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HARVARD LAW LIBRARY
INN
3 2044
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NN an INN
Received EP I 919
Rn Der
Pitaval der Gegenwart
Almanach
interessanter Straffälle.
Herausgegeben von
Dr. R. Frank Dr. 6. Roscher Dr. H. Schmidt
Professor in Tübingen. Polizeidirektor in Hamburg. Reichsgerichtsrat in Leipzig.
II. Band.
Leipzig,
Verlag von C. L. Hirschfeld
1906.
ee
IR Du
SEP 151919
Inhaltsverzeichnis.
| Seite
Eine internationale Diebesbande. Von Landrichter Dr. Nöldecke
in Hamburg . . 1
—Ein Alibi. Von Staatsanwalt Alfred Amschl ; in Graz. .. 31
Tränenreiche Weihnachten. Von Staatsanwalt Dr. Ertel in
Hamburg . ; es osco 42
—Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. Von Stadt-
hauptmann Dr. Sárkány in Peces . . 71
Der Leipziger Bank-Prozeß. Von Staatsanwalt Dr. Weber in
Leipzig . r 89
Eine entmenschte Mutter. "Von Polizelinspektor Rosalowski in
Hamburg . . 173
— Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. Von A. J. Milo-
vanovic in Belgrad . . 185
Der Brünner Raubmord von 1899. Von Dr. Richard Baner,
k. k. Staatsanwaltssubstitut in Troppau . . . 196
- Amerikanische Räuber. Zwei Berichte über Raubanfälle : aus
dem Archiv von Pinkertons National Detective rn Von
Cleveland Moffet in New-York . . 2 200.207
I. Der Rock-Island Schnellzug a 208
I. Der Bankraub in Northampton si 229
Der Fall Umland. Von B. Büttner in Göttingen ; 257
Zwei Geisteskranke. Von Geheimem Justizrat Siefert in
Weimar.
I. Diebstahl . . . 271
Il. Raubmordversuch A 282
Eine Ladenschwindlerin. Von Kriminalinspektor Hinsch in
Hamburg . . 287
Der Knabenmörder "Breitrück. Von Dr. du. Octavio Bracken-
hoeft in Hamburg . . . . Da i ; Be . 317
Eine internationale Diebsbande.
Von
Landrichter Dr. Nöldeke in Hamburg.
‚Es war am Montag den 6. Juni 1892, einem herrlichen
Frühsommertage. Über der Alster, jenem Kleinode des
nordischen Handelsemporiums, blaute der Himmel und ihre
Umgebung prangte im frischen Grün. Die Plätze vor den
Cafes am Jungfernstieg waren dicht besetzt, teils von
Hamburger Geschäftsleuten, welche in der angestrengten
Arbeit des Tages einen Augenblick der Erholung widmeten,
teils von zahlreichen Fremden, welche diese Krone der
Hamburger Sehenswürdigkeiten mit allem Behagen ge-
nossen.
Vor dem Café Imperial saß auch, vertieft in das Stu-
dıum des Mailänder „Il Secolo“, die zweiundsiebzig-
jährige Frau Auguste Nagel. Frau Nagel war weit in
der Weit herumgekommen. Sie hatte viele Jahre im Aus-
lande verlebt, darunter 15 Jahre in Italien. Ihr Sohn Hugo
lebte als Großkaufmann in Paris, ihre Tochter Octava war
eine bekannte Sängerin und trat in jener Zeit gerade in Italien
auf. Frau Nagel freute sich der günstigen Kritik, die der
„Secolo“ dem Auftreten ihrer Tochter widmete, als sie
plötzlich von einem distinguiert aussehenden, elegant ge-
kleideten und mit Goldschmuck reich versehenen Herrn in
italienischer Sprache angeredet wurde. Der Herr, in dessen
Begleitung sich noch ein anderer befand, sprach der Frau
Nagel seine Freude darüber aus, daß er jemanden finde,
Der Pitaval der Gegenwart. II. 1
9 | Dr. Nöldeke.
der italienisch verstehe, denn sie selbst könnten sich, da
sie nur italienisch sprächen, mit dem Kellner durchaus
nicht verständigen; er bat Frau Nagel, für seinen Freund
und ihn ein Glas Bier bestellen zu wollen. Frau Nagel
kam dem Wunsche nach, und nachdem die beiden Fremden,
welche sich als Weingutsbesitzer aus der Gegend von
Alessandria vorstellten, um die Erlaubnis gebeten hatten,
sich neben Frau Nagel niedersetzen zu dürfen, entspann
sich eine eifrige Unterhaltung. Die beiden italienischen
Gutsbesitzer erzählten, daß sie mit einem Freunde namens
Gaddi, den sie noch erwarteten, Geschäfte halber nach
Hamburg gekommen seien; sie verkehrten in den feinsten
Hamburger Kreisen, in die sie ihr Generalkonsul eingeführt
habe; Gaddi habe auch noch die Absicht, einen Neffen,
dessen Mutter Hamburgerin sei und der als Volontär in
ein Hamburger Handelshaus eintreten solle, in einer Pen-
sion unterzubringen.
Kaum war die Unterhaltung bei diesem Punkte an-
gelangt, als Herr Gaddi erschien. Derselbe hatte eine
imponierende Figur, schwarzes Haar, scharfe Augen und
trat ganz als Gentleman auf. Er erzählte Frau Nagel,
daß er in Amerika mehrere Millionen verdient habe, wo-
von er in seiner Handtasche 4—500000 Dollars mit sich
führe, er besitze ferner in Italien mehrere Landgüter und
habe in Liverpool eine Kiste mit Diamanten stehen. Gaddi
erkundigte sich bei Frau Nagel nach den Hamburger Pen-
sionsverhältnissen und Frau Nagel empfahl dabei sehr warm
ihre eigene Pension bei Frau J. in der Hermannstraße,
wo sie schon seit einiger Zeit wohne und vortrefflich
untergebracht sei. Da dies Gaddi zusagte, beschloß man,
gemeinsam mit Frau Nagel die Pension zu besichtigen.
Dies geschah noch am Montage. Der Italiener fand Ge-
fallen an der Pension und lud Frau Nagel mit Rücksicht
auf die ihm bewiesene Liebenswürdigkeit auf den folgenden
Tag zum Mittagessen in ein feines Hamburger Restaurant
Eine internationale Diebsbande. 3
ein. Die alte Dame, auf welche das sichere Auftreten der
eleganten Ausländer großen Eindruck machte, nahm die
Einladung an und erschien zur abgemachten Stunde in
dem Restaurant, wo sich bereits der Gastgeber mit seinen
Freunden eingefunden hatte. Während des Essens unter-
hielt man sich viel über geschäftliche und finanzielle An-
gelegenheiten, denen Frau Nagel großes Interesse entgegen-
brachte. Sie klagte lebhaft über das starke Sinken des
Kurses der italienischen Rente, von welcher sie 150000 frs.
zu einem wesentlich höheren als dem gegenwärtigen Kurse
gekauft habe. Gaddi drückte sein Bedauern hierüber aus
und erklärte, ihm komme bei seinem großen Vermögen
wenig darauf an, diese Papiere längere Zeit hinzulegen;
er sei bereit, sie der Frau Nagel zum Einkaufspreis abzu-
nehmen, da er sicher sei, daß die italienische Rente ihren
alten Kurs wieder erlangen werde und er die Papiere
später mit Gewinn werde verkaufen können. Darob war
Frau Nagel sehr freudig berührt, und man kam überein,
daß sie die Papiere am Mittwoch von der Vereinsbank,
wo sie deponiert waren, holen und Gaddi vorlegen solle.
Ehe man sich aber an diesem Tage trennte, bat Gaddi
Frau Nagel noch, seine Handtasche mit in ihre Wohnung
zu nehmen, da er bei dem wertvollen Inhalt derselben in
seinem Hotel nicht sicher genug zu sein glaube. Frau
Nagel nahm die Tasche mit.
Am folgenden Morgen begab sich Frau Nagel auf die
Bank, um ihre Papiere zu erheben. Dem Bankbeamten
erzählte sie, daß ein ihr fremder Italiener die Papiere zu
einem günstigeren als dem Tageskurse kaufen wolle. Dies
kam dem Beamten recht bedenklich vor, und er hielt auch
mit seinem Verdachte, daß hier ein Schwindel beabsichtigt
sei, nicht zurück; er sagte Frau Nagel, der Italiener könne
die Papiere ja bei der Bank einsehen und dann eventuell
kaufen; dadurch werde jede Gefahr für sie beseitigt. Die
alte Dame wies indes jeden Schatten eines Verdachts
1*
4 Dr. Nöldeke.
energisch zurück und bestand auf der Auslieferung der
Papiere. Schließlich riet ihr der Beamte noch, die Papiere
ja nicht aus der Hand zu geben, bevor sie den Preis er-
halten habe, und sie sofort zurückzubringen, wenn aus dem
Handel nichts werde.
Gegen Mittag erschien Gaddi in der Pension J., um
die endgültige Abmachung wegen der Aufnahme seines
Neffen zu treffen und mit Frau Nagel über den Ankauf
der Papiere zu sprechen. Frau Nagel zeigte die Pa-
piere, doch ließ sie sie eingedenk der Mahnung des Bank-
beamten nicht aus der Hand, trotzdem Gaddi sie wiederholt
aufforderte, ihm die Papiere zur Ansicht zu übergeben.
Nunmehr machte Gaddi gewisse Schwierigkeiten, er wollte
die Nummern der Papiere wissen und sich erst anderweitig
über dieselben informieren, so daß an diesem Tage ein
Abschluß des Geschäftes nicht zustande kam. Doch be-
hielt Frau Nagel die Papiere auf die Bitte Gaddis noch
in ihrer Wohnung, da derselbe am nächsten Tage noch
auf die Sache zurückkommen wollte. Den Abend ver-
brachte Frau Nagel mit den Italienern im Theater.
Am Donnerstagmorgen machte Gaddi Frau . Nagel
einen Abschiedsbesuch. Er bat sich seine Tasche aus, er-
zählte, daß er um 6 Uhr bei dem italienischen General-
konsul speisen solle und am nächsten Morgen Hamburg
für mehrere Tage verlassen werde. Die Verhandlungen,
welche bei dieser Gelegenheit über den Ankauf der Papiere
gepflogen wurden, führten wiederum nicht zum Ziel, so
daß Frau Nagel erklärte, sie werde die Titel nunmehr zur
Bank zurückbringen. Vor den Augen Gaddis wickelte sie
die Papiere in ein Hamburger Fremdenblatt ein und nahm
sie beim Fortgehen unter den Arm. Gaddi begleitete Frau
Nagel zur Bank und wartete auf der Straße auf ihre Rück-
kunft. Als Frau Nagel an den Schalter der Bank kam,
hörte sie, daß derjenige Beamte, mit welchem sie stets in den
Angelegenheiten ihrer Papiere verhandelt und welcher ıhr
Eine internationale Diebsbande. 5
zwei Tage zuvor die Papiere herausgegeben hatte, nicht
anwesend war. Sie beschloß daher, die Papiere wieder
mitzunehmen. Sie erzählte Gaddi sofort, daß sie ihre Pa-
piere nicht losgeworden sei. Gaddi bedauerte dies lebhaft
und bat Frau Nagel, mit ihm und seinen Freunden in dem
schöngelegenen Hotel Wiezel am Hafen frühstücken zu
wollen, was Frau Nagel dankend annahm.
Das Hotel Wiezel liegt hoch über der Elbe und bietet von
einer Glasveranda eine prächtige Aussicht auf den Masten-
wald des Hamburger Hafens. In dieser Veranda nahm
Frau Nagel mit Gaddi Platz, wartend der Ankunft der
beiden Weingutsbesitzer. Frau Nagel legte ihre in das
Zeitungspapier eingewickelten Wertpapiere auf einen Stuhl,
Gaddi stellte seine Tasche darauf und breitete noch seinen
Überzieher darüber, als ob er dafür Sorge tragen wolle,
daß die Tasche nicht unversehens gestohlen werde. Als
die beiden Freunde Gaddis erschienen waren, verließ Gaddi
auf zehn Minuten das Lokal, da er noch etwas Geschäft-
liches besorgen mußte. Indessen frühstückte man eifrig
und unterhielt sich lebhaft. Gaddi kehrte zurück. Nun-
mehr empfand Frau Nagel das Bedürfnis, die Toilette auf-
zusuchen. Bevor sie das Lokal verließ, forderte sie den
Kellner auf, ein Auge auf ihre Sachen zu werfen. Dieser,
welcher keine Ahnung davon hatte, daß das unscheinbare
Zeitungsblatt einen Inhalt von 150000 frs. umschloß, legte
der Aufforderung eine besondere Bedeutung nicht bei,
wurde auch von mehreren anderen Gästen gerade stark
in Anspruch genommen. Als Frau Nagel aus der Toilette
zurückkam, war der Stuhl mit dem Wertpapierpaket, der
Tasche und dem darüber hängenden Überzieher äußerlich
unverändert. Man frühstückte noch etwas weiter. Plötzlich
sprang Gaddi auf und erklärte, er habe soeben eine
Depesche aus Liverpool erhalten, welche ihn nötige, mit
einem seiner Freunde dorthin zu reisen. Dann ergriff er
das in Zeitungspapier gewickelte, angeblich die Papiere
6 Dr. Nöldeke.
der Frau Nagel enthaltende Paket, schloß seine Tasche
auf, steckte es hinein, verschloß die Tasche wieder und
steckte den Schlüssel zu sich. Die Tasche übergab er mit
feierlicher Miene der Frau Nagel und sagte:
„Leben Sie jetzt wohl, meine liebe Frau Nagel, be-
wahren Sie die Tasche recht gut auf, bis ich von Liver-
pool zurückkehre. Die Tasche enthält jetzt Ihr und mein
Vermögen, ich werde Ihnen zum Dank von Liverpool einen
schönen Brillanten mitbringen.“
Frau Nagel bat sich den Schlüssel aus, doch entgegnete
Gaddi, die Rollen seien jetzt ganz richtig verteilt, sie habe
das Geld, er den Schlüssel im Besitz; keiner könne ohne
Zustimmung des anderen an das Geld heran. Bevor Gaddi
mit dem einen seiner Freunde das Hotel verließ, bezahlte
er die Zeche und trug er dem dritten noch auf, mit
Rücksicht auf die große Summe, welche Frau Nagel
bei sich führe, dieselbe in einer Droschke nach Hause
zu geleiten und die Einladung bei dem italienischen
Generalkonsul wegen der plötzlich eingetretenen Ver-
hinderung abzusagen. Der Italiener brachte Frau Nagel
nach Hause und verabschiedete sich von ihr in höflichster
Weise. |
Frau Nagel hatte aus diesen Vorgängen keinerlei Miß-
trauen geschöpft. Erst am anderen Morgen kamen ihr die
Vorgänge doch recht seltsam vor. Bei allem Vertrauen,
welches sie zu Herrn Gaddi gefaßt hatte, fiel es ihr doch
auf, daß dieser geschäftsgewandte Mann ein solches Ver-
mögen einer alten Dame zur Aufbewahrung übergeben
habe. Ihre Skrupel verstärkten sich von Minute zu Minute,
und so ließ sie in ihrer Unruhe gegen Mittag einen Schlosser
kommen, welcher ihr die Tasche öffnete. Das Ergebnis
der Untersuchung des Inhalts bestätigte ihre schlimmsten
Befürchtungen: das Fremdenblatt, welches ihre Wertpapiere
umschließen sollte, enthielt einige Bogen Packpapier, an
Stelle der 4—500 000 Dollars befanden sich mehrere Pariser
Eine internationale Diebsbande. 1
Zeitungen und außer Kurs gesetzte Dollarsnoten im nomi-
nellen Betrage von 950 Dollars.
Frau Nagel war, als sie diese Entdeckung machte, einer
Ohnmacht nahe, doch nahm sie ihre Kräfte zusammen und
erstattete bei der Polizei Anzeige. Diese stellte sofort fest,
daß alle Angaben der Italiener über ihre Beziehungen zu
dem italienischen Generalkonsul und ersten Hamburger
Firmen erfunden waren. Doch wurde konstatiert, daß die
drei Schwindler noch in einer italienischen Wirtschaft von
F. verkehrt hatten und daß Gaddi sich dort Demarco
genannt hatte. Der Telegraph verbreitete die Nachricht
über den Diebstahl sowie die Nummern der gestohlenen
Papiere noch am gleichen Tage nach allen Polizeibehörden
srößerer Orte im In- und Auslande. Ä
Auf der Hamburger Polizei legte man Frau Nagel das
Album mit den Bildern der bekanntesten internationalen
Gauner vor, und erkannte Frau Nagel sogleich mit völliger
Bestimmtheit ihren Freund Gaddi in dem Bilde des weit-
hin bekannten Zunino aus Corregliano. Dieser Zunino
arbeitete auf demselben Gebiet der Diebstähle „à l’ameri-
caine“ und wurde wegen eines ganz gleichen Diebstahls
seit dem Jahre 1886 von Straßburg i. Els. aus gesucht.
Zunino war im Februar 1886 mit zwei Begleitern bei
dem Gastwirt Kimmerlin in Straßburg abgestiegen. Nach
einigen Tagen verließ er Straßburg, blieb aber mit den
Eheleuten Kimmerlin im brieflichen Verkehr. Am 27. April -
1886 kam er zurück und erzählte den Kimmerlins von
großen Spielgewinnen, die er in Monaco gemacht hätte,
zeigte auch einen Scheck über 57000 frs. auf die Filiale
des Credit Lyonnais in Genf vor, welcher offenbar falsch
war, da später nicht einmal der Versuch gemacht worden
ist, ihn einzulösen. Nach wenigen Tagen führte er einen
Landsmann ein, den er zufällig in einem Café getroffen
habe, wo derselbe mit Goldstücken nur so um sich ge-
worfen habe; der Landsmann, welcher, wie sich später
8 Dr. Nöldeke.
herausstellte, der berüchtigte Rolando war, habe vor kurzem
eine Millionenerbschaft gemacht und müsse wegen seiner
Neigung zur Verschwendung von ihm ein wenig beobachtet
werden. Rolando spielte vortrefflich den beschränkten
Millionär und zeigte sich gegen die Eheleute Kimmerlin
so zuvorkommend, daß er sich von ihnen mehrere 1 £-Stücke
gegen je 20 Frs. wechseln lieb.
Am 3. Mai 1886 kam Zunino mit einer Kassette zu
Kimmerlin, die er für seine eigenen und Rolandos Wertpapiere
gekauft habe, und bat Kimmerlin, seine Papiere zu holen,
um prüfen zu können, ob die Kassette auch die für ihren.
Zweck erforderliche Größe habe. Nachdem Kimmerlin
gemäß dieser Aufforderung eine beträchtliche Menge Wert-
papiere, Kassenscheine, Banknoten und Geld in die Kassette
gelegt hatte, schloß Zunino sie ab, nahm den Schlüssel an
sich und bat Kımmerlin, die Kassette aufzubewahren, bis
er Gelegenheit habe, sie seinem Bekannten zu zeigen. Am
nächsten Tage erschienen beide Italiener in Abwesenheit
von Kimmerlin in dessen Wohnung. Rolando trug einen
Handkoffer mit zwei Abteilungen bei sich, in deren einer
sich eine der bereits bei Kimmerlin befindlichen ganz
gleiche Kassette befand. Beide erzählten der Frau Kimmer-
lin, sie müßten für acht Tage nach Rom verreisen, wo
Rolando ein Legat seines Erblassers von 60000 Frs.
an die Armen auszuzahlen, auch den Verkauf mehrerer
Seeschiffe abzuschließen habe; bis zu ihrer Rückkehr
möchten Kimmerlins ihnen die Wertpapiere in der Kassette
aufbewahren. Rolando legte demgemäß eine Menge
„Wertpapiere und Geld“, angeblich etwa 100000 Frs., in
die bereits bei Kimmerlins befindliche Kassette und beide
baten dann Frau Kimmerlin „zur größeren Sicherheit ihrer-
seits“ auch noch so viel Geld und Papiere dazuzulegen,
daß von beiden Parteien gleich viel in der Kassette wäre.
Frau Kimmerlin legte darauf zu den bereits am Tage zu-
vor hineingelegten 56000 M. noch weitere 10000 M.
Eine internationale Diebsbande. 9
Rolando schloß die Kassette ab und steckte den Schlüssel
zu sich.
Beim Abschied ze Zunino vor, man solle doch
einmal zusehen, ob die Kassette auch in den Koffer passe,
so dab man sie eventuell auf Reisen mitnehmen könne.
Er legte sie in das leere Fach des Handkoffers und hob
dann scheinbar, um das Gewicht zu erproben, den Koffer
auf. Dabei wußte er ihn aber unbemerkt umzudrehen,
so daß Frau Kimmerlin arglos die Kassette, welche ihr
Zunino nachher übergab, entgegennahm. Die Italiener
verabschiedeten sich und reisten schleunigst ab. Als sie
nach acht Tagen nicht zurückkehrten, wurde die Kassette
durch einen Schlosser geöffnet. Das Ergebnis war das
gleiche wie im Falle der Frau Nagel: die Kassette ent-
hielt lediglich einige wertlose Papiere.
In ganz gleicher Weise hat Zunino im Jahre 1887 in
Luxemburg einem Balthasar Valentini die Summe von
22000 Frs. abgenommen. Dort hatte er an Stelle der
beiden Kassetten zwei Kisten gehabt, die er vertauschte;
an Stelle derjenigen des Valentini, in welcher sich dessen
Vermögen in englischem Golde befand, hatte er eine Kiste
mit wertlosen Bleiröhren unterzuschieben gewußt. Und
in Luzern hatte er 1885 auf ähnliche Weise 16100 Frs.
ergaunert.
Es ist begreiflich, daß man bei diesem Vorleben des
Zunino auf der richtigen Fährte zu sein glaubte, als Frau
Nagel dessen Bild als dasjenige des trefflichen Gaddi an-
erkannte. Auch die übrigen Personen, welche die Italiener
in Hamburg gesehen hatten und von der Polizei ermittelt
wurden, erklärten mit Bestimmtheit, Gaddi und Zunino
müßten identisch sein. Verschiedene Spuren wiesen darauf
hin, daß die Italiener sich nach Paris gewandt hatten,
Ein sofort dorthin gesandter Hamburger Polizeibeamter
stellte fest, daß eine Person, welche dem Bilde des Zunino
entsprach, am 15., 16. und 17. Juni in dem italienischen
10 Dr. Nöldeke.
. Cafe Glacier Napolitain, Boulevard des Capuzines, verkehrt
hatte, aber dann nach London abgereist sein sollte. Man
wandte sich sofort nach London. Von dort kam indessen
die enttäuschende Mitteilung, daß der auf der Photographie
abgebildete Zunino, auch Morelli genannt, seit dem 7. Mai 1891
in London eine fünfjährige Gefängnisstrafe verbüße, demnach
den Hamburger Diebstahl unmöglich begangen haben könne.
Aber schon wenige Tage darauf übersandte die Brüs-
seler Polizei ein angebliches Bild des Zunino, welcher auch
Riccardino Pietro heiße, und kam aus Turin die polizei-
liche Nachricht, daß Zunino in dem Riccardini aus Cana-
vese einen Doppelgänger habe, dessen Ähnlichkeit mit
Zunino so groß sei, daß Riecardini schon einmal für Zu-
nino in Haft gesessen habe. Beide arbeiteten auf dem-
selben Gebiete und sei insbesondere Riecardini ein „truffa-
tore famoso“, der Chef der Bande, welcher außer Zunino
noch zwei Brüder Rolando, Sorzogno, Bonini, Gallo,
Villata, Caratti, Paglieri u.a. angehörten. Diese Bande
hat in Deutschland, Frankreich, Italien, England eine große
Anzahl ganz ähnlicher Gaunereien ausgeführt, welche von
den Gerichten teils als Diebstahl, teils als Betrug bestraft
wurden. Von besonderem Interesse ist ein im Juli 1887
in Mailand vorgekommener Fall. Dort mußte das Opfer,
auf welches Villata und Gallo es abgesehen hatten, sein
Geld — 40000 Frs. — erst von der Bank holen. Auf
der Bank wurde es jedoch gewarnt, und diese Warnung fiel,
anders als bei Frau Nagel, auf fruchtbaren Boden. Die
Polizei wurde benachrichtigt, legte sich am Tatorte in den
Hinterhalt und als die Gauner ihren Trick vornehmen
wollten, wurden sie festgenommen. In fast allen Fällen
wird mit einer oder zwei Kassetten, Kasten und einer
Reisetasche oder einem Koffer gearbeitet. Reisetasche oder
Koffer bleiben mit wertlosem Inhalt beim Opfer zurück,
während dessen Wertsachen nach vorgenommener Ver-
tauschung mitgenommen werden.
Eine internationale Diebsbande. 11
Nunmehr wurden die Nachforschungen nach Riccardini
eingeleitet. Inzwischen tauchten plötzlich einige der ge-
stohlenen Rententitel im Betrage von 100000 Frs. in Paris
auf. Dies führte zu der Feststellung, daß bereits am
10. Juni, dem Tage nach dem Hamburger Diebstahl, zwei
der Diebe in Brüssel bei einem Bankhause diese Papiere
für 91.000 Frs. verkauft hatten. Der eine von ihnen hatte
sich Demarco genannt und mit diesem Namen die Quittung
über den Empfang des Kaufpreises vollzogen.
Die Recherchen nach Riccardini wurden sehr intensiv
betrieben, die Hamburger Polizeibehörde ließ nach den
Photographien, weiche sie aus Riccardinis Heimat erhalten
hatte, zahlreiche Abzüge herstellen und an die auswärtigen
Polizeibehörden, sowie die Verwandten der Familie Nagel
senden, welche die Bilder weiter verbreiteten. Aber es kamen
zwar Nachrichten, daß Riecardini noch mehr ungesühnte
Straftaten auf dem Gewissen hatte, so sollte er in Rom
einen großen Diebstahl begangen und in Frankreich unter
dem Namen Bacon fast eine Million Frs. gestohlen haben.
Doch war sein Aufenthalt zunächst nicht festzustellen.
Auch die Tochter der Bestohlenen, welche sich nach
Buenos-Aires verheiratet hatte, hatte ein Bild des Räubers
ihres mütterlichen Vermögens erhalten, da gerade die
Hauptstadt Argentiniens als ein Mittelpunkt dieser ita-
lienischen Gauner bezeichnet wurde. Sie hatte das Bild
auf ihren Schreibtisch gestellt, um es sich recht fest ein-
zuprägen. Am 13. November 1892 fuhr sie in einem
‘ Wagen auf der Straße, als sie aus einem Hause einen
stattlichen Mann heraustreten sah, in welchem sie sofort
Riecardini erkannte. Sie wies den Kutscher an, dem Manne
zu folgen, und sobald sie einen Polizeibeamten sah, sprang
sie aus dem Wagen, informierte den Beamten und ging
mit ihm auf Riccardini los. Dieser erschrak, als er so
plötzlich auf der Straße angeredet wurde, gab zu, daß er
Riccardini heiße, und folgte willig auf die Polizei. Hier
12 Dr. Nöldeke.
suchte er anfänglich den Diebstahl zu leugnen, gestand
ihn aber dann ein und gestand weiter, daß er von dem
auf ihn entfallenen Teil der Beute 37000 Frs. bei der
Société de Credit Industriel et Commerciel in Paris depo-
niert habe. Sofort wurde die Nachricht durch den Draht
nach Hamburg mitgeteilt, von Hamburg aus wurde das Aus-
lieferungsverfahren eingeleitet und die argentinische Re-
gierung war auf Ersuchen der deutschen Gesandtschaft
einverstanden, Riccardini so lange festzuhalten, bis die
Auslieferungspapiere eingetroffen seien. Bevor aber dies
möglich war, wurde Riccardini am 15. Dezember 1892
wieder aus der Haft entlassen. Einen Grund hierfür hat
die argentinische Regierung nicht anzugeben gewußt, sie
hat sich vielmehr auf die Beschwerde des deutschen Ge-
sandten bereit erklärt, Riccardini, falls er sich wieder auf
argentinischem Boden betreffen lasse, gleich wieder in
Haft zu nehmen. Aber auch in Argentinien henkt man
keinen, man hätte ihn denn. Die allgemeine Überzeugung
war, daß Riccardini, welcher über reiche Geldmittel ver-
fügte, durch ihre geschiekte Verwendung sich die Türen
des Gefängnisses zu öffnen gewußt hat. Für die Familie
Nagel hatte diese Episode wenigstens den materiellen Er-
folg, daß ihr auf das Geständnis Riecardinis von dem
Pariser Gericht die 37000 Frs., welche Riecardini bei dem
Credit Industriel und weitere 9000 Fr.s, die er bei dem
Credit Lyonnais deponiert hatte, zuerkannt wurden.
Riccardini blieb verschollen. Die italienische Polizei
überwachte seine beiden Söhne, welche in Turin bei seiner
Schwester lebten, und berichtete auch einmal, es werde
von der Familie das Gerücht verbreitet, Riccardini sei in
Australien gestorben. Trotzdem die Familie äußerlich
Trauergewänder anlegte, schenkte der italienische Polizei-
präfekt diesem Gerüchte keinen Glauben. Erst im Juli 1894
traf in Hamburg eine Nachricht ein, welche den unge-
wissen und tastenden Recherchen eine bestimmte Richtung
Eine internationale Diebsbande. 13
gab. Der Unterpräfekt von Jvrea schrieb, er habe aus-
gekundschaftet, daß die beiden Genossen des Riccardini
ein gewisser Enrici oder Enriei Agostino aus Peveragno,
auch Maino oder Roberto genannt, und ein den Spitznamen
Petto tragender, durch Bluttaten in seiner Heimat berüch-
tigter Gauner, seien. Beide hätten erhebliche Geldmittel,
lebten nur von Verbrechen und verkehrten regelmäßig in
einer Kneipe der rue Frochot in Paris, deren Wirt mit
ihnen unter einer Decke stecke; daher sei bei den weiteren
Recherchen große Umsicht geboten. Der italienische Be-
amte hat niemals angegeben, auch auf gerichtliche Anfrage
nicht, woher ihm diese Kenntnis gekommen, er hat sich
stets auf seine Verpflichtung zur Amtsverschwiegenheit
berufen, insbesondere erklärt, daß es der Polizei nicht
möglich sei, sich bloßzustellen, indem sie die Mittel und
Wege verrate, deren sie sich zur Erreichung ihrer Zwecke
bediene. Von anderer Seite ist später bekannt geworden,
daß der Bandengenosse des Riccardini, Rolando, welcher
wegen eines in Dijon begangenen Diebstahls von 100000 Frs.
in die Hände der italienischen Polizei gefallen war, die
beiden Genossen Riccardinis denunziert hat. Rolando war
zuerst von Riccardini aufgefordert worden, den Raubzug
nach Hamburg mitzumachen, doch war ihm in letzter
Stunde ein anderer vorgezogen worden. Darüber ärgerte
sich Rolando derartig, daß er die Mittäter Riccardinis an-
gab, als ihm von der Polizei nach dieser Richtung zuge-
setzt wurde.
Mit großem Eifer nahm Hugo Nagel, der sich über-
haupt keine Mühe zu viel werden ließ, um der Täter
habhaft zu werden, diese neue Spur auf. Das paßte ihm
um so besser, als er in Paris lebte und schon seit dem
Diebstahl in ständiger Fühlung mit der Pariser Polizei
stand. Letztere erklärte sich auch bereit, eine Verhaftung
der betreffenden Personen vorzunehmen, sobald ihr nur
genau angegeben und glaubhaft gemacht werde, welche
14 | Dr. Nöldeke,
Personen unter den von der italienischen Polizei bezeich-
neten gemeint seien; denn unter den erwähnten Namen
waren bei ihr keine Personen angemeldet oder bekannt.
Da war guter Rat teuer. Aber Hugo Nagel nahm die
Sache selbst in die Hand. Er gab sich das Aussehen
eines italienischen Erdarbeiters und abonnierte auf die
Mittags- und Abendmahlzeiten in der genannten Kneipe
der rue Frochot. Eifrig beobachtete er die ein- und aus-
gehenden Gäste, welche zum großen Teil einen verdäch-
tigen Eindruck machten, aber niemals kamen die Namen
Enriei, Roberto oder Petto über die Lippen eines der Gäste.
Sie nannten sich fast gar nicht mit Namen, oder sie ge-
brauchten Vornamen. Hugo Nagel ließ in seinem Eifer
nicht nach. Er sandte einen Brief unter der Adresse des
Enrici nach der Wirtschaft, um zu beobachten, wer den
Brief in Empfang nehme. Der Brief wurde vom Wirt
angenommen, blieb aber mehrere Tage auf dem Büffet
liegen, ohne abgeholt zu werden.
Nachdem er so ungefähr vier Wochen seine täglichen
Mahlzeiten in der Verbrecherkneipe eingenommen hatte,
hörte Hugo Nagel eines Tages plötzlich, wie das fünfjährige
Töchterchen des Wirtes weinend nach Hause kam und
klagte: „Madame Petto m’a battu“. Das war das erste-
mal, daß einer der Namen, auf die er so eifrig lauerte,
in seiner Gegenwart erwähnt wurde. Er zog das Kind
an sich, tröstete es und forschte dann vorsichtig danach,
wer denn die Madame Petto sei, worauf das Kind ihm
die in der Nachbarschaft gelegene Wohnung dieser Dame
angab. In Wirklichkeit war, wie die Pariser Polizei so-
fort feststellte, Madame Petto eine gewisse Madame Dela-
barre, welche als Maitresse eines Italieners Mecca mit
diesem zusammenlebte. Aber Mecca war mit unbekanntem
Ziel auf Reisen gegangen. Seine Wohnung wurde be-
obachtet, und als er am 8. September aus dem Seebade
St. Nazaire gestärkt zurückkehrte, wurde er festgenommen.
Eine internationale Diebsbande. 15
In seinem Besitz fand man mehrere verdächtige Schrift-
stücke, namentlich einen Brief, der mit den Worten be-
gann: „Caro amico soldato“ und endigte: „ti saluta tuo
amico Riccardini Pietro.“ Mecca gab zu, daß er häufig
Petto, auch Gilmont, Mussot genannt werde, wollte aber
von dem Hamburger Diebstahl gar nichts wissen.
Madame Delabarre nahm die Verhaftung ihres Lieb-
habers nicht sehr tragisch. Sie ließ sich am Abend der
Verkaftung von Hugo Nagel zum Essen einladen und
lenkte den Verdacht, der andere Mittäter zu sein, auf einen
gewissen Salomone Ezio, der mit Mecca sehr viel verkehrt
habe und dessen Signalement genau mit demjenigen
stimme, welches Nagel in Händen habe. Dieser Salomone
wohnte mit seiner Maitresse Dallichamps in dem Hause
rue Jouffroy 43. Als die Polizei dorthinkam, fand sie
das Nest leer, die beiden hatten sich für einige Monate
auf das Land nach Wassy zurückgezogen. Hier wurde
Salomone am 11. September verhaftet. Er bestritt ent-
schieden, Enriei zu sein oder denselben zu kennen. Auf
die Frage, was er sei, erklärte er, er habe das Schneider-
handwerk erlernt, doch übe er dasselbe seit mehr als zehn
Jahren nicht mehr aus; er lebe hauptsächlich vom Schmuggel.
In seinem Besitz fand man einen kleinen Beutel mit Silber-
münzen, über dessen Zweck der Verhaftete sich folgender-
maßen aussprach:
„Je suis un voleur à l’americaine, je le reconnais vo-
lontiers et je ne pense pas le nier devant l’&vidence. Ce
sac devait me servir à commettre des vols.“ Aber, fügte
er hinzu, deshalb dürfe man ihm doch nicht alle Dieb-
stähle zur Last legen, welche in Europa begangen würden.
Die Vergangenheit Salomones bewies denn auch, daß
er sich nicht mit Unrecht rühmen konnte, ein „voleur à
l'américaine“ zu sein. Er war unter dem Namen Valetti
schon fünfmal in Frankreich wegen ähnlicher Diebstähle
in Untersuchung gewesen und dreimal bestraft worden.
16 Dr. Nöldeke.
Am 13. April 1882 hatte er auf dem Nordbahnhof in
Paris einen Uhrenhändler Camleret aus Cambrai getroffen,
welcher ihn nach dem Wege fragte. Salomone begleitete
ihn. Nach wenigen Schritten gesellte sich ein Unbekannter
zu ihnen, der sehr viel Geld zeigte und Camleret zu einem
Glase Wein einlud. In der Wirtschaft, in welche sich die
drei alsdann begaben, erzählte Camleret, daß er drei sehr
wertvolle Uhren bei sich führe. Der Unbekannte zeigte
Neigung, die Uhren zu kaufen. Als Camleret die Uhren
nur gegen Barzahlung aus der Hand geben zu wollen er-
klärte, geriet der Unbekannte ob dieses Mißtrauens in große
Erregung. Ohne weiteres vertraute er dem Uhrenhändler
einen Beutel an, in dem sich 400 Frs. befänden. Das
stimmte Camleret um und er übergab dem Unbekannten die
Uhren, um sie genau zu besichtigen. Nunmehr machte
Salomone den Vorschlag, man solle doch einmal nach dem
Bahnhof gehen, um zu sehen, wann Camleret eigentlich
abfahren müsse. Unterwegs verschwanden Salomone und
der Unbekannte plötzlich. Camleret war seine Uhren los.
Als er den Beutel untersuchte, befanden sich in demselben
lediglich einige alte Zeitungen. Hierfür erhielt Salomone
eine Gefängnisstrafe von 13 Monaten.
Am 28. Juni 1887 begab sich Salomone mit einem
Barbero zusammen nach dem Ostbahnhofe in Paris. Bar-
bero sprach einige Reisende an und forderte sie auf, mit
ihnen in ein Weinhaus zu gehen. Die Fremden folgten
dieser Aufforderung. In der Kneipe fing Salomone an,
von einer großen Erbschaft zu erzählen, welche er jetzt
erheben müsse. Zu diesem Zweck verließ er die Wirt-
schaft, Kehrte aber nach einiger Zeit mit einem in Zeitungen
eingewickelten Paket wieder. Er zeigte den Fremden eine
wertlose Note und behauptete, das wäre eine 500 Dollars-
note, und er hätte sein ganzes Paket voll solcher Noten
und fürchte sehr, es könne ihm gestohlen werden. Da er
den Fremden nahe legte, das Paket für ihn zu tragen,
Eine internationale Diebsbande. 17
erklärten sich diese hierzu bereit. Salomone nahm dies
freundliche Erbieten an, forderte jedoch als Sicherheit die
Übergabe der Barschaft der Fremden. Nachdem Salomone
auf diese Weise in den Besitz des Geldes der Fremden
gekommen war, verschwand er alsdann mit seinem Freunde
Barbero. Das angebliche Wertpapierpaket enthielt nur
einige alte Zeitungen. Salomone mußte diese Tat mit
dreijähriger Gefängnisstrafe büben.
Bei diesem Vorleben und seinen persönlichen Angaben
über seinen Beruf wurde natürlich den Beteuerungen Salo-
mones, er sei an dem Hamburger Diebstahle nicht beteiligt
gewesen, er habe sich zwar Valetti, Vallier, Louis, aber
niemals Enrici genannt, ein Glaube nicht beigemessen.
Wollten doch auch Frau Nagel und andere Hamburger
Personen, denen man die Photographie des Salomone vor-
legte, denselben mit Bestimmtheit als einen der drei ita-
lienischen Gauner wiedererkennen.
Die Verhaftung der beiden internationalen Diebe wurde
telegraphisch überall verbreitet und namentlich die ita-
lienische Presse gab die Einzelheiten der Tat und der Ver-
haftung in aller Ausführlichkeit wieder. Der „Corriere
delle Sera“ widmete der Angelegenheit unter der Über-
schrift „une bande internationale di malfattori“ eine ganze
Spalte seiner Nummer vom 13./14. September 1894. Da-
bei wurden von verschiedenen Blättern die Taten der
Gauner in unerhörter Weise vergrößert, so daß es sich
schließlich nach den Mitteilungen der Presse um einen
Diebstahl von nicht weniger als 4 Millionen Frs. handelte.
Die italienische Polizei aber, welche den Verdacht auf die
beiden Verhafteten gelenkt hatte, beschwerte sich darüber,
daß man sie weder zu den Verhaftungen hinzugezogen,
noch auch ihr Verdienst in der Presse in das richtige
Licht gesetzt habe; nach den Zeitungsnachrichten komme
das ganze Verdienst ausschließlich der Pariser Polizei zu;
auf diese Weise kämen diejenigen, denen die Verhaftung
Der Pitaval der Gegenwart. II. 2
18 Dr. Nöldeke.
eigentlich zu verdanken sei, um den wohlverdienten Lohn,
der in einem Avancement bestanden haben würde.
Die Verhafteten mußten im Pariser Gefängnis den Ver-
lauf der langwierigen Auslieferungsverhandlungen abwarten.
Trotzdem sie scharf beobachtet wurden, suchten sie doch
auf alle Weise miteinander in Verbindung zu treten.
Wenn sie einander auch nur von ferne erblickten, suchten
sie sich Zeichen zu geben, und eines Tages wurde Mecca
dabei abgefaßt, als er Salomone heimlich einen Kassiber
zuzustecken suchte. In diesem Schreiben tröstet Mecca
seinen Genossen, und erklärt er sich bereit, ihn eventuell
herauszureißen. In den schärfsten Ausdrücken fällt er
über seine Maitresse Delabarre her, er bezeichnet sie als
„Schwein“ und „Kuh“, weil sie Salomone denunziert habe
und schwört ihr fürchterliche Rache für den Fall, daß er
wieder frei werde. Am Schlusse schreibt Mecca:
„Du stehst hier für Maino, aber ich weiß nicht, welcher
Unterschied zwischen Dir und Maino besteht und Du
weißt, daß man Dich hier zurückhält, weil man ihn
sucht; wenn er verhaftet würde, wärest Du längst her-
aus. Aber was mich betrifft, so möchte ich nicht, daß
Maino es würde, es wäre schlimm für uns beide ....
Wenn die Geschäfte schlecht gehen, so habe keine Angst,
dann werde ich dich herausziehen.“
Dieser Brief hat allen, die sich mit ihm zu befassen
hatten, viel Kopfzerbrechen gemacht, er konnte für und
gegen die Schuld Salomones sprechen, namentlich der Satz:
„ich weiß nicht, welcher Unterschied zwischen Dir und
Maino besteht“ schien für eine Identität von Salomone
und Maino zu sprechen. Die Pariser Polizei stellte ihrer-
seits Ermittelungen über die Beteiligung der Verhafteten
an der Hamburger Tat an und ermittelte, daß Mecca ein-
mal im Jahre 1893 in einer Kneipe einen Streit mit
einem Landsmann Maggiorini gehabt hatte, in welchem
dieser ihm zurief:
Eine internationale Diebsbande. 19
„On ne trouve pas toujours de vieilles femmes, comme
celle d' Hambourg.“ |
Nach Erledigung aller Formalitäten kamen die beiden
endlich im Dezember 1894 in Hamburg an. Hier wurden
zunächst alle aufzutreibenden Personen, welche die Gauner
im Juni 1892 gesehen hatten, ihnen gegenübergestellt, und
wie es in ähnlicher Lage gewöhnlich der Fall ist, wichen
die Aussagen der Zeugen stark voneinander ab. Die einen
erkannten die Angeschuldigten oder einen derselben mit
aller Bestimmtheit als die Täter an; andere waren un-
sicher oder erklärten als vorsichtige Leute, daß sie nach
Verlauf von fast drei Jahren ein Urteil überhaupt nicht
abgeben könnten, wieder andere behaupteten ganz bestimmt,
die Verhafteten seien nicht die Täter. Frau Nagel er-
kannte Salomone sofort wieder, während sie wegen Meccas
anfänglich zweifelte, aber mit der Zeit in der Wieder-
erkennung sicherer wurde. Salomone und Mecca beteuerten
nach wie vor ihre Unschuld, sie wollten weder jemals in
Hamburg gewesen sein, noch von der Tat etwas wissen,
und da die italienische Polizei, auf deren Angaben man
die beiden verhaftet hatte, weitere Unterlagen für die Über-
führung nicht lieferte, so blieb es lange zweifelhaft, ob es
gelingen werde, den Verhafteten ihre Schuld nachzu-
weisen.
Nach Verlauf einiger Monate veränderte Salomone seinen
Standpunkt. Er erklärte, er wolle jetzt die Wahrheit
sagen. Er selbst sei an dem Diebstahl unschuldig, aber
er wisse von der Tat. Am 12. Juni 1892 habe er sich
mit mehreren Bekannten in ihrer Kneipe in der rue
Frochot in Paris befunden, als Mecca und Enrici, den er
auch kenne, der aber mit ihm nicht identisch sei, in sehr
vergnügter Stimmung von einer Reise gekommen seien.
Mecca habe sofort für alle Gäste Wein ausgegeben. Den
Grund dieser fidelen Stimmung habe er damals nicht er-
fahren, einige Tage später habe er jedoch gehört, daß
9 *
20 Dr. Nöldeke.
Mecca und Enrici einen großen Coup gemacht hätten.
Trotz dieser Angaben Salomones blieb Mecca bei seinem
Bestreiten.
Im April 1895 wurde Zunino, dessen Spur man in
dieser Untersuchung aufgefunden hatte, und welcher nun-
mehr wegen des in Straßburg begangenen Diebstahls ab-
geurteilt werden sollte, auf dem Transport von England
nach Straßburg durch Hamburg gebracht, wo er über den
Diebstahl zum Nachteile der Frau Nagel vernommen wurde.
Von dieser Tat wußte er nichts, weil er damals in London
bereits in Haft saß. Riccardini kannte er aber sehr gut,
und gab er folgendes über seine Beziehungen zu ihm an:
„Ich kenne Riccardini schon seit 25 Jahren. Riccar-
dini hat niemals ein Geschäft erlernt oder betrieben, sondern
lebt nur vom Diebstahl und Betrug. Ich bin mit ihm
überall in der Welt herumgekommen. Früher sah er mir
sehr ähnlich, und hat sich bei Begehung seiner vielen
Straftaten unter anderen Namen auch den meinigen zu-
gelegt.“
Zunino gab auch an, daß Salomone einer der besten
Bekannten Riccardinis sei. Über die Tätigkeit Riccardinis
und seiner Bande sagte er, daß ein eigentliches Konsortium
mit gemeinsamer Verteilung der Beute nicht bestehe, jeder
handle und betrüge für eigene Rechnung.
Nachdem eine große Anzahl von Zeugen in Paris,
Brüssel und Italien vernommen worden war, konnte am
9. Juni 1896, genau vier Jahre nach dem Tage der Tat,
zur Hauptverhandlung geschritten werden. Im größten
Saale des Hamburger Strafjustizgebäudes fand die Ver-
handlung statt. Auf der Anklagebank saßen Salomone
und Mecca, deren Aussehen unter der langen Untersuchungs-
haft entschieden gelitten hatte, welche aber äußerlich doch
den Eindruck von Industrierittern größeren Stils machten.
Ein zahlreiches Publikum hatte sich im Zuhörerraum ein-
gefunden. Mit Spannung folgte es den Unschuldsbeteue-
Eine internationale Diebsbande. 21
rungen der Angeklagten, welche, da sie der deutschen
Sprache nicht mächtig waren, unter Hinzuziehung eines
Dolmetschers vernommen wurden. Das Interesse wuchs,
als nach seiner Mutter der junge Hugo Nagel seine per-
sönlichen Nachforschungen schilderte, als er erzählte, wie
er sämtliche Pariser Kriminalpolizisten mit dem Bilde
Riccardinis ausgerüstet habe, wie er bald hier bald dort
eine Spur der Täter entdeckt zu haben glaubte, wie er
dann wochenlang in der Verbrecherkneipe der rue Frochot
seine Mahlzeiten eingenommen, um Enrici und Petto aus-
findig zu machen, wie er noch kurz vor der Verhandlung
nach Italien gefahren sei, dort den berüchtigten Rolando,
den man des Dijoner Diebstahls nicht hatte überführen
können, in seinen piemontesischen Bergen aufgesucht und
sich ihm als Verteidiger Meccas vorgestellt habe, um den
Aufenthalt Riccardinis zu erfahren, wie er unter der
gleichen Maske bei der Schwester Riccardinis in einem
Dorfe bei Jvrea gewesen sei, aber kein Erfolg seine Be-
mühungen gelohnt habe. Die Aussagen der Identitäts-
zeugen gingen wie in der Voruntersuchung hin und her.
Für Salomone war es besonders ungünstig, daß einer der
aus Brüssel geladenen Zeugen, welcher sich als surveillant
einer Bank vorstellte und als solcher die Aufgabe hatte,
alle Personen, welche die Bank besuchten, genau zu be-
obachten, um sie nötigenfalls später wiederzuerkennen und
der sich eines besonders ausgebildeten Physiognomien-
gedächtnisses rübmte, ihn mit aller Bestimmtheit als einen
derjenigen beiden Italiener wiedererkannte, welche am
10. Juni 1892 in Brüssel die italienischen Rententitel ver-
kauft hatten. Zwei und einen halben Tag wogte die Ver-
handlung hin und her. Am Mittag des dritten Verhand-
lungstages beantragte der Staatsanwalt die Verurteilung
beider Angeklagten zu der höchsten Strafe von je fünf
Jahren Gefängnis. Lebhaft gestikulierend beteuerten die
Angeklagten ihre Unschuld.
22 Dr. Nöldeke.
Das Gericht zog sich zur Beratung des Urteils zurück,
und im Publikum, welches den Zuhörerraum bis auf den
letzten Platz füllte, stritt man eifrig, ob das Gericht beide
Angeklagten verurteilen, ob es einen oder beide freisprechen
werde. Die Angeklagten saßen in sich versunken. Sie
hatten bis zuletzt gehofft, daß ihnen der Beweis einer
Schuld nicht geführt werden könne. Jetzt hatte der Staats-
anwalt den Beweis für genügend erachtet, und immer näher
rückte ihnen die langjährige Kerkerhaft. Heftig kämpfte
es im Innern Meccas, ob er nicht doch, um den Freund
zu retten, in der allerletzten Stunde ein Geständnis seiner
Schuld ablegen solle. Schließlich vertraute er sich seinem
ze an, und dieser ließ das Gericht schleunigst in
den Sitzungssaal zurückrufen. Hier gab Mecca folgende
Erklärung ab:
Im Juni 1892 habe ihn Enriei Agostinos, den er schon
länger gekannt habe, gefragt, ob er mit ihm und Riccar-
dini nach Hamburg fahren wolle, um einen reichen Ita-
liener auszuplündern, der mit Geld beladen sich gerade
in der deutschen Hafenstadt aufhalte. Er sei hierauf ein-
gegangen, sie seien abgefahren, und in Köln sei Riccardini
zu ihnen gestoßen, welcher die Führung der Partie über-
nommen habe. In Hamburg angekommen, hätten sie in
einem kleinen Hotel in der Nähe des Bahnhofs Wohnung
genommen. Der reiche Italiener, auf den man es abge-
sehen, habe aber Hamburg bereits verlassen gehabt. Um
dann die Reise nicht umsonst gemacht zu haben und
namentlich die Reisekosten herauszuschlagen, habe man
einen italienischen Gastwirt in Hamburg aufs Korn nehmen
wollen. Bevor man aber dazu gekommen sei, diese Sache
anzugreifen, habe Enrici die Frau Nagel vor dem Cafe
sitzen sehen und sich mit ihr in ein Gespräch eingelassen.
Man habe dann sein Auge auf die italienischen Renten-
titel der Frau Nagel geworfen und in Wiezels Hotel habe
Riccardini den Coup ausgeführt. Er, Mecca, habe nach
Eine internationale Diebsbande. 23
der Tat von Riccardini den Auftrag erhalten, Frau Nagel
in ihre Wohnung zu begleiten, was er auch getan habe.
Als er dann in das Hotel gekommen, hätten Riccardini
und Enrici bereits andere Kleider angelegt gehabt und
seien reisefertig gewesen. Darauf seien alle drei zusammen
nach Köln gefahren, unterwegs hätten sie die Titel gleich-
mäßig untereinander verteilt. In Köln hätten sich Riccar-
dini und Enriei erzürnt, und hätte ersterer geäußert: „Den
diplomatischen Weg werden sie für dich auch noch finden.“
Riecardini sei von Köln nach Mailand, er und Enriıci seien
nach Brüssel gefahren, wo sie 100000 Frs. der Titel ver-
kauft hätten. Nach einigen Tagen sei er mit Riccardinj
nach Buenos-Aires gegangen. Riccardini habe alsbald nach
seiner Entlassung aus dem Gefängnis von Buenos-Aires auf
den Rat seiner Freunde Argentinien verlassen, wo er sich
zur Zeit aufhalte, wisse er nicht, er habe von Riccardini
seither nichts mehr gehört.
Mecca behauptete auf das entschiedenste, daß Salomone
in der ganzen Sache unschuldig, insbesondere nicht mit
Enrici identisch sei. Er habe anfänglich die Absicht ge-
habt, sofort bei der Ankunft in Hamburg seine Schuld
einzugestehen, um den unschuldigen Salomone aus der
Haft zu befreien. Da aber Frau Nagel ihn nicht mit
positiver Bestimmtheit erkannt habe und auch andere
Zeugen zweifelhaft gewesen seien, so habe er gehofft, viel-
leicht doch noch freizukommen.
Die Persönlichkeit des Enriei beschrieb er ganz genau,
insbesondere gab er an, daß Enrici sehr schöne, wohlge-
pflegte Hände habe, wonach er auch den Namen „Belle
main“ oder „Maino“ führe; ein anderer seiner Namen sei
„Robert“ oder „Roberto“. Seine Maitresse habe ein Glasauge.
Als Hugo Nagel dieses hörte, sprang er auf und rief aus, jetzt
wisse er genug, die Maitresse mit dem Glasauge kenne er,
wenn ihm genügend Zeit gegeben werde, wolle er sofort nach
Paris fahren und Enriei ermitteln und festnehmen lassen.
24 Dr. Nöldeke.
Auf das Gericht machten die Geständnisse Meccas einen
glaubwürdigen Eindruck. Immerhin lag die Möglichkeit nahe,
daß Mecca, welcher so gut wie überführt war, lediglich das
Bestreben hatte, Salomone der drohenden Verurteilung zu ent-
reißen. Trotzdem wurde beschlossen, die Verhandlung auf drei
Tage auszusetzenund inzwischen auch in Hamburg an der
Hand der Angaben Meccas Ermittelungen anstellen zu lassen.
Alsbald nachdem das Gericht diesen Beschlufs gefaßt
hatte, setzte Hugo Nagel sich auf die Bahn und fuhr nach
Paris zurück. Dort begab er sich sofort auf die Polizei-
präfektur und berichtete über die neuesten Ergebnisse
des Hamburger Prozesses. Es gelang gleich die Wohnung
der Dame mit dem Glasauge festzustellen, wenngleich diese
einige Tage zuvor verstorben war. Aber ihr Liebhaber,
Jules Robert, hatte sein Quartier dort noch aufgeschlagen.
Am 13. Juni 1896 wurde er festgenommen. Auf das ent-
schiedenste bestritt er, die Namen Enriei oder Maino zu
führen, behauptete, er sei in Quebec geboren, verstehe über-
haupt kein Italienisch und kenne weder Riccardini, noch
Mecca oder Salomone. Aber die Polizei konstatierte als-
bald, daß er die von Mecca angegebenen schönen Hände
besafs, und eine ganze Reihe von Zeugen bekundeten, dab
er häufig „Maino“ oder „Bellemain“ genannt werde, daß
er regelmäßig italienisch gesprochen und viel mit Mecca
verkehrt habe. Trotzdem blieb Robert bei seinem Leugnen.
Daß er keinerlei redliche Tätigkeit ausübe, gab erzu. Er
wollte von einem Vermögen leben, daß er sich auf unkon-
trollierbare Weise in Amerika erworben hatte. Legitimations-
papiere besaß er nicht. In seiner Wohnung wurden zwei
kleine Pakete gefunden. In dem einen befand sich Zei-
tungspapier, in dem anderen einige wertlose verfallene
amerikanische Dollarnoten. Über den Zweck dieser, offen-
bar für die Begehung von Diebstählen à américaine vor-
bereiteten Pakete befragt, erklärte er, daß die Packete
einen Zweck überhaupt nicht hätten.
Eine internationale Diebsbande. 2b
Inzwischen war Mecca von mehreren Polizeibeamten
in Hamburg herumgeführt worden. Er hatte das Hotel
am Hafen, in welchem er mit seinen Genossen abgestiegen
war, wiedererkannt. Das Hotel war in andere Hände
übergegangen, aber der frühere Oberkellner wurde ermittelt.
Derselbe erinnerte sich der drei Italiener noch ganz genau.
Er erzählte, daß ihm die Gesellen gleich verdächtig vor-
gekommen seien. Nachdem sie sich einige Tage in Ham-
burg aufgehalten, seien eines Nachmittags zwei von ihnen
in großer Hast ins Hotel gekommen, von denen einer eine
kleine Handtasche getragen habe; sie hätten sofort ihre
Habseligkeiten zusammengepackt, der Größte und Kräf-
tigste, welchen der Oberkeliner in der Photographie des
Riccardini wiedererkannte, habe für alle drei die Rechnung
bezahlt und dann seien sie schleunigst nach dem Venloer
Bahnhof gegangen. Kurz nachher sei auch der Dritte
gekommen und den beiden an den Bahnhof gefolgt. Nach
der Abreise der Gäste habe er sofort zu dem Wirte ge-
sagt: „Jetzt haben sie ihren Coup gewiß ausgeführt.“ Er
habe der Polizei Kenntnis von seinen Beobachtungen geben
wollen, doch habe der Wirt es ihm untersagt, da er keine
Scherereien mit ‘der Polizei haben wolle. Den Ange-
klagten Mecca erkannte er bestimmt als einen der Drei
wieder, während er von Salomone ebenso bestimmt er-
klärte, er sei nicht dabei gewesen. Aus den bei der Po-
lizei befindlichen Herbergsprotokollen wurde festgestellt,
daß in den Tagen des Diebstahls in dem Hotel drei Per-
sonen logiert hatten, die sich als Marconi, Arivia und
Demarco, Kaufleute aus Amerika, bezeichneten.
Als am 14. Juni die gerichtliche Verhandlung fortge-
setzt wurde, lag ein Telegramm aus Paris auf dem Ge.
richtstische, welches die Verhaftung Enricis anzeigte. Mecca
schrak bei dieser Mitteilung ersichtlich zusammen, er
hatte anscheinend nicht gedacht, daß man Enrici fassen
werde, bevor er durch den freigesprochenen Salomone ge-
26 Dr. Nöldeke.
warnt wurde. Aber sein Gesändnis hielt Mecca aufrecht.
So wurde denn Salomone nach einer Untersuchungshaft
von 21 Monaten freigesprochen, während Mecca eine Ge-
fängnisstrafe von 4 Jahren 9 Monaten erhielt, auf welche ihm
9 Monate dererlittenenUntersuchungshaftangerechnetwurden.
Mecca hatte sein Geständnis höher bewertet, er war
über die schwere Strafe, welche man ihm auferlegte, recht
erbost. Als ihm die in Paris aufgenommene Photographie
des Robert vorgelegt und er befragt wurde, ob dies En-
rici sei, weigerte er sich, überhaupt noch etwas zu sagen,
da man ihn zu schwer bestraft habe. Aber Salomone
meldete sich alsbald nach seiner Freilassung in Paris bei
der Polizei und erklärte dort, daß der verhaftete Robert
identisch mit Enriei oder Maino, daß er in Italien geboren
und seine Muttersprache das Italienische sei.
Enriei, alias Robert, wurde an Deutschland ausgeliefert
und nach Hamburg transportiert, wo er sein Leugnen in
der gleichen Weise fortsetzte. Bezüglich der Zeugen wie-
derholte sich dasselbe Schauspiel wie in dem früheren
Verfahren, nur mit dem Unterschiede, daß inzwischen noch
längere Zeit verflossen war und die Zeugen in der Rekog-
nition noch unsicherer geworden waren. Mecca, welcher
den Schleier lüften konnte, grollte andauernd wegen seiner
schweren Bestrafung.
Nach Verlauf einiger Monate überlegte sich Mecca je-
doch, daß es keinen Zweck für ihn habe, seine Kenntnisse
brachliegen zu lassen und daß es praktischer sei, sie für
einen angemessenen Preis zu verwerten. Er. begann mit
dem Untersuchungsrichter zu verhandeln und versprach,
die volle Wahrheit zu sagen, falls man ihm einige Be-
dingungen erfülle.e Er verlange bessere Behandlung im
Gefängnis, insbesondere die Erlaubnis, mehr Briefe zu
schreiben, er wünsche als Nahrung mehr Milch und Weiß-
brot, da er die Gefängniskost nicht vertragen könne, auch
wünsche er eine andere Beschäftigung, als Strümpfe-
Eine internationale Diebsbande. 27
stricken, welches seinen Augen schade. Der Untersuchungs-
richter versprach, sich nach dieser Richtung für Mecca
bei der Gefängnisdirektion verwenden zu wollen, worauf
Mecca zugab, daß der verhaftete Robert der richtige Enriei
und der Mittäter am Diebstahle sei. Auf Enrici machte
diese Erklärung nicht den mindesten Eindruck. Mecca
hatte aber die Genugtuung, daß nach Befragung des Ge-
fängnisarztes seine Wünsche erfüllt wurden.
Während in Hamburg die Untersuchung gegen Enriei
schwebte, setzte Hugo Nagel in Paris die Nachforschungen
nach Riccardini fort. Zu diesem Zwecke trat er mit Sa-
lomone in nähere Verbindung, lud ihn wiederholt zum
Diner ein und erhielt von ihm wertvolle Mitteilungen über
das Treiben der ganzen Bande. Ja, Salomone legte sogar
eine gewisse Anhänglichkeit an Hugo Nagel an den Tag.
Daß er ursprünglich seine Verhaftung bewirkt hatte, nahm
er ihm nicht übel, da Hugo Nagel durch die Tat verletzt
worden war und daher berechtigt erschien, alles zu tun,
um die Tat zu rächen. Aber dankbar war Salomone ihm
dafür, daß er ihn durch sein rasches Eingreifen und die
schnelle Verhaftung Enricis vor jahrelanger Gefängnishaft
bewahrt hatte. Trotz aller Sympathien, welche Salomone
Hugo Nagel gegenüber an den Tag legte, kam er jedoch
mit der Angabe über den Verbleib Riecardinis nicht
heraus. Nagel versprach ihm Geld, aber Salomone lehnte
dies mit dem Bemerken ab, daß er daran keinen Mangel
habe und sich nach Belieben Geld verschaffen könne, falls
er etwas brauche. Da trat die Pariser Polizei wieder in
Aktion. Salomone hing sehr an Paris, wollte sich da-
selbst auch mit einer Französin, die an die Stelle seiner
früheren Maitresse getreten war, verheiraten. Die Polizei
erklärte ihm nun, sie werde ihn als lästigen Ausländer an
die Grenze bringen, wenn er nicht binnen acht Tagen den
Aufenthalt Riccardinis angebe. Das war für Salomone
sehr schmerzlich, er suchte Nagel zu bewegen, auf seine
28 Dr. Nöldeke.
Forderung zu verzichten, aber vergeblich. Schließlich kam
‘er eines Tages zu Nagel mit der Bitte, ihm wenigstens
eine kurze Verlängerung der Frist zu erwirken, da er den
Aufenthalt Riccardinis wirklich nicht wisse und erst in
14 Tagen Gelegenheit habe, ihn zu erfahren. Dann finde
nämlich in Brüssel eine Versammlung der auf freiem Fuß
befindlichen Mitglieder ihrer Bande statt, und werde er
dort feststellen können, wo Riccardini sich zur Zeit befinde.
Salomone hielt Wort. Als er von dem Gaunerkongreß
zurückkehrte, erzählte er Nagel, Riccardini befinde sich
schon seit dem Jahre 1893 unter dem Namen Pedro Morel
in Santiago de Chile in Haft. Nachdem er im Dezember
1892 aus dem Gefängnis in Buenos-Aires herausgekommen
sei, habe er die Entdeckung gemacht, daß seine dort be-
findlichen, nicht unbedeutenden Mittel von seiner Maitresse
unterschlagen worden seien. Er sei dann sofort nach
Santiago gefahren und habe dort mit zwei alten Bekannten,
„Gianone“ und „Joseph des Grandyeux“ einen größeren
Diebstahl genau nach derselben Methode wie der in Ham-
burg angewandten auszuführen versucht. Dabei sei er je-
doch abgefaßt und im Juni 1893 zu einer Gefängnisstrafe
von 5 Jahren verurteilt worden.
Diese Angaben bewahrheiteten sich, der deutsche Kon-
sul in Santiago stellte an der Hand der Photographie Ric-
cardinis fest, daß der dort inhaftierte Pedro Morel mit dem
so lange und so eifrig gesuchten Bandenführer Riccardini
identisch war.
Kurze Zeit nachher starb Salomone. Er war schon
lange auf der Lunge schwach gewesen und hatte nach
der langen Untersuchungshaft immer stärker gekränkelt.
Als er auf dem Totenbette lag, ließ er den jungen Nagel
zu sich kommen und beteuerte ihm nochmals feierlichst,
daß er mit dem Diebstahl in Hamburg nichts zu tun ge-
habt habe, daß vielmehr der in Hamburg in Haft sitzende
Enriei der Mitschuldige Riceardinis und Meccas sei.
Eine internationale Diebsbande. 29
Am 5. Juli 1897 begann in Hamburg die Hauptver
handlung gegen Enrici. Enriei bestritt jede Schuld und
blieb bei seiner Angabe, daß er gar nicht Enriei heiße und
auch kein Italienisch, sondern nur Französisch, Englisch
und Spanisch kenne. Aber diese Rolle führte er nicht
konsequent durch. Der italienische Dolmetscher wies an
zahlreichen Merkmalen in der Aussprache des Französi-
schen nach, daß die Muttersprache Enrieis die italienische
sein müsse, und das Spanische sprach Enrici so, als wenn
ein Italiener sich dasselbe aus seiner Sprache übersetzt.
Zeugen aus der italienischen Heimat Enrieis, die ihn
kannten, waren freilich nicht zu beschaffen, da Enriei be-
reits als zehnjähriger Knabe seinen Geburtsort verlassen und
man seither nichts mehr von ihm gehört oder gesehen hatte.
Mecca war der Tod Salomones vor der Verhandlung
absichtlich nicht mitgeteilt worden, da man befürchtete, er
werde, falls er das Ableben Salomones erfahre, nunmehr
alle Schuld auf diesen abzuwälzen suchen. Nachdem er
seine Aussage gemacht und mit aller Bestimmtheit erklärt
hatte, daß Enrici mit ihm und Riccardini den Diebstahl
verübt habe, wurde ihm eröffnet, daß Salomone kurz zu-
vor verstorben sei. Diese Nachricht ergriff das alte Gauner-
herz ganz außerordentlich. Er brach in Tränen aus und
stieß wehmütig die Worte hervor: Salomone mort, Salo-
mone mort! Dann klagte er sich lebhaft gestikulierend an,
daß er an dem Tode Salomones mitschuldig sei; er habe
doch durch ein offenes Bekenntnis die lange Haft Salo-
mones, die demselben so sehr geschadet habe, ab-
kürzen können! Mecca blieb auch jetzt dabei, daß Enriei
und nicht Salomone sein Genosse bei der Tat gewesen sei.
Die Verhandlung ergab sehr viel belastendes Material
für Enrici. Das nach dem Tode Salomones doppelt wert-
volle Geständnis Meccas, die Erklärung, welche Salomone
auf dem Totenbette abgegeben hatte, der Kassiber Meccas
an Salomone mit den Worten: „Tu sei qui per Maino“,
30 Dr. Nöldeke.
die Bekundung einer großen Anzahl Pariser Zeugen, daß
Enrici häufig Maino genannt würde, die offenbare Unrich-
tigkeit der Angaben Enricis über seine Herkunft und Hei-
mat und manches andere Moment führten dazu, daß En-
rici am 6. Juli 1897 zu einer Gefängnisstrafe von 5 Jahren
verurteilt wurde.
Einige Monate später, während noch zwischen Deutsch-
land, Frankreich und Italien, welche alle noch eine Rech-
nung mit Riccardini zu begleichen hatten, die Verhand-
lungen darüber schwebten, wer die Auslieferung bewirken
solle, gelangte die offizielle Nachricht des deutschen Konsuls
in Santiago nach Hamburg, daß Riccardini, alias Morel, am
10. Juni 1897 im Gefängnis am Schlagflusse gestorben sei.
Giuseppe Mecca hat seinen Bandenführer nicht lange
überlebt, er ist am 23. Juli 1898 in der Hamburger Ge-
fangenenanstalt gestorben, Enriei aber hat nach Verbüßung
seiner Strafe am 14. Juli 1902 die Freiheit wieder erhalten.
Frau Nagel und ıhr Sohn haben wegen verschiedener
der gestohlenen Rententitel gegen Banken, bei denen sie
aufgetaucht waren, Zivilprozesse angestrengt, welche Jahre
hindurch gedauert, wiederholt das Reichsgericht beschäf-
tigt und viel Geld verschlungen haben. Als Frau Nagel
im Jahre 1899 starb, mußte über ihren Nachlaß der Kon-
kurs eröffnet werden. Auch ihre beiden Kinder, welche
ein so großes Geschick bei der Aufspürung der Räuber
ihres mütterlichen Vermögens entfaltet haben, sind nicht
mehr am Leben. Nach der Entlassung Enrieis aus dem
Gefängnisse wurden die Strafakten nochmals einer genauen
Durchsicht unterworfen, und stellte sich dabei heraus, daß
die Handtasche, welche Riccardini bei der Begehung der
Tat benutzt hatte, sich noch unter gerichtlicher Beschlag-
nahme befand. Da sich ein Eigentümer oder Erbe nicht
ermitteln ließ, wurde die Tasche der Polizeibehörde über-
wiesen, welche sie zur Erinnerung an diese interessanten
Vorgänge ihrem Kriminalmuseum einverleibt hat.
Ein Alibi.”)
Von
Staatsanwalt Alfred Amschl in Graz.
Am 19. Februar 1883 begab ich mich von Frohnleiten
aus mit zwei Schätzmeistern in einen jener steirischen
Alpengräben, die, vorzeiten ziemlich bevölkert, von flei-
Bigen, kräftigen Menschen bewohnt, immer mehr und mehr
dem großen Grundbesitz in die Hände fallen, der die ein-
zelnen Bauerngüter aufkauft, die Häuser niederreißt, Jung-
wald pflanzt und das Hochwild überhegt, — ob zum Segen
für die Gegend, wage ich nicht zu entscheiden.
Es galt, eine Mühlrealität abzuschätzen, die romantisch
an einem Ausläufer der Hochalpe gelegen war. Den Müller,
einen neunzigjährigen Greis, kannte ich recht gut. Die
Verhältnisse der Gegenwart waren ihm vollkommen fremd
geblieben. Oft kam er zum Bezirksrichter und bat ihn,
sich der Bauern beim Kaiser anzunehmen, da die Steuern
immer höher und die Zeiten immer schlechter werden. Der
gute Alte hielt seinen Richter für die höchste Autorität
nach dem Kaiser und war fest überzeugt, daß auch dieser
„Amtstage“ halte und durch Vermittlung seiner Bezirks-
richter die Wünsche und Beschwerden der Untertanen
entgegennehme.
Der arme Müller batte Grund zu klagen. Im Bezirks-
ort war eine Kunstmühle errichtet worden. Dorthin und
*) Über Brandlegungen vergleiche Groß, Handbuch für U.-R.,
3. Auflage, XIX, S. 742ff. und Dr. A. Weingart, Handbuch für
das Untersuchen von Brandstiftungen, Leipzig 1895.
32 Alfred Amschl.
in die benachbarten Ortschaften brachten die Bauern ihr
Getreide zum Vermahlen. Seine altfränkische Hausmühle
entbehrte der Kunden, mit dem Vieh stand es schlecht,
die Grundstücke auf dem steinigen Alpenboden lieferten
geringes Erträgnis, die Wälder waren abgesteckt und die
Hypothekarzinsen nicht mehr aufzubringen.
Der alte Mann besaß zwei Töchter, bildsauber, kräftig
und blühend. Wenn sie mit dem schwarzen, im Genick
geknüpften Seidentuch, unter dem die goldblonden Löck-
chen auf die gebräunte Stirn quollen, den weißen Strümp-
fen, dem kurzen blauen Rock mit schwarzem Fälbel und
der schwarzen Joppe Sonntags in den Bezirksort zur
Kirche kamen, so entstand nicht nur unter den Bauern-
burschen freudige Bewegung, auch die sogenannten
„Herren“ ergötzten sich am Anblick der schmucken Dirnen
und bedauerten lebhaft, daß das alberne Dekorum ihnen
verwehrte, die beiden Müllerkinder nach Hause zu be-
gleiten.
Der Alte hielt streng auf Zucht und Ordnung und
überzeugte sich an Sonntagen, wenn in den benachbarten
Wirtshäusern die Musikanten zum Tanz aufspielten, ob
seine Töchterlein wohl schön daheim ihr jungfräuliches Bette
hüteten. Befriedigt sah er trotz seiner schwachen Augen
die beiden Mädchen regungslos in tiefem Schlaf auf ihrem
gemeinsamen Pfühl, schmunzelte und humpelte betend und
seine braven Töchter segnend in sein zerbröckelndes
Stübchen.
Da wurde die eine der Schwestern eines Abends von
plötzlichem Unwohlsein befallen. Sie warf sich aufs Bett,
schrie und wand sich in Schmerzen, so daß das ganze
Haus zusammenlief. In der Nacht noch sandte man um
den Arzt. Er fand die Stube voll von Menschen, die für
das Seelenheil des Mädchens beteten; das arme Kind selbst,
von allen Decken und Tuchenten des Hauses schier er-
drückt, wimmerte schweißgebadet, schien aber erfreut, den
Ein Alibi. 33
Arzt Valentin, einen jovialen und beliebten Mann, zu sehen.
Er jagte alles bis auf die Mutter zur Tür hinaus, warf die
Decken vom Bett des stöhnenden Mädchens, untersuchte
es und erklärte dessen Zustand, herzlich lachend, für ganz .
gefahrlos: — in Kürze müsse sich die Mutter auf die An-
kunft eines kleinen Enkelkindes gefaßt machen. Die Toch-
ter weinte, die Mutter verwahrte sich empört gegen eine
solche Zumutung. Sie habe ihre Töchter stets behütet,
der Vater sich oft und oft von ihrem unschuldigen Schlaf
überzeugt, den sie schliefen, während die übrige Dorfjugend
im Wirtshaus bei Tanz und Wein sich vergnügte und auf
Schelmenstreiche sann. Arme Mutter! Unter Tränen ge-
stand die Tochter, daß der Knecht Markus des Holzhänd-
lers Riegelmaier an der Reichsstraße ihr Liebhaber gewesen
und daß sie mit ihrer Schwester, wenn sie aus dem Nest-
chen geschlüpft, um mit den Jägern und Holzknechten zu
tanzen, aus Fetzen gewickelte Popanze ins Bett gelegt, um
den guten Vater zu täuschen, der die starre Ruhe dieser
Puppen für den gerechten Schlaf seiner tugendhaften Töch-
ter gehalten hatte.
Die arme Mutter war sprachlos; der Arzt aber beruhigte
sie und versicherte, der gegenwärtige Fall sei weit unge-
fährlicher als ein Typhus oder eine Lungenentzündung.
Bald darauf hallte die Mühle vom Geschrei eines
kleinen Erdenbürgers wider. Der gute Vater aber machte
gute Miene zum bösen Spiel und hatte zu viel Sorgen, um
der Tugend seiner Töchter umständliche Betrachtungen zu
widmen.
Die Gläubiger klagten auf Zinsenzahlung. Es gab nur
ein Rettungsmittel: ein neues Sparkassendarlehen; vorher
aber hieß es, durch gerichtliche Schätzung der Liegen-
schaft die Sicherheit für eine neue Hypothek nachzu-
weisen.
An einem frostigen, trüben Wintertage suchten wir die
arme Mühle heim. Über Eis und Schnee ging es, die ein-
Der Pitaval der Gegenwart. II. 3
34 Alfred Amschl.
zelnen Grundteile zu erklettern. Der alte Müller, einen
derben Stock in der Hand, stieg trotz seiner neunzig Jahre
rüstig voran. Die Mühle stand wehmütig still, der Mühl-
bach, von der Alpe niederbrausend, floß in einen Tümpel
ab, dessen stäubende Wellen sonst das Mühlrad trieben,
an dem jetzt mächtige Eiszapfen grünlich glitzernd starrten.
Den einen der beiden Schätzmeister, Franz R., einen
biederen Bürger des Marktes, kannte Jung und Alt im
Bezirke. Das Vertrauen der Parteien und des Gerichtes
hatte ihn vielfach zum Amt eines Sequesters, Vormundes
oder Kurators herangezogen. Er wußte Aufschluß über
alle Verhältnisse der Bezirksbewohner, über Leumund und
Volksbrauch. Gern unterhielt ich mich mit ihm und kehrte
auch von der Mühlenschätzung in seiner Gesellschaft nach
Hause zurück.
Den 8. März hatte ich in Graz zugebracht und fuhr
nach einem heitern Abend gegen 10 Uhr zum Bahnhof.
Dort eilte bestürzt ein Großindustrieller aus meinem Bezirk
auf mich zu mit dem Ausdruck des Bedauerns über das
schreckliche Unglück.
Ich hatte keine Ahnung, was der Mann an mir, dem
es in jeder Richtung vorzüglich ging, zu bedauern fände,
und erkundigte mich höchst unbefangen nach der Ursache
seiner Teilnahme.
„Ja, wissen Sie denn nicht? Ganz Frohnleiten steht in
Flammen, die hiesige Feuerwehr wurde telegraphisch re-
quiriert, das Gerichtsgebäude, die Schule und das Brau-
haus sollen schon niedergebrannt sein und jetzt haben die
Flammen bereits den Pfarrhof ergriffen !“
Nun war es allerdings an mir, zu erbleichen. Ich dachte
mir, da der Fabrikant vom Brauhause gesprochen, der
Gasthof, in dem ich wohnte, sei nebst allen meinen Fahr-
nissen, nebst meinem treuen Hündchen, ein Raub der
Flammen geworden; ich sah in den Ruinen des lodernden
Gerichtshauses die Häftlinge herumspringen, stehlen und
Ein Alibi. 85
rauben und hörte meinen Bezirksrichter brummen: „Der
muß auch immer (so heißt es dann gewöhnlich, wenn
es auch nur zweimal des Jahres geschieht) in die Stadt
fahren und gerade dann, wenn etwas geschieht!“
Der Grazer Polizeikommissar bestätigte mir die
Schreckensbotschaft, und in großer Aufregung bestieg ich
den Eisenbahnzug; die kurze Fahrt schien mir eine Ewig-
keit zu währen. Endlich war mein reizend gelegener
Marktflecken in Sicht. Riesige Feuersäulen, dicker weißer
Rauch, darin Millionen Funken wogten, begrenzten den
Gesichtskreis. Der Eisenbabnzug rollte näher, und ich sah
die alte Kirche, die Front des Marktes am Flußufer, mein
Wohnhaus, alles unversehrt. Ein Stein fiel mir vom Herzen,
Ich fragte, aus dem Koupee springend, wo es brenne. „In
der alten Brauerei“, hieß es. Ich kannte diesen alten,
halbverfallenen Häuserhaufen, in der Nähe des Gerichts-
gebäudes gelegen; die Bauart des Marktes, der schon im
Jahre 1871 zum großen Teile niedergebrannt war, und die
Größe der Gefahr. Aber noch stand alles übrige auf dem
alten Fleck, und die Feuerwehr war tüchtig geschult.
Unser Rechtspraktikant, ein ehemaliger tapferer Korps-
student, galt als ihre Seele. Alle Feuerwehren aus der
Nachbarschaft waren herbeigeeilt. Als ich in den Markt
hinaufstieg, tönten mir die Fanfaren der Feuerwehr, ver-
einzelte Feuerrufe und die Feuerglocke entgegen. Ohne
viel zu fragen, eilte ich nach Hause. Mein Hund war von
einer befreundeten Familie beim Ausbruch des Feuers ge-
holt worden. Rasch kleidete ich mich um und begab mich
auf den Brandplatz. Ich begrüßte meinen guten Bezirks-
richter, den ich in großer Aufregung traf, und viele Be-
kannte, die ratlos herumstanden. Der Rechtspraktikant,
Steigerrottenführer, saß rittlings auf einem Dach und ließ
Strahl auf Strahl aus der Handspritze in die Flammen
zischen. Eine Menge Gaffer stand müßig herum. Der
‚Gendarmerieführer vermutete, daß ein Landstreicher auf
3%
36 Alfred Amschl.
dem offenen Dachboden übernachtet und den Brand aus
Unvorsichtigkeit oder Bosheit gelegt habe. Hätte man zu-
fällig, wie so oft, einen armen Vagabunden gefunden, nichts
würde ihn vom Verdachte der Brandlegung gereinigt haben.
Die Bevölkerung verhielt sich teilnahmslos. Der Auffor-
derung, eine Kette zu bilden, um die Wassereimer von Hand
zu Hand zureichen, leistete niemand Folge. Der Gendarm jagte
alle müßigen Zuschauer davon. Nur ein Lehrer und eine
Schusterstochter schleppten mit mir bis drei Uhr morgens
Eimer auf Eimer vom Brunnen zur Spritze. —
Die Brandobjekte gehörten dem alten Schätzmeister
Franz R. Er war ledigen Standes. Mit der Nachbars-
tochter Wabi (Barbara) zusammen aufgewachsen, besorgte
sie ihm seit etwa zehn Jahren den Haushalt. Anfänglich
lebte er als Gastwirt in nicht ungünstigen Verhältnissen.
Im Jahre 1876 hatte er das außer Betrieb gesetzte „alte
Bräuhaus“ bei einem Zwangsverkauf um 8800 fl. er-
standen. Die ganze Liegenschaft war auf 13,380 fl.
geschätzt und mit Hypotheken in der Gesamthöhe von
11,750 fl. belastet.
R. war immer ein ordentlicher Mensch gewesen und
sowohl bei den Bürgern als auch bei den Bauern beliebt.
Niemand konnte ihm etwas Übles nachsagen. Am Tage
des Brandes war er um 9 Uhr morgens nach Graz ge-
fahren, wußte daher nichts von dem Unglück, das ihn ge-
troffen.
Zur Realität gehörte ein großer schöner Garten, den die
alte Wabi bepflanzte und der einiges Erträgnis lieferte. Vor
seiner Abreise hatte ihr R. aufgetragen, Erbsen zu setzen.
Den Tag brachte er gewöhnlich außer Hause zu, seiner
vielen Geschäfte wegen. Mit seiner Haushälterin pflegte
er nur einige Worte in der Woche zu wechseln. Im Lauf
der Jahre hatten sich seine Vermögensverhältnisse sehr
mißlich gestaltet.
Wabi schlief in der Küche. Am Abende des Brandes
Ein Alibi. 37
lag sie schon im Bett, als sie durch das nach der Straße
führende Fenster Licht erblickte. Sie vermutete, daß der
benachbarte Villenbesitzer heimfahre. Da aber das Licht
sicb immer vergrößerte, kam ihr der Gedanke, es müsse
irgendwo brennen. Wo, das sah sie nicht, weil die Küche
nach der Seite des Brandplatzes hin kein Fenster besaß.
Sie stand auf und ging hinaus. Von der Scheune schlugen
ihr gewaltige Flammen entgegen. Nach dem ersten Schreck
weckte sie die im Hause wohnhafte Lehrerin, die sogleich
mit der Räumung ihres Zimmers begann.
Außer ihnen beiden wohnte im Hause nur noch eine
Hebamme mit ihrem siebzigjährigen Manne. Sie hatte
gerade Besuch, als sie ein Geräusch vernahm, das ihr von
Katzen herzurühren schien. Da es nicht nachließ, ging sie
in den Hof. Entsetzlicher Anblick! — Ein Teil der Wirt-
schaftsgebäude stand bereits in hellen Flammen. Den Mann,
der schon seit vielen Jahren, von der Gicht gelähmt, dar-
niederlag, regte der Schreck so auf, daß er emporsprang,
sein Bettzeug nahm und zu einem Nachbar flüchtete. Wie
durch ein Wunder geheilt, konnte er von dieser Stunde an
wieder gehen.
Das „alte Brauhaus“ umfaßte einen weitläufigen Kom-
plex von winkelig gebauten verwahrlosten Häusern. An
das gemauerte, mit Ziegeln gedeckte Wohnhaus schloß
sich unmittelbar das im Jahre 1866 aufgeführte, seit 1870
seinem Zweck entzogene eigentliche Brauhaus an. Es ent-
hielt die Küche, das ärmliche Wohnzimmer R.s, die Woh-
nung der Hebamme und der Lehrerin. Rechts davon stand
die Malzdörre, durch einen Mauerbogen mit dem Brauhause
verbunden; links im Hof ein gemauertes, stockhohes Ge-
bäude mit Malztenne, Lagerkeller und Schüttboden, worin
ein Bürger seine bedeutenden Strohvorräte aufgespeichert
hatte. Anstoßend ein großes Gebäude mit Dreschtenne,
Obstpresse, Schlagbrücke und Wagenremise. Gegenüber
der Schweinstall mit der Malzpresse. Die daneben liegende
38 Alfred Amschl.
Holzhütte wurde von der Feuerwehr niedergerissen, nach-
dem die beiden vorerwähnten Objekte vom Brande gänz-
lich zerstört worden waren. Unmittelbar an den Schwein-
stall reihte sich das Wirtschaftsgebäude, mit Stroh- und
Futtervorräten mehrerer Bürger gefüllt. In nächster Nähe
zogen sich die Häuser des Marktes hin. Eines der ersten
war das gerichtliche Gefangenenhaus. Für den Markt be-
stand die höchste Gefahr. Nur der Windstille und der
Umsicht der Feuerwehr war es zu danken, daß der Brand
nicht weiter um sich griff. Gegen 4 Uhr morgens konnte
er als lokalisiert gelten, die Gefahr schien beseitigt, der
Rechtspraktikant aber hatte sich ein Fieber geholt.
Am Vormittag besuchte ich die Brandstätte. Herr R.
war von der Stadt zurückgekehrt und trug sein Geschick
mit Fassung. Ich bedauerte ihn teilnahmsvoll, er dankte
ehrerbietig. Mit ihm waren mehrere Zeitungsberichterstatter
aus der Hauptstadt gekommen. Über die Ursache des
Brandes konnte niemand Auskunft geben. Eine gericht-
liche Anzeige wurde nicht erstattet. Die Versicherungs-
gesellschaft ließ den Schaden erheben und zahlte dem R.
die Summe von 3622 fl. 93 kr. aus. Wochen vergingen,
die Sache fiel der Vergessenheit anheim. —
Ein Abendspaziergang führte mich an der verödeten
Brandstätte vorüber. Ich blieb stehen und betrachtete sie
trüben Sinnes; das ungelöste Rätsel des Brandes quälte
mich. Ein junger Notariatsbeamter war mir gefolgt. „Sie
wären auch froh, Herr Adjunkt — begann er — wenn Sie
den Täter schon hätten! Da muß ich Ihnen aber gleich
erzählen, was die Leute alles reden. Am Abende der Tat
.sah man einen Stadtfiaker etwa eine Viertelstunde auber-
halb der Brücke geheimnisvoll anhalten. Ein unbekannter
bärtiger Mann entstieg ihm, in einen schwarzen Mantel
gehüllt, unter dem er eine brennende Fackel verbarg.
Langsam schritt er über die Brücke gegen den Markt zu.
Bald darauf loderte das Feuer empor, der Fiaker war
Ein Alibi. 39
verschwunden, und der Mann ward nicht mehr ge-
sehen.“
Ich meinte lächelnd, der Mantel müsse aus Asbest ge-
wesen sein, da ihn die brennende Fackel nicht versengte,
und ging meines Weges.
Im Gasthause traf ich abends meine gewohnte Gesell-
schaft, der auch ein Kaufmann angehörte, dessen Haus an
die Brandstätte grenztee Man sprach vom Feuer und er-
örterte alle Möglichkeiten seiner Entstehung. Ich erzählte
scherzweise in phantastischer Ausschmückung, was ich
vom Notariatsbeamten gehört hatte Dem Kaufmann ge-
fiel die Geschichte ausnehmend und er brannte vor Begierde,
sie weiter zu verbreiten. Am nächsten Tage, den 1. April
1883, traf er auf dem Marktplatz mit R. zusammen und
teilte ihm lächelnd mit, daß der Herr Adjunkt den Brand-
stifter bereits kenne.
R. sah zur Erde und verlangte genau zu erfahren, was
alles ich erzählt. Einige Stunden später begab er sich in
das Gewölbe des Kaufmanns und drang neuerdings in ihn,
zu bekennen, wer der vermummte Fackelträger gewesen;
der Kaufmann erwiderte, daß er dies nicht wisse.
Zwei Tage später erhielt ich vom Untersuchungsrichter
in Graz ein Schreiben des Inhaltes, daß R. dort Selbst-
anzeige erstattet habe. Die Andeutungen des Kaufmanns
hatten ihn erschreckt und glauben gemacht, daß ich bereits
die ganze Wahrheit wisse. Aus Scham, in seinem Wohn-
orte verhaftet zu werden, war er nach Graz gefahren und
hatte daselbst folgendes angegeben:
„Die Brauerei war von mir im Jahre 1876 viel zu hoch
übernommen worden. Den Bauzustand der Nebengebäude
fand ich elend und dachte mir, wenn sie verbrennen, so
habe ich das unnütze Gerümpel los und kann mich mit
der Versicherungssumme vor dem Verderben retten. Schon
seit Monaten trug ich mich mit dem Gedanken, die Neben-
gebäude anzuzünden, ich schritt aber nicht zur Ausführung
40 Alfred Amschl.
dieses Planes, weil ich noch immer auf andere Einnahmen
rechnete.e Doch schon am Tage der Mühlenschätzung
hatte ich in der Scheune für alle Fälle drei Kerzen ver-
steckt.
Am 8. März fuhr ich nach Graz, um mit einem Agenten
wegen des Verkaufes meiner Besitzung zu unterhandeln.
Vergebens! — Meine letzte Hoffnung war dahin, die Gläu-
biger drängten, Zwangsvollstreckungen drohten, der Termin
zur Zinsenzahlung stand vor der Tür. Ich sah mich von
Haus und Hof vertrieben, mit Schande bedeckt, als Bettler.
Da beschloß ich, meinen Plan auszuführen. Der Tag war
windstill, ich nicht zu Hause, sondern, wie im Markte be-
kannt, verreist. Alles begünstigte mein Unternehmen. Um
4 Uhr nachmittags mietete ich einen Fiaker und fuhr nach
Hause. Außerhalb der Brücke ließ ich ihn halten, schlich
mich unbemerkt an meine Hintergebäude heran, steckte
die drei Kerzen in das Stroh, zündete sie an und schlich
beiläufig um 9 Uhr abends davon. Kein Menschenauge
hatte mich gesehen. . Dem Kutscher sagte ich, daß ich
einen Bekannten besucht hätte, und fuhr wieder nach Graz
zurück. Bei der Abfahrt bemerkte der Kutscher, gegen
den hochgelegenen Markt hindeutend, es sehe fast so aus,
als ob es dort brenne. Ich meinte, er könnte recht haben,
möge aber nur weiter fahren.
In einem unscheinbaren Gasthofe der Vorstadt über-
nachtete ich und fuhr am nächsten Morgen mit der Bahn
nach Hause. Mein Alibi schien für alle Fälle erwiesen.
Leider verbrannte trotz der Windstille, auf die ich gerechnet
hatte, mehr, als nach meinem Anschlage hätte verbrennen
sollen.“ —
3000 fl. besaß R. noch von der Versicherungssumme.
Diesen Betrag erlegte er zu Gerichtshänden, dann wurde
er in Haft behalten.
Ich verfügte mich sofort nach der Brandstätte, um den
gerichtlichen Augenschein einzunehmen. Überzeugt, daß
Ein Alibi. 41
die alte Wabi von der Selbststellung ihres Herrn und
Freundes, die im Ort ungeheures Aufsehen erregt hatte,
schon unterrichtet sei, sprach ich ihr Trost zu und enthüllte
ihr so, was ich ihr gern erspart hätte. Die arme Alte war
wie vom Donner gerührt. Weder sie noch sonst jemand
in Frohnleiten hätte den R. einer solchen Tat für fähig
gehalten.
Am 4. Juni 1883 verurteilte ihn das Schwurgericht zu
fünf Jahren schweren, durch einen Fasttag im Monat er-
gänzten Kerkers, am 4. August 1886 ward ihm vom Mo-
narchen der Rest der Strafe nachgesehen. R. lebt noch
heute im Markt als armer Einleger. Weder vor noch nach
dem Brande hat er jemals irgendwem etwas zu leide
getan.
Jahre waren verflossen, seit ich nach Graz versetzt
worden. Ä
Eines Sonntags traf ich auf der Straße zwei städtisch
geputzte Mädchen, jedes am Arm eines Soldaten. Sie sahen
mich auffallend an.
Ich erkannte die sauberen Töchter des alten Müllers
oder vielmehr — ihre Ruinen.
Tränenreiche Weihnachten.
Von
"Staatsanwalt Dr. Ertel in Hamburg.
Das deutscheste der deutschen Feste — Weihnachten —
greift tiefer in unsere Lebensgewohnheiten ein als irgend
ein anderes, Die Jugend denkt schon Monate vorher an
die Wunder, die das Christkind tun soll. Aber auch wenn
wir die Jahre hinter uns liegen haben, in denen wir hoffen,
unter dem leuchtenden Baume die Erfüllung heißer Wünsche
zu finden, hört die Herrschaft des Weihnachtsmannes über
uns keineswegs auf. Vielleicht ist sie nur noch tyrannischer
geworden. Zur Freude hat sich auch die Sorge gesellt.
Sind wir es doch jetzt, die unseren Lieben Freude bereiten
sollen; hängt es doch von uns jetzt ab, ob der Glanz im
dankerfüllten Herzen dem der Lichter gleichkommt!
Selbst in der größten Handelsstadt des europäischen
Festlandes, in der schon allerorten recht deutliche Spuren
Londoner und New-Yorker Geschäftigkeit zu finden sind,
ist die Einwirkung dieses Festes in allen Kreisen unverkenn-
bar. Sie steigert sich schließlich in dem Maße, daß sogar
die Börse kurz vor den Weihnachtstagen ein ihr im übrigen
Teile des Jahres völlig ungewohntes Kleid anlegt. Der
hohe Hut und der schwarze Gehrock, ohne den wenigstens
früher nach englischem Muster der City kein Kaufmann
und kein Rechtsanwalt [in Hamburg kommen bekanntlich
auch die Anwälte an die Börse], „der Wert auf sich legte“,
in diesen Hallen erschienen wäre, und der auch heute noch
Tränenreiche Weihnachten. 43
von vielen gewissermaßen als Amts- und Ehrenkleid erachtet
wird, sieht sich plötzlich in der Gesellschaft der Tchapka
und der Ulanka, der Pelzmütze und der Attila, des Küras-
sierhelms und des Koller. Hin und wieder findet sich
wohl auch — dem im Verborgenen blühenden Veilchen
vergleichbar — das schlichte Gewand des Infanteristen
und das düstere des Kanoniers. Sind doch die seit dem
1. Oktober ihrer Dienstpflicht genügenden Söhne der Kauf-
herren zum ersten Male auf Urlaub in der Heimat. Natürlich
müssen sie sich — Menschliches, Allzumenschliches — ihren
Freunden und ihren — Feinden und der sonstigen erstaunten
Menschheit im Ehrenkleide und im Waffenschmucke des
angehenden Kriegers zeigen.
Eine so veränderte Börse ist selbstverständlich mit ihren
Gedanken nur noch zur Hälfte beim Geschäfte. Die andere
weilt schon bei den zum Feste eingetroffenen oder noch
erwarteten Kindern, Geschwistern, Eltern, Freunden usw.,
grübelnd, was ihnen zu schenken sich empfähle, sorgend,
ob auch das bereits Bestellte zur rechten Zeit eintreffen
werde, erwägend, wie man den heiligen Abend und die
Feiertage am genußreichsten verbringen könne...
Zu guter Letzt hat die Feststimmung die Alleinherrschaft
erobert und alle Geschäfts- und Amtssorgen vergessen
lassen, soweit das bei einem stark beschäftigten und in
seinem Berufe aufgehenden Manne überhaupt der Fall
sein kann.
In solches weihnachtliches Idyll mischte sich im Jahre
1901 das Hamburg und seine Schwesterstädte Altona und
Wandsbek durcheilende Gerücht, ein noch nicht dreijähriges
Knäblein rechtschaffener Eltern sei plötzlich von der Straße
verschwunden und trotz sofortigen und eifrigen Suchens
— auch seitens der Polizei — nicht aufzufinden.
Der Glanz der Kerzen auf den immergrünen Bäumen
und der Anblick der willkommenen Gaben, die sie mit
ihrem Lichte übergossen, bereitete dieser bangen Kunde
44 Dr. Ertel
ein lauteres Echo, als derartige Nachrichten in großen
Städten sonst finden können. Dachten doch gewiß viele
die von froher Weihnachtsstimmung erfüllt waren, an die
Möglichkeit, daß ihnen das Söhnchen, das Brüderchen
ebenso entrissen werden und lauter Festesjubel in tiefe
Trauer verwandelt werden könnte!
„Durch die Straßen der Städte,
Vom Jammer gefolget,
Schreitet das Unglück —
Lauernd umschleicht es
Die Häuser der Menschen,
Heute an dieser
Pforte pocht es,
Morgen an jener,
Aber noch keinen hat es verschont.“
„Darum in deinen fröhlichen Tagen
Fürchte des Unglücks tückische Nähe!
Nicht an die Güter hänge dein Herz,
Die das Lebeu vergänglich zieren!
Wer besitzt, der lerne verlieren,
Wer im Glück ist, der lerne den Schmerz!“
Dazu kam noch die frische Erinnerung daran, daß
wenige Jahre vorher in Altona der Unhold Breitrück dafür
das Schafott besteigen mußte, daß er einen Knaben seiner
Wollust zum Opfer gebracht hatte. Der Gedanke mußte
sich aufdrängen, hier könnte wieder einmal die menschliche
Bestie zu blutiger Orgie erwacht sein.
Die nächsten Nummern der Tageszeitungen brachten
bereits Näheres über das Besorgniß erregende Gerücht.
In der Nähe der St. Pauli-Landungsbrücken — des Teiles
des Hamburger Hafens, der den Fremden am besten be-
kannt zu sein pflegt, da in der Regel von hier aus die
Fahrten durch den Hafen, nach Nienstedten (Jacob),
Blankenese, Helgoland und vielen anderen Nordseebädern
angetreten werden, — befindet sich eine Straße, die den
etwas hochtrabenden, zurzeit durch nichts gerechtfertigten
Tränenreiche Weihnachten. 45
Namen Venusberg führt. Dort wohnen im allge-
meinen sogenannte kleinere Leute, die in bescheidenen,
aber auskömmlichen Verhältnissen leben. Zu diesen ge-
hörte auch der Schiffsmaschinist Sch.
Am Sonntag, den 22. Dezember 1901, etwa um halb elf
Uhr vormittags, hatte seine Frau ihren am 27. Juli 1899
geborenen Sohn Albert Sch. auf die Straße zum Spielen
geschickt. Es war ein sehr niedliches Kind, dem eine
reiche Lockenfülle zu besonderer Zierde gereichte. Trotz
seiner Jugend war das Knäblein schon recht verständig,
so daß die sorgsame Mutter kein Bedenken trug, es ohne
Aufsicht seines siebenjährigen Bruders auf die Straße zu
lassen, zumal sie ihn von den Fenstern ihrer Wohnung
aus beobachten konnte und er sich nicht mit fremden
Leuten einzulassen liebte. Der ältere Bruder war zum
Vater geschickt worden, der auf dem an den St. Pauli-
Landungsbrücken vertäut liegenden Dampfer „Irene“ be-
dienstet war, um von dort Holz zu holen.
Um elf Uhr hatte die Mutter ihr Söhnchen noch heiter
und guter Dinge vor ihrem Hause gesehen. Kurze Zeit
darauf war es verschwunden; keins der zahlreichen, dort
ebenfalls spielenden Kinder, die sie befragte, konnte ihr
Kunde über seinen Verbleib geben. Alle Nachforschungen
in der Nachbarschaft blieben erfolglos. Es blieb nichts
übrig, als die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen,
die sofort nach allen Richtungen hin den elektrischen Draht
in Tätigkeit setzte.
Sie stand einer recht schwierigen Aufgabe gegenüber.
Vielleicht war das Kind beim Spielen mit anderen nur in
eine ihm fremde Straße geraten und konnte den Rückweg
nicht finden. In diesem Falle bestand keine ernste Gefahr,
denn die Erfahrung lehrt, daß solche verirrte Kinder den
Passanten aufzufallen und von ihnen dem nächsten Schutz-
manne übergeben zu werden pflegen. Von dem Ver-
schwinden des kleinen Albert Sch. hatte die Straßenpolizei
40 Dr. Ertel
Kenntnis; wurde er eingeliefert, so wußte sie, wohin er
gehörte.
Es war aber auch mit der Möglichkeit zu rechnen,
daß er verunglückt sei. In dieser Richtung war es von
Interesse zu wissen, daß er am Morgen, als sein älterer
Bruder zum Vater an Bord der „Irene“ geschickt wurde,
das Verlangen geäußert hatte, ihn begleiten zu dürfen.
Die Mutter hatte die Bitte abgeschlagen, was bittere Tränen
zur Folge hatte. Da ihm der Weg zur Arbeitsstelle des
Vaters aus dort früher abgestatteten Besuchen wohl be-
kannt war, so war der Gedanke nicht von der Hand zu
weisen, daß er den Weg dorthin eingeschlagen, von einer
der zum Ponton führenden Treppen in die Elbe gefallen
und, von niemandem bemerkt, ertrunken sei.
Schließlich — und nicht in letzter Reihe — konnte es
sich darum handeln, daß eine verbrecherische Hand ihn
fortgeführt hatte. Hier war höchste Gefahr im Verzuge!
Die unter den auf dem Venusberge wohnenden Kindern
sofort angestellten polizeilichen Ermittlungen hatten einen
etwas besseren Erfolg als die der beklagenswerten Mutter.
Nach ihnen hatte ein dreizehnjähriges Schulmädchen Frieda
Ohrt den ihr wohlbekannten Albert Sch. an der Hand
eines älteren ihr völlig unbekannten Knaben fortgehen
sehen, dessen Kleidung und Körperbeschaffenheit sie we-
nigstens in groben Umrissen anzugeben vermochte.
Diese Tatsache allein konnte keine allzu frohe Hoff
nung auf baldige Aufklärung des Dunkels erwecken.
Denn wie sollten lediglich auf Grund dieser sehr ober-
flächlichen und auf Hunderte von Knaben passenden
Beschreibung Nachforschungen angestellt werden ?
Auch blieb es zweifelhaft, ob seine Ermittelung die
Untersuchung wirksam fördern würde. Er mochte mit
dem Vermißten auf dem Venusberge zufällig zusammen-
getroffen, mit ihm sich auf verschiedenen Straßen umher-
getrieben und sich dann wieder von ihm getrennt haben
Tränenreiche Weihnachten. 47
ohne von seinem ferneren Verbleibe irgend etwas zu
wissen.
Immerhin war durch die Beobachtung der Frieda Ohrt
ein Anhaltspunkt gewonnen, der wenigstens die Möglichkeit
in sich schloß, von großem Werte zu sein.
Aber wie ihn ausnutzen? Welche Schritte waren jetzt
zu tun, welche Maßregeln zu ergreifen ?
Gar mancher würde hier die Büchse mit der Erwägung
ins Korn geworfen haben, nur ein glücklicher Zufall könne
weiterführen. Diesen seien hier die Worte des Mephisto
ins Gedächtnis zurükgerufen:
„Wie sich Verdienst und Glück verketten,
Das fällt den Toren niemals ein.
Wenn sie den Stein der Weisen hätten,
Der Weise mangelte dem Stein.“
Allerdings hat der „Zufall“ eine Rolle gespielt, eine
große sogar; aber machtlos wäre dieser glückliche Umstand
gewesen, wenn nicht die Polizeibehörden von Hamburg
und Altona sich das Verdienst erworben hätten, einerseits
ohne Eifersüchtelei — nur das Ziel im Auge — Hand in
Hand miteinander zu arbeiten und sich gegenseitig jeden
nur möglichen Beistand zu leisten, andererseits ihre Beamten
so ausgewählt und ausgebildet zu haben, daß sie das
Ergebnis eines „Zufalles“ zu einem für ihre Zwecke wert-
vollen Werkzeuge mit geschickter Hand umzumodeln sehr
wohl imstande sind.
Die Hamburger Polizeibehörde hatte in Erfahrung ge-
bracht, daß am 24. Dezember 1901 in Altona ein gewisser
Gill., ein etwa sechsundzwanzigjähriger Mann, mit einem
Knaben Päderastie getrieben habe und dieserhalb in Unter-
suchungshaft gebracht sei. Diese Tatsache mit dem Ver-
schwinden des Albert Sch. in Verbindung zu bringen, war
der Gedanke, der das über den Verbleib des Kindes herr-
schende Dunkel aufhellen sollte.
Der Hamburger Kriminalwachtmeister Renke begab sich
48 Dr. Ertel
im Auftrage seiner Behörde nach Altona, um sich über
den Fall Gill. eingehend zu unterrichten. Hierauf suchte
er in Hamburg den inzwischen seinen Eltern zugeführten
Knaben auf, mit dem Gill. sich vergangen haben sollte.
Als er seiner ansichtig wurde, hielt er es nicht für
unmöglich, daß die von der Frieda Ohrt gegebene Beschrei-
bung diesen beträfe, er also den Burschen vor sich habe,
der den kleinen Albert Sch. fortgeführt hätte.
Sollte sich dies bestätigen, so war des Rätsels Lösung
wahrscheinlich nur dann zu finden, wenn der Knabe den
Verbleib des Vermißten aufklären konnte und — wollte.
Nach seinem Außern — er war ein kleines, jüdisches
Kerlehen von wenig mehr als zwölf Jahren — war in
ihm kaum der Darsteller einer wesentlichen, geschweige
denn gar der Hauptrolle des uns interessierenden Dramas
zu suchen.
Auf Befragen, ob er am letzten Sonntage den kleinen
Albert Sch. vom Venusberge fortgeführt habe, bestritt er,
irgend etwas von diesem Vorgange zu wissen. Als ihn
dann die Frieda Ohrt als denjenigen bestimmt wieder-
erkannte, an dessen Hand sie das vermißte Kind gesehen
hätte, bequemte er sich dazu, einzuräumen, daß er mit dem
Kinde, das ihm „nachgelaufen“ sei, allerdings bis zu den
St. Pauli-Landungsbrücken gegangen sei. Was dann aus
ihm geworden wäre, wollte er nicht angeben können, da
— wie er zuerst behauptete — ein halberwachsener Bursche
und — wie er kurz darauf angab — ein Mann mit
schwarzem Vollbarte ihm den Knaben von der Hand ge-
nommen und mit ihm fortgegangen sei. Da der Kriminal-
beamte an keinen dieser beiden „Unbekannten“ glauben
wollte, stellte der Knabe die Behauptung auf, Gill. habe
ihm den kleinen Albert abgenommen und sei mit ihm nach
Altona gegangen, er vermute, daß Gill. das Kind ermordet
und die Leiche vergraben habe.
Bei seiner Vorführung beim Amtsrichter zum Zwecke
Tränenreiche Weihnachten. 49
der Entscheidung, ob er in Untersuchungshaft zu nehmen
sei, stellte er den Sachverhalt so dar, als ob Gill. mit der
ganzen Angelegenheit nichts zu tun, sondern er selbst
das Kind verloren und von seinem Verbleibe keine
Kenntnis habe. Für den erfahrenen Kriminalisten konnte
sonach kein Zweifel darüber bestehen, daß der Junge über
Albert Sch. jedenfalls mehr wußte, als ihm bislang aus-
zusagen beliebt hatte.
Das Kind war nun seit acht Tagen verschwunden. Trotz
eifrigster Nachforschungen gelang es nicht, es den be:
klagenswerten Eltern zurückzugeben oder ihnen doch
wenigstens Gewißheit über sein Schicksal zu schaffen.
Sonach mußte schon mit der Wahrscheinlichkeit gerechnet
werden, daß es sich um ein Verbrechen schwerster Art
handle. |
In wem sollte man nun den Täter suchen? In dem
kleinen kaum strafmündigen Knaben, der überdies noch
einer Rasse entstammte, die festgestelltermaßen nur sehr
selten gegen Leib und Leben der Mitmenschen frevelt, oder
in Gill.?!
Gill. war damals 26 Jahre alt, heruntergekommen,
mehrfach vorbestraft und hatte inzwischen dem Altonaer
Richter sein knabenschänderisches Vergehen eingeräumt.
Belastend waren für ihn der Umstand, daß er ein Beil in
Besitz hatte, und in erster Linie die Tatsache, daß man in
einem Beinkleide, das er unter einem anderen verborgen
trug, Blutflecken gefunden hatte. Überdies hatte es noch
den Anschein, als ob besonders blutreiche Stücke aus dieser
Hose absichtlich herausgerissen und die aufgefundenen
Blutflecken nur aus Unachtsamkeit in dem Kleidungsstücke
verblieben wären.
Gill. bestritt jegliche Schuld in bezug auf das Ver-
schwinden des kleinen Albert Sch. Das Beil wollte er
nur zum Spalten von Holz benutzt haben. — Die Flecken
sollten von Pferdeblut herrühren. Er sei früher bei einem
Der Pitaval der Gegenwart. II. 4
50 Dr. Ertel
Roßschlachter bedienstet gewesen und habe hierbei das
Beinkleid mit solchem Blute besudelt. Hier mußte der
Chemiker zurate gezogen werden. Die Untersuchung
war um so schwieriger, als es sich um ältere Flecken
handelte. |
Wenden wir inzwischen unsere Aufmerksamkeit dem
Knaben zu, der von der Frieda Ohrt rekognosziert
worden ist!
Nach Ansicht des Amtsrichters bestand gegen ihn so
dringender Verdacht, den Albert Sch. ermordet zu haben,
daß er gegen ihn einen Haftbefehl erließ. Infolgedessen
wurde er ın Untersuchungshaft genommen.
Dieser Knabe, der mit Salm. bezeichnet werden soll,
ist am 21. April 1889 in Hamburg als der Sohn jüdischer
Eltern geboren. Sein Vater war Buchbinder und verdiente
21 Mark wöchentlich; außerdem flossen ihm noch mancher-
lei Unterstützungen zu, wie Schulgeld, Kleider für die
Kinder, Beisteuer zur Miete usw., so daß sein Ein-
kommen zum Unterhalte seiner Familie völlig ausgereicht
hätte.
Bein uns ausschließlich interessierender ältester Sohn
[Salm.] besuchte eine orthodox -mosaische sechsklassige
Realschule, die ihren Zöglingen nach erfolgreicher Be-
endigung des ganzen Studienganges die Berechtigung zum
einjährig-freiwilligen Militärdienst verleihen konnte. Diesen
sechs Klassen gingen noch drei Vorbereitungsklassen vor-
aus, in denen die Elementarkenntnisse beigebracht werden
sollten.
Salm. besuchte erst die oberste dieser Vorbereitungs-
klassen, da er den Lehrgang der untersten und der mit-
telsten hatte wiederholen müssen. Er war also hinter
seinen Altersgenosen um zwei Jahre zurückgeblieben.
Hieran war nur ein höchst unregelmäßiger Schulbesuch
schuld, Von Ostern 1900 bis Ostern 1901 hat er 37 Tage
und von Ostern 1901 bis Weihnachten 1902 sogar 43 Tage
Tränenreiche Weihnachten. 51
den Unterricht versäumt. Über seinen Fleiß und seine
Aufmerksamkeit in den Schulstunden klagten seine Lehrer
micht, ebensowenig über seine Begabung, nennt ihn doch
der Schuldirektor Dr. phil. G. einen „nicht unintelligenten“
Sehüler.
Ein gleich günstiges Urteil fällen in dieser Hinsicht der
Untersuchungsrichter, das erkennende Gericht und der
Physikus, ein scharfblickender Mann von reicher Erfahrung.
Der erstere spricht von seinem „guten Unterscheidungs-
vermögen“ und seiner „guten Auffassungsgabe“ und weist
darauf hin, daß er beim Diktieren und Vorlesen der über
seine Aussagen aufgenommenen Protokolle mehrfach auf
ganz feine Nuancen im Ausdrucke hingewiesen und dem-
entsprechende Veränderungen veranlaßt habe. Der Physikus
nennt ihn einen „geistig aufgeweckten Knaben, der rasch
auffaßt“.
Zur weiteren Charakteristik empfiehlt es sich, folgenden
Passus aus dem Gutachten dieses Physikus anzuführen:
„Salm. ist zum Grübeln geneigt; er kennt Tingeitangel-
lieder der verschiedensten Art, und er fühlt den Beruf in
sich, später als Komiker zu glänzen. Abgesehen von seiner
von ihm selbst übrigens als Schweinerei und als häßlich
empfundenen geschlechtlichen Verirrung kann man nicht
umhin, in seinem Geplauder eine anständige Gesinnung,
kindliche Gutmütigkeit und ehrliche Freude am Lernen
und Wissen wahrzunehmen. Er kennt seine Stärken und
Schwächen im Unterricht sehr genau; er freut sich an den
guten Noten seiner Zeugnisse, und er hält die schlechten
Noten nicht für falsch.“
„Ich würdet — so hat Salm. sich diesem Gutachten
gegenüber geäußert — „übrigens in allen Unterrichtsgegen-
ständen wohl ziemlich gut mitkommen, wenn ich den
Schulunterricht nur regelmäßig besuchte. Das ist aber
nicht der Fall; bald aus diesem, bald aus jenem Grunde
werde ich zu Hanse gehalten.“
4*
52 Dr. Ertel
Dieser außergewöhnlich unregelmäßige Schulbesuch —
das „Schule laufen“, wie es die Hamburger Jugend zu
nennen beliebt, — hat fast ausschließlich die Mutter ver-
anlaßt. Sie verwandte den Knaben zur Wartung seiner
drei jüngeren Geschwister und zu allerhand anderen Hilfe-
leistungen im Hause sowie zum Austragen von Bettel-
briefen.
Leider war sie ihrer Pflichten als Erzieherin aber auch
insofern uneingedenk, als sie ıhn vier- bis fünfmal wöchent-
lich mit von ihr hierzu angekauften oder angefertigten
Häkeleien, Stickereien, Bilderrahmen und ähnlichen Sachen
in Häuser, in denen Dirnen wohnten, und in Wirtschaften
mit „Damenbedienung“ sandte, um sie dort zu verkaufen.
Während im Süden Deutschlands das Bedienen der
Gäste in den Bierstuben und auf den Kellern von „zarter
Hand“ zu erfolgen pflegt, ist das im Norden in guten
Wirtschaftenrechtselten. Minderwertige Kneipen mit „Damen-
bedienung“ bezeichnet man bei uns als „Animierkneipen“.
In solchen Schenken animieren Wirtinnen und Kell-
nerinnen um die Wette die Gäste zum „Ausgeben“ von
Getränken an sie und lassen sich dafür allerhand Zärt-
lichkeiten gefallen. Dem splendideren Gaste wird auch
ein von der allgemeinen Gaststube abgetrennter Raum —
Weinzimmer genannt — geöffnet. Hier kann er sich mit
der Wirtin oder einer der Kellnerinnen ganz nach seinen
Wünschen und Begierden belustigen. Sie sind Brut-
stätten der Unzucht, gegen die die Polizei zu ihrem Leid-
wesen machtlos ist, da unsere Gesetze ihr die Hände
binden. In Hamburg suchte man den Übelständen
einigermaßen dadurch zu begegnen, daß nur weibliche
Personen über 25 Jahren als Kellnerinnen angestellt
werden dürfen. |
Solche Wirtschaften aufzusuchen war für Salm. natürlich
nur dann zweckmäßig, wenn Gäste anwesend waren; denn
gerade sie sollten die von ihm angebotenen Sachen für die
Tränenreiche Weihnachten. 53
nach ihnen Verlangen tragenden Frauenzimmer kaufen.
Hierbei bot sich ihm recht häufig die Gelegenheit, mehr
oder weniger angetrunkene Männer in den Armen lüder-
Jicher Kellnerinnen anzutreffen oder sonst zweifelhafte
und obszöne Situationen zu beobachten. Natürlich wurde
hierdurch seine Sinnlichkeit geweckt. Nach seiner eigenen
Darstellung wurde beim Anblicke dieser sich allerlei „Lie-
benswürdigkeiten“ erweisenden Paare die Geschlechtslust
rege. Die Erinnerung an solche Vorgänge verfolgten ihn am
Tage und auch in der Nacht, wenn er sein Bett aufsuchte.
In letzteren Fällen will er sich dann häufig dem Laster
der Selbstbefleckung hingegeben haben.
Wenn nun die von ihm angebotenen Sächelchen nicht
die Lust der Frauenzimmer erregten oder die Gäste sich
nicht gewillt zeigten, den geforderten Preis — von dem
er übrigens nie herunterzugehen pflegte — zu zahlen,
so mußte er mehr und mehr solche Wirtschaften durch-
laufen, ehe er alles verkauft hatte, was ihm seine geld-
gierige Mutter zu diesem Zwecke übergeben hatte. Denn
andernfalls blieben ihm Scheltworte und auch Schläge nicht
erspart, So kam denn häufig die Mitternacht oder eine
noch spätere Stunde heran, ehe der Knabe sich zur Ruhe
begeben konnte. Am nächsten Morgen war er natürlich
für die Schule nicht zu brauchen.
Die Schwägerin seiner Mutter, die mit diesen ihren
Verwandten allerdings völlig zerfallen ist, hat die Vermutung
ausgesprochen, daß die Mutter ihren Sohn der Schule auch
häufig ganz ohne Grund ferngehalten habe.
War durch den Besuch solcher Stätten die sittliche
Verwahrlosung gründlich vorbereitet, so wurde sie vollends
herbeigeführt, als im Jahre 1899 seine damals vierzehn-
jährige Schwester aus dem israelitischen Waisenhause, in
dem sie längere Zeit aus hier nicht interessierenden Gründen
untergebracht war, ins Elternhaus zurückkehrte. Sie mußte
etwa sechs Monate lang mit Salm. ein Bett teilen. Nach
b4 Dr. Ertel
seiner Darstellung hat sie ihn zu Unsittlichkeiten verführt,
die sich ein- bis zweimal wöchentlich wiederholten.
Nachdem wir so einen ungefähren Eindruck davon
gewonnen haben, wes Geisteskind unser Salm. ist, kehren
wir zur Besprechung der weiteren Tätigkeit der Polizei
und des Gerichtes zurück.
Die bisherigen Ergebnisse des Verfahrens waren, soweit
das mit dem Zwecke der Untersuchung vereinbar war, der
Presse bekannt gegeben und so in die breiteste Öffentlich-
keit gelangt. So vorzugehen empfiehlt sich schon deswegen,
weil gar nicht selten aus dem Publikum der untersuchenden
Behörde Mitteilungen zugehen, die von der größten Bedeu-
tung sind.
Natürlich muß neben diesem Wertvollen allerhand
Törichtes mit in den Kauf genommen werden. Handelt
es sich um einen Prozeß, in dem grobe Sinnlichkeit und Blut
eine Rolle spielen, so wird nicht nur der Eifer der Be-
völkerung, an der Sühne der Tat mitzuwirken, im höchsten
Maße angestachelt, sondern gar häufig auch die Phantasie
in einer Weise angeregt, daß Gespenster am hellen Tage
umherzugehen scheinen. So auch vorliegendenfalls. Das
Publikum konnte wie immer nicht verstehen, warum
man denn nicht schnellere Fortschritte in der Aufhellung
des fürchterlichen Dunkels machte. Wer in solchen Unter-
suchungen nicht selbst mittätig gewesen ist, ahnt gar nicht,
welche außerordentlichen Schwierigkeiten sich den Unter-
suchenden sehr häufig entgegentürmen. Und je weniger
die Menge eine Aufgabe versteht, desto leichter pflegt ihr
deren Lösung zu erscheinen.
So brach ein Anonymus darüber in Wut aus, daß man
noch immer nach der Leiche des Albert Sch. suchte und sogar
schließlich für die Herbeischaffung eine Prämie von 200 Mark
aussetzte; denn er wollte ja dabei gewesen sein, wie sie
schon vor längerer Zeit aus der Elbe gefischt worden sei.
Ein ehrsames Schneiderlein, das entweder einem Lügen-
Tränenreiche Weihnachten. 55
maule oder einem „Geisterseher“ aufgesessen ist, schreibt
am 3. Januar 1902 an einen Redakteur in Wandsbek fol-
gende Postkarte: „Sie schreiben in Ihrem Blatte immer
noch, daß der verschwundene Knabe noch nicht gefunden
ist. Ich habe schon Dienstagmittag gehört von einem, der es
gesehen hat, wo der Knabe weggebracht wurde, daß er
gefunden wurde mit abgeschnittenem Kopf.“
Neben vielen, vielen ganz wertlosen Mitteilungen, die
nur den Polizeibeamten und der Staatsanwaltschaft ihre
Aufgabe erschwerten, da sie — wenn sie nicht den Stempel
der Albernheit schon an der Stirn trugen — geprüft werden
mußten, ‚befand sich eine, die von der allergrößten Bedeu-
tung sein konnte.
Der zwölfjäbrige Schüler Zieler hatte am 22. Dezember
1904 um halb 12 Uhr mittags ungefähr — also um die Zeit
des Verschwindens des Albert Sch. — „einen dreizehnjährigen
Knaben gesehen, wie derselbe einen kleinen, dreijährigen
Knaben bei sich hatte und die Richtung in den Hof No. 27
in der Hafenstraße nahm.“ |
Dieser Hof No. 27 liegt westlich — also in der Richtung
nach Altona zu — etwa 60 m von den erwähnten St. Pauli-
Landungsbrücken zwischen der hier ansteigenden Hafen-
straße, einer wichtigen Verkehrsader, und der Elbe. Er
besteht aus mehreren größeren und kleineren Höfen, an
denen sich eine größere Anzahl von Lagerhäusern befindet.
Sie dienen fast ausschließlich dem Fellhandel. Früher stand
dort eine englische Schlachterei, weshalb der Ort im Volke
noch heute Schlachterhof genannt wird.
Von der Hafenstraße führt eine Treppe von 16 Stufen
an den schmalen Eingang des Schlachterhofes. Wenn man
in ibn eintritt, hat man einen 73 Schritte langen, nicht
breiten Gang vor sich. Er führt an eine achtstufige Treppe,
diein den Elbstrom hineingebautist. Von diesem langenGange
biegt nach etwa 20 Schritten ein etwas schmälerer nach
rechts ab, auf dessen linker Seite zwei Sackgäßchen münden.
56 Dr. Ertel
Wohl infolge des Umbaues der ehemaligen Schlachterei
für ihren jetzigen Zweck ist die ganze Anlage ungewöhn-
lich verbaut, so daß nicht wenige heimliche Gänge und
verborgene Winkel dort zu finden sind.
Awu 22. Dezember 1901 — einem Sonntage — wurde
hier nicht gearbeitet, das Weihnachtsgeschäft konnte bei
der derzeitigen Bestimmung der Anlage hierin keine Än-
derung fordern. Der Hof war menschenleer. Mehrere der
kleinen Höfe sind durch die sie umgebenden Speicher gegen
das pulsierende Leben auf der Hafenstraße völlig abgespertt,
so daß von der Straße aus nicht gesehen werden kann,
was in den Höfen vorgeht.
Für diejenigen Leser, die Hamburg noch aus früherer
Zeit kennen, wird es die Belegenheit des Ortes klarer dar-
stellen, wenn sie erfahren, daß der Schlachterhof nach Altona
zu sich unmittelbar an den Hof anschließt, durch den man
früher (etwa in den siebziger Jahren) schritt, um die ehe-
maligen großen Dampfer der Hamburg-Amerikanischen
Paketfahrtaktiengesellschaft zu besichtigen.
Ort und Zeit wären sonach für die Begehung eines
Verbrechens recht günstig gewesen. Die Feststellung, daß
Salm. und Albert Sch. die von Zieler gesehenen in die Rich-
tung nach der abgelegenen Stelle gehenden Kinder gewesen
seien, hätte den gegen Salm. bereits bestehenden Verdacht
ungemein vermehrt, ohne andererseits den gegen Gill. be-
stehenden dadurch abzuschwächen, denn daß beide ein-
ander sehr wohl kannten und sogar Umgang miteinander
gehabt hatten, stand ja fest; und die Vermutung lag gewiß
nicht fern, daß Salm. im Schlachterhofe von Gill. erwartet
wurde. Erschien es doch immer noch viel wahrscheinlicher,
- daß Salm. bei dem Verbrechen — vorausgesetzt, daß ein
solches überhaupt vorlag, — nur als Gehilfe oder als Mit-
täter des Gill. in untergeordneter Weise mitgewirkt hätte,
als daß er allein schwerste Schuld auf sich geladen
haben sollte!
Tränenreiche Weihnachten. 57
Salm. wurde nun in den Schlachterhof geführt. Er
räumte ein, mit dem Knaben hier gewesen und mit ihm
an einer von ihm näher bezeichneten Stelle „Schweinerei“
getrieben zu haben. Hierauf sei er mit ihm an die Treppe,
die in die Elbe führt, gegangen; das Kind habe sich vorn-
über gebeugt, um nach den dort liegenden Schiffen zu
sehen, habe das Gleichgewicht verloren und sei ins Wasser
gefallen. Hierüber aufs höchste bestürzt, sei er fortgelaufen,
ohne irgend etwas zur Rettung des Ertrinkenden zu tun.
War nun dieser Darstellung des als verlogen bereits
erkannten Salm. Glauben zu schenken? Und wenn man
es nicht wollte, wie konnten bei dieser Sachlage die wahren
Begebenheiten festgestellt werden? —
Inzwischen hatte sich herausgestellt, daß das Beil, das
bei Gill. gefunden war, von ihm zum Holzspalten verwendet
zu werden pflegte, und daß sich an dem Werkzeuge keinerlei
verdächtige Spuren befanden.
Auch die ihn so stark belastenden Blutspuren an der
Hose verloren ihren mysteriösen Charakter, nachdem der
Chemiker sie als unzweifelhaft nicht von Menschenblut
herrührend bezeichnet hatte. Diese Belastungsmomente
waren also beseitigt, und es war zweifelhaft geworden, ob
Gill. irgend etwas über das rätselhafte Verschwinden des
Kindes zu bekunden imstande war. Eine Aufklärung dieses
Vorganges war sonach in erster Linie aus dem Munde
des Salm. zu erwarten.
Diesen zu öffnen war dem Untersuchungsrichter vor-
behalten, einem äußerst gewissenhaften und zu diesem Amte
hervorragend befähigten Manne. Seine Aufgabe war schwer
insofern, als er sich sorgfältigst hüten mußte, in den Salm.
etwas „hineinzufragen“. Das war bei diesem Untersuchungs-
richter um so weniger zu befürchten, als er selbst eine solche
Gefahr erkannt und — wie von ihm in der Hauptverhand-
lung als Zeuge bekundet worden ist — sein Augenmerk
in erster Linie darauf gerichtet hatte, diese Klippe zu um-
58 | Dr. Ertel
schiffen. Dies ist ihm auch in erfreulichster Weise ge-
lungen, wie die von ihm aufgenommenen Protokolle an
sehr vielen Stellen ergeben.
Seine Aufgabe war leicht insofern, als Salm. noch im
Kindesalter stand und Kinder selbstredend den Ermahnungen,
der Wahrheit die Ehre zu geben, ein bei weitem willigeres
Ohr schenken, als abgefeimte Verbrecher, bei denen das
Ehrgefühl erstorben und das Gewissen, wenn es nicht gänz-
lich ertötet ist, in fafnerähnlichem kaum zu störendem
Schlafe ruht. |
Wider jedes Erwarten gelang es diesem Richter, schon bei
der ersten Vernehmung ein unumwundenes, außergewöhnlich
eingehendes Geständniszu erlangen. Im wesentlichen ist Salm.
bei dieser Darstellung auch während der ganzen Voruntersu-
chung und der Hauptverhandlung verblieben. Hierdurch
wurde der letzte Rest von Verdacht, der noch gegen Gill.
bestand, vollkommen beseitigt.
Nach dieser glaubwürdigen Selbstbezichtigung haben
sich die Vorgänge folgendermaßen abgespielt:
Am Sonntag den 22. Dezember 1901 sollte Salm. die
Schule besuchen, nachdem ihn seine Mutter wieder einmal
mehrere Tage hindurch daran gehindert hatte, damit er
ihr mit hilfreicher Hand zur Seite stehe. In solchen Fällen
stellte ihm der Vater einen Entschuldigungsschein aus, der
natürlich eine Unwahrheit enthielt. Dieses Mal entschuldigte
der Vater ihn mit Krankheit. Zur ordnungsmäßigen Zeit
verließ Salm. die elterliche Wohnung. Seine Schritte führten
ihn aber nicht zu seinen Lehrern; er trieb sich vielmehr
planlos in den Straßen Hamburgs und Altonas umher.
Da er während der letzten Schulversäumnis von Mitschülern
auf der Straße gesehen worden war und die Lehrer den
zahlreichen Entschuldigungszetteln seiner Eltern kaum noch
Glauben schenkten, war es ihm peinlich, mit dem lügen-
haften Zettel seines Vaters in der Schnle zu erscheinen.
Seine Streifereien führten ihn gegen elf Uhr vormittags
Tränenreiche Weihnachten. 59
auf den Venusberg. Dort traf er mit dem spielenden
Albert Sch. zusammen. Der Liebreiz dieses Kindes, ins-
besondere seine reiche Löckenfülle, scheint es ihm angetan
zu haben. Sofort schoß ihm der Gedanke durch den Kopf,
mit ihm Unsittlichkeiten zu treiben. Er forderte ihn auf,
sich ihm anzuschließen und ihn auf seinem Spaziergange
zu begleiten. Das Kind lehnte das ab. Als er aber mit
dem Vorschlage kam, mit ihm nach dem „Dom“ zu gehen,
fand er ein williges Gehör.
Unter „Dom“ versteht man in Hamburg den drei-
wöchigen Weihnachtsmarkt, der auf die Jugend — und
häufig auch auf recht alte „Kinder“ — eine ganz beson-
dere Anziehungskraft ausübt. Zu den auch in anderen
Städten üblichen Verkaufsbuden treten noch Karusselle,
Hippodrome, Affen-, Floh- und Hundetheater, Stufen-,
Tunnel- und Rutschbahnen — kurz alles, was großen
und kleinen Kindern besonders schön zu erscheinen pflegt.
Mancher gute Hamburger, der nicht will, daß seine Vater-
stadt einer anderen in irgend etwas nachstehe, erblickt
überdies, dank einer äußerst leistungsfähigen Phantasie,
in dem Jahrmarkts- und Tingeltangeltrubel ein Analogon
zum rheinischen Karneval. Die Bezeichnung rührt daher,
daß dieser Markt früher um die Domkirche herum sich
gruppierte. Nachdem indes dieses Gebäude im Anfang
vergangenen Jahrhunderts abgetragen und seine unschätz-
baren Kunstschätze in alle Winde zerstreut oder zerstört
worden sind und man an. seiner Stelle das Johannis-
gymnasium erbaut hat, ist der Markt auf einen dafür besser
geeigneten Platz — das Heiligegeistfeld — verlegt worden.
Der Name wird wohl so lange bestehen, bis der Markt
einer neuen Zeitströmung zum Opfer fällt.
Als Albert Sch. nach dem „Dom“ zu folgen sich bereit
erklärt hatte, nahm Salm. ihn an die Hand und führte ihn
in der Richtung nach den St. Pauli-Landungsbrücken,
ohne indes schon einen festen Plan entworfen zu haben,
60 Dr: Ertel
wo er seiner Wollust Befriedigung schaffen wollte. Als sie
in die Nähe des Hafens gekommen waren, klagte der kleine
Albert über Schmerzen an den Füßen; darauf setzten beide
sich in einen dort stehenden Pavillon der Straßenbahn.
Salm. hat sich über die Gedanken, die ihm hier kamen,
folgendermaßen geäußert: „Als ich mit dem kleinen Jungen
auf der Bank (im Wartepavillon) saß, fiel mir ein, daß ich
in der Hafenstraße hinter den St. Pauli-Landungsbrücken
einmal eine Treppe gesehen hatte, die nach dem Wasser
(der Elbe) zu führte, da habe ich zu mir selbst gedacht,
du willst mal mit dem Jungen da hinuntergehen und sehen,
ob es da ruhig ist, und ob es sich da machen läßt, und wenn
da unten Wasser ist, schmeißt du ihn nachher da hinein.“
Auf Befragen des Untersuchungsrichters, ob er die ganze
Zeit über Erektionen gehabt habe, hat er erklärt: „Das hat
sich. inzwischen mal gelegt und kam dann wieder.“
Nachdem die Fußschmerzen nachgelassen hatten, führte
Salm. den kleinen Albert zu der zum Schlachterhofe füh-
renden Treppe und stieg sie mit ihm hinunter. Dann gingen
sie den 73 Schritte langen Gang bis zu dem nach rechts
abzweigenden schmäleren entlang, bogen in diesen und
schließlich in das erste Sackgäßchen nach links ein.
Am Ende dieses Sackgäßchens befindet sich eine Treppe
‘ von sechs Stufen, die zu einem Lagerkeller führt. Diese
stiegen beide hinab. Hier waren sie allen nicht in un-
mittelbarer Nähe stehenden Personen völlig unsichtbar.
Nun knöpfte Salm. seinem Begleiter hinten die Hose ab,
hob dessen Hemd in die Höhe und führte seinen erigierten
Penis an den After des kleinen Albert. Dann scheuerte er
an diesem hin und her, wie er es von seiner Schwester
gelernt haben wollte. Albert Sch. brach indes bald in
Tränen aus, so dab Salm. es für ratsam erachtete, von
weiteren Unsittlichkeiten abzusehen und ihm die Hosen
wieder in Ordnung brachte. Dabei drohte das arme Kind
unter Tränen, es seiner Mutter sagen zu wollen.
Tränenreiche Weihnachten. 61
Beide schlugen nun den Rückweg ein. Albert Sch. soll _
dann den Wunsch geäußert haben, an die Elbe zu gehen,
um zu sehen, wo sein Vater arbeite. Demgemäß will Salm.,
als sie den 73 Schritte langen Gang wieder erreicht hätten,
nach rechts eingebogen sein und das Kind an die acht-
stufige in die Elbe gehende Treppe geführt haben.
Ob Salm. in diesem Punkte bei der reinen Wahrheit
verblieben ist, gibt zu ernsten Zweifeln Anlaß; denn die
Vermutung liegt ungemein nahe, daß der Weg zum Wasser
auf seine Anregung eingeschlagen worden ist. Von dem
Untersuchungsrichter und auch von der Richterbank in der
Hauptverhandlung sind ihm wiederholt Vorhalte gemacht
und Ermahnungen erteilt worden, nicht mit der Wahrheit
zurückzuhalten. Er hat aber immer und immer wieder
mit Nachdruck versichert, daB man ihm auch in diesem
Punkte Glauben schenken könne. Ohne weiteres wird man
ihn auch einer Lüge nicht zeihen können. Wie wir wissen,
war ja der Vater des kleinen Albert damals auf dem
Dampfer Irene, der an den nahen St. Pauli-Landungs-
brücken vertäut lag, in Diensten. Als am Morgen dieses
verhängnisvollen Tages der ältere Bruder zum Vater ge-
sandt wurde, wollte — wie wir schon gehört haben —
der jüngere ihn begleiten und dem Verbote der Mutter
folgten bittere Tränen. Auch war ihm der Weg dorthin
sowie die ganze Gegend gut bekannt. Schließlich könnte
auch ein Erwachsener, der mit der Belegenheit des Ortes
recht vertraut ist, auf die allerdings irrige Vermutung
kommen, man könne von der in die Elbe führenden acht-
stufigen Treppe die Landungsbrücken sehen.
Übrigens ist es nicht von allzu großer Bedeutung, bei
wem der Gedanke, zu dieser Treppe zu gehen, entstanden
ist. Daß das Kind dorthin etwa mit Gewalt gebracht sei,
kann wohl als ausgeschlossen angesehen werden, denn
anderenfalls hätte es doch geschrien und Vorübergehende
auf der recht belebten Hafenstraße aufmerksam gemacht.
62 Dr. Ertel
Was sich nun weiter ereignete und was dabei im Innern
des Frevlers vor sich ging, wollen wir aus seinem eigenen
Munde hören:
„ich dachte immer daran, was nun geschehen würde,
wenn der Knabe es seiner Mutter erzählte. Ich hatte große
Angst. Ich habe mir, als der Junge das sagte, gleich ge-
dacht, es könnten mich doch Leute wiedererkennen, die
mich mit dem Jungen gesehen haben; auch muß ich häu-
figer direkt auf den Venusberg gehen, da wohnt ein Mann,
bei dem ich öfters für meine Mutter Geld abholen muß,
[Es handelt sich um Beiträge zur Miete.]
Der Knabe ging allein; ich hatte ihn nicht an der Hand.
Er stellte sich vorn [nachdem sie an die in die Elbe füh-
renden Stufen gelangt waren] ganz sicher hin und sah mit
dem Kopfe, den er nach vorn überbeugte, in der Richtung
nach den St. Pauli-Landungsbrücken. Er stand ganz fest,
und es lag keine Gefahr vor, daß er ins Wasser fiel. In
dem Augenblick kam es über mich, ich gab ihm einen
Schubs, und er lag drin. Ich sah das Wasser aufspritzen
und lief dann weg.
Gleich als der Junge sagte, er wolle es Mama sagen,
dachte ich, ich wollte ihn ins Wasser werfen. Darüber,
wie ich das machen wollte, hatte ich noch nicht nach-
gedacht, als der Junge auch schon sagte, er wolle ans
Wasser und seinen Vater sehen. Als ich dann mit ihm
den Gang ans Wasser hinunterging, dachte ich schon bei
mir, wenn wir nun vorn sind, schmeiße ich ihn hinein.“
Natürlich wurde alles in Bewegung gesetzt, die Leiche
aufzufinden. Konnte sie doch vielleicht Spuren aufweisen,
die eine Kontrolle der Darstellung des jugendlichen Sünders
ermöglichten. Je eher man sie fand, desto größer war die
Möglichkeit in dieser Beziehung; mit der Zunahme der
Verwesung verlor ihr Wert für die Untersuchung. Aber
erst am 28. Januar 1902 wurde sie im Altonaer Hafen auf-
gefischt.
Tränenreiche Weihnachten. 65
= Die Ärzte, die mit der Sektion beauftragt waren, haben
sich dahin geäußert, daß der Tod durch Ertrinken einge-
treten sei. Die ihnen gestellte Frage, ob die Leiche Anhalts-
punkte dafür aufweise, daß päderastische Handlungen oder
ein sonstiges Sittenverbrechen an dem Kinde vorgenommen
worden seien, haben sie verneint.
Auf Grund dieses Tatbestandes wurde Salm. des Mordes
und der Vornahme unzüchtiger Handlungen mit einer Person
unter vierzehn Jahren aus den $$ 211, 176,3, 57, 74
StGB. angeklagt und diesem Antrage entsprechend das
Hauptverfahren eröffnet.
Er ist wegen Mordes zu einer Gefängnisstrafe von 8 Jahren
verurteilt worden.
Von der Anklage wegen Begehungen des Sittenver-
brechens wurde er freigesprochen. Nach der Ansicht des
erkennenden Gerichtes habe er zwar die Erkenntnis von
der Verwerflichkeit seines unzüchtigen Treibens und die
Überzeugung, daß die Schule, wenn sie davon Kenntnis
erlangte, strafend eingreifen würde, unzweifelhaft besessen.
Dagegen hat es Bedenken getragen, festzustellen, daß ihm
schon bei Begehung der Tat zu vollem Bewußtsein ge-
kommen sei, daß er sich auch einer gerichtlichen Strafe
aussetze.
In bezug auf den Mord konnte es diese Feststellung
völlig unbedenklich treffen, da ja — wie es in den Urteils-
gründen ausführt — jedes nur einigermaßen geistig ent-
wickelte Kind weiß‘, daß die Tötung eines Menschen mit
Strafe bedroht ist.
Ob dem freisprechenden Teile des Urteils beizupflichten
sei, wird nur der zu begutachten in der Lage sein, welcher
zum mindesten der Hauptverhandlung beigewohnt hat.
Übrigens kommt hierauf aus praktischen Gründen auch
wenig an.
Die Verurteilung ist unzweifelhaft als richtig zu be-
zeichnen. Gegen sie könnten Bedenken ja auch nur aus
64 Dr. Ertel
der Jugend des Angeklagten geschöpft werden. Bei Er-
hebung der Anklage bestanden auch solche, und zwar ge-
wichtigster Art; war der Knabe doch erst kurz vorher
strafmündig geworden. Sie durften indes bei seinen ein-
gehenden, durchaus glaubwürdigen Angaben über die
seelischen Vorgänge vor und während der Tat nicht die
Oberhand gewinnen. Dazu kam noch, daß er ja nach den
Ansichten der berufenen Beurteiler — Lehrer, Untersuchungs-
richter, Physikus [dessen Untersuchung sich vornehmlich mit
seiner Geistesbeschaffenheit zu beschäftigen hatte], — ein
recht intelligenter Knabe war. Denselben Eindruck muß
jeder Leser der Protokolle über seine Aussagen gewinnen.
Besonders bezeichnend tritt in dieser Richtung hervor, wie
er nach Überwindung der kindlichen Schüchternheit seine
Schutzlügen genau in den Grenzen aufstellt, die die Ver-
hältnisse vorgeschrieben hatten. Jedes Mehr hätte ihnen
den Stempel der völligen Unglaubwürdigkeit aufgedrückt.
Schließlich mußte seine Art der Verteidigung in der
Hauptverhandlung die letzten Zweifel an seiner strafrecht-
lichen Verantwortlichkeit beseitigen. Hier hat er die äußeren
Vorgänge genau so geschildert wie in der Voruntersuchung.
Im Widerspruche mit seiner bisherigen Darstellung hat er
aber bestritten, daß er die Tat mit Überlegung ausgeführt
habe. Der Gedanke, das Kind zu töten, sei ihm erst ge-
kommen, als es ihm beim Antritt des Rückweges nach
Beendigung der unzüchtigen Handlungen mit einer Mit-
teilung an die Mutter gedroht hatte. Wie er dann am
Flußufer gestanden habe, sei ihm „noch eingefallen, daß
er möglicherweise mit dem Knaben gesehen worden sei,
und er habe ihn darauf ins Wasser geworfen“.
Auf den Vorhalt vom Richtertische aus, daß er dem
Untersuchungsrichter unumwunden eingeräumt habe, schon
im Wartepavillon der Straßenbahn, also eine geraume Spanne
Zeit vor Begehung der Unsittlichkeiten, den Entschluß ge-
faßt zu haben, wenn es die Belegenheit des Ortes gestatte,
Tränenreiche Weihnachten. 65
das Kind ins Wasser zu werfen, bestritt er, eine solche
Angabe gemacht zu haben. Auch nach Verlesung des
diesen Punkt betreffenden Protokolls und nach Hinweis
auf seine eigene Unterschrift verharrte er auf diesem neuen
Standpunkte.
Man wird mit den Richtern den Schluß zu ekeni haben,
Salm. sei in der Hauptverhandlung von der Absicht geleitet
worden, die Tatsachen so darzustellen, als ob er zwar mit
Vorsatz, aber nicht mit Überlegung im Sinne der §§ 211.
212 StGB. sein Verbrechen ausgeführt habe. In den Urteils-
gründen wird dazu bemerkt, daß der Angeklagte über die
Bedeutung dieses Umstandes durch die Voruntersuchung
und die Anklageschrift aufgeklärt worden sei.
Auch wenn man annimmt, daß er nicht nur aus diesen
beiden Quellen geschöpft habe, sondern daß er von Er-
wachsenen wiederholt und eingehend hierüber unterrichtet
worden sei, so ist es im höchsten Maße erstaunlich, daß
er diese Lehren über ein nicht einfaches Thema so gründlich
erfaßt und so vollkommen verarbeitet hat, daß er sie ın
der Hauptverhandlung mit vollkommener Sicherheit ver-
werten konnte.
Für die Leser, die sich nicht mit juristischen Studien
beschäftigt haben, sei zum besseren Verständnisse des Vor-
stehenden auf den Unterschied zwischen Mord und Totschlag
kurz hingewiesen. Der Mann, der die Geliebte unvermutet in
den Armen eines anderen antrifft und diesen ohne weiteres tot
niederstreckt, begehtim Zweifel nur einen Totschlag [der höch-
stens mit 15 Jahren Zuchthaus bestraft wird, $ 212 StGB.].
Tritt zu dem Vorsatze der Tötung noch die Überlegung hinzu,
die die Folgen der Tat sorgfältigst prüft und nach allen
Richtungen hin reiflich erwägt, so ist der Tatbestand des
Mordes gegeben. Der Mann, der die Geliebte unvermutet
in den Armen eines anderen antrifft, den Überraschten aber
zunächst Zeit läßt und die Möglichkeit gibt, ihre Tat zu
verteidigen, dann Belastung und Entlastung gegeneinander
Der Pitaval der Gegenwart. II. 5
66 Dr. Ertel
abwägend sich zur Tötung entschließt und sie wohlüber-
legt ausführt, ist ein Mörder [der gemäß $ 211 StGB. zum
Tode zu verurteilen ist. Don Cesar in der „Braut von
Messina“, der den Don Manuel und Beatrice in der Um-
armung antrıfft und den Bruder mit dem Dolche tötet,
begeht nur einen Totschlag, Wilhelm Tell dagegen
begeht an Geßler und Johann Parricida an Albrecht I.
Mord.
Ich könnte hiermit die Darstellung dieses höchst eigen-
artigen Rechtsfalles schließen. Es scheint mir indes für
manchen Leser nicht ohne Interesse, zu erfahren, wie die
vollendete Tat und der Aufenthalt im n Gefängnis auf den
Täter gewirkt haben.
Unmittelbar nach der Tat hat ihn offenbar keine Reue er-
griffen. Bei seiner zweiten Vernehmung vor dem Untersu-
chungsrichter hat er sich folgendermaßen geäußert: „Als
ich den Jungen ins Wasser geworfen hatte, ist mir gar
nicht der Gedanke gekommen, schnell die kleine Treppe
hinunterzugehen, ob ich ihn noch retten konnte; ich lief
weg.“
Sodann sorgte er zunächst für sein leibliches Wohl,
indem er eine jüdische Armenanstalt aufsuchte und sich
dort ein Mittagsmahl vorsetzen ließ. Dieses verzehrte er
mit dem bei ıhm üblichen vortrefflichen Appetit.
Hierauf begab er sich nach dem Heiligengeistfeld
um sich den Vergnügungen des „Doms“ nach Möglichkeit
hinzugeben. Zuerst zog er planlos in den Budenstraßen
umher. Gegen drei Uhr nachmittags traf er mit dem ıhm
bis dahin unbekannten Gill. zusammen, der als Gehilfe in
einer Bude angestellt war, in der nach bewegten Puppen
mit großen Bällen geworfen wurde. Teils zum Aufheben
der Bälle, teils zum Bewegen der Puppen bedient man sich
der Hilfe eines Knaben. An die Stelle des hierzu Bestellten,
der nicht kam, trat Salm. und versah seinen Dienst zu
vollster Zufriedenheit. Nach der Schilderung des Eigen-
Tränenreiche Weihnachten. 67
tümers dieser Bude war er dabei „ganz RER und machte
sogar noch allerlei Unsinn“.
Salm. will den ganzen Nachmittag an seine Tate gar nicht
mehr gedacht haben. Das ist indes nicht ganz richtig;
in dieser Beziehung hat ihn sein sonst so gutes Gedächtnis
im Stich gelassen. Denn aus dem Munde Gill.s wissen
wir, daß er im Laufe dieses Nachmittags gesprächsweise
die Frage an ihn gerichtet hat: „Wenn ich in Hamburg
etwas getan habe und ich laufe nach Altona, dann können
sie mir doch nichts tun?“ Von der Tat selber hat er dem
Gill. niemals eine Andeutung gemacht.
Als um Mitternacht das Jahrmarktstreiben sein Ende
erreichte, forderte Gill. seinen neuen Gehilfen auf, mit nach
seiner Wohnung in Altona zu kommen. Salm. ging darauf
mit Freuden ein, denn er traute sich nicht, in die Wohnung
der Eltern zurückzukehren, von der er sich ja den ganzen
Nachmittag ohne Erlaubnis ferngehalten hatte.
Die Nacht brachten beide in einer Werkstatt auf einem
mit Heu oder Stroh gefüllten Sacke zu. Gill. hat, bald
nachdem sie an dieser Schlafstelle angekommen waren,
und zum zweiten Male gegen Morgen seinen Penis in den
After des Knaben eingeführt und bis zu seiner Befriedigung
beischlafähnliche Bewegungen vollführt.
Nach der Ansicht von Gill. seien derartige Geschlechts-
verirrungen dem Kinde noch fremd gewesen; es habe auch
keinen Geschmack daran gefunden, sondern nur ruhig mit
sich geschehen lassen, was er von ihm verlangt habe:
Die ärztliche Untersuchung des Salm. spricht nicht dagegen.
Nach der Vornahme der ersten päderastischen Handlung
will Salm. sich wieder seines Verbrechens erinnert haben.
Dabei seien ihm alle Zweifel darüber geschwunden, dab
er bestraft werden würde. Von der Art der Strafe habe
er sich indes kein klares Bild machen können.
Als am nächsten Tage Salm. wieder seinen Dienst in
der Puppenbude antreten wollte, schickte ihn der Eigen-
5*
68 Dr. Ertel
tümer weg. Er hatte nämlich schon vordem bei Gill. eine
besondere Neigung beobachtet, sich mit Knahen abzugeben.
Die am Sonntage zwischen diesem und dem kleinen
Salm. plötzlich entstandene Intimität, die ihm nicht ent-
gangen war, brachte ihn zu dem Entschlusse, die beiden
voneinander zu trennen. Er konnte ihn aber nur in sehr
beschränktem Maße ausführen, da Salm. ganz in der Nähe
seiner Bude als Orgeldreher Beschäftigung fand. |
Als der „Dom“ an diesem Montage zu Ende war, sah
er Gill. und Salm. zusammen die Richtung nach der Schlaf-
stelle des ersteren einschlagen und dann in Altona in eine
Wirtschaft einkehren. Er teilte einem Schutzmanne seine
Beobachtungen mit, der darauf beide auf eine Polizeiwache
brachte. Am nächsten Tage (Dienstag, den 24. Dezember 1901)
kam Gill. in Untersuchungshaft, während der Knabe seinen
Eltern zugeführt wurde.
Hier verblieb er bis zum 29. Dezember 1901, wo seine
Versetzung in Untersuchungshaft erfolgte. Er scheint sich
während dieser sechs Tage so benommen zu haben, als
wenn nichts Besonderes sich ereignet hätte. Die Mutter
hat bekundet: „Weihnachten ist er ganz vergnügt gewesen.“
Auch während seines Aufenthaltes im Untersuchungsge-
fängnisse ist nichts zu verzeichnen, aus dem auf aufrichtige
Reue zu schließen wäre. Mit dem Physikus „plaudert er
(dort) in kindlicher und freimütiger Weise über. seine und
seiner Familie Angelegenheiten; durch seine Inhaftierung
zeigt er sich in keiner Weise bedrückt.* Dem Unter-
suchungsrichter hat er allerdings beteuert, daß es ihn
schmerze, das Kind ins Wasser geworfen zu haben. Aber
sehr tief scheint ihm dieser Kummer nicht gegangen zu
sein; denn unmittelbar darauf rühmt er seinen guten
Appetit und freut sich seines vortrefflichen Schlafes.
In seinen Briefen, die er aus dem Untersuchungs-
gefängnisse an seine Verwandten schickt, tut er des Ver-
brechens nur in einem Falle Erwähnung. Er erzählt ihnen
Tränenreiche Weihnachten. 69
lieber von den Strümpfen und Stiefeln, die er vom Ober-
inspektor „geschenkt“ erhalten habe, von den Speisen, die
ihm gereicht werden und die seinen vollen Beifall finden.
Mit offensichtlichem Stolze berichtet er von dem Gelde,
das er durch seiner Hände Arbeit im Gefängnis erworben,
und für das er sich natürlich Nahrungsmittel — Butter,
Schmalz — kaufen will.
- Erst als ihm die Anklageschrift zugestellt wird, berührt
er im nächsten Briefe seine Tat und zwar in äußerst be-
zeichnender Weise, indem er die ganze Verantwortung
seiner Mutter zuwälzt. („Das kommt davon, wenn du mich
immer zu Hause behältst.‘“)
Seit etwa 2'/ Jahren ist er nun im Gefängnis. Alle
jugendlichen Verbrecher werden hier in Einzelhaft gehalten.
Nur während des Schulunterrichts, der ihnen in sehr gründ-
licher Weise erteilt wird, und dem sie naturgemäß in der
Regel mit größerem Interesse folgen als in Freiheit be-
findliche Kinder — unterbricht er doch die Eintönigkeit
des Gefängnislebens! —, kommen sie mit anderen jugend-
lichen Missetätern zusammen. Die Arbeitszeit, die die Schule
ihnen freiläßt, haben sie auf Handarbeiten, wie Kleben von
Tüten, Flechten von Matten u. a., zu verwenden. Aufgabe
der Geistlichen und Lehrer der Anstalt ist es besonders
auch, auf das Seelenleben dieser beklagenswerten Kinder
einzuwirken.
Ist bislang bei Salm. eine Wendung zum Besseren ein-
getreten? Keiner der Erzieher und der sonstigen Gefängnis-
beamten hat diese Frage ohne starke Einschränkungen zu
bejahen gewagt.
Nach den Briefen, die er an seine Familienmitglieder
richtet, behagt ihm der Aufenthalt in der Anstalt. Natürlich
laufen Klagen über Langeweile mit unter.
Jetzt kommt er auch häufiger auf sein Verbrechen
zurück und spricht von seiner tiefen Reue darüber, daß
er das Kindehen ermordet und hierdurch dessen Eltern
70 Dr. Ertel.
und seine eigenen in so tiefe Trauer versetzt habe. Aber
die Worte ähneln denen, die Erzieber anzuwenden pflegen,
wenn sie Sündern ins Gewissen reden. Ist es nur ein
wesenloses Echo oder klingen dabei eigene Herztöne mit?
Hoffen wir das letztere! Möge Salm. dereinst geläutert
und als ein dauernd Gebesserter das Gefängnis verlassen!
Möge es der Zucht und Erziehung gelingen, ihn als nütz-
liches Mitglied der menschlichen Gesellschaft wieder zu-
zuführen!
Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers.
Von
Stadthauptmann Dr. Sárkány in Pecs (Fünfkirchen).
Die folgenden Zeilen machen uns mit Ignaz Straßnoff
bekannt, einem der raffiniertesten Hochstapler, der sich
auch der falschen Namen Ladislaus Inezedy, Max Straßnoff,
Ignäz Scendrei, Géza Vertessy, Alexander Bölönyi, Anton
Gergely, Graf Aladár Porcia, Louis Bengei de Erdöbenye
bediente. In der Wahl seiner Mittel war kaum jemand
erfinderischer als er; staunenswert sind die mannigfachen
Werkzeuge, mittels welcher er in möglichst sicherer Weise
seine Betrügereien ausführt. Schon in früher Jugend
macht er als natürliche Folge der Verübung verschiedener
Diebstähle die Bekanntschaft mit der Polizei und dem
Strafgerichte und, zum Manne herangereift, figuriert er fast
ständig in den Polizeiberichten.
Sein „Handwerk“ mit kleineren Diebstählen beginnend,
wird er bald ein Meister im Betrügen. Mit weltmännischen
Allüren ausgestattet, verkehrt er in den Kaffeehäusern,
raucht mit vornehmer Nonchalance, auf dem Divan
hingestreckt, seine Havanna. Sein vertrauenerweckendes
Äußere ermöglicht die Bekanntschaft mit geistlichen und
weltlichen Würdenträgern; er stattet ihnen Besuche ab,
läßt sich von ihnen bewirten und fühlt sich bei ihnen wie
zu Hause. Das Geld wirft er mit vollen Händen hinaus
und ist überall zu sehen, wo die Jeunesse dorée verkehrt.
12 Dr. Sárkány
Während sich seine Geschwister durch ehrliche Arbeit
und Talent einen Namen erwerben (sein Bruder ist ein
berübmter ungarischer Theaterdirektor), wird er zu einer
jener Existenzen, deren Erwerb die Hochstapelei, deren
Einkommen die Leichtgläubigkeit der Mitmenschen und
deren einziges Werkzeug Schlauheit und List ist.
Im Wirbel der Großstadt findet man zahllose solcher
Existenzen, sind doch die Erfordernisse dazu nicht sehr
komplizierter Natur: gut gebügelte Kleider, ein wenig
Großtuerei oder Kriecherei, ein gutes Mundwerk, Ver-
wegenheit und Gewandtheit. Solchen Individuen fallen
leichtgläubige Menschen so leicht zum Opfer; ehe sie es
ahnen, sind sie gerupft. Auch Straßnoff lebte, wenn er
nicht zufällig im Kerker saß, von solchen Gaunerstreichen
auf freiem Fuße wie ein kleiner König.
Ignaz Straßnoff, im Jahre 1868 in Mátészalka (Ungarn)
geboren, stammt aus einer höchst anständigen Familie, bei
welcher von erblicher Belastung nicht die Rede sein kann.
Sein Vater war ein armer Privatbeamter, dessen einziges
Streben dahin ging, seine Söhne etwas lernen lassen und
sie zu ehrlichen Menschen zu erziehen. Auch Ignaz
Straßnoff besuchte die Elementarschule und absolvierte vier
Klassen des Gymnasiums. Da die Schuldisziplin ihm aber
unerträglich wurde, wurde er in Budapest Handlungs-
kommis. Hier verübt er im März 1886 sein erstes
„Stückchen“, indem er in einer Tabaktrafik Zigarren,
Stempel und Billetts stiehlt, und wird dafür mit einem
zweiwöchigen Freiheitsverluste bestraft.
Schon nach einigen Monaten begegnen wir ihm wieder
im Verhandlungssaale des Gerichtshofes. Mit seinem älteren
Bruder, der in Budapest Schauspieler war, besuchte er
öfters die Bühne, die Garderobe und die Schneiderwerk-
stätte und wurde dadurch mit den Schauspielern und mit
Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. 13
den Mysterien der Bühnenwelt bekannt. Seine Beobach-
tungen ließ er selbstverständlich nicht unbenützt und die
Schneider des „National-Theaters“ und des „Volkstheaters“
beklagten bald, seine Bekanntschaft gemacht zu haben,
denn er stahl beiden ihre wertvollen goldenen Uhren.
Das daraus gelöste Geld vergeudete er in verschiedenen
Kaffeehäusern. Dann besuchte er das „Café Budapest“
und ließ in einem gelegenen Augenblicke die Billardbälle
mitgehen, um durch Verwertung derselben sich von neuem
Geld zu verschaffen. Da er in Erfahrung gebracht hatte,
wie die Schauspieler in den verschiedenen Theatern sich
Freiplätze zu verschaffen pflegten, so wandte er ein ähn-
liches Verfahren an und erreichte durch Empfehlungs-
schreiben, auf welchen die Namen der berühmtesten Schau-
spieler gefälscht waren, daß fast alle Theater für jeden
"Abend ihm Billetts zu Logen oder Sperrsitzen zur Ver-
fügung stellten. Diese Karten verkaufte er selbstverständ-
lich zu „ermäßigten Preisen“ durch einen eigens dazu
engagierten Agenten. Für diese Schwindeleien wurde er
im September 1887 zu zweimonatigem Arreste verurteilt.
Nach seiner Freilassung ernährte er sich wohl zumeist
durch unentdeckte Straffälle, bis ihn 1888 folgendes bei
den Gerichten wieder in Erinnerung brachte. Ein Be-
kannter, der ihm gestattete, in seiner Wohnung zu über-
nachten, büßte diese edle Tat dadurch, daß Straßnoff ihm
aus der Tasche 200 Kronen stahl. Um im Falle einer
Anzeige nicht allein wegen einer solchen Kleinigkeit zur
Rechenschaft gezogen zu werden, versteckte er sich eines
Tages im „Handels-Museum“, wartete dort, bis die Wächter
ihren Platz verlassen, öffnete gewaltsam einige Kasten,
nahm Uhren im Werte von mehr als 1000 Kronen mit,
schloß das Tor mit dem aus dem Zimmer des Portiers
gestohlenen Schlüssel auf und machte einige Uhren noch
an demselben Abend zu Geld. Schon eine Stunde nach
dem Einbruche verzechte er das erhaltene Geld in einem
T4 Dr. Sárkány
Kaffeehause. Diese Taten trugen ihm eine 3'j2jährige
Zuchthausstrafe ein. |
Als Straßnoff das Zuchthaus am 30. November 189:
verließ, enthielt sein Entlassungsschreiben folgende Charakte-
ristik: „Die Last seiner Strafe drückte ihn nicht sehr.
Es scheint, daß er seinen Leichtsinn noch nicht abgestreift
hat; er ist ein Mensch, den die äußeren Einflüsse be-
herrschen. Dieser Umstand kann für seine Zukunft leicht
verhängnisvoll werden; jedoch ist es zu hoffen, daß
günstig veränderte Lebensverhältnisse, die Erinnerung an
die ausgestandenen Leiden und seine höhere Intelligenz
ihn vor einem Rückfall schützen werden.“ |
Nach seiner Freilassung gelang es ihm, in der Admini-
stration des „Magyar Hirlap“ als Kassierer unterzukommen.
Bereits in den ersten zehn Tagen führte er dreizehn Betrüge-
reien und Veruntreuungen aus, indem er eine Menge saldierter °
Rechnungen, deren Beträge er von den Schuldnern ein-
kassierte, in duplo ausstellte und das Duplikat mit der Be-
merkung seinem Chef übergab, daß die Schuldner erst im
künftigen Monate ihrer Zahlungsverpflichtung nachkommen
würden. Das auf diese Art gewonnene Geld verpraßte er
so rasch, daß er aus dem Hotel, in welchem er mit einer
Prostituierten die Nacht verbracht hatte, fliehen mußte,
denn es fehlte ihm nicht nur an Geld für die Hotel-
rechnung, sondern er kann nicht einmal das Mädchen ab-
lohnen, obwohl er mit ihr am Abend vorher in einem hoch-
eleganten zweispännigen Wagen im Hotel angekommen war!
Der königl. Gerichtshof in Budapest verurteilte ihn für
diese Leistungen zu drei Jahren Zuchthaus. Als ihn die
Direktion des Bezirksgefängnisses am 15. August 1895
wieder seiner Wege ziehen ließ, gab sie ihm folgende Be-
merkung mit: „Er verläßt jetzt nicht zum letztenmal das
- Gefängnis!“
Der Beamte, der dies geschrieben, hat Recht behalten!
Schon unter den Augen desselben hatte Straßnoff eine
Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. 75
neue Bestrafung vorbereitet. Er war ım Zuchthause zu
Kanzleiarbeiten verwendet und erwies sich dadurch dank-
bar, daß er die ihm anvertrauten Sträflingsmatrikel und
Kassajournale fälschte und sich auf diese Weise 20 Kronen
zu erschwindeln versuchte. Sein Lohn hierfür war eine
weitere Zuchthausstrafe von einem Jahr. Kaum entlassen,
vertauscht er die Sträflingskleider mit einer glänzenden
Husarenoffiziersuniform und läßt den Säbel selbstbewußt
auf dem Pflaster der Straßen von Budapest klirren. Zu
der Uniform kommt er, wie gewöhnt, durch Betrug. Er
schwindelt einem Schneider vor, daß er sich als Husaren-
oberleutnant der Reserve bei der Militärbehörde zu melden
und seine Uniform auf der Reise verloren habe; mit der
geborgten Uniform wolle er sich auch „seiner Braut vor-
stellen“. Statt dessen stellt er sich dem Budapester Seil-
warenfabrikanten H. als Husarenoberleutnant Ladislaus
Inezedy vor und übergibt ihm eine vom Brigadekomman-
danten unterzeichnete Anweisung auf 1200 Stück Pferde-
halfter, auf die ihm der Fabrikant 70 Kronen Provision
gibt. Kurz darauf teilt er dem armen Seilhändler tele-
pbonisch mit, daß er die Bestellung in Schwebe halten
soll, bis er die Muster zugestellt erhielte. Dies Gespräch
wird zum Verräter, denn während desselben wird das
Telephon ausgeschaltet, und der Seilhändler läßt sich, um
zu melden, daß er in diesem Falle den Termin nicht ein-
halten könne, mit der Husarenkaserne verbinden, wo man
natürlich weder von einer Bestellung, noch von einem
Oberleutnant Ladislaus Inezedy etwas weiß. Straßnoff,
nicht ahnend, daß der Seilwarenfabrikant die Wahrheit so
rasch erfahren habe, geht am folgenden Tage mit größter
Gemütlichkeit und Kaltblütigkeit wieder in das Geschäft,
um eine neue Bestellung zu machen. Hier wird er auf
der Tat verhaftet, und die Polizei stellt nun fest, daß er
die Uniform auch dazu benützte, um mit einer Visitkarte
des Husarenoberleutnants Grafen A. P. dem Oberkeliner
76 | Dr. Särkäny
eines Kaffeehauses Geld zu entlocken. Diese Straftaten
ahndet der Budapester königl. Gerichtshof mit einem Jahr
und neun Monaten Zuchthaus, die er bis zum 16. März 1898
verbüßt. | E
Schon am 14. April desselben Jahres begeht er einen
neuen Betrug. Er hatte im Gefängnis erfahren, daß der
evangelische Seelsorger A. G. seine Bücher auf Raten-
abzahlung zu kaufen pflegte, und geht daher in die Buch-
handlung des F. Sch., stellt sich dort als A. G., Seelsorger
des Landes-Zentralgefängnisses, vor und bestellt auf monat-
liche Ratenzahlung ein komplettes Lexikon, das er in seine
Wohnung schicken läßt. Den folgenden Tag betrügt er
auf dieselbe Weise den Buchhändler S. W., von dem er
unter denselben Bedingungen 224 Bände Romane ankauft.
Die Bücher nimmt er in seiner Wohnung entgegen und
verkauft sie sofort an einen Antiquar. F. Sch. erfährt
bald von dem Geistlichen, daß er das Opfer eines Betruges
geworden, und erkennt in der Photographie des kaum vor
einem Monat aus dem Gefängnis entlassenen Straßnoff
sofort den Betrüger und erstattet die Anzeige. Die könig-
liche Kurie verurteilte Straßnoff für diese Delikte zu zwei
Jahren Zuchthaus, jedoch nicht wegen Privaturkunden-
fälschung, sondern wegen des Betruges, und zwar „weil
Ignaz Straßnoff sich den Buchhändlern gegenüber für
einen Geistlichen, also für einen solchen Mann ausgab,
dem die Buchhändler unbedingt das Vertrauen schenken
konnten, daß er, wenn er Bücher auf Kredit kauft, sie
auch bezahlen wird, ferner in Erwägung, daß der An-
geklagte die Kaufleute mit der Vorspiegelung seiner
Zahlungsfähigkeit dazu bewog, ihm Bücher von größerem.
Wert zu kreditieren, daß er also sein Ziel, sich bewußt
unberechtigten materiellen Nutzen zu verschaffen, auch er-
reichte, und weil er sich auf dem Bestellscheine als A. G.,
Seelsorger des Zentralgefängnisses, unterzeichnete, aber nur
um die Buchhändler in ihrer Leichtgläubigkeit zu be-
Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. 77
stärken, die verfälschten Bestellscheine also nicht dem
Seelsorger A. G., sondern nur dem betreffenden Buch-
händler gegenüber benützt wurden und so die falsche
Namensunterschrift im vorliegenden Falle nicht das Objekt,
sondern nur das Mittel der strafbaren Handlung war“.
Im Mai 1900 auf freien Fuß gesetzt, nimmt er die
Rolle eines Gentleman an, reist nur im Coupé I. Klasse,
wohnt in Hotels ersten Ranges, versteht meisterbaft Schulden
zu machen, die menschlichen Schwächen auszubeuten und
sich im gegebenen Augenblicke aus dem Staube zu machen.
Er geht jeden Tag in anderen Anzügen neuester Mode
einher; seine Hände zieren die teuersten Ringe; ohne
goldene Uhr, goldene Kette und ohne Monocle zeigt er
sich überhaupt nicht. Auf seinen Reisen zwischen Wien
und Budapest paradiert er stets mit einem prachtvollen
kalbsledernen Handkoffer und Reiseetuis, mit einem im-
posanten Plaid und mit einem fashionablen Stadtpelz, im
Knopfloche das blaue Band des preußischen Kronenordens.
Eines Tages reiste Straßnoff in demselben Coupe mit
den Fürsten von Br. und von F, die mit dem diskreten
Fremden, dessen vornehme Manieren einen Mann aus der
besten Gesellschaft erkennen ließen, bald ein Gespräch
anknüpften. Kurz danach begannen die Herrschaften mit
ihm Makao zu spielen, wobei Straßnoff zweimal die Bank,
welche mehr als 2000 Kronen enthielt, einheimste. Der
Hochstapler überreichte sogar den hohen Herrschaften
seine Visitkarte, auf welcher unter einer fünfzackigen
Krone der Name „Ludwig Bényei de Erdöbenge, kgl. Rat,
Talya“ gedruckt stand und übernahm vom Fürsten von F.
auch eine Bestellung auf eine größere Qualität Tokaier
Ausbruch.
Bei einer anderen Gelegenheit reiste er in Offiziers-
uniform nach Baden bei Wien, woselbst er durch sein
elegantes Auftreten besonders im Kreise der Damenwelt
allgemeines Aufsehen erregte. Hier lernte er die etwas
78 Dr. Sárkány
bejahrte Witwe eines Wiener Seifenfabrikanten kennen
welcher er so eifrig den Hof machte, daß es ihm nach
dreiwöchentlichem Liebäugeln gelang, von der hingebungs:
vollen Witwe, der er baldigste Verlobung in Aussicht stellte,
4000 Kronen zu erhalten. Als die Wiener Geheimpolizisten
erschienen, war Straßnoff verduftet. Er verlegte nunmehr
sein Hauptquartier nach Köszeg in die Königsmanöver,
wo er sich als russischer Militärattache vorstellte und aus
Gefälligkeit Bestellungen auf Sättel, Pferdedecken und
andere Rüstzeuge übernahm. Bei dieser Gelegenheit
prellte er auch den Wiener Journalisten F. St. um 100
Kronen.
Nach mehreren ähnlichen Betrügereien übersiedelt
Straßnoff im Jahre 1901 nach Hamburg, wo er sein
Treiben in der Gesellschaft Josef Colmers fortsetzt. Ex
übernimmt hier eine Stellung in einer Buchhandlung, deren
Eigentümer sich besonders mit der Verbreitung englischer,
französischer und italienischer Werke befaßt und als
solcher Lieferant der vielen Konsulate ist. Straßnoff
kommt dadurch mit den Konsulaten in Berührung und
studiert gründlich die dort herrschenden Verhältnisse Er
erfährt bei einer Gelegenheit, daß der Hamburger General-
konsul der Vereinigten Staaten in Paris erkrankt und ge-
nötigt ist, ferne von seiner Familie mehrere Wochen in
einem Hotel sich pflegen zu lassen. Straßnoff wirft sich
sogleich in seinen elegantesten Anzug, besucht alle Konsuln,
legt einen auf den Namen Mme. R. gefälschten Brief vor,
in welchem sie mit Hinweis auf die Erkrankung ihres
Gemahls dessen Kollegen bittet, bis zur Rückkehr ihres
Gatten ihr mit 200 Mark aus momentaner Geldverlegen-
heit zu helfen. Die meisten gehen auf den Leim und
geben dem sympathischen eleganten jungen Manne den
gewünschten Betrag. Dieses Stückchen erregt riesiges
Aufsehen, das seinen Abschluß mit dem Verschwinden
Straßnoffs fand.
ga u u? Ber sn ee
Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. 19
Straßnoff verlegt jetzt das Feld seiner Tätigkeit nach
Amerika, wo er sieben Monate bleibt und sich angeblich
als Photograph ernährt, und dann für fünf Monate nach
England. Womit er diese Länder beglückt hat, ist nicht
festzustellen; gewiß ist jedenfalls, daß er keine Pause ge-
macht hat. Da die Sehnsucht nach Hause ihm keine Ruhe
läßt, kommt er wieder nach Ungarn. Er findet dort bei
seinem älteren Bruder, der inzwischen einer der hervor-
ragendsten Provinztheaterdirektoren geworden war, Unter-
kommen und wird in Preßburg und Ödenburg dessen
Theatersekretär. Es ist wenig wahrscheinlich, daß er wäh-
rend dieser Zeit ganz von ehrlichem Verdienste lebte. Schon
im November 1902 siedelte er, nachdem er sich mit seiner
Schwägerin entzweit hatte, ohne Geldmittel nach Wien über.
Anfangs unterstützt ihn sein Bruder, doch bald genügt ihm
der brüderliche Zuschuß nicht mehr, er will wieder den
großen Herrn spielen; da er Geld dazu nicht hat und ar-
beiten weder will noch kann, so muß er sich das Geld auf
anderem Wege verschaffen. Straßnoff selbst spricht sich
über sein weiteres Leben in folgender Weise aus: „Ich
entschloß mich, meine materielle Lage zu verbessern, und
zwar so, daß ich mir durch Irreführung ungarischer Kirchen-
fürsten Geld verschaffe. Diesen Plan wollte ich in der
Weise durchführen, daß ich mich den betreffenden Geist-
lichen als Géza Vertessy, Ministerialrat im Ministerium des
Kgl. ungarischen Hauses, vorstellte. Ich rechnete dabei
darauf, daß Herr V6rtessy ihnen persönlich unbekannt war.
Zu diesem Zwecke sandte ich im Monate Dezember 1902
an die Adresse des Bischofs von Nyitra (Neutra) E. B. eine
mit der Unterschrift des Ministerialrates Vertessy versehene
Depesche, in welcher ich ihm anzeigte, daß ich ihn be-
suchen werde, und gab ihm auch den Zeitpunkt meiner
Ankunft bekannt. Als ich mein Reiseziel erreichte, fuhr
ich mit der mich erwartenden bischöflichen Equipage in
das bischöfliche Palais, wo ich vom Sekretär empfangen
80 Dr. Särkäny
wurde, der mich in die für mich bestimmten Wohnräume
begleitete. Ich wechselte die Toilette und begab mich zum
hochwürdigsten Herrn Bischof, um ihm meine Aufwartung
zu machen. Von dem hohen geistlichen Herrn wurde ich
sehr freundlich bewillkomnit, er nannte mich sogleich seinen
Neffen, erzählte mir, daß ich sein Verwandter, sein Neffe
sei. Diese angebliche Verwandtschaft berührte mich etwas
unangenehm und brachte mich natürlich in Verlegenheit.
Ich verbarg sie aber meisterhaft und nützte die mir ge-
botene Gelegenheit aus. Der Bischof, ein 78 jähriger alter
Herr, war schwerhörig, wie ich von seinem Sekretär erfuhr;
im Zimmer herrschte Halbdunkel (es war gegen 5 Uhr
abends), so daß er mein Gesicht nicht gut sehen konnte.
Als ich hörte, daß er mich gleich seinen lieben Neffen
nannte, titulierte ich ihn einfach Onkel. Als ich bemerkte.
daß er mich etwas genauer musterte, sprach ich, um ihn
in seinem Glauben zu bestärken, wie folgt, zu ihm: „Er-
kennen Sie mich vielleicht nicht? Ich bin ja der Géza,
es ist richtig, ich habe mich infolge meiner Krankheit etwas
verändert...“. Als er auf die familiären Verhältnisse zu
reden kam, murmelte ich leise etwas, bis er mir selbst
alles erzählte und mich über diese Dinge informierte. Später
antwortete ich auf seine Fragen auf Grund seiner eigenen
Informationen, doch bemübte ich mich möglichst, der Unter-
redung eine andere Richtung zu geben. Ich blieb drei
Tage in Nyitra, selbstverständlich war ich während dieser
Zeit Gast des Bischofs. Kurz vor meiner Abreise erzählte
ich ihm, daß ich der gräflichen Familie von Niezesy einen
Wechsel giriert habe, der laut telegraphischer Mitteilung
meiner Frau fällig geworden sei; indem ich ihm versprach,
ihn nach Weihnachten wieder zu besuchen, bat ich ibn.
gleichzeitig, mir die nötigen 2000 Kronen zu borgen, welchem
Verlangen der Bischof-Onkel ohne jedes Bedenken sofort
entsprach.
Der Bischof gab mir zu Ehren auch ein Diner, bei
Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. 81
welchem ich im Frackanzug und verschiedenen (selbst-
redend imitierten) Orden erschien. Hier wurde ich mit
dem Domberrn Grafen B. bekannt, der mich einlud, auch
ihn zu besuchen. Vom Bischof erfuhr ich, daß der Graf
B. auf die Stelle eines Koadjutors reflektierte, und gerade
deshalb stellte ich die Sache bei meinem Besuche so dar,
als ob ich davon wüßte, daß er für die vakante Stelle
ausersehen sei; ich versprach ihm als Verwandter des
Bischofs, die Sache möglichst zu beschleunigen. Zugleich
teilte ich ihm meinen Verdruß darüber mit, daß ich dem
Grafen Niezesy einen Wechsel giriert habe, der jetzt ab-
gelaufen sei und den ich bezahlen müsse, ohne daß ich
in Nyitra einen Bekannten habe, von dem ich mir das
Geld verschaffen könnte. Ich zeigte ihm auch ein ge-
fälschtes Telegramm folgenden Inhaltes vor: „Vergiß nicht,
daß heute der 22. ist, leiste deinen Verpflichtungen Genüge
und denke an die Folgen, Jelta“. Durch dieses Telegramm
gelang es mir auch, ihn davon zu überzeugen, daß ich von
der Fälligkeit des Wechsels nichts wüßte, daß mich davon
erst meine Frau benachrichtigt hätte, und ich entlockte ihm
auf diese Weise 5800 Kronen. Als ich das Geld eingesteckt
hatte, reiste ich sofort nach Wien, wo ich mich dessen bald
entledigte.“
Als Straßnoff später verhaftet wurde, wollte der wirk-
liche Ministerialrat Vertessy sich überzeugen, wer eigentlich
der Mann sei, der auf seinen Namen die Betrügereien aus-
führte. Er besuchte ihn daher im Polizeigefängnisse und
es entspann sich zwischen ihnen folgender Dialog:
— Sagen Sie nur, wie sind Sie auf den Gedanken
gekommen, die Betrügereien gerade mit meinem Namen
zu verüben? Ä 1
— Bitte, das sind keine Betrügereien, sondern gelun-
gene Späbße.
— Das wird schon der Gerichtshof erwägen. Ant-
worten Sie nur auf meine Fragen.
Der Pitaval der Gegenwart. II. 6
82 E Dr. Sárkány
— Also, es geschah so: Ich öffnete das Beamtenver-
zeichnis (Staatshandbuch), und es gefiel mir unter den
Namen, die ich im Ministerium a Latere vorfand, am besten
der Name Vertessy.
— Und hat Sie hierbei gar kein anderes Motiv geleitet?
— Nein. Mir gefiel bloß Ihr Name. Es ist dies ein
schöner wohlklingender ungarischer Name, der sich leicht
in einen italienischen verwandeln läßt. Wenn ich also
schon einen fremden Namen mir aneignen wollte, wählte
ich jenen, der am besten klang und gewissermaßen allen
imponierte.
= — Auch den Namen des Grafen Paul N iczky haben
Sie so aus dem Staatshandbuch herausgeangelt?
— Gerade auf demselben Wege. Ich glaubte, daß er
ein Magnat sei, der ein Amt bekleidet, also gewiß ver-
schuldet ist. |
— Dabei haben Sie sich verrechnet, denn der Graf
ist vermögend und lebt in sehr geordneten Verhältnissen.
— Jawohl, ich vernahm es später selbst. Aber mein
Gott, der Mensch irrt sich halt so oft.
Nachdem es ihm in Nyitra gelungen war, von den
dortigen Kirchenfürsten Geld herauszulocken, ermutigte ihn
dieser Erfolg und verleitete ihn dazu, auf ähnliche Weise
auch anderswo sein Glück zu versuchen. Er ersah als
nächstes Opfer Dr. W. J., den Bischof von Steinamanger.
An diesen richtete er am 5. Januar 1903 aus Wien die
folgende Depesche: „Seiner Exzellenz Dr. W. J. Bischof,
Steinamanger. Komme in wichtiger Angelegenheit Nach-
mittag um 2 Uhr 22 Minuten. (Diskretion). Vertessy, Mi-
nisterialrat.“ — Dr. W. J. hatte den echten Vertessy nur
einmal gesehen, als derselbe bei seiner Eidesleistung als
Bischof assistierte, so daß er, als der falsche Vertessy ankam,
sich seines Aussehens nicht mehr erinnerte und seinen
Irrtum nicht bemerkte. Er empfing den Gast sehr herzlich
und stellte ihm in der bischöflichen Residenz mehrere Zimmer
. Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. 83
zur Verfügung. Straßnoff, der vom Bischof zu Nyitra er-
fahren hatte, daß Dr. W. J. für das vakante Stallum in
Großwardein auserkoren war, stellte die Sache derart vor,
als ob er davon auf amtlichem Wege Kenntnis und sein
Kommen den Zweck habe, den Bischof dazu zu bewegen,
ein Gesuch an zuständiger Stelle einzureichen. Als Dr. W. J.
aber dazu nicht zu bewegen war, weil er sein Bistum nicht
verlassen wollte, schlug Straßnoff andere Saiten an, zog
die. Notabilitäten des Komitates in das Gespräch und gab
vor, daß er auch beim Obergespan amtlich zu tun habe
und demselben ebenfalls einen Besuch abstatten werde. Der
Bischof begleitete ihn in seiner Equipage zu dem auf seinem
Landgute wohnenden Obergespan, und während der Pseudo-
Ministerialrat mit dem Obergespan unter vier Augen ver-
handelte, stattete der Bischof der Obergespansfamilie einen
Besuch ab. Auf der Heimfahrt nahm Straßnoff den Dr.
W. J. von neuem vor. Er erzählte ihm, daß er auch damit
betraut sei, die Schulden des Grafen Niezesy, der im Mini-
sterium a Latere ihm zugeteilt sei, zu ordnen; es seien dies
zumeist Ehrenschulden, die ihm leicht seine Stelle kosten
könnten und seine junge Frau und die drei Kinder in das
größte Elend stürzen würden. Der Bischof ließ sich aber
nicht so leicht fangen. Der Hochstapler erwähnte weiter,
daß diese Wechsel das Ministerium kompromittieren könnten
und dem Obergespan auch Verlegenheit verursachen würden
(auf den Obergespan konnte er sich um so sicherer be-
rufen, da er sich bei dem Bischof, der ihn für den folgen-
den Tag zum Diner eingeladen hatte, mit seiner Krankheit
entschuldigen ließ), und kam schließlich damit heraus, daß
ihm der Minister Graf Sz. selbst zu ihm gewiesen habe, da
er ausdrücklich wünsche, daß der Bischof bei der Regelung
der Angelegenheit behilflich sei. Jetzt war Dr. W. J. ge-
fangen; als reicher Mann wußte er von Wechseln wenig
und dachte nicht daran, wie ein Wechsel den Obergespan
kompromittieren könnte. Als nun am folgenden Tage dem
6 *
84 Dr. Sárkány
Straßnoff in Anwesenheit des Bischofs ein Telegramm
überreicht wurde, in welchem der Minister den Pseudo-
Vertessy aufforderte, sich am folgenden Tage bei ihm „in
der bekannten Angelegenheit“ zur Audienz zu melden, gab
der Bischof gegen eine Bestätigung und Gegenbestätigung
die verlangten 6000 Kronen ohne jeden Hintergedanken
her. — Diese Gegenbestätigung wollte Straßnoff angeblich
dem Minister, der ihn mit der Ordnung der Angelegenheit
betraut hatte, vorlegen. — Das Telegramm, durch welches
er seine Abreise von Szombathely beschleunigte, hatte er
in Wien vor seiner Abreise abgegeben mit der Bitte, das-
selbe erst nach drei Tagen abzusenden; die Telegraphistin
hatte, da sie das ungarische Telegramm nicht verstand,
dem Wunsche entsprochen. So vorsichtig und schlau be-
reitete der Gauner von vornherein jedes Detail seiner
Pläne vor! Er hatte auch ganz richtig darauf gerechnet,
daß der Bischof während der Weihnachtsfeiertage so be-
schäftigt sei, daß er sich um ihn und das geliehene Geld
nicht viel den Kopf zerbrechen würde. Auf der andern
Seite fürchtete er Ungelegenheiten von dem Öbergespan ;
er hatte demselben zwar die Fabel von dem Grafen Niezesy
nicht erwähnt, sondern ihn nur gebeten, den Bischof, der
bei der Regierung gut angeschrieben sei, zur Bewerbung
um das Nagyvärader Bistum zu veranlassen, aber der Ober-
gespan hatte die Erfüllung dieses Wunsches abgelehnt, da
er in einer so heiklen Angelegenheit ohne besondere Voll-
macht nicht intervenieren wollte, und erklärt, daß er in
den nächsten Tagen ohnehin in Wien zu tun habe und
bei dieser Gelegenheit sich dort informieren wolle. Der
Betrüger, der befürchtete, daß sein Stücklein in diesem
Falle sofort entdeckt würde, besuchte den Obergespan also
nochmals und erzählte ihm, daß er vom Minister tele-
graphisch angewiesen sei, die Unterhandlungen mit Dr.
W. J. abzubrechen, da dessen Kandidatur in Wien fallen ge-
lassen sei. Er müsse jetzt nach Nagyvárad reisen, wo ihn
Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers. 85
neue Instruktionen erwarteten. Der Obergespan, dem diese
Intervention zwar kurios vorkam, ahnte die Wahrheit noch
nicht, sondern kam erst einige Tage nachher, als er den
Bischof besuchte und von diesem die Fabel vom Wechsel
hörte, darauf, daß er es mit einem Schwindler zu tun habe.
Ohne diesen Besuch wäre der Betrug lange unentdeckt ge-
blieben, denn das Auftreten des Gastes war während der
ganzen Zeit so vornehm, gewählt und gewandt, seine Ma-
nieren so gewinnend und seine Konversation so gebildet,
daß ein Argwohn gegen seine Person nicht entstehen konnte.
Zeitig hatte Straßnoff sich aus dem Staube gemacht
und saß in Wien bei Ronacher in Gesellschaft vou Orpheum-
Sternen als eleganter Kavalier, während die Budapester
Kriminalbeamten, die in ihm den Täter vermuteten, sich
auf die Suche begaben. Nach wenigen Tagen fanden sie
` ihn in Wien, wo er von demselben Detektiv aufgegriffen
wurde, der ihn schon zweimal verhaftete. Da er bei Tage
nie zu Hause war, suchte der Beamte ihn nachts auf und
weckte ihn vom tiefsten Schlafe. Straßnoff leuchtete ihm
mit einer elektrischen Taschenlampe ins Gesicht, erkannte
ihn sofort und nannte ihn bei seinem Namen:
„Nicht wahr, Herr B., Sie sind mich holen gekommen ?*
„Natürlich! Sie haben doch wieder was angestellt.“
„Nur einen kleinen Spaß, sonst nichts!“ — war die
Antwort.
Auf dem Nachttische lagen die wertvollen Ringe, die
goldene Uhr, im Kasten der elegante Frack mit den ver-
schiedenen Orden und der goldene Zwicker; vom Gelde
wurden nur 270 Kronen aufgefunden. Straßnoff gab auf
alle Fragen aufrichtige Antwort; ruhig und unbefangen
enthüllte er die Einzelheiten seiner Betrügereien und ohne
innere Erregung schilderte er die Ausführung derselben.
Als der Detektiv ihm vorhielt, ob er noch nicht genug be-
straft sei, erwiderte Straßnoff, der Detektiv sei zur aller-
schlechtesten Zeit gekommen, denn er plane gerade, etwas
86 Dr. Sárkány Die Geschichte eines ungarischen Hochstaplers.
zu machen, dessen Gelingen ganz Europa zum Lachen ge-
bracht hätte.
Vom königl. Gerichtshof zu Szombathely wurde er
für die letztbeschriebenen drei Betrügereien mit 2 Jahren
und 7 Monaten Zuchthaus bestraft. Auf Einlegung der
Revision gegen das Urteil verzichtete er, unterwarf sich
dem sofort und verbüßt die Strafe zurzeit noch.
Die Wiener Polizei verdächtigte wegen der durch Straß-
noff verübten Betrügereien anfänglich einen verkommenen
Magnaten, den Grafen R., verhaftete ihn und hielt denselben
eine Nacht im Polizeigefängnisse. Als Straßnoff später von
den Budapester Detektivs verhaftet wurde, äußerte der
brave empfindsame Verbrecher: „Als ich las, daß man
den R. verhaftet hatte, wurde ich sehr aufgebracht und wollte
mich selbst stellen, um den Unschuldigen aus der Haft zu
befreien. Doch überlegte ich mir die Sache, denn freie Luft
einzuatmen, ist doch besser, als im Kerker zu sitzen.“
Dieses Vergnügen ist Straßnoff jetzt einstweilen freilich
versagt. — Doch wenn er die Strafe schon verbüßt hat,
wird er wieder als Kavalier vom Kopf bis zur Zehe auf-
treten, wieder schöne Mädchen küssen und wieder den
Champagner schäumen lassen. — Auch Opfer wird er wieder
finden, und so glaube ich versprechen zu können, auch
noch später an dieser Stelle von ihm erzählen zu dürfen.
Der Herausgeber hat folgende Zuschrift erhalten:
Heidelberg, 17. 10. 04.
Vielleicht ist es für Sie und die Leser des Pitaval der Gegen-
wart als Beitrag zur Psychopathologie des Studenten Fischer von
Interesse, daß das Pitaval I 32 abgedruckte, angeblich von Fischer
selbst „fabrizierte* Gedicht ein nur wenig verändertes Gedicht von
Julius Hart ist. Das Original lautet so:
Traumleben.
Um meinen Nacken schlingt sich
Ein blütenweicher Arm.
Es ruht auf meinem Munde
Ein Frühling jung und warm.
Ich wandle wie im Traume,
Als wär’ mein Aug’ verhüllt;
Du hast mit Deiner Liebe
Ali meine Welt erfüllt.
Die Welt scheint ganz gestorben,
Wir beide nur ruhen allein,
Von Nachtigallen umschlungen
Im blühenden Rosenhain.
Ihr ergebenster Dr. Gustav Radbruch,
Privatdozent.
Der Leipziger Bank-Prozess.
Von
Staatsanwalt Dr. Weber, Leipzig.
Es liegt in der Natur des Menschen, daß er geneigt
ist, bei Missetaten sein Interesse mehr den Persönlichkeiten
zuzuwenden, die aktiv oder passiv dabei eine Rolle spielen,
als die Tat selbst ins Auge zu fassen. Das bewies die Vor-
geschichte des Leipziger Bank-Strafprozesses aufs neue.
Als in der letzten Juniwoche des Jahres 1901 der eben
erfolgte Zusammenbruch der Leipziger Bank, eines der an-
sehensten Geldinstitute der betriebs- und verkehrsreichsten
Handelsstadt Sachsens, das Tagsgespräch bildete, da wandte
man sich im tiefsten Mitleid vor allem den beklagens-
werten Opfern zu, die die so jäh hereingebrochene Kata-
strophe in ungezählten Tausenden gefordert hatte. Nicht
genug, daß für viele die Einbuße, die sie erlitten, so hoch
war, daß sie über Nacht zu Bettlern geworden waren und
nun, aller Mittel entblößt, ein neues Leben beginnen muß-
ten, um den nötigen Lebensunterhalt zu gewinnen; es
häuften sich allmählich Nachrichten von dem Schicksal
solcher, die glaubten, von dem Schlage sich überhaupt
-nicht wieder erholen zu können, und daher den Versuch
von vornherein aufgaben, dem Verlorenen wieder beizu-
kommen. Es gingen wenig Wochen ins Land, als man
bereits den achten Selbstmord zählte, den der Sturz der
Leipziger Bank gezeitigt hatte. Wer mochten die Personen
sein, die an solchem unermeßlichen Unheil Schuld trugen?
Begreiflicherweise beschäftigte man sich am lebhaftesten
Der Pitaval der Gegenwart. H. 7
90 Dr. Weber.
mit dem ersten Vorstandsmitgliede der gestürzten Bank,
dem Direktor August Exner, dessen am 28. Juni 1901 er-
folgte Verhaftung man mit lebhafter Genugtuung begrüßte,
da man in ihm den Hauptschuldigen der Katastrophe er-
blickte.
In der Tat war die Persönlichkeit Exners geeignet,
das Interesse aller auf sich zu lenken. Man erfuhr, daß
er, am 1. Juli 1887 an die Spitze der Leipziger Bank ge-
stellt, zu dieser Zeit noch im jugendlichen Alter von 28Jahren
gestanden hatte. Aus kleinen Verhältnissen emporgewachsen,
hatte er sich außerordentlich schnell zur Geltung zu brin-
gen vermocht. In Cassel, dem Sitze der berüchtigten
Trebertrocknungs-Gesellschaft, deren Verbindung mit der
Leipziger Bank dieser so verhängnisvoll werden sollte, war
Exner als Sohn eines Barbiers geboren. Auf der Oberreal-
schule seiner Vaterstadt hatte er seine Vorbildung empfan-
gen und sich danach sofort dem Bankfach gewidmet. Eine
nicht unbedeutende Begabung für diesen Beruf ließ ihn
bald aus der Reihe seiner Berufsgenossen hervortreten. Bei
der Deutschen Bank, die später hauptsächlich berufen war,
die Bresche zu füllen, die der Sturz der Leipziger Bank
öffnete, genoß der Angestellte Exner derartig hohes Ver-
trauen, daß sie ihn absandte, um in China die Handels-
und Verkehrsverhältnisse praktisch zu studieren, damit
solche Kenntnis bei künftigen Transaktionen in diesem
Lande verwertet werden könnte. Man sagt, daß nach Rück-
kunft von dieser Reise Exners Selbstbewußtsein, seine hoch-
fliegenden Pläne und die leidenschaftliche Art, wie er sie
unter Versäumung vorsichtigster Überlegung auszuführen
bereit war, seinen Chefs unangenehm zu werden begann,
so daß sie Exner von ihrem Institut nicht ungern scheiden
sahen, als er sich bei dem Aufsichtsrat der Leipziger Bank
um eine Direktorstelle bewarb.
Für die Leipziger Bank freilich war der jugendliche
Eifer, die wilde Betriebsamkeit eines Exner nicht uner-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 91
wünscht. Man hoffte, daß solche Eigenschaften des ersten
Leiters die Bank befähigen würden, den alten Glanz wie-
der aufzufrischen und die Geschäftsführung des Instituts,
die in der letzten Zeit immer mehr einen schleppenden
Gang angenommen hatte, neu zu beleben und fortschritt-
lich auszugestalten. Und in der Tat war zunächst ein
Aufschwung des Instituts unter Exners Leitung nicht zu
verkennen.
Die im Jahre 1838 mit 11/2 Millionen Talern Stamm-
kapital errichtete Leipziger Bank, von 1839 bis Ende 1875
mit dem Rechte ausgestattet, Banknoten und Kassenscheine
auszugeben, war bereits im Jahre 1887 eine angesehene
und weit über Sachsens Grenzen bekannte und beliebte
Kreditbank. Durch Kapitalserhöhungen waren ihre Mittel
im Jahre 1855 auf 3 Millionen Taler, im Jahre 1873
aber sofort auf die doppelte Summe gebracht worden. Da
mit diesen bedeutenden Mitteln Jahrzehnte hindurch in vor-
sichtigster Weise nach durchaus soliden Grundsätzen ge-
wirtschaftet worden war, so verband sich mit dem Namen
der Leipziger Bank der Ruf eines Instituts, dem man das
vollste Vertrauen entgegenbringen konnte, und mit der in
engerer Geschäftsverbindung zu stehen allein schon genügte,
um eine Firma als hochstehend und sicher erscheinen zu
lassen. Unter Exners Leitung blieb zunächst der vortreff-
liche Ruf der Leipziger Bank intakt. Wer nicht gerade
an der Persönlichkeit Exners Anstoß nahm, mußte denn
auch zugeben, daß das Unternehmen gedieh. Augenschein-
lich trug die Leipziger Bank den gegen früher veränder-
ten Lebens- und Verkehrsverhältnissen volle Rechnung;
dem fortwährenden Wachstum der alten Meß- und Handels-
stadt Leipzig entsprechend, dehnte auch sie, eine bedeut-
same Stütze der Leipziger Kaufmannschaft, ihren Betrieb
aus und suchte mit den anderen Instituten ähnlicher Art
im beständigen Fortschreiten gleichen Schritt zu halten.
Das Kapital der Aktiengesellschaft wurde im Jahre 1890
T*
92 Dr. Weber.
noch um 6 Millionen Mark erhöht, 1896 bereits fand eine
weitere Vermehrung um 8 Millionen statt, der schon 2 Jahre
später eine nochmalige Erhöhung um volle 16 Millionen
folgte, so daß seit 1898 die Briefe der Leipziger Bank die
stolze Kopfnote tragen konnten, die von einem Aktienkapital
von 48 Millionen Mark sprach. Die weitere Errichtung
von Filialen, deren es bei Exners Eintritt zunächst nur eine
einzige in der Hauptstadt des Landes gab — ihr folgten seit
1896 eine solche in Chemnitz, seit 1898 weitere in Plauen,
Aue und Markneukirchen sowie eine Kommandite in Pöß-
neck — half den Kundenkreis der Bank vergrößern. Daß
die Gesellschaft gute Geschäfte machen mußte, konnte man
aus den Dividenden entnehmen, die zur Verteilung gelang-
ten. Zwar wurde der höchste Prozentsatz von 126/11 Proz.,
der im Jahre 1856 ausgeschüttet worden war, nicht wie-
der erreicht; immerhin hielt sich die Dividende auf an-
gesehener Höhe. Im Jahre 1887 waren es 5 Proz. ge-
wesen, die verteilt wurden; seitdem hob sich der Satz
allmählich auf 9 Proz., um vom Jahre 1896 an stetig mit
10 Proz. abzuwechseln. Diesen Gewinnen entsprach der Kurs
der Leipziger Bank-Aktien: im Jahre 1887 stand er auf
1291/2, Anfang 1890 war er bereits auf 1471 gestiegen,
Ende 1897 notierte die Börse 1931/4; in der Zukunft wich
der Stand: Mitte 1898 auf 187, ein Jahr später auf 181,
Ende 1899 auf 175, Mitte 1900 auf 166. Anfang 1901
war der Kurs immer noch 1581/44, am 22. Juni 1901 end-
lich als letzte Notierung 141 Proz.
In ihrer letzten per 31. Dezember 1900 gültigen Bilanz
wies die Leipziger Bank einen Reservefonds auf, der etwa
tj des gesamten Aktienkapitals ausmachte, nämlich per
Reserve-Fonds-Konto: 14073200 Mk., per Spezial-Reserve-
Fonds-Konto: 1000000 Mk., per Bau-Reserve-Fonds-Konto:
1200000 Mk., wozu noch zwei andere Konten mit etwa
-1000000 Mk. Reserve hinzukamen. Das Bar-Depositen-
und Scheckkonto betrug 24456308 Mk., die offenen De-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 93
pots beliefen sich auf rund 270 000000 Mk., die Zahl der
Gläubiger der Bank schwankte zwischen 7000 und 8000.
Als Gewinnüberschuß bezeichnete das letzte Gewinn- und
Verlustkonto den Betrag von 5623502 Mk., der in der
Hauptsache als Dividende zu 9 Proz. an die Aktionäre ver-
teilt wurde.
Daß bei solchen Zahlen die Bestürzung ungeheuer war,
als die Katastrophe plötzlich sich am Vormittag des 25. Juni
1901 durch das Communiqué der Leipziger Bank-Organe
ankündigte, liegt auf der Hand. Der Wortlaut des. Com-
muniqués ließ wenig Hoffnung bestehen: „Nachdem durch
den jüngst erfolgten Zusammenbruch der ‚Kreditanstalt für
Industrie und Handel‘ in Dresden sich die Verhältnisse
des Diskontmarktes schwierig gestaltet und die Großdiskon-
teure die Hereinnahme unserer Wechsel in seitherigem Um-
fange verweigert haben, .. so sehen wir uns zu unserem
größten Leidwesen in die Notwendigkeit versetzt, im Inter-
esse unserer Gläubiger zeitweilig unsere Zahlungen
einzustellen. .... Wir geben die Erklärung, daß wir bei
sachgemäßer Abwicklung unserer Geschäfte nicht nur jeden
Verlust für unsere Gläubiger als ausgeschlossen ansehen,
sondern auch ein günstiges Ergebnis für unsere Aktionäre
glauben erwarten zu dürfen. ...“ Der Optimismus, der
aus diesen Worten sprach, fand wenig Anklang. Nach-
dem wie ein Blitz aus heiterem Himmel jene Schreckens-
kunde die Stadt durchlaufen hatte, sammelten sich gar bald
an dem Tore des Bankgebäudes Gruppen leidenschaftlich
erregter Menschen, die wußten, daß ihre Existenz abhing
von dem Schicksal, das ihre der Bank anvertrauten Spar-
gelder gefunden hatten. Es war die Verzweiflung Ertrin-
kender, die nach dem Strohhalm greifen, die sich in ihren
Mienen, in ihrem Auftreten offenbarte. Rettung war aus-
geschlossen. Bereits am nächsten Tage wurde das Konkurs-
verfahren über die Leipziger Bank vom Gericht eröffnet
und bald darauf in dem Konkursverfahren eine Feststellung
94 Dr. Weber.
getroffen, die alle Hoffnungen zertrümmern mußte, die etwa
noch auf einen Fortbestand der Bank gerichtet gewesen
waren in der Annahme, daß doch vielleicht nur ein zu-
fälliges Zusammentreffen ungünstiger Momente eine vor-
übergehende Stockung herbeigeführt hätte. Es wurde be-
kannt, daß der stolze Bau der Leipziger Bank schon längst
innerlich bis auf die Grundfesten morsch geworden, und
daß der Zusammenbruch der Dresdner „Kreditanstalt für
Industrie und Handel“ lediglich die äußere Veranlassung
war für den Fall der Leipziger Bank. Die geringste Er-
schütterung auf dem Diskontmarkt mußte sich fortpflanzen
auf den Boden, der die Leipziger Bank trug. Nimmer-
mehr hätte sie den fest gegründeten Bau ın Trümmer legen
können, wenn nicht schon Jahr und Tag zuvor der Grund
für den Ruin gelegt worden wäre. Und dieser Grund lag
in der Verbindung der Leipziger Bank mit der Aktien-
gesellschaft für Trebertrocknung zu Cassel. Die unge-
heure Summe von 90 Millionen Mark stellte sich als der
Betrag heraus, den die Leipziger Bank aufgewendet hatte,
um die Illusionen jenes Treber-Schmidt durchzuführen, der
sich später als geriebenes Verbrechergenie offenbarte und in
der Geschichte kapitalistischer Wirtschaft wohl wenige
seinesgleichen finden wird, die es so meisterhaft wie er ver-
standen haben, ein bankerottes Unternehmen so lange über
Wasser zu halten und dabei auch noch so viele zu enga-
gieren, die ihm bei diesem heiklen Unterfangen hilfreiche
Hand boten. Der dem Falle der Leipziger Bank schnell
nachfolgende Konkurs der Trebergesellschaft zeitigte auch
gegen die Casseler Verwaltungsorgane ein Strafverfahren.
Darın wurde festgestellt, daß die Trebergesellschaft min-
destens seit dem Jahre 1896 bereits pleite gewesen war.
Von demselben Jahre datierte die Verbindung der Leipziger
Bank mit der Casseler Gesellschaft, deren Gründung zum
Zweckeder vollständigen Ausnutzung von Bier-und Brennerei-
trebern im Jahre 1889 mit einem Stammkapital von nur
Der Leipziger Bank-Prozeß. 95
350000 Mk. erfolgt war. Anfangs zwar blieb diese Ver-
bindung in bescheidenen Grenzen. Der Casseler Gesell-
schaft wurde ein Blankokredit von 200 000 Mk. eingeräumt,
der dann auf 500000 Mk. erhöht wurde. Auch diese
Summe konnte nicht als hoch bezeichnet werden, denn die
Trebergesellschaft hatte bis Anfang des Jahres 1896 ihr
Aktienkapital durch mehrfache Erhöhungen bereits auf
3000000 Mk. gebracht. Ihren ursprünglichen Geschäfts-
zweig, Herstellung von getrockneten Trebern und Vertrieb
derselben als Futtermittel, hatte der rührige Direktor der
Trebergesellschaft längst erweitert. Die Trockenapparate,
die zu dem Betriebe benötigt wurden, baute man in Cassel
selbst; bald bildeten sie einen selbständigen Teil des von
Schmidt betriebenen Handels. Vor allem aber war es der
im Jahre 1895 bewirkte Ankauf der später so viel um-
strittenen Bergmannpatente, auf den sich die Zukunfts-
hoffnungen Schmidts stützten. Sie zielten auf eine Ver-
wertung von Holzabfällen auf dem Wege der trockenen
Destillation hin. Das Bergmannsche Patent sollte gegen-
über dem alten Holzverkohlungsverfahren, das die besten
Substanzen in dem Rauche des dampfenden Meilers davon-
ziehen ließ, eine rationellere Ausnutzung ermöglichen und
vor allem den Vorteil bieten, daß man nicht nur das teure
Scheitholz zu Holzkohle und ihren Nebenprodukten ver-
arbeiten konnte, sondern daß Abfälle aller Art, ja selbst
Sägespäne noch auszunutzen waren. Auf Grund der in den
Laboratorien angestellten Versuche war man in Cassel von
der Rentabilität des neuen Verfahrens so überzeugt, daß man
eiligst. daranging, eine ganze Legion pomphafter Fabriken
in Deutschland nicht nur, sondern auch in den verschie-
densten Orten des Auslandes zu errichten. Die kühnen
Pläne des Casseler Direktors zielten auf nichts Geringeres
hin als auf eine Monopolisierung des Marktes auf dem
Gebiete der Holzdestillation; zunächst sollte eine solche für
den Kontinent herbeigeführt werden, ein Welttrust für die
96 Dr. Weber.
Destillationsprodukte sollte die weitere Folge bilden. Außer-
ordentlich interessant war die in dem Casseler und dem
Leipziger Strafverfahren aufgedeckte Regiekunst Schmidts.
Nicht nur, daß er es meisterhaft verstand, seine Riesen-
'pläne stets als durchführbar hinzustellen, die Schwächen,
die dem Bergmannschen Verfahren anhafteten, zu verleug-
nen und die ungeheuren Summen, die die fortgesetzten
Versuche und die sich einander überstürzenden Neuerun-
gen verschlangen, immer und immer wieder aufzubringen,
auch die Art, wie er ın der finanziellen Verwaltung der
einzelnen Betriebe stets die Zentrale auf das geschickteste
gegen die zahlreichen Tochtergesellschaften auszuspielen
und den Treberkonzern insgesamt wieder als festes Gefüge,
das durch seine wuchtige Einheit imponieren konnte, hin-
zustellen verstand, war erstaunlich. Die Darlegung aller
jener Kniffe und Schliche, die hierbei zur Anwendung
kamen, würde ein Buch für sich füllen. Uns kann bier
nur die Frage interessieren, wie es möglich war, daß die
Organe der Leipziger Bank so ungeheuere Summen auf
eine Karte setzten, und wie die verhängnisvolle Höhe des
Obligos mit Cassel der Allgemeinheit so lange unbekannt
bleiben konnte; denn volle Klarheit über die Art und den
Umfang der Engagements mit der Trebergesellschaft wurde
erst durch die strafrechtliche Untersuchung geschaffen.
Freilich wer da glaubt, daß die Bilanzen der Leipziger
Bank, die ja in erster Linie dazu bestimmt waren, den
Aktionären die Lage der Gesellschaft zu enthüllen, in dem
Leipziger Bank-Prozeß die Hauptrolle gespielt hätten, be-
findet sich im Irrtum. Gewiß gehörten auch sie zum
Anklagestoff, allein den Hauptteil bildeten sie keineswegs.
Der Leipziger Bank-Prozeß mußte denen, die aus ihm etwa
lernen wollten, wie sie bei genauem Lesen einer Bilanz
die Schwächen und Gefahren eines geschäftlichen Unter-
nehmens erkennen könnten, beweisen, daß das aufmerk-
samste und sorgfältigste Studium eines Geschäftsberichts
Der Leipziger Bank-Prozeß. 97
und einer Bilanz nicht vermag das aufzudecken, was ge-
wandte und erfahrene Bilanzkünstler mit Hilfe der Worte
und Zahlen zu verbergen verstanden. Bei der Leipziger
Bank blieben zwar für den Strafrichter noch einige Ansatz-
punkte, denn hier hatte die arge Not und Drangsal der
Verhältnisse zu einer Bilanzgestaltung geführt, die die
Grenze des Erlaubten so überschritt, daß an dem strafbaren
Charakter der angewendeten Bilanzierungsart kein Zweifel
mehr bestehen konnte. Oft aber liegen die Dinge anders,
und bei allem Unbehagen, das eine nichtssagende Bilanz
erwecken muß, vermag doch häufig genug der Staatsan-
walt die Vorwürfe nicht strafrechtlich zur Geltung zu brin-
gen, die von Seite der durch die Bilanz Getäuschten er-
hoben werden. Das liegt durchaus nicht immer an dem
Mangel gesetzlicher Vorschriften über diesen oder jenen
Punkt — im übrigen wäre auch, so sonderbar es den Laien
berühren mag, ein Gesetz, das für jeden möglichen Fall
Vorschriften enthielte, das schlimmste Werkzeug für die
Arbeit der Juristen, das sich denken ließe —, auch nicht
an dem Widerstreit der Sachverständigen, durch den oft
genug bei der großen Fülle von Kontroversen Rechtsfragen
in einer dem Schuldigen günstigen Weise zum Austrag
gelangen. Der Kenner weiß, daß eine Bilanz so inhaltlos,
so zweideutig, so phrasenhaft, so wenig die tatsächlichen
Verhältnisse widerspiegelnd sein und dennoch vor dem
Strafrichter bestehen kann, denn nicht alles Verschweigen,
nicht jedes Beschönigen, nicht jeder Putz, in den der Be-
richt und die Bilanz gekleidet wird, vermag den Tatbestand
des Paragraphen zu erfüllen, der bestimmt ist, die Versäu-
mung oder Entstellung der Bilanzwahrheit unter Strafe zu
stellen. Darum wird der vorsichtige Bilanzleser davon ab-
sehen, auf die Bilanz entscheidendes Gewicht zu legen und
sich stets gegenwärtig halten, daß das, was die Bilanz nicht
verrät, wichtigerund bedeutsamersein kann, als das, was ihre
dürren Worte und die trockenen Zahlen in der Tat verkünden.
98 Dr. Weber.
Mehr als an die Bilanzen, die doch auch nur jährlich
einmal veröffentlicbt wurden, war an die Geschäftsbücher
selbst zu denken, die in bestimmter Weise abgefaßt sein
mußten, wenn in ihnen das gefährlich hohe Risiko, das
die Leipziger Bank durch die Treberverbindung auf sich
senommen hatte, nicht zum Vorschein kam. Es war sehr
wohl begreiflich, daß das Publikum davon ausging, die
Handelsbücher der Bank müßten, wenn anders sie nicht
gefälscht waren, das hohe Treberobligo klar und deutlich
in Erscheinung treten lassen, und daß daher immer und
immer wieder die Frage erörtert wurde, wie es doch mög-
lich war, daß von dem hohen Casseler Schuldkonto nichts
in die Öffentlichkeit hindurchsickerte von den Beamten,
die die Bücher darüber zu führen, die Korrespondenzen
mit Cassel zu besorgen, die Bücherauszüge anzufertigen
und ähnliche Geschäfte zu verrichten hatten, bei denen die
Höhe der Forderungen an die Trebergesellschaft offenbar
werden mußte. Indessen von den Beamten der Leipziger
Bank konnte schon deshalb keine Kunde von der pre-
kären Lage derselben nach außen gelangen, weil sie selbst
keine Ahnung von den Riesensummen hatten, die in dem
Treberunternehmen angelegt worden waren. Den besten
Beweis dafür bietet die Tatsache, daß von der über
100 Köpfe starken Beamtenschaft der Leipziger Zentrale
lediglich 4 Personen ihr Guthaben noch 2 Tage vor der
Katastrophe von der Bank abgehoben haben, weil sie aus
einer ihnen in letzter Stunde zufällig bekannt gewordenen
Reise der Verwaltungsorgane nach Cassel die richtigen
Schlüsse zogen; alle anderen Beamten gehörten zu den be-
dauernswerten Opfern des Leipziger Bank-Krachs. Kein
Wunder, daß unter solchen Verhältnissen das Erstaunen
des Personals über das über ihr Geschäft so plötzlich herein-
gebrochene Schicksal noch größer war als bei dem außen-
stehenden Publikum und den Gläubigern des Instituts. Es
mußte in der Tat von den Direktoren ein außerordentlich
Der Leipziger Bank-Prozetß. 99
raffıniertes System der Buchführung in Anwendung ge-
bracht worden sein, da doch, dessen war sich jeder bewußt,
von den Beamten die Grundsätze ordnungsmäßiger Buch-
führung allenthalben aufs peinlichste beobachtet worden
waren. In der unerschütterlich feststehenden Tatsache
einerseits, daß die Buchführung der Technik nach durch-
aus korrekt befunden wurde und demgemäß auch, von
geringen und unwesentlichen Kleinigkeiten abgesehen, im
Strafprozeß von den Sachverständigen als vortrefflich, fast
musterhaft anerkannt werden mußte, und in der Überein-
stimmung derselben Sachverständigen andererseits bei der
Verneinung der Frage, ob aus den Büchern der Bank eine
Übersicht über den wahren Vermögenszustand der Gesell-
schaft zu gewinnen sei, lag die Hauptschwierigkeit, die bei
Laien nicht nur, sondern auch bei Juristen oft ein richti-
ges Verständnis des Straffalles ausschloß.
In der Tat war es nicht allzuschwer festzustellen, daß
nur nach einer einzigen Seite der Weg zur Klärung ein-
geschlagen. werden konnte. Eine Verfälschung der Bücher
im gewöhnlichen Sinne des Wortes mußte selbstverständ-
lich von vornherein ausgeschlossen erscheinen. In einem
Bankinstitut von der Größe der Leipziger Bank hätten die
Bücher falsch geführt werden können nur mit Hilfe einer
groen Anzahl bestechlicher Beamter, die sich zu gleich
verwerflichem Handeln hätten bestimmen lassen müssen,
wie ihre Direktoren es sich zuschulden kommen ließen.
Bei der Leipziger Bank sind die Vorwürfe bei den Mit-
gliedern des Vorstandes sowie des Aufsichtsrats allein haften
geblieben, der Strafprozeß ließ keinen Schatten auf die zahl-
reichen Beamten der Bank fallen, diejenigen eingeschlossen,
die berufen gewesen waren, in dem mit Unrecht so viel
gescholtenen und verdächtigten Geheimsekretariat zu arbei-
ten. Hätten die Direktoren die Bücher unrichtig führen
lassen wollen, ohne sich wenigstens mit einigen der Be-
amten vorher ins Einvernehmen zu setzen, so würde doch
100 Dr. Weber.
binnen kurzer Zeit das Getriebe der Bank ins Stocken ge-
raten und das unredliche Treiben aufgedeckt worden sein.
Bei dem zartempfindlichen Mechanismus der doppelten
Buchführung ist ja eine Fälschung nur dann durchzuführen,
wenn sämtliche Buchungen, die sich an den falschen Posten
anschließen oder ihm entsprechen, mit der Fälschung in
Einklang gebracht werden.
Die Direktoren der Leipziger Bank waren viel zu sach-
kundig, als daß sie auch nur einen Versuch gemacht hätten,
mit dem plumpen Mittel einer unordentlichen Buchführung
die Handelsbücher der Bank unübersichtlich zu gestalten.
Der einzige Weg, der sich ihnen bot, um diesen Erfolg zu
erreichen, war der, daß sie von vornherein Fürsorge
trafen, nur Buchungen in die Bücher hineinzubringen, die
geeignet waren, eine Übersicht über die wahre Lage der
Bank auszuschließen. Selbstverständlich wurden diese
Buchungen an sich durchaus korrekt bewirkt. Das In-
korrekte, ja Strafbare lag außerhalb dieser Buchungen, es
ging dem Buchungsakt zeitlich voran. Selbst die Buchungs-
unterlagen als solche, an die man zunächst zu denken ge-
neigt ist, bildeten nicht den Gegenstand der Bemängelung.
Haben diese doch auch an sich keinen selbständigen Wert,
da sie ja lediglich den schriftlichen Ausdruck der ge-
troffenen Abmachungen darstellen. Diese Abmachungen in-
dessen, diese von der Leipziger Bank-Direktion zum Zwecke
der Verdunkelung der Vermögenslage abgeschlossenen Ge- -
schäfte sind es, an die sich der strafrechtliche Vorwurf des
betrüglichen Bankerutts knüpft, der den Hauptteil der gegen
die Direktoren erhobenen Anklage darstellte.
Will man die Transaktionen verstehen, die die Direk-
toren der Leipziger Bank auf die Anklagebank brachten,
so ist ein Rückblick auf die geschichtliche Entwicklung
der Treberverbindung unerläßlich. Wenn die Verwaltungs-
organe der Bank gar bald nach jener ersten losen Ver-
bindung, in die sie zu der Casseler Trebergesellschaft ge-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 101
treten waren, das Verhältnis enger gestalteten und ein flotteres
Tempo bei der Unterstützung dieser Kundin anschlugen,
so waren selbstverständlich hiermit irgendwelche Motive,
die zu beanstanden gewesen wären, nicht verbunden. In
Cassel setzte man auf das Bergmannsche Patent die größten
Erwartungen und hatte sich beeilt, den gehofften Gewinnen
entsprechend, den Betrieb so bedeutend wie möglich zu
erweitern und die Gesellschaft kapıtalkräftig binzustellen.
Noch im Jahre 1896 verdoppelte man sofort das Aktien-
kapital, um bereits nach zwei weiteren Jahren die nunmehr
auf 6 Millionen Mark angewachsene Summe durch Ausgabe
neuer Aktien wiederum auf das Doppelte zu bringen. Als
trotz diesem raschen Wachstum die Mittel immer noch nicht
genügend erschienen, um den Betrieb so einzurichten, daß
auch kein Teil der erträumten Schätze ungehoben bleiben
mußte, leistete die Leipziger Bank gerndurch reichliche Kredit-
sewährung dem Treberunternehmen Vorspann. Und es war
nicht nur die Hoffnung auf guten eigenen Verdienst hierbei
für sie maßgeblich, sondern Schmidt war weitherzig genug,
der Leipziger Bank für ihr durchaus nicht zaghaftes Ent-
gegenkommen durch Gewährung von Provisionen zudanken,
auf die allerdings Exner, die Seele der Treberengagements,
stolz sein konnte. So billigte beispielsweise Treber-Schmidt
der Leipziger Bank für Finanzierung der von ihm gegrün-
deten Bosnischen Tochtergesellschaft die gewiß nicht ge-
ringe Entschädigung von 175000 Gulden zu, obwohl die
Leipziger Bank ein nennenswertes Risiko bei diesem Ge-
schäft nicht auf sich zu nehmen hatte. Bei einem von der
Trebertrocknung gemeinsam mit der Leipziger Bank ge-
planten Geschäfte, bei dem es galt, Rußland, Italien und
Frankreich in den Kreis der geschäftlichen Unternehmungen
einzubeziehen, betrug gar die für die Bank normierte Pro-
vision rund 1 Million Mark. Andere Banken wären vielleicht
bei solcher ungewohnten Freigebigkeit stutzig geworden,
ebenso wie dem kühlen und unbefangenen Beurteiler die
102 Dr. Weber.
ungeheuren Dividenden der Casseler Gesellschaft, 40 und
sogar 50 Proz., Mißtrauen einflößen und der Ende 1896 auf
895 Proz. gestiegene Kurs der Treberaktien als „schwin-
delnd hoch“ erscheinen mußte. Auch Exner mochte wohl
mit solchen Gefühlen rechnen, denn er sah sich veranlaßt,
seinem Aufsichtsrate eine ausdrückliche Erklärung für die
ungewöhnlich hohe Vergütung zu geben, die die Treber-
gesellschaft der Leipziger Bank für mehrere in der Auf-
sichtsratssitzung vom 31. März 1898 besprochene Trans-
aktionen zugesichert hatte. Es heißt in jenem Aufsichts-
ratsprotokolle: „Die hohen Provisionen, ‘welche der Leip-
ziger Bank seitens der Trebergesellschaft bei diesen und
den nachstehenden Geschäften zugestanden worden sind,
bilden nach ausdrücklicher Erklärung der gedachten Ge-
sellschaft nieht nur ein Entgelt für die große Mühewaltung
bei Abwicklung und Durchführung dieser verwickelten
Transaktion, sondern auch einen Gegenwert für die seit
langer Zeit der Gesellschaft in hervorragender Weise ge-
währte moralische Unterstützung.“
Der Aufsichtsrat billigte die neuen Geschäfte und teilte
die Bedenken über die enorme Höhe der Provisionen nicht,
die Exners Genosse im Direktorium, Dr. Gentzsch, äußerte,
dem, wie er später gestand, schon damals „alles so un-
heimlich erschien, daß er am liebsten Kehrt gemacht hätte“.
Er hatte in der Tat Grund zu bangen Gefühlen; denn eines
machte sich schon damals geltend, was die Freude an den
reichlichen Gewinnen doch beirächlich trüben mußte. Das
war die Tatsache, daß die Gewinne, so stolz sie sich auf
dem Papiere ausnahmen, so unerwünscht doch auf dem
Papiere stehen blieben. Anstatt daß die Trebergesellschaft
zur, wenn auch nur teilweisen, Abdeckung des bei der
Leipziger Bank in Anspruch genommenen Kredits Bar-
anschaffungen gemacht hätte, machten sich bei ihr immer
und immer wieder Geldbedürfnisse geltend, zu deren Be-
friedigung die Bank stetig neue Barmittel nach Cassel senden
Der Leipziger Bank-Prozeß. 103
mußte. Es zeigte sich eben in Cassel, wie so oft bei neuen
Entdeckungen, daß der Versuch im kleinen ein endgültiges
Urteil über den Wert der Neuerung nicht zuließ. Im Groß-
betriebe stellten sich Anlage und Verarbeitungskosten wesänt-
lich höher, als man erwartet hatte. Hinzu kam, daß erst
in der Praxis beim Großbetriebe eine überaus starke Ab-
nutzung der sehr teuren maschinellen Anlagen sich heraus-
stellte, so daß das Bergmann -Verfahren ungeachtet der
billigeren Rohmaterialien und der weit größeren Ausnutzung
der im Holz enthaltenen chemischen Substanzen doch dem
alten Holzverkohlungsverfahren mit Erfolg nicht Konkurrenz
machen konnte.
Ob man in Leipzig von dieser Sachlage unterrichtet
war, kann dahingestellt bleiben. Daß sich die Leipziger
Bank bei Bewilligung der von Cassel geforderten Kredite
nicht spröde zeigte, begründete zunächst sicher keinen Vor-
wurf. Man glaubte hier im Anfang gewiß ebenso fest
daran, daß Berge Goldes mit dem Bergmannschen Verfahren
zu gewinnen seien, wie Treber-Schmidt selbst hiervon in
der ersten Zeit überzeugt sein mochte. Zu beanstanden
war indessen das unbegrenzte Vertrauen, das die Bank
dem Casseler Direktor entgegenbrachte, und die ungenügende
Kontrolle, die man der Trebergesellschaft gegenüber übte.
Während der dem Casseler Direktor und den Aufsichtsrats-
mitgliedern bewilligte Kredit Ende des: Jahres 1896 ins-
gesamt noch nicht 21/2 Millionen Mark betrug, war das
Casseler Obligo bei der Leipziger Bank bereits im November
1897 auf 8—9 Millionen angeschwollen. Die Leipziger
Verwaltungsorgane hatten tatsächlich zu diesem Zeitpunkte
das Gefühl, daß sie in der Förderung der Treberinteressen
reichlich weit gegangen seien. Das äußerte sich in einem
Aufsichtsratbeschluß, in dem das Ergebnis einer von meh-
reren Aufsichtsratsmitgliedern unternommenen Erkundi-
gungsreise besprochen wurde. Man hatte in zwei von der
Trebergesellschaft auswärts errichteten Fabriken den Wert
104 Dr. Weber.
des vielgepriesenen Bergmann-Verfahrens durch eigene Prü-
fung feststellen wollen, indessen einen Beweis für die be-
hauptete Rentabilität noch nicht finden können. Es wurde
nun der Beschluß gefaßt, „weitere Neuunternehmungen
nicht einzugehen“.
Das war gewiß das richtigste, was die Leipziger Bank
beschließen konnte. Freilich wäre es geboten gewesen, eine
solche Entscheidung schon zu früherer Zeit zu treffen.
Denn mochte es zunächst am Platze gewesen sein, dem
neuen Kunden mit Vertrauen zu begegnen, so hätte später
die bloße Tatsache genügen müssen, eine Anderung hierin
herbeizuführen, daß nicht eine einzige der pomphaften Ver-
sprechungen Schmidts in Erfüllung ging, und anstatt eines
Rückflusses der in Cassel angelegten Kapitalien von dort
aus immer wieder neue Geldsendungen gefordert wurden.
Immerhin wäre den Leipziger Verwaltungsmitgliedern, wenn
nicht der Vorwurf unvorsichtigen Handelns, so doch eine
strafrechtliche Anklage erspart geblieben, wenn jener weise
Beschluß auf Einschränkung der Treberengagements auch
praktisch ausgeführt worden wäre. Was bis dahin in.
Cassel investiert worden war, wäre zwar zum Verluste für
die Bank geworden. Indessen von solcher Einbuße hätte
sie sich erholen können, und die Folgen des begangenen
Fehlers wären mit der Zeit überwunden worden. Indessen
bereits einige Monate nach jenem denkwürdigen Beschlusse
stürzte man sich frisch und froh wieder in das alte Fahr-
wasser hinein. Zwar wurde nur beschlossen, in vor-
sichtiger Weise mit Cassel weiterzuarbeiten; aber daß
auch dieser löbliche Vorsatz lediglich auf dem Papier
prangte, beweist das ungeheuer rasche Anwachsen des
Treberobligos, das sich in runden Summen am Ende der
einzelnen gQuartale 1898 auf 10, 20, 27 und 28 Millionen
Mark stellte. Und die Ursache dieser neuen, so auffälligen
Begünstigung der Trebersache lag nicht etwa darin, daß
sich die Leipziger Bank nun inzwischen von der Rentabilität
Der Leipziger Bank-Prozeß. 105
des Bergmannschen Verfahrens überzeugt gehabt hätte;
vielmehr hatte Schmidt den alten Plänen einen neuen zu-
gesellt, der nun als blendendes Lockbild dienen mußte.
Das war die Idee, aus Holzkohle ohne Anwendung von
Elektrizität Karbid herzustellen. Freilich zeigten sich auch
hier gar bald die stolzen Hoffnungen als trügerisch; aber
weder bei dieser noch bei den anderen Unternehmungen
war man ın Cassel oder in Leipzig offen genug, das Fehl-
schlagen der Unternehmung einzugestehen. Die Blamage
wäre ja nicht gering gewesen, nachdem man vorher die
Vortrefflichkeit der neuen Methoden und die Musterhaftig-
keit der von der Trebergesellschaft errichteten Anlagen so
laut in alle Welt hinausposaunt und die Reklametrommel
für die Trebererzeugnisse so wacker zu schlagen verstanden
hatte. Und Tadel mußte sich an jeden Mißerfolg schon
deshalb knüpfen, weil man in Cassel jeden im Laboratorium
gelungenen Versuch bereits für einen vollgültigen Beweis
der Brauchbarkeit und der Rentabilität eines neuen Ver-
fahrens ansah und nun nicht zögerte, sofort den Großbetrieb
für den betreffenden Geschäftszweig einzurichten; vielleicht,
um kurz darauf auf neue Erfahrungen hin die eben erst
errichtete Anlage wieder von Grund aus umzugestalten.
Selbstverständlich hätte es der Leipziger Bank wenig Mühe
gekostet, das verhängnisvolle System, nach dem der Treber-
direktor zu arbeiten pflegte, aufzudecken. Die Scheu, dabei
einen trostloseren Einblick zu erhalten, als ihr lieb sein
konnte, mochte sie abhalten, dies zu tun. Man war ja
doch nicht geneigt, die Konsequenzen daraus zu ziehen,
daß man nicht beizeiten an eine Beschränkung der Treber-
engagements gedacht hatte. Das einzige, zu dem man sich
aufraffte, war, daß die Leipziger Direktion in ihren immer
häufiger nach Cassel gerichteten Klagebriefen über die
fortwährenden neuen Dispositionen dem Casseler Direktor
zu Gemüte führte, daß die Leipziger Bank doch nun schon
so weit gegangen sei, wie sich kaum wohl ein anderes
Der Pitaval der Gegenwart. II. 8
106 Dr. Weber.
Institut mit einem einzigen Unternehmen engagiert hätte,
daß die Leipziger Bank auch noch nie die Interessen eines
Kunden so sehr vertreten habe, wie sie der Trebertrocknung
gegenüber sich bereit gezeigt hätte. Und daran wird be-
. reits in einem Briefe vom Januar 1898 die Mahnung ge-
knüpft, daß auch die Leipziger Bank eine Grenze beachten
müsse, denn „es dürfe doch nicht die eigene Liquidität der
Bank gefährdet werden“. Der Treberdirektor war viel zu
schlau und rücksichtslos, als dab er solchen Vorhaltungen
ein williges Ohr geliehen hätte. Hatte er es ja doch ge-
rade darauf abgesehen gehabt, die so leicht zu ködernde
Bank durch Anspannung des ihm nach und nach immer
höher bewilligten Kredits derartig an sich zu fesseln, daß
sie nachgerade auf alle Forderungen eingehen mußte, die
er an sie zu stellen wagte. Und deshalb wurde seine
Sprache in demselben Maße kühner und schroffer, je mehr
er hätte eingedenk der drückenden Millionenlast, die er auf
sich gehäuft, als bescheidener Schuldner den Wünschen der
Leipziger Bank, fast seiner einzigen Gläubigerin, sich gefügig
zeigen sollen. Schmidt wußte sehr wohl, daß die Leipziger
Bank mit dem Wachsen ihrer Forderungen in immer größere
Abhängigkeit von ihm geraten war. Die Bank hatte keine
andere Wahl, als die Trebergesellschaft weiter zu unter-
stützen oder aber alle Kapitalien, die sie ihr bisher nach
Cassel geschickt hatte, als verloren zu betrachten. Sobald
sie sich einmal den Wünschen Schmidts nicht gefügig
zeigte oder gar, was sie hin und wieder tat, die Hono-
rierung der von der Trebertrocknung ausgeschriebenen
Tratten schlankweg verweigerte, wies Schmidt darauf hin,
daß gerade jetzt der Ausbau seiner Fabriken, die Verwirk-
lichung seiner Pläne, der Beginn einer dauernden Renta-
bilität der geschaffenen Einrichtungen bevorstehe und es
nur noch einer kurzen Arbeit und einer Aufwendung ge-
ringfügiger Mittel bedürfe, um das Riesenwerk zu vollenden
und den Rückfluß der investierten Kapitalien zu sichern
Der Leipziger Bank-Prozeß. 107
Es lag für die Organe der Leipziger Bank nahe, sich
solchen Mahnungen nicht zu verschließen, da so viel gewiß
war, daß die Casseler Einrichtungen, blieben sie unvoll-
endet, nie würden Gewinn bringen können, und daß anderer-
seits die Trebergesellschaft für die benötigten Gelder an
keiner anderen Stelle würde Kredit eingeräumt erhalten.
Und doch rechtfertigt das Verhalten der Bank schwere Vor-
würfe. Denn sie wußte, daß die Versprechungen Schmidts,
mochten sie lauten, .wie sie wollten, noch stets unerfüllt
geblieben waren, und sie hätte zu der Einsicht kommen
müssen, daß die allerorten errichteten Tochtergesellschaften
der Trebertrocknung, die fast ausnahmslos zu Erträgnissen
überhaupt nie gelangt sind, Summen beanspruchten, die
die Leipziger Bank zu gewähren völlig außerstande war. Vor
allem aber mußte die Leipziger Bank bei Unterstützung
der Trebergesellschaft darauf bedacht sein, die Grenze inne-
zuhalten, die durch die Rücksicht auf die eigene Liquidität
und Sicherheit der Bank gezogen war. Daß die Bank-
organe gegen diese Pflicht fehlten, war unverzeihlich, und
diese Pflichtversäumung brachte es mit sich, daß auch die
weiteren Maßnahmen, mochten sie an sich in den Verhält-
nissen begründet sein, in keiner Weise entschuldbar wurden.
Die Direktoren und der Aufsichtsrat der Bank hätten, nachdem
sie zur Überzeugung gelangt waren, mit den Treberengage-
ments die Bank in eine verfehlte Spekulation verwickelt
zu haben, unter allen Umständen den Mut zeigen müssen,
das Fiasko dieses Unternehmens zu bekennen. Einen An-
lauf dazu hat Exner genommen, als er im November 1898
nach einer Unterredung mit Schmidt den Gedanken aus-
sprach, ob man Cassel nicht den Kredit entziehen sollte.
Er war mißtrauisch gegen Schmidt geworden und dachte
schon damals daran — was im Jahre 1901 zur Wirklich-
keit wurde —, in Berlin eine Hilfsaktion zu versuchen und zur
Vermeidung eines Run auf die Kassen der Bank ein Com-
muniqu&e zu veröffentlichen. Der Aufsichtsrat der Leip-
8*+
108 Dr. Weber.
ziger Bank wollte indessen von diesem Plane nichts wissen ;
er schalt Exner nervös und schickte ihn zur Erholung auf
Urlaub. Und so blieb alles beim alten. Man begann sich
von neuem mit trügerischen Hoffnungen zu trösten und
spendete ferner mit süßsaurer Miene alle verfügbaren Mittel
zu dem weiteren Ausbau der umfangreichen Treberunter-
nehmungen. Draußen im Publikum gab es zwar genug,
die die Geschicke der Trebergeselischaft mit wachsendem
Interesse verfolgten. Es war kein Geheimnis mehr, daß
die Leipziger Bank der Bankier der Trebertrocknung war
und daß andere Institute sich mißtrauisch gegen Cassel ver-
hielten. Und es war nachgerade auch allgemein bekannt
geworden, daß die Trebergesellschaft von vielen Seiten aufs
schärfste angefeindet wurde. Der lebhafte Streit der alten
Holzverkohler, die energisch gegen die von Cassel aus-
gehende Lehre von dem allein seligmachenden neuen Ver-
fahren und gegen die von der Trebertroeknung getriebene
Preisschleuderei Front machten, ließ seine Wogen in die
breite Öffentlichkeit hineinschwellen. Die befremdliche Tat-
sache, daß die Berliner Börsen-Zulassungsstelle die jungen
Treberaktien unter Berufung auf die Undurchsichtigkeit der
Casseler Bilanzen zum Handel an der Börse nicht zuließ,
war nur dazu angetan, den Argwohn zu erhöhen. Freilich
fehlte es auch nicht an Beruhigungsmitteln, mit denen die
Zweifler ihre Bedenken zu beseitigen geneigt waren: War
das Bergmannsche Verfahren wirklich geeignet, die Industrie
der Holzverkohlung von Grund aus umzugestalten, und
war es vermöge seiner erhöhten Ergiebigkeit wirklich fähig,
der Konkurrenz die Spitze zu bieten, dann war es im
Grunde kein Wunder, daß sich der Kreis der in seinen
Lebensinteressen bedrohten alten Holzverkohler einmütig
erhob zur Abwehr der ihnen drohenden Gefahr. Daß die
Casseler Bilanzen nicht klar und durchsichtig waren, mochte
ein Gebot kaufmännischer Klugheit sein, die verhüten wollte
daß gewisse bedeutsame Ereignisse vorzeitig offenkundig
Der Leipziger Bank-Prozeß. | 109
würden. Und es war ja anzunehmen, daß die Leipziger
Bank, ehe sie die reichlichen Summen nach Cassel sandte,
sich genugsam von der Solidität der Trebersache überzeugt
haben würde. Wenn ja in dieser Beziehung Exner, der
kühn aufstrebende erste Direktor, nicht die nötige Vorsicht
üben würde, so hielt man doch den juristisch gebildeten
zweiten Direktor, Dr. Gentzsch, für ein genügendes Gegen-
gewicht, um allzu verwegener Unternehmungslust die Wage
zu halten. Denn Dr. Gentzsch war in Leipzig von seiner
früheren Anwaltstätigkeit aus als ruhig überlegender Kopf,
als ein vorsichtiger und gewissenhafter Anwalt fremder
Interessen bekannt, dem man volles Vertrauen entgegen-
bringen konnte, daß er auch fremdes Gut auf das zuver-
‚lässigste würde zu wahren und zu schätzen wissen. Die
ungezählten Kunden der Bank, die sich auf Grund solcher
Erwägungen entschlossen, die Verbindung mit der Leipziger
Bank aufrechtzuerhalten, ihre Ersparnisse dem Institute
zu belassen oder neue Gelder der Bank anzuvertrauen,
wußten nicht, daß derselbe Gentzsch, auf dessen bestim-
mendes Eingreifen bei Gefahr sie ihr Vertrauen setzten,
wie er sich später in der Untersuchung äußerte, „eigent-
lieh seit dem Sommer 1898 keine ruhige Minute mehr ge-
habt“, ohne daß er auch nur je den Versuch gemacht hätte,
gegen eine Erhöhung der Casseler Engagements die Ini-
tiative zu ergreifen.
In der Tat gestaltete sich die Lage der Leipziger Bank
seit dem Jahre 1898 immer trostloser. Die Rentabilität
der zahlreichen Tochtergesellschaften Cassels, die ununter-
brochen große Kapitalien verschlangen, war trotz aller Auf-
wendungen immer nur auf dem Papiere vorgerechnet, in-
dessen in Wirklichkeit nie erreicht worden. Die Treber-
gesellschaft blieb zwar dennoch bei ihrer Gewohnheit, ihren
Aktionären reichliche Gewinne zu spenden, allein die Leip-
ziger Bank mußte erfahren, daß auch diese lediglich durch
die Verrechnung schöner Zahlen auf dem Papiere erreicht
110 Dr. Weber.
worden waren. Nicht, daß Exner dies bei einem Studium
der Casseler Bücher oder einer eingehenden Prüfung der
Treberverhältnisse festgestellt hätte, denn durch solche
Neugier glaubte er seinen „lieben Freund“ in Cassel nicht
belästigen zu sollen. Vielmehr machte Schmidt selbst in
seinen Briefen daraus kein Hehl, was es mit den Casseler
Dividenden für eine Bewandtnis hatte. Wiederholt wird
darin betont, daß Cassel „buchmäßig“ in der Lage sei,
diesen oder jenen Prozentsatz zu verteilen; es wird daran
aber stets die Frage geknüpft, wie es möglich sein werde,
auch nur an die geringe Anzahl derer die Dividende aus-
zuzahlen, die als der Leipziger Bank und dem Treber-
konzern Fernstehende sich nicht mit buchmäßiger Ver-
rechnung begnügten, sondern das Geld selbst klingen hören
wollten.
Durch gütiges Entgegenkommen der Leipziger Bank-
Direktion kam denn auch die Trebergesellschaft Anfang
1899 noch einmal über die Schwierigkeiten hinweg. Freilich
kostete es nicht geringe Mühe, die Casseler Bilanz günstig
zu gestalten. Allein wozu war Exner ein vielgewandter
„Bilanzierungskünstler“, wenn er nicht hier von seiner
Fähigkeit Gebrauch machen wollte. War es doch fast das-
selbe, als ob die Leipziger Bank selbst ihre Bilanz auf-
stellte; denn war die Bilanz der Trebergesellschaft ungünstig,
so war dies gleichbedeutend mit einer Diskreditierung der
Leipziger Bank. Alle Welt hätte sofort, wenn in der Casseler
Bilanz hohe Kreditposten erschienen, die Augen nach Leipzig
gerichtet und die Leipziger Bank als die Gläubigerin be-
zeichnet, bei der die Trebertrocknung jene hohen Schulden
kontrahiert hätte. Da auf andere Weise die schwierige
Aufgabe kaum zu lösen war, reiste Exner zur genauen Ab-
sprache über die zu treffenden Maßnahmen nach Cassel,
Über die viertägige umfangreiche Arbeit schreibt er von
seinem Casseler Hotel aus einen nicht weniger als 34 Seiten
umfassenden Brief an seinen in Leipzig verbliebenen Mit-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 111
direktor, der mit den Worten beginnt: „Ich habe gestern
und heute mit Schmidt seine verschiedenen Ideen, die Bilanz
flüssig zu gestalten, durchgearbeitet und vorbehaltlich Ihres
Einverständnisses Absprachen getroffen, die es ihm denklich
ermöglichen, eine schöne Bilanz seiner Generalversammlung
vorzulegen.“ Daß auch durch die neuen Verabredungen
mit Schmidt für die Leipziger Bank keineswegs eine Besse-
rung ihrer Lage erzielt oder gar eine Lostrennung von der
verhängnisvollen Verbindung angebahnt war, beweist fol-
gende Briefstelle: „Allerdings werden unsere En-
gagements nicht geringer, sie nehmen nur eine
andere Form an, führen uns neue Provisionen und Zins-
gewinne zu, ketten die Trebergesellschaft für längere Jahre
weiter fest an uns und ermöglichen uns wahrscheinlich,
die Trassierungen der Casseler Gesellschaft auf uns zu ver-
meiden oder zu verringern, was in unserem eigensten Inter-
esse liegt im Hinblick auf die feindlichen Berliner Kritiken
über diese Ziehungen.“
Bemerkenswert ist, wie Exner, um den mit Schmidt
getroffenen Vereinbarungen eine schöne Seite auch für die
Leipziger Bank abzugewinnen, die Dinge einfach auf den
‚Kopf stellt, indem er sich brüstet, die Trebergesellschaft
fester an die Bank gefesselt zu haben. In Wahrheit war
es natürlich umgekehrt: Schmidt hatte nach und nach die
Leipziger Bank derartig an seine Unternehmungen zu fesseln
gewußt, daß sie nachgerade vollständig ins Schlepptau der
Trebertroeknung gekommen und sich nun von ihr wohl
oder übel weiter hineinschleppen lassen mußte, bis der
Strudel kam, der beide zugleich verschlang. Daß eine
andere Bank der Trebergesellschaft ihre Hilfe zuwandte,
war von Leipzig aus nicht befürchtet, sondern es wäre mit
aufrichtigster Freude begrüßt worden, wenn sich jemand
gefunden hätte, der der Trebertrocknung einen größeren
Kredit eingeräumt und es so der Leipziger Bank ermöglicht
hätte, wenn auch nicht sich ganz von Cassel zurückzuziehen,
112 Dr. Weber.
so doch die Engagements mit Schmidt nicht noch weiter
zu erhöhen. Aber der Argwohn gegenüber Cassel wurde
immer größer, und der Gedanke griff im großen Publikum
immer mehr Platz, daß es mit den so ungeheuer großen
Gewinnen, die die Casseler Bilanzen vorrechneten, eine
eigene Sache sein müßte. Vor allem stieß man sich daran,
daß die Berliner Zulassungsstelle von ihrem Mißtrauen
gegen die Trebertrocknung nicht lassen wollte. Und schon
die fortwährende Hinauszögerung der Zulassung der jungen
Treberaktien war für Cassel und Leipzig peinlich genug.
Man hätte so gern die Welt mit diesen Papieren beglückt,
denn die Leipziger Bank hatte bereits so viel Aktien von
der Trebertroeknung und ihren verschiedenen Tochter-
gesellschaften in ihren Depots, daß sie mit diesen „Werten“
bequem hätte ihre Geschäftsräume austapezieren können.
Allein diese Überflutung der Bank mit Treberpapieren war
nicht der einzige Grund des Ärgernisses. Wesentlicher war
zunächst, daß man sich stark in der freien Bewegung durch
jenes Mißtrauen behindert fühlte, mit dem alles, was aus
Cassel oder Leipzig an die Öffentlichkeit drang, kritisiert
wurde. Selbst die Leipziger Bank hatte bei Aufstellung
ihrer Bilanz auf Berlin Rücksicht nehmen müssen, wie in
einem Brief Exners an Schmidt vom 12. Januar 1899 zum
Ausdruck kommt: „Gleich Ihnen habe auch ich gewaltig
schaffen müssen, und es wird Sie gewiß freuen, daß
meine Bank einen sehr schönen Abschluß wird ver-
öffentlichen können. So flüssig hat noch keine Bilanz
von uns ausgeschaut.... Berlin wird beim besten
Willen nicht behaupten können, wir hätten uns
durch die Trebergesellschaft festgefahren*“
Unangenehmer noch aber wurde die Lage, als die Zu-
lassungsstelle gar einen Beauftragten nach Cassel ent-
sandte, um die Bücher der Trebertrocknung selbst einzu-
sehen. Die Kunde hiervon drang im Herbst 1899 nach
Leipzig, während sich Exner gerade auf Urlaub befand.
Der Leipziger Bank-Prozeß. 113
Besorgt, daß dieser Besuch für die Bank von Nachteil ge-
wesen sein möchte, fragt Gentzsch alsbald bei Schmidt
an: „Ich darf wohl annehmen, daß Sie sowohl bei dieser
Gelegenheit, wie auch sonst, die Konten der Leipziger
Bank als geheim behandelt, d. h. dieselben nicht mit zur
Vorlegung gebracht haben, da es, wie Sie gewiß auch
werden ermessen können, der Leipziger Bank nicht
erwünscht sein kann, Dritten Einblick in die
ziffernmäßigen Engagements der Leipziger Bank
Ihrer Gesellschaft gegenüber zu gewähren.“ Die
Sorge Gentzschs war indessen völlig ungerechtfertigt, denn
bereits am nächsten Tage antwortet Schmidt, daß er die
Vorsicht gebraucht habe, ein Geheimbuch anzulegen,
in dem ein größerer Teil des Guthabens der Leipziger
Bank gebucht worden sei, so daß in dem offiziellen
laufenden Konto der Bank nicht der tatsächliche Saldo
erscheine. Es ist selbstverständlich, daß die Teilung des
Leipziger Kreditpostens bei der Trebergesellschaft auch in
Leipzig eine Spaltung des Treberschuldkontos nötig machte,
damit die beiderseitigen Bücher konform blieben. Das
Konto ordinario der Trebergesellschaft bei der Leipziger
Bank, das am 30. Juni 1899 sich auf mehr als 101%
Millionen Mark beziffert hatte, wurde im September 1899
für rund 8 Millionen erkannt, und dieser Betrag wurde
auf einem neuen Konto mit dem nichtssagenden Namen
„Vorschußkonto“ der Trebergesellschaft wieder belastet.
Auch dies wieder eine rein buchmäßige Operation, die
ohne jeden wirtschaftlichen Effekt war. Ihr einziger Wert
bestand darın, daß nunmehr neugierigen Fragern mit
Leichtigkeit Sand in die Augen gestreut werden konnte.
Wer sich etwa in Cassel das Konto der Leipziger Bank
zeigen ließ, wußte nicht, daß ein Teil der Bankforderungen
auf einem Separatkonto gebucht stand, und wer die Leip-
ziger Bankdirektion nach der Schuld der Trebergesellschaft
fragte, hatte keine Ahnung davon, daß ihm nur das auf
114 | Dr. Weber.
Konto ordinario stehende Guthaben der Bank genannt, der
gewichtige Umstand aber verschwiegen wurde, daß das
offizielle Schuldkonto der Trebertrocknung geteilt und
ein zweites Konto eingerichtet worden war, das einen
weiteren Teil des regulären Treberobligos enthielt. Der
eine Betrugsfall, der Exnern mit zur Last gelegt wurde
und ihm denn auch eine Verurteilung wegen versuchten
Betrugs zuzog, lief darauf hinaus, daß Exner die Frage
nach der Höhe der Treberschuld unter Berücksichtigung
nur des einen Kontos beantwortet, demgemäß sich einer
groben Täuschung des Fragestellers schuldig gemacht
hatte.
Wie wertvoll übrigens die Einrichtung des Vorschuß-
kontos der Trebergesellschaft für die Leipziger Bank war,
geht daraus hervor, daß trotz der Abbuchung der 8 Milli-
onen von dem Konto ordinario der Trebertrocknung am
30. September 1899 doch schon wieder der Stand dieses
Kontos fast 9 Millionen Mark wies. Wäre die Abtrennung
des Vorschußkontos nicht erfolgt, so wären 17 Millionen
Treberschuld sofort ersichtlich gewesen. Daß die Leip-
ziger Bank mit solch unschönem Bild nie jemand schrecken
wollte, bewies sie dadurch, daß sie den Stand, den das
Konto am 31. Dezember desselben Jahres erreichte, rund
11 '/ Millionen Mark, nicht überschreiten ließ, im Gegen-
teil schleunig daranging, das schon so beträchtlich. ange-
schwollene Konto wieder auf weniger schreckhafte Höhe
herunterzudrücken.
Wer freilich annehmen wollte, daß die Trebergesell-
schaft im ersten Quartal des Jahres 1900 ıhre Schuld auf
4 Millionen abgedeckt hätte, und daß deshalb das Konto
bis auf diesen Betrag sich hatte herabsetzen lassen, der wäre
in einem großen Irrtum. Daß Schmidt sich keineswegs
aus seiner Not hatte herausarbeiten können, beweist sein
Brief an die Bank vom 28. Dezember 1899, in dem er
klagt: „Unser Kredit ist nun aber derartig erschüt-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 115
tert worden, daß wir gar nicht riskieren dürfen,
längere Kredite in Anspruch zu nehmen, ohne
uns und damit auch Ihre Bank ungeheuer zu
schädigen. ... Wir haben uns festgefahren, und
wir müssen uns wieder locker machen. Dies bringen wir
aber nicht fertig, wenn wir eine engherzige Politik be-
treiben. . .“
Daß die Leipziger Bank, nachdem sie einmal sich auf
Leben und Sterben mit der Trebergesellschaft verbunden
hatte, in der Tat davon Abstand nahm, „engherzige Poli-
tik“ zu treiben, beweist die Folgezeit. Freilich mußte da-
bei schon besonders Rücksicht darauf genommen werden,
daß man mit dem Strafgesetz nicht in Konflikt kam.
Schmidt berührt diesen Punkt in dem Briefe vom 15. Januar
1900, in dem es heißt: „Unter gar keinen Umständen darf
: ich in meiner Bilanz die hohe Bankschuld, die wir an Sie
haben, ausweisen, da nicht nur unser Interesse, sondern
auch Ihr Interesse damit aufs empfindlichste geschädigt
würde. Wir müssen also versuchen, wie wir über diesen
Punkt hinauskommen, und zwar so hinauskommen,
daß man uns nichtden Vorwurf der Verschleierung
machen kann.“ Den Vorwurf der Verschleierung zog
sich die Leipziger Bankverwaltung allerdings zu, und
schlimmeren sogar.
Es kann nicht Aufgabe dieser Zeilen bilden, darzu-
legen, durch welche einzelnen Manipulationen die An-
geklagten des Leipziger Bank-Prozesses den Tatbestand
strafbarer Handlungen erfüllt haben. Dazu bedürfte es
des Eingehens auf zahlreiche mehr oder minder verwickelte
Geschäfte, die die Trebergesellschaft, sei es mit der Leip-
ziger Bank, sei es unter Beistand derselben mit anderen
Firmen schloß; und es wäre ferner nötig eine Darlegung
der kaufmännischen Gepflogenheiten und der einschlagen-
den Gesetzesbestimmungen, die für die buchmäßige Be-
handlung der geschlossenen Geschäfte maßgeblich sein
116 Dr. Weber.
mußten. Solches Detail zu bringen, das zudem nicht
jedermann, selbst dem kaufmännisch Gebildeten kaum.
ohne breitere Ausführungen verständlich sein würde, liegt
umsoinder weniger Veranlassung vor, als die Anklage keines-
wegs etwa in der Anführung einer großen Menge von Einzel-
heiten und in der Aufstellung subtiler Erwägungen über
buchtechnische Fragen gipfelte. Freilich war viel neben-
sächliches Beiwerk den Kernpunkten der Anklage um-
lagert; die Geschworenen, die nach den einschlägigen
prozessualen Vorschriften mit der Aburteilung des schwie-
rigen und komplizierten Anklagefalls befaßt werden mußten,
hatten ein Recht, alles zu erfahren, was gegen die An-
geklagten vorlag, damit sie sich ein vollständiges und
lückenloses Bild von deren Verhalten bilden konnten. Es
war zudem Pflicht der Anklagebehörde, ihnen nichts vor-
zuenthalten, was zum Verständnis der Handlungsweise der
angeklagten Personen und zu einer gerechten Beurteilung
aller objektiven und subjektiven Momente dienen konnte.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß es den einge-
setzten Richtern von Wert sein mußte, zu erfahren, wie
insbesondere - die Hauptangeklagten allmählich zu immer
verhängnisvolleren Schritten sich hatten hinreißen lassen,
bis sie einen vom Gesetzgeber als „Verbrechen“ markierten
Tatbestand verwirklichten. Darum mußte den Geschworenen
das unerhörte Opfer an Zeit und Ausdauer zugemutet
werden, bis in die sechste Woche hinein in der Hauptverhand-
lung den Erörterungen über das Treiben und die Schick-
sale der Trebergesellschaft und der Leipziger Bank zu
folgen. Durch diese genaue Darlegung des Prozeßstoffes
war ihnen freilich die Möglichkeit geboten, sich völlig in
die Empfindungen der Personen hineinzudenken, die die
Verbindung der Leipziger Bank mit der Trebertrocknung
geknüpft und zum Schaden der Bank aufrechterhalten
hatten. Und hierauf mußte es ankommen, damit die Ge-
schworenen nicht in Gefahr gerieten, an den äußeren Er-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 117
eignissen und den Folgen der Katastrophe haften zu
bleiben.
Deshalb wurde in der Hauptverhandlung nicht nur
die Geschichte der Treberverbindung eingehend behandelt,
sondern vor allem wurde auch, insbesondere an der Hand
der zwischen Leipzig und Cassel gewechselten Briefe, ein-
gehend erörtert, wie die Leipziger Bank nach und nach
in immer größere Abhängigkeit von dem Casseler Treber-
direktor geriet. Die Mittel, deren sich die Bank bediente,
um trotz der Ungunst: der Verhältnisse eine gute Bilanz
aufzustellen, sind zunächst wenig bedeutsam. Forderte
doch auch im Anfang nicht das eigene Interesse Rück-
sichtnahme auf vorsichtige Buchführung, Inventarisierung
und Bilanzierung, sondern die Trebergesellschaft war es, die
zuerst zu Versuchen schritt, die wahre Sachlage möglichst
zu verschleiern. Sie hatte infolge der heftigen Angriffe
seitens der alten Holzverkohler und des dadurch gesteigerten
Mißtrauens der Berliner Zulassungsstelle, die ihre Bilanzen
scharf unter die Lupe nahm, vor allem darauf zu achten,
wie sie sich der zahlreichen Aktien ihrer Tochtergesell-
schaften baldigst entledigen könnte. Das war nun freilich
eine ziemlich schwierige Aufgabe. Das wachsende Miß-
trauen gegen Schmidts Gründungen brachte es mit sich,
daß, nachdem der erste Trebertaumel vorüber war, das
Publikum spröde wurde und die neuen Papiere nicht mehr
aufnehmen wollte. Nun lag es ja allerdings nahe, daß
die. Liebenswürdigkeit der Leipziger Freunde auch hier
helfend eingriff. Allein gerade der Umstand, daß der
gute Wille hierzu bereits oft genug durch die Tat be-
wiesen worden war, mußte die Leipziger Bank bestimmen, in
ihren Hilfsaktionen vorsichtig zu sein. Sie hatte bereits sehr
bedeutende Mengen Treberaktien unter ihren Beständen;
teilweise zwar sollte es sich dabei nur um kurzfristige
Bevorschussungen handeln, allein die kurzen Fristen mußten
immer und immer wieder verlängert werden. Und da die
118 | Dr. Weber.
Trebergesellschaft die Effekten nicht zurücknehmen konnte,
eine andere Stelle sich aber nicht fand, die sie sonst hätte
übernehmen wollen, so bestand Gefahr, daß die Bank die
schön gedruckten Papiere in ihren Tresors behielt, und
dieser zweifelhafte Schatz sich auch noch mehrte.
Aus dieser mißlichen Lage mußte ein Ausweg ge-
funden werden, und er wurde in einer Weise gefunden,
daß nicht nur einer Verletzung der Casseler Interessen
vorgebeugt, sondern auch das Wohl der Leipziger Bank
gewahrt wurde. Die Berliner Zulassungsstelle hatte von
Schmidt nicht nur den Nachweis gefordert, daß die Treber-
trocknung die in ihrer Bilanz befindlichen Tochterwerte
verkauft habe, sondern sie wollte auch noch die Zu-
sicherung haben, daß die Veräußerung ohne die Gesell-
schaft belastende Bedingungen erfolgt sei. Schmidt gab,
nachdem er sich mit der Leipziger Bank in Verbindung
gesetzt und deren Zustimmung zu einer Reihe von neuen
Geschäften erlangt hatte, die gewünschte Versicherung ab.
Er verschwieg dabei aber eine sehr wichtige Tatsache,
die der Annahme eines glatten Verkaufs vollständig wider-
sprach, zu der die Zulassungsstelle, wenn sie sich mit
Schmidts Angabe begnügte, kommen mußte und nach
Schmidts Willen auch kommen sollte. Diese Tatsache
bestand darin, daß in den Briefen an die Leipziger Bank,
an die allerdings auch die neuerdings abgestoßenen Treber-
werte gesandt wurden, zwar nicht die Trebertrocknungs-
gesellschaft die Verpflichtung übernahm, die Papiere nach
bestimmter Zeit zu vereinbartem Kurs wieder zurückzu-
kaufen, wie sonst wohl bei den Verkäufen der letzten Zeit
vereinbart worden war, sondern daß lediglich Schmidt per-
sönlich sichverpflichtete, der Leipziger Bank einen „Barkäufer“
für diese Werte zu bringen. Mit diesem feinen Schwindel
wurde die Zulassungsstelle in der Tat dupiert, und Schmidt
konnte, wie schon oft, wieder einmal des frohen Bewußtseins
leben, um drobende Klippen herumgekommen zu sein.
Der Leipziger Bank-Prozeß. 119
Daß das Interesse der Leipziger Bank weitere Maß-
nahmen erheischte, lag auf der Hand. Mußte man sich
schon bereit finden, die Trebergesellschaft von den unan-
genehmen Tochterwerten zu befreien, so wollte man sich
doch andrerseits die Möglichkeit sichern, unbequemen
Fragern mit dem Brusttone der Überzeugung die nahe-
liegende Vermutung als unbegründet einzustreiten, daß
' die Leipziger Bank die Trebertochteraktien übernommen
hätte.
Selbstverständlich dachten die verständigen Leiter der
Leipziger Bank nicht daran, in ihrer Not etwa zn plumpen
Lügen ihre Zuflucht zu nehmen. Stand doch dem Kundigen
die Möglichkeit offen, die abzuschließenden Geschäfte in
eine solche Form zu kleiden, daß die gewünschten Wir-
kungen erzielt wurden, ohne daß dabei die Tendenz des
Geschäftes offenbar würde. So bot sich als geeignetes
Mittel, Treberwerte zu übernehmen und doch sich als Be-
sitzer solcher Effekten nicht bekennen zu müssen, für die
Leipziger Bank der Abschluß von Konsortialgeschäften.
Man gewährte andern einen Anteil an dem Geschäft, in-
dem man sich mit ihnen zu einem Konsortium zusammen-
schloß. Die Personen, die neben der Bank an dem Ge-
schäfte beteiligt wurden, mochten sie selbst Vorstands-
oder Aufsichtsratsmitglieder des eigenen Instituts sein,
standen der Bank insoweit als Fremde gegenüber. Was
sie mit der Bank zusammen an Treberwerten übernahmen,
galt, selbst wenn die Bank etwa den Kaufpreis für sie
verlegte, als Konsortialbesitz und wurde dementsprechend
gebucht.
Solchen Charakter hatte bereits das im Jahre 1898
bei der Leipziger Bank errichtete Trustkonto. Der Zweck
des sogenannten Trustsyndikats ging dahin, zunächst für
nicht weniger als 3 Millionen Mk. Treberpapiere zu über-
nehmen. In diesem Falle war zwar die Leipziger Bank
selbst mit vollen 97 Proz. an dem Geschäfte beteiligt, so
120 Dr. Weber.
daß es nahe gelegen hätte, wenn die Bank den bedeutenden
Posten auf ihr eigenes Effektenkonto hätte verbuchen
lassen. Da sie aber nun einmal — offenbar um eben
dieser Notwendigkeit zu entgehen — drei andre noch zu je
1 Proz. an dem Geschäfte partizipieren ließ, so erschien
buchmäßig die Einrichtung des Trustkontos gerechtfertigt.
Jedem der vier Beteiligten wurde sein Anteil auf einem
Separatkonto, genannt „Einzahlungskonto für Syndikat
Trust“ belastet, während das Trustkonto selbst mit einem
ganz geringfügigen Betrag zu Buche stand. Da die ein-
zelnen Separatkonten in der Bilanz unsichtbar unter den
Debitoren zu führen waren, so wurde durch dieses große
Engagement in der Tat das Konsortialkonto nicht erhöht.
Die auf das Trustkonto übernommenen Papiere sollten
allerdings einer mit Schmidt getroffenen Vereinbarung ge-
mäß Mitte 1900 von. der Trebertrocknung zu höheren
Preisen zurückgekauft werden. Allein diese Abmachung
blieb, nachdem zunächst einmal der Abnahmetermin ver-
geblicb hinausgeschoben worden war, auf dem Papiere
stehen. Man half sich endlich dadurch aus der Verlegen-
heit, daß man unter Fortbestand der von Cassel über-
nommenen Bürgschaft für Rücknahme der Papiere einem
neu gebildeten anderen Konsortium die Effekten belastete.
Bemerkenswert ist dabei noch, daß die Leipziger Bank
aus diesem Treber-Konsortialgeschäft allein während des
23/4 jährigen Bestehens des Trustsyndikats einen Buch-
gewinn von rund 1820000 M. zog.
An diese Behandlung der Trustwerte dachte man in
Leipzig, als die kleinen Mittelchen, mit denen man bisher
den Casseler Bilanzen ein gutes Aussehen verschafft, dem
eigenen Institut aber gleichzeitig einen günstigen Abschluß
zu sichern gewußt hatte, nicht mehr recht verfingen. Die
Trebergesellschaft hatte im Frühjahr 1900 das dringende
Bedürfnis, einen Posten von 10 Millionen Treberwerten zu
veräußern. Zwei Mitglieder des Leipziger Aufsichtsrats
Der Leipziger Bank-Prozefß. 121
beteiligten sich zu geringem Prozentsatz an zwei für ge-
wisse Tochterwerte der Trebergesellschaft gebildeten neuen
Syndikaten. Den Hauptteil, der so groß war, daß der
Name „Konsortial-Geschäft“ fast wie eine Farce klingen
mußte, hatte wiederum die Leipziger Bank selbst. Nicht
weniger als 10 weitere „Konsortien“ wurden aber zu
gleicher Zeit mit etwa 8 Millionen Treberwerten in den
Büchern der Bank eingetragen, ohne daß hier der Titel
„Konsortium“ auch nur den geringsten Anspruch auf Be-
rechtigung hätte erheben können. Für zwei Effektensorten
zwar ließ sich Exner mit nicht erheblichen Bruchteilen des
Gesamtbetrags als „Konsorte“ eintragen, indessen nur, um
an demselben Tage sich mit seinem Anteil auf seinem
eigenen Konto belasten, die Leipziger Bank als einzige
Mitbeteiligte aber als „Konsortium“ in den Büchern der
Bank weiterleben zu lassen. Abgesehen von diesen zwei
Fällen, wo ein „Konsortium“ wenigstens für einige Stunden
bestand, war der Titel aber nur leere Form, unter der die
übrigen Treberwerte in den Büchern der Bank erschienen.
Da Exner von seinem Aufsichtsrat, an den er vermutlich
in erster Linie gedacht hatte, als er die neu übernommenen
Casseler Effekten für ein „zu bildendes Konsortium“ kaufte
und buchen ließ, offenbar nicht die Zustimmung erhielt,
die bedeutenden Posten auf alleinige Rechnung zu über-
nehmen, so mochte er in Verlegenheit gekommen sein, wie
er die Werte in der per 31. Dezember 1900 zu veröffent-
lichenden Bilanz verbuchen sollte. In dem Konsortial-
konto mit der Bezeichnung „Eigene Beteiligung an In-
dustrie-Unternehmungen“, das regelmäßig in den Berichten
erwähnt zu werden pflegte, die neuen Treberposten unter-
zubringen, daran konnte Exner nicht denken. Denn bei
einer Erhöhung dieser Rubrik um 8 Millionen wäre alle
Welt stutzig geworden und auf den Gedanken gekommen,
es hätten die von der Trebertrocknung wegen der „Berliner
Zulassungsstelle“ abgeschobenen Werte den Weg zur Leip-
Der Pitaval der Gegenwart. II. 9
122 Dr. Weber.
ziger Bank gefunden. Aus demselben Grunde blieb auch
der Bank die Möglichkeit genommen, die Casseler Papiere
etwa unter ihren „eigenen Effekten“ zu verbuchen. Von
ihrem Standpunkt aus mußte ihr nur noch der eine Weg
offen erscheinen, den sie denn auch beschritt: das war
der, daß Exner den Kontotitel „Konsortium“ in „Konto
für...“ abändern ließ, so daß die Werte nun einfach
unter den Debitoren verschwanden.
Die Verlegenheit der Leipziger Bank-Direktion, die sich
darin zeigte, daß sie Werte, die Cassel unter allen Um-
ständen abzustoßen wünschte, zwar übernahm, aber offen als
ihren Besitz zu bekennen sich scheute, zeitigte auch andere
Erscheinungen, die unter normalen Umständen bei einem
Institut, das sonst allenthalben korrekt zu handeln sich
bestrebte, kaum zutage getreten wären. So betraf das
Hauptgeschäft, durch das man Cassel an Treberwerten
erleichterte, einen Betrag von 33/4 Millionen Obligationen
der Russischen Tochtergesellschaft der Trebertrocknung.
Hier wurde mit dem Gegenwerte von 3374325 Mk. nicht
nur ein Konsortium belastet, das gar nicht vorhanden war,
sondern das Auffällige war, daß die von der Leipziger
Bank gekauften Obligationen erst noch erscheinen soll-
ten, daß aber auch die Buchung belassen wurde, ob-
wohl in der Folgezeit die Stücke überhaupt nie geliefert
worden sind. Die Russische Holzdestillations-Aktienge.
sellschaft war nämlich erst dann verpflichtet, Obligationen
überbaupt auszugeben, wenn ihr die Casseler Zentrale ge-
wisse Maschinen geliefert, und sie dieselben als brauchbar
befunden und abgenommen haben würde. Die Leipziger
Bank kannte diese Verhältnisse, denn die Russische Ge-
sellschaft hatte sich keineswegs schlechthin zur Über-
sendung der Obligationen bereit erklärt, sondern klar und
deutlich, dem Sachstand entsprechend, geschrieben: „Dem-
gemäß hat uns die Aktiengesellschaft für Trebertrocknung
beauftragt, die Obligationen, die wir dieser Gesellschaft
Der Leipziger Bank-Prozeß. 123
für ihre Lieferungen sukzessive auszufolgen
haben, Ihnen direkt zur Verfügung zu stellen.“ Es
stand also keineswegs fest, wann die Leipziger Bank in
Besitz der Papiere kommen würde; ja es war nach den
Erfahrungen, die die Leipziger Bank bis dahin gesammelt
hatte, überhaupt zweifelhaft, ob je für die Russische Gesell-
schaft die Verpflichtung eintreten würde, die Obligationen
zu schaffen. Denn häufig genug war schon der Fall ein-
getreten, daß die von Cassel gelieferten Maschinen nicht
das leisteten, was sie vertragsgemäß leisten sollten, und
daß deshalb die gesamten Anlagen umgebaut oder gar
die Maschinen als wertlos beiseite gebracht werden
mußten. Über die Bedenken, die solche Erwägungen wach-
rufen mußten, setzte man sich in Leipzig kühn hinweg;
man wollte eben unter allen Umständen in den Büchern
zugunsten der Casseler Bilanz und zur Herabminderung
des bereits zu so ansehnlicher Höhe angeschwollenen
Treberobligos bei der Leipziger Bank eine Gutschrift er-
wirken.
Ein bedenkliches Mittel zur Erzielung desselben Effekts
war ferner die Hereinnahme von Wechseln, die den Cha-
rakter von bloßen Finanzwechseln trugen. Teilweise hatten
die Casseler Tochtergesellschaften nur so zu kärglichem
Dasein erweckt werden können, daß die Trebertroeknung
sich Bargeld von der Leipziger Bank schicken ließ, das
bei dem Gründungsakt dem beurkundenden Notar vor-
gelegt wurde, um darauf alsbald an die Leipziger Bank
zurückzuwandern. Und wenn die Tochterunternehmungen
nicht so von allem Anfang an jeder Barmittel entblößt,
sondern zunächst vielleicht mit einigem Betriebskapital
versehen gewesen waren, so hielt doch dieser Zustand
nie lange an. Denn die Belastungen, die die Tochter-
gesellschaften für die von der Casseler Zentrale gelieferten
Maschinenanlagen sowie für die zu enormen Summen über-
lassenen Lizenzen vom Tage der Gründung an erfahren
9*+
124 Dr. Weber.
hatten, waren gewöhnlich so außerordentlich hoch, daß sie
ein für allemal die wirtschaftliche Unselbständigkeit der
Gesellschaft besiegelten. Wenn demnach die Trebertrock-
nung, um nicht die Menge der von ihr selbst umlaufenden
Wechsel zu vermehren, von ihren Tochterunternehmungen
Akzepte einforderte, so hätten diese eben wegen ihrer voll-
ständigen Abhängigkeit von Cassel diesem Begehren will-
fahren müssen, auch wenn sie nicht in den Büchern der
Trebergesellschaft stets als Schuldner geführt worden wären.
Die Akzepte der Treber-Tochtergesellschaften, die Schmidt
zur Verfügung gestellt wurden, mußten also auf alle Fälle
sehr problematischen Wert haben.
Die Leipziger Bank war viel zu genau über den
Charakter der Schmidtschen Trassierungen unterrichtet, als
daß sie je ernstlich den Glauben gehabt hätte, sie dürfe
aus den zahlreich übersandten Wechseln — im Frühjahr
1900 waren es allein für 6000000 Mk. — wirklich Ein-
gänge erwarten. Aus dieser Überzeugung heraus läßt es
sich auch erklären, daß sie völlig kritiklos alles herein-
nahm, was ihr einen formellen Grund zu einer Gutschrift
auf dem Treberkonto bieten konnte. Ob die Wechsel über
Beträge lauteten, die Zweifel aufkommen ließen, daß die
Wechselgeber wirklich Schulden in Höhe des Akzeptbetrags
bei der Trebertrocknung hätten, oder ob die Überzeugung
bestand, daß das schwache Gebäude der Tochtergründung
eine so hohe Belastung gar nicht vertragen konnte, wie
aus den von Cassel ausgeschriebenen Wechseln sich er-
gab, das alles galt der Leipziger Direktion gleich. Kannte
sie doch als der einzige Bankier Schmidts die Verhältnisse
des Treberkonzerns, von Einzelheiten abgesehen, so gut,
daß es gar nicht der deutlichen Sprache bedurft hätte, mit
der von Cassel aus die: mannigfachen Transaktionen als
rein buchmäßige, einer wirtschaftlichen Wirkung ent-
behrende hingestellt wurden. Wenn die Leipziger Bank
trotzdem sich dann und wann den Anschein gab, als ob
Der Leipziger Bank-Prozeß. 125
sie die wahre Lage der Verhältnisse nicht überblicke, und
sie deshalb Anspruch auf bare Abdeckung der Treber-
schuld erhob, so wies sie Schmidt mit klaren Worten auf
das Zwecklose solchen Gebarens hin. Hierher gehört
z. B. ein Brief Schmidts vom 19. April 1900. Die Leip-
ziger Bank hatte sich wieder einmal über die fortgesetzten
Dispositionen der Trebergesellschaft beklagt, der keine An-
schaffungen gegenüberstanden, und die im Frühjahr 1900
geschlossenen Geschäfte dabei richtig charakterisiert mit
den Worten: „Die Ermäßigung des Kontos ist zu einem
großen Teile dadurch erzielt worden, daß wir sehr be-
deutende Posten Effekten übernommen haben, und der
derzeit niedrige Stand des Kontos darf uns
nicht in Bezug auf die Höhe des tatsächlichen
Engagements täuschen.“ Und weiter hatte sie darauf
hingewiesen, daß auch die von Schmidt überschickten
Wechsel keineswegs als Deckung gelten könnten, die
Bank daher die Übersendung von Kunden wechseln for-
dern müsse. Schmidt antwortete hierauf, daß allerdings
in Cassel sowohl wie in Leipzig „Riesenengagements“ be-
ständen und deshalb danach gestrebt werden solle, die
Kasseler Engagements „in kürzerer Zeit wieder auf eine
vernünftige Basis zu reduzieren“. Indessen äußert
Schmidt sein Mißfallen über die Art und Weise, wie die
Leipziger Bank es versuche, ihn zu Herabminderung des _
großen Obligos oder doch zu einer Einschränkung seiner
Dispositionen zu bestimmen: „Es ist Ihnen genau so
gut wie mir bekanut, daß wir anderweitig Kre-
dite nicht in Anspruch nehmen können, und uns
dies auch nur möglich wird, wenn wir durch ruhige Arbeit
das Vertrauen wieder gewonnen haben. ... Nach Ihrem
gestrigen Brief ist meine ganze Arbeit nutzlos, denn die-
selbe kann ich nur mit Erfolg durchführen, wenn meine
Gesellschaft eine brauchbare Bilanz veröffent-
lichen und dieDividende zur Auszahlung bringen
136 Dr. Weber.
k ann, welche zur Durchführung der Pläne notwendig
erscheint. Es handelt sich also darum, daß wir die
Dividende von 20—25 Proz. zur Ausschüttung gelangen
lassen können. .. .* Und bezüglich der letzten Wechsel-
überweisungen heißt es in einem Briefe an die Leipziger
Bank vom gleichen Tage: „Ich erwidere Ihnen, daß ich
im Laufe des Monats März einen Teil unserer Forderungen,
mit Rücksicht auf unseren Jahresabschluß trassieren ließ
und Ihnen girierte, und daß meine Gesellschaft die Ver-
bindlichkeit hat, diese Akzepte bei Verfall einzulösen. Ich
habe Sie auch bei Übersendung dieser Tratten davon
unterrichtet, daß diese Ausschreibungen ledig-
lich den Zweck hatten, den Stand ihres Kontos
herabzumindern.“
So waren alle im Frühjahr 1900 von der Leipziger
Bank mit dem Treberdirektor verabredeten Transaktionen
ungeeignet, der Bank wirtschaftlich irgendwelche Er-
leichterung zu schaffen, Sie zielten ausnahmslos auf rein
buchmäßige Effekte hin, und nur von diesem Stand-
punkt aus läßt sich überhaupt begreifen, wie die Bank sich
zum Abschluß solcher Geschäfte verstehen konnte. Die
Übernahme von Treber-Tochterwerten, die zunächst als
Bestand eines „Konsortiums“ gebucht wurden, die Herein-
nahme von Wechseln, die von den Akzeptanten nicht ein-
zulösen waren, die Annahme von Hypotheken auf Grund-
stücke der Tochtergesellschaften, deren Güte nicht geprüft
wurde, obwohl die Höhe der Hypothek bisweilen dem Be-
trage der von der Tochtergesellschaft eben erst ausgestellten
Akzepte gleichkam und schon deshalb Argwohn wegen der
Begründetheit der Belastung aufkommen mußte, alle diese
geschäftlichen Operationen waren für die Leipziger Bank
lediglich ein Mittel, um für die Trebergesellschaft Gut-
schriften zu ermöglichen, durch die die so erschrecklich hohe
Treberschuld herabgemindert werden konnte. Und der Er-
folg war denn auch, entsprechend den Beträgen, um die
Der Leipziger Bank-Prozeß. 127
es sich bei jenen mehr oder weniger zweifelhaften Trans-
aktionen handelte, der, daß rund 21 Millionen von dem
Casseler Schuldkonto abgeschrieben wurden. Die Wirkung
für die Casseler Bilanz bestand darin, daß hier nur 5 Mil-
lionen Mark Kreditoren erschienen. Es bedarf keiner Aus-
führung, daß die Einstellung eines Kreditorenpostens von
26 Millionen Mark, zu der es ohne den Abschluß jener Ge-
schäfte hätte kommen müssen, der Trebergesellschaft ver-
hängnisvoll geworden wäre und ebenso auch der Leipzi-
ger Bank, denn unter ihren Debitoren hätte man den
größten Teil der enormen Casseler Schuldenlast sofort
vermutet.
Daß in Wahrheit das Casseler Obligo innerhalb des
letzten Jahres keineswegs zurückgegangen war, zeigten die
Bücher der Leipziger Bank aufs deutlichste. Zwar wies
das Konto ordinario der Trebertrocknung am 31. März 1900
gegenüber ultimo 1899 nur etwas über 4 Millionen Mark
auf, und das erwähnte Vorschuß-Konto der Trebergesell-
schaft zeigte gegen 8 Millionen früherer Schuld überhaupt
keine Belastung. Dagegen ruhte, wie oben dargetan, auf
Ordinarkonto tatsächlich eine Verpflichtung der T'reber-
gesellschaft, weil die Hingabe von Wechseln in Wahrheit
die Schuld Cassels nicht reduzierte. Auf dem offiziellen
Schuldkonto betrug das Rimessenobligo der Trebertrock-
nung rund 13 Millionen, auf dem Vorschußkonto aber rund
6 Millionen Mark. Die Gesamtsumme aller Verbindlich-
keiten aber, die auf den verschiedensten Konten gebucht
waren, belief sich am 31. März 1900 auf 51 Millionen Mark
gegen 47 Millionen im Vorquariale und 34 Millionen im
Vorjahre. Daß auch im Jahre 1900 das flotte Anwachsen
der Engagements keinen Stillstand erreichte, beweist der
Umstand, daß am 30. September 1900, trotzdem die Ri-
messenschuld ungefähr gleich geblieben war, das Ordinar-
konto doch wieder einen Stand von 8 und das Vorschub-
konto einen solchen von 9 Millionen Mark zeigte.
128 Dr. Weber.
Am 23. und 24. Oktober 1900 befaßte sich die bei der
Leipziger Bank bestehende Obligokommission eingehend
mit der Prüfung des Treberobligos. Der Beschluß, zu dem
man dabei gelangte, lautet wörtlich: „daß die Verbindung
mit gedachter Gesellschaft zur Vermeidung von gro-
Ber Schädigung der Bank nicht gebrochen wer-
den dürfe, daß die Leipziger Bank vielmehr zur Ver-
meidung großer Verluste der Casseler Gesellschaft auch für
die Zukunft Kredit zur Verfügung stellen müsse.“ Frei-
lich fühlte man sich veranlaßt, gleichzeitig eine sehr ver-
nünftige Bedingung aufzustellen: „Es wurde jedoch von
den Erschienenen einstimmig erklärt, daß die Aufrechter-
haltung des Kredits für die Casseler Gesellschaft nur dann
stattfinden solle, wenn die Casseler Gesellschaft die Ein-
stellung eines von der Bank zu erwählenden Vertrauens-
mannes gestattet, welchem es obliegt, die Geschäftsführung
der Trebergesellschaft einer eingehenden Prüfung zu unter-
ziehen und bis auf weiteres zu überwachen in dem Um-
fange, daß er in alle Schriftstücke und Geschäftsbücher,
sowie geschäftliche Vorkommnisse Einsicht zu nehmen be-
rechtigt ist.“ Hätte die Leipziger Bank dieses Verlangen
früher gestellt, so hätte der Direktor der Trebergesellschaft
unbedingt willfahren müssen, denn er war von der Leip-
ziger Bank abhängig. Durch solche zur rechten Zeit er-
griffene Maßnahme wäre die Leipziger Bank vor unge-
heuren Verlusten bewahrt geblieben; denn die unerhörten
Bücherfälschungen und der schwindelhafte Geschäftsbetrieb
des Treberdirektors, die nach der Katastrophe aufgedeckt
wurden und Schmidt denn auch eine Verurteilung wegen
betrüglichen Bankerutts einbrachten, wären selbstverständ-
lich auch schon damals bei sachverständiger Prüfung durch
einen Beamten der Leipziger Bank ans Tageslicht ge-
kommen. Als sich die Obligokommission zu solchem Ent-
schluß emporrang, war freilich ein günstiger Erfolg nicht
mehr zu erwarten. Die Verluste der Bank durch die
Der Leipziger Bank-Prozeß. 129
Treberverbindung waren bereits besiegelt, und der Zwang,
der früher den Treberdirektor den Wünschen seines Ban-
kiers hätte gefügig machen müssen, bestand nicht mehr.
Im richtigen Gefühle, daß er jetzt die Leipziger Bank
seinerseits in der Hand habe, wies denn Schmidt auch die
Zumutung, sich im eigenen Hause durch Fremde kon-
trollieren zu lassen, mit Entrüstung zurück ; und die Leipziger
Bank mußte wohl oder übel von Durchführung ihres klugen
Beschlusses absehen. Sie zögerte zwar zeitweilig in der
Honorierung der von Schmidt, oft ohne vorherige Ansage,
auf sie gezogenen Tratten und in der Ausführung der
sonstigen Zahlungsaufträge, ließ es auch ob der fortwäh-
renden Weitererhöhung der Engagements nicht an Vor-
würfen fehlen. Indessen war alles vergeblich. Schmidt
übersah die Sachlage sehr wohl, wenn er als Antwort
darauf Darlegungen gab, wie sie z. B. in seinem Schrei-
ben vom 19. Oktober enthalten sind: „Wir schweben nach
zwei Seiten in großen Gefahren. Die eine Seite ist die,
daß über die großen Engagements, welche zwischen
uns bestehen, etwas nach außen dringen könnte.....,
2) daß unser schon vollständig ruinierter Kredit
und Ihr Verhalten gegenüber unseren notwendigen Dispo-
sitionen uns täglich in die Gefahr bringt, unsere
Zahlungen einstellen zu müssen. Wir sind ledig-
lich auf Sie angewiesen! ... Wie die Sache insgesamt
heute liegt, ist die gute Durchführung der ganzen Unter-
nehmungen nur dann mit Sicherheit möglich, wenn Sie
meine Gesellschaft weiter unterstützen und so weit, wie es
nötig ist, auch diejenigen Mittel beschaffen, welche zur
Durchführung bei der größten Sparsamkeit unvermeidlich
sind. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß Ihre Interessen
und diejenigen meiner Gesellschaft durch die enormen En-
gagements, in welche wir gegenseitig durch die Verhält-
nisse geraten sind, ganz identisch sind. Die großen
Summen, welche Sie, sei es bei unserer Gesellschaft, sei
130 Dr. Weber.
. es bei unseren Tochterunternehmungen investiert haben, sind
nichts wert, wenn wir nicht die verschiedensten
Unternehmungen zu rentabelen gestalten.“ Schmidt
schlägt nun in dem Briefe, um wenigstens buchmäßig eine
Erleichterung der Lage herbeizuführen, wiederum eine Reihe
neuer Transaktionen vor und fährt dann fort: „Nachdem
die obigen Buchungen durchgeführt sind, sind unsere
Bücher derartig rein, daß wir sie einer jeder fremden
Person vorlegen können, was uns heute mit Rück-
sicht auf die zwischen uns bestehenden großen
Engagements unmöglich ist. Ich denke nun,
daß es mir gelingt, wenn ich den Nachweis führe,
daß unsere Werke vorwärtskommen und gut rentieren,
und gleichzeitig meine Bücher zur Einsicht zur Verfügung
stellen kann, von anderen Banken Kredit zu erhalten. —
Ich weiß recht wohl, wie schwer es Ihnen bei den
sroßen Engagements, die Sie schon haben, fallen
wird, noch weitere Kredite meiner Gesellschaft zu ge-
währen, und ich wende mich auch erst an Sie mit diesem
Verlangen, nachdem ich gesehen habe, daß es zur Zeit
unmöglich ist, von anderer Seite das nötige Geld
beschaffen zu können. Die Frage ist heute,
können die nötigen Beträge in obigem Umfang
noch geschafft werden, so ist alles gesichert,
ist das nicht möglich, so können wir nicht wei-
ter arbeiten.“
Der Brief, der gewiß an Deutlichkeit nichts zu wün-
schen übrig läßt, traf die Beurteilung der Verhältnisse so
richtig, daß sich die Leipziger Direktion den von Schmidt
darin gezogenen Schlüssen nicht entziehen konnte. Sie
mußte, obwohl es ja nicht das einzige Mal gewesen war,
daß Schmidt vor dem Abschluß seiner Unternehmungen
zu stehen glaubte, wohl oder übel auch jetzt wieder sich
dazu verstehen, die neu geltend gemachten Bedürfnisse der
Trebertrocknung zu befriedigen. 5 Millionen Mark forderte
Der Leipziger Bank-Prozeß. 131
Schmidt wiederum, angeblich als letzte Unterstützung. Und
neue 5 Millionen flossen nach Cassel, wennschon die Be-
schaffung von Bargeld der Leipziger Bank selbst nach-
gerade begann, Mühe zu kosten.
So lagen die Verhältnisse zu der Zeit, als die Ver-
waltungsorgane der Leipziger Bank nicht mehr allein Rück-
sicht auf die Interessen der Trebergesellschaft nahmen,
sondern bei allem, was sie taten, zunächst das Wohl ihres
eigenen Instituts beachten mußten, das von Tag zu Tag
ernstere Sorgen bereitete. Bis dahin hatte man in eifrig-
ster Förderung der Treberinteressen alles getan, was man
zur Durchführung der Schmidtschen Riesenpläne nur hatte
vornehmen können. Schwere Vorwürfe mußten sich an
solches Tun knüpfen. Denn Direktion wie Aufsichtsrat
hatten nicht bedacht, daß sie fremde Gelder zu verwalten
hatten und deshalb vorsichtiger noch zu Werke gehen
mußten, als wenn sie etwa als Einzelkaufleute lediglich
ihre eigene Haut zu Markte trugen. Die Vorstandsmit-
glieder der Bank hätten Schmidts Persönlichkeit mit dem
nüchternen Blicke des Kaufmanns erforschen, des Treber-
direktors Riesenpläne mit der kühlen Überlegung des seinen
eigenen Nutzen berechnenden Bankiers erwägen und als
Angestellte eines Aktienvereins in erster Linie die Inter-
essen der Gesellschaftsmitglieder in sorgfältigster Weise zu
fördern suchen müssen, ebenso wie der Aufsichtsrat mit
gleicher Gewissenhaftigkeit nach denselben Grundsätzen die
Vorschläge der Direktion zu prüfen und die Geschäftstätig-
keit der Direktoren zu überwachen verpflichtet gewesen
wäre. Immerhin waren die Vorwürfe, die sich an die Ver-
säumung dieser Pflichten anschlossen, nicht krimineller Art.
Die Anklage lautete nicht, wie man vielleicht denken
könnte, auf aktienrechtliche Untreue, so daß etwa der Ver-
such unternommen worden wäre, den Angeklagten nach-
zuweisen, sie hätten als Mitglieder des Vorstands oder des
Aufsichtsrates der Leipziger Bank „absichtlich zum Nach-
132 Dr. Weber.
teile“ der Aktiengesellschaft gehandelt. Ein solcher Nach-
weis wäre auch wohl schwerlich zu führen gewesen. Denn
unvorsichtiges und nachlässiges Verhalten schloß immerhin
die Möglichkeit nicht aus, daß die Bankorgane bei dem,
was sie bewußt unternahmen, die Erzielung von Gewinn
erstrebten und insbesondere später immer noch die Ver-
besserung der Lage von ihren Maßregeln erwarteten. Sie
glichen in ihrer Gewinnsucht dem verwegenen Spieler, den
blinde Leidenschaft dazu verführt, alles auf eine Karte zu
setzen, und der das verhängnisvoll gewordene Spiel fort-
setzt in der vagen Hoffnung, so seine Verluste wieder ein-
zuholen. Nicht weil die Bank sich durch frivoles Spiel
selbst zugrunde gerichtet hat, wurden ihre Organe unter
Anklage gestellt, sondern weil sie über die Interessen des
eigenen Instituts hinaus verletzend in die Rechtssphäre
Dritter übergriffen. Auf der Schwelle zum Jahre 1901 be-
traten die verantwortlichen Organe der Leipziger Bank die
schiefe Ebene, die zu den Vorwürfen strafrechtlicher
Natur führte, die in dem Leipziger Bank-Strafprozeß ihre
Erörterung fanden.
Auch hier wieder kann es nicht darauf ankommen,
jede einzelne Phase der neuen Transaktionen zu behan-
deln, die die Anklageerhebung rechtfertigten. Und noch
weniger ist es angängig, die rechtliche Konstruktion der
Anklage zu zergliedern und in eine Darlegung der schwie-
rigen Rechtsfragen einzutreten, die der Anklagefall in zahl-
reicher Menge aufrollte.1) Vielmehr soll nur in großen
Grundzügen das wiedergegeben werden, was gewissermaßen
die Angelpunkte des Prozesses bildete.
Das dem Ende zuneigende Geschäftsjahr 1900 forderte
1) Vgl. hierzu von Gordon in der Deutschen Juristenzeitung 1902
S.371f.; Mittelstaedt ebenda S. 520f.; Rehm, Die Bilanzen der
Aktiengesellschaften usw., S. 897ff.; Hecht in den Schriften des
Vereins für Sozialpolitik Bd. VI S. 373 ff.; Weber im Gerichtssaal
Bd. LXII S. 362 ff., Bd. LXV S. 63 ff.
Der Leipziger Bank-Prozeß. 133
das erste Mal, daß die Leipziger Bank im eigenen Interesse
besondre Maßnahmen traf. Weniger zwar auch hier, um zu
guter Bilanzgestaltung zu gelangen. Denn was konnten im
Grunde geschickt gruppierte Zahlen verraten, die ja doch
nur die Endergebnisse verschiedener Kontenbewegungen
anzeigten, indessen darüber Aufschluß nicht brachten, aus
welchen einzelnen Faktoren sich die Summe der Debitoren
und andrer Posten zusammensetzte. Gerade weil die Bilanz
so farblos wie möglich zu gestalten war, und man selbst-
verständlich auch nicht daran dachte, in dem Geschäfts-
bericht Aufschluß darüber zu geben, was die Bilanz im
unklaren ließ, mußte man darauf hinarbeiten, die Handels-
bücher der Bank in solchen Zustand zu versetzen, dab
auch aus ihnen die verhängnisvoll hohen Treberengage-
ments nicht erkannt werden konnten. Nachdem sich die
Lage so zugespitzt hatte, daß die Bank lediglich unter
stärkster Inanspruchnahme des Kredits, den sie selbst ge-
noß, sich über Wasser halten und der Trebergesellschaft
die zur Fortführung ihrer Unternehmungen nötigen Mittel
beschaffen konnte, mußte sie damit rechnen, daß ein Grob-
gläubiger etwa die umlaufenden Gerüchte über enorm hohe
Treberengagements durch eine Nachfrage bei der Bank
richtigzustellen versuchen würde. Und auch im eigenen
Lager waren Indiskretionen immerhin nicht ausgeschlossen,
so daß es auch nach dieser Richtung ein Gebot der Klug-
heit war, beizeiten geeignete Vorkehrungen zu treffen, um
Aufklärung über die wahren Verhältnisse zu hindern. Aus
Gründen solcher Vorsicht hatte man bereits die — an sich
unauffällige — Einrichtung des Sekretariats dazu benutzt,
um die Mehrzahl der mit der Trebergesellschaft zusammen-
hängenden Konten aus der laufenden Buchhaltung heraus-
zunehmen und sie hier von einer geringfügig kleinen An-
zahl von Beamten selbständig weiterführen zu lassen. Und
gerade auch die große Anzahl von Treberkonten — es
bestanden insgesamt rund 40 Stück — war an sich schon
134 ‚ Dr. Weber.
ein wesentlicher Faktor, der die Gesamtübersicht erheblich
erschweren mußte. Die Leipziger Bank hatte es ja außer-
ordentlich bequem, zu den einzelnen Geschäften, die über
die Treberwerte geschlossen wurden, von vornherein ver-
schiedene Bedingungen zu vereinbaren. Dann eben war
ein Scheingrund für die Errichtung eines neuen Kontos
geschaffen, und niemand konnte aus der Zahl der mehr-
fachen Treberkonten einen Vorwurf herleiten. Daß in der
Tat auf solche Weise operiert wurde, zeigt die Gründung des
schon erwähnten Treber-Vorschußkontos. Da für dieses Konto
genau dieselben Bedingungen bestanden, wie für das Or-
dinarkonto der Trebergesellschaft, so war seine Führung
schlechtweg überflüssig.
Wollte die Leipziger Bank ihr Geschäftsjahr 1900 gut
abschließen und dabei die bisher beobachteten Grundsätze
weiter zur Geltung bringen, so mußte sie bedenklichere
Mittel anwenden, -als wie sie bisher zur Hand gehabt
hatte. Es zeigte sich eben, daß alle früher ergriffenen
Maßnahmen eine Überspannung nicht vertrugen. In der
Zahl der Akzepte der Trebertrocknung und ihrer Toch-
tergesellschaften, die mit dem Giro der Leipziger Bank
im Umlaufe waren und immer aufs neue prolongiert
wurden, mußte eine gewisse Grenze innegehalten werden.
= Was der Treberdirektor nur irgend an Deckung und
Sicherheiten hatte zur Verfügung stellen können, ruhte längst
in den Tresors der Bank, während nach Cassel enorme
Summen über den Wert dieser Effekten hinaus von Leipzig
gesandt worden waren. Und trotz alledem wollte sich
auch nicht die Spur einer Erleichterung bemerkbar machen.
Am 30. September 1900 war das Ordinarkonto der Treber-
gesellschaft bereits wieder auf über 8 Millionen Mark ange-
schwollen, während das Vorschußkonto einen Stand von
9 Millionen wies, wozu noch auf beiden Konten ein Ri-
messenobligo von 17 Millionen lastete. Solche Zahlen
durften nicht in den Büchern stehen bleiben, wennschon
Der Leipziger Bank-Prozeß. 135
sie noch nicht entfernt die Höhe der gesamten Treber-
engagements erkennen ließen, die, verteilt auf allen mög-
lichen andern Konten, wie dem Trustkonto, dem Lager-
schein-Vorschuß-Konto, dem Konto der Verwaltung der
Trebertroeknung, mehreren Sonderkonten von Tochter-
gesellschaften der Trebertrocknung, verschiedenen Konten
für den eigenen Besitz der Bank an Trebertochteraktien
und gewissen Garantiekonten, die runde Summe von
70 Millionen Mark ausmachten. Auf den alten Wegen,
auf denen man rüstig weiterschritt, war zu einer Rettung
aus der Not nicht zu gelangen. Die Bank selbst besaß
bereits zu viel der zweifelhaften Treberwerte, als daß sie
selbst hätte daran denken können, der Casseler Gesellschaft
noch weitere abzunehmen, sei es auch nur, um sie auf
Konten zu verbergen, die die Bank als die eigentliche Be-
sitzerin nicht erkennen ließen. Die Wahl, wohin man das
abschieben sollte, was von den laufenden Schuldkonten
der Trebertrocknung unbedingt heruntergebracht werden
mußte, beschränkte sich, da Dritte dabei von Anfang an
nicht in Frage kamen, auf die beiden Unternehmungen
selbst, hier Trebergesellschaft, hier Leipziger Bank. Der
Ausweg, den man sich früher geöffnet hatte, indem man
Zwischengebilde schuf, die tatsächlich zwar nicht, wohl
aber dem Namen nach etwas anderes bedeuteten als die
zur Wahl stehenden Alternativen, war aus den angeführten
Gründen jetzt auch nicht mehr beschreitbar. Aber- eine
geringe Variation, und ein andres Bild bot sich dar: es
wurde zwischen Leipziger Bank und Trebertrocknung ein
neues Gebilde gefügt, das zwar auch den beiden Unter-
nehmungen keineswegs wesensfremd war, indessen bei der
Entschleierung nicht die Gesichtszüge der sonst immer
den deus ex machina darstellenden Bank bot, vielmehr die
Trebergesellschaft selbst repräsentierte. Solcher Art war
die Transaktion, die nach Ausspruch eines Finanzsach-
verständigen im Prozeß, dem sich die Urteile der beiden
1836 Dr. Weber.
andern Experten anschlossen, als die „genialste Schiebung“
anzusehen war, die die beiden Bankdirektoren Exner und
Gentzsch mit Schmidt, dem Casseler Gesellschafts-Direktor,
je ersonnen und ausgeführt hätten.
Worin besteht nun diese Transaktion, dienach derSumme,
die dabei in Betracht kam, kurzweg „das 22,4 Millionen-
Geschäft“ genannt zu werden pflegte? Der buchmäßige
Effekt war der, dab auf das Vorschußkonto der Treber-
gesellschaft eine Gutschrift von 12600000 Mk. kam und
von dem Ordinarkonto 9800000 Mk. abgeschrieben wurden,
während unter Weiterhaftung der Trebertrocknung für
diese Schuld auf sechs besonderen Konten, den sogenannten
„neparat-Vorschußkonten“, die einzelnen Mitglieder der
Casseler Verwaltung mit der Gesamtsumme von 22,4 Milli-
onen neu belastet wurden, und zwar Direktor Schmidt und
vier Herren des Aufsichtsrats mit je 4200000 Mk. und ein
fünftes weniger vermögendes Aufsichtsratsmitglied mit
1400000 Mk. Mit andern Worten: die Trebergesellschaft,
die ursprüngliche Schuldnerin, wurde erkannt und blieb
lediglich als Bürgin haftbar; an ihre Stelle traten die Ver-
waltungsmitglieder der Gesellschaft als Selbstschuldner.
Gewib bereits auf den ersten Anblick eine auffällige Trans-
aktion; denn warum dieser Wechsel in der Schuldnerrolle,
wo es doch so nahe lag, daß die alte Schuldnerin, deren
Haftbarkeit ausdrücklich bei Bestand gelassen wurde, eben
Schuldnerin blieb und zur größeren Sicherheit der Bank ihr
einfach die Casseler Herren als Bürgen beigesellt wurden?
Daß die Casseler Verwaltungsorgane sich geradezu ge-
drängt haben sollten, als Selbstschuldner in die Verpflich-
tung ihrer Gesellschaft einzutreten, anstatt die schwere,
aber doch nicht in demselben Maße drückende Last einer
bloßen Bürgschaft auf sich zu laden, war sicher nicht
anzunehmen. Und in der Tat bedurfte es auch nicht ge-
ringen Zuredens seitens des pfiffigen Treberdirektors, um
seine Leute zu solchem Opfer gefügig zu machen. Es
Der Leipziger Bank-Prozeß. 137
kam indessen gerade darauf an, die Trebergesellschaft als
die Schuldnerin der enormen Summen aus den Büchern
der Leipziger Bank herauszubringen. Das geschah, wenn
sie in die Rolle einer bloßen Bürgin hineingedrängt wurde.
Blieb die Haftung der Trebertroeknung bei Bestand, aber
nur in Form der Bürgschaft, dann konnte sie nicht nur
als Schuldnerin in den Büchern gestrichen werden, sondern
dies mußte geschehen, und für die Eintragung der Treber-
gesellschaft als Bürgin war nach den bestehenden Grund-
sätzen der kaufmännischen Buchführung ın den Büchern
der Leipziger Bank kein Raum. Aber nicht nur, daß die
Casseler Verwaltungsmitglieder für sich keinen Wert darauf
legen konnten, gerade als Schuldner einzutreten, wo eine
Bürgschaft genügt haben würde; auch die Leipziger Bank
hätte sicher, wenn es ihr nicht um die Entfernung der
Treberschuld gerade als Verbindlichkeit der Trebergesell-
schaft zu tun gewesen wäre, davon Abstand genommen,
die Casseler Herren als neue Schuldner für die 22,4 Milli-
onen in ihren Büchern einzutragen. Daß sie es tat,
obwohl vom wirtschaftlichen Standpunkt aus in Cassel
sowohl wie in Leipzig Bedenken bestehen mußten, be-
rechtigt zu der Annahme, daß das ganze Geschäft als ein
ernsthaftes überhaupt nicht gedacht worden ist. Vielmehr
handelte es sich dabei um ein bloßes Scheinmanöver,
lediglich dazu angetan und berechnet, einen Schein-
grund für das zu liefern, was man unter allen Umständen
erreichen wollte: für die Reduzierung der Treberschuld
auf den offiziellen Schuldkonten der Trebergesellschaft bei
der Leipziger Bank. Und auch nur von diesem Stand-
punkt aus lassen sich eine ganze Reihe von Umständen
erklären, die bei Abschluß und Durchführung des 22,4 Mil-
lionen-Geschäfts in Erscheinung traten und schlechterdings
unverständlich sein würden, wenn man das Geschäft als
ein ernst gemeintes und auf wirtschaftliche Effekte hin-
zielendes auffassen wollte.
Der Pitaval der Gegenwart. II. 10
138 Dr. Weber.
Daß in Cassel nicht nur, sondern vor allem auch in
Leipzig gerade Bedenken wirtschaftlicher Natur gegen den
Abschluß des Geschäfts hätten sprechen müssen, ist des-
halb anzunehmen, weil die Casseler Herren bereits sehr hoch
bei der Leipziger Bank engagiert waren. Wie dies nahe
lag, waren sie von Schmidt zunächst für das eigene Unter-
nehmen dergestalt herangezogen worden, daß sie einen
nicht unbedeutenden Posten Treberwerte hatten übernehmen
müssen. Insoweit mußten sie das Los vieler anderer
Treberspekulanten teilen: sie blieben auf ihrem zweifel-
haften Besitze haften. Schon deshalb mochten sie, nach-
dem sie auch noch im Laufe der Zeit der Bank gegenüber
zugunsten ihrer Gesellschaft weitere Verpflichtungen auf
sich genommen hatten, zu Erhöhung solcher Engagements
keine Lust verspüren. Andererseits mußten bei der Leip-
ziger Bank, wennschon ihr vielleicht die Engagements der
Casseler bei ihren eigenen Unternehmungen nicht in der
vollen Höhe bekannt waren, Bedenken bestehen, den
Treberleuten neue Verbindlichkeiten aufzuerlegen, da diese
bereits zu rund 10 Millionen Mark als Schuldner in ihren
eigenen Büchern figurierten. Davon entfielen 4 Millionen
auf Akzepte, die die Casseler bereits im Frühjahr 1899
der Leipziger Bank ausgestellt hatten, die indessen seit
dieser Zeit uneingelöst geblieben waren. Diese Tatsache,
die selbstverständlich der Leipziger Bank-Direktion wohl-
bekannt war, mußte ihr unbedingt den Gedanken nahe-
legen, daß die teilweise als reich geltenden Verwaltungs-
mitglieder der Trebertrocknung doch wohl nicht in dem
Maße vermögend waren, wie ihnen nachgesagt wurde, und
daß sie zum mindesten einen großen Teil ihres Vermögens
in Treberwerten angelegt hatten und deshalb liquider
Mittel ermangelten. Und dabei kam jetzt die enorme
Summe von 18 Millionen Mark in Betracht, die dem
Casseler Direktor und seinen Aufsichtsratsmitgliedern als
neue Schulden aufgebürdet werden sollten!
Der Leipziger Bank-Prozeß. 139
-~ Aber auch andere Erwägungen führen zu dem Schlusse,
daß die Abbuchung der offiziellen Treberschuld auf die für die
Verwaltungsmitglieder eingerichteten Separatvorschußkonten
lediglich auf Grund eines Scheingeschäftes vorge-
nommen wurde. Die Belastung der Casseler Herren mit
der alten Treberschuld geschah nicht in der Form einer
einfachen Schuldübernahme. Vielmebr erhielten die Cas-
seler ihrerseits von Schmidt eine Reihe von Forderungen
überwiesen, die das Aquivalent für die von ihnen gegen-
über der Leipziger Bank übernommenen Verpflichtungen
bilden sollten. In jenem Briefe vom 19. Oktober 1900, der
die Lage so drastisch beleuchtet, schreibt Schmidt genauer,
wie er sich die Transaktion denkt: „Die Konto-Kor-
rentschuld bei Ihnen in Höhe von 18000000 M. muß
aus Ihren und unseren Büchern verschwinden.
Das würde sich derart machen lassen, daß die fünf Mit-
glieder meiner Verwaltung und ich gemeinschaftlich diese
Schuld je zu einem bestimmten Teil auf uns übernehmen ...
und die Trebergesellschaft, als solche, für diese
gesamten Verbindlichkeiten in einem durchaus sekret
zu haltenden Schreiben die Rückbürgschaft für die
richtigen Eingänge dieser Summen übernehme. In unseren
Büchern fällt alsdann dadurch die Schuld von 18000000 M.
vollständig fort, und da wir den betreffenden Herren
als Sicherheit für diese Ihnen gegenüber zu übernehmende
Verbindlichkeit unsere Buchforderungen an die diversen
Gesellschaften zedieren würden, so würde diese Schuld
einesteils und die großen Summen der heute nicht
realisierbaren Forderungen anderenteils aus
unseren Büchern verschwinden. InIhren Büchern
fällt ebenso die große offene Forderung an die Treber-
gesellschaft weg, und an Stelle derselben erhalten Sie die
Forderungen an die sechs Ihnen bekannten Herrn mit der
Rückbürgschaft der Trebertrocknung; Sie erhalten also
Ihre heutige Forderung durch die sechs Herren mit anderen
10*
140 Dr. Weber.
Worten noch verbürgt.*“ Bezeichnend ist der Schlußpassus,
in dem richtig zum Ausdruck kommt, in welcher Form
das Geschäft verständlich gewesen wäre. Indessen wurde
diese Form gerade nicht gewählt. Es wurde nicht der
Haftung der Trebergesellschaft als Schuldnerin eine addi-
tionelle Sicherheit in Gestalt der Bürgschaft der Casseler
Herren beigefügt, sondern die Trebertrocknung wurde als
primäre Schuldnerin entlassen und an ihre Stelle Vorstand
und Aufsichtsrat der Trebergesellschaft als Selbstschuldner
eingesetzt.
Ferner ist wichtig das in dem Briefe abgegebene Zu-
geständnis Schmidts, daß die an seine Leute abgetretenen
Forderungen „heute nicht realisierbar“ seien. In der Tat
handelte es sich um Forderungen, die nicht nur damals
nicht, sondern fast ausnahmslos überhaupt nie bestanden
haben. Die Forderungen figurierten, wie sich später
zeigte, nur in den Büchern der T’rebergesellschaft, während
die Tochtergesellschaften, die in der Hauptsache als Schuld-
nerinnen in Frage kamen, von dem Bestehen der angeb-
lichen Schuldverbindlichkeit gar keine Ahnung hatten.
Die Leipziger Bank hätte Veranlassung gehabt, sich über
Bestand und Wert jener Forderungen zu erkundigen; denn
ihr wurden von der Casseler Verwaltung dieselben For-
derungen zur Garantie weiter abgetreten. Allein sie nahm
von solchen Maßnahmen Abstand. Wozu auch solche
Weiterungen, da man eben ein ernsthaftes Geschäft gar
nicht eingegangen war? Und überdies war man ja im
allgemeinen über die Lage der einzelnen Tochtergesell-
schaften, deren Aufsichtsratsstellen vielfach mit Mitgliedern
der Leipziger Verwaltungsorgane besetzt waren, genügend
informiert. In der Hauptsache waren, wie man wußte,
der Casseler Zentrale Forderungen an die Tochtergrün-
dungen dadurch erwachsen, daß die Trebertroecknung für
die ihnen überlassenen Lizenzen hohe Beträge, meist etwa
die Hälfte des Grundkapitals ausmachend, berechnet hatte.
Der Leipziger Bank-Prozeß. 141
Daß die Patente so große Summen nicht wert sein mochten,
und jedenfalls die Tochtergesellschaften allen Neuerungen
zum Trotz, durch die man anfängliches Versagen der Ein-
richtungen wettzumachen versuchte, nie recht ins Verdienen
kamen, bewies die Tatsache, daß die Zentrale immer neue
Gelder in sie hineinstecken mußte, und in den Briefen
Schmidts die Klage über die immer noch nicht erreichte
Rentabilität der Unternehmungen ständig wiederkehrte.
Bei solcher Sachlage spielten allerdings Einzelheiten keine
Rolle, wie sie leicht festzustellen gewesen wären. So be-
lief sich z. B. das Aktienkapital der Glückstadter Tochter-
gesellschaft auf 3300000 Mk., wovon eingezahlt waren
nur 1100000 Mk. Auf den Grundstücken dieser Gesell-
schaft war für die Leipziger Bank eine Grundschuld von
1000000 Mk. eingetragen. Das Patentkonto wies einen
Stand von 500000 Mk., das Immobilienkonto einen solchen
von 1752767 Mk. 50 Pf. Die Schuld der Gesellschaft bei
der Leipziger Bank bezifferte sich am 30. September 1900
in laufender Rechnung auf 22459 Mk. 49 Pf., daneben
bestand ein Rimessenobligo von 1187661 Mk. 01 Pf. Und
dabei trat die Trebertrocknung im Herbst 1900 noch For-
derungen in Höhe von 2392933 Mk. 33 Pf. an die Oas-
seler Verwaltung, und diese wieder die gleiche Summe an
die Leipziger Bank ab!
Aber die Bank ging noch weiter in der Ignorierung
aller kaufmännischen und rechtlichen Gepflogenheiten.
Nachdem ihr jene Forderungen abgetreten worden waren,
hätte sie selbstverständlich die Pflicht gehabt, die Dritt-
schuldner von der Zession in Kenntnis zu setzen. Den
Beamten der Bank selbst war die Notwendigkeit solcher
Benachrichtigungen so einleuchtend, daß sie von sich aus
bereits die betreffenden Schreiben bis zur Unterschrift fertig
hergestellt hatten. Die Direktoren unterzeichneten indessen
die Briefe nicht und inhibierten so ihre Absendung. Und
so kam es, daß sogar zur Zeit der Konkurseröffnung die
142 - Dr. Weber.
betreffenden Trebergesellschaften noch nichts davon wußten,
mit welcher Summe sie als Schuldnerinnen in Cassel zu
Buche standen, und daß zudem für diese angeblichen
Schulden bereits zweimal ein Wechsel in den Personen
der Gläubiger stattgefunden hatte. Damit sie nicht allzu
arg erstaunten, wenn sie plötzlich wegen einer ihnen nicht
bewußten Schuld in Anspruch genommen wurden, bereitete
sie Treber-Schmidi am 30. Juni 1901 in fürsorglicher
Weise durch Briefe folgenden Inhalts auf das Kommende
vor: „Von der Konkursverwaltung der Leipziger Bank in
Leipzig werden Sie einen Brief erhalten, in welchem sie
auf eine zedierte Forderung zurückgreift, welche meine
Gesellschaft an ... (kommt der jeweilige Name der Tochter-
sründung) besitzt. Zu Ihrer Information möchte
ich Ihnen bemerken, daß sich z. Z. in den Büchern
meiner Gesellschaft aus den fortgesetzten Zuschüssen,
Umänderungen, Neubauten etc. eine große Forderung
an Ihre Gesellschaft befand, welche meine Ge-
sellschaft, um Ihre Gesellschaft intakt zu halten, nicht
geltend machte.... Indem ich Ihnen dies zur gefl.
Information mitteile, bemerke ich Ihnen ergebenst, daß Sie
der Konkursverwaltung der Leipziger Bank auf das an
Sie ergangene Schreiben der Wahrheit entsprechend mit-
teilen wollen, daß die von meiner Gesellschaft . . geleisteten
Vorschüsse etc. gemäß der Verabredung mit der Treber-
trocknung nicht geltend gemacht werden sollen, und Sie
daher der Konkursverwaltung überlassen müssen, sich
wegen Tilgung der Beträge mit der Trebertrocknung zu
verständigen.“
Aber auch sonst hatte es mit jenen Forderungen, die
der Leipziger Bank als Garantie abgetreten worden waren,
eine eigene Bewandtnis. Denn waren schon die abgetretenen.
Außenstände höchst zweifelhafter Natur, so war an eine
feste Basis überhaupt nicht mehr zu denken, als kurze
Zeit später die Vereinbarung getroffen wurde, daß die
Der Leipziger Bank-Prozeß. i 1483
Forderungen schlechterdings gestrichen werden sollten.
An ihrer Stelle sollten die einzelnen Gesellschaften die
Verpflichtung übernehmen, der Trebertrocknung für die
Dauer von 20 Jahren eine laufende Lizenzgebühr von
40 bis 50 Proz. des Bruttogewinns zufließen zu lassen.
„Dieser Anteil an den Bruttogewinnen“, schreibt Schmidt
hierzu, „beträgt zweifellos so viel, daß wir die Rück-
zahlungen und Zinsen daraus tilgen können. Wir ver-
kaufen also einen großen Teil unserer Forderungen an
die sechs Herren dadurch, daß wir den größten Teil dieses
Gewinnanteils denselben verpfänden und die Sicherheit
übernehmen, daß mindestens die und die Beträge im Laufe
der nächsten 15 bis 16 Jahre aus diesem Anteil aus dem
Bruttogewinn vereinnahmt werden.“ Auch hier wieder
zeigt sich, daß alle jene Abmachungen, die ihren Ausgang
von der Entlassung der Trebergesellschaft aus der Schuld-
nerrolle nahmen, im Grunde doch wieder auf die Haft-
barkeit der Trebertroecknung hinausliefen. Die Leipziger
Bank ging auch auf diesen Vorschlag ein, den Schmidt
mit der geplanten Fusionierung eines Teiles der Tochter-
gesellschaften mit der Zentrale rechtfertigte, obwohl ihre
Position, wie ersichtlich, hierdurch noch ungünstiger und
unsicherer wurde, wie zuvor.
Auch wenn man beachtet, daß insoweit ja nur eine
Garantie für die Leipziger Bank in Frage kam, und in
erster Linie doch die Casseler Verwaltungsmitglieder per-
sönlich hafteten, muß, von allen anderen Bedenken abge-
sehen, der vereinbarte Modus der Schuldentilgung die für
die Bank unvorteilhafte Seite der ganzen Transaktion ins
rechte Licht stellen. Schmidt schreibt. hierüber in jenem
großen Programmbriefe vom 19. Oktober 1900: „Die Ver-
bindlichkeiten, welche die Herren alsdann bei Ihnen haben,
würden außer den Ende Juni kontrahierten M. 4000000
sich einschließlich der etwa M. 4000000 betragenden lau-
fenden Akzepte auf ca. M. 22000000 beziffern. Es hat
144 Dr. Weber.
nun gar keinen Sinn, Verpflichtungen zur Abzahlung zu
übernehmen schneller, als wie wir solche leisten können,
und als Maßstab hierfür hat mir die sorgfältige Berechnung
der Einnahmen gedient, welche wir bei Durch-
führung der Unternehmungen sicher erwarten
dürfen. Ich habe für die ersten Jahre von einer Amor-
tisation vollständig Abstand nehmen müssen, da erstens die
im Juni kontrahierten M. 4000000 zur Abzahlung gelan-
gen müssen und ferner auch die Zahlung der laufenden
Zinsen gerade genügt, die Erfüllung weiterer Verbindlich-
Keiten unmöglich zu machen. Die Abzahlung der M.22000000
könnte meines Erachtens in folgender Weise zuverlässig er-
folgen: Beginnend am
5.4. 1903 Mk. 250000
5.10. 1903 „ 250000
5.4. 04, 5.10. 04, 5.4. 05, 5.10. 05 je „ 500000
5.4. 06, 5. 10. 06 je „ 750000
5.4. 07 ,„ 1000000
5.10. 07 ,„ 1000000
und so fort halbjährlich M. 1000000 bis zur vollständigen
Tilgung der Schuld. Die 6 Herren würden nur die Ver-
bindlichkeit übernehmen, diese Schuld zu tilgen, jedoch
nicht für dieZinsen aufzukommen. Die Verpflich-
tung der Zinszahlung würde die Trebergesellschaft behalten
und Ihnen diese Zinsen halbjährlich vergüten. Die Ver-
gütung dieser Zinsen dürfte aber auch nicht
vor dem 5.4. 1902 beginnen; bis dahin müßten die
abgelaufenen Zinsen dem Konto der Trebergesellschaft bei
Ihnen belastet werden.“
Im höchsten Grade auffällig muß es weiter erschei-
nen, daß die Leipziger Bank, ehe sie 18 Millionen neue
Schulden den Casseler Herren aufbürdete, nicht wenigstens
sich sorgfältig über die Vermögensverhältnisse derselben
unterrichtete. Zwar zog sie Auskünfte darüber ein, allein
diese hätten ihrem Inhalte nach kaum genügt, wenn es
Der Leipziger Bank-Prozeß. 145
sich eben auch hier nicht lediglich um eine bloße Form
gehandelt hätte. So ist es auch erklärlich, daß die Bank
die entsprechenden Buchungen vornahm, teilweise ehe auf
die Erkundigungsschreiben die Antwortbriefe eingegangen
waren. Im übrigen ist wiederum auch hier bezeichnend
die zu diesem Punkte gewechselte Korrespondenz. Am
23. Oktober 1900 mahnen die Leipziger Direktoren an
schnelle Erledigung der getroffenen Vereinbarungen: „Nach-
dem das Konto Ihrer Gesellschaft bei uns trotz unserer
wiederholten Aufforderungen, den Stand desselben zu re-
duzieren, im Gegenteil fortgesetzt eine Erhöhung erfahren
hat, müssen wir Ihnen hierdurch mitteilen, daß es uns
nunmehr absolut unmöglich ist, in dieser Form
das Konto Ihrer Gesellschaft weiterzuführen,
und Sie gleichzeitig ersuchen, mit Ihrem Aufsichtsrate un-
verzüglich Rücksprache zu nehmen....“ Der Schluß des
Briefes trägt den handschriftlichen Vermerk Exners: „Um
Ihren Herren größere Vorschüsse bewilligen zu können,
ist es naturgemäß Voraussetzung, daß die einzelnen Herren
uns den Beweis, jeder einzelne für sich, erbringen, daß sie
nach ihren Verhältnissen einen derartigen Kredit bean-
spruchen können.“ Schmidt verstand die Tendenz dieser
Bemerkung sehr wohl, und so gab er am 29. Oktober 1900
folgende Antwort: „Ich komme heute auf Ihre gefl. Privat-
zeilen vom 23. cur. zurück und habe vom Inhalt bestens
Kenntnis genommen. Ich stimme natürlich vollständig
Ihren Ausführungen bei, daß bei dem zu treffenden Ab-
kommen jeder Schein vermieden werden muß,
welcher auf eine Verschleierung hindeuten würde,
und steht selbstverständlich dem nichts im Wege, daß die
einzelnen Herren die von Ihnen gewünschten Briefe an
Ihre Bank schreiben.“
Es ist selbstverständlich, daß die Angeklagten nicht
daran dachten, den Scheincharakter des ganzen 22,4 Mil-
lionengeschäfts im Strafverfahren zuzugeben, betonten sie
146 Dr. Weber.
doch der ganzen Anklage gegenüber, völlig unschuldig zu
sein, stets das Wohl der Gesellschaft und ihrer Gläubiger
im Auge gehabt und bei aller Drangsal doch nie zu un-
lauteren Manipulationen, Verschleierungen oder gar stär-
kerem Schwindel ihre Zuflucht genommen zu haben. In-
dessen waren sich die zur Beurteilung dieser Geschäfte
als Sachverständige zugezogenen drei Vertreter der Finanz-
welt darüber einig, daß die von den Angeklagten behaup-
teten Vorteile ın der Tat für die Leipziger Bank aus der
Durchführung dieses Geschäfts nicht entflossen. Die Bank
entließ die Trebergesellschaft aus einer Schuld in bedeu-
tender Höhe, die sofort fällig war, um dagegen einzutau-
schen Forderungen an die Verwaltungsorgane der Treber-
trocknung, die mit ihrer Gesellschaft ja schließlich auch
mehr oder weniger identisch sein mußten. Und diese neuen
Schuldner erhielten die Befugnis, ihre Verpflichtungen in
Raten zu erfüllen, die sich auf einen Zeitraum von nicht
weniger als 15 Jahren erstreckten, so daß die letzte Zah-
lung erst im Jahre 1915 erfolgen konnte. Und nicht genug
hiermit, wurde die Forderung der Bank, die früher unbe-
fristet und unbedingt gewesen war, jetzt auch noch inso-
fern zu einer höchst unsicheren, als es der Tendenz der
neuen Abmachungen entsprach, daß die neuen Schuldner
lediglich aus den erhofften späteren Gewinnen der Treber-
gesellschaft, an denen sie selbst partizipierten, die über-
nommenen Verbindlichkeiten abtragen sollten. Diesen enor-
men Nachteilen gegenüber konnte der geringe Vorteil keine
Rolle spielen, der darin lag, daß für die eine Forderung
gegenüber früher jetzt 2 Verhaftete vorhanden waren. Das
Geschäft abzuschließen, sei für die Leipziger Bank un-
richtig gewesen, vom wirtschaftlichen Standpunkt sei es
als völlig unvernünftig zu bezeichnen, so lautete das
Gutachten des einen Sachverständigen. Der zweite nannte
es eine „überaus verwerfliche“ Transaktion, der dritte be-
zeichnete sein Wesen mit dem Ausdrucke „Schiebung“.
Der Leipziger Bank-Prozeß. 147
Etwas anderes, als ein Urteil über den Wert der getroffenen
Abmachungen abzugeben, stand den Sachverständigen nicht
zu. Einen Schritt weiter konnte indessen die Anklage-
behörde gehen, denn sie durfte sich nicht mit der Beur-
teilung der objektiven Erscheinungen begnügen, sondern
mußte auch die subjektiven Momente ins Auge fassen, die
dem Wirken der Angeklagten die Prägung gegeben haben
konnten. Und von diesem Standpunkt aus mußte das
22,4 Millionengeschäft als ein Scheingeschäft bezeich-
net werden. Der Abschluß des Geschäfts stellte für er-
fahrene Geschäftsleute, wie es von den Leipziger Direktoren
besonders Exner war, etwas so Törichtes und Widersinni-
ges dar, die kaufmännische Struktur bot etwas so Unge-
wöhnliches, die rechtliche Behandlung zeigte, was besonders
für den Juristen Gentzsch in Betracht bekam, eine so auf-
fällige Vernachlässigung der einfachsten Regeln juristischer
Geschäftspraxis, daß, da nun einmal die Persönlichkeiten
der Vertragschließenden geistig gesunde, die vorliegenden
Verhältnisse klar erkennende und die Tragweite der Ab-
machungen genau überschauende Menschen waren, eine
Erklärung für all das Auffällige, das bei Abschluß und
Durchführung des 22,4 Millionengeschäfts objektiv in Er-
scheinung trat, nur darin zu finden war, daß man den
ernsten Vertragswillen als fehlend erachtet. Die Absicht
der Parteien war lediglich auf Erzielung eines Schein-
effektes gerichtet gewesen. Durch Abschluß des Geschäfts
wurde für die Buchführung ein Scheingrund geschaffen, die
Treberschuld von den laufenden Schuldkonten der Treber-
trocknung zu beseitigen. Eine tatsächliche Abdeckung der
Schuld war der Trebergesellschaft nicht möglich; so mußte
für die Leipziger Bank ein Mittel gefunden werden, um
auch bei Weiterhaftung der Trebertrocknung doch ihren
Namen als Schuldnerin entfernen zu können. Dieses Ziel
wurde erreicht dadurch, daß die Trebergesellschaft eine
Weiterhaftung als bloße Bürgin übernahm. Alle ferneren
148 Dr. Weber.
Abmachungen, die sich an diese Hauptvereinbarung an-
schlossen, waren lediglich zu dem Zwecke getroffen, der
Transaktion ein Mäntelchen umzuhängen und so das Auf-
fällige, das ihr anhaftete, möglichst zu verbergen.
Aber mochten auch die Summen, um die es sich bei
dem 22,4 Millionengeschäft handelte, sehr bedeutend sein,
mochte auch Schmidt versichert haben, daß durch die Aus-
führung des Geschäfts seine Bücher eine „vollständige
Reinigung“ erführen und seine Gesellschaft nach dieser
Reinigung „prima“ dastehen würde, so machte er doch
schon im Briefe vom 11. November 1900 den Wunsch nach
weiterer „Säuberung“ seiner Bücher geltend. Die Leip-
ziger Bank ging um so bereitwilliger auch auf die weite-
ren Wünsche Schmidts ein, als auch sie das Bedürfnis
empfand, zwecks Aufstellung eines guten Abschlusses noch
eine größere Anzahl von buchmäßigen Operationen vor-
zunehmen. Die Einrichtung des „Solidar-Vorschuß-
Kontos Sumpf und Genossen“ (Sumpf ist der Name
des Casseler Aufsichtsratsvorsitzenden) bot Gelegenheit, die
beiderseitigen Bedürfnisse zu befriedigen.
Das Solidar-Vorschuß-Konto war gegründet worden
bereits Mitte des Jahres 1900, und zwar mit einer Kredit-
eröffnung von 4 Millionen Mark. Selbstverständlich lag
der Leipziger Bank durchaus nichts daran, diesen Kredit
zu erhöhen. Allein es schien kein anderer Weg gangbar,
um das Reinigungswerk fortzuführen, ohne das weder die
Casseler noch die Leipziger Gesellschaft in der Lage ge-
wesen wäre, eine günstig ausschauende Bilanz aufzustellen.
Die Trebertrocknung hatte noch einen Rest weiterer fauler
Debitoren, die sie aus ihren Büchern zu entfernen wünschte.
Andererseits war der Leipziger Bank daran gelegen, noch
einen größeren Posten von Casseler Tochterwerten vor
ihrem Jahresabschluß abzustoßen, damit sie in der Lage
wäre zu erklären, sie habe auf eigene Rechnung keine
Tochterwerte. Und im übrigen war selbstverständlich
Der Leipziger Bank-Prozeß. 149
beiden Seiten die Gelegenheit erwünscht, das immer wieder
anschwellende Schuldkonto der Trebergesellschaft bei der
Leipziger Bank wiederum zurückschrauben zu können.
Von dem früher zu diesem Zwecke so gern angewen-
deten Mittel der Hereinnahme von Wechseln machte man
natürlich auch jetzt Gebrauch; allein das Mittel hielt nicht
lange vor, und die fortgesetzten Erneuerungen der Akzepte
konnten schließlich doch Aufsehen erregen. Interessant
sind in diesem Zusammenhange noch zwei Briefe, die im
Anschluß an das soeben vereinbarte 22,4 Millionengeschäft
zwischen Leipzig und Cassel gewechselt wurden. Der
eine Brief, am 16. November 1900 von der Leipziger Bank
ausgehend, berührt die in großer Menge von den Casseler
Tochtergesellschaften ausgegebenen Wechsel. Die Leipziger
Bank-Direktion befürchtet, daß mit der beabsichtigten Strei-
chung aller Barforderungen an die Tochtergesellschaften
auch die Wechsel einfach verschwinden könnten, und
schreibt deshalb nach Cassel: „Hierbei möchten wir Sie
gleichzeitig bitten, seitens der verschiedenen Tochtergesell-
schaften Vorkehrungen treffen zu lassen, daß nach Um-
wandelung der jetzt bestehenden Barforderungen in Lizenz-
forderungen die im Umlaufe befindlichen Akzepte dieser
Gesellschaften ... nicht etwa ganz oder teilweise ohne
weiteres verschwinden und zu Lasten des Kontos
Ihrer Gesellschaft eingelöst werden sollen. Es muß uns
sehr daran gelegen sein, diese Wechsel noch
für eine längere Zeit prolongiert zu seben.“
Der zweite Brief geht von Schmidt aus und wird am
16. November 1900 an die Leipziger Bank gesandt. Er
spricht davon, daß die mehrerwähnten Wechselverbindlich-
keiten der Casseler Herren in Höhe von 4000000 Mk. bei
dem 22,4 Millionengeschäft mit „aus der Welt“ gebracht
werden sollten, und daß deshalb Schmidt die Herren nicht
die offene Schuld von 18000000 Mk., vielmehr eine solche
von 22000000 Mk. habe übernehmen lassen. „Meine Ge-
150 Dr. Weber.
sellschaft“, heißt es in diesem Zusammenhange wörtlich,
„bekommt bei Übertragung der sämtlichen Mk. 22000 000
bei Ihnen ein Guthaben von ca. Mk. 4000000, welches in-
dessen beglichen wird, wenn die einzelnen Akzepte der
Herren in Höhe von zusammen 4000000 fällig sind und
zur Einlösung gelangen. Das Ganze ist ja nur ein
Buchungsvorgang.“ Damit die Leipziger Bank aber
doch nicht in Verlegenheit komme, wenn sie etwa neue
Wechsel brauche, heißt es weiter: „Wenn Sie die Akzepte
der einzelnen Herren in irgend welchen Beträgen benöti-
gen, so steht Ihnen auf Grund der jetzigen Vereinbarungen
ja das Recht zu, diese Akzepte einzuziehen.“
Die speziellen Vorschläge über den weiteren Ausbau
des „Solidar-Vorschuß-Kontos“, die Schmidt am 14. Januar
1901 der Leipziger Bank unterbreitete, wurden noch, so-
weit möglich, in demselben Monate ausgeführt. Da in-
dessen in der Folgezeit noch weitere Wünsche hervor-
traten, die ebenfalls erörtert und schließlich auch zugesagt
wurden, so kam es, dab ein Teil der Buchungen erst im
Februar, die letzte am. 23. Februar 1901, vorgenommen
werden konnte. Gleichwohl wurden aber sämtliche Ein-
tragungen mit Ausnahme zweier Posten von unbedeu-
tenden Beträgen datiert per 31. Dezember 1900, da sonst
der von der Leipziger Bank gewünschte Effekt, den Ab-
schluß ihres mit dem Kalenderjahr zusammenfallenden
Geschäftsjahres günstiger zu gestalten, nicht erreicht wor-
den wäre. Daß diese Rückbuchungen unzulässig waren,
wurde von den Sachverständigen einmütig bestätigt; denn
die Belastung auf dem Solidar-Vorschuß-Konto hätte erst
erfolgen dürfen, nachdem mit den betreffenden Konten-
inhabern das Geschäft perfekt geworden war.
Das Solidar-Vorschuß-Konto stellte, wie einer der Bank-
sachverständigen sich ausdrückte, eine „Versenkung“ dar,
in die Leipziger Bank und Trebertrocknung einen Teil
der Treberwerte, die sie noch im Besitz hatten, verschwin-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 151
den ließen. Für die Bank handelte es sich dabei um Ak-
tien von Casseler Tochterunternehmungen im Gesamtbetrage
von etwa 11/2 Millionen Mark, während die von der Treber-
trocknung eingeworfenen Posten gleicher Effekten um etwa
200000 Mk. weniger ausmachten.
Weiter übernahm das Solidar-Vorschuß-Konto die im
Depot „Berliner Finanz- und Handelszeitung“ bei der Leip-
ziger Bank lagernden Treber-Tochteraktien, um den Gegen-
wert dieser Effekten, 1340000 Mk., zur Ausgleichung des
unangenehmen „Interimkontos Berliner Finanz- und Handels-
zeitung“ zu verwenden.
Endlich wurde jetzt auch das der Bank längst lästig
gewordene „Trustkonto“ beseitigt. Die auf ihm lagernden
Effekten, die selbstverständlich die Trebertroeknung zurück-
zunehmen außerstande war, wurden ebenfalls dem Soli-
dar-Vorschuß-Konto übertragen. Durch die entsprechende
Gutschrift von 2676986 Mk. 55 Pfg. konnte das „Trust-
Konto“ zum Ausgleich gebracht werden. Mit dem bei den
Abrechnungen sich ergebenden, nicht unbedeutenden Agio-
verlust (vgl. oben S. 120) ließ sich Treber-Schmidt persön-
lich belasten.
Der Charakter des ganzen Geschäfts ist dem der Ein-
richtung der „Separat-Vorschuß-Konten Sumpf und Genossen“
zugrunde liegenden durchaus gleich. Es handelt sich hier
wie dort um die Mitglieder der Casseler Verwaltungskör-
per, auf die das abgeschoben wurde, was man auf den
Konten der Bank, der Trebergesellschaft und einigen we-
nigen unangenehm gewordenen weiteren Konten nicht belassen
wollte. Wer über die wahre Natur des 22,4 Millionengeschäfts
etwa noch im unklaren gewesen wäre, würde durch die neue
Abmachung aus dem letzten Zweifel gerissen worden sein.
Denselben Personen, die, schon mit großen Verbindlich-
keiten beladen, durch Errichtung der Separat-Vorschuß-
Konten mit 22,4 Millionen Mark neuer Schulden belastet
worden waren und damit bereits bis über die Grenze ihrer
152 Dr. Weber.
Leistungsfähigkeit verpflichtet erscheinen mußten, wurde
jetzt wieder eine neue Last von bald 11 Millionen auferlegt.
Denn dieGesamtbelastung desSolidar-Vorschuß-Kontos betrug
10726390 Mk.75 Pfg. Wie dieCasselerin der Lage sein sollten,
diese ungeheueren Schulden abzustoßen, darüber gab sich
die Leipziger Bank-Direktion keine Rechenschaft. Sie. hatte
freilich insofern keine Veranlassung, hierüber Überlegungen
anzustellen, als für sie eben die Unmöglichkeit, diese For-
derungen durch die Casseler Verwaltungsmitglieder gedeckt
zu erhalten, von vornherein zweifelsfrei feststand. Hieran
änderte nichts der Umstand, daß, ähnlich wie bei dem
22,4 Millionengeschäft, auch hier für die Rückzahlung der
Schuld nebst Zinsen ein weiter Spielraum gelassen war.
Die Zahlungen sollten am 30. Juni 1901 beginnen und in
Halbjahrsraten von je 400000 Mk. bestehen, so daß also
die letzte Rate erst im Jahre 1914 fällig geworden wäre.
Auch hier wieder konnte also von einem wirtschaft-
lichen Werte der Transaktion für die Bank nicht gespro-
chen werden. Im Gegenteil stellte sich die Bank schlechter,
indem sie sofort fällige Forderungen in weit hinaus be-
fristete umwandelte und dazu, während die Trebergesell-
schaft als bloße Garantin haften blieb, als Schuldner ein-
tauschte Personen, die bereits mit über 30 Millionen Mark
in ihren Büchern belastet standen. Die Leipziger Bank
hätte unter normalen Verhältnissen niemals daran gedacht,
ein derartiges Geschäft abzuschließen. Sie tat es im vor-
liegenden Falle nur zum Scheine, weil es ihr darauf an-
kam, in ihren Büchern gewisse Eintragungen bewirken zu
können, für die selbstverständlich den Buchhaltern Unter-
lagen geschaffen werden mußten. Rund 33 Millionen waren
auf solche Weise von den laufenden Treberkonten herunter-
gebucht worden, ehe in Leipzig und in Cassel der Abschluß
fertiggestellt wurde. Eine günstig ausschauende Bilanz war
wiederum für beide Teile gesichert, und dabei verrieten
vor allem auch die Bücher nicht die gefahrvolle Höhe des
Der Leipziger Bank-Prozeß. 153
Treberobligos. Denn das Ordinarkonto zeigte ultimo 1900
einen Stand von noch nicht 1!/ Millionen Mark, während
die Forderung der Bank auf Treber-Vorschuß-Konto noch
nicht einmal 1 Million erreichte. In Wahrheit aber be-
trug das gesamte Treberengagement um diese Zeit über
81000000 Mk.
Die ganze Mühewaltung der Leipziger und Casseler
Direktion wäre umsonst gewesen, wenn sie in ihren Ge-
schäftsberichten auch nur mit einem Worte die prekäre
Lage angedeutet hätten, die die Zahlen der Bilanz schlech-
terdings nicht ahnen ließen. Zwar erwähnte der Geschäfts-
bericht der Leipziger Bank, daß der eingetretene „Rück-
gang der Industrie und des Handels“, die „durch die
Börsengesetzgebung gezeitigte Unsicherheit bei Annahme
von Börsenaufträgen“ und die „politischen Ereignisse, in
erster Linie die chinesischen Wirren“ die Banktätigkeit „zu
einersehr mühevollen“ gestaltet hätten; allein von den Sorgen,
die die unheilvolle Treberverbindung der Bank gebracht
hatte, war keine Rede, wie denn der erhöhten Treberenga-
gements überhaupt mit keinem Worte Erwähnung getan
wurde. Im Gegenteil war gerade der übrige Inhalt des
Geschäftsberichts nur geeignet, die günstigsten Vorstellun-
gen von der Lage der Gesellschaft zu erwecken. Wenn
es hieß, daß man bestrebt gewesen sei, „die Eingehung
neuer Konsortial- und Emissionsgeschäfte nach Tunlich-
keit zu vermeiden“, und ausdrücklich betont wurde, daß
der Stand des Konsortialkontos „keine nennenswerte Er-
höhung erfahren“ habe, und der Bericht an anderer Stelle
sagte, der Wirkungskreis des Instituts habe „mit Ausnahme
des Effektengeschäftes, wo unter den obwaltenden Verhält-
nissen eine Ausdehnung ausgeschlossen bleiben mußte“,
auf allen übrigen von der Bank kultivierten Gebieten,
„speziell im Kontokorrentgeschäft, eine weitere gün.
stige Entwickelung erfahren“, so würden diese Stellen
genügt haben, ängstliche Gemüter zu beruhigen, auch wenn
Der Pitaval der Gegenwart. I, 11
154 Dr. Weber.
nicht noch besonders hervorgehoben. worden wäre, dab
man „im Hinblick auf die ungünstigen Zeitverhältnisse
gegenüber zahlreichen Anträgen wegen neuer Geschäfts-
verbindungen eine vorsichtige Zurückhaltung be-
wahrt hätte“.
Und dazu die schönen Zahlen der Bilanz! Nicht nur,
daß trotz reichlichster Abschreibungen ein Gewinn von über
51/2 Millionen Mark vorgerechnet wurde, der die Verteilung
einer 9%/oigen Dividende gestattete; es war auch gesa gt
daß von den 95 Millionen Debitoren, die die Aktivseite
zeigte, etwa 83 Millionen gedeckt seien. Freilich nicht war
miterwähnt, daß diese „Deckung“ in der Hauptsache aus
Treberwerten bestand, die als Sicherheiten zu ihrem No-
minalbetrage eingesetzt worden waren, obwohl sich kein
Mensch fand, der diese „Werte“ abnahm, geschweige denn
zu den berechneten Preisen. Und ebenso war nicht er-
wähnt, daß von den unter das Effektenkonto gehörenden
Werten fast die Hälfte sich nicht im Besitze der Bank
befanden, vielmehr verpfändet worden waren, ebenso wie
von dem stolzen Wechselbestand, den die Bilanz in Höhe
von rund 38 Millionen Mark aufwies, rund 12 Millionen
bei der Leipziger Lotterie-Darlehnskasse lombardiert waren,
ohne daß dieser für die Beurteilung der Lage der Bank
wesentliche Umstand aus Bilanz oder Bericht zu erkennen
gewesen wäre,
So allgemein war der Geschäftsbericht für 1900 ab-
gefaßt und so wenig gab er Auskunft über das Verhältnis
der Bank zur Trebergesellschaft, über das in letzter Zeit
so viel geschrieben und gesprochen worden war, daß Di-
rektion und Aufsichtsrat der Bank es für geboten hielten,
zu dem Berichte noch ein besonderes Exposé auszuarbei-
ten, um durch dessen Verlesung den mit Sicherheit in der
Generalversammlung erwarteten Interpellationen zuvorzu-
kommen und dadurch vielleicht weitere unbequeme Fragen
von vornherein abzuschneiden. Freilich bereitete die Fas-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 155
sung des Exposés einige Schwierigkeiten. In dem Sitzungs-
protokoll vom 16. März 1901 heißt es zu diesem Punkte:
„Aus der eingehenden Aussprache hierüber ging hervor,
daß man sich allseitig der großen Schwierigkeiten der For-
mulierung einer solchen Erklärung bewußt war, da die
Aktiengesellschaft für Trebertrocknung sich ja
nicht in Konkurs befindet, sondern ihren Verpflich-
tungen bisher nachgekommen ist. Es ist hierbei zu berück-
sichtigen, daß die Leipziger Bank zur Wahrung des Ge-
schäftsgeheimnisses allen ihren Kunden gegenüber verpflichtet
ist... Es wurde demgemäß beschlossen, die Zahlen der
Salden der verschiedenen Konten der Aktiengesellschaft
für Trebertrocknung nicht bekannt zu geben, wohl aber
in größeren Zügen den Geschäftsverkehr, welchen die
letztere mit der Leipziger Bank unterhielt, zu schildern und
darauf hinzuweisen, daß die Höhe der Salden zeitweilig
eine bedeutende sei.“ !
Diesen Grundsätzen getreu war denn auch die Er-
klärung gehalten, über deren Wortlaut sich Direktion und
Aufsichtsrat geeinigt hatten, und die der bald darauf ver-
storbene Vorsitzende des Aufsichtsrates in der Generalver-
sammlung vom 19. März 1901 nun tatsächlich zum Vortrage
brachte. Es wurde darin gesagt, daß die Trebergesell-
schaft „außer mit vielen anderen in- und ausländischen
Banken“ auch mit der Leipziger Bank seit einer Reihe von
Jahren in ausgedehntem bankgeschäftlichen Verkehr stehe.
Die Umsätze, die dabei erzielt worden seien, seien „sehr
bedeutende“, und es sei für die Bank „die Verbindung bis-
lang stets eine lukrative gewesen“. Weiter ist davon
die Rede, daß die Trebertrocknung mehrere Konten unter-
halte, in der Hauptsache aber zwei Arten, nämlich außer
den üblichen Kontokorrent-Konten ein Warenvorschuß-
konto. „Die Kontosalden“, hieß es wörtlich weiter, „vari-
ieren naturgemäß in ihrer Höhe; sie sind zeitweilig be-
.deutend und sind zum großen Teile gedeckt.“ Ferner
11*
156 Dr. Weber.
wurde in dem Exposé feierlich die Erklärung abgegeben,
daß die Bank selbst Treberaktien, alte oder Junge, nicht
besitze. An Trebertochteraktien wurden 3 Gattungen ge-
nannt, die unter den Effekten der Bank vertreten seien;
indessen wurde zur Beruhigung gleich hinzugefügt, dab
diese Aktien, nicht allzu hohe Posten, auch noch mit null
zu Buche ständen. Von Konsortialbeteiligungen an Treber-
unternehmungen erwähnt das Exposé nur die an der bel-
gischen Gründung. |
Die Leipziger Verwaltungsorgane hatten durchaus
richtig gerechnet. Nach Verlesung des Exposes, zu der
man geschritten war, noch ehe jemand zu dem Geschäfts-
bericht oder der Bilanz das. Wort ergriffen hatte, fühlte
sich die Versammlung beruhigt, und Exner konnte nach
Schluß derselben freudig seinem Casseler Freund depe-
schieren: „aeneralversammlung ohne Störung ver-
laufen.“ Daß übrigens Schmidt nicht ohne Bangen seiner
eigenen Generalversammlung gedacht hatte, beweist der
Schlußpassus seines an die Leipziger Bank gerichteten
Briefes vom 29. März 1901: „Ich benachrichtige Sie noch,
daß der Termin zur Anstrengung einer Klage gegen die
Beschlüsse unserer Generalversammlung vom 28. Februar
gestern Abend abgelaufen ist, ohne daß eine Klage
erfolgte“
Indessen das Schicksal ließ sich nicht mehr bannen.
Mochten die Zweifler noch einmal beschwichtigt worden
sein, die durch die umlaufenden Gerüchte, insbesondere
durch die Berichte der Frankfurter Zeitung sich beunruhigt
gefühlt hatten, die Anfang März von einem Treberobligo
der Leipziger Bank in Höhe von 25 Millionen Mark ge-
sprochen hatte, die Verhältnisse spitzten sich doch immer
mehr zu, und die geringste Veranlassung konnte die schon
so lange drohende Katastrophe plötzlich herbeiführen. Ende
des ersten Quartals 1901 war das Treberobligo schon wieder
um 7 Millionen gestiegen, und ein weiteres Anwachsen er-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 157
schien noch immer nicht ausgeschlossen. Dies, trotzdem
am 27. Februar 1901 die Leipziger Bank sich zu einem
Ultimatum aufgerafft, inhalts dessen der Trebertroeknung
jede Erhöhung des Kredits verweigert werden sollte, und
obgleich man dabei ausdrücklich bestimmt hatte, daß von
dieser Entschließung „keinesfalls abgewichen werden solle“.
Und auch ein gleichzeitig nach Cassel gesandtes Schreiben
des Aufsichtsrates hatie nichts gefruchtet, in dem eine Stei-
gerung des Obligos auch nur „um den geringsten Betrag“
als unmöglich bezeichnet worden war, nachdem die Bank
bereits die Trebergesellschaft und ihre Zweiganstalten in
einer Weise unterstützt habe, die ihre „eigene Leistungs-
fähigkeit beeinträchtigt und geschädigt und das
Ansehen der Bank ungünstig beeinflußt“ habe.
Man mußte gleichwohl in Leipzig kurze Zeit darauf die
praktische Durchführung des Ultimatums einstellen, da
man inzwischen das Bedürfnis gefühlt hatte, mit Hilfe
Cassels jetzt für die eigene Kasse Geld aufzutreiben. Des-
halb war am 11. März 1901 die Leipziger Direktion von
ihrem Aufsichtsrate ermächtigt worden, „die dringend-
sten Geldbedürfnisse der Casseler Gesellschaft gegen
Hergabe von Deckungen, unter denen auch die Abtretung
von Außenständen verstanden werden soll, zu befriedigen“.
Der Casseler Direktor empfand die Geldnot der Bank,
die sich immer mehr fühlbar machte, aufs peinlichste. Er
fragte, ärgerlich darüber, daß die Bank jetzt immer an sich
nur denke, an, ob denn die Kredite, die er beschafft habe
oder die er bemüht sei zu beschaffen, lediglich dazu dienen
sollten, die Bank zu entlasten, und spricht unverhohlen aus,
daß dann sein Ruin besiegelt sei und für die Leipziger
Bank selbst Gefahr drohe: „Für Ihre Bank ist der Bestand
meiner Gesellschaft und die gute Durchführung der Ge-
schäfte derselben zu einer Lebensfrage geworden, und
Sie dürfen sich nicht verhehlen, daß der Ruin
meiner Gesellschaft unabsehbare Folgen nach
158 Dr. Weber.
sich ziehen würde.“ In einem weiteren Briefe heißt
es: „Wir erachten jede Korrespondenz für zwecklos, so-
lange nicht eine Verständigung darüber herbei-
geführt ist, daß Sie uns überhaupt ermöglichen,
den Betrieb weiterzuführen. Durch Ihre Maß-
nahmen werden wir gezwungen, unsern Betrieb
einzustellen.“ Und am 24. März 1901 schreibt Schmidt
in einem eigenhändig geschriebenen Briefe an Exner: „Ich
erhielt heute Ihre gestrigen Privatzeilen, die mir den ganzen
Tag über keine Ruhe gelassen haben. — — Es handelt
sich darum, ob und wie-lange Sie durchkom-
men können, wenn meine Gesellschaft keine Geldanforde-
rungen an Sie stellt.. Die Angst, welche mir Ihre
heutigen Zeilen verursacht haben, läßt mir keine
Ruhe zur Arbeit. — — — Alle diese Arbeiten
haben keinen Zweck, wenn wir, wie Sie schrei-
ben, en Tag eine Katastrophe befürchten
müssen.“
Dieselbe Aufregung hatte sich inzwischen auch des
Leipziger Aufsichtsrats bemächtigt, der am 28. März nach
eingehender Prüfung der Art und der Höhe der be-
stehenden Engagements eine Aussprache mit den Organen
der Trebergesellschaft beschloß, „bei welcher Aufklärung
über die Rentabilität der Casseler Unterneh-
mungen, über die Möglichkeit des Fortbetriebes,
über die Geschäftsumsätze und die bestehenden
Lieferungsverträge gefordert werden sollte“. Gleichzeitig
wurde auch in dieser Aufsichtsratssitzung bereits eine
Kommission gewählt „für den Fall, daß sich zu-
gunsten der Leipziger Bank eine Hilfsaktion
in Berlin nötig machen sollte“.
Alle diese Schriftstücke reden eine so deutliche Sprache,
daß ein Kommentar zu ihnen überflüssig erscheint. Es
waren ja schöne Beschlüsse, die man jetzt faßte, und
treffliche Maßnahmen waren es, an deren schleunige Aus-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 159
führung man ging, allein wie außerordentlich zweck-
mäßig es auch war, daß die Leipziger Verwaltungsorgane
in der Tat Anfang April sich auf einige Tage nach Cassel
begaben, um dort die Verhältnisse eingehend zu studieren,
daß sie weiter auch zur sorgfältigen Prüfung der Casseler
Bücher einen ihrer Beamten nach Cassel entsandten, und
daß sie endlich einen unparteiischen Sachverständigen mit
der Untersuchung der rotierenden Retorte betrauten, von
der sich Schmidt an Stelle der bisher in Gebrauch befind-
lichen feststehenden ungeheuere Vorteile versprach, etwas
Ersprießliches für die Bank konnte nicht mehr erreicht
werden. Die Zeit, in der solche Maßregeln hätten von
Nutzen sein können, war längst vorüber; jetzt waren: diese
Akte der Verzweiflung lediglich dazu angetan, das eigene
Gewissen zu beruhigen, das schwere Verantwortung
drückte, weil „jeden Tag die Katastrophe zu befürchten
war“. |
Wie unrichtig daher die Behauptung des Communi-
qués war, das als Grund der Zahlungsstockung den am
9. Juni 1901 erfolgten Zusammenbruch der „Kreditanstalt
für Industrie und Handel“ in Dresden angab, liegt auf
der Hand. Die Versuche, die die Trebergesellschaft so-
wohl wie die Leipziger Bank selbst unternommen hatten
um in Berlin Unterstützung zu finden, mußten erfolglos
sein. Eine Hilfsaktion schloß sich aus, da die wahnsinnige
Höhe von 90 Millionen Treberengagements, die Exner in
Berlin dem Konsortium der Großbanken gegenüber zu-
geben mußte, die Möglichkeit einer Sanierung nicht mehr
offen ließ.
Während das sich an den Zusammenbruch der Bank
anschließende Konkursverfahren die zivilrechtlichen Folgen
der Katastrophe für die von ihr Betroffenen regelte —
67 Proz. ihrer Forderungen erhielten die Konkursgläubiger
aus den Mitteln der Konkursmasse und dem, was ehe-
malige Aufsichtsratsmitglieder freiwillig zum Ausgleich
160 Dr. Weber.
der gegen sie erhobenen Regreßansprüche gezahlt hatten;
dabei hatte die Masse auf Treberwerte noch keine 5 Milli-
onen Mark eingenommen —, wurde in dem Strafverfahren
gegen die Verwaltungsorgane der Leipziger Bank die Frage
zum Gegenstande richterlicher Entscheidung erhoben, ob
und inwieweit die verantwortlichen Leiter ein strafrecht-
licher Vorwurf treffe. Die Anklagebehörde vertrat den
Standpunkt, daß die Direktoren wie die gesamten Auf-
sichtsratsmitglieder ein strafwürdiges Verhalten gezeigt
hätten. Und in der Tat wurden sie alle ausnahmslos zu
Strafe verurteilt.
Der gemeinsame Gesichtspunkt, unter dem gegen alle
Verwaltungsmitglieder gleichmäßig ein strafrechtliches Ver-
schulden als gegeben erachtet wurde, war der der aktien-
rechtlichen Verschleierung im Sinne des $314 Z. 1 des Handels-
gesetzbuchs. Vorstand sowohl, d. h. die beiden Direktoren,
wie der Aufsichtsrat der Leipziger Bank wurden ange-
klagt, „den Stand der Verhältnisse der Gesellschaft un-
wahr dargestellt und verschleiert zu haben“, und zwar
sollte das geschehen sein einmal in dem über das Ge-
schäftsjahr 1900 veröffentlichten Geschäftsbericht verbunden
mit der Bilanz, andererseits in dem in der Generalver-
sammlung vom 19. März 1901 zum Vortrag gebrachten
Exposé, sowie drittens in den beiden Communiqués, die
am 25. Juni 1901 veröffentlicht worden waren, um dem
Publikum eine Erklärung für die Schließung der Kassen-
schalter zu geben.
Inwieweit in diesen Akten, die ausnahmslos auf ge-
meinschaftlicher Tätigkeit der Direktion und des Aufsichts-
rates beruhten, ein strafbares Verhalten zu finden war,
geht aus dem Obigen ohne weiteres hervor. All diesen
Darstellungen war gemeinsam, daß sie die hohe Gefahr,
die die Treberverbindung für die Leipziger Bank bedeu-
tete, nicht erkennen ließen. Die Bilanz verstieß gegen
die Haupigrundsätze, die nach dem Gesetze für die Bi-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 161
lanzgestaltung Geltung erheischten, gegen die Forderung
der „Bilanzwahrheit“ und die der „Bilanzklarheit“. Und
ebenso ließ der Geschäftsbericht, der in Ergänzung der
Bilanz ohne Schönfärberei eine Übersicht über die wahren
Vermögensverhältnisse der Bank gestatten sollte, die tat-
sächliche Lage der Bank, insbesondere die wirkliche Höhe
des verhängnisvollen Treberengagements, in keiner Weise
erkennen. Das Exposé war darauf berechnet und infolge
seiner überaus vorsichtigen und geschickten Fassung auch
dazu geeignet, den falschen Eindruck, den Bericht und
Bilanz erwecken mußten, nur noch zu bestärken. Es war
irreführend in der Hauptsache deshalb, weil es, obwohl
gerade zur Erläuterung des Verhältnisses der Bank zur
Trebergesellschaft gegeben, das Eigenartige und Gefähr-
liche dieser Geschäftsverbindung auch nicht entfernt er-
schöpfend darstellte, wie denn, wo von den Konten die
Rede war, lediglich die Konten der Zentrale genannt
wurden, während das Treberobligo sich ja in der Haupt-
sache auf einer Unmenge von Nebenkonten verteilte, von
denen der Fernstehende schlechterdings keine Ahnung
haben konnte. |
Was die beiden Communiqués betrifft, die von der
Anklage und dem gerichtlichen Eröffnungsbeschluß be-
mängelt wurden, weil sie von einer nur „zeitweiligen“
Zahlungseinstellung sprachen, so erfolgte insoweit eine
Verurteilung der Angeklagten nicht. |
Die Strafen, mit denen die Aufsichtsratsmitglieder be-
legt wurden, waren entsprechend der Dauer ihres Amtes
und dem Maß ihrer Kenntnis von der wahren Sachlage
— einige hatten an verschiedenen wichtigen Sitzungen, ın
denen gerade die Treberengagements besprochen worden
waren, nicht teilgenommen — verschieden. Von Gefäng-
nisstrafe, die das Gesetz in Höhe von 1 Tag bis zu 1 Jahre
zuläßt, blieben sie sämtlich verschont. Die Geldstrafe, die
im Gesetze neben der Gefängnisstrafe vorgesehen ist mit
162 Dr. Weber.
einer Maximalhöhe von 20000 Mk., wurde gegen drei der
Aufsichtsratsmitglieder auf je 18000 Mk. bemessen, gegen
eines auf 15000 Mk. gegen eines auf 8000 Mk. und
gegen die zwei jüngsten Mitglieder auf je 5000 Mk.
Gegen die Hauptbeschuldigten, die beiden Direktoren,
erschöpfte sich die erhobene Anklage nicht in dem Vorwurfe
der Verschleierung. Vielmehr bildete hier — von einigen
nebensächlichen weiteren Anklagepunkten, auf die hier nicht
näher eingegangen werden soll, abgesehen — den Kern-
punkt die Anklage wegen betrüglichen Bankerutts. Und
zwar sollten Exner und Gentzsch sich nach dieser Richtung
strafbar gemacht haben, insofern als sie „als Mitglieder
des Vorstandes einer Aktiengesellschaft, über deren Ver-
mögen das Konkursverfahren eröffnet worden ist, gemein-
schaftlich in der Absicht, die Gläubiger der Gesellschaft zu
benachteiligen, die Handelsbücher der Gesellschaft verheim-
licht und so geführt hätten, daß sie keine Übersicht des
Vermögenszustandes gewährten“.
Die Direktoren der Leipziger Bank sollten die Bücher
ihrer Gesellschaft unübersichtlich gestaltet haben, das
war es, was nach der objektiven Seite in erster Linie ihnen
strafrechtlich zum Vorwurf gemacht wurde. Und dieser
Tatbestand war nach Ansicht nicht nur der Staatsanwalt-
schaft, sondern auch des Landgerichts, das gegen die An-
geschuldigten das Hauptverfahren vor dem Kgl. Schwur-
gericht zu Leipzig eröffnet hat, durch die oben beschriebenen
Transaktionen erfüllt worden. Es kann nicht dem geringsten
Zweifel unterliegen, daß die Buchung von Scheingeschäften
auch wieder nur einen Scheintatbestand in den Büchern
in Erscheinung treten läßt. Und um Scheinmanöver han-
delte es sich, wie wir sahen, bei dem Separat-Vorschuß-
wie bei dem Solidar-Vorschuß-Konten-Geschäft. Bezüglich
eines Summenkomplexes von 33 Millionen Mark, wie sie
bei beiden Geschäften insgesamt in Betracht kamen, rich-
tigen Bescheid missen, das bedeutet bei einem Unternehmen
Der Leipziger Bank-Prozeß. 163
mit den Mitteln der Leipziger Bank bereits die Unmög-
lichkeit, über den Vermögenszustand der Gesellschaft eine
Übersicht zu gewinnen. Und wieviel kam es gerade bei
der Leipziger Bank darauf an, die Höhe der Treber-
schuld klar zu überschauen. Die Strafbestimmungen
über betrüglichen Bankerutt verfolgen eine Tendenz:
sie wollen die Gläubiger davor bewahren, daß ihnen
seitens ihres Schuldners für den Fall der Zahlungsein-
stellung zu seinem Vermögen noch weitere Nachteile er-
wachsen, als für sie in der Tatsache der Zahlungseinstel-
lung schon an sich liegt. Und zweierlei Art können diese
Nachteile sein, die der Gemeinschuldner der Gläubigerschaft
bereiten kann: er kann sein Vermögen, auf dessen unver-
sehrte Masse die Gläubiger behufs gleichmäßiger prozen-
tualer Befriedigung Anspruch haben, verringern durch Bei-
seiteschaffen von Vermögensteilen oder willkürliche Auf-
stellung rechtlicher Schranken, die den freien Zugriff hem-
men. Er kann aber auch indirekte Schädigung der finan-
ziellen Gläubigerinteressen erstreben dadurch, daß er
das Recht der Gläubigerschaft auf Einblick in die Ver-
hältnisse, die auf seiner Seite bestehen, schmälert. Geht
doch das Interesse der Gläubiger nicht nur darauf, alle
verfügbare Masse möglichst schnell zur Verteilung zu bringen,
sondern der Gläubigerschaft muß vor allem auch daran
liegen, den Grund der Zahlungseinstellung zu erkennen, zu
beurteilen, unter welchen Bedingungen etwa zu ihrem Vor-
teile das notleidende Geschäft bei Bestand erhalten werden
könne, zu entscheiden, welche der bestehenden Verträge
gekündigt, welche ausgehalten werden möchten, und was
dergleichen Entschließungen mehr sind, die sich nötig
machen, soll nicht durch unzweckmäßige Maßregeln der
Schaden noch vergrößert werden. Um jederzeit klare
Einsicht in die Verhältnisse des Kaufmanns zu gewährleisten,
hat der Gesetzgeber dem Kaufmann die Pflicht zur ordent-
lichen Buchführung auferlegt. Und um für den Fall, wo
164 Dr. Weber.
die Versagung solcher Möglichkeit die schlimmsten Ge-
fahren mit sich bringt, der gesetzgeberischen Vorschrift
den nötigen Nachdruck zu verleihen, sind die Strafbe-
stimmungen des betrüglichen Bankerutts miteingesetzt wor-
den. In demselben Augenblicke wird die unübersichtlich
gestaltete Buchführung strafbar, in dem die Feststellung
zu treffen ist, daß auf seiten des die Bücher führenden
Kaufmanns die Zahlungseinstellung erfolgt ist. Dabei gilt
es gleich, ob die Zahlungseinstellung zeitlich der Verwir-
rung des Buchstandes vorangeht, oder aber ob sie ihr nach-
folgt. Nur das eine erfordert das Gesetz noch: die Strafe
des betrüglichen Bankerutts trifft nur den, der „in der Ab-
sicht, seine Gläubiger zu benachteiligen“, die objektiven
Bankerutthandlungen begeht. Und so muß auch der, der
daran geht, seinen Büchern die Übersicht zu rauben, dies
tun „absichtlich“, mit dem Bewußtsein nicht nur, daß seine
Gläubiger hierdurch Nachteil erleiden möchten, sondern
mit dem ausgemachten Motiv. Die Benachteiligung der
Gläubiger durch die Bankerutthandlung muß dem Gemein-
schuldner Zweck seines Handelns sein.
Freilich liegen diese Sätze nicht so auf der Oberfläche,
daß jeder sie leicht einsähe. Gerade die Bankeruttgesetz-
gebung stellt eine der schwierigsten Materien dar, die das
große Gebiet der Strafrechtswissenschaft überhaupt kennt.
Viele haben sich dieses nicht vor Augen gehalten, und dar-
_ um sind gerade über den Leipziger Bank-Strafprozeß und
seine Konstruktion oft, auch aus Juristenmund, Urteile ge-
hört worden, die grundfalsch waren, weil vorschnelle
Denkungsart den Sinn der einschlagenden Gesetzesbestim-
mungen nicht erfaßt hatte.
Die Verteidigung machte im Strafverfahren geltend naeh
der objektiven Seite, daß die Übersichtlichkeit der Bücher
nicht zu bestreiten sei, denn nach den Sachverständigen-
gutachten seien ja die Bücher als tadellos geführt zu be-
zeichnen, und die von der Bank beobachtete Buchführung
|
a Far a al ar rn ee re HE nen 00 aa re
Der Leipziger Bank-Prozeß. 165
sei so ordentlich gewesen, wie sie nur hätte geführt werden
können. Nach der subjektiven Seite aber, erklärten die
Verteidiger von Exner und Gentzsch einstimmig, könne ja
gar keine Rede davon sein, daß die Angeklagten gehandelt
hätten „in der Absicht, die Gläubiger der Bank zu benach-
teiligen“; sie hätten vielmehr ihr Augenmerk lediglich und
zu jeder Zeit darauf gerichtet gehabt, die Bank zu halten
und Verluste jeder Art auszuschließen. |
Dem gegenüber verwies die Anklagebehörde in objek-
tiver Hinsicht auf die weiteren Bekundungen der Finanz-
sachverständigen, daß selbstverständlich auch der Geist der
Buchführung zu beachten sei; die schönste Ordnung, die
rein äußerlich in den Büchern zu finden sei, nütze nichts,
wenn die Bücher der materiellen Wahrheit entbehrten. In
den Büchern der Leipziger Bank, darin gipfelte die An-
klage, waren zwar sämtliche Buchungen der Buchführungs-
technik nach vollkommen korrekt vorgenommen worden.
Sie warennichtunordentlich geführt, wie denn auch der
Wortiaut des Betrüglichen-Bankerutt-Paragraphen nicht von
unordentlicher Buchführung spricht. Gleichwohl waren die
Bücher „so“ geführt, daß sieeinen Einblickin die wahre Lage
der Bank nicht gewährten. Denn die Abbuchung der Treber-
schuld von den Schuldkonten der Trebergesellschaft war
lediglich auf Grund von Scheingeschäften erfolgt. 7 Mil-
lionen Mark Schulden wies zur Zeit der Konkurseröffnung
das Konto ordinario der Trebergesellschaft in den Büchern
der Leipziger Bank, während über 90 Millionen das ge-
samte Treberobligo ausmachte. Hierin lag das Geheimnis
der Buchführungskunst eines Exner und eines Schmidt, dem
die Gläubiger der Leipziger Bank zum Opfer fallen sollten.
Daß sie tatsächlich es wurden, verlangt der Inhalt des
. Gesetzes nicht. Aber in der „Absicht“ der Direktoren
mußte solches wenigstens gelegen haben.
Und diese Absicht, das hatte die Anklage gegenüber
der Verteidigung einzuwenden, war mit nichten um des-
166 Dr. Weber.
willen zu verneinen, weil man etwa den Angeklagten glauben
wollte, daß sie stets nur das Wohl ihres Instituts verfolgt
hätten. Gewiß hatten sie als Angestellte der Gesellschaft
schon des eigenen Interesses wegen, bei all ihren Maß-
nahmen den Nutzen der Bank im Auge. Aber der erhoffte
Profit kehrte sich in das Gegenteil. Es kam die Zeit, da
die Direktoren der Bank einsehen mußten, daß sie sich
verspekuliert hatten. Falsche Scham, einen Fehler einzu-
gestehen, und eine bei Exner in hervorragendem Maße vor-
handene Großmannssucht hielten sie ab, Umkehr zu machen,
als es noch Zeit war. Und als man dann immer mehr
ins Elend hineingeriet, da beherrschte nur noch ein Ge-
danke die Gemüter: die Bank unter allen Umständen halten
und weiterwirtschaften. Aber hierzu gab es nur ein Mittel.
Das Unternehmen war zu halten nur auf Kosten der
Gläubiger. Sie mußten im unklaren gelassen werden über
die wahren Verhältnisse. Erkannten sie sie, dann war es
unrettbar um die so lange mühsam aufrecht erhaltene
Existenz geschehen. Unwahrer Bücherinhalt mußte die Mög-
lichkeit sperren, daß sich die Gläubiger aus den Büchern
der Bank über die tatsächlichen Verhältnisse orientierten.
Darum die Scheingeschäfte, deren Buchung alle Übersicht
über das richtige Treberobligo verwischen mußte. Zu an-
derm Zweck war die Vornahme der großen Transaktionen
um die Wende des Jahres 1900 logisch überhaupt nicht
denkbar, als zu dem, daß die Buchungen, die sie'zur Folge
hatten, die Bücher „so“ geführt erscheinen lassen sollten,
„daß sie eine Übersicht des Vermögenszustandes ur Ge-
sellschaft nicht gewährten“.
Am 24. Juli 1902 sprach das Schwurgericht sein
Schuldig über die Leiter der Leipziger Bank im Sinne der
Anklage und des dem Hauptverfahren zugrunde gelegten
gerichtlichen Eröffnungsbeschlusses.. Entsprechend dem
schweren Verbrechen des betrüglichen Bankerutts, dessen
die Direktoren gleichzeitig mit der Verschleierung für über-
Der Leipziger Bank-Prozeß. 167
führt erachtet wurden, mußte die Angeklagten eine harte
Strafe treffen. Für Exner, dem mildernde Umstände ver-
sagt wurden, lautete das Urteil auf 5 Jahre Zuchthaus und
5 jährigen Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte. Eine bei
weitem geringere Ahndung konnte Gentzsch auferlegt
werden, da ihm entgegen dem Antrage des Staatsanwalts
die mildernden Umstände nicht abgesprochen worden waren.
Der Gerichtshof erkannte gegen ihn auf eine Gefängnis-
strafe von 3 Jahren. 7 Monate der erlittenen Untersu-
chungshaft werden jedem der Verurteilten auf seine Strafe
angerechnet.
Während Gentzsch sich dem Urteile alsbald unterwarf
und seine Strafe antrat, legte Exner Revision gegen das
Erkenntnis ein. Infolgedessen hatte sich auch das Reichs-
gericht mit der Sache zu befassen, zwar mit dem materi-
ellen Inhalt der Anklage nicht, sondern lediglich mit der
formellen Seite des gegen Exner geführten Gerichtsver-
fahrens. Zu der Hauptfrage konnte das Reichsgericht
also keine Stellung nehmen, zu der, die im Prozeß den
Hauptgegenstand des Streites gebildet hatte, ob nämlich
betrüglicher Bankerutt vorlag oder nicht. Vielmehr mußte
sich das Reichsgericht darauf beschränken, nachzuprüfen,
ob die prozessuale Behandlung der Sache seitens des Ge-
richts allenthalben dem Gesetz entsprechend erfolgt sei.
Mehrere Mängel des Verfahrens waren von der Verteidigung
behauptet worden, die eine Aufhebung des ersten Urteils
rechtfertigen sollten. Ein einziger davon wurde als be-
gründet angesehen. Der Wortlaut des Sitzungsprotokolls,
der allein maßgeblich ist für die Frage, ob die Form
"in jeder Hinsicht beobachtet worden war, mußte die Meinung
aufkommen lassen, daß der Vorsitzende des Gerichts die
Geschworenen nicht zutreffend belehrt habe, als sie zur
Berichtigung ihres Spruchs nochmals ins Beratungszimmer
zurückgeschickt wurden, da sie bei Beantwortung einer
Frage das Stimmenverhältnis nicht, wie vorgeschrieben,
168 Dr. Weber.
angegeben hatten. Das Protokoll ließ nicht erkennen, daß
hierbei die Geschworenen darauf hingewiesen worden
waren, daß sie bei neuer Beratung zu der betreffenden
Frage an den sachlichen Inhalt ihrer früher gegebenen.
Antwort nicht gebunden, also in der Lage seien, einen neuen
Spruch zu fällen.
Auf Grund dieses Mangels hob das Reichsgericht am
4. Oktober 1902 das erste Urteil gegen Exner auf und ver-
wies die Sache zur nochmaligen Verhandlung an die Vor-
instanz zurück.
Daß der rein formelle Standpunkt, von dem aus das
Reichsgericht zu seiner Entscheidung gelangt war, viel-
fach, insbesondere auch von juristischer Seite, nicht geteilt
wurde, hängt vor allem damit zusammen, daß man sich,
wohl nicht mit Unrecht, sagte, keiner der früheren Ge-
schworenen würde den Spruch auch nur in dem gering-
sten Punkte geändert haben, wenn er auch noch so oft
darauf hingewiesen worden wäre, daß er in dem Berichti-
gungsverfahren an den alten Wahrspruch nieht gebunden
sei. Hatten sie doch die Antwort auf die ihnen vorgelegten
Schuldfragen gefunden lediglich durch die Würdigung der
Verhandlungsergebnisse und Beachtung der rechtlichen
Gesichtspunkte, die ihnen die Rechtsbelehrung des Vor-
sitzenden gegeben hatte. Wie hätte sie der zufällige Um-
stand, daß dem geschriebenen Spruch ein äußerer Mangel
anhaftete und Abhilfe heischte, bestimmen können, die so-
eben erst gewonnene Überzeugung über Bord zu werfen
und den sachlichen Inhalt ihres alten Spruchs, ohne
daß sie irgendwie nochmals mit der Verhandlungsmaterie
befaßt worden wären, plötzlich umzuändern ?
Dem reichsgerichtlichen Urteile folgte ein neues Straf-
verfahren, das diesmal gegen Exner allein geführt wurde.
Eine neugebildete Geschworenenbank wurde mit der alten
Sache neu befaßt. Die Verhandlungsergebnisse waren in
der Hauptsache die gleichen wie früher, wie denn auch
Der Leipziger Bank-Prozeß. 169
die wiederum zugezogenen Sachverständigen von ihren
früheren Gutachten auch nur im geringsten abzugehen keine
Veranlassung fanden.
Am 10. März 1903 wurde das neue Urteil gegen Exner
verkündet, Er wurde wegen Verschleierung und versuchten
Betrugs zu 2 Jahren 6 Monaten Gefängnis verurteilt sowie
zu 20000 Mk. Geldstrafe, an deren Stelle im Falle der
Uneinbringlichkeit ein weiteres Jahr Gefängnis treten sollte.
1 Jahr 3 Monate der Gefängnisstrafe wurden als durch
die Untersuchungshaft verbüßt erachtet. Bezüglich des
Verbrechens des betrüglichen Bankerutts hatten die neuen
Geschworenen die Schuldfrage verneint.
Die tiefgehende Mißstimmung über diesen Richter-
spruch äußerte sich auch darin, daß der Staatsanwaltschaft
in mehrfachen Schreiben die Erwartung ausgesprochen wurde,
sie werde gegen das neue Urteil Rechtsmittel einlegen.
Dieser Zumutung lag der Irrtum zugrunde, als könnte die
Überzeugung von der materiellen Unrichtigkeit des zweiten
Schwurgerichtserkenntnisses bereits die Revision gegen das
Urteil rechtfertigen. Mochte die Staatsanwaltschaft, wie sie
ja die Anklage allenthalben aufrechterhalten hatte, den
zweiten Geschworenenspruch gegen Exner nicht für zu-
treffend erachten, eine Handhabe diesen Spruch anzugrei-
fen war ihr deshalb noch nicht geboten. Eine Revision
war dieses Mal nicht möglich, denn die Voraussetzungen,
unter denen allein die Staatsanwaltschaft freisprechende
Urteile der Schwurgerichte mit Revision anfechten kann,
lagen nicht vor. Und deshalb mußte das zweite Urteil
gegen Exner rechtskräftig werden.
Der Verurteilte Gentzsch blieb des betrüglichen Ban-
kerutts schuldig. Annehmbar wäre auch dieses Verdikt
in das Gegenteil umgewandelt worden, wenn von Gentzsch
ebenfalls Revision gegen das erste Urteil eingelegt und in
der zweiten Verhandlung seine Straftaten dem Forum der-
selben Geschworenen zur Aburteilung überwiesen worden
Der Pitaval der Gegenwart. I. 12
170 | Dr. Weber.
wären, die über Exner das zweite Mal zu befinden
hatten.
Das zweite Urteil der Geschworenen in dem Leipziger
Bank-Strafprozeß um deswillen als „wahrer“ aufzufassen,
weil es an zweiter Stelle ergangen war, dieser Gedanke
war selbstverständlich von der Hand zu weisen. Der erste
Geschworenenspruch blieb ein „Wahrspruch“ genau wie
der zweite. .Daß bei dem Zwiespalt der Erkenntnisse die
endgültige Aburteilung Exners den Streit der Meinungen
noch nicht zum Austrag kommen ließ, kann nicht wunder-
nehmen. Wer sich selbst ein Urteil über die Richtigkeit
dieses oder jenes Spruches bilden will, dem dienen viel-
leicht die obigen Ausführungen zu einer brauchbaren
Grundlage. Freilich die Rechtsfrage entscheiden ist schwie-
rig für einen Juristen, und wievielmehr für einen Laien!
Und da die Strafkammer des Landgerichts zu Leipzig das
Verhalten der beiden Direktoren der Leipziger Bank, das
deren Zusammenbruch vorausging, mit der Anklagebehörde
als „betrüglichen Bankerutt‘“ ansah und demgemäß den Fall
dem Schwurgericht zur Entscheidung überwies, so
liegt vielleicht in diesem Umstande der Grund, warum wir
einheitliche Schuldsprüche nicht erlangten. Der Leipziger
Bank-Krach, der so unendlich viel Schwierigkeiten zeitigte,
er mußte auch Schwierigkeiten bereiten einem Laiengericht,
das vor die heikle Aufgabe gestellt war, zu entscheiden,
welcher Art die strafrechtlichen Folgen der Katastrophe
sein sollten für die Verwaltungsorgane der bankerotten
Bank und für ihre früheren Direktoren insbesondere. Im
Anschluß an das Schicksal des Leipziger Bank-Prozesses
ist daher häufig der Wunsch ausgesprochen worden, es
möchte bei der bereits angekündigten Reform unseres Straf-
prozesses die Frage besonders eingehend geprüft werden;
ob die Zahl der dem Schwurgericht zu übertragenden De-
likte nicht zu beschränken sei. Wohl kein Verbrechen
würde bei einer Auswahl solcher Delikte zur Überweisung
Der Leipziger Bank-Prozeß. 171
an ein Gelehrtengericht geeigneter erscheinen als das des
„betrüglichen Bankerutts“. Wann eine Reform sich dieser
Aufgabe annehmen wird, steht dahin. Inzwischen mag
der Wunsch sich erfüllen und für immer erfüllt bleiben,
der allgemein empfunden wurde, als das Strafgericht über
die Organe der Leipziger Bank zum Abschluß gekommen
war, und der jenes Verlangen nach gesetzgeberischen Re-
formen durch seine Erfüllung zum besten Teile gegen-
standsios machen würde: mag solches Verschulden sich
nicht wiederholen, wie es führte zu der Katastrophe des
Leipziger Bank-Bruchs, und die Beurteilung eines Prozeß-
stoffes uns ewig erspart bleiben, wie er sich bot im Leip-
ziger Bank-Prozeß. |
12*
Eine entmenschte Mutter.
Von
Polizeiinspektor Rosalowski, Hamburg.
Das auf den nächsten Seiten dargestellte Verbrechen
spielte sich ab in dem alten Hamburg, in dem Hamburg
vor dem Zollanschlusse. In den Vororten, die der Stadt
noch nicht angeschlossen waren, unterbrachen noch Gärten
und Weiden die angebauten Flächen. Dieses Bild bot
namentlich auch der im Osten der Stadt gelegene Hammer-
brook. Das von vielen Kanälen durchschnittene Gelände
wies an seinem wichtigsten Zugange, dem an die Stadt
grenzenden Teil der Banksstraße, auf der einen Seite ein
buntes Wirrsal von Gärten, unbebauten Plätzen und großen
Etagenhäusern auf, denen gegenüber die Geleisanlagen des
Berliner Bahnhofes und die zu diesem gehörigen Güter-
schuppen lagen. Wenn der während des Tages außerordentlich
lebhafte Wagenverkehr nach Arbeitsschluß aufgehört, und
die zumeist dem Arbeiterstande angehörige Bevölkerung von
Rothenburgsort sich in ihre Heimstätten zurückgezogen
hatte, dann wurde es öde und unheimlich in dieser Gegend.
Doppelt empfand man das an einem jener für Hamburg
typischen dunklen Herbstabende, wieihn der 9. November 1877
brachte. Es war gegen neun Uhr. Die gelbbrennenden, in
weiten Zwischenräumen stehenden Laternen vermochten
nicht die herrschende Dunkelheit zu verdrängen und warfen
nur zitternde Lichtstrahlen über die schwarzen Wasser des
hier von einer Brücke überspannten Kammerkanals. In
der Banksstraße gewahrte man nur vereinzelte Passanten.
Der Pitaval der Gegenwart. II. 13
174 Rosalowski
Aus einer Wirtschaft der mit dem Kanal parallel
laufenden Ernststraße machte sich der Ewerführer Nesemann
auf den Heimweg. Ehe er die Kanalbrücke betrat, hörte
er einen schweren Gegenstand ins Wasser fallen und sah
oder glaubte doch zu sehen, wie drei Personen, eine weib-
liche und zwei männliche, mit schnellen Schritten die
Brücke verließen und in der Dunkelheit verschwanden.
Nesemann zweifelte nicht, daß der Kanal wieder,
wie wohl schon öfter, das Grab eines jungen Hundes oder
einer jungen Katze geworden war. Auf der Brücke an-
gelangt, blickte er neugierig in die Dunkelkeit hinab, schreckte
aber zurück, als er beim Lichtstrahl einer am Ufer stehen-
den Laterne das Antlitz eines Kindes aus dem Wasser auf-
tauchen sah. Das Kind befand sich augenscheinlich in
Todesgefahr; Nesemann hörte die hilferufenden Worte:
„Mama“, „Papa“, „Gott“. Die von ihm und den aus der
eben verlassenen Gastwirtschaft zu Hilfe gerufenen Per-
sonen angestellten Rettungsversuche wurden durch die über
dem Wasser lagernde Dunkelheit und die steilen Böschungen
des Kanals gehemmt. Erst nach etwa 20 Minuten, als die
Wasserfläche mit Hilfe eines Polizeibootes durch die Hafen-
polizei abgesucht wurde, gelang es, den Körper eines an-
scheinend ertrunkenen Knaben im Wasser aufzufinden. Die
angestellten Wiederbelebungsversuche waren erfolglos; der
hinzugerufene Arzt konnte nur den Tod des Kindes fest-
stellen. |
Die Leiche war die eines etwa zehnjährigen Knaben
kräftiger Konstitution. Sie zeigte, abgesehen von kleinen
anscheinend durch Rettungsversuche herbeigeführten Be-
schädigungen am Knie und rechten Oberschenkel, keine
Verletzungen. Bekleidet war das Kind mit gestreiftem
Hemd, dunkelblauer Jacke, dunkelgrauem Beinkleide,grauen
Strümpfen und Schnürschuhen. Eine Kopfbedeckung fehlte,
wurde auch nicht aufgefunden. Gegenstände, welche einen
Schluß auf die Herkunft des Knaben ermöglichten, waren
Eine entmenschte Mutter. 175
nicht vorhanden. In der Tasche fand man nur eine sg.
Mundharmonika.
Die noch in derselben Nacht aufgenommene Unter-
suchung ließ erkennen, wie ungünstig die Verhältnisse für
eine Aufklärung lagen. Nach Aussehen und Bekleidung
gehörte das gefundene Kind den unteren Bevölkerungs-
schichten an; die geringe Wäsche war ohne Zeichen, die
Kleidung zerrissen, geflickt und Fabrikware. Der Tatort
befand sich in der Nähe eines stark von Arbeitern be-
wohnten Stadtteils. Die drei in Hamburg einbiegenden
Bahnlinien hatten ihren Endpunkt in geringer Entfernung,
und in dem gleichen Wohnungszentrum befanden sich die
für Auswanderer bestimmten, bis zu mehr als tausend
Menschen fassenden Auswandererhäuser.
Von keiner Seite wurde das Fehlen eines Kindes ge-
meldet. Die Annahme der Kriminalbeamten, daß das Kind
von auswärts nach Hamburg geschafft sei, und dab der
oder die Mörder sofort nach der Tat Hamburg verlassen
hätten, war nicht unberechtigt. | |
Während der Untersuchungsrichter in den Hamburger
Zeitungen eine genaue Beschreibung der Leiche und ihrer
Kleidungsstücke veröffentlichte, ließ die Polzeibehörde den
Toten photographieren und die Bilder an auswärtige Be-
hörden verteilen. Auch die Schulvorsteher in Hamburg
und Umgegend erhielten Exemplare der Bilder zugesandt,
um diese den Altersgenossen des Getöteten vorzulegen.
Alle Bemühungen erwiesen sich erfolglos; nirgends
konnte die Leiche identifiziert werden.
In dieser Lage machte die Polizeibehörde den damals
noch außergewöhnlichen Versuch, die weitesten Bevölkerungs-
kreise durch die Presse für die Mitarbeit zu gewinnen.
Erst nach längerem Widerstreben erklärte sich die Redak-
tion der in Hamburg erscheinenden „Reform“ bereit, auf
ihrer ersten Seite das Bild des ertrunkenen Knaben zu re-
produzieren. Diese Nummer der in Hamburg, der Provinz
| 13*
176 Rosalowski.
Schieswig-Holstein und auch in Mecklenburg weit ver-
breiteten Zeitung gelangte auch in die Hände der Polizei
in Neustadt (Schleswig-Holstein), wo das Bild des Toten
sofort als dasjenige des Sohnes des Arbeiters Köster er-
kannt wurde. Dem Schwager des Köster, Krumlinde,
wurde die Zeitung durch den Neustädter Polizeidiener zur
Identifizierung vorgelegt, und auch er erkannte im Bilde
den Sohn seiner Schwägerin Köster. Seit dem 9. No-
vember fehlte der Knabe; angeblich war er von seiner
Schwägerin nach Lübeck fortgegeben. Die Neustädter Po-
lizei verhaftete hiernach sowohl die Köster wie deren
Ehemann; beide wurden nach Hamburg ausgeliefert. Der
Ehemann Köster, der imstande war, seine Nichtbeteiligung
an dem Morde durch ein Alibi nachzuweisen, wurde auf
freien Fuß gesetzt. Die Ehefrau blieb in Haft.
Katharina Friederike Dorothea Köster geb. Böhling,
am 13. Januar 1834 zu Grömitz geboren, war mit dem
Arbeiter Karl Friedrich Köster seit dem 4. November 1877
verheiratet. Sie war die eheliche Tochter des Arbeiters
Gottfried Böhling und der Katharina Magdalena Hen-
riette geb. Brede. Im Hause ihrer in Grömitz wohnenden
Eltern erzogen, hatte sie dort Schuluntericht genossen und
nach ihrer in Grömitz erfolgten Konfirmation in Holstein
und in Hamburg auf verschiedenen Stellen als Dienst-
mädchen konditioniert. Während sie in Grömitz diente,
machte sie auf einem Tanzsalon in Neustadt die Bekannt-
schaft des Arbeiters Karl Friedrich Köster, mit welchem
sie ein intimes Verhältnis anknüpfte. Sie gebar am
16. Juni 1867 ım Hause ihrer Eltern einen Sohn, den
Johann Friedrich Karl Böhling genannt Köster, welcher
zunächst in Kost gegeben wurde und sodann bei ihren
Eltern verblieb, während sie selbst in Hamburg einen Dienst
als Amme annahm.
Nachdem sie Ende Mai 1872 einen Dienst in Sier-
hagen, vier Stunden von Grömitz, angetreten hatte, wurde sie
-— -mN l
Eine entmenschte Mutter. 177
abermals von Köster schwanger und gebar am 14. Sep-
tember 1873 eine Tochter, welche ebenfalls im Hause der
Großeltern Böhling in Grömitz aufgezogen wurde. Die
Angeklagte fand in Hamburg einen Dienst als Amme und
diente sodann auf verschiedenen Stellen als Dienstmädchen
in Hamburg und zuletzt bis zum 1. November 1877 ın
Övelgönne bei Neustadt.
Am 4. November verheiratete sie sich in Grömitz mit
Köster und zog mit demselben nach Neustadt, woselbst
sie bei den Eheleuten Pfuhl eine Wohnung gemietet hatte.
Ihre Tochter hatte sie bei den Eltern in Grömitz zurück-
gelassen, den im 11. Lebensjahr befindlichen Sohn da-
gegen mit sich nach Neustadt genommen.
Bestraft war die Köster nur mit drei Tagen Gefängnis
wegen Diebstahls vom Amtsgericht Neustadt.
Die wirtschaftliche Lage der Köster’schen Eheleute
war eine mißliche. Der Ehemann Köster fand nach der
Verheiratung zwar Arbeit in Grömitz, doch war der Ver-
dienst so gering, daß auch die Ehefrau auf Arbeit gehen
mußte.
Unter diesen Verhältnissen wurde ihr die Existenz des
Knaben lästig. Sie hatte keine Liebe zu ihren Kindern
und namentlich war ihr der durchaus gut geartete Knabe
widerwärtig. Schon vor ihrer Verheiratung äußerte sie in
Gegenwart ihres Bruders, „wenn sie nur den Jungen los
wäre“. Sie gab auch selbst zu, daß ihr der Junge, nament-
lich nach ihrer Verheiratung, sehr im Wege sei.
Am Abend des 8. November verkaufte die Köster
einen Korb an eine Frau Pfahl in Neustadt und entlieh
von dieser auf die im Korbe befindlichen Kleidungsstücke
21/2 Taler. Mit diesem Gelde reiste sie am 9. November
vormittags, nachdem ihr Ehemann zur Arbeit gegangen
war, mit dem Knaben nach Hamburg. Der ihr begeg-
nenden Frau Basel erzählte sie, sie wolle den Knaben
in Hamburg austun; ihr Mann solle von der Reise nichts
178 Rosalowski
wissen. In Hamburg traf sie abends 6 Uhr ein und wurde
mit dem Knaben von einer ihr bekannten Inhaberin eines
Nachweisungskontors, Peters, gesehen. |
Der Barbiergehilfe Naster passierte am Tatabend
9 Uhr die Brücke und sah eine Frau mit einem Kinde
dort stehen; 91/4 Uhr erfuhr er, daß ein Kind ins Wasser
gefallen sei. Zwischen 91/2 und 93/4 Uhr traf die Köster
in der Niedernstraße, etwa 15 Minuten vom Tatorte ent-
fernt, das ihr bekannte Dienstmädchen Schmidt; sie war
ohne Begleitung und erzählte, sie wäre verheiratet, habe
ihre Kinder ausgetan und wolle sich wieder vermieten.
Um 10 Uhr abends fand sich die Köster wieder bei
der Frau Peters ein und bat um Nachtquartier. Auf die
Frage nach dem Kinde erklärte sie, es sei das Kind ihres
Bruders oder Schwagers gewesen. Die Peters brachte
die Köster zu einer Frau Schröder, wo sie übernachtete.
Am 10. November ging die Köster zu ihrem Bruder.
Maurer Böhling, auf St. Pauli. Sie erzählte, daß sie einen,
Dienst suche, daß die Kinder bei den Großeltern seien,’
daß sie aber den Knaben zu sich nehmen müsse, denn er
würde von den Großeltern ganz dumm geschlagen. Als
man auch davon sprach, daß ein Knabe ertrunken sei
äußerte sie: „In Hamburg passiert wohl viel.“
Am 12. November kehrte die Köster nach Neustadt
zurück. Ihr Schwager Krumlinde, dem sie erzählte,
daß sie nicht nach Hamburg gekommen wäre, schöpfte
sofort den Verdacht, daß sie den Knaben beseitigt habe,
zumal er von der Ermordung eines Jungen in Hamburg
gehört hatte. Ihrer Stiefmutter teilte sie mit, sie käme
aus Hamburg und habe dort den Jungen verschenkt; er
sei bereits auf der Reise nach Amerika. Noch an dem-
selben Abend ging die Angeklagte zu ihren Eltern nach
Grömitz, verließ deren Haus jedoch am folgenden Morgen
in der Frühe, weil der Vater, dem das Verschwinden des
Knaben und die Reise der Angeklagten nach Hamburg
Eine entmenschte Mutter. . 179
ebenfalls verdächtig erschienen war, sie sofort der Ermor-
dung des Kindes beschuldigt hatte. Die Angeklagte wurde
sodann auf Veranlassung ihrer Verwandten im Hause ihres
Bruders, des Maurers Johann Heinrich Böhling, verhaftet.
Die Köster wurde durch den Kriminalwachtmeister
Eckardt nach Hamburg transportiert; sie bestritt ihm
gegenüber die Täterschaft zunächst, räumte dann aber ein,
daß sie den Knaben über das Brückengeländer geworfen
“und bei den Füßen nachgeholfen habe.
Vor dem Untersuchungsrichter hat die Köster die
verschiedenartigsten Angaben über die Ausführung des Ver-
brechens gemacht. Nachdem sie anfangs ihre Teilnahme
an demselben gänzlich in Abrede gestellt hatte, legte sie
wiederholt das glaubwürdige Geständnis ab, die Tat allein,
ohne Gehilfen und Mitwisser, verübt zu haben. Dieses
Geständnis wurde durch die Aussage des Barbiergehilfen
Nasser unterstützt, welcher kurz vor der Ermordung des
Knaben auf der Brücke des Kammerkanals hart am Ge-
länder in Begleitung eines Knaben ein Frauenzimmer ge-
sehen hatte, das der ganzen Erscheinung, Größe, Statur,
Haltung und Kleidung nach die Angeklagte gewesen sein
mußte. Auch war die Angeklagte, wie von dem Dienst-
mädchen Schmidt konstatiert wurde, kaum eine halbe
Stunde nach Verübung des Verbrechens ohne Begleitung
durch die Niedernstraße gegangen. Daß sie allein mit dem
Knaben nach Hamburg ‚gekommen war, wurde durch die
Aussagen der Vermieterin Peters erwiesen, welche sich
bei Ankunft der Angeklagten zufällig auf dem Lübecker
Bahnhof befand. Während ihres ganzen Aufenthalts in
Hamburg bis zum Morgen des 12. November war die An-
geklagte, soweit glaubwürdige Ermittelungen vorliegen,
auch nicht mit Personen zusammengekommen, auf welche
sich ein Verdacht der Teilnahme an dem Verbrechen hätte
lenken können. Wenn demgegenüber der Ewerführertage-
löhner Nesemann, welcher auf den Hilferuf des Knaben
180 Rosalowski.
zuerst herbeigeeilt war, gesehen haben wollte, daß vom
Orte der Tat zwei Männer und ein Frauenzimmer fort-
geeilt seien, und die Arbeiterin Spangenberg behauptete,
daß sie diese Personen verfolgt und mit denselben gekämpft
habe, so mahnt das von neuem zu der größten Vorsicht
bei Bewertung von Zeugenaussagen. Nesemann war
nämlich offenbar durch den Anblick des ertrinkenden
Knaben so bestürzt geworden, daß seine Beobachtungen.
ganz unzuverlässig waren, und die Spangenberg, welche
außergerichtlich und gerichtlich wiederholt ihre Tätigkeit
bei Verfolgung der Mörder ausführlich geschildert hatte,
mußte schließlich zugeben, daß sie bei Ermordung des
Knaben überhaupt nicht zugegen gewesen sei und daß sie,
lediglich um sich wichtig zu machen, obige Angaben ge-
macht habe. Die Angeklagte nahm dann, offenbar um
das eigene Verbrechen abzuschwächen, und bestimmt durch
die Aussagen der Spangenberg ihr früheres Geständnis,
die Tat allein verübt zu haben, zurück und behauptete,
bei Ausführung der Tat von zwei Männern begleitet ge-
wesen zu sein, von denen der eine mit ihr gemeinschaftlich
den Knaben in das Wasser geworfen habe. Über die
beiden unbekannten Männer und die Art und Weise, wie
sie dieselben kennen gelernt habe, verwickelte sich die An-
geklagte in vielfache Widersprüche. Alles, was in dieser
Beziehung von ihr ausgesagt worden, erwies sich, soweit
es überhaupt zu kontrollieren war, als erlogen.
Der Fall gelangte am 25. März 1878 vor dem Schwur-
gericht zu Verhandlung.
Seit langer Zeit hatte kein Kriminalfall in Hamburg
in so hohem Grade die allgemeine Teilnahme für das un-
glückliche Opfer erweckt und so sehr den Abscheu der
Bevölkerung gegen die entmenschte Mutter entfesselt.
Schon in frühester Morgenstunde waren die Eingänge zum
Gerichtsgebäude von einer dichtgedrängten Menge um-
lagert. Lange vor dem Beginn der Verhandlung füllte ein
Eine entmenschte Mutter. ` 181
aus allen Ständen der Bevölkerung zusammengesetztes
Publikum den Zuschauerraum des Schwurgerichtssaals.
Aber die erwartete Sensation blieb aus, die Verhandlung
verlief ruhig, ohne dramatische Effekte.
Die Angeklagte, eine mittelgroße Person mit stupiden
gemeinen Gesichtszügen, folgte der Verhandlung mit stoi-
scher Ruhe; nur zuweilen hoben sich die gesenkten Augen-
lider und ein katzenartiger lauernder Blick streifte über die
Geschworenen und die Versammlung im Gerichtssaale.
Sie gab u. a. Folgendes an:
„Am Tage nach meiner Hochzeit habe ich den Knaben
in meine Wohnung genommen. Mein Mann sagte: „Wenn
wir den Knaben und die Wohnung nicht hätten, könnten
wir wieder in Dienst gehen.“ Ich sagte meinem Manne,
er solle sich nach Arbeit umsehen. Ich wollte in Ham-
burg einen Dienst suchen und den Jungen dort austun.
Ich dachte nicht daran, daß ich ihn meinen Eltern wieder
übergeben könnte. Ich fuhr am 9. November von Neu-
stadt nach Hamburg. Hier kam ich um 6 Uhr nach-
mittags an. Von Neustadt fuhr ich erst III., dann IV.
Klasse. Im Wagen saßen zwei Männer, die mir zu trinken
gaben. Ich wurde davon „dösig“. In Hamburg suchte
ich die mir nicht bekannte Wohnung meines Bruders. Ich
dachte nicht daran, daß ich diese in seiner früheren Woh-
nung erfragen konnte, hatte überhaupt nicht viel Gedanken.
Ich ging nach der Niedernstraße, wo ich einen Bekannten,
namens Westphal, traf; bei diesem war ein zweiter Mann.
Ich sagte, ich wollte zu meiner früheren Herrschaft Hars
in Billwärder. Hars hatte mir einmal gesagt, er wolle
etwas für den Jungen tun. Die Männer sagten mir, es
sei schon zu spät, wozu ich denn dort noch hingehen
wolle. Als die Männer sich von mir trennten, ging ich
mit dem Jungen weiter. In der Banksstraße wurde ich
unwohl und kehrte um; der Junge klagte über Müdigkeit.
Ich lehnte mich an das Geländer der Brücke. Der Junge
182 Rosalowski.
kletterte unterdes auf das Brückengeländer. Da kamen
die beiden Männer wieder zurück. Sie machten Unsinn
und fingen an, sich zu stoßen. Dabei erhielt der Junge
einen Stoß und fiel ins Wasser. Ich wollte nach dem
Jungen greifen, konnte ihn aber nicht mehr fassen. Die
Männer nahmen mich mit und sagten, es sei schon einer
hinunter, der den Jungen heraufhole. In Hamburg
blieb ich drei Tage und fuhr dann nach Neustadt zurück.
Von dem Unglücksfall meines Sohnes habe ich in Ham-
burg nichts gesagt. Meinem Bruder sagte ich auf seine
Frage, daß der Junge noch bei den Großeltern wäre. In
Neustadt fand ich meinen Mann nicht anwesend. Ich
ging zu Krumlinde, dem ich, als er nach Karl fragte,
sagte, ich hätte ıhn ausgetan. Meinen Eltern, sagte ich,
ich hätte den Jungen bei Leuten, die fortreisten, ausgetan.
Ich begab mich dann zu meinem Bruder in Grömitz, wo
ich verhaftet wurde.“
Wie aufmerksam die Angeschuldigte den Verhandlungen
folgte, zeigte ihr Verhalten bei der Vernehmung des Kri-
minalwachtmeisters Eckardt. Als dieser das ihm abge-
legte Geständnis wiederholte, sprang die Köster auf und
rief: „Ja, das habe ich gesagt, aber es ist nicht wahr!“
Daß sie den Mord schon längere Zeit vorher geplant
hat, konnte nicht zweifelhaft sein, dafür traten auch
im Laufe der Verhandlung noch weitere Momente hervor.
So hatte sie erzählt, sie könne den Knaben bei einem
Kaufmann in Hamburg unterbringen; ferner hatte sie am
Tage vor ihrer Abreise aus Neustadt ihrer Hauswirtin
Pfuhl die unwahre Mitteilung gemacht, ihr in Hamburg
wohnhafter Bruder wolle den Knaben zu sich nehmen. Diese
Unwahrheiten können nur den Zweck gehabt haben, das
Verschwinden des Kindes unverdächtig erscheinen zu
lassen. Die Reise nach Hamburg hat sie offenbar nur
unternommen, um sich des Knaben zu entledigen. Als die
Ermordung des damals noch nicht ermittelten Knaben in
Eine entmenschte Mutter. 183
ihrer Gegenwart besprochen wurde, hat sie sich in der
gleichgültigsten Weise am Gespräch beteiligt.
Die Geschworenen bejahten denn auch nach einstün-
diger Beratung die Hauptfrage, die auf Mord lautete.
Als der Staatsanwalt beantragte, die Angeklagte wegen
Mordes unter Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte
zum Tode zu verurteilen, blieb diese vollkommen ruhig
und antwortete auf die Frage des Gerichtspräsidenten, ob
sie noch etwas hinzuzufügen habe, klar und deutlich:
„Nein.“ Auch bei der Verkündung des auf Todestrafe
lautenden Urteils blieb die Köster gelassen. Ebenso
ruhig verließ sie die Anklagebank.
Die durch den Verteidiger eingelegte Nichtigkeitsbe-
schwerde wurde von dem Oberappellationsgericht verworfen.
Während dieser Zeit machte die Köster im Gefängnis
einen Selbstmordversuch, gewann aber danach ihre bis-
herige Ruhe anscheinend wieder. Ihr Schlaf und Appetit
ließen nichts zu wünschen übrig. |
Der Physikus Dr. Erman, der die Köster infolge
des Selbstmordversuches kennen lernte, legte seine Beob-
achtungen über ihren Geisteszustand in einem Bericht an
den Präses des Medizinalkollegiums nieder. Die darin
aufgeworfenen Bedenken führten zu einer weiteren Unter-
suchung des Geisteszustandes der Köster durch die Physici
Dres. Gernet und Reincke. Diese bestätigten, daß die
Köster eine schwachsinnige Person sei, und daß dieser
Schwachsinn nach ihrer difformen Schädelbildung als ein
angeborener angesehen werden müsse. Daraufhin gab der
Senat von Hamburg dem Gnadengesuch des Verteidigers
Folge; die Todesstrafe wurde in lebenslängliches Zucht-
haus umgewandelt.
Die Verurteilte wurde in das damals in der Ferdinand-
straße befindliche alte Zuchthaus übergeführt, wo sie sich
gut führte und fleißig arbeitete. Eines Morgens fand der
Gefängniswärter bei der Revision der Zelle die Köster an
184 Rosalowski. Eine entmenschte Mutter.
ihrem Taschentuch hängend; sofortige Wiederbelebungs-
versuche waren von Erfolg. Nach Fertigstellung des
neuen Zuchthauses in Fuhlsbüttel wurde die Köster mit
den übrigen Zuchthausgefangenen dorthin versetzt und bei
der Wäsche beschäftigt. Im Laufe des Jahres 1880 zeigte
sie Anfälle von Schwermut und äußerte u. a. zu ihren
Mitgefangenen, es sei ihr sehnlichster Wunsch, bald vom
Dasein erlöst zu werden. Am 29. Mai 1880 wurde sie
vermißt und auf dem Wäscheboden, an einem Handtuche
erhängt, gefunden. Sie hatte die ihr im Gnadenwege er-
lassene Todesstrafe selbst vollstreckt.
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien.
- Von
A. J. Milovanovic, Belgrad.
Als im Jahre 1877 der russisch-türkische Krieg aus-
brach, wollte bekanntlich Serbien Rußland durch eine
Flankenbewegung seiner Armee unterstützen. Die serbischen
Staatsmänner durften jedoch nicht offen mit diesem Plane
hervorzutreten wagen, bevor Rußland einen Erfolg erzielt
hatte. Erst im Herbste desselben Jahres marschierte die
serbische Armee in die Türkei ein.
Auf einem Felde bei Kragujevač, genannt Stanovi,
wurden gegen 5000 Mann Miliztruppen einberufen. Als
die Soldaten in Reih und Glied standen, sollten sie den
Eid der Treue ablegen, aber sie widersetzten sich, mehrere
Schüsse wurden gegen die Offiziere abgefeuert, und mit
blankem Säbel mußte die Ordnung wieder hergestellt werden.
Die sofort angestellte Untersuchung ergab, daß man es
mit einer Verschwörung zu tun hatte, deren Haupträdels-
führer in Topola festgenommen wurden. Unter anderen
stand auch der Oberstleutnant Markovic im Verdachte der
Mitschuld. |
Alle Angeklagten wurden vor das Kriegsgericht ge-
stellt und die meisten zum Tode verurteilt, darunter Mar-
kovic.
Das Urteil wurde sogleich vom Kriegsgerichte dem
Oberkommando nach Belgrad zur Bestätigung zugesandt.
In der folgenden Nacht brachten zwei Offiziere die Ent-
186 Milovanovic.
scheidung des Oberkommandos zurück, durch welches viele
begnadigt, für Markovie und sechs andere jedoch das Urteil
bestätigt wurde.
Das weitere Verfahren ; gegen Markovič war ungesetz-
lich kurz. Nachdem ihm das Urteil bekannt gemacht war,
führte man ihn auf das nächstliegende Feld, wo sein Grab
schon gegraben war. Markovič war durch dieses schnelle
und kurze Verfahren so überrascht, daß er sich widersetzte.
Es entstand ein vollkommener Kampf mit ihm, so daß er
erst überwältigt werden mußte, ehe man ihn erschoß.
In Belgrad hatte sich die Nachricht von der Verur-
teilung Markovics schnell verbreitet, und seine Gattin Helene
schickte an den damaligen Fürsten Milan eine Bittschrift,
in welcher sie ihn anflehte, er möge, wenn er ihrem Mann
schon nicht das Leben schenken wolle, doch wenigstens
die Vollstreckung des Urteils verschieben, damit sie ihn
noch einmal sehen könne.
Da sie keine Antwort erhielt, fuhr sie am folgenden Tage
mit einem ihrer Verwandten nach Arangjelovaec, wo ihr
Mann sich im Gefängnisse befand. Unterwegs begegnete
ihr der Kreishauptmann, der nach Belgrad reiste, um dem
Minister des Innern persönlich über die Vollstreckung des
Urteils Bericht zu erstatten. Auf ihre voll Verzweiflung
an ihn gerichtete Frage, wie es ihrem Gatten gehe, bekam
sie zur Antwort, daß er noch nicht hingerichtet sei.
Voll Hoffnung, ihn noch einmal zu sehen, setzte sie
ihren Weg fort. Als sie ankam, ging sie sogleich zu dem
betreffenden Offizier und teilte ihm mit, daß sie ihren
Mann zu sehen wünsche. Der Offizier antwortete, er könne
ihr das nicht erlauben. „Aber ich habe Erlaubnis vom
Minister,“ sagte Helene. „Trotzdem ist es nicht möglich,
Ihren Wunsch zu erfüllen,“ lautete die Antwort. Auf ihre
Bemerkung, daß es sein müsse, antwortete er: „Ich sage
Ihnen noch einmal, daß Sie ihn nicht sehen können; aber
wenn sie meinen, daß .es sein muß, dann folgen Sie mir,
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 187
ich werde Ihnen Ihren Mann zeigen.“ Daraufhin führte er
sie zu einer Stelle auf dem Felde, wo noch die frisch auf-
geworfene Erde lag, und mit der Hand darauf hinweisend
sagte er: „Hier liegt Ihr Mann, den Sie zu sehen wünschen“,
Helene brach nicht zusammen, vielmehr flößte die Ver-
zweiflung ihr eine wunderbare Kraft ein, und sie dachte:
„Weil du nicht das Glück hast, einen Sohn zu besitzen,
der dich rächt, so werde ich es tun.“
Sie hatte ganz verwirrte Rechtsbegriffe und betrachtete
deshalb den Fürsten Milan als den Mörder ihres Mannes,
. den sie noch immer für unschuldig hielt. Es war ihr un-
begreiflich, daß der Fürst ihren Mann, den er in Anerken- `
nung seiner Verdienste im serbisch-türkischen Kriege vor
der Front der Armee persönlich dekorierte, jetzt doch nicht
beguadigt hatte. Sie betrachtete von nun als einzige Auf-
gabe ihres Lebens die Erfüllung ihrer Rache und meinte,
es wäre eine Untreue gegen ihren Gatten, diesen Schwur
nicht zu halten.
Helene M. war zum ersten Male mit Dr. Johann Andre-
jevi© in Neusalz verheiratet gewesen. Nach anderthalb
Jahren wurde sie Witwe. Später wurde sie mit Jevrem
Markowic bekannt, den sie mehr schätzte als liebte; M. war
ihr Ideal. Als man sie beim Verhöre fragte, wie sie sich zur
zweiten Ehe hätte entschließen können, da man doch wisse,
dab sie ihren ersten Mann sehr geliebt habe, antwortete sie:
„Ich habe Markovič nur darum geheiratet, weil er ein großer
Patriot und ein sehr gebildeter Mann war.“
Nach der Hinrichtung ihres Mannes verlebte Helene
schwere Tage. Alle Rechte einer Offizierswitwe verlor sie
und war gezwungen, ihr Leben von dem Erlöse des Ver-
kaufes ihrer Mobilien zu fristen. Ihre materielle Lage ver-
schlechterte sich immer mehr und mehr; von Tag zu Tag
wuchs ihre Verzweiflung. Einer ihrer Verwandten erzählte:
„Ich weiß nicht mehr, was ich mit Helene anfangen soll;
sie ist sehr unruhig und spricht in ihren Briefen immer
188 Milovanovic.
vom Tode. Ich weiß nicht, was die Arme tun wird und
wovon sie leben wird, wenn sie einmal nichts mehr hat,
was ich für ihre Rechnung verkaufen könnte.“
In der Tat sah Helene voraus, wie es kommen müßte,
und deshalb siedelte sie im Herbst des Jahres 1881 von
Jagodina nach Belgrad über, in der Absicht, eine Privat-
konversationsschule für die deutsche Sprache zu eröffnen.
Aber für die Frau eines Hochverräters war das eine schwere
Sache, und sie bekam nicht eine einzige Schülerin, obgleich
sie mehrere Male in der Zeitung annoncierte. Trotzdem
versuchte sie noch immer, die Würde ihres Standes aufrecht
zu erhalten. Als sie einmal bei einem Freunde in Jagodina
zu Gast war, wollte sie durchaus nicht annehmen, daß er
dem Kutscher für ihre Rückreise 20 Fr. zahlte; da er je-
doch nicht nachließ, so schickte sie seinen Kindern aus
Belgrad verschiedene Sachen, die den Wert von 20 Fr.
überstiegen. Auch um einen Staatsdienst wollte sie nicht
bitten, obwohl sie ihn hätte bekommen können. Der Diener
der in letzter Zeit bei ihr war, sagte aus, daß er sie nie
gut gelaunt sah und oft aus ihrem Zimmer tiefe Seufzer
hörte.
In den ersten Tagen des Oktobers 1882 brachte sie ihren
Verwandten einen Brief mit der Aufschrift: „Ich bitte dich,
Milla, hebt mir dies auf, bis ich es von euch zurück ver-
lange oder im Falle, daß ich sterbe, öffnet es.“ In dem
Umschlag waren, wie sich später herausstellte, sechs Briefe
mit verschiedenen Adressen. In denselben nahm sie Ab-
schied von ihren Verwandten und guten Bekannten und
beauftragte einen nahen Verwandten mit der Verwendung
ihrer Hinterlassenschaft. Der Mutter ihres Mannes schreibt
sie, daß sie auf ihren Sohn stolz sein könne. Zwei Ärzten
schickt sie ihre Karte und fünf Dukaten, die sie ihnen
schuldet, und in einem andern Briefe nimmt sie Abschied
von einer gewissen Lena Knjicanin und schreibt unter
anderem: „Man wird bald sehen, ob ich eine Heldin oder
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 189
ein Feigling bin. Wenn es kein Irrtum ist, daß Sie eine
Patriotin sind, dann gebrauchen Sie Ihren Geist und Ihre
Energie nicht zum Intrigieren, sondern setzen Sie mein
Werk fort, wenn ich keine glückliche Hand habe! Ver-
nichten Sie die Feinde Serbiens!“
Am Montag den 11. Oktober 1882 schritt Helene zur
Ausführung der Tat, welche sie in diesem Schreiben an-
deutet. Der amtliche Polizeibericht, welcher an demselben
Tage der Präfektur zugestellt wurde, berichtet darüber
folgendes: |
„Heute wurde die Rückkehr Sr. Majestät König Milans
von seiner weiten Reise gemeldet und die Ankunft in Bel-
grad auf etwa 9 Uhr vormittags festgesetzt. Deshalb ist
der Unterfertigte pflichtgemäß zur Aufrechterhaltung der
Ordnung bei der Kathedrale erschienen.
Der König kam aber erst nach 11 Uhr an, und während
der Zeit von 81, Uhr bis zu seiner Ankunft versammelte
sich eine große Menschenmenge in und vor der Kirche.
Als der königliche Wagen gegen 11!/a Uhr vorfuhr,
stiegen die Majestäten aus und betraten mit ihrem Gefolge
die Kirche. Am Eingang empfing sie der Bischof mit dem
Klerus und bot ihnen das Kreuz, das Evangelium und ein
heiliges Bild zum Kusse dar. Unter dem Gesang heiliger
Lieder wollten sich die Majestäten zum Altar begeben, aber
bei den ersten Schritten hörte man von der linken Seite
einen Schuß fallen, welcher hinter einer Säule des Glocken-
turmes gegen den König von einer Frau abgefeuert wurde.
Im selben Augenblick ergriffen auch schon die Adjutanten
Sr. Majestät, die Herren Protic und Franassevie, der
unterfertigte Polizeikommissär, ein Polizeibeamter und
ein Wirt diese Frau und nahmen ihr den Revolver ab.
So wurde sie verhindert, nochmals zu schießen.
Die Kugel war in die Mauer geschlagen und der
König unversehrt geblieben. Der Revolver war noch mit
fünf Patronen geladen. Die Attentäterin hielt den Revolver
Der Pitaval der Gegenwart. II. 14
190 Milovanovie. -
in der rechten Hand und trug ihn an einer Schnur um
den Hals und darüber ein Umschlagtuch, damit man die
Waffe nicht bemerken konnte. In der linken Hand hielt
sie ein offenes Federmesser, welches ihr mit dem Revolver
sofort abgenommen wurde.
Sie gestand sogleich, daß sie Helene, die Frau des
erschossenen Oberstleutnants Jevrem Markovic sei und daß
sie die Absicht gehabt hätte, den König zu erschießen.
Die Frau war niemandem aufgefallen, besonders des-
halb, weil sie für die meisten und auch für den Unter-
fertigten eine ganz unbekannte Persönlichkeit war.
Die Attentäterin wurde verhaftet, als Verbrecherin so-
fort einer Leibesvisitation unterzogen und gegen sie die
Untersuchung eingeleitet. Der Polizeikommissär,
Ä R. Popoviĉ.“
Bei dieser Leibesvisitation fand man bei Helene einen
Zettel, auf dem geschrieben stand: „Ich werde alle Hinder-
nisse und Schwierigkeiten überwinden; ich denke zu sterben,
aber nicht ohne...“ Auf einem zweiten Zettel standen
die Worte: „Lebe wohl, Serbien! Wenn du mich auch be-
leidigt hast, so hast du dich selbst noch mehr dadurch
beleidigt, daß deine und meine Feinde bis jetzt nicht bestraft
wurden. Aber trotzdem: Lebewohl überall! Lebewohl
allen, die würdig sind! Belgrad 1882.“ Darunter stand:
„Ich erfülle meine Pflicht und sterbe für dich, damit aus
meinem Blute Neueres und Reineres für Serbien entstehe!“
Außer dem amtlichen Berichte sind noch folgende Um-
stände zu erwähnen.
Ein Wirt, der neben der Attentäterin stand, erzählt,
dab der König nach dem Schusse den Kopf auf die Seite
wendete und dem Kriegsminister, der in seiner Nähe stand,
befahl, achtzuhaben, daß die Ordnung nicht gestört werde.
Der König und die Königin gingen voraus. Ihnen
folgte die Hofdame und dieser der Offizier Franassovic
links und der diensthabende Adjutant rechts.
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 191
Franassovis (jetzt General) hatte die beste Gelegenheit,
alles zu beobachten. Kaum waren die Majestäten in die
Kirche eingetreten, so bemerkte er hinter einer Säule eine
ausgestreckte Hand, die einen Revolver hielt; aber die da-
zu gehörige Person konnte er nicht sehen. Die Frau konnte,
bevor Franassevic zu ihr kam, nur einmal abdrücken, dann
wurde sie von ihm bei der Hand ergriffen. Sie wider-
setzte sich nicht, sondern blieb ganz ruhig. Voll Bestür-
zung liefen die Geistlichen auseinander; der König und die
Königin gingen zur Kirche hinaus, und daraufhin entstand
eine allgemeine Panik und Verwirrung. In dem unbeschreib-
lichen Gedränge der hereinströmenden Menge hörte man von
allen Seiten nur die Frage: „Wer ist sie? Wer ist sie?“ Die
Frau hörte alles ganz gleichgültig an und rief laut: „Ich
bin Helene, die Frau des erschossenen Jevrem Markovič.“
Als der König hörte, wer sie sei, wandte er sich zu ihr
um und sagte: „Sie haben mir vor vier Jahren geschrieben,
daß Sie mich erschießen werden.“ Damals legte der
König keinen Wert auf den Brief, hatte ihn aber doch auf-
bewahrt.
Als Franassovic die Attentäterin bei der Hand festhielt,
kam als erster ein Polizeibeamter und verlangte die Über-
gabe der Helene M. Während Franassovit noch im Zweifel
war, ob er einen wirklichen Polizeibeamten vor sich habe,
kam der Polizeikommissär R. Popovič hinzu. Ihm wurde
die Attentäterin übergeben, um durch eine Seitentür in ein
gegenüber befindliches Haus und von dort durch eine
schmale Gasse auf die Polizeidirektion geführt zu werden.
Bei dieser Gelegenheit konnten die Polizeibeamten die
wütende Menge nicht zurückhalten. Die Frau wurde mit
Stöcken geschlagen, an den Haaren gezogen, und die
Kleider wurden ihr vom Leibe gerissen. Bei alledem
blieb sie ruhig.
Der damalige Untersuchungsrichter Yassa Milenkovie
beschreibt sie in seinem Tagebuche folgendermaßen :
14*
192 l Milovanovic.
„Helene M. hatte hübsche Züge, schwarze Augen und
lange schwarze Haare, die ihr, vom Pöbel zerzaust, in die
Stirne hingen. Sie ordnete ihr Haar und befühlte Brust und
Achsel, wo sie Schmerzen von den Stockschlägen hatte,
und verlangte ein Glas Wasser. Nach zehn Minuten hatte
sie sich erholt und fragte: „Jetzt ist mir besser. Was
wünschen Sie, daß ich Ihnen sage?“ Ich stellte einige
Fragen und sagte ihr, sie solle mir antworten. Sie sprach
kalt und ernst. Wenn die Rede auf den König kam
geriet sie in Feuer; ihre Augen leuchteten, ihre Fäuste
waren geballt. Unter anderen Fragen stellte ich auch diese:
„Sie glauben gewiß, den König getötet zu haben?“ —
„Ja,“ sagte sie. —
„Nein, S. M. der König lebt.“
„Was sagen Sie?“ —
„Der König ist unverletzt.“ —
„Ach,“ rief sie, „Ist es möglich, daß ich den verhaßten
Tyrannen nicht getroffen habe? Meine unglückliche Hand,
wie sie mich verriet!“ —
Der Minister des Innern Garaschanin besuchte sie mit
dem Advokaten A. Novakovic. Bei seinem Anblick streckte
sie den Arm aus und, auf denselben bliekend, rief sie: „Das
Feuer soll dich verbrennen, weil du nicht treffen konntest.“
Noch am Tage des Attentates fand die erste Vernehmung
Helenens statt. Ihre Aussage lautete: „Ich heiße Helene
M. und bin die Witwe des erschossenen Oberstleutnants
J. Marković. Gerade heute bin ich 37 Jahre alt, othodoxen
Glaubens und aus Österreich-Ungarn gebürtig. Als meine
Mutter von Neusalz nach Schopron reiste, kam ich auf dem
Schiffe zur Welt. Meine Eltern lebten in Schopron. Sie
sind gestorben und jetzt habe ich dort niemanden. Mein
Vater hieß... ich will es jetzt nicht sagen, wie meine
Mutter hieß. Bis jetzt war ich noch nie bestraft oder
einem Verhör unterzogen. Das geschieht heute zum ersten
Male, und ich weiß, warum.
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 193
Ich lebe hier in Belgrad und bin im vorigen Herbste
von Jagodina hierhergezogen in dieselbe Wohnung, in
welcher ich jetzt noch lebe. Wer mich von meinen
Freunden, Bekannten oder Verwandten während dieser
Zeit besuchte, will ich nicht sagen.
Ich habe mich entschlossen, das auszuführen, was ich
heute getan, als man mich zum Pfahle führte, wo mein
Mann, der serbische Held und verdienstvolle Sohn dieses
Landes, unschuldig getötet wurde. Seit dieser Zeit dachte
ich nur an das Wie der Ausführung, und heute nacht ent-
schloß ich mich, meine längst beschlossene Absicht auf
diese Art zu vollenden.
Ich habe die Zettel, welche bei mir gefunden wurden,
heute nacht geschrieben, dann legte ich mich zum Schlafen
nieder. Als ich heute aufstand, war es schon Tag. Die
genaueAnkunftszeit des Königs wußte ich nicht. Aberaus den
Gesprächen der Passanten auf der Straße entnahm ich, daß
der König bald ankommen werde.
Es war ungefähr halb neun, und ich beeilte mich, an
die Ausführung meines Planes zu gehen. Ich kleidete mich
an, hing den Revolver, der mir von meinem Manne ge-
blieben war, um und zog darüber eine Jacke. Vor dem
Spiegel sah ich, daß man den Revolver nicht bemerkte.
Dann adressierte ich einen Brief an meinen Hausherrn, in
welchem sich das Geld für den Mietzins befand, und lieb
ihn auf dem Tische liegen, damit ihn die Polizei nach
Vollführung der Tat bei der Haussuchung finden könne,
Ich verschloß die Tür und begab mich zur Kirche,
In der Kirche stellte ich mich links in der Nähe eines
heiligen Bildes auf, welches zum Küssen aufgestellt ist.
Diesen Platz wählte ich mit Absicht, weil ich wußte, dab
der König dort vorübergehen mußte. Lange mußte ich
warten. Endlich hörte man, der König komme. Die Geist-
lichkeit kam vom Altare her und stellte sich in der Kirchen-
tür auf. Im selben Augenblicke hörte ich die Garde vor-
194 . Milovanovic.
beireiten und die Equipage mit den Majestäten vorfahren.
Der König, der die Königin am Arm führte, trat in die
Kirche ein. Ich zog, als er in meine Nähe kam, den Re-
volver, richtete ihn auf sein Gesicht und feuerte. Der
König taumelte auf die Seite und ich weiß nicht, ob er
tot ist oder nicht. Ich wurde ergriffen und, was weiter
geschah, weiß ich nicht.
Ich bin mir vollkommen bewußt, was ich getan habe.
Den Gedanken, den König zu erschießen, trage ich in meiner
Brust seit dem Tage, äls mein Mann erschossen wurde.
Es ist meine Überzeugung, daß er unschuldig getötet wurde.
Da ich mich nicht an allen, die an seinem Tode mitschuldig
sind, rächen konnte, entschloß ich mich, den König zu
töten, weil er das Todesurteil unterzeichnete,
Bei meiner Tat habe ich keine Mitschuldigen. Ich be-
trachte mich als so erhaben, daß mich niemand zu leiten
oder mir irgendwie zu helfen braucht. Ich habe das Atten-
tat allein vorbereitet und habe es allein ausgeführt. Es
wußte niemand etwas davon.
Ich verteidige mich nicht. Ich bin schuldig. Ich will
das Schafott, ich will den Tod. Ich will meine Freiheit,
ich will weder den Kerker noch das Leben, weil das Leben
für mich der Kerker ist.“
Nach dem ersten Verhöre wurde Helene ins Gefängnis
geführt. Eines Tages um fünf Uhr früh machte der Wärter
des Gefangenenhauses die Runde. Als er zum Zimmer kam,
in welchem sich Helene befand, verlangte er, sie solle
die Tür öffnen, welche von innen verriegelt war. Helene
. bat, er solle ein wenig Geduld haben. Als aber nach einigen
Minuten der Wärter von neuem verlangte, daß sie die
Türe öffne, erhielt er keine Antwort. Jetzt wurde die Türe
mit Gewalt erbrochen. Man fand Helene im Bette ruhig
auf der rechten Seite liegend, beide Arme über ein Wasch-
becken gestreckt. Sie hatte sich die Adern am Unterarm
mit einer Häkelnadel aufgerissen, an der Spiritusflamme
Ein Attentat auf den König Milan von Serbien. 195
Wasser erwärmt und sich warme Umschläge auf die Wunden
* gelegt, damit das Blut schneller ausfließe. Ein Gendarm
machte einen Notverband und hielt ihr die Arme fest, bis
der Arzt kam. Sie machte den Versuch, sich zu befreien,
und bat, man möge den Verband lösen, damit sie sich
verblute und sterbe. Eine ganze Woche nahm sie keine
Speise zu sich, so daß der Minister des Innern einigemale
zu ihr kam und sie bat zu essen.
Am 12. April 1883 wurde ihr Todesurteil gesprochen
und bekannt gemacht. Sie wollte nicht um Begnadigung
bitten, aber der König änderte das Todesurteil in 20 Jahre
Zuchthaus um. Als Helene M. in die Strafanstalt kam,
gab man sie in ein Zimmer zu zwei anderen Gefangenen. .
Ihre einzige Bitte war, ein Zimmer für sich allein zu haben
Sie nahm keine Speise zu sich und wiederholte fortwährend.
daß sie nach solchem Schieksale nicht mehr zu leben,
brauche.
Eines Morgens fand man Helene tot. Sie lag im Bette
mit dem Gesichte nach unten gekehrt zwischen zwei Kopf-
kissen, um den Hals eine wie einen Strick zusammenge-
wundene Serviette. Die Finger waren fest zugedrückt und
erstarrt; sie hatte die Enden der Serviette selbst zugezogen,
und in dieser Stellung waren ihre Hände erstarrt. Nach
vollzogener Obduktion waren die Ärzte geteilter Meinung.
Der eine stellte fest, daß Selbstmord vorliege; der andere,
war der Ansicht, es sei nicht möglich, daß sie sich selbst.
hätte erwürgen können.
Man begrub sie ohne kirchliche Zeremonie. Die Stätte
wo sie endlich Ruhe gefunden, ist unbekannt.
Der Brünner Raubmord von 1899.
Von
Dr. Richard Bauer, k. k. Staatsanwaltssubstitut in Troppau.
Es war am Abende des 20. Februar 1899 gegen 6 Uhr,
als Brünn, die Hauptstadt Mährens, das Gerücht eines
gräßlichen Raubmordes durcheilte.
Die allgemeine Erregung nahm zu, als bekannt wurde,
daß der in einer Verbindungsgasse zwischen der Ferdi-
nandsgasse und dem Krautmarkt, einer stark frequentierten
und hell beleuchteten Gasse der inneren Stadt, etablierte
Uhrmacher und Goldwarenhändler Anton P. in seinem
Laden ermordet aufgefunden worden war. Um 61/ Uhr
abends fand sich die Gerichtskommission (welcher der Ver-
fasser als Untersuchungsrichter angehörte) am Tatorte ein;
die Ergebnisse dieses Lokalaugenscheines seien in der
Hauptsache im nachfolgenden wiedergegeben.
Anton P., ein junger hübscher lediger Mann, der erst
vor einigen Jahren seiner Militärdienstpflicht Genüge ge-
leistet, hatte sein Geschäft in einem kleinen schmalen Ge-
wölbe, welches einen einzigen Ausgang gegen die Gasse
zu hatte. Zu dem Geschäfte gelangte man durch eine
schmale Glastür, neben welcher ein Auslagefenster dem
Gewölbe Licht spendete. Fast die ganze Länge des Ladens
nahm ein Verkaufspult ein, neben welchem an der Wand
eine eiserne Kasse stand. Der Hintergrund des Gewöl-
bes war durch einen Vorbang abgetrennt, hinter welchem
ein Diwan seinen Platz hatte. DBeleuchtet wurde der
Der Brünner Raubmord von 1899. 197
Laden durch zwei Gaslampen. Als eine gegen 6 Uhr
abends zufällig in den Laden eintretende Frau den Anton
P. auf dem Boden liegen sah, war es in dem Laden finster
gewesen.
Den Mitgliedern der eintretenden Kommission bot sich
ein Entsetzen erregender Anblick dar, der das Blut in den
Adern erstarren machen konnte. Zwischen dem Verkaufs-
pulte und der eisernen Kasse lag Anton P. mit dem Ge-
sichte gegen die Erde gewendet, die beiden Arme ausge-
streckt, in einer großen Blutlache.
Das Hinterhaupt des Toten war in eine fast breiartige
Masse verwandelt; Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse
fanden sich auf dem Rücken. Die Wand, neben welcher
der Kopf lag, war hoch mit Blutspritzen bedeckt, welche
auch an dem am anderen Ende des Ladens befindlichen
Auslagefenster und an der gegenüberliegenden Wand zu
sehen waren; selbst an der ziemlich hohen Decke des
Ladens klebte ein Stück Gehirnmasse. — Die Gerichts-
ärzte, welche schon viele Jahre diesen Dienst versahen,
versicherten bei der Obduktion, noch niemals einen von
Menschenhand so grauenhaft zugerichteten Leichnam gesehen
zu haben.
Am Rücken der Leiche war eine ziemlich deutlich
in Staub ausgedrückte Fußspur zu erblicken; die Hosen
des Toten waren am Gesäßteile mit Staub bedeckt. Nicht
weit von der Leiche lag eine mit frischem Blute bedeckte
Holzhacke. Die Taschen des Anton P. waren umgedreht;
verschiedene Gegenstände, wie z. B. ein Taschentuch, eine
Schachtel mit Zündhölzchen, ein Paket Tabak u. dgl. lagen
verstreut daneben auf dem Fußboden.
Die eiserne Kasse stand offen und war fast leer; aus
dem Auslagefenster fehlten drei Samttabletten, auf welchen
goldene Uhren ausgestellt waren. Erwähnenswert ist auch,
daß in der eisernen Kasse ein offenes Notizbuch lag, in
welchem mit Bleistift von der Hand des Ermordeten das
198 | Bauer.
Wort „Mord“ deutlich geschrieben stand. So rätselhaft
dieser Umstand auch erschien, war es doch unmöglich,
ihn mit der Mordtat in irgendwelchen Zusammenhang zu
bringen, da P. während des sich jedenfalls rasch abspie-
lenden Überfalles dieses Wort keinesfalls geschrieben haben
konnte; es blieb denn auch dieser Fund, der zu den ver-
schiedensten und kühnsten Schlußfolgerungen Anlaß ge-
geben hatte, unaufgeklärt. Auf dem Erdboden lagen im
ganzen Laden verschiedene Schmucksachen, als Knöpfe
usw., verstreut umher. Das Auslagefenster war von innen
geöffnet worden und muß zur Zeit des Mordes offen
gestanden haben, da sich Blutspritzen auf den sonst inner-
halb der Auslage befindlichen Glasscheiben zeigten.
Bei dieser Sachlage ließen sich folgende Schlußfolgerun-
gen ziehen: Der Mörder hatte offenbar in einem Augen-
blicke, da Anton P. zur Kasse gegangen war, um einen
Gegenstand herauszunehmen, demselben von rückwärts,
mit der Hacke weit ausholend: (wovon ein in einer Glas-
kugel der von der Decke herabhängenden Gaslampe be-
findliches Loch Zeugnis ablegt) einen wuchtigen Hieb auf
den Kopf versetzt, so daß er nach rückwärts zusammen-
stürzte, ihn darauf — vermutlich, weil er noch röchelte -
oder sonstige Lebenszeichen von sich gab, — mit einem
Fußtritte gegen den Rücken auf das Gesicht geschleudert
und sodann auf den Kopf des wehrlos Daliegenden hagel-
dichte Hiebe niedersausen lassen, so daß das Blut hoch
im Bogen emporspritzte und Knochensplittier und Stücke
des Gehirns umherflogen. Als nun der Täter den ein-
zigen Zeugen seines Verbrechens für immer verstummt
glaubte, durchwühlte er in Hast die Taschen des unglück-
lichen Opfers, durchsuchte die offenstehende Kasse, plün-
derte die Auslage und eilte mit den rasch zusammenge-
rafften Schätzen hinaus in die vor dem Geschäfte vorbei-
strömende Menschenmenge, aus der wohl niemand eine
Ahnung hatte, welch blutiger Vorfall sich soeben in der
Der Brünner Raubmord von 1899. 199
nächsten Nähe abgespielt hatte. Die Tür des Ladens
war zweifellos zur Zeit der Tat von innen versperrt ge-
wesen; in der Eile der Flucht dürfte der Mörder das
Zusperren der Türe von außen, was die Entdeckung der
Tat noch lange hätte hinausschieben können, wohl ver-
gessen haben. Der Schlüsselbund mit den Ladenschlüsseln
und die Samttabletten wurden in den Anlagen des bei
der Stadt gelegenen Spielberges aufgefunden.
Der Mord konnte nur zwischen 5t/4 und 6 Uhr abends
vollbracht worden sein, da Anton P. noch um 51/; Uhr
vor seinem Geschäftslokale stehend gesehen und schon
vor 6 Uhr tot aufgefunden wurde Die Menge der
geraubten Gegenstände ließ sich mit Sicherheit nicht fest-
stellen, da Anton P. keine ordentlichen Bücher führte und
auch keinen Gehilfen im Geschäfte hielt, so daß niemand
einen Einblick in den Umfang und die Art des Gsschäute-
betriebes hatte.
Die Aufregung der Bevölkerung über diesen a
mitten in der Stadt am Nachmittag verübten Raubmord
war ungeheuer.
Die Stadtgemeinde Brünn setzte einen größeren Geld-
preis auf die Entdeckung des Mörders aus. Infolgedessen
wurde das Gericht mit einer Unmasse von Anzeigen, meist
belanglosen Inhalts, überschwemmt. Fieberhaft war die
Tätigkeit der Behörden. Allen Anhaltspunkten und Spuren,
die sich auf Grund des Lokalaugenscheines und der auf-
gefundenen Korrespondenz ergaben, wurde sofort nachge-
gangen. Eine Spur führte auch nach Berlin, wo Anton P.
im Jahre vorher längere Zeit geweilt und auch ein Liebes-
verhältnis angeknüpft hatte. Der Ermorderte, der zu ga-
lanten Abenteuern sehr geneigt war, hatte, wie festge-
stellt wurde, auch die Nacht vor der Ermordung in weib-
licher Gesellschaft zugebracht. Doch führten diese Er-
hebungen zu einem negativen Resultate.
Der Verdacht der Täterschaft richtete sich auch auf
200 Bauer.
zwei Schweizer, verdächtige Gestalten, welche als vorzügliche
Schachspieler sich in den Kaffeehäusern Brünns herumge-
trieben und daselbst gegen Entgelt Schach gespielt hatten,
aber seit dem Tage des Mordes spurlos verschwunden
waren. Als sich aber bald darauf auch deren Unschuld
herausstellte, festigte sich langsam die Überzeugung, daß
die Täter — man vermutete eine Mehrheit —, welche den
Raubmord schon vor langer Hand vorbereitet hatten, nun
schon mit ihrer Beute in Sicherheit wären. Trotzdem
liefen noch ständig Anzeigen ein, die sich aber meistens
als ein Produkt überhitzter Phantasie darstellten. So mel-
dete die Bedienungsfrau einer Bedürfnisanstalt, daß am
kritischen Tage gegen 6 Uhr abends ein Herr, der ein
größeres Paket getragen, zu ihr gekommen, sich während
eines längeren Verweilens in einem Kabinette gewaschen
habe, und daß nach seinem Fortgange der Griff des Zuges
der Wasserspülung mit Blut besudelt gewesen sei. Später
mit dem wahren Mörder konfrontiert, erkannte sie in ihm
mit vollster Bestimmtheit jenen Herrn wieder, obwohl sie
früher angegeben, daß jener Herr mit ihr deutsch gespro-
chen hatte und der Mörder nachgewiesenermaßen gar
nicht deutsch sprechen konnte. Dieselbe Zeugin wollte
auch in dem Bruder des Ermordeten, der dem Morde gänz-
lich fern stand, denselben Herrn mit voller Gewißheit wie-
der erkennen. Übrigens sei erwähnt, daß der dem Gerichte
vorgelegte beinerne Griff des Zuges tatsächlich Blutspuren
aufwies.
Das Hauptaugenmerk der Untersuchung wendete sich
der gefundenen Hacke zu, nachdem erhoben worden war,
daß Anton P. niemals eine solche besessen hatte, dieselbe
also zweifellos vom Täter zurückgelassen worden war. Die
Hacke war dem Anscheine nach sehr alt; an ihr war kein
Schmiedezeichen zu finden; ihr Stiel war roh gearbeitet
und wies Spuren von Kleieauf, so daß man schließen konnte,
dab sie in einem Stalle oder dergleichen gelegen hatte.
Der Brünner Raubmord von 1899. 201
Ungefähr eine Woche nach Verübung des Mordes zu
einer Zeit, da man fast jede Hoffnung aufgegeben, den
Täter zu eruieren, erstattete der Schneider F. die Anzeige,
daß der Schuhmacher Anton Z. aus Turas, einer Ortschaft
in der Nähe Brünns, den er am Nachmittage des 20. Februar
in der Nähe des Geschäftes des Anton P. gesehen hatte,
seit jener Zeit über viel Geld verfüge und auch im Besitze
einer neuen silbernen Uhr sei.
Da sich schon zahlreiche derartige Anzeigen als un-
begründet erwiesen hatten, wurde wohl diese Anzeige nicht
als besonders wichtig angesehen, allein nichtsdestoweniger
dem Gendarmeriewachtmeister S. zur sofortigen Erhebung
übergeben. Dieser ließ nun den Anton Z., der derzeit be-
scbäftigungslos bei seinem Schwiegervater D., einem sehr
anständigen Grundbesitzer in Turas, wohnte, zu dem Ge-
meindevorsteher rufen, wo er ihn einem eingehenden Ver-
höre unterzog. Sodann begab er sich zu dem Grundbe-
sitzer D., der ihm auf seine Frage, wieviel Hacken er be-
sitze, entgegnete: „drei“, von denen er zwei sogleich vor-
zeigte, während er eine dritte alte meist unbenützte Hacke,
die gewöhnlich auf dem Schweinestalle lag, nicht finden
konnte. Da die Beschreibung der fehlenden Hacke mit
der vom Mörder zurückgelassenen ziemlich übereinstimmte,
ließ der Wachtmeister diese herbeischaffen. Der Grundbe-
sitzer D. erkannte sie sofort als sein Eigentum, indem er
dem Wachtmeister erklärte, daß er sich den Stiel zu dieser
Hacke im Jahre 1860 selbst angefertigt habe und daß ein
Irrtum vollkommen ausgeschlossen sei. Als nun bei einer
Hausdurchsuchung ineinemHemde des Anton Z. echte goldene
Hemdknöpfe aufgefunden wurden, so bestand wohl kein
Zweifel darüber, daß der Mörder entdeckt sei. Dem Unter-
suchungsrichter vorgeführt, leugnete Anton Z. mitder größten
Ruhe und Gelassenheit jedes Verschulden und hatte auch ge-
genüber den gravierendsten Beweisen entweder eine nichts-
sagende Ausrede oder ein einfaches Ableugnen bei der Hand.
202 Bauer.
Anton Z., in der Mitte der zwanziger Jahre stehend,
von mittlerer Statur, eher schwächlich, denn stark gebaut,
stotterte sehr stark und hatte ungewöhnlich lange Hände.
Wer am Abend des 20. Februar die entsetzlich entstellte
Leiche des Anton P. in ihrem Blute schwimmen sah, der
hatte sich den Raubmörder gewiß anders vorgestellt, als
‚Anton Z. tatsächlich aussah, den man beim ersten Anblick
für einen äußerst harmlosen Menschen hätte halten mögen,
wenn nicht in Augenblicken, wo er sich unbeobachtet
wähnte, ein wildes Aufblitzen in seinen Augen — dem
Spiegel der Seele — davon gezeugt hätte, daß auch in
dem Herzen dieses anscheinend so ruhigen Menschen wilde
Triebe und Leidenschaften ihren Sitz hatten.
Die Untersuchung nahm nun einen raschen Fortgang,
und die Beweise gegen Anton Z. häuften sich von Tag zu Tag.
Kurz vor seiner Verhaftung schrieb Anton Z. einem in
Brünn lebenden Verwandten einen Brief, in welchem er ihn
inständig bittet, im Falle er von der Gendarmerie einver-
nommen werden sollte, anzugeben, er hätte ihm (dem Z.)
36 Gulden geborgt, denn sonst komme er (Z.) ins Kriminal.
Bei späteren Hausdurchsuchungen wurden teils auf
dem Heuboden teils im Ofen des Zimmers 10 silberne Uhr-
ketten und 64 neue und alte Taschenuhren gefunden und
es gelang, wenn auch unter großen Schwierigkeiten,
der Nachweis — und zwar teilweise mit Hilfe der ein-
gravierten Nummern —, daß der größte Teil derselben
aus dem Geschäfte des Anton P. stammte. — Ebenderselbe
Nachweis wurde bezüglich der goldenen bei dem Be-
schuldigten gefundenen Hemdknöpfe geführt, die Anton Z.
in einer Marktbude um einige Kreuzer gekauft haben
wollte. Der Winterrock, den der Beschuldigte erwiesener-
maßen am Tage der Tat trug, war alt, schmutzig und aus
aufgerauhtem Stoffe angefertigt; obwohl er ausgewaschen
worden war, konnten die Sachverständigen an demselben,
hauptsächlich an der Brust, noch Blutspuren nachweisen.
Der Brünner Raubmord von 1899. 203
An dem alten weichen und sehr stark beschmutzten
Hute des Beschuldigten fand man neben mehreren Blut-
flecken auch einen sehr großen langen Blutspritzer. Anton Z.
behauptete nun, vor einigen Tagen beim Schlachten eines
Schweines geholfen und sich bei dieser Gelegenheit die
Blutflecken zugezogen zu haben. Wenn nun auch der
Nachweis nicht zu erbringen war, daß es sich um Menschen-
und nicht um Schweineblut handle, so stand dennoch fest,
daß der Beschuldigte beim Schlachten des Schweines den
Winterrock nicht an hatte. Immerhin sprach dieser Befund
gegen die ursprüngliche Annahme, daß der Mörder ganz
mit Blut bedeckt gewesen sein mußte. — Es wurde auch
festgestellt, daß das Futter an der Innenseite des Winter-
rockes in einer solchen Weite aufgetrennt war, daß der
Täter durch diese Öffnung die Hacke stecken und sie so
verborgen in die Stadt tragen konnte.
Der Beschuldigte wollte den Ermordeten überhaupt nicht
gekannt haben. Dem entgegen wurde festgestellt, daß Anton Z.
dem Ermordeten während dessen aktiver Militärdienstzeit zeit-
weise als Putzer zugewiesen war, und daß mehrere Zeugen
den Beschuldigten zu verschiedenen Malen in dem Geschäfte
des Anton P. angetroffen hatten. In einem Geschäftsbuche
des Anton P. fand sich auch eine Aufzeichnung, laut welcher
der Beschuldigte im Januar 1899 eine Uhr auf Raten ge-
kauft hatte. Aus einem dem Z. abgenommenen Pfand-
scheine war ferner zu ersehen, daß dieser die Uhr noch
an demselben Tage versetzt hatte. Kurz nach dem 20. Februar
trug die Ehegattin des Z. dem Uhrenhändler D. in Brünn
eine silberne Uhr zurück, die sie ihrem Manne in der
Meinung, er hätte sie auf Schuld gekauft, weggenommen
hatte. Im Laufe der Untersuchung stellte sich heraus, daß
diese Uhr aus dem Geschäfte des Anton P. stammte,
während jene Uhr, welcheZ. wirklich kurze Zeit vorher von
D. auf Borg genommen und sogleich versetzt hatte, im Ver-
satzamte aufgefunden und auch von D. erkannt worden war.
204 Bauer.
Bemerkenswert ist auch nachstehender Vorfall. Vor
der Entdeckung des Mörders brachte ein kleiner Junge
einen in böhmischer Sprache abgefaßten Zettel auf das
Polizeiamt mit dem Bemerken, daß er ihn auf den sogenannten
„schwarzen Feldern“ bei Brünn von einem unbekannten
Manne mit dem Auftrage erhalten habe, denselben gegen
eine kleine Belohnung auf dem Polizeiamte abzugeben.
Der Inhalt des Zettels lautete: „Wegen der paar Gulden
(jedenfalls eine Anspielung auf den ausgeschriebenen Preis)
bekommt ihr den Schuster nicht; der ist viel zu gescheit,
um sich fangen zu lassen.“ Damals wurde dieser Zettel
als ein schlechter Scherz aufgefaßt. Als aber der kleine
Junge später dem Anton Z. gegenübergestellt wurde, er-
kannte er mit Bestimmtheit in ihm den damaligen Auftrag-
geber; auch die Sachverständigen aus dem Schreibfache
fanden die Schrift des Zettels mit der des Anton Z. über-
einstimmend. Der Beschuldigte wollte von dem ganzen
Vorfalle nichts wissen. |
Alle diese Beweise, die vielleicht manchen hartgesottenen
Sünder zum Reden gebracht hätten, übten auf Anton Z.
gar keinen Eindruck aus. Derselbe verlor nie seine
Ruhe, war nie um eine Ausrede verlegen und beteuerte
stets seine Unschuld. Nicht einmal eine Veränderung in
seinen Gesichtszügen war zu entdecken, als ihm z. B. der
Fund der 64 Uhren vorgehalten wurde: „Die kann jeder
dorthin gelegt haben,“ lautete seine gefaßte Antwort.
Erwiesenermaßen hatten weder der Schwiegervater des
Anton Z. noch dessen junges Weib eine Ahnung von
seinem Verbrechen, und man kann sich das Entsetzen und
die Verzweiflung dieser armen Leute vorstellen, als sie sich
der Überzeugung nicht mehr verschließen konnten, daß
Anton Z. wirklich ein Mörder sei. Wiewohl sich der Be-
schuldigte zu Anfang seiner Ehe ganz brav gehalten hatte,
führte er schon seit geraumer Zeit einen unordentlichen
Lebenswandel, ergab sich vollständig dem Müßiggange,
Der Brünner Raubmord von 1899, 205
bestahl seinen Schwiegervater und verübte verschiedene
kleine Betrügereien. Von seinen Angehörigen gedrängt,
sich endlich eine Arbeit zu suchen, ging er häufig nach
Brünn, lungerte aber dort müßig in den Straßen herum, obne
sich um eine Arbeit zu bekümmern. Seinen Schwieger-
. vater vertröstete er stets damit, daß er Geld bei einem Be-
kannten ausstehen habe, und daß er nach Erbalt desselben
alle seine Schulden bezahlen werde. Dabei blieb es gänz-
lich unaufgeklärt, was Anton Z. eigentlich mit dem aus-
geborgten Gelde anfing, da er weder Spieler noch Trinker
war und auch sonst fast gar keine Bedürfnisse hatte.
Nichtsdestoweniger ging sein Bestreben dahin, sich auf
mühelose Weise Geld zu verschaffen. So hatte er sich
erst vor kurzem einem Rechtsanwalte in Brünn gegenüber
als den Sohn seines Schwiegervaters ausgegeben, um sich
auf diese Art auf dessen Grundstück Geld auszuborgen. Ein
andermal versprach er einer Frau 10 Gulden, wenn sie
die Unterschrift einer Verwandten des Z., die Grundstücke
besaß, nachmachen wollte. Bei dem Fehlschlagen all dieser
Versuche, sich Geld zu verschaffen, dürfte in Z. der Plan,
den Anton P. zu erschlagen und zu berauben, aufgetaucht
sein. Zweifellos ist, daß Z. schon seit längerer Zeit mit
diesem Gedanken befaßt die Verhältnisse des P. auskund-
schaftete und nur auf den geeigneten Augenblick zur Aus-
. führung seines blutigen Vorhabens lauerte. Am 20. Februar,
da Anton P. die Auslage neu ordnete und die eiserne
Kasse offen hatte, fand er die gesuchte Gelegenheit. Jeden-
falls hat er den P. veranlaßt, etwas aus der eisernen Kasse
zu nehmen, da er denselben, der ihm an Kraft bedeutend
überlegen war, nur in fückischer Weise von rückwärts an-
fallen konnte.
Erstaunlich ist die Geschicklichkeit, mit welcher Anton Z.,
ein so einfacher Mensch, den Raubmord in Scene setzte,
die Schnelligkeit, mit der er ihn ausführte, die Wagbhalsig-
keit, mit welcher er die Tat vollführte, da zur Zeit des
Der Pitaval der Gegenwart. II. 15
206 Bauer. Der Brünner Raubmord von: 1899.
ersten Hiebes die Ladentür jedenfalls noch offen war, und
die Sorglosigkeit, welche er nach dem Morde an den Tag
legte. z
Auch bei der am 20. April 1899 vor dem Schwurge-
richte in Brünn abgehaltenen Hauptverhandlung beharrte
Anton Z. bei seinem bisher an den Tag gelegten Benehmen
und leugnete alles ab. Es machte den Eindruck, als. ab Z.
fest an die im Volke allgemein verbreitete Ansieht glaubte,
daß ein nicht geständiger Mörder nieht hingerichtet werden
könnte, Er wurde von den Geschworenen einhellig schuldig
erkannt. Mit derselben Ruhe wie das Urteil nahm er
späterhin die Mitteilung entgegen, daß der von seinem Ver-
teidiger eingebrachten Nichtigkeitsbeschwerde keine Folge
gegeben und daß auch ein Gnadengesuch zurückgewiesen
wurde. |
Am 16. August 1899 wurde Anton Z. im Hofe des
Straflandesgerichtes in Brünn durch den Strang vom Leben
zum Tode gerichtet. Bis zum letzten Momente bewahrte
er seine Ruhe und beteuerte seine Unschuld, von der er
ebensowenig wie irgend ein anderer überzeugt war.
Amerikanische Räuber.
Zwei Berichte über Raubanfälle aus dem Archiv von Pinkertons
National Detective Agency
von
_ Cleveland Moffett, New-York.
Zur Einleitung.
Pinkertons National Detective Ageney ist ein über
ganz Nordamerika verbreitetes Privatunternehmen der Brüder
Wiliam und Robert Pinkerton, das sich mit der Auf-
deckung von Verbrechen, der Herbeischaffung abhanden-
gekommener Gegenstände, der Ermittelung privater Verhält-
nisse (namentlich Kreditwürdigkeit, geschäftlicher Ruf)
u. dergl. befaßt. Im Gegensatz zu den meisten europäischen
Detektivinstituten ist dieses Unternehmen durchaus zuver-
lässig und leistungsfähig. Es hat in jeder größeren Stadt
der Vereinigten Staaten Filialen, besitzt die meisten krimi-
nalistischen Hilfsmittel, gibt ein eigenes Verbrecheralbum
heraus und unterhält Tausende von gut geschulten Detek-
tivs mit dem nötigen Aufsichtspersonal. Mit Genugtuung
kann das Institut auf eine große Anzahl von hervorragenden
Erfolgen blicken. Es ist daher erklärlich, daß es das beste
Ansehen genießt und sehr viel vom Publikum wie auch
von anderen Behörden, namentlich in schwierigen Fällen,
in Anspruch genommen wird. Von manchen Seiten wird
es als unentbehrlich bezeichnet gegenüber der Art, wie die
staatliche und kommunale Polizei der Vereinigten Staaten
oft ihres Amtes waltet. Die folgenden beiden Erzählungen
15*
208 Moffet.
sind getreu nach den Akten wiedergegeben, enthalten sich
jeder Übertreibung und Ausschmückung und fesseln durch
die Tatsachen und ihre geschickte Darstellung, ein packen-
des. Bild verwegenen Verbrechertums zeichnend.
Hamburg, 20. Juni 1905.
Dr. Roscher.
1. Der Rock-Island-Schnellzug.
I.
Der durchgehende Schnellzug auf der Rock-Island-
Bahn verließ Chicago um 10 Uhr 45 Min. nachm. am
12. März 1886 mit 22000 Dollars in Fünfzig- und Ein-
hundertdollarnoten, welche Kellog-Nichols, ein altgedienter
Bote der United States Expreß Company, in Verwahrung
hatte. Diese Summe war von einer Bank in Chicago ab-
‚gesandt und sollte an die Hauptbank in Davenport, Jowa,
abgeliefert werden. Außer den gewöhnlichen Personen-
wagen führte der Zug zwei Transportwagen der Paket-
post-Gesellschaft; den ersten, nur für die Paketbeförderung
unmittelbar hinter der Lokomotive, den zweiten für Pakete
und Reisegepäck. Diese Wagen hatten an beiden Enden
Türen, welche Eisenbahnräubern die beste Gelegenheit für
ihre Tätigkeit zu bieten pflegen. Der Bote Nichols befand
sich im ersten Wagen und war, als der Zug in Joliet,
einer Stadt etwa vierzig Meilen westlich von Chicago, hielt,
eifrig mit seiner Arbeit beschäftigt. Beim nächsten Halt
jedoch, in Morris, kam der Bremser Harry Schwartz aus dem
ersten Wagen herausgestürzt und schrie: „Der Bote ist tot.“
Man fand des Boten leblosen Körper auf dem Fuß-
boden des Wagens liegen. Der Kopf war ihm mit irgend
einem schweren Werkzeuge zerschmettert worden, und die
rechte Schulter zeigte eine Schußwunde. Anscheinend war
Amerikanische Räuber. 209
er erst nach hartem Kampfe überwältigt worden. Sein
Gesieht trug den Ausdruck trotziger Entschlossenheit, seine
Fäuste waren geballt, Hände und Finger in auffaliender
Weise zerschunden und zerkratzt und unter den Nägeln
fanden sich kleine Fetzen von Menschenfleisch. Die Schuß-
wunde rührte von einer Waffe Kaliber 32 her; aber sie
war nicht die Ursache des Todes. Dieser war vielmehr die
Folge von Schlägen, die der Mörder nach dem Haupte
seines Opfers geführt hatte, wahrscheinlich nachdem er den
Schuß abgefeuert hatte. Alle, welche Nichols kannten,
waren überrascht über den verzweifelten Widerstand, den
er geleistet zu haben schien, denn er war ein kleiner
leichter Mann, nicht größer als fünf Fuß fünf Zoll, und
wog höchstens hundertunddreißig Pfund; auch stand er
unter seinen Kameraden nicht in dem Rufe großen Mutes.
Der Paketwagen wurde sofort vom Zuge abgekoppelt
und in Morris zurückgelassen unter der Bewachung des
ganzen Zugpersonals mit Ausnahme von Schwartz, welcher
mit dem Zuge nach Davenport weiterfuhr. Nach der
ersten oberflächlichen Besichtigung wurde keinem gestattet,
den Wagen, in welchem Nichols lag, zu:betreten, so daß
man von dem Umfang des ausgeführten Raubes zunächst
keine genaue Kenntnis hatte. Die Tür des Geldschrankes
hatte man offen gefunden, und der Inhalt desselben lag
zerstreut auf dem Boden umher.
Ein dringendes Telegramm wurde sogleich nach Chicago
gesandt, und eine Anzahl Detektivs kamen ein paar Stunden
später in Morris an. Nach allen Richtungen hin wurden
die Landstraßen und der Schienenstrang abgesucht. Hun-
derte von Personen beteiligten sich an dieser Suche, denn
die Nachricht von dem Morde verbreitete sich schnell durch
die ganze Gegend, und auf Meilen in der Runde blieb
kein Quadratmeter undurchsucht, Zufällig war der Boden
mit Schnee bedeckt, aber die sorgfältigste Nachforschung
vermochte nicht irgend welche bezeichnende Fußspuren
210 Moffett.
zu entdecken, und als nach mehrstündigem Suchen alle
zurückkehrten, hatte man nur eine einzige Entdeckung
gemacht. Es war dies eine Maske, welche man auf einer
Viehtrift nahe bei Minorka gefunden hatte — eine Maske
aus schwarzem Tuch mit weißen Bändern an jeder Seite,
von denen das eine wie bei einem Kampfe aus dem Zeuge
herausgerissen war.
Inzwischen betrat Mr. Pinkerton selbst den Paketwagen
und untersuchte alles aufs sorgfältigste. Seine erste Entdek-
kung war ein schweres Schüreisen, an welchem Blutflecken
und zusammengeklebte Haare saßen. Es hing an seinem
gewöhnlichen Platze hinter dem Ofen. Diese letztere Tat-
sache war nach Mr. Pinkertons Meinung von großer Be-
deutung; er schloß daraus, daß das Verbrechen von einem
Angestellten. der Eisenbahn begangen sei. Denn, so über-
legte er, nachdem das Schüreisen in solcher Weise ge-
braucht war, konnte es nur mechanisch und gewohnheits-
gemäß wieder an seinen gewöhnlichen Platz gehängt sein;
wäre der Täter nicht ein Angestellter der Eisenbahn, so
würde er das Eisen auf dem Fußboden haben liegen lassen
oder er würde es fortgeworfen haben.
Als Mr. Pinkerton an den Geldschrank kam, entdeckte
er, daß die 22000 Dollars fehlten und daß andere Papiere
hastig durchsucht, aber als wertlos zurückgelassen waren.
Zu diesen gehörte ein Bündel annullierter Wechsel, welche
hastig aufgerissen und dann beiseite geworfen waren. Mr.
Pinkerton achtete in dem Augenblick :kaum darauf, aber
er hatte Gelegenheit sich später daran zu erinnern, daß
ein kleines Stück an einem dieser Wechsel fehlte, als ob
eine Ecke abgerissen wäre.
Alle Eisenbahnbediensteten wurden sogleich ins Ver-
hör genommen, aber keine ihrer Aussagen war von irgend
welchem Belang, außer der des Newton Watt, welcher
die Aufsicht über den zweiten Wagen hatte. Er sagte,
während er die Frachtbriefe und Empfangscheine gezählt
Amerikanische Räuber. 211
habe, sei er durch das Krachen von zersplitterndem Glase
an dem über seinem Kopfe befindlichen Ventilator auf-
geschreckt worden. In demselben Augenblicke sei ein
untersetzter Mann, der eine schwarze Maske trug, in
den Wagen getreten und habe gesagt: „Wenn du dich
rührst, wird der Mann da oben dir den Garaus machen.“
Watt blickte in die Höhe und sah durch das zer-
brochene Glas eine Hand hereinragen, welche einen Re-
volver hielt. So eingeschüchtert, machte er keinen Ver-
such, Lärm zu schlagen, und der maskierte Mann ließ
ihn unter der Bewachung der Revolverhand, welche ihn
so lange bedrohte, bis der Zug Morris erreichte, und dann
plötzlich verschwand. Er war imstande, die Stelle genau
anzugeben, wo das Verbrechen begangen sein mußte, da
er sich erinnerte, daß die Lokomotive im Vorbeifahren an
Minorka pfıff, als der Fremde in den Wagen trat. Dem-
nach hatte die Ausführung des Raubmordes und das Ent-
kommen des Mörders dreißig Minuten in Anspruch ge-
nommen.
Mr. Pinkerton kehrte nach Chicago zurück und zog
dort Erkundigungen über Watt ein. Die Vergangenheit
dieses Mannes war tadellos und er galt als ein vertrauens-
würdiger und tüchtiger Mensch. Er hatte drei Brüder,
welche seit Jahren Eisenbahnbedienstete waren und stets
sich die vollste Zufriedenheit erworben hatten. Watts
guter Ruf und seine aufrichtige Art und Weise sprachen
stark zu seinem Gunsten, und doch war die Geschichte
von der geheimnisvollen Hand nicht über allen Zweifel er-
haben; aus einem Grunde: in dem Schnee, auf dem Dache
des Wagens waren keine Fußspuren zu finden.
Der Bremser Schwartz, der einzige Mann auf dem
Zuge, welcher bisher noch nicht verhört war, kehrte am
folgenden Abend auf dem vom Zugführer Danforth ge-
führten Zuge von Davenport zurück und stattete am
nächsten Morgen Mr. Pinkerton seinen Bericht ab. Er
212 Moffett.
war ein großer gut aussehender junger Mensch, etwa
27 Jahre alt, mit dünnen Lippen und einem entschlossenen
Gesichtsausdruck. Er war recht fein gekleidet und behielt
während der Unterhaltung seine Handschuhe an. Mr.
Pinkerton empfing ihn sehr liebenswürdig, und nachdem
sie etwa eine Stunde lang geraucht und geplaudert hatten,
bat er ihn, es sich bequem zu machen und die Handschuhe
auszuziehen. Schwartz folgte der Aufforderung. Seine
Hände zeigten rötliche Spuren, als ob sie von al ln 2
zerkratzt seien.
„Wie haben sie sich denn ihre Hände so er
Schwartz?“ fragte Mr. Pinkerton.
„O, das ist vorgestern Abend beim Verladen des Ge-
päcks geschehen,* erklärte Schwartz; und dann erzählte
er so nebenbei, daß auf der Rückfahrt nach Chicago der
Zugführer Danforth einen Ranzen gefunden habe, welchen
jemand in einem der Toilettenräume zurückgelassen hatte.
Daraufhin ließ Mr. Pinkerton den Zugführer zu sich
kommen, und dieser sagte, es sei ein alter wertloser Ranzen
gewesen; da nichts darin enthalten gewesen sei, so habe
er ihn auf einen Aschenhaufen geworfen. Das einzige, was
er in dem Ranzen gefunden habe, sei ein Stück Papier,
welches seine Aufmerksamkeit auf sich zog, da es mit
roten Linien durchzogen war.
Mr. Pinkerton untersuchte dieses Stück Papier sorg-
fälltig und sah alsbald, daß es von einem Wechsel abge-
rissen war. Sogleich fiel ihm das Bündel ein, das er in
dem Geldschranke gefunden hatte. Nun ist es eine be-
merkenswerte Tatsache, daß kein Mensch imstande ist, zwei
verschiedene Stücken Papier genau in derselben Weise zu
zerreißen; die durchgerissenen Papierfasern passen nur
dann vollkommen aneinander, wenn die beiden ursprüng-
lichen Teile desselben Stückes zusammengelegt werden.
Dieser Versuch wurde gemacht, und es blieb kein Zweifel,
daß der von Danforth gefundene Papierfetzen abgerissen
Amerikanische Räuber. 213
war von dem Wechsel in dem in der Nacht vorher be-
raubten Packwagen. Die Ränder paßten aneinander, die
roten Linien entsprachen einander, und ohne Frage hatte
irgend jemand jenen Papierfetzen von dem einen Zuge
nach dem andern getragen. Mit anderen Worten, irgend
jemand, der mit dem in der vorhergehenden Nacht be-
gangenen Verbrechen in Verbindung stand, war vierund-
zwanzig Stunden später mit dem Zugführer Danforth nach
Chicago zurückgefahren.
Mr. Pinkerton ordnete sofort an, daß der fehlende
Ranzen gesucht werde, und ließ Nachfrage halten nach
den Reisenden, welche mit dem fraglichen Zuge von
Davenport nach Chicago gefahren waren. Der Ranzen
wurde auf dem Aschenhaufen gefunden, auf den der
Zugführer ihn geworfen hatte, und im Laufe der nächsten
Tage stellten die Detektivs sämtliche Passagiere des in
Frage stehenden Zuges fest, mit Ausnahme eines Mannes,
der auf eine Freikarte gefahren war. Der Zugführer konnte
sich nur ganz unbestimmt der Gesichtszüge dieses Mannes
erinnern; und, wenngleich einige Reisende sich noch ganz
gut auf ihn besinnen konnten, war sein Name und seine
Identität nicht festzustellen. Da anscheinend kein anderer
Passagier mit dem Verbrechen in Verbindung stehen konnte,
so verdoppelte man seine Anstrengungen, um den Inhaber
dieser Freikarte zu entdecken.
II.
So groß war das öffentliche Interesse an dem Ver-
brechen und dem es umgebenden Geheimnis, daß drei
getrennte wohl organisierte Untersuchungen veranstaltet
wurden. Die Beamten der Rock Island-Eisenbahn leiteten
mit ihren Detektivs die eine; eine COhicagoer Zeitung, die
Daily News, die zweite; und eine dritte wurde im Inter-
esse der Paketpostgesellschaft der Vereinigten Staaten
unternommen von den Pinkertons.
214 | Moffett.
Mr. Pinkerton war, wie wir gesehen haben, der An-
sicht, daß das Verbrechen von Eisenbahnbediensteten be-
gangen sei. Die Bahnbeamten waren natürlich nicht ge-
neigt, von ihren Angestellten eine so schlechte Meinung zu
hegen, und obendrein trat zu dieser Zeit ein Ereignis ein, .
welches den Nachforschungen eine ganz neue Richtung
gab und die Bahnbeamten noch mehr geneigt machte, Mr.
Pinkertons Theorie ungläubig aufzunehmen. Sie erhielten
nämlich von einem Sträfling des Zuchthauses in Michigan
City einen Brief, in welehem dieser behauptete, er könne
ihnen wichtige Nachrichten geben.
Mr. St. John, der Generaldirektor der Bahn, begab
sich in eigener Person nach dem Zuchthause, um Plunketts
Aussage entgegenzunehmen. Diese ging in der Tat dahin,
daß er die Leute kenne, welche den Raub begangen und
Nichols ermordet hätten, und daß er willens sei, die Namen
derselben zu nennen, falls ihm die Bahnbeamten durch
ihren Einfluß eine volle Erlassung seiner Strafe verschafften.
Man versprach ihm das, wenn seine Erzählung sich als
wahr erweise, und nun berichtete Plunkett von einem
Plane, der vor etwa einem Jahre ausgearbeitet sei, als er
mit einer Bande von Taschendieben auf Jahrmärkten
„arbeitete“. Er war damals zusammen mit „Butch“ Me
Coy, James Connor (bekannt als „Gelbhammer“) und einem
Mann namens „Jeff“, dessen Zunamen er nicht kannte.
Diese drei Männer, so sagte Plunkett, hatten einen Eisen-
bahnranb auf der Rock-Island-Bahn geplant, der genau in
derselben Weise und genau an derselben Stelle ausgeführt
werden sollte, wie in dem in Frage stehenden Falle.
Die Geschichte klang sehr plausibel und fand bei Mr.
John Glauben. Sie fand auch Glauben bei Mr. Melville
E. Stone von den Daily News, und sogleich wurden die
Detektivs der Eisenbahn, welche mit den Detektivsder Zeitung
zusammen arbeiteten, angewiesen, die neue Spur zu verfolgen,
ohne Mühe und Kosten zu scheuen. Zunächst bemühten
Amerikanische Räuber. 215
sie sich, des „Butch“ Mc Coy, des Hauptes der Bande,
habhaft zu werden. Butch war Taschendieb, Einbrecher
und Allerweltsdieb, der in „Geschäften“ die ganzen Ver-
einigten Staaten bereiste.
Nachdem man sich vergebens mit der Polizei in ver-
schiedenen Städten in Verbindung gesetzt hatte, beschloß
Mr. Stone schließlich zu tun, was bis dahin wahrscheinlich
noch kein Eigentümer einer Zeitung getan hatte, nämlich
persönlich auf die Suche nach Mc Coy und seinen Ge-
nossen zu gehen. Mit Frank Murray, einem der besten
Detektivs in Chicago, und anderen Detektivs reiste er nach
Galesburg, wo die Bande eine Art Hauptquartier haben
sollte. Sie fanden dort keinen der Leute, hinter denen sie
her waren, aber sie erfuhren, daß „Thatch“ Grady, ein
notorischer Verbrecher, mit dem „Butch“ Me Coy in Be-
ziehungen stand, in Omaha sei. Sie eilten nach Omaha,
aber nur um dort zu hören, daß Grady nach St. Louis
gereist sei. Also begaben sich Mr. Stone und seine Detek-
tivs auf frischer Fährte nach St. Louis und verbrachten
dort einige Tage mit eifrigen Nachforschungen.
- Wie interessant die Methode ist, den Aufenthalt eines
Verbrechers in einer großen Stadt ausfindig zu machen,
ist wenig bekannt. Zunächst verschafft man sich bei der
städtischen Polizei Auskunft darüber, in welchen Lokalen
Verbrecher der betreffenden Art mit Vorliebe verkehren,
indem man bei diesen vorläufigen Erkundigungen beson-
deren Wert legt auf etwaige Liebesaffären. Denn Diebe
stehen häufig noch mehr als ehrliche Leute unter der
Herrschaft dieser zärtiichen Leidenschaft und werden sehr
oft durch die Mithilfe von Frauen in die Hände der Ge-
rechtigkeit geliefert. Auch Mr. Stone und seine Detektivs
verfuhren in dieser Weise, brachten dann ihre Zeit in der-
artigen Lokalen zu, knüpften Bekanntschaften an mit den
Besuchern dieser Lokale und brachten das Gespräch ge-
schickt auf den Mann, nach dem sie suchten. Es ist ein
216 Moffett.
Irrtum zu glauben, daß Detektivs sich bei solcher Arbeit
verkleiden. Falsche Bärte, Brillen und blitzschnelles
Wechseln der Kleidung sind Dinge, von denen man nur
in den Geschichten schlecht unterrichteter Schriftsteller
liest. In einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Tätigkeit
trug Mr. Murray niemals eine Verkleidung und ebensowenig
wußte er von irgend einem bekannten Detektiv, der das
getan hätte. Auch bei diesem Unternehmen nahmen die
Detektivs einfach den Charakter und die Gewohnheiten
der Personen an, mit denen sie zusammenkamen; und
nachdem sie diese überzeugt hatten, daß sie nıchts Böses
gegen sie im Schilde führten, gelang es ihnen unschwer,
über Me Coy und die anderen Auskunft zu erhalten, so-
weit diese gegeben werden konnte. Unglücklicherweise
war das nicht viel. |
Nachdem die Detektivs auf verschiedenen Spuren von
einer Stadt zur andern gereist waren, von dem einem Mit-
gliede der Bande hier, von dem andern dort gehört hatten,
ohne irgendwo ıhres Mannes habhaft zu werden, gingen
sie schließlich in New Orleans vor Anker. Sie hatten fünf
oder sechs Wochen Zeit und eine recht ansehnliche Summe
Geld verbraucht, um schließlich auch nicht den geringsten
Anhalt dafür zu haben, wo sich die von ihnen verfolgten
Leute befanden. Sie waren sehr entmutigt, als plötzlich
ein Telegramm von Mr. Pinkerton ihnen mitteilte, dab
„Butch“ Me Coy nach Galesburg zurückgekehrt sei, wo
sie ihn zuerst gesucht hatten. In aller Eile reisten sie
dorthin, machten Me Coy in einem Vergnügungslokale
ausfindig, und dort nahmen drei von ihnen — John Smith,
in Vertretung der Rock-Island-Bahn, John Mc Ginn von
der Pinkerton Ageney und Frank Murray, der für Mr.
Stone arbeitete, — den Verbrecher mit gezogenen Revol-
vern gefangen, trotz eines verzweifelten Versuches, den er
machte, zu entkommen.
Zu Me Coys Festnahme beglückwünschten sich alle
Amerikanische Räuber. 217
bei der Angelegenheit interessierten Personen. Mr. St. John
und Mr. Stone waren fest überzeugt, daß nun der Schleier
des Geheimnisses, welches den Raubmord umgab, bald
werde gelüftet und der Mörder werde überführt werden.
Aber Me Coy bewies bei dem Verhör, daß er New Orleans
auf der Reise nach Norden erst am Sonnabend vor dem
Morde verlassen und jene ganze Nacht auf der Illinois-
Zentralbahn zugebracht hatte. Es stellte sich obendrein
heraus, daß Me Coys Genosse Connor zur Zeit des Mordes
im Gefängnisse saß und daß der Dritte im Bunde „Jeff“
tot war. So hatte sich die ganze Plunkett-Geschichte in
nichts aufgelöst.
III.
Einige Zeit vor den eben erzählten Ereignissen war
der Mann, welcher auf die Freikarte gefahren war und
den Detektivs so viel Mühe verursacht hatte, zufällig durch
Jack Mullins, einen Bremser von Danforths Zuge, aufge-
funden worden. Es stellte-sich heraus, daß es ein Annoncen-
agent war, der im Dienste von Mr. Melville E. Stone stand,
und der letztere hätte sicher tausend Dollars darum gegeben,
wenn er gewußt hätte, was sein Agent wußte. Denn dieser
Mann hatte gesehen, wie der Zugführer den Ranzen fort-
schaffte, welcher das hochwichtige Fragment des Wechsels
enthielt. Aber er hatte den Wert der in seinem Besitz be-
findlichen Neuigkeit nicht begriffen, und Mr. Pinkerton
trug Sorge, ihn nicht zur Kenntnis davon kommen zu
lassen. Eine einzige Andeutung des wahren Sachverhaltes
gegenüber den Leuten von den „Daily News“, und die
Geschichte würde in den Spalten dieser Zeitung ausposaunt,
der Mörder würde gewarnt sein. Erst als Mr. Pinkerton
den Mann sicher in einem Zuge sah, welcher Chikago
verließ, atmete er frei auf; und erst Monate später erfuhr
Mr. Stone, wie nahe er daran gewesen war, einen glänzenden
Fang zu machen, der seinen Ruf in der ganzen Stadt und
im Lande verbreitet hätte.
218 Moffett, -
Die Feststellung der Persönlichkeit des Freikarten-
besitzers beseitigte die, letzte Möglichkeit, daß der Ranzen
durch einen der Passagiere in den Zug gebracht sei. Und
doch war der Ranzen da! Wie kam er dahin? Im Ver-
laufe der Untersuchung hatten zwei von den Reisenden
bekundet, sie hätten während der Fahrt Schwartz in den
Waschraum gehen sehen. Der Bremser Mullins gab an,
daß er zweimal während der Nacht in demselben Raume
gewesen sei; das erste Mal sei der Ranzen nicht dage-
wesen, das zweite Mal habe er ihn dort bemerkt. Andere
Zeugen im Wagen behaupteten mit voller Bestimmtheit,
die Person, welche den Waschraum betreten habe, bevor
Mullins dort den Ranzen fand, sei Schwartz gewesen. So
schloß sich allmählich Glied an Glied in der Kette der Be-
weise, und Mr. Pinkerton ließ Schwartz holen.
Nachdem er in halbvertraulicher Weise mit dem
Bremser eine Zeitlang geplaudert hatte, begann er ihn
über seinen Kameraden Watt zu befragen. Schwartz
sagte, Watt sei ein braver Kerl und sprach im allgemeinen
nur Gutes von ihm. Mr. Pinkerton schien einen Augen-
blick zu zaudern, dann sagte er:
„Kann ich Ihnen trauen, Schwartz?“
„Ja, Herr.“
„Nun, offen gesagt, dieser Watt scheint mir etwas ver-
dächtig. Sehen Sie, die Geschichte, die er da erzählt von
der Hand über seinem Kopfe, hat keinen rechten Zusammen-
hang. Ich möchte ihm nicht unrecht tun, aber er muß
überwacht werden. Mein Gedanke ist nun, daß Sie mög-
lichst viel mit ihm verkehren und zusehen sollen, ob er
mit irgend welchen Fremden zusammentrifft oder viel
Geld ausgibt. Von allem, was Sie erfahren, müssen Sie mir
dann Nachricht geben. Wollen Sie?“
Schwartz willigte ein unter der Bedingung daß die
Bahnverwaltung ihm Urlaub gebe. Am nächsten Tage
berichtete er, Watt habe eine Zusammenkunft gehabt mit
Amerikanische Räuber. 219
einem Manne, der einen Schlapphut trug, ungekämmtes
rotes Haar hatte und im allgemeinen aussah wie ein
Grenzräuber. Er hatte ihr Gespräch in einem Vergnügungs-
lokale in der Cottage Grove Avenue belauscht und gehört,
wie der Fremde von den Einzelheiten des Mordes sprach
und sich dabei mit dem ganzen Ereignisse auffallend ver-
traut zeigte. Schwartz hatte sich offenbar eine Theorie
zurecht gemacht, wonach das Verbrechen von einer Räuber-
bande aus dem Westen begangen sein sollte, zu welcher
der Kerl, von dem er sprach, in Beziehungen stand.
Mr. Pinkerton hörte das alles mit großem Interesse
an, war aber weniger davon erbaut, als Schwartz sich ein-
bildete; denn zwei seiner zuverlässigsten „Sehatten‘*), welche
Schwartz gefolgt waren, hatten ihm einen Bericht erstattet,
aus dem klar hervorging, daß der rothaarige Räuber eine
mythische Persönlichkeit war und daß eine Zusammen-
kunft, wie Schwartz sie beschrieb, gar nicht stattgefunden
hatte. Trotzdem erklärte Mr. Pinkerton sich äußerst zu-
frieden mit Schwartz’ Bemühungen und beauftragte ihn,
den fabelhaften Räuber weiter zu beobachten. Schwartz
fuhr fort, falsche Berichte zu liefern. Schließlich wurde ihm
gestattet, seine Arbeit bei der Eisenbahn wieder aufzunehmen,
ohne daß durch irgend ein Wort auch nur der geringste
Verdacht bei ihm erregt wäre.
Die „Schatten“, welche auch fernerhin. Schwartz be-
obachteten, berichteten von einer verdächtigen Vertraulich-
keit zwischen ihm und Watt, und ein sehr gewandter
Detektiv, Frank Jones, wurde dazu ausersehen womöglich
das Vertrauen der beiden zu gewinnen. Er erhielt eine
„Strecke“ als Bremser zwischen Des Moines und Daven-
port, und es wurde so eingerichtet, daß er aus dem Westen
kommen und an denselben Tagen in Davenport überliegen
sollte, an denen auch Schwartz und Watt nach Beendigung
*) Schatten (shadow) bezeichnet in der Detektivsprache den
mit der Beobachtung eines Verdächtigen betrauten Detektiv.
220 Moffett.
ihrer Fahrt aus dem Osten dort überlagen. Jones spielte
seine Rolle vorzüglich und stand bald auf vertrautem Fuße
mit den beiden; er nahm seine Mahlzeiten in demselben
Wirtshause ein, wie sie, und schlief in einem Zimmer, das
neben ihrem Schlafraum lag. Schließlich mochten die
beiden ihn so gern, daß sie ihm den Vorschlag machten,
er solle sich auf ihre Strecke zwischen Davenport und
Chicago versetzen lassen. Das geschah, und nun waren
die drei fortwährend zusammen; ja, Jones gab sich sogar
bei Schwartz in Chicago in Kost und Wohnung. Um
diese Zeit begann Schwartz davon zu sprechen, er wolle
die Arbeit bei der Eisenbahn aufgeben und nach Kansas
oder dem fernen Westen ziehen. So wurde denn beschlossen,
daß Jones ihn und seine Frau auf der Reise nach dem
Westen begleiten sollte. Inzwischen bat Schwartz bei der
Eisenbahngesellschaft um Urlaub unter der Angabe, er
wolle einige Familienangelegenheiten in Philadelphia
ordnen. m
Mr. Pinkerton, welcher durch Jones von diesem Ur-
laubsgesuche unterrichtet war, brachte es durch seinen
Einfluß fertig, daß es gewährt wurde. Als der junge Mann
nach dem Osten abreiste, fuhr er nicht allein. Jede seiner
Bewegungen wurde beobachtet und darüber berichtet, und
während einer mehrwöchigen Abwesenheit in New York,
Philadephia und anderen Städten des Ostens blieb er nicht
einen Augenblick, bei Tag und Nacht, unbeobachtet.
Wer die Hilfsmittel und Einrichtungen einer großen
Detektivgesellschaft nicht kennt, dem muß es unbegreiflich
erscheinen, wie ein andauerndes „Beschatten“ — Tag für
Tag, Woche für Woche, auf einer Reise von Tausenden
von Meilen — sich durchführen läßt.
Die Sache wird dadurch nicht einfacher, wenn man
weiß, daß die „Schatten“ jeden Tag gewechselt werden
müssen. Mag ein Detektiv noch so geschickt sein, seine
fortwährende Anwesenheit würde bald Verdacht erregen.
Amerikanische Räuber. 221
Der tägliche Wechsel der „Schatten“ ist leicht, wenn der
Beobachtete an demselben Orte bleibt; denn dann ist es
nur nötig, einen neuen „Schatten“ aus dem Zentralbureau
hinzuschicken, der am frühen Morgen an die Stelle des-
jenigen tritt, welcher am Abend vorher „den Mann zu Bett
gebracht hat.“ Ganz anders liegt der Fall, wenn der Gegen-
stand der Beobachtung fortwährend auf Dampfern und
Eisenbahnen umherreist und vielleicht jede Nacht in einer
anderen Stadt schläft. Ohne das Netzwerk von Agenturen,
von großen und kleinen Bureaus, welche die Pinkertons all-
mählich über die ganzen Vereinigten Staaten errichtet
haben, wäre das „Beschatten“ eines Mannes auf rascher
Flucht einfach unmöglich. Wie die Verhältnisse jetzt liegen,
ist nichts leichter. Schwartz z. B. brachte einige Tage in
Buffalo zu, wo über seine Handlungen stündlich berichtet,
wurde, bis er seine Fahrkarte nach Philadelphia löste.
Als er in den Zug stieg, stieg ein neuer „Schatten“ mit
ein, sicherte sich eine Kabine in demselben Schlaf-
wagen mit ihm und nahm seine Mahlzeiten zu derselben
Zeit wie er, entweder im Speisewagen oder auf der Station.
Kaum hatte der Zug die Station verlassen, als der Pinker-
ton-Agent in Buffalo eine chiffrierte Depesche absandte an
das Bureau in Philadelphia, wohin Schwartz reiste. Die
genaue Form der Depesche, welche uns eine Illustration des
bei den Pinkertonbureausüblichen Systems gibt, warfolgende:
R. J. Linden
44 I Chestnut Street
Philadelphia, Pa.
Gieriger Schuhe Sauger Brown marmoriert Mann anderer
aussteigend acht kommt an Tölpel groß fünfzig marmo-
riert Artikel weiter oder Derby Rock Schiff sehr braun
Sehender diese tragend haben und ist Band Tinte Staub
Central Dienstag für Staub zu Reis Hut und und Papier
Weste gelb Tinte ankommen muß Juwelen Morgen Bahnhof
D. Robertson.
Der Pitaval der Gegenwart. II. 16
222 Moffett.
In derartigen Depeschen werden wichtige Nachrichten.
über Verbrecher fortwährend von einem Orte zum anderen
gedrahtet ohne Gefahr, daß etwas durchleckt.
So kann jederzeit, von einer Stadt zur andern und
durch jeden Teil des Landes, jeder Verbrecher „beschattet*
werden, wie Schwartz „beschattet“ wurde, indem eine Ab-
teilung von Detektivs alle vierundzwanzig Stunden die
andere ablöst. Jedes Wort, jede Handlung des Mannes
wird sorgfältig notiert und berichtet, ohne daß er den ge-
'ringsten Verdacht hegt, daß er fortwährend beobachtet
wird. Die Aufgabe, eine Person zu beschatten, welche
durch die Straßen einer Stadt geht, wird Leuten anver-
traut, welche besonders geschickt sind in der Kunst (denn
eine Kunst ist es) zu sehen, ohne gesehen zu werden. Dies
ist in der Tat eine der schwierigsten Aufgaben, zu deren
Lösung ein Detektiv berufen werden kann, und die wenigen,
welche sich darin besonders auszeichnen, haben kaum eine
andere Beschäftigung. Wo ein Verbrecher wie Schwartz,
von dessen schließlicher Ergreifung viel abhängt, verfolgt
wird, werden zwei, drei oder sogar vier „Schatten“ zu-
gleich gebraucht; einer hält sich vor dem Verfolgten auf
einer in seinem Rücken, zwei zu beiden Seiten. Der Vor-
teil dieses Verfahrens ist, daß einer den andern durch einen
Wechsel der Stellung ablöst und so die Gefahr der Ent-
deckung verringert, während es natürlich kaum möglich
ist, daß mehrere Schatten zugleich von der Spur ab-
kommen. Ein geschickter Verbrecher kann vielleicht einem
Schatten ein Schnippchen schlagen, kaum aber mehreren.
Kommt ein Schatten mit dem Gegenstand seiner Beob-
achtung in eine neue Stadt, so entdeckt er sich dem
Schatten, der ihn ablösen soll, durch ein vorher verab-
redetes Zeichen, z. B. ein in der linken Hand gehaltenes
Taschentuch oder dgl.
Im Falle Schwartz war das Ergebnis des Beschattens
entscheidend. Kaum war der Bremser aus Chicago
Amerikanische Räuber. 223
heraus, als er anfing Ausgaben zu machen, welche
sein Einkommen weit überstiegen. Er kaufte eine feine
Ausstattung, teure Kleidung, Juwelen, Geschenke für seine
Frau und legte sich eine auserlesene Sammlung von
Büchsen, Flinten, Revolvern und Munition aller Art an,
darunter eine Anzahl Patronen. Die „Schatten“ fanden, daß
er fast in jedem Falle seine Einkäufe mit Fünfzig- oder
Hundertdollarnoten bezahlte. Soweit dies möglich war,
wußten die Detektivs sich diese Scheine von den Personen
zu verschaffen, denen sie in Zahlung gegeben waren.
Der Leser wird sich erinnern, daß das geraubte Geld
aus Fünfzig- und Hundertdollarnoten bestand.
IV.
Die Nachforschungen der Detektivs in Philadelphia
ergaben überdies, daß Schwartz der Sohn eines reichen
Schlachters war, welcher sich vom Geschäft zurückge-
zogen hatte, eines sehr geachteten Mannes, und daß er Frau
und Kind in Philadephia hatte, welche er hatte sitzen lassen,
um sich in Chieago aufs neue zu verheiraten. Dadurch
fand sich eine Gelegenheit, ihn zu verhaften, ohne ihm
zu verraten, daß er im Verdachte stand, ein noch weit
schwereres Verbrechen begangen zu haben. Die Frau und
das Kind wurden von Philadelphia nach Chicago gebracht,
und Schwartz wurde festgenommen und der Bigamie an-
geklagt.
Mr. Pinkerton suchte Schwartz sogleich im Gefängnis
auf, und da er sich sein Vertrauen so lange wie möglich
zu erhalten wünschte, versicherte er ihm, daß diese Fest-
nahme durchaus nicht sein Werk sei, sondern das der De-
tektivs Smith und Murray, welche, wie Schwartz wußte,
im Interesse der Bahngesellschaft und der „Daily News“
arbeiteten. Mr. Pinkerton erzählte Schwartz, er glaube noch
immer, wie er es die ganze Zeit getan habe, daß Watt der
Schuldige sei, und versprach alles zu tun, wodurch er
16 *
224 Moffett.
Schwartz gefällig sein könne. Der letztere schien nicht
sehr beunruhigt zu sein und erklärte, daß ein Rechtsanwalt
aus Philadelphia kommen und ihn verteitigen werde. Der
Rechtsanwalt kam in der Tat einige Tage darauf, eine
Kaution von 2000 Dollars wurde gestellt, und Schwartz
wurde aus der Haft entlassen. Die Angelegenheit war jetzt
indessen so weit gediehen, daß man es nicht mehr für sicher
hielt, Schwartz aus dem Gefängnisse zu entlassen; er wurde
sogleich wieder verhaftet unter der Anklage des Mordes.
Sei es nun wegen der langen Vorbereitung dieses Ver-
fahrens oder weil Schwartz ein Mann von starkem Cha-
rakter war, er hielt auch diesem Schlage stand, ohne die
geringste Erregung zu zeigen, und ging ebenso kaltblütig
ins Gefängnis zurück, wie er herausgekommen war. Er
verlangte nur so bald wie möglich eine Unterredung mit
seiner Frau zu haben.
Mr. Pinkerton hatte nun zwar Beweise genug in der
Hand, um einen starken Schuldverdacht gegen Schwartz zu
liefern, aber alle diese Beweise waren Indizienbeweise, und
überdies betrafen sie nicht Newton Watt, welcher der Mit-
täterschaft mehr als verdächtig war. Vom ersten Augen-
blick an war Mr. Pinkerton sehr verbindlich gegen die
zweite Frau Schwartz gewesen. Jetzt wußte er im richtigen
Augenblicke sich ihrer in geschiekter Weise zu versichern.
Er fuhr mit ihr nach Morris und am nächsten Morgen von
dort zurück nach Chicago, und so gelang es ihm, zu ver-
hindern, daß sie irgend welchen Rat empfing von dem Rechts-
anwalt ihres Mannes, welcher — jedesmal mit einem späteren
Zuge — dieselbe doppelte Reise machte, um sie vor einem
Gespräche mit Mr. Pinkerton zu warnen. Sie hatte sich
daran gewöhnt, in Mr. Pinkerton mehr einen Beschützer zu
sehen als einen Feind, und er gebrauchte während der
Stunden ihres Zusammenseins jede List, um etwas Belast-
endes aus ihr herauszubringen. Er erzählte ihr, die Be-
weisgründe gegen ihren Mann seien allerdings sehr ernster
Amerikanische Räuber. 225
Art, aber nach seiner Meinung doch nicht ausreichend, um
seine Schuld ganz sicher festzustellen. Er machte ihr Mit-
teilung von den in Schwartz’ Besitze gefundenen Banknoten,
von dem abgerissenen Papierfetzen, welcher in dem Ranzen
gewesen war, von den Kratzwunden auf den Händen ihres
Mannes und von seinen Jügenhaften Erzählungen. Alles dies,
so. sagte er, beweise, daß Schwartz in irgend welchen Be-
ziehungen zu dem Raube stehe, aber nicht, daß er den
Mord begangen oder mehr getan habe, als Watt beizustehen,
den Mr. Pinkerton nach wie vor als den Hauptverbrecher
ansehe, Er stellte ihr eindringlich vor, der einzige Weg,
ihren Mann zu retten, sei, eine einfache Darstellung des
wahren Sachverhalts zu geben und darauf zu vertrauen,
daß er sie in ihres Mannes Interesse verwenden werde.
Frau Schwartz hörte alles dies an, versuchte auf
mancherlei Weise der Beantwortung der Hauptfrage aus-
zuweichen und gab schließlich zu, daß ihr Mann am Abend
seiner Rückfahrt nach Chicago in dem vom Zugführer
Danforth geführten Zuge unter einem der Sitze ein Paket
gefunden habe, welches fünftausend Dollars von dem ge-
stohlenen Gelde enthielt. Dieses Geld habe er behalten und
für sich verwandt; das sei alles, was er begangen habe.
Frau Schwartz blieb unerschütterlich bei dieser Aussage
und wollte nichts weiteres zugestehen.
Da Pinkerton überzeugt war, daß er so viel wie mög-
lich aus ihr herausgebracht hatte, begleitete er die Frau
nach dem Gefängnisse, wo sie ihren Mann besuchen sollte.
Die ersten Worte, welche sie beim Eintritt an ihren Mann
richtete, waren: „Harry, ich habe Mr. Pinkerton die volle
Wahrheit gesagt. Ich glaubte, das sei das beste, denn er
ist dein Freund. Ich habe ihm erzählt, daß du die fünf-
tausend Dollars unter dem Sitze des Wagens gefunden
hättest und daß das alles wäre, was du mit der Geschichte
zu tun hast.“ Ä
Zum ersten Male hätte Schwartz sich jetzt beinahe
226 Moffett.
durch seine Erregung verraten. Er nahm sich indessen zu-
sammen und gab nur im allgemeinen zu, daß etwas Wahres
an dem sei, was seine Frau sage. Er weigerte sich jedoch
geradezu in die Einzelheiten einzugehen, schien sehr ner-
vös und bat, man möge ihn mit seiner Frau allein lassen.
Mr. Pinkerton hatte das erwartet und war darauf vorbe-
reitet. Er hatte sehr wohl bemerkt, welche Erschütterung
das unerwartete Geständnis seiner Frau bei Schwartz her-
vorgerufen hatte, und rechnete darauf, daß er dadurch zu
weiteren Äußerungen würde veranlaßt werden. Es war da-
her von der größten Wichtigkeit, daß glaubhafte Zeugen
alles belauschen konnten, was bei der Unterredung zwischen
Schwartz und seiner Frau an den Tag kam. Zu diesem
Zwecke war der Raum, in welchem die Unterredung statt-
finden sollte, so eingerichtet worden, daß ein Anzahl Zeugen
alles sehen und hören konnten, ohne daß man ihre An-
= wesenheit ahnte; und der Sheriff der Grafschaft, ein ange-
sehener Kaufmann und ein Bankier harrten in ihrem Ver-
stecke der Dinge, die da kommen sollten.
Sobald die Tür sich geschlossen hatte und Mann und
Frau allein waren, rief Schwartz aus:
„Du Närrin, du hast Watt und mir den Strick um den
Hals gelegt!“
„Aber, Harry, ich mußte ihm etwas erzählen, er wußte
schon zu viel. Du kannst ihm trauen.“
„Du hättest besser getan, überhaupt keinem zu trauen.“
Der Mann ging auf und ab, eine Beute der heftigsten
Erregung, während seine Frau ihn vergebens zu beruhigen
suchte. Bei jeder zärtlichen Berührung stieß er sie rauh
zurück und ging fluchend mit heftigen Schritten auf und
ab. Plötzlich brach er los: |
| „Was hast du mit dem Rocke angefangen? mit dem
Rocke, aus dem du die Maske herausgeschnitten hast?“
„O, das ist in Ordnung; er liegt im Holzschuppen
unter dem ganzen Holzhaufen.“
Amerikanische Räuber. 227
Sie redeten noch über eine Stunde lang weiter, sprachen
wiederholt von dem Raubmorde und lieferten so Beweise
genug, um die Schuld von Schwartz sowohl wie von Watt
unzweifelhaft festzustellen.
Inzwischen war Watt in Chicago festgenommen worden,
ebenfalls unter der Anklage des Mordes, und in mehreren
Verhören hatte es den Anschein gehabt, als ob er zusammen-
brechen und gestehen würde; aber jedesmal hatte er sich
wieder gefaßt und nichts gesagt. Die Beweise jedoch,
welche Schwartz bei der Unterredung im Gefängnisse ge-
liefert hatte, zusammen mit der Menge der übrigen Beweise,
die sich allmählich angehäuft hatten, waren ausreichend,
um beide Männer zu überführen. Sie wurden zu lebens-
länglichem Zuchthause verurteilt. Sicherlich hätte man sie
gehängt, wenn nicht ein Geschworener, der kein Anhänger
der Todesstrafe war, Bedenken gehabt hätte. Watt ist in-
zwischen gestorben, Schwartz war nach den letzten Nach-
richten noch im Zuchthause.
Etwa ein Jahr nach dem Prozesse starb Frau Schwartz
an Auszehrung. Auf dem Totenbette legte sie ein umfas-
sendes Geständnis ab. Sie sagte, die Phantasie ihres Mannes
sei durch die fortwährende Lektüre von Kolportageromanen
erhitzt worden, unter diesem üblen Einflusse habe er den
Raub geplant in dem Glauben, daß es leicht sein werde,
einen schwachen Mann wie Nichols einzuschüchtern und
mit dem Gelde zu entkommen, ohne ihm ein Leids zu tun.
Nichols indessen habe sich wie ein Löwe gewehrt und ihn
schließlich gezwungen, ihn zu töten. Während des Kampfes
hatte er ihm die Maske abgerissen, welche Frau Schwartz
aus einem alten Rocke ihres Mannes gemacht hatte. Watt
hatte den Revolver abgefeuert, während Schwartz das Schür-
eisen als Waffe gebrauchte. Schwartz hatte Watt 5000
Dollars von dem geraubten Gelde gegeben und das übrige
für sich behalten. Er hatte das Geld in einer alten Schul-
mappe fortgetragen, welche er zu diesem Zwecke gekauft
228 Moffett.
hatte. Zum Verstecken des Geldes hatte er einen höchst
ungewöhnlichen Platz gewählt, an welchem dasselbe der
Entdeckung entgangen war, obwohl bei verschiedenen Haus-
suchungen die Detektivs es buchstäblich in der Hand hatten.
Schwartz hatte eine Anzahl Patronen genommen, welche
er für seine Flinte gekauft hatte, dieselben entleert, in jede
Hülse eine Fünfzig- oder Hundertdollarnote gesteckt und
Pulver und Schrot wieder hineingetan, so daß die Patronen,
wie sie da in der Schublade lagen, anscheinend ganz in
Ördnung waren. Die Detektivs hatten sogar Schrot und
Pulver aus einigen Hülsen herausgenommen; da sie jedoch
dabei nichts Auffallendes entdeckten, so hatten sie gar nicht
daran gedacht, auf dem Boden der Hülsen nach einer zu-
sammengeknüllten Banknote zu suchen.
So lagen 13000 Dollar in diesen ganz wie gewöhnliche
Patronen aussehenden Hülsen und wurden schließlich auf
folgende Weise entfernt: Während Schwartz in Untersu-
chungshaft war, kam eines Tages ein wohlbekannter Rechts-
anwalt aus Philadelphia zu Frau Schwartz mit einer Auf-
forderung ihres Mannes, ihm das Geld auszuliefern. Sie
glaubte, es handle sich um die Bezahlung der Prozebkosten
und der anderen Rechtsanwälte. Der Polizeiinspektor Robert-
son erinnert sich noch sehr wohl der Erregung der sterben-
den Frau, als sie diese feierliche Aussage machte, welche
geeignet war, einen Mann, der eine geachtete Stellung ein-
nahm und einem angesehenen Stande angehörte, schwer zu
kompromittieren. Die Frau litt unter einer furchtbaren
Krankheit und wußte, daß ihr Ende nahe war. Ihr Ge-
sicht war gerötet und ihre Augen funkelten vor Haß, als
sie erklärte, daß nicht ein Dollar von jenem Gelde ihr je
zurückgegeben oder zur Bezahlung der Prozeßkosten ver-
wandt sei. Ebensowenig hat die Eisenbahngesellschaft oder
die Bank, welche die wirkliche Eigentümerin war, je einen
Pfennig des gestohlenen Gutes zurückerhalten.
Amerikanische Räuber. 229
2. Der Bankraub in Northampton.
Am Dienstag, den 25. Januar 1876, drangen um Mitter-
nacht fünf maskierte Männer in das Haus ein, welches
John Whittelsey in Northampton, Massachusetts, bewohnte.
Mr. Whittelsey war der Kassierer der Nationalbank in
Northampton, und man wußte von ihm, daß er die
Schlüssel des Bankgebäudes und die Kombination zu dem
Schlosse des Bankgewölbes in seinem Besitz hatte. Die
fünf Männer betraten geräuschlos das Haus, dessen Tür
sie mit falschen zu diesem Zwecke verfertigten Schlüsseln
geöffnet hatten. Sie stiegen die Treppe hinauf, welche zu
den Schlafzimmern führte, überwältigten sieben Bewohner
des Hauses und knebelten und banden sie derartig, daß
sie außerstande waren, Widerständ zu leisten oder Lärm
zu schlagen. Es waren dies Mr. Whittelsey und seine
Frau, Herr und Frau Cutler, Fräulein White, Fräulein
Benton und ein Dienstmädchen.
Die beiden Männer, welche in das Schlafzimmer des
Ehepaares Whittelsey eindrangen, schienen die Führer der
Bande zu sein. Einer von ihnen trug einen langen leinenen
Staubmantel, welcher beinahe bis zu den Knieen zugeknöpft
war, Handschuhe und Überschuhe; der andere trug eine
Jacke und Gamaschen. Beide hatten ihr Gesicht hinter
Masken verborgen, und einer von ihnen trug eine Blend-
laterne. Beim Betreten des Zimmers gingen sie ohne
weiteres auf das Bett zu, traten jeder an eine Seite des-
selben und legten Mr. Whittelsey und seiner Frau Hand-
schellen an; beide führten Revolver. In den anderen
Schlafzimmern verlief der Vorgang ganz ähnlich.
Nachdem die Räuber sich eine Zeitlang flüsternd be-
raten hatten, befahlen sie den fünf Frauen, aufzustehen und
sich anzuziehen. Als das geschehen war, wurden ihnen
Fuß- und Handgelenke zusammengeschnürt, und sie wurden
in ein kleines Zimmer gebracht, wo einer von der Bande
230 Moffett.
bei ihnen Wache hielt. Mr. Cutler wurde in derselben
Weise eingesperrt. Darauf widmeten sich die beiden An-
führer ganz Herrn Whittelsey. Sie sagten ihm ohne Um-
schweife, daß sie die Schlüssel der Bank und die Kom-
bination zu dem Schlosse des Bankgewölbes zu haben
wünschten. Wenn er ihrem Verlangen nicht willfahre, so
würden sie ihm tüchtig „einheizen“. Whittelsey erwiderte,
es sei ganz nutzlos, einen Einbruch in die Bank zu ver-
suchen, da die Schlösser zu stark seien und er die ihm
anvertrauten Schlüssel nicht ausliefern werde. Der Mann
im Staubmantel zuckte die Achseln und meinte, das wollten
sie einmal sehen.
Mr. Whittelsey wurde nun die Treppe hinuntergebracht
und nochmals aufgefordert die Schlüssel herauszugeben.
Er weigerte sich. Der Mann in Gamaschen griff in die
Hosentasche des Kassierers und zog einen Schlüssel heraus.
„Ist das der Schlüssel zur Bank?“ fragte er.
„Ja, das ist er“, antwortete der Kassierer, welcher
hoffte Zeit zu gewinnen.
„Sie lügen,“ sagte der Räuber mit drohender Gebärde;
dann versuchte er den Schlüssel in dem Schlosse der Haus-
tür, welches sich damit öffnen ließ.
„Tu ihm noch nichts,“ sagte der andere, „er ist krank.“
Dann fragte er Mr. Whittelsey, ob er einen Schluck Kognak
trinken wolle. Mr. Whittelsey schüttelte den Kopf. Der
Mann im Staubmantel begann nun von neuem nach der
Kombination des Gewölbeschlosses zu fragen. Mr. Whittelsey
gab ihm einige Ziffern für die äußere Tür, welche der
Räuber auf einem Stück Papier niederschrieb. Er ver-
langte sodann die Kombination für die innere Tür und der
Kassierer gab ihm wieder einige Ziffern. Als der Räuber
diese aufgeschrieben hatte, trat er ganz nahe an seinen
Gefangenen heran und sagte: „Wollen Sie schwören, daß
die Ziffern richtig sind?“
„Ja,“ antwortete Mr. Whittelsey.
Amerikanische Räuber. 231
„Sie lügen wieder. Wenn sie richtig sind, so wieder-
holen Sie sie.“
Der Kassierer konnte das nicht und gab damit zu,
daß die Ziffern falsch seien.
„Hör mal, Nummer Eins,“ sagte der Räuber zu seinem
Genossen, „wir verlieren Zeit; wir müssen ihm das Lügen
abgewöhnen.“
Damit schlug er Mr. Whittelsey mit der scharfen
Spitze seines Bleistiftes so heftig ins Gesicht, daß dieser
blutete, und versetzte ihm noch einige heftige Schläge auf
den Körper.
„Wollen Sie jetzt mit der Wahrheit heraus?“ fragte er.
Der Kassierer schwieg. Nun stürzten sich die beiden
Räuber auf ihn, rissen ihn an den Ohren, packten ihn an
der Kehle, warfen ihn zu Boden und knieten sich auf
seine Brust. Drei Stunden lang dauerte diese Tortur.
Mehr als einmal setzten die Schurken ihrem unglücklichen
Opfer die Revolver an die Stirn und drohten ihn niederzu-
schießen, wenn er nicht nachgebe. Schließlich fügte der
Kassierer sich ihrem Willen; die Qualen waren zu groß,
und der Trieb der Selbsterhaltung machte sich geltend.
Gegen vier Uhr morgens, zerschlagen und zerschunden
von Kopf bis zu Fuß und jedes ferneren Widerstandes
unfähig, übergab er ihnen die Schlüssel und enthüllte
ihnen die richtige Kombination zu dem Gewölbe.
Die Räuber entfernten sich, ließen aber zwei ihrer
Genossen zur Bewachung der Gefangenen zurück. Einer
von der Bande verschmähte es nicht, vor seinem Fort-
gehen Mr. Whittelsey’s Kleider zu durchsuchen und seine
Uhr mit Kette und vierzehn Dollars mitzunehmen. Der
letzte von der Bande blieb bis sechs Uhr; eine Stunde
später gelang es Mr. Whittelsey sich aus seinen Fesseln
zu befreien.
Er eilte sogleich nach der Bank, wo er kurz nach.
sieben Uhr ankam. Er fand die Tür des Gewölbes ver-
232 Moffett.
schlossen und die Zeigerblätter abgebrochen, so daß es
unmöglich war, im Augenblick den Umfang des Raubes
festzustellen, oder ob überhaupt ein Raub stattgefunden hatte.
Man mußte einen Sachverständigen aus New-York kommen
lassen, bevor das Gewölbe geöffnet werden konnte. Damit
verging längere Zeit, und als das Gewölbe endlich spät
in der Nacht geöffnet wurde, waren zwanzig Stunden seit
dem Einbruch verflossen. Es ergab sich, daß die Räuber
leider nur zu erfolgreich gewesen waren; fünfviertel
Millionen Dollars in Geld und Papieren waren ihnen in
die Hände gefallen. Ein großer Teil dieser Summe bestand
aus Depositen, deren Verlust die Eigentümer traf, und für
einige bedeutete dies den Verlust ihres ganzen Vermögens.
Den Behörden fehlte es zunächst an jedem Anbalts-
punkte, um die Persönlichkeit der Räuber festzustellen,
obgleich sie zahlreiche Beweise ihrer Anwesenheit zurück-
gelassen hatten: Blendlaternen, Masken, Schmiedehämmer,
Überschuhe und dergleichen. Ihr Entkommen war ebenso
geschickt bewerkstelligt worden wie der Raub selbst.
Polizeibeamte und Detektivs taten während der nächsten
Tage und Wochen ihr Bestes, aber ihre Bemühungen waren
erfolglos. Der Präsident der Bank setzte eine Belohnung
von fünfundzwanzigtausend Dollars aus für die Ergreifung
der Räuber und die Wiederherbeischaffung des Eigentums;
es wurde nichts entdeckt. |
Nach Ablauf mehrerer Monate wurden die Pinkertons
zu Rate gezogen. Sie begannen damit, sorgfältig gewisse
Mitteilungen zu studieren, welche die Bankdirektoren von
solehen Personen erhalten hatten, die behaupteten im Be-
sitze der entwendeten Wertpapiere zu sein. Die erste dieser
Mitteilungen war datiert aus New-York, den 27. Februar
1876, etwa einen Monat nach dem Raube. Die Buchstaben
waren sorgfältig in Druckschrift geschrieben, so daß sehr
wenig Aussicht war, durch die Handschrift zu irgend
welcher Feststellung zu gelangen. Der Inhalt war:
Amerikanische Räuber. 233
„Geehrte Herren, wenn Sie an der Geschicklichkeit
der Detektivs allmählich genug haben, so können Sie uns,
den augenblicklichen Besitzern der Wertpapiere, Ihre Vor-
schläge machen, und wenn Sie liberal sind, so können
wir vielleicht ein Geschäft miteinander machen. Sollten
Sie auf unsern Vorschlag eingehen, so erlassen Sie bitte
ein Inserat im New-Yorker „Herald“. Adressieren Sie an
X X X und unterzeichnen Sie „Rufus“. Um Ihnen zu
beweisen, daß wir im Besitze der Papiere sind, senden wir
Ihnen zwei Stück derselben.“
(Ohne Unterschrift.)
Dieser -Brief war unbeachtet geblieben, obwohl zwei
Obligationen beigelegt waren, welche ohne Zweifel aus dem
Bankgewölbe stammten. Drei weitere Briefe ähnlichen
Inhalts waren später angekommen. Auf einen dieser
Briefe hatte die Bank eine vorsichtige Antwort geschickt
und darauf folgende Erwiderung erhalten:
„New-York, den 20. Oktober 1876.
Geehrte Herren, da Sie es für richtig erachtet haben,
den Empfang unseres Briefes anzuerkennen, so wollen wir
Ihnen jetzt den Preis angeben für die Rückgabe der
Papiere. Die Staatspapiere und das Geld können nicht
zurückgegeben werden; aber alles andere — Obligationen,
Briefe, Papiere bis auf das kleinste Dokument werden für
einhundertundfünfzigtausend Dollarszurückgegeben werden.
Wenn diese Ziffern Ihnen passen, wollen wir die Anord-
nungen unserm Versprechen gemäß treffen; und sobald die
nötigen Vorverhandlungen bezüglich einersicheren Erledigung
des Geschäftes getroffen sind, können Sie in Besitz der
Papiere gelangen. Sind Sie mit dem Preise einverstanden,
so inserieren Sie im New-Yorker „Herald“ unter den
persönlichen Anzeigen einfach das Wort „Agatha“.
Hochachtungsvoll
Rufus.“
234 Moffett.
Der Hauptwert dieser Briefe lag darin, daß sie den
Detektivs einen Fingerzeig gaben, welche von den ver-
schiedenen Banden von Bankräubern, die zu der Zeit im
Lande „arbeiteten“, wahrscheinlich das Verbrechen begangen
hätte. Da Robert Pinkerton mit der Methode jeder Bande
vertraut war, so vermochte er wichtige Schlüsse zu ziehen
aus Beweismaterial, das sonst ziemlich bedeutungslos
gewesen wäre. Er wußte z. B, daß die bekannte Bande,
an deren Spitze James Dunlap stand, mehr als jede andere
geneigt sein würde, in dieser Weise über die Rückgabe
aller Wertpapiere in Bausch und Bogen zu verhandeln,
da es Dunlap’s festes Prinzip war, den Ertrag seiner
Räubereien so lange unter seiner persönlichen Obhut zu
behalten, bis endgültig darüber verfügt war. Auf der
andern Seite würden die Banden, an deren Spitze der
berüchtigte „Jimmy“ Hope, „Worcester Sam“ und George
Bliss standen, wahrscheinlich die Papiere unter die Mit-
glieder verteilt und dann versucht haben, über die einzelnen
Teile einen Kompromiß zu schließen.
Eine Tatsache von besonderer Bedeutung war für die
Pinkertons das auffallende Interesse, welches ein gewisser
J. G. Evans für den Fall zeigte. Dieser Evans war Sach-
verständiger in Geldschränken und Bankgewölben und der
Vertreter einer der größten Geldschrankfabriken des Landes.
Am Tage nach dem Raube war Evans in Bristol,
Connecticut, gewesen in Vertretung seiner Firma, welche
ihm bei Empfang der Neuigkeit von dem Bankraube
sofort gedrahtet hatte, er solle nach Northampton reisen.
Seine Anwesenheit fiel dort nicht weiter auf, denn er war
während der dem Raube vorhergehenden Monate schon
mehrfach dagewesen und hatte die Schlösser des Gewölbes
der beraubten Bank nachgesehen. Etwas auffallend jedoch
erschien das augenscheinliche Interesse, welches Evans für
das Zustandekommen eines Kompromisses bezüglich der
Rückgabe der gestohlenen Wertpapiere zeigte. Mehr als
Amerikanische Räuber. 235
ein dutzendmal unterhielt er sich mit dem Präsidenten und
anderen Beamten der Bank über den Raub und gab ganz
deutlich zu verstehen, er sei in der Lage, ihnen bei der
Wiedererlangung der verlorenen Papiere behülflich zu
sein. Ein paar Monate nach dem Raube ging er sogar so
weit, einem der Direktoren zu erzählen, er könne die Mit-
glieder der Bande namhaft machen. Die Neigung Evans’,
bei den Verhandlungen in den Vordergrund zu treten,
gewann für Robert Pinkerton um so mehr Bedeutung, da
das Gerücht ging, eine Reihe von sehr dreisten Bank-
räubereien, die kürzlich in verschiedenen Teilen des Landes
begangen waren, hätten ihren Erfolg der Mitarbeit eines
Sachverständigen in Geldschränken und Sicherheitsschlössern
zu verdanken, welcher infolge seiner Vertrauensstellung
imstande gewesen sei, den Räubern viele Geheimnisse von
schwachen Bankschlössern, Geldschränken und Gewölben
zu enthüllen. Bis jetzt waren diese Gerüchte nur unbestimmt
aufgetreten; man wagte nicht den Mann namhaft zu
machen. Es war jedoch bekannt, daß der verräterische
Sachverständige ein Mann von angesehener Stellung in
seinem Berufe sei und allgemein als über jeden Verdacht
erhaben gelte. Es war ferner bekannt, daß bei anderen
Banden von Bankräubern große Eifersucht herrsche wegen
der erstaunlichen Erfolge der Bande, mit welcher dieser
Mann arbeitete, und daß von den Führern einiger Banden
sogar Versuche gemacht seien, diesen begehrenswerten
Helfershelfer für sich zu gewinnen. Robert Pinkerton war
schon zu dem Schlusse gelangt, daß die so geschickt unter-
stützte Bande die von Dunlap sei; und er war jetzt auch
so gut wie überzeugt, daß der Raub in Northampton von
dieser Bande ausgeführt se. Es war somit mehr als
genügend Grund vorhanden, ein scharfes Auge auf den
Geldschrank-Sachverständigen Evans zu haben.
Bei dem Studium des Falles erinnerte sich Mr. Pinkerton
an einen Umstand, der sich gegen Ende des Jahres 1875
236 Moffett. °
ereignet hatte. In der Nacht des 4. November 1875 war
die Erste Nationalbank von Pittston, Pennsylvanien, um
sechzigtausend Dollars beraubt worden, und Pinkerton
hatte sich dorthin begeben, um den Fall zu untersuchen.
Er traf eine Anzahl Geldschrankleute, deren Gewohnheit
es ist, sich auf dem Schauplatze eines bedeutenden Bank-
raubes einzufinden, um neue Geldschränke an. Stelle der
erbrochenen zu liefern. Während sie das Gewölbe unter-
suchten, in welchem noch die durch die Explosion umher-
geschleuderten Trümmer herumlagen, nahm der Vertreter
einer der Geldschrankfabriken eine kleine Luftpumpe auf,
welche die Räuber benutzt hatten, besah sie mit kritischen
Blicken und bemerkte, er hätte schwören mögen, daß diese
Luftpumpe seiner Gesellschaft gehöre, wenn er nicht wüßte,
daß dies unmöglich sei. Die Luftpumpe sei, so erklärte
er, genau nach einem seiner Gesellschaft gehörenden Modell
angefertigt, welches kürzlich zu einem ganz bestimmten
Zwecke entworfen sei. Damals hatte Mr. Pinkerton dies
lediglich als ein zufälliges Zusammentreffen angesehen,
jetzt aber fuhr ihm blitzartig der Gedanke durch den
Kopf, daß der Mann, welchem die Ähnlichkeit der Luft-
pumpe aufgefallen war, dieselbe Gesellschaft vertrat, die
auch Evans in ihren Diensten hatte.
In Anbetracht aller dieser Umstände beschloß man,
Evans streng ins Verhör zu nehmen. Er leugnete nicht,
daß er sich in ungewöhnlicher Weise darum bemüht habe,
die Rückgabe der Wertpapiere zu bewirken, behauptete
aber, er habe das nur getan, weil es ihm aufrichtig leid
getan habe um die vielen Leute, welche durch den Raub
ruiniert seien. Er behauptete ferner zu glauben, daß er
bei der Sache ungerecht behandelt sei: wie und von wem,
wollte er nicht sagen. Für die erfahrene Beobachtung des
Detektivs war es augenscheinlich, daß er sehr besorgt und
furchtsam war und seiner selbst nicht sicher.
Im November 1876 hatte George H. Bangs, ein Ober-
Amerikanische Räuber. 287
detektiv der Pinkerton-Agentur, ein Mann, der eine besondere
Geschicklichkeit darin besaß, verdächtigen Personen Ge-
ständnisse zu entlocken, eine Unterredung mit Evans. Er
erklärte Evans, daß die Detektivs sicheres Beweismaterial
besäßen, um das ganze Geheimnis aufzuklären; daß sie
wüßten (während sie nur die Vermutung hegten), daß
der Einbruch von der Bande Dunlap und Scott verübt sei
und daß Evans ihr Helfershelfer sei; daß sie seit Wochen
Scott und Dunlap beobachtet hätten {was der Wahrheit
entsprach) und sie jeden Augenblick festnehmen könnten;
daß es keinem Zweifel unterliege, daß die Bande versuche,
mit Evans ein falsches Spiel zu spielen (eine sehr schlaue
Vermutung) und ihn ohne Gewissensbisse opfern würde;
und schließlich, daß es für Evans zwei Wege gebe: ent-
weder sich wegen Bankraubes festnehmen zu lassen, mit
der Aussicht auf zwanzig Jahre Gefängnis, oder sich zu
retten und zugleich eine ansehnliche Geldsumme zu ver-
dienen, indem er ein offenes Geständnis über seine Be-
ziehungen zu dem Verbrechen ablege. Alles dies, mit der
Miene vollkommenster Sicherheit vorgebracht, war mehr,
als Evans vertragen konnte. Er brach vollständig zu-
sammen und erzählte alles, was er wußte.
Die Geschichte, welche Evans erzählte, ist eine der
bemerkenswertesten in der Kriminalgeschichte. Er gab zu,
daß die Vermutung Robert Pinkertons, die Bank in North-
ampton sei von Scott, Dunlap und Konsorten beraubt
worden, richtig sei, und um seine eigenen Beziehungen zu
dieser gefährlichen Bande zu erklären, ging er bis auf die
Organisation derselben im Jahre 1872 zurück. Der Führer
der Bande war James Dunlap, alias James Barton, welcher,
ehe er Bankräuber wurde, Bremser auf der Chicago-,
Alton und St. Louis-Eisenbahn gewesen war. Die ihm
innewohnenden verbrecherischen Instinkte veranlaßten ihn,
die Versammlungsorte von Dieben in Chicago zu besuchen,
und so kam er zusammen mit „Johnny“ Lamb und einem
Der Pitaval der Gegenwart. I. 17
238 Moffett.
Manne namens Perry, welcher ihn gern mochte und ihm
alles beibrachte, was er über das Erbrechen von Geld-
schränken wußte. Dunlap übertraf bald seine Meister, er
entwickelte ein wahres Räuber- und Organisationsgenie,
so daß er bald der gefürchtetste unter allen Bankräubern
war, welche damals im Lande arbeiteten, selbst nicht aus-
genommen „Jimmy“ Hope, den berüchtigten Manhattan-
Bankräuber. Er hatte den langen Kopf und die Hals-
starrigkeit seiner schottischen Vorfahren, verbunden mit
der den Amerikanern eigenen Waghalsigkeit und Findig-
keit. Ende 1872 organisierte er die gefährlichste und am
besten ausgerüstete Bande von Bankräubern, welche
Amerika je gesehen hat.
Dunlaps rechte Hand war Robert Scott, alias „Hust-
ling Bob“, ursprünglich Matrose auf einem Mississippi-
dampfer und später Hoteldieb. Scott war ein großer,
außerordentlich kräftiger Mann, von einer Entschlossenheit,
die allem gewachsen war. Die Genossen dieser beiden
waren ihrer Herren und Meister würdig. Unter anderen
gehörten dazu ein professioneller Einbrecher aus Kanada,
James Greer, und der berüchtigte John Leary, alias der
„rote“ Leary, von dem später noch die Rede sein wird.
Außer diesen zählte die Bande noch einige Mitglieder von
gleicher Bedeutung und mehrere, welche nur als Aufpasser,
Zwischenträger oder Boten verwendet wurden.
Das erste große Unternehmen der Bande fällt in das
Jahr 1872, wo sie in der Falls City Bank in Louisville
gegen zweihunderttausend Dollars raubten und mit ihrer
Beute entkamen. Das war als Anfang recht befriedigend,
aber Dunlap und Scott träumten von Taten, neben welchen
diese unbedeutend war. Sie stellten in mehreren Staaten
genaue Nachforschungen an, um zu erfahren, wo sich
Banken befänden, die schwach gebaut wären und große
Schätze enthielten. Einer von der Bande fand schließlich
das, was sie suchten, in der Zweiten Nationalbank in
Amerikanische Räuber. 239
Elmira im Staate New-York, welche der Regierung als
Depositorium diente und, wie sie von gut unterrichteter
Seite erfuhren, zweihundertiausend Dollars in Papiergeld
und sechs Millionen in Obligationen enthielt.
Eine Besichtigung des Grundstückes gab der Bande
die befriedigende Gewißheit, daß trotz der schweren eisernen
Mauern und der komplizierten Schlösser das Gewölbe der
Bank keineswegs ganz unzugänglich sei. In dem Stock-
werke über der Bank lagen die Räume der „Gesellschaft
christlicher junger Männer“, und einer dieser Räume befand
sich unmittelbar über dem Gewölbe. Dazwischen war der
Fußboden und unter diesem ein festes Mauerwerk von
vier Fuß Dicke; einige Steine wogen eine Tonne (907 kg)
Und unter dem Mauerwerk befand sich eine Lage Eisen-
bahnschienen, welche auf einer anderhalbzölligen Stahl-
platte ruhten. Alles dies entmutigte indessen die Einbrecher
nicht, sondern gab ihnen vielmehr noch größeres Vertrauen
auf Erfolg, da gerade die Sicherheit des Gewölbes gegen
einen Angriff von oben her die Wachsamkeit verringern
mußte. In der Tat bestand die größte Schwierigkeit nach
Ansicht der Räuber darin, sich bequem und, ohne Verdacht
zu erregen, Eingang in die Räume der Gesellschaft christ-
licher junger Männer zu verschaffen.
Der Sekretär, ein sehr vorsichtiger Mann, hatte an
die äußere Tür ein verbessertes Yale-Schloß gelegt, welches
damals neu im Handel war und für denjenigen, der es
mit dem Dietrich zu öffnen suchte, ungewöhnliche Hinder-
nisse bot. Weder Dunlap noch Scott noch irgend ein
anderer war geschickt genug, das Schloß zu öffnen, ohne
es zu erbrechen, was natürlich für ihren Plan verhängnis-
voll gewesen wäre. Tagelang schien daher ihr Vorhaben
durch ein Schloß an einer hölzernen Tür in Frage gestellt,
nachdem sonst alle Einzelheiten des Einbruchs geordnet waren.
Die Sache wurde schließlich so ernsthaft, daß Scott
und Dunlap sich die Mühe machten, bei Nacht in das Haus
17*
240 Moffett.
des Sekretärs einzubrechen und seine Taschen zu durch-
suchen, in der Hoffnung, die Schlüssel zu finden und einen
Abdruck davon zu nehmen. Aber auch hier hatte der
Sekretär Vorsichtsmaßregeln getroffen, welche ihren Zweck
vereitelten; denn er hatte die Schlüssel unter seinem
Teppich versteckt, wo die Diebe nicht einmal daran dachten
nachzusehen. Enttäuscht über ihren Mißerfolg, gingen sie
fort, ohne einen Versuch zu machen etwas mitzunehmen;
eine Enthaltsamkeit, welche den braven Sekretär nicht
wenig in Verwunderung setzte, als er am nächsten Morgen
entdeckte, daß nichts fehlte, obwohl deutliche Spuren von
Einbrechern da waren.
Das Yale-Schloß blieb also nach wie vor eine unlös-
bare Schwierigkeit, und so machte Perry schließlich eine
Reise nach New-York, in der Hoffnung, dort irgend eine
Art, es zu öffnen, in Erfahrung zu bringen. Auf dieser
Suche machte er auf merkwürdige Weise die Bekanntschaft
Evans, der damals als Verkäufer bei einer angesehenen
Geldsehrankfirma beschäftigt war.
Ehe er in den Dienst der Geldschrankfabrikanten
trat, hatte Evans ein bedeutendes Geschäft in einer Stadt
des Ostens besessen, wo er als ein reicher unbescholtener
Mann galt. Er hatte ausgedehnte kaufmännische Be-
ziehungen im Süden und erfreute sich eines großen Kredits;
aber der Ausbruch des Krieges hatte ihn zur Zahlungs-
einstellung gezwungen. Bei diesem Bankrott sollte er sehr
schlau zu Werke gegangen sein, und der Umstand, daß er
unmittelbar darauf Kanada verließ, machte diese Vermutung
sehr wahrscheinlich. Jedenfalls akkordierte er mit seinen
Gläubigern in einer für ihn sehr vorteilhaften Weise.
Nach seiner Rückkehr aus Kanada schlug Evans seinen
Wohnsitz in New-York auf und gab sich dort Liebhabereien
hin, deren Kosten sein Einkommen weit überstiegen, vor
allem der Liebhaberei für Rennpferde. Perry hörte von
Evans durch einen gewissen Ryan, den er vor Jahren als
Amerikanische Räuber. 241
Dieb gekannt hatte und der jetzt einen Mietsstall in einer
Straße der oberen Stadt hielt. In Wirklichkeit war dieser
Mietsstall nur ein Vorwand für den Verkauf ungesunder
Pferde, welche „aufgedoktort* wurden, um die Käufer za
täuschen. Davon wußte Evans jedoch nichts; er hatte im
gutem Glauben eins seiner eigenen Pferde bei Ryan ein-
gestellt. Dies führte zu einer gewissen Vertraulichkeit
zwischen ihm und Ryan, der jetzt auf Veranlassung von
Perry Evans in seiner Neigung, über seine Verhältnisse
zu leben, noch ermunterte.
In kurzer Zeit geriet Evans in finanzielle Schwierig-
keiten. Da er nicht imstande war, Ryan das Geld zu
bezahlen, welches er ihm für Stallung und Vefpflegung
schuldete, sprach er davon, sein Pferd zu verkaufen; und
eines Tages, als er sich darüber beklagte, daß er knapp
bei Gelde sei, meinte Ryan: „Wenn ich in Ihrer Stellung
wäre, sollte es mir nie an Geld fehlen.“
Evans fragte ihn, wie er das meine.
0,“ sagte Ryan, „es gibt eine ganze Menge Leute,
die tüchtig dafür blechen würden, wenn sie etwas von
Ihren Kenntnissen über Geldschränke und Banken besäßen.‘
Nach und nach kam Ryan immer offener mit seiner
Meinung heraus, und Evans war zunächst sehr ungehalten
darüber. Man ließ den Gesprächsgegenstand fallen, aber,
so oft sie sich wiedersahen, kam Ryan darauf zurück.
Inzwischen geriet Evans immer mehr in die Klemme, und
eines Tages sagte er: „Was wollen denn diese Leute eigent-
lich wissen?“ |
„Na,“ erwiderte Ryan, „sie möchten z. B. gern wissen,
ob es kein Mittel gibt, diese neuen Yale-Schlösser zu öffnen.“
„Mit einem Dietrich kann man die nicht öffen,“ ant-
wortete Evans, „das dauert zu lange; aber es gibt ein,
Mittel, sie aufzumachen.“
„Wie denn?“
„Davon wollen wir ein andermal sprechen.“
242 Moffett.
Es dauerte nun nicht mehr lange, bis Evans auf den
Köder anbiß, den man ihm so geschickt hingeworfen hatte.
Er ließ sich mit Perry bekannt machen, der ihm bald
klarzumachen wußte, wie leicht es für einen Mann, der
die Geheimnisse der Geldschrankfabrikation kenne und
leicht schwach gebaute Banken ausfindig machen könne,
sein müßte, ein gutes Stück Geld zu verdienen, ohne selbst
irgend welche Gefahr zu laufen.
„Sie können mit uns in einer einzigen Nacht mehr
verdienen,“ meinte er, „als wenn Sie ein ganzes Jahr für
diese Geldschrankmenschen arbeiten.“
Das Resultat war, dab Evans gegen Zahlung von
fünfzigtausend Dollars schließlich einwilligte, den Räubern
ein Mittel zu liefern, um das Yale-Schloß zu öffnen, welches
sie hinderte, zu den ersehnten Schätzen zu gelangen.
Perry fuhr sehr erfreut eilends nach Elmira zurück
und berichtete Dunlap und Scott von seinem Erfolge.
Um Evans in unverdächtiger Weise nach Elmira zu bringen,
schrieb man der Firma, für die er arbeitete, einen Brief
mit einem höchst verlockenden Angebot betreffs Ankaufs von
Geldschränken. Evans wurde sogleich nach Elmira geschickt,
um das Geschäft zu erledigen. Im Rathbone House, wo er
abstieg, erwartete ihn Scott, mit dem er einen Operationsplan
verabredete. Scott sollte abends ein dünnes Stückchen Holz
in das Yale-Schloß stecken, so daß das Schloß nicht funk-
tionierte. Da die Anwesenheit von Evans in der Stadt bekannt
war, so war anzunehmen, daß man ihn als Sachverständigen
in schwierigen Schlössern würde holen lassen, um zu
sehen, was mit dem Schlosse los se. Dadurch würde er
Gelegenheit haben, sich einen Abdruck von dem Schlüssel
zu verschaffen. Der Plan gelang nur zu gut, und vier-
undzwanzig Stunden später waren die Einbrecher imstande,
in den Räumen der Gesellschaft christlicher junger Männer
nach Belieben aus und einzugehen, ohne daß irgend jemand
darum wußte.
Amerikanische Räuber. 243
Es handelte sich nun darum, in das Gewölbe hinunter-
zugraben — eine ungeheure Aufgabe, für welche die
dauernde Anwesenheit der ganzen Bande in Elmira not-
wendig war. Ebenso notwendig war es aber auch, daß
diese Anwesenheit nicht bemerkt wurde, und zu diesem
Zwecke kam eine Frau, welche mit einem Mitgliede der
Bande schon bei früheren Unternehmungen in Verbindung
gestanden hatte, von Baltimore nach Elmira und mietete
ein Haus in der Vorstadt unter dem Vorgeben, sie sei die
Frau eines Mannes, der meistens in Geschäften auf Reisen
sei. Das Haus wurde einfach möbliert, und jeden Tag
machte sich die Frau zum Gaudium der Nachbaren eifrig
damit zu schaffen, die Treppen zu fegen, Fenster zu klären
und bald diese , bald jene Arbeit im Hofe zu verrichten.
Inzwischen befanden sich in dem Hause, sorgsam ver-
borgen, die Mitglieder der Bande: Scott, Dunlap, der rote
Leary, Conroy und Perry. Sie gingen bei Tage nie aus
und verließen nachts den Platz so vorsichtig, immer zur
Zeit, daß niemand eine Ahnung von ihrer Anwesenheit
hatte, obgleich sie sechs Wochen dort wohnten.
Jede Nacht versammelten sie sich in den Räumen
der Gesellschaft christlicher junger Männer, nachdem diese
nach Hause gegangen waren, indem sie falsche Schlüssel
benutzten, um sich Einlaß zu verschaffen. Sie blieben dort
stundenlang, mit einer Arbeit beschäftigt, die man im all-
gemeinen für eine recht geräuschvolle hält; aber ihre Be-
wegungen waren so vorsichtig und wohlüberlegt, daß man
ihre Anwesenheit in dem Gebäude gar nicht vermutete.
Jede Nacht wurde der Teppich und der Fußboden auf-
genommen und sorgfältig wieder hingelegt, sobald sie mit
ihren Durchbrucharbeiten aufhörten. Ganze Tons Mauer-
werk und schwere Steine wurden herausgeschafft, in
Körbe geschaufelt und nach dem Dache des Opernhauses
hinaufgebracht, welches neben dem Bankgebäude lag,
wo wenig Gefahr vorhanden war, daß der Mauerschutt
244 Moffett.
entdeckt wurde. So arbeiteten sich die unermüdlichen
Halunken durch die Lage Eisenbahnschienen und waren
schließlich von dem Innern des Gewölbes nur noch durch
die Stahlplatte getrennt. Der Erfolg stand greifbar vor
ihnen, als ein unvorhergesehener Zufall alles verdarb.
Eines Tages war der Präsident der Bank, Mr. Pratt,
überrascht, beim Betreten des Gewölbes den Fußboden
mit feinem weißen Staub bedeckt zu finden. Eine Unter-
suchung wurde angestellt, und das ganze Komplott wurde
entdeckt. Die Mitglieder der Bande bekamen jedoch zur
rechten Zeit Wind von der Sache und flüchteten mit Aus-
nahme von Perry, welcher des versuchten Einbruchs über-
führt und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.
Unbekümmert um diesen Fehlschlag begannen Scott und
Dunlap das Land wieder abzusuchen nach einer anderen
Bank, die sich für ihre Pläne eignete; und im Februar 1874
‘teilten sie der Bande mit, daß sie in Quincy, Illinois,
„Arbeit“ gefunden hätten. Der Einbruch in die Bank in
Quincy wurde in derselben Weise ausgeführt, wie der in
Elmira. Die Frau aus Baltimore mietete wieder ein Haus,
welches den Leuten Obdach und Unterschlupf gewährte;
mit Nachschlüsseln verschafften sie sich Zutritt in die
Räume oberhalb der Bank, der Fußboden wurde jede
Nacht aufgenommen und wieder hingelegt, ohne Verdacht
zu erregen; das Mauerwerk wurde fortgeschafft, die Eisen-
platten wurden durchbohrt, und schließlich waren Scott
und Dunlap eines Nachts imstande sich durch das Loch
in den Geldraum hinabzulassen.
Es handelte sich nun darum, die Geldschränke in dem
Gewölbe zu erbrechen; und hierbei wandten die Einbrecher
— zum ersten Male in der Geschichte der Geldschrankdieb-
stähle in Amerika — die sogenannte Luftpumpenmethode
an, welche Evans ersonnen und Scott und Dunlap ein-
gehend erklärt hatte. Die Firma, bei der Evans beschäftigt
war, wollte um diese Zeit eine neue Panzerung einführen,
Amerikanische Räuber. 245
die dazu bestimmt war, die Geldschränke sicherer zu
machen; und Evans war auf die Idee gekommen, in
Gegenwart des Käufers mittelst einer Luftpumpe Pulver
in die Fugen der Geldscehranktür einzuführen, um den
Käufer von der Notwendigkeit der netien Panzerung zu
überzeugen. Evans war bei dem Einbruche in die Bank
in Quincy nicht zugegen; er hatte mit dem Einbruche
nichts weiter zu tun, als daß er die Luftpumpe und die
dazu nötige Unterweisung lieferte. Scott und Dunlap be-
sorgten die Arbeit.
Zunächst wurden alle Fugen der Geldschranktüren
sorgfältig verkittet, nur am oberen und am unteren
Ende blieb eine kleine Öffnung. Dann hielt Scott
an die obere Öffnung einen kleinen mit feinem Pulver
gefüllten Trichter, während Dunlap die Luftpumpe am
unteren Ende ansetzte. Durch den Luftdruck wurde das
Pulver in die Zwischenräume zwischen den schweren Türen
und den Rahmen der Geldschränke getrieben. Dann wurde
eine kleine, einfach mit Pulver geladene Pistole an der
oberen Öffnung befestigt und mittelst eines am Drücker
befindlichen Bindfadens aus sicherer Entfernung abgefeuert.
Mehrere Versuche waren nötig, ehe eine vollkommene
Explosion erzielt wurde; aber schließlich gelang es, die
Geldschränke zu sprengen und sich ihres Inhalts zu be-
mächtigen. Die Räuber entkamen mit hundertundzwanzig-
tausend Dollars in Geld und gegen siebenhunderttausend
Dollars in Wertpapieren. Von dem baren Gelde sah die
Bank nie einen Pfennig wieder, ebensowenig wie man
irgend eines Mitgliedes der Bande habhaft wurde. Die
Wertpapiere wurden später von der Bank zurückgekauft.
Die ganze Sache war so geschickt eingefädelt und aus-
geführt, daß weder auf Scott oder Dunlap noch auf irgend
einen ihrer Genossen der geringste Verdacht fiel.
Dieses Mal hatte die Bande leicht genug ein Ver-
mögen verdient, und ohne Zweifel konnte man auf dieselbe
246 Moffett.
Weise noch mehr einheimsen. Während des Sommers
lebten Scott und Dunlap in Newyork wie die Fürsten und
erregten viele Aufmerksamkeit in Coney Island, wo sie
Rennpferde laufen ließen. Niemand ahnte, daß sie die
Führer der verwegensten Bankräuberbande waren, welche
je in irgend einem Lande existiert hat.
Gegen Ende des Jahres wurde ihnen das Geld knapp,
und sie beschlossen, sich naclı einem neuen Geschäfte um-
zusehen. Bei dem Raube in Quiney hatten sie ihr Über-
einkommen mit Evans gebrochen, indem sie ihm für den
Gebrauch der von ihm gelieferten Luftpumpe nur eine
kleine Summe bezahlten. Jetzt jedoch suchten sie ihn wieder
auf und brachten ihn teils durch Drobungen, teils durch
freigebiege Anerbietungen dazu, ihnen wieder seinen Bei-
stand zu leihen. Eine Reihe von erfolglosen Einbruchs-
versuchen wurden in verschiedenen Banken gemacht. In
einzelnen Fällen trat ein Fehlschlag in demselben Augen-
blicke ein, wo der Erfolg gesichert schien. In Covington
wurde z. B. Nitroglyzerin gebraucht, um den Geldschrank
zu sprengen, und die Explosion war so heftig, daß die Ein-
brecher erschraken und in panischem Schrecken die Flucht
ergriffen. Zweihunderttausend Dollars in Papiergeld und
anderthalb Millionen Dollars in börsenfähigen Papieren
ließen sie unberührt zurück. In Rockville war ebenfalls
alles programmäßig verlaufen; alles war herausgeschafft
und beseitigt, bis auf eine dünne Lage von Backsteinen.
Da stieß Scott zufällig das Brecheisen, mit dem er arbeitete,
durch das Dach des Gewölbes und ließ es nach innen
fallen. Da es zu spät war, die Arbeit in derselben Nacht
zu vollenden, und da das Brecheisen im Gewölbe unver-
meidlich Aufsehen verursachen würde, so mußten sie das
Unternehmen gänzlich aufgeben.
Das verzweifeltste Abenteuer hatte die Bande bei ihrem
Einbruche in die Erste Nationalbank in Pittston, Pennsyl-
vanien, zu bestehen. Die Bank bestand aus einem ein-
Amerikanische Räuber. 247
stöckigen Gebäude mit einem Zinndache, und die Räuber
beschlossen, den Einbruch vom Dache aus zu bewerkstel-
ligen. Eine ernstliche Schwierigkeit bestand darin, daß,
wenn etwa nach Beginn der Arbeit Regen eintrat, Wasser
durch die Öffnung eindringen und die Einbrecher verraten
konnte. Dunlaps Findigkeit war indessen auch dieser Mög-
lichkeit gewachsen: jede Nacht legten sie nach Beendigung
ihrer Arbeit die Zinnplatten wieder an ihre Stelle und ver-
strichen die Fugen mit rotem Kitt, der an Farbe dem Dache
glich. Und so gut legten sie den Kitt auf, daß, obgleich
es am Tage nach Beginn der Arbeit heftig regnete, nicht
ein Tropfen durchleckte.
In der Nacht des 4. November trennte sie nur eine
Lage von Backsteinen von dem Gewölbe, und man beschloß,
die Arbeit zu beenden und den Raub in derselben Nacht
auszuführen. Zwei Stunden harter Arbeit mit Erdräumer
und Hebeschraube genügten, um eine Öffnung zu schaffen,
und Scott und Dunlap wurden in das Gewölbe hinabge-
gelassen. Sie fanden drei Marvin-Kugelschränke, welche
durch ein Einbrecherläutwerk geschützt waren.
Dunlap war so etwas von einem Elektrotechniker und
wußte das Läutwerk mit schweren Brettern derart zu um-
geben, daß es ziemlich gefahrlos wurde. Indessen hatten
sie beim Sprengen der Geldschränke viele Schwierigkeiten
zu überwinden. Der erste gab bei der zweiten Explosion
nach, und sie erbeuteten fünfhundert Dollars in Geld und
sechzigtausend Dollars in Wertpapieren. Der zweite Schrank
verursachte weit mehr Mühe: nicht weniger als zehn Spreng-
versuche waren nötig, um ihn zu öffnen. Und gerade, als
die Arbeit schließlich vollendet war und sie auf dem Punkte
waren, sich einer großen Summe Geldes zu bemächtigen,
kam eine Warnung von Conroy, welcher auf dem Dache
Posten stand, und sie mußten flüchten.
Als Dunlap und Scott von ihren Genossen aus dem
Gewölbe gezogen waren, stellte es sich heraus, daß sie kaum
248 Moffett.
imstande waren zu laufen. Während all der zwölf Explo-
sionen von Pulver und Dynamit hatten sie das Gewölbe
nicht verlassen, sondern, hinter die um das Läutwerk ge-
stellten Bretter geduckt, waren sie auf Armeslänge von
Explosionen entfernt, die so heftig waren, daß sie Gußstahl-
platten wegrissen und das ganze Gebäude erschütterten.
Schlimmer als die Ersehütterung waren die schädlichen
Gase, welche sich bei den Explosionen entwickelten und
welche Dunlap und Scott einatmen mußten. Als sie heraus-
kamen, waren ihre Kleider von Schweiß zum Auswringen
naß, und sie waren so schwach, daß ihnen die Beine zit-
terten und ihre Kameraden sie eine Zeitlang beinahe tragen
mußten. Aber trotzdem brachten sie es fertig, in derselben
Nacht noch fast fünfzig Kilometer zu gehen, bis nach Lehigh,
wo sie in einen Zug nach New York stiegen.
Bei dieser Gelegenheit hatten sie im Gewölbe die Laft-
pumpe zurückgelassen, an welche Robert Pinkerton sich
später zum Nachteile für Evans erinnerte.
Als Evans in seinem Geständnisse zu dem Bankraube
in Northampton kam, sagte er, die Bande habe beabsich-
tigt, diesen Einbruch schon einige Monate früher auszu-
führen. Eine Zeitlang hätten sie beabsichtigt, die Erste
Nationalbank zu berauben, wo Evans beschäftigt gewesen
war, neue Türen einzusetzen; aber dieser Plan wurde später
aufgegeben. Da Evans das vollste Vertrauen der Beamten
der Northampton-Bank genoß, so hatte er der Bank wieder-
holte Besuche gemacht und wichtige Nachrichten für seine
Genossen erfahren. Seinem Einflusse war es zuzuschrei-
ben, daß die Direktoren sich entschlossen, die ganze Kom-
bination des Gewölbes dem Kassierer Whittelsey zu geben,
welcher früher nur mit der Hälfte betraut war, während
der Rest einem der Kommis anvertraut war. |
In der Nacht des Einbruchs war Evans in Newyork,
aber er war einen oder zwei Tage später nach Northampton
gefahren. Da war ihm zum ersten Male zum Bewußtsein
Amerikanische Räuber. 249
gekommen, welch ungeheures Unrecht und welcher Schaden
unschuldigen Leuten durch die Räuber zugefügt werde,
und diese Wahrnehmung, so sagte er, habe ihn veranlaßt,
sich um die Rückgabe der Wertpapiere an ihre Eigentümer
zu bemühen.
Als er nach Newyork zurückkam, setzte er sich sofort
durch eine Anzeige im „Herald“ mit Scott und Dunlap in
Verbindung und hatte während des Monats Februar meh-
rere Zusammenkünfte mit ihnen. Während sie sich be-
mühten, die Wertpapiere unterzubringen, war es vom ersten
Moment klar, daß sie Evans mißtrauten und sich vornah-
men, seinen Anteil an dem Gewinst zu verringern. Sie
taten zwar so, als ob sie mit den Schritten einverstanden
seien, die er unternahm, um einen Kompromiß mit der Bank
berbeizuführen, unterhandelten aber tatsächlich insgeheim
auch anderweit zu demselben Zwecke. Das gegenseitige
Mißtrauen ließ sich schließlich nieht mehr verbergen. Als
Evans eines Tages Scott im Prospect Park begegnete, sagte
er zu ibm: „Wann wollen Sie endlich die Angelegenheit
ordnen und mir meinen Anteil geben?“
„Die sollen keinen Heller haben,“ erwiderte Scott, „Sie
haben die ganze Bande verraten.“
Einige Zeit hindurch trafen sie sich nicht wieder. Evans
setzte seine Bemühungen, einen Ausgleich herbeizuführen,
vergebens fort. Da Monat auf Monat verging und er die
Gefahr für sich immer drohender werden sah, so wuchs
seine Angst und Besorgnis. Am 9. November traf er Scott,
Dunlap und den roten Leary an der Grenze von Brooklyn.
Ein heftiger Streit entspann sich über die Teilung der
Beute, Vorwürfe und Drohungen schleuderte man sich gegen-
seitig ins Gesicht, und zeitweise war Evans tatsächlich in
Lebensgefahr.
Bald nach dieser Unterredung beschloß Evans unter
der Leitung des Oberdetektivs Bangs, sich zu retten, indem
er ein volles Geständnis ablegte. Er hatte weniger Ge-
250 Moffett.
wissensbisse, seine Genossen zu verraten, weil er sich
überzeugt hatte, daß er bei den früheren Einbrüchen, be-
sonders dem in Quincy, von Scott und Dunlap schlecht be-
handelt sei.
Evans sagte, daß die Bande in den dem Raube in Nort-
hampton vorhergehenden Wochen sich in dem Dachgeschosse
eines Schulbauses verborgen habe, welches vier oder fünf
Ruten von der Landstraße entfernt und abseits von anderen
Häusern stand. Seine Angabe wurde dadurch bestätigt,
daß man in dem betreffenden Dachgeschosse nach dem
Einbruche Decken, Leinentaschen, Bohrer, Flaschenzüge
und Lebensmittel entdeckte, darunter eine Flasche Whisky
mit der Etikette einer Newyorker Firma. Nachdem das
Gewölbe ausgeplündert war, hatten die Einbrecher Geld
und Wertpapiere in einen Sack und einen Kissenüberzug
gesteckt und nach dem Schulhause getragen, wo sie ihre
Beute an sorgfältig vorbereiteten Stellen versteckten. Eins
dieser Verstecke war unter der Estrade, auf der das Pult
des Lehrers stand; ein zweites in einer Höhlung hinter
einer Wandtafel, welche zu diesem Zwecke abgenommen
und sorgsam wieder an ihrem Platze festgeschraubt wurde.
Nahezu zwei Wochen lag dieser Schatz von mehr als einer
Million Dollars in dem Schulhause, ohne daß ein Mensch
etwas davon ahnte. Der Lehrer stand täglich auf einem
Teile davon und die Kinder machten ihre Rechenaufgaben auf
der Wandtafel, hinter welcher der Rest steckte. Die Räuber
ließen ihre Beute so lange dort, weil alle Fremden auf der
Eisenbabnstation und den Straßen streng beobachtet wurden.
Schließlich kaufte Scott ein Gespann Pferde für neunhun-
dert Dollars und fuhr mit Jim Brady von Springfield nach
Northampton hinüber. Nachdem sie sich ihrer Beute ver-
sichert hatten, kostete es ihnen viel Mühe fortzukommen.
Brady fiel in einen Mühlbach, über dessen Eis sie
gingen, und dieser Unfall nötigte sie, die ganze Nacht in
einer Hütte im Walde zuzubringen.
Amerikanische Räuber. 251
Nachdem Mr. Pinkerton Evans’ Erzählung gehört hatte,
beschäftigte er sich vor allem mit der Frage, wo die ge-
stohlenen Wertpapiere jetzt versteckt seien. Aus dem, was
Evans sagte und was er selbst über die Methode der Bande
wußte, hatte er die feste Überzeugung gewonnen, daß Dunlap
um dieses Geheimnis wisse und es niemandem anvertrauen
werde, wenn er dazu nicht absolut gezwungen wäre. Der
Weg, welcher am meisten Erfolg versprach, war, ihn fest-
zunehmen, was jetzt sehr wohl geschehen konnte, nachdem
- Evans sich bereit erklärt hatte, gegen ihn als Kronzeuge
aufzutreten. Wochenlang waren Pinkertons „Schatten“
hinter Scott und Dunlap hergewesen, welche den größten
Teil ihrer Zeit in New-York zubrachten, wo Scott mit seiner
Frau in einer vornehmen Pension am Washington-Square
lebte.
Den „Schatten“ wurden demgemäß die nötigen Wei-
sungen erteilt, und am 14. Februar 1877 wurden die beiden
Männer in Philadelphia verhaftet, in dem Augenblicke,
als sie einen nach dem Süden gehenden Zug besteigen
woliten.
Trotz der großen Summe in Wertpapieren, welche in
ihrem Besitze war, war ihnen das Geld knapp geworden,
und, während sie auf das Zustandekommen des Kompro-
misses warteten, wollten sie einen neuen Raubzug unter-
nehmen. Sie wurden nach Northampton in Untersuchungs-
haft gebracht.
Nun geschah, was Mr. Pinkerton vorhergesehen hatte.
Ihrer Freiheit beraubt, sahen Dunlap und Scott sich ge-
zwungen, das Versteck der Beute einem anderen Mitgliede
der Bande zu verraten. Ihre Wahl fiel auf den roten Leary.
Wie sich nachher herausstellte, waren die Wertpapiere da-
mals in einem Keller der Sixth Avenue nahe der dreiund-
dreißigsten Straße in Newyork vergraben. Die Stelle wurde
Leary genau angegeben von Frau Scott, die ihn zugleich
an das unter den Mitgliedern der Bande bestehende Ab-
252 Moffett.
kommen erinnerte, wonach jeder von ihnen, sobald er in
Not geriete, seine Genossen auffordern könne, die Wert-
papiere um jeden möglichen Preis loszuschlagen und den
Ertrag zu verwenden, um ihn und andere — falls auch
andere in Not seien — zu befreien. Damals spottete Leary
über dieses Abkommen, aber bald darauf war er sehr eifrig
darauf bedacht, es den anderen einschärfen zu lassen, als
er auf Anordnung des Polizeiinspektors Byrnes selbst fest-
genommen wurde unter der Anklage der Mitschuld an dem
denkwürdigen Manhattan-Bankraube, welcher einige Zeit
vorher stattgefunden hatte. Da ein Versuch, Leary auf
seinem Wege nach dem Verstecke der Wertpapiere zu „be-
schatten“, fehlgeschlagen war, so hatte Robert Pinkerton
sich entschlossen, Leary als Mitschuldigen bei dem Bank-
raube in Northampton festnehmen zu lassen. Es wurden
sofort die nötigen Schritte getan, um einen Haftbefehl zu
erwirken, und bis zur Ankunft desselben wurde Leary
unter der anderen Anklage festgehalten, denn in Wirklich-
keit dachte man gar nicht daran, daß er bei dem Einbruche
in die Manhattan-Bank beteiligt gewesen sei.
Die Verbrecherannalen der Vereinigten Staaten ent-
halten kein ergreifenderes Kapitel als das von den Aben-
teuern des roten Leary. Er war seiner äußeren Erschei-
nung nach ein typischer Desperado, mit seinem zottigen
roten Haar seinem struppigen roten Schnurrbart und seinem
häßlichen, starkknochigen Gesichte, während sein gewaltiger
Nacken, seine starken Schultern, sein dieker Kopf und seine
mächtigen behaarten Hände auf eine ungeheure körper-
liche Kraft deuteten. Er wog nahezu dreihundert Pfund
und seine Spießgesellen pflegten mit Stolz darauf hinzu-
weisen, daß er einen größeren Hut trug, als irgend ein
Staatsmann in Amerika — acht und ein viertel.
Während ein großer Teil von Learys Leben mit Ge-
walttätigkeiten aller Art verging, hatte er bei verschiedenen
Gelegenheiten solch glänzende Tapferkeit, ja sogar einen
Amerikanische Räuber. 253
Heldenmut bewiesen, der fast seine Verbrechen aufwog.
Es gibt wenige Soldaten, welche nicht stolz sein würden
auf solche Leistungen auf dem Schlachtfelde, wie Leary
sie aufzuweisen hatte. Er gehörte zu den Ersten, welche
im Bürgerkriege dem Rufe des Vaterlandes folgten, indem
er als Freiwilliger in das Erste Kentucky-Regiment unter
Oberst Guthrie eintrat; und er war ein guter Soldat von
der Zeit seines Diensteintritts an bis zu seiner ehrenvollen
Entlassung.
Die geschicktesten Rechtsanwälte wurden jetzt mit
seiner Verteidigung beauftragt, und mit jeder nur mög-
lichen Methode gesetzlicher Obstruktion unterhielten sie vor
‘den Newyorker Gerichten eine lebbafte Kontroverse bis in
die ersten Tage des Mai 1879. Inzwischen ruhte sich Leary
im Gefängnis der Ludlow-Street aus, wo er alle Vergün-
stigungen genoß, die je einem Gefangenen gewährt wurden,
Dafür bezahlte er dem Gefängniswärter die ansehnliche
Summe von dreißig Dollars wöchentlich; und es war augen-
scheinlich, daß er, mochte er nun bei dem Einbruche in
Northampton beteiligt gewesen sein oder nicht, auf irgend
welche Weise reichlich Geld bekommen hatte. Er erhielt
fortwährend Besuche von seiner Frau.
Am Nachmittage des 7. Mai machte Frau Leary ihrem
Manne einen Besuch in Begleitung von „Butch“ Me. Carthy,
und die drei waren bis acht Uhr allein in Learys Zimmer.
Danach ging Leary innerhalb des Gefängnisses umher, und
um.ein Viertel nach zehn sah der Aufseher Wendell, wel-
cher die Aufsicht über das erste Stockwerk hatte, wo Learys
Zimmer lag, ihn vom zweiten Stockwerke nach dem dritten
hinaufgehen. Das war an und für sieh niehts Wunderbares,
denn Leary pflegte gewöhnlich das Badezimmer im dritten
Stockwerk zu benutzen. Eine Viertelstunde später begann
Wendell zufolge der Gefängnisordnung seinen Rundgang, um
zu sehen, ob jeder Gefangene auf seinem Flure sicher einge-
schlossen sei. Als er nach Learys Zimmer kam, war er etwas
Der Pitaval der Gegenwart. II. 18
254 Moffett.
überrascht, ihn noch abwesend zu finden, glaubte jedoch,
er würde gleich kommen. Nachdem er indessen einige
Minuten vergeblich gewartet hatte, wurde er unruhig und
begann nachzusuchen. Er ging zuerst in das Badezimmer,
und als er Leary dort nicht fand, suchte er an anderen
Orten oben und unten. Dann kehrte er nach dem Bade-
zimmer zurück und machte dort eine Entdeckung, die ihn
in die größte Bestürzung versetzte. Er sah in der Back-
steinmauer — was zuerst seiner Aufmerksamkeit entgangen
war — eine gähnende Öffnung, groß genug, um einen Mann
durchzulassen. Die Öffnung führte in einen Tunnel, der
nach unten zu gehen schien. Der Aufseher schlug sogleich
Lärm, und es zeigte sich, daß seine Befürchtung nur zu
sehr begründet war: der rote Leary war entwischt.
Es ergab sich, daß der Tunnel vom Badezimmer in
ein Zimmer des fünften Stockes eines Mietshauses führte,
welches an das Gefängnis stieß. Die beiden Zwischen-
mauern bestanden aus viereinhalb Fuß diekem, solidem
Mauerwerk, welches von den Freunden Learys durch-
brochen war. In den von ihnen gemieteten drei Zim-
mern des Hauses fanden sich zahlreiche Beweise ihrer
Arbeit.
Leary flüchtete zunächst nach Europa, wurde aber
später in Brooklyn verhaftet von Robert Pinkerton und
dreien seiner Leute, die ihn in einem Schlitten aufhielten
und ihm Handschellen anlegten, bevor er von einem
großen Revolver, den er bei sich trug, Gebrauch machen
konnte. Er wurde sogleich ins Gefängnis in Northampton
gebracht.
Einige Zeit vorher hatte Pinkerton Conroy, der auch
aus dem Gefängnisse in Ludlow Street ausgebrochen war,
in Philadelphia ausfindig gemacht; und sogleich nach der
Festnahme Learys schickte er seine Detektivs nach Phila-
delphia, welche Conroy noch an demselben Abend ding-
fest machten.
Amerikanische Räuber. 255 -
Inzwischen hatten Scott und Dunlap, welche jetzt im
Staatsgefängnisse saßen, ein Geständnis gegen Leary ab-
gelegt, welcher im Besitze der Wertpapiere war; und als
Leary nach Northampton gebracht wurde, schrieben sie
ihm einen Brief des Inhalts, daß, wenn die Wertpapiere
nicht ihren Eigentümern zurückgegeben würden, sie gegen
ihn als Zeugen auftreten wollten. Wenn er dagegen die
Wertpapiere zurückgäbe, so würden sie das Zeugnis gegen
ihn verweigern. Dieser Brief hatte den Erfolg, daß die Bank
fast sämtliche Wertpapiere wieder erhielt, ausgenommen
die Staatspapiere und das gestohlene bare Geld.
Einige der Wertpapiere waren seit der Zeit, wo sie
gestohlen wurden, so im Werte gesunken, daß dies einen
Fehlbetrag von mehr als hunderttausend Dollars ausmachte.
Die wiedererlangten Papiere repräsentierten einen Wert von
siebenhunderttausend Dollars und waren über zwei Jahre
in den Händen der Diebe gewesen.
Da sich Scott und Dunlap nunmehr weigerten, gegen
Leary und Doty auszusagen, mußten diese freigelassen
werden, ebenso wie Conroy, der nur als Zwischenträger
gedient und keinen tätigen Anteil an dem Einbruche ge-
nommen hatte.
Der Prozeß gegen Scott und Dunlap endete damit,
daß beide zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurden.
Scott starb im Gefängnisse; Dunlap, welcher einige Jahre
später begnadigt wurde, lebt jetzt in einer Stadt des Westens,
wo er als ein gebesserter Mensch sich sein ehrliches Brot
verdient. Conroy ist ebenfalls ein ehrlicher, von all seinen
Bekannten geachteter Mann geworden.
Der rote Leary kam auf merkwürdige Art ums Leben.
Eines Abends im April 1888 hatte er mit einigen Freunden
in einem bekannten Wirtshause in Newyork gezecht. Zu
der Gesellschaft gehörte „Billy“ Train, welcher, als sie auf
256 Moffet, Amerikanische Räuber.
die Straße kamen, einen Ziegelstein aufhob und in die
Luft warf, indem er schrie: „Habt acht auf eure Köpfe,
Jungens!“ | |
Leary achtete nicht auf diese Warnung, der Ziegelstein
traf ıhn mit voller Wucht auf den Kopf und zertrümmerte
den Schädel. Er wurde nach dem Hospital gebracht und
starb dort am 23. April. |
Der Fall Umland.
Von
B. Büttner, Göttingen.
Es war am 25. Oktober 1876 morgens gegen 8 Uhr
als eine Frau bei dem Nachtposten der Kriminalpolizei auf
dem Stadthause zu Hamburg erschien und anzeigte, daß
man soeben den Drechsler Umland in seiner Wohnung
Langereihe 82 St. Georg ermordet aufgefunden habe. Einer
der diensthabenden Offizianten (so hießen damals in Ham-
burg die jetzigen Kriminalwachtmeister), Backs, ließ sofort
den Polizeiarzt Dr. Lang, der soeben den Dienst im Stadt-
hause angetreten hatte, von der Meldung benachrichtigen.
Auf weitere Nachfrage erfuhr der Offiziant von der Frau,
daß sie, als sie um 71/a Uhr zur gewohnten Arbeit bei
Umland erschienen sei, ihn in seiner Wohnung leblos auf
dem Fußboden gefunden habe und dann schleunigst hier-
her geeilt sei.
Backs, die Frau und Dr. Lang verließen schon wenige
Minuten später das Stadthaus. Dr. Lang ging vorauf;
Backs folgte ihm mit der Frau in einem kurzen Abstande.
Eine sonderbare Person, diese Frau! Man hätte denken
können, sie käme von irgend einem anregenden Schau-
spiele, so vergnügt und munter plauderte sie über den Tod
ihres Brodgebers. Sie erzählte unter vielem andren, daß
der Ermordete, für den sie Schirme genäht habe, oft
wunderlich und von seinen Launen abhängig gewesen sei.
Zu der offenbar vorliegenden Mordtat bemerkte sie, daß am
Der Pitaval der Gegenwart. II. 19
258 | Büttner.
vergangenen Abend ein großer starker Mann in den Laden
gekommen sei, um eine Pfeife zu kaufen. Er habe sehr
verdächtig ausgesehn, was auch Umland aufgefallen sei,
und wäre angetrunken gewesen. — Backs beobachtete
die Frau während des ganzen Weges scharf und dabei
fiel dem erfahrenen Beamten auf, daß die Munterkeit der
Person etwas gezwungenes hatte. Diese Frau wußte doch
offenbar mehr von dem Verbrechen, als sie sagte! —
Als man das Haus, in dem Umland wohnte, erreicht
hatte, unterzog Dr. Lang den Körper des Toten einer ge-
nauen Besichtigung und inzwischen unterrichtete sich der
Offiziant über die Umlandsche Wohnung.
Von einem langen und nicht sehr breiten Korridor
gelangte man links in eine Krämerei, rechts in den Laden
Umlands. An den Laden schlossen sich seine Wohnräume
an, und zwar so, daß ein Zwischenkorridor nach hinten
in das Schlafzimmer und nach links in das Wohnzimmer
führte. Die Werkstatt hing nur mit dem Korridor, nicht
mit der eigentlichen Wohnung zusammen. Das Wohn-
zimmer war einfach, aber ganz behaglich eingerichtet; ein
altmodisches Sofa mit braunem Überzuge, ein großer runder
Tisch davor, an dem mehrere Stühle standen, und über
ihm eine grünbeschirmte Hängelampe; ein Bücherbort an
der einen, ein breiter Eckschrank und ein Sekretär an der
andern Längswand. Das Schlafzimmer enthielt außer zwei
Betten und zwei Garderoben (Umlands Frau war vor
einigen Jahren gestorben) eine Kommode und einen
Kleiderschrank.
Im Wohnzimmer lag die Leiche vor dem Sofa auf
dem Boden, mit Kopf und Schultern unter dem Sofa, die
Arme und Beine auffallend regelmäßig gestreckt; der An-
zug war durchaus in Ordnung. Von einer Wunde sah
der Arzt zuerst nichts und entdeckte selbst bei genauerem
Betrachten nur geringe Hautabschürfungen im Gesichte,
Erst als Dr. Lang ein um den Hals des Toten gebundenes
Der Fall Umland. 259
Tuch löste, fand er die deutlichen Anzeichen dafür, daß
Umland stark gewürgt und wahrscheinlich mit den Fäusten
erwürgt war. Die weitere Untersuchung gab einen An-
halt dafür, daß Umlands Tod am vorhergehenden Abende
etwa um 8 Uhr erfolgt sein mußte. Der Arzt konstatierte
auch, daß neben den Verletzungen am Halse eine größere
Anzahl andrer zum Teil recht erheblicher Wunden vor-
handen war, und daß mit offenbarer Sorgfalt von dem
Gesichte des Toten, von seinen Kleidern und vom Fub-
boden alle Blutflecken abgewaschen waren. — An den
Wänden, an den Möbeln, an den Gardinen sogar fanden
sich blutige Merkmale dafür, daß hier ein entsetzlicher
Kampf getobt haben mußte.
Backs wandte während dieser Dulkendhune wieder
seine Aufmerksamkeit, wie schon unterwegs, der Frau zu,
die die Meldung gebracht hatte. Sie führte mit den neugierig
herumstehenden Nachbaren, die sie als Frau Allweld anrede-
ten, in lautem Tone Unterhaltungen, die immer wieder darauf
hinausliefen, daß sie totunglücklich über den Verlust eines
so wackeren Brodherren sei und hoffe, der Mörder möge
recht bald gefaßt werden. — Backs veranlaßte die Nach-
baren, die Wohnung zu verlassen, behielt aber Frau All-
weld zurück, damit sie ihm genauer Rede stehe. Er über-
zeugte sich bald, daß die Allweld über den Mann, der den
Umland besucht haben sollte, falsche Angaben mache, und
nach weiterem Verhöre glaubte der Beamte genügend
Grund für die Annahme zu haben, daß die Allweld um
die Tat wisse und bestrebt sei, den Täter durch erfundene
Erzählungen zu schützen. Er nahm sie demnach vorläufig
fest und lieferte sie im Stadthause ein. Schleunige Er-
mittelungen stellten fest, daß sie einen in der Neustädter
Neustraße logierenden Schuhmachergesellen Adolf Haack
zum Geliebten habe. Erst einige Tage später konnte man
seiner habhaft werden. Da es ihm nicht möglich war,
sein Alibi für jenen verhängnisvollen Abend nachzuweisen,
19*
260 Büttner.
wurde er in das Untersuchungsgefängnis abgeführt, unter
dem Verdachte, den Umland in dessen Wohnung ermordet
zu haben.
Eingehende Ermittelungen und ärztliche Explorationen
ließen der Möglichkeit Raum, daß Haack irrsinnig sei.
Er wurde daher zunächst der Irrenanstalt zu Friedrichs-
berg (Hamburg) überwiesen, um dort genauer von dem
Physikus Dr. Reincke auf seinen geistigen Zustand be-
obachtet zu werden.
Die Voruntersuchung förderte folgendes ans Licht:
Die Näherin Henriette Marie Magarethe Allweld, ge-
boren 12. Mai 1843 zu Lüneburg, lutherischh, kam 1873
nach Hamburg, wo sie in verschiedenen Stellen diente;
den letzten Dienst gab sie im Mai 1876 auf und ernährte
sich dann durch Nähen. Im August 1876 machte sie die
Bekanntschaft des Gesellen Adolf Haack und trat zu dem-
selben bald in ein näheres Verhältnis. — Durch eine An-
nonce erhielt sie damals Beschäftigung bei dem ın der
Langenreihe in St. Georg wohnenden Umland, für dessen
Schirmgeschäft sie Dienstags und Freitags arbeitete. In
der ersten Zeit holte Haack, der._bei einem Schuhmacher
in der Neustraße-St. Georg wohnte, sie einigemale abends
von ihrer Arbeitsstelle ab und brachte sie nach ihrer
Wohnung bei einer Frau Melle am Valentinskamp.
Die Allweld gab zu, daß sie damals aus dem Um-
landschen Laden drei Schirme, zwei Stöcke und eine
Zigarrenspitze entwendet und dem Haack, der darum
wußte, geschenkt habe. Sie hatte oft Gelegenheit zu sehen,
daß Umland in seinem Sekretär viel Geld aufbewahrte;
dieser selbst hatte gelegentlich geäußert, daß er oft 8000
Mark und darüber dort habe. Schon Anfang Oktober be-
absichtigte Haack, dem die Allweld von diesem Reichtume
erzählt hatte, Umland zu besteblen. Nach der Darstellung
der Allweld sollte sie hineingehn, das Geld stehlen und es
dem draußen wartenden Haack, der sich vor den Hunden
Der Fall Umland. 261
Umlands fürchtete, einhändigen; Haack wollte dann mit
dem Raube fortreisen und die Allweld sollte ihm später
folgen. Angeblich hat die Allweld sich diesem Plane
widersetzt, so daß Haack ihn aufgab.
Die Nacht vom 23. zum 24. Oktober brachte Haack
‚bei der Allweld zu und blieb, während diese morgens um
8 Uhr zur Arbeit bei Umland ging, angeblich ohne mit
Haack ein Zusammentreffen für den Abend verabredet zu
haben, noch bis 1 Uhr mittags auf ihrem Zimmer.
Am Abend des 24. Oktober erschien Haack bei Um-
land. Die Allweld, welche sich in dem Wohnzimmer auf-
hielt, erkannte seine Stimme, als er den Laden Umlands
betrat, konnte jedoch nicht verstehn, was gesprochen wurde.
Umland — so gab die Allweld an — machte die Türe
zwischen Wohnzimmer und Korridor zu und rief dabei,
sie solle seine Hunde bei sich behalten, denn im Laden
sei eine große Dogge. Diesen Hund, welchen der Eigen-
tümer Gastwirt Basse, bei dem Haack täglich zu verkehren
pflegte, vom Nachmittage des 24. Oktober bis spät in die
Nacht hinein vermißte, hatte Haack mitgelockt, um Schutz
vor Umlands Hunden zu haben. Nach einer Viertel-
stunde ging Haack wieder aus dem Laden fort, an dem
Tone seiner Stimme hörte die Allweld, daß er betrunken
war. Sie arbeitete nun weiter und aß dann mit Umland
Abendbrot. Etwa um 7!/2 Uhr kam Haack wieder in den
Laden. Die kleinen Hunde Umlands waren noch bei der
Allweld, die über die nun folgenden Vorgänge zunächst
Folgendes angab: Umland und Haack, die sich um-
schlungen hielten, seien nach hinten gekommen, und Um-
land habe ihr dann aufgetragen, in den Laden zu gehen,
was sie auch getan. Als sie nach kurzer Zeit im Wohn-
zimmer das Klirren von Glas gehört, sei sie hingelaufen
und habe gesehen, daß Haack und Umland mit einander
rangen. Umland habe sich über den knienden Gegner ge-
beugt, sodaß die Aliweld geglaubt habe, dab er — ein
262 Büttner.
starker Mann — den Haack wohl durchprügeln würde.
Sie sei dann wieder in den Laden zurückgekehrt; sie habe
keine Hilfe geholt, weil die Ladentüre abgeschlossen und
kein Schlüssel zur Hand gewesen sei. Nach einer Weile
sei die Tür des Wohnzimmers aufgestoßen worden und sie
habe eine Stimme rufen hören, sie solle das Gas ausdrehen.
Nachdem sie das Gas ausgelöscht, habe sie noch eine
Weile gewartet und sei dann in das Wohnzimmer gegan-
gen. Haack habe rittlings mit blutüberströmten Gesichte
auf dem am Boden liegenden Umland gesessen und der All-
weld zugerufen, sie solle ihm Wasser bringen und ihn ab-
waschen. Ob Umland damals noch lebte, wußte die An-
geklagte nicht zu sagen. Als sie mit dem Wasser, das sie
von der Wasserleitung in der Werkstatt holte, zurückge-
kommen, habe Haack im Zimmer gestanden und Umland
am Boden gelegen. Haack habe ihr unter heftigen Dro-
hungen Schweigen gegen Jedermann geboten. Die Allweld
habe ihm, der aus einer Kopfwunde blutete, mit einem
Handtuche das Blut abgewaschen und auf seinen Befehl
das Geld aus dem Sekretär geholt. Inzwischen habe die
von Haack mitgebrachte große Dogge die Blutlachen vom
Boden und von der Leiche abgeleckt. Nach Angabe der
Allweld sollte der Kampf zwischen den beiden etwa 3/4
Stunden gedauert haben. Haack ging dann durch die
vordere Ladentüre fort und die Allweld folgte ihm bald.
Unterwegs sagte er zu ihr, wenn sie ihn verriete, ging es
ihr, wie dem Umland.
Gegen 10 Uhr abends kamen Haack und die Allweld
in das Logis der Allweld zurück. Die Hauswirtin, wel-
cher das Benehmen der beiden auffällig erschien, horchte an
der Türe und vernahm, wie sie Geld zählten. Bald nach
Mitternacht verließen die Verbrecher das Logis und begaben
sich nach der Ublenhorst, um das geraubte Geld zu vergraben;
hierbei mußte angeblich die Allweld in der Nähe warten, weil
Haack nicht wollte, daß sie wüßte, wo das Geld lag.
Der Fall Umland. 263
Diese von der Allweld gemachten Angaben wurden
zwar hinsichtlich der Zeit durch die Aussagen der zahl-
reichen Zeugen bestätigt; doch fanden sich auch für ihre
Mitwirkung bei der Tat manche Anhaltspunkte.
An sich schon schien es fast ausgeschlossen, daß
Haack, der in der dem Tage des Verbrechens vorhergehenden
Nacht bei der Allweld gewesen war, mit ihr nicht von
seinem Besuche bei Umland und seinem Plane, sich sein
Geld anzueignen, gesprochen haben sollte, um so mehr, als
er wußte, daß die Allweld zu jener Zeit bei Umland sich
aufhalten werde.
Es mußte der Allweld, wenn sie nicht eingeweiht war
sebr auffallen, daß Haack Umlands Laden, wohin er noch
niemals gekommen war, aufsuchte, noch dazu in Begleitung
eines fremden Hundes. Der Mörder würde wohl kaum eine
Zeit zu dem Verbrechen gewählt haben, wo er die All-
weld bei Umland wußte, denn an ihr hätte er sich, falls
sie nicht mit ihm unter einer Decke steckte, gar leicht
eine Verräterin schaffen können. Auch der Umstand, daß
die Angeklagte in keiner Weise versucht hatte, Hilfe zu
holen, als Haack und Umland mit einander kämpften, war
von um so größerer Bedeutung gegen sie, als ihre Angabe,
die Türe sei verschlossen und kein Schlüssel zur Hand
gewesen, dadurch widerlegt werden konnte, daß man am
Morgen nach der Tat die Türe offen und nicht etwa er-
brochen vorfand. Verdächtig mußte auch das ungewöhn-
lich aufgeregte unruhige Wesen der Allweld erscheinen,
das einer Käuferin schon am Nachmittage des 24. Oktober
aufgefallen war. Von Bedeutung für die Schuld der All-
weld war auch folgender Umstand. Um sich von der
Richtigkeit der Angabe, Haack habe das Geld auf der
Uhlenhorst vergraben, zu überzeugen, fuhren zwei Offi-
zianten mit der Allweld nach jenem Platze. Als sie sich
nach mehrstündigem Suchen, des vergeblichen Umherirrens
müde, wieder auf den Rückweg begeben wollten, führte
264 Büttner.
die Allweld sie geraden Weges zu der Stelle, wo 700;M.
und zwei goldene Medaillons von Haack vergraben. und
jetzt gefunden wurden. Wie eine Frau, welche mehrere
Wochen mit der Allweild zusammen in Untersuchungshaft
gesessen hatte, bekundete, war die Allweld im Gefängnis
stets munter und vergnügt gewesen; sie hatte öfters aus-
lassen getanzt und gesungen. Sie hatte dort auch erzählt,
daß Haack und sie immer den Plan gehabt hätten, Um-
land zu bestehlen. Sie habe neben Umland im Laden ge-
standen, als Haack mit dem Hunde eingetreten sei, und
habe sich gleich gedacht, daß es ohne Mord nicht abgehen
würde. Darum habe sie auch sofort das Gas ausgedreht.
Haack habe Umland von hinten gepackt, ihn in das Neben-
zimmer geschleppt und dort erwürgt. Sie sei hinausge-
gangen und habe an der Ecke gewartet. Umland sei ein
geiziger Kerl gewesen, an dessen Tode nichts gelegen sei.
Das gestohlene Geld habe Haack mit ihr zusammen noch
in derselben Nacht unter einer alten Weide auf der Uhlen-
horst vergraben. Außerdem hatte die Allweld in einer
schwachen Stunde auf der Rückfahrt von der Uhlenhorst
einem der begleitenden Offizianten mitgeteilt, daß sie zwar
nicht bei der Ermordung und Beraubung Umlands ge-
holfen hätte, daß aber das Ganze zwischen ihr und Haack
geplant worden sei.
Da die psychiatrische Peatachiing des Haack in
Friedrichsberg noch nicht beendet war, wurde das Ver-
fahren gegen die Beteiligten getrennt. Die Allweld wurde
auf Grund dieser belastenden Momente am 5. März 1877
vom Schwurgerichte wegen Beihilfe zum Morde zu einer
zehnjährigen Zuchthausstrafe und Verlust der bürgerlichen
Ehrenrechte verurteilt.
Ein volles Jahr war seit der Verurteilung der Allweld
verstrichen, ehe man zur Hauptverhandlung gegen den
eigentlichen Mörder schreiten konnte. Haack hatte seinem
Der Fall Umland. 265
Beobachter, dem Physikus Dr. Reincke, viel zu schaffen
gemacht; obwohl er nach der festen Überzeugung des
Arztes überhaupt nicht irrsinnig war, wußte er sich so ge-
schickt zu verstellen, daß es fast unmöglich schien, seine
Simulation nachzuweisen. Dr. Reincke stellte allerdings
fest, daß der Angeklagte in früher Jugend einmal an einer
Gehirnkrankheit gelitten hatte, konstatierte aber auch, daß
von derselben zur Zeit nicht die geringste Spur mehr vor-
handen war und daß für eine erneute Erkrankung Anhalte
nicht vorlagen.
Auch Haacks körperlicher Zustand hinderte längere Zeit
seine Aburteilung ; er hatte sich in den in aussch weifendster
Weise verlebten letzten Tagen seiner Freiheit eine Krank-
heit zugezogen, die erst durch eine langwierige Behandlung
im Kurhause von Friedriehsberg gehoben werden konnte.
Nun erst konnte er vor das Schwurgericht gestellt werden.
Die Voruntersuchung hatte folgendes ergeben:
Haack, geboren am 9. Dezember 1847 zu Lyck, katho-
lisch, war ursprünglich durchaus nicht so verworfen, wie
man annehmen sollte. Er war ernst, arbeitsam und seine
Meister schätzten ihn als tüchtigen fleißigen Gesellen. Aber
der Alkohol und mehr noch die Weiber wurden ihm zum
Fluche. Namentlich die sexuellen Neigungen forderten
Geld, viel Geld für seine Verhältnisse. Auch die Allweld
stellte hohe Ansprüche an seine Kasse. Sein Lohn war
nicht bedeutend und auch seine Geliebte hatte nur kärg-
liches Einkommen. Sie schufen sich bald Einnahmen durch
das Versetzen entbehrlicher und unentbehrlicher Kleidungs-
stücke, mußten aber, als alles, was sie nicht auf dem Leibe
trugen, ins Pfandhaus gewandert war, auf neue Mittel
sinnen. Und nun wußte die Allweld Rat; ein ge-
meinsames Verbrechen, das war es, wodurch die verwor-
fene Person den jüngeren Haack noch fester an sich ketten
wollte, und in dem Wunsche, in der Gier nach dem Besitze
von Geld begegneten sich beide. Bei Haack, der inzwischen
266 Büttner.
moralisch schon so weit gesunken war, daß er vor keiner
Straftat mehr zurückscheute, fand der Plan, Umland zu
berauben, Beifall. In einer wüst zusammen verbrachten
Nacht einigten sie sich dahin, daß sie den Drechsler am
folgenden Abende ermorden und sich in den ersehnten Be-
sitz des Geldes bringen wollten. Die Hauptrolle bei dem
Verbrechen fiel naturgemäß Haack zu: seinen Körperkräften
sollte Umland erliegen.
Zur gewohnten Zeit, um 71/4 Uhr, verließ die Allweld
ihr Logis, um sich zu ihrem Arbeitgeber in der Langen-
reihe zu begeben. AlsHaack um 1 Uhr mittags ausgeschlafen
hatte, ging auch er, um sich bis zum Abend in Hamburgs
Straßen herumzutreiben und über die nähere Ausführung
der Tat nachzudenken. Er beschloß, keine Waffe mitzu-
nehmen, weil es den Anschein erwecken sollte, als ob
Umland, den er erwürgen würde, eines natürlichen Todes
gestorben sei. Da er fürchten mußte, von den Hunden
Umlands durch Bellen verraten zu werden, so hielt er es
für ratsam, einen großen Hund mitzunehmen. Er ging
daher am Nachmittage bei Gastwirt Basse vor, dessen große
Dogge ihn kannte, trank ein paar Glas Bier, und ver-
schwand in einem unbemerkten Augenblicke mit dem
Hunde. Er trank dann in der Harmsschen Gastwirtschaft
zwei Seidel Bier, ging aber bald, da er von dem Wirte
eigentümlich gemustert zu werden glaubte, in eine in der
Nähe der Langenreihe belegene Wirtschaft, wo er eine
halbe Stunde bei Schnaps und Bier verbrachte. Nunmehr
sah er sich den Schauplatz der Tat an. Als er .hierbei
die Gewißheit erhielt, daß Umland kleiner und anscheinend
auch schwächer war als er selbst, da schlug er das letzte
Bedenken in den Wind. Er trieb sich noch eine Zeitlang
umher, trank wieder ein paar Glas Bier und betrat dann
zum zweiten Male Umlands Laden, den er erst nach der
Ermordung und Beraubung des Umland wieder verließ.
Am nächsten Morgen entledigte Haack sich seiner
Der Fall Umland. 267
Kleider, die durch schlecht abgewaschene Blutspuren an
die Ereignisse der verflossenen Nacht mahnten, ging nach
seiner Wohnung, wo er dem Meister das schuldige Logis-
geld aushändigte, und löste beim Versatzamte seinen Sonn-
tagsanzug ein. Nachdem er diesen angelegt, begab er
sich in die Allweldsche Wohnung und verbrannte im
Ofen nun seine alten Kleider. Hierauf machte er eine
Rundreise durch eine größere Anzahl von Wirtschaften
und ging, als er die Allweld nicht zu Hause fand, zu
anderen Dirnen. Am nächsten Morgen setzte er das Treiben
fort, nachdem er sich den Bart hatte stutzen lassen, um
unkenntlicher zu werden. Auch die folgenden Tage trieb
er sich rastlos in den verschiedensten Wirtschaften umher
und befand sich infolgedessen ständig in einem halbbe-
trunkenen Zustande. Erst am Abende des 29. Oktober
kehrte er in sein Logis zurück. Hier wurde er von zwei
Kriminalbeamten verhaftet. Ihre Haussuchung hatte schon
zu Tage gefördert ein blutiges Hemd und ein blutiges
Taschentusch, außerdem an bei Umland gestohlenen Gegen-
ständen zwei Regenschirme, zwei Stöcke und zwei Zigarren-
spitzen. Trotz dieses Überführungsmaterials bestritt Haack
die Tat.
Auch in der Voruntersuchung blieb Haack beim
Leugnen. Er wollte mit der Allweld nie über Umlands
Gelder gesprochen haben. Die Blutflecken in Hemd und
Taschentuch sowie in seinen inzwischen verbrannten
Kleidern, die von mehreren Zeugen bemerkt worden
waren, sollten von einer in der Trunkenheit herbeigeführ-
ten Schlägerei herrühren. Seine ärztliche Untersuchung
ergab, daß er eine große Anzahl von Verletzungen an der
obern Vorderseite des Körpers hatte: am Halse und der
rechten Hand Kratzwunden, am rechten Ringfinger eine
Bißwunde. Diese Verletzungen, welche die Heftigkeit
des Verzweiflungskampfes illustrieren, wollte Haack teils
am 29. Oktober bei einer Schlägerei, teils in einem am
268 | Büttner
23. Oktober bei Basse stattgefundenen Ringkampfe, sowie
bei einem Messerkampf auf dem Großneumarkt erhalten
haben. — Wo er vom 24. Oktober abends bis zum Abend
des 25. gewesen war, wußte er nicht genau mehr anzugeben.
Während sich Haack in der Voruntersuchung wenig-
stens zu diesen Aussagen bequemt hatte, war in der Haupt-
verhandlung vor dem Schwurgerichte nichts aus ihm her-
auszubringen. Er spielte den Irrsinnigen weiter. Wie
geistesabwesend blickte er im Gerichtssaale umher; die
Gesichtsmuskeln arbeiteten andauernd; die Augenlider
hoben und senkten sich ungewöhnlich lebhaft; bald zuckte
der eine, bald der andere Mundwinkel; die Stirne warf
. tiefe Falten; unruhig bewegten sich die breiten, schwarzen
Brauen auf und nieder; die Nasenflügel zitterten.
Indessen stellte der als Sachverständiger erschienene
Dr. Reincke auf Grund seiner langen Beobachtungen fest,
daß Haack nicht geisteskrank gewesen sei oder ist. Er
konnte sich dabei auch auf einige Tatsachen. aus dem
Verhandlungstermine selbst beziehen. Haack reagierte
öfters auf Fragen, durch deren Beantwortung er sich
wohl entlasten zu können glaubte, ließ aber alle ihm un-
bequemen Fragen beharrlich unbeachtet. Er vermochte
auch seine Unruhe nicht zu unterdrücken, als ein Straf-
gefangener, der längere Zeit mit ihm die Zelle geteilt hatte,
aussagte, Haack habe im anvertraut, daß er den Umland
hätte umbringen müssen, da dieser ihn sonst verraten
haben würde.
Nach einer sehr erschöpfenden fünftägigen Verhandlung
gaben die Geschworenen am 20. März 1878 ihr Verdikt
auf Mord ab und der Gerichtshof verurteilte den Haack
zum Tode und Ehrverlust. Die gegen dieses Urteil er-
hobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde verworfen. Auch
ein an den Senat der freien und Hansestadt Hamburg
gerichtetes Gnadengesuch wurde am 17. Mai 1878 zurlick-
gewiesen.
Der Fall Umland. 269
Als ihm dies durch den Gefängnisdirektor eröffnet
wurde, blieb er ganz gelassen und meinte geringschätzig,
sterben müßten ja doch alle, und auf die paar Jahre
früher komme es ihm auch nicht an. Auch ferner schien
er Reue nicht zu empfinden und ganz gefühllos zu sein;
er scherzte mit seinen Wächtern und bat dieselben sogar,
mit ihm „Sechsundsechzig* zu spielen. Einem scharfen
Beobachter aber konnte es nicht entgehen, daß der Delin-
quent durch das zur Schau getragene Wesen eine innere
Angst zu verdecken und seine Umgebung zu täuschen
suchte. Wenn er sich mit den wachhabenden Konstablern
unterhielt, dann lag doch etwas Gezwungenes in seinen
bleichen Zügen, während das dunkle aufgerissene Auge
in unheimlichem Glanze eine fieberhafte Erregung verriet.
Haack, der sich erst heftig gegen den Verkehr mit der
Geistlichkeit gesträubt hatte, ließ sich am 20. Mai willig
die Sterbesakramente reichen und zeigte sich dem milden
Zuspruche zweier Pfarrer zugänglicher. Er bat, allerdings
nach langem Zaudern, einen der frommen Herren, doch
seinem in der Nähe Königsbergs wohnenden Vater schonend
zu schreiben, er möge seinen Sobn vergessen; der Tod
sei wohlverdient und er, der Schuldige, litte ihn gefaßt. —
Als ihm die Sterbesakramente gereicht worden waren,
kniete er aus eigenem Antriebe zu längerem Gebete nieder
und schien von Andacht erfüllt zu sein. Dann legte er
sich gegen 11 Uhr abends nieder und schlief bis 2 Uhr.
Gegen Morgen erschien mit dem Verteidiger der Ober-
staatsanwalt Dr. Braband, der den Verurteilten durch seine
eindringlichen und ermahnenden Worte in tiefe Bewegung
versetzte, ja zu Tränen rührte. — Als man Haack fragte,
ob er noch irgend jemanden zu sehn wünsche, verneinte
er das und wehrte namentlich die Zumutung, die Allweld
noch einmal zu sehen, heftig ab; er verlöre — so meinte
er — den Verstand, wenn ihm diese Person zu Gesicht
käme!
270 Büttner. Der Fall Umland.
Am Morgen des 21. Mai 1878 um 6 Uhr wurde der
Verurteilte aus der Zelle, in der die dem Tode verfallenen
Verbrecher die letzte Nacht zubringen, zum letzten Gange
auf den Gefängnishof geführt. Ein Kaplan mit dem Kru-
zifixe ging vorauf; ihm folgte zwischen den beiden Geist-
lichen der Delinquent mit einem Rosenkranze in den
Händen, gefaßtund aufrecht; einige Polizeibeamte schlossen
den traurigen Zug. Das Armesünderglöckchen läutete.
Als Haack die schwarz behangene Guillotine erblickte,
verließ ihn die Fassung; die Beine versagten den Dienst
und die Geistlichen mußten ihn stützen. Nachdem das
Urteil und der Entschluß des Senats, vom Begnadigungs-
rechte keinen Gebrauch zu machen, verlesen waren, über-
gab der Oberstaatsanwalt dem Scharfrichter den Verur-
teilten, der von den Scharfrichtergehülfen die Stufen des
Schaffots hinaufgebracht werden mußte und in wenigen
Sekunden auf der Guillotine festgeschnallt wurde. Ein Druck
auf den Knopf, das Fallbeil sauste nieder; der an Umland
begangene Mord war gesühnt. |
Zwei Geisteskranke,
Von
Geheimem Justizrat Siefert, Weimar.
I. Diebstahl.
Auf Grund seines Geständnisses wurde im Januar
1904 seitens der Staatsanwaltschaft Weimar gegen den
Sohn der aus Bromberg stammenden Friseur-Eheleute Q.
zu Berlin, den 26 Jahre alten, nicht vorbestraften Schrift-
steller G. die Anklage erhoben, zu Weimar am 12. Januar
1904 der Ausstellung für Kunst und Kunstgewerbe folgende,
dieser gehörige Gegenstände im Gesamtwerte von 635 Mk.
nämlich zwei eingelegte Vasen, Wert 175 Mk., ein kleines,
silbernes, japanisches Räuchergefäß, Wert 250 Mk., zwei
japanische Satsumavasen, Wert 100 Mk. bez. 80 Mk, ein
Elfenbein-Falzbein, Wert 30 Mk, in der Absicht rechts-
widriger Zueignung weggenommen zu haben.
G. war seit dem 5 Januar bei einem ihm befreunde-
ten Kaufmann in Weimar aufhältlich gewesen, um bei Sr.
Königl. Hoheit dem Großherzoge eine Audienz zu erlangen
und sich um eine Stellung zu bewerben; die Audienz war
ihm am 12. Januar gewährt worden. Nach derselben be-
gab er sich in die oben gedachte Ausstellung, wo er in
zwei Räumen die obigen Gegenstände an sich nahm. Da
das Fehlen der Sachen bemerkt und zur Feststellung des
Tatbestandes die Polizei herbeigeholt wurde, erging an G.
die Aufforderung, sich in einem Hinterzimmer untersuchen
zu lassen. Hier bezeichnete nach Angabe des Polizei-
272 Siefert.
beamten G. sich als den Dieb und gab die in den Taschen
seines Mantels verborgenen Gegenstände wieder heraus.
Auf der Polizei erklärte er: „Ich bin kein Sammler der-
artiger Kunstgegenstände und kann tatsächlich nicht sagen,
warum ich mich so vergessen konnte.“
Auf die öffentliche Klage, die ihm am 4. Februar zu-
gestellt wurde, erklärte er an demselben Tage: „Ich be-
haupte — gestützt auf meine bisherige Führung im Leben,
auf mein Nichtbestraftsein und meine guten Leumunds-
zeugnisse —, die mich quälende und von mir selbst tief
bedauerte Tat nur in einem Zustand gestörter Seelentätig-
keit getan zu haben.“
Dabei bezog er sich auf das Gutachten des Professors
Mendel und des Dr. Bierbach in Berlin. Da jedoch seine
Behauptung, daß er bei der Ausführung der Tat unzu-
rechnungsfähig gewesen sei, durch nichts unterstützt war,
wurde ohne vorgängige Beweiserhebung das Hauptver-
fahren gegen ihn eröffnet und Termin zur Hauptverhand-
lung anberaumt. Jetzt beantragte ein Verteidiger, den
Termin wieder aufzuheben und von den genannten Ärzten:
schriftliche Gutachten einzuziehen, auch die in dem Schrift-
satze benannten Personen als Zeugen zu hören, falls dies
dem Gerichte zur Feststellung des objektiven Tatbestandes
über die Persönlichkeit und den Geisteszustand des Ange-
klagten erforderlich erscheine. Diese Personen waren In-
genieur Th., Buchhalter J., Korrespondent Sch, Porträt-
maler W., Frau Geh. Regierungsrat B. Beigefügt war ein
Zeugnis des praktischen Arztes Dr. Bierbach. Dr. B»
hatte ausweislich dieses Zeugnisses G. am 20. Januar 1904
einer genauen Untersuchung unterzogen und war am
22. Januar 1904 in Gs. Wohnung mit Professor Mendel zu.
einer weiteren Untersuchung und Konsultation zusammen
gekommen. Es heißt in dem Zeugnisse: „Das Ergebnis
dieser Untersuchungen ist das, daß ich Herrn G. für einen
an epileptischen Anfällen leidenden Mann halte, der die in
Zwei Geisteskranke. I. Diebstahl. 273
Frage stehende Tat in einem die freie Willensbestimmung
ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistes-
tätigkeit begangen hat.“
Im weiteren Verlaufe des Prozesses wurde G. in der
Irrenheilanstalt zu Jena beobachtet und schließlich auf
Grund des $ 51 StGB. freigesprochen.
Über den fraglichen Vorgang in der Kunstausstellung
äußert sich G. gegenüber den Irrenärzten wie folgt: „Er
sei auf dem Rückwege von der Audienz beim Ausstellungs-
gebäude vorbei gekommen und in dasselbe eingetreten, er
erinnere sich, daß er mit der Billetverkäuferin gesprochen
und zunächst die gesamten Säle durchschritten, dann sich
Einzelheiten zu betrachten begonnen habe.“ Für das
Weitere behauptet er Erinnerungsdefekt. Er weiß nicht
genau, ob er schon wieder bei klarem Bewußtsein war,
als der Kriminalschutzmann ihn aufforderte, die Visitation
an sich vornehmen zu lassen. Doch sagt er: „Wäre ich
schon vorher wieder bei Bewußtsein gewesen, dann hätte
ich die Gegenstände in meiner Tasche bemerken müssen
und hätte dieselben alsbald zurückgeliefert. So aber be-
merkte ich dies erst, nachdem der Herr mich angesprochen
hatte. Ich hatte wohl gehört, daß jener Herr bestimmte
Worte mit mir sprach; ganz klar wurden mir dieselben
aber erst, nachdem ich einige Schritte auf- und abgegangen
war und dabei bemerkte, daß meine Taschen ganz voll
gepfropft waren. Für die Folgezeit kann ich mich dann aller
Einzelheiten genau entsinnen.“
Irgend welche sichere Syptome, welche für Epilepsie
oder Hysterie sprachen, lagen nicht vor. Dagegen waren
bei G. sowohl vor als nach der Tat Zustände beobachtet
worden, bei denen gleichfalls „das Bewußtsein für kürzere
oder längere Zeit getrübt oder aufgehoben war“. Aller-
dings hatte er bei keiner solchen Bewußtseinsstörung eine
mehr oder weniger komplizierte Handlung begangen. Doch
sagt der Psychiater: „Unsere Erfahrung lehrt uns aber,
Der Pitaval der Gegenwart. II. 20
274 Siefert.
daß bei demselben Individuum Anfälle von einfach ge-
trübtem Bewußtsein, wie sie sich als leichte Ohnmachts-
anfälle darstellen, durchaus nicht selten neben solchen vor-
kommen, in denen die kompliziertesten Handlungen be-
gangen werden. Ich stehe daher nicht an, jene Anfälle
und den Anfall in der Kunstausstellung als in dieselbe
Kategorie gehörig zu erklären.“
Zu wiederholten Malen wurde G. in der Klinik, in der
er sich vom 16. Mai bis 13. Juni 1904 befand, von heftigem
Nasenbluten heimgesucht. Auch am Morgen des 1. Juni
1904 hatte er heftiges Nasenbluten. Bei der ärztlichen Visite
klagte er über heftige Kopfschmerzen. Nachmittags wollte
er mit einigen Patienten einen Spaziergang unternehmen.
Um 31» Uhr fand man ihn leichenblaß mit merkwürdig
verzogenem Gesichte in der Ecke seines Zimmersofas: wie
schlafend vor. Auf wiederholtes lautes Anrufen reagierte
er in keiner Weise. Nach etwa 10 Minuten schlug er die
Augen auf. Nachdem man ihn alsbald ins Bett gebracht
hatte, fing er heftig zu schluchzen an, ohne auf Befragen
einen Grund dafür angeben zu können. Er klagte dann
noch eine Stunde lang über heftige linksseitige Kopf-
schmerzen, dann erst erklärte er, sich wieder ganz wohl
zu fühlen. Nachträglich gab er an, während er in
der Sofaecke gesessen hätte, wäre es ihm plötzlich schwarz
und blau vor den Augen geworden, er hätte einen Schwindel-
anfall verspürt; was dann weiter gewesen wäre, wüßte er
nicht. Am 4. Juni ging er in Begleitung eines Patienten
in die Stadt; sie kehrten in einer Wirtschaft ein, wo G.
ein Glas leichten Bieres trank. Mitten in der Unterhaltung
bemerkte sein Begleiter plötzlich, daß G. leichenblaß wurde,
am ganzen Körper zu zittern anfing. Das Bewußtsein
verlor er bei dieser Gelegenheit nicht. Der Begleiter
führte ihn sofort an die frische Luft und er konnte mit
leichter Unterstützung den zehn Minuten Auen Weg nach
der Klinik zurücklegen.
Zwei Geisteskranke. I. Diebstahl. | 275
Buchhalter J., der seit Oktober 1903 mit G. in inti-
meren Verkehr trat, hat angegeben: Anfangs Februar 1904
seien beide in einem literarischen Zirkel in einem Wirtschafts-
lokale mit anderen Herren zusammengekommen. G., der
etwas aus seinen Dichtungen vortragen sollte, erklärte sich
infolge des Milieus dazu außerstande. „Die Gleichmäßig-
keit der Tischordnung und die Kahlheit der Wände wirkten
vollkommen ablenkend auf ihn ein.“ Als er dann unter
heftiger Erregung doch mit dem Vortrage begann, warf er
plötzlich das Buch bei Seite, sprang auf und erklärte mit
lauter und zitternder Stimme seine Unfähigkeit. Als ihm
dann. einer der Anwesenden einen Bierfilz zuwarf, brachte
ihn dies von neuem in Aufregung, so daß er u. A. er-
klärte: „Mich kann überhaupt niemand beleidigen, dazu
stehe ich viel zu hoch.“ Nach dieser Äußerung sank er
in sieh zusammen und zitterte heftig an den Gliedmaßen.
— Es scheint dies derselbe Vorfall zu sein, von dem
Korrespondent Sch. erzählt: G. habe sich darüber geärgert,
daß die Tische des Versammlungslokales mit roten Tisch-
tlüichern belegt und mit Biergläsern bestellt waren, weil
er es nicht für ästhetisch und passend hielt, daß die lite-
rarische Vereinigung in einem derartigen Lokale stattfand,
insbesondere seine Dichtungen hier zum Vortrage gelangten.
Auch Ingenieur Th, der G. mindestens schon 3 Jahre
kannte, erwähnt diesen Vorgang, der sich ereignet habe,
nachdem sie sich vorher.in den Wohnungen der Vereins-
mitglieder versammelt hatten. Als Zeit gibt Th. etwa
November 1903 an. Er sagt: „Plötzlich sprang der An-
geklagte auf und erklärte: Das paßt mir nicht, daß die
Tischtücher rot gemustert und die Gläser in einer Reihe
auf dem Tische aufgestellt worden sind.“
Der Korrespondent Sch., der seit zwei Jahren häufig
in Gesellschaft mit G. zusammen war und ihn als einen
sehr leicht erregbaren Menschen kennen gelernt hatte, er-
zählte einen weiteren nach der Tat stattgehabten Vorfall
20*
276 Siefert.
aus Februar oder März 1904. Die Mitglieder der literari-
schen Vereinigung waren bei einem Herm Goldschmid
versammelt, der G. einem Dritten gegenüber beschuldigt
hatte, ihm ein Buch genommen zu baben. G. erfuhr dies
und stellte Goldschmid in einem Nebenzimmer über diese
Bezichtigung zur Rede. Dann stand er mit Sch. am Fenster
und hörte der Vorlesung zu. Plötzlich fiel G. um, er sah sehr
bleich aus, hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht war
mit Schweiß bedeckt. Goldschmid hat seine Bezichtigung
zurückgenommen. Denselben Vorfall hat auch Ingenieur
Th. erwähnt, der aber auch hier die Zeit desselben vor
die Tat verlegen möchte, etwa Dezember 1903. Er sagt,
daß die Äußerung Goldschmids über G. diesem mitgeteilt
worden sei und fährt dann fort: „Der Angeklagte, der bis
dahin sehr vergnügt war, ging stillschweigend an das
Fenster und hielt sich dort hinter der Gardine versteckt
auf. Nach einer Weile kam ein anderer Herr, der nach
ihm gesehen hatte, mit ihm hinter der Gardine vor. Der
Angeklagte war in Ohnmacht verfallen und sein Gesicht
mit Schweiß bedeckt. Er wurde von zwei Personen hin-
ausgeführt und kam nach längerer Zeit wieder hinein,
nachdem er zu sich gekommen war. Er sah sehr bleich
aus und sprach nur wenig. Ich bemerke noch, daß der
Angeklagte immer sehr blaß und angegriffen aussah“.
Die Mitteilungen der Frau Geh. Regierungsrat B. sind
ohne scharfe Zeitfeststellungen. Der erste Fall spielt „be-
reits“ im Winter 1903/1904, für den zweiten ist Dezem-
ber 1903 angegeben, der Dritte liegt später. Sie lernte ihn
ein Jahr vorher bei einer Wohltätigkeitsversammlung kennen.
Als damals einer Vorstandsdame ein Bukett überreicht
wurde, bekam er einen Weinkrampfanfall und ging hin-
aus. Später im Winter war er im B.schen Salon mit an-
deren Personen zusammen. Plötzlich bemerkte Frau B.
dab G. da saß, das Gesicht mit der Hand bedeckend, die
Zähne auf einander beißend. Auf Anreden reagierte er
Zwei Geisteskranke. I. Diebstahl. 277
nicht, bis er nach einer Weile aufstand, das Balkonfenster
öffnete, „Luft, Luft“ rief und fortging. G. sah kreidebleich
aus, alles Blut war aus seinem Gesichte gewichen. Im
Dezember 1903 bat er Frau B. „aus bedrängtem Herzen,
an sein Krankenbett zu kommen“. Er sah sehr schlecht
aus, erklärte aber, es fehle ihm nichts, er wolle nur keinen
Menschen sehen und nicht mehr aus dem Zimmer gehen.
„Schließlich — sagt Frau B. — fand ich ihn eines Tages
in einem anderen Hause wieder, die Hand über das Gesicht
gedeckt, mit zusammengebissenen Zähnen sitzend. Auf
meine Anrede reagierte er wiederum zuerst längere Zeit
gar nicht. Als er zu sich kam, teilte ich ihm mit, daß
ein Minister seine Bekanntschaft machen wolle, und stellte
ihm vor, daß ihm das doch nützlich sein könne. Erst
weigerte er sich überhaupt mitzukommen, indem er wieder
erklärte, keinen Menschen sehen zu wollen; schließlich kam
er mit, sprach jedoch kein Wort und setzte mich dadurch,
da ich ihn dem Minister auf seinen Wunsch vorgestellt
hatte, in die größte Verlegenheit“.
Der Porträtmaler W. bekundete: „Ich habe den Ange-
klagten im Winter 1902/3 kennen gelernt und sodann
häufig mit ihm verkehrt, ihn in den Verein Berliner Künstler,
in meine und andere Familien eingeführt. Ich habe den
Angeklagten wohl als leicht erregbaren nervösen äußerst
empfindsamen Menschen kennen gelernt. Körperlich ist
mir an ihm aufgefallen, daß er zuweilen Nasenbluten be-
kam. Abnormale Zustände der Erregbarkeit, Ohnmachts-
anfälle u. dergl. habe ich nicht beobachtet.“
Wie schon erwähnt worden ist, hat der Psychiater
die sonst festgestellten Fälle und den „Anfall in der Kunst-
ausstellung“ als in dieselbe Kategorie gehörig erklärt.
„Diese Anfälle von Bewußtseinsstörung kommen, sagt er
weiter, als Anfälle sui generis bei schwer neuropathischen
Personen vor. Bei G. haben wir es mit einem schwer neuropa-
his chen Menschen zu tun. Abgesehen davon, daß bei
278 Siefert.
ihm eine gewisse Erblichkeit vorliegt, kommt eine ganze
Reihe schwerer Schädlichkeiten in Frage, welche nach und
nach auf das Nervensystem des Exploraten in ungünstigster
Weise eingewirkt haben.“
In den ersten Lebensjahren hat sich G. körperlich und
geistig gut entwickelt. Seine Erziehung war eine sehr
strenge. Vielleicht durch diesen Umstand sowie dadurch,
daß er das einzige lebende Kind seiner Eltern war, be-
günstigt, war er seiner Umgebung gegenüber abgeschlossen,
sehr wenig mitteilsam. Als Knabe von 9 Jahren machte
er eine schwere Scharlacherkrankung durch. Im Alter von
12 Jahren erlitt er einen schweren Unfall, indem er von
einem Mitschüler eine Treppe herabgestoßen wurde und
bis zum nächsten Treppenabsatz stürzte, wo er besinnungs-
los liegen blieb. Er trug eine Wunde am Hinterkopfe da-
von. In den Jahren 1888, 1889, 1890 brachte er, da
er blutarm war, die Ferien in Kinderheilstätten an der
deutschen Seeküste zu, im Alter von 13 Jahren überstand
er Typhus. Seine Schulbildung genoß er in einer Berliner
Gemeindeschule; er wollte ein Gymnasium besuchen, doch
sein Vater nahm ihn als Lehrling in sein Perrückenmacher-
geschäft. Bei den infolge dessen unausbleiblichen Miß-
helligkeiten zwischen Eltern und Sohn zeigte letzterer ein
maßlos rechthaberisches aufgeregtes namentlich der Mutter
gegenüber ungezogenes und schroffes Wesen. In dem Ge-
werbe selbst brachte er Musterleistungen hervor. Nach
sehr gut bestandener Gesellenprüfung ließ er sich als
Perrückenmacher in Montreux nieder; seine freie Zeit be-
nutzte er. dazu, die englische und französische Sprache zu
erlernen. Dann ging er nach Genf, wo es ihm gelang;
durch kleinere, schriftstellerische Versuche bei einigen
Zeitungen als Mitarbeiter anzukommen. Noch nicht 20 Jahre
alt, unternahm er mit einem jungen Italiener eine Reise durch
Italien, welche er gegen festes Honorar in einer Zeitung
beschrieb. Schwere Fieberanfälle nötigten ihn, das Albert-
Zwei Geisteskranke. I. Diebstahl. 279
hospital in St. Johann aufzusuchen, wo er zunächst an
Malaria, dann an einer neuen Typhusinfektion 12 Wochen
lang krank lag. Psychisch und körperlich heruntergekom-
men, kehrte er Weihnachten 1897 zu seinen Eltern zurück.
Dann wandte er sich nach Bremen, wo er in einem größeren
Geschäfte seiner Branche als Verkäufer und Korrespondent
Stellung fand. Daneben beschäftigte er sich bis spät in
die Nächte mit dem Studium griechischer und römischer
Philosophen in der Übersetzung und mit naturwissenschaft-
lichen Studien. Infolge erneuten Auftretens heftiger Fieberer-
scheinungen kehrte er nach Berlin zurück und bestand hier
die Prüfung zur Berechtigung für den einjährig-freiwilligen
Militärdienst. Wegen einer Beinverletzung bei einem Rad-
fahrunfall wurde er jedoch vom Militär ausgemustert.
Nunmehr folgte die schwerste Zeit für ihn. Als Volontär
bei den „Berliner Neuesten Nachrichten“ hatte er eine sehr
anstrengende journalistische Tätigkeit. Daneben setzte er
aber seine Studien auf den Gebieten der Philosophie, Theo-
logie, Naturwissenschaft, Nationalökonomie fort, und lebte
tagelang nur von Kaffee und Tabakgenuß. Allmählich
gelang es ihm, sich durchzuringen; er fand Anerkennung
seiner Arbeit und damit en) seiner pekuniären
Verhältnisse.
In der Jenaer Klinik zeigten. Empfindungs- und Ge-
dankenleben keine Störung, die Stimmung war dagegen
deutlichen erheblichen Schwankungen unterworfen. Über-
wiegend trat die Neigung zu gemütlicher Verstimmung
hervor. Schon geringfügige Reize genügten, um unverhält-
nismäßig lebhafte Affektentladungen, namentlich trauriger
oder zorniger Art auszulösen, z. B. bedurfte es nur der Er-
wähnung von Einzelheiten aus seiner schweren Studien-
zeit, um ihn in die heftigsten Tränen ausbrechen zu lassen.
Unvermittelte Übergänge zu Perioden mehr heiterer Stim-
mung wurden nicht beobachtet. Er gab den Ärzten an,
daß er im Laufe der Zeit mehr und mehr an allgemein
280 Siefert.
nervösen Störungen gelitten habe. Im Vordergrunde hatte
eine periodische Schlaflosigkeit stattgefunden. Dieselbe
hatte sich einerseits in völligem Mangel an Schlaf geäußert,
andererseits darin, daß er, wenn er einschlafen konnte,
durch unruhige Träume aufgeschreckt wurde. Nächst der
periodischen Schlaflosigkeit wurde er besonders durch all-
gemeine heftige Kopfschmerzen gequält. Die Folge war
auf der einen Seite Gefühl der Abgespanntheit, Unlust zu
jeder körperlichen und geistigen Tätigkeit, gesteigert bis
zur völligen Apathie, auf der anderen Seite eine maßlose
Reizbarkeit.
Im Anschlusse an die von den Zeugen angegebenen
Ohnmachten entsann er sich einer Reihe von Fällen, welche
sich in seiner Wohnung zugetragen haben sollten. Es wäre
ihm z. B. wiederholt zugestoßen, daß er gar nicht bemerkt
hätte, wenn seine Wirtin oder eine andere Persönlichkeit
das Zimmer betreten und ihn selbst aus nächster Nähe an-
gesprochen hätten. Das hätte nicht etwa darauf beruht,
daß er tief in Gedanken versunken gewesen wäre, sondern
es müßte wohl vielmehr eine Art Schwindelanfall gewesen
sein, Diese Anfälle wären namentlich dann aufgetreten,
wenn er seine periodische Schlaflosigkeit und einseitigen
Kopfschmerzen gehabt hätte. Er hätte jedesmal nach den-
selben das Gefühl gehabt, daß irgend etwas Besonderes
mit ihm vorgegangen sein müsse, ohne sich darüber recht
klar werden zu können, ob und inwieweit der Alkohol
eine Rolle bei dem Zustandekommen jener Anfälle gespielt
‚habe. Er wußte nur soviel, daß er schon nach 1—2 Glas
Bier oder Wein sehr gesprächig wurde, die Gedanken
flögen ihm nur so zu. Aber schon sehr bald danach hätte
er eine deutliche Erschwerung der Denktätigkeit bemerkt,
‚er wäre müde geworden und abgefallen.
Der anderen, von den Zeugen bekundeten Vorfälle
-konnte G. nach seiner Angabe sich nicht entsinnen. Jeden-
falls waren die Zeugen aber doch von ihm selbst dem
Zwei Geisteskranke. I. Diebstahl. 281
‘Verteidiger angegeben worden, ehe dieser sie benennen
konnte.
Der Psychiater fabte sein Gutachten schließlich dahin
zusammen: „Das schwere Schädeltrauma im Alter von
12 Jahren, die verschiedenen schweren Infektionskrank-
heiten wie Scharlach, zweimal Typhus, Malaria haben auf
sein Nervensystem ungünstig eingewirkt. Wenn man in
Betracht zieht, unter welchen ungünstigen Bedingungen er
‚gerade in den Entwicklungsjahren die größten Anforderun-
gen an seine geistige und körperliche Leistungsfähigkeit
gestellt hat, obwohl er durchaus keine hervorragend veran-
lagte Natur war, wird man begreifen, daß er über kurz
oder lang Schaden nehmen mußte. Wenn wir gesehen
haben, wie schon verhältnismäßig leichte äußere Reize ge-
nügten, um schwere Störungen zu veranlassen, sei es nun in
Form von Affektentladungen oder jener Bewußtseinstrü-
bungen, und bedenken, in welch hochgradiger Spannung
und Erwartung er sich an jenem Tage befand, welcher
über seine Zukunft eine Entscheidung bringen sollte, dann
werden wir über das Moment, welches jenen Anfall im
‘Museum auslöste, nicht im Unklaren sein.“
Das Gericht hat sich dieser Argumentation nicht ent-
ziehen können. Gern hätte man noch erfahren, welche Be-
obachtungen der Schutzmann am 12. Januar an G. gemacht
hatte und wie Goldschmid die Bezichtigung wegen des Buch-
diebstahls begründete. Auch wäre eine genauere zeitliche
Feststellung der von den Zeugen bekundeten Vorgänge er-
wünscht gewesen, um sicher zu erkennen, was vor usr
Tat geschah und was nachher.
Ein Mitglied des Kuratoriums für das Museum teilte
mir nach Einsicht der gegenwärtigen Darstellung mit, daß
er geholt worden sei, weil im ersten Stockwerke Sachen
gestohlen worden seien und jemand verdächtig sei, dessen
Überziehertaschen sehr aufgebauscht seien. Der Ver-
dächtige habe sich entfernen wollen, sei aber auf die
282 Siefert.
Eröffnung, daß niemand das Gebäude verlassen dürfe, ohne
ein Wort der Erwiderung die Treppe hinauf in das erste
Stockwerk gestiegen. Er sei dann in ein hinteres Zimmer
eingeladen worden, er habe genau gewußt, wo er die ein-
zelnen Sachen untergebracht hatte, und wenn er nach einem
bestimmten Gegenstande gefragt wurde, ohne Zögern nach
der betreffenden Tasche gegriffen. Bei der Wegnahme der
Sachen habe er Veranstaltung getroffen, die Lücken wieder
auszufüllen. Nachmittags sei er der Einladung einer vor-
nehmen Dame gefolgt und dort in keiner Weise aufgefallen.
II. Raubmordversuch.
Am Weimarer Vogelschießen im Jahre 1887 war der
Handelsmann Emil Ulrich aus Dessau als Rekommandeur
in einer Schaubude beschäftigt gewesen. Nach Schluß
des Festes, am 9. August, wollte Ulrich sich wieder auf
die Wanderschaft begeben. An dem nach Erfurt führenden
Wege liegt? — damals am Ausgange der Stadt — die
Herberge zur Heimat, in welcher er nachmittags nach 1 Uhr
einkehrte. Er führte einen Zigarrenkasten und einen etwas
größeren Kasten bei sich; in denselben befanden sich
Wurzeln, mit denen er Handel trieb. Beide Kästen waren
verschnürt und durch Bindfaden zusammengebunden. Er
war im Besitze von 2 Mk., welches Geld er bis auf 31 Pfg.
verbrauchte.
In der Herberge fand Ulrich einen älteren lebhaften
Mann vor, der sich Warz aus Nöda nannte, viele Kriege
und eine Reihe von Seeschlachten in Haiti und Australien
mitgemacht haben wollte. Ulrich teilte ihm von seinem
Mittagsessen mit, gab ihm Bier und erzählte ihm, daß er
bis nach Vieselbach gehen und von da nach Erfurt fahren
wolle. Der angebliche Warz trug Frauenzeugschuhe, die
über der Spanne aufgeschnitten waren; das linke Bein
Zwei Geisteskranke II Raubmordversuch. 283
war von unten bis an das Knie mit einer Wolga um-
wickelt.
Kurz vor 3 Uhr brach Ulrich auf, der alte Mann
folgte ihm. Sein Weg führte ihn bald am Bahnhofe der
Weimar—Berkaer Eisenbahn vorbei, letzteren links lassend.
Rechts vom Wege stehen einige Bäume; Ulrich verspürte
Müdigkeit und legte sich in den Schatten, die Kisten, seine
Mütze und seine Stiefeln neben sich legend. Dann schlief
er ein.
Unweit des gedachten Hölzchens überschreitet ds vom
obigen Bahnhofe nach dem Thüringer Bahnhofe führende
Geleis die Chaussee. An dieser Stelle kam gegen 4 Uhr
der auf Wanderschaft befindliche Buchbinder Kloth vorbei,
welcher beobachtete, wie ein Mann mit einer bedeutenden
Kopfwunde auf dem Bahngeleise sich nach dem Bahnhofe
zu bewegte. Der Mann war obne Besinnung und wurde
von Kloth zur Polizei geführt. Es war Ulrich. In dem
Hölzchen fand dann der Polizeiinspektor eine etwas ver-
trocknete Blutlache von Handgröße und 50 cm davon einen
halben Bogen braunen Packpapieres, unter diesem aber
ein zweite Blutlache, doppelt so groß wie die andere.
Unweit davon lagen am Gebüsche zwei Steine, ein klei-
nerer angelehnt an einen größeren. Nach Wegnahme des
kleineren Steines zeigte der größere an seiner verdeckt
gewesenen Breitseite, namentlich aber auf seiner Schmal-
seite und Kante, Blut und Menschenhaare. Die Haare
rührten von Ulrich her. Es war kein Zweifel, daß der
größere Stein dem schlafenden Ulrich auf den Hinter-
kopf geworfen worden war. Wurf und Stein waren dazu
angetan, den Kopf zu zerschmettern; der Stein fiel aber
auf den Hinterkopf da auf, wo derselbe sich nach dem
Genick zu einzieht, und glitt mit seiner scharfen Kante —
das Fleisch, die Knochenhaut und griesige Knochenteilchen
abschälend — an der Schädeldecke nach dem Nacken zu
ab. Der Blutverlust Ulrichs war sehr bedeutend. Die
284 Siefert.
Steine stammten von dem Steinmaterial auf der Chaussee
her. Hier hatte der Arbeiter Berndt nach 3 Uhr einen
alten Mann mit defektem Beine beobachtet. Er war aus
der Stadt gekommen, hatte sich eine gute Viertelstunde
lang auf der Chaussee aufgehalten und war dann nach
der „Lausebank* (in dem oben erwähnten Hölzchen an-
gebracht) zu gegangen. Dabei hatte er etwas unter dem
Arme. | |
Als Ulrich aufwachte, bemerkte er, daß er in einer
großen Blutlache lag. Ihm fehlten seine Kopfbedeckung
und die beiden Kistchen.
Der Verdacht dieses Raubmordversuches fiel auf einen
alten Mann, der am Nachmittage vom Fleischer Bauch
gesehen worden. war, wie er, aus der Richtung der Lause-
bank kommend, durch ein Haferfeld gegangen war und
dann auf der Chaussee nach Tröbsdorf zu schritt. In
Tröbsdorf vertauschte er beim dortigen Bäcker die Frauen-
schuhe, in der achten Abendstunde kehrte er im Tröbs-
dorfer Gasthofe ein. Am Morgen des 10. August trat er
in Hopfgarten auf, wo er sich damit einführte, daß er
einem kleinem Mädchen ein Fünfzigpfennigstück abnahm,
sich in das Wirtshaus begab und das Geld vertrank: Hier
wurde er auf den gegen den Raubmörder erlassenen Steck-
brief hin verhaftet. Der Grund dazu wurde ihm zwar
nicht angegeben, er sagte aber sofort:
„Ich habe niemand totgeworfen. Mögen sie den ver-
urteilen, der der schuldige Teil ist.“
Der Mann war die von Berndt und Bauch wahrge-
nommene Person und der in der Herberge zur Heimat
aufgetretene angebliche Warz. In seinem Besitze waren
Ulrichs Mütze und ein Teil der Wurzeln Ulrichs; in dem
Haferfelde, welches der von Bauch Beobachtete durch-
schritten hatte, wurde seine Mütze gefunden.
Er wollte mit Ulrich zusammen aus der Herberge zur
Heimat weggegangen sein. „Nach etwa einer Viertelstunde
Zwei Geisteskranke. II. Raubmordversuch. 285
— sagte er — legten wir uns beide schlafen. Ich hatte
aber starke Schmerzen an meinem Beine und habe eher
den Schlafplatz verlassen, als Ulrich, und habe eine Quelle
aufgesucht, um mir mein Bein zu waschen. Auf dem
Wege dahin begegnete mir ein großer starker Mann mit
Vollbart, der mich attackierte, hierauf aber schnell fort-
sprang, nachdem er mich erschreckt hatte durch Zuwerfen
eines Tuches ins Gesicht.“
Später stellte er den Vorfall etwas anders dar. „Ich
bin eher weiter gegangen, da mich mein Bein schmerzte
... Ich ging einen Separationsweg, ich bekam plötzlich
Krämpfe und mußte mich hinlegen. Plötzlich kam ein
fremder großer Mann, der dem Transporteur aus Hopfgarten
sehr ähnlich sah, kniete auf mir, zog mir meine Kleider
aus, nahm sie an sich und warf mir ein paar von seinen
hin und riß dann aus und ließ mich nackt liegen. ... Als
er fort war, zog ich die hingeworfenen Kleider an, in
diesen Kleidern bin ich dann ergriffen worden. Die Wurzeln,
die man mir abgenommen hat, waren von dem Mann in
Lumpen gebunden, sie wurden mir mit von ihm hingeworfen.
Ich habe, ohne die Lumpen anzusehen, es mitgenommen.“
Die Kleider, welche der Verhaftete trug, waren offen-
bar Eigentum einer Anstalt, ein Teil derselben trug den
StempelM.S.A. Mit Bezugnahme hierauf verlautbarte er, wohl
auf einen Vorhalt des Untersuchungsrichters, noch folgendes:
„Ich muß behaupten, daß der fremde Kerl ein Meininger
war, denn in seinen Kleidern waren Stempel, die Meiningen-
sche Herkunft ergaben.“
Untersuchungsrichter und Staatsanwalt waren der Mei-
nung, daß Anlaß vorliege, die Zurechnungsfähigkeit des
Verdächtigen zu erörtern, der Landgerichtsarzt aber erklärte,
daß derselbe nicht geisteskrank oder schwachsinnig sei.
„Sowohl heute (12. August) als auch in der vor einigen
Tagen mit ihm gepflogenen Unterredung hatte er ein gutes
Gedächtnis für alle Momente aus seiner jüngsten Vergangen-
286 Siefert. Zwei Geisteskranke. II. Raubmordversuch.
heit, insofern dieselben nicht mit dem ihm zur Last gelegten:
Verbrechen in Zusammenhang zu stehen scheinen. Sobald
das Verbrechen selbst irgendwie in Frage kam, wußte er
in ganz geschickter Weise und mit ganz verändertem Aus-
drucke seiner Augen andere Ideen vorzubringen, und nur
auf scharfes Zureden erzählte er den angeblichen Tatbestand
in einer Weise, die den Gedanken an Schwachsinn bei ihm
nicht gestattet.“
Inzwischen war die Staatsanwaltschaft auf der Suche
nach der Anstalt, aus der die Kleider des Untersuchungs-
gefangenen stammten. Aueh die Presse bemächtigte sich
des Falles. Da traf ein Schreiben der Provinzialirrenanstalt
zu Alt-Scherbitz, d. d. 17. August 1887, ein, in welehem
gesagt wurde, daß es sich bei dem angeblichen Warz un-
zweifelhaft um einen Geisteskranken, namens Heinrich
Christoph Rödger aus Walschleben handele, der sich seit
10. Juni 1852 in der Provinzialirrenanstalt zu Nietleben
befunden habe und von dort am 15. November 1886. in
das Siechenasyl zu Alt-Scherbitz versetzt worden, jetzt aber
entwichen sei. Bei einer früheren Flucht aus der Niet-
lebener Anstalt habe sich Rödger ebenfalls Warz genannt
und die Kleidungsstücke der Kranken des Siechenasyls in
Alt-Scherbitz seien M.S. A. (Männer-Siechen-Asyl) gezeichnet.
Ein Wärter der gedachten Anstalt rekognoszierte dann: den
angeblichen Warz als Rödger.
Hinterher stellte sich heraus, daß, als Rödger in Erfurt
das Schuhmacherhandwerk erlernte, in derselben Werkstelle
ein Geselle Warz aus Nöda arbeitete.
Später war Rödger in religiösen Wahnsinn verfallen
und durch Erkenntnis vom 9. Dezember 1856 für blödsinnig
erklärt worden. Jetzt wurde die Voruntersuchung ge-
schlossen, Rödger nach Alt-Scherbitz zurückgebracht.
‚Die Täterschaft :des Rödger, des angeblichen Warz,
war über allen Zweifel erhaben, wegen seiner Unzurech-
nungsfähigkeit wurde er aber außer Verfolgung gesetzt.
Eine Ladenschwindlerin.
Von
Kriminalinspektor Hinsch, Hamburg.
Im Sommer des Jahres 1904 erschien in den ver-
schiedensten Damenkonfektions-, Weißwaren-, Goldwaren-,
Schuhwaren-, Konfitüren-und anderen Geschäften Hamburgs
eine junge Dame, die sich einige Male als Frau Dr. W.,
dann als Frau Dr. T., Frau Dr. G., Frau Dr. R. und auch
unter anderen Namen vorstellte. Sie kaufte eine größere
Partie Waren oder einen teuren Schmuck und bat, diese
Sachen mit der quittierten Rechnung ihr am nächsten Tage
in ihre Wohnung zu senden. Unter der angegebenen Adresse
wohnte in den meisten Fällen auch eine Person gleichen
Namens, die aber von dem Einkauf nichts wußte; oder:der
Name existierte in der bezeichneten Wohnung überhaupt
nicht. Gleichzeitig kaufte die „Frau Dr.“ noch einen minder
wertvollen Gegenstand, z. B. einen goldenen Ring, eiù Paar
Damenschuhe, einen Kostümrock, ein Quantum Konfitüren,
eine Bluse, einen Schirm oder ähnliche Sachen, die sie
gleich mitnehmen wollte, deren Preis sie aber mit auf die
Rechnung zu setzen bat. In den meisten Fällen glückte
die List, denn die Schwindlerin schädigte auf diese Weise
23 Geschäfte, während es in 8 Geschäften, die durch Er-
fahrungen gewitzigt, vorsichtiger waren und dem Verlangen
auf Mitgabe der gekauften Ware moni on, ' þei
einem Versuche blieb.
Die Täterin wurde überall- ie eine , Petson von mitt-
lerer Statur, im Alter von annähernd 30 Jahren, mit röt-
288 Hinsch.
lichem Haar, länglich spitzem Gesicht u. sog. Karpfenmund
beschrieben. Sie zeigte ein sicheres und gewandtes Auf-
treten und erklärte bei Nennung ihres Namens fast immer,
da sie ja als die bezeichnete Frau Dr. dort nicht bekannt
sei, daß bisher ihr Mann die Einkäufe dort besorgt habe,
zurzeit aber durch Abwesenheit, Krankheit oder Geschäfts-
überbürdung verhindert sei.
Fast täglich wurde ein Betrugsfall der beschriebenen
Art der Kriminalpolizei angezeigt; an einigen Tagen waren
sogar zwei und mehrere Fälle verübt, so daß die Behörde zu
besonderen Maßnahmen veranlaßt wurde und Beamte mit
den speziellen Nachforschungen beauftragte. Diesen gelang
es auch bald, die Schwindlerin in der Person des 20,jäh-
rigen Hausfräuleins St. aus H. in einem Straßenbahnwagen
zu ermitteln und festzunehmen. Auf direkten Vorhalt ge-
stand sie auch sofort die ihr zur Last gelegten Straftaten
ein, bemerkte aber dabei, daß sie nicht imstande sei, die
Anzahl der Betrügereien anzugeben und die einzelnen
Geschäfte, zu deren Nachteil sie gehandelt habe, zu
nennen. Die erschwindelten Sachen habe sie teils in
ihrem Logis und bei ihren Eltern oder sonstigen Verwandten
untergebracht, ohne diesen die Sachen zu zeigen oder ihnen
über die Herkunft derselben wahrheitsgetreue Angaben zu
machen. Bei ihrer nach geschehener Vernehmung erfolgten
Abführung in den Arrest nahm sie diese Angaben dahin.
zurück, daß bei ihren Eltern keine ertrogenen Gegenstände
untergebracht seien, sondern nur bei anderen Verwandten
und Bekannten. Einen Teil der Sachen habe sie auch an
Bekannte verschenkt oder auch selbst benutzt. Zu letzteren.
gehörten u. a. auch die von ihr bei der Festnahme ge-
tragenen Schuhe, eine an ihrem Körper gefundene Hand-
tasche und ein goldener Ring. =
Am Tage nach ihrer Festnahme dem Amtsgericht zu-
geführt, wiederholte sie bei ihrer dortigen Aussage die bei
der polizeilichen Vernehmung gemachten Angaben, denen
Eine Ladenschwindlerin. 289
sie noch solche über ihren Aufenthalt in den letzten Monaten
hinzufügte; sie gab weiter an, erst nach 14tägiger Abwesen-
heit am Tage ihrer Festnahme nach Hamburg zurückge-
kehrt zu sein. Als Entschuldigung für ihre Straftaten gab
sie dem Amtsrichter noch an, daß ihr bei der Hitze öfter
das Blut zu Kopfe steige und sie dann nicht recht wisse,
was sie tue, wie ihr auch der Arzt Dr. B., der sie vor
Jahren wegen dieses Leidens behandelt habe, bescheinigen
könne. Auf Grund des erlassenen amtsrichterlichen Haft-
befehls wurde die St. in Untersuchungshaft abgeführt, aus
der sie den Untersuchungsrichter um Haftentlassung bat.
Dieser Bitte fügte sie wörtlich hinzu: „Da ich meine getane
Handlung ja nicht in bösartiger Weise begangen habe,
sondern mein aufwallendes Blut mich zu dem sündigen
Schritt getrieben hat, denich ja auch sehr bereue und für
mein ferneres Leben ein stetes Mahnungszeichen sein und blei-
ben wird.“ Der Antrag auf Haftentlassung wurde abgelehnt,
Nachdem die Festnahme der Ladenschwindlerin durch
die Tagespresse zur allgemeinen Kenntnis gelangt war,
wurden noch mehrere der Polizeibehörde bisher nicht an-
gezeigte Betrugsfälle mitgeteilt.
Bei den gerichtlichen Vernehmungen bestritt sie ZU-
nächst eine Anzahl der ihr zur Last gelegten Betrugsfälle,
gab schließlich aber unter Tränen zu, auch diese verübt
zu haben. Sie wisse aber nicht mehr, welche Namen sie
in den einzelnen Fällen sich beigelegt habe. Diese habe
sie auch nicht dem Adreßbuch entnommen, sondern aufs
Geratewohl angegeben. Ihr Zweck sei in jedem Falle ge-
wesen, Sachen für sich gleich mitzubekommen, deshalb
habe sie die großen Bestellungen gemacht. Die in die
von ihr angegebenen Wohnungen bestellten Waren zu er-
langen, habe sie in keinem Falle beabsichtigt. Die er-
schwindelten Sachen habe sie nicht weiter verkaufen, sondern
für sich behalten wollen. Nur in wenigen Fällen habe sie
die Sachen verschenkt.
Der Pitaval der Gegenwart. II. 21
290 . Hinsch,
Zum Hauptverhandlungstermin wurde der Arzt Dr. B.
als Sachverständiger geladen, der auf Grund $ 81 StPO.
beantragte, die Angeklagte zur Beobachtung ihres Geistes-
zustandes in eine Öffentliche Irrenanstalt zu bringen, da
ihm von der Angeklagten Fälle bekannt seien, die an ihrer
Zurechnungfähigkeit Zweifel aufkommen ließen.
Die Angeschuldigte hatte nämlich im Jahre 1901,
17 Jahre alt, Betrügereien gleicher Art, aber nur in einigen
Fällen, verübt und es hierbei hauptsächlich auf Näschereien,
wie Schokolade, abgesehen, in einem Falle sich aber auch
Puder, Puderguaste u. ähnl. Sachen erschwindelt; Gegen-
stände, die zur Befriedigung ihrer beginnenden Eitelkeit
dienen sollten. Im vorliegenden Falle war, wie an anderer
Stelle näher ausgeführt ist, dieselbe Eitelkeit die Trieb-
feder ihrer Handlungen.
Um dem der Angeklagten auf ihren Antrag gestellten
Verteidiger Gelegenheit zu geben, sich über diesen Antrag
des Sachverständigen zu äußern, wurde die Verhandlung
ausgesetzt. Der Antrag des Verteidigers ging im Einver-
ständnis mit der Angeklagten dahin, diese in einer Irren-
anstalt auf ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen. Auch
er, der Verteidiger, habe bei der Unterredung mit der Ge-
fangenen das Empfinden gehabt, daß sie tatsächlich geistes-
krank sei. Diesem Antrage entsprach ein Gerichtsbeschluß,
worauf die Angeklagte der Irrenanstalt Friedrichsberg,
die um ein Gutachten auf Grund $ 51 StGB. ersucht
wurde, zugeführt wurde.
Inzwischen ging noch eine Mitteilung des Verteidigers
ein, in welcher behauptet wurde, daß die St. von mütter-
licher Seite her erblich belastet sei, da in der Familie
ihrer verstorbenen Mutter mehrfach Fälle von Epilepsie
vorgekommen seien.
Nach Beendigung der sechswöchigen Beobachtungs-
zeit kam der Oberarzt der Irrenanstalt unterm 21. Novem-
ber 1904 zu folgendem Gutachten: „Die sechswöchige Be-
Eine Ladenschwindlerin. 291
obachtung der St. hat ergeben, daß es sich um eine Kranke
handelt, die an Hysterie leidet. Dafür sprechen einerseits
gewisse körperliche Befunde, andererseits auf seelischem
Gebiete ihre Unaufrichtigkeit, die Unfähigkeit, für ihre
Handlungen verständige Motive anzugeben, die Neigung,
von 'sich auffallende Sachen zu erfinden und sich sonst
interessant zu machen. Es fragt sich nun, ob die Hysterie
einen solchen Grad erreicht oder solche Form angenommen
hat, daß die Bedingungen des $ 51 StGB. gegeben sind.
Nun würden allerdings die während des Aufenthalts in
der Irrenanstalt beobachteten Störungen an sich nicht ge-
nügen, um bei der Angeklagten die strafrechtliche Ver-
antwortung auszuschließen. Wenn wir aber die in der
Vorgeschichte niedergelegten Berichte der Verwandten und
Dienstherrschaften, welche nicht nur das geistige Bild der
St. passend vervöllständigen, sondern auch sich einander
gut ergänzen und in diesem Falle von entscheidender
Wichtigkeit sind, berücksichtigen, müssen wir annehmen,
daß das Seelenleben der Angeklagten derart vom normalen
abweicht, daß sie für die begangenen Straftaten nicht ver-
antwortlich gemacht werden kann.“
Aus der oben bezeichneten Vorgeschichte und den
während der Beobachtungszeit von den Ärzten gemachten
Wahrnehmungen bleibt noch das Folgende als erwähnens-
wert anzuführen.
Die Angeklagte stammt aus einer Familie, die psycho-
pathisch ziemlich schwer belastet ist. Der Vater der St. —
ein Lehrer — hat darüber folgende Angaben gemacht:
Der Bruder seiner verstorbenen Mutter sei im Jahre 1886
in der Irrenanstalt zu Hildesheim gestorben, habe seit dem
16. Lebensjahre an Krampfanfällen gelitten, habe sich
zeitweise immer um sich selbst gedreht. Die Schwester
seiner verstorbenen Frau habe viele Jahre epileptische -
Anfälle gehabt, sei dann jedoch wieder besser geworden.
Ein Bruder des erstgenannten sowie der Großvater seiner
21 *
292 E :
verstorbenen Frau wären von demselben Leiden heimge-
sucht gewesen, ersterer nur in der Jugend. Die Mutter
der Angeklagten habe nur an periodisch wiederkehrenden
Kopfschmerzen gelitten, sei leicht erregbar, sonst aber ge-
sund gewesen. Sie machte in hochschwangerem Zustande
einen Fehltritt und so kam es, daß die St. als Sieben-
monatskind zur Welt kam. Der die Geburt leitende Arzt
soll wiederholt seine Verwunderung darüber ausgesprochen
haben, daß das Kind überhaupt noch lebensfähig sei. Daß
die Angeklagte von Haus aus abnorm veranlagt sei, habe
sich‘, nach Angabe des Vaters und des Onkels L., bereits
in frühester Jugend bemerkbar gemacht. Sie sei ganz
unberechenbar, bald freundlich, bald abstoßend in raschem
Wechsel, dazu intrigant und im höchsten Grade ` von sich
eingenommen gewesen.
: Als vierjähriges Kind soll sie es bereits verstanden
haben, ihren Vater gegen ihre leibliche Mutter einzu-
nehmen, um sich auf diese Weise um wohlverdiente Strafe
zu drücken. Als sie im Alter von neun Jahren ihre
Mutter verlor, fiel es allgemein auf, daß ihr der Tod der-
selben völlig gleichgültig war. An dem darauf folgenden
Weihnachten kam sie zu ihrer Tante zu Besuch und fing
dort plötzlich an furchtbar zu weinen, sodaß diese glaubte,
sie sei über den Tod der Mutter betrübt. Wie sich jedoch
bald herausstellte, hatte sie die Befürchtung, deswegen
kein Weihnachtsgeschenk zu erhalten. Ihre Erziehung
lag in der nächsten Zeit bald bei der Haushälterin, bald
bei der schon erwähnten Tante, Frau L. Diese soll dem
heranwachsenden Mädchen erzählt haben, es sei von der
Mutter viel Vermögen da, und so dem Mädchen hoch-
mütige Dinge in den Kopf gesetzt haben.
Die’, St. hat als Kind an eigentlichen Krankheiten
- Keuchhusten, Masern und Scharlach durchgemacht. In
der Schule konnte sie gut behalten und bekam gute Zeug-
nisse. Im Gegensatz zu so vielen anderen Schulmädchen
Eine Ladenschwindlerin. 293
gelang es ihr jedoch nie recht, mit ihren Kameradinnen
intime Freundschaften zu schließen. Daß bereits in der
Kindheit eine krankhafte Neigung vorhanden war, die
Unwahrheit zu reden und Erfindungen zu machen, be-
weist folgende vom Vater mitgeteilte und von der Ange-
klagten zugestandene Geschichte: Sie ging eines Tages —
sie war etwa zehn Jahre alt — zu ihrer Tante und be-
schwerte sich bei derselben über die Haushälterin ihres
Vaters, sie bekäme nicht einmal einen „Rumpf“ an. Die
Tante, die sie daraufhin untersuchte, konnte auch keinen
finden, da sie denselben ausgezogen und im Bette ver-
steckt hatte. Sie verstand es auch trotz ihrer Jugend,
wie ihr Onkel noch berichtet, durch Intrigen eine ihr un-
sympathische Haushälterin bald aus dem Hause zu bringen,
da sie auf ihren Vater immer einen großen Einfluß ausübte.
Dieser verheiratete sich wieder. War sie schon vorher oft
launisch und unverträglich gewesen, so war sie es jetzt
noch mehr und besonders der Stiefmutter gegenüber. Wie
diese, die eine recht verständige und ordentliche Frau ist,
erklärte, konnte die Tochter zeitweise wieder ungemein
liebenswürdig sein, sodaß der schlechte Eindruck der
früheren Szenen bald verwischt wurde, besonders da sie
auch im Hausstand tüchtig mit helfen konnte. Gegen ihre
Stiefgeschwister hat sie eine ganz besondere Abneigung
gehabt. Wie die Angeklagte jetzt glaubt, liegt es daran,
daß sie überhaupt keine Kinder leiden könne. Sie freute
sich, wenn dieselben Prügel bekamen, schlug und stieß sie
auch gern selber. Ihre Schwester, äußerte sie einmal,
wolle sie zum Fenster hinauswerfen, mit der Begründung,
sie wolle keine Schwester haben.
Dem Onkel L. gegenüber hat sie sich direkt un-
sympathisch und auffallend verschlossen gezeigt. Sie ist
leicht ärgerlich und übelnehmend gewesen, hat häufig
keine Antworten geben wollen‘ Als Mittel dagegen hat
man sie einfach auf den Balkon gestellt, darauf ist sie
294 Hinsch.
wieder zugänglich geworden. Früh zeigte sich das be-
denkliche Zeichen, daß sie höher hinauswollte, als ihr zu-
kam, wozu wohl die bereits oben erwähnten Aufschnei-
dereien ihrer Tante, daß sie von reicher Herkunft sei,
beigetragen haben mögen. Bei ihrer Konfirmation gefragt,
was sie werden wolle, meinte sie, sie möchte sich am
liebsten immer bedienen lassen. Schneidern wollte sie
schon lernen, aber nur für sich, nicht um Geld damit zu
verdienen.
Etwa mit dem 16. Lebensjahre war sie zuerst men-
struiert. Die Menses scheinen bei ihr nie ganz normal ge-
wesen zu sein. Die letzten Tage vor dem Unwohlsein
war sie ganz besonders unausstehlich. Wenn ihre Stief-
mutter sich nach ihrem Befinden erkundigen wollte, ver-
weigerte sie jede Auskunft darüber. Häufig litt sie an
aufsteigender Hitze mit Flimmern vor den Augen, zu-
weilen, wie sie selbst angibt, sei ihr dabei schwarz vor
den Augen geworden. Diese Attacken haben sich bis
jetzt nicht verloren. Sie pflegte dann die Wohnung zu.
verlassen und sich so lange draußen zu ergehen, bis der
Zustand vorüber war. Mit ihrer Stiefmutter hatte sie alle
Augenblicke Differenzen. Besonders machte sich der un-
angenehme Zug bemerkbar, durch Erfindungen Uneinig-
keiten zwischen ihren Eltern hervorzurufen; sie freute sich
dann immer, wenn sie dabei Erfolg hatte. Schließlich hielt
man es für geeignet, sie in Stellung zu bringen. Nach-
dem sie bei zwei Herrschaften je eine kurze Zeit war,
kam sie als Kinderfräulein zu einer Familie S., wo sie
etwa drei Monate war. Das Zeugnis, welches man ihr
hier ausstellte, war wenig schmeichelhaft: sie sei lügen-
haft und gebrauche gegen die Kinder schlechte Ausdrücke.
Von ihren Eltern hatte sie allerlei unhaltbare und phan-
tastische Angaben gemacht: sie lebten unglücklich, des-
halb könne sie nicht zu Hause bleiben, jede Woche sei
bei denselben Gesellschaft, mehrere Dienstboten würden
Eine Ladenschwindlerin. 295
gehalten, sie selbst sei im Theater abonniert, müsse des-
wegen abends fort. Bei Besuchen zu Hause erzählte sie
andere Dinge: sie sei mit einem Lehrer bekannt, abends
habe sie mit ihm Champagner getrunken, er wolle sie
heiraten, hole sie unten ab usw. Die Stiefmutter, die be-
greiflicherweise darüber in Bestürzung geriet, suchte der
Sache auf den Grund zu kommen, ging ihrer Tochter
nach, konnte jedoch nichts von ihrer Herrenbekanntschaft
entdecken. Nach langem Fragen und vielen Ermahnungen
mußte sie denn endlich auch zugeben, daß die Sache nicht
wahr sei.
Daß die Angeklagte in dieser Zeit auch Dinge ge-
macht hatte, die noch viel schlimmer waren und durch die
sie mit der Krimininalpolizei in Konflikt kam, wurde den
Eltern bald darauf klar, als sie bei einer Frau H. eine
neue Stelle angetreten hatte und plötzlich polizeilich sistiert
wurde. Sie hatte als jetzt 17jähriges Mädchen bei einem
Fruchthändler für einen Dr. M. zehn Pfund Eßbirnen,
fünf Pfund Äpfel und fünf Pfund Feigen, zusammen für
Mk. 9,90 bestellt und verlangt, daß die Sachen hinge-
schickt würden, für sich aber ein Pfund Feigen im Werte
von 60 Pf. gleich mitgenommen. Wie diese Waren, kam
auch eine Partie Konditoreiwaren, die sie an denselben
Herrn hatte gelangen lassen, als nicht bestellt zurück. Die
Angeklagte beschränkte sich aber hierauf nicht. Am Weih-
nachtsabend bestellte sie auch für Dr. M. bei einem Dro-
genhändler einen Soxhletapparat und ein Pfund Verband-
watte; für 50 Pfennige Puder, eine Puderdose und eine
Quaste nahm sie gleich mit. Einige Wochen später war sie
plötzlich die Tochter des Dr. M. und bestellte für diesen
in einer Konditorei eine Marzipantorte. Gekaufte Ware
hat sie dort nicht mitgenommen; ob sie heimlich etwas
von den Tellern genommen hat, ist nicht festgestellt wor-
den. Ähnliche Bestellangen hatte sie auch in anderen
Konditoreien gemacht. Auch auf den Namen eines Kauf-
296 Hinsch.
-~ mannes und eines Schankwirtes machte sie Bestellungen
und hatte eine Düte Datteln gleich mitbekommen. Wie
planlos sie handelte, erhellt daraus, daß sie in dem Laden
einer Frau, trotz der Anwesenheit der Tochter, die sie
genau kannte, fingierte Bestellungen machte, um für 40 Pf.
Kuchen gleich mitnehmen zu können. Bei einem andern
Konditor war während ihrer Bestellung dessen Sohn, mit
dem sie zusammen in die Schule gegangen war, und den
sie auch kennen mußte, anwesend.
Bei ihrer zu dieser Zeit (Anfang des J ahres 1901)
erfolgten Sistierung machte sie die Angabe: „Mein Vater
hat mich erst vor einigen Tagen durch einen Arzt unter-
suchen lassen, der geraten hat, mich in eine Anstalt zu
verbringen. Ich bin zeitweise geistig gestört.“ Da die
Angeklagte den Eindruck einer geistig nicht ganz norma-
len Person machte, wurde von ihrer Festnahme Abstand
genommen und sie ihren Eltern zugeführt. Der Vater hat
dann erklärt, daß die Menstruation sich bei seiner Tochter
seit 11/4 Jahren nicht wieder eingestellt habe, und sie
seit jener Zeit zeitweilig mit ihren Gedanken abwesend
sei und allerlei besorgniserregende Redensarten führe. Er
habe sie von dem Arzt Dr. B. untersuchen lassen, der
ihm erklärt habe, daß seine Tochter für die in ihrem
Wahne ausgeführten Taten nicht verantwortlich zu machen
sei und daß es am zweckmäßigsten sei, sie in einer An-
stalt unterzubringen.
Dr. B. hat bei seiner Vernehmung diese Angabe mit
dem Bemerken bestätigt, daß er die St. für hochgradig
hysterisch halte,
Wie noch bekannt geworden ist, hatte die Angeklagte
damals für eine bekannte Frau einen Perlenkranz bestellt,
für sich bei dieser Gelegenheit einen Blumenstrauß für
50 Pf. entnommen. An einer anderen Stelle hatte sie eine
Torte bestellt und für sich ein Stück Kuchen im Werte
von 30 Pf. gleich mitgenommen, welches sie nachher auf
Eine Ladenschwindlerin. 297
‚der Straße weggeworfen hatte. Hunger konnte sie nicht haben,
da sie kurz zuvor vom Abendessen aufgestanden war.
Einige Monate blieb die St. dann im elterlichen Hause.
In diese Zeit fällt folgende, eigenartige Handlung: Eines
Tages war sie wegen ihres unreinen Teints zum Arzt ge-
schickt worden. Bei ihrer Rückkehr zeigte sich, daß sie
von ihrem Paletot einen Knopf verloren hatte. Fortge-
sandt, diesen zu suchen, ging sie zu einem in demselben
Hause wohnhaften Grünwarenhändler und bestellte hier
für ihre Mutter 20 Liter Rosenkohl, wobei sie die Be-
merkung machte, ihre Eltern hätten am nächsten Tage
große Gesellschaft. Für sich entnahm sie nichts. Als Be-
weggrund für ihre sonderbare Handlung gab sie an, es
wären junge Leute auf der Treppe gewesen und, um sich
von ihnen nicht sehen zu lassen, sei sie in den Laden
geflüchtet. | |
In nächster Zeit trat sie in dem benachbarten B. bei
einem Gastwirt in den Dienst, den sie ein ganzes Jahr
zur Zufriedenheit ihrer Herrschaft verrichtet hat. Symp-
tome von Geisteskrankheit sind an der St. nicht hervor-
getreten. Dagegen fiel den Eltern auf, daß die Tochter
die Neigung zeigte, die große Dame zu spielen. Wenn
sie nach Hause zu Besuch kam, mußte sie immer in der
zweiten Klasse der Eisenbahn fahren. Ihre Kleider ver-
kaufte sie, offenbar, weil sie ihr nicht gut genug waren,
an das Nebenmädchen. Ihrer Stiefmutter gegenüber be-
hauptete sie jedoch, sie habe die Sachen! garnicht bekom-
men. Erst nach langen Ermahnungen gab sie schließlich zu,
die Unwahrheit gesagt zu haben. Bedenklich erschien den
Eltern, daß sie wieder anfing, von Herrenbekanntschaften
zu renommieren, die sie gemacht haben wollte. Bald
war es ein Doktor, bald ein Villenbesitzer in O., bald ein
Realschullehrer in A., der Heiratsabsichten gezeigt hätte.
Nachforschungen ergaben immer, daß an diesen Behaup-
tungen nichts Wahres war.
298 Hinsch.
Die Angeklagte hat in der Folgezeit noch verschie.
dene Stellungen bald kürzere, bald längere Zeit bekleidet,
ohne daß aus jener Zeit etwas Besonderes bekannt ge-
worden ist. | 4
Von erwähnenswerter Bedeutung jedoch ist ihr Auf-
enthalt in S. bei der Familie H., wo sie über ein Jahr
lang als sog. Stütze gewesen ist. Anfänglich scheint sie
sich dort gut geführt zu haben, dann verfiel sie wieder auf
merkwürdige Dinge. Auf den Namen ihrer Herrin ent-
nahm sie deren Geschäfte eine Unmenge Band, Spitzen,
ein halbes Dutzend Broschen im Werte von 50—60 Pf.
obwohl sie goldene besaß, Kindertaschentücher, obwohl
sie reichlich Wäsche mitbekommen hatte. Ihr Vater, dem
diese Vorfälle mitgeteilt wurden, bezahlte den Betrag.
Seine Tochter mußte den Dienst jedoch sofort verlassen.
Um die Entwendungen zu ermöglichen, hatte sie sich
in ein Lügengewebe verwickelt und auch den anderen
Dienstboten über ihre Person unglaubliche Sachen er-
zählt. Wenn die Dienstherrin auch bis zum Bekannt-
werden der Unredlichkeiten die St. für eine normale Per-
son gehalten hatte, so kamen ihr doch nachträglich Be-
denken an der Geistesklarheit derselben, eben weil sie auch
Gegenstände an sich gebracht hatte, die nahezu wertlos
waren. Die Angeklagte hatte auch im Hause dieser
Dienstherrin von einem Arzt erzählt, der ihr Cousin sei
und der sie am kommenden Ostern heiraten wolle. Sie
hat von ihrer eleganten Aussteuer, die schon angefertigt
würde, und dergleichen mehr gesprochen. Sie hat, was
ihre Person anbelangt, immer in höheren Regionen ge-
schwebt, daneben aber auch hier ihre Arbeiten zur vollsten
Zufriedenheit und mit großer Akkuratesse erledigt.
Nachdem sie aus dem Dienst der Familie H. entlassen
war, kehrte sie in das elterliche Haus zurück. Ihr Vater
aber wies sie aus dem Hause und sie fand bei ihrem
Onkel L. Unterkunft, der sie in die Kochlehre brachte.
Eine Ladenschwindlerin. 299
In diese Zeit fallen die eingangs dargestellten Eigentums-
vergehen.
Von ihrem Onkel wurde sie nach dessen Angabe reichlich
mit Geld versehen und gab ihm gegenüber die Erklärung ab,
daß sie kein Geld von ihm benötige, so viel, wie sie ge-
brauche, bekomme sie schon. Als der Onkel ihr einmal einen
neuen Hut kaufen wollte, lehnte sie ihn ab und sagte, sie
bekäme schon einen; eine ihr bekannte Dame sei Direktrice,
die würde ihr für das Essen, das sie ihr bringe, schon
einen Hut schenken. Auf welche Weise sie sich jedoch
in den Besitz der Gegenstände, die sie haben wollte, zu
setzen wußte, ist oben schon erwähnt.
Die Dame, bei der sie das Kochen erlernte, wurde
durch allerlei Erzählungen der St. in Erstaunen versetzt.
Zunächst schwärzte sie ihre Stiefmutter an; zu derselben,
die sehr reich sei und immer in den feinsten Toiletten
ginge, von denen sie detaillierte Beschreibungen machte,
kämen immer Leutnants. Sie erzählte ferner von einem
Dr. M., der sie heiraten wolle; vorher wolle sie eine Bade-
reise nggh Wiesbaden machen. Einmal meinte sie, als sie
ausgehen wollte, Dr. M. sei ganz überraschend ange-
kommen, hätte depeschiert, er käme von Amerika. Damit
es nicht auffiel, daß nie Briefe von ihm ankamen, erzählte
sie, daß diese der Tante geschickt würden; bei dieser sind
aber nie Briefe eingetroffen. Sie renommierte, daß ihr
Onkel schwer reich sei und bereits ein Haus in Wands-
bek gekauft habe, in dem sie nach ihrer Verheiratung
mit Dr. M. wohnen solle. Von ihren Eltern sprach sie
hier nie anders als von dem „Herrn Papa“ und der „Frau
Mama“. Dem Dienstmädchen schenkte sie Kleider und
einen Ring; die Kleider könne sie nicht mehr brauchen,
da dieselben für eine zukünftige Frau Dr. M. nicht mehr
gut genug seien. Zuweilen brachte sie Kuchen und
Schokolade mit; dann gab sie an, sie habe es von ihrem
Schwiegervater, den sie in der Straßenbahn getroffen, ge-
300 Hinsch.
schenkt erhalten. Für die Badereise habe sie sechs seidene
Unterhemden bekommen. Man zweifelte nicht an der
Richtigkeit ihrer Angaben, da sie auch ihren Onkel als
schwerreichen Mann hingestellt hatte.
Nach etwa sechs Monaten verließ sie die Kochlehre
und erzählte über diesen Abgang einen ganzen Roman.
Ihre Dienstherrin habe ihr Geschäft verkauft, weil sie das
Pensionat ihres in B. plötzlich verstorbenen Bruders habe
übernehmen müssen. Ihr hiesiges Geschäft habe sie an
einen Kellner im Zoologischen Garten verkauft. Alle diese
Angaben waren erfunden. Da ıhr Onkel L. und ihre Tante
verreist waren, ging sie zu einer in K. wohnenden Tante,
die sie dadurch in Erstaunen setzte, daß sie sich die Augen-
brauen mit schwarzer Farbe verstärkte mit der Begrün-
dung, in der Großstadt täte das jede Dame. Auch erzählte
sie hier von ihrer Verlobung mit einem Villenbesitzer in O.
Einmal nahm sie ein Kuvert, versah es mit der Adresse
des Villenbesitzers und sagte, sie wolle den Brief zur Post
bringen. Am andern Morgen fand die Tante jedoch, daß
der Brief noch im Morgenrock steckte und daß darin
stand: „Liebes Malchen, Onkel und Tante Lene geht es
in V. sehr gut.“ Nach diesen Vorkommnissen meinte
die Tante in K., daß es mit ihrer Nichte wohl nicht ganz
richtig sei. Diese kehrte dann auch nach Hamburg in die
noch leerstehende Wohnung ihres Onkels zurück, um ihre
Koffer zu packen und in B. einen neuen Dienst zu über-
nehmen. Hierzu kam es aber nicht, denn inzwischen er-
folgte ihre Festnahme.
Die körperliche Untersuchung der St. in der Irren-
anstalt hat nur wenig Bemerkenswertes ergeben. Die
Kniesehnenphänomene und die Achillessehnenreflexe waren
leicht hervorzurufen. Auch die Fußsohlenreflexe waren
lebhaft. Die Berührung eines Stecknadelkopfes konnte
als solche am ganzen Körper empfunden werden, dagegen
war die Schmerzempfindlichkeit im ganzen herabgesetzt,
Eine Ladenschwindlerin. 301
in mehreren größeren Bezirken vällig aufgehoben, ein in
diesem Falle besonders wichtiger Befund. Auf Fragen
gab die St. prompte und sinngemäße Auskunft. Ortlich
und zeitlich war sie gut orientiert. Ihre Stimmung war
im allgemeinen mehr heiter als gedrückt. Um ihre Zu-
kunft schien sie sich nicht viel Sorgen zu machen. In
ihrem auf Aufforderung in der Irrenanstalt geschriebenen
Lebenslauf trat eine ganz gute Beherrschung des Stiles
und der Orthographie hervor, der Inhalt war jedoch teil-
weise unwahr und entsprach nicht den Tatsachen, ver-
schwieg auch einen Teil der oben angeführten Dinge. Vor
allem hatte die Angeklagte alles weggelassen, was ein un-
günstiges Licht auf ihren geistigen Zustand werfen könnte.
Hier sei gleich bemerkt, daß sie bei einer Intelligenz-
prüfung sich anfangs etwas dumm stellte, aber auf ener-
gische Mahnung hin weitere derartige Versuche unterließ,
sonst jedoch nicht nur nicht irgend welche psychische
Krankheitssymptome simulierte, sondern im Gegenteil sich
möglichst normal hinstellte und für ihre abnormen Hand-
lungenals Erklärung sich halbwegs plausible, aber bei näherer
Betrachtung nicht stichbaltige Gründe zurechtkonstruierte.
Bei der ersten Intelligenzprüfung machte sie, wie be-
reits erwähnt, den Versuch, sich dumm zu stellen, indem
sie einige ganz einfache Rechenaufgaben, wie: 7 mal 9,
8 mal 9, 101 weniger 10, 17 und 11 und 18, nicht richtig
löste. Auf andere Rechenaufgaben und auf Fragen in
der Geographie und Weltgeschichte wurden größtenteils
richtige Antworten gegeben.
Bei der Fortsetzung der Intelligenzprüfung an einem
anderen Tage fing die Angeklagte plötzlich an zu weinen
und äußerte unter Tränen: „Das hat überhaupt keinen
Zweck, daß Sie mich so ausfragen. Schuld habe ich ja doch
und verrückt bin ich ja doch nicht. Und meine Ver-
wandten können Ihnen auch nur sagen, daß ich Schuld
habe. Es ist viel besser, ich kriege meine Strafe.“
302 Hinsch.
Gleich darauf fing sie wieder an zu weinen und
meinte: „Das hat ja keinen Zweck, es ist besser, ich gehe
aus Hamburg. Es wissen’s ja alle, es hat ja in der Zei-
tung gestanden. Zu meinem Vater darf ich nicht wieder
kommen, ehe ich mich nicht gebessert habe. Das ist
alles durch meinen Hochmut gekommen. Wenn Sie zu
meinen Verwandten gehen, nützt es auch nichts, dann
ärgern sie sich wieder und sie nehmen mich doch nicht
wieder. Meine Mutter hat schon früher immer zu mir ge-
sagt‘ Dein Hochmut wird Dich noch einmal zu Fall
bringen‘.“
Auf die Frage, wie sich dieser Hochmut gezeigt, er-
folgte “die Antwort: „Die Leute, die ich nicht mochte,
habe ich immer von links angesehen und dann mochte
ich immer dies und jenes haben.“
Bei ihren Arbeiten in der Nähstube der Irrenanstalt
war sie ganz fleißig. Ihre Stimmung war auch in der
nächsten Zeit eine ziemlich indifferente, häufig jedoch eine
sorglosere, als man erwarten sollte. Hin und wieder
wollte sie wieder das Hitzegefühl gehabt haben. Ein
paar Tage im Anfange der Beobachtungszeit klagte sie
über Halsschmerzen, ohne daß sie fieberte und die Be-
sichtigung einen deutlichen Befund erkennen ließ. Ein
andermal hatte sie Reißen im Kopf; das habe sie sich,
gab sie an, früher mit Kampferspiritus vertrieben.
Während ihres Aufenthalts in der Irrenanstalt fand
ein Ball für die Kranken statt und die Angeklagte bekam
die Erlaubnis, denselben mitzumachen. Sie war auf dem
Balle in vergnügter Stimmung und verfehlte keinen Tanz.
Sie äußerte: „Wenn mich kein Herr auffordert, dann
tanze ich als Herr und hole mir eine Dame.“ „Es wäre
nachher schön* — fügte sie hinzu, — „noch ein bischen
am Jungfernstieg zu spazieren und im Alsterpavillon zu
speisen.“ Sie sei dreimal in der Woche zu Ball gewesen.
Sie wolle gern etwas schlanker werden, das sei viel feiner.
Eine Ladenschwindlerin. 303
. Bei einer späteren Prüfung in der Anstalt gab sie an,
daß sie bei ihren Heiratsgedanken gar keine bestimmte
Person im Auge gehabt habe. Einmal erklärte sie, daß
der hypothetische Bräutigam Jurist sei, und das andere
Mal, er sei Arzt. Sie wisse übrigens recht gut, daß ein
Arzt sie nicht heiraten könne. Daß sie von ihrer Heirat
mit,Dr. M. erzählt habe, bezeichnet sie als ein Zeichen
ihrer „Hochmütigkeit“, die daher rühre, daß ihre Tante
ihr immer so viel erzählt habe, u. a. auch, daß, wenn ihre
Mutter leben geblieben wäre, ihr jeder Wunsch erfüllt
worden wäre.
Stimmen will sie nie gehört, auch nie Sinnestäuschungen
gehabt haben, alles sei nur „Einfall“.
In der ersten Zeit war die Angeklagte dem Wärter-
personal gegenüber verschlossen, legte diese Scheu aber
später ab, hauptsächlich der einen Wärterin gegenüber und
renommierte mit ihrem reichen Großvater; derselbe habe
viel Dienstpersonal, sie sei dessen alleinige Erbin. Sie
hoffe auf einen Besuch von Dr. M., denn daß derselbe
alles Vorgefallene wisse, stehe doch fest. Sie habe schon
mehrfach Verkehr gehabt. Als sie 16 Jahre alt war, habe
sie die Bekanntschaft eines Lehrers gehabt, weicher jetzt
das Oberlehrerexamen bestanden habe. Der Verkehr sei
nach einem Jahre wieder aufgehoben worden, da sie un-
angenehme Erfahrungen über seinen Lebenswandel ge-
macht habe. In S. habe ein Gutsbesitzerssohn, der später
alles erbe, um sie angehalten; sie sei auch mehrere Male
mit ihm zu Balle gewesen, aber etwas recht Passendes
sei es nicht gewesen. Jetzt verkehre sie seit einiger Zeit
mit Dr. M., sie habe ihn auf einer Verlobungsfeier kennen
gelernt, sie wolle ihn aber noch näher kennen lernen, bis
sie sich mit ihm verlobe.
Bei einer späteren Befragung durch den Irrenarzt über
ihr Verhältnis zu Dr. M. erklärte die St., daß sie nicht
wisse, was er sei, sie sei einmal mit ihm zusammen ge-
304 Hinsch.
wesen, unterhalten habe sie sich aber nicht direkt mit ihm;
sie habe ıhn auch einmal auf der Straße gesehen, aber
gegrüßt habe er nicht. Einen Grund für die Erzählung,
daß sie sich mit Dr M. verheiraten wolle, könne sie nicht
angeben, erzählt habe sie es aber.
| Nachdem sie dem Irrenarzt gegenüber erst längere
Zeit abgeleugnet hatte, gestand sie ihm schließlich unter
Tränen ein, die oben beschriebenen Renommistereien der
Wärterin gegenüber getan zu haben, und fügte hinzu:
„Mir kommt der Gedanke immer wieder.“
Nach Motiven für ihre strafbaren Handlungen gefragt,
konnte sie keine angeben; sie meinte, es falle ihr so ein,
und dann denke sie nicht weiter darüber nach. Nachher,
wenn es ihr jemand vorhielte, wüßte sie, daß sie Unrecht
getan habe. Bei weiterem Nachfragen fing sie stets an
zu weinen. Die traurige Stimmung, die durch diese Er-
innerungen verursacht war, machte immer schnell wieder
einer heiteren Miene Platz.
Erwähnt sei noch, daß die Angeklagte morgens recht
lange Zeit in ihrem großkarrierten Unterrock im Saal
herumstolzierte, damit, wie angenommen wird, ihn alle
Kranken ausreichend bewundern sollten.
Nunmehr fand, nachdem die Angeklagte nach der
sechswöchigen Beobachtungszeit in der Irrenanstalt in das
Untersuchungsgefängnis zurückversetzt war, ein neuer
Hauptverhandlungstermin statt, der zu dem‘ Beschluß
führte, daß die Sache auszusetzen und auf Grund des
$ 83 Abs. 3 StPO. das Gutachten einer Fachbehörde, des
Medizinalkollegiums, darüber einzuholen sei, ob gegen die
Angeklagte der $ 51 des StGB. in Anwendung zu kommen
habe.
In diesem Termine erklärte der Irrenarzt nach näherer
- Begründung, daß er nicht glaube, daß die Angeklagte
sich jedesmal eingebildet habe, daß sie die Person sei, für
die sie sich ausgab. Der ebenfalls als Sachverständiger
Eine Ladenschwindlerin. 305
vernommene Dr. B. war in seinem Urteil schwankend
und neigte mehr der Ansicht zu, daß die Voraussetzungen
des $ 51 StGB. nicht vorlägen, und daß er wohl auch
früher sich zu dieser Auffassung bekannt haben würde,
wenn er das gewußt, was er Jetzt erfahren habe.
Während der ganzen Zeit war die Verteidigung un-
ermüdlich in der Herbeischaffung von Entlastungsmaterial,
welches vorstehend mit verarbeitet ist.
Das gerichtlich beschlossene Obergutachten kam zu
einem anderen Resultat über den Geisteszustand der An-
geklagten als dasjenige des Irrenarztes, und hielt die St.
für z. Z. nicht geisteskrank und war der Ansicht, daß
kein hinreichender Grund zur Annahme vorliege, die
Angeklagte sei zur inkriminierten Zeit geisteskrank und
unzurechnungsfähig gewesen. Wenn auch ihre Hand-
lungen und eine Reihe ihrer Charaktereigenschaften durch
die Annahme eines hysterischen Zustandes bei der Ange-
klagten sich erklären ließen, so’ sei ein solcher Zustand
doch nicht ausreichend, um Geisteskrankheit gemäß $ 51
StGB. anzunehmen, da Erscheinungen dafür. fehlten, daß
sich bei der Angeklagten auf hysterischer Grundlage ein
Zustand von Geisteskrankheit (hysterisches Irresein) ent-
wickelt oder zeitweilig bestanden habe. Die Angaben
der Verwandten und Dienstherrschaften reichten nach An-
sicht der Gutachter nicht aus zu der Annahme, daß das
Seelenleben der Angeklagten derartig vom Normalen ab-
weiche, daß man bei derselben strafrechtliche Unverant-
wortlichkeit annehmen müsse.
In diesem Obergutachen wird auch des Näheren an-
geführt, daß es sich bei den strafbaren Handlungen im
Jahre 1901, als die St. auf Grund der Aussage des Arztes
Dr. B. außer Verfolgung gesetzt sei, um Dinge von ge-
ringem Geldwert gehandelt habe, die sie sich in Kon-
ditoreien für einige, Pfennige verschaffte, also um
Näschereien, die allerdings von einer jugendlichen Person
Der Pitaval der Gegenwart. II, 22
306 Hinsch.
gelegentlich sehr wert geschätzt würden, daneben aber
auch um Artikel zur Befriedigung der Eitelkeit, indem
sie sich bei einem Drogisten Puderguaste, Puderdose und
Puder erschwindelte. Bei den jetzt in Frage stehenden
Schwindeleien seien ihre Ansprüche höher gewesen;
diese seien auf Kleidungsstücke, Wäschegegenstände, also
Dinge gerichtet gewesen, die sie sehr wohl verwenden
konnte, daneben aber auch auf Schmucksachen. Das irren-
ärztliche Gutachten gehe dahin, daß die Angeklagte als
hysterisch krank zu bezeichnen sei, daß die während des
Aufenthaltes in der Irrenanstalt beobachteten Störungen
an sich nicht genügten, um bei der Angeklagten die
strafrechtliche Verantwortlichkeit auszuschließen. In dem
Schlußsatz des Gutachtens komme der Irrenarzt aber zu
dem Resultat, daß das Seelenleben der Angeklagten der-
artig vom Normalen abweiche, daß sie für die begangenen
Straftaten nicht verantwortlich gemacht werden könne.
Diese Auffassung hat der Gutachter auch im Gerichts-
termin vertreten. |
Wie bereits vorerwähnt, hatte Dr. B. seine frühere
Ansicht über den Geisteszustand der Angeklagten geändert.
Im Jahre 1901 hatte er nur ein sehr oberflächliches Urteil
geben können, was daraus hervorgeht, daß er die Ange-
klagte, welche ihm durch ihre Stiefmutter zugeführt wor-
den war, nur ein- oder zweimal gesehen hatte, und er bei
seiner damaligen polizeilichen Vernehmung trotz der Er-
klärung, er habe die volle Überzeugung von der Unzurech-
nungsfähigkeit der St., gleichzeitig empfahl, die Beschuldigte
von einem namhaft gemachten Irrenarzt untersuchen zu
lassen und daß er endlich ın der jetzigen Strafsache den
Antrag auf Beobachtung des Geisteszustandes der Ange-
klagten in der Irrenanstalt gestellt hatte.
Seit bald einem halben Jahre befand sich die St. bei
Erstattung des Obergutachtens bereits im Untersuchungs-
gefängnis, wo sie dem Aufsichtspersonal durch ihr Verhal-
Eine Ladenschwindlerin. 8307
ten niemals aufgefallen ist. Sie beschäftigte sich fleißig
mit Näharbeiten und Stickereien. Ein hysterisches Be-
nehmen ist dort nicht bemerkt worden. Auch bei den
Unterredungen, die der Referent des Obergutachtens mit
der Angeklagten gehabt hat, sind besonders markante
hysterische Züge nicht in die Erscheinung getreten.
Über ihren Lebensgang und ihr Verhältnis zu ihren
nächsten und den ferneren Angehörigen machte sie jetzt
folgende Angaben:
„Als meine Mutter starb, war ich neun Jahre alt;
von ihr wurde ich nicht verzogen, dagegen von meinem
Vater, insofern er mich immer in Schutz nahm, wenn ich
Strafe haben sollte. Er meinte immer, es sei wohl nicht
so schlimm. Ich war einziges Kind, stand meiner Mutter
sehr nahe, aber auch dem Vater. Wenn Mutter mir was
versagte, ging ich zum Vater hin, und umgekehrt. Ich
habe stets meinen Willen gekriegt, überhaupt bin ich zu
Hause verzogen. Als Kind hatte ich Verkehr mit den
Töchtern eines Lehrers, doch hatte meine Mutter nicht
gern ‚Besuch im Haune; später erzürnten sich auch die
Familien, und so kam es, daß ich keine Freundinnen hatte.
Ich war immer allein, mochte auch lieber allein sein. Nach
dem Tode meiner Mutter war ich zunächst vier Wochen bei
meiner TanteSt. in K., einer Schwester meiner Mutter, die mit
dem Bruder meines Vaters verheiratet ist. Nach zwei Jahren
verheiratete sich mein Vater wieder. In der Zwischenzeit
waren verschiedene Haushälterinnen bei meinem Vater und
ich war teils zu Haus, teils bei meiner Tante L., die ebenfalls
eine Schwester meiner Mutter und kinderlos ist. Diese
wollte mich gern für eigen annehmen, doch wollten dies
mein Onkel und mein Vater nicht. Nachdem mein Vater
wieder geheiratet, blieb ich dauernd zu Hause. Meine
Verwandten waren gegen die zweite Heirat und äußerten,
es werde nun ganz anders mit mir, ich bekäme eine
Stiefmutter. Sie legten gleich was in mich, daß ich sie
22*
308 Hinsch.
nicht leiden mochte. Ich habe meine Stiefmutter nie gerne
gehabt, schlecht war sie aber nie zu mir. Nach meiner
Konfirmation wollte ich gern die Lederpunzerei erlernen,
doch wollte es mein Vater nicht. Er meinte, ich solle
lieber zu Hause bleiben, weil ich sehr schwach sei. Ein
Jahr nach meiner Konfirmation war ich sechs bis sieben
Wochen in B. in Stellung als junges Mädchen im Haus-
halt, darauf wieder eine Zeitlang zu Hause und dann wie-
der in demselben Orte ein Jahr lang in einer Wirtschaft
tätig. Nach kurzem Aufenthalt bei den Eltern fand ich
Stellung in S. bei einem Brauerei- und Gutsbesitzer, der
gleichzeitig ein Ladengeschäft mit Manufakturwaren hatte.
Da hab’ ich ja die Sachen gemacht, wegen der ich fort-
kam. Ich habe dort verschiedene Kleinigkeiten (Bänder
und dergleichen) aus dem Laden geholt. Ich mußte z. B.
Haarbänder für die Kinder aus dem Laden holen, dabei
holte ich mir denn auch was. Ich schnitt mir meist selbst
im Laden ab; da habe ich auch mal Schürzenstoff mit
abgeschnitten. Nachher kam es raus, deshalb kam ich
fort. Onkel L. hat es nachher bezahlt. Vater war . böse
auf mich.“
Auf die Frage des Referenten: Doch wohl mit Recht?
antwortete die Angeklagte: „Gewiß.“
„Schon vor dieser Sache hab’ ich mir in Hanie
Näschereien verschafft. Ich wurde deshalb vernommen,
doch habe ich später nichts wieder davon gehört.“
Auf die Frage: Das hat Sie wohl zu Wiederholungen
Ihrer Schwindeleien ermutigt? antwortete die St.: „Nein,
im Gegenteil, Vater sagte, wenn ich es wieder täte, würde
ich bestraft.“
Auf Vorhalt: „Nun haben Sie ja aber so etwas wie-
der getan und müssen wohl bestraft werden?‘ „Wenn
ich damals bestraft worden wäre, dann wäre ich vielleicht
nicht wieder auf den Gedanken gekommen, so denke ich.“
„Im November 1903 kam ich nach Hamburg zurück
Eine Ladenschwindlerin. 309
zum Onkel L, der mich dann das Kochen erlernen ließ.
In dem Kochinstitut wohnte ich auch bis 14 Tage vor
meiner Verhaftung. Ich bezahlte dort nichts, erhielt auch
keinen Lohn. Onkel litt nicht, daß ich zum Vater ging;
er sagte, wenn ich hinginge, wären wir miteinander fertig.
Onkel L. gab mir gelegentlich eine Mark, sonst habe ich
mich selbst unterhalten müssen. Als ich von S. kam,
hatte ich noch zehn Mark. Onkel und Tante sagten mir
allerdings, ich möchte sagen, wenn mir etwas fehle. Das
mochte ich aber nicht, weil sie schon verschiedene Klei-
dungsstücke für mich’ angeschafft hatten.
In B. ist mir mal ein Herr M. vorgestellt worden, aber
ich weiß nicht, ob er es wirklich war.“
Schließlich äußerte die St., nach ihren Plänen für die
Zukunft befragt, dab sie nach ihrer Entlassung aus dem
Gefängnis nach Amerika wolle, um dort Stellung zu
nehmen, denn hier in Hamburg finde sie ja keine Stellung
wegen: ihres Vorlebens, das ja allgemein bekannt gewor-
den sei. | ee
Der Referent des Obergutachtens fügt dann noch hin-
zu: „Nach den Mitteilungen über Erkrankungen an Epi-
lepsie, welche sowohl in der Familie des Vaters wie der
Mutter vorgekommen sein sollen, ist man wohl zur An-
nahme berechtigt, daß die Angeklagte Eigenschaften ererbt
haben kann, die zu nervöser Erkrankung disponieren und
zu geistiger Erkrankung einmal führen können. Dies be-
rechtigt aber noch nicht zur Annahme des Vorhandenseins
geistiger Erkrankung bei der Angeklagten, sondern würde
nur zur Erklärung herangezogen werden können, wenn
bei der Angeklagten Geisteskrankheit nachgewiesen wäre
oder sich für eine bestimmte Zeit nachweisen ließe. We-
der ist die Angeklagte jetzt geisteskrank im Sinne des
$ 51 StGB. noch liegt Grund zur Annahme vor, daß die
Angeklagte zur inkriminierten Zeit geisteskrank im Sinne
des $ 51 StGB. gewesen sei. Es kann sogar meines Er-
310 Hinsch.
achtens fraglich sein, ob die Angeklagte als hysterisch zu
bezeichnen ist. Ihr Verhalten im Untersuchungsgefängnis
dem Aufsichtspersonal gegenüber und bei den Unter-
redungen, die ich mit ihr hatte, rechtfertigt nicht diese
Annahme. Zugegeben aber, daß das Verhalten der Ange-
klagten sich bis zu einem gewissen Grade aus dieser er-
erbten nervösen (hysterischen) Charakterveranlagung er-
klären läßt, so fehlt doch jeglicher Nachweis und Anhalt
dafür, daß es bei der Angeklagten auf der hysterischen
Grundlage zu einer krankhaften Störung ihrer Geistestätig-
keit, zu eigentlicher Geisteskrankheit gekommen ist. Aus-
geschlossen ist es, daß die Angeklagte in einem (hysteri-
schen oder hysterisch-epileptischenn Dämmerzustand die
inkriminierten Delikte begangen haben sollte. Die bis ins
Detail erhaltene Erinnerung an alle Vorgänge spricht ab-
solut gegen eine solche Annahme. Krankhafte Wahnideen
fehlen völlig. Weder hat die Angeklagte sich zur inkri-
minierten Zeit in der krankhaften Vorstellung befunden,
sie sei diejenige Person, für welche sie sich ausgab, noch
habe ich die Überzeugung gewonnen, daß die lügenhaften
Geschichten, über welche von den Verwandten und anderen
Personen berichtet ist, Ausfluß von Wahnideen sind. Es
liegt durchaus im Bereiche der Möglichkeit, daß sich ihr
ein Herr unter dem Namen Dr. M., daß auch andere
Herren sich ihr vorgestellt haben und daß sich daran
allerlei Liebeswünsche bei ibr geknüpft haben. Zu Wahn-
ideen haben sich solche Wünsche und Vorstellungen in-
dessen meines Erachtens nie verdichtet. Sie selbst sagt
jetzt, ob jener Herr wirklich Herr Dr. M. war, das weiß
ich nicht, und in dem ersten Gutachten wird berichtet,
daß die Angeklagte derartige phantastische Erzählungen
früher schließlich als unwahr zugegeben hat. Es handelte
sich damals also bei derartigen Erzählungen um Lüge oder
phantastische Renommierereien und nicht um Wahnideen.
Es braucht auch nicht krankhaftzu sein, wenn ein junges Mäd-
Eine Ladenschwindlerin. 811
chen ihres Alters von Herrenbekanntschaften spricht, erzählt
und prahlt. Hätten die Angehörigen derartige Erzählungen
als Ausfluß wirklich vorhandener Geisteskrankheit aufge-
faßt, so würden dieselben doch voraussichtlich eine ärzt-
liche Untersuchung des Geisteszustandes haben vornehmen
lassen und nicht ihre Tochter aus dem Hause gewiesen
haben. Der Geisteszustand der Tochter ist nur dann in
Zweifel gezogen, als die Angeklagte im Jahre 1901 und
jetzt Schwindeleien beging, die zur Kenntnis der Behörden
gelangten, d. h. also zu Zeiten, wo es galt, eine gericht-
liche Bestrafung von der Tochter in deren vermeintlichem
Interresse und vielleicht auch in Rücksicht auf den Ruf
der eigenen F'amilienangehörigen fern zu halten. — Die
Annahme der Unzurechnungsfähigkeit der Angeklagten
stützt das .irrenärztliche Gutachten im wesentlichen auf die
Angaben der Verwandten sowie einzelner anderer Per-
sonen, bei denen die St. in Stellung gewesen war. Dabei
ist zu berücksichtigen, daß von den Dienstherrschaften in
B., bei welchen die St. teils längere Zeit in Stellung war,
ihre Zuverlässigkeit bei der Erledigung ihrer Arbeit rühmend
anerkannt worden ist. |
Nach meiner Ansicht erklären sich die Straftaten der
St. im wesentlichen mit aus den sozialen und Familien-
Verhältnissen, unter denen die Angeklagte gelebt hat und
aufgewachsen ist. Bei der Erziehung der Angeklagten
scheint in mancher Beziehung: gefehlt zu sein. Man ver-
gegenwärtige sich, daß das Kind im 9. Lebensjahre seine
Mutter verloren. Vielleicht ist längere Kränklichkeit dem
Tode der Mutter vorangegangen. Die Angabe der Ange-
klagten, daß ihre Mutter nicht gerne fremde Kinder im
Hause gesehen, könnte ihre Erklärung darin finden. Die
Angeklagte war einziges Kind ihrer Eltern. Verständ-
lich erscheint dabei die Angabe der Angeklagten, daß sie
stets ihren Willen im Elternhause erreichte. Vom 9. bis 11.
Jahre mußte dies Kind, das den Eindruck gewonnen hatte,
312 Hinsch.
vom Vater stets verzogen zu sein, und das nach dem irren-
ärztlichen Gutachten „auf den Vater immer einen großen
Einfluß ausübte“, der Mutter entbehren. Die weibliche
Erziehung liegt in diesem wichtigen Lebensabschnitt in den
Händen verschiedener Haushälterinnen und einer kinder-
losen Tante, die selbst nach dem Berichte des ersten Gut-
achters viele Jahre epileptische Anfälle gehabt hat. Diese
Dame erweckte allerlei verkehrte Vorstellungen in der Seele
des Kindes, indem sie ihm hochmütige Dinge in den
Kopf setzte. Nimmt man dieses Verhalten der Tante als
richtig an, dann wird man auch der Angeklagten glauben
dürfen, daß die Tante dem Kinde allerlei unzweckmässige
Begriffe über eine Stiefmutter beigebacht hat, zumal wenn
diese an Epilepsie leidende Tante die Absicht gehabt hat,
das Kind selbst als eigenes anzunehmen. Nach dem 11.
Lebensjahre kam dann die Stiefmutter ins Haus und fand
ein Kind vor, das vielleicht wegen abnormer Veranlagung
besonders sorgfältiger Erziehung bedurfte, dessen Erziehung
aber anscheinend nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten
geleitet war. Es ist sicherlich nicht leicht für eine Stief-
mutter, sich das Vertrauen eines so beschaffenen 11 jähri-
gen Mädchens zu erwerben und erzieherisch auf dasselbe
einzuwirken, namentlich dann nicht, wenn, wie es der
Fall gewesen zu sein scheint, nebenher auch noch von
anderer Seite (Familie L.), erzieherisch eingewirkt wurde.
So erscheint es verständlich, daß die Stieftochter keine
Sympathie für ihre Stiefmutter gewann. Die Anbahnung
eines richtigen, liebevollen Verhältnisses mag auch dadurch
gelitten haben, daß die Angeklagte im Laufe der ‘Zeit
zwei Stiefgeschwister erhielt und nunmehr naturgemäss
die Mutterliebe der Stiefmutter in erster Linie sich den
leiblichen und kleineren Kindern zuwandte. So kann man
sich erklären, wie es gekommen, daß die Angeklagte immer
mehr die eigenen Wege ging und ihren nächsten Ange-
hörigen entfremdet wurde. Schon im August 1900 (also
Eine Ladenschwindlerin. 313
im Alter von 16 Jahren) war es der Angeklagten gelungen,
Schokolade im Werte von 1 Mk. zu erschwindeln, ohne
daß ihr etwas danach geschah. Ja vielleicht hat sie auch
schon früher erfolgreich nnd unbehelligt Schwindeleien
begangen, von denen nichts bekannt geworden ist. Nasch-
sucht und weibliche Eitelkeit brachten das noch jugend-
liche Mädchen dann im Jahre 1901 zum ersten Male mit
der Polizei in Konflikt. Was sie sich damals verschaffte
und offenbar auch nur verschaffen wollte, waren Dinge von
geringem Geldwert, die aber von einem Kinde bezw. jungen
Mädchen oft nicht gering geschätzt werden (1 Pfund Feigen
für 60 Pf, zweimal Konditoreiwaren im Betrage von 35
Pf. und 25 Pf., die sie an Ort und Stelle gleich verzehrte).
Um diese ihr begehrlich erscheinenden Dinge zu erhalten,
machte sie allerdings in raffinierter Weise größere Be-
stellungen. Zr
Als: besonders auffallend und zur Begründung von
Geisteskrankheit geeignet ist angeführt, daß die Angeklagte
damals im Jahre 1901 auch einen Soxlethapparat bestellte
und jemandem ins Haus schicken ließ. Dies erscheint
aber weniger absonderlich, wenn man berücksichtigt, dab
es ihr auch bei dieser Bestellung offenbar lediglich um
Puder, Puderdose und Puderquaste zu tun war, die sie
gleich mitnahm, denn die Angeklagte hatte schon damals,
wie auch jetzt noch, einen unreinen Teint. Vergegen-
wärtigt man sich, daß sie sich jene Puderartikel in einer
Drogenhandlung verschaffte, in der Soxlethapparate ge-
legentlich auf dem Ladentische oder im Schaufenster stehen,
daß es ihr offenbar nicht darum zu tun war, demjenigen
einen Streich zu spielen, dem sie den Soxlethapparat zu-
senden ließ, sondern daß sie lediglich darauf aus war,
Puderartikel zu erlangen, und dazu grössere Bestellungen
machen mußte, so erscheint diese Bestellung des Soxleth-
apparates nicht auffälliger, als in denjenigen Fällen,
wo sie Konditor- oder Grünwaren bestellie. Sie ließ eben
314 Hinsch.
anderen Leuten zusenden, was gerade da war und was
ihr in die Augen fiel. Zum Unglück der Angeklagten,
wie sie selbst auch andeutet, wurde aus der Sache nichts
gemacht. Die Beschwindelten wurden vom Vater ent-
schädigt. Es wurde Unzurechnungsfähigkeit angenommen
und das junge Mädchen erhielt nicht die volle Einsicht
von der Schwere ihrer Handlungen und nicht die Vorstellung
davon, auf welcher abschüssigen Bahn sie sich befand.
Später ließ sie sich in 8. Unredlichkeiten zu Schul-
den kommen, die zwar zum Verlust ihrer Stellung führten,
aber wieder gut gemacht wurden, indem der Onkel L, den
angerichteten Schaden ersetzte. Die St. kam wieder nach
Hamburg, wo sie in einem Kochinstitute Unterkommen
fand. Sie hatte dort zwar ihren Unterhalt, verdiente aber
nichts. Geldmittel standen ihr nicht in nennenswerter
Weise zur Verfügung. Um sich das zu verschaffen, was
sie an Kleidungs- und Wäschestücken nötig hatte oder
nötig zu haben glaubte, verfiel sie wieder auf ihre alte
Schwindelmethode, bei der sie eine Zeitlang wieder Glück
hatte, bis sie abgefaßt wurde. Da sie in dem Kochinstitute
die Bekanntschaft eines Herrn D. gemacht hatte, der ihr
gelegentlich Blumen geschenkt und für den sie sich nach
ihrer eigenen Angabe interessierte, so erscheint es auch
nicht so auffällig, das sie bei den Juwelieren W. u. G. eine
Herrengarnitur erschwindelte, mit der sie sich dem be-
treffenden Herrn gegenüber für erhaltene Blumen revan-
chierte.
Sie gesteht die ihr zur Last gelegten Dinge im wesent-
lichen ein und hat schon im Anfang ihrer Haftzeit erklärt,
daß es ihr nur darum zu tun war, die Waren mitzunehmen,
um sie für sich zu verwerten. Sie hat selbst wiederholt
im Gegensatz zu 1901 die Meinung vertreten, das sie nicht
geisteskrank sei, sondern daß sie Strafe verdiene Daß
die Angeklagte es zeitweilig mit der Wahrheit nicht ge-
nau genommen, sondern ihrer Phantasie freien Lauf gelassen,
Einn Ladenschwindlerin. 315
wenn es ihrer Laune oder einem besonderen Zwecke ent-
sprach, ist sebr wahrscheinlich.
Die in Frage stehenden Delikte und den Geisteszu-
stand der Angeklagten von den vorstehend erörterten Ge-
sichtspunkten aus betrachtet, erscheinen die Straftaten
psychologisch verständlich; denn es ist nichts vorhanden,
was die Annahme einer Geisteskrankheit (im engeren Sinne),
und eines Zustandes gemäß $ 51 StGB. bei der Ange-
klagten rechtfertigt.“ |
Auf Grundlage dieses Obergutachtens wurde auf den
28. März 1905 ein neuer Hauptverhandlungstermin anbe-
raumt. In diesem ward die Angeklagte wegen wiederholten
Betruges und wiederholten versuchten Betruges in eine
Gefängnisstrafe von 14 Monaten unter Anrechnung von 7
Monaten und 3 Wochen der erlittenen Untersuchungshaft
verurteilt.
Aus dem Urteil ist folgendes nachzutragen:
Die Angeklagte will sich zwar jetzt nicht mehr er-
Innern, wie sie sich in jedem einzelnen Falle in den be-
treffenden Geschäften benommen habe, gibt aber im großen
und ganzen zu, sich in der oben geschilderten Weise
unentgeltlich Sachen verschafft zu haben oder haben ver-
schaffen zu wollen. Verschiedene Fälle will die Angeklagte
nicht verübt haben; da sie aber bei ihrer Vernehmung vor
dem Amtsrichter auch diese Fälle zugestanden, so ist das
Gericht überzeugt, daß sie auch hier die Täterin ist.
Auch will die Angeklagte nicht wissen, warum sie
eigentlich sich dieser Schwindeleien schuldig gemacht, und
erklärt, sie habe nicht betrügen wollen. Sie meint, daß
sie in den Läden wohl nicht so energisch und sicher hätte
auftreten können, wenn sie sich ihres Unrechtes bewußt
gewesen wäre.
In dem Gerichtstermin vertraten die beiden medizi-
nischen Autoritäten die oben wieder gegebenen Ausführungen
ihrer Gutachten.
316 | Hinsch.
Zu diesen Gutachten bemerkte das Gericht, dab es
gegenüber dem ersten Gutachten ein weiteres Gutachten
angeordnet habe, um zu erkennen zu geben, daß die erste
Begutachtung ihm nicht einwandsfrei erschienen sei, ihm
also nicht genügte. Indem es die Begutachtung durch eine
Fachbehörde anordnete, wünschte es aber weiter ein sog.
Obergutachten zu haben, also ein Gutachten, das wieder-
um das erstere einer Kritik unterziehen und es auf
seine Richtigkeit prüfen solle. Daraus ergab sich
aber, dab das zweite Gutachten nicht neben das erste,
sondern als es revidierend, darüber gestellt zu gelten
habe. Selbstverständlich werde indessen das Gericht
nicht gehindert sein, trotz dieses formellen Charakters des
Obergutachtens bei seiner Entscheidung auch das erste
Gutachten mitsprechen zu lassen und es sogar ihr allein
zu Grunde zu legen, wenn es in der Lage sei, Zweifel an
der Richtigkeit der Begutachtung durch die Fachbehörde
zu hegen. Das sei aber vorliegend nicht der Fall.
Die Verurteilte ließ durch ihren Verteidiger Beschwerde
beim Hanseatischen Oberlandesgericht wegen abgelehnter
Haftentlassung nach erfolgter Verurteilung einlegen. Diese
wie die Revision beim Reichsgericht und wiederholte
Gnadengesuche wurden verworfen. Die Verurteilte hat
ihre Strafe inzwischen verbüßt.
Der Knabenmörder Breitrück.
l Von
Dr. jur. Octavio Brackenhoeft, Hamburg.
Am Vormittage des 9. November 1894 gegen 11 Uhr
verließ der sechsjährige Alwin Raeczka nach dem Früh-
stück die in Hamburg-Eimsbüttel nahe der Altona-Langen-
felder Grenze in der Müggenkampstraße belegene Wohnung
seiner Eltern, um auf der Straße zu spielen, wie er das
oft tat. Seine treubesorgte Mutter zog ihm noch den Paletot
an, setzte ihm sein wärmendes Wollmützchen auf und
schickte ihn dann hinunter mit der Weisung; er sollte
nicht gar zu lange fort bleiben.
Er ging zunächst nach dem beim Taiga belegenen
Hofe, scherzte und neckte sich in fröhlicher Ausgelassen-
heit mit dem gerade dort stehenden Grünwarenhändler
und lief dann lustig pfeifend vom Hofe fort. Vor dem
Hause traf er einen Spielkameraden, erzählte diesem, er
wolle nach der Langenfelder Manderube und eilte vergnügt
von dannen. —
Als sein Vater, der am Tage nicht zu Hause gewesen
war, gegen 6 Uhr abends heimkehrte, kam ihm seine Frau
bestürzt mit der Mitteilung entgegen, der Junge sei noch
nicht zurückgekehrt, obwohl er schon seit 11 Uhr fort sei.
Der Vater meldete das Verschwinden seines Sohnes gleich
auf der benachbarten Polizeiwache sowie auch in Altona
und Langenfelde auf den Polizeiwachen und forschte uner-
müdlich nach dem Verbleib seines Knaben, ohne jedoch
irgend etwas erfahren zu können. Die Hamburger Krimi-
nalpolizei erließ Bekanntmachungen mit dem Bilde des Kna-
318 Octavio Brackenhoeft.
ben und stellte diese auch einer größeren Anzahl auswärtiger
Polizeibehörden zu. Die Zeitungen brachten mehr oder
minder ausführliche Notizen über das Verschwinden des
Knaben.
Es ist interessant zu beobachten, wie lebhaft in solchen
Fällen das Publikum sich beteiligt, sich leider meistensirrt und
den Behörden ihre Tätigkeit oft erschwert. Es fanden sich
Personen, die nicht nur Anhaltspunkte für den Verbleib des
Knaben zu haben vermeinten, sondern sogar eine Entführung
desselben beobachtet haben wollten. Natürlich wurde das
Märchen von dem Kinderraub durch Zigeuner wieder aufge-
tischt, denn man hatte gerade in jenen Tagen, noch dazu in
jener Gegend, in der die Eltern des Knaben wohnten, einen
mit drei kleinen Pferden bespannten Zigeunerwagen ge-
sehen; es gelang die Spur dieses Wagens in Stellingen zu
ermitteln und weiter zu verfolgen, doch wurde festgestellt,
daß der verschwundene Knabe bei den Zigeunern nicht
gewesen war. Ein zweiter wollte am Abend des 9. No-
vember die Entführung des Knaben mit eigenen Augen
gesehen haben: ein etwa 16jähriger Mensch von äußerst
rohem Aussehen habe einen kleinen — der Beschreibung
genau entsprechend gekleideten — Jungen an der Hand
geführt und, als dieser weinend „Mama“ gerufen, ihn auf
den Arm genommen und mit den Worten: „Du hast nur
noch eine kleine Wasserfahrt zu machen, dann bist Du
bei Deiner Mama“ zu trösten versucht. Diese. Mitteilung
veranlaßte die Polizei auch jenseits der Elbe und auf
Fährdampfern zu gründlichen und umfangreichen Er-
mittelungen. Eine in der Elbe gefundene Kinderleiche gab
im Publikum Anlaß zu der Annahme, daß es die Leiche
des kleinen Raczka sei; sie wurde indeß als die eines an-
deren zehnjährigen Knaben rekognosziert. Ein Barbier er-
innerte sich eines Gehülfen, der ihm etwa ein Jahr vor-
her gelegentlich einer Zurechtweisung offenbart hatte, er
habe einen Groll gegen die ganze Menschheit gefaßt; dieser
Der Knabenmörder Breitrück. 319
Gehülfe habe im Sommer 1894 auf dem Spielbudenplatz,
der Hauptstraße des vergnügungsreichen St. Pauli, mehreren
Knaben Obst gekauft. Die Nachforschungen ergaben die
völlige Harmlosigkeit des Menschenhassers. — Der Vater
Raczka kam sogar auf die Idee, daß ein in Hoboken
bei New York wohnender Verwandter, der den eigenen
Sohn durch den Tod verloren und ihn mehrfach um
Überlassung eines seiner fünf Söhne vergeblich gebeten
hatte, den Alwin als den hübschesten entführt haben möge,
und glaubte sogar einen Steward, der zwischen ihm und
seinem Verwandten öfter kleine Bestellungen vermittelt
hatte, als den eigentlichen Entführer bezeichnen zu müssen.
— Einige Spielkameraden des vermißten Knaben wollten
wissen, daß dieser nach einer nahegelegenen Sandgrube
gegangen sei; obwohl alle Sandgruben in den umliegen-
den Feldmarken abgesucht wurden, fand sich nirgends
eine Spur. — Andere Knaben wieder hatten gehört, daß
Alwin nach Pinneberg gewandert sei; auch hier war nichts
zu ermitteln.
Und doch ist das Interesse der Öffentlichkeit oft von
ungeahnter Bedeutung; es trug auch in diesem Falle
wesentlich zur Entdeckung des Täters bei. Durch das von
der Hamburger Polizei erlassene Rundschreiben hatte auch
die Magdeburger Polizei Kenntnis von dem Verschwinden des
Knaben erhalten, und dieser gelang es durch einen seltenen
Zufall, den Schlüssel zur Lösung des Rätsels zu finden.
Die Magd Barbara Bursik, welche bei dem Gastwirt, Be-
sitzer des „Lindenhof“ Carl Breitrück in Langenfelde (Alto-
naer Gebiet in unmittelbarer Nähe der Hamburger Grenze)
diente, hatte nämlich an ihren in Magdeburg wohnhaften
Bräutigam, den Uhrmacher Thiering, am 21. November
1894 einen Brief geschrieben, in dem es u. a. hieß:
„Lieber Emil ich wollte Dir recht was neues
schreiben aber ich bin Bange das du triba sprechst tas
zis nehmlich von mein Herrn ehr hat was gethan Beses
320 | Octavio Brackenhoeft.
aber ich wil nicht meine eksistenz ferliren vor Weih-
nachten jetzt ist schlet wieder eine andere wieder zu
grigen liber wil ich schweigen ten tas werde nicht gut
für mich. Lieber Emil ich kan dir nur sofil sagen seit
neuten N wie tas pasir ist bin ich kanz unklicklich im
hause und kanz unheimlich aber ich weist nicht sol ich |
was sagen oder nicht.“
Der Uhrmacher, dem es augenscheinlich weniger um
die Treue seiner Braut, als um einen etwaigen Profit zu
tun war, war durch diesen Brief in den Glauben versetzt,
seine Braut hätte ihm die Treue gebrochen und sich ihrem
Dienstherrn hingegeben. Sein für sein Gefühlsleben inter-
essanter Brief läßt sogar erkennen, daß er auf etwas Der-
artiges schon gefaßt war, weil er es schon einmal erlebt
hatte. Er schreibt nämlich am 30. November u. a.:
„Ich weiß sehr gut was dein Herr gemacht mit Dir.
Das konntest Du mir ganz ausführlich schreiben wie
Du bei Peters gemacht hast. Hat dein Herrn Dir Geld
angeboten? Warte nur solange bis ich komme dann
werde ich die Sache schon befummeln.“
Dieser Brief hatte doch seine gute Wirkung, denn
einmal veranlaßte der darin gemachte Vorwurf der Schreib-
faulheit die Bursik, ihrem Bräutigam sofort zu antworten
und zweitens bewog er sie, die in ihrem ersten Briefe
gemachten Andeutungen genauer zu präzisieren, indem sie
ihm am 1. Dezember 1894 u. a. Folgendes schrieb:
„Lieber Emil (diese Anrede findet sich zehnmal in
dem Briefe) was du dir tengst von mein Herrn tas ist
vicht der fal er hat kanz was anderes gemach nemlich
Hier wohnt tich bei einer Schumacher ten sein Knabe
von 6! Jahre ist ferswunden und ten selben tach habe
ich gemerkt tas unzere Herrn mit oben in Knecht seine
Stube abgeslosen war und nachtrechlich habe ich auch
tas Zouch von dem jungen gevunden habe und auch bei,
. eine tekl lerae schachtl von Waselin ich klaube er hat
Der Knabenmörder Breitrück. 321
tas kind gebrauch. ich will dir tas alles mindlich sagen
tas Weiteres sprech nicht triba. ich lase mir auch nichtz
bis jezt merken.“
Thiering las diesen Brief seinem Schwager Grote, bei
dem er wohnte, vor, und dieser machte von dem Inhalte
des Briefes Mitteilung an die Magdeburger Polizei, welcher
es gelang, die beiden Briefe von Thiering noch am Morgen
des 6. Dezember kurz vor seiner Abreise nach Hamburg
zu erhalten. Sie übersandte dieselben am 6. Dezember an
die Hamburger Kriminalpolizei mit dem Bemerken, daß
„die p. Bursik vermutlich den 61% jährigen Knaben Alwin
Raczka meine, der nach einem Ausschreiben der Polizei-
behörde Hamburg (J.-No. 2895 II 8/94) vom 12. Nov. seit
dem 9. November 1894 vermißt werde.“ Als dieses Schrei-
ben am 7. Dezember morgens in Hamburg ankam, hatte
man schon durch die Bursik selbst genauere Einzelheiten
erfahren. Thiering hatte nämlich am Abend des 5. De-
zember seine Braut telegraphisch benachrichtigt, daß er
nach Hamburg komme. Die Bursik konnte ihren Dienst-
herrn Breitrück erst in der Nacht, als er heimkehrte, um
die Erlaubnis bitten, am folgenden Tage ausgehen zu dürfen.
Breitrück, der schon durch seine Haushälterin von dem
Eintreffen einer für die Magd bestimmten Depesche gehört
hatte, verlangte diese zu sehen. Als die Bursik sie ihm
brachte und zeigen wollte, riß er sie ihr ungestüm und voll
Spannung aus den Händen, gab sie ihr aber nach dem
Durchlesen mit einem Scherze über die Herkunft zurück
und erteilte ihr bereitwillig den gewünschten Urlaub.
Thiering traf dann auch am Nachmittage des 6. De-
zember in Hamburg ein und wurde am Bahnhof von
seiner Braut empfangen. Er erkundigte sich bei ihr nach
den näheren Einzelheiten, die nach seiner Meinung der
Polizeibehörde bereits bekannt waren, und war sehr er-
staunt, auf weiteres Befragen zu erfahren, daß ihr Dienst-
herr noch nicht verhaftet sei. Er hatte wohl nach den
Der Pitaval der Gegenwart. II. 23
322 Octavio Brackenhoeft.
Beobachtungen seiner Braut keinen Zweifel mehr darüber,
daß Breitrick den vermißten Knaben beseitigt habe, ver-
anlaßte seine Braut, nicht wieder in das Haus ihres Dienst-
herrn zurückzukehren, und begab sich alsbald nach seiner
Ankunft mit ihr auf das Bureau der Kriminalpolizei, um
hier von ihren Wahrnehmungen Anzeige zu erstatten. Sie
hatte das bisher aus Angst vor Breitrück unterlassen, denn
sie fürchtete, einmal eben vor Weihnachten ihre Stelle und
dann auch das Geld, das er ihr noch schuldete, verlieren
zu müssen. Schließlich hielt sie es auch für möglich, daß
Breitrück ihr gleichfalls etwas antun würde.
Nach den Angaben der Magd und des 17jährigen
Hausknechts Dallmeier, die derzeit die alleinigen Haus-
genossen des Breitrück waren, hat sich an jenem bedeu-
tungsvollen Tage — 9. November 1894 — Folgendes im Be-
reich des „Lindenhof“ zugetragen:
Der Knecht Diedrich Dallmeier, der erst am 3. No-
vember 1894 bei Breitrück in Dienst getreten war, hielt
sich am Vormittage des 9. November in der Küche auf
und sah, als er auf dem Wege zur Toilette die Küchen-
tür geöffnet hatte, daß sein Herr einen etwa 6—7 jährigen,
mit blauem Mantel, schwarzen Strümpfen und wollener
Troddelmütze bekleideten Knaben an der Hand führte und
mit ihm die von dem vor der Küche liegenden Vorplatz
aus nach oben zu den Wohn- und Schlafräumen führende
Treppe hinaufging. Dallmeier dachte sich weiter nichts
dabei und sah auch nicht das Gesicht des Knaben, den er
nicht wieder herunterkommen sah. Als die Bursik bald
darauf in dem die eigentlichen Wirtschaftsräume enthalten-
den Erdgeschosse des Hauptgebäudes rein machte, kam
der in Hamburg-St. Pauli wohnende Onkel des Breitrück
gleichen Namens in das Lokal und fragte nach seinem
Neffen, dem er etwas mitzuteilen habe. Die Magd ging
nach seinem im ersten Stock belegenen Wohnzimmer hin-
auf, ohne ihn jedoch zu finden. Da sie ihn auch in den
Der Knabenmörder Breitrück. 323
übrigen Zimmern des ersten Stocks, die alle unverschlossen
waren, nicht antraf, ging sie weiter nach dem zweiten
Stockwerk hinauf. Auf einer Stufe der zu diesem führen-
den Treppe fand sie eine gestrickte wollene Kindermütze
mit Troddel, die sie aufhob und an sich nahm. Im zweiten
Stock lagen außer einigen kleinen Vorratsräumen und dem
Boden die Zimmer der Magd und des Knechts nnd neben
dem letzteren ein nur von diesem aus zugängliches Turm-
zimmer. Auch hier oben traf die Bursik ihren Herrn
nicht an, doch fand sie die Tür des sonst stets offenen
Knechtszimmers verschlossen. Sie rief mehrmals mit lauter
vernehmlicher Stimme: „Herr Breitrück, unten ist jemand,
der Sie zu sprechen wünscht“, erhielt jedoch keine Ant-
wort. Sie ging unverrichteter Sache wieder hinunter in
die Kegelbahn und zeigte hier dem Hausknechte die Mütze. .
Auf ihr Fragen nach dem Herrn erzählte Dallmeier ihr,
Breitrück sei vor kurzer Zeit mit einem kleinen Knaben,
der die von der Bursik gefundene Mütze getragen habe,
die Treppe hinaufgegangen. Die Magd, die wußte, daß
Breitrück für Dallmeier einen andern Knecht annehmen
wollte, fragte in dem Glauben, dieser neue Knecht sei in-
zwischen angekommen, genauer nach Größe und Alter des
Jungen, den ihr Dallmeier als einen Knaben von 7 bis
8 Jahren beschrieb. Die Bursik kehrte in das Gastzimmer
zurück und teilte dem Onkel Breitrück die Erfolglosigkeit
ihres Suchens sowie auch die Auskunft des Knechts mit.
Auf Veranlassung des Onkels ging die Bursik nach etwa
einer Viertelstunde, nachdem sie die Mütze auf einen Stuhl
‚gelegt hatte — von dem sie sonderbarer Weise nachher
verschwunden ist —, nochmals nach oben. Auch jetzt
traf sie ihn weder im ersten noch im zweiten Stockwerk
an, auch jetzt fand sie noch die Tür des Knechtzimmers
verschlossen, doch schaute sie, da ihr Interesse und ihre
Neugierde inzwischen erwacht waren, durch das Schlüssel-
loch und sah, daß die Rouleaux heruntergelassen waren
23%
324 Octavio Brackenhoeft.
und der Schlüssel von innen aufsteckte. Sie berichtete
dem Onkel, daß sie auch jetzt ihren Herrn nirgends an-
getroffen habe, und der Onkel ging.
Kaum war er fort, als der junge Breitrück von oben
herunterkam und, nachdem er von der Magd gehört hatte,
daß sein Onkel soeben. zur Pferdebahn gegangen sei,
ihm nacheilte und mit dem Onkel zurück kam, um mit
ihm in der Gaststube zu sprechen. Der Bursik fiel auf,
daß der schwarze Anzug ihres Herrn gedrückt aussah, alsob er
damit im Bette gelegen habe. Nachdem der Onkel fort-
gegangen war, begab die Bursik sich in die Küche, um
das Mittagsmahl herzurichten, während Breitrück wieder
nach oben ging. Als die Magd etwa um drei Uhr das
Essen fertig hatte, ging sie abermals auf die Suche nach
ihrem Dienstherrn, den sie aber nirgends fand. Vor dem
Knechtszimmer, das nach wie vor verschlossen war, rief sie
mehrfach ihren Dienstherrn bei Namen an nnd fügte hin-
zu, das Essen sei fertig. Da sie eine Antwort nicht er-
hielt, ging sie nach unten und fragte den Knecht noch-
mals, ob er sich nicht geirrt haben könnte, denn in ihr
war jetzt der Verdacht aufgestiegen, daß Breitrück wie
schon früher ein Mädchen bei sich habe und nicht gestört
werden wolle. Während sie noch mit dem Knechte sprach,
kam Breitrück die Treppe hinunter und ging in die Küche.
Die Magd bemerkte, daß er an der einen Backe eine kleine.
frische blutige Wunde hatte und fragte, wo er denn so
lange gewesen sei, sie habe ihn mehrfach zum Essen ge-
rufen, das ja nun schon ganz kalt sein müsse. Er nahm
mit den Worten: „Wie sehe ich denn aus?“ eine Kleider-
bürste, bürstete sein Zeug ab und sagte, er sei auf dem
Dache gewesen und habe fix gearbeitet. Da diese Aus-
kunft der Magd auffallend erschien, teilte sie ihm nun
weiter mit, daß der Hausknecht ihn mit einem Kna-
ben habe die Treppe hinaufgehen sehen, worauf er
ganz erregt und entrüstet ausrief: „Der ist wohl ver-
Der Knabenmörder Rreitrück. 325
rückt! Das ist nicht wahr!“ und den Knecht zur Rede
stellte.
Breitrück ging alsdann in die Gaststube, wo er allein
seine Mahlzeit einnahm, die ihm aber sichtlich nicht
schmeckte. Auf die Frage der Bursik nach seinem auf-
fallend schlechten Appetit gab er an, er habe noch einen
kräftigen Katzenjammer von vorgestern, während er un-
ruhig in der Gaststube auf und ab lief.
Als die Bursik dann nach oben ging, um das Bett des
Hausknechts im Knechtszimmer herzurichten, war die Tür
dieses Zimmers offen, doch war das nur vom Knechtszimmer
aus zugängliche Turmzimmer, dessen Tür tagaus tagein offen
stand, verschlossen und der Schlüssel steckte nicht auf der
Tür. Als sie sich dann an die Arbeit machte, wurde sie
wieder abgerufen und ging wieder in die Küche hinunter.
Breitrück begab sich abermals nach oben, kam aber bald
darauf wieder nach unten und setzte sich in der Gaststube
an einen Tisch, um Kaffee zu trinken.
Die Bursik ging wiederum nach oben und machte
das Bett fertig. Als sie die auch jetzt noch herabge-
lassenen Rouleaux aufzog, bemerkte sie zufällig, daß der
Schlüssel zum Turmzimmer jetzt aufsteckte. Sie faßte
daher an die Tür, die nicht mehr verschlossen war, und
trat in das Turmzimmer. Hiersah sie hinten in der einen
Ecke Kinderzeug, insbesondere Hose, Jacke, Überzieher,
Schnürstiefel und Strümpfe, liegen, das sie einzeln in die
Hand nahm und mit lebhaftem Interesse betrachtete. Als
sie sich noch über diesen eigenartigen unerwarteten Fund
den Kopf zerbrach, hörte sie ein leises Stöhnen; sie traute
ihren Ohren kaum, ging aber, als die Laute sich wieder-
holten, auf den Punkt zu, von dem dies Geräusch aus-
ging. Hier lag eine alte zerrissene Portiere und ein
Kissen, doch bot sich, als sie diese Sachen entfernt hatte,
ihren Augen ein schrecklicher Anblick: ein in eine
Markise gehülltes Bündel, das zuckte! Als sie von Ent-
826 Octavio Brackenhoeft.
setzen erfaßt, noch unschlüssig, dachte was sie machen
sollte, hörte sie die Stimme ihres Herrn, der schon wieder
einen Auftrag für sie hatte. Sie bemerkte nur noch, daß
dicht bei dem Markisenbündel ein zusammengerolltes mit
Blut beschmutztes Bettlaken und eine Strähne blonden
Haares lag, und eilte hinunter, um für ihren Herrn ein
Stück Sandtorte zu holen. Als sie nach kurzer Zeit mit
dem Kuchen zurückkam, wagte sie es vor Angst nicht,
etwas von ihren Wahrnehmungen verlauten zu lassen, und
eilte nochmals nach oben, um nunmehr, nachdem sie ihre
Furcht inzwischen bemeistert hatte, das geheimnisvolle
Bündel zu besichtigen, doch vergeblich, denn jetzt war
das Turmzimmer wieder verschlossen. Sie suchte den
Schlüssel, der bis dahin niemals gefehlt hatte, doch siehe!
er war abgezogen und so war es ihr unmöglich, das Dunkel
dieses Geheimnisses zu lüften.
Im Laufe des Abends kam der Postbote mit einem
Briefe für Breitrück, für den fünf Pfennige nachzuzahlen
waren. Die Bursik ging nach oben, um sich von ihm
das geforderte Geld geben zu lassen. Er stand ım Schlaf-
zimmer an der von ihm selbst nicht zum Schlafen
benutzten eisernen Bettstelle und legte die Markise,
die Hülle. des von ihr oben im Turmzimmer gesehenen
zuckenden Bündels, zusammen. Als sie mit den Worten:
„Herr Breitrück, es ist ein Brief da, der fünf Pfennige
kostet“ in das Zimmer trat, erschrak er ersichtlich, kam
ihr mit der Markise in der Hand entgegen und gab ihr
zehn Pfennige für den Briefträger. In diesem Augenblicke
wurde die Bettdecke der eisernen Bettstelle von innen
hochgehoben. Die Bursik fuhr vor Schreck zusammen
und rief: „O Gott! Was ist denn das da in dem Bette ?*,
worauf Breitrück gelassen erwiderte, das sei gar nichts,
gar nichts! Sie übergab dann dem Postboten das Geld.
Am Abend, als sie das Bett ihres Herrn zurecht machte,
untersuchte sie auch das eiserne Bett; es lag nichts mehr
Der Knabenmörder Breitrück. 827
in demselben, doch fand sich ein Eindruck in ihm, als ob
dort etwas gelegen hätte. Sonst war Verdächtiges nicht
zu bemerken. Sie beobachtete aber, daß sämtliche Türen
zu den weiteren Wohnräumen ihres Herrn — bis zum
nächsten Morgen! — verschlossen waren und daß ihr
Herr im Laufe des Abends noch mehrere Male von den
Gästen fort und mit Licht nach oben ging. Am Morgen
des 10. November kam Breitrück viel früher als sonst
aus seinem Zimmer herunter; seine Stiefel waren so auf-
fallend schmutzig, daß die Bursik annahm, er sei am
Abend oder in der Nacht vom Hause fortgewesen; mit
dieser Vermutung stimmte auch ihre Beobachtung über-
ein, daß nach ihrem Zubettgehen die Haustür knarrte.
An den beiden folgenden Tagen, 10. und 11. November,
hat die Bursik das Kinderzeug, das zweifellos das Zeug
des verschwundenen Alwin Raczka war, noch an dem-
selben Platze im Turmzimmer des zweiten Stockwerkes
liegen sehen und am 10. November den Mut gefunden,
ihrem Herrn von ihrem rätselhaften Fund Mitteilung zu
machen. Er ist daraufhin ohne weiteres mit ihr in das
Turmzimmer gegangen und hat dort behanptet, es müßte
schon recht lange dort liegen; er wüßte nicht, auf welche
Weise es dorthin gekommen sei. Am Morgen des 13. No-
vember war jedoch das Kinderzeug dort oben plötzlich ver-
schwunden. |
Die Bursik hatte inzwischen im Turmzimmer noch
ein Bündel Haare und mehrere Glasmarmelin, die beim
Aufheben der Knabenhose herausgefallen waren, sowie im
Kleiderschrank ein mit Breitrücks Namen gezeichnetes
blutiges Taschentuch und im Papierkorb im Kontor ein
blutiges Staubtuch gefunden.
Breitrück hatte die Markise, die der Bursik aufgefallen
war, bereits am Mittag des 10. November wieder in den
Wäscheschrank gelegt, in dem sie ursprünglich aufbewahrt
lag. Seine Seife hatte er fortgeworfen und ein neues
328 Octavio Brackenhoeft.
Stück in Benutzung genommen; doch fand sich das alte
Stück, an dem kleine Haare saßen, beim Ausgießen des
Toiletteneimers. Sein Kontor wurde nach dem 9. No-
vember von der ersten Etage in den Windfang hinunter
verlegt, wohin auch der bis dahin in seinem Wohnzimmer
befindliche Teppich von ihm selbst gebracht wurde. Auf
einem Tisch, der am Fenster des bis dahin als Kontor
benutzten Zimmers des I. Stockes stand, fand die Bursik
endlich noch ein Stückchen Sandtorte und ein Stück Scho-
kolade, welch letzteres aus dem im Lindenhof befindlichen
Schokoladenautomat entnommen zu sein schien. Auf dem
in der Küche befindlichen Schranke lag ein zweites Staub-
tuch, das so zusammengeballt war, daß es als Knebel be-
nutzt zu sein schien.
Da die Bursik nach dem Abgange des Dallmeier
niemanden hatte, mit dem sie diese rätselhaften Funde
besprechen konnte, machte sie, wie oben schon dargestellt,
ihrem Bräutigam Mitteilung davon, daß ihr Herr etwas
„Böses“ getan habe müsse. |
Auf Grund des über die Aussagen der Barbara Bursik
am Abend des 6. Dezember aufgenommenen Protokolls
wurde von der Hamburger Kriminalpolizei am frühen
Morgen des 7. Dezember ein Kriminalkommissar an die
Altonaer Polizei, in deren Gebiete der „Lindenhof“ liegt,
mit einem Assistenzersuchen entsandt. Infolgedessen be-
gaben sich in der Frühe des 7. Dezember Hamburger und
Altonaer Polizeibeamte nach dem Breitrückschen Lokal
„Lindenhof“. Zwei von ihnen traten ins Haus und er-
suchten die Haushälterin Bang, ihrem Herrn mitzuteilen,
daß zwei Herren ihn zu sprechen wünschten. Sie ging
daher mit den beiden Beamten nach oben und klopfte
mehrfach an das verschlossene Schlafzimmer des Breitrück,
der erst nach längerer Zeit die Tür öffnete und mit einem
in Zeitungspapier eingewickelten Paket auf den Korridor hin-
austrat. Er hatte inzwischen, wie einer der vor dem Hause auf
Der Knabenmörder Breitrück. 329
der Straße verbliebenen Beamten beobachtet hatte, eine Zeitlang
am Fenster seines Schlafzimmers gestanden und sich ersicht-
lich dort zu schaffen gemacht. Die Beamten legitimierten
sich und gingen mit ihm in sein Wohnzimmer, auf dessen
Sofa er das in der Hand gehaltene Paket legte. Als
ihm nunmehr die Ursache dieses frühen Polizeibesuchs
klar gelegt und von den Angaben seiner Magd Kenntnis
gegeben wurde, verfärbte er sich auffallend und begann
lebhaft zu zittern, um sich gleich zu fassen und in eine
stoische Ruhe zu verfallen. Er erinnerte sich sofort mit
großer Bestimmtheit, daß er am Nachmittage des 9. No-
vember den Besuch seines Onkels empfangen habe und
diesem nachgelaufen sei, bestritt jedoch die Richtigkeit
der ihm vorgehaltenen Angaben der Bursik, die er als
freie Erfindung und einen Racheakt bezeichnete, obgleich
er vorher seine volle Zufriedenheit mit den Lei-
stungen und dem Betragen der Bursik ausgesprochen
hatte. Mit der Durchsuchung der sämtlichen Räume seines
Hauses erklärte er sich bereitwilligst einverstanden und
wurde dann nach der nächsten Altonaer Polizeiwache ge-
führt. Er war ganz ruhig geworden; nur zeigte sein
Gesicht eine auffallende Blässe. Den ihn geleitenden Be-
amten sagte er, er könne es absolut nicht begreifen, wie
‚die Dienstmagd dazu käme, solche Anschuldigungen gegen
ihn zu erheben; sie habe eine Depesche erhalten und sei
daraufhin weggegangen, ohne in den Dienst zurückzu-
kehren; er sei ein großer Kinderfreund; die Beamten
würden doch auch sicherlich nicht an die Beschuldigung
glauben. Bei Ankunft auf der Polizeiwache sagte er
zu dem Wachthabenden scherzend: „Na, schon wieder
ein Arrestat“ und ließ sich eine Zeitung geben, auf
‚die er unentwegt hinstarrte. Dann lief er wieder unruhig
'im Zimmer umher und wunderte sich über die lange Dauer
der Haussuchung, da es doch nur ein paar Zimmer selen.
Als dann ein Kriminalkommissar nach beendeter Durch-
330 Octavio Brackenhoeft.
suchung an Wache kam und Breitrück fragte, wo er das
Kind gelassen habe, entgegnete er mit größter Ruhe: „Sie
scherzen wohl“ und, als er von dem Auffinden der Kinder-
kleider benachrichtigt und nochmals nach dem Verbleib
des Knaben gefragt wurde, gab er überhaupt keine Ant-
wort mehr. | u
Die inzwischen erledigte Durchsuchung des „Lindenhof“
hatte folgendes Ergebnis gehabt:
In dem Turmzimmer fand man eine Marmel, die der
Vater Raczka als seinem verschwundenen Sohne gehörig
bezeichnete, weil genau solche Marmeln der Onkel aus
Amerika ihm geschickt hatte Daselbst wurden ferner
kurze blonde Haare und eine graue Knabenhose gefunden,
die von den Eheleuten Raczka mit absoluter Sicherheit
. als diejenige wiedererkannt wurde, welche ihr Junge zu-
letzt getragen hatte.
In dem an das Turmzimmer stoßenden Knechtszimmer
entdeckte man in dem Bette des Knechtes beim Zurück-
schlagen der Bettdecke an dem Fußende des Betts zwischen
Matratze und Bettstelle in Zeitungspapier eingewickelt zwei
weitere Marmeln. Die Bursik, welche das Bett am Tage
der Entlassung des Knechts Dallmeier (2. Dezbr.) zuletzt
gemacht hatte, hatte damals nichts von den Marmeln im
Bette bemerkt, so daß der Schluß gerechtfertigt erscheint,
sie seien erst später in das Bett gelegt worden.
Im Wohnzimmer stießen die Polizeibeamten auf das
in Zeitungspapier gewickelte Paket, das Breitrück beim
Betreten dieses Zimmers in Gegenwart der Beamten auf
das Sofa gelegt hatte. Trotz seines Leugnens kann es
nach der bestimmten Aussage der beiden Polizeibeamten
keinem Zweifel unterliegen, daß er das fragliche Paket
und nicht, wie er behauptet hat, nur ein Bündel alter
Zeitungen auf das Sofa legte. In diesem Paket nun fan-
den sich ein Paar Kinderschnürstiefel, die gleichfalls von
den Eheleuten Raczka mit Bestimmtheit als diejenigen
Der Knabenmörder Breitrück. 381
wieder erkannt wurden, welche ihr Sohn beim Verlassen
der Wohnung getragen hatte.
In dem Schlafzimmer des Breitrück machten zwei der
Beamten die erstaunliche Wahrnehmung, daß die Tür des
ganz neuen und noch nicht benutzen Ofens sich nicht
öffnen ließ. Als sie dieselbe mittels eines Hammers geöffnet
hatten, entdeckten sie auf dem Rost des Ofens neben Resten
verkohlten Papiers viele kurze blonde Haare, über die der
sonst unter dem Rost befindliche Aschenkasten gestellt war,
so daß man die Haare zunächst gar nicht sehen konnte.
Im Waschtisch lag ein Rasiermesser und auf einer kleinen
Kiste unter der in das zweite Stockwerk führenden Treppe
ein kleinerer Büschel kurzer blonder Haare.
Daraufhin wurde Breitrück noch an demselben Tage
— 7. Dezember — dem Kgl. Amtsgerichte Altona zuge-
führt. Hier stellte er jede Schuld in Abrede, wollte nicht
wissen, wie die gefundenen Sachen in seine Wohnung ge-
langt seien, und bestritt mit aller Entschiedenheit, daß er
jemals einen Knaben in seinem Hause an der Hand ge-
habt und die Treppe hinaufgeführt habe. Er blieb in Haft.
Im Laufe des 7. November 1894 fand noch eine zweite
genaue Durchsuchung des „Lindenhof“ statt, welche weitere
interessante Funde lieferte. Zunächst wurde in dem
Tanzsaale, der unmittelbar an das Haupthaus angebaut
war, unter dem Orchester im Sande verscharrt eine wollene
Kindermütze mit Troddel gefunden — dieselbe, die s. Zt. von
der Bursik gefunden und auf einen Stuhl im Gastzimmer
gelegt und dann verschwunden war. In dieser Mütze
lagen sorgfältig zusammengewickelt eine Knabenunterhose
und ein am hinteren Teile mit Blut beflecktes Hemd.
: Auch diese drei Teile wurden von den Eheleuten Raczka
als ihrem vermißten Sohne gehörig wieder erkannt. Auf
dem Hausboden entdecktö man weitere blonde Kopfhaare,
die nach Angabe der Eltern genau von der gleichen Be-
schaffenheit waren wie die ihres Sohnes Alwin. In dem
332 Octavio Brackenhoeft.
Bette der Wirtschafterin fanden sich an einer Bettdecke
und an einem Kopfkissen eingetrocknete Blutflecke; es stellte
sich heraus, daß diese beiden Teile bis zum Dienstantritt
der Haushälterin, am 12. November, im Turmzimmer ge-
legen hatten und damals, bereits mit den Blutflecken be-
haftet, der Bursik für das Bett der Bang übergeben waren.
Endlich ermittelte man auf dem Vorplatze der ersten
Etage in dem Handstein auch das Stück Seife, das Breit-
rück benutzt hatte, als er sich am Nachmittage des 9. No-
vember die Hände wusch. In dem als Kontor benutzten
Vorzimmer lag eine Speisekarte mit Blutflecken.
Die weitere Verfolgung der Sache wurde nunmehr
von der Hamburger Staatsanwaltschaft an die Kgl. Staats-
anwaltschaft Altona abgegeben, da die Tat auf dortigem
Gebiete verübt und auch der Täter dort wohnhaft war.
Am 9. Dezember wurde die Voruntersuchnng wegen
Mordes gegen Breitrück eröffnet.
Immer noch fehlte das wichtigste Überführungsstück,
die Leiche des Knaben. Doch alles Mühen war vergeblich,
so viel und so eifrig man auch suchte. Bei diesen Nach-
forschungen wurde aber noch der Teppich, der im Kontor
vor dem Schreibtisch des Breitrück gelegen hatte, beschlag-
nahmt, weil er auf der untern Seite viele große Flecke,
die Blutspuren zu sein schienen, und augenscheinlich auch
den Abdruck eines menschlichen Körpers aufwies.
Der Knecht Dallmeier, der von dem Verdachte gegen
Breitrück gehört hatte, berichtete der Polizeibehörde jetzt,
daß Breitrück ihn mehrfach, wenn er sich um die im
zweiten Stocke befindlichen Wasserkasten kümmern wollte,
von dort fortjagte. Es wurde daher auch in den Wasser-
behältern gründlich Umschau gehalten, doch von der Leiche
nichts entdeckt.
Über den ganzen Tanzsaal’ des Lindenhofs erstreckte
sich ein Boden, dessen Tür verschlossen gefunden und, da
der Schlüssel nicht zu finden war, vom Schlosser geöffnet
Der Knabenmörder Breitrück. 333
wurde. Der Boden war so niedrig, daß man sich in ihm
nur gebückt und an mehreren Stellen sogar nur kriechend
bewegen konnte. Um zu diesem Boden zu gelangen,
mußten die Durchsuchenden zunächst von den flachen
Dächern der unter dem Nordgiebel des Tanzsaals befind-
lichen Räume aus an den in der Giebelwand eingelassenen
Steigeisen emporklettern, auf dem vorgebauten Dach
des Speisesaals ein Laufbrett passieren und von der
Mitte dieses Laufbretts auf ein Podest kriechen, um von
diesem mittels einer Leiter eine noch zwei Meter höher ge-
legene eiserne Tür zu erreichen. Durch diese 57 qem große
Tür gelangten die Durchsuchenden auf den 33,5 m langen
und 6 m breiten Spitzboden, den sie nur kriechend oder
gebückt passieren konnten.
In der Mitte des Bodens, dort wo dieser dunkel zu
. werden begann, angelangt, sahen sie auf einer Bierflasche
eine Kerze stehen. Sie zündeten dieselbe an und suchten
mit Hülfe des Lichts weiter. Im äußersten Winkel,
den das Dach mit dem Fußboden bildete, stießen
sie auf einen Haufen von Steinen, Kalk und Papier. Nach-
dem sie einige Steine und Kalkstücke fortgeräumt
hatten, ragte aus dem Haufen eine Schnur hervor,
die sie anzogen. Es kam ein Sack zum Vorschein, aus
dem der blutige Kopf des ermordeten Alwin Raczka her-
aussah, während die übrigen Teile der Leiche in dem
Sacke steckten. Um den Hals war die Gardinenschnur
gewickelt, welche zur Auffindung der Leiche geführt
hatte.
Die Leiche war blaurot, das Gesicht stellenweise von
Schimmel bedeckt, die Haupthaare kurz abgeschnitten.
Auf Anordnung der inzwischen erschienenen Gerichtskom-
mission wurde die Leiche in einer versiegelten Kiste in
das städtische Krankenhaus überführt. Auf dem Boden
nahm man Spuren davon wahr, daß die Leiche auf dem
Fußboden entlang gezogen war; in nächster Nähe eines
334 Octavio Brackenhoeft.
Fensters stand eine kleine mit Petroleum gefüllte Flasche.
Der Schlüssel zu der Bodentür wurde in der Küche auf
dem dazu bestimmten Schlüsselbrett gefunden.
Es wurde nun, nachdem die gefundene ziemlich gut
erhaltene Leiche von dem Schuhmachermeister Raczka als
die seines Sohnes Alwin anerkannt war, weiter festgestellt,
daß Nachbarn des Breitrück in der Zeit nach dem Ver-
schwinden des Knaben mehrfach bemerkt hatten, wie er
sich auf dem Dache und auf dem Boden zu schaffen
machte. Einer von ihnen hatte sogar von seinem Zimmer
aus deutlich beobachten können, wie Breitrück sich mit
einer Leiter auf den im Laufbrett befindlichen Podest be-
gab und mit Hülfe dieser die Luke öffnete und alsdann
den Boden betrat. Die Haushälterin gab ferner noch an,
daß ihr Herr an dem zweiten Sonntage nach dem Ver-
schwinden des Knaben auf dem Boden gewesen sei, um
angeblich die auf demselben befindlichen Ventilations-
schächte mit Säcken zuzudecken, weil sich ein Tanzordner
über starken Zug beschwert hatte.
Die chemische Untersuchung der beschlagnahmten
Gegenstände ergab folgende interessante und wichtige
Momente: Fünf auf den Fensterbänken und am Ofen
des Breitrüäckschen Schlafzimmers gefundene verdächtige
Flecke von rötlicher Farbe entpuppten sich bei der Unter-
suchung nicht als Blutspuren, für die sie nach dem ersten
Aussehen unbedingt gehalten werden mußten, sondern als
Teile eines braunen Lacküberzugs. — Auf dem Rücken
des Knabenhemdes befanden sich in der Höhe des Gesäßes
zwei unregelmäßig geformte, je drei Zentimeter breite und
fünf Zentimeter lange Blutflecke, und zwar auf der äußeren
Seite, so daß sie jedenfalls nur durch eine von außen —
vermutlich mit Daumen und Zeigefinger — erfolgte Be-
rührung entstanden sein konnten. — Weitere grünliche
Flecke ließen die Vermutung nach dem Vorhandensein von
Spermatozoen entstehen, doch ließen sich solche selbst
Der Knabenmörder Breitrück. 335
unter dem Mikroskop nicht nachweisen. Ein unbedeu-
tender Blutfleck am Saume des Leibchens der Unterhose
schien von einer nur oberflächlichen Hautabschürfung her-
zurühren. Ferner wurde Blut auf der im Kontor gefundenen
Speisekarte sowie an der Bettdecke und dem Kopfkissen
festgestellt, welche Breitrück für die Wirtschafterin aus dem
Turmzimmer herausgeholt hatte. — Wenn die übrigen Gegen-
stände auch blutfrei befunden wurden, so konstatierte die
Untersuchung doch, daß an dem Rasiermesser Kohlentrümmer
hafteten, die sich als angesengte oder verkohlte Haare er-
wiesen, die nach Struktur, Dimension und Farbe genau
mit den Haaren des Kindes übereinstimmten und auch den
an der Seife und sonstigen Sachen gefundenen Haaren
glichen. — Die von Breitrück getragene Hose wies zahl-
reiche Ceresinflecke auf, die durchaus mit der auf der
Flasche gefundenen Kerze übereinstimmten.
Am 11. Dezember um 12 Uhr mittags fand sich die
Gerichtskommission im städtischen Krankenhause zur Obduk-
tion der gefundenen Leiche ein. Der miterschienene Vater
des Raczka erkannte die Leiche nochmals als die seines
vermißten Sohnes Alwin an. Als Breitrück zur Rekogno-
szierung vorgeführt wurde, trat er mit eisiger Ruhe an den
Leichnam heran und erklärte mit fester Stimme, daß er die
Leiche nicht kenne, den Knaben niemals gesehen habe und
unschuldig sei. — |
Aus dem Obduktionsbefunde ist Folgendes hervorzu-
heben: Die Leiche war bis zum Halse in einen groben Sack
eingeschlagen, um dessen oberes Ende — gleichwie auch
um den Hals selbst — eine Gardinenschnur festgeschlungen
war. Nach der Entfernung des Sackes zeigte sich der
‚Körper, der verhältnismäßig gut erhalten, an den Gliedern
blaß und schwach rötlich, am Unterleib hochrot gefärbt und
an vielen Stellen mit Schimmel bedeckt war. An dem Kopfe
fehlte in der Mitte und vorn das Haar fast gänzlich, während
an den Seiten und am Hinterkopfe nur kurze und spärliche
336 Octavio Brackenhoeft.
Haare vorhanden waren. An Stirn, Schläfe und Händen
zeigte sich ein abkratzbarer Belag, der von dem Chemiker
als verbrannte, verkohlte Haare und Haut ermittelt wurde.
Oberhalb des linken Ohres fehlte ein Stückchen Haut voll-
ständig, ebenso die Augenbraunen. Am Gesicht war ein Ge-
ruch von Petroleum deutlich wahrnehmbar. Die zweimal um
den Hals gewundene Schnur war sehr stramm geschnürt
sodaß sie in tiefe Hauffalten gelagert zu sein schien, und
auch im Nacken zusammengebunden. An Brust und Bauch
zeigten sich keine besonderen Merkmale. Der Penis war
schlaff, die Innenseite des Praeputium erschien hochrot und
des Oberhäutchens beraubt. Die Schleimhaut des Rectum
zeigte am Rande kleine Risse. An Armen und Beinen und auf
der äußeren Seite beider Ellenbogen und Unterschenkel
fanden sich rote Linien, die gleichfalls auf Einschnürungen
hindeuteten.
Das Gutachten der Sachverständigen ging dahin, daß
der Knabe durch Erstickung ums Leben gekommen sei, die
- durch die sichtlich erfolgte Strangulation hervorgerufen war.
Nach der Art und Beschaffenheit der Hautrinnen und Falten
war es unzweifelhaft, daß die Strangulation noch an dem le-
benden Kinde vorgenommen war. Sodann hat noch brennendes
Petroleum auf den Körper und zwar namentlich auf Kopf,
Hals und Hände eingewirkt, ohne daß mit Sicherheit festzu-
stellen oder auch nur darauf zu schließen gewesen wäre,
ob diese Einwirkung des Feuers noch bei Lebzeiten oder
erst nach dem Tode erfolgt ist. Es wurde aber als zweifel-
los gefolgert, daß die Umschlingungen der Arme und Beine
zu Lebzeiten des Knaben vorgenommen, aber erst nach
seinem Tode gelöst waren. Die aus dem Befunde des
Rectum (anus) zunächst gefolgerte Annahme einer gewalt-
tätigen (päderastischen) Einwirkung wurde unbestimmt ge-
lassen, aber als sicher angenommen, daß eine gewalttätige
Einwirkung auf den Penis durch Zerrung und Dehnung
stattgefunden habe.
B5
„m eh u ha T a a å’ Fr OT HH
Der Knabenmörder Breitrück. 837
Breitrück beteuerte auch diesem erdrückenden Beweis-
material gegenüber seine Unschuld. Er konnte sich jetzt
des 9. November und seiner Einzelheiten nicht mehr ent-
sinnen und bestritt auch, solches jemals den Beamten an-
gegeben zu haben. Er machte darauf aufmerksam, daß die
Bursik ihre Angaben, die ihm völlig unbegreiflich waren,
erst einen Monat nach der angeblichen Tat gemacht habe,
hielt den Knecht Dallmeier für rachsüchtig und nachtragend,
konnte aber einen Verdacht gegen irgend jemand nicht
aussprechen, sondern wies nur darauf hin, daß in der frag-
lichen Zeit sehr viele Arbeiter in seinem Gewese beschäftigt
gewesen seien, von denen vielleicht einer die vorgefundenen
Sachen ins Haus gebracht und dort versteckt habe, um sich
selbst zu retten. Er erinnerte sich nicht, den Knaben,
‚dessen Bild ihm vorgelegt wurde, und die aufgefundenen
Sachen jemals gesehen zu haben. Schließlich glaubte er,
sich zu erinnern, daß er am Nachmittage den Besuch eines
ihm befreundeten Mädchens erhalten und am Abend gegen
10 Uhr ein Vergnügungsetablissement für mehrere Stunden
aufgesucht habe. Er bestritt, häufig auf dem Spitzboden
gewesen zu sein, gab aber zu, daß er sich öfters auf den
platten Dächern aufgehalten habe, um die Flaggen auf-
zuziehen und um nach den Scheiben in dem Oberlicht zu
sehen.
_ Breitrück ist im September 1866 zu Hamburg geboren
und kam schon im jugendlichen Alter von 7 Jahren nach
Altona, wo sein Vater den „Englischen Garten“ übernahm,
ein hauptsächlich von Arbeitern, Seeleuten und leichtfertigen
Mädchen besuchtes Tanzlokal. In Altona besuchte er die
Bürgerschule und später in Kiel fast drei Jahre lang die
Realschule. Nachdem er dann das Krämereigewerbe erlernt
hatte, fand er in einem Engrosgeschäft Stellung, bis er im
Jahre 1887 seiner Militärpflicht beim Infanterie-Regiment 77
genügte, wo er sich gut führte. Im September 1889 begann
er selbständig eine Krämerei in Hamburg-Eimsbüttel, die er
Der Pitaval der Gegenwart. II. 24
338 Octavio Brackenhoeft.
bis zum März 1894 behielt. Ein Delikatessengeschäft in
St. Pauli jedoch gab er im August desselben Jahres auf
und übernahm den in Langenfelde belegenen „Lindenhof“,
ein umfangreiches Wirtschaftsgewese mit Tanzsalon. Er war
nicht verheiratet, unterhielt aber viel Verkehr mit Frauen-
zimmern, ohne indess in sexueller Beziehung unmäßig
zu sein. Er wußte sich bei Frauen durch sein höfliches
und oft übertrieben zuvorkommendes Benehmen beliebt zu
machen. Auch im „Lindenhof“ hat er in seinen Privat-
zimmern häufig Damenbesuch empfangen. So ist die
Freundin, deren Besuch er am Nachmittage des 9. November
gehabt zu haben behauptete, vielfach bei ihm gewesen.
Da sie Buch über diese Besuche führte, konnte nachgewiesen
werden, daß sie nicht an jenem Tage, sondern erst am
10. November bei ihm gewesen war. Eine andere Freundin,
die er schon als Krämer kennen gelernt und nach längerem
Widerstreben verführt hatte, besuchte ihn auch später noch
im „Lindenhof“. Dieselbe hatte an ihm eine eigentümliche
Neigung beobachtet: er frisierte oder schnitt auch wohl
ihr Haar; wenn das Haupthaar nur ein wenig ausgerauht
war, brachte er es wieder in Ordnung und regelmäßig schnitt
er ihr die kleinen Nackenhaare mit der Schere ab und
beseitigte, da ihm auch das noch nicht genügte, mit dem
Rasiermesser die letzten Reste dieser kleinen Haare, die er
dann fortwarf.
Breitrück hatte sich beim Militär und auch im bürger-
lichen Leben straffrei geführt bis auf eine im Oktober
1892 vom Landgericht Hamburg wegen Vergehens gegen
das Markenschutzgesetz gegen ihn erkannte Geldstrafe
von 150 M.
Am 30. Januar 1895 erhob die Kgl. Staatsanwaltschaft
Altona gegen Breitrück Anklage wegen Mordes. Der Ver-
teidiger beantragte Einholung eines Obergutachtens des
Medizinalkollegiums über die drei Fragen, ob die Erstickung
notwendigerweise gewaltsam herbeigeführt sein mußte, ob
Der Knabenmörder Breitrück. 339
die an dem Rasiermesser gefundenen Haare mit denen des
Knaben identisch waren, und wann der Tod eingetreten war,
und hielt es für seine Pflicht, Ergänzung der Voruntersuchung
und Haftentlassung zu beantragen und damit zu begründen,
daß die Belastungszeugen unglaubwürdigseien. Diese Anträge
wurden abgelehnt und gleichzeitig das Hauptverfahren vor
dem Schwurgerichte Altona eröffnet. Die gegen diesen Be-
schluß eingelegte Beschwerde des Verteidigers wurde vom
Oberlandesgerichte Kiel verworfen. Jetzt beantragte der Ver-
teidiger die Ladung von 44 weiteren Zeugen sowie eines
Schreibsachverständigen, der bereits ein schriftliches Gut-
achten auf Grund der photographischen Reproduktionen der
Briefe der Bursik erstattet und in diesem erklärt hatte, er
müsse die Originale sehen, da er nur aus der Handschrift
selbst einen sichern Schluß auf „eine etwa vorhandene Krank-
heit“ ziehen könne. Die Ladung einiger der benannten Zeugen
wurde verfügt, die des Schreibsachverständigen abgelehnt.
Als endlich am Vormittage des 10. Februar 1895 um
10 Uhr die Hauptverhandlung begann, waren die Korridore
des Altonaer Gerichtsgebäudes von einer Menschenmenge
derart überfüllt, daß aus dem Gedränge heraus vielfach Angst-
und Hülferufe laut wurden. Erst allmählich verzog sich der
Schwarm, als man erfuhr, daß der Eintritt zum Schwurge-
richtssaale nur gegen Karten gestattet wurde. Nachdem
in fünftägiger Verhandlung 102 Zeugen und 5 Sachver-
ständige vernommen waren, beantragte der Verteidiger die
Aussetzung der Verhandlung, um Ermittelungen über das
Vorhandensein einer erblichen Belastung und von Bewußt-
seinsstörungen bei der Bursik vorzunehmen. Dieser Antrag
wurde abgelehnt, da er nach dem übereinstimmenden Gut-
achten der Sachverständigen unbegründet war und auf Aus-
setzung und Hinhaltung des Urteilsspruchs abzielte, und die
Beweisaufnahme wurde geschlossen.
Es wurde den Geschworenen nur die eine Frage vor-
gelegt, ob der Angeklagte Breitrück schuldig sei, im November
24 *
340 Octavio Brackenhoeft.
1894 zu Altona-Langenfelde den Knaben Alwin Raczka vor-
sätzlich getötet und diese Tötung mit Überlegung ausgeführt
zu haben. Der Staatsanwalt bat um Bejahung, der Verteidiger
um Verneinung der Schuldfrage und Breitrück beteuerte
nochmals seine Unschuld. Die Geschworenen bejahten die
Schuldfrage.
Breitrück sagte nichts mehr und der Verteidiger er-
klärte, er habe keine weiteren Anträge zu stellen. Das Urteil
wurde dann dahin verkündet, daß Breitrück des Mordes
schuldig und deshalb mit dem Tode und dem Verluste der
bürgerlichen Ehrenrechte zu bestrafen, auch in die Kosten
des Verfahrens zu verurteilen sei. Breitrück stützte dabei
seinen Kopf mit den auf die Schranke der Anklagebank
gelegten Armen, so daß sein Gesicht nicht zu sehen war.
Ohne ein Wort, aber laut weinend, verließ er schwankenden
Schrittes den Saal. In der Zelle angelangt, sank er zu
Boden und fiel, obwohl mehrmals von den Beamten auf-
gehoben, immer wieder nieder und schluchzte heftig. Als
er sich allmählich beruhigt hatte, kauerte er sich in einer
Ecke der Zelle zusammen und ließ sich willig die Hand-
schellen anlegen; eine Maßregel, die getroffen wurde, um
Selbstmord zu verhindern.
Alle Aufforderungen der Gefängnisbeamten, sich zu
Bett zu begeben, ließ er unbeachtet; die ihm vorgesetzten
Speisen rührte er nicht an; der ihn am nächsten Morgen
aufsuchende Gefängnisgeistliche mußte sich unverrichteter
Sache wieder entfernen, da sein Zuspruch dem Verurteilten
nicht erwünscht war.
Die am 27. Februar 1895 von dem Verteidiger und am
1. März von seinem Nachfolger nochmals eingelegte Re-
vision wurde am 26. April vom Reichsgericht verworfen.
Ein am 8. Mai eingereichtes Gesuch um Wiederaufnahme
des Verfahrens und Aufschub der Strafvollstreckung wurde
durch Beschluß des Landgerichts am 16. Mai abgelehnt
und die gegen diesen Beschluß eingelegte Beschwerde
Der Knabenmörder Breitrück. 341
durch das Oberlandesgericht Kiel am 8. Juni 1895 ver-
worfen. Das gleiche Geschick widerfuhr einem zwei-
ten und dritten Antrage auf Wiederaufnahme des Ver-
fahrens.
In der Nacht auf den 25. August 1895 machte Breit-
rück den Versuch, aus dem Gefängnis auszubrechen. Er
hatte mit Hülfe eines am Abend ihm versehentlich nicht ab-
genommenen Arbeitsınessers seine Fußfessel gesprengt und
von der Mauer ein Stückchen Bewurf und Mörtel losge-
kratzt, jedoch bei der Aussichtslosigkeit von der weiteren
Ausführung abgelassen. In seinem Strohsack hatte er einen
etwa 11/2 Meter langen Strick verborgen, den er aus ihm
zur Anfertigung von Säcken übergebenen Bindfäden ge-
flochten hatte. Dieser Fluchtversuch hatte zur Folge, daß
ihm Handfesseln für die Nacht und Fußfesseln auch für
die Tageszeit angelegt wurden.
Ein am 22. Mai eingereichtes Gnadengesuch wurde
durch allerhöchsten Entschluß vom 3. Februar 1896 abge-
lehnt. Als am Nachmittage des 14. Februar Breitrück er-
öffnet wurde, daß das Urteil am Morgen des nächsten
Tages vollstreckt werden würde, beteuerte er wiederholt
seine Unschuld und bat um Reichung des Abendmahls
durch einen von ihm benannten Geistlichen. Hierauf zün-
dete er sich eine Zigarre an und schrieb eine an die Staats-
anwaltschaft gerichtete Rechtfertigungsschrift, die er jedoch,
nachdem er über das Zwecklose seines Vorhabens durch
den Geistlichen belehrt war, nicht beendete, sondern ver-
nichtete. Er bat dann um Kaffee und Portwein und be-
teuerte seinen Eltern, die ihn zum letzten Male aufsuchten
und fast zwei Stunden bei ihm verweilten, seine Unschuld.
Später empfing er nochmals den Besuch des Gefängnis-
geistlichen, dem er rundweg erklärte, er habe nichts mit
ihm zu tun. Mit einem andern auf seinen Wunsch hin-
zugezogenen Geistlichen unterhielt er sich dagegen gern
und eingehend, ohne jedoch die Tat einzuräumen. Um
542 Octavio Brackenhoeft.
1 Uhr nachts schrieb er seinen Eltern einen Abschiedsbrief
und legte sich um 11/2 Ubr zu Bett, schlief aber erst gegen
5 Uhr ein. Kurz vor 6 erhob er sich wieder, um gleich
darauf nochmals den Besuch des von ihm gewünschten Geist-
lichen zu empfangen. Zwei Stunden später wurde die Strafe
im Hofe des Gerichtsgefängnisses vollstreckt. Ein wuchtiger
Hieb trennte das Haupt vom Rumpfe und der Leichnam
wurde den Angehörigen zur Beisetzung überwiesen.
Auch angesichts des Todes hatte Breitrück sich nicht
zu einem Geständnis verstanden. Wenn es nun auch zum
Nachweise seiner Schuld angesichts der erdrückenden Be-
lastung seines Geständnisses nicht bedurfte, so wäre doch
aus dem Gesichtspunkte der Aufklärung der Tat und ihres
Motivs ein eingehendes Geständnis bedeutungsvoll gewesen.
Denn einige Angaben, welche Breitrück in einem nach
seiner Verurteilung auf unaufgeklärte Weise aus dem
Untersuchungsgefängnis herausbeförderten Briefe über die
Ausführung der Tat gemacht hat, geben gewiß kein rich-
tiges Bild von Motiv und Ausführung der Tat, weil dieser
Brief den Zweck hatte, den Verdacht der Täterschaft auf
eine andere Person abzuwälzen.
Die gesamten Umstände deuten — ganz abgesehen
von dem Mangel eines andern erkennbaren Motives —
daraufhin, daß Breitrück zur Ermordung des Knaben durch
die Geschlechtslust getrieben worden ist. Dafür spricht zu-
nächst folgender Vorfall, der zeigt, daß Breitstück zweifel-
los päderastische Neigungen hatte. Im Frühjahr 1894 traf
Breiträck in einem Lokale mit einem von seiner Mutter
begleiteten 6jährigen Jungen zusammen, den er weiter
nicht kannte. Er kaufte ihm für 80 Pfennige Schokolade,
schenkte ihm einen Groschen, streichelte seine Wangen
und fuhr ihm mehrfach durch und über die Haare, sodaß
die Mutter ihm schließlich sein Gebahren ausdrücklich
untersagen mußte und, als auch das nichts fruchtete, das
Der Knabenmörder Breitrück. 343
Lokal verließ, um ein anderes aufzusuchen. Sofort erschien
auch hier Breitrück und setzte sich wieder zu ihnen; er
wiederholte seine Liebenswürdigkeiten gegen den Knaben
und fragte u. a. auch, ob er nicht einmal mit ihm allein
spazieren gehen dürfe. Die Mutter verneinte dies und
` suchte, als Breitrück ihr nun gar Unterstützung anbot, ihm
abermals zu entkommen. Er schien das jedoch bemerkt
zu haben und bat sie, noch ein anderes Lokal zu besuchen,
in dem es einen schönen steifen Grog gäbe. Obwohl sie
anfangs sich auf nichts einlassen wollte, willigte sie schließ-
lich auf sein liebenswürdiges Zureden ein. Als Breitrück
dann in diesem dritten Wirtschaftslokal mit einem Fremden
Streit bekam, benutzte die Frau mit großer Vorsicht diesen
günstigen Moment und entfernte sich wiederum mit ihrem
Jungen; kaum war sie ein Stückchen des Weges gegangen,
als Breitrück ihr nachgeeilt kam und auf ihre ärgerliche
Frage, was er denn um alles in der Welt von ihr wollte,
ganz offen erklärte, er wolle von ihr überhaupt nichts, da
sie ihm zu alt sei, aber er interessiere sich für ihren hüb-
schen Jungen und wolle sie daher auch gern unterstützen.
Nur dadurch, daß sie ihm eine falsche Adresse angab und
ihm versprach, sich mit dem Jungen am nächsten Abend `
wieder einzufinden, entging sie schließlich seiner Verfolgung.
Am nächsten Morgen ließ sie dem Jungen sein langes
lockiges Haar abschneiden, damit der Verfolger ihn nicht
wieder erkenne. Breitrücks Name war auch in den Kreisen,
die perversen Neigungen nachgehen, nicht unbekannt.
Die gleiche sexuelle Anziehungskraft, wie dieser Knabe,
scheint auch der blondlockige hübsche und gleichalterige
Alwin Raczka auf Breitrück ausgeübt zu haben. Was bei
dem wohlbehüteten Knaben nicht gelang, gelang bei dem
arg- und schutzlosen Kinde. Welche Rolle in Breitrücks
sexuellem Leben gerade die Haare spielten, ist aus der oben
wiedergegebenen Erzählung der einen Freundin zu ent-
nehmen. Auch mit den Haaren des kleinen Raczka hat
344 Octavio Brackenhoeft. Der Knabenmörder Breitrück.
Breitrück sich, wie oben dargestellt, in auffallender Weise
zu schaffen gemacht. Der Einwand, daß sich an der
Leiche Spuren eines geschlechtlichen Mißbrauchs odergrobe
Verletzungen nicht gefunden haben, spricht nicht gegen die
Annahme des sexuellen Motivs, denn die Gruppe der sog.
Fetischisten findet geschlechtliche Befriedigung oft schon
lediglich durch das Ergreifen und Betasten gewisser, häufig
lebloser Gegenstände (Fetische). Kraft-Ebing erzählt in seiner
Psychopathia sexualis den Fall des Verzeni, der drei Frauen
erdrosselte und drei andre zu erdrosseln versuchte; er
erklärte, daß ihm das Gefühl, wenn er sein Opfer am
Halse berührt und zu würgen begonnen hatte, sexuelle
Empfindungen erregt hätte und daß er daher die Frauen,
bei deren Drosseln er sich schon befriedigt habe, am Leben
gelassen habe. Dieser Verzeni war nach dem Ausdrucke
Kraft-Ebings übrigens auch eine Art Haarfetischist, denn
es gewährte ihm nach seinen eigenen Angaben einen großen
Genuß, den Ermordeten die Haarnadein aus dem Haare zu
ziehen. In diese Kategorie werden wir auch Breitrück
einreihen können. Demgegenüber kommt nicht in Betracht,
daß er in geschlechtlicher Beziehung anscheinend auch
normale Befriedigung suchte und fand, denn die verschie-
denen Formen desselben Triebes laufen in demselben In-
dividuum nicht selten neben einander her.
Auf die Feststellung, wie die grausige Tat des Breit-
rück im einzelnen verlaufen ist, müssen wir nach dem
Tode des einzigen Wissenden verzichten.
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Druck von J. B. Hirschfeld in Leipzig.
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