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Full text of "Pindar's Leben und Dichtungen, Vortrag"

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II II 



I 




4 * 



« » 



. • 



I 



PINDAR^S 



LEBEN UND DICHTUNGEN 



VORTRAG 



ZUM BESTEN DER VOLKS -BIBLIOTHEK 



GEHALTEN AM i8. MÄRZ 1882 



IM SAALE DER LESE- UND ERHOLUNGS- GESELLSCHAFT 



ZU BONN 



VON 



I>^ EDUARD LÜBBERT, 

ORDENTLICHEM PROFESSOR DER CLASSISCHEN PHILOLOGIE UND ELOQUENZ. 




BONN, 

zu HABEN BEI MAX COHEN & SOHN (FR. COHEN). 

1882. 



■2 r, ^^ 



* 



Hochzuverehrende Anwesende! 

Es ist eine der schönsten Aufgaben des Geschichtsforschers in die geistige Werkstatt 
eines grossen edlen Genius einzukehren, sich von seinem Odem anwehen zu lassen, dem Triebe 
seines SchafiFens nachzugehen, wir fühlen dann gleichsam in uns selbst die Fittiche wachsen, 
die ims zu einer idealen Welt emportragen. Ein solcher gleichsam als Gast aus einer höheren 
Welt auf Erden wandelnder Genius ist Pindar gewesen, dessen Leben in jenes schone Zeit- 
alter der Hellenischen Nation fallt, wo eben die Knospe dicht vor dem Sichaufschliessen zur 
Blüthe stand, jenem Zeitalter, welches wir im Leben der Völker, wie der einzelnen Menschen 
das goldene zu nennen pflegen. Es ist die gewaltige Epoche der Perserkriege, die alle edelsten 
Kräfte im Geist der Hellenen aus dem noch schlummernden Knospenleben zur Entfaltung 
gebracht hat. Pindar, der Sohn des Daiphantos und der Kleidike stammt aus dem Gau 
Kynoskephalai bei Theben, seine Lebenszeit, eine Laufbahn von 80 Jahren, föUt zwischen die 
Jahre 521 imd 441. Die alten Ueberlieferungen Böotiens waren wohl darnach angethan, ein 
dichterisches Gemüth anzuregen. In Böotien waren in ältester Zeit Volksstämme von hoher 
geistiger Begabung und Cultur ansässig gewesen, die Kadmeer, die Thraker, die Minyer. 
Diese waren späterhin noch vor dem Troischen Kriege unter die Botmässigkeit der Booter 
gelangt, welche vom Norden herabkamen und in die gesegneten Gefilde Böotiens, welches von 
ihnen seinen Namen erhielt, eindrangen. Die Böoter besassen nicht die geistige Elasticität der 
früheren Beherrscher und versanken in Ueppigkeit und eine gewisse geistige Stumpfheit; in- 
dessen waren viele von den alten Geschlechtem im Lande geblieben, mit ihren Gotterculten 
und Priesterthümem und herrlichen Sagen. Sie blieben die unter der Asche lebendig fort und 
fort glühenden Funken und Hessen keine Stagnation eintreten. Das ganze Land war bedeckt 
von den Erinnerungen jener glorreichen Vorzeit. Am Helikon blühte nach wie vor der von 
den Thrakern begründete Musencult, an welchen sich die Poesie des Hesiod anlehnt. Die 
Kadmeischen Sagen von Theben, in denen Oedipus und Antigene hervorglänzen, gehören unter 
die Perlen griechischer Heldensage. So lebten die alten Erinnerungen fort und blieben frucht- 
bare Keime. Auch Pindar selbst ist aus einem dieser alten Geschlechter, dem der Aegiden, 
welches zu einem Theil nach Sparta auswanderte und dort königlicher Ehren theilhaft ward. 
Ausserdem schien Böotien von der Natur selbst zu einem Land bestimmt, wo die Musik ihre 
Blüthen treiben sollte: es wuchs in den Niederungen desKephissos das im ganzen A^terthum 
berühmte Flötenrohr, so schön wie nirgend anderswo. Theophrast in seiner Botanik erwähnt 
eine Stelle daselbst, Chytroi mit Namen, wo die beste Qualität sich vorfand und rühmt diese 
vor allen andern Gattungen. 

Schon frühzeitig entdeckte der Vater Daiphantos und der Lehrer Skopelinus, welchem 
Pindar die erste Einfährung in den Musikunterricht verdankte, das ungewöhnliche Talent des 
Knaben. Der Vater gab, um seine volle Ausbildung zu ermöglichen, den Knaben zu dem 
damals berühmtesten Musiker, Lasos von Hermione, in Unterricht, der sich auf einen Ruf des 
Hipparch nach Athen begeben hatte und noch nach Hipparchs Tode dort verweilte. Lasos ist 



bekannt als der erste Schriftsteller über Theorie der Musik, ausserdem als Dithyramben- 
Dichter. Nach vollendeter Lehrzeit kehrte Pindar nach Theben zurück. An der Spitze der 
musikalisch-poetischen Bestrebungen in seiner Heimath standen damals zwei Frauen, Korinna 
und Myrtis; die freiere Lebensanschauung der äolischen Stämme gestattete der Frau eine viel 
selbständigere sociale Stellung, als bei den loniem der Fall war; während bei den Joniem in 
engherziger Weise die Frau zu klösterlicher Zurückgezogenheit und Schweigen im Männer- 
kreise verurtheilt war, durfte sie. bei den Aeoliem und Doriem ihren Geist in freiem Spiel ent- 
falten. Auch Pindar lernte den Vortheil dieser Gleichberechtigung schätzen. Zunächst allerdings 
musste er als der bedeutend Jüngere die Ueberlegenheit der Frauen fühlen. Er ward mehrere 
Male in musikalischen Wettkämpfen, wie sie damals häufig stattfanden, besiegt. Pausanias 
bei einem Besuch in Tanagra sah noch im Gymnasium der Stadt ein sehr schönes Bild der 
liebreizenden Korinna, auf welchem sie sich selbst die Siegesbinde um's Haupt wand. Diese 
war der Lohn fiir einen ihrer Siege über Pindar. Pausanictö meint, sie habe diese Siege wohl 
ebenso ihrer Schönheit, als ihrem engen Anschluss an den Tanagraeischen Dialekt verdankt, 
den Pindar als zu lokal verschmäht hatte. Korinna übrigens schätzte gleichwohl Pindars 
Talent und wünschte, dass Pindar gewisse Fehler ablegen möchte. Es war die Sitte der da- 
maligen lyrischen Dichter, dass sie die gegebene Situation, für welche sie ihr Gedicht anfertigten, 
mit Vorgängen aus der Mythen- Welt und Heldensage verglichen imd in Parallele stellten. 
Pindar, welcher späterhin für diesen Zweck die Mythen aufs Feinste zu benutzen verstand und 
in diesen Erzählungen, wie in weichem Wachs, seine ethischen Gedanken auszudrücken wusste, 
hatte eben als Anfanger noch nicht den richtigen Zweck der Mythen-Einlagen erkannt; er 
glaubte dieselben als Decoration benutzen zu können und that hierin des Guten zu vieL Wir 
besitzen noch das Bruchstück eines Hymnus von ihm, in welchem er Theben besingen will 
imd fast die ganze Thebanische Mythologie in wenigen Zeilen berührt. Gegen diese fehler- 
hafte Art soll Korinna die geistvolle Bemerkung gerichtet haben: „man müsse mit der Hand 
säen, aber nicht mit dem ganzen Sacke." Wohl niemals hat eine kluge Lehre fruchtbringen- 
der gewirkt als diese. Dem jungen Adler wuchsen schnell die Schwingen; wir besitzen ein 
Gedicht Pindars aus seinem 19. Lebensjahr, aus 502, in welchem im einfachsten, schlichtesten 
Gewände der Composition sich doch der hohe Adel der Seele und die künftige Majestät des 
Meisters, die Reife der Gedanken zeigt. Dieses Gedicht ist das zehnte Pjrthische Gedicht zu 
Ehren eines Knaben Hippokles, der bei den Pythischen Spielen zu Delphi im Kampfspiel des 
Dauerlaufs gesiegt hatte. 

Um die Eigenthümlichkeit der Pindarischen Poesie richtig zu würdigen, ist es nöthig, 
einen Blick auf die Entwicklung der Lyrischen Poesie bei den Griechen zu werfen. Die 
früheste, zu kunstmässiger Entwicklung gelangte Gattung der Poesie ist das Epos, welches 
die lonier ausgebildet haben. Das Epos stellt die Vorgänge der Aussenwelt dar und gerade 
der Ionische Stamm hat einen offenen klaren Blick und Sinn für die Aussenwelt; die lonier 
sind die ältesten Seefahrer, sie suchen die weite Feme auf Aus dieser Lust an Abenteuern 
und Kämpfen ist das Epos entsprungen. Auch die Lyrik ist ihren ersten Keimen nach uralt. 
Sie stellt die Innenwelt des Menschen dar, und zwar ist der historische Ursprung und Aus- 
gangspunkt, aus welchem sich diese Gattung entwickelt, das Naturgefuhl. Das Naturgefühl 
aber wird nach einer zwiefachen Richtung angeregt: nach der der Trauer und nach der der 
Freude. Es entstand zunächst also eine Gattung von Klageliedern. Kein Gefühl ist für den 
Südländer wehmuthvoUer, als dasjenige, welches er empfindet, wenn im Hochsommer unter 



den Strahlen der Gluthsonne die liebliche Pflanzenwelt, welche doch die Sonne selbst anfanglich 
g-epflegt und genährt hatte, plötzlich jähen Todes dahinstirbt. Diese Erscheinung hat zunächst 
zahlreiche Mythen hervorgerufen, die, in Namen und Personen nur wenig verschieden, alle die 
gleiche Tendenz haben, und weiterhin eine eigenthümliche Gattung der Poesie. Das M3rthische 
Bild, unter welchem die früh in der Blüthe geknickte Vegetation dargestellt wird, ist die 
Gestalt eines holden, geliebten Knaben oder Jünglings, der durch eine grausame Gewalt da- 
hingerafft wird. Die verschiedenen Landschaften von Griechenland hatten fast jede einzeln 
ihre in diesem Sinne ausgebildete Sage. Am bekanntesten sind die Gestalten des Adonis, 
den ein Eber verwundet, des Hyakinthos, den ApoUon durch einen unglücklichen Wurf 
der Diskosscheibe todtet, Aktäons, des Jägers, den seine eignen Hunde fiir einen Hirsch 
halten und zerreissen, ein Bild, welches auf den Hundsstern zu deuten ist, des Daphnis, der 
durch Gram über unerwiederte Liebe hinschmachtet, des Hylas, welchen an einem Bach 
Wasser schöpfend, die Wassernymphen aus Liebe hinabziehen; ebenso die Kinder der 
Niobe, welche Apoll und Artemis mit ihren Pfeilen durchbohren; endlich ist poetisch am Aus- 
giebigsten verwerthet worden die Sage vom schönen Linos, dem Sohn der Königstochter 
Psamathe, welche ihr harter Vater Krotopos zwingt, das liebliche Kindchen auszusetzen. Sie 
gehorcht dem grausamen Gebot und die Hunde von den Heerden des Vaters zerreissen das 
Knäblein. Die mit diesen Bildern sich verknüpfende tiefe Wehmuth veranlasste Klagelieder 
und Klage- Ausrufe, in denen der Name des Linos, Hylas, Daphnis genannt wurde und der 
ganze Vorgang sich in Worte kleidete, der Schmerz sich in Ausrufungen Luft machte. 

Diese Lieder von Linos und die analogen einfachsten Dichtungen sind der eine Zweig 
der ältesten Lyrik. Der andere Zweig ist freudigerer Natur; er entspringt aus dem Gefühl 
des Frühlings-Jubels und der Sehnsucht nach dem Frühling. Die frühste poetische Form 
dieser Empfindungen sind die Paeane zu Ehren des ApoUon, welche namentlich auf der Insel 
Delos und in Delphi zu Hause sind. Es ist ein alter Glaube der Griechischen Volksstämme, 
dass Apollon während des Winters jenseits des Boreas bei dem frommen Volke der Hyper- 
boreer verweile; man hielt den Nordrand der Erde, aus dem eine Kunde von hellen Nächten 
und Nordlichtern nach Hellas gedrungen sein mochte, für die Heimath des Lichts, dort wohnte 
ein glückseliges und frommes Volk, bei welchem Kummer und Noth unbekannt sind. Bei 
ihnen weilt im Winter Apoll, und er wird, wenn der Frühling naht, von seinen Hellenischen. 
Verehrern durch Päane eingeladen, auf seinem Schwanenwagen zu erscheinen. Sein Eintreffen 
hiess in Delphi Theophanie und das Fest seiner Ankimft die Theophanien. Eine Gruppe von 
Paeanen hatte für die Delier der alte Sänger Ölen gedichtet, aus Lykien, welche noch in 
Herodot's Zeiten dort gesungen wurden; in ihnen war der Hyperboreer so oft Erwähnung 
gethan, dass Einige den Ölen selbst für einen Hyperboreer hielten. So ist das Naturgefühl 
mit seinen am meisten ergreifenden Motiven der Trauer und Freude die Wiege der Lyrik 
geworden. Ein charakteristisches Moment bei dieser Poesie ist, dass sie nicht wie die Epische 
Poesie von einem Einzelnen gesungen, sondern von Chören vorgetragen wird. Der Dichter 
spricht in diesen Gesängen nicht seine persönlichen Empfindungen aus, sondern die einer 
Gesammtheit. Nach und nach lösten sich nun diese Gesänge mehr und mehr von der 
ursprünglichen Veranlassung des Naturgefühls und wurden Lieder zum Preise der Götter 
bei den regelmässigen Festen in der Form von Hymnen, oder bei ausserordentlichen Ver- 
anlassungen. Das musikalische Instrument, welches den Gesang begleitete, war die viersaitige 
Phorminx oder Kithar. 



Eine ausgiebige Entwicklung erfuhr die Lyrik und Musik weiterhin durch Terpander 
vonAntissa auf der Insel Lesbos, welcher auf Betrieb eines Zweiges der Aegiden nach Sparta 
berufen wurde. Terpander bildete zuerst die siebensaitige Kithar aus, indem er zwei Tetra- 
chorde aneinander fügte, so dass das Saiteninstrument nun eine vollständige Octave darstellte. 
Plutarch erzählt uns, dass die Ephoren ihn Anfangs wegen dieser Neuerung in Strafe ge- 
nommen, dass sie aber weiterhin, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass durch diese 
grössere Mannichfaltigkeit die Musik nichts an Kraft einbüsse, das Heptachord sanctionirt 
hätten. Terpander erweiterte den Gesichtskreis der Ljrrischen Poesie, indem er nicht nur 
Götterfeste, sondern auch die Einrichtungen des menschlichen Lebens in die Sphäre dieser 
Poesie hineinzog. Er belebte den patriotischen Sinn der Spartaner durch den Preis ihrer 
Staatseinrichtungen. Auf seine Anregung wurden poetisch-musikalische Wettkämpfe an dem 
Feste der Kameen, einem Apollinischen Fest, in Sparta eingeführt im Jahr 67G; ebenso be- 
theiligte sich Terpander an den Wettkämpfen zu Delphi und errang bei denselben den Sieg. 
Seine Dichtungen hatten eine bereits sehr kunstreiche Form. Es wird uns speciell von einer 
Gattung seiner Gedichte, den sogenannten Nomen, berichtet, dass Terpander diese Compo- 
sitionen in sehr symmetrischer Weise gegliedert habe; sie bestanden aus 7 Theilen, deren 
mittelster den Namen ö^q)aX6q d. h. Mittelstein führte, so benannt von dem heiligen Steine, 
welcher in der Mitte des Delphischen Tempels lag und der der Mittelpunkt der Erde sein 
sollte. Um diesen mittelsten Theil gruppirten sich symmetrisch nach dem Anfang wie nach 
dem Ende zu je drei andere Theile, von denen die correspondirenden sich in Inhalt und 
Rhythmus entsprachen. Diese Compositionsform der Terpandrischen Nomen findet sich 
noch bei Pindar wieder. Im Zusammenhang mit diesen Bestrebungen ward die Pflege der 
Musik im Verein mit dem pantomimischen Tanz und dem Gesang von Chorliedem mehr 
und mehr ein Bestandtheil der öfifentlichen Erziehung. Es besass jede Stadt in Hellas 
ihre Tanzplätze, x^poi genannt, denn das Wort xop<^C bedeutet den Tanzplatz; meistens 
lagen diese Tanzplätze ganz in der Nähe der Göttertempel, denn mit den Götterfesten sollte 
sich ja die Aufführung von Liedern imd Tänzen verbinden. Es ist ein ehrendes Beiwort 
der alten Städte eöpuxopo^ d. h. mit breiten Tanzplätzen versehen. Jungfrauen und Jüng- 
linge widmeten sich mit andächtiger Hingabe der Darstellung dieser Gesangs- und Tanz- 
leistungen. Eine rührende Geschichte erzählt Pausanias. Die Einwohner von Messana an der 
Meerenge von Messina hätten jährlich einen Chor von 35 Knaben mit einem Lehrer und einem 
Flötenbläser nach Rhegion zu Schiffe gesendet, um dort an einem Götterfeste mitzuwirken. 
Einst bei stürmischer See, als man gleichwohl die heilige Sitte nicht habe unterbrechen wollen, 
sei das Schiff mit sämmtlichen Insassen untergegangen. Die Messanenser hätten um ihrer 
tiefen Betrübniss Ausdruck zu geben eine grosse Gruppe mit den Figuren aller Betheiligten 
anfertigen lassen und nach Olympia gestiftet. 

Im Lauf der Entwicklung der Chorischen Poesie hatte auch eine folgenreiche und 
fruchtbringende Neuerung Platz gegriffen, nämlich die Sitte, dass man wie die Götterfeste, 
eben so auch die Feste des menschlichen Lebens und bedeutungsvolle Ereignisse durch Auf- 
führungen von Chorliedem mit geeignetem Inhalt verschönte. Es wurde so die Weihe der 
Poesie in das Privatleben übertragen und den Dichtem ein überaus reicher Stoff geboten. 
Die Anlässe zu solchen Auffühnmgen waren mannichfaltig; man führte Hochzeitsgesänge auf, 
Epithalamien; Todtenklagen bei Bestattungen oder an Jahrestagen des Todes Verstorbener, 
die sogenannten Threnoi. Eine sehr übliche Gattung sind die Siegeslieder, Epinikien, zu Ehren 



der Sieger in den grossen National-Spielen, welche theils schon am Ort der Kampfspiele, 
theils bei der Heimkehr durch eine solche FestauflEiihrung begrüsst wurden. Auch andre 
specielle Veranlassungen wurden benutzt; so besitzen wir von Pindar ein Lied zu Ehren des 
Aristagoras von Tenedos, als derselbe das Amt eines Prytanen d. h. eines obersten Verwal- 
tungsbeamten der Stadt antrat Ein anderes Pindarisches Gedicht ist ein Bittgesang an den 
Gott Helios aus Anlass einer kurz vorher stattgehabten Sonnenfinstemiss; es wird in rührenden 
Ausdrücken dem Gott die Bitte vorgetragen, eine durch das Phänomen angedeutete Gefahr 
abwenden zu wollen; man hat die Sonnenfinstemiss neuerdings berechnet, sie fand am 30. April 
463 V. Chr. statt. Diejenige Gattung jener Dichtungen, welche für uns das hervorragendste 
Interesse hat, ist die der Epinikien, denn Pindars uns erhaltene Dichtungen sind fast sämmt- 
lich eben solche Gedichte. Unter die für die Hellenen am meisten charakteristischen Züge 
gehört der bei ihnen ausgebildete Sinn für Kampfspiele, welche sammt und sonders Theile 
des religiösen Cultus sind. Der Grieche will sich selbst, sein geistiges und körperliches Ich, 
dem Gott gleichsam als Weihgeschenk darbringen. Er denkt sich, dass es Etwas für die Gott- 
heit besonders wohlgefälliges sei, die erprobte, im Kampf gestählte Kraft des Mannes anzu- 
schauen; da aber ein blutiger Kampf der Hellenen gegen Hellenen niemals etwas Gott-Er- 
freuliches sein konnte, so muss dieser Kampf ein ernstes Spiel sein, ein Kampfspiel. Es ^ab 
eine sehr grosse Zahl von Kampfspielen in Hellas, die mit den so zahlreichen Gotter- und 
Heroenculten verknüpft waren. Bei fast all diesen Kampfspielen wurden Werthpreise ver- 
theilt, zumeist Dreifüsse und edle Hausgeräthe, in Sikyon Silbersachen, in Pellene weiche 
schongewobene Gewänder, in Athen, namentlich an den Panathenäen, Krüge mit heiligem Oel 
gefüllt, von den der Pallas Athene gehörigen Oelbäumen; diese kunstvoll bemalten Vasen 
kamen durch den Handel nach Italien und sind dort in Gräbern in grosser Zahl gefunden 
worden; Pindar Nem. 10, 36 erwähnt diese schönen Vasen. Indessen gab es vier grosse Nationad- 
Spiele die eine Ausnahme machten, bei diesen bestand die Belohnung des Siegers nur in einem 
einfachen Kranz: in Ol3rmpia vom Oelbaum, in Delphi vom Lorbeer, in Nemea von Eppich, 
auf dem Isthmus von Fichtenreis. Diese vier Spiele sind desshalb die bei weitem angesehensten 
und haben eine weit über die nächste Local-Umgebung hinausgehende Bedeutung. Die Olym- 
pien stehen auch unter diesen vieren noch voran; sie wurden in jedem 5. Jahr am ersten Voll- 
mond nach dem längsten Tage fünf Tage hindurch gefeiert; die Zeit, in welcher diese Spiele 
gehalten wurden und wo der Zuzug imd Heimzug stattfand> waren Tage des Gottesfriedens. 
In diesen Zeiten belebten sich die grossen Processionsstrassen, die nachOl3rmpia führten, mit 
unzähligen Reisenden. 

Es ist bekannt, dass die Ehre eines Sieges in diesen Spielen den Griechen für das höchste 
Erdenglück galt. Welche Andacht die Kämpfer im Ringen nach diesem Ziel beseelte, stellt uns 
aufs Schönste die berühmte Statue des betenden Knaben dar, der die Götter imi den Sieg in 
einem dieser Kampfspiele fleht, und aus dessen ganzer Geberde die seelenvollste Hingebung 
spricht. Eine charakteristische Erzählung mag den unendlich hohen Werth dieser Siege 
schildern. Es regierte in der Zeit der Perserkriege in Macedonien der König Alexandros 
mit Beinamen „der Philhellene", der Griechisches Wesen und Sitte aufs Lebhafteste ver- 
ehrte. Da die Könige von Macedonien aus einem Hause echt Griechischer Abkunft 
stammten, so war ihnen die Theilnahme an den Olympischen Spielen gestattet. König 
Alexandros trat als Läufer im Stadion mit einer Schaar von Mitkämpfern in die Schranken 
und hatte, wie Herodot erzählt 5, 22, den Erfolg, dass er gleichzeitig mit einem anderen 



8 

Wettläufer an das Ziel gelangte. Da kein ganz entschiedener Sieg vorlag, so konnte kein 
eigentliches Siegeslied gesungen werden, sondern nur ein Enkomion, ein Loblied. Pindar selbst 
dichtete ein solches, dessen Anfang uns erhalten ist. Späterhin als Alexander der Grosse 
Theben zerstörte, befahl er, allein Pindars Haus unversehrt zu lassen, weil dieser den Urahnen 
seines Königshauses gepriesen habe. Wenn also dem Sieg in den National-Spielen eine so 
hohe Bedeutung beigelegt wurde, so war die Aufgabe des Dichters, der <ien Auftrag zu einem 
Siegesliede erhielt, einerseits leicht, andrerseits schwer. Es lag ihm ein Stoff vor, der aus- 
giebig für grosses Lob war, doch musste er sich hüten in allzuoft wiederholte Phrasen zu 
verfallen. Die Dichter hatten aber einen sehr vortrefflichen Rückhalt in dem reichen Schatz 
der Heroensagen. Ein ausführliches directes Lob des Siegers würde nach Hellenischen Be- 
griffen eine Herausforderung an die Nemesis gewesen sein. Aus diesem Grunde wurden mit 
Vorliebe für die gegebene Situation Parallelen imd entsprechende Gegenbilder aus der älteren 
Sage mit ihren idealen Gestalten gewählt. Das den Heroen wegen jener übermenschlichen 
Siege gespendete Lob Hess einen Abglanz auch auf den zu verherrlichenden Sieger fallen. 
So z. B. wissen wir aus Pindar selbst, dass es bei den Einwohnern von Aegina unverbrüch- 
liche Sitte war, in jedem zu Ehren eines Bürgers ihrer Insel gedichteten Siegeslied die Aea- 
kiden, die Stammesheroen der Insel, hauptsächlich zu besingen, offenbar um jeden Gedanken 
an Selbstüberhebung zu vermeiden. Pindar ist auch in den elf Aeginetischen Liedern, die wir 
von ihm besitzen, der Vorschrift treulich nachgekommen. 

Neben den Epinikien wurden indessen auch die übrigen Gattungen der Chorischen 
Lyrik in steigender Entwicklung cultivirt. Schon vor Pindar hat es eine Reihe glänzender 
Namen auf diesem Gebiet gegeben; die älteren Meister sind Alkman und Stesichoros; der 
nächste Vorgänger Pindars ist Simonides von Keos, ein hochbegabter Dichter, dessen Dich- 
timgen eine gewisse glatte weltmännische Klugheit athmen, welche ihm die menschlichen Ver- 
hältnisse als das Werk einer wohl überlegten Berechnung erscheinen lässt. Er weiss seine 
geistvollen Gedanken stets in elegante Formen zu kleiden, doch fehlt ihm der Adlerflug Pin- 
darischer Poesie, der feste Glaube an die Hoheit der Ideale und der grossartige ethische 
Hintergrund. Er hielt sich viel an den Höfen der Herrscher von Sicilien und Thessalien auf. 
Mit besonderer Meisterschaft wusste er auch die zarteren Empfindungen des Gemüths darzu- 
stellen, namentlich in seinen Klageliedern auf Verstorbene, den Threnoi. Wir besitzen eine 
sehr schöne Probe dieser Seite seiner Kunst. Es ist uns ein Fragment aufbewahrt, welches 
einer mythischen Erzählung von den Schicksalen des Perseus entnommen ist, die berühmte 
Klage der Danae. Danae ist mit ihrem neugeborenen Söhnchen Perseus von ihrem grau- 
samen Vater Akrisios in einem schwankenden Kahne in's Meer ausgesetzt und den Wellen 
preisgegeben. Danae streckt flehend ihre Hände zu Zeus empor; sie will nicht um ihretwillen 
klagen, denn sie hat die Untreue des Zeus erfahren; sie ruft das Erbarmen des Zeus um ihres 
Söhnchens willen an, das im tobenden Sturm so harmlos und schuldlos schlummert. So er- 
greifend diese Klage ist, so enthält sie doch eine schwere Anklage gegen Zeus, welche uns 
den Dichter als Skeptiker zeigt. Er gehörte zu denjenigen Geistern, die es vermeiden, im 
menschlichen Leben das Walten einer höheren Macht bereitwillig anzuerkennen. So bedeu- 
tend demnach auch vom Standpunkt der formalen Kunst die Dichtungen des Simonides waren, 
so bilden sie doch nicht das Höchste in dieser Gattung. 

Pindar trat mit vollem sittlichem Ernst in die Aufgabe ein, zu welcher ihn sein ganzes 
Wesen bestimmte, ein Lehrer von Hellas durch den Mimd der Musen zu werden. Seine für 



uns am vollständigsten erhaltenen Gedichte bewegen sich in der Gattung des Siegeslieds, 
des Epinikion; wir besitzen 44 Nummern aus dieser Gattung von ihm, unter denen ein Ge- 
dicht sich findet, das 4. Pythische, welches gleichsam ein lyrisches Epos darstellt, indem es 
die Argonauten-Sage erzählt Pindar hat sich schon vom ersten Auftreten ab seine Aufgabe 
sehr hoch gestellt. Er fasst das Ereigniss des Sieges nach seiner ethischen Seite auf. Der 
Sieg, diese ausserordentliche Götterhuld, ist ihm ein Anlass, die Lebensziele des Siegers, seine 
persönlichen Verhältnisse, ja seinen Charakter einer Betrachtung zu unterziehen. Pindar be- 
handelt in jedem seiner Gedichte ein ethisches Problem, welches sich ihm aus der durch den 
Sieg herbeigeführten Situation, durch die Lebensbeziehungen des Siegers zu seinen Verwandten 
und Mitbürgern ergiebt. Er ist ein berufener Seher imd Herzenskundiger, dem das Recht zu 
diesen Beleuchtungen und Ermahnungen eben seine Stellung als Dichter giebt; er deutet seinen 
Freunden das Leben und nimmt ihnen die Binde von den Augen, damit sie frei und unge- 
trübt das wahre Glück und die wahren Lebensgüter erkennen. Pindar giebt diese Andeu- 
tungen in ebenso zutreffender, als zarter Form. Seine Lehren über die Aufgaben des Lebens 
sind in die Sprache der Mythen gehüllt. Es stand ja damals einem Dichter eine Welt der 
Sage voll reinster Poesie zur Verfügung. Diese Sagen-Erzählungen weiss Pindar wie weichen 
bildsamen Thon mit seiner klugen Hand stets in der Weise zu bilden und zu formen, dass 
die beabsichtigte sittliche Lehre für den aufmerksamen Hörer in überzeugendster Weise her- 
vorspringt. Aus diesem Grunde enthalten diese so eminent didaktischen Gedichte verhältniss- 
mässig nur sehr wenige kurz gefasste, aber allerdings äusserst prägnante Sentenzen; der 
Mythos ist es, der alles sagt, in der anmuthigsten, zum Theil grossartigsten Form. Pindar 
ist in der originellen Behandlung der Mythen dem Piaton zu vergleichen, der dieselbe Fertig- 
keit besitzt. 

Das früheste uns erhaltene Gedicht Pindar's, das zehnte Pythische, zeigt schon alle 
Eigenschaften des grossen Meisters gleichsam in der Knospe. Das Gedicht ist aus dem Jahr 
502 auf einen Knaben als Sieger in den Pythischen Spielen gerichtet, auf Hippokles von 
Pelinnaion in Thessalien, einen Schützling des mächtigen Fürstenhauses der Aleuaden, der im 
Dauerlauf gesiegt hatte. Die Anlage des Gedichts ist sehr einfach. Es drückt . sich in der 
Idee des Gedichts eine tiefe Bescheidenheit des Sinnes aus; das sittliche Problem, was Pindar 
hier in einfachster Form behandelt, ist: der Mensch soll die Schranke, die ihm durch seine 
Natur gezogen ist, lieb haben; er soll sich an dem Glück höher gearteter Wesen neidlos 
freuen können, und doch seine eigne bescheidnere Stellung mit voller Freudigkeit ausfüllen. 
Ajifang und Schluss des Gedichts sprechen von des Hippokles persönlichen Verhältnissen, 
die Mittelpartie, der ö^q)aXö^, enthält den Mythos: eine Erzählung von Perseus. Perseus 
nämlich gelangt auf einer seiner wunderbaren Helden-Fahrten, auf einem, den sterblichen 
Menschen nie erreichbaren Pfade zu den Hyperboreern, und geniesst bei diesem Besuch das 
Glück, einen Blick in das seelige Dasein dieses gottgeliebten Volkes zu thun, bei welchem 
Apoll so gern verweilt. Es wird hier in den reizendsten Farben, ähnlich wie das goldene 
Zeitalter beschrieben zu werden pflegt, das Leben der Hyperboreer gemalt, bei denen Krank- 
heit und Zwietracht, bei denen die strafende, aus dem bösen Gewissen stammende Nemesis 
unbekannt sind. Von diesem idealen Bilde lenkt dann der Dichter den Blick des Freundes 
wieder auf die Wirklichkeit und sagt ihm: Ist es auch nicht das Glück des Perseus, so freue 
dich doch dessen, was du hast; liebe deine Schranke. Das Ideal soll durchs Leben klingen, 
soll aber nicht dadurch, dass es ein nagender Wurm der Unzufriedenheit würde, uns unglücklich 



10 _ 

machen. Der gewonnene Sieg ist ja auch schon ein seliges Glück. Diese Ideen sind es, die 
durch das Jugendgedicht Pindars wehen ; auch zu uns wehen und grüssen sie als gute Geister 
herüber über die Kluft der Jahrhunderte. 

Pindars ganze Ideenwelt wurzelt in der Apollinischen Religion, wie sie sich in dem, 
seiner Geburtsstadt benachbarten Delphi im Zusammenhang mit dem Orakel entwickelt hatte. 
Die Apollinische Religion ist eine klar und plastisch ausgestaltete Entwicklungs-Stufe der 
Religion der Hellenen. Uranfänglich ist die Religion der Griechen, wie die aller Völker des 
Alterthums eine Natur-Religion: die Götter sind Personificationen der Natur-Kräfte und 
Elementar-Massen, sind Natur- Potenzen; die Vorgänge der Natur stellen sich dem Menschen- 
Auge als Handlungen anthropomorphisch gedachter Götterwesen dar. Die Natur rings um 
den Menschen ist ein grosses unabsehbar gedehntes Epos mit tausend Episoden. Dieser 
naturalistische Religions-Standpunkt ist auch die Ursache davon, dass das Epos die älteste 
Entwicklungsform der Poesie ist. Aus dieser Kinderzeit des Religiösen Bewusstseins stammt 
die Menge der so anmuthigen, zum Theil erschütternden Mythen-Erzählungen. Wir lesen im 
14. Buch der Ilias die berühmte Beschreibung der Vermählung des Zeus mit der Hera, jener 
heiligen Hochzeit, welche offenbar die Vermählung des Himmels mit der Erde im Frühling 
ist. Wir vernehmen mit innigem Ergötzen die Erzählung im Homerischen Hymnus von 
Hermes, wie der schlaue und diebische, neugeborene kleine Gott Hermes dem ApoUon im 
Dunkel des Zwielichts die herrliche Rinderheerde listig stiehlt, indem er die Rinder bei den 
Schwänzen, um die Spur unkenntlich zu machen, rücklings ziehend in eine Höhle verbirgt, bis 
Apoll sie wiederfindet; diess Abenteuer, was bedeutet es anders, als das Schwinden der Tage 
im Winter und das Wiederkehren des zunehmenden Lichts? Erschütternd ist der Mythus 
von Pentheus, wie ihn Euripides in den Bacchantinnen erzählt. Der trotzige stürmische The- 
banerfürst Pentheus, der den lieblichen Frühlings-Gott Dionysos in Fesseln schlagen lässt 
und die ihm huldigenden Bacchantinnen strafen will, wird von der eignen Mutter Agaue, die 
eine von den rasenden Bacchantinnen ist, im Wahnsinn, weil sie ihn für. einen jungen Löwen 
hält, im Verein mit den übrigen Weibern in Stücke zerrissen. Diess ist das Bild des^Winters, 
der für sein/sn lange geübten Trotz und Uebermuth der Mutter Erde und dem Frühlingsgott 
schreckliche Busse zahlen muss. Die Vernichtung des Tyrannen Winter wird stets in den 
alten Mythen als eine mit Hohn und Grausamkeit vollzogene Strafe dargestellt. 

Von diesem Standpunkt des naturalistischen Religions-Bewusstseins hat sich nun das 
Griechenvolk bald zu höheren Auffassungen erhoben. Es war eine der grössten Thaten des 
Hellenischen Geistes, dass er die Natur-Religion zu einer ethischen umschuf, und aus Natur- 
Potenzen Ethische Potenzen machte. Die Apollinische Religion ist der völlige Bruch mit der 
Naturreligion. Wie ein Morgenroth ging den Griechen mehr und mehr der Gedanke auf, dass 
in Natur und Menschen-Leben eine höchste weltordnende Weisheit walte, die alles zu einer 
ewigen Harmonie, einem köct^o^ verbinde. Dieser ethische Standpunkt drückt sich zunächst 
darin aus, dass die Welt der Götter nicht mehr ein chaotisches Durcheinander-Wirken dar- 
stellt, sondern auf den primitivsten sittlichen Gedanken zurückgeführt wird, auf den Gedanken 
des Staats. Die Götter bilden einen Götterstaat mit Zeus an der Spitze, und einem Jeden 
sind nun Grenzen gezogen, innerhalb deren er seine Macht ausübt. Diese Ordnung ist nicht 
schon von Ewigkeit her, sondern nach der Auffassung, wie sie ims beinahe urkundlich in 
Hesiod's Theogonie vorliegt, ist ein Ergebniss eines schweren und langen Kampfes der Olym- 
pischen Götter gegen die Titanen. Die Titanen stellen . in dieser Theologie den regellosen 



11 

Urzustand dar, wo Kronos gewaltthätig waltete. Es ist ein furchtbarer Kampf, welchen die 
Götter und Titanen kämpfen, er währt 10 volle Jahre, d. h. 10 cyklische Perioden von je 
8 Jahren. Die Götter kämpfen vom Olympos herab, die Titanen vom Othrys. Endlich siegt 
die Kraft der Olympier, die Titanen werden in den Tartarus gestürzt, der so tief unter der 
Erde liegt, dass ein hinabgeworfener eiserner Ambos 9 volle Tage hinab fliegt. Es wird ein 
Siegesfest der Götter gefeiert, bei welchem Zeus, der Vater der Götter und Menschen, selbst 
am Siegestanze mit Theil nimmt, wie der Dichter Eumelos erzählte. Es folgt dann nachdem Zeus 
zum Weltherrscher ausgerufen ist, die Vertheilung der Götter- Aemter; der Wille des Zeus 
herrscht fortan als höchstes Gesetz und dieser Wille ist das sittlich Gute; es herrscht nicht 
mehr die Willkühr und Leidenschaft, nicht mehr die Naturgewalt eines blinden Schicksals, 
sondern eine .ihrer Ziele sich bewusste Gerechtigkeit und Weisheit, welche beglücken will. 

Auch dem Menschengeschlecht ist seine ihm eigenthümliche Stellung in dieser Harmonie 
des Ganzen, in diesem köcTjüio^, angewiesen; allerdings ist ihm diese seine Stellung nicht ohne 
schweren Kampf zu Theil geworden. Denn als Zeus in der neugeordneten Welt sich um- 
schaute, fand er alles schön und gut; nur ein dunkler Fleck war darinnen: der Mensch mit 
seinen tausend Gebrechen und Schwächen. Zeus, der alles in dieser schönen Welt vollkommen 
gestalten will, fasst den Gedanken, das Menschengeschlecht zu vertilgen. Da erbarmt sich 
Prometheus der Menschen, er stiehlt dem Zeus das Feuer in der hohlen Narthex-Staude 
und rettet dadurch die Menschen. Durch das beharrliche Leiden des Prometheus wird Zeus 
dahin gebracht, dass er einsiefit : von allem Göttlichen ist das Göttlichste die Gnade und das 
Erbarmen mit dem Schwachen und Elenden. So gewinnt er die Menschheit lieb und nun erst 
ist seine Göttlichkeit eine vollkommene. Jetzt offenbart er den Menschen seinen Willen durch 
die Orakel des Apollon. Der Mensch soll seine Schranke erkennen und lieben, soll nicht 
nach zu Hohem streben; die schönste Aufgabe des Menschen ist die, in den gegebenen Ver- 
hältnissen seine Ideale zu finden, diese mit vollem Herzen zu pflegen und auszugestalten. Es 
kommen aber oft in diesen Verhältnissen Lebens-Räthsel und Dunkelheiten vor ; alsdann muss 
der Mensch zu den Orakeln seine Zuflucht nehmen. Nicht dem müssigen vorwitzigen Frager 
geben dieselben Antwort, sie offenbaren auch nicht die Zukunft, sondern sprechen aus, was 
der Wille des Zeus ist. Und auch diesen Willens- Ausspruch soll der Mensch nicht ganz 
mühelos in Empfang nehmen, sondern durch eignes Nachdenken recht verstehen lernen. 
Wie schön weiss die Dunkelheit der Orakel oft den Menschen auf das Selbstfinden hinzuleiten. 
So erzählt Herodot, wie die Auswandrer aus der Insel Thera vom Orakel angewiesen werden, 
dort eine neue Heimath zu suchen, wo der Himmel wie ein Sieb durchbrochen sei. Nach 
langem Suchen an der Küste Africa's finden sie eine Gegend, welche durch reichliche Regen- 
Niederschläge unendlich fruchtbar und gesegnet ist, das später so blühende Kyrene. 

Das grösste aber, was die Apollinische Religion dem Menschen giebt, ist die stets 
sich gleich bleibende Heiterkeit und Ruhe des Gemüths. Apollon ist ein Besänftiger der 
Leidenschaften. Ueber den Pforten seines Tempels standen zwei Wahrsprüche ^tib^v &fav = 
Nichts im Uebermaass, und tvOjöi (TauTÖv = Erkenne dich selbst. Diesen Mahnungen muss die 
verzehrende Gluth irdischer Leidenschaft weichen und an ihre Stelle tritt vielmehr jenes nicht 
lodernde, sondern stille sanfte Feuer jener verklärten Begeisterung, wie sie so herrlich sich 
in dem Kunst-Ideal des Apollo Musagetes von Skopas ausspricht, jener Begeisterung, die das 
ganze Leben zum Ideal zu erheben weiss und im Vergänglichen stets das Unvergängliche anschaut. 
Auf diesem Boden der Apollinischen Religion ist Pindars Poesie erblüht, aus ihr wie die 



12 

Pflanze aus ihrem Mutterboden, saugt sie mit tausend Fasern ihre Kraft. Von diesen An- 
schauungen durchdrungen deutet Pindar seinen Freunden das Leben. In den Ereignissen, die 
Pindar besingt, sucht er vor allem den idealen Kern nachzuweisen, sei dieser nun ein unmit- 
telbares Glück, oder eine Anforderung, die die höhere Ordnung an den Betheiligten stellt. 
Und diesen Lehren weiss er durch die prachtvolle Behandlung der Mythen-Erzählungen Fleisch 
und Blut zu geben. Ein sehr schönes gedankenreiches Gedicht Pindars möge uns in seine 
Dichterwerkstatt einfuhren; das siebente Olympische Gedicht. 

Im Jahre 464 wurde an Pindar die Bitte gerichtet, er möge für den Rhodier Diagoras, 
des Demagetos Sohn, aus der Stadt lalysos auf Rhodos, der damals bei den Olympien im 
Faustkampf gesiegt hatte, ein Siegeslied, welches in Jalysos aufgeführt werden würde, dichten. 
Diagoras gehörte dem damals in Rhodos mit königlicher Macht regierenden Geschlechte der 
Eratiden an. Die Familie der Eratiden, schon seit Jahrhunderten in herrschender Stellung, 
zeichnete sich durch eine gleichsam erblich gewordene, auch bei den Hellenen in dieser Be- 
ständigkeit seltene, übergewaltige Körperkraft aus. Durch eine Reihe von Generationen hin- 
durch haben die Eratiden ununterbrochen Kampfspiel-Sieger aufzuweisen gehabt. Diagoras 
hatte 3 Söhne, welche alle drei in den Olympien siegten, zwei derselben errangen bei derselben 
Festfeier des Jahres 436, der eine im Faustkampfe, der andere im sogenannten Pankration 
d. h. dem combinirten Faust- und Ringkampf, den Sieg. Es ist eine ebenso bekannte, als 
schöne bei den alten Schriftstellern oft wiederholte Erzählung, dass, als Diagoras mit seinen 
beiden sieggekrönten Söhnen durch das Stadion ging und die Söhne ihre Kränze ihm auf 
sein Haupt drückten unter dem Jubel von Tausenden von Zuschauem, ein Spartaner ihm 
zurief: „Stirb Diagoras, in den Himmel kannst du doch nicht emporsteigen". Der Ausspruch 
erfüllte sich auch nach wenigen Augenblicken; Diagoras starb den Freudentod. Später 
besuchte Pherenike, die Tochter des Diagoras, mit ihrem Sohne Eucles das Olympische 
Fest und ihr zum ersten Mal als einer Frau wurde von der Behörde die Auszeichnung- 
gewährt, die Olympischen Spiele mit ansehen zu dürfen. Der dritte Sohn des Diagoras. 
Dorieus, ist der berühmteste aus diesem Heldengeschlechte. Er siegte in 3 Olympiaden 
hinter einander 432, 428, 424 im Faustkampf. Ihn ereilte leider das Geschick, dass er durch 
die in Rhodos immer mächtiger gewordene Demokraten-Partei, welche sich an Athen 
anschloss, aus seiner Herrschaft und seiner Heimath vertrieben ward und nach Thurii in Unter- 
italien auswandern musste. Das Gedicht Pindars, welches wir hier näher betrachten wollen, 
ist dem Vater der drei Söhne, Diagoras, gewidmet, der den Freudentod starb, dem Sieger des 
Jahres 464. Offenbar bestand schon damals eine Athenisch gesinnte Partei in Rhodos, welche 
durch athenische Emissäre aufgewiegelt die Herrschaft der Eratiden zu lockern sich bestrebte. 
Die Familie der Eratiden war im Besitz einer uralten vollauf legitimen Herrschaft. Sie führte 
ihren Stammbaum auf einen Sohn des Herakles Tleptolemos zurück, der, wie im fünften Buch 
der Dias erzählt wird, den Heldentod vor Troja starb. Dies Königliche Geschlecht hatte in 
Rhodos seit langer Zeit mit Weisheit und Milde regiert und war aufs Innigste mit den Tra- 
ditionen der Insel verknüpft. Man darf gewiss annehmen, dass ein gegründeter Vorwurf 
gegen ihre Herrschaft nicht vorlag. Nichts desto weniger müssen bei der durch die Athener 
angefachten Gereiztheit der Parteien Irrthümer und Uebereilungen vorgekommen sein, welche 
indessen damals noch zu keinem unheilbaren Bruch geführt hatten, sondern bei gutem Willen 
von beiden Seiten vergessen und ausgeglichen werden konnten. Auf diese Keime einer sich 
im Stillen anbahnenden Gähnmg bezieht sich der Grundgedanke des Pindarischen Gedichts; 



13 

Pindar sucht die Leidenschaften zu beruhigen und die eingetretenen Verimingen in einem 
milden Licht vorzuführen. Dass es dem Dichter in der That durch sein Gedicht gelungen 
ist, den bürgerlichen Frieden auf längere Zeit sicher zu stellen, beweist der Umstand, dass 
die Vertreibung der Eratiden durch athenischen Einfluss erst volle 30 Jahre später eintrat, ein 
für die ungeheure Schnell-Lebigkeit hellenischer Verhältnisse über Erwarten günstiges Resultat. 
Pindars Ode wurde, nachdem sie aufgeführt war, mit goldenen Buchstaben auf Marmor 
geschrieben, im Tempel der Athena Lindia aufgestellt. 

Der Grundgedanke, welcher gleichsam die Seele des Gedichts ausmacht, und der aus 
allen Theilen harmonisch wiederklingt und ihr geistiges Band bildet, ist, um es kurz zu sagen: 
Die heilige Pflicht und die Wohlthat des Wiedergutmachens. Pindar sagt: Verimingen und 
Verfehlungen sind in allen Verhältnissen völlig unvermeidlich, sogar, und diess ist eine echt 
antike Anschauung, die Götter sind Verirrungen unterworfen, es kann eben nichts Grosses 
ohne Verirrungen zu Stande kommen. Indessen, so fährt der Dichter fort, das Leben darf 
dadurch nicht zu einer Kette von Bitterkeiten werden; es sind so viele wunderbar kräftige 
Heilmittel und Bürgschaften des ewig Guten und Heiligen in das Leben hinein gewoben, dass 
air jene Verirrungen, wenn man mit redlichem Willen jene Heilmittel anwendet, in ebenso 
viele Segnungen verwendet werden können. Die Wahrheit dieser Lehre sucht Pindar durch 
eine Reihe prachtvoll componirter Bilder aus der ältesten Geschichte von Rhodos zu bekräf- 
tigen, denn Rhodos selbst ist gleichsam das unverkennbarste Exempel dieser Wahrheit. Das 
Erste der drei Bilder ist von überwältigender Kühnheit und dramatischer Lebendigkeit : es 
spielt, wie ein Aeschyleisches Drama, im Kreise der Götter. Zeus hat nach dem Sieg über 
die Titanen und Giganten den Himmel und die Erde unter die Götter vermittelst de§ Looses 
im Beisein der Loosgöttin, Lachesis, vertheilt und jeder Gott hat sein Theilchen der Erde 
erhalten, wo ihm das Häuflein seiner Verehrer einen heiligen Tempel gründen imd Opfer 
spenden kann. Da, nachdem der Theilungs-Act beendet ist, stellt sich der mit der Lenkung 
des Sonnenwagens noch beschäftigt gewesene Gott Helios ein; er hat bei der Theilung 
gefehlt und kein Theilchen der Erde erhalten, wo ein Tempel für ihn stehen könnte. Zeus 
will durch Lachesis noch einmal die Loosung vornehmen lassen, Helios aber schlägt diess 
aus. Er hat mit scharfblickendem Auge erkannt, dass ein herrliches, bis jetzt unter dem 
Meeresspiegel verborgenes Eiland, die spätere Insel Rhodos, bald auftauchen wird; diese Insel 
wünscht er zu besitzen und bittet sich hierüber den Eidschwur des Zeus aus. Zeus ist gern 
bereit, und nun folgt die feierliche Schwur- Scene offenbar um die Heiligkeit des Eides und 
der Verträge als eine jener Bürgschaften des ewig Guten und Heiligen, durch welche 
Verfehltes wieder gut gemacht werden kann, darzustellen. Lachesis mit goldnem Diadem 
hebt die beiden Arme hoch empor und spricht dem Zeus die Eidesformel bei der Styx, den 
Göttereid, vor und Zeus, mit Lachesis vereint, nicken mit ihrem Haupt ein bedeutsames „Ja". 
Es ist durch diese Erzählung dem Vergessen und Versäumen eine wirksame Entschuldigung 
bereitet. Die Götter in ihrer ewigen Seeligkeit können auch vergessen, aber diess Vergessen 
wird durch die Heiligkeit des Eides in einen Segen verwandelt. Helios feiert bald nachher 
seine Vermählung mit der dem Meer entstiegenen Nymphe der neugeborenen Insel Rhodos, 
welche ihm im Lauf der Jahre 7 herrliche Söhne schenkt. 

Es folgt nun in dem Pindarischen Gedicht eine zweite Scene des Versäumens und 
Vergessens, welches in Gutes umschlägt, weil auch hier wieder ein Keim des ewig Guten 
einwirkt. Die alten Rhodier, die Nachkommen des Helios imd der Nymphe Rhodos, die 



14 

Heliaden, hegen den Wunsch, der so eben aus dem Haupt des Zeus entsprungenen Athene, 
die mit ihrem Glanz und freudigen WafiFenrufe Himmel und Erde erfüllt hat, den ersten 
Tempel auf Erden zu errichten und allen andern Menschen darin zuvor zu kommen. Sie sind 
Zeus für die Wendung ihres Geschicks so dankbar! Mit dieser Absicht wandern denn also, 
wie der Dichter andeutet, die Heliaden in frohem Zuge mit schön geschmückten Opferthieren 
hinauf nach der Akropolis von Lindos, um dort in einem feierlich abgegrenzten Bezirk der 
neugeborenen Göttin das erste Opfer auf Erden zu bringen. Die Altäre sind errichtet, die 
Opferthiere von den Opferknechten mit gewohnter Kunst getödtet, die Opferstücke sollen 
verbrannt werden, da, o Schrecken, stellt sich heraus: die Opfernden haben kein Feuer mit- 
genommen, keinen Funken, aus dem eine Gott wohlgefällige Flamme hätte entzündet werden 
können. Sie haben in echt menschlicher Weise aus übergrosser Sorge um das weniger 
Wichtige das Wichtigste vergessen, wie früher auch die Götter in ihrer ewigen Seligkeit 
vergessen konnten. So müssen denn die Opferer ein feuerloses Opfer vollziehen und nach 
diesem ersten Vorbild müssen fortan alle ferneren der Lindischen Athene auf Rhodos gebrachten 
Opfer feuerlos bleiben. Allein auch diese Vergesslichkeit schlägt in Segen um. Athene lässt 
die Rhodier wissen, dass sie ihre heilige Einfalt für das schönste Opfer ansehe, und beschenkt 
die Rhodier mit der Gabe des Kunsthandwerks, welches bekanntlich auf Rhodos zu hoher 
Vollendung gelangte. 

Ein drittes Bild zeigt uns eine dritte Art des Vergessens, die offenbar die schuldvollste 
ist : es ist das sich selbst vergessen aus Leidenschaft, eine Uebertretung, die schwerere Sühne 
verlangt. Der Held dieser Erzählung ist der aus der Ilias wohlbekannte Sohn des Herakles, 

Tleptol^mos, der seine Jugend in Argos unter den Augen seiner allzunachsichtigen Gross- 

• 

mutter Alkmene verlebte. Einst kam Alkmenen's Stiefbruder, der Grossoheim des Tlepto- 
lemos, zum Besuch nach Argos, Likymnios von Midea. Der etwas übermüthige, von der 
Grossmutter nicht allzustreng erzogene Jüngling gerieth gelegentlich mit dem Grossoheim 
in Wortwechsel und als dieser ihn hart anliess, übermannte die Gewitterwolke des Zorns 
umnebelnd die Sinne des Jünglings, er vergass sich völlig selbst, und erschlug mit dem Stab 
aus hartem Oelbaumholz den greisen Alten. Tiefe Reue überkam den Jüngling sogleich nach 
der That. Er eilte von Gewissensangst getrieben zu der Stätte, die die Zuflucht geängstigter 
Menschenkinder ist, zum Delphischen Orakel. Der Delphische Gott legt ihm Busse auf: 
er solle das Vaterland Argos, wo er eine zu süsse Jugend verlebt, verlassen und nach 
Rhodos mit den Seinigen ziehen, dort eine neue Heimath sich zu gründen. Pindar erzählt, 
wie Tleptolemos der Weisung des Gottes gehorchte und seit der Schreckensthat ein völlig 
andrer geworden und durch ein edles Leben sein Jugendvergehen gesühnt habe, so dass er 
die Ehren eines Heros bei den Rhodiern erhielt. So war jenes verhängni ssvolle Sich- Ver- 
gessen auch bei ihm durch das Heilmittel des Orakels zum Segen für ihn und andere 
geworden, und es hatte sich in der Geschichte von Rhodos die Wahrheit von dem Trost 
und der Wohlthat des Wiedergutmachens zum dritten Mal bewährt. 

Diese drei grossartigen Bilder bilden die Mittelpartie des Pindarischen Gedichts, den 
sogenannten ö^(paXö^. Eingang und Schluss des Liedes sind den persönlichen Verhältnissen 
des Siegers gewidmet. In diesen Partien blickt überall der sich mehrfach zum Gebet 
steigernde Gedanke hindurch, dass dem Sieger, der einen so herrlichen Ruhmeskranz der 
Heimath Rhodos errungen habe, doch die wohlwollende Gesinnung der Mitbürger erhalten 
bleiben möge. Pindar bewegt sich nur in leisen Andeutungen der vorgefallenen Thatsachen; 



15 

er betheuert, dass in diesem übergewaltigen Manne (Svbpa ireXüjpiov), kein Schatten eines 
Frevelsinnes wohne; diese Kraft sei eine Göttergabe; der Sieg in Olympia, dem noch viele 
andere Siege in öffentlichen Kampfspielen sich beigesellen, sei ein Unterpfand der Götterhuld, 
das Alles wiedergutmachen könne. In dieser Weise redet Pindar zum Frieden, indem er 
die Lebensstellung des Siegers ihrem tiefsten Wesen nach charakterisirt. 

So hat Pindar einen reichen Ideenschatz in köstlicher Form durch seine Lieder über 
Hellas ausgestreut. Jedes seiner Gedichte behandelt in dieser Weise ein ethisches Problem; 
er giebt in ihnen seinen Freunden wahrhaft goldne unvergängliche Schätze. Das erste Olym- 
pische Gedicht auf König Hieron von Syrakus, der im Jahre 476 mit einem Rennpferd gesiegt 
hatte, behandelt den Gedanken, dass das wahre Glück nicht dasjenige ist, welches uns mühelos 
in den Schooss fällt, sondern dasjenige, welches wir in heissem Kampf mit Einsatz aller Kraft 
erringen. Diess wird durch den im ö^q)aXö^ erzählten Mythos von Pelops erläutert, welcher, 
unähnlich seinem Vater Tantalos, der das mühelose Glück nicht zu ertragen vermochte, um den 
Besitz der schönen Hippodamia den schweren Kampf mit Oenomaos wagte, und der dieses 
schönste Lebensglück errang; dieser erste Wettlauf um den Preis des Lebens auf den Gefilden 
von Olympia ist der Ursprung für die Einsetzung der Olympischen Spiele geworden. Ein andres 
Gedicht, das 10. Olympische, handelt von dem auf dem zweiten Versuch ruhenden Segen ; das 
8. Olympische von den Göttern, welche die Mitarbeiter der Menschen sind. Indessen so sehr 
Pindar überall bemüht ist, dem menschlichen Leben die unentbehrlichen Grundlagen des 
wahren Glücks zu sichern durch Aufrichtung solcher idealer Grundpfeiler herrlicher Lebens- 
regeln, so wenig ist Pindar bei dem Diesseits des Lebens stehen geblieben; er hat seine Blicke 
auch über die Spanne des Lebens ahnungsvoll hinaus gerichtet, er ist nicht erdetrunken. In 
einem Gedicht auf den Rhodier Kasmylos erzählte er einen wunderschönen Mythos, den uns 
Plutarch im Trostschreiben an ApoUonios im Auszug mittheilt. Die Sage kennt zwei alte 
Heroen der Baukunst, Trophonios und Agamedes, welche den alten mythischen Königen der 
Vorzeit ihre Schatzhäuser erbaut haben sollen, so dem König Hyrieus von Böotien und König 
Augias in Ephyra. Den Künstlern wird auch vom delphischen Gotte der Auftrag zu Theil, 
dort an heiliger Stätte einen Tempel zu errichten. Sie vollführen den Auftrag nach dem 
Herzen des Gottes und fragen dann beim Orakel, welchen Lohn sie wohl in Anspruch nehmen 
dürften. Der Gott antwortete ihnen, sie sollten nur inzwischen froh und vergnügt sein, am 
7. Tage werde ihnen dasjenige zum Lohn werden, welches das Beste für Menschen sei. Und 
so geschah es. Am 7. Tage schliefen die Jünglinge, den Lohn im Tempel erwartend, sanft 
ein imd erwachten nicht wieder. In denjenigen Liedern besonders, welche dem Andenken 
theurer Verstorbener gewidmet waren, in den Threnoi, ist Pindar mehrfach auf die Schilderung 
der Gefilde der Seeligen eingegangen; wir sehen daraus, dass seine Phantasie sich gern mit 
diesen Vorstellungen befasste und dass auch ihm das Leben dort im Reiche Persephones 
als eine nothwendige Ergänzung des Ringens und Kämpfens in den Stürmen dieses Lebens 
erschien. 

Wenn sich uns sonach die Poesie Pindars ' als der Ausdruck einer sehr erhabenen 
Weltanschauung, geflossen aus den grossartigen Anregungen der Delphischen Theologie, 
erscheint, so müssen wir dennoch uns erinnern, dass diese Apollinische Religion ja nur eine 
Entwicklungsform der Hellenischen Religion ist, neben der eine andre, ihr vielfach diametral 
entgegengesetzte, aber nicht minder erhabene und aus dem Urquell des Gemüths geschöpfte 
Religions- Auffassung sich gebildet hat, die Religion der Mysterien der Demeter und Dio- 



16 

nysos. So wie Delphi ein Centrum des religiösen Denkens in jenen apollinischen Anschau- 
ungen ist, so ist Eleusis ein zweites Centrum ebenfalls hoch charakteristischer religiöser Be- 
strebungen. Die Apollinische Religion kennt nirgends Mysterien, in ihr ist alles klar und 
durchsichtig: ein grosser KÖ(T^o^ umfasst Gotter und Menschen; ebenso wie das höchste Wesen 
ist das geringste, ist jeder einzelne Mensch ein Ring in dieser Kette; es ist ihm sein Arbeits- 
feld abgegrenzt, auf welchem er auch im kleinsten gegebenen Stoff seine Ideale verwirklichen 
kann. Diese Auffassung, so sehr sie unsre Hochachtung verdient, ist gleichwohl von den 
Hellenen nicht als die allein für das Leben zutreffende erkannt worden. Und gerade darin, 
dass der Genius des Hellenischen Volkes sich nicht auf jene Apollinische Erscheinungsform 
des religiösen Bewusstseins beschränkt hat, zeigt sich die reiche Vielseitigkeit jenes Volks- 
geistes. Jene ruhige sanfte Verklärung und Begeisterung des Gemüths, wie sie die Apollinische 
Religion lehrt, ist nicht in allen Lebenslagen stichhaltig. Es giebt Zeiten der Trübsal im 
Leben, des inneren Gebrochenseins, der tiefen Trauer, wo das Gemüth nach andrem Trost 
ausschaut, als nach jenem erhabenen Schauspiel der ewigen Vollkommenheit und Schönheit 
der Welt, in welcher alsdann der Mensch wie ein Tropfen im Meer aufgegangen erscheint. 
Diese Lücke in der Apollinischen Religion haben die Griechen aufs lebhafteste empfunden. 
Die hoch thronenden, in ihrer ewigen Ruhe und Seeligkeit beglückten Olympischen Gotter 
erschienen oft dem innerlich gebrochenen Menschenherzen unnahbar. Die Olympischien Götter 
werden durch menschliches Leid und Elend, welches in das Bild der ewigen Schönheit der 
Welt nicht passen will, beleidigt; der Anblick von Leichen verunreinigt sie. Gerade ApoUon 
ist in dieser Hinsicht von verhängnissvoller Unduldsamkeit. Auf dem Apollinischen Eilande 
Delos durfte keine Grabstätte errichtet werden; es war sogar Sitte, dass man sterbenskranke 
Personen schnell auf die Nachbar-Insel Rheneia hinübergeleitete, damit Apoll in seiner strah- 
lenden Reinheit nicht durch den Anblick "eines den Todeskampf kämpfenden Menschenkindes 
befleckt würde. 

Im Gefühl dieser Unzugänglichkeit der höchsten Götter wandte sich das Gemüth der 
Hellenen einer anderen Göttergruppe zu, die dem Menschen-Herzen viel näher standen, weil 
diese Gottheiten an sich selbst den tiefsten Schmerz, ebenso wie die höchste Lust, wie der Mensch 
sie empfindet, erfahren hatten. Diese Götter sind Demeter und ihre Tochter Kora und Dionysos. 
Der eigenthümliche Charakter derselben stammt noch aus der ältesten Epoche, der Naturreligion. 
Kora und Dionysos sind Götter des vegetativen Lebens, der Pflanzenwelt. Sie erfahren an 
sich das Geschick des Todes und der Wiedergeburt, die Palingenesie, wie die liebliche Pflanzen- 
welt, welche in ihnen personifizirt ist. Kora, die Tochter Demeters, steigt jedes Jahr im Herbst 
nieder in die dunkle Tiefe zum dunklen Hades, ein unsäglicher Schmerz für Mutter und 
Tochter, und im Frühling kehrt sie wieder mit Jubel zurück. Dionysos, der Gott alles Pflanzen- 
lebens, dessen edelste Darstellung der Wein ist, wird im Winter, wenn die Tage am kürzesten 
sind, von den Titanen zerrissen, aber, wenn der Frühling kommt, wird er von Semele immer 
wieder aufs Neue geboren. Diese Gottheiten waren dem Menschenherzen verwandt, in ihren 
Geschicken klang der Schmerz und die Lust der Menschenbrust wieder; es war eine Wonne, 
mit ihnen zu trauern, mit ihnen zu jubeln. Diese Gottheiten sind die Gottheiten der Mysterien- 
Religionen des Alterthums. Die Blüthe des religiösen Lebens in diesen Culten ist die Ver- 
zückung und Schwärmerei, mit welcher die Eingeweihten an Trauer und Jubel der Gottheiten 
selbst theilnehmen. In dieser Schwärmerei ist die Gottheit gleichsam in den Menschen aus- 
gegossen, der Schwerpunkt all seines Denkens und Thuns liegt in dieser Aneignung der Gott- 



17 

heit. •Die Festtage der Mysterien sind die Lichtpunkte auf dem oft dunklen Lebenspfade und 
strahlen ihren Glanz auch auf das Alltagsleben aus. Jene rückhaltlose schwärmerische Hin- 
gabe, wie sie in solchen Festzeiten die griechischen Gemüther ergriff, stellt uns aufs schönste 
das durch die Kunst geadelte Bild der Mänade oder Bacchantin dar, wie sie z. B. Skopos so 
schon gebildet hatte, die, ihrer selbst vergessen, nichts andres sein will, als ein Werkzeug des 
Gottes. Sie stürmt dahin, von ihm getrieben, in begeisterter Raserei, um nichts zu empfinden, 
als den Schmerz und die Lust, ihm zu folgen. Es knüpften an diese Mysterien sich auch die 
seligsten Hoffnungen fiir ein Leben nach dem Tode. Die tiefe innerliche Vereinigung des 
Menschen mit der Gottheit gab die Bürgschaft der Fortdauer auch nach dem Tode xmd einer 
Aufnahme in den Kreis der Seligen. 

In diesen Culten ist also das Element der Leidenschaft vollauf entwickelt, sie ist in 
den Dienst der Religion getreten, sie wird die Brücke für den Menschen zur Vereinigung mit 
den Gottheiten. Im Apollinischen Cult wird die Leidenschaft gedämpft, an die Stelle des Pathos 
tritt, wie die Griechen sagen, das Ethos, jene ruhige sich selbst gleichbleibende Klarheit des 
Gemüths. Auf dem Pathos beruht die Kunstform der Tragödie, auf dem Ethos die Kunstform 
der Chorl3nrik. Es fragt sich nun, in welcher Weise wohl Pindar zu jenen Mysterien-Reli- 
gionen sich innerlich gestellt und in ein Verhältniss gesetzt hat. Jedenfalls, bei seiner hohen 
Achtimg vor allem Gottlichen, hat er auch diese Erscheinungsformen des religiösen Lebens 
mit Ehrfurcht betrachtet. Indessen waren sie seinem innersten Wesen nicht ganz conforra, 
eben weil sie die Gluth der Leidenschaft in das geistige Leben des Menschen hineinzogen, 
welche seine Gesänge zu verbannen suchen. Wir haben über Pindars innere Stellung zu 
diesen Culten eine interessante Erzählung bei einem alten Biographen des Dichters. Dieser 
berichtet, dass als Pindar sein 80. Lebensjahr erreicht hatte, ihm einst im Traume Demeter 
erschienen sei, und sich darüber beklagt habe, dass, während er doch alle übrigen Gottheiten 
in seinen zahlreichen Hymnen besimgen habe, er doch niemals auf sie selbst oder ihre Tochter 
ein Lied gedichtet habe. Er möge, bevor es zu spät sei, diess nachholen. Nachdem er aus 
dem Schlaf sich erhoben, habe Pindar einen Hymnos aufPersephone gedichtet, dessen Anfang 
wir auch noch besitzen. Hiermit schien Pindar nunmehr mit allen Göttern versöhnt. Er reiste 
kurz nachher zu Freunden nach Argos, wo während einer Theater- Vorstellung ihn die Hand 
des Todes so sanft berührte, dass er rückwärts sich neigend im Schooss eines geliebten 
jugendlichen Freundes Theoxenos entschlief. 

So endete der edle Sänger ApoUons. Aber die Werke des Edlen leben nach seinem 
Tode fort und aus ihnen sendet noch heut uns der Dichter seine Grüsse und wir empfinden, 
wenn wir seinen Worten nachdenken, dass das Schöne imd Edle und Grosse aller Zeiten von 
einem tief-innigen Verwandtschaftsbande zusammengehalten wird. Pindar ist eine echt ethische 
wesentlich aufbauende Natur. Wir bewundern an ihm den unerschütterlichen Glauben an die 
höchsten sittlichen Ideale der Menschheit; dieser Glaube hat ihm die Fähigkeit gegeben, einer- 
seits in dem flüchtigen Wechsel des Lebens stets das Bleibende, Ewige zu erfassen, imd 
andrerseits in dem oft so zwiespältig und feindlich gestalteten Treiben der Menschen stets das 
Element der Versöhnung zu finden. Wer diese Ideale in seiner Brust getragen hat, der hat 
gelebt für alle Zeiten. 



UDiTcrtitiU-Buohdruckerei von Carl Georgi fu Bonn. 



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