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PMlosophie des Unbewusste
\
Versxicli einer Weltanschauung.
Von
f^ourr^ J^^-Se^ ^E. V. Hartmann.
Dr. phil.
BpeonlatiT« Retnltat« nach indnctiv •
wi88«DflehafUieh«T Mcfhod«.
Berlin, 1869.
Carl Duncker*8 Verlag.
(C. Hejnaoiifl.)
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21 Auffnst, 1801,
From the Library of
F.H.Hedge,D,D,
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Inhaltsverzeichniss«
BiBleiteideB. g^i^
I. AUg0meiii6 Varbemerkangeii 1
a. Aufgabe . • 1
b. Methode 5
c Vorgänger 12
IL Wie kommen wir asiir Annahme von Zwecken in der Natur? 24
k. Die Bnpekebmi; des Uibewusten ii der Leibliebkeil.
I. Der imbewnsste Wüle in den selbstständigen Rückenmarks- and
Gani^enfonctionen 39
U. Die nnbewnsste VorsteUnng bei Ausftlhrang der willkürlichen
Bewegung 49
IIl^ Die xmbewiisste Vorstellung im Instinct 54
IV. Die Verbindung von Wille und Vorstellung 83
V. Das Ünbewusste in den Reflexbewegungen 89
VI. Das ünbewusste in der KaturheÜkraft 104
VII. Der indirecte Einfluss bewusster Seelenthatigkeit auf organische
Functionen 126
1) Der ESnflnss des bewussten Willens : a) die Muskelcontrac-
tion; b) WHIensströme in sensibeln Kerren ; c) der magne-
tische Kervenstrom; d) die vegetatiyen Functionen 126
2) Der Einfluss der bewussten Vorstellung 135
Vin. Das Ünbewusste im organischen Bilden 139
B. Dm UikewiMto im Cfeiite.
I. Der Instinct im menschlichen Qeiste 157
IL Das ünbewusste in der geschlechtlichen Liebe 171
m. Das ünbewusste un Gefühle 188
rV. Das ünbewusste in Character und Sittlichkeit 202
V. Das ünbewusste im ästhetischen Urtheile und in der küns^rischen
Production 210
VL Das ünbewusste in der Entstehung der Sprache 227
vn. Das ünbewusste im Denken 233
VUL Das ünbewusste in der Entstehung der sinnlichen Wahrnehmung 253
IX, Das ünbewusste m der Mystik 273
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_ IV
S«ite
X. Das UnbewQBste in der Geschichte 290
XI. Das Unbewusste und das Bewnsstsein in ihrem Werthe för das
menschliche Leben 301
C. Metaplijsik des Unbewttssteii.
I. Die Unterschiede von bewnsster und nnbewusster Qeistesthätig-
keit and die Einheit von Wille und Vorstellang im Unbewossten 319
II. Gehirn nnd Ganglien als Bedingung des thierischen Bewosstseins 332
in. Die Entstehung des Bewusstseins 345
IV. Das Unbewusste und das Bewusstsein im Pflanzenreiche . . . 375
V. Die Materie als Wille und Vorstellung (Atomistischer Dynamismus) 402
VI. Der Begriff der Individualität 428
VII. Die All-Einheit des Unbewussten 450
Vm. Das Wesen der Zeugung vom Standpuncte der All -Einheit des
Unbewussten 465
IX. Die aufsteigende Entwickelung des organischen Lebens auf der
Erde (Darwin) 482
X. Die Individuation 505
XI. Die Allweisheit des Unbewussten und die Bestmöglichkeit der Welt 520
XII. Die Unvernunft des Wollens und das Elend des Daseins . . . 532
Orientimng aber die Aufgabe 532
Erstes Stadium der Ulosion: das Glück wird als auf der
jetzigen Entwickelungsstufe der Welt erreicht und daher dem
Individuum im Leben erreichbar gedacht (Alte Welt — Kindheit) 540
1) Kritik der Schopenhauer^schen Theorie von der Kega-
tivität der Lust, 2) Gesundheit, Jugend, Freiheit, aus-
kömmliche Existenz und Zufriedenheit 3) Hunger und
Liebe. 4) Mitleid, Freundschaft und Familienglück.
5) Eitelkeit, Ehrgeiz, Ruhmsucht und Herrschsucht. 6) Reli-
giöse Erbauung. 7) Unsittlichkeit. 8) WissenschafUicher
und Kunstgenuss. 9) Schlaf und Traum. 10) Erwerbstrieb
und Bequemlichkeit. 11) Neid, Aerger, Reue etc. 12) Hoff-
nung. 13) Resumd
Zweites Stadium der Illusion: das Glück wird als ein dem
Individuum in einem transcendenten Leben nach dem Tode
erreichbares gedacht (Mittelalter — Jfinglingszeit) . . . 600
Drittes Stadium der Illusion: das Glück wird als in der Zu-
kunft des Wel^rocesses liegend gedacht (Neue Zeit — Man-
nesalter). Schluss (Greisenalter) 610
XIII. Das Ziel des Wel^rocesses und die Bedeutung des Bewusstseins. ^
(Uebergang zur practisohen Philosophie) 628
XrV. Die letzten Principien 644
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Einleitendes.
L
Allgemeine Vorbemerkimgen.
a. Aufgabe des Werks.
,y YorstelluDgen zu haben, und sich ihrer doch nicht
hewusst zu sein, darin scheint ein Widerspruch zu liegen, denn
wie können wir wissen, dass wir sie haben, wenn wir uns ihrer
nicht bewusst sind. — Allein wir können uns doch mittelbar be-
woast sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar
UM ihrer nicht bewusst sind." (Kant, Anthropologie §. 5. „Von den
f orstellungen , die wir haben, ohne uns ihrer bewusst zu sein.")
Diese klaren Worte des klaren grossen Königsberger Denkers ent-
halten den Ausgangspunct unserer Untersuchungen, wie das zur
Aufnahme gegebene Feld.
Das Gebiet des Bewusstseins ist ein nach allen Eichtungen so
durchpflügter Weinberg, dass das Verfolgen dieser Arbeiten dem
Publikum fast schon zum üeberdruss geworden ist, und noch immer
ist der gesuchte Schatz nicht gefunden, wenn auch unverhoffte
reiche Ernten aus dem durcharbeiteten Boden hervorgesprosst sind.
Dass man mit der philosophischen Betrachtung dessen begann, was
das Bewusstsein unmittelbar in sich fand, war sehr natürlich; sollte
e» nun aber nicht verlockend um der Neuheit willen und hoff-
nungsreich in Bezug auf den Gewinn sein, den goldenen Schatz in
den Tiefen des Berges, in den edlen Erzen seines Felsgesteins, statt
auf der Oberfläche des fruchtbaren Erdbodens zu suchen ? Freilich
bedarf es dazu des Bohrers und Meisseis und langer mühevoller
Arbeit, bis man auf die goldenen Adern trifft, und endlich langer
T. Hart mann, Phil. d. ünbewniaten. 1
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Bearbeitung der Erze, bis der Schatz gehobeiv ist — wer die Mühe
nicht flcheut, der folge mir, in der Arbeit selbst liegt ja der höchste
Genuas ! — Der Begriff „unbewusste Vorstellung** hat allerdings für
den natürlichen Verstand etwas Paradoxes, indess ist der darin ent-
haltene Widerspruch, wie auch Kant sagt, nur scheinbar. Denn
wenn wir nur von dem wissen können, was wir im Bewusstsein
haben, also von dem nichts wissen können, was wir nicht im Be-
wusstsein haben, welches Recht haben wir dann zu der Behauptung,
dass dasjenige^ dessen Existenz in unserem Bewusstsein wir kennen^
nicht auch ausserhalb unseres Bewusstseins sollte existiren können?
Allerdings würden wir in diesem Falle weder die Existenz noch
die Nichtexistenz behaupten können, und aus diesem Grunde bei
der Annahme der Nichtexistenz stehen bleiben müssen, bis wir zu
der positiven Behauptung der Existenz anderswoher ein Becht be-
kommen. Dies war im Allgemeinen der bisherige Standpunct. Je
mehr indess die Philosophie den dogmatischen Standpunct der
instinctiven Sinnlichkeit und der instinctiven Verstandesüberzeugung
verliess, und die nur höchst indirecte Erkennbarkeit alles bisher
für unmittelbaren Bewusstseinsinhalt Gehaltenen einsah, desto mehr
"Werth musste natürlich ein indirecter Nachweis der Existenz einer
Sache erhalten, und so konnte es nicht fehlen, dass hier und da
in denkenden Köpfen sich das Bedürfniss zeigte, behufs der ander-
weitig unmöglichen Erklärung gewisser Erscheinungen im Gebiete
des Geistes auf die Existenz unbewusster Vorstellungen als deren
Ursache zurückzugehen. Alle die^ Erscheinungen zusammen zu
fassen, aus jeder einzelnen die Existenz unbewusster Vorstellungen
und unbewussten Willens wahrscheinlich zu machen, und durch ihre
Summe das in allen übereinstimmende Princip zur Höhe einer an
Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit zu erheben, ist die Auf-
gabe der beiden ersten Abschnitte dieses Werks. Der erste der-
selbe betrachtet Erscheinungen von physiologischer und zoopsycho-
logischer Katur, der zweite bewegt sich auf dem Gebiete des
menschlichen Geistes. Durch dieses Princip des Unbewussten er-
halten zugleich die betrachteten Erscheinungen ihre einzig richtige
Erklärung, die zum Theil noch nicht ausgesprochen war, zum Theil
aber blos darum keine Anerkennung finden konnte, weil das Princip
selbst erst durch die Zusammenstellung aller hierher ge-
hörigen Erscheinungen constatirt werden kann. Ausserdem eröflfocn
sich aus der Anwendung dieses bisher im embryonalen Zustande
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befindüch gewesenen Princips die bedeutendsten Perspectiven auf
netie Behandlungsweisen soheinbar bekannter Gegenstände; eine
Menge Gegensätze und Widersprüche früherer Systeme und An-
sichten finden ihre umfassende Lösung durch Herstellung des höbereq,
beide ßeiten als nnTollkommene Wahrheiten in sich befassenden
Standpunctes. Mit einem Wort, das Princip erweist sich höchst
fruchtbar für Specialfragen. Weit wichtiger als dies aber ist die
Art, wie das Princip des TJnbewussten unvermerkt aus dem phy-
sischen und psychischen Gebiet sich zu Ansichten und Lösungen
von Aufgaben erweitert, die man nach dem gewöhnlichen Sprach-
gebrauch als dem metaphysischen Gebiet angehörig bezeichnen
würde. An unserem Princip aber spinnen sich diese Besultate so
einfach und natürlich aus naturwissenschaftlichen und psychologischen
Betrachtungen heraus, dass man den Ucbergang in ein anderes Ge-
biet gar nicht merken würde^ wenn einem der Inhalt dieser Fragen
nicht schon anderweitig bekannt wäre. £s drängt und zieht sich
alles nach dem Einen hin, es krystallisirt gewissermassen
in jedem neuen Kapital ein Stück mehr von der Welt um diesen
Kern herum, bis es zur All-£inheit erwachsen das Weltall
umfawt und sich zuletzt plötzlich als das darstellt, was den Kern
aller grossen Philosophien gebildet hat, Spinoza's Substanz, Fichte's
absolutes Ich, Schelling's absolutes Subject-Object, Plato's und He-
gel's absolute Idee, Schopenhauer's Wille u. s. w. —
Ich bitte deshalb, an dem Begriff der unbewussten Yorstellung
vorläufig keinen Anstoss zu nehmen, wenn er auch zuerst wenig
positive Bedeutung hat; der positive Inhalt des Begriffs kann sich
erst im Laufe der Untersuchung bilden, vorerst genüge es, dass
damit eine ausserhalb des Bewusstseins fallende unbekannte Ursache
gewisser Vorgänge gemeint ist, welche den Namen Vorstellung des-
halb erhalten hat, weil sie mit dem uns im Bewusstsein als Vor-
stellung Bekannten das gemein hat, dass sie wie jene einen idealen
Inhalt besitzt, der selbst keine Eealität hat, sondern höchstens einer
äusseren Bealität im idealen Bilde gleichen kann. Dem analog
brauche ich den Collectivbegriff „das Unbewusste" zur Bezeichnung
nicht des negativen Prädicates „unbewusst sein", sondern des un-
bekannten positiven Subjectes, welchem dieses Prädic^t zukommt,
«peciell für „unbewusster Wille und unbewusste Vorstellung" in
Eins gefasst. —
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„Die Philosophie ist die Geschichte der Philosophie" — dieses
Wort unterschreibe ich von ganzem Herzen. Wer aber das Wort
so versteht, als ob nur hinter uns die Wahrheit läge, der möchte
in tiefem Irrthum stecken , denn es giebt einen todten und einen
lebenden Theil in der Geschichte der Philosophie, und das Leben
ist nur in der Gegenwart. So wird an einem Baume der feste,
den Stürmen trotzende Stamm von todtem Holze, von dem Zuwachs
früherer Jahre gebildet, und nur eine dünne Schioht enthält das
Leben des mächtigen Gewächses, bis auch sie im nächsten Jahre
zu den Todten zählt. Nicht der Blätter- und Blüthenschmuck, der
die Beschauer früherer Sommer am meisten bestach, war es, was
dem Baume Gedeihen verlieh, — sie halfen höchstens abgefallen und
verfault seine Wurzeln düngen, — sondern der unbeachtete kleine Bing-
zuwachs am Stamm, und die unscheinbaren neuen Aestchen^ das
war es, was seine Ausdehnung, Höhe und Festigkeit mehrte. Und
nicht blos Festigkeit verdankt der lebensfrische Ring seinen todten
Vorfahren, sondern indem er sie umfasst, auch die Grösse seines
ümfangs; darum ist wie am Baume das erste Gesetz für einen neu.
anschiessenden Ring, dass er alle seine Vorgänger auch wirklich
umfasst und in sich beschliesst, das zweite aber, dass er selbst-
ständig aus den Wurzeln von unten auf erwächst. Die Aufgabe,
dies beides in der Philosophie zu vereinigen, ist fast paradox, denn
wer auf der Höhe der Situation steht, pflegt die Unbefangen-
heit verloren zu haben, von vorn anfangen zu können, und wer
einen selbstständigen Anfang unternimmt, liefert meist ein dilettan-
tisch unreifes Product, weil er die bisherige historische Entwicke-
lung nicht inne hat.
Ich glaube, dass das Princip des ünbewussten, welches den alle
Strahlen in sich vereinenden Brennpunct dieser Untersuchung bildet,
in dieser Allgemeinheit gefasst, wohl als ein neuer Stand-
punct zu betrachten sein dürfte. Wie weit es mir gelungen sei,
in den Geist der bisherigen Entwickelung der Philosophie einzu-
dringen, muss ich dem Urtheil der Leser überlassen; nur bemerke
ich, dass in Rücksicht auf den Plan des Werks der Nachweis, dass
ziemlich Alles, was in der Geschichte der Philosophie als wahres
Kernholz betrachtet werden kann, in den letzten Resultaten um-
fasst ist, sich nur auf kurze, aber dem Kenner gewiss genügende
Hindeutungen beschränken muss.
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b. Methode der ITnterauchung und Art der Darstellung.
Man kann drei Haoptmethoden in der forschenden Wissenschaft
imteTBcheiden y die dialektische (Hegel'sche) , die deducirende (von
oben nach unten), und die inducirende (von unten nach oben). Die
dialektische Methode moss ich, ohne mich hier auf Erwägungen für
oder wider einlassen zu können, *) schon rein um deswillen aus-
sdüiessen^ weil sie, wenigstens in ihrer bisherigen Gtestalt, der
Gemeinverständlichkeit entbehrt, auf welche es hier abge-
sehen ist; die Vertreter derselben, welche die relative Wahrheit an
Allem ja mehr als jeder Andere anzuerkennen verpflichtet sind,
werden hoffentlich auch dieses Werk seines naturwissenschaftlichen
Characters wegen nicht verdammen, zumal es ihren Tendenzen durch
einen gewissen positiven Gegensatz gegen gemeinschaftliche Gegner und
durch einen proprädeutischen Werth für Nichtphilosophen in vieler
Hinsicht entgegen kommen dürfte. Wir haben also noch das Vcr-
hältniss der deductiven oder herabsteigenden, imd der inductiven
oder hinaufsteigenden Methode zu betrachten. —
Der Mensch kommt zur Wissenschaft, indem er die Summe der
ihn umgebenden Erscheinungen zu begreifen und sich zu erklären
versucht. Die Erscheinungen sind Wirkungen, zu denen er die Ur-
sachen wissen wilL Da verschiedene Ursachen die gleiche Wirkung
haben können (z. B. Eeibung, galvsmischer Strom, und chemischer
Process die Wärme), kann auch Eine Wirkung verschiedene Ur-
sachen haben; die zu einer Wirkung angenommene Ursache ist
mithin nur eine Hypothese, die keinesweges Gewiseheit, sondern
nur eine sich anderweitig bestimmende Wahrscheinlichkeit haben kann.
Es sei die Wahrscheinlichkeit, dass Uj die Ursache der Er-
scheinung £ sei = Ui , und die Wahrscheinlichkeit , dass Ug die
JJr^Hche von Ui sei = u^ , so ißt die Wahrscheinlichkeit, dass U2
die entferntere Ursache von E ist = Uj . Ug ; woraus man sieht; dass
bei jedem Schritt rückwärts in der Kette der Ursachen die Weihr-
scheinlichkeitscoefficienten der einzelnen Ursachen in Bezug auf
ihre näehste Wirkung sich multipliciren, d. h. aber immer kleiner
werden (z. B. %o neunmal mit sich selbst multiplicirt giebt circa
Vio)- Wüchsen nicht die Wahrscheinlichkeitswerthe der Ursachen
beim Fortschreiten wiederum dadurch, dass der anzunehmenden Ur-
sachen immer weniger werden und immer mehr Wirkungen aus
*) Meine Ansichten über dieselbe habe ich in einer besondern Schrift:
„Ueber die dialektische Methode'' (Berlin 1868, C.Duncker'sVerl.) niedergelegt.
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Einer Ursache erklärbar werden,*) so würden bald die Wahrschein-
lichkeiten durch die beständige Mnltiplication unbrauchbar kleine
Werthe erhalten. Wären nun von allen Erscheinungen in der Welt
die Ursachen rückwärts so weit erkannt, bis sie auf eine oder
wenige letzte Ursachen oder Principien zurückgeführt wären, so
wäre die Wissenschaft, die Eine ist, wie die Welt Eine ist, in
inductiver Weise yollendet. Denkt man sich nun, dass irgend
Jemand diese Aufgabe in vollkommenerer oder unvollkommenerer
Form gelöst habe, so steht die Frage offen, ob derselbe, um seine
üeberzeugung Anderen mitzutheilen, besser thue, sie den Weg von
den Erscheinungen rückwärts und aufwärts bis zu den letzten Ur-
sachen zu führen, oder ihnen aus diesen Principien von oben her-
unter die Welt, wie sie ist, zu deduciren. Es handelt sich hier
um eine einfache Alternative, denn wenn Schelling in seinem letz-?
ten System die Nothwendigkeit einer Verbindung beider Wege be-
hauptet, indem er (s. Werke Abth. IL Bd. 3. S. 151. Anm.) mit
einer negativen, von unten aufsteigenden Philosophie beginnt, und
mit einer positiven, von oben herabsteigenden Philosophie sohliesst,
so ist diese Doppelheit nur dadurch möglich, dass er für beide die
Gebiete sondert, und zwar erstere auf rein logischem Gebiete hält,
d. h, ihre inductive Methode nur auf Thatsachen der inneren
Erfahrung des Denkens basirt (vergl. Werke IL l. S. 321 u. 326),
während er die so als Eesultat gewonnene höchste Idee in seiner
positiven Philosophie als das wirklich Exi stire nde und das
Princip alles Seienden (vgl IL 3. S. 150) zu erweisen sucht, indem
er von derselben nach deducirender Methode die Thatsachen der
äussern Erfahrung abzuleiten luitemimmt. Selbst wenn die Be-
sultate letzterer Deduction den Ansprüchen der Wissenschaft irgend-
wie genügten, so würde doch eine solche willkürliche Trennung der
Innern und äussern Erfahrung wissenschaftlich nicht zu rechtfertigen
sein, jedenfalls aber für letzteres Gebiet unsere obige Alter-
native sich wiederholen, ob die aufsteigende oder absteigende
Methode der Darstellung vorzuziehen sei. Die Entscheidung Mit
zweifelsohne zu Gunsten der von unten aufsteigenden oder indu-
cirenden Methode aus; denn
1) steht der Andere noch unten, das Unten ist also für ihn
der natürliche Ausgangspunct, er kommt bei dem Wege von
unten nach oben stets vom Bekannten zum Unbekannten, während
%■
*) Das Wachsen geschieht nach der auf S. 33 entwickelten FormeL
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Ik
er sich auf den Staodpunct der letzten Principien nur duroh einen
9(üto mortale versetzen kann, und dann während des ganzen Weges
Ton Einem Unbekannten zum anderen kommt, und ganz zum Schluss
erst wieder zu Bekanntem;
2) der Mensch halt vorläufig immer seine eigene Meinung für
die richtige und misstraut folglich jeder ihm neuen Lehre; darum
will er wissen, wie der anderd zu seinem sublimen Besultat ge-
kommen ist, wenn sein Misstrauen sich nicht bis zum Schluss er-
halten soll, und dies kann nur auf dem von unten aufisteigenden
Wege geschehen;
3) der Mensch misstraut heimlich seinem eigenen Verstände
ebenso sehr, als er auf seine, einmal gefasste Meinung fast un-
erschütterlich baut; darum ist es sehr schwer, jemand durch De-
duction zu überzeugen, weil er derselben immer misstraut, auch
wenn er nichts dagegen zu sagen weiss, während er bei der In*
duction weniger scharf und anhaltend zu denken braucht, sondern
mehr sehend und anschauend die Wahrheit herausfühlen kann;
4) die Deduction aus den letzten Principien, selbst angenom-
men, dass sie unwiderleglich richtig sei, kann wohl imponiren durch
ihre Qrossartigkeit, Geschlossenheit und Geistreichheit, aber nicht
überzeugen, denn da dieselben Wirkungen aus ganz verschiedenen
Ursachen herstammen können, so beweisat die Deduction glücklich-
stenÜalls immer nur die Möglichkeit dieser Principien, keines-
Weges ihre Nothwendigkeit, ja sie verleiht ihnen nicht einmal einen
bestimmten Wahrscheinlichkeitscoefficienten, wie die indnctive
Methode tbut, sondern kommt über den blossen Begriff der
Möglichkeit nicht hinaus. Um ein Bild zu brauchen, ist es
allerdings gleichgültig, wenn man den Ehein kennen lernen will,
ob man stromauf oder stromab wandert, für den Bewohner der
Bheinmündung ist aber doch der natürliche Weg stromauf und wenn
ein Hexenmeister kommt, der ihn mit einem Luftsprung an die
Quellen versetzt^ so weiss er ja gar nicht, ob dies auch die Quellen
des Ehe in es sind, und ob er nicht etwa die ganze mühsame Wan-
derung vergebens antritt. Und kommt er dann an der Mündung
dieses Flasses an, und findet sich in einer fremden Gegend statt
in der Heimath, so macht ihm wohl gar der Hexenmeister weiss»
dass dies seine Heimath sei , und mancher glaubt es ihm um der
schönen Beise willen. —
Nach alledem wäre es unerklärlich, wie jemand, der auf in-
ductivem Wege zu seinen Principien gekommen ist, zur Mittheilung
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8
und zum Beweis derselben die deductive Methode nehmen sollie;
dieser Fall kommt auch in der That niemals vor. Vielmehr sind
alle Philosophen, die ihr System deduciren (sei die Methode klar
ausgesprochen, oder in verhüllter Form), in der That durch das
einzige Mittel, was ausser der Induction übrig bleibt, zu -ihren
Principien gekommen, durch einen Luftsprung von mystischer Natur,
wie dies im Cap. B. IX. besprochen wird, und die Deduction ist
alsdann der Yersuch, von ihrem mystisch erworbenen Eesultat zu
der zu erklärenden "Wirklichkeit herabzusteigen und zwar auf einem
Wege, der durch die imstatthfiifte Analogie mit der ganz anderarti-
gen Wissenschaft der Mathematik und durch die blendende Evidenz
der in letzterer erzielten B«sultate für alle systematischen Köpfe
von jeher etwas Verlockendes gehabt hat. Für jene Philosophen
ist nämlich allerdings die Deduction der natürliche Weg, da das
Oben ihr gegebener Ausgangspunct ißt. Abgesehen davon, dass so-
wohl die Deduction selbst als auch die zu beweisenden Principien
immer nach menschlicher Weise mangelhaft sein müssen, und dass
demgemäss die Deduction zwischen sich und der zu erklärenden
Wirklichkeit stets eine weite Kluft offen lässt, ist das Schlimme an
der Sache, dass die Deduction ihre eigenen Principien, wie schon
Aristoteles wusste^ überhaupt nicht beweisen kann, weil sie im
günstigsten Fall ihnen nur die Möglichkeit, aber nicht eine be-
stimmte Wahrscheinlichkeit erobert; darum gewinnen die Principien
durch dieselbe wohl etwas an Verstand lieh keit, aber nicht
an Ueberzeugungskraft, und eine üeberzeugung von ihrer
Bichtigkeit zu gewinnen, bleibt ausschliesslich der mystischen
Beproduction überlassen, wie ihre Entdeckung in mystischer
Production bestand. Dies ist der grösste üebelstand bei der Philo-
sophie, soweit sie sich dieser Methode bedient, dass die üeber-
zeugung von der Wahrheit ihrer Resultate nicht wie bei inductiv-
wissenschaftlichen Ergebnissen mittheilbar ist, und selbst das Ver-
ßtändniss ihres Inhalts, wie bekannt, grossen Schwierigkeiten unter-
liegt, weil es unendlich schwer ist, eine mystische Conception in
eine adäquat-wissenschaftliche Form zu giessen. Nur zu häu£g
täuschen aber auch die Philosophen sich und den Leser über die
mystische Entstehungsweise ihrer Principien, und suchen denselben
in Ermangelung guter JBeweise einen wissenschaftlichen Halt durch*
spitzfindige Scheinbeweise zu geben, über deren Unwerth sie nur
die feste Üeberzeugung der Wahrheit des Resultats verblenden
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""X
9
kann. Hier liegt die Erklärang jener Erscheinung , dass man sich
(mit seltenen Ausnahmen einer zufälligen Geistesverwandtschaft)
Yon der Leetüre der Philosophen unangenehm abgestossen fühlt,
wenn man auf ihre Beweise und Deductionen blickt, aufs Höchste
angezogen und gefesselt dagegen, wenn man auf die imposante
Geschlossenheit ihrer Systeme, ihre grossartigen Weltanschauungen,
ihre genialen, das Verborgenste aufhellenden Lichtblicke, ihre tiefen
Conceptionen, ihre geistreichen Apercus, ihren psychologischen Scharf-
blick sieht. Die Art der Beweise ist es, welche dem naturwissen-
schaftlichen Denker jenen instinctiven Widerwillen gegen die Philo-
sophie einflösst, jenen Widerwillen, der sich zu unserer Zeit, wo
auf allen Gebieten des Lebens der Bealismus über den Idealismus
triomphirt, bis zur souverainen Verachtung gesteigert hat.
Aus der deductiyen Methode der Philosophen folgt ferner, dass
sich über einzelne Puncto nur insoweit streiten lässt, als es Conse-
qoenzen von Principien betrifft, über die man von vornherein einig
ist, und dass jedes System ziemlich unabhängig vom andern dasteht^
— dass keine derartige solidarische Verbindung unter ihnen besteht,
wie in der inductiven Wissenschaft, wo jeder einmal streng wissen-
schaftlich gethane Schritt allen anderen weiter gehenden zu Gute
kommt, und auch die kleinste Gabe als Baustein zum Ganzen dank-
bar angenommen wird. Endlich ergiebt sich hieraus, warum es der
deductiven Philosophie noch niemals gelungen ist, ihr eng begrenz-
tes Publikum auf die Mehrzahl der Gebildeten zu erweitern, und
warum es ihr ebenso wenig gelingen konnte, die grosse Kluft,
welche sie von der zu erklärenden Wirklichkeit schei-
det, auszufüllen.
Der Theü der Philosophie dagegen, welcher das inductive Ver-
fahren eingeschlagen hat, und die gesammten Naturwissenschaften
im weitesten Sinne des Worts, haben zwar schätzbare Resultate
untergeordneter Art und Baugrund für die Nachfolger geliefert, aber
sie sind noch himmelweit entfernt von letzten Principien und einem
einheitlichen System der Wissenschaft.
So gähnt für beide Seiten eine Kluft; die Liduction kommt
nicht zu. letzten Principien und zum System, die Speculation nicht
zax Erklärung der Wirklichkeit und zur Mittheilbarkeit. Man kann
hieraus schliessen, dass das Ganze sich nicht von Einer Seite her
begreifen lässt, sondern dass man die Sache zugleich von beiden
Seit^a an&ssen muss, und sich von hüben und drüben nach den
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10
vorspringendsten Puncten umthun muss , wo sich eine Brücke schlar
gen lädst. Denn so ganz hoffnungslos ist die Sache eben nicht.
Wie in einem Gefäss mit gesclnnolzenem Schwefel krystallisiren die
Gedanken sowohl vom Grunde als von oben aus , und wenn nur
erst die ersten am weitesten hervorragenden Nadeln sich erfasst haben,
dann wächst auch bald die ganze Masse zusammen. Wir sind an
diesem Pancte in der Geschichte der Wissenschaft angelangt, wo
sich schon die ersten Vorläufer begegnen, wie zwei Bergleute, die
sich aus sich unterirdisch begegnenden Stollen durch die sie noch
trennende Wand hindurch klopfen hören. Denn die inductive
Wissenschaft hat in allen Zweigen der unorganischen und oi^api-
schen Natur und auch in der des Geistes in neuester Zeit so ge-
waltige Fortschritte gemacht, dass derartige Versuche einen ganz
andern Boden xinter sich £nden, als z. B. die eines Aristoteles,
Paracelsus, Baco und Leibniz. Andererseits hat aber auch die alle
früheren Perioden weit überflügelnde Glanzperiode der Philosophie
Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts dem speculativen
Geist so vielseitige Bereicherung zugeführt, dass beide Theile sich
wiederum ebenbürtig gegenüberstehen. Aber freilich ist mit diesen
Fortscliritten die Welt sich auch klarer geworden über den polaren
Gegensatz beider Gebiete, der früher sich mehr dem ßewusstseim
entzog, und daher kommt es, dass jeder Forscher sich für eine der
beiden Richtungen viel bestimmter zu entscheiden pflegt, als dies
früher der Fall war. Darum fehlt es der Gegenwart hauptsäch-
lich an einer Persönlichkeit, welche beide Seiten mit gleicher Liebe
tuid Hingebung erfasst, welche fähig ist, wenn auch nicht zur my-
stischen Production, doch zur Keproduction, und doch zugleich
eine genaue üebersicht des exacten Wissens und die Strenge
der inductiven exacten Methode sich zu eigen gemacht hat,
welche endlich die vorliegende Aufgabe klar erkennt, die specula-
tiven (mystisch erworbenen) Principien mit den bisher höchsten
Resultaten der inductiven Wissenschaft nach inductiver Methode zu
verbinden, und damit die allgemein zugängliche Brücke zu den
Principien zu schlagen, und diese bisher blos subjectiven Ueber-
zeugungen zur objectiven Wahrheit zu erheben. In Hinblick auf
diese grosse und zeitgemässe Aufgabe wählte ich das Motto: »Spe-
culative Resultate nach inductiv- naturwissenschaftlicher Methode!"
Nicht als ob ich des Glaubens wäre, ein so umfassender Kopf zu sein,
wie zur Lösung dieser Angabe erforderlich ist, oder gar glaubte,
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11
in diesem Werke eine genügende Lösung geboten zu haben, — das
sei ferne Ten mir; aber damit glaube ich Dank zu verdienen, dasB
ich dieee auch schon von anderen Männern erkannte und auf ver-
schiedene Weisen in Angriff genommene Aufgabe klar als Ziel der
gegenwärtigen, merklich an speculativer Erschöpfung leidenden
Philosophie hinstelle, dass ich in den vorliegenden Untersuchungen
zur Lösung derselben nach Kräften mein Scherflein beitrage, und
dadurch anderen vielleicht erwünschte Anregung gebe, namentlich
aber, indem ich die Sache an einer bisher vernachlässigten Seite
anfasse, die ich jedoch grade för die fruchtbarste halten muss.
Zugleich legt mir die ausgesprochene Auffassung die Pflicht auf>
mich vor jedem der beiden Fora, sowohl dem naturwissenschaft-
lichen als dem philosophischen, zur Beurtheilung zu stellen. Dies
thue ich aber mit Freuden, denn ich halte jede Speculation für
falsch, die den klaren Ergebnissen der empirischen Forschung
widerspricht, und halte umgekehrt alle Auffassungen und Auslegungen
empirischer Thatsachen für folsch, welche den strengen Ergebnissen
einer rein logischen Speculation widersprechen.
Es sei mir vergönnt, noch einige Worte über die Art der Dar-
stellung zu sagen. Der erste Grundsatz war Gemeinfasslichkcit und
Kürze. Der Leser wird deshalb keine Citate finden, soweit sie
nicht im Texte sich einflechten, jede Polemik ist auf das möglichste
vermieden, ausser wo sie zur Aufklärung eines Begriffs unerlässlich
war. Ich traue mehr auf die siegende Kraft der positiven Wahr-
heit, soweit dieselbe in meiner Arbeit enthalten ist, als ich glaube,
dass jemand durch eine noch so schlagende negative Polemik sich
von seinen Ansichten werde abbringen lassen. Auch ziehe ich es
vor, anstatt die Lrthümer und Schwächen grosser Männer zu be-
kritteln, welche sich mit der Zeit ganz von selber durch Vergessen-
heit richten, ihre grössten Momente hervorzuheben, wo sie ahn-
dungsvoll das in Andeutungen vorwegnehmen, was erst die zukünftige
Entwickelung in ausführlicher Zusammengehörigkeit begründet
Femer ist oft die Gelegenheit zu interessanten Seitenbemerkimgen,
zu gründlicheren, weiter ausholenden Beweisen, detaillirteren Aus-
fährungen etc. unbenutzt gelassen, um nur nicht in eine Ausführ-
lichkeit der Darstellung zu verfallen, mit denen wenigen meiner
Leser gedient sein möchte. Daher sind die Kapitel in der grösseren
Mehrzahl, mit Ausnahme der grundlegenden, fast aphoristisch ge-
halten, weil ich glaube, dass die meisten Leser eine kurze, viel
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12
Anregung zum Selbßtdenken bietende Darstellung einer erschöpfen-
den Behandlung des Stoffs vorziehen werden. Zugleich ist die
Behandlung der Kapitel in Rücksicht auf die Annehmlichkeit beim
Lesen möglichst so eingerichtet, dass jedes derselben eine eigene
kleine Abhandlung über einen begrenzten Stoff darstellt (nur wenige
machen hiervon eine Ausnahme und gehören untrennbar zusammen,
wie z. B. Cap. C. VI. und VII). Die Kapitel der ersten beiden Ab-
schnitte beweisen sämmtlich und jedes für sich die Existenz
des XJnbewussten j ihr Verständniss und ihre Beweiskraft stützen
und erhöhen sich aber gegenseitig wie eine Gewehrpyramide,
also auch die späteren die früheren. Ich bitte deshalb das Urtheil
über die ersten gütigst zurückhalten zu wollen, mindestens bis zur
Beendigung des Abschnitts A. Wenn aber einem Leser auch der
Beweis dieses oder jenes Kapitels falsch erscheint, so fallen darum
keineswegs die Beweise der andern, wie man aus einer grossen
Gewchrpyramide ganz gut eins oder mehrere der Gewehre heraus-
nehmen kann, ohne dass dieselbe einfällt. Endlich bitte ich um
gütige Naclisicht in Betreff der einzelnen als Beispiele benutzten
phpiologischen und zoologischen Thatsachen, wo einem Laien gar
leicht ein Irrthum widerfahren kann, der aber für das grosse Ganze
unmöglich von Bedeutung sein kann.
c. Vorgänger in Bezug auf den Begriff des Unbewussten.
Wie lange hat es gedauert, bis in der Geschichte der Philo-
sophie der Gegensalz von Geist und Natur, von Denken und Sein,
von Subject und Objcct zum klaren Bewusstsein kam, jener Gegen-
satz, der jetzt unser ganzes Denken beherrscht. Denn der natür-
liche Mensch föhlte als Naturwesen Leib und Seele in sich als
Eins, er anticipirte instinctiv diese Identität, und seine bewusste
Verstandesarbeit musste erst weit gediehen sein, ehe er sich von
diesem Instinct soweit lossagen konnte, um die ganze Tragweite
jenes Gegensatzes zu erkennen. In der ganzen griechischen Philo-
sophie finden wir nirgends diesen Gegensatz mit voller Klarheit
hingestellt, noch weniger seine Bedeutung erkannt, am wenigsten
aber in ihrer klassischen Zeit. Wenn dies schon von dem Gegen-
satz des Eealen und Idealen gilt, was dürfen wir uns wundern,
dass der Gegensatz des Unbewossten und Bewusten noch viel we-
niger dem natürlichen Verstände einfällt, und daher noch viel später
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13
in der Oeachichte der Philosophie zum Burchbruch kommt, ja dass
beute noch die allenneisten Gebildeten einen für närriflch halten,
wenn man Ton unbewusstem Denken sprioht. Denn das Unbewusste
ist dem natürlichen Bewusstsein so sehr terra incognita^ dass es
die Identität Yon Vorstellen und sich einer Sache bewusst
sein, für ganz selbstverständlich und zweifellos hält. Dieser
naiye Standpünct ist schon im Cartesius (princ. phil. I, 9) und noch
ausführlicher in Locke ausgedrückt: Yersuche üb. d. menschlichen
Yerstand, Buch II. Cap. 1. §• 9: „Denn Vorstellungen haben und
sich etwas bewusst sein, ist einerlei/' oder §.19: „denn ein ausge-
dehnter Körper ohne Theile ist so denkbar, als das Denken ohne
Bewusstsein. Sie können, wenn es ihre Hypothese erfordert, mit
eben so yiel Ghmnd sagen: Der Mensch ist immer hungrig, aber er
hat nicht immer ein Gefühl davon. Und doch besteht der Hunger
eben in diesem Gefühl, sowie das Denken in dem Bewusstsein,
dass man denkf Man sieht, dass Locke diese Sätze in aller Einfalt
postulirt; es ist deshalb ganz unrichtig, wenn man von ge-
wissen Seiten heute noch die Behauptung hört. Locke habe die
Mc^lichkeit imbewusster Vorstellungen bewiesen. Er beweist nur
aus dieser postulirten Voraussetzung, dass die Seele keine Vor-
stellung haben könne, ohne dass der Mensch sich dessen bewusst
sei, weil sonst das Bewusstsein der Seele und das des Menschen
zwei verschiedene Personen ausmachen würden, und dass folglich
die Gartesianer in ihrer Behauptung Unrecht haben, dass die Seele
als denkendes Wesen unaufhörlich denken müsse. — Locke ist
mithin der erste und einzige, der diese stillschweigende Voraus-
setzung des natürlichen Verstandes zum wissenschaftlichen und
ausführlichen Ausdruck bringt; mit diesem Schritte war aber auch
naturgemäss die Erkenntniss ihrer Einseitigkeit und Unwahrheit
und die Entdeckung der unbewussten Vorstellungen durch Locke's
grossen Gegner Leibniz gegeben, während alle früheren Philosophen
wohl im Stillen mehr auf die eine oder die andere Seite neigten,
aber sich das Problem überhaupt nicht zum Bewusstsein brachton.
Leibniz wurde zu seiner Entdeckung durch das Bestreben
geführt, die angebomen Ideen und die unaufhörliche Thätigkeit der
Vorstellungskraft zu retten. Denn wenn Locke bewiesen hatte,
dass die Seele nicht bewusst denken kann , wenn der Mensch
sich dessen nicht bewusst ist, imd sie doch immerfort denken
sollte, so blieb nichts übrig, als ein unbewusstes Denken,
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14 .
E5r unteracheidet daher percepttorij Voretellung, nnd apperception,
bewusste Vorstellung oder flohlechthia Bewnsstseia (Monadologie
%. 14) mid sagt (gesperrt gedruckt): y^Darans, dass die Seele des
GedaEnkens eich nicht bewuMt sei, folge noch gar mcht, dass sie
zu denken aufhdre/^ (Neue Versuche üb. d. xnenschl. Verst. Buch
n. Cap. 1. §. 10). Was Leibniz nnr positiven Begründang seines
neuen Begriffes beibringt, ist &>eilich mehr als dürftig, aber ein un-
geheures Verdienst ist es, dass er sogleich mit genialem Blicke die
Tragweite seiner Entdeckung übersah, dass er (§. 15) die innere
dunkle Werkstätte der Getühle, der Leidenschaften und der Hand-
lungen, dass er die Gewohnheit und vieles andere als Wirkungen
dieses Prineips erkennt; wenn er dies auch nur mit wenigen Worten
andeutet , — dass er die unbewussten Vorstellungen für das Band
•erklärt, „welches jedes Wesen mit dem ganxen übrigen Universum
verbindet*', — dass er durch sie die prästabilirte Harmonie der Mo-
naden unter einander erklärt, indem jede Monade als Mikrokosmos
unbewusst den Makroskosmos und ihre Stelle in demselben vor-
stellt Ich bekenne freudig, dass die Leetüre des Leibnitz es war^
was mich zuerst -zu den hier niedergelegten Untersuchungen ange-
regt hat.
Für die Auffassung der sogenannten angeborenen Ideen findet
er ebenfalls die bis jetzt massgebende Anschauung (Buch I. £ap. 3*
§. 20): „Sie sind nichts anderes als natürliche Fertigkeiten, gewisse
active und passive Anlagen." (Cap. 1. §. 25): „Ihre wirkliche Er-
kenntniss ist der Seele freilich nicht angeboren, aber diejenige,,
welche man eine potentielle Erkenn tniss (connoissance virtuelle)
nennen könnte. So ist auch die Figur, die aus dem Marmor ent-
stehen soll, in seinen Adern bereits gezeichnet, und also in dem
Marmor selbst, noch ehe man sie beim Arbeiten entdeckt.** Es ist
dasselbe gemeint, was später Schelling (Werke Abth. I. Bd. 3.
S. 528 — 9) präciser ausdrückte mit den Worten : „Insofern das Ich
Alles aus sich producirt, insofern ist alles .... Wissen a priori.
Aber insofern wir uns dieses Froducirens nicht bewusst sind, in
sofern ist in uns nichts a priori, sondern Alles a posteriori ....
Es giebt also Begriffe a priori, ohne dass es angeborene Begriffe
gäbe. Nicht Begriffe, sondern unsere eigene Natur und ihr ganzer
Mechanismus ist das Tins Angeborene Dadurch, dass wir den
Ursprung der sogenannten Begriffe a priori jenseits des Bewusst-
seins versetzen, wohin für uns auch der Ursprung der
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^^
15
objectiven Welt fällt, behaupten wir mit derselben Evidenz
und dem gleichen Rechte, unsere Erkenntniss sei ursprünglich ganz
imd darohans empirisch, und sfe sei ganz und durchaus a priori.*'
— Nxm kommt aber die schwache Seite ron Leibnitz unbewusster
TorsteUang hinten nach, die schon in ihrem gewöhnlichen Namen
y^ttite pereeptiofi^^ liegt. Indem Leibniz in seiner Erfindung der
Infinitesimalrechnung und in rielen Theilen der Naturbetrachtung,
in der Mechanik (Ruhe und Bewegung), im Gesetz der Continuität
n. B. w. den Be^ff des (mathematisch sogenannten) unendlich
Kleinen mit dem glänzendsten Erfolge einführte, suchte er auch die
petUes perceptions auf diese Weise als Vorstellungen von so geringer
Intensität zu fassen, dass sie sich dem Bewusstsein entziehen.
Hiermit zerstörte er auf der einen Seite, was er auf der anderen
erbaut zu haben schien, den wahren Begriff des XJnbewussten als
ein dem Bewusstsein entgegengesetztes Gebiet, und die Bedeutung
desselben für Gefühl und Handeln. Denn wenn, wie Leibniz selbst
behauptet, das Naturell, der Instinct, die Leidenschaften, kurz die
mächtigsten Einj3.üs8e im Menscheu leben aus dem Gebiet des XJn-
bewussten stammen, wie sollen sie durch Vorstellungen bewirkt
werden, die so schwach sind, dass sie sich dem Bewusstsein
entziehen; wie sollten da nicht die kräftigen bewussten Vor-
stellungen im entscheidenden Moment prävaliren? Dies interes-
sirt aber Leibniz weniger, und für sein Hauptaugenmerk, die an-
geborenen Ideen und die beständige Thätigkeit der Seele, reicht
allerdings seine Annahme des unendlich kleinen Bewusstseins aus.
Demgemäss richten sich auch die meisten seiner Beispiele von
petitea perceptions auf Vorstellungen von geringem Bewusstseins-
gTad, z. B. die Sinneswahmehmungen im Schlaf. Bei alledem bleibt
Leibniz der Ruhm, zuerst die Existenz von Vorstellungen behauptet
zu haben, deren wir uns nicht bewusst sind, und denselben eine
hohe Wichtigkeit beigelegt zu haben.
Dass Kant den Begriff der unbewussten, oder wie er sie
nennt, dunkeln Vorstellung von Leibniz entlehnt habe, ist ander
zu Anfang angeführten Stelle unschwer zu erkennen. Dass auch
er dem Gegenstand grosse Wichtigkeit beigelegt hat, zeigt folgende
Stelle des §. 5 der Anthropologie: „Dass das Feld unserer Sinnes-
anschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewusst sind,
ob wir gleich unbezweifelt schliessen können, dass wir sie haben,
d. i. dunkler Vorstellungen im Menschen (und so auch in Thieren)
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16
unermessHch sei; die klaren dagegen nur unendlich wenige Puncte
derselben enthalten, die dem Bewusstsein offen liegen: dass gleich-
sam auf der grossen Charte unseres Oemüths nur wenig Stellen
illuminirt sind, kann uns Bewunderung über unser eigenes Wesen
einflössen/' Yon scharfem Blick zeigt es, dass Kant zuerst das
Wesen der Oeschlechtsliebe im ünbewussten gesucht hat. Im
Wesen dos Begriffs scheint aber auch er wenig über den Leibniz'-
schen Standpunct des abgeschwächten Bewusstseins hinweggekommen
zu sein, wie das Wort dunkle Vorstellung vermuthen lässt, ob-
wohl er einer höheren Auffassung auch in diesem Puncte yermöge
seiner ganzen Philosophie viel näher gestanden haben muss, wie
schon der Umstand beweist, dass er die Leibnitz'sche Theorie vom
unendlich kleinen Bewusstsein nirgends ausdrücklich vorbringt.
Auch ihm lag der Gegenstand zu fem, um demselben mehr als
drei Seiten zu widmen, von denen die Hälfte nicht zur Sache ge-
hört. Viel näher lag der Begriff des Ünbewussten der Glaubena-
philosophie (Hamann, Herder und Jacobi), die eigentlich auf ihm
beruht, aber sich über sich selbst so unklar und so unfähig ist,
ihre eigene Grundlage rationell zu begreifen, dass sie nie dazu
kommt, das Stichwort ihrer Partei zu finden.
In voller Reinheit, Klarheit und Tiefe finden wir dagegen den
Begriff des Ünbewussten bei Schelling ; es verlohnt sich daher eines
Seitonblicks auf die Art und Weise, wie er zu demselben gekom-
men i^t. Hierüber giebt am besten folgende Stelle Aufschluss
(Schollings Werke Abth. I. Bd. 10. S. 92—93): „Die Meinung
dieses (des Fichte'schen) subjectiven Idealismus konnte nicht sein,
dass das Ich die Dinge ausser sich frei und mit Wollen setzte,
denn nur zu vieles ist, dass das Ich ganz anders wollte, wenn das
äussere Seiik von ihm abhinge .... Um dies alles zeigte sich nun
Pichte unbekümmert .... Angewiesen nun, die Philosophie da auf-
zunehmen, wo sie Fichte hingestellt hatte, musste ich vor allem
sehen, wie jene unleugbare und unabweisliche Noth wendigkeit" (mit
der dem Ich seine Vorstellungen von der Aussenwelt entgegen-
treten), „die Fichte gleichsam nur mit Worten hinwegzuschelten
sucht, mit den Fichte'schen Begriffen, also mit der behaupteten
absoluten Substanz des Ich sich vereinigen Hesse. Hier ergab sich
nun aber sogleich, dass freilich die Aussenwelt für mich nur da
ist, inwiefern ich zugleich selbst da und mir bewusst bin (dies ver-
steht sich von selbst), aber dass auch umgekehrt, sowie ich für
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17
mich selbst d a , ich mir b e w u s s t bin, dass , mit dem ausgespro-
chenen Ich bin, ich auch die Welt als bereits — da — seiend
finde, dass also auf keinen Fall das schon bewusste Ich die
Welt produciren kann. Nichts verhinderte aber, mit diesem jetzt
in mir sich-bewussten Ich auf einen Moment zurückzugehen, wo
es seiner noch nicht bewusst war, eine Begion jenseits des
jetzt vorhandenen Bewusstseins anzunehmen, und eine Thätig-
keit, die nicht mehr selbst, sondern nur durch ihr Resultat in das
Bewusstsein kommt." (Vgl. auch ßchellings Werke Abth. I. Bd. 3.
S. 348 — 9). Der Umstand, dass Schelling keine andere Ableitung
für den Begriff des Unbewussten hat, als aus der Voraussetzung
des Fichte'schen Idealismus, ist wohl der Grund, dass seine zahl-
reichen schönen Bemerkungen über diesen Begriff auf die Bildung
der Zeit nicht mehr Einfluss gehabt haben, da letztere, um seine
Nothwendigkeit einzusehen, einer empirischen Ableitung des-
selben bedurft hatte. Ausser der vorhin bei Gelegenheit des Leib-
niz schon angeführten Stelle werden im Verlauf unserer Unter-
suchungen noch mehrfach Citate aus Schelling angezogen werden.
Hier nur noch einiges zur Orientirung im Allgemeinen (Werke I. 3.
S. 624): „In allem, auch dem gemeinsten und alltäglichsten Pro-
duciren wirkt mit der bewussten Thätigkeit eine bewusstlose zu-
sammen.'' Die Ausfuhrung dieses Satzes auf den verschiedenen
Gebieten der empirischen Psychologie hätte a posteriori die
Grundlage des Begriffes des Unbewussten gegeben; Schelling bleibt
dieselbe aber (mit Ausnahme für das ästhetische Produciren) nicht
nur schuldig, sondern er behauptet auch anderwärts (Werke I. 3.
S. 349): ,JEine solche (zugleich bewusste und bewusstlose) Thätig-
keit ist allein die ästhetische." Wie rein und tief trotzdem
Schelling in der Genialität seiner Conception den Begriff des Un-
bewussten erfasst hatte, beweist folgende Hauptstelle (I. 3. S. 600):
, JHeses ewig Unbewusste, was, gleichsam die ewige Sonne im Keiche
der Geister, durch sein eigenes ungetrübtes Licht sich verbirgt,
und obgleich es nie Object wird, doch allen freien Handlungen seine
Identität aufdrückt, ist zugleich dasselbe für alle Intelligenzen, die
unsichtbare Wurzel, woven alle Intelligenzen nur die Potenzen sind,
und das ewig Vermittelnde des sich selbst bestimmenden Subjecti-
ven in uns und des Objectiven oder Anschauenden, zugleich der
Grand der Gesetzmässigkeit in der Freiheit und der Freiheit in der
Gesetzmässigkeit." In demselben Maasse als für Schelling in seiner
T. Hartmaaii, Phil. d. Unbewusst«!!. 2
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18
eigenen Entwickelungsgeschiohte der Fichte'sche Idealismus in den
Hintergrund trat, verfiel auch der Begriff des Unbewussten dießem
Schicksal. Während derselbe im transcendentalen Idealismus eine
Hauptrolle spielt, ist von ihm schon in den bald nachher erschie-
nenen Schriften kaum noch die Rede und später verschwindet er
fast ganz. Auch die mystische Naturphilosophie der Schelling'schen
Schule, welche (besonders Schubert) doch so viel im Gebiete de&
Unbewussten verkehrt, hat sich meines Wissens mit einer Ent-
Wickelung und Betrachtung dieses Begriffes nirgends befasst.
Bei Hegel tritt ebenso wie in Schellings späteren Werken
der Begriff des Unbewussten nicht deutlich heraus, ausser in der
Einleitung zu den Vorlesungen über „Philosophie der Geschichte",
"^0 er die in Cap. B. X. anzuführenden Ideen Schellings über die-
sen Gegenstand reproducirt. Gleichwohl hat Hegels absolute Idee
in ihrem Ansichsein vor ihrer Entlassung zur Natur, also auch vor
ihrer Rückkehr zu sich als Geist, in jenem Zustande, wo sie die
Wahrheit ohne Hülle ist, gleichsam die Gottheit in ihrem ewigen
Wesen vor Erschaffung der Welt und eines endlichen Geistes, viel
Aehnlichkeit mit dem, was ich das Unbewusste nenne, wenn sie
auch nur die eine Seite desselben , nämlich die Seite des Logischen
oder der Vorstellung ist. Bei Hegel erlangt nämlich der Gedanke
auch erst dann das Bewusstsein, wenn er durch die Vermittelung seiner
Entäusserung zur Natur den Weg vom blossen Ansichsein zum Fürsich-
sein zurückgelegt, und als ein sich gegenständlich gewordener, als
Geist zu sich selbst gekommen ist. Der HegeVsche Gott als Aus-
gangspunct ist erst „an sich" und unbewusst, nur Gott als Resultat
ist „für sich" und bewusst, ist Geist. Dass das zum Fürsichsein-Ge-
langen, sich Gegenstand- Werden wirklich ein zum-Bewusstsein-Kom-
men ist, spricht Hegel in Werke XIII. S. 33 u. 46 deutlich aus.
Schopenhauer kennt als metaphysisches Princip nur den
Willen, während ihm die Vorstellung in materialistischem Sinne
Himproduct ist. Dem entsprechend kann bei ihm nicht von unbe-
wusster Vorstellung, sondern nur von unbewusetem Willen
die Rede sein, wobei er aber wunderbarer Weise nicht merkt, dass
der unbewusste Wille eo ipso eine unbewusste Vorstellung als Ziel,
Gegenstand oder Inhalt seiner selbst voraussetzt. (Vgl. Cap. A. IV.)
Jedenfalls sind seine Betrachtungen bei der scharfen psychologischen
Beobachtungsgabe, die er besitzt, meistens höchst lehrreich, z. B. über
den Instinct, über die Geschlechtßliebe und das Leben in der Gattung.
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19^
1b die neuere Nataiwissenschaft hat der Begriff des Unbe-
-wnssten noch wenig Eingang gelinden; eine rühmliche Ausnahme
macht der bekannte Physiologe Carus, dessen Werke »yPsyche** und
^hysis" wesentlich eine Untersuchung des Unbewnssten in seinen
Beziehungen zu leiblichem und geistigem Leben enthalten. Wie
-weit ihm dieser Versuch gelungen ist, und wieviel ich bei dem
meinigen von ihm entlehnt haben könne^ überlasse ich dem XJrtbeil
des Lesers. Jedoch füge ich hinzu, dass der Begriff des TJnbe-
wossten hier in seiner Eeinheit, frei von jedem unendlich kleinen
Bewusstsein klar hingestellt ist. Ausser bei Carus hat auch noch
in einigen Specialuntersuchungen der Begriff des XJnbewussten sich
eine Geltung erzwungen, welche indessen selten über das betreffende
specielle Gebiet ausgedehnt worden ist. So sieht sich z. B. Perty
in seinem Buch: „lieber das Seelenleben der Thiere" (Leipz. u.
Heidelb. 1865) zu einer Ableitung des Listincts aus unbewussten
M^omenten hingeführt, und ebenso erkennt Wundt („Beiträge zur
Theorie der Sinneswahmehmung** in Henle*s und Pfeuffer's Zeitschr.
£ ration. Medicin 1858 u. 59) die Nothwendigkeit an, zur Erklä-
Tung der Entstehung der Sinneswahmehmung auf unbewusste geistige
Processe, z. B. unbewusste Schlussfolgerungen, zurückzugehen, —
eine Darlegung, welche yon Helmholtz gebilligt worden ist. —
Herbart versteht unter „ bewusstlosen Vorstellungen** solche,
„die im Bewusstsein sind, ohne dass man sich ihrer bewusst
ist" CWcrke V. S. 342), d. h. ohne dass man dieselben „als die
aeinigen beobachtet und an das Ich anknüpft'', oder mit anderen
Worten, ohne dass man dieselben mit dem Selbstbewusstsein
in Verbindung setzt. Dieser Begriff bietet keine Gefahr der Ver-
wechselung mit dem wahrhaft Unbewussten; dagegen ist um der
Ton Pechner gemachten Anwendungen willen ein anderer von Her-
bart behandelter Begriff zu berücksichtigen, nämlich der „dtr Vor-
stellungen unterhalb der Schwelle des Bewusstseins" , welche nur,
ein von der Realisirung mehr oder minder entferntes Streben
nach Vorstellung repräsentiren , selbst aber „durchaus kein wirk-
liehes Vorstellen" sind, vielmehr für das Bewusstsein nicht einmal
Kchts^ sondern „eine unmögliche Grösse" bedeuten (Herbart^s Werke
V. S. 339 — 342). Herbart kommt auf diesen schwer zu fassenden
Begriff dadurch, dass er gemäss der Anschauungsweise des Leibniz
eine Continuität der Ab- und Zunahme in dem TJebergange von
urirklichen Vorstellungen des Bewusstseins zu solchen, die im Qe-
L
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20
dächtnisB schlummern, und umgekehrt, festhalten, auch die Möglich-
keit eines Aufeinander- Wirkens dieser schlummernden Gedächtniss-
vorstellungen nicht aufgeben wollte, trotzdem aber sich nicht zu
einer materialistischen Erklärungsweise dieser Processe herbeilassen
konnte, in der Art, dass er in ihnen nur materielle Himprocesse
Ton einer für die Bewusstseinserregung nicht ausreichenden Btärke
gesehen hätte. Nun ist aber auf dem heutigen Standpunct der
Wissenschaft unschwer zn sehen, dass die sogenannten schlummern-
den Gedächtnissvorstellungen durchaus nicht Vorstellungen in actu, in
Thätigkeit, sondern bloss Dispositionen des Gehirns zur leichteren
Entstehung dieser Vorstellungen sind. Wie eine Saite auf den
Ton a oder c resonirt, je nachdem sie auf a oder c gestimmt ist,
so entsteht auch im Gehirn leichter die eine oder die andere Vor-
stellung, je nachdem die Vertheilung und Spannung der Himmolecule
so beschaffen ist, dass sie leichter mit der einen oder der andern
Art von Schwingungen auf einen entsprechenden Reiz antwortet.
Was bei der Saite das Stimmen ist, das ist für das Gehirn die
bleibende Veränderung, welche eine lebhafte Vorstellung nach
ihrem Verschwinden in Vertheilung und Spannung der Molecule
hinterlässt. Dass aber jede Vorstellung wirklich in endlicher luid
swar ziemlich kurzer Zeit völlig verklingt, ist schon a priori ein-
zusehen, da nur eine Bewegung, welche keinen Widerstand findet,
unendlich lange fortdauern kann, im Gehirn aber die Widerstände
sehr stark sind, die sich jeder Bewegung widersetzen. Es kann
demnach Herbarts unbewusster Zustand der Vorstellung nur inner-
halb der Grenzen bestehen bleiben, welche durch das Aufhören
der Bewegung einerseits und da« Aufhören der bewussten Vor-
stellung bei noch fortdauernder Bewegung der Mirnschwingungen
anderseits gegeben sind, vorausgesetzt, dass beide Grenzen nicht
zusammenfallen. Die Frage ist also
1) ob jede Stärke von Hirnschwingungen Vorstellung erweckt,
oder ob die Vorstellung erst bei einer gewissen Stärke derselben
beginnt, und
2) ob durch jede Stärke von Hirnschwingungen bewusste
Vorstellung erregt wird oder erst von einer gewissen Stärke an.
Diesen Fragen ist Fechner in seinem ausgezeichneten Werke
„Psychophysik" näher getreten. Sein Gedankengang ist folgender:
Nicht jeder sinnliche Reiz bewirkt Sinnesempfindung, sondern nur
von einer gewissen Grösse an, die Reizschwelle heisst; z, B. eine
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21
tönende Glocke wird erst von einer gewissen Entfernung aus gehört.
Addiren sich mehrere gleichartige, einzeln nicht wahrnehmbare Beize,
so entstehen bewusste Empfindungen ; z. B, durch mehrere zugleich
tönende ferne Glocken, deren jede einzeln man nicht hören würde,
oder das Blattgeflüster im Walde. Nun könnte man dieses zwar
80 erklären , dass der Beiz unter der Schwelle nur darum keine
Empfindung bewirkt, weil er nicht stark genug ist, um die Lei-
tnngswiderstände im Sinnesorgan und Nerven bis zum Centralorgan
ZQ überwinden, dass aber die Seele auf den kleinsten , im Centrum
selbst angelangten Beiz mit entsprechendier Empfindung reagirt
Biese Annahme reicht aber allein nicht aus , denn sie passt nicht
auf Empfindungs unterschiede. Denn verschieden starke, gleich-
artige Beize bewirken verschiedene Empfindungen; doch muss auch
hier der Unterschied der Beize ein gewisses Maass (die Unterschieds-
reiischwelle) überschreiten , wenn die Empfindungen als verschieden
wahlgenommen werden sollen. Hier können offenbar die Leitungs-
widerstände nicht für die Erscheinung verantwortlich gemacht wer-
den, da jede der Empfindungen gross genug ist, dieselben zu über-
winden. Andererseits können aber für Beizschwelle und Unter-
schiedsschwelle auch nicht verschiedene Principien geltend gemacht
w^en, da der erste Fall auf den zweiten Fall zurückführ bar
ist, wenn in letzterem der eine Beiz = 0 gesetzt wird. Mithin
bleibt nur die Annahme übrig, dass die Schwingungen am Gentrum
einen gewissen Grad überschreiten müssen, ehe die Empfindung
erfolgt. Was hierbei für die Sinnes-Empfindung gilt, gilt natürlich
& jede andere Vorstellung und ist somit die zweite Frage ent-
schieden. Es bleibt die Ermittelung offen, ob die Beize unter der
Schwelle die Seele überhaupt zu einer Beaction bringen, welche
dann unbewnsste Empfindung oder Vorstellung wäre, oder ob die
fieaction der Seele erst bei der Schwelle beginnt.
Hören wir weiter auf Fechner. Das sogenannte Weber'sche
Cteaetz lautet : JZwei gleichartige Empfindungsunterschiede verhalten
sioh wie die zwei Quotienten der zugehörigen Beize '', und die
Ton Fechner hieraus höchst geistreich abgeleitete Formel lautet
y*=ilog-r-, worin y die Empfindung bei dem Beiz ß, b die Beiz-
«Äiwelle, d, h. der Werth des Beizes, bei dessen kleinster Ueberschrei-
^ y den Werth o überschreitet, und k eine Gonstante ist, welche die
Benehung der Maasseinheiten von ß und y enthält. Wird nun ß
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22
kleiner als h, d. h. der Reiz kleiner als die Beizschwelle^ so wird
y negativ und sinkt um so weiter unter 0, als /? unter b sinkt
(bei /9 = 0 ist y == — oo).
Diese negativen y% nennt nun Fechner ^^unbewusste Em-
pfindungen'', aber auch mit dem vollen Bewnsstsein, in diesem
Worte nur eine Licenz des Ausdrucks zu haben, welche bedeuten
soll, dass die Empfindung ;' sich um so mehr von der Wirklichkeit
entfernt, je weiter y unter 0 sinkt, d. h. dass ein immer grös-
serer Zuwachs des Eeizes dazu erfordert werde, um nur erst
den NuUwerth von y wieder hervorzubringen, tmd dieses an die
Grenze der Wirklichkeit zurückzurufen. Das negative Vorzeichen
vor Y bedeutet also hier (wie anderweitig oft; das Imaginaire) die
Unlösbarkeit der Angabe, aus der gegebenen Reizgrösse eine Em-
pfindung zu berechnen.
Ueber die sachliche Bedeutung des negativen Vorzeichens, sagt
Fechner sehr richtig, kann nur die vernünftige Vergleichung dee
Bechnungsansatzes mit den erfahrungsmässigen Thatsachen Aufsohluas
geben. Darum weist er den Seitenblick auf Wärme imd Kälte hier
als ganz ungehörig ziurüok, und verbietet, aus positiven und negativen
/s eine algebraische Summe zu ziehen, ebenso wie dies bei Flächen-
berechnungen durch rechtwinkliohe Coordinaten mit den positiven
und negativen Flächenstücken unzulässig ist. „Mathematisch kann
der Gegensatz der Vorzeichen ganz ebenso gut auf den Gegensatz
der Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, als der Zunahme und Ab-
nahme oder der Sichtungen bezogen werden, t- Im System der
Polarcoordinaten bedeutet er den Gegensatz der Wirklichkeit und
Nichtwirklichkeit einer Linie, so aber, dass grössere negative Werthe
eine grössere Entfernung von der Wirklichkeit bedeu-
ten, als kleinere. Es kann nicht das geringste Hindemiss sein, das,
was für den Radiue vector als Function eines Winkels göltig ist,
auf die Empfindung als Function eines Reizes zu übertragen*'
(Psychophysik IL S. 40). Was hier für den algebraischen Aus-
druck der Function gilt, gilt natürlich auch für ihre geometrische
Veranschanlichung als Curve, wo der sichtbare Zusammenhang des
positiven und negativen Theils das Urtheil von neuem gefangen
nehmen könnte. Man sieht, dass es schwer ist, für die negativen
y% einen bezeichnenden Ausdruck zu finden, der nicht zu Miss* \
Verständnissen Anlass geben könnte ; das beste wäre vielleicht, ;
gradezu „unwirkliche Empfindung" zu sagen. Indess ist Fechner ,
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I
23
aus der willkürlichen Benutzung des Wortes unbewusste Empfindung
kein Vorwurf zu machen, da er unsere positive Bedeutung des Un-
bewossten nicht kennt oder wenigstens nicht anerkennt. Schlimmer
aber ist es, dass Fechner später so inconsequent war, sich in der
That durch den Zusammenhang der geometrischen Curven unteriialb
der Schwelle täuschen zu lassen, und yon einem realen Zusammenhange
der Bewusstseine verschiedener Individuen unterhalb der Schwelle
zu sprechen. —
Ich bin hierauf so ausführlich eingegangen, weil ich mich vor
Verwechselung mit dem Fechner'schen Begrift der unbewussten
Empfindung wahren, zugleich dem trefflichen Werke den Zoll meiner
HochaohtuBg darbringen und endlich die Gelegenheit benutzen
wollte, den Leser mit dem Begriff der Schwelle bekannt zu machen,
der in den verschiedensten Gebieten der Wissenschaft von Bedeu-
tung ist, und den auch wir für unsere Untersuchungen nicht ent-
behren können. Dass übrigens eine gewisse Stärke des Himreizes
dam gehört, um überhaupt die Seele zu einer Reaction zu nöthigen,
ist teleologisch sehr begreiflich; denn was sollte aus uns armen
Seelen werden, wenn wir fortwährend auf die unendliche Menge
unendlich kleiner Beize reagiren sollten, die uns unaufhörlich um-
spielen« Aber wenn die Seele einmal auf einen Hirnreiz reagirt,
«0 ist auch eo 'ipso das Bewusstsein gegeben, wie in Cap. C. UI.
gezeigt wird; dann können diese Ereactionen nicht mehr unbewusst
bleiben. Wollte man hier aber auf die Theorie vom unendlich
kleinen Bewusstsein zurückkommen, so wird diesell^ einfach durch
das Experiment widerlegt, welches zeigt, dass die bewusste Em-
pfindung stetig abnimmt bis zum Nullwerth, dem die Beizschwelle
entspricht^ also die unendlich kleinen Werthe in der That ober-
halb der Schwelle durchläuft, wo wirklich noch unendlich
kleines Bewusstsein vorhanden ist, mit der Schwelle selbst aber 0
wird, d. h, absolut aufhört; ich verweise darüber auf Fech-
Ws Werk.
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n.
Wie kommen wir znr ABnahme yon Zwecken in
der Natur?
Eine der wichtigsten und bekanntesten Aeosseiungsformen des
TJnbewussten ist der Instinct^ und dieser ruht auf dem Zweckbegrüf ;
deshalb ist eine Untersuchung des letzteren für unsere Aufgabe
nicht zu vermeiden, und da dieselbe sich in den Abschnitt A nicht
wohl einfügt, so habe ich sie hier in die Einleitung verwiesen.
Zwar wird die hier folgende Behandlung des Gegenstandes leicht
den Vorwurf der Trockenheit erfahren, und wer es scheut, sich
durch Wahrscheinlichkeitsuntersuchungen durchzuwinden, der möge^
wenn er ohnedies schon von der Berechtigung einer Annahme voa
Zwecken in der Natur überzeugt ist, dieses Capitel immerhin un-
gelesen lassen. Doch muss ich hinzufügen, dass die Art, in welcher
die so wichtige Frage hier zur hypothetischen Entscheidung ge-
bracht wird, meines Wissens sowohl neu, als auch die einzig mög-
liche ist.
Bei vielen grossen Denkern hat der Zweckbegriff eine höchst
wichtige Bolle gespielt, und die Grundlage eines grossen Theils
des Systems ausgemacht, z. B. bei Aristoteles, Leibniz; £ant
musste ihm natürlich die Bealität ausserhalb des bewussten Den-
kens absprechen; da er sie für die Zeit nicht zugestand (vgl. Tren-
delenburg: logische Untersuchungen Cap. YIII. 5); der moderne
Materialismus leugnet dieselbe ebenfalls, weü er den Geist ausser-
halb des thierischen Hirns leugnet; bei der modernen Naturwissen-
schaft ist der Zweckbegriff durch Baco mit Becht in Misscredit ge-
kommen, weil er so oft als bequemes Mittel der faulen Vernunft
gedient hat, sich das Suchen nach den wirkenden Ursachen zu er-
sparen, und in dem blos mit der Materie beschäftigten Theil der
I^aturwissensohaft allerdings der Zweck, als eine geistige Ursache,
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f
25
t aoB^^eschlossen bleiben rnuss; Spinoza leugnete den Zweck voll-
i ständig; weil er sich nicht ans der Substanz ableiten Hess. Wenn
/ aber einerseits ein so grosser und so ehrlicher Geist wie Spinoza
« den Thatsachen in's Angesicht den Zweck zu leugnen im Stande
( ist, wenn dagegen bei andern der Zweck eine so grosse Bolle
spielt, und selbst der J^reigeist Voltaire die Zwecke aus der Natur
nicht wegzuleugnen wagt, wie unbequem und unvereinbar mit seiner
. sonstigen Ueberzeugung sie ihm auch seien; so muss es doch ein
' eigenes Ding damit sein.
/ Der Degriff des Zweckes bildet sich zunächst aus den Erfah-
rangen, die man an seiner eigenen bewussten Geistesthätigkeit
macht. Ein Zweck ist für mich ein von mir vorgestellter und ge-
wollter zukünftiger Vorgang, dessen Verwirklichung ich nicht direct,
sondern nur durch causale Zwischenglieder (Mittel) herbeizuführen
im Stande bin. Wenn ich den zukünftigen Vorgang nicht vor-
stelle, so ezistirt er für mich jetzt nicht; wenn ich ihn nicht
will, bezwecke ich ihn nicht, sondern er ist mir gleichgültig oder
zuwider; wenn ich ihn direct verwirklichen kann, so Mit das
eansale Zwischenglied, das Mittel fort, und damit verschwindet auch
der Begriff Zweck, der nur in der Belation zum Begriff Mittel be-
steht, denn die Handlung folgt dann unmittelbar auf den Willen.
Indem ich einsehe, dass ich nicht im Stande bin, meinen Willen
direct zn verwirklichen, und das Mittel als wirkende Ursswjhe des
Zweckes erkenne, wird mir das Wollen des Zweckes Motiv, d. i.
wirkende Ursache für das Wollen des Mittels ; dieses wird wirkende
Ursache für die Verwirklichung des Mittels durch meine That, und
das verwirklichte Mittel wird wirkende Ursache der Verwirklichung
des Zweckes. So haben wir eine dreifache Causalität unter den
vier Gliedern: Wollen des Zwecks, Wollen des Mittels, Verwirk- \ \
licbnng des Mittels, Verwirklichung des Zwecks. Nur in seltenen
Fällen wird alles dies auf rein subjectiv geistigem Gebiete bleiben,
z. B. beim Verfassen eines Gedichts im Kopf, der gedanklichen
Ausarbeitung einer anderweitigen künstlerischen Conception, oder
sonst einer Kopfarbeit; meistentheils dagegen finden wir von den
vier verschiedenen Arten der Causalität drei unmittelbar dargestellt,
nämlich Causalität zwischen geistigem und geistigem Vorgang ''^
(Wollen des Zwecks, Wollen des Mittels), geistigem und materiellem
. Vorgang (Wollen und Verwirklichung des Mittels); und zwischen
materiellem und materiellem Vorgang (Mittel und Zweck). Auch
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26
die vierte Art Causalität : zwischen materiellem und geistigem Vor-
gang kommt öfters hierbei vor, sie liegt dann aber vor dem Beginn
unserer Betrachtung in der Motivation des WoUens des Zwecks
durch Sinneseindrücke. Man sieht hieraus, dass die Verbindung
von gewolltem und verwirklichten Zweck oder die Finalität, keines-
weges etwas neben oder gar trotz der Causalität bestehendes
ist, sondern dass sie nur eine bestimmte Verbindung der verschie-
denen Arten von Causalität ist, derart, dass Anfangsglied und End-
glied dasselbe sind, nur das eine ideal und das andere real, das
eine in der gewollten Vorstellung, das andere in der Wirklichkeit
Weit entfernt, die Ausnahmslosigkeit des Causalitätsgesetzes zu ver-
nichten,^ setzt sie dieselbe vielmehr voraus, und zwar
nicht nur für Materie unter einander, sondern auch zwischen Geist
und Materie, und Geist und Geist. Daraus geht hervor, dass sie
die Freiheit im einzelnen empirischen Geistesacte negirt, und auch
ihn unter die Nothwendigkeit des Causalitätsgesetzes stellt. Dies
möchte das erste Wort zur Verständigung mit den Gegnern der
Finalität sein.
Nehmen wir nun an, es sei M als wirkende Ursache von Z
beobachtet worden, und sämmtliche im Moment des Eintretens von
M obwaltenden materiellen Umstände als n. n. constatirt worden.
Femer stehe der Satz fest, dass M eine zureichende wirkende Ur-
sache haben müsse. Nun sind 3 Fälle möglich: entweder ist die^
zureichende Ursache von M in n. n. enthalten, oder sie erhält ihr^
Vervollständigung durch andere materielle Umstände, welche der
Beobachtung entgangen sind, oder endlich die zureichende Ursache
von M ist überhaupt nicht auf materiellem Gebiete zu finden, muss
mithin auf geistigem gesucht werden. Der zweite Fall widerspricht
der Annahme, dass sämmtliche materielle Umstände, die der Ent-
stehung von M unmittelbar vorangehen, in n. n. enthalten seien.
Wenn diese Bedingung auch in aller Strenge unerfüllbar ist, da die
ganze Lage des Weltsystems darunter begriffen wäre, so ist doch
leicht zu sehen, dass die Fälle sehr selten sind, wo ausserhalb eines
engen örtlichen Umkreises für den Vorgang wesentliche Bedingun-
gen liegen können, und alle xm'wesentlichen Umstände brauchen
nicht berücksichtigt zu werden. Z. B. die wesentlichen Umstände,
warum die Spinne spinnt, wird niemand ausserhalb der Spinne
suchen, etwa im Monde. Es bleiben also nur die beiden Fälle,
dass die zureichende Ursache in n. n. enthalten ist, oder geistiger
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Natur ist. Dass der eine oder der andere Fall statthaben muss,
ist alßo nunmehr Gewissheit, d. h. die Summe ihrer Wahrschein-
lichkeiten ist = 1 (welche Gewissheit bedeutet). Sei nun die
Wahrcheinlichkeit, dass M durch n. n. verursacht ist = — , so ist
fol^Kch die Wahrscheinlichkeit, dass es eine geistige Ursache habe
= 1 = ; je kleiner — wird, desto grösser wird x, desto
,x — l
mehr nähert sich der 1 , d. h. der Gewissheit. Die Wahr-
er
scheinlichkeit — würde =0 werden, n wenn man den directen Be-
x
weis in Händen hätte, dass M nicht durch n. n. verursacht ist;
wenn man nämlich einen Fall constatiren könnte, wo n. n. vorhan-
den und M nicht eingetreten ist. Dies ist mit den ganzen n. n.
freilich unmöglich, da jede geistige Ursache materielle Angri£Pis-
pimcte braucht; aber es wird doch häuBg gelingen, wenigstens einige
oder mehrere der Umstände n. n. zu eliminiren, und je weniger
von den Umständen n. n, als solche betrachtet werden müssen, bei
deren Vorhandensein der Vorgang M jedesmal eintritt, desto leichter
wird die Bestimmung der Wahrscheinlichkeit, dass sie die zurei-
chende Ursache von M nicht enthalten.
Betrachten wir zur Verdeutlichung ein Beispiel. Dass das
Bebrüten des Ei*s die Ursache vom Auskommen des jungen Vogels
ist, ist eine beobachtete' Thatsache. Die dem Bebrüten (M) un-
mittelbar vorbeigehenden materiellen Umstände (n. n.) sind das
Vorhandensein und die Beschaffenheit des Ei's, das Vorhandensein
und die Körperconstitution des Vogels, und die Temperatur an dem
Ort, wo das £i liegt; anderweitige wesentliche Umstände sind
undenkbar. Die Wahrscheinlichkeit ist höchst gering, dass diese
Umstände ausreichen, um den munteren, bewegungsfrohen Vogel
zum Verlassen seiner gewohnten und instinctiv gebotenen Lebensweise
und zum langweiligen Stillesitzen über den Eiern zu veranlassen;
denn wenn auch der vermehrte Blutandrang im Unterleibe ein er-
höhtes Wärmegefühl herbeiführen mag, so wird dieses doch durch
das Stillsitzen im warmen Nest auf den blutwarmen Eiern nicht
vermindert, sondern erhöht. Hiermit ist schon die Wahrscheinlich-
\ ^ \
keit — als sehr klein, also als nahe an 1 bestimmt. Denken
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28
wir aber an die andere Frage, ob uns ein Fall bekannt sei, wo
Yogel und Eier dieselben sind, nnd doch das Bebrüten nicht statt
findet, so begegnen uns zunächst Vögel, die in heissen Treibhäosem
genistet haben, und das Brüten unterlassen, ebenso bebrütet der
Strauss seine Eier nur in der 19 acht, im heissen Nigritien gar nicht.
Hiermit sind von den Umständen n. n. Vogel und Eier als nicht
zureichende Ursache für das Bebrüten (M) erkannt und es bleibt
als einziger materieller Umstand, der die Ursache zureichend oder
vollständig machen könnte, die Temperatur im Neste übrig. Nie-
mand wird für wahrscheinlich halten, dass die niedrigere Tempe-
ratur die directe Veranlassung für den Vorgang des Bebrütens sei,
mithin ist das Vorhandensein einer geistigen Ursache für den Vor-
gang des Bebrütens so gut wie Gtewissheit geworden.
Nicht immer ist die Wahrscheinlichkeitsbestimmung so leicht
wie hier, und in seltenen Fällen wird sie bei einem einfachen M
so nahe an Gewissheit grenzen. Dafür kommt uns aber zur Hülfe,
dass das M, die beobachtete Ursache von Z, meistens nicht einfach,
sondern aus verschiedenen, von einander unabhängigen Vorgängen,
Fl, Pg, F3, F4 etc. besteht. Wenn wir nun zunächst wieder das
Uebersehen wesentlicher, materieller Umstände ausschliessen , so
haben wir dann zu ermitteln:
Die Wahrscheinlichkeit,
dass Vi durch n. n. zureichend verursacht ist = —
P2
Ps
P4
Pft
l
P4,
Hieraus folgt die Wahrscheinlichkeit, dass M durch n. n. zu-'
reichend verursacht ist == — ? • . Denn M ist die Summe
Pi 'P2 PS'Pl
der Vorgänge "Pi, Pg, Pa, P4, also wenn M durch n. n. verursacht
sein soll, muss sowohl P^, als auch P2, als auch Pg, als
auch P4, gleichzeitig durch n. n. verursacht sein; diese Wahr-
scheinlichkeit ist aber das Product der einzelnen Wahrscheinlich-
keiteo. (Wenn z. B. beim ersten Würfel die Wahrscheinlichkeit, die
2 zu werfen «» ^ ist, beim zweiten ebenfalls = ^, so ist die Wabr-
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29
fichemlichkeit , mit beiden Würfeln zugleich die 2 zu werfen
= -^ . 4). Mithin ist die Wahrscheinlichkeit ,. dass M nicht zu-
reichend durch n. n. verursacht sei, dass es also noch einer geisti-
gen Ursache bedürfe = 1 ^ ^PA'PhB^P^^ZiI^
Pi'Vt'PZ'lU Pl'P2'7h'P4,
Hier ist also Pi-Pi-PsPi, ^^ vorher j? war, und man sieht
daraus^ dass pi, p^, p^ und p^ einzeln nur wenig grösser als
* 1111
V'^ 2 = 1,189, also — , — , - und — jedes wenig kleiner als 0,84
Pi P% /?s P4
zu sein brauchen, so wird p^ p^-Pi-P^ ^s Product der 4 Factoren
schon grösser als 2, und ^^ r^r^P^ grösser als 4 ; d. h, mit
Pl 'P2 Pz Pi
andern Worten, wenn für die einzelnen Vorgänge Pj, P^, P», P4, die
Wahrscheinlichkeit einer geistigen Ursache (1 etc.) nur gering
ist, so wird sie doch für ihre Summe M um so bedeutender, je mehr
einzelne Vorgänge zu M gehören. Sei z. B. die Wahrscheinlichkeit
einer geistigen Ursache im Durchschnitt für jedes nur ^ = ( 1 )
.1 l 1 1 1 ^« 1 1
so ist — =s — s — = — = :J. == 0,8 also
pl p% Pz Pl Pl ' P2 Pi Pl
0,4096 und 1 = 0,6904, eine ganz respectable
PlPi'PS' Pi,
Wahrscheinlichkeit von mehr als J. Man sieht leicht ein, dass
diejenigen Theile von M, welche gcuiz sicher bloss aus n. n. resul-
tiren, sich von selbst aus der Rechnung eliminiren, da ihre Wahr-
scheinlichkeit als 1 in das Product der übrigen eingeht, d. h. dieses
unverändert lässt. —
Betrachten wir auch hierzu ein Beispiel. Als Ursache des
Sehens (Z) ist ein Complex (M) von Bedingungen (Pi , P2, P3, P4)
beobachtet worden, deren wichtigste folgende sind: 1) besondere
Nervenstränge gehen vom Gehirn aus, welche so beschaffen sind,
dass jeder sie treffende Reiz im Gehirn als Lichtempfindung perci-
pirt wird; 2) sie endigen in einer eigenthümlich gebauten, sehr
empfindlichen Nervenhaut (Retina); 3) unmittelbar vor derselben
befinden ^ch Apparate, welche die Lichtschwingungen verschiede-
ner Geschwindigkeit in diejenigen Nervenschwingungen umsetzen,
welche als Farbenempfindungen percipirt werden; 4) vor derselben
sieht eine Camera obscura; 5) die Brennweite dieser Camera ist
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• 30
im Allgemeinen für das Brechungsverhältniss von Luft und Augen-
körper passend (ausser bei Wasserthieren) ; 6) die Brennweite ist
durch verschiedenartige Contractionen für Sehweiten von einigen
Zollen bis unendlich zu ändern ; 7) die Linse ist durch eigenthüm-
lieh concentrische Schichtung so constrmrt, dass sie ein achroma-
tisches Bild ohne erhebliche Fehler der Sphäricität giebt; 8) die
einzulassende Lichtquantität wird durch Verengerung und Erweite-
rung der Lris regulirt und dadurch zugleich bei deutlichem Sehen
im Hellen die peripherischen Strahlen abgeblendet; 9) die Dupli-
cität der Augen veranlasst das stereoskopische Sehen mit der drit-
ten Dimension; 10) beide Augen können durch besondere Nerven-
stränge und Muskeln zugleich nur nach derselben Seite, also un-
symmetrisch in Bezug auf die Muskeln bewegt werden; 11) die von
der Peripherie nach dem Centrum zunehmende Deutlichkeit des
Gesichtsbildes verhindert die sonst unvermeidliche Zerstreuung der
Au&nerksamkeit ; 12) das reflectorische Hinwenden des deutlichen
Sehpuncts nach dem hellsten Puncte -des Gesichtsfeldes erleichtert
das Sehenlemen und das Entstehen der BÄumvorstellungen in Ver-
bindung mit dem vorigen; 13) die stets herabrinnende Thränen-
feuchtigkeit erhält die Oberfläche der Hornhaut durchsichtig und führt
den Staub ab; 14) die hinter Knochen zurückgezogene Lage, die
reflectorisch bei jeder Gefahr sich schliessenden Lieder, die Wim-
pern und Brauen schützen vor schnellem Unbrauchbarwerden der
Organe durch äussere Einwirkungen.
Alle diese 14 Bedingungen sind nöthig zum normalen Sehen
und dessen Bestand; sie alle sind bei der Geburt des Bandes be-
reits vorhanden, wenn auch ihre Anwendung noch nicht geübt ist;
die ihrer Entstehung vorangehenden und sie begleitenden Umstände
(n. n.) sind also in der Begattung und dem Fötusleben zu suchen.
Das wird aber wohl den Physiologen nfemals gelingen, in der Keim-
scheibe des befruchteten Eies und den zuströmenden Muttereäften
die zureichende Ursache für die Entstehung aller dieser Bedingun-
gen mit nur einiger Wahrscheinlichkeit aufzuzeigen; es ist nicht
abzusehen, warum das Kind sich nicht auch ohne Sehnerven oder
ohne Augen entwickeln soll. .Gesetzt nun aber, man stützte sich
dabei auf unsere Unkenntnisse obwohl dies ein schlechter Grund
für positive Wahrscheinlichkeiten ist, und nähme für jede der 14
Bedingungen eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit an, dass sie sich
aus den materiellen Bedingungen des Embryolebens entwickeln
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müsse, meinetwegen im Durchschnitt |^ (was schon eine Wahr-
soheinlidikeit ist, die wenige unserer sichersten Erkenntnisse be-
sitaen), so ist doch die Wahrscheinlichkeit, dass alle diese Be-
dingungen aus den materiellen Yerhältnissen des Embryolebens
folgen, 0,9^*= 0,23, also die Wahrscheinlichkeit, dass für diesen
Complex eine geistige Ursache in Anspruch genommen werden
mässessO,??, d. i. über f ; in Wahrheit sind aber die einzelnen
Wahrscheinlichkeiten = 0,25, oder höchstens 0,5, und demnach die
Wahrscheinlichkeit einer geistigen Ursache für das Ganze =
0,9999999996, respective 0,99994, d. h. Gewissheit.
Wir haben auf diese Weise erkannt, wie man aus mate-
riellen Vorgängen auf das Mitwirken geistiger Ur-
sachen zurückschliessen kann, ohne dass letztere der
unmittelbaren Erkenntniss offen liegen. Von hier zur
£rkenntniss der Finalität ist nur noch Ein Schritt. Eine geistige
Ursache für materielle Vorgänge kann nur in geistiger Thätigkeit
bestehen, und zwar muss, wo der Geist nach aussen wirken soll,
Wille vorhanden sein, und kann die Vorstellung dessen, was der
Wille will, nicht fehlen, wie dies in Cap. A. IV. zur näheren Er-
örterung kommt. Die geistige Ursache ist also Wille in Verbindung
niit Vorstellung, und zwar der Vorstellung des materiellen Vor-
ganges; der bewirkt werden soll (M). Wir nehmen hier der Kürze
halber an, dass M d i r e c t aus einer geistigen Ursache hervorgeht,
was keineswegs nöthig ist. Fragen wir weiter: was kann die Ur-
sache davon sein, dass M gewollt wird. Hier reisst uds jeder
eamale Faden ab, wenn wir nicht zu der ganz einfachen und natür-
lichen Annahme greifen : das Wollen von Z. Das Z nicht als reale
Existenz, sondern nur idealiter, d. h. als Vorstellung den Vorgang
beeinflussen kann, versteht sich von selbst nach dem Satze, dass
die Ursache früher als die Wirkung sein muss. Dass aber Z-
wollen ein hinreichendes Motiv für M- wollen ist, ist ebenfalls
ein selbstverständlicher Satz, denn wer die Wirkung vollbringen will,
muss auch die Ursache vollbringen wollen. Freilich haben wir an
dieser Annahme nur dann eihe eigentliche Erklärung, wenn uns
das Z- wollen begreiflicher ist, als das M- wollen an sich ist. Das
Z - wollen muss also entweder in der Verwirklichung von selbst sein
genügendes Motiv haben, oder an einem Wollen von Zj, welches als
Wirkung auf Z folgt; bei diesem wiederholt sich dann dieselbe
Betrachtung. Je evidenter das letzte Motiv ist, bei dem wir stehen
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bleiben, um so wahrscheinlicher wird es, dass das Z - wollen Ursache
des M-woUens sei. Dass dies in der That der Gang unserer Be-
trachtung den Naturzwecken gegenüber sei, ist leicht zu sehen.
Wir haben z. B. gesehen, der Vogel brütet deshalb, weil er brüten
will. Mit diesem dürftigen Resultat müssen wir uns entweder be-
gnügen, und auf alle Erklärung verzichten, oder wir müssen fragen,
warum wird das Brüten gewollt? Antwort: weil die Entwickelung
und das Auskriechen des jungen Vogels gewollt wird. Hier sind
wir in demselben Falle; wir fragen also weiter: warum wird die
Entwickelung des jungen Vogels gewollt? Antwort: weil die Fort-
pflanzung gewollt wird ; diese, weil das längere Bestehen der Gat-
tung trotz des kurzen Lebens der Individuen gewollt wird, und
hiermit haben wir ein Motiv, das uns vorläufig befriedigen kann.
Wir werden demnach zu der Annahme berechtigt sein, dass das
Wollen der Entwickelung des jungen Vogels, die (gleichviel, ob
directe oder indirecte) Ursache zum Wollen des Bebrütens ist, d. h.
dass ersteres durch das Mittel des Bebrütens bezweckt sei. (Hier
handelt es sich nicht darum, ob dieser Zweck dem Vogel bewusst
ist oder nichts obwohl dies bei einem einsam erzogenen jungen Vogel
unmöglich angenommen werden kann, denn woher sollte er die be-
wusste Kenntniss der Wirkung des Bebrütens erhalten haben?)
Freilich bleibt immer noch die Möglichkeit übrig, dass eine geistige
Ursache dem Vorgang M zu Grunde liege, ohne dass dieselbe durch
das Wollen von Z motivirt sei, mithin wird die Wahrscheinlichkeit,
dass Z bezweckt ist, ein Product sein aus der Wahrscheinlichkeit,
dass M eine geistige Ursache habe ( 1 1, und aus der, dass
diese geistige Ursache das Z - wollen zur Ursache habe — ; das Pro-
y
duct (1 I — muss aber natürlich kleiner sein, als jeder der
Factoren, da jede Wahrscheinlichkeit kleiner als 1 ist. Auch hier
kann die Wahrscheinlichkeit erheblich vergrössert werden, wenn
man die einzelnen Bedingungen (Pj , Pg , P3 , P4) betrachtet, aus
denen M sich gewöhnlich zusammensetzt. Die Wahrscheinlichkeit,
dass Z durch P^ bezweckt sei, ist nach obigem ( 1 ) — , wenn
-, die Wahrscheinlichkeit ist, dass die ir
— , die Wahrscheinlichkeit ist, dass die geistige Ursache das
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l
33
Z-wollen zur Ursache hat; demnach ist die Wahrscheinlichkeit,
duB P nicht auf Z abzwecke = 1 ~ ( 1 1 — ; folglich ist
die WahrBcheinlichkeit, dass weder Pj, noch Pj, noch Pg,
noch P4, Z zum Zweck habe, d. h. dass Z auf keine Weise durch
M bezweckt sei =" dem Product der einzelnen Wahrscheinlichkeiten
oder=) (1-fl 1.)\
£(^glidk ist die Wahrscheinlichkeit, dass M mit irgend einem seiner
Theile Z bezwecke, d. h. die Wahrscheinlichkeit, dass Z überhaupt
Zweck von M ist, gleich dem Supplement dieser Grösse zu 1^
= 1 — ) (1— (1 ) — : — , — etc. sind echte Brüche,
ebenso — , - - etc., folglich auch 1 , und f 1 1 — , und
1 — (1 ) — , und alle entsprechenden, folglich auch ihr Pro-
^ Pi^ 9i
dnct ) (1 — ( l ) - ; daraus folgt, dass dies Product um so
Li \ PiJgi
kleiner wird, je grösser die Anzahl n wird; denn wenn 72 um 1
▼äohst, so ist der neu hinzukommende Factor 1 — (1 ) ;
\ pn^l/qn-^l
dieser Factor ist ebenso wie das Product ein echter Bruch, also
111U88 das Product aus beiden ein echter Bruch sein, der kleiner
i«t, als jeder von beiden Factoren, q, e. d. - Daraus nun, dass
) ( mit wachsendem n kleiner wird, folgt, dass 1 — W mit wachsen«
L.JI l...»t
dem n grösser wird; also wächst auch diese Wahrscheinlichkeit
mit der Anzahl der Bedingungen, aus denen M sich zusammensetzt.
Is sei ( 1 1 — , I l ) — etc. im Durchschnitt =-r> d. h.
\ PxJgi \ p%Ji% 4
die Wahrscheinlichkeit, dass jede einzelne der Bedingungen von Z
dieses bezwecke, sei im Durchschnitt »> —-> also schon sehr unwahr-
seheinüch. Dann ist 1 — (1 ) — durchschnittlich = — , dies
\ pJ q 4
81 r / 1 \ 1 1* 175
im vierten Potenz giebt—,alsol-[l-(^l-^j-J =256 =
3
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Phil. d. UsbemiBsten.
/
34
2
über —, d. h. es resultirt im Ganzen schon eine recht hübsche Wahr-
o
Bcheinlichkeit, denn man gewinnt noch, wenn man 2 gegen 1 auf
das Bestehen des Zweckes wettet. Die Anwendung auf das Bei-
spiel vom Sehen liegt auf der Hand.
/ Wir haben hieraus gelernt, dass ganz besonders solche Wir-
/ kungen mit Sicherheit als Zwecke erkannt werden können, welche
einen grösseren Gomplex von Ursachen zu ihrem Zustandekommen
brauchen , deren jede eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, Mittel au
diesem Zweck zu sein, ^s ist daher kein Wander, dass gerade die
allgemeinsten NaturerscheinTingen Ton jeher die ungetheilteste An-
erkennung als Zweck gefunden haben. Z. B. die Existenz und der
Bestand der organischen Katur als Zweck ihrer eigenen Einrich-
tungen, sowie der der unorganischen Natur. Hier wirken geradezu
eine unendliche Menge Ursachen zusammen, um diese G^esammt-
Wirkung, das Bestehen der Organismen, zu sichern. Soweit diese
Ursachen in den Organismen selbst liegen, theilen sie sich in solche,
die die Erhaltung des Individuums, und solche, die die Erhaltung
der Gattung herbeiführen. Auch diese beiden Puncto sind wohl
selten als Waturzwecke verkannt worden. Wenn wir nun einen
solchen mit möglichster Gewissheit erkannten Zweck Z nennen, so
wissen wir, dass keine seiner vielen Ursachen fehlen darf, wenn
er erreicht werden soll, also auch z. B. M nicht. Da ich nun
weiss, dass Z und M beide vor ihrer realen Existenz gewollt und
vorgestellt waren, und ich sehe, dass zum Zustandekommen von M
unter andern die äussere Ursache M, erforderlich ist, so erhält die
Annahme, dass auch M^ vor seiner realen Existenz gewollt und
vorgestellt war, durch diesen Bückschluss eine gewisse Wahr-
scheinlichkeit. Mag nämlich M durch unmittelbare Einwirkung
einer geistigen Ursache verwirklicht sein , oder mittelbar, indem es
aus materiellen Ursachen folgt, deren einige oder mehrere geistig
verursacht sind, in beiden Fällen kann M^ vor seiner realen
Existenz als Mittel für den Zweck M gewollt und vorgestellt
sein. Im letzteren Falle ist dies ohne weiteres klar, aber auch
im ersteren Falle schliesst die unmittelbare Einwirkung einer
geistigen Ursache bei der Verwirklichung von M nicht aus, dass
auch die materiellen Ursachen von M, also auch M^, zum grösseren
oder kleineren Theil wieder aus geistigen Ursachen entsprangen
sind, die M und Z bezweckten; dies ist sogar in der organischen
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IJatur der normale Sachverhalt. Mithin resultirt aus diesem Bück-
«chluse jedenfalls eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass auch Mi
bezweckt worden sei, und wenn dieselbe auch an sich nicht gross
sein mag, so ist sie doch immerhin eine nicht zu vernachlässigende
Vermehrung der direct gewonnenen Wahrscheinlichkeitsgrösse, da
diese Unterstützung nicht nur allen folgenden Stufen zu Gute
kommt, sondern sich bei einer jeden wiederholt
Man sieht nach diesen Betrachtungen, dass die Wege, auf welchen
in^n Zwecke in der Natur erkennt, sich mannigfach combiniren.
Es kann von Benutzung solcher Kechnungen in Wirklichkeit frei-
lieh keine Bede sein, aber sie dienen dazu, die Principien aufzu-
klären, nach welchen sich der logische Prozess über diesen
€legenstand mehr oder minder unbewusst in jedem vollzieht, der
hierüber richtig nachdenkt, und nicht von erhabenen Systemstand-
puncten von vornherein abspricht. Auch wird diese Betreu^htung
sicherlich kleinen Gegner der Annahme von Naturzwecken bekehren,
denn dies können nur Beispiele in Masse; aber sie wird vielleicht
manchen, der über die Annahme von Naturzwecken weit erhaben
zu sein glaubte, vermögen, Beispiele darauf hin genauer und
anbefangener zu erwägen, und in diesem Sinne eine Vorbereitung
ior den Abschnitt A. der Untersuchungen zu schaffen, war auch
der alleinige Zweck dieses Capitels.
3*
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A.
Die Erscheinung des Unbewussten in
der Leiblichkeit.
Die Mftterialisten bemfthen sich, ta xeigen,
dM8 alle Phinomene, amch die gelBÜgen. pky-
• isch sind: mit Recht; nnr sehen sie nicht ein,
dAM alles FhTsische andererseits zugleich ein
Metaphysisches ist.
Schopinhatm:
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Der uibewnsste Wille in den selbststftndigen Rflcken-
marks- nnd Oanglienfnnctionen.
Die Zeit ist vorüber, wo man dem freien Menschen die Thiere
als wandelnde Maschinen, als Antomaten ohne Seele gegenüber
ateüte. Eine eingehendere Betrachtang des Thierlebens, die eifrige
Bemühong um das Verständnis s ihrer Sprache und die Motive ihrer
Handlangen hat gezeigt, dass der Mensch von den höchsten Thieren,
ebenso wie die Thiere unter einander, nur graduelle , aber nicht
wesentliche Unterschiede der geistigen Befähigung zeigt; dass er
Tetrmöge dieser höheren BeflQiigung sich eine vollkommenere Sprache
geschaffen, und durch diese die Perfectibüität durch Generationen
hindurch erworben hat, welche den Thieren eben wegen ihrer un-
ToUkommenen Mittheilungsmittel fehlt. Wir wissen also jetzt, dass
wir nicht den heutigen Gebildeten mit den Thieren vergleichen
dürfen, ohne gegen diese ungerecht zu sein, sondern nur die Yölker,
4ie sich noch wenig von dem Zustande entfernt haben, in welchem
sie aus der Hand der Natur entlassen wurden, denn wir wissen^
dass auch unsere jetzt durch höhere Anlagen bevorzugte Race der-
einst gewesen, was jene noch heute sind, und dass unsere heutigen
Ufaeren Gehirn* und Geistesanlagen nur durch das Gesetz der
Tererbung auch des Erworbenen allmälig diese Höhe erreicht haben.
80 steht das Thierreich als eine geschlossene Situfenreihe von Wesen
TOT uns, mit durchgehender Analogie behaftet; die geistigen Ghrund-
Termc^en müssen in allen dem Wesen nach dieselben sein, und
was in höheren als neu hinzutretende Vermögen erscheint, sind
wai seoundäre Vermögen, die sich durch höhere Ausbildung der
gemeinsamen Grundi^thigkeiten nach gewissen Richtungen hin ent-
wiekeln. Diese Grund- oder XJrthätigkeiten des Geistes in allen
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^ _
Wesen sind Wollen und Vorstellen, denn das Gefühl lässt sich (wie
ich Gap. B. DI. zeigen werde) aus diesen beiden mit Hülfe des
XJnbewnssten entwickeln.
Wir sprechen in diesem Capitel bloss vom Willen. Dass das-
selbe, was wir als unmittelbare Ursache unseres Handelns im Be-
wusstsein finden und Wille nennen, dass eben dieses auch in dem
Bewusstsein der Thiere als causales Moment ihres Handelns lebt,
und auch hier Wille genannt werden muss, unterliegt wohl keinem
Zweifel, wenn man nieht so yomehm sein will, (wie bei essen,
trinken und gebären) für dieselbe Sache beim Thier andere Namen
zu gebrauchen (fressen, saufen, werfen). Der Hund will sich nicht
von seinem Herrn trennen, er will das in's Wasser gefallene Kind
von dem ihm wohlbekannten Tode retten, der Vogel will seine
Jungen nicht beschädigen lassen, das Männchen will den Besitz
seines Weibchens nicht mit einem anderen theilen u. s. w. — Ich
weiss wohl, dass es viele giebt, die den Menschen zu heben glau-
ben, wenn sie mögliobst viel bei den Thieren, namentlich den
unteren, als Beflerwirkung erklären. Wenn diese die gewöhnliche
physiologische Tragweite des Begriffes Befiezwirkimg als unwill-
kürliche Beaction auf äussern Beiz im Sinne haben, so kann man
wohl sagen, sie müssen nie Thiere beobachtet haben, oder sie müssen
mit sehenden Augen blind sein; wenn sie aber die Befiezwirkung
über ihre gewöhnliche physiologische Bedeutung in ihren wahren
BegrijQf ausdehnen, so haben sie zwar Becht, aber sie vergessen
dann bloss : erstens, dass auch der Mensch in lauter Befiezwirkun«
gen lebt und webt, dass jeder Willensact eine Eeflezwirkung ist,
zweitens aber, dass jede Befi.exwirkung ein Willensact ist, wie in
Cap. V. gezeigt wird.
Behalten wir also vorläufig die gewöhnliche engere Bedeutung
von Befiex bei, und sprechen nur von solchen Willensaoten, welche
nicht in diesem Sinne Beflexe, also nicht unwillkürliche Beactionen
des Organismus auf äussere Beize sind. Zwei Merkmale sind es
hauptsächlich, an denen man den Willen von den Befiexwirkungen
unterscheiden kann, erstens der Affeot, und zweitens die Consequens
in Ausführung eines Vorsatzes. Die Befieze vollziehen sich me-
chanisch und afiectlos, es gehört aber nicht allzuviel Physionomik
dazu, um auch an den niedrigen Thieren das Vorhandensein y<m
Affecten deutlich wahrzunehmen. Bekanntlich führen manche
Ameisenarten Kriege untereinander, in denen ein Staat den andern
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41
unterwirft und sich zu Sclayen macht, um durch sie seine Arbeiten
Terrichten 2u lassen. Diese Kriege werden durch eine Erieger-
kaste geführt, deren Mitglieder grösser und stärker und mit kräf-
tigeren Zangen bewehrt sind. Man braucht nur einmal gesehen zu
haben, wie diese Armee an den feindlichen Bau anklopft^ die Ar-
beiter sich zurückziehen und die Krieger herauskommen, um den
Kampf aufzunehmen, mit welcher Erbitterung gekämpft wird, und
wie sich nach unglücklichem Ausgang der Schlacht die Arbeiter
des Baues gef&ngen geben, dann wird man nicht mehr zweifeln,
dass dieser prämeditirte Raubzug einen sehr entschiedenen Willen
leigt, und nichts mit Beflexwirkungen zu thun hat. Aehnlich ist
es bei Raubbienenschwärmen.
Die Reflexivwirkung verschwindet und wiederholt sich mit dem
äoseem Reiz, aber sie kann nicht einen Vorsatz fassen, den sie
unter veränderten äussern Umständen mit zweckmässiger Aendemng
der Mittel längere Zeit hindurclr verfolgt. Z. B. wenn ein geköpfter
Frosch, der lange nach der Operation ruhig liegen geblieben ist,
plötzlich anfingt Schwimmbewegungen zu machen, oder fortzuhüpfen,
so könnte man noch geneigt sein, dies als blosse physiologische
Reflexwirkungen auf Reizungen der Luft an den durchschnittenen
Nerroienden anzusehen, wenn aber der Frosch eine bestimmte Rich-
timg einschlägt und, aus dieser Richtung herausgebracht, mit selte-
nem Eigensinn dieselbe stets wieder zu gewinnen sucht, wenn er
sich unter Spinde und in andere Winkel verkriecht, offenbar um
vor den Verfolgern Schutz zu suchen, so liegen hier unverkennbar
niohtrefleotorische Willensacte vor.
Aus diesem Beispiel vom geköpften Frosch und dem Willen
aller wirbellosen Thiere (z. B. der Insecten) geht hervor, dass zum \
Zustandekommen des Willens durchaus kein Gehirn erfbrder- ]
lieh ist. Da bei den wirbellosen Tbieren die Schlundganglien das
Gehirn ersetzen, werden wir annehmen müssen, dass diese zum :
Willensact auch genügen, und bei jenem Frosch muss das Rücken- i
uark die Stelle des Gehirns vertreten haben. Aber auch nicht '
bloss auf die Schlundganglien der wirbellosen Thiere werden wir
den Willen beschränken dürfen, denn wenn von einem durchschnit-
tenen Inseet das Vordertheil den Act des Fressens, tmd von einem
öderen durchschnittenen Inseet das Hintertheil den Act der Be-
gattung fortsetzt^ ja wenn sogar Fangheuschrecken mit abgeschnit-
Venen Köpfen noch gerade wie unversehrte, Tage lang ihre Weibchen
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42
auüsuohen, finden und sich mit ihnen begatten, so ist w<^l klajr,
dass der Wille zum Fressen ein Act des Schlundringes, der Wille
zur Begattung aber wenigstens in diesen Fällen ein Act anderer
Gfanglienknoten des Bumpfes gewesen sei. Die nämliche Selbst-
ständigkeit des Willens in den verschiedenen Ganglienknoten eines
und desselben Thieres sehen wir darin, dafis von einem zerschnit-
tenen Ohrwurm häufig, von einer australischen Ameise regel-
mässige sich beide Hälften gegen einander kehren, und unter den
unverkennbaren Affecten des Zorns und der Kampflust sich mit
FresBzange resp. Stachel bis zum Tode oder zur Erschöpfung wü-
thend bekämpfen. Aber selbst auf die Ganglien werden wir die
Willensthätigkeit nicht beschräDken dürfen, denn wir finden selbst
bei jenen tiefstehenden Thieren noch Willensacte , wo das Mikro-
skop des Anatomen noch keine Spur weder Ton Muskelfibrin, noch
von Nerven, sondern statt beider nur die Mulder^sche Fibroine
entdeckt hat und wo vermuthlich die halbfiüssige , schleimige Kör-
persubstanz des Thieres ebenso wie in den ersten Stadien der
EmbryocDtwickelung die Bedingungen selbst schon in untergeordne-
tem Maasse erfüllt, welchen die Nerven Substanz ihre Beizbarkeit,
Leitungsfahigkeit und Mittlerschaft für die Bethätigung der Willens-
acte verdankt, nämlich die leichte Yerschiebbarkeit und Polarisir-
barkeit der Molecule. Wenn man einen Polypen in einem Glas
mit Wasser hat, und dieses so stellt, dass ein Theil des Wassero
von der Sonne beschienen ist, so rudert der Polyp sogleich aus dem
dunkeln nach dein beschienenen Theile des Wassers. Thut man
femer ein lebendes Inftisionsthierchen hinein und dieses kommt dem
Polyp auf einige Linien nahe, so nimmt er dasselbe, weiss Gott wo-
durch, wahr, und erregt mit seinen Armen einen Wasserstrudel^
um es zu verschlingen. Nähert sich ihm dagegen ein todtes la-
fasionsthier, ein kleines pflanzliches Geschöpf oder ein Stäubchen
auf dieselbe Entfernung, so bekümmert er sich gar nicht danun.
Der Polyp nimmt also das Thierchen als lebendig wahr, schlieest
daraus, dass es für ihn zur Nahrung geeignet sei, und trifft die
Anstalten, um es bis zu seinem Munde heranzubringen. Nicht selten
sieht man auch zwei Polypen um eine Beute in erbittertem Kampfe.
Einen durch so feine Sinneswahmehmung motivirten und so deut-
lieh kundgegebenen Willen wird niemand mehr physiologischen
Befiex im gewöhnlichen Sinne nennen können, es müsste denn auch
Beflez sein, wenn der Qärtner einen Baumast niederbeugt, um die
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. • 43
leifen Früchte erlangen zu können. Wenn wir somit in nervenloeen
Thieren noch Willensacte sehen, werden wir uns gewiss nicht
geoiren dürfen, dieselben in Ganglien anzuerkennen.
Dies Eesultat wird auch durch die vergleichende Anatomie unter-
stützt, welche lehrt, dass das Gehirn ein Conglomerat von Ganglien
in Verbindung mit Leitungsnerven, und das Rückenmark in seiner
grauen Central-Substanz ebenfalls eine Reihe mit einander verwach-
seaer Qanglienknoten sei. Die Gliederthiere zeigen zuerst ein
schwaches Analogon des Gehirnes in Gestalt zweier durch den
SeUundring zusammenhängenden Knötchen und des Rückenmarks
im sogenannten Bauobstrang, ebenfalls Knoten, die durch Fäden
verbunden sind, und von denen je einer einem Gliede und Fuss-
paare des Tbieres entspricht. Dem analog nehmen die Physiologen
Boyiel selbstständige Centralstellen im Rückenmark an, als Spinal-
nervenpaare aus demselben entspringen. Unter Wirbelthieren
kommen noch Fische Tor, deren Gehirn und Rückenmark aus einer
Aozahl Ganglien besteht, welche in einer Reihe gedrängt hinter
einander liegen. Eine mehr als ideelle, eine volle Wahrheit
erhält die Zusammensetzung eines Centralorgans aus mehreren
Ganglien in der Metamorphose der Insecten, indem dort gewisse
Ganglien, welche bei dem unvollkommeneren Geschöpfe getrennt
sind, in einer höheren Fntwickelungsstufe zur Einheit verschmolzen
erscheinen.
Diese Thatsachen möchten genügen, um die Wesensgleichheit
von Hirn und Ganglien, von Himwille und Ganglienwille zu be-
sengen. Wenn nun aber die Gkmglien niederer Thiere ihren selbst-
ständigen Willen haben, wenn das Rückenmark eines geköpften
FiQsches ihn hat, warum sollen dann die soviel höher organisirten
Ganglien und Rückenmark der höheren Thiere und des Menschen
nicht auch ihren Willen haben? Wenn bei Insecten der Wille
zum Fressen in vorderen, der Wille zur Begattung in hinteren
Ganglien liegt, warum soll dann beim Menschen nicht auch eine
solche Arbeitstheilung für den Willen vorgesehen sein ? Oder wäre
es denkbar, dass dieselbe Katurersoheinung in unvollkommenerer
Gestalt eine hohe Wirkung zeigt, die ihr in vollkommenerer Gestalt
gänzlich fehlt? Oder wäre etwa im Menschen die Leitung so gut,
daas jeder Ganglienwille sofort nach dem Hirn geleitet würde und
nni von dem im Hirn erzeugten Willen ununtersoheidbar in's Be-
wuBstsein träte ? Dies kann für die oberen Theile des Rückenmarks
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44 _
yielleicht bis zu einem gewissen Maasse wahr sein, für alles übrige
gewiss nicht, da ja schon die Empfindungsleitnngen aus dem ünter-
leibsgangliensystem bis zum Verschwinden dumpf sind. Es bleibt
also nichts übrig, als auch den menschlichen Ganglien und Rücken-
mark selbstständigen Willen zuzuerkennen, dessen Aeussenmgen
wir nur noch empirisch nachzuweisen haben. Dass bei höheren
Thieren die Muskelbewegungen, welche die äussern Handlungen
bewirken, mehr und mehr dem kleinen Gehirn unterworfen und
somit centralisirt werden, ist bekannt, wir werden also in dieser
Hinsicht weniger Thatsachen auffinden, und ist dies auch der Grund,
warum bis jetzt die Selbstständigkeit des Gangliensystems in höheren
Thieren von Physiologen wenig anerkannt worden ist, obwohl die
neuesten Forscher sie yertheidigen. Diejenigen WiUensacte dag^en«
welche wirklich den Ganglien zuzuschreiben sind, hat man sich ge-
wöhnlich als Eeflexwirkungen yorgesteUt, deren Reize im Organis-
mus selbst liegen sollten, welche Reize dann willkürlich angenom-
men wurden, wenn sie nicht nachweisbar waren. Zum Theil mögen
diese Annahmen berechtigt sein, dann gehören sie eben in das
Capitel über Reflexwirkungen, ein grosser Theil ist es aber jeden-
falls nicht, und dann kann es auch nicht schaden, selbst dasjenige,
was RefLexwirkungen sind, hier vom Standpuncte des Willens zu
betrachten, da später nachgewiesen wird, dass jede Reflexwirkting
einen unbewussten Willen enthält.
Die selbstständig, d. h. ohne Mitwirkung des Gehirns und Rücken-
marks Yom sympathischen Nervensystem geleiteten Bewegungen sind :
1) der Herzschlag, 2) die Bewegung des Magens und des Darms,
3) der Tonus der Eingeweide, Gefässe imd Sehnen, 4) ein grosser
Theil der vegetativen Processe, insofern sie von Nerventhätigkeit
abhängig sind. Herzschlag, Tonus der Arterien und Darmbewegungen
zeigen den intermittirenden Typus der Bewegung, die übrigen den
oontinuirenden. Der Herzschlag beginnt, wie man an einem blossge-
legten Froschherzen sieht, bei den contractilen Hohlvenen, dann folgt
die Zusammenziehung der Yorhöfe, dann der Ventrikel, endlich des
Bulbus aortae. Am Darm beginnt die Bew^;ung am unteren Theile
der Speiseröhre, und schreitet wurmförmig von oben nach unten
fort, aber eine Welle ist noch nicht abgelaufen, so beginnt schon
die nächste. Haben diese Darmbewegungen nicht die täuschendste
Aehnlichkeit mit dem Kriechen eines Wurmes, bloss mit dem Unter-
schiede, dass der Wurm sich dadurch auf der Unterlage fortschiebt.
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45^
während hier der Wiinn befestigt ist, und die (innere) Unterlage,
die SpeiBemassen nnd die Fäces fortgeschoben werden, — sollte
das eine Wille heissen dürfen und das andere nicht? — Der Tonus
ist eine gelinde Muskelcontraction, welche unaufhörlich bei Lebzeiten
an allen Muskeln stattfindet, selbst in Schlaf und Ohnmacht. Bei
den der Willkür, dem HimwiUen, unterworfenen Muskeln bewirkt
um das Eückenmark, und es entstehen nur deshalb keine Bewe-
gfongen der Glieder, weil die Wirkungen der entgegengesetzten
Muskeln (Antagonisten) sich aufheben. Wo daher keine entgegen-
gesetzten Muskeln sind (wie z. B. bei den kreisförmigen Schliess-
nmskeln), da ist auch der Erfolg der Gontraction deutlich, und kann
nur durch starken Andrang der den Ausweg suchenden Massen über-
wunden werden. Der Tonus der Eingeweide, Arterien und Venen
hängt vom Sympathicus ab und ist letzterer für die Blutcircula-
tion durchaus nothwendig. — Was endlich die Absonderung und
Brnähnmg betrifft, so können die Nerven dieselben theils durch
Erweiterung und Verengerung der Capillargefösse , theils durch
^Innung und ErsohlafPäng der endosmotischen Membranen, theils
endlich durch Erzeugung von chemischen, electrischen und thermi-
schen Strömungen beeinflussen ; alle solche Functionen werden aus-
schliesslich Ton untergeordneten Ganglien aus durch die allen
Körpemerven beigemengten sympathischen Nervenfasern geleitet, die
sieh namentlich durch geringere Stärke vor den sensiblen und mo-
torischen Fasern auszeichnen. Die sichersten Beweise für die Un-
abhängigkeit des G^ngliensystems liegen in Bidder^s Versuchen mit
Fröschen. Bei vollständig zerstörtem Rückenmark lebten die Thiere
oft noch sechs, bisweilen zehn Woc}ien (mit allmälig langsamer
werdendem Herzschlage). Bei Zerstörung des Gehirns und Rücken-
markes mit alleiniger Schonung des verlängerten Markes (zum
Atbmen) lebten sie noch sechs Tage; wenn auch dieses zerstört
war, konnte man Herzschlag und Blutkreislauf noch bis in den
zweiten Tag hinein beobachten. Die Frösche mit geschontem ver-
längertem Mark frassen und verdauten ihre Regenwürmer noch
nach sechsundzwanzig Tagen, wobei auch die XJrinabsonderung regel-
mässig vor sich ging.
Das Rückenmark (inclusive des verlängerten Markes) steht
süsser dem schon erwähnten Tonus der willkürlichen Muskeln
i^en unwillkürlichen Bewegungen der willkürlichen Muskeln
(Keflexbewegungen, siehe Cap. V.) und den Athembewegungen vor.
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46
Letztere haben ihr Centralorgan im yerlängerten Mark, und wirken
2a diesen höchst complioirten Bewegungen nicht bloss ein grosser
Theil der Spinahierren, sondern auch der n. phrenicus, acoeasorius
WiUisiij vagus und facialis mit. Wenn auch der Hirnwille eine
kurze Zeit lang im Stande ist, die Athembewegungen zu verstärken
oder zu unterdrücken, so kann er sie doch nie ganz aufheben, da
nach kleiner Pause der Bückenmarkswille wieder die Oberhand
gewinnt. — Die Unabhängigkeit des Rückenmarkes vom Gehirn ist
ebenfalls durch schöne physiologische Versuche nachgewiesen. Eine
Henne, welcher Flourens das ganze grosse Gehirn fortgenommea
hatte, sass zwar für gewöhnlich regungslos da; aber beim Schlafen
steckte sie den Kopf unter den Flügel, beim Erwachen schüttelte
sie sich und putzte sich mit dem Schnabel. Angestossen lief sie
geradeaus weiter, in die Luft geworfen flog sie. Von selbst fraas
sie nicht, sondern verschluckte nur das in den Gaumen geschobene
Putter. Kaninchen und Meerschweinchen, denen das grosse G^ehim
ausgenommen, laufen nach der Operation frei umher; das Benehmen
eines geköpften Frosches war schon oben erwähnt. Alle diese Be-
wegungen, wie das Schütteln und Putzen der Henne, das Herum-
laufen der Kaninchen und Frösche erfolgen ohne merklichen äussern
Reiz, und sind den nämlichen Bewegungen bei gesunden Thieren so
völlig gleich, dass man unmöglich in beiden Fällen eine Verschie-
denheit des ihnen zu Ghrunde liegenden Princips annehmt kann;
es ist eben hier wie dort Willensäusserung. Nun wissen wir aber,
dass das höhere thierische Bewusstsein von der Integrität des
grossen Gehirns bedingt ist (siehe Gap. C. U.)» und da dieses zer-
stört ist, sind auch jene Thiere, wie man sagt, ohne Bewusstsein,
handeln also unbewusst und wollen unbewusst. Indessen ist das
Hirnbewusstsein keineswegs das einzige Bewusstsein im Thiere,
sondern nur das höchste, und das einzige, was in höheren Thieren
und dem Menschen zum Selbstbewusstseid, zum Ich kommt, daher
auch das einzige, welches ich mein Bewusstsein nennen kann,
— Dass aber auch die untergeordneten Nervencentra ein Be-
wusstsein, wenn auch von geringerer Klarheit, haben müssen, geht
einfach aus dem Vergleich der allmälig absteigenden Thierreihe
und des Ganglienbewusstseins der wirbellosen Thiere mit den
selbstständigen Ganglien und Rüokenmarkscentralstellen der höheren
"Thiere hervor.
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47
Ee ist unzweifelhaft y dass ein des Oehims beraubtes Säuge-
thier immer noch klareren Empfindens fähig ist, als ein unver-
selirteB Insect, weil das Bewusstsein seines E4iokenmarkes jedenfalls
immer noch höher steht, als das der Ganglien des Insects. Dem-
nach ist der in den selbstständigen Functionen des Bückenmarkes
und der Gkingiien sich documentirende Wille keineswegs ohne
Weiteres als unbewusst an sich hinzustellen, vielmehr müssen wir
vorläufig annehmen, dass er für die Neryencentra,^ von denen er
ausgeht, gewiss klarer oder dunkler bewusst werde; dagegen ist er
in Bezog auf das Himbewusstsein, welche» der Mensch ausschliess-
Hck als sein Bewusstsein anerkennt , allerdings unbewusst, und
69 ist damit gezeigt, dass in uns ein für uns unbewusster
Wille existirt, da doch diese Neryencentra alle in unserem
leiblichen Organismus, also in uns, enthalten sind.
Es scheint erforderlich, hier zum Schluss eine Bemerkung an-
zufogen über die Bedeutung» in der hier das Wort Willen gefasst
ist Wir sind davon ausgegangen, unter diesem Wort eine bewusste
Intention zu verstehen, in welchem Sinne dasselbe gewöhnlich ver-
standen wird. Wir haben aber im Laufe der Betrachtung gefun-
den, dass in Einem Individuum, aber in verschiedenen Nerven-
centren mehr oder weniger von einander unabhängige Bewusstseine,
mid mehr oder weniger von einander unabhängige Willen existiren
können, deren jeder höchstens für das Nervencentrum bewusst
sein kann, durch welches er sich äussert. Hiermit hat sich die
gewöhnliche beschränkte Bedeutung von Wille selbst aufgehoben,
denn ich muss jetzt auch noch anderen Willen in mir anerkennen,
als solchen, welcher durch mein Gehirn hindurchgegangen und da-
durch mir bewQsst geworden ist. Nachdem diese Schranke der
Bedeutung gefallen, können wir nicht umhin, den Willen nun-
mehr als immanente Ursache jeder Bewegung in Thieren zu
&88en, welche nicht reflectorisch erzeugt ist. Auch möchte dies
das einzige charakteristische und unfehlbare Merkmal für den uns
bewussten Willen sein, dass er Ursache der vorgestellten Handlung
ist; man sieht nunmehr, dass es etwas für den Willen zu-
fälliges ist, ob er durch das Himbewusstsein hindurchgeht
oder nicht, sein Wesen bleibt dabei unverändert. Was durch das
Wort „Wille" also hier bezeichnet wird, ist nichts als das in beiden
Fällen wesensgleiche Princip. Will man aber beide Arten Wille
in der Bezeichnung noch besonders unterscheiden, so bietet für
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den bewuBsten Willen die Sprache bereits ein diesen Begriff genau
deckendes Wort : Willkür, wahrend das Wort Wille für das allge-
meine Princip beibehalten werden moss. Der Wille ist bekannt-
lich die Eesultante aller gleichzeitigen Begehrungen ; vollzieht sich
dieser Eampf der Begehrungen im Bewusstsein, so erscheint er als
Wahl des Resultats, oder Willkür, während die Entstehung des
unbewussten Willens sich dem Bewusstsein entzieht, folglich auch
der Schein der Wahl unt^ den Begehrungen hier nicht eintreten
kann. —
Man sieht aus dem Vorhandensein dieses Wortes Willkür, dass
die Ahnung eines nicht erkorenen Willens, dessen Handlungen
dann dem Bewusstsein als innerer Zwang erscheinen, im Yolksbe-
wusstsein auch schon längst yorhanden war.
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n.
Die UBbewnsste Yorstellimg bei AnsftUiniiig der will-
kfirliehen Bewegung.
Ich will meinen kleinen Finger heben, nnd die Hebung des-
selben findet statt. Bewegt etwa mein Wille den Finger direct?
Nein, denn wenn der Armnery diirchschnitten ist, so kann der
Wille ihn nicht bewegen. Die Erfahrung lehrt, dass es für jede
Bewegung nur eine einzige Stelle giebt, nämlich die centrale Endi-
gmig der betreffenden Nervenfasern, welche im Stande ist, den
Willensimpuls für diese bestimmte Bewegung dieses bestimmten
Gliedes zu emp^EUigen und zur Ausführung zu bringen. Ist diese
eine Stelle beschädigt , so ist der Wille ebenso machtlos über das
Glied, als wenn die Nervenleitung von dieser Stelle nach den be-
treffenden Muskeln unterbrochen ist. Den Bewegungsimpuls selbst
können wir uns, abgesehen von der Stärke, für verschiedene zu
erregende Nerven nicht föglich verschieden denken, denn da die
Erregung in allen motorischen Nerven als gleichartig anzusehen ist,
so ist es auch die Erregung am Centrum, von welcher der Strom
ausgeht; mithin sind die Bewegungen nur dadurch verschieden,
dass die centralen Endigungen verschiedener motorischer Fasern
▼cm dem Willensimpuls getroffen werden und dadurch verschiedene
Muskelpartien zur Contraction genöthigt werden. Wir können uns
also die centralen Endigungsstellen der motorischen Nervenfasern
gleichsam als eine Glaviatur im Gehirn denken; der Anschlag ist,
abgesehen von der Stärke, immer derselbe, nur die angeschlagenen
Tasten sind verschieden. Wenn ich also eine ganz bestimmte Be-
wegung, z. B. die Hebung des kleinen Fingers beabsichtige, so
konmst es darauf an, dass ich diejenigen Muskeln zur Contraction
Dothige, weldie in ihrer oombinirten Wirksamkeit diese Bewegung
T. HftrtmanB, Phil. d. UnbewQBsten. 4
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_ 50
hervorbringen, und dass ich zu dem Zweck denjenigen Accord auf
der Claviatur des Gehirns mit dem Willen anschlage, dessen ein-
zelne Tasten die betreflfenden Muskeln in Bewegung setzen. Werden
bei dem Accord eine oder mehrere falsche Tasten angeschlagen, so
entsteht eine mit der beabsichtigten nicht correspondirende Bewe-
gung, z. B. beim Versprechen, Verschreiben, Fehltreten, beim unge-
schickten Greifen der Kinder u. s. w. Allerdings ist die Anzahl
der centralen Faserendigungen im Gehirn bedeutend kleiner, als
die der motorischen Fasern in den Nerveii, indem durch eigene
thümliche, in Cap. V. zu besprechende Mechanismen für die gleich-
zeitige Erregung vieler peripherischer Fasern durch Eine centrale
Faser Sorge getragen ist; indessen ist doch die Anzahl der dem
bewussten Willen unterworfenen, mithin vom Gehirn zu leitenden
versGJhiedenen Bewegungen schon für jedes einzelne Glied durcli
tausend kleine Modificationen der Eichtung und Combination gross
genug, für den ganzen Körper aber geradezu unermesslich, so dass
die Wahrscheinlichkeit unendlich klein sein würde, dass die be-
wusste Vorstellung vom Heben des kleinen Fingers ohne oausale
Vermittelung mit dem wirklichen Heben zusammenträfe. Unmittel-
bar kann offenbar die bloss geistige Vorstellung vom Heben des
kleinen Fingers auf die centralen Nervenendigungen nicht wirken,
da beide mit einander gar nidlits zu thun haben ; der blosse Wille
als Bewegungsimpuls aber wäre absolut blind, und müsste daher
das Treffen der richtigen Tasten dem reinen Zufall überlassen.
Wäre überhaupt keine causalo Verbindung da, so könnte die üebung
hierfür auch nicht das mindeste thun; denn niemand findet eine
Vorstellung oder ein Gefühl dieser unendlichen Menge von centralen
Endigungen in seinem Bewusstsein ; also wenn zufällig einmal oder
zweimal die bewusste Vorstellung des Fingerhebens mit der aiuige-
führten Bewegung zusammengetroffen wäre, so würde durchaus kein
Anhalt für die Erfahrung des Menschen hieraus resultiren, und beim
dritten Mal, wo er den Finger heben will, der Anschlag der rich-
tigen Tasten ebensosehr dem Zufall überlassen bleiben, als in den
früheren Fällen. Man sieht also, dass die Uebung nur dann für die
Verknüpfung von Intention und Ausführung etwas thun kann, wenn
eine oausale Vermittelung beider vorhanden ist, bei welcher dann
allerdings der üebergang von einem zum andern Gliede durch
Wiederholung des Proceases erleichtert wird; es bleibt demnach
unsere Au%abe, diese causale Vermittelung zu finden; ohne die*
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selbe wäre Uebung ein leeres Wort. Ausserdem ist sie aber in den
meisten Fällen gar nicht nöthig, nämlich bei fast allen Thieren,
die bei den ersten Versuchen schon ebenso geschickt laufen und
springen y als nach langer Uebung. Daraus geht auch zweitens
hervor^ dass alle Erklärungsversuche ungenügend sind, welche eine
solche causale Yermittelung einschieben, die nur durch zufallige
Association von Vorstellung und Bewegung erkannt werden kann;
z. B. das bewusste Muskelgefühl der intendirten Bewegung , das
nur aus früheren Fällen g^onnen und dem Gedächtniss eingeprägt
werden kann, könnte allenfalls für den Menschen als Erklärung
gebraucht werden, aber nicht für den bei weitem grösseren Tbeil
der Naturwesen, die Thiere, da sie vor jeder Erfahrung von Mus-
kelgefuhl schon die umfassendsten Bewegungscombinationen nach
der bewussten Vorstellung des Zwecks mit staunenswerther Sicher-
heit ausführen ; z. B. ein eben auskriechendes Insect, das seine sechs
Beine so richtig in der Ordnung zum Gehen bewegt, als wenn es
ihm gar nichts Neues wäre, oder ein eben auskriechendes Hühn-
chen, das auf eine Spinne zustürzt und dieselbe so geschickt packt
und verzehrt, als ob es diess schon hundert Mal gethan hätte. —
Man könnte ferner daran denken, dass die Gehimschwingungen der
bewussten Vorstellung: „ich will den kleinen Finger heben", an
dem nämlichen Ort im Gehirn vor sich gehen, wo die Central-
endigungen der betxeffenden Nerven liegen; dies ist aber ana-
tomisch falsch, da die bewussten Vorstellungen im grossen Gehirn,
die motorischen Nervenenden aber im verlängerten Mark oder kleinen
Gehirn liegen; ebenso wenig ist an eine mechanische Fortleitung
der Schwingungen der bewussten Vorstellung nach den Nervenenden
zu denken, da diese mechanische Fortpflanzung ebenso gut alle
möglichen anderen Nervenenden treffen mtisste; auch spricht der
ümi^and dagegen, dass die Vorstellung der beabsichtigten Bewe-
gung sehr wohl vorhanden sein kann, ohne dass dieselbe erfolgt;
noch unbegreiflicher wäre alsdann ein Fehlgreifen, und der Ein-
fluss, den die Uebung auf eine so mechanische Einrichtung sollte
äussem können.
Um endlich noch einmal auf das Einschieben des Muskelgefühls
der intendirten Bewegung aus der Erinnerung früherer Fälle von
zufälliger Association zurückzukommen, so zeigt sich diese Erklärung
lucht nur einseitig und unzulänglich, weil sie nur die Möglichkeit
der Uebung, aber nicht die angeborene Fertigkeit erklären wollen
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kann, sondern sie erklärt in der That anch nicht einmal jene,
sondern sie verschiebt das Problem nnr um eine Stufe. Voriier
nämlich sah man nicht ein, wie das Treffen der richtigen Oehim-
tasten durch den Willensimpuls, durch die Vorstellung des Finger-
hebens bewirkt werden soll; jetzt sieht man nicht ein^ wie dasselbe
durch die Vorstellung des Muskelgefühls im Finger und Unterarm
bewirkt werden soll, da das Eine mit der Lage der motorischen
Nervenendigungen im Gehirn sp wenig etwas jzu thun hat, wie das
Andere; auf diese kommt es aber an, wenn der richtige Erfolg
eintreten soll. Was soll eine Vorstellung, die sich auf den Finger
bezieht, für die Auswahl des im Gehirn vom Willen anzuregenden
Punctes für einen directen Nutzen haben? Dass die Vorstellung
des Muskelgefühls bisweilen, aber verhältnissmässig selten, vor-
handen ist, leugne ich keineswegs; dass sie, wenn sie vorhanden
ist, eine vermittelnde Uebergangsstufe zur Bewegung sein kann,
leugne ich ebenso wenig, aber das leugne ich, dass für das Ver-
stÄndniss der gesuchten Verbindung mit dieser Einschaltung etwas
gewonnen ist, das Problem ist nach wie vor da, nur um einen
Schritt verschoben. Interessant dürfte übrigens die Bemerkung
sein, dass in der grössten Zahl der Fälle, wo dies Muskelgefühl vor
der Bewegung überhaupt existirt, es u^bewusst existirt.
Fassen wir noch einmal zusammen, was wir über das Problem
wissen, dann wird die Lösung sich von selbst aufdrängen. Gegeben
ist ein Wille, dessen Inhalt die bewusste Vorstellung des Finger-
hebens ist; erforderlich als Mittel zur Ausführung ein Willens-
impuls auf den bestimmten Punct P im Gehirn ; gesucht die Mög-
lichkeit, wie dieser Willensimpuls gerade nur den Punct P und
keinen andern treffe. Eine mechanische Lösung durch Fortpflanzung
der Schwingungen erschien unmöglich, die Uebung vor der Lösung^
des Problems ein leeres, sinnloses Wort, die Einschaltung des Mus-
kelgefühls als bewussten causalen Zwischengliedes einseitig und
nichts erklärend. Aus der Unmöglichkeit einer mechanischen
Lösung folgt, dass die Zwischenglieder geistiger Natur sein müssen,
aus dem entschiedenen Nichtvorhandensein genügender bewusster
Zwischenglieder folgt, dass dieselben imbewusst sein müssen. Aus
der Nothwendigkeit eines Willensimpulses auf den Punct P folgt,
dass der bewusste Wille, den Finger zu heben, einen unbewussten
Willen, den Punct P zu erregen, erzeugt, um durch das Mittel der
Erregung von P den Zweck des Fingerhebens zu erreichen ; und der
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Inhalt dieses Willens, P zu erregen, ßetzt wiederum die unbewusste
Vorstellung des Punctes P voraus (vgl. Cap. IV.)- Die Vorstellung
des Pnnctes P kann aber nur in der Vorstellung seiner Lage zu den
übrigen Pnncten des Gehirns bestehen, und hiermit ist das Problem
gelöst: ,jede willkürliche Bewegung setzt die unbewusste Vorstel-
lung der Lage der entsprechenden motorischen Nervenendigungen
im Gehirn voraus." Jetzt ist auch begreiflich, wie den Thieren ihre
Fertigkeit angeboren ist, es ist ihnen eben jene Kenntniss und die
Kunst ihrer Anwendung angeboren, die der Mensch vermöge seiner
höheren Geistesanlage angewiesen ist, durch Erfahrung zu erwerben
und im Gedächtniss zu behalten. Jetzt ist auch verständlich , wie
das Muskelgefühl bisweilen als Zwischenglied auftreten kann; es
verhält sich nämlich die Erregung dieses Muskelgefühls zum Heben
des Fingers auch wie Mittel zum Zweck, jedoch so, dass es der Vor-
stellung der Erregung des Punctes P schon eine Stufe näher steht,
als die Vorstellung des Fingerhebens; es ist also ein Zwischenmittel,
was eingeschoben werden kann, aber noch besser übersprungen wird.
Wir haben also als feststehendes Besultat zu betrachten, dass
jede noch so geringfügige Bewegung, sei dieselbe aus bewusster
^er unbewusster Litention entsprangen, die unbewusste Vorstellung
der zugehörigen centralen Nervenendigungen und den unbewussten
Willen der Erregung derselben voraussetzt. Hiermit sind wir zu-
gleich über die B.esultate des ersten Capitels weit hinaus gegangen.
Bort war nur von relativ Unbewusstem die Bede; dort sollte der
Leser nur an den Gedanken gewöhnt werden, dass geistige Vor-
gänge innerhalb seiner existiren, von denen sein Bewusstsein (d. h.
sein Himbewusstsein) nichts ahnt; jetzt aber haben wir geistige
Voi^nge angetroffen, die, wenn sie im Gehirn nicht zum Bewusst-
sein kommen, für die anderen Nervenoentra des Organismus noch
viel weniger bewusst werden können, wir haben also etwas für das
ganze Individuum Unbewusstes gefunden.
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in.
Das Unbewnsste im Instinet
Instinct ist zweckmässiges Handeln ohne Be-
wnsstsein des Zwecks. — Ein zweckmässiges Handeln mit
Bewnsstsein des Zwecks, wo also das Handeln ein Eesnltat der
Ueberlegung ist, wird , Niemand Instinct nennen ; ebenso wenig ein
zweckloses, blindes Handeln, wie die Wuthaijsbrüche rasender,
oder zur Wuth gereizter Thiere. — Ich glaube nicht, dass die an
die Spitze gestellte Definition von denen, die überhaupt einen In-
stinct annehmen, Anfechtungen zu erleiden haben dürfte; wer aber
alle gewöhnlich so genannte Instincthandlungen der Thiere auf be-
wusste Ueberlegung derselben zurückführen zu können glaubt, der
leugnet in der That jeden Instinct, und muss auch consequenter*
weise das Wort Instinct aus dem Wörterbuch streichen. Hiervon
später.
Nehmen wir zunächst die Existenz von Instincthandlungen im
Sinne der Definition an, so könnten dieselben zu erklären sein:
1) als eine blosse Folge der körperlichen Organisation, 2) als ein
von der Natur eingerichteter Gehirn- oder Geistesmechanismus^
8) als eine Folge unbewusster Geistesthätigkeit. In den beiden
ersten Fällen liegt die Vorstellung des Zweckes weit rückwärts, im
letzten liegt sie unmittelbar vor der Handlung; in den beiden
ersten wird eine ein für allemal gegebene Einrichtung als Mittel
benutzt, und der Zweck nur einmal bei Herstellung dieser Ein-
richtung gedacht, im letzten wird der Zweck in jedem einzelnen
Falle gedacht. Betrachton wir die drei Fälle der Reihe nach.
Der Instinct ist nicht blosse Folge der körperlichen Organi-
sation, denn a) die Instincte sind ganz verschieden bei
gleicher Körperbeschaffenheit. Alle Spinnen haben den-
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selben Spinnapparat, aber die eine Art baut strahlenförmige, die
andere nnregelmässige Netze, die dritte gar keine, sondern lebt ift
Höhlen, deren Wände sie überspinnt und deren Eingang sie mit
einer Thür yerschliesst. Zam Nestbau haben fast alle Vögel die*
B^be Organisation (Schnabel und Füsse), und wie unendlich Ter-
aehieden sind ihre Nester an Qestalt, Bauart, Befestigungsweise
(stehend, klebend, hängend), Oertliehkeit (Höhlen, Löcher, Winkel,
Zwiesel, Sträuoher, Erde) und Güte, wie verschieden oft bei den
Arten einer Gattung, z. B. Parus 'Meise). Manche Vögel bauen
«ach gar kein Nest. Ebenso wenig hängt die verschiedene Sanges-
weise der Vögel von Verschiedenheit der Stimmwerkzeuge, oder die
eigenthümliche Bauart der Bienen und Ameisen von ihrer Körper-
oTganisation ab; in allen diesen Fällen befähigt die Organisation
nur zum Singen resp. Bauen überhaupt, hat aber mit dem Wie
der Ausführung nichts zu thun. Die geschlechtliche Auswahl hat
mit der Organisation ebenfalls nichts zu thun, da die Einrichtung
der Geschlechtstheile für jedes Thier bei unzähligen fremden Arten
ebenBO gut passen würde, wie bei einem Individuum seiner eigenen
Art Die Pflege, Schutz und Erziehung der Jungen kann noch
weniger von der Eörperbeschaffenheit abhängig gedacht werden,
ebenso wenig der Ort, wohin die Insecten ihre Eier legen, oder
die Auswahl der Fisoheierhaufen ihrer eigenen Gattung, auf welche
die männlichen Fische ihren Samen entleeren. Das Kanindien
gräbt, der Hase nicht, bei gleichen Werkzeugen zum Graben ; aber
er bedarf der unterirdischen Zufluchtsstätte weniger wegen seiner
grösseren Schnelligkeit zur Flucht Einige vortrefflich fliegende
Vögel sind Standvögel (z. B. Gabelweihe und andere Baubvögel)
und viele mittelmässige Flieger (z. B. Wachteln) machen die grössten
Wanderzüge.
b) Bei verschiedener Organisation kommen die-
Belben Instincte vor. Auf den Bäumen leben Vögel mit und
ohne Kletterfüsse , Aflen mit und ohne Wickelschwanz, Eichhorn-
oben, Faulthier, Puma u. s. w. Die Maulwurfsgrille gräbt mit ihren
ausgesprochenen Grabscheiten an den Vorderfüssen , der Todten-
giäberkäfer gräbt ohne irgend eine Vorrichtung dazu. Der Hamster
trägt mit seinen 3'^ langen und iVs" breiten Backentaschen Winter-
vorrathe ein, die Feldmaus ihut dasselbe ohne besondere Einrich-
tung. Der Wandertrieb spricht sich in Thier^a der verschieden-
sten Ordnungen mit gleicher Stärke aus, mit welchen Mitteln
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dieselben auch zu Wasser, zu Lande, oder zu Luft ihre Wander-
schaft antreten.
Man wird hiernach anerkennen müssen, dass der Instinct in
hohem Maasse Ton der körperlichen Organisation unabhängig ist
Dass ein gewisses Maass yon körperlicher Organisation conditio
sine qua non der Ausführung ist, versteht sich von selbst , denn
z. B. ohne Geschlechtstheile ist keine Begattung möglich^ ohne ge-
wisse geschickte Organe kein künstlicher Bau, ohne Spinndrnsen
kein Spinnen ; aber trotzdem wird man nicht sagen können , daas der
Listinct eine Folge der Organisation sei. Im blossen Vorhanden-
sein des Organs liegt noch nicht das geringste Motiv für
Ausübung einer entsprechenden Thätigkeit, dazu muss mindestens
noch ein Wohlgefühl beim Gebrauch des Organs treten, erst dieses
kann dann als Motiv zur Thätigkeit wirken. Aber auch dann^ wenn
das Wohlgefühl den Lnpuk zur Thätigkeit giebt, ist durch die
Organisation nur das Dass, nicht das Wie dieser Thätigkeit be-
stimmt; das Wie der Thätigkeit enthält aber gerade das zu lösende
Problem. Kein Mensch würde es Listinct nennen, wenn die Spinne
den Saft aus ihrer überfüllten Spinndrüse auslaufen Hesse, um sich
das Wohlgefühl der Entleerung zu verschaffen, oder der Fisch ans
demselben Grunde seinen Samen einfach in's Wasser entleerte ; der
Instinct und das Wunderbare fangt erst damit an, dass die Spinne
Fäden spinnt, und aus den Fäden ein Netz, und dass der Fiseh
seinen Samen nur über den Eiern seiner Gattung entleert Endlich
ist das Wohlgefühl im Gebrauch der Organe ein ganz unzureichen-
des Motiv für die Thätigkeit selbst; denn das ist gerade das Grosse
und Achtungeinflössende am Instinct, dass seine G^ote mit Hinten-
ansetzung alles persönlichen Wohlseins, ja mit Aufopferung des
Lebens erfüllt werden. Wäre bloss das Wohlgefühl der Entleerung
der Spinndrüse das Motiv, warum die Kaupe überhaupt spinnt, so
würde sie nur so lange spinnen, als bis ihr Drüsen behälter entleert
ist, aber nicht das immer wieder zerstörte Gespinnst immer wieder
ausbessern, bis sie vor Erschöpfung stirbt Ebenso ist es mit allen
anderen Instincten, die scheinbar durch eigenes Wohlgefühl moti-
virt sind; sobald man die Umstände so einrichtet, dass an Stelle
des individuellen Wohls das individuelle Opfer tritt, zeigt ßioh
unverkennbar ihre höhere Abstammung. So z. B. meint man, dass
die Vögel sich begatten um des geschlechtlichen Genusses willen;
warum wiederholen sie dann aber die Begattung nicht mehr, wenn
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die gehörige Anzahl Eier gelegt ist? Der Geschlechtstrieb besteht
ja fort, denn so wie man ein Ei aus dem Nest herausnimmt, be-
gatten sie sich yon Neuem und das Weibchen legt ein Ei zu, oder
▼enn sie zu den klügeren Vögeln gehören , verlassen sie das Nest
und machen eine neue Brut. Ein Weibchen von tgnea torquäla
(Wmidehals) , dem man das nachgelegte Ei stets wieder aus dem
Neste nahm 9 legte immer wieder von Neuem begattet ein Ei zu,
die nach und nach immer kleiner wurden, bis man es beim neun-
nadzwanzigsten todt auf dem Neste liegen fand. Wenn ein Instinot
die Probe eines auferlegten Opfers an individuellem Wohlsein nicht
anshält, wenn er wirklich bloss aus dem Bestreben nach körper-
üoher Lust hervorgeht, dann ist es kein Instinct und nur irrthüm-
lich kann er dafür gehalten werden.
Der Instinct ist nicht ein von der Natur einge-
pflanzter Gehirn- oder Geistesmechanismus, so dass die
lostincthandlung ohne eigene (wenn auch unbewusste) individuelle
Oeiftesthätigkeit und ohne Vorstellung des Zweckes der Handlung ma-
scliinenmässig vollzogen würde, indem der Zweck ein für allemal
von der Natur oder einer Vorsehung gedacht wäre, und diese *nun
das Individuum psychisch so organisirt hätte, dass es nur mechanisch
das Mittel ausfiihrte. Es handelt sich also hier um eine psychische
Oiganisation, wie vorher um eine physische, als Ursache des In-
stincts. Diese Erklärung wäre denkbar, wenn jeder Instinct, der
einmal zu dem Thiere gehört, unaufhörlich functionirte;
aber das thut keiner, sondern jeder wartet, bis ein Motiv an die
Wahrnehmung herantritt, welches für uns bedeutet, dass die ge-
eigneten äussern Umstände eingetreten sind, welche die Erreichung
des Zweckes durch dieses Mittel, das der Instinct will, gerade
jetxt möglich machen; dann erst functionirt der Instinct als actueller
Wille^ welchem die ELandlung auf dem Fusse folgt; ehe das Motiv
eintritt, bleibt der Instinct also gleichsam latent und functionirt
nicht. Das Motiv tritt in Form der sinnlichen Vorstellung im
Geiste auf, und die Verbindung ist constant zwischen dem functio-
nirenden Instinct und allen sinnlichen Vorstellungen, welche an-
zeigen, dass die Gelegenheit zur Erreichung des Zweckes des In-
stincts gekommen sei In dieser constanten Verbindung wäre also
der psychische Mechanismus zu suchen. Es ist also hier wieder
gleichsam eine Claviatur zu denken ; die angeschlagenen Tasten sind
die Motive, und die erklingenden Töne die functionirenden Instincte.
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t
58
Das könnte man sich auch noch allenfalls gefallen lassen, wenn
auch das Wunderliche stattfindet, dass ganz verschiedene Tasten
denselben Ton geben, — wenn nur die Instincte wirklich bestimm-
ten Tönen vergleichbar wären, d. h. ein und derselbe Instinct auf
die ihm zugehörigen Motive auch wirklich immer auf dieselbe
Weise functionirte. Dies ist aber eben nicht der Fall, sondern
nur der unbewusste Zweck des Instincts ist das (konstante, der
Instinct selbst aber als der Wille zum Mittel variirt eben so, wie
das zweckmässig anzuwendende Mittel nach den äusseren Umständen
variirt. Hiermit ist der Annahme das XJrtheil gesprochen, welche
die unbewusste Vorstellung des Zwecks in jedem einzelnen Falle
verwirft; denn wollte man nun noch die Vorstellung de« Geistes-
mechanismus festhalten, so müsste fUr jede Variation und Modifica-
tion des Instincts nach den äusseren Umständen eine besondere
constante Vorrichtung, eine neue Taste mit einem Ton von anderer
Klangfarbe eingefügt sein, wodurch der Mechanismus in eine ge-
radezu unendliche Complication gerathen würde. Dass aber bei aller
Variation in den vom Instinct gewählten Mitteln der Zweck con-
stant ist, das sollte doch schon ein genügend deutlicher Fingerzeig
sein, dass man eine so unendliche Complication des Geistes gar
nicht braucht, sondern statt dessen bloss einfach die unbewusste
Zweckvorstellung anzunehmen braucht So ist z. B. der constante
Zweck für den Vogel, der Eier gelegt hat, die Küchlein »ur
Reife zu bringen; bei einer hierzu nicht genügenden äusseren Tem-
peratur bebrütet er sie deshalb, nur in den wärmsten Ländern der
Welt unterbleibt das Brüten, weil das Thier den Instinctzweok
ohne sein Zuthun erfüllt sieht; in warmen Landern brüten viele
Vögel nur bei Nacht. Auch wenn zuföllig bei uns kleine Vögel
in warmen Treibhäusern genistet haben, so sitzen sie wenig oder
gar nicht auf den Eiern. Wie abstossend ist hier nicht die An-
nahme eines Mechanismus, der den Vogel zum Brüten zwingt, bo-
bald die Temperatur unter einen gewissen Orad sinkt, wie einfach
und klar die Annahme des unbewussten Zwecks, der zum Vf ollen
des geeigneten Mittels nöthig, von welchem Process aber nur das
Endglied, als unmittelbar dem Handeln vorausgehender Wille, in'*
Bewusstsein fällt. Im südlichen Afrika umzäunt der Sperling sein
Kest zum Schutz gegen Schlangen und Affen mit Domen. Die
Eier, die der Kukuk legt, gleichen an Grösse, Farbe und Zeichnung
immer den Eiern des Nestes, wohinein er legt; z. B. bei si/h^
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m/a weiss mit violetten Tüpfeln, iylvia hippolats rosa mit schwar-
zen Tüpfeln, Sylvia pkoenicurus grünspanfarben, regtdus ignieapeUua
nihgewölkt, und immer ist das Kukuksei so täuschend ähnlich, dass
es fast nur an der Structur der Schale unterschieden werden kann.
Haber brachte es durch besondere Einrichtungen dahin, dass die
Bienen ihre instinctmässige Bauart von oben nach unten nicht aus-
fthren konnten, worauf sie ron unten nach oben oder auch hori-
zontal bauten. Wo die äussersten Zellen yon der Decke des Korbes
•Qsgt^en, oder an die Wandung anstossen, sind es nicht sechsseitige,
sondern zu dauerhafterer Befestigung fünf sei tige Prismen, welche
mit der einen Basis angeklebt sind. Im Herbst yerlängem die
Bienen die Torhandenen Honigzellen, wenn nicht genug da sind;
im Frühjahr verkürzen sie sie wieder, um zwischen den Waben
breitere Gänge zu gewinnen. Wenn die Waben von Honig zu
Behwer geworden sind, so ersetzen sie die Wachswände der ober-
sten (tragenden) Zellen durch dickere, aus Wachs imd Propolis ge-
bildete. Bringt man Arbeitsbienen in die für Drohnen bestimmten
Zellen, so bringen die Arbeiterinnen hier die entsprechenden flachen
Deckel statt der den Drohnen zukommenden runden an. Im Herbste
tödten sie regelmässig die Drohnen, nicht aber dann, wenn sie die
Königin verloren haben, damit dieselben die aus den Arbeiterinnen-
larven aufzuziehende junge Königin befruchten. Gegen Bäubereien
Ton Sphinxen bemerkte Huber, dass sie ihnen den Eingang durch
kinstliche Bauwerke von Wachs und Propolis versperren. Propolis
tragen sie nur dann ein^ wenn sie welchen zum Ausbessem oder
zu besonderen Zwecken brauchen. Auch Spinnen imd Baupen zeigen
eine merkwürdige Geschicklichkeit in dem Ausbessem ihrer zer-
störten Gewebe, was doch eine entschieden andere Thätigkeit ist,
als die Neuanfertigung eines Gespinnstes. Die angeführten Bei-
■fiele, welche sich in's Unzählige vermehren Hessen, beweisen zur
Genüge, daiNs die Instincte nicht nach festen Schematen maschinen-
mässig abgehaspelte Thätigkeiten sind, sondern dass sie sich viel-
mehr den Verhältnissen auf das Innigste anschmiegen und so grosser
Modificationen und Variationen föhig sind, dass sie bisweilen in
ihr Gegentheil umzuschlagen scheinen. Mancher wird diese Modi-
ieationen der bewussten Ueberlegung der Thiere zuschreiben
•wollen, und gewiss ist bei geistig höher stehenden Thieren in den
meisten Fällen eine Gombination von Instinctthätigkeit und be-
WQseter Ueberlegung nicht zu leugnen; indessen glaube ich, dass
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6C^_
die aDgeföhrten Beispiele zur Genüge beweisen, dass es auch viele
Fälle giebt, wo ohne jede Complication mit der bewussten Ueber-
legung die gewöhnliche und aussergewöhnliche Handlung aus der-
selben Quelle stammen, dass sie entweder beide wirklicher Insdnct»
oder beide Eesultate bewusster TJeberlegung sind. Oder sollte es
wirklich etwas anderes sein, was die Biene in der Mitte sechsseitige^
am Bande funfseitige Prismen bauen heisst, was den Yogel unter
diesen Umständen die Eier bebrüten, unter jenen sie nicht bebrüten
lässt, was die Bienen dazu bringt, bald ihre Brüder unbarmherzig
zu ermorden, bald ihnen das Leben zu schenken, was die Vögel den
Nestbau ihrer Species und die besonderen Vorkehrungen lehrt, was
die Spinne ihr Netz weben und das beschädigte ausbessern lässt?
Wenn man dies zugiebt, dass die ModifLcationen des Instincts mit
seiner gewöhnlichsten Grundform, die oft gar nicht zu bestim-
men sein möchte, aus Einer Quelle stammen, dann findet der Ein-
wand in Betreff der bewussten TJeberlegung seine Erledigung später
von selbst, da wo derselbe gegen den Instinct überhaupt gerichtet
ist. Eine Bemerkung aus späteren Capiteln andeutend vorwegzu*
nehmen, dürfte hier nicht unangemessen scheinen ^ dass nämlieh
Instinct und organische Bildungsthätigkeit ein und dasselbe Princip
enthalten, nur in Bethätigung unter verschiedenen Umständen, und
dass beide ohne jede Grenze fliessend in einander übergehen. Hier-
aus geht ebenfalls eclatant hervor, dass der Instinct nicht auf der
Organisation des Leibes oder des Gehirns beruhen kann, da man
viel richtiger sagen kann, dass die Organisation durch eine Bethä-
tigung des Instincts entstehe. Dies nur beiläufig.
Dagegen haben wir nunmehr unseren Blick noch einmal schär-
fer auf den Begriff eines psychischen Mechanismus zu richten, und da
zeigt sich, dass derselbe, abgesehen davon, wie viel er erklärt, so
dunkel ist, dass man sich kaum etwas dabei denken kann. Das
Motiv tritt in Gestalt einer bewussten sinnlichen Vorstellimg in der
Seele auf, dies ist das Anfangsglied des Processes; das Endglied
tritt als bewusster Wille zu irgend einer Handlung auf; beide sind
aber ganz ungleichartig und haben mit der gewöhnlichen Motivation
nichts zu thun, welche ausschliesslich darin besteht, dass die Vor-^
Stellung einer Lust oder Unlust das Begehren erzeugt, erstere zu
erlangen, letztere sich fem zu halten. Beim Instinct tritt wohl
meistens die Lust als begleitende Erscheinung auf, wenn sie aucb,
wie wir schon oben gesehen haben, durchaus nicht erforderlich ist.
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r^-^^^
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sonieni die ganse Macht und Grösse sich erst in der Aufopfe-
mng des Individnums aeigt; aber das eigentliche Problem liegt
hier weit tiefer; denn jede Vorstellung einer Lust setzt voraus,
äass man diese Lust schon erfahren hat; daraus folgt aber wie-
der, dass in dem früheren Falle ein Wille Torhanden war, in dessen
Befriedigung die Lust bestand, und woher der Wille kommt, ehe
die Lust gekannt ist, das ist eben die Frage, da man an jedem
einsam aufwachsenden Thiere sehen kann, dass die instinotiven
Triebe sich einfinden, ehe es die Lust ihrer Befriedigung kennen
lernen konnte. Es muss folglich beim Instinct eine causale Ver-
bindung zwischen der motivirenden sinnlichen Vorstellung und dem
Wiüen zur Listincthandlung geben, mit welcher die Lust der später
feigenden Befriedigung nichts zu thun hat. Diese causale Ver-
bindmig flillt erfahrungsmässig , wie wir von unsem menschlichen
Instincten wissen, nicht in^s Bewusstsein; folglich kann dieselbe,
wenn sie ein Mechanismus sein soll, nur entweder eine nicht in's
Bewusstsein fallende mechanische Leitung und Umwandlung der
Schwingungen des vorgestellten Motivs in die Schwingungen der
gewollten Handlung im Gehirn, oder ein unbewusster geistiger
Meehanismus sein. Im ersten Fall wäre es sehr wunderbar, dass
dieeer Vorgang unbewusst bliebe, da doch der Process so mächtig
ist, dass der aus ihm resultirende Wille jede andere Bücksicht,
jeden anderen Willen überwindet, und derartige Schwingungen im
Öefaim immer bewusst werden ; auch ist es schwer, sich davon eine
Voretellung zu machen, wie diese Umwandlung in der Weise vor
sieh gehen soll, dass der ein für allemal festgestellte Zweck durch
den resultirenden Willen erreicht werden soll. Nimmt man aber
den andern Fall, einen unbewussten Geistesmechanismus, an, so kann
Bum sich den in demselben vorgehenden Process doch nicht füglich
ia anderer Form denken, als in der für den Geist allgemein gül-
tigen der Vorstellung und des Willens. Man hat sich also zwischen
toa bewussten Motiv und dem Willen zur Listincthandlung eine
«insale Verbindung durch unbewusstes Vorstellen und Wollen zu
denken, und ich weiss nicht, wie diese Verbindung einfacher
gedacht werden könnte, als durch den vorgestellten und gewollten
Zweck. Damit sind wir aber bei dem allem Geiste eigenthüm-
IMien und immanenten Mechanismus der Logik angelangt, und
hüb^i die unbewusste Zweckvorstellung bei jeder ein-
zelnen Instinct handlung als unentbehrliches Glied gefunden ^
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hiermit hat also der Begriff des todten, äusserlioh prädestinirten
Geistesmechsuiismas sich selbst aufjg^hoben und in das immaneate
Geistesleben der Logik umgewandelt, und wir sind bei der letzten
Möglichkeit angekommen^ welche für die Auffassung eines wirklichen
Instinctes übrig bleibt: der Instinct ist bewusstes Wollen
des Mittels zu einem unbewusst gewollten Zweck
Diese Auffiassung erklärt ungezwungen und einfach alle Probleme,
welche der Instinct darbietet, oder richtiger, indem sie das wahre
Wesen des Instincts ausbricht, verschwindet alles Problematische
daran. In einem allein stehenden Aufisatz über den Instinct würde
vielleicht der unserem gebildeten Publikum noch ui^ewohnte Be-
griff der unbewussten Geistesthätigkeit Anstoss erregen; aber hier,
wo jedes Capitel neue Thatsachen häuft, welche die Existenz dieser
unbewussten Geistesthätigkeit und ihre hervorragende Bedeutung
beweisen, muss jiedes Bedenken vor der XJngewohntheit dieses Ge-
dankens schwinden.
Wir treten jetzt der bis zuletzt angesparten Frage näher:
„giebt es einen wirklichen Instinct, oder sind die sogenannten Instinct-
handlungen nur Resultate bewusster XJeberlegung?" Was zu Gimsten
der letzteren Annahme angeführt werden könnte, ist die bekannte
Erfahrung, dass, je beschränkter der Gesichtskreis der bewussten
Geistesfahigkeiten eines Wesens ist, desto schärfer im Yerhält-
niss zur Grösse der Gesammtcapacität die Leistungsfähig-
keit in der einseitig beschränkten Eichtung zu sein pflege. Di^^
an Menschen viel bestätigte und gewiss auch auf Thiere anwend-
bare Erfahrung findet ihre Erklärung darin, dass die Höhe der
Leistung nur zum Theil von der Geistesanlage, zum andern Theil
aber von der Uebung und Ausbildung der Anlage nach dieser be-
stimmten Hichtung hin abhängig ist So ist z. B. ein Philologe
ungeschickt in juristischen DenkprocesseX, ein Naturforscher oder
Mathematiker in philologischen, ein abstracter Philosoph in poetischen
Erfindungen, ganz abgesehen vom speciellen Talent, nur in Folge
der einseitigen Geistesbildung und Uebung. Je einseitiger nun die
Richtung ist, in der die Geistesthätigkeit eines Wesens sich bewegt,
desto mehr wird die ganze dem Geiste zu Theil werdende Aus-
bildung imd Uebung nach dieser einen Seite hin oonoentrirt, folg-
lich ist es kein Wunder, dass die schliessUchen Leistungen in dieser
Richtung im Verhältniss zur Gesammtanlage durch die
Verengung des Gesichtskreises erhöht werden. Wenn man aber
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dieM Encl^ei^img zur Erklärung yon Instincthandlungen benutsen
will, 80 darf^man die Eiuschränkung: »»im Yerhältniss zur Qesammt-
anlage^' nicht onberiioksiohtigt lassen. Da indessen die Gesammt-
anlage bei den niederen Thieren immer mehr sinkt, die Instinct-
leistungen aber sich in ihrer Vollkommenheit auf allen Stufen des
Tbierreichs ziemlich gleich bleiben, während diejenigen Leistungen,
weldie unbestritten aus bewusster ITeberlegung hervorgehen, augen-
scheinlich mit der Geistesfahigkeit proportional gehen, so scheint
fldion hieraus hervorzugehen, dass wir es im Instinot mit einem
anderen Princip als dem bewussten Verstände zu thun haben,
ferner sehen wir, dass die Leistungen des bewussten Verstandes
der Thiere in der That der Art nach mit den unserigen ganz gleich
stehen, dass sie durch Lehre und Unterricht erworben, und durch
Hebung vervollkommnet werden; auch bei den Thieren heisst es,
der Verstand kommt erst mit den Jahren ; dagegen ist den Instinct-
handlungen gerade das eigenthümlich, dass sie von einsam auf-
wadiaenden Thieren gerade ebenso vollkommen vollzogen werden,
als von solchen, die den Unterrieht ihrer Eltern genossen haben,
und daBs das erste Mal vor jeder Erfahrung und Uebung gerade
so gat gelingt, wie die späteren Male. Auch hierbei ist die Ver-
sebiedanheit des Prinoips unverkennbar. Alsdann lehrt die Er-
&brung, je bomirter und schwächer ein Verstand ist, desto lang-
samer lösen sich in ihm die Vorstellungen. ab, d. h. desto langsamer
und schwerfalliger ist sein bewusstes Denken; dies bestätigt sich
sowohl bei Menschen von verschiedener Fassungskraft, als auch bei
Thieren, insoweit eben der Instinct nicht in s Spiel konunt. Der
Instinot aber hat gerade das Eigenthümliche , dass er niemals zau-
dert und schwankt, sondern momentan eintritt, wenn da« Motiv für
sein Wirken in's Bewusstsein tritt. Diese Rigidität des Entschlusses
bei Instincthandlungen ist beim niedrigsten und beim höchsten
Thiere gleich ; auch dieser Umstand weist auf eine Verschiedenheit
des Frincips im Instinct und bewusster Ueberlegung hin.
Was endlich die Höhe der Leistungen selbst betrifft, so lehrt
ein kurzer Hinblick unmittelbar das Missverhältniss zwischen ihr
und der Stufe der geistigen Entwickelung. Man betrachte die
£anpe des Nachtpfauenaugei (Bombyx carpini): sie frisst die
Blätter auf dem Gesträuch^ wo sie ausgekrochen, geht höchstens bei
Begen auf die Unterseite des Blattes und wechselt von Zeit zu Zeit
ihre Haut, — das ist ihr ganzes Leben, welches wohl keine, auch
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nicht die einseitigste Yerstandesbüdung erwarten lässt. Nun aber
spinnt sie sich zur Yerpuppang ein und baut sich aus steifen, mit
den Spitzen zusammentreffenden Borsten ein doppeltes Gewölbe,
das von innen sehr leicht zu öftaen ist, nach aussen aber jedem
Yersuch, einzudringen, genügenden Widerstand entgegensetzt. Wäre
diese Vorrichtung ein Eesultat ihres bewussten Verstandes, so be-
dürfte es folgender Ueberlegung : „ich werde in Puppenzustand ge-
rathen, und unbeweglich, wie ich bin, jedem Angriff ausgesetzt sein ;
darum werde ich mich einspinnen. Da ich aber als Schmetterling
nicht im Stande sein werde, mir aus dem Gespinnst, weder durch
mechanische noch durch chemische Mittel- (wie manche andere
Baupen) einen Ausgang zu bahnen, so muss ich mir einen solchen
offen lassen; damit aber diesen meine Verfolger nicht benutzen,
80 werde ich ihn durch federnde Borsten verschliessen , die ich
wohl von innen leicht auseinander biegen kann^ die aber gegen
aussen nach der Theorie des Gewölbes Widerstand leist^i.'* Das
ist doch wirklich von der armen Baupe zuviel verlangt ! Und doch
ist jedes dieser Argumente unentbehrlich, wenn das Resultat richtig
herauskommen soll. — Es könnte diese theoretische XJnterseheidang
des Instincts von der bewussten Verstandesthätigkeit von den
Gegnern meiner Auffassungsweise leicht dahin missdeutet werden,
als ob aus ihr auch für die Praxis zwischen beiden eine trennende
Kluft aufgethan würde^ Letzteres ist aber keineswegs meine
Meinung; im Gegentheil habe ich schon weiter oben auf die Mög-
lichkeit hingewiesen, dass beide Arten der SeelenÜiätigkeit sich in
verschiedenen Maassverhältnissen oombiniren, so dass durch diese
graduell verschiedenen Mischungen ein ganz allmäliger üebergang
vom blossen Instinct zur blossen bewussten Ueberlegung stattfindet.
Wir werden aber später (Cap. B. VII.) sogar sehen, dass selbst
in der höchsten und abstractesten Verstandesthätigkeit des mensch-
lichen Bewusstseins gewisse Momente von der grössten Wichtigkeit
sind, welche in ihrem Wesen ganz mit dem des Instincts überein-
stimmen. —
Für wen alles Bisherige nicht entscheidend sein sollte, um die
Erklärung der Instincte aus bewusster Ueberlegung zu verwerfen,
der wird dem nunmehr folgenden, für die ganze Auffassung des
Instincts höchst wichtigen Zeugniss der Thatsachen unbedingte Be-
weiskraft einräumen müssen. So viel nämlich ist doch sicher, dass
die Ueberlegung des bewussten Verstandes nur solche Data in
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Berechnung sieben kann, die dem Bewusstaein gegeben und; wenn
mm also bestimmt nachweisen kann, dass Data, welche für das
Braoltat unentbehrlich sind, dem Bewusstsein unmög-
lich bekannt sein können, so ist damit bewiesen, dass dies
Besoltat nieht aus der bewussteu Ueberlegung herroigegangen sein
kauL Der einsige Weg, auf welchem nach der gewöhnlichdh An-
nahme das Bewusstsein die Eenntniss äusserer Thatsaohen erlangen
kann, ist die sinnliche Wahrnehmung; wir haben also zu. zeigen,
dass far das Besultat unentbehrliche Kenntnisse unmöglich durch
nnnliche Wahrnehmung erworben sein können. Dieser Beweis ist
dadurch zu führen: erstens, dass die betreffenden Thatsachen in
der Zukunft liegen , und dem Verstände die Anhaitepuncte fehlen,
um ihr zukünfliges Eintreten aus den gegenwärtigen Verhältnissen
IQ erschliessen, zweitens, dass die betreffenden Thatsachen äugen«
sebeinlich der sinnlichen Wahrnehmung verschlossen liegen, weil
nnr die Erfahrung Mherer Eälle über sie belehren kann, und diese
laut der Beobachtung ausgeschlossen ist. Es würde für unsere
lot^easen keinen Unterschied machen, wenn, was ich für wahr-
aeheinüch halte, bei fortschreitender physiologischer Erkenntniss
alle jetzt für den ersten Fall anzuführenden Beispiele sich als solche
des zweit«n Falle ausweisen sollten, wie dies unleugbar bei vielen
Mher gebrauchten Beispielen schon geschehen ist; denn ein aprio-
risches Wissen ohne jeden sinnlichen Anstoss ist wohl kaum
wunderbarer zu nennen, a's ein Wissen, welches zwar bei Ge-
legenheit gewisser sinnlicher Wahrnehmungen zu Tage tritt, aber
mit diesen nur durch eine solche Kette von Schlüssen und ange-
wandten Kenntnissen in Verbindung stehend gedacht werden könnte,
dass deren Möglichkeit bei dem Zustande der Fähigkeiten und
Bildong der betreffenden Thiere entschieden geleugnet werden muss.
Ein Beispiel des ersten Falls bietet der Instinct der Hirschhom-
iuiferlarve, sich Behufs der Verpuppung eine passende Höhle zu
graben. Die weibliche Larve grabt die Höhle so gross wie sie
selbst ist ; die männliche . aber bei gleicher Leibesgrösse noch ein-
mal so gross, weil das ihm wachsende Geweih ziemlich die Länge
des Thieres hat Die Kenntniss dieses Umstandes ist für das Be-
sultat der XJeberlegung unentbehrlich, und doch fehlt jeder Anhalt
in der Gegenwart, um auf dieses zukünftige Ereigniss im Voraus
M^iessen su können. Ein Beispiel des zweiten Falles ist folgen-
dos: Frettchen und Bussarde fallen über Blindschleichen oder andere
T. HwtBiaim, PUl. d. Uibewnssteii. 5
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nicht giftige Schlangen ohne Weiteres her, und packen sie, wie es
kommt; die Kreuzotter aber greifen sie, anch wenn sie vorher no<^
keine gesehen haben, mit der grössten Vorsicht an, and suchen yor
allen Dingen ^ nm nicht gebissen zu werden, ihr den Kopf za zer-
malmen. Da etwas Anderweitiges, Furcht Einflössendes in der Kreuz-
otter nicht liegt, so ist zu diesem Benehmen, wenn es aus be-
wusster TJeberlegung hervorgehen soll, die bewusste Kenntniss der
Gefährlichkeit ihres Bisses unentbehrlich. Da nun diese nur durch
Erfahrung erworben werden kann, und sich bei von Jugend an
gefangenen Thieren das Statthaben solcher Erfahrungen controlliren
lässt, so kann es nicht aus TJeberlegung hervorgehen. Andererseits
geht aber aus diesen beiden Beispielen mit Evidenz das Vorhanden-
sein einer unbewussten Kenntniss der betreffenden Umstände, die
Existenz einer unmittelbaren Erkenntniss ohne Vermittelung der
sinnlichen Wahrnehmung und des Bewusstseins hervor.
Man hat dieselbe jederzeit anerkannt und mit den Worten Vor-
gefühl oder Ahnung bezeichnet; indess beziehen sich diese Worte
einerseits nur auf zukünftiges, nicht auf gegenwärtiges, räumlich
getrenntes TJnwahmehmbares, andererseits bezeichnen sie nur die
leise, dumpfe, unbestimmte Besonanz des Bewusstseins mit dem
unfehlbar bestimmten Zustande der unbewussten Erkenntniss. Da-
her das Wort Vorgefühl in Rücksicht auf die Dumpfheit und
Unbestimmtheit, während doch leicht zu sehen ist, dass das Gefühl
für dasBesultat gar-keinen Einfluss haben kann, sondern
nur eine Vorstellung, weil diese allein Erkenntniss enthält
Die im Bewusstsein mitklingende Ahnung kann allerdings unter
Umständen ziemlich deutlich sein, so dass sie sich beim Menschen
in Gedanken und Worte fixiren lässt; doch ist dies auch im Menschen
erfahrungsmässig bei den eigentlichen Instincten nicht der Falli
vielmehr ist bei diesen die Besonanz der unbewussten Erkenntnis^
im Bewusstsein meistens so schwach, dass sie sich wirklich nur in
begleitenden Gefühlen oder der Stimmung äussert, dass sie
einen unendlich kleinen Bruchtheil des Gemeingeföhls bildet. Dass
solche dunkle Mitleidenschaft des Bewusstseins ganz ungenügend ietr
um der bewussten Ueberlegnng Stützpuncte zu bieten, liegt auf der
Hand; andrerseits liegt es auch nahe, dass die bewusste Ueber-
legnng überflüssig sein und der betreffende Denkprocess sich be-
reits unbewusst vollzogen haben wird, da ja doch jene dumpfe
Ahnung des Bewusstseins nur die Folge einer bestimmten unbe-
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wuBsten Erkenntmss ist, und die Erkenntniss, tun welche es sich
dabei handelt, fast immer die Yorsteliung des Zwecks der Instinct-
handlung oder doch eine ganz eng damit zusammenhängende ist.
Z. B. bei der Hirschhomkäferlarye ist der Zweck: Platz zu haben
foi das wachsende Geweih ; das Mittel : den Platz durch Ausgraben
so schaffen; die unbewusste Erkenntniss: das zukünftige Wachsen
dee Geweihs. Endlich machen alle Instincthandlungen den Eindruck
so absoluter Sicherheit und Selbstgewissheit, und
kommt bei denselben niemals, wie bei der bewussten Entschliessung,
ein Zaudern, Zweifeln oder Schwanken des Willens vor,
niemals (wie Cap. C. I. zeigen wird) ein Irrthum des Instincts,
dass man ganz unmöglich der unklaren Beschaffenheit der Ahming
ein 80 unwandelbar präcises Besultat zuschreiben kann; viel-
mehr ist dieses Merkmal der absoluten Sicherheit so characteristisch,
dass es als einzig scharfes Unterscheidüngskennzeichen zwischen
Handeln aus Instinct und aus bewusster TJeberlegong gelten kann.
HierauB geht aber wiederum hervor, dass dem Instinct ein anderes
Princip zu Gründe liegen muss, als dem bewussten Handeln, und
kann dasselbe nur in der Bestimmung des Willens durch einen im
XInbewussten liegenden Process gesucht werden, für welchen sich
dieser Character der zweifellosen Selbstgewissheit inallenfolgen-
den Untersuchungen bewahren wird.
Dass ich dem Instinct eine unbewusste Erkenntniss zugeschrie-
ben habe, welche durch keine sinnliche Wahrnehmung erzeugt und
dennoch unfehlbar gewiss ist, wird Manchen Wunder nehmen, doch
ist dies keine Consequenz meiner Auffassung des Instincts, sondern
vielmehr eine unmittelbar ans den Thatsachen geschöpfte starke
Stütze dieser 'Auffassung und darf darum die Mühe nicht gescheut
werden, noch eine Anzahl Beispiele darauf hin zu betrachten. Um
für die unbewusste Erkenntniss, welche nicht durch sinnliche Wahr-
nehmung erworben y sondern als unmittelbarer Besitz vorgefunden
wird, Ein Wort setzen zu können, wähle ich, weil „Ahnen" aus
den angegebenen Gründen nicht passt, das Wort „Hellsehen*',
welches hier durchaus nur die Bedeutung der gegebenen Definition
haben solL
Betrachten wir nun nach einander einige Beispiele aus den
Instincten der Feindesfarcht, Ernährung, des Wandertriebs und der
For^flanzung. — Die meisten Thiere kennen ihre natürlichen Feinde
vor jeder Erfahrung über deren feindliche Absichten. So wird ein
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Fing junger Tauben auch ohne ältere Führerin scheu und fahrt
auseinander, wenn ein Baubvogel sich naht; Ochsen und Pferde,
die aus Gegenden kommen, wo es keine Löwen giebt, werden un-
ruhig und ängstlich y wenn sich in der Nacht einer heranschleicht,
sobald sie denselben wittern; ein junger Schimpanse gerieth, wie
Grant beobachtete, beim ersten Anblick einer Kiesenschlange in die
höchste Angst, und auch unter uns Menschen ist es nicht so selten,
dass ein Gretohen den Mephistopheles herausspürt. Sehr merk-
würdig ist, dass ein Insect Bombex ein anderes Pamope angreift
und tödtet, wo es dasselbe findet, ohne von der Leiche irgend einen
Gebrauch zu machen; wir wissen aber, dass letzteres den Eiern des
ersteren nachstellt, also der natürliche Feind seiner Gattung ist.
Die den Hirten von Rinder- und Sohafheerden unter dem Kamen
„das Biesen des Viehes" bekannte Erscheinung giebt ebenfalls einen
Beleg. Wenn nämlich eine Dassel- oder Biesfliege sich einer Heerde
naht, so wird diese ganz wild und rennt wie toll durcheinander,
weil die aus den auf ihrem Fell abgelegten Eiern der Fliege auB-
kriechenden Larven sich später in ihre Haut einbohren und schmen-
hafte Eiterungen veranlassen. Da die Fliege anderen Bremsen sehr
ähnlich sieht, und die Folgen erst lange nachher eintreten, so katm
man nicht ein bewusstes Erschliessen des Zusammenhangs an-
nehmen. Die Vorsicht der Frettchen und Bussarde den Kreuzottern
gegenüber ist schon erwähnt; ähnlich wurde beobachtet, dass ein
junger "Wespenbussard, dem man die erste Wespe vorlegte, dieselbe
erst verzehrte, nachdem er ihr den Stachel aus dem Leibe gedrückt
hatte.
Kein Thier, dessen Listinct nicht durch naturwidrige Gewöhnung
ertödtet ist, frisst Gifbgewächse ; selbst den durch* den Aufenthalt
bei Menschen verwöhnten Affen kann man noch mit Sicherheit in
den Urwäldern als Vorkoster der Früchte brauchen, wo er die
giftigen, die man ihm reicht, mit Geschrei wegwirft. Jedes Thier
wählt gerade diejenigen pflanzlichen oder thierischen Stoffe zu seiner
Nahrung aus, welche seiner Verdauungseinrichtung entsprechen, ohne
darüber Unterricht zu empfangen, selbst ohne vom Geschmacks-
werkzeug vorher Gebrauch zu machen. Wenn man nun freilich
annehmen muss, dass der Geruch und nicht das Gesicht das fSr
die Unterscheidung der Stoffe Bestimmende ist^ so ist es doch ebcDSO
räthselhaft, wie das Thier am Gkruchseindruck, als wie es am Ge-
sichtseindruck das seiner Verdauung Zusagende erkennt. So genoss
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das Ton Galen aus der Matter geschnittene Zicklein von allen yor-
geeetzten I^ahnmgsniitteln und Getränken nur Milch, ohne das
.Ajidere zu. berühren. Der Kembeisser spaltet den Kirschkern,
indem er ihn so dreht, dass der Schnabel auf die Naht trif%, und
macht dies bei seinem ersten Kirschkern im Leben ebenso wie beim
letzten; Utis, Marder und Wiesel machen an der entgegengesetzten
Seite des aussusaufenden Eises kleine Löcher, damit die Luft beim
Saugen naehströmen kann. Nicht bloss die angemessene Nahrung
keimen die lliiere, sondern auch angemessene Heilmittel suchen sie
häufig mit richtiger Selbstdiagnose und unerworbener therapeutischer
Keimtniss auf. So fressen die Hunde öfters viel Gras, besonders
aolches von Quecken, wenn sie unwohl sind, unter Anderem nach
Jj&aZf wenn sie Würmer haben, die dann in das unverdaute Gras
eingewickelt mit abgehen sollen, oder wenn sie Knochensplitter
aas dem Magen entfernen wollen. Als Abführmittel gebrauchen
sie Stachelkräuter. Hühner und Tauben picken Kalk von Wänden
und Bädiem, wenn ihnen die Nahrung nicht genug Kalk zur Bil-
dung der Eierschalen bietet. Kleine Kinder essen Kreide, wenn
sie Magensäure haben, und Stücken Kohle, wenn sie an Blähungen
leiden. Auch bei erwachsenen Menschen finden wir diese beson-
deren Nahrungsinstincte oder Heilmittelinstincte unter Umständen,
wo die unbewusste Natur an Macht gewinnt, z. B. bei Schwangeren,
deren eapriciöse Appetite sich yermuthlich dann einstellen, wenn
ein besonderer Zustand der Frucht eine eigenthümliche Blutmischung
wünsdienswerth macht Die Feldmäuse beissen den eingesammelten
Körnern die Keime ans, damit sie im Winter nicht auswachsen«
Einige Tage vor eintretender Kälte sammelt das Eichhörnchen noch
aaf s Fleissigste ein, und yerschliesst dann die Wohnung. Die Zug^
Tögel ziehen aus unseren Gegenden nach wärmeren Ländern zu
Zeiten, wo sie bei uns noch keinen Nahrungsmangel haben, und
bei erheblich höherer Temperatur, als bei der sie zurückkehren;
dasselbe gilt von der Zeit, wo die Thiere ihr Winterlager beziehen,
was die Käfer häu% gerade an den wärmsten Herbsttagen thun.
Wem Schwalben und Störche Hunderte von Meilen weit ihre
Heiisath wieder finden, bei noch dazu ganz verändertem Aussehen
der Landschaftent so schreibt man dies der Schärfe ihres Ortssiimes
so, wenn aber Tauben und Hunde zwanzigmal herumgedreht im
Sack forttransportirt sind^ und doch im unbekannten Terrain den
geraden Weg nach Hause laufen, da weiss man nichts mehr zu
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70
»Eigen, als: ihr Instinot hat sie geleitet, d. h. das Hellsehen des
XJnbewussten hat sie den rechten Weg ahnen lassen. In Jahren,
wo ein zeitiger Winter eintreten wird, sammeln sich die meisten
Zugvögel früher als gewöhnlich zum Abziehen; wenn ein sehr
milder Winter bevorsteht, ziehen manche Arten gar nicht, oder
nur eine kleine Strecke nach Süden; kommt ein strenger Winter,
so macht die Schildkröte ihr Winterlager tiefer. Wenn Graugänse,
Kraniche u. s. w. bald wieder aus den Gegenden fortziehen, in denen
sie beim Beginn des Frühjahrs sich gezeigt hatten, so ist ein heisser
und trockener Sommer in Aussicht, wo der in diesen Gegenden
eintretende Wassermangel den Sumpf- und Wasservögeln das Brüten
unmöglich machen würde. In Jahren, wo Ueberschwemmungen
eintreten, baut der Biber seine Wohnung höher, und wenn eme
üeberschwemmung in Kamschatka bevorsteht, ziehen die Feldmaufle
plötzlich schaarenweise fort. Wenn ein trockener Sommer bevor-
steht, sieht man im April und Mai die Hängespinnen von der Höhe
herab mehrere Fuss lange Fäden spinnen. Wenn man im Winter
die Winkelspinnen oder Winterspinnen viel hin und her rennen,
kühn mit einander kämpfen, neue und mehrere Gewebe über em-
ander fertigen sieht, so tritt in 9 — 12 Tagen Kälte ein; wenn sie sich
dagegen verstecken, Thauwetter. Ich bezweifle keineswegs, dasa
viele dieser Yorsichtsmaassregeln gegen zukünftige Witterungsver-
haltnisse durch Gefühlswahmehmungen gegenwärtiger atmosphän-
scher Zustände bedingt sind, welche uns entgehen; diese Wahr-
nehmungen beziehen sich doch aber immer nur auf gegenwär-
tige Witterungsverhältnisse, und was kann im B.e w u s s ts e i n des
Thieres die durch die gegenwärtige Witterung erzeugte Affection
des Gemeingefühls mit der Yorstellung des zukiüiftigen Wetters Ba
schaffen haben? Man wird doch wahrlich nicht den Thieren gor
muthen wollen, durch meteorologische Schlüsse das Wetter auf
Monate im Voraus zu berechnen, ja sogar Ueberschwemmungen
vorauszusehen. Yielmehr ist eine solche Gefühlswahmehmung geg^'
Wärtiger atmosphärischer Einflüsse nichts weiter, als die sinnliche
Wahrnehmung, welche als Motiv wirkt, und ein Motiv muss j*
doch immer vorhanden sein, wenn ein Instinot fiinetioniren 0OIL
Es bleibt also trotzdem bestehen, dass das Voraussehen der Witterang
ein unbewosstes Hellsehen ist, von dem der Storch, der vier Wochen
früher nach Süden aufbricht, so wenig etwas weiss, als der
Hirsch, der sich vor einem kalten Winter einen dickeren Pelf ^
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71
gewcSmlich wachsen lässt. Die Thiere haben eben einerseits das
gegenwärtige Witterongsgefuhl im Bewusstsein, daraus folgt ande-
rerseits ihr Handeln gerade so, als ob sie die Yorstellung der
mkünftigen Witterang hätten; im Bewusstsein haben sie dieselbe
aber nicht, ako bietet sich als einzig natürliches Mittelglied die nn-
bewusste Yorstellung , die nun aber immer ein Hellsehen ist, weil
sie etwas enthält, was dem TMer 'weder durch sinnliche Wahr-
nehmung direct gegeben ist, noch durch seine Yerstandesmittel aus
der Wahrnehmung geschlossen werden kann.
Am wunderbarsten von allen sind .die auf die Fortpflanzung
bezüglichen Instincte. — Jedes Männchen findet das Weibchen
seiner Species heraus, um mit ihm die Begattung zu vollziehen, —
iiber gewiss nicht bloss an der Aebnlichkeit mit sich; denn bei
vielen Thierarten, z. B. Schmarotzerkrebsen, sind die Geschlechter
so grundverschieden an Gestalt, dass das Männchen eher auf die
Begattung mit Weibchen von Tausenden von anderen Specien ge-
fölirt werden sollte, als mit denen der seinigen. Bei der Insecten-
Ordnung der Strepsipteren ist das Weibchen ein unförmlicher Wurm,
der lebenslänglich im Hinterleibe einer Wespe wohnt und nur mit
dem linsenförmigen Kopfschilde zwischen zwei Bauchringen der
Wespe hervorragt. Das nur wenige Stunden lebende, einer Motte
ähnlich sehende Männchen erkennt an diesem verkümmerten Yor*
stand sein Weibchen, und vollzieht durch eine unmittelbar unter
dessen Munde zu Tage tretende Oef&iung die Begattung.
* Yor jeder Erfahrung, was Gebären sei, treibt es das schwangere
Sängethier in die Einsamkeit, um seinen Jungen in einer Höhle
od«r an sonst einem geschützten Orte ein Lager zu bemiten; der
Vogel baut sein Nest, sobald ihm die Eier im Eierstock reifen.
Die auf dem Lande lebenden Sohnecken, Krabben, Laubf^sche,
Kröten gehen in's Wasser, die Seeschildkröten an's Land, viele See-
fische in die Flüsse hinauf, um ihre Eier dort zu legen, wo sie
allein die Bedingungen zu ihrer Entwickelung vorfinden. Die In-
secten legen ihre Eier an die verschiedensten i^Orte in den Sand,
anf Blätter, unter Haut und Nägel anderer Thiere, oft an solche
Orte, wo erst später die künftige Nahrung der Larve entsteht, z. B.
im Herbst auf Bäume, die erst im Frühjahr ausschlagen, oder im
FrShjahr auf Blütben, die erst im Herbst Früchte tragen, oder in
Banpen, die erst als Puppen den Schmarotzerlarven als Nahrung
und Schutz dienen- Andere Lisecten legen ihre Eier an Orte, von
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72
d«nen ans sie erst auf vielen Umwegen an den eigentlichen Ort
ihrer Entwickelnng befördert werden y z. 'B. gewisse Bremsen aaf
die Lippen der Pferde, andere an solche Stellen, wo die Pferde
sich zu lecken pflegen , wodurch die Eier in die Eingeweide der-
selben^ als ihren Entwickelungsort, gelangen, und erwachsen mit
dem Eoth entleert werden. Die Rinderbremsen wissen mit sokber
Sicherheit die kräftigsten und gesündesten Thiere ausKuwähleiiy
dass die Viehhändler und Gerber sich ganz auf sie vwlassen, und
am liebsten die Thiere und Häute nehmen, die die meisten Sparen
von Engeriingsfrass zeigen. Diese Auswahl der besten Rinder durch
die Bremsen wird doch gewiss kein Resultat ihrer bewussten Prüfung
und XJeberlegung sein, wenn die Menschen, deren Gewerbe es ist,
sie als ihre Meister anerkennen. Die Mauerwespe macht ein
mehrere Zoll tiefes Loch in den Sand, legt ein Ei hinein, und
schichtet ohnfUssige grüne Maden, die der Yerpuppung nahe, also
recht wohl genährt sind, und lange ohne Nahrung leben fcönneo,
so eng herum, dass sie sich nicht rühren noch verpuppen können,
und zwar gerade so viel, als die Larve bis zu ihrer Verpuppung
wi Nahrung braucht. Eine Wanzenart, cereeris buprestioiday die
selbst nur von Blüthenstaub lebt, legt zu jedem ihrer in unter-
irdischen Zellen aufbewahrten Eier drei Käfer, deren sie sich
dadurch bemächtigt, dass sie ihnen auflauert, wenn sie eben ans
ihrer Yerpuppung treten, und sie dann, wo sie noch schwach sind,
tödtet, zugleich aber ihnen einen Saft beizubringen scheint, welcher
sie frisch und zur Nahrung tauglich erhält Manche Wespenarten
^Snen die Zellen ihrer Larven, gerade wenn diese ihre Nahrvng
verzehrt haben, um neue hineinzulegen, und verschliessen sie dann
wieder; in ähnlicher Weise treffen die Ameisen stets den reefattn
Zeitpunct, wo ihre Larven reif zum Auskriechen sind, um ihnen
dfts Gei^innst zu öffnen, aus dem jene sich nicht selbst befreien
könnten. Was weiss nun wohl ein Lisect, dessen Leben bei wenigen
Arten mehrmals ein einmaliges Eierlegen überdauert, von dem In*
halt und dem günstigen Entwickelimgsort seiner Eier, was weiss
es von der Art der Nahrung, deren die auskriechende Larve be-
dürfen wird, und die von der seinigen ganz verschieden ist, ^^as
weiss es von der Menge der Nahrung, die dieselbe verbrancfat, was
kann es von alledem wissen, d. h. im Bewusstsein haben? V^^
doeh beweist sein Handeln, seine Bemühungen und die k^^
Wichtigkeit) welche es diesen Geschäften beimisst^ dass das Thier
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73
eine Kenntniss der Zakuiift hat; sie kann also nur unbewnsste»^^
Hellsehen sein. Ebenso unzweifelhaft mnss es Hellsehen seni^
welches in den Thiercn gerade in dem Moment den Willen erweckt,
die Zellen oder das Gespinnst zu öffnen, wo die Larven mit ihrem
KahnmgSYorrath fertig, resp. reif zum Auskriechen sind. Der
Knkak, dessen Eier nicht, wie bei anderen Vögeln, einen bis zwei,
sondern sieben bis elf Tage brauchen, um im Eierstock zu reifen,
der deshalb seine Eier nicht selbst bebrüten kann, weü die ersten
Terfault sein würden, ehe das letzte gelegt ist, legt dieselben des-
halb anderen Vögeln in die Nester, natürlich jedes Ei in ein an-
deres Nest. Damit nun aber die Vögel das fremde Ei nicht er-
kennen und hinauswerfen, ist es nicht nur viel kleiner, als man
nach der Grösse des Kukuks erwarten sollte, weil er nur bei kleinen
Vögeln Gelegenheit findet, sondern auch, wie erwähnt, den übrigen
Nesteiem in Farbe und Zeichnung täuschend ähnlich. Da nun der
Kokuk sich einige Tage vorher das Nest aussucht, in welches er
le^n will, so könnte man bei den offenen Nestern daran denken,
dass das eben reifende Ei darum die Farbe der Nesteier annimmt,
weil der tiiichtige Kukuk sich an denselben versieht; aber diese
E^läruDg passt nicht auf die Nester, die in hohlen Bäumen ver-
steckt sind (z. B. syhia phoenicurua) , oder eine backofenförmige
Qmtalt mit engem Eingang haben (z. B. sylvia rufa)\ in diesen
FUkn kann der Kukuk weder hineinschlüpfen, noch hineinsehen,
er muss sogar sein Ei dranssen ablegen, und es mit dem Schnabel
hineinthun, er kann also gar nicht sinnlich wahrnehmen, wie die
voriumdenen Nesteier aussehen. Wenn nun trotzdem sein Ei dem
anderen genau gleicht, so ist dies nur durch unbewusstes Hellsehen
möglieh, welches den Process im Eierstock nach Farbe und Zeich-
nung regelt.
Rine wesentliche Stütze und Bestätigung für die Existenz des
Hellsehens in den Thierinsüncten liegt in den Thatsachen, welche
auch am Menschen in verschiedenen Zuständen ein Hellsehen doou-
mentiren ; die Heilinstinote der Kinder und Schwangeren sind schon
erwähnt. Meistentheils tritt aber hier der höheren Bewusstseins-
rtnfe des Menschen gegenüber eine stärkere Besonanz des Bewusst-
sems mit dem unbewussten Hellsehen hervor, die sich als mehr
oder minder deutliche Ahnung darstellt. Ausserdem entspricht es
to grösseren Selbstständigkeit des menschlichen Intellects, dass
£»e Ahnung nicht aiUdschliesslich Behufs der unmittelbaren Ans-
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74
führung einer Hemdlung ointritty sondern bisweilen auch unabhängig
von der Bedingung einer momentan zu leistenden That als blosse
Vorstellung ohne bewussten Willen sich zeigt, wenn nur die Be-
dingung erfüllt ist, dass der Gegenstand dieses Ahnens den Wil-
len des Ahnenden im Allgemeinen in hohem Grade interei;-
si r t. Nach Unterdrückung eines Wechselflebers oder einer anderen
Krankheit kommt es nicht selten vor, dass die Kranken genau die
Zeit voraussagen, zu welcher ein Anfall von Krämpfen erfolgen und
enden wird; dasselbe findet fast regelmässig bei spontanem Som-
nambulismus statt, und häufig bei künstlich erzeugtem; schon die
Fythia bestimmte bekanntlich jedesmal die Zeit ihrer nächsten
Ekstase. Ebenso sprechen sich in somnambulen Zuständen die
Heilinstincte ofb in Ahnungen der geeigneten Medicamente aus,
welche ebenso oft zu glänzenden Besultaten geführt haben, als sie
dem heutigen Standpuncte der Wissenschaft zu widersprechen
scheinen. Die Bestimmung der Heilmittel ist auch gewiss der
einzige Gebrauch, welchen anständige Magnetiseure von dem halb-
wachen Schlaf ihrer Somnambulen machen. „Es kommt auch bis-
weilen vor, dass ganz gesunde Personen vor dem Gebären oder im
ersten Anfange ihrer Krankheit ein sicheres Vorgefühl ihres nahen
Todes haben; die Erfüllung desselben kann man schwerlich für
einen blossen Zufall erklären, denn sonst müsste sie ungleich selte-
ner vorkommen als die Nichterfüllung^ was doch gerade umgekehrt
sich verhält ; auch zeigen manche dieser Personen weder Sehnsucht
nach dem Tode, noch Furcht vor demselben, und man kann ihn
daher nicht für eine Wirkung der Phantasie erklären^' (Worte des
berühmten Physiologen Burdach, aus dessen Werk: „Blicke in's
Leben,'' Capitel Ahnung, woher ein grosser Theil der einschlagenden
Beispiele entlehnt ist). Diese beim Menschen ausnahmsweise eintretende
Vorahnung des Todes ist bei Thieren, selbst bei solchen, die den Tod
nicht kennen und verstehen, etwas ganz Gewöhnliches; sie veiMo-
ohen sich, wenn sie ihr Ende herannahen fühlen, an möglichst ent-
legene, einsame und versteckte Orte; dies ist z. B« der Grand,
warum man selbst in Stfidten so selt^i den Leichnam oder das
Gerippe einer Katze findet. Nur ist anzunehmen, dass das bei
Mensch und Thier weeensgleiohe unbewusste Hellsehen Ahnungen
von verschiedener Deutlichkeit hervormft, also z. B. die Katze hlo$8
instinctiv treibt sich zu verkriechen, ohne dass sie weiss weshalb»
im Menschen aber das klare Bewusstsein seines nahen Todes erweckt.
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Aber nicht bloss Tom eigenen Tode giebt es Ahnungen^ sondern auch
Ton dem thenrer, dem Herzen nahe stehender Personen, wie die
yielen Ersählnngen beweisen, wo ein Sterbender in der Todesstunde
leinem Freunde oder Gatten im Traume oder in einer Vision er-
sohienen ist; Erzählungen, welche sich durch alle Völker und
Zeiten hindurchziehen und theilweise unzweifelhaft wahre Facta
einschliessen. Hieran sohliesst sich die namentlich in Schottland
froher und den dänischen Inseln jetzt noch vorkommende Fähigkeit
dei zweiten Gesichts, wo gewisse Personen ohne Ekstase bei voller
Besinnung künftige oder entfernte Begebenheiten vorhersehen, die
fiir sie Interesse haben, wie Todesfälle, Sohlachten, grosse Brände
(Swedenborg den Brand von Stockholm), Ankunft oder Schicksale
femer Freunde u. s. w. (vgl. Ennemoser: Geschichte der Magie,
2. Aafl^ §. 86). Bei manchen Personen beschränkt sich dieses
Hellseben nur auf Todesfälle ihrer Bekannten oder Ortsangehörigen ;
die Beispiele soloher Leichenseherinnen sind zahlreich und aufs
Beste, zum Theil gerichtlich beglaubigt. Vorübergehend findet sich
diese Fähigkeit des zweiten Gesichts in ekstatischen Zuständen,
montanem oder künstlich erzeugtem Somnambulismus von höheren
Graden des Wachträumens, sowie auch in lichten Momenten vor
dem Tode ein. Häufig sind die Ahnungen, in denen das Hellsehen
des Unbewussten sich dem Bewusstsein offenbart, dunkel, unver-
itaodlieh und symbolisch, weil sie im Gehirn sinnliche Form an-
nehmen müssen, während die unbewusste Vorstellung an der Form
der Sinnlichkeit keinen Theil haben kann (siehe Cap. C. I.) ; daher
luum man so leicht Zufälliges in Stimmungen, Träumen oder krank-
haften Bildern für bedeutungsvoll halten. Die hieraus folgende
grosse Wahrscheinlichkeit des Irrthums und der Selbsttäuschung,
und die Leichtigkeit der absichtlichen Täuschung Anderer, sowie
der überwiegende Naohtheil, welchen im Allgemeinen die Eennt-
lusB der Zukunft dem Menschen bringt, erheben die praotische
Schädlichkeit aller Bemühungen um die Eenntniss der Zukunft
ausser allen Zweifel, dies kann aber der theoretischen Wichtigkeit
dieses Gebiets von Erscheinungen keinen Abbruch thun, und darf
keinenfalls die Anerkennung der, wenn auch unter einem Wust
Ton Fnsinn und Betrug begrabenen wahren Thatsachen des Hell-
•ehens hindern. Freilich findet es die überwiegend rationalistische
ond materialistische Tendenz unserer Zeit bequem, alle Thatsachen
dieses Gebietes zu leugnen oder zu ignorifen, weil sie sich von
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^
maierialiBtischen GeBichtspunoten atus nicht begreifen lassen, und
nicht nach der Inductionemethode der Differenz auf das Experiment
ziehen lassen; als ob letzteres bei Moral, Socialwissenschaft nnd
Politik nicht ebenso unmöglich wäre! Ausserdem aber liegt die
Möglichkeit des absoluten Lengnens aller solcher Erscheinungen
für gewissenhafte 3eiirtheiler nur in dem Nichtkennen der Berichte,
welches wieder aus dem NichtkennenlemenwoUen stammt. Ich bin
überzeugt, dass viele Leugner aller menschlichen Divination anders
und mindestens vorsichtiger nrtheilen würden, wenn sie es der
Mühe werth hielten, sich mit den Berichten der einschlagenden
Thatsachen bekannt zu machen, und bin ich der Meinung, dass
heute noch Niemand sich zu schämen braucht, wenn er einer An-
sicht beitritt, der alle grossen Geister des Alterthums (ausser Epi-
kur) gehuldigt haben, deren Möglichkeit kaum einer der grossen
neueren Philosophen zu bestreiten gewagt hat, und welche die Vor-
kämpfer der deutschen Aufklärung so wenig geneigt waren, in das
Gebiet der Ammenmährchen zu verweisen, dass vielmehr Göthe aus
seinem eigenen Leben ein Beispiel des zweiten Gesichts erzählt»
das sich ihm bis in die Details bestätigt hat.
So wenig ich dieses Gebiet von Erscheinungen für geeignet
halten würde, um es zur alleinigen Grundlage wissenschaftlicher
Beweise zu machen, so sehr finde ich es erwähnenswerUi als Ver-
vollständigung und Fortsetzung der Erscheinungsreihe,
welche uns in dem Hellsehen der Thier- und Menschen -Instincte
gegenübertritt. Eben weil es diese Beihe nur in gesteigerter Bewusst-
Seinsresonanz fortsetzt, stützt es jene Aussagen der Instincthand-
lungen über ihr eigenes Wesen ebenso sehr, wie seine Wahrseheiur
üohkeit selbst in jenen Analogien mit dem Hellsehen des Instinctes
eine Stütze findet ^ und dies, sowie der Wunsch, eine Gelegenheü
zur Erklärung gegen ein modernes Vorurtheil nicht unbenutzt zu
lassen, ist der Grund, warum ich mir erlaubt habe, dies heutzutage
80 in Misscredit stehende Gebiet in einer wissenschaftlichen Arbeit^
wenn auch nur beiläufig, zu erwähnen.
Endlich haben wir noch eine besondere Art von Instinot zn
erwähnen, der für das ganze Wesen desselben ebenfalls hödist
lehrreich ist, imd zugleich wieder zeigt, wie unmöglich es ist» die
Annahme des Hellsehens zu umgehen. Li den bisherigen Beispielen
nämlich handelte jedes Wesen nur für sich, ausser in den Fort-
pfianzungsinetincten^ wo sein Handeln stets einem anderen Individaum
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SU Gute kommt, nämlich seinen Kindern; jetzt haben wir noch die
FäQe zu betrachten; wo unter mehreren Individuen eine Solidarität
der Instincte besteht, so dass einerseits die Leistung jedes Indi-
viduums Allen zu Gute kommt, andererseits erst durch das ein-
hellige Zusammenwirken mehrerer eine nützliche Leistung heryor-
gerofen werden kann. Bei höheren Thieren findet diese Weohsel-
wiiinmg der Instincte auch statt, doch sind sie hier um so schwerer
Ton der Yereinbarung durch bewussten Willen auszuscheiden ^ als
^e l^rache eine vollkommenere Mittheilung der g^enseitigen Pläne
mid Absichten möglich macht. Wir werden trotzdem diese gemein-
same Wirkung eines Masseninstincts in der Entstehung der Sprache
und den grossen politischen und socialen Bewegungen in der Welt-
geschichte deutlich wieder erkennen; hier handelt es sich um
mög^chst einÜEUihe und deutliche Beispiele, und darum greifen wir
Ea niederen Thieren , wo die Mittel der Gedankenmittheilung bei
feUender Stimme, Mimik und Physiognomie so unvollkommen sind,
dass die Uebereinstimmung und das Ineinandergreifen der einzelnen
leistoDgen in den Hauptsachen unmöglich der bewussten Yerstän-
digimg durch Sprache zugeschrieben werden darf. Nach Hubers
Beobachtungen (NouveUes ohservaiiona sur les abeüles) nahm beim
Baue neuer Waben einTheil der grösseren Arbeitsbienen, welche
sich Toll Honig gesogen hatten, keinen Antheil an den gewöhnlichen
Beschäftigungen der übrigen, sondern verhielt sich völlig ruhig.
Kaeh vierundzwanzig Stunden hatten sich unter ihren Bauohschienen
Blattchen von Wachs gebildet. Diese zog die Biene mit ihrem
hinteren Pusse hervor, kaute sie und bildete sie in Perm eines
Bandes. Die so zubereiteten Wachsblättchen wurden dann an die
Decke des Korbes aufeinander geklebt. Hatte die eine Biene auf
diese Art ihre Wachsblättchen verbraucht, so folgte ihr eine andere
nach, welche die nämliche Arbeit ebenso fortsetzte. So wurde
eine kleine, an den Bienenkorb befestigte, eine halbe Linie dicke,
ranhe Mauer in senkrechter Eichtung gebildet. Nun kam eine der
kleineren Arbeitsbienen, die einen leeren Unterleib hatte, unter-
rochte die Mauer, und machte in die Mitte der einen ihrer Seiten
eine flache, halbovale Höhlung; das abgebissene Wachs häufte sie
am Bande derselben auf. Nach kurzer Zeit wurde sie von einer
anderen ähnlichen abgelöst, und so folgten mehr als zwanzig nach
«mander. In dieser Zeit fing auf der entgegengesetzten Seite der
Kaoer wieder eine andere Biene an, dort eine ähnliche Aushöhlung,
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78
aber entsprechend nur dem Bande der diesseitigen Aushöhlnng, vor-
zunehmen. Bald arbeitete eine neue Biene an ihrer Seite an einer
zweiten solchen Höhlung. Auch diese wurde von immer neuen
Arbeitern abgelöst Inzwischen kamen wieder andere Bienen herbei,
zogen unter ihren Bauchringen Waohsschienen hervor, und erhöhten
damit den Rand der kleinen Wachsmauer. Immer neue Arbeiter
höhlten darin den Grund zu neuen Zellen aus, indess andere fort-
fohren, die schon früher angefangenen nach und nach in ganz regel-
mässige Form zu bringen, und zugleich die prismatischen Wandun-
gen derselben zu yerlängem. Dabei arbeiteten die Bienen auf der
gegenüberstehenden Seite der Wachsmauer immer nach demselben
Plane des Ganzen in der genauesten TJebereinstimmnng mit den
Arbeitsbienen der anderen Seite, bis endlich die Zellen beider
Seiten in ihrer bewunderungswürdigen Regelmässigkeit und ihrem
Ineinandergreifen nicht nur der neben einander stehenden^ sondern
auch der durch ihre Pyramidenböden einander gegenüber befind-
lichen vollendet waren. Man denke sich nun, wie Wesen, die sich
durch sinnliche Mittheilungsmittel über ihre gegenseitigen Absichten
und Pläne einigen sollten, in tausendfache Meinungsverschiedenheit,
in Zank und Streit gerathen würden, wie oft etwas verkehrt ge-
macht würde und zerstört und noch einmal gemcusht werden müsste,
wie sich zu diesem Geschäft zu viele drängen, zu jenem zu wenig«
finden würden, welch' ein Hin- und Herlaufen es geben würde,
ehe jeder seinen rechten Platz gefunden hätte, wTe oft sich jet«t
mehrere zur Ablösung drängen, jetzt wieder welche fehlen würden,
wie wir dies bei gemeinschaftlichen Arbeiten der so viel b<>her
stehenden Menschen finden. Von alle dem sehen wir bei den Bienen
nichts; das Ganze macht vielmehr den Eindruck, als ob ein un-
sichtbarer höchster Baumeister den Plan des Ganzen der Versamn^-
lung vorgelegt und jedem Individuum eingeprägt hätte, als wenn
jede Art von Arbeitern ihre bestimmte Arbeit, Stelle und Numm^
der Ablösung auswendig gelernt hätte, und durch geheime Signal*
von dem Augenblick benachrichtigt würde, wo sie an die Beine
kommt. Alles dies ist aber eben Leistung des Instincts, vind wie
durch Instinct der Plan des ganzen Stocks in unbewusstem Hei-
sehen jeder einzelnen Biene einwohnt, so treibt ein gemeinsoxaet
Instinct jede einzelne zu der Arbeit, zu der sie berufen ist» ^
rechten Moment; nur dadurch ist die wunderbare Ruhe und Gra-
nung möglich. Wie dieser gemeinsame Instinct zu denken ^^>
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79
kann erst viel später aufgeklärt werden, aber die Möglichkeit des-
selben ist schön jetzt einleuchtend, indem jedes Individuum den
Plan des Ghmzen und sämmtliche gegenwärtig zu ergreifende Mittel
im nnbewussten Hellsehen hat, wovon aber nur das Eine, was ihm
2a thnn obliegt, in sein Bewusstsein fällt. So z. B. spinnt eine
Bienenlarve sich ihr seidenes Puppengehäuse selbst, aber den
schHessenden Wachsdeckel müssen andere Bienen daran setzen ; der
Plan des ganzen Puppengehäuses schwebt also beiden Theilen un-
bewnast vor, aber jeder leistet durch bewussten Willen nur den
ihm zukommenden Theil. Dass die Larve nach der Verwandlung
Ton anderen Bienen aus ihrem Gehäuse befreit werden muss, ist
sdion firüher erwähnt, ebenso dass die Arbeiterinnen die Drohnen
im Herbste tödten, um nicht die nutzlosen Mitesser den Winter
liindnrch zu ernähren, und dass sie sie nur leben lassen, wenn sie
eine neu aufzuziehende Königin befruchten sollen. Die Arbeiterinnen
ban^ ferner die Zellen für die reifenden Eier der Königin, und
zwar in der Begel gerade so viel, als die Königin Eier legen wird,
und nodi dazu in der Folge, wie die Eier gelegt werden, nämlich
erst für die Arbeiterinnen, dann für die Drohnen, dann für die
Königinnen. Hier sieht man wieder, wie die Instincthandlungen
der Arbeiterinnen sich nach versteckten , organischen Vorgängen
richten, welche doch offenbar nur durch unbewusstes Hellsehen
aof sie einen Einfluss haben können. Im Bienenstaat ist die arbei-
tende Thätigkeit und die geschlechtliche, die sonst vereinigt sind,
in drei Arten von Individuen personificirt, und wie bei Einem
Individuum die Organe, so stehen hier die Individuen in innerer,
unbewusster, geistig-organischer Einheit.
"Wir haben also in diesem Capitel folgende Kesultate erhalten :
der Instinct ist nicht EesuUat bewusster XJeberlegung, nicht blosse
Folge der körperlichen Organisation, nicht Hesultat eines in der
Organisation' des Gehirns gelegenen Mechanismus, nicht Wirkung
eines dem Geiste von aussen angeklebten todten, seinem innersten
Weski fremden Mechanismus, sondern selbsteigene Leistung des
Indiiiduums, aus seinem innersten Wesen und Character entspringend.
Der Zweck, dem eine bestimmte Art von Instincthandlungen dient,
ist nicht von einem ausserhalb des Individuums stehenden Geiste,
etwa einer Vorsehung, ein für allemal gedacht, und nun dem Indi-
vidmim die Nothwendigkeit , nach ihm zu handeln, als etwas ihm
Fremdes äusserlich aufgepfropft, sondern der Zweck des Instinctes
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80
wird in jedem einzelnen Falle vom Individuum unbewusst gewollt
und vorgestellt, und danach unbewuaet die für jeden besonderoi
Fall geeignete Wahl der Mittel getroffen. Häufig ist die Kennt-
niss des Zwecks der bewussten Erkenntniss durch sinnliche Wahr*
nebmung gar nicht zugänglich ; dann documentirt sich die FigenthüzO'
lichkeit des XJnbewussten im Hellsehen, von welchem das Bewoaslr
•ein theils nur eine verschwindend dumpfe, theils auch, namentUoli
beim Menschen, mehr oder minder deutliche Eesonanz als Ahnung
verspürt, während die Instincthandlung selbst, die Ausführung des
Mittels zum unbewussten Zweck stets mit voller Klarheit in's Be-
wusstsein fallt, weil sonst die richtige Ausführung nicht möglich wäre.
Das Hellsehen äussert sich endlich auch in dem Zusammenwirken
mehrerer Individuen zu einem gemeinsamen^ unbewussten Zweck.
Das Hellsehen steht bis hierher noch als eine unverständli^
empirische Thataacho da, und man könnte einwenden: „dann bleibe
ich lieber gleich beim Instinct als einer unverständlichen Thatsache
stehen/' Dem steht aber entg^en, erstens, dass wir das Hellsehen
auch ausserhalb des Instincts finden (namentlich beim Menschen)f
zweitens, dass bei Weitem nicht bei allen Instincten ein Hellsehen
vorzukommen braucht, dass also Instinct und Hellsehen schon
empirisch als zwei getrennte Thatsachen gegeben sind, von denen
wohl das Hellsehen zur Erklärung des Instincts beitragen kann,
aber nicht umgekehrt, und drittens endlich, dass das Hellsehen
des Individuums nicht als eine so unverständliche Thatsache stehen
bleiben wird, sondern im späteren Verlauf der Untersuchung sehr
wohl seine Erklärung finden wird, während man auf das Ver-
ständniss des Instincts auf jede andere Weise verzichten müsste.
Nur die hier ausgeführte Auffassung macht es möglich, den
Instinct als den innersten Kern jedes Wesens zu begreifen; dass
er dies in der That ist, zeigt schon der Trieb der Selbsterhaltong
und Oattungserhaltung, der durch die ganze Schöpfung durchgeht,
zeigt der heroische Opfermuth, mit welchem das individuelle
Wohl, ja selbst das Leben, dem Instinct zum Opfer gebracht wird.
Man denke an die Baupe, die immer wieder ihr Gespinnst aus-
bessert, bis sie der Entkräftung erliegt, an den Yogel, der vor
Erschöpfung durch Eierlegen stirbt, an die Unruhe und Traner
aller Wanderthiere, die man am Wandern verhindert. Ein gefangener
Kukuk stirbt jedesmal im Winter an der Verzweiflung, nicht fort-
ziehen zu können; die Weinbergsschnecke, der man den Wintersohhif
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81
yenag^y ebeiiBo; das schwächste Mutter-Thier nimmt den Kampf
mit dem überlegensten Gegner auf und erleidet freudig für seine
Jungen den Tod; ein unglücklich liebender Mensch wird wahnsinnig
«der gre^ 2um Selbstmord, wie jedes Jahr mit einigen Fällfn
Ton Neuem bestätigt; eine Prau, die den Kaiserschnitt einmal
glftcklidi überstanden hatte, tiess sich durch die sichere Aussicht
auf Wiederholung dieser furchtbaren, meist tödtlichen Operatioa
«0 wwg von der ferneren Begattung abhalten^ dass sie dieselbe
Opefation noch dreimal durchmachte. XJnd eine so dämonische
Gewalt sollte durch etwas ausgeübt werden können, was ab ein
dem inneren Wesen fremder Mechanismus dem Geiste aufgepfropft
iftf oder gar durch eine bewusste üeberlegung, welche doch stets
nur im kahlen Egoismus stecken bleibt, und solcher Opfer fär
^6- Gattung gar nicht fähig ist, wie sie der For^flan2ungs- und
Mntteiinstinct darbietet!
Der Instinct ist der Mittelpunct der geistigen Eigenthümlich-
keit jedes Thieres, er ist es, der den Thiercharacter ausmacht,
denn alle Züge^ die man zusammenstellt, um den Gharacter einer
Tliierspecies zu zeichnen, beziehen sich auf die eigen thümlichen
Instincte, welche das Leben derselben auszeichnen. Dass dasselbe
in gewissem Sinne auch für Menschen gilt, werden wir im Ab-
schnitt B. sehen. Hier haben wir nur noch die Frage zu be-
rüoksichügen, wie es kommt, dass innerhalb einer Thierspecies die
hiBÜncte so gleichmässig sind, ein Umstand, der nicht wenig dazu
beigetragen hat, die Ansicht yon dem aufgepfropften Geistesmecha-
nismus zu bestärken.
Kon ist aber klar, dass gleiche Ursachen gleiche Wirkungen
haben, imd hieraus erklärt sich jene Erscheinung ganz tou selbst,
dämlich die körperlichen Anlagen innerhalb einer Thierspecies
sind dieselben y die Fähigkeiten und Ausbildung des bewussten
Geistes ebenfalls (was bei den Menschen und zum Theil den
böebsten Thieren nicht der Fall ist, und woher bei diesen, die
Terschiedenheit der Individuen kommt); die äusseren Lebens-
bedingungen sind gleichfalls ziemlich dieselben, und insofern sie
wesentlich yerschieden sind, sind auch die Instincte yerschieden;
wofür es wohl keiner Beispiele bedarf Aus gleicher Geistes- und
Körperbeschaffenheit und gleichen äusseren Umständen folgen aber
noüiwendig gleiche Lebenszwecke als logische Consequeoz, aus
gleichen Zwecken und gleichen inneren und äusseren Umständen
r. Hftrtnuum, Phil. d. Cnb«waMt«&. 6
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üolgt aber gleiche Wahl der Mittel, d. h. gleiche Instincte. Die
letzten beiden Schritte würden nicht ohne EinBohränkong znza-
i;eben sein, wenn es sich um bewusste Ueberlegong handelte» da
aber diese logischen ConseqnenBen Tom ünbewossten gezogen
werden, welches ohne Schwanken nnd Zaudern unfehlbar das Rich^
iige ergreift, so fallen sie auch ans gleichen Prämissen immer
gleich aas.
So erklärt sich aus unserer Auffassung des Instinctes auch das
letzte, was als Stütze entgegengesetzter Ansichten geltend gemacht
werden könnte.
Ich schliesse dieses Ci^itel mit den Worten Schellings (L Bd.
7. S. 455): „Ks sind keine anderen als die Erscheinungen des
thierischen Instinctes, die für jeden nachdenkenden Menschen
zu den allergrössten gehören — wahrer Probirstein ächter Philo-
sophie.''
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IV.
Die VerbiHduig tob Wille u4 Yorstelliiiig.
Jedes Wollen will den üebergang eines gegenwärtigen
Zustandes in einen andern. — Ein gegenwärtiger Zustand
ist allemal gegeben, und wäre er selbst die blosse Rnhe; ans die-
iem gegenwärtigen Znstand allein könnte aber nun und nimmer-
mebr der Wille bestehen, wenn nicht die Möglichkeit, wenigstens
die ideale Möglichkeit» von etwas anderem vorhanden wäre. Der
Eine Zustand, der real und ideal nichts anderes zuliesse, wäre in
sich selbst beschlossen, ohne je auch nur idealiter über sich hin-
auszugehen, denn dieses aus sich Herausgehen wäre dann ja eben
schon sein Anderes. Auch derjenige Wille, welcher das Beharren
des gegenwärtigen Zustandes will, ist nur möglich durch die Vor-*
Stellung des Aufhörens dieses Zustandes, welches y er ab scheut
wird, also durch eine doppelte Negation; ohne die Vorstel-
lung des Aufhörens würde ein Wollen des Beharrens unmöglich
sein. Es steht also fest, dass zum Wollen zunächst zweierlei nöthig
ist, Ton denen eines der gegenwärtige Zustand ist, und zwar als
Aofigangspunet. Das Andere, der Endpunct oder das Ziel des
WoUens, kann nicht d^ jetzt gegenwärtige Zustand sein , denn die
Gegenwart hat man ja ganz und gar inne, also wäre es wider-
sinnig, sie noch zu wollen, sie kann höchstens Befriedigung oder
Unbefriedigung erzeugen, aber nicht Willen. Es kanü also nicht
ein seiender, sondern bloss ein nicht seiender Zustand sein,
welcher gewollt wird, und zwar als seiend gewollt wird. Aus
dem Nichtsein in's Sein kann der Zustand nur durch das Werden
gelangen, und wenn er durch das Werden zum Sein gekommen ist,
so ist der briaher Gegenwart genannte Moment vorüber und eine
neue Gegenwart eingetreten, welche von dem vorigen Moment
6*
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L.
84
aus betrachtet, noch Zukunft ist. Dieser yonge Moment ist aber
der des WoUens, mithin ist es ein zukünftiger Zustand, dessen
Gegenwärtigwerden gewollt wird. Dieser zukünftige Zustand muss
also im Wollen als das Andere des jetzt gegenwärtigen Zustandes
enthalten sein, und giebt dem Willen seinen Endpunct oder sein
Ziel, ohne das er nicht denkbar ist. Da nun aber dieser zukünf-
tige Zustand als ein gegenwärtig noch nicht seiender in dem
gegenwärtigen Actus des Wollens realiter nicht sein kann,
aber doch darin sein muss, damit derselbe erst möglich wird,
so muss er nothwendiger Weise idealiter, d. h. als Vorstel-
lung in demselben enthalten sein. Ebenso kann aber auch der
gegenwärtige Zustand nur insofern Ausgangspunct des Willens
werden, als er empfunden wird, d. h. als er in die Yorstellung
(im weitesten Sinne des Worts) eingeht. Wir haben also im Willen
zwei Vorstellungen, die eines gegenwärtigen Zustandes als Aus-
gangspunct, die eines zukünftigen als Endpunct oder Ziel; erstere
wird als Vorstellung einer yorhandenen Bealität aufgefastt,
letztere als Vorstellung einer erst zu schaffenden Bealität Der
Wille ist nun das Streben nach dem Schaffen dieser BeaHtät, oder
das Streben nach dem TJebergang aus dem durch erstere in den
durch letztere Vorstellung repräsentirten Zustand. Dieses Streben
selbst entzieht sich jeder Besprechung und Definition, weil wir uns
doch bloss in Vorstellungen bewegen und das Streben an sich
etwas der Vorstellung heterogenes ist ; es kann von ihm nur gesagt
werden, dass es die unmittelbareUrsache der Veränderung
ist. Dies Streben ist die sich überall gleichbleibende leereForm
des Willens, welche der Erfüllung mit dem yerschiedenartigsteii
Vorstellungsinhalt offen steht, und wie jede leere Form Abstous-
tion ohne andere Bealität ist, als die, welche sie an ihrem
Inhalt hat, so auch diese. Das Wollen ist eadstenziell oder aotuell
nur an der Beziehung zwischen der Vorstellung des gegenwärtigen
und zukünftigen Zustandes; nimmt man dem BegrifE diese Belatioo,
ohne welche er nicht bestehen kann, so raubt man ihm die Beali-
tät, das Dasein. Niemand kann in Wirklichkeit bloss wollen»
«hne dies oder jenes zu wollen; ein Wille, der nicht Etwa»
will, ist nicht; nur durch den bestimmten Inhalt erhalt der
Wille die Möglichkeit der Existenz, und dieser Inhalt ist Vor-
stellung, wie wir gesehen haben. Daher: keil Wollei «low V*r-
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iMSag, wie schon AriBtoteles sagt (de an. HL 10, 433. b, 27):
0(^€Xfix6p di ovx av^v (pctvzaaiag.
Ich bin deshalb so lange bei dieser selbstverständlichen Be-
trachtang verweilt, weil aas Yemachlässigang derselben die ganze
Kgenthnmlichlreit und Halbheit der Schopenhaner'schen Philosophie
entipiingt, welche nur den Willen als metaphysisches Princip gelten
Itot, und die Yorstellnng oder den Intellect materiallBtisch ent-
stehen läset. Es wäre leicht, die obige Behauptung auch in Bei-
spielen durchzugehen, ich halte sie aber für so selbsterident, dass
ieh den Leser damit lieber yerschonen will; zumal da das ganze
zweite Gapitel gewissermaassen als Beispiel zu diesem allgemeinen
Satz angesehen we)rden kann, nur dass dort auf den unbewussten
Willen weniger Nachdruck gdegt ist.
Wir wissen also nunmehr, dass, wo immer wir einem Willen
begegnen, Vorstellung damit yerbunden sein muss, allermindestens
diejenige, welche das Ziel, Object oder Inhalt des Willens ideell
▼eigegenwärtigt; die andere Vorstellung, der Ausgangspunct, könnte
iD^bdierweise eher einmal »s 0 werden, wenn der Wille sich aus
c^ Kichts erhebt; indess haben wir bei empirischen Erscheinungen
mit diesem Fall nichts zu thun» yielmehr ist hier der Ausgangs-
punct allemal ab positive Empfindung eines gegenwärtigen Zustan-
de gegeben. Demnach muss auch jeder unbewusste Wille,
dsr wirklich existirt, mit Vorstellungen yerbunden sein, denn in
QBserer Betrachtung kam nichts yor, was auf den Unterschied yon
bewnsstem oder unbewusstem Willen Bezug gehabt hätte. Die
positive Empfindung des gegenwärtigen Zustandes wird auch beim
vibewnssten Willen immer für das Neryencentrum bewusst sein
mästen, auf welches der Wille sich bezieht, da eine materiell er-
regte Empfindung, wenn sie yorhanden ist, stets bewusst sein muss;
dsgegen wird beim unbewussten Willen die Vorstellung des Zieles
oder Objectes des WoUens natürlich auch unbewusst sein. Also
«Beh mit jedem wirklich yorhandenen Willen in untergeordneten
Kerrencentris muss eine Vorstellung yerbunden sein, und zwar je
mwl der Beschaffenheit des Willens eine relatiy auf das Gehirn,
oder absolut unbewusste. Denn wenn der Qanglienwille den Herz-
moikel in bestinmiter Weise contrahiren will, so muss er zunächst
die Vorstellung dieser Oontraction als Inhalt besitzen, denn sonst
Unnte weiss Gott was contrahirt werden, nur nicht der Herzmuskel;
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86
diese Yorstellung ist jedenfalla für das Hirn unbewusst, für dts
Ganglion aber bewusst. Nun mnss aber die Contraotion dadurch
bewirkt werden, dass, analog wie wir es im zweiten Capitel bei
den willkürlichen Bewegungen dee Himwillens gesehen haben, ein
Wille zur Erregung der betreffenden centralen Endigongen der
bewegenden Nervenfasern im Ganglion entst^t; dazu gehört aber
wiederum eine Vorstellung der Lage dieser cmitralen Nervenenden,
und diese Vorstellung muss, analog mit dem Himwillen, absolut
unbewuBst gedacht werden, ebenso wie der eratere Wille relativ,
der letztere absolut unbewusst zu denken isl
Wir haben gesehen, dass der Wille eine leere Form ist, die
erst an der Vorstellung den Inhalt findet, an welchem sie sich
verwirklicht, dass diese Form aber selbst etwas der VorBtellung
Heterogenes, und darum nicht durch Begriffe zu Bestimmendes» in
seiner Art Einziges ist^ nämlich das, was zwar selbst noch ideal
seiend, in seinem Wirken den Uebergang vom Idealen zum Wirk-
lichen oder Realen macht. Der Wille ist also die Form der
Causalität von Idealem auf Reales, er ist nichts als
Wirken oder Thätigsein, reines aus sich Herausgehen, während die
Vorstellung reines Beisichsein und Insichbleiben ist Wenn aber
in der nach aussen wirkenden Oausalität und dem aus sich Herans-
gehen der Grunduntersohied der Form des Willens von der Vor*
Stellung liegt, so muss diese als in sich Beschlossenes einer nach
Aussen wirkenden Causalität entbehren» wenn nicht der eben
gesetzte Unterschied wieder aufgehoben werden soll. Denn beim
Willen ist immer Vorstellung, und wenn nun die Vorstellung auoh
die (kusalität nach Aussen besässe, so wäre der unterschied zwi-
schen Wille und Vorstellung in der That au%ehoben, während wir
innerhalb eines jeden von ihnen die beiden verschiedenen
Momente wieder finden würden und von Neu^n zu bezeichnen
hätten. Darum behalten wir lieber gleich für diese polarisohen
Momente die Worte Wille und Vorstellung bei, und nehmen eine
Verknüpfung beider an, wo wir die Momente vereint finden.
So haben wir es beim Willen bereits gemacht; es bleibt ^^
übrig, in Zukunft in der Vorstellung überall da «inen Willen an-
zuerkennen, wo dieselbe eine Causalität nach Aussen zeigt Auok
dies hat schon Aristoteles ausgesprochen (de an. HL 10. 433. «• ^)^
Mai ^ g>aptaala di, Svav ^ly/jj ov xa^si av9v ofi^^iogt cL h.:
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8T
,,aber auch die Yorstellung, wenn sie nach Aussen wirkt, witkt
flieht ohne einen Willen.^
Anch dies habe ich nur deshalb so lang besprochen, weil
imseren heutigen Physiologen diese einfache Wahrheit nicht
g^nwärtig ist, indem sie die Yorstellung als solche ohne
Weiteres physiologische Wirkui^en auf den Körper hervorbringen
Die Anwendung, die wir hier zunächst von diesem Satae bu
machen hätten, wäre die Eückwärtsbestätigung, dass die unbewusste
Vorstellung yon der Lage der centralen Endigungen motorischer
Nervenfasern nicht wirken kann ohne den Willen, diese Stellen
za erregen, und dass die blosse unbewusste Vorstellung eines
Instinctzweckes nichts nutzen kann, wenn der Zweck nicht auch
gewollt wird; denn nur durch das Wollen des Zweckes kann das
Wollen des Mittels herrorgerufen werden, und nur durch das
Wollen des Mittels dieses selbst. Was hier für den Instinct-
zweck gesagt ist^ gilt natürlich ganz ebenso für jede andere,
in den folgenden Gapiteln sich ergebende unbewusste Zweckyor-
fltellang.
Wir können endlich nunmehr auch der Frage nach dem Unter«
e^ede des bewussten und unbewussten Willens näher treten. Ein
Wille, dessen Inhalt durch eine unbewusste Vorstellung gebildet
wird, könnte höchstens noch seiner leeren Form des WoUens nach
.Tom Bewusstsein percipirt werden^ und verschiedene solche WiUens-
aete könnten sich dann für das Bewusstsein höchstens dem Grade
nach unterscheiden; dagegen kann er nicht, mehr als dieser
bestimmte Wille vom Bewusstsein percipirt werden , da seine
Besonderheit erst durch den Inhalt bestimmt wird. Demnach ist
für einen solchen Willen die Anwendung des Wortes bewusst un*
bedingt ausgeschlossen, da man keinenfalls mehr sagen kann, dass
dieser bestimmte Wille bewusst werde. Ausserdem lehrt uns
auch die Erfahrung, dass wir yon einem Willen um so weniger
wissen, je weniger yon den ihn begleitenden Vorstellungen oder
Empfindungen zum Himbewusstsein gelangt. Hiemach scheint es
fast, als ob der Wille als solcher überhaupt dem Bewusstsein
nicht zugänglich wäre, sondern dies erst durch seine Vermählung
mit der VorsteUung würde, (Dies wird Cap. C. III, in der That
nachgewiesen). Wie dem auch sei, so können wir schon jetzt
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^ehaup1ei3> das» ein nnbewusater Wille ein Wille mit
unbowu88ter Yorstellnng als Inhalt aei; denn ein Wille
mit bewusster YorBtellong als Inhalt wird uns immer bewnsst
werden. Wenn hiermit der Unterschied von bewusstem und un-
bewusBtE^m Willen auch nur auf den ebenso schwierigen Unter-
fit^hied TOB bewusster und unbewusster Vorstellung zurückgeführt
iet^ BO ist damit doch schon eine wesentliche Vereinfachung des
Problems erreicht.
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V.
Das Unbewisste in den ReflexwirknngeB.
,^Reflectorieche Bewegungen nennt man gegenwärtig solohe, bei
welchtti der excitirende Beiz wed^ ein contractües Gebilde, noch
einen motorisclien Nerven unmittelbar trifft, sondern einen Nerven,
weldier seinen Erregungssustand einem Oentralorgane mittiieilt,
worauf durch Yermiiteinng des letzteren der Beiz auf motorische
Nerven überspringt, und nun erst durch Muskelbewegungen sich
geltend macht.^ (Wagner^s Handwörterbuch der Physiologie Bd. II.
S. 542. Artikel Nervenphysiologie von Yolkmann. Ygl. auch über
die historische Entwickelang des Begriffes BefLexbewegung und zur
Würdigung der Auffassungen der öfters die Wahriieit dicht berühren-
den früheren Forscher die empfehlenswerthe Schrift J. W. Amold's :
»Die Lehre von der Beflexfnnction/') — Diese Erklärung scheint
zair so gut, als die Physiologie sie zu geben im Stande ist, und es
laset sich keine Einschränkung derselben finden, die nicht gewisse
Classen allgemein als solcher anerkannter BefLexbewegnngen von
diesem Namen ausschlösse, und dennoch ist leicht zu sehen, dass
sie viel weiter ist, als die Physiologie beabsichtigt, da alle Bewe-
gungen und Handlungen in derselben Platz finden, deren Motiv
nicht ein im Hirne von selbst entsprungener Gedanke, sondern un-
mittelbar oder mittelbar ein Sinneseindruck ist Um diesen stetigen
üebergaog der niedrigsten Befiexbewegungen in die bewussten
WiUensthätigkeiten näher zu verfolgen, müssen wir in die Betrach-
iong der Beispiele eingehen.
Wenn man ein frisch ausgeschnittenes Froschherz, welches
langsam pulsirt, durch einen Nadelstich reizt, so entsteht unabhän-
gig vom Bhythmus des Schlages eine Systole (Zusammenziehung)
in der normalen Beihenfolge der Theile. Vor dem völligen Erlöschen
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der Beizbarkeit tritt eine Zeit ein, wo die Reizung nur eine ört-
liche Coutraction von abnehmender Rauihgrösse zur Folge hat.
Zerschneidet man das Herz im noch kräftigen Zustande, aber so»
dass Verbindungsbrücken zwischen den Theilen bleiben, so bewirkt
Reizung des einen Theils, in welchem ein Gtinglienknoteu in der
Muskelsubstanz enthalten ist; Contraction beider Theile, dagegen hat
Reizung des anderen Theiles, welcher keinen Knoten enthält, nur
örtliche Contraction zur Folge. Hieraus geht hervor, dass die auf
Reizung erfolgende normale Bystole keine einfache Reizoracheinung
oontractilen Gewebes ist, sondern eine durch die eingelagerten
Ganglienknoten vermittelte Reflexbewegung. Andere Versuche,
z. B. die Theilung des Rückenmarkes in kleine Querschnitte u. s. w.
machen es wahrscheinlich, dass jedes Nervenoentrum der Vermittler
von Reflexbewegungen sein kann. Je höher das Kerveneentrum
entwickelt ist, einen desto höheren Grad von Zweckmässigkeit und
Geschicklichkeit in der Complication der Bewegungen zeigen seine
Reflexwirkungen. Volkmann sagt (Hwb. IL 545): ,/3ombimren äoh^
verschiedene Muskeln zu einer Reflexbewegung, gleichviel ob Bjn-
chronisch oder in der Zeitfolge, so ist die Combination stets eise
mechanisch zweckmässige* Ich meine, die gleiehzeitig i^irkenden
Muskeln unterstützen sich, z. B. in Hervorbringung einer Flexion,
und die in der Zeitfolge nach einander thätigen vereinigen sich in
zweckmässiger Fortfuhrung und Vollendung der schon begonnenen
Bewegung. Reizt man einen enthaupteten und in gestreckter Lage
befindlichen Frosch am Hinterschenkel hinreichend kräftig, so com-
biniren sich zunächst die Flexoren und Adduotoren beider Schenk^
erst nachdem die Schenkel an den Leib gezogen smd, oombiiiireB
sicii die Extensoren zu einer gemeinsamen Streckung, und das Qe*
sammtresultat ist eine mehr oder weniger regelmässige Ortsbewe-
gung zum Schwimmen oder zum Sprunge. — In vielen Fällen
haben die reflectorischen Bewegungen nicht nur den Gharacter der
Zweckmässigkeit, sondern sogar einen gewissen Anstrich der Ab-
sicht Junge Hunde, bei welchen ich das grosse und kleine Gehirn
mit Ausnahme des verlängerten Marks zerstört hatte, suohien mät
der Vorderpfote meine Hand zu entfernen , wenn ich sie unsanft
bei den Ohren faaste. Bei enthaupteten Fröschen sieht man oft,
dass sie eine heftig geknippene Hautstelle frottiren (was nur durch
ein abwechselndes Spiel der Antagonisten möglieb ist), und Schild-
kröten, welehc man naeh der Enthauptung verletzt, versteckeit sieh
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91
in ihrem Gehäuse.^ — Dm verlängerte Mark, als das nächst dem
Gehirn am höchsten entwickelte Nerrencentram, ist es anch, welches
die complicirtesten Reflexbewegungen rermittelt, wie z. B. das
Athmen mit seinen Modificationen : Sehlaohzen» Seufzen, Ladien,
Wemen, Husten; femer das Niesen bei Reizung der Nasenschleim-
hant, das Schlucken und Erbrechen bei leichtem Druck (durch
einen Bissen) oder Kitzel des Schlundes und Gaumens; das Lachen
erfolgt auf Eitsel der äusseren Haut» das Husten auf Reizung des
Kehlkopfes.
Sehr .wichtig für das ganze Leben des Menschen und auf schon
viel complioirtere Vorgänge in den Centralorganen hinweisend sind
die durch die Sinneawahmehmungen hervorgerufenen RefLezbe-
wegongen; allerdings eine Classe yon Erscheinungen, denen die
Physiologie noch nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt
hat, weil ne sich nur am ganzen lebenden Körper und zum Theil
mir psychologisch an sidi selber studiren lassen. Es ist aber offen-
bar, dass diese Betrachtungsweise yor der an verstümmelten Leichen
oder en^imten Thieren ihre groeeen Vorzüge hat, da man doch
keineswegs bei Organismen, die soeben den Tod erlitten oder die
schwersten Operationen ausgehalten haben, oder gar noch mit
Sirychnin behandelt sind, einen normalen Zustand der Reaotions-
fiOngkeit für die mit den zerstörten Theilen in so directer Gorre-
spendenz stehenden niederen Centralorgane Toraussetzen darf. Dazu
kommt noch, dass bei den geköpften Thieren auch das yerlängerte
Mark und die grossen Himganglien entfernt sind^ welche letztere
wahrscbeinlieh auch noch zum Rückenmark oder wenigstens nicht
zom Gehirn gerechnet werden müssen. Aus alledem erklärt sidi
Hhr wchX die bei solchen Experimenten bisweilen heryortretende
UiiTollkoBunfinheit der Zweckmässigkeit in den Reflexbewegungen,
weil man die pathologischen Elemente nicht auszusondern yermag.
Bie nächsten durch einen Sinnesetndruck heryorgerufenen
Befleii>ewegungen bestehen darin, dass das betreffende Sinnesorgan
in eine solche Stellung, Spannung tu s. w. gebracht wird, wie zum
denüieken Wahrnehmen erforderlich ist. Beim Tasten entsteht ein
Hiih und Herbewegen der Finger, beim Schmecken Absondemng
▼OD Speichel imd Hin- xmd Herbewegen des schmeckenden Stoffes
tm Munde, beim Riech^i Erweiterung der Nasenlöcher und kurze,
MN^ Lotfpirationen, beim Hören Spannung des Trommelfelles und
Bewegungen der Ohren und des Kopfes, beim Sehen Stellung beider
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Angenoentra nach der Stelle 'des grösaten Beizee, AccommodmtioB
der Linse zur Entfernung und der Iris eur Lichtstfürke. Alle diese
Bewegungen können auch willkürlich ausgeführt werden, aber nur
durch die Vorstellung des veränderten Sinneseindruckes ; nur schwer
oder gar nicht durch directe Vorstellung der Bewegungen. Z. B.
hält der untersuchende Augenarzt dem Patienten den Finger dahin,
wohin er sehen soll, denn wenn er ihn das Auge nach rechts oben
wenden heisst, so entstehen Mu% die verschrobensten Bew^;iuigen
in den Augen und Lidern, nur die verlangte nicht An diesen
Reflexbewegungen nimmt bei gesteigerter Lebhaftigkeit nicht selten
der Ko^f, die Arme und der ganze Körper unwillkürlich AntheiL
Femer werden durch das Ohr Bewegungen in den Sprachwerkzeugen
reflectirt» denn bekanntlich beruht alles Sprechenlemen der Kinder
und Thiere darauf^ dass ein unwillkürlicher Trieb sie nöthigt, das
Gehörte zu reproduciren ; dasselbe findet statt bei Melodien, wo e&
sich leichter auch bei Erwachsenen beachtet; ohne diesen Eeflez
wäre es unmöglich, Vögel zum Pfeifen von Melodien abzurichten.
Die reflectorische Nöthigung zum Aussprechen der gehörten Worte
kann man aber auch an sich selbst beim Denken beobaditeD. Hier
ruft nämlich^ ähnlich wie in erhöhtem Grade bei Entstehung der
Traumbilder und Hallucinaäonen, zunächst der noch nicht sinnliche
Gedanke des Worts einen oentnftigal^n Innervationsstrom nach dem
Hömerven hervor, als dessen refiectonsche Folge ein centripetaler
Strom die Gehörsempfindung des Wortes zurückbringt, und diese
ruft in den Sprachwerkzeugen die BefiexbewegiQigen des lauten
oder leisen Aussprechens hervor. Der natürliche Mensch, z. B. der
ungebildete oder leidenschaftlich erregte, denkt laut, es gehört schxm
der Zwang der Bildung dazu, leise zu denken^ und selbst hier wird
man sich fast immer, wenn man darauf achtet, über einem Muskel-
gefühl in den Sprachwerkzeugen ertappen, welches in schwächerem
Grade dasselbe ist, welches durch das Aussprechen der Worte ent-
stehen würde, das also offenbar den Ansatz zu jener l^iätigkeit
enthält. Beim Lesen ist es ganz ähnlich.
Eine der wichtigsten Reflexwirkungen des grossen Gehirns,
namentlich auf Sinneswahmehmungen, ist derjenige c^itrifugide
Innervationsstrom, welchen wir Aufmerksamkeit nennen, und welcher
alle einigermaassen deutliche Wahrnehmungen erst ermöglicht
Derselbe entsteht als Reflexwirkung auf einen Beiz, welcher die
sensiblen Nerven oder die Nerven der Sinnesorgane trifft Wenn
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Smb GFehim anderweitig sni sehr in Anspraoh genommen ist, um
«nf ^ohe Beixe xu reagiren, so bleibt diese Wirkung aus, und
aladann ist uns der Sinneseindraok entgangen» ohne zur Wahmeh-
nnmg zu werden. Dieser Inneryationsstrom kann auch auf einzekie
Theile einer Sinneswahmehmung (z. B. einen beliebigen Theil
des Gesichtsfeldes oder ein Instrument im Orehester) gerichtet
werden^ wodurch sich erklärt, dass man oft gerade nur das sieht
and hört, was ein besonderes Interesse für den gegenwärtigen Zu-
stand des Gehirns hat, womit auch manche Erscheinungen des
Kachtwaadelns zusammenhängen. Das partielle Fehlen dieses In-
nenrationsstromes ist es auch, was den sonst unerklärlichen Unter-
sohied zwischen fehlenden und schwarzen Stellen des Seh-
fddes begreiflich madii Auch willkürlich kann man diesen Inner-
Yttionsstrom auf gewisse Krärpertheile richten und dadurch die für
gewiämlich nicht bemeriEten Empfindungen, welche alle Eörpertheile
fortwährend erzeugen, als Wahrnehmungen zum Bewusstsein bringen ;
z. B. ieh kann meine Fingerspitzen fühlen, wenn ich auf sie leb-
haft achte ; (man denke femer an Hypochondrische). Eine Grenze
zwischen solchen Inner^ationsströmen , die durch bewusste Willkür
eizevgt sind, und solchen, die als Beflezwirkung auf Sinneseindrücke
ndt einseitig vorwiegendem Interesse der Gehimstimmung erfolgen,
IsMt sich hier so wenig wie in irgend einem anderen Gebiete die-
MT Erscheinungen auffinden und fixiren. Sehr merkwürdig sind
manche durch das ^ Auge und den Tastsinn yermittelte Eeflexbe-
wegongen. Das Auge schützt nicht nur sich selbst reflectiy yor
Yerletzungen , welche es herannahen sieht, durch Schliessen, Aus-
Viegen des Kopfes und des Körpers, oder Yorhalten des Armes,
sondern es schützt auch andere bedrohte Körpertheile auf dieselbe
Weise, ja sogar andere Dinge, z. B. wenn ein Glas yon dem Tisch
beronterfallt; yor dem man sitzt, so ist das plötzliche Zugreifen
gerade so gut Beflexbewegung , wie das Ausbiegen des Kopfes yor
einem heranfliegenden Stein, oder das Pariren der Hiebe beim
fechten ; denn im einen wie im anderen Falle würde der Entschluss
Bach bewusster Ueberlegung yiel zu spät kommen. Sollte es wirk-
)^Heh ein yerschiedenes Princip sein, welches den enthimten jungeii
Hnnd die ihn in's Ohr kneifende Hand mit der Pfote fortstossen
Uast, und welches den Menschen einen durch das Auge gewahrten
übenden Schlag durch plötzlich erhobenen Arm abwehren lässt?
Die wunderbarsten reflectorischen Leistungen des Gesichts- und
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Taateinnes bestdb^i aber in den oomplicirien Bewegangen im Wah»
ren der Balance, wie sie beim Ausgleiten, Gehen, Beüen, Taosen»
Springen, Turnen, Schlittschnhlanfen o. s. w. theils von selbst statt*
finden (namentlich bei Thieren), theils doroh XJebnng erworben werden»
wobei immer die nrs{»riingliche Fähigkeit dasn yoransgeseist wer*
den muss. Wenn man über einen Oraben springt, ist es nieht
leicht, über den jenseitigen Band hinaaszaspringen^ auch wenn man
auf ebener Erde viel weiter springen kann; aber das Auge bewirkt
durch eine unbewusste H«flexion, dass gerade die zum Erreichen
des jenseitigen Bandes ndthige Muskelkraft angewendet werde, und
dieser unbewusste Wille ist oft stärker, als der bewusste, weiter
zu springen. Alle die genannten Functionen gehen merkwürdiger-
weise yiel leichter, sicherer und sogar graziöser yon Statten, wenn
sie ohne bewussten Willen als einfache Reflexbewegungen der Ge-
sichts- und Tast-Empfindungen yollzogen werden; jede Einmischung
des BUmbewusstseins wirkt nur hemmend und störend, daher Maal-
thiere sicherer als Menschen auf geiährlichen W^en gehen, weil
sie sich nicht durch bewusste üeberlegung stören lassen, und 19a(dit-
wandler im unbewussten Zustande auf Wegen gehen und klettern,
wo sie mit Bewusstsein unfehlbar yerunglücken. Denn die bewusste
üeberlegung führt allemal den Zweifel, der Zweifel das Zaudern»
dieses aber häufig das Zuspätkommen mit sich; die unbewusste
Intelligenz dagegen ist allemal zweifellos sicher, das Bechte zu er-
greifen, oder yielmehr der Zweifel kommt ihr ni&ials an, und darum
ergreift sie fast immer das Bechte im rechten Moment. '— Sogar
Yorlesen und Glayierspielen nach Noten könneo, wenn das Bewusst-
sein anderweitig beschäftigt ist oder schläft» als blosse Befleidie-
wegungen der Qefühlseindrücke yorgenommen werden, wie denn
Falle beobachtet sind, dass das laute Lesen nach dem Einschlafm
noch eine Weile fortgesetzt wird, oder Musikstücke in traumähn-
lichen, bewusstlosen Zuständen besser yorgetragen wurden, als im
Wachen. Dass man das Lesen oder yom Blattspielen oft yölüg
bewusstlos und ohne die geringste nachherige Erinnerung des In-
halts fortsetzt, wenn das Bewusstsein in uiderweitige fesselnde Ge-
danken ausschweift, kann jeder an sich selbst beobachten. Ja sogar
plötzliche kurze Antworten auf schnelle Fragen haben oft etwas
reflectorisch Unbewusstes an sich, wenn sie bewusstlos wie aus der
Pistole geschossen werden, und man sich hernach gelegentlioh s^bst
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darüber wundert oder schämt^ wenn Bie den Umständen und Anwesen-
den nkht angemessen waren.
Wichtiger aber aU alles bisher Betrachtete ist die üeberlegnng^
dtss es keine, oder fast keine willkürliche Bewegung giebt, die
nicht £ugleich als eine Combination yon Reflexwirkungen aui^efitsst
▼erden müsste. Ich meine dies so. Anatomische Untersuchungen
erg^>«i, daae im oberen Theile des Bückenmarkes die Ansahl
•ommtlicher PrimitiyfEisem nur «einen sehr kleinen Bruchtheil d^
Primitiy£asem aller der Nerven beträgt, welche durch den bewussten
Willen, also vom Gtohiru aus, Bew^;ungen heryorzurufen bestimmt
aind. Da nun aber die Leitung vom Gehirn zu den Muskelnenren
mit geringen Ausnahmen doch nur durch das obere Büekenmark
geschehen kann, so geht daraus hervor, dass eine Faser im oberen
Böekenmark eine grosse Menge zusammengehöriger Muskelnerven-
iuem zu innerviren bestimmt sein muss. Es Hesse sich eine directe
Aasstomose (Ineinandergreifen, Verknüpfung) dieser Fasern denken,
doch erscheint diese Annahme sowohl nach den anatomischen Be-
obaehtung«n höchst unwahrscheinlich, als auch zwingt der Umstand,
ne fallen zu lassen, dass ein und dieselben Bewegungen bald vom
Hiro aus angeregt, bald in Folge irgend einer anderen Anregung
Ton den Eückenmarkscentralorganen selbetständig vollzogen werden,
and in der Art ihrer Complication eine Unzahl der feinsten
Modificationen zulassen, während eine directe Anastomose immer
unverändert dieselben Bewegungen zur Folge haben müsste. Hierzu
kommt noch, dass das Gehirn, welches den Befehl zur Execution
einer complicirten Folge von Bewegungen ertheilt, von dieser Com«
pUeation selbst gar keine Vorstellung hat, sondern nur eine Ge-
sammtvorstellung des Resultats, (wie beim Sprechen, Singen, Gehen,
Tanzen, Laufen, Springen, Turnen, Fechten, Reiten, Schlittschuh-
laafen) dass also alles Detail der Ausführung, wie es zu dem be-
absichtigten Gesammtresultat erforderlich ist, dem Rückenmark
iberlassen bleibt. (Man frage sich nur, ob man etwas von den
Moskelcombinationen weiss, die man zum Aussprechen eines Wortes,
oder zum Singen einer Goloratur braucht.) Demnach scheint mir
die allein übrig bleibende Auffassungsweise die, dass der Innerva-
tionsstrom, welcher den bewussten Willen des Gesammtreeultates
der Bewegung vom Gehirn zum Centralorgau dieser Bewegung im
Bäckenmark leitet, und welcher zwar für das Gehirn ein centri«
fagaler, für das Nervencentrum der Bewegung aber ein centripetaler
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ist» dass dieser Strom als Sensation von dem Bewegongscentnim
empfunden werde, gerade so gut, wie eine yon peripherischen Kör-»
pertheilen kommende Empfindung, und dass die Folge dieser Sen-
sation das Eintreten der intendirten Bewegung seL Es ist aber
klar, dass wir hiermit wiederum den Begriff der Beüexbewegung
erfüllt sehen, sobald man sich nur entschliesst, die relativen Be-
griffe centrifugaler und centripetaler Ströme in ihren richtigen
Belationen zu brauchen. Man wiid leicht einsehen, dass es kaum
eine Bewegung giebt, welche, wenn sie vom Himbewusstsein inten-
dirt ist, nicht erst ein oder mehrere Male zu einem anderen Be-
wegungscentrum geleitet und dort erst in Scene gesetzt wird. Das
Bewusstsein kann freilich die Bewegungen bis auf einen gewissen
Grad zerlegen, und zu jeder Theilbewegung den bewussten Impuls
geben (dies ist ja auch die Art, die Bewegung zu lernen), aber
erstens wird auch jede solche Theilvorstellung wahrscheinlich keine
andere Leitung nach den Muskeln finden, als durch die graue Masse
der Bewegungscentra hindurch, also immer den Charaoter des Re-
flectirten bebalten, zweitens erfordern auch die einfachsten dem
Himbewusstsein zugänglichen Bewegungselemente noch höchst ver-
wickelte Bewegungscombinationen zu ihrer Ausfuhrung, in welche
das Bewusstsein nie eindringt (z. B. das Aussprechen eines Yocals,
oder das Singen eines Tons), und drittens hat die ganze Bew^pung,
wenn ihre einzelnen Elemente so weit als möglich vom bewussten
Willen intendirt werden, etwas überaus Langsames, Plumpes^ Un-
geschicktes und Schwerfälliges, während dieselbe Bewegung sich
mit der grössteu Leichtigkeit; Schnelligkeit, Sicherheit und Ghrazie
vollzieht, wenn nur ihr Endresultat vom Himbewusstsein intendirt
war, und die Ausführung den betreffenden Bewegungscentren über-
lassen blieb. Man denke nur an die Erscheinung des Stottems.
Der Stotternde spricht oft ganz geläufig, wenn er gar nicht an die
Aussprache denkt, und sein Bewusstsein sich nur mit dem Lihalt
der Bede, aber nicht mit deren formeller Yerwirklichung beschäf-
tigt; sowie er aber an die Aussprache denkt und durch den be-
wussten Willen diesen oder jenen einzelnen Laut erzwingen will,
so bleibt der Erfolg aus, und statt dessen stellen sich allerlei Mit-
bewegungen ein, die bis zum Sjrampihaften gehen können« Ganz
ähnlich ist es mit dem Schreibkrampf und allen oben ange-
führten körperlichen Hebungen, bei denen die Hauptsache ist,
dass sie einem erst zur Natur werden, d. h. dass der bewusste
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Wille sioh nicht mehr um die Details zu bekümmern brauoht.
Pareh diese Aoffassongsweifle wird auch erst die £c8cheinang ¥er-
ftSodlich, dass oft ein einmaliger Impok des bewussten Willena
genügt, um eine lange Eeihe periodisch wiederkehrender Bewegna-
g» herbeizuführen y die so lange fortdauert, bis sie durch einen
asnen Willensimpuls unterbrochen wird. Ohne diese Einrichtung
würden alle unsere gewöhnlichen Thätigkeiten, wie Gehen, Lesen»
Spielen, Spredien etc. eine Menge von Willensimpulsen des Gehirns
«biorbiren, welche sehr bald Ermüdung zur Folge haben müseten.
& beweist aber auch die Selbstständigkeit der niederen Nervencentra
nd widerlegt aufs Entschiedenste obige Annahme einer direoten
Anastomose der Nerven. Es dürfte jetzt auch yerständlich sein,
wie es zugeht, dass so yiele Thätigkeiten und Beschäftigungen, deren
kleinste Details wir beim Erlernen derselben mit Bewusstsein yoU*
sieben müssen, später nach erlangter TJebung und Gewohnheit sich
ganz nnbewosst vollziehen, wie Stricken, Clavierapielen , Lesen,
Schreiben u. s. w. Es ist dann eben die ganze Arbeit, die beim
Erlernen yom Gehirn vollzogen werden musste, auf untergeordnete
Nervencenira übertragen worden; denn diese können sich eine ge-
wohnheitsxnässige Combination gewisser Thätigkeiten so gut einüben^
wie sich das Gehirn im Denken übt, oder etwas auswendig lernt
DiS8 aber alsdann die Thätigkeiten grossentheils für das Hirn un-
bewuBst werden, das verleiht ihnen für das Hirn eine gewisse
Ärmlichkeit mit Instincthandlungen, während doch für das der
Thätigkeit vorstehende Norvenoentrum die Hebung und Gewohnheit
^ gerade Gegentheil des Instinotes ist.
Dass die bis jetzt betrachteten Erscheinungen alle einen we-
sentlicb gleichen Kern zu Grunde liegen haben, dürfte wohl nicht
schwer sein, einzusehen. Wir gingen von den durch Heizung
peripherischer Körpertheile erzeugten reflectorischen Bewegungen
US, und fanden schon hier die Zweckmässigkeit sowohl in dem
^•cnütat der ganzen Bewegung, als in der gleichzeitigen und auf-
^nder folgenden Combination der verschiedensten Muskeln, ja
theilweise sogar in einem abwechselnden Spiel der Antagonisten auf
das Entschiedenste ausgesprochen. Wir gingen dann zu den durch
Sioneswahrnehmungen erzeugten Eefiezbewegungen über, und fanden
liier dieselbe Sache, nur öfters mit einem Anstrich höherer Intelli-
^^^ dadurch, dass die höheren Centralpuncte des Bückenmarkes
laebr in's Spiel kamen. Endlich betrachteten wir die Eeflexwirkungen,
V- HftrtBsnB, PUl. d. Unbewosfton. 7
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bei denen der ezcitirende Reiz ein durch den bewussten Willen
enengter Innervatdonsstrom yom Gehirn nach den betreffenden
anderen Centralorganen ist, nnd bemerkten hier nicht einmal mehr
eine quantitative Steigerung der Leistungen gegen die durch Sinnes-
Wahrnehmungen erzeugten Beflezbewegungen ; ganz natürlich, denn
die in dem Beflex sich offenbarende Intelligenz hängt ja weit mehr
Ton der Entwickelungsstufe des reflectirenden Centralorgans , ab
Ton der Beschaffenheit des Beizes ab. — Dass in der That auch
das Qehim Centralorgan von Beflezwirkungen werden kann, dürfen
wir nach der Analogie seines Baues mit den anderen Centris mcht
bezweifeln. Bei Beflezwirkungen des Gangliensystems und enf>
himten Individuen kommt nicht einmal der Beiz zur Ferception des
Gehirns,. wohl aber geschieht dies bei Beflexen des Bückenmarkes
an gesunden Organismen. In diesem Falle wird jedoch im Hirne
nur der Beiz und nichts von dem Willen der Bewegung empfunden ;
offenbar muss aber auch letzteres stattfinden, wenn das Hirn selbst
Centralorgan des Beflezes werden soll. Solche Fälle sind uns aber
schon bekannt. Z. B. das Axiffangen eines vom Tische fallenden
Glases oder das Fariren eines vorhergesehenen Schlages mit dem
Arme können diese Merkmale haben. Dennoch werden wir nicht
umhin können, sie als Beflezwirkungen anzusehen, wenn nur
die Vermittelung zwischen der Ferception des Motives und dem
Willen der Ausfuhrung ausserhalb des Himbewusstseins gelegen
hat, was noch dadurch erhärtet werden kann, dass die bewusste
Xleberlegung offenbar zu spät gekommen wäre. Eben hierher ge-
hört ein Theil des noch nicht ganz unbewussten Yorlesens und Vor-
spielens, oder das schnelle Antworten auf plötzliche Fragen, oder
das plötzliche Hutabziehen auf den überraschenden Gruss ein^
unbekannten Fersen. Der Himreflez ist häuflg den Bückenmarks-
reflezen überlegen und verhindert das Zustandekommen dieser;
z. B. ein geköpfter Frosch kratzt die geknippene Hautstelle, ein
lebender hopst davon. Man sieht hier den unmittelbaren ücber-
gang zwischen Himreflez und bewusster Seelenthätigkeit, wofür sich
gar keine Grenze ziehen lässt. Es folgt hieraus die Einheit des
allen diesen Erscheinungen zu Grunde liegenden Frincips. Damm
giebt es nur zwei consequente Betrachtungsweisen dieser Dinge:
entweder die Seele ist überall nur letztes Besultat materieller Vor-
gänge, sowohl im Hirn als im übrigen Nervenleben (dann müssen
aber auch die Zwecke überall geleugnet werden, wo sie nicht durch
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be^ru8ste Nerven thätigkeit gesetzt werden), oder die Seele ist überall
das den materiellen Nervenvorgängen zq Grunde liegende, sie
schaffende und regelnde Princip, und das Bewusst«ein ist nur eine
durch diese Vorgänge vermittelte Ersclieinungsform desselben. Wir
werden in der Folge sehen, welche von beiden Annahmen diesen
Iliatsacheii besser entspricht.
Das Nächste, was wir zu untersuchen haben, ist die Frage, ob
die betrachteten Erscheinungen als Wirkungen eines todten Mecha^
nismos angesehen werden können, ob wir nicht vielmehr gezwungen
werden, sie als Folgen einer den Centralorganen innewohnenden
Intelligenz aufzufassen, wobei vorläufig obige Alternative noch un-
erortert bleibt. Wenden wir uns zunächst an die Physiologie.
Wir sehen auf einen Nadelstich in die Froschschenkelhaut beide
Schenkel zucken, wenn nur das kleine Stück Kückonmark unver-
sehrt ist, aus welchem die Schenkelnervon entspringen. Der Nadel-
stich afficirt offenbar nur Eine Nervenprimitivfaser , da in einem
Kreise von gewisser Grösse die Lage der gestochenen Stelle nicht
unterschieden werden kann ; die Zahl der durch denselben in Action
gesetzten motorischen Fasern ist aber ungeheuer gross, denn sie
kann den ganzen Körper umfassen. Schon dadurch ist die directe
Anastomose der sensiblen und motorischen Nerven höchst unwahr-
scheinlich. Noch mehr aber wird sie es dadurch, dass dieselben
motorischen Fasern reagiren, wenn diese oder jene Stelle der Frosch-
scbenkelhaut gestochen wird, wenn also verschiedene sensible
Nervenfasern den Beiz zum Centrum leiten. Ausserdem bieten die
mikroskopischen Untersuchungen dieser Annahme nicht nur keine
Stütze, sondern vielmehr hat schon Kölliker das HoiTortreten mo-
torischer Fasern aus Kügelchen grauer Nervonsubstanz (Centralorgan)
direct beobachtet, und man nimmt jetzt allgemein an, dass der centrale
Ursprung sämmtlicher Nervenfasern in Ganglienzellen, d. h. den eigen-
Üiümlichen kugeligen oder strahligen Zellen der grauen Nervensubstanz,
zn suchen ist. Es müsste demnach der von den sensiblen Fasern
angeleitete Reiz jedenfalls zunächst vom Centralorgan aufgenommen
nnd durch dieses den motorischen Nerven zugeführt werden; auf
andere Weise könnte unmöglich fast jede sensible Faser im Stande
»ein, auf jede motorische Faser desselben Centrums zu wirken (wie
dies wirklich der Fall ist). Werden aber alle Reize zuerst vom
Centraloi^an aufgenommen und von diesem erst auf die motorischen
Nerven übertragen, so wird die materialistische Erklärung der
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Beflexwirkungen durch einen eigenthümlichen MeohanismoB der
Leitangsyerhältnisse ganz unmöglich ; denn nun lassen sich gar keine
Gesetze und Einrichtungen mehr denken, welche ein und denselben
Strom bald auf nahe, bald auf ferne Theile überspringen, bald in
dieser, bald in jener Eeihenfolgc die Reactionen auf einander folgen
lassen, ja sogar auf einen einfachen Eeiz ein abwechselndes
Spiel der Antagonisten eintreten lassen könnten (wie beim
Frottiren der geknippenen Stelle). — Die Unmöglichkeit eines prä-
stabilirten Mechanismus ist aber physiologisch noch viel schlagender
nachzuweisen. Theilt man nämlich das Eückenmark seiner ganzen
Länge nach durch einen Schnitt yon yorn nach hinten, so leidet
die Befähigung zu Keflexbewegungen nicht, nur sind sie dann auf
die jedesmal gereizte Körperhälfte beschränkt; lässt man dagegen
zwischen den beiden getrennten Seitenhälften an irgend einer Stelle
eine yerbindende Brücke übrig, oder durchschneidet man in einiger
Entfernung yon einander einerseits die linke, andererseits die rechte
Hälfte des Rückenmarkes quer, so dass alle Längenfasem desselben
getr^int werden, so kann man durch Reizung jedes Hautpxmctes
allgemeine Reflexbewegungen erregen. Dies ist wohl der deut-
lichste Beweis, dass die motorische Reaction nicht eine Folge der
yorgezei ebneten Bahnen der Leitung des Reizes ist^ sondern
dass der Strom, um die zweckmässigen Reflexbewegungen za
Stande zu bringen, nach Zerstörung der gewöhnlichen Leitungs-
bahnen sich neue Bahnen schafft, wenn nur nicht yöllige
Isolation der Theile bewirkt ist. Es muss also ein über den
materiellen Leitungsgesetzen der Neryenströmungen stehendes Frincip
yorhanden sein, welches die Yeränderung der Umstände schafit,
yermöge deren die Bahnen jener Strömimgen yerändert werden, und
dieses Frincip kann nur ein immaterielles sein. Dasselbe wird auch
durch den Umstand documentirt, dass die Verbindung der Reflex-
bewegungen zum grössten Theil durch bewussten Willen und Uebung
lösbar ist.
So schlagend auch diese anatomisch -physiologischen Gründe
sind, so sind sie doch noch nicht die stärksten. Wäre nämlich die
in Reflexwirkungen erscheinende Zweckmässigkeit eine äusserlich
prädeterminirte, durch einen materiellen Mechanismus in Scene ge-
setzte, so wäre die Acconmiodationsfahigkeit der Bewegungen naoli
der Beschaffenheit der Umstände, dieser unerschöpfliche
Reiohthum yon Combinationen, deren jede für ihren besonderen
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101
Pall angemesflen ist, geradezu unerklärlich; man miisste vielmehr
eine stete Wiederkehr weniger und sich immer gleich blei-
bender Bewegungscomplicationen erwarten, während ein einziger
Bück auf die Unendlichkeit von Combinationen, wie sie allein zur
Wahmng der Balance stattfinden, hinreicht, um die TJeberzeugung
einer immanenten Zweckmässigkeit, einer individuellen Vor-
seh an g, zu begründen, wie wir sie schon bei Betrachtung des In-
stincts kennen gelernt haben. Wir müssen uns also unbedingt den
Vorgang so vorstellen , dass der B^iz als Vorstellung percipirt wird,
und durch die Vorstellung der damit verbundenen Gefiahr oder TJn-
IiBtempfindung die Vorstellung der Abhülfe durch die entsprechende
Oegenbewegung erzeugt wird, welche nun Gegenstand des Willens
wird. Dasfl die Nervenoentra des Bückenmarkes tmd der Ganglien
die Fähigkeit des Wollens besitzen, haben wir früher schon be-
sprochen, dass sie ganz analog den dort angeführten Parallelen auch
Sensibilität haben müssen , leuchtet sofort ein; da sich aber keine
Bensation ohne einen gewissen, wenn auch noch so geringen Gi«mI
von Bewuflstsein denken lässt, so haben sie auch ein gewisses Be-
VQsstsein; es sind also der Anfang und das Ende des Frooesses,
die Ferception des Beizes und der Wille zur Bewegung, Functionen,
welche wir kein Bedenken tragen dürfen, jedem Nervencentrum
snzoBchreiben ; es fhtgt sich nur, ob die Vermittelung zwischen bei-
den, die Zwecksetzung, auch eine Function bewusster Vorstel-
hmgscombination dieser Nervencentra sein kann. Dies muss nun
«flerdings verneint werden, denn wir haben ja gesehen, dass die
Leistimgen des Beflexes für den Organismus gerade darum von so
grosser Wichtigkeit sind, weil sie an Leichtigkeit, Schnelligkeit und
Sicherheit die Leistungen der bewussten TJeberlegung des Gehirns
soweit überragen. Dies ist aber gerade der Character der unbe-
wnssten Vorstellung, wie wir ihn am Instinct kennen gelernt haben,
und femer überall anderweitig kennen lernen werden. Mithin gilt
sfies, wa» wir beim Instinct gegen die Entstehung durch bewusste
Veberlegung angeführt haben, hier in noch viel höherem Maasse,
tbeils weil die Augenblickliehkeit der Wirkung hier noch mehr in
die Angen fällt, und noch mehr mit der Langsamkeit des bewussten
Denkens in tiefstehenden Wesen contrastirt, theils weil wir es hier
in den Thieren vorzugsweise mit den niederen Centris zu thun
hiben, während wir doch erfahrungsmässig nur da einigermaassen
nennenswerthe Besultate der bewussten TJeberlegung finden, wo die
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Hirnfunctiou der höheren Vögel und Säugethiere eintritt; wenn wir
dagegen die Thiere betrachten, deren Hauptcentra ungeföhr auf
der Stufe der menschlichen Nervencentra stehen , so tritt uns auch
die grösste Stupidität und Bornirtheit entgegen (z. B. schon bei
den meisten Amphibien und Fischen)^ gegen welche die bewun-
derungswürdige Sicherheit und Zweckmässigkeit auf das schärfste
absticht, mit der die nun im Verhältniss zu dem geistigen Ge-
sammtleben des Thieres an Bedeutung und Ausdehnung immer za-
nehmenden Instincthandlungen vollzogen werden. Hier ist nichts
mehr von jenem zweifelnden Abwägen des discursiven Denkens,
nichts von jenem vorsichtigen Zögern der Klugheit, die wir an
höheren Tlüeren beobachten, sondern auf das Motiv erfolgt momen-
tan die Instincthandlung, zu der die TJeberlegung sogar dem mensch-
lichen Hirn oft eine geraume Zeit kosten würde, und wenn die
Handlung unzweckmässig war, wie dies bei sinnlicher Täuschung
in der bewussten Wahrnehmung der Motive wohl vorkommt, so
wird der verderbliche Irrthum mit derselben Sicherheit erfasst.
Wir müssen diesen Character der unbewussten Yorstellung im
Gegensatz zum discursiven Denken als eine unmittelbare intellec-
tuale Anschauung bezeichnen, und werden, wo wir auch die (nicht
relativ zu diesem oder jenem Centrum, sondern absolut) onbewusste
Vorstellung noch antreffen, dieses Merkmal zutreffen sehen.
Durch den Vergleich mit dem Instinct sehen wir uns also ent-
schieden davor gewarnt, die immanente Zweckmässigkeit der Reflex-
bewegungen als durch bewusstes Denken jener Nervencentra erzeugt
zu betrachten. Hiermit stimmt völlig die psychische Selbstbe-
obachtung derjenigen Eeflexbewegung^ überein, deren Centralorgan
das Hirn bildet ; Anfangs- und Endglied des psychischen Processes,
jdle Perception des Beizes, und der Wille der Bewegung fallen in^B
Bewuflstsein des Organs, nicht aber die bindenden Zwischenglieder,
in denen die Zweckvorstellung liegen muss. Die einzig mögliche
Auffassungsweise, welche nach unserer Entwickelung des Gegen-
standes übrig bleibt, ist also die, dass die Beffexbew^gungen die
Instincthandlungen deruntergeordneten Nervencentra
seien, d. h. absolut unbewusste Vorstellungen, welche die Entstehung
des für das betreffende Gentrum bewussten, für das Gehirn aber unbe-
wussten Willens der Beflezwirkung aus der in demselben Sinne be-
wussten Perception desBeizes vermitteln. Der Beiz kann ausser dieser
Perception im reflectirenden Centrum vermittelst Leitung zum Gehim
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103
auch in diesem empfanden werden, dies ist dann aber eine zweite
Perception für sich, welche mit jener Eeflexbewegung und deren
ganzen Yorgang nichts zu thun hat. Die Instinote und Beflex-
irirkungen sind sich auch darin gleich, dass sie bei den Individuen
derselben Thierspecies auf gleiche Eeize und Motive wesentlich
gleiche Beactionen zeigen. Auch hier hat dieser Umstand die An-
seht bestärkt y dass statt unbewusster Geistesthätigkeit und imma*
nenter Zweckmässigkeit ein todter Mechanismus vorhanden sei;
dieser Umstand wird aber als Oegeugnmd gegen unsere Auffassung
dadurch entkräftet, dass er sich aus letzterer mit Leichtigkeit auf
dieselbe Weise erklärt, wie dies zum Bchluss des Capitels über
den Insiinct angedeutet ist.
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L ^
VI.
Das Unbewo^ste in der Natnrheilkraft.
Wenn man dem Vogel sein Nest, der Spinne ihr Netz, der
Baupe ihr Gespinnst, der Schnecke ihr Haus beschädigt, dem Vogel
ein Stück seines Federkleides nimmt, so bessern alle den Schaden,
der ihre künftige Existenz gefährdet, oder doch erschwert, wieder
ans. Wir haben gesehen, dass die ersten dieser Aeusserongen dem
Instinct zugeschrieben werden müssen, Tind wir sollten die frappante
Parallelität der beiden letzten Erscheinungen mit jenen yerkennen
können? Wir haben erkannt, dass es eine unbewusste Vorstellung
des Zweckes ist, welche, verbunden mit dem Willen ihn zu erreichen,
das bewusste Wollen des Mittels dictirt, und wir sollten zweifeln,
dass wir es mit derselben Sache zu thun haben, wo der Gegenstand
der Einwirkung nicht mehr etwas Aeusseres, sondern der eigene
Körper selbst ist, da wir doch nicht die Grenze zu fixiren im
Stande sind, wo der eigene Körper anfangt und aufhört, wie bei
dem Gespinnst der Baupe, dem Haus der Schnecke, dem Federkleid
des Vogels, wie zwischen Excretionen und Secretionen? Nimmt
man dem Polypen seine Fangarme oder dem Wurm seinen Kop^
80 muss das Thier aus Mangel an Nahrung sterben, und wenn das
Thier die Fangarme oder den Kopf ersetzt und weiter lebt, so sollte
etwas anderes als die unbewusste Vorstellung dieser Unentbehrlich-
keit die Grundursache des Ersatzes sein? Man wende nicht ein,
der Unterschied zwischen Instinct und Heilkraft läge darin, dass
im ersteren Fall Vorstellung und Wollen wenigstens des Mittels
bewusst, im letzteren Falle aber auch diese unbewusst seien. Denn
nach den Auseinandersetzungen über die Selbstständigkeit der nie*
deren Nervencentra wird man nicht bezweifeln, dass das Wollen
des Mittels sehr wohl auf irgend eine Weise und irgendwo in
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niederen Nerveneentren, z. B. den kleinen Ganglienzellen, ans welchen
^6 der Ernährung yorstehenden sympathischen Nervenfasern ent-
springen, zum Bewusstsein kommen kann, auch wenn das Haupt-
centrom des Thieres nichts davon weiss, und andererseits wird sich
niemand die Entscheidung zutrauen, ob und wie weit bei niederen
Thieren im Instinct auch nur das Wollen des Mittels immer zum
Bewttsstsein kommt.
Betrachten wir nun die Wirkungen der Heilkraft etwas näher:
Bei den Hydren wird jeder Theil ihrer Masse wieder ersetzt,
90 dass aus jedem Stücke ein neues Thier sich bildet, man mag sie
in die Quere oder in die Länge durchschnitten, oder auch in mehrere
Streifen getheilt haben. Bei Planarien wird jedes Segment, und
wenn es mir ^/jo — Vg des ganzen Thieres beträgt, zu einem neuen
Thiere. Bei Anneliden oder Würmern erfolgt nur bei Querthei-
hmgen der Ersatz^ Kopf oder Schwanz wird immer regenerirt; bei
einigen kann man das Thier in mehrere Stücke schneiden, und
jedes einzelne ergänzt sich zu einem vollkommenen Exemplar seiner
Gattung. Es scheint hier deutlich genug, dass wenn bei unendlich
viel möglichen Arten der Schnittfühmng der abgetrennte Theil stets
ein Exemplar liefert, welches die typische Idee seiner Gattung
ausdrückt, dass nicht die todte Oauealität diese Wirkung haben
kann, sondern dass diese typische Idee in jedem Stücke des Thieres
Torhanden sein muss. Eine Idee kann aber nur vorhanden sein,
entweder realiter in ihrer äusseren Darstellung als verwirklichte
Idee, oder idealiter, insofern sie vorgestellt wird und in und
dnrch den Vorstellungsact, es muss also jedes Bruchstück
de« Thieres die unbewusste Vorstellung vom Gattungstypus haben,
itach welchem er die Regeneration vornimmt, gerade wie die Biene
vor dem Bau ihrer ersten Zelle und ohne je eine solche gesehen
m haben, die unbewusste Yorstellung der sechsseitigen Zelle bis
itif die halbe Winkelminute genau in sich trägt, oder wie jeder
Vogel die zu seiner Gattungsidee gehörige Form des Nestbaues oder
der Sangesweide unbewusst vorstellen muss, noch ehe e!* sie an
•Aderen oder an sich selber erfahren hat. Wenn man den Regene-
näobsact z. B. bei einmn durchschnittenen Regenwurm beobachtet,
M lidtt man an der Schnittwunde ein weisses Knöpfchen hervor-
^V^9u&a, welches alhnälig grösser wird, bald schmale, dicht beisammen
vtehende, dann nach allen Seiten sich ausdehnende Ringe bekommt
^d VerUfaigerungen des Yerdauungscanals , des BlutgefKaseystems
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und des Ganglienstranges enthält. Es gehört ein starker Glaube
dazu, wenn man annehmen wollte, dass die Beschaffenheit der
Ausschwitzung an der Wunde und die Nachbarschaft der entspre-
chenden Organe genügend wäre, um ein Weiterwachsen des Thierea
zti bewirken; wenn man aber sieht, wie yon zwei gleichen
Schnittflächen aus nach mehreren anderen Bingen auf der einen
Seite der Kopf mit seinen besonderen Organen gebildet wird^ auf
der anderen Seite der Schwanz mit den seinigen, und zwar
mit Organen^ die in dem bildenden Bumpfstück gar
kein Analogen finden, dann wird die Annahme einer todten
Causalität, eines materiellen Mechanismus ohne ideelles Moment zn
einer haaren Unmöglichkeit.
Dazu kommen noch yerschiedene Nebenumstände, welche es
aufs Deutlichste bestätigen, dass die Vorstellung dessen, was der
Gattungsidee nach in dem bestimmten Falle geleistet werden mnsfl,
das ursprünglich Bestimmende bei diesen Vorgängen ist. Wenn
das Thier noch nicht ausgewachsen ist und ihm ein Theil entrissen
wird, so ist der regenerirte Theil nicht dem alten Zustande ent-
sprechend, sondern so beschaffen, wie jener Theil sein müsste,
wenn er den der Gattungsidee gemässen Frocess
durchgemacht hätte. Dies kann man sehen^ wenn man jungen
Salamandern ein Bein oder einer Froschlarve den Schwanz ab-
schneidet Etwas Aehnliches ist es mit dem Hirschgeweihe, welches
jedes Jahr vollkommener ersetzt wird, so lange die Jugendkraft des
Thieres noch yoriiält; ist aber die Entwickelung des Oiganismns
auf ihrer Höhe angelangt und neigt sich wieder abwärts , dann
bleibt entweder das letzte Geweih bis zum Tode stehen, oder das
jährlich neu erzeugte wird im höheren Alter |[ürzer und einfacher.
Femer richtet sich eine um so grössere Kraft auf den Wieder*
ersatz eines Theiles, je wichtiger derselbe zum Bestehen des
Thieres ist; so ergänzen z. B. nach Spallanzani die Würmer den
Kopf früher als den Schwanz, und bei Fischen erfolgt der Ersats
der abgeschnittenen Flossen in der Beihenfolge, wie dieselben für die
Bewegung wichtig sind, also zuerst die Schwanzflosse, dann die
Brust- und Bauchflossen^ zuletzt die Büekenflosse. Beicht die Kraft,
oder deutlicher die Macht des unbewussten Willens in Bewätigang
des Stoffes und der äusseren Umstände zur Begeneration eines Theils
in der normalen Weise nicht aus, so schimmert der Typns der
Gattung durch die dann entstehenden Missbildungen stets noch durch.
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107
So z. B. : wenn an einem abgeschnittenen Schneckenkopf statt beider
nur ein Eühlhom wiedergewachsen ist, so trägt dies zwei Augen,
und bei Menschen, die ein Fingerglied verloren haben, wächst bis-
weilen ein Nagel auf dem zweiten. Je mehr ein Theil der Be-
schädigung ezponirt ist, desto mehr ist derselbe Ton solcher Be-
schaffenheit gebildet, welche einen leichten Ersatz gestattet. So
z. B. die Strahlen der Asterien, die Beine von Spinnen, die Fühl-
hörner und Antennen der Sohnecken und Eläfer, die Schwänze der
Eidechsen besitzen wegen ihrer Gefahrdetheit eine grosse Begene-
lationskraft. Meistens ist ein bestimmtes Gelenk dasjenige, von
dem die Eegeneration am leichtesten ausgeht, dann ist das Glied
aneh hier am gebrechlichsten, und tritt eine Beschädigung wo anders
ein, so wird das Glied häu£g nachträglich an dieser Stelle abge-
worfen. Dies thun z. B. die Krabben. Die Spinnen reissen sich
ebenfalls von einem Beine los, an dem man sie gefasst hat und
drückt; wenn man aber das Thier festhält, während man sein Bein
zerdrückt, so kann es nachher das Bein nicht ohne Weiteres ab-
werfen, sondern yerwickelt es in sein Gewebe, stemmt sich dann
mt den anderen Beinen an und sprengt es so ab. Dies ist doch
offenbar Instinct, und wenn die Krabbe das beschädigte Bein von
selbst abstösst, das sollte etwas vom Instinct Grundverschiedenes
sein? Und das Abwerfen des beschädigten Gliedes ist doch bloss
der erste Act des Ersatzes.
Je höher wir nun in der Stufenreihe der Thiere hinaufsteigen,
desto mehr nimmt im Ganzen die Macht der BLeilkraft ab und er-
moht im Menschen ihren niedrigsten Grad. Darum konnte, wenn
inan ausschliesslich am Menschen Physiologie treibt, wohl eher der
Iirtham entstehen, dass ein bloss materieller Mechanismus die Heil-
wirkungen hervorbringt; aber wie die Anatomie erst von da an
erhebliche Besultate gab, als sie vergleichend betrieben wurde, und
die Psychologie erst von da an wahrhafte Aufklärung brmgen wird,
so kann auch in der Physiologie nur vergleichende Untersuchung
das rechte Yerständniss geben. Sind wir aber einmal durch die
Uar liegenden Yerhältnisse an den niederen Thieren auf den rechten
Weg gekommen, so wird es nicht schwer sein, diese Ansicht auch
sof den höclisten Stufen der Organisation als die einzig mögliche
Uizaerkennen.
Die Gründe flir die Beschränkung der Heilkraft bei den oberen
Thierelassen sind theils innere, theils äussere. Der innerste und
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tiefste Qrund ist der, dass die oTganisirende Kraft sich yon den
Aussenwerken immer mehr und mehr abwendet, und ihre ganze
Energie auf den letzten Zweck aller Organisation, das Organ des
Bewusstseins wendet, um dieses zu immer höherer Vollkommenheit
zu steigern. Die äusseren Gründe sind die, dass die Organe der
höheren Thierclassen fester gebildet sind und auch vermöge der
Lebensweise dieser Geschöpfe viel weniger dem Abbrechen und der
Yerstümmelung unterliegen , sondern für gewöhnlich höchstens Ver-
wundungen und Verletzungen ausgesetzt sind, für deren Mehrzahl
die Heilkraft ausreicht, dass femer diese grössere Festigkeit der
Gebilde einen Ersatz in grösserem Maassstabe physicalisch und
chemisch erschwert. Denn eines Theils sehen wir schon bei niede-
ren Thieren, dass die Wasserthiere wegen grösseren EeuchtigkeitS'
gehaltes eine grössere Eegenerationskraft besitzen, als die Landthier^
derselben Art (z. 6. Wasser- und Landregenwürmer), anderentheils
besteht die Hauptmasse der eines ausgedehnten Ersatzes fähigen
Thiere aus denselben Gebilden, welche auch noch beim Menschen
die höchste Kegenerationskraft zeigen, z. B. Schichtgebilde, die den
wirbellosen Thieren meistens die Festigkeit geben (Haut, Haare,
Schalen), Zellgewebe, Gefäsraystem, oder gar die organische ürmasse
der untersten Classen. Dass indessen diese äusseren Gründe nicht
zulangen, sehen wir an den Wirbelthieren und zwar deren zweiter
Classe von unten, den Amphibien, deren viele eine ganz wunder-
bare Ersatzfähigkeit zeigen. Spallanzani sah bei Salamandern die
vier Beine mit ihren achtundneunzig Knochen nebst dem Schwänze
mit seinen Wirbeln binnen drei Monaten sechsmal sich wieder er«
zeugen. Bei anderen regenerirte sich der Unterkiefer mit all* seinen
Muskeln, Gefassen und Zähnen ; Blumenbach sah sogar das Auge sich
binnen Jahresfrist wiederherstellen, wenn der Sehnerv unverletzt
und ein Theil der Augenbäute im Grunde der Augenhöhle zurück-
geblieben war. Bei Fröschen und Kröten regeneriren sich die Beine
ttttoh bisweilen ; aber nur so lange sie jung sind, und auch dann
nur langsam. Wie die psychische Kraft des Individuums zuerst
ausschliesslich äusserlich sich bethätigt und dann mit Zunahme des
Alters mehr und mehr nach innen sich zurückzieht und sich auf
die Ausbildung des bewussten Seelenlebens wirft, so ist aueh bei
allen Wesen die Heilkraft um so mächtiger, je jünger sie sind,
daher bei Embryonen und allen Larven, die als Embryonen be-
trachtet werden müssen, am grössten; und darum dürfen wir uns
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aoeh nicht 'vroDdem, dass das nämliche Gesetz in der nebeneinander
stehenden Stufenreihe der Thiere besteht, wo sich ja auch in wei-
terem Sinne die unteren zu den oberen wie Embryonen oder xm-
ToUkommene Entwickelongsstnfen verhalten.
Geben wir nun zu den Säugethieren und speciell zum Menschen
über, so finden wir allerdings nicht mehr die fri^panten Erschei-
mugen, wie an den unteren Thieren, aber immerhin genug, um die
Ueberzeuguog daraus zu schöpfen, dass nicht todte Causalität der
B&teriellen Vorgänge genügt, sondern dass eine psychische Kraft es
ist, welche mit der unbewussten Vorstellung des Gattungstypus und
der fiir den Endzweck der Selbsterhaltung in jedem besonderen
Falle erforderlichen Mittel diejenigen Umstände herbeiführt, yer-
möge welcher nach den allgemeinen physikalischen und
chemischen Gesetzen die Wiederherstellung der normalen Zu-
stande erfolgen muss: Bei jeder Störung tritt dieser Vorgang ein,
wann nicht die Macht des unbewussten Willens in der Bewältigung
der Umstände zu gering ist, so dass die Störung eine bleibende
Almormität oder den Tod herbei^ihrt. Keine Med i ein kann etwas
anderes thun, als diesen Process unterstützen und die Bewältigung
der störenden Umstände erleichtern, aber die positive Initiative
(der Wille) hierzu muss immer vom Organismus selbst ausgehen.
Betrachten wir zunächst das Zusammenheilen auseinander ge-
tramter Gebilde und die Neubildung einer zerstörten Grenze.
Die erste Bedingung jeder Neubildung (ausser in den Schicht-
gebilden) ist Entzündung. Nach J. Müller ist die Entzündung „zu-
aammengeeetzt aus den Erscheinungen einer örtlichen Verletzung,
einer örtlichen Neigung zur Zersetzung und einer dagegen wirken-
den verstärkten organischen Thätigkeit, welche dem Zersetzungs-
streben das Gleichgewicht zu halten strebt." Was Müller die „ört-
liche Verletzung" nennt, nennt Virchow den pathologischen Beiz.
Er sagt (spec. Path. u. Ther. I. 72): „So lange auf ein Irritament
nur fonctionelle Störungen zu beobachten sind, so lange spricht man
Ton Irritation ; werden neben den functionellen nutritive bemerkbar,
BO nennt man es Entzündung"; er nennt also weiter nutritive Stö-
niD^ was Müller die örtliche Neigung zur Zersetzung nennt. Ganz
besonders aber urgirt Virchow das dritte Moment, die active Thätig-
keit der entzündeten Zellen. Die zunächst bei der Entzündung
fallende Erscheinung ist der vermehrte Blutandrang nach der
Stelle, wo die Neubildung stattfinden soll, welcher sich in Böthe
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110
und erhöhter "Wärme zeigt. Schon das Gesetz, dass der einseitig
yermehrte oder yerminderte Blutandrang sich nach dem Blutbe-
dürfiiiss der einzelnen Organe richtet, ist fast nie aus physikalischen
Ursachen allein zu erklären, da das Pumpwerk des Herzens för den
ganzen Blutlauf gleichmässig wirkt; es muss deshalb schon hierin,
insoweit die Erscheinung nicht durch die vermehrte active Resorption
der entzündeten Zellen zu erklären ist, eine Direction der physischen
Umstände durch das Wollen des Mittels zum yorgestellten Zweck
angenommen werden. (Im normalen Entwickelungsgange findet z. B.
eine Vermehrung des Blutandranges statt bei der Fubertätsent-
wickelung, Schwangerschaft, beim Vogel an den Bauchhautgefässen
für die Brütwärme; eine Verminderung, wo Organe aulhören zu
functioniren, oder unersetzbare Gliedmassen verloren gegangen sind.
Ebenso wunderbar wie diese Erscheinung ist, dass das Blut nur
innerhalb der Blutgefässe flüssig bleibt, während es beim Austritt
sofort gerinnt, auch ohne mit Luft in Berülurung zu kommen.) Bei
jedem Schnitt in den thierischen Leib werden Gefasse durchschnitten,
diese müssen zunächst geschlossen werden, was durch das Gerinnen
des austretenden Blutes geschieht; bei grösseren' Stämmen bildet
sich ein innerer und ein äusserer Pfropf, der in der ersten Zeit
ausgestossen wird, wenn der Blutandrang durch äusseren Reiz ver-
stärkt zurückgerufen wird. Bei Arterien, wo der Blutandrang stark
, ist, hilft sich der Organismus bisweilen durch eine Ohnmacht. Das
Gerinnsel geht aber keine feste Verbindung mit den "Wandungen
ein, sondern wird, wie jedes unnöthig gewordene Hülfsmittel eines
früheren Stadiums des Heilprocesses, später resorbirt. Nach etwa
zwölf Stunden wird eine weisse Flüssigkeit (plastische Lymphe)
secemirt, die sich meist unmittelbar darauf zu einem membranösen,
undurchsichtigen Neoplasma verdichtet, welches die Wunde schliesst
und mit den angrenzenden Theilen verwächst. Das Neoplasma ist
nicht blosses ausgeschwitztes Blutserum, sondern eine Secretion avis
dem Blut von ebenso bestimmtem Character, wie jede andere Se-
cretionsflüssigkeit ; es ist auch kein formloser Brei, sondern ein mit
reichlicher Intercellularflüssigkeit durchmengtes Gewebe von Zellen,
welches durch Zellenwucherung aus dem durch die Wunde ent-
blössten Bindegewebe hervorgetrieben wird. Es bildet den Mutter-
boden für jede organische Neubildung, und Blutgefässe, Sehnen,
Nerven, Koochen, Häute, alles geht aus ihm durch allmälige Um-
wandlung der Zellen hervor. Li der Achillessehne eines Hundes
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in
hat man das Ergänzen eines fünf Linien langen Ausschnittes in
Tier Monaten^ bei Nerven, aus denen ein Stück ausgeschnitten war,
ein Entgegenwachsen der beiden Enden mit oder ohne endliche
Vereinigung beobachtet. Bewegung und Empfindung kann auf diese
Weise wieder hergestellt werden, ohne dass dabei die neugebildete
Masse, selbst wenn sie Strehnen und Fäden zeigt, der Sehnen- und
Nervenmasse genau entspricht, was bei Muskelausfüllungen noch
weniger der Fall ist. Doch nimmt die Verähnlichung der Neubil-
dungen allmälig zu. Wo das Neoplasma einen Zwischenraum gefüllt
hat, da bilden sich Blutgefässe in demselben, die sich erst
nachher mit den Gefassen der Nachbargebilde in Verbindung setzen,
und 80 die Zufuhr weiteren Materials ermöglichen. Selbst wo zwei
Wundflächen sich berühren, kann man unmöglich an ein sich Wie-
derfinden der durchschnittenen Gefässe denken, da diese sich ver-
stopfen und zurückziehen, sondern es müssen die in dem Neoplasma
neu gebildeten Gefilsse nach beiden Seiten in die Wundflächen
eindringen und hier entsprechende Anknüp^ingen aufsuchen. Wie
will man es bei dem hier fehlenden Contact der Nachbargebilde
anders als durch psychischen Einfluss erklären, dass aus dem
gleichmässigen lockeren Zellgewebe des Neoplasma nur gerade
ein ganz bestimmter Theil diejenige Umwandlung, Vermehrung
und Verdichtung eingeht, welche zum Zustandekommen von Blut-
gefiissen erforderlich ist ? — Wo ein röhrenförmiges (^bilde getrennt
ist, bildet das Neoplasma zunächst eine Umhüllung , Zwinge oder
Kapsel genannt, welche durch ihre Gefasse die verletzte Stelle auch
mit den herumliegenden Gebilden in organische Verbindung setzt.
So z. B. bei einem Knochenbruch, wo diese Zwinge zum proviso-
risehen Callus erhärtet. Zugleich werden die beiden Oeffiiungen
der Markhöhle durch eben solche von der Markhaut aus gebildete
P&opfe verschlossen. Inzwischen sind die Endflächen des Knochens
durch die Entzündung der umliegenden Theile soweit erweicht, dass
sie selbst in Entzündung übergehen und Neoplasma secemiren kön-
nen, welches im Ganzen genommen langsam aus einer festen Gallert
XU wahrem Knorpel wird und dann erst allmälig verknöchert, ob-
wohl nach Virchow aus ihm auch direct Knochen oder Markzellen
entstehen können, so wie sich nach ihm Knorpel, Knochen und
Markzellen alle drei direct in einander verwandeln können. Wäh-
rend dieser Process die eigentliche Neubildung bewirkt, werden die
HiUftmittel der Zwischenstadien, der provisorische CalluE, sowie die
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in den umliegenden Theilen enthaltene Gallert wieder erweicht und
resorbirt, auch die Markböhle wieder hergestellt, indem die diohto
Substanz der Pfropfe zuerst zellig, dann dünner und dünner wird,
und endlich verschwindet Der so verheilte Knochen zeigt einen
ununterbrochenen Zusammenhang mit den alten Enden und genau
dieselbe Bildung in Substanz und Geissen. Ein sechs Linien lang^
Ausschnitt aus Speiche und Ellenbogen eines Hundes w%r nach
vierzig Tagen völlig durch Knochensubstanz ausgefüllt. Stirbt die
innere Schicht eines Knochenstückes ab, so geht der Ersatz von
den äusseren aus, und umgekehrt; stirbt der ganze Knochen, so
ersetzt ihn die Markhaut und Beinhaut, indem dieselben sich erst
vom Knochen lösen; sterben auch diese ab, so wird das betreffende
Stüok von einem neuen Stück eingeschlossen, welches theils von den
gesund gebliebenen Enden des Knochens, theils von den umliegenden
weichen Theilen aus gebildet wird.
Bei Canälen, welche aus Schleimhaut gebildet sind, wie der
Darmcanal, oder Ausführungsgänge von Drüsen, bildet das Neoplasma
ebenfalls eine Kapsel oder Zwinge, an deren innerer Seite der be-
treffende Canal sich wieder bildet, während die abgestorbenen Bän-
der des alten Stückes (z. B. die XJnterbinduDgen) abge8t<>s8en und
durch den neugebildeten Canal abgeführt werden. Bei Darmver-
schlingungen oder eingeklemmten Brüchen gehen manchmal mehrere
Zoll, ja fußdlange Stücke Darm durch den After ab,. und trotzdem
bleiben die Menschen häufig am Leben, und stellen sich die Ver-
dauungswege wieder her. — Sollte wohl bei dem Abstossen eines
eingeklemmten Stückes Darm ein anderes Prinoip zu Grunde liegen,
als bei dem Abstossen eines beschädigten Krabbenbeines, oder dem
Absprengen eines Spinnenbeines?
Wenn die äussere Grenze irgend eines Gebildes zerstört is^
so wird dieselbe ebenfalls ersetzt, und ist dabei der Process im
Ganzen ein höherer, als bei der Wiedervereinigung getrennter
Theile, weil die chemische Contactwirkung des gleichartigen Naoh-
bargebildes noch weniger >von Einfluss sein kann. Das Neoplasma
tritt hier als Granulation auf, d. h. es ist gefässreicher und zeigt
eine Anzahl von röthlichen Hügelchen. Auf diese Weise bildet sich
neue Haut auf einer von Haut entblössten Stelle, welche zuerst
wegen Mangel an Fettunterlage fest auf dem Muskel aufliegt spät^
aber sich der übrigen Haut verähnlicht Es kann sich Schleimhaut
in Epithelialhaut verwandeln, wenn sie durch abnorme Verhältnisse
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genöthigt wird, eine Grenze nach Aussen zu bilden (z. B. bei vor-
gefallenem und umgestülptem Mastdarm, Fruchtgang oder Frucht-
hälter). Bei Amputationen stellt der Organismus eine Grenze her,
welche alle bisherigen Canäle (Markhöhle des Knochens und Gefösse)
whüesst^ und dem nunmehrigen Gebrauch des Gliedes entspricht;
der Knochen rundet sich geschlossen ab, die Doppelknochen des
Unterarmes oder Unterschenkels erhalten durch Verwachsung am
unteren Ende die feste Verbindung, welche ihnen sonst das Hand-
oder Fussgelenk giebt, die Gefasse und der Blutzufluss beschränken
sich nach dem nunmehr verringerten Bedürfniss, und die äussere
Grenze bildet eine starke sehnige Haut, welche sich lebhaft schuppt.
Die sehnige Brschafifenheit des Stumpfes erstreckt sich auch theil-
weise auf die benachbarten Muskelfasern, Nerven und ausser Dienst
getretenen Gefasse.
Betrachten wir nun noch einige andere merkwürdige Erschei-
Dongen der Heilkraft am Menschen und 8äugethier.
Bei Säugethieren, denen man die Linse aus dem Auge gezogen
hatte, beobachtete man häufig einen vollkommenen Ersatz derselben,
und auch bei staaroperirten Menschen findet bisweilen eine unvoll-
kommene Regeneration der Linse statt. Wenn nach solcher Opera-
tion die obere WundHppe der Honihaut vorsteht und mit ihrt ra
inneren Rande am äusseren Rande der unteren Lippe anklebt, so
werden später beide Lippen weich, schwellen an, und wenn die
Geschwulst sich verliert, liegen beide in gleicher Ebene. So wird
die Störung beseitigt, welche eine solche Unebenheit der Hornhaut
im Beben zur Folge haben müsste. Wenn ein Knochenbruch nicht
zusammenheilen kann, so sucht sich der Organismus anderweitig zu
helfen; die Bruchenden schliessen und runden sich ab, und werden
entweder durch einen sehnigen Strang, in welchen die Callupzwinge
rieh umgewandelt hat, wie durch ein cylindrisches Gelenkband an
«üÄnder gehalten, od^r durch ein sogenanntes falsches Gelenk ver-
eint, indem das eine Ende eine Höhle bildet, welche das andere
kugelige Ende in sich aufnimmt; beide Enden werden von einer
»ehnigen Kapsel eingeschlossen und erhalten wie andere an einander
wibcnde Stellen durch eine neu gebildete Synovialblase die nöthige
Schmiere. Ein ähnlicher Process vollzieht sich bei uneingerichteten
Verrenkungen; die verlassene Gelenkgrube füllt sich aus, und an
der Stelle, wo der Gelenkkopf nun anliegt, bildet sich eine neue
nut dem übrigen Zubehör des Gelenkes.
T. HartaaAn, PUL d. UnbewastiteB. 8
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HöqhBt mexkwi^dig ist die Bildmig von zwepkentsprecl^nden
AtiBführungßcanälen, wenn gewisse Secretionen im Innern eines ,Qe:
bildes keinen, natürlichei^, Ausweg haben, und ohne Bildong eines
solchen das Organ zerstören würden. Dies ist zunächst bei allen
normalen Secretionen der Fall^ wenn die natürliche^ Abzugscanäle
verstopft sind, es entstehen dann die Fistelgänge auf dem flachsten,
oder vielmehr dem geeignetsten Wege, einen Durchbruch nach
Aussen bahnend (z. B. Thränen-, Speichel-, Galjen- ^ Harn-, Koth-
Fisteln). Sie gleichen völlig den normalen Abzugscanalen der Drü-
sen, indem das Zellgewebe sich an den Wänden des Ganges in eine
gegen die betreffenden Ausführstoffe unempfindliche
Schleimhaut umwandelt. Sie sind unmöglich zu verheilen, so lange .
der natürliche Abzugsweg nicht wieder hergestellt ist, dann^ aber
heilen sie von selbst schnell und leicht zu. Es ist gar kein ma-
terieller Grund abzusehen, warum das Secret, welches den Aus-
fuhrungsgang allerdings durch Auflösung und Verflüssigung des Zell-
gewebes herstellen muss, gerade nur in der Einen Bichtung
des Canals diese starke Zerstörung bewirkt» während nach allen
anderen Seiten die Angriffe im Verhältniss hierzu versphwiodend
sind, warum die Bichtung, in welcher diese heftige chemische Zer-
setzung sich äussert, gerade die zweckmässigste des nenei;!
Abzugscanales ist, und warum dieser Ganal nicht bloss Folgen der
Zerstörung, sondern vielmehr organische Neubildung zeigt Zuweüen
erstrecken sich solche Canäle, namentlich bei Eiter^steln, durch
mehrere andere Organe hindurch^ ehe sie nach Aussen gelangen
können, z. B. aus der Leber in den Magen oder den, Darm, oder
durch das Zwerchfell in die Lungen. Am Wunderbarsten ist dieser
Vorgang vielleicht bei der inneren Nekrose. Die Abzugscanäle
(oder Cloaken) entstehen hier, wenn bloss die innere Schicht des
Knochens abstirbt, in der den Ersatz vermittelnden äusseren Schjleht^
wenn aber auch diese abstirbt, in der neuen umgebenden Knochen-
substanz gleich von Anfang ihrer Bildung an,, und zwar
ohne dass man Vereiterung wahrnähme. Sie sind runde oder
ovale Canäle mit einer glatten, von der Markhaut zur Beinhaut
gehenden Membran ausgekleidet, öffiaen sich nach Aussen mit einem
glatten Bande und setzen sich späterhin durch einen Fistelgang zur
äusseren Oberfläche fort; sie lassen sich auf keine Weise dauernd
verheilen; so lange noch abgestorbene Knochen^tUcke innerhalb des.
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neu erzeugten EiiooheiLB liegen, und schliesfien eidi nach deren
Entlenrang Ton Belbsl
In einem gewissen Zusammenhange hiennit steht bei Unmög-
lichkeit des Gebarens die Tödtong der Frucht, die Verzehrung der-
selben, die Ausführung der Ueberreste auf neu gebahnten Wegen,
oder die Einhülhing dieser Ueberreste.
Beaehtenswerth ist femer der Ersatz einer bestimmten 8eQre-
tion durch ganz andere Organe, als denen diese Secretion eigen-
tbümlich zukommt, wenn letztere functionsunfahig sind. Die
Secrete, welche im Haushalte des Organismus eine so grosse Bolle
spielen, sind bekanntlich nie als solche, sondern immer nur ihren
ElementeD naeh im Blute yoihanden, und gehen erst während
and nach der Ausscheidung aus dem Blute in ihre eigenthümliche
chemische Beschaffenheit über (daher auch die Secretionswege um
so langer sind, je höher die Secrete stehen) ; man muss deshalb mit
Hecht für gewöhnlich die Secretionsorgane als die Ursache der be-
sonderen chemischen Beschaffenheit der Secrete betrachten. Um so
mehr muss es befremden, wenn unter gewissen Umständen, wo dieses
oder jenes Oi^an nicht functioniren kann, aber doch das Verbleiben
der Stoffe, welche durch seine Secretion sonst ausgeschieden wurden,
in dem Blute dem Organismus gefahrlich werden könnte, dass unter
wichen Umständen auch andere Organe im Stande sind, diese Se-
cretionen in annähernd gleicher Weise zu vollziehen und so das .
Fortbestehen des Organismus zu sichern. Es kann das materielle
Hälfinnittel, dessen der unbewusste Wille sich zu diesem Ziele be-
dient, nur in einer zeitweiligen Veränderung der secemirenden
Membranen der vicarirenden Seeretionsorgane gesucht werden, wo-
durch sie zu ihren vioarirenden Secretionen accommodirt werden,
ähnlich wie wir einen solchen Einffuss des Willens auf Secretions-
organe im Schreck, Zorn u. s. w. beobachten. — Betrachten wir einige
Bei^ele. Bei einer Degeneration der Nieren, wo dieselben keinen
Harn mehr absondern konnten , oder bei fehlender Verbindung mit
der Blase ist jahrelanger Harnabgang auf normalen Wegen beobachtet
worden, dieser konnte also nur von der Blase selbst secemirt
^^ Bei Meerschweinchen, denen die Nierenarterien unterbunden
^^aren, aecemirten Bauchfell, Herzbeutel, Brustfell, Himhöhlen,
lügen und Barm eine braune, nach Harn riechende Flüssigkeit,
^'^^ die Thränen rochen nach Harn, und Hoden und Nebenhoden
«Dthidten eine dem Harn ganz ähnliche Flüssigkeit. Bei Hunden
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erfolgte Hambrechen, bei Kaninchen flüssige Darmentieerungen.
Menschen, deren Schweiss einen entschiedenen Hamgeruch besitzt,
zeigen meist bei der Obduction Ursachen der unterdrückten Ham-
secretion. Bei Personen, deren natürliche Harnentleerung TÖllig
gehindert war, wurde oft jahrelang tägliches Hambrechen, bei einem
so geborenen Mädchen bis zum vierzehnten Jahre Abgang durch
die Brüste beobachtet. In anderen Fällen xinterdrückter Urination
zeigte sich Harnabgang durch die Haut der Achselhöhlen. Dabei
ist an ein Enthaltensein des Harns als solchen im Blute gar nicht
zu denken, da er sogar tödtlich wirkt, sondern nur die Elemaite
seiner Bildung sind im Blute vorhanden. — Eine grosse Zahl von
Beobachtungen beweist die Secretion milchiger Feuchtigkeit durch
die Nieren, die Haut am Nabel, an den Weichen, Schenkeln, Rücken,
Gtesohwüren und Bauchfell bei einer in Folge von unterdrückter
Milchsecretion entstandenen Bauchfellentzündung. Bei deqenigen
Entstehungsweise der Oelbsucht, wo die Thätigkeit der Leber (wie
später die Secirung zeigt) aufgehoben ist, muss die Gallensecretion
in den feinsten Blutgefässen erfolgen, da alle Organe, sogar sehniges
Gewebe, Knorpel, Knochen und Haare von farbigen Bestandtheilen
der Galle durchdrungen sind.
Eine sehr wunderbare Erscheinung ist die Temperaturoonstan«
der warmblütigen Thiere bei dem mannigfaltigsten Wechsel der
äusseren Umstände. Wir sind noch weit entfernt, alle Bedingungen
zu kennen, durch welche diese Ck>n8tanz ermöglicht wird; doch so
viel ist gewiss, dass die wirksamsten, vielleicht die einzigen vom
Thiere selbst abhängigen Momente die Regulirung der Nahrungs-
einnahme, der Excretionen und der Athmung sind. Da nun offen-
bar die constante Temperatur einer Thierclasse die Ar ihre chemi-
schen Processe günstigste ist, so müssen wir in jedem Act des
Organismus, der die Bedingungen derselben den wechselnden Ver-
hältnissen aocommodirt, einen Act der Naturheilkraft erkennen.
Hiermit steht offenbar die Beobachtung in Verbindung, dass die
Menge der Hautausdünstung , wie der Lungenausdünstung (von
Kohlensäure und Wasser) in kleinen Zeiträumen ohne bemerkbare
Veranlassung schwanken, sich aber in längeren Zeiträumen von
vielen Stunden sich ziemlich gleich bleiben.
Auffallend ist die mechanische und chemische Widerstands-
flkhigkeit lebender Gebilde, die sofort mit dem Tode erlischt. Sie
ist am Besten am Magen und Darm zu beobachten. Die gallert^
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artigen Medusen verdauen, ohne verletzt zu werden, mit stacheligen
Panzern versehene Thiere ; der Magen von Vögeln zerkleinert Glas-
Btücke und krümmt eiserne Nägel, ohne verwundet zu werden (denn
Magenwunden heilen notorisch sehr langsam, würden also sich nicht
leicht der Beobachtung entziehen). Der Darm von Schollen und
Schleimfischen ist oft von scharfen Muschelschalen ganz vollgestopft
und ausgedehnt und wird nach dem Tode bei einer geringen Er-
schütterung durchschnitten. Diese Erscheinungen sind, da eine
grössere mechanische Festigkeit des lebenden Gewebes nicht zu
denken ist, nur durch Reflexbewegungen zu erklären, vermöge deren
der bei einer Bewegung der scharfen Gegenstände bedrohte Theil
zurückweicht, und die übrigen Theile den scharfen Gegenstand in
eine ungefährlichere Lage bringen. Ebenso wunderbar ist der
Widerstand, den der Magen den chemischen Angriffen eines be-
sonders scharfen Magensaftes entgegensetzt. Man hat Beispiele, wa
der degenerirte Magensaft sogleich nach dem Tode den Magen zu
lerstören begann , und auch einen frischen Thiermagen zersetzte,
ohne dass im Leben eine Beschädigung eingetreten wäre. Aehn-
liehe« findet bei anderen scharfen Secreten und ihren Secretions-
organen statt.
Nach diesen Beierpielen gehen wir noch über zur Beseitigung
einiger Einwürfe gegen die Heilkraft als zweckwirkende Aeusserung
unbewussten WoUens und Vorstellens. Wenn ich auch die gänz-
liche Unzulänglichkeit materialistischer Erklärungsversuche durch
viele Gründe dargethan zu haben glaube, so scheint es dbch wich-
tig, das Ungenügende der beiden hauptsächlichsten materialistischen
Gründe noch einmal kurz in's Auge zu fassen. Sie lauten: 1) durch
chemische. Contactwirkung verähnlicht jedes Vorhandene sich das
neu hinzutretende Material,' und 2) die Beschaffenheit jieder Secre-
üon ist von der Beschaffenheit der Nährfiüssigkeit und der secer-
nirenden Haut abhängig. Den ersten Grund trifft der Einwand,
dass im Körper Neubildungen zu verschiedenen Zeiten eintreten,,
welche noch keinen Anlehnungspunct an gleichen Gebilden finden,,
weil sie übei^aupt oder an dieser Stelle des Organismus zum ersten
Hai erscheiaen ; so z. B. bei den verschiedenen Stadien der em-
bryonischen Entwiokelung, der Geburt, der Pubertät imd Schwan-
gerschaft Aber ausser den iiierbei neu auftretenden Bildungen
^d Secretionen setzen ja auch manche Seoretionen periodisch aus
3Uid treten wieder ein, sei es, da& s dies normal oder krankhaft ist,.
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118
und aiich dann kann das Wiedereintieten der Seoretion nicht to&
der Contactwirkung des Seorets herrühren, da dies nicht vorhanden
ist. Ebenso ist die Regeneration fester Gebilde nicht tob dem
Boden der Entwickelung direct abhängig. So haben wir z. B: ge-
sehen, dasB das Neoplasma zur Neubildung von Enoehenmasse auch
zum grossen Theil yon den benachbarten anderweitigen Qebädea
ausgeschwitzt wird, und dass sich Gerasse in dem Neoplasma Yon
Innen heraus auch ohne den Contaet vorhandener Gefässe entwickeln.
Ebenso bildet sich Schleimhaut in Fisteigängen und Haut auf Gra-
nulationen ohne Contaet gleicher Gebilde. So wenig man also einer-
seits verkennen kann, dass dieses Princip der Yerähnlichung durch
chemischen Contaet ein ausgezeichnetes kraftersparendes Hülfsmittel
in der Oecononde des Oi^anismus darbietet, so wenig kann man sich
doch auch andererseits den Thatsachen entziehen, welche zeigen, dass
der unbewusste Wille im Organismus Verhältnisse herbeifUhren kann,
unter denen sich den chemischen Gesetzen gemäss Producte ergeben,
welche nicht durch benachbarte gleiche Gebilde veranlasst 8in<if
welche aber dem gegenwärtigen Lebensstadium oder augenblicklichen
Bedürfiaiss des Organismus auf das Zweckmässigste entsprechen.—
Was den zweiten Punct, die Abhängigkeit des Seorets von den
secemirenden Häuten betrifft, so ist dies Princip im Allgemeinen
ebenfalls richtig, nur darf man nicht vergessen, dass die Verschie-
denheit der Secrete eines und desselben Organes zu verschiedenen
Zeiten, das Neueintreten von Secreten in gewissen Lebensstadien,
das Aussetzen und Wiedereintreten anderer, sowie die Lehre von
den vicarirenden Secretionen die Frage nach der Inconstanz der
Beschaffenheit der secemirenden Häute offen hält, dass also die
Erscheinung nach ihrer nächsten wirkenden Ursache richtig erklärt,
diese wirkende Ursache aber ihrerseits nur eine einzige endgültige
Erklärung, nämlich in ideider Bichtung,zulä8st. Mit solcher vorläufigen
Erklärung hat der Naturforscher seine nächste Schuldigkeit gethan, und
Niemand wird ihm dies bestreiten, wenn er nur zugiebt» dass die
Frage noch ebenso offen wie vorher ist, wenn er nur nicht behauptet,
mit dieser Erklärung Alles gethan zu haben , denn dann tritt «r
sofort in Collisum. mit den Thatsachen.
Ein anderer Einwand ist der, dass der Organismus nicht immer
zweckmässig verfahre» sondern dass dieselben Erscheinungen, welche
das eine Mal Genesung herbeiführen, das andere Mal die Erkran-
kung erst bewirken, oder eine vorhandene Krankheit, zu noch
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119
scblimmereiii'Ende fÜhrön^ als sie von selbst genotnmen haben würde.
Dies halte ich für entäcbieden falsch. Ich behaupte im Gegentheil :
entens', dassKrankheitentiieinals aus dempsychischenGrunde
' des Organismus spontan hervortreten, sondern demselben von
Aussen durch Störungen aufgedrungen und gezwungen
werden, und zweitens, dass Alles, was der Organismus direct in
Bezug auf diese Störungen an der Normalität seiner Functionen ändert,
tweckmässig zur Beseitigung derselben ist. Diese beiden Behaup-
tungen sollten nach einander begründet werden.
Es fragt sich zunächst, was denn Krankheit sei. Krankheit
ist nicht Abnormität der Bildung, denn es giebt abnorme Abbildungen,
wie Biesen, Zwerge, überzählige Finger, unregelmässiger Verlauf
Yon Adern, die Niemand zu den Krankheiten zählt. Krankheit ist
nicht ein Zustand, der das Bestehen des Organismus gefährdet, denn
▼iele Krankheiten thuen dies nicht; sie ist nicht ein Zustand, der
dem Bewusstsein des Individuum Schmerz und Beschwerden verur-
sacht, denn auch dies ist bei vielen Krankheiten gar nicht der Fall.
Krankheit ist eine Abnormität in den organischen Func-
tionen, welche allerdings Abnormitäten der Bildung sowohl zurUr-
ntche, als zur Folge habeü kann. Im ersteren Falle pflegt man auch
die Abnormität der Bildung schon mit als Krankheit zu bezeichnen.
Streng genommen muss aber dieser abnormen Bildung schon eine
Ahdere Abnormität der Functionen als Ursache vorbeigegangen sein,
denn so lange alle Functionen normal vor sich gehen, ist das Zu-
standekommen abnormer Bildungen unmöglich. Z. B. die Lungen-
suoht kann durch Tuberkeln verursacht sein, diese aber müssen
durch abnorme Functionen entstanden sein. Wenn wir also nach
der Ursache einer Krankheit fragen, so müssen wir auf jeden Fall
letzten Endes auf eine Abnormität der Functionen bei normaler
Bildung der functionirenden Organe zurückkommen; denn so lange
noch Abnormitäten der Bildung mitsprechen, haben wir die Reihe
der Krankheitsursachen nicht bis zu Ende verfolgt
Fragen wir nun, wie die primäre Ursache aller Krankheiten,
Abnormität der Function bei normaler Bildung möglich
sei, so antwortet Erfahrung und Speculation übereinstimmend: nur
durch Störung von Aussen, aber nicht von Innen durch einen spon-
tanen psychischen Act des Organismus. Biese Störungen können
•ehr mannigfacher Art sein: 1) mechanische Einwirkungen, wie
iMe Art von innerer oder äusserer Verletzung; 2) chemische Ein-
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120
Wirkungen, und zwar a) durch Einföhrung von Stoffen^ welche das
MiBchungsyerhaltniss direct stören, indem sie neue Verbindungen
eingehen (z. B. Vergiftung durch Arsenik, Schwefelsäure, die meisten
mineralischen Arzneien), b) durch chemische Ck)ntactwirkung, An-
steckung im weitesten Sinne, auch atmosphärische Veränderungen;
welche zu eigentlich nicht ansteckenden Krankheiten disponiien;
3) organische Einwirkungen, Einnisten von pflanzlichen oder thie-
rischen (mikroskopisch kleinen) Organismen, welche durch ihre Er-
nährung und Fortpflanzung das chemische Mischungsverhältniss oder
die morphologische Zellenstructur des ergriffenen Organismus stören ;
bei Tielen Krankheiten ist es noch zweifelhaft, ob ihre Ansteckung
auf chemische Contactwirkung oder Einnisten von Organismen zurück-
zuführen ist (z. B. Pest, Syphilis, Typhoiden, Cholera) ; 4) Abnormi-
tät des Verhältnisses von Einnahme und Ausgabe; überwiegt letzte-
res Moment, so entsteht Massenverlust, Schwäche u. s, w., überwiegt
ersteres, so entsteht allgemeine Hypertrophie, die sich je nach den
besonders reichlich Torhandenen Stoffen in verschiedenen Gebilden
äussert (Tuberkeln, Skropheln, Gicht^ Fettsucht u. s. w.); 5) unge-
eignete Qualität der Einnahmen ; sie bewirkt Störungen in den Ver-
dauungsorganen und durch abnorme Blutmischung auch in der Er-
nährung; schlechte Luft kann auf diese Weise durch Veränderung
der Blutmischung Faulfleber u. s. w. hervorrufen ; 6) unangemessene
Lebensweise; z. B. absolute XJnthätigkeit eines Muskels bewirkt
Schwäche und Abmagerung desselben, da seine Emährungsverhalt-
nisse auf die Voraussetzung der Bewegung basirt sind; sitzende
Beschäftigung bei Menschen stört die Verdauung aus demselben
Grunde, \md Versetzung in ein fremdes Clima fordert Accommodation
des Körpers durch die Heilkraft oder ruft Krankheiten hervor;
7) ererbte Körperfehler oder Krankheitsanlagen; hier liegen die
ersten äusseren Ursachen der Krankheit in deijenigen Generation^
von welcher die Vererbung ausgegangen ist, und alle nachfolgenden^
die Krankheit ererbenden Glieder der Familie empfangen durch die
Stoffe der Zeugung die Abnormitäten schon als Mitgift auf die
Lebensreise, welche ihre Naturheilkraft oft so wenig zu bewältigen
im Stande ist, wie eine direct durch äussere Störungen erweckte
chronische Krankheit.
Ich glaube, dass auf diese oder ähnliche Störungen sich alle
Krankheiten zurückführen lassen, wenn man nur immer dabei 1^*
rücksichtig^, dass man auf die erste Ursache der Erscheinung zu-
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121
TÜdLEugehen hat und nicht die symptomatiBch yorli^ende Krankheit
an sich betrachte. Ja sogar die letztere ist häufig schon ein Act
der Heilkraft, die Erisis einer Beihe yoidiergehender Krankheiten
oder Abnormitäten, welche sich nur mehr oder waniger dem Be-
wuBstsein entzogen (so z. B. bei allen Ausschlagskrankheiten, Gicht,
Fiebern, Entzündungen u. s. w.)- Die Heilkraft kommt mit ihrer
Erids sogar mandimal dem Ausbruch deijeuigen Krankheit zuvor,
welche aus einer Abnormität der Bildung folgen müsste (z. B. die
Tödtong und Abführung der nicht zu gebärenden Frucht), und in-
sofern ist es richtig, dass durch spontane psychische Acte des
Organißmus Erscheinungen hervorgerufen werden, Welche wir Krank-
keit nennen müssen, aber sie beugen dann nur einer gefährlicheren
Krankheit vor, sie sind die Wahl eines absichtlich hervorgerufenen
kleineren IJebels zur Yermeidung eines grösseren. Es kann auch
sein, dass bei dieser spontan hervorgerufenen Krisis der Tod erfolgt,
weil dem unbewussten Willen die nöthige Macht zur Ueberwindung
der vorhandenen Störungen gebricht, dann wäre er aber ohne die
versuchte Krisis ganz sicher erfolgt, während hier noch die Mög-
lichkeit des Sieges der Heilkraft da war. Sollten sich einige Krank-
heiten noch nicht durch äussere Störungen erklären lassen, so
könnte dies die Bichtigkeit des Princips nicht beeinträchtigen, dass
der psychische Grund des organischen Bildens nicht
erkranken kann, denn für dieses Princip sprechen fast alle
Thatsachen, gegen dasselbe nichts, da man die Zurückführung
etwaiger Ausnahmen auf äussere Störung noch von der künftigen
Wissenschaft zu erwarten hätte. Darum kann ich nicht mit der
Annahme übereinstimmen, dass die Idee des Organismus von der
Idee einer Krankheit gleichsam ergriffen und besessen werde, welche
die Conformität der Krankheiten erklären soll; diese scheint mir
hinreichend durch die gleiche Beaction gleicher Organismen auf
gleiche Störungen erklärt zu sein, denn dieselbe Krankheit erscheint
in der That niemals auf gleiche Weise, sondern mindestens so ver-
schieden, wie die Individuen unter einander sind. Schon der Um-
stand spricht gegen jene Annahme, dass es keine pathologische
Bildung im Körper giebt, welche nicht an normalen physiologischen
Bildungen ihr Vorbild hätte. Virchow sagt (Cellularpathologie S. 60):
y^ giebt keine andere Art von Heterölogie in den krankhaften
Gebilden als die ungehörige Art der Entstehung, und bezieht sich
diese üngehörigkeit entweder darauf, dass ein Gebilde erzeugt wird
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122
an einem Pnnöte; wo es nicht hingehört, oder za einer Zeit, wo es
nieht erzeugt werden soll, oder in einem Grade> welcher* Yon der
typischen Bildung des Körper^ Abweicht. Jede Heterologie ist also,
genauer bezeichnet, eine Heterotopie, eine aberratio locit oder
eine aberratio temporis, eine Heterochronie , oder endlich eine
bloss quantitative Abweidiung, Heterometrie". — Nur da möchte
jene Ansicht von den ideellen Krankheitstypen, welche von den
Organismen Besitz ergreifen, eine gewisse tropische Berechtigong
haben, wo Thiere oder Pflanzen die Krankheitsursache sind, z. B.
Krätze, Beude, Bost des Getreides u. s. w.
Was die sogenannten Geisteskrankheiten betrifft, so ist die
von alten Zeiten her dominirende und auch gegenwärtig trotz einigen
Widerspruches überwiegende Aufessungsweise die, dass jede Slörong
bewusster Seelenthätigkeit durch eine Störung des Gehirns, als des
Organes des Bewusstsein^, bewirkt werde, sei diese Gehimatörung
nun direct, oder durch Rückenmarks- und Nervenkrankheiten ve^
mittelt. Auch da, wo psychische Erschütterungen eine Geistes-
krankheit veranlassen, muss man wahrscheinlich eine vorhergehende
Disposition des Gehirns dazu annehmen, welche bei solcher Gelegen-
heit nur zum Ausbruch kommt ; unbedingt ist auch in diesen Fällen
eine Gehimstörung als Ursache der Störung des Bewusstseins an-
zunehmen, nur dass diese Gehimstörung nicht durch materielle,
sondern durch psychische Erschütterung hervorgerufen, jedenfalls
aber durch äussere Einwirkung veranlasst ist, deren Träger und
Vermittler nur bewusste Seelenzustände sind. Es bleiben also die
Sätze unangetastet, dass das Unbewusste weder selbst
erkranken, noch in seinem Organismus Erkrankung
bewirken kann, sondern dass alle Krankheit Folge einer von
Aussen hereingebrochenen Störung ist.
Was den zweiten Punct anbetrifft, der Zweifel an der Zweck-
mässigkeit der Gegenmassregeln der Heilkraft gegen die Krankheit,
so ist das wichtigste Moment, das nicht ausser Acht gelassen wer
d^n dar^ die Beschränktheit der Macht des Willens in Bewältigung
der Umstände. Wäre der Wille des Individuums allmächtig, so
wäre er nicht mehr endlich und individuell, also muss es Störungen
geben, die er nicht beseitigen kann. Da nun ferner die Angrift-
puncte im Organismus für den Willen ebenfalls sehr beschränkt
sind, d. h. seine Macht in verschiedenen Gebilden ganz verschiedene
Grenzen hat, so muss natürlich ein vorgestellter Zweck oft auf den
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wunderiicfasten Umwegen erreicht werden, so daas die Yoretellung
des Zweckes bei den vom Organismus eingeschlagenen Mittehi dem
ungeübten Auge oft gänzlich entgeht, und nur rom tiefer eindrin-
genden wissenschaftlichen Blick yerstanden wird, der die Unmög-
tiehkeit kürzerer Wege zum Ziele einsieht. Da nun die wissen-
schaftliche Physiologie und Pathologie noch so jung ist, so darf
man sich nicht wundem, wenn sie noch heute nur ganz oberfläch-
lich in die verschiedenen Operationen: des organischen Lebens
eingedrungen ist, und sie häufig nicht nur eine Menge Verbindungs-
glieder von Zweck und Mittel zu ahnen sich begnügen muss, son-
dern auch noch seltener sich Rechenschaft darüber geben kann,
ob es einen noch zweckmässigeren Weg, als den eingeschlagenen,
gegeben hätte. Jede erkannte Zweckmässigkeit ist wohl ein posi-
tiTer^ ndcht zu entkräftender Beweis psychischen Wiricens, aber
tausend unverstandene Verbindungen von Ursache und Wirkung
können kein negativer Beweis gegen das Vorhandensein psychischer
Qrundlagen sein. So steht aber das Verhältniss keineswegs, sondern
£ast überall, wo wir ein scheinbar unzweckmässiges Wirken des
Organismus sehen, können wir uns' von den Gründen dieser £r-
schainung Rechenschaft geben. Die spontane Entstehung von
Krankheit, die hieriier auch zählen könnte, ist bereits beseitigt.
Ein grosser Theil anderer Fälle wird sich darauf reduciren, dads
die Mittel, welche j^ur Beseitigung einer Störung aufgeboten werden,
nicht den Intentionen des Organismus gemäss ausfallen, weil ander-
weitig vorhandene Störungen dies hindern, so dass nun durch eine
zweite Krankheit die Anstrengungen zur Hebung der ersten ver-
eitelt werden. Dieser Fall tritt sehr häufig ein, nur ist es oft
schwer, die zweite Störung zu entdecken, die sehr tief liegen und
zugleich an sich sehr unbedeutend sein kann. Letzten Endes ist
es dann immer wieder die unzureichende Macht des Willens (hier
in Beseitigung der zweiten Störung) ^ wodurch die angewandten
Mittel eine schiefe Richtung bekommen und nicht zum Ziele führen.
Ein besonderer Fall der imzureiohenden Macht ist der, wo bei be-
sonderer intensiver Anspannung nach einer bestimmten Richtung
der Wille ausser Stande ist, die extensiven Grenzen inne zu halten.
So z. B. bei Enochenbruchheilung, wo eine lebhafte Tendenz zur
Knochenbildung erfordert wird, verknöchern meist die umliegenden
Muskel- und Sehnenpartien mit; dann macht aber später der
Organismus seinen Fehler möglichst wieder gut, es werden also in
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dießem Beispiel die verknöcherten Naohbargebilde nadi der Heilung
auf ihre normale Beschaffenheit zurückgebracht.
Wie die Macht des Willens eine beschränkte ist, aeigt auch
folgendes Beispiel: während der Schwangerschaft, wo der unbe-
wusste Wille auf die Bildung des Kindes sich concentriren mufi«,
wollen mitunter Knochenbrüche gar nicht heilen, wahrend sie nach
erfolgter Entbindung ganz gut verheilen.
Der letzte mögliche Einwand wäre der, dass in Folge eines
dem Geschöpfe anersohaffenen Mechanismus auf jede Störung die
passende Beaction folge, ohne psychische Betheiligung des Indi-
viduums. Wer bis hierher meiner Entwickelung gefolgt ist, wird
keine Widerlegung brauchen. Die Unmöglichkeit eines materiellen
Mechanismus haben wir gesehen, die eines psychischen leuchtet
Jedem ein, der die unendliche Mannigfaltigkeit der vorkommend«!
Störungen erwägt, und bedenkt, dass die Function eines jeden ein-
zelnen Organs, wie des ganzen Körpers, sich in einem unaufhör-
lichen Abwehren und Ausgleichen herantretender Störungen bewegt,
tmd dass nur dadurch das Dasein erhalten wird. Giebt man also
einmal die Zweckmässigkeit dieser Ausgleichungen zum Zwecke der
Selbsterhaltung zu, so kann man sich der Idee einer individuellen
Vorsehung unmöglich entziehen, denn nur das Individuum selbst
kann es sein, welches die Zwecke vorstellt, nach denen es handelt.
Es kann nicht fehlen, dass die in diesem und dem vorigen Capitel
so eclatant hervorgetretene Wahrheit auch auf die Zurückweisung
desselben Einwandes beim Instinct eine rückwirkende Beweiskraft
äussert, da wir dies Alles als ein seinem Wesen nach Gleiches er-
kannt haben. Es wäre ganz thöricht, ein besonderes Vermögen des
Instinotes, ein besonderes der Beflexbewegungen, ein besonderCB
der Heilkraft anzunehmen, da wir in allen diesen Erscheinungen
nichts weiter als ein Setzen von Mitteln zu einem unbewusst vor-
gestellten und gewollten Zwecke erkannt haben, und nur die ver-
schiedenen Arten von zur Thätigkeit auffordernden äusseren Um-
ständen verschiedene Gattungen von Keactionen hervorrafBO»
wobei aber die Unterschiede nicht einmal von der Art sind, das»
sie nicht in einander überflössen. Dass die organischen HeUwif
kungen nicht Besultate des bewussten Vorstellens und Wollen»
sind, wird wohl Niemand bezweifeln, der sich erinnert, welchen
Antheil sein Bewusstsein beim Heilen einer Wunde oder eines
Bruches genommen habe; ja sogar, es gehen ja gerade dann die
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mächtigsten Heilwirkungen vor sich, wenn das Bewusstsein mög-
liebt zurückgedrängt ist, wie im tiefen Schlafe. Dazu kommt noch,
dass die organischen Functionen, in soweit sie überhaupt von
Nerven abhängig sind, durch sympathische Nervenfasern geleitet
werden, welche dem bewussten Willen nicht direct unterworfen
sind, sondern von den Ganglienknoten aus innervirt werden, yon
denen sie entspringen. Wenn dennoch in den organischen Func-
tionen in den Heilwirkungen eine so wunderbare, Einem Ziele su-
strebende Ueberein^timmung herrscht, so kann diese nun und nim-
mermehr aus materieller Communication dieser verschiedenen
Ganglien begriffen werden, sondern nur durch die Einheit des über
enen waltenden Principes, des ünbewussten.
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vn.
Der indireete Einflnss bewnsster Seelenthlkigkeit auf
organische Fnnetionen.
1. Der Einflufls des bewiissten Wülena.
a. Die Muskelooiitractlon.
Die Mnskelcontraction ist offenbar die bei Weitem wichtigste
vom bewnssten Willen abhängige organische Function, denn sie ist
es, durch die wir uns bewegen und auf die Aussenwelt wirken,
durch weiche wir uns in Sprache und Schrift mittheilen. Sie er-
folgt durch den Einfluss der motorischen I^erren, durch einen vom
Centrum nach der Peripherie verlaufenden Innervationsstrom, durch
einen Strom, der offenbar mit den electrischen und chemischen
Strömungen verwandt ist, da wir sehen, dass sie sich gegenseitig
in einander umsetzen lassen, und von dessen Intensität wir uns
keine zu geringe Vorstellung machen dürfen, wenn wir die durch
ihn Contrahirten Muskeln des Athleten, noch dazu durch die langen
Hebelsarme der Gliedmassen, mit Gentnern spielen sehen und daran
denken, welche colossale galvanische Ströme nöthig sind, um mit
einem Electromagneten Centnerlasten zu heben. Wir haben schon
gesehen, dass jede Muskelbewegung nur durch mehrfache Yermit*
telung von unbewusstem Wollen und Vorstellen zu denken ist, weil
sonst nie abzusehen wäre, wie der Bewegungsimpuls im Stande wäre,
die der bewussten Bewegungsvorstellung entsprechende Nerven-
centralstelle anstatt irgend einer anderen zu treffen, dass femer die
unmittelbaren Centra fiir die allermeisten Bewegungen im Bücken*
mark imd verlängerten Mark liegen und diese von hier aus in ihren
Details bestimmt und geordnet werden, dass sie als Beflexbewe-
gungen dieser Centra zu betrachten sind, welche durch den Beiz
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veduiltoissmässig wenig^Tf vom großsen Gehirn kommender Fasern ver-
ankfiat .werden, so ia^ 4er erste Bewegongsimpuls sich auf die centra-
len Endigupgen dieser Fasern im grossen Gehirn beziehen muss. Es
kann wohl sein, dass mehrere solcher Beflexwirkungen in verschie*
denen mehr und mehr vom Gehirn entfernten Nervencentris ein-
treten, ehe eine complicirte Bewegung ausgeführt wird, dass z. B.
beim Gehen zuerst einige wenige Fasern den Impuls vom grossen
Gehirn, wo der bewusste Wille, zu gehen, entsteht; an das kleine
Gehirn überbringen, welches Organ die Coordination der grösseren
Bewegongsgnippen leiten soll, dass dann von hier eine grössere
Asasitl Fasern die Impulse an verschiedene Centra des Kücken-
marke« übertragen, und zuletzt an die Stellen, wo die Schenkel-
aerren sich einsetzen. Bei einem jeden solchen Beflexe i^richt
das unbewusste Wollen und Vorstellen im specifischen Bewegungs-
instinct des betreffenden Centrums mit, xmd so wird es erklärlich,
wie 80 complicirte Bew^ungen ohne irgend welche geistige An-
Etrengong zweckmässig und ordnungsmässig verlaufen. In jedem
Centnun wird der Impuls als Beiz empfunden und in eineu neuen
Impuls omgesetzt, so dass wir im strengsten Sinne erst vom letzten
Centnun an vom motorischen Innervationsstrom sprechen dürfen.
Es frag;t sich nun, wie der Wille im Stande ist, den Innervations-
strom zu erzeugen. Wir können uns dabei nur an die Analogien
der Terwandten physikalisch bekannteren Ströme und an die aprio-
nsche Yermuthung halten, dass der ganze Apparat des motorischen
Nervensystems doch wohl zu dem Zweck in den Organismus ein-
geschaltet sein müsse, dass dem Willen dadurch ermöglicht werde,
die nöthigen mechanisohen Leistungen durch die möglichst kleinste
meduuiische Kraftanstrengung hervorzubringen, mit anderen Worten,
dass das motorische Nervensystem eine Kraftmaschine sei, wie die
^inde, oder in passenderem Vergleich, wie das mauerzertrümmernde
Gesdiütz, welches der Mensch nur abzufeuern braucht. Mechanische
Bewegung ohne mechanische Kraft hervorzubringen, das ist un-
iiiuif^, aber die die Bewegung einleitende Kraft kann auf ein
^finimum reducirt weiden, und der übrige Theil der Leistung
Kräften übertragen werden, welche vorher zum Gebrauche au%e-
^chert sind. Dies ist beim Geschütz die chemische Kraft des
^Ters, beim Ihier die der eingenommenen Nahrungsmittel, welche
daher aoch zu den Ijoistungen der Muskelkraft im Yerhältniss stehen
^öaaen, wie die Menge des Pulvers zur Kraft des Geschosse^
L
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Ohne jede xnccbaDisohe Kraft aber sind die aufgespeicberten Kräfte
nicbt aus ibrem gebundenen ZuBtande zu befVeien, also muss un-
bedingt der Wille zu mechanischer Kraftleistung beflUngt sein.
Wäre aber die Grösse dieser Kraft gleichgültig , so könnte er ja
direct die Muskeln in Bewegung setzen, wir müssen also annehmen,
dass die Pointe beim motorischen System darin liege, die noth-
wendige mechanische Leistung des Willens auf ein Minimum zu
'reducireo.
Betrachten wir nun den wohl am nächsten mit den Nerren-
strömen verwandten electrischen Strom, so müssen wir zunächst die
Entstehungsweise durch mechanische Einflüsse (wie Reibung) oder
Wärme ausschliessen, weil erstere gerade das Gegentheil yon dem
wäre, was wir suchen, und letztere ebenfalls in Schwingungszu-
ständen Ton grösseren mechanischen Schwingungsmomenten der
Atome besteht. Wir müssen jedenfalls absehen yon Erzeugungs-
weisen, welche auf Verschiebung der Molecüle beruhen, und una
an solche halten, welche nur eine Drehung derselben erheischen,
da ihre Drehung unendlich viel weniger Kraftaufwand erfordert, als
die Verschiebung. Hier kommen uns die Erfahrungen der Nerven-
physiologie zu Hülfe, welche zeigen, dass, während der motorische
Strom den Nerven durchläuft, alle Molecüle desselben eine gleich
gerichtete electrische Polarität zeigen, wie in Magneten, während
im völlig indifPerenten Zustand (wie er freilich im Leben nicht
vorkommt) die Polaritäten der Molecüle durch einander liegen, wie
im unmagnetischen Eisen, und dadurch sich gegenseitig neutralisiren«
Wir lernen aus diesen Versuchen, dass die Nervenmolecüle Polari-
tät besitzen, und dass diese durch Drehung der Molecüle in gleiche
Bichtung zur Geltung gebracht werden kann. Wie der von einem
Draht umgebene Eisenstab magnetisch wird, sobald den Draht ein
galvanischer Strom durchläuft, so würde, wenn auf irgend welche
Weise das Eisen plötzlich magnetisch würde, in dem Draht ein
galvanischer Strom hervorgerufen. Dem analog wird durch Drehung
der Molecüle in der Weise, dass ihre Polaritäten gleich gerichtet
werden, eine Nervenströmung erzeugt. Wir sehen in der Phpik,
dass die polaren Gegensätze der Molecüle die Grundlagen aller der
Erscheinimgen sind, welche wir als chemische, galvanische, reibungs'
electrische, magnetische u. s. w. bezeichnen, so dürfen wir nicht
zweifeln, dass noch manche ähnliclie Erscheinungen aus derselben
entstehen können, und dass wir es mit solchen bei den Nerven-
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itrömen zu thun haben. Die Brehxmg der Molecüle in den Central-
ft^n iBt also das MiniTnum der mechanischen Leistung, welches
dem Willen überlassen bleibt, und die Polarität der Nerven-
Molecüle ist die aufgespeicherte mechanische Kraft, welche die
mechanischen Leistungen der Muskeln bewirkt, welche durch längere
Wirksamkeit sich erschöpft; und durch den rhemischen Stoffersatz
in der Ruhe wieder hergestellt wird. So ist jeder Orgjmismus
einer Dampfinaschine zu yergleichen; er ist aber auch zugleich
Heizer und Maschinist, ja auch Beparateur, und wie wir später
sehen werden, sogar Maschinenbaumeister seiner selbst.
Weil die Verschiebbarkeit der Molecüle in jeder Beziehung im
flüssigen Aggregatzustande grösser ist, als in festem, darum sind
die Nerven halbflüssige Massen, weil aber in Flüssigkeiten bei
finsseren Erschütterungen kein Molecüle seinen Platz behält, sondern
Alles durcheinander läuft, darum sind die Nerven nicht ganz
flüssig, und darum eignen sich zu Wirkungen, welche die Nerven-
wirkung ersetzen, die Gebilde um so mehr, je mehr sie eine solche
halbflüssige Beschaffenheit bei polarischen Eigenschaften ihrer
Molecüle besitzen. Daher eignen sich dazu die gallertartigen Kör-*
pttder niederen Wasserthiere , femer alle thierischen Keime, die
Eischeibe, die früheren Embryozustände und das aus plastischer
Flüssigkeit geronnene Neoplasma, aus dem alle Neubildungen der
Heilkraft hervorgehen. Bei der Einfachheit aller letzten Principien
in der Natur dürfen wir nicht daran zweifeln, dass auch alle an-
deren Wirkungen des bewussten oder unbewussten Willens in der
organischen Natur auf demselben Princip der Molecularpolarisation be-
ruhen, zumal da die Beschaffenheit der Gebilde, in denen der Wille
sieh am unmittelbarsten manifestirt, wie wir sehen, diese Yoraussetzung
bestätigt. So können wir uns namentlich das Eingreifen des Willens
in chemische Yorgänge, wie bei Neubildungen aus Neoplasma oder
im Embryo, gar nicht anders vorstellen, als in einer geschickten
Benutzung der Polarität der vorgefundenen Molecüle theils in dem
Herde der Bildung selbst, theils durch dahin geleitete Ströme, die
«n anderen Stellen erzeugt sind. Wir erheben uns hiermit zugleich
^er die Ansicht, dass ausschliesslich die Nerven das Organ
•eien, welches die Fähigkeit besitze, Eindrücke des Willens aufzu-
ndimen, über welche so viel hin und her gestritten worden ist.
Sowohl die Analogien nervenloser TMere, als das Neoplasma und
Embryo beweisen die Möglichkeit einer Willenseinwirkung und
T. Hartmaiui, Plul. d. ünbewiisiteii. 9
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Sensibilität ohne Keiren, dodi sehliesst dieee Ansicht nicht aofl^
dass die Nerven die, soweit nns bekannt» höchste Form yon Gebilde
sind; welche sich der Wille zur Bequemlichkeit seines Wirkens
geschaffen hat, und dass der mit Nerven ausgerüstete Organismus
so wenig die Yermittelung seiner Willensäusserungen durch die
Nerven umgehen würde, wie Jemand querfeldüber fährt; statt aaf
der Cäiaussee. Ausserdem ist aus Obigem klar, dass die Willen»-
macht des Individuums bei derselben Anstrengung unendlich viel
weniger leisten könnte, stände ihm nicht die Kraftmaschine des
Nervensystemes zu Gebote; doch möchte es sehr bedenklich schei-
nen; für den einzelnen Fall eine Grenze zu ziehen, wie weit die
Leistungsfähigkeit des Willens ohne Hülfe der Nerven reichen
könne, da die Intensität des Wollens in einseitiger Richtung und
auf kurze Zeit den Mangel an Hülfsmitteln bisweilen in hohem
Grade ersetzen kann. Ich will nicht auf Beispiele der Magie (Ab-
lenkung der Magnetnadel durch den blossen Willen des Magnetiseuis
u. dgl.) verweisen, weil sie zu wissenschaftlichen Gründen stärkerer
Beglaubigung bedürften, aber verschiedene Umstände beweisen deut-
lich genug, dass die Wirkungssphäre des Willens, sowie der Sen-
sibilität auch im Menschen über die Nerven hinausreidit; z. B. da»
plötzliche Ergrauen der Haare nach heftigen Affecten, die Verthw-
lung der motorischen Nervenfasern in den Muskeln, wonach die
Muskelfasern selbst Leiter des motorischen Stromes zu ihren Nach-
barn sein müssen, die Empfindlichkeit der Haut an ihrer ganzen
Oberfläche, während die Tastwärzchen doch nur hier und da unter
ihr liegen, die Wirkimg der Nerven auf die secemirenden BLäute in
ihrer ganzen Ausdehnung, während die Nerven doch nur beschränkte
Theile berühren können, femer der Umstand, dass auch nervenlöse
Theile des menschlichen Körpers empfindlich und schmerzhaft werden
können, sobald bei verstärktem Blutandrange und Auflockerung des
Gewebes ihre Lebendigkeit, d. h. die Yerschiebbarkeit und Folarit$t
ihrer Molecüle erhöht ist; so ist z. B. das in heilenden Wunden
gebildete junge Fleisch ohne alle Nerven höchst empfindlich und
eine Entzündung der nervenlosen Knorpel und Sehnen ist sogar viel
schmerzhafter; als eine Entzündung der Nerven selbst; jondlich s^*
gen auch Beispiele der embryonischen Missbildungen, dass Theile
ohne Mitwirkung der dazu hinführenden Nerven gebildet werden
können; z. B. Schädelknochen ohne Gehirn, Bück^imarksnerven
ohne Rückenmark.
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131
b. ¥nileii8iir5Me in sensIMeii NervM.
Eine Art Yon IniiervationsBtroin haben wir sohon früher als
Reflex¥rirkiiBg der Aufmerksamkeit keimen gelernt. Diese kann
aber eben so gai willkürlich herrorgemfen, resp. verstärkt werden.
Eine gespannt anf die genitale Sphäre gerichtete Aufmerksamkeit
kann die grösate geschlechtliche Aufregung zur Folge haben, und
flypochondristen fühlen bisweilen Schmerzen in jedem Xörpertheil,
auf den sie ihre Aufmerksamkeit richten. Nicht selten soll es
Toi^ommen, dass zu Operirende den Schmerz des Stiches zu fühlen
glauben, noch ehe das Instrument des Operateurs sie wirklich be-
rührt hat. Wenn man bei geschlossenen Augen den Einger lang-
sam zur Nasenspitze führt, und vor der Berührung sehr allmälig
nähert, so fühlt man in der Nasenspitze die Berührung als deutlich
wahrnehmbares Kribbeln im Voraus ; wenn ich die Aufrntrksamkeit
angestrengt auf meine Fingerspitzen richte, so spüre ich dieselben
deutlich, ebenfalls als eine Art von Kribbeln. In allen diesen
Fällen bewirkt offenbar die Gehimvorstellung von der zu erwarten-
h den Empfindung, verbunden mit der auf diese Nerven gerichteten
Aufmerksamkeit, einen peripherischen Strom, der von der Peripherie
I tum Centrum als Empfindungsstrom zurückkehrt, sei es nun, dass,
wie in den ersten Beispielen, die Empfindung wesentlich erst durch
clen centrifugalen Strom erzeugt wird, sei es, dass derselbe, wie bei
dem letzten Beispiel, nur die stets voriiandenen, für gewöhnlich
aber unmerklich schwachen Reize verstärkt. Der erste Fall findet
auch bei jeder sinnlichen Vorstellung ohne Sinneseindruck statt;
die Lebhaftigkeit der Vorstellung hängt von der Stärke des peri-
pherischen Nervenstromes ab, und diese theils von dem Interesse
(Willensbetheiligung) an der Vorstellung, theils von individueller
Anlage. Es giebt Personen, welche durch willkürliche Anstrengung
sieh Gesichtsbilder, z. B. eines Freundes, fast bis zur Deutlichkeit
einer Vision hervorrufen können. Bei anderen bleiben die Bilder
immer nur blass. Ist der Willensstrom unbewusst entstanden, so
>tdlt sich bei genügender Lebhaftigkeit der rückkehrende Empfin-
dongsstrom als Vision dar, genau wie in jedem Traum. Ich glaube
^haU), dass es keine sinnlich anschauliche VorstellujQg im Gehirn
P^bt, die nicht mit einem Innervationsstrom nach dem betreffenden
Sinnesorgan verbunden ist, wenn derselbe auch für gewöhnlich nicht
weit über die centrale Endigung der Oi^annerven hinausreichen
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132 ^
mag. Ich glaube dies daraus schliessen zu dürfen, dctös die Vision
von der sinnlichen Vorstellung nur dem Grade nach verschieden
ist, also auch ihre Entstehungsweise nur dem Grade nach verschie-
den sein wird. — Auch darf man annehmen, dass der Innervations-
ström desto weiter von dem Centrum nach der Peripherie hinaus-
strahlt; und dem Sinnesorgan selbst um so näher rückt, je lebhafter
die sinnlichen Vorstellungen vorgestellt werden; denn tmdeutlioh
und schwach vorstellende Personen fühlen bei der Anstrengimg der
Aufmerksamkeit die Spannung (welche freilich nur reflectorische
Spannung der Hautmuskeln ist) oben auf dem Kopfe ; je grösser das
sinnliche Vorstellungsvermögen ist, desto mehr rückt bei Gesichts-
vorstellungen dieses Spannnungsgefühl nach der Stirn herunter, und
fällt beim höchsten Grade in die Augen selbst, so dass sich diese
nach anhaltend scharfem Vorstellen gerade so angegriffen fühlen,
wie nach längerem Sehen.
c. Der maonetische NerveistroM.
Die Grunderscheinungen des Mesmerismus oder thierischen
Magnetismus sind nachgerade als von der Wissenschaft anerkannt
zu betrachten. Die electrischen Entladungen des eleotrischen
Rechens und Aales waren schon längst bekannt, und die Erkennt-
niss, dass diese Wirkungen von der grauen !N^ervenmasse ausgingen,
gab die Veranlassung, diese überhaupt als die Centraltheile des
Nervensystems zu betrachten. Trotzdem sträubte man sich lange
dagegen, die ganz analogen Wirkungen der Magnetiseure zuzugeben,
weil sie im Ganzen zu schwach waren, um dem Physiker direct
wahrnehmbar zu werden. Indess habe ich diesem Experiment
mehrfach beigewohnt und mich durch die sorgMtigste Untersuchung
der Localität wie der Person des Hagnetiseurs gegen jede Täuschung
gesichert. Wenn man nämlich den Menschen auf ein eisernes
Bettgestell mit Drahtmatratze legt, aber so, dass er durch eine
wollene Decke von dem Metall isolirt ist, so erzeugt man gewisser-
massen eine Leidener Flasche, deren eine Belegung das Bettgestell,
deren andere der darauf liegende Mensch ist, imd durch das Zu-
sammenströmen (Influenz) der Electricität des Bettes nach der iso-
lirenden Fläche hin wird die electrische Wirkung des Magnetisirens
bedeutend potenzirt. Ich habe mich auf die Weise magnetisiren
lassen und deutlich ein empfindlich prickelndes Funkenspröhen von
der leicht geführten Hand des Magnetiseurs zu meiner Haut gespürt
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133
gerade bo, als ob durch seine BerUhrung die Kette eines schwachen
Indnetionsstromes oder einer gleiehmässig gedrehten Electrisir-
maschine geschlossen würde ^ aber unregelmässiger, je nach der
augenblicklichen Anstrengung des Magnetiseurs. Wer das Gefühl
kennt» wird wissen, dass eine Yerwechselung der Empfindung kaum
möglich ist. Kennt man auf diese Weise einmal die durch das
Magnetisiren herbeigeführte Hautempfindung, so kann man auch
ohne weiteren Vorbereitungen die Berührung einer magnetisiren-
den Hand bei genügender Stärke des Agens mit Sicherheit von
einer nicht magneti sirenden Berührung unterscheiden, wie ich bei
mir zufällige Gelegenheit gehabt habe zu beobachten. Abgesehen
Ton der künstlichen Erhöhung der electrischen Wirkung, ist auch
die nervenstärkende und belebende, alle vitalen Functionen an-
feuCTnde Macht des Mesmerismus bekannt, sowie die Herbeiführung
Ton heilsamem Schlaf und Elrisen in demselben. Wenn auch die
Electricität bei diesen Erscheinungen nur ein begleitender Umstand
oder eine peripherische Verwandlung der eigentlichen magnetischen
Kraft sein mag, so ist diese doch jedenfalls mit diesen physikalischen
Kräften und dem motorischen Nervenstrom verwandt, und entsteht
vermuthlich wie letztere durch Aenderung der polarischen Lage der
Molecüle in den Centris. Sie ist wie die Bewegung eine indirecte
Wirkung des bewussten Willens (bisweilen auch bei Handauflegen
der Heiligen, Wundercuren u. s. w. ganz iinbewusst), was er aber
eigentlich, d. h. direct thut, und wie er es macht, weiss der Magne-
üseor beim Magnetisiren so wenig, als beim Aufheben seines
Armes. Es tritt also hier, wie dort und überall die Vermittelung
eines unbewussten Willens dazwischen, welcher bewirkt, dass gerade
ein magnetiBcher Strom und kein anderer entsteht, und dass dieser
gerade nach den Etiinden hin, und nicht nach irgend einem anderen
Körpertheile, sich concentrirt. (Vgl. zum Kennenlernen des betref-
fenden Erscheinungsgebietes in weiterem Umfange: Beichenbach's
odisch- magnetische Briefe).
d. Die vegetativen Functionen.
Allen yegetatiyen Functionen des Organismus stehen wahr-
scheinlich sympathische Nervenfasern vor. Der bewusste Wille
hat auf sie keinen directen Einfluss, wir haben aber gesehen, dass
dies auch bei den motorischen und sensiblen Fasern nicht der Fall
ist, Bondem dass das direct Wirkende allemal ein unbewusster Wille
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ist. Wenn nun der bewusßte Wille überhaupt einen EinfluBs auf
yegetatiye Functionen hat, so ist die IJebereinstimmung da, und der
Unterschied kann nur in dem Grade der Leichtigkeit liegen, mit
welcher durch den bewussten Willen irgend einer Wirkung der
unbewusste Wille 2um Setzen der Mittel zu dieser Wirkung her-
vorgerufen wird. Also z. B. : Wenn ich eine stärkere Hundspeichel-
absonderung will , so ruft der bewusste Wille dieser Wirkung den
unbewussten Willen zum Setzen der nöthigen Mittel hervor, näm-
Hch er erzeugt von den gangliösen Endigungen der zu den Mund-
speicheldrüsen führenden sympathischen Fasern aus solche Ströme
in denselben, welche die beabsichtigte Wirkung hervorbrmgen.
Dies Experiment wird so ziemlich Jedem gelingen. Aehnlich ist
das Yerhalten in den Absonderungen der Genitalsphäre dem be-
wussten Willen unterworfen, was in Verbindung mit der oben er-
wähnten willkürlichen Erregung der betreffenden sensiblen Nerven
bei reizbaren Personen bis zur Ejaculation ohne mechanischen Beil
führen kann. Mütter sollen, wenn der Anblick des Kindes in ihnen
den Willen zum Säugen erweckt, durch diesen Willen eine reich-
lichere Milchabsonderung bewirken köuDen. Die Fähigkeit mancher
Personen , willkürlich zu erröthen und zu erblassen , ist bekannt,
namentlich bei coquetten Frauenzimmern, die darauf stndiren, und
ebenso giebt es Leute, welche willkürlich Schweiss hervorrufrai
können. Ich besitze die Macht, durch meinen blossen Willen den
stärksten Schlucken momentan zum Schweigen zu bringen, während
er mich äüher viel incommodirte und häufig allen üblichen Mitteln
nicht weichen wollte. Dass man einen Schmerz, z. B. Zahnschmers,
mitunter durch energischen Willen, ihn zu bekämpfen, lindem odtf
zum Aufhören bringen kann, ist bekannt, trotzdem dass durch die
dabei nöthige Aufinerksamkeit der Schmerz zunächst gesteigert
wird. Ebenso kann man durch den Willen einen Hustenreiz, der
keine mechanische Veranlassung hat, dauernd unterdrücken. Von
jeher hat es Leute gegeben, die über ihren Körper eine wunder-
bare Macht ausübten, theils Gaukler, theils solche, die ihren Willen
auch nach anderen Kichtungen sehr ausgebildet hatten, Philosophen,
Magier und Büsser. Ich glaube nach diesen Erscheinungen, dass
man eine weit grössere willkürliche Macht über seine Kö^pe^
fiinctionen besitzen würde, wenn man nur von Kind auf so viel
V(iranlas8ung hätte, darin Versuche und üebungen anzustellen, wie
man es mit Muskelbewegungen und Vorstellungsbildem genötihigt
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ist Denn als Kind weiss man so wenig, wie man es anfangeii
«oll, am den Löffel zum Monde zd fuhren, als um die Speichel-
abflouderung zu vermehren. Daneben ist jedoch keineswegs zu
Terkeonen, dass die Verknüpfung des bewussten und unbewussten
Willens in diesem Gebiete absichtlich erschwert ist, weil die be-
wußte Willkür im Allgemeinen an den vegetativen Functionen nur
verderben und nichts bessern würde, und durch dieses Gebiet von
«einer eigentlichen Sphäre des Denkem und Handelns nach Aussen
oimätz abgelenkt würde.
2. Der TfSlTiflnwi der bewussten Vorstellung.
Die bewusete Vorstellung einer bestimmten Wirkung kann oft
ohne den bewussten Willen dazu den unbewussten Willen zum
Setzen der Mittel hervorrufen, so dass dann die Verwirklichung
der bewussten Vorstellung unwillkürlich erscheint. Die Physiologie,
welche diese Thatsachen berücksichtigen muss, aber den Begriff des
unbewussten Willens nicht kennt, sieht sich zu der ungereimten
Behauptung veranlasst, daas die blosse Vorstellung ohne Willen
Ursache eines äusseren Vorganges werden könne. Wenn man aber
dies überlegt, so findet man, dass hierbei in der That nichts gesagt
ist, als dass der Begriff Vorstellung in diesen Fällen unvermerkt
nm den Begriff unbewussten Willen erweitert sei, wie dies Cap. IV.
6. 86 — 87 erörtert ist. Ich thue also nichts, als dass ich diese
unvermerkte Erweiterung des Begriffes Vorstellung beim rechten
Kamen nenne, und als selbstständiges Glied im Process hinstelle,
da es doch unstatthaft erscheinen muss, in einen schon fixirten
Begriff die Merkmale eines anderen ebenfalls fixirten Begriffes noch
zu den seinigen dazu hineinzuschachteln.
In erster Reihe stehen alle Geberden und Mienen im weitesten
Sinne genommen. Hier liegt in der Vorstellung, welche die Miene
herrorruft, nicht einmal die Wirkung, geschweige denn die Mittel
dazu, eingeschlossen, sondern die Geherden erscheinen durchaus als
Beflezwirknngen, so nothwendig und übereinstimmend in allen
Individuen erfolgen sie. Wie zweckmässig sie sind, liegt wohl auf
der Hand, denn ohne die Nothwendigkeit und Allgemeinheit der
Oeberden würde Niemand sie verstehen, und ohne vorheirgehende
Yerstaadigung durch Geberden würde nie eine Wortsprache möglich
geworden sein, und würden die stummen Thiere jedes Versttfndi-
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gungsmittels, selbst die stimmbegabten des bei Weitem grössten
Theiles ihrer Sprache entbehren. Aber auch bei Henschen halten
wir uns jetzt noch, wo wir der Rede misstranen, an den Aosdruck
des Bedenden. Ich überhebe mich einer Aufzahlung der einschla-
genden Erscheinungen, die überall nachzulesen sind, — Die zweite
Gruppe der Erscheinungen bilden die Nachahmungsbew^ungen, die
offenbar ebenfalls Reflexwirkungen sind. Wenn wir einen Redner
heftig declamiren sehen, oder wenn wir ein Duell, ein Fechten,
einen kühnen Sprung, einen Tanzenden mit ansehen, und bei der
Sache lebhaft betheiligt sind, so machen wir ähnliche Bew^:ungen
mit, wie es uns gerade unsere Positur erlaubt, oder fühlen doch
den Drang zu ähnlichen Bewegtmgen , wenn wir ihn auch unter-
drücken. Ebenso singt der natürliche Mensch gern die Melodie mit,
die er spielen hört. Wenn man Jemand gähnen sieht, so ist es
sehr schwer, das Gähnen selbst zu unterdrücken, und auch umfang-
reichere Krämpfe, wie Veitstanz, Epilepsie, wirken oft durdi den
blossen Anblick auf reizbare Personen ansteckend. Da in allen
diesen Fällen nicht materieller Einfluss die Vermittelung über-
nimmt, so kann es nur die Vorstellung dieser Bewegungen sein,
welche durch den Anblick so lebhaft erregt wird, dass sie den un-
bewussten Willen zur Ausführung erweckt. Indem dieser Prooess
innerhalb eines Nervencentrums vorgeht, auch wohl der letzte Aus-
führungswille in diesem Centrum bewusst wird, gehört er unter den
Begriff Reflexbewegung.
Die nächste Gruppe enthält den Einfluss bewusster Vorstel-
lung auf vegetative Functionen. Die Einflüsse der verschieden-
artigsten Gemüthsbewegungen auf Absonderungsfunctionen sind be-
kannt (z. B. Aerger und Zorn auf Galle und Milch, Schreck auf
Harn und Stuhlgang, wollüstige Bilder auf den Samen u. s. w.).
Die Vorstelltmg, Arzneimittel (z. B. Laxantia) genommen zu haben,
wirkt oft ebenso wie die Arzneimittel selbst; die Einbildung, ver-
giftet zu sein, kann die Symptome der Vergiftung wirklich hervor-
rufen; viele christliche Schwärmer haben an den Tagen der Mär-
tyrer die Schmerzen derselben wirklich gefühlt, wie ja auch
Hypochondristen die Krankheiten wirklich fühlen, welche zu haben
sie sich vorstellen, und wie junge Mediciner bisweilen alle mög-
lichen K^pankheiten zu haben glauben, von denen sie hören (nament-
lich wird dies in auffallendem Maasse von einem Schüler Boerhave's
erzählt, der deshalb auch das Studiiim verlassen musste). Das
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ncherste Mittel, von einer ansteckenden Krankheit befallen zu
werden, ißt, wenn man sich vor ihr fürchtet, während der Arzt auf
einer solchen Station selten davon befallen wird. Die lebhafte
Furcht und Vorstellung der Krankheit kann allein zum Entstehen
derselben ohne jede Ansteckung genügen, besonders wenn sie durch
den Schreck potenzirt wird, in Gefahr gerathen zu sein. Durch
das ganze Mittelalter hindurch ziehen sich die Berichte von Wund-
malen und Blutungen an ascetischen Schwärmerinnen, und wir haben
keine Ursache, diesen Nachrichten Glauben zu versagen, wenn ein
deutscher und ein italienischer Arzt dieses Jahrhunderts das frei-
willige Bluten ^zu gewissen Zeiten als Augenzeugen bestätigen.
(Siehe Salzburger Medicinische Zeitung von 1814. I. 145 — 158 u.
n. 17 — 26: „Nachricht von einer ungewöhnlichen Erscheinung bei
einer mehrjährigen Kranken" vom Medicinalrath und Professor
T. Ihuffel zu Münster.) Warum sollen auch nicht Blutgefässe, wenn
sie das Erröthen gestatten und gelegentlich blutigen Schweiss ent-
stehen lassen, sich soweit ausdehnen, dass Blutung durch die Haut
entstehe? Aehnliche Fälle konmien auch im profanen Leben vor.
Ennemoser berichtet eine als völlig beglaubigt bezeichnete Geschichte,
wo die Streiche eines zur Spiessruthenstrafe verurtheilten Soldaten
am Leibe seiner Schwester sich durch Schmerzen und äussere Haut-
xeichen gezeigt haben sollen. Das viel bezweifelte Versehen
der Schwangeren gehört ebenfalls hierher. Die meisten Physiologen
verwerfen ohne Weiteres die Thatsachen, weil sie sie nicht erklären
können; Burdach, Baer (der ein Beispiel von seiner Schwester er-
zahlt), Budge, Bergmann, Hagen (letztere Beide in Wagner*s Hand-
wörterbuch) erkennen die Thatsachen durchaus an, Valentin stellt
wenigstens ihre Möglichkeit im Allgemeinen nicht in Abrede, J. Müller
giebt das Versehen der Schwangeren zu, insoweit es nur Henamungs-
bildimgen hervorbringen soll, aber nicht insofern es Verände-
rungen auf bestimmten Theilen des Körpers hervorrufen soll. Nun
ist aber einestheils fast jede Hemmungsbildung eine bloss partielle,
und andererseits haben wir so viel Beispiele sowohl von Vererbung
ganz partieller Abzeichen, derMuttermäler, als auch von ganz partiellen
Veränderungen am eigenen Körper (wie eingebildete Wirkung von
Giften oder Arzneien, Wundmale der Stigmatisirten) , dass kein
Grund vorliegt, an solchen ganz partiellen Einwirkungen der Mutter-
eeele auf die Fötusseele zu zweifeln, welche letztere ja noch ganz
in das organische Bilden versenkt ist. Lidem ich so die Thatsache
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Toni Vorsehen der Sohwangeren anerkenne, bezweifle ich keines^
iregäj dosB neun Zehntel derartiger Erzählungen Unsinn sind, aber
etreng genommen wären ganz wenige beglaubigte Fälle genügend.
An die Entstehung Ton Yergiftungssymptomen nach eingebildeter
Vßrgii'tung und Arznei Wirkung, ohne sie genommen zu haben,
schüet^stn sich eine grosse Zahl der sympathetischen oder Wunde^
euren an. Wie dort die Vorstellung der Wirkung den unbewussten
Will*^n Äum Setzen der Mittel und dadurch die Wirkung selbst
hanrorruft, ebenso auch hier. Das Eigenthümliche daran ist die Frage,
auf welche Art durch die Vorstellung der Wirkung das unbewusste
Wollen der Mittel bewirkt werde. Das bewusste Wollen der Wir-
kung Bobeint nicht wesentlich, denn beim Versehen der Schwangeren
und bei dem Eintreten der Wirkungen, die man sogar fürobtet^
kann doch der bewusste Wille nur dagegen und nicht dafiir sein,
und deimoch tritt der unbewusste Wille und die Wirkung ein.
Dagegen ist ein anderes Moment imentbchrlich bei demjenigen Theil
der Erscheinungen, die vom eigenen Willen des Individumnß
ausgehen, und nicht (wie bei Mutter und Fötus) durch einen frem-
den Willen magisch hervorgerufen werden,, nämlich der Glaube an
dan Eintreten der Wirkung; denn wie Paracelsus wunderschön sagt:
„Der Glaube ist's, der den Willen beschleusst." Wo deshalb der
büwuBste Wille mit dem Glauben an seine eigene Macht des Wider-
standes opponirt, da ruft dieser Glaube einen unbewussten Willen
hervor, welcher die Wirkung der ersten Vorstellung verhindert
E» kommt dabei nur darauf an, welcher Glaube stärker ist, der an
das Eintreten der Wirkung, oder der an die eigene Widerstands-
kraft, je nachdem neigt sich auch der unbewusste Wille auf die
eine oder die andere Seite. Die Kunst bei solchen Curen ist also
nur die, den Glauben an das Gelingen einzuflössen, und weil die
Meneehen diesen Zusammenhang nicht kennen, auch der daraus
hervorgehende Glaube vielleicht zu schwach zur Wirkung wäre,
tu US« der Aberglauben den Glauben schaffen und dazu dient allerlei
Hocuö Pocus. Vom unbewussten Willen gilt buchstäblich das Wort:
„Ja mehr Willen, je mehr Macht'', \ind das ist der Schlüssel zur Magie.
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j
vin.
Das Unbewnsste im organischen Bilden.
Wir kaben schon in den vorigen beiden Absohnitten bisweilen
nicht nmhin gekonnt, den Inhalt dieses Gapitels zu anticipiren.
Dies liegt daran^ weil die nacheinander behandelten G^enstände mit
dem Bildungstrieb so innig yerwachsen, ja Eines und Dasselbe sind,
dan bei dem Versuch eines scheinbaren Auseinanderhaltens ein
grosser Theil der schlagendsten Erscheinungen ganz unberücksichtigt
hätte bleiben müssen. Wir haben gesehen, dass der allgemeinste
hegrifliche Ausdruck, unter den man alle diese Gebiete zusammen
fiuflen kann, der des Instinctes ist ; aber ebenso gut kann man fast
lUe als Keflexwirkungen aufpassen, denn ein äusseres Motiv zum
Handeln muss immer yorhandeD »ein, und die Handlung erfolgt auf
dieses Motiv mit Nothwendigkeit, also reflectorisch, wenn auch erst
mttelbar durch verschiedene Reflectionen vermittelt. Eben so g\it
kann man aber auch alle diese Erscheinungen als Wirkungen der
Katnrheilkraft ansehen, denn nur wo dass äussere Motiv ein frem-
der, widerstrebender Stoff ist, kann es als Motiv wirken, sonst lässt
es indifferent; die Bewältigung des Materials ist aber ein Act der
Natoheilkraft. Das Eigenthümliche des Bildungstriebes wäre zu
tetsen üi die Verwirklichung der typischen Idee der Gattung auf
der ihr in jedem Lebensalter zukonunenden Stufe, während die
laturheilkraft in der Selbsterhaltung der verwirklichten Idee be-
stände. Man sieht aber, dass einerseits die Abwehr einer Störung
Bur durch Neubildung möglich ist, d. h. dass die Selbsterhaltung
der verwirklichten Idee nicht möglich ist, als durch gleichzeitige
Sntwickelung, also Verwirklichung einer neuen Stufe der Idee, dass
Andererseits die Verwirklichung einer neuen Stufe der Idee nur in
einer Eeihe von Kämpfen und Selbsterhaltungsacten besteht, da alle
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Stellen des Organismus in jedem Moment durch Störung bedroht
sind, und dass drittens die bildenden und bauenden Instincte eben
so gut wie das Bilden innerhalb des Körpers nach fixen Ideen
arbeiten, welche unbedingt als integrirende Bestandtheile der Gat-
tungsidee betrachtet werden müssen. Ja sogar müssen im weiteren
Sinne auch alle anderen Instincte als Verwirklichungen specieller
Theile der Gattungsideen aufgefasst werden, denn die G^attungsidee
der Nachtigall wäre offenbar unvollständig, wollte man die bestimmte
Gesangsweise nicht zu ihr hinajureohnen, ebenso wie die des Ochsen
ohne das Stossen, oder des Ebers ohne das Hauen, oder der Schwalbe
ohne die halbjährige Wanderung.
Es bleibt uns demnach in diesem Capitel nur übrig, erstens
einige Andeutungen über die Zweckmässigkeit des organischen
Bildens zu geben^ und zweitens zu zeigen, wie es sich in allmäliger
Stufenfolge an die bisher betrachteten Aeusserungsweisen des ün-
bewussten anschliesst.
Was die Zweckmässigkeit der Organisation betrifft, so könnte
man einerseits darüber allein starke Bände yollschreiben , und
andererseit« gehört zu teleologischen Detailbetrachtungen die grösste
Yorsicht, weil zum Theil gerade dadurch die Teleologie in Miss-
oredit gerathen ist, dass dünkelvolle Köpfe der Natur Zwecke
untergeschoben haben, die nicht selten die Grenze des Albernen
und Lächerlichen erreichten. Es kann sich also hier nur um einige
flüchtige Fingerzeige handeln, welche um so mehr für unseren
Zweck genügen, als zu einer weiteren Ausfuhrung derselben heut-
zutage die Kenntnisse jedes Gebildeten ausreichen. Ich gehe davon
aus, dass sich als Zweck des Thierreiches uns die Steigerung des
Bewusstseins darstellt; sei es nun, dass man den Zweck dieses
helleren Bewusstseins in einer Steigerung des Genusses, oder der Er-
kenntniss, oder zuletzt eines ethischen Momentes suchen wolle, immer
bleibt zunächst die Erhöhung des Bewusstseins der directe Zweck aller
thierischen Oi^anisation (vgl. Cap. C. Xin.). Warum überhaupt die
Yerleiblichung des Geistes die Bedingung für die Entstehung des Be-
wusstseins bilde, werden wir erst später sehen (Cap. C. IIL), hier
fragt es sich zunächst : woher die Trennung der organischen Natur
in Thierreich und Pflanzenreich? Der erste Grund ist der, dass zu
der Verwandlung der unorganischen Materie in organische, und der
niederen organischen Verbindungsstufen in höhere, eine solche Auf-
bietung unbewusster Seelenkräfte gehört, dass dasselbe Wesen keine
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Energie zui Yerinnerliohaug mehr übrig behielte^ weil sein Yennögen
in der Vegetation aufginge. Nur wo keine Steigerung der organisch
chemischen Zusammensetzung der Materie mehr erforderlich ist,
0ondem eine blosse Erhaltung auf der schon vorgefundenen Stufe^
oder eine blosse Leitung der von selbst erfolgenden Eückbildung
auf niedere Stufen yerlangt wird, nur da behält das Individuum
die Döthige Energie übrig, um die vorgefundene Materie zu dem
künstlichen Bau der Bewusstseinsorgane zu formen, und den Frocess
der geistigen Yerinnerlichung auf die Spitze zu treiben. Darum
die Trennung der Natur in das producirende Pflanzenreich und das
consnmirende Thierreich. Nun könnte man sich aber den Producenten
und Oonsumenten dennoch in einem Wesen vereinigt denken, indem
die eine pflanzliche Hälfte des Organismus die Stoffe bildet, von
deren Verbrauch die andere thierische Hälfte ihr Bewusstsein
aasbildet. Dem steht aber der zweite Grund für die Trennung
von Thier- und Pflanzenreich entgegen. Es leuchtet nämlich ein,
dass ein an die Scholle, auf der es wächst, gebundenes Thier (wie
die üebergangsformen niederer Wasserthiere in das Pflanzenreich
zeigen) zu keiner ausgedehnteren Erfahrung und dadurch zu keiner
höheren geistigen Entwickelung befähigt ist; man wird also als
Bedingung einer höheren Bewusstseinsstufe Locomobilität fordern
müssen. Wenn nun aber die Stoffe, aus denen sich organische
(i h. zum Träger höheren Bewusstseins allein befähigte) Materie
büden lässt, wesentlich aus dem den Erdboden durchdringenden
Wasser gezogen werden müssen, und hierzu die Ausbreitung einer
grossen auftauchenden Oberfläche unter der Erde (Wurzelfasern)
Dothwendig ist^ so ist klar, dass aus der unorganischen Natur sich
direct keine Wesen von höheren Bewusstseinsstufen bilden können,
da eine Locomotion bei solcher unterirdischen Verbreitung unmög-
lich ist. Hierdurch ist die Locomobilität der Thiere und die Sta-
büität der Pflanzen und somit die Sonderung beider Beiche bedingt.
Bie Thiere müssen also ihre Nahrung aufsuchen^ und brauchen
Merzu nicht nur Bewegungsorg an e, sondern auch Organe, um
die zu ihrer Nahrung geeigneten und ungeeigneten Stoffe zu unter-
seiden, und ihre Bewegungen mit Sicherheit ausführen zu können.
Dies sind die Sinneswerkzeuge. Der Organismus kann femer nur
durch Eesorption Materie assimiliren, daher muss diese in flüssiger
Gestalt sein. Die Pflanzen finden ihre Nahrung schon in dieser
Gestalt vor, die Thiere aber meist in fester; sie müssen also Organe
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habeiii um diese feste Nahrung erst wieder in flüssige Form xn brin-
gen; hierzu dient das Y erdauungssystem mit seinen Zerkleine«
rungsorganen (Mund und Magen)^ seinen auflösenden Säften (Mund«
speichely Magensaft; Darmschleim, (^alle), seinen langen Ganälen, und
endlich der Ausführmündung unverdauter Stoffe. Die Ohylusgefasse,
welche den Speisebrei au&augen, sind die Wurzelfasem des Thieres.
Da es wegen seiner ungleich grösseren dynamischen Leistungen viel
mehr Stoff verbraucht, als die Pflanze, muss auch fUr einen schnei-
leren Ersatz gesorgt sein; hierzu dient das System des Blut lauf es,
welches allen Theilen des Organismus fortwährend ^eue Stoffe in
schon geeignetster Form zur Assimilation darbietet. Da der ohemische
ProcesB im Thiere wesentlich ein Bückbildungs-, d. h. Oxydations-
process ist, so muss für den nöthigen Sauerstoff Sorge getragen
werden. Die Pflanzen brauchen zur Wechselwirkung mit der
Atmosphäre keine besonderen Organe, weil ihre zu ihrem Inhalt
ungemein grosse Oberfläche die Diffusion genügend vermittelt; beim
Thiere aber, dessen Oberfläche aus anderen Rücksichten viele tau-
sendmal kleiner als die der Pflanzen sein muss, muss durch be-
sondere Organe mit grosser innerer Oberfläche (Luftröhrenveräste-
lung) mit kräftiger Ventilation und durch schnellen Wechsel d&t
anliegenden Luftschichten vermittelst Wimperbewegung, sowie durch
eine der Diffusion günstige Beschaffenheit der trennenden Membraaoi
die nöthige Menge Sauerstoff in den Körper eingeführt werden;
dieser Oxydationsprocess bringt zugleich die thierische Wärme
hervor, welche eine Bedingung für die subtileren Veränderungen
der organischen Materie ist, oder wenigstens dem psychischen Ein-
fluss einen grossen Theil des Kraftaufwandes erspart.
So haben wir aus dem Bewusstsein als Zweck des thierisohen
Lebens schon die Nothwendigkeit von fönf Systemen hergeleitet»
von dem der Bewegung, der Sinneswerkzeuge, der Verdauung, des
Blutlaufes und der Athmung. Was die äussere Gesammtform des
Körpers bestimmt, ist hauptsächlich das erstere, das System der
Bew^ung. Sein Grundprincip ist Contraction, wie wir es schon
bei der Wimperbewegung und den Bewegungen der niederen Wasser-
thiere sehen. Sobald jedoch die übrigen Systeme einen gewissen
Grad der Ausbildung erreicht haben, verlangt die contraotible Masse
Stützpuncte im eigenen Körper, um mehr partielle Bewegungen und
in mannigfaltigerer Richtung vornehmen zu können; namentlich
tritt dies Bedür&ise sofort bei den Landthieren (auch schon bei den
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niedrigsten) ein. Diese Stütspuncte werden durch ein Skelett ge-
wonnen, welcbes snnächst aas verdickten Epithelialsohichten oder
kalkigen Oberfaantexcrementen , später bei den Wirbelthieren ans
dem Knochenskelett gebildet wird. Diese festen Theile dienen zu-
gleich den weichen zum Schutz, sonach bei den Wirbelthieren
Schädel und Wirbelsäule dem Hirn und Rückenmark. Die Orgaue
sor äusseren Locomotion bilden sich schon bei ziemlich niederen
Hiieren als besondere Gliedmaassen aus, die, je nach den Elementen
md Localitäten, und je nach der Nahrung, auf welche das Thier
angewiesen ist, die mannigfaltigsten Modiflcationen zeigen. — Zur
Brmöglichung einer leichteren Wechselwirkung yon Seele und Leib
bildet sieh als sechstes das Nervensystem aus, von dessen Bedeutung
sehen mehrfach die Rede gewesen ist, und als siebentes endlich
lehliesst sich im Dienste nicht des Individuums, sondern der Gat-
tung das Fortpflanzungssystem an.
Dies wäre in grossen Zügen die teleologische Ableitung der
Goustmetion des Thierreiches aus dem Bewusstsein, wobei das
Pflanzenreich bloss, oder doch wesentlich nur als Mittel für das
Thierreich erscheint, indem es ihm die Nahrungsmittel einerseits
und das Brennmaterial und den Sauerstoff andererseits bereitet;
denn die fleischfressenden Thiere leben ja auch vom PEanzenreich,
mir indirect. Die Zweckmässigkeit der Einrichtungen im Besonde-
Ten zu verfolgen, würde, wie gesagt, hier viel zu lange aufhalten.
Ich verweise nur auf die wunderbare Construotion der Sinnesorgane,
wo die Zweckmässigkeit auf das Eclatanteste hervortritt. Fast noch
mehr ist dies bei den Zeugungsorganen der Fall, wo es besonders
Staunen erregt, dass sie bei aller Verschiedenheit doch für die bei-
den Geschlechter einer Gattung stets zusammenpassen, auch die
ührige Kdrpergestalt stets eine Begattung zulässt. Die Brunst stellt
sich bei den Thieren stets so ein, dass nach Verlauf der constanten
Trachtigkeitsdauer die Jungen zu der Jahreszeit auskommen, wo
ne die reichlichste Nahrung finden; bei vielen erwachsen zur
feunstzeit besondere Theile, um die Begattung besser zu vollziehen,
▼eiche nachher wieder verschwinden ; so bei vielen Insecten Haken
«n den Geeohlechtstheilen zum Festhalten des Weibchens, beim
Frosch warzige Erhabenheiten an den Daumen der Vorderfüsse,
die er in den Leib des Weibchens eindrückt, beim männlichen gemeinen
Wasserkafer Scheiben mit gestielten Saugnäpfen auf den drei ersten
Handgliedem, beim Weibchen dagegen Furchung der Flügeldecken.
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144
Ein häufig vorkommender Irrthum ist der, an der zweckmässi-
gen Einrichtung der Organismen deshalb zu zweifehi, weil gewisse
Anforderungen der Zweckmässigkeit ^ welche wir zu stellen uns
herausnehmen, von ihnen nicht erfüllt werden. Dass eine voll-
kommene Zweckmässigkeit im Einzelnen unmöglich ist, sollte doch
Jedem einleuchten, denn dann dürfte zunächst keine Krankheit oder
Schwäche den Körper besiegen, er also unsterblich sein. Wenn man
fordert, dass die Hirnschale des Menschen den Schlag eines faustgrossen
Hagelkornes aushalten sollte, und sie für unzweckmässig erklärt, weil
sie das nicht thut, so ist das offenbar thöricht, da ihre Einrichtung
für solche Ausnahmefalle andere und viel grössere Inconvenienzen im
Gefolge haben würde. Dieser Art sind aber die meisten !Fälle, wo
behauptet wird^ dass Organismen unzweckmässig eingerichtet seien;
es reducirt sich darauf, dass ihnen Einrichtungen fehlen, welche
für gewisse Fälle zweckmässig sein würden, in den meisten
anderen Fällen oder Beziehungen aber unzweckmässig. Eine andere
Art von Vorwürfen der Unzweckmässigkeit wird durch die Constan«
der morphologischen Qrundtypen möglich, welche ein durchgehendes
Naturgesetz bildet, und die Einheit aller organischen Formen, die
Einheit des ganzen Schöpfongsplanes nur in um so helleres Liciit
setzt. Es ist das lex parsimoniae^ welches sich auoh im Erfinden
der organischen Formen bewahrheitet, indem es der Katur leichter
fällt, hier und da unschädliches TJeberflüssiges stehen zu lassen, aU
immer wieder Veränderungen vorzunehmen und neue Ideen zu er-
denken; sie bleibt vielmehr bei der m(%lichsten Einheit der Idee
stehen, und nimmt an dieser gerade nur so viel Aenderungen vor,
als unumgänglich nothwendig sind. Von dieser Art sind die rudi-
mentären Zitzen bei männlichen Säugethieren, die Augen des Blind-
molls, die Schwanzwirbel bei schwanzlosen Thieren, die Schwimm-
blase bei Fischen, die immer auf dem Grunde leben, die Glied-
maassen der Fledermäuse und Cetaceen u. dgl. m.
Endlich ist zu bemerken 9 dass wir bei dem zweckmässigen
Wirken des Bildungstriebes ebenso wie bei dem des Instinctes ein
Hellsehen des Unbewussten anerkennen müssen, da aUe Organe
früher im Fötusleben entwickelt werden, als sie in Gebrauch treten,
und oft sogar sehr bedeutend früher (z. B. Geschlechtsorgane). Bas
Kind hat Lungen, ehe es athmet, Augen, ehe es sieht, und kann
doch auf keine "Weise anders als durch Hellsehen von den zukünf-
tigen Zuständen Kenntniss haben, während es die Organe bildet;
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j
_ 145
ftber ein Grund gegen die Bildungsthäügkeit der individuellen Seele
kana dies nicht sein^ da es um nichts wunderbarer ist^ als das
Hellsehen des Instinctes.
Gehen wir nunmehr dazu über, den stetigen und allmäligen
Aoflchloss des orgaaischen Bildens an die Leistungen des Instinctes
sa betraohteiL — Die Nester, den Bau und die HöhleUi welche sich
die Thiere bauen und graben, betrachtet noch Jeder als Wirkungen
des Instinctes. Der Pfahlwunn bohrt sich mit seiner Schale m
Eßiz, die Bohrmuschel in weichen Felsen eine Höhle; der Sand^
wunt bohrt sieh in den Sand und klebt diesen mittelst deis an seiner
^ Hantfläche ausgeschiedenen Saftes zu £ner Bohre zusammen ; einige
kleine Käfer bilden sich aus Staub, Sand und Erde einen Ueberzug
ikrer zarten Haut; die Mottenlarren machen sich Bohren aus Haaren
oder Wolle, die sie mit sich herumtragen; die Larve der meisten
Phryganeeu webt mit den aus ihrem Spinnirgane hervorgegangenen
Faden Holz, Blätter, Mutterschalen u. s. w. zu einer Bohre zusam-
men, in der sie wohnt und die sie mit sich trägt Die sich ein-
spiimende Kaupenlarve braucht keine fremden Stoffe mehr, die sie
in ihr GeayiiVQst einwebt, sondern begnügt sich mit diesem allein,
am die zur Yerpuppung oöthige Abschliessung und Buhe zix er-
halten; hier ist also die Wohnung des Thieres ebenso wie das Netz
der Spinnen und der Hautüberzug, den einige Eäferlarven aus ihrem
eigenen Koth bilden, schon ganz vom Organismus selbst gebildet.
Nautilus und Spirula treten periodisch aus ihrem halbkugeligen
Gehäuse heraus und bilden sich ein ihrem inzwischen eingetretenen
Wachsthnm entsprechendes grösseres, das aber mit dem alten ver-
buBden ist, so dass mit der Zeit das Gehäuse des Thieres aus einer
Beihe solcher immer grösser werdenden Kammern besteht. A^f
äbnliehe Weise wachsen mit den SchneckcA ihre Gehäuse, während
die Erustaceen jährlich ihre Schale durch willkürliche Bewegung
sprengen und ausziehen, ähnlich wie die Arachniden, Schlangen und
Bidecbsen ihre Haut, die Yögel und Säugethiere ihre Eedem und
Haare, während die Haut der höheren Thiere sich fortwährend
whuppi Waa wir bis jetzt am Bau im Ganzen gesehen haben,
kann man auch an einzelnen Theilen, z. B. dem Deckel, beobcu>hten.
^e Spinne (Mygale cemeniaria) lebt in einer Höhle im MergeL
die ne mit einer Thür aus zusammen gewobenen Erdklümpchen
^ einer Angel aus Spinneweben befestigt. Die Weinbergssphnecke
flchliesst im Winter ihre Wohnung mit einem Deckel, den sie
V- Hart mann, Phil. d. UnbewnssteD. 10
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146
sammt seiner Angel durch Ausschwitzungen des eigenen Körper»
verfertigt, der aber doch mit ihrem Körper in keiner Verbindmig
steht. Bei anderen Schnecken dagegen ist der Deckel dorch mus-
kulöse Bänder mit dem Thiere permanent verbunden. So sind vir
in stetiger Folge vom Bauinstinct zum organischen Bilden gelangt,
und was so in einander Eiesst, sollte aas verschiedenen Qxundprin-
cipien hervorgehen ? Wie die Eichhörnchen und andere Thiere der
Instinct reichlicher sammeln und eintragen lehrt, wenn ein kalter
Winter bevorsteht, so bekommen Hundei, Pferde und Wild in solchen
Jahren einen dickeren Winterpelz; wenn man aber Pferde in heisse
Glimata versetzt , so bekommen sie nach wenigen Jahren gar kein
Winterhaar mehr. Bass der Kukuk seinen Eiern die Farbe der
Eier des Nestes einbildet, welches er sich zum Legen ausgesucht
hat; ist schon wiederholt erwlQmt. Der Instinct der Spinne weiat
sie auf Spinnen an, die Bildungsthätigkeit giebt ihr das Organ zum
Spinnen ; der Instinct der Arbeitsbiene weist sie speoiell auf du
Einsammeln und dem entsprechen die Transportmittel, ja sogar
haben sie Bürsten an den Füssen zum Zusammenkehren des BlütheU'
staubes und Ghruben zum Einsammeln vor den anderen Bienen
voraus. Die Insecten, welche ihrem Instinct nach ihre Eier auf
frei herumkriechende Larven legen, haben sich nur einen gan*
kurzen Legestachel gebildet, während andere sehr lange Stacheln
haben, die ihre Eier in Larven legen müssen, welche tief in altem
Holze (Cheloatoma maxiUosa) oder in Tannzapfen versteckt sitzen.
Der Ameisenbär, der seinem Instinct nach auf Termiten angewiesen
ist, und bei jeder anderen Nahrung stirbt, hat sich bei seiner Ent-
stehung darauf vorbereitet theils durch kurze Beine und starke
Krallen zum Ausgraben, theils durch seine lange, schmale, zahnlose,
aber mit einer fadenförmigen, klebrigen Zunge versehenen Schnauze.
Die Eulen, die auf Nachtraub angewiesen sind, haben den gespen-
stisch leisen Flug, um die Schläfer nicht zu wecken. Die Banb-
thiere, die durch ihre Verdauung instinctiv auf Fleischnahrung an-
gewiesen sind, haben sich auch mit der nöthigen Kraft, Schnellig-
keit, Waffen und Scharfblick oder Geruch versehen. Wie der
Instinct viele Vögel ihre Nester durch Aehnlichkeit der Farbe mit
der Umgebung verstecken lehrt, so hat die Bildungsthätigkeit un-
zähligen Wesen durch Aehnlichkeit mit ihrem Aufenthaltsort Schnta
verliehen (namentlich Schmarotzern). Sollte es wirklich ein ver-
schiedenes Princip sein, was den Trieb zur That einflösst, und die
Mittel zur Ausführung verleiht?
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147
Was die Beflexbewegungen betrifPI;, so sehen wir einen grossen
Theü der Yerdauungsvorgänge dnrch dieselben vermittelt. Vom
Sehlacken an werden die peristaltischen Bewegungen der Speise-
röhre, des Magens und der Därme grossentheils dnrch Eeflezbe-
wegongen bewirkt, indem der an jeder Stelle wirkende Beiz der
genossenen Speise za der Weiterbeförderung durch zweckmässige
Bew^ungen Anlass giebt. Ebenso ist die auf den Beiz der Speisen
eintretende Vermehrung der Secretionen von Mundspeichel, Magen-
Bift, Barmschleim u. s. w. Beflezwirkung. Die Entleerung der an-
gehäuften Excretionen erfolgt gleichfalls durch Beflexwirkung.
Wir haben oben gesehen, dass die Beflexwirkung durchaus nichts
Mechanisches ist, sondern Wirkung der nnbewussten Intelligenz.
Wir kommen nun zur wichtigsten Parallele, der mit der Natur-
heilkraft. Schon oben haben wir betrachtet, wie die Erhaltung der
eonstanten Wärme eine der wunderbarsten Leistungen des Organis-
muB sei, die nur durch wunderbar genaue Begelung der Athmung,.
der Sgestion und Ingestion bewirkt werden könne. Hierbei muss
aher die Zukunft mit in Anschlag gebracht werden, wenn nämlich
in Zokimft eintretende Störungen durch das Eintreten ihrer Ursachen
sieh im Voraus berechnen lassen.
Dem. entsprechend sehen wir jeder Ingestion sehr bald eine
entsprechend vermehrte Egestion folgen, noch ehe dds Blut die neuen
Stoffe aa%enommen haben kann (z. B. unmittelbar nach dem Trin-
ken vermehrter Harnabgang oder Schweiss, vermehrte Speichel- und
GaDenabsonderung beim Essen unabhängig von örtlicher Beizung
der Organe). Da jeden Augenblick eine wenn auch geringe Störung
der WSrmeconstanz eintritt, so muss die Heilkraft oder Bildungs-
thHügkeit schon mit diesem Punct allein fortwährend beschäftigt
Bein, Femer gehört zur Verdauung jeder Speise eine besondere
Art der mechanischen und chemischen Behandlung. Wir sehen,
dass Fleisch von Pflanzenfressern, Pflanzen von Fleischfressern gar
nieht oder nur unvollständig verdaut werden kann, dass Knochen
von Eaubvögeln verdaut werden, von Krähen aber nicht, dass der
Instinct viele Thierarten auf eine einzige Art von Nahrungsmitteln
aßweist, ohne welche sie sterben, und dass umgekehrt sich bei
Xensehen und Thieren Idiosynkrasien der Gattung oder des Indi-
viduxuns finden, durch welche gewisse Stoffe unbewaltigt bleiben
^ dem Oi^anismus zum Nachtheil gereichen. Hieraus geht her-
Tor, dass die Verdauung jedes Stoffes andere Bedingungen erfordert^
JO*
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148
Tind dass er unverdaut bleibt oder schadet, wenn der Orgamsmiu
nicht im Stande ist» diese Bedingnngen herbeu^uführeiL Benma^
setzt jeder Yerdauungs%(rt da^ Herbeiführen besonderer Bedii]£:ungen
voraus, ohne welche ^ störend ai;f den Organismus wixkt; hier
haben wir also wiederom eine fortwährende Heschäfitdgung der HeiU
kraft in Abwehr der Störungen, oder, wenn man will, der KMong»-
thätigkeit in Aasinu^ation des Stoffi^a.
Wir haben gesehen, dass bei jeder Yerletomg die Wirkung
der Heilkraft oder der Ersatz nur möglich ist duirch NeubUdung,
durch die Entzündung^ welche das iN^eoplasma liefert, aus dem uch
dann die zu ersetzenden Theüe oAtwickeln. Eben so sehr benibi
jede Vermehrung einer Egei^tion bei Unterdrückung einer anderes
auf einer Keubildungy nämlich des nunmehr vermehrten Egestions-
secretes.
Die gaoze Ernährung des Körpers, in der nach beendetem
Wachsthum die Hauptaufig;abe des Bildungstriebes besteht, ist m
und dasselbe mit Neubildung, und verhält sich zur iN^eubüdoni
ganzer Körpertheile , wie die fortwährende Hautabschi^ung itß
Menschen zur periodischen Häutung der Schlangen und Bi4eob9ß9f
d. h. die Ernährung ist eine Summe unendlich vieler, unwilicfc
kleiner Keubüdungen , die Neubildung bloss eine sich sehr ac^ell
addirende und darum mehr in die Augen fisiUende Eraätumog*
Haben wir also die Neubildung im Ersatz bereits als eip zweck-
thätiges Wirken der unbewussten Seele erkannt , so iiiuss dasselbe
für die Ernährm^ gelten, wenn wir auch diese, wie wir ni^t rmr
hin können, als zweckmässig anerkennen müssen. Allerdings wird
in dem allmäligen Verlauf der Ernährung der seelische Eiafl^
weniger in Anspruch genommen, als bei rapiden NeubilduQg^o«
schon weil die chemische Contaotwirkung mehr behülflioh imU dw«
er aber keinesweges enUs^ehrt werden kaon, beweisen 4ie d»rek-
greifenden Ernährungsstörungen in den Theilen, deren Nervenver-
bindungen mit den Centds der zufuhrenden s3rxQpathisoh«si Sssßt»
durchschnitten sind ; (theils Abmagervmg, theils Entartung der Searete^
theils Blutentmischung, bei empfindlicheren Theileu, wie Aug^»-
Entzündung und Zerstörung). Die capiUaren Bluigeiasse, aus denen
durch Endosmose die Gebilde ihre Nährflüssigkeit beziehen, mögea
sich noch so fein vertheilen, so wird doch für jedes Gefass no^
ein verhältnissmässig grosses Gebiet übrig bleiben, in dem auch die
dem Gefäss fern liegendsten Theile versorgt sein wollen, auch wW
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149
hiieig Ton demfielben Q«fafis Mosliei, Sebneiii Knochen nnd N6ir?en^
sibetanE gleichmSamg yersehen werden müsBen; es mnss sich alsc^
jedes Tkeüchen aas der Näkrftisagkeit heransnefamen , yfri» ihm
paasi Wenn wir nun aber wissen^ dass naeh oh^msohen G^eeetfien
sowohl die sn exnahnraden Oebüde, als die Nfihrflüesägkeit fort^
während die Tendenz znr Zersetzang halben, der sie nachkommea,
sobald dnrdt den Tod oder anch vor dem Tode bei grosser Körper-*
si^ywäche die Macht der nnbewnssten Seele übeor sie anfgehört hat,
eo köonen wir unmöglich glanben, dase ohne jeden seelischen Ein-
ioss diese Assamilation in alle den feisen örtlichen Nuancen vor
enh gdien kaim^ wie sie für den Bestand des Oiganismns noth--
weadig ist. £» ist diese chemische Beständigkeit der organis<^ien
Gebilde ganz analog der fortwährenden mechanischen Spannnng
teoh den Tonns; Beides ist nur dnroh eine unendliche Summe
Qimdlich kleiner Clegenimpnlse gegen natürliche Zersetzung nnd
natüiücftie E^hlaffang zu erklären, nnd diese Impulse können nur
vom Willen ausgehen. So folgt auch aas apriorischer Erwägung^
was dorch die empirische Ansohaumig der NervendnrchsehBeidung
bestätigi wird.
besetzt nun aber, diese beiden Gründe im Verein mit der
Sinerleiheit von Neubildmig und Ernährung würden nicht zu-
tieffend befunden, um den seelischen Einfluss bei der gewöhnlichen
^nüirung zu beweisen, und man imhme an, dass die ehemiseke
Cimtactwirkung der vorhandenen Gebilde genügende Ursache wäre,
9* fragte es sich doch: woher kommt diese Besohaflfenheit der Ur-
sache? Ba würde man denn sagen müssen: diese Gebilde haben
jetet diese Beediaffenheit, weil sie sie früher hatten. So würde
man beim Weiterfiragen auf einen Punct kommen, wo die Beaohaf-
feolieit der Gebilde eine andere geworden, nnd es würde zunächst
diese Aendemng zu erklären sein; denn diese Aenderung ist IJr'*
lache, dass diese Gebilde von jenem Zeitpucnot an zweckmässig
war^ und kraft ihrer eigenen Beaehafßsnheit sich in zweckmiüssigem
Zustande erhalten mussten, und da. für diese zweckmäesige Aen-
denmg keine materiaUsüsehe Erklänmg mehp existirt, so muss sie
dem zwedcihlttigen Wirken unbewuasten Willens zugeschricfben
WHden; damit ist aber dieser auoh die Ursache deo; zweckmässigen
Mialtiing, und die Hothwendigkeit, einen seelischen Einfluss zu
Biife^zu nehmen, iet nioht au%ahoben^ sondern nur aufgesehoben.
A^9e»^«a davon^ dass wir in jedem Moment des Lebens an
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160 '
einem solchen Zeitpunot der Yexänderong stehen, könnte man noeh
weiter zurückgehen, denn für die jetzige Beschaffenheit der Gebilde
ist nicht bloss die Aenderung selbst, sondern auch ihre Besohaffen-
heit Tor der Aenderong Bedingung. Verfolgen wir diese Reihe
rückwärts, so konunen wir zu der ersten Entstehung des Gebildes,
welche ihre Erklärung verlangt, während wir inzwischen mindestens
so viel seelische Einwirkungen statuiren müssen, als im Leben zweck-
mässige Veränderungen mit ihm vorgegangen sind. Da nun kein Ge-
bilde im Organismus überflüssig ist, sondern jedes einen bestimmten
Zweck hat, der wieder als Mittel zur Erhaltung des Individuums
oder der Gattung dient, scwird man auch in diesem ersten Ent-
stehen ein zweckthätiges Wirken des Willens sehen. So gewiss
nun das erste Entstehen und die grossen Veränderungen wichtige
Hül&mittel und Erleichterungen für das Bestehen und die Ernäh-
rung eines Gebildes sind, und dem Willen seine Arbeit erleichtern,
ja für den ganzen Umfang des Organismus erst ermöglichen, so
gewiss sind sie nicht die alleinigen Bedingungen der Ernährung,
sondern der im Organismus allgegenwärtige unbewusste Wille nebst
der unbewussten Intelligenz ist im kleinsten chemischen oder physi-
kalischen Voi^ang mitbetheiligt, schon deshalb, weil im kleinsten
Vorgang der Organismus bedroht ist, und sei es nur dnrdi die
Tendenz zur chemischen Zersetzung, und nichts Anderes diesen
unaufhörlichen materiellen Störungen das Gleichgewicht halten
kann als eine psychische Einwirkung. Andererseits aber ist nur
dadurch das Leben möglich, dass diese psychische Einwirkung für
die gewöhnlichen Vorgänge auf ein Minimum reducirt wird, und
der übrige Theil der Arbeit durch zweckmässige Mechanismen
geleistet wird. Diesen zweckmässigen Mechanismen begegnen wir
überall im Körper, aber so, dass der unbewusste Wille sich jeden
Augenblick die Modification des Zweckes (z. B. in verschiedenen
Entwickelungsstadien), sowie »auch das selbstständige Eingreifen in
die Bäder der Maschine und unmittelbare Leistung einer Angabe,
der der Mechanismus nicht gewachsen ist, vorbehält. Dies kann
unser Staunen vor der unbewussten Litelligenz nicht vermindern,
sondern nur erhöhen, denn wie viel höher steht nicht der, welcher
sich die wiederkehrende Leistung einer Arbeit durch Construction
einer zweckmässigen Maschine erspart, ab wer dieselbe stets aofs
Neue mit seinen Händen zweckmässig verrichtet. Und ^^izten
Endes bleibt doch immer noch der Seele jenes unvermeidlii^
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161
Miniinum unmittelbarer Bildung übrig, weil jeder Moment andere
VeiliSltiiifsee und andere Störungen bringt , und kein MechanismuB
anders als für Eine bestimmte Gattung von Verhältnissen passen
kann. Dies also ist die Antwort auf alle Einwürfe, die im bis-
herigen Yerlaufe £eser Untersuchung mit dem notorischen Nach-
weis Ton zweckmässigen Mechanismen etwa hätten« gemacht
weiden können: 1) der Begriff Mechanismus erschöpft nicht die
lliatsachen, sondern die Leistungen eines Mechanismnsi wo er vor-
handen ist, lassen stets dem seelischen Wirken einen unmittelbar
zu leistenden Best übrig; und 2) die Zweckmässigkeit des
Mechanismus schliesst die Zweckmässigkeit seiner Ent-
stehung in sich, und diese bleibt immer wieder der ^eele über-
lassen.
Wenn wir mit der Erwägung, dass jeder organische Yorgang
zwei iTJraachen hat, eine psychische und eine materielle, weiter
I mkwärte gehen in der Kette der materiellen Ursachen, so kommen
' wir in aller Strenge , welchen Ausgangspunct wir auch wählen
f mgßüf auf das eben befrachtete Ei als letzte materielle Ursache;
wo die Entwickelung des Eies ganz oder theilweise im mütterlichen
Organismus geschieht ^ sprechen fireilich auch die. materiellen Ein-
wirkungen dieses mit, aber bei den ausserhalb des weiblichen
; Körpers befrachteten Eiern der Fische und Amphibien ist auch
i moht einmal dies der Fall Bei diesem Zurücksteigen ist aber zu
bemerken, dass die psychischen Ursachen den materiellen gegenüber
^ im Allgemeinen um so bedeutender werden, je jünger das Indivi-
damn ist (wie wir schon an der StSiiie der Naturheilkraft sahen);
im höheren Alter zehrt der Organismus meist von den Errungen-
schaften besserer Zeiten, Tor der Pubertät dagegen bringt er fort-
während theils wachsende, theils neue Leistungen, und im Leben
äes Embryo steigert sich wieder die Wichtigkeit der psychischen
Einflüsse um so mehr, in je jüngereh Perioden wir es betrachten.
Das eben befruchtete Ei ist eine Zelle (es besteht nur aus dem
l>otter), deren Wand die Dotterhaut, deren Lihalt das Dotter und
deren Kern das Keimbläschen darstellt. Bei den höheren Thieren
ist die Eeimscheibe innerhalb des Keimbläschens (das beim Menschen
®^* ^/aoo Linie gross ist) der Theil, aus dem allein das Embryo
^föüich unter Beihülfe des Dotters, sich entwickelt. Jeder Theil
des Eies zeigt in sich eine durchaus gleichmässige Structur (theils
körnig mit eingelagerten Fetttröpfchen, theils membranös und
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152
schleimig), und diese überall gieichen Elemente genügen, um miter
meist gleichen äusseren umständen (Bebrütungswärme bei Yögeln,
litift xmd Wassertemperatur bei Eischen und Amphibien) die ver-
schiedensten Gattungen mit ihren feinsten Unterschieden und ihrer
unermesslichen Mei^ von Systemen, Organen und Gebilden hervor-
jEubringen; denn das aus dem Ei hervorbrechende Junge enthält
bei den höheren Thieren fast alle Gebilde und Difi'erenzeB des
erwachsenen Thieres in sich. Hier offenbart sich der EinfLuss des
Willens in der Umgestaltung der Elemente am deutlichsten, wie
man denn in Fischeiem einige Stunden nach der (künstlichen) Be-
iruchtung die senkrecht zu einander stehenden meridianiechen und
die äquatoriale Einschnürung des ganzen Dotters entstehen sehen
kann, mit der die Entwickelung beginnt, und der eine Menge pa-
ralleler Einschnürungen folgen. Die längste Zeit des Embryoneo-
lebens ist die Seele mit Herstellung der Mechanismen beschäftigt^
welche ihr später im Leben die Arbeit der Stoffebeherrschung zum
grössten Theil ersparen sollen; es ist aber ikeiB Gxund einzusehea,
warum wir die hier eintretenden Neubildungen nicht eben so gat
dem zweckthätigen Wirken des unbewussten Willens zuschreibeai
sollen, wie die späteren Neubildungen im Leben ; denn die grössere
Ausdehnung dieser ersten Bildungen im YerhaltniBs zum sohoD
vorhandenen Körper kann doch wahrlich keine qualitative Unt^-
Scheidung begründen, und dass der Moment der Individualisatkm
der neuen Seele der der Befiruchtung ist, kann doch gewiss keinem
Zweifel unterliegen; dass aber die Seele in jener Periode noch
keine bewussten Aeusseruagen zeigt, kann weder befremden, da
sie »ich das Organ des Bewusstseins erst bilden soll, noch kann es
ihrer Concentration auf die unbewussten Leistungen etwas anderes
als förderlidi sein, da ja auch im späteren Leben die Macht des
Unbewussten bei gänzliiaher Unterdrüokuiig des Bewusstseins sieh
am glänzendsten bewährt» wi» bei Heilkrisen im tiefen Schlaf ; xad
das Embryo Hegt ja auch, im tiefen Schlaf. — Bedachten wir aber
noch einmal die Etage, ob denn ein unbewusster Wille überhaupt
körperlidie Wirkungen hervorbringen könne, so haben wir ui
früheren Oapiteln das Resultat erhalten, dass jede Wirkung der
Seele auf den Körper ohne Ausnahme nur durch einen unbewussten
Willen möglich sei; dass solch ein unbewusster Wille theils durch
bewussten Willen hervorgerufen werden könne, theils auch durch
die bewusste Vorstellung der Wirkung ohne bewussten WiU*^'
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"163
selbst gegen den bewussten Willen; warum soll er also nicht auch
durch unbewußste Vorstellung der Wirkung hervorgerufen werden
können, mit der hier sogar nachweislich der unbewusste Wille der
Wirkung verbunden ist, weil die Wirkung Zweck ist. Dass aber
endlich die Seele in der ersten Zeit des Embryolebens ohne Ner-
ven arbeiten muss, kann gewiss nicht gegen unsere Ansicht spre-
eilen, da wir ja nicht nur in den nervenlosen Thieren alle Seelen-
wirkungen ohne Nerven erfolgen sehen, sondern auch am Medschen
weiter oben genug Bebpiele der Art angeführt haben, ausserdem
aber das Embryo in der ersten Zeit gerade diejenige halbfliissige
Structur hochorganisirter Materie hat, welche Nerven Wirkungen zu
enetzen geeignet ist.
Wenn wir nun erstens materialistische Erklärungsversuche als
ungenügend erkenneui zweitens eine prädestinirte Zweckmässigkeit
der Entwickelung in Anbetracht dessen unmöglich erscheint, dass
jede Gruppirung von Verhältnissen im ganzen Leben nur Einmal
vorkommt, und doch jede Gruppirung von Verhältnissen eine andere
Seaction fordert, und gerade diese geforderte hervorruft, wenn
drittens die einzig übrig bleibende Erklärungsweise, dass die unbe-
WQSBte Seelenthätigkeit selbst sich ihren Körper zweckmässig bildet
nnd erhält, nicht nur nichts gegen sich, sondern alle nur mögliche
Analogien aus den verschiedensten Gebieten der Physiologie und
des Thierlebens für sich hat, so scheint wohl die Beglaubigung der
individuellen Vorsehung und Bildungskraft hiermit so wissenschaft-
lidi sicher, als es bei Schlüssen von der Wirkung auf die Ursache
mir möglich ist.
So schliesse ich denn diesen Abschnitt mit dem schönen Worte
Schopenhauers: „So steht auch empirisch jedes Wesen als sein
eigenes Werk vor uns. Aber man versteht die Sprache der Natur
»icht, weil sie zu einfach ist." —
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Vi'-: ■ ■
4 *^ ■
I B.
Das Unbewusste im menschlichen Geist.
Der SeUftsMl nur BrkenntDiM Tom WesM des
bemusten Seelanlebenfl liegt ia der Begion des TJn-
C. &. Oanu.
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:^rr- i
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L
Dcü^ iBStimet im meBscUMieii Geist.
So wenig es iii(^lK)h int, Leib uad Seele in der Betnushtong
slTeog za BonäeTüt ao wmiig iet es lEkö^^ieh xait dea Listincten,
-welcdie sich auf leihUc)ie, imd denen, welcb»; sieJbi auf aeelisehe
Be^Kifiiieee hmiehe^. So habeu wir demL.a^oh iu vorigen Abechnitt
schon Teraobiedene Ip«tjnote dee menaehluAen, Geiirtea «rwälmt, als:
die eepmiöaen Aj^petite Knunker oder Schwangerer, and die Heil-
üifltinete der Kinder od^ sonmambüLer Personem; einige andere
schlieeaen sich unmittelbar an die leibliehen iBstincte an, z. B. die
Furcht TOT dem noeh unbekannten faUen bei jungen Thieren und
Kiadei»» die Zw B. ruhig eind, wenn aie. die Treppe hinauf, uaruhig,
wenn sie hinab getragen wierdaa; die grössere Vorsicht und Bedäoh'p
tigkeit in den Bewegungen aehwangerer Pferd« und Frauen, der
Trieh der Mütter, das ÜTeugeborene an die Borust svl legen, der des
KiBdea su saug^, du» etgeaitiiüinliQhe Talent der Sünder , wahre
Frenndliehkeit von eribbeueheker zu untersoheiden, die instincinva
8<^iu«a.Tor gewissen uAbelMMmten. Personen, die namentliobbei reinen,
unerfahrenen Mädchen vorkommt, die guten und bösen Ahnungen
mit ihrer namentlich beim weiblichen Oescblecht grossen Moti-
Tationskraft zum Begehen und Unterlassen von Handlungen u. s. w.
— Wir wollen in diesem Capitel diejenigen menschlichen Instinote-
betrachten, welche sich noch enger an die Leiblichkeit anschliessend
und denen m^ deshalb auch noch vorzugsweise den Namen Instinct
2u gönnen pftegt, während der hohle Dünkel der Menschenwiirde
bei allen weiter von der LeibHohkeit abliegenden, sonst aber ganz
gleichartigen Aeusserungen des Unbewussten sich sträubt, dieses
Wort zuzulassen, weil ihm etwas Thierisches anzuhaften scheint
Zunächst haben wir einige repulsive Instincte zu betrachten
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d. h. solche, die nicht za HandlimgeDi sondern 2U Unterlassungen
nöthigen, oder doch bloss zu solchen Handlungen, dnrch welche der
Gegenstand des inneren Widerstrebens entfernt oder gemieden wird.
Der wichtigste ist die Todesfdrcht; dies ist nur eine bestimmte
Richtung des Selbsterhaltnngsinstinctes, dessen anderweitige Formen
als Naturheilkraft, organisches Bilden, Wandertrieb, reflectorische
Schutzbewegungeii u. s. w. wir schon kennen. Nicht die Furcht vor
dem jüngsten Gericht, oder anderweitigen metaphysischen Hypo-
thesen, nicht Hamlets Zweifel yor dem, was da kommen wird, nicht
Egmonts freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens würden
die Hand des Selbstmörders aufhalten, sondern der Instinct thut
es mit seinem geheimnissyollen Schauer, mit seinem rasenden Herz-
klopfen, das alles Blut tobend durch die Adern jagt.
Ein zweiter repulsiver Instinct ist die Scham; dieselbe berieht
^sidi so ausschliesslich auf die Genitalsphäre, dass diese Eörperthrile
sogar nach ihr genannt w^den; sie kommt in besonders hohem
Grade dem weiblichen Geschlecht zu, und ruft bei diesem die de-
fensiye Haltung herror, welche wesentlich seinen Geschlechtscha-
racter ausmacht, und für das ganze menschliche Leben bei Wilden
wie bei Gulturrölkem bestimmend wirkt. Die mildere Form der
Brunst, welche durch die ünperiodicität*) derselben bedingt ißt,
und die Scham rind die beiden ersten Grundlagen, welche das
Geschlechtsrerhältniss der Menschen in eine heuere Sphäre als das
der Thiere heben. — Scham ist so wenig etwas vom Bewusstsein
Gemaehtes, dass wir sie vielmehr schon bei den wilden Yölkerscbaf'
ten finden, freilich da nur auf die eigentliche Hauptsache beschränkt}
während die Bildung Alles, was nur irgend mit geschlechtlichen
Yeriiältnissen zusammenhängt, in die Sphäre der Scham mit hin^
zieht.
Ein ganz ähnlicher repuLsiver Instinct ist der Ekel; er berieht
rieh 80 auf Yerhältnisse der Nahrung, wie die Scham auf die des
Geschlechts, und dient dazu, die Gesundheit vor solchen NahrungS'
Stoffen zu bewahren, von welchen am leichtesten zu befurchten ist,
dass sie mit Schmuz und TJnreinigkeit, d. i. organischen Auswurfs-
stoffen und halb in Zersetzung übergegangener organischer Materie
*) Dieses Moment schlug Beaumarchais so hoch an, dass er scherzend
sagte: Bo&e tant $oif, et faire Vamour en tout tempe, e'eet ee qui düHngve
fhomme ek la hH$,
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169
yenniflcht sind. Seine Sinne sind Geschmack und Geruch, und e»
ist wohl nicht richtig , wenn Lessing ihn auch bei anderen Sinnen
för möglich halt. Dabei ist natürlich nicht nöthig, dass man bei
den Dingen, yor denen man sich ekelt , schon daran gedacht habe^
sie zu essen, man ekelt sich >oft schon , damit man nicht auf den
Gedanken k<»nmei sie zu essen. Ausserdem giebt es noch einen
anderen viel geringeren Ekel, welcher sich auf Reinlichkeit der
Haat bezieht, damit nicht durch Yerstopfong der Poren die Trans-
i^iration onterdriickt wird, bei diesem könnte allenfalk der Sinn
des Gesichtes unmittelbar betheiligt sein. — Der Mensch kann
durch Gewohnheit diese Instinete wie alle anderen mehr oder we-
niger zurückdrängen, eben weil bei ihm das Bewusstsein schon eine
Macht geworden ist, welche bei den meisten Dingen, ausser ganz
wichtigen, dem Unbewussten die Spitze zu bieten vermag, und die
Gewohnheit des Handelns gehört ja auch der l^häre des Bewusst-
Beins an. Es kann aber auch das XJnbewusste zurückgedrängt
werd^ indem man mit Bewusstsein und aus Gewohnheit das thut,
was man ohne Bewusstsein und Gkwohnh^t instinctiy gethan haben
würde; daiiin ist das Widerstreben, das man gegen das G^entheil
verspürt, xiehr ein Widerstreben gegen das Ungewohnte, als eine
Repulsion des Instinctes. —
Man betrachte ein kleines Mädchen und einen kleinen Kna-
ben: die ein« nett und adrett, zierlich und manierlich, graziös wie
ein Kätzchen 9 der andere mit zerrissenen Hosen von der letzten
Prägelei, tölpisoh und ungeschickt wie ein junger Bär. Sie putzt
flieh und stutzt sich, und dreht sich, und wartet aufs Zärtlichste
^ Puppe, und kocht und wäscht und plättet in ihren Spielen, er
haut dch in der Ecke eine Wohnung, spielt Bäuber und Soldat,,
^tet auf jedem Stecken, sieht in jedem Stock Säbel oder Gewehr
^ geflült sich am meisten in den Aeusserungen seiner Kraft, die
luttörlich meist in nutzloser Zerstörung bestehen. Welch' eine
Etliche Anticipation des künftigen Berufs, die oft in den reizend-
sten Details zu beobachten ist. Wenn auch Vieles davon Nach-
^^nng der Erwachsenen ist, so ist dennoch ein yorahnender Instinot
^verkennbar, der die Kinder schon in ihren Spielen auf die Uebun*
g^ verweist, die sie künftig brauchen sollen, und sie zu ihnen im
Voraus tüchtig macht und ^übt, gerade wie wir bei jungen Thieren
^e Spielinstincte sich immer auf die Thätigkeiten werfen sehen»
welche sie zu ihrem selbstständigen Leben später brauchen (man
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denke an Kätzchen und Eafmel). Im äpieitiieb Bchaü der Wäk
sich selbst oft Widerstände, die er zü überwinden hat, dies Panip
dozon ist ebenfalls nur zu begroifen, wenn der Spieltrieb Instioot
is^ und den Zwecken des küinftigen Lebens nnbewaB8t4ient Wäie
der Spieltrieb nur Nachahmung, so würden ja Enabeii usd Mädchen
^eiichermaassen nachahmen) da sie dem Oesohlechtsuntecichied niehi
yesstehen und streng genommen selbst noch nicht hahem Wi«
einzig ist oft jene Tanzwuth, Eigenheit, Futzsoioht, Grazie, man
mödite fast sagen kindliche Coquett«rie bei kleinen Mädchen, die
wa£ ihre künftige Bestimmung, Mäamer zu erobern^ hinweist, iBid
von welchem allen geistig gesunde Knaben so gar nichts habea.
Wie characteristisoh ist die unermüdliche Emsigkeii^ mit der sie ifaie
Puppen warten, kleiden und hätscheln, wie entsprechend ist dias
nicht der Zärtlichkeit» mit welchen erwvoheene Mädchen alle h&Dr
den. kleinen Wartekinder abküssen und liebkosen, die jungen
Männern in der Begel widerwärtiger als junge Meerkatzen sind.
Wie tief hn ünbewussten solehe Lastincte, wie Bekilidikeit,
Futzsuchtv Schamhaflagkeit wurzeln» kann man besonders bei Bün-
den beobachten, die zuglmch taubstumm sind. Wer nie über diesen
Zustand nachgedacht hat, der suche sich zunächst eine klare Yor-
Stellung Ton demselben und der Armseligkeit der Ooninranioation&'
mittel zu machen ^ welche einem solchen unglücklichen mit der
Anssenweh zu Giebote stehen. Laura Bnbdgeman in der Blinden-
anstalt au Boston^ die im zweiten Lebemqahre alle Sinne ansier
dem Gefühl verloren hatte, war reindich und ordentlich und liebte
sehr den Putz 9 wenn sie ein neues Kleidungsstück anhatte^ wünsch
sie auszugehen und gesehen und bemerkt zu werden ; vi>ei die
Armbänder, Broohen und sonstigen Putz besuchender Dstmea war
sie öfters ganz entzückt. Julie Braoe (im fünften Jahre blind und
taub geworden) war ebenso; sie untersoohte die Haartradvt besu«
chender Damen, von. sie an sich nachzumachen. Von allen andeiin
solchen unglücklichen Mädchen wird dieselbe Pntzsuoht berichte^
so dass dieselbe ein Hauptmittel wurde , sie zu lohnen und zn
strafbn. Lucy Beed trug imtmer ein seidenes Tuch über daia Oe-
sidit, wahrscheinlich weil sie glaubte, dass ihr Gesicht entstellt sei,
und war, als sie in eine Anstalt kam, nur mit grösster Mühe hier-
VKm abzubringen. Sie bebte vor der Berührung etner mäanticheB
Person zurück und duldete von einer solchen durchaus keine. Lieb-
kosungen, die sie vopi fremden Frauen gem anAahm und erwiderte«
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161
Linra Mdgtoan be^^ Mefui eine noeb groB^we ZiMheH de# Qt^
fäUs, ohne daito maiif za emfhen vennoehtei wie sie' mr einem
Begriff Ton G^eedileeiit^erhlQtBMBen getoigt tfei^ da ennser dein-
Aastalt^roitMier Br. Howe für gew61inlieh keM' Mann- in ibi^ Kahe
ten. Yoff Oiiw^r Caewelly ebenfiaUe einbm' Bündlaubeiuinmcta»
hatten äe viel yemeiimen, dar deeeen Asdnmfl in der Anstalt er«
irsrtet wurde, und war sehr neugierig auf ihreir Leideiisgeföhrten ;
aii er nun eintraf, küMte sid um, fukr aber btiü^hnell suräcky
9h ersdn^äkie ede darüber, etwiM Unselnokliolite begaitgen ou käbeof.
Bie kleimM etwaiger Unordnung in ihrem Ansuge^ yerbeeseHe ne,
wie nur immer ein zum Anatande streng eraogenes MKdtchen* kann.
ht sogar oof Lebloaee übertrug sie ihre SehanAiaftigifeit; so ^ B.
fk me mm Tages ihre Puppe' in's Bett legen wollte, gin^ sie* 2u^
?oif im ffimmer herum, um* sich vu überaeugen, wer zugeged sei;
als sife den Br. How« fand^ kehrte^ sie kpchend um, und erst ala et
doh eintfemt hattet, entkleidete sie die Puppe', ohne sieh vor defr
Lehrer» au scheuen. -^ Eialem- blinden, tanftsl^imntfNl fiinde äitf
Oeseta^ und- Bi^^rxffe des Anirtandes' bäiaubritogm, würde fast un^
mögiieh' sein, wenn* nicht der Instinot sie auf das Biehtige verwiese,
nd die Oelegenheit allein oder die leiseste Andeutung gienügte, um
diese unmittelbare unbewus^te Anschauung im Bbuehmen au ver-
wirichdlien. Daas dies Oelühl der Sohamhaftigkeit wirklich aus
am ^ell der inneren* Seelenwesens stamme , beweist das Zueftm-
otentreffen seiner höheren Entwickehing mit der kör|>erlichen Ent-
viokelung der Pubertät. So trat a. B. bei einer' blinden Taub-
Btoinmen im B4><iierbither Arbeitshanise, welche bis dahii^ ein völlig
tinenBches Leben geführt hatten in ihrem siebaehnteü Jtäre eine
gSazliche TJmwandeking^ ein: sie wurde mit einem Mlüe ebensi» auf-
merkiam auf Kleiduiig und Anstand, als andere' M&dohen ihres'
Alters.
fön refleetoriseher instiiiot des Geistes ist die SympaUne oder
dsft Mitgefühl. Wie die Gefühle sich in Lust und Unlust oder
in Freude und Leid theilen, so das Mitgefühl in Mitfii^eude' und
ICtleid. Jean Paul sagt: ,^um Mitleid gehört nur eiri Mensch, zur
Mitfeeude ein Engel''; das kommt daher, weil die Mitfreude nur
dum entstehen kann, wenn sie nicht durch ein anderes Geft&l, den
Iteid^ am Entstehen* verhindert wird; dies ist aber bei allen Men^
ach6&> mehr oder weniger der Fall, während das Mitleid weniger
^bMert wild, da ctie Schadenfreude doch für gewöhnlich bei den
▼. Htttnnan, Phil. d. Unbewussten. 1 1
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meisten Menschen sehr gering ist, wenn nicht Hass nnd Bache sie
€>ntstehen lassen. So kommt es, dass die Mit£rende von fast yer-
seh windender Bedeutung ist, während das Mitleid die grösste Wich-
tigkeit hat. Das Mitleid entsteht nun reflectorisch durch die sinn-
liche Anschauung des Leidens eines Anderen. Die Zuckungen und
Krümmungen des Schmerzes, die Mienen und Geherden des Kum-
mers und Jammers, die Thränen des Leidens, das Stöhnen und
Aechzen, das Wimmern und Böcheln sind Naturzeichen, die dem
gleichartigen Wesen durch unhewusste Kenntniss unmittelbar yer-
etäudlich sind; sie wirken aber nicht bloss auf den LiteUect, son-
dern auch auf das Gemüth und rufen reflectorisch ähnliche Schmer-
zen hervor ; Fröhlichkeit und Traurigkeit stecken auf ähnliche Weise
aadere Menschen an wie Krämpfe. Wenn die sinnliche Anschauung
nur die Data des Schmerzes im Allgemeinen erhält, so ist das
Mitleid nur ein allgemeines, ein Schauer, oder ein stilles Weh»
oder ein erschütterndes Grausen, je nach der Intensität und Dauer
dm beobachteten Schmerzes; wenn dieser aber im Besonderen be-
kannt kt, so zeigt auch die Eeflexwirkung dieselbe Art von Schmers
im Mitleid, sobald dieses über die niedrigste Stufe des allgemeinen
Bedauerns hinweggekommen ist. Dass der Grad des Mitleids von
d^r momentanen Empfänglichkeft des Gemüthes für Eeflexwirkun-
geii, also auch, yon dem Grad des Literesses, das man sonst für den
Leidenden nimmt, abhängig ist, ist unzweifelhaft; trotzdem ist es
durchaus nur Reflexwirkung, was strenge dadurch bewiesen wird,
das» das Mitleid caeteris paribus in directem Yerhältniss zu der
sinnlichen Anschaulichkeit des Leidens steht Wenn man z. B. von
einer Schlacht liest, wo auf jeder Seite 10,000 Todte und Verwun-
dete äind, so fühlt man gar nichts dabei, erst wenn man sich die
Todten und Verwundeten sinnlich anschaulich vorstellt, wird man
von Mitleid ergriffen, wenn man aber unter den Blutlachen und
Leichnamen und Gliedmaassen und Stöhnenden und Sterbenden
eielbit herumgeht, dann packt wohl Jeden ein tiefes Grauen. "
Welchen Werth der Listinct des Mitleides hat für den Menschen^
der erst durch gegenseitige Hülfe zum Menschen wird, liegt wohl
deutUeh genug auf der Hand ; das Mitgefühl ist das metaphysische
Band^ welches die Grenze des Individuums für das Gefühl über-
springt, es ist der bedeutungsvollste Trieb für die Erzeugung solcher
Handlungen, welche das Bewusstsein für sittlich gute oder schöne,
für mehr als bloss pflichtmässige erklärt; es ist das Hauptmoment»
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vrelohee demjenigen Gebiet der Ethik , welches man ak das der
Liebespflichten bezeichnet, eine Wirklichkeit yerleiht, yon der erst
nachmals der Begriff abstrahirt wurde.
Wie das Mitgefühl der Hanptinstinct zur Erzeugung wohl-
thätiger, in ihren Wirkungen über die Sphäre des Egoismus über-
greifender Handlungen ist» so erscheint der Instinct der Dankbarkeit
akMultiplicator derselben. Wenn auch die Dankbarkeit mitunter
zu Verletzungen einer dritten Person verfuhrt, so sind. dies doch
die selteneren FäUe, und die Zwecknüissigkeit dieses Instinctes im
Ganzen ist nicht zu yerkennen, wenn er auch an einer bereits
vollendeten Sittenlehre sein Correcäy, ja sogar seinen Ersatz flndet.
Wie der Vergeltungstrieb in Bezug auf Wohlthaten Multiplicator
des sittlich schönen Handelns wird, so wird er in Bezug auf Ver-
letzungen als Bacheinstinct der erste Begründer emes BechtsgefÜhls.
Beim so lange das Gemeinwesen es nicht übernommen hat, die
Bachsucht der Einzelnen zu befriedigen, wird die Bache durch
Selbsthülfe mit Becht als etwas Heiliges, als primitive Bechtsinsti-
tution angesehen, und sie ist es, welche allmälig erst das Bechts-
gefohl so weit bilden, steigern und klären muss, dass die Becht«-
anffassung In der Nationalsitte einen festen Boden gewinnt, von
▼0 an erst die Uebertragung der Vergeltung an das Gemeinwesen
erfolgen kann. Es soll hiermit keinesweges behauptet werden, als
seien Mitgefühl und Vergeltungstrieb diejenigen Momente, aus
welchen Sittenlehre und Bechtslehre theoretisch abgeleitet und be-
gründet werden müssen, was ich im Gegentheil nicht zugeben würde ;
nur das ist behauptet, dass sie practisch in der That die Wurzeln
sind, aus welchen diejenigen Gefühle und Handlungen hervorsprossen,
Ton welchen die Menschen zunächst die Begriffe des sittlich Schönen
ond des Bechts durch Abstraction gewinnen.
Der nächste wichtige Instinct des Menschen ist die Mutterliebe.
Blicken wir des Vergleiches halber noch einmal auf das Thierreich
zurück. — Die meisten niederen Thiere haben nicht nöthig, sich
^on ihre Jungen zu kümmern, weil diese schon genügend entwickelt
aus dem Ei hervorgehen, oder aber weil erstere durch schon erwähnte
Terechiedenartige Instincte die Eier an solche Orte direct oder in-
ject gebracht haben, wo die auskriechenden Wesen die Bedingun-
gen üirer weiteren Entwickelung bis zur Selbstständigkeit vorfinden,
z. B. nwih von der Mutter mit hinzugefügten Nahrungsmitteln ver-
"<^ Der Ort, der die zur Entwickelung nöthigen Bedingungen
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liefert, ist bei der Wel%>iiuifi ein gespooBeaer Bierbeutel, den sie
aioh doroh Gespinnst anheftet, beim; Honoottta» ein a^ugestäl^r
Theil des Eierganges, der als BievsadB herrertaritt, bei den Yögek
das Kest in der Ybrbiadnng mit da: BtatwMfrme des müttefbchen
Leibes, bei einigen Eisehen on^ Amphibien der Leab der llutt»
selbst; ebenso bei allen Säugethierei^ abex^ mit iem giressen Unt«f-
schiede, dass bei letzteren eiik« organische Yisrhindiuig Yon Mvtter
und Fötiae bie zur Gbbnrt besteht (ausgenommen die Beutelihiere).
Man sieht, es itird hier mederum in einem Falle Tom Instinct und
der Vorsorge der Mutter dasselbe geleistet, was im anderen Falle
duroh organische Bildungsthätigkeit bewirkt wird, d. h. die instanctiTe
mütterliche Sorge für die Entwicklung der Jungen bia zor Selb^
ständigkeit ist nur der Form, nicht dem Wesen nach von der
Zeugung und Bildung der IVuoht yerschiedon. — Ea zeigen aiek
nun zwei durdigehende Gesetze ; das erste ist, dass der mütterlieho
Instinct so lange fo das Junge sorgt, als es noch moht selbst fiiv
sich sollen kann; daa zweite, dasd diese Zeit der ünmünd^keit
oder Kindheit im Allgemeinen um so länger dauert, je höhev die
Gattung in der Stufenreihe der Thlere steht. Diese Yerschiedenheit
ist eiJiestheilB in den einfacheren Smährungsbedingungen der nie-
deren Thtete (namentlich der Wasserthiere) , andemtheUs in dea
Metamorphosen begründet, wo die Kindheit in einer ganz anderen
Gestalt und unter anderen Emährungsbedingungen (m^eist in Gestalt
einer tiefeirett Stufe) darehldbt wird; ausserdem bleibt freilich noch
etwas Drittes alsi unerklärter Best übrig, was une namentlioh ein-
leuchtet, wenn wir bloss, die Beihe der Säugethiere betrachteOr
z. B. die Kindheitsdauer einee E^ninchen, einer Katze und einss^
Pfevdes verglssicheB. Aus den beiden ersteui Gesetzen setzt sich
folgendes zusammen : des Instinct der Mutteriiehe* gewinnt im All^
genuinen um so grössere Bedeutung und Tn^^weite>. ai. je höheren
Stufen des Thierreiches wir aufsteigen, Stufen jedooh nicht zoolo^sob^
sondern psychologisch gemeint. WsUirend wir die Mehrzahl der
Fische und Amphibien in dumpfer Gleichgültigkeit gegen ihre JuBg0Di
yerharren sehen, zeigen schon einige Insecten eine höhere Mutter-
liebe ihrer höheren geistigen Regsamkeit entsprechend. Man sehe
nuf , wie zärtlich^ Ameisen und Bienen ihre Eier, ja selbst ihre noeh*
unvollkommen entwickelten Larven pfl^n, Gittern und beschützen»
wde' einige Spinnen ihre Jungen^ wie die Henne ihre Küchlein mü
sich herumfähren und sie sorgsam füttern. Bei den Yögdln «erreseh^
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iüe mfittcfrUche 6oi^ sohon einen hohen Grad, wie ja auc^ >geymM
Cksaen der Vögel, b, B. einige Baubvögel und Singviigel, an Oeiät
der gemeinen Masse der Säugethiere entschieden überlegen sind.
Ber anfopfemde Mnth^ mit dem selbst die kleinsten V^l ihre
Inngen gegen jeden Feind vertheidigen, die Selbstverlengfinng, mit
der sie ihnen Fntter bringen, während sie selbst oft darb^i müssen
Tttd abmagern, die Opferwilligkeit> mit der nie Brust und Leib von
Federn entblössen, um ihr^i nackten Kleinen ein warmes Lvger 2U
sehoffen, die GMnld, mit welcher sie dieselben dann später im
Fli^n, im Fangen Ton Insedien und den sonstigen Fertigkeiten
Bntemehten, deren sie £nm selbstotändigen Leben bedürfen , die
Ungeduld, die Jungen ebenso geschickt wie sich selbst 2u sehen,
mä die deutlichsten Beweise eines tief wurzelnden Triebes, wäh-
rend das vollständige Erlöschen dieser Bärtlichen Neigung mit der
Selbstständigkeit der Jungen, ja das Umschlagen derselben in Feind-
eeiigkeit 2«igt. dass nicht Gewohnheit t>der bewusste Wahl, sondern
eine unbewusste Nöthigung der Quell dieses Triebes ist. Nament-
lich der Punet des Unterrichtes ist bis jetzt viel zu sehr über-
when worden, denn die geistig höher stehenden Thiere lernen in
der Diat viel mehr durch den Unterricht ihrer Eltern, als man
^ubt, da die Katur nie doppelte Mittel zu einett
Zweck anwendet, und da den In st inet versagt, wo sie
die Mittel zur bewussten Leistung oder Erlernung ver-
liehen hat. Pinguine locken ihre Jungen, wenn sie nicht in's
Wasser folgen wollen, auf einen Felsenvorsprung und stossen sie
▼on da hinunter; Adler und Falken leiten ihre Jungen zu immer
h^rem Aufftiegen, zum Fluge im Kreise und in Schwenkungen,
Bowie zum Stossen auf Beute an, indem sie zu letzterem Zwecke
über ihnen fliegen, und zuni&chst todte, später auch lebende kleine
Thiere fallen lassen, welche die Jungen nur dann verzehren dürfen,
wenn sie sie selbst aufgefangen haben. So sehr aber die Methode
dieses Unterrichtes bewusstes Geistesproduct dieser Thiere ist, so
sehr ist der Trieb zum Unterrichten der Jungen überhaupt
iMtinct. — Wie bei den höher stehenden l^ugethieren die Kindheit
länger dauert, so ist nicht bloss die Pflege der Mutter, sondern auch ihr
Unterricht umfassender. Man beobadhte nur, wie eine Katze ihre
Jungen erzieht, schmeichelnd und lohnend, zurechtweisend und stra-
fend, ob es nicht das getreue Abbild der menschlichen Erziehung
durch ungebildete Mütter ist; selbst in den kleinsten Zügen bestätigt
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sidi diese Parallele, z. B. in dem Genuas » den die Matter in dem
komisch altklugen Selbstgefühl ihrer Ueberlegenheit sichtlich nr
8chau trägt.
Schon bei den Vögeln sehen wir theilweise eine chemische
Zubereitung der Speisen für die Jungen im Kröpfe der Mutter, dieser
Instinct wird vollständig zur Bildung beim Säugethier, dessen Milch-
drüsen lange vor der Geburt ihre Absonderung beginnen ; eine Abson-
derungy die durch den Anblick des Jungen vermehrt, durch seine
Entfernung vermindert wird. Was bei den Vögeln sich nur erst in
schwachen Spuren erkennen lässt, bei den Säugethieren aber in der
Vererbung besonderer mütterlicher Kennzeichen oder Charactereigen-
schaften, in dem Versehen der Schwangeren , in deren capriciösen Appe*
titen deutlich hervortritt, nämlich die unmittelbare unbewusste Wech-
selwirkung zwischen der mütterlichen und Kindesseele, das Besessen-
sein der Kindesseele von der der Mutter, dies erscheint in modi-
ficirter Weise fortgesetzt nach der Geburt, und erst nach und nach
nimmt es allmalig ab. So kommt das eigenthümliche Phänomen
der Ansteckung von Visionen nirgends leichter vor, als von der
Mutter auf den Säugling, und wie als Schwangere, so auch nach
der Geburt besitzen Mütter, deren Natur nicht durch Bildung ver-
dorben ist, eine wunderbare Divination für Bedürfiiisse des Kindes;
fast wie die Wespen, die die Höhlen öffiien, um ihren Larven
neues Futter einzulegen, wenn sie das alte verzehrt haben, errätfa
die Mutter, wann ihr Kind der Nahrung bedarf, und wacht aa(
wenn dem Kinde etwas fehlte während kein Lärm den Schlaf ihrer
Erschöpfung zu stören vermag. Wie gesagt, nimmt aber diese
directe Gommunication von Mutter- und Kindesseele ziemlich schnell
ab, nur manchmal sieht man sie unter aussergewöhnlichen Um-
ständen, z. B. bei gefahrlichen Krankheiten des Kindes, noch später
erwachen. Man frage sich nun, ob beim Menschen wirklich die
Mutterliebe etwas Anderes als bei den Thieren sein soll; ob etwas
Anderes als ein Instinct es zu Stande bringen kann, dass die ver-
ständigsten und gesetztesten Frauen, die sich bereits an den
höchsten Schätzen menschlicher Geistescultur erfreut haben, auf
einmal Monate lang sich all' der aufopfernden Pflege, den Quenge-
leien und Schmuzereien, den Tändeleien und Kindereien mit wahrer
Herzensfreude unterziehen können, ohne irgend eine Erwiderung
von Seiten des Kindes, das die ersten Monate doch nichts weiter
als eine sabbernde und Windeln beschmuzende Fleischpuppe ist,
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die aUenfiedlB refleotoiisch die Augen naoh dem Hellen dreht und
inatinctiy die Arme nach der Matter ausstreckt; man sehe nur,
vie solche verständige Frau in ihr Kind, das von allen anderen
Hiit Mühe SU unterscheiden ist, rein yemarrt ist, und wie sie, die
firöher an Sophokles und Shakespeare geistreiche Ausstellungen au
machen hatte, nunmehr vor Freude ausser sich darüber werden
will, dass das Kleine schon A quarrt. Und bei alledem übernimmt
das Weib nicht etwa, wie wohl der Mann, alle diese Unbequem-
lichkeiten um der Hofihung dessen willen, was künftig aus dem
Kinde werden soll, sondern sie geht in der gegenwärtigen Freude
und Mutterlust rein auf. Wenn das nicht Instinct ist, dann weiss
ich nicht, was man Instinct nennen soll! Man frage sich, ob ein
armes Kindermädchen wohl um ein Paar Breier täglichen Lohn
alle diese Ckiälereien und Stn^azen aushalten könnte, wenn ihr
Listinct sie nicht schon auf diese Beschäftigung hinwiese.
Dass beim menschlichen Kinde die mütterliche Pflege so lange
dauert, ist bloss ein besonderer Fall des oben angeführten Gesetzes,
ond liegt darin, dass Kinder von vier Jahren sich auf der Strasse noch
lieber umrennen lassen, als dass sie aus dem Wege gehen, während
eine junge Katze schon aus dem Wege springt, sobald sie sehen
kann. Was ist natürlicher, als dass der schützende Instinct der
Matter vorsorglich eingreift, und das Kleine instinctiv der Mutter
BockMten festhält? Alle Thiere nähren, pflegen und beaufsich-
tigen ihre Jungen, bis sie sich selbstständig ernähren können, und
der Mensch bei seiner sparsamen Proüflcation sollte von diesem
allgemeinen Gesetze eine Ausnahme machen? Und wann kann
de&n ein menschliches Kind sich selbstständig ernähren? Doch
wohl nicht vor dem Beginn der Pubertät! Also muss auch die
instanctive Eltempflege mindestens so weit gehen. Die Thiere
lehren ihren Jungen die Fertigkeiten, welche sie brauchen, um
noh ihrem Lebensunterhalt zu erwerben, und der Mensch sollte es
aioht? Auch bei den Thieren ist die Art des Unterrichtes theil-
weise Resultat bewussten Denkens, aber das Unterrichten selbst
ist Naturtrieb, und beim Menschen sollte es anders sein, weil der
Fertigkeiten und Kenntnisse, die der Mensch zum Unterhaltserwerb
hiaacht^ etwas mehr sind, als beim Thiere ? Aber es ist ja einge-
Btanden, dass im ganzen Thierreich kein psychologisch so grosser
Sprung ezistirt, wie vom höchsten Thiere zum massig civilisirten
Menschen, also müssen ja folgerecht der Dinge, die der Mensch
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arl^raon mufls, ieriüeUieih mehr «eiii, als bei ^en höchsten Thi^nen
IIP VerhälioiaB ?u jioBi, «was er instinctiy kann, weil eben sein te-
wumiitt Qeut zu dieaen Leistungen be^Qihigt ist , und demoaeh em
ItmimGt fiir dieaelben ausserdem ein Ueberfluss sein vörde«
und die Natur thut nichts yargebmis. Wohl aber ist der h^
iiLstuiet in den Eltern Nothwendigkeit , weil die Jungen vor dem
Erkmen ohne Unterricht zu Orupde gegangen sein würden, und
ditiißT höheren Lernfähigkeit und diesem stärkeren Lehrinstiiiet
in Yerblmdung mit vollkommener %rae^e verdankt daa Menscheo-
geßchlecht seine floxtschnittsfähigkcit durch Generationen, und diiSMr
fti^irie ganze Stellung und BedeutuAg in der Katur.
Bei den Thieren haben Maon und Weib gleicdbie Beschäfiaguvg»
anderfi htdia^ gebildeten Mjeusohen, wo vorzugsweise der Mann för
die Ftimilie £u «erwerhen hat, also aach vorzugsweise gm Srnehoof
basouders d^ männlichjau ifiTachkoBunenschaft befähigt ist. Nur hin
und wieder nimmt hei den TbieneA 4er männliche l^eil an der
Sorge für die I^ehkommensehaft Theil. & macht der männliehe
Libche eine Grube für die Eier des Weibchens, die er zuseharrt^
w^n »ia befruchtet sind; bei den meisten monogamisehen Vögeln
hillt das Männdien )>eim Nestbau, brütet abwechselnd, oder fütdert
dae bjütende Weihchen, vertheidigt die Eier, uad nimmt an Pflege»
Kniahrung und Besohü^Eung der Jungen Theil. Aehnliohes konmt
aueh bei Menschen V(^r. Es ist eine gewiöhnlicfae Erscheinung, da«0
Minnani alle kleinen Kinder aufs Höchste zuwider isind« und dieser
Widerwille auf einmal aufhört, wenn sie selber welche haben. £i
i&t ßl&o wohl kein Zweilel, dass es einen, wenn auch sohwächerea
Inüänct der yaterliebe giebt, was auch durch die «äctliche Liehe
der Tiitor zn solchen Kindern bewiesen wird, die vermo^ leibr
lieber und geistiger Erbärmlichkeit ihnen unter allen «andaiea
V^rhültnissen nujr Wideirwillen und Y ecac^tung, oder höchstens Mitleid
#rregt hstten; trotzdc^ aber glaube ich, dass bei der Yaterliebe
Üml& die Pflicht, der Anstand und die Sitite, theils die Gewohnheit»
tb^ilji bewus#te freundschaftliche Zuneigimg die Hauptursaohen ab-
gebe^, upd der Instinct eines Ihi^es nur in früherer Jugend,
andenitbMU «her in Momenten der Gefahr für das Kind hawortritt
Endiii:!h iisit noch zu bemerken ^ dass eine wahre YatMliebe, ieh
m^im ^ine, die über da^ hinausgeht, was Anstand und SiUs ior-
dem, und was die fiewobnheit des Umganges erwachsen lässi, eine
viel s^ltener^ Erscheinung ist, als man anzun^hnven geneigt i^
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^Nilkh Bocb lange -iiieht so viel seltener, wie 4ie OeBobwisterliebe
jls ihr Ruf ist Was bS^t wifklich yon «oloher Taterliebe eidstiit«
«ad nieht gerade in Momenten der Gtofahr hevvterbrielit , sondern
mmen da ist, 4a6 ist bewvMte ggeandtcJMrff , verbunden mit der
bewassten üeberlegnng, dase keiner für «ein Kind sengt, wenn er
es nicht thnt, für das Kind, das durch seine Behald dem Leben
^«ilEJlen ist; eine ^«jberlegung, die allein «u 4en grösiton Opfern
btfthigen kann. Hiemns ist es denn eridttrlioh, <dass die measob-
lichen Kinder auch nach beendeter Erziehung den Eltern nicht
BO fremd werden, wie bei den Thieren; denn durch die so sehr
yiel längere Kindheit hat die Gewohnheit Zeit, ihre Bande zu
Bchlingen^ und wenn irgend geistige Harmonie zwischen Eltern
Bnd Kindern stattfindet, so wird sich mit Hülfe dieser Gewohnheit
aoeh ein gewisser Grad yon Freundschaft einstellen; endlich aber
erlischt im Menschen deshalb der Instinct der Elternliebe nie ganz,
weil die Eltern, so lange sie leben, immer noch die Möglichkeit
haben ^ zum Besten der Kinder Opfer zu bringen, oder ihnen aus
Gefahren zu helfen ; denn während das Thier ganz auf sich gestellt
ist, ist der Mensch nur in der Gesellschaft im Stande, menschlich
212 leben. Dazu kommt endlich, dass die Menschen im höheren
Alter nech einmal die Comödie an den Enkeln durchspielen.
Wenn beim Mann die Yaterliebe weniger Instinct ist, so ist
es dafür um so mehr der Trieb, einen Hausstand zu gründen, und
ieine Bestimmung als Familienvater zu erfüllen, wenn er auch
dadurch sich und das Mädchen, das er heirathet, ruinirt und un-
^ücklioh macht, während sie unyerheirathet Jeder ganz gut zu
leben gehabt hätten« Ich spreche hier nicht yon liebe, auch nicht
Ton Geschlechtstrieb im Allgemeinen; sondern wo erstere ganz
fehlt, und letzterer bei Weitem kein genügendes Motiy abgeben
▼ürde, stellt sich in den reiferen Mannesjahren der Trieb ein,
einen Hausstand zu gründen, und wenn der arme Teufel noch so
sehr einsieht, dass er hungern muss, während er ledig sein gutes
Anikonmien hat, es wird doch geheirathet. Es ist derselbe Trieb,
der yon der Familie seiner Eltern den yier- bis fün^ährigen jungen
Hengst mit einigen seiner Schwestern sich trennen heisst, um eine
eigene Familie zu bilden, und der die Yögel zum Nestbau zwingt;
fiie wissen so wenig wie jener arme Teufel, dass die Mühe und
&tbehrangen, die sie sich aus Instinct auferlegen, keinen anderen
Zweck haben, als die Erhaltung der Gattung möglich zu machen.
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Dieser unbefriedigte Trieb ist es, der die alten Junggesellen sich
80 unbehaglich fühlen lässt; und wenn sie hundert Mal einsehen,
dasd es ihnen im ehelichen Leben, alle Schererei, die sie dort
hätten, zusammengerechnet, nicht besser gehen würde, so ist doch
die Unlust dieses unbefriedigten Triebes nicht weg zu demonstriren,
eben weil er Instinct ist.
Es folgt nun die Betrachtung des Instinctes der Liebe. Dieser
Firn et ist jedoch so wichtig, dass ich ihm ein eigenes Gapitel
widme.
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n.
Das Unbewiisste in der geseUeehtlicheH Liebe.
Die Staubgefasse der Pflanze neigen sich, wenn ihr Pollenstaub
reif ist, und schütten ihn auf die Narbe; die Fische ergiessen ihren
Samen über die Eier ihrer Gattung, wo sie einen Haufen derselben
f finden; der Lachs grabt seinem Weibchen eine Grube dazu; die
l 8epien werfen einen als männliches Zeugungsglied ausgebildeten
!Ana ab, welcher wie ein selbstständiges Thier das Weibchen auf-
' Booht und in dasselbe eingedrungen das Begattungsgeschäft volbdeht ;
, die Flosskrebse befestigen im November dem Weibchen Begattungs-
tasohen mit Samen unter dem Leib, der im Frühjahr die gereiften
Bier befiruchtet; die männlichen Spinnen tupfen die aus ihrer Ge-
Bchlechtsöf&iung tropfenweise hervorquellende Samenfeuchtigkeit mit '
einem äusserst complicirten , in dem letzten ausgehöhlten Gliede
ihrer Taster enthaltenen Apparat au^ und bringen sie vermittelst
desselben in die weibliche Geschlechtsöffiiung ; der Frosch umklam-
mert das Weibchen und ergiesst seinen Samen, indem gleichzeitig
das Weibchen die Eier legt; der Singvogel bringt die Oeffnung
seines Samenganges auf die Cloake des Weibchens, und die Thiere
mit Euthe führen sie in die weibliche Scheide ein. Dass die Fische
iloen Samen, zu dessen Entleerung sie sich getrieben fühlen, gerade
nia anf die Eier ihrer Gattung ergiessen, dass Thiergattungen, bei
denen Männchen und Weibchen ganz verschiedene Formen zeigen
(wie 2. B. Leuchtwurm und Johanniskäfer), dennoch zur Begattung
sich ohne Irrthum zusammenfinden, und dass das männliche ^uge-
thier seine Euthe, zu deren Reizung es sich in der Brunstzeit ge-
trieben fühlt, gerade nur in der weiblichen Scheide seiner Species
^l>t, sollte dies wirklich zwei verschiedene Ursachen haben, oder
sollte es nicht vielmehr das Wirken desselben XTnbewussten sein,
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)
172
welehts die Geschlechtstheile zusammenpassend bildet, und
wolcheB als Instinct zu ihrer richtigen Beuutzung treibt» das-
selbe unbewusste Hellsehen, welches in Bildung wie in Benutzasg
die Mittel dem Zwecke anpasst, welcher nicht in's Bewosstsein
faul? Der Mensch, dem so mannigfache Mittel zu Gebote stehen,
dan physischen Trieb zu befriedigen, die ihm alle dasselbe leisten
me die Begattung, er sollte sich dem unbequemen, eklen, schäm-
lu^^eu Geschäft der Begattung unterziehen, wenn nicht ein Instinct
ihn dazu immer von Neuem triebe , wie oft er auch erprobt habe,
dam diese Art der Befriedigung ihm factisch keinen höheren sinn-
iichcii Genuss gewährt wie jede andere? Aber selbst zu dieser
Eingicht gelangen nicht viele, weil sie trotz der Erfahrung den
^zukünftigen Genuss immer wieder nach der Stärke des Triebes
bemessen, oder gar noch während des Actus vom Triebe so be-
nommau sind, dass sie nicht einmal zur Erfahrung kommen.
Mau wird vielleicht einwenden wollen, dass der Mensch häufig die
Begattimg begehrt, obwohl er die Unmöglichkeit der Zeugung kennt,
jjj, B. bei notorisch Unfruchtbaren oder Prostituirten, oder während
er, wie bei unehelichen Verhältnissen, die Zeugung zu verhindeni
Bucht- dem ist aber zu erwidern, dass die Kenntnise oder Absieht
dm BewusBtseins auf den Instinct keinen directen £influ«6 hat, da
der Zweck der Zeugung eben ausserhalb des Bewusstseins liegt,
und nur das Wollen des Mittels zu dem unbewussten Zweck (wie
bei allen Instincten) in's Bewusstsein fällt. Ein Beweis daför, dasi
der Trieb zur Begattung keine blosse Folge des physischen Dranges
in den Genitalien ist, liegt ferner auch in dem früher angefahrten
Beiepiel von der Begattung der Vögel (Cap. A. HI. 8. 56 — 57) imd
endlich noch in der Erscheinung, dass die Stärke des geschlecht-
liehen und physischen Dranges in gewissem Grade von einander
imabhängig ist; denn man findet Menschen mit starker Neigung zum
atideren Geschlecht, während ihr ph3r8ischer Trieb so gering ist,
da8B er fast an Impotenz streift, und umgekehrt giebt es Menschen
von starkem physischen Triebe und doch geringer Neigung vom
anderen Geschlecht. Dies liegt darin, dass der physische Trieb von
Zufälligkeiten der physischen Organisation der Genitalien ab-
hängig ist, der metaphysische aber ein Instinct ist, der aus dem
Unbewussten quillt; das schliesst indess nicht aus, dass einerseits
der metaphysische Trieb durch einen stärkeren physischen IVieb
mehr zum Functioniren geweckt werde, und andererseits die Stärke
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d«c physifldien Tridbes bei Bildung der Organisati«! mit dorok die
Skifarke des metaiihjsiBehett Tnebea bedingt werde. Daher liegt
«leh die Uinabhäiigigkeit beider yon einander ef ^BiurangBinässig nur
iik ge^Men QrenzeiL Auch, die Phseaokgie erkennt die Sonderung
beider Trieb» aa, denn während der phyttieebei Dvaag offenbar nur
in dar OrgMusaüen day Genitalien und der. Reissbarkeit des gansen
Nierreas^Btems geflucht werden kannr^ suoht die Phrenologie —
gbiclmel mit welchem Beebte — die Stärke des geschlechtlichen
Inet»efl aofl dem kleinen Gehirn und den lunliegenden Theilen zu
erkeamea
Nachdem wir das Generelle des Geschlechtstriebes als etwas-
hntinotireB erkannt haben, firag^ es sich, ob es mit der Individua-
lisatioa desselben ebenso sei, oder ob diese aus Bedingungen des
Bewusstseias entspringe. Bei den Thieren. unterscheiden wir folgende
Fälle: Entweder ist der Geschlechtstrieb bloss genereU, die Ans-
mihi des IndÜTiduoms bleibt dem Zufall völlig überlcwsen, und mit
der eimnaUgen Begattung hört jede Gemeinschaft auf^ wie z. B. bei
den niederen Seethieren, den Fischen, die sich begatten, den
Frosehen u. a. ; oder die sich paarenden Individuen bleiben für die
Zeit einer Brunst zusammen, wie die meisten Nager \md mehrero
KatzMttrten, (>der bis zum Gebären, wie die Bären, oder noch eine
Zeiüang nachher, bis die Jungen sich mehr entwickelt haben, wie
Äie meisten Vögel, die Fledermäuse, Wölfe, Dachse, Wiesel, Maul-
würfe, Biber, Hasen; oder sie bleiben lebenslänglich beisammen
uid bilden eine: Familie ; hier ist wieder Polygamie und Monogamie
zu naterscheideii ; ersteore findet sich bei den hühnerartigen Vögeln,
den Widerkfiuern, Eiahufem, Dickhäutern und Eobben, letztere bei
ouiigen Giusteceen, Sepien, Tamben und Papageien, bei den Adlern,
^töniien, Beben und Getaoeen. Man wird mit Grund anatmen
Bnusen , dass bei den. monogamischen Thieren die Schliessung der
Äen, die so treu gehalten w^den, kein blosses« Werk des Zufalls
^ soadem dass in der Beschaffenheit der sidi zusammenfindenden
matten for dieselben Motive liegen müssen, warum sie einander vor
uideieiL Individuen einen gewissen Vorzug einräumen. Sehen wir
^ selbst bei regellos sich begairtPenden Thieren von höherer
6«»teestttfe eine mit entschiedener Leidenechaft verknüpfte ge-
^eohtliohe Auswahl nichr selten eintareten (z. B. bei edlen Hengsten
oder Hunden). Eine Adlerswitt we bleibt gewöhnlich ihr Leben
^Qg tniTermählt; man beobaohtete> dass ein Storch, sein Weibchen '
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welches einer Wunde wegen nicht mit ihm ziehen konnte, drei
Jahre hindurch in jedem Frühjahre wieder aufsuchte, in den fol-
genden Jahren aher auch im Winter bei ihm blieb. Bei mon(%8-
mischen Thieren kann mitunter das eine nicht ohne das andere
leben, so stirbt z. B. von einem Paar Inseparables das zweite oft
schon einige Stunden nach dem ersten. Aehnliches hat man von
dein Kamiohy, einem südamerikanischen Sumpfvogel, bisweilen be-
merkt, sowie von Turteltauben tmd Mirikina- Affen. Auch Wald-
IcTchen kann man nur paarweise im Bauer halten. Wir können
nicht annehmen, dass Dasjenige, was beim Storch den mächtigen
Wanderinstinet überwunden hat, was die Inseparables in kurzer
Friet fcödtet, etwas Anderes als auch ein Instinct sei, sonst könnte
es nicht so schnell, so tief in den innersten Kern des Lebens ein-
greifen. Dass die Formen der geschlechtlichen Beziehungen Instincte
emä, beweist auch ihre XJnveränderlichkeit iimerhalb einer Gattung.
Nach Analogie dieser Erscheinungen müssen wir auch beim Mcd-
sehen das Zusammenleben der Gatten in der Ehe für eine Institu-
tion des Instincts und nicht des Bewusstseins halten, wobei ich an
den Instinct, einen Hausstand zu gründen, erinnere, mit welchem
dieser eng zusammenhängt. Das vorsätzliche Bestreben der unehe-
lichen vorübergehenden Liebschaft dagegen müssen wir als
etwas Instinctwidriges betrachten, welches nur durch bewussten
Egoismus hervorgerufen wird. Hier verstehe ich aber unter Ehe
nicht die kirchliche Ceremonie, sondern die Absicht, das Yer-
häknias zu einem dauernden zu machen. — Es fragt sich nun, ob
Polygamie oder Monogamie die dem Menschen natürliche Form ist,
und wie es kommt, dass die Menschheit die einzige Thiergattaug
ist, wo verschiedene Formen der Geschlechtsbeziehungen neben
einander vorkommen. Mir scheint sich dies Bäthsel so zu lösent
daBP der Instinct des Mannes Polygamie, der des Weibes Monoga-
loict fordert, dass daher überall, wo der Mann ausschliesslich dominirt,
rechtlich Polygamie herrscht, hingegen da, wo der Mann durch höhere
Bildung dem Weibe eine würdigere Stellung eingeräumt hat, auch
die Monogamie zur gesetzlich allein gültigen Form geworden ist,
w^rond sie von Seiten der Männer factisch in keinem Theile der
Welt streng innegehalten wird. Dass die Monogamie die Form sei,
welche in der Menschheit für die längste Zeit ihres Bestehens factisch
herrschen wird, ist schon in der Gleichzahl der Individuen beider
Geschlechter angezeigt. Wenn für den Mann die Ehebruchsgelüste
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flo sohwex XXL benegen sind, bo ist dies nur eine Wirkung seines
Instinctes sux Polygamie ; wenn aber ein Weib, das an ihrem Manne
einen ganzen Mann hat, Ehebmchsgelüste hat, so ist dies entweder
eine Fo^e völliger Entartung oder der leidenschaftlichen Liebe.
Die Yerschiedenheit des Instinctes in Mann und Weib versteht man
wohl, wenn man bedenkt, dass ein Mann in einem Jahre mit der
genügenden Anzahl Frauen bequem über hundert Kinder zeugen
könnte, das Weib aber mit noch so viel Männern nur Eins; dass
der Mann wohl unter günstigen Umständen mehrere Frauen und
deren Kinder ernähren kann, die Frau aber nur in eines Mannes
Hausstand wohnen kann, und durch jede in diesen eingeführte
Rivalin sich und ihre Kinder beeinträchtigt fühlt.
Nachdem wir den geschlechtlichen Instinct am Menschen in
genereller und individueller Beziehung erkannt haben , bleibt die
Frage offen, warum er sich auf dieses Individuum ausschliesslich
coQcentrire und nicht auf jenes, d. h. die Frage nach den Be-
stimmungsgründen der so eigensinnigen geschlecht lichenWahl.
Dass bei den Menschen, namentlich den gebildeteren Classen,
die Zahl der zu begehrenderen Individuen anderen Geschlechtes
wesentlich beschränkt ist, liegt an den Hemmungen, die vorher
überwunden werden müssen, nämlich Ekel bei beiden, und Scham
YorxugBweise beim weiblichen Geschlecht. Die körperlichen Be-
rührungen sind so enge, und werden durch die instinctiyen Be-
gleitungshandlungen, wie Küssen u. s. w., so vervielfältigt, dass der
£kel, wenn er nicht schon abgestumpft ist, in sein volles Recht
tritt und der geschlechtlichen Verbindung mit all' und jedem Indi-
Tiduum einen kräftigen Widerstand entgegensetzt. Die Scham
beim weiblichen Geschlecht, und beim männlichen die Kenntniss
des Widerstandes, welchen diese Scham entgegensetzen wird, sind
to noch wirksamere Beschränkungen. Beides aber erklärt nur
negativ, warum diese und jene Individuen ausgeschlossen sind, und
lucht positiv, warum dieses Eine begehrt sei. Der Schönheits-
sinn kann wohl auch dabei mitwirken, — so wie man ein schönes
Pferd, auch abgesehen von seinem Gkinge, und auch wenn es Nie-
mand sieht, lieber reitet, wie ein hässliches, — obwohl durchaus
luoht abzusehen ist, was die Schönheit oder Hässlichkeit mit dem
^UB8 bei der Begattung oder überhaupt mit den geschlechtlichen
Beiiehnngen zu thun habe; denn wenn man, wie z. B. in Shake-
speare^B ,JSnde gut, Alles gut'' einem rasend Verliebten in der Nacht
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iine Falsohe tntearsohiebt, 00 thut dies offnibi» semeife GKbbqs»
keinett Euitlirag« Es kihthte aoeh* die Eitelkeit» vtk Anderen' wi
kübB^hes Weib sein netinen zu kömieiii, mik(9prediten» wem stobt
efst i^riedet der Qegeilstakid' dieser Eitelkeit diefr Erkläi^ong biedürfte;
im Gninde geHommeQ' rücken wir mit alledem der FriBkge kefin^tf
Bchritt näherr, weil erstens sehr viel hübsche Menflchen sind, und
zweitens bei Weitem nioht die hübsehestete gesoMeohtüch am
meisten reizen. Eher könnte schon die» eine Antwort sein: der
Mann hat die weibliche Sohcun zu überwinden, unk zom Ziele su
kommen; hat er diese Arbeit ^ die nur allmälig von Stattet geht,
einmal begonnen, so hat er nun bei diesem Individwom nur nook
eine geringere Arbeit vor sich, als bei anderen, um seiner Eitel-
keit den Sieg zu yerschaffen. Aber diese Antwort lässt wieder
den ersten Anfang ganz dem Zufall anheimgestellt, und ist dem-
nach gewiss unzureichend, wenn es auch oft genug sieh so zuträgCv
Ef scheint nunifaiehr nichts übrig zu bleiben, als dass es geisd^e
Eigenschaften sieien, welche die geschlechtliche Auswahl bedingeit
Bif^s immittelbar zu nehmen^ ist ganz unmöglich^- da für den gesohlecht-
üohenGenuss die geistigen Eigenschaf ken völlig gleichgültig sind, noch
gi(:^ichgiiltiger als die körperliche Schönheit; es kann also nur bo
zu vüFstehen sein, dass die geistigen Eigenschafben eine geistig^
Harmonie und gegenseitige Anziehung heitvorrufen, welche auf be-
wuiäten Grundlageil rUht, und für das künftige Zusammenleben das
efrösstmöglichste Glück verspricht. Dieses bewusste Seelenverhältnißs,
welches durchaus identisch mit dem Begriff der Freundschaft
ist, würde alsdann erst die geschlechtliche Wahl bedingen müssen^
d. b. die Ursache sein, da&s der geschlechtliche Umgang mit diesem
besonders* befreundeten Individuum allen anderen vorgezogen wird.
DiosöT Process ist in der That ein sehr gewöhnlicher, besonders beim
weil liehen Geschlecht, das nicht wählen darf, sondern gewählt
wird. Es ist schlechterdings för gewöhnlich nicht zu erwarten, dass
eine Braut eine andere Liebe als diese für einen Bräutigam haben
soll, den ihre Eltern ihr vorschlagen^ oder den sie zum ersten Mal
uuter vier Augeto gesprochen, als er sieh erklärte, und für welche!!
ide hieher kein imderes Interesse haben konnte, als die Y^muthnag^
dase er sich fih: sie interessire. Wenti sie nun Brant ist, so streügt
&io ihre Phantasie an, alles' von Schwärmerei, was siie je in Romanen
gelesen, hier auf diesen Einen in> Nutzai^wendUng zu* bifitigsn»
achwfJrt ihm Liebe*, gkubt es bald selbst, iAdem sie sich daran
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gewöhnt hat, mit ihrem aufgeregten generellen Gesohleohtstrieb
stets sein Bild zu yerknüpfen, und folgt später ihrer Pflicht und
ihrer Neigung zugleich, wenn sie diesem Manne, dem Vater ihrer
Kinder, treu bleibt, für den sie Achtung und Freundschaft gefasst,
and an den sie sich gewöhnt hat. Bei Lichte besehen geben aber
alle diese Ingredienzien, als : genereller Geschlechtstrieb, Phantasie,
Achtung, Freundschaft, Pflichttreue u. s. w., soyiel man sie auch
mengt und schüttelt, immer noch keinen Funken von dem, was
einng und allein mit dem Namen Liebe bezeichnet werden kann
nnd soll; und was an ihnen dennoch als solche erscheint, das ist
meistens eine Täuschung anderer und bald auch ihrer selbst, da
sie doch nach ihrem gegebenen Jawort sohioklicherweise auch ein
Herz roll Liebe verschenken müssen, und sie sich übrigens bei den
bräutlichen Schäferstündchen ganz gut amüsiren. Der Bräutigam
glaubt dem Betrüge so gern, als die Braut ihn übt, denn was glaubte
der Mensch nicht, wenn es nur stark genug seiner Eitelkeit schmei-
chelt Nach der Hochzeit, wo beide Theile andere Dinge zu be-
sorgen haben, hört die Comödie so wie so bald genug auf, mag sie
Bon im Ernste oder im Scherz gespielt sein. Das Wesentliche von
der Sache ist, dass diebewusste Erkenntniss geistiger Eigenschaften
immer und ewig nur bewusste geistige Beziehungen, Achtung und
Fremidschaft zu Stande bringen können, und dass Freundschaft und
Liebe himmelweit verschiedene Dinge sind. Die Freundschaft kann
weh keine Liebe erwecken, denn wenn z. B. bei einer Freundschaft
zwischen zwei jungen Leuten verschiedenen Geschlechts sich leicht
ein wenig Liebe einschleicht , so ist dies nur ein Freiwerden des
generellen Geschlechtstriebes in einer durch Vertraulichkeiten er-
leichterten Bichtung, oder aber sie hätten sich auch ohne die
Freundschaft in einander verliebt, und diese schlummernde poten-
tielle Liebe ist nur durch die Gelegenheit wach gerufen worden.
& kann aber sehr wohl, wenigstens von männlicher. Seite, eine
leine Freundschaft ohne geschlechtliche Beimischung geben, und
wenn dies von weiblicher Seite nicht möglich sein sollte, so läge
dies nur daran, dass sie überhaupt keiner reinen und wahren
Freundschaft fähig wären, so wenig mit Männern, wie sie es unter
«inander sind, weil die Freundschaft ein Product des bewussten
veistes ist, sie aber zu Grossem nur fähig sind, wo sie aus dem
HueÜ des unbewussten Seelenlebens schöpfen.
Auch zwei wahrhafte Freunde können nicht ohne einander leben,
V. Htftaiun, Pbil. d. UnbewimateD. 12
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und äii^d, fcibi& einander jedes Opfer zu bringen, wie zwei liebende,
aber welch' ein Unterschied zwischen Freundschaft und Liebe! Die
eine ein sohöner, milder Herbstabend von gesättigtem Colorit, die
ftndere ein schaurig entzückendes Erühlingsgewitter ; die eine die leicht-
hin lebenden Götter des Olymps, die andere die himmelstiu>
menden Titaoen; die eine selbstgewiss und selbstzufrieden, die
audt^re langend und bangend in schwebender Pein; die eine klar
im Bewusstsein ihre Endlichkeit erkennend, die andere immer nur
imch dem Unendlichen strebend in Sehnsucht, Lust und Leid,
himmelhoch auQauchzend, zum Tode betrübt; die eine eine klare
iiiid reine Harmonie, die andere das geisterhafte Klingen und
Riiu^chen der Aeolsharfe, das ewig Unfassbare, Unsagbare, Unaus-
sprechliche, weil nie mit dem Bewusstsein zu Fassende , der ge-
ht; imniBsyoUe aus femer, femer Heimath herübertönende Klang; die
eine ein lichter Tempel, die andere ein ewig verhülltes Mysterium.
Eä vergeht kein Jahr, wo nicht in Europa eine Menge von Selbst-
morden, Doppelmorden und Wahnsinnigwerden aus unglücklicher
Liebe vorkommen; aber ich weiss noch keinen Fall, dass sich einer
aua imerwiederter Freundschaft getödtet oder den Verstand verloren
hatte. Bas und die vielen durch Liebe geknickten Existenzen (von
FrAueu hauptsächlich und wenn es nur auf Wochen oder Monate
wiirej beweisen deutlich genug, dass man es bei der Liebe nicht
mit einem Possenspiel, einer romantischen Schnurre zu thun habe,
s»ondem mit einer ganz realen Macht, einem Dämon, der immer aufs
Ntue Keine Opfer fordert. Das geschlechtliche Treiben der Mensch-
heit in allen seinen so o£fenkundig durchschaut werden sollenden
Masken und Verhüllungen ist so wunderlich, so absurd, so komisch
unU läoherlich, und doch grossentheils so traurig, dass es nur ein
Mittel giebt, alle diese Schnurren zu übersehen, das ist: wenn man
mitten drinsteckt, wo es Einem dann geht, wie einem Trunkenen
unter einer Gesellschaft von Trunkenen : man findet Alles ganz natür-
lich und in der Ordnung. Der Unterschied ist nur der, dass jeder
sich das belehrende Schauspiel einer trunkenen Gesellschaft aU
nüchterner verschafifen kann, aber nicht so als geschlechtsloser, oder
man muss steinalt werden, oder man müsste (wie ich) dies Treiben
mhon beobachtet und überlegt haben, noch ehe man betheiligt
war, und da gezweifelt haben (wie ich), ob man selber oder die
ganze andere Welt verrückt sei. Und das Alles bringt jener
Dämon zu Stande, den schon die Alten so fürchteten.
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Was ist denn non aber jener Dämon, der sich 00 spreizt nnd
io's unendliche hinaus will, und die ganze Welt an seinem Narren-
seile tanzen lässt, was ist er denn endlich? Bein Ziel ist die Ge-
schlechtsbefiriedigung, so viel er sich auch drehen und wenden mag,
um es zu verhüllen und zu verleugnen, und so viel er sich mit
hohlen Phrasen breit macht. Denn wenn es nicht dies wäre, was
sollte es denn sein? Etwa die Gegenliebe? Nicht doch! Mit der
heissesten Gegenliebe ist im Ernste Niemand zufrieden, selbst bei
steter Möglichkeit des Yerkehres, wenn die Unmöglichkeit des
Besitzes unabänderlich ist, und schon Mancher hat sich in dieser
Lage erschossen. Für den Besitz der Geliebten dagegen giebt
der Liebende Alles hin ; selbst wenn ihm auch die Gegenliebe völlig
fehlt; weiss er sich mit dem Besitz zu trösten, wie die vielen Ehen
dorch schnöde &kaufimg der Braut oder der Eltern mit Rang,
Beichthum, Geburt u. s. w. beweisen, letzten Endes auch die Falle
der Nothzucht bestätigen, wo sogar das Verbrechen dem
Dämon zu Liebe nicht gescheut wird. Wo aber das Geschlechts-
vermögen erlischt, da erlischt auch die Liebe; man lese nur die
Briefe von Abälard und Heloise ; s i e noch ganz Feuer, Leben und
liebe; er kühle, phrasenreiche Freundschaft. Ebenso nimmt aber
aach sofort mit der Befriedigung die Leidenschaft um ein Merk-
liche« ab, wenn sie auch noch nicht gleich ganz verschwindet, was
jedoch häufig auch nicht lange auf sich warten lässt, wobei immer-
hin Freundschaft und jene sogenannte Liebe aus Freundschaft be-
stehen bleiben kann. Sehr lange überdauert keine Liebesleiden-
schaft den Genuss, wenigstens nicht beim Manne, wie alle Erfah-
i'Hngen zeigen, wenn sie auch zuerst noch kurze Zeit wachsen
kann; denn was später noch von Liebe in diesem Sinne be-
hauptet wird, ist meistens aus anderen Rücksichten erheuchelt.
Die Liebe ist ein Gewitter; sie entlädt sich nicht in einem Blitze,
&her nach und nach in mehreren ihrer electrischen Materie, nnd
venn sie sich entladen hat, dann kommt der kühle Wind und der
Himmel des Bewussteeins wird wieder klar, und blickt staunend dem
befrachtenden Hegen am Boden und den abziehenden Wolken am
fernen Horizonte nach. Bas Ziel des Dämons ist also wirklich und
wahrhaft nichts als die Geschlechtsbefriedigung an und mit diesem
bestimmten Individu9m, und Alles, was drum und dran hängt, wie
Beelenharmonie, Anbetung, Bewunderung, ist nur Maske und Blend-
werk, oder es ist etwas Anderes als Liebe neben der Liebe; die
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Probe ist einfach die, ob es spurlos yerschwunden ist, wenn der
kühle Wind kommt; was dann noch übrig bleibt, ist nicht liebe
gewesen, sondern Freundschaft. Damit ist jedoch keinesweges
gesagt, dass der von diesem Dämon Besessene das Ziel der Oeschlechts-
befnedigung im Bewusstsein haben müsse; im Gegentbeil will
die höchste und reinste Liebe dieses Ziel nicht einmal eingestehen,
und namentlich bei einer ersten Liebe liegt der Gedanke gewiss
fem, dass dieses namenlose Sehnen bloss darauf hinauslaufen sollte.
Bas Bohnen und Streben ist in der That ein Unendliches, aber
auch ohne entschiedenen bewussten Zweck, trotzdem jedoch mit dem
einzigen unbewussten Zweck der Geschlechtsyerbindmig.
Sowie die Begattung vom Bewusstsein als der einzige Zweck
der Gefuhlsüberschwenglichkeit der Liebe erkannt ist, hört die
Liebe ale solche auf, ein gesunder Process zu sein; denn von die-
sem Augenblick an erkennt das Bewusstsein auch die Absurdität
der Ungeheuerlichkeit dieses Triebes, das Missverhältniss von Mittel
und Zwock in Bezug auf das Individuum, und er geht nun in die
Leideiii^chaft mit dem Bewusstsein hinein, für sein Theil eise
Dummheit zu begehen. Nur wo der Zweck der Liebe noch nicht
bewusiit geworden, ist die Liebe ein gesunder Process, ein Process
ohne ioneren Widerspruch, nur da besitzt das Gefühl diejenige Un-
schuld, welche allein ihm den wahren Adel und Beiz verleihen
kann.
Wir sind nun so weit, dass wir die Liebe zu einem bestimmten
Individuum als einen Instinct erkannt haben, denn wir haben in
ihr eine stetige Beihe von Strebungen und Handlungen gefanden,
die alle auf einen einzigen Zweck hinarbeiten, der jedoch als allei-
niger Zweck alles dessen nicht in's Bewusstsein fallt. Die Frage
ist ächlieeslich nur noch die, was soll jener unbewusste Zweck,
was bedeutet ein solcher Instinct, der eine eigensinnige Auswahl
in der Geschlechtsbefriedigung hervorruft, und wie wird er durch
den Anblick gerade dieses Individuums motivirt? Von dem, was
den Hauahalt der Natur interessiren und Instincte nöthig machen
kannj wird doch durch die geschlechtliche Auswahl der Individuen
ott'enbBx nichts weiter verändert, als die körperliche und geistige
Beschatleiiheit des Kindes, es bleibt also nach der bisherigen £nt-
Wickelung die einzig mögliche Antwort die, welche Schopenhauer
giebt (Welt als Wille und Yorstellung Bd. DL. Cap. 44, Metaphysik
der Geschlechtsliebe), nämlich, dass der Instinct der Liebe für eine
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der Idee der menschlicben Gattung mißlichst entsprechende Zu-
sammensetxnng und Beschaffenheit der nachfolgenden Generation
Boigt, Tmd dass die getränmte Seligkeit in den Armen der Geliebten
nichte als der trügerische Köder ist, yermittelst dessen das XJnbe-
wnsste den bewnssten Egoismus täusoht und zu Opfern seines
£ig6nnutze8 zu Gunsten der nachfolgenden Generation bringt, welche
die bewusste Ueberlegung für sich niemals leisten würde. Es ist
dasselbe Princip in specieller Anwendung auf den Menschen, welches
Darwin später in seiner Theorie der natürlichen Zuchtwahl als all-
gemeines Naturgesetz nachwies, dass nämlich die Veredelung
der Species ausser durch das Unterliegen der untüchtigeren
Exemplare der Gattung im Kampf um's Dasein auch noch durch
einen natürlichen Instin et der Auswahl bei der Begattung
hervorgebracht werde. Die Natur kennt keine höheren Interessen
ab die der Gattung, denn die Gattung verhält sich zum Individuum,
wie ein Unendliches zum Endlichen; sowie wir nun schon Tom
Einzelnen verlangen, dass er bewussterweise seinen Egoismus, ja
Bein Leben dem Wohle der Gemeinde opfere, so opfert die Natur
noch viel unbedenklicher den Egoismus, ja das Leben des Indivi-
dirnins dem Wohle der Gattung vermittelst des Instinctes (man
denke an das Mutterthier, das zum Schutze der Jungen den Tod
nicht scheut, und das brünstige Männchen, das um den Besitz des
Weibes auf Tod und Leben kämpft); dies kann gewiss nur weise
und mütterlich genannt werden. Wir erzwingen die bewussten
Opfer des Einzelnen durch Furcht vor Strafe; die Natur ist
gütiger, sie erzwingt sie durch Hoffnung auf Lohn; das ist
dodi wohl noch mütterlicher! Darum beklage sich Niemand über
diese Hoffiaungen und ihre Enttäuschung, wenn er sich nicht wie
Bchopenhauer über die Existenz der Natur und ihr Fortbestehen
tu beklagen hat; im Uebrigen ist der gaukelnde Wahn so heil-
sam und so unentbehrlich, wie der, den die Eltern Kindern
«u ihrem Besten vorspiegeln. Denn von allen natürlichen
Zwecken kann es offenbar keinen höheren geben, als das
Wohl und die möglichst g^stige Beschaffenheit der nächsten
Generation, da von dieser nicht bloss sie selbst, sondern die
K&uze Zukunft der Gattung abhängt; also ist die Angelegenheit
iu der That höchst wichtig, und der Lärm, der in der Welt davon
gemacht wird, keineswegs zu gross. Trotzdem aber bleibt das Ver-
bältniss von Mittel und Zweck (Liebesleidenschaft und Beschaffenheit
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1«2
dm Kindes) für das BewusstBein des Einzelnen, wenn es
einmal begriffen ist, ein absurdes, und der Process der Liebe für
ihn mit einem inneren Widerspruch gegen .seinen Egoismus
behaftet, denn vom Standpuncte des Egoismus kann sich wohl
dm bewuBste Denken in abstracto, aber schwerlich der bewnsste
Wille in concreto losreissen, höchstens kann er von der
höheren Einsicht dazu gebracht werden, seine Zurücksetzung gegen
Natui^rwecke geduldig über sich ergehen zu lassen.
Den Nachweis im Einzelnen, wie die körperlichen und geistigen
Ei j^en Schäften auf ^as TJnbewusste wirken, und den unbewussten
Willen zur Zeugung dieses bestinmiten neuen Menschen hervor-
rafen, welcher aus der Begattung dieser Individuen hervorgehen
muss, hat Schopenhauer musterhaft geführt. Ich verweise auf das
oben citirte Oapitel und gebe hier der Vollständigkeit halber nur
einen kurzen Auszug. Zwei Hauptmomente sind zu unterscheiden:
1) wirkt jedes Individuum um so mehr geschlechtlich reizend, je
vollkommener es körperlich und geistig die Idee der Gattung reprä-
sentirt, und je mehr es auf dem Gipfel der Zeugungskraft steht;
2) wirkt für jedes Individuum dasjenige Individuum am stärksten
geschlechtlich reizend, welches seine Fehler durch entgegengesetzte
Fehler möglichst paralysirt, also bei der Zeugung ein Kind ver-
spricht, das die Idee der (Gattung möglichst vollkommen repräsentirt.
lian sieht, dass im ersten Puncte die körperliche und geistige
Kraflti Ebenmaass, Schönheit, Adel und Grazie ihre Stelle findet,
um auf die Entstehung geschlechtlicher Liebe zu wirken, aber man
versteht nun, wie sie es anfängt, nämlich auf dem Umwege der
unliewussten Zweckvorstellung, während vorher die Möglichkeit
gar iiieht einzusehen war, wie körperliche und geistige Yorzüge mit der
Gea«3hlecht8liebe etwas zu schaffen haben könnten. Ebenso ist der
EiDÜuss des Alters durch den Gipfel der Zeugungskraft (18 — 28
Jahre beim Weibe, 24 — 36 beim Manne) erklärt; als ein anderes
Beispiel führe ich noch den gewaltigen Reiz an, den ein üppiger
weiblicher Busen auf den Mann übt; die Yermittelung ist die un-
bewusste Zweckvorstellung der reichlichen Ernährung des Neuge-
borenen ; femer dass kräftige Muskulatur (z. B. Waden) eine kräf-
tige Bildung des Kindes verspricht und dadurch reizt. Alle solche
Kleinigkeiten werden auf das Sorgfaltigste durchgemustert, und die
Leute sprechen darüber zu einander mit wichtiger Miene ; Keiner
abex überlegt sich, was denn ein unbedeutendes Mehr oder We-
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nigex an Waden nnd Busen mit dem GeschleohtiBgeiiüss ZU schaffen
haben. —
Der erste Pnnct enthält den Grund dafür , dass die geistig
and körperlich vollkommensten Individuen dem anderdn Gesohlechte
im Allgemeinen genommen am meisten begehrens^vrerth
erscheinen; der zweite Punct den Grund dafür, dass dieselbe
Wesen verschiedenen Individuen des anderen Geschlechtes ganz
rerschieden begehrenswerth und ganz verschiedene Jedetti
am begehrenswerthesten erscheinen. Man kann beide Puncte
überall auf die Probe ziehen, und wird sie in den kleinsten Details
bestätigt &iden, wenn man nur immer dasjenige in Abzu^
bringt, was nicht aus unmittelbarer instinctiver 'Geschlechts-
neigimg, sondern aus anderen verständigen oder unverständigen
Rücksichten des Bewusstseins begehrt und gewünscht whrd. Grosse
Männer lieben kleine Frauen und umgekehrt, magere dicke, stumpf-
nasige langnäsige, blonde brünette, geistreiche einfach-naive, Irohl-
Terstanden immer nur in geschlechtlicher Beziehung, in ästhe^chi&r
fintlezi sie meistens nicht ihren polaren Gegensatz schön, sondern
das, was ihnen ähnlich ist. Auch werden sich viele grosse
Weiber aus Eitelkeit sperren, einen kleinen Mann zu heii^then.
Man sieht, dass das geschlechtliche Wohlgefallen auf ganz and-er e<ki
Voraassetziuigen ruht, ab das practische, moralische, äsihetiscbe und
gemüthliche; dadurch erklärt sich auch die leidenschaftliche Liebe zu
hidiyiduen, welche der Liebende im TJebrigen nicht umhin kann,
SQ hassen und zu verachten. Freilich thut die Leidenschaft in
solchen Fällen alles Mögliche, um das ruhige ürtheil zuverblenden
^ zu ihren Ghinsten zu stimmen, darum ist es entschieden richtig,
dass es keine geschlechtliche Liebe ohne Blindheit giebt. Die bei
Abnahme der Leidenschaft eintretende Enttäuschung trägt wesent-
lieh dazu bei, den Umschlag der Liebe in Gleichgültigkeit oder
Haas zu verstärken, wie wir sogar letzteren so häufig im Gtiinde
des Herzens nicht nur bei Liebschaften, sondern auch bei EhelbuteVi
&>den. — Die stärksten Leidenschaften werden bekanntlich nicht
durch die schönsten Individuen erweckt, sondern im GegeiAheil
toifiger gerade durch hässliche; dies liegt darin, dass die stärkste
LeidenBchaftnurinder c onc e ntrir testen In dividualisirting
des Geschlechtstriebes besteht, und diese nur durch den Zusamttien^
>to8s polar entgegengesetzter Eigenschaften entsteht Ih
Nationen, wo das Leben überhaupt weniger geistig als sinnlidh ii^
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werden die körperlichen Eigenschaften fast ansschliesslich den Aus-
schlag geben, daher auch bei diesen die momentane Entstehnngs-
weise gerade der heftigsten Leidenschaften; dagegen bei den ge-
bildeten Schicht^i der Nationen von höherer geistiger Entwickehmg
überwiegen auch bei dem Einfluss auf die unbewusste geschlecht-
liche Wahl die geistigen Eigenschaften über die körperlichen, daher
ist zum Entstehen der liebe meist eine nähere Bekanntschaft nöih^
es sei denn, dass ein Hellsehen des Unbewussten, durch die physio-
nomische Erscheinung veranlasst, vicarirend eintrete, welcher Fall
sich besonders bei Frauen öfters ereignet, welche eben dem Qvell
des TJnbewussten näher stehen. Doch auch an Männern von hohem
geistigen Standpunct giebt es Erfeihrungen genug, dass das erste
Zusammensein mit einem seltenen weiblichen Wesen sie über ood
über in einen unzerreissbaren Zauber verstrickte, über dessen
Ursache sich Bechenschaft zu geben, jede Geistesanstrengung ver-
geblich war. Ihr, die Ihr noch zweifelt an der Magie, an Wirkon-
gen von Seele auf Seele ohne die Yermittelung bewusster Wahr-
nehmung, auf den Flügeln des Symbols, das nur vom Unbewussten
verstanden wird, — wollt Ihr auch die Liebe leugnen?
Das Resultat dieses Gapitels ist folgendes : Instinctiv sucht der
Mensch zur Befriedigung seines physischen Triebes ein Individamn
des anderen Geschlechtes au^ in dem Wahn, dadurch einen höheren
Genuss zu haben, als bei irgend einer anderen Art; sein nnbe-
wusster Zweck dabei ist Zeugung überhaupt. Instinctiv sucht der
Mensch dasjenige Individuum des anderen Geschlechtes au^ welches
mit ihm zusammengeschmolzen die G^ttungsidee auf das möglichst
YoUkommendste repräsentirt^ in dem Wahne, in der Geschledits-
verbindung mit diesem Individuum einen ungleich höheren Genuss
als mit allen anderen Individuen zu haben, ja absolut genommen
der überschwenglichsten Seligkeit theilhaftig zu werden; sein un-
bewusster Zweck dabei ist Zeugung eines solchen Individuums,
welches die Idee der Gattung möglichst vollkommen repräsentirt
Dieses unbewusste Streben nach möglichst reinem Yerwirklichung
der Gattungsidee ist durchaus nicht etwas Neues, sondern dasselbe
Princip, welches das organische Bilden im weitesten
Sinne beherrschte, auf die Zeugung angewandt (welche
ja auch nur eine besondere Form des organischen Bildens ist, wie^
4ie Physiologie nachweist), und durch die Masse und Feinheit der
Differenzen im menschlichen Geschlecht zu einem hohen Grade der
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Sabtilität hinaofgesohranbi. Bei den Thieren fehlt dieses Moment
der geechlecbtlichen Auswahl keineswegs, es stellt sich nur wegen
der geringeren Differensen in einfacherer G^talt dar, und betrifft
wesentHeh nur den ersten Funct, die Auswahl solcher Individuen,
welche selbst schon den Oattungstypus möglichst vollkommen reprä-
sentiren. So kämpfen bei vielen Thieren (Hühnern, Robben, Maul-
würfen, gewissen Affen) die Männchen um den Besitz der Weibchen,
welche besonders begehrenswerth erscheinen; diese besonders be-
gehrenswerthen sind bei vielen bunten Thieren die mit den schönsten
Farben, bei verschiedenen Raoen oder Varietäten innerhalb einer
Gattung die Individuen derselben Bace, z. B. bei Menschen, Hunden.
Köter bringen oft die grössten Opfer, um mit einer Hündin ihrer
Baoe zusammen zu kommen, in die sie sich verliebt haben. Sie
laufen nicht nur viele Meilen weit, sondern ich weiss auch einen
Fall, wo ein Hund jede Nacht trotz seines Kreukknüppels über
eine Meile weit seine Geliebte besuchte, und erschöpft und durch-
sdiunden alle Morgen wieder ankam; da der Knüppel nicht half,
legte man ihn an die Kette; hier wurde er aber so ungeberdig,
dass man ihn wieder ganz frei Hess, weil man befürchten musste,
er würde toll werden. Dabei waren auf seinem Hofe Hündinnen
genug. Auch edle Hengste sollen für gewöhnlich die Begattung
mit gemeinen abgetriebenen Stuten verschmähen.
Schopenhauer bemerkt sehr richtig, dass wir von dem Instinct
der Qeschlechtsliebe, den wir an uns erfahren, auf die Thierinstincte
mrückschliessen dürfen, und annehmen, dass auch bei jenen das Be-
woBstsein durch die Erwartung eines besonderen Genusses getäuscht
würde. Dieser Wahn entspringt aber nur aus dem Triebe, ist der Stärke
des Triebes proportional, und ist nichts Anderes, als der Trieb selbst
in Verbindung mit Anwendung der bewussten Erfahrung, dass die
Lost bei Befriedigung des Triebes im Allgemeinen der Stärke des
Triebes proportional sei, eine Voraussetzung, die sich eben bei den
Trieben, deren hauptsächliches Gewicht und Bedeutung in's Unbe-
wusste fallt, nicht bestätigt (siehe Gap. C. HI.) und darum zum
täuschenden Wahn wird. Es ist daher diese Bemerkung auf jene
Thiere einzuschränken, deren Bewusstsein zu solchen Generalisa-
tionen fähig ist, bei den tiefer stehenden hat es eben bei dem
zwingenden Triebe sein Bewenden, ohne dass es zur Erwarti^g des
ÖenuBses kommt. — Wie nützlich übrigens auch für die Individuen
det höheren Thierarten jener Wahn ist, sieht man daran, dass gerade
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ffioier geschlechtliche Wahn das erste und wichtigste Mittel in der
Fdrtir ist, um den Individuen dasjenige Interesse für einander ein-
ztiAäBsen, welches erforderlich ist, um die Seele in genügendem
Gmde fiir das Mitgeföhl empfänglich zu machen. Die Bande der Ehe
and Familie sind daher auch bei Thieren, wie bei rohen Menschen
die erdton Stufen, auf denen der Weg zur bewussten Freundschaft
und zur Sittlichkeit betreten wird, sie sind d;as erste Morgenroth
aufdämmernder Cultur, schönerer und edlerer Gefühle und reinerer
Opferfreudigkeit.
Man wird vielleicht einwenden wollen, dass nach der Theorie
der pol arischen (Ergänzung keine unglückliche Liebe vorkommen
köQxie, doch ist dies offenbar ein übereilter und falscher Einwurf
Denn : wenn A sich in B verliebt, so heisst das : B ist für A eine
geeignete Ergänzung, oder A wird mit B vollkommenere Kin-
der zeugen als mit Anderen. Nun braucht aber keineswegs auch
A für B eine geeignete Ergänzung zu sein, sondern B kann vielleicht
mit vielen Anderen vollkommenere Kinder zeugen als mit A, wenn
z. B, A. eine ziemlich unvollkommene Darstellung der Qattungsidee
iötj folglich braucht keineswegs B sich in A zu verlieben. Nur
danuj wenn Beides hochstehende Individuen sind, wird auch B
schwerlich ein Individuum finden, mit dem es vollkommenere Kin-
der zeugen könnte aU mit A, und dann werden Beide gleichzeitig
von der Leidenschaft ergriffen, dann sind sie wie die sich wieder
findenden Hälften des getheilten Urmenschen im Platonischen My-
thus. Dazu kommt in einem solchen Falle noch, dass nicht bloss
deu Kindern diese polarische üebereinstimmung zu Ghite kommt, son-
dern iu einer anderen Beziehung, als die Liebesleidenschaft wähnt,
auch den Eltern; weil nämlich auch für die höchste Freundschaft
die polarische üebereinstimmung der Seelen die günstigste Bedin-
gung ieL
Eine Ergänzung zu diesem Oapitel findet sich in Cap. C. XII«
unter „3) Hunger und Liebe", ihre positive Versöhnung aber, die
hier nur kurz angedeutet werden konnte, erst in Cap. G. XIIL,
wo die Selbstverläugnung, d. h. Verzichtleistung auf individuellcB
Wohl , und völlige Hingebung an den Process und das Wohl des
Allgemeinen als Princip der practischen Philosophie sich ausweist,
also auch alle für den bewussten Egoismus absurden, aber für das
Allgemeine wohlthätigen Instincte in integrum restituirt werden.
Eur Verständigung für Diejenigen, denen das Besultat des leta-
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ten CapiteU neu und abstossend erscheinen möchte, mache ich
schliesslich noch einmal darauf aufmerksam : 1) dass, so lange die
Illusion des unbewussten Triebes unangetastet Bestand hat, diese
Hlnsion für das Gefühl genau denselben Werth -wie Wahrheit hat,
und 2) dass selbst nach Aufdeckung der Illusion und Tor völliger
Besignation auf Egoismus, also im Zustande des schärfsten unge-
brochensten Widerspruches zwischen dem selbstsüchtigen bewussten,
und dem selbstlosen, bloss für's Allgemeine wirkenden unbewussten
Willen, dass selbst in diesem Zustande, sage ich, das ünbewusste
sich stets zugleich als das Höhere und als das Stärkere des
Bewusstseins erweist, also die Befriedigung des bewusslen Willens
auf Kosten der Nichtbefriedigung des Unbewussten mehr Schmerz
Terursaeht als das Umgekehrte.
iTiriifa ■'
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m.
Das Unbewnsste im Oeftthl.
Wenn loh Zahnfichmerz und Fingerschmerz habe, so ist dies
augongcheinlioh zweierlei, denn das Eine ist im Zahn, das Andere
im Finger. Hätte ich nicht die f^higkeit, meine Wahmehmnngen
räiimJich zu projiciren, so würde ich auch nicht zwei Schmerzen
empfinden, sondern einen gemischten aus beiden, sowie man bei zwei
reinen Tönen (ohne Obertöne), die in derOctave erklingen, absolut nur
einen hört, den unteren, aber mit veränderter Klangfarbe. Die Ort«-
verschiedenheit der Wahrnehmung ertheilt also der Seele die Fähig-
keit^ die Schmerzensconsonanz den ortsyerschiedenen Wahrnehmungen
gemä^ft in ihre Elemente zu zerfallen, einen Theil mit dieser, den
an f leren mit jener Ortsvorstellung zu verknüpfen und so die Zweier-
leiheit zu constatiren. Nun können aber Dinge räumlich zweierlei
aein und doch unterschiedslos, wie z. B. zwei congruente Dreiecke.
Dies kann man l&eilich von Zahnschmerz imd Fingerschmerz nicht
behaupten; erstens können sie sich durch den Grad, d. i. die inten-
eive Quantität unterscheiden und zweitens durch die Qualität, denn
bei gleicher Stärke kann der Schmerz continuirlich oder intermit-
tirend, brennend, kältend, drückend, klopfend, stechend, beissend,
schneidend, ziehend, zuckend, kitzelnd sein, und eine Unendlichkeit
von Variationen zeigen, die sich gar nicht beschreiben lassen.
Wir haben bis jetzt unter Schmerz das Ganze verstanden, es fragt
ßich aber, ob man dies nicht philosophisch verbieten muss, und vielmehr
in diesem gegebenen Ganzen die sinnliche Wahrnehmung
tind deo Schmerz oder die Unlust im engeren Sinne unter-
Buheiden muss. Denn wir haben oft eine Wahrnehmung vor uns, die
weder Lust noch Schmerz erzeugt, z. B. wenn ich mir den Finger
leise drücke oder mir die Haut bürste; während diese Wahmeh-
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mang qualitatir unrerändert bleibt» und nur in ihrem Grade zu-
oder abnimmt, kann Lust oder Unlust hinzutreten, und jetst sollte
plötzlich in dem Schmerz oder der Lust die Wahrnehmung mit
iDbegriffen sein? Wir müssen also Beides sondern, und erkennen
bald, dass beide so wenig Eins sind, dass sie vielmehr in causaler
Beziehung stehen ; denn die Wahrnehmung (oder ein Theil derselben)
ist die Ursache des Schmerzes, da er mit derselben auftritt und
yenchwindet, und nie ohne dieselbe ^erscheint, wohl aber die Wahr-
nehmung unter besonderen Umständen ohne den Schmerz.
Nach dieser Sonderung liegt die Frage nahe, ob denn die erwähn-
ten Unterschiede wirklich in Lust und Schmerz liegen oder bloss in
den yerursachendMi und begleitenden Umständen, nämlich in der
Wahrnehmung. Bass der Schmerz intensiv quantitative Unterschiede
loläast, ist klar, aber lässt er auch qualitative zu? Die meisten
unterschiede, welche man mit Worten bezeichnet, kommen auf ver-
schiedene Formen des Intermittirens hinaus, so klopfend, ziehend,
zockend, stechend, schneidend» beissend, sogar kitzelnd; es verän-
dert sich hier üreilich mit dem Grade der Wahrnehmung fortwäh-
rend der Ghrad des Schmerzes nach gewissen mehr oder weniger
regelmässigen Typen, aber von einer ursprünglich qualitativen Ver-
schiedenheit des Schmerzes selbst ist dabei nichts zu finden. Viel
eher könnte man dies vermuthen bei der Lust oder Unlust, die
durch verschiedene Gerüche und Geschmäcke hervorgerufen wird,
aber auch hier wird man sich bei scharfer Selbstbeobachtung über-
xeogen, dass die qualitative Verschiedenheit von Lust und Unlust
durchaus nur scheinbar ist, und diese Täuschung dadurch entsteht,
dass man niemals bisher die Sonderung von Lust und Unlust und
Wahrnehmung vorgenommen hat, sondern beide mit der Wahr-
nehmung als ein einziges Ganzes aufzufassen gewohnt gewesen ist,
80 d^ss nun die Unterschiede der Wahrnehmung sich auch als
Unterschiede dieses einigen Ganzen hinstellen. Dass man aber diese
Sonderung niemals vorgenommen hat, das liegt daran, weil man
&Qfl der unendlich mannigfialtigen Composition von Seelenzuständen
immer nur diejenigen Gruppen als selbstständige Theile aussondern
lernt, welche zu sondern dem practischen Bedürfniss
dinen reellen Nutzen bringt. So z. B. sondert man in dem
Accord, den ein volles Orchester angiebt, nicht etwa alle Töne einer
Tonhöhe aus, gleichviel von welchen Instrumenten sie kommen,
^intchliesslich deren Obertöne, sondern man fasst die von einem
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y
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Instrument erzeugten Obertöne der verschiedensten Lagen mit dem
OruQ^toD des Instromentes zu seiner Klangfarbe zusammen, und
die ^ ^<3 bildeten Tongruppen, welche die ron jedem einzelnen In-
ßtrumento hervorgemfenen Töne repräsentiren, fasst man erst znm
Aocord zusammen, einfeu^h aus dem Grunde, weil die Eenntnies der
Obertüne kein practisches Interesse gewährt» wohl aber die Eennt-
uiBS der Klangfarben der Instrumente. Und diese practisohe Art,
die Tongruppen zusammen zu fassen, ist uns so eingelebt, dass uns
die nach den blossen Tonhöhen, obwohl sie offenbar yiel leichter
sein miLRBf rein unmöglich ist, so unmöglich, dass erst vor wenigen
Jahren Helmholtz die Entstehung der Elangfarben durch Combination
von Obertönen wirklich streng bewiesen hat. Fast so unmöglich
scheint €16 uns nun auch, aus dem Ganzen von Lust oder Unlnst
und d^ü sie bewirkenden und begleitenden Wahrnehmungen diese
EleineTite in der Selbstbeobachtung scharf zu sondern und aiw-
einand*?r zu halten ; dass diese Sonderung indess möglich sein muss,
Bieht JedGT daran, dass beide Theile sich wie Ursache und Wirkung
verhalten und wesentlich verschieden sind. Wem es gelingt, sie
Toi^tinßhnien, wird den Satz bestätigt finden, dass Lust und Unlust
mn intensiv quantitative, aber keine qualitativen Unterschiede
haben. Es wird um so leichter gelingen, mit je einfacheren Bei-
spielen man anfängt, z. B. ob die Lust beim Anhören eines Glocken-
tones vfcrsohieden ist, wenn der Ton c und wenn er d ist. Hat
man die Sache einmal bei solchen einfachen Beispielen eingesehen,
so wird sie Einem auch einleuchten, wenn man allmälig zu Bei-
iipieku aufiiteigt, die grössere Unterschiede der Wahrnehmung ent-
halten. Man kann auch rückwärts eine Bestätigung des Satzes
darin &t4ien, dass man im Stande ist, verschiedene sinnliche Genüsse
oder Sühnterzen gegen einander abzuwägen (z. B. ob Jemand für
den Tbuler^ den er auszugeben hat> lieber eine Flasche Wein trinkt^
oder Knrhen und Eis isst, oder Beafsteak mit Bier, oder ob er sich
dafür die Befriedigung eines anderen sinnlichen Bedürfiiisses gewährt,
oder ob man den Zahnschmerz noch Tagelang erträgt, oder sich
lieh er den Zahn ausziehen lässt), welches gegenseitige Abwägen
nicht möglich wäre, wenn nicht Lust und Unlust in allen diesen
Bingen nur quantitativ verschieden und qualitativ gleich wären,
denn nur mit Gleichem lässt sich Gleiches messen.
Man sieht nunmehr auch ein, dass die Ortsversohi eden-
heit keineswegs den Schmerz unmittelbar, sondern nur die Wahr-
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nehmang trifft» und erst durch die Wahrnehmung eine ideelle
Theilung des summarischen Schmerzes eintritt, indem ein Theil
desselben auf diese, ein anderer auf jene Wahrnehmung causal
beaogen wird. Wenn nun streng genommen der Schmerz ortlos
ist und nur die Wahrnehmung Ortsbeziehung hat, so kann auch
die durch die Ortsverschiedenheit gesetzte Zweierleiheit nur
auf die Wahrnehmung, aber nicht auf den Schmerz Bezug haben,
und der Schmerz ist demnach nicht bloss in allen Fällen quali-
tativ gleich, sondern er ist in demselben Moment immer
nur Einer.
Wer die Gleichheit von Lust und Unlust in sinnlichen Qe-
föhlen eingesehen hat, der wird sie auch bei geistigen bald zugeben.
Ob mein Freund A oder mein Freund B stirbt, kann wohl den
Grad, aber nicht die Art meines Schmerzes verändern, eben so
wenig ob mir die Frau oder ein Kind stirbt, obwohl meine Liebe
zu Beiden ganz verschiedener Art gewesen, also auch die Vorstel-
lungen und Gedanken, welche ich mir über die Beschaffenheit des
Verlustes mache, ganz verschieden sind. Wie der Schmerz über-
haupt in diesem Falle durch die Vorstellung des Verlustes verur-
sacht worden ist, so wird auch in dem Complex von Gefühlen und
Gedanken, den man gewöhnlich unter Schmerz zusammenfasst, durch
die Verschiedenheit der Vorstellungen über den Verlust eine Ver-
schiedenheit herbeigeführt; sondert man aber wiederum das ab, was
Bchmerz und nichts als Schmerz ist, nicht Gedanke und nicht Vor-
stellung, so wird man finden, dass dieser wiederum ganz gleich ist.
Basselbe findet bei dem Schmerz statt, den ich über den Verlust der
Frau, über den Verlust meines Vermögens, der mich zum Bettler
inacht, und über den durch Verleumdung verursachten Verlust
meines Amtes und meiner Ehre empfinde. Das was Schmerz ist,
und nichts als Schmerz, ist überall nur dem Grade nach verschie-
den. Ebenso bei der Lust, die ich empfinde, wenn ein Anderer
nach langem Sträuben endlich meinem eigensinnigen Willen will-
fahrt, oder wenn ich einen Lotteriegewinn mache, oder eine höhere
^Uong erhalte. Dass Lust und Unlust überall gleich sind, geht
auch hier wiederum daraus hervor, dass man die eine mit der an-
deren misst, auf welchem Abwägen von Lust imd Unlust in der
Zukunft jede vernünftige praotische Ueberlegung, jedes Entschluss-
faseen des Menschen beruht, denn man kann doch nur Gleiches
mit Gleichem messen, nicht Heu mit Stroh, oder Motzen mit
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Pfunden. Dieser Grund, der auch in der Einheit des Namens an-
gedeutet ist, ist es auch, welcher uns bestimmt, die sinnliche und
geistige Lust für gleich zu halten. Man denke sieh einen Menschen,
der zwischen zwei reichen Schwestern die Wahl hat zu heirathen,
eine klug und hässlich, die andere dumm und schön, so wiegt er
die Torausgesetzte sinnliche und geistige Lust gegen einander ab,
und je nachdem diese oder jene ihm überwiegend scheint, trifft er
seine Entscheidung. Der zweite Grund ist der, dass Sinnliches und
Geistiges keineswegs durch eine Kluft Ton einander geschieden sind,
s^jodern mannigfach in einander übergreifen und verwachsen, und
nur in ihren gewöhnlichen Extremen von einander zu unterscheiden
sind.
Wir halten also als Resultat fest, dass Lust und Unlust in allen
Gefühlen nur Eine ist, oder dass sie nicht der Qualität nach, son-
dGm nur dem Grade nach verschieden sind. Dass Lust und Un-
luBt u inander aufheben, sich also wie Positives und Negatives ver-
balteu, und der NuUpunct zwischen ihnen die L[idifferenz des
Gefiibls ist, ist klar; ebenso klar ist es, dass es gleichgültig ist,
welches von Beiden man als Positives annehmen will, ebenso gleich-
gültig als die Frage, ob man die rechte oder die \\uke Seite der
Abaeiesenaxe als positiv annimmt (dass also Schopenhauer Unrecht
hat, wenn er die Unlust als das allein Positive erklärt, und die
Lust als ihre Negation ; er begeht dabei den Fehler, den Gegensatz
als einen contradictorischen aufzufassen, der ein conträrer ist).
Die Frage ist nun aber die: was sind denn Lust und Un-
lust? Dass die Vorstellung eine ihrer Ursachen ist, haben wir
gesehen, aber was sind sie denn selbst? Aus der Vorstellung allein
sind sie nun und nimmermehr zu erklären, so sehr sich auch ältere
und neuere Philosophen darum bemüht haben; die einfachste
Selbstbeobachtung straft ihre unbefriedigt lassenden Deductionen
Lügeo, und sagt aus, dass Lust und Unlust einerseits und Vorstel-
kug andererseits heterogene Dinge sind, die sich nur gewaltsam
in einen Topf werfen lassen. Dagegen ist von den meisten bedeu-
tenden Denkern aller Zeiten anerkannt worden, dass Lust und
irnlust mit dem innersten Leben des Menschen, mit seinen Interessen
und Neigungen, seinen Begehungen und Strebungen, mit einem
Wort© mit dem Eeich des Willens im engsten Zusammenhange
stiihen* Ohne auf die Ansichten der einzelnen Philosophen hier
näher eingehen zu wollen, kann man zusammenfassend sagen, dass
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Aller Memniigen sich auf 2wei GfundianBchauungen zurückführen
lassen, ientweder fassen sie die Lüöt als Befriedigung, Unlust als
Jßchthefriedigung des Begehrens auf, oder umgekehrt das Begehren
als Yorstellmig der zutünftlgön Lust, das Verabscheuen (negative
Begehren) aJs Vorstellung det zukünftigen Unlust. Im ersteren
Palle "ist der "Wille, im letzteren dds Gefühl als das Ursprüngliche
gefesst. "Welches von Beiden dak Richtige ist , ist unschwer zu
sehen, denn erstens besteht im lÄstinct der Trieb factisch vor der
Vot^tißllung der Lust, sein eigentliches Ziel ist hier ein anderes,
als die individuelle Lust der Befriedigung; zWeitens wird wohl
dutch di(B ErklärurTg der Lust' als feefrieäiguüg des 'Willens Alles
an der Lust genilg^nd erklärt , aber' nicht unisekehrt' Alles am
Willen durch die ißrklämng dässölbeti als Vorstellung der Lust;
hierbleibt ä&i eigentlich treib6nd(ö Moment, der "Wille als wir-
kende Causalität, völlig unbegreiflich ; — eben weil der Wille die
Teräußsertichung, Ltist und Unlust aber die Rückkehr
ron dieser Veräusserlichung zu sich selbst und damit der Ab-
ßchluss äiesfes ProcesSes ist, darum muss der Wille das pri-
märe, die Lust das ^ecundäre Moment sein.
Lassfen wit diese Ansicht vorläufig gelten, so erhalten wir eine
Tmer«?sartete Bestätigung für die wesentliche Gleichheit der Lust
und Unlust in aÜen Gefühlen. "Wir haben nämlich iTrüher gesehen,
dass der Wille (ebenfalls immer ein und derselbe ist, und sich
etstens ntÜf dem Stärkegrade nach* und zweitens dem Objecte nach
tinterscheidöt, "Welches aber nicht mehr Wille, sondern Vorstellung
ist. Wenn nun Lust' die Befriedigung, Unlust die Wichtbefriedigung
des Willens ist, so ist klar, dass auch diese immer iiur ein und
dieselben sein' müssi^h, und bloss dem Grade nach verschieden sein
kSnneii, dass atle'r 'die scheinbaifen qualitativen Unterschiede, die
«ie eHihälten, dtttijh' begleitende Vorstellungen gegeben werden,
theils ' duifiÜ dife, welöhe das Willensobject ausmachen, theils durch
die, weicht diö" Befriedigung des 'Willens herbeifiihren. Hieraiis
Tegullitt'ftir alle Zustände des Gimüthes unbeschadet ihrer Mannig-
faltigkeit' 'ifoiH ho gtbsse Einfachheit, dass diese nach dem alten
Vort: ^„lnrnpU^)sl§iüum veri^* rüökwärts den Sätzen eine Stütze sein
Äuss, aty d'ei^n sie ehts^Wngf, sowie diese 'sich einander gegen-
•eitSg dftrcii ''dte' ft'aöhf 'der Analogie stützen und verwahrschein-
' Das, Worum ich nun eigentlich an diesem Orte diese Fragen
T. Hartmann, Pktl. d. Unbewnssten. 13
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aus dem bewussten Seelenleben berübrt habe, sind folgende beiden
ergänzenden Sätze aus der Fsyehologie des ünbewnssten: 1) Wo
man sieh keines Willens bewusst ist, in dessen, Be-
friedigung eine vorhandene Lust undünlust bestehen
könnten, ist dieser Wille ein unbewusster; und 2) da»
unklare, ünausspreohliehe, Unsägliche der Gefühle
liegt in der TJnbewusstheit der begleitenden Vorstel-
lungen. — Weil der Begriff des unbewussten Willens in der bis-
herigen Psychologie fehlte, dämm konnte sie gewissenhafter - Weise
die Erklärung der Lust als Befriedigung des Willens nicht unbe-
dingt aoceptiren, und weil ihr der Begriff der unbewussten Vor-
stellung fehlte ; darum wusste sie mit dem gesammten Gebiet der
Gefühle nichts Bechtes anzufangen, und beschränkte deshalb ihre
Betrachtungen fast ausschliesslich auf das Gebiet der Vorstellung.
Als Beispiel einer Lust aus unbewusstem Willen dcmke man
an die Instincte^ bei denen üer Zweck im Unbewussten liegt, z. B.
die Mutterlust am Neugeborenen, oder die transcend^ate Seligkeit
des glücklich Liebenden; hier kommt durchaus kein derartiger Wille
zum Bewusstsein, dessen Befriedigung dem Grade der Lust ent-
spräche; wir kennen aber die metaphysische Macht jenes unbe-
wussten Willens, als dessen specielle Wirkungen die einzelnen
instinctiyen Begehrungen erscheinen und dem durch die ErfiUlung
dieser Genüge geschieht; und ein überschwenglich hoher und stu*
ker Wille muss es wahrlich sein, dessen Befriedigung jene Erschei-
nungen überschwenglicher Lust zur Folge hat, von denen die Dichter
aller Zeiten nicht hoch genug zu singen wissen.
Ein anderes Beispiel ist die sinnliche Lust und Unlust, die
aus Nervenströmungen gewisser Art hervorgehen. Lotze in seiner
„medicinischen Psychologie^ zeigt , dass die sinnliche Lust stets mit
einer Förderung, die Unlust mit einer Störung des organisohoi
Lebens verbunden auftritt-, dieser gewissenhafte Forscher erkennt
aber ausdrücklich an, dass hiermit nur ein gesetzmässigea Zusma-
menvorkommen eonstatirt sei, keineswegs jedoch aus dem Begriff
der Störung des Lebens der Begriff der Unlust abgeleitet werden
könne, dass somit das Gesetz, was Beide verbindet ^ tiefer liegen
müsse. Dies ist nun offenbar der unbewusste WUle, den wir ab
Princip der Verleiblichung^ der Selbsterhaltung und Selbslbeistellmig
kennen gelernt haben; sobald Störungen oder Beförderungen im
Bereich des organischen Lebens so beschaffen sind, dass sie durch
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NerrenfltromTuigQn mun Qigan d^ BewnsfltteiiiB, dem Gdiini tele-
giaphiri werden, so BoüsaeQ die Befiriedignngen oder Ni<^tbe£riedi*
gongen dieses nnbewnsslien Willens als Lost oder Unlust empfanden
werden. (Was Widexjlegang etwaiger Einwendungen g^en obige
Behaiq^tang über die sinnliche Lust und Unlust anbetrifft, so ver-
weise ich auf Lotse, ^rweites Buch, zweites Cq^^iteL)
Dase wir sehr oft nicht wisseui was wir eigodtlioh wollen, ja
sogar oft das G^entheil davon zu wollen glauben, bis wir durch
die Lust oder Unlust bei der Entscheidung über unseren wahren
Willen belehrt werden, Tfird wohl Jeder schon Gelegenh^t gehabt
haben, an sich und Anderen zu beobachten. Wir glauben nämlich
in solchen zwei&lhaften Fällen häufig das zu wollen, was uns gut
und lobenswerth erscheint, z. B. dass ein kranker Verwandter, den
wir SU beerben haben, nicht sterben möge, oder dass bei einer
CoUision zwischen dem Gemeinwohl und unserem individuellen Wohl
elfteres vorangesetzt werde, oder dass eine früher eingegangene
Tezpüchtung beßtehen bleiben, oder dass unserer vernünftigen
ird)erzeugun^ und nid^t unserer Neigung und Leidenschaft gewill-
fsiat werde; dieser Glaube kann so fest sein, dass hernach, wenn
die Bntscheidung unserem vermeintlichen Willen entgegen ausfallt^
imd uns trotzde^i keine Betrübniss, sondern eine ausgelassene Freude
überkömuit) "wir uns vor Erstaunen über uns selbst gar nicht zu
lassen wissen, weil wir nun an dieser Freude plötzlich unsere
Tansehnng gewahr werden, und erfahren, dass wir unbewusst daa
Oegoxtheil von dem gewollt haben, was wir zu wollen uus vorge-
stellt hatten. Da wir nun auf unseren eigentlichen Willen in diesem
Falle nur aus unserer Lust, resp. Unlust zurückschliessen, so besteht
diese Lust bei ihrem Eintreten offenbar in der Befriedigung eines
uibewQssten Willens. Dies wird noch einleuchtender, wenn wir
li^trachten, wie von dem übermässigsten Erstaun^i an, dass solch'
^ Wille unbewusst in der eigenen Seele ezistirt haben könne,
gani aUmälig der Üebergang stattfindet durch den leisen Verdacht,
den Zweifel und die Yermuthimg, dass man doch wohl jenes wolle,
und nicht das, was man sich einbilde, bis endlich zu dem offenen
Selbstbetrugs wo man ganz gut weiss , dass man jenes wolle, aber
nck und andere mit mehr oder weniger Glück zu überreden sucht»
man wolle das Gegentheil. Hieran schliessen «ich dann die Fälle»
wo nicht einmal der Yersueh zur Selbsttäuschung gemacht wird»
und die Ueberraschnng» mit welcher die Lust auftritt, nur darin
13»
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196
bestelit, dass man sich sehr l^nge den Wiinsch mcht amiä Bewiüdt-
sein gebracht hat» also r. B. wenn ein längst t<yat geglaubter Pröttiid
pldtzlioh in mein Zitiimer tiitt; anoh dann ist eii'ein onbexnikster
Wille» dessen Befidedigong als Frendehs^fi'reck sich dai^tält,
aber jetzt branohe ich die Eidäte>n!z dieses Willens' in mir' üicht
erst aus dem Eintritt der Luftt zu schliessen, söxkderh kann sie
direct aus der Erinnerung^ Mherer Zeiten entnehmen, Sro ich
oft gewünscht habe, deni verlorenen Freund Hoch einmal in ineine
Arme zu schlieseen.
Wir wissen aus Oap. Ä. IV. , dass der be wütete tlrid tiiibe-
wusstc Wille mdh 'wesentlieh dadurch unteröcheideni däös die Vor-
stellung, welche das Object' des Willens bildet, im 'einen FaDe
bewusst, im- anderen uftibewusst ist. Indem wir uns diesen Säte
zurückrufen, erkenuen wb^ön TJebeirgang von der Lu^t oder tJtflußt
aus uöbewusstem Wiüeti zö deiqenigen Gefühliöh*;' \^felch^ dadtoh
etwas Unklares erhalten, dass^ihre' Qualität gaijz ödef 'theilVeisä
durch unbewuöste Vorstelluhgeii bedirigt wird; Wir sfehin iifaß-
lich jetzt, dass das erstere nur ein sßöcieHer Fall d6ö Wtz^i^n lüt
indem eben in 'erfiterem die Vorstellungen, t^elche deii Inhäß dö^
befriedigten Willens bilden, unbeVrüsst 'bleiben, und ViöIlÄöht'
nur -die Vorstellungen, welche die BefriediguÄ'g hiörbieifilh-
ren, bewusst werden C#ie' z. B. 'bei der Mutterliebe)^ doch j^Sarat'
dies nicht ganz auf di^e Ställe, -^o sofort* durch das Eintreten tf^if
Lust oder Unlust auch das VofhandenBein und die KtV-äes liiib^
wiffisteh WilleuB vom Be^jnrsstseih erdchVossen wird/ Veil' dies^^ntr
zwischen zwei oder doch nur wienigen Artete von Willeri 'öchwaaa-
ken konnte. ■" •:'•" ^"- - -"
Kun sind aber selten die VetMHhisse so '^MfiacK', iäös das
Gefühl in' der Befriedigung oder itlcßtbeMedigTltig leffaeä 'fe'inzigön
bestimmten Begehrens bestellt, soiderti die veröchf^denKTtigsten
Gattungen vt)tt Begehrungen dürchl*duüen sich in Je'dem Augenblick
auf das Mannigfaltigste, und durch dasselbe Erdignisa werden eifaige
befiriedigt, andere nicht befriedigt »'^^kher giebt bs weder reine,
noch' einfache Lust und Unlust, di hl es giebt keine Lust, die
nicht einen Schmerz enthielte,^' tin'd keiiien Schmerz, mit dem
nicht eine Ltkst verknüpft wS^;' aber' ös giebt auch keine IM
die- nicht aus der glwchartigen Befriedigung' der' verächiedehit^
Begehrungen Zusammengesetzt wäre. Wie der Wille die Resul-
tante aller gleichzeitig ftmctioniifcfndfen Be^ehnmgon, so Ist äücK
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J^7
.4ie B^iT;iedigiing d^. WilUoe die Besultaüte aller gleiohzei-
tigen Befidedigmigao üod Nichtbefnedigongen der einzelnen Be-
g!9luruogQQ;/demi eß ist jagleäcb^ ob man eine Operation gleich mit
der Eosultante yornininUy oder mit den einzelnen Componenten, tiid
dann eM die Eesnltante der JPartialresultate nimmt. Nun leoobliBt
,0m, daas. ein Theil dißßex ein^ekieii Begehrungen bewusst» edn
* «nderer .unbewuflet .sein k^LOBk^ ja meistentheils sein ivird^ dann ist
aach die Lust gemischt aus solchen Lüsten, die durch bewusftte,
jisd solohep; die dturch uobewuiste Yorstellungen bestimmt werden.
^Jhx letztere Theil muss der Qualität des Gefühles jown unklaien
(%«mcter geben, jenen stete übrig bleibenden Best, der bei aller
Ao^trengong niemals 7om Bewusstsein erfasst werden Icann.
. Aber noch andere Puoete giebt es als den nnbewussten Willen,
vo unbewnsste Ypi^itelluag auf die Bigenthümliohkeit des Gefahls
bestimmend wirkt :Es kam! nandich die das Gefühl erzeugende Wahr-
iwhwung oder Vorstellung selbst dem Hirn unbewtisst sein, so wunder-
bch es auf den ersten Augenblick klingt. Denn man sollte meinen,
die YorsteUuag, welehe die Befriedigung des Willens herbeiführt,
kaim n^r von -Aussen oder bei Fhantasiespielen duroh hirnbewusstes
/VossMlen kommen, und in beiden Fällen kann die Listanz des
BefwnaiUeins. nicht umgangen werdeo. Man vergisst aber dabei,
diM es noch andere N'ervencenlaraltheile giebt; die ebenso wie das
JBim für ^eh ein Bewusstsein haben, wedohes der Lust und der
IMvBt fähig ist. Nun kattn man sich wohl denken, dass die Lust-
oder Unlust -Empfindungen dieser Oentra dem Gehirn zugelötet
tJxd, ohne dass die Leitung so gut cingeriditet ist, dass diö Wahr-
aiohmiuigea. selbst y welche in jenen' Gentns Lust oder Unlust er-
seqgeti, bis gutn Gehirn gelangen könnten. So eriiähr das Gdiim
iwbl Lust- und Unlust -Empfindungen zugeleitet, aber nieht ihte
Ibtftekiingsgxüiide, und darum haben solche im Gehirn aus anderen
Cmtris sieh wiedecq»iegelnde Gefühle und Btimitaungen etwas sehr
^^FttäadlicheB. und Bäthsrihaftes, - wenn auch ihre Macht über
4mi Himbewu8sts0in..moht selten sehr gross ist Letzteres skioht
Mfik dann meist andeote soheinlMqre. .Ursachen seineor Geföhle aisf,
^0: keineswegs ; die . ri<^igen sind.. Je wenigear si^ das Himbe-
^nisstsein zu einer gewissen Selbstständigkeit und HiOie emporge-
i^tegea : hat^ desAo mehr Macht haben ffie aus dem iektiT' Unbe-
3^08«ten.iqiiiUeiidett: Stimmungen über dassdbe, jmx beim ^eibüohen
^^ttUeefat :mi6hr ^tdaabeim nännliäiea, bei Siiideiln; mahv als bei
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198
> Erwachflenen, bei Kranken mehr als bei (Gesunden. Am deutliek-
«ten treten diese Einflüsse anf bei HypocHondrie und bei wichtigen
Mxnellen Yerändernngen, als s. B. Pubertät, Schwangerschaft.
Biese Einflüsse äossem sich auch keineswegs bloss in Stimmnn-
gen, d. h. in der Disposition zu heiteren oder traorigen Ge-
fühlen, sondern in höheren Graden lassen sie direct Gefühle im
Himbewusstsein entstehen , wie man wiederum am Besten an
Hypochondristen bemerkt.
^an sehe jenes Kind: wie seelenfroh, wie freudiges Hüpfm,
wie heiteres Lachen, wie leuchtendes Auge; alles Fragen nach der
Ursache wäre yergeblich, oder 4^e angegebenen Ursachen würden
mit der Ereude ausser allem Verhältniss stehen. Und pl9tslich,
und wieder ohne allen bewussten Grund, ist das Alles yorbei, das
JCind ist still in sich gekehrt, trüben Auges, grämlichen Mundes, 1
stim Weinen geneigt, es ist yerdriesslich und traurig, wo es noch |
^eben yergnügt und lustig war.'' (Carus' Psyche.) Wo anders sollen ^
diese Gefühle,^ deren Eigenthümlichkeit nur auf unbewusste To^
.Stellungen surückzufUhren ist, ihren Ursprung nehmen» als aus
:vdtalai Wahrnehmungen äer niederen Neryencentra ^ Bass die
Maoht dieser Gefühle uns beim Menschen um so grösser erscheint^
je geijuiger die Selbstständigkeit des Himbewusstseins ist, lässt darauf
ju^hlieesen, dass bei den Thieren die Bedeutung derselben ebenfslls
um so grösser ist, jö^^efer wir in der Thierreihe hinabsteigen, was
-ffich auch a pricri erwarten lässt, da hier die- übrigen Genisse
mishr und mehr yersohwinden.
Man wird jetzt einsehen, wie auch andere sinnlidie GefÖhle,
die zum Theil durch klar bewusste Himwahmehmungen bestimmt
t und begleitet sind, zum anderen Theil unklar und unfasslioh blci-
' beh , insofern sie durch : Wahrnehmungen und Gefühle niederer
Centra ^lermittelt sind; so yergleiche man z. B., wie leicht es ist,
* irgend ein einlsohes Gefühl, das durch die Wahrnehmung der direet
•isum Hirn leitenden oberen Sinne bestimmt ist, in der blossen V(nr-
Stellung yollständig. und klar zu reproduoiren, wie erfolglos dagegen
.Alle Bemühungen bleiben, Hunger und Durst oder G«sdÜBohiage-
- nuss dem Bewusstsein klar und yoUstäadig aus der Ennnerotig vn
yergegenwftrtigen*
Endlich bleibt die Möglichkeit übrige dass noeh andere «a^
,wusate Tonteilungen bestimmend anf die Bigenthümliühkeü dr
Oefühlszustände einwirken. Wir haben nämlioh schon weitercM^
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199
gesehen, dass die sinnliche Wahrnehmung häufig erst dann eine
Lust- oder Unlnst-Empfindang znr Folge hat, wenn sie in einer
gewissen Stärke auftritt , während sie unter diesem Ifaass als
objective indifferente "Wahrnehmung für sich besteht, ohne ein
solches Oefühl 2u yeranlassen. Nun ist aber fast keine sinnliche
Wahrnehmung durchaus einfach, sondern aus einer Menge Elementen
zusamtnengeset^ die nur durch den gemeinsamen Act der Perception
tnx Einheit verbunden werden. Dennoch können sehr wohl Eine
oier einzelne dieser Partiahrahmehmungen Gefühle zur Folge
haben, wiöirend die übrigen Partialwahmehmungen dem Gefühl
indifferent bleiben. Nichtsdestoweniger werden, wenn die Yerbin-
dung dieser Terschiedenen Partialwahmehmungen zu Einer summa-
rischen Wahrnehmung keine zufällige, sondern eine in der Natur
des Objects begründete beständige ist, nicht nur die das Gefühl
bewirkenden, sondern auch die indifferenten Theile der ganzen
Wahrnehmung mit dem Gefühle yer schmelzen und für die
Qualität des ganzen Seelenzustandes mitbestimmend sein, weil ja
die Seele kein Interesse hat, die Sonderung der gefühlerzeugenden
mid der indifferenten Theile vorzunehmen. So z. B. wirkt für den
Oharacter des Lustgefühls, welches in mir durch das Anhören einer
bestimmten Sängerin erzeugt wird, jede characteristische Eigenthüm-
hchkeit des Timbre und Klanges der Stimme mitbestimmend, und
ohne dass diese kleinen unterschiede, welche eben nur zur Möglich-
keit der Unterscheidung verschiedener Stimmen hinreichen, einen
unterschied in dem Grade des Genusses hervorrufen könnten, so
bin ich doch nicht im Stande, mir den Genuss, welchen ich beim
Anhören gerade dieser Sängerin empflmden, von diesen feinen
Nuancen der indifferenten Wahrnehmung zu sondern, ohne die Eigen-
thnmlichkeit des gehabten Gefühls aufzugeben. Es beweist dies
eb^ nur, dass man das, was eigentlich Lust und Unlust in den
Sefilenzuständen ist, gar niemah auszuscheiden geübt hat, son-
dern aQe Seelenzustände, in denen nur überhaupt Lust und Unlust
vorkommt^ läber mit Einschluss aller begleitenden Wahrnehmungen
nnd Yorstellungen (ja sogar Begehrungen) unter dem Ausdruck Ge-
fühl zusammenfasst. — Man sieht nun ein, dass auch unter den
bloss begleitenden Wahrnehmungen unbewusste für das Hirn
Min können, wie dies soeben für die gefühl erzeugen den gezeigt
worden ist; noch wichtiger aber werden diese begleitenden Vor-
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_2W _
Btellangeui wenn ;wir, Ton dem Gebie^ der sinnlichen Wahmehmung
in das der geistigen Vorstellung übergehen»
So haben wir nun die versohiejdenen Arten, wie GefiLhle durch
unbewusste Vorstellungen bestimmt werden können, im Allgeipeinen
entwickelt, und vielleicht ist bei dieser Gelegenheit auch schon die
Wichtigkeit der, unbewussten, Vorstellungen für das ganze Gefübby
leben sichtbar geworden. Diese Wichtigkeit ist gar nicht hoch
genug zu veranschlagen. Man i^ehme sich zur frohe nur ein Ge-
fühl vor, welches man wolle, und suche es in seinem ganzen Um-
fang mit völlig klarem Bewusstsein zu erfassen, es ist ewig ver-
gebens; denn wenn man sich nicht mit dem oberfläqhlichsten Ver-
ständniss begnügt, so wird man stetsauf einen unauflöslichen
Best stossen, der jeder Bemühung spottet, ihn mit dem Br^nspiegel
des Bewusstseins zu beleuchteu. Wenn man. sich jquii ^er £n^
was man denn mit dem klar gewordenen Theile gethan lfa))e,
während man ihn mit vollem, Bewusstsein erfaspte, so wird .man
sich sagen müssen, dass man ihn in Gedanken,. d, h. bewi^s^t-e
Vorstellungen übersetzt habe, und nur soweit das Gefühl sich
in Gedanken übersetzen lässt, nur so weit mt es klar beitrusst ge-
worden. Dass sich aber 4ad Gefühl, naß. wenn auch nur theilw^if^
hat in bewusste Vorstellungen umgi,es,sen lassen, das beweist i.^^
wohl, dass es diese Vorstellungen schon unbewusst enthielt, i^n
sonst würden ja die Gedanken in der That niphi da.s/?elbß ^ui
können, was das Gefühl war. — Nur soweit die Gefühle in. Kedwi-
ken übersetzt werden können, n^r so wei^ sind sie mitt^h^ilbafr
wenn man von der immerhin hpc^ist dürfügen insti^ctivop Qeber-
densprache absieht; denn nur soweit die Gefühle iii, Gedai^k^ 2U
übersetzen sind, sind sie mit Worten wiederzugc^b^ttp Va^wei^
aber, was es mit der Mitt^^ilung der Gefühle, für. Soh¥^erigkei*
hat, wie oft sie verkannt und missverstan4en, Ja sogar yn^iOft^
für unmöglich erklärt werden. Gefühle k^nn übeiriiaupt nur beg^
fen, wer sie gehabt hat; nur ein . Hypoohondrist vearstehÄ len
Hypochondriste^, nur wer schon geliebt hat, den Verliebten». ..Vi»
oft aber verstehen wir uns selbst nicht, wie räthselhaft sind uMi
oft unsere eigenen Gefühle, namentlich wenn sie zum op»t§n Male
kommen ; wie sehr ^ind wir nicht in Betreff unserer Gefühle dea
gröbsten Selbsttäuschungen unterworfen« Wir sind,<;|ft von . einem
Gefühle beherrscht , das in unserem innerstan Weae« schon« faftt^
Wurzeln geschlagen hat, ohne es zu ahnen, und plötzlich bei irgend
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-^'^^^
201
einer Gelegenheit fallt es mis wie Schuppen von den Augen. Man
denke nur, wie tief oft reine Mädchenseelen von einer ersten Liehe
erfasst sind, während sie mit gutem Gewissen die Behauptung ent-
riiatet zurückweisen würden, und wenn nun der unhewusst Geliehte
in Gefahr kommt , aus der sie ihn retten können j dann steht auf
einmal das hisher schüchterne Mädchen im ganzen Heroismus und
Opfennuth der Liehe da, und scheut keinen Spott und keine Nach-
rede; dann weiss sie aher auch in demselhen Augenblick, dass sie
liebt und wief aie liebt. So ufibenvusst aber,, wie ia diesem Beispiel
die Liebe 9 hat mindestens einmal im Leben jedes geistige Gefühl
in uns existirt, und der Process, vermöge dessen wir uns ein für
allemal seiner bewusst wurden, ist das TJebersetzen der unbewussten
YoprsteUujigen^j .welche ^^;G;iefühl beg^pmpen, in bowiw|e Vorstel-
Inngexi, d-j^i. Gedank,^^ jifnd .Worte. .. ,. ,. . / ., • /
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IV-
Das Unbewvsste in Charaeter und Sittliehkeiit.
Es giebt keine Erscheimmg des Willens ohne Er^gangsgnmd,
Motiv. Der Wille an sich ist ein potentielles Sein, eine latente
Kraft» und sein üebergang in das actuelle Sein, in die Kraflr
üussening, erfordert als zureichenden Grand ein Mötiy, welches
allemal die Form der-Yorstellnng hat. Diese Sätze aas der Psycho-
logie setze ich voraus. Das Wollen ist nur der Intensität nach
verschieden; alle übrigen anscheinenden Verschiedenheiten des
Wollens fallen in seine Objecte, d. h. in die Yorstellongen dessen,
was gewollt wird, und diese Objecto sind wieder durch die Motive
bedingt; nach d^i verschiedenen Hauptclassen der unter Menschen
am Gewöhnlichsten vorkommenden Gegenstände des Wollens wird
Auch das Wollen selbst in verschiedene Hauptrichtungen unter-
schieden, als z. B. sinnliche (}enus6sucht, Halber und Geldgier,
Eitelkeit, Ehrgeiz und Ruhmsucht, Liebesdrang, künstlerischer Trieb,
Wissensdurst und Forschungstrieb u. s. w.
Wären nun diese Objecto allein von den Motiven abhängig, so
wäre die Psychologie sehr einfSaoh, und der Mechanismus in allen
Individuen congruent. Die Erfahrung zeigt aber, dass ein und
dasselbe Motiv, ganz abgesehen von zufalligen unterschieden der
Stimmung, auf verschiedene Individuen verschieden wirkt. Die
Meinung der Menschen lässt den Einen gleichgültig, dem Anderen
gilt sie Alles, die Lorbeerkrone des Dichters dünkt dem Einen ver-
ächtlich, der Andere opfert ihr sein Lebensglüok, ebenso ein schönes
Weib; der Eine bringt sein Vermögen zum Opfer, um seine Ehre
zu retten, der Andere verkauft sie für eine Summe Geldes; gute
Lehren und schöne Beispiele spornen den ESnen zur NacheiferuDg
an, den Anderen lassen sie- unberührt; vemfiAftige üeberlegung
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I
203
bestimmt bei dem Einen alles Handeln, bei dem Anderen ist sie
nicht im Stande, als Motiv zu wirken, and die sichere Aussicht des
Yerderbens yermag ihn nicht ron seinem Leichtsinn abzuhalten;
o. s. w. — Wie ein bestimmtes Individuum sich gegen dieses oder
jenes Motiv verhalten werde, kann man nicht eher wissen^ als bis
man es erfahren hat; weiss man aber, wie ein Mensch auf alle
möglichen Motive reagirt, so kennt man alle Eigenthümlichkeiten
desselben, so kennt man seinen Gharaoter. Der Character ist also
der Beaetionsmodus auf jede besondere Glasse von Motiven, oder
was dasselbe sagt, die Zusammenfassung der Erregungsföhigkeiten
jeder besonderen Glasse von Begehrungen. Indem es kein Motiv giebt,
das aussohlieeslich einer jener Glassen zugehört, so werden stets oder
doch in der Begel eine grössere Menge von Begehrungen gleichzeitig
afficirt» und die Besultante dieser gleichzeitig erregten Begehrungen
ist der aetueUe Wille, welcher unaufhaltsam und unmittelbar zur
That schreitet, wenn diese nicht durch physische Ursachen verhin-
i dert ist. Fragen wir nun, was es denn für ein Process sei, diese
i Eeaction des Willens auf das Motiv, und dies Widerspiel der Be*
f gehrungen zu der Einen Besultante, so müssen wir gestehen, dass
wir zwar seine Existenz durch unzweifelhafte Bäcksehlüsse aus den
in'g Bewusstsein fallenden Thatsachen erkennen, dass wir aber über
seine Art und Weise nichts aussagen können, weil unser Bewusst-
sm uns keine Kunde davon giebt. Wir kennen in jedem einzelnen
Falle nur das Anfangsglied, das Motiv, und das Endglied, den
aktuellen Willen; aber was der potentielle Wille, das Beagirende
sei, können wir niemals erfahren, ebenso wenig können wir je einen
fimbliok in das Wesen der Beaction thun, wodurch der potentielle
in den aetuellen Zustand übergeht, eine Beaction, die völlig den
Character der Beflexwirkung oder des reflectorischen Instinctes an
sich trägt, wie wir dies bei dem speciellen Fall des Mitleides schon
weiter oben gesehen haben. Yen dem Kampfe der verschiedenen
Belehrungen gegeii einander haben wir wohl theilweise ein Bewusst-
Bein, abcor nur in soweit, als wir in fH^ieren ein&eheren Fällen die
simelBen Begehrungen gesondert als letztä Besultanten erfahren
Bulben, und unsere früheren Erfahrungen auf die Gegenwart an-
iTend^n; Wie unvollständig aber diese Erüsdiruiq^ sind, und wie
^vollkommen sie benutzt werden zum Yerständniss eines gegen-
^^ärtigen ßeelenvorganges, wird wohl jeder schon ffii sich erfahren
haben*
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204
,; Wie hsLu&g gUut]tt daa Bewmsstsein, die Stärke all^ in dem
Falle betheili^en Begehnuigeix au^ das Sorgföltigste gegen ein^nd^r
.a,l)gewf|^eji?L, n^^ ^^f! ui)ib.9|rÜQksfQhtig^, geladen 21^ haljenn-und wean
C|ij,^ znpi jp^emdeln ^mpit, so sieht j^s, zu,, seiner grössten.TJqber-
x^chon^, d|as8 »piß .hei;axi^ekl|^eltes I'apit ganz , und gar nicht
stimn^j^ sp|i(^e;c|i plötzlict^ ein^, ;gan^ jmderA^B^suItante als aouvcrändr
W^le.jI^ry9^tt;,!Man^erii;i^eyj9 Äi<jh 4er im yorigenOapitel (8. 195)
üljer.TUitp^vfTwten .li?'iUen gegebeaepi Andeutui^e^ Es z^gt »iohalsOr
^asp 9^ ii^, ^er That nur ein sicheres Kennzeichen für de» eigpnt-
Ucben^.waJu^qn. nj^d.e^dgiUifigen "V^^ da§ ißt die Tli^t
(gleicbyijft^ qIj, sie, gjel;ii?\gt, qder im garsten y^sucb'4\w:ch äussere
XJfl^stände .ß|sticjkt wird), 4ftß8^ ^^r jede, a^dere Vora^BseJtzung ^es
ißewupsti^eins üb^, das.^ i^^as ix^an eigentlich will, unsichere, häufig
ti^igiwde Yennutfii^ig ; bleibt ^^ die keineswegs auf einter unmittel-
Jbjai'en .Kenntijij^s des Bewusst^eins-T vom ,,Willen, sondern auf ^-
fahrüngsjanalogien und künstlichen Combinationeu 4ije8er beruht
Wie Spreu vor dem Wixide zerstiebt oft der festest©^ Entschkwe,
4er sicherste Yjorsatz^n der That, wo erst der w^hie Wille aus der
Kapht des ünbew>is|»ten hervortritt, während der Wüle des Vorsaties
nur einseitiig^B Begehren, oder gar nur vom Bewusstsein vorgestellt
iqid g^ nicht vp^handen war. Tritt aber die That niemals an äesx
Menspl^en l^^xan, j^. B. dadurch, das? er immer die TJnn^liohkeit
iJ3i,jfer -^s^ihrung im Auge hat, so erlogt er auch nie Gewissheit
üb^r das, was ey eigentlich im Grunde seines Herzens wilL We
sojgponannte l^ewu^te- Willens wah^ und ihr Schwanken' ist keuies-
W^ e:^ bewusstes Schw^q^ken des W i 1 1 »n s^ ßtmAem ein Schwanken
der Srkenntniftff über das richtige YerstäadnisB dej: Motive xaA
^^lifüber, wie .die Verhältnisse siph jetat und in Zukunft dem Willen
gegember ^estc^ten und; verhalten. Ist aber die friLenatniss erst
ivi^l Klaren» sqr. ist es sofort auch der Wille. ^. B, dm Schwanken
i^f[iqer Wahl, ob» ich die kluge und häsßliehej oder die : dumme un^
hja^sch^ Schwester heiratfeen vBoU, ist kein Schwanken meines
IjVillensj , der vorläufig npch gar nicht ]tiervoi:tiitt^ sondern meines
Y,erstandes über,, die Q;rösse dier^ in jedem Falle zu : erwartenden
I^t; ni^hdem der ypi;8tfmd:gewJi^ bat» ist erat d^n Willen seia
¥/^y.: g^cbaffPÄii ii^üoli^^^^ Yojratellung .4^? grö4«nren «ä er-
.i^^rtendioft Lust TT . r .
.,.,: £8 ii^ij, alsp ^festzuhalten, dass die Werkstatt des Willem:im
ünbewussten liegt, da«8 man nur das fertige Resultat und zwar
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205
cTst in dem Augenblicke zn sehen bekommt, wo es in cler That
zur practischen Anwendung kommt, und dass die Blicke, die es
etwa in die Werkstatt hineinzuwerfen gelingt, nur mit Hälfe yon %
Spiegeln und optisclien Apparaten einige immerhin unsichere Kunde
zu bringen vermögen, die aber niemals in Jeriie unbewussten Tiefen
der Seele dringt, wo die Reatotion des potentiellen "Willenfl' auf das
Motiv tüid sein V^heitriit in den Actus stattfindet.
Wenn man nun eingestehen muss, dass die Erregung des 'Wil-
lens för uns ewig mi^ dem Schleier des Unbewuästen bedeckt*
bleiben wird, so ist es nicht ku verwundem, dass wir auch' die '
Ursachen nicht so leicht zu durchschauen vermögen, welche die
yerschiedene Erregungsföhi^eit der verschiedenen Begehrungen,
oder die verschiedene Reaction des Willens verschiedener Indivi-'
duen auf dieselben Motiv^ bedingen; wir müssen uns eben Vor-
läiiÄg damit begnügen, in ihnen das ihrierste Wesen des Individuums
zij sehen, und nennen däfum ihre Wirkung sehr bezeichnend CKa-
wtcter, d. h. Merkmal oder Kennzeichen dies lüdividtiums. Soviel jedoch
haben wir drkannt, dass dieser innerste Kern dier individuellen
Seele, dessen Aui^fltiss der Character ist, jenes eigeüÜlichste Ich des
Menschen^ dem man Verdienst nnd Schuld zurechnet und Verant-
wortlichkeit auferlegt (ziemlich dasselbe, was Kant mit dem Worte
inieUigibler iDharactcr bezeichnet), dass also dieses eigenthümÜcfaie
Wesen, welches wir selbst sind, dennoch uüserem Bewusstsein und
dem sublimirten Ich des reinen Selbstb^wüsstseins femer liegt, als
irgend etwas anderes in uns; dass Wir vielm'^hr diesen tiefinnersten
Kern unseret selbst nur auf deiiselben W^ge kennen lernen können,
wie aÜ änderen Mensched, ilamlich durch Rückschlüsse ^aus dem
Händeln. „An ihren ^rttchttÜ sollt ihr sie eiriennen", Aes W^ort
g:ilt auch f&r die Selb'stieirKelintniss, und wie sehr täuschen wir uns
auch dabei "Hoch,* indem wir Handlungen aus gdhi anderen, nament-
lich besseren Beweggründen gethan zu haben glauben; als wirklich
der Fall i^ wie wir dann zuweilen durch ZufaUlgkeiten zu unserer*
Beschfimunig erfahren. in
Es dürfte nicht überflüssig sein, von diesem* Standpuncte
aus auch auf das Wesen des Ethischen einen Seitenblick ' zu
werfen. * ' Bs ist viel ' darüber gestiitleii , oh die Tugenä leh^bai?
aeVtnd'theörötisch lifest sich'hiutö üöch sd daif&ber streiten, wie
zr'^laWs 'Zeiten, Üßer' der'pif^cWöchd 'Psychologe i^t 'zii' Veinet'
Zdt darüber %i Zweifel geweseii, dass /^ a'bgeöeheii 'V(>n öer ö'e- '
wohnheit, dieser zweiten Natur der Seele, welche eine Dressur
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208
fBr ihr Wirken TeTftntwortlich maehen ; -wit baiten alber wiedemm
dann die Weseti für yera&tworäich för ihr Thnn^ vemi ihf Be-
wuftstsein zu eiAem solchen Grade enhmkelt ist,* diuss die selfo^ ^
BQgnffe von sittlich und unsitttioh T^rstehiött können, 'und inacheii
flie nur für solche Handltingen yeittotwortlw^b , bei denen* ihr' Be*
-wnsstsein sieht verhindert war, xKesen sdneh eigenen Mädssstab
anzulegen. So kommt ee, -dass wir eine und dieselbe Handlung bei
einem Wetten sittlich od^r tmsiittlioh nennen, bei einem andeiren
aber nicht; z.' B/ werden wir den strengen Eigenthnmssinn, den Wir
b»i manchen Thieren innerhalb ihifer'(Jatttmg nnd engeren L^M-
gemeinschaft (z. B. bei wilden Pferden innerhalb ihrer Heerde in
Be^ttg'aof Weideplätze und aufgehobenes Futter) nicht ak 'ein«
sittlidhe, sondem nur als eine gute Eigenschaft bezäichhen; so
kennen wir es nicht unsittlich nennen, wenn wilde Völkerschaften
dem Gastfreund auch ihre Weiber offenren ; imOegentheil könnte fies
als Theil der'Gastfreundschscft sittlich genaniit werden, weSl hvi «u
dieser IBtufe des Verständiiisses "ihr Bewusstsein ällenftdlfl'ientWiökeK
ist, aber 'nicht bis '^ra VdÄtändntss det Sittsarnkdit iin göschlödit-
lichen Umgang. Bei einem kleinen Eindfe Tiöiinen' wir» ^di^bdlKto
AnsbrÄöhe' der Bosheit' wohl nui^ höchstens i)öse nennen ,"fflö' 'in
iteiferem Alter denselbc^ti €hä:racter als tinsittlTch vetdamtöto läiteeh.
Bie Blutrache Wäre bfei uns unsittlich, bÖi'V^lkei^ii'^ii' geringerer
Oulturist sie' öiub sittliche Insflttrtron, bei gähji ^6hen Wilden eiö
Messer Act der Leidenschaft,' der wedtei^ isittlich noch unsittlich g^
nannt 'wei^deh kann'. Biese fieiö^ele mö^öb* üim Beweise geiiSgeb,
dass sittliöh und nmsittlifeWiiicht^i^Ötiöchaftefn der Wesen öder ihr*
Handlungen an siöh tlitod,- sondern liht'ür theil e über dlfeselbfeii toh
einem erttt ' dtitch da* B^H^rostefein g*6ÄWiaffeneti iStahäpunbte' atii,
Bezifehuttgeh zwis6h^n Jehe^'Weöelri'titid ihren Hkndlüto^eö'aiif'to
einen/ imd diesem Standpünc^t^ einer höhten B^'^usbtseinsstufe waf
dörändeten'Seite, dato also die Natur, ' soweit *ie uiibewnsst M,
d«h tFnterschied von sittlich imd iiüsittlibh nicht kennt. Ja dfe
Natur an fiTfeh iät hiöht einmial guf'oÄet böil^',' sondern eftng Äfcte«
Wöit^ als natürtich, d. h; sich selbst' gerÄäss;' denn der ÄÜgemelfae
Naturwille hat nichts ausser sich, weil'' er Allbs liüiftwst und' Alles
selber itft, aläo kann föi*' ihn 'tÜ6hts 'gut'tydeir'böse sein, 'Condom nur
ffir ^nen indiViiatiellen Willen;' denn eine Beziehdng'zwischfeÄ efciim
Willeb nrid' einem äusseren Object, wii*ä dtif ch die? B^griflfö '^rt; i&d
b«öe '§cboh hofhVrbhdig^ '♦^r^Afefeösetet. '^ '*' " ' "^ ' '
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209
Bei alledem soll aber keineBwegs der Werth dieses yom Bewusst-
seiB geschaffenen kritisohen Btandpunctes erniedrigt werden, nurder
Iirthum soll beseitigt werden, als gäbe es ausserhalb dieses speoifischen
Standpunctes die Möglichkeit dieser Begriffe, die erst in der Beziehung
SU ihm entstehen. Nimmt man freilich ausser and vor der Natur ein Be-
wnsstsein (in einem persönlichen Gotte) an^ so kann man auch tob dem
Btandpuncte dieses Bewusstseins aus den Maassstab jener Begriffe
an die Welt legen; leugnet man aber, wie wir aus später zu ent-
wickelnden Gründen thun müssen, ein Bewusstsein ausserhalb der
Yerbindung Ton Geist und Materie, so verschwindet auch die Mög-
lichkeit, den Maassstab jener Begriffe an die ganze unbewusste
Welt zu legen; eine Sache, an die schon viele unnütze Arbeit ver-
sehwendet ist. , Alles dies aber drückt keineswegs auf den Werth
jener Begriffe, denn wie trotz aller Einseitigkeit und Beschränktheit
das Bewusstsein doch für diese Welt an Wichtigkeit über dem Un-
bewussten steht, so steht letzten Endes auch das Sittliche höher als
das Natürliche; ja indem das Bewusstsein schliesslich doch auch
nur ein unbewusstes Naturproduct ist, so ist auch das Sittliche nicht
ein Gegensatz des Natürlichen, sondern nur eine höhere Stufe des-
selben, zu welcher sich das Natürliche kraft seiner selbst und durch
die YermiAtelung des Bewusstseins emporgeschwungen hat.
Mit diesen kurzen Andeutungen muss ich mich hier begnügen,
da eine in diesem Sinne ausgeführte Ethik ein eigenes Werk ab-
geben würde. Auch glaubte ich auf die Darstellung verzichten zu
nrässen, warum und wie der Standpunct der Beurtheilung mit den
Prädicaten sittlich und unsittlich aus einer gewissen Höhe des Be-
wusstseins hervorgehen müsse, und was der Inhalt jener Begriffe
sei; ich glaubte dies um so eher zu dürfen, als mir für die Zwecke
luiserer jetzigen Untersuchung die allgemeine Fassung jener Begriffe,
wie sie im bürgerlichen Leben statt hat, ausreichend scheint.
T. Harimann, Phil. d. UnbewiiMton. 14
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1 . .
V.
Das ÜBbewifiSto kn ägthetiselira Urtkeil iBd die Vkasb-
lerisehe Pr«dii€ti#B.
In der Auffiu8«ng de» Sehönen lubben nok -^n^ jebv sm
extreme Assiolitea gegenüber gestandoiy die in iierMliiedeneQ Vcr-
mittelnngsreMaohen yersoliiedeneii Baom in Anspnush n^aea.
Die Eineik stütaen nek daraaf , dius die memchlicbe Seele in d<r
Kunst über die ron der üTator gegebene Scbönbeit hinnaigehi»
und halten dies Üir unmeglicb, weim nieht der Seele eine Idee dM
Sohenen inne irohnt, welehe, nach einer bestbnmten Biohtniif hin
aufgefasst, Ideal heiset, und deren Yergleieli mit der veiiumdenen
Natur erst bestimmt, was an jener seliön sei, was ni^it, se das»
das ästhetisdie Urtheil ein apriorisch syntlwtisches ist. D&s An*
d^^i weisen nach, dass in den, den vorgeblichen Idealen am nächsten
k(»nmenden Kunstsohöi^angen keine Slemente enthalten seieii,
welche die ISTatnr nicht auch bietet, dase die idealisiraide IMtig-
keit des Künstlers nur in einem Ausmerzen des Häsaliehen und
Zusammentragen und Vereinigen de^enigen Schönen bestehe, wel-
ches die Natur gedr^int darbietet, und das« die ästbetisehe Wis*
senschaft in ihrem Fortschritt mehr und mehr den psychischsn'
Entstehungsprocess des .ästhetischen Urtheils aus den gegebenen
psychologischen und physiologischen Bedingungen demonstrirt habe,
so dass eine yollständige Aufhellung dieses Gebietes und Beinigoog
von allen apriorischen Wunderbegriffen in Aussicht stände.
Ich glaube, dass beide Theile theils Becht, theils Unrecht haben.
Die Empiriker haben Recht, dass sich jedes ästhetische Urtheil ans
anderweitigen psychologischen und physiologischen Bedingungen
begründen lassen muss, und darum sind sie es eigentlich nur, die
die wissenschaftliche Aesthetik schaffen, während die Idealisten
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211
iMli die Mdi^ohkeit dieser Wissemokafl mit ihrer Hypothese ab-
schneideB. Gesetst aber, die Empiriker hätten ihren Zweck er-
reicht, und hätten das ästhetische Urtheil vollständig analysirt, so
hätten sie doch dadurch nur seinen objectiren Zusammenhang mit
utderen Gebieten, gleichsam sein Weltbürgerreeht im Geiste als
einem Natarwesen nachgewiesen, aber die subjectiTe Entstehung
desselben im indiTidoellen Bewnastsein hätten sie unberührt ge-
lassen, oder hätten -^ mit der ihrer Auffassung stillschweigend zu
Grande Hegenden Behauptung, dass der objeetive Zusammenhang
und der Bntstehungsprooess im subjeetiren Bewusstsein identisch
sei, etwas geradezu Unwahres behauptet, dem jede unbefangene
Selbstbeobachttlng und das Zeugniss des einftichsten wie des ge-
bildetsten Schönheitssinnes widersprechen. Die Idealisten werden
Tielmehr Becht behalten, dass dieser Process etwas jenseits des
Bewussteeins Tor dem bewussten ästhetisohen Urtheil Liegendes,
miäiin ftbr dieses etwas Aprionsches sei, sie werden aber wieder
darin Unrecht bekommen müssen, wem sie den Process in die-
sem Apriorischen durch ein, ein für allemal flortiges Ideal yemich-
ten, das, weiss Gott woher, kommt, von dessen Existenz das
Bewusstsein nichts weiss, dessen objectirer Zusammenhang mit an-
deren pfljchischen Gebieten ewig unbegreiflich bleiben muss, und
dess^ gegebene Starrheit sich schliesslich doch der unendlichen
Mannigfaltigkeit der einzelnen Fälle gegenüber als unzureichend
erweist. Wollte man, um letzterem Vorwurf auszuweichen, das
Ideal nicht als fest, sondern als etwas Flüssiges annejiunen, so
wirde man statt des Einen Wunders unendlich riele statuiren»
worauf dimn freilich auch nicht mehr viel ankommt, wenn man
erst Eines zugelassen hact. — Um ein Beispiel zu nehmen, müssten
^ Idealifften Ton, Harmonie und Klangfarbe nach einem idealen
Ton, idealer Harm<mie und idealer Klangfarbe beurtheilen, und je
nach ihrer Annäherung an diese ihre KlangÜEurbe bestimmen, wäh-
lend HelnüioltB („Ueber Tonempfindungen^ nachweist, dass in allen
drei Fällen die Lust ale Negation einer Unlust zu fassen ist, weldie
durch dem Flackern des Lichts ähnliche Störungen im Ohre bei
Oeraoseh, Dissonanz und hässlicher Klangfarbe entst^t. Diese
Uahst ist nicht mehr ästhetbch, sondern ebensogut ein schwacher
physisoher Schmerz, wie Baachgriminen, Zahnschmerz oder der
Bchmerz beim Ometscfa«! eines Tafelsteins auf der Schiefertafel,
M ist also hiermit die äsilietische Lusd «m sinnlichen Theile der
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I
212
MuBik in ihrem objectiren Zusammenhange mit physischem Schmerz
nachgewiesen, aber keineswegs ist Ton dem ästhetischen ürtheile:
„dieser Ton, diese Harmonie, diese Klangfarbe ist» schön'' das die
Entatehungsweise , dass ich mir beim Anhören derselben bewusst
werde: „ich empfinde jetzt keinen Schmerz durch Störungen und
doch eine gelinde Anregung der Function des Organs, ergo empfinde
ich Lust''; Ton alledem oder ähnlichen Vorgängen findet sich nichts
im Bewusstsein, sondern die Lust ist eo ipso mit dem Anhören im
ß^wusfitsein, sie steht da wie hervorgezaubert, ohne dass die an-
geäpa,niite8te Aufmerksamkeit im subjectiven Vorgänge einen Finger-
zeig über die Entstehungsweise zu finden im Stande wäre. Dies
echliosst keineswegs aus, dass jener objectiy erkannte Zusammen-
hang sich im ünbewussten wirklich als Process vollzieht, dies ist
BQgar meiner Ansicht nach das allein Wahrscheinliche, aber dss
Resultat derselben ist das Einzige was in^s Bewusstsein tritt und
icwar erstens momentan nach der vollständigen Ferception der
sinnlichen Wahrnehmung, so dass sich auch hier wieder die Mo-
ment anität des Frocesses im ünbewussten, seine Gompression in den
zeitlosen Augenblick, bewahrheitet, und zweitens nicht als ästhe-
tiaohoB ürtheil, sondern als Lust- oder Unlust- Empfindung.
Der letztere Funct ist noch näher zu betrachten und wird den
besten Aufschluss über etwa noch bestehende Unklarheit geben.
Wie schon Locke nachwies, haben die Worte, welche sinnliche Be-
schaffenheiten der Körper bezeichnen, wie „süss, roth, weich", eine
doppelte Bedeutung, welche vom gemeinen Menschenverstände ohne
^achtheil für die Fraxis identificirt wird. Erstens bezeichnen sie
den Seelenzustand bei der Wahrnehmung und Empfindung, und
zweitens diejenige Beschaffenheit der äusseren Objecto, welche als
Ursaehe dieses Seelenznstandes supponirt wird. Jede Empfindong
an sich ist ein Einzelnes, aber indem von verschiedenen Eeihen
ähnlicher Empfindungen die gemeinsamen Stücke abstrahirt werden,
werden die Begriffe: „süss, roth, weich" gewonnen; indem nun die
objektiven Ursachen dieser abstrahirten Empfindungen als eigen-
ach af t liehe Bestandtheile in Dinge verlegt werden, die schon aus
tiud er weitigen Einwirkungen bekannt sind, so entstehen die ür-
theile: „der Zucker ist süss, die Hose ist roth, der Felz ist
weich*'. — Dieselbe Entwickelung liegt dem ästhetischen Ürtheile
2U Grimde. Die Seele findet in sich eine Menge von Empfindimgeo,
die 2war mit individuellen Besonderheiten verknüpft, doch so viel
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Aehnlichkeit haben, dass sich ein gemeinsames begriffliches Trenn-
stiick ausscheiden lässt, dieses erhält den Na^en schön. Indem
nim die Ursache dieser Empfindung in äussere Objecte verlegt
wird, wekhe aus den gleichzeitig auftretenden Wahrnehmungen
conBtmirt sind, so wird diese Ursache als Eigenschaft dieser Ob-
jecte gestempelt und erhält ebenfalls den Namen schön; so ent;
steht das Urtheil: ,,der Baum ist schön^. Es darf uns nicht be-
fremden, dass der gemeine Verstand den Begriff schön fast immer
nur auf die Ursache, selten auf die Empfindung bezieht, denn das-
selbe findet auch bei „süss» roth, weich*' statt, und hat seinen guten
Onmd in der Praxis, da den praktischen Menschen seine eigenen
Empfindungen nur in so weit interessiren können, als sie ihn über
die Aussenwelt unterrichten.
Wem das ästhetische Gefühl für das Schöne fehlt, wer keine
Freude am Schönen hat, dem ist das ästhetische Urtheil entweder
unmöglich, oder es ist eine empfindungslose Abstraotion aus allge-
meinen erlernten Begeln ohne subjective Wahrheit. Hieraus folgt,
dass das ästhetische Urtheil nichts Apriorisches ist, sondern etwas
Aposteriorisches oder Empirisches, denn sowohl das äussere Object,
als die ästhetische Lust sind durch Erfahrung gegeben, und die
äussere Ursache der Lust kann nur in jenem Objecte liegen, wie
die Ursache der süssen Geschmacksempfindung nur in dem Zucker.
Die ästhetische Lust selbst aber, welche als ein ebenso unerklär-
liches Factum im Bewusstsein gefunden wird, wie die Empfin-
dung des Tones, Geschmackes, der Farbe u. s. w., und wie diese als
etwas Fertiges, Gegebenes der inneren Erfahrung gegenüber tritt,
kann ihre Entstehung nur einem Processe im Unbewussten verdan-
ken; diese also könnte man so gut wie jede ändere Empfindung
etwas Apriorisches nennen, wenn nicht dieser Ausdruck bloss für
Begriffe und Urtheile üblich wäre. — Die Fähigkeit, ästhetisch zu
empfinden (analog der Fähigkeit, süss, sauer, bitter, herbe u. s. w.
2u empfinden), Geschmack genannt, kann freilich, wie der Geschmack
der Zange und des Gaumens, gebildet und darin geübt werden, auf
feine Unterschiede zu reagiren, er kann auch durch gewaltsame
Gewöhnung, diese zweite Natur, seiner ersten Natur, dem Instincte,
abtrünnig gemacht und verdorben werden, aber in allen Fällen
steht die Empfindung als eine gegebene, keiner Willkür unterwor-
fene Thatsache da. Die ästhetische Empfindung unterscheidet sich
non aber von bloss sinnlichen Empfindungen dadurch, dass sie auf
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deft Schultern jen^r steht, daBs eie dieselben wohl als Mateiiil
benutzt, auch als begleitende Vorstellungen, durch welche ihre be-
sondere Qualität in jedem Falle bestimmt wird, dass sie aber als
Empfindung über jenen steht und sieh auf ihnen erbaut. Wenn
daher der unbewusste Entstehungsprocess der sinnlichen QuaUtäten
eine unmittelbare Beaction der Seele auf den Nerrenreiz ist, so ist
der onbewuBste Entstehungsprooess der ästhetieohen Empfindung
vielmehr eine Beaction der Seele aiuf fertige sinnliche Empfin-
dungen, gleichsam eine Beaction zweiter Ordnung* Dies ist der
Grund, warum die Entstehung der sinnlichen Empfindung uns wohl
ewig in undurchdringliches Dunkel gehüllt bleiben wird, wahrend
wir den Entstehungsprocess der ästhetischen Empfindung schon
theilweise in der discursiven Form des bewussten Yontellene
reconstruirt und begriffen, d. h. in Begriff aufgelöst haben«
Um das Wesen des Schönen haben wir un3 hier so wenig m
bekümmern, wie im vorigen Capitel um das Wesen des Sittliehon;
wie uns dort das Besultat genügte, dass das Brädioat sittlich erst
vom Standpuncte des Bewusstseins auf Handlungen angewandt we^
den könne, die Handlungen selbst aber, welchen dies Prädicat su-
oder abgesprochen wird, in letzter Instanz unbereehenbare Beaotio-
nen des XJnbewussten seien , so kommt es uns hier nur auf die
Erkenntniss an, dass das ästhetische Urtheil ein empirisch bogrin-
detes Urtheil sei, seine Begründung aber in der ästhetischen Em-
pfindung habe» deren Entotehungsprooess durchaus in*s Unbewusste
falle.
Gehen wir nun von der passiven Aufnahme des Schemen
zu seiner activen Production über, so scheint eine kurze Be-
trachtung der schöpferischen Phantasie und somit der Ph^taaie
oder Einbildungskraft überhaupt unerlässlich. — Das einnliche
Yorstellungsvermögen, die Einbildungskraft oder Phantasie im wei-
testen Sinne, hat bei verschiedenen Personen sehr verschiedene
Grade der Lebhaftigkeit. Nach Fechner's Ai^aben, die durch meine
vielfachen Prüfungen Anderer bestätigt werden, haben die Frauen
dies Vermögen in höherem Grade als Männer, und von letzteren
die am weniipsten* welche abstract zti denken und die Aussenwelt an
vernachlässigen gewohnt sind. Beim geringsten Grade können
Farben gar nicht , Gestalten nur höchst undeutlich , ohne festsn-
utehen, mit schwimmenden Oonturen und nur für kurze Momente
überhaupt erkennbar vorgestellt werden , bei höheren Graden ^^'
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lbehe> nicht zu umfaiseiide Bilder ohne Mühe deutlioh, festoteiieiid,
in lebhaften Farben > bei Ec^fdrehumgen nach Willkür objeetiv
izirt oder mitgehemd. Bei den höchsten Öraden giebt die Leb-
beftagkeit und Deatiidikeit dem l^neseindmoke nii^ts nach, es
können die Büder sowohl in das sohwarze Sehfeld des geschlos^
B&um Aages, als in das yon äusseren Sinneseindriioken etfülHe
Sehfeld beliebig eingereiht werden (wie jener Malet, der seine
Modelle anr V4 Stunde sitcen Hess nnd dann sieh ihr Bild will^
körlich als auf dem Stahle sitzend vorstellte» und danach portrai^
tirte, so dass er die Person, so oft er die Augen aufschlug,
in voUer Klsarheit auf dem Stuhle sitzen sah) ; es können femer
ganze Compositioneii, Aufzüge von vielen Figuren, oder im Detail
ausgearbeitete Orehestercompositionen monatelang bloss in der Vor«
steUung herumgetragen werden, ohne an Schärfe zu verlieren, wie
sisn von Mozart weiss, dass er immer erst dann seine Compositionen
sa Fapier gebracht hat, wenn ihm das Feuer auf die Nägel brannte,
dann aber auch oft die einaelnen Orohesterstimmen ohne Partitur
liedergeschrieben hat (wie z. B. bei der Don Juan-Ouvertüre) und
ihm diese Arbeit doch noch so mechanisch geweeen ist, dass er
dubei andere Compositionen ooncipirt haben soll. Ich hielt
diese Anführungen nicht für imnütz, «m den Lesern, welchen diese
Ansehauungsgabe fehlt, einen Begriff von der Möglichkeit umfas-
Bender einheitlicüier Conoeptionen au geben. Die Srfahmng bezeugt,
dtss es noeh kein wahres Genie gegeben hat, wekhes diese FcUiig-
keit der sinnlichen Anschauung, wenigstens in seinem Fache, nicht
in hohem Grade besessen hätte, überdies ist es keiiw Frage,
dass, wdm in unserem nüchternen Verstandeszeitalter noch aolohe
Beispiele möglich sind, dass früher in Zeitaltem, wo die sinnliche
ijiBchacnuig noch viel mdir geübt und gepflegt und wenig dorch
sbfltractes Denken unterdrückt wurde, und der Mensch sich noeh
röekhaliloeer den guten und bösen Einflüsterungen seines Genius
oder Dfbnons hingab, es wohl denkbar ist, dass, wie in Heiligen,
Märtyrern, Propheten und Mystikern, so auch in begeisterten Künst-
lern eine Veorsehmelzung von willkürlicher Sinnesanschauung und
vn#illkürlicher Hallucinolion stattgefunden habe, w^die für diese
mit ihrer hehren Mutter noch nicht entzweiten Kinder einer
giiioklioheren Katur nichts Auffallendes gehabt haben mag , viel-
iMhr so sehr als Bedingung jedes Musenerzeugnisses angesehen
wurde, dass der göttliche Plato uns den Ausspruch (Phädrus) hin-
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terlasaen hat: ,,Was ein trefflicher Mann im göttlichen
Wahnsinn, der besser ist als nüchterne Besonnen-
heit, hervorbringt, nämlich das Göttliche, daran die Beele als an
einem hellglänzenden Nachbilde dasjenige wieder erkennt, was sie
in der Stunde der Entzückong schaute, Gott nachwandelnd, und
welches schauend, sie nothwendig mit Lust und Liebe erfüllt." —
flicht ein Uebel schlechthin ist der Wahnsinn, sondern darch
ihn kamen die grössten Güter über Hellas/' Und noch zu Gicero's
Zeiten hiess dichterische BegeisteTung: furor poetieus, —
Betrachten wir nun aber die Gebilde der Phantasie selbst, so
linden wir bei der Zergliederung in ihre Elemente, selbst wenn wir
die wildesten Ausgeburten orientalischer Ueberschwenglichkeit vor-
nehmen, nichts, was nicht durch sinnliche Wahrnehmung kennen
gekrnt und im Gedächtnisse aufbewahrt worden wäre. Keine neue
eontache Farbe, keinen einfachen Geruch, Geschmack, Ton, Laat
können wir entdecken, selbst im Gebiete des Raumes, der der Neu-
gestaltung den grössten, Spielraum lässt, finden wir in Arabesken
nur die bekannten Elemente der geraden Linie, des Kreises, der
Elipse und anderer bekannten Krümmungen wieder, ja sogar man
wird bei Phantasiethieren selten Stücke aus der unorganischen oder
Pflanzenwelt finden und umgekehrt. Alles beschränkt sich anf
Trennung bekannter Vorstellungen und Combination der Trennstücke
in veränderter Weise. Hat nun Jemand ein lebhaftes Vorstel-
1 uiigE vermögen , zugleich einen feinen Sinn für das Schöne und ein
reiches und sich willig darbietendes Gedächtnissmaterial, worin be-
sonders die schönen Elemente reich vertreten sind, so wird es ihm
nicht schwer werden, durch Anlehnung an die Natur, d. h. an ge-
gebene Sinnes Wahrnehmungen , Ausscheidung hässlicher und Ein-
fügung schöner und doch gegen die Wahrheit und Einheit der
dargestellten Idee nicht verstossenden Elemente, künstlerisch xa
schaffen. Z. B. : Wenn Jemand ein Portrait malt, so ist die Wahr-
heit der Idee inne gehalten, wenn er die sich zufällig darbietende
Ansicht der Person copirt. Dies wäre eine handwerksmässige, keine
künstlerische Leistung. Wenn er aber die Person in solche Be-
bucbtung, Stellung, Bichtung und Haltung bringt, dass sie sich
möglichst vortheilhaft präsentirt, wenn er von den verschiedenen
Stimmungen und Ausdrücken während der Sitzung denjenigen fest-
hält, der am schönsten wirkt, und demnächst alle unvortheilhaften
and unschönen Züge und Einzelheiten so sehr zurückdrängt oder
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fortläset, alle yortheilhaften Zöge und Einzelheiten dagegen so sehr
hexTorheht und in günstiges Licht seist, auch wohl neu hinzufügt,
als ee die Wahrheit der Idee, d. h. die Aehnlichkeit erlaubt, dann hat
er eine künstlerische Production geliefert, denn er hat idealisirt.
So arbeitet das gewöhnliche Talent, es producirt künst-
lerisch durch verständige Auswahl und Combination, geleitet
durch sein- ästhetisches TJrtheil. Auf diesem Standpuncte
steht der gemeine Dilettantismus und der grösste Theil der E[ünst>
1er Ton -Fach ; sie alle können aus sich heraus nicht begreifen, dass
diese Mittel, unterstützt durch technische Routine, wohl recht
Tüchtiges leisten können, aber nie etwas Grosses zu erreichen, nie
aus dem gebahnten Geleise der Nachahmung zu schreiten, nie ein
Original zu schaifen im Stande sind; denn mit diesem Anerkennt-
nisse mÜBsten sie sich ihren Beruf absprechen und ihr Leben für
Terfehlt erklären. Hier wird noch Alles mit bewusster Wahl ge-
macht, es fehlt der göttliche Wahnsinn, der belebende Hauch des
Vnbewussten, der dem Bewusstsein als hiäiere unerklärliche Ein-
gebung erscheint, die es als Thatsache erkennen muss, ohne je ihr
Wie eiiträthseln zu können; die bewusste Combination lässt sich
durch Anstrengung des bewussten Willens, durch Fleiss und Aus-
dauer und dadurch gewonnene Uebung mit der Zeit erzwingen, die
Conception des Genies ist eine willenlose leidende Empfftngniss,
816 kommt ihm beim angestrengtesten Suchen gerade nicht, sondern
ganz unyermuthet wie yom Himmel gefallen, auf Beisen, im
Theater, im Gespräch, überall wo es sie am wenigsten erwartet
and imifler plötzlich und momentan; — die bewusste Combination
arbeitet mühsam aus den kleinsten Details heraus und erbaut -sich
qualvoll zweifelnd und kopfzerbrechend unter häufigem Verwerfen
und Wiederaufnahme des Einzelnen allmählich das Ganze ; die ge-
niale Conception empfangt als müheloses Geschenk der Götter das
Ganze aus Einem Guss, und gerade die Details sind es, die ihm
noch fehlen, schon deshalb fehlen müssen, weil bei grösseren Com-
positionen (Gruppenbildern, Dichtwerken) der Menschengeist zu eng
ist, um mehr als den allgemeinsten Totaleindruck mit Einem
Blicke zu überschauen ; — die Combination schafft sich die Einheit
deB Ganzen durch mühsames Anpassen und Experimentiren im
Einzelnen, und kommt deshalb trotz aller Arbeit nie mit ihr or-
dentlich zu Stande, sondern lässt immer in ihrem Machwerke das
Konglomerat der vielen Einzelnen durcherkennen; das Genie hat
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yermöge der Cbnoeption aas dem Unbewuisten eine in der Uneot-
behrlidikeit, Zweckmässigkeit und Wechselbeziehung aller eiasel-
neo Tkeile so vollkommene Einheit, dass sie sioli nur mit dei
ebenfalls ans dem Unbewuwte« staamenden Einheit der Orgsnia-
men in der Katar vergleichen lässt» und es hat nur die Kl^pe za
Termeiden, dase es diese Einheit bei der versiändigeii Detailaat-
führuDg nicht wieder verdirbt, wie leider so oft gesohiehi —
Diese E^rsoheinungen werden von allen wahrhaften Genies^ die ds^
über 6elbetbeobaohtung angestellt und mitgetheilt haben, beeUtig^
und Jeder kann sie an sich selbst als richtig finden, der jemals
einen wahrhaft origtaalen Gedanken in irgend einer Richtung ge-
habt hat. Ich will hier nur Eine Bemerkung des ebenso künst-
lerischen als philosophischen Schelling anfuhren (transoend. Idet-
lism. S. 459 — 60): „. . . so wie der Künstler unwillkiuüeh and
selbst mit innerem Widerstreben zur Produotion getrieben wird
(daher bei den Alten die Aussprüche : pati Deum n. s. w., daher
überhaupt die Vorstellung von Begeisterung durch fremden Anhaueh)
ebenso kommt auch das Objective zu seiner Produktion gl^chsam
ohne sein Zuthua, d. h. selbst bloss objeotiv hinzu. [S. 454 ssgt
er: „Objectiv ist nur, was bewusstlos entsteht, das eigentlich Ob-
jective in jener Anschauung muss also auch nicht mit Bewusstsein
hinzugebracht werden können.'*] Ebenso wie der v^rhftngnissvolle
Mensch nicht vollfuhrt, was er will oder beabsichtigt, sondern was
er durch ein unbegreiflidiies Sohickaal, unter dessen Einwirkung er
steht, vollführen muss, so scheint der Künstler, so absichtsvoll er
ist, doch in Ansehung dessen, was das eigentlich Objectiv% in sei-
ner. Hervorbringung ist, unter der Einwirkung einer Macht za
stehen, die ihn vor allen anderen Menschen absondert, und ihn Dinge
auszusprechen oder darzustellen zwingt, die er selbst nicht voll-
stftndig durchsieht, und deren Sinn unendlich ist" —
Um jedoch Missverständnisse zu vermeiden, muss ich noch
Folgende^ hinzufügen. Erstens ist es keineswegs gleichgültig, wei-
chen Boden das Genie in seinem Geiste bereitet hat, dass die Keime,
die aus dem IJnbewussten hineinfaUea, in üppigen organischen Formea
auÜBchiessen, denn wo sie auf Fels oder Sand fallen, da verkümmero
sie. D. h, das Genie muss in seinem Fache geübt uad gebildet sein,
einen reichen Yorrath einschlagender Bilder in seinem .Gedäohtmsse
aufgespeichert haben, und zwar in einer Auswahl des Schönen, die
mit feinem Sinne vollzogen sein muss. Denn dieses Material ist
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?.
if.'
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der 8toff, in welchem sich die im ünbewossten aoeh formloBO Idee
gestalten wilL Hat der Künstler sein ästhetisches Urtheil verdor-
ben, imd in Felge dessen unsohönes Material in sieh mit Liebe
«u^eoommen, so wird anoh dieser schlechte Boden unpassende
Bestandtheile in das Saamenkom einführen, das aus Ihm seine
Kahmng sangt, und so wird die Pflanze nieht gedeihen. — > Zweitens
ist mit dem Getagten nicht behauptet, dass jedes Kunstwerk aus
einer einzigen Conoeption entspringe, schon die Episoden zeigen in
einfacheter Gestalt die Verbindung versohiedener Gonoeptionen.
MeistentheÜB jedoch ist es eine einzige Conception, welche die
Grundidee lieÜNrt, wo nicht, da leidet auch immer die Eipheit des
Kunstwerkes. Die Einheit der ursprünglichen Totalooneeption sohliesst
aber keineswegs aus, sie erfordert sogar bei grösseren Werken die
{Jnterstütmng durch Partialconceptionen, gleichsam Conceptionen
zweiter Ordnung; denn wenn die verständige Arbeit allein das
ganze Intervall zwischen der ersten Conception und dem vollende-
ten Werk ausfüllen soll, so liegt bei dem in des ersten Ck>noeption
grosseter Werke unvermeidlichen Mangel aller Specialitäten die
Ge&hr nahe, dass in den verschiedenen Theilen des Werkes der
Kangel an Conception, gerade wie in kleineren Werken bloss ver-
ständiger Combination fühlbar wird, oder dass durch grössere Aön-
denmgen in den Theilen die Einheit der ganzen Idee beeinträchtigt
vird. Allemal aber bleibt der verständigen Arbeit ein grosses
Feld übrig, und wenn dem Geoie die hierzu nöthige Energie,
Ausdauer, Fleiss und verständiges Urtheil fehlen, so wird die ge-
siale Conception dem Künstler und der Menschheit keine Erüchte
tragen, denn das Werk bleibt entweder unbegonnen, oder unvoU-
.«adet, oder wird durch falsche Zusätze verdorben. Hieraus geht
kervor, dass das Genie ohne die verständige Combination und Ar-
beit Bo weoug ein wahres Kunstwerk zu Stande bringen kann, wie
di^se ohne jenes. — Drittens ist die Bemerkung, dass der bewusste
Wille auf das Zustandekommen der Conoeption keinen Einfluss
babe, nicht misszuverstehen. Der bewusste Wille im Allgemeinen
ist nämlich geradezu die unentbehrliche Bedingung desselben , denn
vxa^ wenn die ganze Seele des Menschen in seiner Kunst lebt und webt,
alle Eftden seines Inleresses in ihr zusammenlaufen, und es keine
Macht giebt, die im Stande wäre, den Willen von diesen seinem
höchsten Streben dauernd abzuwenden, nur dann ist die Einwir-
faiBg des bewussten Geistes auf das ünbewusste kräftig genug.
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220
um wahrhaft grosse, edle und reine Eingebungen zu erzielen. Da-
^'egcn bat der bewusete Wille auf den Moment der CJonception
keinen Einfluss, ja ein angestrengtes bewusstes Suchen danach,
6ine einseitige Concentration der Aufmerksamkeit nach dieser Bich-
tung verhindert geradezu die Empfangniss der Idee aus dem Un-
bci\\niBsten , weil die causale Yerbindung beider Glieder in Bezug
auf solche aussergewöhnliche Inanspruchnahmen des ünbewussten
äo subtil ist, dasB jede Präoocupation des Bewusstseins in dieser
Richtung störend wirken muss, jede schon vorhandene einseitige
Spannung der betreffenden Gehirntheile das Aufhahmeterrain an-
ebiD macht. Darum das Eintreten der Gonception, wenn ganz
andere Himtheile mit ganz anderen Gedanken beschäftigt sind, so-
bald nur durch eine noch so lockere Ideenassooiation der Impuls
zur Causalitat des Unbewussten gegeben wird, — aber ein solcher
Anätoss muss da sein, wenn er auch meistens gleich wieder ver-
^ti&mn wird, denn die allgemeinen Gesetze des Geistes können audi
hier nicht übersprungen werden. —
Viertens endlich ist zu berücksichtigen, dass auch bei dem ver-
ständigen Arbeiten des blossen Talents die befruchtende Gonception
niemals ganz fehlt, Bondem sich bloss auf solche Minima beschrftnkt,
(lai^ä sie der gewöhnlichen Selbstbeobachtung entgehen. Hat man
jiber einmal das CharakteristiBche dieses Vorganges beim extremen
beide begriffen, und bedenkt, dass unzählige Vermittelungen von
liier durch das Talent zum talentlosen Herumquälen des nackten
VcrBtandes mit Hülfe erlernter Kegeln hinabführen, so wird sich
bald eine Fülle von Beispielen darbieten, die mehr oder weniger
den Charakter der Gonception aus dem Unbewussten zeigen, wie
einem bei dieser Arbeit plötzlich jene Verbesserung zu ganz an-
derer Stunde eingefallen u. dergl Wer aber hieran zweifelt, dem
will ich endlich beweisen, dass jede Combination sinnlicher Vo^
Stellungen, wenn sie nicht rein dem Zufalle anheimgestellt wird,
tjondern zu einem bestimmten Ziele führen soll, der Hülfe des Un-
bewussten bedarf.
Die Gesetze der Ideenassooiation oder Gedankenfolge enthal-
t^D drei einflussreiche Momente: 1) die hervorrufende Vorstellung;
2i die hervorgerufene Vorstellung und 3) das Interesse an der
Kiiietehung der letzteren. Auf die beiden ersten Puncte brauchen
wir hier nicht Bücksicht zu nehmen, was aber den letzteren be-
ini^ti so kann Jeder sich sagen, dass bei jeder beliebigen Vorstel-
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221
lung die sich an dieselbe ansohliesseiiden ganz verschieden ausfal-
len, je nach dem Ziele , anf das er seine Gedankenfolge hinlenkt.
Z. B. wenn ich ein rechtwinkliges Dreieck aiisehe, so können
sich ohne ein besonderes Interesse alle möglichen Yorstellungen
daran reihen, wenn ich aber nach dem Beweis eines Lehrsatzes
über dasselbe gefragt bin, welchen nicht zn wissen ich mich
sdiamen würde, so habe ich ein Interesse, an die Yorstellong des
Breiecks diejenigen Yorstellungen zu knüpfen, welche zu diesem
Beweise dienen. Nur wenn man seine Gedankenfolge ganz dem
Zttfedle überlässt, so fehlt der Impuls eines Zieles, nach dem man
seine Gedanken hinlenkt, dieses Ziel kann man sich aber nur dann
Torhalten, wenn man ein Interesse für dasselbe hat, und dieses
Interesse am Ziele ist es, was die Yerschiedenheit der Ideenasso-
eiation in den verschiedenen Fällen bedingt. Denn wenn mir bei
dem Dreieck sonst alle mißlichen anderen Yorstellungen einfallen
würden, nur nicht gerade die, welche ich brauche, und das Inter-
esse am Finden des Beweises bewirkt, dass eine diesem Zwecke
^tsprechende Yorstellung auftaucht, welche sonst höchst wahr-
scheinlich nicht entstanden wäre, so muss doch das Interesse die
Ursache davon sein. Selbst wenn man sich ganz dem unwillkür-
I liehen Träumen überlässt, so walten noch zu einer Stunde andere
I Hauptinteressen als zu einer anderen im Gemüth , und auch diese
zeigen ihren Einfluss. Wer ist nun aber der Yerständige, der die
^ zweckentsprechende Yorstellung auf Antrieb des Interesses unter
^ den unzähligen möglichen heraussucht? Das Bewusstsein ist es
wahrlich nicht, denn bei halb unbewusstem Träumen ohne Absicht
kommen zwar immer nur solche Yorstellungen , die dem augen-
blicklichen Hauptinteresse entsprechen, aber bei dem absichtlichen
Suchen des Bewusstseins in den Schubfächern des Gedächtnisses
wild man gerade von diesem sehr oft im Stiche gelassen ; man
kaui wohl Hülfsmittel anwenden, wenn Einem das, was man
braucht, nicht einfallen will, aber ertrotzen lässt es sich nicht,
Tmd oft, wenn man durch solches Ausbleiben in Verlegenheit gesetzt
ist, kommt die betreffende Yorstellung Stunden, ja Tage lang nach-
ber plötzlich in's Bewusstsein hereingeschneit, wo man am wenigsten
daran gedacht hatte. Man sieht also, dass nicht das Bewusstsein
der Auswählende ist, da es sich völlig blind verhält, und jedes aus
dem Gedftchtnissachatze hervorgeholte Stück als Geschenk erhält.
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222
Wäre das BewaBstsein der AuswUilende, 8o müsste es ja das
Answählbare bei seinem eigenen Lichte besehen können, wis
es bekanntlich nicht kann, da nnr das schon Ausgewählte aus der
Nacht des UnbewosstseniB hervortritt. Wenn also das Bewnsstseia
doch wählen sollte, so würde es im absoiat Finfitem tappen,
kÖDiite also unmöglich zweckmässig wählen, sondern nur lu-
fällig herausgreifen. Jener unbekannte aber wählt in der
That zweckmässig, nämlich den Zwecken des Interesses ge-
mäss. Nach der Pffj'ehologie , die nur bewnsste Seelenthätigkeit
kennt, liegt hier ein o£fener Widersprach yor. Denn die Erfoh-
ning bezeugt, dass eine zweckmässige Auswahl der YorsteliungeB
Yor der Entstehung stattfindet, und leugnet, dass das Bewusstseia
diese Auswahl vornimmt. Für uns , die wir die Zweckthtttigksit
des Unbewussten schon vielseitig kennen gelernt haben, liegt hier
nur eine neue Stütze unserer Auffassfung vor; es ist eben eine
lieeiction des Unbewussten auf das Interesse des bewussten Wil*
lens, die durch die Form ihres Auftretens und durch ihr zeitwei-
g&g Ausbleiben bei starker einseitiger Spannung des Hirns völlig
mit der künstlerischen Coneeption übereinstimmt. Die eben ange*
stellte Betrachtung gilt für die Ideenassociation sowt>hl beim ab*
stracten Denken, als sinnlichen Vorstellen und künstlerischen Com*
biuiren; wenn ein Erfolg erzielt werden soll, muss sich die redite
Vorstellung zur rechten Zeit aus dem Sehatze des Gedächtnisses
willig darbieten, und dass es eben die rechte Vorstellung sei,
welche eintritt, dafür kann nur das XJnbewusste sorgen; alle Hüll»-
mittel und Kniffe des Verstandes können dem Unbewussten nur
seiti Geschäft erleichtern, aber niemals es ihm abnehmen.
Ein passendes und doch einfaches Beiepiel ist der Witz, der
zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Production die Ißtle
hält, da er Kunstzwecke mit meist abstractem Materiale veifolgt
Jeder Witz ist nach dem Sprachgebrauche ein Einfall; der Ver-
stand kann wohl Hülfsmittel dazu aufwenden, um den Einfsll sn
erleichtem, die Uebung kann namentlich im Gebiete der Wortspiele
ä&B Material dem Gedächtnisse lebhafter einprägen und daa Wort-
gedächtniss überhaupt stärken, das Talent kann gewisse Bevsöiilich-
ktiten mit einem immer sprudelnden Witze ausstatten, trotz alle-
dem bleibt jeder einzelne Witz ein Geschenk von oben, und selbst
dm, welche ak Bevorzugte in dieser Hinsicht den Witz völlig in
ihrer Gewalt zu haben glauben, müssen erfahren, dass gerade, wenn
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ne um reckt evvwiagen wollen, ihr Talent ihnen den Dienst Ter-
sagt» das8 dann nichts als fade Albernheiten oder auswendig gellte
Witie «aa ihrem Hirn heraus wollen. Biese Leute wissen auch
sehr wohl, dass eine Flasche Wein ein viel besseres Mittel ist,
mn ihren Wits in Bewegung zu setzen , als die absichtliche An-
ipaannng des Geistes.
Wenn wir naeh alledem Ter^landen haben, dass alle künsi-
lerische Prodnctiott des Menschen in einem Eingreifen des TJnbe-
WQssteii wnmeUt, so wird es uns nunmehr nicht Wunder nehmen
können, in den Organismen der Katnr, welche wir als die unnüt-
telbarste Erscheinung des Unhewussten etkaiuit haben, die Qesetze
der 8chl>nheit so sehr als mögHch inne gehalten zu finden. Dieser
Pnnot konnte nicht früher als hier seine Erwähnung finden» er ist
tber ein gewichtiger Grund mehr für die planmässige Entstehung
der Organismen nach vorher existirenden Ideen. Man betrachte
mr eile Pfauenfeder. Jede Wimper der Feder erhält ihre Nah-
rung aus dem Kiel ; die Nahrung für alle Wimpern ist dieselbe ;
die Faibestoffe sind im Kiel meist noch nicht vorhanden» sondern
werden erst in dea Wimpern selbig ans der gemeinschaftlichen
Kahrflnssii^eit ausgesdbieden. Jede Wimper lagert auf versohie-
denen Entfernungen vom Kiele verschiedene- Farbestoffe ab» die sich
s^arf von einander abgrenzen; die Entfernungen dieser Farben-
grenzen vom Kiek sind auf jeder Wimper andere, und wodurch
werden sie bestimmt? Durch den Zweck, in der Nebeneinander-
lagerong der Wimpern geschlossene Figuren, Pfauenaugen zu geben,
und wodurch kann dieser Zweck gesetzt sein? Nur durch die
Schönheit der Zeichnung und Farbenpracht
Wie ungenügend erscheint vom ästhetischem Standpunote aus
fie Darwin'sche Theorie ! 8ie zeigt, dass unter der Vocaussetzung,
dies die Fähigkeit, Farbenzeichnungen im Gefieder zu erzeugen,
«blich sei, der ästhetische Geschmack der Thiere bei der ge-
i^lechtlii^ett Auswahl durch überwiegende For^flanzung schön-
geseichneter Individuen die Schönheit des Gefieders generationen-
weise erhöhen müsse. Unzweifelhaft! So kann sich ans dem
Weniger ein Mehr entwickeln, aber wo kommt das Weniger her?
Wenn nicht schon Farbenzeichnung im Gefieder vorhanden ist^ wie
soll dann^eine geschlechtliche Au8wa);ü nach der Farbenzeichnung
BaiigUeh sein, also muss doeh das, was erklärt werden soll, schon
^^ sein, wenn auch in geringerem Grade. Die Darwin'sche Theeide
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beruht auf der Yorauesetzung , dass solche Fähigkeit, wie hier die
der Farbenzeichnungserzeagong y erblich sei; die Vererbung einer
Fähigkeit auf die Nachkommen setzt doch aber ihr Yorhandensein
in den Yorfahren voraus! Und gesetzt, der Begriff der Yererbung
wäre etwas Klares, was er keineswegs ist, so erklärt er doch in
dem Nachkommen keineswegs die Fähigkeit selbst, sondern nur,
wie dieses Individuum zum Bes.itz dieser Fähigkeit gelangt sei;
die Fähigkeit selbst bleibt auch bei Darwin die quaUtas occuUot
er macht gar keinen Yersuch, inihrWesen zu dringen, es konunt
ihm ja nur auf den Nachweis an, dass die Yererbong in Verbin-
dung mit der geschlechtlichen Auswahl im Stande sei, eine sdche
in einzelnen Exemplaren vorhandene Fähigkeit theils intensiT
zu erhöhen, theils ihr extensiv weitere Verbreitung zu verschaf-
fen; zur Erklärung ihres Wesens und ihrer ersten Entste-
hung leistet sie gar nichts, sie kann nie zeigen, wie der einzelne
Vogel es anfängt, die Farbenablageruugen auf seinen Federn so sa
vertheilen, dass sie, auf den einzelnen Federn und Wimpern schein-
bar unregelmässig, in ihrer Nebeneinanderlagerung regelmässige und
schöne Zeichnungen hervorbringen. Wenn aber endlich für die
intensive und extensive Steigerung solcher Fähigkeit die ge-
schlechtliche Auswahl mit Becht als Grund angeführt wird, so ist
doch die nächste Frage die: wie kommt das Individuum zu einer
geschlechtlichen Auswahl nach SchÖnheitsräcksichten ? Können wir
diese Frage nur durch einen Instinct beantworten, dessen unbe-
wusster Zweck in Verschönerung der Gattung liegt, so dreht sich
Darwin offenbar im Kreise herum; wir aber werden in diesem
Instincte ein Mittel erkennen, dessen sich die Natur bedient, um
mit leichterer Mühe zu ihrem Zwecke zu kommen, als wenn sie,
ohne die Hülfe der Steigerung der körperlichen Disposition durch
Vererbung in Generationen, auf einmal die grösstmöglichste Schön-
heit in allen Individuen einzeln erzeugen wollte, d. h. wir be-
wundem statt schwerer directer eine mühelosere indirecte Errei-
chung des Zieles , wie schon früher in den Mechanismen des ein-
zelnen Organismus, und diesen Mechanismus in seiner Allgemeinheit
aufgedeckt zu haben, ist das unbestreitbare Verdienst Darwin's;
nur darf man nicht, wie der Materialismus, glauben, damit das
letzte Wort gesprochen zu haben.
Auf ähnliche Weise kann man an der Veredelung der Blüthen
sehen, wie in dem geheimnissvollen Leben und Webai derPflanse
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sei bat der Trieb zur Schönheit liegt, der im wild^ Zustande nur zu
sehr im Kampfe um' s Dasein erdrückt unders tickt wird.
So wie man ^ie Pflanzen von diesem Kampfe einigermassen befreit, so
bricht das Schönheitsbestreben durch, und aus den unscheinbarsten
Blüthen wilder Gewächse werden unter unseren Augen die pracht-
Tollsten Blumen. Nie hat Darwin den Erklärungsversuch gemacht,
wie der Pflanze jene Spielarten oder Abweichungen vom Normal-
typus möglieh sind, welche diesen an Schönheit übertreffen, und
welche der Mensch nur vor ihrem Wiederuntergang im
Kampfe um's Dasein zu schützen braucht, um sie sich zu
erhalten.
Basselbe gilt aber für alle Schönheit im Pflanzen- und Thier-
reiche, auch ^ie der allgemeinen Form. Ich spreche es als Grund-
satz aus, dass jedes Wesen so schön ist, als es in Bücksicht auf
Beine Lebens- und Fortpflanzungsweise sein kann. So wie wir frü-
her gesehen haben, dass die absolute Zweckmässigkeit jeder
einzehien Einrichtung beschränkt wird: einerseits durch andere
Zwecke, deren Erfüllung sie widersprechen würde, andererseits
durch den Widerstand des starren Materials, dessen Gesetzen das
organisirende XJnbewusste sich beugen und anbequemen muss, gerade so
wird die Schönheit jedes Theiles beschränkt durch seine Zweck-
mässigkeit nach allen den Bichtungen hin, wo er für das Wesen
praktisch in Betracht kommt, und zweitens durch den Widerstand
des spröden Materials, dessen Gesetze respectirt werden müssen.
So interessant auch eine Betrachtung der organischen Natur vom
ästhetischen Standpuncte au^ ist, so können wir doch hier des
Baumes wegen nicht darauf eingehen und müssen uns mit diesen
Andeutungen begnügen ^ deren Ausföhrung wir dem Leser anheim-
stellen. — Nehmen wir indessen unsere Behauptungen als zugege-
ben an, so beruht der Unterschied der künstlerischen Production
des Menschen und der Natur letzten Endes nicht im Wesen und
Ursprung der Conception der Idee, sondern nur in der Art ihrer
Verwirklichung» In der Natursohönheit wird die Idee vor der
Ansfährung nirgends einem Bewusstsein präsentirt , sondern ' das
Individuum, das Marmor und Bildhauer zugleich ist, verwirk-
licht die Idee völlig unbewusst; in der künstlerischen Pro-
duction des Menschen dagegen wird die Instanz des Bewusst-
seins eingeschoben; die Idee verwirklicht sich nicht unmittelbar
als Naturwesen, sondern als Hirnschwingungen, die dem Be-
T. Hartroann, Phil. d. ünbewni»ten. 15
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wuBstsein des Künstlers als Phantasiegebilde gegenüber tretes,
dessen Uebertragung in äussere Realität von dem bewassten Willon
des Künstlers abhängt. —
Fassen wir zum Schlüsse das Besultat dieses Capitels zuBa»-
men, so ist es folgendes: Das Schönfinden und das SchönschafMi
des Menschen geh^i aus unbewussten Processen hervor, ah deren
Resultate die Empfindung des Schönen und die Erfindung
des Schönen (Gonception) sich dem Bewusstsein darstellen. Diese
Momente bilden die Ausgangspuncte der weiteren bewussten Arbeit,
welche aber in jedem Augenblicke mehr oder weniger der Unte^
Stützung des Unbewussten bedarf. Der zu Grunde liegende u»-
bewusste Prooess entzieht sich durchaus der Selbstbeobachtung, doch
yera^igt er unzweifelhaft in jedem einzelnen Falle dieselben Glie-
der, welche eine absolut richtige Aesthetik in discursirer Reihen-
folge als Begründung der Schönheit geben würde. Dass eine solche
Umwandlung und Zerlegung in Begriffe und diseursiTes Denken
überhaupt möglich ist, giebt nämlich den Beweis dafür, dass wir es
in dem unbewussten Processe nicht mit etwas wesentlich Fremdetn
zu thim haben, sondern dass nur die Form in diesem und dem
ästhetisch wissenschaftlichen AuflÖsungsprooesse sich unterscheideB
wie intuitives und discursives Denken überhaupt , dass aber in
beiden das Denken an sich, odeo das Logische, und die Momente,
aus deren logischer Yerkntipfnng die Schönheit resultirt, gemeinsam
und gleich sind. Wäre der Begriff des Schönen nicht logisch
auflösbar, wäre das Schcme nicht bloss eine besondere Er-
scheinungsform des Logischen, so müssten wir allerdings
in dem schöpferischen Unbewussten neben dem Logischen, das wir
bisher allein thätig gefunden, noch etwas Anderes, Heterogenes,
was jeder Yermittelung mit diesem entbehrt, anerkennen. Aber
die Geschichte der Aesthetik zeigt das Ziel dieser Wissenschaft,
die Herleitung aller und jeder Schönheit aus logischen Momenten
(allerdings in Anwendung auf reale Data), zu unverkennbar as,
als dass man sich durch die gegenwärtige Unvollkommenheit die-
ser Yermiohe von dem Glauben an dieses Endziel abwendig machen
lassen sollte. —
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VL
Das UnbewBSSte in der EntstehHBg der Spraebe.
,J)a sich ohne Sprache nicht nur kein philoiophisches, sondern
überhaupt kein menschliches Bewosstsein denken lässt, so konnte
der Grand der Sprache nicht mit Bewnsstsein gelegt werden, und
dennoch^ je tiefer wir in sie eindringen, desto bestimmter entdeckt
sich, dase ihre Tiefe die des bewusstvoUsten Erzeugnisses noch bei
▼eitern übertrifft. — Es ist mit der Sprache wie mit den orga-
nißchen Wesen; wir glauben diese blindlings entstehen zu sehen,
und können die unergründliche Absichtlichkeit ihrer Bildung bis
in's Einzelnste nicht in Abrede ziehen.'' In diesen Worten
Schellings (Werke, Abthl. II, Bd. 1, S. 52) ist der Inhalt dieses
Capitels vorgezeichnet.
Betrachten wir zunächst den philosophischen W^rth der gram-
oiatiBchen Formen und der Begriffsbildung. In jeder höher stehenden
Sprache finden wir den Unterschied von Subject und Prädicat, y#n Snb-
ject und Objecto von Substantivnm, Yerbum und Adjectir, und die
n&mlichen Bedingungen in der Satzbildung; in den minder entwickel-
ten Sprachen sind diese Grundformen wenigstens durch die Stellung
in Satze unterschieden. Wer mit der Geschichte der Philosophie
l>ekannt ist» wird wissen, wie viel dieselbe schon diesen sprach-
Hehen Formen allein yerdankt. Der Begriff des ürtheils ist ent-
schieden abstrahirt rom grammatischen Satze mit Weglassung der
Wortform; aus Subject und Frädicat wurden die Kategorien der
Substanz und Accidenz auf dieselbe Weise herausgezogen; einen
entsprechenden begrifflichen Gegensatz von Substantivurn und Yer-
bum zn ünden, ist heute noch ein ungelöstes, yielleicht sehr frucht-
^Tes philosophisches Problem; hier ist die bewusste Speculation
i^oeh weit hinter der unbewussten Schöi^ing des Genius der
16*
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228
Mensohheit zurück. Dass die philosophischen Begriffe des 8ab-
jects and Objeots , welche streng genommen dem antiken Bewusst-
sein fehlten y und heute die Speculation gradezu beherrschen, sidi
aus den grammatischen Begriffen entwickelt haben, in denen sie
unbewusst vorgebildet eingehüllt lagen, ist gewiss nicht unwahr
soheinlich, da schon ihr Name es andeutet. Eine entsprechende
philosophische Ausbeute der anderen Satztheile, z. B. des soge-
nannten entfernteren Objects oder der dritten Person, ist meiner
üeberzeugung nach noch zu erwarten. Es werden durch solches
Zum -Bewusstsein- bringen des metaphysischen Qedankens; dem die
Wortform zum Kleide dient, zwar keine neuen Beziehungen ge-
schaffen, aber es werden solche, die bisher nur auf grossen
Umschweifen im Bewusstsein, einheitlich aber nur in der Ahnung
oder im Instinct existirten, auf eine einheitliche Form im Be-
wusstsein gebracht, und können nun erst zum sicheren Funda-
ment weiterer Speculation dienen, ähnlich wie in der Mathematik
die Kreis-, elliptischen und Abelschen Functionen plötzlich gewisse
längst bekannte Beihen in eine einheitliche Form schliessen und da-
durch erst die Möglichkeit allgemeiner Benutzung derselben gewähren.
Indem der Menschengeist in der Weltgeschichte zum
ersten Male vor sich selber stutzt und anfangt zu philosophiren,
findet er eine mit allem Beichthum von Formen und B^;riffdn
ausgestattete Sprache vor sich, und „ein grosser Theil, vielleicht
der grösste Theil von dem Oeschäfte seiner Yernunft besteht in
Zergliederungen der Begriffe, die er schon in sich vorfindet,'^ ine
Kant sagt. Er findet die Casus der Declination in Substantir,
Verbum, Adjectiv, Pronomen, die Genera, Tempora und Modi des
Verbums, und den unermesslichen Schatz fertiger Gegenstands-
und Beziehungsbegnffe. Die sämmtlichen Kategorien, welche gröss-
tentheils die wichtigsten Eelationen darstellen, die Grundbegriffe
alles Denkens, wie Sein, Werden, Denken, Fühlen, Begehren, Be-
wegung, Kraft, Thätigkeit etc., liegen ihm als fertiges Material vor,
und er hat Tausende von Jahren zu thun, um sich nur in diesem
Schatze unbewusster Speculation zurecht zu finden. Noch bis heute
hat der philosophirende G^st den Fehler des Anfängers, siöh zu
sehr in der Feme umzuthun und das ^Nächstliegende , vielleicht
auch Schwierigste, zu vernachlässigen, noch heute giebt es keine
Philosophie der Sprache; denn was wir wirklich davon haben,
sind winzige Bruchstücke und, was meistens geboten wird, phrasen*
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229
kafte Appellationen an den menschlichen Instinct , der ja doch so
schon weise, was gemeint ist (ähnlich wie in der Aesthetik).
Aber wenn die ersten griechischen Philosophen sich bloss an die
AoBsenwelt hielten, so hat doch die Philosophie, je weiter sie fort-
geschritten ist, um so mehr erkannt, dass das Yerstehen des eigenen
Denkens die nächstliegendste Aufgabe ist, dass dieses durch He-
bung der Gteistesschätze, welche in der Sprache des Finders har-
ren, trefflich gefördert wird, und dass die graue TJeberlieferung
der Sprache, das Kleid des Denkens, nicht durch bunte aufgeklebte
Lappen entweiht werden darf; denn die Sprache ist das Wort
Gottes, die beilige Schrift der Philosophie, sie ist die Offenbarung
des Genius der Menschheit für alle Zeiten. — Wie viel ein Plato,
Aristoteles, Kant, Schelling und Hegel der Sprache verdanken, wird
der sie aufmerksam Studirende nicht verkennen, öfters scheint sogar
den Betreffenden die Quelle, aus der sie die erste Anregung zu
gewissen Besultaten geschöpft haben, ziemlich unbewusst zu sein
(2. B. bei Sohelling das Subject des Seins als Nichtseiendes oder
Potenz des Seins, und das Objeot des Seins als bloss Seiendes). —
Die nächste Betrachtung betrifft die Frage, ob die Spräche
sich mit der fortschreitenden Bildung vervollkommnet. Bis auf
einen gewiafien Punct ist dies unzweifelhaft der Fall; denn die
Sprächet der ersten Urmenschen ist gewiss eine von der Laut- und
6eberdenq>rache der Thiere kaum unterschiedene gewesen, und
▼ir wissen , dass jede Sprache , welche jetzt Flexionssprache ist,
sieh durch die Stufen der einsilbigen (z. B, Chinesisch) agglutini-
renden (z. B. Türkisch) und incorporirenden (z. B. Indianerspra-
chen) Sprache ganz allmälig zu ihrer gegenwärtigen Vollendung
^aufgearbeitet hat. Wenn man aber obige Frage so versteht,
ob nach Erreichung deqenigen Bildungszustandes, welcher von
vornherein als Bedingung einer Flezionssprache angesehen werden
"luss, bei weiter steigender Cultur die Sprache sich ver-
Tollkonunene, so muss diese Frage nicht nur verneint, sondern ihr
Gegentheil bejaht werden. Allerdings treten mit fortschreitender
Ooltnr neue Gegenstände, folglich neue Begriffe und Beziehungen
derselben, also auch neue Worte auf. (Z. B., Alles was Eisen-
bahnen, Telegraphen und Actiengesellschafben betrifft.) Hieraus
^ebt sich eine materielle Bereicherung der Sprache. Diese
^thält jedoch nichts Philosophisches. Die philosophischen Be-
firiffe (die Kategorien u. s. w.) bleiben dieselben, sie werden nicht
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mehr nooh weniger, mit geringen Ausnahmen, wie Bewnsstsein und
dergl , Begriffe, welche die Alten der olaasischen Zeit nur divi-
natorisch, aber nicht explicite und bewusst besaseen. Ebeon
erleiden die AbBtraotionsreihen , welche die unendliche Mannig-
faltigkeit der sinnlichen Erscheinungen £um Gebrauch in Abstraota
verschiedener Ordnungen zusammenfassen, keine irgend erhebliohea
Veränderungen; denn wenn die Specialwissensohaften» z. B. Zoolo-
gie, Botanik, ihre Artbegriffe bisweilen ein wenig ändern, so be-
rührt dies theils das praktische Leben gar nicht, theils sind diese
Aenderungen gegen die Gonstanz der meisten Begriffisgebiete ver-
schwindend klein. Worin aber der eigentlich philosophische Werth
liegt, der formelle Theil der Sprache, der ist in einem mit dem
Culturfortschritt gleichen Schritt haltenden Zersetzungs- und Ve^
flachungsprocesse. Ein noch eclatanteres Beispiel, als die Deutsehe
Sprache im Gothischen, Althochdeutsch, Mittel- und Neuhochdeutsch,
bildet die Yerflaohung der romanischen, namentlich der innam-
sehen Sprache. Die ein- für allemal bestimmte Stellung der Satz-
theile und Sätze lässt der Prägnanz des Ausdruckes keinen Bpiei-
raum mehr, eine Declination existirt nicht mehr, ein Neutrum
ebenso wenig, die Gonjugation beschränkt sich auf vier (im Deut-
schen sogar auf zwei) Zeiten, das Passivum fehlt, alle Endsilben
sind abgeschliffen, die in Natursprachen so ausdrucksvolle ye^
wandtschaft der Stammsilben, durch Absohleifyingen , Consonant-
ausstoBsungen und andere Entstellungen meist unkenntlich gewo^
den und die Fähigkeit, Worte zu Einem zusammenzusetzen, i^
verloren gegangen. Je weiter wir dagegen historisch rückwÄrtß
gehen, desto grösser wird der Formenreichiiium; das Griechische
hat sein Medium, Dualis und Aorist, und eine unglaubliche Zu-
sammensetzungsfShigkeit. Der Sanskrit, als die älteste der uns be-
kannten Fiesionssprachen, soll an Schönheit und Formenreichtfaum
alle anderen übertreffen. Aus dieser Betrachtung geht hervor,
dass die Sprache zu ihrer Entstehung durchaus kdner höheren
Culturentwickelung bedarf, sondern dass ihr eine solche vielmehr
schädlich ist, indem sie nicht einmal im Stande ist, das fiertig
üeberkonmiene vor Verderbniss zu bewahren. Sowohl dieses
Resultat, als die speculative Tiefe und Grossartigkeit der ^fache,
sowie endlich ihre wunderbare organische Einheit, die weit über
die Einheit eines methodisch- systematischen Aufbaues hinausgeht,
sollte uns abhalten, die Sprache für ein Erzeugniss bewusster
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soharfrinniger Ueberlegung zu halten« Schon Sohelling^ sagt:
ffiet Geist, d^ die Sprache schuf, — ^ und das ist nicht der Oeist
der ein2«lnen Glieder des Volkes, —^ hat sie als Ganzes ge*
daokt: wie die sehaffmde Natur, indnn sie den Schädel bildet»
sehon den Kerren im Auge hat, der seinen Weg durch ihn neh«»
mOD soll.''
Dazu kommt noch Folgendes: Fttr die Arbeit eines Ein-
leinen ist der Gnmdbau viel zu oomplioirt und reichhaltig,
die Sprache ist ein Werk der Kasse, des Volkes. Für die
Vewnsste Arbeit Mehrerer aber ist sie ein zq einheit-
licher Ot^ganismus, Nur der Masseninstinct kann sie ge*
sehaffdn haben, wie er im Leben des Bienenstockes, des Th^-
miten- und Ameiaenhanfens waltet. — Femer. w^enn auch die aus
Tenehiedenen Entwiekelungsheerden entsprungenen Sprachen we^
senüioh von einander abweichen, so ist doch der Gang der Ent-
wickelung der Hauptsache nach auf all den verschiedenen Schau-
plätzen menschlicher Bildung und bei den verschiedensten Natio-
nsldiarakteren sich so ähnlich, dass die Uebereinstimmung der
Qnmdformen und des Satzbaues in allen Stadien der Entwickelung
nur aus einem gemeinsamen Sprachbildungsinstincte der Mensch-
heit erklärlich wird, aus einem in den Individuen waltenden
Geiste, der überall die Entwickelung der Sprache nach denselben
Gesetzen des Emporblühens und des Verfalles leitet. — Wem aber
alle diese Gründe nicht entscheidend vorkommen, der wird in
Terbindung mit ihnen den einzigen als durchschlagend zugeben
müssen, dass jedes bewusste menschliche Denken erst
mit Hülfe der Sprache möglich ist, da wir sehen, dass das
menschliche Denken ohne Sprache (bei unerzogenen Taubstummen)
das der klügsten Hausthiere bestenfalls sehr wenig übertrifft.
Ganz unmöglich ist also ohne Sprache oder mit einer bloss thie-
riflchen Lautsprache ohne grammatische Formen ein so scharf-
sinniges Denken, dass als sein bewusstes Erzeugniss der wunder-
volle tiefsinnige Organismus der überall gleichen Grundformen her-
vorginge ; vielmehr wird jeder Fortschritt in der Entwickelung der
Sprache erst die Bedingung von einem Fortschritte in der
Ausbildung des bewussten Denkens, nicht seine Folge sein, indem
er (wie jeder Instinct) zu einer Zeit eintritt , wo die gesammte
Ooltnrlage des betreffenden Volkes einen Fortschritt in der Aus-
büdnng des Denkens zum Bedürfnis s macht. — Ghinz ebenso
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232
ako, wie anbezweifelter Weise die zum Theil so hoch ausgebil-
dete Sprache der Thiere, oder die Minen-, Qesten- und l^aturlsnt-
Bpraohe der Urmenschen in Froduction wie in Yerständniss ein
Werk dos Instinctes ist, ganz ebenso muss auch die menschliche
Wo rtap räche eine Conception des Genies, ein Werk des MasseniB-
Btincteß sein, da man wohl auf die theologische Ansicht der götlr
liehen Ueberlieferung der Sprache im letzten Drittel des neunzehn-
ten Jahrhunderts keine Bücksicht mehr zu nehmen braucht. Trots
dem Mangel einer anderweitigen Erklärung aus Principien des Be-
wustitaoins ist durch Herders Verdienst diese Ansicht, dass der den
Spraehorganismus schaffende Instinct nicht mechanisches Werk
eines bewussten Gk>ttes sei, in der Wissenschaft allgemein durch-
gedrungen, — wann wird dieselbe Ansicht in Bezug auf den
leiblichen Organismus endlich allgemeine Geltung erlangen? —
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vn.
Das Unbewnsste im Denket.
Im vorletzten Capitel hatten wir gesehen ^ dass jeder Eintritt
einer Erinnening zn einem bestimmten Zwecke der Hülfe des Unbe-
wussten bedarf, wenn gerade die rechte Vorstellung einfallen soll,
weil das Bewnsstsein die schlummernden Erinnerungen nicht um-
fasst, also auch nicht unter ihnen wählen kann. Wenn eine un^
passende Yorstellung auftaucht, so erkennt das Bewnsstsein dieselbe
sofort als unzweckmässig und verwirft- sie, aber alle Erinnerungen,
welche noch nicht aufgetaucht sind, sondern erst auftauchen sollen,
liegen ausser seinem Gesichtskreise, also auch ausser seiner Wahl;
nur das TJnbewusste kann die zweckmässige Wahl vollziehen. Es
kömite etwa Jemand meinen, dass die Erinnerungen absolut zufällig
in Bezug auf das Interesse auftauchen, und das Bewnsstsein so
lange die falschen verwirft, bis endlich auch die richtige kommt.
Beim abstracten Denken kommen allerdings solche Fälle vor, wo
man fünf, auch mehr Vorstellungen verwirft, ehe Einem die richtige
einfällt. In solchen Fällen handelt es sich aber, wie beim Käthen
von Bäthselny oder Lösen von Aufgaben durch Probiren, darum, dass
das Bewnsstsein selbst nicht recht weiss, was es will, d. h. dass
es die Bedingungen der Zweckmässigkeit nur in Gestalt abstracter
Wort- oder Zahlformeln, aber nicht in unmittelbarer Anschauung
kennt, so dass es in jedem einzelnen Falle erst den concreten
WerÜi in die Formeln einsetzen muss, und zusehen, ob die Sache
Btinmit; hiermit leuchtet aber auch ein, dass die Beaetion eines
Interesees auf das TJnbewusste, welches sich selbst so unklar ist,
dass ea sich nur durch Anwendung auf den concreten Fall über
Bich klar werden kann, eine unvollkommenere sein muss, als da,
wo das Interesse sich in unmittelbar concreter und anschaulicher
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234
Weise von selbst versteht, wie beim Sachen einer passenden Theil-
Vorstellung zu einem im XJebrigen fertigen Bilde, oder Melodie,
oder Verse, wo ein so langes Probiren viel seltener vorkommt Bei
dem Einfall eines Witzes kommt solch' ein Frobiren noch weniger
vor; herausprobirte Witze sind vielmehr immer schlecht. Aber
auch in solchen Fällen, wo die Erfahrung ein mehrmaliges Ver-
werfen der auftauchenden Vorstellungen zeigt, sollte man nicht
vergessen, dass alle diese verworfenen Vorstellungpn keineswegs in
Bezug auf den Zweck des Interesses absolut zufiülig sind, sondern
durchaus diesem Ziele zustreben, wenn sie auch noch nicht den
Nagel auf den Kopf treffen. Aber selbst wenn dieses Merkmal
ihnen fehlte, wird man zugeben müssen, dass die Vorstellungen,
welche, abgesehen vom Ziel des Interesses, bloss nach den anderen
Gesetzen der Gedankenfolge entstehen würden , geradezu zahllos
sind, und dass dann in sehr seltenen Fällen schon nach fünf bis
zehn verworfenen Vorstellungen die passende auftauchen würde,
meistens aber eine viel grossere Anzahl Versuche erforderlich wiure;
die Folge hiervon wäre die Unmöglichkeit, irgend eine geortete
Gedankenfolge zu produciren, man würde diese unverhältnissmässige
Anstrengung bald ermüdet aufgeben und sich nur dem willkürlosen
Träumen und den Sinneseindrüoken hingeben, ähnlich wie tiefsiehende
Thiere.
Alles kommt beim Benken darauf an, dass Einem die rechte
Vorstellung im rechten Moment einfällt, nur hierdurch untersoheidet
sich (abgesehen von der Schnelligkeit der Gedankenbewegung) das
Denk^rgenie vom Dummen, Thoren, Narren, Blödsinnigen und Ver-
rückten. Denn das Schlieseen findet bei allen auf gleiche Weise
statt; kein Verrückter und kein Träumender hat je ein«n fabohen
einfachen Schlu^s gedacht aus den Prämissen, die ihm gerade gegen«
wärtig waren, nur die Prämissen derselben sind häufig unbrauchbar;
theils sind sie falsch an sich, theils sind sie zu dem Zweok, wozu
der Bchluss dienen soll, zu eng, theils zu weit ; theils auch werden
beim Bchliessen gewisse hier unzulässige Prämissen gewohnheits-
mässig vorausgesetzt, theils aiuf diesem Wege mehrere hinter einan-
der folgende Schlüsse in Einen zusammengezogeny und dabei Fehler
begangen, weil nicht jeder einzelne SchloBs wirklich gedadit wird,
auch jeder folgende Bchluss stillschweigend eine neue Prämisse
voraussetzt. Aber bei gegebenen Pränüssen einen ein&ohen Schhiss
Msch vollziehen, das liegt nach meiner Aufiiassung gerade so ansser
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236
dem Bereich der Möglichkeit, als dass ein von zwei Kräften ge-
stossenes Atom anders als in der Diagonale des Parallelogramms
der Kräfte gehen sollte.
Alles kommt beim Denken darauf an, dass Einem die rechte
Yorstellang im rechten Moment einföUt. Diesen Satz wollen wir
noch genauer prüfen. Man verBteht unter Denken im engeren Sinne
das Theüen, Vereinen und Beziehen der Vorstellungen. Das
Th eilen kann in räumlichem oder zeitlichem Zerschneiden oder
m abstrahirendem Theilen der Vorstellungen bestehen. Jede Vor-
stellung kann auf unendlich yiele Arten getheilt werden, es kommt
also wesentlich darauf an, wie der Schnitt geführt wird zwischen
dem Stück 9 was man behalten, und dem, was man fallen lassen
will. Wieviel und was Ton einer Vorstellung man aber behalten
will, das hängt davon ab, zu welchem Zwecke man es braucht.
Ber Hauptzweck beim abstrahirenden Theilen ist das Zusammen-
(dssen vieler sinnlicher Einzelnen zu einem gemeinsamen Begriff;
dieser kann nur das in allen Gleiche enthalten, die Schnitte müssen
also so gefuhrt werden, dass man von allen Einzelvorstellungen nur
das Qleiche übrig behält, und die ungleichen individuellen Beste
fallen lässt. Mit anderen Worten, wenn man die vielen Einzelnen
hat, muss Einem die Vorstellung des allen gemeinsamen gleichen
Stückes einfallen. Dies ist ebenso gewiss ein Einfallen, was
nicht erzwungen werden kann, wie in früheren Beispielen; denn
Millionen Menschen starren dieselben Einzeli^rstellungen an und
Bin genialer Kopf packt endlich den Begriff. Wie viel reicher an
B^riffen ist nicht der Gebildete, als der Ungebildete? Und der
einzige Grund hiervon ist das Interesse am Begriff welches ihm
dnrch die Erziehung imd Lehre eingeflösst wird ; denn direct lehren
kann man Niemandem einen Begriff, man kann ihm wohl beim Ab'»
strahiren durch Angabe recht vieler sinnlicher einzelner und Aus-
schliessung anderer ihm schon bekannter Begriffe u. s. w. behülf-
lieh sein, aber finden muss er ihn zuletzt doch selbst. Einen er-
hebliehen Talentsunterschied aber kann man zwischen Gebildeten
und Ungebildeten doch im Durchschnitt gewiss nicht annehmen,
also kann es nur das Interesse am Finden sein, was den Unter-
fiohied des Begriffreichthumes bedingt. Dasselbe gilt auch für den
Terschiedenen Begriffreichthum von Mensch und Thier, wenn auch
hier allerdings die Begabung mitspricht. Die grössten Erfindungen
der theoretischen Wissenschaft bestehen oft bloss im Finden eines
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236
neueD Begriffes, in der Erkenntniss eines bisher unbeachtet geblie-
benen gemeinsamen Stückes in mehreren anderen Begriffen, z. B. die
Entdeckung des Begriffes Gravitation durch Newton. Wenn das
Interesse es ist, welches die Auffindung des Gemeinsamen bedingt,
so ist das erste Auffeuchten des Begriffes die zweckmässige Beaction
des Unbewussten auf. diesen Antrieb des Interesses.
Wenn dies schon für Begriffe gilt, die nur in dem Aussohoi-
den eines vielen gegebenen Vorstellungen gemeinsamen Stückes
bestehn, um wie viel mehr für solche, die Beziehungen vei-
schiedener Vorstellungen auf einander enthalten, z. B.
Gleichheit, Ungleichheit, Einheit, Vielheit (Zahl), Allheit, Negation,
Disjunction, Causalität u. 8. w. ; denn hier ist der Begriff eine wahr-
hafte. Schöpfong, allerdings aus gegebenem Material, aber doch
Schöpfung von etwas als solchem in den gegebenen Vorstellangen
gar nicht Liegendem. — Z. B. : Die Gleichheit als solche kann nicht
den Würfeln A und B inhäriren, denn wenn B noch nicht ist, so
kann A nicht die Gleichheit mit B haben; wenn aber B entsteht,
so kann dies die Beschaffenheit von A nicht yerändem, also kann
A nicht durch das Entstehen von B eine Eigenschaft bekommen,
die es vorher nicht hatte, also auch nicht die Gleichheit mit B.
Der Begriff der Gleichheit kann also in den Dingen nicht liegen,
ebenso wenig in den durch die Dinge erzeugten Wahrnehmungen
als solchen, denn för diese lässt sich derselbe Beweis führen,
folglich muss der Begriff der Gleichheit erst von der Seele geschaf-
fen werden ; aber die Seele kann auch nicht willkürlich zwei Vor-
stellungen für gleich oder ungleich erklären, sondern nur dann,
wenn die Vorstellungen, abgesehen von Ort und Zeit, idenüsoh sind,
d. h. wenn die beiden Vorstellungen, an einem Orte des Gesichts-
feldes ohne Zeitintervall sich ablösend, den Eindruck einer einzigen
unverändert bleibenden Vorstellung machen würden. Da diese Be-
dingung realiter nie erfüllt werden kann, so kann der Frocess nur
der sein, dass die Seele das identische Stück beider Vorstellungen
begrifflich ausscheidet; erkennt sie dann, dass die individuellen
Beste nur in Ort und Zeit der Vorstellungen bestehen und den
Inhalt derselben nicht mehr berühren, so nennt sie dieselben gleich,
und hat so den Begriff der Gleichheit gewonnen. Es ist aber leicht
zu sehen, dass, wenn dieser ganze Frocess im Bewusstsein vollzogen
werden sollte, die Seele die Fähigkeit der Abstraction und mithin
den Begriff der Gleichheit, um das beiden Vorstellungen gemeinsame
ki
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237
gleiche Stück ausscheidea ku können» schon beaiizen mikste, nm
ea ihnen zu gelangen, was ein Widerspruch ist; es bleibt also, da
jede Menschen- und Thierseele diesen Begriff wirklich hat, nichts
als die Annahme übrig, dass dieser Process sich in seinem Haupt-
theile unbewusst vollzieht, und erst das Resultat als Begriff der
Gleichheit, oder als TJrtheil: ,^/L und B sind gleich'' in's Bewusst-
sein fallt.
Wie unentbehrlich die Fähigkeit der Abstraction und der in
ihr enthaltene Gleichheitsbegriff selbst zu den ersten Grundlagen
alles Denkens sei, will ich kurz an der Erinnerung zeigen.
Jeder Mensch und jedes Thier weiss, wenn in ihm eine Vor-
stellung oder eine Wahrnehmung entsteht, ob es den Inhalt der-
selben kennt oder nicht, d. h. ob ihm die Wahrnehmung neu ist,
zum ersten Male entsteht, oder ob es dieselbe früher schon gehabt
hai. Eine blosse Vorstellung, die auftaucht, yerbunden mit dem
Bewusstsein, dass sie schon früher dagewesen sei, heisst Erinnerung.
Das Wiedererkennen sinnlicher Wahrnehmungen wird nicht mit die-
sem Namen bezeichnet, ist aber mindestens ebenso wichtig. Es fragt
sich, wie kommt die Seele zu dem Merkmal des Bekanntseins,
welches doch in der Vorstellung selbst nicht liegen kann, da jede
Vorstellung an und für sich als etwas Neues auftritt. Die nächst-
liegende Antwort ist : durch die Ideenassociation, denn eine Haupt-
henrorrufung derselben ist die Aehnlichkeit. Wenn also eine
Wahrnehmung neu eintritt, welche schon früher dagewesen war,
so wird die schlummernde Erinnerung wach gerufen, und die Seele
hat nun statt eines Bildes zwei, ein lebhaftes und ein schwaches,
und letzteres einen Moment später, während sie bei neuen Wahr-
nehmungen nur eins vorfindet. Da sie von dem zweiten schwachen
Bilde sich nicht als Ursache weiss, so nimmt sie das der Zeit nach
frühere lebhafte als Ursache desselben an; da aber andererseits die
Ursache davon, dass das schwache Bild in einigen Fällen erscheint,
in anderen nicht, in den Wahrnehmungen nicht wohl liegen kann,
80 setzt sie die Ursache dieser Erscheinung in eine verschiedene
Disposition des Vorstellungsvermögens. Hätte die Seele bei der
Bchwachen Vorstellung ohne Weiteres das Bewusstsein, dass sie
schon früher dagewesen sei, so wäre die Sache erklärlich, aber das
ist eben nicht zu begreifen , wie sie zu diesem Bewusstsein aus
dem bisher Angeführten kommen soll; die Frage wäre damit nicht
gelöst, sondern nur ihr Object eine Stufe zurückgeschoben. Hier
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238
hill't nun aber die Betrachtung von gleichen Sinneseindrücken aas,
die 80 schnell auf /einander folgen, dass das Nachbild des ersten
beim Eintreten des zweiten noch nicht verklungen ist.
Hier weiss die Seele 1) das Nachbild des ersten Eindruckes
mit demselben yermöge der Stetigkeit des Abklingens als eins;
2) weiss sie aus dem Grade der Abschwächung, dass das äussere
Object aufgehört hat zu wirken, und nur sein Nachbild übrig
ist ; 3) weiss sie, dass die unmittelbar nach dem zweiten Eindruck
eintretende plötzliche Verstärkung des Nachbildes eine Wirkung
jenes ist; 4) erkennt sie die Inhaltsgleichheit des zweiten Ein-
druckes mit dem verstärkten Nachbilde des ersten.
Aus diesen Prämissen schliesst sie, dass die Bisposition des
Yorstcllungsvermögens, welche die Entstehung des schwachen Bildes
nach dem zweiten Eindruck bedingte, das Vorhandensein des Nach-
bildes des ersten war, und dass der zweite Eindruck derselbe war,
wie der erste. Indem nun solche Beispiele sich bei verschiedenen
Graden des Abgeklungenseins wiederholen, wird nach Analogie ge-
schlossen, dass auch da, wo das Nachbild des ersten beim Eintre-
ten des zweiten Eindruckes nicht mehr vorhanden ist, die fragliche
Disposition des Vorstellungsvermögens in einem sohlummemden
Nachbilde bestehe, und somit ergiebt sich das Bewusstsein d«8 Be-
kanntseins jedesmal, wenn eine Vorstellung eine ihr gleiche schwä-
chere hervorruft. So z. B. wenn beim wachen Träumen Einem
Bilder aufsteigen, so müssen dieselben erst bis zu einem gewissen
Grade der Vollständigkeit gediehen sein, ehe sie durch Association
für einen Moment das Qanze der erlebten Situation als zweites
Bild vor die Seele führen, und erst in diesem Moment springt
plötzlich das Bewusstsein hervor, dass man ja die Sache erlebt hat,
erst dann wird die angestiegene Erinnerung als Erinnerung be-
wusst. —
Man sieht, welch* ein ungeheuerer Apparat von complicirter
Ueberlegung erforderlich ist, um ein scheinbar so einfaches Funda-
mentalphänomen zu erzeugen, und dass ganz unmöglich in jenen
Zeiten der Kindheit von Mensch und Thier, wo diese Begriffe meh
bilden , ein solcher Process sich im Bewusstsein vollziehen könnte,
zumal da alle hier angewandten Schlüsse die Fähig-
keit, die Vorstellungen als bekannt anzuerkennen,
längst voraussetzen. Darum bleibt nichts übrig, als dass
auch dieser Process sich im Unbewussten vollzieht und nur sein
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239
Besoltat instinetiT in's Bewnsstsem fallt. Auoh die Gewissheit
des BekanntseinB , welche bei nicht zu grosser Zwischenzeit beider
andrücke die Etinnenmg bietet, könnte bei diesem künstlichen
Gebäude Ton Hypothesen und Analogien nie erreicht werden.
Ein anderes Beispiel bietet die 0 a u s a 1 i t ä t. Allerdings ist die-
selbe l<^sch zu entwickeln, nämlich aus der Wahrscheinliohkeits-
rechnimg, welche mit der blossen Yoraassetzong des absoluten
Zufalls, d. i. der Causalitätslosigkeit rechnet. Wenn nämlich unter
den und den Umständen ein Ereigniss n Mal eingetroffen ist, so
ist die Wahrscheinlichkeit, dass es unter denselben Umständen das
nächste Mal wieder eintrifft — r—; gesetzt nun, wir nennen den
n-T~2
Eintritt des Ereignisses nothwendig, wenn die Wahrscheinlichkeit
desselben = 1 wird, so lässt sich hieraus die Wahrscheinlich-
keit davon entwickeln, dass der Eintritt des Ereignisses noth-
wendig, oder nicht nothwendig sei. Weiter liegt aber, wie schon
Xant nachwies, keine Bedeutung in der Causalität, als die Noth-
wendigkeit des Eintretens unter den betreffenden
Umständen, da der Begriff der Erzeugung ein willkürlich
hineingelegter, und am Ende doch nur ein unpassend gebraudi-
t^ Bild ist.
Also köxmen wir die Wahrscheinlichkeit zeigen, dass diese oder
jene Erscheinung von diesen oder jenen Umständen verursacht sei,
and weiter geht in der That unser Erkennen nicht. Gewiss wird
Niemand glauben, dass dies die Art sei, wie Kinder und Thiere
zQm Begriff der Causalität kommen, und doch giebt es keine andere
Ari^ über den Begriff der blossen Folge hinaus, zu dem der noth-
wendigen Folge od^ Wirkung zu gelangen, folglich muss auch die-
ser Frocesfl im Unbewussten vor sich gehen , und der Begriff der
Causalität als sein fertiges Resultat in's Bewusstsein treten.
Derselbe Nachweis lässt sich auch für die anderen Beziehungs-
l>egriffe führen, sie alle lassen sieh logisch discursiv entwickeln,
aber diese Entwickelungen sind alle so fein und zum Theil so compli-
cirty dass sie ganz unmöglich im Bewusstsein der Wesen vollzogen
werden können, die diese Begriffe zum ersten Male bilden; darum
treten sie als etwas Fertiges vor das Bewusstsein. Wer nun auf
die Unmöglichkeit, diese Begriffe von aussen zu erhalten, und die
Nothwendigkeit, sie selbst zu bilden, sieht, der behauptet ihre
Apriorität; wer dagegen sich darauf stützt, dass solche Bildungs-
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240
Torgäoge im Bewusstsein gar nioht Platz greifen können, sondem
diesem yielmehr die Besultate als etwas Fertiges gegeben wer-
den, der muss ihre Aposteriorität behaupten. Plato ahnte Beide«,
indem er alles Lernen Erinnerung nuinte, Schelling sprach es am
in dem Satz : „Insofern das Ich Alles aus sich produoirt, ist alles . . .
Wissen a priori; aber insofern wir uns dieses Producirens nicht
bewusst sind, insofern ist . . . Alles a posteriori, . . Es giebt also Be-
griffe a priori^ ohne dass es angeborene Begriffe gäbe/' (Vgl. obee
S. 14 — 15).
Das Vereinen yon Vorstellungen kann wiederum ein
räumliches oder zeitliches Ajieinanderfügen, wie bei bildenden oder
musikalischen Compositionen sein, dann fallt es unter die künstle-
rische Production, oder ein Zusammensetzen iron Begriffen zu einer
einheitlichen Vorstellung, wie beim Bilden von Definitionen, oder
ein Vereinen von Vorstellungen durch Beziehungsformen, wo man
also zur Folge den Grund, zur Form den Inhalt, zu dem Gleichen
das Gleiche, zur einen Alternative die andere, zum Besonderen das
Allgemeine sucht oder umgekehrt. In allen Fällen hat man die
eine Vorstellung und sucht eine andere, welche die gegebene Be-
ziehung erfüllt. Entweder man hat die gesuchte als schlummernde
Erinnerung in sich oder nicht. Im letzteren Falle hat man sie
erst direct oder indirect zu erfinden , im ersteren kommt es nur
darauf an, dass Einem yon den vielen Gbdächtnissvorstellungen
gerade die rechte einfällt. Beidesfalls ist eine Reaction des IJnbe-
wussten erforderlich. Die Beziehung des Allgemeineren zum Be-
sonderen hat ihren einfachsten sprachlichen Ausdruck im ürtheil«
wo das Subject das Besondere , das Prädicat das Allgemeine
repräsentirt. Zu jedem Besonderen giebt es aber sehr viele Allge-
meine, die alle in ihm enthalten sind, darum kann jedes Subject
mit Eecht viele Prädicate annehmen; welches aber gerade passt,
das hängt nur von dem Ziele des Gedankenganges ab; es kommt
also auch beim Urtheilen wieder darauf an, dass Einem gerade die
rechte Vorstellung einfallt, ebenso wenn man zum Subject da«
Prädicat, als wenn man zum Prädicat das Subject sucht, denn von
einem AJlgemeinem sind ja auch wieder viele Besondere umfasst.
Besondere Wichtigkeit für das Denken hat noch die Beziehung
von Grund und Folge. Dieselbe wird stets durch den Syllogismu«
vermittelt, welcher in seiner einfachen Form, wenn er vollzogen
wird, immer richtig vollzogen werden muss, und durch den Sati
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241
Tom Widerspruch bewiesen werden kann. Nun zeigt sidi aber sehr
bald, dasB der Syllogismus durchaus nichts IsTeues bietet, wie von
John Stuart Hill u. A. dargethan worden ist, denn der allgemeine
Obersatz enthält implioite den besonderen Fall schon in sich, der
im Schlüsse nur explicirt wird; da nun Jedermann Ton dem Ober-
aatze ab Allgemeinem nur dadurch überzeugt sein kann, dass er
von allen seinen besonderen Fällen überzeugt ist , so muss er auch
von dem Schlussatie schon überzeugt sein, oder er ist es auch nidit
Tom Obersatze; und hat der Obersatz keine gewisse , sondern nur
wahrscheinliche Geltung, so muss auch der Schlusssatz denselben
Wahrscheinlichkeitscoefficienten, wie der Obersatz tragen. Hiermit
ist dargethan^ dass der Syllogismus die Erkenntniss auf keine Weise
vennehrt, wenn einmal die Prämissen gegeben sind, was damit
völlig übereinstimmt, dass kein vernünftiger Mensch sich bei einem
Syllogismus aufhält, sondern mit dem Denken der Prämissen eo
ip90 schon den Schlusssatz mitgedacht hat, so dass der Syllogismus
als besonderes Glied des Denkens niemals in's Bewusstsein tritt.
Demnach kann der Syllogiennus für die Erkenntniss keine unmittel-
bare, sondern nur eine mittelbare Bedeutung haben. In Wahrheit
handelt es eich in allen besonderen Fällen (wo also der Unter-
satz gegeben ist) um das Auffinden des passenden Obersatzes, ist
dieser gefunden, so ist auch sofort der Schlusssatz im Bewusstsein,
ja sogar der Obersatz bleibt oft unbewusstes Glied des Processes.
Natürlich kann derselbe Untersatz zu vielen Obersätzen stehen^ wie
ein Subject zu vielen Prädicaten, aber wie für den vorliegenden
Zweck eines UrÜieils immer nur ein Prädicat diejenige Bestimmung
des Subjects giebt, welche zur Fortsetzung der Gedankeufdlge auf
das voi^esteokte Ziel hin dienen kann, so kann auch nur ein be-
stimmter Obersatz denjenigen Schlusssatz erzeugen helfen^ welcher
diese Gedankenfblge fordern kann. Es handelt sich also darum,
unter denjenigen allgemeinen, im Gedäohtniss aufbewahrten Sätzen,
mit denen der gegebene Fall sich als Untersatz verbinden lässt^
gerade den Einen in's Bewusstsein zu rufen, welcher gebraucht
wird, d. h. unsere allgemeine Behauptung bestätigt sich auch hier.
Z. B. wenn ich beweisen will, dass in einem gleichschenkeligen
Breieck die Winkel an der Grundlinie einander gleich sind, so
biaodie ich mich bloss des allgemeinen Satzes zu erinnern^ dass in
jedem Dreieck gleichen Seiten gleiche Winkel gegenüber liegen;
sobald mir dieser früher klar geworden ist und ich mich seiner
T. HArtmann, Phil. d. Unbewussten. 16
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erinnere, ist eo ipso auch die Conclnsion fertig. Ebenso wenn mich
Jemand fragt, was ich vom Wetter halte, und dabei die Bemerkung
macht, dass das Barometer stark gefallen sei, so brauche idi mich
bloss des allgemeinen Satzes zu erinnern, dass nach jedem starken
Fallen des Barometers das Wetter umschlägt, so bin ich selbstver-
ständlich mit der Conclusion fertig: „das Wetter wird morgen um-
schlagen"; hier wird sogar zweifelsohne der allgemeine Obersate
unbewusst bleiben, und die Conclusion ohne Weiteres eintreten.
Fragen wir aber, wie wir mit Ausnahme der Mathematik zu
den allgemeinen Obersätzen kommen, so zeigt die Untersuchung»
dass es auf dem Wege der Induction geschieht, indem aus einer
grösseren oder geringeren Anzahl wahrgenommener besonderer Fälle
die allgemeine B^gel mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlich-
keit abgeleitet wird. Diese Wahrscheinlichkeit steckt wirklich
implicite in dem Wissen yom Obersatze darin, und man kann sie
bei gebildeten und denkgewohnten Menschen durch Handeln und
Feilschen um die Bedingungen einer für den nächsten besonderen
Fall proponirten Wette als Zahlenausdruck herausholen; natürlich
aber hat man für gewöhnlich yon dieser Zahlengrösse des Wahr-
scheinlichkeitscoefficienten nur eine unklare Vorstellung, die mühin
auch eine grosse üngenauigkeit enthält, so dass z. B. eine einiger-
maassen hohe Wahrscheinlichkeit stets mit der Gewissheit verwech-
selt wird. Nichtsdestoweniger werden sich durch den Vorschlag
einer Wette sehr bald Grenzen nach oben und unten finden lassen,
durch welche die Grösse der Wahrscheinlichkeit immerhin bw zn
einem gewissen Grade bestimmt wird, und bei feinen Köpfen werden
diese Grenzen durch fortgesetztes Handeln um die Bedingungen
der Wette ziemlich nahe an einander gerückt werden können.
Die Frage, wie kommt man zu dem Glauben an die allgemeine
Kegel, theilt sich also in die zwei Fragen: 1) wie kommt mm
überhaupt dazu, Tom Besonderen auf das Allgemeine überzugehen,
und 2) wie kommt man zu dem Coefficienten , welcher die Wahr-
scheinlichkeit einer realen Geltung des gefundenen allgemeinen
Ausdruckes vorstellt. — Ersteres erklärt sich nur durch das prac-
tische Bedürfniss allgemeiner Begeln, ohne welche der Mensch
im Leben ganz rathlos wäre, da er nicht wüsste, ob die Erde
seinen nächsten Schritt aushält, oder der Baumstamm das nächste
Mal wieder auf dem Wasser mit ihm schwimmt; es ist also audi
dies ein glücklicher Einfall, der durch die Dringlichkeit des Be-
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diirfnisses heryorgenifen worden, denn in den besonderen Fällen
selbst liegt nicht das Mindeste, was zu ihrer Zusammenfassung in
eine allgemeine Begel hintriebe. Das Zweite aber wird durch die
inductive Logik erklärt, insofern dadurch die Induction als logische
Dednction eines Wahrscheinlichkeitscoef&cienten begriffen wird.
Hiermit ist zwar der objectiye Zusammenhang erklärt > aber der
Bubjeotiye Vorgang des Bewusstseins kennt diese künstlichen Me-
thoden nicht; der natürliche Verstand induoirt instinctiv, und findet
das Besnltat als etwas Fertiges im Bewusstsein, ohne iiber das Wie
nähere Bechenschaft geben zu können. Daher bleibt nichts übrig,
als die Annahme, dass das unbewusste Logische im Menschen dem
bewusst Logischen diesen Prooess abnimmt, der für das Bestehen
des Mensehen erforderlich ist, und doch die Kräfte des unwissen-
Bchaftlichen Bewusstseins übersteigt. Denn wenn ich bei den und
den Anzeichen am Himmel so und so oft habe Bogen oder Gewitter
eintreten sehen, so bilde ich die allgemeine Begel mit einer von
der Anzahl der Beobachtungen abhängigen Wahrscheinlichkeitsgrösse
der realen Gültigkeit, ohne dass ich Etwas von den Liductions-
methoden der TJebereinstimmung, des Unterschiedes, der Bückstände
oder der sich begleitenden Veränderungen weiss, und dennoch stimmt
mein Besnltat mit dem wissenschaftlichen überein, soweit die Un-
klarheit meines Wahrscheinlichkeitscoe^cienten eine Uebereinstim-
mung bestätigen kann, und wenn man die etwa einwirkenden posi-
tiven Quellen des Irrthums, wie Interesse u. s. w., dabei in Be-
tracht zieht
Bisher haben wir immer nur ziemlich einfache Frocesse des
Benkens, gleichsam seine Elemente betrachtet; es bleiben uns nun
aber die Fälle zu berücksichtigen, wo mitten in einer bewussten
Gedankenkette mehrere logisch nothwendige Glieder vom Bewusst-
sein übersprungen werden, und doch fast immer das richtige Be-
snltat eintritt. Hier wird sich uns das Unbewusste wieder einmal
recht deutlich als Intuition, intellectuelle Anschauung, unmittel-
Wes Wissen^ immanente Logik offenbaren.
Betrachten wir zuerst in diesem Sinne die Mathematik, so zeigt
sich, dass in derselben zwei Methoden sich durchdringen, die de-
dactive oder discursive und die intuitive. Erstere führt ihre Be-
weise durch stufenweise Schlus^folgerungen nach dem Satze vom
Widerspruch au0 zugegebenen Prämissen, entspricht also überhaupt
dem bewusst Logischen und dessen discursiver Natur; sie wird in
16*
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2U_
der Eegel für die einzige und aussohliesBliche Methode der Mathe-
matik gehalten, weil sie allein mit dem Ansprach auf Methode und
Beweisführung hervortritt. Die andere Methode muss sich jedes
Aßspruches auf Beweisführung begeben, ist aber nichtsdestoweniger
Begründungsform, also Methode, weil sie an das natürliche Gefühl,
au den gesunden Menschenyerstand appellirt, und durch intelleotuelle
Anschauung in einem Blicke dasselbe, ja sogar mehr lehrt, als die
d^ducdve Methode nach einem langweiligen Beweise. Sie tritt mit
ihrem Resultat als etwas logisch Zwingendem Tor's Bewusstsein,
und zwar ohne Schwanken und TJeberlegung , sondern momentan,
hat also den Character des unbewusst Logischen. Z. B. wird kein
Mensch, der ein gleichseitiges Dreieck ansieht, wenn er erst ver-
stau den hat, um was es sich handelt, einen Augenblick zweifeln,
ob die Winkel gleich sind; die deductive Methode kann es ihm
tiilcrdings aus noch einfacheren Prämissen beweisen, aber die Oe-
wiesheit seiner intuitiven Erkenntniss wird damit sicherlich keinen
Zu\\-aohs bekommen, im Gegentheil, wenn man es ihm z. B. ohne
Aü Behauung der Figur durch Rechnung vollkommen bündig beweist,
80 wird er weniger haben, als durch einfache Anschauung, er weiss
dann nämlich bloss, dass es so sein muss, und nicht anders sein
kann, aber hier sieht er, dass es wirklich so ist, und doch noch,
daH!^ es nothwendig so ist, er sieht gleichsam als lebendigen Orga-
nismus von Innen, was ihm durch die Deduction bloss als Wir-
kung eines todten Mechanismus erscheint^ er sieht so zu sagen das
,,Wie*' der Sache, nicht bloss das „Dass", kurz er fühlt sich
Tiel mehr befriedigt.
Es ist Schopenhauer's Verdienst, den Werth dieser intuitiven
Methode gebührend betont zu haben, wenn er auch die deductive
M e t hode darüber ungebührlich zurücksetzt. Alle Grundsätze der
Mathematik stützen sich auf diese Form der Begründung, obwohl
sie »ich ebenso gut wie complicirtere Sätze aus dem Satze vom
Widerspruch deduoiren lassen; nur wirkt der Einfachheit des
Gegenstandes wegen die Anschauung hier so schlagend für die
Ueberzeugung, dass man den fast als Narren betrachtet, der solche
Grundsätze deduciren will; daher kommt es, dass noch Niemand
deij nöthigen Scharfsinn aufgeboten hat, um alle Grundsätze der
Mathematik wirklich auf den Satz vom Widerspruche in Anwendung
aui' gegebene Raum- und Zahlenelemente zurückzufuhren, und da^
her die bei vielen Philosophen (z. B. bei Kant) festgesetzte Meinung,
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245
dass diese Zurückführung nicht möglich sei. Aber so gewiss diese
Ornndsätze logisch sind, so gewiss ist ihre Dedaction vom alleinigen
Grundgesetz der Logik, dem Satze vom Widerspruche, möglich. —
Schon die Grundsätze der Mathematik sind für helle Köpfe sehr
umiütz, für solche könnte man die Mathematik mit Ghrundsätzen
viel complicirterer Natur anfangen ; aber unsere Mathematik ist für
Schulen bearbeitet, wo auch die Dümmsten sie begreifen sollen, und
diese haben Noth, die Ghrundsätze als logisch nothwendig zu be-
greifen. Die discursive oder deductive Methode schlägt bei Jedem
an, weil sie eben nur Schritt für Schritt geht, aber die Intuition
ist Sache des Talents, für den £inen versteht sich von selbst^ was
der Andere erst auf langen Umwegen einsieht. Kommt man ein
wenig weiter, so kann man allerdings durch Umformung der geo-
metrischen Figuren, Umklappen, Aufeinanderlegen und andere
Oonstructionshülfen die Anschauung tmterstützen, aber bald kommt
man doch an einen Punct, wo auch der helle Kopf nicht weiter
kann und zur deductiven Methode seine Zuflucht nehmen muss.
Z B. am gleichschenkelig-
rechtwinkeligen Dreiecke
ist darch Umklappen des
Hypothenusenquadrats der
pythagoräische Lehrsatz
noch anschaulich zu ma-
chen, aber beim ungleich-
schenkeligen ist er nur
deductiv zu begreifen.' —
Hieraus geht hervor, dass
imsere beföhigtsten Mathe-
matiker die Fähigkeit der
Intuition viel zu schnell
im Stiche lässt, um irgend
wie damit vorwärts zu
kommen, dass es aber eben
nnr von dem Grade der Befähigung abhängt, wie weit dies gehen
könne, und dass der Möglichkeit nichts im Wege steht, sich
einen höheren Geist zu denken, der so vollkommen Herr der
intuitiven Methode ist, dass er die deductive völlig entbehren
kann. Die Schwierigkeit der Intuition zeigt sich namentlich sehr
bald bei der Algebra und Ajialysis; nur monströse Talente, wie
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246 "
Dahse, bringen es hier zu einer Anschauung, welche grosse Zahlen
einheitlich aufzufassen und zu behandeln im Stande ist. Häufiger
findet man bei Mathematikern die Fähigkeit, in einer geordneten
Schlusskette intuitive Sprünge zu machen und eine Menge Glieder
geradezu auszulassen, so dass aus den Prämissen des ersten Schlos-
ses gleich der SchluBssatz des Dritt- oder Fünffcfolgenden ins Be-
wusstsein springt. Alles dies ^sst sphliessen, dass die discursiye
oder deductive Methode nur der lahme Stelzengang des bewosst
Logischen ist, während die logische Intuition der Pegasusflug des
XJnbewussten ist, der in einem Moment von der Erde zum Himmel
steigt; die ganze Mathematik erscheint aus diesem Qesichtspuncte
wie ein Werkzeug und Rüstzeug unseres armseligen Geistes, der
mühsam Stein auf Stein thürmen muss, und doch nie mit der Hand
an den Himmel fassen kann, wenn er auch über die Wolken hinaus-
baut. Ein mit dem XJnbewussten in näherer Verbindung stehender
Geist als wir würde von jeder gestellten Aufgabe die Löstuig intuitif
und doch mit log:ischer Nothwendigkeit momentan erfassen, wie wir
bei den einfachsten geometrischen Aufgaben, und ebenso ist es
hiemach kein Wunder, dass die verkörperten Rechnungen des Un-
bewussten, ohne demselben Mühe gemacht zu haben, so mathema-
tisch genau stimmen, wie z. B. in der Bienenzelle der Winkel, in
dem die Flächen zu einander geneigt sind, so genau es sich nach-
messen lässt (auf halbe Winkelminuten), mit dem Winkel stimmt,
welcher bei der Gestalt der Zelle das Minimum von Oberfläche,
also von Wachs, fiir den gegebenen Rauminhalt bedingt.
Bei alledem können wir nicht zweifeln, dass bei der Intuition
im Unbewussten dieselben logischen Glieder vorhanden sind, — nur
in einem Zeitpunct zusammengedrängt, was in der bewussten Logik
nach einander folgt; dass nur das letzte Glied in's Bewusstsein
fällt, liegt daran, weil nur dieses Interesse hat, dass aber alle an-
deren im Unbewussten vorhanden sind, kann man erkennen, wenn
man die Intuition absichtlich in der Weise wiederholt, dass erst
das vorletzte, dann das vorvorletzte Glied u. s. w. in's Bewusstsein
fällt. Das Yerhältniss zwischen beiden Arten ist also so zu denken:
das Intuitive durchspringt den zu durchlaufenden Raum mit einem
Satze, das Discursive macht mehrere Schritte; der durohmessene
Raum ist in beiden Fällen ganz derselbe, aber die dazu gebrauchte
Zeit ist verschieden. Jedes zu-Boden-Setzen des Fasses bildet näm-
lich einen Ruhepunct, eine Station, welche in Himschwingungen
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247
besteht, die eine bewuaste Vorstellung erzeugen und hierzu Zeit
brauchen (^/4 — 2 Secunden). Das Springen resp. Schreiten selbst
ist dagegen in beiden Fällen etwas Momentanes, Zeitloses, weil er-
fahrungsmässig in's Unbewusste Fallendes ; der eigentliche Prooess
ist also immer unbewusst, der Unterschied ist nur, ob er zwischen
den bewussten Haltestationen grössere oder kleinere Strecken durch-
läuft. Bei kleinen Schritten fühlt sich auch der schwerfällige \md
ungeschickte Denker sicher, dass er nicht fehltritt; bei grösseren
Sprüngen aber wächst die Gefahr des Strauohelns und nur der ge-
wandte und leicht bewegliche Kopf wendet sie mit Vortheil an.
Der schwerfiQlige Kopf hat bei seiner grösseren Disoursiyität des
Denkens einen doppelten Zeitverlust; erstens ist der Aufenthalt
auf der einzelnen Station bei ihm grösser, weil die einzelne Vor-
stellung längere Zeit braucht, um mit derselben Klarheit bewusst
.zu werden, und zweitens muss er mehr Stationen machen. — Dass
aber wirklich der eigentliche Process in jedem, auch dem kleinsten
Schritte des Denkens intuitiv und unbewusst ist, darüber kann wohl
naeh dem bisher Gesagten kein Zweifel mehr obwalten.
Aber auch ausser der Mathematik können wir das Ineinander-
wirken der discursiven und intuitiven Methode verfolgen. Der ge-
übte Schachspieler überlegt wohl den Erfolg dieses und jenes
Zuges nach drei oder vier Zügen, aber hundert Tausend andere
mögliche Züge zu überlegen, faUt ihm gar nicht ein, von denen
der schlechte Schachspieler vielleicht noch fünf oder sechs über-
legt, ohne auf die beiden zu verfallen, welche allein die Aufmerk-
samkeit des guten Spielers in Anspruch nehmen. Woher kommt
68 nun, dass letzterer diese fünf bis sechs Züge gar nicht beachtet,
die sich wahrscheinlich doch auch erst nach Verlauf von zwei bis
drei anderen Zügen als minder gut herausstellen? Er sieht das
Schachbrett an, und ohne XJeberlegung sieht er unmittelbar die
beiden einzig guten Züge. Es ist dies das Werk eines Momentes,
aach wenn er als Zuschauer an eine fremde Partie herantritt.
So sieht der geniale Feldherr den Punot für die Demonstration
oder den entscheidenden AngrifiE*, auch ohne XJeberlegung. XJebung
ist ein Wort, welches hier gar nicht die Frage berührt, üebung
kann die XJeberlegung erleichtem, aber nie die fehlende ersetzen,
ftosser bei mechanischen Arbeiten, wo ein anderes Nervencentrum
für das Gehirn vicarirend eintritt. Aber hier, wo davon nicht die
^e sein kann, fragt es sich: was vollzieht die zweckmässige
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248
Wahl momentan ; wenn die bewusste Ueberlegung es nicht ist?
Offenbar das Unbewusste. —
Betrachten wir die Sprünge eines jungen Affen. Cuvier eizählt von
einem jungen Bhunder (Mticaeua Rkemis) (s. Brehm's illustr. Thierleben
I. 64): y^twa nach yierzehn Tagen begann dieses sieh von seiner
Mutter loszumachen und zeigte gleich in seinen ersten Schritten eine
Gewandtheit, eine Stärke, welche Alle in Erstaunen setzen musste, weil
beidem doch weder Uebung, noch Erfiahrung zu Ghrnnde liegen koimte«
Der junge Bhunder klammerte sich gleich Anfangs an die senkrechten
Eisenstangen seines Käfigs und kletterte an ihnen nach Laune auf
und nieder, madite wohl auch einige Schritte auf dem Stroh, sprang
freiwillig yon der Höhe seines Käfigs auf seine vier Hände herab,
und dann wieder gegen die Gitter, an welche er sidii mit einer
Behendigkeit und Sicherheit anklammerte, die dem erfahrensten
Affen Ehre gemacht hätte/^ Wie kommt dieser zum ersten Male
aus dem Eell seiner Mutter, unter deren Brust er bisher gehangen,
sich losmachende Affe dazu, die Elraft und Bichtung seiner Sprünge
richtig zu bemessen. Wie berechnet der zwölf Fuss weit nach
seinem Baube springende Löwe die Wurfcurye mit Anfangswinkel
und Anfangsgeschwindigkeit) wie der Hund die Curve des Bissens,
den er so geschickt auf jede Entfernung und in jedem Winkel
fangt? Die Uebung erleichtert nur die Wirkung des TJnbewussten
auf die Nervencentra, und wo diese schon ohne Uebung g^%end
dazu vorbereitet sind, sehen wir auch diese Uebung nicht erförder-
lich, wie bei jenem Affen; aber das, was die fehlende mathemar
tische Beirechnung ersetzt, kann, wie bei dem Zellenbau der Biene,,
nur die mathematische Loituition sein^ verbunden mit dem Instinet
der Ausführung der Bewegung.
Was das Ueberspringen von Schlüssen beim gewöhnlichen
Denken betrifft, so ist dasselbe eine ganz bekannte Erfahrung; das
Benken würde ohne diese Beschleunigung so schneckenlangsam sein,
dass man, wie es denklangsamen Menschen jetzt noch häufig gelüt
bei vielen practischen Ueberlegungen mit dem Besultat zu spät
kommen würde, und die ganze Arbeit des Denkens ihrer Beschwer-
lichkeit wegen so hassen würde, wie sie jetzt bloss von besonders
Denkfaulen gefasst und gemieden wird. — Der einfachste Fall des
Ueberspringens ist der, wo man aus dem Untersatze sofort den
Sehlusssatz erhält, ohne sich des Obersatzes bewusst zu werden.
Aber auch ein oder mehrere wirkliche Schlüsse werden bisweilen
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249
fortgelassen, wie wir es in der Mathematik schon gesehen haben.
Dies geschieht gewöhnlich nnr beim eigenen Denken, bei der Mit-
theilong nimmt man Bücksicht auf das Yerständniss des Anderen
and holt die hauptsächlichen der vorher unbewusst gebliebenen
ZwisdiengUedeir nach ; Frauen und ungebildete Menschen versäumen
dies häufig, «nd dann entsteht das Springende in ihrem Gedanken-
gange, das für den Sprechenden zwar Begründungskraft hat, wo
der Hi^er aber gar nicht weiss, wie er von Einem zum Anderen
kommen soll. Jeder, der gewohnt ist, Selbstbeobachtungen anzu-
stellen, wird sich über einem stark springenden Gedankengange
imd SchlUBsfolge ertappen können, wenn er sich nach einer solchen
Ueberlegung dieselbe recapitulirt, welche einen ihm neuen und sehr
ifiteressanten G^enstand mit Eifer und glücklichem Erfolge verfolgte.
Interessant ist eine dies Gebiet nahe berührende Bemerkung
des Psychiatrikers Jessen (Psychologie S. 235 — 236), welche ich
mir hierher zu setzen erlaube: „Wenn wir mit der ganzen Kraft
des Geistes über etwas nachdenken , so können wir dabei in einen
Zustand von Bewusstlosigkeit versinken, in welchem wir nicht nur
die AuBsenwelt vergessen, sondern auch von uns selber und
den in uns sich bewegenden Gedanken gar nichts
wissen. Nach kürzerer oder längerer Zeit erwachen wir dann
plötzlich, wie aus einem Traume, und in demselben Augen-
blick tritt gewöhnlich das Resultat unseres Nachden-
kens klar und deutlich im Bewusstsein hervor, ohne
dass wir wissen, wie wir dazu gekommen sind. —
Auch bei einem weniger angestrengten Nachdenken kommen
Momente vor, in welchen sich mit dem Bewusstsein der eigenen
Geistesanstrengnng eine völlige Gedankenleere verbindet, worauf
alsdann in dem nächsten Augenblicke ein lebhafteres Zuströmen
von Gedanken nachfolgt Es gehört freilich einige Uebung dazu,
um ein ernsthaftes Nachdenken mit gleichzeitiger Selbstbeobachtung
zu Tereinigen, indem das Bestreben, die Gedanken bei ihrem Ent-
Btehen und in ihrer Aufeinanderfolge zu beobachten, sehr leicht
Btdnmgen des Denkens und Stockungen in der Gtedankenentwicke-
lung hervorbringt; fortgesetzte Versuche setzen uns aber in den
^taod, deutüoh wahrzunehmen, dass eigentlich bei jedem angestreng-
te Nachdenken gleichsam ein stetiges innerliches Pulsiren oder
ebe wechselnde Ebbe und Fluth der Gedanken stattfindet: ein
Moment, in welchem alle Gedanken aus dem Bewusstsein verschwin-
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260
den, und nur das Bewnsstsein einer innerlichen geistigen Spannimg
bleibt, und ein Moment, in welchem die Gedanken in grösserer
Fülle zuströmen und deutlich im Bewusstaein hervortreten. Je
tiofet die £bbe war, desto stärker pflegt die nachfolgende Fluth zu
geiü; je stärker die vorhergehende innere Spannung, desto stärker
und lebhafter die Fülle der hervortretenden Gedanken." — Die
rein empirischen Bemerkungen dieses feinen ßeelenbeobachters sind
eine um so unverfänglichere Bestätigung unserer Anschauungsweise,
uk derselbe unseren Begriff des unbewussten Denkens gar nicht
kennt I und trotzdem durch die reine Gewalt der Thataachen zur
wörtlichen Anerkennung unserer Behauptungen (in den unterstriche-
nen Stellen) gezwungen wird, obwohl seine nachherigen Erklärungs-
v<&rs liehe die im Wesentlichen (dem hirnlosen Denken) ganz richtig
sind, nur deshalb den Nagel nicht auf den Kopf treffen, weil sie
nicht den Begriff des Unbewussten als Princip des hirnlosen Bcd-
kens erfassen. Daa bei diesen Vorgängen beobachtete Bewuflst-
geJiL geistiger Anstrengung ist nur das Gefühl der Spannung des
Hiruea und der Kopihaut (durch Reflex Wirkung). Die beschriebe-
IH3Ü Momente der Leere des Bewusstseins, welchen das Resultat
folgt, ohne dass man weiss, wie man dazu gekommen
ifitf fiin^ eben die Momente, wo im productiven Denken eines mit
Eifer verfolgten Gegenstandes ein TJeberspringen einer längeren
HeliluaBfolge stattfindet.
Ereilich ist der Mensch so sehr an das Finden von Resultaten
in seinem Bewusstsein gewöhnt, von denen er nicht weiss, wie er
dazu gekommen ist> dass er sich in jedem einzelnen Falle nicht im
mindesten darüber zu wundem pflegt, und darum ist es auch na-
türlich, dass ein Forscher von diesem Ausgangspuncte nicht zuerst
zum Begriffe des Unbewussten kommen konnte. Wie aber überhaupt
die Roaction des Unbewussten gerade dann am liebsten ausbleibt,
wenu man sie absichtlich hervorrufen will, so dürfte auch beim
eiMgen und absichtlichen Nachdenken über einen Gegenstand dieses
wirkungsreiche Eingreifen des Unbewussten den Meisten weniger
leicht zu constatiren sein, als bei sogenanntem geistigen Verdauen
und Verarbeiten der eingenommenen Nahrungselemente, welches
nicht auf bewussten Antrieb, sondern zu nicht zu bestimmender Zeit
stattfindet, und sich nur durch die bei Gelegenheit hervortretenden
Beaultate ankündigt, ohne dass man sich bewussterweise mit der
^üßhe beschäftigt hätte. So geht es mir z. B. regelmässig, wenn
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261
ich ein Werk gelesen habe, was wesentlich neue Gesichtspunote
meinen bisherigen Ansichten gegenüberstellt. Die Beweise solcher
genialen Ideen sind oft ziemlich schwach, und selbst wenn sie gut
und scheinbar unwiderleglich sind, lässt sich doch kein Mensch so
schnell von seinen alten Ansichten abbringen, denn er kann für
letztere eben so gute Gründe aufistellen, oder wenn er das selbst
nicht kann, so traut er sich und dem neuen Autor nicht und glaubt :
Gegenbeweise wird es schon geben, wenn ich sie auch jetzt noch
nicht weiss. Bann kommen andere Geschäfte dazwischen, die Sache
ist Einem nicht wichtig genug, um sich nach den Gegenbeweisen
umzuthun, wozu man oft Wochen, ja Monate lang in Büchern suchen
müsste; kurz, der erste Eindruck schwächt sich ab, und die ganze
Geschichte wird mit der Zeit vei^essen. Bisweilen ist es aber
auch anders. Haben die neuen Ideen auf das Interesse einen
wirklich tiefen Eindruck gemacht, so kann man sie wohl vorläufig
unangenommen als schwebende Frage zu den Gedäohtnissacten re-
poniren, kann auch durch anderweitige Beschäftigung verhindert
sein oder, noch besser, absichtlich unterlassen, wieder daran zu
denken. Trotzdem schläft die Sache nur scheinbar, und nach Tagen,
Wochen oder Monaten, wo die Lust und die Gelegenheit erwacht,
über diese Frage eine Meinung zu äussern, findet lüan zu seinem
grÖBsten Erstaunen, dass man in dieser Beziehung eine geistige
Wiedergeburt durchlebt hat; dass die alten Ansichten, die m€ui bis
za dem Augenblicke für seine wirkliche Ueberzeugung gehalten hatte,
völlig über Bord geworfen sind, und die neuen sich schon ungenirt
einquartiert haben. Diesen unbewussten geistigen Verdauungs- und
Afisimilationsprocess habe ich mehreremals an mir selbst erlebt, imd
habe von jeher einen gewissen Instinct gehabt, diesen Process bei
wirklichen Principienfragen der Welt- und Geistesemschauung nicht
vorzeitig durch bewusste TJeberlegung zu stören.
Ich bin der Ansicht, dass die Bedeutung des geschilderten
Processes auch bei unbedeutenderen Fragen, sobald sie nur das
Interesse lebhaft genug berühren, also bei allen practischen Lebens-
^cn, allemal die eigentliche und wahre Entscheidimg giebt, und
^Ms die bewussten GWinde erst hinterher gesucht werden, wenn
^e Ansicht schon fertig gebildet ist. Der gewöhnliche Verstand
*l>er, der auf diese Vorgänge nicht achtet, glaubt wirklich durch
^ö aufgesuchten Gründe in seiner Meinung bestimmt zu sein, wäh-
i^end die schärfere Selbstbeobachtung ihm sagen würde, dass diese
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262
in den hierher gehörigen Fällen erst kommen, wenn seine Ansicht
schon fixirt, sein Entschluss gefasst ist. Hiermit ist keineswegs
^eeagt, dass das Unbewusste nicht durch logische Gründe bestimmt
werde, dies ist sogar zweifellos der Fall, nur ist es für die Sicher-
heit der Entscheidung, wenigstens die erste Zeit nach derselben,
^emlich gleichgültig y ob die nachher vom Bewusstsein herausge-
suchten Ghründe mit diesen Gründen, welche das Unbewusste be-
stimint haben, übereinstimmen oder nicht. Bei scharf denkenden
Köpfen wird Ersteres, bei der grossen Mehrzahl das Letztere über-
wiof^end der Fall sein, und daher erklärt sich die Erscheinung, dass
die Menschen oft aus so schlechten Gründen so sichere Ueberzeu-
giini;^ £u schöpfen scheinen und von dieser sich durch die besten
Oegengründe so schwer abbringen lassen ; es liegt eben darin, dass
die eigentlichen unbewussten Gründe ihnen gar nicht bekannt und
dämm auch nicht zu widerlegen sind. Hierbei ist es gleichgültigi
ob ihre Ueberzeugung Wahrheit enthält oder nicht, auch von den
Irrthümem (die bekanntlich nie aus falschen Schlüssen , sondern
auis der Unzulänglichkeit und Falschheit der Prämissen entstehen)
siiad diejenigen am schwersten auszurotten, welche das Resultat
eineB unbewussten Denkprocesses sind (z. B. in der politischen
^ieiimng die, welche unbewusst in Standes- und Berufsinteressen
wurzeln). —
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J
vnL
Das Umbewisste in der Entetehnng der sinnlichen
Wahrnekmans.
Kant behauptete in seiner transcendentalen Aesthetik, dass der
Baum von der Seele nioht irgend wo anders )ier passiv empfangen,
sondern von derselben selbstthätig erzeugt würde, und brachte mit
diesem Satze einen totalen Umschwung in der Philosophie herror.
Weshalb hat nun aber von jeher dieser richtige Satz sowohl dem
gemeinen Menschenyerstande , als auch der naturwissenschaftlichen
Denkweise mit wenigen Ausnahmen so völlig widerstrebt?
1) Weil J[ant, und nach ihm Fichte und Schopenhauer, aus
dem richtigen Satze falsche und dem Instincte der gesunden Vernunft
widerstrebende, einseitig idealistische C!onsequenzen zogen;
2) weil Kant falsche Beweise för seine richtige Behauptung
gegeben hatte, die in Wahrheit gar nichts bewiesen ;
3) weil Kant, ohne sich selbst darüber Bechenschaft
la geben, von einem unbewussten Process in der Seele spricht,
während die bisherige Anschauungsweise nur bewusste Processe der
Beele kennt und für möglich hält, das Bewusstsein aber eine selbst-
thätige Erzeugung von Baum und Zeit leugnet, und mit vollem
Recht ihr Gegebensein durch die sinnliche Wahrnehmung als fait
accompli behauptet;
4) weil Kant mit dem Baume die Zeit gleichstellte, von wel-
cher dieser Satz nicht gilt
Diese vier Puncte haben wir der Beihe nach zu betrachten,
da die unbewusste Erzeugung des Baumes die (Grundlage für die
Butstehung der sinnlichen Wahrnehmung ist, mit welcher erst das
Bewusstsein beginnt und welche wieder die Grundlage alles be-
wuMten Denkens ist.
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254^
Ad 1, Nehmen wir zunächst als bewiesen an, dass
Baum und Zeit auf keine andere Weise in das Denken hinein
gelangen können, als dass dieses sie selbstthätig aus sich pro-
ducirt, so folgt daraus auf keine Weise, dass Baum und Zeit aus-
schliesslich im Denken reale Existenz haben können und nicht
auch ausserhalb des Denkens im Sein. Die Uebereiltbeit dieses
Schlusses, den Kant wirklich macht, und womit er zur Leugnimg
der transcendentalen Bealität des Baumes und zur einseitigen
Idealität seines Systemes kommt, ist schon von Schelling (BarsteUung
des Naturprocesses , Werke I. 10, 314 — 321) aufgezeigt worden ^
wir haben jetzt kurz die Gründe zu betrachten^ welche es wahr-
scheinlich machen, dass Baum und Zeit wirklich eben so gut Formen
des Seins, als des Denkens sind.
a) Wir haben uns zunächst die Gründe für die reale Existenz
eines jenseit des Ich liegenden Nichtichs oder einer Aussenwelt
klar zu machen. Zwei Hypothesen sind consequenterweise nur
möglich ; entweder spinnt das Ich sich selber unbewusst die schein-
bare Aüssenwelt aus sich heraus, dann hat nur das loh Existenz,
also muss jeder Leser die Existenz nicht nur der äusseren Dinge,
sondern aller anderen Menschen leugnen, oder es existirt ein vom
Ich unabhängiges Nichtich, und die Vorstellung der Aüssenwelt im
Ich ist das Product beider Factoren. Welche von beiden Hypo-
thesen die wahrscheinlichere ist, muss dadurch entschieden werden,
welche die Ercheinungen der Vorstellungswelt ungezwungener er-
klärt; möglichjBiQd.J^de.
a) Die Sinneseindrücke haben einen Grad der Lebhaftigkeit,
welchen blosse, durch eigene Geistesthätigkeit erzeugte Vorstellungen
nur in krankhaften Zuständen zu erreichen pflegen. Ausserdem
bringen sie (namentlich in den Kindeijahren) oft Neues, während
letztere immer nur aus bekannten Erinnerungen und Theilen solcher
zusammengesetzt sind. Dies erklärt sich leicht durch Einwirkung
einer Aüssenwelt, schwer aus dem Ich allein.
ß) Zur Entstehung eines Sinneseindruokes ist das Gefühl des
geöffiieten Sinnes erforderlich, dagegen bewirkt das Geföhl des ge-
öffneten Sinnes nicht nothwendig einen SiDneseindruck, z. B. bei
Dunkelheit, Geruchlosigkeit. Dies erklärt sich leicht aus Einwirkung
einer Aüssenwelt, schwer aus dem Ich allein.
y) Die sin^chen Vorstellungen entstehen nach dem Gesetz
der Gedankenfolge aus der jedesmal vorhergehenden unter Ein*
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255
Wirkung der Stimmung u. s. w. — Die Sinnegeindrücke treten meist
plötzlich und unerwartet ein, und stets ohne Zusammenhang mit
der inneren Gedankenkette. Diese Erscheinung ist nur dann ohne
Einwirkung einer Aussenwelt möglich, wenn das Gesetz der Ge-
dankenfolge im Geiste bald gilt, bald nicht gilt, eigentlich erklär-
bar ist sie auch bei dieser Annahme aus dem Ich allein noch
nicht
S) Den meisten Eindrücken kommt die Eigenthümlichkeit zu,
dass auf das Object, auf welche man sie bezieht, auch gleichzeitig
durch einen anderen Eindruck eines anderen Sinnes geschlossen
wird (z. B. eine Speise kann man gleichzeitig sehen, riechen^
schmecken, fiihlen). Dies erklärt sich leicht durch Einwirkung
einer Aussenwelt, schwer durch bloss innere Geistesvorgänge;
denn wollte man annehmen, dass die zusammengehörigen Sinnes-
eindrücke sich gegenseitig hervorrufen, z. B. der Gesichtseindruck
einer Speise den Gteruchseindruck derselben bei geöffnetem Geruchs-
sinn mit sich fuhrt, so wird dies dadurch widerlegt, dass man Ge-
rachs- und Gesichtssinn abwechselnd öffiien imd schliessen kann,
i and doch jedesmal den betreffenden Sinneseindruck der Speise er-
hält Wollte man hiergegen die weitere Annahme machen, dass
nicht bloss der gleichzeitige, sondern auch der vorhergegangene
[; öesichtseindruck der Speise den Geruchseindruck derselben bewir-
ken könne und umgekehrt, so steht dem wieder der Umstand ent-
gegen, dass bei dem abwechselnden Oeffhen und Schliessen beider
Sinne das eine Mal der Gesichtseindruck da sein kann, das andere
Mal nicht, wenn nämlich die Speise entfernt ist, so dass also der
j Oeruchseindruck unter sonst gleichen Umständen das eine Mal den
J (^chtseindruck hervorrufen müsste, das andere Mal nicht, was
\ dem Oesetlse „gleiche Ursachen , gleiche Wirkungen" widerspricht.
f (Näheres siehe bei Wiener, „Grundzüge der Weltordnung", Buch 3,
;, nnter ,3eweis für die Wirklichkeit der Aussenwelt").
I' i) Die Objecte der Sinneseindrücke wirken auf einander nach
^ ganz bestimmten Gesetzen; wollte man nun die Sinneseindrücke
bloB« aus dem Ich erklären, so müssten diese Gesetze auf die inneren
(^istesvorgänge übertragbar sein. Dies sind sie aber nicht; denn
Qür in den seltensten Fällen folgen die Sinneseindrücke von Ursache
^d Wirkung einander ebenso, wie Ursache und Wirkung draussen ;
häufig dagegen nimmt man zu einer Zeit die Wirkung wahr, und
L
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einer ganz anderen späteren Zeit die Ursache; es kann aber m<^
ein späterer Sinneseindruck die Ursache eines früheren sein.
K) Jedes Ich erhält nächst der Vorstellung seines eigenen
Leibes auch Vorstellungen von einer grossen Menge fremder, dem
seinigen ähnlicher Leiber ^ welchen den seinigen ähnliche CteisteB-
fahigkeiten einwohnen; es findet^ dass alle diese Wesen über Ich
und Nichtich dieselben Vorstellungen kundgeben » und dass ihre
Aussagen über die Beschaffenheit der Aussenwelt in auffallender
Weise theils mit einander übereinstimmen, theik sich gegenseitig
berichtigen und von ihren Irrthümern überföhren. Jedes Ich
sieht diese wie sich selbst geboren werden, erwachse^, sterbes,
es erhält von denselben Schutz, Hülfe und Unterweisung zur Zeit
der Kindheit, wo die eigene Kraft und Keimtniss nicht ausreicht,
und erhält zu jeder Zeit seines Lebens von anderen direct oder
indirect (durch Bücher) Belehrungen, in welchen Gedanken vor-
kommen, die es selbst zu fassen sich als unfähig bekennen muss.
Es lernt aus Ueberlieferungen die Eeihe seiner Mitmenschen rück-
wärts verfolgen, und in der Geschichte einen Plan erkennen, in dem
es sich als ein Glied betrachten muss. Dies Alles ist fast unmög-
lich aus der alleinigen Existenz des Ich, leicht aber bei Existenz
einer Aussenwelt zu erklären.
t]) Die inneren Vorstellungen können durch den bewusstea
Willen beliebig hervorgerufen, festgehalten und wiederholt werden,
die Sinneseindrücke sind bei geö&etem Sinnesorgane vom bewuss-
ten Willen völlig unabhängig. Dies ist leicht durch Einwirkung
einer Aussenwelt zu erklären, schwer aus dem Ich allein; es müsst«
eben ein unbewusster Wille sie schaffen und dem in der weiten
Welt mit sich einsamen Bewusstsein des Ich den Schein einer
Aussenwelt vorspiegeln ; ein Gaukelspiel, in dem gar kein Sinn und
Vernunft wäre und, wie die vorigen Nummern daxthun, die tollst©
Laune und Willkür mit der strengsten Gesetzmässigkeit sich auf
unbegreifliche Weise vereinen müsste und die höchste Weisheit auf
eine Seifenblase, einen wahnwitzigen Traum, verwendet wäre. —
Man sieht nach dem Angeführten, dass die Wahrscheinlichkeit
für die Existenz eines dem Ich gegenüber selbstständig existirenden
und das Ich causal beeinflussenden Nichtich so gross ist, wie nur
möglich, und dass auch hier wieder der natürliche Instinct von der
wissenschaftlichen Betrachtung gerechtfertigt wird. Dieser Notii-
wendigkeit, zur Entstehung der Sinneseindrücke eine äussere Cau-
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257 _
aaiität zu habeu, konnten sich auch lElant und Fichte nicht ent-
ziehen; denn bei Kant ist der Inhalt der Anschauung
schlechthin gegeben, und wenn er es auch nicht ausspricht,
00 muss doch die Yermuthung, wodurch dieser Inhalt gegeben
sei, auf das Ding an sich fallen. Fichte wiederum kommt nach
allen missglückten Yersuchen, das Nichtich ganz aus dem Ich
heraufizuspinnen, nicht darüber hinweg, eines äusserenAnstosses
für diese Thätigkeit des Ich zu bedürfen, und dieser Anstoss re-
präsentirt bei Fichte erst das wahre Nichtich. Wenn es nun fest-
steht, Jltssa selbst die consequentesten Idealisten nicht den Muth
gehabt haben, ihre Consequenz bis zur Lengnung eines selbststän-
digen Nichtich zu treiben, wenn das Gefühl nicht los zu werden ist,
dass die Wahrnehmung im Ganzen etwas wider den eigenen Willen
Yon Aussen Aufgezwungenes ist, das nur durch Annahme eines
Nichtich verständlich wird, so geht aus dem Angeführten mit der-
selben Gewissheit hervor, dass die Unterschiede in den sinn-
lichen Wahrnehmungen nicht vom Ich erzeugt, sondern die-
sem Yom Nichtich aufgezwungen sind. Denn die Einsicht wäre um
gar nichts gefördert, wenn das Nichtich immer ein und dasselbe
wäre und folglich immer auf ein und dieselbe Weise wirkte, indem
es bloss einen äusseren Anstoss lieferte. Denn dann bliebe es dem
leb wiederum überlassen, dem ewig gleichen Impuls des Nichtich
io sonderbarer Gaprice bald diese, bald jene räumliche oder zeitliche
Bestimmung oder Kategorie des Denkens wie einen gleichgültigen
Hantel umzuhängen, und sich so das ganze Wie und Was der
Aussenwelt selber zu erbauen, während ihm der Impuls nur das
Dass derselben garantirt. Hierbei würden sich alle angeführten
Schwierigkeiten unverändert wiederholen. 'Es muss folglich jede
einzelne Bestimmung in der Wahrnehmung als Wirkung des
Nichtich aufgefasst werden, und da verschiedene Wirkungen ver-
schiedene Ursachen voraussetzen, so erhalten wir ein System so
vieler Yerschiedenheiten im Nichtich, als Unterschiede in der Wahr-
nehmung bestehen. Nun könnten allerdings diese Verschiedenheiten
im Niehtich unräumlicher und unzeitlicher Natur sein, und Baum
^d Zeit dem Denken allein angehörige Formen ; dann müssten sich
ftl)er diese Verschiedenheiten in zwei anderen objectiven Formen
Wegen, welche den subjeetiven Formen von Baum und Zeit pa-
rallel laufen müssten, da ohne andere Seinsformen, welche im
Niehtioh Baum und Zeit ersetzten, in demselben überhaupt keine
V- Hartmuin, Phil. d. UnbewuMten. 17
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f
etit^preohenden Unterschiede statt haben könnten. Diese Annahme aa-
derer, aber correspondirender Formen im Nichtich, welche BchonEein-
hoidund später Herbart bei seinem intelligiblen Baum und Zeit vorg«-
]!}(^hwcbt zu haben scheint, würde, ganz abgesehen davon, dass sie die
Möglichkeit jeder objectiven Erkenn tniss der Dinge ausschli essen, ohne
dafür irgend einen Nutzen zu gewähren, dem allgemein beobachte-
ten Gesetze widersprechen, dass die Natur zu ihren Zwecken stets
ditj einfachsten Mittel wählt ; warum sollte sie vier Formen anwen-
den, wo sie mit zweien eben so gut und noch besser auskommt
Das Parallellaufen je zweier von diesen Formen in Sein und Den-
ken und ihre Wechselwirkung, welche factisch beim Wahrnehmen
und beim Handeln besteht, erforderte eine prästabilirte Harmonie,
die sich bei unserer Annahme in die Identität der Formen auflöst
Aach Hegel sagt (grosse Logik Einleit S. VIII): „Wenn sie (die
Formen des Verstandes) nicht Bestimmungen des Dinges an sich
seiu können, so können sie noch weniger Bestimmungen des Ver-
st lindes sein, dem wenigstens die Würde eines Dinges an sich zn-
gf^HfÄiiden werden sollte." —
b) Die Mathematik ist die Wissenschaft von den Baum- und
Zeitvorstellungen, wie unser Denken sie bildet, und nicht anders
bilden kann. Wenn wir nun einen nicht durch Denken, sondern
durch Wahrnehmung gegebenen realen Körper, dessen eine ebene
Oberfläche drei geradlinige Kanten hat, ausmessen, und finden bei
allen ähnlichen Messversuchen dasselbe Gesetz bestätigt, was uns das
reine Denken gab, dass die Winkelsumme = 2 R. ist, wenn
wir femer berücksichtigen, dass die Bestimmungen der Wahrnehmung
etwas durch das System der Verschiedenheiten im Nichtich der
Seele mit Nothwendigkeit Aufgezwungenes sind, also in Verschieden-
heilen des Nichtichs ihre Ursachen haben, so geht aus der aos-
niihmBlosen empirischen Bestätigung der mathematischen Gfesetxe
hervor, dass die Verschiedenheiten im Nichtioh Gesetzen folgen,
wulehe zwar den Formen jenes entsprechen müssen, aber so völlig
mit den Denkgesetzen des Raumes und der Zeit parallel gehen,
das» hier wiederum die Annahme einer prästabilirten Harmonie
UQTermeidlich ist, während eine mit der Identität der Formen so-
ttammenhängende Identität der Gbesetze keine solche gewaltsame
Annalime erfordert.
e) Gesichtssinn und Tastsinn erbalten ihre Eindrücke aus gans
verNchiedenen Eigenschaften der Körper, durch ganx verschiedene
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269
MedieB und gams yerschiedene physiologische Processe; trotzdem
erhalten wir aas ihnen räumliche Wahrnehmungen, welche eine
Bieglichst grosse Uebereinstimmang zeigen nnd sich gegenseitig be-
statten. Wären nnn die Objecte nicht selbst räumlich , sondern
existirten in irgend einer anderen Form des Beins, so wäre es
höchst wunderbar, dass sie auf so verschiedenen Wegen so über-
einstimmende räumliche Gestalten in der Seele erzeugen können,
daas uns z. B. die gesehene Kugel niemals als gefühlter Würfel
oder sonst Etwas erscheint, sondern als gefühlte Kugel. Bei der
Amiahme des Baumes als realer Form des Seins verschwindet dies
BttthseL
d) Nur Gesicht und Tastsinn, aber keiner von den übrigen
Sinnen, ist im Stande, die Seele zum räumlichen Wahrnehmen zu
▼eranlassen. (Denn wenn wir hören, wo ein Ton herkommt, so
giebt uns die Yergleichung der Stärke des Tones in beiden Ohren
hierzu den hauptsächlichen Anhält.) Dies hat Kant gar nicht bemerkt,
sonst hätte er nicht seine Eintheilung des äusseren (Baumsinnes)
^d inneren (Zeit-) Sinnes machen können. Für den subjectiven
Idealismus ist diese Caprice der Seele schlechterdings unbegreiflich,
welche gleichwohl mit dem Scheine der äusseren Nothwendigkeit
c^vi^ti, aber eben so unbegreiflich, wenn man dem Sein andere
coir^pondirende Formen unterlegt ; nur die physiologische Betrach-
^g der räumlichen C!onstruction der verschiedenen Sinnesorgane
^ann hier eine Erklärung an die Hand geben, aber wenn der Leib
^d die Sinne nicht räumlich existiren» so ist auch hier jede Mög*
Hchkeit des Yerständnisses abgeschnitten. —
Biese vier Gesichtspuncte zusammen lassen es höchst wahr-
^heinlich werden» dass der gemeine Menschenverstand Recht hat,
^ Baum nnd Zeit ebensowohl objective Formen des Seins, als
sabjective Formen des Denkens sind. —
Ad 2, Da wir die diesem Capitel vorangestellte Behauptung
^t's nicht' bestreiten, sondern annehmen wollen, so liegt
k«ni Grund vor, zu zeigen, weshalb die Kant'sche Begründung
keine Begründung sei, und die Frage völlig offen lasse; wohl
••her haben wir andere Gründe an deren Stelle zu setzen.
£ine kindlich unmittelbare Anschauungsweise betrachtete die
^neaeindrücke als Bilder der Objecto, die diesen völlig entsprä-
^D, wie das Spiegelbild seinem Gegenstande. Als Locke und die
^^eme Naturwissenschaft die völlige Heterogenität der Empfindung
17*
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260
und der EigenBchafb des Objectes zum wisBcnschaftlichen Gemein-
gute gemacht hatten, sollte das Retinabild, welches man an
Augen fremder Wesen erblickte, die frühere Stelle des
O b j e 0 1 6 s vertreten, und die Empfindung ihrem Inhalte nach jetzt
m identiaoh mit dem ßetinabilde als früher mit dem Objecte sein,
eine Ansicht, die noch jetzt eine gewöhnliche ist. Man vergaM
aber dabei^ dass es etwas ganz Anderes ist, ein objectives Bild in
der Grösse eines Auges auf einem fremden Auge mit
»ein OD eigenen Augen wahrzunehmen, oder selbst die nur nach
Winkelgraden bestimmbare Gesichtsempündung ohne abso-
lute Flächengrösse zu haben; man vergass, dass die Seele
nicht alä ein zweites Auge hinter der Eetina sitzt, und sich die-
äei Bild beguckt, man bemerkte nicht, dass man denselben
Fehler wlo bisher mit den Objecten, nur in versteckterer
Weist! beging; denn was einem fremden Auge auf der Eetina als
B \ Id erscheint, ist in diesem Auge selbst nichts als mole-
culure Schwingungszustände, gerade so gut wie das, was
an den Objecten dem Beschauer als Farbe, Helligkeit u. s. w. er-
ächeiulf in den Objecten nur moleculare Schwingungszustände sind.
Man liem sich also von der Freude, im Auge eine Camera obscura
entdeckt zu haben, dupiren, und liielt das frühere Problem für ge-
löst, indem man es um eine äusserliche Instanz verschob. Die
Physiologie des Auges hat seitdem begriffen, dass das Auge
nicht eine Camera ist, um der Seele Bilderchen auf dem Grunde der
Retina zu zeigen, sondern ein photographischer Apparat, der die
moleculnren Schwingungszustände der Ketina chemisch -dynanusch
HO verändert, dass Schwingungsarten, welche mit den Lichtschwin-
gimgea im Aether kaum noch eine Aehnlichkeit haben, den Seh'
nerve ö zur Fortpflanzung übergeben werden, so dass z. B. weiß»
und schwarz, welche objectiv die zusammengesetztesten Schwingun-
gen haben, in den physiologischen Nervenschwingungen die relativ
elnfaeheti Zustände sind, die objectiv einfachen Farbenschwingungeo
dagegen im Nerven complicirtere Modificationen der einfeusheren
Sohwingungszustände erzeugen.
Fei'uer hat das Licht eine Geschwindigkeit von etwa vierag
tauBend Meilen in der Secunde, der Process im Sehnerven nur eine
von etwa achtzig Fuss. So viel steht fest, dass die qualitative und
quantitative Umwandlung der Lichtschwingungen beim Eingehai
in die Retina von der grössten Bedeutung ist, und der Ansicht,
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261_
welche dem tod anderen Angen zufällig zu beobachtenden Bilde auf
der Betina eine Bedeutung beimisst, den letzten Todesstoss giebt,
wenn nicht die Idee an sich schon zu absurd wäre, dass der Seh-
nerv wie ein zweites Auge dieses Bild besieht, und dann? Doch
yermuthlich ein drittes Auge das Bild des Sehnerven, und so fort
ins Unendliche!
Femer erkennt die Physiologie jetzt an, dass frühestens
in dem Centraltheil, in den der Sehnerv mündet, in den Yierhügeln,
die Emp^ndung des Sehens zu Stande kommen kann, aber nicht im
Laufe des Sehnerven selbst. Beim Eintritt des Nerven in den
Centraltheil aber müssen wir eine abermalige Umwandlung der
Schwingungsweisen annehmen, schon wegen des veränderten Baues
der Nervenmasse, und weil die Bedeutung der Centraltheile für die
Wahrnehmung aufhörte, wenn die Sohwingungsform unverändert
bliebe, weil dann die Seele schon auf die Schwingungen des Seh-
nerven mit der Empfindung reagiren müsste. Letzten Endes wissen
wir über das Zustandekommen der Empfindung nur so viel, dass
die Seele auf eine bestimmte Schwingungsform mit einer bestimm-
ten Empfindung reagirt, oder nach materialistischer Ausdrucksweise,
dasB, was von Aussen gesehen eine gewisse Schwingungsform ist,
für einen gewissen inneren Standpunct als Empfindung erscheint.
Wir kennen aber noch ein zweites Gesetz, wenigstens mit
lM>ber Wahrscheinlichkeit ; dieses lautet :identi8cheSchwingun-
gei^ verschiedener Centralmolecüle bringen ununter-
scheidbare Empfindungen hervor, so dass mehrere gleich-
zeitig schwingende Molecüle von identischer Schwingungsform eine
Empfindung hervorbringen, welche jeder durch ein Einzelnes dieser
Holeeöle erregten Empfindung qualitativ gleich ist, quanti-
tativ aber den Stärkegrad der Summe aller einzelnen Empfin-
dungen besitzt. Wenn man mit Einem Nasenloch riecht, so hat
aan dieselbe Empfindung, nur schwächer, als wenn man mit beiden
riecht, und wenn nicht di^ Tastnerven der Nase den durchziehen-
den Luftstrom fühlten, würde der Riechnerv allein den Geruch des
linken und rechten Nasenloches im normalen Zustande nicht als
verschieden wahrnehmen. Dasselbe gilt für den Geschmack , wenn
«r einen kleineren oder grösseren Theil der Zunge und des Gau-
incns afficirt; nur die gleichzeitigen Tastgefühle der Berührung, des
Zitoanimenziehens der Haut u. s. w. unterscheiden die Berührungs-
«t^e, der Geschmack selbst wird nur stärker oder schwächer. Ob
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"v r-'k^^'^'-'-'ir*.'
262
ein Ton das linke oder rechte Ohr trifft, wird nur durch die
gleichzeitig im Ohre theils direct, theils ref.ectorisoh erregten 8pan-
nungsgefiihle erkannt ; es ist auch hier gar nicht der Hörnerv, soo-
dem Tastnerven vorzugsweise in dem reich durchsetzten Trommel-
felle, welche das Localisationsgefuhl bedingen, wie deutlich daraw
hervorgeht, dass man nach Ed. Weber's Versuchen dieses Localge-
fühl beim Untertauchen unter Wasser nur behält, so lange die Ge-
hörgänge mit Luft gefüllt bleiben, aber verliert, wenn durch An-
fdllung der Gehörgänge mit Wasser die Trommelfelle ausser Wirk-
samkeit gesetzt sind. Beim Sehen hat man von demselben Licht-
punote zwar verschiedene Eindrücke, wenn sein Bild verschieden
gelegene Stellen eines oder beider Augen trifft, aber nicht zu unter-
scheiden sind die Eindrücke, wenn sie auf correspondirende Stellen
beider Augen fallen. Man weiss bei einem geschickt hergerichte-
ten Arrangement des Versuches schlechterdings nicht, ob man ein
Licht mit dem rechten, oder mit dem linken, oder mit beiden Augen
zugleich sieht, wenn man sich nicht durch anderweitige HülfsmiUel
darüber orientiren kann« Die Gesichtseindrücke correspondirender
Stellen beider Augen combiniren sich zu einem einfachen ver-
stärkten Eindrucke.
Nach Lotze's Ansicht vnirden wir geradezu nicht zu unter-
scheiden im Stande sein, ob ein Schmerz, Gefühl, Berührung u. s. w.
unsere rechte oder linke Körperhälfte trifft, wenn nicht durch die
bis in's Kleinste gehenden Asymmetrien beider Körperhälften mit der
nämlichen Empfindung in der rechten Körperhälfte andere beglei-
tende Empfindungen der Spannung, Dehnung, des Druckes u. s. w. vor-
handen wären, als in der linken, so dass wir durch diese qualita-
tive Incongruenz der Empfindungen mit Hülfe der Uebung in Stand
gesetzt werden , rechts und links an unserem eigenen Leibe su
unterscheideiL Auch bei Gehör, Geschmack und Geruch sind, wie
erwähnt, solche begleitende Umstände vorhanden, welche eine ge-
wisse Unterscheidung congruenter Empfindungen, je nach dem Orte
der Einwirkung möglich machen, doch ist es wichtig, dass hier die
Nervenstämme, welche die eigentliche Sinnesempfindung, und die?
welche die begleitenden Differenzen vermitteln, verschieden sindt
woraus sich die Folgerung ergiebt, dass, wenn man durch Ze^
schneiden der letzteren oder anderweitige geschickte Eliminatioa
der begleitenden Differenzen aus dem Versuche die reinen Sinnea-
wahmehmungen ausscheidet, diese nicht mehr im Stande «ind*
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263
üntersehiede des Ortes tarn Bewusstsein zu bringen, also überhaupt
unfähig, räumliche Anschauungen zu erzeugen. Anders
ist dies beim Tast- und Gesichtssinne. Jede gleiche Tastempfindung
an Terschiedenen Hautstellen ist mit ganz verschiedenen begleiten-
den Unterschieden yerbundeui welche in der beim Drucke auf die
Haut je nach der Weichheit oder Härte, je nach der Gestalt des
Gliedes, der Beschaffenheit der darunter liegenden Theile, der Dich-
tigkeit der empfindenden Tastwärzchen u. s. w. ganz yerschieden
ausfallenden Yerschiebung, Spannung, Dehnung und Mitbetheiligung
neben- und unterliegender empfindender Theile begründet sind, und
welche fast alle durch dieselben Nervenstämme dem Gehirne zugeleitet
werden. Ebenso erhalt eine gleiche Farben- oder Helligkeitsem-
pfiodung ganz verschiedeno begleitende Unterschiede, je nach dem
Pancte der Netzhaut, von dem sie ausgebt, welche b^ründet sind :
1) in der vom Centrum nach der Peripherie abnehmenden Deutlich-
keit der Perception gleicher Eindrücke, 2) in den in den benach-
barten Fasern inducirten Strömen, welche wieder, je nach der Lage
der letzteren, zum Puncte des deutlichsten Sehens yerschieden aus-
^Edlen, 3) in dem refiectorischen Bewegungsimpulse der Augapfel-
drehong^ welcher bei jeder Affection einer Netzhautstelle in dem
Sinne eintritt, dass der Punct des deutlichsten Sehens die Stelle
des af&cirten Netzhautpunctes zu ersetzen strebt.
Diese drei Momente in Verbindung geben der gleichen Empfin-
dong jeder Netzhautfaser ein yerschiedenes Gepräge, welchem Lotze,
der £ifinder dieser Theorie, den Namen Localzeichen giebt. Auch
diese Unterschiede werden theils durch den Sehnerv dem Gehirne
angeleitet, theils im Gehirne selbst durch den Widerstand empfun-
den, welchen der Wille dem refiectorischen Bestreben der Drehung
des Auges entgegensetzen muss, um diese zu verhindern. Es ist
jetzt im Gegensatze zu den Geruchs-, Geschmacks- und Gehörs-
empfindungen verständlich, wie gerade die Gesichts- undTast-
empfindungen die Seele zur räumlichen Anschauung an-
regen können, weil bei diesen der von jeder einzelnen Nerven-
primitiy&ser zugeleitete Beiz seine qualitative Bestimmtheit
durch ein wohlorganisirtes System begleitender
unterschiede hat, so dass die von gleichen äusseren Beizen in
▼enchiedenen Nervenfasern erregten Schwingungszustände in soweit
▼erschieden ausfallen, dass sie in der Seele nicht in eine ein-
zige verstärkte Empfindung zusammenüallen können, aber doch
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264
noch so ähnlich sind, dass das qualitativ gleiche Stück in den durch
sie heryorgerafenen Empfindungen von der Seele mit Leichtigkeit
erkannt werden kann. Hiernach können wir auch durch die schein-
baren Ausnahmen das allgemeine Gesetz nur bestätigt finden, dass
identische Schwingungen verschiedener Himtheile zu Einer nur dem
Grade nach verstärkten Empfindung zusammenfli essen ; ein GesetjE,
welches sowohl i^riorisch höchst plausibel erscheint, als auch em-
pirisch nicht nur keine Thatsache gegen sich hat, sondern ohne
welches die erwähnten Erscheinimgen der niederen Sinne geradem
unerklärlich wären. Im Sinne dieses Gesetzes ist das sohwingoide
Molecüle der Seele völlig gleichgültig, nur seine Schwingungsart hat
einen Einfluss auf die Seele, und wenn wir gewisse Theile des
Leibes (die Nerven), gewisse Theile des Nervensystems (die graue
Substanz), gewisse Theile des Gehirnes besonders zu höheren Ein-
wirkungen bestimmter Art beftihigt sehen, so können wir dies nur
dem Umstände zuschreiben, dass diese Theile sich wegen ihrer
molecülaren Bescha£fenheit gerade ausschliesslich oder vorzugsweise
zur Hervorbringung der Art von Schwingungen eignen, welche
allein oder vorzugsweise dieser Einwirkungen auf die Seele fähig sind.
Betrachten wir nun dies Gesetz als feststehend und Lotze's
Theorie der Localzeichen (abgesehen davon, ob die von ihm haupt-
sächlich benutzten gerade die richtigen sind) für gesichert, so sind
wir immer erst zu dem Resultate gelangt, dass die Seele beim Sehen
oder Tasten von jeder Nervenprimitivfaser eine besondere Empfin-
dung erhält, welche durch ihr individuelles Gepräge verhindert wird,
mit anderen zusammenzufi-iessen , aber doch den anderen so ähn-
lich ist, dass es der Seele ein Leichtes ist, die in allen enthaltene
gleiche Grundlage als solche zu erkennen. Auf keine Weise aber
kommen wir von dieser Summe gleichzeitiger qualitativ
ähnlicher und doch verschiedener Empfindungen m
einer räumlichen Ausbreitung derselben, wie sie im Sehfelde
und im Tastfelde der Haut vorliegt, wir bleiben immer bei qualita-
tiven und intensiv quantitativen oder graduellen Unter-
schieden der einzelnen Empfindungen stehen und können auf keine
Weise die Möglichkeit absehen, wie das extensiv Quantitative oder
räumlich Ausgedehnte aus den Schwingungen der Gehimmoleonle
in die Empfindung hineingetragen werden soll, da nicht die Lage
des einzelnen Molecüls im Gehirn, sondern nur die Dauer, Gestalt
u. s. w. seiner Schwingungen auf die Empfindung von Einfiuas ißt,
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265^
und diese Momente niohts extensiv Quantitatives enthalten, was mit
dem extensiv Quantitativen des Betinabildes noch irgend in Bezie-
himg stände. Dagegen ist vermöge des Systemes der Localzeichen
die extensive Nähe und Entfernung der Puncte des Betinabildes
von einander, resp. ihre BerühruDg, in grössere oder kleinere
qualitative Unterschiede der entsprechenden Empfin-
dungen, resp. Minimaldifferenz derselben, umgewandelt, und
ist somit der Seele ein Material geliefert, welches, wenn sie ein-
mal selbstthätig dieses System qualitativer Unterschiede in ein
System räumlicher Lagenverhältnisse zurückverwandelt, nun-
mehr die Seele mit Nothwendigkeit zwingt, jeder Empfindung
im räumlichen Bilde einen solchen Platz anzuweisen , welcher ihrer
qualitativen Bestimmtheit entspricht, so dass der Seele in Betreff
der räumlichen Bestimmungen einer durch eine Summe qualitativ
verschiedener Empfindungselem^nte gegebenen Gestalt keine
Willkür bleibt, sondern sie dieselbe nothwendig in den Ver-
hältnissen reconstruiren muss , wie sich das Betinabild einem
fremden Auge darstellt, wie es der Erfahrung entspricht. — Bei
alledem bleibt die Beconstruction der Bäumlichkeit der Seele über-
lassen; wir haben wohl begreifen können, wie es kommt, dass nur
Gesichts- und Tastsinn, aber nicht die übrigen Sinne Bauman-
schaoung in der Seele hervorrufen, wir haben auch den Causalzu-
sammenhang begriffen, warum die Seele gerade diejenigen räum-
lichen Verhältnisse zu reconstruiren gezwungen ist, welche den
objectiven Baumverhältnissen auf der Betina, resp. Tastnervenhaut,
^^rechen, aber warum die Seele überhaupt die S^mme qua-
litativ verschiedener Empfindungen in ein extensiv räumliches Bild
verwandelt, dazu können wir in dem physiologischen Processe
nicht nur keinen Grund sehen, wir müssen sogar bestreiten, dass
einer da ist, und können nur einen teleologischen Grund erkennen,
weü eben erst durch diesen wunderbaren Process die Seele sich
die Grundlage zur Erkenntniss einer Aussenwelt schafft, während
sie ohne Baumanschauung nie aus sich heraus könnte.
Ad 3. Wenn wir diesen ''Zweck als einzigen Grund erken-
J*Dr 80 müssen wir den fraglichen Process selbst als eine Instinct-
handlong, als eine Zweckthätigkeit ohne Zweckbewusstsein an-
sprechen. Wir sind hiermit wiederum auf dem Gebiete des Un-
^^^wuBsten angelangt, und müssen das Baumschaffen der Seele als
eine Thätigkeit des Unbewussten anerkennen, da dieser Process so
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»«br der Möglichkeit jedes Bewusstseins vorhergeht, dass er ninir
nicrinehr als etwas Bewusstes betraehtet werden kann. Dies hat
aber Kant nirgends ausgesprochen, und bei der sonstigen Klarheit
und Furchtlosigkeit dieses grossen Denkers muss daraus geschlos-
sen werden, dass er sich die völlige. TJnbewusstheit diese« Processee
selbst niemals zum Bewusstsein gebracht habe. Aus diesem Man-
gel seiner Darstellung entstand aber die Opposition des gesunden
mitürlichen Verstandes gegen seine Lehre, der den Baum als eine
von seinem Bewusstsein unabhängige Thatsache demselben gegeben
wuBste, und zwar in den räumlichen Beziehungen, aus denen ei;^
t^ine lange fortgesetzte Abstraction den Begriff des ißaumes aus-
schied, welchen ganz zuletzt die Negation der Qrenze als ein Un-
endliches bestimmte, während nach Kant der unendliche Raum das
ursprüngliche Product des Denkens sein soll, vermöge dessen erst
die räumlichen Beziehungen möglich würden. In allem Diesem
hatti^ der natürliche Verstand Becht und Kant Unrecht , aber in
dem Eioen^» und das war die Hauptsache, hatte Kant Becht, dass
tliß Form des Raumes nicht durch physiologische Procease in die
Stiele von aussen hineinspaziert, sondern durch dieselbe selbst-
thätig erzeugt wird.
Ad 4, Die Zeit hat mit dem Räume als Form des Denkens
und Seins so viel Analoges, dass man von jeher beide zusammen
behandelt und Ein Denker über beide stets gleichmässige An-
Hichten gehabt hat. Dies hat auch Kant verleitet, bei der trana-
üen dentalen Aesthetik beide in einen Topf zu werfen. Dennoch
sind die jedem Menschen geläufigen Unterschiede zwischen Baum
und Zeit bedeutend genug, um auch hierin einen Unterschied be^
bei KU führen. Wäre die Zeit nicht aus dem physiologischen Pro"
cesse unmittelbar in die Wahrnehmung übertragbar, so würde
tiic ohne Zweifel von der Seele ebenso selbstständig, wie der Baum
ur^eugt werden, dies hat sie aber beim Wahrnehmen nicht nöthig-
Denn wenn wir angenommen haben, dass auf Gehimschwingangeo
von bestimmter Form die Seele mit einer bestimmten Empfindung
reagirt, so liegt hierin schon ausgesprochen, dass, wenn der Bei^
sieh wiederholt, auch die Reaction sich wiederholt, gleichviel ob
die Reize sich in stetiger, ununterbrochener Reihe, oder intermit-
tirend folgen; hieraus folgt weiter, dass die Empfindung so laog^
dauern muss, als diese Formen der Schwingungen dauern, und erst
mit Aenderung der Schwingungsweise eine andere Empfindung
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267
folgt, die abermals nach einer bestimmten Daaer durch eine andere
tbgt'löst wird. Damit ist aber die Zeitfolge gleicher oder ver-
achiedener Empfindungen unmittelbar gegeben, ohne dass man, wie
beim Baume, zu einem selbstthätigen instinctiven Behauen der
Seele seine Zuflucht zu nehmen braucht, gleichviel, ob man die
Sache materialistisch oder spiritnalistisch auffasst, denn beidesfalls
ist die objectiye Zeitfolge von Schwingungszuständen in eine sub-
jectiTe Zeitfolge von Empfindungen übertragen.
Man könnte hiergegen die Behauptung, dass die Zeit nicht unmit-
telbar aus den Himsohwingungen in die Wahrnehmung hineingetragen
werde, dadurch aufrecht erhalten zu können glauben, dass man jede
einzelne Empfindung als eine momentane, also zeitlose Seelenreaction
betrachtet; dann würde allerdings aus einer Beihe solcher momen-
taner zeitloser Beelenacte unmittelbar keine zeitliche Wahmeh-
romig entstehen können, da die Distanzen zwischen diesen Momenten
absolut leer wären und folglich auch nicht beurtheilt werden könn-
ten. Bei näherer Betrachtung zeigt sich sogleich die Unmöglich-
keit. Denn zwei Fälle sind nur möglich, wenn die Empfindung
etwas Momentanes sein soll: entweder sie entspricht dem mo-
mentanen Zustande des Gehirnes, oder sie tritt erst am Ab-^
Bc blasse einer gewissen Zeit der Himbewegung ein. Ersteres ist
an sich unmöglich, denn der Moment enthält keine Bewegung,
also Nichts, was auf die Seele wirken kann; Letzteres aber ist eben-
falls leicht ad absurdum zu führon, weil nicht abzusehen ist, wo
der Grund liegen sollte , dass gerade nach einer bestimmten
Zeitdauer die Seele mit Empfindung reagirt, und nicht vorher und
nicht nachher, wo doch die Bewegung ruhig in derselben Weise fort-
geht. Wollte man eine vollständige Oscillations-Dauer als diese
Zeit willkürlich annehmen, so ist nicht einzusehen, wo die Oscil-
lation anfängt und aufhört, da der Anfangspunct etwas von uns
▼illkärlioh Gewähltes ist ; oder es ist nicht einzusehen, warum nicht
eine halbe Oscillation Dasselbe leisten sollte, oder eine Viertel-,
oder ein noch kleineres Stück, da ja in dem kleinsten Stücke der
Schwingung das Gesetz der ganzen Schwingung vollständig
enthalten ist. Dies führt uns auf den rechten Weg zurück. Da
das denkbar kleinste Stück schon das Gesetz der ganzen
Schwingung enthält, muss es auch zu dieser seinen Beitrag lie-
fern, und so kommen wir wieder zur Stetigkeit der Empfindung.
Dass diese, so zu sagen, Differenziale der Empfindungen nicht bewusst
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werden, dass vielmehr ein nicht unbeträchtlicher Bruchtheil emer
Secnnde erforderlich ist, ehe eine Empfindung einzeln für sich yom
BewQBstsein percipirt werden kann, möchte wohl darin liegen,
erstens,, dass eine die Aenderung der Empfindung herbeiführende
Aenderung der Schwingungsform nicht nach dem Bruchtheile einer
Schwingung, auch noch nicht nach einer einzigen ganzen Schwin-
gung, sondern erst nach mehreren Schwingungen durch allmählichen
XJebergang einer Schwingungsform in die andere phjBikalisch zu
begreifen ist, und zweitens, dass, wie bei einer durch einen klin-
genden Ton in Mitbewegung versetzten Saite, jede einzelne Schwin-
gung allein zu wenig ausrichtet, und dass erst die sich nach und
nach addirenden Wirkungen vieler gleichen Schwingungen einen
merklichen Einfluss gewinnen können, welcher die Reizschwelle
übersteigt (s. Einleitendes I. c. S. 20 ff.)« Diese zeitliche Addition in
Verbindung mit der räumlichen Addition der Wirkungen vieler
auf dieselbe Art gleichzeitig schwingender Molecüle ist erst im
Stande, uns begreiflich zu machen, wie so minutiöse Bewegungen,
wie die im Hirne sind, in der Seele so mächtige Eindrücke, wie
z. B. einen Kanonenschuss oder Donnerschlag, hervorrufen.
• Wir haben nunmehr die vier oben bezeichneten Puncte durch-
sprochen und hoffe ich, hiermit zu einer Verständigung zwischen Philo-
sophie und Naturwissenschaft, zwischen welchen sich seit Kant eine
weite Kluft aufgetban, nicht unwesentlich beigetreten zu haben. Unser
Besultat ist dies: Raum und Zeit sind sowohl Formen des Seins»
als des (bewussten) Denkens. Die Zeit wird aus dem Sein, ans
den Himschwingungen unmittelbar in die Empfindung übertrageD,
weil sie in der Form der einzelnen Hirnmol ecularschwingungen
auf dieselbe Weise wie im äusseren Reize enthalten ist; der Raum
muss als Form der Wahrnehmung erst durch einen Act des ünbe-
wussten geschaffen werden, weil die in der einzelnen Himmole-
cularschwingung enthaltene räumliche Gestalt zu der räumlichen
Gestalt der Objecto gar keine Beziehung hat; die räumlichen Be-
stimmungen der Wahrnehmungen aber sind 'durch das System der
Localzeichen im Gesichts- und Tastsinn gegeben. Sowohl räum-
liche, eis zeitliche Bestimmungen treten mithin dem Bewusstsein als
etwas Fertiges, Gegebenes entgegen, werden also auch,« da das Be-
wusstsein von den erzeugenden Processen derselben keine Ahnung
hat, mit Recht als empirische' Facta aufgenommen. Aus diesen
gegebenen concreten Raum- und Zeitbestimmungen werden später
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^v
269__
allgemeinere abstrahirt, nnd als letzte Abstraction die Begriffe
BaTun und Zeit gewonnen, welchen als subjectiven Vorstel*
langen mit Becht die Unendlichkeit als negatives Fradicat zuge-
sprochen wird, weil im Subjecte keine Bedingungen liegen, welche
der beliebigen Ausdehnung dieser Yorstellungen eine Ghrenze setzten.
Haben wir uns auf diese Weise den Ursprung der räumlichen
snd zeitlichen Bestimmungen als Fundament aller Wahrnehmungen
gesichert, so müssen wir auf die Frage nach dem Zusammenhange
von Gehimschwingung und Empfindung zurückkommen, auf die
Frage, warum die Seele auf diese Form der Schwingung gerade
mit dieser Empfindung reagirt. Dass hierin eine TöUige Constanz
herrscht, dürfen wir bei der allgemeinen Qesetzmässigkeit der
Natar nicht bezweifeln. Wir sehen bei demselben Individuum
auf dieselben äusseren Beize stets dieselben Empfindungen erfol-
gen, wenn nicht eine nachweisbare Yeränderung der körperlichen
Bisposition stattfindet, welche sich natürlich in veränderten Ge-
lumschwingungen kund geben muss. Dass auch bei verschiedenen
Individuen, soweit körperliche Uebereinstimmung stattfindet, dieselben
Beize gleiche Empfindungen hervorrufen, können wir zwar niemals
direct constatiren ; da aber alle nachweisbaren Abweichungen sicher
auf abweichendem Bau der Sinnesorgane und Nerven beruhen, so
haben wir keinen Grund, in diesem Puncto von der allgemeinen
Gesetzmässigkeit der Natur eine Ausnahme zu supponiren, und
nehmen demzufolge an, dass gleiche Gehimschwingungen bei allen
Individuen gleiche Empfindungen hervorrufen. Dass diese gesetz-
mässige Causalverbindung zwischen dieser Schwingungsform und
dieser Empfindung an sich nicht wunderbarer ist, wie jede andere
uns unverständliche gesetzmässige Causalverbindung im Beiche der
Materie unter sich, z. B. von Eleotricität und Wärme, liegt wohl
anf der Hand. Andererseits aber werden wir unbedenklich zu der
^Jifiicht hinneigen, dass hier wie dort causale Zwischenglieder vor-
handen seien, welche die bis jetzt vorhandene Oomplication dieser
Vorgänge auf einfache Gesetze zurückführen, deren mannigfaltiges
Ineinanderwirken die Vielheit der beobachteten Erscheinungen zu
Stande bringt. Wenn wir uns mithin nicht entschliessen können,
bei dem gewonnenen Besultate als einem letzten stehen zu bleiben,
sondern in diesen Processen verschiedene, sich aneinander schlies-
B^de Glieder vermuthen müssen, so ist doch so viel > klar, dass
dieselben, insoweit sie auf psychisches Gebiet fallen, aussohliess-r
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270
lieh dem Bereiche des Unbewnssten angehör^i müsseiL Es ist also
ein nnbewuflster Process^ dass uns die Säure sauer, der Zucker säss,
dieses Licht rotb, jenes blau, diese Luftschwingungen als der Ton
A, jene als c^ erscheinen. Dies ist, was sich über die Entstehung
der Qualität der Empfindung nach dem jetzigen Stande unserer
Kenntnisse si^en Hesse.
Mit allen diesen qualitativen, intensiv und extensiv qoan-
titatiyen Bestimmungen der Empfindung kommen wir aber nie
über die Sphäre des Subjectes hinaus. Denn der QesichtssimL
stellt räumlich ausgedehnte Bilder in Flächengestalt, aber ohne
irgend eine Bestimmung über die dritte Dimension dar, so daes
der Flächenraum bis jetzt rein innerhalb der Seele liegt,
rein subjectiv ist, so dsiis die Seele das Auge als Organ des S^ens
gar nicht kennt, alscf das Gesichtsbild weder vor dem Auge, noch
in dem Auge weiss, sondern bloss in sicSh selber hat, gerade wie
eine matte Erinnerungsvorstellung nur in dem subjectiven Banm
der Seele und ohne Beziehung zum äusseren Baume gedacht werden
kann. Aehnlich ist es mit den Wahrnehmungen des Tastsinnes.
ATioh hier ist nur Flächenausdehnung, die der Eörperoberflache
entspricht, nur viel unbestimmter, als beim Gesicht. Erst durch die
Gleichzeitigkeit derselben Wahrnehmung an mehreren Stellen, yeat-
bunden mit gewissen Muskelbewegungsgefühlen, treten hier Erfah-
rungen ein, mit deren Hülfe die Seele durch anderweitige Pro-
oesse die Fixirung der Tastwahmehmungen auf die Oberhaut be-
werkstelligen kann, so dass diese nun gleichsam in Hinsicht der
dritten Dimension ßzirt sind. Manche Physiologen behaupten zwar,
dass dies nach dem Gesetz der excentrischen Erscheinung sofort
der Fall sei, und will ich hierum nicht streiten; soviel steht fest,
dass, wenn dieser Punct erreicht ist, wo die inneren Empfindungen
in Hinsicht der dritten Dimension so fixirt sind, dass sie objectiT
mit der Oberhaut des Körpers und meinetwegen beim Auge mit
der Ketina zusammenfallen, dass dann immer noch nicht abzusehen
ist, wie der Schritt aus dem Subjectiven heraus vermöge der
Wahrnehmung oder des bewussten Denkens gemacht
werden solle. Denn die Wahrnehmung weist besten Falles nie
über die Grenze des eigenen Körpers hinaus, meiner Ansicht nadi
bleibt sie rein innerhalb der Seele, ohne irgend auf den eigenen
Körper hvfeudeuten. Auch kein an den bisherigen Erf^^irungeii
sich' entwickelnder bewusster Denkprooess leitet auf die Ter-
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271
muthnsg eines äasseren Objectes, es mnss hier wiederam der In-
stinct oder das ünbewnsste helfend eingreifen, um den Zweck der
Wahrnehmung, die Erkenntniss der Aussenwelt eu erfüllen.
Damm projicirt das Kind iostinctiy seine Sinneswahmehmnngen
als Objecte nach Aussen, und darum glaubt noch heute jeder un-
befangene Mensch die Dinge selbst wahrzunehmen, weil ihm seine
Wahrnehmungen mit der Bestimmung, draussen su sein, instinc-
tiv zu Objecten oder Bingen werden. Darum ist es möglich,
dasB die Welt der Objecte für ein Wesen fertig dasteht, ohne
dass ihm die Ahnung des Subjectes aufgegangen ist, während
im bewussten Denken Subject und Object nothwendig gleichzeitig
ans dem Yorstellungsprocesse herausspringen müssen. Darum ist
68 falsch, den Causalitätsbegriff als Yermittler fUr eine bewusste
Ausscheidung des Objectes zu setzen, denn die Objecte sind lange
Torher da, ehe der Causalitätsbegriff aufgegangen ist; und wäre
dies auch nicht der Fall, so müsste auch dann das Subject gleich-
zeitig mit dem Objecte gewonnen werden. Allerdings ist für den
philosophischen Standpunct die OausaHtöt das einzige Mittel,
um über den blossen Yorstellungsprocess hinaus zum Subjecte und
Objecto zu gelangen ; allerdings ist für das Bewnsstsein des gebil-
deten Verstandes das Object in der Wahrnehmung nur als deren
äussere Ursache enthalten; allerdings mag der unbewusste
Process, welcher dem ersten Bewusstwerden des Objectes zu Grunde
liegt, diesem philosophischen bewussten Brocesse analog sein, — so
▼iel ist gewiss, dass der Process, als dessen Besultat das äussere
Object dem Bewusstsein fertig entgegentritt, ein durchaus unbe-
wusster ist, und mithin, wenn die Causalität in ihm eine Bolle
spielt, was wir übrigens nie ermitteln können, darum doch keines-
&ll8 gesagt werden kann, wie Schopenhauer thut, dass der aprio-
risch gegebene Causalitätsbegriff das äussere Ob-
ject schaffe, weil man in dieser Ausdrucks weise den B^riff
als einen bewussten auffassen müsste, was er entschieden nicht
sein kann, weil er viel, idel später gebildet wird, und zwar zuerst
aus Beziehungen der bereits fertigen Objecte untereinander.
Sind wir nun auf diese Weise dazu gelangt, in den Wahrneh-
mungen äussere Objecte zu sehen, so handelt es sich um die Aus-
bildung der Wahrnehmungen, z. B. beim Sehen um das Sehen
Ton Entfernungen yom Auge ab gerechnet^ um das einfache Sehen
mit zwei Augen , um das Sehen der dritten Dimension an Körpern
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272
u. s. w.> und dem entsprechend bei anderen Sinnen, wie es in so
YJclen Lehrbüchern der Physiologie, Psychologie n. s. w. weitläufig
ausgeführt ist. Die Processe, welche dieses nähere Yerständniss
herbeiführen, gehören zwar theilweise dem Bewusstsein an, zum
grösseren Theile aber fallen sie in's Bereich des Unbewossten, wie
leicht zu erkennen ist, wenn man beachtet, wie gering die Aosbil-
dung des bewussten Denkens bei Kindern zu der Zeit ist, wo sie
dieses Yerständniss der Wahrnehmung schon in hohem Qnde be-
sitzen, wie sicher sich Thiere schon bald nach ihrer Gebart
bc wegen, und wie passend sie sich der Aussenwelt gegenüber be-
nehmen, was nicht möglich wäre, wenn sie nicht instinctiy dieses
Vorätändniss der Sinneswahmehmungen hätten. Wenn man, wie
nma wohl füglich thnn muss, unter sinnlicher Wahrnehmung im
weiteren Sinne dieses yolle Yerständniss der Sinneseindrücke mit
begreift, so haben wir gesehen, dass das Zustandekommen der
Binnlichen Wahrnehmung ^ welches die Grundlage aller bewussten
fi Ocistesthätigkeit bildet, Ton einer ganzen Reihe unbewiisster Pio-
ccsse abhängig ist, ohne welche Hülfen des Instinctes Mensch wie
Thier hülflos auf der Erde verkümmern müssten, weil ihnen jedes
Mittel fehlen würde, die Aussenwelt zu erkennen und zu be-
nutzen.
i
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IX.
Das Unbewnsste in der Mystik.
Das Wort y^mystisoh'^ ist in eines Jeden Munde, Jeder kennt
die Namen berühmter Mystiker, Jeder kennt Beispiele des Mysti-
schen. Und doch, wie Wenige verstehen das Wort, dessen Bedeu-
timg selbst mystisch ist, und deshalb nur von Dem recht begriffen
Verden kann, der selbst eine mystische Ader in sich trägt, und
sei sie noch so schwach. Wir wollen versuchen, dem Wesen der
Sache naher zu kommen, indem wir die verschiedenen in der My-
stik verschiedener Zeiten und Individuen vorkommenden haupt-
sächlichen Erscheinungen betrachten.
Wir finden bei dem grössten Theile der Mystiker eine Abwen-
dung vom thätigen Leben und Zurückziehung auf quietistische Be-
schaulichkeit, sogar Streben nach geistigem und körperlichem Nihi-
lismus; das kann aber das Wesen der Mystik nicht ausdrücken, denn
der grösste Mystiker der Welt,- Jacob Böhme , führte seinen Haus-
stand ordnungsmässig , arbeitete und erzog seine Kinder wacker;
andere Mystiker haben sich so sehr in's Practische gestürzt, dass
sie als Weltreformatoren auftraten, noch andere übten Theurgie
imd Magie, oder practische Medioin und naturwissenschaftliche
Beisen. Eine andere Reihe von Erscheinungen bei höheren Graden
der Mystik sind körperliche Zufälle, wie Krämpfe, Epilepsien, Ek-
stasen, Einbildungen und fixe Ideen hysterischer Frauenzimmer
und hypochondrischer Männer, Visionen ekstatischer oder spontan-
somnambuler Personen. Diese alle tragen so sehr den Character
der körperlichen Krankheit an sich, dass in ihnen das Wesen des
Mysticismus gewiss nicht bestehen kann, wenn sie auch grossen-
theils durch freiwilliges Fasten, Askese und beständige Concentra-
tion der Phantasie auf Einen Punct absichtlich hervorgerufen sind.
T. Hartmann, Phil. d. ünbewnssten. 18
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274
Bie sind es, die in der Geschichte der Mystik jene widerlichen
Ereclieinungen hervorrufen, die wir heute noch in IrrenhäuBcrn
bemitleiden, die aber zu ihrer Zeit als Propheten vergöttert und
ak Märtyrer verfolgt und getödtet wurden, solche Unglückliche
2. B., die sich für Christus hielten (Esaias Stiefel um 1600) oder
fUr Gott Vater selbst. Gleichwohl, könnte man sagen, gehen die
Viaionen und Ekstasen stufenweise in jene reineren und höheren
Formen über, denen die Geschichte so viel verdankt; gewiss zu-
gegeben, — nur vdrd man dies Wandelbare nicht für das Wesen
des My&ticismus ansprechen dürfen. Als Drittes tritt uns die As-
kese entgegen ; sie ist ein hirnloser Wahnsinn oder eine krankhafte
Wollust , wenn sie nicht als ethisches System gefasst wird , was
über £iuch sowohl bei indischen als neupersischen , als christlichen
BüfiBern stattfindet. Auch hierin liegt an sich keine Mystik, da
uns eiuorseits Schopenhauer den Beweis geliefert hat, dass mau
tfin ganz klarer Denker sein und doch die Askese für das einzig
richtige System halten kann, und da andererseits die Mystik sieb
eUeu sowohl mit der zügellosesten Genusssucht und Ausschweifung,
als mit der strengsten Askese verträgt. Eine vierte Eeihe von
Erscheinungen in der Geschichte der Mystik sind die sich durch
alle leiten hinziehenden Wunder der Propheten, Heiligen und
Magier. Das Einzige, was nach massig strenger Kritik von diesen
Sugeu übrig bleibt, reducirt sich auf Heilwirkungen, die sich theili
eJBtach medicinisch, theils durch bewusstes oder unbewusstes Mag-
setisirüii, theils durch sympathetische Wirkung begreifen und in die
Heihe der Naturgesetze einfügen lassen, wenn man eben die magisch-
sympathetische Wirkung durch den blossen Willen als Naturgeseu
gelten itisst. So lange man dies nicht thut, bleibt freilich letzteres an
sich mystisch, sobald man sich aber dazu bequemt, ist es nicht
mystiBcher als die Wirkung jedes anderen Naturgesetzes , von denen
allen wir keines begreifen, und darum doch keines mystisch nennen. —
Bisher sprachen wir davon, wie Mystiker gehandelt und ge-
lebt haben, jetzt haben wir noch zu erwähnen, auf welche Art
sie gei« prochen und geschrieben haben. Wir begegnen hier zu-
nächst einer überwiegend bildlichen Ausdrucksweise , die theils
eehiieht und einfach, öfter aber schwülstig -bombastisch ist, und
häuüg einer phantastischen XJeberschwengliohkeit des Inhaltes
wie der Form. Dies liegt theils an den Nationen and Zei-
ten» denen die betreffenden Mystiker angehören, theils finden
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275
wir dieselbe Erscheinung bei Dichtem nnd anderen Schriftstel-
lern wieder, können also darin nicht den Ciiaracter des Mysti-
sehen finden. Femer sehen wir in den mystischen Schriften eines-
theÜB eine Masse von allegorisirenden > willkürlich spielenden
Deuteleien mit Worten (der Bibel, des Korans, anderer Schriften,
oder Sagen) oder Formalien (des jüdischen, muhamedanischen, christ-
lichen Gottesdienstes), andemtheils einen phantastisch gebärenden
and formalistisch parallelisirenden Schematismus einer imwissen-
schafthchen Naturphilosophie (Albertus Magnus, Paracelsus u. A.
im Mittelalter; Schelling, Oken, Steffens, Hegel in der neuesten
Zeit). Auch in diesen beiden dem Wesen nach gleichen und nur
im O^enstande yerschiedenen Erscheinungen können wir den
Character des Mystischen nicht finden; wir sehen darin nur das
dem Menschengeiste eigenthümliche Bestreben, zu systematisiren,
durch IJnkenntniss oder Ignorirang des Materiales und der Prin-
cipien der Naturwissenschaften irregeleitet, sich spielend Karten-
hänser bauen, die sich oft der andere Kartenhäuser bauende Nach-
folger nicht einmal die Mühe giebt umzublasen, die vielmehr von
selbst einfallen, obwohl nicht ohne vorher manchem anderen Kinde
imponirt zu haben. Ein Merkmal, an das man oft geglaubt hat,
sich halten zu dürfen, ist die Unverständlichkeit und Dunkelheit
der Sprache, weil sie ziemlich allen mystischen Schriften gemein
ist Jedoch ist nicht zu vergessen, erstens, dass die allerwenig-
sten Mystiker geschrieben, viele auch nicht einmal gesprochen
haben, oder doch nichts weiter als die Erzählung der gehabten
Visionen, und zweitens, dass noch sehr viele andere Schriften un-
Terständlich und dunkel sind, welchen weder ihre Verfasser, noch
andere Leute das Prädirat mystisch geben möchten; denn Unklar-
heit des Ausdruckes kann von Unklarheit des Denkens, mangelhaf-
ter Beherrschung des Materiales, Ungeschicklichkeit der Schreib-
weise und vielen anderen Gründen herrühren.
Mithin sind alle bisher betrachteten Erscheinungen nicht ge-
eignet, das Wesen des Mystischen zu ergründen, sondern es kann
▼ohl jede derselben zum Ausdrucke eines mystischen Hintergrundes
werden, ist aber dann nur ein von der Mystik zufällig angezogenes
Kleid, und kann ebensogut ein andermal mit Mystik gar nichts zu
thnn haben. Es handelt sich also nunmehr um den gemeinsamen
Kern und Mittelpunct aller dieser Erscheinungen in den Fällen,
wo wir sie als Gewand eines mystischen Hintergrundes betrachten*
18*
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276
Kau würde sehr irren, wenn man die ^Religion als diesen gemein-
samen Kern betrachtete; die Beligion als unbefangener Glaube an
die Offenbarung ist durchaus nicht mystisch, denn was mir durch
eine von mir als vollgültig anerkannte Autorität offenbar ge-
worden ist, was sollte daran für mich noch mystisch sein, so lange
icii mich schlechterdings mit dieser äusseren Offenbarung be-
gnüge? und mehr verlangt keine Beligion. Femer ist aber auch
I leicht zu sehen, dass es eine Mystik des irreligiösen Aberglaubens
giebt (z. £. schwarze Magie), oder eine Mystik der Belbstvergöt-
terong, welche allen guten und bösen Göttern Trotz bietet, oder
eine Mystik der irreligiösen Philosophie, obwohl die Erfahrung
seigi, dass letztere dann wenigstens gern ein äusseres Bündniss
mit einer positiven Religion schliesst (z. B. Neuplatonismus).
Bei alledem wollen wir nicht verkennen, dass die B.eligion de^
j dB ige Grund und Boden ist, an dem die Mystik am leichtesten
ünil üppigsten emporwuchert, aber sie ist keinesweges deren ein-
zige Pflanzstätte. Die Mystik ist vielmehr eine BchUngpflanze,
die an jedem Stabe emporwuchert, und sich mit den extremsten
Gegensätzen gleich gut abzufinden weiss: Hochmuth und Demutb,
Herrschsucht und Duldung, Egoismus und Selbstverleugnung, Ent-
haltsamkeit und sinnliche Ausschweifung, Selbstkasteiung und Ge
nutässucht, Einsamkeit und Geselligkeit, Weltverachtung und Eitel-
keit, Quietismus und thätiges Leben, Nihilismus und Weltrefor-
matton, Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Aufklärung und Aberglau-
ben, Genie und viehische Bornirtheit, Alles verträgt sich gleich
gut mit der Mystik. — Somit sind wir dazu gelangt, in allen sol-
chen Extremen, in allen den oben angeführten historisch an des
^ Mystikern sich darbietenden Erscheinungen nicht das Wesen der
ÄK^ Mystik, sondern Auswüchse zu sehen, die herbeigeführt waren
Üicils durch den Zeitgeist und Nationalcharacter, theils durch in-
dividuell krankhafte Anlage, theils durch verkehrte religiöse, mora-
lische und practische Grundsätze , theils durch das ansteckende
Beispiel der geistigen Yerirrung, theils durch die Unzufriedenheit
mit dem Drucke rauher Zeiten, welche dem höher Strebenden im
%T eltlichen Leben so gar nichts Verlockendes zu bieten hatten, ßon-
dem nur abschrecken konnten, theils durch eine später zu betrach-
te q de, im letzten Ziele der Mystik selbst liegende Gefiethr des Vebet-
fliogens, theils durch eine Verkettung von allerlei aus dem Ange-
führten und anderen Umständen sich ergebenden Ureachen.
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277
£6 schien mir diese negaÜTe Betrachtung unerlässlich, um die
Vorstellungen über das Mystische 2u läutern, welche sich bei den
meisten Menschen nur aus einer Summe dieser krankhaften
AuBWüchBe der Mystik zusammensetzen, und dadurch verhindern
dürften, die Mystik in ihren reineren Erscheinungsformen wieder-
zuerkennen. Kehren wir nun abermals zu dem Kerne aller jener
Erscheinungen y zu der wahren Mystik zurück, so wird zunächst
BD viel einleuchten, dass sie tief im innersten Wesen des Menschen
begründet sein muss (wenn sie auch^ wie künstlerische Anlagen,
noh nicht in jedem entwickelt, am wenigsten in jedem gleichmässig
oder nach gleichen Richtungen hin); denn sie zieht sich ohne Un-
terbrechung nur mit mehr oder weniger grosser Verbreitung von den
ältesten vorhistorischen Zeiten bis auf die Gegenwart durch die Cul-
targe»chichte hinduroh. Sie hat wohl mit dem Zeit^eiste ihren Cha-
racter geändert, aber kein Culturfortschritt ist je im Stande ge-
wesen, sie zu verdrängen, sie hat ebenso unbesiegbar gegen den
Unglauben des Materialismus, wie gegen die Schrecken der Inqui-
lition Stand gehalten. Die Mystik hat aber auch dem Menschen-
geschlechte unschätzbare culturhistorische Dienste geleistet. Ohne
die Mystik des Neuplatonismus wäre nie das Johanneische Christen-
thum entstanden, ohne die Mystik des Mittelalters wäre der Geist
des Ghristenthumes in katholischem Götzendienste und scholastischem
Formalismus untergegangen, ohne die Mystik der verfolgten Ketzer-
gemeinden seit dem Anfange des 11. Jahrhunderts, die trotz aller
Unterdrückungen immer wieder mit erhöhter Kraft unter anderem
Namen neu erstanden, hätten nie die Segnungen der Reformation
die finsteren Schatten des Mittelalters verjagt und der neuen Zeit
die Thore geöffnet ; ohne die Mystik in dem Gemüthe des Deutschen
Volkes und in den Heroen der neueren deutschen Dichtung und
Philosophie wären wir von dem seichten Triebsande des franzö-
Bischen Materialismus schon im vorigen Jahrhunderte so vollständig
überschwemmt worden , dass wir , wer weiss wie lange, noch die
Köpfe nicht wieder frei bekommen hätten. Wie für das Menschen-
geschlecht im Ganzen, so ist auch für das Individuum, so lange
es sich von krankhaften Auswüchsen imd einer überwuchernden
Einseitigkeit frei hält, die Mystik von unschätzbarem Werthe.
Denn wir sehen ja in der That, dass alle Mystiker sich in der
Ausübung ihrer mystischen Anlagen überaus glücklich gefühlt und
freudig alle Entbehrungen und Opfer getragen haben, um ihrer
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278 •
Bichtung getreu zu bleiben; man denke nur an Jacob Böhme und
Beine namenlose Freudigkeit, die ihn durch alle Prüfungen beglei-
tete, die doch gewiss aus lauterer Quelle stammte, und ihn weder
Yon seinen bürgerlichen Pflichten abzog, noch durch unkluge
Helbstquälereien getrübt war; man denke an die mystischen Hei-
ligen des Alterthumes, einen Pythagoras, Plotin, Porphyrius u. s. v^
welche zwar hohe Massigkeit und Enthaltsamkeit, aber keine
Selbstquälereien übten. Die wahre Mystik ist also etwas tief im
innersten Wesen des Menschen Begründetes, an sich Gesundes,
%^enn auch leicht zu krankhaften Auswüchsen Hinneigendes, und
sowohl für das Individuum, als die Menschheit von hohem Werthe.
Was ist sie aber endlich? Wenn wir immer das Sohlechte in der
EfBcheinung hinwegdenken, so wird ims Gefühl, Gtedanke und Ville
übrig bleiben, und zwar wird der Inhalt jedes der Drei auch
auäsermystisch vorkommen können, nämlich des Gedankens und
Gefühles in Religion und Philosophie, des Willens als bewusste
njEigische Willenswirkung (nur ein einziger Gefühlsinhalt macht
eme Ausnahme, weil er immer nur mystisch erzeugt werden kann,
wie wir sogleich sehen werden). Wenn nun aber in allen anderen
Fällen .nicht der Inhalt es ist, der das specifisch Mystische
tnthält, so muss es die Art und Weise sein, wie dieser Inhalt
£um Bewusstsein kommt und im Bewusstsein ist, und hierüber wollen
wir zunächst einige Mystiker hören, wo man sich nun aber nach
obigen Erklärungen schon nicht mehr wundem möge, Namen zu fin-
den, die man sonst nicht unter die Mystiker rechnet, weil diese ge-
rade die Mystik am reinsten von störendem Beiwerke repräsentiren.
Alle Eeligionsstifter und Propheten erklärten, theils ihre
Weisheit von Gott persönlich erhalten zu haben, theils bei Abfas-
Bixag ihrer Werke, beim Halten ihrer Beden und Thun ihrer Wun-
der vom göttlichen Geiste inspirirt zu sein, woraus die muhame-
danische und christliche Kirche Glaubensartikel gemacht haben.
Auch von den späteren Heiligen, die irgend eine neue Lehre oder
Lebens- imd Bussweise einführten, glaubte man, dass nicht der
Mensch, sondern der göttliche Geist aus ihnen rede, und sie glaub-
ten ^s selbst. Näheren Aufschluss giebt uns Jacob Böhme: ,^ch
fiage vor Gott dass ich selber nicht weiss, wie mir daniit
geächiehet, ohne dass ich den treibenden willen habe, weiss ich
auch nichts was ich schreiben soll. Denn so ich schreibe, dictiret
08 mir der geist in grosser, wunderlicher erkäntniss, das» ich
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■ 279
offte nicht weiss, ob idi nach meinem geist in dieser Welt bin,
nnd mich des hoch er&ene, da mir denn die stäte und gewisse
erkäntnisB wird mitgegeben , und je mehr ich suche , je mehr
£nde ich; und immer tiefer, dass ich auch offte meine sündige Per-
son 2u wenig und unwürdig achte » solche geheimniss anzutasten,
da mir denn der Geist mein Panier aufschlägt und sagt: Sihe,
du Bolt ewig darinnen leben, und gekrönet werden, was entsetzest
du dich?*' Ebenso giebt er seinem Leser den Eath in der Aurora:
„dass er Gott um seinen Heiligen Geist bitten solte. Denn ohne
erleuchtung desselben wirst du diese geheimnisse nicht verste-
hen > denn es ist des menschen geist ein fest schloss dafür, das
mnss von ehe aufgeschlossen werden. Und das kann kein mensch
thon^ denn der Heilige Geist ist allein der Schlüssel dazu/' Ebenso
wenig, wie er es von einem anderen Leser für möglich hält, konnte
er selbst seine Schriften verstehen, wenn der Geist ihn verlassen
hatte. — Wir gehen weiter und finden, dass die Öuäker den
Grundsatz aufstellten, Schulsatzung, Menschenweisheit und geschrie-
benes Wort hintenan zu setzen, und allein dem eigenen inneren
Lichte zu vertrauen. — Bernhard von Clairveaux sagt: „Der
Glaube ist eine mit dem Willen ergriffene sichere Yorempfindung
einer noch nicht ganz enthüllten Wahrheit ^ und gründet sich auf
Autorität oder Offenbarung, dahingegen die (innere) Anschauung
{eontemplaiiö) die gewisse und zugleich offenbare Erkenntniss des
Unsichtbaren ist.^ Weiter ausgeführt wird dies in seiner Schule
(Richard und Hugo von Si Victor), von welcher die innere Offen-
barung bezeichnet wird als die tiefere mystische Erkenntniss,
welche nur den Auserwählten zu Theil wird, als Yernunft-Erleuch-
tong durch den Geist, als übernatürliche Erkenntnisskraft, als innere
uimuttelbare Anschauimg^ welche über die Vernunft erhaben ist. —
Der Vorkämpfer des modernen Mysticismus gegen die ratio-
nalistische Aufklärerei ist Hamann; derselbe will den Lihalt der
äusseren göttlichen Offenbarung lebendig aus dem Boden des eige-
nen Geistes wiedererzeugt wissen, iind die Lösung aller Wider-
Bprüche in dem an sich selbst gewissen Glauben finden , der ihm
aus dem Gefühle, aus der unmittelbaren Offenbarung der Wahrheit
hervorgeht. Was er angedeutet, hat Jc^obi ausgeführt. Er sagt
(an verschiedenen Stellen): „Die üeberzeugung durch Beweise ist
eine Gewissheit aus der zweiten Hand, beruht auf Vergleichung
und kann nie recht sicher und vollkommen sein. Wenn nun jedes
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Fürwahrhalten , welches nicht aus Yernanftgründen entspringt,
Glaube ist, so muss die Ueberzeugung aus Yemunftgründea selbet
aus dem Glauben kommen und ihre Kraft allein Ton ihm empfan-
gen. — ^er weiss, muss sich am Ende auf Sinnesempfindung oder
auf Geistesgeföhl berufen. — Wie es eine sinnliche Anschauung
giebt durch den Sinn, so giebt es auch eine rationale durch die
Vernunft. Beide sind in ihrem Gebiete das Letzte unbedingt Gel-
tende. — Die Vernunft , als das Vermögen der GtefQhle, ist das
unkörperliche Organ für die Wahrnehmungen des XJebersinnlichen.
Die Vemunftansohauung , obgleich in überschwenglichen Gefühlen
gegeben, ist doch wahrhaft objectiv. — Ohne das positive Ver-
nunftgefühl eines Höheren, als die Sinnenwelt, wäre der Verstand nie
aus dem Kreise des Bedingten getreten.'' Fichte und Schelling
haben diese Ansichten aufgenommen, während Kant in seinem
kategorischen Imperativ nur einen hinter formellem Verstandeswis-
sen versteckten Gebrauch davon machte. Fichte sagt in £inlei*
tungsvorlesungen zur Wissenschaftslehre : ,J)iese Lehre setzt
voraus ein ganz neues inneres Sinnenwerkzeug, durch welches eine
neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar
nicht voriianden ist. Sie ist nicht etwa Erdenken und Schaffen
eines Neuen, nicht Gegebenen, sondern Zusammenstellung und Er-
fassung in Einheit eines durch einen neu zu entwickelnden
Sinn Gegebenen." Dieser „Vemunftglaube" Jakobi^s erhält bei
Schelling seinen treffendsten Namen: intellectuelle Anschauung^
welche derselbe als das unentbehrliche Organ alles transcenden-
talen Fhilosophirens hinstellt, als das Princip aller Demonstration,
und als den unbeweisbaren, in sich selbst evidenten Grund aller
Evidenz, m^t einem Wort als den absoluten Erkenntnissact, — als
eine Art der Erkenntniss, welche für den bewussten empirischen
Standpunct stets unbegreidüch bleiben muss, weil sie nicht wie
dieser ein Object hat, weil sie gar nicht im Bewusstsein
vorkommen kann, sondern ausserhalb desselben fallt (vgl
Schelling I. 1, S. 181 — 182). — So haben wir diese Art des in's
Bewusstseingelangens eines Inhaltes von dem rohen bildlichen Aus-
drucke einer persönlichen göttlichen Mittheilung bis zu Schellings in-
tellectualer Anschauung verfolgt, und haben hierin Dasjenige gefunden,
was ein Gefühl oder einen Gedanken der Form nach mystisch macht
Fragen wir, wie wir uns dieses .unmittelbare Wissen
durch intellectuale Anschauung zu denken haben, so geben auch
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281
hierauf Fichte und Schelling uns Antwort. Fichte sagt in den
„Thatsachen des Bewusstseina^' : ,,Der Mensch hat überhaupt
nichts denn die Erfahrung, und er kommt zu Allem, wozu er
kommt, nur durch die Erfahrung, durch das Leben selbst. Auch
in der Wissenschaftslehre als der absolut höchsten Potenz, über
welche kein Bewusstsein sich erheben kann, kann durchaus nichts
vorkommen, was nicht im wirklichen Bewusstsein oder in der Er-
fahrung, der höchsten Bedeutung des Wortes nach liegt." Und
Schelling bestätigt (Werke IL Bd. l. S. 826): „Denn allerdings
giebt es auch solche, die yon dem Denken, wie einem Gegensatz
aller Erfahrung reden, als ob das Denken selber nicht eben
auch Erfahrung wäre!" Das unmittelbare oder mystische
Wissen wird hier sehr gut unter den Begriff Erfahrung ge-
fssst, weil es sich „im wirklichen Bewusstsein" als Gegebenes
vorfindet, ohne dass der Wille etwas daran ändern könnte.
Gleichviel, ob dies Gegebene von Linen oder von Aussen gegeben
ist, der bevnisste Wille hat in beiden Fällen nichts damit zu
schaffen, und das Bewusstsein, welchem öein unbewusster Hinter-
grund eben unbewusst ist, muss mithin dessen Eingebungen ebenso,
wie etwas Fremdes aufnehmen, woher der Glaube an göttliche oder
dämonische Eingebung der intellectualen Anschauung in früheren
Zeiten und bei philosophisch Ungebildeten stammt. Da das Be-
wusstsein weiss, dass es aus Sinnenwahrnehmung direct oder indi-
rect sein Wissen nicht geschöpft hat, weshalb es ihm eben als
unmittelbares Wissen gegenübertritt, so kann es nur durch
Eingebung aus dem Unbewussten entstanden sein, und wir haben
somit das Wesen des Mystischen begriffen: als Erfüllung des
Bewusstseins mit einem Inhalte (Gefühl, Gedanke,
Begehrung) durch unwillkürliches Auftauchen des-
selben aus dem Unbewussten. Wir müssen demnach das
Hellsehen und Ahnen als etwas Mystisches ansprechen, — als Un-
terabtheilung der Mystik, insofern sie sich auf den Gedanken be-
zieht, — und werden nicht umhin können, auch in jedem Listincte
etwas Mystisches zu finden, insoweit nämlich das.unbewusste Hell-
sehen des Listinctes als Ahnung, Glaube oder Gewissheit in's Bewusst-
sein tritt Man wird mir ferner nach diesen Betrachtungen und denen
der früheren Capitel beistimmen, wenn ich auch bei den gewöhnlich-
sten psychologischen Processen alle diejenigen Gedanken und Gefühle
aU der Form nach mystisch bezeichne, welche einem unmittelbaren
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282 V
Eingreifen des ünbewussten ihre Entstehung verdanken, also vor
uLlen daß ästhetische Gefühl in der Betrachtung und Production, die
Eiitätehung der sinnlichen Wahrnehmung und die unhewussten Vo^
gängti beim Denken, Fühlen und Wollen überhaupt Gegen diese
völlig gerechtfertigte Anwendung sträubt sich nur das gemeine
Vorurtheil, welches . das Wunder und das Mysterium nur im Ausser-
ordeutliohen sucht, am Tagtäglichen aber nichts Unklares oder
Wunderbares findet — nur deshalb, weil eben nichts Seltenes und
ungewöhnliches daran ist. Freilich nennt man einen Menschen,
der eben nur diese überall wiederkehrenden psychologischen My-
sterien in sich trägt, noch keinen Mystiker, denn wenn dies
Wort mehr als Mensch bedeuten soll, so muss es eben für die
Menschen aufgespart werden, welchen die selteneren Erscheinungen
dtir Mystik zu Theil werden, nämlich solche Eingebungen des ün-
bewusaten, welche über das gemeine Bedürfniss des Individuuma
oder der Gattung hinausgehen» z. B. Hellsehende aus spontanem
B<>tuuambulismus oder natürlicher Disposition, oder Personen mit
dunklerem, aber häufig fungirendem Ahnungsvermögen (Soorate»
Diiimonion) ; auch würde ich nicht Anstand nehmen, alle eminen-
ten üonies der Kunst, welche ihre Leistungen überwiegend den Ein-
gebungen ihres Genius und nicht der Arbeit ihres Bewusstseins
verdanken, mit dem Namen Mystiker zu bezeichnen, sie mögen in
allen anderen Eichtungen des Lebens so klare Köpfe sein, wie sie
wollen (z. B. Phidias, Aeschylos, Raphael, Beethoven). Li der Phi-
losophie möchte ich den Begriff noch weiter ausdehnen, und jeden
originellen Philosophen einen Mystiker nennen, in soweit er wahr-
haft originell ist; denn eine neue Richtung in der Geschichte der
Philosophie ist niemals durch mühsames bewusstes Probiren und
liiduciren erquält worden, sondern stets durch einen genialen Blick
erftisBt und dann mit dem Verstände weiter ausgeführt worden.
Dazu kommt, dass die Philosophie wesentlich ein Thema behandelt,
welches mit dem Einen nur mystisch zu erfassenden Gefühle
mkh Engste zusammenhängt, nämlich das Yerhaltniss des In-
dividuums zum Absoluten. Alles Bisherige betraf nur sol-
chi^n Bewusstseinsinhalt , der auch auf andere Weise entstehen
kann oder könnte, also hier nur deshalb mystisch heisst, weil die
Form seiner Entstehung mystisch ist, jetzt aber kommen wir
SU einem Bewusstseinsinhalte, der in seiner Innerlichkeit, nur my-
siiath zu erfassen ist, der also auch als Inhalt mystisch genannt
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283
werden kann; und ein Mensch, der diesen mystischen Inhalt pro-
duciren kann, wird ganz vorzngsweise Mystiker genannt werden
müssen.
Der bewusste Gedanke kann nämlich die Einheit des In-
dividuums mit dem Absoluten mit rationeller Methode begreifen^
wie auch wir uns in unserer Untersuchung auf dem Wege zu die-
sem Ziele befinden, aber das Ich imd das Absolute und ihre Einheit
stehen ihm als drei Abstractionen da, deren Verbindung
«um Urtheil durch die vorangehenden Beweise zwar wahrschein-
lich gemacht wird, —jedoch ein unmittelbares Gefühl dieser
Einheit erlangt er nicht. Der Autoritätsglaube an eine
äussere Offenbarung kann den Lehrsatz einer solchen Einheit gläu-
big nachsprechen y das lebendige Gefühl derselben kann nicht von
Aussen eingepflanzt oder au%epfiropft, es kann nur aus dem eigenen
Geiste selbst herausgeboren werden, mit einem Worte, es ist weder
durch Philosophie noch durch Offenbarung von Aussen her, sondern
nur mystisch dazu zu gelangen, wenn auch bei gleicher mystischer
Anlage um so leichter, je vollkommenere und reinere philosophische
Begriffe oder religiöse Vorstellungen man mitbringt. Darum ist
dieses Gefühl der Inhalt der Mptik xat k^oxijVy weil er nur in
ihr seine Existenz findet und zugleich das höchste und letzte,
wenn auch; wie wir früher gesehen haben, keineswegs das einzige
Ziel aller derer, die ihr Leben der Mystik geweiht haben. Ja wir
können sogar so weit gehen, zu behaupten, dass die Erzeugung eines
gewissen Grades von diesem mystischen Gefühl und des in demselben
liegenden Genusses das einzige innere Ziel aller Eeligion ist, imd
dass es deshalb nicht unrichtig, wenn auch weniger bezeichnend ist,
den Namen religiöses Gefühl für dasselbe anzuwenden.
Wenn femer in diesem Gefühl für den, der es hat, die höchste
Seligkeit liegt, wie die Erfahrung an allen Mystikern bestätigt, so
liegt offenbar der Uebergang zu dem Bestreben nahe, dies Gefühl
dem Grade nach zu steigern dadurch, dass man die Vereinigung
zwischen dem Ich und dem Absoluten immer enger und inniger
zu machen sucht. Es ist aber auch unschwer zu sehen, dass wir
hier an den schon vorhin angedeuteten Punct gekommen sind, wo
die Mystik von selbst in etwas Krankhaftes umschlägt, indem sie
ihr Ziel überfliegt; freilich müssen wir uns dazu ein wenig über
den in unseren Untersuchungen bis jetzt erreichten Standpunct er-
heben. Es ist nämlich die Einheit des Absoluten und des Indivi-
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duums, dessen Individualität oder Ichheit durch das Bewusstsein
gegeben ist> also mit anderen Worten die Einheit des ünbewussten
und Bewussten ein für alle Mal gegeben, untrennbar und unzer-
störbar, ausser durch Zerstörung des Indiyiduums ; darum ist aber
auch jeder Versuch, diese Einheit inniger zu machen, als sie ißt,
so widersinnig und nutzlos. Der "Weg, der historisch fast immer
dazu eingeschlagen wird, ist der der Vernichtung des BewussteeinB,
das Streben, das Individuum im Absoluten aufgehen zu lassen;
derselbe enthält aber den grossen Irrthum, als ob, wenn das Ziel
der Vernichtung des Bewusstseins erreicht wäre, das Individuum
noch bestände ; das Ich will sich zugleich vernichten, und zugleich
bestehen bleiben, um diese Vernichtung zu gemessen. Es wird
mithin dies Ziel nach beiden Seiten hin immer nur unvollständig
erreicht, obgleich uns die Berichte der Mystiker erkennen lassen,
dass manche es auf diesem Wege bis zu einer bewunderungswür-
digen Höhe oder vielmehr Tiefe gebracht haben, so dass ich Einiges
davon anführen will; die wahre Selbstvernichtung ist natürlich
nur der Selbstmord, aber hier liegt der Widerspruch zu klar zu
Tage, als dass er oft das Resultat der Mystik geworden wäre. .
Michael Molinos, der Vater des Quietismus, sagt unter den
achtundsechzig von Innocenz VI. verdammten Sätzen seines berühm-
ten „geistlichen Wegweisers": „Der Mensch muss seine Kräfte ver-
nichten, und die Seele vernichtet sich, indem sie nichts wirkt. Und
ist es mit der Seele bis zum mystischen Tode gekommen, so kann
sie — indem sie nun zu ihrer Grundursache, zu Gott, zurückgekehrt
ißt, weiter nichts wollen, als was Gott will." Die Mystiker des
früheren Mittelalters unterschieden auf verschiedene Art eine
grössere oder geringere Anzahl Stufen; die letzte ist immer die
Absorption, derselbe Zustand, den wir schon bei den buddhaistischen
Gymnosophisten, bei den neupersischen Ssu£'s und den Hesychasten
oder Quietisten oder Kabelbeschauem auf dem Berge Athos be-
schrieben £nden. Es wird gesagt, dass in der Absorption der
Mensch nicht« mehr von seinem Leibe fühlt, überhaupt nichts
Aetisseres, ja nicht einmal mehr sein Inneres wahrnimmt „An die
Absorption nur denken, heisst schon aus der Absorption heraus-
f allen." Der Eigenheit absterben, die Persönlichkeit völlig ver-
nichten und im göttlichen Wesen aufgehen lassen, wird ausdrück-
lich gefordert. Ja sogar die wesentlichen Formen des Bewusstseins,
Raum und Zeit, müssen verschwinden, wie wir aus einem Gespräche
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des Propheten mit Seaid entnehmen, wo Letzterer sagt: „Tag und
Nacht sind mir wie ein Blitz verschwunden, ich umfasste zumal die
Ewigkeit vor und nach der Welt, so dass in solchem Zustande
hundert Jahre oder eine Stunde dasselbe sind/' Alles dies bestätigt
ims das Streben nach Identifioirung mit dem Absoluten durch Yer-
nichtung des indiyiduellen Bewusstseins.
Der andere ebenfalls denkbare Weg zur Steigerung der Einheit
wäre das Bestreben, das Absolute im loh aufgehen zu lassen ; auch
dieser Weg ist Ton hochfahrenden Gemüthem yersucht worden, aber
er ist so vermessen, und das Ziel und die dem Individuum zu
Gebote stehende Macht und Mittel dazu so unverhältnissmässig, dass
wir ihn nicht weiter zu berücksichtigen brauchen.
Ton Mystikern gingen die religiösen Offenbarungen aus, von Hy-
itikem die Philosophie ; die Mystik ist die gemeinschaftliche Quelle bei-
der. Es ist wahr^ dass die Furcht zuerst auf Erden Götter geschaffen,
insoweit die Furcht es war,, welche zuerst die Phantasie der mysti-
schen Köpfe in Bewegung setzte, aber was sie schufen ^ war ihr
eigen, und die Furcht hatte keinen Theil daran. Als aber die
ersten Götter einmal da waren, da zeugten sie unter einander
weiter, und die Furcht war ausser Dienst gesetzt. Darum ist die
alte, von den Theologen so hoch gehaltene Behauptung von dem ' im
Menschen wohnenden Gottesbewusstsein keine Fabel, wenn es auch
Töllig gottlose Individuen und Völker gäbe, in denen es nicht, zum
Burchbruch gekommen; die Mystik ist ein Erbtheil von Adam her
nnd ihre Eliiider sind die Vorstellungen der GRJtter und ihres Ver-
hältnisses zum Menschen. Wie erhaben und rein diese Vorstellun-
gen schon in ganz frühen Zeiten in den esoterischen Lehren man-
cher Völker gewesen seien, zeigen uns die Inder, die eigentlich die
ganze Geschichte der Philosophie implicite besessen haben, aber
in bildlicher und unentwickelter Form, was wir nur allzu abstract
in allzu viel Schriftstellern und Bänden*
So erkenne ich in der ganzen Geschichte der Philosophie nichts
Anderes als die Umsetzung eines mystisch erzeugten Inhaltes aus
der Form des Bildes oder der unbewiesenen Behauptung in- die des
rationellen Systems, wozu allerdings häufig eine mystische Neu-
production einzelner Theile erfordert wird, die man denn später
«TBt in den alten Schriften wieder erkennt. — Es ist natürlich kein
Wunder, dass von dem Augenblicke an, wo Philosophie und Eeligion
sich trennen, sie beide ihren menschlich - mystischen Ursprung ver-
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• 286
lou^cn; erBtere sucht ihre Besultate als rationell erworbene dar-
ZU6 tollen, letztere als äussere göttliche Offenbarungen. Denn so
lauge der Mystiker bei seinen Besultaten stehen bleibt, ohne eine
rationelle Begründung derselben zu versuchen, ist er noch nicht
Philosoph, und wird dies erst dadurch, dass er die bewusste Ver-
nunft in ihre Rechte einsetzt; dies wird er aber nicht eher thirn,
alä hia er dieser vor der Mystik den Vorzug giebt, und dann wird
er gern den mystischen Ursprung seiner Resultate verleugnen und
vergessen, was ihm bei der Unklarkeit ihrer Entstehungsweise nicht
schwer wird. Wenn dagegen der Mystiker von der bewussten
Vemuntt gering denkt, oder von Natur zur phantasievollen Dar-
atellung hinneigt, so wird er einen bildlich -symbolischen Ausdruck
tiir seine Resultate suchen, der natürlich immer nur ein zufalliger
und TuiTollkommener sein kann; sobald nun er selbst oder seine
Nachfolger unfähig werden, die hinter den Symbolen steckende Idee
zu erfassen, und jene selbst als das Wahre nehmen, so hören sie
wiederum auf, Mystiker zu sein und werden religiös; da sie ihre
Symbole weder mystisch selbst wiedererzeugen können, noch sie
rettiouell begreiflich sind, so müssen sie sich auf die Autorität des
Stifters für die Wahrheit derselben berufen, und da menschliche
Autorität für so wichtige Sachen zu gering erscheint, auch wohl
düT Stitter selbst schon göttliche Mittheilungen behauptet hat, so
wird ihre Wahrheit auf die göttliche Autorität selbst zurückgeführt.
So eitstehen die Gebilde, welche den dogmatischen Inhalt der Be-
ligiori bilden. Je adäquater die Symbole der mystischen Idee sind,
diäto reiner und erhabener ist die Religion, desto abstracter und
philo Bophischer müssen aber auch die Symbole sein; je inadäquater
und sinnlicher sie sind, desto mehr versinkt die Religion in aber-
gläubiachen Götzendienst und priesterliches Formelwesen. Wer
nun alöo die Symbole der Religion wieder bloss als Symbole ver-
steht und die hinter ihnen wohnende Idee ergreifen will , der tritt
aufl der Religion als solcher heraus, welche Buohstabenglauben an
die Symbole verlangt und verlangen muss, und wird wieder Mysti-
ker; und dies ist der gewöhnlichste Weg, auf welchem der
Mystit-iamus sich bildet, indem hellere Köpfe an der historisch ge-
gebenen Religion ein Ungenüge finden und die tieferen Ideen er-
fassen wollen*^ die hinten-den Sjrmbolen derselben wohnen. Man
siaht jetzt, wie nahe verwandt Religion und Mysticismus sind und
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wie sie doch etwas principiell Yerschiedenes sind ; man sieht auch,
warum eine fertige Kirche der Mystik immer feindlich sein muss.
Fragen wir nun, woher es kam, dass die Mystik, welche den
Menseben die ersten Offenbarungen des Uebersinnlichen brachte,
nicht bei sich stehen blieb, sondern in Philosophie und Beligion"
umechlug, so zeigt sich der Grund hiervon in der Formlosigkeit des
rein mystischen Besultates, welches nothwendig streben muss, eine
Form zu gewinnen; so wenig das Mystische an sich mittheilbar an
einen Anderen ist, so wenig ist es fassbar für das Bewusstsein des
Denkers selbst; es ist eben wie alles TJnbewusste erst dann dem
Bewusstsein ein bestimmter Inhalt, wenn es in die Formen der
Sinnlichkeit eingegangen, als Licht, Klarheit, Vision, Bild, Symbol
oder abstraoter Gedanke; vorher ist es nur absolut unbestimmtes
Gefühl, d. h. das Bewusstsein erfährt nichts als Seligkeit oder Un-
seligkeit schlechthin. Wird nun das Gefühl erst durch Bilder oder
Gedanken der Art nach bestimmt, so ruht in diesem Bild oder Ge-
danken allein für das Bewusstsein der Inhalt des mystischen Be-
soltates und es ist mithin kein Wunder, dass, wenn bei Abschwä-
ohnng der mystischen Kraft neue Eingebungen ausbleiben, das
Bewusstsein sich an diese sinnlichen Residuen hält, — am wenigsten,
wenn Andere dies thun, denen nur jene Besiduen und nicht die
damit verknüpften Gefühle mitgetheilt werden können, nicht jenes
unbestimmte Etwas, welches dem productiven Mystiker sagt, dass
seine Bilder und Gedanken immer noch ein unvollkommener Aus-
druck der übersinnlichen Idee sind. Die Mittheilung verlangt aber
noch mehr, der Andere will nicht bloss das Was der mystischen
Besultate haben, sondern auch das Warum, denn der productive
Mystiker erhält zwar durch die Art, wie er dazu kommt, eine un-
mittelbare Gewissheit, aber woher soll ein Dritter die XJeberzeugung
nehmen? Die Beligion hilft sich hier eben mit dem das selbst-
ständige TJrtheil vernichtenden Surrogat des Autoritätenglaubens,
die Philosophie aber versucht das, was sie 'mystisch empfangen,
rationell zu beweisen, und dadurch das Alleingut des Mystikers
2um Gemeingut der denkenden Menschheit zu machen. Kur zu
häufig sind, wie es bei der Schwierigkeit des Gegenstandes nicht
anders sein konnte, diese rationellen Beweise verunglückt, indem
sie, abgesehen von dem, was an ihnen wirklich \inrichtig ist, selbst
wieder auf Voraussetzungen beruhen, von deren Wahrheit nur
mystisch die üeberzeugung gewonnen werden kann; und so kommt
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es, dass die verschiedenen philosophischen Systeme^ so Vielen sie
auch imponiren, doch nur für den Verfasser und für einige Wenige
volle Beweiskraft haben, welche im Stande sind, die zu Grunde
liegenden Voraussetzungen (z. B. Spinoza's Substanz ^ Eichte's Ich,
Schelling's Subject-Object, Schopenhauer's Wille) mystisch in sich
zu reproduciren, und dass diejenigen philosophischen Systeme, welche
sich der meisten Anhänger erfreuen, gerade die 6tllerärmsten und
unphilosophischsten sind (z. B. der Materialismus und der rationa-
listische Theismus).
Sollte ich den Mann nennen, den ich für die Blume des phi-
losophischen Mysticismus halte, so sage ich Spinoza: als Ausgangs-
punct die mystische Substanz, als Endpunct die mystische liebe
Gottes, in der Gott sich selber liebt, und alles Uebrige sonnenklar
— nach mathematischer Methode.
Gewiss hat Spinoza nicht geglaubt, Mystiker zu sein, sondern
vielmehr vermeint, Alles so sicher bewiesen zu haben, dass Jeder
es einsehen müsse, und doch hat sein System, so sehr es imponirt,
gar nichts üeberzeugendes und so Wenige überzeugt, weil man zu-
nächst von der Substanz in Spinoza's Sinne überzeugt sein mnss,
was nur ein Mystiker kann, oder ein Philosoph, der zum Schlüsse
seines Systemes dieselbe auf andere Weise erreicht hat, und dann
den Spinozismus nicht mehr braucht Aehnlich ist es aber mit
allen anderen Systemen, ausgenommen die wenigen, die von unten
anfangen, wie Leibniz und die Engländer, dann aber auch nicht weit
kommen, und eigentlich nicht mehr Systeme zu nennen sind. Der
vollständige rationelle Beweis für die mystischen Eesultate kann
erst am Schlüsse der Geschichte der Philosophie fertig sein, denn
letztere besteht, wie gesagt, ganz und gar in dem Suqhen dieses
Beweises.
Endlich dürfen wir nicht unterlassen, auf die Gefahr des In-
thums aufmerksam zu machen, welche in der Mystik liegt, und
welche in dieser darum so viel schlimmer ist, als im rationellen
Denken, weil letzteres in sich selbst und in der Mitwirkung An-
derer die Controle und Hoffnung der Verbesserung hat, der in
mystischer Gestalt eingeschlichene Irrthum aber unaustilgbar fest
eingewurzelt sitzt. Dabei darf man aber nicht daran denken, als
ob das Unbewusste falsche Eingebungen ertheilte, sondern es ertheilt
dann gar keine, und das Bewusstsein nimmt die Bilder seiner un-
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in^irirten Phantasie dennoch fUr Inspirationen des ünbewussten,
weil es sich nach diesen sehnt.
Es ist im wachen Zustande bei mystischer Stimmung ebenso
Bohwer, eine wahrhafte Eingebung des XJnbewussten von blossen
Einfallen der Phantasie zu unterscheiden , als einen hellsehenden
Traum von einem gemeinen ; wie hier nur der Erfolg, so kann dort
nur die Reinheit und der Werth des Besultates diese Frage ent-
scheiden. Da aber die wahren Inspirationen immerhin seltene Zu-
stände sind, so ist leicht einzusehen, dass bei Allen, die solche
mystische Eingebungen herbeisehnen, sehr viele Selbsttäuschungen
auf eine wahre Eingebung kommen müssen, es ist also nicht zu
yerwundem, wie viel Unsinn die Mystik zu Tage gefördert hat,
imd dass sie deshalb jedem rationellen Kopfe zunächst heftig
▼iderstehen muss.
▼• HtttBMui, PhU. d. üiib«ini88teB. 19
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1
Das Unbewnsste in der CfescMchte.
Natur und Geschichte , oder die Entstehung der OrganismeB
und die Entwiokelung des Menschengeschlechtes sind zwei parallele
Prableme. Die Frage heisst in beiden Fällen : particuläre Zufallig-
keji oder allgemeine Nothwendigkeit der Resultate, todte Cauaalitäi
oder lebendige Zweckmässigkeit, blosses Spiel der Atome und Indi-
viduc^n oder einheitlicher Plan und Leitung des Ganzen? Es wiid
dem, welcher die Frage für die Natur zu Gunsten der Zweckmässig-
keit entschieden hat, nicht schwer werden, dies auch für die Ge-
i^chichte zu thun. Was dabei täuschen kann, ist der Schein der
Froiheit der Individuen. Zunächst glaube ich mich darauf berufen
^u können, dass die neuere Philosophie einstimmig die Frage der
Willims&eiheit dahin entschieden hat, dass yon einer empirischen
Freiheit des einzelnen Willensactes im Sinne der unbedingt-
hoit keine Bede sein könne, da dieser wie jede andere Naturer-
gchcujung unter dem Gesetze der GausaHtät steht und aus dem
augenblicklich gegebenen geistigen Zustande des Menschen und den
auf ihn wirkenden Motiven mit Nothwendigkeit folgt, dass vielmehr,
wenn von einer ausserhalb der naturgesetzlichen Causalitat
titchc^nden Willensfreiheit die Bede sein kann, diese nur in dem
üb€rHimilichen Gebiet (nrnndus notd/menon), in Kant's intelligibelm
Character, gesucht werden kann, aber nicht im einzelnen Willens-
mt0 wohnen kann, da jeder solche in die Zeit fällt, also in das
Gebiet der Erscheinungswelt gehört und damit dem Causalitötsge-
Betze, d. h. der Nothwendigkeit, unterworfen ist Dies und die
Gründe, warum wir dem Schein einer Willensfreiheit unterworfen
sind, ist nachzulesen in Sehopenhauer's Schrift: „über die Freiheit
6m Willens."
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Aber gesetzt d^i Fall, wir lieBsen Bogar die empirisohe Wil-
lensfreiheit gelten, so würde, wenn wir überhaupt einen planyoUen
Bntwiokelungsgang in der Geschichte anerkennen, dieser doch nur
dann das Besoltat der Freiheit der Individuen sein können ^ wenn
das Bewusstsein des nächsten zu thuenden Schrittes mit seiner
ganzen Bedeutung und seinen Folgen in jedem mit Freiheit an der
Geschichte Mitwirkenden yorhanden wäre, ehe er thätig eingreift.
Allerdings nähern wir uns seit dem letzten Jahrhundert jenem
idealen Zustande^ wo das Menschengeschlecht seine Geschichte mit
BewQBstsein macht, aber doch nur sehr von Weitem und in hervor-
ragenden Köpfen, und Niemand wird behaupten wollen, dass der
bei Weitem grössere schon zurückgelegte Theil des ganzen Weges
auf diese Weise überwunden sei. Denn die Zwecke des Einzelnen
nnd immer selbstsüchtig. Jeder sucht nur sein Wohl zu fordern^
und wenn dies zum Wohle des Ganzen ausschlägt, 90 ist es sicher
nicht sein Verdienst; die Ausnahmen von dieser Eegel sind so
selten^ dass sie für das grosse Ganze gar nicht in Betracht kommen.
Bas Wunderbare aber ist eben dabei, dass auch der Geist, der das
Böse will, das Gute schafft, dass die Besultate durch Combination
der vielen Tcrschiedenen selbstsüchtigen Absichten ganz andere
werden, als jeder Einzelne gedacht hatte, und dass sie letzten
Endes doch immer zum Wohle des Ganzen ausschlagen, wenn auch
oft der Nutzen etwas weitaussehend ist, und Jahrhunderte des
B&cksehrittes dem zu widersprechen scheinen; aber dieser Wider-
sprach ist. nur scheinbar, denn sie dienen nur dazu, die Kraft eines
alten Gebäudes zu brechen, damit ein neues, besseres Platz findet,
oder eine Vegetation verwesen zu lassen, damit sie den Dünger zu
einer neuen , schöneren giebt. Auch Jahrtausende des Stillstandes
auf einer Stelle der Erde dürfen uns nicht beirren, wenn nur diese
ColtnrBtufe zu irgend einer Zeit irgend einen bestimmten ihr eigen-
ihümlichen Beruf erfüllt hat, und wenn nur zu derselben Zeit an
eiser anderen Stelle der Entwickelungsprocess vorwärts geht.
Ebensowenig darf man, wie so häufig unbilliger Weise geschieht,
Terlangen, dass an ein und derselben Stelle alle verschiedenen
Zweige oder Bichtungen gleichzeitig einen ungehemmten Fortgang
nehmen, und sich über StiUstand oder Bückschritt beklagen, wenn
legend ein bestimmter Zweig, dem man vielleicht gerade seine per-
Bonliche Vorliebe zugewandt hat, in Verfall gerathen ist Die Ent-
wiokelung im Grossen und Ganzen geht fort, wenn auch nur immer
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£m oder wenige Momente im Fortschritte begriffen aind und die
Felder der übrigen braoh liegen.
Das schönste und zugleich einfachste Beispiel, wie sich der
Schein der Freiheit im Einzelnen mit der Nothwendigkeit im Qm-
zen vereinigt, ist die Bildung des Staatsverbandes aus dem JS^^nr-
zustande. Kant braucht das schöne Bild eines Waldes, wo jeder Baom
den anderen verdrängen will, und eben darum alle so gerade und
hoch wachsen, dass der Wald ein regelmässiges und schönes Gimxe
wird, während die einzeln stehenden Bäume, die sich unbehindert
ausbreiten können, krumm, schief und knorrig wachsen. Sowohl
der Geselligkeitstrieb, als der Absonderungstrieb, sowohl die Freund-
schaft und Liebe, als Feindschaft und Hass sind im Menschen
Theile der Selbstsucht und bezwecken nur das eigene Wohl und
den eigenen Genuss am fremden Schmerze öder Glücke, und doch
baut sich aus diesen egoistischen Elementen der Staatsverband aii(
indem der Gteselligkeitstrieb die Menschen zur Familie, und die
Feindschaft der Familien unter einander mehrere zu engerer Ye^
bindung, zu Horden, Stämmen, endlich zu Staaten zusammenführt.
Wie die Feindschaft der Stämme den Staatsverband schafft, so schafft
die Feindschaft der Einzelnen im Staate den Bechtsverband. Nieht
Bousseau's Fiction eines eontrtxt aodaly sondern Hobbe's Feindschaft
Aller gegen Alle in Verbindung mit dem Geselligkeit^rincip des
Grotius, mit einem Worte der Mensch als ^cciov JtokitiMV des
Aristoteles, d. h. ein menschlicher Instinct, ist die Ursache der
Staatenbildung. Was wir bei Entstehung des Staates überhaupt
sehen, das kehrt in noch viel wunderbarerer Gestalt bei der histo-
rischen Entwickelung der Staatsidee zu immer vollkornmeneren
Formen wieder, worin doch eine der wichtigst^i Seiten der Geschichte
besteht. Denn die Herstellung des vollkommensten, die ganze bewohn-
bare Erde umfassenden Staatsverbandes ist offenbar das Ziel def poli-
tischen Geschichte ; nur in ihm, nur im gesicherten Frieden, wo alle
Ausgaben auch wirklich der Gultur wieder zu Gute kommen, können
alle menschlichen Anlagen der Individuen sich ungehindert ent-
wickeln, und diese Entwickelung aller vorhandenen Anlagen, die
Verwirklichung aller im Menschengesehlechte schlummernden Mö^
Uchkeiten ist, wenn nicht die positive AuiJi^abe der Menschheit
selbst, so doch ihre unmittelbare Vorbedingung.
Ich will versuchen, mit wenig Strichen das Skelett der Ent-
wickelung der Staatsidee zu zeichnen, wie ich sie mir denke. Die
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Geeehiehte seigt drei Hauptgegensätxe im 8taatenleben^ Grossstaat
und Kleinstaat, Republik und Monarchie , indireote und directe
Verwaltung. Die Aufgabe ist, Grossstaat und Bepublik als die vor-
süglieheren Formen mit einander zu verbinden, das Mittel dazu die
iodirecte Verwaltung. — Die patriardialischen Stammhäuptling-
sekaftai und Eönigthümer zeigen uns die Verbindung von Klein-
staat xmd Monarchie, die asiatischen Despotien die von Grossstaat
ond Monarchie. Hier hat nur £iner bürgerliche Freiheit, alle
Anderen sind unfreie Sclayen oder Leibeigene des Herrschers. Die
griechischen Städte und Landschaftsrepubliken sind das erste Bei-
spiel der Bepublik; von ihrem zerrissenen Ländchen begünstigti
konnten die Griechen selbst in ihren kleinen Kleinstaaten die Be-
publik erst als Aristokratie der freien Bürger darstellen, welche
über die doppelte Anzahl Sclaven herrschen. Das römische Welt-
reich verbindet die griechische Stadtrepublik mit dem asiatischen
Oroflsstaatsdespotismus; an die Stelle des Despoten tritt die römische
Bürgerschaft, und alle unterworfenen Länder enthalten nur Sclaven.
Als daher die republikanische Kraft der römischen Bürger erschlaffte,
fiel es ebenJßEdls in die Grossstaatsmonarchie zuiück. — Das Ger-
manenthum bringt durch das Lehenswesen ein neues Frincip in die
Staatsidee, das der indirecten Verwaltung oder des pyramidalen
Stofenbaues der Herrschaft, während das Alterthum nur directe
Terwaltung gekannt hatte. Die Alten hatten nur Freie und Sclaven,
jetzt tritt aber vom Könige bis zum leibeigenen Bauer herunter
eine Abstufung der Freiheit ein, indem Jeder der Herr seiner Lehns-
mannen ist. Ich möchte deshalb den Staat des Mittelalters die
Konarchienpyramide nennen. — Die Neuzeit endlich spricht mit dem
Postolat der allgemeinen Menschenfreiheit das entscheidende Wort,
sie strebt nach Grossstaat'Cn, die an den Nationalitäten ihre natür-
liehen Grenzen haben, sie führt die griechische Städterepublik in
der Selbstverwaltung der Städte und Gemeinden zurück, und findet
in dem Princip der Vertretung durch gewählte Abgeordnete das
Mittel zum Aufbau einer Bepublikenpyramide, von der bis jetzt das
l>C8te, keineswegs vollkommene Beispiel in Nordamerika best^t»
▼elohe aber dereinst nach allgemeiner Verbreitung der Cultur alle
Länder der Erde in sich fassen muss und wird. — Die Constitution
als Mittelding von Monarchie und Bepublik ist nichts als eine un-
geheuere offene Lüge, und hat eine historische Berechtigung eben
nur als TJebeigangsformation und politische Schule der' Völker. — In
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— T
dfiT Staatenrepublik y welche freilich erst zu Stande kommen wird,
wean die einzelnen Staaten Republiken geworden sind, wird der
Naturzustand der Staaten unter einander in den Rechtszustand,
und der Selbstschutz durch den Krieg in den Rechtsschutz dareh
die Btaatenrepublik übergehen, wie der Naturzustand und Selbst-
schutz des Einzelnen in den Rechtszustand und Rechtsschuts bei
Entatehung des Staates übergeht.
Neben dieser Entwickelungsreihe her läuft eine andere tod
tifit ergeordneter, aber immerhin nicht zu unterschätzender Wichtig-
keit, nämlich die von der nationalen Theokratie des JudentixomB
zum Versuche der kosmopolitischen Theokratie des Katholicismns.
Die kosmopolitische Vorbildung durch die christlichen Ideen des
Katholicismus hat nicht wenig zur Machtentfaltung des modernen
Ko,Hmopolitismus beigetragen.
Eine zweite, mit der politischen gleichberechtigte Seite der
Geachichte ist die sociale Ent Wickelung. Sie zeigt vier
Hattptphasen. Die erste ist der freieNaturzustand, wo Jeder-
mtmn nur für sich und seine Familie arbeitet, wie z. B. bei den
indianischen Jägerstämmen. Aus diesem Zustande ist ein Aufschwung
mi grösserer Wohlhabenheit, und dadurch zu grösserer Cultur unmög-
lich, weil es bei der atomistischen Freiheit der Einzelnen kein
Mut IT giebt, welches sie zur Arbeitst h eilung bringen könnte»
dtiruh welche allein diejenige Arbeits er sparniss möglich wird,
wo l che zu einer Mehrproduction über die augenblicklichen Lebens-
bedüi&isse hinaus, d. h. zu einer Erhöhung des NationalwohlstandeA
durch Gapitalansammlung, unentbehrlich ist.
Die zweite Phase ist die der persönlichen Herrschaft,
wo der Herr der Eigenthümer der Personen oder doch der Arbeits-
kräfto seiner Sclaven, resp. Leibeigenen ist. Hier findet der Herr
eü ^ßhi bald in seinem Interesse, eine Arbeitstheilung unter seinen
Sckven einzuführen, deren Arbeit nun einen Ueberschuss über ihre
und Beine Lebensbedür&isse abwirft, welcher zur Herstellung pro-
ductiver Anlagen (Capital) yerwerthet wird. So wächst der National-
reichihum durch Capitalaufhäufung, kommt aber freilich nur den
Herren, nicht den Knechten zu Gute. Ein Beispiel dieser Btde
giebf das römische Reich und das Mittelalter.
Die dritte Phase ^ welche erst durch längere Wirksamkeit der
iwoiten mißlich gemacht wird, ist die der Capitftlsherrschaft
In dieser Periöd« wird das, bisher allein wichtige^ immobile Capital
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durch das mobile überholt, und gezwungen, sich selbst mehr und
mehr zu mobilisiren, wenn es nicht unverhältnissmässig an Werth
Terlieren will Dieser Process vollzieht sich gleichzeitig und in
Wechselwirkung mit der allmähligen Milderung und Aufhebung der
Leibeigenschaft, durch welche die Arbeitskraft zur freien Waare
wird, und den allgemeinen Gesetzen des Preises (der sich durch
Nadifrage und Angebot bestimmt) yerfäUt. Da das Capital die
Arbeitstheilung in weit grossartigerem Maassstabe organisiren kann,
60 wird nun auch eine weit grössere Quote der Gesammtarbeit für
die Gegenwart entbehrlich und für die Zukunft, d. h. zu productiven
Anlagen, verw^idbar, also muss auch die Gapitalsyermehrung und
daa Wachsen der nationalen Wohlhabenheit in weit schnellerer
Progression als in der vorigen Phase vor sich gehen. Aber auch
hier kommt diese Vermehrung des Nationalreichthums wesentlich
nar den Capitalsbesitzem zu Gute, da derjenige Theil davon, welcher
auf den Arbeiterstand entfallt, sofort eine Vermehrung der Kopf-
sahl des Arbeiterstandes zur Folge hat, welche den bei der Re-
partirung auf den Einzelnen entfallenden Antheil stets auf der
Höl^e des gewohnheitsmässig erforderlichen Minimums des Lebens-
imterhaltes erhält. Dies bestätigt die Erfahrung wenigstens für die
dem Weltmarkt zugänglichen industriellen Arbeitskräfte. — Aber
auch das mobile Capital ist eine Idee, die sich entwickelt und zur
Blüthe gelangt, um nach erfüllter Aufgabe abzusterben und anderen
Gebilden Platz im machen ; auch seine historische Aufgabe ist eine
Torübergehende und besteht nur darin, der folgenden Stufe die
Stätte zu bereiten, sowie die Aufgabe der Sclaverei nur darin be-
stand, die Capitalsherrschaft vorzubereiten und möglich zu machen.
Diese vierte und letzte Phase ist die der freien Associa-
tion. Wenn nämlich der Werth der Sclavarei und Capitalsherr-
adiaft nur danach zu bemessen war, in wieweit sie eine Arbeits-
theilong, und dadurch Arbeitserspamiss, ermöglichten und herbei-
föhrttti, so müssen diese immerhin noch höchst unvollkommenen
Zwangsmittel der Geschichte, die nebenher unsägliches Elend im
Geleite fähren, überflüssig werden, sobald Character und Verstand
des Arbeiters bis zu dem Grade der Bildung entwickelt sind, um
durch freies, bewusstes Uebereinkommen einen ihm angemessenen
Theü der Arbeit in der allgemeinen Arbeitstheilung zu übernehmen.
Wie es voriier die Schwierigkeit war, den freigelassenen Solaven
übeibaupt zur freiwilligen Arbeit zu erziehen, so ist jetzt die
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Scbwierigkeit die, den Arbeiter zu der Reife zu erziehen» um ans dem
Joche der Oapitalsherrschaft freigelassen, in der Association den ihm
zukommenden Platz angemessen auszufüllen. Diese Erziehung zu
üben (durch Schultze-Delitzsch'sche Vereine, bessere Schulbildimg,
Arbeiterbildungsvereine u. s. w.)> das ist die wichtigste sociale
Aufgabe der Gegenwart. Die freie Association wird die Zukunft
von selbst hervorbringen, wenn man auch noch nicht genau sagen
kann, mit welchen Ifiitteln und Wegen.
Wenn schon die Oapitalsherrschaft in der Arbeitstheilung viel
mehr leistete, als die Sclaverei, so wird die freie Association die
erstere noch in ungleich höherem Ghrade übertreffen (man denke
an eine einheitliche Organisation von Production und Absatz aof
der ganzen Erde, analog der einheitlichen politischen Organisation
auf der ganzen Erde); dem entsprechend wird aber auch das Wadu-
thum des Erdenreichthums in so viel schnellerer Progression stat^
finden, als gegenwärtig, vorausgesetzt, dass derselbe nicht auch hier
durch Vermehrung der Bevölkerungszahl paralysirt oder gar über-
boten wird, welcher freilich durch das Maximum der Ton der ge-
sammten Erde hervorzubringenden Nähr- und Futterpflanzen und
der vom Wasser zu liefernden Fische ihr Maximum gesetzt wird.
Das Endziel dieser socialen Entwickelung würde das sein, da»
Jeder bei einer Arbeitszeit^ die ihm für seine intellectuelle Ansr
bildung genügende Müsse lässt, ein comfortables, oder wie man mit
einem volltönenderen Ausdrucke zu sagen beliebt, ein menschen-
würdiges Dasein führe. So würde, wie der politische Endzustand
die äussere, der sociale Endzustand dem Menschen die mate-
rielle Möglichkeit gewähren, nunmehr endlich seine positive,
eigentliche Au%abe zu erfüllen.
Wenn die politischen und socialen Fragen für uns augenblick-
lich noch die dringendsten sind, so steht doch jener eigent-
lichen und letzten Aufgabe des Menschen bei Weitem näher die
dritte Seite der Geschichte, welche den Fortschritt der intellee-
tuellen Bildung zeigt, und welche insofern wohl als der wichtigste
Theil derselben zu bezeichnen sein dürfte. Zu ihm gehört die
Entwickelung von Kunst, Religion und Wissenschaft. Wenn der
Ursprung der beiden ersteren in Cap. B. V und IX wesentlich dem
Unbewussten zugeschrieben werden musste, so ist die Wissenschaft
ailerdingB dasjenige Gebiet , wo das Bewnsstsein am meisten seine
eigene Kraft entfaltet. Dennoch wird maii nicht fürchten dürfen,
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irre zu gehen, wenn man behauptet, dass auch groBse und wiohtigiß
wissenschaftliche Erfindungen, welche in irgend einer Beziehung
eme neue Wendung geben, fast immer nur dann gemacht werden,
wenn die betreffende Zeit im Gkmzen und Grossen für diese Wen-
dtmg oder Neuerung reif ist, und schon anfängt ihr Bedürfhiss zu
fahlen.
Auch wird man bei der Wissenschaft, die ihrem Begriffe nach
die Wissenschaft xar Hoxijv und die Einheit der übrigen sein
will, bei der Philosophie, sowohl Obiges bis in's Kleinste bestätigt
finden, als auch überhaupt in deren Geschichte nach dem Vorgänge
Hegers einen so organisch gegliederten Bau erkennen, dass man
ihn selbst dann noch nicht dem bloss bewussten Schaffen der
Denker zuschreiben könnte, wenn man nicht wüsste, wie dieselben
groBsentheils von der vorangegangenen Entwickelung gar keine oder
nur sehr bruchstückweise und ungenaue Kunde hatten, und oft ihre
eigene Stellung in dieser ganzen Entwickelung gar nicht verstanden.
Kehren wir von dieser Abschweifung über den Inhalt der
Geschichte zu unserem eigentlichen Thema' zurück.
Wenn wir in diesem Ganzen der Entwickelung einen einheit-
lichen Plan, ein klar vorgeschriebenes ZiA, welchem alle Ent-
wickelungsstufen zustreben, nicht verkennen können, wenn wir
andererseits zugeben müssen, dass die einzelnen Handlungen, welche
diese Stufen vorbereiteten oder herbeiführten, keineswegs dieses
Ziel im Bewusstsein hatten, sondern dass die Menschen fast immer
ein Anderes erstrebten, ein Anderes bewirkten (z. B. Alezander,
Kreuzzüge, Napoleon), so müssen wir auch anerkennen^ dass noch
etwas Anderes als die bewusste Absicht der Einzelnen, oder die
zufällige Gombination der einzelnen Handlungen in der Geschichte
Terborgen wirkt, jener „weitreichende Blick, der schon von ferne
entdeckt, wo diese regellos schweifende Freiheit am Bande der
Nothwendigkeit geleitet wird, und die selbstsüchtigen Zwecke des
finzelnen bewusstlos zur Vollführung des Ganzen ausschlagen.'^
(Schiller, Bd. VII. S. 29—30). Schelling drückt dies im System
des transcendentalen Idealismus (Werke I. 3. S. 594) so aus: ,Jn
der Freiheit soll wieder Nothwendigkeit sein, heisst also ebensoviel
als: durch die Freiheit selbst, und indem ich frei zu handeln
glaube, soll^ bewusstlos, d. h. ohne mein Zuthun, entstehen, was ich
nieht beabsichtigte; oder anders ausgedrückt: der bewussten, also
jener freibestimmenden Thätigkeit, die wir früher abgeleitet haben,
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soll eine bewusstloBe entgegenstehen, durch welche der nneing^
Bchränktesten Aeusserong der Freiheit unerachtet Etwas ganz im-
willkürlich, und vielleicht selbst wider den Willen des Handelnden,
entsteht, was er selbst durch sein Wollen nie hätte realisiren kour
nen. Dieser Satz, so paradox er auch scheinen möchte, ist dooh
nichts Anderes als der transcendentale Ausdruck des allgemein an-
genommenen und vorausgesetzten Verhältnisses der Fseiheit zu
einer verborgenen Nothwendigkeit, die bald Schicksal, bald Vor-
sehung genannt wird, ohne dass bei dem einen oder dem andere
etwas Deutliches gedacht würde, jenes Verhältnisses, kraft dessen
Menschen durch ihr freies Handeln selbst, und doch wider ihren
Willen, Ursache von Etwas werden müssen, was sie nie gewollt,
oder Kraft dessen umgekehrt Etwas misslingen und zu Schanden
werden muss, was sie durch Freiheit und mit Anstrengung aller
ihrer Kräfte gewollt haben." (Ebd. S. 598.) ,J)iese Nothwendig-
keit selbst aber kann nur gedacht werden durch eine absolofte
Synthesis aller Handlungen, aus welcher Alles, was geschieht, also
auch die ganze Geschichte sich entwickelt, und in welcher, weil
sie absolut ist, Alles zum Voraus so abgewogen und berechnet ist,
dass Alles, was auch ^schehen mag, so widersprechend und dishar*
monisch es scheinen mag, doch in ihr seinen Vereinigungspunct
habe und finde. Diese absolute Synthesis selbst aber muss in das
Absolute gesetzt werden, was das Anschauende und ewig und all-
gemein Objective in allem freien Handeln ist'' Wer diese Stelle,
von der man wohl sagen kann, dass sie die Ansicht aller Philo-
sophen seit Kant repräsentirt, und deren Inhalt von Hegel in der
Einleitung zu seinen „Vorlesungen über Philosophie der Oeschiohte'
ausführlich reproducirt worden ist, recht verstanden hat, für den
habe ich nichts hinzuzufügen. Wer bei den Begriffen Schicksal
oder Vorsehung stehen bleiben will, dem kann man eben nur ent-
gegenhalten, dass er sich dabei nichts Deutliches zu denken ver-
mag, wie meine That, sei sie nun das Werk meiner Freiheit, oder
das Product meines Gharacters und der wirkenden Motive, wie
diese meine That einen anderen als meinen Willen zur Ver-
wirklichung bringen solle, etwa den eines im Himmel thronenden
Gottes. Nur einen Weg giebt es, auf dem diese Forderung erfüll-
bar ist, wenn dieser Gott in meinen Busen hinabsteigt, und mein
Wille mir unbewusster Weise zugleich Gottes Wille ist, d. h. wenn
ich nnbewusst noch ganz etwas Anderes will, als was mein Be-
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299
WQSstsein aoBschliesslich zu wollen glaubt, wenn ferner das Be-
woBstBein aioh in der Wahl der Mittel zu seinem Zwecke irrt, der
onbewusste Wille aber dieses selbe Mittel für seinen Zweck an-
gemessen erwählt. Anders als so ist dieser psychische Process
Bchlechterdings nicht denkbar, und dasselbe ist auch in der ersten
Hälfte der ScheUing'schen Stelle gesagt. Wenn wir nun aber ohne
einen unbewussten Willen neben dem bewussten Willen nicht aus-
kommen, wenn wir andererseits das uns längst bekannte Hellsehen
der unbewussten Vorstellung hinzunehmen, wozu dann noch einen
Gott in's Spiel bringen, wo das Individuum mit den uns bekannten
Fähigkeiten allein fertig werden kann? Was ist dies Schicksal oder
Yoisehung denn weiter, als das Walten des Unbewussten, des histo-
rischen Instinctes bei den Häufungen der Menschen, so lange eben
ihr bewusster Verstand noch nicht reif genug ist, die Ziele der
Geschichte zu den seinigen zu machen? Was ist der Staaten-
bildongstrieb sonst als ein Masseninstinct wie der Sprachbildungs-
trieb, oder der Staatenbildungstrieb der Insecten, nur mit mehr
EingrifEim des bewussten Verstandes gemischt?
Wenn beim Thiere, wie wir gesehen haben, der Instinct immer
gerade dann eintritt, wenn ein auf andere Weise nicht zu befriedi-
gendes Bedürfniss vorhanden ist, was Wunder, wenn auch in allen
Zweigen der geschichtlichen Entwickelung der rechten Zeit stets
der rechte Mann geboren wird, dessen inspirirter Genius die unbe-
wussten Bedürfoisse seiner Zeit erkennt und befriedigt? Hier ist
das Sprüchwort Wahrheit: wenn die Noth am höchsten, ist die
Hülfe am nächsten.
Warum sollen wir beim * historischen Instincte des Menschen
eben Gott bemühen; wenn wir ihn bei den anderen Instincten
allen nicht för nöthig befanden haben? Nur wenn sich im Fort-
gange der Untersuchung zeigen sollte, dass das Unbewusste der
Individuen nichts Individuelles mehr an sich hat, dann wird Schel-
ling auch im zweiten Theil der angeführten Stelle Becht behalten,
dass das Absolute das Anschauende (Hellsehende) in allem solchen
Handeln und desen absolate Synthesis (Ineinsfassung) ist, oder wie
Kant es einmal ausdrückt (Werke VIL 367), dass „der Instinct
die Stimme Gh>ttes ist/'
Wenn wir das Stehenbleiben bei der Vorstellung eines Fatums
oder einer Vorsehung für unzulässig befunden hatten, so ist damit
nicht gesagt, dass diese Anschauungsweisen, ebenso wie die der
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300
aufiBcliHesBlichen Selbstthätigkeit der Individuen in der Geschichte,
ait flieh anber^chtigt , sondern nur, dass sie einseitig seien. Die
kriechen, Bomer und Muhamedaner haben mit der Yorstellong der
%i^a^^ivri oder des Fatums ganz rechte insofern dies die absolnte
Noth wendigkeit alles Geschehenden am Faden der Gausalität bedeu-
tet, ^o dass jedes Glied der Reihe durch das vorhergehende, also
die ganze Reihe durch das Anfangsglied bestimmt und voriierbe-
atimmt ist. Das Christenthum hat mit der Vorstellung der Vor-
sebung Rechte denn Alles, was geschieht, geschieht mit absoluter
Webheit absolut zweckmässig, d. h. als Mittel zu dem vorge-
sehenen Zweck, von dem nie irrenden XJnbewussten, welches daB
absolut Logische selbst ist. In jedem Moment kann nur Bines
lofcbth sein, und darum kann immer nur das Eine und mnBS
rlici^ Bine logisch Geforderte geschehen, ebenso zweckmässig als
iiothwendig. Die moderne rationalistisch-empirische Auffassung end-
lich bat Recht, dass die Geschichte das ausschliessliche Resultat
der Selbstthätigkeit der nach psychologischen Gesetzen sich
»i^lbt^i bestimmenden Individuen ohne jedes Wunder eines Eingriffes
höherer Mächte ist. Aber die Anhänger der beiden ersten Ansich-
ten haben Unrecht , die Selbstthätigkeit, die der letzten Unrecht,
Faiiim und Vorsehung zu ne^en, denn die Vereinigung aller drei
Staiujpuncte ist erst die Weihrheit. Gerade diese Vereinigung war
ab(T äioh selbst widersprechend, so lange man bloss bewusste Seelen-
thäti^^keit des Individuums annahm; erst die Erkenntniss des Üb-
be-wuasten macht dieselbe möglich und erhebt sie zugleich zor
Kvidenz.
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XL
Das Unbewusste und das Bewnsstsein in ihrem Werth
ffir das menschliche Leben.
Ben Werth des Unbewussten habe ich bisher genug henror-
g^ioben, so dass es scheinen könnte, als wollte ich mich einer
Parteilichkeit fär dasselbe dem Bewnsstsein gegenüber schuldig
aiaohen. Biesen Vorwurf zurückzuweisen, den Werth des bewussten
Benkens in Erinnerung zu bringen, und den Werth des Bewussten
und Unbewussten und ihre verschiedene Stellung zum Leben mit
einander zu yergleiohen, ist die Aufgabe dieses Capitels.
Betrachten wir zunächst den Werth des Bewussten, also der
bewussten Ueberlegung und der Anwendung der erworbenen be-
wussten Erkenntniss für den Menschen.
Bie Grundfrage würde die sein: ,ykann Ueberlegung und Er-
kttintniss auf das Handeln und auf den Gharacter bestimmend ein-
wirken, und auf welche Weise?" Bie bejahende Antwort, mit
welcher der gemdne Menschenverstand nicht zögern würde, könnte
durch die Erwägung in Zweifel gestellt werden, erstens, dass der
bestimmte Wille^ aus welchem die Handlung hervorgeht, aus einer
Eeaction des Characters auf das Motiv entspringt, ein Frocess, der
dem Bewnsstsein ewig verschlossen bleibt, und zweitens, dass Wol-
len und Vorstellen incommensurable Binge sind, weil sie ganz ver-
schiedenen Bphären der Oeistesthätigkeit angehören. Bie Hetero-
genität und Incommensurabilität beider findet aber daran ihre
Grenze, dass eine Yorstelking den Inhalt des Willens bildet, und
eine Vorstellung sein Motiv oder Erregnngsgrund, und die ewige
Unbewusstheit des den Willen erzeugenden Processes würde nur
dann jede Erkenntniss der Zusammengehörigkeit von Motiv und
Begehrung völlig unmöglich machen, wenn entweder der Character
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302
an sich schnell yeränderlich wäre, oder keine nothwendige Ge-
setzmässigkeit in dem Processe der Motivation bestände. Da
beide Bedingungen nicht zutreffen, so steht J'edem die Möglichkeit
offen, sich wie der *Arzt' yon denjenigen Arzneien, deren physio-
logische Wirkung ihm unbegreiflich ist, eine empirische Kenntniss
zu sammeln ; welche Begehrung durch jedes Motiv hervorgerufen
werde und in welchem Ghrade. So weit die menschlichen Gharac-
tere sich im Allgemeinen gleichen, wird diese Erkenntniss allge-
meine empirische Psychologie sein, insofern aber die Charactere
verschieden sind, wird sie specielle Selbst- und Menschenkenntniss
sein. Verbindet man hiermit die Kenntniss derjenigen psycholo-
gischen Gesetze, nach welchen die Erregbarkeit der verschiedenen
Arten von Begehrungen zeitweise sich ändert, als z. B. das Gesetz
der Stimmung, das der Leidenschaft, das der Gewohnheit vu s. w^ und
stellt man sich auf bald zu betrachtende Weise vor den Täuschungen
des Intellectes sicher, die durch Affecte herbeigeführt werden, so wird
man, alle diese Bedingungen in idealem Maasse erfüllt, für jedes
Motiv die Art und den Grad der aus demselben folgenden Begierde
in jedem Augenblicke vorherwissen, und werden alsdann die in
Gapitel III. und IV. erwähnten Irrthümer über den Ausfall des
unbewussten willenerzeugenden Frocesses von selbst fortfallen.
Da nun jedes Motiv nur die Form der Vorstellung haben kann,
und das Erzeugen von Vorstellungen dem bewussten Willen unter-
worfen ist, so folgt aus dem Gesagten die Möglichkeit, durch will-
kürliche Erzeugung einer Vorstellung, die man als Motiv ein^
gewissen Begehrung kennt, mittelbar diese Begehrung zu erwecken.
Da femer der Wille nichts ist ab die Resultante aller gleichzei-
tigen Begehrungen, und da die Vereinigung aller Componenten zu
der einen Besultante die einfache Form einer algebraischen Summe
hat, weil ja alle Componenten in Hinsicht auf eine zu thuende oder
zu unterlassende Handlung nur die zwei Baohtungen, positive oder
negative, haben können, so folgt weiter die Möglichkeit, den Aus-
fall der Besultante dadurch zu beeinflussen, dass man durch will-
kürliches Sichvorhalten der geeigneten Motive eine oder mehrere
neue begehrungen in sich erweckt, oder bereits vorhandene ver*
stärkt. Dasselbe Mittel gilt auch, um solche Begehrungen zu unter-
drücken, welche zwar zu einer Aeusserung im Handeln aus äusser-
liohen Gründen doch so bald nicht gelangen würden, welche aber
durch Störung der Stimmung, Beirrung des Intelleots, Erzeugung
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303
nutsloeer ünlustempfindungen u. s. w, uachtheilig wirken. Niemals
aber kann die bewnsste XJeberlegnng unmittelbar eine vorhandene
Begierde beeinflussen, sondern nur durch mittelbare Erregung
einer entgegengesetzten. — Dass die angeführte Art und Weise der
Beeinflussung des Willens durch den Intellect in der That die
einzig mögliche und überall practisch vorkommende ist, wird Jeder
leicht zugeben, der dieses Gebiet der Psychologie ein wenig zum
Gegenstande seines Nachdenkens macht; dies, sowie dass der
Gegenstand unserem eigentlichen Thema schon femer liegt , hält
mich von weiterer Ausführung desselben ab. Ich will nur noch
anführen, dass sich allein von diesem Standpuncte aus eine Cha-
racterveränderung aus bewusster Ueberlegung erklären lässt. Wir
haben nämlich die Möglichkeit gesehen, in jedem einzelnen Palle
den Ausfall der Besultante anders zu bestimmen, als es beim
blossen Ueberlassen an das Wirken der sich von selbst darbieten-
den Motive geschehen würde, und dadurch die Möglichkeit, in
jedem einzelnen Falle erfolgreich gegen die Aflecte anzu-
kämpfen, welche in Folge des einmal bestehenden Characters am
leichtesten erregbar sind und daher am häuflgsten aiiftauchen.
Wenn nun diese Unterdrückung bei jeder Gelegenheit regel-
mässig eine längere Zeit hindurch eintritt, so wird sich nach dem
Gesetze der Gewohnheit durch die dauernde TJnthätigkeit und
Nichtbefriedigung des betretenden Triebes seine Erregungsfähigkeit
schwächen, d. h. der Character wird sich ändern. So haben wir
anch die Möglichkeit einer Characterveränderung durch bewusste
Ueberlegung, freilich nur mit Hülfe langer Gewohnheit, begriffen.
Hiermit ist die oben gestellte Grundfrage in ihren beiden
Theilen bejahend beantwortet und wir können nun einen kurzen
üeberblick nehmen über das, was bewusste Ueberlegung und Er-
kemitniss dem Menschen in practischer Beziehung zu bieten vermag.
1. Verhinderung von Täuschungen der Erkennt-
nisB durch den Einfluss von Affecten. Schon früher
haben wir gesehen, wie das Auftauchen der Vorstellungen wesent-
lich vom augenblicklichen Interesse abhängig ist. Daher kommt
M, dass bei vorwaltendem einseitigen Interesse, z. B. Affecten,
▼onugsweise immer Wahrscheinlichkeitsgründe für den dem In-
teresse zusagenden Fall vor das Bewusstsein treten, und weniger
Qegengrönde, dass Scheingründe pro zu gern angenommen werden,
vm als falsch erkannt zu werden, dass aber Scheingründe contra
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304
wenn sie überhaupt auftauchen, sogleich entlarvt» und selbst wahre
Oriinde contra unterschätzt, oder durch Scheingründe widerlegt "Verden,
und 80 entsteht der Irrthum. Kein Wunder also, dass uns Schreokf Jäh-
zorn, sinnliche Begierde so die Besinnung rauben können, dass wir
nicht mehr wissen, was wir sagen oder thun, dass der Haas wha
an den Feinden lauter Fehler, die Liebe lauter Vorzüge an den
Geliebten sehen lässt^ dsAs Furcht in schwarzem, Hoffiiung in rosi-
gem Lichte malt, dass erstere uns oft die auf der Hand liegenden
Rettungsmittel nicht mehr erkennen lässt» letztere uns das Unwalir-
scheinlichste wahrscheinlich macht, wenn es nur unseren Wünschen
entspricht, dass wir uns meist zu unserem Yortheil, selten zu un-
serem Nachtheil irren, und nur zu häufig das für billig und gerecht
halten, was für uns Tortheilhaft ist.
Selbst in die reine Wissenschaft; schleicht sich das Interesse
ein, denn eine Lieblingshypothese schärft den Blick für Alles, was
sie bestätigt, und lässt das Naheliegendste, was ihr zuwiderläuft,
übersehen, oder zu einem Ohr herein, zum anderen hinausgehen.
Hiergegen giebt es zwei Mittel; das erate ist, dass man sieh
ein- für allemal einen vom Grade des Affects oder Interesses ab-
hängigen empirischen Reductionscoefficienten bildet, und mit diesem
in jedem einzelnen Falle den gewonnenen Wahrscheinlichkeits-
coefücienten des ürtheils multiplicirt, das zweite, dass man keinen
Affect in sich bis zu dem Grade aufkommen lässt, wo er das TJr-
theil in merklicher Weise zu trüben anfangt. Letzteres Mittel ist
allein stichhaltig, aber in der Welt missliebig, weil unbequem und
nur durch lange andauernde Gewöhnung an Selbstbeherrschung zu
erreichen; ersteres versagt bei starken AfPecten und Leidenschaften,
wo alle Geisteskräfte sich auf einen Punct concentriren, völlig den
Dienst; auch ist die Grösse des B.eductionscoe£ficienten schwer zu
bestimmen, noch schwieriger die jedesmalige Schätzung des Grades
des eigenen AfiTects. — Der Werth der Klarheit des Intellects
{a(aq>Qoavvfj) ist sehr hübsch bei einem Wortstreit zu beobachten^
wo der Eine sich vom Affecte hinreissen lässt, der Andere nicht
Bei Weibern geht fast jeder sachliche Streit in einen persönlichen
über, gleichviel ob in feinste Ironie oder in Hökerschimpfirorte
gekleidet. Noch eclatanter ist der Werth der Besonnenheit ond
des Niederhaltens von Affecten bei Gefahren.
2. Verhinderung der Unbedachtsamkeit und Un-
schlüssigkeit. Der grösste Theil aller Reue in der Welt ent-
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steht auB anbedachtsamem Handeln , bei welchem die möglichen
Folgen der That nicht nach allen Bichtungen hin überlegt waren,
80 dafis man alsdann von ihrem Eintritt schmerzlich überrascht
wird. Fallen die Übeln Folgen auf den Thäter selbst zurück, so
wird die Unbedachtsamkeit zum Leichtsinn. Alle diese Eeue wäre
also durch Ueberlegung beim Handeln zu verhindern. — Die Un-
Bchlüssigkeit andererseits geht theils aus Mangel an Muth zum
Handeln, theils aus Mangel an Vertrauen zur eigenen Ueberlegung
hervor. Die Oharactereigenschaft des Muthes lässt sich aber auch
durch bewusste Vernunft ersetzen, da Muth das Riskiren eines
Uehek zur Vermeidung eines zweiten, oder zur Erlangung eines
Vortheils ist, unter der Voraussetzung, dass die Chancen für den
Tersuch günstig sind, sei es in Folge des Verhältnisses der Grösse
der beiden Uebel, oder der Wahrscheinlichkeiten ihres Eintretens.
Den Mangel an Vertrauen zur eigenen Ueberlegung corrigirt eben-
üalls die Ueberlegung selbst, indem sie sich sagt, dass Niemand
mehr thun kann, als in seinen Kräften steht, dass er daher, wenn
er dieses Mögliche gethan hat, den Erfolg der Handlung ruhig ab-
warten muss, dass aber das zu lange Ueberlegen nicht bloss in der
Begel nicht weiter führt, als ein kurzes, sondern durch die Ver-
2ögerung der Handlung viel mehr schadet, als eine etwaige Ver-
besserung des Besnltates nutzen kann.
3. Angemessene Auswahl der Mittel zum Zweck.
Wenn ein Zweck unvernünftig ist, so ist er selbst ein zweckwidri-
ges Mittel zu dem Endzweck jedes Wesens, grösstmöglichem Gesammt-
glüok des Lebens, der^ wenn er nicht Jedem klar bewusst ist, doch
als dumpf durchklingender Orgelpunct allen Accorden des Lebens
«u Grunde liegt. Aber auch wo die Zwecke vernünftig sind, oder
ihre Wahl und Beurtheilung dem Einzelnen gar nicht anheimsteht,
sondern ihm nur die Wahl der Mittel ganz oder theil weise über-
lassen ist, wird durch unvernünftige Wahl der Mittel unsäglich viel
übel gemacht, was nie wieder gut gemacht werden kann. Bei
wichtigen Sachen fällt dies genügend auf, aber weit grösser ist der
Eiofluss bei den tausend kleinen Sorgen, Plackereien, Bequemlich-
keiten und Unbequemlichkeiten, Annehmlichkeiten und Unannehm-
lichkeiten des Tages, in dem Verkehr des Geschäftes, des Dienstes,
der Berufsthätigkeit, der Geselligkeit, des Familienlebens, der
Herrschaft und Dienerschaft; hier ist es besonders, wo die vor-
liegenden Zwecke theils durch unpassende Mittel verfehlt, theils
▼. Hartmann, Phil. d. Unbemusten. 20
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306
mit einem imverhältniBsmässigen Aufwand erreicht werden, und wo
auf solche Weise die Leute sich und Anderen durch allerlei Noth,
Plage, Schererei, Aerger und Verdruss das Leben noch schwerer
und bitterer machen, als es ohnehin schon ist. Und weit mehr
Toii allem diesen kommt ^ auf die bomirte Mittelmäßsigkeit der
Narmalmenschen und ihre unpassende Wahl der Mittel zu den
vorliegenden Zwecken als von bösem Willen, so dass man manchee
Mal versucht sein könnte, auszurufen: „wenn die Menschen lieber
stihlechter wären, wenn sie bloss nicht so dumm wären!"
4. Die Bestimmung des Willens nicht nach dem
Hiigenblicklichen Affect, sondern nach dem Princip
den grösstmöglichsten eigenen Gesammtglückes. Das
Thier ist mit den wenigen Ausnahmen der höchststehenden, vom
Menschen geschulten Thiere in seiner Willensbestimmung wesent-
lich vom augenblicklichen, sinnlich und instinctiv erregten Affect
ai^hiingig; wo der Instinct nicht die Zukunft mit in Berechnung
bringt, befasst sich auch das Bewusstsein des Thieres nicht leicht
mit derselben, und nur zu oft muss es unter den Folgen seines ab-
soluten Leichtsinnes leiden. Der Mensch geniesst durch sein höher
entwickeltes Bewusstsein den Vorzug, den Affecten der sinnlichen
tjt'genwart Begehrungen gegenüberstellen zu können, welche durch
Vorstellungen der Zukunft willkürlich erzeugt sind, und hat hierin
eui Mittel, dem Ich der Zukunft seine ideelle Gleichberechtigung
mit dem Ich der Gegenwart zu sichern. Nun ist aber durch die
geringere Lebhaftigkeit der willkürlichen Vorstellungen der Stärke-
grad der gegenüber zu stellenden Begehrungen erheblich beschränkt,
und einem einigermaassen starken, durch sinnliche Gegenwart er-
zeugten Affect sind sie nicht mehr erfolgreich Trotz zu bieten im
Stunde, vielmehr führt ein solcher den Menschen auf den Stand-
punct der Thierheit zurück , und wenn er mit massigem Schaden
und Reue davon kommt, so hat er es dann nur noch seinem guten
Glück zu danken; wenn also das Eecht der zukünftigen Ich's und
dfti^ Princip des grösstmöglichsten eigenen Gesammtglückes gewahrt
werden soll, so bleibt nichts übrig, als das Aufkommen der Affecte
bis au einem' solchen nicht mehr zu bewältigenden Grade zu ver-
hindern, d. h. sie früher zu unterdrücken, am sichersten und leich-
festen im Entstehen. Hier haben wir den zweiten Grund zur
Unterdrückung der Affecte geftinden, — Eine wichtige Aufgabe
dor üeberlegung ist femer die, zu entscheiden, welcher von den
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• 307
yielen gleichzeitigen, in einem Menschen sich kreuzenden Zwecken
des Lebens in jedem Augenblicke am besten gefördert werde, um
iu jedem Augenblicke möglichst viel für das Gesammtglück beizu-
tragen; denn die sich fortwährend ändernden Yerhältnisse verlangen
auch, dass man die Zwecke, an deren Erreichung man gerade ar-
beitet, fortwährend ändert, theils ganz fallen lässt, theils zu gün-
stigerer Zeit wieder anfiiimmt.
5. Werth der bewussten Vernunft für die Sittlich-
keit Die allermeisten unsittlichen Handlungen werden durch
einen klugen Egoismus, der nach dem Princip des grösstmöglichsten
eigenen Gesammtglückes verfahrt, vollkommen verhindert, nament-
lich in einem Staat mit geordneter Rechtspflege und einer Gesell-
schaft, welche solche ünsittlichkeiten , die der Staat nicht strafen
kann, mit ihrer Verachtimg bestraft. Dass nicht viele Fälle übrig
bleiben, in denen das Gebot der Sittlichkeit sich nicht auf egoistische
Weise begründen Hesse, wird schon dadurch bewiesen, dass so viel
Ethiken offen oder versteckt auf dem Egoismus und dem Princip
des grösstmöglichsten eigenen Gesammtglückes basiren, z. B. die
Epikurische, Stoische, Spinozistische. Für alle solche Fälle sieht
man ein, dass die bisher besprochene Vemunftanwendung für die
Sittlichkeit ausreichen muss, und in der That ist nächst der Ge-
wohnheit durch Zwang diese Zurückführung auf den Egoismus fast
die einzig erfolgreiche Art, Moral zu lehren, und zu bessern; was
durch sie nicht erreicht wird, dürfte wohl schwerlich überhaupt
erreicht werden.
Wenn man aber von dem practisch lebendigen Wirken der
Sittenlehre absieht, und den theoretischen Werth der ethischen
Systeme ins Auge fasst, so möchte wohl kein Zweifel obwalten,
dass, welche theoretischen Grundlagen der Ethik man auch für die
wahren halte, es nur solche sein können, die in Grundsätzen der
bewussten Vernunft bestehen, wenn dieselben irgend welchen
wissenschaftlichen Halt besitzen und fähig sein sollen, ein System
zu tragen; weiter will ich mich hier nicht aussprechen, um nicht
zu weit vom Thema abzukommen.
6. Richtige Wahl des Berufes, der Mussebeschäf-
tigung, des Umganges und der Freunde. Wer mit einem
Talent zu einem Talent geboren ist, findet in demselben sein
schönstes Dasein (Göthe), darum ist es sehr wichtig, einerseits
das TaFent in sich zu erkennen, das schon recht bedeutend sein
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.J-
308
und Einem dennoch völlig entgehen kann, und andererseits sioh
nicht in jugendlicher Begeisterung für eine Sache ein Talent ein-
zubilden, das man nicht hat. Wäre nicht Beides häufig der Fall,
so würden nicht so viele Menschen ihren Beruf verfehlen, dessen
Wahl trotz aller Beschränkungen doch dem Individuum noch ziem-
lich viel Spielraum lässt. Noch schwerer ist es, von mehreren
Talenten das grösste herauszufinden, leichter dagegen die ebenfalls
wichtige Wahl der dilettantischen Mussebeschäftigung, weil von ihrem
Wechsel nicht so viel abhängt, und man dadurch Zeit zum Ve>
suchen gewinnt. — Wie die Wahl des Berufes eine grosse Selbst-
kenntniss, so erfordert die Wahl des Umganges und der Freunde
eine grosse Welt- und Menschenkenntniss. Es ist dies einmal ein
menschliches Bediirfniss, und nicht ob, sondern mit wem man um-
gehen will, hat man zu wählen. Die Bedeutung der Sache ermisst
man, wenn man erwägt, wie der Besitz eines einzigen, völlig hai-
monirenden und wahren Freundes über die grössten Unglücksfälle
zu trösten vermag, wie bittere Enttäuschungen aber die Wahl un-
geeigneter Personen bereiten kann. Trotzdem sieht man oft Freund-
schaften schliessen und lange Zeit bestehen, die so gar nicht zu-
sammenpassen, dass man denken sollte , die Leute müssten mit
Blindheit geschlagen sein; in der That aber, betrachteten die
Menschen im Stillen sich nicht wirklich als so unvernünftig, wie
sie sind, so wäre auch das nicht möglich, dass so gewöhnlich Ver-
söhnungen nach Vorfallen stattfinden, die auf Gharacterfehler be-
zogen nie vergeben werden könnten und nur durch Unvernunft zu
entschuldigen sind, daher auch die Menschen ihre schlechten Streiche
gern als Verirrungen bezeichnen. — Am bittersten rächt sich die
unverständige Freundeswahl in der Ehe , weil hier die Lösung des
Verhältnisses am schwersten ist, und doch sieht man hier gerade
auf alle anderen Bücksichten (Schönheit, Geld, Stand, Familie)
mehr als auf die Harmonie der Charactere. Wären die Leute nicht
hernach so geistig indifferent, sich wohl oder übel in einander zu
schicken, wenn sie sehen, dass sie sich in einander geirrt haben,
so würde es noch viel mehr schlechte Ehen in der Welt geben, als
es 80 schon giebt.
7. Unterdrückung nutzloser Unlustempfindungen.
Lust und Unlust besteht in Befriedigung und Nichtbefiriedigung des
Begehrens, welche von Aussen gegeben werden, und welche der
Mensch nur dadurch beeinflussen kann, dass er in die äusseren
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Umstände entsprechend eingreift, was der Zweck alles Handelns
ist. Wenn seine Macht dazu nicht ausreicht, die Befriedigung
seiner Begehrungen herbeizuführen, so muss er eben die' Unlust
tragen, und kann dann diese nur dadurch vermindern oder ver-
nichten, dass er die Begehrung vermindert oder vernichtet, in deren
Kiihtbefriedigung die Unlust besteht. Wenn man dies consequent
bei jeder Unlust durchfährt, so stumpft man nach dem Gesetz der
Gewohnheit die Erregungsfahigkeit der Begehrungen ab, vermin-
dert mithin ebenso die zukünftigen Lustempfindungen als die zu-
künftigen Unlustempfindungen. Wer mit mir der Ansicht ist, dass
im Menschenleben durchschnittlich die Summe der Unlustempfin-
dungen die Summe der Lustempfindungen bei Weitem überwiegt,
wird dieses allgemeine Princip der Abstumpfung als logische Conse-
qnenz dieser Ansicht zugeben müssen; wer aber dieser Ansicht
nicht oder nur bedingungsweise beitritt, den verweise ich auf die
nicht unbeträchtliche Anzahl derjenigen Unlustempfindungen, denen
gar keine Lustempfindung gegenübersteht, d. h. bei denen die Be-
friedigung der zu Grunde liegenden Begehrung ausser dem Bereich
der Möglichkeit liegt, als z. B. Schmerz über vergangene, nicht
mehr zu redressirende Ereignisse, Aerger, Ungeduld, Neid, Miss-
gunst, diejenige Eeue, welche keinen sittlichen Nutzen bringen
kann, femer übermässige Empfindlichkeit, grundlose Eifersucht,
übermässige Aengstlichkeit und Besorglichkeit für die Zukunft, zu
hoch verstiegene Ansprüche im Leben u. s. w. — Man erwäge nur,
wie viel das Leben der Menschheit gewinnen würde, wenn man
jeden einzelnen dieser Feinde des Seelenfriedens aus der Welt
streichen könnte, — der Vortheil wäre unberechenbar ; und doch steht
einem Jeden frei, durch Anwendung der bewussten Vernunft sein
Leben von diesen Störenfriedeü zu reinigen, wenn er nur bei eini-
gen misslungenen Versuchen nicht gleich den Muth zum Kampfe
verliert. — So haben wir ^ hier einen dritten Grund zur Unter-
drückung der AfTecte gefunden.
8. Gewährung des höchsten und dauerndsten
m-enschlichen Genusses im Forschen nach Wahrheit.
Je eoncentrirter und heftiger ein Genuss ist, desto kürzere Zeit
kann er nur dauern, bis die Reaction eintritt, und desto länger
muss man bis zu seiner Wiederholung warten; man denke an die
Tafelfreuden und besonders den Geschlechtsgenuss. Je ruhiger,
klarer und reiner ein Genuss ist, desto dauernder kann er anhalten,
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(U'Bto geringere J^ausen zur Erholung erfordert er; man vergleiche
dpii musikalischen, poetischen und wissenschaftlichen Genuss. So
koütnit es, dass die stärksten Genüsse wegen der Kürze ihrer Dauer
und ihrer nothwendigen Seltenheit nicht die grössten sind, da*s
vielmehr die geistigsten, vor allen der wissenschaftliche, wegen
ihvGT Dauer eine viel grössere Summe von Lust in derselben Zeit
geben. Die anderen Gründe, dass der im Streben nach Wahrheit
liegende Genuss der höchste sei, sind so bekannt, dass ich meine
Lcsor damit verschonen will. Auch wird Niemand zweifelhaft sein,
dass wir die Hauptmasse der Wissenschaft, namentlich die Fülle
ihre» Materials und die Verarbeitung desselben, der b^wussten
Tc^niunft verdanken.
9. Die Unterstützung der künstlerischen Pro-
duction durch bewusste Arbeit und Kritik. Ich kann
loii h hier wesentlich auf das in Cap. B. V. Gesagte berufen. Wenn
iiuch das Unbewusste die Erfindung zu liefern hat, so muss doch
erstens die Kritik hinzutreten, das Schwache gar nicht ausführen
nnd das Gute von Ausschweifungen der Phantasie reinigen, und
JEweitens die bewusste Arbeit die Pausen ausfüllen, wo die Eiu-
ge>mugen des XJnbowussten schweigen, und die bewusste Concen-
trntion des Willens mit eisernem Fleiss das Werk zu Ende fuhren,
WEun nicht die Begeisterung für dasselbe bei halbfertiger Arbeil
Oll Ueberdruss ersterben soll. —
Das bisher über den Werth der bewussten Vernunft und Et-
kcnntniss Gesagte konnte in Ansehung unseres Hauptzweckes nur
in skizzenhaften Andeutungen bestehen, die leicht AUzubekanntt^s
gobracht haben mögen; die Gelegenheiten zu interessanten psycho-
logischen Bemerkungen mussten unbenutzt vorübergelassen werden,
uülI dem Leser die lebendige Bekleidung der dürren Abstractionen
an heimgestellt bleiben, und doch konnte eine solche Zusammen-
s* eilung nicht unterlassen werden, um dem Werth des Unbewussten,
wü icher in allen früheren Gapiteln hervorgehoben wurde, ein Gegen-
gewicht zu bieten.
Auch diesen noch einmal ganz kurz zusammenzufassen, sei
mir hier vergönnt.
l. Das Unbewusste bildet und erhält den Organismus, stellt
innere und äussere Schäden wieder her, leitet seine Bewegungen
zweckmässig, und vermittelt seinen Gebrauch für den bewussten
Willen.
1-
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i,
311
2. Das IJiibewusste giebt im Instincte jedem Wesen das, was
€6 zu seiner Erhaltung nöthig braucht, und wozu sein bewusstes
Benken nicht ausreioht-, z. B. dem Menschen die Instincte zum
Verständniss der Sinneswahmehmung, zur Sprach- und Staaten-
bildung und viele andere.
3. Das Unbewuöste erhält die Gattungen durch Geschlechts-
trieb und Mutterliebe, veredelt sie durch die Auswahl in der Ge-
schlechtsliebe, und führt die Menschengattung in der Geschichte
unverriiokt dem Ziele ihrer möglichsten Vollkommenheit zu.
4. Das ünbewusste leitet die Menschen bdm Handeln oft
durch Ahnungen und Gefühle, wo sie sich durch bewusstes Denken
nicht zu raÜien wüssten.
5. Das TJnbewuflste fordert den bewussten Denkprocess durch
seine Eingebungen im Kleinen wie im ßrossen, und führt die
Menschen in der Mystik zur Ahnung höherer^ übersinnlicher Ein-
heiten.
6. Es beglückt die Menschen durch das Gefühl für's Schöne
und die künstlerische Production. —
Vergleichen wir nun Bewusstes und Unbewusstes mit einander,
so springt zunächst in die Augen, dass es eine Sphäre giebt, welche
überall dem Unbewussten allein überlassen bleibt, weil sie dem
Bewnsstsein ewig unzugänglich ist ; wir finden zweitens eine Sphäre,
welche bei gewissen Wesen nur dem Unbewussten gehört, bei an-
deren aber auch dem Bewnsstsein zugänglich ist ; sowohl die Stufen-
leiter der Organismen, als der Gang der Weltgeschichte kann uns
belehren, dass aller Fortschritt in Vergrösserung und Vertiefung
der dem Bewnsstsein aufgeschlossenen Sphäre besteht, dass also das
Bewnsstsein in gewissem Sinne das Höhere von beiden sein muss.
Betrachten wir femer im Menschen die sowohl dem Unbewussten,
als dem Bewnsstsein angehörige Sphäre, so ist soviel gewiss, dass
Alles, was irgend das Bewusstsein zu leisten vermag, vom Unbe-
wussten ebenfalls geleistet werden kann, imd zwar immer noch
treffender, und dabei schneller und für das Individuum bequemer,
da man sich för die bewusste Leistung anstrengen muss, während
die ünbewusste von selbst imd mühelos kommt. Diese Bequemlich-
keit, sich dem Unbewussten, seinen Gefühlen und Eingebungen zu
überlassen, kennen auch die Menschen recht wohl, und darum ist
bei allen feulen Köpfen die bewusste Vemunftanwendung in Allem
und Jedem so verschrieen. Dass das Ünbewusste wirklich alle
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312
Leifttungen der bewiissten Yernunft überbieten kann, das läset sich
nicht nur von vornherein aus dem Hellsehen des TJnbewussten
erwarten, sondern wir sehen es auch realisirt in jenen glücklichen
Naturen, die Alles besitzen, was andere mühsam erwerben müssen,
die nie einen Kampf des Gewissens haben, weil sie immer von
Rc4b&t ihrem Gefühle nach richtig und sittlich handeln, sich nie
auders als tactvoll benehmen können, Alles spielend lernen. Alles,
wa& sie anfangen, mit glücklichem Griffe vollenden, und in ewiger
ilannonie mit sich leben, ohne je viel zu überlegen, was sie thun,
oder überhaupt im Leben Schwierigkeiten und mühevolle Arbeit
konncE zu lernen. In Bezug auf Handeln und Benehmen sieht
iBuii die schönsten Blüthen dieser instinctiven Naturen- nur bei
Prauen, die dann aber auch an bezaubernder Weiblichkeit Alles
überbieten. — %
Was liegt nun aber für ein Nachtheil in dem sich Ueberlassen
im das XJnbewusste ? Der, dass man niemals weiss, woran man ist
und was man hat, dass man im Einstem tappt, wahrend man die
Laterne des Bewusstseins in der Tasche trägt; dass es dem Zufall
über lassen ist, ob denn auch die Eingebung des ünbewussten kom-
men wird, wenn man sie braucht; dass man kein Kriterium als den
Erfolg hat, was eine Eingebung des TJnbewussten und was ein
que*rkÖpfiger Einfall der launischen Phantasie sei, auf welches Ge-
fühl man sich verlassen könne, und auf welches nicht; endlich, daes
man das bewusste Urtheil und Ueberlegung, welche man nie ganz
entbt!hren kann, nicht übt, und dass man sich dann vorkommenden
Falles mit elenden Analogien statt vernünftiger Schlüsse und all-
bcitigex Uebersicht begnügen muss. Nur das Bewusste weise
mau als sein Eigen, das TJubewusst« steht Einem als etwas Unbe-
greiiüches. Fremdes gegenüber, von dessen Gnade man abhängig
ist; das Bewusste hat man als alle Zeit fertigen Diener, dessen
Gehorsam man stets erzwingen kann, — das XJnbewusste schirmt Einen
wie eine Fee und hat immer etwas unheimlich Dämonisches; auf
die Leistung des Bewusstseins kann ich stolz sein, als auf meine
That, die Frucht meines Schweisses, — die Leistung des Unbe-
wußtsten ist gleichsam ein Geschenk der Götter, und der Mensch
nuT ihr begünstigter Bote, sie kann ihn also nur Demuth lehren;
das Unbewusste ist, sobald es da ist, fix und fertig, hat über sich
ftolber kein Urtheil und muss daher so genommen werden, wie es
einmal ist, — das Bewusste ist sein eigenes Maass, es beurtheilt
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313
sich selbst und verbessert sich selbst, es ist jeden Augenblick zu
verändem, sobald eine neu gewonnene Erkenntniss oder yeränderte
Umstände es verlangen ; ich weiss, was an meinem bewusst erwor-
benen Resultat Gutes ist, und was ihm zur Vollkommenheit fehlt,
danun giebt es mir das Gefühl der Sicherheit, weil ich weiss, was
ich habe, aber auch das der Bescheidenheit, weil ich weiss, dass
88 noch unvollkommen ist; das TJnbewusste lässt den Menschen
fertig dastehen, er kann sich nie in den Leistungen des TJnbe-
wnssten vervollkommnen, weil seine erste, wie seine letzte als un-
willkürliche Eingebungen auftauchen, — das Bewusstsein enthält die
unendliche Perfectibilität im Individuum und in der Gattung in
sich^ und erfüllt deshalb den Menschen mit dem beseligenden un-
endlichen Streben nach Vervollkommnung. Das Unbewusste
ist unabhängig vom bewussten Willen jedes Momentes, aber ganz
abhängig vom unbewussten Willen, den zu Grunde liegenden Affec-
ten, Leidenschaften und Grundinteresaen des Menschen, — das
Bewusste ist dem bewussten Willen jedes Momentes unterthan und
kann sich vom Interesse und den AfPecten und Leidenschaften völlig
emancipiren ; das Handeln nach den Eingebungen- des Unbewussten
hängt mithin ausschliesslich von dem angeborenen und anerzogenen
Character ab, und ist je nach diesem gut oder schlecht, — da« Han-
deln aus dem Bewusstsein lässt sich nach Ghnindsätzen regeln, welche
die Vernunft dictirt.
Man wird nach diesem Vergleich nicht zweifelhaft sein, das
Bewusstsein für uns als das Wichtigere anzuerkennen und hiermit un-
seren obigen Schluss aus der organischen Stufenordnung und dem Fort-
schritt der Geschichte zu bestätigen. XJeberall, wo das Bewusstsein
das Unbewusste zu ersetzen im Stande ist, soll es dasselbe ersetzen,
eben weil es dem Individuum das Höhere ist und alle Einwände hier-
gegen, als ob die stete Anwendung bewusster Vernunft pedantisch mache,
zu viel Zeit koste u. s. w., sind falsch, denn Pedanterie entsteht erst aus
unvollkommenem Vemunftgebrauch, wenn man bei Anwendung
der allgemeinen Regel den Unterschieden des Besonderen
nicht B^hnung trägt, und zu viel Zeit kostet die Ueberlegung nur
bei mangelndem Erkenntnissmaterial und ungenügender theoretischer
Vorbereitung für die Praxis, oder hei Unschlüssigkeit, welche nur
dorch den Vemunftgebrauch selber beseitigt werden kann. Man
soll also die Sphäre der bewussten Vernunft möglichst zu erweitem
Buchen, denn darin besteht aller Fortschritt des Weltprocesses,
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u
314
rillDS Heil der Zukunft. Dass man diese Sphäre nicht positiv über-
schreite, dafür ist schon durch die Unmöglichkeit gesorgt: aber eine
andere Gefahr liegt bei diesem Bestreben allerdings nahe, und Tor
ihr zu warnen, ist hier der Ort. Die bewusste Vernunft ist uäm-
lich Qur negirend, kritisirend, controlirend , corrigirend, messend,
vergleichend, combinirend, ein- und unterordnend, Allgemeines aus
Besonderem inducirend, den besonderen Fall nach der allgemeinen
Regel einrichtend, aber niemals ist sie schöpferisch productiv, nie-
mals erfinderisch; hierin hängt der Mensch ganz vom ünbewussten
ab^ wie wir früher gesehen haben, und wenn er das ünbewusste
verliert, verliert er den Quell seines Lebens, ohne den er im trocke-
nen Schematismus des Allgemeinen und Besonderen sein Dasein
c-i II tonnig weiter schleppen würde. Darum ist ihm das Unbewusste
unentbehrlich, und wehe dem Zeitalter, das es gewaltsam
uiuordrückt, weil es in einseitiger TJeberschätzung des Bewusst-
Tcrüünftigen ausschliesslich dieses gelten lassen will ; dann fallt es
unrettbar in einen wässerigen, seichten Rationalismus, der sich in
kindisch greisenhafter Altklugheit brüstend überhebt, ohne für seine
Kinder irgend etwas Positives thun zu können, wie die jetzt von
uns belächelte Zeit der Wolff- Mendelssohn -Nicolai'schen Aufkläre-
rci. Nicht mit roher Faust zerdrücken darf man die zarten Keime
der ünbewussten Eingebungen, wenn sie wieder kommen sollen»
i^ondem kindlich andächtig ihnen lauschen, und mit liebevoller
rhjintasie sie erfassen und gross nähren. Und dies ist die Gefahr,
der sich Jeder aussetzt, welcher einseitig ganz von bewusster Ver-
nunft sein Dasein abhängig zu machen sucht, wenn er sie onf
Kuuat und Gefühl und Alles übertragen will, und das Walten des
Ünbewussten sich zu verläugnen sucht, wo es ihm nur immer mög-
lich scheint. Darum ist gegen die verstandesmässige Erziehung
unserer Zeit die Beschäftigung mit den Künsten ein so nöthiges
(Gegengewicht, als in welchen das Unbewusste seinen unmittelbarsten
Au^^druck findet, freilich nicht ein solches technisches Kunstexer-
citium, wie es heut zu Tage aus Mode und Eitelkeit getrieben wird,
ficmdern Einführung in das Gefühl für's Schöne, in das Verständ-
oiss und den wahren Geist der Kunst. Ebenso ist es wichtig, die
Jugend mit dem Thierleben als dem unverfälschten Born reiner
Katur mehr bekannt zu machen, damit sie in ihm ihr eigenes We-
sen in vereinfachter Gestalt verstehen lerne, und an ihm sich von
der Unnatur und Verzerrung unserer gesellschaftlichen Zustände
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erquicke und erhole. Feraer sollte man sich ganz besonders hüten,
das weibliche GeBchlecht zu vernünftig machen zu wollen, denn
wo das Fnbewusste erst zum Schweigen gebracht werden muss,
gelingt dies doch nur in widerlichen Zerrbildern; wo aber die un-
bewusste Anlage mit den Forderungen des Bewusstseins überein-
stimmt, ist es eine unnütze imd für das Allgemeine schädliche Arbeit.
Das Weib verhält, sich nämlich zum Manne, wie instinctives oder
unbewusstes zum verständigen oder bewussten Handeln, darum ist
das echte Weib ein Stück Natur, an dessen Busen der dem Unbe-
wussten entfremdete Mann sich erquicken und erholen und vor dem
tiefinnersten lauteren Quell alles Lebens wieder Achtung bekommen
kann ; und um diesen Schatz des ewig Weiblichen zu wahren, soll
auch das Weib vom Manne vor jeder Berührung mit dem rauhen
Kampfe des Lebens, wo es die bewusste Kraft zu entfalten gilt,
möglichst bewahrt werden, und den süssen Naturbanden der Familie
aufbehalten bleiben. Freilich liegt auch der hohe Werth des Weibes
für den Mann nur in der üebergangsperiode, wo die Spaltung zwi-
schen Bewusstem und TJnbewusstem schon erfolgt, aber die Wieder-
versöhnung beider noch nicht vollzogen ist. — Endlich sollte man
Alles, was wir dem Fnbewussten verdanken, als Gegengewicht
gegen die Vorzüge der bewussten Vernunft beständig sich und
Anderen vor Augen halten, damit der schon halb versiegte Quell
alles Wahren und Schönen nicht vollends eintrockene, und die
Menschheit in ein vorzeitiges Greisenalter eintrete; und auf dieses
BedürfiiisB hinzuweisen, war ein mächtiger Lnpuls mehr, mich zur
schriftlichen Ausführung der in diesem Werke vorliegenden Gedan-
kenarbeit zu bestimmen.
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- i
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c.
Metaphysik des Unbewussten.
.JKommot her zur Physik and erkennet das
Ewige!"
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lu
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I.
Die Unterschiede von bewHSster und unbewnsster
Oeistesthätigkeit und die Einheit von Wille nnd Vor-
Stellung im Unbewnssten.
1. Das ünbewusste erkrankt nicht, aber die be-
wuBSte Geistesthätigkeit kann erkranken, wenn ihre materiellen
Organe Störungen erleiden , sei es durch körperliche Ursachen , sei
es durch heftige Erschütterungen, welche von starken Gemüthsbe-
wegungen herrühren. Dieser Punct ist, soweit wir auf denselben
eingehen können, schon in dem Capitel über die Naturheilkraft
(S. 118- 122) berührt worden.
2. Das ünbewusste ermüdet nicht, aber jede be-
wusste Geistesthätigkeit ermüdet, weil ihre materiellen Organe zeit-
weise gebrauchsunthätig werdep in Folge eines schnelleren Btoff-
verbrauchs , als die Ernährung in derselben Zeit ersetzen kann.
Allerdings lässt. sich durch einen Wechsel des besonders bean-
spruchten Sinnes, oder des Gegenstandes des Denkens oder der
Sinneswahmehmung die Ermüdung beseitigen , weil nun andere
Organe und Gehimtheile, oder wenigstens dieselben Organe in eine
andere Art von Thätigkeit versetzt werden , aber die allgemeine
Ermüdung des Centralorganes des Bewusstseins ist selbst beim
Wechsel der Gegenstände nicht zu verhindern und tritt bei jedem
neuen Gegenstand um so schneller eia , je länger die Aufmerksam-
keit schon bei anderen Gegenständen thätig war, bis zuletzt vollständige
Erschöpfung erfolgt, die nur durch neue Sauerstoffaufnahme während
des Schlafes wieder auszugleichen ist. Je mehr wir uns dem Gebiet
des Unbewnssten nahem, desto weniger ist eine Ermüdung zu bemer-
ken, so z. B. im Gebiet der Gefühle, und um so weniger, je weni-
ger Bestimmtheit für's Bewusstsein dieselben besitzen^ denn desto
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mehr gehört ihr eigentliches Wesen dem Unbewussten an. Wäh-
rend ein Gedanke nicht wohl länger als zwei Secunden ohne TJn-
lerbrechung im Bewusstsein festzuhalten ist, und das Denken in
wenigen Stunden ermüdet, bleibt ein und dasselbe Gefühl zwar
mit schwankender Intensität , aber ununterbrochen oft Tage und
Nächte hindurch, ja Monate lang bestehen, und wenn es sich end-
lieh abstumpft, so erscheint doch im Gegensatz zum Denken die
Empfänglichkeit für andere Gefühle nicht beeinträchtigt, und diese
enuüden dann nicht früher, als sie es ohnehin gethan hätten. Letz-
tere Behauptung bedarf nur insoweit der Einschränkung, als das
tweeetz der Stimmung mit zu berücksichtigen ist. — Vor dem
Einachlafen, wo der Intellect ermüdet, treten die uns belastenden
Gefühle gerade um so mächtiger hervor, weil sie nicht von Ge-
danken behindert sind, s^ stark, dass sie öfters den Schlaf verhin-
dern. Auch im Traume sind lebhafte Gefühle viel häufiger, als
klare Gedanken , und sehr viele Traumbilder verdsmken augen-
acheinlich den vorhandenen Gefühlen ihren Ursprung. Femer
denke man an die unruhige Nacht vor einem wichtigen Ereigniss,
aii das Erwachen der Mutter bei dem leisesten Weinen des Kin-
der bei gleichzeitiger (Jnempfindlichkeit gegen andere stärkere Ge-
räusche, an das Aufwachen zur bestimmten Stunde, wenn man den
ontüchiedenen Willen dazu hat u. dergl. Alles dies beweist das
unermüdliche Fortbestehen der Gefühle, des Interesses und des
Willens im Unbewussten oder auch mit ganz schwacher Affection
deä Bewusstseins, während der ermüdete Intellect ruht, oder hoch-
stc-ns dem (Gaukelspiel der Träume müssig zuschaut. Wo wir es
mit demjenigen Zustand zu thun haben, welcher von allen, die
übL-rhaupt noch unserer Beobachtung zugänglich sind, am tiefsten
im Unbewiissten steckt und am wenigsten in's Bewusstsein hinübe^
reicht, der Entrückung der Mystiker, da schwindet auch der Be-
gritf der Ermüdung auf ein Minimum zusammen, denn „hundert
Jahre sind wie eine Stunde", und selbst die körperliche Ermüdung
wird wie im Winterschlaf der Thiere durch unglaubliche Verlang-
samung aller organischen Functionen fast getilgt; — man denke an
diti ewig betenden Säulenheiligen, oder die indischen Büsser und
ihre vertrackten Stellungen.
3. Alle bewusste Vorstellung hat die Form der
Sinnlichkeit, das unbewusste Denken kann nur von
unstnnlicher Art sein. Wir denken entweder in Bildern«
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dum nehmen wir direct die Sinneseijidrücke und ihre ümgestal-
tuDgen nnd Combinationen ans der Erinnerung auf , oder wir den-
ken in Abstractionen. Diese Abstractionen sind aber doch auch
bloae Ton Sinneseindriioken abstrahirt, und mag man beim Abstra-
hiren fallen laseen, so viel man will, — so lange man überhaupt
etwas übrig bebält, kann es nur etwas sein» was in dem Ganzen
sehon steckte, aus welchem man erst abstrahirt, d. h. es sind
auch die Abatracta für uns nur Beste von SinneseindrUcken
vnd haben mithin die Form der Sinnlichkeit» — Dass die
Sinneseindrücke , die wir von den Dingen empfangen, mit diesen
keine Aehnlichkeit haben, ist schon aus der Naturwissenschaft ge-
nügend bekannt. Da nun das IJnbewusste offenbar an der Sin-
neswahmehmung nicht Theil nehmen kann, weil eben jede Sinnes-
wahraehmung schlechterdings Bewussisein voraussetzt, und wo
es nicht ist, erzeugt, so kann auch die unbewusste Vorstellung
unmöglich die Form der Sinnlichkeit haben. Da aber das Bewusst-
ficdn schlechterdings gar nichts vorstellen kann , es sei denn in
Porm der Sinnlichkeit, so folgt , dass das Bewusstsein nun und
nimmer mehr sich eine directe Vorstellung machen kann
von der Art und Weise , wie die unbewusste Vorstellung vorge-
stellt wird, es kann nur negativ wissen, dass jene auf keine
Weise vorgestellt wird, von der es sich eine Vorstellung machen
knuL Höchstens kann man noch die sehr wahrscheinliche Ver-
mathung äussern , dass in der unbewussten Vorstellung die Dinge
vorgestellt werden, wie sie an sich sind, da nicht abzusehen wäre,
woher für das Unbewusste die Dinge anders scheinen sollten,
tlfi sie sind; jedoch giebt uns diese Erklärung durchaus keinen
positiven Halt für die Vorstellung, und wir werden in Ansehung
der Art und Weise des iinbewussten Vorstellens nicht klüger.
4. Das Unbewusste schwankt und zweifelt nicht,
68 braucht keine Zeit zur Ueberlegung, sondern erfasst
momentan das Besultat in demselben Moment, wo es den
ganzen logischen Process, der das Besultat erzeugt, auf einmal und
aiokt nach einander, sondern iii einander denkt, was dasselbe ist,
als ob es ihn gar nicht denkt, sondern das Besultat unmittelbar in
intellectualer Anschauung mit der unendlichen Kraft des Logischen
bia- sieht. A.uch diesen Punct haben wir schon öfter erwähnt und
überall so sehr bestätigt gefunden, dass wir ihn geradezu als ein
uafehlbares Kriterium benutzen konnten, um im besonderen Fall6
▼. Hartman n» Phil. d. CnbewnsHten. 21
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J
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zu entficheiden, ob wir es mit einer Einwirkung des UnbewnMten
oder mit einer bewussten Leistung zu thun hatten. Banun miiss
die üeberzeugung dieses Satzes wesentlich aus der Summe unserer
bisherigen Betrachtungen gewonnen sein. — Hier will ich nur noch
Folgendes anschliessen : Die Ideal-Philosophie fordert eine intelii-
gible Welt ohne Eaum und Zeit, welche der Erscheinungswelt mit
ihren für bewusstes Denken und Sein geltenden Formen : Raum und
Zeit, gegenüber steht. Wie der Baum erst in und mit d^r
Natur gesetzt ist, werden wir später sehen, hier handelt es ftieb
um die Zeit. Wenn wir nun annehmen dürfen, dass das ünbe-
wusste jeden Denkprooess mit seinen Resultaten in einen Mo-
ment, d. h. in Null-Zeit zusammenfasst, seist das Denken des
Unbewussten zeitlos, obwohl noch in der Zeit, weil der ¥(►■
ment, in welchem gedacht wird, noch seine zeitliche Stelle in der
übrigen Reihe der zeitlichen Erscheinungen hat Bedenken vir
aber, dass dieser Moment, in welchem gedacht wird, nur an dem
lu-Erscheinung-Tretcn seines Resultates erkannt wird, und das
Denken des Unbewussten in jedem besonderen Falle nur for ein
bestimmtes Eingreifen in die Erscheinungswelt Existenz gewinnt
(denn Yorüberlegungen und Vorsätze braucht es nicht), so liegt der
Schluss nahe, dass das Denken des Unbewussten nur insofern in
der Zeit ist, als das In-Erscheinung-Treten dieses Denkens in der
Zeit ist, dass aber das Denken des Unbewussten, abgesehen von
der Erscheinungswelt und vom Eingreifen in diese, in der That
nicht nur zeitlos, sondern auch unzeitlich, d. h. ausser
aller Zeit wäre. Dann würde auch nicht mehr von Vorstd-
lungs-Thätigkeit des Unbewussten im eigentlichen Sinne die
Rede sein können, sondern die Welt der möglichen Vorstellungen
würde als ideale Existenz im Schoosse des Unbewussten beschlos-
sen liegen, und die Thätigkeit, als welche ihrem Begriffe nach
etwas Zeitliches, zum mindesten Zeit setzend es ist, würde erst in
dem Moment und damit beginnen, dass aus dieser ruhenden idea-
len Welt aller m<^lichen Vorstellungen die Eine oder die Andere
in reale Erscheinung tritt, was eben dadurch geschieht, dass sie
vom Willen als Inhalt erfasst wird, wie wir später sehen werd«i
zu Ende dieses Capitels S. 330 — 331. Damit hätten wir das
Reich des Unbewussten als die intelligible Welt Kaufs begriffen. —
Hiermit stimmt völlig überein, dass die Zeitdauer in das bewusste
Denken erst durch das materielle Organ des Bewusstaeins
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hineinkommt» dass das bewusste Denken nur darum Zeit erfordert,
weil die Himschwingungen , auf denen es beruht , Zeit brauchen,
wie ich dies im Capitel B. YIII. S. 267 — 268 kurz gezeigt habe.
5. Das ünbewusste irrt nicht. Die Begründung die-
ses Satzes muss sich auf den Nachweis beschränken, dass das-
jenige, was man bei oberflächlicher Betrachtung für Irrthümer des
ünbewussten halten konnte, bei näherer Erwägung nicht als solche
angesehen werden kann. So lassen sich z. B. die vermeintlichen
Irrthümer des Instinctes auf folgende vier Fälle zurückfuhren:
a) Wo gar kein besonderer Instinct existirt, sondern bloss eine
Organisation, welche durch besondere Stärke gewisser Muskeln den
allgemeinen Bewegnngstrieb vorzugsweise auf diese Muskeln hin-
lenkt. So z. B. das unzweckmässige Stossen junger Rinder, die
noch keine Homer haben ^ oder wenn der Schlangengeier all sein
Futter mit seinen starken Beinen vor dem Fressen zerstampft, ob-
wohl dies nur bei lebenden Schlangen einen Zweck hat. In die-
sen Fällen ist die Organisation dazu da, einen besonderen Instinct
überflüssig zu machen und zu ersetzen, der für gewisse Fälle
zweckmässig wäre; die Organisation aber treibt zu denselben Be-
wegjmgen, die in gewissen Fällen zweckmässig sind, auch in an-
deren Fallen, wo sie überflüssig und nutzlos sind« Da aber das
ünbewusste sich durch die Maschinerie der Organisation ein- für
allemal die Arbeit leistet, die es sonst in jedem einzelnen Falle
thun müsste, so würde man wegen der Krafterspamiss des TJnbe-
wnssten diese Einrichtung selbst dann noch als zweckmässig aner-
kennen müssen, wenn in gewissen Fällen diese Organisation nicht
nur überflüssig, sondern sogar zweckwidrig und nachtheilig wirkte,
wenn nur die Anzahl der Fälle, wo sie zweckmässig ist, stark
überwöge. Aber hiervon ist mir nicht einmal ein Beispiel
bekannt.
b) Wo der Instinct durch naturwidrige Gewohnheit ertödtet
ist, ein Fall der vielfach beim Menschen und seinen Hausthieren
eintritt, wenn z. B. letztere auf der Weide giftige Kräuter und
Pflanzen fressen, die sie im ^Naturzustände vermeiden, oder wenn
der Mensch manche Thiere künstlich an eine ihrer Natur wider-
sprechende Nahrung gewöhnt.
c) Wo der Instinct aus zufälligen Gründen nicht functionirt,
also die Eingebung des ünbewussten ganz ausbleibt, oder in so
schwachem Grade eintritt, dass andere entgegenstehende Triebe sie
21*
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überwinden, z. B, wenn ein Thier seinen natürlichen Feind nicht
scheut und ihm dadurch zum Opfer fällt, den andere Thiere seiner
Art instinctiy zu fliehen pflegen, oder wenn bei einem Schweine
die Mutterliebe so gering ist, dass der Nahrangstrieb es zum Aof-
fressen seiner Jungen bringt.
d) Wo der Instinct zwar auf die bewusste Vorstellang, auf
welche er functioniren soll , richtig functionirt, aber diese bewuaste
Vorstellung einen Irrthum enthält. Wenn z. B. eine Henne auf
einem untergelegten eirunden Stücke Kreide brütet, oder die Spinne
ein mit ihrem Eierbeutel vertauschtes Enäulchen Baumwolle sorg-
fältig pflegt, so irrt in beiden die bewusste Vorstellung in Folge
mangelhafter Sinneswahmehmung, die die Kreide für ein £i, <i&>
Baumwollenknäulchen für einen Eierbeutel hält; der Instinct aber
irrt nicht, denn er tritt auf diese Vorstellung ganz richtig ein.
Es wäre unbillig, zu verlangen, dass hier das Hellsehen des In-
stinctes eintreten solle, um den Irrthum der bewussten Vorstellung zu
corrigiren ; denn das Hellsehen des Instinctes betrifft ja gerade im-
mer nur solche Puncto, welche die bewusste Wahrnehmung über-
haupt nicht zu erreichen vermag, aber nicht solche, für welche der
Mechanismus der sinnlichen Erkenntniss in allen gewöhnlichen
Fällen ausreicht. Aber selbst wenn man diese Anforderung stellte,
würde man immer noch nicht sagen können, dass das ünbewusste
irrte, sondern nur, dass es mit seinem Hellsehen nicht eingriff, wo
es hätte eingreifen können.
Auf diese vier Fälle lässt sich mit Leichtigkeit AUes zurück-
bringen, was man versucht sein könnte, für scheinbare Irrthümer
des Instinctes zu halten. Was man im menschlichen Geiste für
falsche und schlechte Eingebungen des Unbewussten halten könnte,
würde noch leichter sein zu widerlegen; wo man von falschem
Hellsehen hört , kann man so sicher sein , mit absichtlicher oder
unabsichtlicher Täuschung zu thun zu haben , wie bei nicht zu-
trcflenden Träumen, dass sie nicht Eingebungen des Unbewussten
sind ; ebenso kann man im Voraus überzeugt sein, dass alle krank-
haften und schlechten Auswüchse an der Mystik oder an künst-
lerischen Conceptionen nicht aus dem Unbewussten, sondern aus
dem Bewusstsein stammen, nämlich aus krankhaften Ausschwei-
fungen der Phantasie, oder von verkehrter Erziehung und Bildung
der Grundsätze, des Urtheiles und des Geschmackes. . Endlich mußs
man unterscheiden , in wie weit und bis zu welchem Grade in
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einem bestimmten Falle die Einwirkung des ünbewussten gereicht
hat. Denn ich kann z. B. über einer Erfindung grübeln, und dazu
einen Anlauf in bestimmter Richtung genommen haben; wenn ich
mir nun über einen gewissen Punct den Kopf zerbreche, der mir
zur Vollendung des Ganzen bloss noch zu fehlen scheint, so wird
68 allerdings einer Einwirkung des ünbewussten zu verdanken sein,
wenn mir dieser plötzlich einfallt; nun braucht aber keineswegs
hiermit die Erfindung in brauchbarer Weise abgeschlossen zu sein,
denn ich kann ja in meinem Glauben geirrt haben, dass nur dieser
£ine Punct zur Vollendung des Ganzen noch fehle, oder das Ganze
kann vollendet, aber überhaupt nichts werth sein, und dennoch
darf man nicht behaupten, dass jene Eingebung des Ünbewussten
falsch oder schlecht gewesen sei, sondern sie war entschieden gut
und richtig für den Punct, den ich gerade suchte, nur dass der ge-
suchte Punct nicht der richtige war. Wenn ein andermal eine
Eingebung des ünbewQssten gleich die Erfindung in den Grund-
zügen fix und fertig hinstellt, so ist eben diese letztere nur weiter
gegangen , aber richtig und gut für den Zweck , bis zu dem sie
gerade reichen , sind beide , sind alle Einwirkungen des Ünbe-
wussten.
6. Das Bewusstsein erhält seinen Werth erst
durch das Gedächtniss, d. h. durch die Eigenschaft der Him-
schwingnngen , bleibende Eindrücke oder moleculare Lagerungsver-
änderungen von der Art zu hinterlassen, dass von nun an dieselben
Schwingungen leichter als das vorige Mal hervorzurufen sind, in-
dem das Hirn nunmehr auf denselben Reiz gleichsam leichter
resonirt; dies ermöglicht erst das Vergleichen gegenwärtiger Wahr-
nehmungen mit früheren, ohne welches alle Begriffsbildung fast
unmöglich wäre, — es ermöglicht überhaupt erst das Sammeln von
Erfahrungen. -Das bewusste Denken nimmt mit dem Gedächtniss-
materiale, dem fertigen Begriffs- und TJrtheilsschatze, und der Uebung
des Denkens an Vollkommenheit zu. Dem ünbewussten da-
gegen können wir kein Gedächtniss zuschreiben, da
wir das letztere nur mit Hülfe der im Gehirne verbleibenden Eindrücke
zu begreifen vermögen , und dasselbe ganz oder stückweise durch
Beschädigungen des Gehirnes zeitweise oder für immer verloren gehen
kann. Auch denkt das Unbewusste Alles, was es zu einem bestimm-
ten Falle braucht, implicite in einem Momente mit, es braucht
also keine Vergleichungen anzustellen; ebenso wenig hat
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m Erfahrangen nöthig, da es vermöge seines Hellsehens Alle«
wei&a oder wissen kann, sobald nur der Wille es dringend genug
verlangt. Daher ist das ünbewuBste immer bis zu dem Grade
vollkommen, wie es überhaupt seiner Natur nach sein kann,
und ist oine weitere Vervollkommnung in dieser Bichtting undenk-
bar; wean darüber hinausgegangen werden soll, so muss es durch
eine Äanderung der Eichtung selbst geschehen, d. h. durch den
üebergang vom ünbewussten in's Bewusstsein.
7. Im ünbewussten ist Wille und Vorstellung in
untrennbarer Einheit verbunden, es kann nichts gewollt
werden, was nicht vorgestellt wird, und nichts vorgestellt
werden, was nicht gewollt wird; im Bewusstsein dagegen
kann zwar auch nichts gewollt werden, was nicht vorgestellt wird,
aber ea kann Etwas vorgestellt werden, ohne dass erf gewollt
würde: das Bewusstsein ist die Möglichkeit derEman-
cipatioo des Intellectes vom Willen. — Die Unmöglicb-
keit eines Wollens ohne Vorstellung ist schon Cap. A. IV. be-
öprochca worden; hier handelt es sich um die Unmöglichkeit einer
ünbewussten Vorstellung ohne den ünbewussten Willen zu ihrer
Verwirklichung, d. h. ohne dass diese unbewusste Vorstellung zu-
gleich Inhalt oder (Gegenstand eines ünbewussten Willens wäre.
Am klarsten ist dies Verhältniss beim Instincte und den auf leib-
liehe Vorgänge bezüglichen ünbewussten Vorstellungen, Hier ist
jode eimielne unbewusste Vorstellung von einem ünbewussten Wil-
len begleitet, welcher zu dem allgemeinen Willen der Selbsteriial-
ttrng und G^attungserhaltung im Verhältnisse vom Wollen des
Kittelä zum Wollen des Zweckes steht. Denn dass alle Instincte
mit wenigen Ausnahmen die beiden Hauptzwecke in der Natur,
Selbst- und Gattungserhaltung, verfolgen, dürfte wohl keinem Zwei-
fel unterliegen, mögen wir nim auf die Entstehung der Reflexbe-
wegungen, Naturheilwirkungen, organischen Bildungsvorgänge und
thieri&eben Instincte sehen, oder auf die Instincte zum Verständ-
nlasü der sinnlichen Wahrnehmung, zur Bildung der Abstracta und
Unentbehrlichen Beziehungsbegrilffe, zur Bildung der Sprache, oder
auf die Instincte der Scham, des Ekels, der Auswahl in der ge-
eohlechtliühen Liebe u. s. w.; es würde übel aussehen mit Men-
schen und Thieren, wenn auch nur Eines von allen diesen ihnen
fehlte, z, B. die Sprache oder die Bildung der Beziehungsbegriffe,
Beides für Thiere und Menschen gleich wichtig. Alle Instincte,
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die nicht auf Selbst- cnier Gattungserhaltung gehen, beziehen eich
auf den dritten Hauptzweck in der Welt, Yervollkommnung und
Veredelung der Gattung, etwas beim MenBchengeBchlechte beson-
ders Hervortretendes. Unter das allgemeine Wollen dieses Zweckes
fällt das Wollen aller besonderen Fälle als Mittel, wo das ünbe-
wusste in die Geschichte fördernd eingreift, sei es in Gedanken
(mystische Gewinnung von Wahrheiten), oder Thaten, sei es in Ein-
zelnen (wie bei Heroen- der Geschichte) oder in Massen des Volkes
(wie bei Staatenbildungen, Völkerwanderungen, Kreuzzügen, Kevo-
lutionen politischer, kirchlicher oder socialer Art u. s. w.)- £&
bleibt uns noch die Einwirkung des XJnbewussten im Gebiete des
Schönen und in dem des bewussten Denkens. In beiden Fällen
haben wir schon anerkennen müssen, dass das Eingreifen des TJn-
bewusstea zwar yom bewussten Willen des Augenblickes unab-
hängig, aber dafür ganz und gar abhängig ist vom innerlichen In-
teresse am Gegenstande, von dem tiefen Bedürfnisse des Cteistes und
Herzens nach Erreichung dieses Zieles, dass es zwar davon ziemlich
unabhängig ii^, ob man sich gerade augenblicklich lebhaft im Be-
wusstsein mit dem Gegenstande beschäftigt, dass es aber sehr von
einer dauernden und angelegentlichen Beschäftigung mit demselben
abhängt Wenn nun das tiefinnere Geistesinteresse und Herzens-
bedürfoiss schon selber wesentlich unbewusster, nur zum kleineren
Theüe in's Bewusstsein fallender Wille ist, oder doch ebenso wie
die angelegentliche Beschäftigung mit der Sache höchst geeignet
ist, den unbewussten Willen zu erwecken und zu erregen, wenn
femer die Eingebung um so leichter erfolgt, je mehr sich das In-
teresse vertieft und von den lichten Höhen des Bewusstseins in
die dunkeln Gründe des Herzens, d. h. in's ünbewusste, zurückge-
zogen hat, so werden wir gewiss berechtigt sein, auch in diesen
Fällen einen unbewussten Willen anzunehmen. In der blossen
Anfi^suDg des Schönen aber werden wir gewiss einen Instinct
anerkennen müssen, der zu dem dritten Hauptzwecke, der Vervoll-
kommnung des Geschlechtes, gehört, denn man denke nur, was das
Menschengeschlecht wäre, was es glücklichsten Falles am Ende
der Geschichte erreichen könnte, und wie viel elender das elende
Kenschenleben sein würde, wenn Niemand das Gefühl des Schönen
kennte.
Es bleibt uns nun nur noch Ein Bunct übrig, der frei-
lich den meisten Lesern wohl keine Bedenken machen wird^ ich
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meii^e das Hellsehen in WahrtnUunen, Yisionem, spontanem und
kuui^tlichem Somnambulismus. Aber auoh wer diese Erscheinimgen
gelten lässt, wird sich bald überzeugen, daas immer der unbewusste
Wille mitspielt. Wo sich das Hellsehen auf Angaben von Heil-
[uitteln für sich selbst bezieht, leuchtet dies sofort ein, und eine
hellsehende Angabe von Heilmitteln für fremde Personen möchte
Ich stark bezweifeln, es sei denn, dass diese dem Herzen der bell-
i^ehouden Personen sehr nahe stehen, und ihr Interesse fast so
sehr wie ihr eigenes Wohl erregen. Wahrsagende Träume, Ah-
umigQn, Visionen oder Gedankenblitze, welche andere Q^enstande
haben, beziehen sich entweder auf wichtige Puncto der eigenen
Zukunft, Warnung vor Lebensgefahr, Tröstung über Schmerz
Göthe's Doppelgesicht) und dergleichen, oder sie geben AufschlnsB
über die am nächsten geliebten Personen, Gatten und Kind, ver-
künden z. B. den Tod des £ntfemten, oder bevorstehendes Un-
glück; oder endlich sie beziehen sich auf Ereignisse von erschüt-
ternder Grösse und Tragweite ^ die jedes Menschen Herz nahe ge-
heD, z. B. die Brände grosser Städte (Swedenborg), besonders der
tHgenea Vaterstadt u. s. w. In allen diesen Fällen sieht man, ^wie
eng die Eingebui^ des ünbewussten mit dem innersten Willensin-
t€re@äe des Menschen verknüpft ist, in allen diesen Fällen ist man
daher auoh berechtigt, einen ünbewussten Willen anzunehmen,
welcher eben das für diesen besonderen dem Bewusst-
«ein noch unbekannten Fall specificirte allgemeine
Interesse repräsentirt Nie wird das Hellsehen eines Men-
schen von selbst auf Dinge gerathen, die nicht aufs Innigste mit
dem Kerne seines eigenen Wesens verwoben sind, was aber die
A Kit werten der künstlichen Somnambulen auf ihnen vorgelegte
glcif^hgoltige Fragen betrifft, so sei es mir so lange erlaubt, an
(tereiL Abstammung aus dem Ünbewussten zu zweifeln, als ich mich
verpflichtet fiihle, diejenigen Magnetiseure als eitle Prahler oder
l>e trügerische Charlatane zu verachten, welche den Somnambulen
andere als auf das eigene Wohl bezügliche Fragil vorzulegen sich,
nicht Bcheuen. Wenn auch der somnambule Zustand für die Ein-
gebungen des ünbewussten empfönglicher ist, als jeder andere, so
ist darum doch nur das Wenigste, was einer Somnambule einzufallen
beliebt, Eingebung des ünbewussten, und erfahrene Magnetiseure
wissen sehr wohl zu berichten, wie sehr man sich zu hüten habe,
dasfi Einen nicht die dem Weibe angeborene^Laune und Verstellung
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sogar im somnambulen Zustande betrüge, ohne dass die Bomntunbüle
Person irgend die bewusste Absicht der Täuschung hätte.
Wir dürfen als Eesultat dieser Betrachtung annehmen, dass wir
keine unbewusste Vorstellung kennen, welche nicht mit unbewusstem
Willen verbunden wäre, und zwar wenn wir bedenken, dass die un-
bewusste Vorstellung etwas ganz Anderes ist, als das, was als Con*-
ception od^ Eingebung des ünbewussten im Bewusstsein erscheint,
dass yielmehr erstere und letztere sich wie Ding an sich und Er-
scheinung, aber zugleich auch wie Ursache und Wirkung verhalten,
so werden wir es sehr einleuchtend finden, dass der mit der ün-
bewussten Vorstellung direct verbundene unbewusste Wille, wel-
cher die Anwendung des allgemeinen Interesses auf
den besonderen Fall repräsentirt, in nichts Anderem be-
stehe, als in dem Wollen der Verwirklichung seiner
ünbewussten Vorstellnng, wenn man unter Verwirklichung
das Zur -Erscheinung- Bringen in. der natürlichen Welt versteht,
und zwar hier unmittelbar im Bewusstsein als Vorstellung
in Porm der Sinnlichkeit durch Erregung der betref-
fenden Gehirnschwingungen. Dies ist aber die wahre
Einheit Ton Wille und Vorstellung, daßs der Wille eben
nichts als die Verwirklichung seines Inhaltes, d. h. der mit ihm
verbundenen Vorstellung, wilL Betrachten wir andererseits das
Bewusstsein und den grossartigen zu seiner Erzeugung in Scene
gesetzten Apparat, und erinnern wir uns aus dem letzten Glei-
te! des vorigen Abschnittes, was wir erst im Oapitel XTII.
dieses Abschnittes näher begründen werden, dass aller Fortschritt
in der Stufenreihe der Wesen und in der Geschichte in der Er-
weiterung des Gebietes, wo das Bewusstsein herrscht, besteht, dass
aber diese Erweiterung der Herrschaft nur durch Befreiung des
Bewusstseins von der Herrschaft des Affectes und Interesses, mit
einem Worte des Willens, und durch alleinige Unterwerfung unter
die bewusste Vernunft erkämpft werden kann, so liegt der Schluss
n^be, dass die fortschreitende Emancipation des Intellectes vom
Willen der eigentliche Eernpunct und nächste Zweck der Erschaf-
inng des Bewusstseins ist. Dies wäre aber widersinnig, wenn das
Unbewusste an sich schon die Möglichkeit dieser Emancipation
enthielte, denn der ganze grosse Apparat für Herstellung des Be-
wusstseins wäre dann in dieser Absicht überflüssig. Hieraus und
aus der Erscheinung, dass wir nirgends eine unbewusste Vorstel-
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lang ohne unbewussten Willen kennen, schlieBse ioh, dass Wille
und V'orstellung im Unbewussten nur in untrennbarer Einheit eii-
itircji kann; denn es wäre doch mindestens sehr wunderlich, wenn
unbewusste Vorstellung abgesondert existirte , und wir nirgends
etwixs davon merkten. — Dazu kommt noch folgende bestätigende
Betrachtung. —
Das Denken oder Vorstellen als solches ist völlig in eich
begeh loBsen, hat gar kein Wollen, kein Streben oder Demähn-
iiches , es hat auch als solches keinen Schmerz oder Lust , abo
auch kein Interesse; Alles dieses haftet nicht am Vorstellen, son-
dern am Wollen. Mithin kann das Vorstellen an sich niemals ein
zur ^Veränderung treibendes Moment in sich selber finden, es wird
sich absolut indifferent nicht nur gegen sein Sosein oder
Anderssein, sondern auch gegen sein Sein oder Nichtsein ver-
halten, da ihm Alles dies ganz gleichgültig ist, weil es ja überhaupt
mteresaelos ist. Hieraus geht hervor, dass das Vorstellen, da es
weder ein Interesse an seiner eigenen Existenz, noch irgend ein
Btreben nach derselben hat, auch in sich selber durchaus keinen
Grund finden kann, aus dem Nichtsein in*s Sein, oder, wenn man
lieber will, aus dem potentid" Sein in's actu - Sein überzugehen, d. L
dass es zu jedem actu eilen Vorstellen eines Grundes bedarf, der
nicht im Vorstellen selber liegt. ^ Dieser Grund ist für das be-
wusste Vorstellen die Materie in ihren Sinneseindrücken und Hin*
äi^hwiDgungen, für das unbewusste Vorstellen kann es diese nidit
seiD, sonst würde es eben auch zum Bewasstsein kommen, wie im
dritten Gapitel zu zeigen ist, folglich kann es für diese nur der
unbewusste Wille sein. Dies stimmt vollkommen mit unseren
Erfahrungen, denn überall ist es das Interesse, der Wille, der auf
den besonderen Fall losgehend die Vorstellung erst in's Dasein zwingt
Weim aber im Unbewussten die Vorstellung nur vom Willen
herv^argemfen werden kann, so versteht es sich von selber, dass
gerade immer nur diejenigen Vorstellungen zur Existenz kommen,
welclie dem Willen zum Inhalte oder Gegenstande dienen. Ich will
hier noch einmal die Bemerkung anfügen; dass, da dem Willen
unmittelbar die That folgt, es keine Geistesthätigkeit im Unbewuss-
ten geben kann, als im Moment der beginnenden That, und so lange
ab der Wille zur Fortsetzung der That erforderlich ist Selbst
wenn der Wille zur Verwirklichung seines Inhaltes und Uebei^
Windung der vorliegenden Widerstände zu schwach ist, trifft dies
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zu; denn entweder besteht die That im migslingenden Yersuche,
oder das Unbewusste denkt statt dieses Zweckes gleich die geeig-
neten Yorbereitenden Mittel. —
Es könnte hier noch ein Einwand erhoben werden, nämlich
der, dass ja doch das TJnbewnsste nur die letzten Eesnltate will,
aber den genzen Denkprocess denken mubs, der zu diesen Besulta-
ten fahrt. Wer aber das 4. dieses Capitels aufoierksam gelesen
hat, wird darin schon die Beantwortung dieses Einwandes gefunden
haben. Das unbewusste Denken fasst eben eile Glieder eines Pro-
cesses, Grund und Folge, Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck
Q. B. w., in einen einzigen Moment zusammen, und denkt sie nicht
vor, neben oder ausser, sondern in dem Resultate selbst, sie denkt
sie gar nicht anders als d u r c h das Resultat. Daher kann dieses Den-
ken nicht als ein besonderes Denken ausserhalb des Resultates
geltend gemacht werden, es ist yielmehr implicite im Denken des
Besultates mit enthalten, ohne jemals explicirt zu werden; folglich
ist das allein in unserem gewöhnlichen Sinne Gedachte das Resul-
tat, und der Satz bleibt bestehen, dass nur Das unbewusst gedacht
werden kann, was gewollt wird. — Ueberdies kann man sogar bei
der gewöhnlichen Kategorie des unbewussten Denkens , bei Mittel
and Zweck sagen, dass auch der in der Vorstellung des gewollten
Mittels implicite mit gedachte Zweck implicite mit gewollt werde.
Nach alle dem besteht die einzige Thätigkeit des Unbe-
wofisten im Wollen, und die den Willen erfüllende unbewusste
Vorstellung ist auch fiir die Thätigkeit nur der unzeitliche, gleich-
sam in die Zeitlichkeit bloss mit hineingerissene Inhalt; Wollen
und Thätigsein sind demnach identische oder Wechselbegriffe;
nur durch sie wird die Zeit gesetzt, nur durch sie wird die Vor-
stellung aus dem potentiä^Sem in's oc^-Sein, aus dem Sein im
Wesen in's Sein in der Erscheinung, und damit in die Zeit, hin-
eingeworfen. Ganz anders mit der bewussten Vorstellung, die ein
Product aus yerschiedenen Factoren ist, von denen der eine, die
Hirnschwingungen, von vornherein mit der Dauer behaftet ist.
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n.
Oehirn und Ganglien als Bedingung des tliierischeii
Bewnsstseins.
Fast alle Naturforscher, Physiologen uud Aerzte sind Mate-
rialisten, und je mehr die Kenntniss und Denkweise der Natur-
wissenschaften und Physiologie sich unter das gebildete Publicnm
ausbreitet, desto mehr greift die materialistische Weltanschaaiing
um sich. Woran liegt das? An der Einfachheit und schlagenden
Evidenz der Tliatsachen, auf die sich die materialistische Auffas-
(tung der Thier- und Menschenseele ^ des einzigen uns bekannten
iri'i^tes, stützt. Nur wer diese Thatsachen nicht kennt, wie die
nin^issenschaftliche Menge, oder die Gelehrtenwelt ohne natui^
\\ifisen schaftliche und physiologische Kenntnisse, oder wer mit den
Viirgefassten Meinungen religiöser oder philosophischer Systeme an
diese Thatsachen herantritt, nur der kann sich ihrem Einflüsse ent-
;jriehen; jeden unbefangenen denkenden Menschen aber müssen de
schlGchterdings überzeugen, weil sie eben nur genommen zu werden
>>ra liehen, wie sie sind; sie sprechen ihre Bedeutung mit so naiver
Klarheit von selber aus, dass man gar nicht nöthig hat, dieselbe
z%x iäuchen« Und diese naive Klarheit und Unmittelbarkeit des
Ktisiiltates, diese drastische Evidenz desselben, die sich nur mit
(Gewalt verläugnen lässt, dies ist es, was der materialistischen kd-
tn^Hiing des Geistes ein so grosses Uebergewicht über die schwie-
rigiii und spitzfindigen Deductionen und Wahrscheinlichkeitsbeweise,
liegen die willkürlichen Annahmen und oft schiefen Consequenien
tler Bpiritualistischen Psychologie sichert, was alle klaren, den
TU VKti seh- philosophischen Speculationen abgeneigten Köpfe zur Fahne
tk.^ Materialismus schwören lässt, der einfach ist wie die Nator, die
ihn lehrt und klar und zutreffend in allen seinen richtigen Conae-
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quenzeDy wie diese seine hehre Matter. Dass der Materialismus
dabei die religiösen Systeme vor den Kopf stösst, kann ihm in
unserer Zeit nur um so mehr Anhänger gewinnen, dass er aber mit
der speoulatiyen Philosophie in Widerspruch geräth^ daraus macht
er aich erst gar nichts; denn wie wenig Menschen haben ein spe-
colatiTes Bedttrfiiiss, wie viel weniger noch philosophische Bildung ?
Darum hat der Materialismus weder das Bedürfnisse noch die
Fähigkeit, die unyerstandenrn Abstractionen , wie Kraft, Stoff
u. 8. w., aus denen sein Gebäude besteht, zu untersuchen, und den
höheren Fragen der Philosophie gegenüber verhält er sich theils
skeptisch, indem er läugnet, dass ihre Lösung diesseits der Grenzen
des menschlichen Verstandes liege ^ theils läugnet er die Berechti-
gang dieser Fragen überhaupt. So weiss er sich nach allen Bich-
tangen hin in seiner Haut am wohlsten zu fühlen, und ist mit den
täglich fortschreitenden Entdeckungen der Naturwissenschaften völlig
befriedigt, in dem guten Glauben, dass Alles, was der Mensch er-
fahren kann, im Verfolge der specipllen Wissenschaften liegen müsse.
£s ist mithin kein Wunder, dass der Materialismus Terrain gewinnt,
vährend die Philosophie Terrain verliert, denn nur eine Philosophie,
welche allen Eesultaten der Naturwissenschaften
Tolle Eechnung trägt, und den an sich berechtigten Aus-
gaogspunct des Materialismus ohne Einschränkiing in sich auf-
nimmt, nur eine solche Philosophie kann hoffen, dem Materialis-
mus Stand zu halten, wenn sie zugleich die Bedingung erfüllt, ge-
meinverständlich zu sein, was die Identitätsphilosophie und der
absolute Idealismus eben leider nicht ist
Den ersten Versuch, den Materialismus in die Philosophie auf
verständliche Weise aufzunehmen, machte Schopenhauer, und es
liegt in diesem Versuche nicht der geringste Theil sowohl seines
Verdienstes, als seiner seit einigen Jahren beginnenden Popularität.
Aber sein Compromiss war ein halber, er liess dem Materialismus
den Inteüect, und reservirte der Speculation den Willen. Diese
gewaltsame Zerreissung ist sein schwacher Punct, denn wenn dem
Materialismus einmal das bewusste Vorstellen und Denken einge-
räumt ist, so hat er volles Becht, auch das bewusste Fühlen und
damit das bewusste Begehreu und Wollen in Anspruch zu nehmen,
da die physiologischen Erscheinungen für alle bewusste Geistes-
thätigkeiten das Gleiche aussagen. — In der That giebt es kein
Mittel, als Ignoriren oder spitzfindiges Wegdeuteln^ um den ersten
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FimdamentalBatz des Materialismiis umzustossen : ^^alle bewußste
GeistestMtigkeit kann nur durch normale Function des Gehirnes zu
Stande kommen/* 80 lange man nun ' aber keine andere als be-
wusste Geistesthätigkeit kennt oder kennen will, so sagt dieser
Satz : „alle Geistesthätigkeit kann nur durch Function des Gehirnes
zu Stande kommen" ; der Sohluss liegt auf der Hand : „entweder ist
alle Geistesthätigkeit blosse Function des Gehirnes, oder ein Pro-
duct Ton Himfunction und einem anderen, welches für sich zu
keiner Aeusserung kommen kann, sondern rein potentiell ist, und
erst in und an der normalen Himfunction zur Aeusserung gelangt,
welche sich nunmehr als Geistesthätigkeit darstellt" Man sieht,
dass die Entscheidung dieser Alternative auf Beseitigung jenes
Anderen als eines nutzlosen, nichtssagenden Ballastes, nicht zu nm-
gehen ist. Gkmz anders stellt sich die Sache, sobald man die un-
bewusste Geistesthätigkeit bereits als ursprüngliche und erste Form
derselben kennt, ohne deren Beihülfe die bewusste Geistesthätigkeit
auf Schritt und Tritt gelähmt sein würde. Dann sagt der Satz nur:
„die bewusste Geistesthätigkeit kann nur durch die Function des
Gehirnes zu Stande kommen", über die unbewusste Geistesthätig-
keit dagegen sagt er gar nichts aus, sie bleibt also, da alle Er-
scheinungen ihre Unabhängigkeit von den Himfunctionen beweisen,
als etwas Selbstständiges bestehen, und nur die Form des Bewusste
seins erscheint durch die Materie bedingt.
Wir gehen nun zu einer kurzen Darstellung der Thatsachen
über, deren theoretischer Ausdruck jener Satz ist.
1) Das Gehirn ist in formeller und materieller Beziehung dss
höchste Product organischer Bildungsthätigkeit.
„Wir finden im Gehirne Berge und Thaler, Brücken und Was-
serleitungen, Balken und Gewölbe, Zwingen und Hacken, Klauen
und Ammonshömer; Bäume und Garben, Harfen und Elangstäbe
u, 8. w. u. s. w. Niemand hat den Sinn dieser sonderbaren Ge-
stalten erkannt." (Huschke in „Schädel, Hirn und Seele des
Menschen").
Es giebt kein thierisches Oi^an, was zartere, wunderbarere,
mannigfaltigere Formen, feinere und eigenthümlichere Structur
hätte. Die Ganglienkügelchen des Gehirnes lassen theils Primitiv-
fasem aus sich entspringen, theils sind sie durch solche mit einan-
der verbunden, theils von ihnen umgeben; diese Primitivfasem,
hohle, mit einem öligen, gerinnbaren Inhalte versehene, etwa *'ioqo
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Linie starke Bohren, gehen mit einander wieder die eig^ithämlich-
sten Yerschlingnngen und Borchkreozangen ein. Leider ist die
80 schwierige Anatomie des Gehirnes noch ebenso weit zurück, wie
seine chemische TJntersuchnng, aber auch aus letzterer wissen wir
sobon soviel, dass die chemische Zusammensetzung des Gehirnes
keineswegs so einfach ist, als man früher wohl glaubte, dass sie
namentlich an verchiedenen Stellen verschieden ist, dass in ihr die
eigenihümlichen Qehimfette mit ihrem Phosphorgehalte eine grosse
Bolle spielen, und sich noch andere Stoffe daselbst finden, welche
in keinem anderen Gebilde in derselben Weise wiederkehren, z. B.
Cerebrin und Lecithin. Wie weit übrigens unsere Chemie für solche
Untersuchungen noch zurück ist, das entnehme man aus dem Bei-
^iele, dass sie Blut oder Eiter, welches mit einem Ansteckungsstojffe
infioirt ist, nicht von gesundem zu unterscheiden vermag, dass
die unterschiede zwischen isomeren Stoffen (von gleicher Zusammen-
setzung, aber von ungleichen Eigenschaften in Folge verschiedener
Atomlagerung, wie die verschiedene Lichtbrechung und Drehung sie
zeigt) ihr bei der Analyse meist verschwinden, sowie dass sie erst
jetzt anfangt, eine Menge fein vertheilter Metalle durch Spectral-
analyse zu entdecken, von denen Minimalquantitäten in organischen
Stoffen von grösster Wichtigkeit sein können. Alle diese Sachen
gewinnen um so mehr an Bedeutung, mit je höheren organischen
Gebilden man zu thun hat.
2) Im Gehirne ist der Stoffwechsel schneller, als in jedem an-
deren Theile des Leibes, weshalb auch die Blutzufuhr unverhält-
nissmässig viel stärker. Dies deutet auf eine Concentration leben-
diger Thätigkeit im Gehirne, wie sie in keinem anderen Theile des
Körpers stattfindet.
3) Das Gehirn hat für die oi^anischen Functionen des körper-
liehen Lebens keine unmittelbare Bedeutung. Dies beweisen die
Tersuohe Flourens, der nachwies, dass Thiere, denen das Gehirn
herausgenommen ist, Monate und Jahre lang leben und gedeihen
können. Es gehört dazu freilich, dass die Operation selbst und der
dabei stattfindende Blutverlust nicht zu heftig sei und die Kräfte des
Thieres zu sehr herunterbringt, daher der Versuch nur bei solchen
Thieren völlig gelingen kann, wo das Hirn ohne zu grosse Schwie-
rigkeiten entfernt werden kann, z. B. bei Hühnern. Aus diesen
drei ersten Puncten läset sich schon schliessen, dass das Hirn, die
Blüthe des Organismus und der Heerd der lebendigsten Thätig-
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keit , eine geistige Bestimmiing haben müsse, da es keine
leibliche hat.
4) Mit steigender Yollkominenheit des Grehimes oder Aex es
vertretenden Oanglienknoten steigt die geistige Befähigung im Thie^
reiche, wahrend die leiblichen Punctionen von allen Thieren, ob klng
oder dumm, durchschnittlich gleich gut vollzogen werden. Dieser
Hatz ist evident selbst für den Laien.
5) Die geistigen Anlagen und Leistungsfähigkeit stehen im Y^-
hfiltnisse zur Quantität des Gehirnes, insoweit nicht die Qualität
de6:^clben Abweichungen herbeiführt. „Nach den genauen Messon-
gea des Engländers Peacock nimmt das Gewicht de« menschliche
Gehirnes stetig und sehr rasch bis zum funfnndzwanzigsten Lebens-
jtilire zu, bleibt auf diesem Normalgewiohte stehen bis zum fünfzigsten,
und nimmt von da an stetig ab. Nach Sims erreicht das Gkfaim,
Wülches an Masse bis zum dreissigsten oder vierzigsten Jahre wächst,
erst zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahre das
Miiximum seines Volumens. Das Gehirn alter Leute wird alrc^hisch,
d. li. kleiner, es schrumpft, und es entstehen Hohlräume zwischen
ilcii einzelnen Gehirnwindungen, welche vorher fest an einander
Ingen. Dabei wird die Substanz des Gehirnes zäher, die Farbe
graulicher, der Blutgehalt geringer, die Windungen schmaler und
dii^ chemische Constitution des Greisengehimes nähert sich nach
Schlossberger wieder derjenigen der jüngsten Lebensperioda"
^Büchner, Kraft und Stoff, 5te AnfL S. 109.) Das Durchschnitts-
gewicht des Gehirnes beträgt nach Peacock beim Manne flinfzig,
beim Weibe vierund vierzig Unzen; nach Hoffmann betrüge der
Uli t erschied nur zwei Unzen; Lauret zog aus den Messungen von
srv^eitausend Köpfen das Eesultat, dass sowohl der Umfang, als an
verschiedenen Stellen genommene Durchmesser bei Weibern stets
geringer sind, als bei Männern. Während das Normalgeiricht
3 — 3 V2 Pftuid beträgt, wog Cuviers Gehirn weit über vier Pfund. Ange-
borener Blödsinn zeigt immer ein auffallend kleines G^im, umge-
kehlt ist regelwidrige Kleinheit des Gehirnes immer mit Blödsinn
Terbunden. Panhappe beweist aus 782 fällen die allmälige Ge-
wichtsverringerung des Gehirnes im Verhältniss zur Verstandesab-
nahnn3 beim Wahnsinn oder der Tiefe der geistigen Störung. Bii
allen Cretins zeigt Gehirn und Schädel auffiEdlende Kleinheit, letz-
terer Asymmetrie und Missgestalt ; besonders verkümmert sind die
Hemisphären. Das Gehirn des Negers ist viel kleiner, als das des
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Europäers» die Stirn zurückliegend, der Schädel minder umfangreich,
überhaupt thierähnlicher ; den Eingeborenen Neuhollands fehlen die
höheren Theile des Gehirnes in auffallendem Maasse. Auch der
Sohädelbau der europäischen Menschheit hat in der historischen
Zeit sich nicht unbedeutend yervollkommnet , namentlich triti^ mit
dem Fortschritt der Ciyilisation die vordere Kopfgegend auf Kosten
der hinteren hervor , wie Ausgrabungen aus den verschiedensten
Zeiten beweisen. Dasselbe Verhältniss ündet auch zwischen den
rohen und gebildeten Ständen der heutigen Zeit im Allgemeinen
statt, wie unter anderen die Erfahrungen der Hutmacher beweisen.
Dass hier nicht einzelne Fälle, sondern nur Durchschnittszahlen
beweisend sein können, versteht sich von selbst; die einzelnen Ab-
weichungen, dass z. B. kluge Leute einen kleinen, dumme einen
grossen Schädel haben können, kommen auf Eechnung theils der
Sehädeldicke, theils des Unterschiedes von Anlage und Ausbildung,
theils der Gestalt der Windungen und der Qualität des Gehirnes.
Was wir von der Einwirkung der Qualität wissen, ist wenig,
aber doch etwas. Z. £. ist das Kindergehim breiiger, wasserreicher,
fettärmer, als das der Erwachsenen; die Unterschiede zwischen
grauer und weisser Substanz, die mikroskopischen Eigenthiimlich-
keiten bilden sich erst allmälig heraus; die an Erwachsenen sehr
deutliche sogenannte Faserung des Gehirnes ist am Kindergehirne
nicht zu erkennen ; je deutlicher diese Faserung wird , um so be-
stimmter tritt auch die geistige Thätigkeit hervor; das Fötushim
hat sehr wenig Fett (und damit Phosphor), und steigt der Fettge-
halt bis zur Geburt und beim Neugeborenen ziemlich rasch mit
vorrückendem^ Alter. Auch bei Thieren hat das Gehirn durch-
schnittlich um so mehr Fett, je höher sie stehen, und je kleiner
das Gehirn im Verhältniss zum Verstände des Thieres ist, z. B.
heim Pferd. Dieses Fett scheint sehr wichtig zu sein, denn bei
Thieren, die man himgern lässt, verliert das Hirn nicht, wie andere
Organe, einen Theil seines Fettgehaltes. — Von der Zahl, Tiefe
und Gestalt der Hirnwindungen hängt bei gleichem Volumen die
Grösse seiner Oberfläche ab, — ein höchst wichtiger Factor, der
ein geringeres Gewicht paralysiren kann. Im Durchschnitt sind
auch die Windungen und Furchungen um so zahlreicher, tiefer, und
verworrener, je höher eine Thierart oder Menschenrace steht.
Es würde jetzt begreiflich sein, wenn das Gesetz des ^'er-
hältnisses von Himmasse und geistiger Begabung bei einigen wenigen
▼. Harimann, Phil. d. Unbewussten. 22
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Thieren, den grösßten der Gegenwart, eine Ausnahme erlitte, indem
sie das lienschenhim an Masse übertreffen ; gleichwohl beruht selbst
diese scheinbare Abweichung nur in einem Ueberwiegen derjenigen
Gehimtheile, welche dem Körpemervensystem als Centralorgan der
willkürlichen Bewegung und Empfindung dienen, und welche theils
wegen der grösseren Menge und Dicke der in ihnen zusammen-
laufenden Nervenstränge, theils wegen der zur Bewegung einer
grösseren Meisse nothwendigen grösseren mechanischen Eraftent-
wickelung ein grösseres Volumen darbieten müssen. Dagegen er-
reichen die vorzugsweise den Denkfunctionen vorstehenden vorde-
ren Theile des Hirnes bei keinem Thiere auch nur an QuantiÄt
die Ausbildung, wie beim Menschen.
6) Das bewusste Denken kräftigt das Gehirn, wie jede Thäüg-
keit ihr Organ, und ist die Kraftäusserung des Denkens stets von
Stoffverbrauch begleitet. Wie jeder Muskel, wenn er vorzugsweise
geübt wird, kräftiger wird und an Masse zunimmt (z. B. die Waden
der Tänzerinnen), so wird auch das Gehirn durch Denkübung tüch-
tiger zum Denken und nimmt an Qualität und Quantität zu.
Albers in Bonn erzählt, er habe die Gehirne von mehreren
Personen secirt, welche seit mehreren Jahren geistig sehr viel ge-
arbeitet hatten; bei allen fand er die Gehimsubstanz sehr fest,
die graue Substanz und die Gehirnwindungen auffallend entwickelt
Die Zunahme an Masse wird theils durch den Unterschied bei ge-
bildeten und niederen Ständen, theils durch den Zuwachs in Folge
der fortschreitenden Civilisation in Europa bewiesen, was beides
freilich nur mit Hülfe der Vererbung sich so weit summirt, dass es
constatirt werden kann. — Dass alles Denken mit Stoffverbrauch
im Gehirn verbunden ist, geht schon aus der einfachen Erscheinung
der Ermüdung des Denkens hervor, die ohne dies gar nicht zu be-
greifen wäre. Geistige Arbeit vermehrt ebenso gut wie körperliche
nicht nur die Esslust, um den Stoffverbrauch zu ersetzen, son-
dern nach Dary^H Messungen sogar auch die thierische Wärme, was
beschleunigte Athmung anzeigt, welche eintritt, um das durch den
schnelleren Stoffwechsel schneller verkohlende Blut wieder zu ent-
kohlen. Femer sind bekanntlich die sitzenden Handwerke ohne
körperliche Anstrengung, als Schneiderei, Schusterei, leichte Fabrik-
arbeit, diejenigen, welche die meisten Grübler, die religiös und
politisch Verdrehten erzeugen, während die körperlich anstrengen-
den Handwerke dem Gehirne keine Kraft zum Denken übrig lassen,
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339
denn der Körper hat wie jede Maschine nur über eine gewisse
Somme lebendiger Kraft zu yerfügen, und wenn dieselbe in Muskel-
kraft umgesetzt wird, bleibt für das Spiel der Gehimmolecüle zum
Denken keine übrig. Dies kann auch jeder an sich selbst sehen:
Niemand wird im Stande sein, während eines tüchtigen Sprunges
eine begonnene Gedankenreihe weiter zu denken, oder gleichzeitig
schnell zu laufen und eine Ueberlegung anzustellen; schon im lang-
samen Gehen bleibt man unwillkürlich stehen, wenn die Gedailken
sich concentriren, und im tiefsten Nachdenken verfallt nicht selten
der äussere Mensch in völlige Starrheit. Dies Alles deutet auf
einen Verbrauch von lebendiger Kraft beim Denken, oder was das-
selbe ist, einen chemischen StofiPverbrauch, denn dieser erzeugt die
lebendige Kraft
7) Jede Störung der Integrität des tjfehimes bringt eine Stö-
rung der bewussten Geistesthätigkeit hervor, es sei denn, dass die
Fmiction einer Hemisphäre von der entsprechenden Partie der
anderen Henoisphäre ersetzt wird ; denn wie jeder Mensch vorzugs-
weise mit einem Auge, Ohr, Nasenloch, sieht, hört und riecht, und
nach IJnbrauchbarwerden einer Seite der Sinnesorgane die Sinnes-
wahmehmung vermöge der anderen Seite noch fortbesteht, so denkt
auch jeder Mensch vorzugsweise mit einer Himhälfte, wie oft schon
die Physiognomie, namentlich die Stirn erkennen lässt, und ebenso
kann nach theilweisem Unbrauchbarwerden einer Himhälfte die andere
Hälfte die g^ze Denkfnnction übernehmen, wie eine Lungenhälfte
die ganze Athemfunction. Immerhin ist diese Ersetzung beim Ge-
hirne der seltenere Fall^ und tritt nur dann ein, wenn erstens die
kranke oder beschädigte Stelle die Functionen des übrigen Gehirnes
nicht mit beeinträchtigt, was aber auf die eine oder die andere
Art, z. 6. durch Fortpflanzung des Druckes, meistens stattfindet,
uid zweitens die Schädigung derart ist, dass sie die Functionen der
betreffenden Partie ganz aufhebt, aber nicht sie bestehen lässt und
bloss abnorm macht, denn alsdann entwickelt sich in derselben
eben die gestörte Geistesthätigkeit, welche die Besultate der ge-
sunden Functionen der übrigen Theile werthlos macht. Wenn nun
solche gestörte Functionen kranker Theile auf einmal ganz aufhören,
oder das übrige GehiAi von dem Drucke, den sie bisher ausgeübt
haben, entlasten, so tritt die normale Function der übrigen Gehim-
theile wieder als klare Geistesthätigkeit auf, ein Fall, der sich
namentlich bei fortschreitender Zerstörung der kranken Partien
22*
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_ 340_^
kurz Tor dem Tode nicht selten ereignet, und dann die den Laien
überraschende Erscheinung einer letzten geistigen Yerkiärong nach
langem Wahnsinn darbietet.
Bei den schon erwähnten Flourens'schen Versuchen an Hüh-
nern mit ausgenommenem Gehirne blieben die Thiere, wie in
tiefem Schlafe, auf jeder Stelle sitzen , wo man sie hinsetzte,
jede Fähigkeit, Sinneseindrücke zu erhalten , war vollkommen er-
loschen und sie mussten daher durch künstliche Fütterung erhalten
werden; dagegen waren die Tom Rückenmark ausgehenden Ee£ex-
bewegungen, z. B. das Schlingen, Fliegen, Laufen, erhalten. „Trägt
man die beiden Hemisphären eines Säugethieres schichtweise ab,
so sinkt die Geistesthätigkeit um so tiefer, je mehr der Masscn-
verlust durchgegriffen hat. Ist man zu den Himhöhlen vorgedrun-
gen, so pflegt sich vollkommene Bewusstlosigkeit einzufinden." (Va-
lentin.) „Welchen stärkeren Beweis für den nothwendigen Zu-
sammenhang von Seele und Gehirn will man verlangen, als denjenigen,
den das Messer des Anatomen liefert, indem es stückweise die
Seele herunterschneidet ?" (Büchner.)
Gehirnentzündung macht Irrwahn und Tobsucht, ein Blutaus-
tritt in das Gehirn Betäubung und vollkommene Bewusstlosigkeit,
ein andauernder Druck auf das Gehirn (z. B. G^hirnwassersucht,
Wasserkopf der Kinder) Verstandesschwäche und Blödsinn, eine
IJeberfüllung, z. B. bei Ertrinkenden und schwer Betrunkenen^ oder
Entleerung der Blutgefässe des Hirnes erzeugen Ohnmächten und
Bewusstlosigkeit, die schnellere Blutcirculation eines einfachen Fie-
bers bewirkt die Fieberphantasien, die doch auch ein zeitweiser
Wahnsinn sind, der Blutandrang im Alkoholrausch führt die als
betrunkener Zustand bekannte Geistesstörung, Opium, Haschisch
und andere Narkotica jedes einen anderen ihm eigenthümlichen
Zustand des Rausches herbei, deren jeder mit gewissen Zuständen
des Wahnsinns identisch ist.
Parry vermochte Anfälle von Tobsucht durch eine Compression
der Halsschlagader zu unterdrücken, und nach Flemming's Ver
suchen erzeugt dasselbe Verfahren bei Gesunden Schlaf und jagende
Träume. Kurzhalsige Menschen und Thiere sind im Durohscbnitt
sanguinischer, als langhalsige, weil in Folge der geringeren Ent-
fernung vom Herzen in ihrem Hirne eine lebhaftere Blutcirculation
stattfindet. Alle sogenannten Nachkrankheiten des Gehirnes in
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341
Folge stärkerer Verletzungen oder auch innerer Krankheiten, auch
?iele Apoplexien, betreffen ganz vorzugsweise das Gedächtniss,
rauben es entweder ganz oder schwächen es im Allgemeinen, oder
raaben das Qedächtniss für gewisse Kategorien des Wissens, z. B.
bloss für die Sprache, ohne jede Lähmung der Sprachorgane (Aphasie),
bei sonst klarem Verstände; oder ausschliesslich für alle Eigen-
namen, oder eine bestimmte Landessprache, oder für die Erlebnisse
gewisser Jahre oder Zeitabschnitte (besonders bei Zerstörung oder
Auflserthätigkeitsetzen bestimmter Himtheile). Mannigfache höchst
frappante Beispiele hierüber und das Wiedererhalten des Verlorenen
nach Entlastung des betreffenden Gehirntheiles sind nachzulesen
in Jessen ß Psychologie. — Stärkere Beweise, dass das Gedächtniss
auf bleibenden Veränderungen gewisser Himtheile beruht, welche
auf gewisse Anregungen zur leichteren Reproduction der früheren
Schwingungen beitragen, kann man doch wahrlich nicht verlangen,
als dass gewisse Erinnerungsgebiete die Fähigkeit, im Gedächtniss
aufzutauchen, mit Unbrauchbarwerden gewisser Himtheile verlieren,
und mit deren Rückkehr in den normalen Zustand wieder ge-
winnen.
8) Es giebt keine bewusste Geistesthätigkeit
ausserhalb oder hinter der Hirnfunction; denn wenn
wir mit Obigem als bewiesen annehmen dürfen, dass jede Störung
der normalen Hirnfunctionen die Thätigkeit des Bewusstseins stört,
so düirfen wir wohl als gewiss annehmen, dass mit der völligen
Aufhebung der Himfunction die Bewusstseinsthätigkeit ebenfalls
wirklich aufgehoben und nicht bloss ihr zur Erscheinung Kotamen
verhindert wird.
Wäre nicht diese stetig fortschreitende Stufenfolge der Be-
wusstseinsstörung, vorhanden, die stets der Tiefe der Himfunctions-
störung parallel geht, und durch alle Stufen des Blödsinns ganz
allmälig mit der Aufhebung alles Bewusstseins (ausser dem in ,den
reflectorischen Listincten des Küokenmarkes sich äussernden) zu-
sammenhängt, so wäre allerdings die Vermuthung möglich, dass
eine Zurückziehung des Bewusstseins auf sich selber stattfinden
könne, wo bloss jede .Aeusserung desselben unterdrückt sei, aber
80 hat diese Möglichkeit, auf welche man überhaupt nur durch
einen Eettungsversuch von Vorurtheilen eines vorgefassten Systemes
kommen kann, zu sehr alle Wahrscheinlichkeit gegen sich, als dass
sie dem unbefangenen Forscher Berücksichtigung ver4iente. Ausser
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342
dor erwähnten Stufenreihe und den Umstand, das« der ganze Natur-
apparat zur Herstellung des Hirnbewusstseins überflüssig wäre,
wenn auch ohne denselben das Bewusstsein existiren könnte, spricht
noch der Mangel der Erinnerung dagegen, denn wenn das Bewusst-
sein sich während der TJnthätigkeit des Hirnes auf sich selber
zurückzöge, so müsste doch eine Erinnerung für später daran zu-
rückbleiben. Diesen Umstand glauben Andere zu beseitigen, wenn
sie ein doppeltes individuelles Bewusstsein (also auch doppelte Per-
sönlichkeit f!] in Jedem) annehmen, nämÜch ein leibfreies und ein
Himbewußstsein , wobei ersteres für letzteres unbewusst sein soll.
Was für diese Annahme Triftiges angeführt wird, bezieht sich Alles
auf den für uns als das Unbewusste erkannten geistigen Hinter-
grund des Hirnbewusstseins, den freilich diejenigen, welche nur
bewusste Geistesthätigkeit kennen, für ein zweites Bewusstsein
halten müssen; was aber ausdrücklich für die Zweiheit des Be-
wusstseins angeführt wird, ist sehr unglücklich gewählt. Zu-
nächst wird das Bewusstsein des magnetischen Schlafes als leib-
freies Bewusstsein in Anspruch genommen, welches sich doch vom
Bewusstsein des Traumes im gewöhnlichen Schlafe nur dadurch
unterscheidet, dass die Communication mit den äusseren Sinnen
etwas weniger behindert und in beiden Fällen der functionirende
Theil des Gehirnes sich bei ersterem in einem Zustande künst-
licher Hyperästhesie (Ueberreizung, Ueberempfindlichkeit) befindet,
welcher zur Folge hat, dass erstens die Einwirkungen des Unbe-
wussten leichter in s Bewusstsein treten könuen, und dass zweiteuÄ
die Ausschlagsweite der Himschwingungen bei gleicher Lebhaftig-
keit der Vorstellung geringer als sonst ist, und folglich geringere
Gedächtnisseindrücke hinterlässt, welche gerade wie bei den meisten
gewöhnlichen Träumen nach Verschwinden der Himhyperästhesie
zwar vorhanden bleiben, aber zu schwach sind, um auf die gewohn-
lichen Beize in die bewusste Erinnerung zurückzukehren.
Demnach ist es kein Wunder, dass das Traumbewusstsein so-
wohl die Erinnerungen des wachen, als seine eigenen in sich fassen
kann, aber nicht umgekehrt. Ueberhaupt ist der somnambule Traum
mit dem gewöhnlichen durch die Schlafbewegungen und die ver-
schiedenen Stufen des Nachtwandeins und des spontanen Somnam-
bulismus so stetig verknüpft, dass es ganz unmöglich ist, in ihm
ein leibfreies Bewusstsein erkennen zu wollen ; und dann ist es auch
mit dem Bewusstsein dieser Zustande nicht weit her, sie sind
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343
eher ein träumerisches Halbbewnsstsein , als ein gesteigertes Be-
wusstsein zu nennen, und die bisweilen beobachteten, stets nur
kurzen lichtblitzen gleichenden erhöhten geistigen Leistungen kom-
men theils auf Bechnung der erleichterten Eingebung des Unbe-
wussten, theils auf Rechnung der Hirnhyperästhesie an sich, welche
ein leichteres Auftauchen der Erinnerungen zur Folge hat, wie denn
in solchen Zuständen Erinnerungen aus frühen Zeiten von schein-
bar längst vergessenen Dingen zum Vorscheine kommen, die so
schwach waren, dass im normalen Himzustande keine zu ihrer Er-
weckung genügenden Beize vorgekommen waren.
So erklärt sich Alles natürlich aus bekannten Gesetzen , ohne
dass irgendwo jene geschraubte Hypothese nutzbar würde. Eine
noch upglücklichere Anführung i^r das leibfreie Bewusstsein ist
das schon erwähnte bisweilen stattfindende Wiederkehren des Be-
wusstseins vor dem Tode. Auch hier spielt jene innere Hyper-
ästhesie des Hirnes bei äusserer Anästhesie mit, welche mitunter
jene Verklärung des Geistes hervorbringt, die ihre Wahrsagungen
und Gedächtnissschärfe mit dem somnambulen Zustande, ihre freu-
dige Buhe und stille, schmerzlose Äeiterkeit mit dem gleichen Nerven-
zustande (Analgesie) bei den höchsten Graden der Tortur oder gewissen
narkotischen Bauschen gemein hat. Die Anästhesie nach Aussen
ist dabei nur das natürliche Gegengewicht gegen die innere Hyper-
ästhesie, wir finden dieselbe ebenfalls bei der Entrückung der
mystischen Asketiker, bei den Somnambiilen, bei schwachen Graden
des Ghloroformirens und bei vielen anderen Narkosen, z. B. Haschisch;
auch bei manchen Zuständen des Wahnsinns zeigt sie sich bisweilen ;
es beweist also dieses Gefühl der Leibfreiheit keineswegs eine
Minderung, sondern vielmehr eine Steigerung des Gehimreizes, und
nichts weniger als die Leibfreiheit des Bewusstseins. Ganz ähn-
liche Umstände fuhren die ähnlichen Erscheinungen kurz vor dem
Ertrinken herbei. Wenn endlich als Kriterium des leibfreien Be-
wosstseins die Aufhebung der Zeit in der Gedankenfolge behauptet
wird, so wäre dies gleichbedeutend mit dem intuitiven, zeitlosen,
momentanen, impliciten Denken, welches jedem Bewusstsein, als
welches Vergleichen expliciter Vorstellungen verlangt, widerspricht.
Bs wird aber auch in den Beispielen nur der schnellere Gedan-
kenlauf angeführt, wie er eben bei Zuständen der höchsten G^him-
reizung, bei narkotischen Vergiftungen, vor dem Ertrinken u. dgl.
Torkommt, und seit jeher als die Ideenflucht bei gewissen Formen
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344 _
des Wahnsinnes bekannt ist. Was Wunder, dass in einem über-
reizten Gehirne die Vorstellnngen schneller als gewöhnlich auf ein-
andor folgen? So lange überhaupt noch die Vorstellungen zeitlich
auf einander folgen, beweisen sie die Einwirkung der Materie, durch
deren Schwingungen erst die Zeit in's Denken kommt, so wie aber
das Denken leibfrei ist, ist es zeitlos und damit unbewusst.
Was wir in diesem Capitel Tom menschlichen, als dem höchsten
uns bekannten Bewusstsein, bei welchem man am ehesten eine
Selbstständigkeit vom Leibe vermuthen könnte, nachgewiesen haben,
gilt aelbstredend auch von den Ganglien der niederen Thiere, welche
daß Gehirn der Wirbel thiere ersetzen, und es gilt ebenso von dem
gpeci@llen Bewusstsein jedes selbstständigen Gkinglienknotens in
Menschen, höheren und niederen Thieren, es gilt endlich auch von
den Substanzen, welche bei den niedrigsten Thieren das Central-
nervensystem ersetzen, und sollte sich bei Pflanzen oder unorga-
niäehen Stoffen ebenfalls ein Bewusstsein herausstellen, so gilt es
auch fiir dieses.
Zum Schluss dieses Capitels finde eine Stelle von Schelling
Platts (Werke L 3, 497), welche den Inhalt desselben in wenigen
Worten enthält, wenn auch die Behauptung in Schelling's Munde
durch den Hintergrund des transcendentalen Idealismus einen «ftww
a od ereil Sinn erhält: „Nicht die Vorstellung selbst, wohl aber daß
Bewusstsein derselben ist durch die Affection des Organismus be-
dingt, und wenn der Empijismus seine Behauptung auf das letztere
einschränkt, so ist nichts gegen ihn einzuwenden,"
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in.
Die EntstehnBg des Bewusstseins.
Bas Bewiisstsein ist nicht ein ruhender Zustand, sondern ein
ProoesSy ein stetiges Bewusstwerden. Dass dieser geistige Process,
dem das Bewnsstsein seine Entstehung verdankt, nicht unmittelbar
Tom Bewusstsein des Beobachters erfasst werden kann , versteht
sich von selbst, denn das, was erst das Bewusstsein erzeugt, muss
natürlich hinter dem Bewusstsein liegen , und der bewussten
Selbstbeobachtung unzugänglich sein. Wir können also nur auf in-
directem Wege zum Ziele zu gelangen hoffen. Die erste Bedin-
gung ist, dajss wir den Begriff des Bewusstseins schärfer abgrenzen,
als es bisher nöthig war, — Zunächst ist es vom Selbstbewusstsein
m. unterscheiden. Mein Selbstbewusstsein ist das Bewusstsein
meiner selbst, d. i. das Bewusstsein^ des Subjectes meiner Geistes-
tbätigkeit; unter Subject meiner Geistesthätigkeit verstehe ich aber
denjenigen Theil der vollständigen Ursache meiner Geistesthätigkeit,
welcher nicht äusserlich ist, also die innere Ursache derselben.
Bas Selbstbewusstsein ist also nur ein specieller Fall der Anwen-
dung des Bewusstseins auf ein bestimmtes Object, nämlich auf die
sQpponirte innere Ursache der Geistesthätigkeit, welche mit dem
Namen Subject bezeichnet wird. Das Bewusstsein als solches ist
mithin seinem Begriffe nach frei von der bewussten Beziehung auf
das Subject, indem es an und für sich nur auf das Object geht,
und wird nur dadurch Selbstbewusstsein, dass ihm zufällig die
Vorstellung des Subjects zum Object wird. Hieraus folgt,
dass kein Selbstbewusstsein ohne Bewusstsein, wohl aber Bewusst-
sein ohne Selbstbewusstsein gedacht werden kann. Nur für die
bewusste Keflexion, wie sie im Kopfe des in Gedanken ausserhalb
des Processes stehenden und denselben objectiv betrachtenden Philo-
sophen stattfindet, nicht aber für das Subject des Processes selbst
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346^
musB Objeot und Subject sich gleichzeitig und in gleichem Ver-
hältnisae auslösen. (Näheres siehe später in diesem Capitel.) Noch
woni ger hat das Bewusstsein mit dem Begriffe der Persönlichkeit
oder der Identität aller Subjecte meiner verschiedenen Geistesthä-
tigkeiten zu thun, ein Begriff, welcher meistens in das Wort Selbst-
hcwüägtsein mit einbegriffen wird, wie wir der Einfachheit halber
künftig auch thun werden. Das Bewusstsein bezieht sich also rein
auf das Object des Yorstellens, d. h. nicht das correspondirende
äuaeere Object, sondern auf die Vorstellung, insofern sie als ge-
genetäadliches Resultat des Yorstellungsprocesses Object des Vor-
stellens genannt werden kann.
Was ist nun aber das Bewusstsein? Besteht es bloss in der
Form der Sinnlichkeit, so dass bdide Begriffe identisch sind? Nein,
denn auch das TJnbewusste muss die Form der Sinnlichkeit ge-
dacht haben, sonst hätte es dieselbe nicht so zweckmässig schaf-
fen können; wir könnten uns aber auch ein Bewusstsein mit gani
anderen Formen als möglich denken, wenn eine Welt anders ge-
Bchatt'en wäre, oder wenn neben und jenseit unserer Raum -Zeit -Welt
aoch andere Welten in anderen Daseins- und Bewusstseinsformen
existiren, was keinen Widerspruch in sich hat, da diese (meinet-
wegen beliebig vielen) Welten einander gar nicht stören oder
berühren könnten , und das Eine von allen diesen Formen freie
UnbawuBste für alle dasselbe wäre. Die Form der Sinnlichkeit
limm Qho für das Bewusstsein nur als etwas Hinzukommendes, Ac-
cid^ntielles , nicht als etwas Wesentliches, Essentielles betrachtet
werden. — Oder soll vielleicht das Bewusstsein in der Erinnerung
beetehen? Die Erinnerung ist allerdings kein sohlechtes EJriterion
dm Bewusstseins, denn je lebhafter das Bewusstsein ist, desto stär-
ker müssen die Gehimschwingungen sein, und je stärker diese
sind, einen desto stärkeren bleibenden Eindruck im Gehirn müssen
8141 hinterlassen, d. h. um so leichter, und bei gleicher Anregong
um m stärker, wird die Erinnerung. Man übersieht aber leicht,
daB3 die Erinnerung nur eine mittelbare Folge aus dem Wesen des
BewuEstseins ist, daher kann sie unmöglich sein Wesen selber
ausmachen. — Ebenso wenig kann das Wesen des Bewusstseins in
di^r Möglichkeit des Yei^leichens von Vorstellungen bestehen, denn
diese ist wieder nur eine Folge der Form der Sinnlichkeit, beson-
ders der Zeit, ausserdem aber kann das Bewusstsein in grösster
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347
Schärfe vorhanden sein , wenn nur eine einzige Vorstellung ohne
jedes Vergleichungsobject den Geist erfüllt.
Wir haben nach alledem nur Einen sicheren Anhalt, der uns
auf den rechten Weg leiten muss, nämlich den Satz des vorigen
Gapitels: die Gehimschwingungen , allgemeiner die materielle Be-
weguDg, als conditio sine qua 7ion des Bewusstseins. Auch wenn
wir beliebig viele Welten mit andern Formen als Baum und Zeit
setzen, so muss doch, wenn der Farallelismus von Sein und Den*
ken beibehalten ist, etwas der Materie entsprechendes in ihnen
vorhanden sein, und eine der Bewegung entsprechende Thätigkeit
dieses muss alsdann ebenfalls Bedingung des Bewusstseins sein. —
Setzen wir somit das Wesen des Bewusstseins als in seiner mate-
riellen Entstehung begründet, und erinnern wir uns zugleich, dass
die unbewusste Geistesthätigkeit nothwendig als etwas Immateriel-
les angesehen werden muss , so bieten sich bei der näheren Be-
trachtung zwei Fälle dar: entweder wir halten „Wille und Vor-
stellung" als das unbewusster und bewusster Vorstellung Gemein-
aohaftliche fest, setzen die Form des Unbewussten als das Ur-
sprüngliche, die des Bewusstseins aber als ein Product des unbe-
wussten Geistes und der materiellen Einwirkung auf denselben;
oder wir vertheilen das ganze Gebiet geistiger Thätigkeit unter
Materialismus und Spiritualismus so, dass ersterem der bewusstei
letzterem der unbewusste Geist zufällt; d. h. wir nehmen an, dass
zwar der unbewusste Geist ein von der Materie unabhängiges
selbst ständiges Dasein habe, der bewusste Geist aber ein aus-
schliessliches Product materieller Vorgänge ohne jede Mitwirkung
unbewussten Geistes sei. Die Alternative ist nach unseren voran-
gegangenen Untersuchungen über die Mitwirkung des Unbewussten
bei Entstehung all und jeden bewussten Qeistesprocesses nicht
schwer zu entscheiden; schon die Wesensgleichheit der bewussten
und unbewussten Geistesthätigkeit lässt einen grundverschiedenen
Ursprung beider als undenkbar erscheinen; mindestens würde
diese Zerschneidung des geistigen Gebietes und die Vertheilung
ihrer Trennstücke an verschiedene philosophische Grundan-
Bchaunngen noch willkürlicher siöin, als die Schopenhauer's in Be-
2ug auf Wille und Intellect. Dazu kommt, dass wir im Cap. V.
die Materie selbst in Wille und Vorstellung auflösen und so die
Vesensgleichheit von Geist und Materie darthun wer-
den, dass uns also der Materialismus doch keinen endgültigen Halt
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348
gewähren könnte. Wir müssen also die erstere der beiden Annah-
men zu der unsrigen machen. — Nun leuchtet aber sofort ein, dass
wir wiederum das Wesen des Bewusstseins noch nicht ergriffen
haben, denn wir kennen erst seine Factoren, auf der einen Seite
den Geist in seinem ursprünglichen unbewussten Zustande, auf der
anderen Seite die Bewegung der Materie , die auf ihn einwirkt.
Jedenfalls kann die Entstehung des Bewusstseins nur in der Art
und Weise gegeben sein, wie das Vorstellen zu seinem Gegen-
stande kommt. Von der Materie weiss das Bewusstsein nichts,
also muss der bewusstseinerzeugende Process im Geiste selber
liegen, wenn auch die Materie den ersten Anstoss dazu giebt Die
materielle Bewegung bestimmt den Inhalt der Vorstellung, aber
in diesem Inhalte liegt die Eigenschaft des Bewusstseins nichts
denn derselbe Inhalt kann ja, abgesehen von der Form der Sinn-
lichkeit, auch unbewusst gedacht werden. Wenn nun aber das
Bewusstsein weder im Inhalte, noch auch, wie wir früher gesehen,
in der Form der Vorstellung liegen kann, so kann es überhaupt
nicht in der Vorstellung liegen, sondern muss ein Aceidens
sein, was von anderswoher zur Vorstellung hinzukommt. Dies ist
das erste wichtige Resultat unserer Untersuchung, das zwar auf
den ersten Atiblick etwas den gewöhnlichen Anschauungen Wider-
strebendes zu haben scheinen mag, aber bei schärferer Betraohtong
bald seine Kichtigkeit jedem Beschauer zeigen muss, und sogleich
nähere Beleuchtung erhalten soll. Der gewöhnliche Irrthum
schreibt sich daher, dass das Bewusstsein eben nur als etwas der
Vorstellung Inhärirendes uns bekannt ist und existirt, und daher
nimmt man dasselbe ohne Untersuchung auf Treu und Glanben
als etwas der Vorstellung Immanentes, besonders so lange man die
unbewuBste Vorstellung nicht genauer kennt, und kommt mithin
gar nicht zu der Frage, wem denn die Vorstellung das Aoddens
des Bewusstseins verdankt, wer ihr gleichsam dies Prädicat bei-
legt, wo man denn bald merken würde, dass sie selber es sich
nicht geben kann. Wenn aber dennoch der bewusstseinerzeugende
Process trotz seines materiellen Anstosses schlechterdings geistiger
Natur sein muss, so bleibt für jenes nichts übrig, als der Wille.
Wir haben im Cap. I. dieses Abschnittes gesehen, wie Will©
und Vorstellung im Unbewussten zu untrennbarer Einheit verbun-
den ist, und werden im XII. und XIII. Cap. femer sehen, wie
das Heil der Welt auf der Emancipation des Intelleotes vom Willen
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349
II
beruht, deren Möglichkeit im BewnsstBein gegeben ist, und wie der
ganze Weltprooess einzig auf dieses Ziel hinarbeitet. Das Be-
wusstsein einerseits und die £mancipation der Vorstel-
lung Tom Willen andererseits haben wir also bereits als im
engsten Zusammenhange stehend kennen gelernt ; wir brauchen nur
einen Schritt weiter zu gehen und die Identität beider auszu-
sprechen, so haben wir das Wort des Bäthsels übereinstimmend
mit dem soeben erhaltenen Resultate getoiden. Bas Wesen des
Bewnsstseins ist die Losreissung der Vorstellung von ihrem Mut-
terboden, dem Willen zu ihrer Verwirklichung, und die Opposition
des Willens gegen diese Emancipation. Vorhin hatten wir gefun-
den, dass das Bewusstsein ein Prädicat sein muss, welches der
Wille der Vorstellung ertheilt, jetzt können wir auch den Inhalt
dieses Prädicates angeben, es ist die Stupefaction des Willens über
die Yon ihm nicht gewollte und doch empfindlich vor-
handene Existenz der Vorstellung. Die Vorstellung hat näm-
lich, wie wir gesehen haben, in sich selber kein Interesse an ihrer
Existenz, kein Streben nach dem Sein, sie wird daher, so lange es
kern Bewusstsein giebt, immer nur durch den Willen hervorge-
rufen, also ist der Geist vor der Entstehung des Bewusstseins ge-
w&uxif keine anderen Vorstellungen zu haben, als die, welche
durch den Willen erzeugt, den Inhalt des Willens bilden. Da
greift plötzlich die organisirte Materie in diesen Frieden mit sich
selber ein, und schafft eine Vorstellung, die dem erstaunten Geiste
wie vom Himmel fällt, denn er findet in sich keinen Willen zu
dieser Vorstellung; zum ersten Male ist ihm „der Inhalt der An-
schauung von Aussen gegeben.^ Die grosse Revolution ist gesche-
hen, der erste Schritt zur Welterlösung gethan , die Vorstellung
ist von dem Willen losgerissen; um ihm in Zukunft als selbst-
ständige Macht gegenüber zu treten, um ihn sich zu unterwerfen,
dessen Sclave sie bisher war. Dieses Stutzen des Willens über
die Auflehnung gegen seine bisher anerkannte Herrschaft, dieses
Aufsehen, den der Eindringling von Vorstellung im Unbewussteu d-^^ ^
macht, dies ist das Bewusstsein. — Um weniger bildlich zu
sprechen, denke ich mir den Vorgang folgendermaassen : Es ent-
steht die von aussen imprägnirte Vorstellung. Das IJnbewusste
stutzt über das Ungewohnte , dass eine Vorstellung existirt , ohne
gewollt zu sein. Dieses Stutzen kann nicht von dem Willen allein
ausgehen, denn der Wille ist ja das absolut Dumme, also auch zu
\
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iimtim Eum Wundern und Stutzen; es kann aber auch nicht 7on
(iur Yorstellung allein ausgehen, denn die von aussen imprägnirtc
VDr.*4toUung ist wie sie ist, und hat keinen Grund sich über sich
gelber zu wundem, alles Andere von Yorstellung aber ausser die-
ser I Milien ist ja, wie wir wissen, im XJnbewussten in unzertrenn-
licbi r Einheit mit dem Willen verknüpft. £s kann folglich erstens
das Stutzen nur yon dem ganzen TJnbewussten, Wille und Vorstel-
liiTig im Verein, yollzogen werden, und kann zweitens das, was an
dtmi Stutzen Vorstellung ist, nur durch einen Willen existiren, des-
tjfjD Itihalt es bildet. Mithin ist die Sache nur so zu denken,
dass die Ton aussen imprägnirte Vorstelluug als Motiv auf den
Willi.'n wirkt, und zwar einen« solchen Willen hervorruft, dessen
Inlialt es ist, sie zu negiren; denn würde der nun erregte
Wille eich affirmativ zu ihr verhalten, so gäbe es wieder keine
<>ppuBition und kein Bewusstsein; der erregte Wille muss sich
aim aegirend zu ihr verhalten, und das Stutzen ist der Entste-
hmigsmoment dieses negirenden Willens, das plötzliche, momentane
Kiotrt ten der Opposition des Willens. Weiter aber bedeutet das
Wort Stutzen auch in der gewöhnlichen Sprache nichts, nur das«
der Process in unserer menschlichen Erfahrung eine zwischen be-
w u B s t e n Momenten plötzlich eintretende Opposition ist, hier aber
/.wittdien unbewussten Momenten stattfindet. Dies nur «nr
Refbtfertigung des öfter gebrauchten Ausdruckes. — Wenn ich öfter
g^ei^'igt habe, Stutzen des Willens, so ist damit selbstverständ-
lichtr Weise schon ein mit Vorstellung erfüllter und bestimm-
ter Wille gemeint. — Es ist endlich zu erwähnen, dass der oppo-
nircnde Wille der von aussen imprägnirten Vorstellung gegenüber
zu schwach ist, um seine negirende Intention durchzusetzen, er
ist also ein ohnmächtiger Wille, dem Befriedigung versagt bleibt,
der i'olglich mit Unlust verknüpft ist. Also jeder Ftocess des Be-
wujäst Werdens ist eo ipso mit einer gewissen Unlust verknüpft, es
ist dies der Aerger des Unbewussten über den Eindringling v(m
Vün^tellung, den es dulden muss und nicht beseitigen kann; es ist
<lie bitt43re Arznei, ohne welche es keine Genesung giebt, freilich
eine Arzenei , die jeden Moment in solchen Minimaldosen ver-
schluckt wird, dass ihre Bitterkeit der Selbstw&hmehmung entgeht
Einigermaassen verständliche Andeutungen einer solchen fintste-
hung ilcs BewuBstseins aus einer Opposition verschiedener Momente
im Unbewussten habe ich nur bei Jac. Böhme und Schelling gefunden.
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Ersterer sagt (von der göttlichen BeBchaulichkeit C. I, 8): „Kein
I>mg ohne Widerwärtigkeit mag ihm selber offenbar werden.
Denn so es nichts hat, das ihm widerstehet, so geht's immerdar
für sich ausy und gehet nicht wieder in sich ein: So es aber nicht
wieder in sich eingehet, als in das, daraus es ist ursprünglich ge-
gangen, so weiss es nichts von seinem Urstande." — Aehnlich
sagt Schelling (Werke I. 3, S. 576): „Soll aber das Absolute sich
sdbst erscheinen, so muss es seinem Objectiven nach von etwas
Anderem, von etwas Fremdartigem abhängig erscheinen. Aber diese
Abhängigkeit gehört doch nicht zum Absoluten selbst, sondern bloss
zu seiner Erscheinung." —
Der Gegensatz zwischen Wille und Vorstellung wird noch
dadurch erhöht, dass die Vorstellung nicht unmittelbar durch die
materielle Bewegung gegeben ist, sondern erst durch die gesetz-
mäsaige Beaction des Unbe wussten auf diese Einwir-
kung, es tritt also noch hinzu, dass das Unbewusste mit einer
Thätigkeit antworten muss, welche ihm gleichsam aufge-
Döthigt wird. Auf diese Weise entstehen zunächst die einfeu^hen
Qualitäten der Sinneseindrücke, wie Ton, Farbe, Geschmack u. s. w.,
aus deren Beziehungen zu einander sich dann die ganze sinnliche
Wahrnehmung aufbaut, aus welcher wieder durch Keproduction
der Qehimsohwingungen die Erinnerungen imd durch theilweises
Fallenlassen des Inhaltes der letzteren die abstracten Begriffe
entstehen. In allen Fällen des bewussten Denkens haben wir es
mit Gehirnschwingungen zu thun, welche das unbewusste affi-
oiren und zur gesetzmässigen Eeaction nöthigen (an diesem Affi-
ciren ist nichts Wunderbares mehr, sobald in Cap. V. die Wesens-
gleichheit von Geist und Materie erkannt sein wird); in allen Fäl-
len sind die sinnlichen Qualitäten die Besultate dieser
Beaction und aus diesen Elementen setzt sich die gesammte be-
wusste Vorstellungswelt zusammen. Wenn nun diese. Elemente
allemal den Bewusstsein erzeugenden Process erregen, und dadurch
bewuBst werden, so darf es uns nicht Wunder nehmen, dass auch
die Combinationen dieser Elemente an dem Bewusstsein Theil
haben, wenn gleich die Art der Combination oft durch den
Willen selbst herbeigeführt ist. Daraus erklärt sich der schein-
bare Widerspruch, dass Vorstellungen, die vom Willen hervorge-
rufen sind, also mit dem Willen doch nicht in Opposition sind,
dennoch bewusst sein können, weil sie eben aus Elementen beste-
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362
heiL , welche durch abgeüöthigte Reactionen des Unbewuseten zu
Voratelluagen geworden sind. Der Wille kann nämlioh eine be-
wudäie Vorstellung nur dadurch hervorrufen, dass die betreffende
Eriunening geweckt wird, d. h. dass fHihere Himschwingungen
ffprodueirt Verden; ehe die bewusste Vorstellung da ist, muss sie
im unbewussten Willen, freilich in unsinnlicher Form als Inhalt
enthalten sein, sonst würde ja der Wille nicht diese Yorstellang
2u erregen im Stande sein; als Mittel zu diesem Zweck muss fer-
ner der AngrifFspunct im Gehirn unbewusst vorgestellt werden,
Tou wo aus die betreffenden Erinnerungsschwingungen erregt wer-
ä^n können und die Anregung desselben gewollt werden; weiter
geht aber auch der unbewusste Wille nicht, denn die Voratellang
iu der i^innlichen Form kann er erst als Keaction auf diese Schwin-
puugcn hervorbringen; nun treten die Schwingungen ein und die
Heaetion des Unbewussten geschieht wie immer durch das Beac-
iioüBgeBt!tz erzwungen , und damit ist auch das Bewusstsein der
Vorst-cllung da. Dasselbe gilt auch von der Mitwirkung des Unbe-
wussten am Zustandekommen der sinnlichen Wahrnehmung, wie sie
früher betrachtet ist; es gilt auch dann, wenn die bewusste Vor-
stellung Inhalt eines Willens wird, der alsdann bewusster Wille
lieiset, denn die bewusste Vorstellung muss vorher in bewusster
Form da iein, ehe der Wille sie in dieser Form erfassen und zu
seinem Inhalte machen kann ; wenn aber die Vorstellung einmal die
bewusste Form besitzt, so verliert sie dieselbe dadurch, dass der
WiUo sich mit ihr vereinigt, nicht wieder, weil ihre Elemente, die
aioh, BD lange sie besteht, fort und fort neu reproduciren -müsBen,
fHos s^tets in bewusster Form thun.
Wetm wir bisher immer nur vom Bewusstwerden der Vor-
ätel lang gesprochen haben, so war dies nicht so gemeint, als ob
es ielb^i verständlich oder auch nur thatsächlich richtig wäre, dass
die Vorstellung das einzige Object des Bewusstseins sei; vielmehr
war dar ausschliessliche G^nd für diese Beschränkung das Bestre-
ben , dm Eindringen in dies schwierige Gebiet nicht durch vorzei-
tige Vermehrung der Objecte und Gomplication der Gesichtsponcte
noch mehr zu erschweren.. Nur aus diesem Grunde haben wir
statt ih^ allgemeinen „Objectes des'Bewusstwerdens'* einen beson-
dera characteristischen Fall als Beispiel gewählt. Soll nun aber
dm 60 einseitig gewonnene Frincip der Bewusstseinsentstehnng
richtig sein, so muss es für jeden möglichen Inhalt des Bewusst-
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353
Werdens paseen, es muss sich aus ihm logisch deduciren lassen,
welche Elemente in's Bewnsstsein eintreten können, welche nicht,
indem man sie eins nach dem andern in die Formel einsetzt.
Dies wollen wir jetzt mit Unlust , Lust und Willen thun, welche
ausser der Vorstellung als mögliche Ohjecte des Bewusstseins
übrig hleiben. Wag wir so a priori als Consequenz unseres Prin-
dpes ableiten, das muss sich dann a posteriori vor der Erfahnmg
als richtig ausweisen ; an dieser aposteriorischen Bestätigung haben
wir dann die Eechnungsprobe des Principes, dass Alles ^ das, was
die Erfahrung uns als zu Erklärendes bietet, auch wirklich aus
ihm fliesst, während wir das Princip selbst ursprünglich a priori
durch Elimination der unrichtigen Annahmen von allen Möglichem
gewonnen haben, wo uns zuletzt nur das Eine übrig blieb. Wollte
man nun, wenn das Princip a priori und a posteriori gerechtfer-
tigt sein wird, etwa noch verlangen, dass ich zeigte, wie undauf
welche Weise aus dem dai^elegten Processe gerade Dasjenige
resultirt, was wir in der inneren Erfahrung als Bewusstsein kennen,
ao wäre diese Anforderung so unbillig, als die an den Physiker,
m zeigen, wie aus den Luftwellen und der Einrichtung unseres
Ohres das resultirt, was wir in der inneren Erfahrung als Ton
kennen. Der Physiker zeigt uns nur, und kann nur zeigen, dass
das, was subjectiv als Ton empfunden wird, objectiv betrachtet in
einem Processe besteht , welcher sich aus den und den 8chwin-
gungen zusammensetzt; so kann ich nur zeigen, dass das, was
wir in subjectiver Auffassung als Bewusstsein kennen, objectiv be-
trachtet ein Prooess ist, der sich aus den und den Gliedern und
Momenten so und so aufbaut. Mehr zu erfahren halte ich für un-
möglich, und darum mehr zu fordern für unbillig, denn man würde,
mn das Wie der Verwandlung des objeotiven Processes in subjec-
tire Empfindung zu verstehen, einen dritten Standpunct müssen
einnehmen können , der weder subjectiv noch objectiv , oder was
dasselbe sagen will. Beides mit einem Schlage ist; diesen Stand-
punct besitzt aber nur das Unbewusste, während das Bewusstsein
eben die Spaltung in Subject und Object ist.
Das Gefühl kann Lust oder Unlust, Befriedigung oder Nioht-
befriedigung des Willens sein; alles Andere sind, wie im Cap. B. III.
gezeigt ist, nähere Bestimmungen, welche dem Gebiete der Vorstel-
lung angehören. Die NichtbeMedigung des Willens muss immer
bewnsst werden, denn der Wille kann nie seine eigene Nichtbe-
▼• Hartman a, PUl. d. XJnbewnsflten. ^ 23
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354
friedtgung wollen, folglioh mass ihm die Nichtbefriedigong Ton
auAscn aufgezwungen sein, folglich ist die Bedingung zur £ntfite-
huiig des Bewusstseins, das Stutzen des Willens über etwas nicht
von ihm Ausgehendes und doch real fizistirendes und sieb
fiihlbar Machendes, erfüllt, und die ErfekhruDg entspricht dem
TÖÜig i indem nichts nachdrücklicher zum Bewosstsein spricht, als
der Schmerz, der Schmerz auch abgelöst gedacht von den näheieo,
der Tor&tellung aogehörigen Bestimmungen.
Das Gefühl der Lust oder die Befriedigung des Willens kami
nn und für sich nicht bewusst werden, denn indem der Wille sei-
nen Inhalt verwirklicht und dadurch seine Befriedigung herbei-
j'ührt, ereignet sich nichts, was mit dem Willen in Oppodtion
käme, üud da jeder Zwang von aussen fehlt, und der Wille nur
seinen eigenen Consequenzen Baum giebt, kann es zu keinem Be-
wu«Bt!?ein kommen. Anders stellt sich die Sache, wo sich bereilB
dn Bewu».<)tsein etablirt hat, das Beobachtungen und Erfah-
rungen sammelt und vergleicht. Dieses lernt bald aus den
rieten Nichtbefriedigungen die Widerstände kennen, welche sich
jedem Willem in der Aussenwelt entgegen stellen, sowie die äusse-
ren Bedingungen, welche nöihig sind, wenn die Verwirklichung
des Willüna gelingen soll. Sobald es diese äusseren Bedingungen
den Öalingf^nB und damit die Befriedigung als etwas theilweise oder
ganz To» aussen Bedingtes anerkennen muss, tritt auch für die Lust
duB BawuBtitsein ein. — Alles dies bestätigt die Erfahrung auf das
Baste.
^iiBüchst sieht man an Säuglingen, dass sie Monate lang schon
t«ehr nachdrückliche Aeusserungen des Schmerzes von sich geben,
che dies leiseste Spur von Lust in ihren Mienen und Geberden zu
lesen ist; auch bestätigt es sich sehr deutlich an verhätschelten
Kindern, denen stets der Wille gethan wird, und die gar nicht
wissen, wie es ist, wenn ihr Wille ihnen einmal nicht befriedigt
wird. Dieselben haben factisch so gut wie gar keinen Oenuss von
ihren Willensbefri^digungen, weil dieselben eben grösstentheils un-
bewnsgt bleiben. Ziemlich den einzigen Genuas haben sie von
■innliclien Befriedigimgen (Qenäsch), weil ihnen hier die Sorgfalt
der Umgebung die unangenehmen Yergleit^he nicht ersparen kann.
Wie **ehr aber unsere Behauptung auch bei E^achsenen zutrift
wird wohl jeder Menschenkenner zugeben, denn jede Art von B»-
friedjgun^iren, welohe ohne Unterbrechung durch Nichtbefriedigangeo
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355
danemd wiederkehrt, hört auf, eine bewnsete Befriedigung, d. h.
ein bewuBster Genuss zu sein, sobald man anfangt zu denken: es
muss ja so und kann gar nicht anders sein. Dagegen tritt auch
eine kleine Befriedigung um so lebhafter als Lust in's Bewusstsein,
je deutlicher man erkennt, doss man sie äusseren Umständen ver*
dankt, weil man sie sich trotzdem , dsuss man sie immer gewollt
bat, so selten hat verschaffen können.
Was nun den Willen selbst betrifft, so haben wir densel-
ben bisher bewusst genannt, wenn er eine bewusste, unbewusst,
wenn er eine unbewusste Vorstellung zum Inhalte hat. Es ist aber
leicht zu sehen, dass dies nur ein uneigentlicher Ausdruck ist, da
er sich nur auf den Inhalt des Willens bezieht; der Wille selbst
aber kann niemals bewusst werden, weil er nie mit sich selbst im
Widerspruche sein kann. Es können wohl mehrejre Begehrungen mit
einander im Widerspruche sein, aber das Wollen jedes Augenblickes
ist ja erst die Besultante aller gleichzeitigen Begehrungen, folglich
kann es immer nur sich selbst gemäss sein. Wenn nun das Bewusstsein
ein Accidens ist, das der Wille Demjenigen verleiht, wovon er nicht
sich, sondern etwas Fremdes als Ursache anerkennen muss, kurz
was mit ihm in Opposition tritt, so kann der Wille niemals sich
selber das Bewusstsein ertheilen, weil hier das zu Vergleichende
und der Vergleichungsmaassstab ein und dasselbe sind, also nie
Terscbieden oder gar mit einander im Widerspruche sein können;
auch kommt der Wille niemals dazu, etwas Anderes als seine Ur-
sache anzuerkennen ; vielmehr ist der Schein seiner Spontaneität
unzerstörbar, da er das erste Actuelle, und alles hinter ihm Lie-
gende potentiell, d. h. unwirklich ist. — Während also Unlust im-
mer bewusst werden muss, Lust es unter Umständep werden kann,
soll der Wille niemals bewusst werden können. Dieses letztere
Besultat scheint vielleicht unerwartet, dennoch bestätigt die Er-
fahning es vollkommen.
Wir hab^i in Cap. A. VII. gesehen, dass eine bewusste Vor-
stellung allein schon im Stande ist, den unbewussten Willen zu
irgend einer Bewegung oder Handlung zu erregen, selbst ohne dass
in der Vorstellung ein eigentliches Motiv enthalten wäre. Enthält
aber gar die Vorstellung ein Motiv, einen eigentlichen Erregungs-
gnmd, so muss die Erregung des unbewussten Begehrens mit
Sicherheit erfolgen. Wenn nun der Mensch die bewusste Vorstel-
lung einer Bewegung hat, und sich darauf diese Bewegung voll-
23*
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356
zieban sieht, mit der Gewissheit, nicht von aussen genöthigt zu
Bein, so schliesst er instinctiv, dass die Ursache der Bewegong in
ütm liegt, und diese innere unbekannte Bewegungsursache nennt
er W iÜen. Bass der so erlangte Begriff nur auf Oausalität be-
ruht, schadet dem instinctiven Erfassen seiner Eealität eben bo
wenig, als es der der äusseren Objecto schadet, dass wir sie nur
ab unbekannte äussere Ursachen iinserer Sinneseindrücke
beiitzeu , und als es dem Subjecte des Yorstellens oder dem Ich
schadet, dass wir es nur als unbekannte innere Ursache
des Vorstellens kennen; Eines wie das Andere glauben wir unmit-
telbar zu erfassen , weil wir nicht durch bewusste Ueberlegung,
sondern durch unbewusste Frocesse dazu gelangen, und erst die
philosophische Betrachtung muss uns lehren, dass alle diese Be-
griffe unfassbare Wesenheiten für uns sind, deren einzige Hand-
habe für unser Denken in ihrer Oausalität liegt, ohne dass dieee
Erkemitniss der tinmittelbaren instinctiven Oewissheit ihres direc-
teil Besitzes Eintrag thut Ebenso glaubt ein Schreibender das
GefüM unmittelbar in der Federspitze selber zu haben, während
ihu die einfachste Betrachtung lehrt, dass er es nur in den Fin-
gern hat, und unbewusste Schlüsse auf Oausalität baut^^ohne seine
unbewusste Täuschung des Tastsinnes dadurch berichtigen zu kön-
ueu, nur dass hier die Berichtigung doch noch eher gelingt, als bei
jenen tief eingewurzelten psychologischen Täuschungen.
Hat der Mensch einmal auf die angedeutete Weise den Be-
griff des Willens (freilich in unbewusstem Denkprocesse) erfasst, so
merkt er sehr bald, dass gewöhnliche Vorstellungen selten Bewe-
gung nerscheinungen nach sich ziehen, immer aber solche, welche
das Gefühl einer Lust oder Unlust enthalten, und zwar, je nach-
dem festhaltende und an sich ziehende, oder abwehrende Haud-
luBgen. Hieraus lernt er empirisch das Gesetz der Motivation
kennen, wonach jede Lustvorstellung positives Begehren, jede Un-
laätYorstellung negativei^ oder abstossendes Begehren err^. Die-
ees Gesetz ist ausnahmslos und alle Anführungen dagegen berohea
auf einem Lrrthume; z. B. wenn ein vergangener Genuas vorgestellt
und doch nicht wieder begehrt oder zurückgewünscht wird, so folgt
daraus, dass er gegenwärtig kein Genuss mehr sein würde. Wenn
andere entgegengesetzte Begehrungen, welche gleichzeitig entstehen,
das Aufkommen dieses Begehrens unterdrücken, so wird doch Ton
diesen zu der Unterdrückung so viel Kraft verbraucht, als die Be-
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357
gehnmg gehabt haben würde , wenn sie entstanden wäre. — Hat
nun der Mensch dieses Motivationsgesetz als .ausnahmslos erkannt,
80 weiss er, dass jedesmal mit der Vorstellung eines Lust- oder
UnlustgefUhles ein Begehren verbunden ist, und wenn nicht andere
Begehmngen oder äussere Umstände die Ausführung der entspre-
chenden Bewegung hindern, so sieht er diese darauf erfolgen.
Dieser Process vollzieht sieh wiederum unbewusst, und während
der Mensch den Begriff des Wollens vorhin nur als Ursache einer
Wirkung besass, hat er ihn jetzt als Wirkung einer Ursache; da-
mit hat er aber die Möglichkeit, ihn auch dann in sich zu erken-
seo, wenn seine Wirkung, die Ausführung, durch andere Begeh-
rungen oder äussere Umstände verhindert ist — Femer sieht der
Mensch ein Gradverhältniss zwischen der sinnlichen Lebhaftigkeit
der Yorstellung und der Grösse der vorgestellten Lust und Unlust
einerseits und der Heftigkeit der Bewegungen, der Energie der
Handlang, der Dauer der Handlungsversuche andererseits, und
sehliesst daraus, dass auch das Mittelglied beider causaler Endglie-
der in einem Gradverhältniss zu jedem der beiden stehen müsse;
hierdurch gewinnt er einen Anhalt für die Stärke des Willens.
Die angeführten Puncto würden für die mittelbare Kenntniss und
den Schein einer unmittelbaren Kenntniss des Willens allerdings
schon genügen, indess sind sie noch etwas äusserlicher Natur, und
die Täuschung wird durch andere begleitende Umstände noch viel
grösser. Nämlich in den allerseltensten Fällen kann das Begehren
sofort im Moment der Entstehung seinen Lihalt verwirklichen, es
verstreicht immer kürzere oder längere Zeit, ehe es zur Ausfüh-
rung kommt, und so lange dauert ein allerdings meistens durch
die Hoffnung versüsstes Gefühl der Unb efriedigung,
der unangenehmen Erwartung und des Entbehrens
(Spannung , ^Ungeduld , Sehnsucht, Schmachten), welches entweder
bis zum allmäligen Verschwinden der Begehrung sich verlängert,
oder durch Einsicht der Unmöglichkeit und Zerstörung der Hoff-
nung- die volle Nichtbefriedigimg und Unlust (bei unvermindert
fortbestehendem heftigen Begehren Verzweiflung) herbeiführt, oder
endlich in Befriedigung und Lust übergeht Diese Gefühle sind
die beständigen Begleiter resp. Nachfolger des Begehrens, und kön-
nen nur durch dieses entstehen; auch sie fallen in's Bewusstsein,
^d sind hier die eigentlichen und unmittelbarsten Vertreter des
hegehrens, welches man zwar eigentlich wieder nur als Ursache
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358
derselben eifassen kann, welches man aber durch die schon erwähnte
Täuschung in dense)ben unmittelbar zu erfassen glaubt. 80 wie
das Begehren im Allgemeinen an den genannten Gefühlen erkannt
wird, so >vird jede besondere Art von Begehren an der besonderen
und eigenthümlichen Art der es begleitenden Gefühle erkannt Der
constante Zusammenhang beider wird dadurch erkennbar, dass die
besondere Axt des Begehrens ja scbon durch die Art der Motive
und die Art der folgenden Handlungen für das Bewusstsein bestimmt
ist ; doch ist darin auch die Möglichkeit des Irrthums offen gelassen,
namentlich in den Fällen, wo die begleitenden Gefühle (Behnsucbt
und Hoffnung im Allgemeinen) die einzigen Zeichen von dem
Vorhandensein des Willens sind. Dann liegt nämlich der Irrthnm
nahe^ das diese Gefühle verursachende Begehren in anderweitig
bekannten Begehrungen zu suchen, während dieselben ganz unschnl-
dig daran sind.
Dieser Fall liegt z. B. bei den Instincten, am deutlichsten
der Liebe vor, wo das Wollen des metaphysischen Zweckes dem
Liebenden unbekannt ist, der deshalb die überschwengliche Sehn-
sucht und Hoffnung irrthümlich bloss auf Rechnung des gewollten
Mittels (der Begattung mit diesem Individuum) setzt, demgemäse in
der Begattung mit diesem Individuum einen ganz besonderen Ge-
nusg vermuthet, und dann von der Enttäuschung so unangenehm
betroffen wird. Dass trotzdem eine überschwengliche Seligkeit be-
stehen kann, widerspricht dem nicht, weil das unbewusste Hellseben
des metaphysischen Zieles eine überschwengliche Sehnsucht erzeugt,
welche wieder eine überschwengliche Hoffnung auf einen ober
achwenglichen Gonuss erweckt, dessen Wesen aber das Bewusstsein
nie auszusprechen vermag, und der sich nie realisirt. Hier heisst
es auch: „Die Hof&aung war dein zugemessen TheiL"
Jene begleitenden Gefühle der Begehrungen sind meist höchst
eigenthümlicher und characteristischer Natur, was grossmitheils
durch körperliche Gefühle mitbedingt ist, welche durch die betref-
fenden Gehimaffectionen reflectorisoh in angrenzenden Körpemerven
hervorgerufen werden. Man denke an den Jähzorn und seinen
Blutandrang, an die Furcht und den Schreck mit ihrer Blutstockung
Athembeschwerden und Zittern, den heruntergeschluckten. VerdrusB
und Aerger mit ihren das Leben zernagenden Einflüssen, die ohn-
mächtige Wuth mit ihrem Ersticken- und Zerplatzenwollen, die
Eührung mit ihren Thränen und ihrer Flauigkeit in Brust nnd
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Ifegen, die Sehnsucht mit ihrem verzehrend^i Wehe, die sinnliGhe
liebe mit ihrer rieselnden Gluth, die Eitelkeit mit ihrem Hers-
hüpfen, das Denkenwollen and angestrengte üeberlegen oder Be-
sinnen mit seinen eigenthümliohen reflectorischen Spannungsge-
fdhlen an verschiedenen Stellen der Kopfhaut je nach dem an-
gestrengten Gehimtheil, den Trotz, unbeugsame Starrheit, und feste
Entschlossenheit mit ihrer eigenthümlichem Muskelcontraotion , den
Ekel mit seinen antiperistaltischen Bewegungen des Magens und
Schlundes u. s. w. u. s. w.
Wie sehr der Qiaracter dieser Gefühle von solchen körper-
lichen Beimischungen abhängig ist, wird Jeder leicht zugeben ; wie
sehr er von begleitenden unbewussten Vorstellungen mitbedingt ist,
ist Ende des Cap. B. m. besprochen. — Wenn nun der Mensch
den Willen dreifach unmittelbar im Bewusstsein zu erfassen glaubt,
1) aus seiner Ursache, dem Motiv, 2) aus seinen begleitenden und
nachfolgenden Gefühlen, und 3) aus seiner Wirkung der That, und
dabei 4) den Inhalt oder Gegenstand des Willens als Vorstellung
wirklich im Bewusstsein hat, so ist es kein Wunder, dass die
TäoBchui^, sich des Willens selbst unmittelbar bewusst zu sein,
sehr hartnäckig und durch lange Gewohnheit festgesetzt ist, so dass
sie die wissenschaftliche Einsicht von der ewigen ünbewusstheit
des Willens selbst schwer aufkommen und festen Fuss in der
üeberzeugung fassen lässt. Aber man prüfe sich nur einmal sorg-
föltig an mehreren Beispielen und man wird meine Behauptung
bestätigt finden. Wenn man zuerst glaubt, sich des Willens selbst
bewusst zu sein, merkt man bei schärferer Betrachtung bald, dass
man sich nur der begrifflichen Vorstellung: „ich will"
bewusst ist, und zugleich, der Vorstellung, welche den Inhalt des
Willens bildet, und wenn man weiter forscht, findet man, dass die
begriffliche Vorstellung: „ich will^' stets auf eine der angeführten
drei Arten oder auf mehrere zugleich entstanden ist, und weiter
findet man bei schär&ter Prüfung nichts im Bewusstsein. Eins
aber ist noch sehr merkwürdig, wenn man sich nämlich darüber
ärgert (was Jeder thut), dass man seine bisherige Ansicht aufgeben
•oll, und sich sagt: „verdammt, ich kann doch wollen, was und
wann icii will^ und weiss, dass ich wollen kann, und jetzt z. B.
will ich," so ist das, was man für directe Wahrnehmung des Willens
hält, niehts Anderes, als reflectorische körperliche Gefühle
von unbestimmter Looalisation, und zwar Gefühle des Trotzes, des
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Eigensinnes, oder auch bloss des entschiedenen festen YorsabEeB;
hier entsteht also der Schein des Bewusstseins des Willens selber
auf die zweite Art, ans begleitenden Gefühlen. Auch dies -wird
mao bewahrheitet finden, freilich nur, wenn man sich die Mühe
giebt, es zu versuchen.
Endlich aber habe ich noch einen letzten schlagenden Grand
für die Unbewusstheit alles Willens anzuführen, der die Frage gans
direet entscheidet. Jeder Mensch weiss gerade nur insoweit
was er will, als er die Kenntnis s des eigenen Characteis
uud der psychologischen Gesetze, der Zusammengehörigkeit von
Motiv und Begehrung, von Gefühl und Begehrung, und der Stärke
der Terschiedenen Begehrungen besitzt, und aus diesen das Eesul-
tat ihres Kampfes oder ihre Eesultante, den Willen, im Voraus
bt^ref^hnen kann. Biese Anforderung vollständig zu erfüllen, ist das
Ideal der Weisheit, denn nur der ideale Weise weiss immer, wa»
er will, jeder andere Mensch aber weiss um so weniger, was er
will, je weniger er gewohnt ist, sich und die psychologischen Ge-
set^e zu studiren, sich stets das TJrtheil von Trübung durch Affecte
trei zu halten, und mit einem Worte die bewusste Vernunft (wie
in Cap. B. XI. angedeutet) zur Biohtschnür seines LebenB zu
machen. Daher weiss der Mensch um so weniger, was er will, je
mehr er sich dem ünbewussten, den Gefühlseingebungen überlässt,
Ei oder und Weiber wissen es selten und nur in den einfachsten
Fällen, Thiere vermuthlich noch seltener. Wäre das Wissen vom
Willen nicht ein indirectes constructives Berechnen, sondern ein
directes Erfassen im Bewusstsein, wie bei Lust, Unlust und Vor-
stellung, so wäre es schlechterdings nicht zu begreifen, woher es
1^0 häufig kommen sollte, dass man ein anderes zu wollen sicher
glaubty ein anderes gewollt zu haben durch die That belehrt wird.
(Vgl. oben S. 195 u. 204). Bei etwas direot in's Bevnisstsein
Fallendem, z. B. dem Schmerz, kann von solch' einem Irrthum gar
nicht die Eede sein; was man da in sich weiss, das hat man aach
in @ich, denn man erfasst es unmittelbar in seinem Wesen.
Da der Wille an und für sich unter allen Umständen unbewasst
ist; so ist nunmehr auch begreiflich, dass zu dem Bewusstwerden der
Lust oder Unlust sich der Wille selbst ganz gleich yerhält, sei es
But], dass er mit einer bewussten oder einer ünbewussten Vorstel-
lung verbunden ist. Für das Bevnisstwerden der Unlust, welche ja so
wie öö schon mit dem Willen in Opposition ist, ist es selbstverständ-
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licher "Weise gleichgültig, ob die Vorstellung, welche den Inhalt des
Willens bildet, bewnsst oder unbewnsst ist, höchstens könnte es für
das Bewnsstwerden der Lost von Wichtigkeit scheinen. Ist der In-
halt des Willens eine bewnsste Vorstellung, so ist die Möglichkeit des
Bewusstwerdens seiner Befriedigung ohne Weiteres klar; aber auch,
wenn es eine unbewusste Vorstellung, ist diese Möglichkeit vorhanden,
mit Hülfe der begleitenden Gefühle und Wahrnehmungen. Wenn nämlich
unter n Fällen diese begleitenden Geföhle und Wahrnehmungen m Mal
eine Unlust zur Folge gehabt haben, und n — m Mal keine, so schliesst
man instinctir, dass diese Gefühle und Wahrnehmungen das
Merkmal eines unbewussten Willens seien, welcher m Mal nicht
befriedigt wurde, d. h. Unlust erzeugte, woraus unmittelbar hervor-
geht, dass er n — m Mal befriedigt sein muss; so kann diese Be-
friedigung, d. h. die Lust, auch bei einem Willen zum Bewusstsein
kommen, dessen Inhalt immer unbewusst bleibt, wenn er nur von
regelmässig wiederkehrenden Merkmalen begleitet ist, welche statt
der Yorstellung, die seinen Inhalt bildet, als Bepräsentant des an
sich ewig unbewussten Willens figuriren können. Dies muss als
Vervollständigung zu Cap. B. III. hinzugefugt werden, wo diese
Puncte noch nicht zur Erwägung gebracht werden konnten.
Die so eben gewonnene Einsicht von der Unbewusstheit des
Willens au sich wirft interessante Lichter auf immer wiederkehrende
Bestrebungen in der Geschichte der Philosophie, den Willen in
Vorstellung aufzulösen; ich nenne bloss die hervorragendsten: Spi-
noza, und in neuerer Zeit Herbart und seine Schule mit dem aus-
führlichsten Versuch in dieser Hinsicht. Es wäre dies Bestreben,
das in geringerem Maasse auch bei Hegel sich zeigt, rein uner-
klärlich bei so grossen Denkern, wenn der Wille, welcher
in seinem Wesen der Vorstellung völlig heterogen ist, etwas un-
mittelbar im Bewusstsein Gegebenes wäre ; sie werden aber dadurch,
dass man nie den Willen selbst, sondern immer nur die Vor-
stellung des Willens im Bewusstsein findet, nicht nur etwas
Erklärliches, sondern etwas für den ausschliesslich bewuss-
ten Standpunct berechtigtes und gefordertes, da der Wille
nur im Gebiete des Unbewussten seine wirkliche Existenz hat.
Damm ist es auch charaoteristisch, dass gerade der dilettantischeste
aller namhaften Philosophen, Schopenhauer, sich über diese Anfor-
derung des strengen Denkens hinwegsetzend, den Willen als Kern
des eigenen Wesens unmittelbar im Bewusstsein zu finden behauptet.
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Wie das PhiloBophiren des gemeinen Menschenverstandes in der
äiiB8eren Wahrnehmung die Dinge unmittelbar zu erfassen glaubt,
ebcQ&o dogmatisch vermeinte Schopenhauer in der inneren Wahr-
nehmung den Willen unmittelbar zu erfSassen. Die Kritik vernichtet
dun einen wie den anderen dogmatischen Schein des Instinctea^
aher die Wissenschaft giebt der Erkenntniss als bewussten mittel-
hüTGTL Besitz wieder , was sie an blindem, unmittelbarem Instinot-
glauben zerstört hat.
Unser Prinoip hat sich nunmehr noch in einer letzten Probe
EU bewähren. Wenn nämlich unsere Annahme richtig ist, dass daa
Bewusstsein eine Erscheinung ist, deren Wesen in der Opposition
den Willens gegen etwas nicht von ihm Ausgehendes und dennoch
tunjjfindlich Vorhandenes besteht, dass also nur diejenigen Vor-
bitiUiings- oder Gefiihlselemente bewusst werden können, welche auf
Ol neu mit ihnen in Opposition befindlichen Willen treffen, d. L auf
eimm Willen, welcher sie nicht -will oder negirt, so folgt darau«,
dass das Bewusstsein so wenig wie das Nicht oder die Negation
Gradunterschiede in sich haben kann. Es handelt sich dabei am
emc reine Alternative: „ Bewusstwerden oder Unbewusstbleiben";
Verhält sich der Wille affirmativ, so tritt letzteres, verhält er doh
Dü;[^ntiv, so tritt ersteres ein. Es giebt kein Stärker oder Schwächer
dtr Negation, denn Negation ist ein positiver, kein comparativer
Bi;j::riff; es giebt wohl ein theilweises und vollständiges Negiren,
dw^ ist aber kein Unterschied des Negirens, sondern des negirten
Qtgcctes, kann also keinen Gradunterschied des Negirens selbst
begründen; ein theilweises Negiren müsste in unserem Falle das
Bmw ui^twerden des einen und das Unbewusstbleiben des anderen
Theiles zur Folge haben, aber keinesfalls könnte aus demselben
eitvc Oradverschiedenheit des Bewusstseins als solchen hervorgehen.
Es kann also dasjenige , was bewusst wird, das Object oder
der Inhalt des Bewusstseins, ein Mehr oder Weniger zeigen, aber
da» Uewnsstsein selbst kann nur sein oder nicht sein, niemals mehr
oder weniger sein. Allerdings kann auch der Wille, welcher durdi
^eiii Negiren des Objectes das Bewusstwerden desselben setzt,
üradonterschiede zeigen, stärker oder schwächer sein; aber die Stärke
diciif a Willens hat auf die Alternative : „Bewusstwerden oder nicht*'
gar keinen Einfluss, nur ob sein Inhalt sich zu dem Objeote de«
Bcw'iisstwerdens affirmativ oder negirend verhält, nur das entscheidet
diif Alternative; darum kann auch von der Stärke des opponiren-
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den Willens kein Gradunterschied des Bewusstseins abgeleitet
w^erden; entweder wird etwas bewusst oder es wird nicht bewusst»
keinesfalls kann es mehr oder, weniger bownsst werden. Ich will
dieses Verhältniss noch durch ein Beispiel aip Willen verdeutlichen.
Wenn ich -einem Bettler etwas schenken will, so will ich
freilich mehr, wenn ich ihm einen Thaler schenke, als wenn ich
ihm einen Groschen gebe; dies ist das Mehr oder Weniger des
Inhaltes, welches die Frage nach der Stärke des Willens als solchen
noch gar nicht berührt, denn der Wille selbst kann in beiden Fällen
ganz gleich stark sein, ob ich einen Thaler oder einen Groschen
XU schenken beabsichtige. Dagegen kann bei demselben Inhalte
der Wille ganz verschieden stark sein ; z. B. wenn von zwei Men-
schen jeder dem Bettler einen Groschen schenken will, so kann der
Eine möglicherweise durch eine sehr unbedeutende Yeranlassuug
davon zurückgebracht werden, während der Wille des Anderen
starke Gegenmotive überwindet. Dies ist der Gradunterschied des
Willens als solchen. Den Gradunterschied des Inhaltes haben wir
beim Bewusstsein auch, der Gradunterschied des Bewusstseins als
solchen muss dagegen nach der apriorischen Ableitung aus unserem
Principe fehlen ; würde sich diese apriorische Consequenz des Prin-
cipes in der Erfahrung nicht bestätigen, so wäre dies ein indirecter
Angriff auf das Princip selbst.
Was der empirischen Anerkennung jenes 'ScUzes zunächst im
Wege steht, ist die Verwechselung des Begriffes Bewusstsein mit
zwei anderen nahe liegenden Begriffen, erstens Aufmerksamkeit,
zweitens Selbstbewusstsein. Die Aufhierksamkeit haben wir schon
mehrfach (vergl. S. 92 — 93, 131—132, auch 214 — 215) als
einen sowohl reflectorisoh, als willkürlich zu erzeugenden Nerven-
sirom kennen gelernt, welcher in sensiblen Nervenfasern vom
Oentram nach der Peripherie verläuft und dazu dient, die Lei-
iangsfähigkeit der Nerven, namentlich für schwache Beize und
schwache Beizunterschiede zu erhöhen. Die Aufmerksamkeit be-
steht mithin in materiellen Nervenschwingungen; indem diese vom
Centram nach der Peripherie hin verlaufen, kann es unmöglich
auBbleiben, dass dieselben, auch ohne auf eine Wahrnehmung ge-
troffen zu sein, von der Peripherie nach dem Centrum rejQ^ectirt
werden; ausserdem werden durch die .^ufmerköamkeit für jedes
Sinnengebiet eine Menge Muskeln in Spannung versetzt, um zur
besseren Aufnahme der Wahrnehmung durch das Organ zu befÜhi-
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364
gen, uud endlich werden gewisse andere Muskeln, namentlich Eopf-
hautmnskeln refleotorisch gespannt. Diese drei Momente Btimmen
da^ überein y dem Organe des Bewusstseins Empündungen durcli
materielle Schwingmigen zuzuführen, d.h. die Aufmerksamkeit
als solche ist ein Gegenstand der Wahrnehmung und
folglich des Bewusstseins. Hiervon kann man sich leicht
überzeugen, wenn man in schweigender Nacht Veranlassung hat,
aufmerksam auf ein Signal zu horchen, oder auf den Horizont zu
blicken, ob eine Eakete steigen wird. Wenn für das blosse Vor-
stellen allerdings auch die Muskelspannung des Sinnesorganes fort-
fällt, so bleibt doch die reflectorische Spannung der Kopfhautmuskeln
(daher das Wort Kopfzerbrechen) und diö Wirkung der Nerven-
schwingungen als solche bestehen ; daher wird auch diejenige Auf-
merksamkeit deutlich empfunden, welche nicht auf einen äusseren
Sinn, sondern bloss auf das innere Vorstellungsleben des Gehirnes
gerichtet ist, wie Jeder leicht an sich bemerken kann^ wenn er ein
entfallenes Wort sucht.
Die Aufmerksamkeit erhöht die Reizbarkeit der Theile, welche
sie trifft, und erleichtert dadurch sowohl das Auftauchen der Ge-
dächtnissTorstellungen, als auch die Wahrnehmung schwacher Beize
und Eeizunterschiede^ Man kann nicht mit Bestimmtheit behaupten,
dass sie die Amplitude der Schwingungen vergrössert, weil die
Stärke einer Empfindung (z, B, Tonstärke) durch Erhöhung der
Aufmerksamkeit scheinbar nicht vermehrt wird; doch kann dies
auch, wie ich für höchst wahrscheinlich halte, bloss scheinbar sein,
indem die Vermehrung der Stärke schon unbewusst in Abzug ge-
bracht wird, wie die Vergrösserung eines Gegenstandes durch Näher-
rücken nicht leicht wahrgenommen wird, imd die Vergleichung
zweier gleichweit vom Auge entfernten Zirkelöffnungen nicht wesent-
lich leichter ist, als die zweier ungleich weit entfernten. —
Sei dem wie ihm wolle, so viel steht fest, dass wir eine doppelte
Schätzung bei jeder Empfindung haben, sowohl über die Stärke der
Empfindung, soweit sie vom Beiz abhängt, als auch über den Grad
der angewandten Aufinerksamkeit, dass also der Wahrnehmung
durch die Gehimschwingungen der Aufmerksamkeit ein Bestandtheil
hinzugefügt wird, welcher die Totalwahmehmung reicher und um-
fassender macht (ganz abgesehen davon, dass alle Sinnesempfindun-
gen ohne einen gewissen Grad reflectorischer Aufmerksamkeit gar
nicht bis zum Gehirne und Bewusstsein kommen). Dasselbe gilt
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365
aber auch für blosse Gehimvorstellungen , xmd in noch höherem
Maasse.
Auch eine aus dem Gedächtnisse auftauchende Vorstellung
wird durch die Au^erksamkeit bereichert und verschärft; sie wird
zwar ihrem allgemeinen Inhalte nach nicht verändert, aber während
bei einer YorsteUung, für die man unau&nerksam ist. Alles nebel-
haft und verschwommen, blass und farblos, gleichsam durch weite
Feme unerkennbar ist, werden die Umrisse, Farben und Detail-
ausföhrung um so bestimmter, lebhafter und näher gerückt, je höher
der QtTüd der Aufmerksamkeit steigt. Dies hat darin seinen Grund,
dass alle unsere Vorstellungen auf Sinneseindrücken beruhen , und
in diesen erst die bleichen BegrifEsgespenster sich mit Fleisch und
Blut bekleiden, dass aber die sinnlichen Vorstellungen um so pla-
stischer und lebhafter werden, ein je grösserer Theil des speci eilen
Sinnescentraloi^anes und Sinnesnerven in Mitleidenschaft gezogen,
je weiter die Vorstellung peripherisch hinausprojicirt wird. Bei
der Sinneswahmehmung tritt also durch die Steigerung der Auf-
merksamkeit nur insofern eine Bereicherung des Inhaltes ein, als
durch die gesteigerte Leitungsfähigkeit auch geringere begleitende
Details bis zum Gehimbewusstsein gelangen und die Wahrnehmung
der Aufmerksamkeitsschwingungen selbst intensiver wird; bei der
GedächtnissYorstellung aber tritt ausser diesen Momenten noch die
Steigerung der sinnlichen Lebhaftigkeit und Bestimmtheit hinzu.
Dazu kommt noch^in allen Fällen die bis jetzt unerwähnt« Ver-
hinderung der Störung durch andere "Wahrnehmungen, welche^ von
der höchfiten Wichtigkeit ist Für gewöhnlich besteht nämHch im
wachen Zustande ein gewisser Tonus der Aufmerksamkeit im gan-
zen sensiblen Nervensysteme, der natürlich für jeden einzelnen
Punct desselben schwach ist und erst durch einen stärker wirken-
den Beiz refLectorisch in dieser Bichtang erhöht wird. Dadurch
entsteht für gewöhnlich eine grosse Theilung und Zerstreuung der
Au^erksamkeit, so dass das Bewusstsein einen unendlich gemisch-
ten Inhalt von lauter schwachen Wahrnehmungen in sich findet.
Entsteht aber nun eine starke Anspannung der Au&nerksam-
keit in bestimmter Bichtung, also z. B. auf einen Sinn, oder auf
das Gehirn allein, so kann dies bei der begrenzten Kraftsumme
des Organismus nur auf Kosten der Aufmerksamkeit in allen ande-
ren Bichtungen geschehen, und daher ist jede einseitig erhöhte
Aufmerksamkeit eine Concentration derselben, welche mit der
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366
iäeratreuiing einen Gegensatz bildet. Statt der naendlich vielen
iottwachen Wahrnehmungen findet nun das Bewusstsein eine euer-
gimhe Vorstellung als seinen Inhalt, während die Summe aller
übrigen Wahrnehmungen auf ein Minimum reducirt ist. Man sieht»
dmf^ ßich der Inhalt wesentlich verändert hat, so sehr, dass er zur
Erklärung des veränderten Zustandes vollkommen genügt , es ist
Ki< litfi vorhanden, was auf eine graduelle Veränderung des Bewusst-
6fm% an sich hindeutete. Andererseits liegt es aber auf der Hand,
wie leicht eine mangelhafte Unterscheidung der Aufmerksamkeit
und dtn Bewusstseins zu der Meinung führen kann, dass das Be>
|~ ' wusHteein ebenso wie die Aufmerksamkeit Grade habe, und sehr
häuüg wird man finden, dass Bewusstsein gesagt wird, wo Aufmerk-
samkeit gemeint wird. Die Aufmerksamkeit kann Grade haben,
weil sie in Nervenschwingungen besteht, und bei allen Nerven-
i^chwingungen die Grösse der Schwingungsamplitude die Starke der
Knipiiridung bedingt ; das Bewusstsein aber kann keine Grade haben,
weil sie eine immaterielle lleaction ist, die entweder eintritt oder
nichts aber wenn sie eintritt, immer in derselben Weise erfolgt.
Der Unterschied von Bewusstsein imd Selbstbewusstsein ist schon
zu Anfange dieses Capitels angedeutet worden. Das Selbstbewasst^
Bein kann natürlich nicht ohne Bewusstsein, wohl aber das Be-
wiiftit.Hein ohne Selbstbewusstsein gedacht werden; wie weit ein
vc)Uigf^& Fehlen des Selbstbewusstseins in der Wirklichkeit zu con-
Btatiren ist, muss noch dahingestellt bleiben, da ja auch das Selbst-
bo\rut)st8ein zunächst instinctiv als sogenanntes dumpfes Selbstgefühl
M geboren wird; so viel ist gewiss, dass ein sehr klares Bewusstsein
bei einem verschwindenden Minimum von Selbstbewusstsein häufig
genug vorkommt; ja sogar, je klarer bei demselben Individuum das
gGgöii.^tündliche Bewusstsein wird, desto mehr verschwindet das
Selbstbewusstsein. Niemand ist im Stande, ein Kunstwerk wahrhaft
zu geuitissen, es sei denn, dass er wahrhaft sich selbst vei^^t
m. Ebenöo hört das Selbstbewusstsein fast ganzlich auf, wenn man
sich in wissenschaftliche Leetüre vertieft; wenn man aber producirt
ttud in tiefes Nachdenken versunken ist, so ist man so abwesend
nicht nur von der Umgebung, sondern auch von sich selbst, dasB
man kein Gedächtniss für seine wichtigsten Interessen hat, ja sogar,
dasä mau sich, plötzlich angerufen, auf seinen eigenen Namen erst
be^nneu muss. Und doch ist in diesen Momenten das Bewusstsein
atn klarsten, weil es eben ganz in den G^enstand versenkt ist,
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367
d. h. die Aufmerksamkeit den höchsten Grad von Concentration er-
' reicht hat. Diese Versenkung in den Gegenstand ist aber bei allen
Dingen nothwendig, wo der Yorstellnngsprocess etwas Erhebliches
leisten soll, ausgenommen bei practischen Fragen des eigenen In«
teresses, weil hier alle Zwecke des ganzen Lebens in ihrer Wich-
tigkeit gegen einander berücksichtigt werden sollen, also die Iden«-
tität der Ich's yerschiedener Zeiten, die Persönlichkeit eine Haupt-
rolle spielt. Aus demselben Grunde entbehren aber auch ezclusiv
practische Naturen, die nie sich selbst und ihre vielen Ziele und
Interessen vergessen können, regelmässig jeder höheren wissen-
schaftlichen und jeder künstlerischen Befähigung,
Man sieht also, dass Bewusstsein und Selbstbewusstsein sehr
verschiedene Dinge sind; nichtsdestoweniger ist die Verwechselung
beider etwas ganz Gewöhnliches. Man sagt z. B. von einem Schlaf-
wandler, dass er in diesem Zustande ohne Bewusstsein sei, während
doch seine Leistungen (Gedichte, schriftliche Arbeiten) ein sehr
klares Bewusstsein beweisen; aber er ist allerdings ohne volles
Selbstbewusstsein, da seine Aufmerksamkeit, in einen einseitigen
Gegenstand vertieft, für alle anderen Wahrnehmungen, die mit die-
sem Gegenstande nicht zusammenhängen, abwesend ist, und darum
auch keine Erinnerung seiner sonstigen Ziele und Literessen in ihm
aoitaucht, welche nicht diesen Gegenstand berühren.
Insofern das vollständige Selbstbewusstsein die Erinnerung aller
Ziele und Interessen einschliesst, die frühere Ich's jemals gehabt
haben, sagt man auch öfters Besinnung dafür, und wo man mit
Recht sagen kann, ein Mensch sei in dem und dem Augenblicke,
bei der und der Handlung ohne Besinnung oder ohne Selbstbe-
wusstsein gewesen, sagt man oft unrichtigerweise, er sei ohne Be-
wusstsein gewesen; andererseits aber sagt man häufig, wo Jemand
das Bewusstsein verliert oder verloren hat (z. B. in Ohnmacht,
Betäubung), er sei oder werde besinnungslos, oder verliere das
Selbstbewusstsein; in diesem Falle sagt die Verwechselung der
Worte zu wenig, wie im anderen zu viel. Nun ist aber klar,
dass das Selbstbewusstsein Grade hat; denn es ist am unvollkom-
mensten, wenn es bloss das Ich der gegenwärtigen Geistesthätigkeit
erfiisst, und ist um so vollkommener, d. h. sein Grad um so höher,
je mehr Ich's vergangener oder zukünftiger Handlungen es umfasst.
Denn das Selbstbewusstsein ist ja nicht, wie das Bewusstsein, blosse,
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leere Form; sondern es ist Bewusstsein eines ganz bestimmten
Inhalts, des Belbst, und da dieser bestimmte Inhalt schon zu
seinem Begriffe gehört, so muss auch der Grad des Selbstbewußt-
Belna mit dem Grade dieses Inhaltes steigen und fallen. Das Bewusst-
&eiii dagegen lässt seinen Inhalt ganz imbestimmt; es yerlangt nur
einisn Inhalt überhaupt, wenn es zur Erscheinung, zur Wirklichkeit
kommen soll, seinem Begriffe nach aber ist es blosse Form, mid
kaan daher sein Begriff nicht dadurch graduelle Yerschiedenheiten
annehmen, .dass der ihm yöllig gleichgültige Inhalt yersdiieden
auäfdllt. Ist aber dieser Unterschied zwischen Bewussteein und
Selbfitbewusstsein noch nicht, 'oder wenigstens nicht in dieser Hin-
sicht geklärt, so ist es kein Wunder, dass man sich durch die
hLiufige Verwechselung beider Begriffe unvermerkt gewöhnt, audi
im Bewusstsein an sich an graduelle Verschiedenheiten zu glauben.
Noch verzeihlicher wird die Täuschung, wo Auhnerksamkeit und
8elbBtbewusstsein sich vermischen; wenn ich z. B. auf ein Signal
horche mit vollstem Selbstbewusstsein, indem ich weiss, dass mein
gauzcs Lebensglück von demselben abhängig ist, und es trifft end-
lich der Schall eines fernen Schusses mein Ohr, so kann ich leicht
iu den Irrthum verfallen, dass das Bewusstsein, mit welchem ich
jetzt den Schall gehört habe, graduell höher sei, als dasjenige,
womit ich ihn zufällig als Spaziergänger vernommen hätte. Zieht
mmk aber gewissenhaft die einzelnen Momente davon ab: zuerst
den Gedanken, dass das ganze Ich der Zukunft an der Sinnes-
wahmehmung des nächsten Momentes hängt, dann den Gedanken,
dasB ich selbst es bin, der absichtlich seine Aufmerksamkeit an-
strengt, dann die Muskelspannung und die Wahrnehmung der Auf-
merksamkeit als solcher, endlich die Verstärkung der sinnlichen
Wahrnehmung, ihre grössere Bestimmtheit u, s. w., so wird man
migeben müssen, dass der für das Bewusstsein als solches übrig
bleibende Best in beiden Fällen derselbe ist, und dass die Unter-
schiede nur theils den dem Bewusstsein vom Gehirne dargebotenen
Inhalt, theils das Selbstbewusstsein treffen.
2^achdem so die gewöhnlichen Täuschungen der menschlichen
Selbstbeobachtung dargelegt sind, wird die Behauptung ihr Para-
doxes verloren haben, dass das sogenannte höchste und niedrigst«
Bewusstsein, das des Menschen und der niedrigsten Thiere, als
Bewusstsein sich ganz gleich sind und sich nur durch den ihnen
gebotenen Inhalt unterscheiden. , Wir haben gesehen, dass die ein-
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&oheii Bianliohen Qualitäten, aus denen sich alle Sinneswahmehmung
zusammensetzt, Beaotionen des Unbewussten auf die materiellen
Schwingungen des Centralorganes (Gehirn, Gfanglien, organische ür-
masse) sind; es versteht sich, dass die Beaotionen sich nach der
Art der Schwingungen richten, um so stärker und lebhafter aus-
fallen, je stärker die Schwingungen sind, und um so bestimmter in
sich g^liedert und um so deutlicher von anderen ähnlichen Em-
pfindungen unterschieden sind, je bestimmter und reicher die Schwin-
gangen uch in sich gestalten, und je geringere Unterschiede der
äusseren Beixe sie im Centralorgane zur Erscheinung bringen.
Somit liegt auf der Hand, dass das Auge der Schnecke, welches
ihr nach genauen Beobachtungen buchstäblich alle fünf Sinne er-
setsen mnss, ohne dass sie mit demselben mehr als hell und dunkel
im Allgemeinen unterscheiden kann, dass dieses Auge Schwingungen
im Centralorgane erweckt, welche weder für Gesicht, Geruch,
Oesohmack, Gehör und Gefühl so grosse Unterschiede zeigen, wie
bei Thieren mit gesonderten Sinneso]^;anen, noch auch erheblicher
Kannigfaltigkeit innerhalb jedes besonderen Empfindungsgebietes
fähig sind« Was ai^r der Wahrnehmung anderen Wahrnehmungen
gegenüber die Unterscheidbarkeit giebt, das verleiht ihr für sich
betrachtet die Bestimmtheit, und darum sind die Wahrnehmun-
gen um so unbestimmter, je tiefer wir in der Thierreihe hinab-
steigen. Biese Unbestimmtheit ist nur so zu denken, dass in der
Wahrnehmung das Detail fehlt, welches bei höherer Organisation
die Unterschiede begründet; nimmt man dieses Detail aus der
Wahrnehmung heraus, so wird sie aber ärmer an Inhalt, denn
es bleibt ihr bloss das Allgemeine übrig, was an dem Yer-
Bohiedenen noch gleich ist; alle Unbestimmtheit der Wahr-
nehmung beruht also auf Armuth, während der Beichthum an Inhalt
die Bestimmtheit und Unterscheidbarkeit begründet. Jetzt können
wir aussprechen, worin der Unterschied eines scheinbar tieferen
Bewusstseins besteht: in der geringen Intensität und der
Armuth des ihm gebotenen Inhaltes, in der materiel-
len Dürftigkeit sowohl der einzelnen Wahrnehmung
undVorstellung, als der gesammten zugänglichen Yor-
atellungsmasse. Wenn ich einen einzelnen lichtpunct in fin-
sterer Nacht sehe, so sehe ich ihn scharf abg^;renzt als Punct, in
bestimmtem Kelligkeitsgrade uud den Hintergrund in bestimmtem
Bunkelheitsgrade , ich sehe auch beide in ganz bestimmter Farbe ;
T. Haitmann, Phil. d. Unbewussten. 24
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370
das ist der Beiohthuin, der in dieser einfachen Wahmehmimg lie^
Die Schnecke aber sieht diesen Pnnct gar nicht, oder wenn er B«Aa
hell ist, so sieht sie einen schwachen Helligkeitsschinmier Tor sich,
und von .all' dem Anderen sieht sie nichts; das ist die Anmitli
ihrer Yorstellnng.
Ausserdem aber sieht die Schnecke mit yiel geringerer Inten-
sität, weil mit geringerer Aufin^ksamkeit. Die Schwächung der
Aufmerksamkeit in allen anderen Biehtungen bei Ooncentratioa
•mich einer einzigen beweist die begrenzte summarische Ghrösse der-
selben für ein bestimmtes Wesen, welche offenbar mit seiner sam-
marischen Nervenkraft in Beziehung steht. Nichts li^t näher, als
dass die summarische Mazimalgrösse der Aufmerksamkeit mit der
Stufe des ganzen Nerrensystems in der Thierreihe sinkt, also wird
eine Schnecke bei möglichster Anspannung der Aufmerksamkeit auf
einen Lichtpunct kaum so yiel Aufinerksamkeit auf denselben tst^
wenden können , als ich, w&m ich ganz und gar nicht an jenen
Lichtpunct denke ; denn das Centralorgan der Schnecke steht jeden-
falls tiefer, als meine Yieiiittgel, welche die Gesichtseindrücke ao^
nehmen, und über welche sie nicht hinauskommen, wenn das Ge-
hirn anderweitig in Anspruch genommen ist. Jetzt hat man ein
ungefähres Bild von dem Bewusstsein der niederen Thiere bei einer
einzelnen Wahrnehmung; und doch ist das Bewusstsein immer das
nämliche, nur der ihm gebotene Inhalt ist so viel schwächer nnd
dürftiger.
Das Yerhältniss steigert sich noch, wenn wir das ganze yo^
Stellungsmaterial in Erwägung ziehen, welches dem Yergleichen,
Abstrahiren und Combiniren zu Grunde liegt, dann sehen wir als-
bald, dass die Unbestimmtheit und Dunkelheit der einzelnen Vor-
stellung noch weit übertroffen wird von der Armuth der ganien
Summe von Erfahrungen, die einem soldien Thiere zu Oeboie
stehen, und von der Unfähigkeit seines Centralorgattes, die einmal
gemachten Er&hrungen genügend im Gedächtniss zu b^ialten, oder
gar sie zu handlicheren Theilvorstellungen (Begriffen) zu verorbeitefl.
Dies bedarf wohl keiner weiteren Ausführung. Das Besultat von
dem Allen ist die Bestätigung des aus unserem Principe abgeleite-
ten Satzes, dass das Bewusstsein als solches überall dasselbe ist,
und nur in dem ihm gebotenen Inhalte sich unterscheidet; denn
nirgends fanden wir Yeranlassung, dem Bewusstsein selbst graduelle
Unterschiede zuzuschreiben , wie wir es z. B. beim Willen, auch
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abgesehen vcm seinem Inhalte, thnn müwen; das Princip hat sich
also auch in dieser letzten Probe bewährt.
Zum Schlüsse dieses Capitels drängt sich uns die Frage auf:
„was ist Einheit des Bewusstseins?" Wir können natür^
iioh, unseren Grondsätsen gemäss, die Frage nur yon empirischer
Seite betrachten ,* so dürfen wir uns z. B. nicht anf die Einheit des
zu Grunde liegenden individuellen Seelenwesens beziehen, weil wir
Ton diesem Seelenwesen, seiner Individualität und seiner Einheit
Doeh gar nichts wissen, sondern im Gegentheil erst durch Beant*
wortung dieser Frage etwas erfahren können. Ausserdem werden
die Anhänger einheitlieher individueller Seelen zugeben müssen,
dasB sogar die Einheit des Bewusstseins in eine Mehrheit streng
gesonderter und völlig unzusammenhängender Bewusstseine zerspal*
t^ sein kann, während sie die Einheit der diesen verschiedenen
Bewusstseinen zu Grunde li^^enden Seele anerkennen müssen, ich
erinnere nur an solche Beispiele, wie Jessen in seiner Psychologie
eines anführt, von einem Mädchen ^ das nach einem soporartigen
Schlafe alle Erinnerung verloren hatte ohne Schwächung der
Geistesfihigkeit und des Lemvermögens. Dieselbe musste wieder
mit dem Alphabet zu lernen anfangen. Die Anfalle wiederholten
sich, und nach jedem war das Gedächtmss des ietztvorhergehenden
Lebensabschnittes verschwunden, während das des nächstvorher*
gehenden ungeschwächt dafür wiedererschien, so dass sie stete ihre
Studien so aufnahm, wie sie dieselben vor dem vorletzten Anfall
verlassen hatte. Dieses Beispiel führt nur Erscheinungen in ecla-
tanter und totaler Form vor, die man in schwächerem Maasse und
partieller Weise überall beobachten kann. JTur da können wir
eine Einheit des Bewusstseins zwischen einem vergangenen
und gegenwärtigen Moment anerkennen, wo in der Gegenwart
die Erinnerung dieses vergangenen Momentes vorhanden ist, oder
wo zum mindesten die Möglichkeit dieser Erinnerung unbehindert
offen steht. Streng genommen kann von einer wirklichen oder
aotuellen Einheit des Bewusstseins nur bei actuelier Erinnerung
die Bede sein, während bei bloss möglicher Erinnerung auch die
Einheit des Bewusstseins eine bloss mögliche oder potentielle ist.
Sehen wir weiter zu, was wir an der actuellen Erinnerung haben,
was zu einer Vorstellung dadurch hinzukommt, dass ich sie als eine
bekannte Yorstellung oder Erinnerung weiss, so ist es nach
Cap. B. Vn. S! 237 — 239 ein instinctives Gefühl, welches in seine dis-
24*
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372
curitven Momente zerlegt folgende Bedeutung hat: ich habe neben
der Hauptvorstellung noch eine sehr Tiel schwächere, durch ersten
angferegte Nebenvorstellung, welche ich als mit einer ihr gleichen
trüberen Yorstellung in causalem Zusammenhange weiss. Ort and
Zeit dieser früheren Yorstellung kann durch die im Gedächtniflse
anfauchenden, begleitenden Umstände derselben ebenfalls fixiit
werden.
Es ist also nichts als der Vergleich einer gegenwärtigen
luid einer vergangenen Vorstellung, worin die Einheit des Bewnsst-
^cioa zwischen zeitlich getrennten Momenten besteht; die MögUoh-
ktit dieses Vergleiches wird dadurch erreicdit, dass von zwei
gegenwärtigen Vorstellungen die eine die Gegenwart, die an-
dere die Vergangenheit darstellt, und Letzteres wird wieder dadurch
möglich, dass ich die gegenwärtige Vorstellung als mit einer ver-
gangenen ihr gleichen in causalem Zusammenhange weiss. Indem
mm von den zwei Vorstellungen die eine die Vergangenheit repiä-
ei^ntirt, so fasst das Bewusstsein in dem einheitlichen Acte des
Vergleiches die Kepräsen tauten des gegenwärtigen und des vergan-
genen Bewusstseins in Eins zusammen, und wird sich damit der
Einheit des Bewusstseins für jene vergangene und die gegenwärtige
Yt Erstellung bewusst. Wenn ich nämlich zwei bewusste Vorstellun-
gen habe, so besteht ein Bewusstsein der einen und ein Bewusst*
seia der anderen Vorstellung, und ich würde niemals das Recht
haben, eine Einheit dieser beiden Bewusstseine zu behaupten, wenn
ioli sie nicht beweisen könnte. Indem ich aber nun beide Vor-
stellungen im Vergleich zusammenfasse, so hebe ich beide Bewusst-
ieine in dem dritten Bewusstsein des Vergleiches auf, und habe so
ihre Einheit zur immittelbaren Anschauung gebracht. Der Vep
gleich ist also das Moment, welches den Gedanken einer Einheit
deti Bewusstseins allererst möglich macht, und mit der Möglichkeit
des Vergleiches hört auch die Möglichkeit der Bewusstseinseinheit auf.
Wie wir hier den Vergleich über die Einheit des Bewusst-
seins einer vergangenen und einer gegen wärtigen, d. h. also zeitlich
getrennter Vorstellungen haben richten sehen, so richtet er auch
über räumlich getrennte Vorstellungen, d. h. solche, die durch ver-
sehiedene materielle Theile erregt werden. Ein Menschenhim hat
eine gewisse Grösse, und die Vorstellungen, welche an einem Ende
de.^flelben entstehen, sind viele Zolle weit von den am anderen Ende
toiatehenden ab; gleichwohl zweifeln wir nicht an <Jer Einlieit de«
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373
Himbewnsstseios. Der Grund ist einflAoh der, das« im gesunden
wachenden Zustande jede irgendwo im Hirne auftauchende Yor-
stellung mit jeder anderswo auftauchenden verglichen werden
kann. Dagegen haben die YorsteUungen des Eückenmarkes und der
Ganglien» wie sie z. B. bei Beflexbewegungen u. s. w., bei Yer-
letzungen der Eingeweide u. dgL nothwendig existiren müssen, im
Allgemeinen keine Einheit des Bewusstseins mit den Himvorstel-
lungen, sie haben vielmehr jede ihre gesonderte bewusste Exi-
stenz, weil sie nicht in Einem gemeinsamen Bewusstseinsacte des
Yergleiches au%ehoben werden können. Nur für einige starke
Empfindungen der niederen Nervencentra tritt diese Yergleichbar-
keit ein, und damit auch insoweit eine Einheit des Bewusstseins,
wie sie sich im Gemeingefühl darstellt. Wahrend für die verscbie-
denen Nervencentra eines Organismus diese Bewusstseinseinheit bei
stärkerer Erregung des einen oder des anderen hergestellt wird,
ist sie für die Nervencentra verschiedener Individuen auf keine
Weise herzustellen, es sei denn bei theilweiser Yerwachsung zwei^
Organismen durch Missgeburt, oder zwischen Mutter und Fötus, wo
sich auch Anklänge solcher Bewusstaeinseinheit für starke Erregun-
gen finden.
Die Ursache dieser Erscheinungen liegt auf der Hand.
Im Gehirne gehen ausser den besonderen Commissuren unzählige
Nervenüasem durch die ganze Masse und stellen eine mannigfache
innige Yerbindung jedes Theilchens mit dem andern her; das Eücken-
mark hat schon viel unvollkommenere Yerbindung mit dem Gehirn^
das sympathische Nervensystem ist nur durch den einzigen nercus
vagus mit dem Gehirne verknüpft^ bei zusammengewachsenen Indi-
viduen können nur mehr oder minder zufallige Yerwaohsungen von
mitergeordneten Nervensträngen stattfinden, bei getrennten Indi-
viduen fehlt jede Yerbindung. Je vollkommener die Leitung zwi-
schen den functionirenden Centralnervenparthien ist, desto geringerer
Erregung bedarf es in diesen, um die Erregung der einen bis zu
dei anderen ungeschwächt und ungetrübt fortzupflanzen; je unvoll-
kommener und länger die Leitungswege, desto grösser die Leitungs-
widerstände, desto stärker müssen die Erregungen sein, wenn sie
bis zur anderen Centralstelle fortgepflanzt werden sollen, und desto
unklarer und verwischter langen sie dort an. Für Denjenigen, welcher
Ui das unendliche Durcheinander der physikalischen Schwingungs-
erscheinungen ohne irgend eine gegenseitige Störung gewohnt ist.
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374,
ktiuu diese Anschauungsweise der Nervenprocesse , wonach jeder
G«f danke an einer Stelle des Hirnes nach allen anderen SteUen des-
ielbeu gleichzeitig telegraphirt wird, nichts Auffallendes haben; es
ist unmöglich, die anatomische Coostruction des Hirnes mit ihien
zahllosen Faserverbindungen anders als so zu deuten. Die Lei-
tungsfähigkeit ist es also in der That, welche die Einheit
des Bewusstseins bedingt, und mit welcher diese propor-
ÜQUäl geht. Wir stellen es also als Grundsatz hin: Getrennte
materielle Theile liefern getrenntes Bewusstseiuiein
Satz, der sich a priori ebenso empfiehlt, als die getrennten Indi-
Ticiaen um empirisch bestätigen. So lange die australische
Ameise Ein Thier ist, handelt ihr Vorder- und Hinterleib mit ein-
ho tlichem Bewusstsein, sobald man sie zerschnitten hat, ist die
Bt^wusstseinseinheit aufgehoben, und beide Theile kehren sieh
kämpfend gegen einander. — Wir nehmen femer an: Nur dadurch
wird die Vergleichung zweier an verschiedenen Orten erzengtea
Torstellungen möglich, dass die Schwingungen des einen Ortes mi-
geächwäoht und ungetrübt nach dem anderen hingeleitet werden;
nur durch die Vergleichung beider Vorstellungen ist die Aufhebiuf
ihrer beiden Bewusstseine jn das einheitliche Bewusstsein des Te^
■ glcLchungsactes möglich, mit ihr aber, können wir hinzufügen, ist
H sie auch eo ipse gegehei. Die Siamesischen Zwiliuige weigerten
' ibh, mit einander Bretspiele zu spielen, indem sie meinten, diei
wäre so, als ob die rechte Hand mit der linken spielen sollte; —
drehte man sich aber die Verbindung der Gehirne zweier Mensdien
durch eine ebenso leitungsCähige Brücke möglich, als die zwischoi
den beiden Hemisphären desselben Gehirnes ist, so würde hiermit
sofort ein die Gedanken beider Gehirne umfassendes gemeinschnft-
lichea und einheitliohee Bewusstsein die bisher getrennten Bewnaet-
P seine beider Personen umfassen, jeder würde seine Gedanken nicht
mehr Ton denen des anderen unterscheiden können, d. h. sie wnideo
sieh zusammen nicht mehr als zwei Ich's, sondern nur noch al*
Eiö Ich wissen, wie meine beiden HimhemisphSren sich auch nm
als Eiin Ich wissen.
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IV.
Das Unbewisste uid das Bewusstsein im Pfenzenreiche.
Dk Frage nach der Beeeelung des Pflanzenreiches ist alt;
«usaerhalb des Judenthums und Christenthums ist sie fast überall
bejaht worden. Unsere Zeit, die in den Ansohaoungen der letzteren
beiden aufgewachsen ist^ und die vom Christenthume angerissene
Kluft zwischen Oeist und Sinnlidikeit noch lange nicht wieder
überbrückt hat, hat mit Mühe die Thiere in das Bruderrecht mit
dem Menschen wieder eingesetzt; kein Wunder, dass sie bis zur
Anerk^inung der Pflanzenbeseelung sich noch nicht hat erheben
können, da ihre Physiologie auch am Thiere die organischen Eunc-
tionen und Beflexwirkungen nur als materielle Mechanismen zu
betrachten gewöhnt ist. Am besten ist die Frage von Fechner be*
handelt worden in der Schrift ,yNanna, oder über das Seelenleben
der Pflanzen, Leipzig 1848% wenn auch manches Phantastische mit
unterläuft; vgl. femer Schopenhauer „Ueber den Willen in der
Katur" Cap. Pflaiizenph3rBielogie; und Autenrieth ,, Ansichten über
Katar und Seelenleben". Es bleibt mir hier theils nur ein kurzer
AusjKug zu geben, theils aber auch die erheblich grössere Klarheit
hervorzuheben übrig» welche über diese ganze Frage durch die Un-»
ierscheidung unbewusster und bewusster Seelenthäügkeit yerbreitet
wird. Ich bin überzeugt^ dass Mancher, der der bisherigen Behand-
lungsweise gegenüber eine verneinende Stellung behaupten musste,
yermittekt der gesonderten Betrachtung des Unbewussten und des
Bewuastaeins sich mit der Pflanzenbeseelung aussöhnen wird.
1. Me mnbewisfle Seelentiiitigkeii der FlUum. Die Pflanze
hat organische Bildungsthätigkeit, Naturheilkraft, Beflezbewegungen,
Instinot und Schönheitstrieb wie das Thier; und wenn in dem
Thiere diese Erscheinungen als unbewusste Wirkungen einer Seele
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376
betrachtet werden müsseD, sollten sie es dann bei der Pflanze nicht
auch Bein ? Wenn die unbewussten seelischen Leistungen der Pflanse
dch nicht zu den geistigen Processen des Thieres erheben, sondern
ganz in der Leiblichkeit versenkt bleiben, sollte darum ihre 8eele
weniger Seele sein, wenn das, was sie leistet, in ihrem Gebiete
ebenso vollkommen ist, als was das Thier in dem seinigen, ja sogar
Tiel höher steht , weil sie die widerspenstigen unorganischen Stoffe
za höheren und höheren organischen Stufen hinaufbildet, während
dac) Thier im Ganzen nur ihre aaturgemässe Rückbildung leitet nnd
überwacht ? Betrachten wir die einzelnen Momente der Beihe nach.
a) Die organische Bildungsthätigkeit; sie arbeitet wie
beim Thiere nach einer typischen Gattungsidee, welche zwar in
Betrofi der Zahl der Aeste, Blätter u. s. w. einen grossen Spiel-
raum läset, aber nichtsdestoweniger doch völlig bestimmt ist in
dem Gesetze der Stellung der Blattform, Bliithe und inneren Stmctor.
Zwar kimn mm die Pflanzen theilen, wie man niedere Thiere
theilen kann, so dass jeder Theil noch die Fähigkeit besitzt, den
TjpuB wieder aus sich zu vervollständigen; aber wie bei den
Thierein, so ist auch bei den Pflanzen das Theilen keines weges un-
beiäcliTänkt, wenn eine Ergänzung möglich bleiben solL Auch bd
der Pflanze stehen alle Theile in Wechselwirkung; jeder der Erde
nähere Theil verarbeitet die Stoffe gerade so, wie der nächstfemere
Theil sie zur Weiterverarbeitung erhalten muss ; eine Bichenwurxel
würde nie eine Buche, eine Tulpenzwiebel nie eine Hyacinthe er-
nähren; es findet auch bei der Pflanze ein harmonisches Ineinan-
derwirken aller Theile statt; und nur dies kann zu dem Ziele der
Barste 11 ung des G^ttungstypus in allen der Zeit nach auf einander
folgenden Entwickelungsstufen führen.
Wenn man im Winter einen Ast eines im Freien stehenden
Baumes in ein -Treibhaus leitet, so entwickelt dieser seine Blätter
und Blumen, während der übrige Baum erstarrt bleibt. Das hierro
vom Baiime gebrauchte Wasser saugen die Wurzeln auf, wie die
Beobachtung nachweist, also sind diese durch vermehrte Lebea»-
thätigkeit eines Astes zu vermehrter Aufsaugung angeregt worden
(Pecaudolle, Pflanzenphysiologie, I. 76). Wie weit eine direote Yer-
bindung durch Leitung zwischen den einseinen Pflanzentheilen vor-
handen ist, wissen wir nicht, obwohl die Spiralgefasse darauf hin-
audeijten scheinen, aber wir wissen ebensowenig beim Thiere, in
wieweit das harmonische Ineinandergreifen der Leistungen der
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einzelnen Theile durch Leitung vermittelt, und in wieweit es ein
unmittelbar helkehendes ist, wie das der Individuen im Bienen-
oder AmeiseuBtaate. Die Fortpflanzung geschieht in Thier- und
Pflanzenreich ganz nach denselben Frincipien, durch Zellentheilung,
Sporen- oder Knospenbildung» und geschlechtliche Zeugung; die
Gleichheit in beiden Gebieten ist namentlich in den ersten Stadien
der Zeugung so schlagend, dass ganz dieselben Ghründe zur Annahme
eines unbewusstpsychischen Einflusses bei Entstehung der Pflanze
wie bei Entstehung des Thieres nöthigen.
Die embryonischen Zustände gehen freilich hernach sehr bald
auseinander, wie es nach der Yerschiedenheit der zu erzeugenden
Typen nicht anders zu erwarten ist; aber bei beiden ist die fort-
schreitende Eniwickelung ein unausgesetzter Kampf der organisiren-
den Seele mit dem Zersetzungs-, Eückbildungs- und Formzerstörungs-
streben der materiellen Elemente. Nur durch stetes Verhindern
dieser Bückbildimgsprocesse und unaufhörlich neues Herstellen der
zur Fortbildung treibenden Umstände ist die Bewältigung der form-
losen, unorganischen zur geformten, organischen Materie, und die
Yerwirklidiung einer neuen höheren Stufe des Gattungstypus in
jedem Momente möglich. Jede einzelne Zelle ist dabei thätig, denn
ans der Summe der lebendigen Zellen besteht der lebendige Theil
jeder Pflanze, wie jedes Thieres, nur dass bei den Thieren im
Durchschnitt die Formveränderungen und Verwachsungen der Zellen
etwas weitgreifender sind, und die von den Zellen aus abgesonderte
und ernährte Interoellularsubstanz reichlicher ist. Die Zelle ist das
chemische Laboratorium für die Bereitung der yersohiedenen orga-
nischen Verbindungen, die Theilung und Verwachsung der Zellen
sind die alleinigen Mittel für die Herstellung der äusseren Gestalt.
Dabei ist eine eben so strenge Arbeitstheilung wie im Thiere
durchgeführt, die eine Art Zellen hat diesen Stofl zu bilden, eine
andere jenen ; wie im Thiere sich die Zellen zu Knochen, Muskeln,
Sehnen, Nerven, Bindegewebe xmd Epithelialzellen ausbilden, so in
der Pflanze zu Mai^ellen, Holzzellen, Bastzelleo, Saftzellen, Stärk-
mehlzellen u. s. w. Jede Zelle nimmt nur di^enigen Stoffe durch
Resorption der Wände auf, die sie brauchen kann, oder wenn sie
noch andere aufgenommen hat, so giebt sie diese unbenutzt weiter.
In jeder einzelnen Zelle findet ein Saftkreislauf statt, und in der
ganzen Pflanze ebenfalls. Zwar sind keine offenen Gefasse vor-
handen, sondern der Saftlaul wird darch die Endosmose und Ezos-
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moeo der einzelnen Zellen vermittelt, aber dennoch ündet ein voll-
kommen er Kreislauf von auf- und absteigenden Säften statt, eben
ao wie ein solcher Kreislauf in allen den Theilen des thienschen
EÖrpera stattfindet, wo ernährende Gefasse fehlen, z. B. in dem
hinfälligen Theile des Nabelstranges, den Knochen, Sehnen, Horn-
haut u, s. w., oder mit welchen die nährenden Gefässe nicht direct
in Berührung stehen. Haies kittete an dem oberen Ende eines
7 Zoll langen beschnittenen Weinstockes eine Bohre an; bei den
ersten Versuche betrug die Höhe des aus der Schnittfläche in die
Bohre aufgestiegenen Saftes 21 Fuss, bei dem zweiten wurde oben
eingegossenes Quecksilber 38 Zoll hoch gehoben. Haies berechnet
füeraus die Kraft des aufsteigenden Saftes gleich dem Fünfiachen
von der Kraft des Blutes in der Schenkelschlagader eines Pferdes.
Man siebt, was bei dem höheren Thiere Wirkung des Herzens ist,
ißt bei der Pflanze Summe der vereinigten Besorptionswirkungea
alUr Safizellen. Dieser Unterschied kehrt häufig wieder, dass die-
selben Wirkungen im Thiere durch Centralisation, in der Pflaose
durch Becentralisation , im Thiere monarchisch , in der Pflanse
republikanisch hervorgebracht werden. Aber bloss mechanisch ist
die Kesorption durch die Zellen auch keineswegs, sie geschieht
vielmehr mit Auswahl der Sichtung und des Stofles, denn sonst
konnte eben kein Kreislauf und keine Yertheilung der Nährstoffe
an verschiedene Zellen stattfinden.
Auch an organischer Zweckmässigkeit hält das Pflanzenreich
den Vergleich mit dem Thierreiche aus, es ist sogar Vieles, was
bei den Thieren der Instinct besorgt, von den Pflanzen wegen ihrer
gröiseren Schwerfölligkeit durch organische Mechanismen vorgesehen,
welche selbst wieder nur durch unbewusst psychische Thätigkeit
hergestellt sein können« Auch hier sind die üebergänge derartf
dasd KIT das, was Mechanismen und was Instincte sind, nicht immer
scliarf trennen können.
Zunächst eine Beihe von Erscheinungen zur besseren Ernährung
der Pfiaoze durch Festhalten verwesender thierischer Stoffe. Die
verwachsenen Blätter der gemeinen Weberdistel, Dipsacus fiälonum
bilden um den Stamm her eine Art von Becken, welches sich mit
RegeuwaBser füllt und in dem oft viele zufallig ertrunkene Insecten
gefuDden werden; ähnlich ist es bei einer tropischen Sohmaiotcer*
pflanze £ TiUandsia ulrioulata. Die Sarraoenien haben Blätter,
welche seitlich zusammengerollt eine Tute bilden, und zum Theile
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379
mit Deckeln versehen sind; kurze , steife Haare verhindern trin*
kende Insecten an der Rückkehr aus der wasserhaltenden Tute.
Nepenthes de^düatoria hat die Urne mit Deckel als Anhang der
flachen Blätter. I^e sohüesst den Deckel hei Nacht und sondert
Büssliches, die Insecten anlockendes Wasser ah, welches hei Tage
aus der offenen Urne allmälig wieder verdunstet. Das Süsse des
Wassers wird durch haarformige, drüsige Ausscheidungsorgane he-
wirkt Dionaea muadptda hat einen lappenförmigen, getheilten
Anhang an jedem Blatte, welcher dicht mit kleinen Drüsen , mit
sechs Stacheln in der Mitte und horstigen Wimpern am Bande be-
setzt ist. Sowie sich ein von dem Saft angelocktes Insect auf die
beiden Lappen setzt, klappen diese zusammen und öffnen sich erst
wieder, wenn das Thier ganz ruhig geworden, d. h. wenn es todt
ist. Gurtis fand zuweilen die gefangene Fliege in einer schleimi-
gen Substanz eingehüllt, welche auf dieselbe auflösend zu wirken
schien. Der Sonnenthau, Drosera y hat borstenartige, hochrothe
Haare auf den Blättern, deren jedes mit einer Drüse endigt, aus
welcher bei heissem Wetter eine kleine , klebrige Saftperle aus-
schwitzt. Dieser klebrige Saft hält kleinere Insecten fest, die
Haare krümmen sich schnell über demselben zusammen und all-
mälig biegt sich das ganze Blatt mit der Spitze gegen die Basis
um. (A. W. Both, Beiträge zur Botanik, 1. Thl. 1782. S. 60).
Dieser Saft ist zugleich giftig für die Insecten (auch für Schafe
uiigesaud), und ersetzt dadurch, was der Pflanze an schneller Eeiz-
barkeit abgeht. Both fiänd öfters im Freien zusammengebogene
Blätter des Sonnenthaues, welche jedesmal mehr oder weniger ver-
weste Insecten einschlössen. „Würde man sich vorstellen, es be-
fSxAeü sich in einem Sumpfwasser kleine in eine hohle Röhre zu-
sammengezogene schlauchartige Blätter mit offener Mündung, an
deren Bande reizbare, haarähnliche weiche Fäden wären, während
die Mündung zugleich giftig auf kleine Thiere wirkte und die innere
Fläche der cylindrischen Eöhre zur Einsaugung geeignet wäre ; ein
kleines Wasserinsect oder ein kleiner Wasserwurm berührte die
reizbaren Haare, die um ihn sich krümmend, denselben an die
Mündung der einsaugenden Höhle brächten, wobei er aber bald
^hirch das Gift derselben getödtet und nun in die Höhlung des
Blattes au^enommen würde; so hätte man ein Bild, das aus dem
der taten- oder umenförtnigen Blätter der Sarracenia und Nepen-
thes, aus der Eeizbarkeit der Blattanhänge der Dioaaea, und dem
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Bilde der ebenfells, wenn gleich schwächer, reizbaren, dafür aber
Gift absondernden Haare der Drosera zusammengesetzt wäre. Mas
hat aber damit auch das wirkliche Büd von der Einrichtong eines
kleinen, durch seinen Instinct merkwürdigen Thieres, des grünen
Armpolypen des süssen Wassers, Hydra viridis i." (Autenrieth),
denn auch die Mundberührung dieses Geschöpfes wirkt giftig.
Das& solche Pflanzen durch von den Blättern resorbirte animalische
Yerwesungsproducte wirklich üppiger wachsen, ist bei der Dionaea
experimentell nachgewiesen.
Am Wunderbarsten sind auch bei den Pflanzen diejenigen
Kinrichtungen, die der geschlechtlichen Fortpflanzung dienen. Bei
stehenden Blüthen sind im Allgemeinen die Staubgefasse länger als
der Stempel, bei hängenden umgekehrt. Wo die Pollenkömer nicht
ohne Weiteres auf die Narbe fallen können, und der Wind nicht
aiifiroicht, sie dahin zu tragen, müssen Insecten die Yermittelung
übernehmen. Darum die anlockenden lichten Farben der Blüthen,
dariim ihr weitreichender Duft, der immer zu der Ta^szeit am
stärksten sich entwickelt, wo die für diese Blüthe geeignetsten In-
secten schwärmen; darum der süsse Saft auf dem Grunde der
Blüthe, welcher das naschende Thier tief genug hineinzukriechen
zTS'ingt, so dass es mit seinem meist borstigen Leibe die Pollen-
küriier abwischt, welche dann, sei es in derselben, sei es in einer
anderen Blüthe, auf der Narbe kleben bleiben. Bei den Asklepiap
deeii imd Orchideen kleben die Pollen durch einen vogelleimartigen
Kfo0 den Insecten an. Aristolochia clematitis hat eine bauchige
Blüthe mit einem engen Eingange, welcher durch abwärts gerichtete
Haare den hineingekrochenen kleinen Schnacken den Ausgang Ter-
wehrt. Dieselben schwärmen so lange in ihrem Geföngniss herumi
bis sie mit ihren befiederten Fühlhörnern den Pollenstaub abge-
streift und auf die Narbe gebracht haben. Gleich nach der Be-
frachtung fangen die Haare an zu vertrocknen und abzufallen, und
erlösen die Fliegen aus ihrem Kerker. — Wenn die Pollenkömer
iiȣ6 werden, so dehnen sie sich aus und platzen, dann ist die Be-
fraehtimg unmöglich. Auf diese Art wird regnige Witterung bei
dem Blühen des Obstes und des Kornes diesen sehr naohtheilig.
Die Vorkehrungen der Blüthen , um der Nässe zu entgehen, sind
sehr mannigfach. Beim Weinstook und den Bapunzelarten geschieht
die Befruchtung unter dem Schutze der mit ihren Spitzen yerbun-
doiiea Blumenblättern, bei den Leguminosen gewährt denselben
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Schutz die Ysiime (vejnllum)^ bei den Labiaten die Oberlippe der
Blumenkrone, bei den Kalyptranthes- Arten der deckelförmige Kelch.
Viele Pflanzen schliessen ihre Blnmenkrone, wenn es regnen will
(dies ist schon Instinct), viele auch des Nachts gegen den Thau;
andere bengen znr Nacht die Blmnenstielchen um, so dass die offene
8eite der Krone abwärts gekehrt ist! Impatiens noli me längere
verbirgt sogar Nachts seine Blumen unter den Blättern. Bei den
meisten Wasserpflanzen wird die trockene Befruchtung dadurch er-
möglicht, dass sie nicht eher blühen, als bis ihre Stengel die Ober-
fläche des Wassers erreicht haben. Das am Grunde des Meeres
befestigte Meergras blüht in Blattfalten, welche zwar seitlich offen
sind, aber den Zutritt des Wassers durch abgesonderte Gase ver-
hindern. Der Wasserhahnenfuss (Ranuneidus aquaticus) , dessen
Blüthen bei hohem Wasserstande überschwemmt werden, schützt
sich dadurch, dass der Blumenstaub zu einer Zeit aus den Staub-
beuteln heraustritt, wo die Blume noch eine, geschlossene Luft
haltende, Knospe ist. Die Wassemuss, Trapa natanSy lebt auf dem
Boden des Wassers bis zur Blüthezeit, wo die zu einer Art Blatt-
rose neben einander gestellten Blattstiele zu zelligen, mit Luft an-
gefüllten Blasen anschwellen, und die ganze Pflanze an die Ober-
fläche des Wassers heben. So findet die Blüthe und Befruchtung
an der Luft statt; ist dies vorüber, so füllen sich die Blasen mit
Wasser, und die Pflanze sinkt wieder zu Boden, wo sie dann ihren
Samen zur Reife bringt. Noch complicirter ist die Einrichtung der
XJtricula - Arten zu demselben Zwecke. Ihre stark verzweigten
Wurzeln sind mit einer Menge kleiner rundlicher Schläuche (utriculi)
besetzt, welche eine Art beweglicher Deckel besitzen und mit einem
Schleim erfüllt sind, der schwerer als Wasser ist. Durch diesen
Ballast wird die Pflanze am Grunde des Wassers zurückgehalten, bis
zur Blüthezeit der Schleim durch abgesonderte Gase verdrängt wird.
Nun steigt sie langsam bis an die Oberfläche, vollzieht das Blühen
und die Befruchtung und wird alsdann wieder hinabgezogen, indem
die Wurzel abermals Schleim absondert, welcher nun seinerseits die
Luft aus den Schläu&hen verdrängt. (Decandolle, Pflanzenphysio-
logie, n. 87.) Die Vallisnerie ist eine auf dem Grunde festge-
wachsene Wasserpflanze von getrenntem Geschlecht (Diöcist). Die
Blüthe der weiblichen Pflanze sitzt auf einem langen, schrauben-
förmig gewundenen Stiel, der sich später streckt und so die Blüthe
über Wasser hebt. Die männliche Pflanze hat einen gerade auf-
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BtJ'eb enden Schaft. Die vierblätterige Blüthenscheide wird durch
weitere Ausdehnung der inneren Theile in vier Stücke zersprengt,
und nun schwimmen die männlichen Befruchtnngsorgane 2u Tau-
senden frei auf dem Wasser herum. Sobald eine weibliche Blntbe
Yon ihnen befruchtet ist, zieht sich deren Stengel wieder spiral-
törmig zusammen und so werden unten die Samen zur fieife ge>
bratht. — Auch bei SerpictUa verticillata lösen sich die dem Auf-
Ijrechen nahen männlichen Blütben aus den geöffneten Blüthen-
sobeiden ab und schwimmen zu den weibliehen hin, wobei sie aof
den Spitzen der zurückgeschlagenen Kelch- und Kronenblätter rahen.
,,Die reifen Samenkörner schnellt künstlich die eine Pflanzenart
durch die Elasticität der von selbst aufspringenden Behälter weit umher.
Die Orannen des Flughabers sind dagegen schraubenförmig gewnn-
d(?D^ und so hyproskopisch, dass der erste Eegen sie aufwickelt uod
dikii dadurch rückwärts fortgeschobene Korn zwingt, sich kriechend
uuter die nächste Scholle zu verbergen, und so sich selbst zum
künftigen Keimen unter die Erde zu bringen. Andere Pflanzen-
tarnen eind mit Elügeln oder Eederkronen versehen, um durch die
Luft fortgetragen zu werden; ja andere haben Häkchen, um an
^orüb (ergehende Thiere sich zu heften, damit sie durch diese wieder
an andere Orte abgestreift werden können." (Autenrieth 151.) Viele
Barnen uxnhüllen sich zum Schutze mit einer harten Schale, nnd
um von Thieren gefressen und forttransportirt zu werden, wobei sie
in ihrem Kotho gleich Dünger zu finden, umgeben sie sieh mit
»chnmokhaftem Pleisch (Steinobst, Weintrauben, Stachelbeeren,
Johaimisbeeren u. s. w.) oder sie umgeben peripherisch einen fla-
fchigen Kern (Erdbeeren u. s. w.). Die Samenkörner von Wasser-
pilan2en sind gewöhnlich schwerer als Wasser und fallen somit auf
dessen Boden, die der meisten hohen Bäume dagegen sind leicht
und wtsrden auf Wasserflächen schwimmend durch Wind und Stri)-
mung weithin an neue Standorte txansportirt. Der Manglebaam
(Rkimphora mangle) wächst an Flussmündungen und flachen Mee-
resufern im Sohlamme, soweit derselbe von salziger Fluth überdeckt
wird , gedeiht also nur auf einem schmalen Striche , weshalb die
Bamün neben den Mutterbäumen festen Fuss fassen müssen. Auf
dem Fmchtboden der Blüthe dieses Baumes erzeugt sich nun all-
mälig ein fleischiges hohles Gewächs , von welchem der Same mit
Hülfe feines IV2 Zoll langen Stieles soweit hinausgeschoben wird,
dass er nach fast einem Jahre senkrecht herabhängt Der Same
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selbst ist zehn Zoll lang, gegen dae freie Ende dicker und schwe-
rer, aber mit einer p^emenformigen Spitze endigend; innerhalb
seiner Hülle keimt derselbe nnd entwickelt schon eine bedeutende
Wurzel. Durch seine Gestalt und Schwere durchdringt der ab-
fallende Scuoae drei bis vier Fuss Wasser und Schlamm und dringt
noch einen Zoll weit in den Boden ein, wo er sich dann mit seiner
Wurzel bald befestigen kann. Diese Beispiele mögen genügen, um
zu zeigen, dass auch die Pflanzenseele in der Herstellung zweck-
mäBfiiger Kechanismen, deren Zweck sogar zum Theil ziemlich ent-
fernt Hegt, ganz Wunderbares leistet.
b) Naturheilkraft. Die Thiere haben jedes Organ nur
gerade so oft, als der ganze Organismus zu seinem Bestehen es
bratioht; daher das Bestreben, ein verloren gegangenes in derselben
Weise zu ersetzen. Die Idee der Pflanze fordert eine numerisch
unbeschränkte Wiederholung derselben Organe, weshalb auch ein
theilweiser Verlust gewöhnlich nicht dem Bestände des Gbinzen
gefährlich wird. Hier ist also kein Grund vorhanden, die verloren
gegangenen Theile an derselben Stelle und in derselben Weise
wieder zu ersetzen, da die Pflanze es viel leichter hat, den Ersatz
an anderen Stellen durch die schon vorhandenen Knospen zu leisten.
Nichtsdestoweniger giebt es Gelegenheiten genug, um zu sehen,
dasB auch in der Pflanze die Naturheilkraft vorhanden ist; man
braucht nur einer Pflanze eine gewisse Classe von Organen zu
rauben, die zu ihrem Bestehen nöthig ist, z. B. alle Wurzeln, so
wird sie sofort neue Wurzeln treiben, oder sterben, wenn sie dazu
nicht mehr die Kräfte hat. Auch der Vemarbungsprocess von Ver-
wundungen oder Trennungsfläohen ist ganz analog dem bei Thieren.
]^dlich ist bei der Pflanze wie beim Thiere das ganze Leben
eine unendliche Summe unendlich vieler Naturheilkraftsacte, da in
jedem Momente die zerstörenden physikalischen und chemischen
Einflüsse paralysirt und überboten werden müssen.
c) Reflexbewegungen. Die Physiologen unterscheiden
BefLexbewegung und „einfache Reizerscheinung contractilen Gewe-
bes"; dies ist richtig, wenn man nach dem Orte fragt, wo die
Reflexion des Reizes in Bewegung stattfindet, ob nämlich der
Reactionsheerd an der gereizten Stelle selbst oder an einer anderen
liegt; falsch aber ist es, hierin einen Unterschied des Principes
finden zu wollen. Das Wesentliche des Reflexes ist in beiden
Fällen Umsatz eines einwirkenden Reizes in reactive Bewegung;
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eine absolute Beschränkung auf den gereizten Punot findet dabei
nit^mtils statt; ob aber die Leitung ein wenig weiter föhrt oder
nichts kann keinen Unterschied des Frincipes begründen. Daa^ was
eine reactive Bewegung zur Reflexwirkung stempelt, ist nur die
Ihi^fulänglichkeit allgemein gültiger Naturgesetze zu ihrer Reryat-
bringung; nur wo wir mit solchen uns begnügen können (z. B. in
Elustioität, chemische Eeaction), nur da kann man die Beflexwirkung
laugnen, deren Inwendiges eine unbewusst - psychische, eine instino-
tive Reaction ist. Ob ein Eeflex durch Nerven und Muskebi ver-
mittelt wird, oder durch andere, diese ersetzende Mechanismen,
kann ebensowenig einen principiellen Unterschied rechtfertigen.
Wenn man das Wasser, in dem ein Polyp wohnt, erschüttert,
^0 zieht sich dieser in einen Knäuel zusammen; dies wird Jeder-
mann Keflex Wirkung nennen, gleichviel ob künftig in der gleich-
förmig schleimigen Masse des Polypen noch Nerven und Muskeln
aiit gefunden werden mögen oder mcht; und wenn die Mimosa pu-
tlica vom Tritt des Vorübergehenden erschüttert mit ihren Blättern
auii&mmenkriecht, so sollte dies nicht Be£exwirkung sein? Wenn
diu gereizte Penis durch Aenderung der Blutcirculation in Erection
kommt, so wird dies als Beflexbewegung anerkannt, und bei den
Pflanzen sollte die veränderte Saftcirculation nicht ein ebenso voll-
gtlltiges Mittel zu Reflexbewegungen sein? Denn der anhaltend
Hehnellen Bewegungen, zu welchen das Thier seine Muskeln braucht,
ir^t ja die Pflanze nicht benöthigt; also wären Muskeln für sie ein
urmützer Luxus. Beim Thiere gilt als Zeichen des Reflexes, dass
ungefähr dieselbe Reaction eintritt, ob man einen mechanischen,
c>Le mischen, thermischen, galvanischen oder electriscben Reiz an-
ueade; dasselbe ist aber auch bei Pflanzen der Fall, während todte
^1 t'chanismen nur auf einen ganz bestimmten Reiz zu antworten
pflegen. Starke electrische Schläge vernichten thier ische wie pflanz-
lii'hc Reizbarkeit. Steckt man durch den Stiel einer Berberis-
Blume eine mit dem positiven Pole einer galvanischen Batterie
verbundene Nadel, und verbindet den Draht des negativen Poles
mit einem Blumenblatte durch ein leise aufgelegtes feuchtes Papier-
stückchen, so schnellt im Momente der Schliessung der Kette der
zu dem Blatte gehörige Staubfaden zum Pistill über. Wechselt man
dit' Pole, so ist der Strom weniger wirksam, gerade vne thier ische
i' ritparate kräftiger reagiren, wenn der negative Pol mit dem peri-
] limschen Ende verbunden ist. Bei Oeffnung der Kette findet,
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ebenso wie bei Frosohschenkeln , keine Bewegung statt. Ein ge-
reizter thierischer Theil kehrt bei Wegfall des Eeizes langsam
in seine Stellung zurück ; so zieht eine gereizte Auster oder Polyp
sich schnell zusammen , aber öfEhet sich langsam. Eine Wieder-
holung des Beizes stumpft die Beizbarkeit ab. Buhe stellt sie wie-
der her. Die Beizbarkeit äussert sich femer nach Gesundheitszu-
stand, Alter, Oeschlechtsyerhältnissen 9 Jahreszeit, Witterung und
anderen äusseren Umständen verschieden. Alles dieses ist bei Pflan-
zen gerade so wie bei Thieren.
Die Beflezbewegungen der Dionaea muaciptda habe ich schon
oben erwähnt; setzt sich auf ein Blatt derselben ein Inseot,
so wird es daselbst zuerst durch Umlegen der Haare festgehal-
ten, und erst allmalig rollt sich das ganze Blatt um. Hier
haben wir auf einfachen Beiz an einer Stelle eine theils gleich-
seitige^ theils zweckmässig auf einander folgende Betheiligung
Tieler Stellen des Blattes, ganz so, wie wir es bei Thieren gewohnt
sind, nur dass statt des monarchischen Befehles eines Nerven-
centmms wieder eine republikanische Betheiligung aller Stellen in
harmonischer Uebereinstimmung stattfindet. Schon centralisirter und
daher thierähnlicher ist die Erscheinung bei allen Blättern,
Btaubgefassen u. s. w., wo der Beactionsheerd in den Gelenken zu
suchen ist, mit welchen diese Theile befestigt sind.
Bei yielen Blüthen neigen sich die reifen Staubgefasse von
selbst allmalig zum Stempel hinüber, bei einigen ist ein Gelenk ge-
bildet, welches auf den Beiz irgend eines Insectes den Staubfaden
zur Narbe hinübersohnellt. Bei anderen ist auch der zusammen-
gebogene Stempel reizbar und streckt sich auf einen ihn treffenden
Beiz aus, wobei er Pollenkömer von den Staubbeuteln abstreift.
Aßmoaa pudica hat doppelt gefiederte Blätter und die Blättohen,
Blattrippen, Hanptblattstiel, ja selbst der Zweig haben jedes ihre
besondere Bewegung. Bringt man vorsichtig mit Vermeidung jeder
Erschütterung etwas starke Säure auf ein Blättchen, so schliessen
sich nach und nach alle nahestehenden Blätter; nach Dutrochet
beträgt diese Fortpflanzungsgeschwindigkeit acht bis fünfzehn Milli-
meter in einer Secunde in den Blattstielen, im Stempel höchstens
zwei bis drei Millimeter. Hier hat man die Leitungsfähigkeit vor
Angen. Dasselbe erreicht man, wenn man ein Blättchen sachte
brennt ; die Blätter legen sich dabei viel weiter hin zusammen, als
die Wirkung der Wärme reicht.
▼. HftrtmMn, Phil. d. Unb«inugteii. 25
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Es ist unmöglich, die durchgreifende Analogie zwischen den
Beflexwirknngen der Thiere und Pflanzen zu verkennen; die Ver-
schiedenheiten reichen gerade nur so weit^ als die Gesammtein-
richtung der Organismen, und als die besonderen Zwecke jeder
Reaction verschieden sind. Hat man nun einmal die Beflexwir»
kungen bei Thieren als Acte von letzten Endes psychischer I^atur
anerkannt, so kann man nicht umhin, dieses IJnbewusst-Psjchische
auch den Pflanzen zuzusprechen, ebenso wie man es jedem thieri-
sehen Theile zuerkennen muss, welcher noch für sich der Beflez-
bewegungen fähig ist.
d) Instinct Schon im Thierreiche haben wir Untrennbar-
keit von Instinct, Reflexbewegung und organischem Bilden gesehen,
im Pflanzenreiche lassen sie sich noch viel weniger sondern, denn
einerseits muss wegen der mangelhaften Bewegungsmittel der Pflanze
das organische Bilden Vieles durch zweckmässige MechanismeD
leisten, was die Thiere mit instinctiver Bewegung machen (man
denke an die Begattung und die Ausbreitung der Saamen), und
andererseits steht das Bewusstsein der Pflanzen so tief, dass der
Unterschied zwischen dem Beize der Reflexbewegung und dem
Motive der Instincthandlung auf ein Minimum zusammenschrumpfen.
Trotzdem werden wir doch noch reichliche Spuren flnden, welche
uns unverkennbar als das Nämliche entgegentreten, was wir im
Thierreiche Instinct nennen. Ein Polyp begiebt sich von d» be-
schatteten Hälfte seines Gefasses instinctiv nach der von der Sonne
beschienenen, und wenn die Sonnenblume sich fast den Hals Ter-
renkt, um ihr Gesicht der Sonne zuzudrehen, das sollte nicht In-
stinct sein? Dutrochet erzählt in s. rech, p. 131: ,Jch sah, dass
wenn man die obere Fläche des Blattes einer in freier Luft stehen-
den Pflanze mit einem kleinen Brette bedeckt, dies Blatt sich
diesem Schirme durch Mittel zu entziehen sucht, welche nicht
immer dieselben, aber immer von der Art sind, wie sie am leich-
testen und schnellsten zum Ziele fuhren müssen; so geschah es
bald durch eine seitliche Biegung des Blattstieles, bald durch eine
Biegung desselben Blattstieles nach dem Stengel hin."
Enight sah ein W^einblatt, dessen Unterseite das Sonnenlicht
beschien und welchem er jeden Weg, in die naturgemässe Lage zu
konmien, versperrt hatte, fast jeden möglichen Versuch machen, um
dem Lichte die rechte Seite zuzuwenden, mit welcher es haupt-
sächlich athmen muss. Nachdem es während einiger Tage sich dem
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Lichte in einer gewissen Bicfatung zu nähern gesucht und durch
Zorückbeugong seiner Lappen fast seine ganze Unterseite damit
bedeckt hatte, breitete es sich wieder aus und entfernte sich wei-
ter Tom Glashauefenster, um in der entgegengesetzten Bichtung
dem Lichte sich wieder zu nähern. (Treviranus, Beiträge 119.)
Bntrochet bedeckte das Endblättchen eines dreiblättrigen Bohnen-
blattes (Fhaseolus vulgaris) mit einem Brettchen. Da die Kürze
des besonderen Blattstieles dem Blättchen das Ausweichen unmög-
boh machte, so erfolgte dies durch Beugung des gemein-
Bohaftlichen Blattstieles, während im Dunkeln das Brett-
dien gar nicht geflohen wurde. ,,Wenn man/' sagt dieser Forscher,
„sieht, wie viel Mittel hier angewendet werden, um zu demselben
Zwecke zu kommen , so wird man fast versucht zu glauben , es
walte hier im Geheimen ein Verstand, welcher die angemessensten
Mittel zur Erreichung des Zweckes wählt/' So spricht ein Natur-
forscher durch die blosse Macht der Thatsachen gedrängt eine
Wahrheit aus, die ihm nur deshalb unfasslich ist, weil er die un-
bewusste Seelenthätigkeit nicht kennt. Dass hier nicht eine blosse
Beflexwirkung auf einen Beiz vorliegt, ist wohl leicht zu sehen,
denn es ist ja eben das Fehlen eines noth wendigen Beizes, wel-
ches geflohen wird.
Ziemlich bekannt sind die Erscheinungen des Püanzenschlafes,
wobei die Blätter sich theils senken, theils umlegen, die Blüthen
ihre Köpfchen senken oder sich schliessen. Zum Theil sind diese
Erscheinungen schon erwähnt und finden ihren Zweck in dem
Schutz der Pollenkömer vor dem Thau. Dass das Niedersenken
der Blüthenstiele jedoch nicht auf blosser Erschlaffung beruht, da-
von kann man sich leicht überzeugen; sie sind vielmehr in ihrem
gebogenen Zustand gespannt und elastisch. Mcdva peruviana bildet
durch das Aufrichten der Blätter um den Stengel oder die Spitze
der Zweige im Schlafzustande eine Art von Trichter, worunter die
jungen Blumen oder Blätter geschützt sind; Impatiena noU me
tätigere bildet aus den herabgesenkten obersten Blättern ein Ge-
wölbe für die jungen Triebe, einige andere schliessen die Blüthen
durch das Zusammenlegen der Blättchen ihrer zusammengesetzten
Blätter ein. Die Zeiten für Schlaf und Wachen sind für die Pflan-
zen so verschieden wie für Thiere. Manche unserer Pflanzen rich-
ten sich nach der Sonne; andere halten bestimmte Zeiten genau
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inne, gleichviel, in welches Klima sie yersetzt werden, gleichTiel,
ob Sommer oder Winter ist. Man sieht hieraus, dasa auch diese
periodischen Bewegungen theilweise Ton äusseren Reizen unabbän-
gig sind und rein aus inneren Bedingungen der Pflanze selbst ent-
springen, es sind eben instinotiY geregelte Bewegungen. — In vielen
Pflanzen neigen sich zur Befruchtung die Staubfaden zum Pistille,
schütten ihren 'Staub aus, und kehren dann in ihre Lage zurück;
bei anderen wandert das Pistill zu den Staubfaden, in noch anderen
suchen sich beide wechselseitig auf. (Treviranus^ Physiologie der
Gewächse n. 389.) Bei LiUum superbunif ArmaryVis formom-
sima und Pancratium maritimum nähern sich die Suiubbeutel nadi
einander der Narbe. Bei PritiUaria persica biegen sie sich we<A-
selsweise nach dem Qriffel hin. Bei Rhus coriaria heben sieb
zwei oder drei Staubfaden zugleich liervor, beschreiben einen Vier
telkreis, und bringen ihre Staubbeutel ganz nahe an die Narbe.
Bei Saaifraga tridact^tesy mvscoides ^ aizoon^ granukUa und
cotyledon neigen sich zwei Staubföden von entgegengesetzten Sei*
ten über der Narbe gegen einander, und breiten sich, nachdem sie
ihren Staub ausgestreut haben, wieder aus; um anderen Platz zn
machen. Bei Pamassia palustris bewegen sich die männlichen.
Theile zu den weiblichen in der nämlichen Ordnung, in weleher
der Saamenstaub reift, und zwar, wenn sie sich der Narbe nahem,
schnell und auf einmal , wenn sie sich nach der Befruchtung von
derselben wieder entfernen, in drei Absätzen. Pei Tropaecbm
richtet sich von den anfänglich abwärts gebogenen Staubfaden bei
völligem Aufblühen einer nach dem anderen in die Höhe, und
beugt sich, nachdem die Anthere ihren Staub auf die Narbe hat
fallen lassen , wieder hinab , um einer anderen Platz zu madien.
Deutlicher als in diesen Beispielen kann man den Instinct nicht
verlangen; denn hier ist das Motiv das Vorhandensein der Nai^
und die Beife des Pollenstaubes, aber die Ordnimg, in welcher, und
die Art und V^eise nach welcher sich die Staubgefasäe hin and
her bewegbn , trägt ebenso sehr den Schein der "Willkür , wie es
nur irgend eine thierische Bewegung kann. — Merkwürdig sind die
Instinctbewegungen der Schlingpflanzen (s. Mohl, lieber das Winden
der Banken). Eine solche Pflcmze wächst zuerst ein Stück senk-
recht in die Höhe, dann biegt sich ihr Stengel wagerecht um, nnd
beschreibt Kreise, um sich in der Umgebung eine Stütze zu suchen,
gerade wie eine augenlose Baupe mit ihrem Vordertheile Kreise
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389
beschreibt^ um ein neues Blatt zu sachen. Je länger der Stengel
wächst, desto grösser werden natürlich die Kreise, d. h. wenn die
Pflanze in der Nähe keine Stütze findet, so sucht sie sie im wei-
teren Umkreise. Endlich kann der Stengel sein eigenes Gewicht
nicht mehr tragen, er fallt zu Boden und kriecht nun gerade «oa
weiter. Findet sie nun eine Stütze, so könnte sie ja entweder gar
nichts davon merken, oder aus Bequemlichkeit doch auf der Erde
weiter laufen, um nicht in die Höhe steigen zu müssen; in der
That ergreift sie aber sofort die Stütze und klettert spiralig an der-
selben hinauf. Doch auch hierbei verfahrt sie noch mit Auswahl ;
die Flachsseide (namentlich im jüngeren Alter) windet sich nicht
um todte organische oder unorganische Stützen, sondern nur um
lebende Pflanzen, an denen sie begierig emporklettert, denn ihre
in der Erde haftenden Wurzeln sterben bald ab und sie ist dann
ganz auf die Nahrung angewiesen, die sie mit ihren Papillen aus
dem umrankten Gewächse saugt. Hat sie dadurch das letztere ge-
tödtet, so erweitert sie von Neuem ihre Windungen, ob sie viel-
leicht ein anderes Gewächs erfassen kann. Jede Schlingpflanze ist
von Natur entweder rechtsläufig oder linksläufig. Wickelt man
einen jungen convolvolus von seiner Stütze ab imd windet ihn in
entgegengesetzter Eichtung wieder um, so wird er in seine ur-
sprüngliche Spiralriohtung zurückkehren, oder in diesem Streben
sein Leben lassen. Auch dies entspricht ganz den Thierinstincten.
Lässt man aber zwei solche Pflanzen ohne fremde Stütze sich ge-
genseitig umschlingen und so an eiaander aufsteigen, so ändert die
eine freiwillig ihre Drehungsrichtung, um diese gegenseitige Um-
sohlingung zu ermöglichen. (Farmer's Magazine, wiederholt in der
Times vom 13. Juli 1848.) Also statt sich der gewaltsamen Ab-
änderung zu fügen, opfert die Pflanze lieber das Leben, aber so
wie diese Abänderung zweckmässig wird, nimmt sie sie von selber
vor. Hier findet man sogar die Yariabilität des Thierinstinctes in
eclatantester Weise wieder.
e) Der Sohönheitstrieb der Pflanzen kann hier nicht
weiter bewiesen werden. Ich halte auch für das Pflanzenreich die
Behauptung aufrecht» dass jedes Wesen sich so schön baut , als es
mit den Zwecken seines Daseins verträglich ist, und als es das
spröde Material zu bewältigen vermag. Man betrachte das Grösste
oder das Kleinste im Pflanzenreiche, die stattliche Eiche oder das
mikroskopische Moos, man sehe aufs Ganze oder aufs Einzelne,
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390
auf den prächtigen Urwald oder auf den Tannzapfen, immer wird
man jene Wahrheit bestätigt finden.
So haben wir denn die fünf Momente im Pfianzenreiche wie-
der gefunden, in welchen wir beim Thierreiche die Wirkungen des
Unbewussten in der Leiblichkeit erkannt haben. Demnach sind
wir nicht mehr berechtigt, der Pflanze unbewussten Willen und
unbewusste Yorstellung abzusprechen. Dass wir keine höheren
geistigen Erscheinungen an der Pflanze wahrnehmen, darüber brau-
chen wir uns nicht zu wundern» da ja der Zweck des Ffiamsen*
reiches im Grossen und Ganzen nur der ist, den Boden, die Nah-
rungsmittel und die Atmosphäre für das Thierreich Torzubereiten,
wenn auch dabei nicht verkannt werden darf, dass zu gleicher Zeit
das schaffende Princip sich nebenher im Pflanzenreiche auf seine
Weise selbstständig auswirkt.
2. Das Bewusstsein ia der Pflance. Bas bisherige Besultat
war wohl vorauszusehen, und bedurfte keines besonderen Scharf-
sinnes; schwieriger aber ist die Frage, ob denn in der Filanxe
auch ein Bewusstsein wohne. — So alt wie die Naturwissenschaft
ist der Streit über die pflanzliche oder thierisohe Beschaffenheit
gewisser Geschöpfe, und er ist heute noch so wenig zu entscheiden,
wie zu Aristoteles' Zeiten, weil er als Alternative überhaupt nicht
zu entscheiden ist Pflanze und Thier haben als organische We-
sen gewisse Eigenschaften gemeinschaftlich; durch andere Eigen-
schaften werden sie gemäss ihrer verschiedenen Bestimmung im
Haushalt der Natur unterschieden. Wenn nun aber die gaoien
Lebenserscheinungen sich auf so einfache Gestalt reduciren, daas
jene unterscheidenden Eigenschaften mehr oder weniger verschwin-
den, und wesentlich nur die beiden Reichen gemeinschaftlichen
übrig bleiben, so müssen eben auch die Unterschiede zwischen
Thier und Pflanze verschwinden, und es ist thdricht, einen Streit
aufrecht zu erhalten, der seiner Natur nach ohne Resultat bleiben
muss. Die mikroskopische Beobachtung ist so weit; dass, wenn es
sichere Kriterien für pflanzliche oder thierisohe Beschaffenheit gäbe,
sie sicher dem Forscher nicht entgehen könnten, und der Streit
längst geschlossen wäre; dass es aber in der That keine von den
streitenden Partheien gemeinschaftlich anerkannten Kriterien giebt,
beweist eben, dass man sich gar nicht klar ist, worüber man sieh
streitet. Würde man die Thatsaohen unbefangen aofiaehmen, so
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391
würde daraus eben nur das herroi^ehen, dass man das Gebiet der
beiden Beicheo gemeinscbaftlichen Eigenschaften bisher zu eng ge-
sogen hat, dass der Unterschiede zwischen Thier und Pflanze viel
weniger sind, als man bi^er geglaubt hat, und dass diese TJnter-
•cbiede nur in ihren gesteigerten Formen so eclatant werden, dass
Niemand sie verkennen kann. — Diese Anschauungsweise ist auch die
einzige, welche von der Geologie gebilligt werden kann. Während
jetzt die Schöpfung der Erde durch das Gleichgewicht der Pro-
dnotionen des Thier- und Pflanzenreiches besteht, konnte offenbar
der erste Grundstein zur organischen Natur nur mit solchen Wesen
gelegt werden, welche dieses Gleichgewicht in sich enthielten,
ond somit noch auf dem Indifferenzpunct zwischen Thier und
Pflanze standen. Erst von diesem unscheinbaren Anfang aus konnte
im Fortschreiten die Entwickelung nach den verschiedenen Seiten
beginnen, indem Meer-Thiere entstanden, welche von diesen in-
differenten Pflanzeninfusorien lebten (Polypen u. s. w.)» uiid als
deren Gegengewicht die ersten Stufen entschiedenerer Pflanzenge-
bilde möglich wurden. Je mehr beide Reiche sich bevölkerten,
desto mehr Nahrungsmittel für höhere Thierclassen wurden dispo-
nibel, desto mehr höhere Pflanzenclassen konnten wieder von den
Lebens- und Todesproducten dieser Thiere bestehen, und so hielt
die Entwickelung in beiden Reichen immer gleichen Schritt, wie
die Geologie es lehrt, während innerhalb eines jeden Reiches die
niederen Stufen im Allgemeinen immer den höheren vorangehen.
Hieraus sollte man aber auch den Schluss ziehen, dass Pflanzen-
reich und Thierreich im Ganzen nicht subordinirte, sondern coor-
dmirte Schöpfungsgebiete sind, und dass das Thierreich, wenn es
sich, auf die höhere Bewusstseinsentwickelung gestützt, über das
Pflanzenreich überheben zu dürfen vermeint , es dies nur dadurch
vermag, weil das letztere ihm um ebenso viel in organischer Be-
siehung überlegen ist, da es ihm die Stoffe bildet, deren müssigem
Verbrauche es sein höheres Bewusstsein verdankt Dies Bilden
und Verbrauchen ist der eigentliche und wesentliche unter-
schied beider Reiche; wo Ersteres überwiegt, ist der Charaoter
▼orwiegend pflanzlich, wo Letzteres thierisch, wo Beides im Gleich*
gewicht steht^ ist der Indifferenzpunct von Thier und Pflanze. Alle
anderen üntersdiiede, die gewöhnlich angeführt werden, sind durch-
ans nur seoundärer und abgeleiteter Natur, wie ich eine solche Ablei-
tung für das Thierreich in Cap. A. VIII. S. 140— 143imGrundrifls ver-
L.
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392
sucht habe. Keineswegs aber ist meine Absicht , 2a bdumpten,
dass die Pflanze bloss produdrt, das Thier bloss consomiit;
denn in jedem Thiere sehen wir auch Processe theils der Höher-
bildnng angenommener Stoffe (z. B. die Bildung der Oehimfette]^
theils der Umbildung derselben ohne Bückgang; andererseits sehoi
wir in jeder Pflanze einen stellenweisen Verbrauch der Prodaote^
die sie selbst an anderen Stellen gebildet hat (man denke nur ai
die Bückbildungsprocesse in den Blüthen, ihre Sauerstoffeinathmong
und Kohlensänreausscheidung). Wir finden sogar bei den Hefen
und einigen anderen einzelligen Gewächsen eine ZwittersteUai^
der Alt, dass sie zwar den zu ihren organischen ProduGtioiie&.
nöthigen Stickstoff aus Ammoniak » den Kohlenstoff aber nur aos
höheren temären Verbindungen aufzunehmen vermögen. Es ksim
mithin auf beiden Seiten nur von einem Mehr oder Weniger die
Bede sein; jedes Thier ist zum Theil pflanzlicher, jede Pflanze
zum Theil thierischer Natur; wo eine Seite die andere deutÜGh
dondnirty benennt man mit Becht das Ganze nach dieser Seite; wo
aber beide sich ziemlich die Waage halten, wird die Benennusg
nach einer Seite schwierig , ja sogar unzulässig. Wir dürfen es
jetzt auch nicht mehr wunderbar flnden, wenn ein und dasselbe
Wesen einen Theil seines Lebens tLberwiegend pflanzliche, einen
andern Theil hindurch überwiegend thierische Beschaffenheit zeigt;
es ist dies keine grössere Metamorphose auf jenen dem Indifferenz-
punct nahen Stufen, als die der Insecten, Frösche oder Fische ist
Wer freilich die Thiere als beseelte Organismen, die Pflanzen aber
als lauter seelenlose leere Gehäuse ansieht, den muss jene Flüsflig-
keit der Grenze beider Beiche und das harmlose XJeberschlagen
aus dem Einen in's Andere zur Verzweiflung bringen. Wir jedoch
werden im Anschlüsse an die bisherigen Betrachtungen dieses Ga-
pitels in diesen Thatsachen nur einen Beweis' mehr sehen, da»
Pflanze und Thier yiel mehr Gemeinsames haben, als unsere Zeh
anzunehmen gewöhnt ist.
Was zunächst die äussere allgemeine Form anbetrifft, so Ter
lieren die Pflanzen auf niedrigeren Stufen ihren blätterigen Typitf^
und nehmen einfach gegliederte, oder rundliche, mehr oder weniger
geschlossene Formen an (z. B. Conferven, Pilze). Dagegen findet
man frappante Aehnlichkeiten mit höheren Pflanzenformen unter
den niedrigeren Thieren. „Einige (Corallenthiere) wachsen als über
einander gerollte, einem Kohlkopfe ähnliche Blätter, andere beete-
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893
hen ans zarten, gekiäuselten, unregelinäsBig angeordneten Blättohen.
Die Oberfläche jedes Blattes ist mit Folypenblüthen bedeckt, durch
deren Wachsthnm und Seoretion es entstanden ist. Nicht minder
lassen sich Aehnlichkeiten mit einem Eichen- und Acanthuszweige,
mit Piken y Moosen und Flechten auffinden'' (Dana in Schleiden's
und Fror. Not. 1847, Juni Nr. 48). — Die chemischen Stoffe können
gewiss nicht einen Unterschied begründen; die Aehnlichkeit der
pflanzlichen und thierischen Proteinstoffe ist bekannt; die Pike
namentlich sind reich an thierähnlichen Verbindungen; in dem
Mantel der Asoidien und übrigen salpenartigen Tunccaten findet
sieh Hokfaserstoff; Chorophyll (Blattgrün) ist in Turbellarien (Stru-
delwürmern) und in Infusorien nachgewiesen worden.
Oft gehören Terschiedene Speoies eines Geschlechtes theils zum
Pflanzenreich, theils zum Thierreich, z. B. die Aloi/anium^ATten sind
alle von einer in der Hauptsache so übereinstimmenden Beschaffen-
heity dass Linn^ gewiss nicht Unrecht hatte, sie in ein Geschlecht
zusammenzufassen. . Gleichwohl sind einige yon ihnen die recht
eigentlichen Ammalia ambigita (nach Pallas), die sonach sehr wohl
unter den Amorphozoarien rangiren, z. B. Aloyonimn cidaris (Do-
nati), cydofdum (Leba) und fidforfne (Solander, Ellis und Marsigli).
Andere werden allgemein zur Pflanzenwelt gerechnet, so nament-
lich z. B. mehrere Arten in dem bezüglich synonymen und an
Specien so reichen Geschlechte FezizcL Bei noch anderen ist nicht
nur die animalische , sondern sogar die Polypen-Natur so entschie-
den erwiesen, dass sie von den Spongozoen abgetrennt, und bei den
Polyparien aufgenommen worden sind, gleichzeitig unter Beilegung
eines zweiten, insofern ihnen gegebenen Geschlechtsnamens, so dass
Lobularia digüxda, pahneiata und arborea, aus den Alcyonien der
Zookorallien, mit Alcyonwm lobaium, pabnatum und arboreum
B3rnonym sind. Die vorweltliche Species Manon peziza ist aus
einem Thier- und einem Pflanzennamen zusammengesetzt. Wir
finden hier nur Erscheinungen aus anderen Gebieten des Thier-
reiehes wieder, wo z*. B. einige Botatorien zu den Würmern, andere
zu den Infusorien, eine Speoies Cerearia zu den Würmern, andere
Specien desselben Gesohlechtes zu den Spermatozoon (?) gerechnet
werden.
Die kleinen Bläschen, aus welchen die rothfärbende Materie
des Schnees besteht (Frotococcua nwoZi«), wurden von Agardh, De-
caodolle, Hooker, Unger, Martins, Harvey, Ehrenberg für Algen
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394
angesehen; Letzterer eäete sie sogar auf Maohen Schnee und be-
obachtete ihre Fortpflanzung; die jungen Pfiänzohen trugen einen
feinkörnigen , gelappten Keimboden und Würzelchen , aber keine
Spur von thierischem Gharacter an sich. Voigt und Meyen fSandeD
später, dass die rothfärbende Materie yielmehr Gestalt und Bewe-
gungen Yon Infusorien darbot, und Shuttleworth endlich unte^
schied tbeils Algen, Üieils Infusorien darin. Diese Widersprüdie
klären sich auf durch Flotow^s sorgfaltige Beobachtungen an einem
ganz verwandten in Eegenwasser lebenden Pflänzohen oder Thie^
chen (HaemcUococcus pluviaUs). Dieses zeigte anfangs bloss pflani-
liche Natur, verwandelte sich aber in Aufgüssen unter geeigneten
Umständen, durch verschiedene Zwischenstufen deutlich verfolgbar,
in ein Infusionsthierchen {Astasia pbiviaUs) mit rüsselformigem,
mitunter selbst gabelig gespaltenem Fühler und allen Zeidien
selbstständiger Bewegung um. Es zeigte sichShuttleworth's A»-
tasia nivalis im rothen Schnee verwandt. Eützing („lieber die
Verwandlung der Infusorien in niedere Algenformen, Nordhausen
1844") beobachtete; dass das Infusorium Chlarnid&maruzs pulmeur
lus gar vielfach sich verwandele, z. B. in eine entschiedene Algenr
species, Siygeoleönium stellare , und in andere Bildungen von AI*
gencharacter, welche zwar in der Gestalt noch theilweise rahen-
den Infusorienformen glichen {Tetraspora lubrica oder getatinosOj
Palmella botryoides f Protococcus» und Gyges - Arten), Ebenda-
selbe behauptet die Verwandelung des Infusorium Enckelys pdr
visculus in einen Protocoocus und zuletzt in eine Oscillatorie.
Bei einer ganzen Reihe von Algen {Zoospermae) und noch anderen
niederen Gewächsen (Pilzen, Kostok) haben die Eeimkömer, Sporen
oder Sporidien eine infusorienartige Gestalt und Bewegung mittelst
Wimpern oder peitschenformigen Organen, und es sind zum The^
Formen unter ihnen bekannt, welche Ehrenberg als Infusorien e^
kannt hat. Ganz ebenso verhalten sich aber auch die Embryonen
vieler Polypen und Medusen, auch sie machen eine Zeit dnroh)
wo sie mittelst Wimpern eine zugleich drehende und fortschreitende
Bewegung erzeugen, ehe sie sich zur Weiterentwickelung festsetzen,
auch sie haben infüsorielle Gestalt und keine Mundöffaung. üngei
(„die Pflanze im Moment der Thierwendung^') beobachtete bei den
Sporidien von der kleinen Alge (Vaucheria clavcUa, oder Ecto-
sperma davata), dass sie, vom Mutterschlauohe befreit, zuerst sidi
im Wasser erheben und in rascher Bewegung ähnlidi einem Infii:-
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395 -
soriiim mehrere Male hemmkreisen, dass dann Momente der Bnhe
mit Bewegung willkürlich wechseln» und dass sie in höchst auf-
fallender Wefse alle Hindemisse sorgfältig Termeiden, sich höchst
geschickt durch das Sprossengewehe der Yaucheria winden, und
sich immer so ausweichen, dass niemals zwei zusammenstossen. —
Eine kleine fadenförmige Algenart zeigt, so lange sie lehhaft
vegetirty eine dreifache Bewegung, eine ahwechselnde geringere
Krümmung des Torderen Fadens, ein halb pendelartiges, halb elasti-
sches Hin- und Herbiegen der vorderen Hälfte imd ein allmäliges
Torrücken. „Diese Bewegungen haben etwas Seltsames, ich möchte
sagen Unheimliches an sich" (Schieiden, Grundzüge II. 549). Die
Oscillatorien ziehen sich ebenso wie Polypen nach der beleuchte-
ten Stelle des Ge&sses hin.
Wir sehen, dass alle Kennzeichen, welche von verschiedenen
Seiten als maassgebend aufgestellt worden sind, nicht Stich halten,
als da sind: partielle oder totale Locomotion, spontane Bewegung,
morphologische Unterschiede, Mundöffnung und Magen. Was die
tfundöffhung betrifft, so fehlt dieselbe bei vielen Eingeweidewür-
mern, Oercarien, Infnsorieii und Embryonen; die Gregarinen, welche
heerdenweise als Schmarotzer in dem Nahrungscanale von Inseoten
und anderen Thieren vorkommen, haben nicht nur keine Mundöff-
nnng, sondern auch keine Wimpern, überhaupt keine sichtbaren
Oi^ne; es sind einfache Zellen mit sichtbarem Kerne. Von einem
Magen zu sprechen, wo der Mund fehlt , ist bedeutungslos, denn
dann kann man das Innere jeder Zelle ihren Magen nennen.
Es mögen diese Anführungen genügen, um die vorausgeschick-
ten allgemeinen Bemerkungen zu rechtfertigen. — Was nun diese Be-
trachtung zur Lösung der Frage nach dem Bewusstsein der Pflanzen
beiträgt, ist Folgendes: Wir haben gesehen, dass Pflanze und Thier
Einiges verschieden. Anderes gemeinsam haben, und dass wir die
Summe des Gemeinsamen ungefähr erkennen können, wenn wir in
beiden Reichen die Stufenreihe der Organisation so weit hinabstei-
gen, bis wir bei solchen Gebilden angekommen sind, wo die Un-
terschiede verschwinden, und wesentlich nur das Gemeinsame übrig
geblieben ist. Wenn wir nun finden, dass in diesem G^meinsam^ai
noch Empfindung und Bewusstsein mit eingeschlossen ist, dass also
die niedrigsten Pflanzenorganismen Empfindimg und Bewusstsein
besitzen, so werden wir uns nach den materiellen Bedingungen
umsehen, an welche hier Empfindung und Bewusstsein geknüpft zu
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Bein scheinti und yorauBgesetzt^ dass diese materiellen Bedingnsgen
bei höheren Pflanzen in demselben oder noch höherem Maasse er-
füllt sind, werden wir nns berechtigt halten dürfen, anch den höhe-
ren Pflanzen ein eben solches resp. höheres Maass von Empfindung
und Bewusstsein zuzuschreiben, als wir bei jenen niederen Toraoa-
setzen dürfen. Da wir unmittelbar nicht wissen, wie der Pflanse
zu Muthe ist, sondern nur, wie uns selbst zu Muthe ist, so steigen
wir durch Analogie die Stufenleiter der Thiere hinab, wend^ am
Indifferenzpunot von Thier und Pflanze, welcher das verknüpfende
Band beider Beiche bildet, wieder um, und steigen ebenfalls durch
Analogie auf der anderen Seite die Stufenleiter der Pflanzen hinauf.
Femer erinnern wir uns bei dieser Betrachtung des Besul-
tates aus deni Schluss des I. einleitenden Capitels und des Cap.
0. HL, wonach jede durch materielle Bewegung erregte Empfindung,
sobald sie überhaupt entsteht, auch mit Bewusstsein entsteht, wah-
rend, wenn die materielle Bewegung unterhalb der Eeizschwelle
liegt, nicht nur keine bewusste, sondern überhaupt gar keine Em-
pfindung zu Stande kommt. So weit wir also Zeichen einer durch
materielle Beize erregten {Impfindung värfolgen können, so weit
werden wir auch die Empfindung für bewusst halten müssoi,
also die Existenz eines Bewusstseins zugeben müssen, gleichviel,
wie dürftig sein Inhalt sein mag.
Wir müssen hier noch einmal auf das schon mehrfiaeh
(vergl. Cap. A. Vn. i. a., S. 128— 130) zurückgewiesene Yor-
urtheil zurückkonmien, als ob die Nerven die conditio sine gua
non der Empfindung wären. Dass sie auf Erden und bis jetst
die zur Empfindungserzeugung geeignetste Form der Materie smd,
ist gewiss nicht zu bezweifeln, daraus folgt aber keineswegs , dass
sie die einzige sind ; im Gegentheil beweisen eine Menge Thatsaoh^
dass sie durch andere Formen ersetzt werden können. Die Tast-
wärzchen an der Oberhaut stehen an manchen Körperstellen in
ziemlich grossen Intervallen (wie die Grösse der Ellipsen beweist,
innerhalb deren zwei Berührungen als Eine empfanden werden),
trotzdem ist jede Stelle der Haut gleich empfindlich, auch gegen
thermische und chemische Beize, bei welchen man sich nicht auf
blosse Fortpflanzung des meohanischen Druckes oder Leitung der
Wärme berufen kann. Burdaoh giebt an, dass auch nervenlose
Theile des menschlichen Körpers empfindlich werden können, sobald
bei vermehrtem Blutandrange und Auflockerung des Oewebes ihre
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Lebendigkeit gesteigert ist; so sei z. B. das in heilenden Wunden
gebildete junge Fleisch ohne alle Nerren höchst empfindlich nnd
eine Entzündung der nervenlosen Knorpel und Sehnen sei sogar
▼iel schmerzhafter, als eine Entzündung der Keryen selbst. Hier
liegt freilich der Schmerz, welcher dem Menschen bewusst wird»
erst im Gehirne, aber die nervenahnliche LeitungsfHhigkeit jener
Theile ist damit bewiesen ^ d. b. also ihre Fähigkeit, Ströme von
Molecularschwingungen fortzupflanzen, die denen in den Nerven
Shnlich sind. Wo aber Schwingimgszustände vorhanden sind, die
denen der Nerven ähnlich sind, werden sie auch Empfindungen
anregen, die den von den Nerven erregten ähnlich sind , voraus-
gesetzt, dass sie nicht unterhalb der Beizschwelle liegen. Letzteres
ist keines Falls anzunehmen, da der nach so grossen Widerständen
im Gehirne anlangende Theil noch so starke Schmerzen verursacht.
Femer haben wir vielfach die Seele auf den Leib ohne Nerven
wirken sehen, z. B. in den embryonischen Zuständen vor Ausbil-
dung der Nerven , in der Wirkung der Nerven über ihre eigenen
(lenzen hinaus in Muskeln, secemirenden Häuten, wo überall die
Masse der betreffenden Organe selbst die letzte Strecke der Lei-
tung übernehmen muss , in dem plötzlichen Ergrauen der Haare
nach Affecten u. s. w. Wenn nun aber die Seele auf den Leib
auch ohne oder jenseit der Nerven wirken kann, so wird doch
wohl bei der durchgehenden Eeciprocität des Verhältnisses von
Leib und Seele auch der Leib ohne und jenseit der Nerven auf
die Seele wirken, d. b. Empfindung hervorrufen können. — Alsdann
ist nach Allem wahrscheinlich, dass die niedrigstek Thiere (Polypen,
Infasorien, manche Eingeweidewürmer) keine Nerven haben. Denn
Nerven und Muskeln gehen überall Hand in Hand und nach Du-
jardin und Ecker haben sie nicht einmal Muskeln; statt des Mus-
kelfibrins und der Nervensubstanz findet sich bei ihnen nur die Mul-
dei^sche Fibroine. Dieser Stoff verhält sich ungefähr wie das Neoplasma
der Wunden; auch in ihm wirken sich die organischen und moto-
rischen Willensacte der Thierseele ihren Zwecken gemäss aus, und
haben wir daher keinen Grund, an der Möglichkeit einer Wirkung dieser
Materie auf die Seele zu zweifeln. — Dazu kommen die verhältniss-
mässig hohen psychischen Kundgebungen dieser Thiere. Denn der
Büsswasserpolyp unterscheidet schon auf die Entfernung von einigen
Linien ein lebendes Infusorium, ein pflanzliches Wesen, ein todtes
und ein unorganisches Geschöpf; von allen zieht er nur das erstere
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durch einen mit seinen Armen erregten WasBerstmdel an dob,
während er eich um die anderen nicht kümmert, oder wenn er eins
zufällig erfasst hat, es sogleich wieder loslässt. Der Polyp mnss
also doch von diesen yersohiedenen Dingen verschiedene Wahmeli»
mungen hahen, und diese können nur als Empfindungen über der
Schwelle, d. h. als bewusste Empfindungen, gegeben sein. Er be-
wegt sich femet aus dem Schatten nach dem sonnenbeschienene&
Theile des Geflisses, und öfters kämpfen zwei Polypen um ihren
Raub. Letzteres ist nur möglich, wenn der Polyp das Bewusstsein
hat , dass der andere ihm die Beute entreissen will. Wenn ako
ein nervenloses Thier so hohe Bewusstseinsäusserungen zeigt, 80
werden wir uns nicht wundem dürfen, die Bewusstseinsäusserungen
der nächst niederen Thierstufe, der Infusorien, mit denen viekr
niedrigen Pflanzen auf gleichem Niveau zu finden. Das aber wird
man doch wohl gewiss nicht behaupten wollen, dass mit der vor-
letzten Thierstufe Empfindui^ und Bewusstsein aufhöre, denn
warum gerade mit der vorletzten, die doch noch so reichen Be-
wusstseinsinhalt zeigt, dass sich bis zum vollständigen Verschwin-
den noch unendlich viele ärmere Stufen denken lassen, denen nichte
in der Welt entspräche, wenn es nicht eben jene Infusorien und
einfachen Pflanzen wären.
Was die Nerven so geeignet macht, sowohl zur Yermitr
telung der Ausführung von Willensacten , als zur Erzeagong
von Empfindungen, ist die halbflüssige Consistenz der ganzen
Masse, welche die Verschiebbarkeit und Drehbarkeit der Mole-
cüle befordert, und die polarische Beschaffenheit der einzelnen
Molecüle, welche eine hohe chemische Organisationsstufe der Ma-
terie zur Bedingung hat. Das Erstere zeigt die Xörpermasse der
niederen Thiere und Pflanzen auch. In jeder Zelle ist mindestens
ein flüssiger Inhalt und eine feste Wand, in der Begel auch ein
Kern zu unterscheiden ; sowohl der Kern oder dooh seine Umgebung,
als auch die Grenze von Wandung und Inhalt, häufig aber der
ganze Zelleninhalt, zeigen diese halbflüssige Consistenz von hoher
chemischer Organisationsstufe , aus welchen physikalischen und
chemischen Momenten sich auf eine polarische Beschaffenheit der
Molecüle, wem auch in geringerem Grade als bei Nerven, und der
centralen Ganglienzellen, die ebenfalls aus Kern, Wandung und
Inhalt bestehn, mit Wahrscheinlichkeit schliessen lässi Diese
Bedingungen kehren aber in allen eigentlich lebendigen Tbeilsn
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der h(>heraQ Pflansen wieder, yermathlioh sogar in gesteigerter
Fonn, da die chemische Organisation der Stoffe in höheren Oi^-
oismen sich offenbar steigert, keines Falles aber sinkt. Es ist
also ganz gewiss kein Orond zu der Behauptung , dass die
£mp&idung und das Bewusstsein der höheren Pflanzen unter
dem der niedrigsten Pflanzen und Thiere stände, im Qegen-
theile dürfen wir yermuthen, dass, wenn auch die totale und
partielle Locomobilität der Pflanzen in höheren Formen ihren
Lebensbedingungen gemäss abnimmt , dass die Empfindungen minde-
stens in gewissen bevorzugten Theilen über der der niederen
Pflanzen steht
Je mehr wir in der Thierreihe hinabsteigen ^ desto mehr
nimmt die Wichtigkeit der aus der eigenen Verdauung und
Genitalsphäre herrührenden Empfindungen gegen die von äusse-
ren Beizen herrührenden zu; bei den Pflanzen, wo die Ober-
fläche sich mehr und mehr gegen die unbedeutenden äusseren
Reize abschliesst, wird diese Zunahme sich noch mehr steigern;
für die Pflanze verliert die Aussenwelt ausser dem Licht und der
chemischen Beschaffenheit der Luft immer mehr alles Interesse,
nnd nur besonderen Fällen verdanken wir die Kenntniss, dass auch
höhere Pflanzen von gewissen Vorkommnissen Notiz nehmen , die
(üi sie Wichtigkeit erlangen, z. B. die Liseoten fangenden Pflanzen
von Beizen, welche die Blätter treffen, die Bankengewächse von
Stutzen u. s. w.
Es wird nach dem Vorhergehenden nicht mehr befremden,
wenn wir den Pflanzen eine Empfindung, und selbstverständ-
lich bewusste Empfindung , von den Beizen beilegen , auf
welche sie, sei es nun reflectorisch oder instinctiv, reagirt; wenn
wir behaupten, dass die Oscillatorie so gut wie der Polyp das
Licht empfindet , wenn sie nach deiü beleuchteten Theil ihres Ge-
^Sisses binwandert, nnd dass ganz ebenso das Weinblatt das Licht
empfindet, dem es auf alle Weise seine rechte Seite zuzukehren
bemüht ist, und jede Blüthe das Licht empfindet, dem sie sich öff-
nend das Xöpfchen zukehrt. Wir behaupten, dass das Blatt der
Dianaea und der Mimoaa pudica das Sträuben des Insectes empfin-
det, ehe es auf diese Empfindung mit Zusammenlegen reagirt, denn
CS liegt ja schon im Begriff der Beflexwirkung, als einer psychischen
Beaction, dass eine psychische Perception derselben vorhergehen
muss; dies ist aber die bewusste Empfindung. Wir behaupten
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ferner, daBs diA Pflanze eine Empfindung von den physiachen yo^
gangen der Organisation, welche der thierischen Verdauung ent-
sprechen, und des Geschlechtslebens hat, dass namentlich das letz-
tere sich in Theilen vollzieht, wo die höchste Lebendigkeit des
Pflanzendaseins concentrirt ist, wo die Bildungsthätigkeit während
der Blüthenzeit nicht mehr aufsteigende, sondern absteigende che-
mische Processe bewirkt (wie das Sauerstoffeinathmen und Kohlen-
säureausathmen der Blüthen erkennen lässt), woraus hervorgeht,
dass hier die bildenden Kräfte sich vom materiellen Aufbauen in
eine gewisse thierahnliche Yerinnerlichung zurückgezogen nnd für
mehr recipirende Processe disponibel geworden sind. Dass der
Inhalt dieses Bewusstseins immerhin noch sehr arm sein mnas,
viel ärmer als z. B, der des schlechtesten Insectes, unterliegt wohl
keinem Zweifel , denn woher sollte der Beichthum und .die Be-
stimmtheit kommen, wie sie den Thieren schon durch die niediigst
stehendsten Sinnesorgane gewährt wird?
Wir haben also in der Pflanze in der That Bewusstsein ge-
funden. Wie weit kann aber nun eine Binlieit des Bewusstseins
in der Pflanze bestehen? — Wir haben gesehen, dass die Einheit
des Bewusstseins zweier Vorstellungen oder Empfindungen auf der
Möglichkeit des Vergleiches und diese auf dem Vorhandensein einer
genügenden Leitung zwischen den beiden Empfindung erzeugenden
Orten beruht. Die Frage i«t abo die: ist eine solche Leitong in
der Pflanze vorhanden? Schon im Thiere war der Verkehr zwischen
verschiedenen Nervencentren, obwohl durch Nervenstränge vermit-
telt, nur höchst mangelhaft und die Bewusstseinseinheit f actisch
nur für sehr durchgreifende Erregungen vorhanden. Die Fortpflan-
zungsgeschwindigkeit des Nervenstroms im Menschen beträgt nach
Helmholz achtzig Fuss in der Secunde, die in der Mimosa pudica
wie erwähnt nur einige Millimeter; man kann von diesen Ge-
schwindigkeiten einen ungefähren Schluss auf die Leitungswider-
stände und demgemäß auf die Störungen und Veränderungen der
fortgepflanzten Eesultate ziehen. Es ist möglich, dass die Spiral-
gefässe solchen Leitungszwecken dienen, aber erwiesen ist es nicht
Jedenfalls ist es mit der Bewusstseinseinheit von zwei benachhar-
ten Blättern noch unendlich viel dürftiger bestellt^ als mit der von
Hirn und Ganglien im Menschen. Eine genügend treue und starke
Leitung wird immer nur zwischen ganz nahe aneinander liegenden
Pflanzentheilen bestehen können ; ich möchte nicht behaupten, dsss
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401
mao Ton dem einbeitlichen Bewusstsein einer Bliithe sprechen
darf, yielleicht l:aam von dem eines Staubfadens. Die Pflanxe
braucht aber auch eine solche ' Einheit des Bewnsstseins nicht, wie
das Thier; sie braucht keine Vergleiche anzustellen, und braucht
nicht über ihre Handlungen zu refiectiren. Sie braucht sich nur
den einzelnen Empfindungen hinzugeben, und dieselben als Motiv
für die Eingriffe des ünbewussten auf sich wirken zu lassen, dann
haben diese ihren Zweck erfüllt, und dies leisten Empfindungen
mit getrenntem Bewusstsein ebenso gut, wie solche mit ein-
heitlichem.
▼. HArtmann, Phil. d. Unbewnsaten. 26
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Die Materie als Wille und y^rgteliwig.
Die Naturwissenschaft beschäftigt sich mit drei in einander
greifenden Gegenständen: den Gesetzen, den Kräften und dem
Stoffe. Diese Trennung ist durchaus nur zu billigen, denn sie
fasst verschiedene Ghnippen von Erscheinungen unter einheitliche
Gesichtspuncte übersichtlich zusammen und erleichtert die Aus-
drucksweise. Die Frage ist nun, ob diese Drei wirklich verschie-
dener Natur sind, oder ob sie eigentlich nur Eins sind, welches,
bloss von verschiedenen Gesichtspuncten aus betrachtet, auf drei
verschiedene Weisen erscheint. Von den Gesetzen dürfte dies
wohl ohne Umstände zugegeben werden , denn es liegt auf der
Hand, dass sie nicht in der Luft schwebende Existenzen, sondern
blosse Abstractionen von Kräften und Stoffen sind; nur weil diese
Kraft und dieser Stoff eine solche und ein solcher sind, nur
darum wirken sie auf diese Weise, und so oft wir einer eben
solchen Kraft begegnen, müssen sie auf eben solche Weise wirken.
Diese Constanz des So-wirkens aber ist es, was wir Gesets
nennen. Dieses Yerhältniss ist auch wohl allgemein anerkannt, nnd
wir hören in der That von den Materialisten stets nur Kraft nnd
Stoff als ihre Principien nennen, als welche selbstverständlich
die Gesetze includiren. Wir haben im Cap. C. IL den Materialis-
mus vertheidigt, insofern er die organisirte Materie als c(mdüu>
sine qua non der bewussten Geistesthätigkeit behauptet ; wir haben
in den ganzen vorhergehenden Untersuchungen ein unbewusst psy*
chisches Princip als über der Materie stehend nachgewiesen, und
damit schon die Einseitigkeit desjenigen Materialismus gezeigt,
welcher keine anderen als materielle Principien kennt; wir sind
jetzt an den Punct gelangt, wo wir uns mit demjenigen beschäf-
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I
403
tigen müssen, was der einseitige Materialismus als ausschliessliche
Piincipien alles Daseins^ d. h. als philosophische ürprincipien, auf-
stellt, Kraft und Stoff. Ich würde es für nutzlos halten, hier eine
dialectische Erörterung dieser Begriffe anwenden zu wollen; man
würde dabei weder sicher sein, wirklich genau diejenigen Begriffe
la behandeln, welche der Materialismus meint, noch würde dadurch
je ein Materialist zur Aenderung seiner Ansicht gebracht werden.
Ich halte für den einzig angemessenen Weg die Yertiefdng der
naturwissenschaftlichen Untersuchung der Materie. Zwar kann die
Zukunft noch unschätzbare Au&chlüsse in dieser Eichtung bringen,
welche wir bis jetzt nicht ahnen, indessen glaube ich, dass die
Gnmdzüge der für die Materie allein möglichen AufPassungsweise
durch die jüngsten Erfolge der Physik und Chemie nicht nur so
sicher gestellt sind, dass keine Zeit jemals mehr daran wird rütteln
können, sondern dass sie auch völlig genügende Anhaltepuncte
bieten, um bis in die letzten Tiefen dieses Geheimnisses einzu-
dringen. Wenn dies bis jetzt noch nicht geschehen, oder wenig-
stens noch nicht yon Seiten der Naturwissenschaft geschehen ist,
so liegt es einfach daran, weil die Naturwissenschaft im Grunde
immer nur insoweit ein Interesse für Hypothesen hat, als ihr die-
selben entweder Anleitung zu neuen Experimenten geben, oder als
sie ihr zum Ansätze des Calcüls unentbehrlich sind; was darüber
hinausgeht, davon sieht sie keinen practischen Werth und darum
ist es ihr gleichgültig. Wir werden also zunächst zu recapituliren
haben, was die Naturwissenschaft von der Constitution der Materie
nnd der ihr inhärirenden Kräfte weiss, und dann zusehen, ob diese
Resultate auf einfache und ungezwungene Weise einer Yertiefong
iahig sind.
Wenn man einen chemisch homogenen Körper, z. B. kohlen-
saueren Kalk, sich fortgesetzt getheilt denkt, so kommt man an
Theile von gewisser Grösse, die sich nicht mehr theilen lassen,
wenn sie kohlensaurer Kalk bleiben sollen; gelingt es,
sie zu spalten, so erhält man als Trennstücke einen Theil Kohlen-
saure tmd einen Theil Kalk. Diese kleinsten Theile eines Körpers
nennt man Molecüle. *) Dieselben wirken nach verschiedenen Seiten
*) Ich nnterscheide hier Molec&le nnd Atom, obwohl der letztere Aus-
drack Ton Physikern h&nfig auch statt des ersteren gesetzt wird. Solche
phflosophische Leser, welche mit einer gewissen Voreingenommenheit gegen
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■r^^f^wf
404
mit yerschiedener Kraft, weil sie im Allgemeinen die krystalliniBche
Ghnindfonn des betreffenden chemischen Stoffes haben, oder eine
solche, aus der diese sich leicht bilden kann. Die Molecöle ver-
schiedener Stoffe unterscheiden sich also durch verschiedene Ge-
stalten. Wenn zwei^ Körper yerschiedener Art zusammenkommen,
Bo^^ren sieh die nach yerschiedenen Biohtungen yerschieden vi^
kenden Kräfte der Molecüle an den Grenzen beider Körper gegen-
seitig in ihren Gleichgewichtslagen, welche Störungen sich als
electrische Erregung darstellen, respectiye sich als galyamsche
Schwingungen fortpflanzen; ist die Störung stark genüge so findet
eine bleibende Timlagerung und chemische Verbindung der yersohie-
denartigen Molecüle zu zusammengesetzteren Molecülen statt Die
yerschiedenen chemischen Verbindungen unterscheiden sich durch
Angfthl und Lagemngsweise der zusammentretenden Molecüle. Die-
jenigen Molecüle, welche weiter zu zerlegen uns bis jetzt noch nicht
gelungen ist, nennen wir chemisch einfiach, obgleich wir yon man-
chen ziemlich gewiss wissen, dass sie noch zusammengesetzt sind
(z. B. Jod, Brom; Chlor sind yermuthlich Sauerstoffyerbindungen,
wie aus ihrem bei sehr hohen Temperaturen sich yerändemden
Spectrum heryorgeht, die Metalle yielleicht sämmtlich Wasserstoff-
yerbindungen) , so dass sich möglicherweise die Anzahl der chemi-
schen Elemente noch sehr yereinfachen kann. Diese Molecüle
repräsentiren dann gewisse Grundformen, die aber unter sich noch
yerschieden sind, und jedenfalls letzten Endes als yerschiedene La-
gerungsformen einer yerschiedenen Anzahl gleichartiger Mole-
cüle zu denken sind, weil nur auf diese Weise die Einfachheit der
Zahlenyerhältnisse der chemischen Aequiyalente^ die üebereinstim-
mung derselben mit dem specifischen Gewichte der Gkse und mit
der specifischen iWärme begreiflich wird. Biese gleichartigen
Molecüle müssen nach allen Eichtungen mit gleicher Kraft wir-
ken, können also, wenn sie stofflich gedacht werden sollen, nur
kugelförmig gedacht werden; sie heissen Körper-Atome.
Ausser ihnen giebt es noch Aether-Atome, welche sowohl in
die physikalische Atomtheorie an dieses Oapitel herantreten, yenreise ich auf
Fechner's Schrift: „Ueher die physikalische and philosophische Atomlehre**,
Leipzig 1855, namentlich auf S. 18 — 63 und 129—141, obwohl die physl*
kaiische Atomenlehre seitdem durch Ausbildung der Wärmetheorie sehr viel
weiter gefördert ist
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405
jedem Körper zwieohen den EörpermolecüleD , als auch zwiBchen
den Himmelskörpern vertheilt sind, und welche man an dem Wider-
stände gegen den Enke'schen Kometen und ihrer Bigenschaft, Wärme
fortznstrahlen, erkennt. (Ein gewisser Theil der Wärmescala wird
durch die Einrichtung unserer Augen yon uns als Licht empfunden.)
Körper und Körper -Atome ziehen sich an, und zwar im um-
gekehrt quadratischen Verhältnisse der Entfernung ; d. h. die Kraft
eines Körper-Atomes nach allen Eichtungen des Baumes zusamm^
genommen bleibt sich auf jede Entfernung gleich.
Aether und Aether- Atome stossen sich ab, und zwar im um-
gekehrten YerhältnisBe einer höheren, als der zweiten Potenz der
Entfernung, mindestens der dritten; d. h. die Kraft eines Aether-
Atomes nach allen Eichtungen des Baumes zusammengenommen
wächst mindestens im umgekehrten Verhältnisse der Entfernung.
Alle Körper-Atome würden auf einen Funct zusammenschiessen,
wenn nicht die herumgelagerten Aether -Atome gleichsam Hüllen
um jedes Körpermolecüle bildeten, welche eine Berührung derselben
Terhindem. Zwei Aether- Atome können nie znsammenstossen, weil
üure Abstossung auf unendlich kleine Entfernungen unendlich gross
wird. Zwei Körper -Atome aber könnten sich nie wieder trennen,
gesetzt den Fall, dass sie einmal sich berühren, weil dann ihre
Anziehung unendlich gross ist. Daher müssen die Körpermolecüle
auch innerhalb der chemischen Verbindungen noch durch Aether-
Atome auseinander gehalten sein, weil sie sich durch Aetherschwin-
gangen (Wärme, Galyanismus) wieder scheiden lassen.
Körper- und Aether-Atome stossen sich ab. Früher
nahm man an, dass sie sich anziehen ; bis zu einem gewissen Puncte
nämlich werden die Erscheinungen durch jede der beiden Annahmen
gleich gut erklärt; da man sich doch aber des Calcüles halber
nothwendig für eine entscheiden musste, wählte man zufällig die
Anziehung. Wiener hat gezeigt (ygl. Poggendorffs Annalen, Bd.
118, 8. 79, und Wiener, ,J)ie Grundzüge der Weltordnung", erstes
Buch), dass die Erklärung des flüssigen Aggregatzustandes die An-
nahme der Abstossung fordert, und dass diese sich überhaupt besser
mit unseren sonstigen physikalischen Anschauungen verträgt. Es
ist nun nicht mehr, wie in Bedtenbacher's „Dynamidensystem", um
jedes Körpermolecüle eine dichte Hülle von Aether- Atomen, sondern
im Gegentheile, der Aether ist unmittelbar neben den Körpermole-
eülen am dünnsten, also innerhalb der Körper dünner, ab im leeren
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406
Ranme, weil die dichtgedrängten Körpermolecüle den Aether Üieil-
weise ausstossen.
Die soweit ausgearbeitete Atomtheorie erklärt anf überraschende
Weise die Gesetze der Wärme und die von den Wärmeverände-
rungen herbeigeführten verschiedenen Aggregatzustände (siebe
Wiener, „Grundzüge der Weltordnung", erstes Buch). Sie gewährt
den Vortheil, dass alle die vielen sogenannten Kräfte der Materie,
wie Gravitation, Elasticität, Wärme, Galvanismus, Chemismus u. s. ▼.,
sich als Aeusserungen oombinirter Molecülar- und Atom-Kräfl« dar-
stellen, d. h. dass man die Entwiokelung jener aus diesen auch
wirklich sieht und berechnet, während derjenige Dynamismus, wel-
cher, wie der Kantische, von Atomen und Atomkräften nichts wissen
will, die Entstehung der höheren materiellen Kräfte aus Anziehung
u^d Abstossung nur schlechthin behaupten, aber nicht im Mindesten
sagen kann, wie sie geschieht. — Es bleibt noch eine materielle
Kraft zu erwähnen, das Beharrungsvermögen, von welchem
der Atomismus bis jetzt entweder unrichtiger Weise geläugnet hat,
dass es unter den Begriff Kraft gehöre, oder welches er als eine
neu hinzukommende Kraft hat bestehen lassen, während er doch
schon von Kant (Neuer Lehrbegriff der Ruhe und Bewegung, vgl
Kant's Werke, Bd. V. S. 282 — 284, 287 — 289 und 409—417)
hätte lernen können, was das Beharrungsvermögen ist, dass nänüich
dasselbe einzig und allein auf der Reciprocität oder Rela-
tivität der Bewegung beruht, welche schon von Leihni«
klar hingestellt worden ist (Mathemat Werke VI. p. 252). Denkt
man sich nämlich ein Atom allein im Räume, so kann der Begriff
von Ruhe oder Bewegung auf dasselbe noch gar keine Anwendung
finden, weil es keinen bestimmten Ort im Räume hat,
also auch diesen Ort nicht verändern kann. Es giebt demnach
keine absolute Ruhe oder absolute Bewegung, sondern nur relative.
Daraus geht hervor, dass man nicht mehr Recht hat, zu sagen:
A bewegt sich gegen B, als: B bewegt sich gegen A, die Kugel
bewegt sich gegen die Scheibe, als : die Scheibe bewegt sich gegen
die Kugel, dass also der Widerstand, den die Scheibe der Kugel
entgegengesetzt, nicht sowohl ein Widerstand der ruhenden, als d«
bewegten Scheibe, oder ihre lebendige Kraft ist. Was hier beim
StoBse sofort in die Augen fällt, findet sich bei Druck und Zug
wieder, nur als eine Integration unendlich vieler einzelner Ab-
stossungs- oder Anziehungsmomente der Atome und Moleoüle. In
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beiden Fällen beruht der zu überwindende Widerstand daa B@*
bammgs Vermögens auf der Reciprocität von Anziehung uud Ab-
stossnng und der Relativität der Bewegung.
Für das Beharrungsvermögen brauchen wir also in der ITiat,
trotzdem dass es selbst als oppositionelle Kraft wirkt, keine neue
Kraft, wir reichen vielmehr mit der Anziehung und AbstQa^uug
der Körper- und Aether-Atome vollkommen aus. — Beben wir nun
XU, wie sieh die bisher angeführten Principien bei näherer Betraeh-
tang ganz von selbst vereinfachen.
Denken wir uns zwei Körper-Atome A und B, so würden die-
selben sich auch dann noch beide gegen einander bewegen, wctnn
nur A Anziehungskraft besässe; denn indem A das Atom B an^teht^
zieht es wegen der Relativität der Bewegung; nothwendig eich
eben so sehr zu B hin, als es B zu sich hinzieht. Das^selba
gilt aber für B; indem nun sowohl A, als auch B anziehend wirkt, m
bewirkt jedes von ihnen die gegenseitige Annäherung, also wird ihre
thatsächliche Anziehung die Summe ihrer Einzelkräfte sein. Dasselbe
gilt für die Abstossung von Aether- Atomen. Merkwürdigerweise
soll nun aber ein und dasselbe Körper-Atom zwei entgegengesetzte
Kräfte besitzen, nämlich Anziehungskraft für Körper -Atoma und
AbstoBsungskraft für Aether- Atome. Ein Aether- Atom hat daim eot-
weder dem entsprechend eine besondere Abstossungskraft tnr
Aether -Atome und eine besondere Abstossungskraft für Korper-
Atome, oder aber seine Abstossungskraft ist gegen Körper- unä
Aether -Atome gleich gross, d. h ein und dieselbe. Letztere
Annahme hat nichts gegen sich, wird also als die einfachere jedeE-
&ll8 den Vorzug verdienen, denn principia non sunt mtUHplicatida
praeter necessikUem, Nach letzterer Annahme also yerhält sich
ein Aether- Atom gegen jedes andere Atom auf dieselbe Weis«
abstoBsendy gleichviel, welche Kräfte diesem Atome sonst noch zu-
kommen; d. h. wenn ihm ein Körper-Atom begegnet, so st^^at m
dieses ebenso ab, wie ein Aether -Atom, gleichviel, wie groHB die
Kraft, mit welcher das Körper- Atom das Aether- Atom abstösät, im
Verhältnisse zur abstossenden Kraft eines Aether- Atomes auch sei;
natürlich ist die totale gegenseitige Abstossung die Bumme
beider Kräfte. Wenn aber die Grösse der abstossenden Kral^ des
Körper-Atomes für die abstossende Kraft des Aether- Atomes gleich*
gültig ist, so muss es ihr auch gleichgültig sein, wenn dieae Kraft
=* 0 wird, oder wenn sie negativ, d. h. zur Anziehung wird,
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immer yorauBgesetzt, dass die GesammtabBtossung beider die 8nmme
der Einzelkräfte ist. In letzterem Falle würde also das Gesammt-
resultat Abstossung bleiben, so lange die abstossende Kraft des
Aether-Atomes grösser ist, als die anziehende des Körper-Atomes, um-
gekehrt würde es Anziehung. Hiermit werden wir aber auf einmal die
unnatürliche Annahme zweier sich widersprechender Kräfte im Körper-
Atome los ; denn die Abstossung zwischen Aether- und Körper-Atinii
bleibt als solche für alle die Entfernungen bestehen, wo die Abstossimg
des ersteren stärker ist, als die Anziehung des letzteren, und das
Körper- Atom verhält sich gegen jedes andere Atom auf gleiche
Weise anziehend, ebenso wie sich das Aether- Atom gegen jedes
andere Atom auf gleiche Weise abstossend verhält. Baas aber in der
That nicht auf alle, sondern nur auf kleine und mittlere Ent-
fernungen sich Aether- und Körper-Atome abstossen, scheint mir
aus Folgendem hervorzugehen: Das materielle Weltgebäude iit
sowohl nach apriorischen Betrachtungen, als aus astronomischen
Gründen unbedingt für endlich zu halten; der Aether aber müsst»
sich in's Unendliche ausdehnen, wenn nicht eine Grenze käme, vo
die Anziehung der gesammten Körper -Atome die Abstossung der
gesammten Aether-Atome überwiegt; eine Eotation des Weltgebäodes
um eine oder mehrere Axen würde durch die Centrifngalkraft den
fortwährenden Abfiuss der Aether-Atome nur verstärken und selbst
bei der schlimmen Annahme einer unendlichen Anzahl von Aether-
Atomen auf eine endliche Anzahl von Körper- Atomen würde der
fortwährende Abfluss der Aether-Atome in den unendlichen Baum
eine fortwährend zunehmende Verdünnung des Aethers im Welt-
gebäude herbeiführen, wofür Nichts zu sprechen scheint.
Sind wir dem zufolge durch die Endlichkeit des materiellen
Weltgebäudes genöthigt, eine endliche bestimmte Entfemimg
anzunehmen, wo die Abstossung des Aether-Atomes auf das Körper-
Atom gleich der Anziehung des Körper- Atomes auf das Aether-
Atom ist, so folgt daraus unmittelbar das, was wir brauchen, dass
nämlich auf kleinere Entfernungen die Abstossung die Anziehung
überwiegen muss, da die Abstossung des Aether-Atomes viel
schneller mit Yerminderung der Entfernung abnimmt, als die An-
ziehung des Körper-Atomes. Wie man also auch die Sache betrach-
ten mag, in jeder Beziehung empfiehlt sich die einfachste Annahme
am meisten, dass das Körper- Atom nur Anziehungskraft^ das Aether^
Atom nur Abstossungskraft hat, die sich gegen beide Gattux^en
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Ton Atomen gleiohmäBsig äussert. In einer bestimmten Ent-
fernung (welche offenbar nach der Grösse der beabsichtigten Welt
bestimmt worden sein mnss) sind beide sich gleich, das verschie-
dene Gesetz ihrer Aenderung mit der Entfernung lässt auf grössere
Entfernungen die Anziehung, auf kleinere die Abstossung zuneh-
mend überwiegen. In den Entfernungen, wie sie zwischen den
Molecülen eines Körpers bestehen, muss daher die Abstossung schon
in ungeheuerem Uebergewicht sein; dies ist aber auch nöthig,
da die Aether- Atome innerhalb der Körper noch sparsamer
■tehen, als im leeren Baume, und trotzdem genügen müssen,
um der gegenseitigen Anziehung der so dichtgedrängten Körper-
molecüle das Gleichgewicht zu halten.
Da, wenn man nicht in den Widerspruch einer als solchen
fertig dastehenden, d. h. vollendeten Unendlichkeit gerathen
will, die Anzahl der Aether -Atome wie die der Körper -Atome
endlich sein muss, so haben wir gar keinen Grund, anzunehmen,
dass beide verschieden seien; wir dürfen sie im Gegentheil eher
für. gleich halten, da, was die Aether- Atome an grösserer Yerbrei-
tong durch den Baum zu gewinnen scheinen^ die Körper-Atome an
Dichtigkeit der Zusammendrängung ersetzen. Wir haben dann auf
jedes Körper-Atom ein Aether-Atom, die sich, abgesehen
von dem Gesetze ihrer Kraftänderung mit der Entfernung, nur
durch die positive und negative Richtung ihrer Kraft unter-
scheiden. Dächte man sich je ein Körper-Atom und je ein Aether-
Atom verschmolzen, so würde plötzlich alle Kraft aus der Welt
verschwinden, denn die Gegensätze hätten sich neutralisirt.
So sehen wir hier das Auseinandergehen in einen polarischen
Dualismus als das die materielle Welt erzeagende Frincip.
Fragen wir weiter ^ was wir unter der Masse eines Körpers
zu verstehen haben. Zunächst misst man die Masse nach dem
Gewichte; sobald aber die Wissenschaft bis zur Annahme des
Aethers gekommen ist, der, weil er keine Anziehung hat, auch kein
Gewicht haben kann, so muss man etwas Anderes statt des Gewich-
tes ZI^n Maasse der Masse nehmen, und zwar IJtwas, das Aether
und Körper gemeinschaftlich ist; als solches bietet sich nur
das Beharrungsvermögen. Wenn man nun auch an diesem
die Masse messen kann, so giebt es doch keinen Begriff der
Masse, wenn man sich nicht damit begnügen will, sie als das
ujnbekannte Substrat gleicher Beharrungskräfte zu
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t
fassen. Damit begnügt sich aber gewiss Niemand in CManken. —
Die Naturwissenschaft erklärt die Masse als das Product ans
Yolamen und Dichtigkeit, and dies führt allerdings auf die
Art, wie jedes unbefangene Vorstellen den Begriff der Masse eifasst,
vorausgesetzt nämlich, dass man bei der Erklärung von Dich-
tigkeit den Girkel vermeidet, und nicht wieder den Begrif der
Masse benutzt. Dann ist nämlich Dichtigkeit nur noch zu tsissen
als die Auseinanderstellung gleichwerthiger Theil-
chen; bleibt nun das Product des Volumens und der Dichtigkeit
unverändert, so ist klar, dass dies nur dadurch möglich ist, dasB
die Anzahl der gleichwerthigen Theilchen unTerändort
bleibt; wir können also Masse schlechthin als die Anzahl
gleichwerthiger Theilchen definiren, vorausgesetzt, dass wir
in allen zu vergleichenden Dingen die Theilung soweit fortsetze]),
bis wir überall auf gleich werthige Theilchen gekommen sini
Man sieht sofort, dass nur die Atome dieser Anforderung ge-
nügen; aber diese thun es auch wirklich, selbst die Aether- und
Körper-Atome sind als gleichwerthig zu betrachten, da jedes Aethe^
Atom jedes Körper-Atom gerade so abstösst, wie jedes Aether-Atom
und umgekehrt, mithin die Eeciprocität ihrer Kräfte, d.h.
ihr Beharrungsvermögen, gleich ist Wir haben also die
Masse eines Dinges nunmehr zu definiren als die Anzahl seiner
Atome, und haben hiermit erst den einzig möglichen, streng
wissenschaftlichen Ausdruck für das hingestellt, was jeder sich
klarer oder unklarer bei dem Worte Masse denkt. Hieraus geht
aber unmittelbar hervor, dass es keinen Sinn mehr hat, von der
Masse eines Atomes zu sprechen, denn man könnte sich das-
selbe nur nochmals in gleichwerthige Theile zerlegt denken, und
würde damit nicht weiter kommen, als man schon ist. Man kann
wohl von der Masse eines Molecüles reden, denn dieses besteht ja
eben aus Atomen; man kann also auch vergleichend sagen, ein
Körpermolecüle ist von sehr viel grösserer Masse, als ein Aethe^
Atom ; aber die Massen zweier Atome kann man nicht mehr ver-
gleichen, denn jedes von ihnen ist ja die Massen ei nheii Bs
wäre ferner denkbar, dass 7i Körper-Atome sich ohne zwischenge-
lagerte Aether -Atome zu Einem vereinigt hätten, so dass sie ucfa
nie mehr trennen können; dann würde ein Aether-Atom jedes
dieser vereinigten Atome mit einfacher, also den Complex mit
n -fache r Kraft abstossen, und der Complex hätte allerdings die
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fc,-
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Masse n ; aber eben darum wäre es falsch , ihn Ein Atom mit
fi-facher Masse nennen zu wollen; es bleibt, solange die Atome
als stoffliche, undurchdringliche Kugeln gedacht werden, immer ein
Complex von nAtomen. — üebrigens haben wir gar keine Ver-
anlassung, an die wirkliche Existenz solcher unmittelbaren Ter*
Schmelzungen von Körper -Atomen zu glauben, denn es ist anzu-
nehmen, dass die Körper -Atome in dem Molecüle eines bis jet^t
als solchen betrachteten chemischen Elementes ebensowohl durch
Aether-Atome aus einander gehalten werden, wie die Molecüle der
chemischen Elemente in dem Molecüle ihrer chemischen Verbindung,
welches letztere dadurch bewiesen wird, dass sie sich durch Aether-
schwingungen (Wärme, Galvanismuß u. s. w.) wieder trennen lat^sen*
Auch können wir uns unbedenklich die Anzahl der in einem Elc-
mentarmolecüle vereinigten Körper- Atome sehr gross vorstellen, wenn
wir daran denken, dass in dem Molecüle einer höheren organischen
Verbindung oft Hunderte von Elementarmolecülen vereinigt mmA,
Das Resultat von alle dem ist, dass das Atom die Einheit ist,
aus der sich erst jede Masse zusammensetzt, wie sich aus der Eins
alle Zahlen zusammensetzen, dass es daher so wenig einen
Sinn hat, nach der Massengrösse eines Atomes, als
nach der Zahlengrösse der Eins zu fragen.
Wir kommen nun zu der letzten und schwierigsten FTagg:
ist das Atom sonst noch etwas als Kraft, hat das Atom Stotf^
und was ist bei diesem Worte zu denken ? — Erinnern wir uns zu-
nächst, wie wir zu den Atomen gekommen sind. Wir stossen uua
als Kind an den Kopf und fühlen den Schmerz, wir betasten die
Dinge und bekommen Gesichts- und sonstige Sinneseindrücke von
ihnen. Wir supponiren zu diesen instinctiv räumlich hinauaproji-
cirten Wahrnehmungen ebenso instinctiv Ursachen, welche wir
Gegenstände nennen. Diese supponirten Gegenstände, welche auf
nns einwirken, besonders aber Das, woran wir uns drauB??en
stoBsen, nennen wir Materie oder Stoff. Die Wissenschaft
bleibt bei dieser rohen, instinctiv sinnlichen und practisch aud^
reichenden Hypothese nicht stehen, sondern verfolgt die UrsaLlien
unserer Wahrnehmungen weiter und untersucht sie genauer, 6ie
zeigt uns, dass die Gesichtswahrnehmungen durch Aetherschwin-
gungen, die Gehörwahmehmungen durch Luftschwingungen, die Ge~
ruchs- und Geschmackswahmehmungen durch chemische Schwingun-
gen in unseren Sinnesorganen erregt werden, dass also alle diese
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Wahrnehmungen keineswegs einen Stoff , sotidem eine Bewegimg
betreffen, zu deren Erklärung sie wiederum Kräfte sapponiren
muBs, welche sich letzten Endes als Aeusserungen von combi-
nirten Molecular- und Atomkräften ausweisen. Sie zeigt uns femer,
dass die Grundlage aller unserer Tastwahmehmungen, die sogenannte
TJndurchdringlichkeit des Stoffes, oder der Widerstand, den
er fremden Körpern beim Versuche einer gewisse Grenzen über-
schreitenden Annäherung entgegensetzt, Resultat der Abstos-
sung der Aeth er- Atome sei, welche auf unendlich kleine
Entfernungen unendlich viel grösser als die anziehende Kraft der
Körper-Atome wird, dass aber eine directe Berührung der Atome,
also eine nicht als Folge der Kraft sich ergebende, sondeni
dem Stoffe als solchem inhärirende Undurchdringliohkeit
überhaupt nirgends yorkommt. Alle Erklärungen, welche die
Naturwissenschaft giebt oder zu geben versucht, stützen sich axd
Kräfte; der Stoff oder die Materie bleibt dabei höchstens als ein
im Hintergrunde müssig lauerndes Gespenst bestehen, das aber
immer nur an den dunkelen Stellen sich zu behaupten vermag^
wo das Licht der Erkenntniss noch nicht hingedrungen ist; je
weiter die Erkenntniss, d. b. die Erklärung der Erscheinungen, ihr
licht verbreitet, desto mehr zieht sich im historischen Verlaufe
der Stoff zurück, der in der naiv sinnlichen Anschauung noch den
ganzen äusseren Eaum der WcJimehmung einnimmt.
Niemals aber, soweit die Naturwissenschaft reicht, oder reichea
wird^ kann sie etwas Anderes als Kräfte zu ihren Erklamngen
brauchen; wo sie dagegen heutzutage das Wort Stoff braucht,
versteht sie darunter, wie unter Materie, nur ein System von
Atomkräften, ein Dynamidensystem , und braucht die Worte
Stoff und Materie nur als un-entb ehrliche Summenzeichen
oder Formeln für diese Systeme von Kräften.
Da nun naturwissenschaftliche Hypothesen sich niemals weiter
erstrecken dürfen, als ein Erklärungsbedürfniss es fordert»
der Begriff Stoff aber gar keinem naturwissenschaftlichen Erklärang»-
bedürfnisse dient tmd dienen kann, so folgt daraus, dass ein Begriff
Stoff, der etwas Anderes als Kräftesystem bedeutet, in der
Naturwissenschaft keine Berechtigung und keinen Platz hat,
da sie ja eben selbst alles Das, was die sinnliche Auffassung Wir-
kungen des Stoffes nennt, als Wirkungen von Kräften nach-
gewiesen hat. — Allerdings ist nichts schwerer, als sich von des
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sinnlioh unmittelbaren VorBtellungen los zu machen, welche man
gleichsam mit der Muttermilch eingesogen hat, welche man als
erste rohe, aber practisch genügende Hypothese instinctiT
erfasst hat, und die durch die Gewohnheit eines Lebens mit
£mem yerwachsen sind. Schon dazu gehört Fleiss, Buhe, Klar-
heit und Kraft des Denkens, die aus der Sinnlichkeit entspringen-
den und die übrigen Vorurtheüe des Denkens als solche zu er-
kennen; noch mehr Muth gehört dazu, mit dem einmal üeber-
wondenen in allen seinen Consequenzen rücksichtslos zu
brechen; aber selbst wenn man Alles dies erreicht hat, so gehört
noch eine fast übermenschliche Energie des Verstandes und Cha-
racters dazu, sich nicht doch wieder yon dem schon abgethan
Geglaubten überrumpeln oder mindestens heimlich beeinflussen
zu lassen; denn keine Au^be ist schwerer als die, sich nur eine
Tolle, negatiye Freiheit des Denkens zu erringen. Gerade weil die
ans der Sinnlichkeit entspringenden Yorurtheile nicht bewusste
Schlüsse des Verstandes, sondern instinctiye, practisch zureichende
Eingebungen sind, sind sie so schwer durch bewusstes Denken zu
yemichten und zu beseitigen. Man mag sich tausendmal sagen,
dass der Mond am Horizonte dieselbe WinkelgrÖsse, also dieselbe
scheinbare Grösse hat, wie oben am Himmel, dass es ein Irrthum
des Verstandes ist, ihn oben am Himmel für kleiner aussehend zu
halten, als unten am Eande, derselbe Irrthum, der uns das Him-
melsgewölbe nicht als Halbkugel, sondern als flachen Kugelabschnitt
erscheinen lasst, das Alles kann Einen nicht dazu bringen, den Mond
in beiden Fällen gleich gross zu sehen, eben weil trotz der besseren
bewussten Erkenntniss die instinctiye Annahme sich behauptet.
Ein solches aus der Sinnlichkeit stammendes instinc-
tiyes Vorurtheil ist auch der Stoff. Kein Naturforscher hat
in seiner Wissenschaft mit dem Stoffe etwas zu thun, ausser inso-
fern er ihn in Kräfte zerlegt, wobei sich also die schein-
baren Stoffwirkungen als Kraftwirkungen herausstellen, d. h. der
Stoff mehr und mehr in Kraft aufgelöst wird; dennoch ^rd man
selbst heutzutage noch wenige Naturforscher finden, die die letzte
Consequenz ihrer eigenen Wissenschaft zugeben würden, dass der
Stoff nichts als ein System yon Kräften ist; und der Grund hier-
von Hegt rein im sizmlichen Vorurtheil. Man yergisst, dass wir doch
denStoff so wenig unmittelbar wahrnehmen, wie die Atome,
sondern nur seinen Druck, Stoss, Schwingungen u. s. w., dass also
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der Stoff doch auch bloss eine Hypothese ist, die sich erst vor
dem Tribunal der Naturwissenschaft zu rechtfertigen hat, aber
eben diese Eechtfertigung nicht bloss ewig schuldig bleibt,
sondern statt dessen bei jedem in irgend welcher Eichtung ange-
stellten Verhöre in Kräfte verduftet; man vergisst dies, weil man sich
dabei fTufUUig am Ellbogen stösst, und die instinctire Sinnlichkeit
auf t^inmal „Stoff*' in dies Baisonnement hineinschreit. — Geht maa
noB einem solchen Vorurtheil einmal ernstlich zu Leibe, so sacht
e^ Mch mit Sophismen zu behaupten; der Naturforscher vergisst
die E^eln seiner Methode und rückt sogar mit apriorischen Gran-
den vor, um nur sein liebes Vorurtheil zu retten.
Da heisst es zunächst: „Ich kann mir keine Kraft ohne
Stoff denken, die Kraft muss ein Substrat haben, an welchem,
und ein Object, auf welches sie wirkt, und eben dies ist der
Stoff*; Kraft ohne Stoff ist ein Unding." — Gehen wir auch anf
die apriorische Seite der Betrachtung ein, nachdem wir erkannt
h^ben, dass von empirischer Seite die Hypothese eines Stoffe«
keine Berechtigung hat.
Zunächst kann man behaupten, dass der Mensch so organisiit
ist, dass er Alles denken kann, was sich nicht widerspricht^
d. h. dass er jede in Worten gegebene Verbindung von Begriffen
vollziehen kann, vorausgesetzt, dass die Bedeutung der Begriffe
ihm klar und präcis gegeben ist, und die verlangte Ver-
knüpfung keinen Widerspruch enthält. Obige Behaoptnng
sai]^: „Kraft lässt sich nicht in selbstständiger realer Existeni,
sondern nur in unlöslicher Verbindung mit Stoff denken^. Kraft
ist ein deutlicher Begriff, selbstständige reale Existenz ebenfalls,
abo muss jeder gesunde Verstand die Verbindung beider Begriffe
vollziehen können, wenn nicht diese Verbindung einen Wider-
Bprtiüh in sich trägt. Letzteres zu beweisen, dürfte wohl schwer
fallyn, folglich ist der erste negative Theil der Behauptung falsch.
Wohlverstanden handelt es sich hier nur darum, ob die Verbindung
denkbar sei, nicht ob sie real exi stire; sonst wäre eben die
Betrachtung nicht mehr apriorisch. — Der zweite positive Theil
deB Satzes behauptet, „dass Kraft in Verbindung mit Stoff zu
denken sei". Dieser Theil ist eben so falsch; man kann die Ve^
bindung von Kraft und Stoff nicht denken, weil man den Stoff
nickt denken kann, denn diesem Worte fehlt jeder
Begriff. Gehen wir die verschiedenen Bedeutungen durch, die
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man möglicherweiBe dem Worte zuschreiben könnte. Die
sinnliche Bedeutung ist zwar ganz bestimmt: Ursache des ge-
fühlten Widerstandes, aber er löst sich in repulsive Atom-
Kräfte auf, kann also nicht dem Begriffe Kraft gegenüber-
gestellt werden. Der Begriff Masse, der schiefer Weise dem
Begriffe 8toff untergeschoben werden könnte, ist weiter oben in
Atomkräfte zerlegt worden, von ihm gilt also dasselbe; seine
Yerwechselung mit Stoff ist obenein nur in Bezug auf die grob-
sinnliche Bedeutung von Stoff vermittelst des Begriffes der Dichtig-
keit möglich. Der physikalische Begriff der Undurchdringlich-
keit ist ebenfalls in die auf unendlich kleine Entfernungen
unendlich grosse Abstossungskraft der Aether- Atome aufgelöst,
und kommt ausserdem nur den repulsiven Aether- Atomen und den
Körpern, d. h. Dynamidensystcmen , vermöge der in ihnen enthalte-
nen Aether- Atome zu, nicht aber den attractiven Körper- Atomen,
da nicht einzusehen wäre, warum nicht zwischen zwei Körper-
Atomen, die nicht durch Aether- Atome auseinandergehalten werden,
in der That eine voUkonmiene Durchdringung und Yerschmel-
zong statthaben sollte.
Endlich bliebe noch die Bedeutung übrig: „Substrat der
Kraft ''; indess muss ich zu meinem Bedauern gestehen, dass ich
mir hier bei Substrat so wenig etwas zu denken vermag, wie bei Stoff.
Schon Schelling sagt (System des transcend. Idealism. S. 317 — 318,
Werke I. 3, S. 529 — 53ü): „Wer sagt, dasa er sich kein Handeln
ohne Substrat zu denken vetmöge, gesteht eben dadurch, dass jenes
vermeintliche Substrat des Denkens selbst ein blossesProduct
leiner Einbildungskraft, also wiederum nur sein eigenes
Benken sei, das er auf diese Art in's Unendliche zurück als selbst-
ständig vorauszusetzen gezwungen ist. Es ist eine blosse
Täuschung der Einbildungskraft, dass, nachdem man
einem Object die einzigen Prädicate, die es hat, hinweg-
genommen hat, noch etwas, man weiss nicht was, von ihm zu-
rückbliebe. So wird z. B. Niemand sagen, die Undurchdring-
lichkeit sei der Materie eingepflanzt, denn die Undurchdringlichkeit
ist die Materie selbst" (was freilich nur die Hälfte der Wahrheit
ißt). Substrat bedeutet manchmal dasselbe wie Subject, man wird
«tber doch nicht behaupten wollen, dass der todte Stoff etwas Sub-
jectiveres sei, als die Kraft. Manchmal bedeutet Substrat „das zu
Orunde Liegende", d.h. ein c aus al es Moment; davon kann hier
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noch weniger die Bede sein. Gewöhnlich bedeutet es Unterlage,
schlechtweg in sinnlicher Bedeutung des Wortes; das Grobsumliche
muss aber hier ausgeschlossen bleiben, damit sind wir schon f^tig.
Kurz und gut, man kann sich hier bei Substrat gar nichts daiken.
Aber selbst wenn dies möglich wäre, blieben die Vertheidiger d»
Stoffes immer noch den Beweis der Berechtigung ihrer
Hypothese eines Substrates der Kraft schuldig; denn ich kann
das Bedürfniss einer Hypothese noch hinter der Kraft nicht
einsehen, da ich behaupte, dass man die Kraft ganz gut selbst^
ständig existirend denken kann. Kurz und gut, Stoff ist ein f&r
die Wissenschaft leeres Wort, denn man kann keine einiige
Eigenschaft angeben, welche denf damit bezeichneten Begriffe
zukommen soll; es ist eben ein Wort ohne Begriff, wenn es
nicht mit dem eines ,, Systems von Kräften" sich b^;nägt, wofür
wir lieber „Materie** setzen. Demnach steht fest, dass die, welche
behaupten, die Kraft nicht selbstständig denken zu können, sie in
Verbindung mit dem Stoffe erst recht nicht denken können.
Femer wird behauptet, ,,die Kraft müsse ein Object haben,
auf welches sie wirkt, sonst könne sie nicht wirken". Dies iat
unbedingt zuzugeben, nur das ist zu bestreiten, dass dieses Object
der Stoff sein müsse. „Die Kraft jedes Atomes hat andere
Atome zu ihrem Objecto'*, das ist Alles, was die naturwissenschaft-
liche Hypothese verlangt; was an den Atomen dasjenige sei, was
als Object dient, darum kümmert sich die Naturwissenschaft
gar nicht; wir aber haben zu constatiren, dass wir bis jetzt am
Atom nur die Kraft kennen, dass nichts im Wege steht, die
Kraft als dasjenige am Atom zu betrachten, was der Kraft de»
anderen Atomes als Object dient, dass also schon aus diesem
Grunde jede Veranlassung fehlt, eine neue Hypothese des Stoffes
aufzustellen. Dazu kommt noch die Analogie der geistigen Kräfte^
welche ebenfSalls einander zu Objeeten haben, z.B. die ^Is Motir
wirkende Vorstellung hat den Willen als Object, der Wille hat
wieder die Vorstellung als Object u. s. f. Schon die reine Gegen-
seitigkeit in der Beziehung der Atomkräfte auf einander sollte Tor
der Annahme eines anderen Objectes als der Kraft selbst warnen.
Nehmen wir aber nun wirklich einen Augenblick an, die Atome
beständen ausser der Kraft auch noch aus Stoff, und betrachten,
welche Schwierigkeiten für die Vorstellung beim Aufeinanderwirkwi
zweier Atome A und B dadurch entstehen, und wie man die eine
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unberechtigte und überflüssige Annahme stets duroh neue, ebenso
willkürliehe stützen mnss. Die KxB,ft yon A soll wirken auf den
8toff von B und umgekehrt , dadurch nahem sich die Stoffe von
A und B, während die Kräfte ausser jeder Beziehung zu
einander stehen, was man doch yon vornherein gerade umge-
kehrt erwarten sollte, da die Kraft es ist, welche in die Ferne
wirkt, aber nicht der Stof^ da Kraft und Kraft gleichartiger,
Kraft und Stoff aber ungleichartiger Natur sind. Die Stoffe
von A und B nähern sich also in Folge der momentcmen Anziehung
der gegenseitigen Kräfte. Was folgt daraus? Offenbar, dass Kraft
und Stoff jedes Atomes sich trennen müssen, denn der Stoff wird
durch die fremde Kraft veranlasst, seinen Platz zu ändern, die
Kraft aber nicht. Soll nun dennoch Kraft und Stoff jedes Atomes
beisammen bleiben, und dennoch die Kraft nicht durch die
Kraft des fremden Atomes direct zur Ortsveränderung genöthigt
werden können, so folgt mit logischer Nothwendig^eit , dass die
Kraft von A durch den Stoff von A zur Ortsveränderung genöthigt
werden muss. Damit ist dem Stoffe aber Wirken, also A et i v i -
tat zugeschrieben, während er im Allgemeinen gerade die absolute
Passivität gegenüber der Activität der Kraft vertreten
soll. Die Art und Weise dieses Wirkens ist aber völlig un-
begreiflich, denn wenn der Stoff activ wirkend wird, 90
wird er ja schon wieder Kraft. Anstatt dass also die Kraft A,
wie natürlich wäre, die Kraft B zu sich heranzieht, bewegt sie den
Stoff von B, und der Stoff von B bewegt erst die Kraft von B.
Wie Kraft an Stoff „gebunden" sein soll, was der Liebliogs-
aofidrack der Anhänger des Stoffes ist, dabei muss ich gestehen, kann
ich mir gar nichts denken. Auch möchte es denselben schwer
Men, Folgendes zu beantworten: Soll man sich die Kraft an den
Hittelpunct des stofflichen Atomes gebunden denken, oder auf den
ganzen Stoff desselben gleichmässig vertheilt? Denn ein stoffliches
Atom muss doch eine gewisse Grösse haben!
Erstere Annahme umgeht die mit der anderen verknüpften
Bchwierigkeiten allerdings, aber dann ist die Kraft eigentlich nicht
mehr an den Stoff gebunden, sondern an einen mathema-
tischen Punct, der doch unmöglich stofflich sein kann,
uid der nur zufällig mit dem Mittelpuncte einer stofflichen Kugel
zusammenfallt; dann ist das Wirken des Stoffes auf die Bewegung
der Kraft erst recht nicht zu begreifen, vielmehr die stoffliche
T. Hartnumi, Phil. d. ünbevnusten . 27
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Kugel ein fiinfteB Rad am Wagen, da nur der Pnnct, das ideelle
Centrum derselben zur Sprache kommt. Bei der zweiten Annahme
sind £e Schwierigkeiten jedoch noch weit grösser, denn dann wirkt
ja von jedem Puncto des stofflichen Atomes ein Theil der
Kraft und jeder dieser Puncto hat eine andere Entfernung Ton dem
Atome , auf welches gewirkt wird. Es ist dann erst von allen
diesen Partialkxäften die Eesultante zu nehmen, deren AngrifQspnnct
nun heim Wirken auf endliche Entfernungen keineswegs mebi in
den Mittelpunct der stofflichen Atomkugel fallt, sondern nach jeder
Richtung des Wirkens ei^ anderer wird. Zu dieser Betrachtong
aber muss man sich offenbar das Atom in unendlich viele Th^e
zerlegt denken, deren jeder mit dem unendlichsten Theile der Kraft
behaftet ist. Mag man sich solch ein Atomtheilchen so klein
denken, als man will, so ist es doch immer noch Stoff und noch
kein mathematischer Punct, also kann die Verbindung desselben
mit der Kraft doch wieder nur begriffen werden, indem man die
Kraft gleichmässig innerhalb desselben vertheilt denkt; so ist man
abermals zur un^idlichen Theilung gezwungen u. s. f., d. h. man
muss das stoffliche Atom unendlich mal in's üendliche theilen, und
kommt trotz alledem doch niemals dazu, zu begreifen, wie die
Kraft an den Stoff vertheilt ist, da man die Aeusserung der ein-
fachen Kraft schlechterdings nur auf den mathematischen
Punct bezogen denken kann, und dieser wieder nicht mehr
stofflich ist (Dies haben die bedeutendsten Physiker und Mathe-
matiker^ wie Ampfere, Cauchy, W. Weber u. a. m., anerkannt, und
deshalb zugegeben, dass die' Atome als absolut ausdehnungsloß
gedacht werden miissten.)
Betrachten wir dagegen, wie sich die Sache ohne Stoff stellt
Wir haben nichts zu thun, als die Vorstellung über Atomkraft fest-
zuhalten, welche auch die Vertheidiger des Stoffes haben, dass sie
die letzte unbekaunte Ursache der Bewegung ist, deren Wirkuugs-
richtungen rückwärts verlängert, sich sämmtlich in einem mathe-
matischen Puncto schneiden. Selbst wer die Atomkraft auf den
ganzen Stoff des Atomes gleichmässig vertheilt annimmt» kann, wie
gesagt, sich dieser Anschauungsweise nicht entziehen, denn er muss
die Gesammtkraft des Atomes als Resultante einer unendlichen
Masse punctueller Kräfte innerhalb des Atomes auffassen, wie wider-
spruchsvoll auch diese Anforderung ist
Femer nehmen auch die Vertheidiger des Stoffes die Mög-
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liohkeit einer relatiTen Ortsyeränderung dieses
Panctes an, in welchem sich die Bichtnngen der KraftäusBenin-
gen schneiden. Wir lassen yorläofig die Frage nnerörtert, ob die
Kraft als solche, abgesehen von ihren Aeusseningen, etwas ist» dem
man Bänmliohkeit oder einen Ort im Eaume beilegen kann; w6nn
sie einen Ort hat, so ist es jedenüalls dieser Burchschnitts-
pnnct, und wir nennen deshalb vorläufig diesen den Sitz der
Kraft. Wir nehmen femer an, dass die Atomkräfte sich gegensei-
tig als Objecte dienen, d. h. dass die gegenseitige Anziehung von
A und B die Ortsyeränderung des Sitzes der Kräfte bewirkt, in
dem Sinne, dass dieselben sich einander nähern; bei Abstossung
sich entfernen. Ich sehe nicht, wo man hier Schwierigkeiten finden
könnte. Die Kräfte wirken nach naturwissenschaftlicher Annahme
in die Feme, und sind gleichartiger Natur, warum sollen sie nicht
auf einander wirken, wenn man doch bisher eine Wirkung der
Kraft auf den ihr heterogenen Stofif und eine Wirkung des todten
Stoffes auf die ihm heterogene Kraft zugegeben hat? Wir brauchen
nur Annahmen, die bisher schon da waren, streichen yon den frühe-
ren mehrere als überflüssig und ungerechtfertigt weg, kommen
trotzdem nicht nur ebenso gut, sondern um Vieles einfacher und
plausibler zum Ziele, und yermeiden alle Schwierigkeiten, die sich
im Gefolge jener nutzlosen Annahmen einstellten. Rechnen wir
dazu, dass jene Annahmen auf einem leeren Worte ohne jeden
Begriff beruhen, so wird der aus der Vereinfachung der Frinci-
pien heryorgehende Gewinn nicht gering angeschlagen werden dürfen.
Dazu kommt noch als Feuerprobe, dass unsere nunmehrige
Auffusung der Materie die beiden bisher getrennten Parteien der
Atomisten und Dynamisten in sich aufhebt, da sie aus dem
Umschlag des Atomismus in Dynamismus entstanden ist,
alle bisherigen Vorzüge des Atomismus, die ihm seine ausscfaliess-
lidie Geltung in der heutigen Naturwissenschaft gesichert haben,
imangetastet beibehält, ihn yon allen nur zu berechtigten Vor-
würfen der Dynamisten reinigt^ und das Grundprincip des
Dynamismus, die Lenkung des Stoffes, auf einem neuen, yiel gründ-
licheren Wege aus sich gebiert. Wir können diese Auffassung
daher mit Recht atomistischen Dynamismus nennen. Der
l^ynamismus in seiner bisherigen Gestalt konnte, abgesehen yon dem
Hangel einer .empirischen Begründung^ schon darum niemals yon
der Naturwissenschaft acceptirt werden, weil seine Formlosigkeit
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jeden Bechnungsansatz unmöglich machte. Wenn Kräfte räamlich
wirken sollen, so müssen sie znnächst ihre Wirkungen räamlich
hestdmmen, also dieselben auf bestimmte Ansgangspnncte beziehen;
hiermit ist unmittelbar der Pnnct als Ausgangspunct der materiel-
len Kraft gegebep, daher musste auch der Dynamismus, sobald er
sich formell näher zu bestimmen suchte, nothwendig aus sich in
Atomismus umschlagen, denn er gewann eben erst dann eine greif*
bare Gestalt, wenn er das Spiel entgegengesetster Kräfte auf
Kraftindividuen, d.h. Atome, bezog; diesen Standpunct rer-
tritt schon Leibniz in einer ziemlich ausgesprochenen Weise. „U
riy a qae les points mStaphi/siques^ ou de suhatance^ q^
soieni exactea et rieh. — II riy a que les atomes de substancif
c^est h dire^ les unitis rSelles et absolumerU dSstituSea de pariksy
qui soient les sources des actions et les premiers principes
ahsolus de la composüion de choses^ et comme les demiers äi-
mens de JJanalyse des substances.*' — (Systeme nouoeau de la
naiure, No, IL) Leibniz begreift die „Substanz" durchaus nnr
als Kraft, und die Kraft ist ihm die einzige und wahre Substanx,
vgl. de 'primae pkilosophiae emendatione ^ de notione substcmtiae;
dass er dies thut , und mit dem Begriff der Kraft implidte den
Begriff des Willens in die Substanz hineinlegt, ist sein hauptsäch-
licher metaphysischer Fortschritt gegen Spinoza. Freilich war da-
mals die Naturwissenschaft noch zu weit zurück, als dass er sich
mit ihr in wirksame Verknüpfung hätte setzen können. Yiel
näher hätte dies Schelling gelegen, der sich ganz entschieden za
einer dynamischen Atomistik bekennt, aber principiell seine Be-
hauptungen apriorisch deducirt, weshalb auch seine Anschauungs-
weise auf die Naturwissenschaft keinen Einfluss hat gewinnen
können. Er sagt (Werke L, 3, S. 23):
„Was untheilbar ist, kann nicht Materie sein, so wie umge-
kehrt, es muss also jenseits der Materie liegen; aber jenseits der
Materie ist die reine Intensität — und dieser Begriff der
reinen Intensität ist ausgedrückt durch den B^riff der Action." —
(S. 22): „Die ursprünglichen Actionen aber sind nicht selbst im
Kaum, sie können nicht als Theil der Materie angesehen wer-
den. Unsere Behauptung kann sonach Princip der dynamischen
Atomistik heissen. Denn jede ursprüngliche Action ist für uns,
ebenso wie der Atom für den CJorpuscularphilosophen, wahrhaft in-
dividuell, jede ist in sich selbst ganz und beschlossen, und stellt
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gkichBam eine Naturmonade yor.^ (S. 24): ,^m Baum aber ist
nur ihre Wirkung dar8tellbar> die Action selbst ist eher als der
Baam^ eatensione prior/' —
Wenn so einerseits der Dynamismus, selbst wo er zu ato-
mistisoher Individualisation der Kraft gelangte, nicht im Stande
war y sich als etwas empirisch Berechtigtes auszuweisen , so
konnte andererseits der Atomismus sich zu keiner Zeit gegen den
Vorwurf der logischen Widersprüche genügend vertheidigen, wel-
cher Yon jeher gegen seine stofflichen Atome geltend ge-
macht worden ist; wenn trotzdem die Naturwissenschaft sich mit
immer wachsender Entschiedenheit zu ihm hingewandt hat, so
beweist dies doch wohl gewiss eine starke innere Nöthigung>
mit welcher trotz des anerkannten Widerspruches die Gewalt der
Thatsachen den Naturforscher immer und immer wieder zur ato-
mistischen Erklärung hindrängte. Der atomistische Dynamismus
leistet allen Anforderungen G^üge, indem er die positiven Prin-
cipien beider Seiten in sich yereint.
Becapituliren wir noch einmal kurz» diese Principien, so lauten
sie : Es giebt gleich viel positive und negative, d. i. anziehende und ab-
stossende Ejräfte. Die Wirkungsriohtungen jeder Kraft schneiden sich
in einem mathematischen Punct, welchen wir den Sitz der Kraft nen-
nen. Dieser Sitz der Kraft ist beweglich. Jede Kraft wirkt auf jede an-
dere auf dieselbe Weise, gleich viel, welches Vorzeichen dieselbe hat.
Die positive Kraft heisst Körper- Atom, die negative Aether-Atom.
Auf eine gewisse endliche Entfernung ist die Abstossung eines
Aether-Atoms und die Anziehung eines Körper- Atoms einander gleich,
aber da das Gesetz ihrer Veränderung mit der Entfernung ver-
schieden ist^ überwiegt zwischen Aether- und Körper- Atom auf klei-
nere Entfernungen die Abstossung, auf grössere die Anziehung. Kör-
per-Atome mit zwischengelagerten, sie auseinander haltenden Aether-
Atomen vereinigen sich zu den Molecülen der chemischen Elemente,
diese auf dieselbe Weise zu den Molecülen der chemisch zusam-
mengesetzten Körper, diese zu den materiellen Körpern selbst.
Die Materie ist also ein System von atomistischen Kräften in einem
gewissen Gleichgewichtszustande. Aus diesen Atomkräften in den
verschiedenartigsten Combinationen und Beactionen entstehen alle
Bogenannten Kräfte der Materie, wie Gravitation, Schwere, Expan-
sion, Elasticität, Krystallisation , Electricität, Galvanismus, Magne-
tismus, chemische Verwandtschaft, Wärme, Licht u« s. w.; nirgends,
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so lange wir un0 im unorganischen Gebiete bewegen, branolieti vir
andere als die Atomkräfte zu Hülfe zu rufen.
Wir haben somit gesehen, dass Ton den beiden materialisti-
sehen Principien Kraft und Stoff das letztere unter d^ Hand in
das erstere zerflossen und aufgegangen ist, und wissen jetzt genat,
was wir unter der Kraft zu verstehen haben, nämlich einen an-
ziehenden oder abstossenden y positiv oder negativ wirkoiden
Kraft punct. Jetzt ist der Begriff der Kraft so präcisirt, dass
wir unmittelbar auf denselben losgehen können, ohne bei der Un-
tersuchung befürchten zu müssen, dass wir den Begriff anders ge-
fasst haben, als die Naturwissenschaft und der Materialismus ihn
meint. Sehen wir zu, als was dieser Begriff sieh ausweist.
Die anziehende Atomkraft strebt jedes andere Atom sieh
näher zu bringen; das Resultat dieses Strebens ist die Ausföhrong
oder Verwirklichung der Annäherung. Wir haben also in der
Kraft zu unterscheiden das Streben selbst als reinen Aotos,
und das, was erstrebt wird, als Ziel, Inhalt oder Objeot
des Strebens. Das Streben liegt vor der Ausführung; insoweit die
Ausführung schon gesetzt ist, insoweit ist das Streben ver-
wirklicht, ist also nicht mehr; nur das noch zu verwirk-
lichende, also noch nicht verwirklichte Streben ist. Mithin
kann die resultirende Bewegung nicht als Realität in dem Stre-
ben enthalten sein, da beide in getrennten Zeiten liegen. Wäre
sie aber gar nicht in dem Streben enthalten, so hätte dieees
keinen Grund, warum es Anziehung und nicht irgend etwas
Anderes, z. B. Abstossung erzeugen sollte, warum es sich nach diesem
und nicht nach jenem Gesetze mit der Entfernung ändert, es ivüte
dann leeres, rein formelles Streben ohne bestimmtes Ziel
oder Inhalt, es müsste also ziellos und inhaltslos und dem
zufolge resultatlos bleiben, was der Erfahrung widerspriefat
Die Erfahrung zeigt vielmehr, dass ein Atom nicht auf sn-
fällige Weise bald anzieht, bald abstosst, sondern in dem Ziele
seines Strebens völlig consequent und immer sich selbst ^eieh
bleibt. Es bleibt mithin nichts übrig, als dass das Strebe ^er
Anziehungskraft die Annäherung und das Gesetz der Aendenmg
nach der Entfernung in sich enthält, und dennoch nieht
als Realität in sich enthält.
Diese Anforderungen sind nur zu vereinigen, wenn es dasselbe
als einen der Realität gleichenden Schein, gleicdisam als
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Bild besitzt, d.h. aber, wenn es dasselbe ideell oder als Vorstel-
lung besitart. Ich wüsste wenigstens nicht, was sonst noch für Er-
focdemisse zum Ideellen gehören könnten, als dass es dasselbe ist,
wie das Beale, aber ohne Kealität» so wie umgekehrt die Bealität an
den Bingen das Einzige an denselben ist» was ni cht durch das Ben-
ken gescha£fän werden kann, was über ihren ideellen Inhalt hinaus-
geht. (Vgl. SchelUng's Werke, Abth. I. Bd. 3,8. 364, Z. 13—14.) Nur
wenn in dem Streben der Atomkraft das „Was" des Strebens ideell
Torgezeiohnet ist, nur dann ist überhaupt eine Bestimmtheit
des Strebens gegeben, nur dann ist ein Resultat des Strebens,
nur dann jene Consequenz möglich, die m demselben Kraftiüdivi-
duum stets dasselbe Ziel des Strebens festhält. Selbstverständlich
wird man hier nur an unbewusste Vorstellung zu denken haben. —
Was ist denn nun aber das Streben der Kraft anders
als Wille, jenes Streben, dessen Inhalt oder Object die un-
bewusste Vorstellung dessen bildet, was erstrebt wird? Man
vergleiche nur Cap. A. IV.; was wir hier aus der Kraft ab-
geleitet haben, haben wir dort aus dem Willen abgeleitet. Bass
der Wille seiner Natur nach etwas direoter Weise ewig Unbe-
wusstes ist, haben wir Cap. C. in. gezeigt, dass er hier auch mit-
telbar unbewuset bleiben muss, da sein Inhalt eine unbewusste
Vorstellung ist» versteht sich von selbst Nicht gewaltsam haben
wir den Begriff des Willens so viel erweitert, dass man den der
Kraft hineinschachteln kann; sondern indem wir von dem als sol-
chem anerkannten Willen des Himbewusstseins ausgingen, hat die-
ser Begriff von selbst die ihm vom Bewusstsein unberechtigter
Weise gezogenen Schranken zerbrochen, und sich nach und nach
als das in allen Thätigkeiten des Thier- und Pflanzenreiches wirk-
same Prinoip ausgewiesen. Jetzt sehen wir zu unserem Erstaunen,
dass, wenn wir unter dem Begriff einer (nicht mehr abgeleiteten,^
sondern selbstständigen) Kraft irgend Etwas denken wollen, wir
genau dasselbe dabei denken müssen, was wir bei Willen ge-
dacht haben 4 dass also beide Begriffe identisch sein würden,
wenn nicht Kraft durch conventioneile Beschränkung seines
Iidialtes enger wäre , und ausserdem noch ganz vorzugsweise für
abgeleitete Kräfte gebraucht würde, d. h für bestimmte Combina-
tionen und Aeusserungen der Atomkräfte, z. B. Elastioität, Magne-
tismus, Muskelkraft u. s. w. — Es wäre also schlecht, den Begriff
Willen duroh den Begriff Kraft zu ersetzen, oder gar ihn unter den
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letzteren za BubBummiren, weil Kraft ursprünglich das Abgeleitete»
erst im strengsten wissenschaftlichen Sinne das Primäre, dagegen
Wille immer das Primäre bedeutet, and weil Kraft in der ge>
wohnlichen Sprachbedeutung und der Anschauung des gemeinen
Verstandes ein viel unverstandenerer Begriff ist, als Wille, man
auch durch die grobsinnliche Auffassung gewöhnt ist, sich vor*
zugrweise etwas. Materielles bei Kraft zu denken , da d^ Begriff
erst Tom Muskelkraftgefühle auf andere äussere Gegenstände äbe^
tragen ist. So viel innerlicher, wie der Wille als das Muskelkraftr
gefühl ist, so viel bezeichnender ist das Wort Wille für das Wesen
der Sache als das Wort Kraft. (Ygl. Schopenhauer, Welt als Wille
und Vorstellung §. 22.)
Die Aeusserung der Atomkräfte sind also indiyiduelle Willens-
acte, deren Inhalt in unbewusster Vorstellung des zu Leistenden
besteht. So ist die Materie in der That in Wille und
Vorstellung aufgelöst. Damit ist der radicale Untersofaied
zwischen Geist und Materie aufgehoben, ihr Unterschied beateht
nur ngch in höherer oder niederer Erscheinungsform desselben
Wesens, dös ewig ünbewussten. Die Identität Ton Geist and
Materie hat hiermit aufgehört, ein unbe^ifPenes und unbewiesenes *
Postulat, oder ein Product mystischer Gonception zu sein, indem
sie zur wissenschaftlichen Erkenntniss erhoben ist, und zwar nicht
durch Tödtung des Geistes, sondern durch Lebendigmachung der
Materie.
Betrachten wir jetzt, wie sich der Atomwille zum Baum yer-
hält. Ohne dass wir irgend wie nöthig haben, uns auf die Frage
nach dem Wesen des Baumes einzulassen, können wir so viel sagen:
der Baum kann eine zwiefach^ Existenz haben, eine reale an Kör-
pern oder begrenzten Leeren, und eine ideale in der Vorstellung
Ton Körpern und b^prenzten Leeren. Wenn der ideale Baum in
der Vorstellung ist, so kann das Vorstellen nicht im idea-
len Baume sein, den es erst schafft; wenn Himschwingungen das
Fnbewusste zu einer Beaction mit bewusster Wahrnehmung nöthi-
gen, so hat diese Wahrnehmung mit dem Ort der schwingenden
Stelle im Hirn, oder dem Ort dieses wahrnehmenden Mensoheo
auf der Erde nichts zu thun, die Vorstellung ist also auch nioht
im realen Baum. Der Wille ist das Uebersetzen des Idea-
len in's Beale; er fügt dem Idealen, seinem Inhalt, dasje-
nige hinzu, was das blosse Denken ihm nicht geben kann, indem
er ihn realisirt; indem dieser sein Inhalt, welcher allemal eine
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Yontelliiiig ist, auch ideell-räumliche Bestunmungen enthält, reali-
sirt der Wille aach diese räumlichen Bestimmungen mit, und setzt
so auch den Baum aus dem Idealen in's Eeale, setzt
so* den realen Baum. (Wie der Baum im Idealen entsteht,
geht uns hier nichts an, genug dass der Wille es ist, der den
realen Baum setzt.) Das, was der Wille erst schafft, kann
nicht Tor vollendetem Wollen schon yorhanden sein, der Wille
als solcher kann also nicht realräumlioh sein. Mit dem
idealen Baum aher hat der Wille erst recht nichts zu thun, denn
der existirt ja hloss in der Idee, d. i. in der Yorstellung. Kurz
and gut, Wille und Vorstellung sind beide unräum-
licher Natur, da erst die Vorstellung den idealen
Baum, erst der Wille durch Bealisation der Vorstel-
lung den realen Baum schafft. Hieraus folgt, dass auch
der Atomwille oder die Atomkraft nichts Bäumliches sein
kann, weil sie, wie Sohelling sagt, extmsione prior ist.
Dies möchte der gewohnten Auffassung für den Augenblick auf-
fallend erscheinen, das Auffallende yersch windet aber sofort, wenn
man es mit den räumlichen Wirkungen des Willens in Organis-
men yergleioht. Der Wille bew^ in mir gewisse Nervenmolecüle
in der Weise, dass durch Forlpflanzung des Stromes und Benutzung
der polarischen Kräfte in Nerven und Muskeln mein Arm einen
Gentner hebt. Der -Wille hat also gewisse räumliche Lagen-
Teränderungen hervorgebracht, welche wir zwar nicht genauer
kennen, von denen wir aber so viel sagen können, dass ihre Be-
wegungsrichtungen sich keineswegs in einem gemeinschaft-
lichen Durchschnittspuncte treffen, sondern vermuthlich in Dre-
hungen einer grossen Anzahl von Molecülen um ihre Axe bestehen.
Die Bewegung erfolgt gerade in dieser Weise deshalb, weil die
unbewusste Vorstellung, welche den Inhalt des Willens bildet, ge-
rade diese Art von Bewegung ideell enthält Enthielte dagegen
diese Vorstellung ideell solche Bewegungen, welche sich in einem
gemeinschaftlichen Puncto schneiden, so würde der Wille auch
solche Bewegungen realisiren, und dies thut er in dem Atom-
willen. Man sieht also, dass der gemeinschaftliche Durchschnitts-
ponct aller Aeusserungen des Atomwillens etwas rein Ideelles,
ich möchte, um nicht missverstanden zu werden, noch lieber sagen :
Imaginäres, ist, und nur mit einer grossen Licenz des Aus-
druckes der Sitz des Willens oder der Kraft genannt werden kann;
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426
denn das einzig Baumliche an der ganzen Sache sind die Ktaft-
äusserungen, welche nie und nimmer den gemeinsamen Buröh-
BChnittspnnet erreichen, indem dieser immer nnr in ihrer idea-
len Terlängening liegt. Trotzdem muss dieser Ponct ein be-
stimmter im Yerhältniss zn allen ührigen sein (denn zum oder
im hlossen Banme giebt es keinen bestimmten Funot), da nur lo
die Lage der Eraftäusserungen zu einander eine bestimmte
sein kann, d. h. also die Entfernung des idealen DarchsdmittB-
punctes yon allen ähnlichen Durohschnittspuncten ist bestimmt
Baraus folgt natürlich, dass er sich auch ändern kann, d. h. das«
er bewegungsföhig ist.
Was geschieht also in Wirklichkeit, wenn zwei anziehende
Kräfte sich einander nahem? Erstens die Anziehung wäobst;
zweitens ihre Wirkungen auf alle seitlich liegenden Atone
ändern ihre Kichtung in der Art, dass ihre nunmeh-
rigen idealen Durchschnittspuncte einander näher gerüekt gedadit
werden müssen; die «rste und die zweite Aenderung stehen in
einem solchen Verhältnisse, dass die Anziehung um. das n^aehe
gewachsen ist, wenn die aus der Eichtungsverschiebung der mir
liehen Eraftäusserungen abgeleitete Verminderung der Entfemnng
der Durchschnittspuncte das nfache beträgt. Das Keale sind alio
immer nur die Kraft äusserungen, die eine gewisse, Bichtnng
und Stärke haben, und die Veränderungen dieser Bichtnng nad
Stärke, während die Durchschnittspuncte etwas Ideales sind nnd
bleiben. Ersteres Beides bildet aber als Vorstellung den Inhalt
des Atomwillens, und man wird nunmehr verstehen, wie der Wille
selbst etwas ünräumliches sein kann, und keineswegs indem
idealen Durchschnittspuncte zu wohnen und mit diesem ber-
umzuwandern braucht, während doch die Bealisationen
seines Inhaltes räumlicher Natur sind und einen gemeinschaft-
lichen ideellen Durchsehnittspunct haben, dessen Lage zu anderen
solchen ideellen Durohschnittspuncten bestimmt und variabel ist —
Es konnte hier die Frage erhoben werden, ob die Atome
ein BewuBstsein haben; jedoch glaube ich, dass zu einer Entschei-
dung derselben zu sehr alle Daten fehlen, da wir über die znt
Bewusstseinserzeugung erforderliche Art und den zur Ueberschrei-
tung der Empfindungsschwelle nöthigen GFrad der Bewegung noeh
so gut wie gar nichts wissen. So viel aber können wir mit Be-
stimmtheit behaupten: wenn die Materie ein Bewusstsein hat, so
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427
ist es ein atomis tisch es Bewusstsein, und zwischen den Be-
wasstseinen der einzelnen Atome ist keine Gemeinschaft
möglich. Damm ist es entschieden falsch, Ton dem Bewusst-
sein eines Krystalles oder eines Himmelskörpers zu sprechen, denn
in unorganischen Körpern können höchstens die Atome jedes für
sich ein Bewusstsein haben. Natürlich würde dieses Atombewusst-
sein an Axmuth des Inhaltes die denkbarst letzte Stufe einneh-
men. — Leibniz, welcher das Ph&nomen der Empfindungsschwelle
noch nicht kennt, glaubt noch berechtigt zu sein, aus dem Gesetz
der Cbntinuität (natura non facü saUita) und dem der Analogie
{ovfiTtvoia Ttavta) für jede, auch die niedrigste Monade einen ge-
wissen Grad yon Bewusstsein ableiten zu dürfen« Indess durch
das Gesetz der Schwelle verschwindet diese Berechtigung. Wenn
man z. B. Eohlensäuregas immer mehr comprimirt, so nimmt es
swar einen immer kleineren Baum ein, bleibt aber immer noch
Gas; plötzlich jedoch kommt man an einen Punct, wo es- nicht
mehr zusammendrückbar ist, sondern flüssig wird; dies ist, so zu
sagen, die Schwelle des gasförmigen Zustandes. So m^ auch in
der Stufenreihe der Individuen oder Monaden das Bewusstsein zu-
nächst immer ärmer und ärmer werden, aber immer noch Bewusst-
sein bleiben, bis plötzlich ein Punct kommt, wo die Abnahme zu
Ende ist, und das Bewusstsein aufhört, indem die Schwelle der
Empfindung nach unten überschritten ist. Wer vermag aber die-
son Punct in der Natur mit Sicherheit anzugeben?
Wir werden schliesslich die Frage zu berücksichtigen haben,
ob wir bei tinserer jetzigen Auffassung der Atome als Willensacte
dieselben noch als viele Substanzen ansehen dürfen, oder nicht
vielmehr als Erscheinungen Einer Substanz, ob also jedem Atom
ein gesonderter, selbstständiger, substantieller Wille, — selbstver-
ständlich dann auch mit gesondertem Yorstellungsvermögen ausge-
i^Miety — entspricht, oder ob diesen vielen gegen einander wir-
kenden AMionen und Thätigkeiten ein einziger identischer Wille
zu Grunde Hegt. Nachdem wir als das Reale nur die Opposition,
das Widerspiel der Aotionen erkannt, die Kräfte selbst aber als
etwas schlechthin Unräumliches begriffen haben, verschwindet jeder
Grand, Wille und Vorstellung im ewig Unräumlichen in ^e zahl-
lose Vielheit von Einzelsubstiuizen zu zersplittern, sobald das In-
dmdnum überhaupt in die Sphäre der Erscheinung herabsinkt, wie
wir dies in Cap. C. VI., TD., und X. sehen werden.
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VL
Der Begriff der Individualität.
Individotim heisst ein ÜQiÜieilbares (ebenso wie Atom), doeh
weif» Jeder, dass Individuen zerschnitten und getheilt werden kön-
nen. Man darf also bei Indiyiduam nur an iBtwas denken » w»
seiner Natur nach nicht getheilt werden darf, wenn es i»
bleiben soll , was es ist; dies ' ist aber der Begriff der Einlieh,
griechisch Monas (nicht zu yerwei^iseln mit dem Zahlbegriff da
Eins, griechisch ev). Hiemach würden die Begriffe Einheit od«
Monas und Individuum zusammenfiELllen, doch sieht man sehr bald,
dass Einheit ein weiterer Begriff ist als Individuum, d. h. jed«
Individuum ist eine Einheit, aber nicht jede Einheit ist ein Indi-
viduum. So ist z. B. jede zusammenhängende Gestalt vermiß der
Gontinuität des Baumes eine Einheit, ich kann dieselbe nicht
theilen, ohne sie zu vernichten , dennoch werde ich nicht die so-
MLige Oestalteinheit, wie eine Erdscholle, ein Individuum nennen.
Femer hat jede Bewegung oder jeder Vorgang vermöge der Gonti-
nuität der Zeit eine Einheit, z. B. ein Ton, auch diese Einheit ist
kein Individuum. (Vgl v. Kirchmann, Philosophie des Wissen^
Bd. I, 8. 131 — 141, 285 — 307.) Die Einheit des Ineinander
seins oder der gegenseitigen Durchdringung, wie sie z. B. bei Ftf-
ben, Geschmacks- oder Geruchsmischungen und bei verschiedenen
Eigenschaften in demselben Dinge vorkommt, roducirt sich theili
auf das an derselben Stelle sein, theils auf das zeitüolie
Zugleichsein der verschiedenen Eigenschaften, theils sof die
nim folgende caiisale Einheit, kann also nicht als besimdere Art
der Einheit betrachtet werden. Die causale Beziehnngseinheit iflt
die stärkste, welche es giebt; wir haben von ihr drei Arten n
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J29
onteiBeheiden : 1) die Einheit durch Einerleiheit der Ursache (wie
bei den verschiedenen Wahrnehmungen eines Dinges), 2) die Ein-
heit dnroh Einerleiheit des Zweckes (wie bei den vielen Einrich-
toogen des Auges zum Sehen), 3) die Einheit durch Wechselwir-
kung der Theile, so dass die Fiuction jedes Theiles die Ursache
für das Eortbestehen des anderen ist. — Auch diese Einheiten ge-
nagen nicht für den B^^riff der Individualität. Ein Beispiel der
ersten ist die Einheit der vielen Wahrnehmungen eines Dinges, inso-
fern dieselben die Identität des Ortes und der Zeit nicht unmit-
telbar in sich enthalten, sondern nur auf das Ding als identische
Ursache bezogen werden; Niemand wird behaupten, dass die Ein-
heit der Wahrnehmungen eines Dinges ein Individuum sei. Wenn
zweitens die Einheit des Zweckes in einem auszuführenden Bau
besteht, so wird man die Summe der Arbeiter, welche diesen Zweck
haben, nicht ein Individuum nennen; wenn drittens ein Lcmd von
den Katurproducten seiner Golonien lebt, und die Golonien nur
durch den Import der Kunstproducte aus dem Mutterlande existi-
ren, so ist eine vollkommene Wechselwirkung da, und doch wird
Niemand die Summe von Golonien und Mutterland ein Individuum
nennen.
Jede dieser Einheiten erweist sich also als ungenügend, um
^ den Begriff des Individuums zu fixiren. Ebenso unzureichend sind
t die äusserlichen Kennzeichen, welche man hier xmd da als Merk-
mal der Individualität aufgestellt findet, z. B. die Entstehung aus
^em Ei oder Einem Saamenkeim. Danach müssten alle Trauer-
weiden Europa's ein Individuum sein, da sie historisch nachweis-
lich von einem einzigen aus Asien nach England eingeführten
^ Baume durch Ableger gezogen sind, also alle aus Einem Saamen-
keim stammen; danach müsste der aus einem Ei hervorgewachsene
■ Polypenstock Ein Individuum sein und man müsste den einzelnen
k Polypen die Individualität absprechen. Ebenso wenig, wie die
y Abstammung aus Einem Ei kann die typische Idee der Gattung
: JÜfl Merkmal des Individuums gelten; denn die typische Gattungs-
idee ist die Idee eines Normalindividuums, welches die Gat-
tung repräsentirt, weil es frei von zufälligen Besonderheiten ist,
uid man gewinnt diese Idee des Normalindividuums, indem man
Ton allen Individuen einer Gattung die zufälligen Besonderheiten
^en lässt, und nur das gesetzmässig Gemeinsame in der Abstrac-
tion festhält. Man sieht hier sofort, da^s man das Merkmal des
L
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Individaums schon haben mnas, um die vielen Individuen Te^
gleichen und den normalen Typus aussondern £u können, dass also
unmöglich dieser Typus rückwärts als Merkmal des Individatuna
gelten darf, da man sich dabei bloss im Kreise drehen würde.
Ausserdem aber haben wir ja unzweifelhafte Individuen, aoch vo
dieselben die Gattungsidee nicht oder unvollständig repräsentiren.
So gehört zur Idee der Pflanze die Wurzel, zur Idee des Polypen
die Pangarme; wenn ich aber einen Pflanzenzweig oder ein Stock
der Polypenröhre abschneide , so haben diese keine Wurzeln resp.
Fangarme und führen dennoch ein selbstständiges Leben weiter,
da sie alle Bedingungen der Eortexistenz in sich tragen, man kaoB
ihnen unmöglich die Individualität absprechen. Die Abstammang
von Einem Eie und die typische Qattungsidee erweisen sich also
als ganz unbrauchbar zu Merkmaien des Individuums; kehren vir
deshalb zu dem B^;riff der Einheit, wie wir ihn vorher fassten, zuräok«
Zwar waren die einzelnen betrachteten Arten der Einheit
ebenfalls unzureichend, aber wenn jede einzelne für die Begren-
zung des Begrifles Individuum zu weit ist, so kann doch die Ve^
bindung aller dieser Arten von Einheit in Einem Dinge die nothi-
gen Beschränkungen gewähren. Wir hatten nämlich für das Ibt
dividuum deshalb die Einheit gefordert, weil es seiner Natur nach
nicht getheilt werden können sollte; nun ist aber klar, dass diese
Anforderung nur dann erfüllt ist, wenn es nicht bloss in dieser
oder jener Beziehung, sondern in allen möglichen Beziehungen
wesentlich untheilbar ist, d. h. wenn es alle möglichen Arten
der Einheit in sich vereinigt. Dass die fünf oben besprochoien
Arten der Einheit in der That alle möglichen und die einzig mög-
lichen sind, ist unschwer zu sehen, denn sie erschöpfen die drei
subjectiv-objectiven Formen: Baum, Zeit und Gausalität
Damit haben wir also eine genügende Definition des Indiri-
duums gewonnen; das Individuum ist ein Ding, welches alle fonf
möglichen Arten von Einheiten in sich verbindet: 1) räumliche
Einheit (der Gestalt), 2) zeitliche Einheit (Continuität des Wir-
kens), 3) Einheit der (inneren) Ursache, 4) Einheit des Zw eck es,
5) Einheit der Wechselwirkung der Theile unter einander (so-
fern welche vorhanden sind ; sonst fällt natürlich die letzte fort). —
Wo die Einheit der Gestalt fehlt, wie beim Bienenschwarm,
spricht man trotzdem, dass alle übrigen Einheiten auf das Schla-
gendste vorhanden sind, nicht von Individuum. Wo die Continnitit
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dee Wirkens fehlt , wie bei erfrorenen nnd wieder aufgethauten
Fiflchan, bei eingetrockneten und wieder aufgeweichten Räderthier-
cheuy ist zwar eine Einheit des Dinges vorbanden, doch würde ich
es für falsch halten, von Einheit des Individuums zu sprechen;
man hat dann eben zwei Individuen, die durch die Pause in der
Lebensthätigkeit geschieden sind, so wie ich von einem vor 1000
Jahren lebenden Menschen geschieden bin. Bass von den drei
causalen Einheiten dem Individuum keine fehlen darf, ist wohl
selbstredend.
Es ist von entscheidender Wichtigkeit für den Begriff des
Individuums y dass keine dieser Einheiten etwas absolut Starres,
nach aussen Abgeschlossenes ist, sondern jede niedere Einheiten
derselben Art in sich befassen und mit mehreren ihres gleichen
von einer höheren Einheit gemeinschafliich ufasst sein kann. Es
ist ein ganz vergebliches Bemühen, für irgend welche Art der Einheit
einen Abschluss zu suchen, es sind immer wieder höhere Einhei-
ten denkbar, welche sie mit einschüessen , sowie Alles zuletzt in
der Einheit der Welt aufgehoben ist und diese wieder von einer
metaphysischen Einheit verschiedener, uns unerkennbarer coordinir^-
ter Welten überragt sein kann. Wenn dies für den Begriff der
Einheit gilt, so zeigt es schon an, dass es auch für den Begriff des
Individuums gelten wird, und dass auch für dieses die Abscbliessung
nach aussen und die starre Besonderung nur Schein ist. Die-
ser Schein für die oberflächliche Betrachtung entspringt nämlich
daraus, dass das Individuum erst durch Zusammensetzung aller
oben genannten Einheiten entsteht; sollen nun mehrere Individuen
in einem Individuum höherer Ordnung enthalten sein, so gehört
dazu sowohl in den Individuen der niederen als in dem der höhe-
ren Ordnung ein Zusammentreffen aller dieser Arten von Ein-
heiten-, wenn dagegen in ersteren oder letzteren irgend eine Art
der Einheit fehlt, so bleibt zwar die Unterordnung der übrigen
Einheiten unter die höheren bestehen, aber es ist dann nicht
mehr ein IJmfasstsein mehrerer Individuen durch ein höheres
vorhanden. Selbst Spinoza, der Monist vom reinsten Wasser, sagt
(Eth. Th. 2, Satz 7, Post l): „Der menschliche Körper besteht
aus vielen Individuen von verschiedener Natur , von denen jedes
sehr zusammengesetzt ist% und Leibniz führt diese Idee in seiner
Monadologie weiter aus.
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Betrachten wir die Sache zunächst an geistigen Indiyidaen,
wo die Verhältnisse yiel einfacher liegen. So weit wir Dämlich
bisher von Individuen gesprochen haben, war nur yon materiellen
Individuen die Bede; etwas ganz Anderes als diese und keines-
w^s mit ihnen zusammenfallend sind die geistigen Indiyidaent
welche 4aher eine ganz besondere Untersuchung verlangen. Hatte
man sich schon früher zur Trennung der Untersuchung für geistige
und materielle Individuen entschlossen, so würde in dem Gebiete
dieses Begriffes bei Weitem nicht die jetzt erschreckende Yerwimmg
herrschen. — Wir haben hier wieder bewüsst-geistige und unbeTiniflat-
geistige Individuen zu unterscheiden, und sprechen vorläufig nur von
ersteren. Schon Locke hat es ausgesprochen, dass die Identität der Pe^
son ausschliesslich auf der Idenülät desBewusstseins beruhe, und diese
Wahrheit ist von allen späteren Philosophen bereitwillig anerkannt
worden. Die nicht getheilt werden dürfende Einheit, in welcher
das Individuum seinen Bestand hat, ist also hier die Einheit dei
Bewusstseins, welche wir im Cap. C. III. betrachtet haben. Denn
erst dadurch, dass die zeitlich oder räumlich im Gehirn getrennten
Bewusstseine zweier Vorstellungen unter das gemeinsame BewoBst-
sein des Vergleiches aufgehoben werden, d. h. in diesem ihre
höhere Einheit finden, erst dadurch wird es möglich, dass das Sab-
ject oder die instinctiv supponirte Ursache der einen und der
anderen Vorstellung als ein und dasselbe erkannt und somit beide
auf eine gemeinschaftliche innere Ursache (Ich) bezogen werden.
Kur so weit die Einheit des Bewusstseins reicht, reicht die Einheit
der Seelenvorgänge durch causale Beziehung auf ein gemeinschaft-
liches Subject, nur so weit reicht das bewusst - geistige Indiri-
duum. Nun wissen wir^ dass in den untergeordneten Nervencentren
der Menschen und Thiere bewusste geistige Brocesse vor sich
gehen, welche innerhalb eines jeden Oentrums vermöge der Güte
der Leitung zu einer innigen Einheit verbunden sind; wir werden
also in diesen Einheiten nothwendig geistige Individuen anerken-
nen müssen. Man darf hiergegen nicht einwenden, dass diese an-
deren Centra geistig zu tief stehen, um zum Selbstbewusstsein,
zum Ich zu kommen; dieses Ich wird eben instinctiv supponirt»
d. h. es braucht gar nicht als Selbstbewusstsein aufzutreten, es
wird doch so gehandelt, als wenn das Selbstbewusstsein vorhanden
wäre, und alle Handlungen auf das loh bezöge. Dies sehen wir
ja noch bei den niedrigsten Thieren und Pflanzen, und nennen es
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433
zoopsjchologisoh Selbstgefühl. Es steht also Nichts im Wege, die
niederen Nervencentra als Träger bewusstgeistiger Individuen anf-
Anfassen; wenn wir aber weiter sehen, dass Empfindungen yerschie-
dener Nervenoentra unter besonderen umständen in Ein Bewusst-
sein aufgehoben werden können, was mehr oder weniger im Ge-
meingefühle fortwährend stattfindet, so kann man nicht umhin,
diese Bewusstseinseinheit als ein höheres geistiges Individuum an-
zuerkennen, welches die niederen Individuen in sich befEisst. Wenn
wir femer erwägen, dass die eigentlich thätigen Theile der bloss
2ar Leitung bestimmten weissen Nervenfasern, nämlich ihre
Azencylinder, ganz dasselbe wie die graue Masse ist, und das
weisse Ansehen bloss durch die zur Isolirung der Fasern bestimmte,
zwischen Axencjiinder und Fasermembran abgelagerte Harkmasse
hervorgerufen wird, so kann man sich dem Schlüsse nicht entzie-
hen, dass die thätigen Theile auch der weissen Nervenmasse ein
eigenes Bewusstsein irgend einer Art von den Schwingungen haben,
welche sie freilich in der Oekonomie des Ganzen nur fortzuleiten
b^timmt sind. Ebenso haben die sich contrahirenden Muskel-
fasern oder die auf Nervenanregungen sich verändernden secemiren-
den Häute ganz sicher eine gewisse Empfindung von diesen Vor-
gängen, da de ja geeignet sind, die sie anregenden Nervenschwin-
gongen über die Grenzen der Nervenfasern hinaus zu den benach-
barten Theilen fortzupflanzen. Erinnert man sich femer der Ke-
snltate des Cap. G. lY., wonach wir auf ein Zellenbewusstsein in
den Pflanzen gekommen sind, so liegt die Annahme sehr nahe,
dass auch die theüweise noch höher als die Pflanzenzellen o^ani-
flirten thierischen Zellen ihr Sonderbewusstsein haben, eine Annahme,
die später in diesem Gapitel noch weitere Bestätigungen finden
wird. So viel ist gewiss, dass die thierischen Zellen zum grossen
Theile ebenso selbstständig leben , wachsen , sich vermehren , und
ihren speciflschen Beitrag zur Erhaltung des Ganzen liefern, als die
Pflanzenzellen; warum sollen sie, wenn sie ein ebenso selbststän-
diges Leben führen, nicht ebenso selbstständige Empfindung haben?
Virchow sagt (Cellularpathologie 3. Aufl. S. 105): „Erst wenn man
die Aufiaahme des Emährungsmaterials als eine Folge der Thätig-
kät (Anziehung) der Gewebselemente selbst auffasst, begreift man,
dass die einzelnen Bezirke nicht jeden Augenblick der üeberschwem-
mung vom Blute aus preisgegeben sind, dass vielmehr das darge-
botene Material nur nach dem wirklichen Bedarfe in die Theile
T. HartinABn, Fhil. d. ünbewoBsfeen. 28
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434
angenommen und den einzelnen Bezirken in einem solchen Maasse
zugeführt wird, dass im Allgemeinen wenigstens, so lange irgend
eine Möglichkeit der Erhaltung besteht, der eine Theil nicht durch
die anderen wesentlich benachtheiligt werden kann.^ Wenn diese
selbsteigene Thätigkeit der Zelle schon für die Aufnahme der
Ernährungsstoffe gilt , um wie riel mehr für ihre chemische und
formale Umwandlung; giebt es doch grosse Gebieie im thierischeii
Körper , die der Nerven und OefHsse Töllig entbehren , z. B. die
Substanz der Oberhaut, Sehnen, Knochen, Zähne, Easerknorpel, und
doch findet eine Saftcirculation durch die Zellen wie bei Pflanz^i
statt, und ein Leben und eine Yermehrung der Zellen ohne An-
regung von Nerven. Wenn die thierischen Zellen so individueller
Leistungen fähig sind, gerade wie in der Pflanze, sollten sie dt
nicht auch wie jene Träger eines individuellen Bewusetseins sein?
Der Unterschied ist nur der: im Thiere verschwindet die Bedeu-
tung der Bewusstseinsindividuen der Zellen gegen die Bewusstseini-
individuen höherer Ordnungen, in der Pflanze aber sind die Zellen-
bewusstseine die Hauptsache, weil es überhaupt nur in gewissen
empflndlichen und bevorzugten Theilen, wie Blüthen u. s. w., xn
der Rede werthen Bewusstseinsindividuen hölierer Ordnung kommt
Würde endlich jemals die Frage nach dem Bewusstsein der
Atome bejahend zu entscheiden sein, so würden die Atome schliesslidi
die Bewusstseinsindividuen unterster Ordnung sein. So haben wir
für bewusst-geistige Individuen die Ineinanderschachtelung der b-
dividuen höherer und niederer Ordnungen als richtig befanden,
wir haben sie jetzt bei materiellen Individuen zu betrachten.
Yirchow sagt (Vier Beden über Leben und Kranksein, IL,
über Atome und Individuen, S. 62): ,J>em Einen gilt die ganse
Pflanze als Individuum, dem Anderen der Ast oder Spross, dem
Dritten das Blatt oder die Knospe, dem Vierten die Zelle, und
jede dieser Ansichten hat gewichtige Gründe für sich.'' Natürli(di,
es hat Jeder von den Vieren Becht, dass er dies oder jenes als
Individuum behauptet, unrecht aber, dass er die Behauptongen
der Anderen bestreitet, denn es handelt sich hier nicht um ^
entweder, oder, sondern um ein sowohl, als auch. Sow(^
die ganze Pflanze, als auch jeder Ast und Spross , als auch jedes
Blatt, als auch jede Zelle verlandet in sich alle Einheiten, wel<^
zur Individualität nöthig sind; ganz falsch aber wäre es, und
völlig unhaltbar, wenn man räumliche Besonderung und Äh-
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flcUiesAimg als Bedingimg der Individaalität behaupten wollte,
denn dann würden die zahlreichen Beispiele yon äosserlich an
irgend einer Kautstelle yerwachsenen Zwillingsgeburten , welche
mitunter 30 — 40 Jahre lebten , stets als nur Ein Individuum zu
betrachten gewesen sein, was doch gar zu widersinnig wäre.
Ebenso gewiss ist es falsch, von einem Individuum Selbstständig-
keit der Existenz ohne die Unterstützung anderer Individuen zu
fordern; man denke nur, was aus dem Säugling würde, wenn die
Mutter ihm nicht die Brust reichte, oder aus jungen Raubthieren,
wemi die Eltern sie nicht mit auf die Jagd nähmen , und doch
wird Nienmnd den Kindern und jungen Thieren die Individualität
absprechen wollen. — An einem Folypenstock ist so gewiss jedes
einzelne Thier ein Individuum, als der ganze Stock ein Individuum
ist, da seine Theile, wie die Glieder eines sogenannten einfachen
Thieres, durch die Gemeinschaft des Emährungsprocesses auf einan*
der angewiesen sind, und trotz dem ihre morphologische Selbst-
ständigkeit behaupten. „Jeder zusammengesetzte Zoophyt entspringt
aus einem einzigen Polypen und wächst (wie eine Pflanze) durch
fortgesetzte Knospenbildung zu einem Baume oder zu einer Kup-
pel heran. Ein 12 Fuss Durchmesser haltender Asträastamm ver-
einigt etwa 100,000 Polypen, deren jeder Vs Quadrat-Zoll einnimmt;
bei einer Porites, deren Thierchen kaum 1 Linie breit sind, würde
deren Zahl 5^2 Million übersteigen. Bei ihr sind also eine gleiche
Anzahl von Mäulem und Magen zu einem einzigen Pflanzenthier
verbunden, und tragen gemeinschaftlich zur Ernährung,
Knospenbildung und Yergrösserung des Ganzen bei, sind auch unter
einander seitlich verbunden.'^ (Dana in Schleiden's und Fror. Not.
1847, Juni No. 48.)
Wer einem Eichbaum Individualität zuschreibt, muss sie
auch einem solchen Polypenbaum zuerkennen. — Volmx globator,
das Kugelthier, gehört zwar nicht zu den Korallenthieren, ist aber
auch ein von vielen einzelnen Thierchen gebildeter Polypenstock,
die, am Umfange einer Kugel sitzend, nur durch fedemartige Bxih-
Ten verbunden sind. „Thut man etwas blaue oder rothe Farbe
in's Wasser unter dem Mikroscop, so erkennt man sehr deutlich
eine kräftige Strömung um die Kugeln. Diese ist eine Folge der
äesammtwirkung aller Einzelthierchen, die wie Thierheerden, Vo-
gelzüge, selbst singende oder tanzende Menschen und Yolkshaufen
einen gemeinsamen Ehythmus und eine gemeinsame Eichtung an-
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•-H^r
436
nehmen, oft selbst ohne Commando, und ohne sich des Willou
dazu klar bewusst zu werden. So schwimmen alle Folypenstöcke,
und der gemüthliche, wie der kälter ortheilende NatarfoTBcher
erkennt hierin einen Gesellschaftstrieb, welcher aus Kraft und
Nachgiebigkeit für gemeinsame Zwecke besteht, einen Zustand,
der eine geistige Thätigkeit verlangt, die allzugering anzuschlagen
man nicht berechtigt, nur verfuhrt sein kann. Nie darf man auch
vergessen, dass alle Einzelthierchen Empfindongsorgane besitzen,
die den Augen vergleichbar sind, und dass sie mithin nicht blind
sich im Wasser drehen, sondern als Bürger einer unserem üriheila
femliegenden grossen Welt den Genuss einer empfindungsreichen
Existenz, so stolz wir uns auch geberden mögen, mit uns theü^*'
(Ehrenberg in seinem grossen Infosorienwerk, S. 69.) Es ist dieses
Urtheil deshalb so interessant, weil es zeigt, wie der schlichte, aber
grosse Naturforscher, von den einfachen Thatsachen überwältigt^
einen Masseninstinct und ein reges Geistesleben auf jenen niederen
Thierstufen anerkennt. „Im Mittelmeere giebt es ein reiches Ge-
schlecht prächtiger Schwimmpolypen, welche namentlich Carl Vogt
{Recherches sur les animaux infSrieura de la MSdilerranSe) der
Eenntniss der Gebildeten zugänglich gemacht hat. Aus einem £i
entwickelt sich ein junger Polyp. Frei im Meer schwimmend be-
ginnt er zu wachsen. An seinem oberen Ende bildet er eine
Blase , in welcher Luft firei wird , die ihn trägt. An seinem
unteren Ende gestalten sich in immer reichlicherer und schönerer
Ausstattung Fühler und Fangschnüre mit sonderbaren Nesselorganen.
An seinem Stamme, der sich immer mehr verlängert, findet sich
eine durchlaufende Röhre. Von diesem Stamme entstehen knospen-
artige Sprossen. Die einen davon bilden Schwimmglocken, die
sich und damit das Ganze fortbewegen. Die anderen wandeln sich
in neue Polypen um , welche Mund und Magen besitzen und die
Nahrung für das Ganze nicht bloss sammeln, sondern auch ver-
dauen, um sie endlich in die gemeinschaftliche Stammröhre abzu-
geben. Endlich noch andere Knospen gewinnen ein quallenartiges
Aussehen lud besorgen die Fortpflanzimg ; sie bringen Eier henroTr
welche wieder frei schwimmende Polypen aus sich hervorgehen
lassen. Was ist hier Individuum? Der junge Polyp erscheint uns
einfach, aber aus ihm bildet sich ein Stock, gleich einer Pflanxe.
Der Stock treibt Fangfäden, wie Wurzeln, aber sie bewegen siA
willkürlich und greifen die Beute; er bildet einen Stamm mi^
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einem Nahnmgekanale , aber er bat keinen Mund, nm den Kanal
zu benutzen , so wenig wie die Pflanze. Er treibt Knospen und
Sprossen, wie die Pflanze, aber jede Knospe hat besondere Auf-
gaben, die sie mit dem Anscheine ureigener Thätigkeit erfüllt.
Besondere mit eigener Bewegung v^ersehene Sprossen oder Aeste
besorgen die einen die Aufnahme und Verdauung der Nahrung,
die anderen die Fortpflanzung. Der Eumpf ist nichts ohne die
Glieder, die Glieder sind nichts ohne den Rumpl'* (Virchow,
Vier Eeden, 8. 65 — 66.) Wer an dem Entweder-Oder festiiält,
den müss freilich solch ein Beispiel zur Verzweiflung bringen,
wir aber sehen in den einzelnen Gliedern Individuen theils von
Polypenform, theils von Quallenform^ und in dem Ganzen ein Indi-
viduum höherer Ordnung, welches alle diese Individuen in sich
eioschliesst. Schon im Bienen- und Ameisenstock fehlt uns,^ um
das Ganze als Individuum höherer Ordnung zu betrachten, nichts
als die räumliche Einheit, d. h. die Gontinuität der Gestalt; hier
ist diese ebenfalls vorhanden xmd darum ist das Individuum unbe-
streitbar. Wie hier das System der Bewegung, der Verdauung,
der Fortpflanzung auf verschiedene Individuen vertheilt sind, die
räumlich Beben einander liegen, so auch in höheren Thieren, wenn
auch bei ihnen die räumliche Sonderung nicht mehr so streng ist,
mid die einzelnen Systeme keine Aehnlichkeit mehr iliit dem
Typus besonderer Thiergattungen haben; nichtsdestoweniger sind
wir entschieden berechtigt, die verschiedenen Systeme in höheren
Thieren, das des Blutlaufes, der Athmung, der Verdauxmg, der Fort^
Pflanzung, der Nerven, sowie die einzelnen Sinnesorgane als Indi-
yidnen zu fassen, da dieselben alle Kennzeichen des Individuums
in sich tragen, nur dass sie räumlich mehr in einander verschränkt
sind und ihre Verknüpfung zum Individuum höherer Ordnung weit
inniger ist, so innig, dass man ihre Selbstständigkeit über ihrer
Leistung für das Ganze fast zu vergessen gewöhnt ist.
Wie im Bienenstaat die Geschlechtsthätigkeit in Drohnen und
^Önig^n personificirt ist, so auch in den diöcischen Pflanzen, d. h. bei
denen, wo die eine Pflanze bloss männliche, die andere bloss weibliche
Bluthen trägt; und bei den monöcischen, wo männliche und weib-
liche Blüthen auf einer Pflanze stehen, sollten diese Blüthen nicht
Individuen sein, weil sie zufallig durch andere Theiie der Pflanze
länmlich Terbunden sind? Lässt sich nicht aus den Blüthen oder
Blättern einer Pflanzenart ebensowohl eine typische Idee dieser
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Blüthenart oder Blattart abstrahiren, als aus den gaiuseai fflanian
die Idee der Pflaozenart? Kann man dies nicht ebensowohl yon
den Kopfhaaren eines Menschen , and muss man nicht auch jed«
Haar sammt seiner Wurzel eben so gut als ein IndividuaiD aose-
hen, wie ein Fflanzenblatt?
Yon Wichtigkeit hierfür ist auch der pathologische Begriff
parasitischer Bildungen. Ich lasse eine Autorität in diesem f elde,
Prof. Virchow , für mich sprechen. (Cellularpathologie, S. 427 —
428): ,,Eiinnere man sich nur, dass der Parasitismus nur gra-
duell etwas Anderes bedeutet, als der Begriff der Autonomie jed»
Theiles des Körpers. Jede einzelne Kpithelial- und Muskelsellie
führt im Yerhältnisse zu dem übrigen Körper eine Art von Para-
sitenezistenZy so gut wie jede einzelne Zelle eines Baumes im ye^
hältnisse zu den anderen Zellen desselben Baumes eine besondere»
ihr allein zugehörende Existenz hat, und den übrigen Elementen
für ihre Bedürfnisse (Zwecke) gewisse Stoffe entzieht Der Begriff
des Parasitismus im engeren Sinne des Wortes entwickelt sich ai»
diesem Begriff yon der Selbstständigkeit der einzelnen Theile. So
lange das Bedürfhiss der übrigen Theile die Existenz eines Theilea
Yoraussetzt , so lange dieser Theil in irgend einer Weise den an-
deren Theilen nützlich ist, so lange spricht man nicht von einem
Parasiten; er wird es aber yon dem Augenblicke an, wo er d^
übrigen Körper firemd oder schädlich wird. Der Begriff des Pan^
siten ist daher nicht zu beschränken auf eine einzelne Beihe von
Geschwülsten, sondern er gehört allen plastischen (formatiyen) Fo^
men an, yor Allem aber den heteroplastischen, welche in ihrer
weiteren Ausbildung nicht homologe Producte, sondern Neubil-
dungen hervorbringen, welche in der Zusammensetzung des Kö^
pers (an dieser Stelle) mehr oder weniger ungehörig sind«" Ana <
der nicht zu yerkennenden indiyiduellen Selbstständigkeit der P»*
rasiten und dem rein graduellen Unterschiede zwischen ihnen vnd
normalen Bildungen lässt sich rückwärts auch auf die indiyidoelle
Selbstständigkeit der letzteren schliessen.
Noch deutlicher wird die individuelle Selbstständigkeit sa
solchen Gebilden, welche auch morphologisch yon dem übrigem
Körper eine gewisse räumliche Absonderung zeigen, und den*
noch in ihren selbstständigen Functionen eine für die Zweckt
des ganzen Organismus dienende Leistung darstellen. Ich O'
innere z. B. an die Samenfäden. Die Zeit ist yorüber, ^^
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439
man die Spennatozoiden als den Eingeweidewürmetn analoge
selbstständige Thiere betrachtete, denn ihre chemisohe Zu-
sammensetzDBg, die Homogenität ihrer Substanz und yor Allem
ihre Entwiekelungsgeschichte zeugen dag^^en. — Nichtadesto-
weniger kann man diesen Gebilden eine Individualität nioht
absprechen. Im verdünnten Sperma sieht man die Fäden zucken,
sich um ihre Axe drehen, mit dem Schwänze' schlagen, das Kopf-
ende nach vorwärts schnellen und nach allen Bichtungen frei um-
herschwimmen, indem die wri^ende oder schraubenförmige Bewe-
gung des Schwanzes die Bewegung bewirkt. Diese Bewegungen
erscheinen bei den Spermatozoiden der Tfaierarten am willkürlich-
sten, wo die Befruchtung am schwierigsten i9t, d. i. bei den
Säugethiereuy und werden um so einfacher und regelmässiger, je
leichter in der absteigenden Thierreihe duroh Zahl, Grösse der
Eier und Einrichtung des Befruohtungsortes die Befruchtung wird.
Dass eine gewisse Abhängigkeit der Existenz von bestimmten um-
gebenden äusseren Verhältnissen, bezüglich eine Verknüpfung mit
der Existenz anderer Organismen , nichts gegen die Individualität
beweist, haben wir schon früher erwähnt (man d^ike an Schma-
rotzerthiere), aber die Spermatozoiden haben sogar auch ausserhalb
der Scunenflüssigkeit in jeder blutwarmen, chemisch indifferenten
Flüssigkeit ein ziemUoh langes Leben, wenn sie nur nicht durch
dieselbe hygroskopisch deformirt werden; in den weiblichen Geni-
talien der Säugethiere leben sie Tage, ja Wochen lang fort, und in
den Samentascben, welche z. B. die brünstigen männlichen Fluss-
krebse den Weibchen im Herbst anheften, leben sie bis zum Früh-
jahre fort, um dann erst die inzwischen reit gewordenen Eier zu
befruchten. Dies beweist schon einen hohen Grad selbstständiger
Lebensfähigkeit nach der Trennung von dem sie erzeugenden
Organismus. Wollte man die autonomen Bewegungen der Sper-
matozoiden durch eine Parallele mit den Bewegungen der Flim-
merhaare entkräften , so muss ich erwidern, dass meiner Ansicht
nach umgekehrt die Autonomie der ersteren für die der letzteren
sprechen. Eine altemirende Bewegung eines der Form nach ge-
Bonderten Gebildes, welche nachweislich weder auf blossen äusseren
Beiz erfolgt, noch auch von centralen Partien aus hervorgerufen
wird (da sie nach der Isolirung des kleinsten Stückes Flimmerepi-
theliom fortdauert), muss eben aus einer im Gebilde selbst liegen-
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440
den ÜTBaohe entspringen, d. h. trägt den Character einer gewiBsen
IndiTidnalität.
Dass die Bewegongen der Flimmerhaare einer Fläche hSdig
mit einander so übereinstimmen, dass regelmässig Totalbewegongen,
fortlaufende Wellen o. s. w. entstehen, kann dieser Ansicht keinen
Abbruch thun. Dasselbe findet sich auch bei bündelwcis Te^
einigten Spermatozoiden, wo an jedem Bündel regelmässige Wellen
nach einander herablaufen, oder bei solchen, die in dicht gedrängter
Masse zusammengelagert sind (z. B. beim E.egenwurme) , wo das
schöne, regelmässige Wogen mit dem eines Kornfeldes yergleich-
bar sein soll. Es ist eben dasselbe Zusammenwirken vieler Indi-
viduen zu einem Ziel, wie im Organismus überhaupt.
Es giebt Infusorien (Amoeba diffluens und porrecta), deren
einzige Locomotion darin besteht , dass sie Strahlen ausschiessen,
in deren einen oder auch mehrere sich mit den Spitzen vereini-
gende der Inhalt des Thieres nachfiiesst, während das bisherige
Centrum sich dadurch zum zurückbleibenden Strahl verengt» der
sich nun auch nach dem neuen Schwerpunct zurückzieht
Ganz nach demselben Frincip bewegen sich (nach van Beck-
linghausen) die Eiterkörperohen , so lange sie lebendig sind; auch
sie schiessen an der Peripherie radienformige Fortsätze auB nnd
ziehen dieselben zurück, und zeitweise beobachtet man, dass der
zähflüssige Inhalt der Zelle in einen solchen Strahl nachsohiesst
Aehnliche Bewegungserscheinungen beobachtete Yirchow an den
grossen geschwänzten Zellen, welche sich in einer soeben ausge-
schnittenen Knorpel^eschwulst vorfanden; an den Blutkörperchen
mancher Thiere waren schon früher Bewegungen entdeckt worden.
Man erkennt auch hier eine gewisse Individualität Ohne morpho-
logisch, chemisch oder physiologisch die Eiterkörperchen und ähn-
liche freibewegliche Gebilde entsprechenden niederen Thieren irgend
wie gleichstellen zu wollen, von denen sie sich schon durch ihre
Entwickelungsgeschichte so vollständig unterscheiden, meine ick
doch, dass dieselben ein gleiches Eecht der Individualität wie jene
beanspruchen dürfen, da sie, wenn auch nicht Thiere im zoologi*
sehen Sinn, doch Wesen sind, die sich in ihrer Umgebung ebenso
zweckentsprechend und mit demselben Anschein von Willkür nnd
Beseelung bewegen, wie die niederen Infusorien. Dass die Ver^
hältnisse der Ernährung dem Medium accommodirt sind, entq)rieht
ganz den allgemeinen Yoi^ängen in der organischen Natur, nnd
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441
dass sie demgemäss keinen Mund und Magen haben , kann ihre
IndiTidnalität nicht beeinträchtigen , da es ja aach Thiere giebt,
denen Beides fehlt.
Gehen wir weiter in's Einzelne, so finden wir in der Zelle
wiederum alle an das Individuum zu stellenden Anforderungen
erfüllt. ,y Alles Leben ist an die Zelle gebunden und die Zelle
ist nicht bloss das GefUss des Lebens , sondern sie ist selbst
der lebende Theil" (Virchow, Vier Eeden, S. 54). .»Was ist
der Organismus? Eine Gesellschaft lebender Zellen , ein kleiner
Staat, wohl eingerichtet mit allem Zubehör von Ober- und Unter-
beamten, von Dienern und Herren, grossen und kleinen" (8. 55).
„Bas Leben ist die Thätigkeit der Zelle, seine Besonderheit ist die
Besonderheit der Zelle" (S. 10). „EigenthümHch erscheint uns die
Art der Thätigkeit, die besondere Verrichtung des oi^anischen
Stoffes, aber doch geschieht sie nicht anders, als die Thätigkeit
und Verrichtung y welche die Physik in der unbelebten Natur
kennt. Die ganze Eigenthümlichkeit beschränkt sich darauf, dass
in den kleinsten Baum die grösste Mannigfaltigkeit der Stoffcom-
binationen zusammengedrängt wird, dass jede Zelle in sich einen
Heerd der allerinnigsten Bewirkungen, der allermannigfaltigsten
Stoffcombinationen durch einander darstellt, und dass daher Erfolge
erzielt werden, welche sonst nirgend wieder in der Natur vorkom-
men, da nirgend sonst eine ähnliche Innigkeit der Bewirkungen
bekannt ist" (8. 11). ^^i^l ^^t^ 6i<^h nicht entschliessen, zwischen
Sammelindividuen und Einzelindividuen zu unterscheiden , so muss
der Begriff des Individuums in den organischen Zweigen der
Naturwissenschaft entweder aufgegeben , oder streng an die Zelle
gebunden werden. Zu dem ersteren Resultate müssen in folgerich-
%em Schlüsse sowohl die systematischen Materialisten, als die
Spiritualisten kommen; zu dem letzteren scheint mir die unbefan-
gene realistische Anschauung der Natur zu führen, insofern nur
auf diese Weise der einheitliche Begriff des Lebens durch das
ganze Gebiet pflanzlicher und thierischer Organismen gesichert
bleibt** (8. 73 — 74). Dies ist das letzte Eesultat Virchow's; man
sieht, dass er an die Wahrheit rührt, ohne den Muth zu haben,
ne kräftig zu ergreifen. Was uns hier angeht, ist seine woblbe-
grondete Auffassung der Zelle , welche er nach Schleiden's und
Sehwann's Vorgange weiter ausgebildet und damit die thierisohe
Physiologie und Pathologie so zu sagen auf eine neue 8tufe er-
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442
hoben hat; ygL Virchow, Cellulaipathologie, bes. Cap. 1 and 14.^
Base die Orgamsmen überhaupt aus Zellen besteben, und zwar aiu
80 vielen mikroskopisch kleinen, dafür ist der teleologische Grand
der, dass die £mähnmg nur durch Endosmose bewirkt werden
kann, die Endosmose nur durch sehr dünne, feste Wände mogUch
ist, also wenn bei diesen dünnen Wänden doch noch die nöthige
Festigkeit erreicht werden soll^ das Ganze ein Gomplex sehr kleiner
Zellen sein muss. Wie gross die Anzahl der Zellen ist, beweise
folgendes Oitat:
„Zu Zürich bei dem Tiefenhof steht eine alte linde; jedes Jakr,
wenn sie ihren Blätterschmuck entfaltet, bildet sie nach der Schätzung
Yon Nägeli etwa zehn Billionen neuer lebender Zellen. Im Blnte
eines erwachsenen Mannes kreisen nach den Bechnungen yonYierotdt
und Welcker in jedem Augenblicke sechzig Billionen (man denke:
60,000,000,000,000) kleinster Zellkörper** (Yirchow, 8. 55).
Wir können nach alledem nicht bezweifeln, dass wir in jeder
Zelle ein Individuum Yor uns haben, ob wir aber mit der Zelle
die niedrigste Stufe vom Individuum erreicht haben, welche noch
Organismus ist, dies möchte noch zweifelhaft erscheinen.
Wir unterscheiden nämlich in jeder Zelle : Zellenwand, Zellen-
inhalt, Kern oder nucleus, und in den allermeisten Eemchen oder
ntudeolus. Biese Theile sind mit Bestimmtheit als Organe der
Zelle zu betrachten, welche ihre besonderen Functionen haben.
Die Zellenwand leitet die Einnahme und Ausgabe naeh Qoantital
und Qualität, der nudeoluH besorgt die Fortpflanzung oder Yer-
mehrung der Zellen (Zellen ohne nucleoltts sind unfruchtbar), def
nudeus sichert ^en Bestand der Zelle und leitet wahrscheinlich
die chemischen Umwandlungen und Productionen im Innern der
Zelle. Wenn die relative Sell^tständigkeit dieser Oi^^e als üesi*
stehend zu betrachten ist, so kann man denselben auch kaum be-
streiten, dass sie noch organische Individuen sind, denn unzweifel-
haft findet innerhalb einer jeden solchen Sphäre eine organis^
Wechselwirkung der Theile zum Behufe der auszuübenden Function
statt —
Dies wären denn die niedrigsten Individuen, welche orga-
nische genannt werden könnten. Es fragt sich aber, ob wir über-
haupt berechtigt sind, von einem Individuum zu fordern, dass es
Oiganiamus sei. So viel ist gewiss, so lange ein Ding noch Theile
hat, so lange müssen diese Theile in organischer Wechselwirknng
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443
stehen, wenn die cansale Beziehongseinheit nicht fehlen soll; d. h*
60 lange ein Ding noch Theile hat, rnnss es Organismas sein, wenn
es IndiTiduum sein will. Wie aber, wenn ein Bing keine Theile
mehr hat? Wenn man von einem Dinge mit Theilen nur darum
die innigste oansale Beziehung der Theile verlangt, damit es die
gröBstmögliohste Einheit nach allen Bichtungen hin besitze, sollte
dann diese grösstmögliohste Einheit nicht in noch viel höherem
Kaasse vorhanden sein, wo das Ding seiner Natur nach einfach,
d. h, ohne Theile ist, also diese Anforderung von vornherein über-
flüssig gemacht wird ? Die Einheit des Ortes, der Ursache und des
Zweckes ist mit der Einfachheit des Dinges eo ipso g^;ebeny die
Anforderung der Wechselwirkung der Theile aber, welche bei dem
zusammengesetzten Dinge ein nothwendiges XJebel war, ist hier
glücklicherweise schon vor ihrer Aufstellung überwunden worden,
da alle Theile in Einen fallen, der zugleich das Ganze ist; die
Einheit der Einfachheit ist also viel stärker, als die Einheit der
Wechselwirkung der Theile. Esthut dem, worauf es hierbei
ankommt, keinen Eintrag^ wenn man den Begriff der Einheit als
auf das Einfache unanwendbar behauptet, denn wir waren
ja auf den Begriff der Einheit nur dadurch gekommen, dass wir
dasjenigl suchten, was Individuum ist, d. h. was seiner Natur
nach nicht getheilt werden darf. Dies ist aber bei dem
Einfachen unzweifelhaft mindestens ebenso sehr, als bei
dem Einheitlichen der Fall, ja sogar noch mehr als bei diesem,
denn die aus vereinigten Theilen bestehende Einheit trägt doch
immer noch die Möglichkeit der Auflösung in Theile in sich, das
EinÜEUihe aber nicht.
Ein solches einfaches Ding, welches also den höchsten Anspruch
auf den Begriff des Individuums hat, kennen wir aber in der stoff-
losen, punctuellen Atomkraft, welche in einem einfachen continuir-
liehen Willensacte besteht. Ausser den Atomen aber kann es im
Unorganischen keine Individuen geben, denn jedes Ding, das
aus mehreren Atomen besteht, hat diese zu seinen Theilen, und muss
demzufolge Organismus sein, wenn es Individuum sein will. Es ist
also ÜBklsch, einen Ejystall oder einen Berg ein Individuum zu
nennen« Dagegen kann man wohl die Himmelskörper, insoweit sie
noch lebendig sind, Individuen nennen, denn sie sind dann in der
That Organismen ; mit ihrem Absterben aber stirbt, wie bei Thieren
und Pflanzen, auch die Individualität. Wer daran zweifelt, dass
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ein lebender Himmelskörper wie die Erde ein Organismus ist, der
studire nur die Wechselwirkong von Atmosphäre und Innerem der
Erde durch den Kreislauf des Eegens, die Wechselwirkung toh
Schichtenformation und niederem Thierreiche, sowie der Schichten
unter einander in der Metamorphose der Gesteine, und der orga-
nischen Beiche unter einander, kurz der studire Geologie, Meteoro*
logie und den Naturhaushalt im Grossen überhaupt; überall wird
er das Wesen des Organischen, Erhaltung und Steigerung
der Form durch Wechsel des Stoffes, in vollem Maasse
bestätigt finden, ohne dass damit behauptet werden sollte, dass
dazu gerade directe Willensbetheiligungen des Unbewussten (ausser
den Atomkräften in den vorhandenen Combinationen und den bei
der Schichtenbildung betheiligten Organismen) erforderlich seien«
Betrachten wir nun, wie sich das Bewnsstseinsindividuum zu
dem materiellen, oder besser ausgedrückt, äusserem Individuum
verhält. Es leuchtet sofort ein: nur wo ein äusseres Individuum
gegeben ist, kann ein Bewnsstseinsindividuum möglich werden, aber
nicht in jedem äusseren Individuum braucht ein Bewusstseinsindi-
viduum zu Stande zu kommen; das äussere Individuum ist
also eine Bedingung, aber nicht die zureichende Ur-
sache des Bewusstseinsindividuums.
Wir haben gesehen, dass eine gewisse Art von materieller
Bewegung in gewisser Stärke die Bedingung der Bewusstseinsent-
stehung ist; es müssen also schon alle solche äussere Individuen
von Erzeugung eines Bewusstseinsindividuums ausgeschlossen sein,
welche an Art oder Stärke ihrer Bewegungen jene Bedingungen
nicht erfüllen. Es ist wohl mögb'ch, dass die Atomkräfte, vielleicht
auch noch manche Zellen von zu fester oder zu flüssiger Beschaf-
fenheit sich in diesem Falle befinden, unorganische Massen ohne
äussere Individualität haben selbstredend auch keine Bewusstseins-
individualität , denn selbst wenn die einzelnen Atome ihr Bewusst-
sein haben sollten, so würde dies aus Mangel an verbindender
Leitung stets in atomistischer Zersplitterung bleiben, aber nie zu
einer höheren Einheit gelangen. Wo wir zuerst deutliche Spuren
von Bewusstsein finden, ist an der Zelle mit halbflüssigem Inhalt
(niedrigste Thiere und Pflanzen) ; hier ist unzweifelhaft die Einheit
des Bewusstseins durch dieselben Bedingungen herbeigeführt, wie
seine Entstehimg, da der diese Bedingungen erfüllende Theil des
Zelleninhaltes ziemlich homogen auf allen Seiten der Zelle vertheilt
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445
ist Wir werden also annehmen dürfen, dass, wo in einer Zelle
BewnBetsein vorhanden ist, der äusseren Individualität auch eine
innere BewuBstseinsindividualität entspricht.
Wo mehrere Zellen zu einem Individuum höherer Ordnung
jrasammentreten , brauchen darum die Bewusstseine der einzelnen
Zellen noch keineswegs zu einer höheren Einheit verbunden zu
sein, denn dies hängt von dem Vorhandensein und der Güte der
Leitung ab. Indess dürfte die Behauptung wohl nicht gewagt er-
scheinen, dass zwischen frischen , lebenskräftigen Zellen stets ein
gewisses, noch so geringes Maass von Leitung stattfindet^ mindestens
immer zwischen zwei benachbarten Zellen ; es fragt sich nur, ob
der Grad der Erregung auch die Eeizschwelle überschreitet. Wird
erst durch die Empfindung einer Zelle in der benachbarten
ebenfjEiIls eine Empfindung hervorgerufen, so findet offenbar ein in-
directer Einfluss von jeder Zelle auf jede andere statt, und
wenn auch eine s6 indirecte und auf mehrere Zellen hin offenbar
verschwindend kleine Beeinflussung nothwendig sehr bald unterhalb
der Beizschwelle bleiben muss und folglich nicht von einer Be-
wusstseinsindividualität des Ganzen zu reden berechtigt, so ist doch
eine gewisse Solidarität der Literessen dabei nicht zu verkennen.
Wenn hiemach keineswegs jedem äusseren Individuum höherer Ord-
nung ein Bewusstseinsindividuum höherer Ordnung zu entsprechen
braucht, so ist doch so viel sicher, dass verschiedene Bewusstsein»-
individuen nur dann sich zu einem Bewusstseinsindividuum höherer
Ordnung verbinden können, wenn die ihnen entsprechenden äusseren
Individuen zu einem Individuum höherer Ordnung verknüpft sind;
denn die zur Bewusstseinseinheit nöthige Leitung kann nur durch
hoch organisirte Materie hergestellt werden, diese aber stellt un-
mittelbar die Einheit der Gestalt, der organischen Wechselwirkung
TL 8. w., kurz das äussere Individuum höherer Ordnung her.
Es bewahrheitet sich also in jeder Hinsicht unsere Behauptung,
dass die äussere Individualität wohl Bedingung, aber nicht zurei-
chende Ursache der Bewusstseinsindividualität ist, weil letztere
auch noch drei andere Bedingungen voraussetzt: eine gewisse Art,
eine gewisse Stärke der materiellen Bewegung, und bei Individuen
höherer Ordnung eine gewisse Güte der Leitung. Wenn Eine die-
ser drei Bedingungen nicht erfüllt ist, so kann dem äusseren Indi-
viduum kein Bewusstseinsindividuum entsprechen.
Ich glaube, dass die hier durchgeführte Trennung und Aus-
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446
einandersetzung des äusseren und inneren Individuums wesentlich
zur Elärung der Individualitätsfrage beitragen dürfte; dieselbe ist
die nothwendige Ergänzung zur Erkenntniss der Eelativität des
Individualitätsbegriffes.
Die [Relativität des Individualitätsbegriffes ist übrigens keine
neue Erkenntniss. Spinoza sagt : ,;Ber menschliche Körper besteht
aus vielen Individuen von verschiedener Natur, von denen jedes
sehr zusammengesetzt ist^' (Ethik, Th 2. Postul. 1), und Gotha:
„Jedes Lebendige ist kein Einzelnes, sondern eine Mehrheit; selbst
insofern es xms als Individuum erscheint, bleibt es doch eine Ver-
sammlung von lebendigen, selbstständigen Wesen, die der Idee, der
Anlage nach gleich sind , in der Erscheinung aber gleich oder ahn*
lieh, ungleich oder unähnlich werden können. Je unvollkommener
das Geschöpf ist, desto mehr sind diese Theile einander gleich oder
ähnlich, und desto mehr gleichen sie dem Ganzen. Je vollkomme-
ner das Geschöpf wird, desto unähnlicher werden die Theile ein-
ander. Je ähnlicher die Theile einander sind, desto weniger sind
sie einander subordinirt. Die Subordination der Theile deut^ auf
ein vollkommeneres Geschöpf/' (Letztere Bemerkung sagt dasselbe,
was wir uns mit dem Gleichnisse der moncurchischen und republi-
kanischen Begierungsform zu veranschaulichen gesucht habea)
A.m ausföhrlichsten ist die Relativität des Individualitätsbegriffes
von Leibniz behandelt worden, wenn auch seine Auffassung in Folge
seines abweichenden Begriffes von,Jieib'' wesentlich von derunserigen
abweicht. Bei Leibniz hat zunächst jede Monade einen ihr eigen-
thümlichen unveränderlichen und unvergänglichen Leib, welcher
ihre Schranke bildet, und durch welchen erst ihre Endlichkeit ge-
setzt wird. Dieser Leib ist nicht Substanz, so wenig wie die Seele
der Monade, einseitig gefasst, Substanz ist, und zwischen diesem
Leibe und der Seele existirt keine prästabilirte Harmonie, da sie
hier überflüssig wäre, sondern sie sind Beides nur Momente» ver-
schieden gerichtete Kräfte, einer und derselben einfachen Substanz,
der Monade, welche ihre natürliche Einheit ist, und dies ist Leib-
niz's Identität von Seele und Leib (Denken und Ausdehnung).
Dieser unveräusserliche Leib ist jedoch etwas rein Metaphysisches
und nichts Physisches; höchstens bei den Atomen kann man in
gewissem Sinne die Leibniz'sche Auffassung in physischer Hinsicht
gelten lassen. Bei allen Individuen oder Monaden höherer Ord-
nung dagegen ist die Yorstellung eines unveräusserlichen Leibes
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447
atisser dem sichtbaren, aus anderen Monaden oder Atomen zusam-
mengesetzten Leibe (eine Yorstellong, die lange Zeit unter dem
Namen eines Aetherleibes heromgespnkt hat), von der Wissenschaft
glücklich beseitigt worden; wir wissen jetzt, dass alle Organismen
nnr durch den Stoffwechsel ihr Bestehen haben. Wir wollen
aber Leibniz nicht Unrecht thun; was er sich unter dem der Mo-
nade eigenthümlichen Körper gedacht hat, ist jedenfieills ein meta«
physisch viel haltbarerer Gedanke; ich vermuthe, dass er damit
nichts weiter hat ausdrücken wollen, als die Fähigkeit der imma-
teriellen Monade, bestimmte räumliche Wirkungen zu setzen,
eine Fähigkeit, die allerdings allen Monaden, der höchsten wie der
niedrigsten zukommt, und die nur durch die eigenthümliche Be-
ziehung der Wirkungsrichtungen auf Einen Punct
in den Atom-Monaden und deren Combinationen für die sinn-
liche Wahrnehmung von Aussen den Schein der Körperlich-
keit hervorruft. Immerhin aber ist es kein glücklich gewähltes
Wort, das Yermögen, räumlieh zu wirken, mit dem Namen Körper
zu belegen, da nur die CJombination der niedrigsten Art von räum-
lichen Kräften dieses Wort in Anspruch nehmen kann. Lassen wir
^er diesen unveräusserlichen Monadenkörper bei Seite und betrach-
ten, wie Leibniz die Zusammensetzung der Monaden auffasst.
Wenn mehrere Monaden zusammentreten, so bilden sie ent-
weder ein unorganisches Aggregat, oder einen Organismus. Im
Organismus sind höhere und niedere Monaden, in dem unorganischen
Aggregat nur niedere Monaden enthalten, daher findet in ersterem
Subordination, in letzterem nur Goordination der Monaden statt.
Auf je höherer Stufe der Organismus steht, desto mehr tritt das
üebergewicht Einer Monade an Vollkommenheit gegen alle übrigen
hervor ; diese heisst alsdann Oentralmonade. Die höheren Monaden
werden von den niederen unklar und unvollkommen vorgestellt, die
niederen von den höheren dagegen klar und vollkommen. ,fEt
une crSature est plus parfaite qü'une autre m ce qu*on trouve
en eile ce qui sert h rendre raison a priori de ce qui se passe
dans r autre y et c'est par Ih^ qu'on dity qu'eÜe agit sur lautre.
Mais dans les substances simples ce n*est qtiune influence
idSale dune Monade sur Vautre^^ (Monadologie Nr. 50, 51,
p. 709.)
Leibniz läugnet den influxus physicus zwischen den Monaden,
indem er sagt, dieselben hätten keine Fenster, durch die Etwas
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hineinBcheinen könnte ; der mfluxua tdealisj den er an dessen Stelle
setzt, besteht ihm nur in einer XJ eher eins timmung a priori
dessen, was die Monaden vorstellen, d. h. in einer prästabilir-
ten Harmonie. Nun ist aber das Yerhältniss der Central-
monade in einem Organismus zu der Summe der subordinir-
ten Monaden das, was man zu allen Zeiten das Yerhältniss yon
Seele und Leib genannt hat; zwischen diesem Leibe und der
Seele besteht also prästabilirte Harmonie.
Das Yerhältniss zwischen der Seele und dem complexen
wandelbaren Leibe hat Leibniz von Aristoteles übernommen; es
ist das Yerhältniss von ivigysia und vir], von sich auswirkender
Eorm und Idee und dem Material, in welchem die Idee sich aus-
wirkt. Das Yerhältniss von Seele und unveräusserlichem eigenthüm-
lichen Leibe dagegen hat Leibniz von Spinoza übernommen, nach
welchem die Eine Substanz überall mit den beiden unzertrennlichen
Attributen : Denken und Ausdehnung, erscheint Beide Yerhältnisse
fallen merkwürdiger Weise in den niedrigsten, den Atom-Monaden
zusammen, und zwar durch den einfachen Kunstgriff der NatuTi
sämmtliche Wirkungsrichtungen einer solchen Monade auf einen
Punct zu beziehen. Leider hat Leibniz diese beiden zur Yerweoh-
selung Anlass gebenden Bedeutungen von Leib oder Körper nicht
genügend getrennt, und ist deshalb vielfach missverstanden worden.
Das Wesentliche für uns an der Leibniz'schen Lehre ist die Ag-
gregation vieler Monaden oder Individuen zu einem Complex, welcher
als Körper einer Monade oder einem Individuum höherer Ordnung
als Seele subordinirt wird. Hätten Leibniz die Resultate der heu-
tigen Physik, Anatomie, Physiologie und Pathologie zu Gebote ge-
standen, so würde er nicht versäumt haben, seine Theorie mit
Bücksicht auf Atome, Zellen und Organismen weiter auszuführen;
so aber war und blieb es nur ein genialer Griff, der der nöthigen
empirischen Stützen entbehrte. Was wir dagegen nicht acceptiren
können, ist die künstliche und ungenügende Hypothese der prästa-
bilirten Harmonie, welche durch die unmotivirte Läugnung des
inßuxus phi/sicus der Monaden unter einander nothwendig wurde.
Die Monaden sind gleichartige, räumlich wirkende. Wesen; worauf
sollen sie räumlich wirken, wenn nicht aufeinander? Wenn wirk-
lich der inßuxus phydcxAS sich in einen influxus idecUis und dem«
gemäss alle Causalität sich in logischen Process auflöst, so ist dies
schlechterdings nicht vom Standpuncte der Monadologie, wo die
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449
Indiriduen Wesen Bind, sondern nnr von dem des Monismns^ ^wo sie
zu Erscheinungen herabsinken, zu begreifen. — Was nns femer von
Leibniz unterscheidet, ist die gewonnene Erkenntniss, erstens, dass
das organische Individuum höherer Ordnung nur in der betreffenden
Einheit der Individuen niederer Ordnung besteht, und dass das
Bewusstseinsindividuum überhaupt erst durch eine Wechselwirkung
gewisser materieller Theile des organischen Individuums mit dem
Unbewussten entsteht. Es folgt hieraus, dass die Centralmonade
oder das Centxalindividuum weder in Bezug auf den Organismus,
noch in Bezug auf das Bewusstsein etwas jenseit oder ausser-
halb der subordinirten Monaden oder Individuen Stehendes ist,
sondern dass, wenn im höheren Individuum noch irgend etwas neu
Hinzukommendes ausser der Verbindung der niederen Individuen
enthalten ist^ dies nur ein unbewusster Factor sein kann.
Wir kommen hiermit auf die letzte, bisher noch nicht berührte
Frage nach der Individualität des unbevmsst Psychischen; diese
Betrachtung führt uns so unmittelbar in das nächste Capitel hin-
über, dass wir sie erst dort beginnen wollen.
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vn.
Die AU-EiBheit deg Unbewiissteii.
Baal* es dem ünbewuBtteM f wie es si^ m einem ergaBisohen
und BewPBstseipsindiTidniim wirkend zeigt, nicht an starker Einheit
Mut» ist wohl BpÜQirt eialenchtead. Wir erkennen ja überhaupt das
Unbewnsste nor düroh die Causalität, es ist eben die Ursaehe aller
derjenigen Yoiginge in einesai orgaaisehen nnd Bewnsstseinsindi-
yidnnm, welche eine psychiscbe und dodi nicht bewnsste Ursache
Toranssetzen lassen. Alles, was wir innerhalb dieses TJnbewussten
an Unterschieden oder Theilen gefonden haben, beschränkt sich auf
die beiden Momente Wille nnd Yorstellung, und von diesen haben
wir doch auch wiederum die untrennbare Einheit im ünbewussten
erkannt. Insofern man aber dabei stehen bleiben will, Wille und
Yorstellang als verschiedene Theile des Einen ünbewussten
zu fassen, so ist doch ihre Wechselwirkung in Motivation des
Willens durch die Vorstellung und Erweckung der Yorstellung durch
das Interesse des Willens ganz unverkennbar. Was wir im Orga-
nismus noch als Einheit durch Wechselwirkung der Theile fassen
müssen, ist in der Einen Ursache dieser Yorgänge in die Einheit
des Zweckes aufgehoben, zu welchem diese einzelnen Thätigkeiten
des einen und des anderen Theiles alle nur als gemeinsame Mittel
gesetzt x^rden. Die Einheit der Zeit in der Continuität des
Wirkens ist ebenüalls vorhanden, ^e Einheit des Baumes kann hier
natürlich nicht mehr zur Sprache kommen , weil wir es mit einem
unräumlichen Wesen zu thun haben ; und doch ist sie in den W i r >
kungen ebensowohl vorhanden, als die Einheit der Zeit. So viel
steht also fest, dass die Einheit des psychisch Ünbewussten im Indi-
viduum die stärkste ist, die man nur finden kann. Damit ist aber
noch nicht gesagt, dass es unbewusst psychische Individuen giebt»
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461
deiin wenn die Einheit im Unbe^nsdtett äo stark wate, dass sie
alles ünbewuSBtpsychische , wo es änob in der Welt wil*kän tnöge,
in sich ohne Theile befasste, so gäbe es nur noch Ein ünbewusstes
nnd nidit mehrere ünbeWasst^, dann gäbe es auch keine Indi-
viduen mehr im ünbewnssten, solidem das ganze Unbewnsste "v^kre
#in einziges Individuum ohne subordinirte , coordinirte odet
flupefotdiilirte Individuen. Da auch Materie und Bewusstsein nüt
Erscheinungsformen des ünbewussten sind, so wäre danii dieses
Wesen das Alles umfassende Individuum, welch esAllesSeiende
ist, das Absolute Individuum, oder das Individuum tat iSox^ji'.
Bei den Organismen brauchten wir die Frage ^ ob wir denn
auch wirklich mehrere Bingö und nicht Eines vor uns häbeh,
gar nicht aufimwörfen, weil die räumliche Besondie.rung der Gestalt
sie im Toraus beantwortete; b^i den Bcv^tisstseinen haben wir die
FMtge, die apriorisch wohl kaum zu entscheideti Wäre, der inneren
Erfabrtlfig gemäss beatitwortet, welche uns lehrt, dads das Bewüsdt-
sein von Peter und Paul, von Hirn und ünterleibsganglien, nidit
Eines, sondern mehrere verschiedene sind; beim TTnbewussten aber
tritt diese Präge in ihrem ganzen Ernste an uns heran, da das
Wesen des TJnbewussten unräumlich ist, und diä intiere Erfahrung
des BewuBStseins selbstverständlich gar nicbts über das tfnbeWusste
aussagt. IViemand keimt das unbe^usste Sübject seiiles eige-
nen Bewüsstseins diröct, Jeder kennt es nur als die an
sieh unbekannte psychische Ursache seines Bewüsstseins;
laichen Grund könnte er zu der Behauptung haben, dass diese
tillbekannte Ursache deines Bewußtseins eine andere, als die
seines Nächsten sei, welcher deren Ansich ebenso wenig kennt?
Mit einem Worte, die unmittelbare iiinere oder äussere
Btfahrunggiebt uns garkeineb Ahhaltspunct zur Entscheidung \
di^er wichtigen Alternative, die mithiil vorläufig völlig offfehe
Ftagöist;umsiözu entscheiden, ttrerden wiif und nach Analogien
und itrdirecten Argumenten umsehen lUüsden, sb lange ^r in der
Bötrachtuflg a posterior bleiben wolletl.
Ktir deshalb, weil der eine 'Rieil meines Himeö mit dem anderen
leitend verbunden ist, itsi dad Bewusstsein beider Theile geeint, und
könnte miin die Gehirne zweier Menschen durch eine den Gehilmfas^ni
gleichkommende Leitung verbinden, öo würden die beiden nidtt meht
2 W e i y sondern e i n Bewusstsein haben. Sollte fibefhaupt einö Yäteini-
gimg zweier B^wuint^eine in Eins, wie die fieurtisöh überall statt hat»
29»
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462
möglich sein können, wenn das ünbewosste y ans welchem auf den
materiellen Beiz das Bewnsstsein geboren wird, nicht schon an sich
Eins wäre?
Die ganze Ameise hat ein, die zerschnittene zwei Bewosstseine^
und wenn man die Hälften zweier verschiedener Polypen (also zwei
Torher getrennte Bewnsstseine) zusammennäht, so wird Ein Polyp
mit Einem Bewnsstsein daraus. Beiohthum und Axmuth des Be-
wusstseins kann bei diesen principiellen Untersuchungen keinen
Unterschied machen. So wenig es nach den Mheren Betrachtungen
Jemand läugnen kann, dass er so yiele (mehr oder weniger ge>
trennte) Bewnsstseine hat; als er Nervencentra , ja sogar als er
lebende Zellen hat, so sehr wird Jeder sich mit Becht gegen die
Behauptung sträuben, dass er so viele unbewusst wirkende Seelen
habe, als er Nervencentra oder Zellen habe; die Einheit des
Zweckes im Organismus, das richtige Eingreifen jedes einzelnen
Theiles im richtigen Moment, kurz die wunderbare Harmonie des
Organismus wäre unerklärlich, in der That nur als prästabilirte
Harmonie zu fassen , wenn nicht die Seele im Leibe Eine unge*
theilte wäre, welche aber gleichzeitig in allen Theilen des
Organismus wirkt, wo ihr Wirken nöthig ist, — wenn es nicht
Ein und dieselbe Seele wäre, welche hier die Athmung, dort die
Excretion regulirt, welche hier im Gehirn das Himbewusstsein, dort
im Ganglion das Ganglienbewusstsein zu Stande konomen lässtr
Wenn die Zerschneidung der niederen Thieire uns zeigt, dass die-
selbe Seele, die vorher in dem ganzen Thiere die verschiedenen
Theile leitete, und die verschiedenen Bewnsstseine erzeugte, mm
auch nach der Trennung unverändert weiter functionirt, könnw
wir dann glauben, dass die körperliche Durchschneidung auch die
Seele zerschnitten und in zwei Theile getrennt habe, kann über-
haupt durch Trennung eines blossen Aggregats von Atomen die sie
zufällig beherrschende unräumliche Seele afdcirt gedacht werden^
ausser insofern die Bedingungen ihrer Wirksamkeit
geändert sind? Wenn aber die Seele in zwei künstlich ge-
trennten Thierstücken noch Eine ist, sollte sie nicht auch bei der
spontanen Ablösung von Knospen, Scheren u. s. w. ungetheilt blei*
ben? Und nicht auch bei der zweigeschlechtlichen Zeugung, wo-
Ein hermaphroditisches Thier sich selbst begattet (z. B. Bandwurm)?
Wenn die unbewusste Seele in den Trennstücken eines Insectes
oder in dem Mutterstocke und den abgelösten Knospen noch £in&
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463
ist, sollte sie nicht auch in den von Natur getrennten Insecten
eines Bienen- oder Ameisenstaates dieselbe sein, welche auch ohne
ränmliche Verbindung der Organismen dennoch gerade so harmonisch
in einander wirken, wie die einzelnen Theile desselben Organismus ?
Sollte nicht das Hellsehen, welches wir überall in den Eingriffen
des ünbewussten wiederkehrend gefunden haben, und welches in
<tem beschränkten Individuum so höchst auffallend ist, sollte nicht
-dies allein schon zu dieser Lösung auffordern, dass die schein-
bar in diyiduellen Acte des Hellsehens eben nur Kund-
gebungen des in Allem identischen ünbewussten
seien, womit auf einmal alles Wunderbare des Hellsehens ver-
.schwindet, da nun das Sehende auch die Seele des Gesehenen ist?
und wenn es der ünbewussten Seele eines Thieres möglich ist, in
allen Organen und Zellen des Thieres gleichzeitig anwesend und
2weokthätig wirksam zu sein, warum soll nicht eine unbewusste
Weltseele in allen Organismen und Atomen zugleich anwesend und
2weckthätig wirksam sein können, da doch die eine wie die andere
unräumlich gedacht werden muss?
Was sich gegen diese Auffassung sträubt, ist nur das alte .
Torurtheil, dass die Seele das Bewusstsein sei; so lange I
man dies nicht überwunden und jeden heimlichen Best dayon
Töllig in sich ertödtet hat, so lange muss jene All -Einheit des
ünbewussten freilich von einem Schleier bedeckt sein; erst wenn
man erkannt hat, dass das Bewusstsein nicht zum Wesen, M
.sondern zur Erscheinung gehört, dass also die Vielheit des [ \
JBewusstseins nur eine Vielheit der Erscheinung des
Einen ist, erst dann wird es möglich, sich von der Macht
des prsctisehen Instinctes, welcher stets „leh, Ich'' schreit, zu
-emancipiren, und die Wesenseinheit aller körperlichen und geistigen
Erscheinungsindiyiduen zu begreifen, welche Spinoza in mystischer
Conception erfasste und als die Eine Substanz aussprach. Es ist
kein Widerspruch gegen die All-Einheit des ünbewussten, dass das
individuelle Selbstgefühl, welches zuerst nur als dumpfer practischer
Ihstinct vorhanden, mit steigender Ausbildung des Bewusstseins
immer mehr gesteigert und zum reinen Selbstbewusstsein
zugespitzt wird, dass also der für das bewusste Denken unzer-
störbare Schein der individuellen Ichheit nur um so schärfer
hervortritt, je schärfer das bewusste Denken wird; es ist dies, sage
ich, kein Widerspruch gegen den Monismus des ünbewussten,
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4&4
denn alles bewr^B^te Denken bleibt ja in den Bedingi^ing^a de»
Bei^uBsts^ips beft^en, xmd. k:a^n sich meiner Natur nacdi über
dieselbe niemals in directer Weise erheben, muss vielmehr mit dem
Trqgschleie; der Uaja aioh um so enger umspinnem je mebr e»
seine eigenthümliche Natur zur Entfialtung bringt. Dabei
kann sdir wohl die Einheit des Unbewusaten bestehen, nämlioh
de^en, was i^e in's Bewusstßein fallen kani^, weil es hinter
demselben lifigt, wie der Spiegel nie sich selber spiegehn kann
(hitichstens sein Bild in einem Eweiten Spiegel). So lange man
f];eilich das TJnb^wusste nicht streng anageschieden und entwickelt
hat, SQ lange besteht jener Einwand in yoUer !E^xaft, und so lange
kaiMi die Idee der All-£inheit nicht rationell begrifEen imd gebilligt^
sondern nur mystisch concipirt werden, trotj? dem Widerspruche
des Bewusstseina.
Bisher haben wir erstens gezeigti dass es keinen Gbruad giebt
und geben kann, der gegen die Einheit des Unbewussten spräche,
uixd haben zweitens verschiedene aposteriorische Wahrscheinliob-
keitsgründe für dieselbe beigebracht. Wir kömiben aber auch die
]S*rege ganz direct a priori erledigen.
Das ünbewusste ist un^rämnlich, denn es setzt erst den
!^(^um (die Yorstellung dei^ idealen, der WiUa den realen). Das
TJi^bewusste ist also weder gross noch klein, weder hier noch dort»
weder in^ Endlichen noch im Unendlichen, weder in der Gestalt
noch im Puncto, weder irgendwo noch nirgends. Daraus iolgty das»
dßs XJnbewu^ste keine Unterschiede räumlicher Natq^r
in sich haben kann, ausser sofern es dieselben im YorBtellea ood
'Wirken setzt. Das, was in einem Atem des Sirius wirkt» iat alao
nicht etwaS' Anderes, als das, was in einem Atome der ISrde wirkte
sondern wirkt nur auf andiere Weise, nämlich räuqüidL ver-
schieden« Wir haben also zwei Wirkungen, ohne das Eecht, jEwei
^esei» für diese Wirkungen zu supponiren; denn die Verschiedeil-
heilt d^ Wirkungen lässt nur auf eine YerschiedenheU der
Yorstellungen im Wesen, die Verschiedenheit zweier Vw-
steUungen aber keineswegs auf die Nichtidentitäi der
81^ vorstellenden Wesen schliessen. Kuj^ und gi^^ty räum*
liehe Unterschiede können dem Unbewussten picht zukommen» alao
ap^fa keine Vielheit des Wesens dU]:ch räiumliche Be-
stiq^mungen. Bei s^eitlicben Unterschieden i^t dies noch viel
klarer^ da wir ja ajuch so gewöhnt ai^d» die Identität des continuir-
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46&
lieh wkkttQcIcii Weten« tarots aller jiMiliofaeii Ycondkiedenhait, trots
des friiiiMr oier Bgüier der Wirkniigeiiy «nmerkenneiu Nun giebi
es aber, oftijeotiy genommen, keine anderen^ ak rämiliohe Unter-
sehiede; denn waa wir eonat noch an Untetsohieden kennen, die
UnterBohftede der Yorstellnngen unter einander «ad der UnterBelded
dea WoUena und YorstellenB, sind innose / sul^eotiTB üniteiiBdiiede
yeraduedener Thätigkeiten desselben Wesens oder Sulifectes, nicht
aber ein Unterschied verschiedener Wesen oder'Subjecte. Von dem
Unterschiede veiachiedener Yorstenungen unter einander ist dies
oline Weiteres klar, aber es gilt auch für den durch idle Indm«
dnen der Natur sich durchEiehenden Unterschied der beiden Grund-
thätigk^ten Wollen und Yorstellen, denn das Unbewusste ist Bines
im Weilen wie im Yorstellen, nur dass es hist will und dort var-
stelli, es yerhält sich xu jenen Thätigkeiten wie Spinona's Substanz
m ihren Attributen: (Näheres darüber in Gbtp. 0. XIY.)
Weim ako dem Wesen das Unbewussten weder durch ränm-
Heke, no<A sonstige Unterschiede eine Yielhdt des Wesens auige*-
burdet weiden kann, so mass es eben eine einfiEtche Einheit sein.
Eb stimmt mithin das BesnUat dieser apriorischen Betrachtung Tiällig
mit dem der aposteriorischen Wahrscbeinlichkeitsdemonstratian
überein, und ist demnach die All-Sinheit des Unbewussten als be^
wiesen ansusehen» Es haben hierdurch die Individiien ' oder
Monaden des Leibniz ihre selbstständige fiubstansialitäi an die
höchste Monade verloren, oder sind so unselbstständigen Erschei-
nungsfomsn (modu) dieser höchsten Monade geworden, die aber
auch eben damit dmk im Leibniz'schen Systeme ihr anhaftenden
Widerspmch abgestreift hat, indem sie sich wiederum mit der
Siubstans Spinosa's identüLcirt hat.
Dieses Zurückgehen von Leibniz auf Spinoaa ist aber so wenig
Mn Bückschritt, wie das Zuräckgdien von dem Standpuncte der
heutigen Naturwissenschaft; in beiden Fällen ist man durch di«
Fortschritt» der Empirie und Inducti<m in Btand gesetat, mystisch^
geniale Gonceptionen eines Früheren a posteriori zu begreifen und
sn begründen, ein solches Zurückgehen auf die grossen Yorginger
ist ako ein wahrhafter Fertsdnitt und ein bleibender Gewinn;
denn es sei mir vergönnt, noch eimnal daran au emnem, daas der
Gang der Philosophie die Umwandlung mystisch genialer Goncep-
tionen in ratioi^lle Erkenntniss ki (Ygl Cap. B. IX.)
Wo wir uns auch umbUchen unter den genialen j^ulosophiscfaen
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456
oder religiösen Syvtemen ersten Banges, überall begegnen wir dem
Streben nach Monisrnns, nnd es sind nnr Bteme zweiten und dritten
Banges 9 die in einem äosserlichen Ihialisikins oder noch grösserer
Zersplütemng Befriedigung finden. Selbst in ausgestochen poly-
theistischen Beligionen, wie die griechische nnd die yersohiedenen
nordischen Ifythologien, erkennt man dies Streben nach Monismos
sowohl in den ältesten Fassungen, als in den späteren A.nffassnngen
tieferer religiöser O^mnther, nnd aneh in den philosophischeren Auf-
ÜEusnngen des christlichen Monotheismus ist die Welt nnr eine Ton
Gott gesetzte Eischeiniuig, die nnr so lange Bestand hat, als m
Ton Oott erhalten, d. h. nnanfhörlich neu gesetzt wird. Ea ist
nicht allen nach Monismus strebenden Systemen gelungen, denselben
wirklich zu erreichen, doch fühlt man das unverkennbare Bedarf-
nias nach einer einheitlichen Weltanschauung heraus, und nur die
seichteren religiösen und philos<^hischen Systeme haben sich mit
einem äusserlichen Dualismus (z. B. Ormuzd und Ahriman, Gott
und Welt, Weltordner und als Chaos gegebene Materie, Kraft und
Stoff u. s. w.) oder gar einer Vielheit begütigt Es giebt gar keine
nidier liegende Gonception for den mystisch Erregbaren, als die, die
Welt als einheitliches Wesen aufzufassen, sidi als Theil dieses
Wesens zu fühlen, aber als Theil, in dem zugleich das Game
wohnt, und in dem Contrast des Ich mit jenem die Elrhabenheit
des letzteren und die Theilnahme des Ich an derselben religiös za
gemessen. Seit dem Christenthume hat man dies Eine Wesen
Gott genannt, und die Ansdiauung, welche behauptet, dass dieses
Eine Wesen das All oder das Ganze ist, demgemäss Pantheismus
(im weitesten Sinne des Wortes) betitelt 'Recht Torstanden kann
man sich das Wort gewiss gefallen lassen, ich ziehe aber wegen
der Missyerständnisse , denen es ausgesetzt ist, das nach unserer
Erklärung yon Pantheismus mit demselben gleichbedeutende Wort
Monismus vor. Der orthodoxe Katholicismus freilich und der seicht
rationalistische Protestantismus, welche beide Gott zu erheben
glaubten, indem sie ihn anthropathisirend Terkleinerten, haben frei-
lich die tieferen Geister in der christlichen Kirche, welche das Be-
dürfriiss dieses Monismus erkannten und aussprachen, stets yer-
ketzert und verbrannt (z. B. Giordano Bruno) , aber ich meine, die
Zeit ist nahe, wo das Cfaristentiium monistisch werden oder unter-
gehen muss. Schelling sagt: „Dass bei Gott allein das Sein, und
daher alles Sein nur das Sein Gottes ist, diesen Gedanken läset
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467
rieh weder die Yemonft, noch das Gefühl raaben. Er ist derd^
danke ^ dem allein alle Herzen schlagen^^ (Werke Abth. IL, Bd. 2,
8. 39); und: JDasa AUes aoB Qott sei) hat man yon jeher gleichsam
gefiih]t> ja man kann sagen : eben dieses sei das wahre XJrgefühl der
Menschheit^ (Werke Abth. IL Bd. 3. S. 280). Dieses mystische
Urgefühl der Menschheit zieht sich als ein zwar oft nur höchst
mangelhaft reaUsirtes, aber mit Ausnahme der Skeptiker stets er-
kennbares Streben nach M<mismns wie ein rother Faden durch die
gesammte Philosophie von den ersten indischen Ueberliefemngen
bis anf die neueste Zeit. Da ein noch so flüchtiger üeberblick
über das Ganze für unseren Raum unthunlich ist, so beschränke ich
mich darauf, die neueste Bpoche in dieser Hinsicht mit wenigen
Strichen zu skizziren.
Das Weseiy welches der Erscheinung des Aussendinges zu
Grunde liegt, nannte Kant das ,^Ding an sich*'. Es ist merkwür-
dig, dass Kant hieraus und aus seiner Lehre von der transcenden-
taleH Idealität des Baumes und der Zeit niemals die so auf der
Hand liegende Consequenz gezogen hat, dass es nicht Dinge an sich,
sondern nur Ding an sich im Singular geben kann, da alle Viel-
heit erst durch Baum und Zeit entsteht; dagegen hat er selbst
(Eant's Werke IL 288 — 289 u. 303) die Bemerkung ausgesprochen,
dass wohl das Ding an sich und das dem empirischen Ich zu
Grunde liegende Intelligible ein und dasselbe Wesen sein könnte,
da sich zwischen beiden schlechterdings kein Unterschied mehr
angeben lässt. Dies ist einer der Züge, wo das unwillkürliche
Slsreben grosser Geister nach Monismus sich nicht yerläugnen kann.
Dass Kant trotzdem in solchen Consequenzen so zaghaft war, liegt
darin, dass er den Anfang der modernen Epoche der Philosophie
bildete, einer Epoche, in welcher die früher auf ein oder zwei
Genies ooncentrirte Arbeit auf die Schultern mehrerer vertheilt
werden musste, weil diese Arbeit um so schwieriger wurde, je öfter
die alten Probleme in neuer und zugespitzterer Form wieder auf-
tauchen, und je mehr der Umkreis des Wissens und der Erfahrung
sich erweitert.
Was Kant als zaghafte Yermuthung aufstellte , dass das Ding
an sich und das thfttige Subject ein und dasselbe Wesen sein
möchten, das sprach Schopenhauer als kategorische Behauptung
aus, indem er als den positiven Character dieses Wesens den
Willen erkannte. Es ist schon erwähnt, dass Schopenhauer's Wille
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«ioli giui2 so beuuami, ala #b er inii Yorsielliiiicp verbundiB wibe,
oliiie da«8 aohopenhanw diaa zui^bt
Fichte YBikannte die Waiirheit jener Ktat'sehiGnL Andeutaiig;
er sprkht ier Erscheinung des Dinges iedes Tom erkennondn
Snbjeet unabhängige Wesen ab, und maebt sie au einer gans yom
T erstellenden Subjeote gesetaten Ersebeinung. 8e verHert das Bing
an sieh seine Wesenheit in unmktelbarev Weke an das Ich, Idtr
-was in 4er Form eines loh existirt, hat bei Fichte Wesen, und
die todte Natur» soweit sie in diese Form nicht eingeht, bLaibt eine
rein salQectiye» d. h. bloss vom Bubject geselscte Erscheinung.
Aber aueh Fiehte muss auf seine Weiae auf deot HewsmoB
matireban ; das loh streift desk vaMJüg^ Charaoter dieses oder jenes
beschränkten empirischen Ich's ab, indem es bMl zam absolotn
Ich eihebtk Das absolute Ich ist das Wesen, welches allein alle
die yessohiedenen mfölligenx empirischen beschränkten Ich's ist,
denn das Weaeiv wdches aidi im Frocess des abeeluten I^V ent-
wickelt, ist dasselbe, welches diesen Froc«iis in seiner lufälligan
empiriechen Besehränknng heirvorbringt, so daes hiermit die riefen
Ich's auch wieder nur sa ErBcheinungen des Einen absoluten herab-
gesetzt werden.
Sehe Hing sucht in seinem tranaeend^italen Idealismus den
Beichikum der bei Fichte in das kahle Abetractum des Hichti^'s
zusammengeschrumpften Anssenwelt in der Mannigfaltigkeit ifarar
Bestimaumgen aus i&c Thätigkdt des Ich's zu deduciren; ktdea
er aber die üebereinstimmung der Anschauungen der Terschiede-
nen beschränkten Ich's aus der ebenfalls stark betonten Einheit der
unendlichen Int^igenz oder des absoluten Ich's in den endlichen
Intelligenzen oder beschränkten Ich's erklärt, führt ihn noihwendig
der Standpunct des transcendentalen Idealismus zur Katuri^loaqihie,
wo er ohne Berücksichtigung des beschränkten Ich's die Deduction der
aosserwelüiohen BestiniBMmgen unmittalbar vom absoluten Ich oder
reinen Subject aus vernimmt» und hier unter anderen natürlichen Be-
stimmungen selbstverständlich auch auf den Qeiai und seine Prodade
trifft. In beiden Systemen geht er von der Identität des Subjeetes
und Obiectes aus, nur erseheint dieses absolute Subjeet^Obgeet das
eine Mal mehr von der subjeotiven, das andere Mal mehr Ten der
db^eetivein Seite^
Die hierbei benutzte Methode des sich atufonweise als Object
seteenden reijoen Su^eetes, das sieh aus jeder Objectivatioia in seine
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46»
Btnfe^weiae geatcugofte Subjecti^tät ^mrücknioMBi, fUnte Hof^m
semer dialectiiichwi Meüiode au«.
^ie MeÜiod^. ist nur die Bewegung des BegrifTef sellMty ab&t
mit der SedeutuDg, dMB der Begriff Alles imd seii^ Bewegui^
die imgemeine absolute T)uitigkeit ist."
Hegel erkannte, dass die SoheUing'sehe Deductioa eotuteder
gav l^einen oder einen rein logischen Werth ab Prooess im Eeiobe
des Benkens habe, aber er erbob den Ansproob» dass seine hieraitf
gebaute Logik zugleich Ontologie, dass der Begriff Alles^ d. h*
alleinige Substanz und alleiniges absolutes Subject,
und dass der Weltprocess reine dialectische Selbstbewegang des
Begriffes sei, dass also für ein eigentlicli Unlogisches, d. h. Al<^i-
sches (nicht AntUogisches) kein Baum xur £zistenz bleibe, denn
in seinem imposant geschossenen System war die Welt erschöpft
mit dem zur absoluten Idee geste^rten Begriffe, mit der in der
Natur ausser sich gekommenen und im Geiste wied^ zu mtx ge*
kommenen absoluten Idee.
Schelling in seinem letzten Systeme behauptete die NegatiTitSti
d- h« rein logische oder rein rationale Beschaffenheit der Hegerschen
Philosophie; er sprach ihr also ab, dass sie sagen könne, was und
wie ea sei» und gab nur zu, dass sie sagen könne: wenn etwas
ist, so muss es so sein. Er erklärte, dass in des Hegersohen und
allen ihr vorausgehenden Philosophie^ nur von einem ewigen
Qeaohehen die Kode sein könne ; „ein ewigea Geschehen ist aber
kein Geschehen. Mitbin ist die ganze Yorstellung jenes Processee
und jener Bewegung eine selbst iUusonsohe, ea ist eigentlich niehta
gasaohehen, Alles ist nur in Gedanken vorgegangen und diese ganze
Bewegung war nur eine Bewegung des Denkeins" (Werke I. 10«
8, 124—125). •
£r erklärt die Existenz för das wahrhaft U eher vorn ünf -
tige, was als Wirklichkeit nun und nimmermehr in der Yernunfk^
sood/om nvx in der Erfahrung sein kann (Werke IL. 3. & C;9).
und nennt in dieser Hinsicht die lü^atur und Srfahrnng das der
Yemnnft Fremdartige (ebenda 8. 70). Wenn schon die absolute
oder höchste Idee keinen realen Werth bat^ wenn aie nicht mehr
alz blosse Idee, wenn sie nicht das wirklich ilzistirende ist
(IL 3. 8. 150), sa könnte selbst diese Idee nicht einmal atls
Qedcinke sein, wenn sie nicht Gedanke eines sie d.enkanden.
B.Urb|ectes wäre (I. 10. 8. 132); man must also in doppeltem
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460
Hinsicht über die Idee als solche hinausgehen zu einem ausser und
unabhängig yom Denken Seienden, zu etwas allem Benken Zuyor-
kommenden (11, 3. S. 164), zu einem unvordenklichen Sein.
So lange man yom Standpuncte der rein rationalen oder negativen
Philosophie vom Seienden spricht, spricht man also eigentlich von
demselben nur seinem Wesen oder seinem Begriffe nach, mehr
kann man eben a priori nicht erreichen; die Frage aber, mit der
die positive Philosophie beginnt, steht nach demjenigen, welches
(grammatikalisches Subject) das Seiende (grammatikalisches Ob-
ject) ist, oder wie Schelling sich auch ausdrückt, welches das
Seiende istet, oder „diesem, das nicht seiend {ß^ ov) blosse All-
möglichkeit ist, Ursache des Seins {altla zov elvai) wird.** „Er-
kannt ist das Eine dadurch oder darin, dass es das allgemeine We-
sen ist, das irtSVf das Seiende dem Inhalte nach (nicht das effecüv
Seiende). Damit ist es erkannt und unterschieden von anderen
Einzelwesen, als d a s Einzelwesen, das Alles ist." (II. 8. S. 174).
Man vergleiche hiermit die schon in der Einleitung S. 17 an-
geführte Stelle aus dem transcendentalen Idealismus, so wird man
finden, dass Schelling schon in seinem ersteh Systeme unter dem
„ewig ünbewussten" sich im Wesentlichen das Nämliche gedacht
hat, was er in seinem dritten Systeme zur Grundlage der positiven
Philosophie erhebt.
So haben wir in allen Philosophien der neueren Epoche dieses
Streben nach Monismus auf die eine oder andere Art, vollständiger
oder unvollständiger realisirt gesehen. Was in der historischen
Entwickelung als der letzte Gipfel der speculativen Arbeit der
Neuzeit sich darstellt, das Schelling^sche „Einzelwesen, das alles
Seiende ist," dasselbe haben wir a posteriori auf inductivem Wege
entwickelt oder vielmehr gleichsam unwillkürlich gewonnen,
nun aber nicht mehr als ein Wenigen zugängliches speculatives
Princip, sondern mit dem vollgültigen Nachweis seiner empirischim
Berechtigung. Indem wir nämlich das Gebiet des ünbewussten
sorgfältig von dem des Bewusstseins trennten, und das Bewusstsein
als eine blosse Erscheinung des ünbewussten erkannten (Oap. C. HL),
zerflossen die Widersprüche, in welchen das natürliche Bewusstsein
sich bei seinem Streben nach monistischer Anschauung unvermeid-
lich verstrickt und verfangt. Aber nicht bloss das Bewusstsein,
sondern auch die Materie hatte sich (Cap. C. T.) uns als eine blosse
Erscheinung des Ünbewussten ausgewiesen, und Alles in der Welt,
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-was Dicht durch die Begriffe Materie und Bewosstsein erschöpft ist,
-wie das organische Bilden, die Instincte u. s. w., hatte sich (in
den Abschnitten A, und B) als die unmittelbarsten und am leich-
testen erkennbaren Wirkungen des XJnbewussten herausgestellt
Hiermit war 1) Materie, 2) Bewusstsein und 3) organisches
Bilden, Instinct u« s. w. als drei Wirkungsweisen oder für uns drei
Erscheinungsweisen des XJnbewussten, und letzteres als das
Wesen der Welt begrifESon. Nachdem wir endlich den Begriff der
Individualität einerseits und die eigenthümliche Natur des Unbe-
THissten andererseits mit dem Yerständnisse, so weit erforderlich,
durchdrungen hatten, war uns der letzte Grund zur Annahme einer
Wesensvielheit im XJnbewussten unter den ffiinden entschwunden^
alle Vielheit gehörte nunmehr nur noch der Srscheinüng an, nicht
dem Wesen, welches jene setzt, sondern dieses ist das Eine abso-
lute Individuum, dad Einzelwesen^ das Alles ist, während die
Welt mit ihrer Herrlichkeit zur blossen Erscheinung herabgesetzt
wird, aber nicht zu einer subjectiyen gesetzten Erscheinung, wie
bei Xant, Fichte und Schopenhauer, sondern zu einer objectiv. (wie
SchelHng sagt [Werke IL 3. S. 280] „göttlich'') gesetzten Erschei-
nung, oder, wie Hegel es ausdrückt (Werke YL 8. 97), zur „blossen
Erscheinung nicht nur für uns, sondern an sieh.'' Was uns als
Stoff erscheint, „ist blosser Ausdruck eines Gleichgewichtes ent-
gegengesetzter Thätigkeiten^' (Schelling's Werke L 3. S. 400), was
uns als Bewusstsein erscheint, ist ebenfSalL» . blosser Ausdruck eine»
Widerstreites entg^engesetzter Thätigkeiten. Jenes Stück Materie
dort ist ein Conglomerat Ton Atomkräften, d« h. von Willensacten
des XJnbewussten, von diesem Puncte des Baumes aus in dieser
Stärke anzuziehen, von jei^em Puncte in jener Stärke abzustossen;
dam XJnbewusste unterbreche diese Willensacte und hebe sie auf, so
hat in demselben Moment dieses Stück Materie aufgehört zu exi-
atiren; das XJnbewusste wolle yon Neuem, und die Materie ist
ndeder da. Hier verliert sich das XJngeheuerliohe der 8c)iÖpfang
der materiellen Welt in das alltägliche, jeden Augenblick sich er-
neuernde Wunderihrer Erhaltung, welche eine continuirliche
Schöpfung ist. Die Welt ist nur eine stetige Eeihe von Sum-
men eigenthümlich combinirter Willensacte des XJnbewussten, denn
sie ist nur, so lange sie stetig gesetzt wird; das XJnbewusste
höre aui^ die Welt zu wollen, und dieses Spiel deh kreuzender
^Thätigkeiten des XJnbewussten hört auf zu sein.
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462
E^ ist eine vor der gHindliehen Betttiehtiing Tdrschwindeiide
TänBchungy eine Sinnestänsohtmg im wetteren Sinne, wenn wir an
der Welt, an dem Niohtioh, etwas unmittelbar Beales zn haben
glauben; ee ist eine T&nsdnmg des egtyistischen Instinetes, wtdnn
wir an uns selber, an dem lieben Ich etwas unmittelbar Beates su
haben glauben; die Welt besteht nur in einer Summe von üifitig-
keiten oder Will«Maoten des ünbewussten, und das Idi besteht in
einer anderen Summe von Thätigkeiten oder Willensacten des Uli-
bewuBston ; nur insoweit erstere Thätigkeiten letztere kreuzen, idrA
mir die Welt empfindlich, nur insoweit letztere die ei'steren
kreozen, wetde ich mir empfindlich. (Hierbei ist natfirHch mein
Leib, ao^ mein Gehirn, zum Nichtich, zur Welt gerechnet) Nur
dadurch» dasa ein Willensaet mit dem anderen in Opposition tritt,
nnd sie sich gegenseitig Widerstand leisten und beschränken,
nur dadurch entsteht das, was wir Realität nennen, und was
auf in dem Wollen erreichbar ist, weil im Gebiete der Vorstellung
das ideell Bnfgegeagesetzte fdedUch nebeneinander besteht, ehe der
Wille es erf^t hat. Auch dieses Wirken der Willensacte auf
einander ist ma verständlich, wenn sie Thätigkeiten eines und
desselben Wesens sind.
Bas ÜnbewoBste ändere die Oombination von Thätigkeiten oder
WiUeiMaoten, welche mich ausmacht, und ich bin ein Andei^r ge-
worden; das Unbewnsste lasse diese Thätigkeiten aufhören, und idi
habe aufjuehört zu sein. Ich bin eine &scheinung wie der Regenbogen
in der Wolke; wie dieser bin ich geboren ans dem Zusammen-
treffen von Verhältnissen, werde ein Anderer in jeder Secuude, weil
diese Verhältnisse in jeder Seeunde andere werden, und werdd zer-
fliessen, wenn dieee Verhältnisse sich lösen; was an mir Wesen
ist, bin ich nicht. An derselben Stelle kann einmal ein andeter
Begenbogem stehen, der diesem völlig gleicht, aber doch ist er nic!rt
derselbe, denn die zeitliche GontinuitSt fehlt; so kamt au^ an
mein^ • Statt einmal ein mir völlig gleiches Ich stehen, aber das
werde ich nicht mehr sein; nur die Sonne st^sAdt ewig, die auek
in dieser Wolke spielt, nur das Unbewusste waltet ewig, das
a«ch in meinem Hirn sich bricht.
Die hier in grossen Zügen verzeichneten Resiütate werden iii
den nannten drei Capiteln eine mannigftkltige Anwendung und Aus-
fähcong im Sinzcteen flnden, welche hoff^itlich dazu beitragen
werden, sie dem bisher in d^ Anschauungsweise des practisch sinen-
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liehen lastinctes be^euigeneii Leser aiiader abstosBend erBoheinen zu
Ittssen. — Eör BetqenigeQ abeir, der, in den Aneokaiimigen des
ofadifitliehen TheMnnifi an%ewaeii8eiiy Bioh geneigt föhie«i mööbte, dett
Namen: „QoW^ auf „daa Biae Wesen, das Alles ist*", ansawenden,
und nnr damn Anstoss nehmen ^w«Ute, dass Gott, abgesehen ▼<>&
dem endüdien Individuen, keim B^vmsstsein haben M>lle> ml^te ick
hier die £nanefnng ansokliessen , dass das Bennisstsein niehts ire-
niger als einen abeolxtan Wer& hat, das» es vielmehr eine Be-
iMJhnlnkiing ist, wacher iHt eadtidhen indi^g'idaen antr deshalb imter*
woriSsa siikd, nm einen einmal begangenen Pehler wieder gut 2u
machen (vgl untdr Gap. G. XIII;), das« aber das christliche Vor*
Qftheil, €btt noch aosserhalb der Indiridnen ein eigenes persön-
liches BadruBstaeui aoBiidiohten , h»ine geringer« anthropopaüdsohe
Verirrang ist, als die des jüdischen Testamentes, wenn dasselbe ihm
Zorn, Bachsucht und ähnliche, nach den an uns selbst gemachten
ErfiEihrungen bemessene Eigenschaften zuschreibt. Das Eine wie
das Andere ist eine unwürdige Beschränkung der reinen und erha-^
benen Sphäre der Göttlichkeit, welche so von der zeitlosen Allwissen-
heit der Idee erfüllt ist, dass sie zu einer Beflexion in sich
so wenig Veranlassung hat, als zu einer Beflexion in Anderes^ über-
haupt bei dem intuitiven Gharacter ihres Wissens zu gar keiner
Beflexion kommen kann, welche nur auf der Voraussetzung discur-
siven Denkens einen Sinn hat, — am allerwenigsten aber mit dem,
was wir als Bewusstsein und Selbstbewusstsein kennen, etwas zu
schaifen haben kann, da beides nur auf dem Boden der Sinnlichkeit
erst möglieh wird. Hätte Gbtt wirklich ein Bewusstsein vor der
Schöpfung, so wäre diese ein unentschuldbares Verbrechen, da ihr
„Dass'' nur als Besultat eines blinden Willens verzeihlich und
begreiflich ist, — so wäre der ganze Weltprocess eine bodenlose
Thorheit, da sein einziges Ziel, ein starkes selbstständiges Bewusst-
sein, schon ohne ihn vorhanden wäre. (Dies kann erst durch
Gap. C. Xn. u. XIII. begründet werden). — Nur deshalb hat man
bisher so sehr danach gerungen, fUr das Absolute eine selbstbe-
wusste Persönlichkeit zu retten, um nicht als ausschliessliches
Produet blinder Naturkräfte dazustehen; mit der Erkenntniss
aber, dass im Absoluten eine unbewusst« Intelligenz existirt, deren
hellsehende Weisheit (vgl Gap. G. XI.) der jedes möglichen Be-
wusstseins überlegen ist, und dass diese den Inhalt der Schöpfung
und des Weltprocesses bestimmt, verschwindet jenes Motiv. Dass
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464
ich aber die niibewiisste Intelligenz an Stelle der bewußten gesetst»
und damit dem All -Einen die Persönlichkeit abgesprochen
habe, ist in der That der einzige Unterschied dieses von dem Gotte
desgenigen Theismus oder MonotheiBrnns, bei welchem die Welt nicht
Ck>tt entgegengesetzt» sondern ihm immanent ist. Denn Individua-
lität hat das XJnbewnsste ja auch (s. oben S. 45 1), da es, wenn irgend
etwas, gewiss untheilbar ist. — Auch das Absolute der neuerei^ Philo-
sophie hat weder bei Fichte^ wo es bloss durch die moralische Welt-
ordnung repräsentirt wird, noch bei Schelling (ygL seine Werke I.
1. S. 180; I. 3. S. 497; I. 4. 8. 256; L 7. 53-54 u, 67—68),
noch bei Hegel (was allerdings der reactionäre Theil der HegeF-
sehen Schule zu bestreiten sucht), noch bei Schopenhauer ein Be-
wusstsein ausserhalb der yon ihm durchwehten Individuen«
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vm.
Das Wesen der Zeu^ng ven Stradpnncte der
AU-Einlieit des ünbewnssten.
Wir wollen nunmehr unseren neugewonnenen Standpunet zur
Beleuchtung einiger Fragen benutzen, welche theilB seit Jahrtausen-
den die Philosophen beschäftigen, theils gerade in der Gegenwart
sich ein besonderes Literesse im Publicum erobert haben. Es wird
sich zeigen, wie die Lösungen, welche aus unseren bis hierher ge-
wonnenen Principien fli essen, anf s Beste mit dem übereinstimmen,
was die zu erklärenden Thatsachen fordern^ und was eine mühelose
Xritik Ton Erklärungsmöglichkeiten übrig lässt.
Die erste dieser Fragen betrifft die Natur der Zeugung. Es
stritten sich früher zwei Ansichten um die Zeugung, der Creatia-
nismuB und Traducianismas. Der erstere nahm eine seelische Neu-
schöpfhng bei jeder Zeugung, der letztere eine üeberführung Ton
Theilen der Eltemseelen in das Kind an. Erstere Ansicht statuirt
also bei jeder Zeugung ein ErschafGen aas dem Nichts, ein neues
Wunder, und ist schon deshalb den gesunderen Anschauungen der
Neuzeit unannehmbar, letztere aber widerspricht den Thatsachen.
Denn wenn ein Mann mit der nöthigen Anzahl Frauen jährlich
bequem über hundert Kinder zeugen könnte, während der Zeit seiner
Zeugungsfähigkeit also viele Tausende, und doch notorisch keine
Abnahme an seiner Seele sich einstellt, so muss der bei jeder Zeu-
gung an das Kind abgegebene Theil kleiner gewesen sein, als der
yieltausendste Theil yon dem Minimum der Abnahme, welches als
Verlust an der Seele noch eben gespürt werden würde. Mit einem
so winzigen Stückchen Seele könnte sich aber offenbar das Kind
auf die Dauer nicht begnügen , noch weniger seine Kinder und
Kindeskinder, die in abnehmender Progression bald nur noch
T. H*rtiDaim, Phil. d. UnbewoMten. 30
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466
Billiontel-Seelen bekommen würden ; demnach könnte das übertragmie
Stück nnr als Keim betrachtet werden, der eines Wachsthumes
fähig ist. Unter einem Keime versteht man aber eine formelle
Macht, welche fremde, materielle Elemente an sich zu ziehen
und zu assimiliren, nnd dadnrch zn wachsen im Stande ist.
Wäre also die Kindesseele bei der Zeugung erst ein Keim, so fragt
sich, wo sollen die fremden Elemente zu suchen sein, ausdenen
sie sich vergrössert. Die Materialisten antworten sehr einfach: die
Seele ist ja nur ein Resoliat mateneller Combiuationen . also mit
dem Wachsen des Organismus und seiner edlen Theile wächst auch
die Seele. Diese Ansicht können wir natürlich nicht aocep-
tiren, aber sie ist wenigstens in sich klar und consequent. Fragen
wir aber, wo sonst noch die anzuziehenden Elemente gesucht wer-
den könnten, so bleibt nichts übrig, als die allgemeine Oeistheit»
das impersönlich Psychische, mit ^nem Wort das TJnbewusste;
aus diesem also müsste das von den Eltemseelen zur Kindesseele
abgegebene Stück seinen Yeigrösserungsstoff zieh^i. Wozu braucht
man aber dann noch den Seelenkeim, da der organische Keim
dasselbe kann? Braucht das Kind im Mutterleibe eine andere
Seelenthätigkeit als die des organischen Bildens?
Und wenn durch diese unbewusste Seelenthätigkeit im Gehirn
ein Werkzeug zu bewusster Seelenthätigkeit geschaffen ist, braucht
es dann noch eines anderen Anziehuagsmittels, damit das Unbe-
wusste auch hierauf seine Thätigkeit lenke, als das Yorhandenseiii
dieses Organes selbst? Wozu dann noch diese widernatürliche
Hypothese Ton den abgegebenen Seelenkeimen, bei denen man sich
entweder einseitige Richtungen der Eltemseelen denken mvas,
die zur Erklärung nichts nützen, oder gleichsam abgeschnürte, -vorher
ausgebrütete Diminutivseelohen — eine horrible Vorstellung!
Und wie kämen denn diese Seelenknospen dazu, gerade in die
organischen Zeugungskeime hineinzufahren , da doch beide unab-
hängig von einander entstehend gedacht werden müssten?
Wenn die Kindesseele aus dem Borne des allgemeinen Welt-
geistes geschöpft ist» gleichsam das an dem neu entstandenen orga-
nischen Keime ankrystallisirte psychische Zubehör darstellt, so ist
das immer schon eine wesentlich andere Vorstellung, als die des
Oreatianismus, wo die Seele im Moment der Zeugung yon Gott aus
dem Nichts geschaffen wird. Femer raubt diese Auffassung
nicht wie der GreatianismiBs das Verständniss für die Erblichkeit
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467
der peychisdien Eigenschaften , indem der organische Keim
dnrch die Eigenschaften der Eltern bedingt ist nnd der ans
dem IJnbewasaten gleichsam anschiessende Q e i st e 8 k r y B t a 1 1 wieder
flieh nach den Eigenschaften des organischen Keimes
modificirt^ in diesem Sinne können sich durch Vererbung
der Beschaffenheit des Gehirnes geistige Eigenschaf-
ten gerade so gut wie ein überzähliger Einger oder eine Krank-
faeitsanlage von den Eltern auf die Kinder übertragen. Anderei^
•eits bleibt das Hinzutreten eines durch höhere historische Bück-
sichten geforderten Genius zu der Kindesseele unbenommen; denn
w^enn das XJnbewusste besondere Werkzeuge seiner Offenbarung
braucht, so bereitet es sich dieselben auch rechtzeitig zu, es
irird sich also dann in einem sich als besonders geeignet darbie-
tenden Oi^;anismus ein Bewusstseinsorgan schaffen, welches zu un-
gewöhnlich hohen psychischen Leistungen befähigt ist.
Wenn wir auf diese Weise auch den Hauptübelstanden des
Tradueianismus und Creatianismus entgehen, so ist doch immerhin
nicht SU läugnen, dass, so lange man die Seele des Individuums
nicht bloss ihrer Thätigkeit nach, sondern auch ihrem Wesen, ihrer
Sabstanz nach für etwas in sich Abgeschlossenes und sowohl gegen
die übrigen individuellen Seelen, als auch gegen den allgemeinen
Geist Abgegrenztes betrachtet, dass so lange die Lehre von der
Zeugung ihre grossen Schwierigkeiten hat; denn das Losreissen
einer neuen Seele vom Allgemeinen und das Fixiren derselben an
den neuen oiqganischen Keim hat sein sehr Bedenkliches, mag man
min, wie wir eben thaten, dieses Lidiyidualisiren einer neuen Seele
als einen allmähligen Kry stallisationsprocess ansehen, der mit der
leiblichen Entwickelung des Keimes Hand in Hand geht^ oder mag
Bian denselben als einen einmaligen momentanen Act auffassen,
in welchem die neue Seele fix und fertig fur's ganze Leben dem
Keime eingepflanzt wird.
Sowie man sich jedoch der Besultate unseres vorigen Capitels
erinnert, kommt Klarheit in die Sache, denn nun ist die Seele so-
wohl jedes der Eltern als auch des Kindes nur die Summe der
auf den betreffenden Organismus gerichteten Thätig-
keiten des Einen XJnbewussten.
Jetzt sind die Seelen der Eltern keine gesonderten, für sich
bestehenden Substanzen mehr, können also auch von ihrer Sub-
stanz nichts abgeben, und das Kind braucht keine besondere
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468
indiyidualisirte Seele mehr am. bekommen, aondem seine Seele ist
ebenfalls nur die Summe der in jedem Moment wai seinen Oigaois-
muB gerichteten Thätigkeiten des XJnbewassten. Könnten wirkUok
die Eltern dem Kinde von ihren Seelen non noch etwas abgd[>eii,
so schöpften sie doch nur aus der grossen Schüssel, ans der sie so
wie so alle drei gespeist werden,
Nun ist auch nichts Wunderbares mehr daran, dass die Kinde»-
Seele nur allmählig nach Maassgabe des Leibes wachst, denn je
entwickelter der Organismus wird, um so mannichfaltiger, reidier
und edler wird die Summe der auf ihn gerichteten Thätigkeiten
des ünbewussten. £s verliert sich mit unserem Princip nicht nur
das Wunderbare, sondern auch das in seiner Art Einzige, was
sonst die Zeugung hat, sie wird zu einem mit der Erhaltung und
Neubildung wesensgleichen Acte auch in geistiger Be-
ziehung, wie sie als solcher in materieller Beziehung von der Phy-
siologie längst anerkannt ist Würde das Unbewusste in einem
beliebigen Moment aufhören, seine Thätigkeit (als Empfindung, Vor-
stellung, Wille, organisches Bilden, Instinct, Beflexwirkung u. s. w.)
auf irgend einen bestehenden Organismus zu richten, so würde
derselbe in demselben Augenblicke der Seele beraubt, d. h. todt
sein, und schonungslos von den Gesetzen der Materie zermalmt
werden, ebenso wie die Materie dieses Organismus aufhören würde
zu sein, sobald das Unbewusste die Willensacte unterliesse, in denen
seine Atomkräfte bestehen. Gerade so gut aber, wie das Unbe-
wusste jeden beseelbaren Organismus in jedem Moment beseelt, wird
es auch den neu entstehenden Keim nach Maassgabe seiner Beseel-
barkeit beseelen. Dazu kommt noch, dass der Moment durohaos
nicht zu bestimmen ist, wo der Keim aus einem Theile des müt-
terlichen zum selbstständigen Organismus wird, wenn man nicfadt
etwa die Loslösung bei der Geburt als solchen gelten lassen wüL
So lange aber der Kindesorganismus ein Theil des mütterlichen
ist und von diesem ernährt wird, so lange hat man es noch mit
einem Vorgänge zu thun, der sich von allem anderen organischen
Bilden in seinem Wesen nicht unterscheidet. Dies wird am deut-
lichsten werden, wenn wir auf den allmäligen Fortgang von den
niederen Arten der Fortpflanzung bis zu der geschlechtlichen Zeugung
einen Blick werfen.
Die einfachste Art ist die Theilung, ein gewöhnlicher Fall der
Vermehrung von Zellen, ebet auch nicht selten bei Lifusorien und an-
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469
deren Thi^ren. Bass bei einer Theilung eines Thieree in zwei TM^e
nicht Von einer Theilung der Substanz der Seele die Bede sein kann,
i»l schon mdirfSaeh erwähnt worden. Yon der Theilnng führt ein all-
mäliger Uebergang zor Knospenbildung, denn auch die Knospe ent-
wibkeH sich als Theil des mütterlichen Organismus, bis sie, znr
selbstständigen Existenz befähigt, sich ablöst (Polypen, Bandwür-
mer n. 8. w.).
Einen principiellen Unterschied in dem Vorgänge des Bildens
kann man nicht bdianpten, sei es nnn, dass ein Thier verloreii
gegangene Körpertheile neu ersetzt, sei es, dass es Knospen zur
Yermehrung bildet. In den Fällen jedoch, wo die Knospen sich
eharacterifttiseh als solche darstelien, und nicht, mehr mit einfacher
Theilung zu yerwechseln sind, läset sich stets ihre Entwickelung
aus einer in das mütteriiche Gewebe an irgend einer Körperstelle
«ingelagerten einzelnen Zelle — Keimzelle — erkennen. Offenbar
kann ea nun keinen wesentlichen Unterschied machen, an welcher
Stelle des mütterlichen Organismus sich die Keimzelle befindet,
aus der der neue Organismus sich entwickelt, ob diese Stelle an
der Längsseite, oder an einem Ende^ oder an den Armen, oder in
der Bauchhöhle des Thieres, oder iu einer besonderen Bruthöhle
liegt. Letztere beiden Fälle unterscheidet man von der Yermehrung
durch Knospenbildung als Yermehrung durch Keimzellen im enge-
ren Sinne. Die Keimzellen, die in der Bauchhöhle oder in einer
besonderen Bruthöhlo sich entwickeln, zeigen meistens schon eine
entschiedene äussere Aehnlichkeit in Gestalt und Grösse mit den
Siem der höheren Thiere, ja meui kann geradezu behaupten, sie
«nterscheiden sich morphologisch gar nicht yon diesen.
Bei manchen Thieren (z. B. Blattläusen) wechselt bereits die
Yermehrung durch Keimzellen mit der geschlechtlichen Fortpflan-
zung ab, oder genügt auch eine Begattung, um mehreren auf
einander folgenden Generationen hindurch die Keimzellen (oder
Eier) zu befrucfateh. Die Keimzelle entwickelt sich ganz analog
dem befhiohteten Ei, nur dass sie nicht des Anstosses der Befruch-
tung bedarf ; doch hat man auch beglaubigte Beispiele, dass Eier
Ton nur geschlechtlich sich vennehrenden Thieren, die notorisch
unbefruchtet waren, in den Botterhirchungsprocess eintraten, als
ob eie befruchtet wären; fireilieh reichte ihre Kraft nicht weit,
und fiie blieben auf den ersten Stadien der embryonalen Ent-
wickelung etehto. Das mit seiner Kop&pitze sich in die Dotter-
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470
haut einbohrende und dort wahrscheiBlloh Beinen Inhalt mit dem
Dotter endosmotiseh austauschende Samenkörperchen bewirkt also
nichts Anderes, als dass es der Dottermasse einen nadUialtigen In^
puls zum Eintritt in den Forchungsprocess verleiht, einen Impula,
der unter günstigen Umständen bei Eiern, unter allen Umständen
bei Keimzellen entbehrlich ist.
Wir können nach alle dem in dem Bilden neuer Organismen
durch ein Mutterthier, sei es nun mit oder ohne Hülfe eines yäter-
liohen Organismus, nichts weiter sehen, ab ein organisches Bilden«
welches sich Ton anderem organischen Bilden, z* B. der Neaent-
Wickelung gewisser, yorher nicht bestehender Organe zu gewissen
Zeiten des Lebens, nicht in dem Wesen des Vorganges, sondern
nur durch den Zweck unterscheidet, welchem das Neugebildete
dient, indem dieser Zweck bei allem anderen organischen Bilden
(mit Ausnahme der Milchbildung bei 8ängethieren) innerhalb
und nur bei der Zeugung ausserhalb des bildenden Individuums
liegt. Ist nun die, gleichviel aus welchen An&ngen, entsprossene
Keubildung bis zu einem Grade gediehen, der sie zu einer Bxistens
als selbstständiger Organismus beföhigt, so erfolgt die Losldsung
vom mütterlichen Organismus, ein Act, dem man kaum wohl geneigt
sein möchte, irgend eine psychische Bedeutung snizuschreiben, welche
über die reflectorisch-instinctive Accömmodation an die veränderten
Lebensbedingungen (z. B. bei Säugethieren Eintritt der Aihmung)
hinausgeht
So bestätigt sich auch empirisch, dass der Organismus des
Embryo 9 des Fötus und des Elindes gerade so gut wie jeder an*
dere Theil eines fertigen Organismus, in jedem Stadium und jedem
Moment seines Lebens genau so viel Seele hat, als et für
seine leibliche Erhaltimg und Fortentwickelung braucht und ak seine
Bewusstseinsorgane zu fassen im Stande sind. Dass aber das Unbe*
wusste das Leben überall packt, wo es dasselbe nur packen
kann, und dass auch in dieser Beziehuiig, ganz abgesehen von seinem
Zusammenhange mit dem mütterlichen Organismus, die Beseelung
des neuen Keimes nach Maassgabe seiner Beseelbarkeit nur detf
specielle Fall einer allgemeinen Naturerscheinung ist, mag nodi
durch einige Beispiele erläutert werden.
In Autenrieth's „Ansichten über Natur- und Seelenleben" finden
sich S. 265—266 folgende. Notizen: „So haben auch Lister (Kirby
und Spenoe, Einleitung in die Entymobgie aus dem £i^ übers.
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471
Bd. 2. S. 50S), Bonnet und Süokney gesehen^ wie Baupen und
Poppen Ton Sohmetterlingen und Larven der Tiptda oleraeea xu
Sisklompen froren und beim Aufthauen wieder lebten* — Nach
den genaueren Beobaehtungen toa Spallanzani (Opuscoli di fisiea
animaU e vegetabüßf Modena^ voL 2, p. 236 ) leben die Bäder-
tluerchmiy Fureularia redivwa Lamarcky die im Sumpfwaaser und
im Sande Yon Dachrinnen angetroffen werden, wenn sie nur nicht
«a Ireier Luft^ sondern bedeckt in einem Sandhäufchen und mit
diesem austrockneten, 2um Theil noch nach drei,, selbst vier Jahren»
innerhalb welcher der nebst ihnen ganz trocken gewordene Sand in
•inem Glase oder einer Schachtel aufbewahrt wird, wieder auj^
sobald der dürre Sand auf» Neue mit Wasser befeuchtet wird, nur
dauy je längere Zeit sie in ausgedörrtem Zustande aufbewahrt
wurden, eine desto kleinere Zahl von ihnen wieder lebendig wird
imd alle seine gewöhnlichen Lebensverrichtungen aAif*8 NeiM voll-
bringt. ' Sie lebten aber wieder auf, obschon me durch das Aus-
taroeknen in so erhärteten Zustand kamen, da sie sonst lebend bloss
einen gi^lertartigen Köiper haben, dass^ wenn man einige von ihnen
mit ein«r Nadelspitze anstach, der Körper wie ein Körnchen Salz
in viele Stücke zer^nrang. So können diese Thierchen bis zum
elften Male abwechielnd eingetrocknet und leblos gemacht werden,^
und in Wasser ausweicht ihr Leben wieder erhalten. Sie ver*
lieren auch diese ihre Fähigkeit^ wieder belebt zu werden, nicht,
wenn sie mit dem Wasser einfrier an, und dann selbst einer Kälte
von 19 Grad B. unier dem Eispuncte ausgesetzt werden; sowie sie
m ihrem ausgetrockneten Zustande einer Hitze bis auf 49, selbst
zum Theil bie auf 54 Grad über dem Gefrierpuncte ausgesetzt
Werden können, ohne jene Fähigkeit, mit Hülfe von Wasser wieder
aufzuleben, zu verlieren, während, wenn sie im Zustande des Leben»
sind, sie schon bei 26 Grad Wärme de^ Wassers Iöt immer sterben,"
Ebend. 8. 20 : „John Franklin (erste Beise an den Küsten des
Folanneeres^ in neuer Bibliothek der wichtigsten Beisebesohreibun-
gen, Bd. d6. a 302) sah hn Winter von 1820—1821 aof seiner
ersten Beise an die nordamerikanisehen Küsten des Eismeeres
Fttche, unmittelbar nachdem sie aus dem Wasser an die Luft ge«
kommen, geficieren, die zu. einer so fSssten Eismasse wurden, dass
man sie mit der Axt in Stücke schlagen konnte und dass selbst
ihr» Eingeweide bloss einen festen, gefiporenen Klumpen darstellten«
Deszennngeacfatet erhielten einige solcher Fische, welche man^
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472
ohne sie vorher zu rerietzoiiy am Feuer aofthaute, ihr Leben
wieder. Ein Karpfen erholte aich, ungeachtet er BechsonddrelBsig
Stunden lang vollkommen gefiroren gewesen war, so vollkommen
wieder, dass er sich mit vieler Kraft umherwerfen konnte.
Als Bllis (})oyage h la baye de Hudson ^ trad. de Fangl, p.
236) am NelsonfLasse an der Hudsonsbay überwinterte, fand ma&
einen völlig zusammengefrorenen Klumpen sohwarser Stechfliegen;
dem Feuer genähert, lebten sie wieder auf. £r berichtete, daas
man dort häufig an den Ufern der Seen Frösche findet, die so fest
als das Bis selbst gefroren seien, und welche doch, in mäaaiger
Temperatur aufgethaut, wieder bis zu dem Grade auflebten, daae
sie von einem Orte zum anderen krochen.
Auch durchaus gefrorene Bäume können nach langsamem Auf»
thauen sich wieder beleben und frische Blätter treiben«
Hanter fand abw bei seinen Versuchen, dass ein Fisch nur
langsamer in der ELälte sterben und dann gefrieren dürfe, um durdi
Aufthauen nicht wieder in's L^en zurückgerufen werden zu können,
weswegen es aucdi nicht gelingt, ein ganzes warmblütiges Thier
gefrieren und durdi Aufthai[ien sich wieder beleben zu lassen, und
wir der Hoffnung entsagen müssen, etwa einen der im Polar-Bise
ganz unverdorben aufbewahrten Elephanten der Yorwelt, oder ein
dortiges Nashorn unter günstigen Umständen wieder lebendig werden
zu sehen, wie man Kröten mitten im Felsen fand, in welchen sie
Jahrhunderte, vielleieht Jahrtausende müssen eingeschlossen gewesen
sein, imd die dann do<^ befreit, lebend umherhüpften. '^
Weinn gleich neuere Autoritäten bestreiten, dass gefrorene
Fische unter irgend welchen Umständen jemals wieder lebendig
werden können, weil das Blut bereits durch den Frost zersetxi
sei, oder dass Kröt^i ohne jede Spur von Athmung durch Diffusion
lebensfähig bleiben können (obwohl mir über beide Fragen die
Acten noch nidit geschlossen scheinen), so genügen doch die ange-
führten Beispiele im Allgemeinen, um die a porUyri einleu<ditende
Wafarh^t plausibel zu machen, dass aus einem Organsamus jede
Spur von Leben entwichen sein kann, und dass trotzdem demselben
die Fähigkeit, unter günstigen Umständen eine neue Lebensthäüg«
keit zu beginnen, erhalten bleiben kann, wenn nur keine derarügen
VeränderungMi in demselben vorgegangen sind, weldie die Wied^c-
aufnähme der LebeHsfunctionen nach Wiederherstellung normalfir
Umstände anatomisdi oder physiokgiaeh unmöglich machen. -Hiana.
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473
gehört» dass sowohl während des leblosen Znstandes .(dofch die ein-
getrocknete oder gefrorene Beschaffenheit, oder durch allseitig her«
metisehen Abschlnss), als auch beim Uebergange aus dem normet
lebendigen in den leblosen Zustand (z.B. durch die Geschwindig-
keit des Er&ierens) eine die zukünftige Lebensfähigkeit bedrohende
ehemische oder histologisdie Veränderung verhindert ist; dagegen
sind solche Yeränderungen für das Wiederaufleben gleichgültig,
welche nur die Normalität d^r zukünftigen Lebensfunctionen yernich-
ten, und den Orgimismus bloss noch zu edn«m pathologischen Leben
erwachen lassen^ welches doch bald wieder von selbst erlischt.
Bei Bäderthierchen könnte man annehmen, dass die Yertrock*
nung immer noch nicht 3ü dem Grade gelangt sei; um nicht irgend
einen Stofiwjistaaseh zuzulassen, so dass man es slareng genommen
nicht mit einer absoluten Sistirung der Lebensfunctionen, sondern
nur mit deren Beduction auf ein Minimum zu thun hätte (ähnlich
wie beim Winterschlaf, aber auch diese Annahme wird hinfällig,
wo es sich um steinhart gefrorene Körper in der Winterkälte der
Polargegenden oder um Kröten handelt, welche Jahrhunderte und
JahrtaoBende im Felsen eingeschlossen waren.
Bei letzteren müsste auch ein Minimum Ton Stoffaustauscb,
den BUin sich etwa durch das den Felsen durchsickernde Wasser
yermittelt zu denken hätte, in des enorm langen Zeit ssmx Yerzeh-
rung des Thiares geführt haben; bei geftoTen&a, Thieren aber kann
nur noch eine geringe Ob^rflächenyerdunstung Statt haben, Lebens-
function jedoch ist unmöglich gemacht sowohl durch das Fehlen
der allgemeinsten physikalischen Bedingungen des organischen Stoff-
wechsels, der Endosmose, als auch durch die Unentbehrlichkeit
eines flüss^n Zustandes für jede chemische Beaciion.
Gtebt man nun zu, dass im starr gefrorenen Körper jede
Olganisehe Function, d. h. jede Lebensthätigkeit unmöglich ist, so
entbehrt derselbe jeder Spur des Lebois, d. h. er ist absolut
leblos; sein Zustand ist also von allen Zuständen der deprimirten
Lebensfiinetionen, wie Schlaf, Winterschlaf, Ohnmacht^ Starrkrampf^
Scheintod, specifisch tind total yerschieden; der Körper
yeibalt sieh zum Leben iri^end der Dauer dieses Zustandes nicht
anders wie ein unorganischer Körper.
Es ist natürlich an sich gleichgültig, ob man dem Körper das
Wort todt beilegen will, denn das kommt nur auf die Bestimmung
des Begriffes todt an; identifioirt man absolut leblos und todt, wie
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474
das wohl natüzlioh ist, so wird man es thun; unt^nolieidet
aber beide Begriffe» und nennt iodt nur das^nige Leblose, uras nicht
wieder lebendig werden kann, so wird man es nioht thun. Letstere
Auffassung dürfte aber wohl nor ans dem Vorortheil hervorgehen^
dass, was todt ist, nicht wieder lebendig werden kann^ ein natSir*
lieh nicht a priori zu' beweisender, sondern nur aus der Erfahroag
zu induoirender Satz, der lange Zeit ÜSot richtig gelten konnte.
Kommen aber nun solche Thatsachen zum Vorschein, die da zeigen»
dass etwas Todtes unter Umständen doch wieder lebendig werden
kann, so sollte man lieber die Ausnahme von der bisher als altge«
mein gültiger Grundsatz angenommenen Induetion als solche aner-
kennen, als um des alten Yorurtheiles willen den Begriff todt will-
kürlich beschränken. Diese Bemerkung wäre gewiss müssig, wenn
nicht jene yorurtheilsrolle Einschränkung des Begriffes todt aueh
das Yorurtheil nach sich ziehen könnte, als ob dieui absolute LeiH
lose nicht auch seelenlos zu sein brauche, was doch so selbstver-
ständlich als mögUeh sein sollte, denn die Seele eines Körpers kt
ja nur die Summe der auf ihn bezüglichen Functionen oder Tha-
tigkeiten des ünbewussten, welche kurzweg seine Lebess*
functionen genannt w^den.
Daraus nun, dass ein Organismus, so lange er gefroren ist^
weder des Lebens, noch einer Seele theilhaftig ist, folgt, das», wenn
nach einer gewissen Zeit Leben und Seele in ihn zurückkehrt,
diese Seele nicht mehr als ein und dieselbe mit der vor dem
Uebergange in den gefrorenen Zustand ihm einwohnenden betrachtet
werden kann, da zur Dieselbigkeit zweket zeitlich getrennter Seelen
die zeitliche Continuität der Thätägkeiten der ersteren mit den
Thätigkeiten der letzteren erforderlich ist^ keineswegs aber die
Dieselbigkeit des bezüglichen Organismus und die auf demselben
beruhende gleiche Beschaffenheit der Seelen als' ausreiohead
erachtet werden kann; es könnte ja, um mit der gemeinen Yor-
stelhmg zu reden, wenn beim Aufhören des Lebens die alte Beele
ausgeftüiren ist, beim Wiedereinziehen des Lebens gerade so gni
wie dieselbe auch eine eben solche andere Seele in ihn hinein-
gefahren sein. Die Scfaielheit der Frageertellong leuchtet indMs
sofort ein, wenn man an die All-Einheit des Unbewnssten denkt
und berücksichtigt, dass alte wie neue Seele auf denselben Oi^^
nismus gerichtete Thätigkeiten desselben Wesens des AU'^Bin^ea
sind, welches eben das Leben sofort wieder in diesem (kgan»*
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476
nma ergreift, sowie es nach den Gesetzen der Materie mög-
lich ist.
Man sieht an diesen Beispielen, dass es der Natur keinen
Unterschied macht, ob wie gewöhnlich die lebensfähigen Organismen
in einer Continuität ihrer Lebensfanctionen stehen, oder ob ein
noch eben lebensunfähiger Körper in diesem Moment lebensfähig
wird; sowie die Möglichkeit des Lebens gegeben ist, durch*
seelt ihn das TJnbewusste. Nehmen wir also den Fall an, dass
der Keim eines jungen Organismus, den wir in der Begei als
integrirenden Bestandtheil in der Lebenskette des mütterlichen
Organismus haben entstehen sehen, dass solch' ein Keim, losgelöst
Ton jeder Anlehnung an ein schon bestehendes Leben, plötzlich ent-
stünde, so müsste er ebenso unfehlbar wie der wieder an%ethaute
Fisch oder das wieder aui^weichte Bäderthierohen im ersten
Moment seiner organischen Lebensfähigkeit Tom ünbewussten
dnrchseelt werden, und es würde nunmehr eine solche Erscheinung
nidit mehr als einzelstehender Ausnahmefall angesehen werd^i dürfen.
Auf diese Anschauung Terweise ich denjenigen, der etwa be*
haupten wollte, dass das unbefruchtete £i noch unbeseelt sei, und
erst im Moment der Befruchtung, die ja bei niederen Thieren meist
ausserhalb des mütterlichen Organismus stattfindet, seine Seele em-
pfinge, obwohl diese Auffassung sowohl unserer Ansicht Von der
Beseeltheit jeder Zelle, als auch der Analogie mit der Entwicke-
hmg der Keimzelle ohne Befruchtung zuwiderläuft. Jedenfalls
aber findet dieselbe eine zutreffende Anwendung bei dem Begriffe
der Urzeugung, oder Entstehung organischer Wesen aus unor-
g^isirter Materie ohne Mutterorganismus. Eine solche Urzeugung
■luss stattgefunden haben; denn die Geologie weist nach,
dass die Erde ebenso wie alle anderen Himmelskörper aus einer
^feurig-flüssigen Masse alhnälig iis zu ihrer jetzigen Temperatur
^Laltet sei ; da nun bei einer höheren als der Gerinnungstempera^
tor des Eiweisses keine Oi^anismen bestehen können, so muss die
Erde die längste Zeit ihres Bestehens unbewohnt gewesen sein,
und da sie jetzt factisch yon Organismen bevölkert ist, so muss es
nothwendig einen Zeitpunct gegeben haben, wo das oder die
ersten Wesen entstanden, während yor diesem Zeitpuncte nur un-
organische Materie vorhanden war. Hier ist der Begriff der Urzeu-
gung erfüllt.
leh sage nicht, dass in jenem Zeitpuncte keiae oi^Bfanisohe,
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476
sondern nor, dass keine organisirte Materie vorhanden geweeen
sei ; im Gegentheil glaube ich annehmen zn müssen, dass anter dem
Einflüsse der höheren Wärme, des Lichtes und der zahlreichen
Gewitter sich wohl schon auf anorganischem Wege Yerbindong^a
höherer Ordnung aus Kohlenstoff, Wasserstoff Sauerstoff und Stick-
stoff gebildet hatten, welche die heutige Chemie wegen ihres Yor-
zugsweisen Vorkommens in organischen Wesen mit dem uneigentr
liehen Namen organische Stoffe bezeichnet«
Den neuesten chemischen 'Forschungen ist es gelungen, die
frühere Annahme, dass oi^anisehe Stoffe nicht auf unorganischem
Wege darstellbar seien, durch so schlagende Thatsachen zu wider-
legen, dass es nur noch als eine Frage der Zeit erscheint, wann
der Mensch die absolute Herrschaft auch im Gebiete der organi-
schen Chemie erobern wird. (Z. B. stellte Berthelot aus Sdiwefel-
kohlenstoff und Schwefelwasserstoff bei Gegenwart yon Kupfo'
Aethylen dar, aus diesem Alkohol, und aus diesem wieder Benaol;
Harnitz-Hamitzky erhielt aus Benzoldämpfen und Eohlenozydilorür
in einer erhitzten Eetorte unter Einwirkung Ton Sonnenlicht
Benzoylchlorür und aus der Zersetzung dieses mit Wasser die
kohlenstoffreiche Benzoesäure. Femer zeigten Berthelot and Worts
die Darstellung von ChLorkohlonoxyd und Kohlenwasserstoffen ans
den Elementen; aus Chlorkohlenozydgas und Sump%as bildet sich
bei 120 Grad Chlorwaöserstoff und Chloracetyl, letzteres zer&llt
mit Wasser wieder in Chlorwasserstoff und Essigsäure. Ebenso
liefern Chlorkohlenoxyd und Amylwasserstoff endlich Kapronsäure.)
Yon der sogenannten organischen Materie unterscheidet sich
die oi^ganisirte Materie dadurch, dass sie durch eine von Aussen
an sie herantretende Kraft, nämlich die directe Einwirkimg des
Willens des Unbewussten (nicht wie der Krystall durch die blossen
Atomkräfte selbst), eine organischeForm angenommen hat, d. h.
ein Exemplar einer typischen Idee geworden ist, und dieee
Form durch Wechsel des Stoffes erhält und erweitert,
nicht wie eine unorganische Form (z. B. Krystall, Tropfen) durah
passiven Widerstand und blosses Festhalten dea angeeignetem
Stoffes zu behaupten sucht.
Ich sagte also, es ist wahrscheinlioh, dass vor der Entstehmi^
des einfachsten Organismus schon sogenannte organische Verl^B-
dungen niederer Stufe vorhanden gewesen seien, die den Aufban
eines Organismus aus iljmen etwas leichter machten, als Wasser,
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477
KohlenBäure und Ammoniak, ans denen fertige Organismen sich nähren.
Bs würden dann diese organischen Stoffe für den zu bildenden Ur-
kefin mindestens die Bolle des Dünger s gespielt haben, der jetzt ans
dem BüokbilduDgsprocesse von Organismen entsteht. Die Wahr-
scheinlichkeit, dass jene ersten Organismen im Wasser lebten, ist
allgemein anerkannt; dass es sehr einfache Wesen , einfache, auf
dem Indifferenzpunct Ton Pflanze und Thier stehende Zellen sein
moBsten, ist schon Gap. 0. lY. gezeigt worden. Wie nun auch der
Vorgang selbst in seinen Einzelheiten gedacht werden möge, so
muss das festgehalten werden, dass das ünbewusste die erste
eingetretene Möglichkeit des organischen Lebens erfasste und
verwirklichte. Wenn wir bisher bei der Eltemzeugung den Moment
der Beseelung des entstehenden Keimes so aufgefasst hatten, als
-wenn das Ünbewusste das erst an den gebildeten Keim mit
der Beseelung Herantretende wäre, so war dies nur darum zulässig,
weil wir im Anschluss an die herkömmliche Anschauungsweise die
zur Bildung des Keimes erforderlichen unbewusst- psychischen
Tbätigkeiten stillschweigend als von den eltemlichen Organismen
ansgehend voraussetzten; da nun aber eine solche Unterscheidung
bei der All-Einheit des Unbewussten ganz hinfällig ist, so müssen
ivir jetzt uns daran erinnern, dass die Beseelung des Keimes
der Entstehung des Keimes nicht folgt, sondern vorangeht,
d. h. dass der Keim erst dadurch entstehen kann, dass das ün-
bewusste zu seiner Entstehung eine besondere Tätigkeit wirken
lässt, welche seine typische Form im Anschluss an die durch die
vorhandenen Bedingungen gegebenen Möglichkeiten prädestinirt,
gerade so, wie beim organischen Bilden der Naturheilkraft die
typische Form des dem Salamander wieder wachsenden Beines
durch die Thätigkeit des Unbewussten prädestinirt wird. Hier wie
dort wird keinem anorganischen Naturgesetze widersprochen, keines
auch nur auf einen Moment ausser Wirksamkeit gesetzt, sondern
Bie werden nur zu einem höheren Zwecke benutzt; es wird etwas
gebildet, was durch das Zusammenwirken der anorganischen Natur-
gesetze allein nicht zu Stande kommen könnte, und was erst da-
durch möglich wird, dass der Wille des Unbewussten eingreift und
Yerhältnisse herbeiführt, in welchen nunmehr durch das normale
Wirken der anorganischen Naturgesetze eine neue, zu neuen Leistun-
gen fähige Form geschaffen wird. — Wie das Ünbewusste stündlich
in Millionen Keimen das Leben zu realisiren und festzuhalten
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478
Bucht, die doch aus Ungunst der Verhältnisse durch die unerbitt-
liche Ifothwendigkeit der anorganischen Gesetze bald wieder, oft
schon im Entstehen, zermalmt werden, so mögen auch damals^ als
zuerst das Leben an der Erdoberfläche gährte, Millionen Ton Ur-
keimen schon in der Entstehung verunglückt sein, ehe es dem
Leben gelang, gleichsam festen Fuss auf Erden zu Geusen; war es
aber einmal gelungen, einen oder einige wenige Organismen herzo-
etellen, so hatte das Unbewusste von dieser eroberten Operations-
basis aus leichteres Spiel, es konnte nun die Eltemzeugung su
Hülfe nehmen und mit Hülfe dieser das eroberte Terrain mit yer-
hältnissmässig geringer Anstrengung behaupten und erweitem.
Denn es ist offenbar sehr viel leichter, die im Wasser yer-
dünnt und vertheilt vorhandenen organischen Stoffe um einen vor-
handenen Organismus, als um einen idealen Punct herum zusammen
zu ziehen, es ist sehr viel leichter, die an denselben noch erforder-
lichen chemischen Umbildungen und Modiflcationen durch Assuni-
lation mit Hülfe der Gontactwirkung von einem gegebenen Olga-
nismus aus, als ohne solche zu bewirken, und es ist sehr viel leich-
ter, die typische Form der Zelle mit ihrer immerhin schon reichen
inneren Gliederung durch den einfachen Kunstgriff der Zellentheilung
mit Hülfe von Einschnürung, als aus formlosem Stoffe herzustellen.
Es bedarf also jedenfalls einer unendlich viel geringeren An-
strengung des Willens, um Organismen mit Hülfe von schon Be-
stehendem zu bilden, als ohne dieselbe, gerade so, wie es bei einem
höheren Thiere einer weit geringeren Anstrengung bedarf um mit
Hülfe der Nerven auf Gewebe zu wirken, als ohne dieselbe. Man
kann also annehmen, dass derselbe Krafb- oder WUlens -Aufwand,
durch welchen eine Zelle vermittelst Urzeugung zu Stande kommt»
hinreicht, um viele Millionen von Zellen durch Theilung vor-
handener zu bilden.
Nun haben wir aber gefunden, dass die Natur durchweg darauf
ausgeht, ihre Ziele bei dem mindestmöglichsten Ejraf tauf wände sn
erreichen, dass sie es überall vorzieht, sich mechanische Yonicb-
tungen herzustellen zur Benutzung der doch einmal vorhandenen
anorganischen Molecularkräfte, als dass sie selbst auf direote Weise
eingreift; wenigstens aber sucht sie diese Eingriffe, da sie letzten
Endes doch nie ganz entbehrlich werden, auf ein Minimum von
Kraftaufwand zu beschränken.
So sahen wir Gap. A. YIL 1. a), dass das Nervensystem der
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479
Thiere nichtfl Anderes ak eine solche kraftersparende Maschine ist»
die mit den leisen Drückern und Hebeln des Gehirnes Centner-
lasten in den Qliedmaassen überwindet; wir sahen (Gap. A. UI. Y.
YI. Yin.) eine Menge von Einrichtungen bei Thieren und Pflanzen
flo getroffen y dass die aus diesen Yorkehrungen herrorgehenden
Beize öder auch ihre rein mechanische Wirkungsweise besondere
Instincte überflüssig macht^^i, wir sahen femer umgekehrt Instincte
benutzt» um umfeuBsende Anstrengungen im organischen Bilden ent-
behrlich zu machen» z. B. (Cap. B. U. u. Y.) den Instinct der ge-
0<dileehtlichen Auswahl» um eine Yeredelung der Gattung in Hin-
sieht der Schönheit und anderweitig zu erzielen; das nächste Gapitel
wird uns noch mehr solcher Beispiele bringen» welche beweisen,
mit welcher Eeinheit das ünbewusste überall bemüht ist» seine
Ziele auf mögliehst mechanische» d. h mühelose Weise zu erreichen. -
Yen diesem Gesiohtspuncte aus stellt sich uns nun auch die
£liems6Ugung bloss als ein die Urzeugung mit ungeheuerer £raft-
erspamiss ersetzender Mechanismus dar.
Bo wenig wie ein Temünftiger Mensch querfeldüber fahrt,
wenn die Chaussee ihm 2ur Seite liegt» so wenig wie das ünbe-
wusste nach Herstellung eines Kervensystemes in einem Thiere
noeh die Muskeloontraction durch directe Einwirkung des Willens
suf die Muskelfasern bewirkt» so wenig wird es sich bei der
offenstehenden Elternzeugung noch der Urzeugung
bedienen.
Dieser hier aus dem Wesen der Urzeugung abgeleitete
Satz hat in der neuesten Zeit seine volle empirische Bestätigung
g^efunden, indem das Mikroskop überall» wo man früher Urzeugung
vermuthet hatte» Eltemzeugang nachgewiesen hat» und heutigen
Tages kein einziger Fall einer wirklichen Urzeugung^ beobach-
tet worden ist, trotzdem dass das Mikroskop dieses Gebiet des
kleinsten Lebens schon nach allen Bichtungen recht sorgfältig
durchsohweifl; hat
loh bestreite nicht nur keineswegs» dass bis jetzt jeden Augen-
blick die Möglichkeit offen steht» eine Urzeugung in der Gegen-
wart zu constatiren, sondern ich gebe sogar zu» dass der negative
Nadiweis» dass es jetzt keine Urzeugung mehr geben könne» seiner
Natur nach für die Empirie ewig eine Unmöglichkeit bleiben
muBS; nichts desto weniger aber kann man wohl annehmen , dass
eine Behauptung» in der rationelle Betrachtung und empirische
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4»)
Beobachtung übereinstimmen, eine grosse WahrscheinliohkMt
für sich habe.
Für den mit den hierher gehörigen interessant^i Thatsachen
nicht vertrauten Leser füge ich eine kurze Notiz über dieselben bei
Aristoteles glaubte noch, dass die meisten niederen Thiere
durch Urzeugung entstehen. Vor einigen Jahrzehnten nahm man
noch die Urzeugung für die Eingeweidewürmer und Infusorien an,
obwohl schon seit längerer Zeit Stimmen laut wurden, die an ein
mögliches Uebersehen elterlicher Keime erinnerten. Zuerst wurd^
die Einwanderungswege und yerschiedenen Zustände der Eingeweide-
würmer wissenschaftlich festgestellt; dann zeigte man^ dass abge-
kochte Aufgüsse, die nur mit geglühter Luft in Berührung kamen,
keine Organismen entstehen Hessen. Die Vertreter der Urzeugung
beriefen sich aber mit Eecht darauf dass das Glühen der Luft aadi
die Fähigkeit zur Erzeugung yon Organismen benehmen müsse.
Schröder und Dusch zeigten zuerst, dass ein zwanzig Zoll
langer Baumwollenpfropf die Luft so filtrirt, dass sie keine Organismen
mehr zu Stande kommen lässt. — Pasteur untersuchte die in der
Luft schwebenden Keime, indem er sie durch Sohiessbaumwoile
auffing und diese in Aether und Alkohol löste. Er fand dieselben
in jeder Hinsicht den sonst bekannten Keimen der niedrigsten
Thiere entsprechend. Er wies auch positiv nach, dass sie die Ur-
sache der Entwickelung von Organismen in den Angüssen sind,
indem er mit der geglühten Luft einen kleinen Baumwollenpfropf
mit Keimen einführte, und jedesmal entstanden die Organismen, aU
ob die Luft freien Zutritt gehabt hätte. Pasteur yerglich sogar
durch eine sinnreiche Methode die relativen Mengen der an ver-
schiedenen Localitäten in der Luft enthaltenen Keime. Hiermit
ist die Annahme einer Urzeugung in Angüssen ein für allemal
wissenschaftlich erledigt.
Einen anderen Fall will ich noch erwähnen, die Ent-
stehung der Monas amyU. Man sah in Stärkemehlkömem ein
Gewimmel von einzelligen Infusorien entstehen und glaubte,
darin eine Urzeugung zu erkennen. Als man aber die Ge-
schichte dieser Wesen weiter verfolgte, sah man dieselben beim
endlichen Zerfallen des Stärkemehlkomes frei werden, jedes von
ihnen ein frisches Stärkemehlkorn aufsuchen, und dieses, nach Art
der Amoeben sich ausdehnend, völlig überziehen. Dieses dünne Haut-
eben auf der Oberfläche des Kornes, das Thier, welches gleichsam das
Korn verschlungen hat und nun langsam schichtweise verdaut, war
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481
Yorher der Beobachtung entganges. Nnn war natürlich die £nt-
stebong der Brut als endogene Yermehrang erkannt.
Das Gesetz der Eltemzeugong ist in der Natnr so allgemein
durchgeführt, dass uns nicht nur kein Fall der elternlosen Ent-
stehung eines Thieres oder einer Pflanze, sondern selbst nicht
einmal ein Fall der elternlosen Entstehung einer
Zelle in einem bestehenden Organismus bekannt ist
Wenn irgendwo noch eine Urzeugung vorkäme, so sollte man
doch gewiss erwarten, sie in einer spontanen Entstehung von Zellen
in den Säften eines vorhandenen Organismus zu finden, wo sowohl
die Temperatur, als die chemische Zusammensetzung der organischen
Materie die denkbarst günstigsten Voraussetzungen liefert; aber
vergeblich — auch innerhalb des Organismus entsteht
nur aus der Zelle die Zelle.
▼. Hartmann, Phil. d. Unbewuwten. 31
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IX.
Die anfSsteigende Entwickelnng des orguisdiei Lebens
auf der Erde.
Wir haben im Yorigen Capitel den Satz all ifahrsoheinliok
nachgewiesen y dass das TJnbewusste nur so lange dem Eraftttof-
wand der Urzeugung sich unterzog, als es durchaus nöthig var,
d. h. bis die Eltemzeugung sie ersetzen konnte. Aus demselben
allgemeinen Naturprincip der grösstmöglichsten Krafterspamiss
folgt unmittelbar auch der andere, bei den vorhergehenden Be-
trachtungen als selbstverständlich vorausgesetzte Satz^ dass eioe
Urzeugung, d. h. eine unmittelbare Erzeugung aus unorganisir-
ter Materie, sich nur auf die allereinfachsten Formen organischen
Lebens beziehen kann, dass dagegen zur Darstellung höherer
Lebensformen das TJnbewusste keinenfalls den schon fiir die ein-
fachsten Wesen so schwierigen Weg unmittelbarer Erzeugung,
sondern eine durch Zwischenstufen vermittelte Entstchungs-
weise einschlagen wird. Nicht als ob . ich damit die absolute
Unmöglichkeit der directen Urzeugung eines höheren Thieres be-
haupten wollte, — im Gegentheil, ich habe ja stets behauptet: der
Wille kann, was er will, wenn er nur stark genug will, um die
entgegenstehenden Willensacte zu überwinden, — auch nicht ab
ob ich die theoretische Möglichkeit läugnen wollte, dass selbst
innerhalb der anorganischen Naturgesetze in gewissen
Momenten der Erdentwickelung das Unbewusste eine directe Ur-
zeugung höherer Thiere hätte in's Werk setzen können, darüber
sich ein Urtheil anzumassen, wäre Thorheit, — nur so viel behaupte
ich, dass eine directe Urzeugung höherer Organismen einen unge-
heuren Kraftaufwand erfordert hätte, einen Kraftaufwand, welcher
den zur Urzeugung der einfachsten Zelle nöthigen unendlich viel
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483
Mal übertrofien hätte, dass deshall^ das unfehlbare Logische im
Unbewussten, gemäss dem Pnncipe der 'Erreicbiuig aller Ziele mit
möglichst geringem Ejaftaufwand, nnzweifelhaft der Urzeugung
höherer Organismen eine durch mannigfache Durohgangsstufen ver-
mittelte Erzeugungsweise vorziehen musste^ deren jede, ausserdem
dass sie vermittelnde Durohgangsstufe au höheren Wesen war,
noch für sich anderen und selbstständigen Zwecken
diente, und dabei mit relativ geringem Kraftaufwand vermittelst
einer modificirten Elternzeugung erreichbar war*
Fragen wir uns nämlich einfach, was zur Urzeugung eines höheren
Organismus gehören würde, so ist die Antwort: zunächst organische
Stoffe von nicht zu niedriger chemisoher Zusammensetzung in ge-
nügender Menge und hinreichender Concentration ; wo wären diese
aber leichter zu finden gewesen, als in einem schon vorhan-
denen niederen Organismus? Jedenfalls würde also schon
diedirecte Verwandlung eines schon bestehenden niederen
Organismus in einen höheren (z. B. eines Wurmes in einen Fisch)
wem'ger Schwierigkeiten darbieten, als die Urzeugung des letzteren
ohne Zuhülfenahme eines bestehenden Organismus. Aber auch
hier wären die Schwierigkeiten immer noch so gross, dass ein
enormer Kraftaufwand des Unbewussten zu ihrer Ueberwindung
gehören würde , denn es müssten die schon festgestellten Formen
und schon ausgebildeten Organe des niederen Organismus grossen-
theils in ihrer Beschaffenheit erst vernichtet werden, um den an-
derartigen entsprechenden Formen und Organen des höheren Wesens
Baum SU geben. Diese nicht unbeträchtliche negative Arbeit, die
Dur erst Das wieder zu vernichten hat, was in der embryona-
len Entwickelung des niederen Organismus geschaffen
wurde, wird offenbar ganz vermieden, wenn der Verwandlungspro-
eess in so frühen Stadien der individuellen Entwickelung be-
ginnt, dass diese spedfischen Formen und Organe der niederen
Stufe gar nicht erst zur Ausbildung kommen, sondern an ihrer
Statt sofort die der höheren Stufe. Dann kann man eigentlich nur
noch in idealem Sinne von einem Yerwandlungsprocesse sprechen,
denn nur der ideelle Typus, der nach dem gewöhnlichen Gange der
Entwickelong aus dem Keime des niederen Organismus hervorge-
gangen wäre^ ist der Yerwirklichung eines anderartigen ideellen
Typus gewichen, in Wirklichkeit hat aber keine Verwandlung, son-
dern nur eine embryonale Entwickelung stattgefunden. Selbst
31*
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484
Agassiz , ein Hauptvertreter der getrennten Erschaffung der Arten,
räumt ein, dass nur in Oestalt von Eiern diese Erschaffong habe
stiattfinden können, nnd dass für die Entwickelung dieser elternlos
erschaffenen Eier zugleich ähnliche Bedingungen mitgescfaaffen
worden sein müssten, wie die, unter denen die elterlich erzengten
Eier sich jetzt entwickeln, d. h. aber doch wohl, dass für die der
elterlichen Pflege bedürftigen Eier Pflegeeltern, natürlich von an-
deren Arten, eingesetzt worden seien. Nun trage ich aber, welche
Vorstellung ist ungeheuerlicher, die dass aus dem Eie einer nie-
deren Art sich ein Individuum einer höheren Art entwickele, oder
die, dass das Ei der höheren Art fix und fertig durch Urzengung
gebildet worden sei, und zwar ein solches Ei, aus dem nan
schlechterdings nichts als diese höhere Art mehr hervorgehen
konnte, und in welchem folgerecht sämmtlich^ Oharactere der höhe-
ren Art implicite bereits enthalten waren? Zu bemerken ist dabei,
dass die Eier der allerhöchsten und die der allemiedrigsten Thieie
morphologisch und chemisch sich so ähnlich sind, und die ersten
Entwickelungsstadien der embryonalen Entwickelung so gleich-
massig durchlaufen, dass sie gar .nicht oder wenig, und selbst
dann noch meist nur an zufälligen Kennzeichen, zu unterscheiden
sind. Es hilft nichts, sich darauf zu stützen, dass füx gewöhnlich
im befruchteten Ei einer Art wirklich sämmtliche Charactere der
Gattung implicite enthalten seien; mag diese (übrigens unbeweis-
bare) Ansicht noch so richtig sein, so muss doch ein Ei immer schon
eine Menge Entwicklungsstadien durchgemacht haben, ehe es so
weit kommt, dass es selbstständig existiren und durch Einwirkung
der Sonnenwärme oder der thierischen Wärme der Pflegeeltern
oder der damaligen Erdwärme das Junge ausgebrütet werden kann,
abgesehen davon, dass die Eier der lebendig gebärenden Thiere nie
diese Selbstständigkeit erlangen. Wo soll nun diese Entwickelang
des Ei's vor der Selbstständigkeit stattgefunden haben, woher soll
es die Menge Albumin geschöpft haben, wenn nicht aus einem
Mutterthier , woher * soll der erste sammelnde Brennpunct für die
primitive Dotterzelle gekommen sein, wenn er nicht in einem
Eierstocke lag? Das Albumin ist wahrlich nicht so häufig in der
anorganischen Natur, dass die Urzeugung einer Dotterzelle etwa«
Leichtes wäre. Jedenfalls ako hätte es für das ünbewusste un-
endlich viel mehr Schwierigkeiten haben müssen, ein solches mit
allen Characteren der neu zu schaffenden höheren Art bdiaftete»
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485
£i doreh ürzengong herzustellen, ab entweder aus einem die
Ghaiaotere einer anderen niedero^ Art enthaltenden Ei durch
Verwischung dieser doch immer bloss im Keime ^angedeuteten
Gharactere und Hinzufügung neuer , ein IndiTiduum der neuen hö-
heren Art zu entwickeln, oder aber das die Gharactere der neuen
höheren Art yollständig enthaltende £i in dem Eierstocke eines
Individuums einer niederen Art zu entwickeln, oder endlich beide
Hülfsmittel zugleich anzuwenden, d. h. ein besonderes gün-
stig schon nach der Eiohtung der neuen Art hin angelegtes £i
Bowohl in dem Eierstock des niederen Indiyiduums, als auch
nach Verlassen desselben mit den zur Erzielung der höheren Art
nothwendigen Modificationen zu entwickeln. Wo ist der natlirliche
Ursprung des Individuums, wenn nicht aus dem Ei ? Wo ist der
natürliche Ursprung des Ei's, wenn nicht im Eierstocke eines
Mutterthieres ? Wie unerheblich erscheinen die Schwierigkeiten,
welche das XJnbewusste bei der Entwiokelung eines höheren Orga-
nismus aus dem Mutterschooss eines niederen zu überwinden hat,
gegen die oolossalen Schwierigkeiten, welche sich ihm bei der Ur-
zeugung des höheren Organismus entgegenstellen würden. Wenn
wir also nur zwischen diesen beiden Annahmen die Wahl haben»
so werden wir uns unbedenklich zu der ersteren entscheiden, dass
die höhere Art durch Eltemzeugung aus der niederen hervorgeht,
aber durch eine Zeugung mit modificirter Entwiokelung des Eies,
wie KöUiker (Siebold und KöUiker, Zeitschrift für wissenschaftl.
Zool(^. und Medic. 1865, Heft 3), der sich zu dieser Anschauungs-
weise bekennt, es nennt: „Heterogene Zeugung^'.
Hiermit haben wir für die zur Erzeugung höherer Thiere gleich
anfangs vorausgesetzten Zwischenstufen einen bestimmten Anhalt ge-
wonnen, es ist eine Stufenleiter von immer höheren und höheren Arten,
auf welcher das organisirende Unbewusste zur Darstellung der höch-
sten O^anismen gelangt. So gewiss dies allgemeine Eesultat rich-
tig ist, so gewiss brauchen wir dabei noch nicht stehen zu bleiben.
Wenn wir auch im Cap. A. VIH. nachgewiesen haben,
dass in jedem Moment des organischen Bildens an jeder Stelle des
OrganismuB das Unbewusste thätig eingreift, und seine Einwirkung
ganz besonderes in der relativ so stürmischen embryonalen Ent-
wickelung geltend macht, so ist doch andererseits nicht zu ver-
kennen > dass, wie überall, wo es angänglich ist, so auch für die
Entwiokelung des Ei's das Unbewusste durch vorher berge-
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486
Btellte Mechanismen sich sein Eingreifen möglichst erleichtert xnA
auf materielle Minimalwirknngen reducirt hat. Es findet also in
den männlichen und weiblichen Zengungsstoffen allem Yermathen
nach eine yon ihm selbst in früheren Stadien absichtlich hineinge-
legte Disposition vor, welche diese Stoffe heföhigen, sich unter der
nöthigen psychischen Leitung leichter nach der durch die elterlichen
Organismen yorge^seichneten Eichtung, als nach irgend einer an-
deren zu entwickeln. Da nun das XJnbewusste es sich stets so be-
quem wie möglich macht, wenn es keinen hesonderen Gnmd bat^
sich Unbequemlichkeiten aufzuerlegen, und ein solcher Grand fti
die gewöhnliche Zeugung, wo es nur auf die Erhaltung
der Art ankommt, fehlt, so schlägt es bei der psychischen Lei*
tung der embryonalen Entwickelung für gewöhnlich den durch die
von ihm selbst den Zeugungsstoffen vorher imprägnirten Eigen*
schalten als den leichtesten bezeichneten Weg ein, d. h. das Er-
zeugte gleicht den Erzeugern, und diese Erscheinung nennt
man die „Vererbung oder Erblichkeit der Eigenschaften*.
Von einer solchen allgemein nützlichen Kegel weicht dass ünbe-
wusste um so weniger gern ab, je allgemeiner ihre Geltung ist, z. B. von
den anorganischen Naturgesetzen gar nicht. Da nun die Schwie-
rigkeiten schon gross genug sind, welche durch das Hinausgehen
über die alte Art und das Hinzufügen neuer Charaotere entstehen,
so wird das Unbewusste suchen, sich denjenigen Schwierigkeiten
möglichst zu entziehen, welche es bei der Vernichtung solcher
Charaotere der alten Art zu überwinden hätte, die in die nete
Art nicht mit hinüber genommen werden können oder sollen, und
wird es zu diesem Zwecke die neue höhere Art aus solchen
Arten hervorzubilden suchen, bei denen nur neue Charaotere hin*
zuzufügen, aber möglichst wenig oder gar keine hestehenden
positiven Charaotere zu vernichten sind, d. h. aas relativ un-
vollkommenen, mit wenig speoifischen Characteren versehenen,
der weiteren Entwickelung viel Spielraum bietenden Arten,
nicht aber aus bereits hoch entwickelten, stark differeniir-
ten und mit vielen und hestimmten Characteren ausgestatteten Arten.
Dies wird durch die paläontologisohe Entwickelungsge-
schichte des Thierreiches vollkommen bestätigt. Jede Hauptord*
nung des Thierreiches gleicht einem Aste des grossen Baumes, und
entwickelt sich in einer bestimmten geologischen Periode aus ein-
fachen Anfängen zu hochstehenden Formen. Diese letzteren
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üh&t, die den finden des Astes glei«keni eind es nieht, ans vrel-
oben bei den Teränderten VerhüHnisBen eiber spä4eren geologischea
Fenode eine neue Tlüer(»rdnQng entspringt, denn sie haben sich
durch Beichthnm entschiedener Ghoraotere gleichkam i'n ein«
Sackgasse yerrannt, sondern jene unvollkommenen primitiven
Stammformen der Ordnimg, die sich mit Mühe nnd Noth jene Pe-
riode hinduroh gegen ihre weit überlegenen Sprofsformea im
Kampfe um's Dasein behauptet haben, gleichsam die dem Stamnke
am näohsften stehenden schüchternen Spröeslinge jenes Astes ^ sie
sind es, «ns deaen durch Hinzmüigang neuer, bisher nooh
nicht dagewesener Urdiaraetore später die neue Ordnung er-
wächst So mangelhaft auch unsere Kenntnisse der XJehaigang»-
stofen nach den bis in die heutige Fauna eriialtenem Formen und
nach den bis jetzt gefundenen paläontologisehen Besten sind , so
genügen «ie doeh vollständig, um unsere Behauptung zu erweisen.
Nachdem die Chrustaceen in den Krebsen gegipfelt, setzen die
Ataohniden mit den unvollkommensten Milben ein; nachdem diese
sieh flsur Spinne vervoUkomamet, erfolgt in den Insecten der Büok-
sohlag zu den tiefiitehenden Läusen. Die höchsten Formen der
Weickthiere sind die Sepien, der Gliederthi«re die Hatdiflügler;
beid« sind weit höher organisirt als die niedrigsten uns bekannten
Fisohe, heide lebten in einer der heutigen gleichkommenden Voll-
kommenheit, ehe et Wirbelthiere auf der Erde gab. Aber sie
mxnsi eu einseitig und au reich differenzirt; um von ihnen aus
eine auf ganz anderen Grundbedingungen des Baues beruhende
Ordnung au beginnen. Die Fische entwickelten sich vielmehr aus
Wormern) Nacktschneeken und Gmstaeeen. Die ältesten fossilen
Fisdie gehören aus dem leicht begreiflichen Grunde nur den
Ifehet^gangsformin der Orustaceen an, weil die beiden anderen
Arten zu weich waren, um fossile Beste zu hinterlassen; dagegen
haben sieh die üebei;gangBformen aus letzteren bdden in zwei
Specien bis heute lebend erhalten. Das im den Küsten* der Nord-
see und des Mittelmeeres lebende, zwei Zoll lange, fast durchsich-
tige Lanaettfischen, Atnphioauß kmceolcUus Fedl. besitzt noch keinen
Sohädel und keine Wirbelsäule^ sondern nur eine einfache massive
Knorpeiaoite als Unterlage des Büokenmarkes , kein vom Bücken-
matke abgesondertes Gehini, noch kein Herz, keine Milz, statt der
Leber nur einen Blinddarm, kein gefärbtes Blut, keine Flosseu-
strahlan« aondem nur eine zarte häutige (embryonale) Schwanzflosse.
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Pallas hatte es noch für eine Nacktschneoke {Umax) gehaltok,
erst neuere anatomische Untersachungen zeigten, dass es bereits
nach dem Typus der Wirbelthiere gebaut ist, die niedrigste be-
kannte Stufe der Fische darstellt und überhaupt als Prototyp oder
Urform des ganzen Wirbelthierreiches ^ als unmittelbarer Naoh-
komme der ältesten Wirbelthiere der Urwelt gelten kann, dessen
Verwandte gewiss in unzahligen Massen die urweltlichen Meere
bevölkert haben. Aehnlich hatte noch Linn^ einen anderen Fisch
(Myxine) für einen Wurm angesehen. — Gehen wir weiter ^on den
Fischen zu den Amphibien^ so zeigt sich wiederum ein Uebergang
nur in unyollkommenen und tiefstehenden Formen, während beide
Ordnungen sich um so mehr yon einander entfernen , jemehr ue
sich in ihrer characteristischen Einseitigkeit entwickeln. Der im
Amazonenstrome lebende Schuppenmolch oder Lepidosiren paradota
Natu ist ein drei Fuss langes Thier von fischartiger Körperform^
mit Fischkiemen und einer Schuppenbekleidung, die ganz der der
Enochenfbsche entspricht. Zwei Flossen am Xopfe und zweie am
Bauche deuten die Vorder- und Hinteigliedmassen an. Ausser den
Kiemen aber hat das Thier auch noch eine paarige Lunge, die
sich durch einen Luftgang in den Schlund ö&et, mithin eine Or-
ganisation, wie sie nie bei Fischen, wohl aber bei fischartigea
Lurchen, z. B. Proteus y vorkommt. Athmung und Kreislauf ver^
weisen also den Schuppenmolch in die höhere Klasse der Amphi-
bien, während die ganze übrige Organisation noch die eines Fisches
ist. Betrachten wir nun aber die Entwickelungsstufe des Thieres
als Wirbelthier überhaupt, so steht es so tief als möglich. Sein
Skelett ist erst unvollkommen verknöchert, die Wirbelsäule besteht
noch in einem ungetheilten, knorpeligen Strange, auf dem die ver-
knöcherten Wirbelbogen aufsitzen. Aehnlieh wie Lepidosiren ist
der in Westafrika lebende Protopterus gebaut, der in den übe^
schwemmten Sümpfen nur der Kiemen, in den ausgetrockneten
aber der Ltngen bedarf. — Diese Beispiele mögen genügeD> um un-
sere Behauptung zu belegen und zu veranschaulichen. (Beiläufig
will ich bemerken, dass die Darwin'sche Theorie, welche diese
Thatsache wohl anerkennt, dieselbe dadurch zu erklären sucht,
dass die vollkommenen Formen durch die längere Dauer ihres Be-
stehens das Oesetz der Vererbung sich strenger zu eigen gemacht
haben und weniger leicht vom Artcharacter variiren, als die un-
vollkommenen. Dabei ist nur übersehen worden, dass gerade die
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489
nnyollkonunraen Formen älter sind, als die yollkommenen , and
dass auch die nnyollkommenen Formen gerade erst dann in
die neue Ordnung überschlagen, wenn innerhalb der alten Ord-
nung der Beichthum der vollkommeneren Formen erschöpft ist.
Das Alter einer Species vermehrt also thatsächlich die Yariations-
föhigkeit ebensowenig, als die Strenge des Erblichkeitsgesetzes.
Vollkommenere Arten variiren factisch eben so leicht und eben
so sehr, als unvollkommenere, wenn sie durch veränderte Yerhält-
nifise dazu genöthigt werden, nur schlagen erstere nicht so leicht
in höhere Ordnungen um wie letztere^ und warum dies nicht
der Fall ist, kann die Darwin'sche Theorie nun und nimmermehr
aus ihren Yoraussetzungen nachweisen.)
Nachdem wir dies eine Hülfsmittel kennen gelernt haben^
dessen das Unbewusste sich bedient, um sich die Ausbildung
neuer Arten zu erleichtem, wollen wir uns weiter nach solchen
umschauen. Bis jetzt haben wir noch gar nicht in £rwägung ge-
zogen, wie gross bei der heterogenen Zeugung die Verschiedenheit
des Erzeugten von den Eltern sein darf. Es ist aber klar,
dass das Unbewusste' in der Fortbildung der Arten zu höheren
keine unnütz grossen Sprünge machen, sondern die Grenzen so eng
als möglich an einander rücken wird. Ein Sprung bleibt freilich
immer bestehen, denn sonst müssten von einer Art zur nächsten
unendlich viele Zeugungen hinüberführen, was bei der end-
liehen Entwickelungszeit der Organisation auf der Erde unmöglich
ist. Aber zum mindesten wird der jedesmalige Schritt keine im
geraden Entwickelungsgange liegende Art überspringen, son-
dern höchstens von einer Art zur nächst höheren übergehen.
Hier tritt die Frage an uns heran, wieweit denn eine Art von
der nächstverwandten abliege, oder wie sich der Begriff Art abgrenze
einerseits von den unterschieden, die grösser als Artunterschiede,
andererseits von denen, die kleiner als Artunterschiede sind, oder
mit einem Wort die Frage nach der Definition des Artbe-
griffes. Nun räumt aber jeder vorurtheilsfreie Naturforscher ein,
dass solche Grenzen des Artbegriffes in der Natur gar nicht vor-
handen sind, sondern dass derselbe einerseits in den Begriff der
Varietät oder der Bace und andererseits in den der Familie , oder
wie man den nächst allgemeinen Begriff nennen will , mit völlig
flüssigen üebergängen hinüberführt, dass es mithin wie bei allen
quantitativen Begriffen, eine Sache der subjectiven Willkür und
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Aes gegemeiügen üeber6mk<MiueQetiB ist, wie weit fliaxi disn AiÜwgtiS
ii^Bdehnen will; dass man 2war im Gro«««!i und Gänsen sick
über diejenigen anatomiBchen und äusseren Abzeichen geeinigt halt,
welche ku einem Artunterschiede gehören, dass aber natürlich an
den Grenzen immer Meinungsrersohiedenheiten ttber die Anwen*
düng des Begriffes bestehen bleiben werden. Einige haben ge-
meint, den Streit dadurch zu sohliohten, dass sie als Kriterien der
Artyerschiedenheit zweier Thiere die Unmöglichkeit der Erzeugung
fruchtbarer Nachkommen durch dieselben aufstellten; aber
erstens sind zwei Thiere nicht deshalb über ein gewisses Mcmss hin-
aus verschieden, weil sie keine fruchtbaren Nachkommen zeugen
können, sondern sie können deshalb keine fruchtbaren Nachkom-
men zeugen, weil sie über ein gewisses ICaass hinaus verschieden
sind, und dieses Merkmal würde mithin immer nicht das Weaen»
sondern nur eine Folge der Artverschiedenheit betreffen; zweitens
jedoch ist die Gremte der Zeugung fruchtbarer Nachkommen eben
so flüssig, wie der Artbegriff, da eben nur die Anzahl der fmoht-
bare Nachkommen liefernden Begattungen unter ein und derselben
Gesammtzahl von Begattungen um so kleiner wird, je v^reohte-
dener die Thiere werden, ab^ Niemand früher als naoh unend^
lieh vielen Yersuchen behai^ten kann, dass eine Zeugung fraehi-
barer Nachkommen zwischen diesen beiden Thieren unmög*
lieh ist; drittens endlich ist factisch dieses Merkmal in nicht
wenigen Fallen mit dem durch allgemeine Uebereinstimmung fSsst«
gestellten Gebrauch des Artbegriffes in Widerepruoh, denn von
allgemein als aitverschteden betrachteten Thieren sind durch Kreu-
zung fruchtbare Nachkommen erzielt worden, z. B. von Pferd und
Esel (in Spanien), von Schaf und Ziege, von Stieglitz und Zeisig,
r&a Matkiola madermm und mcono, von Calceclaria pUmtaginea
und integrifoUa u. a. nt, ja sogar freiwillige Bastardfteugungen ohne
Dazwisehenkunft des Menschen zwischen wilden oder dooh halb->
wilden Thieren conetatirt worden (zwisehen Hund und Wölfin,
Fuohs und Hündin, Steinbook und Ziege, Hund und Schakal u. s. w.X
und zahlreiohe Bastardraoen giebt es, welche unter einander bis
in's Unendliche fruchtbare Nachkommenschalt liefern, z. B. Ba-
starde von Hase und Kaninchen , von Wolf und Hund^ Ziege und
Sohaf, Kameel und Dromedar, Lama und Alpaca, Vigogne und AI-
paca, Steinbock und Ziege u. s. w. Andererseits veriialten sieh
au(^ die Eacen s^r verschieden; eilige können, andeie wollen
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4»!
sich durehftm sieht mit di&ander vermiMheii, bei wieder anderen
ist thatsKehlieh die Fmehtbarkeit in der Oeneratiensfolge eehr
beschränkt.
Wenn wir demnach an der Flüssigkeit nnd Conventionalität des
Artbegriffes festhalten müssen, wenn wir zugeben müssen, dass es
in der Natur mir kleinere und grössere Yersohiedenheiten giebt,
aber in so reich vertretenen Abstofungen, dass von der unmerk-
lichsten individuellen Nuance Jbis eam Unterschiede des höchsten
Tom niedrigten Organismus ein in fttr uns unmerklich kleinen
Schritten dahin fliessender TJebergang stattfindet , so kann auch
weder im Artbegriff noch einem ihm ähnlichen engeren oder wei-
teren Begriff mehr ein Zwang für das XJnbewusste liegen, welcher
die Minimalgrösse seiner Schritte in der Fortentwickelung der Or-
ganisation noTmirte, sondern das kleinste Maass für die Sprünge
der heterogenen Zeugung wird nur noch im ünbewussten selbst,
in seiner Bequemlichkeit und den sonst von ihm rerfolgten Zielen
(£. Z. Erreichung gewisser Organisationsstufen in gewissen Zeit-
räumen) zu suchen sein. Nun findet aber schon ron selbst be-
kanntlich nicht Gleichheit^ sondern nur Aehnlichkeit zwi-
schen Erzeugern und Erzeugten statt, denn die yerschiedenen ma*
tenellen Umstände bewirken bei der Zeugung individuelle Abwei-
chungen vom ideellen Normaltypus, welche follständig zu nivel-
liren einen ganz unnützen Kraftaufwand des Ünbewussten in
Anspruch nehmen würde, da diese individuellen Abweichungen für
gewöhnlich und der Hauptsache nach sich durch Kreuzung der
Familien von selbst wieder ausgleichen. Trotzdem hat man sieh
nicht über die Ungl^chheit, sondern über die Gleichheit von Eltern
und Eind zu wundern, denn wenn das Unbewusste eich bei
allen Zeugungen innerhalb derselben Art auf dieselbe Weise ver-
halten und Bi(^ die Arbeit eines fortwährend ausgleichenden Ein-
greifens ersparen wollte, so würden die Abweichungen zwisohen
Erzeugern und Erzeugten, welche durch die Unterschiede der ma-
teriellen Verhältnisse entstehen würden, noch weit grösser sein, als
die Erfahrung sie uns jetzt zeigt. Sehen wir dodi trotzdem Fälle
eintreten, wo das Unbewusste lieber Missgeburten zur Welt schickt,
ah dass es sich mit Ueberwindung der vorliegenden materiellen
Schwierigkeiten abquälte. — Die so übrig bleibenden individuellen
Unterschiede sind unzweifelhaft gross genug, um schnell zu einer
wesentlichen Abänderung des Typus zu führen, und das Unbe-
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492
wusste braucht nur die Ausgleichung^ dieser unterschiede durch 'Kreu-
zung für diejenigen Fälle, wo die Abweichungen seinem Fortbil-
dungsplane entsprechen, zu yerhindem, sei es nun durch directes
Festhalten oder durch einen äusserlichen Mechanismus, so wird schon
wieder ein grosser Theil Kraftaufwandes auf diese Weise erspart sein.
Dass solche Artentstehungen durch Snmmation individu-
eller Abweichungen wirklich vorgekommen sind, zeigen mehr-
fache Thierclassen in den geologi^hen Sammlungen, wenn die
Sammler nicht die unbequemen Mittelstufen ausmerzen , die in
keine Arteintheilung mehr passen wollen. ^^Zahllos sind die Arten
von beschriebenen Ammoniten, alljährlich kommen zu den alten
noch neuC) und füllen sich ganze Schränke mit Büchern nur über
Ammoniten. Ordnet man dieselben in eine Beihe, so sind die
Unterschiede zwischen je zwei Exemplaren in der That so unbe-
deutend, dass Jeder sie unbedingt bloss für individuelle Eigenthüm-
lichkeiten ansehen muss. Bei einem Dutzend aber summiren sich
die kleinen Differenzen und bei zwei Dutzend ist die Summe der
Differenzen so gross geworden, dass sich gar keine Aehnlichkeit
mehr zwischen dem Ersten und Letzten beobachten lässt Bier
halt kein Artbegriff mehr Stich , sobald man nur genug Exemplare
beisammen hat, welche die Uebergänge veranschaulichen.'^ (Fraas:
Vor der Schöpfung, S. 269.) Ziemlich ebenso steht die Sache
mit den Trilobiten, und manchen anderen Glassen. Hier nur noch
ein Gitat über Schnecken: „Bei Steinheim (Würtemberg) erhebt
sich ein tertiärer Hügel, der zu mehr als der Hälfte aus den
schneeweissen Schalen der Valtata multtformU besteht; das eine
Extrem dieser Schnecke ist hoch gethürmt, wie eine Faludine
(noch einmal so hoch als dick), das andere hat einen ganz flachen
Kabel (scheibenförmig, ein Viertel so hoch als dick). Selbst der
ängstlichste Gelehrte, der alle Unterschiede benutzt zur Aufstellung
einer Species steht rathlos vor dem Klosterberg zu Steinheim,
imd muss gestehen, dass alle die Millionen Formen, auf die sein
Fuss tritt, so leise und unvermerkt in einander verlaufen, dass nur
von Einer Art die Bede sein kann.*' (Fraas, S. 30.) Zu unterst
im Hügel li^en die flachsten, zu oberst die gethürmtesten For-
men; in den Jahrtausenden, die zum Aufbau dieses Hügels gehör-
ten, hat sich also die Species auf diese Weise verändert.
Wenn es sonach als feststehend zu betrachten ist, dass das
Unbewusste zur Herstellung einer neuen Art häufig eine Summe
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49g
zufälliger mdiyidueller Abweiohimgen wird benutzen können, so
ist damit doch keineswegs gesagt, dass diese sich dem ünbewuss-
ten anoh immer in allen denjenigen Bichtangen darbieten, welche
es einzuschlagen beabsichtigt; es bleibt yielmehr die Möglichkeit
offen, dass gerade die allerwichtigsten Fortschritte nicht durch
zufällige Abweichungen, sondern nur durch planmässig abwei-
chende BildungsYorgänge begriffen werden können; ich
glaube sogar annehmen zu müssen, dass alle Erhebungen zu
wesentlich höheren Stufen, welche Herstellung von vorher
nicht Torhandenen Organen voraussetzten, nicht durch zufällige indi-
viduelle Abweichungen erklärt werden können, wenn letztere auch
für die erschöpfende Durchbildung eines vorhandenen
Typus nach allen Richtungen hin die Hauptarbeit verrichtet
haben mögen.
Wie kann erst gar eine an verschiedenen Eörper-
t heilen gleichzeitig auftretende Yeränderang, die sich in
ihren verschiedenen Theilen planmässig ergänzt, durch zu-
fällige Abweichung genügend begriffen werden, z. B. die Bildung
der Euter beim ersten Beutelthier, die nothwendig mit dem Leben-
diggebären Hand in Hand gehen musste, wenn die Jungen nicht
nach der Geburt jämmerlich umkommen sollten, oder auch die
Hand in Hand gehen müssende Veränderung der männlichen und
weiblichen G^chlechtstheile, wenn eine Begattung möglich bleiben
soll? Ebenso wenig kann das Princip der zufälligen Abweichung
da als ausreichend erachtet werden, wo gewisse Thiergestalten
Sigenthihnlichkeiten des anatomischen Baues aufweisen, die für
sie selbst werthlos, nur als vermittelnde Durchgangs-
formen für höher entwickelte Stufen eine Bedeutung haben, wo
man also das vorweggenommene Dasein um des künftigen
Zweckes willen deutlich sieht, z. B. die erste Bildung von einem
knorpelichen Rückenstrang in den primitiven Fischformen, welche
durch ein äusseres Schalgerüst vollkommene Festigkeit wie die
Crustaoeen besassen, von denen sie abstammen, so dass das primi-
tive innere Knochengerüst nicht für sie selbst, sondern nur für ihre
späteren Nachkommen eine Wichtigkeit hatte , welche den Schal-
panzer in ein Schuppenkleid verwandelten. — Die Darwin'sche Theo-
rie, hat das Verdienst, auf die Summirung der individuel-
len Abweichungen nach einer bestimmten Richtung und die
dadurch vermöglichte Veränderung eines Typus in den einer an-
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494
deren Yarietät oder Art hingewieBen und mit reichen Beispielen
belegt zu haben; es ist sehr verzeihlich für eine yerdienstvolle
neue Ansioht^ wenn sie ihre Tragweite überschätzt und
alles zu erklären glaubt, wenn sie in Wirklichkeit nur einiges,
yielleic^t auch das Meiste, erklärt.
Betrachten wir nun, welcher Hülfsmittel das Unbewusste sich
in den fällen bedient, wo seine einzig übrig bleibende Aufgabe
darin besteht, die zufallig entstandenen individuellen Abweichungen
nach einer bestimmten Eichtung festzuhalten, und ihre nor-
male Wiederausgleichung und Verwischung durch Kreuzung zu
verhindern. —
Das eine uns schon bekannte Hülfsmittel ist der Instinct
der individuellen Auswahl bei de.r Befriedigung des Ge-
schlechtstriebes. Im Capitel B. Y. haben wir gesehen, wie die
Schönheit im Thierreiche durch dieses Mittel gemehrt und gehoben
wird, im Capitel B. IL haben wir den Werth desselben für die
Veredelung des Menschengeschlechtes in jeder Hinsicht erkannt
und einen Seitenblick auf die Möglichkeit ähnlicher Voi^^nge in
den höheren Classen des Thierreiches geworfen. Wenn dieses Hülfs-
mittel in den niederen Thierclassen fast bedeutungslos ist, so wächst
es mit steigender Entwickelung an Wichtigkeit, wirkt aber freilich
immer mehr zur Befestigung und Veredelung einer Species
in sich, als. zur XJeberführung in eine andere. Häufig
tritt an Stelle der activen Auswahl der Männchen eine passive
Auswahl der Weibchen, indem die brünstigen Männchen, durch
einen besonderen Kampftrieb beseelt, um den Besitz der Weib*
chen kämpfen, und natürlich die kräftigsten und gewandtesten den
Sieg behalten. — Viel eingreifender wirkt zur Veränderung der Art
ein anderer Umstand, welchen zur Geltung gebracht zu haben, das
allereigentlichste Verdienst der Darwin'schen Theorie ist, die
natürliche Auslese {natural selection) im Kampfe
um's Dasein. —
Jede Pflanze , jedes Thier hat in doppelter Hinsicht einen
Kampf um's Dasein zu führen, erstens in negativer Hinsicht eine
Abwehr gegen seine es zerstören wollenden Feinde , als z. B. die
Elemente, die Häuber und Schmarotzer, die von ihm leben wollen,
und zweitens in positiver Hinsicht eine Conourrenz im Erwerben
resp. Festhalten des zum Weiterieben Erforderlichen, als Nahrung,
Luft, Licht, Boden u. s. w. Die schnellsten Thiere, welche sich
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am betWa &n venteoken wissen, oder durch ihre Farbe und Ge-
stalt in der Umgebung am wenigsten auffallen, werden sieh am
leiobtesten den Verfolgungen ihrer Feinde entziehen; yon Thieren
und Pfimzen werden den Unbilden der Witterung, Sturm , Frost,
Hitae, Nässe , Trockenheit u. s. w., diejenigen am wenigsten zum
Opfer fallen, welche gegen diese YerhältniBse duroh ihre äussere
oder innere Organisation am fabigsten zum Widerstände sind; von
Eaubthieren werden bei Nabrungsmangel nur die gewandtesten«
sehnelisten , kräftigsten und listigsten dem Hungert ode entgehen ;
von Pflanzen werden diejenigen, welche sich unter gleichen Yer*
hältnissen am kräftigsten nähren« die anderen überwiM^bem und in
Bezug auf den Genuss von Licht , Luft und Begen in um so ent-
sehiedeneren Vortheil gelangen, so dass sie die am meisten zurück-
gebliebenen ersticken. Wir sehen diesen Kampf um's Dasein häu-
fig zwischen verschiedenen Arten entbrennen und mit der völligen
Vernichtung der einen sobliessen, z. B. der Hausratte durch die
Wanderratte; weniger beachtet, aber weit allgemeiner ißt der unter
abweichenden Individuen derselben Art Letzterer führt natürlich
eine Veredelui^ der Art herbei, denn es sind in allen F/Qlen die
scbwächlichsten Individuen, welche durch frühere Vernichtung vom
Fortpflanzungsgeaohäfte ausgeschlossen werden, während dasselbe
vorzugsweise den tüchtigsten «nd kräftigsten Individuen die läogste
Zeit hindurch zu&llt. Es kann aber ausser der Veredelung auch
eine derartige Veränderung der Art stattfinden, dass daraus zu-
nächst Varietäten und Racen und endlich neue Arten entstehen.
Dieser Fall kann natüriioh nur dann eintreten, wenn die äusseren
Lebeasverhältnisse andere werden; dann wird die natürliche Aus-
lese bei der Fortpflanzung diejenigen Individualcharactere begün-
stigen , welche besonders in den neuen Verhältnissen besondere
Leb^iskraft zeigen; die Folge wird also allemal eine Accommo-
dation an die äusseren Lebensbedingungen sein. Da nun das Un-
bewusste ebenfalls diese Accommodation will, so darf es die na-
türliche Auslese im Kampfe um's Dasein nur unbehindert walten
lassen, um di^en Zweck ohne jedes Eingreifen mühelos erreicht
zu sehen. —
Solche Veränderungen der äusseren Lebensbedingungen kön-
nen auf sehr mannigfache Weise entstehen. Erstens kann die
Pflanze oder das Thier durch Wanderung dieselben aufsuchen, und
so durdi räumliche Absonderung, oder Golonienbildung, die neu zu
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bildende Varietät vor dem sonst drohenden Wiederontergehen in
die Stammart schützen; zweitens kann ihr Gebiet durch fremde»
auf der Wanderschaft befindliche Pflanzen und Thierarten au^*
sucht werden, und sie genöthigt sein, ihre Kräfte im Kampfe mit
diesen zu proben und zu stärken ; drittens können durch Hebungen
oder Senkungen die Terrainverhältnisse und die Höhe über dem
Meere verändert werden, es können Gebii^ zum Hügelland, Ebene
zu Gebirgen, Seegrund zur Ebene, Strand zum Festland, getrennte
Länder vereinigt, vereinigte getrennt werden u. s. w. , es können
viertens klimatische Veränderungen, auch abgesehen von den schon
genannten Ursachen, eintreten, und fünftens endlich sind Verän-
derungen im Pflanzenreich veränderte Lebensbedingungen für das
Thierreich und umgekehrt. Diese Verhältnisse bieten eine reiche
Mannigfaltigkeit. — Wenn eine Pflanze auf einen mehr gleichmässig
durchfruchteten Boden übersiedelt, werden ihre Blätter im Allge-
meinen weniger zertheilt, kahler und grasgrün, die Blüthen kleiner
und dunkler; umgekehrt, wenn eine Pflsuize auf einem mehr porö-
sen und trockenen Boden sich ansiedelt, werden ihre Blätter blauer,
gelappter, zertheilter oder zerfaserter, die Blüthen grösser und hel-
ler, und sie hüllt sich in einen dichten Haarpelz. So geht auf
trockenem, kalkhaltigen Boden Hutchtnsia bremcaulis in H, aJ^pim^
Arahis coerulea in belUdlfoliOy Alchemüla fissa in vulgaris, Beitda
pubescena in alba über ; auf feuchtem kalklosem Boden verwandelt sich
Dianthus alpinus in deltoides (na(4i A. Kemer in der Oester. bot
Zeitschrift). Ln Thierreich, wo die veränderten äusseren Verhält-
nisse nicht so nahe beisammen liegen, wie für die Pflanze der
verschiedene Boden , sind für uns bei der gegenwärtigen durch-
schnittlichen Constanz der geologischen und klimatischen VeAält-
nisse Artveränderungen durch natürliche Auslese noch nicht be-
obachtet worden, wohl aber Bildung von stark abweichenden Varie-
täten besonders unter dem unabsichtlichen Einflüsse des Mensohen,
z. B. Entstehung von sehr verschiedenen Hausthierracen (Hunde,
Rindvieh, Schafe, Pferde), und kann man bei der schon erwähn-
ten Flüssigkeit des üeberganges von der Race zur Varietät mit
Recht annehmen , dass in früheren Zeiten , wo nicht selten eine
schnellere Umwandlung der äusseren Verhältnisse eingetreten sein
mag, als das Menschengeschlecht erlebt hat, dass in diesen frühe-
ren Zeiten mannigfache Entstehungen neuer Arten durch natürliche
Auslese im Kampfe um's Dasein vorgekommen sein mögen. &
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wird hiergegen foehanpiat, dass man akdann die onendlich .yieleii
Mitteifnrtteii, durch welche eine Art in die andere ühecgegangen
ist, in den Schichten nachweisen k<kin«i müsate, während doch die
foedlen Arten meist eben so scharf und noch schärfer wie die
lebenden von einander unterschieden sisd. Dies beweist gar nichts ;
denn es liegt in der Natur der Sache, dass diejenige Form die
Endibrm sein niuss, welche lebensflihiger ist als alle yorhergehen-
den Stufen der Aenderung, welche also alle diese im Kampfe
um's Dasein besiegt, d. h. ausrottet; wenn sie aber von der End-
form bald verdrängt werden, so haben sie nur ein kurzes Bestehen
gehabt ini Verhältmsse zur Endform, welche nun als die den Yer-
hiütnissen möglichst angepasste mindestens so lange als diese Ter-
hältoisse besteht; demnach kann man sich nicht wundem, wenn
nan bis jetjct so wenig XJebergangsformen swisohen verschiedenen
Arten gefunden hat. Dass man aber gar keine gefanden hat, ist
nicht richtig, im Gegentheil fmden sich bei niedrigen Thieren
überraschend reiche Uebergänge, wie wir schon oben in Beispielen
gesehen haben. (S. 487 — 488 und 492.)
Wenn wir nun auch somit die natürliche Auslese im Kampfe
uro's Daaein als ein wichtiges Hülfsmittel zur Entstehung neuer
Arten anerkannt haben , so kann ich doch keineswegs zugeben,
dass mit diesem Pnncip überhaupt die Entstehungsgeschichte der
organisehen Welt erschöpft sei. Nicht als ob sich diese Annahme
nicht ganz gut mit unseren Voraussetzungen vom Wesen des ün-
bewussten vertrüge, — denn wenn dieses sich die Sache so be-
quem als möglich macht, so wäre es ihm natürlich gerade recht,
wenn es sich nur um das Individuum zu bekümmern brauchte, und
die Fortbildung der Arten ganz von selbst mechanisch weiter ginge, —
irar deshalb, weil die zu erklärende Thatsacben weit reicher
als die Tragweite des Erklärungsprineips sind, kann ich dasselbe
nicht für ausreichend erachten.
Bei dem gegenwärtigen allgemeinen Interesse an der Darwin'-
sehen Theorie und der so häufig stattfindenden Ueberschätzung
ihrer Tragweite dürfte es sich lohnen, noch einige Augenblicke bei
der Betrachtung zu verweilen, in wieiem sich dieselbe als unzu-
länglieh herausstellt. (Vgl. auch oW 8. 223 — 225.)
Wenn man annimmt, dass durch den Kampf umV Dasein
aliein eich die Organisation von der primitiven ürzelle bis zu ihrer
gegenwärtigen Höhe entwickelt habe, dass abo jede höher cnt-
▼. Hftrtnsnn, PhiL d. Unbewvsatoo. 32
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wickelte Art nur dadnroh aus der nächst niederen henro^egangen sei,
daes sie derselben gegenüber einen höheren Qrad yon Lebensfähigkeit
besass, so liegt darin die nothirendige Conseqnenz, dass jede höhere
Art auf ihrem Terrain jeder niedem Art an Lebensfähigkeit überlegen
sei, und zwar in um so höherem Grade überlegen, je gröeser der
Abstand ihrer beiderseitigen Organisationsstufe ist, da sich ja bei
jedem neuen Entwickelüngsschritt ein neuer Zuwachs an Lebens-
flihigkeit ei^ebt, und diese Zuwachse sich addiren. Diese unmit-
telbare Consequenz ist nun aber im vollkommenen Widerspruch
mit dem Thatbestand, welcher ergiebt, dass jede Organisations-
stufe im Ganzen genommen die gleiche Lebensfähigkeit
besitzt und dass nur innerhalb derselben Organisationestofe
die verschiedenen Arten oder Varietäten sich durch eine
grössere oder geringere Lebensfähigkeit unterscheiden, womit auch
übereinstimmt, dass der Kampf um's Dasein in der Concurrenz um
die Lebensbedingungen um so häufiger vorkommt, um so er-
bitterter ist, und um so sicherer mit gänzlicher Y ernichtuag
des einen Theils endet, je näher verwandt die ooncurrirenden
Arten oder Varietäten sind, während die Arten um so friedlicher
neben einander wohnen und um so mehr sich gegenseitig in der
Lebenserhaltung unterstützen, je femer sie in dem verwandt-
schaftlichen Stammbaum der Organisation sich stehen. In jeder
Localität, wenn man von dem Unterschiede zwischen Land und
Meer absieht ^ findet man alle Organisationsstufen vertreten, und
alle gedeihen trefflich neben einander, während nach der Darwin'*
sehen Theorie streng genommen an jeder Localität zuletzt
nur Eine Art, und zwar die höchste übrig bleiben dürfte, weil
diese alle anderen an Lebensfähigkeit für diese Verhältnisse über-
träfe. Das ist ja aber gerade das Wunderbare und Grossartige an
der Natur, dass jeder Schlusstypus einer Classe so vollkom-
men in sich ist, dass man wohl darüber hinaus gehen kann, je-
doch nur indem man neue anatomisch-morphologische
Voraussetzungen des Baues hinzunimmt, nicht aber darch
Steigerung der bisherigen Form oder ihrer Accommodation m
den Lebensbedingungen; denn beide sind vollendet Hatten
nicht wirklich alle Organisationsstufen im Durchschnitt die gleiche
Lebensfähigkeit y so müssten ja in dem Millionen Jahre bestehen-
den Kampfe um's Dasein alle niederen Arten von den höheren
längst vollständig verdrängt sein, während doch die fossilen Beste
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erweiseD, dass €8 unter den allerrerBchiedensten Umständen yer-
luLltnissmässig wenige GlasBen yon Thieren und Pflanxen gegeben
hat, die nicht auch in der Gegenwart ihre yöUig lebensfähigen
Vertreter hätten.
Die Aecommodationsfahigkeit einer Classe nnd selbst einer Art
innerhalb ihrer eigenen Grenzen ist im Allgemeinen weit
grösser als man glanbt; dies folgt theils aus dem Fortbestehen
nieht weniger Arten seit ihrer Entstehung bis zur heutigen Zeit,
wo sich doch wahrlich die Verhältnisse genug geändert haben,
theils aus den grossen Yerbreitungskreisen heutiger Glassen
nnd Arten. Manche Glassen bevölkern die ganze Erde oder das
ganze Meer, yiele Arten haben eine Yerbreitung über 20 bis 40
Breitegrade. Endlich wird es durch die Aoclimatisationsfähig-
keit der Arten bewiesen, die oft in's Erstaunliche geht, wenn die
Erfahrungen sich nur über genügende Zeiträume erstrecken. So
wollte der Pfirsichbaum, der vermuthlich ein indisches Gewächs ist,
KU des Aristoteles Zeiten in Griechenland noch nicht gedeihen,
während wir heute in Korddeutschland recht gute Pfirsiche
ziehen. !Es ist also die Aecommodationsfahigkeit der Arten inner-
halb ihrer specifischen Grenzen, theils durch innere physiologische
Abänderungen, die sich der Beobachtung entziehen, theils durch
Bildung von Varietäten , eine so grosse, dass sie einer schon recht
erheblichen Aenderung des Elima's u. s. w. sich yöllig anzube-
quemen im Stande sind, ohne aus der Art zu schlagen. Höchst
zahlreich sind die Beispiele, wo nah verwandte Arten auf einer
localität neben einander wohnen ohne merkliche Veränderung ihrer
relatiyen Anzahl, und doch ist gerade innerhalb der Artgrenzen zwi-
schen Varietäten und noch geringeren Unterschieden der Kampf um's
Basein am heftigsten; mag aber dieser Kampf in einem bestimm-
ten Falle eintreten oder ausbleiben, so wird doch in keinem Falle
ein TJeberschreiten der Artgrenze sich herausstellen. Endlich wird
nicht leicht an eine Art eine so grosse Veränderung der äusseren
Verhältnisse herantreten, oder eine Art in so abweichende Verhält-
nisse hineinwandern, dass nicht die von uns als so beträchtlich e^
kannte Aecommodationsfahigkeit und Acclimatisationsföbigkeit in-
nerhalb der Artgrenzen diesen Ansprüchen genügte. Tritt dann
aber später eine abermalige Veränderang der Lebensbedingungen
an demselben Orte ein, so wird dieselbe meistens eine Bückkehr
zu den schon früher dagewesenen Verhältnissen sein, also wird die
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. «p
'Art dieser ¥0]fäadenmg einfadi dadunsh G«D%e thus, daai «k die
früher gethanen Sdnritte m nmgedi:ehrter Eicfatanj^ liiiit (wie dies
bei den vorhia erwähnien Yersachen mit Tetsetiniig von Pfluiaeft
in verschiedene Bodenarten beobachtet ist), und wieder liegt keine
Yeranüassiuig vor zum Uebetgange in eine nece oder ^ar in eine
femer -stebeade Aii.
Wie könnte a«ch das Anheben einer neuen BntwiekelvBS»-
riohtung nach ersehöpfender Durchbildung der kAzterreiokten Or-
ganiBatkmsstaife und vielleicht Jahrtausende langvr Pause a«s dem
Kanäle um's Dasein zu begreifen sein? Wir haben gesehen, dasi es
gerade die unvollkommeneren Formen der vorigen Stufe sind, von denen
die Sntwickelung der höheren Stufe ausgeht. Abgesehen von ^tm
schon erwähnten Umstand, dass diese unvollkommeneren Fonneii
von allen Arten der niederen Stufe die am längsten unverändert
bestehenden sind, also nach Darwin's Ansicht die stabilsten und
am wenigsten einer individuellen Abweichung und Weiterbildung
fähigen sein müssten, abgesehen auch davon, dass wenn allein der
Kampf um's Dasein die späteren Formen der niederen Stufe ge-
schaffen hätte, diese Piimitivformen sidi alle bereits aus dem-
selben Grunde und durch denselben Process in ent-
wickeltere Formen derselben Stufe verwandelt haben müssten,
oder doch von den einmal entstandenen lebensfähigeren Formen in
den unermesslichen Zeiträumen längst hätten vernichtet sein
müssen, abgesehen von alle dem, sollte man doch meinen , dass,
wenn wirklich aus wer weiss welchen Ursachen diese sidi be-
hauptet habenden Primitivformen einen Anstoss zur Weiterent-
wickelung erhalten hätten, dass dann durch den Kampf um's Dasein
doch immer nur eine Wiederholung der ihnen viel näher
liegenden Entwickelung zu den schon vorhandenen höheren For-
men derselben Stufe hervorgerufen werden müsste, als ein
üebergang zu der morphologisch so abweichenden höheren Stufe,
da ja notorisch sich die höheren Fonaen der niederen Stufb an eh
unter den neuen Verhältnissen medstene ebenso le¥eaiB&hi^
erweisen, als die Arten der höheren Stufe. Am «nbegfeiflichsten
aus den Darwin'eehen Voraussetzungen ist der üebergang ans des
einzelligen zu den mehrzelligen Organismen'^ da gerade die wt
glaubliche Indifferenz der einzelligen Gewächse gegen übte Umf»-
bung, d. h. ihre Fähigkeit sich auch den aUerabwuLdienddia
Verhältnissen durch ^relativ geringe Modifioailionen zu aoeonuiiodiraB»
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dus M«Bgel eine« H^ym g»m. TJaberaoUiagBii im aroMnwmiigemtgtg
Tljf^ü veoht demtli<äi herrortveten lüBst
Fragt man endlieh positiv, yon weLoher Art die doich den
Kampf om^ Dasein entsteh^ftdan nütslichen Anpasaungen aind^ ao
iit die Antwort: sie aind auaachliesBlieh phyaiologiaeher
Natur. Hier liegt die eigentlidie Grense des Darwin'sclton Pri^-
dlpB deutlich yor Augen: es reicht aus, ao lange es «ich um
Ausbildung und Umbildung eines bestehenden Ocgans sa
einer durch die Yerhältniase erforderten physiologi-
sollen Verrichtung handelt, es verlässt uns, so wie eine mor-
phologische Veränderung za erklären ist. Daas auch morpho-
logische Veränderungen durch Summirung individueller Abwei-
chungen möglich sind, ist nicht zu bezweifeln, und Darwin beweist
es mit vielen Beispielen, namentlich am Skelett von Tauben; aber
in allen den angeführten Fällen findet eine künstliche Züchtung
statt. Ein Paar Zähne, Wirbel, oder eine Zehe mehr oder weniger,
ein so oder anders gestalteter Wirbel sind für den Kampf um's
Basein ganz indifferent, und gerade dies sind die Merkmale,
an denen der Zoologe am sichersten die Arten unterscheidet
Beim Thierreich stösst die durchgehende Anerkennung der Behaup-
timg, dass nur die physiologischen, nicht aber die morphologischen
Veränderungen für den Grad der Lebensföhigkeit entscheidend sind,
deshalb auf Schwierigkeiten, weil das auch von Darwin einge-
räumte Vorkommen der sympathischen Veränderungen häufig mit
der physiologischen Veränderung eines Organs auch morphologische
Veränderungen, oft an ganz anderen Körpertheilen , Hand in Hand
gehen lässt^ welche Erscheinung, aus eigenthümlichen Gesetzen der
organisdien Bildungsthätigkeit des Unbowusoten entspringend, ganz
geeignet ist, das Urtheil zu verwirren ; in voller Klarheit aber tritt
unsere Behauptung im Pflanzenreich zur Erscheinung. Das com-
petante Urtheü des Prof. Dr. Nägeli (Entstehung und Begriff der
aaturhistorischen Art, München, 1865, S. 26) lautet hierüber: „Die
böehate Organisation thut sich in zwei Mom^iten kund, in der
mannigfaltigsten morphologischen Gliederung und in der am weite-
sten durchgeführten Theilung der Arbeit Beide Momente fallen
im Thierreich in der Begel zusammen, da das nämliche Organ
auch die gleiche Verrichtung besitzt. Bei den Pflanzen aber sind
sie unabhängig von einander; die gleiche Function kann von ganz
versidiisdQnen Organen, selbst bei nahe verwandten Pflanzen über-
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602
nommen werden, das nämliche Oi^an kann alle mi^liohen physiolo-
gischen Yerrichtungen vollziehen. Es ist nun hemerkenswerth,
dass die nützlichen Anpassungen, weiche Darwin für Thiere anführt
und die man in Menge für das Pflanzenreich anfinden kann, aus-
schliesslich physiologischer Natur sind, dass sie immer die Ausbil-
dung und IJmbildimg eines Organs zu einer besonderen Function
aufzeigen. Eine morphologische Modiflcation, welche durch die
Darwin'sche Theorie zu erklären wäre, ist mir im Pflanzenreiche
nicht bekannt, und ich sehe selbst nicht ein, wie die-
selbe erfolgen könnte, da die aligemeinen Processe
der Gestaltung sich gegen die physiologische Ver-
richtung so indifferent yerhalten. Die Darwin'sche
Theorie yerlangt die auch von ihr ausgesprochene Annahme, dass
indifferente Merkmale variabel, die nützlichen dagegen
constant seien. Die rein morphologischen Eig^nthümlich-
keiten der Gewächse müssten demnach am leichtesten, die
durch eine bestimmte Verrichtung bedingten Organisationsvc;^-
hältnisse am schwierigsten abzuändern sein. Die Erfahrung
zeigt das Oegentheil. Die Stellungsverhältnisse und die Zu-
sammenordnung der Zellen und Organe sind sowohl in der Natur
als in der Cultur die constantesten und zähesten Merkmale. Bei
einör Pflanze, die gegenüber stehende Blätter und vierzählige Blü-
thenkreise hat, wird es eher gelingen, alle möglichen die Function
betreffenden Abänderungen an den Blättern, als eine spiralige
Anordnung derselben hervorzubringen, obgleich diese als für den
Kampf um das Dasein ganz gleichgültig durch die natürliche Züch-
tung zu keiner Gonstanz hätte gelangen können.'^ Hätte Darwin
seine Bebpiele mehr von Pflanzen als von Thieren entlehnt, so
wäre er vielleicht selbst auf die natürliche Grenze für die Wir-
kung des Kampfes um's Dasein aufmerksam geworden. Es ist kUr,
dass derselbe nur das Verhalten der Organismen zu den äussere
Lebensbedingungen alteriren kann, d. h. ihre Verrichtungen und
die Organe nur so weit die Verrichtungen von ihnen abhängig sind,
dass eir aber auf solche Eigenschaften der Organismen keinen Ein-
fluss haben kann, deren Abänderung für die Beziehungen zwischen
den Organismen und. der Aussenwelt den ersteren weder Vortheil,
noch Nachtheil bringt. Zu letzteren Eigenschaften gehören aber
bei den Pflanzen und selbst bei den Thieren die meisten Grund-
principien des morphologischen Typus, s. B. namenfliA
die für denselben gewählten Zahlenverhältnisse.
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603
Wir haben bierin eine Bestätigung gefunden für unsere obige
Behauptung , dass die natürliche Auslese im Kampfe um's Dasein
wohl ein höchst schätzenswerthes Hülfsmittel für die erschö-
pfende Durchbildung eines einmal vorhandenen Typus in-
nerhalb derselben Organisationsstufe ist, nicht aber zur Er-
klärung des Ueberganges yon einer niederen zu einer hö*
bereu Organisationsstufe dienen kann, da mit einem solchen
allemal auch eine Steigerung des morphologischen Typus
yerbunden ist In seinen neuesten Untersuchungen (Botan. Mit-
theilungen 1868) über das Verhalten der Individuen einer und
derselben Pflanzenart einerseits unter den gleichen , andrerseits
unter yersohiedenen äusseren Umständen ' kommt Nägeli zu dem
Resultat, dass ebensowohl die Bildung ungleicher Varietäten unter
gleichen, als die Bildung gleicher Varietäten unter ungleiehen Ver-
hältnissen vorkommt, woraus Folgendes zu schliessen ist: 1) die
äusseren Verhältnisse reichen als alleinige Ursache zur Varietä-
tenbildung niohthin, sondern setzen als zweite, entgegenkommende
Bedii^uuLg eine der Pflanze innewohnende Eigenschaft, eine „Ten-
denz a'bzuändern'^ voraus; 2) wohl aber kann diese innere
Eig^schaft der Pflanze allein hinreichen, um auch unter gleichen
äusseren Verhältnissen eine Bildung verschiedener Varietäten her-
beizufuhren. Dies bestätigt unsere oben gemachten Annahmen. —
EasBen wir den Gedankengang dieses Capitels noch einmal
kurz zusammen, so ergab sich aus dem Princip, das vorgesetzte
Ziel stets mit kleinstmögliohstem Kraftaufwand zu erreichen. Fol-
gendes:
1) Das Unbewusste verzichtet bei der Darstellung höherer
Organisationsstufen auf die Urzeugung, es knüpft vielmehr an
die schon bestehenden Oiganisationsformen an.
2) Es verwandelt nicht direct die niedere Form in die
höhere, sondern bildet letztere aus einem günstig angelegten Keim
der niederen Art heraus.
3) Es macht möglichst kleine Schritte, und bildet die grösse-
ren Differenzen durch Bummirung einer Menge kleiner indi-
vidueller Unterschiede.
4) Es benutzt die bei Jeder Zeugung zufällig entstehenden
individuellen Abweichungen, so weit solche in denjenigen
Bichtungen vorhanden sind, die seinem Zwecke ent-
sprechen.
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604
5) £0 b^iutzt zum Festhalten der gleichviel wie entstandenen
Abweichungen die natürliche Auslese im Kampfe um's Dasein,
8» weit dieselbem in letzterem den Organismen eine
grössere Lebensfähigkeit yerleihen.
6) Das UnbewuBste muss (abgesehen von seinem fortwähre-
den fängreifen bei jedem organischeH Bilden, also auch bei jed^
Zeugung) bei der Fortentwiokelung der Organisation eine directe
Thätigkeit entiSalten: einerseits um bei neuen Eeimea die nioht
zufällig entstehendea und doch in seinem Plane liegenden
Abweichung^:! hervorzurufen, und andererseits um die ent-
standenen Abweichungen y welche zu seinem Plane gehören , aber
den Organismen keine gesteigerte Fähigkeit zum Kampfe
um's Dasein yerleüien, vor dem Wiederverlöschen durohKreu-
zung am bewahren« —
Schliesslich sei noch bemerkt, dass aus demselben Grande,
wie nach &mdgliohung der Eltemzeuguag keine XJrsieugung mehr
stattfindet, so aueh die Entwiokelung einer neuen Art aus niederen
nur dann stattfindet, wenn die Art noch nicht, oder wenig-
stens nidil auf dieser Localität besteht. Es würde also die Ent-
wiokelung einer neuen Art als ein nur einmaliger oder dooh jnur
wenige Male auf yersohiedenen Localitäten unter gleichen Umstän-
den Torkommender Precess au&ufassen sein, während nach der ein-
maligen Entstehung der neuen Art die gleichartige od«r wenig
modifieirte Fortpflanzung derselben der normale, immer wiederholte
Process ist, bis zum etwaigen Untergange der Axt. Mag man sich
also immerhin den Entwickelungsprocess einer neuen Art ziemlich
langsam denken (etwa einige Hunderte oder Tausende Ton Jahren
einndnnend), so wird er dennoch von dem Zeitraum der wesent-
lieh gleichen Fortdauer d^ fertigen Art (einige Hunderttau-
sende bis Hunderte Millionen Ton Jahren) immer nur ein uner-
heblich kleiner Theii sein.
Dies ist ein zweiter Grund zu anderen schon oben ange-
führten, weshalb maa so Tiel mehr gleichartige fossile Exemplare
Yon gesonderteiti Artcharaeteren findet, als soldie, die Uebeff^uiga-
stufen zwischen nächst verwandten Arten darsiellen.
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Die IidiTidiutiMi.
Wenn daa in der Welt erscheinende Wesen ein mimgen, m-
tfidAciieft ist, Weber kdmmt dam die Yielhek der erscheiiiDenden
^idiridoem» witor die Eiikdgkeit eioeB jeden derselben, wozu ist
sie da, wie ist sie möglich?
Bm Beantwortung dieser Fragen ist Yon jeher eine fiaupt-
aofawierigkeit für jede aasgesprochen momstisohe Philosopbaie ge-
wesen. Das Yon der Hand Weisen oder ungenügende Beantworten
derselben war es hauptsächlich, was stets dem Bücksdilage des
Monismos in einen realistischen Folyismus oder Pluralismtls den
Weg bahnte (z. B. Leibniz nach Spinosai Herbart nach S(^lling
und Hegel). Spinooa lässt obige Fragen ebenso wie die Alten an-
berüoksiehtigt, er erklärt dogmatisch die Individuen fax modi der
Einen Substanz, aber die Entwickelung des modus aus der Substanz,
oder den Nachweis, warum jeder modm sidb vom anderen unter-
seheide und eine in seiner . Art einzige Existenz bilde y bleibt er
gänzlich schuldig. Der subjectiye Idealismus (£ant, Fichte, Scho-
penhauer) glaubt genug gethan zu haben, wenn er die Vielheit in
d<Hr Welt als subjectiye n Schein erklärt^ entstehend durch die
Formen der snbjectiven Anschauung: Baum und Zeit, unbekämm^rt
darum, dass erstens die Schwierigkeit nur aus dem objectiyen in's
subjectiye Gebiet hinttbergespielt ist, aber hier gerade so ungelöst
fiHTtbesteht, als sie dort bestand, und dass zweitens die Frage un-
beantwortet bleibt» wie denn dieses in seiner Art einzige, y<m jedem
ihm ähnlichen sich unterscheidende anschauende Individuum
naeh monistischen Principien möglich sei.
Letztere Seite der Frage erkennt Schelling allerdii^ an (Welke
I. 3. S. 48^): „Die Aufgabe ist nun aber diese, wie a«s einem
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506
Handeln des absoluten Ich's die absolute Intelligenz, und wie
wiederum aus einem Handeln der absoluten Intelligenz das ganze
System der Beschränktheit, welche meine Individualität constituirt»
sich erklären lasse''. Die Antwort folgt auf der nächsten Seite:
„Bliebe nun die Intelligenz Eins mit der absoluten Synthesis, so
würde zwar ein Universum, aber es würde keine Intelligenz sein.
Soll eine Intelligenz sein, so muas sie aus jener Synthesis heraus-
treten können, tun sie mit Bewusstsein wieder zu erzeugen , aber
dies ist abermals unmöglidi, ohne dass in jene erste Beschränkt-
heit eine besondere oder zweite kommt, welche nun nicht mehr
darin bestehen kann, dass die Intelligenz überhaupt ein TJniversum,
sondern dass sie das Universum gerade von diesem bestimmte
Puncte aus anschaut^'.
Ich gestehe, dass ich denjenigen beneiden würde, der aus dieser
Stelle in ihrem Zusammenhange die Wahrheit herauszulesen im
Stande ist, wenn er sie nicht schon vorher besitzt
Für das Hegel'sche System ist unsere Frage geradezu eine der
schlimmsten Blossen. Nach Hegel ist der BegrifP die alleinige
Substanz, es ist nichts ausser dem Begriffe, und der Naturprooess
eine objeotive Dialektik. Andererseits giebt er selbst zu, dass der
Begriff so wenig wie das Wort im Stande ist, das einzelne Dieses
in seiner Einzigkeit zu erfassen, dieses Individuum, welches man als
solches nur noch zeigen, nicht mehr beschreiben kann. Die indi-
viduelle Einzigkeit steht ausserhalb der Tragweite des Begriffes und
damit ausser der des HegeVschen Systemes, wenn dieses eich, selbst
consequent bleiben will. Schon die Vielheit als reale Erscheinung
kann dasselbe nicht erklären, denn es ist kein Grund abzusehen,
warum bei der Entlassung der absoluten Idee zur Natur jede £nt-
wickelungsstufe des logischen Processes mehr als eine entsprechende
Entwickelungssinfe des Naturprooesses haben solle. Die dialedasche
Selbstzersplitterung des Eins in die Vielen giebt zwar die Vielheit
als reinen Begriff aber nicht die Vielheit als Acoidenz realer Er-
scheinungen, denn nie würde Hegel die Selbstzersplittenmg eines
Thalers in viele Thider oder G(ros<dien behauptet haben, und so
wenig wie auf diesen realen Fall wäre die Selbstzersplittenuig des
Eins auf eine Selbstzersplitternng einer Weltseele in viele reale
Individuen anzuwenden. Die reale Vielheit ist mehr als der Be-
griff der Vielheit; es ist eine Summe von Individuen, deren keines
dem anderen gleicht, deren jedes ein Dieses, ein Namenloses, Ein-
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507
siges ist (geradeso wie ich ein Namenloser, Einziger bin), deren Jedes
durch keinen Begriff mehr zu erreichen ist, sondern nur noch durch
Anschauung.
Wer nie das Bedürfniss gehabt und die Schwierigkeit gefühlt
hat, Tom Standpuncte des Monismus ans die Indiriduation zu be-
greifen, der mag die erste Hälfte dieses Capitels bis zur Betrach-
tung des Charaoters hin getrost überschlagen, er würde ihr doch
kein Interesse abgewinnen.
Aus unseren bisherigen Besultaten ei^ebt sich die Lösung der
Fragen ohne Mühe. Wir lassen aber die Frage: Wozu ist die
Indiyiduation da? yorläu% unerörtert und betrachten nur die andere :
Wie ist sie nach monistischen Principien möglich?
Allgemein gesprochen lautet die Antwort : „Die Individuen sind
objectir gesetzte Erscheinungen, es sind gewollte (bedanken des
ünbewussten oder bestimmte Willensacte desselben; die Einheit des
Wesens bleibt unberührt durch die Vielheit der Individuen, welche
woa Thäügkeiten oder Combinationen von gewissen Thätigkeiten
des Einen Wesens sind.** Aber gerade damit diese allgemein ge-
haltene Antwort plausibel wird, muss man in's Einzelne gehen, und
sieh noch einmal vergegenwärtigen, durch welche Combination
welcher Thätigkeiten ein Individuum entsteht, und inwiefern jedes
Individuum nothwendig von jedem anderen verschieden, also einzig
sein muss.
Die Individuen höherer Ordnung entstehen, wie wir (Cap. C.
YL) gesehen haben^ durch Zusammensetzung aus Individuen niede-
rer Ordnung unter Hinzutritt neuer auf das Resultat der Zusammen-
setzung gerichteter Thätigkeiten des ünbewussten; man muss also
mit dem Begreifen der Individoation bei den Individuen niedrigster
Ordnung, d. h. den Atomen, anfangen. Hier haben wir nach dem
jetzigen Standpuncte der naturwiBsenschaftlichen Hypothesen nur
zwei verschiedene Arten von Individuen, Abstossungs- und An-
ziehungskräfte, zu unterscheiden; innerhalb jeder dieser Ghnppen
findet zwischen den Individuen völlige Gleichheit statt, mit alieini-
ger Ausnahme des Ortes.
Weil die Atomkräfte A und B auf dieselben anderen Atome
verschieden wirken, nur dadurch sind sie verschieden, und weil die
Wirkungsrichtnngen von A und die Wiriningsriohtungen von B
neh in je einem Poncte schneiden ^ drückt man aueh wohl diese
Verschiedenheit kurz so. aus: A und B nehmen verschiedmie Orte
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508
ein, während doch sireng genommen die Kraft gar keinen Ort ein-
nimmt, sondern nur ihre Wirkungen sich räumlich untersoheideH.
Dächte man aber zwei Atome in einem mathematischen Ponote
vereinigt, so hörten sie damit nicht nur au^ nnterscheidbar,
sondern sogar verschieden zu sein, denn sie hörten auf, zwei
Kräfte zu sein, und würden Eine doppelt so starke Kraft sein.
Hier ist also die Anwendung der oben allgemein gegebenen
Antwort an sich klar und verständlich : Bas Unbewusste hat gleich-
zeitig verschiedene Willensacte, welche sich durch ihren Vorstel-
lungsinhalt insofern unterscheiden, als die räumlichen Beziehungen
ihrer Wirkungen verschieden vorgestellt werden. Indem aber der
Wille seinen Inhalt realisirt, treten diese vielen Willensacte als
ebenso viele Kraftindividuen in die objective Bealität; sie sind die
erste, primitive Erscheinung des Wesens. Weil jede Atomkraft-
Wirkung von jeder anderen verschieden, also einzig, voi^eatellt ist,
daxum ist natürlich auch ihre Kealisation von der jeder anderen
Atomkraft verschieden, also ebenfalls einzig, unbeschadet dessen»
dass sie ihrem Begriffe nach ununterscheidbar sind; die an-
schauende Vorstellung des Unbewussten unterscheidet sie aber ohne
Begriff in ihren räumlichen Beziehungen, so gut wie man durch
Anschauung den rechten Handschuh als rechten erkennt, was kein
Begriff und keine Begriffscombination je im Stande ist.
Hier erinnere man sich auch, was Cap. G. L 3) u. 4) über die
Art und Weise gesagt ist, w i e das Unbewusste vorstellt. Ber Begriff
ist ein Eesultat eines Scheidungs- oder Abstraetionsprocesses» aber das
Unbewusste erfasst stets die Totalität seines Vorstellungsinhaltea, dme
sich auf eine Scheidung innerhalb desselben einzulassen; der Be-
griff ist ein Product des discursiven Benkens^ ein trauriger Koth-
behelf seiner Schwäche» aber das Unbewusste denkt nicht disouruT,
Boiiidem intuitiv, es denkt die Begriffe nur, insofern sie in der In-
tuition als integrirende, aber unausgeschiedene Beatandtbeile ent-
halten sind, folglich kann es nicht aoÜ'allei^ wenn unter den In-
tuitionen des Unbewussten auch s<^che sind, aus denen si«^ settMl
für das discursive Benken keine Begriffe mehr auascheideB. laB8e%
wie z. B. die Anschauung , dass die Wirkungen der Atomkraft A
so gerLohtet sein sollen, dass ihre Bichtungslinie sieh in dieae»
Puncto hier, die des Atoms B so^ dass sie sich in jenem
Puncto dort sohneiden. Somit reducirt steh bei den Atomen
die Verschiedenheit und Einxigkeit der Individuen in der Tb^i
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509
in d«T nAimtlelbaroicni Weise auf die Terfiohiedenheii und Einzig-
keit d«!r YoT^toHungen, welehe die Witlensacte, in denen sie be-
stehen, als Islralt eif&lkny eo dass je einen Indifidirom je ein
«iz^acher WiUenBact entspricht. -
Leider wnrde die Materie nie als eine Com^nation Ton Wii-
leBBseten 'des ünbewusst^i rentanden, so dass man das einsige
Beispiel, wo das Verständniss der Indiyidnadon so ein&di iiETt, nicht
fsuT Hand hatte; in allen and^^n FSllen aher, wo es sich um In-
diriduen höherer Ordnungen )ieindelt, wird das Verständniss der
IndlTiduation dadurch enc^rwert, dass erst eine complicirte, sich
jeden AugenhHok aaderade, Combination von WiUensacten das
IndiTiduum bildert.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Atomkräften der
Materie stehen, und fragen wir nach dem Medium, durch welches
die IndiTidnation auf diesem Gebiete möglich wird, nach dem sogenann-
ten yjprificipiuin individuationis", so kennzeichnet sich als solches
unzweifelhaft die Verbindung von Raum und Zeit ; denn wir hatten
ja gesehen, dass die begrifflich gleichen Atomkräfte A und B sich
nur durch die verschiedenen räumlichen Beziehungen ihrer
Wirkungen, uneigentlich und kurz gesprochen durch ihre Oerter
unterscheiden, imd haben damals nur unterlassen , zu ,4hrer Wir-
kungen^ hinzuzufügen : „in demselben Zeitpuncte^ ; dieser Zusatz ist
aber zur VerroUflrtändigung nothwendig, weil ja mit der Zeit der
Ort eines Atomes wechseln kann. Das Wort principrum htdivi-
duatumis ist aber nicht gut gewählt, es sollte heissen: medium
individmcHonis; denn die Urheberschaft oder der Ursprung
der Individuation kommt ebenso wie der von Baum und Zeit allein
dem 'Unb^wussten zu, nämlich der Vorstellung die ideale Ver-
sohiedenheit und Einzigkeit der Atome, dem Willen aber die
Bealität derselben.
Es könnte mm der oberdächiichen Betrachtung scheinen, dass
hier nur dasselbe, wie von Schopenhauer gesagt ist, der auch Baum
und Z^ als das prinoipimn indwiduafionis in Anspruch nimmt;
jedoch waltet zwischen seiner und meiner Auffassung die Grund-
Verschiedenheit ob, dass bei Schopenhauer Baum und Zeit nur
Formen der subjeotivenG^ehirnanschauung sind, mit denen
die transcendente Realität gor nichts zu schaffen hat, dass für ihn
also die ganze Individuation ein bloss subjeetiver Schein ist, dem
«Qsserbailb des ^Himbewusstseins keine Wirklichkeit entspricht.
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610
Nach meiner Auffassung dagegen sind Baum und Zeit «ben-
fiowohl Formen der äusseren Wirklichkeit als der subjectiyen
fiimanschauung, freilich nicht Formen des transcendenten Wesens,
sondern nur seiner Thätigkeit, so dass die Individuation nicht
bloss eine Scheinrealität für das Bewusstsein, sondern eine Realität)
abgesehen von allem Bewusstsein, hat, ohne doch darum Vielheit
der Substanz zu bedingen.
Hätte sich Schopenhauer nicht so sehr in seine unglückliche
Anlehnung an Kant verrannt, so hätte er nothwendig das Richtige
aussprechen müssen, während er jetzt dabei beharrt, dass die ganze
Vielheit der Welt erst Existenz erhält durch das erste thierische
Bewusstsein und in dessen Anschauung. Das Zweite aber, worin
ich von Schopenhauer abweiche, ist das, dass er gar keine Atome
kennt, weshalb er bei „Individuation der Materie'' sich eigentlich
gar nichts Bestimmtes denken kann, weil er nicht sagen kann, was
Individuen der blossen unorganischen Materie seien. Das Dritte ist
endlich, dass er die organischen Individuen naiver Weise als ebenso
unmittelbare Objectivationen des Willens ^ wie ich die Atomkräfte
betrachtet, während ich, der Naturwissenschaft folgend, dieselben
durch Zusammensetzung von Atomindividuen entstehen lasse; bei
Schopenhauer ist also Raum und Zeit für organische Individuen
in demselben Sinne principium tndioiduationts wie för die
Atome, während ich für die Individuen höherer Ordnung immer
nur diejenigen Individuen niederer Ordnung als unmittelbares
principium individuationis gelten lassen kann, aus welchen jene
sich zusammensetzen, wenn auch Raum und Zeit natürlich in
letzter Reihe immerhin als mittelbares principium tndividucUianiB
bestehen bleibt, da ja aus Atomkräften die ganze Welt sich auf-
baut. Nur sein subjectiver Idealismus, dem die Materie, also auch
der organische Leib ein bloss subjectiver Schein ohne entsprechende
Realität jenseits des Bewusstseins ist, konnte Schopenhauer dazu
bringen, den Leib für eine unmittelbare Objectivation des indi-
viduellen Willens zu erklären, eine Behauptung, welche gegenüber
den Thatsachen der so höchst mangelhaften Herrschaft des Willens
über den Leib und des Stoffwechsels, der die erste Bedingung alles
organischen Lebens ist, gar nicht aufrecht zu halten ist Die Er-
fahrung lehrt uns erstens, dass die Materie, welche unseren Leib
constituirt, etwas uns Fremdes und Gleichgültiges ist, dass sie
fortwährend ausgeschieden und durch andere ersetzt wird, ohne
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611
cUuM der Leib al» solcher ein anderer geworden ist; zweitens, dass
die Materie unseres Leibes unserer 8eele gegenüber eine ganz reale
Macht bildet» mit der man rechnen mnss, mn sie, soweit als practisch
DÖthig^ beherrschen zvl können, der man aber sofort unterliegt, sowie
man sie entweder yemaohlässigen zu können glaubt, oder Anfor-
demngen an sie stellt, deren Erzwingung die psychische Macht
nicht gewachsen ist. Die Erfahrung lehrt mit einem Worte, dass
die Materie sich als ein bereits Torgefundener, bis zu einem ge-
wissen Maasse indifferenter roher Baustoff verhält, welchen die
bildende psychische Macht nach Bedürfhiss an sich zieht und Ton
sich stösst, dessen Gesetze sie aber achten muss und nicht unge-
straft verletzt.
Erinnern wir uns nun der Eesultate von Gap. C. VIU., wo-
nach das XJnbewusste das Leben realisirt, wo sich ihm nur die
Möglichkeit des Lebens bietet, denken wir dann, dass das organische
Leben nur in der organischen Form denkbar ist und zu seiner
Verwirklichung der Materie bedarf ^ so leuchtet ein, dass durch
diese Momente die Individuation des organischen Lebens gesetzt
ist; denn es muss zu seiner Verwirklichung eben einen Complex
von räumlich in gewisse Grenzen beschlossenen Atomen erfassen^
und diese in die betreffenden Lagerungszustände und Gruppirungen
versetzen, welche den omanischen Stoffwechsel ermöglichen; die
erfassten Atome aber sind L:idividuen, d. h. jedes von ihnen ist
einzig^ folglich muss auch der organisch constituirte Complex
dieser Atome und die ausschliesslich auf ihn gerichtete Thätigkeit
des XJnbewussten, welche zusammen das höhere Lidividuum aus-
machen, einzig sein.
So stellt sich hier, wie schon oben angedeutet wurde ^ die
niedere Ordnung von Individuen für die höhere als medium indi'
viduationxa heraus. — Es hat für das Ziel dieser Betrachtung keinen
besonderen Werth^ in der Entwickelung weiter zu gehen, und aus-
zuführen, wie für die mehrzelligen Lidividuen die Zellen ebensowohl
eine Macht sind, deren Gesetze respecürt werden müssen, als die
Materie für die Zellen, wie im Körper ebensowohl ein Zellen-
wechsel als ein Stoffwechsel stattfindet, wenn auch viel langsamer
u. s. w. Bas Wesentliche ist, dass die Lidividuation des organischen
Lebens nur in und durch die Materie stattfindet, die Individuation
der Atome aber in und durch Baum und Zeit. Bei allen höheren Indivi-
duen braucht die allgemeine Form einen Inhalt oder Stoff, um concret
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5i2
2m werdmi; dasselbe, was für die IndiTidvieB hlAierer Ordnang Stoff
war, wird für die der niederen ürdnnnif Form, nur bei der Materie
wird da» Endglied dieser Reihe erreicht, n nr h i e r wird die typtsi^ie
Form Ton selbst ooncret, wird gleichsam sich selber Stoff
durch den einfachen Kunstgriff der Fixation an den ränmlic^en
Pnnct, durch den Kunstgriff, dass hier die Wirkungsriehtungen der
Kraft sich sännntlich in ein und demselben Puncto schneiden. Weil
die Atomkräfte keinen ausser sich liegenden Stoff mehr haben, an
dem sie sich individualisiren, sondern nur ihren Ort, so untersdiei»
den sie sich auch (abgesehen von dem Unterscbiede zwischen K$r-
per- und Aether- Atomen) nur durch ihren Ort, der eben ihr ein*
ziges medium individuatioms ist ; höhere Individuen dagegen, welche
die Materie zum medium mdwiduaUonut haben, finden auch ausser
der Verschiedenheit des eingenommenen Ortes an der Ton ihnen in
Besitz genommenen Materie ein reiclicf^ Feld für indiyiduelle Unter*
Bobiede.
Hiermit ist erst bei Individuen höherer Ordnungen die Mög^
liohkeit eines Individualcharacters gegeben, und diesem
müssen wir jetzt noch einige Aufmerksamkeit schenken, denn er
tritt uns auf der ganzen Stufenleiter des organischen Lebens von
dem Individualcharaoter der einfachsten Zelle an bis zu dem der
menschlichen Geistesanlagen als eine bei monistischen Principien
anfanglich überraschende Erscheinung entgegen.
Ueber den menschlichen Character giebt es zwei extreme An-
sichten: Die eine (Rousseau, Helvetius u. s. w.) behauptet, daas
alle Menschen bei der Geburt gleich sind, d. h. also eines Indivi-
dualcharacters entbehren , dass ihre Seele in Bezug auf Gharacter
ebenso eine tahda rasa sei, als in Bezug auf Vorstellungen, und
dass sie eines wie das Andere erst durch äussere Eindrücke erwerbe,
den 'Character also vornehmlich durch Erziehung und Schicksale
Die andere Ansicht (Schopenhauer) behauptet, dass der (%ia-
racter unveränderlich sei, dass er sich zwar, wie natürlich,
bei verschiedenen äusseren 'Gelegenheiten, z. B. in versi^edenen
Lebensaltem, verschieden äussere, aber seinem Wesen nach zugl^oh
des Menschen unveräusserliche und unveränderliche Natur und
Grundlage sei, mithin von der Geburt bis zum Tode derselbe bleibe.
Jede der beiden Ansichten erklärt einen Theil der Thatsaehen
sehr gut, muss sich aber gegen einen anderen Theil derselben ves^
sehliessen. Fragen wir, welche der beiden Ansichten metaphysiaoli
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513
annehmbarer scheint, so tritt der merkwürdige Fall ein, daas sich
gegen die Antfaeeung der französischen Naturalisten yon metaphy-
flisoher Seite nichts einwenden lässt, dass dagegen die des Meta-
physikers Schopenhauer, der die Fesstellung des Charaoters durch
einen ausserzeitliohen ein für allemaligen Entsohluss annimmt, vor
der Kritik aus seinen eigenen Principien kaum bestehen kann.
Schopenhauer selbst will absoluter Monist sein ; wenn also der
Wille der Welt dem Wesen nach Einer ist, wenn femer der Cha-
racter ebenfalls nach seiner eigenen Behauptung nichts als die
Eigenthümlichkeit des individuellen Willens ist, so kann offenbar
die Individualität des Charaoters nur in einer iadividualisirten
Thätigkeit des allgemeinen Willens als möglich gedacht werden,
nicht aber als im Wesen des allgemeinen Willens unmittelbar
begründet, da dieses immer allgemein bleibt. Wie aber die
Thätigkeit des Willens, welche den Gharacter erzeugt , ausser-
zeitlich zu denken sei, davon habe ich keinen Begriff; ich kann
nur ein We^en, nicht aber seine Thätigkeit als ausserzeitlich den-
ken, da die Thätigkeit sofort die Zeit setzt, es sei denn, dass man
auch in Null-Zeit eine Thätigkeit als möglich annehmen wolle, in
welchem Falle sie eben auch im Moment wieder erlischt; der
Charaoter aber, der die Lebenszeit des Individuums hindurch
dauern soll, fordert offenbar auch eine Thätigkeit des allgemeineu
Willens, die ebenso lange dauert. Anders ausgedrückt, die Lehre
vom intelligibeln Individualcharacter ist ein Wider-
spruch gegen das monistische Princip, ein Widerspruch auch gegen
die transcendentale Idealität von Baum und Zeit. Denn im Intelli-
gibeln fehlt das principium individtuUionis, folglich auch die Viel-
heit und die Individualität, folglich auch die vielen Individual-
charactere. Der Individualcharacter setzt das Individuum oder viel-
mehr die Individuen, also die Vielheit, die Individualität, kurz
die Welt der Erscheinung voraus, er wird wie diese erst mög-
lich durch die Zeit, durch die zeitliche Thätigkeit des allgemeinen
intelligibeln Wesens.
Wenn sich dies nun so verhält, so ist erstens nicht ohne
Weiteres einzusehen, warum die Charactere der verschiedenen Indi-
viduen nicht alle typisch gleich sind, was doch viel natürlicher
wäre ; zweitens aber ist noch weniger einzusehen, warum, wenn die
Charactere doch einmal factisch unter einander so verschieden sind,
jeder einzelne sich während der Dauer des Lebens, d. h. die ganze Zeit,
T. Hartmum. Phil. d. ünbeimsBten. 33
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614
wo diete bestimmte Tbätigkeit des allgemeiiien Willens exisüit»
sich gleich bleiben und nicht vielmehr sich beständig ändern aolle.
Die Annahme der französischen Natuialisten ist metaphysisch
yiel plausibleTi dass nur typische Artcharactere, nicht aber Indiyidual-
charaetere angeboren seien, dass aber durch Aendenmg des Gha-
raoters in verschiedenem Sinne die Individnalcharactere sich all-
malig herausbilden. Bei dieser Annahme befreundet man sich
rückwärts viel leichter mit der All-Einheit des allgemeinen Wesens
denn die individuellen Abänderuugen des ursprünglich gleichen
Artcharacters lassen sich alsdann auf verschiedene Himeindrüoke
zurückführen y deren jeder eine bleibeude Yeränderung im Hirne
zurücklässt, welche bewirkt, dass hinfort eine Molecularbew^ong
in demselben Sinne, wie die durch jene Eindrücke hervorgerufene,
leichter als eine im heterogenen Sinne entsteht. Es ist dies die Art,
wie überhaupt die Gewohnheit eine Macht wird, in specieller
Anwendung auf den Character. Das erste Handeln in einem be-
stimmten Sinne wird unter Annahme eines noch unbestimmten
Characters rein durch die Motive entschieden; in welcher Art und
Stärke dieselben an den Menschen herantreten, hängt von äusseren
Verhältnissen ab. Ist aber die erste Handlung in einem bestimm-
ten Sinne ausgefallen, so werden für den nächsten ähnlichen Fall
die Motive, welche für die nämliche Entscheidung wie das vorige
Mal wirken, einen gewissen, wenn auch noch so unmerklichen Yor-
2ug gegen die entgegengesetzten Motive erlangt haben, welcher sich
bei jeder in demselben Sinne ausfallenden Entscheidung erhöht
So bildet sich die Eigenschaft heraus, dass gewisse Motive bei
diesem Individuum eine grössere, andere eine geringere Wirkung
üben, als durchschnittlich auf den typischen Artcharaoter , und die
Summe aller dieser Prävalenzen ist d^ Individualcharaeter.
Nach dieser Ansicht entsteht mithin der Individualcharaeter
zunächst durch eine individuelle Beschaffenheit des Hirnes, die
durch frühere, von äusseren Verhältnissen bedingte Eindrücke er-
zeugt ist; denn nur auf das Organ des Bewusstseins, nicht auf dss
XJnbewusste kann die Gewohnheit einen directen Einfluss haben.
Nichtsdestoweniger ändert sich mit der Beschaffenheit des Hirnes
auch die Art der Thätigkeit, welche das Unbewusste auf dasselbe
richtet; denn diese ändert sich mit jeder Aendenmg des Organis*
mus, und das Hirn ist einer der wichtigsten Theile desselben.
Das ünbewussste ruft auf ein Motiv im Gehirn für gewöhnlich mm&
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die am leichtesten sich ergehende Beaction hervor; nur
wo hesonders wichtige, namentlich generelle Interessen hei einer
Handlang auf dem Spiele stehen, kann man annehmen^ dass es sich
der Mühe unterzieht, mit einer anderen als dieser am leichtesten
sich ergehenden Beaction auf den Beiz des Motives zu antworten,
wie dieser Fall eintritt hei allem Handeln nach unhewussten
Zwecken, wo also die Beaction, welche sonst unmittelhar dem
Motive entsprechen würde, aushleiht oder üherhoten wird durch
eine andere, ausschliesslich durch unhewusste Zwischenglieder he-
dingte. In allen Eällen aher, wo das Unhewusste kein so erhehliches
Interesse hat, dass es der Mühe lohnen würde, die am leichtesten
sich ergehende Beaction durch eine andere zu ersetzen, wird auch
eine gewohnheitsmässige Aenderung dieser am leichtesten sich er-
gebenden Himreaction eine Aenderung der Thätigkeit des TJnhe-
^rnssten zur Eolge hahen; die Art dieser Thätigkeit ist aher der
Charaoter seihst, wie wir früher (Cap. B. IV.) sagten» des Menschen
eigenstes Wesen.* Es ist kein Widerspruch, dass dieser Gharacter
im Unhewussten li^t, und doch seine Beschaffenheit durch das
Hirn, das specifische Organ des Bewusstseins, mit hedingt werden
soll; denn in's Bewusstsein treten nur die actuellen Schwin-
gangazustände des Hirnes, dasjenige aher am Hirn, was die Art
der Thätigkeit des Unhewussten bestimmt, sind ja nicht die actuel-
len Schwingungszustände, sondern die latente Disposition zu
Schwingungszuständen in diesem oder jenem Sinne, und diese muss
doch ihrer Natur nach hinter oder vielmehr vor dem Bewusstaein
liegen.
Aus dieser Betrachtung geht hervor, dass der Mensch, seihst
wenn er ohne Individualcharaoter geboren wäre, als
Erwachsener einen mehr oder weniger vom typischen Artcharacter
abweichenden Individualcharaoter sich erworben haben müsste.
Wenn dieser Mensch nun aher Kinder zeugt, so wissen wir, dass
nach dem Gesetze der Vererbung die von dem typischen Menschen-
hime abweichenden eigenthümlichen Dispositionen seines Hirnes
waiirscheinlich auf einige seiner Binder mehr oder weniger voll-
ständig ühergehen. Dann wird solches Kind schon mit diesen la-
tenten Dispositionen, welche den Individualcharaoter bedingen, ge-
boren, und sobald es in Verhältnisse tritt, wo diese Dispositionen
wirksam werden, kommt sein angeborener Gharacter zum Vorschein.
Die Erscheinungen des Bückschlages in väterlicher und mütter-
33*
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_^16
lieber Linie, und die Yermischung solcher von yerschiedenffli Seiten
überkommenen Eigenschaften machen die üntersnchimg im einzel-
nen Falle sehr schwierig, woher die verschiedenen Eigenschaften
eines angeborenen Charaoters stammen; dennoch ist die unlängbare
Thatsaohe des angeborenen Gharacters nur so zu erklären. Ob
der erste Mensch einen Indiyidualcharacter gehabt habe, ist eine
ganz müssige Frage: sein Artcharacter war ja sein Indiyidual-
character.
Jeder Mensch bringt heutzutage den Haupttheil seines Gha-
racters mit auf die Welt; wie gross im Terhältniss zu diesem der
Theil ist, den er sich hinzu erwirbt, hängt von der TJngewöhnlich-
keit und abnormen Beschaffenheit der Verhältnisse ab, in denen er
sich bewegt. In den allermeisten Fällen reicht die Gewohnheit
eines Menschenlebens nicht aus, um in dem ererbten Oharaoter
tiefeingreifende Veränderungen hervorzubringen. Gewöhnlich be-
schränkt sich der erworbene Theil des Gharacters auf neu hinzu-
tretende unwichtigere Eigenschaften, oder Verstärkung vorhandener,
oder Schwächung anderer durch Nichtgebrauch. Bas letztere findet
relativ im geringsten Maasse statt, denn wie von allem Lernen das
schwerste das Vergessen des Erlernten ist, so von allen Character-
änderungen die schwierigste die Unterdrückung und Abschwächung
vorhandener Eigenschaften. Dies ist es besonders, was Schopen-
hauer dazu veranlasste, die ünveränderlichkeit des Gharacters fu
behaupten. — Wer an der Thatsache der Vererbung auch der er-
worbenen Gharactereigenschaften zweifeln sollte, den verweise
ich auf Beispiele von der Vererbung anderweitiger erworbener
Eigenschaften.
Niemand wird bezweifeln, dass die in gewissen Familien
erblichen Krankheitsanlagen, wenn man im Stammbaume rückwärts
geht, auf einen Vorfahren hinführen müssen, der sie nicht mehr
ererbt, sondern erworben hat. Dass sich amputirte Arme und
Beine und dergleichen Verstümmelungen nicht vererben, beweist
gegen unsere Behauptung gar nichts, denn es sind zu grobe und
handgreifliche Eingriffe in die typische Idee der Gattung, als da»
man ihre Realisation im Kinde erwarten könnte ; dagegen vererben
sich in der That erworbene Eigenschaften um so leichter, je weni-
ger sie den Arttypus stören, in je minutiöseren organischen Ver-
änderungen sie bestehen. Letzteres ist aber bei allen Dispositionen
des Gehirnes zu gewissen Schwingungszuständen der FalL Es ist
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eine bekannte Erf abrang, dass die Jungen von gezäbmten Tbieren
sabmer werden, als die jung eingefangenen Von wilden, dase von
Haostbieren wieder diejenigen Jungen am zahmsten, folgsamsten,
gelehrigsten n. s. w. zu werden versprechen, die von den zabm-
Bten, folgsamsten, gelehrigsten Eltern stammen. Jede Dressur
eines Tbieres nach einer bestimmten Richtung bietet um so mehr
Aussicht auf Erfolg, je weiter die Dressur der Eltern in derselben
Richtung gediehen war. Junge undressirte Jagdhunde von ausge-
zeichneten Eltern machen bei der Jagd fast von selbst Alles ziem-
lich richtig, während bei Hunden, die von Eltern stammen, welche
nie zur Jagd gebraucht wurden, die Jagddressur eine furcbtbare
Arbeit ist Dies Alles sind Beispiele von erworbenen Eigenschaften,
welche sich dennoch .vererben. Sie gehören ganz und gar mit
zum Gegenstande unserer Betrachtung, dem Individualcharacter im
weiteren Sinne, d. h. der Summe von körperlichen und geistigen
Merkmalen, welche ein Individuum höherer Ordnung (auch abge-
sehen von seiner räumlichen Besonderung durch den eingenomme-
nen Ort und den in Besitz genonunenen Sto^O 'V'on allen anderen
Indiyiduen unterscheidet.
Wenn wir bei der Betrachtung des menschlichen Individual-
characters bisher den engeren Sinn von Gharacter in's Auge
fassten, so geschah dies nur, weil sich um letzteren die Contro-
versen hauptsächlich bewegen ^ nicht als ob die Unterschiede in
den geistigen Anlagen, Fähigkeiten und Talenten nicht ebenso
wesentlich bei Begründung individueller Unterschiede wären. Wer
jedoch unserer Entwickelung über den Gharacter im engeren Sinne
beistimmend gefolgt ist, der wird ohne Weiteres einsehen, dass
letztere Unterschiede noch viel weniger auf eine andere Weise
entstehend gedacht werden dürfen, und es wäre deshalb eine
Wiederholung der Entwickelung für dieselben ganz üherflüssig.
Ich füge nur noch hinzu, dass, während der Gharacter im
engeren Sinne sich durch Kreuzung immer wieder ausgleicht, und
im Wesentlichen für das Menschengeschlecht ziemlich auf derselben
Stufe bleibt, dass die geistigen Anlagen und Fähigkeiten im
Menschengescbleohte in einer fortwährenden Steigerung begriffen
sind.
Dies kommt daher, dass die verschiedenen Gharactere, inso-
weit sie nicht gar zu ezcentrische Ausgeburten sind, ziemlich
gleich gut durch*s Leben kommen, der mit höheren geistigen An-
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618
lagen begabte Mensch aber im Kampfe um's Daaein allemal Im
Vortbeil ist. Noch mehr als bei Individuen tritt die Wahrheit
dieses Gegensatzes bei Völkern auf; ihr Character hat für ihren
Kampf nm's Dasein eine verschwindend kleine Bedeutung im Ver-
hältniss zu ihrer geistigen BeflQiigung und Bildung.
Bald bleibt das offene, gerade und tapfere, bald das listige,
verrätherische und feige, bald das langsame und ausdauernde, bald
das schnell fertige und schnell wieder abspringende, bald da«
sittenstrenge, bald das verderbte, immer aber auf die Dauer das
geistig höher stehende Volk der Sieger im Kampfe um's Dasein.
Die höher stehenden Kaukasier führen denselben natumothwendigen
Vernichtungskrieg gegen die zu sehr zurückgebliebenen Bacen, wie
die Wanderratte gegen die Hausratte.
So wirkt auch in diesem Gebiete der Kampf um's Dasein
befestigend und steigernd auf die individuellen Unterschiede, seien
dieselben nun durch Zufälligkeiten oder unbewusst« Absicht bei
der Zeugung, seien sie durch -äussere Lebensverhältnisse oder eige-
nen bewussten Fleiss zuerst entstanden.
Dieselben Eesultate, welche wir hier auf einem anderen Wege
zu gewinnen vorzogen, hätten wir natürlich auch erhalten, wenn
wir auf die Besultate der beiden vorigen Capitel unmittelbar
weiter gebaut und von der Entstehung der ürzeüe an noch ein-
mal die verschiedenen Ursachen der individuellen Abweichungen
in's Auge gefasst hätten. Die Uebereinstimmung des Zieles, xa
welchem beide Wege führen, mag zur Bekräftigung dienen. Der
Unterschied, welcher dabei noch auszugleichen wäre, ist folgender:
Bei niederen Organismen, wo die Abweichungen wesentUch
im Körperbau und den organischen Functionen liegen, suchten wir
dem entsprechend die Entstehung der individuellen Abweichungen
vorwiegend in derjenigen Periode des Lebens, welche Modifioa-
üonen den geringsten Widerstand entgegensetzt; beim Menschen
aber, wo die Abweichungen der geistigen Eigenschaften ein die
der körperlichen weit überragendes Interesse verdienen, mussten
wir natürlich die Entstehung dieser Abweichungen in deijemgen
Periode des Lebens suchen, wo die geistigen Functionen bereits
in Thätigkeit sind, also nach der Geburt und nicht in der
allerersten Zeit nach derselben; aber auch hier werden wir
dieselben nicht in die epäteren Perioden des Lebens setsen
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519
dürfen, wo die Entwickelung gleichsam yerhärtet, sondern in das
empfangliche Kindes- und Jagend alter.
Im Wesentlichen aber ist die Quelle der individuellen Unter-
schiede durch das ganze Beich der Organisation dieselbe: äussere
Verhältnisse bedingen einen abweichenden Bau des Organismus,
und der abweichende Bau des Organismus bedingt eine Abweichung
der auf ihn gerichteten Thätigkeit des All -Einigen ünbewussten.
Biese Unterschiede treten hinzu zu dem bereits durch die Yer-
sebiedeidieit des erfassten Stoffes bedingten, und bilden feusamttMn
diejenige Summe yon Unteibchieden , welche jedem Individuum
seine Einzigkeit verbürgt.
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XL
Die Allweisheit des Unbewnssten nnd die BesteSglieh-
keit der Welt.
Zu allen Zeiten und unter allen Völkern hat man die Weis»
heit des Weltschöpfers, Weltordners oder Weltlenkers bewundert
und gepriesen. Keines von allen Völkern ^ welche im Laufe der
Geschichte nur eine mittlere Cultarstufe errungen haben, wie immer
seine sonstigen Ansichten in religiöser und philosophischer Be>
Ziehung beschaffen sein mochten, war so roh, dass nicht diese Er-
kenntniss bei ihm Eingang gefunden hätte und zum mehr oder
weniger begeisterten Ausdruck gelangt wäre. Wenn auch dieser
Ausdruck zum Theil auf Eechnung einer aus gewinnsüchtiger
Absicht gegen die Götter gerichteten Schmeichelei zu stellen sein
mag, so bleibt doch jedenfalls der grössere Theil desselben ak
Kundgebung einer wahrhaften Ueberzeugung bestehen. Diese Ueber-
zeugung drängt sich schon dem kindlichen Gemüthe auf, sobald es
die wunderbare Combination von Mitteln und Zwecken in der
Natur zu begreifen anfangt. Nur wer die Naturzwecke längnet^
kann sich dieser Ueberzeugung verschliessen ; eine solche Ansicht
aber kann sich erst aus systematisch geordneten philosophischen
Abstractionen entwickeln, da sie der ersten natürlichen Auffassung
der Naturerscheinungen zuwiderläuft. £he noch die Menschen ab-
strahiren, werden sie von der Macht des concreten Falles auf das
Stärkste ergriffen, und die tiefer angelegten Köpfe einer kindlichen
Nation können über die Erkenntniss eines auffalligen Naturzweokes
schon in einem einzelnen Falle in tiefes Staunen und Ehrforoht
gerathen. So erzählt man von einem Braminen der Vorzeit, da»
er über eine Insecten fangende Pflanze in solches Staunen yersiin-
ken sei, dass er, ohne Speise und Trank zu nehmen, vor derselben
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621
bis an's £iide seineB Lebens sitzen geblieben sei. — Kommt dann
der Mensch zu Induotionen aus den ooncreten Fällen, so sind es
solche Sätze, wie: „Die Natur thut nichts yergebens; die Natur
macht Alles aufs Beste; die Natur bedient sich zu ihren Zwecken
der einfachsten Mittel und Wege^'; in welchen er schon frühe die
in der Natur waltende Weisheit anerkennt Ihren stärksten ra-
tionellen Ausdruck findet jene Ueberzeugung in der Periode des
Leibniz und Wolf. Wenn auch Leibniz in seiner Wegläugnung
des XJebels aus der Welt über das Ziel hinw^schoss, wenn auch
ein grosser Theil der schwärmerischen Lobpreisungen von den
Nachbetern der „besten Welt^ nur hohle, phrasenreiche Declama-
tionen waren, die der yon ihnen vertretenen Sache in den Augen
der Nachwelt bloss schadeten, so bleibt doch ein ewig wahrer
Kern davon bestehen.
Betrachten wir nämlich die Sache im Anschluss an unsere
früheren Besultate, so stellt sie sich folgendermaassen : Nach Ci^.
C..L kann das ünbewusste niemaLs irren, ja nicht einmal zwei-
feln oder schwanken, sondern wo der Eintritt einer unbe-
wussten Vorstellung gebraucht wird, erfolgt derselbe m.omen-
tan, den im Bewusstsein sich zeitlich auseinanderzerrenden Be-
flexionsprocess implicite in den Einen Moment des Eintrittes zusam-
menschliessend, und zweifellos richtig, da dem ünbewussten kraft
seines absoluten Hellsehens alle nur irgend zur Sprache kommen-
den Data zu Gebote stehen, und zwar immer und momentan
Ba Gebote stehen, nicht wie die Data bei der bewussten Beflexion
erst durch mühsames Nachsinnen aus dem Gedächtnisse eines nach
dem anderen herangeholt werden müssen, und noch öfter gänzlich
fehlen. Alle zukünftigen Zwecke, die nächsten wie die fernsten,
und alle Rücksichten auf die Möglichkeit des Eingreifens in dieser
oder jener Weise wirken auf diese Art im Entstehungsmomente
der bedurften Vorstellung zusammen, und so kommt es, dass jedes
Eingreifen des Ünbewussten gerade in dem angemessensten
Moment eintritt, wo das gesammte Zweckgerüst der Welt es er-
fordert, und dass die ünbewusste Vorstellung, welche die Art und
Weise des Eingreifens bestimmt, die diesem gesammten Zweck-
gerüste angemessenste von allen möglichen ist. Ein
solches Eingreifen des ünbewussten in einer sich ganz nach der
Besonderheit des Falles richtenden Weise findet nach unseren
Untersuchungen im Gebiete des organischen Lebens in jedem
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Momente statt ; sowahl die in einem durch Emährong hergesteUtm
Ersatz des abgenutzten Materials und in einem unaufhörlichen
Kampfe gegen eingreifende Störungen bestehende Erhaltung, ak
auch die theils in einer Neubildung zufällig zerstörter Theile, theils
in einer Steigerung der indiyiduellen Lebensform sich äussernde
Fortbildung, als auch die durch Herstellung neuer Individuen
zur Fortpflanzung werdende Fortbildung, sie alk drei sind
nur denkbar durch ein unaufhörliches, in jedem Moment sidi er-
neuerndes Eingreifen des ünbewussten an jeder einzelnen Stelle
des Organismus gleichzeitig; jeder dieser Eingriffe modificirt sich
nach den besonderen Umständen, auf die er sich bezieht, und jeder
behalt doch gleichmässig die grossen Zwecke im Auge, denen ne
alle gemeinschaftlich dienen.
Jede natürliche Ursache zeigt sich hiemach als Mittel für die
grossen Zwecke der Vorsehui^, jede natürliche Ursache im Belize
des Organischen stellt sich dar als eine unmittelbare BetheiHgnng
des Ünbewussten einschliessend. Aber diese unausgesetzten Ein-
griffe der Yorsehung sind selbst natürlich, d. h. nicht will-
kürlich, sondern gesetzmässig, nSakilieh durch den ein för
alle Mal feststehenden Endzweck und die augenbHcklich yorliegeo-
den Verhältnisse, in welche eingegriffen wird, mit logischer
ISToth wendigkeit bestimmt.
Wenn die christliche Auffassung es so sehr herrortiebt, dasB
Gottes Wirken nicht bloss eine Leitung im Ganzen und Grossen
sei, sondern dass seine unermessli<^e Grösse gerade darin sich an
wimderbarsten offenbare , dass sie allgegenwärtig in jedem Klein-
sten wirksam sei, so ist diese Ansicht durch unsere Betn&chtuDgen
in Bezug auf das organische Leben in der That nur bestätigt
Aber hiermit ist die Zweckmässigkeit der Thätigkeit des ün-
bewussten noch nicht erschöpft, sondern um wie riel mehr die
Klugheit dessen zu loben ist, der sich einer stets wiederkehrenden
Arbeit durch die Gonstruction einer sinnreiche Maschine übediebt,
als dessen, der dieselbe in jedem einzelnen Falle auf s Geschioktesle
selbst Terrichtet, so müssen wir auch die Weisheit des Ünbewussten
weit mehr noch da bewundem, wo dasselbe sich einen Theil seiner
Eingriffe durch eigetis dazu hergestellte Mechanismen oder auch doicb
geschickt benutzte schon yorhandene äussere YerhältnisBe erspart,
als da, wo dasselbe die yorhandenen Aufgaben durch fortwährendes
directes Eingreifen in yortrefflichster Weise löst
Beiapiele hieryon haben wir während des Verlaufes unserer
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523
TJutersnchtingen so zahlreich gefunden , dass ich hier kaum eine
besondere Verweisung, geschweige denn Aufzählung für nöthig halte.
Der umfassendste und wichtigste yon allen aber ist das System der
physikalisch -chemischen Naturgesetze.
Wie yiel Mechanismen aber auch das XJnbewusste zur Erleich-
terung seiner Arbeit benutzen möge, so können diese doch niemals
das fortwährende direete Eingreifen entbehrlich machen, denn sie
gehen ihrer Natur nach auf eine Classe gleichartiger Fälle,
während in Wirklichkeit jeder Fall sich vom anderen unterscheidet ;
es lässt also der besteingerichtete Mechanismus immer einen Best
Ton Arbeit übrig, der nach wie ror der directen Thätigkeit des
Unbewussten anheimföllt, und welcher in der vollständigen An-
passung an die Einzigkeit des vorliegenden Falles besteht. Sobald
der Kraftaufwand zur Herstellung eines Mechanismus grösser
würde, als die durch den Mechanismus erreichte Krafterspamiss
(was bei allen solchen TJmstandscombinationen der Fall ist, die
ihrer Natur nach nur selten eintreten, oder wo sich aus anderweitigen
Gründen ein Mechanismus nur schwer construiren lässt); da muss
natürlich die direete Thätigkeit des ünbewuBsten ohne Weiteres
einstehen. Solcher Art sind z. B. die Eingriffe des Unbewussten
in menschlichen Oehimen, welche den Yerlauf der Gfeschiohte auf
allen Gebieten der Culturentwickelung im Sinne des vom Unbe-
trussten beabsichtigten Zieles bestimmen und leiten.
Wenn wir nun nach alle dem nicht umhin können, dem Unbe-
wussten erstens absolutes Hellsehen (welches dem theologischen
Begriffe dar Allwissenheit entspricht) , zweitens eine unfehlbare
und zweifellose logische Yerkntipfung der umfassten Data und mög^
liehst* zweckmässiges Handeln im mc^lichst angemessenen Moment
(theologisch mit der Allwissenheit vereinigt in Allweisheit), und
drittens ein unaufhörliches Eingreifen in jedem Moment und an
jeder Stelle (theologist^h Allgegenwart, man müsste hinzufügen all-
zeitliche Allgegenwart) zuzuschreiben, wenn wir femer erwägen, dass
im ersten Mbment, wo das Unbewusste in Thätigkeit trat, also im
Moment der ersten Setzung und Veranlagung dieser Welt, eben
^selbe ideale Welt aller möglichen Vorstellungen, also auch
aller mögücheti Welten und Weltziele und Weltzwecke und ihrer
möglichen Mittel im allwissenden Unbewussten ruhte, — wenn wir
endlich berücksichtigen, dass die Kette der Finalität ihrer Natur
nach nicht unendlich gedacht werden kann, wie die der Causalität,
sondern in einem letzten Zweck endigen muss, weil jedes vorher-
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524
gehende Glied der Kette bei der Finalität durch das folgende
bedingt wird, also eine vollendete Uiendlichkeit von Zwecken
in der Vorstellung befasst werden müsste, und doch noch alle die
unendlich vielen Finalglieder als unmögliche in der Luft schweben
würden, weil sie vergebens des Endzweckes harren, der sie erst
bestimmen soll, — so dürfen wir uns wohl mit Becht dem Ver-
trauen hingeben, dass die Welt so weise ulid trefflich,
als nur irgend möglich ist, eingerichtet und geleitet
werde, dass wenn in dem allwissenden Unbewussien
unter allen möglichen Vorstellungen die einer bes-
seren Welt gelegen hätte, gewiss diese bessere statt
der jetzt bestehenden zur Ausführung gekommen
wäre, dass sich das irrthumsunfähige ünbewusste weder
bei der Setzung dieser Welt über ihren Werth hätte täuschen
können, noch auch, dass bei der allzeitlichen Allgegenwart des Un-
bewuBsten jemals eine Pause seines Wirkens möglich gewesen
sein könne, wo durch eine solche !N'achlässigkeit in der Weltregie-
rung die besser angelegte Welt sich hätte von selbst verschlech-
tern können. Somit können wir die Behauptung des Leibni^
„dass die bestehende Welt die beste von allen möglichen sei'', nur
für vollkommen gerechtfertigt halten. Freilich ist der Weg, auf
welchem wir zu der überwiegenden Wahrscheinlichkeit dieser An-
nahme gekommen sind, ein indirecter. Auf directem Wege
dahin zu streben, ist ja auch eine offenbare Unmöglichkeit, denn
wie sollten wir je die unendlich vielen möglichen Welten be-
greifen, wie die bestehende ausreichend erkennen, um sie mit jenen
erschöpfend zu vei^leichen? Wohl aber war es uns möglich, im
Unbewussten die Existenz derjenigen Eigenschaften nachzuweiseni
denen zufolge es die möglichen Welten gleichsam mit einem Blicke
überschauen, und von diesen möglichen Welten diejenige realisiren
musste, welche den vernünftigstenEndzweck auf die zweok-
mässigste Weise erreicht.
Wenn wir nun aber auch in dieser Hinsicht mit Leibniz über-
einstimmen, so können wir doch keineswegs seine Aufißftssung des
TJebels billigen, welche er vom Athanasius und Augostinn^
übernommen hat, und welche dann besteht, dasselbe für etwaa
rein Privatives, für einen geringeren Grad des Wohles »i
erklären* Würde es für etwas Negatives im wahren Sinne des
Wortes erklärt, so könnte man dies, recht verstanden» nur billigen,
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denn Lust und Schmerz, Wohl und XJebel yerhalten sich in der
That wie Positives und Negatives, d. h. wie Thesis und Antithesis ;
nur ist zu bemerken, dass das Negative genau so viel Eealität
hat, wie das Positive, dass es rein eine Sache des subjectiven
Standpunctes, mithin, da dieser ein selbstgewählter ist, eine Sache
der WiUkilr ist, welches von zwei Entgegengesetzten man als
positiv, welches man als negativ bezeichnen woUe.
Leibniz ist aber auch ein zu feiner und im Besonderen zu
mathematischer Kopf, um aus der Negativität des üebels seine
rrnrealität aufzeigen zu wollen; — da es ihm aber doch allein um
diese m majorem T)ei gloriam zu thun ist, so thut er den That-
sachen Gewalt an, und schreibt dem XJebel nicht einen negativen,
sondern einen bloss privativen und zwar relativ-privativen
Character zu, d. h. er behauptet: „Das Hebel ist nicht der Gegen-
satz, sondern der Mangel des "Wohles, und zwar wäre nur das
absolute XJebel der absolute Mangel des Wohles, jedes relative
XJebel aber ist nur ein relativer Mangel, d. h. ein geringerer
Grad des Wohles."
Dies ist eine thatsächliche Unwahrheit, denn aus dem Satze
würde ohne Weiteres folgen, dass ich die Verbindung des XJebels
a mit dem Wohle x\ dem Besitze des letzteren allein vor-
ziehen mtisste, da ja das XJebel a noch lange nicht absolutes XJebel,
d. h. Null- Wohl ist, sondern nur ein geringerer Grad von Wohl ist,
also den in A enthaltenen Ghrad von Wohl noch um den seinigen
vermehrt. Das non plus ultra des Wahnsinns aber wäre nach
dieser Ansicht, wenn Jemand, um ein grosses XJebel zu vermeiden,
auf ein Wohl verzichtet, und der Mensch, der alle nur denkbaren
körperlichen und geistigen Qualen gleichzeitig im äussersten Mansse
erduldet, wäre glücklich zu preisen selbst in diesem Moment gegen
den unempfindlichen Zustand des Chloroformirten, um nicht zu sagen
gegen den friedlichen Schlummer des Todes. In solche unnatür-
liche Verzerrungen führt eine falsche Hypothese, die um tenden-
ziöser Zwecke willen erfunden wird.
Fragen wir aber nach der Tendenz, in welcher sie aufgestellt
wurde, so erweist sich dieselbe merkwürdiger Weise als ein Irr-
thum, also die ganze Hypothese als überflüssig.
Man glaubte nämlich in der Existenz eines realen XJebels
einen Widerspruch gegen die vollkommene Welt vor sich zu haben.
Mit dem Worte „vollkommen" ist von jeher viel XJnfug getrieben
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worden; schon Plato (Timäoe 7) and Aristoteles hielten die Welt
für eine Kugel and die astronomischen Bewegungen für kreisförmige,
weil die Engel die vollkommenste Gestalt und die Kreisbewegang
die vollkommenste .^wegung sei, und auch in alten Lehrbücheni
der Artillerie kann man lesen, dass man deshalb mit Kugeln schiesst,
weil die Kugel die vollkommenste Gestalt ist
Wenn „vollkommen'* überhaupt einen Sinn haben soll, so kann
es nur der sein: „das Bestmöglichste seiner Art**, denn besser als
möglich kann doch nichts sein, auch nur in diesem Sinne hatte
man Grund, die Welt iiir vollkommen zu halten. Nun schob man
aber unvermerkt dem Vollkommenen einen anderen Begriff unter,
den des Makellosen, oder Mangellosen, einen absoluten Werth
Bepräsentirenden , den Besitzer mit ungetrübter Seligkeit erfüllen-
den. Von einer solchen Vollkommenheit der Welt war aber nicht
das Mindeste auch nur im Entferntesten wahrscheinlich gemacht,
es war eine grundlose Unterstellung, durch Begriffisverwirrung ent-
standen. Man meinte, das Bestmöglichste müsse auch gut sein,
und dachte gar nicht daran, dass die Bestmöglichkeit einei
Sache nicht das Mindeste über ihre Güte aussagt, dass sie
deshalb so schlecht sein kann, wie sie will, ja dass in gewissen
Fällen das mögliebst Beste und das möglichst Schlechte geradezu
identisch ist, wo nämlich nur ein Fall möglich ist, oder auch, wo
alle möglichen Fälle an Güte einander gleich sind. Also deshalb,
weil diese Welt die bestmöglichste, kann sie immer noch herzlich
sohlecht sein, und da eben ihre Bestmöglichkeit gar nichts über
ihre Güte aussagt, so kann auch der stärkste Nachweis ihrer
Schlechtigkeit niemals ein £inwand gegen ihre Best-
möglichkeit werden, und folglich können die Widerlegun-
gen dieser £inwände nie eine Stütze für die Behauptung der
Bestmöglichkeit werden, sind also in dieser Beziehung ganz über-
Nur wenn die aufgezeigten Mängel und Schlechtigkeiten eine
Anwendung unangemessener Mittel zu nachweislich vor-
handenen Zwecken bewiesen, nur dann würden sie eüien Zwei-
fel an der Allweisheit des Unbewussten und dadurch indireet^ aber
nur indirect, auch an der Bestmöglichkeit der Welt begründen.
Dies ist aber weder in Bezug auf das Uebel, noch in Bezug auf
das moralisch Böse, noch in Bezug auf das Wohlleben der Unsitt-
lichen und Leiden der Tugendhaften der Fall-, die Zwecke, zu
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welchen diese Umstände unangemessene Mittel wären, müssten das
Walten allgemeiner Glückseligkeit, Sittlichkeit nnd Qereohtigkeit
sein. Was zonächst die Sittlichkeit nnd Gerechtigkeit betrifft, so
haben beide nur eine Bedeutong auf dem Standpnncte der Indivi*
dnation, d. h. sie gehören nur der Welt der Erscheinung, nicht
dem Wesen derselben an. Die Individuation verlangt als Grund-
instinot zur Erhaltung der Individuen, also als Grundbedingung
ihrer Möglichkeit, den Egoismus; ohne Egoismus keine Indi-
viduation; mit Egoismus nothwendig sofort Verletzung des Anderen
Behufs des eigenen Vortheils, d. h. Unrecht, Böses, Unsittlichkeit
u. 8. f. Dies Alles ist also ein nothwendiges, um der Individuation
willen unvermeidliches Uebel, wie ich schon Cap. A. VIIL S. 144
im Gebiete organischer Einrichtungen darauf hingewiesen habe, dass
gewisse unvermeidliche Uebelstände trotz ihrer Zweckwidrigkeit gegen
gewisse Zwecke ertragen werden müssen, weil ihre Umgehung eine
Zweckwidrigkeit gegen noch wichtigere Zwecke sein würde.
Zu bewundem ist also nur die Weisheit des Unbewussten, die
erstens als Gegengewicht gegen den nothwendigen Egoismus jene
anderen Instincte, wie Mitleid, Wohlwollen, Dankbarkeit, Billigkeils-
gefühl und Yergeltungstrieb , in des Menschen Brust gelegt hat,
welche zur Verhütung vieles Unrechtes und Erzeugung positiver
Wohlthaten dienen, und von welchen der Vergeltungstrieb und das
Billigkeitsgefühl in Verbindung mit dem Staatenbildungstriebe nach
Uebertragung der Vergeltung an die Staatsgewalt die Idee der
Gerechtigkeit erzeugen , welche nun ihrerseits durch die in Aussicht
gestellte Strafe die Unterlassung des Unrechtes zu einer Sache des
Egoismus macht, so dass dieser sich selbst in seinen Ueberschrei-
tongen aufhebt.
Aber ganz abgesehen von dieser bewunderungswürdigen Ein-
richtung sind und bleiben doch Sittlichkeit und Gerechtigkeit immer
nur Ideen, die bloss in Bezug auf das Verhalten der Indivi-
duen zu einander, oder zu den aus den Individuen gebil-
deten Corporationen eine Bedeutung haben, aber auf das innere
Wesen der Individuen angewendet, d. h. auf das All-Einige Un-
bewusste — abgesehen von der Form seiner Erscheinung —
bedeutungslos werden. Da nun aber das All-Eine letzten Endes
nur insoweit an der Welt interessirt sein kann, als es mit
seinem Wesen an ihr betheiligt ist, in ihr drin steckt, und da
die Form der Erscheinung wohl wichtiger Durchgangspunct»
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528
aber, abgesehen von ihrer Bückwirkung auf das Wesen selbst, im»
möglich letzter Zweck sein kann, so werden auch Sittlichkeit imd
Gerechtigkeit als formelle Ideen in Bezug auf ihren teleologischen
Werih für das Unbewusste nur nach einem solchen Maassstabe
gemessen werden können, der ausschliesslich ihre Wirkung aof
dessen Wesen berücksichtigt.
Diesen giebt aber allein die durch Sittlichkeit und Unsittlich-
keit, durch Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in sämmtlichen Be-
theiligten, handelnden wie leidenden Individuen, erzeugte Summe
von Lust und Schmerz, denn diese erst sind etwas gani
Beales, nicht wie Sittlichkeit und Gerechtigkeit blosse Be-
wusstseinsideen, und das Unbewusste ist das gem«iD-
Schaft liehe Subject, welches sie in allen den yerschiedenen
Bewusstseinen fühlt. Also nicht an sich kann sittliches Handeki
für das Unbewusste einen Werth haben, sondern nur, insofern es
die Summe des von ihm zu fühlenden Leides verringert; nicht an
sich, auch nicht um der Sittlichkeit willen kann die Gerechtigkeit
einen Werth haben, sondern nur insofern sie durch VermindeniDg
unsittlichen Handelns das zu fühlende Leid vermindert . Wenn
also auch Sittlichkeit und Gerechtigkeit als solche nicht Zwecke
im Weltprocesse sein können, so könnten sie es wohl um der
Glückseligkeit willen sein, wenn diese, als ein das Weswi
des Unbewusstien unmittelbar betreffender Gegenstand, als Zweck
betrachtet werden darf, was man zunächst wohl meinen sollte.
Als Zwecke in solchem relativen Sinne können aber Sittlichkeit
und Gerechtigkeit allerdings ohne Widerspruch mit den Thatsachen
betrachtet werden, da in der That die schon erwähnten Instinot«,
besonders aber die mehr und mehr sich vervollkommnende Gereoh*
tigkeitspüege als Mittel zur Verminderung des unsittlichen und
ungerechten Handelns anerkannt werden müssen. Gänzlich ablegen
aber müssen sie ihren Anspruch auf absolute GKiltigkeit^ und sich
mit einer sehr untergeordneten relativen Bedeutung bescheiden,
wobei noch hinzukommt, dctös, wie die Unsittlichkeit ein unv^-
meidlicher Uebelstand ist, ohne den keine Individuation möglich
ist, so die Anforderung einer directen göttlichen GerechtigkeitB-
pflege ein theologischer Unverstand ist, der um eines ganz gering-
fügigen Nutzens willen die Welt unaufhörlich aus den Fugen ihrer
Gesetze rücken müsste. Von der Glückseligkeit, d. h. der möglich-
sten Verminderung des Schmerzes und der möglichsten Erhöhung
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^ _
der Lost, sollte man nun allerdings meinen, dass sie als etwas das
If esen des Unbewnssten selbst Betreffendes, gana Eeaies, eo ipso
Zweck sein müsste, besonders da kein anderes Snbjeot mm
Fahlen des Schmerzes und der Lost da ist, als das All-Einige
Unbewuaste; dem entsprechend sehen wir auch in der That eine
Menge Veranstaltungen zur Abwehrung des Schmerzes und Erhöhung
der Lost getroffen.
Ebenso wenig können wir läugnen, dass unter Yoransseitzung
^er Individuation und des dam^t zusammenhängenden Egoismus die
unabwebbare Nothwendigkeit des Schmerzes im Kampfe um's
Dasein und im Tode des Individuums gegeben ist; gleichwc^ finden
wir eine Menge Thatsachen, die in Bezug auf die Glückseligkeit
als zweckwidrig erscheinen, und nur dadurch zu begreifen sind,
wenn die anderen Zwecke, denen sie dienen, z. B. Yerrollkomm-
nang des Bewusstseins u. s. w., wichtiger als die Glückseligkeit
sind; ja schon bei der Individuation selbst ist dies der FalL Nun
können wir aber schlechtbin nicht begreifen, wie es einen Zweck
geben soU, der der Glückseligkeit vorangehen könne, da doch nichts
directer als diese das Wesen des ünbewussten angehen kann; wir
können nicht begreifen, wie es etwas geben könne, was ein Opfei^
an Glückseligkeit lohnt, es sei denn die Aussicht einer höheren
Olückseligkeit, oder was das Aufsichnehm n eines Schmerzes lohnt,
es sei denn die Aussicht auf Vermeidung eines grösseren Schmer-
zes; das hiesse ja sonst die Zähne in sein eigenes Fleisch
schlagen. Wenn also wirklich Glückseligkeit der höchste Zweck
sein soll, so kann es nur solche Leiden geben, die unvermeidlich
sind, \im dafür auf einer anderen Seite, oder in einem späteren
Stadium des Processes eine um so höhere Glückseligkeit zu erlan-
gen. Wenn aber hierzu keine Aussicht wäre, so wäre die Existenz
eines Weltprooesses oder einer Welt überhaupt vernünftigerweise
nicht zu begreifen, und die Erreichung weiss Gott welcher ande-
ren Zwecke könnte für die XJebemahme eines die Lust über-
wiegenden Schmerzes keinen vernünftigen Grund abgeben.
Hier ist nun der Punct, von dem aus wir wieder auf Leibniz
zurückkommen können. Denn es wäre doch zu sehr zu verwun-
dem, wenn die Begriffsverwechselung zwischen der vollkommenen
Welt als bestmöglichsten, und der vollkommenen Welt als
durchweg guten und makellosen, bei einem so feinen Kopfe
wie Leibniz nicht eine versteckte Unterlage hätte, welche die
T. Uartmann, Phil. «l. Unbewiisflteii. 34
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630
Tendens der Theodicee in gewissem Sinne rechtfertigt Diese ist
aber auch allerdings vorhanden; denn nicht, wie vorgegeben, um die
fiestmöglichkeit der Welt zn retten, sachte Leibniz ihren Werth
durch die Frivativität des üebels und des Bösen zu erhöhen, son-
dem um den Schöpfer wegen seiner Schöpfung zu recht-
fertigen.
Nämlich unter allen möglichen Welten ist der Fall nicht
mit inbegriffen, dass keine Welt geschaffen werde, weil eben
keine Welt auch keine Welt, also auch keine der möglichen
Welten ist; sollte sich nun herausstellen, dass diese bestehende
Welt schlechter als keine ist, so würde den Schöpfer der
Vorwurf treffen, warum er sie überhaupt geschaffen habe, da es
doch vernünftiger gewesen wäre, keine zu schaffeiL Dann würde
die Schöpfung als solche, ganz abgesehen davon, wie sie ausge-
fallen ist, einem unvernünftigen Act ihren Ursprung verdanken,
und man hätte dann nur die Wahl, entweder anzimehmen, daas
die Vernunft des Schöpfers an diesem ursprünglichen Acte keinen
Antheil habe, tind dass ihr nur die Aufgabe zugefallen sei, den
ohne ihr Zuthun gesetzten , über die Existenz' entscheidenden An-
fang auf die bestmöglichste Weise fort- und durchzufuhren, oder
aber zuzugeben, dass die im Einzelnen unbestreitbare Weisheit
des Schöpfers im Qanzen in einen fundamentalen Lrrthum ver-
fallen und mithin sich selbst völlig untreu geworden sei, wenn man
nämlich die Behauptung aufrecht erhalten will, dass bei jenem
ursprünglichea Acte die Totalität des Schöpfers betheiligt ge-
wesen sei, also auch seine Vernunft. * Die zweite Annahme
ist zu monströs; wie könnte die Allweisheit sich selbst so untreu
werden, gerade in dem wichtigsten Momente die grösste Dummheit
zu begehen? Auf die erste Annahme wollte und konnte aber
Leibniz ebenso wenig eingehen, weil er innerhalb Gbttes keine
Mehrheit der Attribute anerkannte. Folglich blieb ihm nur übrig»
sich im Voraus gegen die Möglichkeit zu sichern, dass diese
Welt sich als schlechter wie keine herausstellen könnte,
und zu diesem Zwecke erfand er die Lehre von dem privatrven
Character des üebels.
Wir, die wir uns die Unbefangenheit der Betrachtung vor
Allem zu wahren suchen, werden im nächsten Capitel die Frage
empirisch zu lösen versuchen, ob diese Welt ihrem Nichtsein
vorzuziehen oder nachzustellen sei. Sollte sich dann das Letztere
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531
eigebeii, so werden wir nns der GoliBequenz nicht yerschliessen, dass
die Ezistenx der Welt einem anyernünftigen Act ihre Ent-
stehung verdanke, werden aber nicht annehmen, dass die Ver-
nunft selbst in diesem einen Pnncte plötzlich unvernünf-
tig geworden sei, sondern dass derselbe nur deshalb ohne Ver-
nunft vollzogen sei, weil die Vernunft nicht bei ihm betheiligt
war. Dies wird uns dadurch m^lich, weil wir zwei Thätigkeiten
im ünbewussten kennen, von denen die eine, der Wille, eben
die an sich unlogische (nicht antilogische, sondern, alogische), un-
vernünftige ist Da wir nun rückwärts schon längst wissen, dass
alle reale Existenz dem Willen ihre Entstehung verdankt, so wäre
schon a priori nur das zu bewundern, wenn diese Existenz
als solche liokt unvernünftig wäre.
Wie aber auch die Entscheidung ausfallen möge, keinenfalls
wird aus ihr ein Einwand gegen die Allweisheit des ünbe-
wussten imd gegen den Satz herzuleiten sein: dass von allen
möglichen Welten die bestehende die beste sei
34*
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Die Uiyenuift dM WoUens ud dM Elend des
Daeeins.
Qrimtmuig über die Ajdgske.
Di« Aufgabe dieses Capitels ist, zu uotersacheiii ob das Sein
oder das Nichtsein dieser bestehenden Welt den Vorzug ver-
diene. Mehr als irgend vorher muss hierbei um die Nachsicht dei
Lesers gebeten werden ^ da eine einigermaassen erschöpfende Be-
handlung des Gegenstandes ein ganzes Werk in Anspruch nehmen
würde. Dennoch kann hier sowohl aus äusseren Gründen, als auch
besonders deshalb nur eine episodische Behandlung gestattet sein,
weil das Resultat dieser Untersuchung zwar für die Klämng der
letzten Principien der Philosophie von Wichtigkeit, aber nicht von
unmittelbarem Einflüsse auf den im Titel des Werkes versproche-
nen Hauptinhalt, „das Unbewusste", ist. Gleichwohl hoffe ich in
einer kurzen, mannigfleushe neue Gesichtspuncte bietenden Betrach-
tung auch den Gegnern der hier vertretenen Ansichten Anregungen
zu geben, welche für das Durchlesen dieser Abschweifung einiger-
meutssen entschädigen dürften.
Wenn wir auf die persönlichen TJrtheile der grössten Geist^
aller Zeiten blicken, so sprechen diejenigen unter ihnen, die übe^
haupt Gelegenheit nahmen, über diesen Punct ihre Meinung zn
äussern, sich entschieden in verurtheilendem ^inne aus.
Plato sagt in der Apologie: „Ist nun der Tod ohne alle Em-
pfindung und gleichsam wie ein Schlaf, in dem der 8chlunimem<lfi
keinen Traum sieht, so wäre er ja ein ^Sonderbarer Gewinn.
Denn ich meine, wenn Jemand eine solche Nacht, in der er so fest
geschlafen, dass er keinen Traum gehabt, herausgriffe, und die
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533
andereD Nfichte and Tage seines Lebern neben diese Naoht stellte,
und dann nach emstlioher üeberlegong sagen sollte, wie yiele Tage
und Nächte er in seinem Leben besser mid angenehmer zugebracht
habe, als diese Nacht, dass nicht etwa bloss ein gewöhnlicher
Mann, sondern der grosse König von Persien selbst diese leicht
werde zählen können, den anderen Tagen und Nächten gegenüber.''
^ächckier nnd ansdiaulicher lässt sich der Yorzng, den im Durch-
sofaaitt das Nichtsein Tor dem Sein verdient, kaum ausdrücken.
Kant sagt (Werke VIL 8. 381): „Man muss sich zwar nur
•chleoht auf die S^iätzimg des Werthes desselben (des Lebens)
yerstehen, wenn man noch wünschen kann, dass es länger währen
solle, als es wirklich dauert, denn das wäre doch nur eine Verlan-
genmg eines mit lauter Mühseligkeiten beständig ringenden Spieles.''
8. 3i^3 nennt er das Leben ,^mne Erüfdngszeit , der die Meisten
unterliegen und in welcher auch der Beste seine» Lebens nicht
troll wird."
Schelling sagt (Werke L 7. 8. 899): „Daher der Schleier der
Schwermuth, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe
unzerstörbare Melancholie alles Lebens." Femer hat er (Werke I.
10. 8. 266 — ^268) eine sehr schöne Stelle, welche ich ganz durch-
zulesen empfehle ; hier kann ich nur einige Bruchstücke anführen :
,J?^ilich ist es ein Schmerzensweg, den jenes Wesen, • . . das in
in der Natur lebt, auf seinem Hindurchgehen durch diese zurück-
legt, davon zeugt der Zug des Schmerzes, der auf dem Antlitz der
ganzen Natur, auf dem Angesicht der Thiere liegt. . . . Aber dieses
Unglück des Seins wird eben dadurch aufgehoben, dass es
als Nichtsein genommen und empfanden wird; indem sieh der
Menseh in der möglichsten Freiheit dayon zu behaupten sucht. . . .
Wer wird sich noch über die gemeinen und gewöhnlichen Unfälle
eines Torübergdienden Lebens betrüben , der den Schmerz des
allgemeinen Daseins und das grosse Schicksal des Ganzen
erfasst hat?" „Angst ist die Qrundempfindung jedes lebenden
Gesehöpfes^' (L 8, 322). „Schmerz ist etwas Allgemeines und
Nothwendiges in allem Leben. . . . Aller Schmerz kommt nur von
dem Sein^^ (L 8, 335). „Die Unruhe des unablässigen Wollens
und Begehrens, von der jedes Gbsoh^^f getrieben wird, ist an sich
selbst die Unseli^^eit" (IL 1, 473; vgl. auch L 8, 235 — 236;
11. 1, 556—557, 560).
Idi will mich mit diesen Citaten begnügen, einige weitere
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534
findet man in Sohopenhauer 8 Welt alB Wille und Yorstellang U.
Capitel 46.
Was bewei«en aber solche Bubjectire Meinungsäusaerangen ohne
beigefügte Gründe? Mass man ihnen nicht vielmehr gerade des-
halb misstrauen, weil sie von hervorragenden Geistern aosgdieii,
die von jener melancholischen. Trauer angesteckt sind» welche dis
Erbtheil fast aller Genies ist, weil sie sich in der ihnen unter-
legenen Welt nicht heimisch fühlen können (rergL Aristoteles
Probl. 30, 1)? Gewiss, der Werth der Welt muss mit ihrem eige-
nen Maassstabe, nicht mit dem des Genies gemessen werden. Sehen
wir deshalb weiter.
Man denke sich Einen, der kein Qeme ist, aber einen Mann
von universeller modemer Bildung, mit allen äusseren Gütern einer
beneidenswerthen Lage ausgestattet, in den kräftigsten Mannesjahien,
der sich des Vorzuges, welchen er vor den niederen Ständen, vor
den ungebildeten Nationen und vor den, Mitgliedern roherer Zeiten
geniesst, in vollem Maasse bewusst ist, und die von allerlei ihm
ersparten Unbequemlichkeiten geplagten, über ihm Stehenden keines-
wegs beneidet, einen Mann, der weder durch übermässigen Qewm
erschöpft und blasirt, noch jemals durch besondere Schicksalssdiläge
niedergedrückt worden ist
Nun denke man sich den Tod zu diesem Manne treten nnd
sprechen: ,, Deine Lebenszeit ist abgelaufen und in dieser Stunde
fällst Du der Vernichtung anheim ; doch luüagt es von Deiner jetzi-
gen Willensentscheidung ab, nach vollständigem Vergessen alles
Bisherigen Dein jetzt beschlossenes Leben noch einmal genau in
derselben Weise durchzumachen. Nun wähle !^
Ich bezweifle, dass der Mann die Wiederholung des vorigen
Spieles dem Nichtsein vorziehen wird, wenn er bei uneingesohüeh-
terter rahiger Ueberlegung und nicht überhaupt einfältig ist Wie
viel mehr aber muss nun dieser Mann das Nichtsein erst einem
Wiedereintritt in's Leben vorziehen, welcher ihm nicht die gün-
stigen Bedingungen verbürgt, wie sie sein voriges Leben bot^ wel-
cher im Gegentheil es völlig dem Zufidl überliesse, in welche neuen
Lebensbedingungen er einträte, welcher also mit einer an Gewiss-
heit grenzenden Wahrscheinlichkeit ihm schlechtere Lebensbedin*
gungen bietet, als die, welche er soeben verschmähte.
In der Lage dieses Mannes befände sich aber das UnbewoBste
in jedem Augenblick einer neuen Geburt, wenn es wirklioh die
Möglichkeit einer Wahlentscheidung hätte.
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635
Aber aach bei diesem Beispiele ist der die Ansichten der
Oenies treffende Vorwurf nicht zu vermeiden, dass man eine durch
Bildung weit über das Durchschnittsmaass erhöhte Intelligenz be-
fragt habe, dass aber, da jede einzelne Erscheinung nach ihrem
eigenen Maassstabe beurtheilt werden muss, die Welt im Oanzen
nur dann annähernd richtig beurtheilt werden könne, wenn die
Beurtlrailung nach dem Durchschnittsmaasse aller einzelnen
Erscheinungen stattfindet. Es bleibt aber aus obigem Beispiele,
wenn es an sich richtig ist, immerhin Das bestehen, dass diese
Btufe der Intelligenz bereits die Erscheinung^ yon der sie getragen
ist, Terurtheilt, wozu sie unbestreitbar der allein competente Ge-
riditshof ist, wogegen der Irrthum nur darin li^, dass sie sich
für competeiit hält, auch das unter ihr stehende zu yerurtheilen,
während dieses doch ebenfalls allein nach seinem eigenen Maasse
gemessen werden darf.
Dieser Irrthum ist aber nicht zu rerwundem, denn er findet
auch da ganz allgemein statt, wo die Intelligenz nicht so hoch
steht, um die Erscheinung, yon der sie getragen wird, zu yerur-
theilen; man frage z. B. einen Holzhauer oder einen Hottentotten,
oder einen Orang-Utang, ob er lieber Vernichtung oder Wieder-
geburt in einem Nilpferde oder einer Laus wählen würde ; sie alle
würden yermuthlioh die Vernichtung yorziehen, aber trotzdem die
Wiederholung ihres eigenen Lebens der Vernichtung yorziehen,
gerade ebenso wie das Nilpferd und die Laus eine Wiederholung
ihres Lebens der Vernichtung yorziehen würden.
Dieser Irrthum entspringt aber daher, dass der (Gefragte sich
im Moment der Entscheidung mit seiner jetzigen Intelligenz in
das Leben der niederen Stufe versetzt , wo er es natürlich uner-
träglich finden muss, und yergisst, dass ihm dann auf der niederen
Stufe auch nur die Intelligenz dieser niederen Stufe zu ihrer Be-
ortheilung zu Gebote steht.
Es bleibt also in der That nichts übrig, als jede Erscheinungs-
stufe des ITnbewussten nach ihrem eigenen Maasse zu beurtheilen
und dann von diesen sämmtlichen Specialurtheilen die algebraische
Summe zu ziehen; jede Beurtheilung von einem fremden Stand-
puncte liefert unbrauchbare Besultate; denn jedes Wesen ist gerade
so glücklich, wie es sich f&blt, nicht wie ich mich an seiner Stelle
ndt meiner Intelligenz fühlen würde, da dies eine unwirkliche
Unterstellung ist.
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Schmers und Ltist Bind niir, iiiBofern sie empfanden wer*
den; sie haben also überhaupt keine Realität ausser im empfin-
denden Bubjecte; mithin kam ihnen eine objectire Baalitiit
nidit unmittelbar, sondern nur vermittelst der ol^eotiven Beah-
tat des Subjectes su, in welchem sie existiren,. d. h. ihre Beaüttt
ist unmittelbar eine subjectiye, und nur insofern sie subjee*
tiye Beelität haben, haben sie mittelbar auch olqectiYe. Hierais
folgte dass es für die Bealität der Empfindung keinen anderen var
mittelbaren Maassetab giebt, als den subjeotiyen, und da» den-
nach eine Täuschung oder Unwahrheit des Gefühles als sol-
chen unmöglich ist.
Wohl kann das Gefühl insofern unwahr genannt werden,
als die Vorstellungen unwahr sind, durch welche es eiregt
wird, aber dann liegt die Täuschung doch immer nur in der Y<h^
Stellung über das Object, aber das Gefühl selbst, gleichviel ob
es auf realer Basis od^ auf einer Illusion beruht, ist immer
gleich wahr und gleich berechtigt, in der grossen Suimfie
in Bechnung gestellt lu werden.
Wenn nun der Unterschied in dem Urtheile, welches die In-
telligenz der Laus über ihr Leben flAlt, und dem, welches mdne
Intelligenz über ihr Leben Wli, einzig darauf beruht, dass sich die
Laus in Illusionen befindet, welche ich nicht theile, und dass 'üsr
diese Illusionen einen üeberschuss von gefühlter, also realer Glück-
seligkeit gewähren, welcher sie ihr Leben der Nichtezistenz des-
selben vorziehen lässt, so hätte offenbar die Laus Becht und idi
Unrecht. So einfadi ist aber die Entscheidung dodi nicht, denn
es bleibt ausser dieser Quelle des Lrrthums von meiner Seite noeb
eine Quelle des lrrthums in der Antwort der Laus übrig, weloke
ihr TJrtheil v^r&lscht, wie erstere das meinige. Wenn nämliok
auch allerdings der Lebenswerth jedes Wesens nur nach seinem
eigenen subjectiven Maassstabe in Anschli^ gebracht werden kam,
und hierbei jede Illusion gleich der Wahrheit gill^ so ist doch da-
mit keineswegs gesagt, dass jedes Wesen aus den sämmtlichea
Äffectionen seines Lebens die richtige algebraische Summe zido,
oder mit anderen Worten, dass sein Gesammturtheil überaß
eigenes Leben ein in Bezug auf seine subjectiven Srlebmsse rich-
tiges sei. Ganz abgesehen von dem zur Fällung eines solchen
summarischen Urtheiles nothwendigen Grade von Intelligenz^ blttbi
doch erstens die Möglichkeit von Gedächtniss- und OombinatioBS-
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M7
iehlemy und zweitens von einer Beeinflassung des Urtheils
dnrch den Willen nnd das unbewusste Gefü^il übrig.
Wenn man annehmen darf, dass erstere Fehler sich bei den
IJrtheilen einer grossen Anxahl von Indiiddoen aufheben dürften,
so föUi dag^;en letztere Fehlerqu^e um so schwerer in's Gewicht.
Wer da weiss, wie gewaltig die unbewusste Beeinflussung der Vor-
stellung und des Urtheiles durch den Willen, durch Instincte,
Affeete und Gefühle ist, der wird sofort die grosse Bedeutung der
kierdurch möglichen Fehler anerkminen. Man denke zunächst
daran, wie sich im Gedächtnisse die unangenehmen Eindrücke ver-
wischen und die angenehmen haften bleiben, so dass ein in der
Wirklichkeit höchst fatales Ereigniss oder Abenteuer in der Er-
innerung im lieblichsten Lichte prangt QunDat fneminiaae malorum) ;
man erwäge femer, dass die närrische Eitelkeit der Menschen weit
genug geht, nicht nur gut, sondern auch glücklich lieber scheinen,
als sein zu wollen, so dass Jeder sorgfaltig verheimlicht, wo ihn
der Schuh drückt, und dafür mit einer Wohlhabenheit, einer Zu-
friedenheit und einem Glücke zu prunken sucht, die er gar nicht
besitzt Man sieht schon hieraus, mit welcher Vorsicht man die
Urtheile der Menschen über ihren eigenen Glückszustand auf-
nehmen muss.
Wenn man endlich bedenkt, wie a priori zu vermuthen steht,
dass derselbe unbewusste Wille, der die Wesen mit diesen Instincten
und Affecten geschafEen hat, auch durch diese Instincte und A&cte
auf die bewusste Vorstellung in dem Sinne des nämlichen Lebens-
dranges influiren wird, so würde man sich nur darüber zu wundem
baben, wie die instinctive Liebe zum Leben im Bewusstsein über
dieses selbe Leben ein den Stab brechendes Urtheil sollte aufkom-
men lassen können.
In diesem Sinne sagt Jean Paul sehr gut: „Wir lieben das
Leben nicht, wdl es schön ist, sondern weil wir es lieben müssen,
und daher kommt es, dass wir oft den verkehrten Sdüuss ziehen:
da wir das Leben lieben, so sei es schön.^ Was hier liebe zum
Leben genannt ist, ist nichts Anderes als der instinctive Selbster-
haltungstrieb, die eondiUo sine qua non der Individuation, dessen
negativer Ausdruck die Vermeidung und A.bwehr von Störungen
und im höchsten Grade die Todesftircht ist, deren schon im Beginne
des Gap. B. I. Erwähnxing gethan ist. Der Tod an sich ist gar
kein üebel, denn der damit verknüpfte Schmerz fällt ja noch
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in's Leben und würde nicht mehr als der gleiche Sohmen in
Krankheiten gefürchtet werden, wenn nicht das Aufhören der
individuellen Existenz damit yerknüpft wäre, was nicht mehrem-
pfunden wird, also doch erst recht kein üebel sein kann« So
wenig also die Todesforcht anders als aus dem blinden Selbsterhal-
tungstriebe begriffen werden kann, so wenig die Liebe zum Leben.
Wie es sich im Allgemeinen mit der Todesfurcht und d^ Liebe
zum Leben yerhält, so im Besonderen mit yielen einzelnen Bich-
tungen des Lebens, welche festzuhalten und eifrig durchzuleben
uns der instinctiye Trieb spornt, infolge dessen unser ürtheil über
die algebraische Summe der aus dieser Eichtung erwachsenden Ge-
nüsse und Schmerzen yerfalscht und der Eindruck der soeben erst
gemachten Erfahrung durch die neue trügerische Hoffiiung über-
tüncht wird. Dies ist bei allen eigentlich treibenden Leidea-
schaften, dem Hunger, der Liebe, der Ehre, d^ Habsucht u. s. ir.
der Fall.
Es müsste nun hier, streng genommen , in Bezug auf die yer-
schiedenen Triebe und Bichtungen des Lebens untersucht werden«
in wie weit der Trieb und Affeot selbst eine VerMschung des
ürtheils über den durch die betreffende Bichtung summarisch e^
langten Genuss oder Schmerz bewirkt, doch wäre dies eine sehr
schwierige Angabe, weil die Beistimmung eines jeden Lesers davon
abhängen würde, dass derselbe sich zur Beurtheilung seines bis-
herigen ürtheiles in jeder dieser Bichtungen gegenwärtig von
diesem verfälschenden Einflüsse des Triebes und Affectes völlig
frei mache, was wohl schwerlich zu erwarten ist, denn das vtfmag
kaum eine gewissenhafte jahrelange Selbstbeobachtung zu leisten.
Abgesehen von der geringen Aussicht auf Erfolg, welche diese Be-
mühung ihrer Natur nach bieten würde, wäre noch eine äussef-
liehe Unbequemlichkeit damit yerknüpft. Diese Betrachtung
nämlich würde uns keineswegs der Au%abe überheben, hinteriier
alle diejenigen Gefühle einer Kritik zu unterwarfen, welche unbe-
schadet ihrer vollen Bealität auf Illusionen beruhen, und welche
daher mit Zerstörung dieser Illusionen bei wachsen-
der bewusster Intelligenz mit zerstört werden.
Diese Untersuchung können wir uns nicht erspar^ weil aller
Fortschritt in der Welt auf Steigerung der bewussten Intelligeitf
abzielt.
Die niederen Thiere und Pflanzen werden seit Beginn des
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organisohen Lebens mehr und mehr durch höhere» die höheren
Thiere durch den Menschen verdrängt, und die Menschheit wird
mit der Zeit in ihrer Durchschnittsmasse auf einen Standpunct der
Intelligenz und WeltanBchauung kommen, wo jetsst nur wenige Ge-
bildete stehen.
Die Frage, in wie weit die Gefühle auf Dlusionen beruhen, ist
also für die Entscheidung unseres Problems von höchster Wichtigkeit,
da das, was aus der Welt *wird, das wohin- sie zielt, für die Be-
urtheilung ihres Werthes offenbar eine noch weit grössere Bedeu-
tung hat, als das proyisorische Entwickelungsstadium, in welchem
sie sich zufallig jetzt befindet
Wir würden also dann die nämlichen Triebe und Lebensrich-
tungen noch einmal unter diesem zweiten Gesichtspuncte zu be-
trachten haben, und es leuchtet ein, dass hierbei manche Wieder-
holungen Torkommen müssten, theils um das Yerständniss nicht zu
stören, theils weil im concreten Falle die beiden Gesichtspuncte
80 eng in einander greifen, dass es oft kaum möglich scheint, sie
streng zu sondern. Ich ziehe es daher vor, die Betrachtung nach
beiden Gesichtspuncten mit einander zu verweben.
Bei Vielem, von dem der Leser nicht geneigt sein würde, zu-
zugestehen, dass die gewöhnliche Annahme eines überwiegenden
Genusses auf einem Irrthume, d. h. auf einer Verfälschung des
Urtheiles durch den Trieb beruht, dürfte derselbe sich kaum wei-
gern, einzuräumen, dass der von ihm supponirte überwiegende Ge-
nuas auf einer Illusion beruht, also mit gründlicher Zerstörung der
Illusion unmöglich gemacht wird. Beides kommt aber für das Ziel
unserer Betrachtung fast auf dasselbe heraus; denn wenn es wahr
ist, dass bei dem fortschreitend wachsenden Maasse der Intelligenz
in der Welt auch die Dlusionen des Daseins mehr und mehr
untergraben werdea müssen, bis zuletzt ,, Alles als ganz eitel" er-
kannt wird, so würde der Zustand der Welt immer unglücklicher,
je mehr sie dem Ziele ihrer Entwickelung sich nähert, woraus zu
folgern wäre, dass es vernünftiger gewesen wäre, die Entwickelung
der Welt je früher je besser zu hindern, am Besten die Entstehung
im Entstehungsmomente zu unterdrücken«
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540
ErstM Stadiam dar Illvnoii.
Dag Cßftek wird als ein auf ier jetiigeii Bntmckelingsstafe ier
Welt erreiehtes, also dem heitigeii IiidiYidiiiM im irdiseken Lekea
erreiehkares gedacht.
1. Kritik der Sebopoiiliaiier'scbea Theorie von der Nofattviat der LmL
Ich moss bei dieser Betrachtung den sogenannten Schopen-
hauer'schen PesBimismus als bekannt voranssetzen (siehe : Welt als
Wille und Vorstellung, Bd. I. §. 56 — 59, Bd. ü. Cap. 46, Pa-
rerga, 2. Aufl. Bd. I. S. 430—39 und Bd. IL Cap. XI. und XD)
und bitte die angeführten Abschnitte einmal in der bezeichneten
Reihenfolge durchzulesen, was bei Schopenhauei^s pikantem Styl
ein Ansuchen ist, für das mir der noch damit unbekannte Leser
gewiss Dank wissen wird. In wie weit ich von den dort ange-
nommenen Auf^sungen abweiche, geht grösstentheils schon aus
früher Gesagtem herror. Der (Welt als W. und V. 3. Aufl. Bd. II.
8. 667 — 668) versuchte Beweis, dass diese Welt die sohlechtefite
unter allen möglichen sei, ist ein offenbares 8ophisma; überall
sonst will auch Schopenhauer selbst nichts weiter behaupten und
beweisen, als dass das Sein dieser Welt schlimmer sei als ihr
Nichtsein, und diese Behauptung halte ich für richtig. Das Wort
Pessimismus ist also eine unangemessene Nachbildung des
Wortes Optimismus. — So nutzlos ich femer die Versuche des Leib-
niz erachten musste, zur Bettung der Allweisheit und der best-
möglichsten Welt das Elend der Welt wegzudemonstriren, so
wenig kann ich es billigen, dass Schopenhauer die Weisheit der
Welteinrichtung über dem Elend der Welt so sehr übersieht, und
wenn er sie auch nicht ganz läugnen kann, doch möglichst unbe-
. achtet lässt und gering schätzt. — Alsdann yerwahre ich mich ge-
f gen den Begriff der Schuld, welchen Schopenhauer in die Welt-
schöpfnng hineinträgt. Schon mehrmals habe ich mich g^en eben
transcendenten Gebrauch ethischer Begriffe ausgesprochen, weil
diese nur für Bewusstseinsindividuen im Verkehr mit Bewusstseins-
indiyiduen eine Bedeutung haben. Nur das kann ich mit Sohopen-
/ hauer aus dem Elend des Daseins folgern, dass die Weltschöpfong
ihren ersten Ursprung einem unvernünftigen Acte verdankt,
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641 _
d. h. einem solchen, bei welchem die Venranft nicht mitgewirkt
hat, also dem blossen grundlosen Willen. — Endlich aber
habe ich noch Sohopenhauer's fialsohe Benutiung des B^^es der
Kegativität hervorsuheben. Wie nämlich Leibnia der Unlust, so
will Sohop&ihauer der Lnst einen ausschliesslich negativen Cha-
racter beilegen, zwar nicht ganz in dem privativen Sinne wie Leib-
niz, aber doch so, dass der Schmers allein das direct Entstehende
sein, die Lust aber nur indireot, durch Aufhebung oder Ver-
minderung des Schmerzes möglich werden soll Nun beabsichtige
ich nicht im mindesten, zu bestreiten, dass jede Aufhebung oder
Yerminderung eines Schmerzes eine Lust ist, aber nicht jede Lust
ist eine Aufhebung oder Verminderung des Schmerzes, und umge-
kehrt gilt es gerade so gut» dass die Aufhebung oder Verminderung
der Lust eine Unlust sei
Allerdings findet dabei s(dion eine Einschränkung statt, welche
zu Gunsten des Schmerzes wirkt. Nämlich Lust wie Schmerz
greifen das Nervensystem an , und bringen dadurch eine Art Er-
müdung hervor , welche bei den höchsten Graden der. Lust zur
tödtliehen Erschlaffung werden kann. Hieraus ergiebt sich ein
mit der Dauer und dem Grade des Gefühles wachsendes Bedürfiiiss,
d. h. ein (bewusster oder unbewusster) Wille, das Aufhören oder
Nachlassen des Gefühles eintreten zu lassen; bei der Unlust wirkt
dieses aus dem Angriff auf die Nerven stammende Bedürfniss mit
dem directen Widerwillen gegen die Ertragung eines Schmerzes
zusammen, bei der Lust dagegen wirkt er der directen Begierde
nach Festhaltung der Lust entgegen, und vermindert dieselbe alle-
mal i ja er kann sie zuletzt überwiegen (man denke an die Er-
schöpfung im Geschlechtsgenuas). Der Schmerz wird (abgesehen
von völliger Nervenabstumpfnng durch grosse Schmerzen) um so
schmerzlicher, die Lust um so gleichgültiger und überdrüssiger, je
länger sie dauert.
Hier li^ schon der erste Grund versteckt, warum bei völlig
gleichachwebender Waage für das Maass der directen Lust und
Unlust in der Welt durch die hinzukommende Nervena^ection zu
Gtmsten des Schmerzes der Ausschlag gegeben werden würde. —
Indem aber femer durch diese» hinzukommende Bedürfniss des Nach-
lassens in Bezug auf jedes andauernde Gefühl die indirecte (d. h.
durch Aufhören einer Lust entstandene) Unlust relativ vermindert da-
gegen die indirecte (d. h. durch Aufhören einer Unlust entstandene)
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542
LuBt relativ vetmehrt wird, zeigt sich schon a priori^ dass ein Ter-
hältnissmässig viel grösserer Theil der Lust, als der Unlust in der
Welt aof eine indirecte Entstehung aus dem Nachlassen seines
Gcgentheiles hinweist. Da es nun aber, wie sich aus dieser ganzen
Untersuchung ergeben wird, wahr ist, dass im Ganzen weit mehr
Schmerz, als Lust in der Welt ist^ so ist es kein Wunder, dass in
der That durch das Nachlassen dieses Schmerzes schon der bei
Weitem grösste Theil aller Lust, der man in der Welt beg^net,
seine genügende Erklärung findet, und für directe Entstehung nur
wenig Lust mehr übrig bleibt.
Mithin kommt es für die Praxis nahezu auf das heraus,
was Schopenhauer behauptet (nämlich dass die Lust indirecte Ent-
stehung habe, und nur der Schmerz directe); dies darf aber die
principielle Auffassung nicht alteriren, denn es ist und bleibt
unbestreitbar, dass es auch Lust giebt> welche nicht durch Nach-
lassen eines Schmerzes entsteht, sondern sich positiv über den In-
differenzpunct der Empfindung erhebt; man denke an die Genüsse
des Wohlgeschmackes und die der Kunst und Wissenschaft, welche
letzteren Schopenhauer wohlweislich, weil sie ihm nicht in seine
Theorie der Negativität der Lust passten, hinauswarf und als
schmerzlose Freuden des willenfreien Intellectes behandelte, —
als ob der willensfreie Litellect noch geniessen könnte, als
ob es eine Lustempfindung geben könnte, ohne einen Willen,
in dessen Befriedigung sie besteht! Wenn wir nicht umhin
können, den Wohlgeschmack, den Geschleohtsgenuss rein physisch
genommen und abgesehen von seinen metaphysischen Beziehungen,
und die Genüsse der Kunst und Wissenschaft als Lustempfin-
dungen in Anspruch zu nehmen, wenn wir zugeben müssen, dass
dieselben ohne eineii vorherigen Schmerz, ohne ein vorheriges
Sinken unter den Indifferenzpunct oder NuUpunct der Empfindung
sich positiv über denselben erheben, wenn wir endlich an unserem
Principe festhalten, dass die Lust nur in der Befriedigung eines
Begehrens bestehe, so muss nothwendig Schopenhauer's Behauptung
falsch sein, dass die Lust nur ein Nachlassen oder Aufhören des
Schmerzes sei.
Nun sagt er aber zum Beweise derselben: der Wüle ist,
so lange er besteht, unbefriedigt, denn sonst bestände er ja
nicht mehr, der unbefriedigte Wille aber ist Mangel, Bedürf-
niss, Unlust; wird er nun befriedigt, so wird diese Unlust aufge-
hoben, und darin besteht die Befriedigung oder Lust; eine andere
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543
giebt 68 nicht. Dies Argument scheint unwiderleglich und doch
ist seine Gonsequenz, wie gezeigt, im Widerspruch mit der Erfah-
rung. Die Yermittelung und Vereinbarung ergiebt sich leicht,
wenn man sich den Genuss des Wohlgeschmackes oder einen
Eunstgenuss näher darauf ansieht und sich fragt, wo denn der
Wille stecken sollte,, der, so lange er unbefriedigt ist, Unlust ist.
Es ist weder eine Unlust, noch ein unbefriedigt existireifder Wille
aufzufinden. Es bleibt also nichts übrig, als anzunehmen, dass der
Wille in demselben Moment erst hervorgerufen werde,, wo er auch
schon befriedigt wird, so dass zu seiner unbefriedigten Existenz
keine Zeit vorhanden ist. Dies stimmt damit überein, dass es ja
ein und dasselbe ist, was den Willen motivirt (erregt) und was
ihn befriedigt, wie man sieh sofort überzeugen kann, wenn man
einen übelschmeckenden / Bissen zwischen wohlschmeckenden ge-
niesst, oder wenn in einem Musikstück fehlerhafte Dissonanzen
gegriffen werden; dann wird nämlich der Wille zwar motivirt (er-
regt), aber er wird nicht befriedigt, und nun ist sofort die Unlust
da. Hier an dem Willen, der im Entstehen sofort der ihn wieder
vernichtenden Befriedigung anheimfallt , zeigt sich nun auch deut-
lich, dass die Lust der Befriedigung allerdings etwas ganz Positives,
nicht aus der Yerminderung des Schmerzes direct und allein Her-
vorgehendes ist, dass vielmehr selbst die bei der Verminderung des
Schmerzes sich zeigende indirecte Lust verstanden werden muss
als directe Befriedigung des Willens, den Schmerz los zu werden.
Hätte Schopenhauer nicht das Vorurtbeil von dem willensfreien
Geniessen des Intellectes an diese Betrachtung mit herangebracht,
so hätte er dieses Verhältniss wohl erkannt und wäre nicht bei
seiner Auffassung der Negativität der Lust stehen geblieben.
Das Alles aber hätte vielleicht noch nicht genügt, um diese Ueber-
zeugung in ihm festzustellen, wenn nicht zu seiner Entschuldigung
noch Eins hinzukäme. Wir haben nämlich Gap. G. HI. S. 354 bis
355 gesehen, dass die KichtbefHedigung des Willens zwar ihrer
Natur nach immer bewusst werden muss , die Befriedigung aber
keineswegs unmittelbar^ sondern nur dann, wenn der bewusste
Verstand sich durch Vergl eich ung mit entgegengesetzten
Erfahrungen zum Bewusstsein bringt, dass auch die Befrie-
digung von äusseren Umständen abhängig und nichts
weniger als eine unmittelbare und unfehlbare Gonsequenz des
Willens ist. Ich bitte die daselbst angeführten Beispiele noch
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544
einmal nachleseii zu wollen ^ damit ich sie hier nicht sn wieder-
holen brauche.
Besondere Be^htong verdient es, dass man bei dem gesama-
ten Pflanzenreich und den niederen Stulen des Thierreiehes den
Grad von fertigem Bewusstsein, welcher zur Yergleichung Ton Sr-
ffldirongen und Anerkennung ihrer Abhängigkeit Ton äusseren Ur-
sachen gehört, nicht yoraussetzen darf, dass man demnach diesel-
ben auch keines Bewusstwerdens von Willensbefriedigungen, also
keiner Ln^mpfindungen fähig erachten darf^ während Schmers
und Unlust sich auch dem dumpfesten Bewusstsein mit unerbitt-
licher Nothwendigkeit aufdringen. Aber selbst höhere Thiere dürf*
ten im Allgemeinen sich viel wenigerer Willensbefriedigungen be-
wusst werden, als man gewöhnlich nach mensdilicher Analogie
anzunehmen geneigt ist. Was den Menschen selbst betrifft, so
werden auch ihm, da natürlich nicht jeder Mensch in jedem Mo-
ment einer kleinen Willensbefriedigung sich zu Yergleichen mit
entgegengesetzten Erfahrungen nöthigt, im Allgemeinen nur solche
Willensbeiriedigungen bewusst, d. h. als Lust empfanden, deren
begleitende Umstände den Menschen ohne sein Zuthun auf den
Contrast mit entgegengesetzten Erfahrungen hinweisen, z. B. unge-
wöhnliche, seltene, sei es ihrer Art oder ihrem Grade nach, oder
solche, welche durch Ideenassodation an entgegengesetzte Erfah-
rungen, sei es fremde, sei es frühere eigene, erinnern.
Alle zur Gtewohnheit und Begel gewordenen Willensbefirie-
digoHgen werden immer weniger als solche, d. h. als Lust empfim-
den, je weniger sie noch die Erinnerung an en^egengesetzte Er-
fahrungen aufkommen lassen. Es ist klar, dass der bei Weitem
grössere Theil (nicht dem Grade sondern der Anzahl naeh) der
Willensbefriedigungen dadurch dem Bewusstsein verloren gdien,
während alle Nichtbefriedigungen unverkürzt empfunden werden.
Daher sagt Schopenhauer ganz richtig (Welt als W. und Y. 3. Aufl.
Bd. n. S. 657): „Wir fühlen den Wunsch, wie wir Hunger und
Durst fühlen ; sobald er aber erfüllt worden, ist es damit, wie mit
dem genossenen Bissen, der in dem Augenblick, da &p verschlackt
wird, für unser G^efühl da zu sein, aufhört
Genüsse und Freuden vermissen wir sehmerzlioh, sobald sie
ausbleiben; aber Schmerzen, selbst wenn sie nach langer Anwe-
senheit ausbleiben, werden nicht unmittelbar vermisst, sondern
höchstens wird absichtlich vermittelst der Reflexion ihrer gedacht.
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545
In dem Maaste, als die (^enÜBse zunehmen, nimmt die £m-
pfänglichkeit für sie ab; dae G^ewohnte wird nicht mehr als Ge-
noss empfunden. Eben dadurch aber nimmt die Empfänglichkeit
für das Leiden zu; denn das Wegfallen des Gewohnten
wird schmerzlich gefühlt." (Parerga, 2. Aufl. Bd. II.
8. 312): „Wie wir die Gesundheit unseres ganzen Leibes nicht
fühlen, sondern nur die kleine Stelle, wo uns der Schuh drückt,
«0 denken wir auch nicht an unsere gesammten, vollkommen wohl
gehenden Angelegenheiten , sondern an irgend eine unbedeutende
Kleinigkeit, die uns verdriesst.'^ Falsdi aber ist es, wenn er hin-
zufugt: „Hierauf beruht die yon mir öfter hervorgehobene Nega-
tivität des Wohlseins und Glücks, im Gegensatz der Fositivität des
Schmerzes.^ Allerdings existirt für dasBewusstwerden
Ton Lust und Schmerz ein gewisses Analogon dieser Begriffe, in-
M^em der Schmerz von sich allein, die Lust aber nur im Gegen-
satz zur YorstelluDg des Schmerzes bewusst wird; allerdings sind
die Wirkungen häuflg dieselben, als ob die SchopenhauerWhe
Auffassung der Negativität der Lust richtig wäre , dennoch aber
ist zwischen beiden ein himmelweiter üntersdbied , und es bleibt
ab Princip stehen, dass Lust xmd Schmerz im Allgemeinen sich
wie das mathematische Positive und Negative unterscheiden, d. h.
80, dass es gleichgültig ist, welches Vorzeichen man dem Einen,
welches dem Anderen giebt.
Es hat sich wieder einmal recht deutlich gezeigt , wie un-
endlich viel fruchtbarer als blosse Kritik das Naehdenkan über
die Gründe ist, durch welche grosse Männer zu falschen Hypothe-
sen verleitet sind. Indem wir nämlich die H3rpotheae von der
^Negativität der Lust ebenso unrichtig als die des Leibniz von der
Negativität des Uebele fanden, haben wir sugleioh drei Momente
erfasst, deren jedes zu Gunsten des Schmerzes in unsere Waag-
schale fällt, und welche in ihrer Vereinigung practisch fast das-
selbe Besultat geben, wie die Schopenhauer^sohe Theorie; es eind
dies 1) die Erregung und Ermüdung der Nerven und das daraus
entspringende Bedtirfuiss naoh dem Aufhören dres Genusses, wie dee
Schmerzes ; 2) die Nothwendigkeit, alle Lust als indirecte sa berück-
sichtig^i, welobe nur durch Aufhören oder Nachlassen einer Un-
lust, aber nicht durch momentane BeMedjgung eines Willens im
Angenblick der Erregung desselben entsteht; 3) die Schwierigkei-
ten; weiche dem Bewusstwerden der Willensbefriedigung entgegen-
▼. Hftrtmann, Fhil. d. UnbewQMten. 35
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646
stehen, während die Unlust eo ipso Bewnsstaein eizeugt; — wir
können hinzufügen: 4) die kurze Dauer der Befriedigung , die
wenig mehr als ein ausklingender Augenhlick ist, während die Nicht-
befriedigung so lange, wie der actuelle Wille währt, also, da es
kaum einen Moment giebt, wo nicht ein actueller Wille yorhanden
wäre, so zu sagen , ewig ist, und nur allenfalls limitirt durch die
Befriedigung, welche die Hoffiiung gewährt.
Dem zweiten Punct müssen wir noch einige Berücksichtigung
schenken. Wenn wir Beispiele solcher Lustempfindungen suchen,
welche nur in einem Aufhören oder Nachlassen der Unlust beste-
hen, so ist sorgfaltig darauf zu achten, dass man nicht solche FäUe
mit hineinzieht, wo die Lust noch durch eine anderweitig hinzu-
kommende Willensbefriedigung verstärkt wird, wie z. B. zur Be-
friedigung des Hungers und Durstes der Wohlgeschmack der Spei-
sen und die kühlende Erquickung des Trankes, zur Stillung der
Liebessehnsucht der physische Geschlechtsgenuss hinzukommt
Beine Beispiele sind für das sinnliche Gebiet ein nachlassender
Zahnschmerz, für das geistige die Genesung eines Freundes aus
tödtlicher Krankheit So wie man solche reine Beispiele betrach-
tet, wird kein Mensch mehr zweifelhaft sein, dass die durch Auf-
hören der Unlust entstehende Lust sehr viel geringer ist, als jene
Unlust war, gerade wie umgekehrt die durch Aufhören einer Lust
entstehende Unlust weit geringer als jene Lust ist.
Diese Erscheinung könnte im ersten Augenblick überraschen,
da man die Stärke des Geüihles nur von dem Gbtide der Aen-
derung, nicht aber von der Lage des Anfangs- oder Endpunk-
tes der Veränderung zum Lidifferenzpuncte der Empfindung ab
abhängig betrachtet, jedoch erklärt sich dieselbe meines Eraohtens
bei der aufhörenden Unlust aus dem die Lust beeinträchtigenden
nachwirkenden A erger , dass man die Unlust so lange habe ertra-
gen müssen; man fühlt sich gleichsam seinem Schicksale für die
Befreiung Tom Schmerz weniger zum Dank verpflichtet, als für die
Auflegung des Schmerzes zum Murren und Bechenschaftfordem
berechtigt, weil die ganze Bewegung unterhalb des Laditfer^iz-
punctes vor sich ging, während bei der aufhörenden Lust der um-
gekehrte Fall eintritt, dem noch die nervöse Ermüdung hinzukommt
Dieser Erklärung entspricht es vollständig, dass diese Schmälemng
der Lust im Yerhältniss zu der Unlust, in deren Aufhören sie besteht,
nur dann eintritt, wenn der Umstand, dass die ganze Bewegung unter-
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547
halb des NnUpunotes der Empfindung vor sich gegangen ist, anch
wirklich in's Bewnsstsein fällt. Je weniger das Bewusstsein des
Betheiligten die Bewegung unterhalb den Nullpunct der Empfin-
dung verlegt, desto mehr wird factisch die Lust dem Grade nach
der Unlust gleich, in deren Aufhören sie besteht Dies ist bei
sinnlichem Schmerz am wenigsten mögHoh , daher sich Memand
auf die Folter spannen lassen wird, um das Vergnügen des Auf-
hörens der Schmerzen zu gemessen; auf geistigem Gebiet aber ist
der Kampf mit der Noth und die Freude über jeden errungenen,
die nächste Zukunft sichernden Sieg der Beweis davon. Sobald
sich die Menschen klar machen werden, dass diese Freude zu der
vorangehenden Sorge sich nicht anders verhält, wie das Nachlassen der
Schmerzen zu den Folterqualen, und dass diese Bewegung ebenso
wie jene völlig unterhalb des Nullpunctes der Empfindung fällt,
sobald werden sie auch jene Siege über die Noth so wenig mehr
geniessen, wie der Gefolterte das Nachlassen der Stricke ge-
niesst.
Was man heutzutage das Gespenst der Massenarmuth nennt,
ist nichts als dies in den Massen auftauchende Bewusstsein, dass
der Kampf mit der Noth, die Sorge und ihre Linderung ganz auf
der negativen (Schmerz-) Seite des NuUpunctes der Empfindung
liegt, während früher, wo die Massenarmuth zehnmal grösser war,
dies Bewusstsein fehlte und die Leute ihre Armuth wie von
Gottes Gnaden trugen. Auch wieder ein Beweis, wie die fort- 1
schreitende Intelligenz die Menschen unglücklicher macht. — Dieser |
Kampf der Menschen mit der Noth ist aber erst Ein Beispiel; j
wenn man sich unter den möglichen Freuden der Welt umsieht,
80 wird man jedoch sehr bald gewahren, dass mit der Ausnahme
der physisch - sinnlichen , der ästhetischen und der wissenschaft-
lichen Genüsse kaum ein Glück zu gewahren ist, welches nicht
auf der Befreiung von einer vorangegangenen Unlust beruhte,
ganz besonders aber wird dies für grosse, lebhafte Freuden gelten.
Voltaire sagt : „ü n^eat de vrais plaisirs qu^avec de vrms besoinaJ'
Es sohliesst sich hieran unmittelbar die interessante Frage
an, ob denn überhaupt die Lust ein aufwiegendes Aequivalent für
den Schmerz sein könne, und welcher Coefficient oder Exponent
zu einem Grade der Lust gesetzt werden müsse, um einen gleichen
Ghrad von Schmerz für das Bewusstsein aufzuwiegen. Schopenhauer
stellt unter Anführung des Petraroa'schen Verses : ,,Mäle piacer
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non vagliono tm tormento*^ (Tausend Gbnüese sind nicht Eine Qual
werth) die exoentrische Behauptung auf, dass ein Schmerz über-
haupt nie und durch keinen Grad von Lust aufgewogen werden
könne, dass also eine Welt, in der überhaupt der Schmerz vor-
kommen könne^ unter allen Umständen bei noch so überwiegendem
Glück schlechter als das Nichts sei. Diese Ansicht dürfte wohl
kaum Unterstützung finden^ ob aber nicht insofern ein richtiger
Kern in ihr liegt , als der zur Aequivalenz nöthige Coefficirat
durchaus nicht =» 1 zu sein brauche , wie man gewöhnlich an-
nimmt, das wäre wohl einer Betrachtung werth. — Wenn ich die
Wahl habe, entweder gar nichts zu hören, oder erst fünf Minuten lang
Misstöne und dann fünf Minuten lang ein schönes Tonstöck
zu hören , wenn ich die Wahl habe , entweder nichts zu
riechen, oder erst einen Gestank und dann einen Wohlge-
ruch zu riechen, wenn ich die Wahl habe, entweder nichts
zu schmecken, oder erst etwas sohlecht Schmeckendes und dann
etwas Wohlschmeckendes zu kosten, so werde ich mich auf alle
Fälle zu dem Nichts - hören, -riechen und -schmecken entscheiden,
auch dann, wenn die auf einander folgende gleichartige Unloit-
und Lustempfuidung mir nach gleichem Grade bemessen sckeineD,
obwohl es freilich sehr schwer sein dürfte , die Gleichheit des
Grades zu coustatiren. Hieraus sohliesse ich, dass die Lust dem
Grade nach merklich grösser sein musSi, als «ine gleichartige
Unlust, wenn beide sich für das Bewusstsein so aufwiegen sollen,
dass man ihre Verbindung dem Nullpunot der Empfindung gleich
setzt und sie demselben bei einer kleinen Erhöhung der Lust oder
Erniedrigung der Unlust vorzieht. Wahrscheinlich schwankt übrigeas
dieser Goefdcient bei verschiedenen Individuen zwischen gewissen
Grenzen, und dürfte nur seine mittlere Grösse grösser als 1 sein.
Ueber die dieser merkwürdigen Erscheinung zu Grunde lie-
genden Ursachen wage ich keine Yermuthungen aufzustellen« So
viel ist gewiss, dass, wenn die Thatsache richtig ist, auch dieser
Umstand zu Ungunsten eines überwiegenden Glückes in der Welt
spricht. Die Welt gleicht dann einer Geld-Lotterie: die einge-
setzten Schmerzen muss' man voll einzahlen, aber die Gewinne er-
hält man nur mit Abzug ausbezahlt So sagt Schopenhauer <Ps'
rerga ü. 313): „Hiermit stimmt auch dies, dass wir m dwEegel
die Freuden weit unter, die Bchm^zen weit über unserer Erwai^
tung finden.'' (S. 321): „Sehr zu beneiden ist Niemand, sehr zu
beklagen Unzählige." (W. a. W. u. V. 11. 658): „Ehe man so
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znyerBichtlioh ausspricht, dass das Leben ein wünschenswerthes
oder dankenswerthes Ghit sei, vergleiche man einmal gelassen die
Sonnne der nur irgend möglichen Freuden , welche ein Mensch in
seinem Leben geniessen kann, mit der Summe der nur irgend
möglichen Leiden, die ihn in seinem Leben treffen können. Ich
glaube, die Bilanz wird nicht schwer zu ziehen sein/'
Es ist nun unsere Au%abe, im Leben des Lidiyiduums nach-
zuforschen, ob die Summe der Lust oder der Unlust überwiegt,
und ob in dem Lidividuum als solchem die Bedingungen gegeben
sind , um unter den denkbarst günstigsten Umständen in seinem
Leben einen Ueberschuss der Lust über die Unlust zu. erwichen.
Ba das zil betrachtende Feld zu gross zu einem gleichzeitigen
Ueberschauen ist, so wollen wir uns die Lösung erleichtern, indem
wir die Summe der Lust und Unlust nach den Hauptrichtungen
des Lebens gesondert betrachten. Immer aber muss während der
künftigen Betrachtungen der Leser die vorangeschickten allgemei-
nen Bemerkungen im Sinne behalten, da die in denselben erwähn-
ten Umstände fortwährend als wesentlich beschränkende Coefficien-
ten der Lust in Wirksamkeit sind , wohingegen sie den Schmerz
entweder vollgültig bestehen lassen, oder gar noch vermehren.
2. Gesiiulheit, Jugeml, Freiheit und ausk5nnllche Existenz als Bedingungen
des Nullpunotes der Empfindung, und die Zufriedenlielt. ^
Die genannten Zustände werden meistens als die höchsten
Güter des Lebens in Anspruch genommen, und nicht ohne Grund;
gleichwohl gewähren sie durchaus keine positive Lust, ausser wenn
sie durch Uebergang aus den ihnen entgegengesetzten Unlustzu-
ständen soeben erst entstehen; während ihres ungestörten Bestan-
des aber stellen sie durchaus nur den NuUpunct der Empfindung
und keineswegs eine positive Erhebung über denselben dar, den
Batihorizont, auf dem erst die zu erwartenden Genüsse des Lebens
errichtet werden sollen. Hiermit stimmt überein, dass der Bestand
dieser Zustände so wenig ein Lust- als ein Unlustgefühl erweckt,
da am Nullpuncte überhaupt nichts zu fühlen ist, dass aber jedes
Herabsinken von diesem Bauhorizont in Krankheit, Alter, Unfrei-
heit und Noth schmerzlich empfunden wird. Diese Güter haben
also in der That den rein privativen Character, den Leibniz dem
Uebel zuschreiben wollte, sie sind die Frivation von Alter, Krank-
heit, Knechtschaft und Noth, und sind ihrer Natur nach unfähig,
«nch über den NuUpunct der Empfindung nach der Seite . der Lust
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zu erheben, also unfähig, eine Lust zu erzeugen, es sei denn durch
Nachlassen einer vorangehenden Unlust, und sollte diese auch nur als
Furcht oder Sorge in der Vorstellung bestehen. Bei der Gesundheit ist
Alles dies ganz von selbst einleuchtend; Niemand fühlt ein Glied, als
wenn er krank ist, nur der Nervenkranke fühlt, dass er Nerven, nur der
Augenkranke, dass er Augen hat; der Gesunde aber nimmt nur
durch Gesichts - und Tastsinn wahr , dass er einen Leib hat. Mit
der Freiheit ist es ebenso. Niemand fühlt, wenn er selbst seine
Handlimgen bestimmt, denn dies ist der selbstverständliche natür-
liche Zustand; wohl aber empfindet er schmerzlich jeden Zwang
von aussen, jeden Eingriff in seine Selbstbestimmung gleichsam
als eine Verletzung des ersten und ursprünglichsten Naturrechtes,
das er mit jedem Thiere, mit jeder Atomkraft theilt — Die Jugend
ist erstens das Lebensalter, in welchem allein eine vollkommene
Gesundheit und ungehinderter Gebrauch des Körpers und Geistes
gefunden wird, während mit dem Alter auch seine Gebrechen sich
einstellen, welche schmerzlich genug empfunden werden. Zweitens
aber besitzt allein die Jugend, was eigentlich schon aus dem un*
behinderten Gebrauch des Körpers und Geistes folgt, die volle
Genussfähigkeit, während im Alter wohl alle Beschwerden,
Unbequemlichkeiten, Verdruss, Widerwärtigkeiten und Plagen sich
doppelt fühlbar machen, die Fähigkeit zum Geniessen aber mehr
und mehr abnimmt. Diese Genussfahigkeit hat aber doch aach
nur den Werth des Bauhorizontes, sie ist nur Fähigkeit, d. h.Mög-
lichkeit (nicht Wirklichkeit) des Genusses ; was nützen mir z. B.
die besten Zähne, wenn ich nichts zu beissen habe ! — Endlich kann
auch die auskömmliche Existenz, oder das Gesichertsein vor Noth
und Entbehrung nicht als ein positiver Gewinn oder Genuss ange-
sehen werden, sondern nur als die conditio sine qua non des
nackten Lebens, das erst seiner genussreichen Erfüllung harrt
Hunger, Durst, Frost, Hitze oder Nässe zu ertragen, ist schmen-
lich; der Schutz vor diesen Uebeln durch nothdürftige Wohnung,
Kleidung und Nahrung kann kein positives Gut heissen (der Ge-
nuss beim Essen gehört nicht in diese Betrachtung). Wäre näm-
lich das in seinen Existenzbedingungen gesicherte nackte Leben
schon ein positives Gut, so müsste das blosse Dasein an sich selbst
uns erfüllen und befriedigen. Das Gegentheil ist der Fall: das
gesicherte Dasein ist eine Qual, wenn nicht eine Erfüllung des-
selben hinzukommt. Diese Qual, welche sich in der Langeweile
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aosaphcht, kann so unerträglich werden, daes selbst Schmerzen
und Uebel willkommen sind, um ihr zu entgehen.
Die gewöhnlichste Erfüllung des Lebens ist die Arbeit;
es kann kein Zweifel obwalten, dass die Arbeit für den, der
arbeiten muss, ein Hebel ist, mag sie auch in ihren Folgen
für ihn selbst, wie für die Menschheit und den Fortschritt
in ihrer Entwickelung noch so segensreich sein; denn Niemand
arbeitet, der nicht muss, d. h. der nicht die Arbeit als das
kleinere von zwei üebeln auf sich nähme, sei nun das grössere
Hebel die Noth, die Qual des Ehrgeizes oder auch bloss die Lange-
weile. Alles, was man über den Werth der Arbeit sagen kann,
reducirt sich entweder auf rolkswirthsehaftlich günstige Folgen
(wovon wir später handeln), oder auf die Yermeidung grösserer
Uebel durch dieselbe (Müssiggang ist aller Laster Anfang) , und
das höchste was der Mensch erreichen kann ist, „dass er fröhlich
sei in seiner Arbeit, denn das ist sein Theil'S d. h. dass er das
XJnäbwendliche durch Gewohnheit so gut als möglich ertragen lerne,
wie das £arrenpferd zuletzt auch den Karren mit leidlich guter
Laune zieht, üeber der Arbeit tröstet sich der Mensch mit der
Aussicht auf die Müsse, und über die Müsse haben wir uns soeben
nprch den GManken an die Arbeit trösten müssen. So kommt
das Wechselspiel von Müsse und Arbeit darauf heraus , dass der
Kranke sich im Bette wendet, um aus seiner unbequemen Lage
herauszukommen; bald findet er die neue Lage ebenso unbequem,
and wendet sich wieder zurück. — In der Eegel ist nun die Ar-
beit der Preis, um welchen die gesicherte Existenz erkauft wird.
Nicht genug also, dass die gesicherte Existenz an sich kein posi-
tives Ghit, sondern nur den Nullpunct der Empfbdung repräsentirt,
muss dieses rein privative Gut noch durch Unlust erkauft
werden, im Gegensatz zu G^undheit und Jugend, welche man
nur geschenkt bekommt. Und wie gross ist häu% die Unlust^
welche dem Armen durch die Arbeit auferlegt wird. Ich will
nioht an die Sclavenarbeit erinnern, nur an die Fabrikarbeit un-
serer Grossstädte. „Im Alter von fünf Jahren eintreten in die
Qamspinnerei oder sonstige Fabrik, und von dem an erst zehn,
dann zwölf, endlich vierzehn Stunden darin sitzen und dieselbe
mechanische Arbeit verrichten, heisst das Yergnügen, Athem zu
holen, theuer erkaufen." (W. a. W. u. V. IL 661). Nicht minder
grosse Opfer, wie der Erwerb des Lebensunterhaltes, fordert das
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£rkämpfen einer relativen Freiheit, denn volle Freiheit erlangt
man nie. Dafür haben aber die Sicherang der Existenz nnd der
erreichbare Qrad der Freiheit den Yortheil , dass man sie doch
überhaupt durch eigene Kraft erobern kann, während man sich sa
Jugend und Gefundheit ganz paaeiv ^npfangend verhält
Hat man nun wirklich diese vier privativen Güter im Beutz, so sind
die äusseren Bedingungen zur Zufriedenheit gegeben« tritt dann
die erforderliche innere Bedingung, die Besignation, das sieh
Bescheiden bei dem l^othwendigen, hinzu, so wird in dem Be-
treffenden Zufriedenheit herrschen, so lange als keine erheblichen
Unglücksfiille und Schmerzen ihn betreffen. Die Zufriedenheit ver-
langt kein positives Glück, sie ist gerade die Yerzichtlei-
stung auf solches, sie verlangt nur das Freisein von erheblichen
Uebeln und Schmerzen, also ungefähr den Nullpunct der Empfin-
dung; positive Güter und positives Glück können der Zufrieden*
heit nichts hinzufügan, wohl aber können sie dieselbe ge-
fährden, denn je grösser die positiven Güter und das Glück, desto
grösser ist die Wahrscheinlichkeit, durch ihren Verlust grosse
Schmerzen zu erleiden, welche die Zufriedenheit zeitweilig auf-
heben. Die Zufriedenheit kann also so wenig als ein Zeichen von
positivem Glück betrachtet werden, dass vielmehr der Aermste und
Bedürfnissloseste ihrer am leichtesten dauernd habhaft wird.
Wenn trotzdem so vielfach die Zufriedenheit als ein Glück, ja als
das höchste erreichbare Glück gepriesen wird (Ajristot. Eth. Bad.
YII. 2 : ^ aifdaifioi^ia zcjp avTaQxatv ktni , das Glück gehört den
Selbstgemügsam^; Spinoza, Eth. Th. 4, Satz 52 Anm. : ZuMede»-
heit mit sich selbst ist wahrhaft das Höchste, was wir hoffen kön-
nen), so kann dies nur dann richtig sein, wenn der Zustand der
Schmerzlosigkeit und freiwilligen Besignation auf alks
positive Glück vor dem seiner Natur nach dauerlosen Besitze
positiven Glückes den Vorzug verdient Ueberhanpt wenn,
wie ich glanbe^ es berechtigt ist, Gesundheit, Jugend, Freiheit und
sorgenfreies Dasein die höchsten Güter, und ZuMedenheit das
höchste Glück zu nennen, so geht daraus von vomher^ hervor,
ein» wie missliche Bewandtniss es mit allen positiven Gutem nad
positivem Glück haben mtLsse, dass man die privativen, d. h. in
blosser Freiheit von Schmerz bestehenden, ihnen mit Eedit
voransetzen darf. Denn was bietet denn die Freiheit vom
Schmerz? Doch nicht mehr als das Nichtsein! Wena also mit
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den positiven Gütern und Glück noch ein Aber yerknüpft ist, was
sie im Ganzen noch unter die Zufriedenheit, d. h. noch unter den
Nullpunet der Empfindung stellt, auf dem das Nichtsein permanent
steht, so ist eben damit erklärt, dass sie auch unter dem Nichtsein
stehen. Dem Nichtsein an Werth gleich stehen würde nur das
absolut zufriedene Leben, wenn es ein solches gäbe; es giebt aber
keines, denn auch der Zufriedenste ist nicht immer völlig und in
jeder Hinsicht zureden, folglich steht alles Leben an Werth
unter dem absolut Zufriedenen, folglich unter dem Nichtsein.
3. Hunger und Liebe.
„So lange nicht den Bau der Welt
Philosophie zusammenhält,
Bewegt sich das Getriebe
Durch Hunger und duirch Liebe'^
sagt Schiller sehr richtig. Sie beide sind sowohl für den Fort-
sehritt und die Entwickelung im Thierreiche als auch für die
Entwiokelungsanfange der Menschheit und die roheren Zustände,
welche dieselbe characterisiren, fast die einzigen wirkenden Trieb-
federn. Wenn über den Werth dieser beiden Momente für
das Lidividuum der Stab gebrochen werden muss, so ist schon
wenig Aussicht, den Werth des individuellen Lebens um seiner
selbst willen auf anderen Wegen zu retten.
Der Hunger ist qualvoll, was freilich nur der weiss, der ihn
schon empfunden hat; seine Befriedigung, der Sättigungsgenuss, ist
fiir das Gehirn die blosse Aufhebung des Schmerzes, während er
für untergeordnete Nervencentra allerdings eine positive Erhebung
über den NuUpunct der Empfindung in dem Wohlbehagen der Ver-
dauung nach sich ziehen mag; diese wird jedoch für das Gemein-
gefühl oder Gesammtwohl des Individuums um so weniger in's
Gewicht fallen, jemehr die untergeordneten Nervencentra relativ in
Bezog auf das Gehirn zurücktreten, welches von dem Wohlbehagen
der Verdauung nur schwache Spuren zugeleitet erhält, desto mehr
aber in seiner geistigen Stimmung und Arbeiisbefahigung durch die
Sättigung sich deprimirt fühlt. Wer sich in der glücklichen
Lage befindet, jedesmal, wenn der Anfang des Hungers sich meldet,
denselben sofort zu sättigen, und wen die Depotenzirung des Ge-
hirnes durch die Sättigung nicht incommodirt, bei dem mag aller-
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654
dings der Hunger durch das Yerdauungsbehagen einen gewiflto
UeberschuBs von LuBt erzeugen; aber wie Wenige sind in dieser
zwiefach b^eidenswerthen Lage! Die meisten der 1300 Millionen
Erdenbewohner haben entweder eine kärgliche , unbeMedigende
und das Dasein kümmerlich fristende Nahrung, oder sie leben eine
Zeitlang in üeberfLuss, wovon sie keinen überwiegenden Genuw
haben, und müssen eine andere Zeit wirklich darben und Nahrungs-
mangel leiden, wo sie also den peinigenden Hunger lange Zeiten
hindurch ertragen müssen, während das Sättigungsbehagen bei
YÖlUger Stillung des Hungers nur einige Stunden des Tages ein-
nimmt. Nun vergleiche man aber einmal dem Grade nach das
dumpfe Behagen der Sättigung und Verdauung mit dem für das
Himbewusstsein so deutliche Nagen des Hungers, oder gar den
Höllenqualen des Durstes, denen die Thiere in Wüsten ^ Steppen
lind solchen Gegenden, die in der heissen Jahreszeit völlig aus-
trocknen, nicht selten ausgesetzt sein mögen. Wie viel mehr muss
aber erst bei vielen Thierarten der Schmerz des Hungers die Lust
der Sättigung im Laufe des Lebens überwiegen, welche in gewissen
Jahreszeiten aus Nahrungsmangel oft zu erheblichen Bruchtheiien
ihrer Gesammtzahl verhungern, oder doch nur, Wochen und Monate
lang an der Grenze des Hungertodes hinstreifend, ihre Existenz in
günstigere Lebensbedingungen hinüberfristen. Dies ündet sowohl
bei Pflanzenfressern im Winter der Polar- und gemässigten Zone
und in der Dürre der Tropen, als auch bei Fleischfressern und
Eaubthieren statt, die oft wochenlang vergebens auf Beute herom-
streifen, bis sie entkräftet verenden. Die Zeit ist noch nicht so
lange her, wo man in Europa auf je sieben Jahre eine Hungers-
noth rechnete, und wenn diese durch unsere jetzigen Communioa-
tionsmittel in blosse Theuerung, d. h. in Hungersnoth bloss für die
ärmsten Classen, verwandelt ist, so besteht dies oder ein ähnlioheB
Verhältniss doch gewiss in dem bei Weitem grössten TheUe der
bewohnten Erde noch fort.
Aber auch in unseren Grossstädten lesen wir immer und immer
wieder von Fällen des buchstäblichen Yerhungems aus Noth. Kann
die Yöllerei von tausend Schlemmern die Qual eines verhungerten
Menschenlebens aufwiegen?
Aber der eigentliche Hungertod ist das unter uns seltenere
und kleinere IJebel, welches der Hunger herbeiführt; weit fiiroht-
barer ist die leibliche imd geistige Yerkümmemng der Eace^ dna
Hinsterben der Kinder und die eigenthümlichen, sich einfindenden
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Krankheiten; man lese nur die Berichte aas schlesischen Weher-
districten oder ans den Höhlen des grossstädtischen Elends in
London. Je weniger aber der fortschreitenden Yermehrung der
Menschheit durch verheerende Kriege Einhalt gethan wird, je mehr
durch zunehmende Eeinlichkeit die Heerde der Epidemien ver-
schwinden und durch Prophylaktika ihre Ausbreitung verhindert
wird, um so mehr muss sich die Emährungsfähigkeit als einzige
natürliche Gfrenze herausstellen, welche die Vermehrung beschränkt,
da das Yerhältniss der Geburten ziemlich dasselbe bleibt, und die
Annahme Carey's, dass später die Zeugungs- und Vermehrungsfahig-
keit des Menschengeschlechtes abnehmen werde , ganz willkürlich
und durch keine Analogien der Oeschichte gerechtfertigt ist.
Mag Landwirthsohaft und Chemie noch so grosse Fortschritte
machen, zuletzt muss doch ein Punct kommen, über den die Pro-
duction der Nahrungsmittel nicht hinaus kann; die Vermehrung der
Menschenzahl durch Zeugung hat aber keine Gfrenze, wenn sie ihr nicht
durch die Unmöglichkeit der Ernährung gesteckt wird; sie ist von
jeher die Hauptgrenze der Vermehrung gewesen, und wird es je
länger, je ausschliesslicher werden. Diese Grenze aber ist nicht
scharf und jäh, sondern sie geht von der auskömmlichen Existenz
zu der unmöglichen durch unendlich viele Abstufungen über, von
denen jede folgende hungriger und elender ist. Um den Instinct
zu täuschen, wird dann zunächst der Magen mit Stoffen gefüllt, die
weder Geschmack, noch Emährungsfähigkeit haben; so z. B. isst
die ärmste Classe in China, die nicht genug Eeis mehr kaufen
kann, eine Seetang -Art, die fast gar keinen Nahrungsstoff enthält
Ueberblickt man diese Massen, welche von geschmacklosen oder
wenig schmeckenden Nahrungsmitteln (Eeis, Kartoffeln) leben, so
wird man auch nicht mehr behaupten, dass für den grossen Ueber-
schuss von Unlust, den der Hunger in der Welt erzeugt, die mit
dem Essen verknüpfte Gesohmackslust ein einigermaassen in die
Wagschaale fallendes Gegengewicht bieten könnte.
Das Besultat in Bezug auf den Hunger ist also das, dass das
Individuum durch Stillung seines Hungers als solchen nie eine
positive Erhebung über den Nullpunct der Empfindung erfahrt, dass
es unter besonders günstigen Umständen allerdings durch den mit
der BefHedigung des Hungers verknüpften Wohlgeschmack und
Verdauxmgsbehagen einen positiven Ueberschuss an Lust gewinnen
kann, dass aber im Thierreiche und Menschenreiche im Ganzen die
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dnroh den Hunger und seine Folgen geschaffene Qual und Unlust
bei Weitem die mit seiner Befriedigung verknüpfte Lust überwiegt
und stets überwiegen wird. An sich selbst betrachtet ist also das
Nahrungsbedür&iss ein üebel, nur der Fortschritt in der £nt-
wickelung^- zu. welchem es durch den Kampf um die Kahrung als
Triebfeder wirkt, nicht sein eigener Werth, kann dieses Hebel
teleologisch rechtfertigen.
Ich kann mich nicht enthalten, hierzu die Worte Schopen-
hauer's anzuführen (Parerga 11. 313): „Wer die Behauptung, dass
in der Welt der Genuss den Schmerz überwiegt, oder wenigstens
sie einander die Wage halten, in der Kürze prüfen will, vergleiche
die Empfindung des Thieres, welches ein anderes frisst, mit der
dieses anderen.''
Was die andere Triebfeder der Natur, die Liebe, betrifft,
so muBS ich in Bezug auf ihre principielle Auffcissung auf Gap. B. IL
verweisen. Im Thierreiche ist von einer activen geschlechtlichen
Auswahl, welche vom männlichen Theile ausginge, noch wenig die
Eede, kaum bei den höchsten Vögeln und Säugethieren ; von einer
passiven Auswahl durch den Kampf der Männchen, in denen das
stärkste Sieger bleibt, auch nur bei einem geringen Theile höherer
Thiere. Im XJebrigen hat der Geschlechtstrieb nichts IndividueUes,
sondern ist rein generell. Nun existiren aber bei dem unendlich
viel grösseren Theile des Thierreiches nicht einmal Wollustoi^ne,
welche zur Begattung reizen ; ohne solche ist mithin die Begattung
ein dem Egoismus des Individuums gleichgültiges Geschäft, welches
durch den treibenden Zwang des Instinctes ausgeführt wird wie
das Spinnen des Netzes von der Spinne, oder das Bauen des Yogel-
nestes für die später erst zu legenden Eier. Auf die Genusslosig-
keit des Befruchtungsgeschäftes bei den meisten Thieren weist
auch die mannigfache, von der unmittelbaren Begattung abweich^ide
indirecte Form dieses Geschäftes hin. Wo bei den Wirbel-
thieren ein individueller physischer Genuss einzutreten scheint, ist
derselbe zu Anfang gewiss noch so dumpf und nichtssagend wie
möglich; bald aber tritt auch der Kampf der Männchen um das
Weibchen hinzu, der bei vielen Thierarten mit der grössten Er-
bitterung geführt wird, und häufig schmerzliche Verletzungen, nicht
selten auch Tödtung eines Theiles zur Folge hat. Dazu kommt boi
solchen Thieren, welche in der Brunstzeit von dem siegroichea
Männchen geführte Heerden bilden, die unfreiwillige Enthaltsasi-
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557
keit der Junggesellen , sei es, daas dieselben sich in besonderen
Heerden absondern, sei es, dass sie bei der Hauptheerde bleiben,
wo dann ein Eingreifen in die Beohte des Familienhauptes von
diesem in grausamster Weise gestraft wird. Biese unfreiwillige
Enthaltsamkeit des grössten Theiles der Männchen, und die den
Unterliegenden durch die Kämpfe yerorsaohten Schmerzen und
Aerger scheinen mir an Unlust die den beglückten Männchen aus
dem Geschlechtsgenuss erwachsende Lust hundertfach zu über-
bieten. Was aber die Weibchen betrifft, so kommen diese erstens
bei den meisten Thieren viel seltener zur Begattung, als die bevor-
zugten Männchen, und zweitens überwiegen bei ihnen die Schmerzen
des Gebarens offenbar bei Weitem die bei der Begattung empfun-
dene Lust.
Beim Menschen, namentlich dem cultivirten, ist die Geburt
sohmerzhafter und schwieriger als bei irgend einem anderen Thiere,
und zieht meist sogar ein längeres Krankenlager nach sich ; um so
weniger kann ich Anstand nehmen > die summarischen Leiden des
Gebarens für das Weib grösser zu erklären, als die summarischen
physischen Freuden der Begattung. Es darf uns nicht beirren, dass
der Trieb das Weib in practischer und vielleicht auch theoretischer
Hinsicht die umgekehsrte Entscheidung treffen heisst; hier haben
wir einen recht eclatanten Fall, wo der Trieb das Urtheil ver-
fälscht. Man erinnere sich an jene Frau, die durch das mehrmalige
Ueberst^en des Kaisessolmittes sich dooh nicht von der Begattung
abhahen Ums , - und man wird den Werth eines solchen Urtheiles
richtigear würdigen. Der Mann scheint in dieser Hinsicht besser
daran zu sein ; aber er scheint es nur.
Kaat sagt in «einer Anthropologie (Werke VIL Abth. 2. §. 266) :
,^ach der ersteren (der Naturepoche seiner Entwickelnng) ist er
im Katurztistande wienigstens in seinem fünfzehnten Lebensjahre
durch den C^chlechtsixntinct angetrieben und vermögend, seine
Art zu eiaeugen und zu erhalten. Nach der zweiten (der bürger-
lichen Epeohe der Entwickelung) kann er -es (im Durchschnitt) vor
dem zwanzigsten schwerlich wagen. Denn wenn der Jüngling
gleich früh genug das Vermögen hat, seine und seines Weibes
Neigung als Weltbürger zu befriedigen, so hat er doch lange noch
nicht das Vermögen, als Staatsbürger sein Weib und Kind zu er-
iMÜten. — Er muss ein Gewerbe erlernen, sich in Kundschaft brin-
gen, um ein Hauswesen mit seinem Weibe anzufangen, worüber
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558
aber in der geschliffeneren Yolksclasse auch wohl das fiinfiind-
zwanzigste Jahr verfdessen kann, ehe er zu seiner Bestimmung
reif wird. Womit füllt er nun diesen Zwischenraum einer abge-
nöthigten und unnatürlichen Enthaltsamkeit aus? Kaum anders,
als mit Lastern«^'
Diese Laster aber beschmutzen den ästhetischen Sinn, stumpfen
das Zartgefühl des Geistes ab und verfuhren nicht selten zu un-
sittlichen Handlungen. Endlich zerrütten sie durch das ihnen
fehlende immanente Maass und aus anderen Gründen die Gesund-
heit und legen nur zu oft schon in die folgende Generation den
Keim des Verderbens.
Wer aber wirklich ausnahmsweise sich von allen das Provi-
sorium erfüllenden Lastern frei hält und mit der Anstrengung der
Vernunft die Qualen der erregten Sinnlichkeit in ewig erneutem
Kampfe überwindet, der hat in dem Zeiträume von der Pubertät
bis zur Verheirathung, dem Zeiträume, wenn auch nicht der nach-
haltigsten Kraft, doch der ledernsten sinnlichen Gluth, eine solche
Summe von Unlust zu ertragen, dass die in dem spateren Zeiträume
folgende Summe der geschlechtlichen Lust sie nimmermehr aufwiegen
und wieder gut machen kann. Das Alter der Verheirathung der
Männer rückt aber mit fortschreitender Cultur immer höher hinauf,
der provisorische Zeitraum wird also immer länger und ist am
längsten gerade bei den Classen, wo die Nervensensibilität und
Reizbarkeit, also auch die Qual der Entbehmng am grössten ist.
Nun ist aber die rein physische Seite der Geschlechtsliebe
beim Menschen die untergeordnete, weit wichtiger ist der indivi-
dualisirte Geschlechtstrieb, welcher sich von dem Besitze gerade
dieses ^LidividuumB eine überschwengliche Seligkeit von nie enden-
der Dauer verspricht.
Betrachten wir zunächst die Folgen der Liebe im Allgemeinen.
Der Eine Theil liebt in der Regel stärker, als der andere; der
weniger liebende zieht sich gewöhnlich zuerst zurück, und ersterer
fühlt sich treulos verlassen und verrathen. Wer den Schmer» ge-
täuschter Herzen um gebrochener Liebesschwüre willen, so viel
davon gleichzeitig in der Welt ist, sehen und wägen könnte, der
würde finden, dass er ganz allein schon alles gleichzeitig in der
Welt bestehende Liebesglück übertrifft, schon aus dem Grunde, weil
die Qual der Enttäuschung und die Bitterkeit des Verrathes viel
länger vorhält, als das Glück der Illusion. Noch grausamer wird
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559
der Schmerz bei dem "W^eibe, das ans wahrer, tiefer Liebe dem
Geliebten Alles geopfert, um nur als Schlingpflanze an ihm fort-
zuleben; wird eine solche abgerissen und fortgeworfen , dann steht
sie wahrhaft gefallen, d. h. haltlos in der Welt, ihre eigene Kraft
gebrochen, des Schatzes der Liebe beraubt, muss sie, eine geknickte
Blume, verdorren und vergehen, — oder frech sich in Gemeinheit
stürzen, um zu vergessen.
Wie viel ehelicher und häuslicher Frieden wird nicht durch
die sich einschleichende Liebe zerstört! Welch' colossale Opfer
an sonstigem individuellen Glück und Wohlsein fordert nicht der
unselige Geschlechtstrieb. Vaterfluch und Ausstossung aus der
Familie, selbst aus dem Lebenskreise, in dem man eingewurzelt ist,
nimmt Mann oder Mädchen auf sich, um sich nur dem Geliebten
zu vereinen. Die arme Näherin oder Dienstmagd, die ihr freuden-
loses Dasein im Schweisse ihres Angesichtes fristet, auch sie föllt
eines Abends dem unwiderstehlichen Geschlechtstriebe zum Opfer;
um seltener, kurzer Freuden willen wird sie Mutter und hat die
Wahl, entweder Kindesmord zu begehen, oder den grössten Theil ihres
für sie allein kaum ausreichenden Erwerbes auf die Erhaltung des
Kindes zu verwenden. So muss sie Jahre lang Sorge und Noth
mit dreifacher Härte ertragen, wenn sie sich nicht einem Laster-
leben in die Arme werfen will, das für die Jahre der Jugend ihr
einen müheloseren Erwerb sichert, um sie nachher einem um so
schrecklicheren Elende zu überliefern. Und das Alles um das
bischen Liebe!
Es ist Schade^ dasa es keine statistischen Tabellen darüber
giebt, wieviel Frocent aller Liebesverhältnisse in jedem Stande
zu einer Ehe führen. Man würde über die geringe Procent-
zahl erschrecken. Ganz abgesehen von alten Junggesellen und
Jungfern, wird man selbst unter den Hochzeitspaaren keine allzu
grosse Procentzahl von Lidividuen fbden, die nicht ein kleines,
wieder auseinander gegangenes Verhältniss hinter sich haben, viele
aber, die deren mehrere aufzuweisen hätten« Li der grössten Mehr-
zahl dieser Falle hatte also die Liebe ihr Ziel nicht erreicht, und
in denen sie es ohne Ehe erreicht hatte, hatte sie die Leute im
Ganzen wohl schwerlich glücklicher gemacht, als in denen, wo sie
es gar nicht erreicht hatte. Von den geschlossenen Ehen wiederum
ist nur der kleinste Theil aus Liebe, die anderen aus anderen
Bücksichten geschlossen; man kann sich daraus abnehmen^ ein wie
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560
geringer Theil aller Liebesverhältiiisse in den Hafen der Ehe an-
läuft. Von diesem geringen Theile aber erreichen wieder sehr
Wenige eine sogenannte glückliche Ehe ; denn die glücklichen Ehen
sind überhaupt viel seltener, als man, zufolge der YerBtellang
der Menschen zur Wahrung des Glücklichscheinens, meinen sollte,
factisch aber sind die glücklichen Ehen am allerwenigsten unter
den aus Liebe geschlossenen zu finden, so dass von dem geringen
Theile der in den Hafen der Ehe eingelaufenen Liebesyerh^tnisse
wiederum die Mehrzahl schlechter fortkommt, als wenn sie nicht
mit einer Ehe geschlossen hätten. Diese Wenigen endlich, welche
zur glücklichen Ehe führen, yermögen dies nicht durch die
Liebe selbst, sondern nur dadurch, dass die Charactere und
Personen zufallig so zusammenpassen, dass Conflicte vermieden
werden, und die Liebe durch Freundschaft abgelöst wird« Diese
seltenen Fälle, in welchen das Glück der Liebe sanft und unmerk-
lich in das der Freundschaft hiuübergeleitet und ihr jede bittere
Enttäuschung erspart wird, sind so selten, dass sie selbst durch
diejenigen schlechten Ehen, welche aus Liebe geschlossen sind, auf-
gewogen werden. Von allen nicht mit Ehe schliessenden Liebes-
yerhältnissen aber erreicht der grössere Theil sein Ziel gar nidit,
und der kleinere Theil, der es erreicht, macht die Leute, wenig-
stens den weiblichen Theil, noch unglücklicher, als wenn sie es
nicht erreicht hätten.
Wir können schon nach dieser allgemeinen Betrachtung nicht
zweifelhaft sein, dass die Liebe den betheiligten Individuen weit
mehr Bchmera, als Lost bereitet. Kaum irgendwo wird sich der
Trieb so sehr gegen dies Eesultat stemmen« wie hier, und vielleicfat
werden es wenig Andere zugeben^ als solche, bei denen der Trieb
durch das Alter seine Macht verloren hat.
Betrachten wir jedoch den Vorgang bei der befriedigten Liebe
im Einzelnen, um zu erkennen, dass selbst hier die Lust wesenU
lieh auf einer Dlusion beruht. Allerdings ist im Allgemeinen die
Grösse der Lust proportional der Stärke des befriedigten Willens,
vorausgesetzt, dass die Befriedigung in vollem Maasee in's Bewusst-
sein fällt, eine Voraussetzung, welche in voller Streng« am so
weniger zulässig ist, je unklarer der Wille und sein Inhalt aus der
Begion des Unbewusstseins in die des Bewusstseins hinübefragt
Lassen wir dies aber bei Seite und geben wir zu, dass ein,
•gleichviel wie entstandener, sehr starker Wille nach dem Bestec
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661
der Geliebten im Bewnssisein yorhanden sei; dann muss allerdings
die BeMedigung dieses Willens als starke Last empfunden werden,
und um so mehr, je deutlicher sich der Betreffende der Erfüllung
seines Wunsches als einer durch äussere Umstände ermöglichten
Thatsaohe bewusst wird, je grösser also der Contrast der Er^lung
mit einer vorhergehenden Anerkennung yon Schwierigkeiten und
Hindernissen ist.
Ein Kalif dagegen, der sich bewusst ist, dass er jedes Frauen-
zimmer, das ihm gefällt, sich nur anzuschaffen braucht, um sie zu
besitzen, wird sich der Befriedigung seines Willens fast gar nicht
bewusst werden, und sei er in einem besonderen Falle noch so
stark. Hieraus geht aber schon das hervor, dass die Lust der Be-
friedigung nur erkauft wird durch vorangehende Unlust über die
vermeintliche Unmöglichkeit, zum Besitze zu gelangen; denn
Schwierigkeiten, deren Besiegung man als gewiss voraussieht, sind
auch schon keine Schwierigkeiten mehr.
Nach unseren allgemeinen Vorbetrachtungen wird aber die voraus-
gehende Unlust über die Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit des Nicht-
reussirens grösser sein, als die correspondirende Lust bei der Erfüllung.
So gewiss nun aber der endliche Genuss bei der Erfüllung ein
realer ist, weil er in der Befriedigung eines wirklich vorhandenen
Willens beruht, so gewiss ist die Vorstellung, worauf der Genuss
beruht, eine Illusion. Das Bewusstsein nämlich findet in sich eine
h^tige Sehnsucht nach dem Besitze des geliebten Gegenstandes,
welche an Stärke und Leidenscbaftlichkeit jede ihm sonst bekannte
Willenserscheinung übertrifft. Da es aber zugleich das unbcwusste
Motiv dieses Willens (welches in der Beschaffenheit des Erzeugten
besteht) nicht ahnt, so supponirt es einen in Aussicht stehenden
überschwenglichen Genuss als Motiv jenes überschwenglichen Seh-
nens, und der Listinct unterstützt diese Täuschung, da der Mensch,
wenn er erst merken würde, dass es auf eine Prellerei seines
Egoismus zu Gunsten fremder Zwecke abgesehen ist, bald suchen
würde, den Listinct der leidenschaftlichen Liebe zu unterdrücken.
So kommt die Illusion zu Stande, mit welcher der Liebende zum
Begattungsacte schreitet, und welche als solche dadurch experimen-
tell bewiesen werden kann, dass die Befriedigung des Willens nach
dem Besitze der Geliebten ganz die nämliche bleibt, wenn es ge-
lingt, dem Liebenden unvermerkt eine falsche Person unterzu-
T. Hart mann, Phil. d. UnbewossUn. 36
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562
sehieben^ mit welcher sein Wille die Begattimg yerBchmiUien und
verabsohenen würde.
Nichtsdestoweniger ist die Lost an der BeMedigang des durch»
gesetsten Willens ganz real» — aber auf diese Lost war es ja
Ton dem Liebenden gar nicht abgesehen, sondern yielmehr auf
jene überschwengliche Seligkeit, durch welche er sich den hef*
tigen Willen nach dem Besitze erst motiyirt denkt!
Yon einer solchen Seligkeit oder Lost existirt aber niigends
etwas, da sich der Genuss rein aus der Befriedigung jenes erst zu
motivirenden heftigen Willens nach dem Besitze und aus dem ge-
meinen physischen Gk^chlechtsgenusse zusammensetzt. Sowie die
Heftigkeit des Triebes das Bewusstsein gewissermaassen oufathmea
und zu einiger Klarheit kommen lässt, wird es der Enttäuschung
seiner Erwartung inne. Jede Enttäuschung über einen erwarteten
Genuss ist aber eine Unlust, und zwar eine um so grössere ünlast,
je grösser der erwartete Genuss war^ und je sicherer er erwartet
wurde. Hier also, wo sich eine mit absoluter Sicherheit erwartete
überschwengliche Seligkeit als baare Täuschung erweist (denn die
beiden reellen Momente des Genusses waren ja ausser dieser Selig-
keit selbstverständlich miterwartet), muss die Unlust der Ent-
täuschung einen hohen Grad erreichen, einen so hohen Grad, daas
sie den real existirenden Genuss yöUig aufwiegt, wo nicht über-
wiegt. Freilich yerhindert der nicht mit einem Schlage vernich-
tete, sondern einige Zeit hindurch sich stetig, wenn auch mit all-
mählig abnehmender Stärke erneuernde Trieb, dass diese Ent-
täuschung sogleich und in vollem Maasse vom Bewusstsein anfge-
fasst werde; das von Neuem nach Befriedigung schmachtende
Sehnen verfälscht das Urtheil, es verhindert das Nachdenken über
die Beschaffenheit des vergangenen Genusses, indem es die Illusion
der widersprechenden Erfahrung zum Trotz für die Zukunft aufreckt
erhält
Aber nicht immer dauert diese Dupirung des bewusst^i Ur-
theiles durch den Trieb. Der erlangte Besitz wird bald gewolm-
heitsmässiges Eigenthum, die Yorstellung des Gontrastes mit den
Schwierigkeiten der Erlangung schwindet mehr und mehr, der
Wille nach dem Besitze wird latent, da keine Störung des Besitses
droht, und die Befriedigung dieses Willens wird immer weniger als
Lust empfunden. Jetzt bricht sich die Enttäuschung mehr und
mehr im Bewusstsein Bahn.
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Aber nieht bloss diese Enttäuschung kommt zum Bewnsstsein,
sondern noch viele andere. Der Liebende hatte gewähnt , in eine
neue Aera einzutreten ; duroh den Besitz gleichsam von der Erde
in den BEimmel versetzt zu werden, und er findet, dats er in seinem
neuen Zustande der Alte und die Plackereien des Tages dieselben
geblieben sind; er hatte gewähnt, an der Geliebten einen Engel
zu erwerben, und findet nun, wo der Trieb sein Urtheil nicht mehr
wie friUier entstellt, einen Menschen mit allen menschlichen Fehlem
und Schwächen; er hatte gewähnt, dass der Zustand der über-
schwenglichen Seligkeit ewig sein würde, und er fangt jetzt an zu
zweifeln, ob er sich nicht schon in der bei d^r Besitzergreifung
erwarteten Seligkeit sehr getäuscht habe. Kurz, er findet, dass
Alles beim Alten ist, dass er aber in seinen Erwartungen ein
grosser Narr war. Der einjsige reale Genuss in der ersten Zeit
nach der Besitzergreifung, die Befriedigung des durchgesetzten
Willens, ist geschwunden, aber die Enttäuschung über die als ewig
dauernd vorausgesetzte Seligkeit ist in allen Bichtungen eingetreten,
und unterhält eine bleibende Unlust, die erst sehr langsam durch
das gewohnheitsmässige Ergeben in den Schlendrian des Tages er-
lischt.
Wohl sehr selten sind bei Schliessung einer Ehe nicht wenig-
stens von einer Seite Opfer gebracht worden, und sei es selbst nur
an Freiheit ; diese Opfer treten jetzt als dem erwarteten Ziel nicht
entsprechende in's Bewusstsein und vermehren die Unlust der Ent-
täuschung. Wenn sonst nxur die Eitelkeit dazu bringt, Unlust und
Unglück zu verbergen und mit nicht vorhandenem Glücke und Lust
zu prahlen, so wirkt hier noch die Scham zu demselben Ziele, da
man ja die Ikittäuschung seiner eigenen Dummheit zuzuschreiben
hat ; die früheren Liebenden suchen die Unlust über die Enttäuschung
nicht nur der Welt und einander, sondern wo möglich auch jeder
sich selbst zu verhehlen, was wiederum dazu beiträgt, die Unbehag-
lichkeit des Zustandes zu erhöhen.
So muss also der reale Genuss bei der Vereinigung der Lieben-
dßu nicht nur im Voraus mit Furcht, Angst und Zweifel, ja oft;
zeitweiser Verzweiflung, sondern nachträglich noch einmal mit der
Unlust der Enttäuschung bezahlt werden, — jener Genuss, welcher
während der Zeit des Geniessens selbst nur durch die Heftigkeit
des das Urtheil aufhebenden oder doch verfälschenden Triebes da-
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vor bewahrt werden kann, in Beiner illnfiorischen BeschafiPenheit
durchschaut zu werden.
Nun haben wir bis jetzt den Zustand vor der Vereinigung der
Liebenden wenig beachtet, und doch ist es gerade hier, wo die
zartesten 9 beseligendsten Empfindungen ihre Stelle haben, wie
namentlich jenes Schwimmen im ersten Morgenroth des geöffiaeien
Himmels. Worauf beruht jene unzweifelhaft reale Lust? Auf der
Hoffnung, auf nichts als der Hoffnung, die ihren zukünftigen Gegen-
stand nur ahnt, und nur weiss, dass er eine überschwengliche Selig-
keit sein wird, auf einer Ho£Pnung, die sich ihrer selbst als Hoff-
nung kaum bewusst ist, aber sich in jedem Augenblicke über sich
selbst klarer wird. Die grössten Schwierigkeiten, die sich der
Vereinigung entgegensetzen, können diese Hoffnung und ihr Glück
nicht tödten, dass es aber wirklich nichts als Hoffnung ist, beweist
sich dadurch, dass die Liebenden verzweifeln und sich auch wohl
tödten, wenn die Unmöglichkeit einer Vereinigung ihnen fui immer
zur Gewissheit geworden ist. Ist nun dieses der Vereinigung vor-
ausgehende Liebesglüok nur Hoffnung auf das nach der Vereinigung
ihrer wartende Glück, so wird es illusorisch, wenn jenes als illu-
sorisch erkannt ist.
Dies ist der Grund, warum nur die erste Liebe wahre Liebe
sein kann; bei der zweiten und den folgenden findet der Trieb
schon zu grossen Widerstand an dem Bewusstsein, das bei der
ersten Liebe die illusorische Natur derselben mehr oder weniger
deutlich erkannt hat.
So sagt auch Göthe in „Wahrheit und Dichtung" bei Gelegen-
heit des Werther: „Nichts aber veranlasst mehr diesen Ueberdruss
(diesen Ekel vor dem Leben), als eine Wiederkehr der Liebe . . .
Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich hebt
und trägt, ist zerstört; sie erscheint vergänglich wie alles Wieder-
kehrende/'
Wer einmal das Hlusorische des Liebesglückes nach der Ver-
einigung und damit auch desjenigen vor der Vereinigung, wer den in
aller Liebe die Lust überwiegenden Schmerz verstanden hat, fai
den und in dem hat die Erscheinung der Liebe nichts Gesundes
mehr, weil sich sein Bewusstsein gegen die Octroyirung von Mitteln
zu Zwecken wehrt, die nicht seine Zwecke sind; die Lust der
Liebe ist ihm untergraben und zerfressen, nur ihr Schmerz bleibt ihm
unverkürzt bestehen. Aber wenn ein solcher sich auch nicht völlig des
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Triebes wird erwehren können , so wird dies doch das Bestreben
seiner Yemunft sein, und es wird ihm wenigstens das gelingen, im
bestimmten J'alle den Grad der Liebe, in welchen er als Unbe-
fangener gerathen wäre^ zn erniedrigen, und damit auch den Grad des
Schmerzes und das Maass des XJeberschusses von Schmerz gegen
Lust zu ermässigen, welchem er sonst verfallen wäre. Er wird sich
aber zugleich dessen bewusst sein, dass er sich wider seinen
bewussten "Willen in eine Leidenschaft verwickelt findet, die ihm
mehr Schmerz als Lust verursacht , und mit dieser Erkenntniss ist
vom Standpuncte des Individuums der Stab über die Liebe ge-
brochen. *
Die letzten Betrachtungen beziehen sich nur auf diejenige Liebe,
welcUe so glücklich ist, ihr Ziel zu erreichen; fassen wir aber noch
einmal Alles zusammen, so stellt sich die Eechnung für den Werth
der Liebe höchst ungünstig. Illusorische Lust und überwiegende
Unlust selbst im glücklichsten Falle, meistens Hemmung des Willens
ohne Erreichung des Zieles unter Gram und Verzweiflung, Ver-
nichtiing der Zukunft so vieler weiblichen Individuen durch Ver-
lust der weiblichen Ehre, ihres einzigen socialen Haltes, das sind
die Besultate, die wir gefunden haben.
Es könnte keinem Zweifel unterliegen, dass die Vernunft nur
gänzliche Enthaltung von der Liebe anrathen müsste, wenn nur
nicht die Qual des nicht zu vernichtenden Triebes, welcher nach
Erfüllung seiner Leere lechzt , ein noch grösseres Uebel wäre,
als ein maassvolles Befassen mit der Liebe. Man muss also dem
Spruche des ioiakreon vollständig Becht geben, welcher lautet:
XccAenov to firj q>ik^aaij Schlimm ist es, nicht zu lieben,
XaXenov de xae (piXijaat, Schlimm aber auch, zu lieben.
Wenn die Liebe einmal als Uebel anerkannt ist xmd doch als
das kleinere von zwei Uebeln gewählt werden muss, so lange der
Trieb besteht, so fordert die Vemimft mit Nothwendigkeit ein
drittes, nämlich Ausrottung des Triebes, d. h. Verschneidung,
wenn durch sie eine Ausrottung des Triebes erreicht wird. (Vgl.
Matth. 19, 11 — 12: „Das Wort fewset nicht Jedermann, sondern
denen es gegeben ist. Denn es sind etliche verschnitten, die sind
aus Mutterleibe also geboren; und sind etliche verschnitten, die
von Menschen verschnitten sind; und sind etliche verschnitten,
die sich selbst verschnitten haben; um des Himmel-
reiches willen. Wer es fassen mag, der fasse es!'')
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566
Yom Standptmcte der Eudämonologie des Indiyiduiims ist dies
meiner Ansicht nach das einzig mögliche Besultat Wenn etwas
Triftiges dagegen yorzubringen ist, so können es nur solche Er-
wägungen sein, welche vom Individuum ein Hinausgehen über den
Standpunct seines Egoismus verlangen. Das Besultat für die Liebe
ist also dasselbe, wie für den Hunger, dass sie an sich und für
das Individuum ein Uebel ist, und ihre Bereohtigosg nni
daraus herleiten kann, dass sie auf die in Oi^. B. IL nachgewiesene
Art zum Fortschritte der Entwickelung beiträgt.
4. Mitleid, FreinidSGliaft md FaniliengÜolL
Das Mitleid , auf welchem nach Aristoteles (aber nicht taxii
meiner Ansicht) hauptsächlich das Gefallen am Tragischen und
nach Schopenhauer alle Moralität beruhen soll, ist eine aus XJnlnft
und Lust gemischte Empfindung, wie Jeder weiss. Der Grund der
Unlust ist klar, es ist eben das Mit -Leiden mit sinnlich wahrnehm-
barem fremden Schmerz, welches so stark werden kann, dass es
keine Spur von Lust im Mitleide mehr aufkommen lässt, sondern
es ganz in herzzerreissenden Jammer verwandelt, dessen Granen
zum Hinwegwenden antreibt. Man denke sich den Anblick eines
Schlachtfeldes nach der Schlacht, oder einen Menschen, der in
totalen Ejrämpfen liegt.
Woher aber die gewöhnlich in massigem Mitleid sich findende
Lustempfindung stammt, ist schwerer zu begreifen. Von der dnieh
etwaige Hülfeleistung bedingten Befriedigung ist natürlich hier
nicht die Eede, denn diese liegt jenseits des Mitleides selbst Ke
Schadenfreude der Bosheit ist die einzige Lustempfindung, welche
der Anblick fremden Leides auf directe Weise zu erwecken im
Stande ist; diese aber weiss Jeder von der milden Lust des Mit*
leides sehr wohl zu unterscheiden.
Ich sehe keine andere Möglichkeit^ um die Lust im Mitleid
zu begreifen, und habe auch noch nirgends den leisesten Yersnch
einer anderen Erklärung gefunden, als die, dass der Oontrast des
fremden Leides mit dem eigenen Freisein von diesem Leide den
latenten Widerwillen gegen die Ertragnng solches Leides zugleich
erregt, befriedigt und die Befriedigung zum Bewnsstsein
bringt Dadurch wird freilich die Lust des Mitleides för eine rein
egoistische erklärt, "indessen sehe ich nicht, inwiefern dies der
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667
Würde oder den edlen Folgen des Mitleidet Eintrag thun soU.
Es stimmt damit völlig iiberein, dass für sehr feinföhlige^
BelbstrerläagAende Oemüther das Mitleid eine höchst nnan^mehme
Erregung ist, eine wahre Qual, der sie auf jede Weise aas dem
Wege zu gehen suchen , während der Mensch «ich mit um so
grösserem Behagen an seinem Mitleid weidet, je roher er ist^ und
dass femer das mit Ansehen eines sehr grossen Leides auch das
rohere GemüÜi soweit sich seUbst über dem fremden Wohle ver-
gessen iSflst, dass dieselbe Wirkung entsteht, wie in zartfühlende-
zen Se^n auch bei kleinerem Leide, dass eben das MiÜeid nur
noch ünlustempfindung ist Wenn der rohe Haufe sieh aa firemdem
Leide weidet, so darf man nicht vergessen, dass derselbe auch
Bestialität genug besitzt» um mit dem Mitleide mehr oder weniger
die Wollust der Grausamkeit zu vereinigen, welche sieh an der
fremden Qual als solcher ergötzt; man darf also die rohe Masse
nur mit Vorsicht zu der Entscheidung benutzen, ob in dem Mitleid
als iN>lchem die Lust oder Unlust überwiegt Meinem subjectiven
TJrtheil nach ist entschieden das letztere der Jall; wie aber aueh
4as TJrtheil Anderer sich zu dem meinigen stellen möge, so ist das
ausser Zweifel, dass die Gefühlsrohheit der Menschheit duroh-
sohnittlioh mehr und mehr abnimmt, und dass mit almehmender
Gefühlsrohheit die Unlust im Mitleid über die Lust mehr imd mdiir
die Oberhand gewinnt.
Nun stellt sich aber das Verhältniss noch ungünstiger für die
Luat. wenn wir die unmittelbaren Folgen des Mitleides in der Seele
mit in Anschlag bringen. Das Mitleid erweckt nämlich sofort die
Begierde, das fremde Leid zu stillen, und dies ist auch der Zweck
dieses Listinctes. Biese Begierde findet aber nur in sehr seltenen
Fällen eine partielle, noch seltener eine totale Befriedigung, sie
wird also weit häufiger Unlust als Lust erwecken.
Wenn also auch dem Listincte des Mitleides als Correotiv und
Limitiv des Egoismus und der aus ihm entspringenden Ungerechtig-
keit die Berechtigung des kleineren von zwei Uebeln nicht abge-
sprochen werden kann, so ist es doch an sich betrachtet immer-
hin ein Uebel, denn es bringt mehr Unlust als Lust.
Yergl. Spinoza Eth. Th. 4. Satz 50 : „Mitleiden ist bei einem
Menschen, der nach der Leitung der Vernunft lebt, an sich schlecht
und unnütz. Beweis: Denn Mitleid ist (nach J>et 18) Unlust,
also (nach S. 48) an sich schlecht Das Gute aber, das aus ihm
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568
folgt .... Buchen wir nach dem blossen Gebote der Yemonfb zu
thun;** u. s. w.
Von der Geselligkeit und Freundschaft lässt sich nicht
dasselbe beweisen, obwohl es vielfach behauptet worden ist, und
für eine gewisse Gemüthsart auch mit Becht. So sagt z. B. La
Bruy^re : „Tcmt notre mal vierU de ne pouvoir itre smls" (Man
vergleiche auch Schopenhauer, Parerga I. 444 — 458.)
Wohl aber wird sich das behaupten lassen, dass der Gesellig-
keitstrieb ein aus der Schwäche und Ohnmacht des Einzelnen ent-
springendes instinctives Bedürfniss ist, dessen Erfüllung den Menschen
wie Gesundheit und Freiheit erst auf den Banhorizont stellt, auf
welchem Geselligkeitsfundamente er nun erst im Stande ist, sich
gewisse positive Genüsse zu errichten, und dass nur ein geringer
Theil der wahren Freundschaft;, welche überdies so selten ist, einen
den NuUpunct der Empfindung positiv überragenden Werth reprä-
sentirt.
Wie es in der Natur Herdenthiere giebt, so ist der Mensch
ein geselliges Thier; ohnmächtig, schutzlos jeder Naturmacht und
jedem Feinde preisgegeben, weist ihn sein Instinct auf Gemein-
schaft; mit seinesgleichen an. Hier ist es wirklich der gefühlte
Mangel, der das Bedürfniss erzeugt, und die Lust dieser Ge-
selligkeit ist nur die Aufhebung der Unlust jenes Mangels oder
Bedürfnisses.
Ausser zur Abwehr der Noth und feindlicher Angriffe befähigt
die gesellige Gemeinschaft zweitens auch mehr als die Einsamkeit
zur Erzeugung positiver Leitungen, z. B. zur wirthschaftlichen Arbeit»
volkswirthschaftlichen oder künstlerischen Production, zur geschlecht-
lichen Liebe, zur Vermehrung der Bildung oder Kenntniss durch
Gedankenaustausch, zum Einsammeln von interessanten Neuigkeiten.
Zu alle diesem befähigt die gesellige Gemeinschaft, aber sie
bewirkt es nicht, sie ist eben nur der Bauhorizont, der sowohl
unbenutzt bleiben, als in der verschiedensten Art und Weise be-
nutzt werden kann. Sie ist also in diesem Puncto nur die Mög-
lichkeit der Lust, aber nicht die Lust selbst; diese fallt vielmehr
ganz in die auf diesem Bauhorizont zu errichtenden Gebäude, und
muss bei diesen, nicht bei der Geselligkeit betrachtet werden, ja
sogar die positive Lust, welche auf ihrem Grunde errichtet werden
kann, l&sst sich grossentheils in unveränderter oder wenig modifi-
oirter Weise auch in der Einsamkeit erlangen.
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669
Dass dagegen die Geselligkeit durch die Bücksiohten auf die
Anderen und den Zwang, welche sie dem Einzelnen auferlegt, gans
reale ünbeqnemlichkeiten macht , und zeitweise mit yerzweiflungs*
ToUer Unlust erfüllen kann, beweisen unsere „Gesellschaften^'.
Aus der geselligen Gemeinschaft entspringt ein grösseres gegen-
seitiges Interesse, d. h. ein gesteigertes MitgefühL Würde in jedem
Einzelnen die Summe der Lust die Summe der Unlust überwiegen,
so würde auch in Bezug auf jeden Einzelnen die Summe der Mit-
freude die Summe des Mitleides überwiegen können, wenn nicht die
Schwächung der Mitfreude durch den Neid, welche auch dem besten
Freunde gegenüber unvermeidlich ist, dies verhinderte. Da aber
im Leben des Einzelnen die Summe der Unlust die Summe der
Lust überwiegt, so muss das Mitgefühl für denselben ebenfallB in
überwiegender Unlust bestehen, und dies kann keinenfalls dadurch
ausgeglichen werden, dass man des Mitgefühls für seine eigenen
Leiden und Freuden im Freundesbusen gewiss ist Freilich strebt
man nach Trost, aber was kann es denn, wenn man es sich recht
überlegt, für einen Trost gewähren, dass man mit seinen eigenen
Unannehmlichkeiten und Plackereien auch noch dem Freunde die
Laune verdirbt?
Gleichwohl ist das einsame Ertragen des Kummers oder A er-
gers so peinigend, dass man sich relativ glücklich fühlt , ihn ein-
mal ausschütten zu können, wenn man auch dafür nun die Yer-
drieselichkeiten des Freundes vice versa über sich muss ausschütten
lassen. Auch hier kommt es darauf heraus, dass die Steigerung
des gegenseitigen Mitgefühles in der Freundschaft das kleinere
Uebel von zweien ist, von welchen das andere nur um der eigenen
Schwachheit willen als das grössere erscheint.
Wenn daher das so hoch gepriesene Glück der Freundschaft
einer richtigen Schätzung unterworfen wird, so beruht dasselbe
theils auf der menschlichen Schwachheit im Ertragen der Leiden,
wie denn auch sehr starke Charactere am wenigsten der Freund-
schaft bedürfen, theils aber auf Verfolgung eines gemeinsamen
Zieles, mit einem Worte auf Gleichheit der Interessen, woher auch
die seheinbar unzertrennlichsten Frexmdschaften sich lösen oder im
Sande verrinnen, wenn in dem einen Theile die leitenden Interessen
wechseln, so dass sie nunmehr mit denen des anderen auseinander
gehen. Die durch die gemeinschaftlich verfolgten Interessen er-
längte Lust kann aber auch nur auf Eechnung dieser Interessen,
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670
nicht anmittelbar «uf die der Freuadschaft gesetet werden. Die
festeste Gemeinsamkeit der Interessen besteht in der Ehe; die
Oemeinschaft der Güter, dee Erwerbes» des gesohlediÜichen Yo^
kehres und der Eindererziehung sind starke Bande. Dan
kommt noch die gewaltige Macht der Gewohnheit. Wie dei
Hund die erhabenste und rührendste Freundschaft und Treue
dem Herrn bewahrt, an welchen ihn nicht eigene Wahl, senden
Zufall und Gewohnheit geknüpft haben, so ist auch dsß VerhältniM
der Glitten wesentlidi ein Zusammenhängen aus Gewohnheit, wes-
halb auch die Cony^itions-Ehen und die aus Neigung nadi einer
Reihe yon Jahren im Durchschnitt dieselbe Physiognomie seigen.
Bühring, der in seinem ^^Werth des Lebens'' der liebe das
Wort redet und behauptet, dass sie in der Ehe nidit verschwände»
kommt S. 113 — 114 selbst zu folgendem Besultate: „Die Liebe
der Gatten möchte daher in Mächtigkeit ihrer Wirkungen yielleicht
nicht hintet der leidenschaftlichen Liebe zurückstehen. Die Em-
pfindung ist gleichsam nur gebunden, tritt aber mit ihrer ganzen
Ejiaft heryor, wenn es gilt, irgend einem friedlichen Schicksale zu be-
gegnen. Die Kräfte, welche einst ein lebendiges Spiel der Empfindung
unterhielten, halten nun in dem gereiften Verhältnisse einander die
Wage, um bei jeder Störung des Gleichgewichtes wieder für die
Empfindung merklich zu werden.'' Wenn die Empfindung gebun-
den ist, so existirt sie eben nicht für's Bewusstsein» und wmin sie
bloss bei einer Störung in's Bewusstsein tritt, so wird sie nur als
Unlust empfunden, spricht also in beiden Fällen nicht für dea
Werth des Lebens, worauf es hier doch bloss ankommt; die Grösse
der Wirkungen aber lässt sich aus der Freundschaft und Gewohn-
heit ebensowohl begreifen.
Bei alledem giebt es so viel ünfirieden und Yerdruss in den
meisten Ehen, dass, wenn man mit unbefangenem Blicke hineinsohaut
und sich nicht durch die eitle Yerstellung der Menschen täuschen lässt,
man unter Hunderten kaum Eine findet, die man beneiden mochte.
Es liegt dies eben an der ünklugheit der Maischen» die sich im
Kleinen ihren gegenseitigen Schwächen nicht zu accommodiren Srer-
stehen, an der Zufälligkeit , mit der die Gharaotere sich zur Ehe
zusammenfinden, an dem gegenseitigen Pochen auf Bechte, wo nur
die Nachsicht und Freundschaft die Yermittelung findet, an der
Bequemlichkeit, allen Unmuth, Yerdruss und üble Laune an der
näohststehenden Person auszulassen, die Einem stillhalten mxum, ao
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671
der g^enseitigeii Gereiztheit und Yerbittemng, die dnroh jeden
neuen Fall einer vermeintlichen Bechtsrerletzung gesteigert wird^
an dem leidigen Bewusstsein des Aneinandergekettetseins , dessen
Fehlen eine Menge yon Eüoksichtslosigkeiten und Disharmonien im
Entstehen durch Furcht vor den Folgen verhindern würde. So
kommt es sra jenem ehelichen Kreuz, welches so wenig als Aus-
nahme betrachtet werden dar^ dass Leasing meht Unrecht hat, wenn
er sagt:
„Ein einzig böses Weib giebt's höchstens in der Welt,
Nur schade, dass ein Jeder es für das seine bäU.^
Dies widerspricht durchaus nicht der niatsache, dass die Maoht
der Gewohnheit sofort ihr Becht behauptet und sich aufs Heftigste
widersetzt, wenn von Aussen eine Störung oder Trennung der Ehe
droht. In beiden FäÜen ist es immer nur die schmerzliche Seite
des Yerhältnisses , welche sich in's Bewusstsein drängt. Die Zer-
reissung der sohlechtesten Ehe, die den Betheiligten eine wahre
Hölle bereitete, macht dem üeberlebendMi immer noch so grossen
Schmerz, dass ich von einem erfahrenen Manne sagen hörte, wenn
einmal eine Ehe zerrissen werden solle, dann je früher, je besser;
je langer und enger die Gewohnheit, desto unverwindbarer werde
die Trennung. Man braucht aus diesem gewiss richtigen ürtheile
BOT die letzte Consequenz zu ziehen, so ist die Trennung am vor-
theilhaftesten vor der Verbindung.
Yerständige Leute, deren ürtheil nicht vom Triebe befangen
ist, sind sich auch gewöhnlich ganz klar darüber, dass vom ratio-
nellen Standpuncte des individuellen Wohlseins Nichtheirathen besser
als Heirathen ist. Wenn keine Liebe und keiue äusseren Zwecke
(Bang, Reichthum) zur Eheschliessung antreiben, so giebt es in der
That auch nur noch den Einen Grund, die Ehe als das vermeint-
lich kleinere von zwei Hebeln zu wählen, also für ein Mädchen,
um den Schrecken des Alljungfemthums , einen Mann, um den
Unbequemlichkeiten des Junggesellenlebens , für Beide, um den
Qualen des unbefriedigten Instinctes, beziehungsweise den Folgen
einer ausserehelichen Befriedigung, zu entgehen.
In der Kegel machen sie aber die Erfahrung, dass sie sich
über das grössere der beiden Uebel bitter getäuscht haben, und
nur Scham und rücksichtsvolles Zturtgefühl verbietet ihnen, dies
zu gestehen. Wie unbehaglich allerdings auch der unbefriedigte
Listinet, einen Hausstand und Familie zu gründen, für ältere Jung-
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672
gesellen und Jungfern werden kann, ist schon Capitel B. I. er-
wähnt. —
Sind nun die Leute verheirathet , so sehnen sie sich nach
Kindern^ — wieder ein Instinct, denn der Verstand kann sich kaom
danach sehnen. Der Instinct geht so weit, in Ermangelung eigener,
fremde Kinder anzunehmen und wie eigene zu erziehen.
Dass auch letzteres keine That aus TJeherlegung ist, sieht man
schon aus den Instincten der Affen, Katzen und vieler anderen
Säugethiere xmd Vögel, die ganz ebenso yerfiahren. Ausserdem wird
bei diesem Thun aber auch ein schon eristirendes Kind genommen,
uoid nur in eine bessere Lebenslage versetzt, als ihm sonst beschie-
den gewesen wäre. Anders aber, wenn es sich darum handelt, ein
noch erst zu schaffendes, meinetwegen in der Betorte auf chemi-
schem Wege zu fabricirendes Kind statt des fehlenden eigenen
anzunehmen.
„Man denke sich einmal *', sagt Schopenhauer (Parerga IL
S. 321 — 322), „dass der Zeugangsact weder ein Bedür^ss, noch
von Wollust begleitet, sondern eine Sache der reinen, vernünftigen
Ueberlegung wäre : könnte wohl dann das Kenschengeschlecht noch
bestehen? Würde nicht vielmehr Jeder so viel Mitleid mit der
kommenden Generation gehabt haben, dass er ihr die Last des
Daseins lieber erspart oder wenigstens es (die Verantwortlichkeit)
nicht hätte auf sich nehmen mögen, sie kaltblütig ihr auf-
zulegen ?"
Ausser dem unmittelbaren Listincte, Kinder aufziehen zu
wollen, hat der Wunsch nach Kindern bei solchen Leuten, deren
Leben in Mehrung der Wohlhabenheit oder des Beichthumes be-
steht, noch einen anderen Grund. Diese fangen nämlich in einem
gewissen Lebensalter an zu merken, dass sie selbst von dem Ueber-
schusse des Beichthumes doch keinen Genuss haben ; wenn sie aber
dem gemäss auf weiteren Erwerb verzichten wollten, so wäre ihre
Lebensader unterbunden und sie fielen der ödesten Leere des Da-
seins und der Langeweile anheim.
Um diesem Uebel zu entgehen, wünschen sie sich das kleinere
XJebel, Besitz von Kindern, um an dem auf diese ausgedehnten
Egoismus ein Motiv zum Fortsetzen der Erwerbsthätigkeit zu haben.
Vergleicht man aber in objectiver Weise die Freud-^n einer-
seits und den Kummer, Aerger, Verdrues und Sorgen andererseits,
welche Kinder den Eltern bringen, so dürfte das TJeberwiegen der
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Unlust wohl kaum zweifelhaft sein, wenn auch das vom Instinct
beeinflusste üriheil sich dagegen sträubt, besonders bei Frauen,
bei welchen der Instinct zum Einderaufziehen yiel stärker ist.
Man vergleiche vorerst die Summe der Freude, welche durch
die Geburt und die Summe des Schmerzes und Kummers, welche
durch den Tod eines Kindes in den Gemüihem sämmtlicher Be-
theiligten hervorgerufen wird. Erst nach Anrechnung des hierbei
sich ergebenden Schmerziiberschusses kann man an die Betrachtung
ihres Lebens selbst gehen. Dazu empfehle ich das Gapitel „Mütter-
wahnsinn'' aus Bogumil Goltz : „zur Characteristik und Naturgeschichte
der Frauen."
In der ersten Zeit überwiegt die Unbequemlichkeit und Sche-
rerei der Pflege, dann der Aerger mit den Nachbarn und die Sorge
um Krankheiten, dann die Sorge , die Töchter zu verheirathen und
der Kummer über die dummen Streiche imd Schulden der Söhne;
zu alledem kommt die Sorge der Aufbringung der nöthigen Mittel,
die bei armen Leuten in der ersten, bei gebildeten Classen in den
späteren Zeiten am grössten ist. Und bei aller Arbeit und Mühe,
allem Kummer und Sorge und der steten Angst, sie zu verlieren,
was ist das reelle Glück, das die Kinder dem bereiten, der sie hat?
Abgesehen von der gelegentlichen Befriedigung der Eitelkeit, durch
die heuchlerische Schmeichelei der gefälligen Frau Nachbarin, —
die Hoffnung, nichts als die Hoffnung auf die Zukunft.
Und wenn die Zeit kommt, diese Hoffnungen zu erfüllen, und
die Kinder nicht vorher gestorben und verdorben sind, verlassen
sie das elterliche Haus und gehen ihren eigenen Weg. Soweit also
jene Ho&ung egoistisch ist, trügt sie immer, soweit sie aber
bloss für das Kind, nicht auf das Kind hofft, wie da?
Von Allem kommen, wie wir sehen werden, die Menschen im
Alter zurück, nur von der Einen Illusion des einzigen ihnen ge-
bliebenen Instinctes nicht, dass sie auf dasselbe erbärmliche Dasein,
dessen Eitelkeit sie an sich selbst in jeder Beziehung erkannt
haben, für ihre Kinder ihre Hoffnungen bauen. Wenn sie alt ge-
nug werden, so dass sie auch ihre Kinder alte Leute werden
Bchen, kommen sie freilich auch davon zurück, doch dann fangen
aie bei den Enkeln und Urenkeln von vorne an-, — der Mensch
lernt nie aus.
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574
5. BfefkeK, BirgefliM, Ehrgeii, IMmielit onI ttorrsoksiiolit
Liebe, £bre und Erwerbstrieb sind im geistigen Gebiete wohl
die drei mäobtigsten Triebfedern. Hier befassen wir uns mit der
iweiten. Man kann die Ehre in eine objectiTe und subjective Ehre
trennen. Die objective Ehre eines Menschen ist allgemein aus-
gedrückt seine Werthschätzang durch Andere.
Man kann die objective Ehre eintheilen in:
A. Ehre des äusseren Werthes:
a. Ehre des Besitzes,
b. „ ff Standes,
c. „ „ Banges,
d. „ der Schönheit.
B. Ehre des inneren Werthes:
a. Ehre der Arbeit,
b. „ „ Intelligenz und Bildung,
c. moralische Ehre,
a) der Nächstenliebe,
ß) der Gerechtigkeit,
d. bürgerliche Ehre,
e. weibliche (Sexual-) Ehre.
Die negative Ehre besitzt Jeder von selbst, bis er sie verliert,
die positive Ehre muss man durch Umstände (Geburt, Handlungen,
Leistungen) erlangt haben. Erstere bezeichnet nur den Nullpunct
des Werthes, letztere übersteigt denselben positiv. Die Ehre des
Besitzes beruht auf Macht, die des Standes auf Macht und Leistun-
gen, verknöchert aber leicht in aus früheren Zeiten herübeixagen-
den Formen; die Ehre des Banges ist, insoweit sie über die Ehre
der mit dem Bange verknüpften Macht und Arbeit hinausgeht, eine
künstliche Schöpfung des Staates, um niedrigere Gehalter zahlen zu
können; die Ehre der Schönheit muss man nicht bei uns, sondern
bei Völkern suchen, die Sinn für Schönheit haben (alten Griechen);
die Ehre der Arbeit ist dem volkswirthschaftlichen Werthe der
Arbeit proportional; die der Litelligenz und Bildung ersetzt beson-
ders da die Ehre der Arbeit , wo die geistige Arbeit gar nicht als
Arbeit begriffen wird; die moralische Ehre ist positiv nur in der
werkthätigen Liebe, die der Gerechtigkeit ist bloss negativ, ebenso
wie die bürgerliche und sexuale Ehre, welche letztere nur beim
Weibe existirt.
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575
Die snbjeotiTe Ehre ist doppelter Natur ; die direote sub«
jeetiye Ehre eines Menschen ist seine Werthsebätzong seiner selbst,
die indirecte ist seine Werthschätzong der Werthschätzung seiner
dnrob Andere, oder seine Werthschätzung der objectiyen Ehre.
Entere beisst Selbstsch&tznng, Selbstachtung, Selbstgefühl^ Stolz;
wenn die Schätzung unter dem wahren Werthe ist: Bescbeidenheity
Bemnih; wenn sie über dem wahren Werthe ist: Selbstüber-
schätzung, Dünkel, Hochmuth; letztere dagegen heisst Eitelkeit;
wenn sieh auch die Menschen wehren mögen, bei edleren Bestre-
bungen dies Wort zuzulassen, — der Sache nach ist es dasselbe,
ob ein Mädchen auf den Buf ihrer Schönheit, oder ein Dichter auf
den Enf seiner Werke eitel ist. Beide Theile zusammen, also Stolz
und Eitelkeit, machen die subjectiye Ehre aus, die nun nach den
Gegenständen der Werthschätzung derselben Eintheilung unterliegt,
wie die objective Ehre« In Bezug auf den negi^tiven Theil heisst
sie Ehrgefühl, in Bezug auf den positiyen Ehrgeiz. Der directe und
indirecte Theil der subjecüven Ehre kann in sehr verschiedenem
Yerhaltnisse der Stärke zu einander stehen, in der Begiel aber wird
der letztere überwiegen, ja so sehr überwiegen, dass man häufig
der Anschauung begegnet, als bestände die subjectiye Ehre nur in
dieser Werthschätzung der Werthschätzung seiner durch Andere,
während dies doch die reine Eitelkeit ist, auf Anderer ürtheil
über seinen Werth etwas zu geben, während man selbst sich zu-
gleich allen Werth abspricht, also das fremde TJrÜieil für falsch hält.
Der Stolz, die eigene Hochschätzung, ist eine beneidenswerthe
Eigenschaft, gleichviel, ob die Schätzung wahr oder falsch ist, wenn
man sie nnr für richtig hält '
Freilich ist ein uners^ütterlicher Stolz selten, meist hat er
abwechselnde Kämpfe mit dem Zweifel oder gar der Verzweiflung
an sich zu bestehen, welche mehr Schmerz, als der Stolz selbst
Lust, yerursachen. Auch steigert der Stolz die Empfindlichkeit nach
Anssen und ist seinerseits gezwungen, die heuchlerische Maske der
Bescheidenheit yorzunehmen, weann er sich nicht Unannehmlich-
keiten bereiten wilL Dies zusammen möchte wohl die Lust des
hohen Selbstgefühles ziemlich wieder auflegen. — Was nun aber
gar jenes Ehrgefühl und Ehrgeiz betri£Pt, die zum grössten Theile
oder ausschliesslich auf Eitelkeit beruhen, so mögen dieselben ein
für nnser Stadium der Entwickelung noch so praotischer Instinot
sein, man wird doch nicht läugnen können, dass sie erstens eitel
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Bind, d. h. auf Illusionen beruhen, und dass sie zweitens dem, der
von ihnen besessen ist, tausendmal mehr Unlust als Lust bereiten.
Das weibliche sexuelle Ehrgefühl allein schützt die socialen
Verhältnisse yor yölliger Zerrüttung; das bürgerliche Ehrgefühl halt
den noch Unbescholtenen von Verbrechen oder Vergehen ab, tob
denen ihn weder die Furcht vor zeitlichen, noch vor ewigen Stra-
fen zurückschrecken könnte; der Ehrgeiz der Bildung spornt den
Knaben und Jüngling bei seiner mühevollen Erlernung des von
unserer Zeit geforderten Bildungsmateriales ; der Ehrgeiz der Arbeit,
welcher in Bezug auf seltene und bedeutende Leistungen und Tha-
ten Ruhmsucht heisst, hält den hungernden Künstler und Gelehrten
aufrecht, dessen Schaffensnerv gelähmt wäre^ wenn man ihm die
Unmöglichkeit beweisen könnte, jemals seinen Ehrgeiz oder Buhm-
sucht im Geringsten zu befriedigen. So verhindert das Ehrgefühl
grössere Uebel, und fördert der Ehrgeiz den Entwickelungsprooess
der Menschheit; aber abgesehen davon, dass die subjective Ehre
bei höherer Ausbildung und Macht der Vernunft sehr wohl ent-
behrt und ihre guten Wirkungen anderweitig hervorgebracht werden
können, so muss doch jedenfalls der Einzelne, dajs Werkzeug des
Triebes, unter demselben leiden.
Der Besitz der negativen Ehre kann keine Lust gewähr^i, aU
wenn sie aus scheinbarem Verlust (z. B. durch Verläumdung) wieder
hergestellt wird; an sich entspricht sie nur dem Nüllpuncte der
Empfindung, wie sie nur den NuUpunct des Werthes repräsentirL.
Sie ist also wie alle ihr ähnlichen Momente eine ergiebige Quelle des
Schmerzes, aber keine Cluelle der Lust, ausser durch das hier noch
ganz besonders selten vorkommende Bückgängigmachen der Unlust
Der Ehrgeiz aber ist allerdings ein positiver Trieb, und zwar
einer von denen, „nach denen man, wie nach Salzwasser, um so
durstiger wird, je mehr man trinkt."
Wohin man auch hört, so wird man die Klagen der Beamten
und Offiziere über Zurücksetzung und schlechtes Avancement, die
Klagen der Künstler und Gelehrten über Unterdrückung durch
Neid und Cabale, überall den Aerger über die unverdiente Bevor-
zugung Unwürdiger vernehmen. Auf hundert Kränkungen des Ehr-
geizes kommt kaum eine Befriedigung; erstere werden bitter em-
pfunden, letztere als längst verdienter Zoll der Gerechtigkeit hin-
genommen, womöglich mit dem Verdruss, dass sie nicht früher ge-
kommen. Die allgemeine Selbstüberschätzung läast jeden Einzelnen
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wo. hohe Ansprüche stellen, die allgemeine gegenseitige Missgonst
und Herabwürdigung des Verdienstes lässt selbst gerechten An-
sprüchen die Anerkennung versagen. Jede Befriedigung des Ehr-
geizes dient nur dazu, seine Ansprüche höher zu schrauben, und in
Folge dessen muss es ein den vorigen überbietender Triumph sein,
der eine neue Befriedigung erzeugen soll, während jede der vorigen
nicht gleichkommende Anerkennung wegen dieses Defioits Unlust
erweckt
Man denke z. B. an eine junge Bühnensängerin, sie steigt von
Stufe zu Stufe auf eine gewisse Höhe in der Gunst des Publicums;
die mit dieser Stufe der Gunst verbundenen Triumphe nimmt sie
als ihr Becht in Anspruch, das Leben in ihnen ist ihr wie die
Luft, die sie athmet, sie ist empört, wenn sie einmal ausbleiben»
Aber eine jüngere kommt endlich und drängt sie in die zweite
Reihe, wie sie es mit ihren Vorgängerinnen gemacht hat, und das
Herabsinken von ihrer Höhe ist ihr tausendmal schmerzlicher, als
das Ersteigen derselben ihr genussreich war, während sie das Ver-
weilen auf derselben kaum als Glück empfunden.
Wie in diesem Beispiele, so ist der Verlauf mit allem Ehr-
geiz und Huhm sucht; selbst wo die Leistungen oder Werke bleiben,
behaupten sie nicht immer das gleiche Interesse im Publicum
Nun kommt aber zu alledem noch hinzu ^ dass der Ehrgeiz
eitel ist , d. h. auf Illusion beruht. Selbst die Werthschätzung,
wie sie in der objectiven Ehre vorliegt, beruht schon zum Theil
auf Illusion; ich erinnere nur an die künstlich aufgeblähte Ehre
des Banges und des aus dem Mittelalter überkommenen, aber bei
uns in seiner Bedeutung bereits fast abgestorbenen Adels. Und
selbst wo der Werth, den die objective Ehre schätzt, kein illuso-
rischer ist, ist doch ihre Schätzung gar zu oft falsch. Das vox
popuU vox dei gilt nur in Fragen, die für die Entwickelung des
Volkes Lebensfragen sind, und wo in Folge dessen das ünbewusste
instinctiv das Urtheil der Masse leitet. In allen anderen Dingen
ist die vox popuU so blind, vom Scheine geblendet, von Claqueurs
verführt, dem Gemeinen ergeben und verständnisslos für das Gute,
Wahre und Schöne, dass man vielmehr immer darauf rechnen kann^
sie sei auf Irrwegen. (Vgl. Schopenhauer, Parerga IL Cap. XX.)
Man kann in allen solchen Sachen, die nicht Lebensfragen der Ent-
wickelung, oder gar von der Wissenschaft schon endgültig gelöst
sind, a priori darauf schwören, dass die Majoritäten Unrecht und
▼. Hartmann, Phil. d. Unbewussten. 37
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die Minoritäten Beoht haben ; ja sogar das Gemeinsamurtheilen ist so
sobwer, dass, wo eine Menge gescheater Leute siob yereinig^a, sie
zusammen gewiss bloss eine Dummheit zu Stande bringen.
Einem solchen Urtheile giebt derjenige sein Lebensglück in die
Hände y welcher den Ehrgeiz zu seinem Leitstern macht. Schon
im Kleinen würde sich gewiss Keiner mehr um die Urtheile der
Menschen kümmern , dem man alle Yerläumdungen und schlechten
Beurtheilungen auf einmal vorlegen könnte, die von seinen Freun-
den und Bekannten hinter seinem Rücken über ihn ausgesprochen
sind. Und nun gar der Ehrgeiz, welcher nach Orden, Würden und
Titeln hascht! Jedermann weiss, dass sie nicht dem Verdienst,
sondern dem Dienstalter, dem mit Vetterschaften und Fürsprechern
Versehenen, dem Kriecher und Schmeichler, oder auch als Lohn
für unsaubere Gefälligkeiten zu Theil werden, und doch — unglaub-
lich zu sagen — sind die Menschen danach lüstern !
Gesetzt nun aber, der Gegenstand der objeotiven Ehre hätte
einen Werth, und die Beurtheilung derjenigen, in deren Uitheil die
objective Ehre besteht, wäre richtig, so wäre der Ehrgeiz doch
eitel. Denn was kann es für den Menschen für einen Werth haben^
was Andere von ihm denken und urtheilen? Doch keinen. anderen«
als insofern die Art ihres Handelns gegen ihn durch ihr Urtheil
über ihn mitbestimmt wird ! Hierbei ist einem aber die Meinung als
solche ganz gleichgültig, und wird nur als Mittel betrachtet, um dadurch
ein bestimmtes Handeln der Menschen zu erzielen ; die» ist also kein
Ehrgeiz im gewöhnlichen Sinne, so wenig man den geldgeizig
nennen kann, der nach vielem Gelde strebt, aber Alles, was er
einnimmt, auch ausgiebt; erst dass man in die objective Ehre ala
solche einen Werth setzt, macht den Ehrgeiz und das Ehrgefühl
aus, und dass mit der objectiven Ehre dann theilweise auch die
Handlungsweise der Menschen gegen den Geehrten eine andere,
ihm vortheilhaftere wird, ist nur eine gern mitgenonunene acciden*
tielle Folge.
Meistens wird sich ja auch die Modiflcation des Handebs
darauf beschränken, dass das Benehmen ehrerbietiger wird»
also auf einen Ausdruck der Zuerkennung der objeotiven Ehre,
der dem Verständigen ebenso gleichgültig, als die Meinung der
Menschen selbst sein muss ; wahrer Nutzen fliesst aus der positiven
objectiven Ehre fast gar nicht, nur Schaden aus der vorletzten
negativen Ehre, so dass schliesslich alle reale Bedeutung der objec-
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tiyen Ehre darin besteht, dass man sich vor Schaden durch Yer-
letÄung der negativen Ehre zu hüten hat Jeder subjective Werth
einer objectiven Ehre als solchen beruht aber offenbar auf Ein-
bildung, denn der Schauplatz meiner Leiden und Freuden ist doch
mein Kopf und nicht der Kopf Ander er , also kann es meinem
Wohle und Wehe an und für sich doch nichts nehmen oder hin-
zufügen, was andere Leute über mich denken, mithin kann ihre Mei-
nung als solche für mich keinen effectiven Werth haben, folglich ist
der Ehrgeiz eitel. Das Ehrgefühl, das sich nach unserer Erklärung
auf die negative Ehre bezieht, ist zwar an und für sich ebenso
nichtig, aber es kann doch wenigstens mit Eecht für sich anführen,
dass, wenn man einmal unter Menschen lebt^ man doch wenigstens
so thun müsse, als läge einem etwas an der objectiven negativen
Ehre, weil sonst die Anderen über einen herfallen, wie die Krähen
über die Eule bei Tage.
Wenn ich hiermit Ehrgefühl und Ehrgeiz für eitel und illuso-
risch erkläre, so ist damit über den Werth der Gegenstände der
Ehre noch keineswegs ein ürtheil gefallt; ich habe sogar theilweise
vor denselben die grösste Hochachtung, z. B. vor der Sittlichkeit.
Wenn aber solche Gegenstände einen Werth haben, so haben sie
ihn nicht deshalb, weil sie Gegenstände der Ehre sind, wie wohl
gar die verkehrte Welt meint, sondern weil sie unmittelbar be-
glücken. Am deutlichsten ist dies beim Nachruhm; ein Spinoza
kann doch wahrlich davon nichts haben, dass der Studiosus N. sagt :
„das war ein gescheuter Kopf; sondern dass er im Stande war,
solche Gedanken zu fassen, davon hatte er etwas. Allerdings kann
das Beglückende für mein Bewusstsein auch darin liegen, dass ich
mir bewusst bin, zum Besten Anderer etwas zu thun oder zu
leisten, aber das ist doch immer die Mitfreude über ein reales
Glück, wohingegen die Anerkennung des Werthes meiner Thaten
oder Leistungen jen^i Anderen keineswegs Lust, sondern eher Un-
lust bereitet. Der Unterschied ist derselbe, wie wenn ich einem
Bettler eine Gabe reiche; £reue ich mich darüber, dass er durch
die Gabe seine Noth augenblicklich gelindert sieht, so hat meine
Freude einen realen Gegenstand; lauere ich aber auf sein „Schön
Dank" oder „Gott lohn' es", um mich darüber zu freuen, so bin ich
ein eitler, thöriohter Mann.
So hat sich auch der Trieb nach Ehre als ein wenn auch
nützlicher, doch auf Illusion beruhender Listinct herausgestellt, der
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weit mehr Unlust ala Lust verursacht. (Vgl. Schopenhauer Panerga
L, Aphorismen zur Lehensweisheit, Cap. I, 11 und besonders lY.)
Mit der Herrschsucht verhält es sich ganz analog. Soweit
dieselbe blosses Streben nach Freiheit ist» ist sie noch nicht posi-
tiver Trieb; so weit die Macht des Herrschens nur gesucht wird»
um sich mit ihrer Hülfe anderweitige Genüsse zu verschaffen, ist
sie blosses Mittel für fremde Zwecke und inuss nach dem Werthe
jener gemessen werden. Es giebt aber auch eine Leidenschaft de»
Befehlens und Herrschens als solche. Es ist klar, dass diese zu-
nächst nur auf Kosten der Verletzung desselben Triebes und
ausserdem des Freiheitstriebes in den Beherrschten möglich ist;
femer aber gilt von ihr dasselbe, wie vom Ehrgeiz und der Kuhm-
sucht: je mehr man von ihnen trinkt, desto durstiger wird man.
Die gewohnte Macht wird nicht mehr genossen, wohl aber jeder
Widerstand gegen dieselbe aufs schmerzlichste empfunden und
zu seiner Beseitigung die grössten anderweitigen Opfer gebracht
Im Ganzen genommen und mit Eücksicht auf die Folgen für An-
dere ist also die Herrschsucht eine noch viel verderblichere Lei-
denschaft, als der Ehrgeiz.
6. ReHgiöse Erbauung.
Schon im Cap. B. IX. haben wir erwähnt, dass die Erhebung
des religiösen Gefühles in der Andacht und Erbauung, welche
stets mehr oder weniger mystischer Natur ist, eine so hohe Be-
seligung zu gewähren im Stande ist, dass sie über alle Erdenlei-
den hinwegsetzt. Aber erstens sind diese hohen Grade der Erhe-
bung selten, denn sie können, da sie wesentlich mystischer Natur
sind, nicht durch Fleiss und Mühe erworben werden, sondern
setzen eine Anlage, ein Talent dazu voraus, so gut wie der Kimst-
genuss, und zweitens sind sie, wie jede Lust, nicht, ohne eigen-
thümliche Unlust mitzubringen. Man versteht dies am besten,
wenn man das Leben der Büsser und Heiligen darauf ansieht Die
höchsteu Grade religiöser Erhebung sind kaum denkbar ohne eine
lange fortgesetzte Abtödtung des „Fleisches'^ d. h. nicht nur der sinn-
lichen Begierden, sondern aller weltlichen Lüste überhaupt. Selten
wird diese Entsagung von dem Bewusstsein der illusorischen Be-
schaffenheit der irdischen Lust und des Ueberwiegens der aus dem
irdischen Verlangen gleichzeitig hervorgehenden Unlust getragen,
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denn dazn gehört schon Philosophie, sondern meistens wird die Yer-
zichtleistung auf irdisches Glück als ein wahres Opfer empfanden,
dnrch welches das höhere mystische religiöse Glück erkauft wer-
den soll, so dass der Betreffende das Bedauern über den Yerlust
des irdischen Glückes an sich eigentlich nie los wird. Aber wie
dem auch sei, die lange iinterdrückten natürlichen Triebe bäumen
sich von Zeit zu Zeit nur um so mächtiger auf, und die Heftigkeit
der Kämpfe, welche die Entsagenden in freilich immer selteneren,
aber immer gewaltigeren Bückfällen zu bestehen haben, giebt für
die Grösse der von ihnen um des Himmelreiches willen erlittenen
Qualen Zeugniss, bis endlich Gewohnheit und körperliche Schwächung
allmälig einen gleichmässigeren Zustand herstellt. — Yon den leib-
lichen Schmerzen und Entbehrungen der Askese selbst will ich
schweigen y da sie ein, wenn auch entschieden sehr wirksames,
doch nicht unentbehrliches Mittel zur Erlangung der religiös -my-
stischen Erhebung ist.
Kommen wir auf die niederen Stufen der Erbauung, welche
mit dem weltlichen Leben vereinigt werden, so tritt ein oben
nicht erwähntes Moment der Unlust besonders wichtig hervor: die
Furcht vor der eigenen IJnwürdigkeit, der Zweifel an der göttlichen
Gnade, die Angst vor dem zukünftigen Gericht, die Qualen über
die Last der begangenen Sünden , mögen letztere den Augen An-
derer auch noch so geringfügig erscheinen. Alles in Allem wird
sich Lust und Unlust auch bei dem religiösen Gefühl ziemlich
aufwiegen. Sollte aber wirklich ein Ueberschuss von Lust sich
ergeben, wovon ich die Möglichkeit auf diesem Gebiet eher als
auf allen anderen (mit Ausnahme von Kunst und Wissenschaft)
einräumen würde, so tritt die andere Erwägung ein, dass auch diese
Lust illusorisch ist. Wir haben diese Illusion schon Cap. B. IX.
au%edeckt; sie besteht in der Kürze darin, dass das Bestreben,
die Identität des All -Einigen Unbewnssten mit dem Bewusstseins-
Subjecty welche in Wirklichkeit existirt und als rationelle Wahr-
heit vom Verstände leicht begriffen werden kann, in der bewuss-
ten Empfindung unmittelbar zu erfassen und zu geniessen, seiner
Natur nach nothwendig resultatlos bleiben muss, weil das Bewusst-
sein unmöglich über seine eigenen Grenzen hinaus kann, also das
Unbewusste nicht als solches, also auch nicht die Einheit des Un-
bewnssten und des Bewusstseinsindividuums erfassen kann. Wenn
die Burchschauung und Befreiung von der Illusion in der fort
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schreitenden Entwickelung der Menschheit auf irgend einem Ge-
biete klar vor Augen liegt, so ist es im religiösen. Man kann
nicht sagen, dass die gegenwärtige Zeit des Unglaubens ebenso
yorübergehend sein wird, als etwa die der gebildeten alten Welt
um Christi Geburt; wenn auch religiösere Perioden als jetzt wie-
derkommen werden, so ist doch eine ähnliche Glaubensperiode, wie
das katholische Mittelalter war, durch die moderne universelle
Geistesbildung für immer unmöglich gemacht. Auch d€LS Mittel-
alter war nur möglich, weil die classische Geistesbildung unter
Trümmern begraben wurde, und dies haben wir wohl gegenwärtig
nicht mehr zu befürchten. Je mehr die Völker ihre rationellen
Anlagen cultiviren, je mehr sie auf eigenen Füssen, d. h. auf ihrem
Bewusstsein, stehen und gehen lernen, desto mehr yerlieren sich
ihre mystischen Anlagen; diese sind die Surrogat - Talente der
Jugend, die Eeife des bewussten Verstandes füllt das Mannesalter
der Völker aus. Man kann aus der allmälig fortschreitenden Zer-
störung der religiösen Illusionen nach Analogie darauf schliessen,
dass auch die Zerstörung der anderen Illusionen mit Sicherheit in
der Geschichte sich vollziehen wird, sobald dieselben als Trieb-
federn des Fortschrittes nicht weiter gebraucht werden, sei es nun,
dass sie von anderen mächtig gewordenen Triebfedern (Vernunft)
abgelöst werden, sei es, dass das Ziel in der Bichtung ihrer spe-
oiellen Wirksamkeit erreicht ist. Insoweit der religiöse G^uss in
der Hoffnung auf transcendente Seligkeit nach dem Tode besteht,
wird er erst weiter unten seine Erledigung finden.
7. UnsittHchkeit
Das unsittliche Handeln oder ünrechtthun geht aus dem
mit der Individuation als unausbleibliche Folge gesetzten Egois-
mus hervor, und besteht ursprünglich darin, dass ich, um mir
einen Genuss zu verschaffen oder einen Schmerz zu ersparen, kurz
zur Befriedigung meines individuellen Willens, einem oder mehre-
ren anderen Individuen einen grösseren Schmerz anthue. Alle
anderen Formen des Unrechtthuns sind erst* aus dieser ursprüng-
lichen abgeleitet. Es ist also klar, dass das Wesen des Unrechtes
oder Unsittlichen darin besteht, das ohnediess in der Welt bestehende
Verhältniss von Lust und Unlust zu Ungunsten der Lust zu verändern,
da eben der Schmerz des Unrechtleidenden grösser ist, ak die
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Lost (oder der ersparte Schmerz) des ünrechtthuenden. Hieraus
folgt, je grösser die Unsittlichkeit , desto grösser das Leiden der
Welt. (Den Begriff der Gerechtigkeit auf dieses Verhältpiss anzuwen-
den, ist, wie schon oben gezeigt, ganz unstatthaft.) Gesetzt also, das
YerhältnisB von Lust und Unlust wäre ein völlig gleichsch^^bendes
in der Welt (welcher Fall freilich» als einer unter unendlich vielen
möglichen Verhältnissen, a priori eine unendlich kleine Wahr-
scheinlichkeit hat), so würde die Existenz der Unsittliohkeit sofort
der Unlust das Uebergewicht zufuhren. In einer an sich schon
-elenden Welt aber wird sie das Maass des Elends zum Ueberlau-
fen bringen , um so mehr als den Menschen kein vom Schicksal,
auferlegtes Leid so bitter schmerzt , als das , welches seine Mit-
menschen ihm auferlegt haben. Auch in Bezug auf die Schlech-
tigkeit, Nichtswürdigkeit, Bosheit und Gemeinheit der Menschen
ergeht sich Schopenhauer in lebhaften Schilderungen, welche kaum
übertrieben genannt werden dürften, und deren Wiederholung ich
mich hier überhebe. Nur Eines will ich hier noch hinzufügen,
nämlich, dass der Unverstand der Menschen gar oft dieselbe Wir-
kung hervorbringt^ wie die Bosheit, indem er die Menschen der Um-
gebung oft auf das Bitterste quält, ohne auch nur einen Nutzen oder
OenuBs davon zu haben, wie doch die Bosheit offenbar hat.
Wenn aber das Unrechtthun das Leid der Welt vermehrt, so
ifft im Gegentheil das Rechtthun keineswegs im Stande, dasselbe
2U vermindern, denn es ist ja nichts Anderes als die Au^echter-
haltung des Status quo vor dem ersten Unrechti also kein positives
Hinausgehen über den Bauhorizont; Niemand , dem sein klares
IRecht geschieht, wird darüber eine Freude haben, es sei denn,
dass ihm die Furcht vor dem Unrecht benommen ist; derjenige
aber, der dem Anderen sein Recht widerfahren lässt, hat doch erst
recht keinen Grund zur Lust, denn er hat damit seinem indivi-
duellen Willen Abbruch gethan und doch nicht mehr als seihe
Schuldigkeit gethan. Eine wahre Freude kann erst die Ausübung
der positiven Sittlichkeit, der werkthätigen Nächstenliebe gewi&ren,
doch wird sie beim Ausübenden immer mit der Unlust des Opfers,
heim Empfänger mit der Unlust der Beschämimg über die empfan-
gene Wohlthat verbunden sein. Diese Erhöhung der Lust der
Welt durch thätige Nächstenliebe kommt gegen die Masse Unsitt-
lichkeit gar nicht in Betracht.
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8. Wissenschaftlicher und Kunst -Genuss.
Wie dem ermüdeten Wandereri wenn er nach langem Pilgern
in der Wüste endlich auf eine Oase trifft, so ist uns jetzt xa
Muthe, wo wir auf Kunst und Wissenschaft treffen, — endlich ein
freundlicher Sonnenbliok in der Nacht des Bingens und Leidens.
Wenn Schopenhauer den Gemüthszustand beim künstlerischen oder
wissenschaftlichen Empfangen oder Froduciren als blosse Schmerz-
losigkeit bestimmen konnte, so muss er wohl nie den Zustand der
Ekstase oder Verzückung kennen gelernt haben, in den man über
ein Kunstwerk oder eine neu sich aufthuende Sphäre der Wissen*
Schaft gerathen kann. Wenn er aber die Positivität eines solchen
Zustandes des höchsten Genusses eingesehen hätte, so hätte er nicht
mehr behaupten können, es dabei mit einem willensTreien und in-
teresselosen Zustand zu thun zu haben, sondern er hätte eingese-
hen, dasB es der Zustand höchster und vollkommener positiver Be-
friedigung sei^ — und Befriedigung wessen, wenn nicht eines
Willens? Freilich nicht des gemeinen practischen Interesses oder
Willens, sondern des Strebens nach Erkenntniss, respectlve nach
jener Harmonie, nach jener unbewussten Logik unter der Hülle
der sinnlichen Form, kurz nach jenem Etwas, worin die Schönheit
besteht, gleich viel nun, worin sie besteht. Jenes ekstatische Ent-
zücken (z. B. über eine Musik auf^hrnng, über ein Bild, eine
Dichtung, eine philosophische Abhandlung) ist freilich etwas sehr
Seltenes; schon die Fähigkeit dazu ist nur begnadigten Katuren
verliehen, und auch diese werden sich nicht allzuvieler aolohor
Momente in ihrem Leben zu rühmen haben. Es ist dies gleich-
sam eine Entschädigung, welche solchen sensiblen Wesen zu Theil
wird, für die Schmerzen des Lebens, welche sie viel stärker als
andere Menschen empfinden müssen, denen ihre Stumpfheit Vieles
erleichtert.
Ob letztere dabei nicht doch im Ganzen besser fahren, ist
kaum fraglich. Denn da die Unlust im Leben so sehr überwi^t,
so dürfte ein stumpferes Gefühl für dieselbe mit der Entbehrung
einer nicht einmal vermissten y wenn auch noch so hohen , doch
immer auf wenige Lebensmomente beschränkten Lust nicht zu
hoch bezahlt sein. Dies wird dadurch bestätigt, dass die Men-
schen durchschnittlich um so geringer über den Werth des Lebens
denken, je feinfühliger und geistig hochstehender sie sind. Was
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für den extremen Fall gilt, gilt aber auch ebenso gut för die
Mittelstufen, welche den Zwischenraum von der Fähigkeit für die
höchste Ekstase bis zur XJnempfindlichkeit gegen all' und jede
Kunst ausfällen. Baraus, dass Jemand gegen diese oder jene Kunst
gleichgültig ist, kann man freilich noch nicht auf die Stampfheit
seiner Empfindung überhaupt schliessen, wohl aber, wenn Jemand
gegen die Kunst überhaupt gleichgültig ist.
Kon frage man sich, wie yiel Procent der Erdenbewohner
überhaupt in einem nennenswerthen Grade für künstlerischen und
wissenschaftlichen Oenuss empfänglich sind, und man wird die
Bedeutung von Kunst und Wissenschaft für das Glück der Welt
im Allgemeinen schon nicht mehr zu hoch anschlagen. Man er-
wäge femer, wie wenig Procent von den Empfänglichen wiederum
im Stande sind, sich den Genuss des Selbstschafifens, der künstle-
rischen oder wissenschaftlichen Production, welcher doch erheblich
über dem des Empfangens steht, zu verschaffen.
Bei dem Ermessen der Empfänglichkeit des gemeinen Volkes
vergesse man aber auch nicht> die nicht auf der Kunst selbst be-
ruhenden Gründe des Interesses auszusondern, so z. B. die Neugier
oder die Lust am Entsetzlichen oder Graulichen beim Interesse für
Tolkssänger oder Volkserzählungen, die Lust am Tanzen beim In-
teresse für Volksmusik, die Eücksicht auf practischen Nutzen beim
Interesse für wissenschaftliche Mittheilungen u. s. w. Unter den
Gebildeten aber affectiren Viele ein Interesse und mithin eine Ge-
nussfähigkeit in Bezug auf Kunst und Wissenschaft, welche sie gar
nicht besitzen. Man denke nur, wie Viele durch die Aussichten
der Oarriere, die ihnen vielleicht ihrer Freiheit wegen besser ge-
fällt, sich verlocken lassen. Gelehrte oder Künstler zu werden, ohne
einen eigentlichen Beruf dazu zu haben. Wollte man die Unbe-
rufenen und Talentlosen alle ausmerzen, die Beihen der Gelehrten
und Künstler würden gewaltig zusammenschmelzen. Zur Gelehrten-
laufbahn verlocken mehr die Aussichten der künftigen Stellung und die
Erleichterungen beim Eintritt in die Oarriere (Stipendien u. s. w.), zur
Künstlerlaufbahn mehr die Ungebundenheit des Berufes, und die Be-
schaffenheit der Arbeit, welche mehr als heiteres Spiel erscheint, oft
aber auch die blosse Hoffnung auf Erwerb ; man denke an die un-
glücklichen Mädchen, welche sich zu Musiklehrerinnen ausbilden.
Femer bringe man in Abrechnung Alles, was nicht durch lautere
Liebe zur Kunst und Wissenschaft, sondern durch Ehrgeiz und
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Eitelkeit bewirkt wird. Man gebe einmal einem Künstler oder
Gelehrten die Gewissheit, dass nie Jemand seinen Namen zvl seinen
Werken erfährt, — obwohl hierdnrch der Ehrgeiz noch keineswegs
gon^ beseitigt ist, da ja doch der Name des Menschen etwas Zu-
fälliges und Gleichgültiges, zumal für die Zukunft, ist, — so wird
dennoch dem Betreffenden mehr als die Hälfte der Lust zu seinen
Leistungen benommen sein. Gäbe es aber ein Mittel, allen Künst-
lern und Gelehrten wirklich allen Ehrgeiz und Eitelkeit gleich-
zeitig zu benehmen, so würde gewiss die Production ziemlidi still-
stehen, wenn sie nicht noch um des Broderwerbs willen mechanisch
weiter gehen müsste.
Aber nun gar die Schaar der Dilettanten I Wie wenig
Sinn und Liebe für die Sache, wie erschreckend der Mangel
alles Verständnisses, wie so ganz abhängig von gemachter Mode
uud prunkendem Schein , — und doch dieser dilettantische An-
drang zu den Künsten und Wissenschaften! Das Räthsel löst sich
so: nicht um ihrer selbst willen werden die Künste gesucht, son-
dern als bunter Flittertand, um seine liebe Person damit auszu-
putzen. Die ebenso UDyerständigen Beurtheiler sind über den Putz
entzückt, wenn ihnen die Person gefallt und yerachten ihn, wenn
sie keinen sonstigen Grund haben, der Person zu schmeicheln; sie
verachten dann die dilettantische Leistung um so tiefer, je mehr
inneren Werth sie hat, weil sie gleichsam die freche Anmassung
einer Sache, sich um ihres eigenen Werthes willen darzulegen, mit
gebührender Entrüstung zurückweisen zu müssen glauben. Natür-
lich kommt es unter solchen Umständen nur auf schillernden
Schein nach möglichst vielen Kichtungcn an, um jeden Dummkopf
auf die ihm zugänglichste Weise zu blenden.
Dies das Princip der modernen Erziehung, besonders dar Mäd-
chen: ein Paar Salonpiecen für Ciavier, einige Lieder, ein wenig
Baumschlag-ZeichneD und Blumen - Malen , einige neuere Sprachen
plappern und die literarischen Sudeleien des Tages lesen , dann
sind sie vollkommen. Was ist das Anderes als systematisoher Un-
terricht in der Eitelkeit nach allen Bedeutungen des Wortes? Und
bei diesem Gaukelspiel sollte man an künstlerischen Genuss glau-
ben? An künstlerischen Ekel höchstens, der sich auch sofort
nach der Hochzeit o£Penbart, wenn die Eitelkeit nicht länger die
Bequemlichkeit überwindet. Mit den Knaben geht es nicht viel
besser, auch sie müssen um der Eitelkeit der Elt^n willen
dilettiren. Und dazu nun in der Musik als Universalmittel
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das unglüokliohe, eneyclopädische, seeleDlose Clavier! In der Wis-
Benschaft moss ebenfalls Ehrgeiz und Eitelkeit aushelfen. Nur die
ehrgeizigen Knaben sind im Stande gern zur Schule zu gehen; ohne
Ehrgeiz ist das Lernen bei unseren Hsuptgegenständen und unserer Art
des Schulunterrichtes ohne die höchste Verdrossenheit kaum denkbar.
Dazu kommt noch, dass in der Wissensohaft, ganz anders
als bei der Eunst^ der reoeptive Gennss vor dem productiyen fast
verschwindet, weil die heisse Sehnsucht nach derjenigen Erkennt-
niss fehlt, von deren sicherer und leichter Erlangung man im Vor-
aus überzeugt ist. Wer ist heute noch im Stande, an der Er-
kenntniss der Photographie oder elektrischen Telegraphie einen
nur annähernd so grossen Genuss zu haben, als die Erfinder, oder
selbst die, welche zur Zeit der Erfindung jeden neuen Fortschritt
mit Begierde erwarteten?
Bringen wir nun alle Empfänglichkeit und Genüsse in
Bezug auf Eimst und Wissenschaft in Abzug, welche auf blos-
sem Schein, auf Affeetation beruhen, sei es nun, dass sie
aus Ehrgeiz und Eitelkeit oder um des CFewinnes willen, oder
weil man aus anderweitigen Gründen einmal eine solche Carriere
eingeschlagen hat, afi'ectirt werden, so wird von dem scheinbar in
der Welt existirenden Kunst- und Wissenschaftsgenuss ein sehr
erheblicher, ich glaube , der bei weitem grössere Theil wegfallen.
Der übrig bleibende Theil aber existirt auch nicht, ohne durch
eine gewisse Unlust erkauft zu werden, wenn ich auch keineswegs
bestreiten will, dass die Lust des Geniessens überwiegt. Bei der
Lust des Producirens ist dies am deutlichsten; bekanntlich ist noch
kein Meister vom Himmel gefallen, und das Studium, welches er-
forderlich ist, ehe man zu einem lohnenden Produciren reif ist,
ist unbequem und mühsam und gewährt meistens wenig Freude, es sei
denn an überwundenen Schwierigkeiten und in Hoffnung auf die Zu-
kunft. In jeder Kunst muss die Technik überwunden werden, und in
der Wissenschaft muss man erst auf die Höhe der eingeschlagenen
Eicbtung gelangen, wenn nicht das Produoirte hinter schon Vor-
handenem zurückstehen soll. Was muss man nicht für langweilige
Bücher lesen, nur um sich gewissenhaft zu überzeugen, dass nichts
Brauchbares darin 8teht> und andere wieder, um aus einem Haufen
Sand ein Kömchen Gold herauszusuchen ? Wahrlich daa sind keine
kleinen Opfer! Ist man dann endlich mit den Vorbereitungen und
Vorstudien so weit gekommen, um zu produciren, so sind die eigent-
lich süssen Augenblicke doch nur die der Conception, ihnen folgen
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aber lange Zeiträume der mechanisch - technischen Ausarbeitang.
Und nicht immer ist man zum Produciren aufgelegt; wäre nicht
der dringende Wunsch da, das Werk in bestimmter, nicht zu lan-
ger Frist zu vollenden, stachelte nicht der Ehrgeiz oder die Ruhm-
sucht, trieben nicht äussere Verhältnisse zur Vollendung an, stände
nicht endlich das gähnende Gespenst der Langenweile hint^ der
Faulheit, so würde sehr häufig die von der Production zu erwat^
tende Lust die Bequemlichkeit nicht besiegen, ja trotz alledem mag
man oft genug an dem so theueren Werke zeitweilig nicht weiter
arbeiten.
Dem Musiker und wissenschaftlichen Lehrer wird ausserdem
sein Beruf durch die gezwungene handwerksmässig gleichförmige
Ausübung leicht verleidet. Der Dilettant ist mit seinem Broduciren
noch schlimmer daran; er ist mit seinem Oeschmacksuriheil und
Verständniss meist seiner Leistungsfähigkeit voraus, und darum
befriedigen ihn seine Leistungen nicht , er wäre denn sehr eitel
und eingebildet. — Belativ kleiner sind die den receptiven Genuas
begleitenden Ünlustempfindungen. Bei der Wissenschaft sind sie
indessen noch grösser als bei der Kunst; z. B. ein streng wissen-
schaftliches Buch zu lesen, ist an sich schon eine Arbeit, welcher
sich zu unterziehen immerhin einige üeberwindung kostet, eine
IJeberwinduDg , zu der es die meisten Leute bloss um des zu er-
wartenden Genusses willen niemals briogen würden.
Am mühelosesten ist der reoeptive Kunstgenuss, und ich dürfte
fast kleinlich erscheinen, wenn ich die damit verknüpften Unbequem-
lichkeiten aniuhre ; dennoch sind sie wichtig, da sie bei wachsender
Bequemlichkeitsliebe (z. B. im Alter) factisch die meisten bloss receptiv
geniessenden Menschen vom Kunstgenuss abzuhalten im Stande sind.
£s sind dies das Besuchen der Ghilerien, die Hitze und Engigkeit
der Theater und Ck)ncert8äle, die Gefahr sich zu erkälten, die Er-
müdung vom Sehen und Hören, die sich besonders darum so gel-
tend macht 9 weil man sich beim Galerienbesuch für seinen Chuig,
beim Concertbesuch für sein Entr^e bezahlt machen will, wahrend
man an der Hälfte vollständig genug hätte; vom Geniessen dilet-
tantischer Leistungen und der nachherigen Verpflichtung der Com-
plimente will ich lieber ganz schweigen, da meine Leser doch auch
Dilettanten sein könnten.
Das Resultat ist also das, dass von den wenigen Bewohnern
der Erde, welche zum wissenschaftlichen oder Kunstgenüsse berufen
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scheinen, noch weit weniger dazu berufen sind, nnd die meisten
den Beruf dazu aus Ehrgeiz, Eitelkeit, Erwerbstrieb oder anderen
Gründen affectiren, dass. diejenigen , welchen wirklich solche Ge-
nüsse zu Theil werden, sie noch mit allerlei kleineren oder grösse-
ren Opfern an Unlust bezahlen müssen, dass also in Summa der
TJeberschuss an Lust, welche durch Wissenschaft und Kunst als
solche in der Welt erzeugt werden, verschwindend klein ist gegen
die Summe des yorhandenen Elendes, und dass dieser Lustüber-
schuss noch dazu auf solche Individuen vertheilt ist, welche die
Unlust des Daseins stärker als andere, um so viel stärker als an-
dere fühlen, dass ihnen hierfür durch jene Lust bei weitem kein
Ersatz wird. Endlich kommt noch dazu, dass diese Art des Ge-
nusses mehr als jeder andere geistige Genuss auf die Gegenwart
beschränkt ist, während andere meist in der HoflPnung vorweg ge-
nossen werden. Dies hängt mit der weiter oben besprochenen
Eigenthümlichkeit zusammen 9 dass dieselbe Sinneswahmehmung,
welche die Befriedigung gewährt, auch den Willen, welcher be-
friedigt wird, erst hervorruft.
9. Schlaf und Traum.
LiBofem der Schlaf ein traumloser ist, ist er eine vollständige
IJnthätigkeit des Hirnes und Himbewusstseins , denn sobald das
Hirn nur irgend in Thätigkeit ist , fangt es an , mit Bildern zu
spielen. Ein solcher bewusstloser Zustand macht auch jede Lust
oder Unlustempfilndung unmöglich; tritt aber eine Nervenerregung
ein , welche Lust oder Unlust anregen muss , so unterbricht sie
auch den unthätigen Zustand des Hirnes. Der bewusstlose Schlaf
steht also in Bezug auf das eigentlich menschliche oder Him-Be-
wusstsein mit dem l^ullpunct der Empfindung gleich. Dies schliesst
nicht aus, dass nicht andere Nervencentra, wie Rückenmark und
Ganglien ihr Bewusstsein fortsetzen; dies ist sogar für den Fort-
gang der Athmung, Verdauung, Blutbewegang u. s. w. nöthig; aber
dieses ist doch bloss ein tief animalisches Bewusstsein, etwa auf
der Stufe eines niederen Fisches oder Wurmes stehend, welches
bei dem Ansatz des menschlichen Glückes nur eine sehr ge-
ringe positive Bedeutung haben kann. Aber auch in diesem ani-
malischen Bewusstsein der niederen Nervencentra wechseln Lust
und Unlust ab, eine Lust kann nur bei normalem lud ungestörtem
Fortgang der vegetativen Functionen stattfinden, falls jenes ani-
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malische BewnsBtsein genügt^ diese Lust zu percipiren; jede Stcnimg
aber wird sofort als Unlust empfanden, und die Unlust schafft sich
immer den Grad des Bewusstseins, der zu ihrer Perception nöthig ist«
Es liegt ein Irrthum nahe , welcher dazu verleiten kann , ein
deutlicheres Wohlbehagen im bewusstlosen Schlaf anzunehmen,
als in der That vorhanden sein kann; dies ist das behagliche Ge-
fühl, das man öfters beim Einschlafen und Aufwachen, d. h. bei
den XJebergangszuständen von Schlaf und Wachen verspürt. Hier
ist aber das Hirnbewusstsein noch wirklich vorhanden und jenes
Behagen offenbar eine Perception des Himbewusstseins ; man ver-
gisst also dabei, dass ja gerade diese Himperception des Behagena
im traumlosen Schlaf verschwindet. Von dem Behagen aber, wel-
ches meine niederen Kervencentra empfinden, kann ich mir keine
Vorstellung machen, weil ich ja eben nur mein Hirnbewusstsein
bin. Bei alledem ist der bewusstlose Schlaf der relativ glück-
lichste Zustand, weil er der einzige uns bekannte schmerzlose
im gesunden Leben des Gehirns ist. —
Was den Traum betrifft, so treten mit ihm alle Plackereien
des wahren Lebens auch in den Schlafzustand hinüber, nur das
Einzige nicht; was den Gebildeten einigermassen mit dem Leben
aussöhnen kann: wissenschaftlicher und KunStgenuss. Dazu kommt
noch, dass sich eine Freude im Traum nicht leicht anders als in
angenehmer, freudiger Stimmung ausdrücken wird, z. B. als Ge-
fühl der Körperlosigkeit, des Sohwebens, Eliegens u. dgl., während
sich Unlust nicht nur als Stimmung, sondern auch in allerlei be-
stimmten Unannehmlichkeiten, Aerger, Yerdruss, Zank
und Streit, unbegreiflicher Unmöglichkeit, das Gewollte zu errei-
chen , oder sonstigen Chicanen und Widerwärtigkeiten ausspricht.
Im Durchschnitt wird daher sich das Urtheil über den Werth des
Traumes nach dem über das wahre Leben richten, aber immerhin
noch ein ganz Theil schlechter ausfallen. —
Das Einschlafen ist, wenn man schnell einschlafen kann, eine
Lust, aber doch nur deshalb, weil die Müdigkeit das Wachen xu
einer Qual gemacht hatte und das Einschlafen mich von dieser
Qual befreit. Das Aufwachen soll für manche Leute auch eine
Lust sein ; ich habe das aber nie finden können, glaube auch, dass
diese Behauptung auf einer Verwechselung mit deijenigen Lust
beruht , welche darin besteht , bei noch vorhandener Müdigkeit
nicht aufstehen zu müssen, sondern mit halbem Bewusstsein fort-
schlummern zu können. Aber wie wenig Menschen sind in der
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Lage , diese Lust geniesen zu können ! Dass ein schnell in yöllige
Munterkeit übergehendes Erwachen irgend Jemandem eine Lust sein
solle, kann ich nicht glauben, halte es vielmehr für eine Unlust,
die darin ihren Grund findet , dass man die Bequemlichkeit der
Buhe und des Schlafes nun wieder mit den Plackereien des Tages
yertauiM)hen muss. Dass nach völliger Ermunterung und genügen-
der Dauer des Schlafes die Müdigkeit des vorigen Abends ver-
schwunden und der Status quo der Leistungs- und Genussfähigkeit
wieder hergestellt ist, kann doch unmöglich als positive Lust gel-
ten, da damit nur der Bauhorizont der Empfindung wieder erreicht
ist. Wohl aber ist es eine entschiedene UnluBt, wenn man nach
dem Aufistehen noch Müdigkeit verspürt, weil man nicht ausge-
schlafen hat. In dieser Lage, nicht genügende Schlafenszeit vor
Arbeit erübrigen zu können, befindet sich aber ein grosser Theil
der ärmeren Classe aller Völker. Selbst von westphälischen
Bauern habe ich gehört, dass die ganze Familie nach der Feldar-
beit des Tages noch mehrere Stunden in die Nacht hinein spinnen
muss, obwohl diese Arbeit die Stunde kaum mit drei Pfen-
nigen lohnt.
IOC Erwerbstrieb und Bequemlichkeit.
Unter Erwerbstrieb verstehe ich hier vorzugsweise das über
das Unentbehrliche des Besitzes, d. h. über Wohnung, Nahrung und
Kleidung für sich und die Familie hinausgehende Streben. Ich er-
spare mir den Hinweis auf die geringe Procentzahl der Bevölkerung
selbst in Culturstaaten , welcher eine Befriedigung dieses Triebes
möglich wird, da die moderne Statistik dieses Verhältniss in er-
schreckender Weise klar gelegt hat. Fragen wir uns aber,
was ein über das Nothwendige hinausgehender Besitz für Vor-
theile bieten kann, so ist es zunächst der, dass er uns durch
seinen Capital werth, noch besser aber durch die abgeworfene Capi-
talrente vor zukünftiger Noth schützt und die Furcht vor zukünf-
tiger Noth benimmt. Aber dieser Nutzen ist noch kein positiver,
er sichert eben nur vor zukünftiger Unlust und beseitigt gegen-
wärtige (die Furcht und Sorge). Zweitens verleiht der Besitz die
Macht zur Erreichung der positiven Genüsse; er erzeugt die Ehre
des Besitzes ; er gewährt Macht und Herrschaft über die, welche
von meinem Besitz Vortheile erwarten, er erkauft die Genüsse des
Gaumens und sogar die Freuden der Liebe, kurz der Besitz oder
sein Symbol, das Geld, ist der Zauberstab, welcher alle Genüsse
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des Lebens öfftiet. Nun wissen wir aber bereits, dass alle diese
Genüsse nicht nar auf Illusionen beruhen, sondern sogar das Stre-
ben nach ihnen in Summa immer mehr Unlust bereitet, als Lust,
dass also alles Streben nach ihnen aus doppeltem Grunde
thöricht ist. Ausgenommen davon sind nur die Genüsse des
Gaumens und der wissenschaftliche und Eunst-Genuss. Entere aber
haben wieder den Nachtheil, dass man ihre Entbehrung, wenn sie
durch Aenderung der Yerhältnisse entzogen werden, weit schmen-
licher fühlt, als man vorher ihren Besitz angenehm fand. Um sich wis-
senschaftliche und künstlerische Genüsse zu verschaffen, dafür hat das
Geld seine grosse Annehmlichkeit, indess gehört dazu nicht gerade
viel. Was aber die Erkaufung der Liebe betrifft, so denke man
dabei noch an folgende zwei Puncto, zuerst was Göthe sagt:
„Umsonst, dass du, ihr Herz zu lenken,
Der Liebsten Schooss mit Golde füllst, —
Der Liebe Freuden lass dir schenken,
"Wenn du sie wahr empfinden willst."
Und dann, was von erkauftem Besitz von Weibern noch weit mehr
als von freiwilliger Hingebung derselben gilt, dass das Weib da-
durch und durch die Folgen für ihr Leben viel mehr Unlust er-
fahrt, als der erkaufende Mann jemals Lust davon erlangen könnte.
Insoweit also der Besitz zum Hang zu den Weibern verführt, und
den Ehrgeiz und die Herrschsucht steigert, ist er dem Lebens-
glück geradezu schädlich. Noch verderblicher aber wird der Er-
werbstrieb , wenn er vergisst , dass der Besitz nur ein an sich
werthloses Mittel zu fremden Zwecken ist und, ihn als Selbstzweck
betrachtend, in Habsucht und Geiz umschlägt. Dann beruht er
nämlich ebenso wie Ehrgeiz und Liebe selbst nur auf einer Illu-
sion, und wird durch die Unersättlichkeit des Triebes, dessen
Durst durch keine Befriedigung gelöscht wird, dessen kleinste
Nichtbefriedigung aber Schmerz verursacht, zur wahren QuaL
Wäre dem Bisherigen nichts hinzuzufügen, so wäre die reelle
Bedeutung des Erwerbstriebes für das Lebensglück mit dem Schuta
vor zukünftiger Noth und mit dem Yerschaffen wissenschaftlicher
und Kunst-Genüsse, allenfalls noch der Genüsse des Gaumens er-
schöpft; dann würde man auch diesem Triebe mehr einen volks-
wirtbschaftlichen Werth als einem für die zukünftige Entwickelung der
Menschheit sorgenden Instinct, als eine directe Bedeutung für das
Wohl des Betheiligten zuschreiben müssen; aber wir haben seine
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ygichtigßpd B^eutniig in letzterer Beziehung oooh gar nicht erwähnt;
dies jst i?mnUoh das Bequem machen des Lebens. Das Her-
ten von Pienerscbafty £quipagep, bequemen Wohnungen in der fitadt
und auf dem Lande, yon Haushofmeistern und YermögensyerwalterD,
wozu weiter dient das Alles, als um sich das Leben bequem zu
machen? Denn der Werth des Luxus als solchen ist doch ganz
gewiss illusorisch.
Ist aber die Bequemlichkeit eine positive Lust, oder besteht
ihre Annehmlichkeit nicht yielmehr bloss in der Aufhebung der Un-
bequemlichkeit und Zuriickfiihrung derselben auf den Bauhorizont
der Empfindung? Active Bewegung, Thätigkeit» Anstrengung und
Arbeit ist unbequem, passive Bewegung und Ruhe . dagegen ist bo-
quem; aber wenn man auch begreifen kann, wie Anstrengung und
Bewegung vermittelst ^es durch den Kraftverbjcauch auf den ;KQr-
per hervoTgebrachten Angriffs Unlust erzeugen können, so ist doch
schlechterdings nicht einzusehen, wie die Buhe, das unveränderte
Verharren, eine positive Lust hervorbringen solle, sie kann eben
offenbar nur dem Nullpunct der Empfindung repräsentiren.
Wir kommen mithin bei dem, was den höchsten Neid erweckt,
dem Beiohthum, wunderlicher Weise zu demselben negativen Re-
sultate, wie bei der nackten Fristung des Daseins, womit wir an-
fingen. Dies ist gewiss bedeutsam und characteristisch für den
Werth des Lebens.
Festzuhalten ist, dass der Erwerbstrieb immer nur Mittel für
anderweitige Zwecke sein kann, und sein Werth nach dem Werthe
dieser bemessen werden muss, dass er aber keinenfalls einen Werth
an und für sich beanspruchen darf, und dass er, wenn er dies thut,
sofort in die Reihe der überwiegende Unlust erzeugenden illuso-
rischen Triebe tritt — Vgl. hierzu Luc. 12, 15: „Sehet zu und
hütet Euch vor der Habgier, denn auch im Ueberfiusse kommt
Keinem das Leben aus seinen äusseren Hnlfisquellen. '' Und
Math. 6, 19—21 u. 24—34.
IL Neid, Missgunst, Aerger, Schnerz und Trauer Ober Vergangeues, Reue,
Haas, Rachsucht, Zorn, Enpflndlichkeit
und andere Eigenschaften und Affecte, von denen auch der gewöhn-
liche Menschenverstand einsieht, dass sie mehr Unlust, als Lust
bringen (vgL S. 309), mag ich nicht erst näher berücksichtigen,
▼. HArtmann, Phil. d. Unbewntales. 38
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xomal da man hoffen darf, dass dieselben mit der Zeit mehr und
mehr von der Vernunft unterdrückt werden. Zur Beurtheilung des
gegenwärtigen Zustandes der Welt fallen sie aber noch schwer in die
Wage.
12. HoiriMBg.
„Und damit, was er auch trage,
Er verzweifle nicht am Hiil,
Führt ihn Schicksal bis zum Qrabe
An der Hoffnung Narrenseil !^
Wenn es dem Menschen noch so schlecht geht, — so lange
noch ein Fünkchen Lebenskraft in ihm gümmt, klammert er sich
an die Hoffnung auf zukünftiges Glück. Wäre die Hoffnung nicht
in der Welt, so wäre die Verzweiflung an der Tagi»sordnung und
wir würden dem Selbsterhaltungstriebe und dei* Todesfurcht zum
Trotze unzählige Selbstmorde zu registriren haben.
So ist die Hoffnung der noihwendige Hülfsinstinct des Selbstr
erhaltungstriebes, sie ist es, die uns armen Namn die Liebe zum
Leben, unserem Verstände zum Hohne, erst möglich macht
Die Hoffnung ist ein Characterzug. Es giebt Menschen,
welche stets schwarz, und andere, welche stets rosig in die Zukunft
sehen. Sie entspringt aus einer gewissen Eiasticität des Oeistesi
einer Fülle an Lebenskraft und Lebenstrieb, die durch die hand-
greiflichsten Erfahrungen nicht vermindert wird, und nach den
schwersten Schlägen des Schicksales das Haupt mit dem alten
Muthe erhebt. Keine Charactereigenschaft ist so sehr wie diese
von der allgemeinen körperlichen Constitution und den Einflössen
des Blutlebens auf das Nerven- und Gehimleben abhängig. Keine
Charactereigenschaft ist aber auch so wichtig in Bezug auf die
subjective Beeinflussung des Denkens bei Betrachtung der Frage
über Werth und ünwerth des Lebens. Da nun offenbar auch bei
dem grössten Unwerthe des Lebens die Hoffnung ein nützlicher
Listinct ist, (während andererseits, wenn das Leben wirklich einen
Werth hätte, nicht einzusehen wäre, wozu eine Schwarzseherei als
Charactereigenthümlichkeit dem Menschen nützen könnte), so hat
man sich auf das Aeusserste vor einer Bestechung und Verfälschung
seines Urtheiles durch ersteren Instinct zu hüten.
Ohne Zweifel ist die Hoffnung eine ganz reale Lust Aber
worauf hofft man denn? Doch wohl darauf, das Glück im Leboi
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tu erwiBohen und festzuhalten. Wenn aber das Glück im Leben
nicht zu finden ist, weil, so lange man auch lebt, immer die Unlust
die Lust überwiegt, so folgt doch wohl daraus, dass die Hoffnung
yerkehrt und nichtig, dass sie recht eigentlich die Illusion
xar i^o^ijv ist, dass sie recht eigentlich dazu da ist, um uns zu
dupiren, d. h. zum Narren zu haben, damit wir nur aushalten,
um unsere anderweitige, von uns noch nicht begriffene, Aufgabe zu
lösen. Wer aber einmal die Ueberzeugung gewonnen hat, dass das
Hoffen selbst so nichtig und illusorisch wie sein Gegenstand ist,
bei dem muss doch sehr bald der lostinct der Hoffnung durch
diese Erkenntniss des Verstandes abgeschwächt und niedergedrückt
werden; das Einzige, was ihm als Gegenstand der Ho£fnung noch
möglich bleibt, ist nicht das grösst- möglichste Glück, sondern das
kleinst -möglichste Unglück. Dies spricht schon Aristoteles (Eth.
Nicom. YIL 12) aus: 6 q^gdviiitoc: t6 akvjtov dtioyei, ov %6 r^dv.
Damit ist aber auch der Hofihung jede positive Bedeutung ab-
geschnitten.
Aber selbst wer niemals, oder nicht vollständig hinter die
illusorische Bedeutung der Hoffnung kommt, dürfte doch, wenig-
stens für seine Vergangenheit (denn für die Zukunft beirrt ihn ja
der Instinct), gezwungen sein, zuzugeben; dass neun Zehntel aller
Hoffnungen, ja weit mehr noch, zu Schanden werden, und dass in
den allermeisten Fällen die Bitterkeit der Enttäuschung grösser
war, als die Süssigkeit der Hoffnung. Die Eichtigkeit dieser Be-
hauptung wird durch die Kegel der ganz gemeinen Lebensklugheit
bestätigt, dass man an alle Dinge mit möglichst geringen Erwsr-
tnngen herangehen solle , da man dann erst das Gute, was an den
Dingen sei, zu gemessen vermöge, während einem sonst der un-
mittelbare Genuss der Gegenwart durch die getäuschte Erwartung
beeinträchtigt würde. Sonach ergiebt sich auch für den Listinct
der Hoffnung das Besultat, dass er sowohl illusorisch sei, als auch
innerhalb dieser Illusionen, in denen er sich bewegt, eher mehr
als weniger Unlust wie Lust bringe.
13. Resun^ des ersten Stadiuns der lllnsioD.
Gesetzt, es läge in der Natur des Willens, gleichsam in Brutto
ein gleiches Maass Lust wie Unlust zu produciren, so würde das
Hettoverhältniss von Lust und Unlust schon ganz im Allgemeinen
-38*
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durch fblgoftde vier Komente selir «u Omisteii der XJnlast modift-
ehrt werden:
ta) die Nervenermüdung yennehrt das Widerstreben geger die
TJnlnsty yevmindert das Bestreben , die Lust festzobalten, Tenacv^rt
also die Unlust an der Unlust, yermindert die I^ust an der Lust;
b) die Lust, welidie durch Aufhören oder Nadüassen eioer
Unlust entsteht, kann nicht entfernt diese Unlust aufwi^en;
c) die Unlust erzwingt sioh das Bewusstsein, welches sie em-
pfinden muss, die Lust aber nicht, sie muss gleichsam yom Be-
wusstsein entdeekt und erschlossen werden, und geht daher sehr
oft dem Bewusstsein yerloren, wo das Motiy zu ihrer Entdeckuag
fehlt;
d) die Befriedigung ist kurz und yerklingt schnell, die Unlo^
dauert, insoweit sie nicht durch Hoffnung limitirt wird, so lange
wie das Begehren ohne Befriedigung besteht (und wann besjtäode
ein solches nicht?).
Diese yier Momente bringen durch ihr Zusammenwirken {urao-
tisch annähernd dasselbe Eesultat heryor, als wenn die Lust, wie
Schopenhauer will, etwas Negatiyes, Unreelles, und die Unlust das
allein Positiye und Beeile wäre.
Betrachtet man die einzelnen Eichtungen des Lebens, die ver-
schiedenen Begehrungen, Triebe, Äffecte, Leidenschaften und Seden-
zustände, so hat man ihrer eudämonologischen Bedeutung nadi
folgende Gruppen zu xmterscheiden :
a) solche, die nur Unlust oder doch so gut wie gar keine
Lust bringen (ygl. Nr. 13);
b) solche, die nur den Kullpunct der Empfindung, od^ den
Bauhorizont des Lebens, die Priyation yon gewissen Gattungen der
Unlust vepräsentiren, als da sind, Gesundheit, Jugend, Freiheit, aus-
kömmliche Existenz, Bequemlichkeit und ssum grössten Theile aiuh
Gemeinschaft mit Seinesgleichen oder Geselligkeit;
c) solche, die nur aIs Mittel zu ausser ihnen liegenden Zwecken
eine reale Bedeutung haben, deren Werth also nur nach dem
Werthe jener Zwecke bemessen werden kann, die aber, als Selbst-
zweck betrachtet, illusorisch sind, z. B. Streben nach Besitz, Macht
und Ehre, theilweise auch Geselligkeit und Freundschaft;
d) solche, die zwar dem Handelnden eine gewisse Lost, dem
oder den leidend Betheiligten aber eine die Lust weit überwiegende
Unlust bringen, so dass der Totaleffect, und, bei yorausgesetstor
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Beoipfooität auch der Effect für jeden Einzelnen, Unlust ist» —
£. B. TJnrechtthan^ HerrBcbsncht, Jähzorn, Hass und Eaohsucht
(selbst insoweit sie sich in den (Frenzen des Eeohtes halten), ge-
sdileebtliche VerfUhrong und der Nahmngstrieb der Fleischfresser ;
e) solche, die dnrchsclmiUlich dem sie Empfindenden weit mehr
Unlnst als Lost yemrsachen, z. B. Hnnger, Geschlechtsliebe, Kinder-
liebe, Mitleid, Eitelkeit, Ehrgeiz, Buhmzucht, Herrschsucht, Ho&ong;
f) solche, die auf lUnsionen beruhen, welche im Fortschritt der
geistigen Entwickelung durchschaut werden müssen , worauf denn
zwar die durch sie entM^ende Unlust zwar ebensowohl als die
Last vermindert wird, letztere aber in viel schnellerem Maasse, so
dass kaum etwas von ihr übrig bleibt, z. B. liebe, Eitelkeit, Ehr-
geiz, Buhmsucht, religiöse Erbauung, Hoffnung;
g) solche, die mit vollem Bewusstsein als Uebel erkannt und
doch freiwillig übernommen werden, um anderen Uebeln zu ent-
gehen, die für noch grösser gehalten werden (gleichgültig, ob sie
ea sind oder nicht), z. B. Arbeit (statt Noth und Langeweile), Ehe-
siand, angenommene Kinder, und auch das sich Hingeben an solche
Triebe, von denen man erkannt hat, dass sie überwiegende Unlust
bringen, derep» unterdrückte Widenpenstigkeit man aber für noch
quälender hält;
h) solche, die überwiegende Lust bringen, wenn auch eine
durch mehr oder weniger Unlust erkaufte Lust, z. B. Kunst mid
Wissenschaft, welche aber yerhältnissmässig Wenigen zu Tfaeil wei^
den und bei noch Wenigeren auf eine wahre Liebe und Genuss-
fl&igkeit für sie stossen, welche Wenigen dann wieder gerade solche
Individuen sind, die die übrigen Leiden und Schmerzen des Lebens
um so stärker empfinden.
Bei alle diesem hat man sich fortwährend den Satz des Spinoza
vor Augen zu halten, ^dass wir niehts erstreben, wollen,
▼erlangen, noch begehren, weil wir es für gut halten,
sondern vielmehr, dass wir deshalb etwas für gnt
halten, weil wir es erstreben, wollen, verlangen und
begehren'' (Eth. Th. 3. S. 9. Anm.), und diese Wahrheit als Be-
richtigungsmittel seines gegen die Besultate der rationellen Be-
trachtung sich auflehnenden Gefühlsortheiles stets und überall in
Anwendung bring^i.
Fasst man dann die allgemeine und speoielle Betrachtung zur
sMnmen, so ergiebt sieh das unzweifelhafte Besultat, dass gegen-
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wärtig die Unlust nicht nnr in der Welt im Allgemeinen in hobem
Grade überwiegt, sondern auch in jedem einaselnen Indi-
viduum) selbst dem unter den denkbarst günstigsten
Yerhältnissen stehenden. £s geht daraus femer herror} da»
die minder empfindlichen und die mit einem stumpferen Nervensysteme
begabten Individuen besser daran sind, als die sensibleren Natureni
weil bei dem gleichzeitigen Minderwerthe der percipirten Lust und
Unlust auch die Differenz zu Gunsten der Unlust kleiner
ausfsLllt. Dies stimmt durchaus mit dem an Menschen empirisch
Constatirten überein, hat aber vermöge seiner allgemeinen Ableitung
auch allgemeine Gültigkeit, so dass es auf Thiere und PfUmien mh
auszudehnen^ ist.
£rfahrung8massig sind die Individuen der niederen und ärmeren
Classen und rohen Naturvölker glücklicher, als die der gebildeten
und wohlhabenden Classen und der Gulturvölker, wahrlich nicht
deshalb, weil sie ärmer sind und mehr Noth und Entbehrungen sa
tragen haben, sondern wei|| sie roher und stumpfer sind ; man denke
an „das Hemd des Glüok$chen'', in welcher Erzählung eine tiefe
Wahrheit liegt. So behaupte ich denn auch, dass die Thiere
glücklicher (d. K minder elend) als die Menschen sind, weil der
Ueberschuss von Unlust, welchen ein Thier zu tragen hat^ kleiner
ist als der, welchen ein Mensch zu tragen hat Man denke nnr,
wie behaglich ein Ochse oder ein Schwein dahin lebt, fast als hätte
es vom Aristoteles gelernt, die Sorglosigkeit und Kummerlosigkeit
zu suchen, statt (wie der Mensch) dem Glücke nachzujagen. Wie
viel schmerzvoller ist schon das Leben des feinfühligeren Pferdes
gegen das des stumpfen Schweines, oder gar des Fisches im Wasser,
dem ja sprichwörtlich wohl ist, weil sein Nervensystem auf so viel
tieferer Stufe steht.
So viel beneidenswerther , wie das Fischleben als das Fferde-
leben ist, mag das Austerleben als das Fischleben und das Pflan-
zenleben als das Austerleben sein, bis wir endlich beim Hinab-
steigen unter die Schwelle des Bewusstseins die Unlust ganz ver-
schwinden sehen. Andererseits erklärt sich jetzt schcm rein aas
der höheren Sensibilität, warum die Genies sich so viel unglück-
licher im Leben fühlen, als die gewöhnliche Menschheit, wozu aber
meist noch (wenigstens bei Denkergenies) die Durchschauung der
meisten Illusionen hinzukommt — Dies ist nämlich das Dritle^ was
wir aus der bisherigen Betrachtung gelernt haben , dass das Indi-
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▼iduum um so besser daran ist, je mehr es in der durch den instino-
tiyen Trieb geschaffenen Illusion befangen ist („selig sind, die arm
an Geist, vinox'U it^t 7rvii'f/iaiif sind") denn erstens wird sein Ur^
theil über das wahre Yerhältnis^s der vergangenen Lust und Unlust
gefälscht, und es fühlt in Folge dessen sein Elend nicht so sehr
und wird von diesem Gefühle des Elends nicht so bedrückt, und
zweitens bleibt ibm noch allen Eichtungen das Glück der Hoffioiung,
über deren Enttäuschung es sich möglichst schnell durch neue
Hoffnungen, sei es in derselben, sei es in einer anderen Bichtung,
hinwegsetzt. £s lebt also gleichsam von Dusel zu Dusel, und
tröstet sieh über alles gegenwärtige Elend mit der Illusion, die ihm
eine goldene Zukunft yerheis'st. (Man denke an das Eäthchen von
Heilbronn oder an den Mr. Micawber in David Copperfield.)
Dieses Glück des Illusionsdusels ist besonders der Character
der Jugend. Jeder Jünglinge jedes Mädchen sieht sich mehr oder
weniger als den Helden oder die Heldin eines Komanes an, und
tröstet sich über die gegenwärtigen Unglücksfalle oder Widerwärtig-
keiten wie bei der Roman lectüre mit der Aussicht auf den glän-
zenden Schluss ; bloss mit dem Unterschiede, dass er ausbleibt, und
dass sie vergessen, dass hinter dem scheinbar glänzenden Boman-
schlusse auch bloss die gemeine Misere des Tages lauert.
Yen der reichen Auswahl der Jugendhoffnungen wird aber bei
zanehmendim Alter und Erfahrung eine nach der anderen als illu-
sorisch erkannt, und der Mann steht schon verhältnissmässig viel
ärmer an Illusionen da als der Jüngling; ihm ist gewöhnlich nur
noch Ehrgeiz und Erwerbstrieb geblieben.
Auch diese beiden werden vom Greise als illusorisch erkannt,
wenn nicht der Ehrgeiz in kindische Eitelkeit, der Erwerbstrieb in
Geiz sich verknöchert^ und unter verständigen Greisen wird man
in der That nicht mehr viel Illusionen finden, die auf das Leben
des Individuums Bezug haben, ausgenommen natürlich die instinctive
Liebe zu ihren Kindern und Eltern.
Das Resultat des individuellen Lebens ist also,
dass man von Allem zurückkommt, dass man wie
Koheleth einsieht: „Alles ist ganz eiteTS d. h. illu-
aorisoh, nicbtig.
Im Leben der Menschheit wird dieses erste Stadium der Illu-
sion und das Zurückkommen von derselben d9rch die alte (jüdisohr
griechisch-römische) Welt repräsentirt. In den früheren asiatischen
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Bisichen sind die efp&i^ gesonderten Richtnngen der Lebens- m^
Weltsnschauimg noch zu unklar gemischt. Das Judenthum spricht
deil Glauben an die Erreichbarkeit der individuelle irdiachen
Glückseligkeit sowohl in seinefn Yeifiiäissungen, als auch in seiner
lülgemeinen optimistischen Weltänschanung ohne transcendeoten
Hintergnind) aufs UnTerhohlenste adsl Im Gtiechenthuni macht
dasselbe Strebeö sich auf edlere Weise im Kunst- und Wissen^
sdiaftsgenusse und in einer gleichsam ästhetischen Auffassung des
Lebens geltend; auch das' Hellenenthum geht in einem. Wenn aodi
verfeinerten individuellen irdischen Glückseligkeitsstrebeii auf, dt
diei TtoXiteia nur Erhaltung utid Schutz gewähren soll. Man
denke an den Ausspruch des todten Achill iü der Odyssee (XL
488-491):
„Nicht mehr rede vom Tod' ein Trostwort, edler Odysseos!
Liebei' ja wollt* ich das Feld als Tagelöhner bestellen,
Einem dürftigen Mann ohn' Erb* und eigenen Wohlstand,
Als die sämmtliche Schaär der geschwundenen Todten beherrschen.''
Die bekannte pessimistische Chorstelle in dem Meisterwerke
des greisen Sophocles kann nicht als Ausdruck der hellenischen
ijischauung im Allgemeinen gelten.
Die römische Eepublik bringt allerdings ein neues Moment
hinzu: das Glück seligkeitsstreben in und durch die Erhöhung des
Glanzes und der Macht des engsten Vaterlandes. Nachdem dieses
Streben nach Erreichung der Weltherrschaft sich für die Glück-
seligkeit als illusorisch erweist, wird auch vom Bömerthume die
in's Gemeine herabgezogene griechische Weltanschauung in Gestalt
des seichtesten Epikuräismus adoptirt, und die alte Welt überlebt
sich bis zum äussersten Ekel am Leben.
Zweites Stadium der HlusioA.
Das (Mek wird als eii den Individanm in einen traBSceilsitei
Leben \aeh den Tode erreichbares gedacht.
In di(S0en äuEsersten Lebensekel der alten Welt sohlKgt der
zündende Blitz der christlichen Idee. Der Süfter des (Fristen-
thums adop^rt vollständig die Verachtung und den Utsberdniss aa
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ii^ischen Leben, und führt sie bis za ihren letzten abstossendstexi
Ckmseqüenzen durch.
Nur denen, die das Elend des Daseins fühlen , d^ Sündern,
Verworfenen (Samaritern und Zöllnern), Unterdrückten (Sclaven utld
Fnmen), Antien, Krankeü und Leidenden, nicht aber denen, welche
im irdischen Leben sich wohl und behaglich fühlen, bringt er sein
Evangelium (Math. 11, 5; Luc. 6, 20 — 23; Math. 1^, 23 — 24;
Math. 11, 28). Er perhorrescirt alles Ifatürliche, nicht einmal
l^atuigesetze erkennt er an (Math. 17, 20), er spricht geringschätzig
über die Familienbande (Math. 10, 35 — 37; Math. 19, 29; Math.
II, 47 — 50), er verlangt geschichtliche Enthaltsamkeit (Math. 19,
11 — 12), er verachtet die Welt und ihre GHiter (Luc. 12, 15;
Math. 6, 25—34; 1. Job. 1, 15—16; Luc. 16, 15); erklärt es für
unmöglich, zugleich irdisches und himmlisches Glück zu erlangen
(Math. 6, 19 — 21 u. 24; Job. 12, 25; Math. 19, 23—24) und
fordert darum freiwillige Armuth (Math. 19, 21—22; Luc. 12, 33;
Math. 6, 25 u. 31 — 33). Nirgends und in keiner Beziehung
schreibt Christus Askese vor, wohl aber fireiwiUige Beschränkung
und möglichste Bedürfiiisslosigkeit, woraus erhellt^ dass er mit der
Menge der Bedüifnisse und Begehrungen die Unlust als wachsend
annimmt. Er hält seine Zeit für so verderbt (Math. 23, 27 ; Math.
16, 2-3), dass der Tag des Gerichtes nahe vor der Thür sein
liluss (Math. 24, 33 — 34), und die Quintessenz seiner «Lehre ist,
dieses Leben der Qual im irdischen Jammerthale als sein Ereüz
geduldig zu tragen (Math. 10, 38) und ihm nachzufolgen in wür-
diger Vorbereitung und froher Hoffnung auf die Glückseligkeit eines
künftigen ewigen Lebens (Math. 10, 38 , 39); „Dieses habe ich
Euch gesagt, damit Ihr in mir den Frieden habet. In der
Welt werdet ihr Drangsal leiden; aber seid getrost,
ich habe die Welt überwunden." (Job. 16, 33.)
Dies ist der Grundunterschied von Judenthum und Christen-
thum ; die Yerheissungen des ersteren gehen auf das Diesseits („dass
dir^B wohl gehe und du lange lebest auf Erden"), die des letzteren
auf das Jenseits, und dieses irdische Jammerthal hat nur noch als
Vorbereitung und Prüfung für das Jenseits (1. Petr. 1, 5—7) eine
Bedeutung, an sich aber gar keinen Werth mehr, im Gegentheil
besteht das irdische Leben in Drangsal (Job. 16, 33) und täglicher
Plage und Elend «Math 6, 34. Schlnss: „Jeder Tag hat an seinem
Elend genug"). Die Liebe macht diese Vorfälle erträglicher und
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ist zugleich der Probirstein der Würdigkeit (Rom. 13, 8 — 10;
Math. 22, 37—39), der Glaube und die HoffuuDg auf das Jenßcit«
lassen „die Welt überwinden*', oder „erlösen von der Welt", d. h.
von Uebel und Sünde.
Die Welterlösung durch Christus geschieht also dadurch« dass
alle Menschen ihm nachfolgen in Weltyerachtung und Liebe, in
Glaube und Hoffnung auf das Jenseits, nicht aber durch seinen Tod
mit der später hineingejüdelten Auffassung desselben als eines
reinigenden Sühnopfers, wovon Christus selbst gevnss nichts würde
haben wissen wollen.
Dies ist der historische und allein bedeutende Inhalt der von
Jesus vorgetragenen Lehre, wozu höchstens noch die Yerwerfung
alles äusserlichen Ritus und aller Priestervermittelung beim Gottes-
dienst hinzuzufügen ist. Auch die christliche Tugend folgt zu ihrem
negativen Theile aus der Verachtung des Fleisches, aus dem alle
Sünde stammt, zu ihrem positiven Theile aus dem höchsten Gebot
der Lieba
Alles die irdischen Verhältnisse selbst Betreffende ist ihm so
unwichtig und gleichgültig, dass er entweder mit lächelnder Ver-
achtung sich in das Bestehende fugt (Math. 22, 21 ; Math. 17, 24—27),
oder das Wünschenswerthe nur leicht andeutet, z. B. Selbstver-
waltung und Selbs^urisdiction (Math. 18, 15—17) der communisü-
sehen Gemeinde. Alle anderen Ideen, welche das Christenthum
bringt, waren schon in der alten Welt dagewesen, aber die Ver-
bindung von Weltverachtung und gläubigem Hoffen auf die ewige
transcendente Seligkeit war für die ausserindische Welt neu; sie
war die eigentlich welterlösende Idee, welche das ausgelebte Alter-
thum von seiner Verzweiflung des Weltüberdrusses rettete, indem
sie das Fleisch verdammte und den Geist auf den Thron erhob, die
natürliche Welt als das Reich des Teufels (Joh. 14, 30, u. 17, 9)
und nur die transcendente Welt des Geistes als das Reich Gottes
(1. Job. 4, 4, u. 5, 19) auffasste, welches letztere freilich nach
Christas selbst in den Herzen der Gläubigen schon diesseits seinen
Anfang nehmen könnte; wie Paulus (Rom. 8, 24) ganz richtig sagt:
„Wir sind wohl selig, doch in der Hoffnung".
Die, Weltverachtung in Verbindung mit einem transcendenten
Leben des Geistes war zwar schon in Indien in der esoterischen
Lehre des Buddhaismus dagewesen, war aber erstens der oeciden-
talischen Welt nicht bekannt geworden, vfar zweitens in Inditfi
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603
selbst nur der eingeweihten Prieaterkaste zugänglich, und war
drittens bald in exoterischem Wnst untergegangen, so dass ihre Idee
nur noch in den excentrischen flrscheinungen der Einsiedler und
Bösser 2ur Erscheinung kam; viertens fand sie bei ihrem Entstehen
nicht einen durch Verwesung so fruchtbaren Boden, fünftens fehlte
ihr die kosmopolitische Aussenseite, die Idee der allgemeinen
Henschenbrüderschaft in der Eindschaft Gottes (Math. 23, 8 — 9),
und sechstens endlich, was das Wichtigste ist , kennt sie wohl eine
ewige transcendente Seligkeit für die endgültig vom irdischen
Dasein Erlösten, aber keine individuelle Fortdauer; das Christen-
thum aber, welches eine Auferstehung (des Fleisches) und sonach
ein individuelles ewiges Leben im transcendenten Beiche Gottes
verheisst, wendet sich hierdurch viel directer an den menschlichen
Egoismus, und giebt mithin auch für die Dauer des Erdenlebens eine
viel beseligendere Hoffnung. Von dieser beseligenden Hofi&iung hat
die christliche Welt bis jetzt gelebt und lebt grossentheils noch davon.
Wir haben schon weiter oben unter religiöser Erbauung ge-
sehen, dass die aus der religiösen Hoffnung und £rbauung ent-
springende Lust auch nicht ohne Unlust ist, die sich theils aus der
Auflehnung der instinctiven Triebe gegen ihre widernatürliche
Unterdrückung ergiebt, theils in den Zweifeln über die eigene
Würdigkeit und über das Eintreten der göttlichen Gnade und in
der Furcht vor dem jüngsten Gericht besteht. Es kommt dazu die
als unerlässlich geforderte Reue und Zerknirschung über die eige-^
nen Sünden und Sündigkeit, selbst dann, wenn man sich eigentlich
keines Unrechtes bewusst ist. Ob die religiöse Unlust oder Lust
überwiegt, wird wesentlich vom Character abhängen, häufig aber
wird wohl bei dem Gläubigen die Hoffnung überwiegen. Nur schade,
dass auch diese Hoffnung, wie alle anderen, auf einer Illusion be-
ruht. Ich enthalte mich hier jeder Kritik der Lehre von der indi-
viduellen Fortdauer der Seele und verweise einfach auf Gap. G. 11.
u. VII., nach welchen die Individualität sowohl des oi^anischen
Leibes, als des Bewusstseins nur ein Schein ist, der mit dem
Tode verschwindet und nur das Wesen, das All-Einige Unbewusste,
übrig lässt, welches diesen Schein hervorbrachte, theils durch seine
Individuation zu Atomen, theils durch directe Einwirkung auf die
zum Körper combinirte Atomengruppe.
Ich bemerke, dass die Weltanschauung Jesu viel zu naiv und
kindlich war, um die Trennung von Leib und Seele und die isolirte
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604
Fortdauer der letzteren för möglich za halten, daher auch die
Aufnahme „der Auferstehung des Fleisches" in den dritten Artikel
des Glaubensbekenntnisses ganz im Sinne Christi ist. Johannes uad
Paulus haben freilich Stellen, welche auf die Beschaffenheit des
ewigen Lebens philosophische Streiflichter werfen, die wenig mit
den Yerheissungen Christi im. Einklänge stehen, aber es wurde
denselben auch weiter keine Folge gegeben. Off. Joh. 10, 5—6:
„Und der Engel .... schwur bei dem Lebendigen von Ewigkeit
zu Ewigkeit .... dass hinfort keine Zeit mehr sein soll''
1. Cor. 13^ 8: „Die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissa-
gungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden and
die Erkenntniss aufhören wird".
Letztere Stelle meldet uns das Aufhören alles Bewusst.
seins, erstere das Aufhören aller Veränderung in jenem Zu-
stande; beides hebt die Individualität, oder doch zum mindesten
ihre Bedeutung auf. Dass in den gesammten grossen Systemen der
neuesten Philosophie (abgesehen von Kant's Inconsequenz und
Schelling's späteren Abfall) von einer individuellen Fortdauer keine
Rede sein kann, darüber kann man sich nicht anders als absichtlich
einer Täuschung hingeben; ich will aber hier wenigstens flüchtig
noch die Ansichten einiger Aelteren und Neueren berühren.
In Plato's Timaeus (ed. Steph. III. p. 69) heisst es : „und von
den göttlichen (Wesen) wird er selbst Hervorbringer, das Werden
der Sterblichen aber trug er seinen Erzeugten auf, welche sodann
nachahmend, ak sie die unsterbliche Grundlage der Seele empfan-
gen hatten, sie mit einem sterblichen Körper rings xunsohlossen,
und als Fahrzeug den ganzen Leib ihr gaben, und in ihm eine
andere Art von Seele, die sterbliche, daran bauten, welche
gefahrliche und nothwendige Eindrücke in sich aufnimmt, zuerst
Lust, die grösste Lockspeise des Schlechten, dann Schmerzen, des
Quten Verscheucher, dann auch Zuversicht und Furcht, zwei thö-
richte Eathgeber, dann schwer zu besänftigenden Zorn, dann leicht
zu verführende Hoffiiung, dann mit vemunftloser sinnlicher Wahr-
nehmung und mit Alles versuchender Liebe dieses vermischend, wie
nothwendig war, die sterbliche Gattung zusammensetzten/'
Hieraus in Verbindung mit Flato's Erkenntnisslehre geht her-
vor, dass er die unsterbliche Seele ausschliesslich in das Wahrheit»-
gemässe Erkennen, d. h. das Schauen der Platonischen Ideen, setzte,
welches seiner Natur nach gar keine individuellen ünterBchiede
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606
mehr zuJUtfst, wenn auch diese Consequenz dem Plato niemals klar
geworden sein mag.
Aristoteles steht auf demselben Standpuncte, De an. I. 4, 408,
a, 24 C» spricht er dem vovg noirjtixog, wie er den unsterb-
lichen Theil der Seele nennt , nicht nur Liebe und Hass, sondern
auch Gedächtniss und discursives Denken {dnxvoeiad'aL) ab; ander-
weitig weiss man,.dass der vovg Tioirjrixog (oder thätige Verstand)
das Ewige y Allgemeine, ünyeränderliche un,d keinen äusseren Ein-
drücken Zugängliche im Menschen ist; dabei ist doch schlechter-
dings nicht einzusehen, wie er individuell sein soll.
Spinoza, der doch gewiss von ganz anderen Voraussetzungen
ausgeht, kommt zu demselben Besultate: y^Der menschliche Geist
kann mit dem Körper nicht absolut vernichtet werden, sondern es
bleibt etwas von ihm übrig, w^ ewig ist" (Eth. Th. 5. Satz 23).
Es ist dies die in Gott nothwendig existirende Idee, welche dßs
Wesen des betreffenden menschlichen Körpers unter der Form der
Ewigkeit auffasst (Ebd., Bew.)> d. h. mit intuitivem Wissen, wel-
ches höher steht ^ als die Erkenntniss der adäquaten Ideen der
Eigenschaften der Dinge und ganz mit unserem intuitiven Wissen
des TJnbewussten identisch ist. (Vgl. Th. 2. Satz 40, Anm. 2.)
Die Ewigkeit ist nichts Anderes, als das Wesen Gottes, inso-
fern es ein nothwendiges Dasein in sich schliesst (nach Th. 1.
Def. 8), also kann das ewige Dasein des menschlichen Geistes nicht
durch die Zeit defioirt oder durch Dauer erklärt werden (Th. ß,
S. 23. Bew.). — ^Der Geist ist nur, so lange der Körper dauert,
den SeelenbeweguDgen unterworfen, die zu den leidenden Zuständen
gehören'' (Th. 5. S. 34). „Hieraus folgt, dass keine Liebe ausser
der intellectuellen Liebe" (mit der Gott sich selber liebt) „ewig
ist' (Ebd., Folgesatz). Gedächtniss und sinnliche Vorstellung blei-
ben ebenso wenig nach dem Tode übrig (Ebd., Anm., S. 38 Anm.
und S. 40 Folgesatz). ,Sobald der Ungebildete zu leiden aufhört,
hört er auch auf zu sein" (S. 42 Anm.).
Am Leibniz ist wenigstens das zu beachten, dass er dasjenige,
was die individuelle BeschränkuDg der Monade setzt, in nichts
Anderem als dem Körper zu denken vermag, und deshalb die Un-
sterblichkeit der Seele nur bei gleichzeitiger Unsterblichkeit eines
ihr eigenthümlichen und unveräusserlichen Leibes zu behaupten
wagt. Bei dem jetzigen Standpuncte der Naturwissenschaft kritisirt
dch letztere Annahme von selbst.
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606
Ganz wie Spinoza äussert sich Bohelling (L 6, 60 — 61): „Das
Ewige der Seelö ist nicht ewig wegen der Anfang- oder wegen
der Endlosigkeit seiner Dauer, sondern es hat überhaupt kein Yer-
hältniss zur Zeit. Es kann daher auch nicht unsterblich
heissen in dem Sinne, in, welchem dieser Begriff den einer in-
dividuellen Fortdauer in sich schliesst . ... Es ist daher em
Misskennen des ächten Geistes der Philosophie, die Unsterblichkeit
über die Ewigkeit der Seele und ihr Sein in der Idee zu setzen,
und, wie uns scheint, klarer Missverstand, die Seele im Tode
die Sinnlichkeit abstreifen und gleichwohl individuell fortdauern zu
lassen.'^ — Fichte und Hegel schliessen sich ganz dieser Auffassung
an und Schopenhauer geht noch weiter, indem ihm nur der Wille,
nicht einmal das Wissen ewig ist.
Wir brauchen nach diesen Anführungen keinen Anstand zu
nehmen, die Hoffnung, auf eine individuelle Fortdauer der Seele
ebenfalls für eine Illusion zu erklären. Damit ist der Hauptnerr
der christlichen Yerheissungen durchschnitten, denn dem Menschen
ist im Grunde doch nur an seinem lieben Ich gelegen; „was hilft
mir die grösste zukünftige Seligkeit, wenn ich sie nicht empfinde
und geniesse!'^
Wie steht es aber überhaupt mit jener ewigen Seligkeit nach
unseren Prämissen? Das All-Einige Unbewusste ist allwissend und
allweise, also kann es nicht mehr klüger werden; es hat, wie audi
Aristoteles sagt, kein Gedächtniss, also kann es durch Erfahrungen,
die es etwa in der Welt machte, nichts zulernen. Mithin ist es,
wenn die Welt einmal aufgehört hat zu sein, genau dasselbe ge-
blieben, was es vor Erschaffung der Welt war; so selig, wie es
vorher war, ist es nun auch wieder, nicht mehr und nicht weniger;
nimmermehr kann ihm der Weltprocess zu einer grösseren Selig-
keit verhelfen, als es vorher hatte, es sei denn, dass es Ia dem
Processe selbst seine Seligkeit fände.
Diesen letzteren Fall betrachten wir hier aber eben nicht,
denn es wäre ja das weltliche Leben selbst, während wir nach der
Seligkeit des ausserweltlichen Zustandes fragen. Wenn wir also
durch das Erdenleben zu jenem verweltlichen Zustande an Seligkeit
nichts hinzugewinnen können, sondern nach Schliessung des Welt-
processes genau jenen Zustand wieder erreichen, so fragt es sich,
wie die Beschaffenheit desselben war. Es liegt auf der Hand, dass^
wenn ein Wollen gewesen wäre, so auch Actus, also Process, ge-
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607
wesen wäre, und das ünbewusste nicht weltlos; der weltlose Zu-
stand konnte nur der des NichtwoUens sein.
Nun haben wir aber Cap. C. I« gesehen, dass das Yorstellen
nur durch das Wollen aus dem Nichtsein in's Sein getrieben wer-
den konnte, so lange die Welt noch nicht existirte, denn in sich
hatte das Vorstellen keinen Trieb und kein Interesse, aus dem
Nichtsein in's Sein zu treten, folglich war vor dem Eintreten des
Wollens auch kein Yorstellen actuell, folglich vor Entstebung der
Welt weder Wollen, noch Vorstellen, d. h. gar Nichts. So
lange das Wollen dauert, so lange wird der Process und seine Er-
scheinung im ßewusstsein, die Welt, dauern; wenn also dereinst
keine Welt mehr sein soll, dann darf auch kein Wollen, mithin
auch kein Vorstellen mehr sein (da die unbewusste Vorstellung
immer gerade nur insoweit actuell wird, als das Interesse des
Willens sie fordert), d. h. es wird wiederum Nichts sein. Diea
ist auch der Zustand, auf den allein die Behauptungen der Apostel
passen, dass keine Zeit und keine Erkenntniss mehr sein wird. So
lange also die Welt besteht, ist der Weltprocess, und soviel Selig-
keit oder XJnseligkeit wie dieser einschliesst; vor dem Entstehen und
nach dem Aufhören der Welt und des Weltprocesses ist — Nichts.
Wo bleibt nun die verheissene Seligkeit? In der Welt soll
und kann sie nicht stecken, und das Nichts nach der Welt kann
doch nur relativ seliger oder unseliger als ein früherer Zustand
sein, aber nicht eine positive Seligkeit oder Unseligkeit, (Vergl.
Aristot. Eth. N. L 11, 1100, a, 13.) Freilich wenn die Welt der
Zustand der XJnseligkeit des Weltwesens ist, so wird das Nichts
im Verhältniss dazu eine Seligkeit sein.
So meint es der Buddhaismus mit der „Nirwana'', so Schopen-
hauer, aber nicht so das Ghristentbum. Mit einer solchen Beduction
auf den Nullpunct der Empfindung, auf Schmerzlosigkeit und Glück-
losigkeit, wäre auch vor der Hand dem gewöhnlichen egoistischen
Menschenverstände sehr wenig gedient, und wir sehen als einziges
Resultat dieser Erwartung die nicht nur nutzlose, sondern dem
Processe sogar schädliche individuelle Willensvemeinung und Welt-
entsagung der indischen Bässer oder der Schopenhauer^schen Askese,
aber nicht die Hoffiiungsseligkeit des Evangeliums.
Wenn nun aber einerseits diese Hoflfnungsseligkeit auf einer
Illusion beruht, die im weiteren Verlaufe der Bewusstseinsent-
wickelung notbwendig verschwindet, wenn andererseits die Sendung
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608
detß EyaDgeliums durch Jesus und die gierige Aufnahme desselben
durch die Völker trotz der über diesen kindlichen Standpunot leiiigst
hinausgeschrittenen griechischen Philosophie, entschieden nur durch
directe Eingriffe des ünbewussten im Genie der Gründer und dem
Yölkerinstincte der Bekehrungswuth begriffen werden kann, so ent-
steht die Frage, wozu denn diese Illusion kommen moaste. Die
Antwort ist einfach 4^e, dass dieses zweite Stadium die nothwen-
dige Zwischenstufe zwischen dem ersten und dritten ist, weil durch
die Yerzweijlung am ersten Stadium der Illusion der Egoismaa
noch nicht so weit gebrochen ist, um sich nicht an die einzige
ihm noch i^brig bleibende egoistische Hoffnung mit beiden Armen
anzuklammern. Erst wenn auch dieser Anker reisst und die yöllige
Yerzweiffung, mit seinem heben Ich das Glück zu erreichen, ihn
erfasst hat, erst dann wird er dem selbstrerläugnenden Gedanken
zugänglich, nur für das Wohl der zukünftigen Geschlechter arbeitest
nur im Process des Ganzen zum zukünftigen Wohle des Ganzen
aufgehen zu wollen.
Bas Bömerthum hatte zwar diese Selbstverläugnung besessen
und geübt, aber nur zu Gunsten der Machtrermehrung der engsten
Stammesgemeinschaft , sie hatten also gleichsam den individuellen
Egoismus zu einem Stamm esegoismus erweitert und mit diesem den
Phantomen der Ehrsucht und Herrschsucht nachgejagt; jetzt aber
handelt es sich um Erweiterung des egoistischen zu einem kos-
mischen Bewusstsein und Streben, zu dem Bewusstsein, dass das
Individuum wie die Kation nichts als ein Ead oder eine Feder in
dem grossen Weltgetriebe sind, und keine Au^be haben, als als
solche ihre Schuldigkeit zu thun, um den Process des Ganzen, auf
den es allein ankommt, zu fordern.
Zu einem solchen Gedanken, zu einer solchen Selbstverläug-
nung war natürlich die alte Welt nicht reif, und es war gleich-
sam nur ein äusserücher Nebengrund für das Interim des Ghristen-
thums, dass noch so viele technische Fortschritte bis zur möglichen
Eröffnung einer Weltcommunication zu machen waren, dass die
künftigen Grundelemente des tellurischen Gemeinlebens, die Na-
tionalstaaten, erst noch zu schaffen waren. Abgesehen von alle
diesem zeigt sich aber auch vom ersten zum zweiten Stadium der
Illusion ein entschiedener Fortschritt zur Wahrheit, nämlich in der
gewonnenen Ueberzeugung , dass das Glück nicht in der Gegen-
wart des Processes liegt, ebenso wie in dem Uebergange vom
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609
zweiten zum dritten Stadium der Fortachritt zur Wahrheit in der
erlangten Einsicht besteht, daas der Weg. zur Erlösung yon dem
Elend der Gegenwart erstens nicht innerhalb, sondern ausserhalb
des Indiyiduums, und zweitens nicht ausserhalb des Welt-
processes zu suchen ist, sondern im Weltprocesse selbst
liegt, dass also die zukünftige Erlösung der Welt nicht in der
Enthaltung vom Leben, sondern in der Hingabe an's
Leben zu finden ist, aber wiederum diese Hingabe an's Leben,
welche um seiner selbst willen eine Verkehrtheit wäre, nur um der
Zukunft des Processes des Ganzen willen einen Sinn habe.
Dieser TJebergang vom zweiten zum dritten Stadium ist freilich
bei der menschlichen Schwäche kaum anders zu denken, als durch
ein theilweises Verkennen letzterer Wahrheit, d. h. als durch einen
theilweisen Bückfall in das erste Stadium der Illusion; denn wie
soll der Mensch zu einem genügend starken Glauben an ein zu-
künftiges Glück auf Erden gelangen, wenn er den gegenwärtigen
Zustand für in jeder Hinsicht elend und alles im Leben der Gegen-
wart erreichbare Glück für eitel hält?
Daher sehen wir mit dem durch die Beformation angestellten
Principe der freien Forschung und Kritik allerdings negativ die
fortschreitende Zersetzung des christlichen Dogmas und die Yer-
nichtung seiner Verheissungen anheben, aber gleichzeitig sehen wir
an die Stelle des christlichen „Seligseins in der Hoffnimg auf Jen-
seits'' die Wiedergeburt der alten Kunst und Wissenschaft, das
Aufblühen des Städterei chthums und Handels und die Fortschritte
der Technik, die allseitige Erweiterung des geistigen Gesichtskreises,
mit einem Worte die wieder erwachende Liebe zur Welt
treten.
Die riesigen Fortschritte nach allen Bichtungen nach so langer
Stagnation feuerten die Hoffnung zu noch grösseren Erwartungen
an, und es entstand so, wie stets in den Epochen yielverheissender
Fortschritte, eine Zeit des Optimismus, deren theoretischer Hauptver-
treter Leibniz ist. (Gegenwärtig, wo die Bildung der Nationalßtaaten
ihrem Ziele entgegeneilt, herrscht ein ähnlicher Optimismus in politi-
scher Beziehung.) Nur langsam und allmählig lässt sich die Macht einer
so ungeheueren Idee, wie die christliche ist, brechen. Dies ist beson-
ders interessant zu beobachten an der neuesten Philosophie. Kant
kehrt, schwindelnd vor der Bodenlosigkeit der Consequenzen seines
Principes, um und verschreibt seine Seele schleunigst dem vom
?. Hartmaun, Pkil. d. üubewoMton. 39
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pracÜBchea kategoiischen Imperativ feierlichst restituirten Christen-
gott; Hegel sucht durch ein symbolisch - dialectisches Spiel wenig-
stens einige der Hauptbegriffe des Christenthums zu retten; Schel-
ling macht mit einem verzweifelten Ruck vor dem Abgrunde Ealt
und kehrt mit einer ganz ernsthaften Beduction der drei Personen
der christlichen Dreieinigkeit aus den Potenzen des Seins am
Schlüsse seines letzten Systemes demüthig in das positive Dogma
der Offenbarung zurück.
Nur Einer ist es, der ganz und in jeder Hinsicht mit dem
Christenthume bricht und ihm jede zukünftige Bedeutung abstreitet,
— Schopenhauer, freilich nur, um in die buddhaistische Askese
zurückzufallen, und ohne sich zu dem Gedanken der Möglichkeit
eines positiven Frincipes der Zukunft erheben zu können, ohne die
Spur eines Verständnisses und einer Liebe für die grossen Bestre-
bungen unserer Zeit, welche in allen anderen neuesten Philosophen
reichlich vertreten sind. Sichtbar gewinnen die weltlichen Bestre-
bungen täglich au Macht, Ausdehnung und Interesse, sichtbar greift
der Antichrist weiter und weiter um sich, und bald wird das
Christenthum nur noch ein Schatten seiner mittelalterlichen Grösse
sein, wird wieder sein, was es im Entstehen ausschliesslich war,
der letzte Trost für die Armen und Elenden.
Drittes Stadium der niusion.
Das Glftek wird als in der Zukunft des Weltprocesses liegend gedacht
Es gehört zu diesem Stadium zunächst der Begriff der imma-
nenten Entwickelung, dessen Anwendung auf die Welt als Ganzes,
und der Glaube an eine Weltentwickelung. In der alten Philo-
sophie findet sich, mit Ausnahme des Aristoteles , hiervon keine
Spur, aber auch bei diesem ist die Anwendung des Begriffes wesent-
lich aui' die natürliche Entwickelung des Individuums beschränkt,
und hat jedenfalls in geistiger Hinsicht auf Mitwelt und Nachwelt
keinen epochemachenden Einfluss geübt.
Das Bömerthum kennt eine üintwickelung nur als Machtent-
wickelung Eoms; dem seiner Natur nach stationären und stagniren-
den Judenthüm ist der Begriff der Entwickelung so fremd uod
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611
Buwider, dass selbst ein Mendelssohn noch einem Lessing gegenüber
die Unmöglichkeit eines Weltfortschreitens behaupten und yer-
f echten konnte.
Bas katholische Christenthum ist ebenfalls in sich beschlossen
tind fertig; es strebt nur nach Ausbreitung des Beiches Gottes,
nicht nach Vertiefung seines Inhaltes ; die Entwickelung des Dogma's
in den ersten Jahrhunderten geht gleichsam wider seinen Willen
aus dem blossen Bestreben heryor, dasselbe zu fixiren. Auch die
Beformatoren hatten noch keineswegs die Absicht, das Christenthum
weiter zu entwickeln, sondern nur, es von den eingeschlichenen
Missbräuchen zu reinigen und in seiner ursprünglichen Form wieder
herzustellen.
Selbst Spinoza's starre Nothwendigkeit, deren Seelenlosigkeit
und Zwecklosigkeit die wechselnde Mannigfaltigkeit der Gestaltun-
gen des Daseins doch nur wie ein gleichgültiges, ich möchte fast
sagen : launenhaft zufälliges Spiel erscheinen lässt, hat für den Be-
griff der Entwickelung noch keinen Baum; erst Leibniz ist es, der
ihn gleichsam von Neuem entdeckt, aber auch gleich in seiner voll-
sten Bedeutung und mannigfachsten Anwendbarkeit ausführt, und
in diesem Sinne gewissermaossen als der positive Apostel der
modernen Welt betrachtet worden kann.
Lessing wendet denselben in grossartiger Weise in seiner Er-
ziehung des Menschengeschlechtes an, die Werke Schillers sind von
demselben durchdrungen, Herder giebt ihm in seinen Ideen zur
Philosophie der Geschichte der Menschheit und Kant in mehreren
von acht philosophischem Geiste beseelten Aufsätzen zur Philosophie
der Geschichte (Werke Bd. VII Nr. Xn. XV. XIX.) Ausdruck.
Am tiefsten lebt und webt dieser Begriff in Hegel, welchem ja die
ganze Welt nichts als eine Entwickelung und Verwirklichung der
Idee ist.
Am Individuum ist es nicht schwer, sich vom Vorhandensein
einer Entwickelung zu überzeugen; man sieht sie ja täglich au
Allem und Jedem; desto schwerer aber ist es, den Gedanken der
Entwickelung eines aus vielen Individuen bestehenden Ganzen so
in Fleisch und Blut aufzunehmen, dass man für dieselbe ein das
Egoistische überragendes Interesse gewinnt; denn über nichts
ist schwerer hinwegzukommen, als über den Instinct des Egoismus.
Höchst lehrreich ist in dieser Beziehung ,.Der Einzige und sein
Eigenthum" von Max Stirn er, ein Buch, das Niemand, der sich für
39*
/
•h-
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612
practische Philosophie interessirt» ungelesen lassen sollte. Dasselbe
unterwirft alle auf die Praxis Einfluss habenden Ideen einer mör-
derischen Kritik, und weist sie als Idole nach, die nur sow^t
Macht über das Ich haben, als dieses ihnen eine solche in seiner
sich selbst verkennenden Schwäche einräumt; es zermalmt in seiner
geistreichen und pikanten Weise mit schlagenden Gründen die
idealen Bestrebungen des politischen, socialen und humanen Libera-
lismus, und zeigt, wie auf den Trümmern all' dieser in das Nichts
ihrer Ohnmacht zusammengebrochenen Ideen nur das Ich der
lachende Erbe sein kann. Wenn diese Betrachtungen nur den
Zweck hätten, die theoretische Behauptung zu erhärten > dass Ich
so wenig aus dem Bahmen meiner Ichheit, als aus meiner Haut
heraus kann, so wäre denselben Nichts hinzuzufügen; indem aber
Stimer in der Idee des loh den absoluten Standpunct fdr das
Handeln gefanden haben wül, verfallt er entweder demselben
Fehler, den er an den anderen Ideen, wie Ehre, Freiheit, Becht
u. s. w. bekämpft hatte, und liefert sich auf Gnade und Ungnade
der Herrschsucht einer Idee aus, deren absolute Souveränität er
anerkennt, aber nicht um der und jener Gründe willen anerkennt,
sondern blind und instinctiv, oder aber er fasst das loh nicht als
Idee, sondern als Bealität, und hat dann kein anderes Besultat, als
die völlig leere und nichtssagende Tautologie, dass Ich nur meinen
Willen wollen, nur meine Gedanken denken kann und dass nnr
meine Gedanken Motive meines Wollens werden können, eine That-
sache, die bei den von ihm bekämpften Gegnern ebenso unläugbar
ist, als bei ihm. Wenn er aber, und nur so hat sein Resultat einen
Sinn, meint, daj9s man die Idee des Ich als die allein herrschende
anerkennen und alle anderen Ideen nur insoweit zulassen soll, als
sie für erstere einen Werth haben, so hätte er doch zunächst die
Idee des Ich untersuchen sollen. Er würde dann zuvörderst ge-
funden haben, dass, wie alle anderen Ideen Stichworte von Instincten
sind, die specielle Zwecke verfolgen, so das Ich das Stichwort eines
univcfrsellen Instinctes, des Egoismus, ist, der sich zu den speciellen
Instincten gleichsam wie ein passe- partout -Billet zu Tagesbilleten
verhält, von dem viele Specialinstincte nur Ausflüsse in besonderen
Fällen sind, und mit dem man daher auch ganz allein ziemlich
gut auskommt, nachdem man alle anderen Instincte geächtet hat,
welcher selbst dagegen niemals ganz fiir das Leben zu ent-
behren ist.
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613
So ist es allerdings verzeihllohery diesem Instincte als irgend
einem anderen, eine unbedingte Souveränität zuzuerkennen, aber
abgesehen davon, daas der Fehler in beiden Fallen der nämliche^
ist, sind die Folgen bei der ausschliesslichen Huldigung des Egois-
mus noch schlimmer. !Nämlich andere Instincte lassen sich, wenn
sie nur stark genug sind, häufig befriedigen, wenn auch in der
Begel nur mit Opfern an Gesammtglüok, die sie nicht bezahlt
machen; aber der Egoismus ist nach unseren bisherigen Unter-
suchimgen niemals zu befriedigen, weil er stets einen TJeberschuss
von Unlust bereitet.
Diese Einsicht, dass vom Standpuncte des Ich oder des Indi- J
viduums ans die Willensvemeinung oder "Weltentsagung und Ver- j
zichtleistung auf's Leben das einzig vernünftige Verfahren ist, fehlt t
Sürner gänzlich, sie ist aber das sicherste Heilmittel gegen die
Orossthuerei mit dem Standpuncte des Ich; wer die überwiegende
Unlust, die jedes Individuum mit oder ohne Wissen im Leben er-
dulden muss, einmal verstanden hat, wird bald den Standpunct des
sich selbst -erhalten und geniessen -wollenden, mit einem Worte des
seine Existenz bejahenden Ich verachten imd verschmähen; wer
erst seinen Egoismus und sein Ich geringschätzt, wird auf dasselbe
schwerlich noch als den absoluten Standpunct pochen, nach welchem
Alles sich zu richten habe, wird persönliche Opfer minder hoch
anschlagen als sonst, wird minder widerwillig dem Besultate einer
Untersuchung zustimmen, welche das Ich als eine blosse Erschei-
nung eines Wesens darstellt, das für alle Individuen ein und das-
selbe ist.
Die Welt- und Lebensverachtung ist der leichteste Weg zur
Selbstverläugnung ; nur auf diesem Wege ist eine Moral der
Selbstverläugnung; wie die christliche und buddhaistische, historisch
möglich geworden.
Wäre aber endlich Stirner an die directe philosophische Unter-
suchung der Idee des Ich herangetreten, so würde er gesehen
haben, dass diese Idee ein ebenso wesenloser, im Gehirne ent-
stehender Schein ist, wie etwa die Idee der Ehre oder des Beohtes,
und dass das einzige Wesen, welches der Idee der inneren Ursache
meiner Thätigkeit entspricht, etwas Nicht-Individuelles, das
All-Einige Unbewusste ist, welches also ebenso gut der Idee des /
Peter von seinem loh, als der Idee des Paul von seinem Ich ent- /
spricht. .Auf diesem allertiefsten Grunde ruht nur die esoterische
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• 1
614
buddhaistische Ethik, nicht die christliche. Hat man diese £r-
kenntniss sich fest und innig zu eigen gemacht, dass ein und
.dasselbe Wesen meinen und deinen Schmerz, meine und deine
Lust fühlt, nur zufällig durch die Vermittelung verschiedener Ge-
hirne, dann erst ist der exclusive Egoismus in seiner Wurzel ge-
brochen, der durch die Welt- und Lebensrerachtung nur erst
erschüttert, wenn auch tief erschüttert ist, dann erst ist der
Stimer'sche Standpunct endgültig überwunden, dem man einmal ganx
angehört haben muss, lun die Grösse des Fortschrittes zu fühlen,
dann erst ist der Egoismus als ein Moment in dem Bewnsstsein
aufgehoben, ein Glied des Weltprocesses zu bilden, in welchem er
seine bis zu einem gewissen Grade nothwendige Stelle findet»
Es tritt nämlich am Ende jedes der vorhergehenden Stadien
der Illusion und vor der Entdeckung des folgenden das freiwillige
Aufgeben des individuellen Daseins, der Selbstmord, als nothwen-
dige Gonsequenz ein ; sowohl der lebensüberdrüssige Heide, als auch
der an der Welt und seinem Glauben zugleich verzweifelnde Christ
müssen sich consequenterweise entleiben, oder, wenn sie, wie
Schopenhauer, durch dieses Mittel den Zweck der Aufhebung des
individuellen Daseins nicht zu erreichen glauben, müssen sie wenig-
stens ihren Willen vom Leben abwenden in völliger Enthaltsamkeit
oder auch Askese.
Anders, wenn das Interesse für die Entwickelung des
Ganzen im Herzen Wurzel fasst und der Einzelne sich als
Glied des Ganzen fühlt, als ein Glied, welches eine mehr oder
minder werthvolle, nie aber ganz nutzlose Stelle im Processe des
Ganzen ausMlt. Dann wird es um der Ausfüllimg dieser Stelle
willen erforderlich, sich an das Leben, welches man vom Stand-
puncto des Ich aus nicht nur als unnützes Gut, sondern als wahie
Qual fortwarf, mit wahrer Opferfreudigkeit hinzugeben; dann wird
der Instinct des Egoismus vom Bewusstsein neu restituirt,
aber nun nicht mehr als absolute und souveräne Macht, sondern
mit dem aus seinem Zwecke für das Ganze sich ergebenden
Maasse, und beschränkt durch die Anerkennung und Achtung des
Strebens der für den Process ebenfalls eiforderliohen anderen Indi-
yiduen.
Wie der Egoismus im Ganzen, so werden auch diejenigen
Triebe vom Bewusstsein restituirt, welche, wie Mitleid, Billigkeita-
gefühl, einen Werth für das Ganze, oder, wie Liebe und Ehre, einen
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Weith für die Zukunft haben; sie werden nunmehr mit dem Be-
ifusstsein des individuellen Opfers freiwillig um des Ganzen und
des Proces^es willen übernommen. Dieses dem Leben durch die
Hingebung an dasselbe gebrachte individuelle Opfer findet dann
seinen Lohn in der Hoffnung auf die Zukunft des Frooesses,
auf die in seinem Yerfolge günstiger werdende Gestaltung der
Lebensverhältnisse und das dem Weltwesen, welches auch in mir
lebt, dort winkende Glück.
Biese Hoffnung und das in ihr Mitwirken am Processe
des Ganzen bildet das dritte Stadium der Illusion, welches
wie die vorigen beiden zu durchschauen, jetzt unsere Au%abe ist. —
Als wir uns mit der Kritik des ersten Stadiums der Illusion
befassten, war es nicht möglich, gelegentliche Blicke in die zu-
künftige Gestaltung der Welt zu vermeiden, ja man kann sogar
behaupten, dass der aufmerksame Leser schon in jener Kritik des
ersten Stadiums die Kritik des dritten mitgefunden haben muss.
Um hier die Wiederholung zu ersparen, bitte ich deshalb, in
diesem Sinne doch einmal das Eesume (Nr. 13) der Kritik des
ersten Stadiums durchzulesen, und man wird sich von der Wahr-
heit meiner Behauptung überzeugen, dass jene Besultate weit mehr
enthalten, als damals zur Widerlegung des ersten Stadiums der
Illusion aus ihnen geschlossen wurde. So gilt z. B. der Beweis
des Satzes, dass die Unlust der Nichtbefriedigung immer und in
vollem Maasse, die Lust der Befriedigung aber nur unter günstigen
Umständen und mit erheblichen Abzügen empfunden werde, nicht
bloss für die Gegenwart, sondern ganz allgemein.
Wie weit auch die Menschheit fortschreitet, nie wird sie die
grössten der Leiden loswerden oder auch nur vermindern: Krank-
heit, Alter, Abhängigkeit von dem Willen und der Macht Anderer,
Noth und UnzaMedenheit. Wie viel Mittel gegen Krankheiten
aach noch gefunden werden mögen, immer wachsen die Krank-
heiten, namentlich die so quälenden leichteren chronischen Uebel,
in schnellerer Progression als die Heilkunst. Immer wird die froh-
sinnige Jugend nur einen Bruchtheil der Menschheit ausmachen
und der andere Theil dem grämlichen Alter zufallen. Immer wird
der Hunger der in's Unendliche gehenden YermehruDg des Menschen-
geschlechtes die Grenze durch eine grosse Bevölkerungsschicht
^ehen, welche mehr Hunger hat, als sie befriedigen kann, welche
wegen mangelhafter Ernährung einen grossen Sterblichkeitsooeffi-
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616
cienton zeigt, kurz welche fortwährend zu einer grossen Procentzahl
in dem bitteren Kampfe mit der Noth erliegt (yergl. oben S. 296,
Z. 14 — 20). Die zufriedensten Völker sind die rohen Natnrrölker und
von den Cnltaryölkem die ungebildeten Classen; mit steigernder
Bildung des Volkes wächst erfahrungsmässig seine TJnzufiriedenheit
Jene auf der Hungergrenze lebende Beyölkerungsschicht fühlte
früher und zum Theil noch jetzt ihr Elend nur, so lange der Magen
knurrte, aber je weiter die Welt kommt, desto drohender wird das
Gespenst der Massenarmuth, desto Airchtbarer bemächtigt sich jener
Elenden das ganze Bewusstsein ihres Elends.
Der ünsittlichkeit wird nicht weniger in der Welt, nur die
Form, in welcher die unsittliche Gesinnung sich äussert, ändert
sich. Abgesehen von Schwankungen des ethischen Characters der
Völker im Grossen und Ganzen sieht man überall dasselbe Ver-
hältniss von Egoismus uiid Nächstenliebe, und wenn man auf die
Gräuelthaten und Eohheiten vergangener Zeiten hinweist, so yer-
gesse man auch nicht, die Biederkeit und Ehrlichkeit, das klare
Billigkeitsgefuhl und die Pietät vor der geheiligten Sitte alter
Katuryölker einerseits, und den mit der Cultivirung waohBenden
Betrug, Falschheit, Hinterlist, Chicane, Nichtachtung des Eigen-
thumes und der berechtigten, aber nicht mehr yerstandenen instinc-
tiven Sitte andererseits in Eechnung zu stellen. Diebstahl, Betrog
und Fälschung werden trotz der darauf gesetzten Strafen immer
häufiger^ der niedrigste Eigennutz zerreisst schamlos' die heiligsten
Bande der Familie und Freundschaft, wo immer er mit ihnen io
Colüsion kommt, und nur die Grosse der vom Staate und der
Gesellschaft darauf gesetzten Strafen verhindert die brutaleren
Verbrechen roherer Zeiten, die sofort wieder hervorbrechen und die
menschliche Bestialität in ihrer ganzen Scheusslichkeit erkennen
lassen, wo die Bande des Gesetzes und der Ordnung gelockert oder
zerrissen sind, wie in der polnischen Bevolution oder dem letzten
Jahre des amerikanischen Bürgerkrieges. Nein^ nicht gebessert
hat sich die Bosheit und die alles Fremde zertretende Selbstsucht
des Menschen^ nur eingedämmt ist sie durch die Deiche des
Gesetzes und der bürgerlichen Gesellschaft, weiss aber statt der
' offi^nen Ueberfluthung tausend Schleichwege zu finden, auf denen
sie *sich geltend machen kann.
Schon sind wir der Zeit nahe, wo Diebstahl und gesetzwidrige
Betrug als pöbelhaft gemein und ungeschickt verachtet werden von
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617
dem gewandteren Spitzbnben, der seine Yerbrechen am fremden
Eigenthum mit dem Buchstaben des Gesetzes in Einklang zu brin-
gen weiss. Und so wird es weiter gehen. Der Ghrad der unsitt-
lichen Gesinnung bleibt ewig derselbe, aber sie legt den Pferde-
foss ab und geht im Frack; die Sache und der Erfolg bleibt die-
selbe, nur die Form wird eleganter. Ich wollte mich doch wahr-
lich lieber unter den alten Germanen der Gefahr aussetzen, gele-
gentlich todt geschlagen zu werden , als unter den modernen Ger-
manen jeden für einen Schuft und Schurken halten zu müssen, bis
ich ganz überzeugende Beweise seiner Ehrlichkeit habe. Aus der
Analogie können wir schliessen, dass, wenn die TJnsittlichkeit auch
in Zukimft ihre Form noch so sehr verfeinert, sie doch immer
gleich unsittlich und gleich unlusterweckend für die Summe der
Unrechtleidenden bleiben wird.
Eine Lebensrichtung, welche bei einer gewissen Gemüthsbe-
sohaffenheit wohl ein positiyes Glück gewähren kann, die Frömmig-
keit, ist natürlich in unserm jetzigen dritten Stadium ein über-
wundener Standpunct der Illusion. Wäre sie es nicht, so wäre
eben dass dritte Stadium der Illusion nicht rein, sondern noch mit
dem zweiten gemischt, was zwar in Wirklichkeit sehr gewöhnlich
sein mag, aber m unserer rationellen Betrachtung, wo die Stand-
pimcte durchaus gesondert werden müssen, nicht angenommen wer-
den darf. Jedenfalls aber wird man nicht läugnen können, dass
aas durchschnittliche Abnehmen der religiösen Illusion mit fort-
schreitender Bildung die Bedeutung derselben für unsern Eechnungs-
ansatz mehr und mehr yermindert, und die Zeit ist nicht mehr
fem, wo ein Gebildeter schlechterdings nicht mehr dem Genüsse
religiöser Erbauung zugänglich sein kann. —
Die beiden anderen Momente, denen wir positiven Ueberschuss
an Lust zuerkannt hatten, Wissenschaft und Kunst, werden ihre
Stellung in der Zukunft der Welt auch verändern. Je mehr wir
rückwärts schauen, desto mehr ist der wissenschaftliche Fortschritt
das Werk einzelner hervorragender Genies, welche das Unbewusste
sich als Werkzeuge schafft, um Das zu bewirken, was mit den
Elräften des durchschnittlichen bewussten Menschenverstandes noch
nicht zu erreichen ist. Je mehr wir uns der heutigen Zeit nähern,
desto zahlreicher werden die Arbeiter an der Wissenschaft , desto
gemeinsamer ihre Arbeit. Während die Genies früherer Zeiten
Zauberern gleichen, die ein Gebäude, wie aus dem Nichts entste-
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hen lassen, sind die Geistesarbeiter der Neuzeit einer emsigen
Baugesellschaft zu vergleichen, wo jeder seinen 8tein zum grossen
Gebäude hinzufügt, je nach seinen Kräften einen grösseren oder
kleineren. Die Methode der Zukunft wird immer ausschliesslicher
die inductiy - naturwissenschaftliche , und der Grundcharacter de^
wissenschaftlichen Arbeit nicht Vertiefung, sondern Verbreiterung.
80 werden die Genies immer weniger Bedürfniss, und daher auch
immer weniger vom ünbewussten geschaffen; wie die Gesellschaft
durch den schwarzen Bürgerrock nivellirt ist, so steuern wir auck
in geistiger Beziehung mehr und mehr auf eine Nivellirung zur
gediegenen Mittelmässigkeit hin. Daraus geht hervor, dass der
Genuas der wissenschaftlichen Production immer geringer wird imd
die Welt mehr und mehr auf receptiv wissenschaftlichen Genoss
beschränkt wird. Dieser aber ist nur dann erheblich, wenn maa
das Bingen und Kämpfen nach der Wahrheit mit durchgemacht
hat, nicht aber, wenn einem die Wahrheit als gaar gebackene
Pastete auf der Schüssel präsentirt wird. Dann wiegt oft der Ge-
nuss des Erkennens die Mühe des Lernens kaum auf, und die
practische Brauchbarkeit des Erlernten oder der Ehrgeiz muss das
eigentliche Motiv des Lernens abgeben. —
Ein ähnliches Verbältniss findet bei der Kunst statt, obwohl
diese für die Zukunft immer noch günstiger gestellt ist, als die
Wissenschaft. Auch in ihr werden die producirenden Genies imr
mer seltener werden, je mehr die Menschheit das im Augenblick
aufgehende Leben ihrer Kindheit und die transcendenten Ideale
ihrer schwärmerischen Jugend hinter sich zurücklässt und auf
eine bedächtig in die Zukunft schauende praotisch wohnliche Ein-
richtung in der irdischen Heimath Bedacht nimmt, je mehr im
Mannesalter der Menschheit die socialökonomischen und practisoh-
wissenschaftlichen Literessen die Oberhand gewinnen. Die Kunst
ist dann nicht mehr, was sie dem Jünglinge war, die hehre, be-
seligende Göttin, sie ist nur noch eine mit halber Aufmerksamkeit
zur Erholung von den Mühen des Tages genossene Zerstreuung
ein Opiat gegen die Langeweile, oder eine Erheiterung naeh dem
Ernst der Geschäfte, — daher eine immer mehr um sich greifende
dilettantische Oberflächlichkeit und ein Vernachlässigen aller
ernsten, nur mit angestrengter Hingebung zu geniessenden Bioh-
tuQgen der Kunst Die künstlerische Production des den Idealen
entfremdeten Mannesalters der Menschheit bewegt sich natürlich
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in derselben leichtfertigen, die Form gewandt beherrfichenden und
von den Schätzen der Vergangenheit zehrenden, dilettantischen
Oberflächlichkeit, und bringt keine Genies mehr hervor , .weil sie
kein Bedürfniss der Zeit mehr sind, weil es hiesse, die Perle vor
die Säue werfen, oder auch, weil die Zeit über das Stadium, wel-
<diem Genies gebührten, zu einem wichtigeren hinweggeschritten
ist. Um mich vor Missverständnissen zu wahren, bemerke ich
ausdrücklich, dass ich mit jener Characteristik nicht die Gegen*
wart bezeichnen wollte, sondern eine Zukunft, an deren Schwelle
unser Jahrhundert steht, und von der die Gegenwart erst einen
schwachen Vorgeschmack bietet. Die Kunst wird der Menschheit im
liannesalter durchschnittlich etwa das sein, was dem Berliner Börsen-
mann des Abends die Berliner Posse ist. Diese Ansicht ist freilich nur
durch die Analogie der Entwickelung der Menschheit mit den
Lebensaltem des Einzelnen zu erhärten und durch die Bestätigimg,
welche diese Analogie durch den bisherigen Gang der Entwickelung
und die jetzt schon ziemlich deutlich erkennbaren Ziele der näch-
sten Periode findet. —
In Bezug auf die practischen Instincte , welche auf Illusion
beruhen , wie Liebe und Ehre , giebt es drei Fälle : entweder die
Menschen kommen gar nicht davon zurück, dann bleibt die von
ihnen ausgehende Unlust immer ; oder die Menschen kommen ganz
davon zurück, dann werden sie freilich mit der Lust auch die Un-
lust los und sind relativ viel glücklicher geworden, d. h. aber
weiter nichts, als das Leben ist so viel ärmer geworden und
dem Nullpunct oder Bauhorizont der Empfindung so viel näher ge-
rückty ist aber nun auch sich seiner Armseligkeit und Werthlosig-
keit bewu88t geworden. Man kann beide Zustände ungefähr mit
einem Geizigen vergleichen, der über seine Schätze im Kasten selig
ist, bis er eines schönen Tages den Kasten aufmacht und findet,
dass er leer ist; nur ist in diesem Bilde die reell erduldete Qual
schon im ersten Zustande neben der Illusion des Glückes nicht mit
aasgedrückt.
Der dritte mögliche Fall und zugleich der wahrscheinlichste
ist der, dass die Menschen nur theilweise von jenen Instincten
loskommen, dass sie zwar die illusorische Beschaffenheit derselben
vollständig durchschauen, auch in Folge dessen wohl die Stärke
des Triebes durch Vernunft etwas vermindern ^ aber doch nie im
Stande sind, denselben völlig zu vernichten. Dieser Fall enthält
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620
die Qualen beider anderen yereinigt Denn der Geizhals, der gans
gut gesehen hat, dass seine Kasten leer sind, kommt nun in den
Wahnsinn, sie trotz der klaren, besseren Einsicht seiner Vemnaft
doch noch für voll halten zu wollen, und ist zugleich yemünftig
genug, seinen Wahnsinn als solchen zu verstehen, ohne doch von
demselben sich befreien zu können. Er hat nun zugleich das yer-
nünftige Bewusstsein der Armseligkeit seines Lebens, der illuso-
rischen Beschaffenheit seiner aus diesen Triebfedern entspringenden
Lust und Unlust und des grossen IJebergewichtes der Unlust; er
hat also jetzt auch das yoUe Bewusstsein der Qualen, zu denen or
verurtheilt ist, das Yemunftstrebeu; oiese Triebe zu unterdrücken,
und das schmerzliche Oefühl der Ohnmacht seines yemünftig«!
Willens über den instinctiyen Trieb. Darum sagt Qothe ganx
richtig: „Wer die Dlusion in sich und Andern zerstört, den strtft
die Natur als der strengste Tyrann'' (Bd. 40, S. 386), und doch
kann und wird diese Zerstörung der Illusion der Menschheit nicht
erspart bleiben. Unbarmherzig und grausam ist dieses Handweik
der Zerstörung der Illusion, wie der rauhe Druck der Hand, der
einen süss Träuihenden zur Qual der Wirklichkeit erweckt; aber
die Welt muss yorwärts; nicht erträumt werden kann das Ziel, e8
muss erkämpft und errungen werden, und nur durch Schmerzen
geht der Weg zur Erlösung! Wer sich aber darauf berufen
wollte, dass die Liebe und der Instinct, einen Hausstand zu grün-
den, doch der Zukunft zu Gute kommen, indem sie die neue
Generation schaffen, der wäre wohl durch die Erinnerung zurück-
zuweisen, dass es ein offenbarer Widerspruch wäre, wenn eine
Generation immer nur für die folgende da sein sollte, während
jede für sich elend ist. Es erweckt schon dieses Immeryor-
wärtsweisen den unwillkürlichen Gedanken, dass der Procass
nicht um des Processes willen, sondern um des hinter dem Pro-
cesse liegenden Zieles willen da ist. Dasselbe ist g^en die Ein-
wendung zu bemerken, dass die illusorischen Instincte, wie Mire,
Erwerbstrieb, Liebe, die Entwiokelung steigern helfen.
Dies ist gewiss richtig, aber es kann jenen Instincten keinen
eudämonologischen Werth yerleihen, so lange wir der Steigerung
der Entwiokelung keinen eudämonologischen Werth beimessen
dürfen. Man yergisst bei diesen Einwendungen, dass der Proeees
als solcher nur die Summe seiner Momente ist
Werfen wir nun einen Blick auf die gepriesenen Fortschritte
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der Welt; worio bestehen sie, wodurch beglücken sie ? — Die Fort-
Bohritte in der Kunst dürfte man nicht berechtigt sein, allznhoch
anzuschlagen; soviel wie der Inhalt unserer neueren Kunstwerke
ideenreicher ist, soviel war die Kunstform im' Alterthum vollen-
deter, und die wiederauferstandenen Griechen würden unsere
Kunstwerke auf allen Gebieten mit vollem Eecht für höchst
barbarisch erklären. (Man denke an unsere Bomane und Büh-
nenstücke, an unsere Standbilder und Gemäldeausstellungen, an
unsere Bauwerke und an die gleichschwebende Temperatur in der
Musiki) Je überquellender der ideelle Inhalt unserer Kunstwerke
die beengende Form zu zersprengen droht, desto weiter entfernen
sich diese Werke von dem reinen Begriff der Kunst, der in ab-
soluter Harmonie der Form und des Inhaltes wurzelt. Der Raum
verhindert leider, diese Andeutungen hier weiter auszuführen.
Die wissenschaftlichen Fortschritte tragen in rein theore-
tischer Beziehung wenig oder gar nichts zum Glück der Welt bei, in
practischer Beziehung aber kommen sie den politischen, socialen,
moralischen und technischen Fortschritten zu Gute. Den Einfluss
der Wissenschaft auf moralischen Fortschritt muss ich für ver-
schwindend klein halten, so wie er auch in politischer und socialer
Beziehung nicht allzu hoch zu veranschlagen ist, da auf diesen
Gebieten die Theorie meist erst der instinctiv ergriffenen Praxis
nachhinkt. Von unberechenbarer Wichtigkeit ist er dagegen auf
die Fortschritte der Technik. Was leisten diese aber für das
menschliche Glück? Offenbar nichts, als dass sie die Möglichkeit zu
socialen und politischen Fortschritten gewähren, und die Bequemlich-
keit und allenfalls auch den überflüssigen Luxus erhöhen! Theils
geschieht dies direct, theils durch Erleichterung und Vervollkomm-
nung der Handelsverbindungen. Fabriken, Dampfschiffe, Eisenbah-
nen und Telegraphen haben noch nichts Positives für das Glück
der Menschheit geleistet, sie haben nur einen Theil der Hinder-
nisse und Unbequemlichkeiten, von welchen der Mensch bisher ein-
geengt und bedrückt war, vermindert. Wenn eine rationellere
Bodenbewirthschaftung und erleichterte Einfuhr aus menschen-
ärmeren Gegenden den CulturvÖlkem einen stärkeren Nahrungs-
vorrath zu Gebote gestellt hat, so hat dies allerdings den Erfolg
gehabt, dass die Bevölkerungszahl dieser Culturvölker zum Theil
sehr erheblich gewachsen ist; ist dadurch aber das Glück oder
das Elend gewachsen ? Zumal wenn man bedenkt» dass mit wach-
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Bender Erdbevölkerung auch die Anzahl der auf der Hungergrenze
lebenden Millionen wächst! Der vergrösserte Nahrungsertrag der
Erde, die vergrösserte Bequemlichkeit und der vergrösserte Luxus
in Verbindung stellen den vergrösserten Nationalreichthum resp.
Erdenreichthum dar; auch dieser letztere kann also nicht als ein
Wachßthum an positivem Glück aufgefasst werden; zu einem Theile
bewirkt er nichts als eine Vermehrung der Bevölkerung und da-
mit des Elendes, zum anderen Theil beruht seine Hochschätzung
auf der durch den instinetiven Erwerbstrieb geschaffenen Illusion,
zum dritten Theile ist sein Erfolg eine Verminderung der Unlußt
und eine Annäherung an den Nullpunct der Empfindung, der nie-
mals zu erreichen ist. Der einzige positive Nutzen des Wachß-
thum es der Wohlhabenheit ist der, dass er Kräfte, die vorher im
Kampfe mit der Noth gebunden waren, frei macht für die
Geistesarbeit, und dass er dadurch den Weltprocess be-
schleunigt. Dieser Erfolg kommt aber nur dem Process als
solchem, keineswegs den im Erocess befindlichen Individuen oder
Nationen zu Gute, welche doch bei Vermehrung ihres National-
reichthumes fjir sich zu arbeiten wähnen.
Die letzten grossen Fortschritte^ der Welt, welche uns zu e^
wägen bleiben, sind die politischen und socialen. Nehmen wir
an, der vollkommenste Staat sei realisirt, und die Erdbevölkerung
hätte ihre politische Aufgabe in vollendeter Weise gelöst. Was
hat man dann an diesem staatlichen Gebilde? Ein Schneckenge-
häuse ohne Schnecke, eine leere Form, die ihrer anderweitigen Er-
füllung harrt! Die Menschheit lebt doch nicht, um sich zu regie-
ren , sondern sie regiert sich , um leben (im höchsten Sinne de«
Wortes) zu können. Alle die so bekannten Aufgaben des Staates
sind negativer Natur, sie heissen Schutz gegen, Sicherung
vor, Abwehr von, u, s. w. Der erreichte vollkommenste Staat
thut also nichts, als dass er Menschen dahin stellt, wo er ohne
Furcht vor unberechtigten Eingriff'en anfangen kann zu leben, d. h.
seine Kräfte und Fähigkeiten nach allen den Richtungen zu ent^
falten, welche nicht die von ihm beanspruchten staatlichen Rechte
in anderen verletzen. Also auch das Ideal des Staates stellt den
Menschen erst auf den Bauhorizont seines Glückes.
Mit den socialen Idealen ist es nicht anders. Sie lehren ge-
wisse Erleichterungen im Kampfe mit der Noth um des Lebens
Nothdurft durch das Princip der solidarischen Gemeinschaft und
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andere Hilfsmittel, Bie lehren die Plagen und Sorgen, welche man
durch die Befriedigung des Hausstandsgründungsinstinctes über
eich zieht, durch bestmöglichste Einrichtung der Familienverhält-
nisse möglichst zu mindern, den Pflichten der Kindererziehung auf
möglichst wenig drückende Art gerecht zu werden, u. s. w. —
Immer handelt es sich nur um Linderung von üebeln, nicht um
Erlangung positiven Glückes. Die einzige scheinbare Ausnahme
wäre die genossenschaftliche Mehrung der Gesammtwohlhabenheit,
aber diese ist schon weiter oben berücksichtigt.
Dies wären nun die Hauptrichtungen des Weltfortschrittes.
Soweit sie auf Realitäten beruhen, kommen sie darin überein, den
Menschen aus der Tiefe seines Elendes mehr und mehr dem Bau-
horizont der Empfindung entgegen zu heben. Waren die idealen
Ziele erreicht , so wäre der Nullpunct oder Indifferenzpunct der
Empfindung in Bezug auf diese Lebensrichtungen erreicht; da aber
Ideale ewig Ideale bleiben, und die Fortschritte der Wirklichkeit
sieh ihnen wohl nähern , aber nie sie erreichen können , so wird
auch in dieser Lebensrichtung die Welt nie die Höhe des Null-
punctes erreichen, sondern stets unterhalb desselben in der über-
wiegenden Unlust stecken bleiben.
Man kann sich über den eud am onologischen Werth
der Weltfortschritte klar werden, auch ohne sich darum zu
bekümmern, worin sie bestehen. Man braucht nur an die Analogie
des Einzelnen zu denken. Wer in eine bessere Lebenslage kommt,
wird bei dem Uebergang vom Schlechteren zum Besseren aller-
dings Lust empfinden ; aber 'erstaunlich schnell verschwindet diese
Lust, die neuen besseren Umstände werden als etwas sich von
selbst Verstehendes hingenommen, und der Mensch fühlt sich nicht
um ein Haar breit glücklicher, als in seiner früheren Lage. (Der
Uebergang aus dem Besseren in's Schlechtere erzeugt schon eine
viel länger anhaltende Unlust.) Gerade so ist es bei einer Nation,
gerade so bei der Menschheit. Wer fühlt sich wohl jetzt wohler
als vor dreissig Jahren, weil es jetzt Eisenbahnen giebt, und da-
mals keine? Und sollte den älteren Personen der Unterschied mit
damals noch zur Empfindung kommen, so doch gewiss nicht denen,
welche nach Entstehung der Eisenbahnen geboren sind. Es hat
sich mit den vermehrten Mitteln nichts weiter vermehrt, als die
Wünsche und Bedürfnisse, und in Folge davon die Unzu-
friedenheit. Schon im Resum^ des ersten Stadiums der Illu-
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sion haben wir gesehen, dass Naturvölker nioht elender, sondern
glücklicher als Cnltnrvölker sind, dass die armen, niedrigen
und rohen Stände glücklicher sind als die reichen, vomehmen
und gebildeten, dass die Dummen glücklicher sind als die
Klugen, überhaupt dass ein Wesen um so glücklicher ist, je
stumpfer sein Nervensystem ist, weil der Ueberschuss der Unlust
über die Lust desto kleiner, und die Befangenheit in der BloBioii
desto grösser wird. Nun wachsen aber mit fortschreitender Ent-
wickelung der Menschheit nicht nur Eeichthum und Bedür&iisse,
sondern auch die Sensibilität des Nervensystems, und die Capacität
und Bildung des Geistes, folglich auch der Ueberschuss der empfun-
denen Unlust über die empfundene Lust und die Zerstörung der
Illusion, d. h. das Bewusstsein der Armseligkeit des Lebens, der
Eitelkeit der meisten Genüsse und Bestrebungen und das Gefühl
des Elendes; es wächst mithin sowohl das Elend, als auch das
Bewusstsein des Elendes, wie die Erfahrung zeigt, und die viel-
fach behauptete Erhöhung des Glückes der Welt durch die Fort-
schritte der W«lt beruht auf einem ganz oberflächlichen Schein.
(Dies ist ganz besonders für Diejenigen zu beherzigen, welche etwa
mit mir nicht darin einverstanden sind, dass gegenwärtig die
Summe der Unlust in der Welt die Summe der Lust überwiege.)
Wie das Leiden der Welt gewachsen ist mit der Entwickelang der
Organisation von der Urzelle an bis zur Entstehung des Menschen,
so wird es weiter wachsen mit der fortschreitenden Entwickeluug
des menschlichen Geistes, bis dereinst das Ziel erreicht ist. Eiue
kindliche Zurzsichtigkeit war es, wenik Rousseau aus der Erkennüiias
des wachsenden Leidens den Schluss zog : die Welt muss wo möglich
umkehren, zum Kindesalter zurück! Als job das Kindesalter der
Menschheit nicht auch Elend gewesen wäre! Nein, wenn schon
rückwärts , dann weiter, immer weiter , bis vor Erschaffung der
Welt! Aber wir haben ja keine Wahl, wir müssen vorwärts,
auch wenn wir nicht wollen. Aber nicht das goldene Zeitalter
liegt vor uns, sondern das eiserne, und die Träumereien von dem
goldenen Zeitalter der Zukunft erweisen sich als noch viel nichtiger,
wie die von dem der Vergangenheit. Wie die Last dem Träger
um so schwerer wirdy einen je weiteren Weg er sie trägt, so wird
auch das Leiden der Menschheit und das Bewusstsein ihr^ Elen-
des wachsen und wachsen bis in's Unerträgliche. Man kann auch
die Analogie mit den Lebensaltem des Einzelnen benutzen. Wi«
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der Einzelne zuent als Kind dem Augenblicke lebt, dann als Jüng-
ling in transoendenten Idealen schwärmt, dann als Mann dem
Böhm nnd später dem Besitz und der praotischen Wissenschaft nach-
strebt» bis er endlich als Greis» die Eitelkeit alles Strebens erkennend,
sein müdes, nach Frieden sich sehnendes Haupt zur Buhe legt, so
auch die Menschheit Sehen wir doch die Nationen entstehen,
reifen und yergehen, finden wir doch auch an der Menschheit die
deutlichsten Symptome des Aelter-Werdens ; warum sollten wir be-
zweifeln, dass nach der kräftigen Mannesthätigkeit nicht auch
für sie einst das Greisenalter kommt , wo sie zehrend yon den
praotischen und theoretischen Früchten der Vergangenheit, in eine
Periode der reifen Beschaulichkeit eintritt, wo sie die ganzen
wüst durchstürmten Leiden ihres vergangenen Lebenslaufes mit
wehmüthiger Trauer in Eins fassend überschaut, und die ganze
Eitelkeit der bisherigen vermeintlichen Ziele ihres Strebens
begreift.
Nur Ein unterschied ist zwischen ihr und dem Lidividuum:
die greise Menschheit wird keinen Erben haben, dem sie ihre
aufhäuften Beiehthümer hinterlassen kann\ keine Kinder und
Enkel» die Liebe zu welchen die Klarheit ihres Denkens stören
könnte. Dann wird sie in jener erhabenen Melancholie, welche
man bei Genies oder auch bei geistig hochstehenden Greisen
gewöhnlich findet, gleichsam wie ein verklärter Geist über ihrem
eigenen Leibe schweben, und wie Oedipus auf Kolonos in dem
vorgefühlten Frieden des Nichtseins die Leiden des Seins gleich-
sam nur noch als fremde fühlen, nicht mehr ein Leid, son-
dern nur noch ein Mitleid mit sich selbst. Das ist die Him-
melaklarheit , jene göttliche Buhe, die in Spinoza's Ethik weht,
wo die Leidenschaften in dem Abgrunde der Vernunft ver-
schlungen sind, weil sie klar und deutlich in Ideen gefasst sind.
Aber selbst wenn wir jenen Zustand reiner Leidenschaftslosigkeit
als erreicht annehmen, wenn selbst das Leid in Mitleid mit sich
verktilrt ist, es hört doch nicht auf, Trauer, d. h. Unlust zu
sein. Die Illusionen sind todt, die Hoffnung ist ausgebrannt;
denn worauf sollte man noch hoffen? Die todesmüde Menschheit
sehleppt ihren gebrechlichen irdischen Leib mühsam von Tage
jso Tage 'weiter. Das höchste Erreichbare wäre doch die
Schmerzlosigkeit, denn wo sollte das positive Glück noch
-r. Hartmftiin» PhU. d. Unbewnssten. 40
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gesaoht werden? Etwa in der eitlen Belbstgenügsamkeit des
Wissens, dass Alles eitel ist, oder dass im Kampfe mit jenen
eitlen Trieben die Vemnnft gewöhnlich %eger bleibt! 0 ndn,
solche eitelste von allen Eitelkeiten, solcher V erstandeshoek-
muth ist dann längst überwanden! Aber auch die Schmen-
losigkeit erreiolit die greise Menschheit nicht, denn sie ist ja
kein reiner Geist, sie ist schwächlich und gebrechlich, und mvss
trotzdem arbeiten, um zu leben, und weiss doch nicht,
wozu sie lebt; denn sie hat ja die Täuschungen des Lebenfi
hinter sich, und hofft und erwartet nichts mehr vom Leben.
Sie hat, wie jeder sehr alte und über sich selbst klare Oreis
nur noch einen Wunsch : Buhe , Frieden , ewigen Sehlaf ohne
Traum, der ihre Müdigkeit stille. Nach den drei Stadien der
Illusion, der Hoffnung auf ein positives Glück, hat sie endlich
die Thorheit ihres Strebens eingesehen ^ sie verzichtet end-
gültig auf alles positive Glück, und sehnt sich nur noch nach
absoluter Schmerzlosigkeit, nach dem Nichts, Nirwana.
Aber nicht, wie auch früher schon, dieser oder jener Einzelne,
sondern die Menschheit sehnt sich nach dem Nichts^ nach Ye^
nichtung. Dies ist das einzig denkbare Ende von dem dritten
und letzten Stadium der Illusion.
Wenn dem Leser, der die Geduld hatte, mir bis hierher
zu folgen, dieses Besultat trostlos erscheint, so muss ich ihm e^
klären, dass er sich im Irrthum befand, wenn er in der Philo-
sophie Trost und Hoffnung zu finden suchte. Zu solchen Zwecken
giebt es Religions- und Erbauungsbüchlein. Die Philosophie aber
forscht rücksichtslos nach Wahrheit, unbekümmert darum, ob das,
was sie findet, dem in der Illusion des Triebes befangenen Ge-
fühlsurtheil behagt oder nicht.
Wir begannen dieses Capitel mit der Frage, ob das 8m
oder das Nichtsein der bestehenden Welt den Vorzug verdiene,
und haben diese Frage nach gewissenhafter Erwägung dahin be-
antworten müssen, dass alles weltliche Dasein mehr Unlust, ak
Lust mit sich bringe, folglich das Nichtsein der Welt ihrem
Sein vorzuziehen wäre. Als Ursache dieses Yerhältnisaes haben
wir jene im ersten Stadium der Illusion unter 1) zasammenge-
stellten Momente erkannt, welche bewirken, dass alles Wollen
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noihwendigerweise mehr Unlust^ alß Lust zur Folge haben muBSy
dasB also alles WoUen thöricht und anyeraimftig ist Schon
damals war das einzig mögliche Eesnltat klar zu erkennen; die
ganze nachfolgende Untersuchung war nur der empirisch induotiye
Nachweis der Bichtigkeit jener Consequenz, den wir uns freilich,
wenn wir sicher gehen wollten ^ nicht ersparen durften.
liit dieser negativen Lösung müssen wir hier sohliessen, wer-
den aber im nächsten Capitel sehen» welche weitere Folgen sich
ans ihr ergeben.
40«
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Das Ziel des Weltprocesses nnd die BedeHtang des
Bewnsstseins.
(TTebergtng snr prsotbohen PhlkMophle.)
Schon im Gap. G. XI. hatten wir gesehen, daas die Kette der
Finalität nicht, wie die der GanBalität, unendlich zu denken ist,
weil jeder Zweck in Bezug auf den folgenden in der Kette nur
Mittel ist, also in dem zwecksetzenden Verstände stets die
ganze zukünftige Beihe der Zwecke gegenwärtig sein muss, und
doch unmöglich eine vollendete Unendlichkeit von Zwecken in ihm
gegenwärtig sein kann.
Demnach muss die Finalreihe endlich sein , d. h. sie muss
einen letzten oder Endzweck hahen, welcher das Ziel aller
Mittelzwecke ist. Wir haben ebenfalls in Gap. G. XL gesehen,
dass Gerechtigkeit und Sittlichkeit ihrer Natur nach nicht End-
zwecke, sondern nur Mittelzwecke sein können; und das vorige
Gapitel hat uns gelehrt, dass auch positive Glückseligkeit nicht
das Ziel des Weltprocesses sein kann, weil sie nicht nur in keinem
Stadium des Processes erreicht wird, sondern sogar jederzeit
ihr Gegentheil, Elend und TJnseligkeit, erreicht wird, welches
noch überdies im Verlaufe des Processes durch Zerstörung der
Illusion und mit der Steigerung des Bewnsstseins wächst Ganz
sinnlos ist es, den Process als Selbstzweck aufzufassen, d. h.
ihm einen absoluten Werth zuzuschreiben; denn der Process ist
doch nur die Summe seiner Momente, imd wenn die einzelnen
Momente nicht nur werthlos, sondern sogar verwerflich sind, so ist
es auch ihre Summe, der Process. Manche nennen wohl die Frei-
heit als Ziel des Processes* Für mich ist die Freiheit nichts
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PontiveS) sondern etwas FriTatiyes^ die Ledigkeit des Zwanges;
ich kann nicht verstehen, wie dies erst als Ziel des Processes zu.
suchen sein sollte, wenn das XJnbewosste Ein und Alles ist, 4lso
}9]6mand da ist, von dem es Zwang erleiden könnte. Soll aber
etwas Positives in dem Begriffe Freiheit liegen, so wird es einzig
das Bewusstsein der inneren Nothwendigkeit sein können,
das Formelle am Veniünftigsein , wie Hegel sagt Dann ist also
eine Steigerang der Freiheit identisch mit einer Steigerung des
Bewusstsei». Hier kommen wir auf einen schon mehrfach er-
wähnten Punct. Wenn irgendwo das Ziel des Weltproeesses £u
suchen ist^ so ist es dooh gewiss auf dem Wege, wo wir, soweit
wir den Yerlauf des Processes überaehmi können, einen entschie*
den«n und stetigen Fortschritt^ eine stu&nweise Steigerung
wahrnehmen.
Dies ist einzig und allein bei der Entwickelung des Be-
wuBstseins, der bewussten Intelligenz, der Fall, hier aber auch
in ununterbrochenem Au&teigen von der Entstehung der TJrzelle
bis zum heutigen Standponot der Mensdiheit, und mit höchster
Wahrscheinlichkeit weiter, so lange die Welt st^t. So sagt Hegel
(Xm. S. 36): „Alles was im Himmel und auf Erden geschieht —
ewig gesclneht — das Leben Gottes und Alles, was zeitlich ge-
than wird, strebt nur danach hin, dass der Geist sich erkenne,
sich selber gegenständlich mache, sich finde, ftir sich selber werde,
sich mit sich zusammenschliesse ; es ist Verdoppelung, Entfrem-
dung, aber um sich selbst finden zu können, um zu sich selbst
kommen zu können." Ebenso Schelling: ,J)er Transcendentalphi-
losophie ist die Natur nichts anderes als Organ des Selbstbe-
wusstseins und alles in der Natur nur darum nothwendig, weil
nur durch eine solche Natur das Selbstbewusstsein vermittelt
werden kann'' (Werke L 8, S. 273), „und um das Bewusstsein ist
es in der ganzen Schöpfung zu thun'' (IL 3, S. 369). Der Ent-
stehung des BewusBtseins dient die Lidividuation mit ihrem Gefolge
von Egoismus und Unrechtthun und Unrechtleiden, der Steigerung
des Bewusstseins dient der Erwerbstrieb durch Freimachung gei-
stiger Arbeitskräfte bei zunehmender Wohlhabenheit ^ dient die
J^telkeit, der Ehrgeiz und die Ruhmsucht durch Anspomnng der
geistigen Thätigkeit, dient die geschlechtliche Liebe durch Yerede-
lung der geistigen Fähigkeit, kurz alle jene nützlichen Listincte,
die dem Lidividunm weit mehr Unlust als Lust bringen, ja oft die
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630
gröMten Opfer auferlegen. Auf dem Wege der BewuBst-
Beinsentwiokelung muss also das Ziel des Weltprocesses ge*
Bucht werden, und das Bewusstsein ist zweifelsohne der nächste
Zweck der Natur, der Welt. Es bleibt noch die Frage offien,
ob das BewuBstBein wirklich Endzweck, also auch Selbstzweck
sei, oder ob es wiederum nur einem anderen Zwecke diene.
Selbstzweck kann das Bewusstsein gewiss nicht sein. Mit
Schmerzen wird es geboren , mit Schmerzen fristet es sein Dasein,
mit Schmerzen erkauft es seine Steigerung; und was bietet es für
Alles dies zum Ersatz? Eine eitle Selbstbespiegelung!
Wäre die Welt im TJebrigen schön und werthyoll, so könnte man
ihr auch wohl die eitele Selbstgefälligkeit in der Betrachtung ihreB
Spiegelbildes im Bewusstsein allenfalls zu Gute halten, obwohl
sie immer eine Schwäche bliebe; aber eine durch und durch
elende Welt, die an ihrem Anblicke nimmermehr Freude haben
kann, sondern ihre Existenz yerdammen muss, sobald sie sich Ter»
steht, eine solche Welt BoUte an der idealen Scheinyerdoppelung
ihrer selbst im Spiegel des Bewusstseins einen yemünftig^i End-
zweck und Selbstzweck haben? Ist es denn am realen Elend
nicht genug, dass es noch einmal in der Zauberlaterne des Be-
wusstseins wiederholt werden sollte? Nein, unmöglich kann das
Bewusstsein der Endzweck des yon der Allweisheit des ünbewosa-
ten geleiteten Weltprocesses sein; das hiesse nur die Qual yer-
doppeln,in den eigenen Eingeweiden wühlen. Noch weniger kann
man annehmen, dass die rein formale Bestimmung des Han-
delns nach Gesetzen der bewussten Yemunft ein yemünfÜger
Endzweck sein könne; denn was hat die Yemunft dayon, das Han-
deln zu bestimmen, oder was hat das Handeln dayon, yon der
Vernunft bestimmt zu werden, abgesehen yon der etwa dadurch
herbeizuführenden Yerminderung der Unlust? Wäre das qualyolle
Sein und Wollen gar nicht da, so brauchte keine Yemunft mit
seiner Bestimmung bemüht zu werden! Das Bewusstsein und die
fortwährende Steigerung desselben im Process der Weltentwicke-
lung kann also auf keinen Fall Selbstzweck, auch sie kann
bloss Mittel zu einem anderen Zweck sein, wenn sie nic^t
zwecklos in der Luft schweben soll, wodurch denn auch rück-
wärts der ganze Process aufhören würde, Ent Wickelung su
sein, und die ganze Kette der Naturzwecke endzwecklos in der
Luft schweben würden, also eigentlich als Zwecke au^^oben
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631
tmd für anvemünftig erklärt würden. Diese Annahme lässt die
Allweisheit des Unbewussten nicht zu, also bleibt uns nur noch
übrig, nach dem Zweck zu suchen, welchem die Bewusstseinsent-
wickelimg als Kittel dient.
Aber wo einen solchen Zweck hernehmen? Die Beobachtung
des Prooesses selbst und dessen, was in ihm hauptsächlich wächst
und fortschreitet, führt eben nur zur Erkenntniss, dass es das Be^
wnsstsein ist; Sittlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit sind schon
beseitigt
Wie yiel wir auch grübeln und sinnen, wir können nichts
ergründ^Q, dem wir einen absoluten Werth beimessen könnten,
nichts was wir als Selbstzweck betrachten könnten, nichts was
das Weltwesen so im innersten Kern alterirt, als die Glück-
seligkeit. Nach Glückseligkeit strebt Alles, was da lebt, nach
eudämonologischen Grundsätzen wirken die Motive auf uns, richten
sich unsere Handlungen bewusst oder unbewusst; auf Glückseligkeit
sind in dieser oder jener Weise alle Systeme der practischen
Philosophie gegründet, wenn sie auch ihr Princip noch so sehr
zu verläugnen glauben; das Streben nach Glückseligkeit ist der
üefwurzelndste Trieb, ist das Wesen des Befriedigung su-
chenden Willens selbst. Und doch haben uns die Unter-
suchungen des vorigen Capitels gelehrt, dass dieses Streben ver-
w^erflich, dass die Hoffiiung auf seine Erfüllung eine Illusion, und
dass seine Folge der Schmerz der Enttäuschung, seine Wahrheit
das Elend des Daseins ist, haben uns gelehrt, dass die fortsohrei^
tende Bewusstseinsentwickelung das negative Besultat hat, stufen-
weise die illusorische Beschaffenheit jener Hoffiiung, die Thorheit
jenes Strebens zu erkennen. Es lässt sich also ein tief eingrei-
fender Antagonismus zwischen dem nach absoluter Befrie-
digung und Glückseligkeit strebenden Willen und der durch d^
Bewusstsein vom Triebe mehr und mehr sich emancipirenden In-
telligenz nicht verkennen; je höher und vollkommener das Be-
wusstsein im Verlaufe des Weltprocesses sich entwickelt, desto
mehr emancipirt es sich von der blinden Yasallenschaft, mit
welcher es anfönglich dem unvernünftigen Willen folgte, desto
mehr, durchschaut es die zur Bemäntelung dieser Unvernunft
vom Triebe in ihm erweckten Illusionen, desto iheki nimmt es ge-
genüber dem nach positivem Glück ringenden Willen eine feind-
selige Stellung ein, in welcher es ihn im historischen Verlauf
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682
Schritt für Bohritt bekämpft, die Wälle der Dlasioiien, hinter
denen er sich verschansst, einen nach dem andern durchbricht, und
nicht eher seine letzte €!onseqnenz gezogen haben wird, bis ee ihn
völlig vernichtet hat, indem nach Zerstönmg jeder Illusion nur
die Erkenntniss übrig bleibt ^ dass jedes Wollen zor TJnseligkeit
nnd nur die Entsagung zu dem besten erreichbaren Zq-
stand, der Schmerzlosigkeit führt. Dieser siegreiche Kavipf
des Bewosstseins gegen den Willen , wie er nns als Besoltat dee
Weltprocesses empirisch vor Augen tritt, ist nun aber nichts weniger
als etwas Zufälliges, er ist im Bewusstsein begrifflich enthalten»
und mit der ^twickelung desselben als nothwendig gesetst.
Denn im Cap. G. III. haben wir gesehen, dass das Wesen dee
Bewussts^ns Emancipation des Intellects vom Willen ist» wä^
rend im ünbewussten die Vorstellung nur als Dienerin des Willens
auftritt, weil nichts als der Wille da ist, dem sie ihre Entste*
hung verdanken kann, welche sie selber sich nicht zu geben ▼er-
mag (vgl. Cap. G. L 8. 330).
Femer wissen wir, dass im Beiche der Vorstellung das
Logische, Vernünftige waltet, welches dem Willen seiner
I^atur nach ebenso unzugän^ch ist, wie er jenem ist, woraus an
schliessen ist, dass, wenn die Vorstellung erst den nöthigen Grad
von Selbstständigkeit erlangt hat, sie allem Wider vernünf-
tigen (Antilogischen), was sie etwa in dem unvernünftigen (alo*
gisehen) Willen vorfindet, den Stab brechen und es zu ver-
nichten suchen wird. Drittens wissen wir aus dem vorig^i
Gapitel, dass aus dem Wollen stets mehr Unlust» als Lust fodgl»
dass also der Wille, der die Glückseligkeit will, das Gegen-
theil, die Unseligkeit erlangt, mithin auf das Wide rve r-
nünftigste zur eigenen Qual die Zähne in sein eigenes FleiBoh
schlägt, und doch wegen seiner Unvernunft durch keine Erfahrung
klug gemacht werden kann, von seinem unseligen Wollen abzu-
lassen. Aus diesen drei Voraussetzungen folgt mit Nothwendigkeit»
dass das Bewusstsein , sowie es zu der nöthigen Klarheit, Schärfe
und Beichthum gelangt ist, auch die Widervemünftagkeit des Wol-
lens und Glückseligkeitsstrebens mehr und mehr «rkennen und
demnächst Ins zur Vernichtung bekämpfen muss. Dieser v<in uns
bisher nur a posteriori erkannte Kampf war mithin nidit ein zu-
iUHges, sondern ein nothwendiges Besultat der Schati&iag des Be>
wusstseins, es lag in demselben a priori vorgebildet Wenn
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638
HUB aber das Bewntstsein der aäebste Zweck der Natur oder Welt
ist, wenn wir für das Bewnsstsein noih wendig einen weiteren Zweck
'•raachen, und uns schlechterdings keinen anderen Endsweck
denken, können, als grösstmöf^ohste CUücks^igkeit, wenn anderer-
seits alles Streben nach positiver Glückseligkeit, das mit dem
Wollen identisch ist, yerkdirt ist, weil es nnr Unseligkeit erreicht, und
der grösstmdgHchste erreichbare Glückseligkeitssustand die
Schmerslosigkeit ist^ wenn es endlich im Begriff des Bewnsst-
seins liegt, die Emancipadon des Intellects yom Will^, die Be-
kämpfung und endliche Vernichtung des Wollens zum Besultat zu
haben, sollte es dann noch xweifelhalt sein können^ dass das all-
wissende und Zweck und Mittel in Eins denkcmde ünbewjisste das
Bewnsstsein eben nur deshalb geschaffen habe, um den Wil-
len Ton der Unseligkeit seines Wollens zu erlösen,
von der er selbst sieh nicht erlösen kann, — dass der End-
zweck des Weltprocesses, dem das Bewusstsein als letztes Mittel
dient, der sei» den grösstmöglichsten erreichbaren
Glückseligkeitszustand, nämlich den der Schmerz-
losigkeit, zu verwirklichen?
Wir haben gesehen, dass in der bestehenden Welt Alles auf
das Weiseste und Beete eingerichtet ist, und dass sie als die beste
von allen möglichen angesehen werden dar^ dass sie aber trotzdem
durchweg elend, und schlechter als gar keine sei. Dies war nur
so zu begreifen (vgl. Schluss des Ovp. C. XL), dass, wenn auch
das „Was und Wie'' in der Welt (ihre Essenz) von einer allweisen
Vernunft bestimmt würde, doch das „Dass'' der Welt (ihre Existenz)
von etwas schlechthin Unvernünftigem gesetzt sein müsse, und dies
konnte nur der Wille sein. Diese Erwägung ist übrigens nur
dasselbe auf die Welt als Ganzes angewoidet , was wir , auf das
Individuum angewendet, längst gekannt haben. Das Körperatom
ist Anziehungskraft; sein „Was und Wie", d. h. die Anziehung
nach dem und dem Gesetz, ist Vorstellung, sein „Dass", seine
Existenz, seine Bealität, seine Kraft ist Wille. So ist auch die
Welt das, was sie ist und wie sie ist; als Vorstellung des Un-
bewussten, und die unbewusste Vorstellung hat als Dienerin des
Willens, dem sie seifest erst actuelle Existenz verdankt^ und g^;en
den sie keine Selbstständigkeit hat, auch keinen Bath und keine
Stimme über das „Dass" der Welt. Der Wille ist in seinem We-
sen vorläufig nichts als unvernünftig (alogisch), indem er aber
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634
wirkt, wird er durch die Folgen seines WoUens (and dies ist ein
reiner Zufall) widerTernünftig (antilogiBch), indem er die ün-
Seligkeit, das Gegentheil seines Wollens erreicht. Dieses wider-
▼emttnftige Wollen nun, welches schuld ist an dem ^fiaea** der
Welt, dieses unselige Wollen in's Nichtwollen und die Sohmen-
losigkeit des Nichts zurückzuführen, diese Au^be des Logischen
im TJnbewussten ist das Bestimmende für das ,tWas und Wie" der
Welt Für die Vernunft handelt es sich darum, wieder gut su
machen, was der unvei^nünftige Wille schlecht gemacht hat. Die
unbewusste Vorstellung ab solche hat aber keine Macht üb^ den
Willen, weil sie keine Selbstständigkeit gegen ihn hat; darum
muss sie sich eines Kunstgriffes bedienen, die Dummheit des Wil-
lens benutzen und ihm an ihr einen solchen Inhalt geben, daas er
durch eigenthümliche TJmbiegung in sich selbst in der Indiyi-
duation in einen Confliot mit sich selbst geiäth, dessen Besultat
das Bewusstsdn, d. h. die Schaffung einer dem Willen g^enüber
selbstständigen Macht ist, in welcher sie nun den Kampf mit dem
Willen beginnen kann. So erscheint der Weltproeess als ein fort-
dauernder Kampf des Logischen mit dem Unlogischen,
der mit der Besiegung des letzteren endet
Die Hauptschwierigkeit besteht darin, wie das letzte Ende
dieses Kampfes, die sohlieBsliche Erlössung yom Elend des Wol-
lens und Daseins zur Schmerzlosigkeit des Niohtwollens und Nicht-
seins, kurz wie die gänzliche Aufhebung des Wollens durch das
Bewusstsein zu denken sei. Mir ist nur ein Lösungsyersuch die-
ses Problems bekannt, nämlich der Sohopenhauer*s in §§. 68 — 71
des ersten Bandes der „Welt als Wille und Vorstellung", welcher
im Wesentlichen mit den in unklarer Weise dasselbe bezwecken-
den Absichten der mystischen Asketiker aller Zeiten und der
buddhaistischen Lehre übereinstimmt» wie Schopenhauer selbst ganz
richtig heryorhebt (vgL W. a. W. u. V. IL Cap. 48).
Die Hauptsache dieser Theorie besteht in der Annahme, dass
das Individuum yermöge der individuellen Erkenntniss von dem
Elend des Daseins und der Unvernunft des Wollens im Stande sei,
sein individuelles Wollen aufhören zu lassen , und dadurch nadi
dem Tode der individuellen Vernichtung anheim zu
fallen, oder, wie der Buddhaismus es ausdruckt, nicht mehr
wiedergeboren zu werden. Es liegt auf der Hand, dass ^ese
Annahme mit den Grnndprincipien Schopenhaner^s ganz uaverein-
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685
bar ist, und dut seine überall dnrdiblickende ünf&higkeit , den
Begriff der Entwickelung zu fassen, macht die Eumichtigkeit er-
klärlich, welche es ihm nnmöglich machte, über diese handgreif-
liche Inoonseqnens in seinem System hinwegrakommen. Diese
Inconseqnenx mnss hier in der Ktine anfgeseigt werden. D^r
Wille ist ihm das Sr xal nav^ das All-Einige Wesen der Welt»
und das Indiridonm nnr subjectiver Schein, nicht einmal objectiv
wirkliche Ersdieinimg dieses Wesens. Aber wenn es anch letz-
teres wäre, wie soll dem Indiyiduam die Möglichkeit zustehen,
sein^i individnellen Willen als Ganzes nicht bloss theoretisch,
sondern anch practisch zu vemeinen, da sein indlYiduelles Wollen
doch nur ein Strahl jenes All -Einigen Willens ist? Schopenhauer
selbst erklärt mit Recht, dass im Selbstmord die Verneinung
des Willens nicht erreicht werde, aber im freiwilligen Ver-
hungern soll sie im denkbarst höchsten Maasse erreicht sein.
Das klingt doch fast lächerbch, wenn man seinen Ausspruch da-
neben halt, „dass der Leib der Wille selbst ist, objectiy ange-
schaut ab räumliche Erscheinung^, woraus doch unmittelbar folgt,
dass mit der Authebung des indiyiduellen Willens auch seine
räumliche Erscheinung, der Leib verschwinden müsste. Nach
unserer Auffassung müssten wenigstens mit Aufhebung des indivi-
duellen Willens momentan sämmtliche vom unbewussten Willen
abhängige organische Functionen, wie Herzschlag, Athmung u. s. w.,
aufhören und der Leib als Leiche hinstünen. Dass auch dies
empirisch unmöglich ist> wird Niemand bezweifeln ; wer aber seinen
Leib erst durch Versagung der Nahrung tödten muss,
beweist eben damit, dass er nicht im Stande ist, seinen un-
bewussten Willen zum Leben zu verneinen und aufzuheben.
Aber das Unmögliche als möglich gesetzt^ was würde die Folge
sein? Einer der vielen Strahlen des Einen Willens, der, welcher
sich auf dieses Individuum bezog , wäre aus seiner Actualität zu-
rückgezogen, und dieser Mensch gestorben. Das ist aber nicht
mehr und nicht weniger als bd jedem Todesfall gesehi^t,
gleichviel aus welcher Ursache er entsprungen sei, und der All-
Einige Wille befindet sich nunmehr in keiner anderen Situation,
ab wenn jenen Menschen ein Dachziegel erschlagen hätte; er fährt
nach wie vor fort, das Leben zu packen, wo er dasselbe findet
und packen kann; denn Erfahrungen machen und durch Erfah-
rungen klüger werden kann er ja nicht. Darum ist das Streben
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nach individueller Willensverneinung ebenso thörioht
und nnt2loB, ja noch thöriditer als der Selbstmord» weil es
langsamer nnd qnalyoller doch nur dasselbe erreicht: Aufhebung
dieser Erscheinung, ohne das Wesen sn alteriren. Hiermit ist
alle Askese und alles Streben nach individueller Willensvernei-
nung als Verirrung erkannt und bewiesen, freilich als eine Ver-
irrung nur im Wege nicht im Ziele. Weil das Ziel, welches
sie erstrebt, ein richtiges ist, darum hat sie als seltenes Beispiel,
welches, der Welt gleichsam ein memento mori zurufend, sie den
Ausgang ihres Strebens vorahnen lässt, einen hohen Werth ; sdiäd-
lich aber und verderblich wird sie, wenn sie, ganse Völker ergrei-
fend, den Weltprooess zur Stagnation zu bringen und das Elend
des Daseins zu perpetuiren droht. Was hälfe es z. B., wenn die
Menschheit durch geschlechtliche Enüialtsamkeit ausstürbe, die arme
Welt bestände weiter, ja sogar das TJnbewusste würde die nfichste
Gelegenheit benutz^i müssen, einen neuen Menschen oder einen
ähnlichen Typus zu schaffen.
Blicken wir tiefer in das Wesen der Askese und individuel-
len Willensverneinung und auf die Stellung, welche sie im histo*
rischen Process in ihrer höchsten Blüthe im reinen Buddhaiemus
einnimmt, so erscheint sie als der Ausgang der asiatischen vorhel-
lenischen Entwickelungsperiode , als die Verbindung der Hoff-
nungslosigkeit für das Diesseits und Jenseits mit dem noch
nicht ertödteten Egoismus, welcher nicht an die Erlösung des
Ganzen, sondern nur an seine individuelle Erlösung denkt.
Das Ghristenthum ist in manchen Momenten weit tiefier; x. B.
Bömer 8, 22: „Denn wir wissen, dass alle Creatur sehnet sidi
mit uns'' nach der Erlösung, sie erwartet aber ihre Erlösung „von
uns, die wir des Geistes Erstlinge haben'^ von des Menschen Sohn,
dem typischen Menschen. —
Für Denjenigen, welcher den Begriff der Entwickelung ge-
fasst hat, kann es nicht zweifelhaft sein, dass das Ende des Kam-
pfes zwischen dem Bewusstsein und dem Willen, zwischen dem
Logischen und Unlogischen nur am Ziele der Entwickelnng, am
Ausgang des Weltprocesses liegen kann; för Denjenigen, welcher
vor Allem an der All-Einheit des ünbewussten festhält, ist die
Erlösung, die ümwendung des Wollens in's Nichtwollen, auch nur
als All-Einiger Act zu denken, als der Act, der das Ende
des Processes bildet» als der jüngste Augenblick, nach wel-
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_637 _
(/^ A kein Wollen, keine Thätigkeit» Jteine Zeit mehr sein wird.*'
P^ ^'£ Joh. 10, 6.) Dass der Weltprocec» nicht ohne ein aeitliches
Uj !jde, nicht von nnendlioher Dauer gedacht werden kann, wird
hM /orauBgesetzt; denn wenn daa Ziel in unendlicher Zeitferne
r^läge, 80 würde eine noch so lange endliche Dauer des Processes
C dem Ziele, das immer noch unendlich fem bliebe, um nichts
näher gekommen sein; der Process würde also kein Mittel
mehr sein, das Ziel su erreichen, mithin würde er zweck-
und ziellos sein. So wenig es sich mit dem Begriffe der Ent-
Wickelung vertragen würde, dem Weltprocess eine unendliche
Dauer in der Vergangenheit zuzuschreiben, weil dann jede
irgend denkbare Entwickelung bereits durchlaufen sein müastoi
was doch nicht der Fall ist, ebenso wenig können wir dem Frocess
eine unendliche Dauer für die Zukunft zugestehen; Beides höbe
den Begriff der Entwickelung zu einem Ziele auf und
stellte den Weltprocess dem Wasserschöpfen der Danaiden gleich.
Der ToUendete Sieg des Logischen über das Unlogische muss also
mit dem zeitlichen Ende des Weltprocesses , dem jüngsten Tage,
zusammenfallen.
Ob die Menschheit einer so hohen Steigerung des Be-
wusstseins fähig sein wird, oder ob eine höhere Thiergattung auf
Erden entstehen wird, welche, die Arbeit der Menschheit fort-
setzend, das Ziel erreicht, oder ob unsere Erde überhaupt nur
ein yerfehlter Anlauf zu jenem Ziele ist und dasselbe erst später
auf einem anderen Gestirn unter günstigeren Bedingungen erreicht
werden wird , ist schwer zu sagen. So viel ist gewiss , w o auch
der Process zum Austrag kommen mag, das Ziel des Processes
und die kämpfenden Momente werden in dieser Welt immer die-
selben sein. Schopenhauer nimmt keinen Anstand, den Menschen
der Aufgabe gewachsen zu erklären, aber er ist nur desshalb so
entschieden, weil er die Aufgabe individuell fasst, während
wir sie universell fassen müssen, wo sie natürlich ganz .andere
Bedingungen erfordert, die wir bald naher betrachten wollen. Wie
dem auch sei, von der uns bekannten Welt sind wir einmal die
Erstlinge des Geistes und müssen redlich kämpfen; gelingt der
Sieg nicht, so ist es nicht unsere Schuld; wären wir aber fähig
zum Siege, und würden wir nur aus Trägheit verfehlen, ihn zu
erringen, so würden wir, d. h. das Weltwesen, welches auch wir
ist, als immanente Strafe um so viel länger die Qual des Daseins
tragen müssen. Darum rüstig vorwärts im Weltprocess ab Arbei-
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ter im Weinberge des Herrn, denn der Process allein isl es, der
sur Erlösung f&hren kann!
Hier sind wir auf den Punct gelangt, wo die Philosophie
des XJnbewnssten ein Princip gewinnt, welches allein die Basis
der praetischen Philosophie bilden kann. Die Wahrheit yom
ersten Stadium der lUosion war die Yerzweifelung am gegen-
wärtigen Diesseits^ die Wahrheit vom zweiten Stadium der
Illusion war die Yerrweifelnng auch am Jenseits, die Wahrheit
vom dritten Stadium der Illusion war die absolute Besignatioii
auf das positive Glück. Alle diese Standpunote sind bloss ne-
gativ, die practische Philosophie und das Leben aber brauchen
einen positiven Standpunct, und dies ist die volle Hingabe
der Persönlichkeit an den Weltprooess um seines
Zieles, der allgemeinen Welterlösung willen (nicht
mehr, wie im dritten Stadium der Illusion in der Hoffiiung auf ein
positives Glück im späteren Verlauf des Processes). Anders ausge-
drückt, das Princip der praetischen Philosophie besteht darin, Ü€
Zwecke des Unbewissteii im Zwecken seines Bewasstsais ii MMkea,
was sich unmittelbar aus den beiden Prämissen ergiebt, dass
erstens das Bewusstsein das Ziel der Welterlösung vom Elend des
Wollens zu seinem Ziel gemacht hat, und dass es zweitens die
Ueberzeugung von der Allweisheit des ünbewussten hat, in Folge
deren es alle vom ünbewussten angewendeten Mittel als die mög-
lichst zweckmässigen anerkennt, selbst wenn es im einzelnen Falle
geneigt sein sollte , hieran Zweifel zu hegen. Hierdurch wird
(noch kräftiger als im dritten Stadium der Illusion durdi die blosse
Aufhebung des Egoismus) der Instinct wieder in seine
Bechte eingesetzt und die Bejahung des Willens iim LeWi
als das vorläufig aDein Richtige proclanurt; denn nur in der
vollen Hingabe an das Leben und seine Schmerzen,
nicht in feiger persönlicher Entsagung und Zurück-
ziehung ist etwas für den Weltprocess zu leiaieB, Der
denkende Leser wird auch ohne weitere Andeutungen verstehen,
wie eine auf diesen Principien errichtete practische Philosoi^e
sich gestalten würde, und dass eine solche nicht die Bii-
zweimng, sondern nur die volle Versihniuig mit dem Leben
enthalten kann. —
Wir haben uns schliesslich noch mit der Frage zu beeohäf-
tigen, auf welche Weise das Ende des Weltprooesses^ die Anf-
hebuHg alles Wollens in's absolute Nichtwollen, mit welchem be-
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kannüich alles sogenannte Dasein (Organisation, Materie u. s. w.)
eo ipso verschwindet and aufhört, zn denken sei. unsere Kennt-
nisse sind viel zu anyollkommen, unsere Erfahrungen zn kurz und
die möglichen Analogien zu mangelhaft, um auch nur mit einiger
Sicherheit uns van jenem Ende des Processes eine Vorstellung hil-
den zu könnai, und bitte ich den geneigt^i Leser, das Folgende
ja nicht etwa für eine Apokalypse des Weitendes, sondern nur für
Andeutungen zu nehmen, welche darthun sollen, dass die Bache
nicht ganz so undenkbar ist» als sie Manchem auf den ersten
Blick wohl scheinen möchte. Aber selbst Denjenigen , welchen
diese Aphorismen über die Art und Weise der Denkbarkeit jenes
Ereignisses noch mehr abstossen sollten, als die nackte Behauptung
desselben, bitte ich doch, sich an der erwiesenen Nothwendigkeit
jenes einzig möglichen Zieles des Weltfurocesses nicht durch die
Schwierigkeiten irre machen zu lassen, welche es für uns auf
einem Tom Ende noch so entfernten Standpunct hat, das Wie
der Sache zu begreifen. Natürlich können wir überhaupt nur den
Fall in's Auge fieuwen, dass die Menschheit und nicht eine andere
uns unbekannte Gattung von Lebewesen zur Lösung der Aufgabe
berufen ist.
Die erste Bedingung zum Gelingen des Werkes ist die, dass
der bei weitem grösste Theil des in der bestehenden Welt
sich manifestirenden Geistes in der Menschheit befindlich sei.
Diese Annahme hat keine erheblichen Schwierigkeiten. Auf der
&de sehen wir den Menschen immer mehr die übrigen Thiere
und die Wälder verdrängen bis auf diejenigen Thiere und Pflan-
zen , die er für sich benutzt. Künftig noch imgeahnte Fort-
schritte der Chemie und Landwirthschaft können die Vermehrung
der Erdbevölkerung auf eine sehr bedeutende Höhe erlauben, wäh-
rend sie jetzt schon über 1300 Millionen beträgt, wo erst ein ver-
hältnissmässig geringer Theil des festen Landes eine so dichte Be-
völkerung trägt, als die schon unserem heutigen Culturstandpunct
bekannten Mittel der Ernährung eines Volkes gestatten. Von
den Gestirnen ist nur ein verschwindend kleiner Theil gerade in
derjenigen kurzen Periode der Abkühlung, welche ein Bestehen von
Organismen erlaubt; aber abgesehen davon, dass zur Entstehung
einer üppigen Organisation noch ganz andere Bedingungen als bloss
die richtige Temperatur gehören, wird von jener verschwindend
kleinen Zahl, welche überhaupt Organisation tragen, doch wieder
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640
nur ein abennabi Tersohwmdend kleiner Theil fähig sein, Wesen
Ton einer dem Menschen annähernd gleichkommenden Orgaaisa-
tiensstufe xp. erzeugen.
Die sid^schen Entwickelangen messen nach so nngeheuereu
Zeiträumen, dass es schon a priori etwas sehr Unwahrscheinliches
hat, wenn das Bestehen einer hochorganisirten Gattung auf einem
anderen Gestirn gerade mit der Dauer der Menschheit auf Erden
zusammenfallen sollte. — Wie viel grösser ist nun aher der in einem
gehildeten Menschen sich offenbarende Geist, als der in einem
Thiere oder einer Pflanze, wie viel grösser erst als der in einem
unorganisirten Complex Ton Atomen! Man darf nicht d^Di Fehler
begehen, die Stärke des thätigen Willens bloss nadi dem mecha-
nischen Effect zu schätzen, d. h. nach dem Maasse des über-
wundenen Widerstandes von Atomkräften; dies wäre höchst ein-
seitig, da die Aeusserung des Willens in den Atomkräften nur die
niedrigste Art ist Der Wille aber hat noch ganz andere Ziele
und kann ein Kampf der heftigsten Begehrung^i, stattfinden ohne
einen irgraid merklichen Einfluss auf die Lagerung der Atome.
Darum scheint mir die Annahme nichts Anstössiges za enthalten,
dass dereinst in femer Zukunft die Menschheit eine solche Menge
Geist und Willen in sich vereinigen könne, dass der in der übrigen
Welt thätige Geist und Wille durch ersteren bedeutend überwogen
wird.
Die zweite Bedingung für die Möglichkeit des Sieges ist
dass das Bewusstsein der Menschheit von der Thorheit des Wol-
lens und dem Elend alles Daseins durchdrungen sei, dass die-
selbe eine so tiefe Sehnsucht nach dem Frieden und der
Schmerzlosigkeit des Nichtseins erfasst habe, und alle bisher &
das Wollen und Dasein sprechenden Motive so sehr in ihrer Eitel-
keit und Nichtigkeit durchschaut sind, dass jene Sehnsucht nach
der Vernichtung des Wollens und Daseins zur widerstandslosen
Geltung als practisches Motiv gelangt. Nach dem vorigen Gapitel
ist diese Bedingung eine solche, deren Erfüllung im Greisenalter
der Menschheit wir mit grösster Wahrscheinlichkeit entgegen-
gehen. Wir können diese Bedingung noch dahin modificiren, dasa
nicht die ganze Menschheit, sondern nur ein so grosser Theil
derselben von diesem Bewusstsein durchdrungen zu sein braucht,
dass der in ihr wirksame Geist die grössere Hälfte des in der
ganzen Welt thätigen Geistes ist.
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Die dritte Bedingung ist eine genügende Communication
unter der Erdbeyölkernng, um einen gleichzeitigen gemein-
samen Entschluss derselben zu- gestatten. In diesem Puncte,
dessen Erfüllung nur von YervoUkommnung und geschickterer An-
wendung technischer Erfindungen abhängt, hat die Phantasie freien
Bpielraum.
Nehmen wir diese Bedingungen als gegeben an, so ist die
Möglichkeit Torhanden, dass die Majorität des in der Welt thätigen
Oeistes den Beschluss fasst, das Wollen aufzuheben; es fragt sich
nur noch, ob dieser Beschluss den gewünschten Erfolg
haben kann. Um dies zu entscheiden, müssen wir auf unsere
Kenntnisse Ton der Natur des Wollens und der Motivation zurück-
greifen. (Vgl. Cap. B. XL Anfang und 4.)
Es unterliegt keinem Zweifel, dass ein besonderes Wollen im
Menschen, ein Begehren, Aifect öder Leidenschaft unter Umständen
durch den Einfliiss der bewussten Vernunft für den besonderen
Fall, um den es sich handelt, aufgehoben werden kann. Wenn
ich z. B. mit einer That oder einem Werk nach Ehre strebe, und
die Vernunft mir sagt, dass Diejenigen, nach deren Anerkennung
ich geize, Narren und Dummköpfe sind, so wird diese Einsicht,
wenn sie überzeugend und kräftig genug dazu ist, im Stande sein,
meinen Ehrgeiz, für diesen Fall wenigstens, aufzuheben. Nun
sind aber alle Psychologen darüber einig, dass eine solche Aufhe-
bung nicht durch directen Einfluss der Vernunft auf das auf-
zuhebende Begehren zu denken sei , sondern nur indirect durch
Motivation oder Erregung eines entgegengesetzt gerich-
teten Begehrens, welches nun seinerseits mit dem ersten in
eine Collision kommt, deren Eesultat ist, dass beide sich zur Null
paralysiren. Nur auf dieselbe Weise ist die Aufhebung des posi-
tiven Weltwillens zu denken, den Schopenhauer den Willen zum
Leben nennt. Nicht die bewusste Erkenntniss direct kann den
Willen mindern oder aufheben, sondern sie kann nur einen entge-
gengesetzt gerichteten , also negativen Willen erregen , der um
seinen Stärkegrad den positiven Willen vermindert. Ganz unstatt-
haft ist hiemach Schopenhauer's Lehre von dem in einer ganz
anderartigen Erkenntnissweise bestehenden öuietiv des Wollens,
vor welchem die Motive unwirksam werden sollen, und welches
der einzige mögliche Fall eines Eingreifens der transcendenten
Freiheit des Willens in die Welt der Erscheinungen sein soll.
T. Uartraann, Phil. d. Unbeinissten. 41
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642
(Vgl. W. a. W. u. V, Bd. IL S. 476 — 477.) Solche imbegreifliohe,
durch nichts zu rechtfertigende Wunder sind bei unserer Auffassung
überflüssig. Wie schön sagt dagegen 8chelling (IL 3.» S. 206):
,^elbst Qott kann den Willen nicht anders als durch ihn selbst
besiegen."
Wenn bei dem Kampf der speciellen Begehrungen oftmals zwei
Begehren trotz des Kampfes keine gegenseitige Aufhebung bewir-
ken, so kommt dies entweder daher, dass sie nur theilwcise ent-
gegengesetzt sind, theilweise aber verschiedene Seitenziele verfol-
gen, also ihre Eichtungen gleichsam nur einen Winkel bilden; oder
aber es kommt daher, dass das eine Begehren zwar in der That
fortwährend vernichtet wird , aber ebenso fortwährend aus d&ai
fortbestehenden Gründe des TJnbewussten instinctiv neuge-
boren wird, so dass der Schein entsteht, als wäre es gar nicht
alterirt worden. Bei der Opposition der Willensbejahung und
Willensvemeinung ist der Gegensatz so mathematisch streng, dass
ersterer Fall gewiss nicht eintreten kann, und für ein sofortiges
Wiederauftauchen des Weltwillens nach seiner totalen Vernichtung
fehlt wenigstens die Analogie mit dem einzelnen Begehren voll-
ständig, weil bei letzterem der Hintergrund des actuellen Welt-
willens, bei ersterem aber gar nichts Actuelles mehr bestehen bleibt.
(TJebrigens wird die Möglichkeit eines Wiederauftauchens im
folgenden Capitel noch Berücksichtigung finden.) So lange also der
vom Bewusstsein motivirte Oppositionswille noch nicht die Stärke
des aufzuhebenden Weltwillens erreicht hat, so lange wird der
stetig vernichtete Theil sich stetig wieder erneuen, gestützt auf
den übrig bleibenden Theil , welcher die positive Richtung des
Wollens auch für fernerhin sichert, sobald aber ersterer die gleiche
Stärke wie letzterer erlangt hat, so ist kein Grund abzusehen,
warum nicht beide sich vollständig paralysiren und auf NuU rodn*
ciren, d. h. ohne Rest vernichten sollten. Ein negativer üeber-
schuss ist schon darum undenkbar, weil derNullpunct das
Ziel des negativen Willens ist, welches er ja gar nicht überschrei-
ten will.
Die Motivirung oder Erregung des negativen Willens
durch die bewusste Erkenntniss ist nach Analogie der Erregung
eines speciellen negativen Begehrens durch vernünftige Einaicht
nicht bloss denkbar, sondern gefordert, denn hier im
Universellen ist gerade wie im Einzelnen der Grund, aus dem her-
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643_
aus die Vernunft den bewnssten Oppositionswillen motivirt, kein
anderer als ein eudämonologischer , die Bück sieht auf den
erreichbar glücklichsten Gesammtzustand, über wel-
ches Ziel der positiv gerichtete nnbewnsste Wille in seiner Blind-
heit hinwegschiesst zn seiner Qual.
Das Besultat der letzten drei Capitel ist also folgendes. Das
Wollen hat seiner Natur nach einen Ueberschuss von Unlust zur
Folge. Das Wollen, welches das „Dass" der Welt setzt, verdammt also
die Welt, gleichviel wie sie bescha£fen sein möge, zur Qual. Zur
Erlösung von dieser Unseligkeit des Wollens, welche die Allweis-
heit oder das Logische der unbewussten Vorstellung direct nicht
herbeiführen kann, weil es selbst unfrei gegen den Willen ist,
schafft es die Emancipation der Vorstellung durch das Bewusstsein,
indem es in der Individuation den Willen so zersplittert , dass
seine gesonderten Bichtungen sich gegen einander wenden. Das
Logische leitet den Weltprocess auf das Weiseste zu dem Ziele der
möglichste^ Bewusstseinsentwickelung, wo anlangend das Bewusstsein
genügt, um das Wollen in das Nichts zurückzuschleudem, womit
der Process und die Welt aufhört. Das Logische macht also,
dass die Welt eine bestmöglichste wird, nämlich eine solche, die
zur Erlösung kommt, nicht eine solche, deren Qual in unendlicher
Dauer perpetuirt wird. —
Ich schliesse mit den Worten Schellings (L 10, S. 247): „Es
gäbe überhaupt keinen Process, wenn nicht irgend etwas wäre, was
nicht sein sollte, oder wenigstens auf eine Weise wäre, wie es
nicht sein sollte." In dem Kampfe gegen dieses Nichtseinsollende,
den Willen, und zwar als actuelles Wollen, besteht der Pro-
cess (nach Schelling's Terminologie im Kampfe gegen das A oder
8einkönnende, insofern es sich in's B oder blind-Seiende umge-
wendet hat).
41*
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XIV.
Die letzten Principien.
Wir sind in unseren bisherigen Untersuchungen immer wieder
swei Principien, Wille und Vorstellung, begegnet, ohne deren An-
nahme überhaupt nichts zu erklären ist, und welche eben darum
Principien, d. h. ursprüngliche Elemente sind, weil uns jeder Ver-
such^ sie in einfachere Elemente zu zerlegen, von vornherein al«
ein aussichtsloser erscheint. Wir haben aber auch nirgends ande*
rer, als dieser zwei Principien zu unseren Erklärungen bedurft, und
haben das^ was man sonst auch wohl als Principien behandelt
findet, Gefühl oder Empfindung und Bewusstsein, als Polgeerschei-
nungen unserer Principien erkannt.
Was nun unsere Begrifi^e von diesen Principien betrifft, so
verfuhren wir auch hier rein empirisch und inductiv. Wir setzten
dieselben zunächst in der Weise voraus, wie der natürliche, am
Gängelbande der deutschen Sprache gebildete Menschenverstand sie
fasst, und veränderten, erweiterten und beschränkten dieselben dann
nach Maassgabe, wie es das wissenschaftliche Erklärungsbedürfiiiss
der Thatsachen forderte. Wenn nun nach unseren Resultaten jene
beiden Principien zur Erklärung der in der bekannten Welt sich
uns darbietenden Erscheinungen ausreichen, so bilden sie die Spitze
der Pyramide der inductiven Erkenntniss, und es bleibt uns nur
übrig, diesen so erklommenen Gipfel zum Schlüsse noch einmal in
Augenschein zu nehmen, wobei auch eine Vergleichung mit den
letzten Principien bestehender philosophischer Systeme nicht un-
interessant sein dürfte. Dieses Gapitel bildet mithin die unmittel-
bare Fortsetzung von den Cap. A IV., C. L und VII., deren Inhalt
ich den geneigten Leser bitte, sich zunächst zu vergegenwärtigen.
Dem Leser ohne philosophische Vorbildung werden vielleicht
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645
die BetT6UihtangeD dieses Capitels an und für sich am wenigsten
interessant sein, weil sie sich mehr als alle vorhergehenden in die
Zergliederung von Begriffen verlieren, welche an die letzte Grenze
der Abstraction und unseres Yerstandes überhaupt hioanreichen;
indessen dürfte doch einerseits das hier erst näher angedeutete
Verhältniss meines Standpunctes zu den Systemen der wichtigsten
Philosophen und andererseits die strengere Erörterung der Begriffe,
welche bisher in ihrer Bedeutung und ihren gegenseitigen Beziehungen
grösstentheils vorausgesetzt war, fiir denjenigen Leser, der das Vor-
angehende mit Interesse verfolgt hat, wegen der auf dieses Vor-
angehende zurückstrahlenden Aufklärung mancher bisher in Dunkel-
heit gelassener Puncte anziehend genug sein, um auch dieses
Schlusscapitel nicht ungelesen zu lassen.
Wenn man den Werth wissenschaftlicher Eesultate allein nach
dem Grade ihrer Gewissheit oder Sicherheit schätzt, so ist imzwei-
felhaft der Werth derselben um so kleiner, je weiter sie sich vom
Boden der zu erklärenden Thatsachen entfernen, weil ihre Wahr-
scheinlichkeit um 80 kleiner wird, und am kleinsten wäre dann
der Werth, den der Gipfel der Erkenntnisspyramide beanspruchen
könnte. Indess dürften zu der Bestimmung des Werthes doch wohl
noch andere Elemente als bloss der Grad der Wahrscheinlichkeit
in Bechnung zu stellen sein, welche sich zusammenfeussen lassen
in dem Grade der Wichtigkeit, welche diese B.esultate im Ver-
gleiche zu anderen Gegenständen der Erkenntniss haben würden,
vorausgesetzt, dass sie sämmtlich mit der Wahrscheinlichkeit 1,
d. h. mit absoluter Gewissheit, erfasst wären. Was diesen Factor
betrifft, so steigt offenbar der Werth des Gipfels der Erkenntniss-
pyramide über alle anderen möglichen Gegenstände der Erkennt-
niss hinaus , und darum will auch ich nicht müde werden , zur
besseren Peststellung der letzten metaphysischen Principien mein
Soherffein beizutragen, hoffend, dass recht bald ein Anderer komme,
der es weiter bringt, als ich. Andererseits aber hoffe ich, dass die
Nachfolger das Fundament der Pyramide von mir g^t und fest
genug gebaut finden werden, lun darauf fortzubauen, und nicht
Ursache haben werden, dasselbe in wesentlichen Theilen einzu-
reissen.
Von den grossen Philosophen treffen mit unseren Principien
am meisten zusammen Plato und Schelling, Hegel und Schopen-
hauer, und zwar repräsentiren die beiden Letzteren die einseitigen
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646
Extreme (Hegel das Logische, Schopenhauer den Willen), während
Plato und Schelling eine verknüpfende und rennittelnde Stellung
einnehmen, so zwar, dass in keinem von beiden ein vollständiges
Gleichgewicht beider Seiten vorhanden ist, sondern im Plato die
Idee, in Schelling's letztem Systeme der Wille an Bedeutung
prävalirt.
Plato 's (vgL die mustergültige Darstellung der Platonisdi^
Principien in: Zeller, Philos. der Griechen, 2. Aufl., IL 1., 8. 441
bis 471) bekanntestes und wichtigstes Piincip ist die Plato-
nische Idee, die Ideenwelt oder das Beich der vielen Ideen,
umfasst in der Einen (dem iv) höchsten Idee, oder der Idee
schlechthin, welche er naher bestimmt, als die Idee des Guten,
d. h. den absoluten Zweck, und welche ihm identisch ist mit der
göttlichen Vernunft. Plato denkt die Idee als in der ewigen Ruhe
des unveränderlichen Fürsichseins, und nur ausnahmsweise und mit
offenbarer Inoonsequenz gegen sein System schreibt er ihr hier und
da (namentlich in mythischen Darstellungen) auch wohl ein Wirken,
eine Thätigkeit zu.
Da die in sich beschlossene Idee niemals einen Grund hätte,
aus sich selbst herauszugehen, so braucht er ein zweites, ebenso
wichtiges Princip, den Grund des heraklitischen Flusses aller
Dinge, die Triebfeder des Weltprocesses.
Dieses zweite ist demnach gegenüber der ewigen Buhe der
Idee das Princip der absoluten Veränderung, das immer Werdende
und Vergehende und niemals wahrhaft Seiende; weshalb er es auch
das relativ Nichtseiende (fn^ ov) nennt, aber doch ist es das die
Ideen als seinen Inhalt in sich Aufnehmende und sie in den
Strudel des Processes Einführende. Während die Idee das Maaae-
voUe, in sich Beschlossene ist, ist jenes das Maasslose, in sich un-
begrenzte (ansiQOv); während die Idee (sogar die Zahl) in sich
nur qualitativ bestimmt ist, bringt jenes das Quantitative in die
Erscheinung, es gehört zu ihm „Alles, was des Mehr oder Minder,
des Stärker oder Schwächer, und des üebermaasses fähig isf*,
weshalb Plato es auch dcus ,,Grosse und Kleine'' nennt.
Während die Idee das Gute ist, und von ihr alles Gute in
der Welt herstammt, ist jenes aueiQOv das Böse, und die Ursache
alles Bösen und Uebels in der Welt (Aristot. Metaph. I. 6. Schluss)
ist jene blinde, vom Welt -bildenden Verstände vorgefundene Koth-
wendigkeit, jene vemunftlose Ursache, wricfae von der Vernmift
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647
nicht völlig überwunden werden konnte, jener irrationale Best, den
wir immer noch übrig behalten, wenn wir von den Dingen alles
Das abziehen, was Abbild der Idee ist.
Ans der Vermählung beider entgegengesetzten Principien ent-
springt die Welt, welche wir durch sinnliche Wahrnehmung er-
kennen. Beide Principien haben das gemeinsam, dass sie vom
Wechsel der Erscheinung nicht berührt werden, sondern über dem-
selben stehen als transcendente {xwQiotaC) Wesenheiten.
Die Uebereinstimmung der Platonischen Besultate mit den
unserigen liegt auf der Hand, wir brauchen nur das Reich der an
sich seienden Ideen in das der unbewussten Vorstellung (die ja
auch von uns als intuitiv und unzeitlich, d. h. ewig geflEtsst worden
ist) und das intensive Princip der absoluten Veränderung in den
Willen zu übersetzen.
Merkwürdig ist es auch, dass Plato behauptet, jenes aneiQOV
sei auf keine Weise erkennbar, weder durch Denken, noch durch
Wahrnehmung, was ganz damit übereinstimmt, dass wir den Willen
als solchen als etwas dem Bewusstsein ewig Unzugängliches erkannt
haben. [Wenn Plato das aTtsiqov bisweilen auch als XioQCt^ %6nog
bezeichnet, so ist dies gewiss ebenso bildlich, wie die Ausdrücke
de^afievtj (Wassercisteme) und in^aysiov (weiche Masse, in
welcher eine Form, hier die Idee, abgedrückt wird) zu verstehen,
und bedeutet, wie die Ausdrücke inaivoj iv ^ Ylype%av und
qtvatg tä navra acifiora ÖBXOfiivri bezeugen, nichts weiter als
Dasjenige, worin die Ideen ihre Stelle, Platz, Ort oder Baum zur
Aufnahme und Entfaltung finden, ähnlich wie er zuweilen der
Ideenwelt einen intelligibeln überweltlichen Ort (%67tog vofjtog)
anweist
Noch weniger eigentlich ist der nicht von Plato selbst, son-
dern erst von Aristoteles und Späteren für das afteiQoy gesetzte
Ausdruck üXi] (Mat^ie) zu verstehen]
Schopenhauer 's Philosophie ist in dem Satze enthalten : der
Wille allein ist das Ding an sich, das Wesen der Welt. Daraus
folgt sofort, dass die Vorstellung nur ein — offenbar zufälliges —
Himproduct ist, und dass in der ganzen Welt nur so viel Vernunft
XU finden sein kann, als die zufallig entstandenen Qehime hinein*
zulegen belieben. Denn was kann aus einem absolut unvemünf*
tigen, dummen und blinden Princip für eine andere, als eine un-
vernünftige und dumme Welt hervorgehen! Wenn eine %itr von
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m
Sinn in ihr ist, so kann er doch nur durch Zufall hineinge-
komm^i sein! Es liegt auf der Hand, dass das absolut Dumme
als Princip genommen sehr viel ärmer und unausgiebiger sein muss,
als das absolut Kluge, die Idee und das Denken; es gehört auch
eine merkwürdige Beschränkung dazu, sich an dem absolut Dummen
und seiner Armuth als Princip geniigen zu lassen, — daher die
dilettantische Färbung, welches bei allem Eeichthume an Geist da^
Schopenbauer^sche Philosophiren an sich hat.
Andererseits kann man die Weisheit des Unbewussten nicht
genug bewundem und loben, dass sie ein so bomirtes Genie schuf,
um der Nachwelt zu zeigen, was mit jenem Princip in seiner Iso-
ürang anzufangen ist, wob nicht; die einseitige Ausarbeitung diese»
Principes war im genetischen Entwickelungsgange der Philosophie
gerade so nothwendig, wie die Zuspitzung des entgegengesetzten
Extremes in Hegel.
Wie eng beide Philosophien zusammenhängen, lässt sich schon
durch den zufalligen Umstand belegen, dass beider Philosophen
Hauptwerke im Jahre 1818 erschienen, wenn man gleichzeitig
sich des Ausspruches von Hegel (XV. S. 619) erinnert: „Wo
mehrere Philosophien zugleich auftreten, sind es unterschiedene
Seiten, die eine Totalität ausmachen, welche ihnen zu Grunde liegt'*
So gewiss Schopenhauer unfähig war, den Hegel zu fassen, so
gewiss muss Hegel, wenn er ihn gekannt hat, über Schopenhau^
die Achseln gezuckt haben ; Beide standen sich so fem, daM ihnen
jeder Berührungpunct zur gegenseitigen Würdigung fehlte.
Wenn Kant's Kriticismus jeden Versuch einer theoretisoh^i
Metaphysik von sich ablehnen musste und erst Fichte die positive
metaphysische Entwickelung der neuesten Philosophie mit der
dialectischen Behandlung des Selbstbewusstseins beginnt, so zieht
Hegel das Eacit dieser Entwickelung bis zum ersten Drittel de«
Jahrhunderts, indem er das Princip, welches bis dahin ihr mehr oder
minder unbewusst treibendes Moment gewesen war, von Schelling
übernimmt: die Idee allein ist das Wesen der Welt; die Logik ist mit-
hin die Ontologie, die dialectische Selbstbewegung des Begriffes ist
der Weltprocess. Dieses Princip ist der vollständigen Armuth des
Schopenhauer^schen gegenüber das absolut reiche, denn alles, was
die Welt ist, ist sie ja durch die Idee; es liess sich also mit ihm
schon etwas anfEuigen, und es ist nicht zu verwundern, dass es vier
Systeme producirte, wo sein Gegenfüssler sich in Einem ersdiöpfte.
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649
Hegel durchmasB in seiner Logik das Platonische Reich der
an sich seienden Idee; er versuchte die Idee. im Processe ihrer
ewigen Selbstgebärong aus dem baarsten Sein zu belauschen, und
so weit war das Princip in seinem Beoht. Als aber das Eeich der
an sich seienden Idee nach allen Richtungen durchmessen vi{bx, da
kam das Princip an seine Grenze, denn Alles konnte die Idee durch
sich erschöpfen, nur Eines blieb ihr unerreichbar, die res, die
Realität, „denn reell ist eben, was durch das blosse Denken
nicht geschaffen werden kann" (Schelling I. 3. S. 364).
Das Princip war aber einmal in seiner Einseitigkeit als Aus-
schliessliches erfasst, xuid musste in dieser Einseitigkeit durchge-
führt werden, um auch hier deutlich zu zeigen, wie weit es reicht
und wie weit nicht. Andererseits aber lag es in der dialectischen
Bewegung vorgezeichnet, dass die logische Idee, nachdem sie sich
in ihren vier Pfählen, dem Logischen erschöpft hatte, mit dialec-
tischer Nothwendigkeit das Andere ihrer selbst, oc^r das Negative
ihrer selbst, fordern musste, und dieses konnte nun bloss noch —
das Unlogische sein.
Mit dieser formlichen Anerkennung aber hätte sich das Lo-
gische wieder seiner absoluten Souveränität begeben, hätte ein
Gleichberechtigtes neben sich anerkannt, und eingeräumt, dass erst
in der Bekämpfung und zugleich Vereinigung dieser letzten und
höchsten Gegensätze die Wahrheit gefunden sei und die Wirklich-
keit beruhe. Dann hätte die Logik aber auch aussprechen müssen,
dass jenes Unlogische nur zufälligerweise, nämlich nur von ihrem
Standpuncte aus gesehen, das Negative sei, in Wahrheit aber von
einem höheren Standpuncte das Positive, welches allererst dos
Logische realisirt, während es ohne dieses Positive mit seinem
ganzen Ideenkram gleich Nichts ist.
Diese Zumuthxmg für den absoluten Idealismus, sich mit einem
Ruck in die Negative zu erklären, war für Einen Menschen, —
denselben, der ihn erst auf die Höhe gefuhrt hatte, — zu viel.
Zwar iässt Hegel hier und da das Gefühl durchschimmern, dass
doch wohl das Negative des Logischen eine Berücksichtigung ver-
diene, und den Uebergang der Idee in die Wirklichkeit erst er-
mögliche, aber er erstickt die Andeutungen dieses Gefühles im
Entstehen, um nur seiher lieben Idee nicht zu nahe zu treten, und
in seiner Natur- und Weltanschauung kennt er überall nur dialec-
ÜBche Processe innerhalb des Logischen, nirgends einen Kampf
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650
des Logischen mit dem Unlogischen, nirgends überhaupt einen
unlogischen Rest an den Erscheinungen, obwohl dei (wie
Hegel ihn braucht) logisch unverständliche Begriff des Zufälligen
ihm einen solchen nahe genug gelegt hätte.
Mit einem Worte, das Verhältnies der Logik zur Naturphilo-
sophie ist im Hegel selbst unklar und yerwischt. Sein Princip
consequent durchzufuhren, und (wie Michelet) zu behaupten, dass
die Natur nur insofern die ausser sich gekommene Logik oder die
Logik in ihrem Anderssein heissen könne, als die in der Logik
in Eins gefassten Momente des dialectischen Processes aus eiitnier
gefallen sind, davor schützt den Hegel eine gewisse instinctive
Scheu, welche ihn lehrt, dass er mit der consequenten PurchfÜhrang
seines Principes gegen seine Methode verstösst, welche unbedingt
das Unlogische, als das gleichberechtigte Negative der logischen Idee,
fordert; aber dieser Forderung genug zu thun, davon schrecken
ihn wieder die# Consequenzen jenes Schrittes ab, welche offenbar
sein Princip zerstören, dass die Idee die alleinige Substanz sei.
Aus diesem Widerspruche erklärt es sich, dass der Uebergang
von der Idee zur Natur alle Mal, wo Hegel ihn erwähnt (z. B.
Phänomenologie S. 610, Logik Bd. 2. S. 399—400, Encyclopädie
Bd. 1 §. 1, §. 43 und §. 244) in ungewöhnlich aphoristischer Weise
abgefertigt, in den neuen Auflagen häufig geändert, und noch daau
mit uneigentlichen und bildlichen Ausdrücken (Aufopferung, Ent-
falten, Entäusserung , Entlassung, Widerschein der Idee u. s. w.)
ausgestattet wird. Die Differenz in diesem Punote hat «ich erst
in den gespaltenen Richtungen der Hegerschen Schule klar
enthüllt.
Werfen wir noch einen BHck darauf, wie sehr Hegel die
Nothwendigkeit des Unlogischen als Gegengewicht des Logischen
im Stillen gefühlt habe. Am Sohluss der grossen Logik sagt er
von der absoluten Idee, dass dieselbe, in der Sphäre des reinen
Gedankend eingeschlossen, noeh logisch sei, woraus doch sm schlies-
sen, dass ihr Heraustreten aus dieser in eine andere Sphäre der
Uebergang in das nicht mehr Ix^sche, d. h. in's Unlogische, sein
müsse. In der Phänomenologie S. 610 sagt er: ,,DaB Wissen kennt
nicht nur sich, sondern auch das Negative seiner selbst, oder
seine Grenze^.
Hier sollte man doch auch vermuthen, dass unter diesem Negft*
tiven das Unlogische gemeint sein müssa Aber er schwächt die
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651
Wirkung \7ieder vollständig ab, indem er dieses ,, seine Grenze
Wissen'* für genügend zur Aufopferung oder Entäusserung er-
klärt In der Logik £d. 2 S. 400 sagt er femer: „Weil die reine
Idee des Erkennens insofern in die Subjectivität eingeschlossen ist,
ist sie Trieb, diese aufzuheben.'' Hier fühlt er sogar, dass
das Hinausgehen über die Idee allein Sache des Willens sein
kann. Ganz unmöglich aber ist der Gedanke, dass dieses „aus der
Idee heraustreten Wollen der Idee'' aus ihr selber, aus der
ewigen Buhe ihres Fürsichseins kommen könne, welche vielmehr
dem absolut selbstgenügsamen Frieden, der ungetrübten,
in sich beschlossenen Zufriedenheit gleich gesetzt werden muss.
Nieht nur unbegreiflich wäre es, wie die Idee aus eige-
nem Antriebe dazu kommen könnte, ihre ewige Klarheit von selbst
in den Strudel des realen Processes zu stürzen, sondern haar-
sträubend widersinnig wäre es, wenn sie, die alles Wissen in
sich Schliessende, ihren seligen Frieden der unzeitliohen ewigen
Stille ohne äussere Nöthigung opfern wollte, um der Qual des
Processes, der Unseligkeit des WoUens, dem Elend des realen Da-
seins anheimzufallen Nein, nicht die absolute Yemunft selbst kann
auf einmal unvernünftig werden, sondern das Unvernünftige muss ein
Ausserhalb der Vernunft Liegendes Zweites oder Anderes sein.
Läge es in der Natur des Logischen, aus sich selbst in^s
Unlogische überzugehen, so wäre dieses Geschehen ein nothwen-
diges und ewiges, und es kcmnte niemals von einem Schlüsse des
Processes, von einer Erlösung die Bede sein.
Auch ist es ja nur die negative, relative, nämlich auf die
logische Idee sich beziehende, Bestimmung jenes Gtegensatzed der
Idee, das Unlogische zu sein; seine positive Bestimmung aber ist
die, Princip der Veränderung, Ursprung der Bealität, Wille au
Bein, und wenn Hegel diese Bestimmung, Trieb zu sein, in obiger
Stelle plötzlich hineinwirft, so ist es doch ganz klar, dass er die-
selbe rein aus dem empirischen Erklärungsbedürfnisse der Bealität
der Natur hergeholt hat.
Dies ist aber auch in der That der allein mögliche Weg,
Äur Erkenntniss des Willens zu kommen ; a priori kann man höch-
stens die Idee erkennen, und Alles, was aus der Idee folgt; die
Existenz des Willens aber ist nur a posteriori zu erschliessen.
Denn alle apriorische, rein logische oder Tein rationale Philosophie
iLann nur ideelle Verhältnisse, aber nicht reale Existen-
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652
£en als Behauptung aufstellen, sie kann höohstens sagen: „wenn
etwas ist, so muss es so sein% aber sie kann nie zeigen, dass
etwas ist; dies kann nur die Erfahrung, d. h. der Confliot mit
dem vorhandenen Willen (Existenz) in der Wahrnehmung de«
BewuBstseins. Dies entspricht ganz dem Yerhältnisse, dass die
Idee nur das „Was" der Dinge bestimmt, der Wille aber ihr
„Dass^^; so kann die Idee die Dinge auch nur soweit begrei-
fen, als sie dieselben bestimmt, also niemals ihre reale Existenz.
Diesen nothwendigen Schritt der Philosophie, welchen Hegd
nicht zu thun im Stande gewesen war, yollzog Schelling*) in
seinem letzten System, indem er, wie schon Cap. C. VIL angedeutet
ist, den rein logischen Gharacter der bisherigen Philosophie er-
kannte, in die Negative erklärte und im Gegensatze zu ihr die
Forderung einer von dem nur durch Erfahrung zu erkennenden,
unvordenklichen Sein beginnenden positiven Philosophie aufetellte
(vgl. Schelling's Kritik der Hegerschen Philosophie in I. 10. ß. l^^
bis 164, besonders S. 146 u. 151—157; ferner II. 3, vierte nnd
fünfte "Vorlesung).
So weit Schelling's Deductionen kritisch und vorbereitend sind,
sind sie vortrefflich, sowie er aber anfängt, seine positive Philo-
sopjiie selbst vorzutragen, wird er schwach, schwankt zwischen
einem erläuternd raisonnirenden Verfahren, zwischen einer dialecti-
schen Methode und zwischen einem eigenthümlichen unmotivirten
Hervorplatzen mit neu eintretenden Hauptbegriffen, um sich bald
in die Untiefen einer mystischen Theogonie und die Details der
christlichen Theologie zu verlieren. Es liegt dies ganz einfad
daran, weil er seiner Vergangenheit und Gewohnheit zu liebe
seiner besseren Erkenntniss xmtreu wird, dass das Princip der posi-
tiven Philosophie nur a posteriori aus der Erfahrung,
also auf inductivem Wege zu gewinnen sei.
[Weil Schopenhauer in der Hauptsache (z. B. W. a. W. tuV.
2te8 Buch, und „Ueber den Willen in der Natur") inductiv vö^
fahrt, darum leistet er in dieser Aufgabe so viel mehr, obwohl er
sich über seine Methode und darüber, warum sie die einzige richtige
sei, eben nicht besonders klar ist.] •
*) Vgl. meine diesem ganzen Capitel zar nothwendigen Erg^zung ^ ,
Erläuterung dienende Schrift: „Schelling's positive Philosophie als Einheit
von Hegel und Schopenhauer**, welche im 3teD Bande der „PhilosopliiselMft
Monatshefte*' 1869 erscheinen soU.'
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653
Gleichwohl hat Schelling's letztes System (Einheit der positiyen
und negativen Philosophie) dadurch einen hohen Werth, dass es
das Princip HegeVs (die Idee) und das Schopenhauers (den "Willen)
zusammenfasst als coordinirte, gleichberechtigte und gleich unent-
behrliche Seiten des Einen Principes (vgl. I. 10, 242 — 43; I. 8.
328). Schelling erkennt in jener „ausserlogischen Natur der
Existenz" (IL 3, 95), in jener „unbegreiflichen Basis der Eeali-
tät" (I. 7, 360) mit voller Entschiedenheit den Willen. Dass
etwas ist, erkennt man nur an dem Widerstände, den es entgegen-
setzt, das einzige Widerstandsfähige aber ist der Wille (11. 3, 206).
Der Wille also ist es, der der ganzen Welt und jedem einzelnen
Dinge sein Dass verleiht, die Idee kann ihm nur das Was be-
stimmen. Schon in seiner Abhandlung über das Wesen der mensch-
lichen Freiheit, die 1809 (also lange vor Schopenhauers Schriften)
erschien, sagte er (Werke I. 7. S. 350): „Es giebt in der höchsten
und letzten Instanz gar kein anderes Sein, als Wollen. Wollen ist
ITrsein, und auf dieses allein passen alle Prädicate desselben:
Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit von der Zeit, Selbstbe-
jahung. Die ganze Philosophie strebt nur dahin, diesen höchsten
Ausdruck zu finden.** Und in seinem „anthropologischen Schema**
(I. 10. S. 289) findet man: „I. Wille, die eigentlich geistige
Snbstanz des Menschen, der Grund von Allem, dafi ursprüng-
lich Stoff-Erzeugende, das Einzige im Menschen, das Ursache
von Sein ist,**
Im Gegensatze hierzu erklärt er ebendaselbst den Verstand
als „das nicht Erschaffende, sondern Kegelnde, Begren-
zende, dem unendlichen Schrankenlosen Willen M a a s s Gebende.**
Dem entsprechen ganz die Principien der Pythagoräer: das
anuQOv (Unbegrenzte), und das TVBQoivov (Begrenzende) oder sido^
Ttoiovv (Form oder Begriff Gebende) (I. 10, 243). Wenn das
ideale Princip ein Verstand ist, in dem kein Wille ist (U. 2, 112;
n. 1, 375 Z. 14 — 16), so ist das reale Princip ein „Wille, in dem
kein Verstand ist** (I. 7, 359). „Alles Wollen aber muss etwas
wollen** (n, 1, 462), ein gegenstandsloses Wollen ist nur = Sucht,
„die Sehnsucht, die das ewig Eine empfindet, sich selber zu gebären
(I. 7, 359). Das Wort dieser Sehnsucht aber ist die Vorstel-
lung, — jene Vorstellung, die zugleich der Verstand ist (L 7, 361),
oder „das ideale Princip** (I. 7, 395). In dem „Aussprechen dieses
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664
Wortes" ist die Yereinigimg des idealen und realen PrmoipeB ge-
funden, aus welcher das zu erklärende Dasein entspringt.
In seinen späteren Barstellungen bemüht sich Sohelling, diese
Frincipien aus dem Begriffe des Seienden als dessen nicht niehtr
zudenkende Momente abzuleiten, ein Unternehmen, das seine Un-
fruchtbarkeit darin enthüllt, dass jeder wirkliche Fortgang doch
nur durch das Wiedereinsetzen der concreten Bestimmungen ge-
wonnen werden kann. Hier entspricht dem Willen das Seinkönnende
(potentia existencU), der Idee das rein (d. h. potenzlos, idealitei)
Seiende. Ueber das Seinkönnende sagt er (IL 3, S. 205—206):
„Nun aber ist das Seinkönnende, Ton dem hier die Eede ist, nidit
eine solche bedingte, es ist die unbedingte potentia e^cisiendi, es
ist das, was unbedingt und ohne weitere Vermittelung a potentia
ad actum übergehen kann. Nun kennen wir aber keinen anderen
üebergang a potentia ad actum, als im Wollen. Der Wille an
sich ist die Potenz xar i^oxfjv, das Wollen der Actus xorr f^o-
Xi^v. Der XJebergang a potentia ad actum ist überall nur üebe^
gang vom Nichtwollen zum Wollen. Das unmittelbar Seinkönnende
also ist Dasjenige, was, um zu sein, nichts bedari^ als eben vom
Nichtwollen zum Wollen überzugehen. Das Sein besteht ihm e\m
im Wollen, es ist in seinem Sein nichts Anderes als Wollen.
Kein wirkliches Sein ist ohne ein wirkliches, wie immer näh^
modificirtes Wollen, denkbar.*' — Das Seinkönnende ist der Wille
an sich, der noch nicht gegenständliche, sondern erst uiständliche
Wille, der zwar wollen kann (sonst wäre er ja nicht Wille), aber
eben noch nicht will, der Wille vor seiner Aeusserung (ü. 3,
S. 212 bis 213).
Entzündet sich dieser Wille zum Wollen, wird er actir, so
begiebt er sich damit seiner Freiheit, seines auch Nichtseinkönnen^
und verfallt dem blinden Sein, wie Spinoza's Substanz. Als Bolcber
wird er das „Sinistre", „die Quelle alles Unwillens und Missver-
gnügens" (n. 3, 226).
Das rein Seiende oder die Idee ist weder Potenz, noch Actus,
denn Actus ist nur das, was aus der Potenz henrorgeht; Schelling
nennt ihren Zustand actus purus. Ich bemerke hierbei, dass Schel-
ling der christlichen Dreieinigkeit zu Liebe sich bemüht, seine
Principien und deren substantielle Einheit zu Personen zu ma^heo,
und zu dem Zwecke jedem der drei einen eigenen Willen zoso*
schreiben, was ganz verkehrt ist. Damit man diese Verkehrtheit
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655_
nicht za deutlich empfinde, unterdrückt er in den späteren Dar-
stellungen nach Möglichkeit, dass die concrete Bestimmung des
„rein Seienden'' die ,Jdee'^ ist. (Näheres siehe in meiner ange-
führten Schrift.) —
Eine merkwürdige Stelle findet sich in Irenaeus I. 12, 1, wo
derselbe über Ptolemäus berichtet. Da dieselbe beweist^ wie früh
schon jene Erkenntniss zum klaren Ausdruck gekommen ist, welche
eine Weltschöpfong aus der blossen Idee für unmöglich erklärt, so
will ich sie hierher setzen: tcqwtov yag ivvoij&i^ nQoßakelVy
(prjalv, alta i&ikrjoe. to &iXrjfxa Toivvv dvvafiig iyivero
ifjg evvoiag, ivevoei fiiv yäg tj ivvoia xqv nqoßaXr^v ov fisvrot
TtQoßdkleiv avtfi xaxf eavT^v rjövvazo, a ivevoei. ote öi rj
tov ^sktjfxazog övva/nig ineyspezo, Toze, o hevosi, TtQoißale.
(Denn zuerst gedachte er hervorzubringen, dann wollte er. — Der
Wille also wurde die Kraft des Gedankens. Denn es dachte zwar
der Gedanke die Schöpfung, doch konnte er nicht selbst von sich
selbst hervorbringen, was er dachte. Als aber die Kraft des Wil-
lens hinzukam, da brachte er hervor, was er dachte.)
Die wesentliche Uebereinstimmung unserer Principien mit
denen der grössten metaphysischen Systeme (Spinoza behalten wir
und noch vor) kann nur dazu dienen, uns in der Ueberzeugung zu
bestärken, dass wir uns auf dem rechten Wege befinden. Gehen
wir jetzt noch auf jedes der Principien etwas näher ein. —
Das Wollen ist dasjenige, was das Eeale vor dem Idealen
voraus hat; das Ideale ist die Yorstellung an sich, das Eeale ist
die gewollte Vorstellung oder die Vorstellung als Willonsinhalt. i
Ebenso verbreitet wie der Glaube an den Stoff ist die Auffassung, l
dass das Eeale nicht die erscheinende Willensthätigkeit
selbst des Weltwesens, sondern ein todtes^ stehen gebliebe-
nes Product, ein caput mortuum einer früheren, längst erlosche-
nen Willensthätigkeit, des Schöpfungsactes , sei, und dass der
eigentliche Eepräsentant dieses caput mortuum der Stoff sei.
Von diesem Vorurtheü haben wir uns bereits im Cap. C. VII.
frei gemacht, wo wir erkannt haben, dass es niir das Unbewusste
und seine Thätigkeit giebt, aber nichts Drittes. So lange man das
Yoruftheil des todten Stoffes nicht überwunden hat, bleiben freilich
nur die zwei Weisen, ihn au&ufassen, übrig: entweder als uner-
schaffene ewige Substanz, wie der Materialismus, oder als caput
mortuum des Schöpfungsactes, so wenig sich auch mit einem solchen
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656
todien Producie ein klarer Begriff yerbinden lässt; nachdem aber
der Stoff yon uns als eine Chimäre , die Materie als ein System
von Atomkräften, und die materielle "Welt als ein labiler, fort-
während sich ändernder Gleichgewichtszustand sehr vieler
sich kreuzender Willensthätigkeiten erkannt worden
ist, fällt jeder Grund zur Annahme von todten Eesten früherer
Productivität fort, und wir erkennen nunmehr das Beale in jedem
Moment des Frocesses als gegenwärtige WiUfiiisthätigkeit, also
das Bestehen der Welt als einen stetigen Schöpfungsact.
Dies ist wohl auch der Sinn des „zweiten Folgesatzes'' im Anfange
der Schelling'scben Naturphilosophie (Werke I. 3, S. 16): „Die
Natur existirt als Froduct nirgends; alle einzelnen Producte in
der Natur sind nur Scheinproducte , nicht das absolute Froduct, in
welchem die absolute Thätigkeit sich erschöpft, und das immer
wird und nie ist."
Diese Auffassung widerspricht keineswegs, wie es wohl auf
den ersten Anblick scheinen könnte, dem physikalischen Grund-
sätze, dass die Wirkung einer einmal wirkenden Ursache verharrt;
denn der neu herbeigeführte Zustand, in welchem die physikalische
Wirkung besteht (z. B. eine Bewegung von der und der Richtung
imd Geschwindigkeit) verharrt allerdings, vorausgesetzt, dass
der Gegenstand verharrt, dessen Zustand sie ist, d. h. vorausgesetzt,
dass dieser Gegenstand stetig neu gesetzt wird.
Es hängt mit dieser Auffassung des Bestehens der Welt als
eines stfeltigen SchÖpfungsactes zusammen, dass wir das Wollen
nicht mehr von der That getrennt betrachten können, das Wol-
len ist selbst die That.
Am deutlichsten kann man sich diese Wahrheit an dem Atom-
willen veranschaulichen, wie es in Cap. C. V. und X. auseinander-
gesetzt ist. Wenn es in der Psychologie anders erscheint, so ist
dies so zu erklären*.
1) ist That im weiteren Sinne zu fassen als äusseres Wirk-
samwerden des Willens; fasst man dagegen die That im engeren
Sinne, nämlich gerade nur als die beabsichtigte Art des Wirk-
samwerdens, so ist allerdings nur dasjenige Wollen mit der That
identisch, was seinen Willen durchsetzt, nicht aber das-
jenige, welches zwar handelt und wirkt, aber an der Ausführung
der That in der beabsichtigten Weise durch äussere, ihm
unüberwindliche Hemmnisse gehindert wird;
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667
2) ist nur daa auf die Gegenwart gerichtete Wollen mit
der That identisch , ein auf die Zukunft gerichtetes Wollen aber
ist auch gar kein eigentliches kategorisches Wollen, sondern nur
ein hypothetisches Wollen, ein Vorsatz oder eine Absicht;
3) versteht man unter That in der Psychologie nur ein Han-
deln der ganzen Person, nicht aber diejenigen vom Willen bewirk-
ten Bewegungen der Himmolecüle, welche an sich nicht kräftig
genug sind, um- ci'^e äussere Handlung des Leibes hervorzurufen,
oder daran durch andere, im entgegengesetzten 8inne wirkende
Himschwingungen verhindert werden.
Daher ist in der Psychologie freilich nur das ganze gegen-
wärtige Wollen des Individuums, d. h. die Resultante aller gleich-
zeitigen Einzelwillen oder Begehrungen desselben, mit der That
identisch, während die gleichzeitigen Componenten ihre Wirksam-
keit an einander im Gehirne erschöpfen^ insoweit sie nicht in
der Resultante zur That werden. Streng genommen aber ist auch
die Bewegung der Himmolecüle ein in äussere Wirksamkeit Treten
des Willens, d. h. eine That, und in diesem Sinne ist auch jedes
einzelne Begehren im Individuum eine That, nur dass sie durch
anderweitige Himschwingungen vielleicht gehindert wird, sich in
ihrer ganzen möglichen Tragweite zu verwirklichen, z. B. der
Hunger erzeugt Himschwingungen im Bettler, die ihn nöthigen
würden, seine Hand nach dem Brode im Bäckerladen auszustrecken,
die Scheu vor dem Diebstahl erzeugt andere Himschwingungen,
welche die That dieser Gliederbewegung verhindert; beide aber,
das positive wie das negative Begehren, äussern sich in der That
als Himschwingungen.
,J)er Wille an sich ist die Potenz xat i^ox^Vy das Wollen
der Actus xofi' ^^o^t/v*'; dieser Ausspruch Schelling's ist gewiss
nur zu unterschreiben. So viel wenigstens ist allgemein anerkannt,
dass das Wollen als ein Actus zu betrachten sei, dem eine Potenz
zu Grunde liege, und diese Potenz, dieses Wollenkönnende, von
dem wir weiter nichts als dieses wissen, dass es wollen kann,
nennen wir Wille.
Zu diesem bis hierher ganz durchsichtigen Verhältnisse tritt
aber nun eine Verwickelung hinzu. Wir wissen nämlich aus €ap.
A. IV., dass das Wollen nur dann wahrhaft existiren kann, wenn
es bestimmtes Wollen ist, d. h. wenn es etwas Bestimmtes will,
und dass die Bestimmung dessen^ was gewollt wird, eine ideale
T. Hartmann, Phil. d. Unb^wnssten. 42
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668
Bestmunnng ist, d. h. dase das Wollen eine Yorstellung zum Inhalt
haben ii;LaB6. '
Andererseits wissen wir aus Cap. 0. I., dass die Yorstellung
von sich selbst nicht existentiell werden, nicht aus dem Nichtsein
in's Sein übergehen kann, — denn sonst wäre sie ja Potenz oder
Wille, oder enthielte diesen in sich — dass also nur der Wille ihr
Existenz verleihen kann. Hier sind wir aber in einem Zirkel:
das Wollen soll erst durch die Vorstellung existentiell werden, und
die Vorstellung erst durch das Wollen. Durch den Willen an sich^
d. b. sofern er blosse Potenz und nicht actuell ist, kann doch
gewiss keine Wirkung (Action) auf die Vorstellung ausgeübt wer-
den, sondern wirken kann der Wille offenbar nur, insofern er niabt
mehr blosse Potenz ist. Wenn nun einerseits der Wille als blosse
Potenz überhaupt nicht, also auch nicht auf die Vorstellung wirken
kann, wenn andererseits das Wollen als eigentlicher Actus erst
existentiell wird durch die Vorstellung, und doch die Vorstellung
Yon sich selbst nicht existentiell werden kann, so bleibt nur
die Annahme übrig, dass der Wille in einem niittleren Zustande
auf die Vorstellung wirkt, welcher zwar dem potenziellen Willen
gegenüber sich schon als Actus, dem eigentlichen actuellen
Willen gegenüber sich aber noch als Potenz verhält, also auch
noch nicht im Sinne jenes bestimmten Actus existentiell ist. £in
solcher Mittelzustand ist aber das leere Wollen.
Auch Schelling kennt dieses leere Wollen; er sagt (II. 1.
S. 462)t „Nun aber drängt sich yon selbst eine für die ganze Folge
wichtige Unterscheidung auf — des Wollens, das eigentlich gegen-
standslos ist, das nur sich will (== Sucht), imd des Wollens, das
nun sich hat und als Erzeugniss jenes ersten Wollens stehen bleibt".
Das leere Wollen ist noch nicht, denn es liegt noch vor jener
Actualität und Realität, welche wir allein unter dem Prädicat Sein
zu befassen gewohnt sind; es weset aber auch nicht mehr bloss,
wie der Wille an sich, als reine Potenz, denn es ist ja schon
Folge von dieser, und y erhält sich mithin zu ihr als Actus; wenn
wir das richtige Prädicat anwenden wollen, so können wir nur
sagen: das leere Wollen wird, — das Werden in jenem eminen-
ten Sinne gebraucht, wo es nicht Uebergang aus einer Form in
eine andere, sondern aus dem absoluten Nichtsein (reinem
Wesen) in's Sein bedeutet. Das leere Wollen ist das Ringen
nach dem Sein, welches das Sein erst erreichen kann, wenn
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659
eine gewisse äussere Bedingung erfüllt ist. Wenn der Wille an
sich der wollen könnende (folglich auch nicht wollen könnende
oder vdie et ndle potena) Wille ist, so ist das leere Wollen der
Wille, der sich zum Wollen entschieden hat (also nicht mehr nicht-
wollen kann), der wollen wollende, nun aher nicht wollen könnende,
genauer: wollen niohtkönnende (veUevolens^ sed veüe non potena)
Wille, his die Vorstellung hinzukommt, welche er wollen kann.
Das leere Wollen ist also insofern actuell^ als es nach seiner
Verwirklichung ringt, aber insofern ist es nicht actuell, als es
durch sich sich selbst ohne Hinzutreten eines äusseren Umstandes
diese Verwirklichung nicht erringen kann. Als leere Form kann
es erst wirklich existentiell werden, wenn es seine Erfüllung
erlangt hat, diese Erfüllung kann es aber an sich selbst nicht
finden, weil es eben nur Form und nichts weiter ist. Während
also das Streben des bestimmten Wollens die Verwirklichung seines
Inhaltes (sein Gteltendmachen gegen entgegengesetzte Bestrebungen)
zum Ziele hat, hat das Streben des leeren WoUens kein anderes
Ziel, als das, sich selbst, sich als Form zu verwirklichen, seiner
selbst habhaft zu werden, zum Sein, oder was dasselbe ist, zum
Wollen, d. h. zu sich selbst zu kommen.
Ein anderes Streben, als dieses, in welchem die reine Form
selbst den Inhalt oder das Ziel bildet, lässt sich auch in dem
absolut Torstellungslosen und dummen Willen gar nicht denken.
So bleibt es bei einem unaufhörlichen Anlaufnehmen, ohne je
zum Sprunge zu kommen, es bleibt bei einem Werden, aus dem
nichts wird, bei dem nichts herauskommt. Das wollen -Wollen
schmachtet nach Erföllung, und doch kann die Form des Wol-
lens nicht eher verwirklicht werden, bis sie einen Inhalt erfasst
hat; sobald sie aber dies gethan hat, ist das Wollen wieder nicht
mehr leeres Wollen, nicht mehr wollen- Wollen, sondern be-
stimmtes Wollen, e t w as - Wollen. Der Zustand des leeren
Wollens vor seiner Erfüllung ist also ein ewiges Schmachten nach
einer Erfüllung, welche ihm nur durch die Vorstellung gegeben
werden kann, d.h. es ist absolute ünseligkeit, Qual ohne Lust,
selbst ohne Pause. Der Leser erinnere sich, dass nach Cap. C. IIL
jede Nichtbefiriedigung eines Willens eo ipso Bewusstsein erzeugt.
Dieses Bewusstsein ist das einzige ausserweltliche Be-
wusstsein, zu dessen Annahme wir Ursache haben; sein einziger
Inhalt ist wohlgemerkt die absolute Unlust und Ünseligkeit, während
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in der Welt (im erfüllten Wollen) doch nur eine relative Unlust»
d. h. ein üeberschuss von Unlust über Lust, besteht.
Dieser absolut unselige Zustand des Willens nimmt ein finde,
insofern durch ihn die Vorstellung erfasst wird, und hiermit beide
existentiell zum erfüllten Wollen oder zur gewollten Vorstellung
werden, während sie vorher beide etwas Vorseiendes, oder,
wie Schelling sagt, Ueberseiendes waren.
Man kann diese Verbindung von Wollen und VorstelluBg zum
existentiellen erfüllten Wollen, welche von Seiten des Willens be-
trachtet ein Hervorziehen und Ergreifen der Vorstellung ist,
mit demselben Rechte von Seiten der Vorstellung ein Hingeben
an den Willen nennen, denn auch das Hingeben ist ein gänzlich
Passives, welches keine positive Activität fordert, sondern nur
jede negative Activität, jeden Widerstand, ausschliesst.
Es tritt hier recht klar hervor, dass Wille und Vorstellung
sich wie Männliches und Weibliches zu einander verhalten;
denn das bloss Weibliche bringt es über eine widerstandslose passive
Hingabe nirgends hinaus. Wollen wir das Bild weiter ausiühreo,
80 befindet sich die Idee vor dem Sein (als rein Seiendes) im
Stande der seligen Unschuld; der Wille aber, der durch die Er-
hebung aus der lauteren Potenz in das leere Wollen sich in den
Stcuid der Unseligkcit versetzt hat, reisst die Vorstellung oder Idee
in den Strudel des Seins und die Qual des Processes mit hinein;
und die Idee giebt sich ihm hin, opfert gleichsam ihre jungfräu-
liche Unschuld um seiner endlichen Erlösung willen^ die er an si^h
selbst nicht finden kann. Dies Verhältniss wird nicht dadurch
getrübt, dass die Idee eines activen Widerstandes gegen den Wil-
len gar nicht fähig ist, es wird dadurch nur in die Sphäre der
I^othwendigkeit erhoben. Aus dieser Umarmung der beiden
überseienden Principe, des zum Sein entschiedenen Seinkönnenden
imd des Reinseienden, wird nun das Sein gezeugt; wie wir
schon wissen, hat es vom Vater sein „ D a s s ^, von der Mutter sein
„Was und Wie". Nun ist erfüllter Wille da.
Ist aber damit der Stand der Unseligkeit verlassen? Nein,
denn der Wille ist unersättlich; wie viel er auch habe, er
will immer mehr haben, denn er ist der Potenz nach unend-
lich; und doch kann seine Erfiülung niemals unendlich sein, weil
eine erfüllte oder vollendete Unendlichkeit ^er realisirte Wider-
spruch wäre.
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Eigentlich ist es also ganz gleichgültig, ob dasjenige Stück des
leeren Wollen s, welches an der Vorstellung eine Erfüllung gefunden
hait, gross oder klein ist, d. h. ob die Welt gross oder klein (im
intensiy^i Sinne) ist, denn das erfüllte Wollen wird sich zum
leeren Wollen stets verhalten, wie etwas Endliches zu einem Un-
endlichen, was darum möglich iert, weil es sich zu ihm wie Actus
zur Potenz yerhält
Es wird also auch durch die Erfüllung mit Vorstellung die
potentielle Unendlichkeit des leeren WoUens und seine daraus ent^
springende Unseligkeit unmittelbar nicht rermindert ; es wird dieser
Unseligkeit nicht einmal durch eine Lust ein geringes Gegengewicht
geboten y denn es ist ja noch kein yergleichendes Bewusstsein da,
welches Lust percipiren könnte. Wir freilich spüren von jener
ausserweltlichen Unseligkeit des leeren Wollens nichts, denn wir
gehören ja eben zur Welt, zum erfüllten Wollen. Endlieh
können wir durchaus nichi uns der Meihung hingeben, dass der
mit Vorstellung erfüllte Wille nicht doch erhebliche Nichtbefrie-
digungen und Unluztempfindungen erdulden müsse (z. B. die Atom-
kräfte), wenn wir auch mit Gewissheit sagen können, dass er vor
Entstehung des organischen Bewusstseins keine Befriedigung als
Lost empfinden kcmne. Nach aUedem würde die Unseligkeit per-
petuirt werden, wenn nicht die Möglichkeit einer radicalen Erlö-
sung gegeben wird.
Diese Möglichkeit existirt aber, wie wir wissen, in der Eman-
cipation des Vorstellung vom Willen durch das Bewusstsein^ das-
selbe fordert freilich im Laufe des Processes noch grössere Opfer,
denn wenn es zwar auch die Lust empfindlich macht, so macht es
dafür die Unlust durch die Beflexion um so drückender fühlbar,
so dass die innerweltliohe Unlust, wie wir gesehen haben, mit der
Steigerung des Bewusstseins im Ganzen nicht fallt, sondern steigt;
aber durch die endliche £rlö«ung werden alle diese vorläufigen
Schmerzen vergütet Diese endgültige Erlösung ist mit unseren
Principien wohl verträglich, denn wenn auch bei dem Weltende
zunächst nur der erfüllte Wille zur Umwendung gebracht wird, so
ist doch dieser der allein aotuelle und existentielle, und verhält
sich folglich in Bezug auf seine reelle Macht zu dem bloss
nach Existenz ringenden leeren Wollen als ein Wirkliches zu
einem Unwirklichen, als ein Etwas zu einem Nichts, obwohl
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von ganz gleichartiger Natur. Wird also das existentielle Wollen
plötzlich durch ein existentielles nichtwollen -Wollen zu Nichte,
bestimmt auf diese Weise das Wollen selbst sich zum nicht - mehr-
Wollen, indem das ganze Wollen, in zwei gleiche und entgegen-
gesetzte Eichtungen sich spaltend ^ sich selbst yerschlingt, so hört
selbstverständlich auch das leere wollen-WoUen (und woUen-Nicht-
können) auf^ und die Rückkehr in die reine an sich seiende Po-
tenz ist vollzogen, der Wille ist wieder, was er vor allem Wollen
war, wollen und nichtwollen könnender Wille ; — denn das wollen-
Eönnen freilich ist ihm auf keine Weise zu nehmen«
Da es nun im ünbewussten weder eine Erfahrung, noch eine
Erinnerung giebt, dasselbe also auch durch den einmal zur&ckge-
legten Weltprocess nicht alterirt sein kann, sondern sich in keiner
Beziehung anders befbdet, als vor dem ersten Beginne jenes Pro-
cesses, so bleibt unzweifelhaft die Möglichkeit offen, dass die Potenz
des Willens noch einmal und von Neuem sich zum Wollen ent-
scheidet, woraus dann sofort die Möglichkeit folgte dass der Welt-
process sich schon beliebig oft in derselben Weise abgespielt haben
kann. Yerweilen wir noch einen Augenblick, um den Grad ihrer
Wahrscheinlichkeit zu bestimmen.
Der wollen und nicht-wollen könnende Wille oder die Potenz,
welche sich zum Sein bestimmen kann oder auch nicht, ist das
absolut Freie. Die Idee ist durch ihre logische Natur zu einer
logischen Nothwendigbeit verurtheilt, das Wollen ist die ausser sich
gerathene Potenz, welche ihre Freiheit, auch nicht- wollen zu
können, verwirkt hat; nur die Potenz vor dem Actos ist frei, ist
das von keinem Grunde mehr Bestimmte und Bestimmbare,
jener XJngrund, der selbst erst der Urgrund von Allem ist. So
wenig seine Freiheit von Aussen beschränkt ist, so wenig ist sie
es von Innen, sie wird erst in dem Moment von Innen beschränkt,
wo sie auch vernichtet wird, wo die Potenz selbst sich ihrer
entäussert. Man sieht sofort, dass diese absolute Freiheit das
Dümmste ist, was man sich nur denken kann, was ganz damit
übereinstimmt, dass sie nur in dem Unlogischen denkbar ist.
Wenn es nun gar nichts mehr giebt, was das Wollen oder
Nicht wollen bestimmt, so ist es mathematisch gesprochen zufällig,
ob in diesem Moment die Potenz will oder nicht will, d. h. die
Wahrscheinlichkeit = \, Nur wo die Wahrscheinlichkeit jedes der
möglichen Fälle = \ ist, nur wo der absolute Zufall spielt, nur da
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663
ist die absolute Freiheit denkbar. Freiheit und Zufall sind als
absolute, d. h. von ihren Belationen entblösste Begriffe identisch.
Aehnlich fasst Schelling das Yerhältniss, wenn er sagt (II. \, S. 464):
„Das Wollen, das für uns der Anfong einer anderen, ausser der
Idee gesetzten Welt ist .... ist das Urzufallige, der Urzufall
selbst.*'
Wäre nun die Potenz zeitlich, so würde, da ja die Zeit un-
endlich ist, die Wahrscheinlichkeit =1, d. h. Gewissheit sein,
dass die Potenz mit der Zeit sich auch einmal wieder zum Actus
entschlieest ; da aber die Potenz ausser der Zeit steht, welche ja
der Actus erst schafft, und diese ausserzeitliche Ewigkeit sich in
zeitlicher Beziehung von dem Moment in nichts unterscheidet (wie
gross und klein sich in Bezug auf die Farbe durch nichts unter-
scheiden), so ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Potenz in
ihrer ausserzeitlichen Ewigkeit sich zum Wollen bestimme, gleich
der, dass sie sich im Moment dazu bestimme, d. h. >« ^. Hieraus
geht hervor, dass die Erlösung yom Wollen für keine endgültige
betrachtet werden kann, sondern dass sie nur die Qual des WoUens
und Seins von der Wahrscheinlichkeit 1 (welche sie während des
Processes hat), auf die Wahrscheinlichkeit i reducirt, also immer-
hin einen für die Praxis nicht zu verachtenden Gewinn giebt.
Natürlich kann die Wahrscheinlichkeit des künftig Geschehen-
den nicht durch die Vergangenheit beeinflusst werden, also der
Wahrscheinlichkeitscoefficient von -^ für das nochmalige Auftauchen
des WoUens aus der Potenz dadurch nicht vermindert werden, dass
sie vorher sich schon einmal zum Wollen entschieden hatte; be-
trachtet man aber a priori die Wahrscheinlichkeit, dass das Auf-
tauchen des Wollens aus der Potenz mit dem gesammten Welt-
process sich, n Mal wiederhole, so ist dieselbe offenbar = -r~
ebenso wie die apriorische Wahrscheinlichkeit, n Mal hinter einan-
der die Kopfseite eines Geldstückes nach oben zu werfen.
Da nämlich mit dem Ende eines Weltprocesses die Zeit auf-
hört, so ist auch bis zum Beginn des nächsten keine Pause ge-
wesen, sondern die Sache ist genau ebenso, als wenn die Potenz
im Moment der Vernichtung ihres vorigen Actus sich von
Neuem zum Actus entäussert hätte. Es ist aber klar, dass die
Wahrscheinlichkeit -^ bei wachsendem n so klein wird, dass sie
practisch zur Beruhigung genügt. —
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Gtehen wir nunmehr zu dem anderen Ueberseienden, der Yor-
Stellung, über und berücksichtigen wir zunächst noch einmal ihr
Yerhäkniss zur Platonischen Idee.
Aristoteles nennt die Platonischen Ideen Qvoiai^ eia Auf-
druck, den Plato selbst unseres Wissens nie gebraucht hat, der
jedenfalls bei Aristoteles etwas ganz anderes bedeutet, als wir jetzt
unter ,,Substauz^ yerstehen, und der am ehesten mit ^Wesenheiten"
zu übersetz^i wäre. Für Plato selbst kann man kaum mehr be-
haupten, als dass er die Ideen als objectiye Existenzen au^efiasst,
und geläugnet habe, dass sie nur in der Seele, dass sie «in blosses
Wissen einer Person seien; weiter ist er wohl in der Erörterung
ihres Wesens nicht gegangen, sondern er begnügt sich damit, sie
gegenüber dem yergängUcheu Flusse der sinnlichen Welt als das
wahrhaft Seiende (ovziog ov)j als das an und für sich Seiende
(ov avvo xaÜ^ avTo) und das Unveränderliche [oidiTtoTe <w-
öafjiy oidafuSg alkoiwaiv ovösfiiap ^vde%6fievov) hinzustellen.
Wenn Aristoteles dies dahin näher bestimmt, dass er die Ideen ov-
Qiai nennt, so haben dagegen die späteren Platoniker und die
neuplatonische Schule es so verstanden, dass die Ideen ewige
Gedanken. der Gpttheit seien.
Dem Platp selbst lag ve^muthlich beides gleich nf^^ denn
wenn auch die ewigen Gedanken der Gottheit nicht Substanzen im
modernen Sinne sein können, so ist es doch durchaus kein Wider-
spruch, sie ovaiai im Aristotelischen Sinne zu nennen, eben weil
sie ewige Gedanken der Gottheit sind, also eine ewig sich gleich
bleibende Wesenheit haben.
Freilich würde Plato nie zugegeben haben, dass sie ein Wis-
sen, dass sie be-^russte Gedanken der Gottheit seien, denn damit
wären sie vollständig ihrer Objectivität, welche ihm als die Haupt-
sache galt, beraubt worden. Wenn Plato die Idee mit der gött-
lichen Vernunft identificirt, so kann dies auch wohl so verstanden
werden, dass er mit einer sehr erklärlichen Licenz des Ausdruckes
das Wesen mit seiner einzigen ewigen Thätigkeit identificirt habe.
Es liegt also nahe, dass man unter den Platonischen Ideen
ewige, unbewusste Gedanken (eines unpersönlichen Wesens)
zu verstehen habe, wobei das ,^ewige" nicht eine unendliche Dauer,
sondern das ausserzeitliche , über alle Zeit Erhabensein ausdrückt.
Auch für uns ist die unbewusste Vorstellung ein auaserzeitli<^ier»
unbewusster, intuitiver Gedanke, welcher dem Bewusstsein gegen-
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666_
über eine ganz objective Wesenheit repräsentirt. Bei Hauptunter-
Bcbied zwischen der Platonischen und unserer Auffassung liegt in
der Bedeutung, welche er dem Worte „Sein" beilegt. Während er
nämlich nach dem Vorgange des Parmenidas die Unveränder-
lich keit als das Kriterium des wahren Seins ansieht, erscheint
uns jetzt die TJnveränderlichkeit für das Sein als gleichgültig,
wohingegen wir die unbedingte Forderung der Bealität an das
wahre Sein stellen.
So kommt Plato dazu, die Idee für das im eigentlichsten Sinne
Seiende zu erklären, während wir sie für etwas Nichtseiendes hal-
ten müssen, wovon später noch die Eede.
Bei Plato findet in dem ansichseienden Beiche der Ideen eine
solche Durchdringung derselben statt, dass alle enthalten sind in
Einer Idee, dem Guten. Auch ich habe mehrfach auf die gegen-
seitige Durchdringung der Vorstellungen im ünbewussten und ihre
Ineinsfassung hingewiesen (z. B. von Zweck und Mittel), ein Zu-
stand, der einfach aus der Unzeitlichkeit der ünbewussten Vor-
stellung folgt, wo also die im discarsiven Denken zeitlich getrennten
Denkmomente nothwendig i n einander gefunden werden müssen. £8
wäre mithin kein Wunder, wenn bei dieser gänzlichen gegenseitigen
Durchdrii^gung auch wir gleichsam ein Summenzeichen für diese
Ideenwelt geben könnten, welches rückwärts für sämmtliche Ideen
oder Vorstellungen bestimmend ist Wenn irgend Etwas, so dürfte
dies die immanente Ec^rmalbestimmung der Idee sein, das Lo-
gische. Das Logische drückt sich negativ im Satze vom Wider-
spruche in seinen verschiedenen Gestalten aus; und positiv als
Umkehr dieser negativen Seite als absoluter Zweck. Der abso-
lute Zwec^ nämlich kann niir ein solcher sein, welchen nicht zu
bezwecken, widersinnig wäre (wie wir dies an dem Glückseligkeita-
zwecke gesehen haben), also ist die absolute Zweokthätigkeit nur
das Thun dessen, was ohne Widerspruch nicht unterlassen
werden kann. Wenn also der Widerspruch die negative, so ist
der Zweck die zweimal negative, d. h. positive Seite des Logischen.
Dieses Positive, den absoluten Zweck, meint Plato jedenfalls
mit seiner Idee des Guten, Wir vereinigen aber lieber positive
und negative Seite im Begriffe des Logischen. Dieses ist im We-
sentlichen identisch mit der absoluten Idee HegePs, denn diese ist
weiter nichts, als dasjenige, wozu der allerärmste Begriff des reinen
Seins sich vermöge seines immanenten logischen Formprincipes im
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Fortschritte der Entwiokelung selbst bestimmt hat, nur dass maa
in dem Worte „absolute Idee" ein leeres Zeichen hat, welches sich
erst erfüllt, wenn man die ganze Entwickelung durchgemacht hat,
während das „Logische'' jedem erkennbar das formale Moment der
Selbstbestimmung im idealen ausserzeitlichen Frocesse bezeichnet.
Der Process in der an sich seienden Idee ist, wie Hegel selbst
sagt, ein ewiger, d. h. ausserzeitlicher, mithin ist er auch
eigentlich wieder kein Process, sondern ein ewiges Besultat, ein
in-Eins-sein aller sich gegenseitig bestimmenden Momente von Ewig-
keit zu Ewigkeit, und dieses in - Eins - sein der einander bestimmen-
den Momente erscheint uns nur als Process, wenn wir sie im
discursiven Denken künstlich auseinander zerren. Aus diesem
Grunde kann ich auch nicht zugeben, dass die logische Bestimmung
dessen, was in jedem Moment in die Wirklichkeit hinaustritt, durch
Dialectik im Hegel'schen Sinne geschehe, weil im Gebiete der
ausserzeitlichen Ewigkeit, wo man allenfalls von einem friedlichen
Neben- und Ineinanderliegen sich widersprechender Yorsteliongen
reden könnte, kein Process möglich ist, der nothwendig Zeit vor-
aussetzt, wogegen in dem in einem bestimmten Moment in die
Wirklichkeit getretenen Stück der absoluten Idee wieder das Haupt-
erfordemiss der Hegerschen Dialectik, die Existenz des Wider-
spruches, fehlt, ganz abgesehen davon, dass ein dialectischer Process
im Hegerschen Sinne nur zwischen Begriffen, diesen Krücken des
discursiven Denkens, stattfinden soll, während alles unbewusste
Denken sich in concreten Intuitionen bewegt.
Wäre nicht jenes zeitlose Ineinandersein der Ideen im XJnbe-
wussten, so würde es weit mehr Schwierigkeiten haben, sich vor-
zustellen, wie das Unbewusste das Bewusstsein als Mittelzweck
denken kann, ohne Bewusstsein zu haben. Man sollte meinen,
das Bewusstsein - Denken sei selbst schon ein Bewusstsein
und zwar eine höhere Stufe des Bewusstseins ; da aber zu einem
solchen im ünbewussten die Bedingungen fehlen, so sei ihm auch
das Denken des Bewusstseins unmöglich.
Abgesehen jedoch von der impliciten Form, wie im Ünbewuss-
ten das Denken des Zweckes das Denken des Mittels einsohliesst
und umgekehrt, ist noch Folgendes zu erwägen.
Das Denken des Bewusstseins setzt nur dann nothwendig ein
höheres Bewusstsein voraus, wenn das Bewusstsein als Bewusst-
sein, d. h. in der subjectiven Art und Weise gedacht wird,
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^e das BewusstseinsBubject von seinem Bewusstsein sich
afiQcirt fühlt. So aber denkt das ünbewusste ganz gewiss das
Bewusstsein nicht, da ja überhaupt sein Denken unserem subjectiyen
Denken schlechthin entgegengesetzt ist, so dass es als objectiyes
Denken bezeichnet werden müsste, wenn nicht diese Bestimmung
ebenso exclusiy einseitig und damit unzutreffend wäre.
Schon in Cap. C. I. haben wir gesehen, dass wir von der Art
und Weise, wie das ünbewusste vorstellt, nur das behaupten kön-
nen, dass es nicht so vorstellt, wie wir vorstellen. Wenn wir
positiv sagen sollen, was das Vnbewusste denkt, wenn es das Be-
wusstsein als Mittelzweck denkt, so dürfte, da das Bubjective aus-
geschlossen ist, nichts übrig bleiben, als erstens der objective Pro-
cess, dessen subjective Erscheinung das Bewusstsein ist, und zweitens
die Wirkung der Emancipation der Yorstellung vom Willen, welche
aus diesem Ftocesse hervorgeht, und auf die es ja dem IJnbewuss-
ten allein ankommt. Hiermit ist obige Schwierigkeit beseitigt.
Wenn Flato, der von Naturgesetzen eigentlich noch keine
Ahnung hatte, von Allem, wovon e r sich G^meinbegriffe abstrahiren
konnte, auch transcendente Ideen annahm, so war dies ein kind-
licher Standpunct, der, wie Aristoteles berichtet, ihm später selbst
gerechte Bedenken erregt haben soll
Wir wissen jetzt, dass die ganze unorganische Natur eine Folge
der sich nach ihren immanenten Gesetzen (welche mit zu
ihrer Idee gehören) auswirkenden Atomkräfte ist, und erst mit dem
Entstehen der Organismen wahrhaft neue Ideen hinzutreten. Wir
wissen auch^ dass, wie sämmtliche Ideen aus dem Logischen heraus
bestimmt sind, und eigentlich sammt und sonders nichts sind, als
Anwendungen des Logischen auf gegebene Fälle, so die Idee des
Weltprocesses die Anwendung des Logischen auf das leere
Wollen (bei Hegel vertreten durch das den Anfangs- oder Aus-
gangspunct der Logik bildende, mit dem Nichts identische „reine
Sein*0 ist.
Als Princip betrachtet brauchen wir also nicht mehr von
dem Beiche der Ideen oder unbewussten Vorstellungen zu sprechen,
sondern nur noch von dem Logischen, oder der Idee schlechthin«
Wir haben gesehen, dass die Idee erst existent wird, wenn
der Wille sie als Inhalt erfasst, und somit realisirt; was ist sie
denn aber vcnrher ? Jedenfalls noch nicht existent, ein üeber-
seiendes wie der Wille oder das leere Wollen. Wie der Wille
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im Wollen ausser sich (als Potenz) geräth, so wird die Idee durch
den Willen ausser sich (als Ueberseienden) gesetzt Dies ist der
radicale Unterschied zwischen beiden, der Wille setzt sich selbst
aus sich heraus, die Idee wird Tom Willen aus sich (als einer in
Zustande des !N^ichtseius Befindlichen) herausgesetzt in's Sein.
Könnte die Idee von sich aelbst in's Sein übergeho!, so wäre
sie ja Potenz des Seins, wäre also selbst Wille. Andererseits
kann aber die noch nicht in's Sein gesetzte Idee auch nicht
schlechthin nicht sein {ovx slvat), sonst könnte auch der
Wille nichts aus ihr machen; sie kann nur ein noch nicht im
eminenten Sinne Seiendes (jurj ov) sein. Wenn sie nun wed^
wirkliches Sein, noch Potenz des Seins, noch auch sobleohthin
Nichts sein soll, was bleibt dann übrig? Nichts als das rein
Seiende, purus (iciMSy ohne vorhergegangene Potenz, der eben
darum nicht wirkliches Sein ist, weil er aus keiner Potenz
hervorgegangen ist Es fehlt der Sprache zur Bezeidinung
dieses Begriffes jedes geeignete Wort; bei actus denkt man einer-
seits unwillkürlich stets an eine vorausgegangene Potenz, die hier
fehlt, und andererseits ^ ein wirkliches Sein, eine wirksame
Thätigkeit, deren strictes Oegentheil jenes stille, gelassene, gaas in
sich beschlossene, niemals von sich selbst 9m sich hecaiisgehende
rein Seiende bildet. Das Wort ücUm pas&t also nur insofern, als
dieser Zustand ebenso wie der actus einen Gegensatz zur
Potenz bildet, aber einen Gegensatz, der ganz anderer Artist,
als der des actus. Man könnte diesen Zustand etwa als latentes
Sein bezeichnen.
Wir finden hier die Nothwendigkeit begründet, die Idee als
rein -Seiendes zu bestimmen, ebenso wie Schelling zu dieser Be-
stimmung geführt wurde, und wie auch Hegel der Idee ab erste
und ursprünglichste Bestimmung die des reinen Seins geben musste,
welche im Vergleich zu einem späteren erfüllten Sein so gut wie
Nichts ist.
Wir haben gesehen, dass zwar der Wille, genauer das leere
Wollen, es ist, welches die Idee überhaupt aus ihrem an und für
sich Sein in ein für anderes Sein versetzt, indem es sie als seinen
Inhalt an sich reisst, dass aber die Idee als Erfüllung des Willens
sich selbst bestimmt kraft ihres logischen formalen Momentes.
Dieser Satz bleibt gültig vom ersten Moment an« wo die Idee
durch den Willen ausser sich gesetzt wird, bis zu dem Augen-
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blicke, wo das Sein mit der Umkehr des Willens erlischt, in jedem
Augenblicke ist die Summe der Vorstellungen, welche den Inhalt
des Willens bildet, ganz und ausschliesslich logisch bestimmt,
oder was dasselbe sagt, in Bezug auf ihr „Was" mit logischer
Nothwendigkeit gesetzt. Da nun, wie wir wissen, das
„Was" der Welt in jedem Augenblicke nur der realisirte Inhalt
des Willens ist, so ist auch das „Was" der Welt in jedem Augen-
blicke des Weltprocesses durch logische Nothwendigkeit bestimmt.
Dies gilt für das Einzelne., wie für das grosse Ganze, welches ja
nur die Summe alles Einzelnen ist.
Wenn also dieser losgelassene Stein fällt, so geschieht das
Fallen mit der und der Geschwindigkeit aus keinem anderen
Grunde, als weil es unter diesen Umständen logisch nothwendig
ist, weil es unlogisch wäre, wenn in diesem Augenblicke mit dem
Steine etwas anderes passirte. Dass freilich der Stein überhaupt
in diesem Momente noch fallen kann, dass er noch da ist, um zu
fallen, dass die Eide noch da ist, um ihn zu sich herabzuziehen,
dies liegt an der Fortdauer des Willens. Denn hörte der Wille in
dem Augenblicke auf, zu wollen, also die Welt auf, zu sein, so
würde es nicht mehr logisch sein, dass der Stein fiele.
Wir sehen hier die beiden Momente, aus denen sich die Cau*
salität zusammensetzte Dass der Stein, den ich jetzt loslasse,
fallt, liegt an der Fortdauer des Wollens über diesen Augenblick
hinaus; dass er aber fällt, und zwar mit der und der Geschwin-
digkeit fallt, das liegt daran, weil es logisch ist, dass es so ist,
und unlogisch wäre, wenn es anders wäre. Dass überhaupt noch
etwas passirt, dass die Wirkung erfolgt, liegt am Willen, dass
die Wirkung, wenn sie erfolgt, mit Nothwendigkeit als
diese und keine andere erfolgt, liegt am Logischen. Dass indirect
die Ursache für die Wirkung das Bestimmende ist, ist ganz klar,
denn nur unter diesen Verhältnissen, die man unter der
„Ursache" zusammenfasst , ist es logisch, dass diese Wirkung
erfolge.
Hiermit ist die Gausalität als logische Nothwen-
digkeit begriffen, die durch den Willen Wirklichkeit
erhält.
Wenn wir nun den Zweck als die positive Seite des Logischen
erkannt haben, so werden wir nunmehr den Satz des Leibniz un-
bedingt unterschreiben dürfen: ,ycau8ae efficientes pendent a causis
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finalibus^* ; aber wir wissen auch, dass er nur erst einen Theil der
Wahrheit ansdrückt, dass der ganze Weltprocess seinem Inhalte
nach nnr ein logischer Process ist» seiner Existenz nach aber ein
oontinnirlioher Willensact. —
Wir treten jetzt an die Frage heran, ob die Idee Attribut
oder Substimz sei, ob sie der Gedanke eines vor, hinter oder über
ihr Seienden sei, oder ob sie ihrerseits selbst ein Letztes sei.
Wir haben gesehen, dass Plato sich zu keiner dieser Auffassungen
bestimmt entscheidet. Hegel behauptet, dass der Begriff die allei-
nige Substanz, dass die Idee Gott sei, während Schelling die von
Hegel postulirte Selbstbewegung des Begriffes läugnet (Werke L 10,
S. 1 32) : ,^s ist also in dieser angeblichen nothwendigen Bewegung
eine doppelte Täuschung:
1) indem dem Gedanken der Begriff substituirt und dieser
als etwas sich selbst bewegendes vorgestellt wird und doch der
Begriff für sich selbst ganz unbeweglich liegen würde, wenn er
nicht der Begriff eines denkenden Subjectes, d. h« wenn er nicht
Gedanke wäre;
2) indem man sich vorspiegelt, der Gedanke werde nur durch
eine in ihm selbst liegende Kothwendigkeit weiter getrieben, während
er doch offenbar ein Ziel hat, nach welchem er hinstrebt^
Zunächst möchte ich bemerken, dass der Unterschied beider
Auffassungen, wenn auch theoretisch wichtig genug, doch wohl
kaum so bedeutend ist^ als er auf den ersten Blick scheinen könnte,
weil wir uns hier bereits in einer Eegion des TJeberseienden be-
finden, wo unsere Begriffe uns nachgerade im Stiche lassen, und
selbst da, wo sie uns genügend erscheinen, wohl schwerlich jene
transcendente Objectivität in der Weise zu decken im Stande sind,
wie der Metaphysiker sich nur zu leicht einbildet. Wir haben die
Idee vor ihrer Ergreifung durch den Willen als das rein und
poctenzlos Seiende erkannt. Selbst dieses „rein Seiende'' können
wir nicht denken, ohne an ihm das Wesentliche (hier in der
Bedeutung von: das Substantielle) und das Zuständliohe zu
unterscheiden, „das, was rein ist" und den Zustand des „rein«
Seins." Die Nothwendigkeit dieser Trennung in unserem Denken
ist nicht zu bestreiten, es fragt sich nur, ob man sie als bloss
subjective ignoriren, oder ob man sie als transoendent - objective
gelten lassen will, eine Frage, die wohl kaum a priori zu ent-
scheiden sein dürfte.
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Ersteres müsste Hegel thun, wenn er an diese AlternaÜTe
herangeföhrt würde, Letzteres ist der Standpnnct Schelling's. Im
ersteren Falle spricht man das ganze rein Seiende ohne Bücksicht
auf diese Trennung als Substanz an, im letzteren setzt man das
Wesentliche als Substanz, das Zuständliche als Attribut ; im ersteren
Falle ist die Idee oder Vorstellung das Ganze, also die Sub-
stanz, im letzteren ist sie im engeren Sinne nur das Zuständliche,
also Attribut. Man sieht, dass es sich vorläufig mehr um eine
Definition des Wortes, als um die Sache handelt.
Wichtig wird der Unterschied erst, wo es sich um das Ver-
hältnisB des rein Seienden zum Seinkönnenden, der Vorstellung
zum Willen handelt Hegel, der nur das Eine Princip, die Idee, gelten
lässt, bat folgerichtig gar keinen Grund mehr, jene Trennung zu
Yollführen, da sie werthlos für ihn wäre, sowie aber das Be-
dürfniss der Einheit von Wille und Vorstellung sich geltend
machte ist die Vollziehung jener Trennung gefordert Wenn näm-
lich auch die Zustände des Seinkönnens und rein -Seins verschieden
sind, so hindert dies doch nicht, das Wesetitliche oder Substantielle
beider Frincipien, das, was sein kann und das, was rein ist, als
Ein und dasselbe zu setzen. Sowie die substantielle Identität
und nur zuständliche Verschiedenheit beider Frincipien anerkannt
ist, haben wir Spinoza^s Eine Substanz mit zwei Attri-
buten erreicht
Das unerlässliche Bedürfhiss der wesentlichen oder substan-
tiellen Identität von Wille und Vorstellung ist meiner Ansicht nach
das entscheidende Moment auch für die Frage nach dem substan-
tiellen oder attributiven Character der Idee. Jenes BedürMss ist
ganz unabweislich. Wären Wille und Vorstellung getrennte Sub-
stanzen, so wäre viel schwerer an eine Wechselwirkung derselben
zu glauben; es wäre nicht mehr einzusehen, wie das eine zum
anderen in Beziehung treten soll, wie der Wille das Logische als
Inhalt an sich reissen, wie das Logische zur Beaction gegen ein
ihm ganz fremdes, es gar nichts angehendes Unlogisches und dessen
vernunftwidriges Thun sich veranlasst finden kann, während sich
diese Beziehungen ganz von selbst verstehen, wenn es ein und das-
selbe Wesen ist, welches diese beiden ist, d. h. von welchem und
an welchem sie Attribute sind.
Wären Wille und Vorstellung getrennte Substanzen, so würde
ein unüberwindlicher Dualismus durch die Welt hindurchgehen, und
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in der Seele des Individuums sich geltend machen, ein Dualismus,
von dem in diesem Sinne nirgends etwas zu merken ist. Der
Monismus, nach welchem, wie wir gesehen haben, Alles strebt,
wäre damit absolut aufgehoben und ein reiner Dualismus an seine
Stelle gesetzt. Jetzt erst ist die heimliche Furcht vor dieser Spal-
tung, welche sich namentlich im Cap. C. VII. geltend machte, be-
seitigt , indem wir dieselbe als einen Dualismus nur der Attri-
bute erkannt haben, welcher die Einheit der Substanz nicht be-
einträchtigt, welcher aber unmöglich entbehrt werden kann, wo ein
Process zu erklären ist ; denn der Process verlangt erstens ein nicht
sein Sollendes, und zweitens ein anderes, welches diese» nicht sein
Sollende bekämpft.
Schon Plato sucht im Parmenides nachzuweisen, dass das Eins
nicht ohne eine imm&nente Vielheit ttad dass die Vielheit nicht
ohne ein sie zusammenfassendes Eines denkbar sei. Gerade so wie
wir fasst Scheiling den Dualismus im Monismus auf (Werke II. 3,
S. 218): „Die Identität muss vielmehr im strengsten Sinne genom-
men werden als substantielle Identität. Die Meinung ist nicht,
dass das Seinkönnende und das rein Seiende jedes als ein für
sich Seiendes, d. h. als Substanz, gedacht werde (denn Substanz
ist was für sich selbst ausser einem Anderen besteht). Sie sind
nicht selbst Substanz^ sondern nur Bestimmungen des
Einen Ueberwirklichen. Die Meinung ist also nicht, dass
das Seinkönnende ausser dem rein Seienden sei, sondern die Mei-
nung ist, dass eben dasselbe, d. h. eben dieselbe Substanz in
ihrer Einheit und ohne darum zwei zu werden, das Seinkönnende
und das rein Seiende sei.'^
Man könnte diese in Wille und Vorstellung identische Sab-
stanis, dieses individuelle Einzelwesen, welches erst jene abstracten
Allgemeinheiten trägt, „das absolute Subject'* nennen, als dasjenige,
„das zu nichts anderem, und zu dem alles andere nur als Attribut
sich verhalten kann" (Scheiling n. 1, 318); aber leider ist das
Wort Subject so vieldeutig, dass man damit leicht Missverständ-
nisse hervorrufen könnte. Dahingegen, wenn man berechtigt ist,
irgend etwas Ursprüngliches den absoluten Geist zu nennen,
so ist es gewiss diese Einheit von Wille und Vorstellung/ diese
Eine Substanz, die hier will und dort vorstellt, — wie wir es
bisher genannt haben: das Unbewusste. Dieser unbewusste Geist
ist „das XJeberseiende , welches alles Seiende ist". Freilich muas
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man dann nicht von Hegels willkürlicheivBesehränkung des Wortes
Geist auf dessen Erscheinung in der Form des Bewusstseins vor-
eingenommen sein.
Es wäre ein grosser Irrthum, wenn man das Verhältniss unse-
rer Substanz zu unseren Attributen so fassen wollte, als ob sie die
Potenz der Attribute, und diese (xclua oder Thätigkeiten wären.
Üeber den Begriff der Potenz sind wir längst hinweg, denn die
Potenz des Seins oder Wollens ist ja selbst das Eine der Attri-
bute, und das Andere haben wir ausdrücklich als das rein Seiende
bestimmt, welches aus keiner Potenz mehr hervorgegangen ist.
Zu keinem von beiden kann also die Substsuiz im Verhältnisse der
Potenz stehen, und keines von beiden ist actus ^ welcher aus einer
Potenz hervorginge. Dies ist ein Hauptunterschied von Spinoza,
bei welchem ganz offenbar die Substanz als die Potenz der Attri-
bute erscheint.
Der zweite Unterschied liegt in der Bestimmung des einen
Attributes, welches Spinoza nach dem Vorgänge des Gartesius Aus-
dehnung nennt. Nun sind aber Denken und Ausdehnung gar
keine Gegensätze, denn die Ausdehnung ist ja auch i m D e n k e n.
Einen Gegensatz bilden nur Denken imd reale Ausdehnung, welche
von Spinoza auch nur gemeint ist. Indessen zwischen den Begriffen
Denken und reale Ausdehnung besteht der Gegensatz wiederum
nicht zwischen „Denken'^ und „Ausdehnung^*, sondern zwischen
,yDenken'' und j^eal" oder ,Jdealem und Bealem*'; nicht die Aus-
dehnung macht die Eealität, sondern sie selbst muss erst real ge-
macht werden, um mit dem Denken einen Gegensatz zu bilden.
Das zweite Attribut Spinoza's müsste also dasjenige sein, welches
— und nun nicht bloss die Ausdehnung, sondern auch alles übrige
Ideale — real macht, dies ist aber nichts anderes, als der Wille.
Dann erst, wenn man statt der Ausdehnung den Willen setzt, wird
Spinoza's Metaphysik zu dem, was sie sein sollte, dann aber fallt
auch der Gipfel unserer Pyramide mit der von Spinoza mystisch
postulirten Einen Substanz zusammen. —
Hiermit ist unser Weg beendet ; wir wollen aber zum Schlüsse
noch einer Frage unsere Au&nerksamkeit schenken, ob und wie
nämlich von dem Standpuncte der Philosophie des
ünbewussten metaphysische Erkenntniss möglich sei.
Diese Frage ist nicht unwichtig, denn oft stehen die bedeu-
tendsten metaphysischen Systeme, die die ganze Welt auf zusam-
T. Hartmum, Phil. d. Ünbewussten. 43
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menhSngende und wohl onxielimbare Weise erklären, rathlos dem
Probleme gegenüber, wie ' nach ihren eigenen Yoranssetzmigen die
Yon ihnen behauptete Erkenntniss des metaphysischen Zusammen-
hanges möglich sei« Es kann an dieser Stelle natürlich nicht eine
Erkenntnisslehre erwartet werden, sondern nur eine Skizzirung des
Standpunctes, auf dem wir uns zu jener Frage befinden.
Die griechisch-römische Philosophie lief in Skepticismus aus,
weil es ihr nicht gelange ein Kriterion der Wahrheit zu finden,
und sie folgerichtig an der Möglichkeit der Entscheidung darüber
yerzweifelte, ob ein Erkennen möglich .sei. Der Dogmatismus der
neueren Philosophie wurde in ähnlicher Weise durch Hume ge-
brochen, dessen unerbi^liche Kritik Kant in noch weiterem Um-
feaxge und grösserer Tiefe durchführte.
Zugleich aber war Kant auf der anderen Seite der GenioB,
welcher die Entwickelungsphase der neuesten Philosophie anhob.
Während die griechische Philosophie sich nutzlos mit der unmög-
lichen Eordemng abgequält hatte, an der Erkenntniss seibat ein
Merkmal aufzufinden, welches ihr den Stempel der Wahrheit auf-
drückte, ging Kant hypothetisch zu Werke und firagte; j^abgesehen
davon, ob es ein wahres Erkennen giebt, welcher Art müssen die
metaphysischen Bedingungen sein, wenn ein solches möglich sein
soll", oder wie er die Frage hinstellt: „wie sind synthetische TJr-
theile a priori möglich?'*
Die ganze neueste Philosophie mit Ausnahme yon Sohelling's
letztem Systeme steht mit mehr oder weniger Bewusstsein auf
diesem Standpuncte: die Bedingungen der Möglichkeit des
Erkennens bilden ihre Metaphysik. Als erste und Fun-
damental-Bedingung der Möglichkeit alles Erkennens lässt sich die
Gleiohiurtigkeit des Denkens und seines äusseren Gegenstandes be-
haupten, da bei einer Heterogen ität des Denkens und des
Dinges schlechterdings keine U eberein Stimmung beider, d. h.
Wahrheit und noch weniger ein Bewusstsein dieser üebereinstim-
mungy d. h. Ei^enntniss möglich ist. Die sogenannte Identität von
Denken und Sein ist daher der Fundamentalsatz der neuesten
Philosophie, eine Sache, von der die Alten kaum eine Ahnung hatten.
Dasfl diese Identität, welche den Ausgangspunct seines Systemea
bildet, nur indireot, und zwar dadurch zu beweisen sei, „dass
bei keiner anderen möglichen Voraussetzung ein
Wissen denkbar sei'^ giebt Schelling (I. 6, 138) ausdrücklich zu.
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Zunächst werden wir recapitulireB müsoen, wie die Philosophie
des ünbewussten sich zu jenem Gegensätze yon Denken und Ding,
mens und ena, ratio und rea^ Geist und Natur» Idealem und
Eealem, Subjectirem und Objectivem verhält. Nie und nirgends
kann die Identität von Idealem und Eealem so verstanden werden,
als ob zwischen beiden kein Unterschied mehr wäre, also eines der
Worte überAüssig wäre ; sondern die Identität bezieht edch nur auf
den Inhalt, während Jeder einsieht, dass die Form der Existenz
beider eben darin sich unterscheide^ dass das eine ideal, das andere
real ist.
Wir wissen nun aus dem Yorigen genauer, dass das Sein ein
Froduct aus dem Unlogischen und Logischen, aus Wille und Vor-
stellung ist, dass sein „Dass'' durch das Wollen gesetzt ist, sein
„Was'' aber der Yorstellungsinhalt jenes Wollens ist, also nicht
bloss mit der Idee gleichartig, sondern selbst Idee, d. h. iden-
tisch im strengsten Sinne des Wortes ist. So ist auch Geist und
Natur nicht mehr verschieden, denn der ursprüngliche unbe-
wusste Geist ist dasjenige in seinem Ansichsein, was in seiner
actuellen Verbindung Natur, und als Resultat des Naturprocesses
bewusster Geist oder Geist im engeren (Hegerschen) Sinne des
Wortes ist. Was aber das Subjective und Objective betrifft, so
sind dies durchaus relative Begriffe, welche erst mit der Ent-
stehung des Bewusstseins eintreten, denn im unbewussten
Wollen und der unbewussten Vorstellung haben dieselben keinen
Platz, das Unbewusste ist über jene G^ensätze erhaben, da sein
Denken durchaus kein subjectives, sondern für uns ein objectives»
in Wahrheit aber ein transcendent- absolutes ist. Man kann also
auch eigentlich nicht sagen , dass das Unbewusste das absolute
Subject sei, sondern nur, dass es das Einzige sei, was Subject
werden könne, ebenso wie es das Einzige ist, was Object werden
kann, weil es ja eben nichts giebt ausser dem UnbewtisBten ; und
so verstanden kann man allerdings das Unbewusste das abso-
lute Subject und das absolute Object nennen, unbeschadet dessen,
dass es als Unbewusstes über den Gegensatz des Subjecüven und
Objectiven erhaben ist.
Wir haben gesehen, dass das Bewusstsein nur bei einer Col-
lision verschiedener Willensrichtungen eintritt, von diesen ist dann
jede die objective für die andere und jede die subjective für sich
im Gegensatz zu der anderen ihr objectiven, vorausgesetzt, dass
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beide Willensrichtimgen sich unter Yerhältnissen befinden, welche
die Möglichkeit der Bewusstseinsentstehung nicht dadurch y^hin-
dem, dasB sie unterhalb der Schwelle dos Bewusstseins liegen.
Dächte man sich z. B. die Atome oberhalb der BewusstseiiiB-
sohwelle, so würde die Atomkraft A der Atomkraft B objectiv
werden und umgekehrt, die Atomkraft A dagegen sich selbst im
Gegensatz zur Objectivit&t von B subjectiv werden und umgekehrt.
So würde das TJnbewusste sich in A und B zweifach, sowohl ob-
jectiv als subjectiv, bewusst sein.
Nachdem wir so gesehen haben, dass die Vereinigung aller
oben genannten Gegensätze aus unseren Frincipien sich ergiebt,
kommen wir zu der Frage nach der Möglichkeit der Erk^ntziias
zurück. Es war von der neuesten Philosophie also bewiesen, dass
ein auf Aufhebung jener Gegensätze beruhendes System das einng
richtige sei. falls es überhaupt eine wahrhafte Erkenntniss gäbe;
ob es aber eine solche gäbe, dafür fehlte ihr nach wie vor jeder
Beweis y sie war in der Annahme desselben so dogmatisch, wie
es der vorkantische Dogmatismus nur irgend sein konnte, ja es fiel
ihr nicht einmal die Möglichkeit ein, dass Jemand die Möglichkeit
eines absoluten Erkennens (Vernunft) bis zu erhaltenem Beweise
desselben mit Eecht läugnen könne und läugnen müsse (vgl. Schel-
Ung n. 3, S. 74).
Dir ganzes Fhilosophiren beruhte also auf einer Bedingung,
die völlig in der Luft schwebte, das Ganze war ein hypothetisches
Bhilosophiren aus einer unbewiesenen Voraussetzung heraus ge-
wesen.
Es konnte sich hiemach folgerechter Weise auch die neueste
Philosophie nur in Skepticismus auflösen. Dass dieser Skepticismuß
in der jüngeren , philosophisch gebildeten Welt (insoweit sie einen
unreifen Dogmatismus überwunden hat) das vorwaltend Herrschende
ist, dürfte wohl kaum zu bestreiten sein; dass derselbe keine
wissenschaftlich consequente Durchbildung ( — Aenesidemus steht
nur erst hinter Kant — ) erhalten hat, liegt nur darin, dass die
handgreiflichen Eesultate der ezacten Wissenschaften und die jetzt
alles verschlingenden practischen Interessen- überhaupt der Philo-
sophie ungünstig sind^ indem sie das theoretische Denken zu sehr
zerstreuen und von einer consequenten Vertiefung abhalten. Um
weiter zu kommen, giebt es offenbar nur zwei Wege: entweder
man müsste, um das hypothetische Eesultat der Identitätsphilosophie
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sicher zu stellen, direot beweisen, dass eine wahrhafte Erkenntniss
existirt, — doch würde man mit einem solchen Bestreben nur in
die ihrer Natur nach vergeblichen (ygl. Eant's Werke 11. S. 62
bis 63) Bestrebungen der Griechen zurückfallen^ — oder man muss
den neuesten Fortschritt wirklich benutzen^ und das Bing am e n t -
gegengesetzten Ende wie die Griechen anfiassen, d. h. man
muss auf einem ganz anderen als dem bisher yersuchten, auf einem
Jedem zugänglichen und einleuchtenden Wege die inhaltliche Iden-
tität von Denken und Sein direct beweisen. Dieser Weg kann
nur der von uns durchlaufene, das successive inductive Aufsteigen
aus der Erfahrung sein.
Nun muss freilich der auf diesem Wege geführte Beweis selbst
ein Erkennen sein, wenn er etwas beweisen soll; man könnte also
denken, dass man dabei nur scheinbar einen Schritt weiter gekom-
men ist, in Wirklichkeit aber ebenso wie vorher mit den Füssen
in der Luft steht. Dem ist jedoch nicht so, vielmehr ist das Yer-
hältniss Folgendes.
Früher hiess es: „wenn es ein« Erkenntniss giebt, so ist in-
haltliche Identität von Denken und Sein''; über diesen einfachen
Conditionalsatz kam man nicht hinaus.
Jetzt heisst es: „1) wenn es eine Erkenntniss giebt, so muss
sie auf inhaltlicher Identität von Denken und Sein beruhen, also
auch in der unmittelbaren Erfahrung (Affection des Denkens durch
das Sein) und den logisch richtigen Schlüssen aus derselben zu
finden sein; 2) die Schlüsse aus der Erfahrung constatiren die in-
haltliche Identitöt von Denken und Sein; 3) aus dieser Identität
folgt die Möglichkeit einer Erkenntniss.'^
Hiermit haben wir einen in sich geschlossenen Zirkel, wo jedes
Glied die anderen bedingt, gleichviel mit welchem man anfange,
während wir vorher nur einen Conditionalsatz gleichsam ohne
Bücken- und Brustlehne hatten. Es bleibt mithin allerdings auch
jetzt noch die Möglichkeit übrig, dass dieser ganze Zirkel von
psychologischen und metaphysischen Bedingungen ein bloss sub-
jectiver Schein sei, den das Bewusstsein durch eine unerklär-
liche Nothwendigkeit gezwungen ist, sich zu bilden , dass es also in
der That doch keine Erkenntniss und keine Identität von Denken
und Sein gebe^ und der auf beide gebaute Zirkel von sich gegen-
seitig wahrscheinlich machenden Beziehungen eine blosse Chimäre
sei. Denn freilich lässt sich die transcendente und nicht bloss
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subjective Existenz jenes Zirkels nicht in aller Strenge als abso-
lute Wahrheit beweisen, weil eben das Bewusstsein in diesen
Kreis gebannt ist, xind nie einen Standpnnct ausserhalb desselben
nehmen kajini von welchem aus es die Beschaffenheit jenes Zirkels
beurtheilen könnte, weil es eben die Möglichkeit der Erkenntnis«^
nicht ohne Erkenntniss erkennen kann.
Wenn also auch die absolute Unmöglichkeit des Gegentheiles
nicht bewiesen werden kann, so ist doch durch jenen Zirkel die
Wahrscheinlichkeit, dass es sowohl Erkenntniss, als auch Identität
von Denken und Sein gebe, sehr viel grösser geworden, als sie vor-
her bei jenem einfachen, vom und hinten jedes stützenden Haltes
entbehrenden Conditionalsatz war, sie ist so gross geworden, dass
die Möglichkeit des Gegentheiles practisoh nicht mehr in Betracht
kommt. Der Skepticismus ist also nicht vernichtet, sondern als
theoretisch berechtigt anerkannt, aber doch seine Bedeutung auf ein
solches Minimalmaass reducirt, dass sie für die Praxis nicht nur
des Lebens, sondern auch der Wissenschaft verschwindet.
Betrachten wir dieses Resultat über die Möglichkeit der Erkennt-
niss im Allgemeinen, so stimmt es merkwürdig überein mit dem,
was für die Erkenntniss jeder speciellen Wahrheit < insofern sie nicht
formal logischer Natur ist) wohl nachgerade allerseits zugegeben
werden dürfte, dass es für uns keine Wahrheit, d. h. Wahrschein-
lichkeit von dem "Werthe l, sondern nur mehr oder minder grosse
Wahrscheinlichkeit giebt, welche die 1 nie erreicht, und dass wir
vollkommen zufrieden sein müssen, wenn wir bei unserem Erkennen
einen Grad der Wahrscheinlichkeit erreichen, welcher der Möglich-
keit des Gegentheiles die practische Bedeutung benimmt (veri^L
auch Einleitendes L b.).
Draekfehler.
8. 16 Z. 18 von anten statt: dasa dM Ich lies: das das Ich.
8. 119 Z. 9 von oben statt: sollten lies: sollen.
S. 144 Z. 31 yon oben statt: das lex panimoiüae, welches Um:
die lex parsimoniae, welche.
8. 192 Z. 4 von nnten statt: Begehungen lies: Begeh rangen.
Dnich der Hofbnchdruckerei (H. A. Pierer) in Altenhnrg.
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