  Idee.  Der  Süfter  des  (Fristen- 
thums  adop^rt  vollständig  die  Verachtung  und  den  Utsberdniss  aa 


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601 

ii^ischen  Leben,  und  führt  sie  bis  za  ihren  letzten  abstossendstexi 
Ckmseqüenzen  durch. 

Nur  denen,  die  das  Elend  des  Daseins  fühlen ,  d^  Sündern, 
Verworfenen  (Samaritern  und  Zöllnern),  Unterdrückten  (Sclaven  utld 
Fnmen),  Antien,  Krankeü  und  Leidenden,  nicht  aber  denen,  welche 
im  irdischen  Leben  sich  wohl  und  behaglich  fühlen,  bringt  er  sein 
Evangelium  (Math.  11,  5;  Luc.  6,  20  —  23;  Math.  1^,  23  —  24; 
Math.  11,  28).  Er  perhorrescirt  alles  Ifatürliche,  nicht  einmal 
l^atuigesetze  erkennt  er  an  (Math.  17,  20),  er  spricht  geringschätzig 
über  die  Familienbande  (Math.  10,  35 — 37;  Math.  19,  29;  Math. 
II,  47 — 50),  er  verlangt  geschichtliche  Enthaltsamkeit  (Math.  19, 
11  —  12),  er  verachtet  die  Welt  und  ihre  GHiter  (Luc.  12,  15; 
Math.  6,  25—34;  1.  Job.  1,  15—16;  Luc.  16,  15);  erklärt  es  für 
unmöglich,  zugleich  irdisches  und  himmlisches  Glück  zu  erlangen 
(Math.  6,  19  —  21  u.  24;  Job.  12,  25;  Math.  19,  23—24)  und 
fordert  darum  freiwillige  Armuth  (Math.  19,  21—22;  Luc.  12,  33; 
Math.  6,  25  u.  31  —  33).  Nirgends  und  in  keiner  Beziehung 
schreibt  Christus  Askese  vor,  wohl  aber  fireiwiUige  Beschränkung 
und  möglichste  Bedürfiiisslosigkeit,  woraus  erhellt^  dass  er  mit  der 
Menge  der  Bedüifnisse  und  Begehrungen  die  Unlust  als  wachsend 
annimmt.  Er  hält  seine  Zeit  für  so  verderbt  (Math.  23,  27 ;  Math. 
16,  2-3),  dass  der  Tag  des  Gerichtes  nahe  vor  der  Thür  sein 
liluss  (Math.  24,  33  —  34),  und  die  Quintessenz  seiner  «Lehre  ist, 
dieses  Leben  der  Qual  im  irdischen  Jammerthale  als  sein  Ereüz 
geduldig  zu  tragen  (Math.  10,  38)  und  ihm  nachzufolgen  in  wür- 
diger Vorbereitung  und  froher  Hoffnung  auf  die  Glückseligkeit  eines 
künftigen  ewigen  Lebens  (Math.  10,  38 ,  39);  „Dieses  habe  ich 
Euch  gesagt,  damit  Ihr  in  mir  den  Frieden  habet.  In  der 
Welt  werdet  ihr  Drangsal  leiden;  aber  seid  getrost, 
ich  habe  die  Welt  überwunden."  (Job.  16,  33.) 

Dies  ist  der  Grundunterschied  von  Judenthum  und  Christen- 
thum ;  die  Yerheissungen  des  ersteren  gehen  auf  das  Diesseits  („dass 
dir^B  wohl  gehe  und  du  lange  lebest  auf  Erden"),  die  des  letzteren 
auf  das  Jenseits,  und  dieses  irdische  Jammerthal  hat  nur  noch  als 
Vorbereitung  und  Prüfung  für  das  Jenseits  (1.  Petr.  1,  5—7)  eine 
Bedeutung,  an  sich  aber  gar  keinen  Werth  mehr,  im  Gegentheil 
besteht  das  irdische  Leben  in  Drangsal  (Job.  16,  33)  und  täglicher 
Plage  und  Elend  «Math  6,  34.  Schlnss:  „Jeder  Tag  hat  an  seinem 
Elend  genug").     Die  Liebe   macht  diese  Vorfälle   erträglicher  und 


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602 

ist  zugleich  der  Probirstein  der  Würdigkeit  (Rom.  13,  8 — 10; 
Math.  22,  37—39),  der  Glaube  und  die  HoffuuDg  auf  das  Jenßcit« 
lassen  „die  Welt  überwinden*',  oder  „erlösen  von  der  Welt",  d.  h. 
von  Uebel  und  Sünde. 

Die  Welterlösung  durch  Christus  geschieht  also  dadurch«  dass 
alle  Menschen  ihm  nachfolgen  in  Weltyerachtung  und  Liebe,  in 
Glaube  und  Hoffnung  auf  das  Jenseits,  nicht  aber  durch  seinen  Tod 
mit  der  später  hineingejüdelten  Auffassung  desselben  als  eines 
reinigenden  Sühnopfers,  wovon  Christus  selbst  gevnss  nichts  würde 
haben  wissen  wollen. 

Dies  ist  der  historische  und  allein  bedeutende  Inhalt  der  von 
Jesus  vorgetragenen  Lehre,  wozu  höchstens  noch  die  Yerwerfung 
alles  äusserlichen  Ritus  und  aller  Priestervermittelung  beim  Gottes- 
dienst hinzuzufügen  ist.  Auch  die  christliche  Tugend  folgt  zu  ihrem 
negativen  Theile  aus  der  Verachtung  des  Fleisches,  aus  dem  alle 
Sünde  stammt,  zu  ihrem  positiven  Theile  aus  dem  höchsten  Gebot 
der  Lieba 

Alles  die  irdischen  Verhältnisse  selbst  Betreffende  ist  ihm  so 
unwichtig  und  gleichgültig,  dass  er  entweder  mit  lächelnder  Ver- 
achtung sich  in  das  Bestehende  fugt  (Math.  22,  21 ;  Math.  17, 24—27), 
oder  das  Wünschenswerthe  nur  leicht  andeutet,  z.  B.  Selbstver- 
waltung und  Selbs^urisdiction  (Math.  18,  15—17)  der  communisü- 
sehen  Gemeinde.  Alle  anderen  Ideen,  welche  das  Christenthum 
bringt,  waren  schon  in  der  alten  Welt  dagewesen,  aber  die  Ver- 
bindung von  Weltverachtung  und  gläubigem  Hoffen  auf  die  ewige 
transcendente  Seligkeit  war  für  die  ausserindische  Welt  neu;  sie 
war  die  eigentlich  welterlösende  Idee,  welche  das  ausgelebte  Alter- 
thum  von  seiner  Verzweiflung  des  Weltüberdrusses  rettete,  indem 
sie  das  Fleisch  verdammte  und  den  Geist  auf  den  Thron  erhob,  die 
natürliche  Welt  als  das  Reich  des  Teufels  (Joh.  14,  30,  u.  17,  9) 
und  nur  die  transcendente  Welt  des  Geistes  als  das  Reich  Gottes 
(1.  Job.  4,  4,  u.  5,  19)  auffasste,  welches  letztere  freilich  nach 
Christas  selbst  in  den  Herzen  der  Gläubigen  schon  diesseits  seinen 
Anfang  nehmen  könnte;  wie  Paulus  (Rom.  8,  24)  ganz  richtig  sagt: 
„Wir  sind  wohl  selig,  doch  in  der  Hoffnung". 

Die,  Weltverachtung  in  Verbindung  mit  einem  transcendenten 
Leben  des  Geistes  war  zwar  schon  in  Indien  in  der  esoterischen 
Lehre  des  Buddhaismus  dagewesen,  war  aber  erstens  der  oeciden- 
talischen  Welt  nicht  bekannt  geworden,  vfar  zweitens  in  Inditfi 


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603 

selbst  nur  der  eingeweihten  Prieaterkaste  zugänglich,  und  war 
drittens  bald  in  exoterischem  Wnst  untergegangen,  so  dass  ihre  Idee 
nur  noch  in  den  excentrischen  flrscheinungen  der  Einsiedler  und 
Bösser  2ur  Erscheinung  kam;  viertens  fand  sie  bei  ihrem  Entstehen 
nicht  einen  durch  Verwesung  so  fruchtbaren  Boden,  fünftens  fehlte 
ihr  die  kosmopolitische  Aussenseite,  die  Idee  der  allgemeinen 
Henschenbrüderschaft  in  der  Eindschaft  Gottes  (Math.  23,  8 — 9), 
und  sechstens  endlich,  was  das  Wichtigste  ist ,  kennt  sie  wohl  eine 
ewige  transcendente  Seligkeit  für  die  endgültig  vom  irdischen 
Dasein  Erlösten,  aber  keine  individuelle  Fortdauer;  das  Christen- 
thum  aber,  welches  eine  Auferstehung  (des  Fleisches)  und  sonach 
ein  individuelles  ewiges  Leben  im  transcendenten  Beiche  Gottes 
verheisst,  wendet  sich  hierdurch  viel  directer  an  den  menschlichen 
Egoismus,  und  giebt  mithin  auch  für  die  Dauer  des  Erdenlebens  eine 
viel  beseligendere  Hoffnung.  Von  dieser  beseligenden  Hofi&iung  hat 
die  christliche  Welt  bis  jetzt  gelebt  und  lebt  grossentheils  noch  davon. 

Wir  haben  schon  weiter  oben  unter  religiöser  Erbauung  ge- 
sehen, dass  die  aus  der  religiösen  Hoffnung  und  £rbauung  ent- 
springende Lust  auch  nicht  ohne  Unlust  ist,  die  sich  theils  aus  der 
Auflehnung  der  instinctiven  Triebe  gegen  ihre  widernatürliche 
Unterdrückung  ergiebt,  theils  in  den  Zweifeln  über  die  eigene 
Würdigkeit  und  über  das  Eintreten  der  göttlichen  Gnade  und  in 
der  Furcht  vor  dem  jüngsten  Gericht  besteht.  Es  kommt  dazu  die 
als  unerlässlich  geforderte  Reue  und  Zerknirschung  über  die  eige-^ 
nen  Sünden  und  Sündigkeit,  selbst  dann,  wenn  man  sich  eigentlich 
keines  Unrechtes  bewusst  ist.  Ob  die  religiöse  Unlust  oder  Lust 
überwiegt,  wird  wesentlich  vom  Character  abhängen,  häufig  aber 
wird  wohl  bei  dem  Gläubigen  die  Hoffnung  überwiegen.  Nur  schade, 
dass  auch  diese  Hoffnung,  wie  alle  anderen,  auf  einer  Illusion  be- 
ruht. Ich  enthalte  mich  hier  jeder  Kritik  der  Lehre  von  der  indi- 
viduellen Fortdauer  der  Seele  und  verweise  einfach  auf  Gap.  G.  11. 
u.  VII.,  nach  welchen  die  Individualität  sowohl  des  oi^anischen 
Leibes,  als  des  Bewusstseins  nur  ein  Schein  ist,  der  mit  dem 
Tode  verschwindet  und  nur  das  Wesen,  das  All-Einige  Unbewusste, 
übrig  lässt,  welches  diesen  Schein  hervorbrachte,  theils  durch  seine 
Individuation  zu  Atomen,  theils  durch  directe  Einwirkung  auf  die 
zum  Körper  combinirte  Atomengruppe. 

Ich  bemerke,  dass  die  Weltanschauung  Jesu  viel  zu  naiv  und 
kindlich  war,  um  die  Trennung  von  Leib  und  Seele  und  die  isolirte 


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604 

Fortdauer  der  letzteren  för  möglich  za  halten,  daher  auch  die 
Aufnahme  „der  Auferstehung  des  Fleisches"  in  den  dritten  Artikel 
des  Glaubensbekenntnisses  ganz  im  Sinne  Christi  ist.  Johannes  uad 
Paulus  haben  freilich  Stellen,  welche  auf  die  Beschaffenheit  des 
ewigen  Lebens  philosophische  Streiflichter  werfen,  die  wenig  mit 
den  Yerheissungen  Christi  im.  Einklänge  stehen,  aber  es  wurde 
denselben  auch  weiter  keine  Folge  gegeben.  Off.  Joh.  10,  5—6: 
„Und  der  Engel  ....  schwur  bei  dem  Lebendigen  von  Ewigkeit 
zu  Ewigkeit ....  dass  hinfort  keine  Zeit  mehr  sein  soll'' 
1.  Cor.  13^  8:  „Die  Liebe  hört  nimmer  auf,  so  doch  die  Weissa- 
gungen aufhören  werden,  und  die  Sprachen  aufhören  werden  and 
die  Erkenntniss  aufhören  wird". 

Letztere  Stelle  meldet  uns  das  Aufhören  alles  Bewusst. 
seins,  erstere  das  Aufhören  aller  Veränderung  in  jenem  Zu- 
stande; beides  hebt  die  Individualität,  oder  doch  zum  mindesten 
ihre  Bedeutung  auf.  Dass  in  den  gesammten  grossen  Systemen  der 
neuesten  Philosophie  (abgesehen  von  Kant's  Inconsequenz  und 
Schelling's  späteren  Abfall)  von  einer  individuellen  Fortdauer  keine 
Rede  sein  kann,  darüber  kann  man  sich  nicht  anders  als  absichtlich 
einer  Täuschung  hingeben;  ich  will  aber  hier  wenigstens  flüchtig 
noch  die  Ansichten  einiger  Aelteren  und  Neueren  berühren. 

In  Plato's  Timaeus  (ed.  Steph.  III.  p.  69)  heisst  es :  „und  von 
den  göttlichen  (Wesen)  wird  er  selbst  Hervorbringer,  das  Werden 
der  Sterblichen  aber  trug  er  seinen  Erzeugten  auf,  welche  sodann 
nachahmend,  ak  sie  die  unsterbliche  Grundlage  der  Seele  empfan- 
gen hatten,  sie  mit  einem  sterblichen  Körper  rings  xunsohlossen, 
und  als  Fahrzeug  den  ganzen  Leib  ihr  gaben,  und  in  ihm  eine 
andere  Art  von  Seele,  die  sterbliche,  daran  bauten,  welche 
gefahrliche  und  nothwendige  Eindrücke  in  sich  aufnimmt,  zuerst 
Lust,  die  grösste  Lockspeise  des  Schlechten,  dann  Schmerzen,  des 
Quten  Verscheucher,  dann  auch  Zuversicht  und  Furcht,  zwei  thö- 
richte  Eathgeber,  dann  schwer  zu  besänftigenden  Zorn,  dann  leicht 
zu  verführende  Hoffiiung,  dann  mit  vemunftloser  sinnlicher  Wahr- 
nehmung und  mit  Alles  versuchender  Liebe  dieses  vermischend,  wie 
nothwendig  war,  die  sterbliche  Gattung  zusammensetzten/' 

Hieraus  in  Verbindung  mit  Flato's  Erkenntnisslehre  geht  her- 
vor, dass  er  die  unsterbliche  Seele  ausschliesslich  in  das  Wahrheit»- 
gemässe  Erkennen,  d.  h.  das  Schauen  der  Platonischen  Ideen,  setzte, 
welches   seiner  Natur  nach   gar  keine  individuellen  ünterBchiede 


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606 

mehr  zuJUtfst,  wenn  auch  diese  Consequenz  dem  Plato  niemals  klar 
geworden  sein  mag. 

Aristoteles  steht  auf  demselben  Standpuncte,  De  an.  I.  4,  408, 
a,  24  C»  spricht  er  dem  vovg  noirjtixog,  wie  er  den  unsterb- 
lichen Theil  der  Seele  nennt ,  nicht  nur  Liebe  und  Hass,  sondern 
auch  Gedächtniss  und  discursives  Denken  {dnxvoeiad'aL)  ab;  ander- 
weitig weiss  man,.dass  der  vovg  Tioirjrixog  (oder  thätige  Verstand) 
das  Ewige y  Allgemeine,  ünyeränderliche  un,d  keinen  äusseren  Ein- 
drücken Zugängliche  im  Menschen  ist;  dabei  ist  doch  schlechter- 
dings nicht  einzusehen,  wie  er  individuell  sein  soll. 

Spinoza,  der  doch  gewiss  von  ganz  anderen  Voraussetzungen 
ausgeht,  kommt  zu  demselben  Besultate:  y^Der  menschliche  Geist 
kann  mit  dem  Körper  nicht  absolut  vernichtet  werden,  sondern  es 
bleibt  etwas  von  ihm  übrig,  w^  ewig  ist"  (Eth.  Th.  5.  Satz  23). 
Es  ist  dies  die  in  Gott  nothwendig  existirende  Idee,  welche  dßs 
Wesen  des  betreffenden  menschlichen  Körpers  unter  der  Form  der 
Ewigkeit  auffasst  (Ebd.,  Bew.)>  d.  h.  mit  intuitivem  Wissen,  wel- 
ches höher  steht  ^  als  die  Erkenntniss  der  adäquaten  Ideen  der 
Eigenschaften  der  Dinge  und  ganz  mit  unserem  intuitiven  Wissen 
des  TJnbewussten  identisch  ist.     (Vgl.  Th.  2.  Satz  40,  Anm.  2.) 

Die  Ewigkeit  ist  nichts  Anderes,  als  das  Wesen  Gottes,  inso- 
fern es  ein  nothwendiges  Dasein  in  sich  schliesst  (nach  Th.  1. 
Def.  8),  also  kann  das  ewige  Dasein  des  menschlichen  Geistes  nicht 
durch  die  Zeit  defioirt  oder  durch  Dauer  erklärt  werden  (Th.  ß, 
S.  23.  Bew.).  —  ^Der  Geist  ist  nur,  so  lange  der  Körper  dauert, 
den  SeelenbeweguDgen  unterworfen,  die  zu  den  leidenden  Zuständen 
gehören''  (Th.  5.  S.  34).  „Hieraus  folgt,  dass  keine  Liebe  ausser 
der  intellectuellen  Liebe"  (mit  der  Gott  sich  selber  liebt)  „ewig 
ist'  (Ebd.,  Folgesatz).  Gedächtniss  und  sinnliche  Vorstellung  blei- 
ben ebenso  wenig  nach  dem  Tode  übrig  (Ebd.,  Anm.,  S.  38  Anm. 
und  S.  40  Folgesatz).  ,Sobald  der  Ungebildete  zu  leiden  aufhört, 
hört  er  auch  auf  zu  sein"  (S.  42  Anm.). 

Am  Leibniz  ist  wenigstens  das  zu  beachten,  dass  er  dasjenige, 
was  die  individuelle  BeschränkuDg  der  Monade  setzt,  in  nichts 
Anderem  als  dem  Körper  zu  denken  vermag,  und  deshalb  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  nur  bei  gleichzeitiger  Unsterblichkeit  eines 
ihr  eigenthümlichen  und  unveräusserlichen  Leibes  zu  behaupten 
wagt.  Bei  dem  jetzigen  Standpuncte  der  Naturwissenschaft  kritisirt 
dch  letztere  Annahme  von  selbst. 


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606 

Ganz  wie  Spinoza  äussert  sich  Bohelling  (L  6,  60 — 61):  „Das 
Ewige  der  Seelö  ist  nicht  ewig  wegen  der  Anfang-  oder  wegen 
der  Endlosigkeit  seiner  Dauer,  sondern  es  hat  überhaupt  kein  Yer- 
hältniss  zur  Zeit.  Es  kann  daher  auch  nicht  unsterblich 
heissen  in  dem  Sinne,  in,  welchem  dieser  Begriff  den  einer  in- 
dividuellen Fortdauer  in  sich  schliesst .  ...  Es  ist  daher  em 
Misskennen  des  ächten  Geistes  der  Philosophie,  die  Unsterblichkeit 
über  die  Ewigkeit  der  Seele  und  ihr  Sein  in  der  Idee  zu  setzen, 
und,  wie  uns  scheint,  klarer  Missverstand,  die  Seele  im  Tode 
die  Sinnlichkeit  abstreifen  und  gleichwohl  individuell  fortdauern  zu 
lassen.'^  —  Fichte  und  Hegel  schliessen  sich  ganz  dieser  Auffassung 
an  und  Schopenhauer  geht  noch  weiter,  indem  ihm  nur  der  Wille, 
nicht  einmal  das  Wissen  ewig  ist. 

Wir  brauchen  nach  diesen  Anführungen  keinen  Anstand  zu 
nehmen,  die  Hoffnung,  auf  eine  individuelle  Fortdauer  der  Seele 
ebenfalls  für  eine  Illusion  zu  erklären.  Damit  ist  der  Hauptnerr 
der  christlichen  Yerheissungen  durchschnitten,  denn  dem  Menschen 
ist  im  Grunde  doch  nur  an  seinem  lieben  Ich  gelegen;  „was  hilft 
mir  die  grösste  zukünftige  Seligkeit,  wenn  ich  sie  nicht  empfinde 
und  geniesse!'^ 

Wie  steht  es  aber  überhaupt  mit  jener  ewigen  Seligkeit  nach 
unseren  Prämissen?  Das  All-Einige  Unbewusste  ist  allwissend  und 
allweise,  also  kann  es  nicht  mehr  klüger  werden;  es  hat,  wie  audi 
Aristoteles  sagt,  kein  Gedächtniss,  also  kann  es  durch  Erfahrungen, 
die  es  etwa  in  der  Welt  machte,  nichts  zulernen.  Mithin  ist  es, 
wenn  die  Welt  einmal  aufgehört  hat  zu  sein,  genau  dasselbe  ge- 
blieben, was  es  vor  Erschaffung  der  Welt  war;  so  selig,  wie  es 
vorher  war,  ist  es  nun  auch  wieder,  nicht  mehr  und  nicht  weniger; 
nimmermehr  kann  ihm  der  Weltprocess  zu  einer  grösseren  Selig- 
keit verhelfen,  als  es  vorher  hatte,  es  sei  denn,  dass  es  Ia  dem 
Processe  selbst  seine  Seligkeit  fände. 

Diesen  letzteren  Fall  betrachten  wir  hier  aber  eben  nicht, 
denn  es  wäre  ja  das  weltliche  Leben  selbst,  während  wir  nach  der 
Seligkeit  des  ausserweltlichen  Zustandes  fragen.  Wenn  wir  also 
durch  das  Erdenleben  zu  jenem  verweltlichen  Zustande  an  Seligkeit 
nichts  hinzugewinnen  können,  sondern  nach  Schliessung  des  Welt- 
processes  genau  jenen  Zustand  wieder  erreichen,  so  fragt  es  sich, 
wie  die  Beschaffenheit  desselben  war.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass^ 
wenn   ein  Wollen  gewesen  wäre,  so  auch  Actus,  also  Process,  ge- 


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607 

wesen  wäre,  und  das  ünbewusste  nicht  weltlos;  der  weltlose  Zu- 
stand konnte  nur  der  des  NichtwoUens  sein. 

Nun  haben  wir  aber  Cap.  C.  I«  gesehen,  dass  das  Yorstellen 
nur  durch  das  Wollen  aus  dem  Nichtsein  in's  Sein  getrieben  wer- 
den konnte,  so  lange  die  Welt  noch  nicht  existirte,  denn  in  sich 
hatte  das  Vorstellen  keinen  Trieb  und  kein  Interesse,  aus  dem 
Nichtsein  in's  Sein  zu  treten,  folglich  war  vor  dem  Eintreten  des 
Wollens  auch  kein  Yorstellen  actuell,  folglich  vor  Entstebung  der 
Welt  weder  Wollen,  noch  Vorstellen,  d.  h.  gar  Nichts.  So 
lange  das  Wollen  dauert,  so  lange  wird  der  Process  und  seine  Er- 
scheinung im  ßewusstsein,  die  Welt,  dauern;  wenn  also  dereinst 
keine  Welt  mehr  sein  soll,  dann  darf  auch  kein  Wollen,  mithin 
auch  kein  Vorstellen  mehr  sein  (da  die  unbewusste  Vorstellung 
immer  gerade  nur  insoweit  actuell  wird,  als  das  Interesse  des 
Willens  sie  fordert),  d.  h.  es  wird  wiederum  Nichts  sein.  Diea 
ist  auch  der  Zustand,  auf  den  allein  die  Behauptungen  der  Apostel 
passen,  dass  keine  Zeit  und  keine  Erkenntniss  mehr  sein  wird.  So 
lange  also  die  Welt  besteht,  ist  der  Weltprocess,  und  soviel  Selig- 
keit oder  XJnseligkeit  wie  dieser  einschliesst;  vor  dem  Entstehen  und 
nach  dem  Aufhören  der  Welt  und  des  Weltprocesses  ist  —  Nichts. 

Wo  bleibt  nun  die  verheissene  Seligkeit?  In  der  Welt  soll 
und  kann  sie  nicht  stecken,  und  das  Nichts  nach  der  Welt  kann 
doch  nur  relativ  seliger  oder  unseliger  als  ein  früherer  Zustand 
sein,  aber  nicht  eine  positive  Seligkeit  oder  Unseligkeit,  (Vergl. 
Aristot.  Eth.  N.  L  11,  1100,  a,  13.)  Freilich  wenn  die  Welt  der 
Zustand  der  XJnseligkeit  des  Weltwesens  ist,  so  wird  das  Nichts 
im  Verhältniss  dazu  eine  Seligkeit  sein. 

So  meint  es  der  Buddhaismus  mit  der  „Nirwana'',  so  Schopen- 
hauer, aber  nicht  so  das  Ghristentbum.  Mit  einer  solchen  Beduction 
auf  den  Nullpunct  der  Empfindung,  auf  Schmerzlosigkeit  und  Glück- 
losigkeit,  wäre  auch  vor  der  Hand  dem  gewöhnlichen  egoistischen 
Menschenverstände  sehr  wenig  gedient,  und  wir  sehen  als  einziges 
Resultat  dieser  Erwartung  die  nicht  nur  nutzlose,  sondern  dem 
Processe  sogar  schädliche  individuelle  Willensvemeinung  und  Welt- 
entsagung der  indischen  Bässer  oder  der  Schopenhauer^schen  Askese, 
aber  nicht  die  Hoffiiungsseligkeit  des  Evangeliums. 

Wenn  nun  aber  einerseits  diese  Hoflfnungsseligkeit  auf  einer 
Illusion  beruht,  die  im  weiteren  Verlaufe  der  Bewusstseinsent- 
wickelung  notbwendig  verschwindet,  wenn  andererseits  die  Sendung 


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detß  EyaDgeliums  durch  Jesus  und  die  gierige  Aufnahme  desselben 
durch  die  Völker  trotz  der  über  diesen  kindlichen  Standpunot  leiiigst 
hinausgeschrittenen  griechischen  Philosophie,  entschieden  nur  durch 
directe  Eingriffe  des  ünbewussten  im  Genie  der  Gründer  und  dem 
Yölkerinstincte  der  Bekehrungswuth  begriffen  werden  kann,  so  ent- 
steht die  Frage,  wozu  denn  diese  Illusion  kommen  moaste.  Die 
Antwort  ist  einfach  4^e,  dass  dieses  zweite  Stadium  die  nothwen- 
dige  Zwischenstufe  zwischen  dem  ersten  und  dritten  ist,  weil  durch 
die  Yerzweijlung  am  ersten  Stadium  der  Illusion  der  Egoismaa 
noch  nicht  so  weit  gebrochen  ist,  um  sich  nicht  an  die  einzige 
ihm  noch  i^brig  bleibende  egoistische  Hoffnung  mit  beiden  Armen 
anzuklammern.  Erst  wenn  auch  dieser  Anker  reisst  und  die  yöllige 
Yerzweiffung,  mit  seinem  heben  Ich  das  Glück  zu  erreichen,  ihn 
erfasst  hat,  erst  dann  wird  er  dem  selbstrerläugnenden  Gedanken 
zugänglich,  nur  für  das  Wohl  der  zukünftigen  Geschlechter  arbeitest 
nur  im  Process  des  Ganzen  zum  zukünftigen  Wohle  des  Ganzen 
aufgehen  zu  wollen. 

Bas  Bömerthum  hatte  zwar  diese  Selbstverläugnung  besessen 
und  geübt,  aber  nur  zu  Gunsten  der  Machtrermehrung  der  engsten 
Stammesgemeinschaft ,  sie  hatten  also  gleichsam  den  individuellen 
Egoismus  zu  einem  Stamm  esegoismus  erweitert  und  mit  diesem  den 
Phantomen  der  Ehrsucht  und  Herrschsucht  nachgejagt;  jetzt  aber 
handelt  es  sich  um  Erweiterung  des  egoistischen  zu  einem  kos- 
mischen Bewusstsein  und  Streben,  zu  dem  Bewusstsein,  dass  das 
Individuum  wie  die  Kation  nichts  als  ein  Ead  oder  eine  Feder  in 
dem  grossen  Weltgetriebe  sind,  und  keine  Au^be  haben,  als  als 
solche  ihre  Schuldigkeit  zu  thun,  um  den  Process  des  Ganzen,  auf 
den  es  allein  ankommt,  zu  fordern. 

Zu  einem  solchen  Gedanken,  zu  einer  solchen  Selbstverläug- 
nung war  natürlich  die  alte  Welt  nicht  reif,  und  es  war  gleich- 
sam nur  ein  äusserücher  Nebengrund  für  das  Interim  des  Ghristen- 
thums,  dass  noch  so  viele  technische  Fortschritte  bis  zur  möglichen 
Eröffnung  einer  Weltcommunication  zu  machen  waren,  dass  die 
künftigen  Grundelemente  des  tellurischen  Gemeinlebens,  die  Na- 
tionalstaaten, erst  noch  zu  schaffen  waren.  Abgesehen  von  alle 
diesem  zeigt  sich  aber  auch  vom  ersten  zum  zweiten  Stadium  der 
Illusion  ein  entschiedener  Fortschritt  zur  Wahrheit,  nämlich  in  der 
gewonnenen  Ueberzeugung ,  dass  das  Glück  nicht  in  der  Gegen- 
wart   des   Processes   liegt,    ebenso  wie  in  dem   Uebergange  vom 


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zweiten  zum  dritten  Stadium  der  Fortachritt  zur  Wahrheit  in  der 
erlangten  Einsicht  besteht,  daas  der  Weg.  zur  Erlösung  yon  dem 
Elend  der  Gegenwart  erstens  nicht  innerhalb,  sondern  ausserhalb 
des  Indiyiduums,  und  zweitens  nicht  ausserhalb  des  Welt- 
processes  zu  suchen  ist,  sondern  im  Weltprocesse  selbst 
liegt,  dass  also  die  zukünftige  Erlösung  der  Welt  nicht  in  der 
Enthaltung  vom  Leben,  sondern  in  der  Hingabe  an's 
Leben  zu  finden  ist,  aber  wiederum  diese  Hingabe  an's  Leben, 
welche  um  seiner  selbst  willen  eine  Verkehrtheit  wäre,  nur  um  der 
Zukunft  des  Processes  des  Ganzen  willen  einen  Sinn  habe. 

Dieser  TJebergang  vom  zweiten  zum  dritten  Stadium  ist  freilich 
bei  der  menschlichen  Schwäche  kaum  anders  zu  denken,  als  durch 
ein  theilweises  Verkennen  letzterer  Wahrheit,  d.  h.  als  durch  einen 
theilweisen  Bückfall  in  das  erste  Stadium  der  Illusion;  denn  wie 
soll  der  Mensch  zu  einem  genügend  starken  Glauben  an  ein  zu- 
künftiges Glück  auf  Erden  gelangen,  wenn  er  den  gegenwärtigen 
Zustand  für  in  jeder  Hinsicht  elend  und  alles  im  Leben  der  Gegen- 
wart erreichbare  Glück  für  eitel  hält? 

Daher  sehen  wir  mit  dem  durch  die  Beformation  angestellten 
Principe  der  freien  Forschung  und  Kritik  allerdings  negativ  die 
fortschreitende  Zersetzung  des  christlichen  Dogmas  und  die  Yer- 
nichtung  seiner  Verheissungen  anheben,  aber  gleichzeitig  sehen  wir 
an  die  Stelle  des  christlichen  „Seligseins  in  der  Hoffnimg  auf  Jen- 
seits'' die  Wiedergeburt  der  alten  Kunst  und  Wissenschaft,  das 
Aufblühen  des  Städterei chthums  und  Handels  und  die  Fortschritte 
der  Technik,  die  allseitige  Erweiterung  des  geistigen  Gesichtskreises, 
mit  einem  Worte  die  wieder  erwachende  Liebe  zur  Welt 
treten. 

Die  riesigen  Fortschritte  nach  allen  Bichtungen  nach  so  langer 
Stagnation  feuerten  die  Hoffnung  zu  noch  grösseren  Erwartungen 
an,  und  es  entstand  so,  wie  stets  in  den  Epochen  yielverheissender 
Fortschritte,  eine  Zeit  des  Optimismus,  deren  theoretischer  Hauptver- 
treter Leibniz  ist.  (Gegenwärtig,  wo  die  Bildung  der  Nationalßtaaten 
ihrem  Ziele  entgegeneilt,  herrscht  ein  ähnlicher  Optimismus  in  politi- 
scher Beziehung.)  Nur  langsam  und  allmählig  lässt  sich  die  Macht  einer 
so  ungeheueren  Idee,  wie  die  christliche  ist,  brechen.  Dies  ist  beson- 
ders interessant  zu  beobachten  an  der  neuesten  Philosophie.  Kant 
kehrt,  schwindelnd  vor  der  Bodenlosigkeit  der  Consequenzen  seines 
Principes,   um    und   verschreibt   seine   Seele  schleunigst  dem   vom 

?.  Hartmaun,  Pkil.  d.  üubewoMton.  39 


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pracÜBchea  kategoiischen  Imperativ  feierlichst  restituirten  Christen- 
gott;  Hegel  sucht  durch  ein  symbolisch  -  dialectisches  Spiel  wenig- 
stens einige  der  Hauptbegriffe  des  Christenthums  zu  retten;  Schel- 
ling  macht  mit  einem  verzweifelten  Ruck  vor  dem  Abgrunde  Ealt 
und  kehrt  mit  einer  ganz  ernsthaften  Beduction  der  drei  Personen 
der  christlichen  Dreieinigkeit  aus  den  Potenzen  des  Seins  am 
Schlüsse  seines  letzten  Systemes  demüthig  in  das  positive  Dogma 
der  Offenbarung  zurück. 

Nur  Einer  ist  es,  der  ganz  und  in  jeder  Hinsicht  mit  dem 
Christenthume  bricht  und  ihm  jede  zukünftige  Bedeutung  abstreitet, 
—  Schopenhauer,  freilich  nur,  um  in  die  buddhaistische  Askese 
zurückzufallen,  und  ohne  sich  zu  dem  Gedanken  der  Möglichkeit 
eines  positiven  Frincipes  der  Zukunft  erheben  zu  können,  ohne  die 
Spur  eines  Verständnisses  und  einer  Liebe  für  die  grossen  Bestre- 
bungen unserer  Zeit,  welche  in  allen  anderen  neuesten  Philosophen 
reichlich  vertreten  sind.  Sichtbar  gewinnen  die  weltlichen  Bestre- 
bungen täglich  au  Macht,  Ausdehnung  und  Interesse,  sichtbar  greift 
der  Antichrist  weiter  und  weiter  um  sich,  und  bald  wird  das 
Christenthum  nur  noch  ein  Schatten  seiner  mittelalterlichen  Grösse 
sein,  wird  wieder  sein,  was  es  im  Entstehen  ausschliesslich  war, 
der  letzte  Trost  für  die  Armen  und  Elenden. 


Drittes  Stadium  der  niusion. 
Das  Glftek  wird  als  in  der  Zukunft  des  Weltprocesses  liegend  gedacht 

Es  gehört  zu  diesem  Stadium  zunächst  der  Begriff  der  imma- 
nenten Entwickelung,  dessen  Anwendung  auf  die  Welt  als  Ganzes, 
und  der  Glaube  an  eine  Weltentwickelung.  In  der  alten  Philo- 
sophie findet  sich,  mit  Ausnahme  des  Aristoteles ,  hiervon  keine 
Spur,  aber  auch  bei  diesem  ist  die  Anwendung  des  Begriffes  wesent- 
lich aui'  die  natürliche  Entwickelung  des  Individuums  beschränkt, 
und  hat  jedenfalls  in  geistiger  Hinsicht  auf  Mitwelt  und  Nachwelt 
keinen  epochemachenden  Einfluss  geübt. 

Das  Bömerthum  kennt  eine  üintwickelung  nur  als  Machtent- 
wickelung  Eoms;  dem  seiner  Natur  nach  stationären  und  stagniren- 
den  Judenthüm  ist   der   Begriff  der   Entwickelung  so   fremd   uod 


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Buwider,  dass  selbst  ein  Mendelssohn  noch  einem  Lessing  gegenüber 
die  Unmöglichkeit  eines  Weltfortschreitens  behaupten  und  yer- 
f echten  konnte. 

Bas  katholische  Christenthum  ist  ebenfalls  in  sich  beschlossen 
tind  fertig;  es  strebt  nur  nach  Ausbreitung  des  Beiches  Gottes, 
nicht  nach  Vertiefung  seines  Inhaltes ;  die  Entwickelung  des  Dogma's 
in  den  ersten  Jahrhunderten  geht  gleichsam  wider  seinen  Willen 
aus  dem  blossen  Bestreben  heryor,  dasselbe  zu  fixiren.  Auch  die 
Beformatoren  hatten  noch  keineswegs  die  Absicht,  das  Christenthum 
weiter  zu  entwickeln,  sondern  nur,  es  von  den  eingeschlichenen 
Missbräuchen  zu  reinigen  und  in  seiner  ursprünglichen  Form  wieder 
herzustellen. 

Selbst  Spinoza's  starre  Nothwendigkeit,  deren  Seelenlosigkeit 
und  Zwecklosigkeit  die  wechselnde  Mannigfaltigkeit  der  Gestaltun- 
gen des  Daseins  doch  nur  wie  ein  gleichgültiges,  ich  möchte  fast 
sagen :  launenhaft  zufälliges  Spiel  erscheinen  lässt,  hat  für  den  Be- 
griff der  Entwickelung  noch  keinen  Baum;  erst  Leibniz  ist  es,  der 
ihn  gleichsam  von  Neuem  entdeckt,  aber  auch  gleich  in  seiner  voll- 
sten Bedeutung  und  mannigfachsten  Anwendbarkeit  ausführt,  und 
in  diesem  Sinne  gewissermaossen  als  der  positive  Apostel  der 
modernen  Welt  betrachtet  worden  kann. 

Lessing  wendet  denselben  in  grossartiger  Weise  in  seiner  Er- 
ziehung des  Menschengeschlechtes  an,  die  Werke  Schillers  sind  von 
demselben  durchdrungen,  Herder  giebt  ihm  in  seinen  Ideen  zur 
Philosophie  der  Geschichte  der  Menschheit  und  Kant  in  mehreren 
von  acht  philosophischem  Geiste  beseelten  Aufsätzen  zur  Philosophie 
der  Geschichte  (Werke  Bd.  VII  Nr.  Xn.  XV.  XIX.)  Ausdruck. 
Am  tiefsten  lebt  und  webt  dieser  Begriff  in  Hegel,  welchem  ja  die 
ganze  Welt  nichts  als  eine  Entwickelung  und  Verwirklichung  der 
Idee  ist. 

Am  Individuum  ist  es  nicht  schwer,  sich  vom  Vorhandensein 
einer  Entwickelung  zu  überzeugen;  man  sieht  sie  ja  täglich  au 
Allem  und  Jedem;  desto  schwerer  aber  ist  es,  den  Gedanken  der 
Entwickelung  eines  aus  vielen  Individuen  bestehenden  Ganzen  so 
in  Fleisch  und  Blut  aufzunehmen,  dass  man  für  dieselbe  ein  das 
Egoistische  überragendes  Interesse  gewinnt;  denn  über  nichts 
ist  schwerer  hinwegzukommen,  als  über  den  Instinct  des  Egoismus. 

Höchst  lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  ,.Der  Einzige  und  sein 
Eigenthum"  von  Max  Stirn  er,  ein  Buch,  das  Niemand,  der  sich  für 

39* 


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•h- 


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practische  Philosophie  interessirt»  ungelesen  lassen  sollte.  Dasselbe 
unterwirft  alle  auf  die  Praxis  Einfluss  habenden  Ideen  einer  mör- 
derischen Kritik,  und  weist  sie  als  Idole  nach,  die  nur  sow^t 
Macht  über  das  Ich  haben,  als  dieses  ihnen  eine  solche  in  seiner 
sich  selbst  verkennenden  Schwäche  einräumt;  es  zermalmt  in  seiner 
geistreichen  und  pikanten  Weise  mit  schlagenden  Gründen  die 
idealen  Bestrebungen  des  politischen,  socialen  und  humanen  Libera- 
lismus, und  zeigt,  wie  auf  den  Trümmern  all'  dieser  in  das  Nichts 
ihrer  Ohnmacht  zusammengebrochenen  Ideen  nur  das  Ich  der 
lachende  Erbe  sein  kann.  Wenn  diese  Betrachtungen  nur  den 
Zweck  hätten,  die  theoretische  Behauptung  zu  erhärten >  dass  Ich 
so  wenig  aus  dem  Bahmen  meiner  Ichheit,  als  aus  meiner  Haut 
heraus  kann,  so  wäre  denselben  Nichts  hinzuzufügen;  indem  aber 
Stimer  in  der  Idee  des  loh  den  absoluten  Standpunct  fdr  das 
Handeln  gefanden  haben  wül,  verfallt  er  entweder  demselben 
Fehler,  den  er  an  den  anderen  Ideen,  wie  Ehre,  Freiheit,  Becht 
u.  s.  w.  bekämpft  hatte,  und  liefert  sich  auf  Gnade  und  Ungnade 
der  Herrschsucht  einer  Idee  aus,  deren  absolute  Souveränität  er 
anerkennt,  aber  nicht  um  der  und  jener  Gründe  willen  anerkennt, 
sondern  blind  und  instinctiv,  oder  aber  er  fasst  das  loh  nicht  als 
Idee,  sondern  als  Bealität,  und  hat  dann  kein  anderes  Besultat,  als 
die  völlig  leere  und  nichtssagende  Tautologie,  dass  Ich  nur  meinen 
Willen  wollen,  nur  meine  Gedanken  denken  kann  und  dass  nnr 
meine  Gedanken  Motive  meines  Wollens  werden  können,  eine  That- 
sache,  die  bei  den  von  ihm  bekämpften  Gegnern  ebenso  unläugbar 
ist,  als  bei  ihm.  Wenn  er  aber,  und  nur  so  hat  sein  Resultat  einen 
Sinn,  meint,  daj9s  man  die  Idee  des  Ich  als  die  allein  herrschende 
anerkennen  und  alle  anderen  Ideen  nur  insoweit  zulassen  soll,  als 
sie  für  erstere  einen  Werth  haben,  so  hätte  er  doch  zunächst  die 
Idee  des  Ich  untersuchen  sollen.  Er  würde  dann  zuvörderst  ge- 
funden haben,  dass,  wie  alle  anderen  Ideen  Stichworte  von  Instincten 
sind,  die  specielle  Zwecke  verfolgen,  so  das  Ich  das  Stichwort  eines 
univcfrsellen  Instinctes,  des  Egoismus,  ist,  der  sich  zu  den  speciellen 
Instincten  gleichsam  wie  ein  passe- partout -Billet  zu  Tagesbilleten 
verhält,  von  dem  viele  Specialinstincte  nur  Ausflüsse  in  besonderen 
Fällen  sind,  und  mit  dem  man  daher  auch  ganz  allein  ziemlich 
gut  auskommt,  nachdem  man  alle  anderen  Instincte  geächtet  hat, 
welcher  selbst  dagegen  niemals  ganz  fiir  das  Leben  zu  ent- 
behren ist. 


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So  ist  es  allerdings  verzeihllohery  diesem  Instincte  als  irgend 
einem  anderen,  eine  unbedingte  Souveränität  zuzuerkennen,  aber 
abgesehen  davon,  daas  der  Fehler  in  beiden  Fallen  der  nämliche^ 
ist,  sind  die  Folgen  bei  der  ausschliesslichen  Huldigung  des  Egois- 
mus noch  schlimmer.  !Nämlich  andere  Instincte  lassen  sich,  wenn 
sie  nur  stark  genug  sind,  häufig  befriedigen,  wenn  auch  in  der 
Begel  nur  mit  Opfern  an  Gesammtglüok,  die  sie  nicht  bezahlt 
machen;  aber  der  Egoismus  ist  nach  unseren  bisherigen  Unter- 
suchimgen  niemals  zu  befriedigen,  weil  er  stets  einen  TJeberschuss 
von  Unlust  bereitet. 

Diese  Einsicht,  dass  vom  Standpuncte  des  Ich  oder  des  Indi-  J 
viduums  ans  die  Willensvemeinung  oder  "Weltentsagung  und  Ver-  j 
zichtleistung  auf's  Leben  das  einzig  vernünftige  Verfahren  ist,  fehlt  t 
Sürner  gänzlich,  sie  ist  aber  das  sicherste  Heilmittel  gegen  die 
Orossthuerei  mit  dem  Standpuncte  des  Ich;  wer  die  überwiegende 
Unlust,  die  jedes  Individuum  mit  oder  ohne  Wissen  im  Leben  er- 
dulden muss,  einmal  verstanden  hat,  wird  bald  den  Standpunct  des 
sich  selbst -erhalten  und  geniessen -wollenden,  mit  einem  Worte  des 
seine  Existenz  bejahenden  Ich  verachten  imd  verschmähen;  wer 
erst  seinen  Egoismus  und  sein  Ich  geringschätzt,  wird  auf  dasselbe 
schwerlich  noch  als  den  absoluten  Standpunct  pochen,  nach  welchem 
Alles  sich  zu  richten  habe,  wird  persönliche  Opfer  minder  hoch 
anschlagen  als  sonst,  wird  minder  widerwillig  dem  Besultate  einer 
Untersuchung  zustimmen,  welche  das  Ich  als  eine  blosse  Erschei- 
nung eines  Wesens  darstellt,  das  für  alle  Individuen  ein  und  das- 
selbe ist. 

Die  Welt-  und  Lebensverachtung  ist  der  leichteste  Weg  zur 
Selbstverläugnung ;  nur  auf  diesem  Wege  ist  eine  Moral  der 
Selbstverläugnung;  wie  die  christliche  und  buddhaistische,  historisch 
möglich  geworden. 

Wäre  aber  endlich  Stirner  an  die  directe  philosophische  Unter- 
suchung der  Idee  des  Ich  herangetreten,  so  würde  er  gesehen 
haben,  dass  diese  Idee  ein  ebenso  wesenloser,  im  Gehirne  ent- 
stehender Schein  ist,  wie  etwa  die  Idee  der  Ehre  oder  des  Beohtes, 
und  dass  das  einzige  Wesen,  welches  der  Idee  der  inneren  Ursache 
meiner  Thätigkeit  entspricht,  etwas  Nicht-Individuelles,  das 
All-Einige  Unbewusste  ist,  welches  also  ebenso  gut  der  Idee  des  / 
Peter  von  seinem  loh,  als  der  Idee  des  Paul  von  seinem  Ich  ent-  / 
spricht.    .Auf  diesem  allertiefsten  Grunde  ruht  nur  die  esoterische 


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buddhaistische  Ethik,  nicht  die  christliche.  Hat  man  diese  £r- 
kenntniss  sich  fest  und  innig  zu  eigen  gemacht,  dass  ein  und 
.dasselbe  Wesen  meinen  und  deinen  Schmerz,  meine  und  deine 
Lust  fühlt,  nur  zufällig  durch  die  Vermittelung  verschiedener  Ge- 
hirne, dann  erst  ist  der  exclusive  Egoismus  in  seiner  Wurzel  ge- 
brochen, der  durch  die  Welt-  und  Lebensrerachtung  nur  erst 
erschüttert,  wenn  auch  tief  erschüttert  ist,  dann  erst  ist  der 
Stimer'sche  Standpunct  endgültig  überwunden,  dem  man  einmal  ganx 
angehört  haben  muss,  lun  die  Grösse  des  Fortschrittes  zu  fühlen, 
dann  erst  ist  der  Egoismus  als  ein  Moment  in  dem  Bewnsstsein 
aufgehoben,  ein  Glied  des  Weltprocesses  zu  bilden,  in  welchem  er 
seine  bis  zu  einem  gewissen  Grade  nothwendige  Stelle  findet» 

Es  tritt  nämlich  am  Ende  jedes  der  vorhergehenden  Stadien 
der  Illusion  und  vor  der  Entdeckung  des  folgenden  das  freiwillige 
Aufgeben  des  individuellen  Daseins,  der  Selbstmord,  als  nothwen- 
dige Gonsequenz  ein ;  sowohl  der  lebensüberdrüssige  Heide,  als  auch 
der  an  der  Welt  und  seinem  Glauben  zugleich  verzweifelnde  Christ 
müssen  sich  consequenterweise  entleiben,  oder,  wenn  sie,  wie 
Schopenhauer,  durch  dieses  Mittel  den  Zweck  der  Aufhebung  des 
individuellen  Daseins  nicht  zu  erreichen  glauben,  müssen  sie  wenig- 
stens ihren  Willen  vom  Leben  abwenden  in  völliger  Enthaltsamkeit 
oder  auch  Askese. 

Anders,  wenn  das  Interesse  für  die  Entwickelung  des 
Ganzen  im  Herzen  Wurzel  fasst  und  der  Einzelne  sich  als 
Glied  des  Ganzen  fühlt,  als  ein  Glied,  welches  eine  mehr  oder 
minder  werthvolle,  nie  aber  ganz  nutzlose  Stelle  im  Processe  des 
Ganzen  ausMlt.  Dann  wird  es  um  der  Ausfüllimg  dieser  Stelle 
willen  erforderlich,  sich  an  das  Leben,  welches  man  vom  Stand- 
puncto  des  Ich  aus  nicht  nur  als  unnützes  Gut,  sondern  als  wahie 
Qual  fortwarf,  mit  wahrer  Opferfreudigkeit  hinzugeben;  dann  wird 
der  Instinct  des  Egoismus  vom  Bewusstsein  neu  restituirt, 
aber  nun  nicht  mehr  als  absolute  und  souveräne  Macht,  sondern 
mit  dem  aus  seinem  Zwecke  für  das  Ganze  sich  ergebenden 
Maasse,  und  beschränkt  durch  die  Anerkennung  und  Achtung  des 
Strebens  der  für  den  Process  ebenfalls  eiforderliohen  anderen  Indi- 
yiduen. 

Wie  der  Egoismus  im  Ganzen,  so  werden  auch  diejenigen 
Triebe  vom  Bewusstsein  restituirt,  welche,  wie  Mitleid,  Billigkeita- 
gefühl,  einen  Werth  für  das  Ganze,  oder,  wie  Liebe  und  Ehre,  einen 


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Weith  für  die  Zukunft  haben;  sie  werden  nunmehr  mit  dem  Be- 
ifusstsein  des  individuellen  Opfers  freiwillig  um  des  Ganzen  und 
des  Proces^es  willen  übernommen.  Dieses  dem  Leben  durch  die 
Hingebung  an  dasselbe  gebrachte  individuelle  Opfer  findet  dann 
seinen  Lohn  in  der  Hoffnung  auf  die  Zukunft  des  Frooesses, 
auf  die  in  seinem  Yerfolge  günstiger  werdende  Gestaltung  der 
Lebensverhältnisse  und  das  dem  Weltwesen,  welches  auch  in  mir 
lebt,  dort  winkende  Glück. 

Biese  Hoffnung  und  das  in  ihr  Mitwirken  am  Processe 
des  Ganzen  bildet  das  dritte  Stadium  der  Illusion,  welches 
wie  die  vorigen  beiden  zu  durchschauen,  jetzt  unsere  Au%abe  ist.  — 

Als  wir  uns  mit  der  Kritik  des  ersten  Stadiums  der  Illusion 
befassten,  war  es  nicht  möglich,  gelegentliche  Blicke  in  die  zu- 
künftige Gestaltung  der  Welt  zu  vermeiden,  ja  man  kann  sogar 
behaupten,  dass  der  aufmerksame  Leser  schon  in  jener  Kritik  des 
ersten  Stadiums  die   Kritik   des  dritten   mitgefunden   haben  muss. 

Um  hier  die  Wiederholung  zu  ersparen,  bitte  ich  deshalb,  in 
diesem  Sinne  doch  einmal  das  Eesume  (Nr.  13)  der  Kritik  des 
ersten  Stadiums  durchzulesen,  und  man  wird  sich  von  der  Wahr- 
heit meiner  Behauptung  überzeugen,  dass  jene  Besultate  weit  mehr 
enthalten,  als  damals  zur  Widerlegung  des  ersten  Stadiums  der 
Illusion  aus  ihnen  geschlossen  wurde.  So  gilt  z.  B.  der  Beweis 
des  Satzes,  dass  die  Unlust  der  Nichtbefriedigung  immer  und  in 
vollem  Maasse,  die  Lust  der  Befriedigung  aber  nur  unter  günstigen 
Umständen  und  mit  erheblichen  Abzügen  empfunden  werde,  nicht 
bloss  für  die  Gegenwart,  sondern  ganz  allgemein. 

Wie  weit  auch  die  Menschheit  fortschreitet,  nie  wird  sie  die 
grössten  der  Leiden  loswerden  oder  auch  nur  vermindern:  Krank- 
heit, Alter,  Abhängigkeit  von  dem  Willen  und  der  Macht  Anderer, 
Noth  und  UnzaMedenheit.  Wie  viel  Mittel  gegen  Krankheiten 
aach  noch  gefunden  werden  mögen,  immer  wachsen  die  Krank- 
heiten, namentlich  die  so  quälenden  leichteren  chronischen  Uebel, 
in  schnellerer  Progression  als  die  Heilkunst.  Immer  wird  die  froh- 
sinnige Jugend  nur  einen  Bruchtheil  der  Menschheit  ausmachen 
und  der  andere  Theil  dem  grämlichen  Alter  zufallen.  Immer  wird 
der  Hunger  der  in's  Unendliche  gehenden  YermehruDg  des  Menschen- 
geschlechtes die  Grenze  durch  eine  grosse  Bevölkerungsschicht 
^ehen,  welche  mehr  Hunger  hat,  als  sie  befriedigen  kann,  welche 
wegen  mangelhafter   Ernährung  einen  grossen  Sterblichkeitsooeffi- 


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cienton  zeigt,  kurz  welche  fortwährend  zu  einer  grossen  Procentzahl 
in  dem  bitteren  Kampfe  mit  der  Noth  erliegt  (yergl.  oben  S.  296, 
Z.  14 — 20).  Die  zufriedensten  Völker  sind  die  rohen  Natnrrölker  und 
von  den  Cnltaryölkem  die  ungebildeten  Classen;  mit  steigernder 
Bildung  des  Volkes  wächst  erfahrungsmässig  seine  TJnzufiriedenheit 

Jene  auf  der  Hungergrenze  lebende  Beyölkerungsschicht  fühlte 
früher  und  zum  Theil  noch  jetzt  ihr  Elend  nur,  so  lange  der  Magen 
knurrte,  aber  je  weiter  die  Welt  kommt,  desto  drohender  wird  das 
Gespenst  der  Massenarmuth,  desto  Airchtbarer  bemächtigt  sich  jener 
Elenden  das  ganze  Bewusstsein  ihres  Elends. 

Der  ünsittlichkeit  wird  nicht  weniger  in  der  Welt,  nur  die 
Form,  in  welcher  die  unsittliche  Gesinnung  sich  äussert,  ändert 
sich.  Abgesehen  von  Schwankungen  des  ethischen  Characters  der 
Völker  im  Grossen  und  Ganzen  sieht  man  überall  dasselbe  Ver- 
hältniss  von  Egoismus  uiid  Nächstenliebe,  und  wenn  man  auf  die 
Gräuelthaten  und  Eohheiten  vergangener  Zeiten  hinweist,  so  yer- 
gesse  man  auch  nicht,  die  Biederkeit  und  Ehrlichkeit,  das  klare 
Billigkeitsgefuhl  und  die  Pietät  vor  der  geheiligten  Sitte  alter 
Katuryölker  einerseits,  und  den  mit  der  Cultivirung  waohBenden 
Betrug,  Falschheit,  Hinterlist,  Chicane,  Nichtachtung  des  Eigen- 
thumes  und  der  berechtigten,  aber  nicht  mehr  yerstandenen  instinc- 
tiven  Sitte  andererseits  in  Eechnung  zu  stellen.  Diebstahl,  Betrog 
und  Fälschung  werden  trotz  der  darauf  gesetzten  Strafen  immer 
häufiger^  der  niedrigste  Eigennutz  zerreisst  schamlos' die  heiligsten 
Bande  der  Familie  und  Freundschaft,  wo  immer  er  mit  ihnen  io 
Colüsion  kommt,  und  nur  die  Grosse  der  vom  Staate  und  der 
Gesellschaft  darauf  gesetzten  Strafen  verhindert  die  brutaleren 
Verbrechen  roherer  Zeiten,  die  sofort  wieder  hervorbrechen  und  die 
menschliche  Bestialität  in  ihrer  ganzen  Scheusslichkeit  erkennen 
lassen,  wo  die  Bande  des  Gesetzes  und  der  Ordnung  gelockert  oder 
zerrissen  sind,  wie  in  der  polnischen  Bevolution  oder  dem  letzten 
Jahre  des  amerikanischen  Bürgerkrieges.  Nein^  nicht  gebessert 
hat  sich  die  Bosheit  und  die  alles  Fremde  zertretende  Selbstsucht 
des  Menschen^  nur  eingedämmt  ist  sie  durch  die  Deiche  des 
Gesetzes  und  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  weiss  aber  statt  der 
'  offi^nen  Ueberfluthung  tausend  Schleichwege  zu  finden,  auf  denen 
sie  *sich  geltend  machen  kann. 

Schon  sind  wir  der  Zeit  nahe,  wo  Diebstahl  und  gesetzwidrige 
Betrug  als  pöbelhaft  gemein  und  ungeschickt  verachtet  werden  von 


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dem  gewandteren  Spitzbnben,  der  seine  Yerbrechen  am  fremden 
Eigenthum  mit  dem  Buchstaben  des  Gesetzes  in  Einklang  zu  brin- 
gen weiss.  Und  so  wird  es  weiter  gehen.  Der  Ghrad  der  unsitt- 
lichen Gesinnung  bleibt  ewig  derselbe,  aber  sie  legt  den  Pferde- 
foss  ab  und  geht  im  Frack;  die  Sache  und  der  Erfolg  bleibt  die- 
selbe, nur  die  Form  wird  eleganter.  Ich  wollte  mich  doch  wahr- 
lich lieber  unter  den  alten  Germanen  der  Gefahr  aussetzen,  gele- 
gentlich todt  geschlagen  zu  werden ,  als  unter  den  modernen  Ger- 
manen jeden  für  einen  Schuft  und  Schurken  halten  zu  müssen,  bis 
ich  ganz  überzeugende  Beweise  seiner  Ehrlichkeit  habe.  Aus  der 
Analogie  können  wir  schliessen,  dass,  wenn  die  TJnsittlichkeit  auch 
in  Zukimft  ihre  Form  noch  so  sehr  verfeinert,  sie  doch  immer 
gleich  unsittlich  und  gleich  unlusterweckend  für  die  Summe  der 
Unrechtleidenden  bleiben  wird. 

Eine  Lebensrichtung,  welche  bei  einer  gewissen  Gemüthsbe- 
sohaffenheit  wohl  ein  positiyes  Glück  gewähren  kann,  die  Frömmig- 
keit, ist  natürlich  in  unserm  jetzigen  dritten  Stadium  ein  über- 
wundener Standpunct  der  Illusion.  Wäre  sie  es  nicht,  so  wäre 
eben  dass  dritte  Stadium  der  Illusion  nicht  rein,  sondern  noch  mit 
dem  zweiten  gemischt,  was  zwar  in  Wirklichkeit  sehr  gewöhnlich 
sein  mag,  aber  m  unserer  rationellen  Betrachtung,  wo  die  Stand- 
pimcte  durchaus  gesondert  werden  müssen,  nicht  angenommen  wer- 
den darf.  Jedenfalls  aber  wird  man  nicht  läugnen  können,  dass 
aas  durchschnittliche  Abnehmen  der  religiösen  Illusion  mit  fort- 
schreitender Bildung  die  Bedeutung  derselben  für  unsern  Eechnungs- 
ansatz  mehr  und  mehr  yermindert,  und  die  Zeit  ist  nicht  mehr 
fem,  wo  ein  Gebildeter  schlechterdings  nicht  mehr  dem  Genüsse 
religiöser  Erbauung  zugänglich  sein  kann.  — 

Die  beiden  anderen  Momente,  denen  wir  positiven  Ueberschuss 
an  Lust  zuerkannt  hatten,  Wissenschaft  und  Kunst,  werden  ihre 
Stellung  in  der  Zukunft  der  Welt  auch  verändern.  Je  mehr  wir 
rückwärts  schauen,  desto  mehr  ist  der  wissenschaftliche  Fortschritt 
das  Werk  einzelner  hervorragender  Genies,  welche  das  Unbewusste 
sich  als  Werkzeuge  schafft,  um  Das  zu  bewirken,  was  mit  den 
Elräften  des  durchschnittlichen  bewussten  Menschenverstandes  noch 
nicht  zu  erreichen  ist.  Je  mehr  wir  uns  der  heutigen  Zeit  nähern, 
desto  zahlreicher  werden  die  Arbeiter  an  der  Wissenschaft ,  desto 
gemeinsamer  ihre  Arbeit.  Während  die  Genies  früherer  Zeiten 
Zauberern  gleichen,  die  ein  Gebäude,   wie  aus  dem  Nichts  entste- 


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hen  lassen,  sind  die  Geistesarbeiter  der  Neuzeit  einer  emsigen 
Baugesellschaft  zu  vergleichen,  wo  jeder  seinen  8tein  zum  grossen 
Gebäude  hinzufügt,  je  nach  seinen  Kräften  einen  grösseren  oder 
kleineren.  Die  Methode  der  Zukunft  wird  immer  ausschliesslicher 
die  inductiy  -  naturwissenschaftliche ,  und  der  Grundcharacter  de^ 
wissenschaftlichen  Arbeit  nicht  Vertiefung,  sondern  Verbreiterung. 
80  werden  die  Genies  immer  weniger  Bedürfniss,  und  daher  auch 
immer  weniger  vom  ünbewussten  geschaffen;  wie  die  Gesellschaft 
durch  den  schwarzen  Bürgerrock  nivellirt  ist,  so  steuern  wir  auck 
in  geistiger  Beziehung  mehr  und  mehr  auf  eine  Nivellirung  zur 
gediegenen  Mittelmässigkeit  hin.  Daraus  geht  hervor,  dass  der 
Genuas  der  wissenschaftlichen  Production  immer  geringer  wird  imd 
die  Welt  mehr  und  mehr  auf  receptiv  wissenschaftlichen  Genoss 
beschränkt  wird.  Dieser  aber  ist  nur  dann  erheblich,  wenn  maa 
das  Bingen  und  Kämpfen  nach  der  Wahrheit  mit  durchgemacht 
hat,  nicht  aber,  wenn  einem  die  Wahrheit  als  gaar  gebackene 
Pastete  auf  der  Schüssel  präsentirt  wird.  Dann  wiegt  oft  der  Ge- 
nuss  des  Erkennens  die  Mühe  des  Lernens  kaum  auf,  und  die 
practische  Brauchbarkeit  des  Erlernten  oder  der  Ehrgeiz  muss  das 
eigentliche  Motiv  des  Lernens  abgeben.  — 

Ein  ähnliches  Verbältniss  findet  bei  der  Kunst  statt,  obwohl 
diese  für  die  Zukunft  immer  noch  günstiger  gestellt  ist,  als  die 
Wissenschaft.  Auch  in  ihr  werden  die  producirenden  Genies  imr 
mer  seltener  werden,  je  mehr  die  Menschheit  das  im  Augenblick 
aufgehende  Leben  ihrer  Kindheit  und  die  transcendenten  Ideale 
ihrer  schwärmerischen  Jugend  hinter  sich  zurücklässt  und  auf 
eine  bedächtig  in  die  Zukunft  schauende  praotisch  wohnliche  Ein- 
richtung in  der  irdischen  Heimath  Bedacht  nimmt,  je  mehr  im 
Mannesalter  der  Menschheit  die  socialökonomischen  und  practisoh- 
wissenschaftlichen  Literessen  die  Oberhand  gewinnen.  Die  Kunst 
ist  dann  nicht  mehr,  was  sie  dem  Jünglinge  war,  die  hehre,  be- 
seligende Göttin,  sie  ist  nur  noch  eine  mit  halber  Aufmerksamkeit 
zur  Erholung  von  den  Mühen  des  Tages  genossene  Zerstreuung 
ein  Opiat  gegen  die  Langeweile,  oder  eine  Erheiterung  naeh  dem 
Ernst  der  Geschäfte,  —  daher  eine  immer  mehr  um  sich  greifende 
dilettantische  Oberflächlichkeit  und  ein  Vernachlässigen  aller 
ernsten,  nur  mit  angestrengter  Hingebung  zu  geniessenden  Bioh- 
tuQgen  der  Kunst  Die  künstlerische  Production  des  den  Idealen 
entfremdeten   Mannesalters   der  Menschheit  bewegt  sich   natürlich 


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in  derselben  leichtfertigen,  die  Form  gewandt  beherrfichenden  und 
von  den  Schätzen  der  Vergangenheit  zehrenden,  dilettantischen 
Oberflächlichkeit,  und  bringt  keine  Genies  mehr  hervor ,  .weil  sie 
kein  Bedürfniss  der  Zeit  mehr  sind,  weil  es  hiesse,  die  Perle  vor 
die  Säue  werfen,  oder  auch,  weil  die  Zeit  über  das  Stadium,  wel- 
<diem  Genies  gebührten,  zu  einem  wichtigeren  hinweggeschritten 
ist.  Um  mich  vor  Missverständnissen  zu  wahren,  bemerke  ich 
ausdrücklich,  dass  ich  mit  jener  Characteristik  nicht  die  Gegen* 
wart  bezeichnen  wollte,  sondern  eine  Zukunft,  an  deren  Schwelle 
unser  Jahrhundert  steht,  und  von  der  die  Gegenwart  erst  einen 
schwachen  Vorgeschmack  bietet.  Die  Kunst  wird  der  Menschheit  im 
liannesalter  durchschnittlich  etwa  das  sein,  was  dem  Berliner  Börsen- 
mann des  Abends  die  Berliner  Posse  ist.  Diese  Ansicht  ist  freilich  nur 
durch  die  Analogie  der  Entwickelung  der  Menschheit  mit  den 
Lebensaltem  des  Einzelnen  zu  erhärten  und  durch  die  Bestätigimg, 
welche  diese  Analogie  durch  den  bisherigen  Gang  der  Entwickelung 
und  die  jetzt  schon  ziemlich  deutlich  erkennbaren  Ziele  der  näch- 
sten Periode  findet.  — 

In  Bezug  auf  die  practischen  Instincte ,  welche  auf  Illusion 
beruhen ,  wie  Liebe  und  Ehre ,  giebt  es  drei  Fälle :  entweder  die 
Menschen  kommen  gar  nicht  davon  zurück,  dann  bleibt  die  von 
ihnen  ausgehende  Unlust  immer ;  oder  die  Menschen  kommen  ganz 
davon  zurück,  dann  werden  sie  freilich  mit  der  Lust  auch  die  Un- 
lust los  und  sind  relativ  viel  glücklicher  geworden,  d.  h.  aber 
weiter  nichts,  als  das  Leben  ist  so  viel  ärmer  geworden  und 
dem  Nullpunct  oder  Bauhorizont  der  Empfindung  so  viel  näher  ge- 
rückty  ist  aber  nun  auch  sich  seiner  Armseligkeit  und  Werthlosig- 
keit  bewu88t  geworden.  Man  kann  beide  Zustände  ungefähr  mit 
einem  Geizigen  vergleichen,  der  über  seine  Schätze  im  Kasten  selig 
ist,  bis  er  eines  schönen  Tages  den  Kasten  aufmacht  und  findet, 
dass  er  leer  ist;  nur  ist  in  diesem  Bilde  die  reell  erduldete  Qual 
schon  im  ersten  Zustande  neben  der  Illusion  des  Glückes  nicht  mit 
aasgedrückt. 

Der  dritte  mögliche  Fall  und  zugleich  der  wahrscheinlichste 
ist  der,  dass  die  Menschen  nur  theilweise  von  jenen  Instincten 
loskommen,  dass  sie  zwar  die  illusorische  Beschaffenheit  derselben 
vollständig  durchschauen,  auch  in  Folge  dessen  wohl  die  Stärke 
des  Triebes  durch  Vernunft  etwas  vermindern  ^  aber  doch  nie  im 
Stande  sind,    denselben  völlig  zu  vernichten.    Dieser  Fall  enthält 


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die  Qualen  beider  anderen  yereinigt  Denn  der  Geizhals,  der  gans 
gut  gesehen  hat,  dass  seine  Kasten  leer  sind,  kommt  nun  in  den 
Wahnsinn,  sie  trotz  der  klaren,  besseren  Einsicht  seiner  Vemnaft 
doch  noch  für  voll  halten  zu  wollen,  und  ist  zugleich  yemünftig 
genug,  seinen  Wahnsinn  als  solchen  zu  verstehen,  ohne  doch  von 
demselben  sich  befreien  zu  können.  Er  hat  nun  zugleich  das  yer- 
nünftige  Bewusstsein  der  Armseligkeit  seines  Lebens,  der  illuso- 
rischen Beschaffenheit  seiner  aus  diesen  Triebfedern  entspringenden 
Lust  und  Unlust  und  des  grossen  IJebergewichtes  der  Unlust;  er 
hat  also  jetzt  auch  das  yoUe  Bewusstsein  der  Qualen,  zu  denen  or 
verurtheilt  ist,  das  Yemunftstrebeu;  oiese  Triebe  zu  unterdrücken, 
und  das  schmerzliche  Oefühl  der  Ohnmacht  seines  yemünftig«! 
Willens  über  den  instinctiyen  Trieb.  Darum  sagt  Qothe  ganx 
richtig:  „Wer  die  Dlusion  in  sich  und  Andern  zerstört,  den  strtft 
die  Natur  als  der  strengste  Tyrann''  (Bd.  40,  S.  386),  und  doch 
kann  und  wird  diese  Zerstörung  der  Illusion  der  Menschheit  nicht 
erspart  bleiben.  Unbarmherzig  und  grausam  ist  dieses  Handweik 
der  Zerstörung  der  Illusion,  wie  der  rauhe  Druck  der  Hand,  der 
einen  süss  Träuihenden  zur  Qual  der  Wirklichkeit  erweckt;  aber 
die  Welt  muss  yorwärts;  nicht  erträumt  werden  kann  das  Ziel,  e8 
muss  erkämpft  und  errungen  werden,  und  nur  durch  Schmerzen 
geht  der  Weg  zur  Erlösung!  Wer  sich  aber  darauf  berufen 
wollte,  dass  die  Liebe  und  der  Instinct,  einen  Hausstand  zu  grün- 
den, doch  der  Zukunft  zu  Gute  kommen,  indem  sie  die  neue 
Generation  schaffen,  der  wäre  wohl  durch  die  Erinnerung  zurück- 
zuweisen, dass  es  ein  offenbarer  Widerspruch  wäre,  wenn  eine 
Generation  immer  nur  für  die  folgende  da  sein  sollte,  während 
jede  für  sich  elend  ist.  Es  erweckt  schon  dieses  Immeryor- 
wärtsweisen  den  unwillkürlichen  Gedanken,  dass  der  Procass 
nicht  um  des  Processes  willen,  sondern  um  des  hinter  dem  Pro- 
cesse  liegenden  Zieles  willen  da  ist.  Dasselbe  ist  g^en  die  Ein- 
wendung zu  bemerken,  dass  die  illusorischen  Instincte,  wie  Mire, 
Erwerbstrieb,  Liebe,  die  Entwiokelung  steigern  helfen. 
Dies  ist  gewiss  richtig,  aber  es  kann  jenen  Instincten  keinen 
eudämonologischen  Werth  yerleihen,  so  lange  wir  der  Steigerung 
der  Entwiokelung  keinen  eudämonologischen  Werth  beimessen 
dürfen.  Man  yergisst  bei  diesen  Einwendungen,  dass  der  Proeees 
als  solcher  nur  die  Summe  seiner  Momente  ist 

Werfen  wir  nun   einen  Blick   auf  die  gepriesenen  Fortschritte 


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621 

der  Welt;  worio  bestehen  sie,  wodurch  beglücken  sie  ?  —  Die  Fort- 
Bohritte  in  der  Kunst  dürfte  man  nicht  berechtigt  sein,  allznhoch 
anzuschlagen;  soviel  wie  der  Inhalt  unserer  neueren  Kunstwerke 
ideenreicher  ist,  soviel  war  die  Kunstform  im' Alterthum  vollen- 
deter, und  die  wiederauferstandenen  Griechen  würden  unsere 
Kunstwerke  auf  allen  Gebieten  mit  vollem  Eecht  für  höchst 
barbarisch  erklären.  (Man  denke  an  unsere  Bomane  und  Büh- 
nenstücke, an  unsere  Standbilder  und  Gemäldeausstellungen,  an 
unsere  Bauwerke  und  an  die  gleichschwebende  Temperatur  in  der 
Musiki)  Je  überquellender  der  ideelle  Inhalt  unserer  Kunstwerke 
die  beengende  Form  zu  zersprengen  droht,  desto  weiter  entfernen 
sich  diese  Werke  von  dem  reinen  Begriff  der  Kunst,  der  in  ab- 
soluter Harmonie  der  Form  und  des  Inhaltes  wurzelt.  Der  Raum 
verhindert  leider,  diese  Andeutungen  hier  weiter  auszuführen. 

Die  wissenschaftlichen  Fortschritte  tragen  in  rein  theore- 
tischer Beziehung  wenig  oder  gar  nichts  zum  Glück  der  Welt  bei,  in 
practischer  Beziehung  aber  kommen  sie  den  politischen,  socialen, 
moralischen  und  technischen  Fortschritten  zu  Gute.  Den  Einfluss 
der  Wissenschaft  auf  moralischen  Fortschritt  muss  ich  für  ver- 
schwindend klein  halten,  so  wie  er  auch  in  politischer  und  socialer 
Beziehung  nicht  allzu  hoch  zu  veranschlagen  ist,  da  auf  diesen 
Gebieten  die  Theorie  meist  erst  der  instinctiv  ergriffenen  Praxis 
nachhinkt.  Von  unberechenbarer  Wichtigkeit  ist  er  dagegen  auf 
die  Fortschritte  der  Technik.  Was  leisten  diese  aber  für  das 
menschliche  Glück?  Offenbar  nichts,  als  dass  sie  die  Möglichkeit  zu 
socialen  und  politischen  Fortschritten  gewähren,  und  die  Bequemlich- 
keit und  allenfalls  auch  den  überflüssigen  Luxus  erhöhen!  Theils 
geschieht  dies  direct,  theils  durch  Erleichterung  und  Vervollkomm- 
nung der  Handelsverbindungen.  Fabriken,  Dampfschiffe,  Eisenbah- 
nen und  Telegraphen  haben  noch  nichts  Positives  für  das  Glück 
der  Menschheit  geleistet,  sie  haben  nur  einen  Theil  der  Hinder- 
nisse und  Unbequemlichkeiten,  von  welchen  der  Mensch  bisher  ein- 
geengt und  bedrückt  war,  vermindert.  Wenn  eine  rationellere 
Bodenbewirthschaftung  und  erleichterte  Einfuhr  aus  menschen- 
ärmeren Gegenden  den  CulturvÖlkem  einen  stärkeren  Nahrungs- 
vorrath  zu  Gebote  gestellt  hat,  so  hat  dies  allerdings  den  Erfolg 
gehabt,  dass  die  Bevölkerungszahl  dieser  Culturvölker  zum  Theil 
sehr  erheblich  gewachsen  ist;  ist  dadurch  aber  das  Glück  oder 
das  Elend  gewachsen  ?  Zumal  wenn  man  bedenkt»  dass  mit  wach- 


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622 

Bender  Erdbevölkerung  auch  die  Anzahl  der  auf  der  Hungergrenze 
lebenden  Millionen  wächst!  Der  vergrösserte  Nahrungsertrag  der 
Erde,  die  vergrösserte  Bequemlichkeit  und  der  vergrösserte  Luxus 
in  Verbindung  stellen  den  vergrösserten  Nationalreichthum  resp. 
Erdenreichthum  dar;  auch  dieser  letztere  kann  also  nicht  als  ein 
Wachßthum  an  positivem  Glück  aufgefasst  werden;  zu  einem  Theile 
bewirkt  er  nichts  als  eine  Vermehrung  der  Bevölkerung  und  da- 
mit des  Elendes,  zum  anderen  Theil  beruht  seine  Hochschätzung 
auf  der  durch  den  instinetiven  Erwerbstrieb  geschaffenen  Illusion, 
zum  dritten  Theile  ist  sein  Erfolg  eine  Verminderung  der  Unlußt 
und  eine  Annäherung  an  den  Nullpunct  der  Empfindung,  der  nie- 
mals zu  erreichen  ist.  Der  einzige  positive  Nutzen  des  Wachß- 
thum es  der  Wohlhabenheit  ist  der,  dass  er  Kräfte,  die  vorher  im 
Kampfe  mit  der  Noth  gebunden  waren,  frei  macht  für  die 
Geistesarbeit,  und  dass  er  dadurch  den  Weltprocess  be- 
schleunigt. Dieser  Erfolg  kommt  aber  nur  dem  Process  als 
solchem,  keineswegs  den  im  Erocess  befindlichen  Individuen  oder 
Nationen  zu  Gute,  welche  doch  bei  Vermehrung  ihres  National- 
reichthumes  fjir  sich  zu  arbeiten  wähnen. 

Die  letzten  grossen  Fortschritte^  der  Welt,  welche  uns  zu  e^ 
wägen  bleiben,  sind  die  politischen  und  socialen.  Nehmen  wir 
an,  der  vollkommenste  Staat  sei  realisirt,  und  die  Erdbevölkerung 
hätte  ihre  politische  Aufgabe  in  vollendeter  Weise  gelöst.  Was 
hat  man  dann  an  diesem  staatlichen  Gebilde?  Ein  Schneckenge- 
häuse ohne  Schnecke,  eine  leere  Form,  die  ihrer  anderweitigen  Er- 
füllung harrt!  Die  Menschheit  lebt  doch  nicht,  um  sich  zu  regie- 
ren ,  sondern  sie  regiert  sich ,  um  leben  (im  höchsten  Sinne  de« 
Wortes)  zu  können.  Alle  die  so  bekannten  Aufgaben  des  Staates 
sind  negativer  Natur,  sie  heissen  Schutz  gegen,  Sicherung 
vor,  Abwehr  von,  u,  s.  w.  Der  erreichte  vollkommenste  Staat 
thut  also  nichts,  als  dass  er  Menschen  dahin  stellt,  wo  er  ohne 
Furcht  vor  unberechtigten  Eingriff'en  anfangen  kann  zu  leben,  d.  h. 
seine  Kräfte  und  Fähigkeiten  nach  allen  den  Richtungen  zu  ent^ 
falten,  welche  nicht  die  von  ihm  beanspruchten  staatlichen  Rechte 
in  anderen  verletzen.  Also  auch  das  Ideal  des  Staates  stellt  den 
Menschen  erst  auf  den  Bauhorizont  seines  Glückes. 

Mit  den  socialen  Idealen  ist  es  nicht  anders.  Sie  lehren  ge- 
wisse Erleichterungen  im  Kampfe  mit  der  Noth  um  des  Lebens 
Nothdurft    durch    das  Princip    der    solidarischen  Gemeinschaft  und 


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andere  Hilfsmittel,  Bie  lehren  die  Plagen  und  Sorgen,  welche  man 
durch  die  Befriedigung  des  Hausstandsgründungsinstinctes  über 
eich  zieht,  durch  bestmöglichste  Einrichtung  der  Familienverhält- 
nisse möglichst  zu  mindern,  den  Pflichten  der  Kindererziehung  auf 
möglichst  wenig  drückende  Art  gerecht  zu  werden,  u.  s.  w.  — 
Immer  handelt  es  sich  nur  um  Linderung  von  üebeln,  nicht  um 
Erlangung  positiven  Glückes.  Die  einzige  scheinbare  Ausnahme 
wäre  die  genossenschaftliche  Mehrung  der  Gesammtwohlhabenheit, 
aber  diese  ist  schon  weiter  oben  berücksichtigt. 

Dies  wären  nun  die  Hauptrichtungen  des  Weltfortschrittes. 
Soweit  sie  auf  Realitäten  beruhen,  kommen  sie  darin  überein,  den 
Menschen  aus  der  Tiefe  seines  Elendes  mehr  und  mehr  dem  Bau- 
horizont der  Empfindung  entgegen  zu  heben.  Waren  die  idealen 
Ziele  erreicht ,  so  wäre  der  Nullpunct  oder  Indifferenzpunct  der 
Empfindung  in  Bezug  auf  diese  Lebensrichtungen  erreicht;  da  aber 
Ideale  ewig  Ideale  bleiben,  und  die  Fortschritte  der  Wirklichkeit 
sieh  ihnen  wohl  nähern ,  aber  nie  sie  erreichen  können ,  so  wird 
auch  in  dieser  Lebensrichtung  die  Welt  nie  die  Höhe  des  Null- 
punctes  erreichen,  sondern  stets  unterhalb  desselben  in  der  über- 
wiegenden Unlust  stecken  bleiben. 

Man  kann  sich  über  den  eud am  onologischen  Werth 
der  Weltfortschritte  klar  werden,  auch  ohne  sich  darum  zu 
bekümmern,  worin  sie  bestehen.  Man  braucht  nur  an  die  Analogie 
des  Einzelnen  zu  denken.  Wer  in  eine  bessere  Lebenslage  kommt, 
wird  bei  dem  Uebergang  vom  Schlechteren  zum  Besseren  aller- 
dings Lust  empfinden ;  aber  'erstaunlich  schnell  verschwindet  diese 
Lust,  die  neuen  besseren  Umstände  werden  als  etwas  sich  von 
selbst  Verstehendes  hingenommen,  und  der  Mensch  fühlt  sich  nicht 
um  ein  Haar  breit  glücklicher,  als  in  seiner  früheren  Lage.  (Der 
Uebergang  aus  dem  Besseren  in's  Schlechtere  erzeugt  schon  eine 
viel  länger  anhaltende  Unlust.)  Gerade  so  ist  es  bei  einer  Nation, 
gerade  so  bei  der  Menschheit.  Wer  fühlt  sich  wohl  jetzt  wohler 
als  vor  dreissig  Jahren,  weil  es  jetzt  Eisenbahnen  giebt,  und  da- 
mals keine?  Und  sollte  den  älteren  Personen  der  Unterschied  mit 
damals  noch  zur  Empfindung  kommen,  so  doch  gewiss  nicht  denen, 
welche  nach  Entstehung  der  Eisenbahnen  geboren  sind.  Es  hat 
sich  mit  den  vermehrten  Mitteln  nichts  weiter  vermehrt,  als  die 
Wünsche  und  Bedürfnisse,  und  in  Folge  davon  die  Unzu- 
friedenheit.    Schon  im  Resum^   des   ersten   Stadiums    der  Illu- 


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sion  haben  wir  gesehen,  dass  Naturvölker  nioht  elender,  sondern 
glücklicher    als  Cnltnrvölker  sind,  dass  die  armen,   niedrigen 
und  rohen  Stände  glücklicher  sind  als  die   reichen,  vomehmen 
und  gebildeten,    dass    die  Dummen    glücklicher   sind  als  die 
Klugen,    überhaupt    dass    ein  Wesen   um   so   glücklicher  ist,  je 
stumpfer  sein  Nervensystem   ist,   weil  der  Ueberschuss  der  Unlust 
über  die  Lust  desto   kleiner,  und  die  Befangenheit  in  der  BloBioii 
desto  grösser  wird.     Nun   wachsen   aber  mit  fortschreitender  Ent- 
wickelung  der  Menschheit  nicht  nur  Eeichthum   und   Bedür&iisse, 
sondern  auch  die  Sensibilität  des  Nervensystems,  und  die  Capacität 
und  Bildung  des  Geistes,  folglich  auch  der  Ueberschuss  der  empfun- 
denen Unlust    über    die    empfundene  Lust  und  die  Zerstörung  der 
Illusion,   d.  h.  das  Bewusstsein  der  Armseligkeit  des  Lebens,   der 
Eitelkeit  der  meisten  Genüsse  und  Bestrebungen     und    das  Gefühl 
des  Elendes;  es  wächst  mithin  sowohl  das  Elend,  als  auch  das 
Bewusstsein  des  Elendes,    wie  die  Erfahrung  zeigt,    und  die  viel- 
fach behauptete  Erhöhung   des  Glückes   der  Welt  durch  die  Fort- 
schritte  der  W«lt  beruht  auf  einem  ganz  oberflächlichen  Schein. 
(Dies  ist  ganz  besonders  für  Diejenigen  zu  beherzigen,  welche  etwa 
mit  mir  nicht  darin  einverstanden  sind,    dass    gegenwärtig  die 
Summe  der  Unlust  in  der  Welt  die  Summe   der  Lust    überwiege.) 
Wie  das  Leiden  der  Welt  gewachsen  ist  mit  der  Entwickelang  der 
Organisation  von  der  Urzelle  an  bis  zur  Entstehung  des  Menschen, 
so  wird  es  weiter  wachsen  mit   der  fortschreitenden  Entwickeluug 
des  menschlichen  Geistes,  bis  dereinst  das  Ziel  erreicht  ist.    Eiue 
kindliche  Zurzsichtigkeit  war  es,  wenik  Rousseau  aus  der  Erkennüiias 
des  wachsenden  Leidens  den  Schluss  zog :  die  Welt  muss  wo  möglich 
umkehren,    zum  Kindesalter  zurück!     Als  job   das  Kindesalter  der 
Menschheit  nicht  auch  Elend   gewesen    wäre!     Nein,    wenn  schon 
rückwärts ,  dann    weiter,  immer   weiter ,    bis    vor  Erschaffung  der 
Welt!    Aber  wir  haben  ja  keine  Wahl,  wir  müssen   vorwärts, 
auch  wenn   wir    nicht  wollen.     Aber  nicht  das   goldene   Zeitalter 
liegt  vor  uns,  sondern  das  eiserne,    und  die  Träumereien  von  dem 
goldenen  Zeitalter  der  Zukunft  erweisen  sich  als  noch  viel  nichtiger, 
wie  die  von  dem  der  Vergangenheit.      Wie   die   Last   dem  Träger 
um  so  schwerer  wirdy  einen  je  weiteren  Weg  er  sie  trägt,  so  wird 
auch  das  Leiden  der  Menschheit   und  das  Bewusstsein  ihr^  Elen- 
des wachsen  und  wachsen  bis  in's  Unerträgliche.     Man  kann  auch 
die  Analogie  mit  den  Lebensaltem  des  Einzelnen  benutzen.      Wi« 


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686 

der  Einzelne  zuent  als  Kind  dem  Augenblicke  lebt,  dann  als  Jüng- 
ling in  transoendenten  Idealen  schwärmt,  dann  als  Mann  dem 
Böhm  nnd  später  dem  Besitz  und  der  praotischen  Wissenschaft  nach- 
strebt» bis  er  endlich  als  Greis»  die  Eitelkeit  alles  Strebens  erkennend, 
sein  müdes,  nach  Frieden  sich  sehnendes  Haupt  zur  Buhe  legt,  so 
auch  die  Menschheit  Sehen  wir  doch  die  Nationen  entstehen, 
reifen  und  yergehen,  finden  wir  doch  auch  an  der  Menschheit  die 
deutlichsten  Symptome  des  Aelter-Werdens ;  warum  sollten  wir  be- 
zweifeln, dass  nach  der  kräftigen  Mannesthätigkeit  nicht  auch 
für  sie  einst  das  Greisenalter  kommt ,  wo  sie  zehrend  yon  den 
praotischen  und  theoretischen  Früchten  der  Vergangenheit,  in  eine 
Periode  der  reifen  Beschaulichkeit  eintritt,  wo  sie  die  ganzen 
wüst  durchstürmten  Leiden  ihres  vergangenen  Lebenslaufes  mit 
wehmüthiger  Trauer  in  Eins  fassend  überschaut,  und  die  ganze 
Eitelkeit  der  bisherigen  vermeintlichen  Ziele  ihres  Strebens 
begreift. 

Nur  Ein  unterschied  ist  zwischen  ihr  und  dem  Lidividuum: 
die  greise  Menschheit  wird  keinen  Erben  haben,  dem  sie  ihre 
aufhäuften  Beiehthümer  hinterlassen  kann\  keine  Kinder  und 
Enkel»  die  Liebe  zu  welchen  die  Klarheit  ihres  Denkens  stören 
könnte.  Dann  wird  sie  in  jener  erhabenen  Melancholie,  welche 
man  bei  Genies  oder  auch  bei  geistig  hochstehenden  Greisen 
gewöhnlich  findet,  gleichsam  wie  ein  verklärter  Geist  über  ihrem 
eigenen  Leibe  schweben,  und  wie  Oedipus  auf  Kolonos  in  dem 
vorgefühlten  Frieden  des  Nichtseins  die  Leiden  des  Seins  gleich- 
sam nur  noch  als  fremde  fühlen,  nicht  mehr  ein  Leid,  son- 
dern nur  noch  ein  Mitleid  mit  sich  selbst.  Das  ist  die  Him- 
melaklarheit ,  jene  göttliche  Buhe,  die  in  Spinoza's  Ethik  weht, 
wo  die  Leidenschaften  in  dem  Abgrunde  der  Vernunft  ver- 
schlungen sind,  weil  sie  klar  und  deutlich  in  Ideen  gefasst  sind. 
Aber  selbst  wenn  wir  jenen  Zustand  reiner  Leidenschaftslosigkeit 
als  erreicht  annehmen,  wenn  selbst  das  Leid  in  Mitleid  mit  sich 
verktilrt  ist,  es  hört  doch  nicht  auf,  Trauer,  d.  h.  Unlust  zu 
sein.  Die  Illusionen  sind  todt,  die  Hoffnung  ist  ausgebrannt; 
denn  worauf  sollte  man  noch  hoffen?  Die  todesmüde  Menschheit 
sehleppt  ihren  gebrechlichen  irdischen  Leib  mühsam  von  Tage 
jso  Tage  'weiter.  Das  höchste  Erreichbare  wäre  doch  die 
Schmerzlosigkeit,    denn   wo    sollte   das   positive  Glück   noch 

-r.  Hartmftiin»  PhU.  d.  Unbewnssten.  40 


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gesaoht  werden?  Etwa  in  der  eitlen  Belbstgenügsamkeit  des 
Wissens,  dass  Alles  eitel  ist,  oder  dass  im  Kampfe  mit  jenen 
eitlen  Trieben  die  Vemnnft  gewöhnlich  %eger  bleibt!  0  ndn, 
solche  eitelste  von  allen  Eitelkeiten,  solcher  V erstandeshoek- 
muth  ist  dann  längst  überwanden!  Aber  auch  die  Schmen- 
losigkeit  erreiolit  die  greise  Menschheit  nicht,  denn  sie  ist  ja 
kein  reiner  Geist,  sie  ist  schwächlich  und  gebrechlich,  und  mvss 
trotzdem  arbeiten,  um  zu  leben,  und  weiss  doch  nicht, 
wozu  sie  lebt;  denn  sie  hat  ja  die  Täuschungen  des  Lebenfi 
hinter  sich,  und  hofft  und  erwartet  nichts  mehr  vom  Leben. 
Sie  hat,  wie  jeder  sehr  alte  und  über  sich  selbst  klare  Oreis 
nur  noch  einen  Wunsch :  Buhe ,  Frieden ,  ewigen  Sehlaf  ohne 
Traum,  der  ihre  Müdigkeit  stille.  Nach  den  drei  Stadien  der 
Illusion,  der  Hoffnung  auf  ein  positives  Glück,  hat  sie  endlich 
die  Thorheit  ihres  Strebens  eingesehen ^  sie  verzichtet  end- 
gültig auf  alles  positive  Glück,  und  sehnt  sich  nur  noch  nach 
absoluter  Schmerzlosigkeit,  nach  dem  Nichts,  Nirwana. 
Aber  nicht,  wie  auch  früher  schon,  dieser  oder  jener  Einzelne, 
sondern  die  Menschheit  sehnt  sich  nach  dem  Nichts^  nach  Ye^ 
nichtung.  Dies  ist  das  einzig  denkbare  Ende  von  dem  dritten 
und  letzten  Stadium  der  Illusion. 

Wenn  dem  Leser,  der  die  Geduld  hatte,  mir  bis  hierher 
zu  folgen,  dieses  Besultat  trostlos  erscheint,  so  muss  ich  ihm  e^ 
klären,  dass  er  sich  im  Irrthum  befand,  wenn  er  in  der  Philo- 
sophie Trost  und  Hoffnung  zu  finden  suchte.  Zu  solchen  Zwecken 
giebt  es  Religions-  und  Erbauungsbüchlein.  Die  Philosophie  aber 
forscht  rücksichtslos  nach  Wahrheit,  unbekümmert  darum,  ob  das, 
was  sie  findet,  dem  in  der  Illusion  des  Triebes  befangenen  Ge- 
fühlsurtheil  behagt  oder  nicht. 

Wir  begannen  dieses  Capitel  mit  der  Frage,  ob  das  8m 
oder  das  Nichtsein  der  bestehenden  Welt  den  Vorzug  verdiene, 
und  haben  diese  Frage  nach  gewissenhafter  Erwägung  dahin  be- 
antworten müssen,  dass  alles  weltliche  Dasein  mehr  Unlust,  ak 
Lust  mit  sich  bringe,  folglich  das  Nichtsein  der  Welt  ihrem 
Sein  vorzuziehen  wäre.  Als  Ursache  dieses  Yerhältnisaes  haben 
wir  jene  im  ersten  Stadium  der  Illusion  unter  1)  zasammenge- 
stellten  Momente   erkannt,    welche    bewirken,    dass    alles  Wollen 


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noihwendigerweise  mehr  Unlust^  alß  Lust  zur  Folge  haben  muBSy 
dasB  also  alles  WoUen  thöricht  und  anyeraimftig  ist  Schon 
damals  war  das  einzig  mögliche  Eesnltat  klar  zu  erkennen;  die 
ganze  nachfolgende  Untersuchung  war  nur  der  empirisch  induotiye 
Nachweis  der  Bichtigkeit  jener  Consequenz,  den  wir  uns  freilich, 
wenn  wir  sicher  gehen  wollten  ^  nicht  ersparen  durften. 

liit  dieser  negativen  Lösung  müssen  wir  hier  sohliessen,  wer- 
den aber  im  nächsten  Capitel  sehen»  welche  weitere  Folgen  sich 
ans  ihr  ergeben. 


40« 


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Das  Ziel  des  Weltprocesses  nnd  die  BedeHtang  des 
Bewnsstseins. 

(TTebergtng  snr  prsotbohen  PhlkMophle.) 


Schon  im  Gap.  G.  XI.  hatten  wir  gesehen,  daas  die  Kette  der 
Finalität  nicht,  wie  die  der  GanBalität,  unendlich  zu  denken  ist, 
weil  jeder  Zweck  in  Bezug  auf  den  folgenden  in  der  Kette  nur 
Mittel  ist,  also  in  dem  zwecksetzenden  Verstände  stets  die 
ganze  zukünftige  Beihe  der  Zwecke  gegenwärtig  sein  muss,  und 
doch  unmöglich  eine  vollendete  Unendlichkeit  von  Zwecken  in  ihm 
gegenwärtig  sein  kann. 

Demnach  muss  die  Finalreihe  endlich  sein ,  d.  h.  sie  muss 
einen  letzten  oder  Endzweck  hahen,  welcher  das  Ziel  aller 
Mittelzwecke  ist.  Wir  haben  ebenfalls  in  Gap.  G.  XL  gesehen, 
dass  Gerechtigkeit  und  Sittlichkeit  ihrer  Natur  nach  nicht  End- 
zwecke, sondern  nur  Mittelzwecke  sein  können;  und  das  vorige 
Gapitel  hat  uns  gelehrt,  dass  auch  positive  Glückseligkeit  nicht 
das  Ziel  des  Weltprocesses  sein  kann,  weil  sie  nicht  nur  in  keinem 
Stadium  des  Processes  erreicht  wird,  sondern  sogar  jederzeit 
ihr  Gegentheil,  Elend  und  TJnseligkeit,  erreicht  wird,  welches 
noch  überdies  im  Verlaufe  des  Processes  durch  Zerstörung  der 
Illusion  und  mit  der  Steigerung  des  Bewnsstseins  wächst  Ganz 
sinnlos  ist  es,  den  Process  als  Selbstzweck  aufzufassen,  d.  h. 
ihm  einen  absoluten  Werth  zuzuschreiben;  denn  der  Process  ist 
doch  nur  die  Summe  seiner  Momente,  imd  wenn  die  einzelnen 
Momente  nicht  nur  werthlos,  sondern  sogar  verwerflich  sind,  so  ist 
es  auch  ihre  Summe,  der  Process.  Manche  nennen  wohl  die  Frei- 
heit   als  Ziel   des  Processes*     Für    mich   ist   die  Freiheit    nichts 


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PontiveS)  sondern  etwas  FriTatiyes^  die  Ledigkeit  des  Zwanges; 
ich  kann  nicht  verstehen,  wie  dies  erst  als  Ziel  des  Processes  zu. 
suchen  sein  sollte,  wenn  das  XJnbewosste  Ein  und  Alles  ist,  4lso 
}9]6mand  da  ist,  von  dem  es  Zwang  erleiden  könnte.  Soll  aber 
etwas  Positives  in  dem  Begriffe  Freiheit  liegen,  so  wird  es  einzig 
das  Bewusstsein  der  inneren  Nothwendigkeit  sein  können, 
das  Formelle  am  Veniünftigsein ,  wie  Hegel  sagt  Dann  ist  also 
eine  Steigerang  der  Freiheit  identisch  mit  einer  Steigerung  des 
Bewusstsei».  Hier  kommen  wir  auf  einen  schon  mehrfach  er- 
wähnten Punct.  Wenn  irgendwo  das  Ziel  des  Weltproeesses  £u 
suchen  ist^  so  ist  es  dooh  gewiss  auf  dem  Wege,  wo  wir,  soweit 
wir  den  Yerlauf  des  Processes  überaehmi  können,  einen  entschie* 
den«n  und  stetigen  Fortschritt^  eine  stu&nweise  Steigerung 
wahrnehmen. 

Dies  ist  einzig  und  allein  bei  der  Entwickelung  des  Be- 
wuBstseins,  der  bewussten  Intelligenz,  der  Fall,  hier  aber  auch 
in  ununterbrochenem  Au&teigen  von  der  Entstehung  der  TJrzelle 
bis  zum  heutigen  Standponot  der  Mensdiheit,  und  mit  höchster 
Wahrscheinlichkeit  weiter,  so  lange  die  Welt  st^t.  So  sagt  Hegel 
(Xm.  S.  36):  „Alles  was  im  Himmel  und  auf  Erden  geschieht  — 
ewig  gesclneht  —  das  Leben  Gottes  und  Alles,  was  zeitlich  ge- 
than  wird,  strebt  nur  danach  hin,  dass  der  Geist  sich  erkenne, 
sich  selber  gegenständlich  mache,  sich  finde,  ftir  sich  selber  werde, 
sich  mit  sich  zusammenschliesse  ;  es  ist  Verdoppelung,  Entfrem- 
dung, aber  um  sich  selbst  finden  zu  können,  um  zu  sich  selbst 
kommen  zu  können."  Ebenso  Schelling:  ,J)er  Transcendentalphi- 
losophie  ist  die  Natur  nichts  anderes  als  Organ  des  Selbstbe- 
wusstseins  und  alles  in  der  Natur  nur  darum  nothwendig,  weil 
nur  durch  eine  solche  Natur  das  Selbstbewusstsein  vermittelt 
werden  kann''  (Werke  L  8,  S.  273),  „und  um  das  Bewusstsein  ist 
es  in  der  ganzen  Schöpfung  zu  thun''  (IL  3,  S.  369).  Der  Ent- 
stehung des  BewusBtseins  dient  die  Lidividuation  mit  ihrem  Gefolge 
von  Egoismus  und  Unrechtthun  und  Unrechtleiden,  der  Steigerung 
des  Bewusstseins  dient  der  Erwerbstrieb  durch  Freimachung  gei- 
stiger Arbeitskräfte  bei  zunehmender  Wohlhabenheit  ^  dient  die 
J^telkeit,  der  Ehrgeiz  und  die  Ruhmsucht  durch  Anspomnng  der 
geistigen  Thätigkeit,  dient  die  geschlechtliche  Liebe  durch  Yerede- 
lung  der  geistigen  Fähigkeit,  kurz  alle  jene  nützlichen  Listincte, 
die  dem  Lidividunm  weit  mehr  Unlust  als  Lust  bringen,  ja  oft  die 


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630 

gröMten  Opfer  auferlegen.  Auf  dem  Wege  der  BewuBst- 
Beinsentwiokelung  muss  also  das  Ziel  des  Weltprocesses  ge* 
Bucht  werden,  und  das  Bewusstsein  ist  zweifelsohne  der  nächste 
Zweck  der  Natur,  der  Welt.  Es  bleibt  noch  die  Frage  offien, 
ob  das  BewuBstBein  wirklich  Endzweck,  also  auch  Selbstzweck 
sei,  oder  ob  es  wiederum  nur  einem  anderen  Zwecke  diene. 

Selbstzweck  kann  das  Bewusstsein  gewiss  nicht  sein.  Mit 
Schmerzen  wird  es  geboren ,  mit  Schmerzen  fristet  es  sein  Dasein, 
mit  Schmerzen  erkauft  es  seine  Steigerung;  und  was  bietet  es  für 
Alles  dies  zum  Ersatz?  Eine  eitle  Selbstbespiegelung! 
Wäre  die  Welt  im  TJebrigen  schön  und  werthyoll,  so  könnte  man 
ihr  auch  wohl  die  eitele  Selbstgefälligkeit  in  der  Betrachtung  ihreB 
Spiegelbildes  im  Bewusstsein  allenfalls  zu  Gute  halten,  obwohl 
sie  immer  eine  Schwäche  bliebe;  aber  eine  durch  und  durch 
elende  Welt,  die  an  ihrem  Anblicke  nimmermehr  Freude  haben 
kann,  sondern  ihre  Existenz  yerdammen  muss,  sobald  sie  sich  Ter» 
steht,  eine  solche  Welt  BoUte  an  der  idealen  Scheinyerdoppelung 
ihrer  selbst  im  Spiegel  des  Bewusstseins  einen  yemünftig^i  End- 
zweck und  Selbstzweck  haben?  Ist  es  denn  am  realen  Elend 
nicht  genug,  dass  es  noch  einmal  in  der  Zauberlaterne  des  Be- 
wusstseins wiederholt  werden  sollte?  Nein,  unmöglich  kann  das 
Bewusstsein  der  Endzweck  des  yon  der  Allweisheit  des  ünbewosa- 
ten  geleiteten  Weltprocesses  sein;  das  hiesse  nur  die  Qual  yer- 
doppeln,in  den  eigenen  Eingeweiden  wühlen.  Noch  weniger  kann 
man  annehmen,  dass  die  rein  formale  Bestimmung  des  Han- 
delns nach  Gesetzen  der  bewussten  Yemunft  ein  yemünfÜger 
Endzweck  sein  könne;  denn  was  hat  die  Yemunft  dayon,  das  Han- 
deln zu  bestimmen,  oder  was  hat  das  Handeln  dayon,  yon  der 
Vernunft  bestimmt  zu  werden,  abgesehen  yon  der  etwa  dadurch 
herbeizuführenden  Yerminderung  der  Unlust?  Wäre  das  qualyolle 
Sein  und  Wollen  gar  nicht  da,  so  brauchte  keine  Yemunft  mit 
seiner  Bestimmung  bemüht  zu  werden!  Das  Bewusstsein  und  die 
fortwährende  Steigerung  desselben  im  Process  der  Weltentwicke- 
lung kann  also  auf  keinen  Fall  Selbstzweck,  auch  sie  kann 
bloss  Mittel  zu  einem  anderen  Zweck  sein,  wenn  sie  nic^t 
zwecklos  in  der  Luft  schweben  soll,  wodurch  denn  auch  rück- 
wärts der  ganze  Process  aufhören  würde,  Ent Wickelung  su 
sein,  und  die  ganze  Kette  der  Naturzwecke  endzwecklos  in  der 
Luft  schweben  würden,  also   eigentlich   als  Zwecke  au^^oben 


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631 

tmd  für  anvemünftig  erklärt  würden.  Diese  Annahme  lässt  die 
Allweisheit  des  Unbewussten  nicht  zu,  also  bleibt  uns  nur  noch 
übrig,  nach  dem  Zweck  zu  suchen,  welchem  die  Bewusstseinsent- 
wickelimg  als  Kittel  dient. 

Aber  wo  einen  solchen  Zweck  hernehmen?  Die  Beobachtung 
des  Prooesses  selbst  und  dessen,  was  in  ihm  hauptsächlich  wächst 
und  fortschreitet,  führt  eben  nur  zur  Erkenntniss,  dass  es  das  Be^ 
wnsstsein  ist;  Sittlichkeit,  Gerechtigkeit  und  Freiheit  sind  schon 
beseitigt 

Wie  yiel  wir  auch  grübeln  und  sinnen,  wir  können  nichts 
ergründ^Q,  dem  wir  einen  absoluten  Werth  beimessen  könnten, 
nichts  was  wir  als  Selbstzweck  betrachten  könnten,  nichts  was 
das  Weltwesen  so  im  innersten  Kern  alterirt,  als  die  Glück- 
seligkeit. Nach  Glückseligkeit  strebt  Alles,  was  da  lebt,  nach 
eudämonologischen  Grundsätzen  wirken  die  Motive  auf  uns,  richten 
sich  unsere  Handlungen  bewusst  oder  unbewusst;  auf  Glückseligkeit 
sind  in  dieser  oder  jener  Weise  alle  Systeme  der  practischen 
Philosophie  gegründet,  wenn  sie  auch  ihr  Princip  noch  so  sehr 
zu  verläugnen  glauben;  das  Streben  nach  Glückseligkeit  ist  der 
üefwurzelndste  Trieb,  ist  das  Wesen  des  Befriedigung  su- 
chenden Willens  selbst.  Und  doch  haben  uns  die  Unter- 
suchungen des  vorigen  Capitels  gelehrt,  dass  dieses  Streben  ver- 
w^erflich,  dass  die  Hoffiiung  auf  seine  Erfüllung  eine  Illusion,  und 
dass  seine  Folge  der  Schmerz  der  Enttäuschung,  seine  Wahrheit 
das  Elend  des  Daseins  ist,  haben  uns  gelehrt,  dass  die  fortsohrei^ 
tende  Bewusstseinsentwickelung  das  negative  Besultat  hat,  stufen- 
weise die  illusorische  Beschaffenheit  jener  Hoffiiung,  die  Thorheit 
jenes  Strebens  zu  erkennen.  Es  lässt  sich  also  ein  tief  eingrei- 
fender Antagonismus  zwischen  dem  nach  absoluter  Befrie- 
digung und  Glückseligkeit  strebenden  Willen  und  der  durch  d^ 
Bewusstsein  vom  Triebe  mehr  und  mehr  sich  emancipirenden  In- 
telligenz nicht  verkennen;  je  höher  und  vollkommener  das  Be- 
wusstsein im  Verlaufe  des  Weltprocesses  sich  entwickelt,  desto 
mehr  emancipirt  es  sich  von  der  blinden  Yasallenschaft,  mit 
welcher  es  anfönglich  dem  unvernünftigen  Willen  folgte,  desto 
mehr,  durchschaut  es  die  zur  Bemäntelung  dieser  Unvernunft 
vom  Triebe  in  ihm  erweckten  Illusionen,  desto  iheki  nimmt  es  ge- 
genüber dem  nach  positivem  Glück  ringenden  Willen  eine  feind- 
selige Stellung   ein,    in   welcher   es   ihn  im   historischen  Verlauf 


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682 

Schritt  für  Bohritt  bekämpft,  die  Wälle  der  Dlasioiien,  hinter 
denen  er  sich  verschansst,  einen  nach  dem  andern  durchbricht,  und 
nicht  eher  seine  letzte  €!onseqnenz  gezogen  haben  wird,  bis  ee  ihn 
völlig  vernichtet  hat,  indem  nach  Zerstönmg  jeder  Illusion  nur 
die  Erkenntniss  übrig  bleibt ^  dass  jedes  Wollen  zor  TJnseligkeit 
nnd  nur  die  Entsagung  zu  dem  besten  erreichbaren  Zq- 
stand,  der  Schmerzlosigkeit  führt.  Dieser  siegreiche  Kavipf 
des  Bewosstseins  gegen  den  Willen ,  wie  er  nns  als  Besoltat  dee 
Weltprocesses  empirisch  vor  Augen  tritt,  ist  nun  aber  nichts  weniger 
als  etwas  Zufälliges,  er  ist  im  Bewusstsein  begrifflich  enthalten» 
und  mit  der  ^twickelung  desselben  als  nothwendig  gesetst. 
Denn  im  Cap.  G.  III.  haben  wir  gesehen,  dass  das  Wesen  dee 
Bewussts^ns  Emancipation  des  Intellects  vom  Willen  ist»  wä^ 
rend  im  ünbewussten  die  Vorstellung  nur  als  Dienerin  des  Willens 
auftritt,  weil  nichts  als  der  Wille  da  ist,  dem  sie  ihre  Entste* 
hung  verdanken  kann,  welche  sie  selber  sich  nicht  zu  geben  ▼er- 
mag  (vgl.  Cap.  G.  L  8.  330). 

Femer  wissen  wir,  dass  im  Beiche  der  Vorstellung  das 
Logische,  Vernünftige  waltet,  welches  dem  Willen  seiner 
I^atur  nach  ebenso  unzugän^ch  ist,  wie  er  jenem  ist,  woraus  an 
schliessen  ist,  dass,  wenn  die  Vorstellung  erst  den  nöthigen  Grad 
von  Selbstständigkeit  erlangt  hat,  sie  allem  Wider  vernünf- 
tigen (Antilogischen),  was  sie  etwa  in  dem  unvernünftigen  (alo* 
gisehen)  Willen  vorfindet,  den  Stab  brechen  und  es  zu  ver- 
nichten suchen  wird.  Drittens  wissen  wir  aus  dem  vorig^i 
Gapitel,  dass  aus  dem  Wollen  stets  mehr  Unlust»  als  Lust  fodgl» 
dass  also  der  Wille,  der  die  Glückseligkeit  will,  das  Gegen- 
theil,  die  Unseligkeit  erlangt,  mithin  auf  das  Wide rve r- 
nünftigste  zur  eigenen  Qual  die  Zähne  in  sein  eigenes  FleiBoh 
schlägt,  und  doch  wegen  seiner  Unvernunft  durch  keine  Erfahrung 
klug  gemacht  werden  kann,  von  seinem  unseligen  Wollen  abzu- 
lassen. Aus  diesen  drei  Voraussetzungen  folgt  mit  Nothwendigkeit» 
dass  das  Bewusstsein ,  sowie  es  zu  der  nöthigen  Klarheit,  Schärfe 
und  Beichthum  gelangt  ist,  auch  die  Widervemünftagkeit  des  Wol- 
lens  und  Glückseligkeitsstrebens  mehr  und  mehr  «rkennen  und 
demnächst  Ins  zur  Vernichtung  bekämpfen  muss.  Dieser  v<in  uns 
bisher  nur  a  posteriori  erkannte  Kampf  war  mithin  nidit  ein  zu- 
iUHges,  sondern  ein  nothwendiges  Besultat  der  Schati&iag  des  Be> 
wusstseins,  es  lag  in  demselben  a  priori  vorgebildet    Wenn 


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638 

HUB  aber  das  Bewntstsein  der  aäebste  Zweck  der  Natur  oder  Welt 
ist,  wenn  wir  für  das  Bewnsstsein  noih wendig  einen  weiteren  Zweck 
'•raachen,  und  uns  schlechterdings  keinen  anderen  Endsweck 
denken,  können,  als  grösstmöf^ohste  CUücks^igkeit,  wenn  anderer- 
seits alles  Streben  nach  positiver  Glückseligkeit,  das  mit  dem 
Wollen  identisch  ist,  yerkdirt  ist,  weil  es  nnr  Unseligkeit  erreicht,  und 
der  grösstmdgHchste  erreichbare  Glückseligkeitssustand  die 
Schmerslosigkeit  ist^  wenn  es  endlich  im  Begriff  des  Bewnsst- 
seins  liegt,  die  Emancipadon  des  Intellects  yom  Will^,  die  Be- 
kämpfung und  endliche  Vernichtung  des  Wollens  zum  Besultat  zu 
haben,  sollte  es  dann  noch  xweifelhalt  sein  können^  dass  das  all- 
wissende und  Zweck  und  Mittel  in  Eins  denkcmde  ünbewjisste  das 
Bewnsstsein  eben  nur  deshalb  geschaffen  habe,  um  den  Wil- 
len Ton  der  Unseligkeit  seines  Wollens  zu  erlösen, 
von  der  er  selbst  sieh  nicht  erlösen  kann,  —  dass  der  End- 
zweck des  Weltprocesses,  dem  das  Bewusstsein  als  letztes  Mittel 
dient,  der  sei»  den  grösstmöglichsten  erreichbaren 
Glückseligkeitszustand,  nämlich  den  der  Schmerz- 
losigkeit,  zu  verwirklichen? 

Wir  haben  gesehen,  dass  in  der  bestehenden  Welt  Alles  auf 
das  Weiseste  und  Beete  eingerichtet  ist,  und  dass  sie  als  die  beste 
von  allen  möglichen  angesehen  werden  dar^  dass  sie  aber  trotzdem 
durchweg  elend,  und  schlechter  als  gar  keine  sei.  Dies  war  nur 
so  zu  begreifen  (vgl.  Schluss  des  Ovp.  C.  XL),  dass,  wenn  auch 
das  „Was  und  Wie''  in  der  Welt  (ihre  Essenz)  von  einer  allweisen 
Vernunft  bestimmt  würde,  doch  das  „Dass''  der  Welt  (ihre  Existenz) 
von  etwas  schlechthin  Unvernünftigem  gesetzt  sein  müsse,  und  dies 
konnte  nur  der  Wille  sein.  Diese  Erwägung  ist  übrigens  nur 
dasselbe  auf  die  Welt  als  Ganzes  angewoidet ,  was  wir ,  auf  das 
Individuum  angewendet,  längst  gekannt  haben.  Das  Körperatom 
ist  Anziehungskraft;  sein  „Was  und  Wie",  d.  h.  die  Anziehung 
nach  dem  und  dem  Gesetz,  ist  Vorstellung,  sein  „Dass",  seine 
Existenz,  seine  Bealität,  seine  Kraft  ist  Wille.  So  ist  auch  die 
Welt  das,  was  sie  ist  und  wie  sie  ist;  als  Vorstellung  des  Un- 
bewussten,  und  die  unbewusste  Vorstellung  hat  als  Dienerin  des 
Willens,  dem  sie  seifest  erst  actuelle  Existenz  verdankt^  und  g^;en 
den  sie  keine  Selbstständigkeit  hat,  auch  keinen  Bath  und  keine 
Stimme  über  das  „Dass"  der  Welt.  Der  Wille  ist  in  seinem  We- 
sen vorläufig  nichts  als  unvernünftig  (alogisch),  indem  er  aber 


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634 

wirkt,  wird  er  durch  die  Folgen  seines  WoUens  (and  dies  ist  ein 
reiner  Zufall)  widerTernünftig  (antilogiBch),  indem  er  die  ün- 
Seligkeit,  das  Gegentheil  seines  Wollens  erreicht.  Dieses  wider- 
▼emttnftige  Wollen  nun,  welches  schuld  ist  an  dem  ^fiaea**  der 
Welt,  dieses  unselige  Wollen  in's  Nichtwollen  und  die  Sohmen- 
losigkeit  des  Nichts  zurückzuführen,  diese  Au^be  des  Logischen 
im  TJnbewussten  ist  das  Bestimmende  für  das  ,tWas  und  Wie"  der 
Welt  Für  die  Vernunft  handelt  es  sich  darum,  wieder  gut  su 
machen,  was  der  unvei^nünftige  Wille  schlecht  gemacht  hat.  Die 
unbewusste  Vorstellung  ab  solche  hat  aber  keine  Macht  üb^  den 
Willen,  weil  sie  keine  Selbstständigkeit  gegen  ihn  hat;  darum 
muss  sie  sich  eines  Kunstgriffes  bedienen,  die  Dummheit  des  Wil- 
lens benutzen  und  ihm  an  ihr  einen  solchen  Inhalt  geben,  daas  er 
durch  eigenthümliche  TJmbiegung  in  sich  selbst  in  der  Indiyi- 
duation  in  einen  Confliot  mit  sich  selbst  geiäth,  dessen  Besultat 
das  Bewusstsdn,  d.  h.  die  Schaffung  einer  dem  Willen  g^enüber 
selbstständigen  Macht  ist,  in  welcher  sie  nun  den  Kampf  mit  dem 
Willen  beginnen  kann.  So  erscheint  der  Weltproeess  als  ein  fort- 
dauernder Kampf  des  Logischen  mit  dem  Unlogischen, 
der  mit  der  Besiegung  des  letzteren  endet 

Die  Hauptschwierigkeit  besteht  darin,  wie  das  letzte  Ende 
dieses  Kampfes,  die  sohlieBsliche  Erlössung  yom  Elend  des  Wol- 
lens und  Daseins  zur  Schmerzlosigkeit  des  Niohtwollens  und  Nicht- 
seins, kurz  wie  die  gänzliche  Aufhebung  des  Wollens  durch  das 
Bewusstsein  zu  denken  sei.  Mir  ist  nur  ein  Lösungsyersuch  die- 
ses Problems  bekannt,  nämlich  der  Sohopenhauer*s  in  §§.  68  —  71 
des  ersten  Bandes  der  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung",  welcher 
im  Wesentlichen  mit  den  in  unklarer  Weise  dasselbe  bezwecken- 
den Absichten  der  mystischen  Asketiker  aller  Zeiten  und  der 
buddhaistischen  Lehre  übereinstimmt»  wie  Schopenhauer  selbst  ganz 
richtig  heryorhebt  (vgL  W.  a.  W.  u.  V.  IL  Cap.  48). 

Die  Hauptsache  dieser  Theorie  besteht  in  der  Annahme,  dass 
das  Individuum  yermöge  der  individuellen  Erkenntniss  von  dem 
Elend  des  Daseins  und  der  Unvernunft  des  Wollens  im  Stande  sei, 
sein  individuelles  Wollen  aufhören  zu  lassen ,  und  dadurch  nadi 
dem  Tode  der  individuellen  Vernichtung  anheim  zu 
fallen,  oder,  wie  der  Buddhaismus  es  ausdruckt,  nicht  mehr 
wiedergeboren  zu  werden.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  ^ese 
Annahme  mit   den  Grnndprincipien  Schopenhaner^s  ganz  uaverein- 


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bar  ist,  und  dut  seine  überall  dnrdiblickende  ünf&higkeit ,  den 
Begriff  der  Entwickelung  zu  fassen,  macht  die  Eumichtigkeit  er- 
klärlich, welche  es  ihm  nnmöglich  machte,  über  diese  handgreif- 
liche Inoonseqnens  in  seinem  System  hinwegrakommen.  Diese 
Inconseqnenx  mnss  hier  in  der  Ktine  anfgeseigt  werden.  D^r 
Wille  ist  ihm  das  Sr  xal  nav^  das  All-Einige  Wesen  der  Welt» 
und  das  Indiridonm  nnr  subjectiver  Schein,  nicht  einmal  objectiv 
wirkliche  Ersdieinimg  dieses  Wesens.  Aber  wenn  es  anch  letz- 
teres wäre,  wie  soll  dem  Indiyiduam  die  Möglichkeit  zustehen, 
sein^i  individnellen  Willen  als  Ganzes  nicht  bloss  theoretisch, 
sondern  anch  practisch  zu  vemeinen,  da  sein  indlYiduelles  Wollen 
doch  nur  ein  Strahl  jenes  All -Einigen  Willens  ist?  Schopenhauer 
selbst  erklärt  mit  Recht,  dass  im  Selbstmord  die  Verneinung 
des  Willens  nicht  erreicht  werde,  aber  im  freiwilligen  Ver- 
hungern soll  sie  im  denkbarst  höchsten  Maasse  erreicht  sein. 
Das  klingt  doch  fast  lächerbch,  wenn  man  seinen  Ausspruch  da- 
neben halt,  „dass  der  Leib  der  Wille  selbst  ist,  objectiy  ange- 
schaut ab  räumliche  Erscheinung^,  woraus  doch  unmittelbar  folgt, 
dass  mit  der  Authebung  des  indiyiduellen  Willens  auch  seine 
räumliche  Erscheinung,  der  Leib  verschwinden  müsste.  Nach 
unserer  Auffassung  müssten  wenigstens  mit  Aufhebung  des  indivi- 
duellen Willens  momentan  sämmtliche  vom  unbewussten  Willen 
abhängige  organische  Functionen,  wie  Herzschlag,  Athmung  u.  s.  w., 
aufhören  und  der  Leib  als  Leiche  hinstünen.  Dass  auch  dies 
empirisch  unmöglich  ist>  wird  Niemand  bezweifeln ;  wer  aber  seinen 
Leib  erst  durch  Versagung  der  Nahrung  tödten  muss, 
beweist  eben  damit,  dass  er  nicht  im  Stande  ist,  seinen  un- 
bewussten Willen  zum  Leben  zu  verneinen  und  aufzuheben. 
Aber  das  Unmögliche  als  möglich  gesetzt^  was  würde  die  Folge 
sein?  Einer  der  vielen  Strahlen  des  Einen  Willens,  der,  welcher 
sich  auf  dieses  Individuum  bezog ,  wäre  aus  seiner  Actualität  zu- 
rückgezogen, und  dieser  Mensch  gestorben.  Das  ist  aber  nicht 
mehr  und  nicht  weniger  als  bd  jedem  Todesfall  gesehi^t, 
gleichviel  aus  welcher  Ursache  er  entsprungen  sei,  und  der  All- 
Einige  Wille  befindet  sich  nunmehr  in  keiner  anderen  Situation, 
ab  wenn  jenen  Menschen  ein  Dachziegel  erschlagen  hätte;  er  fährt 
nach  wie  vor  fort,  das  Leben  zu  packen,  wo  er  dasselbe  findet 
und  packen  kann;  denn  Erfahrungen  machen  und  durch  Erfah- 
rungen klüger  werden  kann  er  ja  nicht.    Darum  ist  das  Streben 


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nach  individueller  Willensverneinung  ebenso  thörioht 
und  nnt2loB,  ja  noch  thöriditer  als  der  Selbstmord»  weil  es 
langsamer  nnd  qnalyoller  doch  nur  dasselbe  erreicht:  Aufhebung 
dieser  Erscheinung,  ohne  das  Wesen  sn  alteriren.  Hiermit  ist 
alle  Askese  und  alles  Streben  nach  individueller  Willensvernei- 
nung als  Verirrung  erkannt  und  bewiesen,  freilich  als  eine  Ver- 
irrung  nur  im  Wege  nicht  im  Ziele.  Weil  das  Ziel,  welches 
sie  erstrebt,  ein  richtiges  ist,  darum  hat  sie  als  seltenes  Beispiel, 
welches,  der  Welt  gleichsam  ein  memento  mori  zurufend,  sie  den 
Ausgang  ihres  Strebens  vorahnen  lässt,  einen  hohen  Werth ;  sdiäd- 
lich  aber  und  verderblich  wird  sie,  wenn  sie,  ganse  Völker  ergrei- 
fend, den  Weltprooess  zur  Stagnation  zu  bringen  und  das  Elend 
des  Daseins  zu  perpetuiren  droht.  Was  hälfe  es  z.  B.,  wenn  die 
Menschheit  durch  geschlechtliche  Enüialtsamkeit  ausstürbe,  die  arme 
Welt  bestände  weiter,  ja  sogar  das  TJnbewusste  würde  die  nfichste 
Gelegenheit  benutz^i  müssen,  einen  neuen  Menschen  oder  einen 
ähnlichen  Typus  zu  schaffen. 

Blicken  wir  tiefer  in  das  Wesen  der  Askese  und  individuel- 
len Willensverneinung  und  auf  die  Stellung,  welche  sie  im  histo* 
rischen  Process  in  ihrer  höchsten  Blüthe  im  reinen  Buddhaiemus 
einnimmt,  so  erscheint  sie  als  der  Ausgang  der  asiatischen  vorhel- 
lenischen  Entwickelungsperiode ,  als  die  Verbindung  der  Hoff- 
nungslosigkeit für  das  Diesseits  und  Jenseits  mit  dem  noch 
nicht  ertödteten  Egoismus,  welcher  nicht  an  die  Erlösung  des 
Ganzen,  sondern  nur  an  seine  individuelle  Erlösung  denkt. 

Das  Ghristenthum  ist  in  manchen  Momenten  weit  tiefier;  x.  B. 
Bömer  8,  22:  „Denn  wir  wissen,  dass  alle  Creatur  sehnet  sidi 
mit  uns''  nach  der  Erlösung,  sie  erwartet  aber  ihre  Erlösung  „von 
uns,  die  wir  des  Geistes  Erstlinge  haben'^  von  des  Menschen  Sohn, 
dem  typischen  Menschen.  — 

Für  Denjenigen,  welcher  den  Begriff  der  Entwickelung  ge- 
fasst  hat,  kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  das  Ende  des  Kam- 
pfes zwischen  dem  Bewusstsein  und  dem  Willen,  zwischen  dem 
Logischen  und  Unlogischen  nur  am  Ziele  der  Entwickelnng,  am 
Ausgang  des  Weltprocesses  liegen  kann;  för  Denjenigen,  welcher 
vor  Allem  an  der  All-Einheit  des  ünbewussten  festhält,  ist  die 
Erlösung,  die  ümwendung  des  Wollens  in's  Nichtwollen,  auch  nur 
als  All-Einiger  Act  zu  denken,  als  der  Act,  der  das  Ende 
des  Processes  bildet»  als  der  jüngste  Augenblick,  nach  wel- 


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_637  _ 

(/^       A  kein  Wollen,  keine  Thätigkeit»  Jteine  Zeit  mehr  sein  wird.*' 

P^    ^'£  Joh.  10,  6.)    Dass  der  Weltprocec»  nicht  ohne  ein  aeitliches 

Uj    !jde,   nicht  von  nnendlioher  Dauer  gedacht  werden  kann,  wird 

hM  /orauBgesetzt;   denn  wenn  daa  Ziel  in  unendlicher  Zeitferne 

r^läge,  80  würde  eine  noch  so  lange  endliche  Dauer  des  Processes 

C  dem  Ziele,    das    immer  noch  unendlich  fem  bliebe,  um   nichts 

näher   gekommen   sein;    der  Process    würde    also   kein  Mittel 

mehr  sein,    das  Ziel   su    erreichen,    mithin  würde  er  zweck- 

und  ziellos  sein.     So  wenig  es  sich  mit  dem  Begriffe  der  Ent- 

Wickelung    vertragen    würde,    dem    Weltprocess    eine    unendliche 

Dauer  in    der  Vergangenheit  zuzuschreiben,    weil   dann  jede 

irgend    denkbare   Entwickelung    bereits   durchlaufen   sein   müastoi 

was  doch  nicht  der  Fall  ist,  ebenso  wenig  können  wir  dem  Frocess 

eine  unendliche  Dauer  für  die  Zukunft  zugestehen;  Beides  höbe 

den   Begriff    der  Entwickelung    zu    einem  Ziele    auf    und 

stellte   den  Weltprocess  dem  Wasserschöpfen  der  Danaiden  gleich. 

Der  ToUendete  Sieg  des  Logischen  über  das  Unlogische  muss  also 

mit  dem  zeitlichen  Ende   des  Weltprocesses ,   dem  jüngsten  Tage, 

zusammenfallen. 

Ob  die  Menschheit  einer  so  hohen  Steigerung  des  Be- 
wusstseins  fähig  sein  wird,  oder  ob  eine  höhere  Thiergattung  auf 
Erden  entstehen  wird,  welche,  die  Arbeit  der  Menschheit  fort- 
setzend, das  Ziel  erreicht,  oder  ob  unsere  Erde  überhaupt  nur 
ein  yerfehlter  Anlauf  zu  jenem  Ziele  ist  und  dasselbe  erst  später 
auf  einem  anderen  Gestirn  unter  günstigeren  Bedingungen  erreicht 
werden  wird ,  ist  schwer  zu  sagen.  So  viel  ist  gewiss ,  w  o  auch 
der  Process  zum  Austrag  kommen  mag,  das  Ziel  des  Processes 
und  die  kämpfenden  Momente  werden  in  dieser  Welt  immer  die- 
selben sein.  Schopenhauer  nimmt  keinen  Anstand,  den  Menschen 
der  Aufgabe  gewachsen  zu  erklären,  aber  er  ist  nur  desshalb  so 
entschieden,  weil  er  die  Aufgabe  individuell  fasst,  während 
wir  sie  universell  fassen  müssen,  wo  sie  natürlich  ganz  .andere 
Bedingungen  erfordert,  die  wir  bald  naher  betrachten  wollen.  Wie 
dem  auch  sei,  von  der  uns  bekannten  Welt  sind  wir  einmal  die 
Erstlinge  des  Geistes  und  müssen  redlich  kämpfen;  gelingt  der 
Sieg  nicht,  so  ist  es  nicht  unsere  Schuld;  wären  wir  aber  fähig 
zum  Siege,  und  würden  wir  nur  aus  Trägheit  verfehlen,  ihn  zu 
erringen,  so  würden  wir,  d.  h.  das  Weltwesen,  welches  auch  wir 
ist,  als  immanente  Strafe  um  so  viel  länger  die  Qual  des  Daseins 
tragen  müssen.     Darum  rüstig  vorwärts  im  Weltprocess  ab  Arbei- 


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638 

ter  im  Weinberge  des  Herrn,  denn  der  Process  allein  isl  es,  der 
sur  Erlösung  f&hren   kann! 

Hier  sind  wir  auf  den  Punct  gelangt,  wo  die  Philosophie 
des  XJnbewnssten  ein  Princip  gewinnt,  welches  allein  die  Basis 
der  praetischen  Philosophie  bilden  kann.  Die  Wahrheit  yom 
ersten  Stadium  der  lUosion  war  die  Yerzweifelung  am  gegen- 
wärtigen Diesseits^  die  Wahrheit  vom  zweiten  Stadium  der 
Illusion  war  die  Yerrweifelnng  auch  am  Jenseits,  die  Wahrheit 
vom  dritten  Stadium  der  Illusion  war  die  absolute  Besignatioii 
auf  das  positive  Glück.  Alle  diese  Standpunote  sind  bloss  ne- 
gativ, die  practische  Philosophie  und  das  Leben  aber  brauchen 
einen  positiven  Standpunct,  und  dies  ist  die  volle  Hingabe 
der  Persönlichkeit  an  den  Weltprooess  um  seines 
Zieles,  der  allgemeinen  Welterlösung  willen  (nicht 
mehr,  wie  im  dritten  Stadium  der  Illusion  in  der  Hoffiiung  auf  ein 
positives  Glück  im  späteren  Verlauf  des  Processes).  Anders  ausge- 
drückt, das  Princip  der  praetischen  Philosophie  besteht  darin,  Ü€ 
Zwecke  des  Unbewissteii  im  Zwecken  seines  Bewasstsais  ii  MMkea, 
was  sich  unmittelbar  aus  den  beiden  Prämissen  ergiebt,  dass 
erstens  das  Bewusstsein  das  Ziel  der  Welterlösung  vom  Elend  des 
Wollens  zu  seinem  Ziel  gemacht  hat,  und  dass  es  zweitens  die 
Ueberzeugung  von  der  Allweisheit  des  ünbewussten  hat,  in  Folge 
deren  es  alle  vom  ünbewussten  angewendeten  Mittel  als  die  mög- 
lichst zweckmässigen  anerkennt,  selbst  wenn  es  im  einzelnen  Falle 
geneigt  sein  sollte ,  hieran  Zweifel  zu  hegen.  Hierdurch  wird 
(noch  kräftiger  als  im  dritten  Stadium  der  Illusion  durdi  die  blosse 
Aufhebung  des  Egoismus)  der  Instinct  wieder  in  seine 
Bechte  eingesetzt  und  die  Bejahung  des  Willens  iim  LeWi 
als  das  vorläufig  aDein  Richtige  proclanurt;  denn  nur  in  der 
vollen  Hingabe  an  das  Leben  und  seine  Schmerzen, 
nicht  in  feiger  persönlicher  Entsagung  und  Zurück- 
ziehung ist  etwas  für  den  Weltprocess  zu  leiaieB,  Der 
denkende  Leser  wird  auch  ohne  weitere  Andeutungen  verstehen, 
wie  eine  auf  diesen  Principien  errichtete  practische  Philosoi^e 
sich  gestalten  würde,  und  dass  eine  solche  nicht  die  Bii- 
zweimng,  sondern  nur  die  volle  Versihniuig  mit  dem  Leben 
enthalten  kann.  — 

Wir  haben  uns  schliesslich  noch  mit  der  Frage  zu  beeohäf- 
tigen,  auf  welche  Weise  das  Ende  des  Weltprooesses^  die  Anf- 
hebuHg  alles  Wollens  in's  absolute  Nichtwollen,    mit  welchem  be- 


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kannüich  alles  sogenannte  Dasein  (Organisation,  Materie  u.  s.  w.) 
eo  ipso  verschwindet  and  aufhört,  zn  denken  sei.  unsere  Kennt- 
nisse sind  viel  zu  anyollkommen,  unsere  Erfahrungen  zn  kurz  und 
die  möglichen  Analogien  zu  mangelhaft,  um  auch  nur  mit  einiger 
Sicherheit  uns  van  jenem  Ende  des  Processes  eine  Vorstellung  hil- 
den  zu  könnai,  und  bitte  ich  den  geneigt^i  Leser,  das  Folgende 
ja  nicht  etwa  für  eine  Apokalypse  des  Weitendes,  sondern  nur  für 
Andeutungen  zu  nehmen,  welche  darthun  sollen,  dass  die  Bache 
nicht  ganz  so  undenkbar  ist»  als  sie  Manchem  auf  den  ersten 
Blick  wohl  scheinen  möchte.  Aber  selbst  Denjenigen ,  welchen 
diese  Aphorismen  über  die  Art  und  Weise  der  Denkbarkeit  jenes 
Ereignisses  noch  mehr  abstossen  sollten,  als  die  nackte  Behauptung 
desselben,  bitte  ich  doch,  sich  an  der  erwiesenen  Nothwendigkeit 
jenes  einzig  möglichen  Zieles  des  Weltfurocesses  nicht  durch  die 
Schwierigkeiten  irre  machen  zu  lassen,  welche  es  für  uns  auf 
einem  Tom  Ende  noch  so  entfernten  Standpunct  hat,  das  Wie 
der  Sache  zu  begreifen.  Natürlich  können  wir  überhaupt  nur  den 
Fall  in's  Auge  fieuwen,  dass  die  Menschheit  und  nicht  eine  andere 
uns  unbekannte  Gattung  von  Lebewesen  zur  Lösung  der  Aufgabe 
berufen  ist. 

Die  erste  Bedingung  zum  Gelingen  des  Werkes  ist  die,  dass 
der  bei  weitem  grösste  Theil  des  in  der  bestehenden  Welt 
sich  manifestirenden  Geistes  in  der  Menschheit  befindlich  sei. 
Diese  Annahme  hat  keine  erheblichen  Schwierigkeiten.  Auf  der 
&de  sehen  wir  den  Menschen  immer  mehr  die  übrigen  Thiere 
und  die  Wälder  verdrängen  bis  auf  diejenigen  Thiere  und  Pflan- 
zen ,  die  er  für  sich  benutzt.  Künftig  noch  imgeahnte  Fort- 
schritte der  Chemie  und  Landwirthschaft  können  die  Vermehrung 
der  Erdbevölkerung  auf  eine  sehr  bedeutende  Höhe  erlauben,  wäh- 
rend sie  jetzt  schon  über  1300  Millionen  beträgt,  wo  erst  ein  ver- 
hältnissmässig  geringer  Theil  des  festen  Landes  eine  so  dichte  Be- 
völkerung trägt,  als  die  schon  unserem  heutigen  Culturstandpunct 
bekannten  Mittel  der  Ernährung  eines  Volkes  gestatten.  Von 
den  Gestirnen  ist  nur  ein  verschwindend  kleiner  Theil  gerade  in 
derjenigen  kurzen  Periode  der  Abkühlung,  welche  ein  Bestehen  von 
Organismen  erlaubt;  aber  abgesehen  davon,  dass  zur  Entstehung 
einer  üppigen  Organisation  noch  ganz  andere  Bedingungen  als  bloss 
die  richtige  Temperatur  gehören,  wird  von  jener  verschwindend 
kleinen  Zahl,    welche  überhaupt  Organisation  tragen,   doch  wieder 


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640 

nur  ein  abennabi  Tersohwmdend  kleiner  Theil  fähig  sein,  Wesen 
Ton  einer  dem  Menschen  annähernd  gleichkommenden  Orgaaisa- 
tiensstufe  xp.  erzeugen. 

Die  sid^schen  Entwickelangen  messen  nach  so  nngeheuereu 
Zeiträumen,  dass  es  schon  a  priori  etwas  sehr  Unwahrscheinliches 
hat,  wenn  das  Bestehen  einer  hochorganisirten  Gattung  auf  einem 
anderen  Gestirn  gerade  mit  der  Dauer  der  Menschheit  auf  Erden 
zusammenfallen  sollte.  —  Wie  viel  grösser  ist  nun  aher  der  in  einem 
gehildeten  Menschen  sich  offenbarende  Geist,  als  der  in  einem 
Thiere  oder  einer  Pflanze,  wie  viel  grösser  erst  als  der  in  einem 
unorganisirten  Complex  Ton  Atomen!  Man  darf  nicht  d^Di  Fehler 
begehen,  die  Stärke  des  thätigen  Willens  bloss  nadi  dem  mecha- 
nischen Effect  zu  schätzen,  d.  h.  nach  dem  Maasse  des  über- 
wundenen Widerstandes  von  Atomkräften;  dies  wäre  höchst  ein- 
seitig, da  die  Aeusserung  des  Willens  in  den  Atomkräften  nur  die 
niedrigste  Art  ist  Der  Wille  aber  hat  noch  ganz  andere  Ziele 
und  kann  ein  Kampf  der  heftigsten  Begehrung^i,  stattfinden  ohne 
einen  irgraid  merklichen  Einfluss  auf  die  Lagerung  der  Atome. 
Darum  scheint  mir  die  Annahme  nichts  Anstössiges  za  enthalten, 
dass  dereinst  in  femer  Zukunft  die  Menschheit  eine  solche  Menge 
Geist  und  Willen  in  sich  vereinigen  könne,  dass  der  in  der  übrigen 
Welt  thätige  Geist  und  Wille  durch  ersteren  bedeutend  überwogen 
wird. 

Die  zweite  Bedingung  für  die  Möglichkeit  des  Sieges  ist 
dass  das  Bewusstsein  der  Menschheit  von  der  Thorheit  des  Wol- 
lens  und  dem  Elend  alles  Daseins  durchdrungen  sei,  dass  die- 
selbe eine  so  tiefe  Sehnsucht  nach  dem  Frieden  und  der 
Schmerzlosigkeit  des  Nichtseins  erfasst  habe,  und  alle  bisher  & 
das  Wollen  und  Dasein  sprechenden  Motive  so  sehr  in  ihrer  Eitel- 
keit und  Nichtigkeit  durchschaut  sind,  dass  jene  Sehnsucht  nach 
der  Vernichtung  des  Wollens  und  Daseins  zur  widerstandslosen 
Geltung  als  practisches  Motiv  gelangt.  Nach  dem  vorigen  Gapitel 
ist  diese  Bedingung  eine  solche,  deren  Erfüllung  im  Greisenalter 
der  Menschheit  wir  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit  entgegen- 
gehen. Wir  können  diese  Bedingung  noch  dahin  modificiren,  dasa 
nicht  die  ganze  Menschheit,  sondern  nur  ein  so  grosser  Theil 
derselben  von  diesem  Bewusstsein  durchdrungen  zu  sein  braucht, 
dass  der  in  ihr  wirksame  Geist  die  grössere  Hälfte  des  in  der 
ganzen  Welt  thätigen  Geistes  ist. 


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641 

Die  dritte  Bedingung  ist  eine  genügende  Communication 
unter  der  Erdbeyölkernng,  um  einen  gleichzeitigen  gemein- 
samen Entschluss  derselben  zu-  gestatten.  In  diesem  Puncte, 
dessen  Erfüllung  nur  von  YervoUkommnung  und  geschickterer  An- 
wendung technischer  Erfindungen  abhängt,  hat  die  Phantasie  freien 
Bpielraum. 

Nehmen  wir  diese  Bedingungen  als  gegeben  an,  so  ist  die 
Möglichkeit  Torhanden,  dass  die  Majorität  des  in  der  Welt  thätigen 
Oeistes  den  Beschluss  fasst,  das  Wollen  aufzuheben;  es  fragt  sich 
nur  noch,  ob  dieser  Beschluss  den  gewünschten  Erfolg 
haben  kann.  Um  dies  zu  entscheiden,  müssen  wir  auf  unsere 
Kenntnisse  Ton  der  Natur  des  Wollens  und  der  Motivation  zurück- 
greifen.    (Vgl.  Cap.  B.  XL  Anfang  und  4.) 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  ein  besonderes  Wollen  im 
Menschen,  ein  Begehren,  Aifect  öder  Leidenschaft  unter  Umständen 
durch  den  Einfliiss  der  bewussten  Vernunft  für  den  besonderen 
Fall,  um  den  es  sich  handelt,  aufgehoben  werden  kann.  Wenn 
ich  z.  B.  mit  einer  That  oder  einem  Werk  nach  Ehre  strebe,  und 
die  Vernunft  mir  sagt,  dass  Diejenigen,  nach  deren  Anerkennung 
ich  geize,  Narren  und  Dummköpfe  sind,  so  wird  diese  Einsicht, 
wenn  sie  überzeugend  und  kräftig  genug  dazu  ist,  im  Stande  sein, 
meinen  Ehrgeiz,  für  diesen  Fall  wenigstens,  aufzuheben.  Nun 
sind  aber  alle  Psychologen  darüber  einig,  dass  eine  solche  Aufhe- 
bung nicht  durch  directen  Einfluss  der  Vernunft  auf  das  auf- 
zuhebende Begehren  zu  denken  sei ,  sondern  nur  indirect  durch 
Motivation  oder  Erregung  eines  entgegengesetzt  gerich- 
teten Begehrens,  welches  nun  seinerseits  mit  dem  ersten  in 
eine  Collision  kommt,  deren  Eesultat  ist,  dass  beide  sich  zur  Null 
paralysiren.  Nur  auf  dieselbe  Weise  ist  die  Aufhebung  des  posi- 
tiven Weltwillens  zu  denken,  den  Schopenhauer  den  Willen  zum 
Leben  nennt.  Nicht  die  bewusste  Erkenntniss  direct  kann  den 
Willen  mindern  oder  aufheben,  sondern  sie  kann  nur  einen  entge- 
gengesetzt gerichteten ,  also  negativen  Willen  erregen ,  der  um 
seinen  Stärkegrad  den  positiven  Willen  vermindert.  Ganz  unstatt- 
haft ist  hiemach  Schopenhauer's  Lehre  von  dem  in  einer  ganz 
anderartigen  Erkenntnissweise  bestehenden  öuietiv  des  Wollens, 
vor  welchem  die  Motive  unwirksam  werden  sollen,  und  welches 
der  einzige  mögliche  Fall  eines  Eingreifens  der  transcendenten 
Freiheit   des  Willens    in    die   Welt    der  Erscheinungen    sein   soll. 

T.  Uartraann,  Phil.  d.  Unbeinissten.  41 


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642 

(Vgl.  W.  a.  W.  u.  V,  Bd.  IL  S.  476  —  477.)  Solche  imbegreifliohe, 
durch  nichts  zu  rechtfertigende  Wunder  sind  bei  unserer  Auffassung 
überflüssig.  Wie  schön  sagt  dagegen  8chelling  (IL  3.»  S.  206): 
,^elbst  Qott  kann  den  Willen  nicht  anders  als  durch  ihn  selbst 
besiegen." 

Wenn  bei  dem  Kampf  der  speciellen  Begehrungen  oftmals  zwei 
Begehren  trotz  des  Kampfes  keine  gegenseitige  Aufhebung  bewir- 
ken, so  kommt  dies  entweder  daher,  dass  sie  nur  theilwcise  ent- 
gegengesetzt sind,  theilweise  aber  verschiedene  Seitenziele  verfol- 
gen, also  ihre  Eichtungen  gleichsam  nur  einen  Winkel  bilden;  oder 
aber  es  kommt  daher,  dass  das  eine  Begehren  zwar  in  der  That 
fortwährend  vernichtet  wird ,  aber  ebenso  fortwährend  aus  d&ai 
fortbestehenden  Gründe  des  TJnbewussten  instinctiv  neuge- 
boren wird,  so  dass  der  Schein  entsteht,  als  wäre  es  gar  nicht 
alterirt  worden.  Bei  der  Opposition  der  Willensbejahung  und 
Willensvemeinung  ist  der  Gegensatz  so  mathematisch  streng,  dass 
ersterer  Fall  gewiss  nicht  eintreten  kann,  und  für  ein  sofortiges 
Wiederauftauchen  des  Weltwillens  nach  seiner  totalen  Vernichtung 
fehlt  wenigstens  die  Analogie  mit  dem  einzelnen  Begehren  voll- 
ständig, weil  bei  letzterem  der  Hintergrund  des  actuellen  Welt- 
willens, bei  ersterem  aber  gar  nichts  Actuelles  mehr  bestehen  bleibt. 
(TJebrigens  wird  die  Möglichkeit  eines  Wiederauftauchens  im 
folgenden  Capitel  noch  Berücksichtigung  finden.)  So  lange  also  der 
vom  Bewusstsein  motivirte  Oppositionswille  noch  nicht  die  Stärke 
des  aufzuhebenden  Weltwillens  erreicht  hat,  so  lange  wird  der 
stetig  vernichtete  Theil  sich  stetig  wieder  erneuen,  gestützt  auf 
den  übrig  bleibenden  Theil ,  welcher  die  positive  Richtung  des 
Wollens  auch  für  fernerhin  sichert,  sobald  aber  ersterer  die  gleiche 
Stärke  wie  letzterer  erlangt  hat,  so  ist  kein  Grund  abzusehen, 
warum  nicht  beide  sich  vollständig  paralysiren  und  auf  NuU  rodn* 
ciren,  d.  h.  ohne  Rest  vernichten  sollten.  Ein  negativer  üeber- 
schuss  ist  schon  darum  undenkbar,  weil  derNullpunct  das 
Ziel  des  negativen  Willens  ist,  welches  er  ja  gar  nicht  überschrei- 
ten will. 

Die  Motivirung  oder  Erregung  des  negativen  Willens 
durch  die  bewusste  Erkenntniss  ist  nach  Analogie  der  Erregung 
eines  speciellen  negativen  Begehrens  durch  vernünftige  Einaicht 
nicht  bloss  denkbar,  sondern  gefordert,  denn  hier  im 
Universellen  ist  gerade  wie  im  Einzelnen  der  Grund,  aus  dem  her- 


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643_ 

aus  die  Vernunft  den  bewnssten  Oppositionswillen  motivirt,  kein 
anderer  als  ein  eudämonologischer ,  die  Bück  sieht  auf  den 
erreichbar  glücklichsten  Gesammtzustand,  über  wel- 
ches Ziel  der  positiv  gerichtete  nnbewnsste  Wille  in  seiner  Blind- 
heit hinwegschiesst  zn  seiner  Qual. 

Das  Besultat  der  letzten  drei  Capitel  ist  also  folgendes.  Das 
Wollen  hat  seiner  Natur  nach  einen  Ueberschuss  von  Unlust  zur 
Folge.  Das  Wollen,  welches  das  „Dass"  der  Welt  setzt,  verdammt  also 
die  Welt,  gleichviel  wie  sie  bescha£fen  sein  möge,  zur  Qual.  Zur 
Erlösung  von  dieser  Unseligkeit  des  Wollens,  welche  die  Allweis- 
heit oder  das  Logische  der  unbewussten  Vorstellung  direct  nicht 
herbeiführen  kann,  weil  es  selbst  unfrei  gegen  den  Willen  ist, 
schafft  es  die  Emancipation  der  Vorstellung  durch  das  Bewusstsein, 
indem  es  in  der  Individuation  den  Willen  so  zersplittert ,  dass 
seine  gesonderten  Bichtungen  sich  gegen  einander  wenden.  Das 
Logische  leitet  den  Weltprocess  auf  das  Weiseste  zu  dem  Ziele  der 
möglichste^  Bewusstseinsentwickelung,  wo  anlangend  das  Bewusstsein 
genügt,  um  das  Wollen  in  das  Nichts  zurückzuschleudem,  womit 
der  Process  und  die  Welt  aufhört.  Das  Logische  macht  also, 
dass  die  Welt  eine  bestmöglichste  wird,  nämlich  eine  solche,  die 
zur  Erlösung  kommt,  nicht  eine  solche,  deren  Qual  in  unendlicher 
Dauer  perpetuirt  wird.  — 

Ich  schliesse  mit  den  Worten  Schellings  (L  10,  S.  247):  „Es 
gäbe  überhaupt  keinen  Process,  wenn  nicht  irgend  etwas  wäre,  was 
nicht  sein  sollte,  oder  wenigstens  auf  eine  Weise  wäre,  wie  es 
nicht  sein  sollte."  In  dem  Kampfe  gegen  dieses  Nichtseinsollende, 
den  Willen,  und  zwar  als  actuelles  Wollen,  besteht  der  Pro- 
cess (nach  Schelling's  Terminologie  im  Kampfe  gegen  das  A  oder 
8einkönnende,  insofern  es  sich  in's  B  oder  blind-Seiende  umge- 
wendet hat). 


41* 

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XIV. 
Die  letzten  Principien. 


Wir  sind  in  unseren  bisherigen  Untersuchungen  immer  wieder 
swei  Principien,  Wille  und  Vorstellung,  begegnet,  ohne  deren  An- 
nahme überhaupt  nichts  zu  erklären  ist,  und  welche  eben  darum 
Principien,  d.  h.  ursprüngliche  Elemente  sind,  weil  uns  jeder  Ver- 
such^ sie  in  einfachere  Elemente  zu  zerlegen,  von  vornherein  al« 
ein  aussichtsloser  erscheint.  Wir  haben  aber  auch  nirgends  ande* 
rer,  als  dieser  zwei  Principien  zu  unseren  Erklärungen  bedurft,  und 
haben  das^  was  man  sonst  auch  wohl  als  Principien  behandelt 
findet,  Gefühl  oder  Empfindung  und  Bewusstsein,  als  Polgeerschei- 
nungen  unserer  Principien  erkannt. 

Was  nun  unsere  Begrifi^e  von  diesen  Principien  betrifft,  so 
verfuhren  wir  auch  hier  rein  empirisch  und  inductiv.  Wir  setzten 
dieselben  zunächst  in  der  Weise  voraus,  wie  der  natürliche,  am 
Gängelbande  der  deutschen  Sprache  gebildete  Menschenverstand  sie 
fasst,  und  veränderten,  erweiterten  und  beschränkten  dieselben  dann 
nach  Maassgabe,  wie  es  das  wissenschaftliche  Erklärungsbedürfiiiss 
der  Thatsachen  forderte.  Wenn  nun  nach  unseren  Resultaten  jene 
beiden  Principien  zur  Erklärung  der  in  der  bekannten  Welt  sich 
uns  darbietenden  Erscheinungen  ausreichen,  so  bilden  sie  die  Spitze 
der  Pyramide  der  inductiven  Erkenntniss,  und  es  bleibt  uns  nur 
übrig,  diesen  so  erklommenen  Gipfel  zum  Schlüsse  noch  einmal  in 
Augenschein  zu  nehmen,  wobei  auch  eine  Vergleichung  mit  den 
letzten  Principien  bestehender  philosophischer  Systeme  nicht  un- 
interessant sein  dürfte.  Dieses  Gapitel  bildet  mithin  die  unmittel- 
bare Fortsetzung  von  den  Cap.  A  IV.,  C.  L  und  VII.,  deren  Inhalt 
ich  den  geneigten  Leser  bitte,  sich  zunächst  zu  vergegenwärtigen. 

Dem  Leser   ohne   philosophische  Vorbildung  werden  vielleicht 


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645 

die  BetT6UihtangeD  dieses  Capitels  an  und  für  sich  am  wenigsten 
interessant  sein,  weil  sie  sich  mehr  als  alle  vorhergehenden  in  die 
Zergliederung  von  Begriffen  verlieren,  welche  an  die  letzte  Grenze 
der  Abstraction  und  unseres  Yerstandes  überhaupt  hioanreichen; 
indessen  dürfte  doch  einerseits  das  hier  erst  näher  angedeutete 
Verhältniss  meines  Standpunctes  zu  den  Systemen  der  wichtigsten 
Philosophen  und  andererseits  die  strengere  Erörterung  der  Begriffe, 
welche  bisher  in  ihrer  Bedeutung  und  ihren  gegenseitigen  Beziehungen 
grösstentheils  vorausgesetzt  war,  fiir  denjenigen  Leser,  der  das  Vor- 
angehende mit  Interesse  verfolgt  hat,  wegen  der  auf  dieses  Vor- 
angehende zurückstrahlenden  Aufklärung  mancher  bisher  in  Dunkel- 
heit gelassener  Puncte  anziehend  genug  sein,  um  auch  dieses 
Schlusscapitel  nicht  ungelesen  zu  lassen. 

Wenn  man  den  Werth  wissenschaftlicher  Eesultate  allein  nach 
dem  Grade  ihrer  Gewissheit  oder  Sicherheit  schätzt,  so  ist  imzwei- 
felhaft  der  Werth  derselben  um  so  kleiner,  je  weiter  sie  sich  vom 
Boden  der  zu  erklärenden  Thatsachen  entfernen,  weil  ihre  Wahr- 
scheinlichkeit um  80  kleiner  wird,  und  am  kleinsten  wäre  dann 
der  Werth,  den  der  Gipfel  der  Erkenntnisspyramide  beanspruchen 
könnte.  Indess  dürften  zu  der  Bestimmung  des  Werthes  doch  wohl 
noch  andere  Elemente  als  bloss  der  Grad  der  Wahrscheinlichkeit 
in  Bechnung  zu  stellen  sein,  welche  sich  zusammenfeussen  lassen 
in  dem  Grade  der  Wichtigkeit,  welche  diese  B.esultate  im  Ver- 
gleiche zu  anderen  Gegenständen  der  Erkenntniss  haben  würden, 
vorausgesetzt,  dass  sie  sämmtlich  mit  der  Wahrscheinlichkeit  1, 
d.  h.  mit  absoluter  Gewissheit,  erfasst  wären.  Was  diesen  Factor 
betrifft,  so  steigt  offenbar  der  Werth  des  Gipfels  der  Erkenntniss- 
pyramide über  alle  anderen  möglichen  Gegenstände  der  Erkennt- 
niss hinaus ,  und  darum  will  auch  ich  nicht  müde  werden ,  zur 
besseren  Peststellung  der  letzten  metaphysischen  Principien  mein 
Soherffein  beizutragen,  hoffend,  dass  recht  bald  ein  Anderer  komme, 
der  es  weiter  bringt,  als  ich.  Andererseits  aber  hoffe  ich,  dass  die 
Nachfolger  das  Fundament  der  Pyramide  von  mir  g^t  und  fest 
genug  gebaut  finden  werden,  lun  darauf  fortzubauen,  und  nicht 
Ursache  haben  werden,  dasselbe  in  wesentlichen  Theilen  einzu- 
reissen. 

Von  den  grossen  Philosophen  treffen  mit  unseren  Principien 
am  meisten  zusammen  Plato  und  Schelling,  Hegel  und  Schopen- 
hauer, und  zwar  repräsentiren  die  beiden  Letzteren  die  einseitigen 


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Extreme  (Hegel  das  Logische,  Schopenhauer  den  Willen),  während 
Plato  und  Schelling  eine  verknüpfende  und  rennittelnde  Stellung 
einnehmen,  so  zwar,  dass  in  keinem  von  beiden  ein  vollständiges 
Gleichgewicht  beider  Seiten  vorhanden  ist,  sondern  im  Plato  die 
Idee,  in  Schelling's  letztem  Systeme  der  Wille  an  Bedeutung 
prävalirt. 

Plato 's  (vgL  die  mustergültige  Darstellung  der  Platonisdi^ 
Principien  in:  Zeller,  Philos.  der  Griechen,  2.  Aufl.,  IL  1.,  8.  441 
bis  471)  bekanntestes  und  wichtigstes  Piincip  ist  die  Plato- 
nische Idee,  die  Ideenwelt  oder  das  Beich  der  vielen  Ideen, 
umfasst  in  der  Einen  (dem  iv)  höchsten  Idee,  oder  der  Idee 
schlechthin,  welche  er  naher  bestimmt,  als  die  Idee  des  Guten, 
d.  h.  den  absoluten  Zweck,  und  welche  ihm  identisch  ist  mit  der 
göttlichen  Vernunft.  Plato  denkt  die  Idee  als  in  der  ewigen  Ruhe 
des  unveränderlichen  Fürsichseins,  und  nur  ausnahmsweise  und  mit 
offenbarer  Inoonsequenz  gegen  sein  System  schreibt  er  ihr  hier  und 
da  (namentlich  in  mythischen  Darstellungen)  auch  wohl  ein  Wirken, 
eine  Thätigkeit  zu. 

Da  die  in  sich  beschlossene  Idee  niemals  einen  Grund  hätte, 
aus  sich  selbst  herauszugehen,  so  braucht  er  ein  zweites,  ebenso 
wichtiges  Princip,  den  Grund  des  heraklitischen  Flusses  aller 
Dinge,  die  Triebfeder  des  Weltprocesses. 

Dieses  zweite  ist  demnach  gegenüber  der  ewigen  Buhe  der 
Idee  das  Princip  der  absoluten  Veränderung,  das  immer  Werdende 
und  Vergehende  und  niemals  wahrhaft  Seiende;  weshalb  er  es  auch 
das  relativ  Nichtseiende  (fn^  ov)  nennt,  aber  doch  ist  es  das  die 
Ideen  als  seinen  Inhalt  in  sich  Aufnehmende  und  sie  in  den 
Strudel  des  Processes  Einführende.  Während  die  Idee  das  Maaae- 
voUe,  in  sich  Beschlossene  ist,  ist  jenes  das  Maasslose,  in  sich  un- 
begrenzte (ansiQOv);  während  die  Idee  (sogar  die  Zahl)  in  sich 
nur  qualitativ  bestimmt  ist,  bringt  jenes  das  Quantitative  in  die 
Erscheinung,  es  gehört  zu  ihm  „Alles,  was  des  Mehr  oder  Minder, 
des  Stärker  oder  Schwächer,  und  des  üebermaasses  fähig  isf*, 
weshalb  Plato  es  auch  dcus  ,,Grosse  und  Kleine''  nennt. 

Während  die  Idee  das  Gute  ist,  und  von  ihr  alles  Gute  in 
der  Welt  herstammt,  ist  jenes  aueiQOv  das  Böse,  und  die  Ursache 
alles  Bösen  und  Uebels  in  der  Welt  (Aristot.  Metaph.  I.  6.  Schluss) 
ist  jene  blinde,  vom  Welt -bildenden  Verstände  vorgefundene  Koth- 
wendigkeit,  jene  vemunftlose  Ursache,   wricfae  von  der  Vernmift 


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nicht  völlig  überwunden  werden  konnte,  jener  irrationale  Best,  den 
wir  immer  noch  übrig  behalten,  wenn  wir  von  den  Dingen  alles 
Das  abziehen,  was  Abbild  der  Idee  ist. 

Ans  der  Vermählung  beider  entgegengesetzten  Principien  ent- 
springt die  Welt,  welche  wir  durch  sinnliche  Wahrnehmung  er- 
kennen. Beide  Principien  haben  das  gemeinsam,  dass  sie  vom 
Wechsel  der  Erscheinung  nicht  berührt  werden,  sondern  über  dem- 
selben stehen  als  transcendente  {xwQiotaC)  Wesenheiten. 

Die  Uebereinstimmung  der  Platonischen  Besultate  mit  den 
unserigen  liegt  auf  der  Hand,  wir  brauchen  nur  das  Reich  der  an 
sich  seienden  Ideen  in  das  der  unbewussten  Vorstellung  (die  ja 
auch  von  uns  als  intuitiv  und  unzeitlich,  d.  h.  ewig  geflEtsst  worden 
ist)  und  das  intensive  Princip  der  absoluten  Veränderung  in  den 
Willen  zu  übersetzen. 

Merkwürdig  ist  es  auch,  dass  Plato  behauptet,  jenes  aneiQOV 
sei  auf  keine  Weise  erkennbar,  weder  durch  Denken,  noch  durch 
Wahrnehmung,  was  ganz  damit  übereinstimmt,  dass  wir  den  Willen 
als  solchen  als  etwas  dem  Bewusstsein  ewig  Unzugängliches  erkannt 
haben.  [Wenn  Plato  das  aTtsiqov  bisweilen  auch  als  XioQCt^  %6nog 
bezeichnet,  so  ist  dies  gewiss  ebenso  bildlich,  wie  die  Ausdrücke 
de^afievtj  (Wassercisteme)  und  in^aysiov  (weiche  Masse,  in 
welcher  eine  Form,  hier  die  Idee,  abgedrückt  wird)  zu  verstehen, 
und  bedeutet,  wie  die  Ausdrücke  inaivoj  iv  ^  Ylype%av  und 
qtvatg  tä  navra  acifiora  ÖBXOfiivri  bezeugen,  nichts  weiter  als 
Dasjenige,  worin  die  Ideen  ihre  Stelle,  Platz,  Ort  oder  Baum  zur 
Aufnahme  und  Entfaltung  finden,  ähnlich  wie  er  zuweilen  der 
Ideenwelt  einen  intelligibeln  überweltlichen  Ort  (%67tog  vofjtog) 
anweist 

Noch  weniger  eigentlich  ist  der  nicht  von  Plato  selbst,  son- 
dern erst  von  Aristoteles  und  Späteren  für  das  afteiQoy  gesetzte 
Ausdruck  üXi]  (Mat^ie)  zu  verstehen] 

Schopenhauer 's  Philosophie  ist  in  dem  Satze  enthalten :  der 
Wille  allein  ist  das  Ding  an  sich,  das  Wesen  der  Welt.  Daraus 
folgt  sofort,  dass  die  Vorstellung  nur  ein  —  offenbar  zufälliges  — 
Himproduct  ist,  und  dass  in  der  ganzen  Welt  nur  so  viel  Vernunft 
XU  finden  sein  kann,  als  die  zufallig  entstandenen  Qehime  hinein* 
zulegen  belieben.  Denn  was  kann  aus  einem  absolut  unvemünf* 
tigen,  dummen  und  blinden  Princip  für  eine  andere,  als  eine  un- 
vernünftige und  dumme  Welt  hervorgehen!     Wenn  eine  %itr  von 


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Sinn  in  ihr  ist,  so  kann  er  doch  nur  durch  Zufall  hineinge- 
komm^i  sein!  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  das  absolut  Dumme 
als  Princip  genommen  sehr  viel  ärmer  und  unausgiebiger  sein  muss, 
als  das  absolut  Kluge,  die  Idee  und  das  Denken;  es  gehört  auch 
eine  merkwürdige  Beschränkung  dazu,  sich  an  dem  absolut  Dummen 
und  seiner  Armuth  als  Princip  geniigen  zu  lassen,  —  daher  die 
dilettantische  Färbung,  welches  bei  allem  Eeichthume  an  Geist  da^ 
Schopenbauer^sche  Philosophiren  an  sich  hat. 

Andererseits  kann  man  die  Weisheit  des  Unbewussten  nicht 
genug  bewundem  und  loben,  dass  sie  ein  so  bomirtes  Genie  schuf, 
um  der  Nachwelt  zu  zeigen,  was  mit  jenem  Princip  in  seiner  Iso- 
ürang  anzufangen  ist,  wob  nicht;  die  einseitige  Ausarbeitung  diese» 
Principes  war  im  genetischen  Entwickelungsgange  der  Philosophie 
gerade  so  nothwendig,  wie  die  Zuspitzung  des  entgegengesetzten 
Extremes  in  Hegel. 

Wie  eng  beide  Philosophien  zusammenhängen,  lässt  sich  schon 
durch  den  zufalligen  Umstand  belegen,  dass  beider  Philosophen 
Hauptwerke  im  Jahre  1818  erschienen,  wenn  man  gleichzeitig 
sich  des  Ausspruches  von  Hegel  (XV.  S.  619)  erinnert:  „Wo 
mehrere  Philosophien  zugleich  auftreten,  sind  es  unterschiedene 
Seiten,  die  eine  Totalität  ausmachen,  welche  ihnen  zu  Grunde  liegt'* 

So  gewiss  Schopenhauer  unfähig  war,  den  Hegel  zu  fassen,  so 
gewiss  muss  Hegel,  wenn  er  ihn  gekannt  hat,  über  Schopenhau^ 
die  Achseln  gezuckt  haben ;  Beide  standen  sich  so  fem,  daM  ihnen 
jeder  Berührungpunct  zur  gegenseitigen  Würdigung  fehlte. 

Wenn  Kant's  Kriticismus  jeden  Versuch  einer  theoretisoh^i 
Metaphysik  von  sich  ablehnen  musste  und  erst  Fichte  die  positive 
metaphysische  Entwickelung  der  neuesten  Philosophie  mit  der 
dialectischen  Behandlung  des  Selbstbewusstseins  beginnt,  so  zieht 
Hegel  das  Eacit  dieser  Entwickelung  bis  zum  ersten  Drittel  de« 
Jahrhunderts,  indem  er  das  Princip,  welches  bis  dahin  ihr  mehr  oder 
minder  unbewusst  treibendes  Moment  gewesen  war,  von  Schelling 
übernimmt:  die  Idee  allein  ist  das  Wesen  der  Welt;  die  Logik  ist  mit- 
hin die  Ontologie,  die  dialectische  Selbstbewegung  des  Begriffes  ist 
der  Weltprocess.  Dieses  Princip  ist  der  vollständigen  Armuth  des 
Schopenhauer^schen  gegenüber  das  absolut  reiche,  denn  alles,  was 
die  Welt  ist,  ist  sie  ja  durch  die  Idee;  es  liess  sich  also  mit  ihm 
schon  etwas  anfEuigen,  und  es  ist  nicht  zu  verwundern,  dass  es  vier 
Systeme  producirte,  wo  sein  Gegenfüssler  sich  in  Einem  ersdiöpfte. 


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Hegel  durchmasB  in  seiner  Logik  das  Platonische  Reich  der 
an  sich  seienden  Idee;  er  versuchte  die  Idee. im  Processe  ihrer 
ewigen  Selbstgebärong  aus  dem  baarsten  Sein  zu  belauschen,  und 
so  weit  war  das  Princip  in  seinem  Beoht.  Als  aber  das  Eeich  der 
an  sich  seienden  Idee  nach  allen  Richtungen  durchmessen  vi{bx,  da 
kam  das  Princip  an  seine  Grenze,  denn  Alles  konnte  die  Idee  durch 
sich  erschöpfen,  nur  Eines  blieb  ihr  unerreichbar,  die  res,  die 
Realität,  „denn  reell  ist  eben,  was  durch  das  blosse  Denken 
nicht  geschaffen  werden  kann"  (Schelling  I.  3.  S.  364). 

Das  Princip  war  aber  einmal  in  seiner  Einseitigkeit  als  Aus- 
schliessliches erfasst,  xuid  musste  in  dieser  Einseitigkeit  durchge- 
führt werden,  um  auch  hier  deutlich  zu  zeigen,  wie  weit  es  reicht 
und  wie  weit  nicht.  Andererseits  aber  lag  es  in  der  dialectischen 
Bewegung  vorgezeichnet,  dass  die  logische  Idee,  nachdem  sie  sich 
in  ihren  vier  Pfählen,  dem  Logischen  erschöpft  hatte,  mit  dialec- 
tischer  Nothwendigkeit  das  Andere  ihrer  selbst,  oc^r  das  Negative 
ihrer  selbst,  fordern  musste,  und  dieses  konnte  nun  bloss  noch  — 
das  Unlogische  sein. 

Mit  dieser  formlichen  Anerkennung  aber  hätte  sich  das  Lo- 
gische wieder  seiner  absoluten  Souveränität  begeben,  hätte  ein 
Gleichberechtigtes  neben  sich  anerkannt,  und  eingeräumt,  dass  erst 
in  der  Bekämpfung  und  zugleich  Vereinigung  dieser  letzten  und 
höchsten  Gegensätze  die  Wahrheit  gefunden  sei  und  die  Wirklich- 
keit beruhe.  Dann  hätte  die  Logik  aber  auch  aussprechen  müssen, 
dass  jenes  Unlogische  nur  zufälligerweise,  nämlich  nur  von  ihrem 
Standpuncte  aus  gesehen,  das  Negative  sei,  in  Wahrheit  aber  von 
einem  höheren  Standpuncte  das  Positive,  welches  allererst  dos 
Logische  realisirt,  während  es  ohne  dieses  Positive  mit  seinem 
ganzen  Ideenkram  gleich  Nichts  ist. 

Diese  Zumuthxmg  für  den  absoluten  Idealismus,  sich  mit  einem 
Ruck  in  die  Negative  zu  erklären,  war  für  Einen  Menschen,  — 
denselben,  der  ihn  erst  auf  die  Höhe  gefuhrt  hatte,  —  zu  viel. 
Zwar  iässt  Hegel  hier  und  da  das  Gefühl  durchschimmern,  dass 
doch  wohl  das  Negative  des  Logischen  eine  Berücksichtigung  ver- 
diene, und  den  Uebergang  der  Idee  in  die  Wirklichkeit  erst  er- 
mögliche, aber  er  erstickt  die  Andeutungen  dieses  Gefühles  im 
Entstehen,  um  nur  seiher  lieben  Idee  nicht  zu  nahe  zu  treten,  und 
in  seiner  Natur-  und  Weltanschauung  kennt  er  überall  nur  dialec- 
ÜBche  Processe  innerhalb  des  Logischen,  nirgends  einen  Kampf 


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des  Logischen  mit  dem  Unlogischen,  nirgends  überhaupt  einen 
unlogischen  Rest  an  den  Erscheinungen,  obwohl  dei  (wie 
Hegel  ihn  braucht)  logisch  unverständliche  Begriff  des  Zufälligen 
ihm  einen  solchen  nahe  genug  gelegt  hätte. 

Mit  einem  Worte,  das  Verhältnies  der  Logik  zur  Naturphilo- 
sophie ist  im  Hegel  selbst  unklar  und  yerwischt.  Sein  Princip 
consequent  durchzufuhren,  und  (wie  Michelet)  zu  behaupten,  dass 
die  Natur  nur  insofern  die  ausser  sich  gekommene  Logik  oder  die 
Logik  in  ihrem  Anderssein  heissen  könne,  als  die  in  der  Logik 
in  Eins  gefassten  Momente  des  dialectischen  Processes  aus  eiitnier 
gefallen  sind,  davor  schützt  den  Hegel  eine  gewisse  instinctive 
Scheu,  welche  ihn  lehrt,  dass  er  mit  der  consequenten  PurchfÜhrang 
seines  Principes  gegen  seine  Methode  verstösst,  welche  unbedingt 
das  Unlogische,  als  das  gleichberechtigte  Negative  der  logischen  Idee, 
fordert;  aber  dieser  Forderung  genug  zu  thun,  davon  schrecken 
ihn  wieder  die#  Consequenzen  jenes  Schrittes  ab,  welche  offenbar 
sein  Princip  zerstören,  dass  die  Idee  die  alleinige  Substanz  sei. 

Aus  diesem  Widerspruche  erklärt  es  sich,  dass  der  Uebergang 
von  der  Idee  zur  Natur  alle  Mal,  wo  Hegel  ihn  erwähnt  (z.  B. 
Phänomenologie  S.  610,  Logik  Bd.  2.  S.  399—400,  Encyclopädie 
Bd.  1  §.  1,  §.  43  und  §.  244)  in  ungewöhnlich  aphoristischer  Weise 
abgefertigt,  in  den  neuen  Auflagen  häufig  geändert,  und  noch  daau 
mit  uneigentlichen  und  bildlichen  Ausdrücken  (Aufopferung,  Ent- 
falten, Entäusserung ,  Entlassung,  Widerschein  der  Idee  u.  s.  w.) 
ausgestattet  wird.  Die  Differenz  in  diesem  Punote  hat  «ich  erst 
in  den  gespaltenen  Richtungen  der  Hegerschen  Schule  klar 
enthüllt. 

Werfen  wir  noch  einen  BHck  darauf,  wie  sehr  Hegel  die 
Nothwendigkeit  des  Unlogischen  als  Gegengewicht  des  Logischen 
im  Stillen  gefühlt  habe.  Am  Sohluss  der  grossen  Logik  sagt  er 
von  der  absoluten  Idee,  dass  dieselbe,  in  der  Sphäre  des  reinen 
Gedankend  eingeschlossen,  noeh  logisch  sei,  woraus  doch  sm  schlies- 
sen,  dass  ihr  Heraustreten  aus  dieser  in  eine  andere  Sphäre  der 
Uebergang  in  das  nicht  mehr  Ix^sche,  d.  h.  in's  Unlogische,  sein 
müsse.  In  der  Phänomenologie  S.  610  sagt  er:  ,,DaB  Wissen  kennt 
nicht  nur  sich,  sondern  auch  das  Negative  seiner  selbst,  oder 
seine  Grenze^. 

Hier  sollte  man  doch  auch  vermuthen,  dass  unter  diesem  Negft* 
tiven   das  Unlogische  gemeint  sein  müssa      Aber  er  schwächt  die 


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Wirkung  \7ieder  vollständig  ab,  indem  er  dieses  ,, seine  Grenze 
Wissen'*  für  genügend  zur  Aufopferung  oder  Entäusserung  er- 
klärt In  der  Logik  £d.  2  S.  400  sagt  er  femer:  „Weil  die  reine 
Idee  des  Erkennens  insofern  in  die  Subjectivität  eingeschlossen  ist, 
ist  sie  Trieb,  diese  aufzuheben.''  Hier  fühlt  er  sogar,  dass 
das  Hinausgehen  über  die  Idee  allein  Sache  des  Willens  sein 
kann.  Ganz  unmöglich  aber  ist  der  Gedanke,  dass  dieses  „aus  der 
Idee  heraustreten  Wollen  der  Idee''  aus  ihr  selber,  aus  der 
ewigen  Buhe  ihres  Fürsichseins  kommen  könne,  welche  vielmehr 
dem  absolut  selbstgenügsamen  Frieden,  der  ungetrübten, 
in  sich  beschlossenen  Zufriedenheit  gleich  gesetzt  werden  muss. 

Nieht  nur  unbegreiflich  wäre  es,  wie  die  Idee  aus  eige- 
nem Antriebe  dazu  kommen  könnte,  ihre  ewige  Klarheit  von  selbst 
in  den  Strudel  des  realen  Processes  zu  stürzen,  sondern  haar- 
sträubend widersinnig  wäre  es,  wenn  sie,  die  alles  Wissen  in 
sich  Schliessende,  ihren  seligen  Frieden  der  unzeitliohen  ewigen 
Stille  ohne  äussere  Nöthigung  opfern  wollte,  um  der  Qual  des 
Processes,  der  Unseligkeit  des  WoUens,  dem  Elend  des  realen  Da- 
seins anheimzufallen  Nein,  nicht  die  absolute  Yemunft  selbst  kann 
auf  einmal  unvernünftig  werden,  sondern  das  Unvernünftige  muss  ein 
Ausserhalb   der  Vernunft  Liegendes  Zweites  oder  Anderes  sein. 

Läge  es  in  der  Natur  des  Logischen,  aus  sich  selbst  in^s 
Unlogische  überzugehen,  so  wäre  dieses  Geschehen  ein  nothwen- 
diges  und  ewiges,  und  es  kcmnte  niemals  von  einem  Schlüsse  des 
Processes,  von  einer  Erlösung  die  Bede  sein. 

Auch  ist  es  ja  nur  die  negative,  relative,  nämlich  auf  die 
logische  Idee  sich  beziehende,  Bestimmung  jenes  Gtegensatzed  der 
Idee,  das  Unlogische  zu  sein;  seine  positive  Bestimmung  aber  ist 
die,  Princip  der  Veränderung,  Ursprung  der  Bealität,  Wille  au 
Bein,  und  wenn  Hegel  diese  Bestimmung,  Trieb  zu  sein,  in  obiger 
Stelle  plötzlich  hineinwirft,  so  ist  es  doch  ganz  klar,  dass  er  die- 
selbe rein  aus  dem  empirischen  Erklärungsbedürfnisse  der  Bealität 
der  Natur  hergeholt  hat. 

Dies  ist  aber  auch  in  der  That  der  allein  mögliche  Weg, 
Äur  Erkenntniss  des  Willens  zu  kommen ;  a  priori  kann  man  höch- 
stens die  Idee  erkennen,  und  Alles,  was  aus  der  Idee  folgt;  die 
Existenz  des  Willens  aber  ist  nur  a  posteriori  zu  erschliessen. 
Denn  alle  apriorische,  rein  logische  oder  Tein  rationale  Philosophie 
iLann  nur  ideelle  Verhältnisse,  aber  nicht  reale  Existen- 


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652 

£en  als  Behauptung  aufstellen,  sie  kann  höohstens  sagen:  „wenn 
etwas  ist,  so  muss  es  so  sein%  aber  sie  kann  nie  zeigen,  dass 
etwas  ist;  dies  kann  nur  die  Erfahrung,  d.  h.  der  Confliot  mit 
dem  vorhandenen  Willen  (Existenz)  in  der  Wahrnehmung  de« 
BewuBstseins.  Dies  entspricht  ganz  dem  Yerhältnisse,  dass  die 
Idee  nur  das  „Was"  der  Dinge  bestimmt,  der  Wille  aber  ihr 
„Dass^^;  so  kann  die  Idee  die  Dinge  auch  nur  soweit  begrei- 
fen, als  sie  dieselben  bestimmt,  also  niemals  ihre  reale  Existenz. 

Diesen  nothwendigen  Schritt  der  Philosophie,  welchen  Hegd 
nicht  zu  thun  im  Stande  gewesen  war,  yollzog  Schelling*)  in 
seinem  letzten  System,  indem  er,  wie  schon  Cap.  C.  VIL  angedeutet 
ist,  den  rein  logischen  Gharacter  der  bisherigen  Philosophie  er- 
kannte, in  die  Negative  erklärte  und  im  Gegensatze  zu  ihr  die 
Forderung  einer  von  dem  nur  durch  Erfahrung  zu  erkennenden, 
unvordenklichen  Sein  beginnenden  positiven  Philosophie  aufetellte 
(vgl.  Schelling's  Kritik  der  Hegerschen  Philosophie  in  I.  10.  ß.  l^^ 
bis  164,  besonders  S.  146  u.  151—157;  ferner  II.  3,  vierte  nnd 
fünfte  "Vorlesung). 

So  weit  Schelling's  Deductionen  kritisch  und  vorbereitend  sind, 
sind  sie  vortrefflich,  sowie  er  aber  anfängt,  seine  positive  Philo- 
sopjiie  selbst  vorzutragen,  wird  er  schwach,  schwankt  zwischen 
einem  erläuternd  raisonnirenden  Verfahren,  zwischen  einer  dialecti- 
schen  Methode  und  zwischen  einem  eigenthümlichen  unmotivirten 
Hervorplatzen  mit  neu  eintretenden  Hauptbegriffen,  um  sich  bald 
in  die  Untiefen  einer  mystischen  Theogonie  und  die  Details  der 
christlichen  Theologie  zu  verlieren.  Es  liegt  dies  ganz  einfad 
daran,  weil  er  seiner  Vergangenheit  und  Gewohnheit  zu  liebe 
seiner  besseren  Erkenntniss  xmtreu  wird,  dass  das  Princip  der  posi- 
tiven Philosophie  nur  a  posteriori  aus  der  Erfahrung, 
also  auf  inductivem  Wege  zu  gewinnen  sei. 

[Weil  Schopenhauer  in  der  Hauptsache  (z.  B.  W.  a.  W.  tuV. 
2te8  Buch,  und  „Ueber  den  Willen  in  der  Natur")  inductiv  vö^ 
fahrt,  darum  leistet  er  in  dieser  Aufgabe  so  viel  mehr,  obwohl  er 
sich  über  seine  Methode  und  darüber,  warum  sie  die  einzige  richtige 
sei,  eben  nicht  besonders  klar  ist.]  • 


*)  Vgl.  meine  diesem  ganzen  Capitel  zar  nothwendigen  Erg^zung  ^     , 
Erläuterung   dienende  Schrift:  „Schelling's  positive  Philosophie  als  Einheit 
von  Hegel  und  Schopenhauer**,  welche  im  3teD  Bande  der  „PhilosopliiselMft 
Monatshefte*'  1869  erscheinen   soU.' 


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653 

Gleichwohl  hat  Schelling's  letztes  System  (Einheit  der  positiyen 
und  negativen  Philosophie)  dadurch  einen  hohen  Werth,  dass  es 
das  Princip  HegeVs  (die  Idee)  und  das  Schopenhauers  (den  "Willen) 
zusammenfasst  als  coordinirte,  gleichberechtigte  und  gleich  unent- 
behrliche Seiten  des  Einen  Principes  (vgl.  I.  10,  242 — 43;  I.  8. 
328).  Schelling  erkennt  in  jener  „ausserlogischen  Natur  der 
Existenz"  (IL  3,  95),  in  jener  „unbegreiflichen  Basis  der  Eeali- 
tät"  (I.  7,  360)  mit  voller  Entschiedenheit  den  Willen.  Dass 
etwas  ist,  erkennt  man  nur  an  dem  Widerstände,  den  es  entgegen- 
setzt, das  einzige  Widerstandsfähige  aber  ist  der  Wille  (11.  3,  206). 
Der  Wille  also  ist  es,  der  der  ganzen  Welt  und  jedem  einzelnen 
Dinge  sein  Dass  verleiht,  die  Idee  kann  ihm  nur  das  Was  be- 
stimmen. Schon  in  seiner  Abhandlung  über  das  Wesen  der  mensch- 
lichen Freiheit,  die  1809  (also  lange  vor  Schopenhauers  Schriften) 
erschien,  sagte  er  (Werke  I.  7.  S.  350):  „Es  giebt  in  der  höchsten 
und  letzten  Instanz  gar  kein  anderes  Sein,  als  Wollen.  Wollen  ist 
ITrsein,  und  auf  dieses  allein  passen  alle  Prädicate  desselben: 
Grundlosigkeit,  Ewigkeit,  Unabhängigkeit  von  der  Zeit,  Selbstbe- 
jahung. Die  ganze  Philosophie  strebt  nur  dahin,  diesen  höchsten 
Ausdruck  zu  finden.**  Und  in  seinem  „anthropologischen  Schema** 
(I.  10.  S.  289)  findet  man:  „I.  Wille,  die  eigentlich  geistige 
Snbstanz  des  Menschen,  der  Grund  von  Allem,  dafi  ursprüng- 
lich Stoff-Erzeugende,  das  Einzige  im  Menschen,  das  Ursache 
von  Sein  ist,** 

Im  Gegensatze  hierzu  erklärt  er  ebendaselbst  den  Verstand 
als  „das  nicht  Erschaffende,  sondern  Kegelnde,  Begren- 
zende, dem  unendlichen  Schrankenlosen  Willen  M  a  a  s  s  Gebende.** 

Dem  entsprechen  ganz  die  Principien  der  Pythagoräer:  das 
anuQOv  (Unbegrenzte),  und  das  TVBQoivov  (Begrenzende)  oder  sido^ 
Ttoiovv  (Form  oder  Begriff  Gebende)  (I.  10,  243).  Wenn  das 
ideale  Princip  ein  Verstand  ist,  in  dem  kein  Wille  ist  (U.  2,  112; 
n.  1,  375  Z.  14 — 16),  so  ist  das  reale  Princip  ein  „Wille,  in  dem 
kein  Verstand  ist**  (I.  7,  359).  „Alles  Wollen  aber  muss  etwas 
wollen**  (n,  1,  462),  ein  gegenstandsloses  Wollen  ist  nur  =  Sucht, 
„die  Sehnsucht,  die  das  ewig  Eine  empfindet,  sich  selber  zu  gebären 
(I.  7,  359).  Das  Wort  dieser  Sehnsucht  aber  ist  die  Vorstel- 
lung, —  jene  Vorstellung,  die  zugleich  der  Verstand  ist  (L  7,  361), 
oder  „das  ideale  Princip**  (I.  7,  395).   In  dem  „Aussprechen  dieses 


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664 

Wortes"   ist  die  Yereinigimg  des  idealen  und  realen  PrmoipeB  ge- 
funden, aus  welcher  das  zu  erklärende  Dasein  entspringt. 

In  seinen  späteren  Barstellungen  bemüht  sich  Sohelling,  diese 
Frincipien  aus  dem  Begriffe  des  Seienden  als  dessen  nicht  niehtr 
zudenkende  Momente  abzuleiten,  ein  Unternehmen,  das  seine  Un- 
fruchtbarkeit darin  enthüllt,  dass  jeder  wirkliche  Fortgang  doch 
nur  durch  das  Wiedereinsetzen  der  concreten  Bestimmungen  ge- 
wonnen werden  kann.  Hier  entspricht  dem  Willen  das  Seinkönnende 
(potentia  existencU),  der  Idee  das  rein  (d.  h.  potenzlos,  idealitei) 
Seiende.  Ueber  das  Seinkönnende  sagt  er  (IL  3,  S.  205—206): 
„Nun  aber  ist  das  Seinkönnende,  Ton  dem  hier  die  Eede  ist,  nidit 
eine  solche  bedingte,  es  ist  die  unbedingte  potentia  e^cisiendi,  es 
ist  das,  was  unbedingt  und  ohne  weitere  Vermittelung  a  potentia 
ad  actum  übergehen  kann.  Nun  kennen  wir  aber  keinen  anderen 
üebergang  a  potentia  ad  actum,  als  im  Wollen.  Der  Wille  an 
sich  ist  die  Potenz  xar  i^oxfjv,  das  Wollen  der  Actus  xorr  f^o- 
Xi^v.  Der  XJebergang  a  potentia  ad  actum  ist  überall  nur  üebe^ 
gang  vom  Nichtwollen  zum  Wollen.  Das  unmittelbar  Seinkönnende 
also  ist  Dasjenige,  was,  um  zu  sein,  nichts  bedari^  als  eben  vom 
Nichtwollen  zum  Wollen  überzugehen.  Das  Sein  besteht  ihm  e\m 
im  Wollen,  es  ist  in  seinem  Sein  nichts  Anderes  als  Wollen. 
Kein  wirkliches  Sein  ist  ohne  ein  wirkliches,  wie  immer  näh^ 
modificirtes  Wollen,  denkbar.*'  —  Das  Seinkönnende  ist  der  Wille 
an  sich,  der  noch  nicht  gegenständliche,  sondern  erst  uiständliche 
Wille,  der  zwar  wollen  kann  (sonst  wäre  er  ja  nicht  Wille),  aber 
eben  noch  nicht  will,  der  Wille  vor  seiner  Aeusserung  (ü.  3, 
S.  212  bis  213). 

Entzündet  sich  dieser  Wille  zum  Wollen,  wird  er  actir,  so 
begiebt  er  sich  damit  seiner  Freiheit,  seines  auch  Nichtseinkönnen^ 
und  verfallt  dem  blinden  Sein,  wie  Spinoza's  Substanz.  Als  Bolcber 
wird  er  das  „Sinistre",  „die  Quelle  alles  Unwillens  und  Missver- 
gnügens" (n.  3,  226). 

Das  rein  Seiende  oder  die  Idee  ist  weder  Potenz,  noch  Actus, 
denn  Actus  ist  nur  das,  was  aus  der  Potenz  henrorgeht;  Schelling 
nennt  ihren  Zustand  actus  purus.  Ich  bemerke  hierbei,  dass  Schel- 
ling der  christlichen  Dreieinigkeit  zu  Liebe  sich  bemüht,  seine 
Principien  und  deren  substantielle  Einheit  zu  Personen  zu  ma^heo, 
und  zu  dem  Zwecke  jedem  der  drei  einen  eigenen  Willen  zoso* 
schreiben,  was  ganz  verkehrt  ist.     Damit  man  diese  Verkehrtheit 


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nicht  za  deutlich  empfinde,  unterdrückt  er  in  den  späteren  Dar- 
stellungen nach  Möglichkeit,  dass  die  concrete  Bestimmung  des 
„rein  Seienden''  die  ,Jdee'^  ist.  (Näheres  siehe  in  meiner  ange- 
führten Schrift.)  — 

Eine  merkwürdige  Stelle  findet  sich  in  Irenaeus  I.  12,  1,  wo 
derselbe  über  Ptolemäus  berichtet.  Da  dieselbe  beweist^  wie  früh 
schon  jene  Erkenntniss  zum  klaren  Ausdruck  gekommen  ist,  welche 
eine  Weltschöpfong  aus  der  blossen  Idee  für  unmöglich  erklärt,  so 
will   ich  sie   hierher    setzen:    tcqwtov   yag    ivvoij&i^   nQoßakelVy 

(prjalv,  alta  i&ikrjoe. to  &iXrjfxa  Toivvv  dvvafiig  iyivero 

ifjg  evvoiag,  ivevoei  fiiv  yäg  tj  ivvoia  xqv  nqoßaXr^v  ov  fisvrot 
TtQoßdkleiv  avtfi  xaxf  eavT^v  rjövvazo,  a  ivevoei.  ote  öi  rj 
tov  ^sktjfxazog  övva/nig  ineyspezo,  Toze,  o  hevosi,  TtQoißale. 
(Denn  zuerst  gedachte  er  hervorzubringen,  dann  wollte  er.  —  Der 
Wille  also  wurde  die  Kraft  des  Gedankens.  Denn  es  dachte  zwar 
der  Gedanke  die  Schöpfung,  doch  konnte  er  nicht  selbst  von  sich 
selbst  hervorbringen,  was  er  dachte.  Als  aber  die  Kraft  des  Wil- 
lens hinzukam,  da  brachte  er  hervor,  was  er  dachte.) 

Die  wesentliche  Uebereinstimmung  unserer  Principien  mit 
denen  der  grössten  metaphysischen  Systeme  (Spinoza  behalten  wir 
und  noch  vor)  kann  nur  dazu  dienen,  uns  in  der  Ueberzeugung  zu 
bestärken,  dass  wir  uns  auf  dem  rechten  Wege  befinden.  Gehen 
wir   jetzt    noch    auf  jedes    der    Principien    etwas    näher    ein.    — 

Das  Wollen  ist  dasjenige,  was  das  Eeale  vor  dem  Idealen 
voraus  hat;  das  Ideale  ist  die  Yorstellung  an  sich,  das  Eeale  ist 
die   gewollte    Vorstellung   oder   die    Vorstellung   als    Willonsinhalt.  i 

Ebenso  verbreitet  wie  der  Glaube  an  den  Stoff  ist  die  Auffassung,  l 
dass  das  Eeale  nicht  die  erscheinende  Willensthätigkeit 
selbst  des  Weltwesens,  sondern  ein  todtes^  stehen  gebliebe- 
nes Product,  ein  caput  mortuum  einer  früheren,  längst  erlosche- 
nen Willensthätigkeit,  des  Schöpfungsactes ,  sei,  und  dass  der 
eigentliche  Eepräsentant  dieses  caput  mortuum  der  Stoff  sei. 
Von  diesem  Vorurtheü  haben  wir  uns  bereits  im  Cap.  C.  VII. 
frei  gemacht,  wo  wir  erkannt  haben,  dass  es  niir  das  Unbewusste 
und  seine  Thätigkeit  giebt,  aber  nichts  Drittes.  So  lange  man  das 
Yoruftheil  des  todten  Stoffes  nicht  überwunden  hat,  bleiben  freilich 
nur  die  zwei  Weisen,  ihn  au&ufassen,  übrig:  entweder  als  uner- 
schaffene  ewige  Substanz,  wie  der  Materialismus,  oder  als  caput 
mortuum  des  Schöpfungsactes,  so  wenig  sich  auch  mit  einem  solchen 


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656 

todien  Producie  ein  klarer  Begriff  yerbinden  lässt;  nachdem  aber 
der  Stoff  yon  uns  als  eine  Chimäre ,  die  Materie  als  ein  System 
von  Atomkräften,  und  die  materielle  "Welt  als  ein  labiler,  fort- 
während sich  ändernder  Gleichgewichtszustand  sehr  vieler 
sich  kreuzender  Willensthätigkeiten  erkannt  worden 
ist,  fällt  jeder  Grund  zur  Annahme  von  todten  Eesten  früherer 
Productivität  fort,  und  wir  erkennen  nunmehr  das  Beale  in  jedem 
Moment  des  Frocesses  als  gegenwärtige  WiUfiiisthätigkeit,  also 
das  Bestehen  der  Welt  als  einen  stetigen  Schöpfungsact. 
Dies  ist  wohl  auch  der  Sinn  des  „zweiten  Folgesatzes''  im  Anfange 
der  Schelling'scben  Naturphilosophie  (Werke  I.  3,  S.  16):  „Die 
Natur  existirt  als  Froduct  nirgends;  alle  einzelnen  Producte  in 
der  Natur  sind  nur  Scheinproducte ,  nicht  das  absolute  Froduct,  in 
welchem  die  absolute  Thätigkeit  sich  erschöpft,  und  das  immer 
wird  und  nie  ist." 

Diese  Auffassung  widerspricht  keineswegs,  wie  es  wohl  auf 
den  ersten  Anblick  scheinen  könnte,  dem  physikalischen  Grund- 
sätze, dass  die  Wirkung  einer  einmal  wirkenden  Ursache  verharrt; 
denn  der  neu  herbeigeführte  Zustand,  in  welchem  die  physikalische 
Wirkung  besteht  (z.  B.  eine  Bewegung  von  der  und  der  Richtung 
imd  Geschwindigkeit)  verharrt  allerdings,  vorausgesetzt,  dass 
der  Gegenstand  verharrt,  dessen  Zustand  sie  ist,  d.  h.  vorausgesetzt, 
dass  dieser  Gegenstand  stetig  neu  gesetzt  wird. 

Es  hängt  mit  dieser  Auffassung  des  Bestehens  der  Welt  als 
eines  stfeltigen  SchÖpfungsactes  zusammen,  dass  wir  das  Wollen 
nicht  mehr  von  der  That  getrennt  betrachten  können,  das  Wol- 
len ist  selbst  die  That. 

Am  deutlichsten  kann  man  sich  diese  Wahrheit  an  dem  Atom- 
willen veranschaulichen,  wie  es  in  Cap.  C.  V.  und  X.  auseinander- 
gesetzt ist.  Wenn  es  in  der  Psychologie  anders  erscheint,  so  ist 
dies  so  zu  erklären*. 

1)  ist  That  im  weiteren  Sinne  zu  fassen  als  äusseres  Wirk- 
samwerden des  Willens;  fasst  man  dagegen  die  That  im  engeren 
Sinne,  nämlich  gerade  nur  als  die  beabsichtigte  Art  des  Wirk- 
samwerdens, so  ist  allerdings  nur  dasjenige  Wollen  mit  der  That 
identisch,  was  seinen  Willen  durchsetzt,  nicht  aber  das- 
jenige, welches  zwar  handelt  und  wirkt,  aber  an  der  Ausführung 
der  That  in  der  beabsichtigten  Weise  durch  äussere,  ihm 
unüberwindliche  Hemmnisse  gehindert  wird; 


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2)  ist  nur  daa  auf  die  Gegenwart  gerichtete  Wollen  mit 
der  That  identisch ,  ein  auf  die  Zukunft  gerichtetes  Wollen  aber 
ist  auch  gar  kein  eigentliches  kategorisches  Wollen,  sondern  nur 
ein  hypothetisches  Wollen,  ein  Vorsatz  oder  eine  Absicht; 

3)  versteht  man  unter  That  in  der  Psychologie  nur  ein  Han- 
deln der  ganzen  Person,  nicht  aber  diejenigen  vom  Willen  bewirk- 
ten Bewegungen  der  Himmolecüle,  welche  an  sich  nicht  kräftig 
genug  sind,  um-  ci'^e  äussere  Handlung  des  Leibes  hervorzurufen, 
oder  daran  durch  andere,  im  entgegengesetzten  8inne  wirkende 
Himschwingungen  verhindert  werden. 

Daher  ist  in  der  Psychologie  freilich  nur  das  ganze  gegen- 
wärtige Wollen  des  Individuums,  d.  h.  die  Resultante  aller  gleich- 
zeitigen Einzelwillen  oder  Begehrungen  desselben,  mit  der  That 
identisch,  während  die  gleichzeitigen  Componenten  ihre  Wirksam- 
keit an  einander  im  Gehirne  erschöpfen^  insoweit  sie  nicht  in 
der  Resultante  zur  That  werden.  Streng  genommen  aber  ist  auch 
die  Bewegung  der  Himmolecüle  ein  in  äussere  Wirksamkeit  Treten 
des  Willens,  d.  h.  eine  That,  und  in  diesem  Sinne  ist  auch  jedes 
einzelne  Begehren  im  Individuum  eine  That,  nur  dass  sie  durch 
anderweitige  Himschwingungen  vielleicht  gehindert  wird,  sich  in 
ihrer  ganzen  möglichen  Tragweite  zu  verwirklichen,  z.  B.  der 
Hunger  erzeugt  Himschwingungen  im  Bettler,  die  ihn  nöthigen 
würden,  seine  Hand  nach  dem  Brode  im  Bäckerladen  auszustrecken, 
die  Scheu  vor  dem  Diebstahl  erzeugt  andere  Himschwingungen, 
welche  die  That  dieser  Gliederbewegung  verhindert;  beide  aber, 
das  positive  wie  das  negative  Begehren,  äussern  sich  in  der  That 
als  Himschwingungen. 

,J)er  Wille  an  sich  ist  die  Potenz  xat  i^ox^Vy  das  Wollen 
der  Actus  xofi'  ^^o^t/v*';  dieser  Ausspruch  Schelling's  ist  gewiss 
nur  zu  unterschreiben.  So  viel  wenigstens  ist  allgemein  anerkannt, 
dass  das  Wollen  als  ein  Actus  zu  betrachten  sei,  dem  eine  Potenz 
zu  Grunde  liege,  und  diese  Potenz,  dieses  Wollenkönnende,  von 
dem  wir  weiter  nichts  als  dieses  wissen,  dass  es  wollen  kann, 
nennen  wir  Wille. 

Zu  diesem  bis  hierher  ganz  durchsichtigen  Verhältnisse  tritt 
aber  nun  eine  Verwickelung  hinzu.  Wir  wissen  nämlich  aus  €ap. 
A.  IV.,  dass  das  Wollen  nur  dann  wahrhaft  existiren  kann,  wenn 
es  bestimmtes  Wollen  ist,  d.  h.  wenn  es  etwas  Bestimmtes  will, 
und    dass   die  Bestimmung   dessen^   was  gewollt  wird,   eine  ideale 

T.  Hartmann,  Phil.  d.  Unb^wnssten.  42 


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Bestmunnng  ist,  d.  h.  dase  das  Wollen  eine  Yorstellung  zum  Inhalt 
haben  ii;LaB6.     ' 

Andererseits  wissen  wir  aus  Cap.  0.  I.,  dass  die  Yorstellung 
von  sich  selbst  nicht  existentiell  werden,  nicht  aus  dem  Nichtsein 
in's  Sein  übergehen  kann,  —  denn  sonst  wäre  sie  ja  Potenz  oder 
Wille,  oder  enthielte  diesen  in  sich  —  dass  also  nur  der  Wille  ihr 
Existenz  verleihen  kann.  Hier  sind  wir  aber  in  einem  Zirkel: 
das  Wollen  soll  erst  durch  die  Vorstellung  existentiell  werden,  und 
die  Vorstellung  erst  durch  das  Wollen.  Durch  den  Willen  an  sich^ 
d.  b.  sofern  er  blosse  Potenz  und  nicht  actuell  ist,  kann  doch 
gewiss  keine  Wirkung  (Action)  auf  die  Vorstellung  ausgeübt  wer- 
den, sondern  wirken  kann  der  Wille  offenbar  nur,  insofern  er  niabt 
mehr  blosse  Potenz  ist.  Wenn  nun  einerseits  der  Wille  als  blosse 
Potenz  überhaupt  nicht,  also  auch  nicht  auf  die  Vorstellung  wirken 
kann,  wenn  andererseits  das  Wollen  als  eigentlicher  Actus  erst 
existentiell  wird  durch  die  Vorstellung,  und  doch  die  Vorstellung 
Yon  sich  selbst  nicht  existentiell  werden  kann,  so  bleibt  nur 
die  Annahme  übrig,  dass  der  Wille  in  einem  niittleren  Zustande 
auf  die  Vorstellung  wirkt,  welcher  zwar  dem  potenziellen  Willen 
gegenüber  sich  schon  als  Actus,  dem  eigentlichen  actuellen 
Willen  gegenüber  sich  aber  noch  als  Potenz  verhält,  also  auch 
noch  nicht  im  Sinne  jenes  bestimmten  Actus  existentiell  ist.  £in 
solcher  Mittelzustand  ist  aber  das  leere  Wollen. 

Auch  Schelling  kennt  dieses  leere  Wollen;  er  sagt  (II.  1. 
S.  462)t  „Nun  aber  drängt  sich  yon  selbst  eine  für  die  ganze  Folge 
wichtige  Unterscheidung  auf  —  des  Wollens,  das  eigentlich  gegen- 
standslos ist,  das  nur  sich  will  (==  Sucht),  imd  des  Wollens,  das 
nun  sich  hat  und  als  Erzeugniss  jenes  ersten  Wollens  stehen  bleibt". 

Das  leere  Wollen  ist  noch  nicht,  denn  es  liegt  noch  vor  jener 
Actualität  und  Realität,  welche  wir  allein  unter  dem  Prädicat  Sein 
zu  befassen  gewohnt  sind;  es  weset  aber  auch  nicht  mehr  bloss, 
wie  der  Wille  an  sich,  als  reine  Potenz,  denn  es  ist  ja  schon 
Folge  von  dieser,  und  y erhält  sich  mithin  zu  ihr  als  Actus;  wenn 
wir  das  richtige  Prädicat  anwenden  wollen,  so  können  wir  nur 
sagen:  das  leere  Wollen  wird,  —  das  Werden  in  jenem  eminen- 
ten Sinne  gebraucht,  wo  es  nicht  Uebergang  aus  einer  Form  in 
eine  andere,  sondern  aus  dem  absoluten  Nichtsein  (reinem 
Wesen)  in's  Sein  bedeutet.  Das  leere  Wollen  ist  das  Ringen 
nach  dem   Sein,  welches   das  Sein   erst  erreichen  kann,  wenn 


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eine  gewisse  äussere  Bedingung  erfüllt  ist.  Wenn  der  Wille  an 
sich  der  wollen  könnende  (folglich  auch  nicht  wollen  könnende 
oder  vdie  et  ndle  potena)  Wille  ist,  so  ist  das  leere  Wollen  der 
Wille,  der  sich  zum  Wollen  entschieden  hat  (also  nicht  mehr  nicht- 
wollen kann),  der  wollen  wollende,  nun  aher  nicht  wollen  könnende, 
genauer:  wollen  niohtkönnende  (veUevolens^  sed  veüe  non  potena) 
Wille,  his  die  Vorstellung  hinzukommt,  welche  er  wollen  kann. 

Das  leere  Wollen  ist  also  insofern  actuell^  als  es  nach  seiner 
Verwirklichung  ringt,  aber  insofern  ist  es  nicht  actuell,  als  es 
durch  sich  sich  selbst  ohne  Hinzutreten  eines  äusseren  Umstandes 
diese  Verwirklichung  nicht  erringen  kann.  Als  leere  Form  kann 
es  erst  wirklich  existentiell  werden,  wenn  es  seine  Erfüllung 
erlangt  hat,  diese  Erfüllung  kann  es  aber  an  sich  selbst  nicht 
finden,  weil  es  eben  nur  Form  und  nichts  weiter  ist.  Während 
also  das  Streben  des  bestimmten  Wollens  die  Verwirklichung  seines 
Inhaltes  (sein  Gteltendmachen  gegen  entgegengesetzte  Bestrebungen) 
zum  Ziele  hat,  hat  das  Streben  des  leeren  WoUens  kein  anderes 
Ziel,  als  das,  sich  selbst,  sich  als  Form  zu  verwirklichen,  seiner 
selbst  habhaft  zu  werden,  zum  Sein,  oder  was  dasselbe  ist,  zum 
Wollen,  d.  h.  zu  sich  selbst  zu  kommen. 

Ein  anderes  Streben,  als  dieses,  in  welchem  die  reine  Form 
selbst  den  Inhalt  oder  das  Ziel  bildet,  lässt  sich  auch  in  dem 
absolut  Torstellungslosen  und  dummen  Willen  gar  nicht  denken. 
So  bleibt  es  bei  einem  unaufhörlichen  Anlaufnehmen,  ohne  je 
zum  Sprunge  zu  kommen,  es  bleibt  bei  einem  Werden,  aus  dem 
nichts  wird,  bei  dem  nichts  herauskommt.  Das  wollen -Wollen 
schmachtet  nach  Erföllung,  und  doch  kann  die  Form  des  Wol- 
lens nicht  eher  verwirklicht  werden,  bis  sie  einen  Inhalt  erfasst 
hat;  sobald  sie  aber  dies  gethan  hat,  ist  das  Wollen  wieder  nicht 
mehr  leeres  Wollen,  nicht  mehr  wollen- Wollen,  sondern  be- 
stimmtes Wollen,  e t w as -  Wollen.  Der  Zustand  des  leeren 
Wollens  vor  seiner  Erfüllung  ist  also  ein  ewiges  Schmachten  nach 
einer  Erfüllung,  welche  ihm  nur  durch  die  Vorstellung  gegeben 
werden  kann,  d.h.  es  ist  absolute  ünseligkeit,  Qual  ohne  Lust, 
selbst  ohne  Pause.  Der  Leser  erinnere  sich,  dass  nach  Cap.  C.  IIL 
jede  Nichtbefiriedigung  eines  Willens   eo  ipso  Bewusstsein  erzeugt. 

Dieses  Bewusstsein  ist  das  einzige  ausserweltliche  Be- 
wusstsein, zu  dessen  Annahme  wir  Ursache  haben;  sein  einziger 
Inhalt  ist  wohlgemerkt  die  absolute  Unlust  und  Ünseligkeit,  während 

42* 


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in  der  Welt  (im  erfüllten  Wollen)  doch  nur  eine  relative  Unlust» 
d.  h.  ein  üeberschuss  von  Unlust  über  Lust,  besteht. 

Dieser  absolut  unselige  Zustand  des  Willens  nimmt  ein  finde, 
insofern  durch  ihn  die  Vorstellung  erfasst  wird,  und  hiermit  beide 
existentiell  zum  erfüllten  Wollen  oder  zur  gewollten  Vorstellung 
werden,  während  sie  vorher  beide  etwas  Vorseiendes,  oder, 
wie  Schelling  sagt,  Ueberseiendes  waren. 

Man  kann  diese  Verbindung  von  Wollen  und  VorstelluBg  zum 
existentiellen  erfüllten  Wollen,  welche  von  Seiten  des  Willens  be- 
trachtet ein  Hervorziehen  und  Ergreifen  der  Vorstellung  ist, 
mit  demselben  Rechte  von  Seiten  der  Vorstellung  ein  Hingeben 
an  den  Willen  nennen,  denn  auch  das  Hingeben  ist  ein  gänzlich 
Passives,  welches  keine  positive  Activität  fordert,  sondern  nur 
jede  negative  Activität,  jeden  Widerstand,  ausschliesst. 

Es  tritt  hier  recht  klar  hervor,  dass  Wille  und  Vorstellung 
sich  wie  Männliches  und  Weibliches  zu  einander  verhalten; 
denn  das  bloss  Weibliche  bringt  es  über  eine  widerstandslose  passive 
Hingabe  nirgends  hinaus.  Wollen  wir  das  Bild  weiter  ausiühreo, 
80  befindet  sich  die  Idee  vor  dem  Sein  (als  rein  Seiendes)  im 
Stande  der  seligen  Unschuld;  der  Wille  aber,  der  durch  die  Er- 
hebung aus  der  lauteren  Potenz  in  das  leere  Wollen  sich  in  den 
Stcuid  der  Unseligkcit  versetzt  hat,  reisst  die  Vorstellung  oder  Idee 
in  den  Strudel  des  Seins  und  die  Qual  des  Processes  mit  hinein; 
und  die  Idee  giebt  sich  ihm  hin,  opfert  gleichsam  ihre  jungfräu- 
liche Unschuld  um  seiner  endlichen  Erlösung  willen^  die  er  an  si^h 
selbst  nicht  finden  kann.  Dies  Verhältniss  wird  nicht  dadurch 
getrübt,  dass  die  Idee  eines  activen  Widerstandes  gegen  den  Wil- 
len gar  nicht  fähig  ist,  es  wird  dadurch  nur  in  die  Sphäre  der 
I^othwendigkeit  erhoben.  Aus  dieser  Umarmung  der  beiden 
überseienden  Principe,  des  zum  Sein  entschiedenen  Seinkönnenden 
imd  des  Reinseienden,  wird  nun  das  Sein  gezeugt;  wie  wir 
schon  wissen,  hat  es  vom  Vater  sein  „  D  a  s  s  ^,  von  der  Mutter  sein 
„Was  und  Wie".     Nun  ist  erfüllter  Wille  da. 

Ist  aber  damit  der  Stand  der  Unseligkeit  verlassen?  Nein, 
denn  der  Wille  ist  unersättlich;  wie  viel  er  auch  habe,  er 
will  immer  mehr  haben,  denn  er  ist  der  Potenz  nach  unend- 
lich; und  doch  kann  seine  Erfiülung  niemals  unendlich  sein,  weil 
eine  erfüllte  oder  vollendete  Unendlichkeit  ^er  realisirte  Wider- 
spruch wäre. 


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Eigentlich  ist  es  also  ganz  gleichgültig,  ob  dasjenige  Stück  des 
leeren  Wollen s,  welches  an  der  Vorstellung  eine  Erfüllung  gefunden 
hait,  gross  oder  klein  ist,  d.  h.  ob  die  Welt  gross  oder  klein  (im 
intensiy^i  Sinne)  ist,  denn  das  erfüllte  Wollen  wird  sich  zum 
leeren  Wollen  stets  verhalten,  wie  etwas  Endliches  zu  einem  Un- 
endlichen, was  darum  möglich  iert,  weil  es  sich  zu  ihm  wie  Actus 
zur  Potenz  yerhält 

Es  wird  also  auch  durch  die  Erfüllung  mit  Vorstellung  die 
potentielle  Unendlichkeit  des  leeren  WoUens  und  seine  daraus  ent^ 
springende  Unseligkeit  unmittelbar  nicht  rermindert ;  es  wird  dieser 
Unseligkeit  nicht  einmal  durch  eine  Lust  ein  geringes  Gegengewicht 
geboten  y  denn  es  ist  ja  noch  kein  yergleichendes  Bewusstsein  da, 
welches  Lust  percipiren  könnte.  Wir  freilich  spüren  von  jener 
ausserweltlichen  Unseligkeit  des  leeren  Wollens  nichts,  denn  wir 
gehören  ja  eben  zur  Welt,  zum  erfüllten  Wollen.  Endlieh 
können  wir  durchaus  nichi  uns  der  Meihung  hingeben,  dass  der 
mit  Vorstellung  erfüllte  Wille  nicht  doch  erhebliche  Nichtbefrie- 
digungen  und  Unluztempfindungen  erdulden  müsse  (z.  B.  die  Atom- 
kräfte), wenn  wir  auch  mit  Gewissheit  sagen  können,  dass  er  vor 
Entstehung  des  organischen  Bewusstseins  keine  Befriedigung  als 
Lost  empfinden  kcmne.  Nach  aUedem  würde  die  Unseligkeit  per- 
petuirt  werden,  wenn  nicht  die  Möglichkeit  einer  radicalen  Erlö- 
sung gegeben  wird. 

Diese  Möglichkeit  existirt  aber,  wie  wir  wissen,  in  der  Eman- 
cipation  des  Vorstellung  vom  Willen  durch  das  Bewusstsein^  das- 
selbe fordert  freilich  im  Laufe  des  Processes  noch  grössere  Opfer, 
denn  wenn  es  zwar  auch  die  Lust  empfindlich  macht,  so  macht  es 
dafür  die  Unlust  durch  die  Beflexion  um  so  drückender  fühlbar, 
so  dass  die  innerweltliohe  Unlust,  wie  wir  gesehen  haben,  mit  der 
Steigerung  des  Bewusstseins  im  Ganzen  nicht  fallt,  sondern  steigt; 
aber  durch  die  endliche  £rlö«ung  werden  alle  diese  vorläufigen 
Schmerzen  vergütet  Diese  endgültige  Erlösung  ist  mit  unseren 
Principien  wohl  verträglich,  denn  wenn  auch  bei  dem  Weltende 
zunächst  nur  der  erfüllte  Wille  zur  Umwendung  gebracht  wird,  so 
ist  doch  dieser  der  allein  aotuelle  und  existentielle,  und  verhält 
sich  folglich  in  Bezug  auf  seine  reelle  Macht  zu  dem  bloss 
nach  Existenz  ringenden  leeren  Wollen  als  ein  Wirkliches  zu 
einem  Unwirklichen,  als   ein  Etwas   zu  einem  Nichts,  obwohl 


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662 

von  ganz  gleichartiger  Natur.  Wird  also  das  existentielle  Wollen 
plötzlich  durch  ein  existentielles  nichtwollen  -Wollen  zu  Nichte, 
bestimmt  auf  diese  Weise  das  Wollen  selbst  sich  zum  nicht  -  mehr- 
Wollen,  indem  das  ganze  Wollen,  in  zwei  gleiche  und  entgegen- 
gesetzte Eichtungen  sich  spaltend  ^  sich  selbst  yerschlingt,  so  hört 
selbstverständlich  auch  das  leere  wollen-WoUen  (und  woUen-Nicht- 
können)  auf^  und  die  Rückkehr  in  die  reine  an  sich  seiende  Po- 
tenz ist  vollzogen,  der  Wille  ist  wieder,  was  er  vor  allem  Wollen 
war,  wollen  und  nichtwollen  könnender  Wille ;  —  denn  das  wollen- 
Eönnen  freilich  ist  ihm  auf  keine  Weise  zu  nehmen« 

Da  es  nun  im  ünbewussten  weder  eine  Erfahrung,  noch  eine 
Erinnerung  giebt,  dasselbe  also  auch  durch  den  einmal  zur&ckge- 
legten  Weltprocess  nicht  alterirt  sein  kann,  sondern  sich  in  keiner 
Beziehung  anders  befbdet,  als  vor  dem  ersten  Beginne  jenes  Pro- 
cesses,  so  bleibt  unzweifelhaft  die  Möglichkeit  offen,  dass  die  Potenz 
des  Willens  noch  einmal  und  von  Neuem  sich  zum  Wollen  ent- 
scheidet, woraus  dann  sofort  die  Möglichkeit  folgte  dass  der  Welt- 
process sich  schon  beliebig  oft  in  derselben  Weise  abgespielt  haben 
kann.  Yerweilen  wir  noch  einen  Augenblick,  um  den  Grad  ihrer 
Wahrscheinlichkeit  zu  bestimmen. 

Der  wollen  und  nicht-wollen  könnende  Wille  oder  die  Potenz, 
welche  sich  zum  Sein  bestimmen  kann  oder  auch  nicht,  ist  das 
absolut  Freie.  Die  Idee  ist  durch  ihre  logische  Natur  zu  einer 
logischen  Nothwendigbeit  verurtheilt,  das  Wollen  ist  die  ausser  sich 
gerathene  Potenz,  welche  ihre  Freiheit,  auch  nicht- wollen  zu 
können,  verwirkt  hat;  nur  die  Potenz  vor  dem  Actos  ist  frei,  ist 
das  von  keinem  Grunde  mehr  Bestimmte  und  Bestimmbare, 
jener  XJngrund,  der  selbst  erst  der  Urgrund  von  Allem  ist.  So 
wenig  seine  Freiheit  von  Aussen  beschränkt  ist,  so  wenig  ist  sie 
es  von  Innen,  sie  wird  erst  in  dem  Moment  von  Innen  beschränkt, 
wo  sie  auch  vernichtet  wird,  wo  die  Potenz  selbst  sich  ihrer 
entäussert.  Man  sieht  sofort,  dass  diese  absolute  Freiheit  das 
Dümmste  ist,  was  man  sich  nur  denken  kann,  was  ganz  damit 
übereinstimmt,  dass  sie  nur  in  dem  Unlogischen  denkbar  ist. 

Wenn  es  nun  gar  nichts  mehr  giebt,  was  das  Wollen  oder 
Nicht  wollen  bestimmt,  so  ist  es  mathematisch  gesprochen  zufällig, 
ob  in  diesem  Moment  die  Potenz  will  oder  nicht  will,  d.  h.  die 
Wahrscheinlichkeit  =  \,  Nur  wo  die  Wahrscheinlichkeit  jedes  der 
möglichen  Fälle  =  \  ist,  nur  wo  der  absolute  Zufall  spielt,  nur  da 


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663 

ist  die  absolute  Freiheit  denkbar.  Freiheit  und  Zufall  sind  als 
absolute,  d.  h.  von  ihren  Belationen  entblösste  Begriffe  identisch. 
Aehnlich  fasst  Schelling  das  Yerhältniss,  wenn  er  sagt  (II.  \,  S.  464): 
„Das  Wollen,  das  für  uns  der  Anfong  einer  anderen,  ausser  der 
Idee  gesetzten  Welt  ist  ....  ist  das  Urzufallige,  der  Urzufall 
selbst.*' 

Wäre  nun  die  Potenz  zeitlich,  so  würde,  da  ja  die  Zeit  un- 
endlich ist,  die  Wahrscheinlichkeit  =1,  d.  h.  Gewissheit  sein, 
dass  die  Potenz  mit  der  Zeit  sich  auch  einmal  wieder  zum  Actus 
entschlieest ;  da  aber  die  Potenz  ausser  der  Zeit  steht,  welche  ja 
der  Actus  erst  schafft,  und  diese  ausserzeitliche  Ewigkeit  sich  in 
zeitlicher  Beziehung  von  dem  Moment  in  nichts  unterscheidet  (wie 
gross  und  klein  sich  in  Bezug  auf  die  Farbe  durch  nichts  unter- 
scheiden), so  ist  auch  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  die  Potenz  in 
ihrer  ausserzeitlichen  Ewigkeit  sich  zum  Wollen  bestimme,  gleich 
der,  dass  sie  sich  im  Moment  dazu  bestimme,  d.  h.  >«  ^.  Hieraus 
geht  hervor,  dass  die  Erlösung  yom  Wollen  für  keine  endgültige 
betrachtet  werden  kann,  sondern  dass  sie  nur  die  Qual  des  WoUens 
und  Seins  von  der  Wahrscheinlichkeit  1  (welche  sie  während  des 
Processes  hat),  auf  die  Wahrscheinlichkeit  i  reducirt,  also  immer- 
hin einen  für  die  Praxis  nicht  zu  verachtenden  Gewinn  giebt. 

Natürlich  kann  die  Wahrscheinlichkeit  des  künftig  Geschehen- 
den nicht  durch  die  Vergangenheit  beeinflusst  werden,  also  der 
Wahrscheinlichkeitscoefficient  von  -^  für  das  nochmalige  Auftauchen 
des  WoUens  aus  der  Potenz  dadurch  nicht  vermindert  werden,  dass 
sie  vorher  sich  schon  einmal  zum  Wollen  entschieden  hatte;  be- 
trachtet man  aber  a  priori  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  das  Auf- 
tauchen  des  Wollens   aus  der  Potenz  mit  dem  gesammten  Welt- 

process    sich,  n  Mal  wiederhole,   so   ist  dieselbe  offenbar  =  -r~ 

ebenso  wie  die  apriorische  Wahrscheinlichkeit,  n  Mal  hinter  einan- 
der die  Kopfseite  eines  Geldstückes  nach  oben  zu  werfen. 

Da  nämlich  mit  dem  Ende  eines  Weltprocesses  die  Zeit  auf- 
hört, so  ist  auch  bis  zum  Beginn  des  nächsten  keine  Pause  ge- 
wesen, sondern  die  Sache  ist  genau  ebenso,  als  wenn  die  Potenz 
im  Moment  der  Vernichtung  ihres  vorigen  Actus  sich  von 
Neuem  zum  Actus  entäussert  hätte.     Es  ist  aber   klar,   dass  die 

Wahrscheinlichkeit  -^  bei  wachsendem  n  so  klein  wird,  dass    sie 

practisch  zur  Beruhigung  genügt.  — 


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Gtehen  wir  nunmehr  zu  dem  anderen  Ueberseienden,  der  Yor- 
Stellung,  über  und  berücksichtigen  wir  zunächst  noch  einmal  ihr 
Yerhäkniss  zur  Platonischen  Idee. 

Aristoteles  nennt  die  Platonischen  Ideen  Qvoiai^  eia  Auf- 
druck, den  Plato  selbst  unseres  Wissens  nie  gebraucht  hat,  der 
jedenfalls  bei  Aristoteles  etwas  ganz  anderes  bedeutet,  als  wir  jetzt 
unter  ,,Substauz^  yerstehen,  und  der  am  ehesten  mit  ^Wesenheiten" 
zu  übersetz^i  wäre.  Für  Plato  selbst  kann  man  kaum  mehr  be- 
haupten, als  dass  er  die  Ideen  als  objectiye  Existenzen  au^efiasst, 
und  geläugnet  habe,  dass  sie  nur  in  der  Seele,  dass  sie  «in  blosses 
Wissen  einer  Person  seien;  weiter  ist  er  wohl  in  der  Erörterung 
ihres  Wesens  nicht  gegangen,  sondern  er  begnügt  sich  damit,  sie 
gegenüber  dem  yergängUcheu  Flusse  der  sinnlichen  Welt  als  das 
wahrhaft  Seiende  (ovziog  ov)j  als  das  an  und  für  sich  Seiende 
(ov  avvo  xaÜ^  avTo)  und  das  Unveränderliche  [oidiTtoTe  <w- 
öafjiy  oidafuSg  alkoiwaiv  ovösfiiap  ^vde%6fievov)  hinzustellen. 
Wenn  Aristoteles  dies  dahin  näher  bestimmt,  dass  er  die  Ideen  ov- 
Qiai  nennt,  so  haben  dagegen  die  späteren  Platoniker  und  die 
neuplatonische  Schule  es  so  verstanden,  dass  die  Ideen  ewige 
Gedanken. der  Gpttheit  seien. 

Dem  Platp  selbst  lag  ve^muthlich  beides  gleich  nf^^  denn 
wenn  auch  die  ewigen  Gedanken  der  Gottheit  nicht  Substanzen  im 
modernen  Sinne  sein  können,  so  ist  es  doch  durchaus  kein  Wider- 
spruch, sie  ovaiai  im  Aristotelischen  Sinne  zu  nennen,  eben  weil 
sie  ewige  Gedanken  der  Gottheit  sind,  also  eine  ewig  sich  gleich 
bleibende  Wesenheit  haben. 

Freilich  würde  Plato  nie  zugegeben  haben,  dass  sie  ein  Wis- 
sen, dass  sie  be-^russte  Gedanken  der  Gottheit  seien,  denn  damit 
wären  sie  vollständig  ihrer  Objectivität,  welche  ihm  als  die  Haupt- 
sache galt,  beraubt  worden.  Wenn  Plato  die  Idee  mit  der  gött- 
lichen Vernunft  identificirt,  so  kann  dies  auch  wohl  so  verstanden 
werden,  dass  er  mit  einer  sehr  erklärlichen  Licenz  des  Ausdruckes 
das  Wesen  mit  seiner  einzigen  ewigen  Thätigkeit  identificirt  habe. 

Es  liegt  also  nahe,  dass  man  unter  den  Platonischen  Ideen 
ewige,  unbewusste  Gedanken  (eines  unpersönlichen  Wesens) 
zu  verstehen  habe,  wobei  das  ,^ewige"  nicht  eine  unendliche  Dauer, 
sondern  das  ausserzeitliche ,  über  alle  Zeit  Erhabensein  ausdrückt. 
Auch  für  uns  ist  die  unbewusste  Vorstellung  ein  auaserzeitli<^ier» 
unbewusster,  intuitiver  Gedanke,  welcher  dem  Bewusstsein  gegen- 


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über  eine  ganz  objective  Wesenheit  repräsentirt.  Bei  Hauptunter- 
Bcbied  zwischen  der  Platonischen  und  unserer  Auffassung  liegt  in 
der  Bedeutung,  welche  er  dem  Worte  „Sein"  beilegt.  Während  er 
nämlich  nach  dem  Vorgange  des  Parmenidas  die  Unveränder- 
lich keit  als  das  Kriterium  des  wahren  Seins  ansieht,  erscheint 
uns  jetzt  die  TJnveränderlichkeit  für  das  Sein  als  gleichgültig, 
wohingegen  wir  die  unbedingte  Forderung  der  Bealität  an  das 
wahre  Sein  stellen. 

So  kommt  Plato  dazu,  die  Idee  für  das  im  eigentlichsten  Sinne 
Seiende  zu  erklären,  während  wir  sie  für  etwas  Nichtseiendes  hal- 
ten müssen,  wovon  später  noch  die  Eede. 

Bei  Plato  findet  in  dem  ansichseienden  Beiche  der  Ideen  eine 
solche  Durchdringung  derselben  statt,  dass  alle  enthalten  sind  in 
Einer  Idee,  dem  Guten.  Auch  ich  habe  mehrfach  auf  die  gegen- 
seitige Durchdringung  der  Vorstellungen  im  ünbewussten  und  ihre 
Ineinsfassung  hingewiesen  (z.  B.  von  Zweck  und  Mittel),  ein  Zu- 
stand, der  einfach  aus  der  Unzeitlichkeit  der  ünbewussten  Vor- 
stellung folgt,  wo  also  die  im  discarsiven  Denken  zeitlich  getrennten 
Denkmomente  nothwendig  i  n  einander  gefunden  werden  müssen.  £8 
wäre  mithin  kein  Wunder,  wenn  bei  dieser  gänzlichen  gegenseitigen 
Durchdrii^gung  auch  wir  gleichsam  ein  Summenzeichen  für  diese 
Ideenwelt  geben  könnten,  welches  rückwärts  für  sämmtliche  Ideen 
oder  Vorstellungen  bestimmend  ist  Wenn  irgend  Etwas,  so  dürfte 
dies  die  immanente  Ec^rmalbestimmung  der  Idee  sein,  das  Lo- 
gische. Das  Logische  drückt  sich  negativ  im  Satze  vom  Wider- 
spruche in  seinen  verschiedenen  Gestalten  aus;  und  positiv  als 
Umkehr  dieser  negativen  Seite  als  absoluter  Zweck.  Der  abso- 
lute Zwec^  nämlich  kann  niir  ein  solcher  sein,  welchen  nicht  zu 
bezwecken,  widersinnig  wäre  (wie  wir  dies  an  dem  Glückseligkeita- 
zwecke  gesehen  haben),  also  ist  die  absolute  Zweokthätigkeit  nur 
das  Thun  dessen,  was  ohne  Widerspruch  nicht  unterlassen 
werden  kann.  Wenn  also  der  Widerspruch  die  negative,  so  ist 
der  Zweck  die  zweimal  negative,  d.  h.  positive  Seite  des  Logischen. 

Dieses  Positive,  den  absoluten  Zweck,  meint  Plato  jedenfalls 
mit  seiner  Idee  des  Guten,  Wir  vereinigen  aber  lieber  positive 
und  negative  Seite  im  Begriffe  des  Logischen.  Dieses  ist  im  We- 
sentlichen identisch  mit  der  absoluten  Idee  HegePs,  denn  diese  ist 
weiter  nichts,  als  dasjenige,  wozu  der  allerärmste  Begriff  des  reinen 
Seins  sich  vermöge  seines   immanenten  logischen  Formprincipes  im 


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Fortschritte  der  Entwiokelung  selbst  bestimmt  hat,  nur  dass  maa 
in  dem  Worte  „absolute  Idee"  ein  leeres  Zeichen  hat,  welches  sich 
erst  erfüllt,  wenn  man  die  ganze  Entwickelung  durchgemacht  hat, 
während  das  „Logische''  jedem  erkennbar  das  formale  Moment  der 
Selbstbestimmung  im   idealen  ausserzeitlichen  Frocesse  bezeichnet. 

Der  Process  in  der  an  sich  seienden  Idee  ist,  wie  Hegel  selbst 
sagt,  ein  ewiger,  d.  h.  ausserzeitlicher,  mithin  ist  er  auch 
eigentlich  wieder  kein  Process,  sondern  ein  ewiges  Besultat,  ein 
in-Eins-sein  aller  sich  gegenseitig  bestimmenden  Momente  von  Ewig- 
keit zu  Ewigkeit,  und  dieses  in  -  Eins  -  sein  der  einander  bestimmen- 
den Momente  erscheint  uns  nur  als  Process,  wenn  wir  sie  im 
discursiven  Denken  künstlich  auseinander  zerren.  Aus  diesem 
Grunde  kann  ich  auch  nicht  zugeben,  dass  die  logische  Bestimmung 
dessen,  was  in  jedem  Moment  in  die  Wirklichkeit  hinaustritt,  durch 
Dialectik  im  Hegel'schen  Sinne  geschehe,  weil  im  Gebiete  der 
ausserzeitlichen  Ewigkeit,  wo  man  allenfalls  von  einem  friedlichen 
Neben-  und  Ineinanderliegen  sich  widersprechender  Yorsteliongen 
reden  könnte,  kein  Process  möglich  ist,  der  nothwendig  Zeit  vor- 
aussetzt, wogegen  in  dem  in  einem  bestimmten  Moment  in  die 
Wirklichkeit  getretenen  Stück  der  absoluten  Idee  wieder  das  Haupt- 
erfordemiss  der  Hegerschen  Dialectik,  die  Existenz  des  Wider- 
spruches, fehlt,  ganz  abgesehen  davon,  dass  ein  dialectischer  Process 
im  Hegerschen  Sinne  nur  zwischen  Begriffen,  diesen  Krücken  des 
discursiven  Denkens,  stattfinden  soll,  während  alles  unbewusste 
Denken  sich  in  concreten  Intuitionen  bewegt. 

Wäre  nicht  jenes  zeitlose  Ineinandersein  der  Ideen  im  XJnbe- 
wussten,  so  würde  es  weit  mehr  Schwierigkeiten  haben,  sich  vor- 
zustellen, wie  das  Unbewusste  das  Bewusstsein  als  Mittelzweck 
denken  kann,  ohne  Bewusstsein  zu  haben.  Man  sollte  meinen, 
das  Bewusstsein  -  Denken  sei  selbst  schon  ein  Bewusstsein 
und  zwar  eine  höhere  Stufe  des  Bewusstseins ;  da  aber  zu  einem 
solchen  im  ünbewussten  die  Bedingungen  fehlen,  so  sei  ihm  auch 
das  Denken  des  Bewusstseins  unmöglich. 

Abgesehen  jedoch  von  der  impliciten  Form,  wie  im  Ünbewuss- 
ten das  Denken  des  Zweckes  das  Denken  des  Mittels  einsohliesst 
und  umgekehrt,  ist  noch  Folgendes  zu  erwägen. 

Das  Denken  des  Bewusstseins  setzt  nur  dann  nothwendig  ein 
höheres  Bewusstsein  voraus,  wenn  das  Bewusstsein  als  Bewusst- 
sein,  d.  h.   in  der  subjectiven   Art  und  Weise  gedacht  wird, 


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^e  das  BewusstseinsBubject  von  seinem  Bewusstsein  sich 
afiQcirt  fühlt.  So  aber  denkt  das  ünbewusste  ganz  gewiss  das 
Bewusstsein  nicht,  da  ja  überhaupt  sein  Denken  unserem  subjectiyen 
Denken  schlechthin  entgegengesetzt  ist,  so  dass  es  als  objectiyes 
Denken  bezeichnet  werden  müsste,  wenn  nicht  diese  Bestimmung 
ebenso  exclusiy  einseitig  und  damit  unzutreffend  wäre. 

Schon  in  Cap.  C.  I.  haben  wir  gesehen,  dass  wir  von  der  Art 
und  Weise,  wie  das  ünbewusste  vorstellt,  nur  das  behaupten  kön- 
nen, dass  es  nicht  so  vorstellt,  wie  wir  vorstellen.  Wenn  wir 
positiv  sagen  sollen,  was  das  Vnbewusste  denkt,  wenn  es  das  Be- 
wusstsein als  Mittelzweck  denkt,  so  dürfte,  da  das  Bubjective  aus- 
geschlossen ist,  nichts  übrig  bleiben,  als  erstens  der  objective  Pro- 
cess,  dessen  subjective  Erscheinung  das  Bewusstsein  ist,  und  zweitens 
die  Wirkung  der  Emancipation  der  Yorstellung  vom  Willen,  welche 
aus  diesem  Ftocesse  hervorgeht,  und  auf  die  es  ja  dem  IJnbewuss- 
ten  allein  ankommt.     Hiermit  ist  obige  Schwierigkeit  beseitigt. 

Wenn  Flato,  der  von  Naturgesetzen  eigentlich  noch  keine 
Ahnung  hatte,  von  Allem,  wovon  e  r  sich  G^meinbegriffe  abstrahiren 
konnte,  auch  transcendente  Ideen  annahm,  so  war  dies  ein  kind- 
licher Standpunct,  der,  wie  Aristoteles  berichtet,  ihm  später  selbst 
gerechte  Bedenken  erregt  haben  soll 

Wir  wissen  jetzt,  dass  die  ganze  unorganische  Natur  eine  Folge 
der  sich  nach  ihren  immanenten  Gesetzen  (welche  mit  zu 
ihrer  Idee  gehören)  auswirkenden  Atomkräfte  ist,  und  erst  mit  dem 
Entstehen  der  Organismen  wahrhaft  neue  Ideen  hinzutreten.  Wir 
wissen  auch^  dass,  wie  sämmtliche  Ideen  aus  dem  Logischen  heraus 
bestimmt  sind,  und  eigentlich  sammt  und  sonders  nichts  sind,  als 
Anwendungen  des  Logischen  auf  gegebene  Fälle,  so  die  Idee  des 
Weltprocesses  die  Anwendung  des  Logischen  auf  das  leere 
Wollen  (bei  Hegel  vertreten  durch  das  den  Anfangs-  oder  Aus- 
gangspunct  der  Logik  bildende,  mit  dem  Nichts  identische  „reine 
Sein*0  ist. 

Als  Princip  betrachtet  brauchen  wir  also  nicht  mehr  von 
dem  Beiche  der  Ideen  oder  unbewussten  Vorstellungen  zu  sprechen, 
sondern  nur  noch  von  dem  Logischen,  oder  der  Idee  schlechthin« 

Wir  haben  gesehen,  dass  die  Idee  erst  existent  wird,  wenn 
der  Wille  sie  als  Inhalt  erfasst,  und  somit  realisirt;  was  ist  sie 
denn  aber  vcnrher ?  Jedenfalls  noch  nicht  existent,  ein  üeber- 
seiendes  wie   der   Wille  oder  das  leere  Wollen.      Wie  der  Wille 


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im  Wollen  ausser  sich  (als  Potenz)  geräth,  so  wird  die  Idee  durch 
den  Willen  ausser  sich  (als  Ueberseienden)  gesetzt  Dies  ist  der 
radicale  Unterschied  zwischen  beiden,  der  Wille  setzt  sich  selbst 
aus  sich  heraus,  die  Idee  wird  Tom  Willen  aus  sich  (als  einer  in 
Zustande  des  !N^ichtseius  Befindlichen)  herausgesetzt  in's  Sein. 

Könnte  die  Idee  von  sich  aelbst  in's  Sein  übergeho!,  so  wäre 
sie  ja  Potenz  des  Seins,  wäre  also  selbst  Wille.  Andererseits 
kann  aber  die  noch  nicht  in's  Sein  gesetzte  Idee  auch  nicht 
schlechthin  nicht  sein  {ovx  slvat),  sonst  könnte  auch  der 
Wille  nichts  aus  ihr  machen;  sie  kann  nur  ein  noch  nicht  im 
eminenten  Sinne  Seiendes  (jurj  ov)  sein.  Wenn  sie  nun  wed^ 
wirkliches  Sein,  noch  Potenz  des  Seins,  noch  auch  sobleohthin 
Nichts  sein  soll,  was  bleibt  dann  übrig?  Nichts  als  das  rein 
Seiende,  purus  (iciMSy  ohne  vorhergegangene  Potenz,  der  eben 
darum  nicht  wirkliches  Sein  ist,  weil  er  aus  keiner  Potenz 
hervorgegangen  ist  Es  fehlt  der  Sprache  zur  Bezeidinung 
dieses  Begriffes  jedes  geeignete  Wort;  bei  actus  denkt  man  einer- 
seits unwillkürlich  stets  an  eine  vorausgegangene  Potenz,  die  hier 
fehlt,  und  andererseits  ^  ein  wirkliches  Sein,  eine  wirksame 
Thätigkeit,  deren  strictes  Oegentheil  jenes  stille,  gelassene,  gaas  in 
sich  beschlossene,  niemals  von  sich  selbst  9m  sich  hecaiisgehende 
rein  Seiende  bildet.  Das  Wort  ücUm  pas&t  also  nur  insofern,  als 
dieser  Zustand  ebenso  wie  der  actus  einen  Gegensatz  zur 
Potenz  bildet,  aber  einen  Gegensatz,  der  ganz  anderer  Artist, 
als  der  des  actus.  Man  könnte  diesen  Zustand  etwa  als  latentes 
Sein  bezeichnen. 

Wir  finden  hier  die  Nothwendigkeit  begründet,  die  Idee  als 
rein -Seiendes  zu  bestimmen,  ebenso  wie  Schelling  zu  dieser  Be- 
stimmung geführt  wurde,  und  wie  auch  Hegel  der  Idee  ab  erste 
und  ursprünglichste  Bestimmung  die  des  reinen  Seins  geben  musste, 
welche  im  Vergleich  zu  einem  späteren  erfüllten  Sein  so  gut  wie 
Nichts  ist. 

Wir  haben  gesehen,  dass  zwar  der  Wille,  genauer  das  leere 
Wollen,  es  ist,  welches  die  Idee  überhaupt  aus  ihrem  an  und  für 
sich  Sein  in  ein  für  anderes  Sein  versetzt,  indem  es  sie  als  seinen 
Inhalt  an  sich  reisst,  dass  aber  die  Idee  als  Erfüllung  des  Willens 
sich  selbst  bestimmt  kraft  ihres  logischen  formalen  Momentes. 

Dieser  Satz  bleibt  gültig  vom  ersten  Moment  an«  wo  die  Idee 
durch   den  Willen   ausser  sich  gesetzt  wird,  bis  zu  dem  Augen- 


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blicke,  wo  das  Sein  mit  der  Umkehr  des  Willens  erlischt,  in  jedem 
Augenblicke  ist  die  Summe  der  Vorstellungen,  welche  den  Inhalt 
des  Willens  bildet,  ganz  und  ausschliesslich  logisch  bestimmt, 
oder  was  dasselbe  sagt,  in  Bezug  auf  ihr  „Was"  mit  logischer 
Nothwendigkeit  gesetzt.  Da  nun,  wie  wir  wissen,  das 
„Was"  der  Welt  in  jedem  Augenblicke  nur  der  realisirte  Inhalt 
des  Willens  ist,  so  ist  auch  das  „Was"  der  Welt  in  jedem  Augen- 
blicke des  Weltprocesses  durch  logische  Nothwendigkeit  bestimmt. 
Dies  gilt  für  das  Einzelne.,  wie  für  das  grosse  Ganze,  welches  ja 
nur  die  Summe  alles  Einzelnen  ist. 

Wenn  also  dieser  losgelassene  Stein  fällt,  so  geschieht  das 
Fallen  mit  der  und  der  Geschwindigkeit  aus  keinem  anderen 
Grunde,  als  weil  es  unter  diesen  Umständen  logisch  nothwendig 
ist,  weil  es  unlogisch  wäre,  wenn  in  diesem  Augenblicke  mit  dem 
Steine  etwas  anderes  passirte.  Dass  freilich  der  Stein  überhaupt 
in  diesem  Momente  noch  fallen  kann,  dass  er  noch  da  ist,  um  zu 
fallen,  dass  die  Eide  noch  da  ist,  um  ihn  zu  sich  herabzuziehen, 
dies  liegt  an  der  Fortdauer  des  Willens.  Denn  hörte  der  Wille  in 
dem  Augenblicke  auf,  zu  wollen,  also  die  Welt  auf,  zu  sein,  so 
würde  es  nicht  mehr  logisch  sein,  dass  der  Stein  fiele. 

Wir  sehen  hier  die  beiden  Momente,  aus  denen  sich  die  Cau* 
salität  zusammensetzte  Dass  der  Stein,  den  ich  jetzt  loslasse, 
fallt,  liegt  an  der  Fortdauer  des  Wollens  über  diesen  Augenblick 
hinaus;  dass  er  aber  fällt,  und  zwar  mit  der  und  der  Geschwin- 
digkeit fallt,  das  liegt  daran,  weil  es  logisch  ist,  dass  es  so  ist, 
und  unlogisch  wäre,  wenn  es  anders  wäre.  Dass  überhaupt  noch 
etwas  passirt,  dass  die  Wirkung  erfolgt,  liegt  am  Willen,  dass 
die  Wirkung,  wenn  sie  erfolgt,  mit  Nothwendigkeit  als 
diese  und  keine  andere  erfolgt,  liegt  am  Logischen.  Dass  indirect 
die  Ursache  für  die  Wirkung  das  Bestimmende  ist,  ist  ganz  klar, 
denn  nur  unter  diesen  Verhältnissen,  die  man  unter  der 
„Ursache"  zusammenfasst ,  ist  es  logisch,  dass  diese  Wirkung 
erfolge. 

Hiermit  ist  die  Gausalität  als  logische  Nothwen- 
digkeit begriffen,  die  durch  den  Willen  Wirklichkeit 
erhält. 

Wenn  wir  nun  den  Zweck  als  die  positive  Seite  des  Logischen 
erkannt  haben,  so  werden  wir  nunmehr  den  Satz  des  Leibniz  un- 
bedingt unterschreiben  dürfen:  ,ycau8ae  efficientes  pendent  a  causis 


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670 

finalibus^* ;  aber  wir  wissen  auch,  dass  er  nur  erst  einen  Theil  der 
Wahrheit  ansdrückt,  dass  der  ganze  Weltprocess  seinem  Inhalte 
nach  nnr  ein  logischer  Process  ist»  seiner  Existenz  nach  aber  ein 
oontinnirlioher  Willensact.  — 

Wir  treten  jetzt  an  die  Frage  heran,  ob  die  Idee  Attribut 
oder  Substimz  sei,  ob  sie  der  Gedanke  eines  vor,  hinter  oder  über 
ihr  Seienden  sei,  oder  ob  sie  ihrerseits  selbst  ein  Letztes  sei. 
Wir  haben  gesehen,  dass  Plato  sich  zu  keiner  dieser  Auffassungen 
bestimmt  entscheidet.  Hegel  behauptet,  dass  der  Begriff  die  allei- 
nige Substanz,  dass  die  Idee  Gott  sei,  während  Schelling  die  von 
Hegel  postulirte  Selbstbewegung  des  Begriffes  läugnet  (Werke  L  10, 
S.  1 32) :  ,^s  ist  also  in  dieser  angeblichen  nothwendigen  Bewegung 
eine  doppelte  Täuschung: 

1)  indem  dem  Gedanken  der  Begriff  substituirt  und  dieser 
als  etwas  sich  selbst  bewegendes  vorgestellt  wird  und  doch  der 
Begriff  für  sich  selbst  ganz  unbeweglich  liegen  würde,  wenn  er 
nicht  der  Begriff  eines  denkenden  Subjectes,  d.  h«  wenn  er  nicht 
Gedanke  wäre; 

2)  indem  man  sich  vorspiegelt,  der  Gedanke  werde  nur  durch 
eine  in  ihm  selbst  liegende  Kothwendigkeit  weiter  getrieben,  während 
er  doch  offenbar  ein  Ziel  hat,  nach  welchem  er  hinstrebt^ 

Zunächst  möchte  ich  bemerken,  dass  der  Unterschied  beider 
Auffassungen,  wenn  auch  theoretisch  wichtig  genug,  doch  wohl 
kaum  so  bedeutend  ist^  als  er  auf  den  ersten  Blick  scheinen  könnte, 
weil  wir  uns  hier  bereits  in  einer  Eegion  des  TJeberseienden  be- 
finden, wo  unsere  Begriffe  uns  nachgerade  im  Stiche  lassen,  und 
selbst  da,  wo  sie  uns  genügend  erscheinen,  wohl  schwerlich  jene 
transcendente  Objectivität  in  der  Weise  zu  decken  im  Stande  sind, 
wie  der  Metaphysiker  sich  nur  zu  leicht  einbildet.  Wir  haben  die 
Idee  vor  ihrer  Ergreifung  durch  den  Willen  als  das  rein  und 
poctenzlos  Seiende  erkannt.  Selbst  dieses  „rein  Seiende''  können 
wir  nicht  denken,  ohne  an  ihm  das  Wesentliche  (hier  in  der 
Bedeutung  von:  das  Substantielle)  und  das  Zuständliohe  zu 
unterscheiden,  „das,  was  rein  ist"  und  den  Zustand  des  „rein« 
Seins."  Die  Nothwendigkeit  dieser  Trennung  in  unserem  Denken 
ist  nicht  zu  bestreiten,  es  fragt  sich  nur,  ob  man  sie  als  bloss 
subjective  ignoriren,  oder  ob  man  sie  als  transoendent  -  objective 
gelten  lassen  will,  eine  Frage,  die  wohl  kaum  a  priori  zu  ent- 
scheiden sein  dürfte. 


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671 

Ersteres  müsste  Hegel  thun,  wenn  er  an  diese  AlternaÜTe 
herangeföhrt  würde,  Letzteres  ist  der  Standpnnct  Schelling's.  Im 
ersteren  Falle  spricht  man  das  ganze  rein  Seiende  ohne  Bücksicht 
auf  diese  Trennung  als  Substanz  an,  im  letzteren  setzt  man  das 
Wesentliche  als  Substanz,  das  Zuständliche  als  Attribut ;  im  ersteren 
Falle  ist  die  Idee  oder  Vorstellung  das  Ganze,  also  die  Sub- 
stanz, im  letzteren  ist  sie  im  engeren  Sinne  nur  das  Zuständliche, 
also  Attribut.  Man  sieht,  dass  es  sich  vorläufig  mehr  um  eine 
Definition  des  Wortes,  als  um  die  Sache  handelt. 

Wichtig  wird  der  Unterschied  erst,  wo  es  sich  um  das  Ver- 
hältnisB  des  rein  Seienden  zum  Seinkönnenden,  der  Vorstellung 
zum  Willen  handelt  Hegel,  der  nur  das  Eine  Princip,  die  Idee,  gelten 
lässt,  bat  folgerichtig  gar  keinen  Grund  mehr,  jene  Trennung  zu 
Yollführen,  da  sie  werthlos  für  ihn  wäre,  sowie  aber  das  Be- 
dürfniss  der  Einheit  von  Wille  und  Vorstellung  sich  geltend 
machte  ist  die  Vollziehung  jener  Trennung  gefordert  Wenn  näm- 
lich auch  die  Zustände  des  Seinkönnens  und  rein -Seins  verschieden 
sind,  so  hindert  dies  doch  nicht,  das  Wesetitliche  oder  Substantielle 
beider  Frincipien,  das,  was  sein  kann  und  das,  was  rein  ist,  als 
Ein  und  dasselbe  zu  setzen.  Sowie  die  substantielle  Identität 
und  nur  zuständliche  Verschiedenheit  beider  Frincipien  anerkannt 
ist,  haben  wir  Spinoza^s  Eine  Substanz  mit  zwei  Attri- 
buten erreicht 

Das  unerlässliche  Bedürfhiss  der  wesentlichen  oder  substan- 
tiellen Identität  von  Wille  und  Vorstellung  ist  meiner  Ansicht  nach 
das  entscheidende  Moment  auch  für  die  Frage  nach  dem  substan- 
tiellen oder  attributiven  Character  der  Idee.  Jenes  BedürMss  ist 
ganz  unabweislich.  Wären  Wille  und  Vorstellung  getrennte  Sub- 
stanzen, so  wäre  viel  schwerer  an  eine  Wechselwirkung  derselben 
zu  glauben;  es  wäre  nicht  mehr  einzusehen,  wie  das  eine  zum 
anderen  in  Beziehung  treten  soll,  wie  der  Wille  das  Logische  als 
Inhalt  an  sich  reissen,  wie  das  Logische  zur  Beaction  gegen  ein 
ihm  ganz  fremdes,  es  gar  nichts  angehendes  Unlogisches  und  dessen 
vernunftwidriges  Thun  sich  veranlasst  finden  kann,  während  sich 
diese  Beziehungen  ganz  von  selbst  verstehen,  wenn  es  ein  und  das- 
selbe Wesen  ist,  welches  diese  beiden  ist,  d.  h.  von  welchem  und 
an  welchem  sie  Attribute  sind. 

Wären  Wille  und  Vorstellung  getrennte  Substanzen,  so  würde 
ein  unüberwindlicher  Dualismus  durch  die  Welt  hindurchgehen,  und 


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672 

in  der  Seele  des  Individuums  sich  geltend  machen,  ein  Dualismus, 
von  dem  in  diesem  Sinne  nirgends  etwas  zu  merken  ist.  Der 
Monismus,  nach  welchem,  wie  wir  gesehen  haben,  Alles  strebt, 
wäre  damit  absolut  aufgehoben  und  ein  reiner  Dualismus  an  seine 
Stelle  gesetzt.  Jetzt  erst  ist  die  heimliche  Furcht  vor  dieser  Spal- 
tung, welche  sich  namentlich  im  Cap.  C.  VII.  geltend  machte,  be- 
seitigt ,  indem  wir  dieselbe  als  einen  Dualismus  nur  der  Attri- 
bute erkannt  haben,  welcher  die  Einheit  der  Substanz  nicht  be- 
einträchtigt, welcher  aber  unmöglich  entbehrt  werden  kann,  wo  ein 
Process  zu  erklären  ist ;  denn  der  Process  verlangt  erstens  ein  nicht 
sein  Sollendes,  und  zweitens  ein  anderes,  welches  diese»  nicht  sein 
Sollende  bekämpft. 

Schon  Plato  sucht  im  Parmenides  nachzuweisen,  dass  das  Eins 
nicht  ohne  eine  imm&nente  Vielheit  ttad  dass  die  Vielheit  nicht 
ohne  ein  sie  zusammenfassendes  Eines  denkbar  sei.  Gerade  so  wie 
wir  fasst  Scheiling  den  Dualismus  im  Monismus  auf  (Werke  II.  3, 
S.  218):  „Die  Identität  muss  vielmehr  im  strengsten  Sinne  genom- 
men werden  als  substantielle  Identität.  Die  Meinung  ist  nicht, 
dass  das  Seinkönnende  und  das  rein  Seiende  jedes  als  ein  für 
sich  Seiendes,  d.  h.  als  Substanz,  gedacht  werde  (denn  Substanz 
ist  was  für  sich  selbst  ausser  einem  Anderen  besteht).  Sie  sind 
nicht  selbst  Substanz^  sondern  nur  Bestimmungen  des 
Einen  Ueberwirklichen.  Die  Meinung  ist  also  nicht,  dass 
das  Seinkönnende  ausser  dem  rein  Seienden  sei,  sondern  die  Mei- 
nung ist,  dass  eben  dasselbe,  d.  h.  eben  dieselbe  Substanz  in 
ihrer  Einheit  und  ohne  darum  zwei  zu  werden,  das  Seinkönnende 
und  das  rein  Seiende  sei.'^ 

Man  könnte  diese  in  Wille  und  Vorstellung  identische  Sab- 
stanis,  dieses  individuelle  Einzelwesen,  welches  erst  jene  abstracten 
Allgemeinheiten  trägt,  „das  absolute  Subject'*  nennen,  als  dasjenige, 
„das  zu  nichts  anderem,  und  zu  dem  alles  andere  nur  als  Attribut 
sich  verhalten  kann"  (Scheiling  n.  1,  318);  aber  leider  ist  das 
Wort  Subject  so  vieldeutig,  dass  man  damit  leicht  Missverständ- 
nisse hervorrufen  könnte.  Dahingegen,  wenn  man  berechtigt  ist, 
irgend  etwas  Ursprüngliches  den  absoluten  Geist  zu  nennen, 
so  ist  es  gewiss  diese  Einheit  von  Wille  und  Vorstellung/  diese 
Eine  Substanz,  die  hier  will  und  dort  vorstellt,  —  wie  wir  es 
bisher  genannt  haben:  das  Unbewusste.  Dieser  unbewusste  Geist 
ist  „das  XJeberseiende ,   welches   alles  Seiende  ist".      Freilich  muas 


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man  dann  nicht  von  Hegels  willkürlicheivBesehränkung  des  Wortes 
Geist  auf  dessen  Erscheinung  in  der  Form  des  Bewusstseins  vor- 
eingenommen sein. 

Es  wäre  ein  grosser  Irrthum,  wenn  man  das  Verhältniss  unse- 
rer Substanz  zu  unseren  Attributen  so  fassen  wollte,  als  ob  sie  die 
Potenz  der  Attribute,  und  diese  (xclua  oder  Thätigkeiten  wären. 
Üeber  den  Begriff  der  Potenz  sind  wir  längst  hinweg,  denn  die 
Potenz  des  Seins  oder  Wollens  ist  ja  selbst  das  Eine  der  Attri- 
bute, und  das  Andere  haben  wir  ausdrücklich  als  das  rein  Seiende 
bestimmt,  welches  aus  keiner  Potenz  mehr  hervorgegangen  ist. 
Zu  keinem  von  beiden  kann  also  die  Substsuiz  im  Verhältnisse  der 
Potenz  stehen,  und  keines  von  beiden  ist  actus  ^  welcher  aus  einer 
Potenz  hervorginge.  Dies  ist  ein  Hauptunterschied  von  Spinoza, 
bei  welchem  ganz  offenbar  die  Substanz  als  die  Potenz  der  Attri- 
bute erscheint. 

Der  zweite  Unterschied  liegt  in  der  Bestimmung  des  einen 
Attributes,  welches  Spinoza  nach  dem  Vorgänge  des  Gartesius  Aus- 
dehnung nennt.  Nun  sind  aber  Denken  und  Ausdehnung  gar 
keine  Gegensätze,  denn  die  Ausdehnung  ist  ja  auch  i  m  D  e  n  k  e  n. 
Einen  Gegensatz  bilden  nur  Denken  imd  reale  Ausdehnung,  welche 
von  Spinoza  auch  nur  gemeint  ist.  Indessen  zwischen  den  Begriffen 
Denken  und  reale  Ausdehnung  besteht  der  Gegensatz  wiederum 
nicht  zwischen  „Denken'^  und  „Ausdehnung^*,  sondern  zwischen 
,yDenken''  und  j^eal"  oder  ,Jdealem  und  Bealem*';  nicht  die  Aus- 
dehnung macht  die  Eealität,  sondern  sie  selbst  muss  erst  real  ge- 
macht werden,  um  mit  dem  Denken  einen  Gegensatz  zu  bilden. 
Das  zweite  Attribut  Spinoza's  müsste  also  dasjenige  sein,  welches 
—  und  nun  nicht  bloss  die  Ausdehnung,  sondern  auch  alles  übrige 
Ideale  —  real  macht,  dies  ist  aber  nichts  anderes,  als  der  Wille. 
Dann  erst,  wenn  man  statt  der  Ausdehnung  den  Willen  setzt,  wird 
Spinoza's  Metaphysik  zu  dem,  was  sie  sein  sollte,  dann  aber  fallt 
auch  der  Gipfel  unserer  Pyramide  mit  der  von  Spinoza  mystisch 
postulirten  Einen  Substanz  zusammen.   — 

Hiermit  ist  unser  Weg  beendet ;  wir  wollen  aber  zum  Schlüsse 
noch  einer  Frage  unsere  Au&nerksamkeit  schenken,  ob  und  wie 
nämlich  von  dem  Standpuncte  der  Philosophie  des 
ünbewussten  metaphysische  Erkenntniss  möglich  sei. 

Diese  Frage  ist  nicht  unwichtig,  denn  oft  stehen  die  bedeu- 
tendsten metaphysischen  Systeme,  die  die  ganze  Welt  auf  zusam- 

T.  Hartmum,  Phil.  d.  Ünbewussten.  43 


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674 

menhSngende  und  wohl  onxielimbare  Weise  erklären,  rathlos  dem 
Probleme  gegenüber,  wie '  nach  ihren  eigenen  Yoranssetzmigen  die 
Yon  ihnen  behauptete  Erkenntniss  des  metaphysischen  Zusammen- 
hanges möglich  sei«  Es  kann  an  dieser  Stelle  natürlich  nicht  eine 
Erkenntnisslehre  erwartet  werden,  sondern  nur  eine  Skizzirung  des 
Standpunctes,  auf  dem  wir  uns  zu  jener  Frage  befinden. 

Die  griechisch-römische  Philosophie  lief  in  Skepticismus  aus, 
weil  es  ihr  nicht  gelange  ein  Kriterion  der  Wahrheit  zu  finden, 
und  sie  folgerichtig  an  der  Möglichkeit  der  Entscheidung  darüber 
yerzweifelte,  ob  ein  Erkennen  möglich  .sei.  Der  Dogmatismus  der 
neueren  Philosophie  wurde  in  ähnlicher  Weise  durch  Hume  ge- 
brochen, dessen  unerbi^liche  Kritik  Kant  in  noch  weiterem  Um- 
feaxge  und  grösserer  Tiefe   durchführte. 

Zugleich  aber  war  Kant  auf  der  anderen  Seite  der  GenioB, 
welcher  die  Entwickelungsphase  der  neuesten  Philosophie  anhob. 
Während  die  griechische  Philosophie  sich  nutzlos  mit  der  unmög- 
lichen Eordemng  abgequält  hatte,  an  der  Erkenntniss  seibat  ein 
Merkmal  aufzufinden,  welches  ihr  den  Stempel  der  Wahrheit  auf- 
drückte, ging  Kant  hypothetisch  zu  Werke  und  firagte;  j^abgesehen 
davon,  ob  es  ein  wahres  Erkennen  giebt,  welcher  Art  müssen  die 
metaphysischen  Bedingungen  sein,  wenn  ein  solches  möglich  sein 
soll",  oder  wie  er  die  Frage  hinstellt:  „wie  sind  synthetische  TJr- 
theile  a  priori  möglich?'* 

Die  ganze  neueste  Philosophie  mit  Ausnahme  yon  Sohelling's 
letztem  Systeme  steht  mit  mehr  oder  weniger  Bewusstsein  auf 
diesem  Standpuncte:  die  Bedingungen  der  Möglichkeit  des 
Erkennens  bilden  ihre  Metaphysik.  Als  erste  und  Fun- 
damental-Bedingung  der  Möglichkeit  alles  Erkennens  lässt  sich  die 
Gleiohiurtigkeit  des  Denkens  und  seines  äusseren  Gegenstandes  be- 
haupten, da  bei  einer  Heterogen ität  des  Denkens  und  des 
Dinges  schlechterdings  keine  U  eberein  Stimmung  beider,  d.  h. 
Wahrheit  und  noch  weniger  ein  Bewusstsein  dieser  üebereinstim- 
mungy  d.  h.  Ei^enntniss  möglich  ist.  Die  sogenannte  Identität  von 
Denken  und  Sein  ist  daher  der  Fundamentalsatz  der  neuesten 
Philosophie,  eine  Sache,  von  der  die  Alten  kaum  eine  Ahnung  hatten. 

Dasfl  diese  Identität,  welche  den  Ausgangspunct  seines  Systemea 
bildet,  nur  indireot,  und  zwar  dadurch  zu  beweisen  sei,  „dass 
bei  keiner  anderen  möglichen  Voraussetzung  ein 
Wissen  denkbar  sei'^  giebt  Schelling  (I.  6,  138)  ausdrücklich  zu. 


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Zunächst  werden  wir  recapitulireB  müsoen,  wie  die  Philosophie 
des  ünbewussten  sich  zu  jenem  Gegensätze  yon  Denken  und  Ding, 
mens  und  ena,  ratio  und  rea^  Geist  und  Natur»  Idealem  und 
Eealem,  Subjectirem  und  Objectivem  verhält.  Nie  und  nirgends 
kann  die  Identität  von  Idealem  und  Eealem  so  verstanden  werden, 
als  ob  zwischen  beiden  kein  Unterschied  mehr  wäre,  also  eines  der 
Worte  überAüssig  wäre ;  sondern  die  Identität  bezieht  edch  nur  auf 
den  Inhalt,  während  Jeder  einsieht,  dass  die  Form  der  Existenz 
beider  eben  darin  sich  unterscheide^  dass  das  eine  ideal,  das  andere 
real  ist. 

Wir  wissen  nun  aus  dem  Yorigen  genauer,  dass  das  Sein  ein 
Froduct  aus  dem  Unlogischen  und  Logischen,  aus  Wille  und  Vor- 
stellung ist,  dass  sein  „Dass''  durch  das  Wollen  gesetzt  ist,  sein 
„Was''  aber  der  Yorstellungsinhalt  jenes  Wollens  ist,  also  nicht 
bloss  mit  der  Idee  gleichartig,  sondern  selbst  Idee,  d.  h.  iden- 
tisch im  strengsten  Sinne  des  Wortes  ist.  So  ist  auch  Geist  und 
Natur  nicht  mehr  verschieden,  denn  der  ursprüngliche  unbe- 
wusste  Geist  ist  dasjenige  in  seinem  Ansichsein,  was  in  seiner 
actuellen  Verbindung  Natur,  und  als  Resultat  des  Naturprocesses 
bewusster  Geist  oder  Geist  im  engeren  (Hegerschen)  Sinne  des 
Wortes  ist.  Was  aber  das  Subjective  und  Objective  betrifft,  so 
sind  dies  durchaus  relative  Begriffe,  welche  erst  mit  der  Ent- 
stehung des  Bewusstseins  eintreten,  denn  im  unbewussten 
Wollen  und  der  unbewussten  Vorstellung  haben  dieselben  keinen 
Platz,  das  Unbewusste  ist  über  jene  G^ensätze  erhaben,  da  sein 
Denken  durchaus  kein  subjectives,  sondern  für  uns  ein  objectives» 
in  Wahrheit  aber  ein  transcendent- absolutes  ist.  Man  kann  also 
auch  eigentlich  nicht  sagen ,  dass  das  Unbewusste  das  absolute 
Subject  sei,  sondern  nur,  dass  es  das  Einzige  sei,  was  Subject 
werden  könne,  ebenso  wie  es  das  Einzige  ist,  was  Object  werden 
kann,  weil  es  ja  eben  nichts  giebt  ausser  dem  UnbewtisBten ;  und 
so  verstanden  kann  man  allerdings  das  Unbewusste  das  abso- 
lute Subject  und  das  absolute  Object  nennen,  unbeschadet  dessen, 
dass  es  als  Unbewusstes  über  den  Gegensatz  des  Subjecüven  und 
Objectiven  erhaben  ist. 

Wir  haben  gesehen,  dass  das  Bewusstsein  nur  bei  einer  Col- 
lision  verschiedener  Willensrichtungen  eintritt,  von  diesen  ist  dann 
jede  die  objective  für  die  andere  und  jede  die  subjective  für  sich 
im   Gegensatz  zu  der  anderen  ihr  objectiven,  vorausgesetzt,  dass 

43* 


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beide  Willensrichtimgen  sich  unter  Yerhältnissen  befinden,  welche 
die  Möglichkeit  der  Bewusstseinsentstehung  nicht  dadurch  y^hin- 
dem,  dasB  sie  unterhalb  der  Schwelle  dos  Bewusstseins  liegen. 

Dächte  man  sich  z.  B.  die  Atome  oberhalb  der  BewusstseiiiB- 
sohwelle,  so  würde  die  Atomkraft  A  der  Atomkraft  B  objectiv 
werden  und  umgekehrt,  die  Atomkraft  A  dagegen  sich  selbst  im 
Gegensatz  zur  Objectivit&t  von  B  subjectiv  werden  und  umgekehrt. 
So  würde  das  TJnbewusste  sich  in  A  und  B  zweifach,  sowohl  ob- 
jectiv  als  subjectiv,  bewusst  sein. 

Nachdem  wir  so  gesehen  haben,  dass  die  Vereinigung  aller 
oben  genannten  Gegensätze  aus  unseren  Frincipien  sich  ergiebt, 
kommen  wir  zu  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  der  Erk^ntziias 
zurück.  Es  war  von  der  neuesten  Philosophie  also  bewiesen,  dass 
ein  auf  Aufhebung  jener  Gegensätze  beruhendes  System  das  einng 
richtige  sei.  falls  es  überhaupt  eine  wahrhafte  Erkenntniss  gäbe; 
ob  es  aber  eine  solche  gäbe,  dafür  fehlte  ihr  nach  wie  vor  jeder 
Beweis y  sie  war  in  der  Annahme  desselben  so  dogmatisch,  wie 
es  der  vorkantische  Dogmatismus  nur  irgend  sein  konnte,  ja  es  fiel 
ihr  nicht  einmal  die  Möglichkeit  ein,  dass  Jemand  die  Möglichkeit 
eines  absoluten  Erkennens  (Vernunft)  bis  zu  erhaltenem  Beweise 
desselben  mit  Eecht  läugnen  könne  und  läugnen  müsse  (vgl.  Schel- 
Ung  n.  3,  S.  74). 

Dir  ganzes  Fhilosophiren  beruhte  also  auf  einer  Bedingung, 
die  völlig  in  der  Luft  schwebte,  das  Ganze  war  ein  hypothetisches 
Bhilosophiren  aus  einer  unbewiesenen  Voraussetzung  heraus  ge- 
wesen. 

Es  konnte  sich  hiemach  folgerechter  Weise  auch  die  neueste 
Philosophie  nur  in  Skepticismus  auflösen.  Dass  dieser  Skepticismuß 
in  der  jüngeren ,  philosophisch  gebildeten  Welt  (insoweit  sie  einen 
unreifen  Dogmatismus  überwunden  hat)  das  vorwaltend  Herrschende 
ist,  dürfte  wohl  kaum  zu  bestreiten  sein;  dass  derselbe  keine 
wissenschaftlich  consequente  Durchbildung  ( —  Aenesidemus  steht 
nur  erst  hinter  Kant  — )  erhalten  hat,  liegt  nur  darin,  dass  die 
handgreiflichen  Eesultate  der  ezacten  Wissenschaften  und  die  jetzt 
alles  verschlingenden  practischen  Interessen-  überhaupt  der  Philo- 
sophie ungünstig  sind^  indem  sie  das  theoretische  Denken  zu  sehr 
zerstreuen  und  von  einer  consequenten  Vertiefung  abhalten.  Um 
weiter  zu  kommen,  giebt  es  offenbar  nur  zwei  Wege:  entweder 
man  müsste,  um  das  hypothetische  Eesultat  der  Identitätsphilosophie 


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sicher  zu  stellen,  direot  beweisen,  dass  eine  wahrhafte  Erkenntniss 
existirt,  —  doch  würde  man  mit  einem  solchen  Bestreben  nur  in 
die  ihrer  Natur  nach  vergeblichen  (ygl.  Eant's  Werke  11.  S.  62 
bis  63)  Bestrebungen  der  Griechen  zurückfallen^  —  oder  man  muss 
den  neuesten  Fortschritt  wirklich  benutzen^  und  das  Bing  am  e  n  t  - 
gegengesetzten  Ende  wie  die  Griechen  anfiassen,  d.  h.  man 
muss  auf  einem  ganz  anderen  als  dem  bisher  yersuchten,  auf  einem 
Jedem  zugänglichen  und  einleuchtenden  Wege  die  inhaltliche  Iden- 
tität von  Denken  und  Sein  direct  beweisen.  Dieser  Weg  kann 
nur  der  von  uns  durchlaufene,  das  successive  inductive  Aufsteigen 
aus  der  Erfahrung  sein. 

Nun  muss  freilich  der  auf  diesem  Wege  geführte  Beweis  selbst 
ein  Erkennen  sein,  wenn  er  etwas  beweisen  soll;  man  könnte  also 
denken,  dass  man  dabei  nur  scheinbar  einen  Schritt  weiter  gekom- 
men ist,  in  Wirklichkeit  aber  ebenso  wie  vorher  mit  den  Füssen 
in  der  Luft  steht.  Dem  ist  jedoch  nicht  so,  vielmehr  ist  das  Yer- 
hältniss  Folgendes. 

Früher  hiess  es:  „wenn  es  ein«  Erkenntniss  giebt,  so  ist  in- 
haltliche Identität  von  Denken  und  Sein'';  über  diesen  einfachen 
Conditionalsatz  kam  man  nicht  hinaus. 

Jetzt  heisst  es:  „1)  wenn  es  eine  Erkenntniss  giebt,  so  muss 
sie  auf  inhaltlicher  Identität  von  Denken  und  Sein  beruhen,  also 
auch  in  der  unmittelbaren  Erfahrung  (Affection  des  Denkens  durch 
das  Sein)  und  den  logisch  richtigen  Schlüssen  aus  derselben  zu 
finden  sein;  2)  die  Schlüsse  aus  der  Erfahrung  constatiren  die  in- 
haltliche Identitöt  von  Denken  und  Sein;  3)  aus  dieser  Identität 
folgt  die  Möglichkeit  einer  Erkenntniss.'^ 

Hiermit  haben  wir  einen  in  sich  geschlossenen  Zirkel,  wo  jedes 
Glied  die  anderen  bedingt,  gleichviel  mit  welchem  man  anfange, 
während  wir  vorher  nur  einen  Conditionalsatz  gleichsam  ohne 
Bücken-  und  Brustlehne  hatten.  Es  bleibt  mithin  allerdings  auch 
jetzt  noch  die  Möglichkeit  übrig,  dass  dieser  ganze  Zirkel  von 
psychologischen  und  metaphysischen  Bedingungen  ein  bloss  sub- 
jectiver  Schein  sei,  den  das  Bewusstsein  durch  eine  unerklär- 
liche Nothwendigkeit  gezwungen  ist,  sich  zu  bilden ,  dass  es  also  in 
der  That  doch  keine  Erkenntniss  und  keine  Identität  von  Denken 
und  Sein  gebe^  und  der  auf  beide  gebaute  Zirkel  von  sich  gegen- 
seitig wahrscheinlich  machenden  Beziehungen  eine  blosse  Chimäre 
sei.     Denn  freilich  lässt  sich   die   transcendente   und   nicht   bloss 


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subjective  Existenz  jenes  Zirkels  nicht  in  aller  Strenge  als  abso- 
lute Wahrheit  beweisen,  weil  eben  das  Bewusstsein  in  diesen 
Kreis  gebannt  ist,  xind  nie  einen  Standpnnct  ausserhalb  desselben 
nehmen  kajini  von  welchem  aus  es  die  Beschaffenheit  jenes  Zirkels 
beurtheilen  könnte,  weil  es  eben  die  Möglichkeit  der  Erkenntnis«^ 
nicht  ohne  Erkenntniss  erkennen  kann. 

Wenn  also  auch  die  absolute  Unmöglichkeit  des  Gegentheiles 
nicht  bewiesen  werden  kann,  so  ist  doch  durch  jenen  Zirkel  die 
Wahrscheinlichkeit,  dass  es  sowohl  Erkenntniss,  als  auch  Identität 
von  Denken  und  Sein  gebe,  sehr  viel  grösser  geworden,  als  sie  vor- 
her bei  jenem  einfachen,  vom  und  hinten  jedes  stützenden  Haltes 
entbehrenden  Conditionalsatz  war,  sie  ist  so  gross  geworden,  dass 
die  Möglichkeit  des  Gegentheiles  practisoh  nicht  mehr  in  Betracht 
kommt.  Der  Skepticismus  ist  also  nicht  vernichtet,  sondern  als 
theoretisch  berechtigt  anerkannt,  aber  doch  seine  Bedeutung  auf  ein 
solches  Minimalmaass  reducirt,  dass  sie  für  die  Praxis  nicht  nur 
des  Lebens,  sondern  auch  der  Wissenschaft  verschwindet. 

Betrachten  wir  dieses  Resultat  über  die  Möglichkeit  der  Erkennt- 
niss im  Allgemeinen,  so  stimmt  es  merkwürdig  überein  mit  dem, 
was  für  die  Erkenntniss  jeder  speciellen  Wahrheit  <  insofern  sie  nicht 
formal  logischer  Natur  ist)  wohl  nachgerade  allerseits  zugegeben 
werden  dürfte,  dass  es  für  uns  keine  Wahrheit,  d.  h.  Wahrschein- 
lichkeit von  dem  "Werthe  l,  sondern  nur  mehr  oder  minder  grosse 
Wahrscheinlichkeit  giebt,  welche  die  1  nie  erreicht,  und  dass  wir 
vollkommen  zufrieden  sein  müssen,  wenn  wir  bei  unserem  Erkennen 
einen  Grad  der  Wahrscheinlichkeit  erreichen,  welcher  der  Möglich- 
keit des  Gegentheiles  die  practische  Bedeutung  benimmt  (veri^L 
auch  Einleitendes  L  b.). 


Draekfehler. 

8.  16  Z.  18  von  anten  statt:  dasa  dM  Ich  lies:  das  das  Ich. 
8.  119  Z.  9  von  oben  statt:  sollten  lies:  sollen. 
S.  144  Z.  31  yon  oben  statt:  das  lex  panimoiüae,  welches  Um: 

die  lex  parsimoniae,  welche. 
8.  192  Z.  4  von  nnten  statt:  Begehungen  lies:  Begeh  rangen. 


Dnich  der  Hofbnchdruckerei  (H.  A.  Pierer)  in  Altenhnrg. 

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