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Full text of "Plastische Anatomie des menschlichen Koerpers, ein Handbuch fuer Kuenstler und Kunstfreunde"

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PLASTISCHE  ANATOMIE 


DES 


MENSCHLICHEN  KÖRPERS. 


Em  HANDBUCH 


FÜR  KUNSTLER  UND  KUNSTFREUNDE. 


Von  ..vH*' 

J^tKOLLMANN,  i^^-l  ")VS. 

O.  Ö.  PROFEf 


S8SOR  DER  ANATOM»  ZU  BA8BL. 


MIT  ZAHLREICHEN  ABBILDUNGEN  IM  TEXT" 


LEIPZIG, 

VERLAG   VON    VEIT  &  COMP. 

1886. 


IMEimm.  STANFORD  MMi\(^^^ 


Das  Recht  der  Herausgabe  von  Übersetzungen  vorbehalten. 


Druck  von  Metzger  &  Wittig  in  Leipzig. 


Vorwort 


Wenn  der  Künstler  den  Bau  des  menschlichen  Körpers  kennen 
lernen  will,  um  die  mechanische  Grundlage  der  äußeren  Erscheinung 
zu  begreifen,  so  muß  er,  wie  ich  glaube,  denselben  Weg  wandeln,  wie 
der  angehende  Mediziner,  nämlich  mit  dem  Anfang  anfangen.  In  der 
Knochenlehre  ühd  in  der  Muskellehre  liegt  der  Schatz  von  Kenntnissen, 
der  gehoben  werden  muß.  Daß  dies  der  richtige  Weg  sei,  zeigen  jene 
Werke  über  plastische  Anatomie,  welche  von  Künstlern  flir  Künstler 
hergestellt  wurden.  Solche  Werke  enthalten  vorzugsweise  die  eben- 
erwähnten beiden  Abschnitte  der  Anatomie.  Deshalb  befaßt  sich  auch 
das  vorliegende  Buch  vorwiegend  mit  der  Knochen-  und  Muskellehre. 

Der  Text  ist  nach  dem  Muster  unserer  Lehrbücher  der  syste- 
matischen Anatomie  so  abgegliedert,  wie  dies  eine  schon  alte  Lehr- 
methode als  zweckmäßig  erwiesen  hat,  eine  Methode,  die  ich  überdies 
mehrere  Jahre  hindurch  bei  meinen  Vorträgen  über  plastische  Anatomie 
an  der  Akademie  der  bildenden  Künste  zu  München  erprobt  habe. 

Die  Knochenlehre  nimmt  naturgemäß  einen  verhältnismäßig  großen 
Teil  des  vorliegenden  Werkes  ein,  denn  sie  enthält  auch  die  Beschrei- 
bung der  Gelenke  und  ihrer  Mechanik;  das  Knochengerüste  ist  eben 
der  Kern  der  menschlichen  Gestalt.  Die  Muskellehre  ist  dagegen  etwas 
mehr  zusammengedrängt;  sollte  sie  manchem  noch  zu  gedehnt  erschei- 
nen, so  ist  zu  erwägen,  daß  es  flir  das  Verständnis  der  Formen  nicht 
ausreicht,  nur  den  Verlauf  des  Muskels  anzugeben,  sondern  es  muß 
auch  seine  Form  und  die  Form  seiner  Sehne  beschrieben  werden, 
weil  beide  flir  das  Auge  des  Künstlers  gleichzeitig,  in  der  Kühe  wie  in 
der  Bewegung,  auf  zwei  bewegliche  Systeme,  nämlich  auf  das  Skelett 
und  auf  die  Haut,  wirken. 

Die  Erfahrungen  über  den  großen  Einfluß  der  Sehne  auf  die  For- 
men sind  hier  zum  erstenmale  im  ganzen  Umfang  gewürdigt  worden. 
Jede  Abbildung  zeigt  dies  durch  die  verschiedene  Behandlung  von 
Fleisch  und  Sehne  deutlich  an.  Figuren  wie  auf  S.  208  und  385 
erklären  sich  von  selbst,  auch  ohne  Text,  und  würden  flir  sich  allein 
genügen,  wenn  es  sich  in  der  Kunst  nur  um  die  Wiedergabe  der  einen 


jy  Vorwort. 

ruhigen  Stellung  handelte.  Die  unendlich  wechselvollen  Formen  werden 
aber  nur  verständlich,  wenn  der  Zusammenhang  der  gestaltenden  Kräfte 
erkannt  ist  und  sich  das  Äußere  als  notwendiges  Ergebnis  der  inein- 
andergreifenden Teile  darstellt. 

Abschnitte  über  Eingeweide  und  Nerven  wird  man  vollständig 
vermissen  und  selbst  von  dem  Gefäßsystem  sind  nur  einige  oberfläch- 
liche Venengebiete  berücksichtigt.  Nicht  alle  dem  Anatomen  bedeu- 
tungsvollen Teile  des  Körpers  sind   eben  auch  dem  Künstler  wichtig. 

Die  Beschreibung  der  Formen  muß  in  der  Anatomie  an  der  ge- 
raden, aufrechten  Haltung  des  Körpers  beginnen.  Sie  ist  die  Aus- 
gangsstellung für  jede  Bewegung  wie  für  jede  Orientierung.  Um  aber 
die  Erklärung  der  Mechanik  und  einiger  Phasen  der  Bewegung  ab- 
wechslungsreich zu  gestalten,  sind  in  den  Text  auch  bewegte  Figuren 
aufgenommen  worden.  Besonders  geeignet  sind  nach  dieser  Richtung  der 
Borghesische  Fechter  und  die  Skizzen  Michelangelg's.  Michel- 
angelo ist  am  tiefsten  in  das  Wesen  der  Formen  eingedrungen,  und 
seine  Zeichnungen  sind  für  die  Verwertung  in  der  plastischen  Anatomie 
wie  gemacht. 

Um  das  unvermeidliche  Einerlei  der  anatomischen  Beschreibungen 
dem  Leser  etwas  angenehm  zu  machen,  bin  ich  dem  Beispiel  eines 
ausgezeichneten  anatomischen  Schriftstellers  gefolgt,  und  habe,  zwar 
nur  in  kleiner  Dosis,  physiologische,  historische  und  sprachliche  Zugaben 
in  den  Text  gemischt.  Die  ersteren  gehören  streng  genommen  zur  Sache, 
die  letzteren  sind  vielleicht  Hilfsmittel,  um  maijche  der  abenteuerlichen 
Namen  im  Gedächtnis  zu  behalten.  Ich  wenigstens,  und  mit  mir  viele, 
haben  diese  Zuthaten  in  Hyetl's  Werken  stets  mit  wahrem  Behagen 
gelesen. 

Jeder  Versuchung,  die  Idee  eines  Kunstwerkes  oder  seine  Aus- 
führung prüfend  zu  beurteilen,  habe  ich  widerstanden,  weil  das  streng- 
genommen nicht  in  das  Gebiet  der  Anatomie  hineingehört.  Diese 
Zurückhaltung  mag  wohl  manchen  überraschen,  der  unter  plastischer 
Anatomie  statt  einer  Beschreibung  der  Muskeln  und  des  Skelettes 
eine  kritische  Prüfung  von  Kunstwerken  versteht,  allein  ich  bin  der 
Meinung,  daß  derartige  Betrachtungen  über  das  innere  Wesen  eines 
Kunstwerkes  in  das  Gebiet  der  Archäologie  und  der  Kunstgeschichte 
gehören. 

Basel,  im  Dezember  1885. 

Der  Verfasser. 


Inhalt. 


Seite 

Einleitung i 

Aufgabe  der  plastischen  Anatomie 3 

Studium  der  plastischen  Anatomie  (Methode) 5 

Geschichte  der  plastischen  Anatomie  und  Bemerkungen  über  die  Figuren 

dieses  Buches 9 

Plastisch-anatomische  Präparate 18 

Erster  Teil. 
Erster  Absehnltt.    Das  Skelett. 

Allgemeine  Bemerkunfi:en 24 

Allgemeine  Eigenschaften  der  Knochen 26 

Verbindungen  der  Knochen 31 

Naht.    Knorpelfuge.     Gelenk 31 

Allgemeine  Beschaffenheit  eines  Gelenkes 32 

Gelenkformen.     . 36 

Das  Kugelgelenk 36 

Das  Winkelgelenk 40 

Zusammengesetzte  Gelenke 43 

Straffe  Gelenke 45 

Zweiter  Abschnitt.    Die  Haut. 

Die  Haut 46 

Farbe  der  Haut 47 

'Unterschiede  der  Haut,  bedingt  durch  das  Geschlecht    ....  49 

Hautfalten •    .     .     .     .  53 

Die  Grübchen  in  der  Haut  und  ihre  Entstehung 58 

Hautfalten  an  den  Gelenken 63 

Dritter  Abschnitt.    Die  Haare. 

Vierter  Abschnitt.    Spezielle  Knochenlehre. 

A.  Der  knöcherne  Kopf  (Schädel). 

Allgemeine  Eigenschaften  des  Schädels 73 

Hirnschädel 74 

Verbindungsarten  der  Schädelknochen 81 

Gesichtsteil  des  Schädels 82 

B.  Beschreibung  der  einzelnen  Schädelknochen. 

Das  Stirnbein .     .     , 92 

Die  Scheitelbeine 95 

Das  Hinterhauptsbein 95 

Das  Schläfenbein 96 

Die  Qesichtsknochen. 

Das  Oberkieferbein 97 

Die  Nasenbeine 100 

Das  Wangenbein 101 

Der  Unterkiefer 102 


YI  Inhalt. 

Seit« 

Das  UnterMefergelenk  und  die  Beweg^gen  desselben 104 

Zähne 105 

Fttnfter  Abschnitt.    Knochen  des  Stammes. 

1)  Wirbel 118 

Die  Halswirbel  und  die  Bewegung  des  Kopfes 115 

Die  Brustwirbel 118 

Die  Lendenwirbel 119 

Das  Kreuzbein 120 

'  Betrachtung  der  Wirbelsäule  als  Ganzes 121 

Die  Gelenke  und  Bänder  der  Wirbelsäule 122 

Bewegungen  der  Wirbelsäule 125 

2)  Brustbein. 127 

8)  Die  Eippen 130 

Betrachtung  des  Brustkorbes  als  Ganzes 131 

Die  Bewegungen  der  Brust 134 

Der  Tod  in  seiner  Wirkung  auf  die  Form  des  Thorax 144 

Sechster  Abschnitt.    Skelett  der  Gliedmaßen. 
Das  Skelett  der  oberen  Gliedmafsen. 

Der  Schultergürtel 147 

Das  Schlüsselbein 147 

Das  Schulterblatt 148 

Das  Skelett  der  freien  Extremität. 

Der  Oberarmknochen 152 

Das  Sehultergelenk,  seine  Bewegungen  und  diejenigen  des  Schulter- 
gürtels    . 155 

'        Die  Knochen  des  Vorderarms 160 

Die  Elle 161 

Die  Speiche 162 

Das  Ellbogcngeleuk  und  der  Einfluß  seiner  Bewegungen  auf  die 

Form  des  Armes 163 

Das  Skelett  der  Hand 170 

Die  Handwurzel 170 

Erste  Reihe  der  Handwurzelkuochen •  ...  170 

Zweite  Reihe  der  Handwurzelknochen 171 

Die  Mittelhandknochen 175 

Die  Knochen  der  Finger 176 

Bewegungen  der  Hand  und  der  Finger 177 

Handgelenk 177 

Beugung  und  Streckung  der  Hand 178 

Ulnarflexion  und  Radialflexion . 179 

Bewegungen  zwischen  der  Mittelhand  und  den  Fingern.     .     .     .  181 

Die  Fingergelenke 184 

Allgemeine  Bemerkungen 185 

Skelett  der  unteren  Gliedmaüsien. 

Der  Beckengürtel 188 

Das  Hüftbein 189 

Die  Verbindung  des  Kreuzbeins  mit  dem  Hüftknochen .     .     .     .  192 

Das  Becken  als  Ganzes 193 

Der  Oberschenkelknochen 196 

Das  Hüftgelenk 199 

Die  Knochen  des  Unterschenkels 202 

Das  Kniegelenk 206 

Das  Skelett  des  Fußes 211 

Die  Fußwurzel 212 

Die  Knochen  des  Mittelfußes 215 


Inhalt.  YQ 

Seite 

Die  Zehen 217 

Die  Gelenke  des  Fußes 219 

Allgemeine  Betrachtungen 221 

Siebenter  Abschnitt.    Huskellehre. 

Allgemeine  Übersicht 225 

Verschiedene  Formen  der  Sehne 227 

Verschiedene  Formen  des  Muskelbauches 284 

Eigenschaften  des  lebendigen  Muskels  u.  einige  Arten  seiner  Wirkung  236 

Der  winkelige  Verlauf  der  Muskeln 242 

Die  Knochen  als  Hebel 245 

Die  Fascie 247 

a.  Der  Zusammenhang  der  Fascie  mit  den  Muskeln  ...»  248 

b.  Die  Fascie,  eine  Ursprungsstätte  von  Muskelbündeln    .     .  251 

c.  Die  Zwischenmuskel bänder 251 

d.  Die  Ringbänder  und  Kreuzbänder 252 

Achter  Abschnitt.    Muskeln  des  Kopfes. 

1.    Muskeln  des  Antlitzes  nnd  des  Schädeldaches 253 

Muskeln  in  der  Umgebung  der  Lidspalte 254 

Muskeln  in  der  Umgebung  der  Mundöfihung 258 

Die  Muskeln  der  Nase 268 

Die  Muskeln  des  äußeren  Ohres  und  des  Schädeldaches     .     .     .  265 

Muskeln  des  Unterkiefers  (Kaumuskeln) 266 

n.  Das  Ange 274 

Der  Augapfel 274 

Äußere  Umgebung  des  Auges 280 

Hautfalten  in  der  Umgebung  der  Lidspalte  .     .     .* 283 

Die  Augenbrauen ~. 287 

Die  Haut  der  Lider 288 

Die  offene  Lidspalte 290 

Die  Bindehaut  des  Auges 293 

Die  Augenmuskeln 294 

m.  Die  Nase 297 

IV.    Das  Ohr 302 

V.    Der  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen 308 

Der  Blick 312 

Unterschied  des  Schlafenden  und  des  Toten 318 

Gebärdenspiel  des  Gesichtes 319 

Neunter  Abschnitt.    Muskeln  des  Rumpfes. 

L   Die  Anatomie  des  Halses 341 

Zungenbein,  Kehlkopf  und  Schilddrüse 342 

Muskeln  des  Zungenbeins 347 

Muskeln  des  Halses 348 

Die  vordere  Region  des  Halses  und  die  Scitenregionen  ....  353 

n.  Muskeln  der  Brust 360 

Gliedmaßenmuskeln  der  Brust 362 

Muskeln  des  Thorax 369 

in.  Muskeln  der  Bauchwand 369 

Vordere  Bauchmuskeln 370 

Hintere  Bauchmuskeln 382 

17.    Muskeln  des  Eückens 382 

Oberflächliche  Muskelgruppe,  welche  die  Gliedmaßenmuskeln  des 

Rückens  umfaßt 383 

Tief  liege  ade  Muskelgruppe 390 

Muskeln  zwischen  Hinterhaupt  und  den  ersten  Halswirbeln    .     .  395 


YTTT  Inhalt. 

Seite 

Zehnter  Abschnitt.    Muskeln  der  Oliedmaßen. 

I.   Mnskeln  der  oberen  GliedmalÜBen 402 

Die  Muskeln  der  Schulter 402 

Die  Muskeln  des  Oberarmes 406 

Die  Muskeln  des  Vorderarmes .    .     ; 412 

Die  Muskeln  der  Hand    .     .   * 423 

Die  Venen  des  Armes 430 

n.   Die  Mnskeln  der  unteren  Gliedmafsen 435 

Die  Muskeln  der  Hüfte 435 

Die  Muskeln  des  Oberschenkels .     .     •    •  441 

Die  Muskeln  des  Unterschenkels 452 

Die  Muskeln  des  Fußes 460 

Die  Venen  des  Fußrückens  und  des  Beines 465 

Zweiter  Teil. 

Erster  Abschnitt.    Anatomie  des  Weibes 470 

Merkmale  des  weiblichen  Skelettes 471 

Das  Fettpolster 477 

Zweiter  Abschnitt.    Anatomie  des  Kindes 48i 

Proportion  des  Kindes  von  acht  Monaten 482 

Besondere  Merkmale  der  einzelnen  Körperabschnitte 487 

Haut)  Muskeln  und  Skelett  des  Kindes 490 

Dritter  Abschnitt.    MechaniJc  der  Stellungen  und  der  Orts- 
bewegung   492 

Der  Schwerpunkt  und  das  Stehen 492 

Das  Gehen 502 

Das  Laufeh 507 

Das  Sitzen 509 

Yierter  Abschnitt.  Proportionslehre  des  menschlichen  EOrpers  512 
Die  Proportion  des  Erwachsenen. 

Die  Proportion  der  Körperhöhe 513 

Die  Proportion  der  Körperbreite 520 

Die  Proportion  der  Körpertiefe 521 

Die  Proportion  des  Gesichtes 522 

Kanones,  denen  ein  anderer  Modul  zu  Grunde  liegt 525 

MiCHELANQELO*s  Kauou 526 

Die  Proportion  des  natürlichen  Skelettes ,  527 

Die  Proportion  des  menschlichen  Körpers  bei  Anwendung  des 

Dezimalsystems 533 

Fftnfter  Abschnitt.    Über  Menschenrassen 537 

Register 555 

Druckfehler 563 

ITaohweis  zu  den  Abbildungen 564 


Einleitung. 


Kollmann,  Plastische  Anatomie. 


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PALO  ALTO,  CALIFl 


4  Einleitung. 

der  Bewegung,  bildet  eine  weitere  Aufgabe,  welche  der  Abschnitt 
„Muskellehre"  umfassen  wird. 

Diese  beiden  Hauptabschnitte  bilden  den  umfangreichsten  Teil 
der  plastischen  Anatomie.  Dabei  ist  es  unerläßlich,  die  toten  Teile 
mit  den  lebendigen  zu  vergleichen.  Modellstudien  am  Lebenden  sind 
fiir  die  Erklärung  der  äußeren  Gestalt  ebenso  wichtig,  wie  die  prüfende 
Forschung  mit  Schere  und  Messer  an  der  Leiche.  Denn  es  handelt 
sich  in  der  Lehre  von  dem  Bewegungsapparat  des  Organismus,  wie 
man  die  Kenntnis  von  Knochen  und  Muskebi  auch  genannt  hat,  nicht 
bloß  darum,  das  einzelne  in  seiner  Erscheinung  zu  erfassen,  sondern 
die  lebendige  Form  in  ihrem  reichen  Wechsel  zu  verstehen. 

Mit  der  Kenntnis  des  Bewegungsapparates  jedoch  ist  an  sich  das 
Gebiet  der  plastischen  Anatomie  nicht  abgeschlossen. 

Ln  Innern  des  Rumpfes,  in  den  beiden  großen  Höhlen,  welche 
als  Brust-  und  Bauchhöhle  bekannt  sind,  befinden  sich  große  nnd  um- 
fangreiche Organe,  welche  den  Zwecken  des  Lebens  dienen.  Eine  Er- 
örterung ihrer  Foimen  und  ihrer  Bedeutung  ist  notwendig,  um  den 
Einfluß  auf  die  äußere  Erscheinung  des  Körpers  zu  verstehen.  Weder 
die  Brust,  noch  der  Unterleib  haben  stets  dieselbe  Gestalt.  Ruhe 
und  Bewegung  prägen  dem  Rumpfe  ebenso  deutliche  Zeichen  auf,  wie 
den  Gliedern.  Die  Anatomie  des  Thorax:  sein  Aussehen  während  der 
verschiedenen  Phasen  der  Atmung,  bei  bedeutenden  Anstrengungen, 
bei  den  die  Seele  tief  erregenden  Affekten,  oder  endlich  bei  dem  leb- 
losen Körper  wird  erst  verständlich,  wenn  die  Thätigkeit  der  Lungen 
bekannt  ist. 

Ein  besonderes  Kapitel  soll  ferner  der  Haut  gewidmet  sein,  welche 
wie  ein  durchsichtiger  Schleier  den  menschlichen  Körper  bedeckt.  Der 
Muskelzug  erzeugt  auf  ihr  Spannungen  und  Falten,  sie  läßt  bald  Ge- 
fäße, Muskelztige  und  Knochenkanten  durchscheinen,  oder  verhüllt,  je 
nach  Geschlecht  und  Alter,  von  den  tieferliegenden  Organen,  was  in 
anderen  Fällen  klar  zum  Ausdruck  kommt. 

Für  alle  diese  Erörterungen  bildet  der  Körper  des  Mannes 
den  Ausgangspunkt. 

Vertraut  mit  dessen  Formen  soll  dann  in  weiterer  Folge  der 
Körper  des  Weibes  geschildert  werden,  soweit  er  in  seinen  Formen 
abweichend  ist. 

Daran  schließt  sich  naturgemäß  eine  kurze  Betrachtung  der 
körperlichen  Eigenschaften  des  Kindes  und  die  Lehre  von  den  Pro- 
portionen. 

Unser  Gegenstand  gliedert  sich  demnach  in  folgende  Haupt- 
abschnitte : 


Stadiam  der  plastischen  Anatomie. 

I.  Teil. 

1.  Übersicht  der  Formen  des  Skelettes, 

2.  Die  Haut. 

3.  Die  Knochenlehre. 

4.  Die  Muskellehre. 

II.  Teil. 

1.  Die  Anatomie  des  Weibes. 

2.  Die  Anatomie  des  Kindes. 

3.  Die  Mechanik  der  Stellungen  und  der  Ortsbewegung. 

4.  Die  Proportion  des  menschlichen  Köi-pers. 


II. 

Studium  der  plastischen  Anatomie  (Methode). 

In  der  darstellenden  Kunst  geht  wie  in  den  beschreibenden  Natur- 
wissenschaften alles  Lernen  und  Begreifen  mit  der  Beobachtung  Hand 
in  Hand.  Trotz  aller  Bücher  muß  man  die  Dinge  leibhaftig  vor  sich 
sehen.  Sonst  bleibt  der  Worte  Sinn  unverstanden,  und  das  Buch 
wie  der  Vortrag  trotz  erklärender  Figuren  von  geringem  Einfluß.  Die 
Formen  des  menschlichen  Körpers  aus  Büchern  allein  lernen  zu 
wollen,  wäre  ebenso  verkehrt,  als  wenn  man  die  Tiere  und  Pflanzen 
nur  nach  Beschreibungen  und  Photographien  darstellen  wollte.  Die 
Kunstakademien  sollten  deshalb  im  Besitz  einer  kleinen  Sammlung 
sein,  welche  ganze  Skelette,  dann  die  größeren  Abteilungen  des- 
selben, wie  Brustkorb,  Schädel  und  Becken,  femer  die  Knochen  der 
Extremitäten  in  verschiedenen  Arten  der  Zusanmienstellung  und  in 
genügender  Zahl  enthält.  Eine  solche  Sammlung  sollte  in  liberalster 
Weise  jedem  Schüler  ofi'en  stehen.  Die  Technik  in  der  Anfertigung 
von  Unterrichtsmaterial  ist  in  hohem  Grade  entwickelt  worden,  und 
hält  mit  den  Anforderungen  der  vervollständigten  Methoden  gleichen 
Schritt.  Es  fehlt  auch  nicht  an  guten  Modellen  für  die  Muskulatur  des 
menschlichen  Körpers  und  diese  sind  selbst  durch  die  besten  Zeich- 
nungen nicht  zu  ersetzen.  In  anderen  Gebieten  des  akademischen 
Unterrichts  ist  der  Wert  derselben  Methode  längst  anerkannt.  Überall 
bestehen  an  den  Kunstschulen  Antikensäle,  in  welchen  nach  Abgüssen 
Auge  und  Hand  geübt  werden.  Die  „Vorlagen**  sind  mit  Recht  ver- 
lassen, und  haben  dem  Abguß  und  dem  Modell  Platz  gemacht. 

Für   den   Unterricht    in    der    plastischen    Anatomie   ist   dasselbe 


6  Einleitung. 

Verfahren  unerläßlich,  soll  die  Kenntnis  der  Formen  sich  vertiefen. 
Vorlesungen  allein  genügen  nicht.  Die  besten  Vorträge  haben  nur  den 
Wert  von  Ferngläsern,  welche  uns  den  fremden  Gegenstand  in  die  Nähe 
rücken  und  deutlicher  erkennen  lassen,  aber  sie  machen  das  eigene 
Sehen  nicht  überflüssig.  Es  sollte  also  nach  dem  Skelett  gezeichnet 
werden  und  auch  nach  anatomischen  Modellen,  welche  naturgetreue 
Reproduktionen  von  Muskelpartien  des  menschlichen  Körpers  darstellen. 
Die  letzteren  sollten  in  doppelter  Zahl  aufgestellt  sein,  und  zwar  ein- 
mal in  der  weißen  Farbe  des  Abgusses,  damit  keine  falsche  Licht- 
wirkung irre  führe,  dann  noch  koloriert,  um  dasjenige,  was  als  Muskel 
sich  wesentlich  verschieden  von  der  Sehne  währeifd  der  Ruhe  und 
während  der  Bewegung  verhält,  deutlich  vor  Augen  zu  führen.  Weiße 
Abgüsse  von  Muskelpräparaten  sind  schwieriger  zu  deuten  als  gefärbte. 
Denn  an  den  ersteren  ist  nicht  immer  gleich  zu  erkennen,  wo  der 
Muskel  aufhört  und  die  Sehne  beginnt.  Dagegen  ist  an  den  kolorierten 
stets  wahrnehmbar,  wo  Fleischmassen  beginnen  oder  aufhören.^  Ohne 
solche  Hilfsmittel  werden  z.  B.  die  Formen  des  Rückens  und  des 
Unterleibes  niemals  klar  werden,  es  sei  denn,  daß  der  Schüler  an  der 
Leiche  selbst  Studien  mache,  was  nicht  an  allen  Orten  ausführbar  ist. 
Der  Schüler  muß  femer  diese  anatomischen  Zeichnungen  direkt  mit 
dem  lebendigen  Körper  vergleichen,  wenn  sein  guter  Wille  Erfolg 
haben  soll.  Modellstudien  am  Lebenden  müssen  stets  das  anatomische 
Studium  begleiten,  und  zwar  sowohl  den  Vortrag  des  Lehrers  als  die 
Arbeit  des  Schülers.  ^ 

Bei  der  Wahl  der  Modelle  flir  den  anatomischen  Unterricht  ist  wohl 
zu  berücksichtigen,  daß  man  zu  den  Demonstrationen  für  die  Knochen- 
lehre magere  Individuen  wähle;  fiir  die  Erläuterungen  zur  Muskellehre 
dagegen  kräftige  Männer  aussuche,  solche  mit  dünner  fettloser  Haut, 
gleichzeitig  intelligent  genug,  um  jene  forcierten  Bewegungen  auszuführen, 
welche  die  Konturen  der  Muskeln  am  schärfsten  hervortreten  lassen. 
Der  Fettwanst  ist  flir  Muskelstudien  gänzlich  unbrauchbar.  Es  ist 
ferner  zu  bedenken,  dass  nur  höchst  selten  der  ganze  Körper  gleich- 


*  Die  Kgl.  bayer.  Akademie  der  Künste  in  München  hat  eine  solche  doppelte 
Reihe  von  Abgüssen  anfetellen  lassen.  Sie  fanden  dort  s.  Z.  eine  doppelte  Ver- 
wendung, als  Unterrichtsmaterial  bei  den  Vorlesungen  und  gleichzeitig  als  Vorlagen 
für  das  anatomische  Zeichnen. 

*  Bei  meinen  Vorträgen  an  der  Akademie  der  bildenden  Künste  in  München 
habe  ich  stets  dieses  Verfahren  festgehalten  und  befolge  es  auch  in  dem  vorliegenden 
Handbuch.  Dasselbe  Verfahren  sollte  ausgedehnte  Anwendung  finden  sowohl  bei 
den  Vorträgen  über  Knochen-,  als  bei  denen  über  Muskellehre,  dann  ist  zu  hoffen, 
daß  die  Erinnerung  der  vorausgeschickten  anatomischen  Details  noch  ^scli  in  dem 
Gedächtnis  sitzt  und  durch  die  Nutzanwendung,  welche  auf  dem  Fuß  folgt,  ver- 
tieft werde. 


Studium  der  plasüschen  Anatomie.  j 

mäßig  entwickelt  ist;  bald  ist  es  nur  der  Oberkörper,  während  der 
Unterkörper  mangelhaft  ist  und  umgekehrt.  Hier  ist  für  plastisch- 
anatomische Zwecke  geeignete  Auswahl  unerläßlich. 

Der  Künstler  findet  übrigens,  abgesehen  von  der  Gelegenheit  im  Akt- 
saal, ein  ganzes  Museum  für  seine  Studien  —  an  dem  eigenen  Körper. 
Er  hat  dabei  den  Vorteil,  durch  seinen  Willen  gerade  jene  Muskeln 
in  Spannung  versetzen  zu  können,  deren  Verlauf  seine  Aufmerksamkeit 
in  Anspruch  nimmt,  was  bei  dem  Modell  erst  nach  langer  Übung  zu 
erreichen  ist.  Ein  Maler  oder  Bildhauer  ist  ferner  kaum  zu  denken, 
der  nicht  längere  Zeit  einen  skelettierten  Schädel  sein  Eigen  genannt 
hätte,  und  eine  kleine  Knochensammlung,  in  welcher  wenigstens  die 
Hand  und  der  Fuß  vertreten  sind.  Diese  Skelettteile  sind  leicht  zu 
beschaflfen.^ 

Diese  flir  die  menschliche  Anatomie  vorgeschlagene  Methode  des 
Studiums  muß  derjenige  noch  in  mancher  Hinsicht  erweitem  und  ver- 
tiefen, welcher  die  volle  Freiheit  in  der  Darstellung  der  menschlichen 
Körper  erreichen  will.  Er  muß  an  der  Leiche  mit  dem  Messer  dem 
Zusammenhang  der  Teile  folgen,  also  sezieren.  Wem  die  Möglichkeit 
gegeben  ist,  auf  einem  Seziersaal  Hand  anzulegen,  der  wird  sich  da- 
durch erst  den  ganzen  Erfolg  seiner  anatomischen  Studien  sichern. 

Von  verschiedenen  Seiten  her  muß  man  sich  also  die  Kenntnis 
des  menschlichen  Körpers  zusammentragen.  Für  das  Studium  der 
Tiere  existieren  heute  dieselben  günstigen  Bedingungen,  wie  einst 
für  den  Menschen  bei  den  Griechen.  Die  griechischen  Schulen  für 
Künstler  befanden  sich  in  den  Gymnasien;  da  wurde  unter  der 
Aufsicht  des  Staates  die  körperliche  Erziehung  der  männlichen  Jugend 
geleitet.  Nackt  erschien  auf  dem  Spielplatz  der  junge  Grieche  zu  den 
Leibesübungen,  nackt  fanden  sie  sich  zu  den  Wettspielen  unter  freiem 
Hinunel  ein.  Die  reife  Jugend,  die  an  den  olympischen  Spielen  teil- 
nahm, war  verpflichtet,  sich  einer  mehrmonatlichen  Vorbereitung  zu 
unterwerfen.  Die  köi'perlich  vollendetsten  Menschen  waren  also  un- 
ausgesetzt vor  den  Augen  der  Künstler.  Dort  in  den  Gymnasien  stu- 
dierte man  die  Wendungen  und  Stellungen  an  den  blühend  fi-ischen  Ge- 
stalten und  an  dem  Abdrucke,  den  die  Ringer  im  Sande  zurückgelassen 
hatten.  Unter  solchen  Umständen  gelang  es  in  Griechenland,  die 
ganze   Schönheit   der   menschlichen   Gestalt   aufzufassen,    und   sie   in 


*  Am  Schluß  dieses  Abschnittes  finden  sich  Firmen  für  osteologische  Präparate 
aufgeführt.  Da  man  sich  seilest  aus  den  wortreichsten  Beschreibungen  der  Knochen 
kaum  eine  richtige  Vorstellung  von  ihrer  Gestalt  bilden  kann,  so  wird  es  zur  un- 
erläßlichen Bedingung,  die  einzelnen  Knochen  in  natura  vor  Augen  zu  haben.  Ab- 
bildungen geben  nur  unvollkommenen  Ersatz.  Das  Besehen  der  Knochen  lehrt  sie 
besser  kennen  als  das  Lesen  ihrt^r  Beschreibungen. 


lL»3cist<rr  Vollendung  den  kommenden  Jahrhnnderten  zn  staonender 
BrTr2r.«ienin2  zu  überlietem. 

SmBäiL  m  'ier  L^i^^  uisesCirllt.  Bei  4eiii  AnbBek  der  roUenriet^n  Fi;zami  «ines 
b«>c£3Hts%l!f>ii  FieciifirTs.  »>i»r  eiiK^  LA*>kooo  und  der  p^zgamieiiidebeii  KniEtverke 
VrtjTw  T»*«  kmm  'iftnLn  zw^ii^In.  i>bv«jhL  so^Zffl  ich  vri&.  kein*?  dip^kcen  Angaben 
iiriVr  4iifip?nxi:«iirn  ä&L  IVr  s«.4LEag«rSi>i?te  Bi^wtri*.  «laß  4e  «ias  Skrfc«  in  all 
<t*äf*T!  T*^*^n  kAzuLtrc.  lirCT  •iarin.  da£  fiv?-  ^  •iarse^rllt.  Enb?  Znä^mm^n^^ttlbni^ 
•5«j*»iifi^ii  Werfc^.  aar  wi»I«4ii?n  Ske-lrtte  Tvrkonmwii.  «ndui^c  d5^  Abiazidhiii^  voo 
LiffiCK:  Wse  «i^^  Alvn  •ien  T*>i  ahjZi^bfliiec.  Don  üf  sirühKicijZ  mh^ptak.  daß 
«*  üdb.s  «i«!  T»>i  iiAEit  isii^ten.  ««^iian  abei%9eiürtJrT]ie  Sertai  b««"  Mokscfaem 
äe^  s&r  aL»  Larrae  b>rz^;liiir!{rii.  AVmo  äwn  ^«or  e«'.  -Hkzt  >e3zi:a.  «t  0;ri«nt«i 
:Mi««r.  «r  f^iv^riu.  fZ  Larrantm  karA^m.  natdi^  c^fthttj  ^c^a^rmi^'itm.  Ei  ist 
nfHmA&i  ?•:■  kfE^ü-strö.  'Llä  kt  «i-n  «7rrberc5  fcnAt«.  col  'ise  tot«^n  Grs{>eiie»er-  .jia 
3n:&c^  'iaziZL  «iär  Ikc^Üz»:!!  Biein  ao^iDaznirr  Kanjgn".  Lam  hirC  aa^  -iai^iaiee  Ge- 
Efp^«^.  vebriie«  b«i  i^«iichifiL  Gaätmäkm  mit  aof  der  T^l  »rrscfa^en.  es:  zn  €xik-m 
■fif^Ci:-  •i'iI^r^ti3^?rl?II  G<enTxä  «S?:»  L^beni»  zn  •frmim&Exii.  Die  Dar?t«uizii^  v>>ii  Gurrippam 
säiz^  azLOZEätvT^v^L.  «iaii  dii^  AIi<^  Kz>:<hr:Tk^»»rüs€e-.  mmdi*  '.'^p^iT««  n^-M^rfmt^  «ehr 
iKCA3  kaxmfiec-  ai»i  dier  Si.'blaÄ.  »iafi  s»*  »^  zum  Sc»lrani  *jf^  xr^cäcLä'fkrn  K'>rp?re 
>KT2&»n.  GfC  &!<•-•  V'jfil  kanm  znräekzzrwv^si^ix. 

HrP9*yKMATSs  hkZ  «cb'C  vv-r  mehr  aL«  i»».»  Jahren  <«n«=.  S:>hn»r  TBEiSBAi.r3 
•äe  Lehre  z»?-jKbrn-  äeh  rinizs  sir  -iem  >a*iiiim  der  KnrKihriikhr«^  zu.  be««dhaftisifii. 
T3ii  rar  'feni  Ar<It>  in  I^tf»hi  rin  bri-caene»  SkeLetc  i=t-  •>rS4rbrTik  remAehc 
E^Di'icirr.  «isr  zax  Ziri:  -^  Phuujls  iebo?.  hat  man  on  in  Gräbirm  az£^cp:-S*n- 

Htkc  *r»äfciit  «iffr  Abbil»i:zi^  riner  alten  •jrciir:«?.  in  wrI«^bEr  «fir.  zn^'hifobijr 
pTKtfCiir  'ffe  Harri  rir^^  v-r-r  Um:  «trheoirn  SkrttTi»  in  v&^  >r  Hv-^i-e*  leijt. 
-r-ihrfc»!  rin  fe-j?E»t?r  •'^niLi-  äl»r  bei^ie-  «eine  Faekel  «h^vin^.  Wj^krüi^h  ein 
M*arcf^    ziL*i    rief-=*    Srin?»!    «ier    innizstrn    VerbcniiTZE;r    «i^r    KrCknr.*^    niit    «ier 


Wer  mit  Hüte  eines  HAndbache*  sich  die  Kenntcisse  vie^  Skelettes 
3:i'i  «ier  Muskeln  enrerben  will.  >«jweit  dies  mit  >*>IcLen:  Hili-mittel 
^be^rhiupt  mo^zHch.  der  wird  am  schnellsten  zum  Ziel  srelingen.  wenn 
rT  ie  Abbrldunzen  nicht  bloß  betrachtet,  sondern  sie  -^-r-r:  näch- 
zeioLnet  und  zu  den  wichtiarsten  Punkten  die  entspreche^ien  Xamen 
hinrasetzt,  Keses  Kopieren  s^»il  st>L4nge  lortgesetr:  wer^Ien.  bis  mm 
im  stÄ^de  ist.  iuswen^üs:  die  einzelnen  Teile  nachzuzeichneiL.  Ein  s*:'k*hes 
Verikhren  fcknn  m^n  .^uswendidemen  mit  dem  Stift-  neuiTii.  Wir 
^erLilien  un.*  dabei  zerade  so.  wie  bei  dem  Auswen-üclrmen  eines 
"Teiü-iLre?.  Man  überschaut  zuerst  die  Hauptp^jtftien  :ind  rrizt  sich 
Hazipcsatz  fe-  Hauptsatz  ein.  Man  Tersucht  «iann  ^ekirzLtiich 
rei  weggelestem  Buche  sie  wieder  herzusagen .  und  weim  zi:i-  r.:oht 
r'TTwkommen  kann,  sieht  man  in  dem  Teste  wieder  nach.  >:■  rrlr:  nan 
auch  mit  dem  Bleistift  die  anatomischen  uzd  die  leNrnli^rn  F.rzien 
dem  «jedichtzis  ein. 

Es  wurde  schon  oben  des  Studiums  an  der  Leiche  i?riach:.    Wäs 
Mtftskd  ist  sein  Ursprung  und  Verlauf,  das  Verhalte«  ier  SeL^en. 


Stadiam  der  plastischen  Anatomie.  9 

der  Bau  der  Gelenke,  diese  Grundvorstellungen  sind  für  den  Künstler  die 
allerwicbtigsten.  Sie  müssen  an  der  Leiche  gewonnen  werden.  Und  ist 
die  Zergliederung  des  Menschen  unmöglich,  so  zergliedere  man  Tiere. 
Selbst  das  Bein  eines  Grasfrosches  wird  nach  dieser  Richtung  hin 
lehrreicher  sein,  als  eine  lange  Beschreibung  über  das  Wesen  eines 
Muskels,  und  die  anatomische  Zerlegung  irgend  eines  Vierfüßlers  auf 
der  Veterinärschule  hilft  mehr  zu  dem  Verständnisse  des  lebendigen 
Körpers,  auch  des  Menschen,  als  ein  dickes  Buch.  Übrigens  bietet 
sich  überall  in  den  Universitätsstädten  Gelegenheit  zu  Studien  an  der 
Leiche.  Hoffentlich  werden  sie  wieder  ebenso  eifrig  betrieben  werden, 
wie  einst  zur  Zeit  der  großen  italienischen  Kunstepoche. 

Michelangelo  soll  zwölf  Jahre  lang  Anatomie  studiert  haben.  Er 
hat  viele  Leichname  seziert,  und  nicht  nur  von  Menschen,  sondern  auch 
von  Tieren,  vornehmlich  von  Pferden.  „Da  ist  kein  Tier,  das  er  nicht 
seziert  hätte,  und  von  der  menschlichen  Anatomie  hatte  er  eine  so 
gute  Kenntnis,  wie  kaum  einer,  der  sein  ganzes  Leben  nichts  anderes 
studiert  hat."  Er  soll  die  Absicht  gehabt  haben,  ein  Werk  über  die 
Bewegungen  und  die  Formen  des  menschlichen  Körpers,  sowie  eine 
Osteologie  herauszugeben,  in  welcher  er  eine  von  ihm  durch  lange 
Praxis  gewonnene  Proportionslehre  aufzustellen  gedachte;  die  des 
Albrecht  Dübee  habe  ihm  nicht  gefallen,  weil  dieselbe  nur  von  den 
Maßen  und  Varietäten  des  Menschenkörpers  handle,  worüber  sich  keine 
bestimmten  Regeln  aufstellen  ließen  und  alle  Figuren  kerzengerade 
stünden.  (Vasari,  G.,  Leben  der  ausgezeichnetsten  Maler  etc.,  übersetzt 
von  E.  Forster.    Stuttgart  und  Tübingen  1847.    Bd.  V.  S.  417  u.  flf.) 


IIL 

Geschichte  der  plastischen  Anatomie  und  Bemerkungen 

über  die  Figuren  dieses  Buches. 

Es  giebt  eine  große  Reihe  von  Werken,  welche  sich  ausschließlich 
mit  plastischer  Anatomie  beschäftigen  und  in  der  Absicht  hergestellt 
sind,  die  Künstler  bei  dem  Studium  des  menschlichen  Körpers  zu 
unterstützen.  Faßt  man  nur  diesen  letzteren  Gesichspunkt  iixs  Auge, 
dann  kommen  mit  Recht  auch  noch  die  Hand  Zeichnungen  in  Betracht, 
welche  die    anatomischen  Studien  hervori'agender  Künstler  bezeugen. 

Wenn  von  Michelangelo,  Rafael,  Leonardo  da  Vinci  u.  a. 
hiervon  viele  und   belehrende  Beweise  auf  die  Nachwelt   übergingen. 


10 


Einleitnag. 


SO  bilden  iiuch  diese  Fragmente  offenbar  einen  Beitrag  zur  Geschichte 
der  plastischen  Aniitomie.  Für  den  Kenner  sind  sie  kleine,  aber  wei't- 
volle  Abhandlimgeii,  mit  dem  Gi-iffel  von  einem  Künstler  für  Künstler 
geschrieben.  Man  könnte  sie  Essays  nennen,  über  einen  oder  den 
anderen  Teil  des  Menschenkörpers ,  oft  wohl  flüchtig,  aber  mit  er- 
Mtaunlicher  Tüchtigkeit  hingeworfen,  und  höchst  lehrreich. 

Da  existiert  z.  B,  ein  Blatt  von  Michelangelo,  gestochen  vou 
Giovanni  Fabbi  (einem  Kupferstecher  zu  Bologna):  ein  stehender  Mann 
i»  '/,  Ansicht,  den  Kopf  im  Profil.  Die  Haut  ist  nicht  abgenommen, 
die  Muskeln  ti'eten  aber  sehr  deutlich  hervor,  das  linke  Hüftgelenk  ist 
durch  einen  Stern  angedeutet.  Rechts  ein  eingeteilter  Maßstab  für 
die  ganze  Figur.  Das  Blatt  ist  wertvoll  für  dit  Geschichte  der  pla- 
stischen Anatomie,  weil  man  neben  dem  Studium  und  der  Auffassung 
der  Muskeln  zugleich  genauen  Aufschluß  darüber  erhält,  wie  sich 
BocNABOTTi  die  Proportionen  des  Kör]ierH  dachte.  Diese  wichtige 
2eiclmung  ist  in  das  vorliegende  Buch  aufgenommen  worden.  Femer 
existiert  von  ihm  eine  Darstellung  des  Arms,  des  Rückens  nebst  der 
linken  Seite  des  Körpers  u.  a.  m. 

Li  den  13  Bänden  Leokakdo  da  Vinci's  Handzeichnungen  finden 
sich  (sieben)  Tafeln  mit  anatomischen  Abbildungen.  Sie  smd  zu  finden 
in  JoHX  CHAMBEKi,ÄiNE'a  original  designs  of  the  most  celehrat«d  masters 
of  the  Bologuese,  Roman,  Florentine  and  Venetian  schools.     London 

isi:i.  fol. 

Sehr  bedeutend  ist  ferner  die  Zahl  der  bildlichen  Darstellungen 
anatomischer  Teile  des  Menschenkörpers,  welche  von  Künstlern  lediglich 
für  die  systematische  Anatomie,  d.  h.  für  die  von  Anatomen  veröffent- 
lichten Atlanten  hergestellt  worden  sind,  welche  aber  von  bleibendem 
Werte  für  beide  Gebiete  sind.  Ich  erinnere  nur  an  des  Besnh.  Sieofb. 
Albiniis'  (t  1770)  berühmten  Atlas,  mit  welchem  die  anatomische 
Darstellung  in  die  Epoche  ilirer  Vollendung  tritt.  Denn  man  begnügt 
sich  nicht  mehr  mit  dem  bloßen  Abzeichnen  des  Gesehenen,  sondern 
ermittelt  eist  durch  vielfache  Vergleicbung  die  wahre  Form,  um  sie  dann 
künstlerisch  nachzubilden.  Der  Zeichner  und  Stecher  der  ALura'schen 
Figuren,  Jan  WANDEL\EB(t Leiden  1759),  Schüler  von  Folkema,  G.v.i». 
GouwEN  und  G.  d.  Laaaise,  schuf  so  in  dem  Zusammenwirken  mit 
Albik  ein  Werk,  das  namentlich  für  die  Skelette  und  die  einzelnen 
Knochen  von  unübertroffener  Schönheit  ist.  Es  vermag  ein  ganzes 
osteologisclies  Mnseum  zu  ersetzen.  Mit  feinem  Gefüld  hat  der  Künstler 
auf  den  ersten  12  Tafeln,  den  Tabidae  sceleti  et  niusculonim,  arclii- 
tektoniscbes  und  landschaftliches  Beiwerk  angebracht,  um  die  Härte 
des  weißen  Hintergrundes  abzustufen.  Daher  scheinen  auch  in  einer 
Entfernung  vou  I — 1'/^  m,  durch  die  hohle  Haml  gesehen,  die  Skelette 


Geschichte  der  plastiachen  Anatomie.  11 

aus  dem  Bild  herauszutreten.  So  entstand  ursprünglich  das  Werk 
eines  Anatomen  für  die  Anatomie.  Der  Gelehrte,  der  die  strengsten  An- 
forderungen an  die  wissenschaftliche  Wahrheit  der  Abbildungen  stellte, 
besaß  aber  genug  Einsicht,  um  dem  hervorragenden  Künstler  innerhalb 
der  technischen  Darstellung  volle  Freiheit  zu  lassen.  Daher  kommt 
es,  daß  Albinus'  Tafeln  unter  Künstlern  wie  Anatomen  stets  zu  den 
heiTorragendsten  Leistungen  werden  gezählt  werden,  und  für  beide 
Gebiete  von  bleibendem  Werte  sind. 

Es  sollen  hier  nur  einige  jener  Werke  aufgeführt  werden,  welche 

1.  als  Unterstützung  der  anatomischen  Wissenschaft  durch  die 
bildende  Kunst,  und 

2.  welche  als  ideale  Nachbildung  der  anatomischen  Mittelform 
des  Menschen  in  mehr  künstlerischer  Erkenntnis,  aber  mit 
anatomischer  Schärfe  angesehen  werden  können. 

Die  letzteren  fallen  ausschließlich  in  das  Gebiet  der  Kunstanatomie. 
Sie  folgten  den  besten,  von  der  wissenschaftlichen  Anatomie  dargebotenen 
Mustern,  beschränkten  sich  aber  auf  die  Bedürfhisse  der  Künstler,  in- 
dem alles  ausgeschieden  wurde,  was  diesen  entweder  nicht  entsprach, 
oder  die  Grenze  überschritt. 

Diese  Aufzählung  will  durchaus  nicht  erschöpfend  sein.  Es  ist 
nur  ein  kurzer  Umriß  versucht,  um  den  Weg  zu  dem  Vergleich  älterer 
plastisch-anatomischer  Arbeiten  zu  erleichtern.  Die  sicheren  Linien, 
mit  denen  die  großen  Maler  und  Bildhauer  der  Renaissance  die  Formen 
des  menschlichen  Körpers  darstellten,  sind  so  lehrreich,  daß  sie  ge- 
sammelt den  wertvollsten  Atlas  für  das  Studium  der  plastischen  Ana- 
tomie darstellen  würden. 

Es  ist  völlig  in-ig,  wenn  man  die  Behauptung  hört,  diese  Skizzen 
seien  mit  mangelhafter  anatomischer  Kenntnis  entworfen  oder  nach 
einer  Schablone  hergestellt.  Gerade  das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Das 
Wissen  von  dem  Bau  der  Muskeln  ist  überall  ersichtlich,  und  ich 
habe  keinen  der  großen  Künstler  auf  groben  anatomischen  Ungenauig- 
keiten  ertappt. 

Was  die  Bewunderung  für  ihre  Art  der  Wiedergabe  menschlicher 
Formen  abgeschwächt  hat,  sind  nicht  Fehler  in  der  Zeichnung,  son- 
dern eine  andere  Richtung  des  Geschmackes  und  der  Auffassung. 
Die  heutige  Kunst  hat  die  entschiedene  Tendenz,  das  Individuelle 
treu  nachzubilden.  Dasselbe  thaten  zwar  auch  die  Meister  der  Re- 
naissance, sobald  es  sich  um  die  Darstellung  vom  rein  individuellen 
handelte.  Wo  eine  solche  Forderung,  wie  bei  dem  Portrait  oder 
dem  Genre,  nicht  gegeben  war,  griffen  sie  zur  idealen  Mittelform, 
welche  für  den  Lehrzweck  vorzugsweise   geeignet  ist.     Es  würde  den 


\  2  Einleitung. 

Unterricht  bis  ins  Maßlose  komplizieren,  wollte  man  nur  individuelle, 
treu  nachgebildete  Zeichnungen  geben,  mit  all  den  Besonderheiten, 
wie  sie  eben  das  einzelne  Individuum  charakterisieren.  Dieses  Verfahren 
würde  sogar  beklagenswerte  Irrtümer  hervorrufen. 

Der  menschlichen  Gestalt  liegt  eine  konstante  Proportion  zu  Grunde. 
Alle  Menschen  erscheinen  nach  diesem  allgemeinen  Grundplan  organisiert. 
Die  verschiedenen  Menschenrassen  weichen  nur  in  geringerem  Grade 
von  der  Hauptregel  ab.  Wenn  nun  wir  Europäer  an  den  vollkommen 
und  normal  entwickelten  Kultuimenschen  denken,  so  stellen  wir  uns 
Leute  von  einem  bestimmten  Ebenmaß  im  Gesicht  wie  in  dem  ganzen 
übrigen  Körper  vor.  Dieser  Normalmensch  ist  jedoch,  das  dürfen  wir 
nicht  vergessen,  eine  Abstraktion.  Von  all  den  menschlichen  Gestalten, 
von  den  lebenden  oder  plastisch  dargestellten,  haben  wir  die  nach  unserer 
Meinung  besten  körperlichen  Eigenschaften  in  einem  Gesamtbild  ver- 
einigt und  alles  häßliche  oder  unvollkommene  daraus  entfernt.  Solche 
Normalmenschen  kommen  in  der  Wirklichkeit  nicht  vor,  dennoch  hat 
sie  die  Kunst  stets  dargestellt,  die  Antike,  wie  die  Periode  der  Re- 
naissance. — 

Jeder  dieser  Noimalmenschen  aus  diesen  großen  Kunstperioden,  hat 
dabei  etwas  eigenartiges,  i 

Es  entsteht  nun  die  Frage,  welchen  dieser  Normalmenschen  soll 
man  als  Vorbild  für  die  plastische  Anatomie  wählen,  jenen  des 
Michelangelo,  der  Antike  oder  neuerer  Meister?  Die  Antwort  wird 
stets  verschieden  ausfallen,  je  nach  Neigung  und  Geschmack.  Ich  habe 
sowohl  individuelle  Erscheinungen  berücksichtigt  wie  die  Vorbilder  der 
Antike  und  der  Renaissance.  Von  antiken  Statuen  berufe  ich  mich 
am  häufigsten  auf  die  bekannte  Figur  des  borghesischen  Fechters, 
und  aus  der  Blütezeit  der  Renaissance  wurde  mit  Vorliebe  Michel- 
angelo ins  Auge  gefaßt.  Seine  nackten  Figuren  zeigen  die  am  besten 
verstandenen  Formen.  Die  Führung  der  Linien  ist  von  einer  Natur- 
wahrheit, wie  sie  kaum  einer  nach  ihm  wieder  in  diesem  Maße  erreicht 
hat.  Die  Konturen  des  lebenden  Muskels  bei  allen  nur  denkbaren 
Verschiebungen  in  der  richtigen  Form  zu  erkennen  und  darzustellen, 


*  Von  den  großen  Meistern  hatte  jeder  seinen  eigenen  Normal  menschen.  Wie 
jeder  seine  eigenen  Ideale  nnd  seine  besonderen  Vorstellungen  vom  Schönen  be- 
sitzt, so  auch  die  schöpferischen  Köpfe  der  klassischen  Kunstperioden.  Die  Normal- 
menschen des  MicHELAXGELO  siud  andere  als  die  ded  Leonardo  da  Vinci  oder  des 
Eafael.  Alle  männlichen  Grestalten  des  ersteren  haben  etwas  hünenhaftes,  das 
an  Titanen  erinnert.  Selbst  seine  Frauengestalten  haben  etwas  gewaltiges.  Würde 
irgend  eine  von  dem  Grab  der  Medicäer  herabsteigen  und  auf  uns  zuschreiten,  \^4r 
träten  erschrocken  beiseite.  Sie  scheinen  nicht  der  Liebe  fähig;  sie  sind  auch,  wie 
man  schon  wiederholt  gesagt  hat,  lücht  zum  Verlieben. 


Geschichte  der  plastischen  Anatomie.  13 

das  erforderte  neben  der  Macht  des  Könnens  zugleich  die  ganze  Tiefe 
anatomischen  Verständnisses.  Und  das  trifft  am  vollkommensten  nur 
bei  ihm  zusammen.  Wenn  auch  nichts  darüber  bekannt  geworden 
wäre,  daß  er  zwölf  Jahre  teils  in  Florenz  und  teils  in  Rom  neben 
seiner  künstlerischen  Ausbildung  den  anatomischen  Studien  obgelegen 
habe,  und  daß  er  mit  dem  berühmten  Anatomen  Bealdo  Colombo 
bekannt  gewesen  sei,  seine  nackten  Figuren  würden  deutlich  genug 
davon  erzählen.  Die  Überzeugung,  daß  für  das  Studium  der  Musku- 
latur kräftig  entwickelte  Körper  unerläßlich  sind,  bei  denen  alles 
stark  und  deutlich  gezeichnet  ist,  und  leicht  durch  die  Haut  hindurch 
bemerkbar  ist,^  hat  mich  veranlaßt,  die  Muskeln  überall  kräftig  darzu- 
stellen. Wer  einmal  die  vollen  Muskeln  und  Muskelgruppen  sich  klar 
machen  konnte,  der  wird  sie  auch  in  dem  abgeschwächten  Grade 
wieder  erkennen.  So  wie  man  dem  Anfänger  im  Lesen  nicht  Miniatur- 
buchstaben vorlegt,  sondern  Riesenlettem,  so  darf  man  auch  dem 
Künstler  nicht  abgemagerte  Schwächlinge  zeigen,  wenn  er  die  Muskulatur 
des  Körpers  verstehen  soll.  Lieber  einen  Grobschmied  zum  Modell 
als  einen  Schneider. 

Die  letzten  Zweifel  über  die  Wahl  der  Vorbilder  für  die  Muskel- 
lehre schwinden  gegenüber  der  Thatsache,  daß  die  meisten  Künstler, 
welche  plastisch-anatomische  Zeichnungen  veröffentlichten,  mit  kecker 
Hand  die  Fülle  der  Natur  zum  Ausdruck  brachten.  Bei  den  Ab- 
bildungen dieses  Buches  wurden  überdies  die  einzelnen  Muskeln  so 
dargestellt,  wie  sie  sich  im  Leben  und  während  der  Bewegung  ver- 
halten, nicht  wie  sie  an  dem  anatomischen  Präparat  schlaff  herunter- 
hängen. Um  solche  Abbildungen  herzustellen,  muß  zu  der  Zergliede- 
rung der  Leiche  noch  das  Studium  am  Lebenden  hinzukommen. 

Ich  halte  also  dafür,  daß  man  als  Ausgangspunkt  die  volle  kräftige 
Muskulatur  eines  Mannes  wählen  müsse.  Von  hier  ab  bis  zum  ab- 
gezehrten Greis  oder  bis  zu  den  weichen  Formen  des  Weibes  wird  der 
Künstler  seinen  Weg  dann  selbst  finden  können.  Wer  ein  Meister 
ist,  kann  das  Fortissimo  und  das  Pianissimo  in  jeder  Tonart  spielen. 
Wer  den  menschlichen  Körper  kennt,  wird  auch  Schwächlinge  malen 
können,  obwohl  er  nur  die  Anatomie  an  Athleten  studiert  hat. 

Die  für  das  vorliegende  Buch  ausgewählten  Abbildungen  stellen  ent- 
weder die  Körper-  und  Skelettteile  ruhender  oder  bewegter  Menschen  dar. 


*  Die  anatomischen  Zeichnungen  Leonardo  da  Vincis  sind,  soweit  ich  sie  kenne, 
nach  einer  höchst  abgemagerten  Leiche  dargestellt.  Die  ganz  dünnen  bandartigen 
Schichten  scheinen  ihn  auf  den  Grcdanken  gebracht  zu  haben,  die  Muskeln  des 
Schultergürtels  schematisch  darzustellen.  Die  Muskeln  eines  abgemagerten  Menschen 
haben  gegenüber  denjenigen  eines  kräftigen  etwas  schematisches,  sie  sind  wie  der 
Entwurf  gegenüber  der  vollendeten  Statue. 


1 4  Einleitang. 

Sie  nur  ruhenden  zu  entnehmen,  wäre  ebenso  fehlerhaft  gewesen,  als 
das  Gegenteil.  Die  gerade,  aufrechte  Stellung  des  menschlichen 
Körpers  bildet  tur  jede  Art  der  anatomischen  Beschreibung  den  Aus- 
gangspunkt. Der  Verlauf  der  Muskeln,  Sehnen  und  Knochen,  die 
Richtutig.  die  sie  besitzen,  und  das  was  man  ihre  natürliche  Lage 
nennt,  erhält  Namen  und  Verständnis  nur  dadurch,  daß  in  allen  Lehr- 
büchern von  dieser  Haltung  aus  die  Erklärung  der  Teile  beginnt 
„Oben  und  unten/'  ..vom  und  hinten"  erlangen  nur  dadurch  den 
rechten  Sinn,  gerade  so  wie  im  gewöhnlichen  Leben. 

Von  dieser  ruhigen  Haltung  des  Körpers  aus  beurteilen  wir  dann 
auch  in  der  Wissenschaft  wie  in  der  Kunst  den  Übergang  zu  der  Be- 
wegung  und  der  damit  verbundenen  Änderungen  der  Form.  So  war 
es  denn  geboten,  in  den  vorliegenden  Figuren  ein  gewisses  Gleichgewicht 
eintreten  zu  lassen  zwischen  der  Zahl  der  ruhigen  und  der  in  Be- 
wegung dargestellten  Abbildungen  des  Menschen.  Für  die  bewegten 
Körper  war  es  wünschenswert,  eine  allgemein  bekannte  Statue  zu  be- 
nützen, deren  anatomisch  richtiger  Aufbau  gleichzeitig  von  allen  an- 
erkannt ist,  und  hierfür  war  keine  mehr  geeignet  als  der  borghesische 
Fechter.  Überall  an  allen  Akademien ,  Kunst-  und  Zeichnungs- 
schulen wird  dieses  schöne  Kunstwerk  kopiert,  als  ein  mit  Recht  be- 
wundertes Bild  eines  in  lebensvoller  Bewegung  unaufhaltsam  weiter- 
stürmenden. Jünglings.  Dieses  Werk  des  Agasias  zeigt  die  Muskeln 
mit  erstaunlicher  Naturwahrheit,  man  könnte  dasselbe  auch  eine  mit 
dem  Meisel  geschriebene  plastische  Anatomie  nennen.  Diesem  Umstand 
verdankt  der  borghesische  Fechter  schon  wiederholte  anatomische  Be- 
arbeitungen, unter  denen  ich  nur  diejenige  von  Salvage,  Le  gladiateur 
combattant,  applicable  aux  beaux  arts  (22  Tafeln  in  folio  max.).  welche 
1812  in  Paris  erschienen  ist,  erwähnen  will.  Die  Teile  des  Skelettes 
sind  in  die  Konturen  der  Figur  mit  großem  Verständnis  eingezeichnet; 
sie  waren  mir  wertvolle  Hilfsmittel  für  einzelne  Darstellungen.  Durch 
den  Vergleich  mit  der  Statue  hat  man  überall  zu  vielen  Figuren  dieses 
Lehrbuches  gleichzeitig  ein  vortreflfliches  Modell  zur  Hand,  und  damit, 
wie  ich  glaube,  eine  reiche  Quelle  der  Belehrung. 

Für  einzelne  wichtige  Partien  des  Körpers  konnten  Stiche  nach 
gi'oßen  Meistern  verwendet  werden,  und  die  sicheren  imd  markigen 
Linien  z.  B.  Michelaxgelos  sprechen  laut  genug  füi-  sich  selbst. 

Eine  andere  Zahl  von  Abbildungen  sind  nach  anatomischen  Prä- 
paraten direkt  von  Herrn  Kunstmaler  Scheder  in  Basel  gezeichnet,  oder 
nach  denjenigen  anatomischen  Modellen  entstanden,  die  HeiT  Professor 
Che.  Roth  unter  meiner  Leitung  in  München  von  dem  Jahr  1864 — 68 
modelliert  hat.      Unter  diesen  sind  besonders  die   drei  Figuren  über 


Geschichte  der  plastischen  Anatomie.  15 

die  Maskulatur  des  Rumpfes  zu  nennen.  Einige  andere  Figuren  sind 
dann  von  mir  selbst  mit  Hilfe  des  Orthoskopes  entworfen  worden.  Be- 
kanntlich stellt  das  geometrische  Bild  eine  durch  parallele  Ordi- 
naten  auf  einer  Ebene  gebildete  Projektion  dar,  giebt  daher  ein  dem 
Gegenstand  vollständig  entsprechendes  Bild,  soweit  ein  Körper  über- 
haupt auf  einer  Fläche  eine  wahrheitsgetreue  Darstellung  finden  kann. 
Diese  geometrischen  Zeichnungen  können  also  auf  volle  Wahrheit  An- 
spruch machen.  Sie  sind  durch  die  Methode  ihrer  Herstellung  so  ge- 
nau, daß  sie  Messungen  über  Höhe  und  Breite  gestatten,  sobald  die 
Größe  der  Reduktion  bekannt  ist.  Sie  können  ferner  als  Ginindlage 
für  Verkleinerung  und  Vergrößerung  eines  Teiles  oder  des  Ganzen 
verwendet  werden,  bieten  also  manche  Vorteile,  sobald  es  sich  um 
absolute  Genauigkeit,  und  um  proportionale  Verhältnisse  der  ganzen 
Gestalt  oder  einzelner  Teile  handelt.  Mehrere  Zeichnungen  von  Ske- 
letten, welche  diesen  weitgehenden  Ansprüchen  genügen  können,  stan- 
den mir  durch  die  freundschaftlichen  Beziehungen  zu  Herrn  Professor 
J.  Ch.  G.  Lucae  in  Frankfurt  a/M.  für  dieses  Buch  zur  Verfügung.  Ihm 
verdankt  die  Wissenschaft  und  die  Kunst  die  Auffindung  einer  durch- 
schlagenden, einfachen  Methode  zur  Herstellung  exakt  geometrischer 
Zeichnungen.  Von  ihm  stammen  zwei  wertvolle  Werke  über  das 
Skelett  des  menschlichen  Körpei*s,  deren  Titel  weiter  unten  aufgeführt 
werden  soll.  Aus  diesen  Werken  ist  das  Skelett  des  jungen  Mannes 
und  der  Torso  eines  23  Jahre  alten  Mädchens  kopiert,  und  unter 
Angabe  der  Vergrößerung  in  das  vorliegende  Buch  aufgenommen 
worden. 

Das  Skelett  des  Mannes  ist  wohlproportioniert,  und  eignet  sich 
durch  den  beigefügten  Maßstab  der  ganzen  und  halben  Kopfhöhe  auch 
zu  Studien  über  die  Proportion.  Dadurch,  daß  es  eine  bestimmte 
Individualität  repräsentiert,  die  mit  geometrischer  Treue  entworfen  ist, 
sind  direkte  Messungen  mit  Zirkel  und  Maßstab  an  ihm  ausführbar. 
Jede  beliebige  Vergrößerung  auf  seiner  Grundlage  hergestellt,  besitzt 
dieselbe  geometrische  Treue  der  Proportionen  wie  das  verkleinerte 
Bild  selbst.  Nachdem  die  Abbildung  des  weiblichen  Torso  auf  dieselbe 
Weise  entworfen  ist,  lassen  sich  beide  direkt  miteinander  vergleichen 
und  gestatten  so  die  Kontrolle  mancher  Unterschiede  des  Geschlechtes 
mit  dem  Auge  und  mit  dem  Maßstab. 

Das  Mädchen  besaß  ein  nur  mäßiges  Fettpolster,  und  deshalb  etwas 
markierte  Formen,  die  aber  doch  fein  waren.  Es  hatte  eine  Größe 
von  156  cm  und  war  ausgezeichnet  durch  ein  besonders  breites,  also 
echt  weibliches  Becken,  an  welchem  die  charakteristischen  Unterschiede 
mit  dem  männlichen  Becken  aufs  schärfste  hervortreten.  Um  die 
orthogonalen   Projektionen  der   Umrisse   des   Körpers   und   des   dazu 


16  Geschichte  der  plastischen  Anatomie. 

gehörigen  Skelettes  zu  machen,  wurden  die  Abgüsse  des  Körpers  und 
dann  das  Sklelett  in  der  nämlichen  Stellung  nacheinander  unter  eine 
horizontal  gestellte  Glastafel  gelegt,  und  die  Konturen  vermittelst  des 
Orthoskopes  gezogen. 

So  entstand  auch  von  diesem  weiblichen  Torso  eine  streng  geo- 
metrische Abbildung,  eine  getreue  Kopie  der  Körperumrisse  und  des 
Skelettes. 

Lehrbücher  für  plastische  Anatomie  sind  schon  in  großer 
Zahl  veröffentlicht  worden,  so  z.  B.  mit  Benutzung  des  von  dem  be- 
rühmten Anatomen  Andreas  Vesaliüs  (t  1564)  veröffentlichten  großen 
Werkes.  Vesal  ist  der  Begründer  der  neueren  Anatomie,  und  wie  in 
dieser,  wirkte  er  auch  für  die  bildliche  anatomische  Darstellung  reforma- 
torisch. Er  überwachte  mit  der  größten  Sorgfalt  die  Künstler,  welche 
nach  seinen  Präparaten  arbeiteten.  Seine  Abbildungen  sind  mit  großer 
Wahrheit,  mit  Geschick  und  Geschmack,  meistens  nach  kräftigen  jugend- 
lichen Körpern  in  freier  kühner  Zeichnung  ausgefiihrt.  Die  Zeichnungen 
werden  einem  Schüler  Tizians,  Joh.  Stephan  von  Calcak  (f  1546), 
zugeschrieben,  dessen  Gemälde  oft  von  denen  seines  Meisters  schwer  zu 
unterscheiden  waren.  Dieses  für  Künstler  berechnete  Werk  erschien  in 
Deutschland  erst  1706.     Der  Titel  der  deutschen  Ausgabe  lautet: 

Andreas  Vbsalius  Bruxellensis.  —  Zergliederung  des  Menschlichen 
Cörpers.  Auf  Mahlerey  und  Bildhauerkunst  gericht.  Augspurg,  ge- 
druckt und  verlegt  durch  Andbeas  ]VLa.schenbaueb,  1706,  Fol.,  16  Bll.  — 
Eine  zweite  Autlage  von  demselben  Verleger,  1723,  Fol.,  14  Bll. 

Das  folgende  Werk:  Heinr.  Palmaz.  Leveling,  anatomische  Er- 
klärung der  Original-Figuren  von  Andbeas  Yesal,  sammt  einer  An- 
wendung der  WiNSLOwischen  Zergliederungslehre  in  7  Büchern.  Ingol- 
stadt, bei  A.  Attenkofeb,  1783,  Fol.  28  Bll.  und  328  SS.,  enthält 
dieselben  Abbildungen  wie  das  vorhergehende  Werk  mit  kleineren 
Zeichnungen.     Der  Titel  des  französischen  Werkes  lautet: 

(RoGEBs  DE  PiLES  et)  Fbanqüis  Tobtebat,  Abr6g6  d'anatomie 
accommod^  aux  arts  de  peinture  et  de  sculpture.  Paris  (1667)  1668. 
Fol.  Es  ist  die  früheste  für  Künstler  bestimmte  Anatomie  und  ent- 
hält zwölf  von  Tobtebat  radierte  Tafeln.  Das  Werk  wurde  später 
noch  einmal  aufgelegt,  ferner  gibt  es  verkleinerte  Nachstiche. 

Am  Schlüsse  des  17.  Jahrhunderts  erschien  ein  anderes  hervor- 
ragendes Werk  unter  dem  Titel: 

Anatomia  per  uso  et  intelligenza  del  disegno  ricercata  etc.  Opera 
utilissima  ä  pittori  e  scultori  et  ad  ogni  altro  studioso  delle  nobili 
arti  del  disegno.  Roma  1691.  Fol.  maj.  56  Kupferblätter.  —  Auf  dieses 
Werk  haben  vier  hervorragende  Männer  ihre  Kräfte  verwendet.     Der 


Geschichte  der  plaBtiBchen  Anatomie.  17 

Zeichner  war  Chables  Errard,  der  Direktor  der  französischen  Akademie 
in  Rom,  der  Stecher  wahrscheinlich  FBANgois  Andriot  (BL^ndbriot). 
Bernardino  Genga,  der  Professor  der  Anatomie  zu  Bom,  stellte  die 
Präparate  her,  und  der  päpstliche  Leibarzt,  (Jiov.  Maria  Lanoisi, 
schrieb  den  Text.  Die  Tafeln  sind  sämtlich  sowohl  in  anatomischer 
als  künstlerischer  Hinsicht  von  vorzüglicher  Ausführung,  das  Werk 
noch  jetzt  brauchbar  für  den  bildenden  Künstler. 

SöMMERiNG,  S.  Th.,  Tabula  sceleti  feminini  juncta  descriptione. 
Frankfurt  a/M.  1797.  Fol.maj.  1  Kupfertafel  und  1  Blattf.  Text.  Ent- 
hält  die  künstlerische  Darstellung  eines  weiblichen  Skelettes. 

Ich  habe  die  Angaben  der  Litteratur,  soweit  sie  für  die  plastische 
Anatomie  eine  engere  Beziehung  haben,  hier  aufgenommen,  denn  die 
Bücher  sind  Messer.  Wer  mit  Büchern  bekannt  ist,  hält  das  Heft 
dieses  Messers  in  der  Faust. 

Über  die  Ausdehnung  und  den  Fleiß  der  anatomischen  Studien  giebt  eine 
Beihe  von  Kupferstichen  einen  lehrreichen  Überblick,  welche  von  Bonasone  her- 
stammen. Es  sind  14  Tafeln  in  8^  Männer  in  verschiedenen  Stellungen  des 
Stehens  imd  Schreitens,  deren  Haut  halb  oder  ganz  entfernt  ist,  um  die  darunter- 
liegende Muskelschichte  zu  zeigen.  An  einzelnen  Tafeln  trftgt  der  in  lebendiger 
Bewegung  fortschreitende  Mensch  seine  abgezogene  Haut  in  den  Händen.  Herrlich 
ist  die  Stellung  von  Nr.  334. 

Chrisostomo  Martinez  wurde  von  seiner  Vaterstadt  Valencia  mit  Geld  unter- 
stützt, um  eine  anatomische  Anweisung  für  Künstler  zu  schreiben,  von  der  20  Kupfer- 
platten fertig  geworden  sein  sollen.  Dieser  Fall  ist  an  und  für  sich  schon  wert  der 
Mitteilung,  denn  man  sieht  daraus,  wie  vor  200  Jahren  eine  ganze  Stadt  dafür  ein- 
tritt, den  Unterricht  der  Künstler  durch  litterarische  Hilfsmittel  zu  unterstützen. 

Unter  den  neueren  Lehrbüchern  und  Atlanten  sind  zu  nennen: 

Harless,  E.,  Lehrbuch  der  plastischen  Anatomie.  2.  Auflage,  heraus- 
gegeben von  R.  Hartmann.  Mit  Holzschnitten  und  lithogr.  Tafeln. 
Stuttgart. 

Elfinger,  A.,  Anatomie  des  Menschen.  27  lithographische  Tafeln  mit 
Text.     gr.  4.     2.  Aufl.     Wien. 

Froriep,  A.,  Anatomie  für  Künstler.  Mit  39  Tafeln  Abbildungen  in 
Holzschnitt,  teilweise  in  Doppeldruck.    Lex.  8^    Leipzig  1880. 

DuvAL,  M.,  Pr6cis  d'anatomie  k  Tusage  des  artistes.  Mit  77  Fig. 
Paris  1882.     8». 

Paü,  J.,  Anatomie  artistique  616mentaire  du  corps  humaine.  7.  Aufl. 
Paris  1882.     Mit  17  Tafeln.     8«. 

Roth,  Chr.,  Plastisch-anatomischer  Atlas  zum  Studium  des  Modells 
und  der  Antike.  24  Tafeln  in  Holzschnitt  u.  10  Erklärungstafeln. 
Fol.    Stuttgart  1872. 

Langer,  C,  Anatomie  der  äußeren  Formen  des  menschlichen  Köq)ers. 
Mit  120  Holzschnitten.     8».     Wien  1884. 

KoujfA2(N,  PlastiHche  Anatomie.  2 


1  g  Einleitung. 

Der  Atlas  von  Ch.  Roth  gehört  zu  dem  besten,  was  seit  einer 
Reihe  von  Jahren  an  plastisch-anatomischen  Abbildungen  erschienen  ist. 
Die  Stellung  der  Muskeln  ist  an  einer  kräftigen  und  bewegten  Figur 
vorgeführt.  Mit  vollkommenem  Verständnis  sind  die  schwierigsten 
Aufgaben  gelöst,  welche  jeder  zu  überwinden  hat,  der  das  tote  Präparat 
des  Seziersales  in  die  Formen  des  lebendigen  Menschen  übersetzen 
will.  Roth  hat  neben  einige  seiner  anatomischen  Figuren  andere 
gestellt,  die  mit  der  Haut  bedeckt  sind.  Dadurch  giebt  er  dem  Lernenden 
ein  vorti-effliches  Hilfsmittel,  durch  direkten  Vergleich  zu  prüfen,  wie- 
viel die  Haut  verdeckt,  und  w^ieviel  dieselbe  aber  auch  von  den  unter 
ihr  liegenden  Schichten  deutlich  erkennen  läßt.  Die  eine  dieser  Figuren, 
der  sogenannte  Athlet,  ist  auch  in  Gips  ausgeführt,  und  zwar  sowohl 
als  Muskelfigur,  wie  als  dazugehöriges  Modell,  also  mit  der  Haut 
bedeckt,  von  dem  Künstler  in  den  Handel  gebracht  worden.  — 

Für  die  Anatomie,  und  zwar  für  das  Studium  des  Skelettes,  sind 
von  besonderem  Wert  die  beiden  folgenden  Werke: 

LüCAE,  J.  Che.  Gustav,  Zur  Anatomie  des  weiblichen  Torso.  12  Tafeln 
in  geometrischen  Aufrissen.     Folio.     Frankfurt  a/M.  1868. 

LüCAE,  J.  Chr.  GusT.,  und  Hermann  Junker  (Maler),  Das  Skelett 
eines  Mannes  in  statischen  und  mechanischen  Verhältnissen.  In 
halber  Größe.     Frankfurt  a/M.  1876. 

Sie  enthalten  die  schon  erwähnten  geometrischen  Abbildungen 
von  den  Skeletten  eines  gut  geformten  Mannes  und  eines  wohlpropor- 
tionierten Weibes.  Das  letztere  Werk  giebt  den  weiblichen  Toi-so  in 
natürlicher  Größe.  In  die  Konturen  des  Rumpfes  ist  von  drei  ver- 
schiedenen Seiten  das  Skelett  hineiugezeichnet.  Außerdem  folgen  noch 
eine  Menge  wertvoller  Figuren  über  einzelne  Skelettteile  des  mensch- 
lichen Körpers.  Das  zweite  Werk  stellt  das  Skelett  eines  wohlpro- 
portionierten Mannes  in  halber  Größe  dar,  von  drei  verschiedenen 
Seiten.  1 

Flastisch-anatomisohe  Präparate 

stellen  neben  den  Büchern  und  Atlanten  ein  anderes  wichtiges  Hilfs- 
mittel dar  zum  Studium  der  plastischen  Anatomie.  Abgesehen  von 
Naturabgüssen  und  dem  oben  erwähnten  RoTH'schen  Athleten  existiert 
eine  Reihe    von    anatomischen   Modellen    über    einzelne   Partien   des 


^  Über  geometrische  Auüiahincn  siehe: 

Laxdzert:    Welche  Art  bildlicher  Darstellung  braucht  der  Naturforscher?    Archiv 

für  Anthropologie.    Bd.  II.    1867. 
KiNKEUN,  Friedrich  :    Zur  Geschichte  des  geometriechen  S^eichnens.    Festschrift  der 

Deutschen  anthropologischen    Gesellschaft    gewidmet.     Frankfurt   a.  M.    1882. 


Geschichte  der  plagÜBchen  Anatomie. 


19 


menschlichen  Körpers,  die  unter  meiner  Leitung  früher  in  München 
hergestellt  wurden.  Sie  sind  in  mehreren  Akademien  im  Gebrauch, 
wie  München,  St.  Petersburg,  an  der  Kunstschule  in  Nürnberg  und 
Budapest,  an  der  polytechnischen  Schule  in  Aachen  etc. 

HatnralienhäBdler,  welche  Knochen -Präparate  zum  Studium  der 
plastischen  Anatomie  des  Menschen  in  den  Handel  bringen. 

Soim£]i)EB''S,  Dr.  Oskab,  Lehrmittelanstalt  in  Leipzig: 


Skelett  gefaßt  mit  Stativ  Jt  80. 

„      vom  Rind  mit  Stativ  ^M  20. 
Obere  Extremität  Ji  7. 
Untere       „  Ji  9. 

Becken  in  Bändern  ^^  10. 
Skelett  in  losem  Zustande  Jt  40.  ^ 
Obere  Extremität  in  losem  Zustande 


Untere  Extremität  in  losem  Zustande  Jt  6. 

Becken  u.  Kreuzbein  in  losem  Zustande  Jt  6. 

Schädel  ohne  Schnitt  J^  10. 

mit  Horizontalschnitt  Ji  11. 
„    Horizontal-    und    Vertikal- 
schnitt Ji  Ib. 
gesprengt  M  17.50. 
vom  Kind  Ji  6. 


11 


11 


11 


11 


Die  Knochen  der  Skelette  sind  mit  Messingfedcm  verbunden. 

Tramond,  Naturaliste,  Rue  de  r^cole-de-mÄdecine,  Nr.  9  Paris 
hat  ähnliche  Preise: 


Squelettes  ariicules  (m&le)  75— 1 60  Fr. 

„  „      (female)75— 160  „ 

Totes  enti^res   articuUes   avec   une 

coupe  horizontale  20—25  Fr. 
Tetes   enti^res  articulees  avec    leur 

dents  20—25  Fr. 


Mains  ou  pieds  artictdes  k  mouvemcnts 

7  Fr. 
Membres    sup^rieurs   artieuUa^    Tepaule 

comprise  15—20  Fr. 
Membres  införieurs  artictdes  y  la  hauche 

comprise  15—20  Fr. 


*  Die  Knochen  sind  nicht  mit  Messingfedem  verbunden;  für  Künstler  eignen 
sich  besser  die  oberen  und  unteren  Extremitäten  mit  Chamieren  versehen,  an  denen 
die  meisten  Bewegungen  ausführbar  sind.     Werden  auf  Verlangen  hergestellt. 


»>♦ 


Plastische  Anatomie. 


Erster  TeiL 


Erster  Abschnitt. 

Das  Skelett. 

Allgemeine  Bemerkungen. 

Das  Skelett. 

Das  Skelett  ist  die  feste  Grundlage,  um  welche  sich  die  Gestalt 
des  Menschen  aufbaut.  Die  zahlreichen  Stücke  bilden  ein  Gerüste 
von  Balken  und  Sparren,  dessen  Grundform  diejenige  des  Körpers  ist. 
Und  das  gilt  filr  den  Menschen,  wie  für  die  ganze  Schar  der  Wirbel- 
tiere. Das  Skelett  liegt  bei  dem  Menschen  in  den  Wandungen  des 
Leibes  allseitig  von  Weichteilen  bedeckt,  wenn  auch  nicht  gleichmäßig 
umhüllt.  Dabei  sind  einzelne  Teile  vollständiger  in  ihren  Umrissen 
erkennbar,  andere  weniger.  Der  Schädel  giebt  z.  B.  in  sichern  Linien 
die  Gestalt  des  Hauptes  wieder.  Durch  die  Rippen,  das  Brustbein 
und  die  zunächst  liegenden  Abschnitte  des  Amiskelettes,  ist  auch  die 
Form  des  Brustkorbes  deutlich  erkennbar.  Der  Hals  enthält  da- 
gegen nur  eine  dünne  Knochensäule  aus  sieben  Wirbeln,  die  Lenden 
sogar  nur  eine  Reihe  von  fünf  Wirbeln.  Dieser  Stützapparat  bestimmt 
gleichzeitig  die  Länge  der  menschlichen  Gestalt.  Der  hohe  Grad  von 
Festigkeit  rührt  zwar  auschließlich  von  den  Knochen  her,  doch  finden 
sich  noch  manche  andere  Bestandteile  an  ihnen.  Wegen  der  unerläß- 
lichen Beweglichkeit  sind  sie  untereinander  durch  weiche  Bindemittel 
verbunden.  Für  das  Verständnis  der  wechselnden  Formen,  welche 
dieses  an  sich  starre  Gerüste  darbieten  kann,  bedarf  es  einer  beson- 
deren  Beachtung  auch  dieser  Einzelheiten.  So  kommt  es  denn,  daß 
in  dem  Kapitel  über  das  Skelett  nicht  ausschließlich  nur  die  Knochen 
abgehandelt  werden,  sondern  gleichzeitig  der  Mechanismus  der  Ge- 
lenke,  durch  welche   es    die   verschiedenen   Grade    der  Beweglichkeit 


24  Enler  A>jtcimitt. 

eiMh.  WähreDd  also  das  Feste,  das  am  meisten  Widei^tandsiahige 
oes  uieiLSchlicbeD  Korpers.  die  Knochen  an  sich,  erläutert  verden, 
muß  gleichzeitig  das  Augenmerk  doch  auch  den  Gelenken  und  der 
durch  Hie  vermittelten  Beweglichkeit  des  Skelettes  zugewendet  sein. 
Wie  es  die  Natur  vermochte  an  der  menschlichen  Gestalt  Festigkeit 
ULd  doch  gleichzeitig  einen  außerordentlichen  Grad  von  Beweglich- 
keit zu  erzielen,  so  muß  auch  die  Erläuterung  dahin  zielen,  den  Ein- 
blick in  diese  doppelte  Leistung  des  ganzen  Apparates  zu  vermitteln. 

Es  umfaßt  also  der  folgende  Abschnitt  nicht  allein  die  Knochen- 
lehre. Osteoloffie.  sondern  auch  die  Lehre  von  den  Gelenken, 
Arthrologie.  Die  letztere  enthalt  die  Erklärung,  auf  welche  Weise 
sich  berührende  Knochenenden  verschieben ,  sich  bewegen-  Die 
3Iechanik  der  Gelenke  wird  den  Schlüssel  bieten,  die  Form  Ver- 
änderungen des  lel>enden  Korpers  auf  bestimmte  Regeln  zurückzufahren. 
Al>er  auch  dort,  wo  zur  Sicherung  tiefliegender  Organe  die  Beweg- 
lichkeit auf  ein  sehr  geringes  Maß  zurückgeführt  ist.  oder  wie  an  dem 
Sctuulel  nahezu  vollständig  fehlt,  hilft  die  Kenntnis  der  zusammen- 
setzenden Teile  die  Gestalten  und  ihre  3Ianuigfalligkeit  begreifen. 

Für  die  Zwecke  des  Künstlers  wird  das  Skelett  am  besten  in  vier 
Hauptabteilungen  zerlegt,  welche  den  bekannten  Gliederungen  des 
Korpers  entsprechen,  nämlich  in 

1.  das  Skelett  des  Kopfes  (Caput)^ 

2.  ..         .,        des  Stammes  (Truncus), 

3 der  oberen  Gliedmaßen  1  ,,  ,       .,^, 

,  ,  rii-   1      o      r  Extremitäten. 

4 der  unteren  Gliedmaßen  j 

Der  Beschreibung  dieser  Teile  liegt  das  natürliche  Skelett  (See- 
Uton  naturale)  zu  Grunde,  wohl  zu  unterscheiden  von  dem  künstlichen 
(Hceleton  artificialejj  dessen  Knochen  nicht  durch  natürliche  Bänder, 
sondern  durch  lieliebig  gewählte  Ersatzmittel,  wie  Draht,  Leder  oder 
Kautschukstreifen  miteinander  verbunden  sind.  Die  geti'ockneten 
Knochen  lassen  nichts  mehr  erkennen  von  den  überraschenden  Ein- 
richtungen für  den  schnellen  und  sichern  Gang  der  Gelenke.  Der 
glatte  Knori>el  ist  bis  zur  Unkenntlichkeit  verschrumpft  oder  durch 
die  Fäulnis,  welche  die  Weichteile  bis  auf  die  letzten  Spuren  ent- 
fenite,  völlig  beseitigt.  Dieser  bläulich-weiße  Überzug,  der  durch  die 
sog.  Gelenkschmiere  so  schlüpfrig  erhalten  wird,  daß  ohne  den  min- 
desten Kraftyerlust  und  lautlos  sich  die  Lage  der  Teile  zu  ändern 
vermag,  läßt  sich  ebenso,  wie  die  Gestalt  und  die  Anordnung  der 
Bänder  nur  an  der  Leiche  beobachten  oder  an  den  in  Weingeist  auf- 
l>ewahrten  Präparaten  anatomischer  Museen.  Dasselbe  gilt  von  jenen 
Knochenverbindungen,  w^elche,  wie  die  einzelnen  Wirbel,  durch  breite 
Bandmassen  zusammenhängen,  und  die  man   im  gewöhnlichen  Leben 


Du  Skelett. 


nicht  als  Gelenke  zu  bezeictuien  pflegt, 
obwohl  sie  nichts  weniger  als  unbeweg- 
lich sind. 

Das  Knochen material,  das  dem  Künst- 
ler in  der  Begel  zur  Vertilgung  steht,  giebt 
also  keine  ganz  richtige  Vorstellung  von 
der  natürlichen  Beschaffenheit  der  einzelnen 
Teile.  Denn  die  Bänder  und  Knorpel  sind 
vertrocknet  und  bis  zur  Unkenntlichkeit 
verschrumpft.  Seit  alters  her  scheint  man 
nach  solchen  Skeletten  gezeichnet  zu  haben, 
und  so  sehen  wir  denn  die  Knochenmänner 
teilweise  mit  all'  den  Eigentümlichkeiten 
des  künstlichen  Skelettes  ausgerüstet.  Alle 
Bänder  mit  Ausnahme  jener  zwischen  de« 
einzelnen  Wirkelkörpem  fehlen,  und  selbst 
diese  sind  so  geschrumpft,  daß  die  Stelle, 
an  der  sonst  das  elastische  Zwischenwir- 
helband  wie  ein  Polster  aufsitzt,  nicht 
mehr  völlig  ausgefüllt  ist,  wie  dies  wäh- 
rend des  Lebens  der  Fall  ist,  sondern  die 
Ränder  klaffend  aus  ein  anders  tehen.  An 
solchen  Skelettbildem  sitzen  dann  die  Ge- 
lenkkugeln frei  in  der  Pfanne,  and  es  fehlt 
jede  Verbindung  durch  Kapsel  und  Gelenk- 
bänder. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß 
eine  solche  Darstellung  in  hohem  Grade 
charakteristisch  ist.  Nur  die  Bewegung  er- 
innert an  das  Leben,  aber  an  ein  eigen- 
artiges, uns  fremdes  —  gefürchtetes  Leben, 
das  jeder  weichen,  irdischen  Hilfsmittel  ent- 
behren kann.  Nur  was  der  Fäulnis  Wider- 
stand leistet,  was  ihr  Jahi-tausende  trotzt, 
erscheint  belebt.  Die  Beschauer  sind  über- 
dies daran  gewöhnt,  und  niemand  ver- 
mißt die  verbindenden  filr  das  Leben  un- 
erläßlichen Zuthaten ,  auf  die  wir  hier 
erklärend  eingehen  müssen,  um  den  Zu- 
sammenhang der  Teile  zu  begreifen.  Ja 
die  Anatomen  selbst  machen  von  den  ma- 
cerierten  und  gänzlich  von  den  Weichteilen 


26  Enter  AbflchniU. 

befreiten  Knochen,  sowie  den  künstlichen  Skeletten  ausgedehnten  Ge- 
brauch, weil  die  charakteristischen  Knochenformen  am  schärfeten  dann 
henortreten,  wenn  alle  Weichteile  und  auch  die  Beinhaut  entfernt  sind. 
Auch  in  diesem  Handbuch  sind  sämtliche  Skelette  ohne  Bänder  dar- 
gestellt, nur  die  mehr  widerstandsfähigen  Rippenknorpel,  wie  sie  an 
vorsichtig  angefertigten  natürlichen  Präparaten  stets  erhalten  sind, 
fehlen  nirgends,  weil  sie  den  Brustkorb  aufbauen  helfen,  und  als 
Träger  des  Brustbeines  einen  festen  Halt  besitzen. 

Es  ist  bemerkenswert,  daß  der  Tod  bei  deutschen  Malern  erst 
um  die  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts  als  völlig  maceriertes 
Skelett  in  der  bildenden  Kunst  erscheint.  Das  hängt  offenbar  mit  dem 
Erwachen  anatomischer  Studien  an  der  Leiche  zusammen.  In  Italien 
ist  dies  in  Übereinstimmung  mit  dem  früheren  Beginn  dieser  Studien 
auch  früher  der  Fall.  Vor  dieser  Zeit,  bei  dem  Fehlen  ktlnstlich 
zusammengesetzter  Skelette,  hat  auch  der  Tod  ein  anderes  Aus- 
sehen. Er  ist  mumienhaft.  Haut  und  Muskeln  sind  noch  etwas  vor- 
handen, aber  eingetrocknet  und  braun  geworden,^  so  wie  vielleicht  der 
Verbrecher  am  Galgen  oder  auf  dem  Rad  unter  dem  Einfluß  der 
Sommerhitze  schließlich  aussah.  Bei  den  Griechen  und  Römern  hat 
dagegen  das  Skelett  die  scharfen  und  bestimmten  Umrisse  unserer 
Darstellungen  aus  dem  neunzehnten  Jahrhundert. 

Die  Eigenschaften  des  natürlichen  Skelettes,  welche  zu  einem  sehr 
beträchtlichen  Teile  dem  künstlichen  fehlen,  bedürfen  einer  kurzen  Be- 
schreibung. 

Allgemeine  Eigenschaften  der  Knochen. 

Die  Knochen  sind  mit  AusnahnCie  der  Gelenkenden  von  einer 
derben  Haut  überzogen,  welche  unter  dem  Namen  der  Beinhaut  be- 
kannt ist.  Sie  vermittelt  die  Blutzufuhr,  und  wird  so  zur  Ernährerin 
der  unmittelbar  unter  ihr  liegenden  Knochenschichten,  sie  liefert  das 
Material  zum  Wachstum  in  die  Dicke.  Unter  ihrem  Einfluß  können 
also  noch  beim  erwachsenen  Menschen  neue  Schichten  entstehen.  Sie 
vermittelt  endlich  die  Verbindung  der  Sehnen  mit  den  Knochen.  Die 
Beinhaut  wird  durch  die  Fäulnis  zerstört.  Sie  fehlt  also  an  den 
Skeletten  und  Knochen  unserer  Sammlungen.  Wer  nur  trocken  auf- 
bewahrte Knochen  kennt,  vermag  sich  schwer  eine  Vorstellung  zu 
machen,  wie  sich  die  Sehne  mit  der  Beinhaut  so  innig  verwebt,  daß 
bei  gewaltsamen  Zerrungen  eher  der  Muskel  entzwei  reißt,  oder 
Knochensubstanz  losgesprengt  wird,  ehe  sich  die  Verbindimg  mit  der 
Sehne  löst.    Man  ist  imstande,  am  macerierten  Knochen  die  Stellen  zu 

*  Wie  z.  B.  auf  Holbeins  Totentanz. 


Das  Skelett.  27 

erkennen,  wo  starke  Muskeln  mit  ihren  Sehnen  sich  an  die  Knochen- 
fiächen  befestigen.  Der  Knochen  ist  rauh,  höckerig.  Kleine  Vorsprünge 
und  dazwischen  liegende  Furchen  oder  Gruben  vergrößern  die  Ober- 
fläche, um  der  Anheftung  mehr  Baum  und  damit  eine  größere  Festig- 
keit zu  bieten.  Solche  Stellen  haben  sogar  Namen  erhalten.  Die 
Tuberositas  humeri  bezeichnet  am  Oberannknochen  ein  ovales  rauhes 
Feld,  den  Ansatz  des  Deltamuskels.  Aus  ähnlichen  Gründen  kann 
eine  Linie  auf  den  Knochen  durch  den  Ansatz  oder  den  Ursprung 
eines  Muskels  geschrieben  werden.  Die  sogenannte  Schläfenlinie  am 
Schädel,  die  selbst  durch  die  Haut  hindurch  bemerkbar  ist,  und  die 
in  ihrem  vorderen  Abschnitt  die  Breite  der  Stirn  abgrenzt,  hängt  mit 
dem  Ursprung  und  der  Stärke  eines  Kaumuskels  zusammen.  Aus  dem 
letzteren  Grunde  sind  die  Schläfenlinien  bei  Männem  in  der  Regel 
deutlicher  ausgeprägt  als  bei  Frauen  und  Kindern.  Auf  die  äußere 
Fläche  des  Hüftknochens  zeichnen  die  Gesäßmuskeln  ihre  Ursprungs- 
linien, die  hintere  Fläche  des  Oberschenkelknochens  weist  einen  breiten 
höckerigen  Streifen  auf,  der  nach  oben  und  unten  sich  gabelig  teilt. 
Er  verdankt  seine  Entstehung  lediglich  den  starken  Schenkelmuskeln, 
die  sich  an  ihm  festsetzen  oder  von  ihm  entspringen.  Die  Anatomie 
nennt  ihn  gegen  allen  Sprachgebrauch:  die  rauhe  „Linie"  des  Ober- 
schenkelknochens, Linea  aspera  femoris,  obwohl  sie  gleichzeitig  hin- 
zusetzt, daß  man  an  ihr  einen  äußeren  und  inneren  Rand  unter- 
scheiden müsse. 

Von  der  sog.  Knochenlinie  bis  zum  Knochenkamm  (Crista),  der 
stark  über  die  Fläche  hervorragt,  existieren  Übergänge  mancherlei 
Art.  Cristae  heißen  scharfe  oder  stumpfe,  gerade  oder  geki'ümmte 
Knochenleisten.  Wer  kennt  nicht  die  vordere  scharfe  Kante  an  dem 
Schienbein  aus  eigener  schmerzlicher  Erfahrung?  Bei  einem  Stoß 
gerät  die  Haut  zwischen  den  harten  Gegenstand  und  die  „Crista 
tibiae",  welche  in  ihrem  S  förmigen  Verlauf  an  jedem  männlichen  Beine 
bis  in  die  Nähe  des  Fußrückens  zu  sehen  und  zu  fühlen  ist.  Ruht 
der  Ansatz  der  Muskeln  auf  niedrigem  mit  breiter  Basis  aufsitzendem 
Knochenhügel,  so  wird  der  letztere  als  Höcker,  Tiiber  oder  Pro- 
tiiberantia,  oder  wenn  er  klein  ist,  auch  wohl  als  Höckerchen,  Tiiber- 
culum,  bezeichnet.  Sitzen  zwei  solche  Höcker  nebeneinander,  so 
kommt  es  zwischen  ihnen  selbstverständlich  zu  einer  Furche,  so  wie 
zwischen  zwei  Bergen  ein  Thal  liegt.-  Von  der  Höhe  der  Hügel  hängt 
die  Tiefe  des  Thaies  ab,  welches  bald  als  Furche  (Sulcus),  bald  als 
Bucht  (Sinus)  u.  s.  w.  bezeichnet  wird.  Die  gelehrte  Sprache  tauft 
dann  eine  solche  Vertiefung  wohl  auch  Sinus  intertubercularis  oder  auch 
Einschnitt,  Incisura,  ein  Wort,  das  durch  Wegfall  der  Endigung  a 
als    „Incisur"    germanisiert   erscheint.      Stachel,    Spina^    heißt    dem 


^  I     111  u  t>onirortutU.fl 
Dorufbrt£aU>4 


IGa  Unli 


Das  Skelett.  29 

strengen  Wortlaut  nach  ein  langer  spitzer  Fortsatz,  aber  man  hat 
dieselbe  Bezeichnung  auch  für  den  lang  gezogenen  Knochenriff  ge- 
wählt, welcher  auf  der  hinteren  Fläche  des  Schulterblattes  (siehe  Fig.  2 
Nr.  18a,  b)  vorkommt.  Die  deutsche  Sprache  bezeichnet  ihn  als  Schulter- 
gräte. (Besser  wäre  Schidtergrat,  da  man  auch  Rückgrat  sagt,  von 
Grat  d.  i.  Kante.)  Es  wird  sich  später  zeigen,  daß  die  Schultergräte 
eine  Sammelstelle  für  Muskelansätze  und  Muskelursprünge  ist,  und 
mit  der  Stärke  der  Muskeln  ebenfalls  an  Stärke  zunimmt,  wie  denn 
überhaupt  alle  ähnlichen  Knochenstellen  bei  muskelstarken  Männern 
kräftiger  entwickelt  sind,  als  bei  schwachen. 

Es  gilt  als  allgemeine  Regel,  zum  Studium  der  Knochen  vor- 
zugsweise ein  männliches  Skelett  zu  wählen  mit  derben  Knochen. 
Die  starken  Muskeln  modellieren  einzelne  Teile  des  Skelettes  im 
Laufe  der  Entwicklung,  und  man  darf  von  großen  Fortsätzen  auf 
starke  Muskeln  und  umgekehrt  schließen.  Das  zeigen  die  Wirbel 
und  zwar  namentlich  dann,  wenn  man  das  Skelett  der  Tiere  in  dieser 
Hinsicht  vergleicht.  Solche  vergleichende  Studien  sind  dem  Künstler 
yne  dem  Anatomen  ja  an  und  für  sich  nahegelegt.  Die  Anatomie 
hat  durch  diese  vergleichende  Prüfung  schon  längst  die  Überzeugung 
gewonnen,  daß  den  Wirbeltieren  ein  gemeinsamer  Bauplan  zu  Grunde 
liegt.  Ist  er  auch  bei  den  Fischen  noch  nicht  so  deutlich  ausgeprägt, 
so  tritt  er  doch  bei  den  Amphibien  durch  die  vollständige  Trennung 
von  Kopf,  Rumpf  und  Gliedmaßen  schon  unverkennbar  hervor,  und 
besonders  dann,  wenn  das  Skelett  berücksichtigt  wird.  Da  zieht  die 
Wirbelsäule  als  eine  gegliederte  Knochenreihe  dem  Rücken  entlang, 
und  am  Vorderbeine  unterscheidet  jeder  Unbefangene  den  Ober-  und 
den  Vorderarm  mit  der  daran  befestigten  fünffingerigen  Hand. 

Dieses  vergleichende  Studium  hat  u.  a.  gelehrt,  daß  die  Foii- 
sätze  an  den  Wirbeln  mit  der  Zunahme  der  Muskulatur  sich  ver- 
mehren oder  vergrößern,  und  mit  deren  Abnahme  sich  zurückbilden. 
Einer  dieser  Fortsätze,  der  Künstler  besonders  interessiert,  ist  der 
Dornfortsatz  (Processus  spinosus). 

Die  Dornfortsätze  bilden  mit  den  benachbarten  (ober-  und  unter- 
halb) eine  Reihe  in  der  hinteren  Mittellinie  des  Körpers.  Während 
der  aufrechten  Stellung  sind  allerdings  nur  einige  als  rundliche  Höcker 
bemerkbar,  namentlich  in  der  Gegend  des  siebenten  Hals-  und  ersten 
Brustwirbels  (Fig.  2  Nr.  6a,  7a,  ebenso  die  darunter  liegenden  Fig.  2 
Nr.  lOa,  20  a);  aber  sobald  der  Rücken  sich  krümmt,  erscheint  eine  sehr 
beträchtliche  Zahl.  Diese  Dornfortsätze  sind  nun  ebenso  wie  die  an 
den  Wirbeln  vorkommenden  Querfortsätze  (Fig.  2  Nr.  6b,  7b,  9b)  aus- 
schließlich Angriffspunkte  für  die  Streck-  und  Drehmuskeln  des  Rückens. 
Sie  leisten  den  Dienst  von  Hebelarmen,  an  denen  die  Muskeln  sowohl 


30  Erster  Abschnitt. 

mit  Ersparung  von  Kraft  als  von  Zeit  wirksam  thätig  werden.  Solche 
Fortsätze  (Processus)  giebt  es  an  den  Knochen  in  großer  Zahl,  und 
alle  jene,  welche  als  Muskelfortsätze  in  obigem  Sinne  von  Bedeutung  sind, 
wie  die  sog.  Rollhügel  am  Oberschenkelbein  (Fig.  2  Nr.  I6b)  oder  der 
Ellbogen  sind  für  die  äußeren  Formen  wichtig.  Sie  liegen  oberflächlich 
und  sind  durch  die  Haut  hindurch  zu  erkennen,  namentlich  bei  mageren 
Menschen,  während  sie  bei  muskelstarken  oder  fetten  mehr  verborgen 
sind,  ja  zum  Teil  sogar  den  Mittelpunkt  von  vertieften  Flächen  dar- 
stellen können  (z.  B.  der  große  Rollhügel  bei  Frauen).  Es  empfiehlt 
sich  also,  für  das  Studium  der  Osteologie  am  Lebenden  magere 
Modelle  zu  verwenden. 

An  dem  künstlichen  Skelett,  an  welchem  auch  die  Beinhaut 
durch  die  Fäulnis  zerstört  ist,  zeigt  sich  bei  genauerer  Betrachtung, 
daß  die  Obei-fläche  des  Knochens  nicht  überall  die  gleiche  Dichtigkeit 
und  das  gleiche  Aussehen  hat.  Die  Mittelstücke  der  Röhrenknochen, 
das  Schädeldach  und  Teile  des  Skelettes,  welche  Höhlen  zur  Auf- 
nahme der  Organe  bilden,  erscheinen  dem  freien  Auge  von  einem 
dichten  Gefüge  (Substantia  compacta)  polierbar  und  ohne  größere  Lücken. 
Die  Enden  der  Röhrenknochen  und  die  Wirbel  sind  dagegen  von 
kleinen  und  großen  Gefäßlöchem  durchbohrt,  welche  in  ein  aus  sich 
kreuzenden  Blättchen  bestehendes  Labyrinth  von  markhaltigen  Räumen 
führen,  welches  man  schwammige  Substanz  (Substantia  spongiosa)  nennt. 
Jeder  kennt  sie  von  den  Knochen  her,  die  auf  den  Tisch  kommen, 
ebenso  wie  die  Markhöhlen,  welche  auch  bei  dem  Menschen  zu  finden 
sind.  Fließen  nämlich  die  kleinen  Räume  der  spongiösen  Substanz  in 
dem  Mittelstück  eines  Röhrenknochens  zu  einer  größeren  Höhle  zu- 
sammen, so  heißt  diese  die  Markhöhle,  da  auch  bei  dem  Menschen 
eine  fettige  Substanz  in  ihr  abgelagert  wird. 

Knochen  mit  einer  Markhöhle  im  Lmem  heißen  Röhrenknochen. 
Ihre  Enden  sind  stets  umfänglicher  als  das  Mittelstück,  um  für  die 
Gelenkflächen  Raum  zu  gewinnen. 

Das  Knochenende  kann  einen  Gelenkkopf  (Caput  articulare)  dar- 
stellen (Fig.  2  Nr.  19  a  links,  Gelenkkopf  des  Oberarmknochens),  d.  i.  einen 
mehr  oder  weniger  kugligen  Fortsatz ,  welcher  gewöhnlich  auf  einem 
engeren  „Hals"  (Collum)  (Fig.  2  Nr.  I6a  u.  19)  aufsitzt.  Wird  die  Kugel- 
form mehr  in  die  Breite  gezogen,  so  spricht  man  von  einem  (Gelenk-) 
Knorren,  von  einer  Rolle  oder  einem  liegenden  Cylinder  u.  s.  w.  Ver- 
tiefungen für  die  Gelenkköpfe  heißen  Gelenkgruben,  die  entsprechenden 
Gelenkebenen,  und  wenn  sie  sehr  tief  sind ,  wie  am  Hüftknochen  zur 
Aufnahme  des  Oberschenkelkopfes:   Gelenkpfannen  (Foveae  articulares). 


Dm  Skelett. 


31 


Verbindungen   der   Knochen. 


Naht.    Knorpelftage.    Gelenk. 

Sie  bieten  alle  möglichen  Zwischengrade  von  der  festen  Ver- 
wachsung bis  zur  freiesten  Beweglichkeit.  Die  Natur  hat  um  diese 
Abstufungen  zu  erzielen,  sehr  verschiedene  aber  höchst  eigenartige 
Wege  eingeschlagen,  die  in  vielen  Fällen  an  manche  Werkzeuge  und 
Maschinen  der  Industrie  erinnern. 

Die  festesten  Knochenverbindungen  sind  die  sog.  Nähte,  Suturae. 
Zwei  Knochenränder  greifen  mit  ihren  zackigen  Rändern  ineinander. 


Fig.  3.    Zwei  europäische  Schädel  von  oben. 

a  Langschädel,  b  Karzschädel. 
1.  Kreuznaht.     2.  Scheitelnaht.     3.  Lambdanaht. 

Am  bekanntesten  sind  die  zackigen  Nähte  am  Schädeldach  (Fig.  3),  deren 
Verlauf  bei  Kahlköpfen  durch  die  Haut  hindurch  bemerkbar  ist.  Kin 
weiches  aber  doch  sehr  zähes  Verbindungsmittel  dient  als  Kitt,  um 
die  sich  berührenden  Knochenränder  aneinander  zu  heften.  Diese 
Nähte  sowohl  in  der  eben  beschriebenen  klassischen  Form,  welche  an 
die  Verzahnungen  bei  der  Holztechnik  unserer  Möbel  erinnert,  wie  als 
sog.  Schuppennaht,  Sutura  squamosa,  bei  der  sich  die  Ränder  etwas 
übereinanderschieben,  kommen  bei  den  Menschen  nur  zwischen  den 
einzelnen  Schädelknochen  vor. 

« 

In  der  Tierwelt  finden  sich  Nähte  auch  zwischen  anderen  £[nocheir  als  den 
Kopfknocheo ,  so  z.  B.  zwischen  den  Platten  des  Rückenschildes  der  Schildkröten. 


LANE  UBRARy.  STANFORD  MN1\^^\V( 


^Pl 


32 


Erater  Abichnitt. 


Mau  hat  deshalb  ein  Fragment  einer  solchen  Platte  von  einer  riesigen  von 
SchildkrSte  eine  Zeitlang  iur  den  Schädelknochen   eines  präadamitischen  Bie* 
gehalten. 

G^roße    Festigkeit,    aber    gleichzeitig    schon    einen    heätimmtt 
örad    von    Bewegliclikeit    zeigen    die    Knorpel-  Fugen    fSi/nc/iondri 
neg).     Größere  Kaochenflächi 
werden     durch     knorpelig 
Scheiben      und     straffe      I 
der    zusammcngehalteu. 
Knorpels  che  iben    besitzen 
reichende    Elastizität,   um 
Miniraum  von  Beweglichkeit  i 
gestatten.     Diese  Art  der  Vei 
hindung    gehört    ausschließlid 
der  Wirbelsäule  und  dem  Beckd 
an.     Da  die  in  der  Mittelebeq 
des  Leibes   gelegenen    unpai 
Knochen   das    feste    Stativ   > 
gesamten    Skelettes    zu 
haben,  so  whd  es  verstRndlicJ 
warum    zwischen    ihnen    kein 
leicht  beweglicheu  Gelenke,  a 
(lern   feste  Symphysen   vorkc 
iiu'u  Hiilsaeu,  Wiirum  clastiscl 
Knorpels  che  iben   (Fig.  4   1 
diesich  zusammendrucken  It 
und,  sobald  der  Druck  nachl&f 
wieder  in  frühere  Form  zurück*'] 
kehren,  für  diesen  Zweck  ver-J 
wendet   wurden.      Die    Reihe    der   Wirbel   wird   auf  diese  Weise 
einer  federnden  Säule,  welche  oliue  Anwendung  von  Muskelkraft  wiedei 
in  ihre  frühere  Stellung  zurückkehrt. 

Von    allen    Knochenverbindungeu    ist    das    eigentliche    Gele 
(ArticulatioJ  die  liiVufigste  Form.    Es  besteht  in  der  Verbindung  zvei« 
oder   mehrerer    Knocheu.   welche   durch    fiberkuorpelte    GelenkHächöltJ 
atieiiianderstoßen  und  durch  Bänder  zwar  zusammengehalten  werds^j 
aber  derart,  daü  sie  sich  nach  einer  bestimmten  Kegel  bewegen  k&nnei 


Fig.  4.    Fünf  Lendenwirbel  durch  die 
Zwischen  Wirbel  Bcbeiben  verbunden  im  Profil. 


1.   Körper. 

3.   GelenkfortsäUe. 

f).    Uornforlsütie. 

AU^eiuoIue  BoHclintfeuIielt  oüios  Ueleiikcs. 

Die  Gelenkenden  der  Knochen  sind  mit  Knorpel  tiberzogen,  d^ 
die  Verschiebungen   durch   seine  glatte   Beschaffenheit  erleichtert  ' 


Du  Skelett  83 

durch  seine  Elastizität  jeden  Stoß  abschwächt.  Der  bläalich-weiße 
Knorpelilberzug  ist  nur  an  frischen  Knochen  zu  sehen,  et  verschwindet 
durch  die  Fäulnis,  und  deshalb  ist  die  Ausdehnung  der  GelenkAächen 
an  den  getrockneten  Knochen  viel  schwerer  zu  erkennen. 

Der  Knorpel,  io  der  Vulgäreprache  „Knispel",  findet  in  dem  menitcKlichen 
und  tieiiBcfaen  Körper  eine  sehr  vielseitige  Verwendung.  Er  verbindet  mit  einem 
ijemlichen  Orsd  von  Festigkeit  eine  hohe  Elastizität  Um  sich  von  dieser  hervor- 
ragenden Eigenschaft  zu  überzeugen,  bmucht  man  Dur  sn  das  aus  demselben  Btoff 
gebant«  Ohr  tn  erinnern.  Welche  Anforderungen  werden  nicht  in  bozug  auf 
Festigkeit  an  das  schaUIeiteade  AnBHtzatQck  dieses  Sinneeorgana  gestellt,  und  dank 
Miner  elastdschen  Eigenschaften  widersteht  es  selbst  heftigem  Zug,  und  kehrt  sofort 
wieder  in  seine  nraprOngliche  Form  zurück.  Abgesehen  von  der  Bet«iligang  des 
Enorpeb  an  der  Bildung  des  Ohrs  und  der  Nase  und  der  Gelenke  findet  er  noch 
Verwendung  bei  der  Konstruktion  des  Brustkorbes,  und  ist  gerade  dort  von  nicht 
geringem  Einflufi  auf  die  Leichtigkeit  der  Atembewegungen. 

Die  Kapsel  (Ligamentum  capsulare)  ist  ein  aus  derben 
Fasern  gewebter,  schlaffer  Sack.    Sie  erstreckt  sich  vom  Umfang  eines 


i  ScholterbSb«. 

1  Obere  Kapwlwuid. 


Seitlicher  Band 


Fig.  5.    Kapsel  des  Oberarmgelenks. 

Gelenkkopfes  zu  der  gegenüber  liegenden  Pfanne  (Fig.  5  Kr.  l,  l',  s).  An 
ihrer  inneren  Oberfläche  ist  sie  von  einer  weichen,  blutreichen  Ifembran 
ausgekleidet,  welche  beständig  feucht  ist  und  die  sogenannte  Greleuk- 
schmiere  (Synovia)  absondert.  Durch  sie  wird  der  ganze  Binnenraam 
des  Gelenkes,  die  sogenannte  Gelenkhöhle,  beständig  glatt  erhalten. 

Die  Kapsel  ist  also  nicht  gespannt.  Allein  der  Grad  der  Schlaff- 
heit überschreitet  im  normalen  Zustande  niemals  eine  bestimmte  Grenze. 
Übermaß  wäre  hier  ebenso  gefährlich  geworden  wie  Mangel.  Die  Sicher- 
heit der  Bewegungen  hängt  sogar  zum  Teil  davon  ab,  daß  in  einer  be- 
stimmten Stellung  des  Gelenkes  die  Kapsel' sich  spannt  und  hemmend 

Kaujumi,  PluUKhs  AntUmla.  3 


• 


34  Erster  Abschnitt. 

eingreift.  Aus  diesem  Grunde  sind  oft  in  die  Kapseln  noch  starke 
Bandmassen .  eingewebt,  um  die  Beweglichkeit  am  rechten  Punkte 
einzuschränken.  Ihre  Aufgabe  besteht  also  auch  darin,  in  den  extremen 
Stellungen  die  Trennung  der  Gelenkflächen  zu  verhindern,  oder,  wie 
die  Mechaniker  sich  ausdrücken,  das  „Abhebein"  zu  vermeiden.  Ene 
solche  Wirkung  der  Kapsel  und  ihrer  Bänder  wird  dann  als  „Band- 
hemmung" bezeichnet.  (Fig.  5  Nr.  i  ist  der  obere  Teil  der  Kapsel  ge- 
spannt, während  der  untere  Nr.  i'  in  Falten  gelegt  ist.)  So  erfährt  also 
die  Bewegungsfähigkeit  bei  einer  bestimmten  Stellung  der  sich  berüh- 
renden Knochen  eine  Beschränkung  durch  die  Spannung  der  Kapsel. 
Knochen vorsprünge  in  der  Umgebung  des  Gelenkes  können  eben- 
falls an  einem  bestimmten  Punkte  hemmend  eingreifen.  Solche  Vor- 
richtung wird  als  Knochenhemmung  bezeichnet.  Für  die  Bewegung 
im  Oberarmgelenk  ist  die  Schulterhöhe  (Fig.  3  Nr.  4)  und  der  Knochen- 
vorsprung bei  Nr.  3  (Tubercubim  majus)  zusammen  eine  Knochen- 
hemmung. Denn  sobald  die  beiden  Punkte  Fig.  3  Nr.  3,  4  aneinander- 
gerückt sind,  beginnt  die  Hemmung.  Jede  weitere  Bewegung  in  dem 
Gelenk  ist  in  der  Richtung  nach  oben  unmöglich. 

Eine  Hemmung  kann  endlich  noch  durch  die  Wirkung  der  Muskeln  erzielt 
werden,  wenn  sie  wie  Zügel  der  Bewegung  ein  Ziel  setzen. 

Hilfsbänder  (Ligamenta  auxiliaria  oder  accessoria)  sind 
derbe  Stränge,  welche  zwischen  den  sich  berührenden  Knochen  aus- 
gespannt sind,  um  die  Verbindung  zu  kräftigen  oder  die  Beweglichkeit 
einzuschränken. 

Eine  besondere  Eigentümlichkeit  gewisser  Gelenke  sind  die  so- 
genannten Zwischenknorpel  (Cartilagines  interarticulares),  Sie  kom- 
men nur  in  Gelenken  mit  sehr  flachen  Gelenkpfannen  vor,  um  die 
Formverschiedenheiten  auszugleichen.  Das  ist  besondei-s  in  dem  Knie- 
gelenk der  Fall. 

Wer  mit  dem  Auge  des  Mechanikers  die  Konstruktion  der  Gelenke  betrachtet, 
mag  wohl  oft  eine  neidische  Begung  verspüren,  wenn  er  die  außerordentliche  Leichtig- 
keit der  Bew^ungen  und  ihre  Mannigfaltigkeit  erwägt,  da  die  Gelenke  doch  aus 
verhältnismäßig  leicht  zerstörbaren  Stoffen  hergestellt  sind.  Er  sieht  glatt  polierte 
Flächen  geräuschlos  sich  verschieben ;  mit  weisem  Maß  werden  «lle  Stellen  durch 
kleine  Mengen  eines  durchsichtigen  Saftes,  der  Gelenkschmiere,  befeuchtet,  um 
jeden  durch  Reibung  bedingten  Kraftverlust  so  viel  als  möglich  herabzusetzen.  In 
der  That,  der  Beibungswiderstand  ist  gleich  Null.  Diese  Gelenkschmiere  fließt 
ungeheißen  zu,  ist  von  der  denkbar  vortrefflichsten  Zusammensetzung.  Das  öl, 
womit  die  Gelenke  der  Maschinen  glatt  erhalten  werden,  wird  schon  nach  kurzer 
Zeit  zäh  und  verharzt.  —  Überdies  gebietet  die  Natur  über  Kräfte,  deren  Anwen- 
dung der  Mechanik  wohl  niemals  gelingen  wird,  nämlich  über  die  Adhäsion  und 
den  Luftdruck.  Sollen  die  Gelenkflächen  unserer  Maschinen  beständig  in  gegen- 
seitiger Berührung  bleiben,  so  müssen  sie,  wie  z.  B.  bei  dem  Winkelgelenk,  durch 
eine  sogenannte  Gelenkachse  mitdnander  verbunden   werden.    Bei   den   Gelenken 


Das  Skelett.  35 

unseres  Körpers  spricht  maD  zwar  von  einer  solchen,  aber  sie  wird  theoretisch  an- 
genommen, um  durch  ihre  Richtung  den  Gang  zu  veranschaulichen.  In  Wirklich- 
keit existiert  sie  nicht,  und  dennoch  entfernen  sich 'unter  normalen  Verhältnissen 
die  berührenden  Flächen  niemals  voneinander.  .Die  Natur  erreicht  den  Kontakt 
der  Qelenkflächen : 

1.  durch. den  Luftdruck.  Die  Gelenkhöhlen  sind  luftleer,  wie  neben 
anderen  Belegen  namentlich  ihre  Entstehung  beweist.  Arme  imd  Beine  wachsen 
an  der  Seite  des  Rumpfes  allmählich  hervor  gleich  Knospen.  Der  zuerst  be- 
merkbare, etwas  platte  Teil  läßt  die  Anlage  der  Finger  oder  Zehen  erkennen, 
aber  noch  sind  sie  durch  eine  Haut  untereinander  verwachsen.  Kurze  Zeit  darauf 
folgt  der  Vorderarm;  die  Stelle  des  späteren  Ellbogengelenkes  ist  schon  erkennbar, 
währ^d  der  Oberarm  noch  in  der  Tiefe  des  werdenden  Organismus  steckt.  Jetzt 
beginnt  unter  der  allseitig  geschlossenen  Haut  der  Glieder  an  dem  cylindrischen, 
weiBen  Knorpelstreif,  der  später  durch  die  Aufnahme  von  Kalksalzen  knochenhart 
wird,  die  Bildung  der  Gelenke  an  bestimmten  Punkten.  In  dem  Knorpelstab 
taucht  eine  querliegende,  milchig  getrübte  Linie  auf,  diese  nimmt  zu,  ihre  mittlere 
Zone  verflüssigt  sich  und  damit  ist  die  Gelenkhöhle  und  sind  die  sich  gegenüber- 
liegenden Gelenkenden  in  ihrer  einfachsten  Form  angelegt.  Demnächst  macht  sich 
auch  schon  die  Kapsel  als  eine  zarte  Schichte  bemerkbar,  welche  an  der  Grenze 
des  Gelenkspaltes  erhalten  blieb  und  mehr  und  mehr  deutlich  von  einem  Gelenk- 
ende  bis  zu  dem  anderen  hin  überreicht.  Fest  verbunden  mit  dem  jugendlichen 
Knochen  trägt  sie  schon  die  Eigenschaften  in  sich,  welche  das  völlig  reife  Gebilde 
erkennen  läßt.  Schon  jetzt  sind  Bewegungen  möglich  und  der  Zug  der  noch 
schwachen  Muskeln  erzielt  kleine  Verschiebungen.  Ja,  man  nimmt  mit  gutem 
Grunde  an ,  daß  er  es  sei ,  welcher  teilweise  die  Gelenkenden  zu  cylindrischen 
und  kugelförmigen  Flächen  zuschleife.  Ziehen  die  Muskeln  z.  B.  ausschließlich 
an  zwei  sich  gegenüberliegenden  Punkten  des  Gelenkes,  so  wird  ein  Winkelgelenk 
entstehen  müssen,  bewegen  sie  aber  den  einen  Knochen  nach  allen  Seiten,  so  ist 
die  Bildung  eines  kugligen  Gelenkkopfes  unausbleiblich.  Doch  sei  dem,  wie  immer, 
aus  dem  ganzen  Entwickelungsgang  geht  die  wichtige  Thatsache  hervor,  daß  sich 
die  Gelenke  im  Innern  der  embryonalen  Gliedmaßen  entwickeln,  wohin  niemals 
atmosphärische  Luft  dringt,  weder  vor,  noch  nach  der  Geburt  Streng  genommen 
existiert  also  auch  innerhalb  der  Gelenkkapsel  niemals  ein  freier  Raum ,  sondern 
alle  Teile  berühren  sich,  aneinandergedrängt  durch  den  Druck  der  äußern  Luft. 
Nachdem  dieser  Druck  auf  einen  Quadratcentimeter  Fläche  ungefähr  mit  dem 
Gewicht  von  1  Kilogramm  preßt,  so  erleidet  eine  Gelenkfläche  von  20  Quadrat- 
centimetem  schon  einen  Druck  von  20  Kilogrammen.  Die  Gebrüder  WebeiC  haben 
an  dem  Hüftgelenk  der  Leiche  bewiesen ,  daß  der  Schenkelkopf  in  seiner  Pfanne 
auch  ohne  Bänder  und  ohne  Muskeln  an  seinem  Platze  bleibe,  und  daß  der  Luft- 
druck vollkommen  ausreiche,  die  Kugelflächen  der  Pfanne  und  des  Schenkelkopfes 
in  gegenseitiger  Berührung  zu  erhalten.  Zu  dieser  überraschenden  Leistung  des 
Luftdruckes  kommt 

2.  die  Adhäsion,  das  ist  die  Erscheinung,  daß  glatte  Flächen  aneinander 
haften,  sobald  sich  eine  dünne  Schichte  Flüssigkeit  zwischen  denselben  beflndet. 
Sie  lassen  sich  zwar  verschieben,  doch  nicht  abheben.  Ganz  dieselbe  physikalische 
Wirkung,  wie  hier  das  Wasser,  hat  zwischen  den  glatten  Gelenkflächen  die 
Synovia.  Wo  immer  kleine  Unebenheiten  sich  auf  dem  Knorpelüberzug  finden, 
da  ebnet  sie  dieselben,  wirkt  so  im  Sinne  der  Adhäsion  und  hilft  den  Zug  über- 
winden, mit  welchem  die  Schwere  des  Beines  (bei  dem  Erwachsenen  etwas  mehr 
als  10  Kilo)  den  Kopf  aus   der   Gelenkpfanne  herauszuzerren  strebt     Luftdruck 

3* 


36  Erster  Abschnitt. 

und  Adhäsion  werden  also  in  dem  Organismus  mit  eminentem  Vorteil  Yerwendet, 
weil  sie  wirksam  sind,  ohne  auch  nur  den  geringsten  Kraftaufwand  zu  erfordern. 
Sie  äquilibrieren  so  Yollständig  das  Gewicht  der  Glieder,  daß  wir  von  ihm  nicht 
das  geringste  verspüren,  daß  die  Beine  in  ihren  Pfannen  schwingen  nach  den  Ge- 
setzen eines  freihangenden  Pendels,  und  daß  die  ganze  Krall  der  Muskeln  fiir  die 
Bewegungen  verwendbar  bleibt.  Zu  diesen  beiden  unausgesetzt  wirksamen  Natur- 
kräfben  kommt  überdies  der  Zug  der  über  das  Gelenk  hinwegziehenden  Muskeln. 

Die  Untersuchung  lehit,  daß  ein  großer  Unterschied  in  dem 
Grad  der  Beweglichkeit  an  den  verschiedenen  Gelenken  existiert.  In 
manchen  ist  er  so  gering,  daß  er  in  dem  gewöhnlichen  Leben  kaum 
beachtet  wird,  z.  B.  in  einzelnen  Hand-  und  Fußgelenken.  Von  diesen 
bis  hinauf  zu  der  freien  Bewegung,  deren  der  Arm  fähig  ist,  giebt 
es  alle  möglichen  Zwischenstufen,  welche  von  der  Form  der  Gelenk- 
flächen, der  Richtung  der  Bänder  u.  s.  w.  abhängen. 


Oelenkformen. 

In  einem  aus  Kapsel,  Hilfsbändern  und  glatten  Knochen  bestehen- 
den Gelenk  hängt  die  Art  der  Bewegung  von  der  Form  der  sich  be- 
rührenden Flächen  ab.  Man  hat  nun  diese  Form  als  Einteilimgs- 
grund  hauptsächlich  benützt,  und  unterscheidet  Gelenke  mit  kugel- 
förmigen Flächen:  Kugel-  oder  Nußgelenke,  dann  Gelenke  mit 
walzenförmigen  Flächen:  Winkelgelenke  (Werk -Scharniere  oder 
Kniegelenke);  zusammengesetzte  Gelenke,  in  denen  sich  drei 
oder  mehrere  Gelenkenden  mit  verschiedenen  Rotationsflächen  begegnen, 
und  endlich  ebene  oder  straffe  Gelenke.  Diese  beiden  ersten 
Formen  sind  so  allgemein  bekannt,  daß  wir  bei  ihrer  Beschreibung 
auf  mechanische  Hilfsmittel  des  täglichen  Lebens  zum  Vergleich  hin- 
weisen können, 

1.  Das  Kugelgelenk. 

Das  Kugelgelenk  hat  seinen  Namen  von  dem  kugelförmigen 
Gelenkkopf  erhalten,  der  in  der  Mechanik  der  Maschinen  auf  einer 
schmalen  Stange  sitzt,  wobei  der  größte  Teil  der  Kugeloberfläche 
für  die  Bewegung  verwendbar  bleibt.  Der  Gelenkkopf  eines  mensch- 
lichen Gelenkes  sitzt  auf  einer  breiten  Unterlage,  denn  die  Knochen 
nehmen  gegen  die  Gelenkenden  stets  an  Umfang  zu.  Unter  Um- 
ständen wird  nur  die  Hälfte  oder  das  Drittel  einer  Kugel  verwendet. 
Der  Kugel  entspricht  dann  die  Pfanne  (Äcetabulum),  in  der  sich  der 
Kopf  nach  jeder  Richtung  verschieben  läßt.  Er  ist,  wie  dies  in  mehr 
präziser  Fassung  ausgedrückt  wird,  in  jeder  Stellung  um  eine  senk- 
rechte, auf  die  Pfanne  gedachte  Achse  drehbar. 


Oberer  Band  Vi 
Vord.  ob.  Darmbeimtachel   ■> 


AaC. Fliehe de«S«hieDbeiD«i  2t 


I  iläil'Ifreiubeiniüge. 
I  Z«i«chenirirbel15dieT. 


7  Kleiner  Rollhögel. 


K  Spningbeiu. 
n  Kahnbein. 

K  Fertenbän. 


Fig.  6.    Knochen  der  unteren  GliedmaBen. 


38  Erster  Abschnitt. 

Das  Hüftgelenk  ist  das  größte,  und  seiner  Form  nach  das  reinste 
Kugelgelenk  des  menschlichen  Organismus.  Der  Gelenkkopf  erscheint 
auf  den  ersten  Augenblick,  namentlich  im  frischen  Zustand  nahezu 
kugelrund.  Zwei  Drittel  der  Kugel  sind  in  der  That  frei,  das  letzte 
Drittel  ist  auf  dem  sog.  Hals  des  Oberschenkelknochens  festgewachsen 
(Fig.  6  Nr.  23),  der  an  das  obere  Ende  in  einem  Winkel  angesetzt  ist. 
Die  knöcherne  Pfanne,  deren  Rand  durch  einen  aufgewachsenen  Ring 
knorpelähnlichen  Gewebes  (Labrum  cartUagineum)  noch  mehr  vertieft 
wird,  nimmt  den  Kopf  so  vollständig  auf,  daß  an  dem  natürlichen  Skelett 
wenig  von  ihm  zu  sehen  ist.  Nur  an  dem  künstlichen  Skelett,  an 
welchem  der  innere  Überzug  der  Pfanne  und  eben  dieser  aufgewachsene 
Ring  durch  die  Fäulnis  zerstört  sind,  ragt  ein  Teil  des  Kopfes  aus  der 
Pfanne  hervor  (Fig.  6).  Da  der  knöcherne  Pfannenrand  nicht,  wie  dies 
bei  dem  Nußgelenk  der  Mechanik  der  Fall  sein  muß,  den  Äquator 
der  Kugel  überschreitet,  so  hat  das  menschliche  Nußgelenk  eine  weit 
größere  Beweglichkeit  als  •  irgend  eines  der  Technik.  Durch  Übung 
kann  die  Beweglichkeit  aufifallend  gesteigert  werden.  Am  deutlichsten 
zeigen  das  Versuche  am  1 — 2 jährigem  Kind,  und  stets  überraschend 
bei  den  fahrenden  Gymnasten  unserer  Jahrmärkte,  wenn  sie  ihr  Bein 
wie  der  Soldat  Gewehr  im  Arm  präsentieren,  oder  auf  ihre  rechtwinklig 
vom  Stamm  ausgespreizten  Beine  hinstürzen.  Wenn  nicht  jeder  Mensch 
sich  diesen  Grad  von  Kautschuk-Elastizität  bewahrt,  so  rührt  dies  daher, 
daß  die  Kapsel  wie  die  umgebenden  Muskeln  einen  Teil  ihrer  jugendlichen 
Elastizität  später  verlieren  und  bei  einem  bestimmten  Grad  von  Span- 
nung schon  Schmerz  verursachen.  Analysiert  man  unter  völlig  normalen 
Zuständen  des  Gelenkes  seine  Beweglichkeit  und  nimmt  die  größte 
Freiheit  desselben  bei  einem  Akrobaten  zum  Muster,  so  beträgt  die 
Hebung  nach  vor-  und  rückwärts  140^,  beim  gewöhnlichen  Sterblichen 
nur  86^,  die  Hebung  seitwärts  (Beinspreizen)  90^,  das  Drehen  nach 
innen  und  außen  (Rotation)  SP.«  Werden  diese  Stellungen  allmählich 
ineinander  übergeführt,  dann  beschreibt  die  Fußspitze  einen  Kreis,  das 
untrüglichste  Merkmal  eines  Kugelgelenkes. 

Eine  im  Prinzip  ähnliche  Konstruktion  weist  das  Oberarmgelenk 
(Articxdatio  humeri)  auf.  Bei  ihm  ist  zum  Unterschied  auch  der  die 
Pfanne  tragende  Knochen,  das  Schulterblatt,  beweglich.  Hört  aus 
mechanischen  Gründen  die  Bewegung  im  Oberarmgelenk  auf,  so  kann 
die  Bewegung  noch  durch  die  Verschiebungen  des  ganzen  Schulter- 
blattes weitergeführt  werden.  Dadurch  wird  ein  viel  größerer  Betrag 
von  Beweglichkeit  erreicht  als  an  dem  Hüftgelenk,  bei  dem  ja  der 
pfannentragende  Knochen  feststeht.  Daß  damit  die  Zahl  der  Form- 
veränderungen am  Oberkörper  größer  wird,  als  am  unteren  Ende 
des  Stammes   ist   klar.     Wir  werden   bei   der  Anatomie   des   Armes 


^^v 

Dm  BkekU. 

^HPH 

^P  diese  Vielseitigkeit  der  Beweßungen  erörtern. 

welche  es  möglicli  macht.                   ^H 

P   diiß  ilie  Hftud  jeden  Punkt 

(5er  Körperoberfl 

itclie  zu  erreicheu  vermag.                   ^H 

MKSr   ■ 

^J 

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KjH'  '  IV 

- it                        ^^^^^H 

Griffel  furtenu  j -d 

Bückenbwj,!  !.           ^^B 

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0*  carpi  ulnare  (...-      Hk 

O»  carpdB  IV.  >     ^iÄ 

0*  <:iin>"i<  iii-  10     |9I 

^3^9 

^-  Ek  DiokM  Cdenkenilv.  ^H 
K. —  B  Urapruug  d«  K*i«el.                          ^H 

B^     11  Pfuine  d«i  Radiui.                             ^H 

F  8  0»  tmfi  maiolr.  ^H 
L ti  Grleukpraoii«.                                 ^^| 

^      U  0.  cirpale                               ^^^^B 

uineihiui.i.  a.-        f^m  Ja 

knoeheo                       Z^F   /  ■ 

^^^^    -           ta  Mitt^Ihaiidknoch.                    ^H 

^^^^H-      -M                                              ^H 

"—^31 

■  Gelenkhi-Üt«  b---..-.-.--.-.-.--.:..::^ 

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Settrahuiil    n 

^^H 

(ieUakb^H^k.  r  u 
G«lei>kpftu>[.e  mit  do»  Lei««  U 

H 

Nnselgiicd   U 

^^^^^^ 

.    Die  knü<^herne  BiiDd.                                                  ^^^^^^^| 

40  Erster  Abschnitt. 


2.   Winkelgelenk. 


Eine  andere  Grelenkform,  deren  Beweglichkeit  eine  sehr  cha- 
rakteristische aber  viel  beschränktere  ist,  ist  das  Winkelgelenk, 
für  das  man  in  der  Anatomie  den  technischen  Ausdruck  Ginglymu* 
verwendet,  von  gmglymos  (griechisch)  Thürangel.  Innerhalb  dieser 
Knochenverbindung  findet  nur  Offnen  und  Schließen  statt,  eine  Bewe- 
gung, wie  sie  unsere  in  Angeln  hängenden  Thüren  aufweisen.  Bei  den 
letzteren  steckt  ein  Stahlcylinder  „Dom"  genannt,  in  einer  „Büchse". 
In  den  Winkelgelenken  des  Menschen  und  der  Tiere  ist  ebenfalls  der 
Cylinder  verwendet,  der  aber  nicht  senkrecht  steht,  sondern  wie  an 
den  Winkelgelenken  der  Dosen,  Koffer  u.  s.  w.  horizontal  liegt.  Die 
Pfanne  besteht  aus  der  Hälfte  einer  der  Länge  nach  entwei  geschnittenen 
Büchse  oder  eines  Hohlcylinders.  Der  Vollcylinder  riiht  in  dem  Hohl- 
cylinder,  festgehalten  durch  den  Luftdruck  und  die  Adhäsion  und  durch 
den  Zug  der  Muskeln.  Um  dem  Gang  des  menschlichen  Gelenkes 
eine  größere  „Sicherung"  zu  geben,  ist  der  querliegende  Cylinder  über- 
dies mit  einer  tiefen  Furche,  und  die  Pfanne  mit  einer  hierfür  pas- 
senden Leiste  versehen  oder  umgekehrt.  Das  Ineinandergreifen  dieser 
Furchen  und  Leisten  verhindert  in  Verbindung  mit  den  Hilfsbändem 
das  Abgleiten. 

Am  reinsten  erscheint  diese  Form  in  den  Zehen-  und  Finger- 
gelenken (Fig.  7  Nr.  18, 19, 20—21).  Daran  schließen  sich  an :  das  Kniegelenk, 
das  Fußgelenk,  das  Gelenk  zwischen  Atlas  und  Hinterhaupt  u.  a.  m. 

Der  £iDfachheit  wegen  wurde  nur  von  einem  querliegenden  Cylinder  oder 
einer  Walze  gesprochen,  welche  den  Qelenkkopf  darstellt  Das  Aussehen  ent- 
spricht nicht  gerade  immer  der  Vorstellung,  die  mit  solchen  Bezeichnungen  ver- 
bunden ist.  Dies  rührt  davon  £ier,  daß  die  gewölbte  Oelenkfläche,  ungefähr  so 
wie  bei  dem  Eln>ogengelenk ,  einen  tiefen  Einschnitt  aufweist.  Das  so  ein- 
geschnittene Gtolenkende  wird  deshalb  auch  Bolle  genannt.  Alle  diese  und 
ähnliche  Ausdrücke  sind  eben  von  der  Mechanik  in  die  Anatomie  allmählich 
herübergenommen  worden.  Ahnlich  wie  an  dem  Ellbogengelenk  verhält  sich  der 
querliegende  Cylinder  an  den  Fingern.  Auch  hier  existiert  ein  ziemlich  tiefer 
Einschnitt  Bei  dem  Kniegelenk  ist  er  so  umfangreich  geworden,  daß  die  Walze 
an  der  hinteren  Fläche  vollständig  in  zwei  Teile  getrennt  ist,  und  nur  an  der 
vorderen  der  Bezeichnung  ,3olle"  ncich  einigermaßen  entspricht.  Auch  die  Grelenk- 
pfanne  ist  weit  Entfernt,  dem  alltäglichen  Begriff  einer  solchen  zu  entsprechen. 
Sie  ist  oft  gering  an  Umfang  und  so  flach,  daß  es  schwer  wird,  sie  zu  erkennen, 
wie  z.  B.  an  dem  oberen  Schienbeinende.  Für  die  Ausgiebigkeit  der  Bewegung 
war  damit  ein  eminenter  Vorteil  erreicht.  Größere  Sicherheit  der  Führungsbahn 
wurde  durch  die  Einschnitte  erreicht,  denn  in  diese  greifen  vorspringende  Leisten 
ein,  wie  an  dem  Arm-Ellenbogengelenk  oder  den  Fingergelenken  Fig.  7,  Nr.  18, 19. 
Das  seitliche  Abgleiten  wird  einmal  schon  dadurch  erschwert,,  dann  ^ber  noch  voll- 
ständig gehemmt  durch  die  einem  jeden  solchen  Gelenk  zukommenden  Hilfsbänder 
Fig.  7,  Nr.  18,  33.     Dieselben  entspringen  seitlich  an  der  Rolle,  und  zwar  an  den 


Das  Skelett.  41 

Enden  ihrer  Drehaxe,  und  setzen  «ich  an  dem  gegenüberliegenden  Hände  der 
Gelenkpfanne  an.  Sie  sind  so  beschaffen,  daß  sie  einerseits  die  beiden  Oelenk- 
iiächen  fest  und  dennoch  beweglich  aneinander  heften,  und  andererseits  ein  seitliches 
Ausweichen  unmöglich  machen.    Seitenbänder  an  Fig.  7  Nr.«  14,  33. 

Modifikationen  des  Winkelgelenkes  sind:  1.  Gelenke  mit  sattelförmiger 
Gestaltung.  Der  Einschnitt  in  die  ,,Bolle"  ist  tief  aber  flach,  und  die  Seiten- 
bänder sind  nicht  so  straff  gespannt,  wie  bei  den  reinen  Winkelgelenken.  Dadurch 
werden  auch  seitliche  Bewegungen  möglich.  Das  schönste  Beispiel  für  ein  solches 
Gelenk  ist  dasjenige  zwischen  Daumen  und  Handwurzel  (Fig.  7  zwischen  Nr.  12  u.  28). 

2.  Gelenke  mit  schraubenförmiger  Gestaltung  der  Grelenkflächen. 
Der  Unterschied  von  dem  Winkelgelenk  beruht  nur  darin,  daß  die  Führungs- 
linien die  Richtung  wie  bei  einer  Schraube  haben.  Die  Ebene,  in  der  die  Bewegung 
stattfindet,  durchschneidet  bei  solchen  Gelenken  die  Gelenkaxe  nicht  senkrecht  wie 
bei  dem  Winkelgelenk,  sondern  in  schiefer  Richtung.  Sowohl  bei  Mensch  als  Tier 
ist  diese  G«lenkform  in  großer  Verbreitung  zu  finden,  z.  B.  an  dem  Ellbogen  und 
dem  Knie.  Der  Einfachheit  halber  werden  jedoch  hier  alle  diese  Gelenke  als  ein- 
fache Winkelgelenke  aufgefaßt  Wo  immer  wichtige  Abänderungen  vorkommen,  da 
soll  an  dem  betreffenden  Ort  darauf  hingewiesen  werden. 

Für  eine  eingehende  Schilderung  empfehlen  sich  wegen  ihrer 
oberflächlichen  Lage  die  Winkelgelenke  der  Finger.  Ein  großer 
Teil  ihrer  Eigenschaften  läßt  sich  schon  durch  die  Haut  hindurch  er- 
kennen, namentlich  an  mageren  Händen.  Die  genaue  Kenntnis  des 
Mechanismus  ist  gleichzeitig  ein  wertvolles  Hilfsmittel  für  das  Ver- 
ständnis des  Kniegelenkes,  das  zwar  nicht  unwesentliche  Abänderungen 
aufweist,  aber  in  der  Hauptsache  nach  demselben  Plane  geformt  ist. 
Der  Anatom  versteht  unter  den  Winkelgelenken  der  Finger  nur  jene 
am  Nagelglied  und  in  der  Mitte  der  Fingerlänge.  Das  Finger- 
handgelenk (Ärticulatio  metacarpo-phalangea)  zwischen  Mittelhand  und 
Fingerwurzel  gehört  zu  der  Reihe  der  Kugelgelenke.  Denn  wir 
können  solche  nicht  nur  beugen  und  strecken,  sondern  auch  spreizen, 
ja  wir  können  durch  Überführen  dieser  Bewegungen  ineinander,  mit 
der  Spitze  eines  Fingers,  am  deutlichsten  des  Zeigefingers  sogar 
einen  Kreis  beschreiben.  Bei  den  zwei  letzten  Fingergelenken,  von 
der  Fingerwurzel  aus  gezählt,  ist  dagegen  lediglich  Beugung  und 
Streckung  ermöglicht.  Ein  querliegender  mit  Knorpeln  überzogener 
Cylinder  rollt  auf  einer  entsprechend  gehöhlten  cylindrischen  Pfanne. 
Die  Figur  7  Nr.  I8,  19,  20—21,  31,  32  zeigt  das  Winkelgelenk  nach  Ent- 
fernung der  Kapsel  in  verschiedenen  Stellungen.  Die  querliegende 
in  der  Mitte  durch  eine  sattelförmige  Vertiefung  eingeschnittene  Rolle 
Fig.  7  Nr.  18  sitzt  auf  einer  schwach  gehöhlten  Pfanne  Fig.  7  Nr.  19. 
Aus  ihrer  Mitte  erhebt  sich  eine  stumpfe  Leiste,  welche  ihre  Führung 
in  dem  Einschnitt  an  der  Rolle  findet  (vgl.  Fig.  7  Nr.  31,  32).  Durch 
das  Ineinandergreifen  von  Leiste  und  Einschnitt  wird  die  Gangart  des 
Gelenkes   wesentlich   gesichert.     Denn    diese   teiden   Flächen  können 


42 


Enter  Abschnitt 


sich  nur  in  einer  und  derselben  Ebene  verschieben  wie  die  Flügel- 
thüren,  Kofferdeckel,  wie  die  Branchen  des  Zirkels  u.  s.  w.  Eine 
Gelenkkapsel,  welche  wie  ein  schlaffer  Sack  die  aneinanderstoBenden 
Knochen  verbindet,  gestattet  volle  Beweglichkeit,  welche  bei  manchem 
Menschen  sogar  zu  einer  Uberstreckung  Miren  kann,  wobei  der  Finger- 
räcken  sicli  höhlt,  konkav  wird,  Hilfsbänder  (Fig.  7  Nr.  17),  welche 
zu  beiden  Seiten  des  Gelenkes  angebracht  sind,  und  deren  Änbeftungs- 
punkte  deutlich  am  centralen  Knochenende  als  kleine  Grübchen  be- 
merkbar sind,  erhöhen  die  Festigkeit.  Ohne  solche  Hilfsbänder  würden 
bei  jedem  stärkerem  Zug  oder  Druck  die  glatten  Flächen  voneinander 
abgleiten  trotz  der  Adhäsion  und  des  Luftdruckes. 


GniDdphalange  S- 
Sehne  and  Bdnhant  i 


1  Msrkhohle  dei  Uitld 

bandknocheDi 
i  Uitt«lhttadknodieD 
«  Kspael  an  der  Hohl 
hsudilicbe 

j  HautlUte   äfe   Uittel 
hond  Fingergelenka. 
S  flautfalt«» 


Fig.l 


Gclenkpfnnne    s'         5   Mittelglieti. 
SogittalBcbnitt  des  dritten  MitteUumdknochens  und  Fingers,  gebeugt 


Den  vollen  Einblick  in  die  Gestaltung  eines  solchen  Gelenkes 
gewährt  ein  Ljüigsschnitt  durch  die  Mitte  des  Fingers,  der  Längsachse 
folgend. 

Der  Gelenkkopf  Fig.  8  Kr.  2"  erscheint  wie  ein  Halbkreis,  die  Pfanne 
Fig.  8  Nr.  3'  wie  ein  leicht  gehöhltes  Schüsselchen.  Der  KnorpelUberzog 
wie  ein  Millimeter  breiter  Saum,  der  am  stärksten  auf  der  Mitte  der 
Pfanne  und  der  !Rolle  ist  und  nach  dem  Ende  derselben  allmählich 
abninunt.  Die  obere  und  untere  Kapselwand  sind  innen  nicht  völlig 
glatt,  sondern  mit  einem  Wulst  versehen  (Fig.  8  Nr.  5),  der  in  den  Ge- 
lenkraum vorspringt,  und  dem  zum  großen  Teil  die  wichtige  Aufgabe 
zukommt,  bei  schneller  Streckung  die  Kapsel  vor  der  Einklemmung  zu 
schützen.  Der  Luftdruck  preßt  nicht  allein  die  Gelenkffächen  an- 
einander,  sondern  avch   die  Gelenkkapsel  und   die  äußere  Haut  fest 


Das  Skelett.  43 

an  den  Knochen.  Wo  immer  bei  der  Bewegung  die  Knochenenden 
einen  klaffenden  Spalt  freiwerden  lassen,  legt  sich,  getrieben  von  dem 
Gewicht  der  auf  uns  lastenden  Luftsäule  die  Gelenkkapsel  und  damit 
die  Haut  hinein.  Am  leichtesten  kann  man  sich  von  dieser  über- 
raschenden Erscheinung  an  dem  Fingerhandgelenk  überzeugen.  Zieht 
man  den  Finger  stark  an,  so  entfernen  sich  mit  einem  hörbaren  Bjiall, 
ähnlich  dem  Geräusch  eines  abgelassenen  Gewehrschlosses,  die  Gelenk- 
flächen voneinander.  Der  kleine  Knall  entsteht  durch  das  Losreißen 
der  mittels  der  Gelenkschmiere  adhärierenden  Knochen.  Gleichzeitig 
sinkt  die  Haut  in  den  klaffenden  Spalt  und  bleibt  solange,  bis  der 
Zug  nachläßt,  und  die  Gelenkenden  wieder  in  ihre  frühere  Stellung 
zurückkehren.  Dieser  kleine  mit  der  Kapsel  verwachsene  Höcker 
(Fig.  6  Nr.  5)  hat  nun  die  Aufgabe,  bei  den  Bewegungen  die  Haut 
vor  sich  herzutreiben,  und  so  ihre  Einklemmung  zu  verhindern.  Für 
den  Künstler  ist  dabei  die  Thatsache  wichtig,  daß  die  Haut  sich 
der  Oberfläche  des  Gelenkes,  soweit  dies  die  Kapsel  gestattet,  genau 
anschmiegt,  und  deshalb  die  tiefliegenden  Gelenkformen  für  den 
Kenner  leicht  bemerkbar  werden.  Die  großen  rotierenden  G^lenk- 
körper  im  Kniegelenk  gewähren  bei  der  Beugung  einen  ganz  anderen 
Anblick  als  in  der  gestreckten  Lage,  weil  durch  die  Rotation  eine 
andere  Stellung  eintritt,  und  die  Haut  sich  in  den  klaffenden  Gelenk- 
spalt unter  dem  Einfluß  der  obenerwähnten  Naturkrafb  hineinlegt. 
Auch  an  dem  Kniegelenk  existiert  jene  Einrichtung  an  der  inneren 
Fläche  der  Gelenkkapsel,  um  sie  vor  der  Einklemmung  zu  schützen.  Der 
Größe  des  Gelenkes  entspricht  die  Größe  der  mit  Fettlappen  gefüllten 
Höcker.  In  der  Streckung  ist  für  sie  der  Binnenraum  des  Gelenkes 
viel  zu  klein,  sie  werden  also  gegen  die  Haut  getrieben  und  bedingen 
jene  zwei  leicht  beweglichen  Hügel,  welche  bald  getrennt,  bald  als  ein 
querliegender  Wulst  sich  bemerkbar  machen.  Wir  werden  darauf  bei 
der  Anatomie  des  Kniegelenkes  zurückkommen. 

Noch  aus  anderen  Gründen  empfiehlt  es  sich,  der  physikalischen 
Thatsache  eingedenk  zu  sein,  daß  der  menschliche  Körper  unter  dem 
Einfluß  des  Luftdruckes  steht,  der  beständig  die  Oberfläche  gegen  die 
tiefliegenden  Organe  andrückt.  Die  Form  des  Halses,  der  Brust  und 
des  Unterleibes  sind  vom  Luftdruck  abhängig.  Dies  zeigt  sich  selbst 
am  toten  Körper. 

3.   Zusammengesetzte  Gelenke. 

Li  den  zusammengesetzten  Gelenken  treffen  sich  drei  oder 
mehrere  Gelenkenden  mit  verschiedenen  Rotationsflächen.  Der  für 
den  Künstler  wichtigste  Fall  dieser  Art   ist  das  Ellbogengelenk,   in 


44 


Enter  AbwbDltt. 


welchem  auf  den  Oberarmknochen  zwei  Yorderarmknochen  treffen 
(Fig.  9  u.  10).  Jeder  der  letzteren  besitzt  eine  andere  BewegtmgBart 
Die  Elle  stellt  in  ihrer  Verbindung  mit  dem  Arm  ein  Winkelgelenk 
dar,  die  Speiche  dagegen  ein  Kugelgelenk,  das  aber  wegen  der  Be- 
festigung durch  Bänder  hauptsächlich  Drehbewegungen  ausfuhrt.  Die 
drei  Knochenenden  sind  von  einer  gemeinschaftlichen  Kapsel  om- 
BcbloBsen  (Fig.  10),  was  jedoch  nicht  bei  allen  Gelenken  dieser  Art  un- 
bedingt erforderlich  ist     In  der  Verbindung  zwischen  Atlas  und  dem 


-G   Nodu»  ntedlalis. 

Di«  qaerliegande  BoU^ 
welche  die  kookaTeFlache 
dea  E^bog«De  Dmgiebt. 

Ellbogen  mit  der 
Gelenkfläche. 

Froceam  ooroDoidens. 

Ansab  dea  Brachialii 
iateraii«. 


Du  Köpfchea  dee  Radiua  g 

Gelenkfläche  t  d.  Verbin- 
dung mit  dem  Radius 
AnMti  des  Bicepa 


Fig.  0.    Die  Qelenkkörper  des  EUbogengelenkeA 


zweiten  Halswirbel  ist  z.  B.  die  Stellung  der  Gelenkfläche  an  dem 
Zabnfortsatze  zu  den  übrigen  so  verschieden,  daß  drei  getrennte 
Kapseln  existieren. 

Stieag  genommea  ist  die  obige  Aufstellung  EusammengeBetEter  Qe- 
leoke  veraltet,  aber  sie  bst,  den  groSea  Vorzag  der  VerständlicUeit.  FOt 
den,  der  sich  eingehend  mit  der  Mechanik  befaßt,  wird  die  Vorstellung  freälJch 
keine  Schwierigkdt  bieten,  daß  Dreh-  und  Winkelgetenke  getreont  und  demnodL 
von  einer  Kapsel  umschlossen  sein  können,  und  man  mag  dann  die  Kategorien 
der  ersten  Art  von  denjenigen  der  zweiten  trennen.  Allein  dann  steht  man 
vor  einer  neuen  Schwierigkeit,  die  alle   anatomischen  ^nt^ungen  flbrig  lueen. 


daß  udi   eben  etwas  der  Einteilung  nicht   fQgen  will,  und  das  sind  eben  diese 

gemiecliten  oder  Doppe1g;elenke. 


4.    Straffe  Qelenke. 

Die    straffen   Gelenke    sind   charakterisiert    durch    nur   mäßig 
gekrümmte  oder  sogar  ganz  ebene  Geleoktlächen ,  deren  Hilfsbänder 


Gdenkkopf  des  Radini 
lelenkflAdw  fär  di«  Verbin-    , 
dang  mit  dem  Badios 
Ug.  aDDolare,  du  log.   i 
Kngbaod 

Badiiu 


Tomtt  lapratraohteBriB. 


t    Die  Bolle. 

iDDcres  KspselbfUld. 
3    Frooeao«  oonmoideni. 


n    AnMtnteU«  de«  Bioepi. 
t     UId». 


U     ZwiKhenknochentuad. 


F^g.  10.    Ellbogengelenk  mit  Bändern  in  natürlichem  Zusammenhang. 


SO  fest  gespannt  sind,  daß  nur  eine  sehr  geringe  Verschiebung  statt- 
findet. Sie  gehören  ausschließlich  einigen  fiand-  und  Fußwurzelknochen 
an.  An  der  Fig.  7  existieren  zwischen  den  Handwurzetknochen  Hr.s— li, 
dann  zwischen  diesen  und  den  Hittelhandknochen  Nr.  13  sogenannte 
straffe  Gelenke,  von  deren  geringer  Beweglichkeit  jede  lebendige  Haud 
Zeugnis  ablegt. 


46  Zweiter  Abschnitt. 


Zweiter  Abschnitt. 

Die   Haut. 


Die  Haut. 

Die  Haut  des  menschlichen  Körpers  ist  nicht  nur  eine  Hülle,  in 
welcher  der  Körper  steckt,  sondern  gleichzeitig  ein  Schleier,  der  den 
Blick  in  die  Tiefe  dringen  läßt,  und  dem  Wissenden  unendlich  viel 
von  den  dahinter  liegenden  Organen  und  ihrem  Leben  erzählt.  Jugend, 
Alter  und  Geschlecht,  die  Fülle  der  Gesundheit  und  die  Schwäche  der 
Krankheit  oder  der  Entbehrung  drücken  ihr  femer  einen  unverkenn- 
baren Stempel  auf.  Während  sie  dann  im  Leben  von  jenem  Kolorit  durch- 
drungen ist,  das  gewöhnlich  mit  dem  Ausdruck  „Inkarnat"  bezeichnet 
wird,  mit  jener  Fleischfarbe,  die  an  verschiedenen  Stellen  von  ver- 
schiedener Stärke  ist,  prägt  ihr  der  Tod  jene  „kalte"  Blässe  auf,  so- 
bald die  Zirkulation  des  Blutes  sich  abschwächt. 

Die  Haut  zeigt  zwei  Schichten,  eine  obere,  gefäßlose  und  eine 
untere,  gefäßreiche. 

Die  gefäßreiche  Schicht  enthält  zahlreiche  Netze  von  Blutgefäßen, 
welche  feiner  als  das  feinste  Frauenhaar  in  einem  sehr  elastischen  und 
dehnbaren  Fasergewebe  eingebettet  sind.  Zwischen  den  Fasern  sind 
kleine  Spalträume,  welche  untereinander  zusammenhängen  und  im  nor- 
malen Zustande  mit  einer  mäßigen  Menge  von  Ernährungsfltissigkeit 
erfüllt  sind.  Ferner  ziehen  die  Nerven  der  Haut  durch  diese  Schicht, 
und  kleine  Drüsen,  die  Schweiß-  und  die  Talgdrüsen,  ebenso  die  Haar- 
wurzeln sind  in  sie  eingesenkt. 

Diese  untere  Schicht  heißt  die  Leder  haut  (Cutis). 

Über  dieser  gefäßreichen  Lederhaut  liegt  die  gefäßlose  Ober- 
haut (Epidermis).  Sie  besteht  aus  mikroskopisch  kleinen  Bläschen, 
Zellen,  welche  durch  eine  Kittsubstanz  ziemlich  fest  miteinander  ver- 
kittet sind.  Die  obersten  der  Atmosphäre  zugekehrten  Lagen  lösen 
sich  jedoch  allmählich  los  und  fallen  als  weißliche  Schüppchen  ab. 
Diese  Oberhaut  ist  schon  bei  dem  Neugeborenen  an  verschiedenen 
Stellen  verschieden  dick.  An  der  Hand-  und  Fußsohle  besteht  sie  aus 
mehreren  Lagen.  Daß  ihre  Dicke  an  denselben  Stellen  beim  Er- 
wachsenen beträchtlich  ist,  und  bei  rauher  Arbeit  z.  B.  an  der  Hand 
zu  dicken  Schwielen  sich  anhäuft;  ist  bekannt.  Einem  fiir  die  oberen 
und  unteren  Gliedmaßen  geltenden  Gesetze  zufolge  ist  die  Haut  an 


Die  Haut.  47 

der  Streckseite  sämtlicher  Gelenke  derber  und  dicker^,  an  den  Beuge- 
seiten um  so  feiner  und  zarter,  je  tiefer  gehöhlt  diese  sind.  Sie  wird 
somit  im  Achselbug  feiner  als  in  der  Ellbeuge,  und  in  dieser  wieder 
dünner,  als  an  der  Beugeseite  der  Handwurzel  sein. 

Diese  Oberhaut,  ob  dünn  oder  dick,  löst  sich  nach  Eintauchen  in 
kochend  heißes  Wasser  am  Lebenden  wie  an  der  Leiche  in  großen 
Fetzen  ab.  Beim  Lebenden  erhebt  sie  sich  durch  Ansammlung  einer 
Flüssigkeit  nach  leichten  Verbrennungen  in  Form  einer  Blase  und  zeigt 
dadurch,  daß  man  mit  Recht  auch  von  der  Oberhaut,  trotz  der  Zu- 
sammensetzung der  Zellen,  dennoch  als  von  einer  zusammenhängenden 
Schicht  spricht. 

Farbe  der  Haut. 

Die  beiden  Schichten,  die  Oberhaut  und  die  Lederhaut,  be- 
sitzen eine  hervorragende  Eigenschaft:  sie  sind  durchsichtig.  Die 
Durchsichtigkeit  zeigt  sich  vor  allem  darin,  daß  die  in  der  Lederhaut 
vorkommenden  feinen  Blutgefäße  je  nach  der  Dicke  der  Epidermis  als 
verschiedene  Grade  von  Rot  kenntlich  werden.  Die  sog.  Fleisch- 
farbe, jener  leichte  Rosaton  der  Haut,  rührt  davon  her.  Die  Röte  der 
Wangen  bis  zu  dem  intensiven  Rot  der  Lippen  sind  weitere  Abstu- 
fungen, welche  teils  von  der  dünnen  Beschaffenheit  der  Oberhaut,  wie 
an  der  Wange,  teils  von  der  größeren  Menge  der  Gefäße  auf  einer 
gegebenen  Fläche  abhängen  (Lippen). 

Man  muß  sich  für  das  volle  Verständnis  dieser  Thatsachen  an  das 
optische  Verhalten  der  Lichtstrahlen  erinnern.  Von  denjenigen,  welche 
die  Oberfläche  der  menschlichen  Haut  treffen,  wird  ein  Teil  unverändert 
zurückgeworfen,  ein  anderer  dringt  aber  in  die  Tiefe,  trifft  die  mit 
Blut  gefüllte  rote  Gefäßschicht  der  Cutis-,  es  kehren  nun  auch  rote 
Strahlen  zurück  und  gelangen  gemischt  mit  den  von  der  Oberfläche 
reflektierten  in  unser  Auge. 

Dieser  letztere  Fall  tritt  in  seiner  Einfachheit  nur  bei  den  blonden 
Individuen  mit  heller,  weißer  Haut  ein.  Bei  Brünetten  sowie  bei  den 
farbigen  Rassen  erhalten  die  aus  der  Tiefe  der  Haut  zurückkehrenden 
Lichtstrahlen  noch  andere  Farbenstrahlen  beigemengt,  je  nach  der 
Art  des  Pigmentes. 

Die  tiefsten  Lagen  der  Oberhaut,  welche  unmittelbar  der  Cutis 
aufsitzen,  enthalten  nämlich  bei  den  brünetten  Europäern  etwas  braunes 
oder  braunrötliches  Pigment.     Die    durch    diese  Schicht   gedrungenen 


*  In  der  Lederfabrik  von  Meudon  wurde  zur  Zeit  der  ersten  französischen 
Revolution  die  Haut  von.  Guillotinierten  verarbeitet,  um  wohlfeiles  Leder  zu  er- 
zeugen. Das  männliche  Leder  wurde  in  ^^consistance"  besser  befunden  alsGemsenleder. 


48  Zweiter  Abschnitt. 

und  wi(jdor  zurückkehrenden  Strahlen  sind  farbig  nach  der  Farbe  des 
Pigmentes  und  geben  dem  Teint  einen  gleichmäßigen  Ton.  welcher  bei 
gesunden  Individuen  europäischer  biiinetter  Rassen,  von  denen  hier 
zunächst  die  Rede,  gelbrötlich  ist.  Die  Haut  erhält  jene  leuchtende 
Kraft,  jenen  Goldton,  welchen  Tizian  und  mit  ihm  die  yenezianische 
Schule  ganz  besonders  hervorgehoben  hat. 

.Teder  scharfe  Beobachter  kennt  aber  nocb  die  beträchtlichen  Ver- 
schiedenheiten des  Kolorits  bei  verschiedenen  Brünetten  und  Blonden. 
Bald  hat  der  Grundton  eine  ganz  schwache  Zumischung  von  Blau,  bald 
von  Grün.  Und  diese  Farbennüancen  können  sich  über  die  ganze 
Haut  erstrecken  oder  nur  einzelne  Bezirke  betreffen.  In  der  oben  ge- 
gebenen Erklärung  von  dem  Inkarnat  wurde  der  Gang  der  Licht- 
strahlen so  dargestellt,  als  ob  sie  durch  die  Zellschichten  der  Ober- 
haut und  die  Faserlagen  der  Cutis,  wie  durch  verschieden  gefärbte 
aber  klare  Flüssigkeiten  hindurchgingen.  Die  beiden  Abteilungen  der 
Haut  sind  aber  in  Wii'klichkeit  durch  die  darin  vorkommende  Elr- 
nährungsflüssigkeit  und  ihre  spezifische,  chemische  Beschaffenheit  leicht 
getrübt.  Diese  Trübung  ist  der  Grund,  warum  die  zurückkehrenden 
Lichtstrahlen  bald  einen  mehi*  bläulichen  oder  einen  mehr  grünlichen 
Ton  als  Beimischung  erhalten. 

Alle  diese  Farben  und  Farbentöne  sind  abhängig  von  der  Natur 
der  Unterlage  und  der  Richtung,  welche  die  durch  die  Oberhaut  zu- 
rückkehrenden Strahlen  erhalten.  Die  Haut  des  Toten  reflektiert 
weniger  Licht  als  die  des  Lebenden,  weil  sie  undurchsichtiger  gewor- 
den ist.  Die  in  den  tiefen  Schichten  der  Leder-  und  Oberhaut  befind- 
liche Ernähningsflüssigkeit  trübt  sich  mit  dem  Erkalten  des  Körpers. 
Wenn  dann  die  Fäulnis  ihre  roten  und  blauen  Flecken  auf  die  Kör- 
per der  Entseelten  malt,  dann  sind  dies  Vorgänge,  welche  auch  nur 
durch  einen  gewissen  Grad  von  Durchsichtigkeit  der  Haut  erkennbar 
werden  können.  Sie  deuten  auf  die  zerstörende  Arbeit  der  Zersetzung, 
die  in  der  Lederhaut  beginnt  und  durch  die  Oberhaut  hindurch  f&r 
unser  Auge  bemerkbar  wird. 

Als  die  plastische  Kunst  nach  dem  Stein  griff,  um  ihren  Werken 
eine  größere  Dauer  zu  geben,  da  fand  sie  in  dem  Marmor  ein  Mate- 
rial, das  die  Eigenschaft  der  Haut,  die  Durchsichtigkeit,  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  besitzt.  In  die  Oberfläche  des  Marmors,  und  in  noch 
höherem  Grade  in  die  des  Alabasters  dringen  Lichtstrahlen  ein  und 
durchleuchten  ihn  ähnlich  wie  die  menschliche  Haut.  Man  spricht  wohl 
deshalb  von  einer  .,Wäi'me*'  des  Marmors.  Könnte  man  ihn  mit  der 
Farbe  des  Inkarnats  versehen,  ohne  die  Durchsichtigkeit  zu  zerstören, 
so  würde  die  Lebenswahrheit  der  Marmorstatuen  täuschend  wie  jener 


Die  Haat.  49 

aus  Wachs.     Der  Gips,  von  dessen  Oberfläche  alle  Strahlen  reflektiert 
werden,  erscheint  im  Vergleich  zu  Wachs  und  Marmor  „kalt." 

Leichte  Trübung  der  Medien  verändert  in  höchst  auffallender  Weise  die  Farbe 
des  Lichtes.  So  ist  die  untergehende  Sonne  rot,  weil  ihr  sonst  weißes  Licht  durch 
die  mit  Wasserdampf  gesättigten  Luftschichten  hindurchgeht 

Die  Epidermis  der  Hohlhand  zeichnet  sich  wie  die  an  allen  Beugeseiten  der 
Gliedmaßen  in  der  Regel  durch  ihre  Weichheit  aus.  Sie  kann  aber,  wie  die  hornigen 
Fäuste  gewisser  EUuid werker  beweisen,  sich  bis  auf  mehrere  Millimeter  verdicken. 
Dann  bildet  sie  eine  dicke  Schichte  von  hornartiger  Beschaffenheit  und  das  Licht 
kann  nur  in  äußerst  geringer  Menge  bis  in  die  Lage  der  blutgefaßfuhrenden  Leder- 
haut dringen.  Solche  Stellen  sind  daher  grauweiß  —  wie  z.  B.  die  Ferse.  Selbst 
bei  dem  Neger  besitzt  das  Innere  der  Hand  keine  dunkle  Färbung  mehr. 


Unterschiede  der  Haut  bedingt  dnreh  das  O^esehlceht. 

Der  auffallende  Unterschied  in  der  Haut  der  Geschlechter  ist 
durch  mancherlei  Ursachen  bedingt.  Bei  dem  Manne  kommt  die 
größere  Dicke,  die  stärkere  Behaarung,  ferner  die  intensivere  Färbung 
durch  die  Sonne  in  Betracht,  endlich  der  größere  Mangel  an  Fett,  dessen 
Reichtum  den  Formen  des  weiblichen  Körpers  die  charakteristische 
Rundung  verleiht.  Von  diesen  Unterschieden  verlangt  nur  der  zuletzt 
erwähnte  eine  genauere  Erörterung. 

Das  Fett  liegt  in  kleine  mikroskopische  Bläschen,  in  Fettzellen 
eingeschlossen,  in  dem  sog.  Unterhautgewebe.  Die  Haut  sitzt  nicht  wie 
ein  Rock  auf  dem  Köq^er,  sondern  ist  durch  eine  Anzahl  von  Fasern, 
die  sog.  Bindegewebsfasern ,  mit  dem  übrigen  Körper  verwachsen. 
Diese  bilden  eine  über  den  ganzen  Körper  fortlaufende  Schicht,  das 
Unterhautbindegewebe  oder  subkutane  Bindegewebe.  Es  ist  gleich- 
zeitig die  breite  Heerstraße,  auf  der  die  zahllosen  Blutgefäße  aus  dem 
Körper  in  die  Haut  dringen,  auf  der  sie  und  die  sog.  Lymphgefäße 
wieder  in  den  Körper  zurückkehren,  auf  welcher  ferner  die  Haut- 
nerven, welche  das  Tastgefühl  und  die  Empfindung  von  Wärme,  Kälte, 
Druck  u.  s.  w.  vermitteln,  zu  der  Cutis  gelangen.  Dieses  subkutane 
Bindegewebe  ist  mit  Fettzellen  durchsetzt,  die  in  größere,  schon  für 
das  bloße  Auge  sichtbare  Häufchen  angesammelt,  in  den  Maschen 
des  Bindegewebes  aufgeschichtet  liegen.  Mehrere  Fettklümpchen  bil- 
den ein  Fettläppchen,  welches  von  einer  Bindegewebshaut  umhüllt 
wird.  Diese  Umhüllung  gleicht  mehr  einem  dichten  Netz  von  ver- 
schlungenen Fasern  als  einer  Kapsel,  ist  also  durchgängig  flir  Blut- 
und  Lymphgefäße;  ebenso  gehen  zwischen  den  Fasern  genug  andere 
Kommunikationswege  zu  den  benachbarten  Fettklümpchen  und  den 
umgebenden  Gebilden.  Die  Fettläppchen  bilden  in  gesunden  Tagen 
eine   fast   ununterbrochene   Lage.      Dort   wo    sie   in  mäßiger  Schicht 

KOLLMANX,  Plastische  Anatomie.  4 


50  Zweiter  Abschnitt. 

ausgebreitet  sind,  läßt  die  äußere  Betrachtung  kaum  ahnen,  daß 
dennoch  Millionen  von  Zellen  ausgebreitet  sind,  welche  nur  bei  aus- 
zehrenden Krankheiten  und  b^im  Hungertod  völlig  verschwinden. 
Bei  reichlicher  Nahrung  entwickeln  sich  die  Fettläppchen  in  solcher 
Masse,  daß  unter  der  Haut  dicke  Lager  angehäuft  werden,  welche 
Fettpolster  (Panniculus  adiposus)  heißen.  So  spricht  man  denn 
auch  schon  im  gewöhnlichen  Leben  von  Fett  und  weiß,  daß  es  die 
Geschmeidigkeit,  Fülle  und  Rundung  der  Formen  bedingt,  wie  sie 
streng  genommen  nur  die  Frau  oder  Jungfrau  schmücken  dürfen  und 
die  Kinder.  Der  Mann  muß  im  Vergleich  mit  ihnen  fettarm  sein;  die 
starken  Muskel-  und  Knochenlinien,  welche  bei  der  Frau  durch  das 
Fett  meist  verhüllt  oder  doch  bedeutend  abgeschwächt  werden,  müssen 
bei  ihm  klar  und  scharf  hervortreten,  soll  sein  Körper  den  Ausdruck 
männlicher  Kraft  erkennen  lassen. 

Li  der  Menge  des  Fettpolsters  liegt  einer  der  charakteristischen 
Unterschiede  zwischen  dem  Weib  und  dem  Mann.  Unter  sonst  glei- 
chen Umständen  lagert  der  weibliche  Organismus  mehr  Fett  ab  als  der 
männliche  und  nähert  sich  dadurch  mehr  dem  des  Kindes,  dessen 
Fettpolster  ebenfalls  sehr  beträchtlich  ist.  Der  StoflFverbrauch  ist  eben 
bei  dem  Manne  größer. 

Von  der  eben  gegebenen  gleichmäßigen  Ausbreitung  der  Fett- 
schicht weichen  einige  Körperstellen  bei  beiden  Geschlechtem  ab.  An 
der  Hand  t6id  Fußsohle-  ist  die  Fettlage  sehr  beträchtlich,  femer  finden 
sich  in  der  Augenhöhle,  in  der  Umgebung  der  Kaumuskeln  und  in 
der  Umgebung  des  Gesäßes  Lager  von  oft  ansehnlicher  Mächtigkeit, 
während  selbst  bei  wohlgenährten  IndiWduen  in  den  Lidern,  Ohr- 
muscheln und  in  der  Schädelhöhle  kein  Fett  gefunden  wird. 

Das  Fettpolster  im  Gesicht  hat  an  der  Innenfläche  des  Kau- 
muskels (Masseter)  u.  a.  die  Aufgabe ,  dem  unteren  Teile  auch  des  männ- 
lichen Gesichtes  jene  Rundung  zu  geben,  die  weit  entfemt  von  Fülle 
gerade  das  Ebenmaß  mit  bedingt.  Li  der  Umgebung  des  Schläfe- 
moskels  ober-  und  unterhalb  des  Jochbogens  ist  eine  Fett- 
anhäufong,  welche  selbst  schmaler  Kost  verhältnismäßig  lange  wider- 
steht. Schwindet  sie,  dann  treten  die  Wangenknochen  unangenehm 
hervor,  weil  die  Backe  eingesunken  ist.  Der  Jochbogen  zieht  dann  wie 
ein  Grat  gegen  das  Ohr  hin  zwischen  zwei  flachen  Gmben  (Fig.  11), 
Ton  denen  die  obere,  die  eigentliche  Schläfengrube,  tiefer  ist  als  die 
untere  y  welche  dem  Unterkiefer  folgt  und  die  Kinnbackengegend  und 
besonders  die  Kinnbackenwinkel  nur  allzu  deutUch  her>ortreten  läßt. 

Ans  diesem  einen  Beispiel  geht  schon  hervor,  daß  das  Fett  nicht 
MiSBchließlieh  unter  der  Haut  vorkommt,  sondern  auch  zwischen  die 


Die  Haut. 


51 


Muskeln  eindringt;  es  ließen  sich  noch  mehrere  Fälle  dieser  Art  auf- 
führen, allein  nur  zwei  verdienen  eine  eingehende  Besprechung. 

Am  Halse  zieht  sich  bei  gutgenährten  Individuen  das  Fett  auch 
zwischen  die  Muskeln.  Der  Hals  zeigt  an  der  Seite  zwei  seichte  Gruben, 
das  obere  Halsdreieck  (Trigonum  colli  superius,  bei  rückwärts  gebeugtem 
Kopf  besonders  deutlich)  und  das  untere  (Trigonum  colli  inferitis)  über 
dem  Schlüsselbein.  Das  untere  ist  allgemein  bekannt,  es  füllt  sich  bei 
dem  forcierten  Ausatmen,  und  sinkt  beträchtlich  ein  bei  tiefem  Ein- 
atmen. Während  der  ruhigen  Respiration  bewahrt  es  einen  mittleren 
Stand.  Wenn  nun  die  Abmagerung  kommt,  die  stete  Begleiterin 
der  Entbehrung  und  des  schwachen  Greisenalters,  dann  wird  diese 
Schlüsselbeingrube  tief,  dann  erhält  sie  jene  Form,  welche  ihr  die 
Bezeichnung  „unteres  Halsdreieck"  gegeben  hat.  Und  der  Grund  liegt 
nur  darin,  daß  das  zwischen  den  Muskeln,  den  Ge- 
fäßen und  Nerven  befindliche  Fett  geschwunden  ist. 

Bei  dem  schönen  Frauenhals  ist  die  Schlüssel- 
beingrube nur  schwach  bemerkbar,  und  die  Grenze 
gegen  die  Brust,  nämlich  das  Schlüsselbein,  ist 
in  dem  Fettpolster  verborgen.  Schwindet  seine 
Fülle,  dann  hilft  der  vorspringende  Knochen  jene 
scharfe  Grenze  des  Halses  herstellen,  die  nur  dem 
männlichen  Körper  zur  Zierde  gereicht. 

Das  Rumpfende  ist  durch  einige  Anhäufungen 
des  Fettpolsters  ausgezeichnet,  welche  nach  zwei 
Gesichtspunkten  zu  trennen  sind,  in  solche,  welche 
beiden  Geschlechtem  gemeinsam,  und  in  solche, 
welche  vorzugsweise  den  weiblichen  Körper  cha- 
rakterisieren. Bei  jedem  gesunden  Menschen  findet 
sich  in  der  Gesäßspalte  und  an  dem  unteren  Rande  des  großen  Gesäß- 
muskels eine  so  bedeutende  Ansammlung  von  Fett,  daß  sich  die  beiden 
gerundeten  Hinterbacken  in  der  Mittellinie  berühren  und  nach  unten 
durch  eine  quere  Hautfurche  von  der  hinteren  Schenkelfläche  sich  ab- 
setzen. Wie  ansehnlich  dieses  Fettpolster  ist,  geht  aus  der  Betrach- 
tung der  Form  und  des  Verlaufes  der  großen  Gesäßmuskeln  hervor. 
Obwohl  ihre  Ursprungsstelle  am  Steißbein  sich  nicht  berührt  und  femer 
die  Richtung  des  unteren  Randes  sich  von  dem  Steißbein  gegen  den 
zunächst  liegenden  Teil  des  Oberschenkelknochens  herabsenkt,  ist 
dennoch  beim  Lebenden  die  Gesäßspalte  während  des  Stehens  und 
Gehens  völlig  geschlossen  (Fig.  2). 

Nur  während  des  Sitzens  öffnet  sie  sich,  weil  der  Gesäßmuskel  sich  ver- 
schiebt, und  mit  der  Haut  auch  die  ganze  darunterliegende  Fettmasse  in  eine 
andere   Lage  bringt;  sie  bedeckt  in  dieser   Stellung  den   Sitzknorren,   auf  dem 

4* 


Fig.  11.  Alte  Frau. 

Jochbogen  durch  die 
Haut  hindurch  deutlich 
sichtbar,  darüber  die 
durch  Fettmangel  ein- 
gesunkene Schläfen- 
grube. 


52  Zweiter  Abschnitt. 

während  des  Sitzens  die  Last  des  Körpers  ruht.  Nachdem  die  Empfindlichkeit 
des  Fettes  gleich  Null  ist,  bildet  der  Fettklumpen  auf  dem  Sitzknorren  ein  weiches 
Polster,  das  diese  Ruhelage  selbst  auf  hartem  Brett  erträglich  macht.  Je  mächtiger 
diese  Polsterung,  um  so  länger  läßt  sich  das  Sitzen  ohne  Beschwerde  anshalten. 
Von  welcher  Bedeutung  dieser  wichtige  und  wenig  gewürdigte  Nutzen  des  Fette« 
ist,  geht  am  deutlichsten  aus  den  Folgen  des  Fettmangels  an  dieser  Stelle  hervor. 
Nach  langer  Krankheit  werden  selbst  diese  Massen  auf  ein  ^iinimum  reduziert  und 
den  Kranken  dadurch  das  Sitzen  selbst  mit  angelehntem  Rücken  unerträglich  ge- 
macht; die  Haut  wird  eben  zwischen  den  harten  Knochen  und  der  Unterlage 
schmerzhaft  gepreßt,  während  sonst  Millionen  von  Fettzellen  den  Druck  über- 
nehmen und  verteilen. 

Das  Fett  der  Aftergegend  steht  im  Zusammenhang  mit  anderen 
Zügen  des  Fettpolsters,  die  sich  unter  den  Gesäßmuskeln  befinden 
und  bei  den  kräftigen  Zusammenziehungen  dei-selben  verschoben  wer- 
den. Ruht  der  Körper  fest  auf  einem  Bein  (Standbein)  oder  befindet 
er  sich  in  der  Vorwärtsbewegung,  so  sind  die  Muskeln  am  Rumpf- 
ende in  starker  Kontraktion  und  ist  die  Fleischmasse,  namentlich  des 
großen  Gesäßmuskels,  stark  gewölbt,  aber  schmäler  als  an  dem  Spiel- 
bein, eine  Form,  welche  zu  einem  beträchtlichen  Teil  von  den  Ver- 
schiebungen des  tiefer  liegenden  Fettpolsters  abhängt. 

Die  eben  besprochenen  tiefliegenden  Fettpolster  kommen,  wenn 
auch  in  verschiedenem  Umfang,  bei  beiden  Geschlechtem  vor.  Die 
seitliche  Hüftgegend  ist  aber  bei  dem  weiblichen  Geschlecht  durch 
besonders  große  Fettmengen  ausgezeichnet,  welche  die  am  übrigen 
Körper  vorkommende  Schicht  an  Dicke  und  Umfang  weit  übertreflFen 
und  dem  Manne  in  dieser  Form  und  Ausdehnung  fehlen.  Der  Über- 
gang von  der  seitlichen  Lenden-  in  die  Hüftgegend  geschieht  näm- 
lich bei  dem  Weib  durch  allmähliche  Schwellung,  während  bei  dem 
Mann  der  obere  Rand  des  Hüftbeins  eine  deutliche  Grenzlinie  bildet 
Bei  dem  Weibe  wird  durch  das  Fettpolster  nicht  allein  die  Kontur 
der  Gesäßmuskeln  so  verhüllt,  daß  selbst  das  geübte  Auge  bei  dem 
Stehen  vergebens  nach  den  begrenzenden  Linien  sucht,  auch  die 
Grenze  zwischen  Bauchwand  und  Hüftknochen  schwindet  seitlich  unter 
seinen  beträchtlichen  Schichten  nahezu  vollkommen.  So  wird  die 
Stelle,  an  der  bei  dem  Manne  der  große  Rollhügel  bemerkbar  ist, 
bei  der  Frau  unkenntlich  und  erscheint  nur  als  breite  und  flache 
Erhöhung.  Die  Vorderfläche  des  Rumpfendes,  die  untere  Bauch- 
grenze, wird  zwar  durch  die  Leistenfurche  deutlich  von  der  vorderen 
Schenkelfläche  abgesetzt  wie  bei  dem  Manne,  allein  die  Fettschicht 
nimmt  bei  dem  weiblichen  Körper  doch  beti-ächtlich  an  Mächtigkeit 
zu,  namentlich  gegen  die  Schamgegend  hin,  um  in  dem  Schamberg 
(Mons  Veneris)  zunächst  einen  Abschluß  zu  finden.  So  heißt  die  durch 
reichlichen    Fetteinschluß    gepolsterte    Erhöhung,    deren    Form    bei 


Die  Haut  53 

gesunder  Fülle   dreieckig  ist  mit   oberer  Basis,   während   die   Spitze 
sich  zwischen  den  Schenkeln  verliert. 


Hautfalten. 

Die  Falten  der  Haut,  ihre  Tiefe,  ihr  Schwung  und  ihre  Häufig- 
keit hängen  wie  bei  einer  Draperie  von  der  Richtung  des  Zuges  und 
der  Schwere  des  Stoffes  ab.  In  der  Jugend  verhält  sich  aber  die 
Haut  wie  ein  weicher  elastischer  Stoflf,  an  welchem  die  Wirkungen 
eines  Zuges  oder  Druckes,  welcher  Falten  erzeugt  hatte,  fast  spurlos 
vorübergehen.  Das  kindliche  Gesicht  und  das  der  Jugend  ist  glatt. 
Erscheinen  auch  bei  den  Äußerungen  der  Freude  und  des  Schmerzes 
Falten:  sobald  der  Gleichmut  wiedergekehrt  ist,  sind  auch  sie  wieder 
geschwunden.  Mit  dem  fortschreitenden  Alter  verliert  sich  diese  über- 
raschende Eigenschaft  der  Haut  mehr  und  mehr.  Der  hohe  Grad  von 
Elastizität  nimmt  allmählich  ab  und  die  häufige  Wiederkehr  derselben 
Furchen  führt  endlich  dahin,  daß  ihre  Spuren  beständig  sichtbar  bleiben. 
So  ist  also  der  Vergleich  mit  einer  Draperie  nur  in  einer  Hinsicht 
zutreffend,  paßt  jedoch  nicht  mehr,  sobald  die  hervorragende  Eigen- 
schaft der  Elastizität  in  Betracht  kommt. 

Um  die  Bedeutung  und  die  Entstehungsgesetze  der  Falten  be- 
greifen zu  können,  ist  es  notwendig,  die  Verbindung  der  Haut  mit  der 
Unterlage  zu  besprechen.  Es  wurde  schon  hervorgehoben,  daß  sie 
mit  den  darunterliegenden  Weichteilen  und  Knochen  durch  Faser- 
züge zahlreiche  Verbindungen  besitzt. 

Abgesehen  von  den  Gefäßen  und  Nerven  sind  es  bald  feinere,  bald 
dickere  Fasern,  welche  dem  Bindegewebe  angehören.  Allein  trotz 
dieser  zahlreichen  Verbindungen  ist  sie  dennoch  in  hohem  Grade  ver- 
schiebbar, staut  sich  bei  Verkürzungen  des  Rumpfes  vom  auf,  wäh- 
rend sie  sich  am  Rücken  spannt  und  umgekehrt.  Die  bei  Verkürzung 
des  Leibes  und  der  Glieder  entstehenden  Wülste  der  Haut,  die  man 
kurzweg  Falten  nennt,  folgen  dabei  gewissen  Regeln,  welche  einige 
Beispiele  am  besten  zeigen. 

Beim  Rückwärtsbeugen  des  Kopfes  legt  sich  die  Nackenhaut  in 
Querfalten.  Zwischen  dem  Hinterhaupt  und  dem  letzten  Halswirbel 
rücken  sie  dicht  aneinander  und  verlieren  sich  allmählich  auslaufend 
an  der  Seite  des  Halses.  —  Bei  dem  starken  Rückwärtsbeugen  des 
Rumpfes  entstehen  dicke  Hautfalten  am  hinteren  Ende  des  Brustkorbes, 
denn  die  Haut  des  Rückens  ist  besonders  dick  und  verschiebbar. 

Beim  Seitwärtsbiegen,  wenn  sich  die  Schulter  dem  Becken  nähert, 
schiebt  sich  die  Haut  ebenfalls  in  zwei  dicken  ausgedehnten  Falten 
aneinander,  wie  die  umstehende  Figur  zeigt.    Die  eine  Falte  ist  bedingt 


54  Zweiter  AbadiDitt. 

durch  die  YerkQrzang  des  Brustkorbes  (Fig.  12  St.  i).  dessen  unterste 
Bippen  aneinander  und  nach  der  Bauchhöhle  zu  gedrängt  werden, 
während  die  andere  (Fig.  12  Nr.  2)  über  den  Hüftbeinkamm  herab- 
hängt. Der  gewölbte  breite  Strang  zwischen  den  beiden  Furchen  ent- 
hält die  Masse  der  stark  verkürzten  Bauchmuskeln.  Alle  diese  Falten 
mUssen  plastisch  oder  malerisch  als  Falten  der  Haut,  als  Falten  der 


F^.  12.    HAutfidten  an  der  8eit«iiflache  des  Rumpfes  bd  dem  SeitwSrtsbi^eD. 
Skizse  nach  A.  Amdbianis  Stich:   Der  Raub  der  SabineriDnen. 


Draperie    behandelt   werden,    ihre   tiefste   Stelle   und    ihr    sanft    aas- 
laufendes  Ende  muß  erkennbar  sein. 

Die  Zahl,  die  Höhe  und  die  Tiefe  hängt  von  der  Dicke  der  Haut. 
des  darunter  befindlichen  Fettpolsters  und  der  Stärke  der  Beugung  an 
der  betreffenden  Stelle  ab,  Verhältnisse,  die  als  selbstverständlich  eine 
genauere  Beschreibung  überflüssig  machen.  Nur  einer  Thatsache  ist 
dabei  zu  gedenken,  daß  selbst  sehr  beträchtliche  (luerverlaufende  Falten 
niemals  von  den  darunter  liegenden  Muskeln  herrühren.    Niemals  bildet 


Die  Haut.  55 

der  breite  Rückenmuskel  oder  der  gemeinschaftliche  Rückenstrecker, 
selbst  bei  der  forciertesten  Rumpfbeuge  nach  hinten,  eine  Falte.  Niemals 
kommt  irgend  etwas  dieser  Art  an  den  •Bauchmuskeln  vor,  obwohl  bei 
dem  Sitzen  mit  gesenktem  Oberkörper  die  günstigsten  Bedingungen 
hierfür  existieren.  Die  Querfalten,  welche  bei  einer  schon  mäßigen 
Rumpfbeuge  nach  vorn,  am  Unterleib,  zuerst  am  Nabel,  auftreten  und 
dann  sich  gegen  die  Scham  hin  mehr  und  mehr  aufstauen,  endlich 
auch  oberhalb  des  Nabels  auftauchen,  sind  ausschließlich  Hautfalten, 
welche  je  nach  der  Größe  des  Unterleibes  und  der  Stärke  des  Fett- 
polsters und  der  Bewegung  unzählige  Abstufungen  darbieten.  Aber  in 
einer  Hinsicht  ist  ihr  Auftreten  geregelt:  es  sind  immer  Querfalten 
zur  Achse  des  Rumpfes,  und  ihi*  Beginn,  ihre  tiefste  Stelle  ist  in  der 
Mittellinie  des  Köi-pers,  um  sich  nach  außen  allmählich  zu  verlieren. 

Es  giebt  treffliche  Beispiele  in  der  Kunst,  welche  lehrreich  sind  fCn  die  Be- 
handlung solcher  Haatfalten  am  Kampf.  Von  dem  berühmten  Carton,  den 
Michelangelo  zu  einem  Gemälde  für  den  Saal  der  Signorie  za  Florenz  zeichnete, 
das  aber  nie  ausgeführt  wurde,  ist  noch  eine  einzige  Gruppe  durch  einen  Stich  von 
Marc  Anton  erhalten.  An  der  Mittelfigur  der  badenden  Soldaten  sind  die  Falten 
am  Unterleib  meisterhaft.  Femer  am  Barberin  sehen  Faun  (in  der  Glyptothek  zu 
München),  an  dem  Torso  des  ruhenden  Herkules  (Vatikan  zu  Rom).  Sowohl  die 
Skizze  Fig.  13  als  die  eben  angefahrten  Beispiele  betreffen  jugendliche  Körper.  Wie 
sehr  das  Alter  die  Falten  häuft,  ist  an  der  Kreuzigung  Petri  von  Rubens  gut 
illustriert 

Sind  hiermit  die  Falten  in  ihrer  allgemeinsten  Erscheinung  her- 
vorgehoben, wie  sie  bei  der  beträchtlichen  Verschiebbarkeit  der  Haut 
an  den  erwähnten  Stellen  sich  entwickeln  müssen,  sobald  irgend  eine 
Verkürzung  die  Endpunkte  nähert,  so  kommen  von  dieser  allgemeinen 
Regel  doch  mehrfache  Ausnahmen  vor,  welche  darin  ihren  Grund 
haben,  daß  die  Haut  nicht  durchweg  ein  gleich  elastischer  Sack  ist, 
welcher  an  allen  Stellen  gleich  verschiebbar  seiner  Unterlage  aufliegt. 
Die  Haut  hat  mehrfach  relativ  feste  Punkte.  Sie  finden  sich  dort, 
wo  das  Skelett  unmittelbar  an  die  üntei-fläche  der  Haut  anstößt.  Es 
entstehen  dadurch  Linien,  Furchen,  Rinnen,  Grübchen,  die  in  hohem 
Grade  regelmäßig,  wesentlichen  Einfluß  auf  bestimmt«  Formen  er- 
halten. Solche  Stellen  eines  festeren  Zusammenhanges  mit  der  Unter- 
lage sind  das  Brustbein  und  der  Hüftbeinkamm.  Man  braucht  diese 
Stellen  nur  zu  nennen,  um  sofort  eine  ganze  Reihe  zutreflFender 
Erinnerungsbilder  wachzurufen.  Mögen  die  Brustmuskeln  sich  noch 
so  mächtig  entwickeln,  oder  die  weiblichen  Brüste  noch  so  sehr  an 
Umfang  zunehmen,  immer  bleibt  die  Fläche  des  Brustbeins  zu  er- 
kennen: bei  dem  Manne  als  eine  verhältnismäßig  breite  Straße  zwischen 
Hals-  und  Herzgrube  (Fig.  14),  bei  der  Frau  als  eine  tiefe  Furche,  — 
Busen  (Sinus)  —  der  die  Brüste  voneinander  trennt. 


56  Zweiter  AbuhniU. 

Ebenso  bekannt  ist  die  scharfe  Grenze  zwischen  der  Baucbwand 
und  der  vorderen  Sdienkelääche,  bedingt  durch  die  innige  Verwacbsung 
der  Haut  mit  dem  Leistenband  (Ligamentum  inguinale,  Fig.  14  Nt.  13), 
Charakteristisch  ist  ferner  bei  dem  Manne  die  festere  Verbindung  der 
Haut  im  Verlauf  des  oberen  Hüftbeinrandes  {Fig.  14  Nr.  20,  20').  Zu  diesen 
Stellen  gesellt  sich  noch  die  sog.  weiße  Bauchlinie,  die  von  der  Magen- 
grube an,  der  Mittellinie  des  Körpers  folgend,  bis  gegen  das  Schambein 
herabreicht  (Fig.  14)  und  eine  schmale  Rinne   von    wechselnder  Tiefe 


E[ided.Bnutkorbei. 

Falte  zwuchenBnirt- 
korb  und  Nabel. 
i  Falle,  velch«  mitder 
dritten  Zwischen- 
sehne  des  geraden 
Baachmnsbel*  in 
Znrammenhang 
steht. 


i  >■ 


Fig  13     Hantfolten  am  Bauch  beim  Vitien  mit  vorgebeugtem  Körper. 
Sbzze  nach  emem  Kupferstich    on  Marc  Amton. 

darstellt.  Am  Nabel  (Fig.  14  Nr.  17)  selbst  ist  die  Verbindung  der  Hant 
mit  der  tiefen  Schicht  sehr  innig,  ebenso  an  dem  Schamberg. 

Aus  demselben  Grunde  bleibt  selbst  bei  der  schwellenden  Bunctui^ 
kindlicher  oder  weiblicher  Formen  das  Schlüsselbein  stets  als  Grenze 
zwischen  Hals  und  Brust  erkennbar,  ebenso  wie  die  Gegend  hinter 
dem  Ohr. 

Für  die  Kückeuääche  kommt  eine  Linie  am  Hinterhaupt  in  Be- 
tracht, welche  Ton  der  Hinterohrgegend'  der  einen  Seite  zu  derjenigen 
der   anderen   Seiten   im   aufwärts  konvexen  Bogen    zieht.     Gegen  sie 


Die  Haut.  57 

staut  sich  die  Haut  des  Nackens  empor,  wenn  der  Kopf  nach  rück- 
wärts sinkt;  femer  der  Dornfortsatz  des  siebenten  Halswirbels,  der 
deutlich  bei  gerader  Haltung  zu  bemerken  ist  und  als  ein  wichtiger 
Orientierungspunkt  wiederholt  Erwähnung  finden  wird;  von  da  ab  die 
Mittellinie  des  Rückens  entlang,  bis  zur  Steißbeinspitze,  die  hinteren 
Ränder  der  Hüftbeinkämme,  oben  die  Schulterhöhen  und  endlich  eine 
Linie,  welche  von  ihnen  zum  siebenten  Halswirbel  herüberzieht. 

Die  obere  Fläche  des  SchlOsselbeines  h&ngt  wegen  der  großen  Beweglichkeit 
nicht  so  fest  mit  der  Haut  zusammen  als  die  anderen  obenerwähnten  Knochen- 
punkte. Doch  ist  immerhin  die  Verbindung  zäh  und  unnachgiebig  und  verdient 
Betonung.  Auch  die  Kante  der  Schulterblattgräte  ist  zu  erwähnen,  obwohl  auch 
sie  bei  der  großen  Verschiebbarkeit  des  Schulterblattes  nicht  in  erster  Linie  in 
Betracht  kommt 

Hält  man  das  oben  Gesagte  fest,  so  läßt  sich  das  Auftreten  von 
Falten  voraüsbestimmen.  So  sind  sie  z.  B.  am  Unterleib  bestimmt  durch 
den  Druck,  der  auf  die  Haut  von  oben  herab  ausgeübt  wird,  während 
dieselbe  in  dem  Bereich  der  Schamgegend  festgebannt  ist.  Der  Vor- 
gang ist  dabei  folgender:  das  untere  Ende  des  Brustkorbes  schiebt  sich 
beim  Sitzen  mit  gekrümmten  Rücken  nach  abwärts  gegen  den  Hüftbein- 
kamm und  gleichzeitig  nach  rückwärts  gegen  die  Wirbelsäule.  Da- 
durch wird  die  Haut  gegen  den  Schambogen  gedrängt  und  schiebt  sich, 
nachdem  ein  Ausweichen  auf  die  vordere  Seite  des  Schenkels  nicht 
stattfindet,  in  dem  mittleren  Abstand  zwischen  Nabel  und  Schoßbogen 
zusanunen. 

Fassen  wir  diejenigen  Punkte  und  Linien  noch  einmal  zusammen,  an 
denen  dieVerbindung  der  Haut  mit  der  Unterlage  eine  innigere  ist,  also 
weniger  verschiebbar,  als  in  der  Umgebung,    so  finden  wir  folgende: 

1)  Spitze  des  Warzenfortsatzes, 

2)  Vordere  Mittellinie  des  Köi*pers  vom  oberen  Ende  des  Brust- 
beins bis  zum  Nabel, 

3)  Hüftbeinkamm,  Scheükelbeuge  und  Schamberg  als  Abschnitte 
einer  fortlaufenden  Linie  für  die  untere  Begrenzung  des  Rumpfes, 

4)  Schulterhöhe  und  Schlüsselbein  an  der  Grenze  zwischen  Rumpf 
und  Hals. 

Für  die  Rückenfläche  kommt 

1)  die  Umgegend  des  siebenten  Halswirbels, 

2)  die  Schultergräte, 

3)  die  Mittellinie  des  Rückens  und 

4)  die  hinteren  Ausläufer  des  Hüftbeinkammes  und  das  Kreuzbein 

in  Betracht. 

Mit  gutem  Grunde  sollten  hier  auch  die  Falten  des  Gesichtes  Berück- 
sichtigung finden,  allein  sie  werden  gemeinschaftlich  mit  den  Muskeln  des  Antlitzes 


58  Zweiter  Abschnitt. 

erörtert  werden.  Nur  soviel  sei  hier  hen^orgehoben,  daß  sie  denselben  Bedingungen 
folgen,  wie  jene  der  übrigen  Körperhaut.  In  der  Jugend  gleicht  die  nahezu  un- 
begrenzte Elastizität  jede  vertiefte  Linie,  welche  der  Zug  oder  der  Druck  hervor^ 
gebracht,  wieder  aus.  Mit  der  Reife  beginnen  einzelne  Furchen  bleibend  zu  werden, 
um  mehr  und  mehr  an  Tiefe  und  an  Zahl  zuzunehmen. 


Die  G^rttbehcn  in  dei"  Haut  und  ihre  Entstehung. 

An  verschiedenen  Stellen  des  Körpers  finden  sich  in  der  Haut 
seichte  Vertiefungen.  Ein  Teil  derselben  ist  im  Leben  bekannt 
unter  dem  Namen  der  Grübchen.  Unter  diesen  sind  wiederum  die 
bekanntesten  diejenigen  der  Wange  und  des  Kinns.  Andere  finden 
sich  an  der  äußeren  Seite  des  Ellbogengelenkes  und  zwar  ganz  regel- 
mäßig bei  Frauen  und  Männern,  Man  spricht  zwar  nur  von  dem  der 
Frauen,  gleichwohl  sind  es  dieselben  Ursachen,  welche  auch  die  nach 
unten  auslaufende  Grube  bei  dem  Manne  hervorrufen.  Bei  den  von 
Fett  gepolsterten  Frauenhänden  kommen  fenier  Grübchen  an  dem 
Übergang  des  Mittelhandrückens  zu  den  Fingern,  an  den  sog.  Knöcheln 
vor.  Dasselbe  ist  bei  Kinderhänden  ungefähr  bis  zum  zweiten  Jahre 
der  Fall,  denn  dann  beginnt  das  Fett,  das  die  erste  Kindheit  zeigte, 
allmählich  zu  schwinden. 

Zwei  andere  Grübchen  finden  sich  bei  Frauen  am  Rücken,  und 
zwar  je  eins  auf  dem  Schulterblatt  und  an  dem  Rumpfende  zwischen 
Kreuzbein  und  hinterem  Hüftbeinstachel.  Bei  dem  Manne  tritt  die 
Grubenform  nicht  rein  hervor,  weil  das  Fett  nicht  so  gehäuft  ist, 
dafür  erkennt  das  Auge  an  dem  Schulterblatte  einige  anatomische 
Linien,  auf  die  bei  der  Muskellehre  erklärend  eingegangen  werden 
soll.  Hier  beschäftigen  wir  uns  zunächst  mit  den  Ursachen  der  eben 
erwähnten  Vertiefungen. 

Es  wurde  schon  erwähnt,  daß  die  Haut  mit  dem  übrigen  Körper, 
abgesehen  von  den  Blutgefäßen  und  Nerven,  durch  zahlreiche  Fasern 
verbunden  sei.  An  manchen  Stellen  ist  die  Geschlossenheit  der  Faser- 
züge so  bedeutend,  daß  sie  selbst  bei  großer  Zunahme  des  Fettpolsters 
doch  von  der  Fetttiberschwemmung  verschont  bleiben,  während  sich 
dieselbe  ungehindert  in  der  Umgebung  ausbreitet.  Das  ist  regelmäßig 
der  Fall  bei  den  Grübchen  an  der  äußeren  Seite  des  Ellbogengelenkes. 
Dort  ist  die  Haut  mit  der  Unterlage  so  fest  verwachsen,  daß  niemals 
größere  Fettanhäufungen  stattfinden  können,  und  bei  jedem  Alter  und 
Geschlecht  der  zufuhlende  Finger  sogleich  auf  zwei  Knochenenden 
greift,  auf  dasjenige  des  Oberarmes  und  der  Speiche.  Die  Gelenk- 
spalte dazwischen  macht  sich  wie  eine  Vertiefung  bemerkbar. 

Dieselbe  Ui'sache  wiederholt  sich  an  den  Grübchen  der  Hand  und 
damit  auch  dieselbe  Erscheinung.    Wo  die  Haut  über  die  Verbindung 


Die  Haut.  59 

der  Mittelhand  mit  den  Fingern  hinwegzieht,  sind  Faserstränge,  welche 
nur  eine  mäßige  Anhäufung  von  Fett  gestatten.  Sobald  die  Ablage- 
rung gi'ößere  Dimensionen  annimmt,  kann  dies  nur  in  der  Umgebung 
geschehen;  an  den  betrefifenden- Stellen  halten  die  derben  Faserbtindel 
die  Cutis  an  der  Unterlage  fest,  und  erzeugen  dadurch  die  Vertiefun- 
gen. Dieselbe  Erklärung  gilt  für  die  Grübchen  am  Rücken  und  am 
Kinn.  Es  läßt  sich  leicht  denken,  daß  die  feste  Verbindung  der  Haut 
nicht  immer  nur  auf  rundliche  Punkte  beschränkt  bleibt,  sondern  auch, 
andere  Formen  annimmt.  Einige  der  schönsten  und  für  die  Gliede- 
rung des  Körpers  bedeutungsvollsten  Linien  verdanken  demselben  Zu- 
sammenhang zwischen  Haut  und  Unterlage  ihre  Entstehung,  nämlich 
die  vordere  und  hintere  Mittellinie  des  Körpers,  welche  die  symmetri- 
schen Körperhälften,  eine  rechte  und  linke,  andeutet. 

Die  Sy^nmetrie  ist  eine  tiefgreifende  und  mit  Ausnahme  unbedeutender 
Abweichungen  vollständig,  viel  mehr,  als  man  bei  dem  ersten  Anblick  vermuten 
Bellte.  Eine  Ebene,  welche  man  senkrecht  durch  die  Scbeitellinie  legt,  trennt  den 
Körper  in  zwei  Hälften,  von  denen  die  eine  der  anderen  gleicht  wie  ein  Spiegel- 
bild. Jede  Hälfte  besitzt  Auge  und  Ohr,  symmetrisch  sind  nicht  allein  beim 
Mensehen,  auch  durch  die  ganze  Reihe  der  Wirbeltiere,  die  Extremitäten ;  ja  selbst 
bis  in  das  Innere  greift .  die  Regelmäßigkeit  des  Baues  durch ;  die  Lungen  sind 
paarig  wie  die  Nieren.  Andere  Organe,  welche  dem  Gesetz  der  Symmetrie  zu 
trotzen  scheinen,  waren  ihm  wenigstens  in  den  frühesten  Perioden  der  Entwickelung 
unterworfen,  wie  die  Nase,  der  Mund,  und  entfernten  eich  von  diesem  Typus  erst 
durch  spätere  Umwandlung.  Die  vordere  Mittellinie  ist  die  letzte  Spur  der  einstigen 
Verwachsung  der  beiden  Körperhälften,  welche  vom  Kücken  her  nach  vom  wuchsen. 
ExS  giebt  also  eine  Zeit,  in  der  bei  dem  ungeborenen  Kind  (Effihryo)  der  Blick 
ungehindert  in  die  noch  offene  Körperhöhle  dringt.  So  lehrt  uns  die  Entwickelungs- 
geschichte  jene  Zeichen  verstehen,  welche  die  menschliche  Gestalt  aus  den  Tagen 
des  Werdens  noch  besitzt.  Diese  Verwachsung  schreitet  langsam  von  oben  nach 
abwärts  fort,  bisweilen  gelingt  sie  nicht  in  der  ganzen  Ausdehnung.  Irgend  eine 
Störung  vermag  den  sonst  regelmäßigen  Gang  zu  unterbrechen,  und  die  Längs- 
spalte  bleibt  in  größerer  oder  geringerer  Ausdehnung  offen.  Allgemein  bekannt 
ist  z.  B.  eine  abnorme  Spalte  in  der  Oberlippe,  die  man  Hasenmund  oder  Hasen- 
scharte genannt  hat.  Erstreckt  sich  die  Hemmung  des  natürlichen  Wachstums 
tiefer,  klafit  auch  der  zahntragende  Teil  des  Oberkiefers  und  der  harte  Gaumen, 
dann  heißt  der  Defekt:    Wolfsrachen. 

Auch  der  Schädel  entwickelt  sich  aus  zwei  symmetrischen  Hälften.  Von  der 
Mitte  der  Stirn  bis  zum  Hinterhaupt  zieht  beim  Neugeborenen  eine  noch  un- 
verknöcherte  Linie  dem  Schädeldach  entlang.  I^st  man  sie,  so  lassen  sich  die 
beiden  Hälften  öffnen  wie  die  Schalen  einer  Muschel.  Niemals  verschwindet  diese 
Spur  der  symmetrischen  Entwickelung  vollkommen,  eine  Strecke  weit  bleibt  sie 
selbst  während  des  späteren  Jüchens  noch  erkennbar.  So  wird  die  Kenntnis  der 
Symmetrie  und  ihrer  Entstehung  ebenso  wichtig  für  das  volle  Verständnis  der 
Form,  wie  die  paarige  Anwesenheit  vieler  Organe  wertvoll  für  die  Erhaltung  des 
Lebens.  Bei  manchen  Lungenkrankheiten  übernimmt  die  gesunde  Lunge  auch  das 
Geschäft  der  erkrankten.  Sie  erfüllt  diese  doppelte  Aufgabe  nicht  selten  mit 
solcher  Vollendung,  daß  der  Betroflenc  keine  Ahnung  hat  von  der  großen  Lebens- 


CO  Zweiter  AlnrhnitL 

gefahr,  in  der  er  »ich  dndurcli  bfrund,  iliiU  die  eine  Hilde  des  AtmungaapparatM 
ihren  Dicnxt  einstellte,  j^o  cintl  Fälle  nit-ht  selten,  in  denen  jahrelang  hiDdurch 
die  eine  Niere  die  Auiwcheidung  des  Harns  ohne  Nachteil  für  den  Organidniua  bt- 
sorgte,  nachdem  die  iindere  durch  Kninkheit  zerstört  war. 

Die  vordere  Mittol-  oder  LiiiigKlinie  des  Körpers  tritt  nicht  in 
der  ganzen  Äusdehiniiig  mit  gleicher  Deutlichkeit  hervor,  obwohl  »ich 
die  Simren  von  der  Niisenwiirzel  bis  an  das  Rümpfende  verfolgen  lassen. 

Im  Gesiclit  ist  sie  zwischen  der  Nasenspitze  und  der  Mnndspalte 
angedeutet.  Dann  folgt  ein  weiter  Abstand  und  erst  an  der  Brust 
läÜt  sich  wieder  ilire  Spur  erkennen. 

Zwischen  den  Brnstmuskehi  l.=iut\  bei  dem  Planne  eine  nach  unteii 
etwas  breiter  werdende  Furche  gerade  herab,  um  in  der  sog.  Herz- 
grube zu  endigen.  Dann  verstreicht  sie  etwas,  um  über  dem  Nabel 
wieder  deutlich  zn  werden  und  diuni  von  dieser  einstigen  Verbindungs- 
stelle zwischen  Jlutter  und  Kind  bis  gegen  den  Schamhügel  erkenn- 
bar zu  sein  (Fig.  14).  In  der  Umgebung  des  Nabels  ist  sie  oft  sehr 
tief,  um  dann  albnUhlich  nach  oben  und  nnten  auszulaufen.  Ich  be- 
trachte es  nicht  als  die  Aufgabe  dieses  Lehrbuches ,  die  zahllosea 
Varianten  bei  dem  Kinde  und  dem  Erwachsenen,  bei  dem  Mädcheu 
und  dem  Knalien  zu  schildern,  nachdem  die  Antike  und  die  Werke 
der  Beuiussance  hunderte  der  trefilichstcn  Beispiele  liefern,  welche 
Jedem  zur  Hand  sinil.  Ob  der  Kursier  des  Laokoon  dabei  in  Betracht 
kommt  oder  derjenige  ii^end  einer  der  Venusgestalten,  nirgends  wird 
sich  diese  Linie  vermissen  lassen,  welche  bei  Drehungen  oder  Bie- 
gungen des  Küii)erM  gleicJizeitig  folgt  (/..  B.  bei  dem  BorgUesi'schen 
Fechter).  Von  der  Halsgrube  bis  zu  ihrem  Ende  über  der  Scham 
wird  bei  ki-äftigen  Männern  ihre  Deutlichkeit  noch  vergrößert  durch 
starke  Muskeln ,  welche  entweder  in  derselben  Richtung  verlaufen, 
wie  die  geraden  Bauchmuskeln  (Fig.  14  Nr.  12  links  und  Kr.  10,  16',  10" 
rechts),  oder  eine  seitliche  Richtung  einschlagen,  wie  die  großen  Brust- 
muskeln (Fig.  14  Nr.  1  u.  3).  Es  wiire  jedoch  falsch  zu  glauben,  daß  die 
Muskeln  an  sich  diese  Lüngsliiiie  oder  Medianfurche  hervorbrächten, 
sie  tragen  nur  dazu  bei,  ihre  Deutlichkeit  zu  steigern.  Bei  der 
Mittel&rche  den  ROckens  kommt  in  allererster  Reihe  ebenfalls  die 
festere  Yerbindung  der  Haut  mit  der  Unterlage  in  Betracht.  Diese 
t  vom  Hintericopf  bis  auf  das  Kreuzbein  herab.  In  ihrem 
Ld«r  Wirbel.  Knocheuspangen ,  deren 
Muskeln  dienen,  ivelcbe  den 
RtTTTirf  "f"''T--Ti  nud  drehen.  Die  rundlichen  Fleischstränge,  denen 
tii<>  I  '  "  I'  ik'imtut,  laufen  zu  beiden  Stilen  dieser  Mittelfurche 
.  viel  dazu  boi,  dall  sie  bei  voller  Streckung 
I  Figg.  12  u.  13.    Diese  Thatsache  «ird  später 


weitere   Erklilnms    finden,   hier    ist    es   nur   liie    Aut'galie.   ilii'eii 
Verhiut  uii'l  ilire  Eigeii'idififlfii  nu  crkliln^u. 


,  Flg.  14.    Die 


(iLn-rkörpers  uacli  AIhihIiuio  riiT   Hüut-  imd 
Ft;tlschidit*n. 


Am  Hhiterbauiil  i^»!,  sie  breit,  um  sich  gegen  ileu  vii-iten  Hals- 
irbel  hiD  zuge'spitzt  zu  verlieren,  uni  Rückenteil,  zwischen  den 
^ntterblütteni   uml    ihreu  MusketmaBHeti    wUlu-eud    der   Rnlie    weui^ 


62  Zweiter  Abschnitt. 

bemerkbar,  vertieft  sie  sich  im  Lendenteil  beträchtlich.  An  einigen 
Stellen  ihres  Verlaufes  treten  kleine  rundliche  Höcker  hervor,  das  sind 
die  äußersten  Enden  der  oben  erwähnten  Domfortsätze.  Sie  haben 
verschiedene  Größe  und  Richtung,  und  deshalb  sind  einige  breit  und 
stärker  hervortretend,  vrie  der  siebente  Halswirbel  und  seine  nächsten 
Nachbarn  nach  oben  und  unten.  Mit  der  Eumpfbeuge  nach  vom 
ändert  sich  das  Verhalten  der  hinteren  Längsfurche;  sie  verstreicht 
und  die  Stacheln  der  Wirbel  bohren  sich  gegen  die  darüber  hinweg- 
ziehende Haut.  Bis  zu  welchem  Grade  dieser  Ausdruck  wörtlich  zu- 
triflft,  zeigt  die  Betrachtung  eines  mageren  Menschen  während  der 
Rumpfbeuge  nach  vorn. 

Li  all  diesen  verschiedenen  Stellungen  gelingt  der  Nachweis,  daß 
die  Haut  im  Verlaufe  dieser  Längslinie  viel  inniger  mit  der  Unter- 
lage verwachsen  ist,  als  seitlich  von  ihr.    Zum  Beweis  nur  ein  Beispiel. 

Während  der  Körper  sich  zurückbiegt,  entstehen  mehrere  Quer- 
falten; allein  sie  laufen  nicht  quer  wie  Bänder,  sondern  ihre  Mitte 
liegt  höher,  weil  die  Haut  an  den  Wirbelspitzen  fester  venvachsen  ist 
Die  seitlichen  Ausläufer  der  Falten  sind  leicht  nach  abwärts  im 
Bogen  gekrümmt,  denn  dort  ist  die  Haut  weit  mehr  verschiebbar. 
Wie  bei  einer  Draperie  die  mittleren  Teile  in  stärkeren  Kurven  sich 
nach  abwärts  schwingen,  so  bei  der  Rumpfbeuge  nach  rückwärts. 
Hier  liegen  die  fixierten  Punkte  für  die  Haut  einmal  der  Wirbelsäule 
entlang  und  ferner  an  der  ganzen  Vorderseite  des  Körpers,  der  sich 
ja  in  der  Überstreckung  befindet. 

Neben  diesen  beiden  Fixierungslinien  der  Haut  in  der  Mittellinie, 
an  der  vorderen  und  hinteren  Rumpffläche  ist  noch  eine  dritte  zu  be- 
sprechen, welche  die  Begrenzung  des  Rumpfendes  mit  sicherer  Kontour 
zeichnet.  Sie  zieht  von  dem  vorderen  oberen  Darmbeinstachel  in 
einer  sanften  Bogenlinie  herab  zur  oberen  Grenze  der  Schamfuge 
(Fig.  14  Nr.  13).  Die  Haut  ist  hier  mit  dem  unteren  Rande  der  Bauch- 
muskeln, dem  sogenannten  Leistenband,  verwachsen  (Fig.  13).  Hier 
ist  auch  die  Grenze  des  Leibes  für  Kind,  fiir  Mann  und  Weib  und 
selbst  für  den  Fettwanst,  der  in  der  Haut  des  Unterleibes  entsteht 
und  auf  2 — 10  cm  Dicke  anwachsen  kann.  Dehnt  er  sich  auch  sehr 
beträchtlich  aus,  die  zähen  Fasern  halten  Widerstand,  der  allergarstigste 
Bauch  kann  zwar  darüber  herabhängen,  aber  niemals  wird  er  die 
Furche  an  dem  Leistenband  zum  Verschwinden  bringen.^ 


^  Wie  bei  fetten  Eandern,  so  kann  auch  bei  dem  überhängenden  Baudi  in 
dieser  Furche  eine  leichte  Entzündung  entstehen,  die  sog.  Exkoriationen,  deren  Hei- 
lung besondere  BeimllfikWit  erfordert  Es  ist  übrigens  die  Zunahme  des  Fettbauches 
nidit  auH  'efcte  in  der  Haut  zuzuschreiben,  sondern   gleichzeitig 

dem  in  d 


Die  Haut.  63 

HautfiAlten  an  den  Gelenken. 

Wenn  sich  in  dem  Auftreten  der  Hautfalten  und  der  Hautfurchen 
aus  der  bisherigen  Betrachtung  eine  unverkennbare  Regelmäßigkeit  er- 
gab, so  läßt  sich  voraussetzen,  daß  auch  die  Falten  und  die  damit 
verbundenen  Furchen  in  der  Nähe  der  Gelenke  die  Regelmäßigkeit 
nicht  vermissen  lassen.  In  der  That  tragen  diese  Falten  durch  die 
Beständigkeit  ihres  Vorkommens  sehr  viel  bei,  die  Gliederung  des 
Organismus,  namentlich  an  den  Extremitäten  zu  bestimmen,  und  sie 
werden  von  großer  Bedeutung,  um  den  Zusammenhang  und  die  Be- 
ziehungen der  äußeren  Formen  zu  den  in  der  Tiefe  liegenden  Organen 
verständlich  zu  machen. 

Um  die  durch  Gelenke  bedingten  Falten  und  die  entsprechenden 
Furchen  in  ihrer  einfachsten  Form  zu  untersuchen,  bietet  sich  eine  vor- 
treffliche Gelegenheit  an  unserer  eigenen  Hand.  An  jedem  Fingerglied 
macht  die  Beugung  an  der  Innenfläche  der  Gelenke  die  bekannten  Ein- 
schnitte, während  auf  dem  Rücken,  an  den  Fingerknöcheln  die  Haut  ge- 
spannt ist.  Die  Furchen  an  der  Beugeseite  verschwinden  bei  keiner  Stel- 
lung, sie  sind  schon  bei  dem  Neugeborenen  vorhanden.  Die  Regelmäßig- 
keit, mit  der  dies  immer  an  ein  und  derselben  Stelle  geschieht,  rührt 
von  der  innigeren  Verwachsung  mit  den  darunterliegenden  Teilen  her. 
Aus  demselben  Grunde  lagert  sich  auch  an  der  Stelle  der  Faltung  viel 
weniger  Fett  ab,  als  in  den  dazwischen  liegenden  Strecken,  welche  an 
zarten  aber  vollen  Händen  polsterartig  sich  erheben.  Die  Kerbe  zwischen 
dem  Grundgliede  (Fig.  15  Nr.  2)  und  dem  mittleren  (Fig.  15  Nr.  3)  ent- 
spricht in  jeder  Stellung  genau  der  Trennungslinie  der  Gelenkfläche, 
und  würde,  über  die  Seiten  fortgesetzt,  geradezu  auf  den  höchsten 
Punkt  des  Knöchels  treffen.  Bei  der  vordersten  Gelenkfalte  trifft  dies 
nicht  zu,  und  die  Spitze  des  gebogenen  Zeigefingers  erscheint  von  der 
Seite  betrachtet  länger,  weil  die  Enden  der  Falte  etwas  nach  hinten 
gerichtet  auslaufen.  In  hohem  (prrade  kehi*t  dieselbe  Erscheinung  an 
der  Verbindung  der  Finger  und  der  Mittelhand  wieder. 

Die  Haut  der  Hohlhand  schiebt  sich  an  den  Fingern,  von 
dickem  Fett  gepolstert,  weit  vor,  so  daß  in  natürlicher  Stellung,  bei 
welcher  die  Finger  etwas  gebeugt  sind,  -ein  Wulst  von  dem  Zeige- 
finger in  einer  vierfach  gebrochenen  Linie  bis  zum  kleinen  Finger 
hinüberzieht.  Dieser  Wulst  ist  die  Veranlassung,  daß  die  Länge 
der  Finger  von  der  Hohlhand  aus  betrachtet  geringer  erscheint,  als 
vom  Rücken  her  (Fig.  15  Nr.  7  die  Furche,  welche  dem  Mittelhand- 
Fingergelenk  entspricht).  Man  braucht  die  Lage  dieser  Kerbe  nur 
mit  dem  an  der  Rückenseite  bei  halber  Beugung  stark  vorragenden 
Kopfe  des  entsprechenden  Mittelhandl)eins  (Fig.  15  Nr.  1)  zu  vergleichen, 


64 


Zwdter  Alwehnitt. 


um  einzuseheu,  daß  sie  nicht  dem  üeleuke  zwischen  Finger  uiul 
HohlhancI  entspricht. 

Der  Daumen  besitzt,  obwolil  er  nur  zwei  Glieder  hat,  dennocli 
drei  Kerben  wie  die  Finger;  die  vordere  filhrt  in  das  erste  Gelenk,  die 
hintere  selu'  tief  und  breit  in  das  zweite  Gelenk,  die  mittlere,  dicht 
an  der  obengenannten,  ist  bedingt  durch  eine  Hautfalte,  sie  steht  iu 
keinem  Zusammenhang  mit  einem  Gelenk. 

Eine  wesentlich  andere  Form  bieten  die  Falten  und  Kerben  an 
der  Eiickenfläche  der  Finger.  Die  Haut  ist  beweglicher,  leichter  ver- 
schiebbar und  gleichsam  länger,  denn  schon  bei  Kindern  von  sechs 
Jahren  ziehen  quer  über  jedes  mittlere  Gelenk  (Fig.  15  zwischen  Nr-2o.5} 
mindestens  drei  Falten,   von   denen   die  voi-dei-e  nagelwärts  geki'ümmt 


Uarkhohle  de*  lUttel- 
tiaadknocheiiL 

Mittelhandknochen. 


Orundphslange  i 
Sehne  und  Beinhaat  3 


j  Hautfalte   dw   Mittel- 
hand Fingcrgelenkf^ 

II  autfalten 


Gelenkplanne    i  |  Mittelglied 

Fig.  15.    SagittalschDitt  des  dntten  Mittelhnndknocfaens  und  flngera   gebei^ 


ist,  die  hintere  armwarts,  i\  Ihiend  die  mittlere  gerade  lauft  ^ufifallend 
stark  an  dein  ersten  Diumengelenk  Mit  dem  zunehmenden  Alter, 
d.  h.  mit  dem  Veilust  der  Elastizität  häufen  sich  die  Falteu  mehr 
und  mehr,  und  bilden  eine  Menge  Varianten,  deren  individuelle  Äh- 
weicliungeii  jeder  Beschreibung  si>otten.  Nur  zwei  sollen  hier  erwähnt 
werden.  Erstens  verdient '  die  Thatsache  Beachtung,  daß  durch  die 
Stellung  der  Falteu  oft  eine  querovale,  leicht  vertiefte  Ebene  über  der 
Gelenkspalte  entsteht,  deren  wulstige  Ränder  seitlich  vorspringen.  Es 
wechselt  dadurch  die  gewölbte  Linie  zwischen  den  Gelenkfurchen  an 
dem  Rücken  der  Finger  mit  kleinen  Flächen  ab.  Zweitens  ist  die 
Gelenkkerbe  an  dem  Nagelglied,  ob  einfach  oder  mehrfach,  zumeist 
armwärts  geki-ünimt,  weil  nach  dem  Nagel  hin  die  Haut  fester  mit 
dem  Untergrund  verwachsen  ist,  so  daß  bei  dem  kräftigen  Manu  nogel- 


.    Die  Haut.  g5 

wärts  dort  keine  Verschiebung  stattfindet.    Hohes  Alter  ist  auqh  hier 
mit  unzähligen  Falten  geschmückt. 

An  den  Gelenken  zwischen  den  Fingern  imd  der  Mittelhand 
springen  selbst  bei  der  leichtesten  Krümmung  die  Gelenkenden  (Capitula, 
Fig.  15  bei  Nr.  i)  stark  hervor  und  bedingen  jene  Erhebungen,  welche 
durch  Thäler  getrennt  sind. 

Diese  ausführliche  Beschreibung  der  Fingerhaut-  und  Gelenkfalten, 
deren  direkte  Beobachtung  so  leicht  ist,  weil  sie  jeder  an  seiner 
eigenen  Hand  beständig  vor  Augen  hat,  bietet  gleichzeitig  die  Grund- 
lage für  das  Verständnis  aüderer  Gelenkfalten. 

An  der  Ellbeuge  entsteht  eine  Furche  bei  der  Beugung,  die 
immer  tiefer  und  tiefer  wird,  je  mehr  sich  Vorder-  und  Oberarm 
nähern.  In  der  Streckung  zeigt  die  Haut  selbst  jugendlicher  In- 
dividuen deutliche  Querfurchen  oder  Streifen,  welche  bei  starker  Beu- 
gung alle  in  einer  einzigen  tiefen  Falte  verborgen  werden  (Fig.  12  S.  54). 
Im  Maximum  der  Beugung  berühren  sich  die  über  die  Ellbeuge  weg- 
laufenden Ober-  und  Vorderarmmuskeln  und  drängen  zu  beiden  Seiten 
die  Haut  hervor,  wodurch  sowohl  an  der  inneren  als  äußeren  Armseitc 
ein  beträ^chtlicher  Vorsprung  entsteht.  Bei  Frauen  und  Kindern  wird 
dabei  der  hohe  Grad  der  Verschiebbarkeit  des  Fettes  besonders 
bemerkbar,  denn  die  Zunahme  der  Breite  rüBrt  neben  der  Abplattung 
der  Muskeln  des  Vorderarmes  auch  teilweise  von  der  Verdrängung  des 
Fettpolsters  aus  den  aneinander  gepreßten  Hautfiächen  her. 

Auf  der  inneren  Seite  des  Armes  teilt  sich  die  Furche  bisweilen 
gabelig,  immer  aber  erscheint  sie  selbst  bei  mäßiger  Beugung  wie  ein 
tiefer  Einschnitt,  der  die  beiden  Teile  trennt. 

An  der  Kniekehle  sind  die  Verhältnisse  ähnlich,  weil  das  Knie- 
gelenk dieselbe  Winkelbewegung  besitzt,  wie  das  Ellbogengelenk.  Die 
Unterschiede  beruhen  in  dem  viel  größeren  Umfang  der  sich  be- 
rührenden Gelenkflächen  und  der  bedeutenden  Stärke  der  Muskidatur. 
Demgemäß  ist  die  Furche  tiefer  und  der:  Widst  der  bei  starker  Beu- 
gung verschobenen  Muskeln  ansehnlicher  (Fig.  16  bei  *). 

Dieselbe  Einfachheit  der  Entstehung  bieten  noch  jene  Falten, 
welche  bei  dem  Ofihen  des  Unterkiefers  und  bei  dem  Senken  des 
Kopfes  entstehen. 

.Bei  dem  Offnen  des  Unterkiefers  entsteht  eine  Kerbe  dicht  an 
dem  Kehlkopf  gegen  das  Ohrläppchen  hin,  um  sich  auf  halbem  Wege 
zu  verlieren.  Sie  liegt. genau  in  derselben  Richtung,  welche  bei  gerader 
Haltung  die  Grerizmarke  zwischen  Kopf  und  Hals  bildet.  Sinkt  der 
Baefer  stark  herab,  so  kommt  es  nur  zu  einer  Vertiefung  der  schon 
vorhandenen  Furche. 

Bei  dem  Beugen  des  Kopfes  treten  mehrere  Falten  auf,  wenn  bei 

KoLLMAXK,  Plastische  Anatomie.  5 


Zweiter  Äbwümitt. 


geschlossen em  Mund  sich  die  Kinnspitze  fast  bis  zur  BerOhrnng  des 
Brustbeinendes  berabsenkt.  Die  dUnne  Haut  des  Halses  wird  zo 
niederen  Falten  zusammengeschoben,  welche,  vom  Kehlkopf  aus  divergie- 
rend, im  Bogen  nach  rückwärts  laufen  und  einerseits  dem  Hinterhaupt, 
andererseits  dem  Dornfortsatz  des  siebenten  Halswirbels  zustreben. 

Alle  diese  ebenerwSImten  Ver&ndenm^n  in  den  Formen  lasaen  sidi  ab 
Oelenk&lteo  betracbteD,  entstanden  unter  dem  EiniluS  einer  Beugung.  Unter  den- 
selben Gesicbteponkt  fallen  mit  gutem  Grunde  eelbet  die  Falten  un  Hals,  obwohl 
das  Eiefergelenk  nicht  ausschliefilich  den  Mechanismus  eines  Winkelgelenkes  zeigt 
Aber  wir  können  iui  jetzt  von  den  übrigen  Bewegungsformen  absehen. 


Fig.  16.    (letenkAircbe,  von  der  Kniekehle  ausgehend,  bei  stark  gebeugtem  Bein. 
Skizze  eiaea  Titanen  nach  GciDO  Beni  (Stieh  nsoh  B.  CokiOLAk). 

Die  Verschiebungen  in  den  Gelenken  fuhren  zu  Falten,  deren 
Grundform  aus  der  besonderen  Konstruktion  des  betreffenden  Ge- 
lenkes sich  ergiebt.  Wir  haben  zuerst  den  einfacheren  Fall  an  jenen 
Gelenken  untersucht,  welche  man  unter  dem  gemeinsamen  Gesichts- 
punkt der  Winkel-  oder  Scharniergelenke  zusammenfassen  kann.  Wir 
kommen  jetzt  zu  deh  Falten,  welche  durch  die  Bewegungen  in  dCT 
Umgebung  eines  Kugelgelenkes  entstehen.  Es  sind  vorzugsweise 
drei  Gelenke,  welche  einer  genaueren  Analyse  unterwarfen  werden 
sollen:  das  Hüftgelenk,  das  Schultergelenk  und  das  Drehgelenk  des 
Kopfes.  Die  Zahl  derselben  ist  hiermit  keineswegs  erschöpft,  allein 
die  übrigen  sollen  an  anderer  Stelle  berücksichtigt  werden. 


Die  Haat.  67 

Bei  dem  von  dicken  Muskeln  umhüllten  Hüftgelenk  ist  die  Be- 
wegung und  damit  auch  die  Faltenbildung  in  der  Haut  verhältnis- 
mäßig einfach.  Zui*  Bezeichnung  der  Bewegungsarten  sollen  jene 
Ausdrücke  verwendet  werden,  welche  in  der  Tumsprache  eingeführt 
sind.  Bei  dem  Beinheben  kann  der  Oberschenkel  in  einen  i*echten 
Winkel  mit  dem  Rumpf  gebracht  oder  bis  zu  der  Berührung  mit 
dem  Unterleib  heraufgezogen  werden.  Dabei  sehen  wir  völlig  davon 
ab,  ob  der  Unterschenkel  gebeugt  oder  gestreckt  ist.  In  der  Regel 
ist  er  aus  mechanischen  Gründen  gebeugt,  ja  bei  sehr  starken  Graden 
des  Aufhebens  müssen  die  gewöhnlichen  Sterblichen  den  Unterschenkel 
stets  beugen.  Nur  die  bekannten  Kautschukmänner  machen  hiervon 
eine  Ausnahme. 

Die  häufigste  Stellung,  bei  welcher  sich  der  Oberschenkel  im 
rechten  Winkel  zum  Rumpf  befindet,  ist  diejenige  des  Sitzeus.  Die 
Haut  des  Oberschenkels  spannt  sich  an  der  Hinter-  und  faltet  sich 
an  der  Vorderfläche,  und  zwar  entsteht  unmittelbar  unter  der  Leist^n- 
linie  eine  Furche,  die  Hüftgelenk  für  che.  Ist  der  Schenkel  nur 
wenig  gebeugt  (im  Winkel  von  20  Grad),  dann  ist  die  Furche  noch 
seicht.  Ihr  Beginn  wird  von  der  Scham  verdeckt;  an  ihrem  Seiten- 
rand steigt  sie  dann  herauf  und  folgt  in  einer  Entfernung  von  3  cm 
der  Leistenbeuge,  um  in  der  Mitte  der  vorderen  SchÄikelfläche  sich 
in  sanftem  Bogen  nach  abwärts  zu  wenden.  Sie  endigt  jedoch  bald 
und  erreicht  in  dieser  Stellung  niemals  die  äußere  Schenkelfläche. 

Wird  der  Schenkel  stärker  gebeugt,  so  daß  er  einen  Winkel  von 
45 — 50  Grad  mit  dem  Rumpf  bildet,  wie  beim  Sitzen  mit  gestrecktem 
Unterschenkel,,  dann  entsteht  an  der  Stelle  der  vorerwähnten  Furche 
ein  tiefer  Einschnitt,  weil  die  Haut  des  Oberschenkels  sich  gegen  jene 
des  Rumpfes  hinaufschiebt.  Der  Verlauf  dieser  Furche  ist  jetzt  wesent- 
lich anders.  Sie  steigt  von  der  Scham  steil  in  die  Höhe,  nähert  sich 
der  Leistenlinie  bis  auf  1  cm  und  biegt  dann  nach  außen  und  unten 
ab,  um  schon  nach  kurzem  Verlauf  flach  zu  werden  und  sich  zu  ver- 
lieren. Sitzt  der  Körper  endlich  mit  gebeugtem  Unterschenkel,  dann 
nähert  sich  die  Hüftgelenkfurche  in  der  Mitte  der  Leistenlinie  so, 
daß  beide  zusammenfließen.  Durch  die  inneren  Hälften  dieser  beiden 
Linien  wird  der  Mons  Feneris  nach  unten  und  nach  der  Seite  begrenzt. 

Stärkere  Grade  der  Beugung  und  die  damit  verbundenen  Falten 
und  Einschnitte  erklären  sich  nach  dem  Vorausgegangenen  *von  selbst. 
Dagegen  ist  es  bemerkenswert,  daß  bei  stärkeren  Graden  der  Beugung 
der  Oberschenkel  verkürzt  erscheint.  Die  Entfernung  von  der  Leisten- 
linie bis  zu  dem  Ende  des  Oberschenkelknochens  ist  in  der  That  kürzer 
als  beim  Liegen  oder  Stehen,  obwolü  der  Gelenkkopf  in  allen  Stel- 
lungen in  seiner  Pfanne  ruht.   Allein  die  Muskeln  des  Oberschenkels  sind 


6g  Zweiter  Abschnitt    Die  Haat 

verkürzt  durch  das  Aufheben,  und  die  Haut  ist  in  Falten  gelegt.  So 
kommt  es  denn,  daß  der  Oberschenkel  in  die  Tiefe  des  Rumpfes  wie 
hineingesteckt  ist  und  auf  der  vorderen  Körperfläche  mit  scharfer 
Kontur  absetzt. 

An  dem  Schultergelenk  ist  bei  frei  herabhängendem  Arm  ein 
tiefer  Einschnitt  an  der  vorderen  und  hinteren  Fläche  der  Achselbeuge 
zu  bemerken.  Er  wendet  sich  an  der  vorderen  Seite  etwas  gegen  das 
Brustbein  zu,  um  nach  einem  Verlauf  von  2  cm  zu  endigen.  Diese 
Furche  liegt  höher  als  der  untere  Rand  des  großen  Brustmuskels, 
imd  so  scheint  auch  die  Furche  hier,  wie  beim  Ejiie  und  Vorderarm, 
in  das  Gelenk  gleichsam  einzuschneiden.  An  der  hinteren  Seite  steigt 
sie  dagegen  nicht  so  hoch  hinauf.  Dieses  einfache  Verhalten  kom- 
pliziert sich,  wenn  der  Arm  sich  mehr  der  Brust  nähert,  zum  Beispiel 
auf  die  entgegengesetzte  Körperhälfte  hinübergreift.  Da  entstehen  erst 
zwei,  dann  drei  kurze  Furchen,  welche  nach  aufwärts  auseinander- 
wfichen,  nach  abwärts  sich  in  der  ursprünglichen  Gelenkfurche  ver- 
einigen, so  daß  die  Figur  y  entsteht. 

Auf  der  hinteren  Seite  wird  beim  Rückwärtsschwingen  des  Armes 
die  Furche  zwischen  dem  Oberkörper  lediglich  tiefer,  die  begrenzenden 
Hautfalten  werden  höher. 

Durch  die  Bewegungen  des  Schulterblattes  erfahrt  die  Bücken-  und  Bmst- 
gegend  sehr  bedeutende  Form  Veränderungen,  .allein  da  sie  zimachst  durch  Ver- 
schiebungen tief  liegender  Teile  hervorgerufen  sind,  können  die  dabei  vorkom- 
menden Falten  erst  an  einer  späteren  Stelle  besprochen  werden. 

Die  Drehungen  des  Kopfes  veranlassen  schon  bei  leichter  Wen- 
dung auf  der  seitlichen  Halsääche  die  Ohrkieferfurche.  Sie  ist  an 
dem  Kieferwinkel  am  tiefsten,  um  gegen  die  Mitte  der  vorderen  Hals- 
fläche aufzuhören.  Gleichzeitig  wird  ein  scharfer  Beobachter  eine 
zweite  Furche  bemerken  können,  welche  in  einer  Entfernung  von 
2Y2 — 3  cm  dem  Verlaufe  der  vorbeigehenden  folgt,  zwar  weniger 
hoch  oben  beginnt,  dafür  aber  weiter  herabreicht.  Beide  begrenzen 
den  vorderen  und  hinteren  Rand  des  Kopfiiickers  (Fig.  14  Nr.  24).  Wird 
die  Wendung  weiter  getrieben,  so  vertiefen  sich  zunächst  diese  beiden 
Furchen  und  rücken  sich  näher,  es  sinkt  aber  namentlich  jene  ein, 
welche  dem  hinteren  Rande  des  Kopfhickers  entspricht.  Beteiligt  sich 
bei  einer  solchen  Bewegung  auch  die  Halswirbelsäule  durch  eine  leichte 
Drehung,  dann  entstehen  noch  mehrere  parallele  Falten,  namentlich^ 
wenn  der  Arm  dabei  nach  vorwärts  greift. 


Dritter  Abachnitt.    Die  Haare.  69 


Dritter  Atschnitt. 

D  i  e    H  a  a  r  e. 

Haare  sind  ein  Schmuck  für  jedes  Alter  und  jedes  Geschlecht; 
wir  bewundern  die  Schönheit  ihrer  Farbe  und  ihre  Fülle.  Beide 
Eigenschaften  haben  schon  seit  der  ältesten  Zeit  die  Aufmerksamkeit 
auf  sich  gezogen,  und  es  ist  kaum  zu  viel  gesagt,  wenn  man  behauptet, 
daß  die  Kultur  der  Haare  so  alt  sei  wie  die  Menschheit.  Nahezu  alle 
Naturvölker  treiben  einen  gewissen  Grad  von  Kultus  mit  ihrem  Haar, 
salben  und  färben  und  zieren  das  Haupthaar  mit  Perlen  und  Geschmeide, 
und  die  „Wilden"  sind  doch  das  Spiegelbild,  in  welchem  wir  unsere  ersten 
Schritte  auf  dem  schwierigen  Weg  zu  edleren  Sitten  wiedererkennen. 

Die  klassische  Kunst  aller  Zeiten  hat  vorzugsweise  jenen  Teil  des 
Haarschmuckes  in  den  Bereich  ihrer  Darstellung  gezogen,  der  auf  dem 
Kopf  vorkommt  oder  als  Bart  das  Gesicht  des  Mannes  ziert.  Selbst- 
verständlich gehören  hierzu  auch  die  Augenbrauen  und  die  Haare  der 
Lider,  die  Augenwimpern.  Was  sonst  noch  als  „Haarkleid"  den 
menschlichen  Körper  bedeckt,  sei  es  als  kleine  Wollhaare  oder  als 
stärkere  Haarfelder,  wird  meist  mit  gutem  Grunde  weggelassen,  weil 
es  entweder  zu  derb  sinnlich  auf  den  Beschauer  wirkt  oder  geradezu, 
wie  die  Haare  der  Achselhöhle,  unangenehme  Vorstellungen  hervorruft. 

Die  Haare  (Pili)  entsprießen  der  Haut  als  geschmeidige  Horn- 
faden,  deren  Erzeugung  und  Wachstum  wie  bei  der  Oberhaut  und 
den  Nägeln  von  der  beständigen  Zufuhi*  des  ernährenden  Säftestromes 
abhängt.  Vermindert  dieser  sich,  wie  in  Schweren  Krankheiten,  dann 
fallen  die  Haare  aus,  kehren  jedoch  wieder  mit  der  vollen  Wiederkehr 
der  Gesundheit.  Hört  die  Zirkulation  in  den  die  Haare  produzierenden 
Hautstellen  durch  Verödung  der  Gefäße  auf,  so  verschwinden  die  Haare 
nach  und  nach;  der  Scheitel  wird  aus  diesem  Grunde  oft  haarlos  und 
die  Haut  umspannt  glatt  das  gewölbte  Dach.  Jedes  Haar  steckt  mit 
der  sogenannten  Wurzel  (Radix)  in  einer  kleinen  Tasche,  der  Cutisy 
während  der  Schaft  (Scapus)  als  freier  Teil  über  die  Oberfläche  hervor- 
ragt. Die  kleine  Haartasche  besitzt  eine  sehr  zierliche  Organisation, 
die  sich  besonders  durch  zwei  Eigenschaften  auszeichnet.  In  nächster 
Nähe  derselben  liegen  Talgdrüsen,  welche  ihr  fettiges  Sekret  in  die 
Haartasche  entleeren,  wodurch  das  hervorwachsende  Haar  beölt  wird. 
Der  Glanz  der  Haare  beruht  auf  dieser  Beölung  durch  Hauttalg.  Viel- 
gebrauchte Haarbürsten  und  Kämme  sind  deshalb  immer  fett.  Wo  die 
Haare  klein  sind,  wie  am  Körper,  kommt  der  Überfluß  dieses  Fettes 


YO  Dritter  Abschnitt. 

der  Haut  zu  gute,  welche  dadurch  fettigen  Glanz  erhält.  Das  Wasser 
läuft  von  ihr  ab,  wie  von  einem  Wachstuch,  und  bleibt  nur  in  großen 
Tropfen  hängen. 

Die  zweite  Eigenschaft  besteht  in  einem  Zuzug  von  Muskelfasern, 
welche  sich  in  dem  Grunde  der  Haartasche  und  nach  der  gefäßlosen 
Oberhaut  hin  in  dem  dichten  Gewebe  der  Cutis  festsetzen.  Sie  sind 
im  stände,- die  Haartasche  samt  ihrer  Umgebung  gegen  die  Hautober- 
fläche emporzuheben.  Dann  erscheint  das  Haar  auf  der  Mitte  eines 
kleinen  Hügels,  der  mit  dem  Aufhören  der  Verkürzung  dieses  Muskels 
wieder  verschwindet.  Diese  kleinen  Muskeln,  die  Haarbalgmuskeln 
(Ärrectores  pili),  kommen  überall  vor,  wo  Haare  zu  finden  sind,  und 
diese  fejilen  bekanntlich  nur  an  der  Handfläche  und  Fußsohle.  Ziehen 
sich  diese  kleinen  Muskeln  zusammen,  so  wird  die  ganze  Haut  mit 
kleinen  Erhebungen  übersät.  Dieser  Vorgang  heißt  im  Volksmund 
Gänsehaut.  Eine  bekannte  Empfindung  von  Kälte  überläuft  dabei 
die  Oberfläche  des  Körpers;  sie  wird  blaß,  denn  die  sich  verkürzenden 
Muskeln  heben  nicht  allein  die  Haartasche  in  die  Höhe,  sondern 
verhindern  durch  Zusammenziehen  des  in  ihrem  Bereich  befindlichen 
Gewebes  teilweise  den  Zutritt  des  Blutes  in  die  oberen  Schichten 
der  Lederhaut. 

Die  Farbe  der  Haare  durchläuft  alle  Nuancen  vom  Schneeweiß 
bis  Pechschwarz.  Sie  rührt  im  ersteren  Fall  von  dem  Fehlen  des 
Farbstoffes  her,  in  letzterem  Fall  von  einei:  diffusen  Färbung,  welche 
die  kleinen  Zellen  und  Zellenkerne  erfiillt  oder  in  mikroskopisch 
kleinen  Körnern  durch  den  ganzen  Haarschaft  zerstreut  ist.  Daher 
rührt  der  Grundton  der  Haare.  Dazu  kommt  aber,  daß  dieser  Grund- 
ton durch  sehr  mannigfaltige  Einflüsse  geändert  werden  kann.  Um 
den  auffallenden  Wechsel  der  Färbung  zu  verstehen,  muß  man  sich 
daran  erinnern,  daß  die  Haare  ebenso  wie  die  Oberhaut  und  die  Nägel 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  durchsichtig  sind,  und  zwar  um  so  mehr, 
je  heller  sie  sind,  femer,  daß  sie  im  stände  sind,  Wasser,  Ole  und 
andere  Substanzen  in  sich  aufzunehmen  und  längere  oder  küi'zere  Zeit 
zurückzuhalten.  Die  beträchtliche  Umänderung  der  Farbe  nach  der 
Durchfeuchtung  der  Haare  ist  allgemein  bekannt,  und  dies  gilt  nicht 
allein  von  denen  des  Menschen,  sondern  auch  von  denen  der  Tiere.  Daß 
das  Haar,  so  wenig  wie  Oberhaut  und  Nagel,  nicht  als  ein  abgestorbener 
Ejektionsstoff  der  Haut  angesehen  werden  könne,  beweisen  die  mit 
der  Lebensthätigkeit  der  Haut  übereinstimmenden  und  durch  sie 
bedingten  Lebenszustände  desselben.  Aus  dem  Verhalten  der  Haare 
ziehen  Arzte,  Haarkünstler  #ind  Laien  ihre  Urteile.  Sie  sind  weich 
und  glänzend  bei  kräftiger,  gesunder  Beschaffenheit  des  Individuums, 
trocken   und  spröde  beim  Verfall   der  Kräfte.      Selbst  kurz  vorüber- 


Die  Haare.  71 

gehende  Störungen  des  Wohlbefindens  können  sich'  in  ihrem  veränderten 
Zustand  abspiegeln.  Das  plötzliche,  nach  wenigen  Stunden  erfolgte 
Ergrauen  der  Haare  durch  Verzweiflung  oder  durch  die  Schrecken 
ängstigender  Phantasmen  im  —  Säufei-wahnsinn  zeugt  deutlich  von 
der  lebendigen  Thätigkeit  im  Haar. 

Die  Enden  langer  Haare  sind  in  der  Regel  heller  als  ihr  Anfang 
in  der  Nähe  der  Kopfhaut.  Sie  verlieren,  weiter  vom  Körper  ent- 
fernt, ihr  natürliches  Fett,  ebenso  die  von  der  Haarwurzel  aus  in  sie 
übertretende  Emährungsflüssigkeit.  Es  entstehen  dann  kleine  Risse, 
in  welche  Luft  eindringt,  wodurch  die  lichtreflektierende  Kraft  ver- 
mehrt wird. 

Die  Form  des  Haarschaftes  ist  wie  seine  Stärke  den  verschie- 
densten Schwankungen  unterworfen.  Bei  dem  Europäer  ist  die  Form 
in  der  Regel  etwas  abgeplattet,  so  daß  der  Querschnitt  des  Haares 
oval  wird;  in  manchen  Fällen  ist  freilich  der  Schaft  vollkommen  rund. 
Dabei*  kann  er  gerade  sein  und  steif  wie  die  Mähne  eines  Pferdes 
nach  abwärts  fallen,  zuweilen  jedoch  sind  die  Haare  leicht  gelockt,  ja 
selbst  gekräuselt.  Wollhaare,  wie  sie  den  Haarschmuck  des  Negers  oder 
des  Papua  auszeichnen,  sind  bei  uns  nur  als  seltene  Ausnahme  zu 
verzeichnen.  Sie  haben  bei  den  farbigen  Naturvölkern,  wie  die  Unter- 
suchung gezeigt  hat,  einen  nahezu  platten,  zu  beiden  Seiten  zusammen- 
gedrückten Schaft,  der  offenbar  durch  ungleiches  Wachstum  sich  häufig 
dreht  und  biegt.  Seltsame  eckige  und  kantige  Formen  des  Haar- 
schaftes produziert  der  Bart  der  Männer;  die  Haare  erreichen  hier 
oft  die  Stärke  der  Spürhaare.  Auch  der  Mensch  fühlt  die  Bewegungen 
eines  feinen  Körpers,  welcher,  ohne  die  Hautfläche  zu  berühren,  bloß 
übeV  die  Spitzen  der  Haare  hinwegstreift. 

Die  Augenbrauen  haben  wie  die  Wimperhaare  die  Form 
kurzer,  leichtgekrümmter  Nadeln,  an  denen  sich  am  leichtesten  durch 
die  Beobachtung  der  Beweis  erbringen  läßt,  daß  auch  das  Haarkleid 
des  Menschen  einem  ähnlichen,  wenn  auch  nicht  so  regelmäßig  er- 
folgenden Wechsel  unterliegt,  wie  dies  bei  den  Tieren  als  „Hären" 
bekannt  ist. 

Die  Augenbrauen  (Supercilia)  bilden  als  buschig  behaarte, 
nach  oben  konvexe  Bogen  eine  schöne  Grenze  zwischen  Stirn-  und 
Augengegend.  Sie  erstrecken  sich  längs  dem  oberen  Augenhöhlenrand 
und  beschatten  bei  starker  Entwickelung  das  Auge.  Die  an  der  inneren 
Hälfte  befindlichen  Partien  wachsen  bisweilen  stärker  und  überragen 
bürstenartig  das  Auge.  Das  ist  namentlich  in  älteren  Jahren  der  Fall. 
Dabei  erhalten  sie  ihre  Farbe  außerordentlich  zähe,  sie  ergrauen  zuletzt. 

Die  Wimperhaare  (Cilia)  sind  kurze  steife,  im  oberen  Augenlide 
nach  oben,  im  unteren  nach  unten  gekrümmte  Haare  von  6 — 8  mm 


72  Dritter  Abschnitt 

Länge.  Im  oberen  Augenlid  sind  sie  länger  als  im  unteren,  und  an 
beiden  in  der  Mitte  der  Ränder  länger  als  gegen  die  Enden  zu.  An 
der  Bucht  des  inneren  Augenlides  fehlen  sie. 

Es  wurde  schon  oben  von  einem  Haarkleid  des  Menschen  ge- 
sprochen und  ebenso  hervorgehoben,  daß  es  nur  an  einzelnen  Partien 
eine  stärkere  Entwickelung  erlange,  unter  welchen  wiederum  die  Kunst 
die  ihr  entsprechende  Auswahl  treflfe.  Bei  dem  Mann  entwickelt  sich 
z.  B.  auf  dem  mittleren  Abschnitt  des  Brustbeins  ein«  zottiger  Haar- 
wuchs, der  sich  oft  seitlich  ausbreitet,  um  eine  wahre  Bärenbrust  zu 
bilden.  Bekanntlich  erfährt  bisweilen  das  Haarkleid  an  dem  Unter- 
leib, den  Schultern  und  den  Beinen  ebenfalls  eine  beträchtliche  Ent- 
wickelung und  selbst  die  klassische  Kunst  hat  es  nicht  verschmäht, 
diesen  auffallenden  Exzeß  darzustellen,  vorzugsweise  dann,  wenn  es 
sich  darum  handelte,  den  tierischen  Ursprung  des  Satyrgeschlechtes 
anzudeuten.  Da  findet  man  an  Marmorstatuen  die  Behaarung  der  Brust. 
Der  Bauch  ist  namentlich  in  der  Mittellinie  mit  zottigen  Massen  be- 
setzt, und  selbst  die  Schenkel  sind  damit  geschmückt.  Die  Neuzeit, 
welche  so  oft  Veranlassung  genommen  hat,  der  alten  Sage  von  ge- 
schwänzten Menschen  nachzuspüren,  konnte  wiederholt  Individuen  nach- 
weisen, bei  denen  das  Haarkleid  am  Kreuzbein  besonders  stark  in 
Form  eines  dreieckigen  Feldes  entwickelt  war.  Nachdem  die  ersten 
Fälle  dieser  Art  aus  Griechenland  bekannt  geworden  sind,  hängt 
vielleicht  die  Idee,  zu  äußerer  Bezeichnung  des  Satyrs  ein  Schwänzchen 
im  Rücken  anzubringen,  mit  alten  Beobachtungen  dieser  Art  zusammen. 

Wie  sich  bisweilen  das  Haarkleid  in  monströser  Art  entwickeln  kann,  zei^ 
die  Rundreise  der  russischen  Bärenmenschen  Andrian  Jeflichjew  und  seines  Sohnes 
Feodor.  Ihr  ganzes  Gesicht  war  von  feinen  10 — 12  cm  langen  Seidenhaareif  be- 
deckt, wodurch  eine  täuschende  Ähnlichkeit  mit  einem  Seidenpinscher'  entstand,  wie 
schon  der  Name  andeutete,  mit  welchem  der  unternehmende  Impresario  diese  Natur- 
wunder der  staunenden  Welt  vorführte.  —  Nicht  allein  das  starke  Geschlecht  darf 
sich  solcher  Ausschreitungen  seiner  Natur  rühmen,  auch  das  zarte  Grcschlecht  be- 
sitzt bisweilen  Repräsentantinnen,  welche  Schnurr-  und  Backenbart,  oft  sogar  noch 
eine  behaarte  Brust  aufweisen.  Ich  erinnere  an  die  hervorragendste  Persönlich- 
keit dieser  Art,  an  Miss  Julia  Pastrana,  bei  der  die  stark  vorspringenden  Kiefer 
in  Verbindung  mit  der  enormen  Entwickelung  des  Haarkleides  sogar  zu  der  Ver- 
mutung führten,  in  ihren  Adern  ströme  neben  Menschenblut  auch  noch  dasjenige 
eines  Anthropoiden.  Allein  es  ist  zu  bedenken,  daß  ein  Haarkleid  feinster  Art  bei 
dem  Embryo  den  ganzen  Körper  bedeckt,  und  daß  eine  Hypcrtrichosis  leicht  ent- 
stehen könne  durch  exzessives  Wachstum  der  schon  vorhandenen  Anlagen.  Auf 
solche  Art  erklärt  sich  femer  ungezwungen  der  Haarbüschel  am  Eingang  in  den 
Grehörgang.  Diese  Haare  erhielten  wohl  wegen  ihrer  Steifheit  den  Namen  Bocks- 
haare (Hirci).^ 


^  Hirci  heißen  auch  die  Achselhaare.  Die  Römer  nannten  letztere  püi  alarum 
und  den  Sklaven,  welcher   sie  auszurupfen  hatte,  alipil'us;  sie  waren  Feinde  des 


Vierter  Absohnitt.     Spezielle  Knochenlehre.  73 

Die  in  den  Nasenöfinungen  sichtbaren  Haare  (Vibrisaae)  ragen  zumeLst  nach 
abwärts  gegen  die  Oberlippe  und  werden  im  Alter  und  überhaupt  bei  Männern 
länger  gefunden  als  bei  Weibern.  Es  ist  wohl*  überflüssig,  die  Thatsache  zu  be- 
tonen, daß  der  buschige  Schmuck  eines  wohlbestelltcn  Schnurrbartes  und  die  üppige 
Elntwickelung  eines  Vollbartes  nur  Attribute  des  starken  Greschlechtes  sind.  Dabei 
hat  es  die  Natur  überall  verstanden,  eine  gewisse  Ordnung  diesen  Hautauswüchsen 
vorzuschreiben.  Sie  stehen  in  Linien,  welche  nie  gerade,  sondern  gebogen  und  zwar 
auf  beiden  Körperseiten  symmetrisch  verlaufen  und  zusammen  jene  Figuren  bilden, 
welche  als  Haarströme  oder  Haarwirbel  bezeichnet  werden.  Diese  sind  um  so 
leichter  zu  verfolgen,  als  die  Richtung  der  Haare  nie  senkrecht  auf  der  Hautober- 
fläche steht,  sondern  schief,  weil  die  Haarwurzeln  schief  in  der  Cutis  stecken. 


Vierter  Abschnitt. 


Spezielle  Knochenlehre. 


A.   Der  knöcherne  Koi3f  (Schädel), 


Allgemeine  Elgensehaften  des  SehSdels. 

Der  Kopf  ohne  Fleisch,  Haut  und  Haar,  der  Schädel  (Cranium), 
diese  wahre  Hauptsache  der  Osteologie,  ist  der  Gegenstand  der  folgenden 
Blätter.  Der  Schädel  ist  der  Träger  des  Gehirns  und  der  wichtigsten 
Sinnesorgane,  das  Eingangsthor  für  Luft  und  Nahrung;  er  übertrifft  alle 
anderen  Teile  des  Skelettes  Jin  Vollständigkeit  und  dadurch  auch  an 
Mannigfaltigkeit  des  Baues.  Vollständig:  nahezu  das  ganze  Haupt  ist 
durch  seine  Linien  vorgezeichnet;  mannigfaltig:  mit  wenigen  Hilfs- 
mitteln ist  ein  unendlicher  Wechsel  in  der  Form  erreicht.  Ist  doch  jedes 
Individuum  durch  kleine  Änderungen  der  Teile  desselben  charakterisiert. 
Das  Geschlecht  prägt  ihm  seinen  Typus  auf,  das  Alter  und  die  Basse. 

Der  Schädel  ist  aus  21  verschieden  gestalteten  Stücken  zusammen- 
gesetzt.    Mit  Ausnahme  eines  einzigen,  des  Unterkiefers,  sind  sie  bei 


unangenehmen  Greruches,  der  sich  nicht  in  dem  Grade  entwickehi  kann,  wenn  die 
Haare  entfernt  sind,  welche  wie  ein  Schwamm  das  Produkt  der  Achseldrüsen 
aufepeichern.  Die  bekannte,  nicht  wohlriechende  Atmosphäre  des  leckes  ließ 
auch  den  penetranten  Genich  des  Achselschweißes  als  hircua  benannt  werden. 
Ein  schmutziger,  unreinlicher  Kerl  erscheint  im  Plautus  als  hircua.  Hircosus  heißt 
ein  Mensch,  welcher  einen  stark  riirchcnden  Achselschweiß  absondert.  Eine  Uhnlichc 
Bezeichnung  fehlt  im  Deutschen,  obwohl  die  Erscheinung  häufig  genug  vorkommt, 
trotz  des  übermangansauren  Kali  oder  der  Salicylsäure,  die  so  vortreffliche  Gegen- 
mittel sind. 


74 


Vierter  Abechnitt. 


dem  Erwachsenen  fest  und  unbeweglich  zusammengepaßt  und  so  innig 
verbunden,  daß  unter  günstigen  Umständen  selbst  Jahrtausende  den 
Zusammenhang  nicht  lösen. 

Die  zumeist  breiten  und  flachen  Knochen  bilden  die  Wandungen 
von  Höhlen  für  die  Au&ahme  des  Gehirns  und  der  Sinnesorgane. 
Der  Schädel  ist  hohl. 

a.  HirnsohädeL 

Die  Form  der  Blmkapsel  ist,  von  oben  her  betrachtet,  in  der 
Draufsicht  ein  unverkennbares  Oval,  das  aber  bei  den  verschiedenen 
Arten  des  Menschengeschlechtes,  auch  denen  Europas,  entweder  mehr 
kurz  und   gebaucht   oder   mehr   lang   und   schmal   ist.     Schädel   der 


Fig.  17.    Zwei  europäische  Schädel  von  oben. 

a  Langschädel,  b  Kursschädel. 
1.  Kreuznaht.     2.  Scheitelnaht.     3.  Lambdanaht. 


ersteren  Art  nennt  man  Rund-  oder  Kur^köpfe  (Brachycephalen)^ 
letztere  Langschädel  (Dolickocepk(\len).  Der  obere  Teil  heißt  Schädel- 
dach (Calvaria)  im  Gegensatz  zu  der  Grundfläche  (Basis).  Die 
einzelnen  Regionen  der  Himkapsel  werden  ebenso  wie  an  dem  Kopf 
des  Lebenden  als  Stirn,  als  Scheitel,  als  Hinterhaupt  und  als 
Schläfen  unterschieden. 

Das  umfangreiche  Gehirn  liegt  in  einem  großen  Raum,  den  man 
schlechtweg  Schädelhöhle  nennt  (Cavum  cranti).  Die  weite  ovale  E^apsel, 
welche  sich  bis  zur  Stirn  und  bis  zum  Hinterhaupt  erstreckt,  wird  von 
dem  Gehirn  samt  den  Gefäßen  und  Hirnhäuten  ausgefüllt. 

Das  Stirnbein  (Os  frontis)y  leicht  gewölbt,  geht  durch  eine 
ziemlich  scharfe  Krümmung  in  den  Scheitel  über.  Durch  die  Kranz- 
naht (Fig.  17  Nr.  1)  schließt  es  sich  an  die  Seitenwandbeine  (Ossa 


Speiielle  Knochenlehre.  75 

parietalia,  Fig.  17  Nr.  2)  an,  welche  das  Hinterhauptsbein  (Os  occi- 
pitis)  zwischen  sich  fassen  (ebenda  Nr.  3). 

Die  oberen  Augenhöhlenränder  und  der  Nasenfortsatz  bilden  die 
untere  Stirngrenze.  Während  die  weitgeöfiheten  Augenhöhlen  die 
Knochenfläche  der  Stirn  in  ihrem  Übergang  zu  dem  Oberkiefer  voll- 
ständig unterbrechen,  bleibt  in  der  Mitte  eine  Verbindungsstraße, 
um  den  Anschluß  an  die  Nasenbeine  und  an  den  Oberkiefer  zu  ver- 
mittein.  Das  Stirnbein  hilft  also  den  Nasenrücken  bilden,  wenn  auch 
nur  eine  kurze  Strecke  weit,  die  man  als  Nasenwurzel  be- 
zeichnet. 

Die  Form,  in  welcher  dies  geschieht,  unterliegt  vielem  Wechsel, 
nach  Alter,  Geschlecht  und  Rasse.  Nach  den  herrschenden  Anschau- 
ungen unserer  Zeit  muß  die  Nasenwurzel  bei  dem  kräftig  entwickelten 
Schädel  des  Mannes  vertieft  liegen.  Alle  früheren  Abbildungen  (z.  B. 
Fig.  12  S.  54)  zeigen  dieses  Verhalten,  welches  dadurch  entsteht,  daß  das 
Stirnbein  im  Bereich  der  Augenbrauen,  der  Augenhöhlenränder  und 
namentlich  an  der  Übergangsstelle  zu  dem  Nasenrücken  balkonartig 
vorspringt.  Diese  Auftreibung  heißt  Nasenwulst;  letzterer  liegt  in 
gleicher  Höhe  mit  den  Augenhöhlenrändem,  um  dann  sich  rasch  zu 
verlieren  und  gegen  die  Nasenwurzel  zurückzutreten,  wo  erst  die  Ver- 
bindung mit  den  Nasenbeinen  und  den  Nasenfortsätzen  des  Oberkiefer- 
knochens stattfindet.  Die  gezackte  Naht,  welche  an  dieser  Stelle 
vorkommt,  heißt  Stirnnasennaht  (Sutura  naso-frontalis). 

An  den  Figuren  18,  19  u.  flf.  ist  dieses  Verhalten  mit  vollkom- 
mener Deutlichkeit  zu  sehen.  Der  tiefere  Grund  dieses  Wulstes 
über  der  Nasenwurzel  bei  dem  Mann  liegt  in  der  Existenz  von  luft- 
haltigen Räumen.  Die  beiden  Knochenplatten  des  Stirnbeines  weichen 
nämlich  auseinander  und  bilden  gerade  im  Bereich  der  Glabella  und 
der  Arcus  superciliares  die  Stirnhöhlen  (Sinus  frontales),  welche  am 
bedeutendsten  sind.  Sie  erstrecken  sich  oft  bis  zu  den  Stimhöckern 
hinauf  und  bis  in  die  Wangenbeinfortsätze  hinein.  Stark  vorragende 
Arcus  superciliares  und  ein  vorspringender  Nasenwulst  lassen  auf  große 
Geräumigkeit  der  Stirnhöhlen  schließen. 

Man  hat  die  Stirnhöhlen  die  ganze  Größe  der  Stimschuppe  einnehmen  gesehen, 
was  bei  einigen  Paehydennen  (Schwein,  Elefant)  Regel  ist.  Die  monströse  Größe  de« 
Kopfes  bei  letzterem  Tiere  beruht  einzig  auf  der  enonnen  Größe  der  Stirnhöhlen. 
Die  Kommunikation  der  Stirnhöhlen  mit  der  Nasenhöhle,  deren  Schleimhaut  sich 
in  die  Stirnhöhle  hinauf  fortsetzt,  erklärt  den  dumpfen  Stimschmerz  bei  höheren 
Graden  von  Schnupfen.  Da  die  Sinus  frontales  durch  Auseinander\^'eichen  de« 
Knochens  entstehen,  so  kann  die  vordere  Wand  des  Knochens  brechen  oder  ein- 
geschlagen werden  ohne  Eröffnung  der  ScliÄdelhöhle.  Wird  dabei  gleichzeitig  die 
Haut  verletzt,  so  kann  die  Luft  beim  Schneuzen  aus  der  Wunde  entweichen.  Hyrtl 
sah  eine  solche  Verletzung  an  einem  Stallknecht  durch  den  Hu&chlag  eines  Pferdes. 


IAHE  LIBRm.  STANFORD  UHVe^Ti 


76  Vierter  Abschnitt 

Die  Wunde  blieb  lange  2feit  offen.  Wenn  der  Verletzte  sich  die  Nase  zuhielt,  konnte 
er  mit  der  Stimfistel  ein  Wachslicht  ausblasen.  Ich  habe  einen  jungen  Mann  ge- 
sehen, dem  die  Kugel,  in  selbstmörderischer  Absicht  gegen  den  Kopf  getrieben,  nur 
die  vordere  Wand  der  Stirnhöhlen  durchschlug,  ohne  irgend  welche  Störung  de« 
Geh\ms  zu  verursachen.  Sie  wurde  durch  den  harten  Knochen  plattgeschlagen  und 
später  ohne  Nachteil  entfernt. 

Die  Stimhölilen  und  damit  die  Vertiefung  der  Nasenwurzel  ent- 
wickeln sich  erst  mit  der  Reife  des  Organismus.  Sie  treten  zwar 
schon  im  zweiten  Lehensjahre  als  flache  Buchten  auf,  wachsen  aber 
langsam  und  erreichen  ihre  volle  Ausbildung  erst  mit  der  M^nnheit. 
Deshalb  wird  mit  Zunahme  des  Alters  die  ganze  Erscheinung  des 
Profils  markiger.  Die  charakteristischen  Verschiedenheiten  der  Stim- 
bildung  eines  und  desselben  Individuums  in  verschiedenen  Lebensepochen 
lassen  sich  an  Statuen  und  Büsten  und  an  chronologisch  geordneten 
Münzen  von  Regenten  studieren,  die  ein  hohes  Alter  erreichten,  so 
z.  B.  am  schönsten  an  den  Medaillen  Ludwigs  des  Vierzehnten. 

Bei  den  Griechen  und  auch  bei  den  Römern,  die  sich  ja  von  dem 
griechischen  Genius  der  Kunst  leiten  ließen,  fehlt  bei  Idealstatuen  die 
Einsenkung  an  der  Nasenwurzel.  Den  Übergang  von  der  Nase  zur  Stirn 
bildet  eine  gerade  Linie.  Man  hat  damit  ein  seltenes  Vorkommen  zur 
Regel  erhoben.  Die  sogenannte  „griechische  Nase"  ist  eine  konventionelle 
Form;  nur  während  der  Entwicklung  des  Menschen  ist  der  Übergang 
von  der  Stirn  zur  Nase  flach.  Das  Festhalten  dieser  Bildung  für  die 
unsterblichen  Götter  sollte  den  Statuen  oflFenbar  den  Stempel  der 
ewigen  Jugend  aufdrücken  helfen. 

Exzessive  Entwickelung  des  Nasenwulstes  und  der  Arcus  super- 
ciliares beschattet  die  Nasenwurzel  und  die  Augen.  Diese  treten  tief 
zurück,  und  der  Ausdruck  nicht  allein  des  Lebenden,  selbst  des  Schädels 
erhält  etwas  Geschlossenes  und  Sicheres. 

Für  die  Gesamtheit  der  Gesichtsform  ist  die  Richtung  des  Stirn- 
beines zu  der  Horizontallinie  durchaus  nicht  gleichgültig;  sie  hat  für 
den  Künstler  entschieden  physiognomischen  Wert,  wenn  auch  dieser 
Gesichtswinkel  für  die  Bestimmung  der  geistigen  Begabung  seine  Be- 
deutung verloren  hat,  seitdem  sich  herausstellte,  daß  er  bei  verschie- 
denen Rassen  gleich  groß  sein  kann. 

Eine  hohe  und  senkrechte  Stirn  veredelt  das  Gesichtsprofil  und  wird 
von  den  Physiognomiken!  als  ein  Ausdrück  vorwaltender  intelle^ueller 
Fähigkeiten  genommen,  während  der  Sprachgebrauch  den  Inbegriflf  des 
Gegenteils  durch  die  Bezeichnung  „Flachkopf"  ausdrückt.  Am 
Apollo  und  Antinous  ist  der  Gesichtswinkel  selbst  größer  als  90^; 
die  anatomische  Richtigkeit  wurde  wahrscheinlich  auch  hierin  der 
künstlerischen  Idee  der  Ubermenschlichkeit  aufgeopfert.     Eine  flache 


Bpedell«  Knocheolehre. 


77 


Stirn  (le  front  fryant)  galt  Lavateb  als  ein  Übles  Omen ;  Robespiesbs 
hatte  sie  zwar,  aber  auch  der  königliche  Philosoph  von  Sanssouci  besaß 
sie  in  noch  aufiiallendereiii  GFrade.  Mbq  kann  sie  auch  künstlich  er- 
zeugen und  damit  alle  Üblen  Vorbedeutungen  als  eitlen  Wahn  ad 
abturdum  führen.  Weder  Mordlust  noch  Menschenverachtung  ent- 
stehen nach  dieser  kosmetischen  Operation,  die  schon  unsere  Alt- 
Torderen  ge&bt. 

Bei  Frauen  ist  aus  dem  gleichen  Grunde,  wie  bei  dem  Einde, 
der  Übei^ang  von  der  Stirn  zur  Nase  gemildert  und  bisweilen  fehlt 
jede  E^nsenkung  (griechisches  Profil).     Ein   starker  Nasenwulst  und 


Dntarkiefer 


ünUrklcfer- 
Kinoloeh. 


Schädel  eines  EuropScn 
1.  Sümbein.    2.  StiniglatM. 


eine  tief  eingesetzte  Nase  geben  dem  weiblichen  Eopf  männliche  Kraft, 
die  wir  von  ihin  nicht  verlangen. 

Von  der  mittieren  Schädelzone,  dem  Scheitel,  grenzt  sich  zu 
beiden  Seiten  die  Schläfengegend  (Planum  temporale)  ab,  welcher  das 
Schläfenbein  (Ot  temporum,'Y'\%.  18  TSr.n),  der  große  Eeilbeinflttgel 
(Fig.  18  Kr.  12}  und  die  von  einer  Bogenlinie  umgrenzten  Abschnitte 
des  Stirn-  und  Seitenwandbeines  (Fig.  18  Nr.  lO)  angehören.  Die  Größe 
und  der  Orad  der  Flachheit  der  Schläfe  ist  sehr  großem  Wechsel  onter- 
worfen.  Dies  gilt  selbstverständUch  auch  von  jeuer  charakteristischen 
Linie,  der  Schläfenlinie  (Linea  temporalis).  Sie  beginnt  an  der 
Stirn,  grenzt  dort  durch  einen  beträchtUchen  Vorsprung,  der  gegen 
das    Wangenbein    hingerichtet   ist,    die    Stirnfläche    seitlich    ab    und 


78  Vierter  Abschnitt. 

wendet  sich  dann  nach  aufwärts,  um  einen  Halbkreis  zu  beschreiben 
(Fig.  19  Nr.  1). 

Ihre  Stärke  und  Ausdehnung  steht  im  Verhältnis  zu  dem  Schläfen- 
muskel, der  von  ihr  entspringt.  Ist  er  groß  und  stark,  so  ist  dasselbe 
mit  der  Schläfenlinie  der  Fall,  umgekehrt  ist  sie,  sobald  sie  das 
Stirnbein  verläßt,  nur  schwer  in  dem  weiteren  Verlauf  zu  verfolgen. 

Trotz  dieses  Wechsels  in  dem  hinteren  Abschnitt  ihres  Verlaufes 
ist  sie  gerade  am  Stirnbein  stets  deutlich  und  hat  auf  die  Gestalt 
der  Stirn  wesentlichen  Einfluß.  Bei  der  Betrachtung  eines  Schädels 
von  vom  übersieht  man  beide  Linien,  die  der  rechten  und  linken  Seite, 
und  bemerkt,  daß  sie  ungefähr  P/g  cm  über  den  Augenhohlen  sich 
nähern,  um  dann  im  Ansteigen  sich  wieder  allmählich  voneinander 
zu  entfernen.  Sie  beschreiben  also  zwei  nach  außen  konkave  Bogen, 
die  an  charakteristischen  Köpfen  durch  die  Haut  hindurch  deutlich 
zu  sehen  sind.  Bei  guter  Beleuchtung  wii'd  eine  helle  Bogenlinie  die 
Stirnfläche  abtrennen.  Bei  starkem  Haarwuchs  wird  sich  ihr  oberer 
Teil  bald  dem  Auge  entziehen,  der  untere  Abschnitt  bleibt  jedoch, 
namentlich  bei  mageren  Köpfen,  deutlich  erkennbar.  Am  kahlen, 
haarlosen  Scheitel  läßt  sie  sich  auf  große  Strecken  verfolgen  und 
markiert  auf  diese  Weise  die  Schläfenfläche  deutlich  gegenüber  dem 
gewölbten  Scheitel. 

Als  Grenze  des  gewölbten  Schädeldaches,  abwärts  gegen  die  Wange 
imd  die  Ohrgegend  hin,  tritt  eine  horizontalverlaufende  Ejiochen- 
brücke  auf,  welche  von  dem  Wangenbein  freischwebend  zu  dem  hin- 
teren Ende  der  Schlä/enschuppe  zieht,  um  dort  mit  breitem  Ansatz 
sich  zu  befestigen.  Es  ist  dies  der  Jochbogen  (Arcus  zygomaticusj 
Fig.  18  Nr.  13).  Die  beiden  Jochbogen  überbrücken  also  die  Schläfen- 
gruben, und  stehen  am  Schädel  wie  horizontale  Henkel  an  einem 
Topfe.  Unter  ihnen  ziehen  die  Schläfenmuskeln  zu  ihrem  Ansatz  am 
Unterkiefer.  Da  nur  der  untere  Rand  des  Jochbogens  von  dem  Ur- 
sprung eines  Kaumuskels  verdeckt  wird,  liegt  die  vordere  Fläche 
am  Lebenden  unmittelbar  unter  der  Haut  und  läßt  sich  leicht  auf 
dem  ganzen  Weg  durch  den  zufilhlenden  Finger  verfolgen,  bis  zu 
der  Stelle,  wo  der  Bogen  vor  der  Ohröflnung  in  die  Fläche  des 
Schläfenbeines  übergeht.  Bei  mageren  Gesichtern  ist  der  Verlauf 
vom  Wangenbein  an  direkt  zu  sehen,  und  die  Grenze  zwischen  Schä- 
del und  Gesicht  wird  dui-ch  die  darüber-  und  daiiinterliegende  Ver- 
tiefung sofort  bemerkbar.  Das  hintere  Ende  des  Jochbogens  liegt  dicht 
an  dem  ovalen  Gehörloch,  das  in  das  Innere  des  Schläfenbeines,  zu 
der  Trommelhöhle  und  dem  Labyrinth,  führt.  Daran  schließt  sich  der 
Warzenfortsatz    (Processus  mastoideus,    Fig.  19   Nr.  G),    nach    seiner 


SpeiitUe  Knodtealdire. 


79 


Form  80  genannt.  Er  ist  stark  gewölbt;  sein  oberer  Teil  iet  am 
Lebenden  hinter  der  Ohnnuscliel  leicht  fühlbar,  während  das  untere 
Ende  in  dem  Ansatz  eines  krilfUgen  Halsmuskels,  des  Eopfnickers, 
Terboi^en  ist  (Fig.  14  Nr.  24). 

Der  Hinterhauptstachel  (Protuberaatia  ocdpitalig  externa, 
Fig.  19  Nr.  5}  grenzt  den  oberen,  nur  von  der  Kopfhaut  bedeckten 
Teil  des  Schädela  von  dem  durch  den  Ansatz  der  Nackenmuskulatur 
verborgenen  Teil  ab.  Die  Grundflache,  der  Boden  des  Schädels 
(Beuü)  um&St  die  Strecke  von  dem  Hinterhauptsstachel  and  der  mit 
ihm  zusammenhängenden  mittleren  Hinterhauptslinie  an  (Linea  nuchae 
media,  Fig.  20  zwischen  Nr.  s.u.  10)  bis  zu   den  Schneidezähnen,  mit 


Fig.  le.    Starker  nnd  lan^eatrcckter  Schädel  cinca  Eathen.    Die  Scbädelkapsel 
bell,  der  GosichtBteil  »chraffierL 


oder  ohne  Unterkiefer.  In  der  Figur  20  wurde  der  Unterkiefer-  weg- 
gelassen, um  die  Erhöhungen  und  Vertiefungen  besser  sehen  zu  können. 
Die  großen  und  kleinen  Löcher  sind  zunächst  erwähnenswert, 
dnrch  welche  das  Gehirn  seine  zwölf  Nervenpaare  zu  verschiedenen 
Oi^anen  aussendet  oder  die  für  seine  Ernährung  erforderlichen  Blut- 
gefäße empfängt.  Die  größte  dieser  Öffnungen  in  dem  hinteren  Drittel 
der  Schädelbasis,  das  große  Hinterhauptsloch  (Fig.  20  Nr.il),  läßt 
die  Verbindung  des  Rückenmarkes  mit  dem  Gehirn,  das  sogenannte  ver- 
längerte Mark,  hindurchtreten.  Zu  beiden  Seiten  dieser  großen  Oflhung 
sind  konvexe  1  cm  breite,  im  frischen  Zustand  mit  Knorpel  überzogene 
Gelenkhöcker  (Fig.  20  Nr.  13),  welche  auf  entsprechend  vertieften 
Pfannen  des  ersten  Halswirbels  aufsitzen.     In   diesem  Gelenk,  dessen 


Konstniktioii    später   noch    besonders    besprocheu   werden    soU, 
und  hebt  sich  der  Schädel. 

Von  der  gebogenen  Zuhnreihe  wird  ein  vertieftes  Feld  begreiwt, 
der  harte  Gaumen  (Palatiim  durum,  Fig.  20  Nr.  i).  Eine  senkrechte 
Naht  trennt  ihn  in  zwei  Hälften.  Zwischen  den  Schneidezähnen  ist  er 
Bchmal,  um  sich  hinten  zu  erweitern.  Dort  schließt  er  die  Gsumen- 
löcher  (Clioanen)  ab  (Fig.  20  zwischen  Xr.  5  n.  0),  welche  die  Verbindung 
zwisclien  Nasenhöhle  und  Eachenrauni  herstellen.  Sie  sind  paarig  toA 
in  der  Mitte  getrennt  durch  das  Ptingscharbein  {Vomer  Sr.  5). 
ganze  Umgebung  dient  zum  Ursprung  von  Gaumen-  und  Bachen 
muskeln,  welche  beim  Schlingen.  Sprechen,  Niesen  n.  s.  w,  eine  1 
ragende  Rolle  spielen.     Dasselbe  ist  der  Fall  mit  einem  3  cm  lange 


Vorderas  EDde  3 
Gsnmen  1 


Jochbogoi  j. 
Die  Flügellb 


Hüil«rtianii(abeiii  »■ 


5  PBugMhu. 
13  Grnodbem. 
— — -k  OelenliKrob*. 
GiiffeUbrtsali. 


I   Warmlinie. 

a  Stachel  □.  miC(L 


Flg.  20.     Schfidel 


Fortsatz,  Griffelfortsatz  (Procesgut  siylotdeus,  Fig.  20  Sr.  T).  der  or- 
sprünglicb  beweglich  mit  der  Scbfidelbasts  verbunden  ist,  in  späteren 
Jahren  jedoch  fest  mit  ihr  verwächst.  Auch  er  dient  als  Ursprungs- 
puukt  von  Muskeln.  Wegen  seiner  zerbrechlichen  Form  ist  der  Griffel- 
fortsatz nur  an  gut  konservierten  Cranien  zu  finden. 

Hinter   den  Choanen  liegt  {am  macerierten  Schädel)   das   Gmnd- 
bein,   der   basale  Teil   des  Hinterhauptsbeines,   offen   da,  Ni.ia. 
seine  Seit«nränder  stößt   das  Felsenbein,  ein  Teil  des  Schläfenlx 
Weiter  nach  außen  liegen  die  Gruben  für  den  Gelenkkopf  des  Unt< 
kieferä  (Sr.  4).     Das  hintere  Ende  des  Jochbogens  hilft  sie  b 


Sperielle  Knochenlehre.  81 

Yerblndangrsarten  der  Sehildelknoclien. 

Um  die  knöchernen  Teile  des  Schädels  fest  miteinander  zu  ver- 
binden, hat  die  Natur  bei  dem  Erwachsenen  verschiedene  Verfahren 
angewendet. 

Am  bemerkenswertesten  fttr  den  Künstler  sind  die  wahren  Nähte 
(SHtirae  verae),  auch  Suturen  genannt,  tiefgezahnte  Knochenränder, 
weiche  an  folgenden  Stellen  vorkommen: 

1.  zwischen  dem  Stirnbein  und  den  beiden  Scheitelbeinen  als 
Kranz-  oder  Kronennaht  (Sutura  coronalis,  Fig.  17); 

2.  zwischen  den  beiden  Scheitelbeinen  als  Schcitelnaht  (Suttira 
interparietalis)  ; 

3.  zwischen  der  Hinterhauptsschuppe  und  den  hinteren  Rändern 
der  beiden  Scheitelbeine  als  Lambdanaht  (Sutiira  lamhdoidea),  wegen 
der  Ähnlichkeit  mit  einem  griechischen  A  so  genannt; 

4.  zwischen  dem  Warzenteil  des  Schläfenbeines  und  der  unteren 
Seiten  wand  der  Hinterhauptsschuppe  als  Warzennaht  (Sutiira  mastoidea, 
Fig.  19  Nr.  4). 

Bei  Kahlköpfen,  deren  Scheitel  zuweilen  so  glatt  ist  wie  eine 
Billardkugel ,  kann  man  die  ersterwähnten  drei  Nähte  häufig  durch 
die  Schädeldecke  hindurch  erkennen. 

Falsche  Nähte  sind  jene  Verbindungen,  wobei  die  Knochen 
sich  dachziegelfiirmig  übereinander  schieben.  Das  ist  z.  B.  zwischen 
Schläfenschuppe  und  Scheitelbein  der  Fall  (Fig.  1 9  zwischen  Nr.  i  u.  3). 
An  der  Schädelbasis  bestehen  feste  Verbindungen  anderer  Art;  die 
einzelnen  Knochen  berühren  sich  in  größeren  Flächen.  Während  der 
Jugend  stellt  hier,  wie  in  den  anderen  Fällen,  eine  dünne  Knorpel- 
schicht den  Zusammenhang  her,  später,  mit  der  vollen  Reife  des  Indi- 
viduums, verschwindet  dieser  Kitt,  indem  Knochen  an  die  Stelle  tritt. 

Bei  dem  neugeborenen  Kinde  fehlen  die  Suturen  noch  vollständig; 
die  Stellen,  wo  später  eine  so  innige  Vereinigung  erfolgt,  sind  durch 
Spalten  getrennt,  welche,  abgesehen  von  der  Haut,  nur  eine  dehnbare 
Membran  überbrückt.  Dieser  Zustand  währt  an  manchen  Stellen 
mehrere  Jahre.  Wenn  der  Schädel  nicht  mehr  wächst,  beginnen  ein- 
zelne Nähte  zu  verstreichen,  einige,  die  bei  dem  Säugling  vorhanden 
waren,  verschwinden  vollständig.  Zu  letzteren  gehört  z.  B.  die  Stirn- 
naht, welche  das  Stirnbein  vom  Scheitel  herab  in  zwei  gleiche  Hälftiui 
teilte  und  es  möglich  machte,  daß  die  Stirn  sich  in  die  Breite  ent- 
wickeln konnte.  Bisweilen  jedoch  bleibt  diese  Naht  während  des  ganzen 
Lebens  erhalten,  also  auch  dann,  wenn  die  P^ntwickelung  des  Gehirns 
ihren  Abschluß  erreicht  hat;   manchmal  läßt  sich  die  Stirnnaht  auch 

KoLLMATCN,  PlojitiRoho  Anatomie.  g 


82  Vierter  Abschnitt. 

durch  die  Haut  hindurch  erkennen.  Schädel  mit  persistenter  Suhtra 
frontalis  nennt  man  im  gewöhnlichen  Leben  „Kreuzköpfe".  Umgekehrt 
können  Nähte  auch  frühzeitig  verschmelzen.  Geschieht  dies,  bevor 
noch  das  Gehirn  seine  vollkommene  Ausbildung  erlangte,  so  bleibt 
der  Schädel  abnorm  klein,  „mikrocephal".  Der  Gefährte  einer  solchen 
Mikrocephalie  ^  ist  der  Blödsinn. 

Einseitige  Verwachsung  der  Nähte  bedingt  Schiefheit  des  Kopfes  mit  und  ohne 
Hemmung  geistiger  Entwickelung.  Da  entstehen  Turmköpfe  oder  kielförmig  in 
die  Länge  gestreckte  Scheitel,  ja  sogar  Sattelköpfe,  die  in  der  Gegend  der  Kranz- 
naht  vertieft  sind.  Dantes  Schädel  soll  ein  exquisiter  Schiefschädel  gewesen  sein. 
Höchst  überraschend  ist  die  Biegsamkeit  der  Schädelknochen  im  ersten  Lebensjahre, 
an  der  sich  selbst  die  Mode  vergreift.  Nicht  allein  die  Füße  und  die  Leiber,  auch 
die  Köpfe  werden  künstlich  in  eine  andere  Form  gedrückt.  Auf  beiden  Halbkugeln 
der  Erde  tauchte  der  verrückte  Einfall  auf,  dem  Schädel  eine  künstliche  Form  zu 
geben ;  diese  Umformung  w^urde  im  Altertum  geübt  und  ist  noch  heute  in  Schwung; 
IIippoKRATEs  und  Herodot  erzählen  von  ihr,  und  jüngst  noch  hat  Virghow  in  TifliP 
das  Vorhandensein  dieser  Unsitte  bestätigt  gefunden.  In  alten  Gräbern  der  Krim, 
des  Kaukasus,  Ungarns,  Schlesiens,  am  Rhein  und  in  Frankreich  sind  künstlich 
verbildete  Schädel  gefmiilen  worden,  als  Beweise,  daß  um  die  Zeit  der  Völker- 
wanderung dieser  Brauch  in  Europa  weit  verbreitet  war.  Bald  wurde  der  Tunn- 
kopf  beliebt;  der  Scliädel  wurde  künstlich  durch  einen  Druck  verband  in  die  Höhe 
getrieben,  oder  man  suchte  die  Stirn  so  niederzudrücken,  daß  sie  von  den  Augen- 
brauen an  nicht  mehr  senkrecht  in  die  Höhe  stieg,  sondern  in  schiefer  Ebene  nach 
rückwärts  strebte.  Das  klassische  Land  für  die  Schädelverbildung  ist  unstreitig  Ame- 
rika in  alter  und  neuer  Zeit  gewesen,  nicht  allein  wegen  der  Häufigkeit,  sondern 
auch  wegen  der  Verschiedenartigkeit  der  Prozedur  und  der  Größe  der  erzielten  Er- 
folge. Keiner  anderen  Bevölkerung  sind  solclie  Kompressionen  der  kindlichen  Schädel 
gelungen.  Der  Tunnkopf  und  der  Breitschädel  finden  sich  dort  in  wahrhaft  er- 
schreckender Vollendung  und  geben  euien  unwiderleglichen  Beweis  von  dem  hohen 
Grad  auch  der  physischen  Insulte,  die  das  Menschenhim  zu  ertragen  im  standeist' 

Trotz  all  dieser  wichtigen  Eigenschaften  ist  die  Schiidelkapsel 
doch  verhältnißmäßig  einfach  geformt:  ein  mehr  oder  weniger  in  die 
Länge  gezogenes  Oval,  nicht  eben  reich  an  abwechselnden  Formen.  Sie 
erscheint  auf  den  ersten  Augenblick  wie  aus  einem  Guß,  und  erst  bei 
genauerer  Betrachtung  bietet  sie  einige  sichere  Orientierungspunkte. 

b.    Oesichtsteil  des  Schädels. 

Der  Gesichtsteil  des  Schädels  zeigt  eckige  Linien,  scharfe  Vor- 
sprünge un<l  Vertiefungen.     Ein  Komplex  mehrerer  Höhlen   ist  durch 


*  mikros  klein;  kcpfiale  Kopf. 

'  Ausführliches  hierüber   in   folgenden,    mit  vortrefflichen  Abbildungen    ver- 
sehenen Werken: 
LsNHOSS^K,   J.  V.,    Die   künstlichen   Schjidclverbildungen.      Mit    11    phototyj>ischen 

Figuren  auf  3  Tafeln  u.  16  Figuren  im  Text.     Hudapost  1878. 
Meteb,   A.  B.,  Über  künstlich  deformierte   Schädel   und  ül)er  die  Verbreitung  der 
Ritte  der  künstlichen  Sclijideldeformierung.    Mit  1  Tafel.  Leipzig  u.  l)res<len  1881. 


Spezielle  Knochenlehre.  83 

die  Gesichtsknochen  umrahmt,  welche  den  Sinnesorganen  zur  Aufiiahme 
dienen  und  die  Vorhallen  für  die  in  die  Leiheshöhlen  eindringenden 
Atmungs-  und  Verdauungsorgane  bilden.  Unter  diesen  ziehen  die  Augen- 
höhlen stets  zunächst  die  Aufmerksamkeit  auf  sich.  Die  tiefen  Hohl- 
pyramiden, welche  bei  jeder  Beleuchtung  durch  einen  Schlagschatten  dunkel 
hervortreten,  bedingen  den  unheimlichen  Ausdruck  des  „knöchernen  Ant- 
litzes". Sie  sind  außen  begrenzt  von  einem  Teil  des  Stirn-  und  Wangen- 
beines (Fig.  18  Nr.  3u.  4),  welche  zusammen  nicht  allein  einen  starken 
schützenden  Vorsprung  bilden,  sondern  gleichzeitig  auch  eine  scharfe 
Grenze  zwischen  Gesicht  und  den  Schläfen;  in  der  Mitte  sind  sie  ge- 
trennt durch  den  Nasenrücken,  der  am  Schädel  kurz  ist;  denn  die  Fäul- 
nis zerstört  die  häutige  Nase  und  ihre  knorpligen  Teile  und  legt  dadurch 
den  Einblick  in  die  Nasenhöhle  frei,  oder  besser  in  die  Nasenhöhlen. 
Der  birnförmige  Eingang  ( Apertur a  pyriformis)  führt  in  zwei,  durch 
die  Nasenscheidewand  (Septum  narium)  getrennte  Räume,  welche 
auch   nach  hinten  sich  getrennt  durch  ovale  Löcher  (Choanen)  öffnen. 

Der  breite  Teil  des  Nasenhöhleneingangea  ruht  auf  dem  Boden  der 
Nasenhöhle,  der  schmale  Teil  sieht  nach  oben,  die  Ränder  sind  scharf 
geschnitten,  namentlich  nach  unten.  Ein  kurzer  Knochenstachel,  der 
vordere  Nasenstachel  (Spina  nasalvt  anterior,  Fig.  18),  vereinigt  die 
unteren  Ränder  in  der  Mittellinie  an  derselben  Stelle,  an  der  die 
Nasenscheidewand  in  der  Gesichtshaut  festsitzt. 

Unterhalb  des  senkrecht  gestellten,  birnf()rmigen  Loches,  das  in 
die  labyrinthisch  verschlungenen  Luftwege  der  Nasenhr)hlc  fährt,  liegt 
die  querliegende  Mundspalte,  welche  am  Schildel  weit  an  der  Seite 
zurückreicht  und  dort  vom  aufsteigenden  ünterkieferast  (Fig.  18  Nr.  tri) 
begrenzt  wird.  Sind  noch  alle  32  Zähne  erhalten,  dann  verkünden  nur 
die  schmalen  Spalten  zwischen  den  Kronen  und  der  Raum  zwischen 
dem  letzten  Mahlzahn  und  dem  Rand  des  ünterkieferastes  die  Aus- 
dehnung der  dahinter  liegenden  Mundhöhle.  Sie  ist  am  Schädel  selbst 
bei  geschlossenem  Kiefer  geräumig.  Nach  unten  ist  sie  offen  und 
durch  den  weiten  Bogen  des  Unterkiefers  dringt  der  Blick  ungehindert 
in  das  Innere  des  Raumes,  dessen  Dach  vom  harten  Gaumen,  dessen 
Seitenwände  von  dem  zahntragenden  Leisten  des  Oberkiefers  (Procesms 
alveolaris  maxillae  superiaris),  von  den  Zähnen  und  von  dem  Unter- 
kiefer gebildet  werden. 

Die  knöcherne  Umrahmung  für  die  vier  Höhlen  des  Gesichtes 
hat  von  vom  betrachtet  die  Gestalt  eines  Viereckes  mit  ungleichen 
Seiten.  Die  obere  Begrenzungslinio  liegt  über  den  Augenhöhlen. 
Durch  diese  Linie  wird  der  eigentliche  Gesichtsschädel  gegen  den 
Himschädel  oder  die  Hirnkapscl  abgegrenzt.  Man  hat  viele  Gründe, 
eine  solche  Trennung  festzuhalten,  welche  auf  den  ersten  Augenblick 

6* 


84  Vierter  Abschnitt. 

von  der  Vorstellung  abweicht,  die  man  sich  in  der  Kunst  wie  in  dem 
gewöhnlichen  Leben  von  dem  „Gesicht  und  also  auch  von  dem  (3e- 
sichtsschädel"  macht,  denn  man  rechnet  ja  im  täglichen  Leben  die  Stirn 
zum  Gesicht.  Ihr  haarfreier  Teil  bestimmt  wesentlich  das  Aussehen  des 
letzteren ;  die  bewegliche  Haut  glättet  sich  überdies  oder  legt  sich  durch 
das  Spiel  der  Muskeln  in  Falten  und  steht  durch  ihren  verschiedenen 
Spannungsgrad  im  Dienste  der  Mimik.  Wie  viel  man  von  einem 
Kopfe  hält,  den  eine  hohe  und  breite  Stirn  schmückt,  weiß  jeder. 
Die  Wissenschaft  trotzt  aber  den  geläufigen  Vorstellungen  des  täglichen 
Lebens,  wenn  es  sich  um  fest  erkannte  Prinzipien  handelt,  und  so  ver- 
fährt sie  auch  in  diesem  Falle.  Gesichtsschädel  ist  ihr  nur  jener  aus 
14  Knochen  bestehende  Keil,  der  seine  Basis  von  der  Nasenwurzel 
bis  zum  Kinn  erstreckt,  und  dessen  stumpfe  Spitze  in  der  Gegend  des 
großen  Hinterhauptsloches  liegt.  Die  Stellen,  wo  Himkapsel  und  Ge- 
sichtsschädel zusammenhängen,  liegen  innerhalb  zweier  Ebenen,  welche 
von  der  Nasenwurzel  (Fig.  19)  gegen  den  vorderen  Rand  des  Hinterhaupts- 
loches hinabreichen.  Die  Ausdehnung  des  Gesichtsschädels  ist  in  der 
Fig.  19  schattiert. 

Der  vrissenschaftliche  Boden,  auf  welchen  wir  uns   hier  stellen, 
verlangt,    daß   von   der  Betrachtung   des    Gesichtsschädels,    zunächst 
wenigstens,  die  Stirn  ausgeschlossen  bleibe.    Himschädel  und  Gesichts- 
schädel haben  in  ihrer  ersten  Anlage  und  in  ihrem  weiteren  Wachstum 
einen  gewissen  Grad  von  Selbständigkeit.     Der  erstere  ist  schon  viel 
früher  in   seinen   Hauptformen   erkennbar  als   der   letztere.      Sodann 
schreitet  jeder  dieser  Teile  unabhängig  von  dem  anderen  in   seinem 
Ausbau  weiter.     Eigenartige  Gestaltungen   können   auf  dem  Gebiete 
des   einen  sich  entwickeln,    ohne  notwendig  die  Formen  des   anderen 
zu  beeinflussen.    Der  Himschädel  kann  sehr  groß  sein  —  eine  mächtige 
Stirn  deutet  auf  reiche  Entfaltung  des  Inhaltes  —  während   das  Ge- 
sicht unverhältnismäßig  klein  ist.     Aber  auch  das  umgekehrte  konmit 
häufig  genug  vor,  ein  großes  Gesicht,  die  Backenknochen  und  die  zahn- 
tragenden Teile  von  einem  über  das  Maß  hinausgehenden  Umfang  — 
und  darüber  ein  kleiner  Hirnschädel  mit  niederer  oder  flach  zurück- 
weichender Stirn.    In  beiden  Fällen  wird  der  Eindruck  auf  den  Be- 
schauer   ein    sehr   verschiedener  sein.     Dort    kann  er  den    Eindruck 
geistiger  Kraft,  hier  den  roher,  ungezügelter  Genußsucht  hervorrufen. 

Selbst  bei  krankhaften  Mißbildungen  zeigt  sich  noch  die  Unabhängigkeit  der 
beiden  Abschnitte.  Im  Bereich  des  Grcsichtsschädels  können  Hasenscharte  und  Wolfs- 
rachen die  ganze  Gestalt  des  häutigen  und  knöchenien  Antlitze»  verkümmern,  wäh- 
rend der  naheliegende  Himschädel,  namentlich  die  an  der  Basis  befindlielien  Teile, 
nicht  im  geringsten  von  diesen  Störungen  ergriffen  werden.  Man  hat  umgekehrt 
schon  das  Schädeldach  samt  dem  Gehirn  bei  neugeborenen  Kindern  fehlen  sehen, 
und  dennoch  war  das  Gesicht  regelmäßig  entwickelt.     Ich   brauche    kaum   zu   be- 


Spezielle  Knochenlehre.  g5 

merken,  daß  dieser  Grad  von  Unabhängigkeit  auch  tieine  Grenze  hat,  und  daß  es 
genug  Beispiele  giebt,  sowohl  bei  der  normalen  als  bei  der  abnormen  Plutwickelung, 
welehc  auch  den  engen  Zusammenhang  auf  das  schlagendste  erkennen  lassen. 

Die  Kenntnis  der  Massenvei-teilung  des  Gesichts-  und  Hirnschädels 
giebt  für  Wissenscliaft  wie  Kunst  wertvolle  Aufschlüsse  über  das  archi- 
tektonische Prinzip  in  der  Gestaltung  des  Kopfes. 

Deckt  man  an  einem  Schädel  jenen  Teil,  der  das  Geliirn  um- 
schließt, so  bleibt  von  dem  knöchernen  Gerüst  ein  verhältnismäßig 
kleiner  Abschnitt  übrig,  der  die  Knochen  des  Gesichtes  umfaßt.  In 
dem  Übergewicht  der  menschlichen  Himkapsel  gegenüber  <lem  Gesichts- 
schädel (Fig.  19)  liegt  der  Vorzug  des  menschlichen  Kopfes.  An  ihm 
treten  alle  jene  Teile,  welche  oben  als  knöcherner  Rahmen  für  die 
Höhlen  der  Sinnesorgane  bezeichnet  wurden,  nahezu  ganz  unter  die 
Hirnkapsel  zurück.  Da  der  Hauptteil  dieser  Knochen,  wie  Ober- 
und  Unterkiefer,  gleiclizeitig  Itir  das  Geschäft  des  Kauens  verwendet 
wird,  so  wird  das  Massenverhältnis  zwischen  Hirn-  und  Gesichtsschädel 
auch  noch  prägnanter  dadurch  ersichtlich,  daß  man  den  letzteren 
als  Kauapparat  bezeichnet.  Bei  dem  Menschen,  namentlich  dem  der 
weißen  Rasse,  nimmt  letzterer  einen  sehr  kleinen  Raum  ein,  während  er 
schon  bei  den  Alfen,  selbst  den  menschenähnlichen  Anthropoiden,  den 
Gehimschädel  weit  an  Größe  und  Umfang  übertriflFt.  Der  Mensch  hat 
im  Verhältnis  zur  Hirnkapsel  das  kleinste  Gesicht. 

Sobald  die  vergleichend-anatomische  Betrachtung  für  die  Gestaltungs- 
gesetze des  Gesichtes  hinzukommt,  zeigt  sich  sofort  der  Wert  dieser 
Auffassung  für  die  das  Gesichtsskelett  zusammensetzenden  Teile.  Die 
Bewaffnung  der  Kiefer  mit  Schneide-  und  Mahlzähnen  läßt  die  kräftigen 
Formen  der  Knochen  begreifen.  Die  Zähne  mit  ihren  langen  Wurzeln 
bedürfen  breiter  und  hoher  Knochenleisten  (der  Zahnfortsätze),  und  der 
Oberkiefer  muß  überdies  feste  Stützpunkte  am  Schädel  gewinnen,  damit 
er  durch  den  Druck  des  Kauens  nicht  von  seiner  Stelle  geschoben  werde. 
In  diesem  Sinne  gewinnt  das  Wangenbein  ebenfalls  seine  mechanische 
Bedeutung,  es  hindert  das  Ausweichen  des  Oberkiefers;  gleichzeitig 
dient  es  aber  auch  zum  Ursprungspunkt  eines  starken  Muskels,  der 
von  seinem  unteren  Rand  zum  Winkel  des  Unterkiefers  zieht  und  durch 
seine  Zusammenziehung  die  Kiefer  aneinander  preßt.  Der  Jochbogen 
(Fig.  18  Nr.  13)  endlich  wird  zu  einem  Strebepfeiler,  der  die  Gewalt  der 
Kaumuskeln  auf  die  hintere  HiUfte  des  Hirnschädels  übertragen  hilft, 
damit  ihr  Druck  nicht  ausschließlich  gegen  die  vordere  Schädelhälfte 
wirke.  Trotz  dieser  wichtigen  mechanischen  Aufgabe  des  Kauapparates, 
dessen  Gewalt  einem  Gewicht  von  200  Kilo  gleichkommen  kann,  nimmt 
der  Gesichtsschädel  doch  nur  einen  kleinen  Raum  ein. 

Diese  Stellung  des  Gesichtsschädels  läßt  sich  durch  Zahlen  aus- 


8()  Vierter  Absolmitt. 

tlrüokon.  Der  ei*ste  Versuch  dieser  Art  wurde  von  dem  Anatomen 
r.vMPKH  gomacht.  Er  zog  eine  Linie  von  der  äußeren  Oflfhung  des 
Uohörgangos  bis  zu  der  unteren  Grenze  der  Nase  und  auf  deren  End- 
punkt oino  zwoito,  die  iTesichtslinie,  welche  von  der  Mittellinie  der 
Stirn  aus  dio  vorige,  die  Nasenohrlinie,  schneidet.  Fig.  19,  der 
Winkol  l\  dor  Profilwinkel,  den  diese  beiden  Linien  einschließen,  ist 
gt'uau  bostinmibar  und  seine  Größe  giebt  einen  zahlenmäßigen  Ausdruck 
Ubor  dio  Stellung  dos  Gesichts-  zum  Himschädel.  Ist  die  Süm  gerade 
rtUtstoigtMul  und  das  Gosichtsskelett  regelmäßig  entwickelt,  sodaß  in  voller 
Harmonio  dor  Kauapparat  nur  eine  mittlere  Große  und  Ansdehnnng 
ornMoht,  wie  boi  dorn  schön  geformten  Gresicht  eines  Europäers,  dann 
schwankt  dor  OAMPKR'scho  Gesichtswinkel  zwischen  80  und  85®.  Schieben 
sich  alH>r  durch  oino  kräftigere  Entwickelung  die  Eliefer  mehr  nach  vom, 
ri\ckon  sie  gleichsam  unter  der  Himkapsel  hervor  wie  bei  manchen 
farbigt^n  Monschonrasson,  vor  allem  bei  den  Bewohnern  Central-  und 
Südafrikas,  dio  durch  dio  Bezeichnung  ..Xigritier'*  von  den  nord- 
afrikanischon  IV^rlH^rxolkom  unterschieden  werden  müssen,  dann  wird 
dor  IV^tilwinkol  kleiner.  Boi  Tieren  endlich,  deren  Eaoapparat  schnauzen- 
arlig  vorspringt  niü^^son  die  Linien  immer  näher  aneinanderrücken  und 
daniil  dio  Winkol  an  Grvßo  abnehmen. 

Tm  don  Wort  dor  lolwnden  Beihe  vcm  CxjfPKB'schen  Cresichts- 
wiukx'ln  in  da^  rvchto  Licht  cn  stellen,  sind  auch  Piofilwinkel  der 
wons^-'houähnlichon  Affon  anfi^^fahrt.  danmier  aoch  deijenige  des 
i>\\riUa,  oinos  .\ffon.  wclobor  in  der  iirne?tea  Zeil  die  Aufmerksamkeit 
^n  N>S!ono,ots  hv^hon  Gr^u^o  in  AT:>rir©c}i  c^cOv-aoinrii  hat. 

l^:o  cv^fc^hicv  Ä^kiie  okr5e>  Ariir^^OLÄira  i>s  hinlänriich  bekannt 
5%o  ix-^x^  svh  aaci)  ar.  Ciä  ScLiotC.  ir--  «ir  iiiB^rfc;'ngich  ist.  Aber 
^ior^YKvk  >si  iia  \\^?wioit  it:;  üä  K'-;  me  Mfzöicbea  dtr  Schldelraom 
5C:t\^*  Vo^i  oogfft  ir^.«;!*  kVdr.  cox.  wS^  rcskiLaneCiKcräcii  von  den  rie- 
s'^^Ni  KaXÄ\)s:>Jrt>h:,.  wvv .•**>!  5X  ScoStc:  Stti^a  ö»  ^behit^ciniiiies  ent- 
>A\:*,r^'%.  IVr  Soii>.^«rC  s^><  i^,*££li  i«  u.  ski  crtier.  als  der  des 
iyior.>*.-^)>?:x.  aVt  »-Äii  :r,r,  rr:i  mSv-ii.  is  £i*>  E^i^sii*:;^.  i>*  die  gewal- 
t:^^  >ir,t>*-vii-cx?üc  .vfc  K:j:?:'r  xuZ  i«c  Zütk.  T^i*  5]>f!Hr  Beeen  vor- 
fS'^^tw^t  ^^<\  »\c:  xr.T^r  .v;c  Hiri.OtTt?!c-l  i»£rT:K«nrA:-ji5«L:  ae  snd  von 
x^v,v:*»s:^  At^4,^.>rt.r,jt,  >:>^rüL  —  1-^:1:  iDtHÄrüri  I^ibH  kcdcmt  noch 
*;v  w^^•>::u^    V:::y^':xT,i   .■•;•:  >c::nii»r»iii;a  xhl    üsr  SczrwiisSe.     Auch 

4-?^»    ».n  N^i^*^*x*K^3   \>s.»^V.»!  »^    ir.ii  ;i;c  T^'ci  rrTicirsL  Itni LbTtije  mit 


Spezielle  Knochenldire.  g7 

Schädels  erkennbar.  Sie  stehen  zu  einander  in  einem  richtigen  Größen- 
verhältnis. Jedem  Teil  ist  ein  edles  Maß  von  Ausdehnung  angewiesen, 
und  man  hat  seit  lange  die  Regel  dadurch  ausgedrückt,  daß  die  Stirn-, 
Nasen-  und  Kieferhöhe  als  drei  gleiche  Höhen  bezeichnet  wurden. 
Bekanntlich  bindet  sich  die  Natur  nicht  sklavisch  an  diese  Regel, 
aber  selbst  die  extremsten  Formen  innerhalb  des  Menschengeschlechtes 
erreichen  niemals  auch  nur  annähernd  jene  wilde  Bestie,  deren  Kiefer 
fratzenartig  selbst  eine  Karikatur  des  tierischen  Stammbaumes  dar- 
stellen. 

Die  Ähnlichkeit  des  Gorillaschädels  mit  einem  Negerschädel,  dessen 
Profil  durch  ein  stark  vorspringendes  Kaugerüst  ausgezeichnet  ist,  hat  auf 
die  Vermutung  gebracht,  als  stellten  die  anthropoiden  AflFen  eine  direkte 
Ubergangsstufe  zu  dem  Menschen  dar;  allein  dieser  Schein  trügt.  Aller- 
dings schiebt  sich  der  Gesichtsschädel  bei  dem  Neger  beträchtlich  nach 
vorne,  und  es  entwickelt  sich  dadui*ch  jene  Ei*scheinung,  welche  man 
als  Prognathismus  bezeichnet  hat:  die  Stirn  tritt  zurück,  wird  sogar 
bei  sehr  charakteristischen  Vertretern  schiefgeneigt,  „fliehend",  und  da- 
durch wird  das  Vorspringen  der  Kieferteile  um  so  beträchtlicher.  Der 
Neger  wird  dadurch  etwas  aflfenähnlich,  „pithekoid",  allein  trotzdem 
besteht  zwischen  ihm  und  den  Anthropoiden  eine  gewaltige  Kluft,  und 
es  steht  der  Neger  dem  Europäer  zweifellos  viel  näher  als  dem  Affen; 
denn  der  Hirnschädel  ist  nicht  pithekoid,  sondern  menschlich  entwickelt 
und  enthält  ein  Gehirn,  das  an  Größe  und  Gewicht  dem  des  Weißen 
nahezu  gleichkommt. 

Der  CAMPEB'sche  Gesichtswinkel  giebt  also  nur  einen  Maßstab  fiir  die 
Entwicklung  des  Kauapparates,  nicht  fiir  die  der  Größe  der  Intelligenz, 
und  die  folgende  Reihe  von  CAMPER'schen  Gesichtswinkeln  läßt  nur  er- 
kennen, daß  bei  Individuen  der  Kultur-  wie  der  Naturvölker  die  Schwan- 
kungen sehr  bedeutend  sind  und  innerhalb  hoher  Zahlen  sich  bewegen, 
sowie  daß  im  Gegensatz  hiezu  die  menschenähnlichen  Affen  wegen  des 
beträchtlichen  Umfanges  ihres  Kauapparates  kleine  Winkel  besitzen. 

1.  Alter  Römer  (Schädel  aus  der  BLUMENBACH'schen  Samm- 

lung in  Göttingen) 76^ 

2.  Schädel  aus  einem  alten  Grabe .  77*^ 

3.  Desgleichen 87<> 

4.  Schädel  aus  dem  Bieler  Pfahlbau 89^ 

5.  Australneger 79.5^ 

6.  Desgleichen  .     .     .     .     • 82o 

7.  Ein  männlicher  Gorilla 50<> 

8.  Ein  anderer  Gorilla 44.5<* 

9.  Ein  männlicher  Orang-Utang 42^ 

10.     „  „  Schimpanse 67^ 


88  Vierter  Abadmitt. 

DU'.  Kluft  z wuschen  deu  Aiithn>poideu  und  den  Menschen  tritt  durch  den 
(^AUPRiuHihon  (ii'ttU:\iitiwinki'\  cb<^n«^>  «:liarf  her\'or,  ab  durch  irgend  einen  der  aiidemi 
(fttHu:htn-  '>fl<:r  I 'rofil Winkel ,  welche  in  der  neur^ttm  Zeit  Anwendung  finden.  Man 
darf  nur  nicht  verjri.'swen,  daß  der  Schimpan«e  noch  immer  um  lO*  tiefer  unter  den 
0<«ichtHwinkel  rIeK  nimiKchen  Ritters  oder  di«  alten  EuropäeiB  herabruckt,  die  pro* 
^lather  waren,  al»  d(T  AuHtralue^er,  und  daß  der  Gorilla  um  26*  unter  dem  Spröß- 
ling R/nnH  Bteht,  der,  einnt  vielleicht  als  Führer  einer  Legion  am  Niederrfaein  auf- 
tretend, als  l'rüger  alter  Kultur  und  Macht  jedenfalls  im  Vollbesitz  ^iuer  geuftigen 
Kraft  stand.  Das  sind  beträchtliche  Unterschiede,  und  man  hat  kein  Recht,  tk 
^erin^er  anzuschlagen,  als  sie  in  Wirklichkeit  einmal  sind. 

Man  hat  frülier  aus  dem  Ergebnis  des  CAMPEB'sehen  Gesichts- 
winkels bei  dem  Menschen  aucli  einen  Schluß  auf  die  Intelligenz  ge- 
zogen und  gemeint,  der  kleinere  Winkel  bei  anderen,  namentlich  den 
farbigen  Kassen,  sei  gleichzeitig  ein  sehr  guter  Wertmesser  für  den 
(irad  der  geistigen  Begabung.  Aber  diese  Ansicht  ist  irrig,  seitdem 
wir  wissen,  daß  auch  unter  der  weißen  Rasse  Prognathie  und  zwar 
zuweilen  in  extremen  Graden  vorkommt  (ähnlich  wie  in  den  Nummern  1 
u.  2  <ler  obigen  Talielle),  ohne  einen  schwächenden  Einfluß  auf  die  geistige 
Kraft  auszuüben.  Ferner  ist  zu  erwägen,  daß  bei  neugeborenen  Kindern 
der  (yAMPEu'sche  Gesichtswinkel  90^  und  darüber  beträgt,  also  bei  dem 
hilflos(;n  und  geistig  völlig  unentwickelten  Kinde  mehr,  als  bei  dem 
erwachs(?nen,  selbständigen  Wesen.  Man  käme  auf  diese  Weise  in 
die  bedenkliche  Lage,  den  Säugling  über  den  Mann  stellen  zu  müssen. 
Der  Grund,  warum  sich  der  Schädel  des  Kindes  durch  einen  günstigen 
(it^sichtswinkel  auszeichnet,  liegt  aber  lediglich  in  der  außerordentlichen 
Kleinheit  des  unentwickelten  Kaugerüstes  im  Vergleich  mit  dem  in 
seinem  Wachstum  schon  weit  vorgeschrittenen  Hirnschädel.  Das  Ge- 
sicht ist  bei  dem  neugeborenen  Kinde  noch  verkümmert.  Es  fehlen 
die  Zähne,  also  auch  die  langen  Zahnwurzeln,  damit  aber  auch  die 
Zahnfortsätzc  am  Ober-  und  Unterkiefer,  welche  ganz  besonders  zur 
Verlängerung  des  Gesichtsschädels  beitragen. 

Schädel  mit  geradem  Profil,  bei  denen  von  der  senkrecht  stehenden 
Stirn  die  Gesichtsteile  in  wenig  veränderter  Richtung  anschließen,  nennt 
man  orthognath^  Die  Orthognathie  verleiht  dem  Gesicht  den 
Ausdruck  (»dier  Gestaltung.  Die  hohe  Stirn,  hinter  der  eine  Welt  von 
(Tredanken  Platz  hat,  und  ihr  senkrechtes  Abfallen  gegen  das  Gesicht 
sind  charakteristische  Merkmale  edler  und  geistig  entwickelter  Indi- 
viduen. An  den  berühmtesten  Meisterwerken  hellenischer  Kunst  findet 
man  in  der  Kegel  einen  Gesichtswinkel  von  90^,  also  höher  als  die 
Natur  ihn  zumeist  herstellt. ^   Bei  Göttern  und  Halbgöttern  steigt  der- 

*  Von  orthtis  gt'nide,  und  gnathos  Kinnbacken. 

-  Heim  Apollo  von  IU'lvtil<*n*  soll  der  CAHPEBäclie  Gesichtswinkel  95**  betragen. 


Spenelle  Knochenlehre.  89 

selbe  noch  höher,  wahrscheinlich  um  das  Übermenschliche  damit  an- 
zudeuten.  Man  begreift  das  Bestreben,  dem  Hinischädel  das  Über- 
gewicht über  die  der  Sinnlichkeit  fröhnenden  Werkzeuge  des  Kauens 
und  Riechens  zu  geben,  denn  er  umschließt  das  Organ  des  Geistes, 
und  der  Geist,  als  Summe  der  Intelligenz  gedacht,  ist  gleichbedeutend 
mit  Macht.  Bei  solcher  Betrachtung  des  Gesichts-  und  des  Hiimschädels 
läßt  sich  der  Gegensatz  zwischen  menschlicher  und  tierischer  Gestal- 
tung des  Hauptes  wohl  am  besten  verstehen. 

Aber  selbst  innerhalb  des  Menschengeschlechtes  hilft  eine  solche 
Unterscheidung,  die  edlere  Form  des  Antlitzes  von  der  weniger  edlen 
zu  trennen.  Denn  auch  hier  kommt  in  erster  Linie  das  Gleichgewicht 
der  beiden  Teile  in  Betracht,  und  selbst  der  unbefangene  Beobachter 
fühlt  sehr  bald  die  Störung,  welche  in  einem  Mißverhältnis  dieser 
Teile  liegt.  Vorspringen  der  Kiefer  prägt  den  Stempel  tierischer  Ver- 
wandtschaft hart  ins  Gesicht. 

Am  Schlüsse  dieser  allgemeinen  Betrachtung  angelangt,  sollen 
die  gewonnenen  Kenntnisse  im  Zusammenhang  verglichen  werden.  Zu 
diesem  Zwecke  sind  zwei  Schädel  vei^schiedener  europäischer  Menscjhen- 
rassen  nebeneinander  gestellt,  welche  schon  seit  der  ältesten  Besiedelung 
unseres  Kontinentes  nebeneinander  wohnen.  Man  findet  solche  For- 
men in  den  Gräbern  längst  verrauschter  Jahrhunderte  und  unter  den 
Lebenden  von  heute.  Sie  sind  in  ihren  Haupt-  oder  Rassenmerkmalen 
immer  dieselben  geblieben  und  bilden,  vom  Standpunkt  der  plastisch- 
anatomischen Knochenlehre  aus,  streng  genommen  Gegensätze,  wenn 
auch  im  Leben  beide  Formen  mit  hellen  Augen,  hellen  Haaren  und 
heller  Haut  und  ebenso  mit  dunkeln  Augen,  dunkeln  Haaren  und 
dunkler  Haut  vorkommen.  Li  allen  Epochen  der  Kunst  sind  beide 
Formen  dargestellt  worden,  hinauf  bis  zu  den  Griechen  und  Römern, 
freilich  wurde  zumeist  diejenige  Form  gewählt,  welche  als  euro- 
päisches Langgesicht  bezeichnet  werden  kann. 

Die  Fig.  21  stellt  die  Vorderansicht  eines  solchen  Kuropäer- 
schädels  dar  in  halber  Größe.  Die  Stellung  ist  die  Horizontalebene, 
welche  in  diesem  Falle  den  unteren  Rand  der  Augenhöhle  und  den 
oberen  Riind  der  Ohröffnung  streift.  So  kommt  es  bei  dieser  Orien- 
tierung, daß  der  Schädel  seinen  „Blick"  ebenso  in  die  Ferne  richtet 
wie  ein  Lebender,  der  in  ruliiger  Haltung  den  Kopf  nach  der  Ebene 
des  Horizontes  wendet.  Die  Zeichnung  giebt  alle  Einzelheiten  wieder, 
sie  ist  also  „Porträt"  und  ist  mit  dem  Oi'thograi)hen  hergestellt. 

Der  Schädel  stammt  von  einem  Mann  mit  hoher  Nase,  runden 
Augenhöhleneingängen,  welche  wegen  des  schmalen  Nasenrückens  dicht 
nebeneinander  liegen,  enganliegenden  Wangenbeinen  und  Jochbogen, 
die  Stirn  hoch,  ebenso  das  Obergesicht.    Alle  diese  Teile  sind  tadellos 


80  Tii 

gt'fonut.  SchlJU'enlinie,  Stimglatzc,  Augeiilimueiibogen  sind  scharf 
und  flucli  maßvoll.  Dagegen  ist  das  Unturgesicht,  d.  h.  der  uiiterhalli 
des  NaseDeinganges  hegende  Abschnitt  des  Oberkiefers  und  der  Unl^-r- 
kiefer,  etwas  in  stark  denn  dje  Zahuliutfeii  Bind  zu  weit  gebauclit, 
wodurcli  das  LbinniiB  dei  oberen  Tcili.  abgesiLwatht  wird.  Dennoch 
ist  die  Verwindtfithilt  ditsei  (nsRbtHforni  mit  jenor  durch  dais  in 
Fig.  24  vertretene  Poitiat  unierkennbar 


Fig.  3t.     Euni|iäischt.<s  IvanggGBielit  ii 
(Geometrisches  Uild.) 


In  einem  auffallenden  Gegensatz  hierzu  steht  eine  andere  europäisd! 
Sc-hildelfurra,  deren  Gesamteutwickelung  iiiclit  in  die  Höhe,  sondern  ] 
die  Breite  gerichtet  ist.  Dasselbe  ist  mit  dun  Haupteigensctmften  i 
Gesichtes  der  Fall.  Die  Stini  ist  breit,  die  Augeiilifthlon  sind  von  ob* 
nach  unten  zusamnieagediilckt  und  daher  länglich  viereckig. 
NasenrÜekeu  ist  kurz,  breit  und  eingebogen,  woraus  am  Lebenden  i 
Plattr  oder  Stumpliiaae   hervorgeht,   welche   mannigfache  Abstufoi 


apAricIle  Knoeb«nlehre. 


fll 


aufweisen  kann.  Ober-  und  Unterkiefer  sind  kurz,  anrli  die  Ziltuie 
folgen  diesej-  Regel;  die  Wangenbeine  sind  aliHtolieud  und  die  Jncli- 
Imgen  ausgelegt,  so  daß  sie  bei  der  Betratlitung  des  Schädek  von  oben 
über  den  Kontur  des  Umfanges  vorspringen.  Auch  diese  Schadelforni 
kommt  überall  iu  Kuropa  vor,  und  jede  anatomisclio  Sammlung 
vennag  Exemplwe  aufzuweisen.  Man  bugegnut  lebenden  Verti-etem 
überall,    bei   beiden   GeBchlecbtern ,  vom  Norden  bis   zum   Süden,   mit 


Euroiittischrs  Kiinigi'-si 

(GoomettiBche«  Bild,) 


Ireicheu  Yurianten:  das  Gericht  kann  uämlicli  offen  und  freundlich 
oder  fest  und  geschluasen ;  die  Nase  kann  klein  mit  breiter,  nur 
Srenig  erhobener  Nasenspitze  und  dabei  plump  oder  keck  aufgestülpt 
hod  xierlicli  (Sttiinpfuä.sc-lien)  sein. 

Sobald  alle  Kigeuscliaften  gleii'limäUig  entwickelt  sind,  wie  in  Fig. 22, 
Irerleilien  die  Weichteile,  wie  Nase,  Mund,  Wangcu,  endlich  der  Mittcl- 
flidit,   die  AiiguEi   auch  diesem  Gesicht  gewinuende  Formen.     Ka  ist 
tem  kindlichen  Antlitz  am  nächsten  verwandt. 


Vl«rMT  AbBchniU. 


IJ.    Besr^lii-oibuns  f'oi"  oiiizelneii  Schädel knoehon. 


Das  Stirnbein  (Og  frantix). 

Hülie  tirid  Breite  der  Stirn  hlingeii  von  der  AnNdeljiiung  rlea  Stiru- 
beiiis  ab.  Seine  einzelnen  Wülste,  Hügel  und  Vertiefungen  lielfeii  jo 
natih  dem  Grude  der  Entwickolung  das  Stimlieiu  und  dumit  die  Stirn 
modellieren. 

Das  Stirnbein    gleicht    wie    alle  Deekknocheu   des   Sohädelti   einer 


flachen  Schale,  deren  ausgehöhlter  Teil  dem  Gohirii  zugewendet,  während 
die  Wölbung  nach  außen  gekehH  ist. 

An  dejn  Augcnhöhlenrnjid  wendet  sich  ein  Teil  des  Knochens 
riiich  innen,  um  das  Dach  der  Augenhöhle  zu  bilden  (Fig.  23  Nr.  lo). 
Der  Rand,  welcher  dadurch  entsteht,  ist  der  ubere  Äugeiibrihleii- 
raud  (lUarga  supraarftitalis ,  Fig.  23  Nr.  6),  Nach  außen  geht  jisder 
Rand  in  einen  atarken  Fortsatz  aus,  iu  den  Jochfortsatü  des  Stirn- 
beines (l'roeensun  zi/ffitmaticitf  onsis  frutiHii,  Fig.  23  Nr.  7),  der  sich  mit 
ilem  Wangenbein  verbindet. 

In  der  tfitte  zwischen  den  beiden  Augenhöhlenrändoni  senkt  sidi  die 
ganze  Masse  des  Stimheinea  dick  gewulstet,  2 — 3  cm  breit  herab  nnd 
endigt  mit  vielen  Zacken:  dem  Nasonfortsatz  des  Stirnbeines  (IW- 
ctMii*  nasalis,  Fig.  23  Nr.  8  u.  D),  der  zui' Verbindung  mit  den  Nasenbeinen 


Spcxielle  Knochenlehre.  93 

und  dem  Oberkiefer  dient.  Durch  seine  Bildung  und  die  Art,  wie  sich 
die  Nasenknochen  mit  ihm  verbinden,  wird  der  Übergang  zwisclien  Stirn 
und  Nase  mehr  oder  weniger  scharf  eingebogen,  schmal  oder  breit. 

Nach  aufwärts  wird  der  Stirnknochen  abgeschlossen  durch  die 
Kranznaht  (Suhira  ayronalis).  Bei  Kahlköpfen  sieht  man  oft  sehr 
deutlich  eine  dieser  Vereinigung  entsprechende  Furche  quer  über  die 
vordere  Scheitelhälfte  ziehen. 

Die  vordere  Fläche  des  Stinibeins  zeigt  überdies  die  Stirn- 
höcker (Tubera  frarntalia^  Fig.  23  Nr.  i),  die  Stirnglatze  (Glahella^ 
Fig.  23  Nr.  5),  die  Augenbrauen  bogen  (Arcus  mipercüiares ,  Fig.  23 
Nr.  4),  den  Beginn  der  Schläfenlinie  (Linea  temporalüj  Fig.  23  Nr.  5). 

Die  Stirnhöcker  oder  Stirn hügel  sind  stark  gewölbte  Stellen, 
die  wie  flache  Beulen  zwischen  Haargrenze  und  Augenhöhlenrand  sich 
befinden  und  ungefähr  den  Umfang  eines  Markstückes  eiTeichen.  Bei 
breiter  Stirn  sind  sie  weiter  auseinander  gerückt  als  bei  schmaler. 
Sie  entsprechen  den  Punkten  der  stärksten  Krümmung  jeder  Stirnbein- 
hälfte bei  dem  Neugeborenen.  Der  Grad  ihrer  Entwickelung  ist  sehr 
verschieden.  Bei  manchen  K(*)pfen  sind  sie  sehr  deutlich  und  auf  den 
ersten  Blick  durch  die  Haut  erkennbar,  bei  anderen  nur  bei  Betrachtung 
von  der  Seite  zu  entdecken.  Ist  das  erstere  der  Fall,  so  muß  selbst- 
verständlich das  dazwischen  befindliche  Gebiet  des  Stirnbeines  mehr 
abgeflacht  erscheinen.  Diese  Fläche  geht  nach  oben  breit  gegen  die 
Haargrenze  fort,  nach  unten  versdmiälert  sie  sich  und  läuft  zwischen 
den  Augenbrauenwülsten  aus  (Fig.  23  Nr.  5). 

Die  Augenbrauenbogen  (Arms  supi*rciUures)  sind  zwei  komma- 
förmige  Erhabenheiten  oder  Wülste,  welche  ül)er  den  Augenhölden- 
rändeni  liegen  (Fig.  23  Nr.  4),  aber  von  dem  Nasenfortsatz  (Nr.  8)  in 
die  Höhe  steigend  sich  allmählich  verlieren.  Sie  sind  bisweilen  von 
stärkeren  Gefäßlöchern  durchzogen  und  fließen  bei  manchen  Kr»pfen 
in  der  Mitte  ineinander,  bei  anderen  sind  sie  mehr  oder  weniger  ge- 
trennt Der  letztere  Fall  wurde  in  Fig.  23  dargestellt.  Sie  ent- 
sprechen in  ihrem  Verlauf  durchaus  nicht  der  Richtung  der  Augenbrauen, 
wie  ihr  Name  vermuten  läßt.  Die  letzteren  decken  sich  vielmehr  mit 
dem  Augenhöhlenrand,  wie  man  sich  leicht  an  seinem  eigenen  Kopfe 
durch  Zufühlen  überzeugen  kann. 

Die  kleine  Fläche  zwischen  den  Augenbrauenbogen,  dicht  über 
der  Nasenwurzel,  heißt  Stirnglatze  ((ilahella).  Dieser  Name  stammt 
von  glabeTj  unbehaart,  und  l)edeutct  die  haarlose»  Stelh»  zwischen  den 
Augenbrauen.  Sie  kommt  nur  dann  vor,  wenn  di(»  Brauen  nicht  mit- 
einander verwachsen  sind.  Von  diesem  Verhalten  wurde  dann  die  Be- 
Zeichnung  auch  auf  den  Raum  «zwischen  den  Aug<»nbrauenbogen  an  dem 
knöchenien  Stirnbein  übertragen. 


94  Vierter  Abidinitt. 

Die  Schläfenlinie  (Linea  temporcdisj  Fig.  23  Nr.  3),  in  der  Ab- 
bildung der  Deutlichkeit  wegen  stark  markiert ,  verweist  durch  ihren 
Verlauf  beiderseits  einen  Teil  des  Stirnbeines  in  die  Schläfenflächc. 
Für  den  Künstler  kommt  vorzugsweise  die  vordere  Hälfte  dieser  einen 
charakteristischen  Linie  in  Betracht.  In  der  neuesten  Zeit  ist  man 
zwar  gewahr  geworden,  daß  bisweilen  zwei  verschiedene  Linien  aus  der 
einen  sich  in  dem  weiteren  Verlaufe  entwickeln  können,  allein  dieser 
Umstand  ist  hier  nicht  von  Bedeutung,  wohl  aber  der,  daß  je  nach 
der  Stärke  des  Schläfenmuskels  die  Hauptlinie  nicht  allein  stärker  ent- 
wickelt ist,  sondern  auch  höher  hinaufsteigt  gegen  den  ScheiteL 

An  der  vorderen  Fläche  des  Stirnbeins  muß  man  zwei  Abschnitte 
scharf  voneinander  trennen:  den  Gesichtsteil,  der  senkrecht  steht  oder 
nur  wenig  nach  rückwärts  geneigt,  und  der  beim  Lebenden  dem  haar- 
freien Teil  entspricht,  und  den  Scheitelteil,  der,  von  den  Haaren  be- 
deckt, zum  Scheitel  gehört.  Die  Grenze  zwischen  beiden  ist  bei  wohl- 
charakterisiertem Knochenbau  leicht  zu  finden,  der  Scheitelteil  biegt 
aus  dem  Kontur  der  Kreisfläche  in  deutlich  erkennbarem  Winkel  in 
die  mehr  senkrechte  Stirnfläche  über  (Fig.  18).  Vom  Profil  aus  wird 
man  dies  um  so  leichter  bemerken,  wenn  man  den  Schädel  so  stellt,  wie 
er  beim  gerade  aussehenden  Menschen  auf  der  Wirbelsäule  sitzt,  wobei 
der  obere  Rand  des  Jochbogens  horizontal  läuft  (Fig.  19). 

Die  obige  Angabe  bezüglich  der  Haargrenze  trifft  durchaus  nicht  immer  zu. 
Oft  bleiben  die  Haare  von  ihr  entfernt,  in  anderen  Fällen  überschreiten  sie  dieselbe, 
und  rufen  so  den  Anschein  einer  niederen  Stini  hervor. 

Die  Mittellinie;  des  vertikalen  Stirnteiles  ist  oft  durch  eine  Furche  auf  der  Glabella 
und  wtiittT  hinauf  durch  eine  Kante  bezeichnet,  welche  zwischen  den  Stimliöckem 
am  stärksten  ist.  Die  Furche  unten  und  die  Kante  ol>en  sind  die  Überbleibsel  der 
Sutura  frontalis  (S.  82),  welche  sicli  beim  ErwatOisencn  zuweilen  vollständig  erhält 
Jeder  Knochen  der  Hinischale  l)esteht  aus  zwei  kompakten,  durch  Einschub  schwam- 
miger Knochenmasse  getrennten  Platten,  deren  äußere,  dickere  die  gewöhnliehen 
Merkmale  glatter  Knochen  an  sich  trägt.  An  gewissen  Gregenden  des  Scliädels 
stehen  die  beiden  Platten  oft  weit  voneinander  ab.  Nicht  immer  ist  der  Zwischen- 
raum von  schwammig<?r  Knochenmasse  ausgefüllt,  an  mehreren  Stellen  entwickeln 
sich  Räume,  die  mit  Luft  gefüllt  sind.  Die  luftlialtigen  Stinihöhlen  bilden  sich 
erst  nach  der  Greburt;  es  mangelt  deshalb  der  Kinderstim  die  Erhöhung  über 
der  Nase. 

Alle  die  obenerwähnten  Einzelheiten  können  auf  ein  äußerst  ge- 
ringes Maß  zurückgeführt  sein  oder  so  stark  hervortreten,  wie  in  der 
gegebenen  Abbildung  Fig.  23,  die  übrigens  die  Entwickelung  der  Stirn- 
höcker etwas  zu  sehr  hervorhebt.  Die  Individualität  bedingt  eben 
in  der  Modellierung  des  Stinibeines  unendlichen  Weclisel,  ebenso  wie 
in  der  ganzen  übrigen  Gestalt.  Dieses  Fehlen  der  einen  Merkmale 
und  das  Überwiegen  der  anderen  kann  bedingt  sein  durch  Geschlecht 
und  Alter,    durch  die   Stärke  der  Knochen  oder  die  Verschiedenheit 


spezielle  Knochenlehre.  95 

der  Unterarten  des  Menschengeschlechtes.  Eine  Besprechung  dieser 
Abänderungen  ist  überflüssig,  weil  die  Betrachtung  der  nächsten  Um- 
gebung zahlreiche  Beispiele  und  Abstufungen  jeglicher  Art  liefert.  Man 
prüfe  also  Form,  Höhe,  Breite,  die  Entwickelung  der  Knochenhöcker, 
der  Schläfenlinie,  den  Zwischenraum  zwischen  den  Augen,  den  Über- 
gang der  Stirn  zur  Nase,  und  den  Nasenwulst. 

Die  Scheitelbeine  (Ossa  parietalia,  Figg.  17  u.  19) 

bilden  vorzugsweise  das  Dach  des  Schädels.  Ihre  Vereinigung  oben  in  der 
Mittellinie  des  Schädels  geschieht  ebenso  wie  vorn  mit  dem  Stirnbein  und 
hinten  mit  dem  Hinterhauptsbein  durch  eine  Zackennaht.  Über  die  äußere 
Fläche  zieht  im  Bogen,  der  bei  verschiedenen  Menschen  verschieden  groß 
ist,  die  Schläfenlinie,  wodurch  ein  kleinerer  Teil  der  Scheitelbeine  von 
dem  oberen  größeren  scharf  abgegrenzt  wird;  dieser  beugt  sich  rasch 
gegen  die  Schläfengrube  herab  und  hilft  die  abgeflachte  Schläfen- 
gegend bilden  (Fig.  19).  Scheitelhöcker  (Tuber  parietale)  nennt  man 
die  Stelle  der  stärksten  Krümmung.  Auch  sie  stammen  aus  der  kind- 
lichen Periode.  Sind  diese  Höcker  besonders  bedeutend  entwickelt,  so 
daß  dadurch  der  Schädel  sehr  breit  wird,  so  entsteht  der  viereckige 
Schädel  (TSte  carree). 

Das  Hinterhauptsbein  (Os  occipitis,  Fig.  19  vonNr.2— 7) 

schließt  nach  hinten  das  Schädeldach,  bildet  aber  zugleich  noch  einen 
großen  Teil  des  Schädelginindes  (Fig.  20  Nr.  9— 13).  Bei  knochenstarken 
Männern  jeder  Rasse  zieht  quer  über  die  äußere  Fläche  eine  Leiste 
und  teilt  den  Knochen  in  eine  obere  Paiiie  mit  glatter  Fläche  und 
in  eine  untere,  die  mit  Wülsten  und  Furchen  besät  und  überdies  von 
einer  großen  ovalen  üff*nung  durchbohrt  ist,  dem  sogenannten  großen 
Loche  (Fig.  20  Nr.ii). 

Diese  querlaufende  Leiste,  die  Grenze  der  Hinterhaupts-  und 
Nackengegend,  beschreibt  eine  nach  aufwärts  gerichtete  Bogenlinie  und 
fuhrt  den  Namen  Nackenlinie  (Linea  nuchae),  Ungefiihr  2  cm  über 
und  unter  ihr  läuft  eine  ähnliche  Bogenlinie,  aber  kleiner,  über  den 
Knochen;  sie  rührt  unten  vom  Ansatz  der  Nackenmuskeln  her. 

Die  Nackenlinie  besitzt  in  der  Mitte  einen  oft  sehr  entwickelten 
stumpfen  und  etwas  nach  abwärts  gekrümmten  Höcker,  den  sogenannten 
Hinterhauptsstachel  (Protuberantiaoccipitalis externa).  An  ihm  sowie 
an  der  schwachen  Leiste  (Linea  vermiana,  Fig.  20  Nr.  9),  welche  sich 
von  ihm  bis  zum  Hinterhauptsloch  erstreckt,  setzt  sich  ein  Band  fest, 
das  sogenannte  Nackenband  (Ligamenhim  nuchae),  um  das  Balancieren 
des  Schädels  auf  der  Wirbelsäule  zu  erleichtem.     Bei  allen  geweih- 


96  Vierter  Abschnitt. 

tragenden  Tieren  wird  dieses  Band  besonders  stark,  weil  es  die 
Muskeln  beim  Festhalten  des  schweren  Kopfes  zu  unterstützen  hat. 
Im  gewöhnlichen  Leben  ist  dieses  Band,  das  beim  Hornvieh  schon  vor 
den  Brustwirbeln  beginnt  und  beim  Stier  handbreit  wird,  unter  dem 
Namen  Haarwachs  bekannt. 

Die  beiden  Gelenkhöcker  (Processus  condt/loidei),  links  und  rechts 
vom  großen  Hinterhauptsloche  (Fig.  20  Nr.  13),  wurden  samt  ihrer  Be- 
deutung schon  erwähnt. 

Der  Hinterschädel  föllt  bald  steil  ab,  bald  ist  er  nestartig  ausgezogen.  Beide 
Formen  kommen  in  Europa  vor  und  hängen  mit  Rasseneigenschaften  zusammen. 
Die  Phrenologie  ist  freilich  der  Meinung,  in  einem  großen  Hinterkopf  sitze  vorzug»- 
weisi^  das  Organ  der  Kinderliebe,  weil  der  Affen-  und  Weiberkopf  dort  am 
stärksten  vorspringen  soll.  Dieser  doppelte  Irrtum  >\'urde  nicht  geringer  dadurch, 
daß  dort  in  nächst«r  Nähe  noch  das  Organ  des  Geschlechtstriebes  einlogiert 
wurde.  Denn  auch  dieser  Satz  der  Phrenologie  ist  grundfalsch  wie  so  viele  andere 
ihrer  angeblichen  Wahrheiten. 

Das  Wespenbein  (Os  vespifortne)  trägt  diesen  Namen  wegen  seiner  eigen- 
tümlichen Gestalt;  es  sieht  nämlich,  aus  seiner  vielseitigen  Verbindung  am  Scbädel- 
grunde  vorsichtig  herausgeschält,  mit  seinen  breiten,  nach  beiden  Seiten  sym- 
metrisch vom  mittleren  Teil  auslaufenden  Fortsätzen  einer  fliegenden  Wespe  gleich. 
Der  mittlere  Teil,  der  Körper  des  Knochens,  ist  mit  dem  Grundbein  verbunden 
(Fig.  20  Nr.  12),  vom  hängt  er  teils  mit  dem  Stirnbein,  dann  aber  auch  mit  den 
meisten  Gesichtsknochen  zusammen;  seine  Fortsätze  helfen  die  Sehläfengmbe  (Fig.  18 
Nr.  12)  und  den  Hintergrund  der  Augenhöhle  bilden,  sie  tragen  zur  Bildung  der  liin- 
tertm  Nasenöffnungen  —  Choan(m  —  bei  (Fig.  20  zwischen  Nr.  5  u.  6)  oder  sind  fiir  die 
B<^festigung  von  Kau-  und  Schlingmuskeln  von  Wichtigkeit. 

Von  den  Verbindungen  des  Wespenbeins  wollen  wir  nur  noch  jene  mit  dem 
aus  dünnen  Knochenplättchen  gebildeten  Siebboin  (Os  ethmoideum)  nennen,  das 
hoch  oben  in  der  Nasenhöhle  der  Träger  jener  feinen  Schleimhaut  ist,  welche  von 
den  Geruchsnerven  durclizogon  ist.  Die  von  zahlreichen  Ofihuugen  durchbrochene 
dünne  Knochenplatte,  die  man  unmittelbar  über  dem  Ursprung  der  Nasenknocrhcu 
von  d(T  Schädelhöhle  aus  bemerkt,  ist  die  Grenze  jenes  verborgenen  Knoclieiis 
nach  oben.  Die  Löcher  dieser  Platte  —  Siebplatte  —  dienen  den  feinen  Fäden 
des  Geruchsuerven  dazu,  zu  der  Schleimhaut  in  den  labyrinthischen  Gängen  des 
Siebbeins  zu  gelangen. 

Das  Schläfenbein  (Os  temponim^  Fig.  19  Nr.  3) 

besteht  aus  zwei  Abteilungen,  nämlich  jener,  welche  die  Seitenfläche 
des  Schädels  verschließen  hilft  und  deshalb  sclmppen artig  dünn  geformt 
ist,  dem  Schuppenteil  des  Schläfenbeines  (Pars  squamosa,  Fig.  18 
Nr.  11),  und  einem  starken  nahezu  dreiseitigen  Knochenstück,  das  am 
Schä^lelgrund  zwischen  Hinterhaupts-  und  Wespenbein  liegt,  dem 
Felsenteil  (Pars  petrosa).  Der  Felsenteil  hat  eine  am  Schädel 
leicht  sichtbare,  schief  nach  hinten  gestellte  ovale  Öffnung,  die  Öffnung 
des  knöchenien  Gehörganges.  An  die  knöcherne  Umgebung  dieser 
Ohröffnung  heftet  sich   der  Ohrknorpel,   durch  dessen  s(ihaufeli(>rmige 


Spezielle  Knochenlehre.  97 

Gestali  die  Schallwellen  in  die  Tiefe  jenes  Kanales  geleitet  werden, 
der  sowohl  durch  seinen  merkwürdigen  Inhalt  (die  Gehörknöchelchen: 
Hammer,  Ambos  und  Steigbügel,  dann  die  Schnecke  und  das  Labyrinth), 
als  durch  seine  physiologische  Rolle  unsere  Bewunderung  erweckt. 

Die  plastische  Anatomie  hat  sich  jedoch  nur  mit  der  äußeren 
Fläche  des  Schläfenbeines  zu  beschäftigen,  das  fUr  die  Bildung  des 
Gesichtes  wie  fiir  jene  des  Schädels  von  der  größten  Wichtigkeit  ist. 

An  der  Grenze  zwischen  Schuppen-  und  Felsenteil  erhebt  sich 
mit  breitem,  durch  die  Gelenkgrube  für  den  Unterkiefer  (Fig.  19  Nr.  4) 
geteilten  Ursprung  ein  zwar  dünner,  aber  doch  sehr  fester  Fortsatz, 
der  Jochfortsatz  des  Schläfenbeines  (Processus  zygomaticus  ossis 
temporum)j  der  mit  dem  Wangenbein  den  Jochbogen,  diese  feste  un- 
verrückbare Grenze  zwischen  Gesicht  und  Schädel,  bildet.  Die  Be- 
deutung des  Jochbogens  für  die  Orientierung  an  dem  Lebenden  wurde 
schon  oben  Seite  50  und  78  besprochen. 

Hinter  der  OhröflFnung  ist  ein  stumpfer  zapfenartiger  Fortsatz,  der 
Warzen fortsatz  des  Schläfenbeines  (Processus  ma^toideus,  Fig.  26 
Kr.  8).  Seine  gewölbte  äußere  Fläche  ist  leicht  hinter  dem  Ohr  zu 
fühlen  und  bei  großer  Magerkeit  ebenso  wie  sein  stumpfes  Ende  auch 
zu  sehen.  Der  vom  Brust-  und  Schlüsselbein  aufsteigende  Kopfnicker 
setzt  sich  an  dem  Warzenfortsatz  an. 

Durch  die  tiefe  Rinne  an  dem  hintenai  Umfang  des  Warzeufortsatzes  geschützt 
steigt  eine  Schlagader  zum  Hinterkopf.  Von  dem  spitzen,  nahezu  3  cm  langen 
GrifTelfortsatz  (Processus  styloideus,  Fig.  20  Nr.  Tj  entspringen  dünne  Muskeln  für 
das  Zungenbein  und  die  Zunge. 

Die  Gesichtsknoehen. 

Das  Oberkieferbein  (Maxilla,  Fig.  26  Nr.  5) 

ist  der  Hauptknochen  des  ganzen  Gesichtes.  Auf  jeder  Seite  des  letzte- 
ren —  also  paarig  —  nimmt  es  durch  seine  Gestalt  an  der  Bildung  der 
Nasen-,  Augen-  und  MundhiUile  teil ;  sein  mittlerer  Teil,  der  sogenannte 
Körper,  umschließt  beim  Erwachsenen  eine  Höhle,  die  Oberkiefer- 
liöhle,  nach  ihrem  Entdecker  auch  Highmorshöhle  (Antrum  Hujhmori) 
genannt;  sie  hängt  mit  der  Nasenhöhle  zusammen.  Der  Knochen  ist 
an  seiner  Vordertläche  von  dem  Augenhöhlenrand  abwärts  durch  eine 
Grube  vertieft,  die  Wangengrube  (Fossa  vialaris).  Sie  ist  bald  tief, 
bald  seicht,  und  dadurch  ist  die  Modellierung  sowohl  des  knöchernen  als 
des  lebendigen  Antlitzes  äußerst  verschieden.  Bei  den  Langgesichtern, 
die  unter  allen  Bässen  des  Menschengeschlechtes  so  zahlreich  vor- 
kommen, ist  diese  Grube  stets  vorhanden  und  läßt  sich  bei  mageren 
Menschen  leicht  sehen.    Dagegen  ist  sie  bei  der  Basse,  die  ein  breites 

KoLLXAXN,  Plastische  Anatomie.  7 


Gesiclit  besitzt,  äußerst  Hacli,  ja  oft  gar  niclil  erkennbar.  Die  1 
Wirkung  auf  das  Gesiebt  des  Lebenden  ist  sehr  auffollend,  wie  folget 
Beispiele  zeigen  werden. 

In  Fig.  24,  der  Reproduktion  eines  von  vas  Dyck  gezeichna( 
Porträtes,  ist  durch  Licht-  und  Schattenwirkung  die  ganze  Form  ( 
Wangenbeines  auf  das  vollkommenste  erkennbar.  Sowohl  der  unt« 
Rand  ist  mnrkitrt  nU  der  vordere,  der  die  Verbindung  mit  dem  Ob( 


A  IS  deii    Mm  cli  n  r  K  ipferst   hkkbiDet 

kiefer  herstellt.  Gerade  dort  deutet  der  tiefe  ''chatten  ui  lie  . 
Wesenheit  der  Wangengmbe  die  sieb  gegen  den  Rand  dei  Augeo- 
liöhle  hin  erstreckt.  Ganz  anders  zeigt  sich  dieb  bei  dem  von  Sciiai>ow 
gezeichneten  Kopf  ein«  s  Chuiesen  mit  seinen  schiefgeschlitzten  Auges 
und  dem  breiten  Gesicht  Das  Wangenbein  i«t  anch  sichtbar  i 
zwar  sowohl  sein  uiiterei  ils  sein  Augenhuhlenrand  allein  die  . 
deutimg  einer  Wangengrube  fehlt  hier,  wie  an  allen  Schädeln  ' 
Mongolen,  welche  derselben  Varietät  angehören  wie  Fig.  25. 


Spezielle  Knochenlehre. 


99 


Die  vordere  Fläche  des  Oberkiefers  geht  allmählich  in  die  konvexe 
Seitenwand  über,  welche  nach  hinten  stumpf  endigt.  Der  größte  Teil 
seiner  konkaven  Innenwand  trägt  zur  Bildung  der  Nasenhöhle  bei. 
Von  all  diesen  Seiten  seines  sog.  Körpers  gehen  Fortsätze  aus;  so 
einer  nach  oben  als: 

Stirnfortsatz  (Processus  frontalis)  zum  Stirnbein.  Er  bildet  die 
Seitenwand  der  Nase  und  erstreckt  sich  soweit  nach  außen,  daß  durch 
ihn  ein  Teil  des  inneren  Augenhöhlenrandes  gebildet  wird.  Der  zweite 
Fortsatz, 

der  Jochfortsatz  (Processus  zygomaticus  maxillae),  erhebt  sich 
von  der  Seitenwand  und  wendet  sich  nach  auswärts,  um  das  Wangen- 


1   Schläfenlinie,  Kontur  derselben. 

.  a  Kontur  der  Augenhöhle. 
^  Jochbogen,  Kontur  desselben. 

5  Wangenbein,  Kontur  desselben. 

k  Unterkieferwinkel. 
5    Kinnhocker,  linker. 


Fig.  25.    Porträt  eines  Mongolen,  von  Schadow  gezeichnet 


bein   (Fig.  26  Nr. 4)   zu   erreichen,   mit  dem   er   durch   eine  Zacken- 
naht zusammenhängt. 

Ein  dritter  Fortsatz,  der  Zahnfortsatz  (Processus  dentalis,  Fig.  26 
Nr.  6),  ist  gerade  nach  abwärts  gerichtet  und  trägt  an  seinem  unteren 
freien  Rande  bei  normal  gebauten  Kiefern  acht  Zellen,  in  welchen 
die  Wurzeln  der  Zähne  stecken.  Sind  die  Wurzeln  sehr  stark,  so 
bauchen  sie  die  vordere  Wand  etwas  aus,  wodurch  eine  fortlaufende 
Reihe  senkrecht  stehender  Wülste  ^  entsteht. 

Der  Gaumen fortsatz  (Processus  palatinus,  Fig.  20  Nr.  i),  der 
vierte  Fortsatz,   ist  eine  horizontale  Platte,  welche,  von  der  inneren 


*  Über  die  Entwickelung  des  Zahnfortsatzes  —  über  sein  Fehlen  beim  Kinde 
und  sein  Verschwinden  im  Alter,  siehe  das  Kapitel:    Kind  und  Greis. 

7*      • 


100  Vierter  Abechnitt. 

Fläche  des  Oberkieferbeines  ausgehend,  das  Dach  der  Mundhöhle 
bildet.  So  entsteht  der  harte  Gaumen,  der  nach  rückwärts  noch 
durch  zwei  ebenfalls  paarige  dünne  Knochen,  die  Gaumenbeine, 
vergrößert  wird. 

Nach  vorn  drängt  sich  am  unteren  Ende  des  Naseneinganges  die 
Knochenmasse  in  einer  scharfen  Zacke  stachelförmig  hervor  und  giebt 
als  Nasenstachel  (Spinanasalis)  sowohl  am  Schädel  wie  am  lebendigen 
Kopf  einen  festen  Punkt  für  Messungen  ab.  Der  Nasenstachel  dient 
der  knorpligen  Scheidewand  mit  zur  Befestigung.  Er  ist  beim  Zu- 
fuhlen  leicht  zu  bemerken. 

Ein  Blick  auf  die  Fig.  26  zeigt,  daß  der  Naseneingang  am  Schädel 
birnformig  ist,  weil  die  vorderen  Ränder  der  Stimfortsätze  des  Ober- 
kiefers stark  ausgeschweift  sind.     Die  glatten  leichtgewölbten 

Nasenbeine  (Ossa  nasalia), 

welche  den  knöchernen  Nasenrücken  bilden,  schließen  den  Nasenein- 
gang nach  dem  Stirnbein  zu  ab.  Jedes  Nasenbein  ist  eine  vierseitige 
Platte,  deren  äußere  Fläche  von  oben  nach  unten  erst  konkav, 
dann  konvex  wird.  Der  untere  Rand  ist  dünn  und  schief  nach 
außen  verlängert,  der  obere  ist  breit  und  gezackt  filr  den  Ansatz  am 
Stirnbein,  der  unter  einem  stumpfen  Winkel  geschehen,  aber  ebenso 
wie  die  ganze  Form  sehr  großen  individuellen  Schwankungen  unterliegen 
kann.  Von  der  Größe  der  Nasenbeine,  von  dem  Grad  der  Krümmung, 
von  der  Richtung  der  Flächen  und  von  den  Stirnfortsätzen  des  Ober- 
kiefers hängt  die  Gestalt  der  Nase  ab.  Bei  vorstehenden,  hohen 
Nasen  werden  demgemäß  diese  Knochen  bedeutend  entwickelt  sein, 
während  sie  bei  Stumpfnasen  verkümmert  sind.  Ja  bei  Völkern  mit 
starken  Plattnasen,  Negern  oder  Australiern,  sind  die  Nasenbeine  oft 
zu  winzigen  Knochenstückchen  zusammengeschrumpft. 

Die  Öffnung  an  dem  oberen  Umfang  der  Kiefergrubc  (Fig.  26  oberhalb  Nr.  5) 
ist  die  Mündung  eines  Kanales,  der  am  Boden  der  Augenhöhle  wieder  zu  sehen  ist. 
Ein  Nerv  aus  dem  Gehirn  passiert  diese  Bahn,  um  empfindende  Fasern  zur  Haut 
der  Oberlippe  zu  bringen.  —  Der  Augenhöldenrand  des  Stimfortsatzes  besitzt  eine 
Hohlkehle,  die  Thränen furche.  Mit  Hilfe  des  Thränenbeinehens  entsteht  näm- 
lich ein  Kanal,  der  Thränennasenkanal.  Durch  feine  Röhren,  deren  Anfang  am 
Lidrande  des  inneren  Augenwinkels  leicht  zu  sehen  ist,  wird  die  das  Auge  be- 
feuchtende Fltissigkeit  nach  der  Nasenhöhle  abgeleitet. 

Das  Wangenbein  (Os  malare,  Fig.  26   Nr. 4) 

erscheint  von  vom  gesehen  als  eine  vierseitige  Platte.  Die  äußere 
Fläche  (lieser  Platte  vervollständigt  das  Gesicht,  die  innere  erstreckt  sich 
in  die  Augenhöhle  hinein.  Der  Übergang  von  der  Wangenfläche  zu 
der  Augenhöhlenfläche  bildet   den   größten  Teil  des  äußeren  Augen- 


Spezielle  Knochenlehre.  JQl 

höhlenrandes.  Dadurch,  daß  das  Wangenbein  die  Verbindung  zwischen 
Oberkiefer,  Stirn-  und  Schläfenbein  darstellt,  schließt  es  die  mittlere 
Gesichtsregion  nach  der  Seite  ab,  und  indem  es  sich  mit  dem  Joch- 
fortsatz des  Schläfenbeines  verbindet,  bildet  es  jene  feste  Knochenbrücke, 
unter  der  wohlgeschützt  die  Schläfengrube  liegt. 

Der  nach  dem  Unterkiefer  gerichtete  Rand  des  Wangenbeines 
ist  rauh.  An  diesem  rauhen  Rande  entspringt  ein  Kaumuskel,  der 
Masseter.  Verfolgt  man  diesen  Rand,  wie  er  allmählich  gegen  die 
Schläfengegend  in  die  Höhe  steigt,  so  gelangt  man  zum  Jochfortsatz 
und  bemerkt  die  freilich  schmale,  aber  zackige  Verbindungsnaht  (Fig.  26 
bei  Nr.  13)  zwischen  den  Knochenfortsätzen  des  Wangen-  und  Schläfen- 
beines. 

Das  Wangenbein  ist  in  verschiedenem  Grade  gewölbt.  Ragt  ein 
großer  Teil  nach  vom,  so  wird  das  Gesicht  dadurch  breit  —  im  um- 
gekehrten Falle  schmal. 

Die  höchste  Wölbung,  die  man  an  der  eigenen  Wange  deutlich 
sehen  und  fühlen  kann,  heißt  Wangenhöcker. 

Die  ganze  Knochenplatte  besitzt  zahlreiche  Varianten  bei  den  ver- 
schiedenen Varietäten  des  Menschengeschlechtes.  Doch  ist  wohl  zu 
beachten,  daß  sowohl  die  Form  des  Oberkiefers  als  die  Krümmung 
des  Jochbogens  gleichzeitig  abgeändert  werden,  sobald  das  Wangenbein 
variiert.  Als  die  edelste  Fonn  gilt  allgemein  ein  schmales  Gesicht,  bei 
dem  die  Wangenbeine  und  der  Jochbogen  eng  an  den  Schädel  gedrückt 
sind.  In  einem  vorzüglichen  Grade  besitzt  diese  Eigenschaft  der  in 
Fig.  30  genau  von  vorn  abgebildete  Schädel  mit  schmalem  Gesicht, 
der  einer  Varietät  angehört,  die  über  ganz  Europa  zerstreut  ist,  und 
die  unverkennbar  durch  das  längliche  Gesichtsoval,  die  hohe  schmale 
Nase,  die  dünnen  Lippen  und  die  schmale  hohe  Stirn  gezeichnet  ist. 
Sobald  sich  das  Auge  etwas  daran  gewöhnt  hat,  in  dem  Knochengerüste 
die  Form  des  Gesichtes  wiederzuerkennen,  tritt  selbst  an  den  fremd- 
artigen umrissen  jede  der  oben  erwähnten  Einzelnheiten  deutlich  her- 
vor. Alles  hilft  mit,  um  den  Gesichtsschädel  hoch  zu  machen:  die 
weit  geöffneten  Augenhöhlen,  der  enge  Naseneingang,  nach  oben  be- 
deckt von  den  Nasenbeinen,  die  wie  ein  hoher  Giebel  sich  in  einer 
Kante  treffen,  femer  die  Schmalheit  des  Ober-  und  Unterkiefers,  die 
eng  angedrückten  Jochbogen  und  die  schmale  Stirn. 

Die  Gegensätze  in  der  Gestaltung  des  Wangenbeines,  des  Oberkiefers 
und  des  Jochbogens  sind  deutlich  ausgeprägt  in  den  Figuren  21  und  22; 
bei  Figur  21  treten  die  eng  angedrückten  Jochbogen  und  Wangenbeine 
wenig  hervor,   bei  Figur  22  sind  die  nämlichen  Teile  stark  gebaucht. 

Das  Pflugscharbein  oder  kurz  die  Pflugschar  (Vomer)  ist  ein  Knochen, 
der  mit  der  senkrechten  Platte  des  Siebbeins  die  knöcherne  Scheidewand  der  Nase 


TiMter  Ähiehidit. 


Iiildtl  und  bei  iIit  Bctraulitiing  dea  ScIiSdele  von  vom  in  dor  NaiKtnöfiniin^  tiini 
Vorscfmiii  kommt.  Er  ist  ein  TrägRr  der  NaBeuBeliJeiuiliaiit.  wie  j^iui!  oiii(Ki>illt(-i, 
Knouheuplaltolien.  die  mwi  NascnmuBclieln  (Conehae)  nennt. 

Unterkiefer  (ManMula,  Fig.  27). 
AlJe  die  bisher  bespru dienen  Knochen  des  Schädels  sind  fest  mit- 
einunder  verbunden,  der  Unterkiefer  allein  ist  beweglich  und  zwar 
durch  ein  echtes  Gelenk  an  der  unteren  Flüche  des  Felsenbeines. 
Schon  durch  seine  Beweglichkeit  wird  er  zü  einem  der  bedenluags- 
voUsteu  Kuochen  des  Gesichtes.  Bei  dem  Sprechen,  Kauen 
der  Mimik  spielt   er  eine  Hauptrolle.     Er  ist   halbelliptisch  gebog 


Fig.  2«.     Sthftdei  eiues  Euriniiiers  v 
1.  älirubt^n.     2.  StirngUtie. 


der  untere  wulstige  Rand  stellt  eine  feste,  überall  durch  die  Haut  hin- 
durch fillUbare  Grenze  des  Gesichtes  dar. 

Der  obere  Rand  trägt  IC  Zähne.  Hinter  dem  letzten  Mahlzahn 
steigt  auf  jeder  Seite  ein  Fortsatz  in  die  Höhe:  die  Aste  des  Unterkiefers 
(Fig.  27  Nr,  2).  Der  mittlere  bogenförmige  Teil  des  Unterkiefers  heißt  im 
Gegensatz  zu  den  Asten  der  Körper  (Pig.  27  Nr.  i).  Man  kann  sagen,  der 
Körper  endige  am  Uuterkieferwinkel  (Fig.  27  Nr.  ii);  dort  geht  der  untere 
Rand  in  den  hinteren  Hand  über.  Jeder  Ast  zerfällt  oben  durch  einen 
halbmoud  form  igen  Ausschnitt,  die  Incisur,  in  zwei  Fortsätze;  der  hintere 
stumpfe  trägt  einen  überknorpelten  Geleukhöcker  —  es  ist  der  Gelenk, 
fortaatz  des  Unterkiefers  (Procefstm  condyloideiis ,  Fig.  27  Nt.  4) 
der  vordere  läuft  dreieckig  in  eine  stumpfe  Spitze  aus.  stellt  eine 


Spezielle  Knochenlehre.  103 

Insertion  des  Schläfenmuskels  dienenden  Knochenhacken  dar  und  wird 
deshalb  Schläfenfortsatz  (Processus  temporalis,  Fig.  27  Nr.  6)  genannt ; 
er  ist  bei  dem  Neugeborenen  kaum  bemerkbar.  Die  Sehne  des  Schläfen- 
muskels umfaßt  den  Schläfenfortsatz,  um  den  Unterkiefer  mittels  dieser 
Hebelstange  gegen  die  oberen  Zahnreihen  hinaufzuziehen. 

Die  Mitte  des  Unterkiefers,  das  Kinn  (Menttan),  fällt  bald  senk- 
recht, bald  schief  nach  vom  herab  (Fig.  27  Nr.  9).  Entwickelt  sich  letz- 
tere Eigenschaft  besonders  stark,  so  entsteht  das  stark  vorspringende 
Kinn,  das  den  Hang  zum  Geiz  und  die  Schlauheit  ausdrücken  soll, 
besonders  dann,  wenn  der  Bogen  des  Unterkiefers  gleichzeitig  sehr  eng 
ist  und  dadurch  hervortritt.  Mephisto  erscheint  nach  alter  Eegel  mit 
spitzem  Kinn  dargestellt.  Den  Gegensatz  bildet  das  zurückweichende 
Kinn,  bei  dem  die  Richtung  nach  hinten  (gegen  die  Nr.  lo  der  Fig.  27) 
abfällt.  Bei  solcher  Form  des  Unterkiefers  und  des  Kinns  im  besonderen 
weicht  die  ganze  Profillinie  zurück,  statt  senkrecht  von  der  Oberlippe 
herabzusteigen;  häufig  kommt  dabei  gleichzeitig  eine  Verkürzung  des 
ganzen  Unterkiefers  vor.  Die  unteren  Schneidezähne  stehen  bei  normal 
geschlossenem  Mund  hinter  den  oberen,  andererseits  kommt  bei  dem 
voi'stehenden  Kinn  oft  das  umgekehrte  vor,  nämlich  das  Übergreifen 
der  unteren  Schneidezähne.  —  Bei  der  breiten  Gesichtsform  Europas  und 
Asiens  ist  auch  das  Kinn  breit.  Statt  eines  rundlichen  Höckers  in 
der  Mitte  (Tuberculum  mentale)  treten  dann  (oft  2 — 2Y2  cm  voneinander 
getrennt)  zwei  kleine  auf.  Durch  das  zwischen  den  beiden  Kinnhöckeni 
und  den  Wurzeln  der  Schneidezähne  entstehende  vierseitige  Feld 
erscheint  das  Kinn  breit.  Vom  Kande  dieses  Feldes  angefangen 
laufen  die  Seitenteile  sanft  ansteigend  nach  rückwärts,  werden  etwas 
niedriger,  doch  dafür  um  so  dicker.  In  der  Gegend  des  ersten  Mahl- 
zahnes (Fig.  27  Nr.  3)  erhebt  sich  eine  schief  aufsteigende  Leiste  (Linea 
obliqna),  welche  zum  vorderen  Rand  des  Unterkieferastes  wird  und 
auf  der  Spitze  des  Schläfenfortsatzes  endigt. 

Unter  dem  zweiten  Bac^kzahn  findet  sich  regelmäßig  ein  ovales  Ijoch,  Kinn- 
loch  (Foramen  mentale^  Fig.  27  in  der  Richtung  zwischen  Nr.  1  u.  9).  Es  ist  der 
Ausgang  des  Unterkieferkanales ,  der  an  der  inneren  Fläche  der  Aste  beginnt. 
In  ihm  verlaufen  Nerven,  welche  teils  zu  d(>n  Zahnwurzeln  gehen,  teils  durch  diese 
Offnimg  an  die  Unterlippe  heraustreten. 

Die  Zahnwurzeln,  welche  in  den  Zahnzellen  stecken,  treiben  wie 
am  Oberkiefer,  so  auch  am  Unterkiefer  die  vordere  Knochenwand 
etwas  wulstig  hervor.  Dort,  wo  sich  die  schiefe  Leiste  (Fig.  27  Nr.  3) 
entwickelt,  wird  eine  Rinne  bemerkbar,  weil  der  ganze  zahn  tragende 
Rand  nach  innen  rückt  und  von  dort  aus  gesehen  balkonartig  vorspringt. 

An  dem  Unterkiefer  ist  auf  den  Winkel  zu  achten,  den  die  Äste 
bei    dem   Erwachsenen    mit   dem   Körper   bilden;    dieser   Winkel   ist 


104  Vierter  Abschnitt. 

nur  etwas  größer  als  ein  rechter  und  daher  scharf  und  bestimmt 
Die  Umgebung  des  Winkels  ist  mit  starken  Leisten  und  Eindrücken 
versehen;  außen  sind  es  die  Bündel  von  einem  Kaumuskel  (Meufeter), 
innen  jene  von  dem  inneren  Flügelmuskel,  welche  sich  an  demselben 
festsetzen.  Der  sichelförmig  gebogene  Schläfenfortsatz  (Fig.  27  Nr.  6)  ist 
meist  von  gleicher  Höhe  wie  der  Gelenkfortsatz  (Fig.  27  Nr.  4). 

Der  Gelenk  Fortsatz  trägt  einen  elliptischen,  flach  gewölbteD  Gelenk- 
kopf, dessen  längster  Durchmesser  quer  gestellt  ist.  An  der  inneren 
Seite  ist  das  Köpfchen  etwas  ausgehöhlt,  zuweilen  auch  rauh.  Der 
äußere  Flügelmuskel,  der  wie  der  vorige  vom  Wespenbein  kommt, 
heftet  sich  in  diesem  Grübchen  fest. 

4  Gelenkhücker. 

5  Incbur. 

6  ScUärenfortMta. 


Kinn  g    B-J 
Unterer  Kand  10  "    '--   .<t  "  11   Kieferwinkel. 

Fig.  27.    Unterkiefer  von  cJer  Seite  und  etwas 

Alle  diese  EigenBchoften  gellen  nur  von  dem  Unt«rkiefci  der  Erwachsenen. 
In  der  trüben  Jugend  und  in  dem  hohen  Alter  sind  viele  Merkmale  wesentlich 
anders,  wovon  in  den  betreffenden  Abacluiitten  die  Rede  sein  wird. 

Das  rnterklefergelenk  and  die  Bewegangen  In  demselben. 

Der  Gelenkkopf  (Fig.  27  Nr.  4)  ruht  in  einer  entsprechend  aus- 
gehöhlten Pfanne,  die  an  dem  Schädelgrund  und  zwar  an  dem  Felsen- 
teil des  Schläfenbeines  angebracht  ist.  Bezüglich  der  übrigen  Eonstrulftion 
gelten  die  allgemeinen  Begeln,  welche  in  dem  Abschnitt  über  die  Ge- 
lenke mitgeteilt  worden  sind  (Seite  33  u.  ff.). 

Als  eigentümlich  ist  hervorzuheben,  daß  die  Kapsel  sehr  weit  ist 
und  einen  vor  der  Gelenkpfanne  liegenden  Höcker  (Tuherculum  articu- 
lare)  mit  in  den  Gelenkraum  einschließt.  Bei  dem  Olfnen  des  Mundes 
wird  der  Gelenkkopf  vorgeschoben,  wobei  er  natürlich  seine  „Pfanne" 
verläßt.  Dieses  Vor-  und  ZurUcknitschen  kann  man  deutlich  sehen 
und  mit  aufgelegtem  Finger  fühlen. 

Je  weiter  der  Mund  geöffnet  wird,  desto  größer  ist  die  Vorwärts- 
bewegung des  Gelenkkopfes.  Bei  dem  Schließen  kehrt  er  wieder  an 
seinen  früheren  Platz  zurück,  mit  Ausnahme  jener  seltenen  Fälle,  in 
denen   er   durch    ein    zu    weites    Aufreißen    sich   vor   dem    erwähnten 


Spezielle  Knoehenlehre.  105 

Höcker  anstemmt  und  nicht  mehr  zurilckkehren  kann  (sogenannte 
Maulsperre;  kommt  bisweilen  bei  dem  Gähnen  vor  oder  auch  bei  dem 
Anbeißen  einer  großen  Birne  am  dicken  Ende). 

Die  Bewegungen  des  Unterkiefers  sind  von  dreierlei  Art: 

1.  Offnen  und  Schließen  (Schamierbewegung). 

2.  Gleiten  nach  rechts  und  links. 

3.  Gleiten  nach  vor-  und  rückwärts. 

zahne. 

Die  Zähne  des  Menschen  sind  wie  diejenigen  der  Tiere  Werk- 
zeuge zur  Zertrümmerung  der  Nahrung.  Sie  gleichen  Meißeln,  wie 
die  Schneidezähne,  Keilen,  wie  die  Eckzähne,  oder  Stampfen,  wie  die 
Backzähne.  Jeder  Zahn  ragt  nur  mit  seiner  Krone  in  die  Mund- 
höhle hinein,  der  Hals  ist  von  dem  Zahnfleisch  umschlossen,  die 
Wurzel  steckt  in  einem  Loch  des  Kiefers,  der  sog.  Alveole,  fest  ein- 
gekeilt, wie  ein  Nagel  in  der  Wand.  Die  Wurzel  ist  umgeben  von 
einer  dünnen  Beinhaut,  welche  die  Verbindung  der  Wurzeloberfläche 
mit  derjenigen  der  Alveole  noch  um  so  inniger  macht.  Die  Zahnkrone 
ist  von  dem  Schmelz,  auch  Glasur  oder  Email  genannt  (Substantia 
adamantina),  überzogen,  der  entweder  eine  mehr  gelbliche  oder  eine 
mehr  bläuliche  Farbe  aufweist.  Der  Schmelz  ist  die  härteste  Sub- 
stanz, welche  in  dem  tierischen  Haushalt  erzeugt  wird. 

Die  Dicke  der  Schmelzschichtc  menschlicher  Zähne  beträgt  an  den  Kauflächen 
1  mm  Dicke,  nimmt  jedoch  gegen  den  Zahnhals  beständig  ab,  um  endlich  ganz  auf- 
zuhören und  einer  dünnen  Schichte  von  Knochensubstanz  Platz  zu  machen,  welche 
als  Wurzelrinde  (Crttsta  ostotdes)  oder  als  Cement  die  Oberfläc^he  der  Wurzel 
überzieht 

Die  eigentliche  Masse  des  Zahnes  wird  von  dem  Zahnbein  oder  Dentin 
(Ehur)  gebildet,  welches  eine  Höhle  umschließt,  die  Zahnhöhle.  Von  der  Spitze 
der  Wurzel  her  fiihrt  ein  kleiner  Kanal  in  das  Innere,  um  Blutgefäßen  und  Nerven 
den  Zutritt  zu  jenem  zähen  Gewebe  zu  geben,  das  die  Zahnhöhle  ausfiillt  und  aus 
bekannten  Gründen  in  dem  gt^wöhnlichen  Leben  als  „Zahnnerv"  bezeichnet  wird. 
Aus  diesen  einzelnen  Teilen  sind  die  verschiedensten  Fonnen  der  Zähne  gebaut. 

Die  Zähne  zerfallen  ihrer  Gestalt  nach  in  drei  Hauptgruppen: 

1)  in  die  Schneidezähne  (Bentes  incisivi)  mit  meißelartig  zu- 
geschärften Kronen; 

2)  in  die  Eckzähne  (Bentes  angnlares),  auch  Hundezähne,  mit 
kegelförmig  zugespitzten  Kronen.  Die  Wurzeln  sind  besonders  an  den 
Eckzähnen  des  Oberkiefers  stark  und  lang  und  reichen  bis  gegen  die  un- 
tere Wand  der  Augenhöhle  hinauf,  daher  auch  ihr  Name  „Augenzähne"; 

3)  in  die  Stockzähne  (iJentes  molares) j  ausgezeichnet  durch  ihre 
behöckerten    Kauflächen.      Man    unterscheidet    die    kleineren    oder 


108  Vi« 

Vürdereu  Backzähne  (Bentes  praemoiaren ,  Fig,  2"  Nr.  8),  zwei  auf 
jeder  Seite,  mit  nur  zwei  stumpfen  Höckeru,  einem  inneren  und  iiiuDer«ii. 
und  die  eigentlicheu  Malilzähne  fiMiteic  molares.  Fig.  27  Nr,  7),  welche 
in  dem  Oberkiefer  vier,  in  dem  Unterkiefer  fünf  Höcker  besitze», 

Ein  gemeinschaftlicher  Charakter  aller  Zahnkronen  ist  die  Ah- 
nahme gegen  den  Zahnhals  hin.  Deshalb  berühren  sich  die  breiten 
Ränder  gegen  die  KaufJäche  zu,   während   gegen   das  Zahnfleisch  I 


Fig.  28.    Schädel  L'm«s  Kweimyiiiitliclieii 

Kindes    vi>n     vorn    giraclipii    uiicl    wie 

Fig.  29  u.  30  HO  orieutiert,  duB  die  Horl- 

zuiitale  durch  das  Sehlocli  räeht. 


Fig.  29.  Suliädel  nuca  £Hthcii.  Die  Orin,. 
tieningalinii?  gi--lil  dun'li  die  jiluilitierlF 
Horinoutiilf  wie  \m  iIpu  Fijriiri-ii  28  u.  3ii 


kleine  Spalten  freibleiben,  in  denen  leicht  Speisereste  sich  festsetzeu, 
fllr  deren  Beseitigung  seit  alter  Zeit  ein  kleines  Insti-ument,  der  Zahn- 
stocher, verwendet  wird,  den  der  Kulturfortschritt  selbst  auf  die  ge- 
deckte Tafel  stellt,  während  früher  diese  Operation  nicht  so  driughch 
erschien  oder  wenigatous  nicht  so  autfalleud  coram  public«  zu  ge- 
schehen pflegte. 

Die  oben  genannten  drei  Hauptformen  der  Zähne  zeigen  i-egel- 
mäßig  noch  weitere  Formenunterschiede: 

Die  oberen  Schneidezähne  sind  nicht  alle  unter  sich  gleich:  aus- 
nahmslos sind  die  inneren  breiter  als  die  äußeren.  Sie  sind  hüufig 
doppelt  so  breit  als  die  vier  unteren  Schneidezähne,  welche  unt« 
sich  gläich  groß  sind. 


Spesielle  Knochenlehre.  107 

In  der  obenstehenden  Figur  26  ist  dieser  Größenunterschied 
zwischen  den  inneren  und  äußeren  Schneidezähnen  des  Oberkiefers 
deutlich  zu  erkennen.  Ebenso  ist  die  Gleichmäßigkeit  der  unteren 
Schneidezähne  hinreichend  bemerkbar. 

Von  den  Eckzähnen  wurde  schon  bemerkt,  daß  die  oberen 
stärker  und  länger  sind,  als  die  unteren.  Die  Kronen  der  Eckzähne 
überragen  im  allgemeinen  die  der  anderen  Zähne  nicht  nur  an  Länge, 
sondern  treten  auch  noch  aus  der  Reihe  etwas  heraus. 


Fig.  30.     Schädel  eines  alten  Mannes. 

Was  die  Mahlzähne  betrifft,  so  ist  die  Krone  des  ersten  großen 
Mahlzahnes  (Molar  1)  überhaupt  am  größten,  kleiner  ist  jene  des 
zweiten,  am  kleinsten  die  dritte.  In  der  jüngsten  Zeit  will  man 
beobachtet  haben,  daß  l)ei  den  Kulturmenschen  der  dritte  Mahlzahn 
oder  der  Weisheitszahn  sehr  oft  in  der  Entwickelung  wegen  Raummangel 
ausbleibe.  Die  Kiefer  sollen  immer  kleiner  werden,  und  man  hat  schon 
berechnet,  daß  in  nicht  mehr  allzu  ferner  Zeit  den  Europäern  der  Weis- 
heitszahn abhanden  gekommen  sein  werde.  Wir  wollen  im  Interesse  un- 
serer Nachkommen  hoffen,  daß  diese  Propheten  falsch  ge weissagt  haben. 

Die  Zahl  der  bleibenden  Zähne  beträgt  32.  Jeder  Kiefer  trägt  16. 
Berücksichtigt  man  die  Unterschiede,  welche  eben  erwähnt  wurden, 
und  setzt  die  Anfangsbuchstaben  der  lateinischen  Benennungen  vor 
die  Zahl  der  betreffenden  Zahnart,  so  läßt  sich  sowohl  fiir  den  Men- 
schen als  für  die  Tiere  eine  Zahnformel  aufstellen,  welche  für  die 
bleibenden  Zähne  des  Menschen  aller  Rassen  folgendermaßen  lautet: 

t-^.c--.pm    -.m  ^=62. 


108  Vierter  Abschnitt. 

Die  unter  dem  Strich  stehenden  Zahlen  betreffen  die  Zähne  des 
Unter-,  die  über  dem  Strich  jene  des  Oberkiefers. 

Diese  bleibenden  Zähne  brechen  vom  7.  bis  20.  Lebensjahr  in 
ziemlich  bestimmter  Reihenfolge  hervor. 

In  dem  kindlichen  Alter  wird  ihre  Stelle  von  20  Milchzähnen 
(Dentes  lactei)  eingenommen,  welche  sich  von  den  bleibenden  durch 
geringere  Größe  unterscheiden.  Unter  diesen  Milchzähnen  sind  die 
8  Schneide-  und  4  Eckzähne  den  bleibenden  Zähnen  der  Erwachsenen 
hinsichtlich  der  Gestalt  ihrer  Kronen  ganz  ähnlich.  Die  8  Milch- 
backenzähne folgen  auf  die  Eckzähne  und  nehmen  die  Stellen  der  blei- 
benden vorderen  Stockzähne  ein,  von  welchen  sie  später  verdrängt  werden. 
Ihre  Kronen  gleichen  denen  der  großen  Mahlzähne  der  Erwachsenen. 

Die  Entwickelung  des  Gebisses  ist  auf  die  Form  des  Gesichts- 
schädels von  großem  Einfluß.  Schon  das  vollendete  Milchgebiß  hat 
das  ganze  Antlitz  des  vierjährigen  Kindes  im  Vergleich  mit  jenem  des 
einjährigen  wesentlich  geändert.  Es  ist  nicht  allein  um  die  Zahn- 
kronen länger  geworden,  sondern  auch  um  die  in  den  Zahnfortsätzen 
des  Ober-  und  Unterkiefers  steckenden  Zahnwurzeln,  wie  sich  denn 
überhaupt  die  Zahnfortsätze  erst  mit  der  Entwickelung  der  Zahnwurzeln 
ausbilden. 

Obwohl  die  Natur  in  den  frühesten  Perioden  der  Entwickelung 
(schon  um  das  Ende  des  zweiten  Monates,  also  noch  innerhalb  des 
Mutterleibes)  mit  der  Anlage  der  Zähne  beginnt,  so  wird  sie  doch 
damit  so  spät  fertig,  daß  erst  im  sechsten  oder  siebenten  Monate 
nach  der  Geburt  die  inneren  Schneidezähne  des  Unterkiefers  durch- 
brechen, welchen  bald  jene  des  Oberkiefers  folgen.  Bei  Neuge- 
borenen sind  zwar  sämtliche  Zähne  bereits  angelegt,  aber  nur  die 
Milchzähne  sind  schon  so  weit  in  der  Entwickelung  vorgeschritten, 
daß  sie  die  vordere  Kieferwand  aufblähen  und  so  ihren  Sitz  verrathen 
(Fig.  28).  So  gleicht  der  ganze  Unterkiefer  bis  gegen  den  sechsten 
Lebensmonat  mehr  einem  gebogenen  Stäbchen,  das  niedrig  und  rundlich 
ist,  und  dessen  kurze  Fortsätze  dicht  an  der  Grundfläche  des  Schädels 
sitzen  und  von  dem  Wangen-  und  Jochbein  nahezu  verdeckt  werden. 
An  dem  Oberkiefer  ist  die  geringe  Höhe  Aicht  minder  auffallend. 
Obwohl  die  sog.  Zahnsäckchen  auch  äußerlich  schon  ziemlich  stark 
bemerkbar  sind  nach  dem  dritten  Lebensmonat,  so  springt  der  Ober- 
kiefer doch  nur  wenig  über  die  Fläche  des  harten  Gaumens  hervor, 
und  die  Höhe  des  Gesichtes  ist  außerordentlich  gering  im  Vergleich 
zu  der  mächtigen  Entwickelung  der  Stirn  in  die  Höhe  und  Breite 
(Fig.  28).  Das  ganze  Antlitz  ist  von  oben  nach  unten  wie  zusammen- 
gedrückt. Der  eigentliche  Kauapparat  nimmt  im  Vergleich  zu  dem 
Gesicht  des  Erwachsenen  noch  einen  minimalen  Teil  ein. 


Spezielle  Knochenlehre. 


109 


Der  bedeutende  Einfluß  der  Zahnbewaffnung  auf  den  ganzen  Ge- 
sicbtsschädel  tritt  am  besten  durch  die  obige  Nebeneinanderstellung 
der  Fig.  28,  29  und  30  hervor. 

Die  drei  Schädel  sind  in  derjenigen  Horizontalebene,  welche 
von  der  Mitte  der  Ohröffnung  zu  dem  unteren  Rand  der  Augenhöhle 
(bei  der  Betrachtung  von  der  Seite)  läuft,  gezeichnet  und  so  eingereiht, 
daß  eine  ideale,  quere  Achse  durch  die  Mitte  der  Sehlöcher  (Foramina 
optica)  gezogen  wurde.  Die  Schädel  sind  auf  die  gleiche  Größe  re- 
duziert. Man  nimmt  sofort  wahr,  daß,  abgesehen  von  der  Höhe  der 
Augenhöhlen  und  der  Nase,  die  Zunahme  des  Gesichtes  wesentlich  auf 
die  Entwickelung  der  Zähne  zu  setzen  ist.  Die  Zahnwurzeln  be- 
dürfen zu  ihrer  Befestigung  eines  beträchtlichen  Raumes,  der,  von  dem 
Boden  der  Nasenhöhle  (Fig.  29  c)  aus  gerechnet,  die  Anlage  des  Zahn- 
fortsatzes an  dem  Oberkiefer  bedingt,  ebenso  wie  an  dem  Unterkiefer 


m'  •■< 


Fig.  31.    Gresicht  einer  90jährigcn  Frau    Fig.  32.    Dtiäselbc  Gesicht  von  der  Seite, 
von  vom. 


ein  ganzes  Stockwerk  auf  den  schon  in  Fig.  28  vorhandenen  Knochen 
gesetzt  wird,  um  genügenden  Platz  für  die  Fächer  zu  schaffen,  welche 
die  Zahnwurzeln  umfassen  sollen.  Durch  dieses  Stockwerk  wird  die 
Ecke  des  Unterkiefers  (Fig.  29)  mehr  und  mehr  von  der  Schädelbasis 
weggedrängt,  und  so  entstehen  allmählich  die  Unterkieferfortsätze, 
welche  bei  dem  Erwachsenen  lang  und  steil  in  die  Höhe  steigen.  Je 
mehr  die  Zähne  und  damit  die  Muskeln  thätig  sind,  desto  massiger  wird 
der  ganze  Unterkiefer,  und  desto  vorspringender  werden  die  Winkel. 

Alles  dies  schwindet  in  dem  Greisenalter.  Mit  dem  Verlust  der 
Zähne  verlieren  sich  an  dem  Ober-  und  Unterkiefer  die  Alveolarfortsätze. 
der  Gaumen  wird  Hach  wie  bei  dem  Kind  und  der  Unterkiefer  zu  einer 
nur  fingerdicken  Spange  zurückgebildet  (Fig.  30);  der  Kieferwinkel 
verliert  seine  scharf  geprägte  Form,  und  wird  durch  den  Muskeldruck 
stumpf  gemacht.  Der  mittlere  Teil  des  Bogens  rückt  dadurch  soweit 
nach  vom,  daß  der  Unterkiefer  sich  verlängert  und  den  Oberkiefer 
weit  überragt. 


110  Vierter  Abschnitt.    Spezielle  Knochenlehre. 

Bei  dem  Schluß  des  Mundes  ist  dies  ganz  besonders  auffallend, 
die  Kinnspitze  wird  nach  vom  geschoben  (Fig.  82),  die  Lippen  geraten 
zwischen  die  zahnlosen  Kiefer  und  der  Mund  wird  zu  einer  Spalte, 
der  jede  Umsäumung  durch  rote  Ränder  fehlt  (Fig.  31).  Die  beiden 
Abbildungen  zeigen  übrigens  noch  nicht  den  höchsten  Grad  dieser 
Verkürzung  des  unteren  Gesichtsdrittels,  denn  die  Form  der  Unter- 
lippe zeigt  deutlich,  namentlich  bei  Fig.  32,  daß  noch  ein  Paar 
Schneidezähne  erhalten  waren,  welche  ihr  erfolgreich  zur  Stütze 
dienten. 

Das  Gesicht  wird  also  durch  das  Verschwinden  der  Zahnkronen 
und  der  Zahnwurzeln  wieder  klein,  d.  h.  wieder  ähnlich  demjenigen 
des  kindlichen  Alters,  und  zwar  ebenso  wie  in  Fig.  30  vorzugsweise  in 
dem  unteren  Drittel,  während  die  Stirn  und  der  Schädel  ihre 
frühere  Größe  behalten. 

Die  Stellung  und  Eichtung  der  Zähne,  welche  in  den  vorhergehenden  Be- 
merkungen als  die  europäischem  Schönheitssinn  entsprechende  Ausbildung  des 
Kauapparates  dargestellt  wurde,  erfährt  durch  Natur  und  Kunst  sehr  bedeutende 
Abweichungen.  Bei  Europäern  sowohl,  wie  bei  den  Einwohnern  anderer  Kontinente 
stehen  die  oberen  Schneidezähne  oft  schief,  so  daß  sie  von  den  Läppen  nicht  mehr 
bedeckt  werden.  Im  höchsten  Grade  ist  dies  der  Fall  bei  den  schiefzähnigen  MeU- 
nesiem.  Statt  vier  Schneidezähnen  stecken  bei  ihnen  in  dem  Oberkiefer  oft  nur  die 
zwei  inneren,  und  diese  sind  dann  durch  Lücken  von  den  anderen  getrennt  Bei  den 
Bcwohneni  der  Admiralitätsinseln  finden  sich  neben  der  extrem  schiefen  Stellung  gleich- 
zeitig enorm  vergrößerte  Vorderzähne;  sowohl  die  des  Ober-  als  die  des  Unterkiefers 
bilden  eine  Art  von  Kauplatten.  Die  Zahnkrone  einzelner  Schneidezähne  mißt  über 
2  cm  Länge  und  1,5  bis  1,9  mm  Breite  und  über  1  cm  Dicke  und  stellen  so  wahre 
Zahnimgeheuer,  wenn  mau  menschlichen  Maßstab  anlegt,  dar.  (Miclücho-Macxay, 
Über  die  großzälmigen  Melanesier.  Verhandlungen  der  Berliner  anthropologischen 
Gesellschaft  in  Zeitschrift  f.  Ethnologie.  1877.  Sitz.  v.  16.  Dez.  1876.  Mit  Tafel 
XXVI,  auf  welcher  einige  Porträts  zu  sehen  sind.)  —  Bisweilen  ist  ein  Teil  der  Zahn- 
reihe doppelt,  Melanchthon  und  Ludwig  XIII.  hatten  z.  B.  8  Schneidezähne  im 
Oberkiefer.  Bei  Herkules  soll  der  Sage  nach  die  ganze  Zahnreihe  doppelt  ge- 
wesen sein.  Das  Lehrbuch  der  Anatomie  des  Menschen  von  J.  Htbtl,  15.  Aiiflage, 
Wien  1881,  führt  die  wichtigsten  Varietäten  der  Zähne  auf. 

Die  Kunst  feilt  die  Schneidezähne  spitz  zu  (Neuholländer).  Der  Verlust  der 
Schneidezähne  fällt  unangenehm  in  die  Augen,  imd  sie  werden  deshalb  am  häufigsten 
duK'h  künstliche  Zähne  ersetzt.  Schon  Martial  geißelt  den  Betrug  der  Römerinnen 
mit  künstlichen  Zähnen.  Noch  älter  ist  die  Kunst,  Zähne  durch  eine  Plombe 
vor  dem  gänzlichen  Ruin  zu  schützen.  Die  ägyptischen  Mumien  sind  Belege,  daß 
diese  Seite  der  Zalinheilkundc  schon  im  Altertum  mit  Erfolg  geübt  wurde. 


Fünfter  Abschnitt.    Knochen  des  Stammes.  Hl 


Fünfter  Abschnitt. 

Knochen  des  Stammes. 


Knoehen  des  Stammes. 

Die  knöchernen  Teile  der  Brust  und  des  Beckens.     Die  Wirbelsäule.     Bewegungen  der 
Wirbelsäule.     Bewegung  des  Brustkorbes.     Der  Tod  und  seine  Wirkung  auf  die  Form 

des  Thorax. 

Die  Enocheii  des  Stammes  ordnen  sich  zu  vier  Gruppen.  In  dem 
Hals  und  der  Lende  bilden  sie  eine  kurze,  aber  bewegliche  Säule,  in 
der  Brust  und  Hüfte  entstehen  durch  verschieden  geformte  Spangen 
und  Platten  der  Brustkorb  (Thorax)^  und  das  Becken  (Pelvis),^ 

Alle  diese  Abschnitte  haben  eine  Art  von  Knochen  gemeinsam, 
nämlich  die  Wirbel  (Vertebrae),  Sie  sind  zu  einer  Beihe  aneinander- 
gefügt, welche  sich  von  dem  Kopf  bis  zu  dem  Kreuzbein  ununter- 
brochen erstreckt  und  als  Wirbelsäule  (Columna  vertebralis)  be- 
zeichnet wird.  Sie  ist  die  Hauptstütze  des  Stammes,  auf  der  oben 
der  Schädel  balanciert. 

Am  vollendetsten  springt  der  Charakter  der  Wirbelsäule  als  einer 
gegliederten  Kette  bei  Fischen  und  geschwänzten  Amphibien  in  die 
Augen.  Bei  den  Vögeln  und  den  Säugetieren  wird  dieses  Bild  durch 
manche  Zuthaten  verdeckt;  erst  nach  gänzlicher  Isolierung  wird  die 
gegliederte  Säule  deutlich  erkennbar.  Sieben  Wirbel  gehören  bei 
dem  Menschen  dem  Halsteil  des  Stammes,  zwölf  dem  Brustteil  und 
fünf  dem  Lendenteil  an. 

Bei  Skeletten  von  jugendlichen  Individuen  laftsen  sich  sämtliche  Wirbel, 
33  an  der  Zahl,  voneinander  trennen,  sobald  der  Knorpel,  der  sie  vereinigt,  durch 
Fäulnis  zerstört  ist.  Beim  Mann  dag<>gen  sind  9  durch  festen  Knochenkitt  unter- 
einander verwachsen:  fünf  sind  zum  Kreuzbein  geworden,  das  mit  den  Hüft- 
knochen das  Becken  bildet,  vier  stellen  das  Steißbein  dar,  dajs  spitze  Ende  der 


*  Thorax  ist  bei  Homer  eine  Rüstung,  welche  die  Brust  und  den  Bauch  be- 
deckt.    Bei  Plato  winl  dieses  Wort  auf  die  Brust  beschränkt. 

'  Nur  in  der  plastischen  Anatomie  darf  das  Becken  zu  dem  Stamm  gerechnet 
werden.  In  Wirklichkeit  gehört  es  weit  mehr  zu  der  unteren  Gliedmasse,  ebenso 
wie  das  Schulterblatt  zu  der  oberen.  Das  zeigt  sich  in  augenscheinlicher  Weise  bei 
der  Verkümmerung  oder  dem  gänzlichen  Mangel  der  Beine,  namentlich  ))ei  den 
Tieren.  Dann  unterliegt  auch  das  Becken  einer  Eückbildung.  So  wird  es  bei  den 
Walfischen  durch  zwei  sowohl  unter  sich,  als  auch  von  der  Wirbelsäule  ge- 
trennten Knochen  dargestellt,  welche  überdies  nur  rudimentäre  Scham -Sitzbeine 
vorstellen. 


Fig.  33. 

Obere  Skeletthftlft«  riitcs  Hhiuk«, 

von  der  Seite   geseheu.     ' ,  dtr 

nat  Größe. 

eb  Scheitelliiüe. 

cd  Ohr-Kuenatachel-Iiuie. 

ef  OberM  Ende   dea  Bnutkocbt*. 

efik  ZvM  Quadrate,  welche  mit  dm 

Reehleekeo 
fgih  dem  Bniitkorb  begrenieii. 


TW  liaie  iwischea  StelSbeinipitu 
und  oberem  Band  der  Scbim- 
fuge  —  RoriloiitalUnie. 

D  Domfortnltie  der  mrbel. 

H  Hüftbein. 

O  Ellbogen. 

B— B"  Die  iwölf  mppen. 

Bh  Groller  Bollhügel. 

Seh  Schwerpnnktlinie. 

"  1  Drehungipunkt  dei  KopTei. 


"  4  t  Linie  lu  der  SchainbeinfugF, 
de  leigt  mit  der  HorlaonUl» 
TW   den    Neignn^vinkel    dn 


"11 

I>>  Erster  Bmitwirbel. 
IUI  Dritter  Lendenwirbel. 
Vllb  Siebenter  Halswirbel. 


K(M«heii  dea  StMnma. 


113 


Wirbelgftulc.  M»d  hat  diese  9  Wirbel  deshalb  auch  fAlsche  Wirbel  genannt.  Die 
abrifrpR  24  Wirbel  lassen  sich  an  der  Leiche  durch  das  Mcsaer  dw  Anatomen  oder 
durch  (ins  zwar  langsamer,  aber  überall  zerstörende  Messer  der  Natur,  die  Zer- 
Betzunp,  vollständig  trennen,  und  man  nennt  sie  deshalb  auch  die  wahren  Wirbel. 
Wie  Vertebra  mit  verlere,  so  hängen  die  Wirbelbeine  mit  wirbeln  (im  Kreise 
drehen)  zusammen,  und  wir  sprechen  daher  von  Waaserwirbcln ,  Rauchwirbehi, 
Haarwirbeln  —  Scheiteln,  wo  die  Haare  im  Kreise  stehen). 


t    Wirbel. 


Jeder  Wirbel  stellt  einen  Ring  oder  einen  niedrigen  Cylinder  dar, 
dessen  einzelne  Ränder  mit  verschiedenen  Auswüchsen  versehen  sind. 


Gelenlcfortwti  oben. 
Gelenkfartratu  nnteo. 


i   Gespaltener  Domfartsati. 


Fig.  34.     Fünfter  Halswirbel  von  oben  und  hinten. 

Jeder  Wirbel  umgrenzt  eine  OflFnnng,  das  Wirbelloch  (Foramen 
vertebrale,  Fig.  34  and  35  Nr.  3).  Der  nach  seiner  Lage  vordere  Teil 
des  Wirbels  ist  dick,  und  zu  einer  kurzen  Säule,  dem  Körper 
(Corptu  vertebrae,  Fig.  34  und  35  Nr.  l),  entwickelt.  Jeder  Wirbel- 
körper besitzt  vier  Flächen  —  eine  hintere  konkave,  die  nach  dem 

i   Qoerfertsati. 


Querfortutxloch  ;- 


K   Gelenlcfortaätze. 
(  Qespaltmcr  Domfortssti. 


Fig.  ari.    Fünfter  Halswirbel 


Wirbelloch  hinsieht,  eine  vordere,  nach  der  Leibeshöhle  gekehrte  — 
sie  ist  von  einer  Seite  zur  anderen  konvex,  von  oben  nach  uuten 
konkav.  Die  letztere  Form  ist  besonders  ausgesprochen  in  dem  Brust- 
und  Lendenabschnitt;  dadurch  sehen  die  entsprechenden  Ränder  des 
Körpers  aus  wie  von  einem  wulstigen  schwach  vorspringenden  Band 
umsäumt  (Sanduhrform).  Die  obere  und  untere  Fläche  endlich  ist 
central  etwas  ausgehöhlt,  damit  die  Yerbindungsmasse,  der  Zwischen- 
knorpel  (Cartilago  mtervertebralit),  um  so  fester  hauten  könne. 

Der  übrige  Teil  des  Wirbels  heißt  Bogen  (Arcus,  Fig.  34—36  Nr.  2). 


114 


Fünfler  Abschnitt. 


Der  Bogen  entspringt  niedrig  vom  oberen  Rande  des  Körpers  und  schickt 
sieben  Fortsätze  aus,  welche  entweder  zur  Verbindung  der  Wirbel 
untereinander,  Gelenkfortsätze  (Fig.  34 — 36  Nr.  4),  oder  zum  Ansatz 
von  Muskeln  dienen,  Muskelfortsätze  (Fig.  36  Nr.  5  u.  6).  Jeder  weiß, 
daß  die  Wirbelsäule  einen  bedeutenden  Grad  von  Beweglichkeit  besitzt 
Jeder  Wirbel  kann  sich  nämlich  mittels  der  Gelenke  und  der  elastischen 
Bänder  auf  seinen  Nachbarn  verschieben,  sobald  die  Muskeln,  welche 
an  ihnen  befestigt  sind,  sich  verkürzen.  Drei  Fortsätze  sind  filr 
Muskelinsertionen  bestimmt.  Der  eine  ist  unpaar  und  wächst  von  der 
Mitte  des  Bogens  nach  hinten;  es  ist  der  fär  den  Künstler  wichtigste: 
der  Dornfortsatz  (Frocessns  spinosus),  weil  er  in  der  Mittellinie  des 
Rückens  sehr  häufig  gesehen  und  stets  gefühlt  werden  kann  (Fig.  34—36 
Nr.  6);  die  beiden  anderen,  die  Querfortsätze  (Processus  transveni, 
Fig.  34 — 36  Nr.  5),  sind  paarig,  entspringen  teils  vom  Bogen,  teils  vom 

Obere  Ripponpfanne  Ob<»rer  Gelenkfortsotz. 


OlKTe  Fläche  des  Körpers   3     7  ^ 


Körper    1 


Bogen. 


— i  Querfortsatx. 

"8  Querfortsatzpfaiine. 

-  fk'  Unt.  GelenkforUatx. 

-  €  Domfortsatz. 


Untere  Fläche  des  Körpers  3'  7' 

Untere  Ripi>eni)fanne 

Fig.  36.     Brustwirbel  im  Profil. 

Körper,  und  erstrecken  sich  kürzer  oder  länger  seitwärts.  Sie  sind 
an  den  Brustwirbeln  zugleicli  die  Stützen  der  Rippen. 

Die  Gelenkfortsätze  der  Wirbel  vermitteln  die  Beweglichkeit 
zwischen  den  Bogen.  Es  giebt  zwei  obere  und  zwei  untere  (Processus 
articulares  superiores  et  inferiores^  Fig.  34  u.  35  Nr.  4),  welche  die  Gelenk- 
verbindung mit  dem  nächst  liöheren  und  nächst  tieferen  Wirbel  vermitteln. 

Die  erwähnten  Eigentümlichkeiten  eines  Wirbels  erleiden  jedoch 
nach  der  Stelle,  die  er  einnimmt,  beträchtliche  Abänderungen.  So 
nimmt  der  Körper  vom  dritten  Halswirbel  bis  zum  letzten  Lenden- 
wirbel nach  Höhe  und  Breite  beständig  zu,  entsprechend- der  Last, 
welche  die  untersten  Wirbel  zu  tragen  haben.  Auch  die  Form  der 
Körper  ist  nicht  immer  dieselbe.  An  den  Halswirbeln  ist  sie  würfel- 
fönnig  und  die  vordere  Fläche  mehr  glatt;  aber  schon  bei  den  oberen 
Brustwirbeln  tritt  eine  stärkere  Wölbung  auf,  die  bis  zu  den  unteren 
Brust-  und  Bauchwirbeln  immer  mehr  zunimmt.  (Vergleiche  Fig.  34 — 36 
Nr.  i  und  gleichzeitig  die  Figur  83.) 


KDoehen  <l«i  StsmiDcs. 


115 


a.    Die  Halswirbel  und  die  Bewegung  dea  Kopfes. 

Die  Halswirbel  (fertebrae  colli),  siebeu  an  der  Zalil,  bilden  eine 
kurze  Säule,  auf  deren  oberem  Ende  der  Scbädel  sitzt;  sie  ist  nicbt 
Tollkommen  gerade,  sondern  nach  vom  etwas  konvex,  jedoch  nicht  so 
stark,  als  die  Konkavität  des  Nackens  vermuten  läßt,  denn  diese  wird 
zn  einem  großen  Teil  hervorgerufen  durch  die  Kleinheit  der  oberen 
Domfortsätze  und  das  vorspringende  Hinterhaupt  (Fig.  33).  Diese  an 
und  fttr  sich  schon  vorhandene  Konkavität  wird  stärker,  wenn  sich 
der  Kopf  rückwärts  krümmt,  wodurch  die  Kouvexität  der  Hals- 
wirbelsäule vorne  naturgemäß  gesteigert  wird. 

Die  Halswirbel  sind  leicht  an  ihren  durchbohrten  Querfortsätzen 
(Fig.  34  und  35  Nr,  a)  zu  unterscheiden;   dieses  Loch  (Foramen  tram- 


Vordere«  Ende 
Gnumen 


JochbogcD  ) 
Ke  FlOgtlfortüU«  It 


Hinlerhauplalwin  W 


Fig.  37.    Sohädcl  vo»  unten  gescht 


verMarhtm)  bildet  an  den  ilbereinaodergetünnten  Halswirbeln  links  und 
rechts  einen  Kanal,  durch  den,  vom  sechsten  Halswirbel  angefangen, 
eine  starke  Schlagader  zumUehirn  passiert,  vor  jedem  Druck  geschützt 
durch  die  knöchernen  Abteilungen  ihrer  Bahn. 

Die  Dornfortsätze  sind  mit  Ausnahme  des  ersten  gabelförmig 
in  zwei  Zacken  gespalten  (Fig.  34  Nr.  o),  die  am  dritten  und  vierten 
Halswirbet  ungemein  auseinanderweichen,  weiter  abwärts  jedoch  sich 
wieder  nähern ,  so  daß  der  siebente  Halswirbel  einen  rundlichen 
Knopf  trägt.  Der  Domfortsatz  des  sielienten  Halbwirbels  ist  Überdies 
weit  länger  als  der  der  Qbrigen  und  ist  deutlich  als  der  höchste  Punkt 
des  Nackens  sichtbar.  Zieht  man  von  dieser  Stelle  eine  gerade  Linie 
nach  vorn,  so  trifft  sie  bei  gerader  Haltung  5  cm  über  dem  Brustbein- 
ausschnitt  die  Haut.     Vei^leiche  die  Fig.  33  vrih. 


110  Fünfler  Abschnitt. 

Der  Kopf  ist  durch  überraschend  geformte  Gelenke  mit  der  Wirbel- 
säule beweglich  verbunden.  Er  selbst  hat  zu  beiden  Seiten  des  großen 
Hinterhauptsloches  zwei  Gelenkhöcker  (Processus  condyloidei,  Fig.  38 
Nr.  13),  die  mit  Knorpel  überzogen  sind,  und  durch  eine  Gelenkkapsel 
auf  entsprechend  gehöhlten  Pfannen  des  ersten  Halswirbels  aufsitzen. 
Dieser  erste  Halswirbel  (AÜas)  hat  wie  der  zweite,  der  Zahnwirbel 
(Upistropheus)  j  eine  von  der  oben  beschriebenen  gemeinsamen  Form 
abweichende  Gestalt. 

Der  erste  Halswirbel  oder  Atlas^  (Fig.  38)  ist  ein  unregel- 
mäßiger Eing,  dem  der  Körper  fast  fehlt  (Fig.  38  Nr.  i),  und  der  nur 
einen  verkümmerten  Domfortsatz  besitzt  (Fig.  38  Nr.  2);  an  der  Stelle, 
wo  die  Querfortsätze  entspringen,  trägt  er  an  seiner  oberen  Seite 
zwei  länglich  schüsselformige,  mit  Knorpel  überzogene  Vertiefungen 
(Fig.  38  Nr.  4),  welche  die  Gelenkhöcker  des  Hinterhauptsbeines 
aufnehmen  und  daher  Hinterhauptspfannen  heißen.  An  der  unteren 
Seite  finden  sich  ein  paar  ähnliche  Gelenkpfannen,  aber  viel  flacher 
und  nahezu  kreisrund.  Sie  nehmen  die  entsprechend  konvex  ge- 
krümmten Gelenkflächen  des  zweiten  Halswirbels,  des  Zahnwirbels 
(Fig.  39  Nr.  4),  auf.  Dieser  Wirbel  besitzt  einen  deutlich  geformten, 
wenn  auch  noch  kleinen  Körper,  der  aber  auf  seiner  oberen  Fläche 
durch  einen  zapfenförmigen  Fortsatz,  den  sog.  Zahn  (Processus  odan- 
toideus,  Fig.  39  Nr.  i),  ausgezeichnet  ist.  Der  Domfortsatz  (Fig.  39  Nr.  6) 
des  zweiten  Halswirbels  ist  vollständig  entwickelt  und  wie  an  den 
meisten  Halswirbeln  gespalten.  Seitlich  befindet  sich  der  durchbohrte 
Querfortsatz  (Fig.  39  Nr.  5). 

Die  Verbindung  dieser  beiden  Halswirbel  untereinander  und  mit 
dem  Hinterhaupte  geschieht  durch  Kapseln  und  Bänder,  wie  bei  jedem 
anderen  jfreien  Gelenke,  also  nicht  durch  zähe  Knorpelscheiben,  welche 
die  übrigen  Wirbel  aneinanderheften. 

Die  Bewegungen  des  Kopfes  geschehen  auf  zweierlei  Weise:  durch 
Beugen  und  Strecken  (Nicken),  und  Drehen  nach  rechts  und  links. 
Diese  Bewegungen  geschehen  also  nicht  in  einem  einzigen  Gelenk, 
sondern  sind  auf  die  zwei  ersten  Halswirbel  so  verteilt,  daß  die  Nick- 
bewegung zwischen  Hinterhauptsbein  und  dem  ersten,  die  Drehung 
zwischen  Atlas  und  dem  zweiten  Halswirbel  erfolgt.  Der  mechanische 
Vorgang  ist  dadurch  folgender  geworden: 

Beugung  und  Streckung  werden  in  dem  Gelenk  zwischen  Hinter- 
haupt und  Atlas  und  bis  zu  einem  Winkel  von  45^  ausgeführt 
Stärkere  Beugebewegungen,   wobei  der  Kopf  vom  bis  auf  die   Brust 


'  Den  ersten  Halswirbel  Atlas  zu  nennen,  war  ein  poetischer  Einfall;   der 
erste  Anatom,  welcher  den  Himmelsträger  in  die  Anatomie  einfiihrte,  war  Yesal. 


Knochen  dea  StamiiMB.  1J7 

oder  rückwärts  bis  in  den  Nacken  hinabsinkt,  können  nur  durck  die 
Hitbewegung  der  ganzen  Halswirbelsäule  geschehen. 

Die  Drehung  dea  Kopfes  nach  rechts  und  links  geschieht  zwischen 
Atlas  und  Zahnwirbel.  Nimmt  man  die  Stellung,  bei  welcher  das  Gre- 
sicht  gerade  nach  vorwärts  gerichtet  ist,  als  die  Ausgangsstellung  an, 


Fig.  3S.    Atlas  von  oben. 

Bo  vermag  der  Eopf  zwischen  den  beiden  ersten  Wirbeln  (Fig.  40 
A  n.  E)  nach  jeder  Seite  25 — 30<*,  also  zusammen  50 — 60"  Drehung 
auszufahren.  Um  den  Gang  dieser  Bewegung  zu  sichern,  ist  zwischen 
Atlas  und  Zahnwirbel  >  eine  besondere  Art  der  Führung  hergestellt, 
welche  jede  Unsicherheit  und  jede  damit  verbundene  Gefahr  fUr 
das  KUckeumark  unmöglich  macht.     Der  Zahn  (Fig.  39  Nr.  i]  ruht 

^  "JZnlirifortsat;!. 

Ober«  Gelenkfllche  fc f^StttÜ^^^^l         "  '^^™  GelenkHäche. 

QuerfortBstE  i-  ■■-  J      V^^^^J^      i  Querfortaali. 
Wirbdloch  3  '^^*\^"tlJ^         '  Boeeii 

y^  *  Oespaltener  Domrortwti. 

Pig.  39.    Epistropheus  von  oben  und  hinten  gesehen. 

in  einer  geglätteten  Aushöhlung  des  vorderen  Atlaabogens  (Fig.  38 
Nr.  3)  und  ein  starkes  quergespanntes  Band  hält  ihn  in  dieser  Lage 
fest.  Andere  Bänder  gehen  von  seiner  Spitze  nach  aufwärts  zur 
Mitte  des  vorderen  Randes  und  an  die  Seiteoränder  des  großen 
Hinterhanptsloches  und  sichern  den  Qang  so  vollständig,  daß  die 
Bewegung  des  Schädels  nach  allen  Richtungen  rasch  und  sogar  sehr 
energisch  ohne  Gefahr  ausgeAkhrt  werden  kann.  Der  Zahnfortsatz  ist 
die  sichernde  Achse,  um  die  sich  der  Atlas  mitsamt  dem  Schädel  dreht. 

'  Der  Name  Epittropheut  von  str^hö,  ich  drehe,  fUr  den  zweiten  HftiBwirbel 
ist  gänEÜch  falsch,  weil  nicht  er  aich  dreht,  Bondem  der  erstem  dennoch  darf  der 
alt  hergebrachte  und  in  allen  Handbüchern  vorkommende  Ausdruck  nicht  ohne 
weiteres  beseitigt  werden. 


US 


Fünfter  Abadmitt. 


Von  welcher  Bedeutung  der  sichere  Gong  sei,  ersieht  man  sehr  bald  au  <kii 
Folgen,  welche  das  Losreißen  der  Wirbel  voneinander,  die  LuiatioD  dea  Zahnjort- 
satzes  durch  starkes  und  plötzliches  Niederdrücken  dra  Kopfes  gegen  die  Brust,  odn 
ein  Sturz  nach  sieh  zieht  Hoch  ohcn  an  dem  Rtlckenniark  entspringen  die  wich- 
tigsten Nerven  für  das  Herz  und  die  Lungen.  Beißt  nun  der  ZahnfbrtsatE  ia 
Atlas  von  seinen  Bändern  los,  so  treibt  ihn  die  Gewalt  in  den  RückeDmarkstraDg 
hinein,  dessen  Zerstörung  den  sicheren,  meist  augenblicklichen  Tod  nach  sich  liehL 
J.  L.  Petit  hat  behauptet,  daÖ  beim  Tode  durch  Erhcnken  eine  Verrenkung  des 


Ob.Gelenka.d.At]Bs(Praane)  3  . 


Obere  Gelenkfllcbe  des 
EpistropheuB 

Querfortsatc  E 


ZahoibrUatc 


Querforts,  d.  beid.  Witbd. 


Bogen  de*  EpUtrapheua      1  C     Bogen  an  Epistropheo*. 

Fig.  40.     Atlu  und  Drehwinkel. 

A   Alias.     E   Eiüatropheiu. 

Zahnes  nach  hinten  jedesmal  eintrete,  wenn,  um  die  Dauer  des  Todeskampfes  ta 
kürzen,  gleichzeitig  an  den  FüBen  gezogen,  also  zur  Last  des  Körpers  noch  ria 
bedeutendes  Gewicht  hinzugefügt  wird,  oder  wenn  sich  der  Henker,  wie  in  Frank- 
reich vor  Eiufiihrung  der  Guillotine,  auf  die  Schultern  des  Delinquenten  schwinge 
und  dessen  Kopf  mit  beiden  Händen  nach  unten  drttcke. 


I>.    Die  Brustwirbel. 

Die    zwölf  Brustwirbel    sind    die   Träger    der   Rippen,    jener 
elastischen  Spangeu,   welche  in  Verbindung  mit   dem   Brustbein  den 

Obere  Bippenpfknne  1     I  Oberer  Gelenkrorlsalz. 
Obere  PtSche  des  Körpen  3 


Unt.   OetenkfoTtaatc. 
Dornfortsatz. 

Untere  Flache  da  Körpers  3'  'V 

Untere  Rippeupfanne    | 

Fig.  41.    Brustwirbel  im  Profil. 

Brustkorb  zusammensetzen.  Jeder  Brustwirbel  besitzt  deshalb  an 
seinem  Körper  zur  Verbindung  mit  den  Rippenköpfeu  eine  Uberknor- 
pelte  Gelenkfläche,  die  Bippenpfanne  (Fossa  costalü,  Fig.  41   Nr. 7). 


Knochen  des  Stamme«.  119 

Je  nach  dem  Stand  der  Rippe  beteiligt  sich  an  der  Bildung  der  Pfianne 
aucli  noch  der  untere  Bund  des  diirUberlicgenden  Wirbels  und  die 
zwischen  beiden  belindliche  KiiorpeiRcheibe. 

Die  Querfortsätze  (Fig.  41  Nr.  5)  Kind  nur  an  den  oberen  acht 
Brustwirbeln  lang  und  stark,  bis  zum  zwölften  werden  sie  immer 
kleiner.  Ihre  Richtung  gebt  etwiiis  nncli  rückwärts.  Auf  den  Spitzen 
der  Querfortsätze,  und  zwar  an  der  Vorderseite,  sitzt  eine  schwach 
vertiefte,  Überknorpelte  Gelenk  fluche,  die  Querfortsatzpfanne  (Foi>»a 
transv^rsalis,  Fig.  41  Nr.  e).  Die  hintere  Fläche  der  Querfortsätze  zeigt 
eine  Rauhigkeit,  den  Angriffspunkt  für  einzelne  RUckenmuskeln.  Die 
Dornfortsätze  stehen  nur  am  Anfang  und  Ende  der  Brustwirbelsäule 
gerade  nach  rückwärts,  in  der  Mitte  sind  sie  nach  abwärts  geneigt 
(Fig.  4,1  Nr.  e),  so  daß  sie  sich  sogar  dachziegelfbrmig  decken. 

c.    Die  Lendenwirbel. 
Die   Lendenwirbel    haben    einen   mächtigen  Körper  und   einen 
starken   Bogen,    von    welchem    dicke   Gelenkfortsätze    mich   oben   und 


■,l   Gc^lenkforUätie. 


i    DurnrortaSUe. 


Zwiachcnwirbflband   ] 


Zwiachrn  Wirbel  band   I_^ 


Fig.  42.     Fünf  Lendenwirbel,  diircli  die  ZwiachenwirbelDvIieilwn  verbunden, 
im  Profil. 

unten  abgehen  {Fig.  42  Nr.  3).  Nicht  minder  stark  sind  die  hohen 
und  langen  Domfortsätze  (Kig.  42  Nr.  5),  welche  wie  .jene  der  Hals- 
wirbel gerade  nach  rückwärts  stehen  und  deshalb  hei  mageren  Per- 
sonen schon  bei  aufi-echter  Stellung  zu  sehen  bind;   bei  gekrümmtem 


120  Fünfter  Abflchnitt. 

Rücken  wird  ihre  ganze  Reihe  sichtbar.  Im  Gegensatz  zu  diesem  kräf- 
tigen Bau,  wozu  noch  an  der  Grenze  zwischen  dem  oberen  Gelenkfort- 
satz und  dem  Querfortsatz  ein  paar  stumpfe  Höcker  zum  Ansatz  der 
Rückenmuskeln  kommen,  sind  die  Querfortsätze  schwach  und  machen 
mehr  den  Eindruck  verkümmerter  Rippen. 

d.   Das  Kreuzbein  (Os  sacrutn). 

Diesen  Namen  tragen  fünf  im  reifen  Körper  untereinander  verwach- 
sene Wirbel,  Das  obere  breite  Ende  dieses  Knochens  schließt  sich  an 
den  letzten  Lendenwirbel  an,  das  untere  verbindet  sich  mit  dem  schma- 
len Steißbein.  Mit  seinen  Seitenrändem  sitzt  das  Kreuzbein  wie  ein- 
gekeilt zwischen  den  beiden  Hüftbeinen.  Es  ist  dabei  schaufeiförmig 
gekrümmt;  die  hohle  Fläche  sieht  nach  dem  Becken,  wodurch  dort 
mehr  Raum  entsteht,  und  die  gekrümmte  kehrt  sich  nach  hinten.  Am 
Lebenden  verschwindet  das  Ende  der  hinteren  Fläche  mit  dem  Steiß- 
bein in  der  Tiefe  der  Gesäßspalte.  Über  die  Mitte  der  hinteren  Fläche 
läuft  ein  Kamm  (Crista  sacralis  media),  auf  dem  drei,  oft  auch  vier 
längliche  Höcker  deutlich  hervorragen;  es  sind  die  Reste  der  Dom- 
fortsätze, die  auch  am  Lebenden  wiederzufinden  sind,  obwohl  Sehnen- 
streifen und  die  darüberliegende  Haut  die  Schärfe  der  Erscheinung 
bedeutend  mindern. 

Der  fünfte  Höcker  des  letzten  Ejreuzwirbels  fehlt  und  statt  dessen 
findet  sich  ein  Spalt,  der  bei  manchen  Menschen  sich  oft  hoch  hinauf 
erstreckt;  er  heißt:  Kreuzbeinausschnitt  (Fig.  2  S.  28),  und  bezeichnet 
das  spaltförmige  Ende  des  Wirbelkanales,  das  beim  Lebenden  durch 
feste  Bandmassen  und  Membranen  dicht  verschlossen  ist. 

Auch  Reste  von  Querfortsätzen  findet  man  als  kleine  Hügel  am 
Rande  jener  Löcher,  welche  das  Kreuzbein  so  auffallend  auszeichnen 
(Fig.  2  S.  28  und  Fig.  33  S.  113). 

Diese  Löcher  führen  in  den  Wirbelkanal,  d.  h.  zunächst  in  den 
Kreuzbeinkanal  (Canalis  sacralis).  Ein  Teil  der  vom  Rückenmark 
entspringenden  Nervenäste  liegt  in  ihm,  verläßt  aber  durch  diese 
Oflfhungen  den  geschützten  Ort,  und  die  isolierten  Stränge  begeben  sich 
zur  Haut  und  den  Muskeln  des  Schenkels.  Das  Kreuzbein  bietet  eine 
Menge  von  Verschiedenheiten  dar,  von  denen  hier  jedoch  nur  der  eine 
wichtige  Unterschied  der  beiden  Geschlechter  erwähnt  werden  soll:  das 
weibliche  Kreuzbein  ist  breiter,  kürzer  und  gerader  als  das  männliche. 

Das  Ende  des  Kreuzbeins  steht  mit  dem 

Steißbein  in  Verbindung  (Os  coccygis),  das,  wie  schon  erwähnt, 
aus  vier  verkümmerten  Wirbeln  besteht;  die  Ringform  ist  bei  diesem 
schwanzförmigen  Wii'belanhauge   völlig  verschwunden,  nur   das  erste 


Knochen  des  Stammes.  121 

Stück  des  Steißbeins  hat  noch  Andeutungen  von  Querfortsätzen  und 
Gelenkfortsätzen.  Die  übrigen  Wirbel  sind  zu  rundlichen  Knochen- 
scheibchen  zusammengeschrumpft. 

Betrachtung  der  Wirbelsäule  als  Ganzes. 

Die  Wirbelsäule  ist  nicht  gerade,  sondern  schlangenförmig  ge- 
krümmt, und  zwar  so,,  daß  der  Halsteil  nach  vorn  konvex  ist,  der 
Brustt^il  nach  hinten,  der  Lendenteil  wieder  nach  vom,  das  Kreuz- 
bein mit  dem  Steißbein  nach  hinten  (vergl.  die  Linie  Seh  Fig.  33). 
Am  Übergang  des  Lendenteils  in  das  Kreuzbein  ist  ein  am  fünften 
Lendenwirbel  besonders  hervorragender  Punkt,  den  man  Vorgebirge 
(Promontorium)  nennt.  Die  Krümmungen  der  Wirbelsäule  ent- 
wickeln sich  erst  deutlich  mit  dem  Vermögen  des  Kindes  aufrecht  zu 
stehen,  bei  Neugeborenen  sind  sie  noch  kaum  sichtbar.  Im  höheren 
Alter  verliert  die  Wirbelsäule  ihre  eleganten  Krümmungen,  denn  die 
früher  in  hohem  Grade  elastischen  Zwischenwirbelscheiben  werden  spröde. 
Am  frühesten  zeigt  sich  diese  Sprödigkeit  an  dem  Brustabschnitt. 
Die  starke  Krümmung  des  Rückens  bleibt  bei  Leuten,  welche  sich 
beim  Arbeiten  anhaltend  über  ihren  Gegenstand  beugen,  auch  während 
der  Ruhe;  bei  Greisen,  deren  Rücken  in  eine  einzige  Bogenki-ümmung 
übergeht,  fällt  der  Senkrücken,  als  Zeichen  der  Gebrechlichkeit,  deut- 
lich in  die  Augen;  der  Kopf  sinkt  alsdann  gegen  die  Brust,  und  der 
Blick  ist  zur  Erde  gerichtet. 

Die  Wirbelsäule  durfte  bei  der  aufrechten  Stellung  des  Menschen 
nicht  vollkommen  geradlinig  geformt  sein.  Die  nach  bestimmten  Regeln 
angebrachten  Krümmungen  schwächen  den  Stoß,  der  wie  beim  Sprung 
von  unten  auf  wirkt,  bedeutend  ab,  weil  er  größtenteils  innerhalb 
der  Krümmungen  durch  die  Steigerung  derselben  verloren  geht.  Bei 
Tieren,  deren  Rumpf  auf  den  vier  Beinen  ruht,  sind  deshalb  die 
Krümmungen  viel  geringer,  ja  bei  manchen  fehlen  sie  fast  vollständig. 
Die  nach  hinten  konvexen  Krümmungen  vergrößern  beim  Menschen 
überdies  den  Rauminhalt  der  vor  ihnen  liegenden  Höhlen  der  Brust 
und  des  Beckens.  Die  nach  vorn  konvexen  Krümmungen  der  Wirbel- 
säule werden  durch  die  Gestalt  der  Zwischenwirbelscheiben  bedingt. 

Die  leichte  Seitenkruminung  nach  rechte,  welche  namentlich  die  Bnistwirbel- 
säule  zeigt,  und  die  bei  wenigen  Menschen  fehlt,  sch(unt  mit  dem  vorwaltenden  Ge- 
brauch des  rechten  Armes  in  Verbindung  zu  stehen. 

Die  Wirbelsäule  heißt  auch  Rückgrat  (Spina  dorsi).  Um  den  Namen  Spifia 
zu  begründen,  darf  man  nicht  an  Dorn  oder  Stachel  denken,  sondern  an  die  Ein- 
richtung eines  römischen  Zirkus,  der  durch  eine  lange,  zwanzig  Fuß  breite  und 
sechs  Fuß  hohe  Mauer,  welche  sich  in  der  Mittellinie  der  Rennbahn,  etwa  über  Drei- 
viertel ihrer  Länge  hinzog,  unvollkommen  in  zwei  gleiche  Teile  geteilt  wurde.    An 


122  Fünfter  Abschnitt. 

■ 

den  beiden  Enden  dieser  Mauer  standen  die  Metae  (Grenzsteine),  um  welche  h«>nuii 
die  Wagen  von  der  einen  Hälfte  des  Zirkus  in  die  andere  uinlenkt<ni.  Diese  Mauer 
hieß  Spina.  Da  das  Rückgrat  den  Rücken  elMjnso  in  zwei  gleiche  Teile  teilt,  wie 
die  Si)ina  den  Zirkus,  ging  der  Name  auch  auf  das  Rückgrat  über. 

Die  einzelnen  Glieder  der  Säule  —  die  Wirbel  —  nehmen  an 
absoluter  Größe  bis  zum  Kreuzbein  allmählich  zu,  vom  Kreuzbein  bis 
zur  Steißbeinspitze  aber  schnell  ab.  Die  Breite  der  Wirbelkörper 
wächst  vom  zweiten  bis  zum  siebenten  Halswirbel.  Vom  siebenten 
Halswirbel  bis  zum  vierten  Brustwirbel  nimmt  die  Breite  wieder  etwas 
ab  und  steigt  von  nun  an  successive  bis  zur  Basis  des  Kreuzbeins. 

Die  Höhe  der  einzelnen  Wirbel,  welche  am  Halssegmente  fast  gleich 
ist,  wächst  bis  zum  letzten  Lendenwirbel  in  steigender  Progression. 

Die  größte  Entfernung  je  zweier  Dornfortsätze  kommt  am  Hals- 
segmente der  Wirbelsäule  vor  wegen  horizontaler  Richtung  und  geringer 
Dicke.  Am  Brustabschnitt  lagern  sich  die  Dornen  vom  dritten  Wirbel  an 
übereinander.  Trotz  der  Höhe  der  Wirbelkörper  ist  der  Raum  zwischen 
den  Dornfortsätzen  der  Lendenwirbel  ebenso  klein  wie  an  dem  Hals, 
weil  die  Dornen  sehr  hoch  sind  (Fig.  33  D). 

Das  dachziegelförmige  Ubereinanderschieben  der  mittleren  Bmst- 
wirbeldornen  macht  sie  nur  bei  starker  Rumpfbeuge  bemerkbar,  schützt 
aber  das  Rückenmark  gegen  Hieb  und  Stich  von  hinten  besser  als 
die  Anordnung  am  Halse  und  an  den  Lenden. 

Die  Krümmungen  der  Wirbelsäule  sind  schwach  im  Hals  und 
Brustteil,  stärker  im  Bauchteil  des  Mannes,  am  stärksten  in  dem  des 
Weibes.  Es  liegt  hierin  ein  spezifischer  Geschlechtsunterschied;  die 
Lendenaushöhlung  an  der  Rückenseite  des  Rumpfes  schön  geformter 
weiblicher  Köiper  ist  stärker  als  diejenige  der  Männer.  Messungen 
haben  diesen  schon  äußerlich  sichtbaren  Unterschied  durch  Zahlen 
auf  das  schlagendste  nachgewiesen.  Vergleicht  man  die  Rückseite  der 
Wirbelkörper,  so  ist  dieselbe  bei  beiden  Geschlechtern  kürzer  als  die 
Vorderseite,  und  zwar  beim  männlichen  durchschnittlich  um  3Y2>  1^^™ 
weiblichen  um  9Y2Vo- 

Das  sind  selbstverständlich  Mittelzahlen,  welche  den  charakteristischen 
Typus  erkennen  lassen.  Es  ist  aber  nicht  zu  vergessen,  daß  dieser 
Unterschied  völlig  schwinden  kann.  Die  Krümmung  männlicher  Wirbel- 
säulen kann  so  stark  werden,  daß  sie  derjenigen  typisch  weiblicher 
nichts  nachgiebt.  Umgekehrt  nähert  sich  die  weibliche  Wirbelsäule 
nicht  selten  durch  zu  geringe  Krümmung  der  männlichen. 

e.   Die  Gelenke  und  Bänder  der  Wirbelsäule. 

Die  Verbindungen  der  Wirbel  sind  sehr  kompliziert,  um  das  Problem 
ihrer  Tragfähigkeit  und  gleichzeitigen  Beweglichkeit  zu  lösen. 


Knochen  des  SlainmeR.  123 

Zwischen  je  zwei  Wirbelköqiern  finden  sich  zwei  Arten  von  Ge- 
lenken: 

1)  Die  Zwischenwirbelscheiben  (lAyamenta  intervertehralia^ 
Fig.  42  u.  48  Nr.  2),  breite  ehistische  Platten,  deren  Keni  weich  und  gallert- 
artig ist.  Schon  die  Überlegung  läßt  voraussetzen,  daß  sie  wie  elastische 
Massen  komprimierbar  und  dehnbar  sind  (wie  in  Fig.  43)  und  nach  dem 
Aufhören  des  Zuges  und  Druckes  wieder  in  ihren  früheren  Gleichgewichts- 
zustand zurückkehren.  Sie  sind,  mit  Ausnahme  des  weichen  Kerns,  zu 
diesem  Zweck  aus  vielfach  sich  kreuzenden  Fasern  gewebt,  die  mit  den 
korrespondierenden  Flächen  der  Wirbelkörper  auf  das  festeste  ver- 
wachsen sind.  Die  Festigkeit  steigert  sich  mit  der  Zunahme  der 
Bandtläche.  Die  Bandscheiben  zwischen  den  Halswirbeln  tragen  an 
50  Kilo,  jene  der  Brustwirbelsäule  an  75  Kilo,  und  um  eine  Lenden- 
wirbelsäule zu  zerreißen,  soll  das  Gewicht  von  circa  100  Kilo  erforder- 
lich sein.  Die  Höhe  der  Scheiben  ist  nicht  tiberall  gleich,  die  knöcherne 
Halssäule  wird  durch  die  Einscliiebung  der  Polstur  um  Y51  ^^^  Rücken- 
säule um  7?  ^^^  ^i®  Lendensäule  um  Yg  verlängert.  Diese  Zwischen- 
wirbelscheiben stellen  Gelenke  einfachster  Art,  sog.  „Halbgelenke"  dar. 

2)  Wahre  Gelenke  mit  Knorpelflächen  und  Gelenkkapseln  und 
Hilfsbändern  zwischen  den  sich  berührenden  Gelenkfortsätzen  der 
einzelnen  Wirbel  (Fig.  42  und  Fig.  43  Nr.  3). 

Zu  diesen  Gelenken  der  Wirbelsäule  kommen  noch: 

3)  Die  Zwischenbogenbänder  (Ligamenta  intercruralia).  Sie 
ftillen  die  Zwischenräume  je  zweier  W^irbelbogen  aus  und  bestehen  aus 
besonders  organisieilen  Bündeln,  deren  Elastizität  bei  dem  Erheben 
aus  der  Rumpfbeuge  in  Betracht  kommt;  sie  helfen  mit  den  Zwischcn- 
wirbelbändern  die  Rumpfstrecke  mühelos  ausführen.  Bei  der  Rumpf- 
beuge nach  vorwärts  entfernen  sich  die  Wirbelbogen,  die  Dornfort- 
sätze rücken  auseinander  und  die  Spannung  der  Zwischenbogenbänder 
steigert  sich,  je  mehr  der  Körper  sich  krümmt;  sobald  jedoch  der 
Muskelzug  nachläßt,  springt  die  Wirbelsäule  wie  ein  von  dem  Druck 
befreiter  elastischer  Stab  wieder  in  ihre  frühere  Lage  zurück.  Bei  ge- 
ringen Graden  der  Rumpfl)euge  ist  die  Thätigkeit  der  Muskeln  für  die 
darauffolgende  Streckung  nahezu  gleich  Null,  die  Streckung  also  ledig- 
lich eine  Wirkung  der  Elastizität  der  verschiedenen  Bandmassen. 

4)  Die  Bänder  zwischen  den  Dornfortsätzen  (Lifjamenta 
inierspinalia)  j  vorzugsweise  entwickelt  zwischen  den  Dornfortsätzen 
der  Lendenwirbel.  Sie  fehlen  an  den  Halswirbeln;  dagegen  er- 
streckt sich  vom  siebenten  Halswirbel  bis  zu  dem  Hinterhaupt  (Linea 
vermiana)    ein    besonderes    elastisches     Band,    das    Nackenband 


124  Fünfter  Abschnitt. 

(Ligamentum  nuchae),^  welches  zwar  schwach  ist,  aber  immerhin  sich 
fühlen  läßt,  wenn  man  den  Kopf  nach  vom  beugt. 

5)  Bänder  zwischen  den  Querfortsätzen  (Ligamenta  inter- 
transversalia).     Der  Name  sagt  Alles. 

Dazu  kommen  noch  Bänder,  welche  auf  der  vorderen  und  hin- 
teren Seite  der  Wirbelkörper  entlang  ziehen,  und  zwar  ununter- 
brochen von  der  Basis  des  Hinterhauptsbeines  bis  zu  dem  Kreuzbein. 

Durch  diese  zahlreichen  Bänder  wird  die  Wirbelsäule  erst  zu 
einer  vollständigen  Röhre,  welche  das  Rückenmark  und  die  Ursprünge 
der  Rückenmarksnerven  einschließt;  nur  zwischen  den  Bogen  bleiben 
kleine  Löcher  für  den  Durchtritt  der  Nervenstämme.  Die  frisch  aus 
der  Leiche  geschnittene  Wirbelsäule  läßt  nur  sehr  schwer  die  kom- 
plizierte Zusammensetzung  erkennen,  erst  die  Fäulnis  macht  die 
einzelnen  Teile  vollkommen  kenntlich;  alsdann  bleiben  zwischen  zwei 
Wirbelkörpem  Spalten,  wie  sie  die  Fig.  33  Nr.  iil  sehr  deutlich  zwischen 
den  Lendenwirbeln  zeigt,  und  die  zerstörten  Verbindungen  zwischen 
den  Dorn-  und  Querfortsätzen  lassen  den  Eindruck  der  gegliederten 
Säule  zu  voller  Geltung  kommen. 

Die  Zusammendrückbarkeit  der  Zwischenwirbclscheiben  erklärt  es,  warum  der 
menschliche  Körper  bei  aufrechter  Stellung  kürzer  ist,  als  bei  horizontaler  Rücken- 
lage. Die  Verkürzung  kann  bis  zu  2  cm  und  darüber  betragen.  Die  Abnahme 
von  4—5  cm,  welche  jüngst  ein  Anatom  an  seinem  eigenen  Körper  bestimmt  hat, 
verteilt  sich  auf  das  Hüft-Kniegelenk  und  die  Fußhöhe.  Während  z.  B.  morgens 
beim  Erwachen  im  Liegen  eine  Körperlänge  von  185  cm  besteht,  beträgt  dieselbe 
abends  vor  dem  Schlafengehen  im  Stehen  nur-  181,  sinkt  selbst  auf  180  cm,  von 
dem  Scheitel  bis  zur  Sohle  gemojssen.  Bei  dem  Aufstehen  aus  der  horizontalen  Lage 
nimmt  die  Länge  sogleich  um  2  cm  ab,  während  der  Rest  die  allmähliche  Abnahme 
im  Laufe  des  Tages  darstellt.  Diese  plötzliche  Abnahme  der  Körpergröße  beim 
Aufstehen  aus  der  horizontalen  Lage  und  umgekehrt  die  Zunahme  beim  Niederlegen 
hat  mit  den  Zwischen wirbelbändem  gar  nichts  zu  thun,  sondern  kommt  lediglich 
auf  Rechnung  der  Gelenkverbindungen  der  unteren  Extremität  Ich  betone  diese 
Thatsache  bezüglich  der  Proportionslehre  und  der  Exaktheit  der  Angaben  über  die 
Länge  des  Rumpfes  und  der  Glieder.  Die  Zunahme  der  Körperlänge  bei  dem 
Liegen  erklärt  die  schon  oft  betonte  Zunahme  der  Länge  bei  Leichen. 

Bewegungen  der  Wirbelsäule. 

Die  elastischen  Polster  und  die  Bänder  erlauben  in  Verbindung 
mit  den  Gelenken  folgende  Bewegungsarten: 

*  Nucha  stammt  aus  dem  Arabischen.  Es  bedeutet  Rückenmark,  nicht 
aber  Nacken.  Die  Ähnlichkeit  der  Worte  Nucha  und  Nacken  verschuldete  es, 
daß  es  im  medizinischen  Latein,  welches  nicht  zum  reinsten  gehört,  für  Nacken  ge- 
braucht wird  (Luocatio  nuchae). 


Knochen  des  Stammes.  125 

1)  Drehung  der  Säule. 

2)  Seitwärtsbeugung  oder  Rumpfbeuge  seitwärts,  rechts  und  links. 

3)  Vor-  und  Rtickwärtsbeugen  oder  Rumpfbeuge  vorwärts  und 
Rumpfstrecke.  (Durch  eine  geschickte  Überführung  der  drei  Bewegungs- 
formen ineinander  kann  auch  „Rumptkreisen",  wie  es  in  der  Turn- 
sprache genannt  wird,  ausgeführt  werden.) 

Diese  verschiedenen  Bewegungen  sind  auf  die  ganze  Länge  der 
Wirbelsäule  verteilt  Eine  zu  starke  Krümmungsfähigkeit  an  einer 
einzigen  Stelle  hätte  das  in  dem  Wirbel  befindliche  Rückenmark  der 
Gefahr  eines  Druckes  ausgesetzt.  Bei  der  Beurteilung  der  Bewegungs- 
gröBe  muß  jedoch  berücksichtigt  werden,  daß  bei  ihr  die  Bewegungen 
zwischen  Kopf  und  Atlas ,  ferner  diejenigen  zwischen  dem  Atlas  und 
dem  Drehwirbel  nach  altem  Herkommen  nicht  berücksichtigt  werden, 
daß  es  sich  also  streng  genommen  nur  um  den  Betrag  zwischen  dem 
dritten  Hals-  und  dem  letzten  Lendenwirbel  handelt.  Die  Abschätzung 
der  wirklichen  Bewegungsgröße  innerhalb  der  einzelnen  Wirl)elab- 
schnitte  ist  eine  sehr  schwere  Aufgabe,  welche  sich  mit  voller  Exakt- 
heit nur  an  der  Leiche  ausführen  läßt;  denn  bei  dem  Lebenden 
ist  weder  die  Bewegung  des  Kopfes  vollständig  auszuschließen,  noch 
jene  der  Hüft-  und  Sprunggelenke.  Für  unsere  Zwecke  genügen  die 
vorliegenden  Erfahrungen. 

Alle  Bewegungen  zusammengenommen  erlauben  eine  Drehung  des 
freistehenden  Körpers  um  volle  180^.  Freilich  gehört  hierzu  einige 
Übung,  dann  aber  ist  die  Drehung  mit  überraschender  Präzision 
ausführbar,  wie  die  Kautschukmänner  und  die  Clowns  zeigen,  welche 
unter  Beibehaltung  der  Frontstellung  der  Beine  mit  einem  Ruck  den 
Körper  um  seine  Achse  so  drehen,  daß  das  Gesicht  direkt  nach  hinten 
gewendet  ist.  Die  Torsion  in  dem  Drehwirbelgelenk  zwischen  dem  Atlas 
und  dem  zweiten  Halswirbel  ergab  in  einem  Fall  hierfür  ca.  58^, 
die  Drehung  im  Becken  73®,  die  der  Wirbelsäule  47*^.  Wenn  in  dem 
folgenden  von  der  „Drehung**  der  Wirbelsäule  die  Rede  ist,  handelt 
es  sich  lediglich  um  diese  letzte  Torsionsfähigkeit. 

Die  Drehung  der  Wirbelsäule,  die  Rotierbarkeit,  von  dem  dritten 
Hals-  bis  zu  dem  letzten  Lendenwirbel  beträgt  also  nur  47®,  und  wird 
vorzugsweise  im  Bereich  der  untersten  Brustwirbel  aufgeführt. 
Die  Rotierbarkeit  beträgt  dort,  auf  der  kurzen  Strecke  zwischen  dem 
achten  und  zwölften  Brustwirbel,  allein  schon  ca.  28®.  Viele  Kunst- 
werke bringen  die  Drehung  des  Oberkörpers  gerade  dort  deutlich  zum 
Ausdruck. 

Die  Lendenwirbel  besitzen  keine  Rotierbarkeit,  aber  eine  sehr  aus- 
gesprochene Biegungsfähigkeit  nach  rechts  und  links.     Mittels 


derselben  werden  der  iiiitoie  Raiid  der  Brust  und  der  iibere  U»iid 
des  Beckens  sicii  nicht  nur  vollkommeii  geuilhert,  sondern  sie  künneii 
auch  aneinander  vorbeigleiten;  die  Haiiplbeweglichkeit  liegt  also  för 
die  Rumpfbeuge  nach  rechts  und  links  in  der  Leiidengegeiid. 
Ein  vortreffliches  Beispiel  filr  das  eben  Gesagte  sind  die  folgenden 
Figuren  43  u.  44,  an  welchen  die  starke  Rumpfbeuge  nach  links  uml 
bei  Fig.  44  gleichzeitig  ein  geringer  Grad  von  Drehung  bemerkbar 
ist.       Aji    der    Stelle,    wo    die    Häutfalte    in    der    Figur    44    mit   I 


Zwi!H.'heiiwirbe!tiaiid   t— 


GeipDkfnrtsHU 


Ai  Querforl 


Zwincht'nH-irbelbanil  2, 


t  den  Zwietheuwirbclachfiilicii  der  Seite  e 
»rker  Seitwärtsbioguufr, 


bezeichnet  ist,  wird  deutlich  erkennbar,  wie  das  Brustkorbende  e 
innerhalb  des  HUftknochena  befindet,  -hineingedrängt  dui-ch  die  GrB 
der  Seitwärtsheugong,  Freilich  ist  gleichzeitig  der  Schenket  in  i 
ner  Pfanne  aufwärts  gedreht,  wodurch  sich  bei  Nr.  2  der  Fig.  • 
die  Haut  der  Lendengegend  zu  einer  tiefen  Falte  einschlägt;  din 
Verschiebung  hat  jedoch  mit  der  Seitwärtshewegung  innerhalb 
Wirbelsäule  nichts  zu  thun. 

Die  Rnmpfbeuge  nach  vorn  und  die  Kumpf^trecke  gesclieltt 
hiuiptsäcldich  in  dem  Hals-  und  Lendenabschnitt.  Drei  Punkte  sindq 
dieser  Hinsicht  besonders  ausgezeichnet,  die  Stelle  zwischen  den  unt« 


Knoctien  dei  Slammes. 


127 


Halswirbeln,  zwischen  dem  elften  Brust-  und  zweiten  Lendenwirbel,  und 
zwischen  dem  vierten  Lendenwirbel  nnd  dem  Kreuzbein.  Diese  drei  Ab- 
schnitte lai^sen  sich  bei  dem  starken  Zurückbiegen  als  einspringende 
Winkel   erkennen.     Sie  sind   überdies  dun-h  ({uerliegende  Hautfalten 


Fig.  44.     Rumpfbeuge  nach  links.     Skizze  nach  A.  Andrianis  Stich: 
Der  Raub  der  Sabioerinnen. 


markiert.    Bei  der  Bumpfl)eugc  nach  vorn  entspreclien  sie  den  Stellen 
der  stärksten  Knickung  um  Hals,  am   Brustkorbende   und  am  Nabel. 


Das  Brustbein  (Stemttm,  Fig.  45  B  B'— b*)  ist  ein  langer  Knochen, 
der  sich  vom  Ende  des  Halses  bis  zur  Magengrube  ei-streckt  und  in 
der  Mitte  der  vorderen  Brustwand  liegt.  Die  alten  Anatomen  ver- 
glichen ihn  mit  einem  kurzen  römischen  Schlachtscliwert,  und  daher 
rühren  die  Namen  Griff,  Klinge  und  Spitze  oder  Schwertfortaatz  zur 
Bezeichnung  seiner  stets  erkennbaren  Abteilungen. 


\}i'.T  (jrifi  'Fig.  45  h^  i*t  auf  seiner  Vorderfläche  gewölbt,  so  daß 
rlie  S^iiUrnrähflf-r  tiefer  liegen  aU  die  Kitte.  Der  obere  Rand  ist  leicht 
halhinond förmig  äu*ge>/:bi:iitteL  ^IncLmra  *emUmkaruji  diese  seichte 
Kinkerkung  vird  am  I>:berideQ.  besonders  Ijeim  Manne,  znr  tiefen 
Ha)sgnjl>e  darch  die  Schlüs^lbeine.  welche  -^ich  zu  beiden  Seiten  des 
ol>ereri  Randes  darch  Gelenke  mit  dem  Bnisttjein  rerbinden  (Fig. -15  >s). 
Die  lieiden  Schlu^sell^irmelenke  «tehen  schief  nach  aufwärts. 

Die  Stelle,  wo  der  Griff  in  die  Klinge  (Fig.  45  Bj  übei^eht.  ist 
durch  eine  Auftreibung  der  lieiden  aneinanderstoßenden  Enochenflächen 
nicht  nur  am  Skelett,  sondern  auch  am  Lebenden  deutlich  erkennbar. 
Die  Handhal>e.  olien  breit,  ist  an  dieser  Stelle  ebenso  schmal  geworden 
wie  die  Klinge. 

Die  Klinge  (Fig.  45  B'— B^}.  auch  Körper  des  Brustbeins  genannt, 
wird  in  ihrem  unteren  Teil  meist  breiter ^  und  endet  abgerundet. 
Ihre  vordere  Flache  ist  von  einer  Seite  zur  anderen  vertieft,  weil  die 
Kander  sich  etwas  verdicken,  um  für  den  Ansatz  der  Sippen  einen 
festen  Stützpunkt  zu  bieten.  An  sieben  Stellen  setzen  sich  Bippen 
mittels  der  Kippenknorpel  fest. 

Die  Spitze  des  Brustbeins  (Processus  ensiformis.  Fig.  45  B')  ent- 
springt mit  breitem  Rande  in  gleicher  Flucht  mit  der  hinteren  Fläche 
des  Brustbeins:  da  sie  aus  Knorpel  besteht  und  nur  die  Hälfte  so 
dick  ist  als  der  Knrxrhen.  setzt  sie  sich  durch  eine  Vertiefung  vom 
vorderen  Rande  ab.  die  am  Lebenden  deutlich  sieht-  und  fühlbar  ist 
und  durch  den  An^^atz  der  6.  und  7.  Rippe  (Fig.  45  R  6  n.  R  7)  noch 
vermehrt  wird.  Das  Ende  dieses  ungefähr  6  cm  langen  Knorpels 
steckt  zwischen  den  Bauchmuskeln  und  läßt  sich  leicht  auf-  und  nieder- 
drücken.* 

Was  die  Lage  des  Brustbeins  im  ganzen  betriflük,  so  zeigt  am 
einfachsten  die  Betrachtung  des  Thorax  im  Profil  (Fig.  33),  daß  ihm 
das  rubere  Ende  der  Wirbelsäule  viel  näher  liegt  als  das  untere.  Bei 
dem  hier  dargestellten  Skelett  betrug  die  Entfernung  der  Torderen 
Brustbeinfläche  zum  Donifortsatz  des  ersten  Brustwirbels  23-2  cm, 
in  der  Höhe  des  ersten  Lendenwirbels  37  «2  cm.  Dabei  ändert  das 
Mittelstück  die  Richtung  im  Vergleich  mit  derjenigen  des  Griffes.  Das 
obere  Ende  des  Brustbeins  liegt  femer  in  gleicher  Höhe  mit  dem 
unteren  Rande  des  zweiten  Brustwirbels,  das  Ende  der  Klinge  mit  dem 
oberen  Rande  des  elften  Brustwirbels. 

'  In  dem  vorliegenden  Falle  nicht. 

'  Scrohiculus  eardts,  Scrobiculus  das  Diminutiv  von  Scrobia  oder  Scrobs, 
weK'lK'8  im  allgemeinen  jede  Grube  bedeutet.  Nur  bei  Leuten  zu  sehen,  bei  denen 
der  Schwertknorpel  eine  etwa«  aufgebogene  Spitze  hat 


¥ig.  45. 

Skelett  i'.iuos  jungcu 

Mftnnes,  '/„  der  nikt.  Grilßo, 


130  Fünfter  Absohnitt 

Die  Rippen  (Costae). 

Die  Rippen,  zwölf  an  der  Zahl,  sind  elastische  Spangen,  die  von 
den  Brustwirbeln  gegen  das  Brustbein  im  Bogen  verlaufen.  Nur  die 
sieben  oberen  setzen  sich  direkt  an  das  Brustbein  an,  deshalb  nenut 
man  sie  auch  wahre  Rippen  (Fig.  45  R*— R'),  die  übrigen  heißen 
falsche  Rippen  (Fig.  45  R"— R").  Drei  der  letzteren  (die  achte  bis  zehnte 
Rippe)  erreichen  das  Brustbein  nicht  mehr,  besitzen  aber  wenigstens 
eine  mittelbare  Stütze  an  ihm,  denn  sie  verbinden  sich  mit  dem  un- 
teren Rand  der  nächst  oberen  Rippe  (Fig.  45  R**— R»°);  die  elfte  und 
zwölfte  enden  frei  zwischen  den  Bauchmuskeln  und  heißen  deshalb 
auch  „freie"  Rippen. 

Jede  Rippe  besteht  aus  zwei  Teilen,  der  mehr  nach  hinten  gelege- 
nen knöchernen  Spange,  dem  Rippenknochen,  und  einem  vorderen, 
knorpeligen  Ansatzstück,  dem  Rippenknorpel;  der  hintere  knöcherne 
Teil  ist  der  längere.  Der  Rippenknochen  ist  glatt  und  so  befestigt, 
daß  die  eine  der  Flächen  nach  außen  gekehrt  ist,  die  andere  nach 
innen;  der  obere  Rand  ist  abgerundet,  der  untere  im  mittleren  Teil 
scharf  gerandet;  das  hintere  Ende  trägt  ein  überknorpeltes  Köpf  eben 
(Capittilum),  das  bei  den  zehn  oberen  Rippen  auf  einem  rundlichen  Hals 
sitzt,  der  durch  einen  Höcker  —  Rippenhöcker  —  von  dem  breiten 
Teil  der  Rippe  an  der  hinteren  Seite  deutlich  abgegrenzt  ist. 

Jede  einzelne  Rippe  ist  in  doppeltem  Sinne  gekrümmt.  Die 
erste  und  auffallendste  Krümmung  ist  jene,  welche  der  Bnisthölile 
zugekehrt  ist;  die  Krümmung  ist  jedoch  nicht  überall  gleich  stark. 
Der  hintere  Bogen  ist  stärker,  und  die  Stelle,  wo  die  Rippe  sich  nach 
vorne  wendet,  ist  außen  durch  eine  scharfe  Knickung  deutlich  sichtbar; 
diese  Knickung,  der  Rippenwinkel,  wird  noch  dadurch  besonders  er- 
höht, daß  sich  der  lange  Rückenmuskel  mit  einem  Teil  seiner  Zacken 
dort  festsetzt.  So  weit  letzteres  der  Fall  ist,  reicht  der  Rückenteil 
des  Brustkorbes  im  strengen  Sinn;  was  jenseits  liegt,  gehört  zur 
Seitenwand.     (Vergl.  Fig.  2  S.  28.) 

Die  zweite  Krümmung  ist  nach  aufwärts  gerichtet.  Die  Rippen 
laufen  nämlich  nicht  horizontal  gegen  das  Brustbein  nach  vorne,  son- 
dern nach  abwärts  gesenkt  (Fig.  33  und  45).  Sic  liegen  mit  dem 
hinteren  Knde  höher,  als  mit  dem  vorderen;  aber  sie  behalten  diese 
Richtung  doch  nicht  in  ihrer  ganzen  Länge  bei,  denn  sonst  könnte 
ja  schon  die  fünfte  Rippe  das  Brustbein  nicht  mehr  erreichen,  sie 
würde  vielmehr  frei  zwischen  den  Bauchmuskeln  endigen;  dadurch 
jedoch,  daß  die  Rippen  in  ihrem  vorderen  Teil  auch  nach  aufwärts  ge- 
krümmt sind,  erreichen  sieben  direkt  und  drei  davon  wenigstens 
mittelbar  das  Brustbein,  die  letzteren,  indem  sich  ihre  Knorpel  an- 
einander legen  (Fig.  45  R^  R",  R'^).     Die  Knoi-pel  der  wahren  Rippen 


Knochen  des  Stammes.  131 

müssen  also,  um  an  dem  verhältnismäßig  kurzen  Seitenrand  des  Brust- 
beins ihre  Anheftung  zu  finden,  bedeutend  gegen  denselben  in  die  Höhe 
steigen.  Von  der  dritten  bis  zui*  siebenten  Eippe  geht  der  Knorpel 
immer  steiler  nach  aufwärts;  bei  der  ftinften,  sechsten  und  siebenten 
Rippe  beschreibt  der  Rippenknorpel  geradezu  einen  nach  oben  oflFenen 
Bogen,  um  das  Brustbein  zu  erreichen,  und  ganz  ebenso  verhalten 
sich  die  achte,  neunte  und  zehnte  Rippe,  von  denen  sich  immer  die 
eine  an  die  vorhergehende  anlehnt  (an  der  Figur  45  sehr  deutlich 
zwischen  K"  u.  K"). 

An  der  sechsten  und  zuweilen  schon  an  der  fünften  Rippe  findet  man  am 
unteren  Rande  des  Knorpels  einen  ungefähr  4  cm  breiten,  nach  unten  sich  ver- 
scliinfilemden  Vortprung,  welchem  vom  oberen  Rande  des  folgenden  Rippenkuorpels 
ein  ähnlich  gestalteter,  nur  noch  niedrigerer  Vorsprung  entgegenkommt;  die  Flächen, 
welche  aufeinander  treffen,  greifen  wie  Gelenkflächen  (konkav,  konvex)  ineinander 
ein.  ¥!ß  entsteht  ein  vollständiges  Gelenk  mit  Hilfe  von  Kapsel  und  Bändern,  ein 
Rippenknorpelgelenk.  Ahnliche  Gelenke  existieren  auch  zwischen  den  Knor- 
peln der  siebenten  und  achten  und  der  achten  und  neunten  Rippe  (siehe  Fig.  45). 
An  mageren  Modellen  sind  diese  letztc^rwähnten  Rippenknorpelgelenke  deutlich 
zu  sehen. 

An  der  Verbindung  des  Rippenknorpi*ls  mit  dem  Rippenknochen  sind  die  sich 
berührenden  Enden  verdickt  und  verbreitert,  damit  die  Verbindung  um  so  inniger 
stattfinde,  mit  anderen  Worten,  diese  Stellen  machen  in  der  Kontur  der  Rippe  einen 
Buckel  und  sind  an  jugendlichen  Individuen,  bei  Knideni  vom  2.  Jahre  bis  zum  15., 
so  lange  das  rasche  Wachstum  die  Ablagerung  von  Fett  unter  der  Haut  verhindert, 
dann  bin  mageren  r^euten  jtnlen  Alters  als  eine  Reihe  von  Knoten  wiederzufinden, 
die  von  der  zweiten  Rippe  allmählich  siutwärts,  dann  utwh  rück  wartet  bis  zur 
zwölften  Rippe  zieht. 

Eine  weitere  B(»obac'.htung  der  Rippen  lehrt,  daß  die  obersten  Rippen,  und 
ganz  besonders  die  erste,  ihre  Ränder  nicht  direkt  nach  oben  und  unt«n  kehren,  wie 
die  mittleren  und  unteren,  sondern  zugleich  ntich  innen  und  außen  (Fig.  45,  R*). 

Aus  der  verschiedenen  Länge  der  Rippen  entsteht  die  eigenttim- 
liehe  Gestalt  des  Brustkorbes,  oben  eng,  unten  weit.  Die  obere  OfJ- 
nung  ist  begrenzt  von  der  ersten  Rippe,  von  der  Handhabe  des 
Brustbeins  und  vom  ersten  Brustwirbel,  und  ausgeftUlt  durch  die 
Eingeweide  und  Gefäße,  die  vom  Hals  zur  Brusthöhle  und  umgekehrt 
verlaufen  (Luftröhre,  Speiseröhre  etc!.). 

Die  untere  viel  größere  Öffnung  (Fig.  45,  B-,  Linie  ik  xin»)  wird 
vom  letzten  Brustwirbel,  dem  letzten  Rippenpaare,  den  Knorpeln  aller 
falschen  Rippen  und  dem  Schwertfortsatz  des  Brustbeins  umfaßt. 

BetraehtunjB^  des  Brustkorbes  als  Oanzes. 

Der  Brustkorb  umschließt  das  Herz  und  die  paarigen  Lungen, 
eine  rechte  und  eine  linke,  ferner  getrennt  von  diesen  durch  das 
Zwerchfell  einen  Teil  der  Verdauungsorgane.   Leber,  Magen  und  Milz 

9* 


132  Fünftor  Abschnitt. 

finden  noch  in  der  weiten  Wölbung  Platz,  welche  unterhalb  des  Zwercli- 
fells  und  umsäumt  von  den  unteren  fünf  Rippen  vorhanden  ist.  Wenn 
also,  wie  in  Fig.  33,  der  Brustkorb  von  der  Seite  gesehen  in  so  großer 
Ausdehnung  —  von  dem  Schlüsselbein  an  —  sich  nach  abwärts  erstreckt, 
so  darf  man  keineswegs  voraussetzen,  daß  der  ganze  Raum  von  den 
Lungen  und  dem  Herz  erfllUt  sei.  Das  Zwerchfell  erhebt  sicli  viel- 
mehr hoch  hinauf  und  schließt  dabei  die  Bauchhöhle  luftdicht  vf»n 
der  Brusthöhle  ab.  Alle  Gefäße  und  Verbindungskanäle  sind  durch  ein 
eigenartiges  Gewebe  gleichfalls  luftdicht  in  jenen  Löchern  festgeheftet, 
welche  sie  bei  dem  Übergang  von  der  Brust  zu  dem  Bauch  passieren 
müssen. 

Der  Biiistkorb  verjüngt  sich  von  unten  nach  oben;  man  nennt  ihn 
kegelförmig  1  gebaut.  In  der  That  spitzt  er  sich  im  Vergleich  zu 
seinem  unteren  Breitendurchmesser  zu,  und  in  der  Nähe  der  Schlüssel- 
beine ist  der  von  der  ersten  Rippe,  dem  Brustbeinhandgriff  und  dem 
ersten  Brustwirbel  begrenzte  Zugang  so  eng  geworden,  daß  nur  die 
Luft-  und  die  Speiseröhre  nebst  einigen  Gelaßen  und  Nerven  in  ihm 
Platz  finden  (Fig.  33  und  45).  Bei  der  Betrachtung  des  Lebenden 
vermutet  man  eine  solche  Gestalt  nicht.  Die  Breite  der  Schultern 
läßt  eher  das  Gegenteil  erwaii:<^n.  Die  Täuschung  rührt  davon  her, 
daß  an  das  obere  Ende  des  Brustkorbes  die  beiden  Arme  angefügt 
sind,  deren  Schultergerüste  und  deren  dazu  gehörige  Muskeln  die  wahre 
Gestalt  des  Rippenkastens  verdecken. 

Der  geübte  Blick  findet  jedoch  bald  die  wirkliche  Form,  besonders 
bei  aufgehobenem  Arm,  heraus.  In  der  Achselhöhle  verschwindet  z.  B. 
allmählich  die  seitliche  Wölbung  des  Brustkorbes,  um  in  der  Nähe 
des  Halses  zu  endigen.  Die  beiden  Gruben  ober-  und  unterhalb  des 
Schlüsselbeins,  die  beim  Manne  sehr  markiert  sind,  während  die  Fett- 
lager der  Frau  diese  Vertiefungen  bis  auf  eine  schwache  Andeutung 
auslullen  und  nur  bei  der  eintretenden  Magerkeit  des  hohen  Alters 
wieder  hervortreten  lassen,  sind  ebenfalls  durch  die  kuppelfömiige 
Gestalt  des  Bnistkorbes  bedingt. 

Was  das  untere  Ende  des  Brustkorbes  betrifft,  so  ist  zu  bemer- 
ken, daß  die  zum  Brustbein  aufstrebenden  Rippen  einen  Bogcniius- 
schnitt  bcgi'enzen,  der  am  Lebenden  leicht  wiederzufinden  ist.  Dazu 
empfehlen  sich  vor  allem  magere  Menschen ;   denn  bei  kräftigea  sind 


*  Eiitöprecliend  dicwjr  Kof^<»lforin  ist  auch  die  Gestalt  der  Limgcn,  d.  h.  oben 
Hj)itz  und  unten  bnüt.  Deshalb  spricht  man  von  einer  Lungenspitze  und  einer  Luugcn- 
basis.  Bei  <ler  ruhigen  1ii*spiration  d(>hnt  sieh  der  Bnistkorb  vorzugsweise  in  äiMueui 
unt4»ren  Teile  aus,  die  Basis  der  Lunge  wird  sieh  also  el>enfall8  melir  ausdehnen,  ab 
die  Spitze,  ja  bei  der  ruhigen  Atmung  ist  in  Wirklichkeit  die  Schwellung  der 
Lungenspitze  durch  den  Eintritt  von  Luft  sehr  gering. 


Knochen  des  Stammea.  133 

viele  Einzelheiten  durch  die  Bauchmuskeln  hindurch  nur  sehr  schwer 
zu  erkennen.  Die  heiden  Bogenlinien,  welche  sich  am  Brustbeinende 
treflen,  sind  begrenzt  durch  die  Knorpel  der  siebenten  bis  zehnten 
Rippe.  Die  elfte  und  zwölfte  Rippe  liegen  zwischen  den  Bauch- 
muskeln; ihi'e  Enden  werden  besonders  dann  sichtbar,  wenn  der  Rumpf 
seitwärts  geneigt  wird.  Als  klassische  Vorbilder  zum  Studium  können 
Laokoon  und  der  Fechter  genannt  werden. 

Was  die  übrige  Gestalt  des  Brustkorbes  betrifft,  so  muß  man  eine 
vordere  Fläche  unterscheiden,  eine  hintere  oder  Rückenfläche,  und 
zwei  Seitenflächen.  Der  Brustkorb  ist  von  vom  nach  hinten  plattge- 
drückt. Am  Skelett  und  bei  mageren  Menschen  wird  die  vordere  Fläche 
durch  zwei  Linien  begrenzt,  welche  vom  Brust-Schlüsselbeiugelenk  der 
Verbindung  zwischen  Rippenknochen  und  -knorpel  folgen. 

Die  Seitenflächen  sind  gekrümmt  und  zwar  oben  mehr  als  unten 
und  endigen  hinten  an  jener  idealen  Linie,  welche  sämtliche  Rippen- 
winkel miteinander  verbinden  würde  (Fig.  33). 

Die  hintere  Wand  ist  durch  die  in  die  Brusthölde  vorspringenden 
Wirbelkörper  stark  eingebogen.  Zu  beiden  Seiten  der  Dornfortsätze 
.findet  sich  eine  breite  Rinne,  welche  durch  das  Ausbeugen  der  Rippen 
nach  hinten  entsteht;  die  Grenze  dieser  Riime  ist  die  ebenerwähnte 
ideale  Linie;  denn  von  ihr  aus  wenden  sich  die  Rippen  im  Bogen  nach 
vorwärts.  Die  beiden  Rinnen  werden  durch  die  langen  Rückenmuskeln 
ausgefüllt,  und  dadurch  entsteht  jene  breite  Fläche,  die  dem  Menschen 
erlaubt,  auf  dem  Rücken  zu  liegen,  was  die  Tiere  nicht  können,  da 
sie  keine  Rückenfläche,  sondern  nur  eine  Rückenkante  haben. 

Diese  Rückenfläche  wird  noch  besonders  dadurch  vorteilhaft  für 
diese  Lage  gestaltet,  daß  die  Schulterblätter  wie  ein  paar  Schilder 
diese  Fläche  vergrößern. 

Die  eben  beschriebene  Gestalt  des  Brustkorbes  ist  jedoch  mannig- 
fachen Veränderungen  unterworfen;  sie  hängt  aufs  Innigste  mit  der 
Individualität  zusammen.  Die  stark  vorspringende,  gewölbte  ßiiist 
ist  ein  nie  fehlendes  Zeichen  eines  kraftvollen  gesunden  Knochen- 
baues, während  ein  schmaler,  gerade  abfallender  oder  gar  geknickter 
Thorax  ein  physisches  Merkmal  köq>erlicher  Schwäche  und  ange- 
bomen  Siechtums  abgiebt.  Eine  gewölbte  Brust  giebt  der  ganzen 
Gestalt  des  Menschen  den  Anstrich  physischer  Vollkommenheit,  um 
nicht  zu  sagen  Erhabenheit,  wie  dies  bei  den  Götterstatuen  der  Alten 
sich  beobachten  läßt,  wo  die  Höhe  der  Brust  absichtlich  höher  genom- 
men wurde,  als  es  bei  Meiischen  je  möglich  ist,  wahrscheinlich  um  den 
Eindruck  des  mehr  tierischen  Nachbars  der  Brust,  des  Unter- 
leibes, zu  schwächen.  Es  liegt  ein  tiefer  Sinn  in  unserer  Sprach- 
weise,    welche    den    Mut,    die    Kühnheit,    die    kriegerische   Tapfer- 


134  Fünfter  Abachnitt. 

keit  in  die  kräftige  Brust  des  Manues  verlegt.  Nemo  feroci  pectoroswr  MarU. 
Doch  ist  darin  des  Guten  offenbar  bisweilen  zu  viel  geschehen.  Die 
breite  Brust,  welche  an  dem  Antinous  des  Eapitols  zu  sehen  ist,  und 
die  auch  bei  anderen  Figuren  aus  der  Römerzeit  vorkommt,  ist  eine 
Übertreibung,  und  die  schmalen  Hüften  fallen  daneben  unangenehm  aut 

Die  Bewegang:en  der  Brust. 

Der  Thorax,  der  die  Lungen  und  einen  Teil  der  Baucheingeweide 
umschließt,  ist  einer  beträchtlichen  Erweiterung  fähig.  Die  damit  ver- 
bundenen Bewegungen  sind  zwar  als  solche  einförmig,  denn  sie  be- 
stehen nur  in  einer  Erweiterung  und  Verengenmg,  allein  die  Grade 
sind  so  mannigfaltig,  daß  der  ganze  Körper  dadurch  ein  bestimmtes 
Gepräge  erhält.  Ruhe  und  Arbeit,  die  Niedergeschlagenheit  des 
Trauernden  und  das  Kraftgefühl  des  Glücklichen  drücken  sich  in  der 
Form  des  Thorax  deutlich  aus.  Dadurch  steht  er  auch  während  der 
verschiedenen  Grade  der  Füllung  oder  Entleerung  mit  Luft  im  Dienste 
der  Mimik;  ja  selbst  der  Tod  giebt  ihm  seine  bestimmte  Signatur. 

Für  die  richtige  Beurteilung  aller  Bewegungen  dient  das  ruhige 
Atmen  als  Ausgangspunkt.  Bei  dem  Mann  verharrt  dabei  der  Tho- 
rax äußerlich  in  vollkommener  Ruhe,  nur  die  Bauchwand  hebt  und 
senkt  sich,  und  zwar  so,  daß  bei  dem  Einatmen  sich  der  Unterleib 
zwischen  Brustbeinende  imd  Nabel  wölbt  und  bei  dem  Ausathmen  wieder 
abflacht.  Der  Mechanismus  der  Atmung  besteht  bekanntlich  darin,  daß 
bei  der  Einatmung  oder  Inspiration  Luft  durch  die  Luftröhre  und 
ihre  Zweige  dringt,  während  bei  der  Ausatmung  oder  Exspiration 
eine  ähnliche  Menge  wieder  ausgetrieben  wird.  Die  Menge  der  während 
des  ruhigen  Einatmens  aufgenommenen  Luft  beträgt  ungefähr  500  cm, 
also  Ya  Liter.  Sie  vermischt  sich  mit  der  in  der  Lunge  schon  vor- 
handenen „Reserveluft".  Nach  einer  ruhigen  Einatmung  enthalten  die 
beiden  Lungen  etwa  3000 — 3500  cm,  also  nach  einer  ruhigen  Aus- 
atmung noch  immer  2500 — 3000  cm  oder  27^ — 3  Liter.  Während 
des  ruhigen  Atmens  wii'd  also  nur  migefähr.  Ye  ^^^  Lungenluft  dem 
Wechsel  unterworfen. 

Neben  dieser  ruhigen  Atmung  giebt  es  aber  auch  ein  tiefes  oder 
forciertes  Atmen,  bei  dem  der  ganze  Thorax  sich  hebt  und  senkt 
Es  kommt  zu  einer  deutlichen  Bewegung,  die  selbst  durch  die  Kleidung 
hindurch  wahrnehmbar  ist.  Die  Muskeln  ziehen  bei  der  tiefen  Inspira- 
tion die  gesenkten  Rippen  samt  dem  Brustbein  in  die  Höhe.  Läßt  der 
Muskelzug  nach,  so  kehrt  das  ganze  Gerüste  wieder  in  den  früheren 
Stand  zurück,  den  es  im  Zustande  der  Ausatmung  besaß;  die  Rippen 
drehen  sich  dabei  in  ihren  Gelenken  an  den  Wirbelkörpeni  und  deren 


Knochen  des  Stammes.  135 

Querfoilsätzen,  und  es  ist  leicht  einzusehen,  wie  schon  eine  geringe 
RoUition  in  dem  Gelenk  an  der  Wirbelsäule  ein  ausgiebiges  Steigen 
des  vorderen  Rippenendes  zur  Folge  haben  wird.  Die  Rippen  stellen 
sich  dabei  aus  ihrer  geneigten  Lage  mehr  horizontal.  Das  Heben  und 
Senken  kann  sehr  rasch  vor  sich  gehen;  die  gehobene  Brust  kann  aber 
auch  im  höchsten  Stande  der  Einatmung  durch  den  Willen  eine  Zeit 
lang  festgehalten  werden.  Das  von  den  Rippen  getragene  Brustbein 
folgt  diesen  Bewegungen. 

Die  Fonn Veränderungen  bestehen  1)  in  einer  Erweiterung  in 
allen  Durchmessern.  Das  Brustbein  wird  durch  die  vereinigte 
Wirkung  der  oberen  Rippen  gehoben.  Diese  Bewegung  ist  an  den 
unteren  Rippen  wegen  ihres  schrägeren  Verlaufes  viel  beträchtlicher, 
sie  stellen  sich  mehi*  horizontal,  wobei  der  gerade  Durclunesser  des 
Brustkorbes  sich  wesentlich  vergrößert.  Am  besten  ist  dies  an  dem  eige- 
nen Körper  zu  verfolgen.  Viel  schwieriger  ist  schon  die  Zunahme  nach 
der  Breite  zu  erkennen..  Hierzu  bedarf  es  der  Bestimmung  der  Durch- 
messer des  Thorax  mit  dem  Tasterzirkel  und  dem  Meßband.  Bei  starken 
Männern  beträgt  der  obere  Brustumfang  (dicht  unter  den  Armen)  88  cm, 
der  untere  in  der  Höhe  des  Schwertfortsatzes  82  cm,  bei  ruhiger  und 
mäßiger  Ausatmung  festgestellt.  Die  Abnahme  der  Maße  bei  aufgehobe- 
nen oder  gesenkt<in  Armen  macht  dabei  einen  großen  Unterschied  wegen 
der  größeren  oder  geringeren  Dicke  der  Bimst-  und  Schultermuskeln 
in  dem  einen  oder  anderen  Fall.  —  Bei  wagrechter  Stellung  der  Arme 
und  mäßiger  Ausatmung  beträgt  der  Umfang  dicht  unter  den  Brust- 
warzen und  den  Schulterblättern  82  cm,  ungefähr  die  halbe  Körper- 
länge, bei  stärkster  Einathmung  89  cm. 

Der  Brustbeinhandgriff  geht  bei  tiefem  Einatmen  in  die  Höhe, 
die  Linie  vom  Kinn  zu  den  beiden  Schulterhöhen  wird  entsprechend 
niedriger,  und  die  mittlere  Halsgrube  sinkt  bedeutend  ein,  in  dem  Maß, 
als  die  Kopfnicker  strangförmig  vorspringen.  An  dem  Kopfiiickor 
wird  femer  in  der  Nähe  des  Brustkorbes  die  Schlüsselbein-  und  Brust- 
beinportion gesondert  kenntlich.  Dabei  wird  das  untere  Ende  der 
Schilddrüse  deutlich  vorgedrängt. 

Mit  dem  Aufsteigen  des  BrustbeinhandgriiTes  steigt  auch  das 
Schlüsselbein  in  die  Höhe  und  rückt  etwas  nach  hinten.  Infolge 
dieses  Zuges  am  oberen  Brustkorbende  steigen  auch  die  Brustwarzen 
in  die  Höhe.  In  der  seitlichen  Rumpfgegend  markieren  sich  die 
Zacken  des  großen  Sägemuskels.  Die  Begrenzungslinien  der  Weichen 
strecken  sich  in  die  Länge,  und  die  Grenze  zwischen  dem  geraden 
und  dem  äußeren  schiefen  Bauchmuskel  (Fig.  14  zwischen  Nr.  ii  und 
Nr.  12)  markiert  sich  durch  Tieferwerden  der  Furche. 

Bei  der  Betrachtung  von  vorn  wird  die  ganze  Skelettlücke  an  der 


136  Fünfter  Abschnitt. 

vorderen  Seite  des  Brustkorbes,  d.  h.  der  untere  Rand  des  Thorax,  in 
weiterer  Ausdehnung  sichtbar,  als  dies  jemals  in  der  Ruhe  der  Fall  ist: 
die  Spitze  des  Schwertknorpels,  der  Rand  der  zu  dem  Brustbeinende 
aufsteigenden  Rippenknorpel,  selbst  die  Enden  der  freien  Rippen, 
welche  zwischen  den  Bauchmuskeln  stecken,  treten  hervor.  An  einem 
mageren  Modell,  das  gleichzeitig  die  Prozedur  des  tiefen  Atemholens 
versteht  und  den  Atem  dann  einige  Sekunden  anzuhalten  vermag,  laßt 
sich  selbst  die  Verlaufsrichtung  der  einzelnen  Rippen  durch  die  Brust- 
und  Bauchmuskeln  hindurch  genau  verfolgen. 

Während  der  von  knöchernen  Spangen  und  der  Wirbelsäule  gebaute 
Brustkorb  bei  der  tiefen  Einatmung  an  Umfang  zunimmt,  verklei- 
nert sich  2)  die  Wölbung  des  Unterleibes,  dieselbe  sinkt  ein,  und 
zwar  imi  so  stärker,  je  mehr  sich  der  Brustkorb  erweitert  (Fig.  14  S.61). 
Das  rührt  davon  her,  daß  in  dem  unteren  Thoraxende  jetzt  ein  größerer 
Teil  der  verschiebbaren  Baucheingeweide  Platz  findet.  Sie  werden  mit 
in  die  Höhe  gezogen,  weil  sie  in  dem  Brustkorb  durch  Vermittelung  des 
Zwerchfells  und  anderer  Vorrichtungen  aufgehängt  sind.  Dieses  Ein- 
ziehen des  Unterleibes  ist  folgender  Art:  Dicht  an  dem  unteren  Ende 
des  Brustkorbes  sinkt  die  Bauchwand  gegen  die  Mittellinie  und  g^n 
d^n  Nabel  hin  tief  ein.  Unter  dem  Nabel  ist  die  frühere  Wölbung 
weniger  abgeplattet,  denn  die  Hautspannung  zwischen  den  vorderen 
Darmbeinstacheln  und  der  Leistengegend  setzt,  in  Verbindung  mit  den 
geraden  Bauchmuskeln,  dem  allzu  starken  E^inziehen  des  Leibes  in 
diesem  Bereich  ein  natürliches  Hindernis  entgegen.  Vergleiche  neben 
dem  Modell  auch  den  Laokoon  und  den  Fechter. 

Bei  dem  starken  Einatmen  tritt  mit  zwingender  Notwendigkeit 
3)  eine  aufrechte  Körperhaltung  ein.  Die  Schulter  hebt  sich  und 
stellt  sich  mehr  an  die  Seite  des  Rumpfes  und  etwas  nach  rückwärts,  die 
inneren  Rander  der  Schulterblätter  nähern  sich,  die  Furche  zwischen  ihnen 
wird  also  tiefer.  Die  Krümmung  der  Wirbelsäule  im  Hals  und  im  Lenden- 
toil  wird  stärker,  herbeigeführt  durch  die  kräftige  Zusammenziehung  der 
Rückenstrecker,  deren  Bäuche  sich  als  rundliche  Stränge  zu  beiden  Seiten 
der  lAMulenwirbelsäule  m;irkieren.  Bei  dieser  Stellungsänderung  der 
Schulterblätter  hilft  der  Kappenmuskel  ebenfalls  mit,  und  je  kräftiger 
sein  Bau,  um  so  bedeutender  ist  seine  Wölbung  im  Bereich  des  Rückens, 
und  um  so  mehr  treten  einzelne  seiner  Muskellinien  hervor. 

Die  Formveränderungen  des  Thorax  bestehen  4)  in  einer  Ver- 
enge ruup  in  allen  Durchmessern  bei  der  Ausatmung.  Im  normalen 
Zustande  kehrt  dabei  der  Brustkorb  in  die  Ausgangsstellung  zurück 
und  nimmt  jene  Form  an,  welche  er  an  dem  ruhenden  Menschen  be- 
sitzt. Kino  Wsondore  Beschreibung  dieser  Rückkehr  zu  der  Ausgangs- 
Htollung  ist  unnötig. 


Knochen  des  Stammes.  137 

Dagegen  ist  des  großen  mechanischen  Widerstandes  zu  gedenken, 
den  der  nach  tiefer  Einatmung  mit  Luft  gefüllte  Thorax  dem  Muskel- 
druck oder  dem  Gewicht  irgend  einer  Belastung  entgegensetzt.  Die 
iu  den  Lungen  enthaltene  Luft  ist,  sobald  die  Stimmiitze  im  Kehlkopf, 
geschlossen  wird,  in  das  Innere  des  Brustraumes  festgebannt.  Sie  ist 
ferner  nicht  trocken,  sondern  mit  Wasserdampf  gesättigt.  Das  alles 
macht  schon  für  sich  den  mit  Luft  gefüllten  Brustkorb  sehr  widerstands- 
fähig. Dazu  kommt  noch,  daß  die  Rippen,  das  Brustbein,  die  Wirbel- 
säule und  die  Verbindmig  dieser  Teile  unter  sich,  ferner  das  zwischen 
den  Muskelwänden  in  den  verschiedensten  Richtungen  hindurchziehende 
feuchte  Gewebe  den  Widerstand  erheblich  vermehren.  So  geschieht 
es,  daß  nach  einer  tiefen  Einatmung  eine  Kompression  der  Wände 
unter  natürlichen  Umständen  ausgeschlossen  ist,  so  lange  der  Atem 
angehalten  wird. 

Ein  solcher,  wenn  auch  nur  vorübergehender  Zustand  erhöhter 
Festigkeit  des  Thorax  ist  unerläßlich,  soll  eine  größere  Kraftan- 
strengung ausführbar  werden.  Deshalb  holt  man  tiefen  Atem,  sobald 
irgend  eine  Last  fortbewegt  werden  soll.  Ohne  daß  jemals  die  Auf- 
merksamkeit auf  diesen  Umstand  gelenkt  worden  wäre,  führt  dennoch 
jeder  diese  Füllung  der  Lungen  aus,  ehe  er  sich  an  die  Arbeit  macht. 
Und  dies  ist  eine  so  unerläßliche  Notwendigkeit,  daß  sie  mit  unserem 
ganzen  Wesen  auf  das  innigste  zusammenhängt.  Wir  machen  auch 
dann  eine  tiefe  Einatmung,  sobald  wir  einen  für  uns  wichtigen  Ent- 
schluß fassen,  der  schwer  ausführbar  scheint.  Eine  tiefe  Inspiration 
tritt  ferner  als  Mitbewegung  auf,  wenn  wir  der  vennehrten  An- 
strengung eines  Menschen  zusehen,  der  eine  Last  mit  dem  Aufwand 
aller  seiner  Kraft  hebt,  besonders  dann,  wenn  wir  glauben,  die  Kraft 
könnte  nicht  vollkommen  ausreichen.  Ja,  wir  schließen  sogar  die 
Stimmritze  und  halten  den  Atem  in  der  gefüllten  Brust  zurück,  ge- 
rade so,  als  ob  wir  selbst  in  dem  Fall  wären,  die  Last  fortbewegen 
zu  müssen. 

Es  giebtin  dem  gewöhnlichen  Leben  unzählige  Gelegenheit,  die 
Mechanik  dieses  Vorganges  an  sich  selbst  zu  beobachten,  und  die  Kunst 
hat  schon  wiederholt  den  körperlichen  Zustand  tiefer  Einatmung  in 
seinen  einzelnen  Phasen  dai'gestellt. 

Ist  eine  mit  einem  Ring  versehene  schwere  Kugel  mit  dem  rechten 
Arm  in  die  Höhe  zu  heben,  so  erfolgt  vor  dem  Anfassen  eine  tiefe 
Einatmung,  und  der  Atem  wird  so  lange  angehalten,  bis  die  Kugel 
in  der  Gleichgewichtslage  auf  dem  gestreckten  Arm  über  den  Kopf 
emporgehoben  ist.  Dann  erst  kann  eine  Ausatmung  ungehindert  statt- 
finden, ja  in  diesem  letzten  Abschnitt  der  Handlung  ist  im  Vergleich 


1 38  Fünfter  AbwdmiU. 

ZU  der  unniittelbar  vorauHgegangeDen  ÄDstrengung  sogar  ein  gewi^»spr 
Grad  von  Ruhe  und  Erholung  möglich. 

Das  Autlieben  der  Kugel  von  dem  Boden  geschieht  zunächst  da- 
durch, daß  der  gebeugte  Kumpf  durch  die  Sückenmuskeln  allmählich 
geradegestreckt  und  das  Becken  auf  den  Gelenkköpfen  der  Ober- 
schenkelknochen emporgedreht  wird.  Während  dieser  Zeit  hängt  die 
Kugel  an  dem  gestreckten  Arm,  und  würde  die  rechte  Thoraxhälfte 
zusammendrücken  und  nach  der  entgegengesetzten  Seite  hinüberschieben, 
wenn  nicht  beide  Lungen  vollständig  mit  Luft  gefbUt  wären,  und  so 
gleichzeitig  der  Wirkung  des  Zuges  Widerstand  leisteten.  Noch  viel  mehr 
springt  der  EinHuß  eines  solchen  Gewichtes  auf  den  Brustkorb  in  die 
Augen,  sobald  man  sich  jenen  Moment  vergegenwärtigt,  in  welchem 
die  Kugel  unter  allmählicher  Streckung  des  Armes  über  die  Kopf- 
höhe hinaufsteigt.  Die  Heber  der  Schulter  und  des  Schulterblattes, 
welche  von  den  Rippen  entspringen  und  die  Kugel  dadurch  höher 
heben,  daß  sie  das  Schulterblatt  mitsamt  dem  daran  hängenden  Arm 
drehen,  bedürfen  eines  festen  Ansatzpunktes,  der  unnachgiebig  ist  und 
dem  Gewicht  des  Armes  und  der  daran  hängenden  Kugel  Widerstand 
leistet,  welche  zusammen  ein  Gewicht  von  mehr  als  100  Kilogramm 
ausmachen.  Im  Zustand  der  Ausatmung  besitzt  der  Thorax  diese 
Resistenz  nicht,  erst  nach  tiefer  Lispiration  verhält  er  sich  wie  ein 
Gewölbe,  das  von  allen  Seiten  gestützt  ist.  Denn  jene  Brusthälfte, 
auf  welche  die  Last  zunächst  wirkt,  wird  abgesehen  von  der  in  ihrem 
Inneren  vorhandenen,  mit  Wasserdampf  gesättigten  Luft  auch  noch 
gestützt  von  der  ebenso  gefüllten  anderen  Brusthälfte.  ^ 

In  einer  überaus  vollendeten  Weise  ist  der  Druck,  von  dem  hier 
die  Rede  ist,  an  der  Figur  des  Laokoon  zu  sehen.  Die  beiden  Arme 
stemmen  sich  gegen  die  umschnürenden  Windungen  der  Schlangen.  Der 
eine  Arm,  erhoben,  sucht  durch  Strecken  das  Unheil  abzuhalten,  während 
der  andere  in  gesenkter  Stellung  die  gleiche  Aufgabe  in  veiünderter 
Form  auszuführen  sucht. 

Sieht  man  gänzlich  ab  von  jeder  psychischen  Errpgung  und  be- 
rücksichtigt man  lediglich  die  Mechanik,  so  wird  klar,  daß  beide  Arme 
ihren  Stützpunkt  an  dem  Brustkorb  besitzen  und  sich  gegen  die  erit- 

*  Ifit  die  Größe;  dvr  Ku^ol  und  die  Stärke  des  Individuums  in  einem  richtigen 
Verhältni»,  so  kann  die;  Kufi^el  fjehoben  werden,  wälirend  der  entgegengtisetzte  Ann 
fi^estreckt  ist.  Immerhin  ist  auch  hierfür  nwh  Übung  erforderlich,  d.  h.  die  genügende 
IntcmsiUit  der  Zusammenziehung,  in  der  zweckmüßigsten  Reihenfolge  ausgeftihrt  mit 
Ausschluß  aller  nicht  unbedingt  notwendigen  Mitbeweguiigen.  Dann  erscheint  das 
Üb(Twind<Mi  der  Last  nicht  als  Qual,  sonihTu  als  eine  I^eistung  vorhapdener  aus- 
reichender Kraft,  ja  so  kann  die  I^wegung  se^lbst  graziös  genaimt  werden,  sofern 
Grazie  ==  Anmut  in  j(»der  Hewegimg  liegt,  die  mit  dem  geringsten  Aah^and  von 
Kraft  ausgeführt  wird. 


Knuchen  des  Staniiut«.  139 

setzlicke  und  verderbeubringendc  Last  anstemmen,  die  hier  als  Muskel- 
kraft des  Ungetüms  auf  den  Brustkorb  drückt.  Denkt  man  «ich  von 
der  Mitte  der  rechten  Hand  eine  Linie  nach  dem  Stützpunkt  des  Körpei-s 
(Mitte  des  Sitzes),  so  hat  man  die  Richtung,  in  welcher  der  Druck 
von  dem  rechten  Arm  aus  auf  die  rechte  Brusthälfte  wirkt.  Die  ideale 
Mittellinie  des  Druckkegels  von  dem  linken  Arm  aus  ist  gegen  einen 
Punkt  gerichtet,  der  zwischen  Brustbeinkörper  und  dem  entsprechenden 
Rückenwirbel  liegt.  Die  Brust  des  mit  dem  Tode  ringenden  Laokoon 
ist  wie  zwischen  eine  Schraube  geklemmt,  welche  sich  mit  unerbitt- 
licher Stetigkeit  zusammenschnürt.  Noch  ist  die  Brust  hoch  gerüllt 
mit  Luft,  noch  hält  sie  Widerstand,  noch  ist  der  Atem  festgehalten  — 
allein  schon  ist  der  Mund  geöffnet,  die  Natur  des  Menschen  fordert 
das  Ausatmen,  und  damit  muß  in  dem  nächsten  Augenblick  der  Thorax 
zusammensinken.  Die  Muskeln  des  Oberarmes  verlieren  dadurch  ihre 
Stützpunkte,  sie  werden  in  den  Gelenken  zusammengeknickt,  und  das 
Drama  eilt  damit  schnell  seinem  Abschluß  entgegen,  den  das  Aus- 
einanderweichen der  Lippen  schon  einleitet. 

Während  Laokoon  ein  vortreffliches  Beispiel  ist,  nicht  allein  dafür, 
wie  die  Brust  und  die  Luft  in  ihr  mittragen  und  mitheben,  sondern 
auch  dafür,  wann  sie  es  thun,  d.  h.  nur  im  Zustand  der  höchsten 
Füllung  der  Lungen,  wobei  der  Thorax  weit  ausgedehnt,  der  Unterleib 
aber  eingesunken  ist,  wird  aitdererseits  der  Borghesische  Fechter 
ein  ebenso  lehrreiches  Exempel  dafftr,  daß  schon  die  Vorbereitung  für 
das  überwinden  einer  Last  oder  der  Entschluß  zu  einer  kraftvollen 
That  dieselben  Ansprüche  an  den  Mechanismus  der  Respiration  stellt. 
Nehmen  wir  an,  es  sei  in  dem  Fechter  ein  Krieger  dargestellt,  der 
mit  dem  rechten  Arm  bereit  sein  muß,  den  verderbenbringenden  Stoß 
zu  flihren,  während  der  linke  mit  dem  Schild  die  drohende  Gefahr 
abzuhalten  hat,  so  erheischen  die  Schnelligkeit  wie  die  Kraft,  daß 
die  Ursprungspunkte  für  die  sämtlichen  Schulter-  und  Brustmuskeln 
unnachgiebig  festgestellt  seien,  damit  der  Befehl  zur  Zusammen- 
ziehung irgend  einer  Muskelgruppe,  sei's,  daß  sie  einen  der  Arme 
nach  vorn  bewegen  soll,  sei's  nach  hinten  oder  wie  immer,  sofort  auf 
den  Angriffspunkt  übertragen  werde.  Es  muß  das  Skelettgerüste  des 
Thorax  durch  Füllung  mit  Luft  gleichsam  hai-t  gemacht  sein,  damit 
nicht  die  Kontraktion  der  Muskeln  die  Rippen  verschiebe  und  dadurch 
Kraft  vergeudet  werde,  sondern  die  Brust  —  unnachgiebig  wie  eine 
Säule  —  nur  eine  Verschiebung  des  Armes  gestatte.  Aus  diesem 
Grunde  ist  bei  dem  Fechter  während  der  höchsten  Anspannung  der 
Kraft  und  der  Energie  auch  die  Brust  hoch  gehoben,  der  Unterleib 
aus  dem  schon  oben  erwälmtcn  Grunde  eingesunken.  Weil  dieser 
Zustand,  wie  alle  Menschen  aus  eigener  Erfalirung  wissen,  um*  ganz 


140  Fünfter  Abflchnitt. 

kurze  Zeit  währen  kann,  da  der  Organismus  schon  nach  wenigeu 
Sekunden  eine  neue  Inspiration,  also  eine  vorhergehende  Kntleening 
der  Lungen  fordert,  so  tritt,  wenn  auch  nur  vorübergehend,  eine  Ab- 
nahme der  Kraft  mit  physiologischer  Notwendigkeit  ein.  Diese  Vorstellung 
erweckt  in  uns  das  Bewußtsein,  bei  diesen  und  ähnlichen  Kunstwerken 
wie  bei  wirklichen  Situationen,  daß  der  Augenblick  der  Entscheidung 
unmittelbar  bevorsteht.  Sieg  oder  Tod  stehen  hart  nebeneinander,  und 
diese  Empfindung,  bewußt  oder  unbewußt,  steigert  unser  Interesse. 
Abgesehen  von  allen  anderen  Mitteln,  welche  in  dem  hier  gewählten 
Beispiel  auf  uns  wirken,  ist  die  Füllung  der  Brust  mit  Luft  eine  jener 
Hauptformen  des  Kunstwerkes,  welche  den  Eindruck  siegreicher  SjüA 
und  schneller,  zielbewußter  Bewegung  heiTorbringen. 

Der  große  Gegensatz  in  dem  Verhalten  des  Thorax  tritt  sehr  an- 
schaulich hervor  in  den  ohne  Andeutung  einer  besonderen  Thätigkeit 
ruhig  stehenden  Athletenbildern.  Die  Höhe  der  vorderen  Brust- 
fläche ist  nur  wenig  verschieden  von  derjenigen  des  Unterleibes.  In 
dem  sterbenden  Fechter  bringt  es  das  Vorbeugen  des  Körpers  mit 
sich,  daß  die  Brust  sogar  tiefer  liegt,  als  der  gewölbte  Unterleib. 
Übrigens  darf  man  annehmen,  daß  hier  die  Brust  ausgeatmet  hat; 
WiNCKELMANNs  Bemerkung,  man  sehe  deutlich,  wie  viel  von  der  Sede 
bereits  entwichen,  prägt  sich  auch  in  der  Form  des  Thorax  aus. 

Die  Mechanik  der  oben  erörterten  Bewegungen  verlangt,  daß  die  Ver- 
bindung der  sieben  wahren  Rippen  mit  dem  Brustbein  nicht  absolut  fest,  sondern 
ebenfalls  durch  einfache  Gelenke  hergestellt  werde,  und  daß  die  Rippenknorpel 
der  falschen  Rippen  sich  gleichfalls,  wenn  auch  in  geringem  Grade  aneinander  ver- 
schieben können  (Rippenknorpelgelenke).  So  ist  es  durch  die  Einrichtung  der  Gelenke 
möglich  geworden,  dem  Brustkasten  eine  fiir  das  Atmen  unerläßliche  Bew^lich- 
keit  zu  geben.  Dadurch,  daß  sein  Gerüste  aus  einzelnen  Spangen  besteht,  die  so- 
wohl in  ihrem  knöchernen  als  besonders  in  ihrem  knorpeligen  Teil  einen  bedea- 
tenden  Grad  von  federnder  Kraft  besitzen,  während  die  Zwischenrippenräume  von 
nach^ebigen  Muskeln  und  Sehnen  ausgefüllt  sind,  erreichte  die  Natur  nicht  nur 
Ftujtigkcit,  sondern  gleichzeitig  einen  großen  Grad  von  Elastizität  Ohne  diese 
hitztere  Eigenschaft:  wäre  das  Atmungsgeschäft,  sobald  es  durch  die  Arbeit  eine 
etwas  stärkere  Ausdehnung  gewinnt,  zu  einer  unerträglichen  und  erschöpfenden 
ArheJl  j;ewonlen;  aber  so  ist  die  vermehrte  Spannung  des  Brustkorbes  sowie 
di(^  Wiederkehr  zur  normalen  Lage  durch  seine  federnde  Kraft  vereinfacht  und 
erleichtert.  Von  welcher  Bedeutung  diese  Eigenschaft  sei,  zeigt  die  ermüdende 
Beschwerde  tieferen  Atmens  beim  Greise;  denn  der  Rippenknochen  ist  wie  alle 
anderen  Knochen  spröde  geworden,  der  Rippenknorpel  hat  seine  Biegsamkeit  ver- 
loren, und  die  Rippenf^elenkc  sind  steif.  Die  Muskeln  suchen  mit  übermäßiger 
Anstreiij^uif?  den  starr  gewordenen  Brustkorb  zu  heben,  eine  Anstrengung,  die  bald 
den  Rest  der  schwachen  Kraft  zerstört,  und  in  Kürze  eine  lähmende  Ermüdung 
\nt\  forciertem  Atmt^n  hervorruft.  J 

In  d<T  Elastizität  de«  Rippenkorbes  liegt  gleichzeitig  ein  mächtiger  Schutz 
(fi'gen  die.  Einwirkung  zci'störender  Gewalten,   welche  ohne  diese  Eigenschaft  das 


Knoohfn  des  Stummes.  141 

Gerüste  durch  Druck  oder  Stoß  zerstören  würden.  Die  Balancierstange,  an  der 
ein  Jongleur  seine  Exerzitien  macht,  würde  die  Hrust  des  Athleten,  der  sie  auf  der 
Brust  trägt,  ebenso  sicher  eindrücken,  wie  der  Ainbos,  der  auf  seiner  Brust  ruht 
und  durch  Schmiedehämmer  erschüttert  wird,  oder  wie  der  Anprall  der  eisernen 
Kugel,  die  er  in  die  Luft  schhuidert  und  mit  vorgehaltener  Brust  auffängt.  Die 
Elastizität  allein  ist  es,  die  solch  gefährliches  Spiel  gestattet.  Ohne  sie  würden  die 
Knochen  zerbrci'hen. 

Um  bei  solchen  Anstrengungen  dem  Ausweichen  der  Ri])])en  niu'h  hinten 
vorzubeugen,  sind  die  zehn  oberen  Rippen  durch  die  Rippenhöcker  gegen  die 
Querfortsätze  der  Brustwirbel  so  gestellt,  daß  sie  sich  wie  an  ein  Widerlager  an- 
stemmen. 

Wie  die  Füllung  der  Brust  mit  Luft  von  wesentlichem  Kiiifluß 
auf  die  Bewegung  der  Arme  ist,  so  hängt  jene  hinwiederum  ab  von  der 
Stellung  der  Arme.  Aufheben  der  Anne  wölbt  die  Brust,  ebenso  wie 
das  Zun\ckziehen  der  Schultor  bei  gerader  Haltung.  Ziehen  sich  näm- 
lich die  breiten  Riickenmuskeln  so  zusammen,  daß  sich  die  Schulter- 
blätter nähern,  so  tritt  in  demselben  Augenblick  die  Brust  heraus 
und  der  Unterleib  shikt  ein.  Die  in  ihrer  Stellung  festgehaltenen 
Schulterblätter  und  Arme  ziehen  die  zehn  oberen  Rippen  samt  dem 
Brustbein  in  die  Höhe,  der  Kaum  in  dem  Thorax  erweitert  sich  all- 
seitig, und  ein  Teil  der  Baucheingeweido  tindet  unter  dem  erweiterten 
Räume  Platz,  wodurch  die  Rundung  des  Unterleibes  sich  naturgemäß 
veiTingert.  Dasselbe  ist  der  Fall  bei  dem  Hochheben  der  Arme.  Christus 
am  Kreuze,  ebenso  wie  die  beiden  Schacher  müssen  also  mit  hoher 
Brust  und  Hachem,  etwas  eingesunkenem  Unterleib  dargestellt  werden. 

Mit  dem  Herabsinken  der  Anne  kehrt  auch  die  Brust  in  ihre 
Ausgangsstellung  zurück. 

Die  Größe  des  Thorax  an  sich  besitzt  schon  eine  bestimmte 
physiognomische  Bedeutung,  von  der  oben  bereits  vorübergehend  die 
Rede  war.  Nachdem  gezeigt  worden  ist,  daß  der  Brustkorb  unter 
dem  Einfluß  der  Respiration  bedeutender  Bewegung  fähig  ist,  und  daß 
damit  auch  Bewegungen  an  dem  Unterleib  verbunden  sind,  ist  es  am 
Platz,  darauf  hinzuweisen,  daß  die  Haltung  des  Rumpfes  u.  a.  von 
der  Tiefe  der  Atemzüge  abhängt,  und  daß  sich  damit  die  ganze  Kr- 
scheinung  des  menschlichen  Wesens  ändert. 

Die  in  die  Bnist  geworfene  Haltung  imjioniert  uns  als  der  Ausdruck 
willkürlicher  Krafbanspaunungf  die  gekrümmte  Wirbelsäule,  bei  der  die 
Brust  einsinkt,  macht  dagegen  den  Eindruck  nachlässiger  Schlafflieit. 
Und  zwar  mit  Recht,  denn  zu  ersterer  gehöi-t  mehr  Anstrengung  der 
Muskeln.    Die  Wirbelsäule  knickt  bei  SchlaflFlieit  von  selbst  durch  die 

« 

Last  der  Eingeweide,  der  Brust  und  des  Bauches  vornüber,  was 
durch  die  Anspannung  der  langen  Streckmuskeln  wieder  aufgehoben 
wird. 


142  f^ünfler  Abschnitt. 

Uns  allen  ist  es  von  klein  auf  anerzogen,  sich  „gerade  zu  halten^ 
d.  h.  die  Brust  herauszustrecken,  den  Unterleib  und  den  Hals  mit 
dem  Kopf  zurückhalten.  In  höherem  Grade  noch  wird  diese  ordonnanz- 
mäßige Positur  auf  dem  Wege  des  Exerzierreglements  verbreitet.  Diese 
gerade  Haltung  ist  aber  nicht  bloß  schön,  sie  hat  auch  bestimmt« 
Vorteile  für  die  Gesundheit;  denn  der  Raum  für  die  Lungen  wirf 
bei  der  gestreckten  Wirbelsäule  durch  die  damit  verbundene  stärisere 
Wölbung  der  Brust  größer;  die  Lungen  sind  mehr  mit  Luft  gefiillt 
und  können  fi^eier  atmen,  als  bei*  der  nachlässigen  Haltung,  die  den 
Brustkorb  zusammendrückt. 

Mit  diesen  beiden  verschiedenen  Haltungen  des  Rumpfes  hanno- 
niert  auch  der  Gang,  den  man  in  dem  einen  Fall  kräftig,  sicher 
nennen  kann,  während  er  in  dem  anderen  schleppend  ist. 

Die  successiven  Stellungen  der  Beine  beim  Gehen  zwingen  uns,  mit 
dem  einen  Beine  den  Rumpf  nach  vorwärts  zu  schieben.  Das  eine  Bein 
befindet  sich  zu  dem  Ende  zuletzt  in  äußerster  Ausstreckung  aller  seiner 
Gelenke,  namentlich  auch  des  Kniegelenkes,  wogegen  gleiclizeitig  das 
andere,  auf  dem  der  Oberkörper  ruht,  im  Knie  etwas  eingeknickt  ist 
Streckt  sich  das  eine  Bein  vollständig,  namentlich  auch  in  dem  Knie- 
gelenk, so  ist  damit  die  Bedingung  eines  kräftigen  Ausschreitens  ge- 
geben, und  der  ganze  Gang  wird  gleichzeitig  elastisch,  mühelos  — 
frisch  erscheinen. 

Wird  dagegen  das  nachstemmende  Bein  im  Knie  nicht  ganz  aus- 
gestreckt, sondern  setzt  es  sich  noch  etwas  gebeugt  alsbald  wieder  unter 
den  nach  vorn  weiter  getragenen  Rumpf,  so  schleppt  sich  das  andere 
Bein  mehr  nach,  und  der  Gang  zeigt  die  nachlässige  Manier,  die  man 
täglich  auf  der  Straße  sehen  kann.  Der  Mann  mit  dem  buckligen  ge- 
krümraten Rücken  schleift  auch  seine  Beine  nach,  sonst  die  charak- 
teristische Ei'scheinung  des  tief  Ermüdeten  und  des  Greises. 

„Es  ist  der  Geist,  der  sich  den  Körper  baut." 

Die  Mechanik  der  Atmung  wird  vollzogen  durch  die  Zugkraft  der 
Muskeln  und  die  Elastizität  der  Lungen  und  des  Brustkorbes.  Wäh- 
rend die  Muskeln,  ohne  den  Einfluß  unseres  Willens  und  unserer  Auf- 
merksamkeit, den  Thorax  z.  B.  bei  dem  tiefen  Atemholen  in  die  Höhe 
heben,  geschieht  das  Ausstoßen  der  Luft  durch  die  natürliche  Elastizität 
der  Lungen  und  des  Brustkorbes.  Beide  kehren  vermöge  ihrer  natür- 
lichen Elastizität  in  die  Ausgangslage  zurück.  Bei  dem  ruhigen  oder  dem 
Abdominalatmen  spielt  das  gewölbte  Zwerchfell  die  Hauptrolle.  Seine 
Kui)pel  flacht  sich  ab,  die  unteren  Teile  der  Lungen  erhalten  vor- 
zugsweise Raum  und  dehnen  sich  aus,  während  die  in  der  Nähe  des 
Halses  befindlichen  Spitzen  nur  wenig  Luft  aufnehmen.  So  während 
der  ruhigen  Haltung  unter  Tags  und  während  des  Schlafes.    Bei  dem 


Knochen  des  Stamme«.  143 

tiefen  Atemzuge  hebt  sich  dagegen  der  ganze  Brustkorb,  und  die 
Luiigen  werden  von  der  Spitze  an  bis  herab  zu  den  untersten  Kändern 
in  erhöhtem  Grade  mit  Luft  geftUlt.  Bei  körperlichen  Anstrengungen, 
bei  heftiger  leidenschaftlicher  Erregung  findet  immer  tiefes,  volles  At- 
men statt,  und  die  starken  Bewegungen  der  Brust,  das  Heben  und 
Senken  kann  man  selbst  durch  die  Kleidung  hindurch  wahrnehmen. 
Bei  angestrengter  Atmung  sind  denn  auch  sehr  viele  Muskeln  thätig, 
und  ihre  Zusammenziehung  läßt  sich  direkt  am  Lebenden  nachweisen; 
da  arbeiten  die  Eopfnicker  zu  beiden  Seiten  des  Halses  und  heben 
Schlüssel-  und  Brustbein  hinauf;  der  Kappenmuskel,  der  kleine  Brust- 
muskcl,  die  Strecker  der  Wirbelsäule  (denn  mit  dem  Strecken  der 
Wirbelsäule  erheben  sich  auch  die  Rippen),  endlich  der  große  Säge- 
muskel: alle  ziehen  mit  ihren  Zacken  gleich  ebensovielen  Zugseilen 
die  einzelnen  Rippen  in  die  Höhe.  Schon  bei  der  strammen  Haltung, 
welche  die  Arme  von  ihrer  nach  vorn  geschobenen  Lage  an  die  Seite 
des  Körpers  zurückbringt,  helfen  die  Muskeln  den  Thorax  vergrößern 
und  folglich  die  Lunge  mit  ehieni  größeren  LufUjuantum  erfllillen.  Ks 
ist  bemerkenswert,  daß  der  Brustkorb  bei  dem  forcierten  Atmen,  wie 
es  die  gute  Haltung,  viel  Aufenthalt  und  Bewegung  in  freier  Luft, 
als  Jagen,  Turnen,  Reiten  u.  s.  w.,  mit  sich  bringen,  nicht  nur  mo- 
mentan an  Raum  gewinnt,  sondern  auch  dauernd. 

So  kann  die  körperliche  Erziehung  durch  ein  weises  Maß  von 
Anstrengungen  die  großen,  an  dem  Brustkorb  befindlichen  Muskeln 
üben  und  damit  die  Lungen  und  die  Gesundheit  steigern.  Es  giebt 
Beweise  genug  dafür,  daß  selbst  bei  jungen  Ijeuten  von  18 — 20  .Fahren 
der  ganze  Bau  des  Brustkorbes  noch  einer  beträchtlichen  Erweiterung 
unter  solchen  Umständen  fähig  ist. 

Die  außerordentliche  Beweglichkeit  des  Brustkorbes  durch  He- 
ben und  Senken  tritt  bei  der  sogenannten  künstlichen  Respiration 
Scheintoter  (Asphyktischer)  in  ein  glänzendes  Licht.  Hat  die  Respi- 
ration aufgeholt,  besU^ht  aber  auch  nur  die  geringste  Hoflnung,  das 
Leben  durch  Zufuhr  frischer  Luft  noch  zu  retten,  so  wird  die 
künstliche  Respiration  eingeleiU^t.  Der  Körper  liegt  auf  einem 
Tisch,  ein  kleines  Kissen  unter  dem  Kopf.  Man  faßt  die  beiden 
Anne  und  führt  sie  in  die  Höhe.  Sofort  erhebt  sich  unter  dem 
EinHuß  des  Muskelzuges,  wie  bei  dem  Lebenden  unter  den  gleichen 
Umständen,  die  gesamte  Brust,  und  die  Luft  dringt  in  die  Lunge:  es 
erfolgt  I^^natmung.  Werden  dann  die  Arme  an  die  Seiten  des 
Körpers  zurü(;kgeführt,  so  hört  der  Muskelzug  auf,  der  Thorax  jhikt 
zusammen  und  die  Lungen  atmen  aus.  Dabei  hört  man  die  Luft 
mit  Geräusch  durch  den  Kehlkopf  in  die  Lungen  ein-  und  aus- 
streichen, und  der  Asphyktische  scheint  wie  ein  Lebender  zu  atmen. 


144  Fünfter  AtMchnitt 

Dieses  künstliche  Atemholen  bringt  oft  die  erloschene  Herzthätigkeit 
wieder  in  den  Gang.  Das  Herz  liegt  ja  zwischen  den  beiden  Lungen, 
also  im  Gentium  des  Luftherdes,  die  Bewegung  der  Lungen  be- 
wegt auch  Teile  des  Herzens,  und  dadurch  entsteht  ein  Reiz,  der 
oft  noch  eine  Stunde  nach  dem  Stillstand  der  Atemzüge  und  des 
Herzschlages  die  Bemühungen  um  Rückkehr  des  Lebens  mit  Erfolg 
gekrönt  hat.  Der  passive  Zug  selbst  an  den  leblosen  Muskeln  vermag 
die  Mechanik  der  Atmung  auch  an  dem  Thorax  Sclieintoter  noch 
wirksam  zu  machen. 

Der  Tod  in  seiner  Wirkung  auf  die  Form  des  Tlionx« 

Mit  dem  Tode  nimmt  die  Brust  eine  charakteristische  Form  an, 
welche  derjenigen  nach  einer  tiefen  Einatmung  und  bei  Anhalten  de« 
Atems  auf  den  ersten  Blick  sehr  ähnlich  ist;  die  Brust  erscheint  näm- 
lich hoch  und  der  Unterleib  eingesunken,  obwohl  die  Lungen  in  dem 
ersten  Fall  übermäßig  mit  Luft  gefüllt  sind,  in  dem  zweiten  dagegen 
die  Atemluft  entleert  ist,  und  der  Brustkorb  in  dem  Zustand  der  Aus- 
atmung still  steht.  Die  nächste  Erklärung  dieses  Widerspruchs  liegt 
darin,  daß  die  Lungen  selbst  nach  dem  Tode  noch  eine  beträchtliche 
Menge  Luft  enthalten,  die  nicht  entweichen  kann,  so  lange  der  Brust- 
korb unverletzt  ist.  Man  schätzt  die  Menge  der  „Residualluft"  auf  1 — 1 Y, 
Liter.  Die  Lungen,  zwei  häutige  elastische  Säcke,  sind  nämlich  in  den 
Brustkorb  luftdicht  eingefügt,  und  nur  durch  eine  einzige  Röhre,  die 
Luftrölue  (Trachea)  mit  der  Atmosphäre  in  Verbindung  gesetzt.  Durch 
die  Nase  und  den  Mund  ist  zwar  der  Zutritt  der  Luft  gleichfalls  frei, 
aber  beide  Wege  führen  immer  nur  in  die  eine  Röhre.  Diese  Röhre 
spaltet  sich  in  zwei,  in  eine  für  die  rechte  und  in  eine  für  die  linke 
Lunge,  und  führt  durch  wiederholte  Teilung  in  das  dehnbare  elastische 
System  von  „Lungenbläschen",  in  welchen  der  Austausch  der  Respira- 
tionsgase und  die  Verdunstung  des  Wassers  stattfindet.  Die  lufthaltigen, 
mit  unzähligen  Luftgängen  und  Blutgefäßen  durchzogenen  weichen  Or- 
gane verlassen  niemals  die  Innenwand  des  Brustkorbes,  sondern  gleiten 
stets  in  innigster  Berührung  mit  den  glatten  Flächen  auf  und  nieder.  In 
dem  Brustkorb  findet  sich  sonst  nirgends  freie  Luft,  und  die  Lungen- 
säcke selbst  sind  ja  bis  auf  das  eine  Zufuhn^ohr  geschlossen.  Er- 
weitert sich  der  Brustkorb  noch  so  sehr,  die  Lungen  müssen  ihm  bis 
an  die  äußerste  Grenze  folgen,  und  atmen  wir  aus,  soweit  es  immer  die 
Elastizität  der  Rippen  erlaubt,  Lungenoberfiäche  und  Rippenwand  blei- 
ben doch  stets  in  Kontakt,  weil  eben  das  Respirationsorgan  luftdicht 
eiugeftigt  ist.  Aus  demselben  Grunde  können  sich  die  Lungen  nach 
dem  Tod  nicht  völlig  entleeren,   sondern  es  bleibt  eine  beträchtliche 


Knochen  den  Stamme«.  145 

Menge  „Rßsidualluft"  trotz  der  letzten  Ausatmung  im  Innern  der 
Lungen  zurück;  der  Brustkorb  bleibt  also  teils  wegen  der  noch  mäßig 
mit  Luft  gefüllten  Lungen ,  teils  wegen  der  Widerstandsfähigkeit 
seiner  Wandungen  selbst  im  Tode  verlmltnrsmäßig  hoch  und  sieht 
keineswegs  zusammengesunken  aus.  Was  durch  das  „Entweichen  des 
Atems"  im  Innern  des  Körpers  an  Raum  gewonnen  wurde,  dient  jetzt 
zur  Vergrößerung  der  Bauchhöhle.  Das  Zwerchfell  steigt  nämlich  mit 
der  Verkleinerung  der  Ijungen  beträchtlich  in  die  Höhe  im  Vergleich 
zu  demjenigen  Stand,  den  es  während  des  Lebens  inne  hatte.  Da- 
durch nimmt  der  unterhalb  des  Zwerchfelles  befindliche  Raum  an  Aus- 
dehnung zu;  Leber,  Magen  und  Milz  rücken  mit  dem  Zwerchfell,  an  dem 
sie  befestigt  sind,  herauf,  und  andere  bewegliche  Teile  der  Bauchhöhle 
folgen  nach,  weil  alle  diese  Organe  untereinander  zusammenhängen.  Was 
von  ihnen  noch  unter  den  Rippen  Platz  findet,  verringert  den  Umfang  des 
weichen  Unterleibes,  der  infolgedessen  einsinkt.  Dadurch  ist  der  Gegensatz 
zwischen  der  Höhe  der  vorderen  Brustfläche  und  derjenigen  des  Unter- 
leibes auch  im  Tode  vorhanden  und  scheint  auf  den  ersten  Augenblick 
ebenso  groß  zu  sein,  wie  nach  einer  forcierten  Einatmung  während 
des  Lebens.  Der  Unterschied  liegt  aber  darin,  daß  in  dem  letzteren 
Fall  der  Brustkorb  tliatsächlich  viel  höher  ist  und  der  Uuttn-leib  we- 
niger tief  eingesunken  ist. 

Die  christliche  Kunst  hat  in  ihren  Monumenten,  wo  es  sich  um  die 
Darstellung  von  Toten  handelt,  mit  dieser  Thatsache  zu  rechnen.  Die 
Beobachtung  lehrt  allerdings,  daß  dieser  ästhetische  Gegensatz  zwischen 
Brust  und  Bauch  nur  kurze  Zeit  nach  dem  Tode  bestehen  bleibt  und  bei 
einer  Verletzung  des  Thorax  sofort  verschwindet,  weil  dessen  luftdichte 
Beschaffenheit  in  diesem  Falle  zei'stört  ist.  Namentlich  wird  der  (Gegensatz 
durch  die  Fäulnisgase  aufgehoben,  welche  sich  in  der  Unterleibshölile  ent- 
wickeln und  die  Eingeweide  und  damit  den  Unterleib  aufblähen ;  die  nach- 
giebigen Bauchwandungen  wölben  sich  dann  hoch  empor,  während  der 
Brustkorb  nur  wenig  in  seiner  Fonn  verändert  wird.  Ehe  noch  die  Zer- 
setzung beginnt  und  die  Fäulnisgase  ilire  die  Form  des  Körpers  entstel- 
lende Wirkung  ausüben,  erscheinen  als  Vorboten  grünlidiblaue  Flecken 
in  der  Haut  und  namentlich  in  der  Haut  d(jr  Bauchwand.  Während  bis 
zu  jenem  Zeitpunkte  die  Leiche  das  Aussehen  eines  Schlafendon  vor- 
täuschen kann,  da  die  ästhetisch  schönen  Formen  des  Körpers  noch 
erhalten  sind,  wird  mit  dem  Beginn  der  Zersetzung  der  Eindruck 
ein  anderer.  Zu  dem  furchtbaren  und  zu  dem  erschütternden 
Gefühl,  das  der  Anblick  des  Toten  hervorruft,  kommt  jetzt  die  ab- 
stoßende Farbe  und  der  ekelerregende  Geruch  der  Verwesung.  Wir 
sehen  ein,  daß  der  Tote  jetzt  der  Erde  übergeben  werden  muß,  und 
daß  wir  uns  von  ihm  trennen  müssen,  wäre  er  uns  auch  noch  so  teuer. 

KOLLMANK,  Plastiache  AnAtomie,  10 


146  Sechster  AbechniU. 

Wir  ahnen  die  Gefahr,  welche  die  Nähe  einer  Leiche  uns  bringt,  denn 
der  Geruch,  das  über  die  Reinheit  der  Atmungsluft  wachende  Sinnes- 
organ, warnt  uns.  Der  Tiieb  der  Selbsterhaltung  beginnt  sich  zu 
regen,  bewüßt  oder  unbewußt,  und  wir  wenden  uns  ab. 

Mit  Recht  hat  die  Archäologie  den  auf  dem  Rücken  liegenden 
Niobiden  „sterbend**  genannt:  weder  Brust  noch  Unterleib  tragen  Spüren 
des  Todes  an  sich.  Dagegen  ist  Christus  im  Grab  von  Haks  Holbeix 
nicht  nur  als  Toter  dargestellt,    sondern  noch  mehr,    als  eine  in  der 

a 

Zersetzung  befindliche  Leiche,  an  welcher  Fäulnisflecken  den  Körper 
bedecken  und  das  gewaltigste  Zerstörungsmittel  der  Natur,  die  2Ier- 
setzung,  ihr  Werk  bereits  begonnen  hat. 


Sechster  Abschnitt. 

Skelett  der  Gliedmaßen. 

Li  dem  Bau  des  Skelettes  bieten  die  oberen  Gliedmaßen  mit  den 
unteren  manche  wichtige  Übereinstimmung.  Beide  haben  ihren  freien 
Teil,  der  zu  oberst  durch  einen,  tiefer  durch  zwei  Röhrenknochen  ge- 
stützt wird;  an  diese  reihen  sich  in  steigender  Menge  andere  an,  bis 
die  Fünfzahl  der  Finger  und  Zehen  en-eicht  ist.  Alle  Gliedmaßen  haben 
ferner  einen  besonderen  Skelettabschnitt,  der  den  freien  Teil  mit  dem 
Stamm  in  Verbindung  setzt.  Diese  unter  der  Haut  des  Rumpfes  ver- 
borgenen Teile  bilden  den  Gliedmaßengürtel.  Für  die  oberen  Glied- 
maßen stellen  sie  den  Brust-  oder  Schultergürtel  dar,  für  die  un- 
teren den  Beckengürtel. 

Die  oberen  und  unteren  Gliedmaßen  sind  dem  Rumpfe  aufgelagert, 
was  sich  für  die  oberen  noch  deutlich  erhalten  hat,  an  den  unteren 
dagegen  nicht  mehr  erkennbar  ist.  Trotz  dieser  wichtigen  Übereinstim- 
mungen, deren  volles  Verständnis  ein  vergleichender  Blick  auf  die  Fig.  1 
S.  25,  Fig.  2  S.  28  und  Fig.  45  S.  129  ergeben  wird,  sind  die  oberen 
und  unteren  Gliedmaßen  durch  ihren  Bau  und  ihre  Funktion  in  hohem 
Grade  verschieden.  Die  Verschiedenheit  ist  notwendig  durch  die  Be- 
stimmung des  Arms,  zahlreichen  Aufgaben  zu  dienen,  die  nur  durch 
ein  großes  Maß  von  Bewegliclikeit  zu  erfüllen  sind,  während  das 
Bein  wesentlich  zur  Stütze  des  Körpers  und  zu  dem  Organ  der  Orts- 
bewegung bestimmt  ist. 

Die  Arme  verdanken  ihre  außerordentliche  Beweglichkeit  dem  ge- 
ringen Zusammenhang   mit   den  Knochen   des  Stammes.     Jeder  Arm 


Skelett  der  GliedmaOen.  147 

hängt  nur  an  einer  einzigen  Stelle  mit  den  Knocken  des  Stammes  zu- 
sammen und  zwar  an  dem  Brustbeinhandgriff  durch  das  Schlüsselbein. 
Daher  stammt  die  große  mechanische  Bedeutung  des  letzteren.  Dieser 
einzige  Verbindungsknochen  hält  wie  ein  Strebepfeiler  die  Schulter  in 
gehöriger  Entfernung  (Fig.  45  Nr.  '«s  und  >  9,  S.  129).  Bricht  das  Schlüssel- 
bein entzwei,  so  sinkt  die  Schulter  und  damit  der  ganze  Arm  herab, 
und  die  freie  Beweglichkeit  ist  zerstört.  Das  Schulterblatt  selbst  hat 
gar  keine.  Knochenverbindung  mit  dem  Stamm,  sondern  ist  nur  durch 
Muskeln  befestigt. 

Die  Verbindung  des  Beines  mit  den  Knochen  des  Süimmes  ist 
durchaus  verschieden  von  derjenigen  des  Armes.  Im  Interesse  größerer 
Festigkeit  sind  die  beiden  Hüftknochen  nicht  wie  das  Schulterblatt 
beweglich,  sondern  durch  Verwachsung  mit  dem  Kreuzbein  zu  einem 
vollständigen  Knochenring  vereinigt:  zu  dem  Beckenring  oder 
Beckengürtel.  Dieser  Knochengürtel  (Fig.  45  S.  129)  gestattet  dem 
Bein  nicht  jenen  hohen  Grad  von  Beweglichkeit,  wie  sie  der  Arm  be- 
sitzt, giebt  ihm  dagegen  den  Vorzug  gr()ßerer  Sicherheit  als  Träger 
der  ganzen  Last  des  Stammes. 

Das  Skelett  der  oberen  Gliedmaßen. 

Das  Skelett  jedes  Arms  besteht: 

1)  aus  der  Hälfte  des  Schultergürtels,  nämlich  dem  Schlüssel- 
bein und  dem  Schulterblatt  der  entsprechenden  Seite; 

2)  aus  dem  Oberarmknochen; 

3)  aus  den  beiden  Vorderarmknochen  und 

4)  aus  dem  Knochengerüste  der  Hand. 

Alle  diese  Teile  sind  durch  (Tclenke  beweglich  miteinander  ver- 
bunden. 

a)  Der  Sohulterg^rtel. 

Das  Schlüsselbein  (Clatdada^  Fig.  4G  Nr.  l,  2  und  4) 

ist  ein  M-förmig  gekrümmter  Knochen,  dessen  dickes  Ende  mit  der  Hand- 
habe des  Bnistbeins  verbunden  ist  (Fig.  40  bei  Nr.  i  u.  2),  während  das 
al)geHachte  Ende  mit  dem  Schulterblatt  zusammenhängt.  Das  Brustbein- 
ende der  Clavicula  ist  nahezu  viereckig  und  mit  einer  sattelfiirraig 
erhöhten  Gelenkfläche  versehen,  deren  eine  Hälfte  in  der  Gelenkpfanne 
des  Brustbeins  sitzt  (Fig.  46  Nr.  i),  während  die  andere  Hälfte  da- 
rüber hinausragt.  Der  obere  Rand  des  Brustbeins  (Fig.  45  B  -8  S.  129) 
erhält  dadurch  eine  vertiefte  Lage,  und  die  vordere  Halsgrube,  welche 
unmittelbar   über    der   Brustbeinhandhabe   liegt,    winl    am    Lebenden 

10* 


148  Sechster  Abschnitt. 

von  drei  Knochenenden  begrenzt.  Die  Richtung  des  Schltisselbein- 
gelenkes  ist  schief  von  oben  nach  unten  und  außen  gerichtet. 
Wird  der  Arm  stark  nach  hinten  gezogen ,  so  entfernen  sich  die 
Gelenkfiächen  etwas  voneinander  und  die  Haut  sinkt  dazwischen 
rinnenartig  ein.  Das  Schulterblattende  des  Schlüsselbeines  ist 
von  oben  nach  unten  flachgedrückt  und  ebenfalls  mit  einer  Gelenk- 
fläche, für  die  Verbindung  mit  dem  Akromion,  versehen  (Fig.  46  Nr.  4). 
Der  vordere  Rand  dieses  Endstückes  ist  in  einem  sanilen  Bogen  aus- 
geschnitten. 

Das  Mittelstück  ist  nach  vorn  konvex,  aber  dabei  läßt  es 
deutlich  eine  vordere  Fläche  erkennen,  die  sich  durch  eine  scharfe 
gegen  das  Brustbein  ansteigende  Leiste  von  der  oberen  Fläche  ab- 
hebt. Diese  Kante  rührt  von  dem  Ursprung  des  Brust-  und  des 
Deltamuskels  her. 

Das  Schlüsselbein  liegt  unmittelbar  unter  der  Haut  und  bildet 
die  Grenze  zwischen  Hals  und  Brust,  die  deutlich  sichtbar  ist, 
namentlich  bei  Männern.  Bei  den  Frauen  wird  durch  das  Fett 
der  scharfe  Kontur  mehr  verwischt,  und  nur  die  sanfte  Biegung 
deutet  auf  die  darunterliegende  Brücke  zwischen  Brustkorb  und 
Arm.  Überdies  ist  bei  Frauen  das  Schlüsselbein  in  seiner  äußeren 
Hälfte  nicht  so  scharf  gebogen,  überhaupt  nicht  so  scharfkantig, 
wie  bei  dem  Mann.  Bei  Leuten  aus  der  arbeitenden  Klasse  ist  es 
dicker  und  kantiger.  Auffallend  sind  die  individuellen  Schwankungen 
seiner  Form  —  von  dem  plumpen  kaum  leicht  gebogenen  Balken 
bis  zur  schöngeschwungenen  Knochenspange.  Die  Konstruktion  des 
Brustkorbes  bringt  es  mit  sich,  daß  das  Schulterblattende  mehr  nach 
außen  und  hinten  gerichtet  ist  und  daß  es  auf  sehiem  Weg  die  erste 
Rippe  kreuzt. 

Das  Schulterblatt  (Scapula) 

ist  ein  flacher  dreieckiger  Knochen,  der  wie  ein  Schild  auf  dem  Rücken 
liegt.  Bei  frei  herabhängendem  Arm  sitzt  das  Schulterblatt  mit  seinem 
innem,  längsten  Rande  parallel  zur  Wirbelsäule,  ca.  7  cm  von  den 
'Dornfortsätzen  entfernt,  und  erstreckt  sich  von  der  zweiten  Rippe  bis 
zur  achten  Rippe  herab. 

Der  äußere  Rand  (Rg.  47  Nr.c)  ist  verdickt,  wulstig  au%etrieben, 
und  steigt  steil  von  dem  unteren  gerundeten  Winkel  des  Schulterblattes 
(Fig.  47  Nr. 6)  in  die  Höhe.  Der  obere  Rand,  der  mit  dem  inneren 
einen  scharfen  Winkel,  den  oberen  Schulterblattwinkel  (Fig.  47 
Nr.  7),  bildet,  fällt  ziemlich  steil  gegen  die  Gelenkpfanne  ab,  welche 
eiförmig   so    angebracht  ist,   daß   ihre  Fläche  etwas  nach   vom  und 


8k«l«lt  der  GUedmaftan. 


Akromialende 

AkromioD    a 
HaoketilbrtBats    la 
Tubeicalam  nujDB    is 
Tubtrcnlum 


Aiuati  d.  Rockentak«. 
Aontt  d.  BnutmiukelB 


AnsaUd.  DcItBmutkeU 


Fan  tiochleariB  1|l 

Nodiu  latenlii  i^ 

C«[dtaluin  hnineri  Z3. 

Kopfdioi  dm  BaUiu  ni. 


I  Schlänelbdii. 

Hrhlfinarlhrin 
Körper  d«a  Bnutbeini 
■dtl.  die  lUppe. 


6  Anderer  Rud. 
Innerer  Band. 


n  Unlerar  Winkel. 


Köpfchen  der  EHle 

GriffeUbHMti  der  Elle 

Handwnnel 


2     Ende  dei  liadiui. 
I     tiriHelforlraU. 


Mitlelhandknochen  dea  Damnenl. 


Eral«s  Dsuiuenglird. 
Zweites  Daumenglied. 


;.  46.    Dm  Aiiiiakelett  von  vorne. 


1 


150  Sechffeer  AbMdmitt. 

aufwärts  ragt.  Dieser  obere  Rand  würde  bis  zur  Gelenkpfanne  zu 
verfolgen  sein,  wenn  nicht  gerade  hart  an  der  Pfanne  ein  platter, 
starker,  hackenförmig  nach  vom  gekrümmter  Muskelfortsatz  ent- 
spränge, wegen  einer  entfernten  Ähnlichkeit  mit  einem  Rabenschnabel 
Rabenschnabelfortsatz  (Processus  coracoideus,  Fig.  46  Nr.  10)^  ge- 
nannt. Sein  stumpfes  Ende  ist  leicht  unter  dem  Schulterblattende 
des  Schlüsselbeines  als  ein  harter  Knopf  zu  fiihlen.  Hat  man  einmal 
durch  Zufühlen  diese  Stelle  erkannt,  so  wird  bei  mageren  Menschen 
der  Einfluß  des  Fortsatzes  auf  die  Form  der  Schultergegend  leicht  zn 
erkennen  sein,  gerade  so  wie  beim  muskelstarken  Mann,  dessen  Delta- 
muskel an  der  entsprechenden  Stelle  durch  *  den  darunterliegenden 
Knochen   herausgedrängt  ist. 

An  dem  unteren  Winkel  (Fig.  47  Nr.  8),  der  breit  und  ge- 
rundet ist,  entspringt  der  große  runde,  etwas  weiter  oben  und 
außen  der  kleine  runde  Armmuskel.  Bei  schlechter  Haltung  hebt 
sich  dieser  Winkel  von  der  hinteren  Thoraxwand  stark  ab  und 
ist  wegen  seiner  Umhüllung  mit  Muskeln  als  ein  rundlicher  und 
beweglicher  Vorsprung  leicht  zu  erkennen.  Aber  auch  bei  der  stram- 
men Haltung,  wobei  dieser  Winkel  an  die  Thoraxwand  angediückt 
wird,  läßt  er  sich  leicht  entdecken.  Man  vergleiche  an  der  Figur  2 
S.  28  die  verschiedenen  Stellungen  des  Schulterblattes  an  dem  Brust- 
korb. 

Die  hintere  Fläche  des  Schulterblattes  wird  von  einem  Kamm, 
der  Schultergräte  (Spina  scapulae)^,  in  zwei  ungleiche  Teile  ge- 
trennt. Diese  Gräte  entspringt  an  dem  inneren  Schulterblattrande 
aus  zwei  Schenkeln,  die  ein  sanft  ansteigendes,  kleines  dreiseitiges 
Feld  begrenzen  (Fig.  47  Nr.  ir),  das  als  leichte  dreieckige  Ver- 
tiefung bei  dem  Mann  und  wegen  des  Fettpolsters  nur  als  ein 
seichtes  Grübchen  bei  der  Frau  wiederzufinden  ist.  Die  Schultergräte 
zieht  ([uer  gegen  die  Gelenkpfanne  und  läuft  allmählich  nach  oben 
als  ein  breiter  flachgedrückter  Fortsatz  wie  ein  Schutzdach  über  die 
Gelenkpfanne  hinaus  fort.  Der  höchste  Teil  dieses  Kammes  heißt 
Schulterhöhe  (Akromioriy  Fig.  47  Nr.  12).  Unmittelbar  über  der  weichen 
Wölbung  des  Oberarms  fiililt  man  das  harte  Akromion  unter  der 
Haut.  Sein  höchster  Punkt  entspricht  der  Verbindung  des  Schlüssel- 
beines mit  dem  Schulterblatt. 

*  Schultorhackcn  oder  Haekenfortsatz.  (Processus  eoraeoideus  heißt  raben- 
ähnlicher  Fortsatz;  dieser  Fortsatz  sieht  weder  einem  Raben,  noch  dem  Schnabel 
eines  Raben  gleich.    Es  giebt  keine  Raben  mit  hackenförmig  gekrümmten  Schnäbeln.) 

'  Spina  seapulae  Schultergrat  oder  Grat.  Grat  heißt  im  Ober-  oder  Nieder- 
deutschen jede  scharfe  Kante  eines  Dinges  (Grathobel,  Gratbohrer,  Grattier  [Gemse, 
weil  sie  auf  hohen  Grebirgskämmen  sich  aufhält]). 


Bkdctt  der  OltadnuScn. 


OhcTTT  Winkel    7 


Sohiiltergrät«    1 1 
teeinn  der  (iriUe    11' 


7     II    Foasa  BU|ira«|ilii. 


Enilp  dn  RndiiiJi   S  .. 

.   (.IriffplfortimW   I-- 

Hnndwunel   S  ■--. 

MittelhiiiKlIcnocbeii  dm  Dnnmen.s   1 

Entcs  D&umvaKlied   Dt'  I 

Kweiuw  Dau meng li eil    , 


Fig.  47.    Das  Annakelett 


-4  gchtünelbein. 

11  Akromioii. 

U  Gelenkkopf. 

II  Tuberculuiu  m^i» 


U     An»,  d.  DeltamuskelB. 


.)■    Nodns  lttl«r>lu. 

CnpitulDin  hnmeri. 
Jl    Knprchen  dei  Radini. 

Proc.  oorunoideiu. 
Toberotitaa  nidii. 


.,jl  OrnndphKltuigeii. 
...V  UlUeJphalangen. 
'i-XT   Endphalsngen. 


152  Sechster  AbMthnitt. 

Das  Akromioni  ist  mit  stumpfeu  Rändern  versehen  und  seine 
Spitze  beugt  sich  nach  vom  über.  Die  Spitze  allein  und  ein  Teil  des 
Randes  sind  von  vome  zu  sehen. 

Der  freie  Rand  der  Schultergräte  besitzt  eine  charakteristische 
Form,  die  am  besten  aus  den  naturgetreuen  Abbildungen  zu  ent- 
nehmen ist.  Er  wird  nach  seinem  Ursprung  zunächst  schmal,  dann 
breit,  neigt  sich  dabei  nach  abwärts,  wodurch  endlich  im  letzten  Ab- 
schnitt die  Fläche  des  Akromion  mit  der  äußeren  Fläche  des  Schulter- 
blattes parallel  liegt. 

Die  beiden  durch  den  Kamm  getrennten  Flächen  werden  als 
obere  Schulterblattgrube  (Fossa  supraspinata ,  Fig.  47  Nr.  13)  und 
als  untere  Schulterblattgrube  (Fossa  infraspinataj  Fig.  47  Nr.  14)  be- 
zeichnet. Sie  werden  durch  Muskeln  ausgefüllt.  Sind  diese  sehr  kräf- 
tig, so  liegt  der  Schulterblattkamm  vertieft  und  ist  nur  als  Furche 
wahrzunehmen;  sind  die  Muskeln  dagegen  schwach,  so  sieht  man  die 
Zeichnung  des  Kammes  selbst  durch  den  Rock  hindurch. 

Die  beiden  Knochen,  Schulterblatt  und  Schlüsselbein,  bilden  mit  dem  Brust- 
bein, das  ist  aus  den  vorausgegangenen  Beschreibungen  ersichtlich,  keinen  ge- 
schlossenen Ring,  wie  der  Ausdruck  Schultergürtel  doch  eigentlich  erwarten 
läßt.  Der  Gürtel  ist  nach  hinten  unvollständig  und  die  inneren  Schultcrbiattrftnder 
stehen  weit  voneinander  ab  (siehe  die  Fig.  2  S.  28).  Der  an  dem  Skelett  wdt- 
klaffende  Raum  ist  durch  Muskeln  ausgefüllt,  welche  den  inneren  Rand  des  Schulter- 
blattes mit  den  Domfortsätzen  der  Wirbelsäule  verbinden.  Dadurch  wird  freilich 
auch  das  Schulterskelett  zu  einem  Gürtel,  wie  derjenige  des  Beckens,  allein  mit 
dem  Unterschiede,  daß  der  freieren  Beweglichkeit  wegen  die  starre  Verbindung 
teilweise  durch  Muskeln  ersetzt  wurde. 

Ein  Schultergürtel,  wie  er  eben  von  dem  Menschen  geschildert  wurde,  besteht 
auch  bei  den  höheren  Tieren.  Bei  den  Säugern  und  vor  allem  bei  jenen,  deren 
vordere  Gliedmaßen  sich  einer  mannigfaltigen  und  freien  Beweglichkeit  erfreuen, 
existiert  ein  breites  Schulterblatt  und  gelangt  die  Clavicula  zu  starker  f^twickelnng, 
wie  bei  den  menschenähnlichen  Affen  und  den  ihnen  nahestehenden  Gruppen.  Die 
fliegenden  Säugetiere  besitzen  sogar  ein  großes  Schlüsselbein.  Reduziert  wird  es 
bei  den  Fleischfressern  (Katae),  bei  manchen  fehlt  es  vollständig  (wie  bei  dem 
Bären  und  bei  den  Huftieren). 

b)  Das  Skelett  der  freien  Extremität 

Der  Oberarmknochen. 

Das  Armbein  (IIumeni.s)  läßt  ein  Mittelstück  und  zwei  stärkere 
Endstücke  unterscheiden.  Das  Mittelstück  ist  nicht  ganz  gerade,  son- 
dern  etwas   nach   vorwärts   gekrümmt,    die   beiden  Enden    sind   auf- 


^  Akromion  vom  griech.  akrOmion,  entstanden  aus  akros,  das  äußerste,  und 
Omos,  Schulter. 


Saiatt  der  QUednuAcn. 


Nodal  Imtenüis    JO. 
Ellbogen    ■- 


-U   Ctpituluni  humeri, 
-n    KöpfchcD  du  Badiui. 


7   Oberpr  Winkel. 

SchlünelbciD. 
.t    Scblönelbein. 
-j    Körperd.  Bnuitb«iiu8«i(1. 
•ixe  emte  Rlpp«. 

17   Tuberculiini  ininua. 
18'  Alw.ii.br.llÜGkeDiulu. 
Ansuti  <lcs  Bruitmuskeli. 


DoltwiiiMlcels. 


Tuberodbu  rndii. 


Keprehen  der  Elle  T.^ 

Oiiffdtortmtz  der  Elle  II  .. 

Handwunel  J-r. 

Uitlclhuidkiioclien  <1«t  Fiiit.-er  nn: 


.S     Ende  de«  Radiu*. 


Grundphalaiii^ii    H-: 
MittelpbiJRii^ien    sv: 

PIudphnlitngcT)    Sil'. 
Fig.  48.    Du  Aimskelett  von  Aufien. 


154  Sechster  Abschnitt. 

getrieben,  doch  jedes  in  anderer  Art,  das  obere  ist  keulenfi>rmig  und 
birgt  einen  kugeligen  Gelenkkopf,  das  untere  ist  breit  und  träj^ 
einen  cylindrischen  Gelenkkopf,  der  überdies  quer  liegt.  Der  ol)ere 
Gelenkkopf,  der  in  der  Gelenkpfanne  des  Schulterblattes  sitzt  (Fig.  47 
Nr.  15),  ist  nach  innen  zu  durch  eine  seichte  Furche  von  dem 
übrigen  Knochen  getrennt,  namentlich  auch  von  zwei  in  der  Nähe  be- 
tindlichen  Höckern.  Der  größere  Höcker  (Ihiberculum  majus, 
Fig.  46 — 48  Nr.  16)  ragt  nach  außen;  an  ihn  befestigen  sich  mit  starken 
Sehnen  die  Muskeln  der  oberen  und  unteren  Schulterl)lattgrube.  Etwas 
nach  vorn  und  innen  liegt  der  kleine  Höcker  (Thiberaäum  mhnut, 
Fig.  46  u.  48  Nr.  17),  von  dem  vorigen  durch  deutliche  Furche  ge- 
trennt, in  der  die  Sehne  des  Biceps  zu  dem  oberen  Rand  der  Gelenk- 
pfanne hinauf  steigt  (Fig.  51  Nr.  9).  Sowohl  vom  großen  als  kleinen 
Höcker  sieht  man  Leisten  nach  abwärts  verlaufen,  welche  Ansatzlinien 
für  bedeutende  Muskeln  sind. 

Die  Knochenleiste,  welche  vom  großen  Höcker  herabkommt,  heißt 
Spina  tuberaili  majoris  (Fig.  46  u.  48  Nr.  18)  und  wird  von  der  Insertions- 
sehne  des  großen  Brustnmskels  eingenommen.  Sie  fuhrt  auf  eine  an 
der  äußeren  Seite  des  Oberannknochens  befindliche  rauhe  Stelle  (Tn- 
herositas  humeri),  die  Insertion  des  Deltamuskels  (Fig.  46 — 48  Nr.  19). 
Die  Knochenleiste,  welche  von  dem  kleinen  Annbeinhöcker  herab- 
kommt (Spina  tuberculi  minoris,  Fig.  46  u.  48  Nr.  is'),  dient  dem 
breiten  Rückenmuskel  zum  Ansatz. 

Unterhalb  dieser  rauhen  Stelle  wird  das  früher  nahezu  cylindrische 
Mittelstück  allmählich  dreieckig.  Die  hintere  Fläche  wird  durch  zwei 
Kanten,  eine  innere  und  äußere,  von  der  vorderen  Fläche  getrennt. 
Die  äußere  Kante  endigt  nach  vom  umbiegend  auf  einem  stumpfen 
Fortsatz,  dem  äußeren  Knorren  (Nodus  lateralis,  Fig.  46 — 48  Nr.  20), 
von  dessen  Umfang  die  Muskeln  der  Streckseite  des  Vorderannes 
entspringen.  Die  innere  Kante  verdickt  sich  ebenfalls  zu  einem  Knor- 
ren, dem  inneren  (Nodus  medialis,  Fig.  46  u.  47  Nr.  21),  viel  größer 
als  der  äußere;  seine  rauhe  VorderÜäche  dient  Beugern  des  Vorder- 
arms zum  Ursprung,  während  an  seiner  hinteren,  platten  und  mit 
einer  seichten  Furche  versehenen  Fläche  der  Ellbogeimerv  gegen  die 
Hand  hinabzieht.  Stoß  oder  Druck  an  dieser  Stelle  auf  den  über 
dem  Knochen  liegenden  Nerven  erzeugt  das  bekannte,  zwar  bald 
vorübergehende,  aber  doch  sehr  heftige  Prickeln  in  der  Hand.  Der 
Volksmund  nennt  diese  Stelle  Mäuschen. 

Der  innere  Knorren  springt  durch  die  Haut  hei*vor  und  bildet 
eine  deutliche  Ecke.  Zwischen  diesen  beiden  Höckern  liegt  die  etwas 
nach  vorn  gerichtete  Gelenkfläche  für  die  beiden  Vorderarmknochen, 
aus    zwei  Abteilungen  bestehend;    die  nach  innen  liegende   (zur  Ver- 


Skelett  der  OUadmaHeii. 


155 


bindung  mit  der  Elle)  heißt  die  Rolle  (Troehlea,  Fig.  46  Nr.  23),  die 
andere,  nach  auBen  liegende,  kleinere,  das  Köpfchen  (Capänlum),  zur 
Verbindung  mit  der  Speiche  {Fig.  4li  Nr.  23). 

Die  beiden  Gelcnkflüelicn  liefern  nicht  vollstAadi;;  in  eiiior  liorizoiilnlcn  Ebene, 
Bondem  die  innere  steht  tiefer  als  die  äuBcre.  Die  Neigung  der  Gelenkaehsc  und 
damit  der  ganiCD  G«lenkflft<;lie  des  Vordi-ninnr^  Itedingt  das  Abstehen  von  der 
SeitenflSche  de«  Körpers,  und  macbt,  daB  die  Ijäugsaelise  <ieii  Olieraniitwines  mit 
der  der  Elle  einen,  wenn  auch  sehr  stumpfen  Wiukel  nach  auHwHrts  hiidel,  Fig.  55. 
Diewr  Winkel  dient  zur  VergrtfBeninf;  der  Dn'hungen  der  Hand,  seilet  wenn  aie 
und  der  Vorderarm  in  ihren  Gelenken  nteif  gehalieu  werden;  denn  bei  einer  solehen 
Anordnung  niiiiwn  auch  Vorderami  und  Hand  eine  ausgiebige  Drehung  aiuführen, 
M)bald  der  Ul^cnirmkiiochen  sieh  um  seine  AehRe  dreht. 

Über  diesen  beiden  Gelenkköpfcn  liegt  sowohl  an  der  vorderen 
als  hinteren  Seite  eine  Grube,  von  denen  die  hintere  —  die  Kllen- 
bogengrube  (Fossa  trochlenri»,  Fig.  47  Nr.  24)  —  bei  der  Beugung 
des  Armes  durch  Haut  und  Muskeln  hindurch  bemerkbar  wird. 

Das  Schultcrgelenk,  seine  Bewegungen  und  diejenigen  des 

SchultergUrtels. 

Der  Kopf  dos  Oberarmes  bewegt  sich  auf  seiner  kloinen  Pfanne 

am  Schulterblatt  nach  allen  Seiten:  ein  Kugelgelenk  mit  viel  größerem 

Spielraum,  als  je  die  Mechanik  zustande  gebracht  hat.     Die  tichlufie 


t  Schul lerhobe. 
I  Olierr  Ka|Me1iT>iid. 
Untergiitengrube  ( 

tlnpr.d.Kapaelr- 
Seitlicher  Rand    5 


Fig.  49.    Kapiel  des  Oberarmgelenks. 


Kapsel  (Fig.  49)  erlaubt,  daß  der  Arm  nach  vor-  und  rückwärts 
schwingt,  zur  Körperaclisc  angezogen  oder  abgezogen  wird,  sich 
nach  rechts  und  links  dreht,  und  das  alles  in  jeder  Stellung  aus- 
zufUbien  vermag. 


156  Sech 

Die  genaue  Betrachtung  ei^iebt  folgendes:  Der  an  dem  Körper 
herabhängende  Arm,  den  wir  uns  in  dem  Yorderarmgelenk  gesteift 
denken,  kann  vom  Rumpf  soweit  entfernt  werden,  daß  der  Arm  in 
einem  rechten  Winkel  absteht.  Man  nennt  diese  Bewegung  in  der 
Turnsprache:  Seitwärtsheben,  in  der  Anatomie  Abztehung  oder 
Abduktion,  und  die  Muskeln,  welche  diese  Arbeit  ausführen,  die 
„Abduktoren".  Die  entgegengesetzte  Bewegung,  bei  welcher  der  seit- 
wärts gehobene  Arm  wieder  in  die  Ausgangsstellung  zurückkehrt,  heiflt 
die  Beiziehung  oder  Adduktion,  und  die  Muskeln,  durch  deren 
Wirkung  dies  geschieht,  werden  als  „Adduktoren"  bezeicbaet. 

Der  seitwärts  gehobene  Arm  ist  von  dem  Akromion    bis   zu  der 


KörptrdetSebalterblatl««  5- 
Pfanne  1 — 

Unt.  erschUfil«  Kapwlw.   8— 

Unpnuig  und  Aosatz  der  ICnpsel   4t 


G'  Kapael«p*ltr.d.  Sehne. 


Fig.  50.    Schnitt  dtuch  das  Obennngelenk. 

Spitze  des  Zeigefingers  gemessen  kürzer,  als  der  ruhig  herabhängende 
Arm.  Die  Verkürzung  beträgt  2>/, — 3  cm  oder  '/g — Y?  ^^^  Hand- 
länge und  wird  durch  die  veränderte  Lage  des  Gelenkkopfes  in  der 
Pfanne  bedingt.  Kin  Blick  auf  die  Fig.  50  läßt  erkennen,  wie  bei  dem 
frei  herabhängenden  Arm  ein  ansehidicher  Teil  des  Oberarmkopfes 
oberhalb  der  Pfanne  nur  von  der  Kapsel  bedeckt  ist.  Hebt  sich  der 
Arm,  so  kehrt  sich  dieses  Verhältnis  geradezu  um;  der  bisher  obere 
Teil  der  Gelenkkugel  tritt  jetzt  mit  der  Pfanne  in  Berührung,  der 
untere  dagegen  rückt  heraus  und  spannt  die  bisher  in  Falten  gellte 
nntere  Kapaelwand.  Um  diejenige  Strecke,  welche  der  Oberannkopf  über 
den  eutsprechenden  Pfannem-and  zurücklegt,  wird  der  Arm  bei  dem  Ab- 
ziehen verkürzt  oder  bei  dem  Anziehen,  dem  „Herabrollen",  verlängert 
Mit  diesen   Änderungen  in  dem  Innern  des   Gelenkes    gehen    auch 


SkeleU  der  Gliedmaßen.  157 

äußere  einher.  Der  große  Höcker  (Fig.  49  Nr.  3)  nähert  sich  dem  Rande 
des  Akromion  hei  der  Abduktion  und  damit  auch  der  Ansatz  des 
Deltamuskels;  der  ganze  Muskel  wird  um  die  Strecke  der  Verschiebung 
kürzer,  aber  auch  dicker,  und  somit  entsteht  nicht  bloß  eine  Ver- 
kürzung  des  Armes  bei  dem  Seitwärtsheben,  sondern  eine  Änderung 
aller  Formen.  Viele  derselben  werden  erst  in  der  Muskellehre  ihre 
Deutung  linden. 

Eine  zweite  Reihe  von  Bewegungen  besteht  in  dem  Arm  heben 
nach  vor-  und  rückwärts;  der  ganze  Ann  schwingt  dabei  wie  ein 
Pendel  hin  und  her.  Dabei  können  die  Achsen  der  Anne  und  des 
Rumpfes  in  ihrem  ui*s])rünglichen  Parallelismus  bleiben. 

Bei  der  dritten  Art  der  Bewegung  dreht  sich  der  ganze  Arm  um 
seine  Längsachse,  und  zwar  entweder  mit  der  Daumenseite  nach 
außen  oder  nach  innen.  Was  in  der  Tunisprache  Auswärtsdrehung 
heißt,  nennt  die  Anatomie  Rollen  nach  auswärts  oder  Rotation 
nach  auswärts,  die  entgegengesetzte  Bewegung  Rotation  nach  innen, 
und  die  entsprechenden  Muskeln:    Rollmuskeln  oder  Rotatoren. 

Diese  drei  Bewegungsformen  können  in  der  verschiedensten  Weise 
miteinander  kombiniert  werden,  so  daß  eine  unendliche  Anzahl  von 
Stellungen  denkbar  ist,  ebenso  wie  die  Anzahl  der  Radien  des  (ielenk- 
kopfes  am  Oberarm,  von  dessen  kugeliger  Gestalt  allein  dieser  Reich- 
tum der  Bewegungsarten  abhängt,  unendlich  gn)ß  ist. 

Aber  alle  diese  Bewegungen  haben  eine  unüberschreitbai*e  Grenze. 
Die  Kapsel  ist  allerdings  scldafl",  aber  doch  nicht  in  solchem  Grade, 
daß  nicht  an  einem  bestimmten  Punkt  z.  B.  des  Seitwärtshebens  eine 
Spannung  einträte,  wodurch  alle  weiteren  Bewegungen  gehemmt  sind. 
Darin  liegt  die  Erklärung,  daß  wir  den  Arm  nicht  höher  als  bis  zu  einem 
rechten  Winkel  in  seinem  Gelenk  seitwärts  oder  vorwärts  aufhellen  kön- 
nen, wie  die  Fig.  50,  einen  Schnitt  durch  das  Oberarmgelenk  darstellend, 
beweist;  die  obere  Kapsel  wand  ist  hier  gespannt,  die  untere  Kapselwand 
in  Falten  gelegt.  Sobald  der  Arm  bis  zu  einem  rechten  Winkel  im 
Schultergelenk  gehoben  ist,  verhält  sit!h  die  Kapsel  umgekehrt  wie  in 
Fig.  50  dargestellt;  bei  weiter  fortgesetzter  Bewegung  in  demselben  Sinne 
würde  die  untere  Kapselwand  zerreißen  und  damit  eine  Luxation  des 
Armes  eintreten.  Dieser  Gefahr  b(»ugt  die  Beweglichkeit  des  Schulter- 
blattes vor.  Sobald  die  Kapsel  sich  spannt,  kommt  die  Drehung  des 
Schulterblattes  an  die  Reihe,  um  den  Arm  über  einen  Winkel  von  90® 
hinauf  erheben  zu  lassen.  Bei  großen  und  gewaltsamen  Anstrengungen 
reicht  jedoch  die  Kapsel  nicht  aus,  um  der  Gefahr  der  Luxation  er- 
folgreichen Widei*stand  zu  leisten.  Es  kommt  dann  eine  Vorrichtung 
zur  Verwendung,  welche  S.  84  als  Knochenhemmung  bezeichnet 
wurde.     Das  Akromion,   der  Rabenschnabelfortsatz  (Fig.  51  Nr. 3)  und 


158  a^iter  AbMhnUt. 

die  zwischen  ihnen  ausgespannte  Bandmasse  {Fig.  51  Nr.  3',  das  Lii/a- 
mentum  acromio  -  claviculare)  bilden  zusammen  ein  starkes  Oewölbe, 
an  das  sich  der  verdickte  Oberarmknochen  austemmt,  sobald  die 
Spannung  der  Kapsel  den  höchsten  Funkt  erreicht  bat. 

Jede  weitere  Bewegung  ist  dann  in  dem  Inuem  des  Gelenkes 
selbst  unmöglich  geworden,  und  damit  die  Eotierbarkeit  des  Schulter* 
blattes  an  dem  Kumpf  eine  nnerläßliche  Einrichtung  geworden.  Wie 
man  bei  dem  Kenseben  die  Änderungen  der  Lage  des  Scliulterblattes 


^ 8  Uolerer  Winkel. 

Fig.  51.    Das  Schulterblatt,  von  der  Seite  gcsehca. 

leicht  durch  die  Haut  hindurch  erkennen  kann,  so  auch  bei  den  Tieren, 
z.  B.  bei  unseren  Haustieren;  doch  sind,  entsprechend  der  Funktion 
der  vorderen  Extremität  als  Stützorgan,  die  Bewegungen  des  Schalter- 
btattes  bei  ihnen  mehr  beschränkt.  Nur  bei  den  Affen  erreicht  mit  der 
Freiheit  der  Armbewegungen  auch  die  Vorschiebbarkeit  des  Schulter- 
blattes einen  hohen  Grad,  der  demjenigen  der  menschlichen  Anordnung 
der  Teile  gleichkommt. 

Die  Freiheit  der  Bewegungen,   die   wir  an  dem  Arm  bewundem, 
wird    nur    durch    die    Rotierbarkeit    des     Schulterblattes    ennöglichL 


Skelett  der  Gliedmaßen.  159 

Das  SchulterlJatt  ist  bekanutlich  nur  durch  das  Schlüsselbein  mit  dem 
Stamme  verbunden,  sonst  al)er  völlig  frei  durch  Muskeln  an  dem 
Rücken  aufgehängt.  Durch  den  Zug  der  Muskeln  kann  es  nach  auf- 
und  aliwärts,  nach  ein-  und  auswärts,  endlich  nach  vor-  und  rückwärts 
vei"schoben  werden. 

Beim  Auflieben  des  Armes  bis  zum  Kopfe,  .wie  z.  B.  beim  Schwur, 
dreht  sich  das  Schulterblatt  um  seinen  oberen  Winkel  und  der  untere 
rückt  nach  außen,  so  daß  der  vorher  zur  Wirbelsäule  parallel  ver- 
laufende innere  Rand  schief  steht  (Fig.  2  S.  28  rechts).  Kreuzen  wir 
die  Arme  über  der  Brust,  so  wird  der  Rücken  breit,  die  Schulter- 
blätter rücken  vollständig  an  die  Seite  des  Brustkorbes,  aber  so,  daß 
ihr  unterer  Winkel  weiter  außen  steht  als  der  obere  und  zugleich  etwas 
höher.  Kreuzen  wir  die  Arme  auf  dem  Rücken,  so  nähern  sich  die 
Schulterblätter  mit  dem  innern  Rande.  Bei  nachlässiger  Stellung,  in 
welcher  der  Rücken  leicht  gekrümmt  und  der  Kopf  nach  vorn  herab- 
sinkt, gleitet  auch  das  Schulterblatt  mit  dem  daran  hängenden  Arm 
nach  vorn  und  die  Bmst  wird  schmal;  bei  der  militärisch-strammen 
Haltung  dagegen  ist  das  Schulterblatt  und  also  auch  die  Schulter  mehr 
nach  rückwärts  gezogen,  und  die  Wölbung  der  Brust  giebt  der  ganzen 
Erscheinung  den  Ausdruck  der  Kraft. 

Bi'im  Zucki'ii  der  AcliHolii  »chicben  sieh  d'w.  Schiiltorblättt*r  bin  über  don  Doni- 
fort^atz  doa  oretoii  Unistwirbel»  in  die*  Höhe;  die  olx'ren  Winkel  der  beiden  Schulter- 
blätter nähern  Hieb  dabei,  während  die  unteren  auseinanderweiehen.  Der  letzten» 
UniHtand  hat  eine  bedeutende  Ilebunfc  <ler  Schulter  zur  Foljife.  Da«  Akroinion 
und  das  daran  bi»fe8tigtc  S<;hlÜ8m^ÜN>in  erheb4>n  Hieb  gleichfalls  bedeutend,  und 
die  äußi»re  Halsgrube  verti(ift  sich,  (»eschit^ht  ditwe  Hewe|?unjc  mit  größerer  An- 
stn^ngung,  so  tritt  gleichzeitig  eint^  Krümmung  der  Halswirbelsäule  ein,  Kopf  und 
Schult<^r  werden  sich  genähert,  wir  stecken  d(»n  K<»j)t'  zwis<*hen  die  Schult4'ni. 
Dies(ni  letzteren  Umstand  muß  man  wohl  im  Aug(^  halM>n,  damit  das  Heb(>n  der 
S<rhult€r  nicht  überschätzt  wcnle.  Überläßt  man  dabei  die  Arme  sich  selbst,  so 
werden  sie  von  der  Rumpfwandung  weggezogen.  Heim  Hückwärtsbewegen  der 
Schulti^rblätter  hebt  sich  das  Akromi(m  um  den  Durchmi^sser  des  Oberannkopfes 
in  die  Höhe. 

Bei  dem  Rilckwärtsbewegen  der  Arme  wird  der  untere  Winkel 
des  Schulterblattes  von  der  RückenÜilche  des  Körpers  weggedrängt, 
während  die  Pfannengegend  des  Schulterblattes  durch  die  Muskehi 
angedrückt  ist.  Das  Abstehen  des  unteren  Winkels  rührt  von  der 
cylindrischen  Form  des  Brustkorbes  und  von  dem  stärkeren  Anpressen 
<ler  Pfannengegend  her. 

Bisher  wurde  bei  diesen  Bewegungen  das  Schlüsselbein  nidit 
berücksichtigt.  Es  ist  aber  klar,  daß  sobald  sich  die  Stellung  des 
Schulterblattes  ändert,  auch  diejenige  des  Schlüsselbeines  eine  andere 
werden  muß.  Am  auffallendsten  ist  dies  l)ei  hoch  erliobenem  Arm, 
wie  z.  B.  beim  Schwur.     Das  Schlüsselbein  erhel)t  sich  dabei  steil,  wie 


160  Sechster  Abflchnitt 

bei  dem  Zucken  der  Achseln,  wodurch  gleichzeitig  die  seitliche  Halsgnibe 
tief  wird.  Streckt  sich  der  Arm  wie  zum  Schutz  nach  vom,  so  folgt  mit 
der  Schulter  auch  das  äußere  Ende  des  Schlüsselbeines;  zieht  der  Ann 
hinter  sich  eine  Last  nach,  so  geht  auch  die  Richtung  des  Schlüssel- 
beines mehr  nach  hinten,  es  dreht  sich  gleichzeitig,  so  daß  seine  Yor- 
dere  Kante  mehr  nach  unten  ragt. 

Bei  der  Rückwärtsbewegung  der  Schulterblätter  weicht  das 
Schlüsselbein  mehr  unter  das  Niveau  der  Haut  zurück,  die  seitliche 
Halsgrube  verschwindet,  dagegen  wird  das  Brust-Schlüsselbeingelenk 
mit  allen  Einzelheiten  durch  die  Haut  hindurch  erkennbar.  Nicht 
allein  die  Gelenkspalte,  auch  die  Gelenkränder  des  Brustbeines  and 
jene  des  Schlüsselbeines  kommen  deutlich  zum  Vorschein,  sofern  nicht 
eine  zu  starke  Fettschicht  hi  dem  ünterhautgewebe  die  Erscheinung 
der  einzelnen  Teile  verhüllt,  wie  dies  bei  den  vollen  Formen  der 
Frauen  als  Regel  auftritt. 

Die  Knochenverbindung  des  Arms  mit  dem  Brustbein  durch  das 
Schlüsselbein  hat  den  Vorteil,  daß  gelegentlich  der  Arm  als  kräftige 
Stütze  für  den  Rumpf  dienen  kann,  während  für  gewöhnlich  der 
Rumpf  dem  Arm  zur  Stütze  dient.  Wenn  wir  beim  Stehen  eine 
Stuhllehne  ergreifen  oder  uns  beim  Gehen  auf  eipen  Stock  stützen, 
dann  trägt  der  sich  stemmende  Arm  zu  einem  nicht  geringen  Teil 
durch  das  Schlüsselbein  den  Oberkörper.  Durch  den  gegen  den  Boden 
gestemmten  Stock  wird  unser  Arm  thatsächlich  zu  einem  dritten  Bein, 
welches  den  Oberkörper  oben  an  der  Achsel  tragen  hilft  und  dadurch 
den  beiden  Beinen,  die  ihn  am  Becken  tragen,  ihre  Arbeit  und  Last 
erleichtert.  Dasselbe  ist  der  Fall,  wenn  der  auf  dem  Boden  Sitzende 
den  Oberkörper  durch  den  seitlich  von  der  Mittellinie  entfernten  Arm 
unterstützt.  Eine  nur  aus  Muskeln  bestehende  Verbindung  hätte 
Stützen  und  Stemmen  zum  größten  Teil  unmöglich  gemacht.  Ein 
Bruch  des  Schlüsselbeins  ist  der  deutlichste  Beweis  hierfür. 

Bei  all  diesen  Thätigkeiten  wird  die  Schulter  höher  gestellt,  und 
dadurch  sowohl  die  Stellung  des  Schlüsselbeines  als  des  Schulterblattes 
geändert.     Siehe  den  sterbenden  Fechter. 

Die  Knochen  des  Vorderarms. 

Der  Vorderarm  ist  aus  zwei  Knochen  gebildet,  der  Elle  (Ulna)  und 
der  Speiche  (Kadiiat,  Fig.  46 — 48).  Deshalb  liegt  jeder  derselben  der 
Oberfläche  des  Vorderarms  näher,  als  der  einfache  Achsenknochen  des 
Oberarms.  Die  Speiche  läßt  sich  in  ihrer  unteren  Hälfte,  die  Elle 
dagegen  in  ihrer  ganzen  Länge  vom  Ellbogen  bis  zu  dem  Knöchel  an 
der  Kleinfingerseite  der  Hand  deutlich  fiilden  und  auch  sehen.     Der 


Skelett  (kr  Gliwlmaßen.  161 

größere  der  beiden  Knochen  ist  die  Klle,  welche  die  Verl)indung  des 
Oberanns  mit  dem  Vorderarm  herstellt;  der  Bau  der  tiefen  Gelenk- 
pfanne zur  Aufnahme  der  Rolle  bringt  es  mit  sich,  daß  ihre  Bewe- 
gungen ausschließlich  die  Beugung  und  Streckung  vermitteln.  Das 
Gelenk  der  Elle  mit  dem  Oberarmknochen  ist  ein  Winkelgelenk.  Die 
Speiche  hat  eine  ganz  andere  Gelenkverbindung  mit  dem  Ol)erarm,  und 
ihre  Konstruktion  wird  in  erster  Linie  für  die  Bewegungen  der  Hand 
von  Wichtigkeit,  denn  die  Hand  wird  nicht  von  der  Elle,  sondern  von 
der  Speiche  getragen;  die  Elle  ist  also  die  eigentliche  Stütze  des 
Vorderarms  und  die  Hand  stützt  sich  auf  die  Speiche. 

Aus  dieser  verschiedenen  Aufgalie  der  beiden  Knochen  erklärt  sich, 
warum  die  Elle  oben  dick  und  unten  dünn  ist,  während  die  Speiche, 
welche  durch  ihre  innige  Gelenkverbindung  mit  der  Hand  wirksam  wird, 
umgekehrt  unten  bedeutend  an  Dicke  zunimmt,  oben  dagegen  dünn  ist. 
Die  Elle,  welche  für  die  Sicherheit  der  Winkelbewegung  die  Rolle 
des  Oberarms  umfaßt,  reicht  weiter  hinauf,  die  Speiche  djigegen 
weiter  herab,  um  sich  mit  den  Handwurzelknochen  zu  verbinden.  Nur 
zwei  Eigenschaften  haben  sie  miteinander  gemein.  Beide  sind  leicht 
S-förmig  gekrümmt,  so,  daß  zwischen  ihnen  ein  länglicher  Spalt  frei 
bleibt ,  der  Zwischenknochenraum,  der  von  einer  sehnigen 
Membran  erfüllt  ist;  beide  Knochen  sind  dreiseitig,  die  schärfste  Kante 
ist  zugleich  die  Grenze  des  Zwischenknochenraumes  und  die  Ursprungs- 
stelle jener  Zwischenknochenhaut,  welche  die  Muskeln  der  vorderen 
und  hinteren  Seite,  die  Beuger  und  Strecker  der  Hand,  voneinander 
trennt. 

Die  Elle  (Ulna^). 

Die  Elle  ist  schlank  und  ^S-förmig  gebogen,  was  sich  ganz  be- 
sonders deutlich  hinten  in  einer  scharfen  Kante  ausprägt,  welche  in 
einer  schönen  Krümmung  von  oben  kommt  und  im  unteren  Drittel 
allmählich  verschwindet.  Diese  scharfe  Kante  läßt  sich  ebenso  lci(;ht 
durch  die  Kleidung  hindurchfühlen  wie  jene  des  Schienbeines.  Die 
Konvexität  der  Krümmung  ist  oben  nach  außen  lateral,  unten  nach 
innen  medial  gerichtet.  Die  Gestalt  des  oberen  P^ndes  ist  durch  die 
halbmondförmig  ausgeschnittene  Gelenkfläche  (Fig.  52  Nr.  4,  hwisura 
xif/moides  major)  bedingt,  welche  mehr  als  die  Hälfte  der  Rolle  des 
Oberarmbeins  umfaßt.  Damit  der  Gang  des  Gelenkes  völlig  gesichert 
sei,  ist  die  Rolle  in  ihrer  Mitte  etwas  vertieft,  der  halbmondförmige 

'  Ulna  ißt  ein  doppelsinnigos  Wort.  Wir  üinhn  as  als  Vonlerariii  und  als 
EinK)genlx»in.  Ja  Ulna  kommt  auch  als  ein  Längenmaß  vor  in  der  deutschen  EHe, 
d.  i.  der  Abstand  der  Spitze  des  Mittelfinp-rs  vom  EUbogcui,  ungefähr  Va  Meter. 

KoLLMAKN,  na8ll»che  Anatomie.  1 1 


162  Sechster  Abschnitt 

Ausschnitt  an  der  Elle  dagegen   mit  einem  Kamm  versehen ,    der  so 
die  Führungslinie  des  Gelenkes  darstellt. 

Für  die  Bildung  dieser  Gelenkfläche  mußte  sich  der  Knochen 
bedeutend  ausladen;  über  seinen  vorderen  balkonai^tigen  Vorsprung. 
den  Kronenfortsatz  (Fig.  52  Nr.  5)  zieht  der  innere  Armmuskel,  einer 
der  kräftigsten  Beuger,  zu  seiner  rauhen  Ansatzstelle  (Tuberositag  länae, 
Fig.  52  Nr.  8).  Der  an  der  Streckseite  des  Ellbogengelenkes  vor- 
springende Höcker,  auf  welchen  wir  den  gebogenen  Arm  stützen,  bil- 
det die  vorragendste  und  härteste  Stelle  des  ganzen  Ellbogens.  Am 
trockenen  Knochen  ein  starker  hackenförmig  gekrümmter  Fortsatz,  er- 
hielt er  den  Namen  Olekranon^,  wodurch  er  als  eigentlicher  Kopf  der 
Elle  bezeichnet  werden  sollte.  Die  hintere  Fläche  des  Ellbogens  ist 
lang  gezogen,  spitzwinklig,  die  Spitze  geht  in  die  hintere  Kante  über. 
Die  Seitenflächen  sind  zwar  von  Vorderarmmuskeln  bedeckt,  dennoch 
sind  sie  ebenso  scharf  wie  die  Spitze  namentlich  bei  gebeugtem  Arm 
zu  sehen.  Nur  der  halbmondförmige  Ausschnitt  (Incisura  idgmoides 
minor j  Fig.  52  Nr.  7),  der  eine  Gelenkpfamie  für  den  seitlichen  Um- 
fang des  Speichenköpfchens  darstellt,  ist  gänzlich  verborgen. 

Das  untere  P^nde  der  Elle  trägt  ein  überknorpeltes  Köpfchen 
(Capitulum,  Fig.  47  und  48  Nr.  V),  das  auf  der  Kleinfingerseite  der  Hand 
als  Handknöchel  die  Grenze  zwischen  Vorderarm  und  Hand  bildet 
Am  hinteren  Rande  springt  über  dieses  Köpfchen  ein  4  mm  langer 
Fortsatz  hervor,  der  Griff'elfortsatz  (Frocess,  styloideus,  Fig.  47  und  48 
Nr.  VI) ;  eine  tiefe  Furche  trennt  ihn  von  dem  Köpfchen.  In  der  tiefen 
Furche  gleitet  die  Sehne  eines  Vorderarmstreckers  und  an  der  Spitze 
des  Fortsatzes  selbst  entspringt  ein  Band  der  Handwurzel. 

Die  Speiche  (Jiadius^), 

Das  obere  Ende  der  Speiche,  Köpfchen  genannt  (Fig.  52  Kr.  9), 
trägt  frei  nach  oben  gekehrt  eine  tellerförmig  vertiefte  Gelenkfläche, 
welche  durch  einen  halsartigen  Teil  von  dem  Mittelstück  abgesetzt  ist. 
Der  Rand,  der  Träger  dieser  Gelenkfläche,  ist  an  der  der  Elle  gegen- 
überliegenden Seite  tiberknorpelt  und  ruht  in  dem  kleinen  halbmondför- 
migen Ausschnitt  der  Elle  (Fig.  52  Nr.  7).  Unter  dem  H^ls  befindet  sich 
ein  rauher  Höcker  (Fig.  52  Nr.  u)  zur  Anheftung  des  zweiköpfigen  Arm- 
muskels (Biceps  brachii).    Das  untere  Ende  ist  viel  dicker  und  breiter 


*  tc8  olencs  t6  krduon,  gricch. 

'  Radius  bezeichnet  eigentlich  nichtn  anderes  als  etwas  stabfürmip'» ,  wie  i« 
z.  B.  die  S|>eiche  eines  Kades  ist  Diese  Ähnlichkeit  drückt  der  d(*utsche  S}Kdchen- 
knochen  ganz  bestimmt  aus. 


SkeleU  der  Gliedmaüen.  163 

als  das  obere  (Fig.  46 — 48  Nr.  iii);  es  macht  die  eigentliche  Knochen- 
masse des  Unterarms  aus,  denn  die  Elle  ist  zu  einem  nur  fingerdicken 
unregelmäßigen  Cylinder  reduziert.  Die  in  einer  Flucht  mit  dem 
Handrücken  liegende  Knochenfläche  der  Speiche  ist  gewölbt,  was  durch 
Haut  und  Sehnen  hindurch  namentlich  bei  der  Beugung  der  Hand 
bemerkbar  wird.  Wo  an  dem  Handgelenk  Elle  und  Speiche  zusammen- 
treffen, trägt  letztere  eine  halbmondförmige  Vertiefung,  die  mit  Knorpel 
ausgekleidet  auf  dem  rundlichen  Köpfchen  der  Speiche  bei  den  Dreh- 
bewegungen der  Hand  hin-  und  herrollt.  An  dem  gegenüberliegenden 
Knochenrande  entwickelt  sich  ein  stumpfer  Fortsatz,  der  Grifl'elfortsatz 
der  Speiche  (Processus  styloideim  radii,  Fig.  46  u.  47  Nr.  X),  der  die  Ge- 
lenkfläche überragt,  und  für  die  Bildung  des  Handgelenkes  von  wesent- 
licher Bedeutung  ist. 

Das  Ellbogengelenk  und  der  Einfluß  seiner  Bewegungen 

auf  die  Form  des  Arms. 

Im  Ellbogengelenk  sind  drei  Knochen  beweglich  untereinander 
verbunden,  nämlich 

1)  die  Elle  mit  dem  0))erarmknochen,  das  Ellenbogengelenk, 

2)  die  Speiche  mit  dem  Oberarmknochen,  das  Speichengelcnk, 

3)  die  Elle  und  Speiche  untereinander,  das  Ellen-Speichengelenk. 

In  Fig.  52  sind  diese  drei  verschiedenen  Verbindungen,  aus  ihrem 
Zusammenhang  gelöst,  nebeneinander  gestellt,  in  Fig.  53  dagegen  in 
ihrem  gegenseitigen  Kontakt,  wie  er  durch  den  Luftdruck  in  der  Kap- 
sel sich  naturgemäß  gestaltet  dargestellt.  Um  den  Einblick  in  den 
Mechanismus  zu  erleichtem,  wurde  ein  Stück  der  vorderen  Kapselwand 
entfernt,  wodurch  die  Knochen  in  ihrem  Zusammenhang  sichtbar  wer- 
den j  denn  die  Kapsel  umschließt  sowohl  die  überknorpelten  Gelenk- 
enden, als  auch  die  Gruben,  welche  als  vordere  Grube  {Fossa  supra- 
trochlearis  anterior,  Fig.  53  Nr.  4)  und  als  hintere  (Fossa  supra- 
trocMearis  posterior,  Fig.  47  Nr.  24)  bekannt  sind. 

Bei  der  Streckung  des  Arms  umfaßt  die  P^lle  den  hinteren  Um- 
fang der  Rolle  des  Oberarms  (Fig.  53  Nr.  6),  so  daß  bei  der  Betrach- 
tung des  Skelettes  nur  der  vordere  ümfting  dieser  Rolle  sichtbar  ist 
(vergleiche  auch  Fig.  46).  Das  Köpfchen  des  Oberarms,  das  mit  der 
tellerförmigen  Grube  der  Speiche  sich  beiilhrt,  ist  in  größerem  Umfange 
sichtbar.  Starke  Bänder  sind  in  die  Kapsel  eingewebt  und  kommen 
als  inneres  und  äußeres  Kapselband  (Fig.  53  Nr.  9u.  lo)  vor.  Durch 
die  Verbindungsweise  der  Vorderarmknochen  wird  jedem  eine  besondere 
Rolle  in  der  Mechanik  des  Ellbogengelenkes  übertragen.  Die  Elle 
vollzieht  innerhalb  ihrer  Verbindung  mit  dem  Oberann  (Fig.  52  zwischen 


164 


SecliHter  Abwhnin. 


Nr.  4  u.  a)  nur  Beugung  und  Streckung,  diese  Verbindung  stellt  also  ein 
Wiiikelgelenk  dar;  die  Speiche  lÜhrt  dagegen  Drehbewegungen  aus  unj 
zwar  in  jeder  Stellung,  in  die  nie  bei  den  Bewegungen  der  Elle  zun 
Oberarm  versetzt  wird.  Ua  die  Hand  an  der  Speiche  befestigt  ist, 
werden  die  Drehbewegungen  der  Speiche  auf  die  Stellung  der  Hmd 
übertragen,  und  dadurch  bald  der  Handrücken  nach  aufwärts  gewen- 
det (Primutian),  bald  die  Hnhlliand  (Supiiuititm). 

1)  Ellbogengelcnk  (jMicnlatio  hrackin^tlnarU)  heißt  in  der  Aiiit- 


Aul).  Kuorrni   > 
<,'B|>itnluin  hunipri   '■ 


Cielciiklläulie  f.  il.  Verbin-    j 
dapg  mit  di'iii  Radius 

AiiiiatE  dvs  BicejiH  A— 


Fig.  52.     Die  (ielcnkkurper  des  Ellbogetigelenki 


toinie  die  Verbindung  zwischen  Kilo  und  Oberarm.  In  dem  gewühii- 
lichen  Leben  bezeichnet  man  mit  Ellbogengelenk  drei  verschiedene 
Gelenke.  Wir  heschäftigeu  uns  zunächst  nur  mit  der  einen  ArticHlatio 
brachio-HbuiTi»  (Fig.  52  Nr.  4  u.  fl).  Der  Klle  ist  in  der  Verbindung  mit 
ileui  Oberarm  die  Hauptiiufgabe  zugefallen.  Die  Streckung  und  Beu- 
gung wird  in  diesem  Gelenke  ausgeführt,  und  zwar  von  der  gestreck- 
ten Lage  ausgehend  bis  zu  dem  Punkt,  wo  die  Muskulatur  des  Ober- 
arms an  diejenige  des  Vorderarms  gepreßt  wird,  wobei  die  Haut  und 
das  Fett  seitlich  ausweichen. 


SkeleU  der  Gliedmaßen.  165 

Die  Beuguug  wird  schlicBIk-h  Bowohl  durch  die  SpiuimiDg  ilcr  hinteren  Kapsct- 
wuid  und  durch  die  Muaki^ln  In  der  Elll>tugp,  uls  auch  durch  das  Eingreift!!) 
des  Kronuafortsatzea  (Fig.  53  Kr,  5)  iu  die  vcirden;  Gnibe  dcH  Obvruruikiioohuiia 
[Flg.  4'd  Nr,  4)  gehemmt  Bei  forcierkT  Beugung  kuim  ilalici  der  Druck  Huf  die  in 
der  Ellbcügc  verlaufende  Arterie  so  gesteigert  wenicn,  daß  dos  GefiiB  vollfltjin- 
dig  verachlüBsen  und  der  Kreislauf  in  der  Hand  unterbrochen  wird.  Die  Kennt- 
nis dieser  Erscheinung  kann  bisweilen  wertvoll  werden  bei  Blarkcu  lltutungcn, 
denn  durch  eine  forcierte  Beugung  iHBt  sich  für  kurze  Keit  der  Blutverlust 
aus  Wunden  der  Hand  unterdrilcken  oder  wenigsleuB  in  hohem  Grade  ab- 
sehw&chen. 


k^F    My-B   nie  Rolle. 
^^^^ESMH^F-      i   Kronenfbrlwti. 
Geleokkopf  dea  Rading    *-^^^^^^^K^W 
Gelenkflicbeiw.RadiuBu.UIna   T'      -''W^^Bm 

BiDgband    b'  X^'Wm  »    AnwlMtcUe  d»  Bicep«. 

I^^^H a    Zwischenknochenhuid. 

Fig.  53.    Ellb(^ngetettk  mit  Bändern. 

Bei  der  Streckung  greift  der  Ellbogen  mit  Heiiiem  zugeKchärften 
Räude  in  die  hintere  Onibe  des  Obcriirnis  (Fig.  47  Nr.  24),  um!  <ler 
Ellbogen  würde  sie  bei  forcierten  Streckungen  durchstoßen,  wenn  nicht 
auch  hier  die  Spannung  der  vorderen  Kapselwand  und  diejenige  der 
bedeckenden  Muskeln  benimeud  entgegenwirkten. 

Die  Grade  der  Streckung  sind  verscbieden.  Bei  ruhig  herab- 
hängendem  Arm  besteht  noch  kein  vollkonimener  Grad ,  obwohl  wir 
den  Arm  gemeinhin  als  gestreckt  bezeichnen.  Von  dieser  Haltung 
aus  ist  noch  immer  eine  kleine  Bewegung  innerhalb  des  Gelenkes 
möglich;  erat  der  vollkommen  gestreckte  Arm  ist  gerade.  Bei  man- 
chem Menschen  ist  eine  „Überstreckung"  möglich,  wobei  die  Achse  des 
Cber-  und  Unterarms  nach  hinten  umknickt.  Diese  unschöne  Form 
der  Streckung   ist   nur   bei    schlaffer  Kapsel   und   grober  Dehnbarkeit 


166  Sechster  AbsohniU. 

der  Muskeln  ausfuhrbar.  Wahrscheinlich  ist  dazu  sogar  die  Anwesen- 
heit eines  Loches  an  der  tiefsten  Stelle  der  vorderen  und  lüntereü 
Grube  notwendig,  wie  ein  solches  bisweilen  vorkommt. 

Zur  Vervollständigung  der  Kenntnisse  über  das  Innere  der  Ge- 
lenke tragen  Durchschnitte  in  verschiedenen  Eichtungen  wesentlich  bei. 
Kinen  Schnitt,  senkrecht  durch  die  Mitte  des  Ellbogengelenkes,  zeigt 
die  Fig.  54,  in  welcher  die  Knochen  sammt  der  Kapsel  so  dargestellt 
sind,  wie  sie  sich  während  der  Beugung  zu  einander  verhalten.  Die 
Elle  umfaßt  mit  ihrem  halbmondförmigen  Ausschnitt  die  Bolle  des 
Oberarms  (Fig.  54  Nr.  6),  welche  an  dieser  Stelle  einen  fast  voUstän- 
digen  Kreis  darstellt,  denn  in  der  vorderen  und  ebenso  in  der  hin- 
teren Grube  ist  der  Knochen  ungemein  dünn,  oft  nur  von  Papierdicke. 
Die  hintere  Grube  wird  bei  der  Beugung,  wie  in  dem  vorliegenden 
Falle  frei,  denn  der  Ellbogen  ist  auf  der  Rolle  mehr  nach  vorn 
gerückt,  und  der  Kronenfortsatz  hat  sich  der  vorderen  Grube  (Fig.  54 
Nr.  9')  genähert.  Die  vordere  Kapselwand  ist  in  eine  Falte  gelegt, 
die  hintere  beginnt  sich  zu  spannen.  Die  beiden  mit  Nr.  9  n.  9'  be-  * 
zeichneten  Giniben  sind  am  Lebenden  nicht  leer,  wie  manche  der 
vorhergehenden  Figuren  vermuten  lassen,  sondern  mit  Fettpolstern 
versehen,  welche  den  Raum  ausfüllen,  der  durch  die  Stellungsändenmgen 
der  Knochen  innerhalb  der  Kapsel  entsteht.  Kehren  die  Knochen  anf 
ihren  Platz  zurück,  so  werden  die  Fettpolster  wieder  aus  ihrer  Lage 
verdrängt.  Diese  Einrichtungen  erleichtern  oflfenbar  die  raschen  und 
sichern  Verschiebungen  aller  sich  berührenden  Teile.  Die  eben  ge- 
schilderten Verhältnisse  beziehen  sich  nur  auf  Vorgänge  im  Innern 
des  Gelenkes.  Damit  gehen  aber  auch  Formveränderungen  Hand  in 
Hand,  welche  auf  das  Äußere  des  Ellbogengelenkes  von  bedeutendem* 
Einfluß  sind. 

Bei  der  gestreckten  Lage  steht  die  scharfe  Ecke  des  Ellbogens 
am  Oberarm  in  gleicher  Höhe  mit  dem  inneren  Oberarmknorren 
und  ist  nur  als  kleiner  Höcker  durch  die  "Haut  hindurch  erkennbar. 
Eine  leichte  Rötung  der  Haut  bezeichnet  in  der  Jugend  die  Stelle; 
später  kommen  quere  Falten  hinzu,  bei  angestrengter  körperlicher 
Arbeit  wird  die  Haut  auch  verdickt,  ja  sie  kann  sogar  beutelförmig 
bis  zur  Größe  eines  Taubeneies  anschwellen,  wenn  in  der  Tiefe  ent- 
zündliche Reize  eine  bleibende  Ausschwitzung  hervorgerufen  haben. 
So  bei  Minenarbeiteni,  welche  in  den  schmalen  Gängen  der  Bergwerke 
sich  die  Ellbogen  anstoßen. 

Bei  der  Beugung  rückt  die  Spitze  des  Ellbogens  von  ihrer  erhöhten 
Stellung  herab,  wie  es  die  Fig.  54  erkennen  läßt.  Ohne  daß  sich  die 
berührenden  Gelenkflächen  voneinander  entfernten  oder  die  ideale 
Achse   des  Gelenkes   anders   gestellt  würde,   muß  dennoch  die  Spitze 


Skelett  der  Gliedmaßen.  167 

des  Ellbogens  sich  tiefer  stellen.  Aus  einem  ähnlichen  Grunde  bleibt 
auch  die  Achse,  an  der  die  Zeiger  der  Uhr  befestigt  sind,  an  ihrem 
Platz,  und  dennoch  verläßt  die  Spitze  des  Zeigers  ihre  Stelle  und 
beschreibt  ihren  Weg.  Mit  Recht  wird  behauptet,  der  Oberarm  werde 
durch  die  Beugung  im  Ellbogengelenk  länger;  denn  die  Ent- 
fernung von  dem  Akromion  bis  zu  der  Spitze  des  Ellbogens  nimmt  in 
Wirklichkeit  zu,  weil  eben  diese  Spitze  sich  tiefer  stellt.  Die  Ver- 
längerung kann  bei  forcierter  Beugung  über  3  cm  betragen.  Der  Ell- 
bogen tiberragt  in  der  Strecklage  die  Gelenkachse  über  Vj^  cm,  er 
befindet  sich  nahezu  in  gleicher  Höhe  mit  der  Spitze  des  inneren 
Oberarmknorrens  (Fig.  52  Nr. 6),  und  wir  sind  gewöhnt,  den  Ellbogen 
als  Grenze  des  Oberarms  zu  betrachten,  gleichviel,  wo  sich  auch  die 
Spitze  des  Olekranon  befinde.  Bei  der  Beugung  wird  also  die  hintere 
Fläche  des  Oberarmknochens  durch  die  Wanderung  des  Ellbogens 
frei.  Dadurch  werden  drei  während  der  Streckung  verdeckte  Gebilde 
durch  die  Haut  erkennbar: 

a.  die  hintere  Grube  (Fig.  54  No.  9)  in  Form  einer  seichten,  aber 
breiten  Rinne, 

b.  der  Einschnitt  auf  der  Rolle  des  Oberarmkno(!hens  (von  vorn 
zu  sehen  in  B^ig.  22  bei  Nr.  6), 

c.  die  beiden  vorspringenden  Ränder  der  nämlichen  Rolle. 
Diese  drei  Formen  sind  durch  die  darüberhinziehende  Haut  und 

die  Muskeln  zwar  nur  in  abgeschwächtem  Zustande,  allein  dennoch 
deutlich  erkennbar.  Dazu  kommen,  was  hier  nochmals  betont  wird,  die 
Spitze  des  Ellbogens,  dann  der  innere  und  der  äußere  Knorren  des 
Oberarms  (Fig.  52  Nr.  6'  u.  lo*). 

2)  In  dem  Speichengelenk  (Artiadatio  brachio  radialis)  gleitet 
die  tellerförmige  Vertiefung  des  Radiusköpfchens  (Fig.  52  Nr.  9)  auf 
dem  Köpfchen  des  Oberarms  (Fig.  52  Nr.  lo)  und  vermag  hier  vor  allem 
Drehbewegungen  auszuführen;  dieselben  sind  in  jeder  Stellung  des 
Ellbogengelenkes  ausführbar.  Ob  der  Arm  gebeugt  oder  gestreckt  ist, 
die  Drehungen  in  dem  Speichengelenk  verlieren  nichts  von  ihrer 
Selbständigkeit,  denn  der  Mechanismus  der  Speiche  ist  wegen  der  Be- 
festigung des  sog.  Ringbandes  an  der  Elle  vollkommen  unabhängig, 
wenn  auch  das  Radiusköpfchen  wie  bei  starker  Beugung  bis  auf  die 
vordere  Fläche  des  Köpfchens  vom  Oberann  gerückt  ist.  Das  Ringband 
entspringt  aus  einer  Grube  hinter  dem  Oberarmköpfchen,  und  geht 
nicht  zur  Speiche,  sondern  direkt  zur  Elle.  Es  ist  so  gefonnt,  daß  es 
den  überknorpelten  Rand  des  Speichenköpfchens  umgreift  (Fig.  53  Nr.  9'), 
ohne  ihn  bei  seinen  Drehungen  zu  hindern. 

Um  diese  Rotationen  ohne  alle  Reibung  geschehen  zu  lassen, 
existirt  noch  eine 


168  Beduler  AbachnitL 

3)  Geleiikverliiiiduug  zwiücheti  Elle  und  Speiche,  die  Jrtin- 
latiii  radifj-uhuirix,  welche  vuu  dem  mecliuiiischen  Standpunkte  au»  iu 
eine  obere,  .Irticulatia  radüf-ulnaris  stiperior,  und  eine  untere,  Artiadatw 
radio-nlnaris  itiferior,  zerfällt.  Die  eretere  befindet  sich  in  dem  Bereich 
<les  Ellbogens,  ihr  gehört  der  ttbcrkuuipclte  Rand  dea  Speichen- 
köpfchen»  als  Gelenkkopf  (Fig.  52  Nr.  li)  und  die  kleine  bolbmond- 
förmige  Gelenkpfanne  (Fig.  52  Nr.  7),  welche  seitlich  uii  der  Elle  sitzt 
und  als  laasiira  xigmoidex  minor  bezeichnet  wird,  an.  Die  letztere  be- 
findet sich  an  dem  unteren  Ende  der  Vorderannkuocheii,  besitzt  eben- 
l'alls  eine  überknorpelte  Gelenkpfanne  und  einen  entsprechenden  Ge- 
leiikkopf.  Der  Geleiikkopf  wird  aber,  im  Gegensatz  zu  der  oberen 
Gelenkverbindung,  von  der  Elle  und  die  Pfanne  von  der  Speichf 
■  gebildet. 


Vordere  Urul«.  9'  »  VE/ 

Vordere  Kapeelwuid  tj'  '^"'^T        '        a^B^         '  ^■"'^^  ürnt«. 

^^^^3!j^BBn^^Kfl„  __..7  Kuorpelübenog. 

^""^n^^S^HMh  -i  ADHati  d(»  TricepL 

^5^^-— -S  Ellbogen. 

b'ig'  54.     Durcbiichuitt  durth  dos  Kliboguiigcleiik. 

Durch  die  Einrichtung  dreier  Gelenke,  de»  Speichengeteiikes  uuil 
der  eben  erwähn  teil  beiden  Gelenke,  werden  erat  die  Di-ehungen  der 
Hand  ausführbar.  Die  Speiche  dreht  sich,  sobald  die  entsprecheuden 
Muskeln  wirksam  sind,  um  die  feststehende  Elle,  und  uachdem  die 
Hand  au  der  Speiche  befestigt  ist,  muß  die  erstere  die  Rotationen 
mit  ausführen;  letztere  sind  um  so  ausgiebiger,  weil  die  Speiche  kein 
gradliniger  Knochen  ist,  sondern  vom  Hals  angefangen  sich  der  Art 
krümmt,  daß  ihr  unteres  Ende  seitlich  von  dem  oberen  steht.  Infolge 
dieser  kaum  beachteten  Eigenschaft  beschreibt  die  Hand  einen  an- 
sehnlichen Kreisbogen.  Verbindet  sich  diese  Botatiou  der  Hand  mit 
deijenigen  des  Oberarms  und  des  Schulterblattes,  dann  sind  Rotationen 
um  180"  möglich.  Bei  diesen  Rotationen  der  Speiche  ändert  sich  die 
ganze  Gestalt  des  Vorderarmskelettes.  Die  bei  ruhig  herabhängendem 
Arm  hintereinander  liegenden  Knochen  übei-schneiden  sich  und  neh- 
men eine  andere  Stellung  zu  einander  ein.  Bei  der  PronatioD  der 
Hand,    wobei   der   Rücken   nach   oben    gewendet    ist,    dreht  sich  die 


Skdlett  der  GlieduialleD. 


16d 


Speiche  und  liberecliiieidet  dns  unteiG  l^ndo  der  Elle.  Statt  einer 
ausfllhrlicheu  Besclireibuiig  verweise  icb  auf  die  beiden  Abbildungen 
Fig.  55  u.  56,  welche  die  Fixiiiation  der  Hand   un  einem  linken  Ann 


Fif-.  55.     PrijDHtinn  cii-r  Ilaiid 


samt  dem  entsprechenden  Scbultergfirtel  und  der  entsprcdienden  Ab- 
teilung des  Brustkorbes  zeigen,  mid  zwjir  stellt  die  Fig.  55  die  Pro- 
nution  von  vom   dar.     Das  untere  Ende   der  Elle  kreuzt  die  Speiche 


Fig.  51).     I'ronation  der  Hand  von  liiiiten  pt.itf 


und  verdeckt  dieselbe;  umgekehrt  verschwindet  bei  der  Ansicht  de« 
pronierten  Vorderarms  von  hinten  {Fig.  50)  das  untere  Ende  der 
Speiche  hinter  dem  Köpfchen  der  Elle.     Dreht  man  in  Gedanken  die 


170  Sechster  AbBchnitt. 

Speiche  zurück,  so  daß  der  Daumen  in  ähnlichen  Figuren  nach  auf- 
wärts gerichtet  wäre,  so  stünden  die  Enden  beider  Vorderarm knochen 
übereinander,   statt  wie  in  diesem  Falle  hintereinander. 

Die  DrchiinffHgriiße  dvs  Radius  betriipt  8Ür  sich  allein,  wie  nciiwti*m*  mit 
pn*oßor  Genauigkeit  iK^ntiniuit  wurde,  150-  160  Grad.  Dabei  erfahrt  tlie  Haut  ein«- 
Versclüebung  unrl  Spannung,  die  sehief  zur  iJüigsachse  Iierabläuft  (Beacke  und 
FlCoel,  Archiv  für  Anatomie  und  Physiologie.  Anat  Abt  1882).  Gleichzeitij?  ändert 
»ich  auch  die  Gestalt  des  Vorderarms;  denn  <ler  l^adius  ist  ein  »ebr  geschwrifttT 
Knochen,  und  bei  stMuer  Drehung  führt  jeder  Abschnitt  seines  Verlaufes,  aoi  auf- 
fallendstfni  das  ^geschweifte  Mittelstüek,  eine  Kreisbeweirung  au»-  Nachdem  di»* 
Muskeln  dejs  Vorderanns  ihn  nicht  bloß  umgel)en,  sondern  auch  von  ihm  cntHpringHiu 
wird  der  bei  ruhiger  Haltung  platte  Vorderann  sowohl  bei  der  Sapination,  «Li 
namentlich  auch  bei  der  Pronation  etwas  gerunde.t.  Die  Verschiebung  der  KdocIm'd 
ist  in  den  Figuren  55  und  5(5  dargestellt 

Das  Skelett  der  Hand. 

Die  Hand  gliedert  sich  in  drei  Abteilungen,  in  die  Handwurzel 
oder  das  Handgelenk,  Carpus^  in  die  breite  Mittelhand,  Metacarjmty 
und  in  die  Finger,  Üufiti,  Die  knöcherne  Hand  ist  dabei  wesentlich  ver- 
schieden von  der  mit  den  Weichtheilen  bedeckten;  denn  das,  was  als 
Mittelhand  eine  breite,  bei  ausgestrecktem  Daumen  fast  viereckige  Fläche 
bildet,  welche  innen  den  eigentlichen  Handteller  darstellt,  besteht  an 
dem  skelettierten  Endglied  des  Arms  aus  einem  Fachwerk  von  ffinf 
kleinen  Röhrenknochen,  welche  am  Handgelenk  mit  ihren  verdickten 
Enden  dicht  aneinander  liegen,  während  sie  gegen  die  Finger  zu  aus- 
einanderweichen. Von  dem  Handrücken,  noch  Aehr  von  der  Hohl- 
hand aus  gesehen,  erscheinen  die  cylindrischen  Finger  scharf  abgesetzt, 
am  Skelett  sind  sie  dagegen  die  direkten  Ausläufer  der  Mittelhaml- 
knochen,  und  es  sieht  aus,  als  erstreckten  sich  die  Finger  bis  zu  der 
Handwurzel  hinauf.  Dennoch  ist  auch  am  Skelett  die  Trennung  zwischen 
Mittelhand  und  Fingern  nach  Bau  und  Funktion  unverkennbar. 

Die  Orientiening  der  Flächen  und  Ränder  der  Hand  erfolgt  von 
der  Stellung  des  frei  herabhängenden  Arms  aus.  Die  Handwurzel  liegt 
also  oben,  die  Finger  unten,  die  Elle  hinten,  die  Speiche  vorn. 

Die   Handwurzel. 

An  die  Vorderannknochen  schließt  sich  die  Handwurzel,  der 
Carjms  an.  Er  besteht  aus  zwei  Knochenreihen,  die  untereinander 
liegen,  wie  dies  die  Fig.  57  erkennen  läßt. 

Erste  Reihe  der  Handwurzelknochen. 

In  dieser  Reihe  liegen  drei  Knochen,  die  nach  ihrer  Lage  zu 
den  Vorderarmknochen  als  Kadiale ,    als  Z wisch en bei n,  und   als 


Skelett  der  Gliedmaßen.  171 

Ulnare^  bezeichnet  werden.  Diese  Namen  sind  in  Übereinstimmung 
mit  den  gleichen  bei  den  Tieren  vorkommenden  Knochen  gewählt. 
Früher  wurden  sie  beim  Menschen  nach  äußerlichen  Almlichkeiten 
bezeichnet. 

Das  Radiale  (Naviculare,  Kahnbein)  ist  der  größte  Knochen  der 
ersten  Reihe;  seine  Hauptmasse  liegt  dem  Radius  gegenüber  (Fig.  57 
bei  Nr.  8),  der  übrige  Teil  ragt  weit  gegen  die  Daumenseite  der  Hand 
vor,  um  dort  mit  den  Knochen  der  zweiten  Reihe  in  Gelenkverbindung 
zu  gelangen. 

Das  Zwischenbein  (Intermedium,  Mondbein)  ist,  außerhalb  des 
Zusammenhanges  betrachtet,  halbmondförmig,  daher  sein  Name.  Es 
ist  so  zwischen  die  beiden  Nachbarn  eingefügt,  daß  es  die  höchste 
Lage  in  der  ersten  Reihe  einnimmt.  Es  steht  wie  das  vorige  mit  der 
Speiche  in  Berührung. 

Das  Ulnare  (Triquetnim,  dreieckiges  Bein)  gleicht  einer  Pyramide, 
deren  Grundfläche  dem  Zwischenbein  zugekehrt  ist,  während  die  Spitze 
nach  der  Kleinfingerseite  gerichtet  ist.  Das  Ulnare  liegt  der  End- 
fläche der  Ulna  gegenüber.  Seine  Hohlhandfläche  trägt  ein  erbsen- 
großes Beinchen,  das  Erbsenbein  (Fisifbrme),  durch  dessen  Stellung 
der  verdickte  Anfang  des  Kleinfingerballens  bedingt  ist.  Mit  Hilfe  von 
Gelenkkapseln  und  Verstärkungsbändem  entsteht  eine  bewegliche  Ver- 
bindung zwischen  der  ersten  Reihe  der  Handwurzelknochen  und  dem 
Vorderarm,  welche  an  Festigkeit  nichts  zu  wünschen  übrig  läßt. 

Zweite  Reihe  der  Handwurzelknochen. 

Die  zweit«  Reihe  ist  im  Vergleich  zu  der  ersten  breiter  und  be- 
steht aus  vier  Knochen,  an  welche  unten  die  fiinf  Mittelhandknochen 
angefugt  sind.     Sie  sind  von  sehr  verschiedener  Größe, 

-Das  Carpale  1,  seiner  Form  nach  als  Trapezbein  bezeichnet, 
liegt  an  der  Daumenseit<)  der  Hand,  und  trägt  auf  seiner  größten, 
sattelförmig  gekrümmten  Endfläche  das  Gelenk  für  den  Daumen  (siehe 
Fig.  57  Nr.  12). 

Das  Carpale  2,  das  Trapezoidbein,  ist  klein,  und  zwischen  das 
Cai-pale  1  und  3  wie  eingeklemmt.  Die  untere  Gelenkfläche  trägt  auf 
einer   vorspringenden  Kante  den  Mittelhandknochen   des  Zeigefingers, 


*  Nachdem  hier  ausschließlich  von  der  Handwurzel  die  Rede  ist,  läßt  man 
der  Kürz<i  des  Ausdnickes  wegen  die  Worte  Os  carj)i  in  <ler  Regel  weg,  spricht 
also  nur  von  einem  Ulnart%  Radiale  u.  s.  w.,  eine  Abkürzung,  welche  nur  die 
lateinische  Sprache  gestattet. 


^^^V                    1 72                                                      Strohster  Aberhnitt. 

^^1 

H                         der  mit  der  eiiiüii  Ecke  seines  venlicktcn 

Knilns  imili  das  Curp 

V                         erreicht.  (Kig.  57  Nr,  u). 

«   S,«.liJ)r. 

^^^H                                 liriir<ilft.rt«)itc  i          t^/^K       JfclB 

l                tS    KiiiH'lipiiteiUE. 

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^^^      1 1   Oa  curpole  U. 
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■ 

^^^^                                                           Fig.  57.    Die  kjilk'liL-nio 

^^^H 

SkeleU  der  Gliedmaßen.  173 

Das  Oarpale  3  (Kopfl)ein)  ist  der  größte  Knochen  der  Hand- 
wurzel. Unten  legt  sich  der  Träger  des  Mittelfingers  an,  während  der 
Gelenkkopf  in  die  Vertiefung  des  Zwischenbeins  hinaufragt. 

Dem  Carpale  4  (Hackenbein)  sind  die  Mittelhandknochen  des 
vierten  und  fünften  Fingers  angefügt.  Das  untere  Knochenende  ist 
breit,  das  obere  versclimälert,  wobei  es  sich  mit  dem  Carpale  3  in 
die  von  der  ersten  Reihe  gebildete  pfannenartige  Vertiefung  hinein- 
schmiegt. 

Die  zwei  Reihen  der  Handwurzelkochen  bilden  zwei  selbständige 
Gelenke,  die  mit  überknorpelten  Gelenkflächen,  mit  Gelenkkapseln  und 
Gelenkbändern  versehen  sind. 

Die  erste  Reihe  der  Handwiirzelktioclieii  vcrhÄlt  sich  bei  den  TJcwe^ungeii  der 
Haud  wie  ein  einziges  Knoehenstück,  das  gelenkig  mit  den  Vorderarm knoi'hen  ver- 
bunden ist,  lind  die  zweite  Rtuhe  kann  ebenso  aufgi*faßt  wonlen,  stellt  also  seiner 
Funktion  nach  el>enfalls  ein  einziges ,  auf  der  K(icks<:dte  gc^wölbtes,  und  an  der 
Hohlhandfiäche  gehöhltes  Knochenstück  dar.  Starke  liiinder  heften  die  einzelnen 
Knochen  der  ob<>ren  und  der  unteren  Reihe*  der  Quere  nach  so  aneinander,  daß 
auch  von  einem  kritischen  Standpunkten  aus  diese  reduzi(^rende  Auffassung  be- 
rechtigt ist.  Von  der  plastischen  Anatomie  ist  am  allerwenigsten  ein  Widerspnich 
gegen  diese  Auffassung  zu  erwarten,  da  Inn  unbefangener  lieobachtung  der  Iland- 
bewegungen  des  Lebenden  niemand  ein  Doppelgelenk  an  dieser  Stelle  vennutet. 
Wir  selbst  wenleii  spater  die  Ixiiden  Gelenke  ebenfalls  so  l>eurteilen,  als  wilren  sie 
ein  einziges  Gelenk.  In  der  Knochenleim»  ist  es  jedoch  nicht  gcijtattet,  die  that- 
sächliche  Anonlnung  der  einzelnen  Teile  mit  Stillschweigen  zu  übergehen,  diMui  sie 
sind  für  das  Verständnis  der  Formen  unerläßlich. 

In  der  Anatomie  ist  der  Begriflf  der  Handwurzel  scharf  begrenzt; 
man  versteht  darunter  lediglich  die  Gelenkverbindung  der  sieben  Hand- 
wurzelknochen untereinander  und  mit  dem  Krbsenbeinchen.  Allein 
wir  müssen  das  Gebiet  nach  oben  ausdehnen,  und  auch  die  Enden 
der  Vorderarmknochen  mit  zur  Betrachtung  heranziehen. 

Auf  der  Klein fingerscite  wird  die  Handwurzel  von  dem  Köpf- 
chen der  Elle  und  ihrem  Griffelfortsatz  üben-agt,  die  zusammen 
wie  eine  Halbkugel  die  Haut  hervorwölben.  Diese  beiden  Theile  sind 
in  vielen  Abstufungen  zu  erkennen:  bei  ruhig  herabhängender  Hand 
als  ein  rundlicher  Hügel,  bei  starker  Beugung  breit,  aber  abgeflacht, 
und  bei  der  Uberstreckung  etwas  unter  der  sich  aufstauenden  Haut 
verborgen,  anders  sind  diese  Formen  an  mageren,  anders  an  fetten 
Händen.  Auf  der  Daumenseite  bildet  das  verdickte  Ende  der 
Speiche  eine  Anschwellung  (Fig.  57  Nr.  24).  Auch  hier  springt  ein 
Griffelfortsatz  gegen  das  Gelenk  vor,  der  tiefer  herabreicht  als 
derjenige  der  Kleinfingerseite.  An  dieses  aufgetriebene  Ende  des 
Radius  setzt  sich  die  erste  Reihe  der  Handwiirzelknochen  fest. 

Diese  erste  Reihe  besitzt  eine  geringere  Breite  als  die  Enden 
der  Vorderarmknochen.     Als    notwendige  Folge    davon    erscheint   die 


174  Httfhaur  AUdmin. 

HmiidwnnrA  Tersfrhmiilert .  d^r  Kontur  sinkt  besonders  an  der  Kleiu- 
firi^^rvrite  «tark  ein.  Am  Skelett  ist  «lies  zwar  aach  auf  der  Daumen- 
•eite  der  Fall,  wie  die  Figur  57  zeigt,  allein  an  der  lebenden  Hand 
wird  diese  Verv:hmalerung  aufgefüllt  von  Sehnen,  welche  von  dem 
Vorderann  zu  dem  Daumen  ziehen.  Jedoch  giebt  es  Stellungen,  l>ei 
denen  sich  deutlich  die  Schmalheit  der  ersten  Reihe  auch  auf  der 
Daumenseite  bemerkbar  macht.  Streckt  man  die  Finger  ans.  jedoch  s<», 
daß  die  vier  äußeren  dicht  aneinander  liegen,  während  der  Daumea 
möglichst  stark  gespreizt  wird,  o<ler  schlägt  man  die  Finger  ein  und 
streckt  den  Daumen  allein,  dann  springen  die  zu  ihm  hinziehendeu 
S^'hnen  stark  unter  der  Haut  hervor,  und  die  Verschmälerung  der 
erst^;n  Reihe  der  Karjjalknochen  wird  in  Form  einer  dreieckigen  Grul)e 
iK'inerkbar.  welche  die  franzosischen  Chirurgen  als  t€Aatiere  bezeichnet 
hallen. 

In  (hfT  Tifrff  dif^atr  tabatiere  verläuft  die  Speichenschlagider  zu  dem  Zwiachen- 
muin  zwm:\urn  den  Mitt^rlhandknochen  de^  Daumens  and  Zeigefingers,  um  die  Hohl- 
liand  mit  Jilut  zu  vf*r^}Tf^n.  Ik'i  U's»timmten  Verletzungun  wird  die  Schlagader  an 
tlumt-T  St«.*lU;  ihrfs4  Vf'rlaufhfi  unterbunden.  Eine  leichte  Andeutung  der  tabatiere  ist 
auch  fKri  ganz  ruhiger  Haltimg  der  Fland  zu  fsehen,  und  es  macht  keine  Schwierig- 
kf^U-n,  ihren  Alwtufungen  zu  folgen  bid  zu  dem  Grade,  der  bei  der  abgezehrten 
Hand  vorkommt. 

Die  zweite  Reihe  der  Handwurzelknochen  ladet  sich  stärker  aus 
als  die  erste,  um  den  fünf  Mittelhandknochen  Raum  zur  Befestigung 
zu  geben.  Das  Carpale  3  und  4  bilden  bei  ihrer  Größe  einen  Gelenk- 
kopf, der  in  die  stark  gekiümmte  Pfanne  paßt,  welche  von  der  ersten 
Reihe  fiir  die  Aufnahme  der  zweiten  gebildet  wird  (Fig.  57  bei  Nr.  27). 
Aber  auch  Carj)ale  1  und  2  sind  mit  dem  Radiale  beweglich  ver- 
bunden. Es  entsteht  dadurch  ein  sehr  kompliziertes  Gelenk,  w^elches 
die  Form  eines  CO  besitzt  und  bezüglich  dessen  ausfuhrlicher  Beschrei- 
bung auf  die  speciellen  Handbücher  der  Anatomie  verwiesen  wird. 

Die  beiden  Knochenreihen  der  Handwurzel  sind  gegen  den  Hand- 
rücken hin  gekrümmt,  gegen  die  Holilhand  zu  bilden  sie  jedoch  schon 
«lurch  diesen  einen  Umstand  naturgemäß  eine  Hohlkehle,  welche  durch 
besondere  Knochenvorsprünge  und  durcli  Bänder  schließlich  in  einen 
zwar  kurzen,  aber  weiten  Kanal  verwandelt  wird,  durch  den  die  Seh- 
nen des  Vorderarms  zu  den  Fingern  hinabziehen. 

Die  Hand  ist  an  den  beiden  Vorderarmknochen  in  einer  höchst  aaf^illenden 
Wtiiflc  Ix'featigt,  welche  nur  die  genaue  Untersuchung  am  Skelett  vollkommen  klar 
Htellt.  Streng  genommen  stvht  sie  mit  der  Speiche  allein  in  direkter  Grelcukverbiiidung, 
mit  der  Elle  in  indirekter,  nämlich  durch  einen  Zwischeiiknorpcl.  Das  rührt  daher. 
daß  «las  untere  Speichenende  sich  breit  ausladet,  und  so  zur  Verbindung  mehr  Raum 
bietet,  als  die  nur  fingerdicke  Elle,  welche  überdies  das  Handgelenk  nicht  voll- 
stilndig  t!rreicht.    Zu  diesem  ganz  oberflächlichen  Grund  kommt  dann  der  tiefere  — 


dkcleU  der  Gliedmaßen.  175 

der  mochanische,  daß  die  Drohungen  der  Hand  allein  aii»fülirl>ar  wurden  durch  die 
vorzugsweise  Befestigung  an  der  Speiehe.  -  Auf  der  dorsalen ,  gewölhten  Flächen 
sind  drei  tiefe  Rinnen  für  die  Seimen  der  Daunienstreeker  und  des  Zeigefinger- 
strec^kers,  begrenzt  durch  eine  gnißere  und  eine  kleinere  Knochen leist«?  (Fig.  57 
Nr.  23).  Die  volare  Fläche  ist  glatt  und  etwas  gehöhlt.  Die  beiden  Vordt'rann- 
kn<K;hen  reichen  nicht  gleich  weit  gegen  die  Handwurzel  hinab,  wie  scrhon  erwähnt 
wurde.  Die  Elle  ist  kürzer  als  die  Speiehe,  was  der  zufühlende  Finger  deutlich 
am  Lebtmden  feststellen  kann.  Auch  für  das  Auge  ist  der  Untei-schied  leicht  er- 
kennbar. Der  Abstand  zwischen  dem  Köpfchen  der  Elle  und  der  Handwurzel 
wird  au.Hgefüllt  durch  ein  kleines  Knorpelstückchen,  dfw  an  der  skelettierten  Hand 
fehlt,  und  nur  im   frischen  Zustand   o<ier  an  Weingeistprä parat<Mi   nachweisbar  ist. 


Die  Mittelhandknocheii. 

Zwischen  der  Handwurzel  und  den  Fingergliedern  liegen  fünf 
Röhrenknochen,  Metacarpalknochen  (Ossa  metacarpi),  von  denen  der 
erste,  kürzeste  und  stärkste  dem  Daumen  angehört;  der  zweite  und 
dritte  sind  bedeutend  länger  als  der  vorhergehende;  der  dritte  über- 
trifft jedoch  den  zweiten  um  2 — 3  mm;  der  vierte  ist  wieder  kürzer 
als  die  vorigen,  doch  übertrifft  er  noch  immer  den  fünften  an  Länge. 
Wie  an  den  größten  Röhrenknochen  wird' ein  Mittelstück,  und  werden 
die  Endstücke  unterschieden;  auch  an  ihnen  sind  die  letzteren  breit 
und  das  erstere  verschmälert.  Die  schmalen  Mittelstücke  l)edingen 
jene  spaltförmigen  Lücken  der  Zwischenknochenräume  (hiterstitia 
interossea,  Fig.  57),  die  man  an  mageren  Händen  deutlich  bemerkt. 
Diese  Lücken  werden  nach  vorn  weiter,  weil  die  Mittelhandknochen 
strahlenförmig  auseinanderweichen.  Das  verdickte  obere  Ende  der 
Mittelhandknochen  fügt  sich  als  Basis  der  Handwurzel  an,  das  untere 
trägt  auf  seiner  kugelförmigen  Endfläche,  auf  dem  Köpfchen  (Cnpitii- 
lum,  Fig.  57  Nr.  14),  die  Gelenkpfanne  des  ersten  Fingergliedes.  Der 
Knoi'pelüberzug  des  Gelenkköpfchens  erstreckt  sich  bxjsonders  weit  in 
die  Hohlhandseite  hinein;  auf  dem  Rücken  ist  das  Köpfchen  deutlich 
durch  eine  Rinne  abgesetzt.  Jenseits  der  Rinne  entspringt  die  Gelenk- 
kapsel, welche  im  Verhältnis  zu  ihrer  Größe  durch  besondere  Stärke 
gegen  die  Hohlhand  zu  ausgezeichnet  ist.  Um  den  Seitenbändem  der 
Kapsel  einen  festen  Ursprungspunkt  zu  geben,  trägt  das  verbreiterte 
Ende  der  Mittelhandknochen  hart  an  der  ebenerwähnten  Rinne  auf 
der  Rückenfläche  zwei  kleine  Knochenhöckerchen,  welche  bei  geschlos- 
sener Hand  und  bei  zarter  Haut  sichtbar  werden  können;  dazu  kom- 
men femer  Vertiefungen,  welche  in  der  Nähe  der  ebenerwähnten 
Höckerchen  demselben  Zweck ,  der  Befestigung  der  Seiten])änder, 
dienen.  Die  Rückenfläche  der  Mittelhandknochen  ist  leicht  gekrümmt, 
oben  kantig,  unten  breit.  Der  Mittelhandknochen  des  Daumens  ist 
nicht  dreikantig,  wie  die  übrigen,  er  ist  vielmehr  flachgedrückt. 


176  Sechster  AbschniU. 

Der  Daumen  erfreut  sich  unter  allen  Fingern  der  freiesten  B^ 
weglichkeit,  indem  seine  Verbindung  mit  dem  Carpale  1  ein  Sattel- 
gelenk darstellt,  dessen  schlaffe  Kapsel  durch  vier  Hilfsbänder  ver- 
stärkt wird.  Man  fühlt  an  der  eigenen  Hand  die  Stelle  des  Gelenke* 
deutlich,  wenn  man  mit  dem  Finger,  entlang  der  Rückenfläche  des 
Mittelhandknochens,  nach  aufwärts  fährt,  bis  man  den  Vorsprang  an 
der  Basis  des  Knochens  trifft,  über  welchem  unmittelbar  das  Gelenk 
folgt.  Bei  starker  Beugung  und  Zuziehung  des  Daumens  tritt  der  ge- 
nannte Vorsprung  auch  sichtbar  hervor. 

Die  Gelenke  der  übrigen  Mittelhandknochen  mit  der  zweiten 
Handwurzelreihe  sind  sämtlich  straffe  Gelenke.  Am  meisten  Beweg- 
lichkeit besitzt  noch  jenes  zwischen  den  Mittelhandknochcn  des  kleinen 
Fingei^s  und  dem  Hackenbein,  wie  man  dies  bei  forcierten  Beogf- 
bewegungen  des  kleinen  Fingers  sehen  kann. 

Die  Knochen  der  Finger  (Phalaiu/es^). 

Der  Daumen  hat  zwei  Glieder,  die  übrigen  Finger  drei,  der<*n 
Länge  von  hinten  nach  vorne  abnimmt.  Die  erste  Reihe  ist  die  den 
Mittelhandknochen  zimächstliegende;  man  nennt  sie  auch  die  Grund- 
phalange.  Die  zweite  Reihe  der  Fingerglieder  ist  schmäler  als  die 
vorhergehende  Reihe,  es  sind  die  Mittelphalangon,  die  dritte,  die 
kleinste,  trägt  auf  ihrem  Rücken  den  Nagel,  es  sind  die  Nagelglieder 
oder  Kndphalangen.  Die  Fingerknochen  sind  alle  nach  demselben 
Plane  gebildet:  nach  dem  Rücken  gewölbt,  nach  der  Hohlhand  leicht 
gebogen  treflfen  sich  die  Flächen  in  scharfen  Rändern.  Die  Enden 
sind  stärker  als  das  Mittelstück,  und  obgleich  jede  untere  Phalange 
im  ganzen  schmäler  ist  als  die  obere,  so  ragt  doch  das  obere  Ende 
einer  jeden  um  weniges  über  das  untere  Ende  der  nächst  vorher- 
gehenden hervor. 

Die  längsten  Phalangen  besitzt  der  dritte  Finger,  ihm  folgt  der 
vierte,  zweite,  fünfte.  Die  Grundphalange  des  Daumens  ist  kürzer 
als  jene  des  fünften  Fingers,  aber  noch  einmal  so  stark.  Das  Nagel- 
glied des  Daumens  übertrifi't  in  jeder  Dimension  dasjenige  der  übrigen 
Finger. 

Die  Form  der  GelenkHächen  an  den  Grundphalangen  ist  för  die 
Vereinigung  mit  den  K(*)pfchen  der  Mittelhandknochen  eine   flach  ver- 


*  Plialnnge^  ist  eigentlich  der  Aristotelische  Name  für  Fingerglieder.  Er  paßt 
für  sie  ganz  gut,  da  die  Glieder  eines  Fingers  in  einer  Reihe  anfbinandcr  folgen, 
wie  Reihen  der  Soldaten  in  der  griechischen  Phalanx.  Per  tropuin  war  es  dami 
niüglieh,  dieses  Wort  auf  jedes  einz(;lne  Fingerglied  zu  übertragen. 


Skelett  der  Gliedmaßen.  177 

tiefte  überknorpelte  Grube  mit  einem  wulstigen  Rand  umgeben.  Das 
Gelenk  ist  also  ein  Kugelgelenk  und  die  Bewegungen,  soweit  es  die 
Kapsel  gestattet,  nach  allen  Richtungen  frei. 

Die  Länge  der  Finger  nimmt  vom  Daumen  und  Kleinfinger  gegen 
den  Mittelfinger  zu.  Bei  den  Frauen  soll  eine  größere  Länge  des 
Zeigefingers  verbreitet  sein,  und  dieses  Verhalten  entspricht  einer 
schöneren  Formung  der  Hand;  im  allgemeinen  ist  das  Längenverhältnis 
des  Zeigefingers  (Index)  zum  vierten  ein  sehr  wechselndes,  was  offenbar 
mit  Rassenverhältnissen  zusammenhängt.  Bei  den  anthropoiden  Affen 
ist  der  Index  stets  kürzer  als  der  vierte  Finger. 

Bewegungen  der  Hand  und  der  Finger. 

Die  Bewegungen  der  Hand  betreffen: 

1)  Die  Bewegungen  der  Hand  als  Ganzes,  worunter  hier  alle  jene 
Stellungen  zu  verstehen  sind,  welche  ihr  gegeben  werden  können. 

2)  Die  Bewegungen  zwischen  der  Mittelhand  und  den  Fingeni. 

3)  Die  Bewegungen  des  Daumens. 

4)  Die  Bewegungen  der  Finger  für  sich. 

Handgelenk. 

Die  Bewegungen  der  Hand  als  Ganzes  sind  von  dreierlei  Art: 

a.  Beugung  und  Streckung,  auch  Dorsal-  und  Palmarflexion 
genannt; 

b.  Beugung  nach  der  Ulnarseite  hin:  Ulnarflexion,  und  Beu- 
gung nach  der  Radialseite  hin:   Radialflexion; 

c.  Drehung  der  Hohlhand  nach  außen:  Supination,  und 
Drehung  nach  innen:    Pronation. 

Die  unter  c.  erwähnten  Drehungen  um  eine  senkrechte  Achse 
finden  nicht  direkt  in  dem  Handgelenk  statt.  Soll  die  Hand  supiniert 
oder  proniert  werden,  so  wird  das  eigentliche  Handgelenk  nicht  bewegt, 
dagegen  dreht  sich  der  Radius  um  die  senkrechte  Achse  sei- 
nes Köpfchens,  und  die  ganze  Hand  macht  diese  Dreh- 
bewegungen mit.  Vereinigt  sich  die  Drehbewegung  im  Ellbogen- 
gelenk mit  jener  des  Oberarmes  im  Schultergelenk,  so  kann  die  flache 
Hand  nach  ein-  und  auswärts  um  180®  herumgedreht  werden,  be- 
schreibt also  eine  vollständige  Kreislinie.  Nachdem  der  Mechanismus 
der  Drehungen  der  Hand  schon  bei  dem  Ellbogengelenke  eingehend 
berücksichtigt  wurde,  handelt  es  sich  hier  nur  um  die  unter  a.  und  b. 
aufgeführten  Bewegungen. 

KOLLMAKN,  PlMtiBChe  Anatoinle.  12 


178  Sechster  Abechnitt. 

a)  Beugung  und  Streckung  der  Hand. 

Die  Beuge-  und  Streckbewegung  der  Hand  ist  in  einem  Bogen 
von  180^  gestattet.     Geht  man  von  der  Stellung  der  Hand  bei  frri- 
herabhängendem  Arm   aus,   so   besteht   die   Beugung   bekanntlich  in 
einer  Annäherung  der  Hohlhand  an  die  Fläche  des  Vorderarmes,  die 
Streckung  dagegen  in   der  Bückkehr  zu  der  Ausgangsstellung  und  in 
der  Weiterführung  dieser  Bewegung,  so  daß  sich  der  Handrücken 
dem  Bücken   des  Vorderarmes  nähert.     In  diese  Bewegung  von 
einem  Extrem  der  Stellung  bis  zu  dem  anderen  teilen  sich  die  beiden 
in  der  Handwurzel  vorkommenden  Gelenke,  welche  bei  der  Beschreibong 
des  Skelettes  geschildert  wurden.     Die  Art,  wie  dieses  geschieht,  ist 
ziemlich   kompliziert    und   erfordert   eine   umständliche  Beschreibung, 
welche  wir  hier  unterlassen,  obwohl  diese  Bewegung  fär  die  speziell 
naturwissenschaftliche  Anatomie  ein  eminentes  Interesse  besitzt^    Die 
plastische  Anatomie  darf  von  einem  anderen  Gesichtspunkt  aosgdieii, 
nämlich  von  demjenigen  der  Form.    Bei  der  unbefangenen  Betraditong 
der  Bewegungen  in  dem  Handgelenk  setzt  man  hier^   wie  an  anderen 
Stelleu,  einen  einheitlichen  Gelenkmechanismus  voraus.    Bei  der  natur- 
gemäßen Entwickelung  der  Sehnen,  welche  von  dem  Vorderarm  zu  der 
Hand  ziehen,  und  bei  dem  Fettpolster,  das  unter  der  Haut  liegt,  treten 
nirgends  Anzeichen   von   der   Doppelnatur   des   Handgelenkes   hervor. 
Es  ist  deshalb  gestattet,    den  ganzen  Mechanismus  einheitlich ,  d.  h. 
als  ein  einziges  Gelenk,  so  wie  es  uns  am  Lebenden  erscheint,  aufzu- 
fassen.  Sämtliche  Handwurzelknochen  repräsentieren  also  für 
uns   physiologisch    ein   einziges   Gelenk,   mit   Gelenkkapseln 
und   mit  Gelenkbändern  reich  ausgestattet,   dessen  Gelenk- 
kopf in  der  Pfanne  der  Vorderknochen  ruht.    Dieser  Gelenkkopf 
ist  plattgedrückt  und  rollt  bei  der  Beugung  und  Streckung  auf  seiner 
Gelenkpfanne  so,  als  ob  eine  Gelenkachse  von  der  Daumen-  nach  der 
Kleinfingerseite   durchgesteckt   wäre.     Als  Orientierungspunkte   treten 
unter  der  Haut  vor  allem  das  Köpfchen  der  Elle  und  der  griffelformige 
Fortsatz  der  Speiche  hervor.    Zwischen  beiden  wird  bei  mäßiger  Ben- 

^  In  dieser  Hinsicht  wird  auf  die  in  der  Vorrede  genannten  Lehrbücher  der 
systematischen  Anatomie  verwiesen.  Für  eine  allgemeine  Orientiening  diene  fol- 
gendes: Wird  die  Beugung  der  Hand  stärker  ausgeführt,  ak  dieses  der  MechanismiB 
des  ersten  Handgelenkes  erlaubt,  dann  setzt  dias  zweite  die  Beweguig  fort  DieK 
Einrichtung  hat  sich  offenbar  allmählich  aus  der  Notwendigkeit  eHfcwiekelt,  einni 
großen  Grad  von  Beweglichkeit  bei  gleichzeitiger  Festigkeit  zu  eireicfaen.  Die  Be- 
we^^ng  ist  statt  auf  zwei  GclenkHächen  vielmehr  auf  vier  verteilt  worden,  und  ein 
Stoß,  der  die  Handwurzel  trifft,  wird  durch  die  acht  Handwarzelknochen  in  ebeiuo 
viele  verschiedene  Richtungen  fortgeführt  und  dadurch  abgeschwächt. 


SkeleU  der  Glie<f maßen.  179 

guiig  der  Hand  jederseits  zunächst  eine  leichte  Vertiefung  bemerkbar 
und  in  der  Mitte  zwischen  ihnen  eine  leicht  kugelige  Wölbung.  Die 
letztere  Form  entspricht  dem  durch  die  Handwurzelknochen  gebildeten 
Gelenkkopf,  dessen  Handrückeniläche  die  Haut  emporhebt;  die  Ver- 
tiefungen lassen  sich  ebenfalls  aus  der  Anwesenheit  einer  Gelenkkugel 
erklälren  und  stellen  eine  naturgemäße  Begleiterscheinung  dar.  Denn 
wenn  die  von  uns  angenommene  platte  Kugel  die  Mitte  der  Haut 
empordrückt,  so  müssen  zu  beiden  Seiten  Vertiefungen  entstehen;  diese 
werden  aber  begrenzt  durch  die  schon  oben  als  Orientierungspunkte 
erwähnten  Enden  der  Vorderarmknochen.  Die  Vertiefung  an  der  Klein- 
fiugerseite  ist  dabei  größer,  weil  die  Elle  nicht  soweit  gegen  die  Hand 
herabreicht  als  die  Speiche.  Bei  der  Beugung  wird  ferner  die  Haut 
des  Handrückens  naturgemäß  gespannt  und  dii>jenige  der  Beuge- 
seite in  Falten  gelegt.  Die  Hautfalten  schieben  sich  eng  anei- 
nander, eine  Eigentümlichkeit,  welche  sich  aus  dem  schon  in  der 
Einleitung  S.  63  u.  ff.  gesagten  leicht  deuten  läßt.  Die  Ausläufer 
der  Falten  steigen  an  dem  Daumen-  und  namentlich  an  dem  Klein- 
fiugerballen  in  die  Höhe  und  tauchen  an  den  Rändern  des  Handge- 
lenkes auf.  Eine  der  Falten  an  der  Beugeseite  existiert  auch  während 
der  Ruhe  und  verschwindet  selbst  nicht  bei  der  Uberstreckung  (Dorsal- 
flexion). Sie  ist  lun  so  tiefer,  je  fetter  der  Vorderarm  ist.  Bei  voll- 
saftigen Kindern  scheint  es,  als  ob  die  Handwurzel  mit  einem  Faden 
eingeschnürt  wäre. 

Bei  sehr  forcierter  Beugung  und  bei  magerer  Hand  wird  oft  die 
Gelenkspalte  am  Ende  der  Vorderarmknochen  durch  die  Sehnen  hin- 
durch als  leichte  Einsenkung  bemerkbar,  und  ebenso  erscheint  auf  der 
Mitte  der  Gelenkkugel  eine  Erhöhung,  welche  von  dem  Kopfe  des 
Kopfbeins  (Carpale  III)  herrülirt. 

b)  Beugung  nach  der  Ellenseite   hin,  IJlnarflexion,   und  Beu- 
gung nach  der  Speichenseite  hin,  Radialflexion. 

Die  gerade  herabhängende  Hand  kann  in  dem  Gelenk  nach  der  Ulna 
oder  dem  Radius  hin  bewegt  werden,  zwei  Bewegungsarten,  welche  man 
auch  als  Beugung  nach  der  Daumenseite  oder  als  Beugung  nach  der 
Kleinfingerseite  bezeichnet  hat.  Die  Stellungen  der  Hand  zum  Vorderarm 
werden  dadurch  nicht  nur  vielseitiger,  sondern  auch  schöner,  denn  die 
lange  gerade  Linie,  welche  von  dem  Vorderarm  herabzieht,  erfährt  da- 
durch eine  wohlthuende  Ablenkung.  Die  Fig.  58  zeigt  die  Ablenkung 
nach  der  Kleinfingerseite  in  einem  leichten  Grade ;  die  Achse  des  Vorder- 
armes hat  nämlich  eine  andere  Richtung  als  diejenige  der  Hand.  Denkt 
man  sich  eine  gerade  Linie  durch  den  Mittelfinger  bis  zur  Handwurzel 

12* 


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In.        i 

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Skelett  der  GliedmaOen.  181 

gezogen,  so  schneidet  sie  eine  von  dem  Vorderarme  herabkommende 
unter  einem  spitzen  Winkel.  —  Der  Bewegungsumfang  ist  nicht  nach 
beiden  Seiten  hin  gleich.  Er  ist  größer  für  die  Ulnarflexion;  dorthin 
kann  die  Bewegung  so  weit  getrieben  werden,  bis  der  Mittelhandknochen 
des  Daumens  in  gleicher  Flucht  mit  der  Speiche  liegt.  An  dem  Klein- 
fingerrande entsteht  dabei  eine  Reihe  kleiner  Hautfalten,  die  sich  zwischen 
das  Köpfchen  der  Elle  und  das  hintere  Ballenende  des  kleinen  Fingers 
zusammendrängen  und  das  Köpfchen  etwas  verdecken.  Auf  der  Dau- 
menseite des  Handgelenkes  springt  dabei  der  griffelförmige  Fortsatz 
der  Speiche  hervor. 

Die  Beugung  nach  der  Daumenseite  ist  in  einem  geringeren  Grade 
ausführbar,  als  die  entgegengesetzte.  Die  Hautfalten  um  die  ol)ere 
Grenze  des  Daumenballens  sind  deshalb  auch  nicht  so  tief  und  nicht 
so  zalilreich,  dagegen  springt  jetzt  auf  der  Kleinfingerseite  das  Köpfchen 
der  Elle  und  das  verdickte  basale  Ende  des  fünften  Mittelhandknochens 
deutlich  hervor. 

Die  Gelenkverbindung  zwischen  der  Handwurzel  und  den  Mittel- 
handknochen setzt  sich  aus  der  unteren  Reihe  der  Carpalknochen  und 
den  Basen  der  Mittelhandknochen  zusammen.  Mit  Ausnahme  des  Ge- 
lenkes zwischen  dem  Carpale  I  und  dem  Daumen  ist  die  Beweglich- 
keit der  übrigen  Finger  eine  sehr  geringe,  denn  die  sich  berührenden 
Gelenkflächen  sind  fast  plan.  Die  Beweglichkeit  zwischen  wenig  ge- 
krümmten Gelenkflächen  ist  aber  gleich  Null.  Die  Gelenkflächen  der 
vier  Finger  liegen  in  einer  Reihe,  die  Gelenkfläche  flir  den  Daumen 
hat  eine  seitliche  Stellung;  deshalb  besteht  selbst  bei  ruhender  Hand 
ein  weiter  Raum  zwischen  dem  Daumen  und  dem  Zeigefinger. 

Bewegungen  zwischen  der  Mittelhand  und  den  Fingern. 

Das  Offnen  und  Schließen  der  Hand  wird  durch  eine  Beuge-  und 
Streckbewegimg  vollzogen ,  welche  die  Finger  auf  den  sphärischen 
Enden  der  Mittelhandknochen  (in  der  Ärtiailatio  metacarpth-phalangea) 
ausführen.  Die  Streckung  kann  soweit  getrieben  werden ,  bis  der 
Rücken  der  Finger  in  gleicher  Flucht  mit  dem  Handrücken  liegt. 
Bei  Menschen  mit  weichen  Gelenkkapseln  ist  während  der  Beugung 
der  zweiten  Phalange  eine  Uberstreckung  der  ersten  Phalange  möglich, 
wobei  der  Rücken  der  Finger  sich  etwas  dem  Rücken  der  Mittelhand 
nähert.  Der  Barockstil,  der  seinen  Menschen  stets  so  zierliche  Atti- 
tüden gab,  machte  von  der  Thatsache  der  Uberstreckung  der  Finger 
den  häufigsten  Gebrauch.  Wir  begegnen  übrigens  der  Uberstreckung 
des  kleinen  Fingers  fast  allgemein  und  noch  heutzutage  bei  unseren 
Damen;    sie  fassen   das  Glas  mit   vier  Fingern,   während  der  kleine 


182 


S«cluter  AbaohniU. 


Finger  leicht  gebeugt  sich  in  der  Überstreckung  befindet.  Bei  jedem 
Menschen  ist  diese  Uberstreckung  möglich,  sobald  der  Finger  dabei  g& 
beugt  ist,  dagegen  ist  sie  nur  bei  Auserwählten  in  der  Streckung  aui«- 
tührbar. 

Bei  der  Streckung  der  Finger  in  dem  Gelenk  zwischen  Mittelbuiid 
und  der  ersten  Fhalange  liegt  das  sphärische  bnde  der  Mittelhand- 
knochen  mit  dem  anstuSenden  Fingerknochen  in  einer  Ebene,  und  nar 
eine  verdickte  und  leicht  gerötete  Hautstelle  deutet  deu  Ort  des  Ge- 
lenkes an.  Ist  die  Hand  voll,  d  h  ist  das  Unterhautbmdegewebe  mit 
Fett  gefüllt,  wie  bei  Frauen  und  Kindern  so  kann  bei  gestreckter 
Hand  auch  ein  Grübchen  die  Stelle  des  Geleiiketi  andeuten 


Harkfaohle  da  UiU- 

hHodknocheiii. 
M  itleUiaad  kDodm. 


Grundphaliuige  i 

Sehne  uod  Beinhaut  B- 


Gelenkkojif   ] 
Kapsel    ^ 


I  Kapael  an  der  B«U- 


j  UautfiUle   dea  Ititlel. 
hand  Fmgtrgelta'kn. 

lautTaltea 


Gelenkpfanne    l'         f  MitUlglied. 
Fig.  5'J.    Sagittalschnitt  des  dritten  Mittethnndknochens  und  Fingere. 


In  der  Beugung  treten  schon  hei  geringen  Graden  die  Enden 
der  Mittelhandknochen  als  Höcker  hervor.  Die  schüsselforraige  Ge- 
lenkttäche  der  Finger  rückt  auf  dem  sphärischen  Gelenkköpfchen 
tiefer  hinab  (siehe  an  der  Figur  58  die  drei  äußeren  Finger)  und  du 
Gelenkköpfchen  springt  als  „Knöchel"  unter  der  Haut  hervor,  am 
stärksten  bei  dem  Schluß  der  Hand  zur  Faust.  Die  Öelenkpfanneu 
der  an  die  Köpfchen  anstoßenden  Fiugerglieder  haben  ihre  größte  Breite 
in  ({uerer  Biclitung,  und  deshalb  sieht  man  bisweilen,  bei  dOnner 
Haut,  auch  ihren  Beginn  noch  deutlich  als  eine  Hervomigung  und 
den  zwischen  beiden  Kiiden  befindlichen  Gelenkspalt  als  eine  seichte 
Biune  (vergleiche  die  drei  äußeren  Finger  an  der  Figur  58).  Der 
äußere  Vorgang  bei  der  Beugung  und  Streckung  der  Finger  ist  an 
der  lebenden  Hand  genau  zu  verfolgen,  das  Innere  der  Mechanik  er- 
geben Durchschnitte  durch  gefrorene  Gliedmaßen.    In  der  Figur  59  ist 


SkeleU  der  Gliedmaßen.  183 

der  Mittelfinger  samt  dem  anstoßenden  Mittelhandknochen  im  Durch- 
schnitt dargestellt.  Der  Gelenkkopf  des  Mitt^lhandknochens  (Fig.  59 
Nr.  1)  erstreckt  sich  über  das  ganze  freie  Knochenende ,  soweit  der 
Knorpelüberzug,  ein  1  Millimeter  breiter  Saum,  reicht.  Der  Finger 
ist  in  leichter  Beugung  dargestellt;  die  Gelenkpfanne  des  ersten  Finger- 
gliedes erscheint  wie  der  Durchschnitt  eines  leicht  gehöhlten  Schüssel- 
cheus  und  ist  ebenfalls  mit  einem  glatten  Knorpelüberzug  versehen. 
Der  Gelenkkopf  hat  einen  viel  größeren  Umfang  als  die  Pfanne,  er 
umfaßt  einen  Halbkreis,  während  die  Pfanne  höchstens  die  Ausdehnung 
eines  Quadranten  erreicht.  Der  Finger  gleitet,  wie  aus  der  Abbildung 
hervorgeht,  bei  der  Beugung  von  der  oberen  Abteilung  des  Gelenk- 
kopfes auf  die  untere,  wobei  er  an  jeder  beliebigen  Stelle  durch  die 
Muskeln  festgehalten  werden  kann.  Eine  Gelenkkapsel  umgiebt  das 
Gelenk  von  allen  Seiten,  weit  genug,  um  den  Bewegungen  freien  Spiel- 
raum zu  gestatten.  In  der  Fig.  59  ist  sie  im  Durchschnitt  dargestellt 
und  sowohl  an  dem  Handrücken  als  an  der  Hohlhandseite  sichtbar. 
Die  letztere  Abteilung  der  Kapsel  ist  sehr  dick.  Die  vordere  Kapsel- 
wand ist  innen  nicht  völlig  glatt,  sondern  mit  einem  Fettwulst  ver- 
sehen, der  in  den  Gelenkraum  vorspringt,  und  dem  die  wichtige  Aut- 
gabe zukommt,  bei  schneller  Streckung  die  Kapsel  vor  der  Einklem- 
mung zu  schützen.  Der  Luftdruck  preßt  nämlich  nicht  allein  die 
Gtelenkilächen  aneinander,  sondern  auch  die  Gelenkkapsel  in  die  klaf- 
fende Knochenspalte  hinein.  Am  leichtesten  kann  man  sich  von  dieser 
überraschenden  Erscheinung  überzeugen,  wenn  ein  Finger  stark  in 
gerader  Richtung  angezogen  wird.  Mit  einem  hörbaren  Knalle  ent- 
fernen sich  bekanntlich  die  Gelenkflächen  voneinander,  und  die  Haut 
sinkt  in  den  so  entstandenen  klaffenden  Spalt  ein  (vergleiche  das 
Kapitel  über  die  allgemeine  Beschaffenheit  der  Gelenke  S.  32  u.  ff.). 

Eine  zweite  Bewegung  zwischen  Mittelhand  und  den  Fingern  ist 
das  Spreizen  (Abduction)  nebst  dem  darauffolgenden  Schluß  der  Finger 
(ÄdductUm),  Es  sind  die  in  den  Zwischenräumen  der  Mittelhandknochen 
liegenden  Muskeln  (Fig.  58  Nr.  14),  welche  diese  Bewegung  ausführen. 

Das  Gelenk  zwischen  dem  Mittelhandknochen  des  Daumens 
und  seiner  freistehenden  ersten  Phalange  ist  ein  reines  Winkel- 
gelenk, und  verhält  sich  wie  die  Winkelgelenko  der  Finger,  die  in 
dem  folgenden  Abschnitt  besprochen  werden. 

Die  HoblliandBeiten  der  Kapseln  an  den  Mittelhand-Fingergelenken  (Fig.  59 
Kr.  6)  werden  durch  dicke  Knorpeliager  verstärkt  In  der  Mitte  einzelner  solcher 
Knorpelplatten  finden  sich  knöcherne  Kerne  eingewachsen,  welche  die  Grestalf  einer 
balben  Erbse  oder  des  Samens  der  Sesampflanze  haben  und  daher  Scsambeine,  Ossa 
«esomoidlsa,  beißen  (im  Altdeutschen  Gleichbeine,  von  Gleich,  d.  i.  Gelenk).  Sie 
•eilen  mit  ihrer  glatten,  überknorpelten  Fläche  in  den  Gelenkraum  hinein.    Hegel- 


184  Sechster  AbscboiU. 

mäßig  sind  sie  an  der  Volareeite  der  Gelenkkapsel  zwischen  Mittelhandkuochen  und 
erstem  Gliede  des  Daumens  zu  finden.  Sesamos,  von  welchem  die  Ossicula  «eia- 
moidea  ihren  Namen  haben,  ist  ein  arabisches  Wort;  Bauhin,  ein  Baseler  Anatom 
(1589  —  1614),  stellte  den  Ausdruck  wieder  her,  nachdem  bis  Vesal  au88(*hlirßlifh 
der  Ausdruck  Sesamina  gebraucht  wurde.  Die  Pflanze,  welche  wir  ab»  Sesanntm 
orietUale  Linne  kennen,  war  ursprünglich  in  Ägypten  imd  Arabien  zu  Hause.  Aoi' 
Kleinasien,  wohin  sie  als  Genuß-  und  Heilpflanze  kam,  brachte  sie  den  heimischtm 
Namen  mit;  Galen  machte  auf  die  Ähnlichkeit  dieser  Samen  mit  gew^lsseu  kleinfn 
Knöchelchen  bei  den  Tieren  aufmerksam. 

Die   Fingergelcnke. 

Die  einzelnen  Fiugergelenke  sind  wahre  Winkelgelenke.  Die  Ge- 
lenkenden der  Phalangen  sind  immer  etwas  breiter  und  dicker,  ak 
ihre  Mittelstücke,  und  deshalb  die  Fingergelenke  die  dicksten  Teile 
der  Finger,  wenn  auch  nicht  für  das  Auge,  so  doch  für  das  Geföhl. 
An  mageren  Händen  kann  jedoch  die  Abnahme  des  Fett«s  soweit 
gehen,  daß  man  durch  die  Spalten  zwischen  den  aneinanderliegenden 
Fingern  hindurchsehen  kann.  Alle  Fingergelenke  besitzen  Gelenk- 
kapseln nebst  zwei  Bändern,  welche  aus  den  seitlichen  Grübchen  der 
oberen  Phalangen  entspringen  und  am  Seitenrande  der  nächstfolgenden 
endigen.  Der  Gelenkkopf  der  Phalangen  besteht  aus  einem  querliegen- 
den Cylinder,  der  durch  eine  sattelförmige  Vertiefung  zwei  Gelenk- 
höcker erhält  (Fig.  58  Nr.  15).  Die  entsprechende  cylindrisch  gehöhlte 
Pfanne  weist  zwei  leichte  Vertiefungen  auf,  welche  durch  eine  stumpfe 
Leiste  getrennt  werden  (Fig.  57  Nr.  19).  Durch  das  Ineinandergreifen 
der  Leiste  auf  der  Pfanne  und  des  Einschnittes  an  dem  Gelenkcylinder 
wird  die  Gangart  des  Gelenkes  wesentlich  gesichert.  Die  bei  der 
Beugung  der  Finger  hervortretenden  scharfen  Ecken,  die  Knöchel, 
lassen  vom  Rücken  her  die  ebenbeschriebene  Gestalt  der  Gelenkhocker 
teilweise  wieder  erkennen,  trotz  der  Bedeckung  durch  Haut,  Kapsel 
und  Fingersehne.  An  dem  Knöchel  des  ersten  und  zweiten  Gliedes 
ist  die  sattelförmige  Vertiefung  des  querliegenden  Gelenkcylinders  stets 
erkennbar  von  den  zwei  seitlichen  Höckern  des  Cy linders  überragt; 
der  nach  der  Kleinfingerseite  zu  gelegene  Höcker  ist  bei  dem  Zeige- 
und  Mittelfinger  etwas  höher,  bei  dem  vierten  und  fünften  gleich. 
Bei  dem  Daimien  ist  der  Höcker  der  Daumenseite  etwas  höher. 

An  der  Hohlhandseite  der  Finger  ist  die  Fettlage  unter  der  Haut 
80  dick,  daß  nur  die  durch  die  Beugung  hervorgebrachten  Falten  die 
Stelle  des  Gelenkes  anzeigen.  In  welcher  Weise  dies  geschieht,  wurde 
schon  oben  Seite  64  und  S.  dargelegt,  und  ist  in  der  Figur  59  wieder 
ersichtlich. 

Die  Finger  strecken  sich  in  der  Regel  nur  bis  zu  jenem  Grade,  der 
ihnen  das  Aussehen  gerader  Finger  giebt.    Bisweilen  strecken  sie  sich 


Skelett  der  GliedmaBen.  185 

auch  stärker,  und  zwar  ündet  dann  eine  Überstreckung  des  Nagel - 
gliedes  statt,  welches  dabei  in  die  Dorsalflexion  übergeht;  der  Finger 
erscheint  dann  in  dem  letzten  Gelenk  nach  oben  leicht  eingeknickt  und 
die  Spitze  des  Nagelgliedes  geht  in  die  Höhe,  ungefähr  bis  zu  jenem 
Grade  von  Überstreckung,  der  bei  jedem  Menschen  dann  eiTeicht  wird, 
wenn  das  Nagelglied  von  unten  her  in  die  Höhe  gedrückt  wird.  Der 
Barockstil  hat  die  nach  oben  gekrümmten  Fingerenden  an  seinen 
Nachbildungen  zur  Regel  erhoben. 

Allgemeine  Bemerkungen. 

Die  oberen  Extremitäten  oder  Brustglieder  sind,  nebst  der 
Zunge,  die  beweglichsten  Teile  des  Körpers.  Ihre  Beweglichkeit  gründet 
sich  auf  ihre  mehrfache  Gliederung  und  auf  ihre  fast  verschwenderische 
Ausstattung  mit  Muskeln.  Ein  selbst  wieder  im  hohen  Grade  beweg- 
licher Knochen,  das  Schlüsselbein,  vermittelt  ihre  Verbindung  mit  dem 
Stamme.  Die  Pendelbewegungen  der  oberen  Extremitäten  korrigieren 
die  seitlichen  Schwankungen  des  Leibes  beim  aufrechten  Gange;  der 
Anstand  bemüht  sich  zwar,  sie  beim  gravitätischen  Gange  im  Zaum 
zu  halten,  ihre  Notwendigkeit  beim  Laufe  tritt  dagegen  unaufhaltsam 
hervor.  Die  Wurfbewegung  der  Arme  unterstützt  die  Vorwärtsbewe- 
gung des  Leibes  beim  Sprunge  nicht  minder  als  beim  Laufe.  Der 
Verlust  einer  oberen  Extremität  ist  ein  weit  größeres  Unglück,  als 
jener  einer  unteren,  welche  nur  als  Stütze  zu  dienen  hat,  und  an 
deren  Stelle  ein  hölzernes  Bein  im  Grunde  dasselbe  leisten  kann. 
Angebomer  Mangel  oder  frühzeitiger  Verlust  beider  oberen  Extremi- 
täten lehrt  die  Krüppel,  in  den  unteren  Gliedmaßen  Stellvertreterinnen 
für  die  Leistungen  der  oberen  zu  finden.  Der  bekannte  Thomas 
ScHWEiKEB  aus  Hall  im  Schwabenland,  dessen  Andenken  als  Kalli- 
graph durch  Medaillen  und  Lobgedichte  verewigt  wurde,  hatte  keine 
Hände.  Der  berühmte  Maler  Kittel  wurde,  nach  Hochstbatbn, 
ohne  Hände  geboren,  in  neuerer  Zeit  hat  auch  Dugobnet  den  Pinsel 
mit  den  Zehen  geführt. 

Die  beiden  oberen  Extremitäten  »ind  selten  gleich  lang,  der  Unterachied  be- 
trftgt  einige  Millimeter.  Auch  die  Stärke,  d.  h.  die  Muskelentwickelung  ist  selten 
auf  beiden  Seiten  kongruent.  Nicht  der  angestrengtere  Gebrauch  des  rechten  Arms, 
wohl  aber  eine  ursprüngliche  Ungleichheit  der  Muskelmasse  beider  Extn^mitäten  zu 
Gunsten  der  rechten  giebt  der  rechten  Seite  eine  zuweilen  aufiallende  Prävaleuz 
über  die  linke.  Wir  gebrauchen  die  rechte  Extremität  mehr  als  die  linke,  weil  sie 
die  stärkere  ist,  nicht  aber  wird  sie  stärker,  weil  sie  die  gebrauchtere  ist.  Bei  link- 
händigen Menschen  ist  die  linke  Extremität  von  Natur  aus  stärker  als  die  rechte 
und  deshalb  bedienen  sie  sich  derselben  von  der  ersten  Kindheit  an  trotz  alles  Zu- 
redens und  Strafens  für  diese  vermeintliche  unschickliche  Angewöhnung. 


186  Sechster  Abschnitt. 

Das    Schlüsselbein    durchzieht    eine    Körperregion,    welche   die 
Schlüsselbeingegend    heißt.     Bei    mageren   Individuen    läßt   sich  dauK 
Schlüsselbein   seiner   ganzen  Länge   nach   gut   sehen  ^    wohl    auch  bei 
starker  Vorwärtsbewegung  der  Schulter  mit  Daumen    und  Zeigefinger 
umgreifen.     Dieser  schwach  S-förmig  gekrümmte  Knochen    ist  so  an- 
gebracht,  daß   seine   innere   längere  Hälfte   nach  vorn,    seine  äußere 
kürzere  nach  hinten  konvex  gebogen  ist.    Über  dem  Schlüsselbein  liegt 
eine  seichte  Grube,  die  obere  Schlüs  selb  ein  grübe,  Fossa  nspradam' 
(ndaris,  unter  ihm  die  nur  bei  fettarmen  Individuen  deutliche  Fossa  infra- 
clavicularis.     Diese  beiden  Gruben  werden  um  so  tiefer,  je  mehr  die 
Schulter  nach  vorn  geführt  wird.    Das  Schlüsselbein  hebt  sich  hierbei 
von  den  hinter  ihm  gelagerten  Weichteilen  auf,  springt  stÄrker  vor  und 
vermehrt  dadurch  die  Tiefe  der  beiden  erwähnten  Gruben.    Der  mecha- 
nische Nutzen   des  Schlüsselbeins  besteht  darin,  daß  es  die   Schulter 
nach   außen   drängt   und   dadurch  das  Oberarmgelenk  in  gebührender 
Entfernung  von  der  Thoraxwand  erhält.     Das  Schlüsselbein  ist  nicht 
bestimmt,   die  Schulter  und  den  Arm  zu  tragen,  das  ist  vielmehr  die 
Aufgabe  jener  Muskeln,  welche  an  dem  Rumpfskelett  entspringen  und 
an  dem  Schultergürtel  endigen. 

Schulter,  Oberarm  und  Vorderarm  wurden  nur  der  Hand  wegen 
geschaffen,  deren  Beweglichkeit  und  Verwendbarkeit  durch  ihre  Be- 
festigung an  einer  langen  und  mehrfach  gegliederten  Knochensäule 
erheblich  gewinnen  muß.  Das  aus  siebenundzwanzig  Knochen  be- 
stehende und  durch  vierzig  Muskeln  bewegliche  Skelett  der  Hand,  in 
welchem  Festigkeit  mit  geschmeidiger  und  vielseitiger  Beweglichkeit 
sich  auf  die  sinnreichste  Weise  kombiniert,  bewährt  sich  fiir  die  roheste 
Arbeit  wie  für  die  subtilsten  Hantierungen  im  gleichen  Grade  geschickt, 
und  entspricht  durch  seinen  wohlberechneten  Mechanismus  vollkonunen 
jener  geistigen  Überlegenheit,  durch  welche  der  Mensch,  das  an  natfür- 
lichen  Vertheidigungsmitteln  ärmste  Geschöpf,  sich  zum  Beherrscher 
der  lebenden  und  toten  Natur  aufwirft. 

Der  Arm,  Brachium,  reicht  in  hängender  Stellung  bis  zur  Mitte 
des  Oberschenkels.  Weiter  herabhängende  Arme  haben  dem  Perser- 
könig Artaxerxes  zu  dem  Beinamen  Longimanus,  und  einer  russischen 
Fürstenfamilie,  deren  Stammvater  mit  dieser  Eigentümlichkeit  behaftet 
war,  zu  dem  Namen  Dolgoeuki  verhelfen  (Hybtl).  Beim  Neger  soll 
der  Arm  erheblich  tiefer  herabreichen,  allein  diese  rassenanatomische 
Behauptung  wartet  noch  immer  der  sicheren  Feststellung.  Bei  Rück- 
gratsverkrümmungen fällt  die  größere  relative  Länge  der  Arme  zum 
Stamme  auf,  und  nimmt  mit  dem  Grade  der  Verkümmerung  zu.  Bei 
raschen  Körperbewegungen  schwingen  deshalb  die  Arme  wie  lange 
Pendel  hin  und  her.     Bei  gewissen  Affen  reicht  der  Arm   selbst  bis 


SkeleU  der  GUedmaOen.  187 

zur  Ferse.  Die  Verlängerung  betrifft  dabei  vorzugsweise  die  Vorder- 
arme. 

Die  Hand  führt  ihren  lateinischen  Namen  Manus  von  griechisch 
fHäo  tasten,  ihren  deutschen  aber  von  dem  alten  han,  so  viel  als  haben. 
Bei  den  römischen  Dichtern  heißt  sie  auch  palma,  das  breite  Ende 
eines  Ruders.  Sie  wird  durch  ihren  Hautüberzug,  besonders  in  der 
Hohlhand  (vola),  mit  hoher  Emptindlichkeit  ausgerüstet  und  erhebt 
sich  zur  Bedeutung  eines  Tastorgans,  welches  nach  allen  Sichtungen 
des  Raumes  beweglich,  uns  von  der  Ausdehnung  der  Materie  und 
ihren  physikalischen  Eigenschaften  belehrt.  Die  ältesten  Maßbestim- 
mungen (ulna  —  Elle,  apithama  —  Spanne j  pollex  —  Zoll)  sind  der 
Länge  einzelner  Haudabteilungen  entnommen.  Der  jedem  andern 
Finger  entgegenstellbare  Daumen  wirkt  mit  diesem  wie  eine  Zange, 
welche  zum  Fassen,  Ergreifen  und  Befühlen  kleiner  Gegenstände 
benutzt  wird.  Stammt  doch  das  Wort  Finger  von  Fangen  ab,  wie 
uns  die  Jägersprache  bezeugen  kann,  in  welcher  die  Finger  der  Raub- 
tiere Fänge  heißen. 

In  dem  langen,  fi'eibeweglichen  und  stairken  Daumen,  Follex,  von 
poliere  Ansehen  haben,  gelten,  liegt  der  wichtigste  Vorzug  der  Menschen- 
hand. Der  Daumen  krümmt  sich  mit  Kraft  gegen  die  übrigen  Finger 
zur  Faust  (Fugnus  Faustkampf,  von  pugnare  kämpfen),  die  zum  An- 
fassen und  Festhalten  schwerer  Gegenstände  dient.  Er  leistet  hierbei 
soviel,  wie  die  übrigen  Finger  zusammengenommen;  er  stellt  das  eine 
Blatt  einer  Beißzange  dar,  deren  anderes  Blatt  durch  die  vier  übrigen 
Finger  gebildet  wird.  Eine  Hand  ohne  Daumen  hat  ihren  besten  Teil 
eingebüßt,  denn  sie  dient  nicht  mehr  zum  Anpacken  und  Festhalten. 
Juiiius  Cäsar  befahl,  allen  in  üxellodunum^  gefangenen  Galliern  die 
Daumen  abzuhauen,  weil  er  sie,  so  verstümmelt,  als  Krieger  nicht 
mehr  zu  flirchten  hatte.  Ahnliche  Verstümmelungen  von  Kriegsge- 
fangenen kamen  auch  bei  den  Hebräeni  vor. 

Die  aus  mehreren  Knochen  zusammengesetzte  bogenförmige  Hand- 
wurzel unterliegt  der  Gefahr  des  Bruches  weit  weniger,  als  wenn  ein 
einziger  gekrümmter  Knochen  ihre  Stelle  eingenommen  hätte.  Die 
feste  Verbindung  der  Mittelhand  mit  der  Handwurzel  macht  das  Stem- 
men und  Stützen  mit  den  Händen  möglich,  und  die  Längenkrümmung 
der  einzelnen  Metacarpusknochen ,  sowie  ihre  Nebeneinanderlegung  in 
einer  gegen  den  Rücken  der  Hand  konvexen  Ebene  erleichtert  die 
Aushöiüung  der  Hohlhand  zum  Poculum  IHogenis, 

Die  große  Beweglichkeit  der  Finger  und  die  möglichen  zahlreichen 
Kombinationen  ihrer  Stellungen  machen  sie  zu  Vermittlei-n  der  Zeichen- 


'  Eine  Stadt  und  Festung  der  Cadurci  in  Aiiuitanien  an  der  Garonnc. 


188  Sechster  Abechnitt. 

spräche.  Wir  bitten,  beschwören,  drohen  und  befehlen  mit  der  Hand; 
die  tiefen  Trennungsspalten  zwischen  je  zwei  Fingern  erlauben  das 
Falten  der  Hände,  und  die  nur  im  Winkel  mögliche  Beugung  der  zwei 
letzten  Phalangen  giebt  der  geballten  Faust  eine  Kraft,  die  einst  statt 
des  Rechtes  galt.     Auch  die  Römer  gebrauchten  manus  f&r  Gewall 

Die  tausendfältigen  Verrichtungen  der  Hände  (Hantierungen),  welche  die  Not- 
wendigkeit diktiert  und  der  Verstand  raffiniert,  werden  nur  durch  den  weise  be- 
rechneten Bau  dieses  Werkzeuges  ausführbar.  Wir  können  uns  keine  Vorrichtmig 
denken,  durch  welche  die  mechanische  Brauchbarkeit  der  Hand  auf  einen  höhefn 
Volikommenheitsgrad  zu  bringen  gewesen  wäre.  Jede  wie  immer  beschafiene  Zu- 
gabe würde  eher  hemmend  als  fördernd  wirken.  So  ist  z.  B.  ein  sechster  Finger 
wahrlich  keine  Vollkommenheit  der  Hand,  sonst  würde  der  Besitzer  desselben  nicbt 
wünschen,  dieser  Vollkommenheit  quitt  zu  werden,  und  die  Chirurgen  würden  aA 
nicht  dicnstfreundlichst  beeilen,  sie  wegzuschneiden. 

Die  Knochen,  welche  die  oberen  Gliedmaßen  des  Menschen  bilden,  finden  vir 
wieder  in  der  Flosse  des  Walfisches,  in  dem  Vorderfuß  der  Schildkröte  und  im 
Flügel  des  Vogels.  Dieselben  Knochen  sind  es,  die,  vollkommen  ihrem  Zwecke  an- 
gepaßt, in  der  Tatze  des  Löwen,  wie  des  Bären  gefunden  werden;  anders  sind  ne 
umgewandelt  im  Vorderbein  des  Pferdes  oder  des  Kamels,  oder  bei  dem  zum  Klet- 
tern und  Graben  lang  beklauten  Beinen  des  Faultieres.  £ine  vortrefFliche  mit  Ab- 
bildungen illustrierte  Anatomie  und  vergleichende  Anatomie  enthält  das  kleine,  aber 
lehrreiche  Buch:  Die  menschliche  Hand  und  ihre  Eigenschaften  von  Sir  Ckabub 
Bell.    Deutsch  von  Dr.  H.  Hauff.    Stuttgart  1836. 


Skelett  der  unteren  O^lledmaßen. 

Zu  dem  Skelett  der  unteren  Gliedmaßen  gehören: 

1)  der  Beckengürtel, 

2)  der  Oberschenkelknochen, 

3)  die  beiden  Unterschenkelknochen, 

4)  das  Knochengerüste  des  Fußes. 

a.  Der  BeckengürteL 

Der  Beckengürtel  verbindet  die  unteren  Gliedmaßen  mit  dem 
Stamme.  Es  sind  bei  dem  Erwachsenen  drei  Knochen,  welche  diesen 
festen,  aber  unregelmäßig  geformten  Gürtel  zusammensetzen,  nämlich 
jederseits  das  Hüftbein  (Fig.  60  H)  und  hinten  das  Kreuzbein 
(Fig.  60  Kr).  Im  Interesse  der  Festigkeit  sind  die  beiden  Hüftknochen 
durch  einen  starken  Bandapparat  sowohl  mit  dem  Kreuzbein  als  unter 
sich  vereinigt.  Von  dem  Kreuzbein  aus  überträgt  sich  das  Gtewicht 
des  Oberkörpers  auf  die  Hüftknochen  und  von  diesen  auf  die  sänlen- 
artigen  Gliedmaßen  durch  Vermittelung  der  Hüftgelenkpfanne. 


Skelett  der  GliedmaAen.  189 

Das  Hüftbein  (Os  coxae). 

Das  Hüftbein  ist  ein  platter  Knochen ,  der  an  der  äußeren  Fläche 
eine  tiefe  Pfanne  fUr  den  kugeligen  Schenkelkopf  besitzt.  Es  reicht  an 
dem  Eumpf  hoch  gegen  die  Kippen  hinauf  und  erstreckt  sich  tief 
hinab  unter  die  Pfanne.  Der  obere  Abschnitt  des  Hüftknochens  ist 
breit,  schaufelförmig,  .der  untere  durchbrochen  und  zwar  durch  eine 
große  unregelmäßig  ovale  Öffnung,  welche  das  verstopfte  hoch  (Foramen 
obturatum)  oder  Hüftloch  genannt  wird.  Dieser  große  und  seltsam 
geformte  Knochen  setzt  sich  in  der  Kindheit  aus  drei  Teilen  zusam- 
men, deren  verschiedene  Benennung  schon  in  den  Gebrauch  des  täg- 
lichen Lebens  übergegangen  ist.  Den  vor  dem  verstopftien  Loch  ge- 
legenen Teil  nennt  man  das  Schambein,  die  hintere  Abgrenzung  des 
Loches . bildet  das  Sitzbein;  was  noch  übrig  bleibt,  ragt  gegen  den 
Thorax  in  die  Höhe  und  heißt  Darmbein.  Die  Grenze  aller  drei 
Teile  geht  mitten  durch  die  Pfanne. 

1)  Das  Darmbein  (Os  ilei)  trägt  auf  der  konkaven,  der  Leibes- 
hohle zugewendeten  Fläche  Schlingen  des  Darmes,  woraus  sich  seine 
Bezeichnung  genügend  erklärt,  die  äußere  Fläche  ist  mit  den  großen 
Gesäßmuskeln  bedeckt.  Zwei  dieser  Muskeln  zeichnen  ihre  ürsprungs- 
linie  auf  die  äußere  Fläche:  der  kleinste  Gesäßmuskel  mit  einer  Linie, 
welche  bogenförmig,  in  der  halben  Höhe  der  äußeren  Fläche,  den 
Rand  der  Gelenkpfanne  umkreist  (Fig.  63  Nr.  15),  und  der  größte  Ge- 
säßmuskel mit  einer  kürzeren  Linie,  welche  ein  hinteres  Stück  des 
Knochens  in  der  Nähe  des  Kreuzbeins  umkreist.  Der  obere  Rand 
des  Hüftknochens  begrenzt  an  dem  lebenden  Körper  die  Weichen  und 
wird  dadurch  zu  einer  wertvollen  Orientierungslinie.  Bekanntlich  sinkt 
unterhalb  des  Brustkorbes  der  Leib  ein,  um  sich  später  wieder  aus- 
zuladen. Der  Beckengürtel  ist  der  Grund  dieser  Form,  und  der  obere 
Rand,  der  Hüftbeinkamm  (Crista  ilei),  kommt  deswegen  am  stärksten 
zum  Vorschein,  weil  sich  der  Gürtel  nach  oben  schüsselformig  aus- 
ladet, und  zwar  stärker  bei  der  Frau  als  bei  dem  Manne  (vergl.  die 
Fig.  33  S.  1 1 1  und  die  Fig.  60). 

Der  Hüftbeinkamm  ist  breit;  an  ihm  befestigen  sich  die  drei 
breiten  Bauchmuskeln,  welche  von  dem  Brustkorb  herabkommen  mit 
einem  großen  Teil  ihrer  Fasern  und  zwar  an  drei  verschiedenen 
Facetten,  welche  man  als  äußere,  mittlere  und  innere  Facette 
oder  Lippe  zu  unterscheiden  pflegt.  Vorne  läuft  der  Kamm  in  eine 
scharfe  Ecke  aus,  welche  vorderer  Darmbeinstachel  (Fig.  61  Nr.  20) 
heißt.  Hinten  geht  der  Hüftbeinkamm  ebenfalls  in  eine  scharfe,  aber 
im  Vergleich  zu  der  vorderen  umfangreichere  Ecke  über,  der  hintere 
obere   Darmbeinstachel   genannt.     Beide  sind  an  dem  Lebenden, 


190  Skelett  der  Glfedmaßen. 

freilich  in  sehr  veränderter  Form  zu  sehen,  jedoch  ist  die  Orientieruug 
nicht  schwer,  sobald  man,  wie  dies  bei  dem  Studium  der  Kuochenlebre 
unerläßlich  ist,  von  mageren  Modellen  ausgeht  und  allmählich  zo 
muskelkräftigen  Männern,  dann  erst  zu  Frauen  und  Kindern  fort- 
schreitet. Beide  Darmbeinstacheln  erscheinen  bei  Männern  wegen  des 
Ansatzes  starker  Muskeln  in  der  ganzen  Umgebung  als  kleine  Ver- 
tiefungen von  unregelmäßiger  Form  (Fig.  14  S.  61  Nr.  20),  bei  den 
Frauen  als  Grübchen,  weil  die  Haut  auf  der  Kuppe  der  Darmbein- 
stacheln fester  angewachsen  ist,  und  das  ünterhautfettgewebe  zwar 
die  Umgebung  zu  fällen  vermag,  an  diesen  Stellen  aber  ein  in  nor- 
malen Verhältnissen  unnachgiebiges  Gewebe  findet,  wie  dies  schon  in 
dem  Abschnitt  über  die  Haut  S.  49  erwähnt  wurde. 

Jeder  dieser  Darmbeinstacheln  hat  etwas  tiefer  einen  Nachbar, 
getrennt  durch  einen  schwachen  Ausschnitt.  Der  eine  dieser  tiefer 
stehenden  Höcker  heißt  vorderer  unterer  Darmbeinstachel, 
wichtig  als  Ursprungsstelle  fiir  Muskeln,  der  andere  hat  die  Bezeich- 
nung hinterer  unterer  Darmbeinstachel  erhalten. 

2)  Das  Schambein  (Os  pubis)  hat  in  der  Anatomie  eine  größere 
Ausdehnung  als  in  der  Vorstellung  des  täglichen  Lebens.  Es  besteht 
aus  zwei  starken  dreikantigen  Knochenspangen,  welche  das  verstopfte 
Loch  umkreisen  helfen.  Die  eine  Spange  liegt  annähernd  horizontal, 
wenigstens  mit  einem  Teile  ihres  Abschnittes,  die  andere  senkt  sich  da- 
gegen nach  der  Mittellinie  des  Körpers  hin.  Die  Anordnung  ist  folgender 
Art:  Von  den  beiden  oberen  Darmbeinstacheln  fällt  der  vordere  Rand 
des  Beckengürtels  bis  zu  einem  Knochenhöcker,  der  den  umfang  der 
Hüftgelenkpfanne  bilden  hilft,  zunächst  jäh  ab.  Dieser  Darm- Scham- 
höcker (Tuberculum  ileo-pectineum)  bildet  das  verdickte  Anfangsstück 
des  horizontalen  Schambeinastes  (Fig.  60  Sa).  Der  horizontale 
Ast  erstreckt  sich  dann  weiter  gegen  die  Mitte  zu  und  verbindet  sich 
mit  demjenigen  der  entgegengesetzten  Seite.  Von  nun  an  ändert  er 
seine  Richtung  und  wendet  sich  nach  abwärts,  um  den  absteigenden 
Schambeinast  zu  bilden.  Die  inneren  Ränder  der  sich  berührenden 
Schambeine  bilden  die  Scham-  oder  Schoßfuge.  Eine  mächtige 
Faserknorpelschichte  schließt  die  Knochenränder  fest  aneinander.  Der 
absteigende  Schambeinast  der  linken  und  rechten  Seite  entsprechen 
miteinander  demjenigen  Gebiet  des  Rumpfskelettes,  das  unter  den 
Laien  als  Schambein  bekannt  ist.  Dieses  mittlere  Gebiet,  die  Schoß- 
fuge, hat  einen  oberen  breiten  Rand,  mit  ein  paar  Knochenhöckem 
zum  Ansatz  der  geraden  Bauchmuskeln  versehen,  und  eine  breite  vor- 
dere und  hintere  Fläche,  Die  vordere  Fläche  steht  nicht  senkrecht, 
sondern  ist  schief  nach  hinten  gerichtet  (siehe  Fig.  33  S.  112  t). 
Unter  der  Haut  entwickelt  sich  ein   reiches  Fettpolster;   die   dadurch 


192  Scdirter  Almdiiiitt. 

entstehende  Rundung,  welche  sich  allmählich  zwischen  den  Beinen 
verliert,  heißt  Schamberg  (Venushügel,  ^f(ms  veneris).  Seine  Form 
ist  bei  gesunder  Fülle  eine  dreieckige,  mit  oberer  Basis  und  unterer 
Spitze.  —  Die  absteigendea  Schambeinäste  weichen  unterhalb  der 
Schambeinfuge  auseinander  und  bilden  mit  den  aufsteigenden  Sitzbein- 
ästen den  Schambogen,  der  bei  dem  Manne  enger  ist,  als  bei  der 
Frau. 

3)  Das  Sitzbein  (Os  ischn)  geht  von  dem  hinteren  Umfang  der 
Pfanne  aus  —  dort  liegt  der  massivere  Teil;  die  übrigen  Abschnitte, 
dreikantig  und  schwächer,  werden  als  absteigender  Sitzbeinast 
und  als  aufsteigender  Sitzbeinast  unterschieden.  Sie  verlaufen 
der  Art,  daß  sie  das  verstopfte  Loch  oder  Hüftbeinloch  von  hinten 
her  umkreisen.  Dort,  wo  die  beiden  Aste  des  Sitzbeins  den  Bogen 
beschreiben,  ist  ihre  hintere  Fläche  verdickt  und  bildet  den  Sitz- 
höcker (Tuber  ossis  ischü,  Fig.  60  Si),  der  durch  Fettmassen  gepolstert 
ist  und  als  Sitzfläche  verwendet  wird.  Etwas  höher  hinauf  befindet 
sich  an  der  Rückenfläche  des  aufsteigenden  Astes  die  Ursprungsstelle 
für  die  Beugemuskeln  des  Unterschenkels;  sie  wird  überragt  von  einem 
starken  Knochenfortsatz,  dem  Sitzstachel  (Spina  osids  ischii). 

Die  Verbindung  des  Kreuzbeins  mit  dem  Hüftknochen. 

Die  Hüftknochen  besitzen  an  dem  dem  Kreuzbein  zugewendeten 
breiten  Rande  die  ausgedehntesten  Mittel  zu  einer  festen  Yerbindong. 
Die  sich  berührenden  Oberflächen  sind  uneben;  in  die  Vertiefungen 
der  einen  greifen  Erhebungen  der  anderen  ein.  Straffe  Kapseln  und 
Verstärkungsbänder  bringen  mit  anderen  benachbarten  Bändern  eine 
Verbindung  zustande,  welche  dem  heftigsten  Stoß  durch  Sprung  oder 
Schlag  widersteht.  Unter  diesen  benachbarten  Bändern  sind  auch 
solche,  welche  den  letzten  Lendenwirbel  auf  besondere  Art  mit  dem 
Kreuzbein  verbinden,  und  andere  kraftvolle  Bandmassen,  welche  das 
Sitzbein  mit  dem  Kreuz-  und  Steißbein  in  Zusammenhang  setzen. 
Die  letzteren  sind  es,  welche  gleichzeitig  den  Raum  des  Beckens  nach 
unten  begrenzen  helfen.  Sie  sind:  a)  das  Sitzknorren-Kreuzbein- 
band (Ligamentum  tuberoso-sacrum),  welches  am  Sitzknorren  entsteht 
und  nach  oben  läuft,  um  an  dem  hintern  unteren  Darmbeinstachel  und 
am  Rande  des  Kreuz-  und  Steißbeins  zu  endigen;  b)  das  Sitzstachel- 
Kreuzbeinband  (Ligamentum  spinoso-sacrum),  kürzer  als  das  vorher- 
gehende; es  entspringt  von  dem  Sitzstachel,  kreuzt  das  vorerwähnte 
Band,  und  zieht  dann  ebenfalls  zu  dem  Seitenrande  des  letzten  Kreuz- 
wirbels und  des  Steißbeins.  Durch  die  Kreuzung  beider  Bänder  ent- 
stehen zwei  Löcher  an  dem  hinteren  Umfang  des  Beckens,  welche  als 
großes   und  kleines  Sitzbeinloch  unterschieden  werden.     An  dem 


Skelett  der  Gliedmaßen.  193 

natürlichen  Skelett  sind  diese  Bänder  durch  die  Fäulnis  und  damit 
auch  die  Löcher  verschwunden  und  nur  die  Buchten  an  dem  hinteren 
Rande  des  Hüftbeinknochens  erhalten,  welche  als  großer  und  klei- 
ner Sitzbein  ausschnitt  (Inclsura  ifchiadica  major  und  mhwr)  be- 
zeichnet werden.  Ihre  gemeinschaftliche  Grenze  stellt  der  Sitzstachel 
dar.  Durch  den  Wegfall  der  eben  bescliriebenen  Bänder  wird  das 
Rümpfende  des  Skelettes  von  hinten  her  betrachtet  ein  weitklaffendes 
mit  großen  und  kleinen  Ausschnitten  versehenes  Loch,  in  dessen  Mitte 
sich  das  Steißbein  hinabsenkt  (Fig.  2  S.  28). 

Das  Becken  als  Ganzes, 

Das  Becken  flihrt  seinen  Namen  von  dem  runden,  oben  weiten 
Gefäß,  dessen  man  sich  zum  Waschen  der  Hände  und  Füße  schon  im 
Altertum  bediente,  und  das  lateinisch  Velvis  und  griechisch  Pelis  hieß; 
Diese  Bezeichnung  ist  wenig  zutreffend  ftir  das  skelettierte  Becken  mit 
seinen  unregelmäßigen  Rändern  und  seinen  weiten  Löchern,  dagegen 
entspricht  der  Name  sehr  gut  demjenigen  Raum,  der  in  dem  lebenden 
Körper  durch  die  das  Becken  umhüllenden  Weichteile  gebildet  wird. 
Offnet  man  an  der  Leiche  den  Unterleib,  dann  hat  der  Schlußteil  des 
Stammes  eine  große  Ähnlichkeit  mit  einem  tiefen  Waschbecken,  das 
einen  oberen  weiten  Umfang,  das  große  Becken  genannt,  besitzt. 
Seine  Wände  werden  von  den  beiden  Darmbeinen,  von  der  Lenden- 
wirbelsäule und  von  der  muskulösen  Bauchwand  gebildet.  Die  Höhle  des 
großen  Beckens  dient  zur  Vergrößerung  der  Bauchhöhle  und  geht,  sich 
trichterförmig  verengernd,  in  die  Höhle  des  kleinen  Beckens  ü])er. 

Das  kleine  Becken  stellt  eine  nach  unten  vercnp^t<^  Höhle  dar,  deren  hin- 
tere lange  Wand  durch  die  konkave  Kreuzbein-  und  Stcnßbeinflftche,  deren  vordere 
und  seitliche  Wand  durch  die  Schoßfuge  und  die  djis  verstopfte  Loch  umgcb(uiden 
Äste  des  Scham-  und  Sitzbeins  gebildet  wird.  Die  Höhle  de»  kleinen  Beckens  ist 
an  dem  Lebenden  und  der  Leiche  nach  unten  verschlossen  durch  Weichteile,  welche 
von  den  Ausführungskanäleu  der  Hamorgane,  des  Verdauungsrohres  und  der  Gre- 
schlechtsorgane  durt-hsetzt  werden.  Der  Übergang  de«  großen  Beckens  in  daa 
kleine,  der  sogen.  Beckeneingang,  wird  durch  eine  scharf  vorspringende  Linie  be- 
zeichnet, welche  sich  von  den  beiden  Dannbeinen  bis  auf  den  einspringenden 
Kand  des  fünften  Lendenwirbels,  Promontorium  genannt,  verfolgen  läßt.  Diese 
Grenze,  welche  filr  die  Geburtshilfe  eine  besondere  Becleutung  besitzt,  heißt  Linea 
icrminalisy  Grenzlinie. 

Die  Stellung  des  Beckens  im  Körper  ist  derart,  daß  die  Ein- 
gangsebene in  das  kleine  Becken  stark  nach  vorn  gesenkt  ersclieint. 
In  allen  Skelettbildungen,  welche  bisher  in  dem  Texte  abgedruckt 
sind,  ist  diese  Stellung  berücksichtigt  worden.  In  der  Fig.  60  ist  die 
wahre  Stellung  dadurch  kenntlich,  daß  die  Grenzlinie  an  dem  Eingang 
in  das  kleine  Becken,   sowie  das  Ki'euzbein  in  seiner  ganzen  Ausdeh- 

KoLLMAMN,  PlasUflche  Anatomie.  X3 


194  Sech^r  Abschnitt. 

nung  wahrnehmbar  sind.  Der  horizontale  Schambeinast  erscheint  dabei 
etwas  von  oben  gesehen,  während  die  absteigenden  Aste  sich  nur  in 
der  Verkürzung  bemerken  lassen.  In  der  Fig.  33  S.  112  ist  das 
Rumpfskelett  von  der  Seite  dargestellt;  an  ihm  ist  die  Stellung  des 
Beckens  noch  vollkommener  zu  beurteilen,  denn  die  Schoßfiige  Qiid 
der  horizontal  laufende  Schambeinast  lassen  deutlich  erkennen,  datt 
der  Eingang  in  das  kleine  Becken  schief  zu  der  Horizontallinie  vv 
geneigt  ist.  Zieht  man  von  dem  vorspringeudsten  Punkte  des  Pro- 
montorium eine  gerade  Linie  herab,  bis  sie  die  Horizontale  schneidet, 
so  erhält  man  einen  nach  hinten  offenen  Winkel,  der  die  Neigung  des 
Beckens  anzeigt,  und  Neigungswinkel  genannt  wird.^ 

In  dem  Becken  ist  der  Unterschied  der  Geschlechter  am  bestimm- 
testen  ausgesprochen.     Kein  Teil  des  Skelettes   bietet  so   auffallende 
und   wegen   ihrer  Beziehungen   zum  Geburtsakt   so   wichtige   sexuelle 
Verschiedenheiten   dar.     Der   anatomische  Charakter   des    männlicben 
Beckens  liegt  in  dessen  Enge  und  Höhe,  das  weibliche  Becken  cha- 
rakterisiert sich  dagegen  vergleichungs weise  durch  Weite  und  Kürze. 
Die  Weite  betrifft  sowohl  das  große  als  das  kleine  Becken.    Während 
die  Geburtshilfe  sich  mehr  für  die  Raumverhältnisse  des  letzteren  in- 
teressiert, hat  es  die  plastische  Anatomie  mit  dem  großen  Becken  zu 
thun;   denn  seine  schaufelartigen  Flächen  und  vor  allem  die  höchsten 
Teile  desselben,    die  Hüftbeinkämme,   sind  mehr  nach  außen   gelegt. 
Daher  rührt  zunächst  die  bedeutendere  Wölbung  der  Hüfte   bei  dem 
Weibe,  welche  so  stark  sein  kann,  daß  der  Beckengürtel  den  Schulter- 
gürtel an  Umfang  übertrifft,  was  bei  dem  Manne  umgekehrt  ist  (vergl 
die  Fig.  2  S.  28  u.  Fig.  45  S.  129).    Bei  der  Frau  wird  dieser  Unter- 
schied noch  gesteigert  durch  eine  stärkere  Fettentwickelung  nicht  bloß 
im  allgemeinen,  wie  schon  in  der  Einleitung  erwähnt  vnirde,  sondern 
im   ganzen  Bereich   des  Beckens.     Dieses   für  den  weiblichen  Körper 
charakteristische   Fettpolster    beginnt    oberhalb    des   Hüftbeinkammes 
und   eiTstreckt   sich   bis  gegen  das  Kniegelenk  herab.     Den   stärksten 
Umfang   besitzt   es  jedoch   in  der  seitlichen  und  hinteren  Umgebung 


*  Dieser  Neigungswuikel  beträgt  60—64".  Eine  dritte  Abbildung,  an  der  sich 
die  Neigung  des  Beckens  beurteilen  läßt,  ist  die  Fig.  1  S.  25,  eine  Darstellung  des 
ganzen  Skelettes  im  Profil,  ebenfialls,  wie  die  übrigen,  mit  dem  Orthographen  dur- 
gestellt*  Auf  den  Figuren  1  und  33  ist  die  Horizontale  vw  gezogen,  und  cino 
zweite  Linie,  welche  nicht  von  der  Höhe  des  letzten  Jjcndenwirbcls ,  sondern  von 
einer  tieferen  Stelle  herabkommt.  Der  daraus  entstandene  und  nach  hinten  offene 
Winkel  ist  deshalb  um  ca.  10°  kleiner  als  der  oben  angegebene.  Die  Stellung  des 
B<;ckens  ist  jedoch  unabhängig  von  dieser  Linie  und  beträgt  auch  in  diesen  Ab- 
bildungen 60^  Hat  man  einem  skelcttierten  Becken  die  eben  angegebene  Neigun*; 
gegeben,  so  wird  man  finden,  daß  die  Spitze  des  Steißbeins  ungefähr  1*/,  cm  höher 
liegt,  als  der  untere  Rand  der  Schambeinfuge. 


SkeleU  der  Gli«doMi6cii. 


ObenT  Rand  K 
Vord.  ob.  DarmbeiDBtachel  >■ 

Vord.  ant.  DanubeiDiMchel   n 

GroOer  Kollhügel  a 
Schenkelhals  U 

Linea  iDtertrochuitertta  U 


ÄuB.  Nebenknurrun     u' 

ÄuBerer  Koorrt^n    r; 

Widenbeiaköprciieii   U- 


1  tlüfl-Kreuibeigfuge. 

t  ZwJBchenwirbelläcber. 


Kleiner  Rollhügel, 


A.D&.  Fläche  deiSchicnbeiiiea  27- 
Knöchel  U 


^ B  iSthenkelkuochen. 


9  Palellenfliche. 


■tu  Innertr  Knorren. 
O  SiAieDbeiiialachel. 

U  Votd.  ächtenbeinfläehe. 
H  Schienbainkuitc. 
Vi'  Vonl.  Schien  bei  nfliche. 
U'  Bchienbelnkante. 


Fig.  61.    Knochen  der  unteren  OliednuiBen. 


196  Sechflter  Abechnitt 

des  Beckens.  Die  Antike  hat  in  ihren  edelsten  Darstellungen  weil», 
licher  Schönheit  diese  Ausdehnung  des  Unterkörpers  beträchtlich  ge- 
mäßigt; am  meisten  bei  der  Venus  von  MiLo,  oflFenbar  um  den  sinL- 
liehen  Eindruck  abzuschwächen,  den  das  Überwiegen  dieser  Partie  auf 
den  Beschauer  hervorbringt.  Doch  hat  die  Antike  auch  nicht  ver- 
schmäht, die  Rundung  dieser  Partien  zum  Gegenstand  der  Plastik  zu 
machen.  In  der  Venus  Eallipygos  hat  sie  sogar  die  von  Fett  stark 
gefüllten  Hinterbacken,  die  bei  gesunden  Personen  schön  gerundet  siud. 
durch  den  Meisel  verewigt.  Das  Fettpolster  kann  bei  Frauen  in  dieser 
Gegend  bekanntlich  selbst  unter  normalen  Verhältnissen  eine  enoryie 
Ausdehnung  erreichen  {llottentottenveiius).  Niemals  erreicht  bei  dem 
körperlich  wohlgebildeten  Manne  das  Gesäß  eine  mit  dem  weiUichen 
Geschlecht  übereinstimmende  Fülle.  Bei  dem  Mann  ist  wegen  der  nur 
in  mäßiger  Tiefe  liegenden  starken  Muskeln  das  Gesäß  derb  und  prall 
anzufühlen,  unfaltbar,  und  die  Hauptmassen  der  Muskeln  sind  durch 
die  Haut  hindurch  zu  erkennen,  sobald  sich  die  Beine  fest  aufstellen. 
Die  Afterfurche  ist  bei  dem  Menschengeschlecht  bis  auf  einen  schma- 
len Spalt  geschlossen,  und  der  After  dadurch  vollkommen  verdeckt; 
bei  kräftigen  männlichen  Gestalten  ist  die  Furche  stets  behaart  ("//er- 
kules  melampygos)^  bei  siechen  und  ausgemergelten  Individuen  dagegen 
klaffend,  wie  bei  den  Tieren. 

,,IIiatque  turpis  iutcr  aridas  nates 
Podex,  velut  crudac  bovis." 

Der  größere  Umfang  des  weiblichen  kleinen  Beckens  wird  durch  die 
größere  Breite  des  Kreuzbeins  und  durch  die  größere  Ausdehnung  der 
übrigen  Abschnitte,  namentlich  auch  der  horizontalen  Schambeinäste, 
bedingt.  Die  Pfannen  und  die  Sitzknon-en  stehen  somit  bei  dem 
Weibe  mehr  auseinander,  und  der  Schoßbogen  wird  oflFener  und  weiter 
sein  müssen,  als  beim  männlichen  Geschlechte.  Infolge  der  größereu 
Weite  stehen  auch  die  Gelenkpfannen  weiter  auseinander  als  bei  dem 
Manne,  hiermit  ist  eine  größere  Konvergenz  der  Oberschenkel- 
knochen gegen  das  Knie  hin  verbunden. 

Der   Oberschenkelknochen   (Femur), 

An  diesem  längsten  Knochen  des  Körpers  ist  das  starke  Mittel- 
stück der  ganzen  Länge  nach  etwas  nach  vom  gekrümmt  und  von 
vorne  betrachtet  cylindrisch,  hinten  jedoch  besitzt  es  eine  rauhe 
Linie  (Fig.  62  Nr.  i),  die  doppelt  ist  und  zur  Befestigung  starker 
Muskeln  dient;  nach  oben  und  unten  weicht  die  Linie  auseinander  und 
ihre  divergierenden  Schenkel  (Fig.  62  Nr.  7  u.  9)  begrenzen  rauhe  Flächen. 
An  der  oberen  rauhen  Fläche  heftet  sich  u.  a.  der  große  Gesäßmuskel 


Skdett  der  GliedmKBea. 


I    Urapr.  d.  m.  G«aUm. 
%   Unpr.  d.  kl.  OeiAIIm. 


5   Pfannen  rand. 
(   Gr.  Rollbügel. 


1    Rauhe  Linie. 


«I  AtiD.  Höcker. 

■I  i  iplenkfläche. 

tl  Hand  d.  äuß.   HSckera. 

O  Wilde nbelnköpfchen. 

1^  /nischeDknochenraam. 


Fig.  62.     Skelett  der  unteren  Gliedmaßen  von  hinten. 


198  Sechster  AbschniU. 

fest;  die  untere,  muldenförmig  vertieft,  und  von  starken  Gefäßlöchera 
durchsetzt,  bildet  die  knöcherne  Wand  der  Kniekehle. 

Die  mächtig  entwickelten  Enden  des  Schenkelknochens  übertreffen 
das  Mittelstück  bedeutend  an  Dicke.  Das  obere  Ende  trägt  den 
kugligen  Kopf,  der  in  der  Pfanne  des. Hüftbeins  eingelenkt  ist  Er 
sitzt  nicht  wie  derjenige  des  Oberarmknochens  direkt  auf  dem  Schaft- 
ende, sondern  ist  mittels  eines  verschmälerten  Ansatzstückes,  Schenkel- 
hals genannt,  in  einem  stumpfen  Winkel  zur  Achse  des  Beines  angesetzt 
Der  Hals  entwickelt  sich  aus  zwei  mächtigen  Knochenhöckem  heraus, 
die  zum  Ansatz  von  Muskeln  dienen,  welche  das  ganze  Bein  in  der 
Pfanne  auswärts  und  einwärts  drehen  können.  Aus  diesem  Grunde 
heißen  diese  Knochenhöcker:  Rollhügel.  Der  innere,  der  kleine 
Rollhügel  (Trochanter  minor),  liegt  tiefer  als  der  große  Rollhügel 
(Troclianter  major ,  Fig.  61  u.  62).  ^  Der  letztere  bildet  einen  wich- 
tigen Orientierungspunkt  für  das  Verständnis  der  Formen  an  dem 
seitlichen  Umfang  des  Beckens,  denn  seine  äußere  Fläche  ist  nicht 
wie  der  kleine  Rollhügel  von  Muskeln,  sondern  nur  von  einer  Sehne 
und  der  an  dieser  Stelle  fettarmen  Haut  bedeckt. 

Während  mit  Ausnahme  des  großen  Rollhügels  das  ganze  Hüft- 
gelenk von  Weichteilen  bedeckt  ist,  wird  das  untere  Ende  des  Knochens 
entscheidend  für  die  Formen  des  Kniegelenkes.  Die  Muskeln,  welche 
vom  Oberschenkel  herab  zu  dem  Unterschenkel  ziehen,  gehen  in  der 
Nähe  des  vorderen  Gelenkumfanges  in  Sehneu  über  und  lassen  be- 
sonders an  der  vorderen  Seite  alle  Eigentümlichkeiten  der  Knochen 
sowohl  während  der  Ruhe  als  während  der  Bewegung  durch  die  Hant 
hindurch  erkennen.  Das  Knieende  des  Oberschenkelknochens  zeigt 
zwei,  vorne  durch  eine  seichte,  hinten  durch  eine  tiefe  Furche  getrennte 
Knorren,  von  denen  der  äußere  Knorren  (Condylus  extemns^  Fig.  61 
Nr.  \\^)  kürzer  und  schmäler  ist,  aber  weiter  nach  vorne  ragt,  als  der 
innere  Knorren  (Condyhis  internus^  Fig.  61  Nr.  ii).  Nur  ein  Teil 
dieser  starken  Auftreibungen  ist  mit  Knorpel  überzogen;  diese  glatten 
Gelenkflächen,  welche  auf  den  seichten  Gelenkgruben  des  Schienbeins 
ruhen,  nehmen  einen  viel  kleineren  Raum  ein,  als  man  vermuten  sollte. 
An  der  vorderen  Fläche,  leicht  vertieft  beginnend,  nehmen  sie  nur  die 
untere  und  einen  Teil  der  hinteren  Fläche  ein.  Hinten  sind  die 
Knorren  und  so  auch  die  glatten  Gelenkkörper  stark  gekrümmt  und 
durch  einen  tiefen  Einschnitt  (Fossa  intercondyloidea,  Fig.  62)  vöUig 
getrennt.  An  der  vorderen  Seite  reicht  der  Knorpel  höher  hinauf, 
obwohl  das  Schienbein  niemals,  auch  nicht  in  dem  extremsten  Grade 


*  Trochanter,  von  troehix4)  griech.,  sich  im  Kreise  drehen.     Der  Trochanter 
major  wird  im  Kreisbogen  bewegt. 


Skelett  der  Gliedmaßen.  199 

der  Streckung,  diese  Stelle  erreichen  wird.  Dieser  vordere  Teil  der 
Gelenkiläclie  ist  denn  auch  für  einen  anderen  Knochen  bestimmt,  näm- 
lich für  die  Kniescheibe.  Bei  der  Beugung  und  Streckung  gleitet  die 
linsenförmige  in  die  Sehne  der  Streckmuskeln  eingewachsene  Kniescheibe 
an  diesem  vorderen  Abschnitt  der  Gclenkfläche,  dem  Patellenein- 
schnitt  (Incisura  patellaris,  Fig.  64  Nr.  2),  auf  und  nieder.  Diese  Gelenk- 
bahn beschränkt  sich  jedoch  nicht  bloß  auf  jenen  Teil,  der  mit  Knorpel 
überzogen  ist,  sondern  reicht  noch  etwas  höher  hinauf,  auf  eine  mulden- 
förmige Vertiefung  an  der  vorderen  Seite,  welche  sich  allmählich  ver- 
liert (Fig.  61  Nr.  9  u.  Fig.  64  Nr.  i).  Diese  ganze  Mulde  ist  bei  der 
Beugung  im  Kniegelenk  durch  Haut  und  Sehnen  hindurch  wiederzu- 
erkennen. Die  größte  Breite  der  Oberschenkelknorren  fällt  nicht  mit 
der  Breite  der  überknorpelten  Gelenkfiäche  zusammen,  sondern  liegt 
beträchtlich  höher.  Diese  Punkte  ragen  so  stark  hervor,  daß  sie  als 
äußerer  und  innerer  Nebenknorren  (Epkondylus  extemus  und  in- 
termiSj  vergl.  die  Figg.  61,  62  und  64)  besonders  bezeichnet  werden. 
Von  ihnen  entspringen  starke  Hilfsbänder  für  das  Kniegelenk. 

Die  Nebenknorren  könnten  deshalb  auch,  im  Gegensatz  zu  den  eigentümlichen 
mit  Knorpel  überzogenen  Gelenkhöckern,  Gelen kbandhöcker  heißen;  denn  aus 
naheliegenden  mechanischen  Gninden  müssen  sie  die  mit  Knori)el  bedeckten  Ab- 
schnitte ül>erragon,  sonst  wünlc^n  die  von  den  Nebenknorren  entspringenden  Bänder 
l>ci  je<ler  Bewef^ung  eine  Reibung  erleiden  und  dadurch  einen  beträchtlichen  Knift- 
verlust  bedingen. 

Das  Hüftgelenk. 

Die  Verbindung  der  unteren  Gliedmaßen  mit  dem  Rumpf  durch 
eine  Kapsel  und  durch  Verstärkungsbänder  stellt  ein  Kugelgelenk  dar, 
das  wegen  seiner  Tiefe  in  der  Mechanik  als  Nußgelcnk  bezeichnet 
wird.  Der  Kopf  des  Femur  greift  dabei  in  die  Pfanne  des  Hüftbeins 
so  tief  ein,  daß  mehr  als  die  Hälfte  der  Kugel  von  der  Pfanne  um- 
schlossen wird.  Dieser  letztere  Umstand  ist  nur  an  dem  frischen 
Präparat,  nicht  an  dem  Skelett  erkennbar.  Die  Fäulnis  zerstört  näm- 
lich einen  faserknorpeligen  King,  der  dem  Rand  der  Pfanne  aufsitzt, 
und  der  sich  während  des  Lebens  eng  an  den  Gelenkkopf  anschmiegt. 
(Über  dieses  Nußgelenk  vergl.  S.  38.)  In  diesem  Kugelgelenk  sind 
drei  Arten  von  Bewegungen  ausführbar. 

1)  Beinheben  und  Beinseuken.  Es  sind  dies  dieselben  Be- 
wegungen, welche  in  verschiedenem  Grade  beim  Gehen,  Laufen  und 
Springen  auftreten.  In  der  systematischen  Anatomie  nennt  man  dieses 
Heben  und  Senken  gewöhnlich  Beugung  und  Streckung. 

2)  Abziehen  und  Anziehen  des  Beines;  in  der  Turnsprache 
heißen  diese  Bewegungen  bezeichnender  Beinspreizen  und  Beinschluß. 


200  Sechster  Abschnitt. 

3)  Rollen  des  Beines  nach  einwärts  und  Kolleu  nach  aus- 
wärts; diese  Drehbewegungen  werden  unter  dem  Ausdruck  ,.Rotation-* 
zusammengefaßt.  Wird  die  Fußspitze  nach  auswärts  gedreht,  so  Nieht 
der  innere  Fußrand  je  nach  dem  Grade  der  Drehung  mehr  oder  wo- 
niger nach  vom,  ebenso  die  innere  Ober-  und  Unterschenkelfläche. 
Rollt  dagegen  der  Schenkelkopf  nach  innen,  so  wird  umgekehrt  die 
äußere  Fläche  des  Beines  teilweise  zur  vorderen ,  und  die  Fußspitze 
stellt  sich  nach  innen.  Das  Auswärtsrollen  kann  viel  weiter  getriel)eü 
werden  als  die  entgegengesetzte  Bewegung,  welche  übrigens  unschön 
ist  und  den  Eindruck  der  Verrenkung  macht,  sobald  sie  bis  an  die 
äußerste  Grenze  weitergeführt  wird. 

Die  Leichtigkeit,  mit  der  alle  diese  Bewegungen,  namentlich  jene  des  Bein- 
hebens und  Beinsenkens,  ausgeführt  werden^  hängt  mit  den  Einrichtungen  zusammen, 
welche  in  der  Einleitung  S.  34  u.  ff.  erörtert  wurden.  Durch  die  Verwendung  drt 
Luftdruckes  und  der  Adhäsion  schwingt  bei  dem  natürlichen  Gange  sowohl  bei  dem 
Menschen  als  bei  den  Tieren  das  unbelastete  Bein  nach  den  Gesetzen  eines  frvi- 
hftngenden.  Pendels;  fiir  diese  Bewegung  ist  also  keinerlei  Muskelkraft  erforderlich. 
Auch  das  tote  Bein  schwingt,  wenn  der  Körper  in  die  entsprechende  Lage  gebracht 
ist,  ebenso  wie  während  des  Lebens;  die  Schwinf]^ungszeit  beträgt  ebensoviel,  wie 
diejenige  eines  Pendels  von  der  Länge  des  Beines  und  von  der  ihm  zukommenden 
Massen  Verteilung.  Die  Länge  des  natürlichen  Sclurittes  bei  dem  ruhigen  Gang  iiit 
nicht  Sache  der  Willkür,  sondern  die  Folge  eines  physikalischen  G^jsetzes,  das  die 
Größe  einer  Schwingung  abhängig  macht  von  der  Pendellänge.  Je  kürzer  die 
Beine,  um  so  rascher  werden  sie  dem  Gesetze  gemäß  ihre  Schwingungen  vollenden. 
Kleine  Menschen  macheu  deshalb  kurze,  große  Menschen  lange  Schritte,  die  Be- 
wegungen des  einen  sind  schnell  und  hurtig,  diejenigen  des  anderen  gravitätisch  und 
langsam.  Ein  kleiner  Mensch  und  ein  großer  können  nur  sehr  schwer  Ann  in 
Arm  zusammengehen,  sondern  werden  bald  aus  dem  Schritte?  fallen.  Aus  demselben 
Grunde  stellt  man  im  Militär  die  großen  Leute  in  eine  Reihe. 

Bei  den  eben  erwähnten  .Bewegungsarten  bleibt  der  Rumpf  in 
annähernd  senkrechter  Haltung,  und  nur  der  Schenkclkopf  bewegt 
sich  in  der  Gelenkpfanne.  Es  kann  aber  auch  der  umgekehrte  Fall 
eintreten,  in  der  Art,  daß  das  Bein  auf  dem  Boden  stehen  bleibt,  der 
ganze  übrige  Körper  dagegen  die  Bewegungsarten  der  Beugung  und 
Streckung  ausführt.  Bei  dem  Bücken  und  dem  darauffolgenden  &- 
lieben  bleiben  die  Beine  bekanntlich  fest  haften  an  dem  Boden,  da- 
gegen rotiert  das  Becken  samt  dem  Oberkörper  auf  dem  Gelenkkopf. 
Bei  dem  ruhigen  Stehen,  wobei  die  Last  des  Körpers  vorzugsweise 
auf  einem  Bein  loiht,  „Standbein",  wählend  das  andere  nur  spielend 
auf  dem  Boden  steht,  „Spielbein",  oder  eine  andere  bieliebige  Stelluug 
einnehmen  kann,  dreht  sich  die  Hüftgelenkpfanne  und  mit  ihr  der 
ganze  Oberkörper  auf  dem  Gelenkkopf  etwas  nach  außen,  so  daß  sich 
Hüftbeinkamm  und  großer  Rollhügel  beträchtlich  nähern,  und  das 
Standbein  von  der  Seite  betrachtet  kürzer  ist,  ak  das  andere.  —  Der 


SktlsU  dar  Olt«diai£«. 


Unpninjj;  <1.  kl.  GfnGm.     B 

r.  Gnmßni.     ft- 

JI.  o.  D.sloohel    0- 

H.  II.  D.stacliel    9. 

Hüft  bei  nansschnitl   B- 

KrcDibt^n   N-- 

.  Kulthügel   tl 


J   Schifnheinitatdiel. 


ua,   3ohi«lbeinflSrh(. 
■'f  Schien  lid  11  bnnLc 


ÄuQ.  Schieiibrintlache. 


— nin.Kpilbeinc. 

B      Mitti'iruakniH^hi'ii. 
H      l'lislnniccD. 


Fig.  63.     Skelett  Jer  unteren  Glieilmtißeu  von  der  Seite. 


202  Sechster  Abschnitt. 

große  Rollhügel  deutet  durch  seine  Stellung  diejenige  des  gaiizeo 
Beine?  an.  Da  er  sich  in  der  Längsachse  des  Knochens  befindet, 
so  wird  er  wie  ein  Zeiger  die  Bewegungen  des  Schenkelkopfes  er- 
kennen lassen.  Bei  dem  Beinheben  begiebt  sich  der  Rollhügel  nach 
rückwärts,  bei  dem  Beinsenken  wieder  nach  vorwärts  bis  zu  der  Aus- 
gangsstellung. Bei  dem  Spreizen  liegt  sein  oberes  Ende  tief  und 
gräbt  sich  in  das  unter  dem  mittleren  Gesäßmuskel  befindliche  Fett 
hinein,  dagegen  tritt  er  unter  der  Haut  hervor,  wenn  wir,  wie  oft  beim 
Sitzen,  das  Bein  überschlagen. 

Die  Knochen  des  Unterschenkels. 

Zwei  Knochen  bilden  das  Skelett  des  Unterschenkels:  das  Schien- 
bein und  das  Wadenbein.  Das  Schienbein  ist  stark,  und  stellt  den 
auf  der  inneren  Seite  befindlichen  Hauptknochen  dar.  Das  Wadenbein 
ist  viermal  dünner,  liegt  nach  außen  und  etwas  nach  hinten.  Beide 
Knochen  sind  oben  und  unten  durch  straffe  Gelenke  fest  miteinander 
verbunden,  im  übrigen  Teil  ihres  Verlaufes  jedoch  durch  einen  an- 
sehnlichen Raum  voneinander  getrennt.  Dieser  Zwischenknochen- 
raum ist  oben  weit,  unten  spitzt  er  sich  mehr  und  mehr  zu.  An 
dem  Lebenden  ist  zwischen  den  sich  gegenüberliegenden  Knochenkan* 
ten  des  Schien-  und  Wadenbeines  eine  derbe  Zwischenknochenhaut 
ausgespannt,  welche  die  Muskeln  der  Beuge-  und  Streckseite  ebenso 
vollkommen  trennt,  wie  dies  eine  ähnliche  zwischen  den  beiden  Vonler- 
armknochen vorkommende  Membran  bewerkstelligt. 

Dem  Schienbein  (Tihia^)  kommt  von  den  beiden  Knochen  des 
Unterschenkels  allein  die  Verbindung  mit  dem  Oberschenkelknochen 
zu.  Es  bildet  die  flachen  Gelenkpfannen,  auf  welchen  sich  der  Femur 
mit  seinen  Gelenkknorren  bewegt  (Fig.  64).  Die  beiden  nur  wenig  ver- 
tieften Pfannen  sind  durch  eine  T£iV\iQh\xiig  (Eminentia  hvtercoiuhfloidfa) 
getrennt,  welche  in  zwei  kleine  Spitzen  ausläuft,  an  deren  Basis  so- 
wohl nach  vom  als  nach  hinten  seichte  Grübchen  vorhanden  sind. 
Die  umfangreichen  Knon*en  des  Oberschenkels  brauchen  liir  ihre  Be- 
wegungen  notwendig   eine   breite   Grundlage.     Deshalb   ist   auch   das 


*  Tibiay  eine  Pfeife  mit  einem  Mundstück,  welches  zwischen  die  Lippen  ge- 
nommen wurde,  und  mit  Löchern  am  Schaft  hieß  Tibia.  Bevor  man  sich  Pfii- 
fon  aas  Holz,  Hom,  Elfenbein  oder  Metall  zubereiten  lernte,  mußten  die  Röhren- 
knochen der  Tiere,  insbesondere  die  langen  Schi(5nbeine  der  Haussäugetiere,  d(T 
Hirsche  etc.  zu  dieser  Verwendung  herhalten.  Das  deutsche  Schienbein  kann,  da 
dieser  Knochen  in  seiner  ganzen  Länge  durch  die  Haut  hindurch  gefühlt  wird,  vod 
dem  alten  deutschen  Wort  Schin  (englisch  skin)  =  Haut  (daher  schinden  und  Schin- 
der) gebildet  worden  sein,  und  wäre  dann  Hautboin. 


Skelalt  d*r  Qüi 


ptberc   Emie    Aas  Sthieiibeüies    wie    ein   Sätiletikiiiiut'  f;sf'"i'*'.    I'ipiliiii 
lltclit  gleiclifiinnig  ;iiiH«t'liwleii.     Ein   lueiter  Rjinii  (  Uiir//ii  in/hir/irnai- 


1    Pnullcnflftchc 


Fig.  64.     Linkes  Kniefrokiik,  Kniivtehi-ibo  uiiil  Kiiji 


7,  IViigiing. 


[.  dahi)  lAull  wi«  ein  Gesims  unterhalb  der  tiacheu  (^elenhgruben  hin;  aber 
[sach  er  ist  unregelmäßig  wie  die  gan/o  Ausladung,  und  zwar  wird 
[der  Rand   vorne   hreit  und  endigt  auf  der  widstigen  Verdickung  eines 


204  Sechster  Abflchnitt. 

dreieckigen  Feldes;  der  verdickte  Vorsprang  heißt  Schienbein- 
stachel (Spina  tibiae,  Fig.  64  Nr.  13),  er  rührt  von  der  Ansatzsehne  der 
stiirken  Oberschenkelmuskeln  her  (Fig.  66).  Das  Mittelstück  df-> 
Schienbeines  stellt  eine  dreiseitige  Säule  dar,  deren  vordere  scharff 
Kante  leicht  S  förmig  gekrümmt  ist  und  zwar  in  der  oberen  Hälftt* 
des  Knochens  nach  außen  konkav,  in  der  unteren  entgegengesetzt  nach 
innen  konkav.  Die  obere  Krümmung  rührt  oflFenbar  von  dem  Druck 
jenes  Fleischbauches  her,  der  dem  vorderen  Schienbeinmuskel  ange- 
hört. Was  von  der  Schienbeinkante  nach  innen  unter  der  Haut  liegt, 
das  ist  die  nach  vom  gerichtete  vordere  Schienbeinfläche;  naci 
außen  von  dieser  Kante  liegt  die  von  Muskeki  bedeckte  äußere 
Schienbeinfläche  (Fig.  61).  Das  untere  Ende  des  Schienbeines  be- 
sitzt eine  vierseitige  leicht  gehöhlte  Gelenkfläche,  welche  auf  beiden 
Seiten  von  den  Knöcheln  überragt  wird.  Nur  der  innere,  kurze, 
aber  dicke  Knöchel  gehört  dem  Schienbein  an,  der  äußere,  lang  aber 
schmal,  rührt  von  dem  Wadenbein  her. 

Das  Wadenbein  (Fibula^  Perane)  ist  ebenso  lang  wie  das  Schien- 
bein, aber  erreicht  den  Oberschenkel  nicht,  sondern  steht  tiefer.  Das  obere 
Ende  trägt  einen  dreikantigen  Knopf,  der  durch  feste  Bänder  unbeweg- 
lich mit  dem  Schienbein  verbunden  ist.  Dasselbe  ist  der  Fall  mit  dem 
unteren EInde,  das  in  den  äußeren  Knöchel  ausläuft.  Der  obere  knopf- 
förmige  Anfang  des  Wadenbeins,  das  Wadenbeinköpfchen  (Capi- 
hilum  fibulae)  ist  durch  die  Haut  hindurch  zu  erkennen,  der  anstoßende 
Teil  des  unregelmäßig  kantigen  Mittelstückes  ist  jedoch  auf  eine  lange 
Strecke  von  den  Wadenbeinmuskeln  bedeckt.  Diese  lassen  den  Knochen 
erst  in  dem  letzten  Drittel  des  Unterschenkels  wieder  dadurch  unter 
die  Haut  rücken,  daß  sich  die  Sehnen  auf  die  Rückseite  des  Waden- 
beines begeben,  um  erst  von  dort  aus,  also  von  dem  hinteren  Umfang 
des  Knöchels  her,  an  den  äußeren  Fußrand  zu  gelangen.  So  kommt 
es,  daß  das  untere  Ende  des  Wadenbeines  in  einer  Länge  von  un- 
gefähr S  cm  vom  äußeren  Knöchel  angefangen  aufwärts  zn  sehen  ist. 

Die  Kniescheibe  (Patella)  ist  ein  herzförmiges  Knochenstück, 
dessen  konvexe  rauhe  Fläche  nach  vom  sieht,  während  die  hintere 
auf  der  schon  beschriebenen  Gelenkbahn  des  Oberschenkelknochens 
ruht.  Diese  hintere  Fläche  der  Kniescheibe  ist  mit  Knorpel  überzogen 
und  durch  eine  mittlere  Erhebung  in  zwei  Facetten  geschieden,  welche 
wie  der  sattelförmige  Einschnitt  an  dem  Femur  (Incisura  patellaris, 
Fig.  64  Nr.  2)  geformt  sind.  Der  obere  Sand  der  Kniescheibe  ist  ge- 
rundet, der  untere  in  eine  Spitze  ausgezogen.  Obwohl  die  Fasermassen 
der  Sehne  der  Schenkelmuskeln  auf  dem  W^e  nach  dem  Schienbeiu- 
stachel  dieses  Kmxrhenstück  so  zwischen  -sich  fassen,  daß  nur  die  hin- 
tere  mit  Knorpel   überzogene  Fläche   frei  bleibt,   und  überdies  noch 


SkoUtt  dar  OtMoulleii. 


Bc    derbe  Haiit   sii'b    durüber    binwegliigt,    wo    bloibotj    demioi-b    iilln 
diu    des   Randes,    ebetisu    wio    die    vordoru  Flärlie    lok'bt   kmiiUicb. 


EnicKiheilwii  IhI  , 
KniisuheilH'iilHt.     U 


1 

OI>«rHliu>kol- 
knodian 

. 

Sehne. 

"-. 

K«i«el. 

KnipKhdW. 

i' 

K»,«el. 

1' 

lliifBbMid, 

i' 

Fi>(t]Kjliili^r, 

m-^ 

Sehue. 

-  »    Euu>l  <l.  !^<'t>Jt<u 


)ie8  ist  besouders  bei  bestinunten  Beugebewegungen  der  B'all,   wöbe 
1  äeltoe  gespannl,  die  Hunt  gedelmt  und  dadurch  verdünnt  wivd. 


206  Sechster  Abschnitt. 

Das   Kniegelenk. 

Das  Kniegelenk  ist  das  größte  Gelenk  des  meuschlichcu  Körpern 
und  vereinigt  in  seinem  Kapselraum  die  Knorren  des  Oberscbeukel- 
knochens,  das  oberste  Ende  des  Schienbeins  und  die  Kniescheibe. 
Die  in  ihm  ausfahrbaren  Bewegungen  bestehen  aus  Beugung  uud 
Streckung  und  einem  geringen  Grade  von  Rotation.  Die  Gelenkfläthen 
der  Oberschenkelknorren  sind  ganz  anders  geformt,  als  die  korrespon- 
dierenden Flächen  des  Schienbeins.  Auf  den  ersten  Blick  l)esteht 
gar  keine  Kongruenz.  Sie  wird  einigermaßen  durch  halbmondförmige 
Bandscheiben  hergestellt,  die  zwischen  den  Gelenkenden  liegen  and 
auf  das  Schienbein  beweglich  befestigt  sind.  Die  weite  aber  starke 
Kapsel  wird  durch  Hilfsbänder  unterstützt,  welche  sowohl  im  äußeren 
Umfange  als  im  Innern  des  Gelenkes  verlaufen.  Es  ist  für  das  Ver- 
ständnis des  Gelenkmechanismus  unerläßlich,  diese  einzelnen  Teile  zo 
beschreiben. 

In  Fig.  64  Nr.  5  u.  b^  sind  die  halbmondförmigen  Band- 
scheiben (Menisci)  in  der  ganzen  Ausdehnung  von  vorne  zu  sehen, 
denn  das  Kniegelenk  ist  geöfiiiet,  d.  h.  die  Kapsel  in  dem  ganzen  Um- 
fang abgetragen,  die  Kniescheibe  mit  ihr  entfernt  und  der  Ober- 
schenkel in  halber  Beugung  dargestellt.  Diejenigen  Abschnitte  der 
Oberschenkelknorren,  welche  bei  der  gestreckten  Lage  auf  den  ilachen 
Pfannen  ruhen,  sehen  also  dem  Beschauer  direkt  entgegen,  und  die 
st^rk  gewölbten  hinteren  Abschnitte  der  Gelenkknorren,  welche  in  der 
Streckung  außerhalb  jeder  Berührung  mit  dem  Schienbein  nach  rück- 
wärts sehen  (Fig.  62)  sind  infolge  der  halben  Beugung  jetzt  in  Be- 
rührung mit  den  Gelenkpfannen  des  Schienbeins  gebracht  worden,  S4i 
wie  dies  auch  im  Leben  der  Fall  ist. 

Die  Kreuzbänder  liegen  im  Innern  der  Kapsel  und  erstrecken 
sich  von  der  Bucht  zwischen  den  beiden  Oberschenkelknorren  hinab 
zu  kleinen  Gruben,  welche  sich  zwischen  den  beiden  Gelenkpfannen 
befinden.  Das  vordere  Kreuzband  (Kg.  64  Nr.  ii)  kommt  von  der 
Innenwand  des  äußeren  Knorrens  und  zieht  nach  vom,  das  hintere 
(Fig.  64  Nr.  12)  entspringt  gegenüber  dem  vorhergehenden  und  zieht 
umgekehrt  in  die  hintere  Grube. 

Die  Gelenkkapsel  ist  am  Oberschenkel  weit  oberhalb  der  über- 
knorpelten  Flächen  befestigt,  sie  reicht  namentlich  vome  so  hoch 
empor,  daß  selbst  nocli  ein  Teil  des  Schenkelknochens,  der,  nicht  mehr 
mit  Knori)el  überzogen,  in  den  Gelenkraum  fällt,  dort  wo  die  Linie 
für  die  Nr.  i  der  Fig.  64  angebracht  ist.  Es  liegt  diese  Fläche  schon 
oberhalb  des  Patelleneinschnittes  und  hinter  der  Endsehno  der  Ober- 
schenkelmuskeln (vergl.  die  Fig.  65  u.  66).     An  dem  Schienbein  ist 


Skelett  der  GlicdmaOen.  207 

die  Kapsel  unterhalb  des  vorKpringeiidcn  Randes  befestigt  (Fig.  65 
Nr.  8),  ja  sie  steigt  sogar  an  einer  Stelle  bis  zu  dem  Schienenbein- 
stachel  lierab,  denn  die  Sehne  der  Sehenkelnmskeln  (Fig.  65  Nr.  2),  die 
sich  an  eben  diesem  Knochenpunkt  festsetzt,  ist  auf  eine  lange  Strecke 
mit  der  Gelenkkapsel  innig  verbunden. 

Zu  diesen  Eigenschaften  der  äußeren  Kapselwand,  welche  mit 
geringer  Ausnahme  (Kreuzbänder)  durch  die  Haut  hindurch  erkennbar 
sind,  kommt  noch  eine  an  der  Innentiäche  vorhandene  Kigentümlich- 
keit,  welche  einen  sehr  großen  Einfluß  auf  die  Fonneii  des  Knie- 
gelenkes ausübt,  nämlich  eine  reichliche  Fetteinlagerung.  Die 
innere  glatte  Kapselhaut  entwickelt  unterhalb  der  in  die  Gelenkhöhle 
sehenden  Kniescheibe  Fettpolster  (Plicae  adijwsae),  welche  in  die 
Gelenkhöhle  hineinragen,  bei  den  Bewegungen  der  Knochen  verschoben 
werden  und,  wie  sich  denken  läßt,  bei  der  Beugung  und  Streckung 
des  Kniegelenkes  sich  sehr  verschieden  verhalten. 

Die  beiden  Seitenbänder  liegen  außer  der  Kapsel  und  kommen 
von  den  Gelenkknorren  herab.  Das  innere  Seitenband  (Fig.  65  Nr.  :>) 
befestigt  sich  an  dem  Schienbein,  das  äußere  an  der  äußeren  Fläch(^ 
des  Köpfchens  der  Fibula. 

Wäreu  beide  Gelenkknorreii  de»  Obennchenkels  Wiilzeiiötüekti  mit  cylindriwlier 
Oberfläche,  den?n  Aclim^  durch  die  UrspningBHtellen  beider  St»it«!nbäiider  geht,  so 
würden  die  Stntt^nbtlnder  bi^i  gebogenem  und  ^estreckti^m  Zuntundti  dt«  Gelenken 
di<»elbe  Spannung  haben,  und  eine  Rotation  des  UnterHchenkels  bei  keiner  dies(>r 
Stellungen  gestatten.  Die  Gelenkknomai  sin<l  jedoch  Absi*hnitt<^  eintT  Spirale,  als 
deren  Endpunkte  die  luiehsten  Stellen  der  Knorn?n  an^i^eselu'n  wt^nlen  können.  So 
kommt  es,  daß  die  Seitenbänder  nur  bei  gestrecktem  Knie  angespannt,  bei  ge- 
bogenem dagegen  erschlafft  sind,  wwiurch,  im  letztenMi  Falle,  ein  Drehen  des 
Schienbeins  um  seine  Achse  möglich  winl. 

Der  Mechanismus  des  Kniegelenkes  läßt,  wie  schon  erwähnt, 
Beugung  und  Streckung  ausfuhren,  wobei  die  (ielenkknorren  des  Ober- 
schenkels auf  den  halbmondförmigen  Bandscheiben  sich  bewegen.  Iku 
dem  letzten  Akte  der  Streckung  dreht  sich  dabei  das  Schienbein  etwas 
nach  außen,  während  bei  der  Beugung  eine  geringe  Drehung  nach 
innen  erfolgt.  Der  gebeugte  Unterschenkel  weicht  dadurch  nach  ein- 
wärts von  der  Achse  des  Schenkelknochens  ab,  so  daß  in  der  Hocke 
schließlich  die  Ferse  auf  dem  Sitzknorren  ruht.  Diese  Rottitionen 
werden  dadurch  hervorgebracht,  daß  sich  die  Bandscheiben,  diese  be- 
weglichen Pfannenteile,  drehen.  Eine  weitere  Folge  dieser  Drehung 
ist  die  Einwärtsstellung  der  Fußspitze  bei  der  Kniebeugung,  wenn 
der  freischwebende  Unterschenkel  wie  bei  dem  Lauf  nach  rückwärts 
schwingt. 

Bei  den  Bewegungen  des  Kniegelenkes  kommen  iiir  das  Auge  in 
erster  Linie  die  Bewegungen  der  Kniescheibe  in  Betracht.     Bei  der 


208 


Seobiter  AWhnitl. 


ruliiguii  SteUuiig  steht  die  Kiiiestbüibe  auf  iliier  Gelenkliahn,  it<uii 
Patellen  eiiiachuitt  (Fig.  04  Nr.  2  uud  Fig.  Ö5  Nr.  4).  Die  Kuicsdieibtu. 
ränder  sind  wenig  sichtbar,  die  Huut  ist  nicht  gesp»niit.  die  nuten 
Strecke  der  ijcheukelmuskelsehne  zwischen  der  Knie^^cbeibe  niid  iah 
Schicnbeinstachei ,  das  Kniesclioibenband  ( Ligarnrnhim  pafrBan. 
Fig.  ö6   Nr.  12)  genauut,  ist  nui-  an  seineui   Anfang  und  seinem  Enil« 


Gtriul.  Sulieukclin.   L 


AuQ.  Sdiciikvim.  i 


WEMlcnb«iDm.  i- 

Zvlivtiatreuker  r 


Tonl.Schk'nbeinni. 


Fig.  66.     Kniegelenk  mit  den  iu  der  Uingebuug  befindlichuii  Muskeln  deal 
Ober-  und  Unteradieukeb  iiaeh  Wegnahme  der  Iluiit. 

deutlich    zu    sehen,    in    dem    mittleren    Abschnitt    liegt    dieses 
etwas  vertieft.     An  den  Rändern   des  Kiiiescbeibeiibandes    sind 
rundliche  Anschwellungen   bemerkbar,  welche  von  den   im  Tnoem  | 
Kapsel  befindlichen  Fettpolstern  herrühren.     Diese  Polster   werdei 
der  StrecJtlage  gegen  die  vordere  Kapselwaud  gedriingt  und  wölbt 
beiden  Seiten  der  Sehne  die  Haut  in  Form  von  rundliKheii  Anscha 
lungen    hervor.      In    Pig.  (iö   sind    bei   Nr.  4u.  Nr,  il    diese    durch  4 


Skelett  der  Gliedmaßen. 


209 


Fettpolster  bedingten  Erhöhungen  nach  Abnahme  der  Haut  zu  sehen, 
in  Fig.  67  Nr.  3  sind  sie  vom  Knie  des  Lebenden  dargestellt.  —  Ab-, 
gesehen  von  diesen  mit  der  Gelenkkapsel  in  unmittelbarem  Zusammen- 
hang stehenden  Formen  sind  ferner  in  der  Strecklage  durch  die  Haut 
zu  erkennen: 

der  innere  Knorren  des  Oberschenkelknochens  (Fig.  67  Nr.  8), 
,,        „  „  ,,     Schienbeins  (Fig.  67  Nr.  9);  dazwischen 

eine  kleine  Einsenkung,  ebenfalls  in  der  Fig.  67  bemerkbar,  d.  i. 
die  Stelle,  wo  sich  der  Gelenkspalt  und  in  ihm  die  Bandscheibe  befindet, 
endlich  das  Köpfchen  des  Wadenbeines  (Fig.  67  unter  der  Linie 


Äuß.  Schenkeln] .  J 


Kniescheibe  ^— 
Fettpolster  5--- 
Kniescheibenband   % 


Zehenstrecker  6^ 


Wadenbeinm.  6— 


f    Inn.  Schenkelm. 


S   Inn.  Knorren  d.  Schenkels. 


9    Inn.  Knorren  d.  Schienb. 


-10  Wadenmuskel. 


Fig.  67.    Die  Fonneu  des  Kniegelenkes.    Nach  Schadow. 


Xr.  3).  Bei  mageren  Individuen  treten  auch  noch  andere  Einzeln- 
heiten hervor:  der  äußere  Knorren  des  Oberschenkels,  derjenige  des 
Schienbeines  und  der  dazwischen  befindliche  Gelenkspalt,  doch  alle 
diese  Teile  nicht  in  jenem  markierten  Grade,  wie  auf  der  inneren 
Seite,  weil  die  Knorren  der  äußeren  Seite  weniger  massig  entwickelt 
sind  (vergl.  die  Figuren  66  u.  67). 

Abgesehen  von  dieser  soeben  geschilderten  ruhigen  Strecklage  des 
Beines,  welche  ohne  Muskelanstrengung  bestehen  kann,  gibt  es  auch 
eine  forcierte  Streckung  des  Beines,  bei  welcher  alle  Muskeln  und 
Sehnen  gespannt  sind.  Dieser  Moment  vermehrter  Kraftanstrengung 
tritt  ein,  wenn  wir  uns  fest  gegen  den  Boden  stemmen  und  alle  Ge- 
lenke durch  Zusammenziehung  der  Muskeln  steifen.    Bei  einer  solchen 

KoLLMAicN,  PlastlBche  Anatomie.  14 


210  Sechster  Abschnitt. 

forcierten  Streckung  sind  nun  die  Formen  des  Kniees  und  seiner  Um- 
gebung wesentlich  andere  als  bei  der  ruhigen  Streckstellung,  und  zwar 
weisen  sie  folgende  Einzelnheiten  auf: 

Die  Kniescheibe  stellt  sich  höher  und  niht  auf  der  vorderen  ver- 
tieften Fläche  des  Schenkels,  der  Patellenfläche  (Planum  pateüart, 
Fig.  64  bei  Nr.  i). 

Das  Kniescheibenband  ist  straflF  gespannt,  noch  stärker  als  in 
Fig.  65  Nr.  10  u.  11;  es  hebt  sich  von  dem  Schienbein  ab  und  ist  der 
ganzen  Länge  nach  zu  sehen. 

Die  Fettpolster,  welche  im  Innern  des  Kniegelenkes  sich  befinden, 
werden  durch  die  Spannung  der  Kapsel  seitlich  zusammengepreßt  und 
erscheinen  kleiner,  rundlicher  und  i)raller. 

Die  Fleischmassen  der  vorderen  Schenkelmuskeln,  welche  den  ver- 
stärkten Zug  an  der  Kniescheibe  bewerkstelligen,  treten  im  Vergleich 
zu  der  ruhigen  Streckstellung  scharf  hervor. 

Die  Thatsachc,  daß  die  Kniescheibe  bei  forcierter  Streckung  ihre  Balm  Ter- 
läßt  und  bis  auf  die  Patellenfläche  hinaufsteigt,  ist  leicht  durch  die  Uutersiichaiig 
des  eigenen  Kniegelenkes  in  gestreckter  I^ge  erweisbar.  Es  ist  dabei  gleichgültig, 
ob  der  Körj)er  in  der  aufrechten  Stellung  und  im  Gleichgewicht  sich  befinde,  od« 
ob  ein  Sitzender  an  dem  ausgestreckten  Bein  den  Versuch  anstelle.  In  beideii 
Fällen  ruht  die  Kniescheibe  noch  auf  dem  Patelleneinschnitt  Zieht  sich  jetit  der 
Unterschenkelstrecker  zusammen,  so  schnellt  die  Kniescheibe  in  die  Höhe  bis  auf  die 
Patellenfläche.  Läßt  der  Zug  nach,  so  kehrt  sie  auf  ihren  früheren  Standort  zurück 
Der  Grad  der  Verschiebung  beträgt  zwischen  2 — 2*/,  cm,  wobei  uochmals  zu  be- 
achten ist,  daß  die  Kniescheibe  ihre  liöchste  La^  nicht  in  der  ruhigen  Streckstellon;; 
des  Knies  hat.  sondern  in  der  forcierten,  d.  h.  in  dem  Maximum  der  ZusammeD- 
Ziehung  aller  Streckmuskeln.  In  einer  vollendeten  Weise  ist  die  Kniescheibe  und  dv 
Kniescheibenban<l  bei  denÄgineten  behandelt  Es  ist  ein  Zeichen  feinster  Beobachtung, 
daß  die  verborgene  Mechanik  mit  solcher  Sachkenntnis  zum  Ausdruck  gelangt  i«t. 

Die  Formenveränderungen  des  Kniegelenkes  bei  der  Beugung  des 
Beines  erklären  sich  aus  der  Thatsache,  daß  das  Schienbein  seinen 
Platz,  den  es  während  der  Strecklage  eingenommen,  verläßt,  und  sich 
nach  hinten  auf  die  stark  gerundeten  Gelenkhöcker  der  Oberschenkel- 
knochen stellt,  so  wie  dies  aus  der  Fig.  64  zu  erkennen  ist^  an  welcher 
jedoch  nur  ein  geringer  Grad  von  Beugung  dargestellt  ist.  Die  Folgen 
dieser  Bewegung  zeigen  sich  in  einer  Vergrößeining  der  Distanz  zwischen 
dem  Schienbeinstachel  und  dem  Patelleneinschnitt.  Es  entsteht  da- 
durch ein  klaffender  Spalt  zwischen  den  Gelenkhöckem  des  Ober- 
schenkelknochens und  dem  Schienbeinende,  welcher  groß  genug  ist, 
um  ein  paar  Finger  hineinzulegen  (vergl.  die  Fig.  64).  Nachdem  das 
Kniescheibenband  nicht  dehnbar  ist,  muß  die  Kniescheibe  bei  der  Beu- 
gung ihre  Stelle  verlassen  und  herabrücken,  wie  sich  denn  auch  die 
Streckmuskeln  zu  diesem  Zweck  abspannen  und  dem  Zug  der  Beuger 
nachgebend  verlängern.  Ohne  eine  solche  Abspannung  der  Strecker  wäre 


Skelett  der  Gliedmaßen.  211 

der  ganze  Akt  der  Beugung  unausführbar,  denn  während  des  Starr- 
krampfes, in  welchem  alle  Muskeln  gleichmäßig  stark  gespannt  sind, 
oder  während  der  Todesstarre,  bei  der  sich  die  Muskeln  in  einem 
ähnlichen  Zustand  befinden,  ist  jede  Stellungsänderung  des  gestreckten 
Beines  unmöglich;  nur  wer  willkürlich  sämtliche  Muskeln  des  Beines 
in  der  Strecklage  zusammenzieht,  macht  die  Gelenke  steif  und  die 
Beine  zu  unbeweglichen  Säulen.  Die  Streckmuskeln  müssen  also  ab- 
gespannt werden,  dann  erst  kann  die  Kniescheibe  dem  sich  nach  rück- 
wärts entfernenden  Schienbein  folgen  und  zunächst  auf  dem  Patellen- 
einschnitt  des  Oberschenkelknochens  herabgleiten.  Bei  einer  Winkel- 
stellung des  Beines  von  35^  hat  sie  das  untere  Ende  ihrer  Bahn  er- 
reicht, und  bildet  den  vorspringendsten  Punkt  des  ICnies.  Wird  die 
Bewegung  noch  weiter  geführt,  so  verläßt  die  Kniescheibe  den  Patellen- 
einschnitt  vollständig  und  versinkt  in  dem  klaffenden  Spalt  zwischen 
den  Knochenenden  so,  daß  nur  mehr  ihre  konvexe  Fläche  erkennbar  ist. 
Auch  die  Fettpolster  (die  Plicae  adiposae)  verschwinden  in  diesem  Spalt 
und  entziehen  sich  vollständig  dem  Blick.  Die  Gelenkkapsel  und  die 
Haut  werden  an  die  durch  die  veränderte  Stellung  des  Schienbeines 
unbedeckten,  genmdeten  Flächen  der  Oberschenkelknorren  angepreßt; 
infolgedessen  rundet  sich  das  ganze  Knie.  Durch  die  gespannte 
Haut  hindurch  erkennt  man: 

den  Patelleneinschnitt  mit  seinen  scharfen  Rändeni,  von  denen 
der  äußere  höher  ist  als  der  innere, 

die  Patelleufläche  (Fig.  64  Nr.  i),  d.  i.  die  über  dem  Patellen- 
einschnitt liegende  muldenförmige  Vertiefung'  des  Oberschenkelknochens, 
u.  a.  auch  an  dem  sterbenden  Niobiden  erkennbar, 

die  seitlichen  Massen  der  Gelenkknorren  des  Schenkelknochens, 

den  Gelenkspalt, 

die  beiden  Knorren  des  Schienbeins, 

den  breiten  Rand  unterhalb  der  Gelenkfläche  des  Schienbeines 
(Margo  infrofflenoidalis,  Fig.  64  Nr.  6), 

die  dreieckige  Fläche  zwischen  diesem  Rande  und  dem  Schienbein- 
stachel (Fig.  64). 

Bei  der  Beugung  ändern  auch  die  in  der  Strecklage  scharf  ge- 
zeichneten Muskeln  ihre  Form,  allein  die  Berücksichtigung  dieser  Ver- 
hältnisse kann  erst  in  der  Muskellehre  erfolgen. 

Das  Skelett  des  Fnfses. 

An  dem  Skelett  des  Fußes  unterscheiden  wir: 
die  Fußwurzel  (Tarsus), 
den  Mittelfuß  (Metatarstis)  und  . 
die  Zehen  (Digiti)  mit  ihren  Phalangen. 


212  Sechster  Abachnitt 

In  dem  Fußskelett  wiederholt  sich  die  von  der  Hand  geschilderte 
Gliederung,  jfreilich  mit  wesentlichen  Abänderungen.  Die  Knochen 
der  Fußwurzel,  sieben  an  der  Zahl,  haben  eine  mächtigere  Entfaltung 
und  zugleich  eine  andere  Anordnung  gegenüber  denen  der  Handwunel 
erfahren.  Während  dann  der  Mittelfuß  weniger  umgestaltet  wurde, 
sind  die  Zehen  im  Vergleich  zu  den  Fingern  verkümmert.  Der  Fuß 
eignet  sich  durch  seine  robuste  Festigkeit  und  seine  stattliche  Größe 
vorzugsweise  zum  Piedestal  des  Körpers.  Er  bildet  deshalb  beim 
Stehen  einen  rechten  Winkel  mit  dem  Unterschenkel,  während  die 
Hand,  auch  wenn  sie  ruht,  in  der  Verlängerung  des  Vorderarms  liegt 
Der  Fuß  muß  zu  der  Körpergröße  in  einem  richtigen  Verhältnisse 
stehen,  um  den  Gesetzen  der  Schönheit  zu  entsprechen.  Ein  zu  kleiner 
Fuß  macht  bei  dem  Mann  den  Eindruck  der  Unsicherheit,  um  nicht 
zu  sagen  der  Unvollkommenheit.  Wenn  die  Füße  die  Aufstellungs- 
basis des  Leibes  abgeben,  so  sind  große  Füße  jedenfalls  anatomisch 
vollkonamener  als  kleine.  Die  germanischen  Volksstämme  haben  im 
allgemeinen  größere  Füße  als  die  romanischen.  Wenn  wir  bei  dem 
weiblichen  Geschlechte  den  Fuß  auch  dann  bewundem,  wenn  er 
zu  klein  ist  und  weit  unter  der  durch  die  Proportion  der  Gestall 
gegebenen  Größe  zurückbleibt,  so  huldigen  wir  auch  darin  einer 
Mode,  die  für  den  kleinen  Puppenfuß  schwärmt.  Die  klassische 
Periode  der  alten  Kunst  setzte  stets  den  Körper  auf  richtig  pro- 
portionierte Füße,  wo  sie  es  nicht  that,  geschah  es  aus  besonderen 
Gründen. 

Die  Fußwurzel. 

Von  den  drei  anatomischen  Formbestandteilen  des  Fußskelettes: 
FußwurzeU,  Mittelfuß  und  Zehen,  ist  die  Fußwurzel  der  längste  und 
zugleich  der  stärkste.  Sie  mißt  die  Hälfte  der  Fußlänge.  Die  Fuß- 
sohle  heißt  Planta  pedis,  und  deshalb  spricht  und  schreibt  man  von 
einer  Plantarfläche  und  von  Plantarmuskeln,  im  Gegensatz  zu  denen 
des  Fußrückens,  des  Borsum  pedis.  Wie  es  kam,  daß  Pflanzen  und 
Fußsohlen  denselben  Namen,  Plantae,  fuhren,  wurde  noch  nicht  auf- 
geklärt. 

Der  erste  und  höcFist  gelegene  Knochen  der  Fußwurzel,  das 
Sprungbein  (Talus^  oder  Astragalus,  Fig.  68  Nr.  1  u.  2)  ist   allein  mit 


*  Tarsus  (tarsion,  griech.)  hieß  ein  aus  parallelen  Eisenstäbeh  gebildeter  Rost. 
So  wird  CS  erklärlieh,  das  der  Name  Tarsus  auch  auf  die  fünf  parallelen  Röhren- 
knochen der  Mittelhand  angewendet  werden  konnte. 

""  Talus  oder  Tessera  heißt  Würfel.  Nur  das  Sprungbein  der  Säugetiere  mit 
gespaltenen  und  ungespaltenen  Hufen  hat  die  Gestalt  eines  Würfels.    Das  Sprung- 


Slulctt  der  Gliedmakn. 


213 


dem  Unterschenkel  durcli  dus  Sprunggelenk  verbunden.  Er  ist  der 
einzige  Fuüwurzelknoclien,  an  welchem  sich  weder  ein  Muskel  inseriert, 
noch  entspringt.  Seine  Bewegung  im  Sprunggelenk  kann  deshalb 
immer  nur  eine  mittelbare  sein,  welche  ihm  durch  die  Bew^ung  des 
ganzen  Fußes  Übertragen  wird.  Das  Sprungbein  trägt  auf  der  oberen 
Fläche  eine  gewölbte  und  zugleich  hinten  TCrschmälerte  Gelenktläche 
(Fig.  68  Nr.  1],  welche  sich  etwas  auf  die  Seitenflächen,  der  Reibung 
mit  den  Knöcheln  wegen  fortsetzt.  Vom  sitzt  an  dem  Sprungbein  ein 
abgerundeter  Yorsprung  {Taluskopf,  Fig.  68  Kr.  2),  dessen  überknorpelte 
Oberfläche  in  eine  pfannenförmige  Vertiefung  des  Kahnbeines  (Fig.  68 
Nr. -t)  hineinpaßt. 

3  Peraanbein. 


H)U«lfaakiioch«D 


Dritte  Phulan 

Fig.  68.    Skelett  (Ica  Fußes  v 


oben  gosehcii. 


Das  Fersenhein  (Calcanem,  Fig.  68  Kr.  3),  der  größte  Knochen 
der  Fnßwurzel,  liegt  unter  dem  Sprungbein.  Er  ist  länglich  und  über- 
ragt dasselbe  nach  hinten  beträchtlich  mit  einem  gerundeten  Vor- 
sprung, dem  Hacken,  der  die  knöcherne  Urundluge  der  mit  Fett  ge- 
polsterten Ferse  bildet.  Er  liegt  nicht  seiner  ganzen  Länge  nach  auf 
der  Fläche  auf,  sondei*»  nur  mit  dem  planturwärts  vorspringenden 
Ende.  Sein  vorderes  Ende  ragt  eben  soweit,  wie  dasjenige  den  Talus, 
und  bildet  eine  schräge  Verbindungsfläche  mit  dem  Würfelbein 
(Fig.  68  Nr.  8). 


bein  der  Schafe  nnil  Ziiigcii  lUente,  Bciner,  wenn  auch  nicht  ganz  kuhiachcH  tieatalt 
wegen,  in  alter  Zeit  als  Würfel.  Daher  n^h  heule  der  Aiudruek  knächeln  xtatt 
würfeln.    Das  mentcliliehe  SpnniRbeln  hat  kptne  Ähnlichkeit  mit  einem  Würfel. 


214  Sechster  AbechnltL 

An  der  oberen  Fläche  trägt  das  Fersenbein  eine  in  drei  Teile 
zerlegte  Gelenkfläche  zur  Verbindung  mit  der  entsprechenden  unteren 
Gelenkfläche  des  Spiningbeinkörpers.  Eine  rauhe  Vertiefung  bildet 
mit  einer  ähnlichen  an  der  unteren  Gegend  des  Sprungbeins  die 
Tarsalbucht;  sie  ist  von  einem  starken  Band  durchzogen.  Nach 
einwärts  von  dieser  rauhen  Vertiefung  überragt  ein  kurzer  aber  star- 
ker,  nach  innen  gerichteter  Fortsatz  (Susteräacvlum  tali)  die  innere 
Fläche  des  Knochens.  Er  dient  dem  nach  innen  überhängenden 
Sprungbein  zur  Unterlage  und  bildet  gleichzeitig  eine  Art  Hohlkehle, 
in  welcher  die  Muskeln,  Gefäße  und  Nerven  vom  Unterschenkel  zam 
Hohlfuß  ziehen. 

Das  Kahnbein  (Os  naviculare,  Fig.  68  Nr.  4)  ist  kurz,  aber  breit, 
mit  einer  schüsseiförmigen  Fläche  versehen,  in  welche  der  Spmngbein- 
kopf  eingelenkt  ist,  während  die  gegenüberliegende  Fläche  gewölbt  ist 
An  drei  verschiedenen  Facetten  sind  dort  die  drei  Keilbeine  befestigt 
Das  Kahnbein  ragt  mit  einem  stumpfen  Höcker  (Tuberositas  ossis  namcM- 
laris)  über  die  Linie  des  inneren  Fußrandes  hervor  (Fig.  69),  hinter 
welchem  eine  Rinne  verläuft.  Das  Kahnbein  wird  schwebend  getragen, 
berührt  also  niemals  die  Bodenfläche.     So  trägt  es  wie 

die  Keilbeine  (Ossa  tarsalia,  Fig.  69  Nr.  I  II  u.  m)  wesentlich  zur 
Wölbung  des  Fußrückens  bei.  Sie  werden  von  dem  inneren  Faßrande 
aus  gezählt.  Das  erste  oder  innere  Keilbein  ist  das  größte.  Die 
stumpfe  Schneide  sieht  gegen  den  Eücken  des  Fußes,  somit  die  rauhe 
Basis  gegen  die  Fußsohle;  diese  Basis  reicht  ebensoweit  herab  wie 
der  Höcker  des  Kahnbeins  (Fig.  69).  Beide  Knochen  sind  an  dem 
inneren  Fußrande  als  ein  einziger  Höcker  zu  fühlen,  weil  sie  anmittel- 
bar aneinanderstoßen.  Das  zweite  oder  mittlere  Keilbein  ist  das 
kleinste  von  den  dreien  und  kehrt  seine  Schneide  nach  der  Plautar- 
fläche,  somit  seine  Basis  nach  oben,  ebenso  wie  das  dritte  oder 
äußere  Keilbein,  das  etwas  länger  ist  als  das  zweite.  Die  vorderen 
Enden  der  drei  Keilbeine  tragen  die  ersten  drei  Mittelfußknochen, 
denjenigen  der  großen  Zehe  und  der  beiden  anstoßenden  Zehen. 

Das  Würfelbein  (Os  cuboideum,  Fig.  68  Nr.  8)  liegt  am  äußereo 
Fußrande,  vor  dem  Fersenbein.  Es  gleicht  nur  sehr  entfernt  einem 
Würfel,  denn  seine  Flächen  und  Ränder  sind  sehr  uneben.  Die  obere 
Fläche  fällt  gegen  den  äußeren  Fußrand  ab,  die  untere  ist  tief  aus- 
gehöhlt (Sulcus  ossis  cuboidei)  flir  die  Sehne  des  langen  Wadonbein- 
muskels,  die  äußere,  ist  die  kleinste  und  verdiente  mit  mehr  Recht 
als  äußerer  Rand  bezeichnet  zu  werden,  denn  die  obere  und  untere 
Fläche  konvergieren  und  die  von  der  unteren  Fläche  ei'^ilhnte  Rinne 
ist  schon  an  der  äußeren  Fläclie  bemerkbar.  Die  vordere  Fläche  besitzt 
zwei  Facetten  für  die  Basis  des  vierten  und  fünften  Mittelfußknochens. 


tükelMT  drt  OlirfmaÜm, 


Die  Kmiflieu  des  Mittelfußes. 

Der  auf  die  Fußwurzel  folgende  Abschnitt  des  Fußes  besteht  aus 

Jluf  eine  Queireihe  bildenden   Knochen,   welche   in  einer   von    außen 

ich  innen  konvexen  Ebene  nebeueinanderliegen  (Fig.  69).    Sie  sind 

irze  Röhrenknochen,   der  Länge  nach   ein   wenig  aufwärts  gebogen, 


ZwischcnknocheDbaiiil  11 


1  Scliienbeio. 


m^.     - 

— £— ■* — '^  c 

j.  Zehe. 

t   N»gelglie<t. 

Fiitiea  vuu  iaa 

n  uud  etw 

u  voll  oliei]  geueh 

Fig.  fifl.    Ski 

üt  einem  schmäleren  Mitteli^tUck,  mit  einem  hinteren  dicken  und 
inem  vorderen  kugelig  geformten  Ende.  Sie  teilen  diose  Eigenschaften 
nit  den  Knochen  der  Mittelband.  Der  erste  Mittelfußknocben. 
fcer  großen  Zehe  angehöiig,  unterscheidet  sich  von  ilen  übrigen  durch 
[eine  Kürze  und  Stärke.  Au  der  unteren  FlBche  des  überknorpelteii 
COpfcheiis  erhebt  sich  ein  längsverlaufender  Knmui,  zu  dessen  beiden 
leiten  in  suUclf&rmig  gehßlillen  Furchen  die  beiden  Schiimbeiue 
iegen.     Der  Mittelfußknocben  der  zweiten  Zebe  ist  der  längste. 


216  Sechster  Abicfanitt. 

Der  Mittelfußkiiochen  der  kleinen. Zehe  zeichnet  sich  nebst  seiner 
schief  von  oben  nach  unten  etwas  zusammengedrückten  Gestalt  iio(h 
durch  einen  Höcker  aus  (Fig.  68*),  welcher  am  äußeren  Fußrande  über 
das  Wiirfelbein  hinausragt,  und  durch  die  Haut  leicht  gefühlt  werden 
kann ;  überdies  zeigt  auch  eine  leichte  Wölbung  des  äußeren  Fußrandes 
deutlich  die  Stelle  an,  wo  dieser  Höcker  unter  der  Haut  verborgen  ist 
Bei  magern  Füßen  wird  sie  zu  einem  Hügel  ausgebaucht,  auf  dessen 
Gipfel  oft  ein  durch  die  Reibung  mit  dem  Leder  der  Fußbekleidung 
gebildetes  Hühnerauge  thront. 

Die  Mittelfußknochen  bilden  zugleich  mit  der  Fußwurzel  einen 
Bogen,  der  in  doppeltem  Sinne  gewölbt  ist,  einmal  von  hinten  nach 
vom  (Fig.  69),  wodurch  der  Hohlfuß  entsteht.  Wie  ein  aus  Bausteinen 
gefonntes  Gewölbe  berührt  der  Bogen  nur  mit  seinem  hinteren  und 
vorderen  Ende  den  Bogen.  Die  Spannung  .des  Bogens  ist  veränderUch: 
er  flacht  sich  ab,  wenn  beim  Stehen  die  Last  des  Körpers  auf  ihm 
ruht,  und  nimmt  die  frühere  Wölbung  wieder  an,  sobald  er  von  diesem 
Gewicht,  wie  bei  dem  Sitzen,  befreit  wird.  Gelenke  und  Bänder  sind 
der  Grund  dieser  Elastizität  des  Fußskelettes. 

Die  Mittelfußknochen  bilden  überdies  mit  den  anstoßenden  Knochen 
der  Fußwurzel  einen  von  außen  nach  innen  konvexen  Bogen. 
Daher  kommt  es,  daß  der  äußere  Fußrand  den  Boden  berührt, 
und  der  Fußrücken  gegen  die  Kleinzehenseite  abfällt.  Die  Säume 
zwischen  den  einzelnen  Mittelfußknochen  sind,  ähnlich  wie  die- 
jenigen zwischen  den  Mittelhandknochen,  durch  kurze  Muskeln,  die 
Zwischenknochenmuskeln  (Fig.  69  No.  16),  ausgefüllt,  welche  für  die 
Bewegungen  der  Zehen  dienen.  An  dem  normalen  Fuß  sind  des- 
halb die  Zwischenknochenräume  ebensowenig  bemerkbar,  als  dies  an 
der  Hand  der  Fall  ist.  Nur  ein  hoher  Grad  von  Abmagerung  läßt 
auch  an  dem  Fuß  die  Zwisclienknochenräume  erkennbar  werden,  und 
die  scharfen  Kanten  der  Mittelfußknochen  zum  Vorschein  kommen. 

Blcilx.*nd('  Flachlu'it  des  Bogens,  sei  sie  nun  angeboren  oder  erworben,  bedingt 
den  Plattfuß,  der  mit  der  ganzen  unteren  Fliiclic  der  Fußsohle  auftritt.  Schwer- 
fjUliger  Gang  ^ind  die  zunächst  benierk))aren  Folgen  eines  mangelhaft  geformten 
Fußes.  Plattfüßige  Männer  sinfl  vom  Infanteriedienst  frei,  weil  boi  jedem  an- 
strengenden Mannrlie  das  Gewicht  des  mit  Tornister  und  Gewehr  übertlio«  belasteten 
Kcirpers  die  ohnehin  schwachen  Bänder  solchermaßen  ausdehnt,  daß  notwendig 
schmerzhafte  Zern*ißungi*n  der  Haut  eintreten.  —  Das  Breiter-  Und  Längerwerden 
des  Fußes  beim  Auftreten  wird  durcli  unsere  harten  Fußbekleidungen  sehr  ein- 
gescluränkt.  Ihnen  venlanken  wir  die  peinlichen  und  leider  sehr  allgtfmein  go- 
wonlenen  „Iliihnenuigen**,  welche  sich  an  der  äußeren  Seiten  der  kleinen  Zehe  am 
häufigsten  vorfinden,  weil  diese  durch  die»  Haut  des  Stiefelleders  mehr  zu  leiden 
hat,  als  alle  anderen  Zehenseiten. 


Skelett  der  GUedmaßen.  217 


Die  Zehen. 


Die  Zehenglieder  (Phalan/^es  dujitorum  pedüf)  entsprechen  durch 
Zahl  und  Verbindung  jenen  der  Finger,  doch  die  Form  ist  wesentlich 
verschieden.  Sie  sind  einmal  kürzer,  oder  wie  man  sich  anatomisch 
ausdrückt,  zurückgebildet.  An  dem  Fuß,  dessen  Bau  auf  Festigkeit 
und  Tragfähigkeit  berechnet  ist,  wären  fingerlange  Zehen  etwas  sehr 
überflüssiges  gewesen.  Die  Zehen  sind  aber  auch  nicht  gerade,  wie 
die  Finger,  sondern  krallenartig  gebogen,  und  zwar  ist  die  erste 
Zehenphalanx  schief  nach  oben,  die  zweite  fast  horizontal,  die  dritte 
schief  nach  unten  gerichtet  (Fig.  69).  Es  berührt  somit  weder  die 
erste  noch  die  zweite  Phalanx  den  Boden,  sondern  nur  die  dritte  mit 
ihrer  kolbigen  Spitze.  Da  der  dicke  Zehenballen  an  der  Fußsohle  drei 
Viertel  der  Länge  der  ersten  Phalanx  von  unten  her  deckt,  so  scheinen 
die  Zehen  bei  der  Plantaransicht  kürzer  zu  sein,  als  bei  der  Dorsal- 
ansicht. Der  nackte  Fuß  hinterläßt  in  nassem  Sand  zwei  große  und 
fünf  kleine  Gruben.  Die  hintere  große  Gnibe  ist  rundlich  und  ent- 
spricht dem  Fersenhöcker.  Die  vordere  ist  querelliptisch  und  rührt 
vom  Zehenballen  her.  Vor  dieser  queren  Grube  sieht  man  noch  fünf 
kleinere,  tiefe,  als  Abdiücke  der  fünf  Zehenspitzen.  Das  fettreiche 
Bindegewebe  ist  an  der  zweiten  Zehenphalanx  weit  weniger  entwickelt, 
als  an  der  ersten  und  letzten.  Dieser  Umstand  dient  auch  ^ur  Er- 
klärung der  ebenerwähnten  Eigentümlichkeit,  daß  die  Fettpolster  des 
Zehenballens  und  des  letzten  Zehengliedes  sich  berühren  und  die  zweite 
Phalanx  bei  unterer  Ansicht  der  Zehe  gar  nicht  gesehen  werden  kann. 

Die  große  Zehe  (Hallnx)  hat  nur  zwei  Phalangen,  wie  der 
Daumen.  Sie  zeichnen  sich  durch  ihre  Breite  und  Stärke  vor  den 
übrigen  aus.  Die  große  Zehe  ist  nicht  gekrümmt,  wie  die  anderen, 
und  sehr  oft  kürzer  als  die  zweite,  welche  trotz  der  Kiilmmung  dann 
die  erste  oft  um  3 — 4  Millimeter  überragt.  Die  große  Zehe  ist  an 
allen  Antiken  kürzer,  in  den  Tafeln  von  Vesal,  Genga  und  Süe  haben 
wir  dasselbe  Verhältnis  vor  uns,  welches  P.  Camper,  ein  großer  ana- 
tomischer Kunstrichter,  für  die  Noim  erklärt.  Richtiger  wäre  gewesen, 
die  größere  Länge  der  zweiten  Zehe  unbedingt  für  schöner  zu  erklären, 
als  das  umgekehrte,  weil  eine  bogenförmige  Begrenzungslinie  des  Fußes 
dem  Auge  gefälliger  erscheint.  Man  kann  den  Satz  nicht  aufrecht  er- 
halten, daß  die  größere  Länge  der  ersten  Zehe  eine  Abnormität 
darstelle,  denn  mindestens  30%  ^^r  Bevölkerung  unserer  Kultur- 
länder haben  die  zweite  Zehe  kürzer  als  die  erste.  Unter  diesen  30% 
befinden  sich  Arme  und  Reiche,  die  sonst  in  jeder  Hinsicht  normal 
beschaffen  sind;  man  darf  also  aus  der  Verschiedenartigkeit  des  Vor- 
kommens nur  schließen,  daß  man  es  mit  einer  Rasseneigentümlichkeit 


218  Sechster  Abschnitt. 

ZU  thun  habe.  Dieselbe  Deutung  gilt  fiir  das  Vorkommen  gestreckter 
Zehen.  Die  Zehenglieder  liegen  sehr  häufig,  wie  die  große  Zehe,  in 
einer  geraden  Ebene,  d.  h.  gestreckt  nebeneinander  und  sind  nicht 
krallenförmig  gebogen.  Diese  Foim  ist  unschön,  aber  nicht  abnorm,  und 
wahrscheinlich  ebenfalls  als  eine  Easseneigentümlichkeit  aufzufassen. 

Die  Gelenke  des  Fusses. 

Die  Gelenke  des  Fußes  bestehen: 

1)  in  der  Verbindung  des  Fußes  mit  dem  Unterschenkel; 

2)  in  den  Verbindungen  innerhalb  der  Fußwurzel; 

3)  in  den  Verbindungen  der  Fußwurzel  mit  dem  Mittelfuß; 

4)  in  den  Verbindungen  des  Mittelfußes  mit  den  Zehen,  und  in  den 
Verbindungen  der  einzelnen  Phalangen  untereinander. 

Die  Verbindung  der  Fußwurzel  mit  dem  Unterschenkel 
bildet  das  Sprunggelenk,  welches  seinen  deutschen  Namen  von  jener 
Bewegung  erhielt,  bei  welcher  dieses  Gelenk  seine  größte  Kraflanstren- 
gung  ausfuhrt  —  dem  Sprunge.  Die  beiden  Knöchel  des  Unterschenkels 
fassen  das  Sprungbein  gabelartig  zwischen  sich  und  zwar  nur  so 
weit,  wie  dies  die  Figuren  61  und  69  andeuten.  Von  den  beiden 
Knöcheln  ziehen  starke  mit  einer  Gelenkkapsel  verwachsene  Bänder 
zu  dem  Sprung-  und  Fersenbein  herab,  und  sichern  eine  Bewegung, 
welche  derjenigen  eines  Scharniergelenkes  gleicht,  dessen  G^Ienkaxe 
quer  durch  die  beiden  Knöchel  und  den  Sprungbeinköri>er  hindurch- 
geht. Bei  dem  Stehen,  d.  h.  bei  jener  mittleren  Stellung  des  Gelenkes, 
wo  die  Achse  des  Fußes  mit  der  Achse  des  Unterschenkels  einen 
rechten  Winkel  bildet,  steht  der  vordere  breiteste,  und  der  hintere 
schmälste  Rand  der  oberen  Gelenkiiäche  des  Sprungbeines  nicht  mit 
der  unteren  Gelenkfiäche  des  Schienbeines  in  Kontakt.  Eirst  beim 
Senken  der  Fußspitze,  bei  dem  Strecken  des  Fusses  im  Sprung- 
gelenk, kommt  der  hintere  schmale  Eand  dieser  Gelenkiiäche  und  beim 
Beugen  der  vordere  breite  Rand  derselben  mit  der  Schienbeingelenk- 
fläche in  Berührung.  Letzteres  wird  nur  dadurch  möglich,  daß  der 
äußere  Knöchel  sich  etwas  von  seiner  Lage  am  Schienbein  entfernen 
kann.  Die  natürliche  Stellung  des  Fußes  bei  dem  Stehen  entspricht 
der  Dorsalflexion  der  Hand.  Bei  dem  Heben  der  Fußspitze  wird  dieser 
Zustand  der  Flexion  gesteigert,  der  Fußrücken  (Dorsum  pedis)  nähert 
sich  der  vorderen  Unterschenkelfläche  und  stellt  sich  in  die  Dorsal- 
flexion. Senkt  sich  die  Fußspitze,  so  entsteht  die  Plantarflexionf 
welche  jedoch  nur  innerhalb  einer  sehr  mäßigen  Grenze  im  Vergleich 
zu  jener  der  Hand  ausgeführt  werden  kann. 

Die  unregelmässige  Form  der  oberen  Gelenkfläche   des    Sprung- 
beines erlaubt  in  dem  Sprunggelenk  noch  eine  Drehbewegung  um  die 


Skelett  der  Gliedmaßen.  219 

senkrechte  Achse,  sobald  bei  dem  Senken  der  Fußspitze  die  Unter- 
scbenkelknochen  auf  dem  hinteren  schmalen  Teil  des  Sprungbeines 
aufruhen.  Dann  kann  der  ganze  Fuß  sich  nach  der  Waden-  oder 
Schienbeinseite  bewegen,  was  als  Abduktion  und  Adduktion  be- 
zeichnet wird.  Die  Exkursionsfähigkeit  beträgt  jedoch  nur  20®.  Ein- 
tlussreicher  auf  die  Brauchbarkeit  des  Fußes  ist  eine  dritte  Bewegung 
innerhalb  der  Fußwurzel,  welche  der  Pronation  und  Supination  der 
Hand  gleicht,  und  auch  so  genannt  wird.  Diese  Bewegung  leistet  das 
Gelenk  zwischen  Sprung-  und  Kahnbein  (Fig  68  zwischen  2  und  4),  und 
dasjenige  zwischen  Sprung-  und  Fersenbein  (Fig.  68  zwischen  i  und  3). 
Durch  die  Supinationsbewegung  wird  der  innere  Fußrand  gehoben, 
durch  die  Pronation  der  äußere.  Infolge  der  Supinationsbewegung 
können  beide  Füße  einen  festen  Körper  umklammern,  wie  es  beim 
Emporklettern  an  einem  Baumstamme  oder  Seile  geschieht.  —  Die 
übrigen  Verbindungen  der  Fußwurzelknochen  untereinander,  wie  jene 
der  drei  Keilbeine  und  des  Würfelbeines  erfreuen  sich  nur  einer  ge- 
ringen Beweglichkeit. 

Die  Bandverbindungen  der  Fußwurzelknochen  untereinander  müssen 
bei  dem  Drucke,  welchen  der  Fuß  von  oben  her  auszuhalten  hat, 
überhaupt  sehr  stark,  und  an  der  Sohlenseite  stärker,  als  an  der  Rücken- 
seite sein.  Es  ist  ein  sehr  verwickelter  Bandapparat,  der  in  mehr- 
fachen Schichten  tibereinanderliegt  und  sich  kreuzweise  deckt.  Nur 
so  war  es  möglich,  auf  eine  Kuppel,  welche  Fußwurzel  und  Mittelfuß 
miteinander  bilden,  die  ganze  Körperlast  zu  übertragen.  Der  Band- 
apparat entspricht  diesen  Anforderungen  in  so  vollkommener  Weise, 
daß  nur  eine  mäßige  Abflachung  des  Fußes  eintritt.  Diese  Abmachung 
erfolgt  in  zwei  Richtungen,  von  vorn  nach  hinten  und  von  aussen  nach 
innen,  d.  h.  der  Fuß  wird  beim  Aufstemmen  erstens  länger  und  zweitens 
breiter. 

Wenn  man  auf  die  Fornivoräiidoningen  dc8  Fußos  ]m  der  Anfertigung  iiii8«»rer 
Fiifibekicidung,  (Hier  Iwi  der  AuBwahl  derw^lben  RückBicht  nehmen  i^ilrde,  so  blie])e 
den  beschuhten  Menschen  manclic  Qual  (>r8part.  Der  nach  der  Form  des  ^Oiobenen 
Fußes  ^wählte  Stiefel  winl  1>ei  jedem  Auftn>ten  offenbar  zu  kUnn,  und  hat  <Ue 
Eitelkeit  noch  auf  die  Zusammendrückbarkeit  des  Fuik>s  pcerei'lmet,  so  ist  der  FuU 
in  einem  um  so  unnachgiebigeren  Käüg  eingeengt,  je  fester  un<l  dicker  das  Ltnler 
ist.  Enge  Stiefel  drücken  deshalb  vorzugsweisi^  lieim  Gehen,  weniger  beim  Sitzen, 
und  haben  noch  til)enlie8  den  Nachteil,  daß  sie  durch  Hemmung  der  Zirkulation 
die  Fuß  wärme  herabsetzen  und  das  so  litstige  Erfrit'ren  der  Füße  im  Winter  fordern. 
Winl  der  in  ein  enges  Schuhwerk  eingezwängte  Fuß  l)eim  Gehen  und  Stehen  länger, 
so  müssen  sich  seine  Zehen  stärker  krümmen,  die  Streckseiten  ihrer  Gelenke  nach 
oben  spitzig  hervorspringen  und  der  LieblingH.sitz  für  die  so  allgemeine  Plage  der 
Hühneraugen  wenlen.  Kann  der  Fuß  sich  nicht  der  Breite  nach  abflachen,  was  bei 
der  so  beliebten  spitzigen  Form  der  Stiefel  eine  reine  Unmöglichkeit  ist,  so  winl 
sich  eine  Zehe  über  die  andere  legen  um!  jene  Verkrüppelung  des  Fußes  entstehen. 


220  Sechster  Abschnitt. 

welche  man  nur  mit  Ekel  neben  der  schönen  Form  von  JPüßcn  sehen  kann,  welche 
nie  das  drückende  Joch  stupider  Ilandwerksleute  oder  der  Eitelkeit  zu  erlalden 
hatten.  Wie  oft  sieht  man  die  große  Zehe  statt  mit  dem  iimeren  Fiißrand  in  pin»T 
Richtung  fortzulaufen,  K-hräg  nach  außen  abweichen,  wodurch  der  Kopf  des  Mittrl- 
fußknochens  soweit  nach  innen  vorragt,  daß  man  die  Sache  für  eine  Vcrrenkunjr 
halten  möchte.  Solchermaßen  verkrüppelte  Füße  findet  man  auf  den  Bildern  unserer 
altdeutschen  Meister  fast  regelmäßig,  ein  unverkennbarer  Beleg,  daß  die  Meiuch- 
heit  schon  lange  unter  dem  Drucke  unzweckmäßig  geformter  Stiefel  seufzt  Trotz 
mancher  ehrenwerther  Anstrengung  sind  wir  im  19.  Jahrhundert  bei  uns  noch  nicht 
s*oweit  gekommen,  der  gedankenlosen  Mode  durch  ein  wenig  Anatomie  etwaa  Baisiio 
beizubringen.  Peter  Camper  hat  es  nicht  unter  seiner  Würde  gehalten,  eine  Ab- 
handlung über  die  beste  Form  des  Schuhes  zu  schreiben,  welche  fast  in  tUe 
europäischen  Sprachen  übersetzt  wurde.  H.  v.  Meyer  in  Zürich  versuchte  eben- 
falls in  seiner  interessanten  Schrift:  Die  richtige  Gestalt  der  Schuhe^  Zürich  1848, 
eine  Lehre  zu  geben,  wie  die  Zweckmäßigkeit  unserer  Fußbekleidung  mit  den  An- 
forderungen der  Eleganz  vereint  werden  kann.  Es  hat  dieses  W^erkchen  manche 
Auflage;  erlebt;  in  London  wurden  in  wenig  Wochen  an  12000  Exemplare  verkauft. 
und  dessen  Wirkung  war  unverkennbar  auf  die  Menschen  und  die  Stiefel.  Allein 
die  Welt  vergißt  gute  Lehren  selu*  schnell,  und  so  werden  wir  nächstens  wieder 
bei  den  langen  aufwärts  gekrümmten  Schnabelschuhen  angelangt  sein.  Die  Fuß- 
bekleidung der  höheren  Stände  ist  davon  nicht  mehr  weit  entfernt. 

Die  Verbindungen  der  Fußwurzel  mit  dem  Mittelfuß  zeigen 
Gelenkkapseln  und  Hilfsbänder  wie  alle  übrigen  Verbindungen.  Allein 
die  Gelenkflächen  sind  nur  schwach  gekrümmt,  und  die  Beweglichkeit 
ist  dadurch  sehr  gering.  Nur  zwischen  dem  I.  und  V.  Mittelfaßknochen 
ist  eine  etwas  größere  Beweglichkeit  gestattet. 

Die  Verbindungen  zw^ischen  dem  Mittelfußknochen  und  den 
Zehen  und  die  Zehengelenke  selbst  wiederholen  im  wesentlichen  die 
bei  der  Hand  geschilderten  Einrichtungen.  Die  Gelenke  zwischen  den 
Köpfchen  der  Mittelfußknochen  Fig.  69  No.  7  und  ?',  und  der  Grundpha- 
lange  der  Zehen  sind  ziemlich  frei,  und  gestatten  wie  jene  der  Hand 
nebst  Beuge-  und  Streckbewegung  auch  Spreizen  der  Zehen,  also 
Abduktion  und  Adduktion.  Die  Gelenke  der  Zehenglieder  unterein- 
ander sind  reine  Winkelgelenke.  An  allen  finden  sich  Kapseln  mit 
einem  äußeren  und  inneren  Seitenbande  und  einer  unteren,  stärkeren 
Wand,  in  welcher  am  ersten  Gelenk  der  großen  Zehe  zwei  ansehnliche 
Sesambeine  eingewachsen  sind  (Fig,  69  No.  8),  deren  dem  Gelenke  zu- 
gekehrte Flächen  in  die. sattelförmigen  Furchen  an  der  unteren  Seite 
des  Kopfes  (Metatarsus  hallucis)  einpassen. 

Von  dem  inneren  und  zugleich  größeren  Sesambein  der  großen  Zehe  glaubten 
Mystiker,  daß  dasselbe  nicht  wie  die  anderen  Knochen  verwese,  sondern  sich  ab 
Keim  in  der  Erde  erhalte,  damit  ans  ihm,  wie  ans  einem  Samenkorn,  der  ganze 
Mensch  zum  jüngsten  Gericht  wieder  auferstehe.  Die  Talmudisten  nannten  diesen 
„unzerbrechlichen,  unverbrenubaren  und  überhaupt  unzerstörbaren  Knochen**  0«i- 
cultnn  Lus  oder  Lux.  Diese  Fabel  ist  alt  und  soll,  wie  ich  bei  Hyrtl  lese.  Tom 
Rabbi  Uschaia  anno  210  nach  Christus  herstammen. 


Skelett  der  Gliedmaßen.  221 

Allgemeine  Betrachtungen. 

Das  Hüftgelenk  ist  ein  freies  Gelenk,  es  gestattet  Bewegung  nach 
jeder  Richtung.  Der  Schenkelkopf  sitzt  auf  dem  Schenkelhals,  der  an 
seiner  Abgangsstelle  vom  Mittelsttick  des  Oberschenkelknochens  seine 
größte  Stärke  besitzt.  Gegen  den  Kopf  zu  nimmt  er  an  Dicke  ab. 
um  unmittelbar  vor  seiner  Einpflanzung  in  densell)en  wieder  etwas  an 
Umfang  zuzunehmen.  Der  Hals  des  Schenkelbeines  bildet  mit  dem 
Mittelstücke  einen  Winkel,  welcher  sich  beim  Weibe  mehr  als  beim 
Manne  einem  rechten  nähert.  Die  Größenabnahme  des  Winkels  beim 
Weibe  beträgt  nicht  sehr  viel,  im  ganzen  nur  zwischen  2 — 3^  allein  diese 
Abnahme  genügt,  um  die  größere  Konvergenz  der  beiden  Oberschenkel- 
knochen gegen  das  Knie  hin  bei  dem  Weibe  zu  erklären.  Schon 
weiter  oben  wurde  darauf  hingewiesen,  daß  die  Oberschenkelbeine  gegen 
das  Knie  hin  konvergieren.  Die  Konvergenz  überhaupt  hängt  ab  von 
der  Größe  des  Winkels.  Der  in  seiner  Pfanne  äquilibrierte  Schenkel- 
knochen verhält  sich  genau  so,  wie  ein  winklig  gebogener  Stab,  der 
an  einem  Ende  aufgehängt  ist.  Sein  unteres  Ende  kann  niemals  die- 
selbe Richtung  haben  mit  dem  oberen,  sondern  weicht  nach  jener  Seite 
ab,  nach  welcher  die  Öffnung  des  Winkels  gerichtet  ist,  beim  Schenkel- 
knochen also  nach  einwärts.  Die  Konvergenz  der  Oberschenkelknochen 
erzielt  einen  mechanisch  bedeutsamen  Gewinn.  Die  Schwankungen  des 
Körpers  beim  Gehen  sind  dadurch  beträchtlich  abgeschwächt  worden. 
Damit  wurden  viele  Muskelkräfte  erspart,  welche  s(mst  bei  einer  großen 
Distanz  der  beiden  Tragstützen  des  Leibes  unerläßlich  gewesen  wären. 

Von  dem  Kniegelenk  an  ändert  sich  die  Richtung  des  Beines,  und 
die  Unterschenkel  laufen  parallel  zum  Boden  heral).  An  dem  Skelett 
des  Beines  Fig.  61  ist  dieses  Verhalten  bei  der  Darstellung  berück- 
sichtigt worden  und  wohl  zu  erkennen.  Eine  geringe  Verlängerung 
des  inneren  Knorrens  am  Kniegelenk  genügte,  die  Konvergenz  der  Unter- 
schenkel zu  verhüten,  und  sie  zu  zwingen,  senkrecht  nach  der  Unter- 
lage hinabzustreben.  Ohne  diese  Korrektion  der  Richtung  würden  die 
Fersen  bei  dem  Gehen  beständig  aneinander  schlagen.  —  Auch  bei  der 
besten  Form  des  Beines  entsteht  durch  Verschiedenheit  in  der  Richtung 
des  Oberschenkels  zum  Unterschenkel  eine  Konkavität  der  Kniegegend 
an  der  äußeren  und  eine  Konvexität  an  der  inneren  Seite.  Das  innere 
Seitenband  der  Kniegelenkkapsel  (Fig.  65  No.  5)  erhält  dadurch  eine 
beträchtlich  größere  Aufgabe,  als  sie  dem  äußeren  Seitenband  zuge- 
messen ist. 

Wird  das  innere  Seitenband  durch  Krankheit  seiner  Kraft  und  Stärke  ver- 
lustig, so  kann  e^  die  inneren  Knorren  des  Oberschenkels  und  des  Schienbeins 
nicht  mehr  in  gehörigem  Kontakt  erhalten.     Der  Onick  der  Körperlast  macht  so- 


222  Sechster  Abschnitt. 

dann,  daß  der  nach  «außen  weit  offene  Winkel  zwischen  Obersehenkel  und  Schi» 
bein  kleiner  wird,  indem  der  Unterschenkel  nach  außen  abweicht,  und  jene  E«. 
Stellung  der  Beine  entsteht,  welche  in  der  Chiriurgie  Genu  valgtim  heißt  und  die  di: 
Deutschen  Knickebein,  Ziegenbein,  auch  Knieenge  und  Bäckerbein  nenn«. 
Diese  Deformität  wäre  also  nur  eine  abnorme  Steigerung  der  Winkelstellnng  de« 
Unterschenkels  gegen  den  Oberschenkel;  der  innere  Knorren  des  Obencfaenkd» 
markiert  sich  stärker  durch  die  Haut  der  inneren  Kniegegend.  Es  kommt  dem  Ge- 
fühle vor,  als  ob  er  vergrößert  wäre.  Sind  beide  Knie  kuickebeinig,  so  bohr» 
dieselben  gegeneinander  (X-Füße).  Die  dem  Qenu  vcUgum  entgegengesetzte  Ver- 
krümmung des  Kniees,  l>ei  welcher  der  Unterschenkel  mit  dem  Oberschenkel  eioei 
nach  innen  offenen  Winkel  bildet,  führt  zu  der  Knieweite  oder  den  Sibel- 
beinen  (Qenu  carurn),  welche  seltener  vorkommen  als  die  Knickebeine.  Die 
Säbelbcine  haben  ihre  Bedingung  in  angeborener  oder  erworbener  ( rachitiBchen 
Knochenverbiegung  oder  in  krumm  geheilten  Beinbrüchen.  Bei  Reitern  finden  adi 
oft  mäßig  krumme  Säbelbeine,  wahrscheinlich  durch  vermehrten  Muskelzug  bei  dem 
sog.  Schluß  entstanden. 

Die  Haut  der  vorderen  Kniegegend  ist  wie  diejenige  an  der  hin- 
teren Seite  des  Ellbogens  dick,  rauh  anzufühlen  und  im  gestreckten 
Zustande  des  Gelenkes,  sowie  bei  besonders  stark  gebrauchten  Enieen 
auf  der  Kniescheibe  quer  gefurcht.  Das  Gewebe  der  Haut  zeigt  sich 
auf  den  Vorsprüngen  der  Knochen  am  Knie  bei  weitem  nicht  so  fett- 
reich, wie  am  Oberschenkel,  weshalb  das  Knie  um  so  schlanker  er- 
scheint je  beleibter  ein  Individuum  ist.  Die  Falten  auf  der  Vorder- 
seite des  Kniees  fehlen  in  der  Jugend  und  die  Haut  legt  sich  glatt 
über  die  Erhabenheiten  und  Vertiefmigen.  Bei  der  Beugung  wird 
sie  gespannt,  verdünnt  sich  und  läßt  selbst  unbedeutende  Elinzeln- 
heiten  erkennen,  die  bei  der  Streckung  durch  Rückkehr  der  Haut  zu 
ihrer  früheren  Dicke  wieder  verschwinden.  Zwischen  Haut  und  Faseie 
liegt  ein  ziemlich  dickwandiger  Schleimbeutel,  welcher  annähernd 
den  Umfang  der  Kniescheibie  selbst  hat,  im  gesunden  Zustande  einen 
Tropfen  Flüssigkeit  enthält,  sich  dagegen  infolge  von  Entzündungen 
zur  Größe  eines  Apfels  und  darüber  ausdehnen  kann. 

Der  Unterschenkel  erstreckt  sich  von  dem  Schienbeinstachel  bis 
zu  den  Knöchehi  herab.  Er  hat  eine  kegelförmige  Gestalt,  mit  der 
Spitze  nach  unten  gekehrt.  Während  die  starken  Muskellager  an  der 
hinteren  Seite  die  Knochen  vollständig  verdecken,  lassen  sie  vorne 
wenigstens  eine  Fläche  des  Schienbeines  samt  ihrer  Kante  frei 
Schon  im  unteren  Drittel  gehen  die  Muskeln  allmählich  in  Siehnen 
über,  so  daß  die  unteren  Enden  des  Schien-  und  Wadenbeines  und 
die  Knochen  des  Fußes  mehr  und  mehr  frei  werden.  Die  hochliegende 
Gruppe  der  Wadenmuskeln  geht  mit  ihrer  gemeinschaftlichen  Endsehue, 
der  Achillessehne,  an  den  Höcker  des  Fersenbeines  und  verdeckt 
dadurch  den  an  dem  Skelett  so  stark  nach  rückwärts  verlängerten 
Knochen. 


Skelett  der  Gliedmaßen.  223 

Der  Name  Achillessehne  schreibt  sich  wohl  davon  her,  daß  der  griechische 
Held,  welchen  die  Mythe  nur  an  dieser  Stelle  verwundbar  sein  ließ,  an  den  Folgen 
eines  Pfeilschusses  in  die  Ferse  starb.  Die  Mutter  des  Achill,  Thetis,  tauchte 
ihren  Sohn  auf  den  Ausspruch  des  Orakels  in  die  Fluten  des  Styx,  um  ihn  unver- 
wundbar zu  machen.  Da  sie  das  Knäblein  bei  dieser  Funktion  an  der  Ferse  liielt, 
so  konnte  das  Wasser  seine  wunderthätige  Wirkung  nicht  auch  auf  diese  ausdehnen, 
—  sie  blieb  also  verwundbar,  und  bekanntlich  starb  Achill  au  einer  durch  Paris 
Gresehoß  in  die  Ferse  beigebrachten  Wunde.  Hippokrates  hielt  die  Wunden  und 
Quetschungen  der  Achillessehne  für  tödlich.  Der  Glaube  an  die  Gefährlichkeit  der 
Wunden  der  Achillessehne  hat  sich  lange  erhalten.  In  ihm  liegt  die  Ursache,  wanim 
die  Dorchschneidung  dieser  Sehne  erst  so  spät  in  Aufiiahme  kam,  eine  Operation, 
durch  welche  andauernde  und  permanent  gewordene  Kontraktion  und  Steifheit  des 
Fußes,  beim  sogenannten  Spitz-  oder  Pferdefuß,  beseitigt  wird.  Heutzutage  wird 
diese  Operation  schon  bei  Säuglingen  ausgeführt. 

Zu  beiden  Seiten  der  Achillessehne  fällt  eine  Hautgnibe  auf,  welche 
dem  Zwischenräume  zwischen  der  Sehne  und  den  Unterschenkelknochen 
entspricht.  Hobceb  beschreibt  umständlich,  wie  Achill  an  Hektors 
Leiche  hier  die  Riemen  durchzog,  um  dieselbe  an  seinen  Siegeswagen 
zu  befestigen  und  dreimal  um  Trojas  Mauern  zu  schleifen: 

Ter  circum  Iliacos  raptaverat  Hectora  muros. 

Der  Fuß  ist  von  dem  Fußrücken  aus  betrachtet  kürzer  als  die 
Sohlenfläche,  da  er  nur  bis  zum  Sprunggelenk  reicht,  die  Sohlenfläche 
sich  dagegen  bis  zum  Fersenhöcker  erstreckt.  Die  Gestalt  des  Fuß- 
rückens ist  von  vom  nach  hinten  konvex  und  von  außen  nach  innen 
konkav,  sobald  der  Hohlfuß  richtig  geformt  ist.  Fehlt  die  Höhlung 
der  Sohle,  wie  bei  dem  Plattfuß,  dann  ist  auch  der  Fußrücken  kaum 
von  nennenswerter  Höhe.  —  Der  Fußrücken  fühlt  sich  überall  hart  an, 
da  meist  nur  Sehnen  zwischen  Haut  imd  Knochen  eingeschaltet  sind. 
Sie  werden  bei  der  Zusammenziehung  der  Muskeln  bemerkbar.  Nur 
an  seinem  äußeren  Bezirke  fühlt  man  den  prallen  und  elastischen 
Bauch  eines  Muskels,  des  kurzen  Zehenstreckers. 

Der  festere  Teil  des  Fußes  besteht  aus  der  Fußwurzel  und  dem 
Mittelfuße,  der  beweglichere  und  zum  Tragen  des  Körpers  nicht  ge- 
eignete, aus  den  Zehen.  Beide  zusammen  stellen  einen  Hebel  dar, 
welcher  nach  Umständen  bald  als  einarmiger,  bald  als  zweiarmiger 
gebraucht  wird.  Als  zweiarmiger  Hebel  erscheint  er,  wenn  man  den 
Fuß  frei  in  die  Luft  hält  und  Beuge-  und  Streckbewegungen  mit  ihm 
ausführt.  Der  Stützpunkt  des  Hebels  liegt  hierbei  im  Sprunggelenk, 
der  kürzere  Arm  wird  durch  den  Fersenhöcker,  der  längere  durch  das 
vor  dem  Sprunggelenk  gelegene  Stück  des  Fußes  dargestellt.  Als  ein- 
armiger Hebel  wirkt  er,  wenn  man  sich  auf  die  Ballen  der  Zehen  (un- 
richtig auf  die  Zehen)  erhebt.  Dann  liegt  der  Stützpunkt  des  Hebels 
an  dem  vorderen  Ende  desselben  (Zehenballen),  der  Angriffispunkt  der 


224  Sechster  Abschnitt    Skelett  der  Gliedmafien. 

Last  befindet  sich  im  Sprunggelenk,  wo  das  Gewicht  des  Körpers  mit- 
tels des  Schienbeines  auf  das  Fußgerüst  wirkt,  und  der  Angriffspunkt 
der  bewegenden  Kraft  entspricht  dem  Fersenhöcker,  als  dem  hintertii 
Ende  der  Hebelstange,  dort  wo  die  Wadenmuskeln  den  Fersenhöcktr 
und  damit  die  ganze  Körperlast  in  die  Höhe  ziehen. 

Die  Bestimmung  der  Zehen  ist ,  beim  Stehen .  und  Sclu-eiteii 
sich  wie  elastische  Druckfedern  an  den  Boden  anzudrücken  und  ^leiu 
Stehen  dadurch  mehr  Festigkeit  und  dem  Gehen  jene  Sicherheit  zn 
geben,  die  auf  der  Elastizität  des  Schrittes  beniht.  Wir  wären 
ohne  die  Zehen  nicht  imstande,  auf  dem  Ballen  der  Zehen  stebenil 
uns  im  ruhigen  Gleichgewicht  zu  erhalten,  und  könnten  uns  nur  durch 
stetes  Trippeln  oder  durch  Kreuz-  und  Querschritte  fortbewegen. 

Wenn  wir  glauben,  auf  den  Zehenspitzen  zu  gehen,  so  gehen  wir 
eigentlich  nur  auf  den  Köpfen  der  Metatarsusknochen,  vorzüglich  jener 
der  großen  und  der  nächsten  Zehe.  Nur  lange  Übung  vermag  den 
Körper  auf  das  Nagelglied  der  großen  Zehe  zu  erheben  und  auf  ihm 
sogar  zu  gehen,  wie  dies  die  Virtuosinnen  des  Balletkorps  mit  mehr 
oder  weniger  Geschick  zustande  bringen.  Damit  ist  der  Gang  jeder 
Elastizität  beraubt  und  wird  steif,  wie  beim  Gehen  auf  Stelzen. 

Jede  Bewegung,  welche  der  Fuß  am  Unterschenkel  ausftlhrt,  kanu 
der  Unterschenkel  ebenfalls  am  Fuße  machen.  Der  Unterschenkel 
beugt  und  streckt  sich  im  Sprunggelenk  gegen  den  Fuß  beim  Nieder- 
kauern und  Erheben,  er  dreht  sich  mittels  des  Sprungbeines  am  Kahn- 
und  Fersenbeine,  um  mit  weit  ausgespreizten  Extremitäten  zu  stehen, 
und  der  innere  Knöchel  dreht  sjich  um  seine  Gelenkfläche  an  dem 
Sprungbein,  wenn  man,  auf  einem  Fuße  stehend,  Drehbewegungen  mit 
dem  Stamme  macht. 

Das  Stehen  mit  parallelen  Füßen,  wobei  die  Zehenspitzen  gerade 
nach  vorn  gerichtet  sind,  ist  das  sicherste.  Je  weiter  die  Fußspitzen 
sich  nach  außen  wenden,  desto  schwerer  und  unsicherer  wird  das 
Stehen.  Der  Bauer  steht  fester  als  der  Soldat  in  der  Parade.  Eine 
mäßige  Entfernung  der  Füße  voneinander  ist  zu  einer  festen  Positur 
unerläßlich. 


Siebenter  AbechniU.    Mnskellehre.  225 


Siebenter  Abschnitt. 

Muskellehre. 


Allgfemelne  Übersicht. 

Das  rote  Fleisch  des  menschlichen  Körpers  ist  die  Quelle  der 
Bewegungen.  Die  Ortsveränderung  sowohl  der  einzelnen  Teile  als  des 
ganzen  Organismus  ist  nur  möglich  durch  diese  roten  blutdurchströraten 
Massen,  welche  fast  das  ganze  Skelett  umgeben  und  nur  einzelne 
Stellen  als  harte  Unterlage  der  Haut  bei  Mensch  wie  Tier  zum  Vor- 
schein kommen  lassen. 

Dieses  rote  Fleisch  zerfällt  in  kleinere  abgegrenzte  Massen,  die 
sogenannten  Muskeln,  welche  je  nach  den  Körperstellen  von  verschie- 
dener Form  und  Größe  sind.  Die  einzelnen  Muskeln  besitzen  eine 
gewisse  Unabhängigkeit  von  ihren  Nachbarn  und  sind  mit  Hilfe  des 
Messers  von  ihnen  trennbar,  weil  dünne  Schichten  eines  lockeren  Ge- 
webes zwischen  ihnen  liegen.  Blutgefäße  und  Nerven  ziehen  diesem 
oft  fetthaltigen  Zwischengewebe  entlang,  um  zu  den  Muskeln  zu  ge- 
langen. Sind  diese  umgebenden  Teile  mit  dem  Messer  vorsichtig  und 
von  allen  Seiten  entfernt,  der  Muskel,  wie  man  sich  ausdrückt,  von 
seiner  Umgebung  lospräpariert,  so  stellt  er  in  seinen  einfachsten  Formen 
ein  längliches  spindelförmiges  Organ  dar,  an  dem  man  folgende  Teile 
unterscheidet: 

1)  einen  mittleren,  roten  Abschnitt,  den  sog.  Muskelbauch 
(Fenter)y  der  aus  fleischigen  Fasern  besteht  (Fig.  68  Nr.  2).  Er  ist 
durch  einen  Nervenstrang  direkt  mit  dem  Gehirn  in  Verbindung  gesetzt. 

2)  die  beiden  verschmälerten  Enden  (Fig.  68  i  u.  3),  die  weiß,  atlas- 
glänzend aus  dem  roten  Muskelbauch  hervorkommen,  und  als  Sehnen 
(Tendines)  bezeichnet  werden.  Sie  bestehen  aus  einem  von  dem  roten 
Fleisch  gänzlich  verschiedenen  Material,  dessen  Gegensätze  in  Form  und 
Farbe  und  chemischer  Zusammensetzung  die  denkbar  größten  sind.  Das 
Fleisch  enthält  Eiweiß,  die  Sehnen  dagegen  leimgebende  Substanz.  Ihre 
Lebensäußerungen  sind  ebenso  diametral  verschieden.  Der  Muskel  zieht 
sich  zusammen,  verkürzt  sich,  schwillt  dadurch  an,  und  wird  dabei 
fest;  die  Sehne  wird  nur  gespannt,  sie  kann  sich  weder  verlängern  noch 
verkürzen;  sie  ist  einem  Seil  vergleichbar,  an  dem  der  Muskel  zieht, 
wie  das  Pferd  an  dem  Strang.     Die  Sehne  ist  mit  der  Beinhaut  und 

KOLLMANH,  PlasUache  Anaioiulo.  15 


Siebenler  Atachnttt. 


mit  dem  Knochen  so  fest  verwachsen,  daß  eher  das  EnocheiutfiGk  t 
der  Ansatzstelle  losreißt,  als  daß  die  Sehne  sich  loslöst.    Die  Sehie 


Entreniuned.Ot-lpnk- 
'      nHisev.d.Oberfl.  il. 
Knnchens. 


Fig.  TU.    ScIieiiDttitH'lic  UiirHti'lluiig  ciix'ä  Miukt'U. 


Miukellehre.  227 

an  den  Enden  des  Muskels  heißen  wegen  ihrer  Lage  End sehnen 
(Tendines  terminales)^  zur  Unterscheidung  von  Zwischensehnen  (Ten- 
dmes  nUermedii),  die  an  einigen  Muskeln  in  der  Mitte  angebracht  sind. 

Das  einfache  Bild  eines  Muskels  (Fig.  70)  gestattet  gleichzeitig 
die  Erklärung  einiger  Ausdrücke,  welche  in  der  anatomischen  Sprache 
in  ganz  bestimmtem  Sinne  gebraucht  werden. 

Unsere  Figur  70  stellt  den  Oberarmknochen  und  einen  Vorderarm- 
knochen in  natürlicher  Verbindung  dar.  Auf  der  vorderen  Fläche 
dieser  durch  ein  Gelenk  verbundenen  Knochen  befindet  sich  ein  Muskel- 
bauch, dessen  Anfangs-  und  Endsehne  mit  den  betreffenden  Knochen 
verwachsen  sind.     Man  nennt  nun: 

Ursprung  (Origo)  eines  Muskels  (Fig.  70  Nr.  i)  die  dem  Kopf  des 
Menschen  näherliegende  Portion  des  Muskels,  welche,  die  einfachste  Art 
der  Wirkung  angenommen,  bei  der  Zusammenziehung  in  unveränderter 
Stellung  bleibt; 

Ansatz  (Insertio)  ist  die  am  entgegengesetzten  Ende  befindliche 
Portion,  welche  bei  der  Zusammenziehung  dem  Ursprung  genähert  wird 

(Fig.   70  Nr.  3); 

Verlauf  heißt  der  Weg,  den  der  Muskel  zwischen  dem  Ursprung 
und  dem  Ansatz  zurücklegt.  Aber  während  diese  Bezeichnungen  die 
Lage  zu  dem  Körper  in's  Auge  fassen,  werden  noch  andere  notwendig 
für  die  einzelnen  Abschnitte  dieses  Organes  selbst.  An  jedem  Muskel 
heißt  Kopf  (Caput)  der  dem  Ursprungspunkt  zunächst  liegende  Teil, 
Muskelbauch  (Fenter),  der  mittlere  fleischige  Teil  (Fig.  70  Nr.  2), 
Schwanz  (Cauda)  das  Ende  des  Muskels  (Fig.  70  Nr.  5). 

Von  diesem  klassischen  Bild  eines  Muskels,  das  dazu  dient,  so- 
wohl bei  Mensch  als  Tier  sich  die  Grundvorstellungen  über  das  Wesen 
dieses  Organes  anzueignen,  giebt  es  jedoch  sehr  beträchtliche  Ab- 
weichungen. Nicht  in  dem  Prinzip,  denn  Ursprung  und  Ansatz  sind 
überall  vorhanden  und  stets  ist  dem  Muskelbauch  ein  ganz  bestimmter 
Verlauf  vorgeschrieben,  sondern  sowohl  in  der  Form  der  Sehnen,  wie 
in  derjenigen  des  Muskelbauches  zeigen  sich  beträchtliche  Verschieden- 
heiten. Während  viele  dieser  Formen  für  die  Medizin  von  unter- 
geordnetem  Interesse  sind,  werden  selbst  unwesentliche  Variationen 
dieser  Art  von  Bedeutung  für  die  darstellende  Kunst. 

Yerschledene  Formen  der  Sehne. 

1)  Die  Sehnen  finden  sich  nicht  immer,  wie  in  unserm  Beispiel, 
an  beiden  Enden  des  Muskelbauches  von  annähernd  gleicher  Länge, 
sondern  sie  können  an  dem  einen  Ende  kurz,  an  dem  entgegengesetzten 
lang  sein.     Das  ist  nahezu  regelmäßig  der  Fall  an  dem  Vorderarm 

15» 


228  Siebenter  Afaflehnitt. 

und  dem  Unterschenkel.  Die  Schmalheit  des  Hand-  and  Fußgelenkes 
rührt  lediglich  davon  her,  daß  die  Fleischmassen  an  das  entgegeoge- 
setzte  Ende  des  Skelettabschnittes,  nämlich  in  die  Nähe  des  Ellbogen- 
mid  des  Kniegelenkes  verlegt  sind. 

Bei  Tieren  ist  die  Verlegung  der  Muskelmassen  oft  bis  zu  einem  sehr  hohen  Gnd 
getrieben.  Bei  der  Hirschfamilie  sind  die  Muskeln  dicht  an  den  Rumpf  hinaofgieMliobai, 
und  den  langen,  schmalen  Knochen  der  Glieder  entlang  ziehen  nur  die  Sehnen,  an 
auf  die  entfernt  liegenden  Inscrtionspunkte  die  Kraft  der  hoch  oben  am  KOqwr 
befindlichen  Muskeln  zu  übertragen.  Bei  den  langbeinigen  Vögeln  ist  woU  du 
äußerste  in  dieser  Hinsicht  von  der  Natur  geleistet  würden. 

Eine  andere  auffallende  Versetzung  der  Sehnen  besteht  darin,  daß  sie 

2)  in  die  Mitte  des  Muskelbauches  verlegt  sind.  Sie  werden, 
im  Gegensatz  zu  den  Endsehnen,  also  Zwischensehnen  (Tenämt 
intermedü).  Der  hervorragendste  und  fiir  die  plastische  Anatomie 
interessanteste  Fall  dieser  Art  findet  sich  an  den  geraden  Bauch- 
muskeln (Fig.  71  Nr.  16;  16').  Auf  dem  ganzen  Verlauf,  der  bei  einem 
Menschen  von  1.80  m  nahezu  Y4  der  ganzen  Höhe  ausmacht,  existiert 
nur  eine  kurze  Endsehne,  dagegen  finden  sich  auf  der  Strecke  Ton 
der  Brust  bis  zu  dem  Nabel  an  drei  Stellen  quer  in  den  Muskd 
hineingelegte  Zwischeiisehnen.  Er  zerfällt  dadurch  auf  jeder  Seite  in 
drei  übereinander  liegende  Abteilungen,  von  denen  jede  ein  selb- 
ständiges Muskelsegment  darstellt.  Der  unmittelbar  an  die  Brust  an- 
stoßende Teil  der  Bauchwand  wird  dadurch  wie  aus  viereckigen  Stücken 
mosaikartig  zusammengesetzt.  An  dem  borghesischen  Fechter, 
dem  Laokoon  und  anderen  Statuen  sind  diese  Einzelheiten  in  sehr  voll- 
kommener Weise  wiedergegeben.  —  Eine  andere  Form  einer  Zwischen- 
sehne ist  in  dem  Kapuzenmuskel  in  der  Umgebung  des  7.  Halswirbel 
zu  finden.  Sie  hat  die  Gestalt  eines  Lindcnblattes,  dessen  Spitze  nach 
oben  gerichtet  ist.  Solche  Zwischensehnen  sind  an  dem  Lebenden  wie 
an  dem  Toten  wegen  des  Unterschiedes  zwischen  der  Dicke  der  Sehne 
und  derjenigen  des  Fleisches  durch  die  Haut  hindurch  erkennbar. 
Das  Fleisch  ist  eben  der  bewegende,  thätige  Teil  des  Muskels,  and 
deshalb  dick,  voluminös;  die  Sehne  ist  nur  der  Strang,  der  die  in  dem 
Muskel  entstandene  Kraft  auf  andere  Stellen  übeii;rägt,  dem  Trans- 
missionsriemen einer  Maschine  vergleichbar.  Der  Biemen  ist  dünn, 
während  die  Maschine  umfangreich  ist.  Aber  in  unseim  Fall  kommt 
noch  ein  Umstand  hinzu,  der  mit  dem  Organismus  zusammenhangt^ 
der  Maschine  in  dieser  Form  aber  fehlt.  Bei  der  Thätigkeit  des  Mus- 
kels schwillt  das  Fleisch  an,  es  verdickt  sich,  weil  es  sich  verkürzt,' 
die  Sehne  bleibt  dagegen  unverändert.  Während  der  Zusammen- 
ziehung eines  Muskels  ist  also  der  schon  während  der  Buhe 
vorhandene  Niveauunterschied  zwischen  dem  fleischigen  und 


Unigfln    Teil   gesteigert.      Es   ist   deshalb   für  das   geilbto   Auge 
^ht  Bcbwer,  selbst  an   dem   Fragment  eines  KunstwerlcBs   zu  uiiter- 


[lortioa  il.Bnintiii. 


Bcheiilen,  id)  die  durgi^slellte  Kigur  in  der  Bewegung  oder  in  der  Bube 
aufgefaßt  war.  Nfirlidem  Übordies  mit  dem  timd  der  Zusjinimen- 
siehong  dei"  ücgeiisatz   zwiatihen  Floiscb   uod   Sehne   sich   vergröUert, 


230  Siebenter  Abedmitt. 

läßt  sich  auch  der  Grad  der  Anstrengung  bemessen,  der  zum  Aus- 
druck gebracht  werden  sollte.  Diese  Schärfe  der  Beurteilung  haben 
sich  die  Archäologen  und  Kunsthistoriker  längst  angeeignet.  Die  Ex- 
treme zwischen  Ruhe  und  Bewegung  der  Muskeln  werden  freilich  auch 
von  jedem  Gebildeten  meist  richtig  beurteilt.  Er  hat  ein  „GefÄhl« 
für  das  in  dem  besonderen  Fall  notwendige  Maß  der  aufgewendeten 
Kraft,  denn  sein  eigener  Körper  ist  ihm  hierfür  eine  lehrreiche  Schule 
unbewußten  Lernens.  —  Nur  in  ganz  besonderen  Fällen  ist  es  erlaabt, 
die  Muskeln  schon  während  der  Ruhe  des  Körpers  so  umfangreich  dar- 
zustellen,  als  ob  sie  sich  in  voller  Aktion  befänden,  nämlich  dann,  wenn 
es  sich  um  Kraftmenschen  par  excellence  handelt,  wie  bei  dem  Far- 
nesischen Herkules  oder  an  dem  Torso  vom  Belvedere,  obwohl 
zweifellos  bei  dem  ersteren  des  Guten  schon  zuviel  gethan  ist.  Vor 
allem  hat  man  sich  dabei  zu  erinnern,  daß  in  der  Zusanunenziehnng 
der  Muskeln  sehr  verschiedene  Grade  existieren  und  daß  die  äußere 
Erscheinung  abhängt  von  der  Größe  des  Fleischbauches  und  dem  Grade 
seiner  Zusamnienziehung,  oder  anatomisch  gesprochen  von  dem  unter- 
schied zwischen  der  Erhebung  seiner  Oberfläche  über  die- 
jenige der  tieferliegenden  Sehne.  Von  dieser  wichtigen  und  all- 
gemeinen Regel  giebt  es  keine  Ausnahme.  Scheinbare  Abweichungen, 
welche  durch  das  Anspannen  strangförmiger  Sehnen  entstehen, 
z.  B.  an  dem  Vorderarm,  dem  Unterschenkel,  dem  Kniegelenk,  sollen 
später  berücksichtigt  werden. 

Diese  Regel  von  dem  Niveauunterschied  zwischen  dem  fleischigen  Teil  des 
Muskels  und  einer  nicht  kontraktilen  Umgebung  bleibt  selbst  dann  in  voller  Geltung, 
wenn  der  Muskel  ohne  Vermittelung  von  Sehnen  direkt  von  Knochenfläehen  ent- 
springt oder  sich  direkt  an  Knochenflächen  ansetzt,  wie  folgendes  Beißpiel  zeigt 
Der  große  Brustmuskel  entspringt  längs  des  ganzen  Brustbeines  (Fig.  71  Kr.ii 
und  von  einem  Teil  des  Schlüsselbeines  (Fig.  71  Nr.  2)  ohne  Vermittelung  einer  aiclit- 
baren  Sehne  direkt  von  Knochenflächen.  Dennoch  liegt,  ebenso  wie  bei  den  Zwiachen- 
sehncn  der  geraden  Bauchmuskeln,  die  Ebene  seiner  Fleischmasche  \ie\  höher  als 
die  vordere  Fläche  des  Brustbein(»s,  die  wie  eine  schmale  Binne  zwischen  dem 
Ursprung  der  beiderseitigen  Brustmuskeln  sichtbar  wird.  Das  Fleisch  an  sich  ve^ 
ursacht  schon  eine  Erhöhung,  gegenüber  der  Brustbeinfläche,  die  Zusammcnziehang 
steigert  dann  dieselbe  und  vertieft  die  schon  vorhandene  Furche.. 

Es  giebt  femer 

3)  Breite  und  sehr  ausgedehnte,  dabei  aber  dünne  Sehnen.  Sie 
heißen  Aponeurosen.  Sie  sind  auflfallend  verschieden  von  den  strang- 
förmigen  Sehnen,  welche  die  Figur  70  als  Beispiel  zeigt.  Sind  näin- 
lich  Muskeln  über  gi'oße  Flächen  ausgedehnt,  wie  an  den  Seiten  der 
Bauchwand,  so  ist  die  Sehne  ebenfalls  breit  und  stellt  ein  Blatt  von 
kaum  1  mm  Dicke  dar,  das  die  Formen  der  daiiinter  liegenden  Teile 
deutlich  erkennen  läßt.  In  der  Fig.  71  Nr.  lo  u.  Nr.  ii  ist  der  rechte 
äußere    schiefe    Bauchmuskel,    so  heißt   er   mit    seinem   ganzen 


VsAelldire. 


2S1 


Namen,  grSßtenteils  sichtbar.  Mit  Nr.  lo  sind  seine  Ti«r  oberen  Ur- 
Bprungszacken  bezeichnet,  welche  von  der  filnften  bis  achten  Bippe 
entspringen.  Sie  sind,  wie  schon  die  SchrafiTur  andeutet,  fleischig, 
ebenso  wie  sein  unterer  Teil,  der  mit  Nr.  ii  bezeichnet  ist.  Von  der 
unteren  Fleischecke  bei  Nr.  ii  zieht  sich  bis  zu  dem  Brustkorb  hinauf 
eine  gebrochene  Linie,  auf  der  der  Fleischbauch  des  Muskels  in  eine 
platte  Sehne  übei^eht,  welche  in  der  vorderen  Mittellinie  mit  der- 
jenige» des  Widerparts  von  der  anderen  Körperhälfte  sich  durchkreuzt. 
Diese  dUnne  Sehne  bedeckt  zwar  den  geraden  Bauchmuskel  (Fig.  71 
Nr.  12),  allein  sie  läßt  seine  ganze  Form  deutlich  wiedererkennen.  Es 
beben  sich  sowohl  die  Ränder,  als  auch  die  Zwischensehnen  deutlich 


Oberarm  3 


lim.  Knomo  i  - 


ßllflnitrecker  d.IUod. 


Pig.  72.     I><T  rcclitc  Vonli-ninii   dca  borghritiBcliiiii  Pcchtore 
von  liiiit^ii  Kciti'limi. 

ab,  ein  lehrreiches  Beispiel,  ibiß  selbst  tietliegeude  Teile  durch  die 
Aponeuroseu  hindurch  noch  mit  allen  Einzelheiten  erkennbar  sind. 
Ein  Vergleich  mit  der  linken  Kürperhälltu ,  an  der  die  Aponcurose 
entfernt  ist,  zeigt  den  geraden  Bau(^hmuskel  unbedeckt  {Fig  71  Nr.  in, 
Iß',  16")  und  läßt  um  so  leichter  die  Form  seines  bedeckten  Nachbars 
von  dem  Ursprung  bis  zn  dem  Ansatz  wiedererkennen. 

4)  Sehnen  reichen  als  ,, sehnige  Blätter",  als  „sehnige  Mem- 
branen" oder  als  sehnige  Streifen  von  der  Ursprungs-  oder  von 
der  Ansatzsehne  her  weit  in  den  Muskelbancli  hinein,  so  daß  h-tüteier 
entweder  von  der  Sehne  durchwachsen  ist  oder  die  Sehne  an  der  einen 
Seite  weiter  an  dem  Muskel  in  die  Hohe  ragt  als  an  der  anderen. 
Die  obenstehende  Figur  72  veixegcnwärtigt  bei  Nr.  ö  den  Verlauf  eines 
Streckers  der  Hand,  der  vom  Oberarm  entspringt  und  am  Mittelhand- 


282  Skbenter  AbMlmitt 

knochen  des  5.  Fingers  endigt.  Die  Ansatzsehne  erstreckt  sich  Zungen, 
förmig  und  dabei  sehr  weit  in  den  Muskelbauch  hinein,  während  tob 
beiden  Seiten  her  die  Fleischbündel  an  die  Sehne  herantreten. 

Ohne  Kenntnis  dieses  ebenerwähnten  Verhaltens  der  Sehne  xn 
dem  Muskelbauch  bleiben  die  Formen  des  Vorderarmes,  der  Wadea- 
beinmuskeln  u.  a.  m.  ein  stetes  Geheimnis.  Man  muß  eingedenk  sein, 
daß  in  diesen  Fällen  die  Sehne  vertieft  liegt  im  Vergleich  zu  dem 
umgebenden  Fleisch  des  Muskels,  und  daß  sich  der  schon  vorhandeiie 
Höhenunterschied  beträchtlich  steigert,  sobald  das  rote  Fleisch  in 
Thätigkeit  versetzt  wird. 

Von  sehr  eigenartigem  Einfluß  auf  die  Formen  sind 

5)  die  Sehnenplatten  oder  Sehnenzungen,  welche  einen  Teil  des 
Muskelbauches  bedecken. 

Der  Übergang  der  Ursprungssehne  in  den  Muskelbauch  geschieht 
nicht  immer  in  scharf  abgegrenzter  Weise,  wie  z.  B.  in  Fig.  70,  son- 
dern die  Sehne  bedeckt  oft  mit  glänzenden  Fasern  den  Muskelbaacli 
bis  zur  Mitte  und   darüber  hinaus.     Diese  Ausbreitung  der  Sehnen- 
fasem  nimmt  verschiedene  Formen  an,  welche  zungen-  oder  fächer- 
artig sind  und  von  den  roten  schwellenden  Eändem  der  Maskeimasse 
begrenzt  werden.     Ein  paar  Beispiele  mögen  das  Gesagte   näher  er- 
klären.    An   dem   Spielbein   eines  Stehenden   ist   die  Wade  mit  nnr 
geringfügiger  Abweichung   rundlich   selbst  bei   dem   kräftigen   Mann, 
den  wir  hier  wie  bei  allen  Betrachtungen  zunächst  im  Auge  haben. 
Sobald  jedoch  das  Bein  gegen  den  Boden  gestemmt  wird,   oder  wir 
uns    auf    die    Zehenballen    erheben ,    wird    die    hintere    Fläche   der 
Wade  in  einer  ganz  bestimmten  Ausdehnung  abgeflacht.     Die  Unter- 
suchung lehrt  nun  folgendes:    Jeder  Kopf  des  Wadenmuskels  (Fig.  74 
Nr.  9  u.  9')  ist  birnfönnig,  das  spitze,  dem  Ursprung  entsprechende  Eiide 
ist   aufwärts,    das   gerundete   abwärts  gerichtet.     Jeder   Muskelbauch 
entspringt  an  dem  hinteren  Umfang  eines  Gelenkhöckers    des   Ober- 
schenkelbeines mit  einer  mächtigen  Sehne,  die  sich  fächerförmig  über, 
die  äußere  Fläche  des  Muskels  ausbreitet  und  nur  an    zwei    Stellen 
das  rote  Fleisch  hervortreten  läßt,  nämlich  in  der  Mitte  in  Form  eines 
schmalen,  ungefähr  3 — BYg^^^  langen  Streifens,  dort  wo  sich  die  beiden 
Köpfe  der  Wadenmuskeln  beiühren,  und  unten,  wo  der  Muskelbauch 
in  die  Ansatzsehne   ill)ergeht.     Diese  Anordnung  der  Ursprungssehne 
hat  zur  Folge,   daß  ganz   im  Gegensatz    zu   den  bisher   betrachteten 
Fällen   der  durch  die  Zusammenzichung  schwellende  Muskel   im  Be- 
reich der  fächerartig  ausgebreiteten  Sehne  abgeplattet  wird. 
An  dieser  Abplattung   des   Muskels   läßt   sich    die  Zusammenziehung 
und  der  Grad  derselben  leicht  erkennen. 

Eine   wirkungsvolle  Sehnenplatte  von   großer  Ausdehnung   besitzt 


der  seitliche  Kopf  des  UnterschetikelBtreckers  (Vastus  extemm,  Fig.  74 
Nr.  18).     Ton   seinem  Ursprung    hoch  oben   an   dem  Schenkelknochen 


B   Kurxi^r  Strecker  tl.  Dlumeoi. 


Hehncn  der  Dauinenn)iii>k«ln. 


Fig.  73.    Der  rechte  Arm  d»«  borghoaischcn  Pechtcri.    Enaelue  Muskeln  eiud 
nicht  atugefilhrt,  doch  ist  die  llautliiiic  angegeben. 


ist  die  breite  Mnakclmaese,  welche  die  gansie  anßere  Fläche  des  Ober- 
schenkels fttr  aidi  allein  herstellt,  mit  einer  glämciiden  Sehnenplatte 


2S4  Siebenter  AbecÜnitt. 

• 

bedeckt,  welche  fächerförmig  auseinanderlaufend  bis  zu  dem  unteren 
Viertel  des  Muskels  hinabgelangt.  Erst  dort  werdea  die  Fleischbündel 
frei  sichtbar  und  können  während  der  Zusammenziehung  ihr  Belief 
ungehindert  zeigen.  Dagegen  ist  der  Muskel  während  der  Zusammen* 
Ziehung  soweit  er  durch  die  Sehnenplatte  bedeckt  ist,  unter  ihrem 
Druck  zusammengepreßt.  Daraus  entspringt  eine  so  charakteristische 
Abplattung,  daß  sie  keinem  sorgfältigen  Beobachter  entgehen  kann. 
Ich  verweise  auch  auf  den  borghesischen  Fechter,  linkes  Bein. 
an  dem  diese  Formen  mit  erstaunlicher  Sicherheit  dargestellt  sind. 

Verschiedene  Fonnen  des  Mnskelbauches. 

Der  Fleisch-  oder  Muskelbauch  (Fenter),  dessen  typisches  Urbfld 
in  der  schematischen  Figur  70  genauer  beschrieben  wurde,  zeigt  man- 
nigfache Abweichungen,  von  denen  folgende  Erwähnung  verdienen. 
Es  giebt: 

1)  Muskeln  mit  zwei,  drei  und  mehreren  Köpfen,  die  von 
verschiedenen  Stellen  entspringen  und  zu  einem  Bauch  sich  Ter- 
einigen:  zweiköpfige  Muskeln  (Musculi  bicipites),  dreiköpfige  (tri- 
cipites),  vierköpfige  (quadricipites)  u.  s.  w.  In  der  Figur  73  Nr.i 
ist  der  Deltamuskel  entfernt  und  nur  dessen  Kontur  sichtbar.  Der 
zweiköpfige  Vorderarmbeuger  wird  dadurch  in  seinem  ganzen 
Verlaufe  frei.  Mit  Nr.' 2  u.  2'  sind  seine  beiden  Ursprungsköpfe  bezeichnet 
die  als  schmale  Sehnen  vom  Schulterblatt  entspringen.  Diese  beiden 
Köpfe  vereinigen  sich  zu  dem  bekannten  einfachen  Muskelbauch,  der 
in  der  Figur  wie  am  Lebenden  den  vorderen  Umfang  des  Oberarms 
bildet  und  bei  Nr.  2"  in  eine  sich  allmählich  verschmälemde  Sehne 
übergeht,  die  sich  am  oberen  Speichenende  befestigt.  —  Auf  der- 
selben Figur  73  ist  bei  Nr.  7  ein  dreiköpfiger  Muskel,  der  kleine 
Brustmuskel,  dargestellt.  Er  entspringt  mit  je  jeiner  Zacke  von 
der  3.  4.  und  5.  Rippe,  setzt  sich  aber  mit  einer  einzigen  Sehne, 
in  die  sich  alle  Muskelbäuche  vereinigen,  an  der  Spitze  des  Raben- 
schnabelfortsatzes  (Fig.  73  Nr.  8)  fest. 

Eine  andere  Art  von  Muskeln  sind: 

2)  Muskeln,  deren  Bauch  einfach  ist,  deren  Schwanz  (Cauda), 
sich  aber  in  mehrere  an  verschiedenen  Stellen  befestigte 
Zipfel  spaltet.  Hierher  gehören  manche  Beuger  und  Strecker  der 
Finger  und  Zehen  (Fig.  75  Nr.  13  u.  13"). 

3)  Breite  Muskeln;  sie  sind  glatt,  und  dienen  sowohl  zur  Be- 
wegung, als  auch  zur  Umgrenzung  von  Hrihlen.  Sie  entspringen  von  laugen 
Knochenrändern,  Knochenlinien  (Lmene,  Cristae),  wie  der  große  Brust- 
muskcl    (Fig.  71    Nr.  i,  2,  3,)  oder  wie  der  innere   schiefe    Bauch- 


Moakellehre.  286 

muskel  (ebenda  Nr.  15);  oder  sie  entspringen  endlich  von  einer  Reihe 
verschiedener  Knochenpunkte  mit  getrennten  Zacken,  wodurch  die  Ur- 
sprungslinie sägeförmig  eingeschnitten  ist.  Der  vordere  Säge- 
muskel, dessen  Zacken  auf  der  Fig.  71  bei  Nr.  9  teilweise  sichtbar 
sind,  ist  das  bekannteste  Beispiel  dieser  Art..  Gleichfalls  mit  Zacken 
entspringt  der  äußere  schiefe  Bauchmuskel  (ebenda  Nr.  lo).  Die 
Insertionssehnen  sind  dann  bisweilen  ebenfalls  breite  Platten,  welche, 
wie   schon  weiter  oben  erwähnt,  als  Aponeurosen  bezeichnet  werden. 

4)  Ringförmige  Muskeln  (Musculi  orbiculares).  Die  Muskel- 
bündel durchflechten  sich  und  stellen  einen  Ring  dar,  der  jedoch  nie- 
mals völlig  von  '  den  umgebenden  Muskelzügen  isoliert  ist,  sondern  in 
inniger  Verbindung  steht.  Solche  Ringmuskeln  sind  gar  nicht  oder 
nur  an  einem  einzigen  Punkt  an  Knochen  festgeheftet.  Sie  liegen  an 
den  natürlichen  Öffnungen  der  Köiperoberfläche,  welche  von  ihnen  ver- 
engert oder  ganz  verschlossen  werden  können.  Zwei  derselben,  der 
Bingmuskel  des  Auges  und  des  Mundes,  werden  später  eingehend  ge- 
dchildert,  weil  sie  bei  dem  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen  eine 
wesentliche  Rolle  spielen. 

Erwähnenswert  sind  ferner: 

5)  die  Hautmuskeln;  sie  entspringen  von  tiefer  liegenden  festeren 
Punkten,  von  Knochen,  Knorpeln,  ja  selbst  von  dem  Überzug  anderer 
Muskeln,  um  in  der  äußeren  Haut  sich  anzuheften.  Bei  den  höheren 
Wirbeltieren  und  namentlich  den  Säugetieren  (Igel,  Pferd  u.  s.  w.)  von 
großer  Verbreitung,  sind  sie  bei  dem  Menschen  auf  einige  Gesichts- 
muskeln (mimische  Muskeln),  auf  einen  Hautmuskel  des  Halses  (Pia- 
tygma)  und  auf  den  Hohlhandmuskel,  der  in  die  Sehnenbinde  des 
Handtellers  übergeht,  beschränkt. 

Insofern  größere  oder  gcrinpjcre  FcHtigkeit  des  Ursprungs-  und  des  Ansatzpunktes 
einen  Einteil ungHgrund  abgiebt,  seien  hier  noch  erwähnt  die  kurzen  Muskeln  der 
Wirbelsäule,  welche  bisweilen  an  den  Sehnen  der  längeren  entspringen,  dann  die 
sog.  Kegenwunnmuskeln  der  Ilohlhand  und  des  Hohlfußes,  welche  von  den  Sehnen 
der  Beugemuskeln  entspringen  und  in  den  Strecksehneii  der  Finger  endigen.  End- 
lich die  Fascienspanner,  welche  wegen  ihrer  besonderen  Bedeutung  für  die 
Formen  der  Glieder  l)csonders  besprochen  werden  sollen. 

Muskeln  mit  zwei  oder  mehr  Bäuchen  (Mm.  digastrici^  polygastrici) 
beißen  Muskeln,  welche  zwischen  dem  fleischigen  Kopf  und  fleischigen  Schwanz  einen 
mittleren  aus  Sehne  besteluaiden  Abschnitt  In^sitzen.  Es  ist  dies  jene  seltene  Form, 
welche  in  dem  denkbar  schärfsten  Gegensatz  zu  der  idealen  Form  (Fig.  70)  steht. 

Andere  Muskeln  von  höchst  aufüllligem  Verhalti^n  sind  die  Hohlniuskeln. 
Der  hervorragendste  ITohlmuskel  ist  das  Herz,  dessen  Hohlraum  sich  lieHtändig 
wieder  mit  Blut  füllt,  sobald  er  durch  die  Zusammeiiziehung  seiner  muskulösen 
Wände  entleert  wiu^e.  Hier  treibt  die  Kontraktion  Flüssigkeit  aus  den  Herzkammern 
in  eine  Röhrenleitimg. 


aess 


286  Siebenter  Abeehnitt 

Eigenschaften  des  lebendigen  Muskels  nnd  einige  Arten 

seiner  Wirkung. 

Das  rote  Fleisch  eines  Muskels  ist  keine  einheitliche,  gleichmäfiige 
Masse,  sondern  besteht  aus  derben  und  feinen  Muskelbündeln,  die  schoD 
mit  freiem  Auge  sichtbar  sind,  und  zwar  nicht  bloß  an  dem  anatomi- 
schen Präparat,  sondern  selbst  durch  die  Haut  des  Lebenden  hindnrcL 
Freilich  sind  es  nur  die  gröberen  Muskelbündel,  welche  man  durch  die 
Haut  hindurch  sehen  kann,  aber  diese  sind  oft  auf  große  Strecken 
ihres  Verlaufes  unverkennl)ar.  Auf  der  Figur  71  zeigen  mehrere  Muskeln 
diese  Zusammensetzung  aus  Bündeln  von  vei^chiedener  Dicke.  Die 
Bündel  sind  so  umfangreich,  daß  es  sich  wolü  begreifen  läßt,  wie  sie 
das  Relief  der  Haut  zu  ändern  vermögen.  Sobald  sic-.h  z.  B.  der  große 
Brustmuskel  (Fig.  71  Nr.  l)  oder  der  Deltamuskel  (Fig.  71  Nr.  4)  kräftig 
zusammenziehen,  treten  durch  die  Haut  hindui'ch  die  Bündel  in  Form 
von  daumenbreiten  Strängen  hervor.  Diese  Stränge  enthalten  ahcr 
selbst  wiederum  eine  beträchtliche  Zahl  feiner  gerade  noch  mit  fireiem 
Auge  erkennbarer  Fasern,  die  Muskelfasern  (Fihrae  musculares)^  Von 
dem  gekochten  Fleische  unserer  Haustiere  her  kennt  wohl  Jeder 
diese  Fleischfasern,  die  noch  feiner  sind  als  ein  Frauenhaar.  Frisch 
und  mit  Hilfe  der  Mikroskope  untersucht,  besitzt  jede  eine  dünne, 
durchsichtige,  in  hohem  Grade  elastische  Hülle,  welche  den  Inhalt 
durchschimmern  läßt,  jene  merkwürdige  Substanz,  welche  im  lebendigen 
Zustande  die  Fähigkeit  })esitzt  sich  auf  Reize  zusammenzuziehen.  Bei 
den  Säugetieren  und  dem  Menschen  ist  dieses  lebendige  Eiweiß  (Muskel- 
plasma) leicht  gelb  getarbt.  Die  Masse  der  übereinanderliegenden 
Fasern  bedingt  dadurch  die  charakteristische  rote  Farbe  des  Fleisches. 
Die  Hülle  der  Muskelfaser  läuft  au  dem  oberen  und  unteren  Ende  in  ilie 
feinen  Sehncnladclien  aus,  welche  nun  nach  längerem  oder  kürzerem 
Verlauf  an  irgend  einem  Punkte  sich  festsetzen.  Jede  Muskelfaser  steht 
mit  dem  Rückenmark  und  dadurch  mit  dem  Gehirn  durch  einen  Nenen 
in  Verbindung  und  zwar  durchbohrt  der  Nervenfaden  die  elastische 
Hülle,  und  sein  Inhalt  vermischt  sicli  mit  demjenigen  der  Muskelfaser, 
(relangt  nun  duntli  den  Nervenfaden  ein  WiUensimpuls  zu  diesem  Or-  1 
gan,  so  zieht  sich  die  Muskelfaser  zusammen,  sie  verkürzt  sich. 
Werden  viele  Muskelfasern  gleichzeitig  von  einem  solch  feuchten  Blitz 
unseres  Willens  getroffen,  so  ziehen  sich  alle  zusammen,  der  ganze 
Muskel  verkürzt  sich.  Wie  auf  ein  Kommando  die  ReiluMi  eines  Ba- 
taillones  sich  schließen,  so  geschieht  mit  einem  Schlag  auf  der  ganzen 
Linie  gleichzeitig  die  Aktion  im  Lniern  dieser  lebendigen  Fäden.  Per 
Mechanismus  ist  so  vollendet,  daß  jeder  Muskel  tiir  sich,  oder  ganze 
Muskelgruppen  gleichzeitig,  oder  abwechselnd,  schnell  oder  langsam  in 


MoakeUehre.  237 

Erregung  versetzt  werden  können.  Und  je  nacfi  der  Stärke  des  blitz- 
ähnlichen Funkens  ist  die  Zusammenziehung  schwach  oder  schreitet  durch 
verschiedene  Grade  stufenweise  hinauf  bis  zur  Äußerung  der  höchsten 
Elraft,  deren  die  Faser  fähig  ist.  Dabei  ist  ferner  die  Einrichtung  getroflfen, 
daß  sofort  mit  dem  Aufhören  des  Willensimpulses  auch  die  Zusammen- 
ziehung aufhört.  Man  drückt  dies  mit  dem  Worte  ,, Erschlaffung"  aus, 
obwohl  diese  Bezeichnung  nicht  vollkommen  zutreffend  ist.  Denn  nie- 
mals kommt  in  gesunden  Tagen  der  Muskel  in  jenen  Zustand,  den  wii* 
im  gewöhnlichen  Leben  als  schlaff  bezeichnen.  Niemals  faltet  er  sich, 
oder  hängt  er  an  dem  Knochen  wie  ein  schlaffes  Se'gel.  Er  befindet  sich 
stets  in  einem  gewissen  Grade  natüi'licher  Spannung,  weil  die  Muskeln 
alle  etwas  über  ihre  normale  Länge  hinaus  gedehnt  sind. 

Aus  diesen  Erfahrungen,  welche  eine  weit  ausgi-eifende  Unter- 
suchung an  dem  lebendigen  Muskel  der  Tiere  festgestellt  hat,  lassen 
sich  viele  wertvolle  Schlüsse  ziehen,  von  denen  einige  für  die  plastische 
Anatomie,  von  Interesse  sind. 

Obenan  steht  der  Satz,  daß  nur  die  rote  Fleischmasse  die 
Kraft  erzeugt,  welche  die  Knochen  in  ihren  Gelenken  dreht 
oder,  wie  bei  den  mimischen  Muskeln,  bestimmte  Spannungszustände 
der  Haut  hervorbringt. 

Legt  man  die  eine  Hand  auf  den  Oberarm,  während  der  Vorder- 
arm sich  abwechselnd  beugt  und  streckt,  so  wird  bekanntlich  die 
Schwellung  und  Härte  ftihlbar,  welche  mit  der  Beugung  beginnt  und 
mit  dem  Aufhören  derselben  schwindet.  Schwellung  und  Härte  hängen 
ab  von  der  Zusammenziehung  der  Muskelbündel  (Contraction)\  sie 
bleibt  beschränkt  auf  jenen  Muskel,  der  von  unserem  Willen  in  Er- 
regung versetzt  wird,  und  geschieht  mit  einer  Kraft,  welche  von  der 
Zahl  der  sich  verkürzenden  Muskelfasern  abhängt.  Mittels  der  Sehnen 
wird  nun  diese  Summe  lebendiger  Kraft  auf  die  Knochen  übertragen 
und  äußert  sich  durch  eine  Verschiebung  in  dem  zwischen  Ursprung 
und  Ansatz  befindlichen  Gelenk.  Die  Figur  70  dient  zur  Versinn- 
lichung  dieses  Vorganges.  An  den  in  dem  Ellbogengelenk  beweglichen 
Knochen  ist  der  Muskel  Nr.  2  mit  seinen  Sehnen  so  angebracht,  daß 
er  seinen  Weg  über  die  verdickten  Gelenkenden  hinweg  zu  seinem 
Ansatz  bei  Nr.  3  nehmen  muß.  Verkürzt  sich  nun  das  fieischige 
Zwischenstück,  dann  müssen  die  Knochen  notwendig  ihre  Stellung 
ändern.  Nachdem  in  diesem  unserem  Beispiel  das  Gelenk  (Fig.  70 
Nr.  5)  ein  Winkelgelenk  ist  und  der  Muskel  auf  der  vorderen  Seite 
der  Gelenkachse  angreift,  so  wird  der  Vorderarm  in  der  Richtung  der 
punktierten  Linien  bei  3  sich  fortbewegen:  der  Arm  wird  also 
gebeugt. 


288  Siebenter  Abedmitt. 

Der  fleischige  Teil  des  Muskels  ist,  das  sei  nochmals  wiederbolt,  allem  d« 
Zusammenziebung  fiüiig,  kontraktil,  die  Sehne  ist  nur  eine  bequenae  Einriebtoiig, 
die  Zugkraft  des  Muskels  auf  die  Klnoeben  zu  übertragen.  Oft  fehlt  sie  denn  andi. 
und  der  Muskel  ist  dann  direkt  an  die  Beinbaut  und  an  den  Knochen  befestigt  Dk 
Sehnen  besitzen  also  keine  Kontraktilität,  und  ihr  eine  solche  Euzuschreiben,  ist  da 
pbTsiologischcr  Irrtum.  Sie  erschlaffen,  wenn  der  Muskelbauch  erschlafft,  sie  spsuKa 
sieb,  wenn  er  sich  zusammenzieht,  ihre  ganze  Aufgabe  in  der  überraschenden  Mw-hinik 
der  Bewegung  ist  ruhmlos,  und  der  Ausdruck  „ein  sehniger  Arm^'  phjsiologiKli 
betrachtet  keine  Schmeichelei.  Auch  der  Nerv  ist  nicht  der  'Erzeuger  der  Knft, 
also  ein  „nerviger  Arm"  eine  ebenso  bedenkliche  Phrase.  Der  Nerv  ist  nur  des 
Metalldraht  vergleichbar,  der  von  einem  bestimmten  Punkt  aus  den  zündenden 
Funken  an  die  Pulvermme  leitet,  bei  dessen  Ankunft  die  Explosion  erfolgt  Dienr 
Vergleich  ist  auch  zutreffend  für  das  Maß  der  Kraft,  mit  der  die  Zusammenziehnap 
oder  bei  unserem  Beispiel  in  der  Fig.  70  zu  bleiben,  die  Beugung  erfolgt  Wie 
dort  bei  der  Pulvermine  die  Wirkung  der  Explosion  abhängt  von  der  Menge  da 
entzündeten  Pulvers,  so  bei.  dem  Arm  die  Kraft  der  Beugung  von  der  Menge  iml 
der  Dicke  der  in  dem  Fleisch  enthaltenen  Fasern.  Auch  in  dem  Muskel  fiodel 
eine  Verbrennung  statt,  aber  —  sie  zehrt  ihn  nicht  auf.  Darin  liegt  das  Grebeinmii 
des  Organismus;  die  vorhandene  Kraft  kann  zwar  erschöpft  werden,  es  tritt  das  da, 
was  wir  Ermüdung  nennen,  allein  bald  ist  eine  neue  Kraftanstrengung  mögli^ 
wenn  nach  einer  auch  nur  kurzen  Ruhepause  sich  der  Muskel  wieder  erholt  hat 
Er  erhält  aus  dem  Strom  des  ihm  durch  die  Gefäße  zugefQbrten  Blutes  neue  belebeode 
Substanzen:  Sauerstoff  und  Eiweiß.  Es  ist  schwer,  sich  von  diesem  beständigeo 
Strom  der  Emährungsflüssigkcit  eine  genügende  Vorstellung  zu  machen,  und  nur 
wenige  sind  von  der  Notwendigkeit  desselben  überzeugt  Im  ganzen  wäre  es  nim 
gleichgültig,  ob  sich  die  Menschen  darum  bekümmerten,  wenn  nur  die  Muskeln  lo 
vollkommen  gebaut  wären,  daß  sie  unter  allen  Umständen  immer  auf  dem  höchsten 
Grad  ihrer  Leistimgsftlhigkeit  verblieben;  aber  dem  ist  leider  nicht  so.  Damit  du 
Fleisch  rot,  der  Muskel  kräftig  bleibe,  muß  er  nicht  allein  ernährt,  sondern  auch 
geübt,  d.  h.  zu  häufigen  Kontraktionen  gezwungen  werden.  Muskeln,  welche  gehörig 
gebraucht  werden,  behalten  nicht  nur  ihre  Stärke,  sondern  nehmen  auch  an  Umfiuig; 
und  Leistungsfähigkeit  zu  bei  den  Menschen  wie  bei  den  Tieren.  Das  Gewebe  hat 
dann  eine  intensiv  rote  Farbe  und  ist  fest.  An  einem  gelähmten  Arm  ist  der  Muskel 
degeneriert  und  hat  an  seiner  wichtigsten.  Substanz,  an  seinem  Gehalt  von  Eiwinß 
verloren.  —  Die  wiederholten  Zusammenziohungen  machen  den  Muskel  kräftig,  wwl 
der  Kreislauf  des  Blutes  während  der  Bewegung  gesteigert  und  der  Umschwunfr 
der  Säfte  reger  wird.  Wie  groß  dieser  Einfluß  auf  den  ganzen  Körper  sein  maß, 
läßt  sich  daraus  ermessen,  daß  die  Organe  für  die  Bewegimg,  das  Knochengerüst« 
und  die  Muskulatur  über  82%  der  Körpemiasse  betragen.  Bei  dieser  enormen 
Menge  von  Muskeln  und  Knochen  ist  es  (»iiilcuchtend ,  daß  Bewegung  fiär  die  Ge- 
sundheit des  Köq>er8  unerläßlich  ist.     Ohne  Bewegung  kein  gedeihliches  Ijcben. 

Mit  dem  Ausdnick  Beugung  und  Streckung  ist  die  Wirkung  oder 
Funktion  eines  Muskels  bezeichnet.  Allgemein  ausgedrückt  lautet 
der  Satz:  Jeder  Muskel  kann  nur  in  einer  seiner  Achse  ent- 
sprechenden. Richtung  Bewegung  erzeugen.  Ist  diese  aus- 
geführt, so  kann  sie  nur  durch  Kräfte,  welche  in  dem  entgegen- 
gesetzten Sinne  wirken,  wieder  aufgehoben  werden.  Sind  es 
Muskeln,  welche  das  Gelenk  in  die  Ausgangsstellung  zui'ückfuhren,  so 


MoakeUehre.  289 

heißen  diese  mit  einem  allgemeinen  Ausdruck  Gegenmuskeln  (An- 
tagonisten).  Jede  Drehungsachse  in  einem  Gelenk  besitzt  zwei 
Bich  gegenüberstehende  Muskeln  oder  Muskelgruppen.  Sie 
lösen  sich  in  ihrer  Thätigkeit  ab  und  bewirken  ein  regelmäßiges  Hin- 
und  Hergehen  des  Gelenkes,  sobald  sie  sich  abwechselnd  zusammen- 
ziehen. In  unserer  Fig.  70  ist  der  Gegenmuskel  des  Beugers  durch 
die  punktierte  Linie  bei  4  angedeutet;  die  Linie  beginnt  am  Oberarm- 
knochen  und  endigt  am  Vorderarmknochen,  und  zwar  an  der  vor- 
springenden Ecke  des  Ellbogens  bei  Nr.  5,  also  hinter  der  Gelenkachse. 
Am  lebendigen  Arm  existiert  ein  Muskel,  der  ganz  denselben  Verlauf 
hat,  wie  die  in  der  Fig.  70  angegebene  punktierte  Linie.  Verkürzt 
er  sich,  nachdem  der  vor  der  Gelenkachse  liegende  Beuger  sich  zu- 
sammengezogen hat,  so  erfolgt  die  Streckung. 

Wegen  der  leichteren  Übersicht  wurde  bisher  nur  von  einem 
einzigen  Muskel  vor  und  hinter  der  Gelenkachse  gesprochen.  Li  Wirk- 
lichkeit aber  existieren  stets  mehrere  verwandte  Muskeln,  die  in  engster 
räumlicher  Beziehung  zueinander  stehen  und  eine  Haüptwirkung  ge- 
meinschaftlich haben.  Zeichen  dieser  Verwandtschaft  ist  ein  im  wesent- 
lichen gleicher  Ursprung  und  Ansatz.  Meist  besitzen  sie  auch  eine 
schon  von  außen  wahrnehmbare  Abrundung  und  verraten  so  auf  den 
ersten  Blick  ihre  Zusammengehörigkeit.  Sie  werden  dann  auch  unter 
dem  Ausdruck  einer  Muskelgruppe  zusammengefaßt,  welche  als  Helfer 
(Synergisten)  bezeichnet  zu  werden  pflegt.  Aus  den  in  den  Gelenken 
möglichen  Bewegungsai*ten  rührt  folgende  Bezeichnung  solcher  Grup- 
pen her: 

Beuger  —  Flexores. 

Strecker  —   Extensores. 
Anzieher  —  Adductores. 
Abzieher  —  Abductores. 
Dreher  —  Rotatores. 

Aus  den  Ergebnissen  über  die  Konstruktion  der  Gelenke  und  der 
davon  abhängigen  Bewegungsformon  ergiebt  sich  femer  im  Zusammen- 
hang mit  den  Thatsachen  über  die  Wirkung  der  Muskeln  folgendes: 

1)  An  dem  Winkelgelenk  kommen  nur  Beuger  und  Strecker  vor. 

2)  An  dem  Kugelgelenk  kommen  vor:  die  Anzieher,  sie  liegen 
näher  der  Mittelebene  des  Körpers  (medial),  die  Abzieher,  sie  liegen 
entfernter  (lateral),  und  Roll mus kein  für  die  Drehbewegungen,  sie 
umgeben  das  Gelenk  von  verschiedenen  Seiten  her. 

3)  Ziehen  sich  alle  um  ein  Gelenk  befestigten  Muskeln  gleichzeitig 
und  gleich  stark  zusammen,  so  bleibt  das  Gelenk  in  der  Streckstelluug 
stehen.  So  wird  das  Bein  zu  einer  starren  Säule  und  der  Arm  zu 
einem  festen  Stab. 


] 


240  Siebenter  AbMhnitt 

Der  Einblick  in  die  Mechanik  des  Muskelsystems  wird  wesentUd 
gefördert  durch  die  Beachtung  der  Muskelgruppen,  welche  eine  Haupt- 
Wirkung  gemeinschaftlich  haben.  Zwei  Beispiele  dieser  Art  mögen 
hier  Platz  finden. 

An  erster  Stelle  sei  die  Gruppe  der  Unterschenkelstrecker  aii%e- 
flihrt,  die  sich  zunächst  hierftir  eignet,  w'eil  der  gemeinsame  Angriffs* 
punkt  an  dem  Gelenk  klar  lokalisiert  ist.  Nahezu  das  ganze  Fleisch 
des  Oberschenkels  besteht  von  vorne  und  von  der  äußeren  Seite  her 
aus  vier  Muskelbäuchen,  von  welchen  drei  am  Lebenden  durch  die 
Haut  hindurch  erkennbar  sind,  nämlich  der  gerade  Schenkelmuskel, 
der  äußere  Schenkelmuskel,  welcher  die  Hälfte  des  Oberschenkel- 
knochens umgreift,  und  der  innere  Schenkelmuskel  (Fig.  66).  Diese 
di*ei  mächtigen  Muskeln  (der  vierte  ist  nicht  sichtbar,  weil  er  unter 
den  ebengenannten  liegt)  ^  bilden  zusammen  eine  Muskelgruppe,  deren 
physiologische  —  lebendige  —  Thätigkeit  sich  auf  ein  und  denselben 
Punkt  vereinigt.  Aus  ihnen  kommt  eine  gemeinschaftliche  Sehne  her-  * 
vor,  welche  diä  Kniescheibe  von  vom  und  den  Seiten  umfaßt  und  sich 
dann  bis  zu  dem  Schienbeinstachel  fortsetzt  (Fig.  66  Nr.  i,  2  nnd  9).  Es 
ist  klar,  daß  diese  Muskelgruppe  die  Streckung  des  Unterschenkelä 
vollzieht,  und  daß  alle  ihre  einzelnen  Teile  Helfer  f&r  die  Ausföh- 
rung  dieser  einen  Wirkung  sind.  In  gleicher  Weise  sind  alle  Strecker 
des  Fußes  und  der  Zehen  an  der  vorderen  Seite  des  Unterschenkels 
als  Helfer  oder  Synergisten  aufzufassen. 

Als  zweites  Beispiel  für  die  Wirkungsart  der  Muskelgru])pen  mögen 
solche  Muskeln  dienen,  welche  durch  ihre  Lage  an  einem  Kugelgelenk, 
z.  B.  (Icui  Hüftgelenk,  eine  vielseitige  Bewegung  hervorbringen.  Jene 
Muskeln,  welche  die  äußere  Fläche  des  Hüftbeines  bedecken  (Fig.  74 
Nr.  3, 14,  15),  werden  durch  ihren  Ansatz  an  dem  großen  RoUhügel  zu 
Abziehern  des  Beines,  wie  bei  dem  Beinspreizen,  während  auf  der  ent- 
gegengesetzten Seite  (Fig.  74  N.  4—6)  die  Zugki-äfte  liegen,  welche  wirk- 
sam  werden,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Oberschenkel  sich  zu 
nähern.  Die  Synergie  ist  hier  wie  in  allen  Fällen  bedingt  durch  die 
gleiche  Lage  zu  der  Gelenkachse. 

Die  Ausdrücke:  Dreh-  oder  Rollinuskeln,  Beuger  und  Streckor,  bedürfen 
iijich  den  Erörterungen  in  der  Knochenlehre  keineT  1>eiK)nderen  Erklänuig,  nur  soviel  £in 
erwähnt,  daß  die  KoHung  des  Beines  im  Hüftgelenk  z.  B.  als  Kotation  nach  innen  be- 
zeichnet wird,  wenn  da(hirch  die  Fußsi)itz<;  sieh  gegen  die  Mittellinie,  also  cinwärtö 
wendet  Die  Antagonisten  sind  jene,  wc^lehe  die  Rollung  nach  auswärts  besorgen. 
Die  Gnippicrung  der  Muskeln  um  ein  G(}lenk  herum  kann,  ebenso  wie  ihn? 
Wirkuiigsart,  aus  der  Konfiguration  der  Gelenkcndeji  und  der  sie  zusainmcDhaltendcn 


*  Diew^  Gruppe  kann  auch  als  vollkommenes  Bi'isjnel  eines  vierköpi^jren  Muskels 
gelten:  \ierfacher  Ursprung  von  w^ätiibliegenden  Punkten,  und  dennoch  gemein- 
sanier  Ansatz. 


242  Siebenter  Absehnitt. 

Die  Wirkung  der  Muskeln  wurde  bisher  so  aufgefaßt,  als  ob  der  dem  Kopf 
nähere  Abschnitt  stets  fest  und  unbeweglich  fixiert  sei,  während  der  entferuloe  ilei 
beweglich  sei.  Diese  Wirkung  kann  jedoch  geradezu  in  das  Gregenteil  veikekn 
werden,  in  der  Weise,  daß  der  bisher  als  fix  angenommene  Ahiyhnitt  ^ 
Körpers  bewegt  wird,  und  umgekehrt,  der  sonst  bewegte  als  fixiert  in  seiner  Stdlmi 
verharrt.  Der  zweiköpfige  Armmuskel  (Bieeps  brackii)  beugt  den  Vofdezann  geget 
den  Oberarm.  Ist  aber  die  Hand  an  einem  Punkt  fixiert,  so  beugt  derselbe  Moikcl 
umgekehrt  den  Oberarm  gegen  den  Vorderarm ,  und  zieht  in  Verbindung  mit  der 
Schultermuskulatur  den  ganzen  Bumpf  an  die  Hand  heran. 

Trotz  der  eben  erwähnten  auffallenden  Umkehr  des  früheren  festen  Ponkta 
in  den  beweglichen  (des  Punctum  fixum  in  das  Punctum  mobile)  erscheint  dud 
bisher  in  unseren  Beispielen  jeder  Muskel  nur  mit  einer  einzigen  Wirkung  tw- 
gestattet.  Allein  manche  besitzen  neben  ihrer  eigentlichen  oder  Haupt  Wirkung 
eine  oft  sehr  deutlich  ausgesprochene  Nebenwirkung.  Der  Bieeps  hraekii  kam 
wegen  der  eigentümlichen  Konstruktion  des  Ellbogengelenkes  nicht  bloß  den  Vorda- 
arm  beugen,  sondern  auch  die  Hand  auswärts  drehen  (supinieren),  er  besitst  ako 
eine  zweifache  Art  der  Wirkung.  Es  ist  nicht  notwendig,  daß  stets  beide  gleiduettig 
zur  Verwendung  kommen.  Ist  die  eine  Art  der  Wirkung  durch  andere  Kräfte  g^ 
hemmt,  der  Arm  z.  B.  durch  die  Strecker  gesteift,  dann  dreht  sich  lediglich  die  Haod 
nach  außen.  Ist  dagegen  die  Supination  der  Hand  gehemmt,  so  kommt  umgekehrt 
die  andere  Wirkung,  die  Beugung  des  Vorderarmes  zur  GreltUng. 


Der  winkelige  Yerlanf  der  Muskeln. 

Nicht  alle  Muskeln  erreichen  ihren  Ansatzpunkt  auf  dem  kürzesten 
Weg,  wie  man  aus  den  bisherigen  Mitteilungen  wohl  vermuten  kömite. 
Manche  sind  zu  sehr  auffallenden  Umwegen  gezwungen,  und  eine  Kennt- 
nis der  hervorragendsten  Beispiele  ist  nicht  allein  ftlr  das  VerständiUB 
der  Mechanik  unseres  Körpers,  sondern  auch  für  das  der  Formen 
wünschenswert. 

Wenn  Muskeln  oder  Sehnen  die  Richtung  ändern,  so  entziehen 
sie  sich  meist  plötzlich  unserm  Blick,  um  an  einer  anderen  ganz  nn- 
erwarteten  Stelle  zum  Vorschein  zu  kommen.  Es  ist  ferner  einleuch- 
tend, daß  eine  Eicht uugsänderung  von  der  geraden  und  kürzesten 
Linie  bestimmte  Vorrichtungen  erheischt,  damit  die  Muskeln  oder  ihre 
Sehnen  die  angewiesene  Bahn  nicht  verlassen  können,  und  dennoch 
beweglich  seien.  Der  Organismus  nimmt  in  solchen  Fällen  Bänder 
oder  vorspringende  Knochenteile  zu  Hilfe,  und  formt  Röhren,  welche 
zwar  eine  Verschiebung  in  der  Richtung  des  Zuges  gestatten,  dagegen 
jede  andere  Ortsveränderung  beschi-änken. 

Werden  Sehnen  durch  feste  Bandstreifen  in  einem  Hohlwinkel 
zurückgehalten,  so  heißt  diese  Anordnung  „Bandrolle".  Eine  solche 
findet  sich  u.  a.  an  den  Muskeln,  welche  von  der  vorderen  Seite  des 
Unterschenkels  zu  dem  Fußrticken  und  den  Zehen  hingehen.  Die 
Muskelbinde  des  Unterschenkels  ist  an  dieser  Stelle  aus  starken  Fasern 


24S 

-weht,  welche  zwischen  den  beiden  Knöcheln  und   den  angrenzenden 

ißwürzelknwhen  kreuzweise  sich  durchflechten.  In  der  Fig.  75  Nr.  5 
bd  nur  jene  festen  Bandstreifen  dargestellt,  welche  in  der  Anatomie 

I  Kreiizhand  den  FuBrückena  bezeichnet  werden.  Die  Sehnen, 
uche  über  das  Sprunggelenk  laufen,  würden  sich  bei  jeder  Spannung 

I  ihm  emporheben,  dadurch  würde  nicht  allein  die  Kraft  der  Muskeln 


-1   Z«l,enl....gpr. 

!    Sohifübeiii. 

'3   V.Bphi»..bm. 

i  — S  KrentlMinJ. 

-t   Kiiii<li»l. 

1  Sehii.J.il(ihi(^ii- 

FnBrüükcii. 

"zum  größten  Teil  anverwendbar,  auch  die  guu^e  Form  des  Fußes 
würde  plump.  So  mUssen  denn,  aUH  mechanischen  tiründeii,  starke 
kreuzweise  durchflnebtene  Bandstreifen  die  Sehnen  auf  dem  FußgerUsle 
festhalten.  Dabtii  ergiebt  eine  genauere  Betrachtung,  daß  drei  an  der 
iiiteren  Fl^ichc  des  Kreuzbandes  entspringende  ScheidowiUide  sich 
wischen  die  Sehnen  des  vorderen  Schienbeinniuskels  (Fig.  75  Nr.  3),  des 
Broßzebenstreckers  (Fig.  75  Nr.  a]  und  des  langen  Zehenstreckers  (Fig.  75 
Wii)    einschieben,    und    gesumlerte    FiU'hcr    bilden    (Huhlcyliiider),    in 


244  Siebenter  AbBohnitt 

welchen  die  Sehnen  geräuschlos  auf-  und  niedergleiten.  Würde  dnicli 
eine  plötzliche  forcierte  Aktion  ein  Fach  zersprengt,  so  schnellte  die 
Sehne  aus  ihrer  Lage  und  wäre  bleihend  veirenkt. 

Alle  Fächer  sind  mit  einer  schleiinabsondcmdcn  Membran  geglättet,  mi^ 
durch  ihr  selih'ipfrigefl  Sekret  die  Reibung  der  Sehne  vermindert  Die  unter  den 
Namen  der  Ül^erbeine  bekannten  Geschwülste  an  dem  Hand-  oder  Fußrückcn  äti 
sehr  oft  abge^'hnürte  Aussackungen  dieser  Sehne-iischeiden,  welche  prall  mit  SehLü 
gefüllt  sind.  -  -  Für  die  Sehne  de«  St'hienbeinnniskels  existiert  eine  etwas  freiere  ß^ 
wegung,  doshalb  sieht  man  sie  bei  bestimmten  Stellungen  (Dorsalflexion)  tnd 
des  Kreuzbande«  durch  die  Haut  hindurch  zu  dem  inneren  Fiißrand  ziehen.  Dk 
Hündel  der  Sehnen  des  langen  Zehenstreckers  wird  bei  derselben  Stellung  eben&Ik 
etwas  deutlich.  Mau  sieht  es  von  dem  Fußrücken  sich  abheben,  und  dadurch  dn 
Spann  auf  »ein<>r  höchsten  Stcille  etwiu?  kantig  machen.  Über  und  unter  dem  Rmt- 
band  luiren  die  (]uerziehenden  Fiisermassen  der  Fascie  allmiihlicli  auf  und  erUabn 
die  Einsicht  selbst  in  die  feinsten  Form(^ndetails  vorzugsweise  an   magerte  Föfin. 

Bandrollen  bestehen  noch  an  anderen  Stellen  des  Körpers,  z.  B.  an 
dem  Handgelenk,  bei  dem  abwechselnd  das  Rückenbaud,  oder  das- 
jenige der  Hohlhand  als  „Bandrolle*'  verwendet  wird.  Dabei  ist  dss 
Verhalten  der  Sehnen,  namentlich  an  dem  Handrücken,  genau  das- 
selbe, wie  das  eben  von  dem  Spann  geschilderte.  Die  Sehnen  sind 
an  dem  Vorderarm  bei  einer  bestimmten  Stellung  der  Hand  auf  groBe 
Strecken  sichtbar,  verschwinden  aber  dann  unter  der  BaudroUe,  nm 
jenseits  derselben,  auf  dem  Handiücken,  wieder  zum  Vorschein  zn 
kommen. 

Schlägt  sich  ein  Muskel  oder  eine  Sehne  um  eine  vorspringende 
Knochenecke  herum,  so  wird  diese  Stelle  im  Hinblick  auf  die  Ablenkung 
für  einen  winkeligen  Verlauf  als  Knochenrolle  bezeichnet.  In  sol- 
chen Knochenrollen  werden  die  Sehnen  durch  rinnenfönnige  Vertie- 
fungen und  oft  durch  überbrückende  Bandstreifen  festgehalten,  wenn 
nicht  andere  Fixierungsmittel  gegeben  sind.  —  An  dem  hinteren  um- 
fang der  Fußknöchel  ist  die  Knochenrolle  verwendet,  um  die  Sehnen 
aus  der  senkrechten  Lage  an  dem  Unterschenkel  auf  die  horizontale 
Fläche  der  Fußsohle  überzuführen.  Die  Sehnen  des  hinteren  Schien- 
beinmuskels und  des  Zehenbeugers  werden  um  die  hintere  Seite  des 
inneren  Knöchels  (Fig.  75  Nr.  7)  herumgeführt  und  erscheinen  nach 
einer  starken  Knickung  am  inneren  Fußrand  wieder,  um  unter  dem 
Abzieher  der  großen  Zehe  (Fig.  75  Nr.  9)  an  ihren  Anheftungspunkt  zn 
gelangen.  Wieder  sind  es  starke  Bandstreifen,  welche  das  Abgleiten 
von  der  nur  seicht  eingeschnittenen  Rinne  an  dem  Knöchel  verhüten. 
An  dem  seitlichen  Fußrand  vermag  jeder  an  seinem  eigenen  Fuß 
die  Vollendung  der  Knochenrolle  während  der  Bewegung  zu  beobachten. 
Die  beiden  Wadenbeinmuskelu  kommen  nämlich,  das  Wadenbein  be- 
deckend, vom  Unterschenkel  herab,  und  wenden  sich  (14  cm  vom  unteren 


MoBkeUehre.  245 

Band  des  Knöchels  entfernt)  nach  der  Hinterseite  des  Knöchels. 
Die  Sehnen  verschwinden  in  der  Knochenrinne,  um  nach  einem 
scharfen  Winkel  an  dem  seitlichen  Fußrand  wieder  unter  der  Haut 
als  ein  derber  Strang  sichtbar  zu  werden,  der  namentlich  bei  der 
Streckung  des  Fußes  deutlich  zum  Vorschein  kommt.  Um  das  Aus- 
schlüpfen der  beiden  Sehnen  aus  der  Furche  des  seitlichen  Knöchels 
zu  verhüten,  verdickt  sich  hier  die  Sehnenbinde  des  Unterschenkels 
zu  einem  starken  Haltbande,  dem  Schleuderband  (Retinaculum)^  wel- 
ches sich  vom  äußeren  Knöchel  zur  äußeren  Fläche  des  Fersenbeins 
herabspannt. 

Zwischen  den  beiden  geschilderten  Formen  der  Knochen-  und 
Bandrolle  giebt  es  viele  Abstufungen,  die  sich  von  selbst  erklären. 
So  ist  die  RutschHäche  l\ir  die  Kniescheibe  in  Hinsicht  auf  die  Wir- 
kung des  Unterschenkelstreckers  eine  Knochenrolle,  w^elche  bei  ge- 
beugtem Bein  unverkennbar  ist.  Die  Kniescheibe  selbst  erscheint  von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  trotz  ihrer  Gclenkfläche  nur  als  linsen- 
förmige Sehnenverdickung,  welche  das  Hin-  und  Hergleiten  mit  dem 
geringsten  Grad  von  Reibung  erleichtert.  Sie  gehört  in  die  Reihe  der 
sog.  Sesambeine,  wie  solche  noch  an  anderen  Gelenken,  wenn  auch 
unendlich  kleiner,  vorkommen.  In  ganz  diesell)e  Reihe  gehören  die 
Vorrichtungen  an  der  Untertläche  der  Finger  und  Zehen.  Man  nennt 
sie  zwar  dort  Sehnenscheiden  (Faginue  tendinum),  aber  ihre  me- 
chanische Bedeutung  auch  als  Knochen  und  Bandrollen  ist  unverkennbar. 

Die  Knochen  als  HebeL 

Die  Mittel  für  die  kraftvollen  und  schnellen  Leistungen  unseres 
Körpers  liegen  abgesehen  von  den  bisher  erwähnten  Eigenschaften 
auch  darin,  daß  die  Knochen  Hebel  sind,  deren  bewegende  Kraft  in 
dem  Muskel,  und  deren  Last  in  den  Knochen  liegt.  In  der  Figur  70 
stellt  der  Muskelbauch  Nr.  2  die  bewegende  Kraft  dar,  die  Elle  ist  in 
diesem  Falle  der  Hel)el  und  das  Ellbogengelenk,  Fig.  70  Nr.  5  der 
Dreh-  oder  Stützpunkt.  Die  zu  bewegende  Last  hängt  an  dem  Vor- 
derarm. Die  Mehrzahl  dieser  Hebel  ist  einarmig,  d.  li.  der  Muskel 
zieht  auf  derselben  Seite,  auf  der  sich  die  Last  befindet.  Meist  liegt 
der  Angriffspunkt  dem  Gelenk  sehr  nahe,  wie  in  unserem  Beisi)iel  der 
Fig.  70,  wodurch  für  das  Heben  schwerer  Lasten  freilich  ein  bedeuten- 
derer Kraftaufwand  nötig  wird  als  im  umgekehrten  Falle,  al)er  die  Be- 
wegung geschieht  dafür  mit  um  so  größerer  Geschwindigkeit  und  die 
Knochen  werden  in  Wurfhebel  oder  Geschwindigkeitshebel  ver- 
wandelt. Um  ein  Beispiel  zu  geben,  erinnere  man  sich  an  die  Ge- 
walt der  verhältnismäßig  kleinen  Kaumuskeln.   Kirschkerne  und  Hasel- 


246  Siebenter  AbMfanitt. 

nüsse  aufzubeißen  erfordert  ein  Gewicht  von  50 — 80  Kilo  und  um 
einen  Pfirsichkem  zu  zerdrücken,  ist  der  Druck  von  400 — 600  Kilo 
erforderlich.  Die  Gesetze  des  einarmigen  Hebels  finden  gerade  aaf 
den  Wurfhebel  des  Unterkiefers  ebenfalls  ihre  Anwendung.  Je  naher 
die  Last  dem  Angriffspunkte  der  bewegenden  Kraft  rückt,  mit  deito 
geringerem  Kraftaufwand  wird  sie  überwunden.  Darum  beiBt  nun 
einen  Apfel  mit  den  Schneidezähnen  an  und  knackt  eine  Nuß  mit  den 
Mahlzähnen  auf. 

Bei  diesen  Wirkungen  sind  Knochenvorsprünge,  FortsätM, 
Dornen  und  Stacheln  eine  wertvolle  Zugabe,  um  die  Schnelligkeit  der 
Bewegung  zu  erhöhen,  worauf  schon  in  der  Einleitung  zu  der  Knochen- 
lehre hingewiesen  wurde.  Denn  je  entfernter  die  Ansatzstelle  des 
Muskels  von  dem  Gelenke,  dem  Mittelpunkte  der  Bewegung,  desto 
kräftiger  wirkt  der  Muskel. 

In  demselben  Sinne  sind   die   Verdickungen   der  Knochen  an 
den  Gelenken  aufzufassen.    Diese  Auftreibungen  sind  für  die  KrafU 
entfaltung  von  wesentlichem  Vorteil.    Der  Muskel  Nr.  2  in  Fig.  70  setzt 
sich,  wie  so  viele  andere,  untei:  ganz  spitzem  Winkel  an  den  Knochen 
bei  Nr.  3  an.    Die  ideale  Gelenkachse,  welche  durch  einen  hellen  Ponkt 
in  der  Rolle  des  Oberarmknochens  angedeutet  ist,  hat  vor  nnd  hinter 
sich  eine  beträchtliche  Aufbreibung,  deren  Ausdehnung  die  punktierte 
Linie  bei  Nr.  5  abschätzen  läßt.     Der  Armbeuger  Fig  70  Nr.  2,  weldier 
über  dieses  verdickte  Gelenkende  hinwegläuft,  findet  dort  einen  wenn 
auch  nicht  sehr  beträchtlichen,   doch  immerhin  wertvollen  Stfltzpunkt 
Die  Dicke  der  Gelenkverbindungen  korrigiert  demnach  wenigstens  etwas 
die   ungünstige   Zuglinie  bei  vollständig   gestreckter  Stellung.     Diese 
kleine  Erhöhung   ist   schon   imstande,    den   Knochen   und    damit  die 
zu  bewegende  Last  aus  der  gestreckten  Lage  etwas  in  die  Beugung 
überzufuhren.     Unter  solchen  Umständen  ist  es  klar,  daß  alle  Kno- 
chenvorsprtinge,  gerade  wie  Knochen-  und  Bandrollen  die  Kraft  eines 
Muskels  auch  steigern,  wenn  er  über  zwei  oder  mehrere  Gelenke  hin- 
wegzieht. Nicht  bloß  für  die  eingelenkigen  Muskeln  wie  in  Figur  70 
gilt  das  eben  Gesagte,  sondern  auch  für  die  mehrgelenkigen  Mus- 
keln, d.  h.  für  jene,   die  ihr  Verlauf  über  mehrere  Gelenke  hinweg- 
fuhrt.    Die  Finger-   und  Zehenbeuger  sind  ganz  hervorragende  Bei- 
spiele dieser  Art.     Um  zu  dem  Nagelglied  zu  gelangen,  ziehen  sie  alle 
oft  an  vier  und  mehr  Knochenverbindungen  vorbei,  und  überall  helfen 
bei  der  Bewegung  die  verdickten  Gelenkendeu  als  Knochenrollen  mit 

Zum  Schlüsse  gebe  ich  einige  Regeln,  welche  die  Physiologie  bei 
der  Forschung  über  dn^  Wesen  des  Muskels  entdeckt  hat.  Sie  sind 
so  einfach,  daß  sie  keiner  weiteren  Erklärung  bedürfen. 


MtukeUehre.  247 

Ein  Muskel,  welcher  zwißimal  so  dick  ist  als  ein  anderer,  wird 
zweimal  mehr  leisten  können.  Ein  langer  Muskel  wird  nicht  kräftiger 
sein  als  ein  kurzer  von  gleicher  Breite  und  Dicke. 

Ein  Muskel  mit  längsparalleler  Faserung  kann  sich  im  Maximum 
um  Ye  seiner  Länge. zusammenziehen. 

Besteht  ein  Muskel  aus  zwei,  drei,  vier  Portionen,  welche  einen 
gemeinschaftlichen  Ansatzpunkt  haben,  so  wird  die  Wirkung  eine  sehr 
verschiedene  sein,  wenn  alle  Portionen  in  Thätigkeit  geraten,  oder  nur 

eine  einzige. 

••  • 

Die  angestrengte  Thätigkeit  eines  Muskels  zur  Überwindung  eines 

großen  Widerstandes  ruft  häufig  eine  ganze  Reihe  von  Zusammen- 
ziehungen anderer  Miiskeln  hervor,  welche  darauf  gerichtet  sind,  dem 
erstbewegten  einen  hinlänglich  sicheren  Ursprungspunkt  zu  gewähren. 
Man  nennt  diese  Bewegungen  koordiniert.  Es  ist  am  nackten 
Menschen  leicht  zu  beobachten,  wie  alle  Muskeln,  welche  am  Schulter- 
blatte sich  festsetzen,  eine  kraftvolle  Zusammenziehung  ausführen,  um 
das  Schulterblatt  an  den  Rumpf  zu  fixieren,  sobald  der  Biceps  des 
Oberarmes  sich  anschickt,  ein  großes  Gewicht  durch  Beugen  des  Vorder- 
armes aufzuheben.  Würden  die  Schultermuskeln  in  diesem  Falle  un- 
tbätig  bleiben,  so  würde  der  Biceps  das  nicht  fixierte  Schulterblatt, 
an  welchem  er  entspringt,  viel  eher  herab  bewegen,  als  das  schwer 
zu  hebende  Gewicht  hinauf.  Um  aber  den  Schultermuskeln  selbst 
feste  Haltpunkte  zu  geben,  erfolgt  zuerst  eine  tiefe  Einatmung,  weil 
die  gefüllte  Lunge  einen  Gegendruck  ausübt  auf  den  Brustkorb,  von 
welchem  diese  starken  Muskeln  ihrerseits  entspringen. 

Die  Fasele. 

Fascien  oder  Muskelbinden  heißen  dünne,  hautähnliche  Aus- 
breitungen, welche  das  ganze  Muskelsystem  einhüllen.  Die  Fascien 
sind  aus  glänzenden  Fasern  und  Bündeln  desselben  Materiales  gewebt, 
das  die  Sehnen  und  Aponeurosen  herstellt.  Die  Formen  der  darunter- 
liegenden Muskeln  sind  durch  diese  Binden  hindurch  mit  großer 
Schärfe  erkennbar.  Das  Interesse  der'  plastischen  Anatomie  beschränkt 
sich  dabei  vorzugsweise  auf  die  Muskelbinden  an  den  Gliedern,  weil 
sie  dort  bestimmte  Formen  bedingen. 

Die  Fascien  werden  nach  dem  Ort  ihres  Vorkommens  benannt. 
Man  unterscheidet:  Fascien  des  Halses,  der  Brust,  des  Bauches 
und  des  Rückens;  dann  Fascien  des  Armes  und  Fascien  des 
Beines.  Die  Fascien  der  Gliedmaßen  gliedern  sich  endlich  in  solche 
des  Oberarmes,  des  Vorderarmes  und  der  Hand.  In  ähnlicher 
Weise  wird  die  Fascie  der  unteren  Gliedmaßen  in  diejenige  des  Ober- 


248  Siebenter  Absehnitt. 

schenkeis,  des  Unterschenkels  und  des  Fußes  abgeteilt.  Es  giebt 
endlich  hoch-  und  tiefliegende  Fascien.  Als  lehrreiches  Beispiel  sei 
hier  zunächst  die  Fascie  des  Armes  beschrieben. 

Wird  an   einem  Arm  die  Haut  samt  der  Fettschicht  vorsichtig 
entfernt,  so  kommt  nicht  unmittelbar  das  rote  Fleisch  oder  die  glän- 
zende Sehne  zum  Vorschein,   sondern  eine  durchsichtige,  an  einigen 
Stellen  1  mm  dicke  Schichte,  welche  den  darunterliegenden  Organen 
fest  anliegt  und  die  Fascie  oder  Muskelbinde  genannt  wird.    Min 
könnte  sie   mit  einem  enganliegenden  Trikot  vergleichen,   und  würde 
manche  Eigenschaften  wieder  finden,  welche  sie  mit  ihm  gemein  hat 
vor  allem  den  außerordentlichen  Grad  von  Schmiegsamkeit,  um  den 
Ausdruck  Elastizität  absichtlich  zu  vermeiden.     Wie  der  Trikot  sich 
den  an-  und  abschwellenden  Formen  des  Körpers  anschließt,  ohne  doch 
Falten  zu  werfen,  so  auch  diese  Fascie.     Ist  der  Arm   gestreckt,  so 
ist  sie  eine  enganliegende  glatte  Hiüle  für  den  Biceps,  und  dennodi 
folgt  sie  der  Anschwellung  dieses  Muskels,  mag  er  sich  auch  -auf  die 
doppelte  Höhe  erheben,  und  sie  thut  es,  ohne  den  leisesten  Widerstand 
zu  verursachen. 

Eine  weitere  IJbereinstimmung  liegt  femer  darin,  daß  beide,  der 
enganliegende  Trikot,  ebenso  wie  die  Muskelbinde,  nach  irgend  einem 
Schnitt  oder  Riß  sofort  klaffen.  Der  Druck  der  Unterlage  trägt  daran 
die  Schuld.  Bei  dem  Menschen  sind  die  Muskeln  so  fest  von  der 
Fascie  umschnürt,  daß  sogar  das  Fleisch  aus  dem  Spalt  hervorquillt 
Allein  mit  der  Schmiegsamkeit  und  einem  gewissen  Druck  auf  die 
darunterliegenden  Gebilde  hört  die  Übereinstimmung  auf,  und  in  allen 
folgenden  Eigenschaften  ist  die  Fascie  völlig  verschieden:  sie  hängt 
einerseits  mit  der  Haut  durch  zahlreiche  verbindende,  dickere  und 
dünnere  Bündel,  durch  Blutgefäße  und  Nerven  zusammen,  und  anderer- 
seits mit  den  Muskeln,  Sehnen  und  Knochen.  Dieser  letztere  drei- 
fache Zusammenhang  zeigt  folgende  Verhältnisse: 

a.   Der  Zusammenhang  der  Fascie  mit  den  Muskeln 

besteht  in  kleinen  Verbindungen  mit  dem  die  Muskeln  umhüUenden 
lockeren  Bindegewebe,  und  in  dem  direkten  Übergang  von  Muskel- 
sehnen, sei  es,  daß  Muskelfasern  von  der  Fascie  entspringen  oder 
in  ihr  endigen.  In  dem  letzteren  Fall  kann  die  Fascie  als  eine 
direkte  Fortsetzung  der  Sehnen  augesehen  werden,  ja  sie  ist  oft  sogar 
geradezu  ein  Produkt  derselben.  Der  Übergang  einer  Sehne  oder 
eines  Teiles  in  die  benachbarte  Fascie  ist  dabei  keineswegs  zufallig, 
ebenso  wenig  als  der  Ursprung  von  Muskelfasern  in  ihr.  Solche  tief- 
greifende Verbindungen  treten  nur  an  ganz  bestimmten  Stellen  au£ 


Ss   ist   einleuclitend ,   daß  gerade   dort  Spannmigen  eintreten  mllsseu, 
velche  fUr  die  Formen  nicht  gleichgültig  sein  können.     Ein  paar  Bei- 


WölbDDg  durch  d.    f- 
Oberannkopr 


Deltarnnskeleeke. 


L.  Suplnatoi. 
'S  L.  SpelFhenitr.  d.  H 


t  K.Spdoheiurtr.d.H. 
1  Tlngenttteker. 

Tiefe  Dau  mea  musk. 
Handw  unelbuid. 


Fig.  7«.     FuBcic^dcB  Armes. 

Spiele  von  dem   Ansatz  von  Muskeln  in  Fascien  mögen  hier  er- 
wähnt werden. 


250  Siebenter  Abschnitt. 

An  der  Beugeseite  des  Vorderarmes  existiert  ein  langer  MnskeL 
der  als  Spanner  der  Hohlhandfascie  wirkt,  welche  den  Handteller  über- 
zieht.   Man  braucht  bei  gerade  gestreckter  Hand  nur  die  Stelle  ober- 
halb  des   Handgelenkes  zu   betrachten,  um  eine  strangförmige  Sehne 
hervortreten  zu  sehen,  welche  auf  die  dreieckige  Vertiefung  zwischen 
Daumen  und  Kleinfingerballen  zustrebt.    Die  Sehne  ist  die  Fortsetzung 
eines  spindelförmigen  Muskels,  der  hoch  oben  an  dem  inneren  Gelenk- 
knorren  des  Oberarmes  entspringt.    Während  alle  Sehnen  der  Beuge- 
seite   des  Vorderarmes   sich   an   die   Knochen   des   Handgelenkes  be- 
festigen  oder  unter   dem   queren   Handwurzelband    hindurch   zu  den 
Fingern  ziehen,  strahlt  die  Sehne  des  Hohlhandmuskels   in   die  breite 
Platte  der  Hohlhandfascie  (Fascia  palmaris)  aus.     Durch  den  Zng 
des  Hohlhandmuskels  wird  ihre  Spannung  vermehrt  und  dadurch  die 
Zirkulation  im  Innern  der  Hand  vor  Stauungen  bei  Druck  geschätzt 
Die  hohe  Lage  der  Sehne,  die  im  gespannten  Zustande  sich  mit  den 
Fingern   fassen  läßt,  ist  bedingt  durch  die  oberflächliche  Lage  ihres 
Ansatzes,  und  dies  erklärt,  warum  gerade  sie  schon  bei  der  einÜBU^en 
Streckung  der  Hand,   und  von  da  an  bei  allen  Übergängen   zu  der 
Beugung  in  so  auffallender  Weise  hervortritt.  —  In  diesem  Beispiel  von 
dem  Zusammenhang  zwischen  Muskel  und  Fascie  spielt  eine  lange  Sehne 
die  Vermittlerin.     In  anderen  Fällen  geht  aber  das  Fleisch  direkt 
in  die  Fascie  über,  und  diese  gehört  so  auf  eine  weite  Strecke  hin  in 
den  Bereich  des  Muskels  und  vertritt  dessen  Sehne.     An   dem  Ober- 
schenkel existiert  ein  leicht  sichtbarer  und  charakteristischer  Muskel, 
der   diese   Art   der   Endigung   aufweist.     Von   dem   vorderen   oberen 
Darmbeinstachel  entspringend,  wendet  er  sich  nach  der  Seite  (Fig.  71 
Nr.  23),  während  ihm  gegenüber  von  demselben  Enochenpunkt  aus  ein 
anderer  nach  innen  abgeht  (der  Schneidermuskel  Fig.  71  Nr.  22).    In 
dem  Winkel,  der  durch  diese  divergierenden  Richtungen  entsteht,  wird 
der  lange  Kopf  des  Unterschenkelstreckers  sichtbar.    Während  nun  die 
letzterwähnten  Muskeln  echte  Skelettmuskeln  darstellen,  die  von  Knochen 
entspringen  und  sich,  über  Gelenke  hinwegschreitend,  wieder  an  Knochen 
befestigen,  endigt  der  kräftige  Muskel  Fig.  71  Nr.  23  in  der  Fascie  des 
Oberschenkels.     Er  erhielt  deshalb  auch  den  Namen:    Spanner  der 
Schenkelbinde  (Tensor  fasciae). 

Die  Fonnenverändenmg,  welche  dieser  Muskel  durch  seine  Kontraktion  hervor- 
bringt, erstreckt  sich  nicht  nur  auf  seinen  eigenen  Muskelbauch,  sondern  noch  weiter, 
denn  abge^hen  von  der  Anschwellung  seines  Bauches  (bei  Fig.  71  Nr.  23)  spannt  sich 
vorzugsweise  durch  ihn  ein  langer  Streifen  der  Muskelbinde,  der  in  manchen  Fftllen 
in  die  äußere  Fläche  des  Vasttts  extemtis  einschneidet,  immer  jedoch  bei  dem 
gestreckten  Bein  als  ein  derber  fingerbreiter  Strang  unter  der  Haut  an  dem  seitlichen 
Umfang  des  Kniegelenkes  bemerkbar  wird;  dieser  Strang  erreicht  das  Schienbein. 
Inder  systematischen  Anatomie  heißt  dieser  Strang:  Hüft-Schienbeinband  (Lig. 


MoiA^eUehre.  251 

Ueotibiale).  Sein  Verlauf  täuscht  bei  forcierter  Streckung  des  Beines  einen  Ansatz  des 
ftnBeren  Schenkelmuskels  am  seitlichen  Knorren  des  SchicnbeinoK  vor.  Bei  plastischen 
Darstellungen  läßt  sich  deutlich  nachweisen,  daß  er  schon  oft  auch  dafiir  gehalten 
wurde  (Borghcsischer  Pechtor).  AbcT  eine  solche  Verwecliselung  ist  nur  dann 
ein  anatomischer  Fehler  an  dem  Kunstwerk,  wenn  die  Stärke  dieses  Bandes  über- 
trieben wird. 

Bei  anderen  Muskeln  geht  die  Sehne  nur  teilweise  in  die  Fascie 
über,  und  dieser  Teil  ist  je  nach  der  Größe  des  Muskels  verschieden. 
Der  große  Gesäßmuskel  inseriert  sich  mit  einem  ansehnlichen  Teil 
seiner  unteren  Bündel  in  die  Fascie  (Fig.  74  Nr.  15),  so  daß  streng  ge- 
nommen die  Muskelbinde  der  äußeren  Schenkelfläche  als  eine  direkte 
Fortsetzung  dieser  gewaltigen  Bewegungsmasse  zu  betrachten  ist.  Wenn 
das  Bein  abgezogen,  ,,gespreizt"  wird,  so  wird  es  zu  einem  nicht  ge- 
ringen Teil  durch  den  Zug  an  der  Fascie  seitwärts  gezogen.  An  dem 
Arm  giebt  der  Biceps  ein  breites  aber  dünnes  Sehnenblatt  in  die 
Fascie  des  Vorderarmes  ab,  das  über  die  Ellbogengrube  hinweg  gegen 
die  hintere  Kante  der  Elle  bis  gegen  die  Mitte  herab  mit  hell- 
glänzenden Streifen  zu  verfolgen  ist  und  als  sehniger  Muskel- 
abschnitt (Lacertus  fibrosus)  bekannt  ist. 

b.    Die  Fascie  eine  Ursprungsstätte  von  Muskelbündeln. 

Die  Fascie  ist  oft  eine  Ursprungsstätte  von  Muskeln.  Der 
mittlere  Gesäßmuskel  entspringt  von  dem  Hüftbein  und  gleichzeitig 
von  der  starken  Fascie,  die  ihn  bedeckt.  In  diesen  und  ähnlichen 
Fällen  ist  die  Fascie  ein  Teil  des  Muskels  selbst,  dessen  Fleischfasem 
iü  Sehnen  verwandelt  sind.  Diese  Erkenntnis  ist  die  Frucht  weit- 
gehender vergleichender  Untersuchungen,  welche  gezeigt  haben,  daß 
die  Fascien  zu  einem  ansehnlichen  Teil  Fortsetzungen  der  Muskeln 
sind,  also  zu  ihnen  gehören  und  mit  den  Sehnen  in  eine  und  dieselbe 
Linie  zu  stellen  sind. 

c.    Die  Zwischenmuskelbänder  (Ligamenta  intermuscularia). 

Die  Verbindungen  der  Muskelbinden  mit  den  Knochen 
bestehen  in  derben  Faserzügen,  welche  von  der  Beinhaut  der  Knochen 
aufsteigen  und  sich  mit  den  Fascien  verbinden.  Einige  dieser  Ver- 
bindungen erhalten  eine  besondere  Stärke  und  werden  als  Zwischen- 
muskelbänder bezeichnet.  Die  Beuger  und  Strecker  des  Oberarmes 
werden  von  solchen  Streifen  getrennt,  wodurch  ihre  Grenzen  auch 
fllr  das  Auge  schärfer  erkennbar  werden.  —  Die  Gruppe  der  Beuger 
an  dem  Oberschenkel  wird  gegen  die  Strecker  hin  nicht  minder  deut- 
lich abgegrenzt  und  an  vielen  anderen  Stellen  dringen  Bündel  der 
Fascie  selbst  zwischen  die  einzelneu  Muskeln   ein  und   isolieren    sie 


252  Achter  Absdinitt 

oder  ihre  Sehnen  von  den  Nachbarn.    So  entstehen  größere  und  kl«- 

nere  Fächer,  welche  als  Muskelscheiden  verschiedenen  Umfanges  für 

die  Zugrichtung  von  großem  Einfluß  werden. 

Die  Zwischenmuskelbäuder  haben,  gleichviel,  ob  sie  sich  bis  ru  der  Beinhain 
des  Kuochens  erstrecken  oder  mehr  oder  weniger  tief  ziiischen  die  Muskeln  ein- 
dringen, an  den  Gliedern  einen  langgestreckten  Verlauf.  ■ 

d.  Die  Ringbänder  und  Kreuzbänder. 

Fasennassen  der  Fascien,  die  in  querer  Richtung  durch  glänzende 
derbe  Bündel  verstärkt  sind,  erhalten  den  Namen  Ringbänder  (Ligft- 
menta  annularia),  wie  z.  B.  das  Rückenband  der  Hand  (T^iff-  carpi  dorsale, 
Fig.  58  S.  180).  An  solchen  Orten  ist  die  wiederholte  Verbindung  der 
Fascie  mit  den  tiefliegenden  Knochen  besonders  leicht  nachzuweisen. 
Eine  andere  Art  dieser  Bänder,  mit  der  Modifikation,  daß  sich  neben 
den  Ringfasern  auch  noch  gekreuzte  vorfinden,  wurde  weiter  oben  bei 
der  Erörterung  der  Bandrollen  eingehend  als  Kreuzband  (Ligamadim 
cruciatum)  des  Fußrtickens  (Fig.  75  Nr.  5)  beschrieben.  —  An  dem 
inneren  und  äußeren  Knöchel  hilft  die  Fascie  des  Unterschenkels  zur  Her- 
stellung von  Röhren  für  den  gesicherten  Gang  der  Sehnen  mit,  die  als 
Schleuderbänder  (Betinacula)  beschrieben  werden  (Fig.  75  zwischen 

Nr.  7  u.  8). 


Achter  Abschnitt. 

Muskeln  des  Kopfes. 

Ausdruck  der  Gemütsbewegungen  und  Anatomie 

von  Auge,  Nase  und  Ohr. 

Die  Muskeln  des  Kopfes  bedecken  in  sehr  unregelmäßiger  Schich- 
tung das  Skelett  des  Schädels.  Da  das  Schädeldach  keine  beweg- 
lichen Skelettteile  besitzt,  so  können  seine  Muskeln  nur  mit  der  Haut 
in  Verbindung  und  imstande  sein,  die  Kopfschwaiie  zu  bewegen. 
Das  Gesichtsskelett  besitzt  wenigstens  einen  beweglichen  Knochen,  den 
Unterkiefer,  an  dem  sich  denn  auch  starke  Muskeln  befestigen,  welche 
vom  Schädel  herab  kommen.  Abgesehen  von  dieser  einen  letzt- 
erwähnten Muskelgruppe  befinden  sich  jedoch  auf  dem  Gesichtsschädel 
noch  viele  Muskeln,  denen  bedeutsame  Aufgaben  beim  Sprechen,  bei 
der  Aufiiahme  der  Nahrung,  und  bei  dem  Ausdruck  der  Gemüts- 
bewegimgen,  dem  Mienenspiel,  übertragen  sind. 


Muskeln  dee  Kopfes.  253 

Wir  betrachten  zunächst  die  Muskeln  des  Antlitzes  und  die 
Muskeln  des  Schädeldaches. 

I.    Muskeln  dos  Antlitzes  und  des  Schädeldaches. 

Die  Antlitz-  oder  Gesichtsmuskeln  liegen  unmittelbar  unter 
der  Haut  und  sind  mit  ihr  an  bestimmten  Stellen  verbunden,  indem 
sie  ihren  Ansatz  in  der  Lederhaut  selbst  finden.  Ziehen  sie  sich 
zusammen,  so  müssen  Verschiebungen  und  Spannungen  der  Haut  ein- 
treten. Der  Ursj)rung  der  Muskeln  findet  an  Knochenpunkten  des 
Kopfskelettes  statt,  nur  ausnahmsweise  geschieht  dies  nicht  direkt, 
sondern  durch  Vermittelung  anderer  dazwischenliegender  Gewebsstränge 
verscliiedener  Art. 

Die  Antlitzmuskeln  gruppieren  sich  um  die  natürlichen  Off- 
nungen des  Gesichtes.  Die  beiden  Augenöffnungen,  die  Nase  und 
der  Mund  sind  ebensoviele  Mittelpunkte  für  Muskeln,  als  sie  Haupt- 
punkte für  die  Foim  des  Gesichtes  sind.  Auch  das  Ohr  ist  hierher 
zu  rechnen,  obwohl  seine  Muskeln  ])ei  dem  Menschen  sehr  zurück- 
gebihlet  sind,  während  sie  bei  den  Säugetieren  eine  starke  Ausbil- 
dung erreicht  haben.  Nur  im  Zusammenhang  mit  den  eben  erwähnten 
Offnungen  läßt  sich  die  Anordnung  der  Antlitzmuskehi  begreifen.  Um 
die  in  den  Offnungen  steckenden  Sinnesorgane  in  ihrer  Funktion  zu 
unterstützen  oder  um  den  Mund  mit  einer  vielseitigen  Beweglichkeit 
auszurüsten,  ist  die  Muskulatur  des  Antlitzes  bei  dem  Menschen  in 
derjenigen  Weise  angeordnet,  wie  sie  in  den  folgenden  Hlättern  ge- 
schildert wird.  Daß  diese  Muskulatur  neben  einer  Fülle  bedeutungs- 
voller Funktionen  auch  noch  im  Dienste  der  Mimik  steht,  ist  eine 
Fähigkeit,  welche  streng  genommen  nicht  in  erster  Linie  in  Betracht 
kommt;  denn  alle  Muskeln  des  ganzen  Körpers  stehen  im  Dienste 
der  Mimik,  nicht  bloß  jene  des  Antlitzes.  Die  Muskeln  des  Armes, 
der  Hand,  die  Atemmuskeln  des  Brustkorbes  u.  s.  w.,  selbst  der  ver- 
borgenste aller  Atemmuskehi,  das  Zwerchfell,  macht  davon  keine  Aus- 
nahme. Bei  der  Darstellung  der  Muskulatur  des  Antlitzes  muß  also 
die  rein  anatomische  Gliedening  zunächst  berücksichtigt  werden,  sie 
führt  übrigens  am  schnellsten  zu  dem  Überblick  über  die  Mannigfaltig- 
keit der  bewegenden  Kräfte. 

Aus  diesem  Grunde  werden  zuerst  berücksichtigt: 
Die  Muskeln  in  der  Umgebung  der  Lidspalte, 
die  Muskeln  in  der  Umgebung  der  Mundspalte, 
die  Muskeln  der  Nase, 

die  Muskeln  des  äußeren  Ohres  und  des  Schädeldaches,  und 
die  Muskeln  des  Unterkiefers. 


254  Aditer  Abschiiitt. 

Die  Wirkung  dieser  Muskeln  bei  dem  Ausdruck  bestimmter 
Gemütsbewegungen  kann  erst  dann  besprochen  werden,  nachdem 

die  Sinnesorgane:  Auge,  Nase-  und  Ohr  erörtert  worden 
sind.  Deshalb  folgt  in  unmittelbarem  Anschluß  an  die  Muskulatur  des 
Kopfes  die  Beschreibung  der  ebengenannten  Sinnesorgane. 

Von  den  Muskeln  des  Halses  wird  ein  Muskel:  der  Hautmuskel, 
am  zweckmäßigsten  gleichzeitig  an  dieser  Stelle  abgehandelt  werden. 
Die  Herkunft  der  in  dem  Gesicht  sich  ausbreitenden  MuskelbQndel 
bleibt  ohne  den  Hinweis  auf  diesen  Hautmuskel  des  Halses 
(Fig.  78  Nr.  14)  unverständlich.  Man  darf  überdies  annehmen,  daß  alle 
Antlitzmuskeln  von  jenem  Hautmuskel  des  Halses  abzuleiten  sind, 
denn  manche  wichtigen  Merkmale  deuten  auf  eine  solche  Herkunft. 
Dieser  Hautmuskel  nimmt  eine  ganz  besondere  Stellung  zu  den  Ge- 
sichtsmuskeln ein,  welche  schon  daraus  hervorgeht,  daß  er  bis  in  das 
Gesicht  hinaufsteigt. 

a.   Muskeln  in  der  Umgebung  der  Lidtpalte. 

Der  Bingmuskel  des  Auges  (Musculus  orbicularis  oculi)  dünn, 
platt,  scheibenförmig  (Fig.  77  Nr.  2),   unmittelbar  unter  der  Haut  lie- 
gend, umgiebt  die  Lidspalte  erst  in  engen,    dann  in  immer  weiteren 
Bogen.    Der  Muskel  entspringt  schmal  am  inneren  Augenwinkel  vom 
Thränenbein,  vom  Lidband  und  der  nächsten  knöchernen  Grundlage. 
Er  hängt  nach  oben  mit  dem  Stirnmuskel,  nach  außen  mit  dem  kleineu 
Jochbeinmuskel  (Fig.  77  Nr.  20)  dadurch  zusammen,  daß  einige  seiner 
Fasern  aus  dem  Kreise  ausbrechen.     Wirkung:    Die  auf  den  Lidern 
liegende  Portion  vermittelt  den  Schluß  der  Augendeckel,  die  ent- 
fernteren Bogenfasern  dienen  dazu,   die  Haut  aus  der  Umgebung 
zusammenzuschieben.      Die    gemeinschaftliche   Thätigkeit    der    beiden 
Abteilungen    erzeugt  jenen  festen  Verschluß,   durch  welchen   zugleich 
der  Augapfel  etwas  nach  rückwärts  in  die  Augenhöhle  gedrückt  wird. 
Der  Muskel  zeifällt  also  seiner  Wirkung  nach  in  zwei  Abschnitte,  in 
denjenigen  Abschnitt,  der  direkt  den  Lidern  aufliegt,  und  in  denjenigen, 
der  in    immer  weiteren  Bogen    die   Lidspalte   umkreist.     Der  erstere 
heißt   deshalb    der  Lidmuskel   (Fig.  78    Nr.  2);    er    bildet    eine   sehr 
dünne,   blaßgefarbte  Schichte,  welche  nur  bei   dem  Schluß   der  Lider 
in  Wirksamkeit  tritt;    der  andere  Abschnitt,   der  in  immer  weiteren 
Bogenliuien  die  Lidspalte  umkreist  (Fig.  78  Nr.  i),  ist  dicker,  lebhafter 
gefärbt   und    besteht   aus    groben   und    leicht  nachweisbaren   Bündeln. 
Dieser  Abschnitt  des  Muskels  ist  nicht  scharf  abgegrenzt,  sondern  läßt 
seine   Bündel   in   benachbarte   Muskeln   der  Stirn,   des  Jochbeins  und 
der  Oberlippe  ül)ergehen  (Fig.  78  bei  Nr.  3  u.  9). 


Der  (eele  LidaehluS  bedinnt  Au  Entoteliutit;  kl<?iii<  r  Fultcti  wskhi  vom  JiuBeren                           ^| 

geowinkel  radicuf(nnig  ati 

atnil  1  11 

lvriih.iHlß  heil  rennt  man  iUmt   unwill- 

Bmeneti  ZtithLii  tili  r  aili« 

U1(~T    1    1      M 

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Wm^mwiX' 

/iHf               1 

F-fe 

TT      Miiskclii  des  Kopf «                                                                               ^| 

Unskelp  snd 

folgenden 

p„u„,,                                                    H 

1    SÜminuike! 

14    IJikvr  KopliilckLr                                                          ^H 

2    Kingmiukel  da  Aagra 

r  Nase 

17    SLliliireumuikel                                                                ^H 

).       IS    Jo<.hbo((eii                                                                         ^H 

m    UroUOT   loeliheinmuikd                                                  ^H 

Oberlippe 

6    SehUeßmtukit  <Je«  M  nd 

T  Blerlipj« 

J3    Unterkiefer                                                         ^^^^| 

10    Vieneibger  Muskel    l»r 

L  titerli]'!  p 

21    KqflnGker                                                   ^^^^| 

K.pu»imua.k.l                                                 ^^^H 

12    ZweiWuilugtr  Unterki(fi.rmii»kel 

^ 

M 

256  Achter  Absöhnitt 

die  Haut  so  auszeichnet,   daß   die   durch  Zusammenschieben   enteUndcnen  Filla 

spurlos  sich  wieder  glätten. 

Der  Stirnmuskel  (Musculus  frontalis,  Fig.  TTNr.  1)  ist  paarig,  tnf 
jeder  Hälfte  des  Stirnbeines  sitzt  ein  vollständiger,  von  der  ander« 
Seite  unabhängiger  Muskel.  Er  entspringt  an  der  Nasenwurzel,  doit 
wo  sich  die  Naht  zwischen  Nasen-  und  Oberkieferbein  einer-  und  Stirn- 
bein anderseits  berühren,  ferner  von  dem  inneren  Ende  der  Augen- 
brauenbogen  und  vom  oberen  Rand  der  Augenhöhle.  Er  zieht  sia 
gegen  den  Stimhöcker  in  die  Höhe  und  seine  Bündel  gehen  in  die 
Sehnenhaube  (Galea  aponeurotica)  über.  Diese  liegt  unmittelbtr 
unter  der  Haut  des  Kopfes,  mit  der  Kopfschwarte  fest  verwachsen, 
dagegen  mit  der  eigentlichen  Beinhaut  des  Schädels  nur  locker  ler- 
bunden.  Wirkung:  Die  Zusammenziehungen  des  Muskels  bewegen  die 
Kopfschwarte  nach  vom;  dabei  wird  die  Stimhaut  in  quere  Falten  ge- 
legt und  samt  dem  Augenbrauenbogen  in  die  Höhe  gezogen. 

Diese  Bemerkungen  enthalten  nur  die  allgemeinsten  Angaben  über 
Verlauf  und  Wirkung  dieses  Muskels.  Genauere  Beobachtung  ergiek 
noch  folgendes: 

Der  Muskel  endigt  nach  oben  nicht  in  einer  geraden,  sondern  m 
einer  Bogenlinie  (Fig.  77).  Zwischen  beiden  Muskeln  befindet  sich  also 
ein  dreieckiger  muskelfreier  Raum,  der  aber  nicht  bis  zu  der  Nasenwurzd 
herabreicht,  denn  die  beiden  Muskeln  berühren  sich  eine  Strecke  weit 
Daraus  folgt,  daß  die  Stirnhaut  während  der  Zusammenziehung,  der 
Mitte  eines  jeden  Muskels  entsprechend,  höher  gehoben  wird,  als  an 
den  Rändern.  Die  Stirnfalten  beschreiben  deshalb  von  einer  Schläfe 
zu  der  anderen  nicht  horizontal  liegende  Wülste,  sondern  doppelt  ge- 
krümmte, wie  die  nebenstehenden  Zeichen  andeuten  c^^. 

Der  Zug  des  Muskels  beschränkt  sich  nicht  allein  auf  die  Stim- 
haut, sondern  er  setzt  sich,  wie  schon  erwähnt,  auch  auf  die  Augen- 
brauen und  die  oberen  Lider  fort.  Sie  werden  ebenfalls  in  die  Höhe 
gezogen,  und  zwar  am  höchsten  an  dem  inneren  Drittel  ihres  Verlaufes. 
Dabei  sind  die  Stirnfalten  konzentrisch  mit  dem  konvexen  Augen- 
brauenbogen. Alter,  Geschlecht  und  Individualität  bedingen  zahlreiche 
kleine  Verschiedenheiten,  welche  die  eigene  Beobachtung  leicht  festzn- 
stellen  vermag.  In  der  Jugend  glätten  sich  die  Falten  wieder;  allmählich 
werden  aber  mit  dem  Verlust  der  Elastizität  der  Haut  ihre  Spuren 
mehr  und  mehr  erkennbar,  und  schließlich  bilden  die  Falten,  bleibend 
geworden,  die  gefurchte  Stim  der  Greise. 

Der  Augenbrauenrun  zier  (Äf.  corrm/ator  super  cilü)  entspringt 
von  dem  inneren  Ende  des  Augcnbraucnl)ogens   und   der  dazwischen- 


MiuIwId  dea  Ko])ffii. 


267 


liegendi'ii  sclimaleii  Fläche.  Er  ist  bedeckt  von  dum  iibereii  Bündel 
dea  Riiigmunkels  des  Auges,  gebt  nacb  iiiißen  und  sttzt  sich  in  der 
Haut  der  Aiigeulimue  f».*st.  Die  Wirkung  dei  iM'idt-n  Augcnbniueii- 
runzlei'  Kchiebt  die  Hiiut  von  den  Seitüii  dei  Stini  gegen  die  Mittel- 
linie xuKiiinmon,  woilureh  jene  Henkrecliten  tiereii.  über  dei  Ruiei)' 
Wurzel  üufsteigeuden  Furcbeii  enbitttheit,  die  bei  Uiuin  und  düst<-ier 
Gern  tu  HS  ti  in  m  Uli  g  so  deutlich  hervortreten,  und  enieii  bleibenden  phj- 
sio^omiHcheii   Charakter    der  Scliwemiut    und    des   gestörten   Seelen- 


l)  DninFilitcrrMunk. 


13    Dreiuil.iiter  tluHkel. 
*  Iliutmuakel. 
yip  18     Hiulcelii  dc8  Autlitxcti. 
{Oberllwhliclie  Sohlnht«.) 

Iriedens  abgclitn  Ann  diistin  Uiundc  uurde  er  vim  einem  Inin/öHiMcben 
Gelehrten  Mutete  de  h  ilmilrur  Muskel  de^  .Sclimerzes,  genannt. 
Allein  das  sind  nidit  die  ein/igtn  V(.ranlisHUiigen,  welohc  diesen  Muskel 
erregen.  Bei  dem  gm  tum  ang(  oti  engten  .Sehen,  bei  dem  «chai-fen 
Beobachten,  also  l>ei  gestiigertei  Aufniurksamkeit,  xielit  er  sich  cben- 
lallB  zusammen  DasselhL  gt  st  lucht  1»  i  ernsten  tiedanken,  also  z.  B. 
»ach  bei  einer  traungeu  l<rinnoiung     Seine  verschiedenen  öiiannungs- 

'  Sie  tragen  ihren  \amri)  mit  Itiinilit  ila  ml-  uidit  <iii'  »rancn  niii»-1u,  Mudem 
äe  einkitder  nähern,  wiMlunli  hkIi  dii  Haut  dirStini  in  HUtikni'lite  KHltt-n  zu  It^'ii 
ganrungen  wird 


lANE  W.r.m.  STANFOra  ".►MiVSiXSX 


258  Achter  Abschnitt 

gnule  begleiten  den  Schmerz,  gleichgiltig  ob  physischen  oder  seelistheu. 
Bei  gieller  Beleuchtung  tritt  sowohl  er,  wie  der  ihn  bedeckende  Ring, 
muskel  in  Thätigkeit.  —  Die  senkrecht  stehenden  Falten,  welche 
durch  die  Thätigkeit  des  Augenbrauenrunzlers  entstehen,  können  8— lu 
betragen.  Der  Beginn  der  Falten  liegt  dicht  an  dem  NasenrückeiL 
ihr  allmählich  in  die  glatte  Stirnhaut  auslaufendes  Ende  oben.  Dab« 
zeigen  sie  nicht  immer  die  ganz  senkrechte  Stellung,  sondern  leichter 
Biegungen,  und  zwar  um  so  stärker,  je  weiter  sie  nach  außen  liegen. 

Die  drei  Muskeln,  der  Stimmuskel,  der  Ringmuskel  des  Auge» 
und  der  Augeubrauenruuzler,  bilden  eine  Gruppe,  deren  Zentrum  d*» 
Auge  ist.  Ihre  Wirksamkeit  steht  in  der  innigsten  Beziehung  zn 
derjenigen  des  Augapfels.  In  erster  Reihe  besteht  ihre  Aufgabe  darin. 
den  ZutiuB  des  Lichtes  entweder  zu  erleichtem,  oder  zu  verhindern,  üa> 
Auge  durch  den  hautigen  Lidschlag  zu  befeuchten  und  es  zu  schützen. 

Ein  Muskel,  der  die  Öffnung  der  Lidspalte  in  besonders  henf.r- 
ragender  Weise  beherrscht,  entspringt  in  dem  Hintergrund  der  Augen- 
höhle.   Er  wird  bei  der  Beschreibung  des  Augapfels  aufgeluhrt  werdeu. 

b.   Muikeln  in  der  ümgelnuig  der  Miindöffiiiiiig. 

Die  Muskeln  der  Mundötfhung  sind  zahlreicher,  als  jene  der  Lid- 
spalte.     Die  größere  und  vielseitigere  Beweglichkeit    der   Lippen  er- 
fordert eine  Muskulatur,  die  in  größerem  Maße  gegliedert  ist.    Deunmh 
herrscht   die  gleiche  Ani*rdnung   wie  bei   dem  Auge   in    der  Art,  daß 
ein  Muskel  die  Mundspalte  vern-ugert  und  verschließt,   andere  Muskel- 
krätte  dagegen  die  Spalte  erweitern.     Kein  Tier   besitzt   eine   so  zu- 
sammengesetzte  Muskulatur   der   Mundspalte   wie    der    Mensch.      Da- 
Maul  der  Tiere  kann  deshalb   nie  jene  verschiedenen  Formen  anneh- 
men, welche  den  Mund  des  Me::-«:hen  zu  einem   so  wichtigen  Faktor 
bei  der  Sprache  und  der  Miene  m^ichen.    Die  meisten  dieser  Muskeln 
liejreu  radientormis:  um   die  Mui>i'"if!iune.  e-  sind   die  Krwciterer  der 
Mundöriuuui:.   Nur  eint-r  ::rh:  im  Kreise  herum,  es  ist  der  Schließmuskel. 
Zuei-st  sei   aber  ein  HaUmiskel   erwähnt,    der  seine  Fasern   bis  in 
das  Antlitz  sondot,  und  wie  >v;h'r:  aLeedeutet  wurde,  vielleicht  als  der 
Vater  sämtlicher  An:l:^:!:ii;ske:::  ir.i^eseh-rn  werden  darf: 

IVr    Haut  muskel    des    Halses    <  M.   .*nlM-ntaneus    colli,    Fig.  T9 

Nr.  '.:,  i:  u.  lo'  i>t  oiu  diiv.VLer  Muskel,  drr  unterhalb  des  Schlüssel- 
beines und  in  der  Schu'urjei:--:..:  v  -  ,ier  Fascie  des  Brust-  und 
Dokamuskols  outsi^nr^::.  •.::..:  .■::  i-v.  Se::eL:iaoheri  des  Halses  schriij: 
iii  die  Höhe  >tei4::.  l'-r  M.>k-..  vers . lim-klert  sich  wegen  diese* 
Ncliräiien  VorlautVs  irwa^    :•  l     .Aiier:   -:  h.   :e  h"»her  er   steigt,   dem- 


Unikeln  da  Kopfis, 


259 


jenigen  der  Hiidei'eii  Seite.  Die  mittlere  Linie  Aen  Halsen  ist  also 
anfangs  von  ihm  nicht  bedeckt,  erst  später  l)erUhren  nie  sich  am  Kinn, 
ja  kreuzen  sogar  bisweilen  ihre  Bündel  (Fig.  79  bei  Nr.  i).  Am  Unter- 
kiefer setzt  Hicli  ein  Teil  der  vorderen  Fasern  fest,  die  anderen  ziehen 
unter  der  Gesichtshaut  bis  xnm  Mundwinkel,  um  mit  den  dort  vor- 
kommendeu  Muskeln  sich  zu  verbinden  und  in  der  Haut  des  Ge- 
sichtes zu  endigen.  Dieser  letztere  Teil  des  Hautmuskcis  gebort 
alBo  seinem  Verlauf  und  seiner  Wirkung  nach  zu  den  Gesichtsmuskeln. 


Jochlirininijsk«] 


Urclwitiger  KinniDuskrl  1' 
Kopftiieker  links    ID 


B   Schildknorpel. 


KopfDickerKTubr  la 


Jene  Muskeln  des  Antlitzes,  welche  von  dem  ZuHuU  von  ßilndeln  des 
Hautmuskels  vorzugsweise  abhängen,  sind  der  dreiseitige  Muskel 
(Fig.  79  Nr.  r)  und  der  vierseitige  Muskel  des  Unterkiefers 
(Fig.  77  Nr.  10).  Ein  Zug  von  dünnen  Bilndeln  zeigt  im  Verlauf  ilurch 
das  Gesicht  eine  große  Selbstäniligkeit,  wurde  wohl  deshalb  auch  mit 
einem  besonderen  Namen  belegt  und  als  Lachmuskcl  (Fig.  79  Nr.  h, 
hesser  ausgeprägt  in  Fig.  78  Nr.  a)  in  die  Litteratnr  cingefillirt.  Die 
Wirkung  des  Hautmuskels  ist  eine  sehr  komplizierte;  soweit  sie  mit 
.  derjenigen  der  Antlitzmuskehi   zusamnientiillt,  soll  sie  später  Berilck- 


260  Achter  AlMohnitt. 

sichtigung  finden;  seine  Wirkung  am  Halse  soll  ftlr  den  Abfloß  dn 
Blutes  von  dem  Kopf  nach  der  Brusthöhle  zu  von  Vorteil  sein. 
Seine  natürliche  Spannung  läßt  sich  bei  alten  Leuten  sehr  gut  be- 
obachten,  bei  denen  der  Hals  abgemagert  und  das  Fett  ans  dem 
unterbau tgewebe  und  zwischen  den  Oi^anen  verschwunden  ist:  dana 
verursachen  die  vorderen  Ränder  des  Muskels  zwei  stark  vorspringeDde 
Hautfalten,  welche  vom  Kinn  auseinanderweichend  gegen  das  Brust- 
bein herabziehen.  Zwischen  den  Hautfalten  liegt  eine  tiefe  daumeü- 
breite  Binne,  die  in  der  Nähe  des  Kehlkopfes  am  tiefsten  ist,  weiter 
unten  jedoch  allmählich  verstreicht. 

Der  Hautmuskel  des  Halses  ist  der  einzige  Repräsentant  der  bei  den  Tieia 
weit  verbreiterten  Gruppe  von  Uautmuskeln,  durch  welche  Bewegungen  guar 
Hautregionen  hervorgebracht  werden  können.  Durch  ähnliche  Muskeln  «chfitteh 
die  Pferde  ihre  Haut,  um  sich  von  Insekten  zu  befreien,  die  Hunde  und  liir 
Katzen  stellen  ihre  Rückeuhaare  auf,  die  Igel  ihre  Stacheln  u.  s.  w.  Für  die  Ytt- 
stünduis  des  ebenangegebenen  Zusammenhanges  der  mimischen  Muskeln  mit  da 
Hautmuskel  des  Halses  int  das  Verhalten  desselben  Muskels  bei  den  Häugetieni 
von  hervorragender  Bedeutung.  Er  besitzt  in  den  verschiedenen  Abteiinngen  eiv 
sehr  verschiedene  Verbreitung  an  Brust,  Hals  und  Nacken.  Weiteres  liierflber  ii 
Geoenbaurs  I^ehrbucli  der  Anatomie,  S.  328. 

Der  Bing-  oder  Schließmuskel  (M.  orbiailaris  oris  seu  sphinder 
labiorum,  Fig.  77  Nr.  8)  liegt  zwischen  der  äußeren  Haut  und  der 
Mundschleimhaut  eingeschaltet,  hängt  aber  mit  ersterer  inniger  n- 
sammcn.  Trotz  seiner  Größe,  er  stellt  einen  verhältnismäßig  breiten 
und  dicken  Ring  dar,  besitzt  er  doch  keineswegs  jene  Selbständigkeit 
welche  den  Ursprung  und  Verlauf  des  Ringmuskels  am  Auge  aus- 
zeichnet, sondern  ist  der  Hauptsache  nach  der  Knotenpunkt,  an  dem 
sämtliche  Muskeln  der  seitlichen  Gesichtsgcgeud  zusammenlaufen.  Und 
zwar  ist  er  die  unmittelbare  Portsetzung  des  Trompetermuskels  und 
der  dreiseitigen  Muskeln. 

Der  Trompetermuskel  (M.  huccinaUn-itisy  ist  die  fleischige  Grund- 
lage der  Wangen  (Fig.  77  Nr.  22).  Kr  entspringt  von  der  äußeren 
Fläche  des  Oberkiefers  und  zwar  von  jenem  Abschnitt,  der  die  Zahn- 
wurzeln bedeckt,  dann  vom  Unterkiefer  im  Verlauf  der  äußeren  schiefen 
Linie.  Andere  Ursprungspunkte  liegen  noch  weiter  rückwärts,  bedeckt 
von  dem  äußeren  Kaumuskel  (Fig.  77  Nr.  21).  Die  zahlreichen  Bündel 
die  durch  eine  rote  Fleischfarbe  ausgezeichnet  sind,  treten  am  Mund- 
Winkel  in  die  Lippen  ein,  durchkreuzen  sich  dort  in  der  Weise,  daB 
die  oberen  in  die  Unterlippe,  die  unteren  in  die  Oberlippe  übeijehen. 
und  sich  noch   überdies   eine  Strecke  weit  mattenartig    durchflechten. 

»  Bucca  h(dßt  die  beim  Blasen  cnler  Essen  aufpcblähte  Wange,  daher  b« 
lateiniflchen  KlaHsikem  biiceo  ebensogut  Schwätzer  als  Vielfraß  bedeutet. 


Mtukeln  des  Kopfes.  261 

ländlich  ordnen  sie  sich  zu  parallelen  Strängen,  um  der  Mundspalte 
eine  Strecke  weit  zu  folgen  und  dann  in  der  Haut  zu  endigen. 

Der  dreiseitige  Muskel  des  Unterkiefers  (M,  triangularis 
maxillae  inferiorut,  Fig.  77  Nr.  9),  platt,  dreieckig,  entspringt  breit  von 
dem  unteren  Band  und  der  äußeren  Fläche  und  steigt,  seine  Fasern 
zusammendrängend,  gegen  den  Mundwinkel  in  die  Höhe. 

Der  dreiseitige  Muskel  des  Oberkiefers  (3f.  triangularis 
maxillae  guperiorüt,^  Fig.  77  Nr.  7  u.  Fig.  78  Nr.  12)  entspringt  aus  der 
Oberkiefergrube,  ist  also  von  dem  großen  Jochbeinmuskel  und  dem  vier- 
seitigen Muskel  der  Oberlippe  bedeckt,  und'  steigt  zu  dem  Mundwinkel 
herab,  wo  er  dem  vom  Unterkiefer  heraufkommenden  begegnet  und 
seine  sämtlichen  Fasern  dem  Bin^muskel  übergiebt.  Es  ge- 
schieht dies  folgendermaßen:  Die  beiden  dreiseitigen  Muskehi  einer 
Seite  durchflechten  sich  am  Mundwinkel  in  ziemlich  inniger  Weise 
und  erzeugen  dadurch  jenen  derben  und  prallen  Knoten,  der  bei 
Lebenden  wie  bei  Toten  deutlich  zu  fühlen  und  bei  manchen  Men- 
schen so  stark  entwickelt  ist,  daß  er  als  kleiner  Wulst  sichtbar  wird. 
Aus  diesem  treten  die  Muskelbündel  dann  aus,  um  ebenso  wie  die 
Bündel  des  Trompetermuskels  der  zirkulären  Richtung  zu  folgen.  Die 
oberen  ziehen  in  der  Unterlippe  ihren  Weg,  die  unteren  folgen  dafbr 
der  Oberlippe,  wie  die  nebenstehenden  Linien  dies  andeuten  >dIX> 
und  die  größte  Zahl  gelangt  bis  auf  die  Mundhälfte  der  entgegen- 
gesetzten Seite.  Der  Bingmuskel  des  Mundes  ist  also  in  Wirklichkeit 
die  unmittelbare  Fortsetzung  der  Trompetermuskeln  und  der  drei- 
eckigen Muskeln. 

Die  Wirkung  ist  gleichwohl  sehr  mannigfaltig,  es  sei  hier  nur 
daran  erinnert,  daß  der  Mund  sich  erweitert  und  die  Ecken  dabei  ' 
gleichzeitig  nach  oben  oder  nach  unten  gestellt  werden  können,  wie 
bei  dem  Lachen  und  dem  Weinen;  daß  überdies  die  eine  Hälfte  des 
Gesichtes  von  der  anderen  unabhängig  diesem  Muskelspiel  folgen  kann, 
bedarf  nur  der  Elrwähnung.  Endlich  können  sich  die  in  den  Lippen 
verlaufenden  Fasern  selbständig  zusammenziehen,  wodurch  der 
Mund  geschlossen,  gespitzt,  oder  wie  bei  dem  Saugen  vorgestreckt 
wird,  und  dies  Alles,  je  nachdem  die  eine  oder  andere  Fasergruppe 
das  Übergewicht  erhält,  die  sich  alle  an  dem  Mundwinkel  kreuzen. 

Zu  diesem  zusammengesetzten  Bingmuskel  des  Mundes  stoßen: 

Der  große  Jochbeinmuskel  (Musculus  zygomaticus  majore  Fig.  77 
Nr.  19),   länglich,   ungefähr  8  mm   breit,   entspringt   von  der  äußeren 


^  Auch  Aufheber   des    Mundwiukels   oder   Eekzahnmuskel    (Levator 
anguli  ans  s.  caninus)  genannt. 


262  Achter  Abschnitt. 

Fläche  des  Jochbeines.  Er  steigt  schräg  zu  dem  Mundwinkel  hemfc, 
.endet  gleichzeitig  an  der  vorderen  (Haut-)  und  hinteren  (Schleimhaut-i 
fläche  und  beteiligt  sich  nicht  an  der  Bildung  des  RingmuRkels.  Er 
zieht,  wie  schon  sein  Verlauf  andeutet,  nach  hinten  und  oben. 

Der  Lachmuskel  (Risor,  Fig.  78  Nr.  5),  außerordentlich  dün«. 
dreieckig,  ist  eine  selbständig  gewordene  Zacke  des  HautmuskeLs  de^ 
Halses  (Fig.  78  Nr.  6).  Diese  Muskelzacke  steigt  über  den  Rand  de» 
Unterkiefers  in  die  Höhe,  empfangt  aber  noch  neue  Fasern  auf  ihrem 
Weg  und  zieht  gegen  den  Mundwinkel  hin,  um  in  dessen  Haut  zs 
endigen. 

■ 

Der  vierseitige  Muskel  der  Oberlippe  (M.  qtiadratuM  laio 
superiorLs,  Fig.  78  Nr.  10)  platt,  ungleich  vierseitig,  entspringt  von  den 
unteren  Augenhöhlenrand  und  senkt  sich  gegen  die  Oberlippe  herab, 
in  deren  Haut  und  Schleimhaut  er  endigt.     Mit  ihm  hängt  zusammtt 

der  kleine  Jochbeinmuskel  (M.  zygomatiais  minor j  Fig.  78  Nr.nj. 
der  mehi'  seitlich  liegt.  Er  entspringt  von  dem  Gesichtsende  des  Wanges* 
beines,  nimmt  Bündel  des  Augenringmuskels  (Fig.  78  Nr.  3)  auf  nod 
geht  auf  die  Oberlippe  zu.  Er  ist  nicht  immer  deutlich  von  dem  OrW- 
adaris  oder  dem  großen  Jochbeinmuskel  getrennt. 

Der  Aufheber  der  Oberlippe  und  des  Nasenflügels  (M.  Uta- 
tor  labii  superioris  alaeque  nasi,  Fig.  77  No.  4)  liegt  an  der  Seitenwand 
der  Nase,  hängt  oben  mit  dem  Stirnmuskol  zusammen,  wird  im  Herab- 
steigen breiter  und  spaltet  sich  in  zwei  Abteilungen:  die  eine  geht  n 
jenem  Rand  des  Nasenflügels,  der  aus  der  Tiefe  der  Wangenhaut  empor- 
steigt; die  andere  geht  in  die  Haut  der  Oberlippe.  Der  Muskel  vermag 
die  mittlere  Partie  der  Oberlippe  und  gleichzeitig  den  Nasenflügel  zu  heben. 

Man  ist  neiierdlugs  genoigt,  jen(?  Muskeln,  welche  als  Aufheber  der  Ober- 
lippe und  des  T^asenflügels  (Fig.  78  Nr.  9)  als  vierseitiger  Muskel  der 
Oberlippe  (Fip.  78  Nr.  10)  und  als  kleiner  Jochbeinniusk(;l  (Fip.  78  Nr. U)  p^ 
trennt  aufjcjeführt  wunlen,  als  einen  einzigen  Muskel  unter  dem  Ausdruck:  vier- 
seitiger Muskel  d(;r  Oberlippe  zusjunmenzufassen.  Obwohl  sieh  Hchwerwiegende 
anatomische  Gründe  für  diese  neu(?n^,  vereinfachte  Bezeichnung  g(dt(*nd  niachei 
hissen,  so  empfiehlt  es  sich  doch,  die  Selbständigkeit  diest^r  einzelnen  Abteilung« 
durch  besondere  Namen  hier  noch  festzuhalten. 

Diesen  drei  Muskeln,  die  als  Teile  einer  zusammenhäiigendeD 
Muskelplatte  aufgefaßt  werden  können,  steht  gegenüber 

der  vierseitige  Unterkiefermuskcl  (J/.  quadrahiit  labii  inferi- 
oris).  Die  vierseitige  Muskelspalte  entspringt  am  Rande  des  Unter- 
kiefers (Fig.  77  No.  10)  zwichen  Kinnhöcker  und  Kinnlorh  und  verliert 
sich  in  der  Unterlippe  in  der  Weise,  daß  ein  Teil  der  Fasern  in  der 
Haut,  ein  anderer  Teil  den  Ringmuskel  durchbrechend,  in  die  Schleim- 


Muskeln  <1ea  Kopfbu. 


263 


I  haut  ausstrahlt.  Es  steht  also  immer  die  ganze  Dicke  der  Lippe 
I  uutpr  der  Wirkung  eines  solchen  Muskelansatzes.  Wie  die  Fig.  77  an- 
[  (lentet,  ist  er  seitlich  bedeckt  von  dem  dreieckigen  Muskel,  der  also 
I  entfernt  werden  muß,  soll  die  vierseitige  oder  vielmehr  die  rhombische 
I  Gestalt  klar  zum  Vorschein  kommen.  Zwischen  den  Bündeln  des 
I  (^tadratiu  brechen  aus  der  Tiefe  andere  Muskelbündel  hindurch,  die  als: 
Kinnmnskel  (M.  mentali»,  Fig.  77  Nr.  n)  bezeichnet  werden, 
I  Haupturspningsstätte  ist  das  zwischen  den  Eckzähnen  des  Unterkiefers 
I  liegende  Gebiet  des  knöchernen  Kinns,  die  Endiguug  liegt  in  der  Haut 
I  des  Kinns.  Die  Muskelbündel  vermögen  zweifellos  die  Haut  der  Kinn- 
I  gsgeud  etwas  zu  heben.  Bei  dem  Weinen  sieht  man  die  Bündel  oft 
I  mkeii,  wobei  die  Haut  abwechselnd  in  kleineu  Partien  gehoben  und 
I  dann  wieder  gegen  den  Knochen  gepreßt  wird.  Er  erzeugt  wohl  auch 
i  Grübchen  im  Kinn,  doch  achweben  hierüber  noch  Zweifel. 
Diesen  Muskeln ,  welche  eine  außerordentliche  Maunigt'altigkeit 
I  der  Bewegung  erraten  lassen,  die  bei  dem  Sprechen,  Singen,  Saugen, 
F  Kanen,  Trinken,  Spucken,  Pfeifen,  Blasen  u.  s.  w.  in  Verwendung 
kommt,  gesellt  sich  noch  ein,  der  Lippe  ausschließlich  zukommondor 
Magkel  zu: 

der  gerade  Lippenmuskel  [M.  Tectus  tabiorum).  Er  gehört  dem 
ßwnUeil  der  beiden  Lippen,  in  ihrer  ganzen  Breite  an  und  setzt  die 
luBere  Haut  und  die  Schleimhaut  durch  schief  nach  innen  aufsteigende 
(1  in  Verbindung.  Die  Bündel  verHechten  sich  dabei  mit  den 
r'Qden  der  vierseitigen  Muskeln  und  spielen  offenbar  eine  keineswegs 
Ilawichtige  Rolle,  denn  sie  pressen  den  Lippenrand  der  Dicke  nach 
''"sammen  und  verlängern  dadurch  die  Lippen. 


o.  Die  HuBkeln  der  Nase. 
Die  Muskeln  der  Nase  stellen  eine  dritte  Muskelgnippe  des  Änt- 
''tzes  dar,  welche  aus  verengenden  und  erweiternden  Bündeln  besteht, 
^'eae  Muskelgnippe  wird  einerseits  durch  die  zur  Nase  verlaufenden 
'*^tle  anderer  Gesichtsmuskeln,  andererseits  dui'ch  solche  Bündel  dar- 
S^stellt,  welche  dem  Organ  selbst  angeboren. 

Der  Nasenmuskel  (M.  nasalü)  bildet  eine  dünne,  vom  Ober- 
'"«;fer  in  der  Nähe  der  Schneidezähne  entspringende  Platte,  die  sich 
"^fwärts  auf  die  knorpelige,  äußere  Nase  erstreckt.  Die  Ursprünge 
''^s  Muskels  und  ein  Teil  seines  Verlaufes  werden  vom  viereckigen 
■lUskel  der  Oberlippe  bedeckt.     Teile  dieses  Muskels  bilden  den: 

Zusammendrücker  der    Nase   (M.  compressor    iiarium,  Fig.  77 
''■ri).     Seine  Bündel   steigen  über  den   Nasenflügel  m   die  Höhe  und 
B  **feiten  sich  fächerartig  bis  zu  dem  Nasenrücken  aus. 


264 


Achter  AtMdmilt. 


Der  Niederzieher  des  NaseDflögels  ( heprrssar  alae  tun»)  bi 
steht  in   einer  Gruppe   von  Muskelbündelu ,   welche  an   iliejenigen  ilnl 
Zusamineudrückers   der   Nase    sich   auschlieBeii ,    aber    nicht   ; 
Bücken   der  knorpeligen   Nase  ziehen,   sondern   zu  ilem  Knorpelrmidlfl 
des  Nasenflügels. 

Der   Niederzieher   der   Naseiischeidewand    (Hf^iretmir  ifüm 
mobilU  narium,  Fig,  77  Nr.  6)  besteht  aus  Fasern  des  ßingmuskeli' i 
Mundes,  welche  an  dem  unteren  Rande  des  Nasenacheid  ewaudknori 
endigen. 

Der  Pyramidenmuskel  der  Nase  (M.  piframidali»  no»i,  Fig.  77 
Nr.  3)  ist  ein  dünner  Muskel,  der  von  der  Nasenwurzel  bis  zu  der  Mille 
des  Nasenrückens  herabsteigt  und  sieh  in  dessen  Haut  verliert. 

Zu  diesen  Muakeln  der  Nase  kommt  der  schon  bei  der  Muskiilutor 
der  Mundspalte  erwähnte  Aufheber  der  Oberlippe  und  des  Nasen- 
flügels (Fig,  77  Nr.  4).  Die  fiir  den  Nasenflügel  bestimmte  Portiau 
endigt  in  der  Haut  des  Nasenflügels.  Auch  dieser  Muskel  hängt  lai* 
demjenigen  der  Stirn  zusammen. 

Wie  bei  dem  Mund,  so  machen  sich  auch  bei  der  Nase  zwei  Arte""* 
des  Faserverlaufes  bemerklich.  Ein  Zug  von  Muskelfasern  folgt  paniU^ 
den  Kändem  der  Naaenöffuung,  der  andere  steht  senkrecht  zu  dieaeo 
Die  quer  liegenden  Fasern  sollen  die  Nasentlügel  zusammendrüf^ 
die  übrigen  die  Erweiterung  herbeiführen. 

Der  geringe  umfang  vieler  fiir  den  Ausdruck  der  Gemütsbewe^ui^ 
wichtiger  Muskeln  erklärt  sich  daraus,  daß  sie  nur  geringe  Spanimnj 
der  leicht  verschiebbaren  Haut  hervorzubringen  haben,  daß  also  t 
Last,  welche  durch  ihre  Zusammen  ziehung  in  Bewegung  gesetzt  wei 
soll,  eine  außerordentlich  geringe  ist. 

Die  Muskeln  für  die  Bewegung  der  Lid-  und  der  Mmidspalb« 
hängen  vielfach  untereinander  zusammen.  Daher  kommt  «=*-i 
daÖ  in  manchen  Fällen  die  Grenzen  und  die  Endigimg  der  eii^" 
zelnen  Komplexe  in  der  Haut  nicht  vollkommen  nachweisbar  «in^^ 
Die  individuellen  Verschiedenheiten  in  der  Größe  und  in  der  VeW-" 
breitung  der  einzelnen  Muskeln  bedingen  die  individuellen  Verschiedec^ 
betten  eines  bestimmten  Gesichtsausdruckes.  Lachen  und  Weiiteu  i^V 
bei  allen  Menschen  in  den  Hauptmerkmalen  zwar  identisch  ai»^ 
durch  die  tibereinstimmenden  Spannungszustünde  der  Haut  ciiai 
risiert,  aber  es  bestehen  feine  Unterschiede  unter  sonst  gleicliheitUci 
Bedingungen,  die  wahrscheinlich  auf  der  Variation  der  kleinen  ( 
sicbtsmuHkeln  beruhen. 


Muskeln  des  Kopfes.  265 

d.   Muskeln  des  änfseren  Ohres  und  des  Schädeldaches. 

Das  Ohr  besitzt  zwei  verschiedene  Muskclgruppen.  Die  eine 
ist  direkt  der  knorpeligen  Ohrmuschel  aufgelagert  und  sollte  Teile 
derselben  bewegen;  die  andere  sollte  die  Ohrmuschel  als  Ganzes 
bewegen,  allein  beide  Gruppen  sind  hierfür  bei  dem  Menschen  in 
der  Regel  zu  schwach  entwickelt.  Nur  Robespiebre  soll  in  einem 
auffallenden  Grade  die  Fähigkeit  besessen  haben,  die  Ohren  willkür- 
lich zu  bewegen,  ebenso  der  berühmte  holländische  Anatom  Albin. 

Hier  ist  zunächst  nur  von  der  letzterwähnten  Muskelgruppe  die 
Rede.  Sie  entspringt  vom  Kopf  und  erhält  am  Knorpel  des  äußeren 
Ohres  ihren  Ansatz.  Da  die  Muskeln  dieser  Ginippe  in  ihrer  Aus- 
bildung zahlreichen  Schwankungen  unterworfen  sind,  so  dürfen  sie  den 
bei  dem  Menschengeschlecht  verkümmerten  Muskeln  zugezählt  werden. 
Bei  den  meisten  Säugetieren  sind  sie  dagegen  mächtig  entfaltet.  Das 
Ohr  unserer  Haussäugetiere  besitzt  eine  ganze  Anzahl  kräftig  ent- 
wickelter, die  Ohrmuschel  rings  umgebender  Muskeln,  das  Pferd  allein 
über  14,  die  unbedeutenden  gar  nicht  mitgerechnet.  Bei  dem  Men- 
schen sind  nur  drei  Muskeln  nachzuweisen: 

1)  Der  Vorwärtszieher  des  Ohres  (M,  attrahens  auriadae), 
ein  platter,  dünner  Muskel,  der  auf  der  Schläfenfascie  liegt  und  zum 
vorderen  Rand  der  Ohrenkrempe  geht.  Zuweilen  schließt  er  sich  mit 
einigen  Bündeln  dem  Stirnmuskel  an. 

2)  Der  Aufheber  des  Ohres  (M.  attolens  auriailae)  liegt  über 
dem  Ohre,  entspringt  ausgebreitet  von  der  Schläfenfascie  und  verläuft 
sich  verschmälemd  zum  Ohr  herab,  um  an  die  hervorragendste  Stelle 
der  dem  Schädel  zugekehrten  Fläche  des  Ohrenknorpels  sich  zu 
befestigen. 

3)  Der  Rückwärtszieh  er  des  Ohres  (M,  rehuihenx  auricuUie), 
liegt  hinter  dem  Ohr,  und  wird  bisweilen  durch  mehrere  kurze  aber 
starke  Bündel  vorgestellt.  Er  entspringt  vom  Schläfenbein  an  der 
Basis  des  Warzenfortsatzes  oberhalb  der  Anheftungsstelle  des  Kopf- 
nickers,   und   setzt  sich  an  der  konvexen  Fläche  der  Ohrmuschel  an. 

Die  Muskeln  des  Schädeldaches  sind  ihrer  Wirkung  nach 
als  Vorwärts-  und  Rückwärtszieher  der  Kopfschwaile  zu  bezeichnen. 
Die  ganze  behaarte  Kopfhaut  ist  beweglich,  freilich  ist  bei  dem  Men- 
sehen die  Wirkung  der  Muskeln  des  Schädeldaches  sehr  abgeschwächt, 
weil  die  eine  Abteilung  zu  verkümmert  ist,  während  die  andre  vor- 
zugsweise in  den  Dienst  eines  Sinnesorganes,  des  Auges  überging. 
Allein   die   Beweglichkeit   der   Kopfschwarte    ist   im   ganzen   erhalten 


266  ,        Achter  Abschnitt. 

geblieben.  Wenn  auch  nur  wenige  Menschen  imstande  sind,  sie  durch 
Muskelzusammenziehung  zu  verschieben,  so  ist  dies  doch  durch  den 
Druck  der  Hand  ausführbar,  und  zwar  durch  folgende  AnordonDjE: 
unter  der  behaarten  Kopfhaut,  aber  sehr  innig  mit  ihr  verbunden 
liegt  eine  düime,  doch  feste  Aponeurose,  welche  von  der  Sehne  d« 
Muskeln  des  Schädeldaches  herrührt.  Nachdem  sie  sich  der  Form 
des  Schädels  anschließt,  hat  diese  Aponeurose  den  Namen  Sühueo- 
haube  (Galea  aptmeurotica)  erhalten.  Diese  Sehnenhaube  ist  mit  dtr 
darunterliegenden  Beinhaut  des  Schädeldaches  nur  sehr  locker  ver- 
bunden; wenn  sich  also  die  Kopfschwarte  bewegt,  so  verschiebt  sich 
diese  samt  der  fest  verwachsenen  Sehnenhaube  auf  der  Knochenham 
des  Hirnschädels.  An  den  hinteren  Rand  der  Sehneuhaube  seUt 
sich  an: 

der  Hinterhiiuptsmuskcl,  M.  occipitalis.  Er  liegt  an  der  seit- 
lichen Hinterhauptsgegend  und  stellt  nur  eine  dünne  Muskellage  dar. 
Sein  Ursj)rung  ist  an  dem  Hinterhauptsbein  oberhalb  der  oberen 
Nackenlinie  und  erstreckt  sich  bis  gegen  den  Warzenfortsatz  his. 
Seine  Fasern  verlaufen  schräg  aufwärts,  und  gehen  in  die  Sehnen- 
haube  mit  glänzenden  Selinenbttndeln  über.  Er  zieUt  die  Sehnenhaube 
und  damit  die  Kopfschwarte  nach  rückwärts. 

An  dem  vorderen  Rande  der  Sehnenhaube  ist  der  Stirnmuskel 
befestigt,  der  schon  bei  der  Aufzählung  der  Antlitzmiiskeln  berück- 
sichtigt wurde.  Er  ist  in  den  Dienst  des  Auges  gestellt  und  wurde  als«, 
wegen  seines  Einflusses  auf  die  Haut  der  Stirn,  vom  Standpunkt  der 
plastischen  Anatomie  unter  den  Antlitzmuskeln  aufgeführt. 

e.   Muskeln  des  Unterkiefers  (Kaumuskeln). 

Diese  noch  dem  Kopf  angehürige  Muskclgruppe  wird  von  Muskeln 
gebildet,  welche  vom  Schädel  her,  ihrer  Aufgal)e  entsprechend,  zu  dem 
Unterkiefer  ziehen,  zu  dessen  Bewegung  bei  dem  Kauge schallte  sie  in 
erster  Linie  dienen.  Zwei  besitzen  eine  oberflächliche  Lage,  zwei 
liegen  tief  verborgen. 

Der  äußere  Kaumuskel  (M.  massetar,  Fig.  77  Nr. -21)  liegt  unter- 
halb des  Jocli])ogens  der  äußeren  Fläche  des  Unterkiefers  an.  Er  ent- 
springt mit  einer  derben  Sehne  von  dem  unteren  Rande  des  Wangen- 
beins und  setzt  sich  am  Kieferwinkel  fest.  Seine  oberflächlichen  Fasern 
verlaufen  also  nicht  gerade,  sondern  schräg  von  dem -Ursprung  zu 
ihrem  Ansatzpunkt.  Der  Muskel  ist  selir  stark  und  seine  Mächtigkeit 
ist  durch  die  Haut  hindurch  zu  erkennen,  sofern  nicht  Fettschichten 
der  Clesichtshaut  ihn  allzusehr  einhüllen.     Es  lassen   sich   die  derben 


m 
I 


Muskeln  des  Kopfes.  267 

Züge  seiner  Muskelbündel  und  ihre  schiefe  Richtung  namentlich  wäh- 
rend des  Kauens  deutlich  verfolgen.  Auch  der  vordere  Rand  des 
Muskels  hebt  sich  von  der  Fläche  des  Trompetermuskels  unverkennbar 
ab.  Dagegen  ist  der  hintere  Rand  unter  normalen  umständen  durch 
die  Haut  nicht  bemerkbar,  denn  er  wird  von  d«r  großen  Ohrspeichel- 
drüse bedeckt.     Wirkung:   Zieht  den  Unterkiefer  hinauf. 

Der  Miiskel  besteht  stn^ng  geiioininen  aus  zwei  Schichten,  oiiuT  äußeren  und 
inneren.  In  der  vorausgegangenen  Beschreibung  ist  die  äußere  Schichte  erwähnt 
worden,  weil  sie  vorzugsweise  die  Fomi  des  Antlitzes  beeinflußt.  Die  innere  Schichte 
entspringt  weiter  gegen  die  Ohröfihung  hin  von  dem  unteren  Rande  des  Jochbogens ; 
auch  diese  Schichte  hat  einen  schiefen  Verlauf.  Ihr  Ansatz  ist  vom  Untcrkiefer- 
winkel  entfernt  und  mehr  nach  dem  Körper  des  Knochens  hin  verlegt 

Charakteristisch  ist  die  äußere  Fläche  des  Muskels  bei  den  Zusammenziehungen 
desselben.  Es  tritt  nämlich  hier  jener  Gregensatz  der  Sehne  zu  dem  Fleisch,  der  in 
den  einleitenden  Bemerkungen  zur  Muskellchre  geschildert  wurde,  mit  auffallender 
Schärfe  hervor.  Der  Muskel  entspringt  sehnig  von  dem  Wangen b<»in,  seine  breite*, 
platte  Sehne  setzt  sich  dann  mit  längeren  und  zipfelartigen  Spitzen  auf  die  Fleisch- 
masse  fort,  so  daß  also  nur  am  Kieferwinkel  die  strangartigen  Bündel  von 
Muskelmasse  völlig  freiliegen.  Diese  sind  es  denn,  welche  oft  bei  dem  Kauen 
deutlich  sichtbar  werden,  abge^^hen  davon,  daß  der  Muskel  im  ganzen  sich  ver- 
dickt, und  von  der  Unterlage  sich  abhebt  Dtis  alles  ist  nur  bei  Männern  zu  sehen, 
deren  Gesichtshaut  dünn  ist. 

Wie  alle  Muskeln  des  Körpers,  so  kann  auch  der  Kaumuskel  eine  Rolle  bei 
der  Mimik  spielen.  Wenn  im  Zorn  die  Kiefer  aneinander  gepreßt  werden,  so  er- 
gänzen seine  vortretenden  Stränge  und  Ränder  das  Bild  der  Erregung.  Am  eigenen 
Kopf  ist  s(nne  Thätigkeit  und  diejtmige.  des  Schläfenmuskels  auch  d(>utlich  zu  fühlen, 
sobald  man  während  des  festen  Kieferschlusses  den  Finger  auf  die  entsprechenden 
Stellen  legt 

Der  Schläfenmuskel  {M.  temporalig,  Fig.  77  Nr.  17),  ein 
platter,  der  Schläfenfläche  aufliegender  Muskel,  wird  von  einer 
starken  Fascie  —  der  Schläfenfascie  —  bedeckt.  Er  entspringt 
mit  bogenförmigem  sehnigem  Rand  von  der  oberen  Schläfenlinie,  von 
der  unteren  Schläfenlinie  stoßen  Muskelfasern  zu  ihm,  ebenso  von  der 
Schläfenbeinrtäche  und  dem  vorderen  Rand  der  Schläfengrube.  Alle 
diese  Fasern  laufen  konvergierend  herab,  und  vereinigen  sich  in  einer 
kurzen  starken  Sehne,  welche  zum  Kronenfortsatz  des  Unterkiefers 
geht  und  ihn  beinahe  vollständig  umgiebt.  Wirkung:  der  Schläfen- 
muskel zieht  den  Unterkiefer  herauf. 

An-  seinem  Verlauf  ist  ganz  besonders  bemerkenswert,  daß  er 
unter  dem  Jochbogen  (Fig.  77  Nr.  18)  hindurchgeht.  Der  Muskel 
ist  jedoch  nicht  imstande,  die  Elufb  zwischen  der  knöchernen  Spange 
und  der  Schläfe  vollständig  auszufüllen.  Dort  liegt  noch  Fett,  das  je 
nach  der  Masse  die  Krümmung  des  Jochbogens  bald  deutlich  durch 
die  Haut  hindurch  erkennen  läßt  (Fig.  80  und  82),   bald  bis  zur  Un- 


268 


Achter  Absohnitt. 


deutlichkeit  einhüllt  Doch  wird  die  charakteristische  Jochbogenlink, 
welche  die  Schläfe  von  der  seitlichen  Wange  trennt,  dem  Kenner  dn 
Knochenbaues  nie  völlig  entgehen  können  und  dem  PortrUt  niemils 
fehlen  dürfen.     Wirkung:  Zieht  den  Unterkiefer  hinauf  und  zurQdL 

Die  Schläfenfascie  ist  an  dem  oberen  Rand  des  Jochbogeiu 
befestigt.  Zwischen  ihr  und  der  Sehne  des  Schläfenmuskels  liegt  ein 
leicht  verschiebbares  Fettpolster,  das  sich  unter  dem  Jochbogen  hin- 
durch bis  zur  Wange  und  tief  in  die  Schläfengrube  hinab  fortsetzt 
Bei  den  Bewegungen  des  Unterkiefers  wird  dieses  Fett  auf-  und  ab- 
geschoben; bei  dem  Öfliien  des  Mundes,  wobei  der  Kronenfortsalz 
herabrückt  und  der  Schläfenmuskel  durch  Zug  sich  verdünnt,  wird 
der  Raum  für  das  Fettpolster  größer,  es  versinkt  also  etwas  in  der 
Schläfeugrube,  die  Fascie  und  die  äußere  Haut  der  Schläfe  thun  djis 
nämliche,   wodurch    der  Jochbogen   deutlicher  sichtbar    wird.    Wenn 


Fig.  80.  Gesicht  einer  90jährigcn  Frau        Fig.  81.    Dasselbe  Geeicht  von  der  Seite, 
von  vom. 

umgekehrt  der  Mund  durch  die  Hilfe  des  Schläfenmuskels  geschlossen 
und  die  Zälme  des  Ober-  und  Unterkiefers  aneinandergepreßt  werden, 
so  kehrt  nicht  allein  der  Kronenfortsatz  wieder  an  seine  frühere  Stelle 
zurück,  wie  in  der  Fig.  26  S.  102,  sondern  der  Muskel  verkürzt  sich 
im  Vergleich  zu  der  früheren  Stellung  des  Unterkiefers  und  verdickt 
sich  gleichzeitig.  Nunmehr  wird  der  Raum  für  das  Fettpolster  zu  eng, 
und  drängt  die  Fascie  und  die  Haut  über  dem  Jochbogen  henor. 
Das  abwechselnde  Heben  und  Senken  der  Schläfengegend  ist  bei  dem 
Offnen  und  Schließen  des  Mundes  leicht  festzustellen. 

Die  Stärke  des  Schläfenmuskels  und  die  Größe  des  Fettpolsters 
sind  unzähligen  Schwankungen  unterworfen,  ebenso  wie  die  Größe 
und  Krümmung  des  Jochbogens.  Alle  diese  einzelnen  Teile  tragen 
zu  der  Charakteristik  des  Menschen  bei,  sie  unterliegen  zahllosen 
Varianten,  welche  ihnen  die  Jugend,  das  Alter  und  die  Rasse  auf- 
prägen.    Wie   sehr   die   starke  Krümmung   des  Jochbogens,    die  Ver- 


Hnikeln  des  Kophi.  26fi 

tiefung  Her  Schläfen  Hache  und  der  Wangenfläche.  die  Form  des  Antlitzes 
zn  beeinflussen  imstande  ist.  zeigt  diis  obenstehende  Porträt  einer 
alten  IlVau,  Auch  ihr  Gesicht  war  einst  voll  und  rund.  Das  Schwin- 
den des  Fettes  und  des  Muskels  im  Alter  machte  die  Schläfengegend 
tu  einer  Grube  einsinken  und  die  sonst  gewölbte  Wange  zu  einer 
Vertiefung. 

Bei  dem  Mongolen,  dessen  von  Schadow  gezeichnetes  Porträt  in 
Fig.  82  reproduziert  wird,  ist  ebenfalls  wie  bei  der  alten  Frau  die 
Schläfengmbe  eingesunken  und  der  äußere  Kaumuskel  vertieft.    Allein 


Fig.  na. 


Icillgllloil, 


'"  diesem  Fall  tragen  weder  Alter  noch  mangelhafte  Ernährung  die 
*hald  an  diesen  unschfinen  Formen,  sondern  der  rassenanatomische 
Bau  rtea  Schädels.  Die  .Jofhbogen  sind  bei  den  Mongolen  sehr  stark 
seitwärts  ausgelegt. 

Der  äuBere  Flügelmuskcl    fjV,  pterynoideim   extermm)  liegt   wie 
»ein  Nachbar, 

der    innere    Flügelmuskel    (M.  pteryijoideux    intermis),    in    dem 

»***iUii  zwischen  Unterkiefer  und  Schädelgmnd  verborgen.  Beide  kom- 
"^u  von  festen  Knochenpunkten ,  und  begeben  sich  an  zwei  verschie- 
dene Stellen  des  Unterkiefers.  Der  äußere  Flügelmuskel  begiebt 
*'*^Ii  zu  dem  Gelenkfortsatz,  und  heftet  sich  teils  an  die  Gelenkkapsel 
^*>d  teils  an  die  unmittelbar  unter  dem  Gelenkkopf  betindliche  ver- 
^"Jite  Stelle,  die  als  Hala  des  Unterkiefers  bezeichnet  wird.  Wir- 
^"^Ig:   er  zieht  den  Unterkiefer  vorwärts  aus   der  Pfanne  heraus   auf 


270  Achter  Abschnitt. 

den  Gelenkhöcker.  Der  innere  Fitigelmuskel  setzt  sich  au  in 
inneren  Fläche  des  Unterkiefers  fest  und  zwar  an  dem  ünterkiefer- 
winkel  gegenüber  dem  Ansatz  des  äußeren  Kaumuskels.  Seine  Haupt- 
wirkung besteht  in  dem  Hinaufziehen  des  Unterkiefers,  er  vennai; 
auch  den  äußeren  in  der  Vorwärtsbewegung  des  Unterkiefers  zu  uut«"- 
stützen,  da  er  vor  dem  Kiefergelenk  seinen  Ursprung  hat. 


Die  Wirkung  der  Gesichtsmuskeln  wurde  bereits  mit  einigen 
Worten  erw^ähnt,  indem  auf  das  Prinzip  ihrer  Anordnung  um  die  tw- 
schiedenen  Oflnungen  im  Gesicht  hingewiesen  wurde.  In  erster  Linie 
hiindelt  es  sich,  und  das  ist  namentlich  bei  der  Lidspalte  ersichtlich, 
um  Offnen  und  Schließen  der  Spalten.  Zu  diesem  Zweck  existiert  steh 
ein  mehr  oder  minder  vollkommener  Kreismuskel,  der  den  Schluß  der 
Spalte  herbeiführt.  Hierbei  sind  zahlreiche  Abstufungen  möglich,  in- 
sofern das  Schließen  ungezwungen  stattfindet,  oder  mit  verstärkter 
Kraft.  Ist  das  letztere  der  Fall ,  dann  wird  die  Haut  durch  den 
Schließmuskel  aus  der  Umgebung  herbeigezogen  und  in  Falten  gelegt 
wie  das  am  deutlichsten  bei  dem  verstärkten  Lidscliluß  der  Fall  ist 
Der  Augenbrauenrunzler  ist  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  betrachtet 
lediglich  ein  Teil  des  Ringmuskels,  der  durch  eine  bestimmte  Nerven- 
bahn eine  physiologisch  größere  Selbständigkeit  erhielt,  als  sie  sich 
anatomisch  nachweisen  läßt.  Soweit  also  die  mit  dem  Messer  und 
der  Pincette  gewonnenen  Resultate  Aufschluß  geben  können,  ist  dieser 
Augenbrauenrunzler  allerdings  nur  ein  Teil  des  Ringmuskels,  alw 
der  hohe  Grad  seiner  physiologischen  Unabhängigkeit  gestattet  es,  ihn 
als  einen  liesonderen  Muskel  aufzuführen. 

Zu  einem  sol(!hen  Kreis  von  Muskelbündeln  treten  aus  der  Um- 
gebung Muskelzüge,  welche  als  Antagonisten  die  Schnürbeweguug  der 
Kreisfasern  aufheben  und  eine  Erweiterung  der  Spalte  kerbeifiihren. 
Um  die  Lidspalte  herum  ist  dieses  Prinzip  auf  den  ersten  Blick  nicht 
mit  voller  Klarheit  ausgeprägt,  doch  ist  es  unschwer  zu  erkennen. 
Als  ein  Erweiterer  ganz  hervorragender  Art  erscheint  der  Stimmuskel. 
von  dem  viele  Bündel  geradezu  in  den  Kreismuskel  sich  einsenken. 
Während  dies  an  dem  oberen  Umfange  geschieht,  brechen  .aus  dem 
übrigen  Kreis  des  Ringmuskels  an  verschiedenen  Stellen  Muskelbündel 
aus,  um  gegen  die  Oberlippe,  den  Nasenrücken  und  den  Mundwinkel 
herabzuziehen  (Fig.  77  u.  78).  Hört  also  die  Kontraktion  des  Ring- 
muskels auf,  so  wird  die  Rückkehr  zur  Ausgangsstellung  nicht  nur 
durch  die  Ruhelage  des  Schließmuskels  herbeige fühi-t,  sondern  auch 
durch  die  Spannung  all  der  übrigen  Muskelkräfte,  welche  aus  der  Cm- 
gebuug    nach    dem    Zentrum    des    Ringmuskels    liinstreben.     Sie   alle 


Muskeln  des  Kopfes.  271 

t 

übernehmen  in  einem  solchen  Falle  die  Rolle  der  Ei-weiterer,  und 
fbhren  die  Öffnung  der  Spalte  herbei. 

An  der  Mundspalte  ist  das  Prinzip  der  öflnenden  und  schließen- 
den Fasern  noch  durchsichtiger  von  der  Natur  ausgetiihrt.  In  den 
Ringmuskel  der  Mundspalte  dringen  von  allen  Seiten  Muskeln  ein,  so 
daB  jeder  einzelne  Abschnitt  der  Spalte  unabhängig  nach  jeder  belie- 
bigen Richtung  gezogen  werden  kann.  Der  Tronipetermuskel  zieht 
den  Mundwinkel  nach  der  Richtung  des  Ohres  zu;  kommt  der  Zug  des 
Jochbeinmuskels  hinzu,  so  wird  die  Mundspalte  nach  rückwärts,  aber 
gleichzeitig  nach  aufwärts  verlängert.  Verbindet  sich  dagegen  mit  <ler 
Wirkung  des  Trompetermuskels  jene  des  dreieckigen  Unterkiefermus- 
kels, so  wird  die  Mundspalte  nach  abwärts  verlängert.  Bekanntlich 
sind  die  Muskeln  der  beiden  Gesichtshälften  unabhängig  von  einander, 
und  es  kann  sich  also  die  Bewegung  nur  auf  einer  Gesichtshälfte,  oder 
gleichzeitig  auf  beiden  abspielen. 

Für  die  Bewegung  des  mittleren  Abschnittes  der  Mundspalte  kom- 
men Fleischbündel  sowohl  vom  Oberkiefer  herab,  als  von  dem  Unter- 
kiefer hinauf.  Sie  dringen  durch  die  Bahnen  des  Ringmuskels  hin- 
durch und  befestigen  sich  in  der  Haut,  um  bei  der  Zusammenziehung 
die  verengernde  Wirkung  des  Ringmuskels  aufzuhel)en.  Der  Ober- 
kiefer entsendet  seinen  vierseitigen  Aufheber  der  Oberlippe,  wie  der 
Unterkiefer  seinen  vierseitigen  Niederzieher,  und  beide  sind  auf 
jeder   Seite   vorhanden. 

Dieser  Überblick  über  die  Muskulatur  der  Mundspalte  wird  viel- 
leicht dazu  beitragen,  den  Reichtum  der  Bewegungen  zu  verstehen, 
der  in  der  Umgebung  der  Mundspalte  unter  dem  Einfluß  einer  viel- 
gegliederten Muskulatur  stattfinden  kann. 

Dil»  sämtlichen  Muskeln  des  Antlitzes  werden  vom  VII.  Geliininervenpjuir, 
de«  Gesichtsnerven  (Nervus  facialis)^  versorgt 

So  wünscht^nswert  oh  auch  erscheinen  mag,  jeden  (dnzehien  Muskelfasorzug  in 
ßezieliung  auf  Herkunft,  DinieuHion,  konstantes  Vorkommen  und  Selbständigkeit 
seiner  Ner\'enbahnen  zu  studierten,  so  ist  hier  docli  nicht  der  Ort,  um  einen  Versuch 
dieser  Art  zu  machen,  fiir  den  noch  die  strengen  und  auch  auf  di«?  Tiere  hinaus- 
greifenden Untersuchung(ui  fehlen.  Dage^'n  mögen  folgende  Iknncrkungen  hier 
Platz  finden,  um  die  Vorstellung  von  der  mechanischen  Anordnung  der  bewegenden 
Kräfte  im  Antlitz  zu  erweitem. 

Die  Antlitzmuskeln  verlaufen  oft  große  Strecken  in  dem  Fett 
des  UnterhautgewebeSy  bis  sie  an  ihren  Bestimmungsort  gelangen. 
Das  Fett  spielt  bei  dem  Verlauf  eine  nicht  zu  unterschätzende  Rolle, 
sie  ist  hier  jedoch  nicht  die  einzige.  Das  Fett  hat  im  Gesicht  auch 
eine  physiognomische  Bedeutung,  sein  Überfluß  und  sein  Mangel  sind 
von  mächtigem  Einfluß  auf  den  geistigen  Ausdruck  an  sich  und  nicht 
minder  auf  den  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen.    An  manchen  Stellen 


des  fietuchteB  ist  es  in  besonders  dichten  Ma^^si^ii  zwischen  den  ZOgni 
dei  Wfingenlascie  iiigehüiift  Diese  Waiigenfascie  (Fa*na  Interahij 
liegt  auf  dem  äußeren  Kuumuskel  und  erstreckt  sich,  ilie  OhrspeirJitJ- 
diOse  hedt^ckend  bis  ^uni  Warzcnfortsatit  des  Schhifenbeines.  Sie  n- 
streckt  sich  aber  auch  tiefer,  Überzieht  den  Troui|ietermu8kel  uüJ 
folgt    ihm    hinter   dem    äußeren    Kaumuskel    /um    Schädelgrund  uiif- 


1 


steigend.  Der  Raum  zwischen  den  derben  Zügen  dieser  Fascie,  al»" 
hinter  dem  äußeren  Kaumuskel,  wird  durch  einen  rundlichen  Fett- 
ioiollen  ausgefüllt,  der  hei  dem  Kind  noch  eine  sehr  große  AusdelmaniE 
besitzt  und  doli  wohl  gleichzeitig  eine  Rolle  als  Sangpolster'  «pi«!!- 
Schwiiidet  durch  Krankheit  oder  Kutbehraug  dieses  Fettpolster.  dÄU" 
werden  die  Wangen  hohl,  d.  h.  der  Abstand  zwischen  dem  viini«!«" 
Rand  des  äußeren  Kiuunnskuls  (Fig.  77  Nr.  21)  und  der  Gesichtsfläd"*' 
de»  Trompetermuskels  (Fig.  77  Nr.  22},  der  sonst  durch  Fett  gepoUtart 


'  ItiiiKK,  H,  Ein  Sttugpolstpr  der  iiieiiBtliIif)n' 
Archiv.    Bd.  fl7.  im*.    S.  5a7. 


iWiiiiRp.  Mil2Taf.iln.  Vi»«"*" 


Muskeln  des  Kopfes.  273 

• 

war,  sinkt  ein.     Wie  aus  der  Abbildung  Fig.  78  bei  Nr.  5  hervorgeht, 
liegen  zarte  Bündel,  die  man  als  Laclimuskel  bezeichnet,  auf  dem 
Fettpolster  der  Wange;  das  Fettpolster  kann  also  für  den  Muskel  ein 
Stützpunkt  bei  der  Ausübung  des  Zuges  werden.     Es  ist  wohl  nicht 
zu  viel  behauptet,  wenn  man  sagt,  daß  das  Grübchen  in  der  Wange 
jugendliclier  Gesichter  in  vielen  Fällen  von  einer  vermehrten  Spannung 
des  Muskels    durch   die  Wölbung   des  Fettpolstei-s    herbeigeführt   ist. 
Vergegenwärtigt  man  sich  den  Vorgang  des  Lachens,  wie  es  in  der 
Fig.  83    dargestellt    ist,    so   muß   sich    folgende   Reihe   von   Muskel- 
wirkungen  in  der  Wange  abspielen.     Der  Trompetermuskel  verkürzt 
sich  und  zieht  auf  beiden  Seiten,  unterstützt  von  dem  Jochbeinmuskel, 
die  Mundspalte  in  die  Breite  und  etwas  in  die  Höhe.    Durch  die  Ver- 
kürzung des  Trompetermuskels  wird  aber  der  Raum,  in  welchem  das 
Fettpolster  der  Wange  sich    betin<let,    verengt,   das  Fettpolster  wird 
also  nach  vorn  gedrängt,    während  sich  die  ganze  Haut  der  Wange 
nach  rückwärts  und  aufwärts  staut,  wie  wir  dies  an  der  Fig.  83  und 
an  jedem  jugendlichen  und   gutgenährten  Gesicht  sehen  können.     Es 
ist   nun   sehr  wahrscheinlich,  daß   unter   solchen  Umständen  ein   be- 
stimmtes Bündel  des  Lachmuskels,  durch  das  Fettpolster  zu  sehr  ge- 
dehnt, die  Wangenhaut  an  der  bestimmten  Stelle  stärker  einzieht  und 
dadurch  jenes  Lach-Grübchcn  hervorliringt.    Der  Beweis  für  diese  Er- 
klärung ist  schwer  zu  führen,  als  Stütze  läßt  sich  nur  die  Erfalirung 
anflihren,   daß  löit  dem  Schwund  des  Fettes  auch  oft  das  Grübchen 
schwindet. 


Als  Muskelnamcii  wunleii  für  die  Aiitlitzmuskclii  dio  anatomisclion  Bezeich- 
nungen beibehalten,  Howeit  die*  möf^lieh  war,  ohne  mit  iler  Tradition  allzuH<>hr  in 
Widerspruch  zu  gerathen.  Welche  Hedenken  geg(»n  den  Gebniuch  physiologischer 
Bezeichnungen  8pri»chen,  zeigt  die  obige  Analyse  der  Muskelwirkung  bei  dem 
liehen.  Der  Lachinuskel  (Fif^.  78  Nr.  5)  wird  wegen  seines  Namens  wohl  von 
den  meist<;n  als  der  Ilauptmuskel  b(»i  diesiun  (.Temütsausdruck  angesehen,  und  df>ch 
spielt  er  nur  eine  sehr  untergeordnet<!  Rolle.  Der  Trompetermuskel  und  der  Joch- 
beinmuskel  sind  von  dem  physiologischen  Standpunkt  aus  wirksamere  Lac.hmuskeln 
als  die  Fortsetzung  des  Ilautmuskels  des  Ilalsi^s,  w(4che  diese  ausschließende  Be- 
zeichnung erhalten  hat.  So  wird  om  si(rh  noch  oft  zeigen,  daß  eine  ganze  Anzald 
von  Antlitzniuskeln  für  das  Zustandekommen  enies  Gemütsausdnickes  gleichzeitig 
mitwirkt.  Ich  halte  es  deshalb  für  unrichtig,  an  dieser  Stelle  lediglich  die  mi- 
mische Bedeutung  in  den  Vordergrund  zu  stellen,  schon  um  deswillen,  damit  «iie 
vergleichend-anatomische  Seite  der  Betnichtung  nicht  abgeschnitten  sei.  Denn  eint» 
Menge  von  inneren  Erregungen  der  Tiere  werden  mit  denselben  Mitteln,  nämlich 
durch  versc^hiedenen  Muskelzug  auf  die  Haut,  vollkomm(>n  verständlich  für  uns  aus- 
gedrückt. Nachdem  also  die  Fähigkeit,  Zustand«^  dt^  (Tehirns  durch  dif;  Mimik 
auszudrücken,  kein  ausschließliches  Vorrecht  des  Menschen  ist,  so  scheint  es  mir 
besser,  vorzugsweise  anatomische  I^^zeichnungen  anzuwenden. 

KoLLXANN,  Plastischn  Anatomie.  XK 


Aohter  AbsohnlU. 

IL    Bas  Ange. 


1 


Das  Auge,  unter  allen  Sinnen  deB  Menacheii  immer  als  das  lieküt 
Greschenk  und  als  das  wunderbiirste  Erzeugnis  der  schafiendeu  Natv- 
kraft  betrachtet,  besteht  aus  den  beiden  Augäpfeln,  welche  Iwim  Sehm 
wie  ein  Organ  zusammenwirken,  und  aus  Hilfs-  und  Schutzappapsten. 
welche  fUr  die  normale  Tliätigkeit,  wie  fUr  die  Schönheit  des  Au^ 
unerläßlich  sind.  Was  wäre  es  ohne  die  )>ewegeiiden  Muskel»,  «kr 
ohne  die  schützenden  Lider,  was  ohne  die  zahlreichen  GefäBe,  die  es 


e   Aufheber  rl.  Litlea. 

S  Ob  fterad    Augm. 

«  Sebncrr, 


Pig.  I 


Unt.  ivhier.  Augni. 
Augeiihiililn  mit  dem  Inhult,  pnrallcl  z 


r  K(-heiti:K>liciiC  durchürliDitteu. 


umgeben  und  samt  dem  Fett  Rowolil  physiologisch  eine  hervorntgemle 
Rolle  spielen,  als  auch  im  T)ienste  seiner  vielsagenden  Sprache  stelieo? 
Wir  werden  zunächst  den  Augapfel  hetiachten,  dann  die  uragel>en- 
den  Teile, 

a.  Der  Augapfel  (Bnllim  oaiU). 
Der  Augapfel  hat  die  Gestalt  eines  Ellipsoids,  an  dessen  vorderer 
Seite  ein  kleines  Kiigelscgment  aufgesetzt  ist,  die  durchsichtige  Horn- 
haut (Cornea).  Die  Krümmung  der  Hornhaut  ist  eine  andere,  als 
die  des  übrigen  Augapfels,  eine  Thatsache,  die  sich  selbst  bei  ge- 
schlossenen Lidern  wahrnehmen  lälit.  Bei  geschlossenen  Lidern  er- 
scheint  nämlich  die   Horhaut   wie   ein  kleiner  Hügel,    der   unter  dem 


Muskeln  dos  Kopfe».  275 

oberen  Augenlid  mit  den  Bewegungen  des  Augapfels  seine  Stelle 
wechselt.  Dadurch  ist  der  I^eweis  geliefert,  daß  dieses  Fenster  des 
Auges  ttl)er  die  Ebene  vorspringt.  Wir  werden  auf  die  Sichtbarkeit 
der  Hornhautwrdbung  durch  die  geschlossenen  Lieder  hindurch  später 
zurückkommen,  dann,  wenn  es  sich  um  den  Ausdruck  des  Schlafes 
und  denjenigen  des  Todes  in  dem  Antlitz  handelt. 

Während  so  ein  kleiner  Abschnitt  des  Augapfels  durchsichtig  ist, 
damit  die  Lichtstrahlen  in  das  Linere  dringen  können,  ist  der  übrige 
Abschnitt  undurchsichtig,  von  weißer  Farbe  und  heißt  die  weiße 
Augen  haut,  auch  kurz  „das  Weiße"  (Sclera).  Die  Sclera  hat  unter 
besonderen  Umständen  einen  leichten  Stich  in's  Blaue,  seltener  in's 
Gelbe.  Die  letztere  Färbung  '\^  l)ei  dem  Kuropäer  entweder  ein 
Zeichen  von  Gelbsucht  oder  von  frühzeitigem  Altern  der  weißen  Augen- 
haut; die  bläuliche  Farbe  steht  im  Zusammenhang  mit  einer  Verdün- 
nung, wodurch  das  dahinter  liegende  schwarze  Augenpigment  die  sonst 
weiße,  leuchtende  Farbe  selbst  des  jugendlichen  Auges  dämpft. 

Die  weiße  Augenhaut,  welche  wegen  ihrer  Prallheit  und  ihres 
derl)en  Gefüges  auch  die  anatomische  Bezeichnung  harte  Haut  er- 
lialten  hat,  umschließt  die  zarten  Teile  dieses  nach  den  optischen  (-re- 
setzen  einer  Dunkelkammer  ((amera  obsciira)  gebauten  Organes.  Diese 
Teile  bestehen  zunächst  aus  einer  Anzahl  ineinander  geschachtelter 
Häute,  welche  in  dem  von  ihnen  umschlossenen  Kaum  die  optisch 
wirksamen  Massen,  die  Linse  und  den  Glasköi*per  enthalten.  Die 
staunenswerten  Leistungen  des  kleinen  Organes  spielen  sich  also  in 
dem  von  der  Sclera  umschlossenen  Räume  ab,  der  mit  dem  Gehirn 
durch  den  Sehnerven  ni  Verhindung  gesetzt  ist.  Die  Anordnung  der 
Teile  im  Innern  des  Augapfels  ist  dabei  folgende: 

Unter  der  harten  Haut  liegt  eine  zweite  sehr  gefäßreiche  und 
dunkel  pigmentierte  Haut,  die  Aderhaut  des  Auges  (Chorioidea). 
Dort,  wo  sie  nach  vorne  an  dem  inneren  Umfange  des  Hornhautrandes 
iliren  Anheftungspunkt  erreicht,  ist  an  sie  eine  senkrecht  gestellte 
Scheibe  l>efestigt:  die  Regenbogenhaut  oder  Iris.  Die  Iris  hat  in 
der  Mitte  ein  nahezu  kreisrundes  Loch,  das  Seh  loch  oder  die  Pu- 
pille^ [Vi^,,  85).  Durch  dieses  Loch  dringen  die  Lichtstrahlen  in  das 
Linere  des  Auges,  tretfen  aber  zunächst  auf  die  Kristallinse  (Fig.  84 
Nr.  2).  Sie  hat  <lie  Form  einer  doppelt  gewölbten  Glaslinse,  wie  sie 
in  den  Werkstätten  unserer  Optiker  Verwendung  linden.  Sie  ist  so 
durchsichtig,    daß    man   bei   gewöhnlicher  Beleuchtung  nichts   von   ihr 

'  Ihis  verkleiiKTte  Bild  de«  I^'HcliauerH,  wolcho«  yich  im  Auf^o  (dnes  zweiten 
abspief^elt,  ließ  das  Sehlo<'li,  in  w<'lc*lMMn  di<*8<^8  Bildchen  erscheint,  Papilla  nennen. 
1>J18  Wort  kommt  von  Pupa  Mädchen,  de8H<?n  KoHeform  Papilla,  kleineji  Miidchen, 
heißt.    In  SiiddeutHchland  heißt  dieseH  Bihlehen  im  Sehloch  bei  dem  Volke:  *8  Kindl. 

18* 


276  Achter  AbuhiiltL 

erkennt,  sondern  nur  die  dem  dunkeln  Hintergrund  des  AugnpfeU 
eigeiitümliclie  Schwäi'ze  wahrnimmt.  Sie  niLt  auf  der  vonleren  ter- 
tieften  Fläche  eines  ebenso  durchsichtigen  Köi-pere ,  der  den  nodi 
übrigen  Biiinenraum  jiuafüUt  und  Glaskörper  {Fig.  83  Kr.  i)  genaust 
wild.  Hat  der  Lirhthilschel  die  Hornhaut,  Kristalllin»e  und  Gla>. 
körper  durchsetzt,  so  trifTt  er  auf  <lie  dUnne  membranartigr  Aas- 
breitung  des  Sehnerven,  die  Netzhaut  (Uetina).  Sie  ist  die  tnnenl« 
Lage  der  den  Augapfel  auskleidenden  Hunte,  welclie  das  cingedmn^ew 
Liclit,  und  das  im  Auge  entworfene  Bild  auffängt.  Durch  die  Nerrtit- 
fasem  dos  Sehnerven  werden  die  so  entstandenen  Eindrücke  nach  dea 
Geliirn  geleitet  und  zum  Bewußtsein  gebracht. 

Von  <lieseii  einzelnen  Theilen  de«  Augapfels  verlange»  eiuige  etva< 
eingehendere  Berücksichtigung. 

3   Orbitalleil  d.  Lide«. 

.  O.  LidlklU-. 


Thränenkm-unkpl   I 


Kickhnot   5  •,  «  ^-  Li-lf"!». 

I  I  >rl)itall«il  d.  Lides, 
t^g.  85.     Aut.'c  von  vornt!  gt.-sc}ieii. 

Die  Hornhaut  mit  ihrer  glatten  kugeligen  Krümmung,  und  Jer 
hinter  ilir  senkrecht  zur  Augeiiacliso  liegende  Vorhang,  die  Iris,  I)^!reü- 
zen  miteinander  einen  kleinen  Ranm,  die  vordere  Augenkamiui-r 
(Fig.  84  Nr.  .t).  In  diesen  mit  farbloser  Flüssigkeit  gefüllten  Kauin 
dringen  von  allen  Seiten  Lichtstrahlen;  auch  unser  eigener  Blick  kann 
in  ihn  eindringen. 

Auf  der  Hornhaut  entsteht  bekanntlich  ein  Lichtreflex.  Er  ver- 
dankt seine  Entstehung  dem  Unistande,  daß  trotz  ihi-er  Durchsichtig- 
keit doch  auch  ein  Teil  de«  auffallcndon  Lichtes  zurückgeworfen  winl 
Die  Hornhaut  verhält  sich  wie  eine  geknimmte  Glasfläche,  welche 
den  gröBten  Teil  der  anffallendeu  Lichtstnihlen  hindurcliläöt.  eineu 
kleinen  aber  zurückwirft. 

Jfidc  Wasserflaa-k'  entwirft  von  ileui  (;i^>^'iiii)>erbofiii<lli<.'hcn  Fonjiter  ein  v(t- 
klciiicrtefi  Itild  und  ho  am-li  Ana  Augi-.  Diivea  Hiltlchün  ist,  wie  die  Uptik  lehrt, 
nufrecht.  Din  Optik  klirt  Htuit,  daß  dicai'i»  Ki>i.r(,i'I Itild  ftuoli  so  crefliriiic,  «I»  nt- 
fs  liintftr  ilor  Hjiii>)i:i'lndcii  Flttclin  Midi  licfindit.  Iki  dum  monsclilic-httii  Aupe  \il 
Aldi  nur  mit  großer  Aufiiii'rkHiiinki>it  fi'ntztwttflleii,  lici  iliiii  wird  es  scheinbar  dirvkr 
von  der  Mpii-f^i-lndi-n  ObiTtliieiio  Aix  OonK-a  zurik'k|^>wi>rf<>ii.  So  wirft  jcdur  polieiti' 
Mctallkiiopf  Am  ftnfrechtxtehi-nde  Dild  Am.  i:egeniibrrliep^n<lcn  GcgenistandcB  zunick. 


Muflkeln  des  Kopfes.  277 

Der  Lichtreliex  auf  der  Hornhaut  rührt  also  von  derselben  Licht- 
quelle her,  welche  gleichzeitig  ihre  Strahlen  auch  in  das  Innere  des 
Augapfels  sendet.  Die  Form  und  der  Ort  des  Reflexes  hängt  von  der 
Stellung  des  Kopfes  zu  dem  Lichte  ab,  ist  also  sehr  wechselnd.  Unter- 
suchen wir  den  häufigsten  Fall ,  unter  welchem  Porträte  aufgefaßt 
werden,  so  ist  es  derjenige  des  einheitlichen  seitlichen  Lichtes  im 
Atelier.  Sitzt  das  Modell  der  Art,  daß  es  ^/^  Licht  empfängt,  daim 
erscheint  in  beiden  Augen  ein  Lichtrefiex,  aber  von  verschiedener 
Größe.  Jenes  Auge,  das  dem  Fenster  zunächst  ist,  zeigt  das  eckige 
Bild  des  Fensters  in  viel  stärkerem  Grade  und  in  größerem  Umfang, 
als  das  andere,  das  von  dem  Licht  nur  gestreift  wird.  Bei  Halblicht 
kann  der  Keflex  auf  dem  zweiten  Auge  völlig  fehlen. 

ft   Orbitalteil  des  oberen  Lides. 


I 


Obere  Lidfulte. 


2  Untere  Lidfalte. 


S'  Orbitalteil  des  unteren  Lides. 
Fig.  86.    Auge  von  der  Seite  gesehen. 

Der  Lichtrefiex  beschränkt  sich  bei  seitlich  auffallendem  Licht  nicht 
allein  auf  die  Hornhaut,  sondern  erscheint,  wenn  auch  abgedämpft  und 
verwischt,  auf  dem  Weißen  des  Auges,  dicht  neben  der  Hornhaut,  selbst- 
verständlich an  der  konvexesten  Stelle  des  kugligen  Augapfels,  welche 
eben  von  dem  Lichte  noch  getroffen  wird.  Nachdem  sich  die  Wölbung 
der  Kugel  in  die  Tiefe  der  Augenhöhle  zurückzieht,  erhält  dieser  Refiex 
die  Form  eines  spitzen  Dreiecks  mit  verwaschenen  Rändern,  dessen 
Spitze  im  Augenwinkel,  dessen  Basis  an  der  Hornhaut  liegt. 

Noch  ist  eines  zweiten  abgeschwächten  Lichtreflexes  Erwähnung  zu  thun, 
welcher  auf  dem  Weißen  des  Auges  dicht  neben  der  Hornhaut,  aber  auf  der  von 
dem  Licht  ahgekehrten,  also  der  Schattenseite  des  Auges  entsteht  Auch  er  verdankt 
seinen  Ursprung  der  Wölbung  des  Augapfels,  welche  von  dem  seitlichen  Lichte  eben 
noch  etwas  gestreift  wird.  —  Die  Hornhaut  nimmt  in  vorgerückten  Jahren  stellen- 
weise das  Aussehen  der  weißen  Augenhaut  an  und  verliert  etwas  an  Durchsichtig- 
jLeit  So  in  jener  Altersmetamorphose,  welche  am  Rande  als  Greisenbogen  auf- 
tritt. Er  fkngt  in  der  Regel  am  unteren  Homhautrande  als  graue  Trübung 
unter  der  Form  einer  schmalen  Mondsichel  an.  Später  folgt  eine  ähnliche  am 
oberen  Rande  der  Hornhaut  nach.  Beide  fließen  ^  bei  fortschreitender  Zunahme, 
mit  ihren  Enden  ineinander. 


278  AchU;r  Alwchnitt. 

Die  vordere  Augenkaniniür  (Fig.  84  Nr.  3)  erstreckt  sich  voa 
der  hinteren  Fläche  der  Hornhaut  bis  zur  vorderen  Fläche  der  h> 
in  einer  Ausdelnmng  von  3^/^  mm.  Sie  ist  am  lebenden  und  toteo 
Auge  zu  sehen.  An  der  Fig.  86  ist  der  Abstand  zwischen  der  H«im. 
haut  und  der  Iris  wohl  ersichtlich. 

Die   Iris  oder   Regenbogenhaut   fallt  durch   ilire  B^arbe  auf. 
welche  vom  hellblau  und   blaugrau   bis   dunkelbraun  wechselt.     Blas. 
grau  und  braun  sind  in  Europa  weit  verbreitet,  und  geben  Belege  !ür 
die    Verschiedenartigkeit    der    die    Bevölkerung     zusammensetzenden 
ßassenelemeute.     Durch  die  Vermischung  dieser  verschiedenen  einjre- 
wanderten   Rassen    sind    wie    in    der   Gesichtsform    so    auch   in  den 
Färbungen  der  Iris  zahllose  Abstufungen  und  Übergänge  entstanden. 
Der  Iris    ist  die  wichtige  Rolle   eines   Lichtschirmes    im    Innern  de^ 
Auges  übertragen.     Ihre  zentrale  Öffnung,  die  Pupille,    erweitert  aiül 
verengert   sich    und    zwar    tritt    das    letztere   ein    bei    der    Liditfulie 
des  Tages,    das   erstere   in  der  Dännnerung   und    in   der  Dunkelheit. 
Dieser  Vorgang,    der  sich    ohne  unser  Bewußtsein  und    ohne   unseren 
Willen    vollzieht ,    geschieht    unter    der    sinnreichen   Verkettung   des 
Sehnerven   mit   den    Bewegungsnerven,   welche    die  .in    der    Iris   vor- 
handenen Muskelbündel  abwechselnd  erregen.    Ist  die  Lichtfülle  groß, 
so    ziehen    sich    konzentrisch    zur   Pupille   angebrachte    MuskelbQndel 
zusammen,    welche  als  Ringmuskel  der  Pupille  (Sphinr,ter  pupillae^ 
bezeichnet    werden,    und    mäßigen    dadurch    den  Überschuß    an  Licht. 
Herrscht   dagegen  Lichtmangel,    so  wirken    radiärgestellt^  Züge  einer 
elastischen  Substanz,   welche   ihren  Ursprung  an  der  Grenze  zw^ischen 
Hornhaut  und  Sclera  haben,  und  mit  ihrem  Ansatz  in  die  Bündel  des 
Ringmuskels    eingreifen.      So    ist    also    das    Sehloch    von    wechselnder 
Größe    und    die   Iris    von    verschiedener   Breite.     Erweiterte    Pupillen 
geben    dem  Auge   etwas  weiches,    es  gewinnt  gleichsam  an  Tiefe  und 
fesselt  den  Beschauer  durch  das  Fremdartige  des  Blickes.    Die  Frauen 
im  Orient  träufeln   sich  Atropin  ins  Auge,   das  die  Pupille  erweitert. 
Sie  wollen  in  ihr  Auge  den  seelenvollen  Blick  dauernd  legen,  der  aus 
den  erweiterten  Pupillen  besonders  deutlich  das  Glück  der  Liebe  ver- 
künden soll. 

Die  Netzhaut  ist  jene  dünne  membranartige  Ausbreitung  deN 
Sehnerven,  welche  das  im  Auge  entworfene  optische  Bild  auftangt. 
Die  Fasern  des  Sehnerven  strahlen  dtu't  in  das  regelmäßig  angeord- 
nete Mosaik  feiner  cyündrischer  Stäbchen  und  Zapfen  aus,  welche  dicht 
aneinanderged rängt  stehen  und  von  denen  jedes  mit  einer  Nervenfaser 
verbunden  ist.  Dieses  Mosaik  dei'  Nervenelemente  stellt,  wie  sich 
durch  bestimmte  Versuche  zeigen  läßt,  die  eigentlich  lichtempfindliche 
Schichte  der  Netzhaut  dar. 


Muskeln  des  Kopfes.  279 

Die  Netzhaut   besitzt  eine  Stelle,    an  der  alle  melir  oder  weniger 
trttbcu  Bestandteile  ihres  Baues   bei  Seite   gedrängt  sind.     Selbst  die 
ernährenden  Gefäße   sind  von  dieser  Stelle  verbannt  und  dürfen  nicht 
in  jenen  Kreis  eindringen,  der  etwas  vertieft  liegt  und  deshalb  Netz- 
hautgrube    genannt   wird.      Diese    kleine   Grube   ist   die   Stelle   des 
schärfsten   Sehens   und    der   feinsten   Baunmnterscheidung.     Die    Ent- 
stehung der  Bilder  beruht  im  Innern   des  Auges,   wie  in  der  Camera 
obscura  des  Photographen  bekanntlich  darauf,   daö  die  Lichtstrahlen, 
die  von  einem  leuchtenden  Körper,  dem  Objektpunkt,  ausgegangen  sind, 
durch  die  Linse  so  gebrochen  und  von  ihrer  früheren  Richtung  abge- 
lenkt werden,    daß   hinter   der  Linse   eine  Durchkreuzung  stattfindet, 
und   auf  der  empfindlichen  Platte  oder  der  Netzhaut  ein  verkleinertes 
Bild  entsteht.     Jeder  Zapfen  der  mosaikartig  dichtbesetzten  Netzhaut 
unseres  Auges  wird  nur  von  denjenigen  Lichtstrahlen  getroflien,  welche 
ein  entsprechend  kleines  Flächenelement  des  leuchtenden  Gegenstandes 
aussendet.     Die  aus  dem  Zapfen  entspringende  Nervenfaser  wird  also 
nur  von  dem  Lichte  dieses  einen  ents])rechenden  Flächenelementes  in 
Erregung  versetzt,  und  empfindet  nur  dieses,  während  diu'ch  das  Licht 
benachbarter   Punkte   des   Gesichtsfeldes   andere   Nervenfasern   erregt 
werden.     Das  Auge  hat  nun  einen  Vorzug  vor  den  optischen  Instru- 
menten,  z.  B.  der  Camera  des  Photographen,  daß  es  ein  sehr  großes 
Gesichtsfeld  hat,  d.  h.  gleichzeitig  einen  sehr  großen  Kreis  der  Außen- 
welt  übersieht.     Die  Netzhaut   nimmt   freilich   nur  an  einer  einzigen 
Stelle  mit  vollkommener  Schärfe  die  Bilder  wahr,  nämlich  in  der  Netz- 
hautgrube.     Auf   allen    übrigen   Teilen    werden    die   Bilder   ungenau 
gesehen,   um  so  mehr,  je  weiter  sie  von  dieser  Grube  entfernt  sind. 
So  gleicht  denn  das  Gesichtsbild,  welches  wir  durch  ein  Auge  erhalten, 
einer  Zeichnung,  in  welcher  nur  der  mittlere  Teil  sehr  fein  und  sauber 
ausgeführt,    die  Umgebung   aber   nur   grob    skizziert   ist.     Allein   wir 
sehen  ihn  doch  gleichzeitig  im  Zusammenhang  mit  seiner  Umgebung, 
und    wir   sehen    von    letzterer  mindestens  so   viel,    um  auf  jeden  auf- 
fallenden Gegenstand,  namentlich  aber  auf  jede  Veränderung  in  diesem 
Umkreise  sogleich  aufmerksam  werden  zu  können,  was  Alles  in  einem 
Femrohr  nicht  der  Fall  ist.     Sind  aber  die  Gegenstände  zu  klein,  so 
erkennen  wir  sie  überhaupt  nicht  mit  den  Seitenteilen  der  Netzhaut. 

Wcun  hrk;h  im  blauen  Raum  vorloren 
Ihr  jubelnd  Lied  die  Lerche  Hingt, 

so  ist  sie  uns  eben  verloren,  so  lange  es  nicht  gelingt,  ihr  Bild  auf 
die  Netzhautgrube  zu  bringen.  Dann  erst  erfassen  wir  sie  mit  unserem 
Blick,  dann  erst  nehmen  wir  sie  wahr.  Den  Blick  auf  einen  Gegen- 
stand hinwenden  heißt,  also:  das  Auge  so  stellen,  daß  das  Bild 
jenes  Gegenstandes  sich  auf  der  Stelle  des  deutlichsten  Sehens 


280  Achter  Abschnitt. 

abbildet.     Dies  nennt  man  auch  direktes  Sehen,   indirektes  d^ 
gegen,  wenn  wir  mit  den  seitlichen  Teilen  der  Netzhaut  wahrnehmen. 

In  der  Beweglichkeit  des  Auges,  welche  uns  erlaubt,  schntU 
hintereinander  den  Blick  jedem  einzelnen  Teile  des  Gesichtafeldes  tn- 
zuwenden,  liegt  oiFenbar  ein  großer  Teil  der  Bedeutung,  welche  dem 
Auge  als  Mittel  seelischen  Ausdinicks  zukommt.  Die  Bewegung  des 
Blickes  ist  eines  der  direktesten  Zeichen  für  die  Bewegung  der  Auf- 
merksamkeit,  und  somit  der  Vorstellung  im  Geiste  des  Blickenden. 
Die  Sprache  enthält  genug  Belege  für  die  verschiedenen  Formen,  outer 
denen  der  Blick  einen  Punkt  genau  fixiert:  der  Blick  ruht  wohlwollend 
auf  einem  Gegenstand,  oder  vernichtend,  zornig,  wegwerfend,  lieberoll 
u.  s.  w.,  womit  nur  bestimmte  Arten  des  Fixierens  bezeichnet  werden. 

Nachdem  hierbei  nicht  ausschließlich  der  Augapfel,  sondern  auch  die 
Umhüllungen  in  Betracht  kommen,  werden  wir  zunächst  diese  beschreiben. 

b.    Äufsere  Umgebung  des  Auges. 

Die  Augenhöhle  stellt  eine  liegende  hohle  Knochenpjrramide 
von  vierseitiger  Gestalt  dar.  Beide  Augenhöhlenpyramiden  konver- 
gieren mit  ihren  langen  Achsen  nach  hinten.  Die  Grundfläche  dieser 
Pyramide  ist  der  weit^eöffnete  Eingang,  der  Augenhöhleneiugang, 
die  Spitze  liegt  in  einer  4  mm  großen  runden  ÖfiFhung,  durch  welche 
der  Sehnerv  und  die  Augenschlagader  in  die  Augenhöhle  gelangen.  Die 
Ränder  der  offenen  Gnmdfiäche  der  Pyramide  werden  von  starkeu. 
die  Wände  der  Pyramide  dagegen  von  schwachen  Knochenpartien 
gebildet.  Der  obere  und  äußere  Rand  des  Augenhöhlenoinganges  ist 
massiver  als  die  übrigen,  da  von  diesen  Richtungen  her  das  Aug* 
am  meisten  feindlichen  Angriffen  bloßgestellt  ist.  In  der  Knochen- 
lehre wurde  schon  an  verschiedenen  Stellen  dieser  Knochenränder  Er- 
wälnmng  gethan,  namentlich  wurde  bei  der  Beschreibung  des  Stirn- 
beines und  des  Wangenbeines  auf  manche  Eigenschaft  hingewiesen, 
welche  liir  die  Lagerung  des  Augapfels  und  seine  nächste  Umgebung 
von  Wert  ist.  Die  Wände  der  Hohlpyramide  zeigen,  abgesehen  von  der 
schon  erwähnten  Eintrittstelle  des  Sehnerven  (Fig.  84  Nr.  4)  und  anderen 
kleinen  Offnungen  für  Blutgefäße  und  Nerven  zwei  klaiTende  Spalten, 
welche  in  der  äußeren  Wand  sich  befinden  (vergleiche  die  Abbildungen 
der  Schädel  auf  S.  102  u.  106).  Die  obere  Augenhöhlenspalte 
fülirt  in  die  Schädelhöhlo  und  dient  zum  Durchgang  von  Nerven  für 
die  Augenmuskeln,  den  Augenapfel  selbst  und  seine  Umhüllungen,  die 
untere  Augenhöhlenspalte  führt  an  den  Schädelgrund  hinab  in 
die  Nähe  der  Flügelfortsätze  des  Keilbeins  und  das  seitliche  Ende 
der  knöchernen  Gaumenphitte ,  mit  einem  Worte  in  die  Flügel- 
gaumengrube.    Durch   diese   untere  Spalte    Hießt  vorzugsweise  das 


Muskeln  des  Kopfes.  281 

Venenblut  des  Augapfels  zu  den  tiefen  Halsvenen  ab.  Die  innere, 
nach  der  Nasenseite  befindliche  Wand  der  Augenhöhle  ist  hinten  von 
einer  papierdünnen  Knochenplatte  verschlossen,  vorne  wird  sie  etwas 
stärker  und  umschließt  das  Thriinenbein.  Das  Thränenboin  zeigt  eine 
senkrechte  Leiste  (Crista  lacnjmalis),  wodurch  es  in  eine  vordere 
kleinere  und  hintere  größere  Abteilung  geschieden  wird.  Krstere  stellt 
eine  Rinne  dar,  welche  mit  einer  ähnlichen  Rinne  an  dem  Stirnfortsatz 
des  Oberkiefers  die  Thränensackgrube  vervollständigt,  deren  Fort- 
setzung der  absteigende  Thränennasenkanal  ist. 

Die  knöcherne  Umrandung  des  Augenhöhleneinganges  unterliegt 
in  Größe  und  Form  manchen  Verschiedenheiten;  die  größten  Gegen- 
sätze bestehen  in  folgendem:  Der  Eingang  ist  entweder  rundlich, 
weit  aufgerissen,  oder  viereckig  und  von  oben  nach  unten  zusammen- 
gedrückt, so  daß  der  Augenhöhleneingang  wie  ein  Parallelogramm  mit 
zwei  langen  und  zwei  kurzen  Seiten  gestaltet  ist.  Diese  beiden 
Gegensätze  sind  in  den  Figuren  21  u.  22  (S.  00  u.  Ol)  nach  euro- 
päischen Schädeln  kopiert.  Eine  sorgfältige  Umschau  wird  in  jedem 
Museum  Schädel  dieser  Form  aufweisen,  bei  deren  genaueren  Betrach- 
tung sich  ferner  herausstellt,  daß  die  (iestalt  der  Augenhöhle  mit  der  des 
ganzen  übrigen  Schädels  in  Übereinstimmung  ist.  Mit  der  zusammen- 
gedrückten Form  des  Augenhöhleneinganges  harmoniert  die  Breite  des 
ganzen  Gesichtschädels,  mit  der  eckigen  Beschaftenhcit  des  Augenhöhlen- 
randes die  eckigen  und  scharfen  Begnuizungslinien  aller  übrigen  Teile. 
Zum  Untei-schied  hiervon  sind  bei  den  Europäern  mit  runder  Augen- 
höhle die  (lesichter  schmal  und  lang,  und  die  Knochenvorsprünge  mehr 
gemäßigt.  —  Hinter  dem  Augenliöhleneingang  erweitert  sich  die  Hohl- 
pyramide der  Augenhöhle;  sie  umschließt  also  einen  größeren  Raum, 
als  man  bei  dem  Anblick  des  Randes  von  vorn  vermuten  sollte. 

Eine  Kugel,  wie  der  Augapfel,  kann  eine  Hohlpyramide  von  der 
Größe  der  Augenhöhlen  nicht  ausfüllen.  Es  ist  also  in  der  Augen- 
höhle hinreichend  Platz  vorhanden  iVir  vei*schiedene  Nebenorgane.  Viel 
Raum  nimmt  u.  a.  die  gewöhnliche  Ausfüllungsnmsse,  das  Fett,  ein 
(Fig.  84  Nr.  7,  7',  7").  Dieses  weiche  elastische  Polster,  das  auch  den 
hinteren  Umfang  des  Augapfels  umgiebt,  ist  nicht  fest  fixiert, 
sondern  einer  wenn  auch  mäßigen  Zunahme  seines  Volumens  fähig, 
wodurch  es  im  ganzen  sich  ausdehnt  und  wieder  zusammenzieht. 
Unter  solchen  Umständen  findet  eine  stärkere  Füllung  der  Augenhöhle 
sti4tt,  wobei  der  Augapfel  diesen  Bewegungen  des  Fettes  folgen  muß. 
Die  Zunalmie  des  Fettvolumens  und  damit  das  Hervortreten  des  Aug- 
apfels kann  hervorgerufen  werden: 

l)  durch  starke  Füllung  der  Gefäße,  zumal  der  Venen,  wie 
dies  namentlich  bei  verhindertem  Abfluß  des  venösen  Blutes  vorkommt. 


1 


282  Achter  Abschnitt 

SO  l)eim  Zorn,  der  das  Blut  gegen  den  Kopf  treibt.  Es  scliwcllea 
nicht  allein  die  Adern  der  Stini  an  (Zoniader),  sondern  das  ganze 
Gesicht  rötet  sich.  Bei  Blutandrang  nach  dem  Kopf  durch  den  Ge- 
nuß geistiger  Getränke  geschieht  etwas  ähnliches.  Stets  ist  am  Kopf 
des  Erhängten  diese  Erscheinung  zu  beobachten.  Die  Augen  treten 
2)  ferner  hervor  durch  willkürliclie  forcierte  Öffnung  der  Lid- 
spalte  und  zwar  deshalb,  weil  der  von  vornher  w^irkeude  Liddmcl 
vermindert  wird.  Das  sind  nicht  die  einzigen  Ursachen,  aber  die  fcr 
den  Künstler  wichtigsten. 

Auf  jene  krankhaftcu  Ursachen  kann  hier  nicht  Bücksicht  genommen  werdifiL 
welche  die  Augäpfel  weiter  als  im  normalen  Zustande  hervordrängen.  Die  «)p, 
Glotzaugen,  < )ch8enaug(»n  u.  s.  w.,  wie  sie  populär  genannt  werden,  gehören  in  di» 
Gt^biet  der  krankhaften  Störungen. 

Wird  das  Fett  durch  Krankheiten  oder  durch  Abmagerung  to 
beim  Hunger   aufgezehrt,    so    sinkt   der  Augapfel    tief   in    die   Holdt 
zurück.     Rings  an    dem  knöchernen  Augenhöhleurand   entsteht  danu 
eine  Vertiefung,  die  vorzugsweise  am  oberen  Augenlide  auffallt,  weil 
dieser  Rand  stärker  hervorragt,  als  der  untere.     Die  übliche  Sprach- 
weise  nennt  diese  Erscheinung  hohle  Augen.     Durch   diese  Vertie- 
fung  wird  nicht   nur   der   knöcherne  Rand   der  Augenhöhle   deutlich 
sichtbar   durch   die   Haut,    sondern   auch   die  Gestalt    des   Augapfels 
wird   in   größerem  Umfang   bemerkbar.     Im  hohen  Alter,    wenn  der 
Schwund    der  Muskeln   und    des  Fettes  auch   in    der  Umgebung  des 
Augapfels  weitergreift,   dann  treten   ebenfalls  die  knöchernen  Ränder 
liervor.     „Hohle  Augen"   können  auch  entstehen  durch   Leerheit  der 
venösen  Gefäße.     In  dem  Fettpolster  verlaufen  zahlreiche  Blutadern, 
durch  deren  Entleerung  die  Umgebung  des  Augapfels  einsinkt.   Schwerer 
Kummer,    der  die   Zirkulation  des  Blutes  verlangsamt,    Schreck  und 
Angst,  die    ähnlich    aber   plötzlicher  wirken,    oder  auch    eine  durch- 
tanzte Nacht  können  diesell)e  Erscheinung  um  das  Auge  hervorbringen. 
Mit  der  verlangsamten  Zirkulation  des  Blutes  nimmt  auch  die  Menge 
der  die  Gewebslücken  sonst  strotzend  füllenden  Gewebsflüssigkeit  ab. 
und    dann  scheinen   früher  unsichtbare    blaue  Stränge,    die    schwach- 
gefüllten tiefliegenden  Venen,  durch   die  feine  Haut  hindurch.     Diese 
lokalen  Zeichen  von  Schwäche  benutzt  die  Eitelkeit,  um  dem  Auge  einen 
sclnnachtenden  Ausdruck  zu  geben.    Sie  färbt  die  Lider  etwas  dunkel, 
und  sucht,  wie  im  Orient,  jenen  Efl'ekt,   den  nur  Schmerz  oder  Sehn- 
sucht auf  das  Gesicht  malen,  durch  aufgetragenes  Schwarz  zu  erreichen. 

Das  Zurücktreten  und  Einsinken  der  Umgebung  des  Augapfels 
tritt  auch  ein  im  Tod.  Die  venösen  Gefäße  entleeren  sich,  das 
Fett,  während  des  Lebens  flüssig,  erstarrt  infolge  der  Abnahme  der 
Temperatur  in  seinen  Zellen,  zieht  sich  also  auf  ein  kleines  Volumen 


Muskeln  des  Kopfes. 


283 


zusammen.  Die  Umgebung  des  Auges  wird  dadurch  hohl,  und  die 
Kiiüclicnränder  treten  scharf  hervor.  Die  Art,  wie  dies  geschieht,  läßt 
ganz  bestimmte  Falten  erkennen,  die  näher  zu  beschreiben  sind. 

Die  Lagerung  des  AugeB  tritt  uns  in  zwei  extremen  Fonnen  entgegen, 
nämlieh  als  tiefliegende  und  als  flachliegende  Augen.  Die  ,,tiefliegend(?n" 
liegen  nicht  an  und  für  eich  tiefer  in  die  Augenhöhle  verwelkt,  sondern  die  Gestalt 
des  Schüdels  bedingt  durch  Vorspringen  und  Überhängen  der  Augenhöhlen- 
r ander  die  tiefere  Ljif^e;  die  Auf^en  liegen  wie  in  einem  Verstwk,  können  sich 
auch,  des  Vortretens  der  Stirn  wegen,  weniger  weit  öffiien  als  anden»  und  (erhalten 
dadurch  einen  selbständigenMi  und  abgeschlossiMienni  Charakter,  welcher  noch  durch 


■  1  äehläfenlinie. 

>.a  Orbital  furche. 

"  *  Jochl>ogen. 

5  Wangenbein. 

—k  Unterkieferwiukel. 

5  Kinnhöcker. 


Fig.  87.     Porträt  eines  Mongolen,  von  Shadow  gezeichnet. 

eine  dunklere  Farbe  der  Iris  vi^rniehrt  werden  kann.  Sie  kontrastieren  geg<»n  die 
freier  liegenden  und  weiter  geöffneten  Augen.  Der  feste  Ausdruck  wird  noch  da- 
durch vermehrt,  daß  mit  dem  untenan  Teile  der  Stini  zugleich  die  Augenbrauen 
mehr  vortreten  und  dadurch  bleibend  einen  Ausdruck  geben,  welchen  die  hoch- 
liegenden Augen  nur  annähernd  und  voriibergehend  durch  Zusannnenzi(;hen  und 
Runzeln  ihrer  flacher  liegenden  und  meist  weniger  auHgebild(»t4'n  Augenbramm  er- 
n»iehen  können.  Tiefliegende  Aug(;n  haben  etwas  scharfes  adlerartiges,  während 
flacher  liegende  Augen  mehr  den  freundlicheren  Eindruck  der  Milde  zu  geben 
pflegen  (Kinderaugen).  —  Sind  wie  bei  langem  Gesicht  die  Augen  nicht  nur  relativ 
einander  näher  gestielt,  sondern  auch  wegen  der  allgem(>ineren  seitlichen  Verflatthung 
der  ganzen  Kopfbildung  absolut  näher,  so  erhalten  sie  dadurch  mi^hr  den  Ausdruck 
des  beobachtenden  Fixierens. 

1)  Hautfalten  in  der  Umgebung  der  Lidspalte. 

Unter   diesem  Titel   sollen   jene   Hautfalten    beschrieben    werden, 
welche 

1)  den  Augenhöhleneingang  umkreisen,  und 

2)  jene  Hautfalten,  welche  den  Lidern  selbst  angehören. 


Aiditer  AlMoluiitt. 

Der   Ki]o(.'Iienni.ii(i   ilus  Augen liiilileiieiiigaiigns   ist   bd  ^ 
liehen  Vollreifen  OrganiHiaus    durch   die  Haut    hiudun 
Weder  der  Augapfel   noch  seine   Umhüllungen   fiilleu    di«  Atigen 
vollständig  aus,    stets   bleibt  hinreichender  Spieli-aum    zwischen  i 
und    dem   vorapringenden    Band,   wodurch  sich  die   Grenzen   kenn 
abhebeu.     Der    inneren    Peripherie    des    Augenhöhlunumfiuigm 
nüuilich  eine  Furche,  die  Orliitiil-  oder  Äugenhölilenl'uifcho.  n 


9  dem  Mänuliener  K<ipfL'ralii.-likiLbinct. 


einen  oberen  nnd  einen  unteren  Halbkiois  beschreibt.    Sie  enlsU 
erster  Linie  durch  den   Luftdruck,   der   die  Weichteile  in  die  Aj 
höhle  liineindrückt.     Nachdem  der  kußciierne  Rand  über  die  ( 
ebene   vorragt,   vfeichen    die  verachiehbarcn  Teile   des  Auges 
und  an  der  ITbergangsstelle  von  dem  Knocbenrand  /u  der  HObld| 
notwendig  eine  Falte  entstehen. 

Die  einfache  Skizze   eines   Mongolengesichtes   zeigt  deutlich,! 
unter   Orbitalfurche   xu  verstehen   ist;    sie  ist   bei   dieser  i 


Muikrln  de«  KopfM. 


285 


Menschenrasse  um  so  dciitlicliGr,  weil  die  Ati^cnliniueii  viel  hüher 
liegen  als  bei  den  ciiru|iäiHclieii  Kitsseii.  Hei  a  Fig.  H7  zieht  eine 
Furche  in  weitem  Umkreis  um  diuTjidiir,  welche  wenig  tief  und  dcslmlh  in 
der  Zeichnung  nur  <iurfh  leichte  Striclielung  migedeutet  ittt.  Bei  einem 
Kuropiier  denselhon  Alters  und  desselben  Kmülirungü/ustiindes  int  die 
Furche  nicht  so  klar,  denn  die  Augenhriiuen  sitzen  tiefer,  sie  folgen 
in   der  Kegel  dem  Umfiiiig  des   AugcnhiihloneingiLiiges   uinl   besonders 


Kii)  fl  rstii  likalniii  t 


iin  dci  Nnsenseite  Nui  ein  Um  taml  wirkt  günstig  diiB  gcrule  doit 
auch  dei  knöcherne  Rimd  dci  Augenhohle  samt  di  m  N  isenrllckLu 
weit  \orsprtngt  und  didunh  die  (hbitjilfurche  suh  doit  \iriieft 
während  diis  bei  der  phttui  Nasenwurzel  der  Brcilgesichter  nullt  in 
dem  gleichen  Grade  moglith  M  Bu  dim  Liiiopiiei  markiert  denn 
iiuth  ein  tieter  bchntten  den  Hob« nuutersi hied  zwischen  dem  Angcn 
höhlenrund  und  den  A^iithttilui  \\ic  die  obeu  Haliti  dti  Orbittil 
furche   an   der  Nasenscitt    um  stliksten   bemerkbai    ist,    so  aurh   du 


286 


Achter  Abschnitt. 


untere  Hälfte  derselben,  auch  sie  ist  im  Bereich  des  inneren  Augn- 
winkeis  um  leichtesten  zu  erkennen,  und  in  ihrem  Verlauf  nach  ab- 
wärts  und  außen  zu  verfolgen.  Obwohl  ihre  Erscheinungsform  Dicht 
so  bestimmt  ist,  läßt  sie  sich  dennoch  in  allen  Lebensaltem  aaf. 
finden,  wenn  man  erwägt,  wie  die  Lider  sich  an  die  Wölbung  iks 
Augapfels  anschmiegen,  dann  aber  diese  Richtung  verlassen  und  üher 
den  Augenhöhlenrand  hinweggleitend  die  Wangenhaut  erreichen.  Ab 
dem  eigenen  Auge  wird  das  Zuftihlen  und  die  Kontrolle  durch  ddi 
Spiegel  sehr  bald  die  richtige  Unterscheidung  lehren. 

Die  von  van  üyck  radierten  Porträts  niederländischer  Maler  mi 
in  dieser  Hinsicht  sehr  lehrreich,  weil  sie  neben  der  allgemeinen  Er- 
scheinungsfoi-m  der  Umgebung  des  Augapfels  gleichzeitig  auch  die 
individuellen  Verschiedenheiten  hervortreten  lassen. 


A~. 


^f      l' 


Fig.  90.    Gesicht  einer  OOjährigeii  Frau.       Fig.  91.    Gesieht  eines  alten  Maiino». 


Alter  und  Geschlecht  bedingen  auch  an  dieser  Fonn  des  Aui- 
litzes  einen  unendlichen  Wechsel.  In  der  Jugend  ist  die  Orbital- 
furche kaum  angedeutet,  dann  wird  sie  mehr  und  mehr  deuthch.  mn 
im  Alter  durch  kleine  Falten  begleitet  zu  werden. 

An  der  Hand  der  vorstehenden  zwei  einfachen  Skizzen  sollen  die 
Falten  in  der  Umgebung  des  Augenhöhleneinganges  im  Groisenaffiti 
etwas  genauer  betrachtet  werden.  Die  Falten  vermehren  sich  in  (. 
Art,  daß  sie  konzentrisch  um  den  Augenmittelpunkt  in  engeren  un^ 
weiteren  Bogen  herumziehen.  Die  Bogen  sind  niemals  volkMidetc 
Kreise,  sondern  nur  Abschnitte  solcher.  Sie  sind  an  dem  oberen 
Augenlid  etwas  anders  angeordnet  als  an  dem  unteren.  Diese  beiden 
Teile  sollen  deshalb  getrennt  betrachtet  werden. 

Die  obere  Orbitalfurche  hat  in  dem  Alter  wie  in  der  Jugend 
ihre  tiefste  Stelle  gegen  die  Nasenseite  hin,  allein  die  Furche  wiid  durch 
die  Schlaffheit  der  Haut  in  eine  überhängende  oft  sackartig  verdickte 
Falte  verändert.  Dies  ist  an  dem  Gesicht  der  alten  Frau  namentlich 
an  dem  rechten  Auge  sehr  deutlich  ausgeprägt.     Bei  dem  alt(Mi  Manne 


UuAelii  dra  Kopl^i. 


2S7 


tehlt  diese  Eigentümliclikeit,  dagegen  sind,  der  Mitte  des  oberen  Ätigoii- 
liöhlenraiides  entlang,  mehrere  Falten  sicbthar,  welche  sich  gegen  die 
■Sfliläfen  lungsam  heralisenken. 

Die  untere  Oi-bitalfurche  beginnt  in  beiden  Fällen  hoch  «ben 
Jim  innern  Augenwinkel  woM  ausgeprägt  und  hält  aich  bis  zur  Häli'te 
ilis  Weges  auf  dem  Rande  der  Augenhöhle.  Dann  geht  sie  steil  her- 
wJ>,  und  verliert  sieh  sehr  bald  auf  der  Gesichtshaut.  Im  Älter  wird 
(iurth  wässerige  Schwellung  sciwohl  der  Lidhaut  als  der  Haut  der 
iiäclislen  Umgehung  die  Furche  zunächst  nasenwärta  durch  mehrere 
Ueinere  vermehrt.  Eine  Ergänzung  dieser  inneren  Furchen  ki.mmt 
vnii  dem  äußeren  Umfang  des  Augenbfihlenrandes  herab;  die  ei^än- 
zende  Furche  geht  entweder  iu  die  von  der  Nase  herabkommenden 
ilher,  oder  sie  setzt  sich  eine  kurze  Strecke  auf  die  Gesichtshaut  fort. 
An  dem  Auge  des  Toten  verhält  sich  die  Orliital furche  anders 
als   an   dem  Auge  des   Lebenden,  nicht  nur  deshalb,    weil   die  Lider 


1.  A&rung  aar  Orbital furrhe. 

•2.  EqiIb  denelbeo  g^ea  die  St^hl&re. 

3.  Nasen- Win^nfBlte. 

4.  UnterkleFermnil. 


lt.  Kontur  d«  Ki 
■htamaalte  tlee  toten  Newton 


gflBchlosseu  sind,  sondern  weil  durch  das  Erstarren  des  Fettes  im 
Inueru  der  Augenhöhle  der  Augapfel  tiefer  sinkt  und  der  Luftdruck 
iluich  das  Anpressen  der  Haut  den  Knochenrand  schärfer  hervortreten 
liißt.  Die  Gesichtsmaske  des  toten  Newton  läßt  die  obere  Hälfte 
QPi'  Orhitalfurche  und  einen  Teil  des  äußeren  Augenhöhlenrandes, 
''er  Ion  dem  Wangenhein  hergestellt  wird,  wohl  erkennen.  Der  Be- 
ginn der  Fui"che  an  der  Nasenseite  ist  in  Fig.  92  bei  Nr.  i  zu  sehen; 
"uchiiem  die  Furche  iliren  Weg  verfolgt  hat.  lauft  sie  bei  Nr.  2  auf 
''*f  Schläfentiäche  aus.  Die  untere  Hälfte  der  Orhitalfurche  ist 
i'urJi  eine  Falte  markiert,  die  hoch  am  inneren  Augenwinkel  beginnt 
""''  au  der  Nasenseite  herabzieht,  um  allmählich  auf  der  Gesichts- 
"^■he  auszulaufen.  Der  übrige  Teil  des  unteren  Augenhöhlenrandes 
"■'  diirch  eine  kleine  ßogenlinie  augedeutet. 


2)  Die  Augenbrauen  (Superrilin). 
Die  obere  A u ge uhöhlen gegen  d  zeigt  den  buschigen  Hnarhogen  der 
'"(^t  11  brauen,  ein  Schmuck  des  menschliche]i  .Antlitzes;  sie  bilden  einen 


288  Achter  AbHchnitt. 

malerischen  Übergang  von  der  gleichmäßigen  Farbe  der  Stirn  zu  den 
Wechsel,  den  die  Farben  des  Auges,  der  Wangen  und  der  Lippes  in 
das  Gesicht  der  hellfarbigen  Rassen  bringen. 

Die  Augenbrauen  beginnen  über  der  Nasenwurzel  mit  breitem 
buschigem  Ansatz,  streichen  bogenförmig  nach  aufwärts  gekrünimt 
längs  des  oberen  Augenhöhlenrandes  hin  und  ei*strecken  sich  bis  an 
den  Jochfortsatz  des  Stirnbeines,  wobei  sie  allmählich  an  Starke 
abnehmen.  Sie  bestehen  aus  dicken,  kurzen,  schräg  nach  aufien 
gerichteten  Haaren.  Wie  die  Wimperhaare,  haben  auch  sie  nur  ein 
sehr  beschränktes  Wachstum,  so  daß  ihre  Länge  fast  stationär  bleibt 
Verschmolzung  der  Brauen  in  der  Mittellinie  über  der  Nase  soll  Härte 
und  Festigkeit  des  Charakters  anzeigen.  Man  hält  heute  mit  Becht 
nichts  mehr  auf  solche  physiognomische  Weissagung,  soviel  ist  aber 
richtig,  daß  verwachsene  Brauen  dem  Gesicht  einen  charakteristiaoheD 
starken  Ausdruck  geben,  namentlich  dann,  wenn  sie  am  inneren  EDiie 
länger  sind  oder  gar  in  dichten  Büscheln  hervorstehen.  In  diesem  Fallr 
beschatten  sie  das  Auge,  wodurch  der  Blick  etwas  finsteres  erhält.  Die 
nationalen  und  individuellen  Verschiedenheiten  sind  zahllos.  Im  Orient 
werden  verwachsene  Brauen  für  schön  gehalten.  Deshalb  lassen  Aiv 
türkischen  und  arabischen  Frauen  den  breiten  schwarzen  Strich,  mit 
welchem  sie  ihre  Augenbrauen  zu  malen  pflegen,  quer  über  der  Nasen- 
wurzel zusammenlaufen. 

3)  Haut  der  Lider. 

Von  den  Augenbrauen  nach  abwärts  verfeinert  sich  die  Haut,  je 
näher  sie  der  Lids])alte  rückt.  Dasselbe  ist  von  unten  heniuf  der 
Fall;  die  Haut  ist  dabei  in  hohem  Grade  dehnbar.  Geschmeidig  und 
glatt  im  jugendlichen  Alter,  faltet  und  runzelt  sie  sich  in  späteren 
Jahren,  nach  ganz  bestimmten  Regeln,  welche  mit  dem  Verlauf  der 
Lider,  des  Augenhöhleneiiiganges  und  des  Rhigmuskels  des  Auges 
zusammenhängen.  Diese  letzteren  Falten  sind  am  zahlreichsten  und 
markiertesten  am  äußeren  Augenwinkel,  dort  ist  die  Zusammenziehung 
des  Muskels  am  stärksten,  da  er  keine  Verbindung  mit  den  darunter 
liegenden  Knochen  hat.  Die  Richtung  der  Falten  folgt  dort  den 
Radien  des  Kreismuskels.  Sie  treten  oft  sehr  früh  dort  auf  als  ein 
Büschel  von  Hautfiilten,  welcher  vom  äußeren  Augenwinkel  schief  narh 
außen  und  unten  zur  Schläfengegend  zieht  und  dabei  strahlenförmig 
auseinanderweicht.  „Krähenfüßchen'*  nennen  sie  unsere  scharfspähenden 
Damen,  crmv-feefs  die  Engländerinnen. 

Die  Beweglichkeit  und  Dehnbarkeit  der  Haut  in  der  Augengegend 
gestattet,  daß  man  sie  in  hohe  Falten  aufzuheben  vermag,  denn  das 
darunter  liegende  Bindegewebe  ist  außerordentlich  locker  und    dabei 


Miukeln  da  Kopfes.  289 

Ikommen  fettlos.  Die  letztere  Eigenschaft  teilt  es  mir  mit  wenigen 
Ürpenitelleu.  Dieser  liohe  Grad  der  Verechiebbarkeit  ist  besonders 
icbtig  an  einer  Stelle,  wo  beständig  das  Heben  und  Senken  der  Lider 
kit  dem  geringsten  Widerstand  zu  geschehen  und  ein  Teil  der  Lider 
■  der  Haut  der  Äugengegeiid  zu  verschwinden  hat,  damit  der 
ingapfel  und  vor  allem  die  Hornhaut  frei  werde.  Die  mechanische 
Bnriclitnng,  mittels  welcher  dii.s  obere  Lid  gehoben  wird  und  sich 
dabei  teilweise  unter  die  Haut  schiebt,  ist  folgende:  Die  Grundlage 
edes  Augenlides  bildet  eine  Knorpelplatte,  der  Lidknorpel,  der  ent- 
iprecheDd  der  vorderen  ÄugapfelÖäche  gewölbt  ist.  Er  verdickt  sich 
Sgen  den  freien  Rand  des  Lides  hin.  Der  Knorpel  des  oberen  Lides 
ftbertrifft  jenen  des  unteren  an  Steifheit  und  Höhe,  Beide  sind  an 
den  entspreciienden  Äugeuhöhlenrand  durch  starke  aehnenartige  Faser» 
befestigt.     Um   das  obere  Lid    zu    heben,    kommt  aus  der  Tiefe  der 

1    Orbitalteil  des  oberen   Udes. 


I  Obere  Udfalte. 


t  Uatere  Odfilte. 


W  Orbitalteil  dee  unteren  Lides. 
Pig.  93,    Auge  von  der  Säle  geBeheii. 

Augenhöhle  ein  langer  schmaler  Muskel,  der  Aufheber  des  oberen 

*'''ii6  (Levator  palpebrae  mtpeTioris,  Fig.  84   Nr.  6)   hervor,    der   unter 

l  Dach   der  Augenhöhle   über  den   Augapfel   hiuwegzieht  und   sich 

hinten  her  mit  einer  platten,  fachertorEoigeu  ^hne  an  den  oberen 

id  des  Lidknorpels  befestigt.     Verkürzt  er  sich,   s«  muß  der  Lid- 

Tpel  an  der  VorderHäche  des  Augapfels   in   die  Höhe  gleiten   und 

^'1  Teil  des  Lides  sich  unter  den  anderen  Teil  wie  unter  eine  Klappe 

"' "ein schieben.     Bei  geöffnetem  Auge  besteht   demnach  Jedes  Lid  aus 

'*^i  Abteilungen,  die   bei  genauerer  anatomischer  Untersuchung  auch 

""     Iimem  verschieden    sind.      Der  der   Spalte    zunächstliegende    und 

"^ch  der  Wölbung  des  Augapfels  geformte  Teil  enthält  die  Knorpel- 

P'^tte,  ist  derber  als  der  andere,  an  dem  freien  itand  mit  Wimpern 

''^»etzt,  und  heißt  der  Tarsalteil  des  Lides^  (Fig.  93). 

j,  '  Der  Kuorpel  der  Auj;Ci;iilider  heißt   Titrsus.    daht-r   autli    die   Bezejtlinuug: 

"^»»»•adknoipel. 


1 


290  Achter  AbmshniU. 

Der  übrige  Teil  des  Lides  ist  knorpellos,  deckt  den  AugenböUfli. 
eingang  zu  und  wird  Orbitalteil  des  Lides  genannt.  Die  Hantiahc 
welche  durch  das  Ubereinanderschieben  der  beiden  Lidabschnitte  ent- 
steht, heißt  Lidfalte  (Fig.  93)  und  zwar  giebt  es  eine  obere  and  eme 
untere  Falte  dieser  Art.  Die  untere  Lidfalte  ist  seichter  als  die  obere 
und  verliert  sich  allmählich  nach  außen;  das  untere  Lid  ist  QberittVfi 
niedriger  als  das  obere. 

An  dem  geöffneten  Auge  wird  also  der  Tarsalteil  des  Lides  tob 
oben  her  teilweise  bedeckt  durch  den  Orbitalteil  des  Lides,  wie  ii 
der  Figur  93  Nr.  3  ersichtlich  ist.  Dieser  Orbitalteil  des  Lides  ist 
in  unseren  Figuren  ziemlich  stark  gewölbt;  auch  diese  Form  unter- 
liegt manchem  Wechsel.  An  dem  jugendlichen  Auge,  das  hier  dtr- 
gestellt  ist,  ist  die  Fülle  des  Organs  so  beträchtlich,  daß  der  knl»- 
cheme  Eahmen  der  Augenhöhle  kaum  sichtbar  ist,  sondern  die  Haut 
des  Orbitalteiles  sich  mit  der  der  Augenbrauen  ohne  auffallende  Mo- 
dellierung verbindet.  Ist  dieser  Orbitalteil  des  Lides  länger,  als  in  der 
Figur  dargestellt,  dann  rückt  der  freie  Band  der  Falte  weiter  über 
den  Tarsalteil  herab  und  kann  bei  hochgradiger  Schlaffheit  selbst  den 
Wimperrand  erreichen. 

An  dem  unteren  Lid  existiert  ebenfalls  ein  Orbitalteil,  der  durch 
besonders  zarte  und  dünne  Haut  ausgezeichnet  ist.  An  ihm  kano 
man  sehr  oft  die  tiefliegenden  Venen  durch  bläuliche  Färbung  ange- 
deutet finden,  namentlich  gegen  den  inneren  Augenwinkel  hin. 

Die  Wirkung  des  Aufhebers  des  oberen  Augenlides  hat  zur  Folge, 
daß  in  späteren  Jahren  am  oberen  Augenlid,  und  zwar  zuerst  im 
Orbital-,  dann  im  Tarsalteil,  zahlreiche  kleinere  Falten  entstehen, 
welche  dieselbe  Richtung  besitzen  wie  die  Lidfalte.  Dasselbe  ist  auch 
an  dem  unteren  Augendeckel  der  Fall,  nur  treten  dort  gleichzeitig 
noch  andere  Falten  auf,  welche  die  vorerwähnten  in  schiefem  Winkel 
kreuzen.  Diese  Falten  hängen  mit  den  Verschiebungen  der  Wangeo- 
haut  gegen  die  äußeren  Augenwinkel  durch  den  Ringmuskel  zu- 
sammen, es  sind  dieselben,  welche  schon  einmal  unter  dem  Namen 
Krähenfüßchen  bezeichnet  wurden. 

4)  Die  offene  Lidspalte  (Rima  palpebrarum). 

Die  freien  glatten  Ränder  der  offenen  Querspälte  begrenzen  einen 
mandelförmigen  Raum,  der  verschiedene  Größe  besitzt.  Große  Augen 
werden  durch  große  Lidspalten  bedingt,  durch  welche  man  einen 
größeren  Teil  des  Augapfels  übersieht,  und  durch  einen  etwas  größeren 
Durchmesser   der   Hornhaut.     Ich   verweise   auf  folgende  Messungen: 


^r  Miukeln  des  Kopfei.  291 

^^Die  Länge  der  Lidapalte  beträgt  bei  Kindern  unter  einem  Jahr 

in  der  Regel 13—18  mm 

In  ilem  aeehaten  Jahre  erreicht  wie 22—23     „ 

U.  „  „  ,. '■äf'  1.   ■ 

Kv'i  Erwachsenen  „  ,. 27  —  33     „ 

Der  Istzlere  Fall  ist  jedoch  »elten. 

Die  Hohe  der  Lidapalte  sehwankt  zwischen  7 — 11   mm. 
Andere  Angaben,  die  vorliegen,  sind  viel  zu  hoch. 

Wenn  wir  von  „großen,   runden"  Kinderaugen  sprechen,   bo   sind  dies  Bolche, 
1*)  denen  die  Höhe  der  Lidapalte  von  der  Lüuge  unr  2'/,  mal  übertroffen  wird. 

Die  Größe  den  Augea  wird  nicht  von  der  Lidöüfhung  allein,  sondern  auch  von 
Jcm  Dnrelunesaer  der  Hornhaut  besÜmmL  Dieselbe  beträgt  bei  Kindern  in 
irilheater  Jugend  8—9,5  mm  und  steigt  bei  Erwachsenen  bis  auf  11  und  12,5  mm. 
Die  ZU  kurz  geschlitzte  Lidspalte  giebt  dem  Gesicht  einen  wenig  au- 
tptechenden  Ausdnick,  denn  das  Äuge  erscheint  zu  klein.  An  dem 
S   OrbitalteU  d.  Udvs. 


Nickh&ul    i 

Pig.  94.     Auge 


I  iKulierzigen  Auge  der  Kinder  ist  die  Lidspalte  im  Verhältnis  zu  dem 
Auge  des  Krwachsenen  weiter  geöffnet. 

Die    offene   Lidspalte   wurde    mandelförmig   genannt.     Diese  Be- 

teichauDg  ist  im  allgemeineu  zutreflend,   allein  nur  unter  dem  beach- 

IsiBwerten   Zusatz,   daß   sich   die   am  weitesten  gebogenen  Stellen  der 

hidrinder  nicht   vellständig  entsprechen.     Die  größte  Höhe  der  Bie- 

K^iig  liegt  bei  dem  oberen  Lid  nahe  dem  inneren  Augenwinkel,  bei  dem 

"i^teren  dagegen  mehr  nach  dem  äußeren  Augenwinkel  hiiigerückt  (Fig.  94). 

I'  Die  Ränder  der  Lider   sind  l'/j  mm  breit,  eben,   die  bedeckende 

■  nitnne  Haut  hat  ein  feuchtes  Ansehen   und  läßt  die  Farbe  des  Blutes 

Bj^^haft  durchschimmern.     Das  ist  gleichzeitig  die  Strecke,  auf  der  die 

W^  Vergleich  mit  ihr  trockene  Haut  der  Wange  sich  allmählich  ändert, 

I     ""'    die  Beschaffenheit  der  Sciüeimhaut  auzunebmen,   welche  die  hin- 

*^ö   Fläche  der  Lider  überzieht  und  sich  von  dort  aus  umbiegt,  um 

■"ch  die  vordere  Fläche  des  Augapfels  zu  überziehen. 

Jeder  Lidrand  hat  eine  vordere  und  hintere  Kante.     An  ersterer 
Pfosaeu    in    2 — 3  Reihen    die   Cilien    oder  Wimperhaare   hervor, 


292  Achter  Abschnitt. 

deren  kurzer  zugespitzter  Schaft  so  gekrümmt  ist,  daß  die  im  oberen 
Augenlid  nach  oben,  im  unteren  nach  unten  gekrümmt  sind.  Am 
oberen  sind  sie  länger  als  am  unteren,  und  an  beiden  in  der  Miu« 
der  Ränder  länger  als  gegen  die  Enden  zu.  An  der  Bucht  des  in- 
neren Augenwinkels  fehlen  sie.^  An  der  hinteren  Kante  der  Lider 
stehen  die  punktförmigen  Öffnungen  einer  Reihe  kleiner  Diüsen.  die 
Tarsaldrüsen  der  Lider  genannt.  Sie  sind  4 — 6  mm  lang  und  m  die 
Substanz  des  Augenlidknorpels  zu  30  an  der  Zahl  eingebettet  Ihr 
Produkt,  fettähnlich,  beölt  den  Lidrand,  und  verhindert  das  Über- 
fließen der  Thränen,  so  lange  ihr  Strom  nicht  zu  reichlich  in  die 
Lidspalte  sich  ergießt.  Dieser  beölte  Rand  vermag  bekanntlich  eine 
ziemlich  beträchtliche  Menge  von  Thränenflüssigkeit  zurückzuhalten. 
Sie  staut  sich  und  haftet  als  eine  dünne  Schichte  auf  dem  Vorder- 
rand des  unteren  Lides.  Es  ist  dies  jener  Moment,  der  buchstäblidi 
richtig  bezeichnet  ist  mit  den  Worten :  das  Auge  schwimmt  in  Thräneo. 
Bekanntlich  ist  das  deutliche  Sehen  dabei  unmöglich.  Licht  dringt 
wohl  ins  Auge,  aber  die  Bilder  der  Gegenstände  sind  verschwommen. 
weil  die  vor  der  Cornea  befindliche  Flüssigkeitsschichte  die  Brechung 
der  Lichtstrahlen  ändert.  Dieser  glänzende  Thränenstreifen  auf  dem 
unteren  Lidrande,  „der  feuchte  Blick'*,  ist  sowohl  malerisch  als  plastisch 
dargestellt  worden.  Im  Alter  ist  das  thränenfeuchte  Auge  auch  ohne 
Trauer  an  der  Tagesordnung,  und  auch  sonst  kann  es  bei  dem  wein- 
seligen Zecher  erscheinen.  Daß  das  blöde  Auge  des  Schnaps^äute^ 
peimanent  in  Thränen  schwimmt,  wissen  die  Kenner  des  L^nheil^. 
das  der  Alkohol  täglich  in  der  Welt  anstellt,  sehr  genau. 

Die  Lidspalte  bildet  mit  ihren  l)eiden  Enden  die  Augenwinkel, 
von  welchen  der  äußere  spitzig  zuläuft,  der  innere  durch  eine  rund- 
liche Bucht  abgeschlossen  ist.  Am  äußeren  Winkel  überschneidet  die 
Begrenzungslinie  des  oberen  Lides  jene  des  unteren;  am  inneren  gehen 
die  Begrenzungslinien  bogenfömig  in  einander  über.  Der  Bogen  ist 
eng,  und  der  Übergang  in  seine  Kontur  geschieht  nicht  allmählich, 
sondern  in  einem  stumpfen  Winkel,  der  an  dem  unteren  Augenlid 
stärker  ist  und  einen  kleinen  Höcker  darstellt,  auch  etwas  weiter  gegen 
die  Cornea  hingerückt  ist,  als  der  obere  (in  Fig.  94  etwas  zu  schwach 
ausgeprägt,  doch  erkennbar). 

Diese  kiciucn,  kaum  benierkban'n  tacken  werden  für  die  Ableitung  der 
Thränen  nach  diir  Nase  hin  von  großer  Bedeutung.  Auf  ihnen  befindet  sich  jf 
eine   kleine  kreisrunde  Öffnung:,  der  Anfang  dvr  Thränenkanälchcn.     Die  aus  der 

*  Mehr  nebenafichlioh,  aber  doch  erwähnenswert  ist  die  Thatsache,  dafi  feioe, 
lange,  diehtgestellte  Wimper  haare,  indem  sie  dem  sichtbaren  Teile  des  AugapM.'t 
eine  reichere  und  zartere  Umrahmung  gewähren,  einen  milderen  und  freundÜcheu 
Ausdruck  des  Auges  befördern. 


Miukeln  des  Kopfe».  293 

irSnendrüsc  abgesonderte  Flüssigkeit  wird  über  itie  vordere  Flüehe  fies  Augupfcls 
}i  die  Rewegiingen  der  Lider  gegen   deai   inueren   Aiignijwinkel  güdrfingt  und 
kill  demon   Burhl  aus,  welche  dcBh&lb  aueh  den   poetiei^hen  Namen  ThräncD- 
■e«  (Laeti»   laeri/mtiTuml   erhalten    hat.     Nur  wenn   die   Thrüiien  im   Übersehiisae 
I,  verinng  er  sie  nicht  zu  fassen  und   litBt  nie   Ober  die  Wangen  ablaufen. 
;  gewiihnlivhcu  Absundcnuigsmengen   werden   von  den  kleinen   Mündungen  der 
ancnkanalchen  Aufgesaugt  und  auf  verborgenen  Wegen  uud  dureh  einen  ainn- 
nichen  Hcchonisniua  nach  der  Naee  abgeführt. 

Die  Tiefe  des  inueren  Augenwinkels  birgt  ein  Heischrotes  Höcker- 
■  chen,  die  Thränenkarunkel  (Fig.  94  Nr. 4),  die  sich  nach  der  Seite 
ler  Cornea  alliuählich  abtlaclit,  und  in  einen  scbarfen  1  mm  breiten 
lud  ausläuit.  der  mit  seiner  Konkavität  nacb  außen  gerichtet  ist. 
Jieser  kleine  zierliche  Rand  (Fig.  94  Nr.  s)  bat  von  seiner  Ähnlichkeit 
mit  der  Mondsichel  die  Bezeichnung  halbmondförmige  Falte  er- 
ihalten.  Sie  ist  eine  Erinnerung  an  die  Nick-  oder  Blinzhaut  der  Tiere, 
Bitd  wird  auch  mit  dem  Ausdruck  Nickhautfalte  benannt. 

Die  geschlossene  Lidspalte  stellt  eine  nach  unten  konvexe 
liinie  dar.  Am  inneren  Augenwinkel  zieht  sie,  etwas  abgerundet,  ei-st 
e  kleine  Strecke  horizontal,  wird  dann  konvex,  um  nach  Vollendung 
ibrer  Bahn  wieder  3 — 4  mm  horizontal  weiter  zu  ziehen.  Dabei  ist 
ihr  Anfang  am  inneren  Augenwinkel  etwas  verdickt  auf  Grund  des 
jenuideten  Übergangs  zwischen  dem  oberen  und  unteren  Lid,  wäh- 
rend sie  am  äußeren  Augenwinkel  sehr  spitz  ausläuft. 

6)  Bindehaut  des  Auges  (Conjunctiva  aciili). 

Es  ist  eine  allgemeine  En^cheinung  am  menschlichen  und  tierischen 
Wrper,  daS  die  äußere  Haut  an  der  Stelle  der  Körperöffnungen  sich 
"8  eine  zarte  durchsichtige  Membran  in  die  Körperhöhlen  hinein 
fcrtsetzt.  So  schlägt  sich  die  äußere  Haut ,  einer  üblichen  Aus- 
^cksweiae    zufolge,   auch   von   der    vorderen   Fläche   der  Augenlider 

hinteren  um,  überzieht  diese,  wendet  sich  dann  gegen  die  Ober- 
flicie  des  Augapfels,  um  dessen  vordere  Fläche  zu  überziehen.  Die 
Fortsetzung  der  äußeren  Haut  auf  die  hintere  Fläche  der  Lider 
JU^  auf  das  Auge  nennt  man  Bindehaut  des  Auges,  Bei  diesem 
l^rgaug  wird  sie  immer  durchsichtiger,  so  daß  sie  schließlich  auf 
""■  Oberääche  des  Augapfels  für  das  freie  Auge  unsichtbar  ist.  Daß 
**  Cornea  von  einer  6  — 8  fachen  Schichte  feiner  Zellen  bedeckt  iat, 
MDt  niemand,  nur  das  Mikroskop  liefert  den  unzweifelhaften  Beleg. 
•"886  Fortsetzung  der  Bindehaut  auf  die  Hornhaut  bleibt  während 
™ä  Lebens  völlig  durchsichtig,  der  Lidschlag  hält  sie  feucht,  und  von 
aer  Vorderen  Augenkammer  her  kommt  der  auch  fiir  sie  unerläßliche 
''^älirungssaft.   Nach  dem  Tod  trübt  sich  diese  durchsichtige  Schichte, 


294 

da»  Auge  wird  glanzlos,  wie  mit  einem  Schleier  ühertogetk.  An  dv 
Obertläcbe  entsteht  nur  mehr  ein  schwacher  Lichtreflex,  ilaM  Ab^  tä 
„gebrochen".  AJle  diese  Vorgänge  spielen  sich  auf  iler  Honhint  ji 
verhältnismäßig  kurzer  Zeit  ab.  Die  OberHäche  des  WeiBro ,  ife 
Sclera,  verändert  sich  zwar  ebenfalls  nach  dem  Tode,  allein  ihn-  V«. 
änderungen  sind  weniger  auffallend.  Nur  der  Geübt«  wird  »lir- 
nehmen,  daß  auch  sie  an  (jJlaJiz  verloren  hat.     Unterdessen  behält  Jir 


8   Aurheber  d.  LJd«. 
5  Oll,  genid.  Aapa. 


Fig,  95,     Augenhöhle 


Augapfel  noch  ftir  mehrere  Stunden  seine  pralle  Beschaffenheit,  sdlnt 
dann,    wenn   das    Auge    halb    offen    steht,    und    das  ÄustitKlmen  j 
Hurnhant  ungehindert  geschehen  kann. 


c.  Die  Augenmuskeln. 

Während  alle  anderen  Sinnesorgane  die  äußeren  Kiudi 
ruhend  empfangen,  kann  das  Auge  durch  seine  Bewegungen  di«  ] 
drücJie  selbst  aufnehmen  und  ergänzen. 

Im  Innern  der  Augenhöhle  hnden  »ich  sieben  Muskeln,  i 
sechs  filr  die  Bewegung  des  Augapfels  bestimmt  sind,   einer  fÜrJ 
Aufheben  des  oberen  Augenlides. 

Der  kugelförmige  Augapfel  ist  auf  dem  entsprechend  ausgehöm 
Fettpolster  der  Augenhöhle   einer  Bewegung  fähig,   ähnlich   dem  I 


Mnakein  des  Kopfes.  295 

lenkkopf  in  der  Pfanne.  Die  Bewegungsfähigkeit  erleidet  nur  eine 
Beschränkung  durch  die  Verbindungen  des  Augapfels  mit  der  Um- 
gebung und  durch  die  Augenmuskeln  selbst,  in  der  Art,  daß  bei  der 
Wirkung  des  einen  Muskels  der  Antagonist  desselben  wie  ein  Zügel 
der  Bewegung  ein  Ziel  setzt.  Schon  aus  diesem  Umstände  geht  her- 
vor, daß  fbr  die  Augenmuskeln  dieselben  allgemeinen  Regeln  gelten, 
welche  weiter  oben  von  dem  Bau  der  Muskeln  überhaupt,  von  dem  Ur- 
sprung, Verlauf,  Ansatz  und  von  der  Art  ihrer  Thätigkeit  aufgeführt  wur- 
den. Sie  sind  nur  entsprechend  dem  Organ,  das  sie  zu  bewegen  haben, 
klein,  denn  die  Last  des  Augapfels  bedarf  zu  ihrer  Bewegung  keiner  an- 
sehnlichen Kräfte.  So  finden  denn  die  sieben  Muskeln  neben  dem  Fett, 
den  Gefäßen  und  Nerven  im  Innern  der  Augenhöhle  reichlichen  Platz. 

Fünf  dieser  den  Augapfel  bewegenden  Muskeln  entspringen  im 
Hintergrund  der  Augenhöhle  rings  um  die  Eintrittsöffnung  des  Seh- 
nerven. Vier  verlaufen  geradlinig,  indem  sie  von  ihrem  Ursprungspunkt 
aas  divergieren,  und  direkt  nach  vier  verschiedenen  Punkten  des  Aug- 
apfels hinstreben,  welche  oben,  unten,  innen  und  außen  liegen. 
Sie  heißen  die  geraden  Augenmuskeln  (Mm.  recti),  Sie  setzen  sich 
an  vier  gegenüberliegenden  Punkten  der  vorderen  Augenhälfte  an.  Um 
dorthin  zu  gelangen,  überschreiten  sie  den  Äquator  der  Kugel  (Fig.  95) 
und  befestigen  sich  mit  verbreiterten  Sehnen  in  der  derben  Sclera, 
nur  4 — 8  mm  vom  Homhautrand  entfernt.  Läßt  man  bei  weitgeöff- 
netem Lid  das  Auge  stark  nach  außen  drehen,  so  wird  die  Sehne  des 
inneren  geraden  Augenmuskels  bei  durchsichtiger  Bindehaut  erkennbar. 

Nach  dem  Ansatzpunkt  werden  diese  vier  Muskeln  durch  fol- 
gende Namen  unterschieden: 

1)  Oberer  gerader  Augenmuskel,  (Rectis  superwr^  Fig.  95  No.  5), 

2)  Unterer       „  „  „        iriferiar,  Fig.  95  No.  10), 

3)  Innerer       „  „  „       internus), 

4)  Äußerer     „  „  „       extermu). 

Zu  diesen  vier  geraden  Augenmuskeln  kommen  noch  zwei  andere, 
die  man  wegen  ihres  Verlaufes  die  schiefen  Augenmuskeln  nennt. 
Der  eine  vom  Umfang  des  Sehnervenloches  herkommende  Muskel  ist 
der  obere  schiefe  Augenmuskel  (Obliquus  oculi  superior).  Er  ge- 
langt auf  einem  seltsamen  Umweg  zum  Augapfel,  wodurch  sich  frei- 
lich gleichzeitig  seine  Wirkungsart  erklärt.  Er  zieht  nämlich  gegen 
den  oberen  inneren  Augenwinkel  hin,  geht  dort  in  eine  rundliche  Sehne 
über,  welche  durch  eine  knorpelige  Rolle  am  Dach  der  Augenhöhle, 
ähnlich  derjenigen  eines  Flaschenzuges,  aufgehängt  ist.  Die  Sehne 
dieses  Muskelchens  ändert  jenseits  der  Rolle  die  Richtung  und  strebt 
von  dem  Dach  der  Augenhöhle  nach  dem  Augapfel  hin,  um  dort  auf 
seiner  hinteren  Halbkugel  mit  der  Sclera  zu  verwachsen.     Seine  Wir- 


296  Achter  Abschnitt 

kung  beruht  in  einer  Drehung  des  Augapfels  nach  außen  und  obea. 
Der  zweite  schiefe  Muskel  des  Augapfels  entspringt  nicht  in  der  Tiefe 
der  Augenhöhle,  sondern  vorn  in  der  Nähe  des  Einganges  nach  der 
Nase  zu,  und  begiebt  sich  an  die  äußere  Seite  der  hinteren  Augapfel» 
hälfte;  er  erscheint  in  der  Fig.  95  unter  Nr.  9  durchschnitten.  Auch 
er  führt,  wie  sein  Vorgänger  eine  Drehung  des  Augapfels  aus,  aber 
nach  der  entgegengesetzten  Richtung. 

Die  Übung  hat  uns  sehr  bald  gelehrt,  jeden  einzelnen  dieser 
Muskeln  für  sich  spielen  zu  lassen.  Ohne  Ahnung  von  ihrer  Eristeoi. 
gebrauchen  wir  sie  und  beherrschen  ihre  Wirkungen  mit  einer  er- 
staunlichen Sicherheit. 

Die  Augenbewegungen  beteiligen  sich  an  dem  mimischen  Ai»- 
drucke  des  Gesichtes  in  so  hervorragender  Weise,  daß  sie  allein  schon 
mehr  von  den  inneren  Bewegungen  der  Seele  verraten  können  als  das 
ganze  übrige  Gesicht.  So  lebhaft  ist  ihre  mimische  Thätigkeit,  daB  «ie 
selbst  bei  gesuchter  Ruhe  des  Gesichtes  die  Seelenregungen  offenbaren. 

Die  Bewegungen  des  Auges  werden  zu  einer  Sprache,  oft  lebhafter  und  b^ 
redter  als  alle  Worte.  Sie  kann  härter,  schroffer  und  bestimmter  sein,  als  all«"  g«> 
sprochene  Bede,  aber  auch  mit  einer  so  ergreifenden  Weichheit  sich  zu  uns  wendea 
daß  wir  uns  im  Innersten  erregt  fühlen.  Die  Demut  und  Unterwürfigkeit  sehligt 
die  Augen  nieder.  Deshalb  nannte  Cassebiüs  den  unteren  geraden  Augenmnakd 
den  Demutsmuskel  (Mtiscuhts  hurnilis),  weil  kein  armer  Teufel  hoflärtig  dran- 
schaut.  Der  äußere  gerade  Augenmuskel  wurde  auch  der  Muskel  der  VeriiebtiT!, 
Musculus  amatarius,  genannt,  demi  der  verstohlene  Seitenblick  gilt  einem  geliebln 
Wesen.  —  Es  ist  eine  Gewohnheit  jedes  Trinkenden,  beim  Lieeren  des  Glases  die 
Augen  auf  dasselbe  zu  richten,  welche  Bewegung  durch  die  beiden  inneren  geraden 
Augenmuskeln  vollzogen  wird.  Es  wird  von  einem  Anatomen  berichtet,  daß  Me 
ff  barharis  wuseuU  hibitoriiy  Trinkermuskeln,  genannt  werden.  Wer  diese  Barbaren 
sind,  hat  Casserius  nicht  gesagt  Man  kann  nur  vermuten,  daß  er  die  Deuteeb«« 
darunter  meinte,  welche,  so  oft  sie  mit  den  Bömerzügen  nach  Italien  kamen,  wie 
einst  die  Gallier,  durch  ihre  Ijeistungen  im  Essen  und  Trinken  unter  den  nüchtemeD 
Italienern  Aufechen  erregten.  Daher  dort  noch  aus  jener  Zeit  das  Sprichwort 
kursiert:    j^ahbiamo  mangato  et  bevuto  come  duc  Tedeschi!^^ 

III.    Die  Nase  (Nasiis), 

Die  äußere  Nase  und  ihre  Eigenschaften  bilden  den  Gegenstand 
der  folgenden  Beschreibung.  Die  äußere  Nase  ist  das  Yorhans  der 
Nasenhöhle,  die  sich  tief  in  den  Gesichtsschädel  mit  ihren  komph- 
zierten  Räumen  hineinerstreckt  und  nach  hinten  in  die  Rachenhöhle 
mündet.  Man  unterscheidet  deshalb  in  der  systematischen  Anatomie  die 
im  Gesicht  hervorragende  Nase  von  der  innem  Nase,  die  aus  der  Nasen- 
höhle und  der  sie  auskleidenden  Schleimhaut,  dem  eigentlichen  Sitz  des 
Geruchssinnes  besteht.    Die  letztere  findet  hier  keine  Berücksichtigung. 

Man  unterscheidet  an  der  äußeren  Nase:   1)  ihre  Wurzel  (an  dem 


UnAcIn  des  Ropfoa. 


297 


rnbeiu),  2)  ihreu  Rilukea  (GiVliel  des  Naseiidaulies),  '^)  ihre  Spitze 
Biit  größerer  oder  geringerer  Abnindung,  4)  ihre  Seitenwand  und 
B)  die  beiden  Flüge!.  Letztere  besitzen  unter  allen  Teilen  der  Nase 
die  größte  Beweglichkeit.  Der  obere,  gegen  die  Nasenwurzel  hin 
liegende  Teil  besitzt  eine  knöcherne  Grundlage,  bestehend  aus  den 
beiileu  NaHenkniichen,  welche  sich  an  das  Stinibein  ansetzen,  und  aus 
den  Naaenlbrts ätzen  der  beiden  Oberkieferknnchen,  weicht!  zu  beiden 
Seiten  der  Nasenbeine  liegen  und  mit  ihrem  oberen  Ende  ebenfalls  bis 
an  (las  Stinibein  reichen.  Die  Beschaffenheit  dieser  Knochen  und  ihre 
gegenseitige   Lagerung   wui'de  schon   in   der  Knochenlehre  beschrieben 

id  abgebildet.     Dort  ist  auch   der  beträchtliche  Wechsel  erkennbar, 


i    Dreieckiger   Kiinrpel. 
t   Dreieckiger  Knorpel. 


Vjlk      &   Flügel  knon'el. 


2     Flugelknorpel. 
Fig  96      Die  Nasenkuorpel  vo 


flem  (he  Naienbeine  und  die  Naaenfortsätze  des  Oberkiefers  unter- 
*orfeu  Bind  Sie  können  mch  steil  erheben,  und  dadurch  einen  hoben 
Bclunaleji  Nasenrücken  bilden  wie  in  der  Fig.  21,  S.  9ü,  oder  sie  stei- 
fen nur  wenig  aus  der  Gesirhtatbene  empor  und  stellen  miteinander 
einen  platten  und  eingehngenen  Nasenrücken  her,  der  im  Vergleich  zu 
der  anderen  Form  kurz  genannt  werden  muß,  wie  in  Fig.  22  S.  91, 
Die  Vervullstaudigung  dieser  knöchernen  Nase  geschieht  durch 
Anzahl  von  Knorpeln,  von  denen  der  folgende  dazu  bestimmt  ist, 
len  großen  Nasenraum  in  zwei  gesonderte  Höhlen,  eine  rechte  und 
""ke  tn  trennen. 

Der  Scheidewandknorpel  (Septum  cartilaymeum)  ist  die  Fort- 
^taung  der  knöchernen  Scheidewand,  welche  durch  das  Pttugscbar- 
^"1  nnd  die  senkrechte  Siebbeinplatte  hergestellt  wird.  Nach  hinten 
K^gen  den   Rachen,    und   nach  oben   gegen   den   Schädelgnind ,    reicht 


9 


298  Aühtet  Abtchaltt.  1 

die  knöcherne  Naseuscheidewimd ;  der  vordere  Äbschaitt  wird  dvt^ 
die  knorpelige  Platte  ersetzt.  Ihr  bis  iu  die  äoSere  Nase  vortreten- 
der Teil  endet  abgerundet  in  einiger  Entfernung  von  der  Naaenapitie. 
und  geht  auch  nicht  bis  zum  unteren  Rande  der  die  beiden  Natcn- 
löcher  trennenden  und  bloß  durch  die  Haut  gebildeten  Nasenscheide- 
wand  herab.  Wenn  man  Daumen  und  Zeigefinger  einer  Band  io 
beide  Nssenlöciier  eiufilhrt  und  die  nur  von  der  Haut  gebildtle 
Scheidewand  nach  rechts  und  links  biegt,  fühlt  man  den  freien  Rind 
des  Scbeidewandknorpels  ganz  deutlich.    Er  steht  in  Verbindung  mit 


- 1!   Dreieckiger  Knorjiel. 


Flngelkaon>cl    3 
Fig.  97.    Die  Naat'nknorp*!  von  rtur  Sdte  gesehen. 

dem  dreieckigen  Knorpel  ("CorfiÄi^o  triatu/ularis Fig.  96  Nr.  2  n.2'], 
der  an  die  unteren  Enden  der  beiden  Nasenbeine  angelegt  ist,  nnd  tob 
vonie  wie  von  der  Seite  aus  wie  eine  direkte  Verlilngerung  derselben 
aussieht.  Man  unterscheidet  an  ihm,  sofern  wohlgebildete  europäische 
Nasen  mit  hohem  Bücken  zur  Untersuchung  gelangen,  zwei  Seiten- 
lappen, welche  die  seitliche  Abdachung  der  Nase  von  den  Nasenbeinen 
an  bis  zu  den  NasenHügehi  herab  ergänzen  (Fig.  96  Nr.  2'  und  Fig.  97 
Nr.  2')  und  eine  mittlere  in  der  Flucht  des  knöchernen  NasenrQckens 
liegende  Fläche.  Diese  mittlere  Fläche  ist  niemals  von  großer  Aus- 
dehnung,   verschmälert   sich   überdies   gegen  die  Nasenspitze   zu   und 


ikÄtin  bei  schmäieD  Nasen  sogiir  vollständig  schwiinleii;  allein  sobald 
>ii,  wenn  auch  von  geringer  Breite  yorhaiideii,  trägt  sie  dazu  bei, 
dHÜ  der  Nasenrücken  iii  ihrem  Bereich  eine  deutlich  erkennbare  Fläche 
darstellt,  und  mit  scharfen  Kanten  in  die  Seitenteile  abt^lllt.  Die  hin- 
tere Fläche  dieses  dreieckigen  Knorpels  ist  mit  der  knorpebgen  Nasen- 
i^eidewand  verwachsen. 
Die  paarigen  Nasenflügelknttrpel  (Cartilat/iiies  alaret,  Fig.  90 
Bod  97  Nr.  3)  liegen  in  der  Huut  der  Nasenflügel  und  sind  maßgebend 
ftr  dejen  Foiin.  Vorn  an  der  Nasenspitze  hahen  sie  ihre  große 
schildförmige  Ausbreitung,  um  sich  dann  hackenformig  verschmälert 
sowohl  nach  außeu  den  Nasenflügeln  entlang  fortzusetzen,  als  sich, 
gegen  die  knorpelige  Nasenscbeidewand  nach  innen  umbiegend,  an  die- 
selbe anzuschmiegen  (Fig.  96  Nr.  3').  Die  paarigen  Naseutitlgelkuoq)el 
bilden  unter  solchen  Umständen  die  Umraudmig  der  Nasenlöcher,  so- 
weit nicht  von  innen  her  die  Nasen  Scheidewand  dabei  beteiligt  ist. 
Diese  Knorpel  zeigen  an  charakteristisch  geformten  Nasen  scharf- 
fesnhnittene  Ecken  und  Kanten,  wie  sie  auf  den  beiden  Figuren  S)6 
luid  97  angedeutet  sind.  So  geschieht  die  Umbiegung  nach  innen  mit 
einer,  wenn  auch  nicht  hajirscharfen  Kante,  wohl  aber  mit  einer 
deutlich  an  dem  Präparat  wie  an  dem  Lebenden  sichtbaren  Knickung. 
Sind  die  beiden  Flügelknorpel  vonie  etwas  weiter  voneinander  ent- 
™rnt,  so  ist  die  zwischen  ihnen  vorhandene  Fläche  vom  Bücken  herab 
'"8  Zu  der  Spitze  unverkennbar.  Dort  geschieht  danit  die  Umbiegung 
"tir  bei  der  Nase  des  Kindes  und  bei  dem  Stumpfnäschen  des  Mäd- 
'■hetis  geiiindet,  bei  reiferen  Individuen  ist  eine  scharfe  Kante  vor- 
''ÄDileu,  als  Anfang  eiuer  dreieckigen  Fläche,  die  nach  unten  gerichtet 
ist  (JTjg.  97^,  Zwischen  den  vorderen  Kanten  der  knorpeligen  Seiten- 
niigel  liegt  iu  der  Tiefe  der  vordere  Rand  der  Nasenscbeidewand  ver- 
"Ofgen.  Sie  reicht,  wie  auch  die  Fig.  96  ergiebt,  nicht  ganz  bis  an 
^^  Oberfläche;  deshalb  kann  es  vorkommen,  daß  vom  Ende  des  drei- 
^kigen  Knorpels  an  eine  seichte  Rinne  über  die  Nasenspitze  herab- 
^■cht,  weil  die  Haut  zwischen  dem  Flügelknorpel  etwas  einsinkt.  Dies 
''*Hn  so  weit  gehen,  daß  ein  1 — 2  mm  tiefer  Einschnitt  eine  Art 
^oppelnase  zu  stände  bringt. 

Der  Rücken   der  Nasenspitze   und   ihre  seitlichen   Teile  bis   zum 

****einn   der  Nasenflügel   entsprechen  zugleich  der  mächtigsten  Entfal- 

"lig   dieser   Flügelknorpel.     Dort    reichen    sie   am    weitesten   hinauf, 

•^»"l  ist  also  ihr  Einfluß  auf  die  Form  des  Nasenendes  am  bedeutend- 

^^>i.     Ihr  nach  oben   genindeter  Kontur-  ist  in   der  Regel  durch   die 

^•**-Tjt  hindurch  nicht  zu  sehen,   bisweilen  ist  er  jedoch  von  dem  drei- 

^*^lcigen  Knorpel  deutlich  abgesetzt.    Wie  viel  von  den  Flügelknorpeln 

'»■ch   dem   Nasenrücken    zugewendet   sein   kann,   läßt  die  Fig.  98  er- 


1  lies  Kopfes. 


299 


•  >^K)  Achter  Abschnitt. 

ifhf.n     ,in    drr   in   die  Kontaren   einer  Xase  mit   gennleni  BückrL  *u 
K'^Titiir^n  '{f'.r  Knorr»»*!  einjrezeichnet  sind. 

fiPF  llYt^rjans  -ier  vorderen  Fläche  des  Nasenendes  in  die  %*n- 
lii'lif-  W;ini!iinff  ier  Nd.-enriäj!el  geschieht  bei  dem  Manne  durcb  ea* 
/  v;ir  -r.iimpre  ;ih»rr  di>«:h  deutliche  Kante,  die  in  der  Fig.  9T  ra 
k»=!ni;riif.ri  >r,  Jr^n-eit*  der  Kante  beginnt  in  dem  Knorpel  eine  iLitk? 
'jrnib*;.  irr  Anr-incr  jener  Furche,  welche  den  Nasenriügel  tol  itt 
^eirl;rKerl  Vi-enHiw-he  abhebt.  Die  übrige  Form  der  Knorjielwant 
wrlthe  'i#='m  N.i.-enrfiiirel  entlang  zieht,  ist  in  der  Fig.  97  so  <chirf 
jrezei'^hner.  liaü  eine  '^eitere  Be-'^chreibung  überflüssig  erscheint.  Zu 
weiter»=Tr  \ 'ir^niUr'ArAisnn^  d»rr  anatomischen  Beschreibung  sei  nur 
erwihnr.  .i.iß  .jir  ler2r*=-n  Ankäufer  dieser  Knorpel  bisweilen  iu  klei» 

eckige  Knorpelstücke  zerfkllen,  welche  dum 
durch  Bandmasse  untereinander  zusammm- 
hängen. 

THe  Obertläche  aller  Xasenknorpel  wird 
von  der  allgemeinen  Decke  überzi^en.  welche 
•iori.h  fettloses  Bindegewebe  fest  an  die  Unter- 
lage anhängt,  und  nicht  gefaltet  werden  kazu. 
wa*  d'.H'h  auf  der  knöchernen  Xase  sehr  leicht 
r^  ire^chieht.  Diese  Haut  der  Nase  ist  reich  ao 
Talgdrüsen,  deren  größte  Exemplare  von  2  nun 
Lange,  in  der  Furche  hinter  dem  Nasendägel 
münden.  Ihre  Mündungen  sind  bisweilen  so 
^^^'  '*"  gr«>B.  daß  sie  leicht  mit  freiem  Auge  zu  sehen 

•^ind.  Ihre  Größe  nimmt  mit  der  Mannheit 
zu.  wie  -ich  überh:iupt  die  Haut  verdickt,  und  die  sonst  engen  Netze 
der  Blutgefäße  an  Weite  zunehmen. 

Zahllij'ii  ^iml  die  indivi.iu^rllen  und  Rassenverschiedenheiten  der 
\>ts^.  Von  der  Na^e.  deren  Rücken  ohne  Kinbug  und  in  einer  Flucht 
rnit  der  Stimebene  herubläutt  bi>  zur  Plattnase  des  Kalmücken,  welche 
-o  wfrTjifir  Vorragt,  daß  ^ie  auf  die  bloßen  Nasenlöcher  reduziert  zu 
••ir.  whf-int.  liegt  eine  unendliche  Mannigfaltigkeit  von  Ubei^ang*- 
^''.rrfif'.ti.  hh  welcher  '-ich  alle  Ab-^chnitte  der  Nase  beteiligen. 

l)ic   -Dgeniiimte  griechische   Nase,   deren  Rücken  in  einer  Flucht 

../  'i*r  Srirnebene  liegt,  i^t  «»tt'enbar  eine  Schöpfung  der  griechischen 

F' -^-Nk.  lind  wurde  tVir  Götter.  Göttinnen.  Heroen  und  andere  Personen 

•r.    höh^rn    Rang    kinistruiert.      In    Wirklichkeit   kommt    eine   solche 

';..   .ry^fMde    Verbindung    zwischen    Nasenwurzel    und  Stirn    nur   sehr 

'  *' '.     ';r.    »ie   war  im  Altertum  keineswegs  die  Regel,    wie  die  Por- 

■f^i*r,',-un  ;,ri«  j»-fifr  Zeit  deutlich  l^wei^en  und  überdies  die  Anatomie 

'»A';f,i    ,\t.j-    n\\of]    als   der    modernen    Schädel    darlegen    kann.     Per 


Unikefai  det  Köpft*.  301 

Atnrgemäße  Ansatz  von  der  Stirn  und  der  Nase  liegt  bei  dem  Manu 
lertieft.  Der  Gnind  liegt  in  der  Dickenzunahme  des  Stirnbeines  und 
Umeiittich.  in  der  Entstehung  der  lufthaltigen  Kilume,  deren  achon  in 
ist  Knochenlehre  gedacht  wurde. 

Es  ist  eine  iür  die  Rasseiiaiiatumie  bemerkenswerte  Thataache, 
'ia£  bei  manchen  Formen  des  Mensehengeschlechtes  di«  Nasenbeine 
Ms  mm  Verschwinden  zui-ilckgebildet  werden.  Legen  sich  dann  gleich- 
die  Nasenfortsätze  des  Oberkiefers  fiacb,  statt  sich  steil  zu  er- 
leben, so  kommt  es  zu  einem  fast  vollstäudigen  Mangel  der  Nasen- 
»nnel  nnd  des  oberen  Drittels  der  Naae.  Unter  den  in  den  letzten 
Jahren  durch  Zeutraleuiopa  gefülirten  Samojeden  und  Kalmücken  be- 
fanden sich  einige  Individuen,  bei  weh^hen  nur  die  untere  NaaenhüUte 
vorbanden  nnd  selbst  diese  mangelhaft  entwickelt  war.  Da  bei  uns 
die  Nase  den  vorragendsfen  Teil  des  Gesiebtes  darstellt,  so  fallen 
«ns  MiSverhaltnisse  der  erwähnten  Art  höcbst  unangenehm  auf.  Der 
teilweise  oder  vollkommene  Verlust  der  Nase  entstellt  mehi-  als  ein 
iteit  größerer  Formfehler  eines  anderen  Gesichtsteiles.  Nicht  minder 
itörend  wirken  die  VerdickungeTi  der  Haut.  Die  monströse  Ent^tel- 
'Initg  kann  so  weit  gehen,  daß  die  Nase  bis  auf  das  Kinn  berabbängt. 

Eine  Beschreibung  der  Nasenspitze,  der  Richtung  und  Form  der 
Kueneffnung  und  anderer  Merkmale  kann  hier  unterbleiben,  nachdem  die- 
<W  aoffalleudo  Organ,  wie  kein  anderes,  zur  Beobachtuug  herausfordert. 

Die  Pbvaiognomen  haben  «Icr  Snse  beguiicicrc  AufniL-rkaamkeit  gexeigt,  und 
€■  0.  Cabdh  iDfint,  die  Nnae  atä  es,  diirch  weli^he  der  Charakter  des  menticblichen 
e  tun  entschiede  asten  bezeicfaset  werde.  „t>ic  Stumpbiaaen  geben  ein  Zeichen 
Vm  är.liwSehe  und  geringer  gelKtiger  Individualität  ab;  dicke  und  etanypk  Nasen 
A  ^wohnlich  den  vorwaltend  materiellen  mnnlichcn  Charakter  an.  Die  Ung- 
RMnckti?  Form  wäre  Ins^niidn  mit  einer  intelligenten  forschenden  und  produktiven 
**'»  eine*  feinen  Ginste»  sinnig  verbunden.  Die  magere  lugespitzte  Nase  deutet 
WW  gewöhnlich  aufseht  Bchlimme  Gemütsart;  trockene  Spiirkraft,  Verneinen  Jeder 
Plnnercn  GemUtsriehtung."  Diese  Probe  geiBtreicben  Katvns  mag  genügen.  Man 
OtBkt  bm  derlei  Angaben  immer  an  die  -Wetterpropheten  iui  Kalendex;  genau  das- 
telbe,  nur  mit  ein  bischen  anderen  Worten  und  dabei  höchatens  50  Prozent  Treffer. 
1  int  räch  mindeBtens  ebenso  oft  mit  diesen  Urteilen  wie  unaere  Kalendcrm scher. 
e  EigeoBcbaftcn  der  Nwe  drücken  folgende  bei  dtin  Alten  gr^brSuc bliebe 
„ongen  aus;  Nasiii  »imu»,  Mupanase,  -  Xa«u^  ueipularis,  Spitanase,  — 
-°**'  aduneuB,  Habichtsuase,  —  Nastiit  iitctirpHs,  f^atteluaae,  nach  Cicebo  ein 
••«ieu  von  Schani  Wigkeit  und  Raubgier,  wie  Catilima  eine  gehabt  haben  soll,  — 
^•■M  noBieamis.  aufgestülpte  Nase.  —  Das  Wort  NaaeweiBlidl  und  die  echt 
'^Oiacbe  Bedensart:  nanum  nuütun  habere  (beBuhrilnklen  Verstandes  sein)  Beugen, 
'"'iie  Bedeutung  der  Nase  schon  im  Alterium  als  pbyeiognouiiBches  Organ  bei- 
■*8t  wurde. 

Die  freie  Stellung  der  Nase  setzt  sie  dem  Ej^^ri^!reu,  den  Verwundungen,  wohl 
^  lißT  totalen  Abtrennung  aus.     Die  Anna.len   der  Chirui^ie  sind  nicht   ann   an 
abgehnnene  Nasen  wieder  angeheüt  wurden. 


302 


Aohtcr  Aladmitt: 


ÄuBerst  selten   steht  die  Nase  vollkommen  b 
Hichtea.    Am  öftesten  weicht  sie  nach  linke  ab. 
vorkommende  Sehicfnaae  a 
dem   Ei^bnL 


metrisch   in  der  Mitte  de*  G^ 


Wblckbb  '  studierte  <Ue  so  tdbd; 
a  Schädeln,  Totenmasken  und  Lebenden,  und  kommt 
le  Schiefheit  der  Nasenwurzel  und  ■  eine  Schiefheit  dct 
Nasenspitze  gebe,  je  nachdem  die  Asymmetrie  in  den  Naseobeinen,  oder  aber  ■ 
der  NaseDscheidewftnd  liegt.  Weieiien  beide  Teile  in  ontgegengeaetrter  Kchtnng  »b. 
so  entsteht  jene  Iftcheriichc  Form  der  Nase,  weiche  nach  einer  Seite  gekrflmint  im. 
I'ür  alle  diese  Abweichungen  der  Nase  von  dem  geraden  Vfege  wird  der  Diwi 
verantwortlich  gemacht,  welchen  das  Schlafen  auf  einer  und  derselben  Körpcnab 
verursacht. 

IV.   Das  Ohr  (Aurü). 

Das   äußerlich  sichtbare  Ohr   ist  nur  ein  Teil    des   GehSrorgin«. 
dessen  physiologisch   wichtigster  Abschnitt  in   der  Tiefe    des  ScbideU 


-t   Ob.Sdienkdd.Q(|(HL 
-1   Dreieckige  Omht. 

i  Gegenlöate. 
-i  Hint.  Schenk.  d.OcgnL 
S    HoMheUiShle. 

O^oüeiMfl  dickt  u  d« 
Obrleiste  licgnid. 
1    Gegeneoke. 
t    Ende  der  Qegea\ätu. 


l 


Dnt.Schenk.d.Gegenl. 

Vord.Sehenkeid.Leist« 

Oberer  I^nschnitt 


Unterm'  EinBChniU   u- 


Kig.  9fl. 

und  zwar  in  dem  Felsenbein  verborgen  liegt.  Das  Ohr  stellt  filr  die 
Schallleitung  eine  Art  von  Höhrrohr  dar,  welches  die  Schallwellen 
föngt  und  nach  innen  leitet.  Es  besteht  aus  der  Ohrmuschel  und 
einer  nach  innen  gehenden  Fortsetzung,,  dem  (Jehörgang,  der  in  der 
Tiefe  durch  das  Trommelfell  abgeschlossen  ist.  Das  Ohr  kehrt  seine 
Konvexität  dem  Schädel  zu,  seine  Konkavität  vom  Schädel  ab.  Inner- 
halb dieser  Konkavität  treten  wallaiUge  Erhebungen  und  dazwischen 
Vertiefungen  auf,  welche  der  Rund  der  Muacliel  umschließt. 

Die  ovale  Ohrmuschel,   welche  den  breiten  Teil   des  Ovales  nach 
oben   wendet,   ist  zum  grüßten   Teil   von   einem   '/^  cm   breiten   umge- 

'  Wki/ker.  U.,  Die  Aaymrnefrien  der  Nase  und  des  Nnst-nskelettes.     Beitrip 
zur  Biologie.     E[iic-  F<'stBclirift.     ie»2.     H".     S.  317.     7  Holzschnitt«. 


MntkelD  dt*  Kopfot. 


303 


ktempten  Rand  eingefaßt,  der  Ohrleiste  {Nelir,  Fig.  99  Nr.  i)  heißt. 
Diese  Olirleiste  entspringt  vorn  in  halber  Ohrhöhe,  mit  zwei  Schen- 
keln. Der  vordere  taucht  aus  der  Wangenhaut  auf,  Fig.  99  Nr.  5', 
der  hintere  Nr.  5  aus  der  Tiefe  der  Muschelgruhe.  Die  Olirleiste  steigt 
nun  erst  eiue  Strecke  von  1'/, — P/,  cm  in  die  Höhe  und  wendet  sich 
dann  in  einem  stumpfen  Winkel  nach  hinten.  Dieser  umgekrempte 
Sand  ist  nicht  Uherall  gleich  breit,  und  sein  angewachsener  Teil,  der 
in  die  hintere  Fläche  übergeht,  ladet  sich,  namentlich  an  zwei  Stellen 
stärker  aus:  die  eiue  liegt  nach  vom  von  dem  höchsten  Punkt  der 
Ohrmuschel,    die  andere  nach  hinten,   wo  die  gewölbte  Begrenzungs- 


PiK.  100.  Fift.  101. 

Zwei  von  Ribera  f;cn.  1l  SpANaoLETTO  gi^zcichiu^to  Ohren. 
Aus  dem  K.  Kupfcrstichknbiiii-t  zu  Milnclicn. 


linie  aufhört,  und  in  gerader  Kichtung  nach  ab-  und  vorwärts  gegen 
das  Ohrläppchen  sich  wendet  (Fig.  39  unterhalb  der  Nr.  3).  In  der  NiVhe 
des  Ohrläppchens  wird  der  Rand  schmäler  und  läuft  in  eine  einfache 
Leiste  aus,  die  bisweilen  deutlich  abgesetzt  ist  (Fig.  99  Nr.  s").  Die 
Grundlage,  auf  der  die  Haut  des  Ohres  sitzt,  ist  ein  elastischer  Knorpel, 
der  aber  nach  der  Entfernung  der  bedeckenden  Schichte  die  Einzel  iiheiten 
der  Ohrmuschel  nur  in  der  Hauptsache  andeutet;  die  feinere  Modellie* 
rung  liegt  zu  einem  beträchtlichen  Teil  in  dem  Überzug.  Es  sind  wr)hi 
die  beiden  ürspruugsschenkel  der  Ohrleiste  knorpelig  vorhanden,  ebenso 
der  umgekrempte  obere  Teil,  allein  gegen  das  Ohrläppchen  hin  wird  der 
Knorpelzusehends  schmäler  uud  läuft  schlieBlich  in  ein  rundliches  Stab- 


304  Achter  Abschnitt 

eben  aus.  Verfolgt  man  dasselbe  mit  den  Fingern  nach  abwärts,  s<i  Ufii 
sieb  deutlicb  das  Aufboren  des  festen  Knorpelrandes^  der  sog.  Schvanz 
der  Knorpelleiste  fiiblen  und  an  der  Haut  die  kleine  Vertiefung  er- 
kennen,  auf  welcbe  die  Nr.  5"  in  unserer  Figur  hindeutet. 

Von  diesem  umgekrempten  Hand   wird   zunächst   eine  lürhebong 
der  Ohrmuschel   umschlossen,   welcbe  den  Namen  Gegenleiste  (Aut- 
helix)  erbalten    bat.     Am  deutlichsten   ist  sie   als  ein    praller  WuUt 
oberhalb  des  Ohrläppchens  (Fig.  99  Nr.  4')  ausgeprägt,  der  eine  Strecke 
weit  in  gleicher  Richtung  mit  der  Leiste  in  die  Höhe  steigt.    Bald,  nach 
einem  Verlauf  von   1 Y^  cm,  nimmt  die  Breite  der  Gegenleiste  jedocb 
beträchtlich    zu    (Fig.  99   Nr.  4)    und    spaltet    sich    in    zwei    Schenkel 
(Fig.  99  Nr.  2  u.  2').      Der  *  eine  wendet  sich   in    scharfem   Bogen  nach 
vom    und    verschwindet   unter   dem    umgekrempten    Rand    der  Leiste 
(bei  Nr.  2'),  der  andere  wendet  sich  allmählich  flacher   werdend  nach 
aufwärts  (Fig.  99  Nr.  2).     Die  beiden  Schenkel  der  Gegenleiste  iassa 
eine   dreieckige   Grube   (Fig.  99  Nr.  3)   zwischen   sich.     Ihre  Spitie 
ist  nach  hinten,  ihre  breite,    sich  mehr  und  mehr  vertiefende  Holde 
nach  oben  und  vom  gerichtet.     Der  eine  untere  Schenkel  ist  scharf 
geschnitten     und    begrenzt     mitsamt     dem    Anfang     der    Gegenleiste 
(Fig.  99  Nr.  4')  die  tiefe  Muschel  höhle  Nr.  6.     Während  der  Eingang 
in  diesen  vertieften  Raum  von  der  Gegenleiste  her   dem  Blick  völlig 
frei  liegt,    sitzt  an   dem   vorderen  Umfang  ein   stumpfer   Höcker  mit 
breiter  Fläche  aus  der   Haut   aufsteigend,    den    mau    Ecke   (Fig.  99 
Nr.  10)  oder  Bock  (Tragus)  heißt.    Diese  Ecke  überragt,  wie  eine  auf- 
stehende Klappe  den  Anfang  des  äußeren  Gebörganges   von  vom  her. 
und^  wird    von    der   ihr  gegenüberstehenden  Gegenecke    (Gegenlxick. 
AntitTa(ßus,   Fig.  99  Nr.  7)  durch   eineh    tiefen   gerundeten    Einschnitt 
getrennt,  Nr.  ii.    Noch  ist  ein  zweiter  viel  seichterer  Einschnitt  zu  be- 
achten, der  zwischen  der  Ecke  (Fig. 99  Nr. io)und  dem  vorderen  Schenkel 
der  Leiste  (Nr.  n')  existiert,    für  den   man   die  Bezeichnung   Obrritie 
oder   o])erer    Kinschnitt  (Scismrn   aiiris,  Fig.  99  Nr.  9)    eingeführt  hat 

Die  Haut  des  Obres  ist  mit  der  Unterlage,  dem  elastischen  Ohr- 
knorpel, fest  verwachsen,  namentlich  im  Bereich  der  obenerwähnteu 
Erbebungen  und  Vertiefungen  und  ist  fettlos.  Am  unteren  Ende  des 
Obres  verdickt  sie  sich  aber,  wird  fettreich,  und  bildet  das  Ohrläpp- 
chen, welches,  wie  die  Ohrzierraten  der  Wilden  beweisen,  eine  fast 
unbegrenzte  Ausdehnbarkeit  besitzt. 

l)it»  liiiittTO  FlÄ<*ho  des  Ohn>8  läßt  die  Vertiefungen  und  Erhabenheiten  der 
vonlereu  Fläche,  natürlich  in  unigekehrt<»r  Form  wieder  erkennen.  Die  Richtung 
der  (Tef^eiileiflte  b<»zeiolinet  eine  Einbiegung,  die  Stelle  der  Muschclhöhle  eine  «i- 
selnilielie  Krliabenheit.  Je  näher  die  hintere  Olirfläche  an  den  Kopf  heranrückt, 
desto  mehr  lockert  sieh  die  Verbindung  der  Haut  mit  dem  Ohrknorpel,  und  an 
dem  Übergang  zu  der  Kopfhaut  bild(*n  Hie  im  Alter  leicht  erkennbare  Falten. 


Muakeln  des  Kopfes.  305 

Die  feste  Unterlage  für  die  seltsame  Form  des  Ohres  liefert  bei 
Mensch  und  Tier  der  elastische  Ohrknorpel,  der  sich  leicht  biegen 
l&Bt,  und  bei  dem  Aufhören  des  Druckes  in  seine  frühere  Lage  sofort 
zurückkehrt. 

Die  am  Tragus  sprossenden  steifen  Haare  hielt  man,  wenn  sie  aus  dem  Ohre 
wie  Büschel  herausstehen,  für  ein  Attribut  weibersüchtiger  Männer,  und  nannte  sie 
deshalb  Bockshaare,  Hirci  (von  Hircusj  der  Bock,  griechisch  «-  irägos),  wodurch 
die  Ecke  am  Ohr  zu  ihrem  sonst  nicht  zu  erklärenden  Namen  gekommen  sein  mag. 

Der  Hautüberzug  der  Ohrmuschel  verhält  sich  zu  dem  Ohrknorpel, 
wie  die  Haut  der  Nase  zu  den  einzelnen  Knorpeln.  Die  Dünnheit 
und  der  Gefäßreichtum  läßt  den  Purpur  der  Schamröte  sich  auch  über 
die  Ohren  ergießen.  Doch  sind  die  Nerven  des  Ohres  für  dieses 
Zeichen  seelischer  Vorgänge  stärker  reizbar  als  die  der  Nase,  welche 
sich  meines  Wissens  weder  bei  der  Scham  noch  der  Verlegenheit 
rötet,  obwohl  sie  sonst  bekanntlich  für  andere  Schwankungen  der 
BlutftÜle  ein  prompter  Gradmesser  ist. 

Schön  geformte  Ohren  sind  eine  Zierde,  und  man  verlangt  von 
ihnen^  daß  die  obenerwähnten  Eigenschaften  deutlich  aber  maßvoll 
ausgeprägt  seien,  und  daß  sie  nur  ungefähr  doppelt  so  lang  seien, 
als  breit.  Selbstverständlich  ist  das  Ohr  der  Männer  größer  und 
derber  geformt,  als  das  der  Frauen.  Ein  großes  Ohr  ist  nach  Abisto- 
teijEs  ein  Zeichen  von  starkem  Gedächtnis.  Die  Griechen  dachten 
also  anders  darüber  als  wir,  denen  ein  allzu  großes  Ohr  einer  gewissen 
Ähnlichkeit  wegen  lächerlich  vorkommt.  Doch  hört  man  auch  bei 
uns  die  Behauptung,  ein  großes  Ohr  sei  ein  Zeichen  von  bedeutender 
physischer  Kraft.  —  Die  Ohren  sollen  nicht  weit  von  dem  Eopf^  ab- 
stehen, sondern  höchstens  in  einem  Winkel  von  15 — 20^  geneigt  sein. 
Gut  geformte  Ohren  verlangen  eine  vollkommen  entwickelte  Leiste. 
Fehlt  dieser  umgekrempte  Rand,  so  ist  dadurch  jene  unangenehme 
Gestalt  bedingt,  welche  unter  dem  Namen  Stutzohr  bekannt  ist. 
Man  wollte  hierin  einen  besonderen  Hinweis  auf  boshafte  Gemütsart 
erkennen.  Mephisto  fehlt  die  Leiste  teilweise  und  das  Ohr  zieht  sich 
nach  hinten  und  oben  sogar  in  eine  spitze  Ecke  aus,  vielleicht  um 
damit  auch  die  spöttische  Natur  des  stets  verneinenden  Geistes  an- 
zudeuten. 

Größe  und  Umriß  des  Ohres  wird  von  dem  vielfach  variierenden 
Ohrläppchen  beeinflußt,  welches,  wie  es  scheint,  nur  bei  dem  Men- 
schen in  dieser  Form  vorkommt.  Ein  Haupterfordemis  seiner  Gestalt 
ist  die  Trennung  von  der  Wangenhaut,  d.  h.  zwischen  dem  untersten 
Umfang  des  Läppchens  und  der  Wange  muß  eine  Spalte  bestehen. 
Ist  dies  nicht  der  Fall,  und  hebt  sich  das  Läppchen  nicht  frei  ab. 
dann  spricht  man  von  einem  angewachsenen  Läppchen.  ■  Ohren  mit 

KOLLMAMH,  Plastische  Anatomie.  20 


306  Achter  Abschnitt. 

angewachseneu  Läppchen  sehen  kurz  und  breit  aus,  während  da.s  im- 
hängende  Läppchen  dazu  beiträgt,  das  längliche  Aussehen  der  Mnscbd 
zu  steigern. 

Die  Ohrmuschel  steht  mit  ihrem  Längsdurchmesser  senkrecht  u 
dem  Kopf.  Eine  leichte  Neigung  nach  hinten  kommt  vor,  dagegen  isx 
eine  solche  nach  vorne  sehr  selten.  Für  die  Bestimmung  der  Höhen* 
läge  hält  man  sich  am  besten  an  den  Anfang  des  äußeren  6e« 
hörganges,  der  in  gleicher  Höhe  mit  dem  oberen  Band  des  Xasen- 
äügels  liegt.  Zieht  mau  etwas  tiefer,  nämlich  vom  freien  Rande  der 
Nasen  Scheidewand  eine  gerade  Linie  nach  rückwärts  in  das  vom  Ohr- 
läppchen bedeckte  Grübchen  unter  dem  äußeren  Gehorgang,  so  tritt 
diese  Linie  den  unteren  Rand  des  Läppchens. 

Eine  zweite  Linie,  welche  man  von  dem  äußeren  Augenwinkel  ab- 
gehend in  gerader  Linie  und  parallel  zu  der  vorerwähnten  der  Seiten- 
fläche  des  Schädels  entlang  zieht,  trifft  das  Ohr  dort,  wo  sich  die 
Muschel  von  der  Schläfe  trennt.  Die  Ohren  sitzen  an  ägyptischen 
Statuen  bisweilen  zu  hoch,  z.  B.  au  der  in  Turin  befindlichen  Bfiste 
Ramses  II,  allein  an  anderen  soll  die  Lage  richtig  sein,  wie  Li2CGa 
angiebt.  Man  darf  aus  der  fehlerhaften  Stellung  des  Ohres  an  Sta- 
tuen des  Pharaonenlandes  jedoch  keineswegs  schließen,  daß  auch  die 
Bewohner  eine  andere  Lage  der  Ohrmuschel  gehabt  hätten,  als  die 
umgebenden  Völker.  Die  Untersuchung  von  Mumien,  an  denen  nnter 
einer  dicken  Pechschichte  die  Ohrmuschel  ganz  gut  erhalten  war, 
widerspricht  auf  das  entschiedenste  einer  solchen  Annahme. 

Das  Ohrläppchen  darf  an  einem  gutgeformten  Ohre  niemals  fehlen.  Manclie 
Völker  stehen  im  Verdacht,  in  dieser  Hinsicht  mangelhaft  oi^ganisiert  zu  sein.  So 
sollen  die  Nachkommen  der  Goten  in  den  Pyrenäen  und  im  westlichen  Fiankrrich 
dieses  Schmuckes  entbehren,  eine  Nachricht,  über  die  jedenfalls  eine  Bestätigun; 
wünschenswert  wäre. 

Es  giebt  lange  und  breite,  rundliche  und  eckige,  flache  und  aus- 
gehöhlte Ohren.  Die  Zahl  der  individuellen  Schwankungen  ist  sehr 
groß,  und  manche  mögen  auch  auf  Rasseneigentümlichkeiten  beruhen. 
Oft  liegen  die  Muscheln  dem  Kopfe  auffallend  stark  an,  was  bei 
Frauen  von  einem  starken  Anpressen  durch  die  Kopfbedeckung  her- 
rühren kann.  Lavatee  legt  der  Gestalt  der  Ohrmuschel  eine  große 
physiognomische  Bedeutung  bei.  Kleine  Ohren  deuten  ihm  auf  gei- 
stige Energie;  die  Besitzer  tief  ausgearbeiteter  Ohren  sind  der  Lehre 
und  der  Erkenntnis  besonders  zugänglich.  Noch  weiter  geht  ein  an- 
derer, der  behauptet,  keines  der  Organe  am  menschlichen  Körper 
verpflanze  so  die  Ähnlichkeit  des  Vaters  auf  die  Kinder,  als  die  Ohr- 
muschel. „Montre-moi  ton  oreille,  je  te  dirai,  qui  tu  es,  d'oü  tu  viens, 
et  Oll  tu  vas.** 


Muskeln  des  Kopfes.  307 

Wegen  der  exponierten  Lage  der  Ohrmuschel  kommen  nicht 
selten  Verletzungen  vor,  und  unter  ihnen  Quetschungen  durch  Schlag 
oder  Fall.  Das  aus  den  zerrissenen  Gefäßen  austretende  Blut  sam- 
melt sich  zwischen  Haut  und  Knorpel  und  bedingt  nach  vollendeter 
Heilung  ein  sehr  verändertes  Aussehen  dieses  schallleitenden  Ansatz- 
stückes. Es  sind  Verunstaltungen,  welche  etwas  ganz  charakteristisches 
an  sich  haben.  Die  Ohren  sehen  wie  geschrumpft  aus,  die  obere 
Partie  wie  „zusammengebrochen"  (ist  sehr  häufig  bei  Boxern).  An  an- 
tiken Statuen  von  Faust-  und  Ringkämpfern,  oder  von  einzelnen  durch 
ihre  Kampflüchtigkeit  besonders  hervorragenden  Halbgöttern,  wie  Her- 
KUiiEs  und  PoLLUX,  erscheint  das  Ohr  geciuollen,  die  dreieckige  Grube 
ist  verstrichen  imd  die  Muschelhöhle  dui-ch  Verdickung  der  Haut  bis 
auf  einen  schmalen  Zugang  zum  Gehörgange  verengt.  Diese  Ohrform, 
welche  sich  an  Bildwerken  von  Faustkämpfern  (Pankratiasten)  vor- 
findet, ist  eine  Folge  von  Insulten  des  Ohres,  von  Schlägen  mit  der 
durch  Kampfriemen  bewehrten  Faust;  es  ist  tibereinstimmend  mit  dem 
sogenannten  Blutohr,  das  durch  das  Ziehen  am  Ohr  noch  heutzutage 
entstehen  kann. 

In  antiken  Bildwerken  sind  die  Ohren  meist  mit  l)esonderer  Sorg- 
falt ausgebildet,  und  es  wird  l)ehauptet,  die  größere  oder  geringere 
Durchbildung  erlaube  ein  entscheidendes  Urteil  ül)er  die  Zeit  der 
Entstehung  des  Kunstwerkes. 

Das  Ohr  l)esitzt  außer  den  Muskeln,  welches  dasselbe  als  Ganzes  be- 
wegen, und  welche  schon  bei  den  Gesichtsmuskeln  erwähnt  wurden  (S.  265), 
auch  einige  ihm  eigentümliche,  welche  auf  Veränderung  seiner  Form 
abzielen.^  Sie  sollen  hier  nur  mit  ihren  Namen  aufgeführt  werden,  denn 
ich  glaube,  es  ist  nur  selten  gelungen,  eine  willkürliche  Gestalt- 
veränderung  durch  das  Spiel  dieser  kleinen  Muskelchen  zu  l)eobachten. 

Diese  Muskeln  Hind  folgende: 

1)  Der  große  Leistenmuokel  (M.  helicis  major), 

2)  „     kleine  Leistenmuskel  (M,  helicis  minor). 

3)  „     Muskel  der  Ecke  (M.  tragicus). 

4)  „  „        „    Gegenecke  (M.  anti tragicus). 

b)      „     (piere  Ohrennuiskel  (M.  transversu^  auriculac). 
Die  ersten  vier  stehen,  wie  schon  ihr  Name  vermuten  läßt,  mit  der  Leiste,  der 
Ecke  und  Gkigcnecke  und  der  vorderen  Fläche  dieser  Teile  in  Beziehung,  während 
der  quere  Ohrmuskel  auf  der  hinteren  Fläche  des  Ohres  sitzt. 

Diese  sämtlichen  Muskeln  finden  sich  bei  den  Säugetieren  sowohl 
kräftig  ausgebildet  als  auch  leistungsfähig,  um  die  Form  der  Ohr- 
muschel zu  verändern. 


^  Über  Form-  und  Lageverhältnisse  des  Ohres  handelt  C.  Lanier  in  den  Mit- 
teilungen der  anthropologischen  Gesellschaft  in  Wien  XII.  T)d.  1882  und  in  seiner 
Anatomie  der  äußeren  Formen.   Wien  1884.    8^ 

2ü* 


V.    Dur  Ausdrack  der  fiemQtsbrwrguu^ii. 

Sobald  die  Seele  bewegt  wird,  wird  das  menschliclie  Antliti  cü 
lebendes  Gemälde,  auf  dem  die  Leidenschaften  mit  ebenaonel  Fei»- 
heit  als  Energie  wiedergegeben  werden,  auf  dem  jede  Seelenbewepm 
durch  ein  cliärakteristisches  KenuzeicUen  bemerkbar  wird,  de^wn  )ek 
hafter  und  stets  bereiter  Ausdruck  dem  Willen  voraneilt,  uns  »enk 
und  durcb  patbetisolie  Zeichen  die  Bilder  nnserer  geheimsten  Bm» 
guDgen  der  Außenwelt  wiedergiebt.  Die  Seele  ist  also  die  Quelle  ■!» 
Ausdruckes,  sie  läßt  unwillkürlich  die  Muskeln  spielen,  and  Ufit  ü 
dus  Abbild  unserer  Leidenschaften  auf  das  Qesicht  malen. 

Die  Erörterung  über  jenes  Muskelspiel  schließt  sieb  am  bfttta 
an  die  Anatomie  der  Antlitzmuskeln  und  an  die  Anatomie  des  Av^ 
an,  das  der  Mittelpunkt  des  Antlitzes  ist.  Wenn  auch  der  guu 
Körper  an  dem  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen  teilminmt,  bei  da 
Überschrift  dieses  Abschnittes  deukt  mau  doch  zunächst  an  dit»  Atf. 
litr,  weil  seine  Muskeln,  in  so  naher  Verbindung  mit  den  Gehimnenwi, 
vor  allem  jene  Spannungen  der  Haut  hervorbringen,  deren  OesamlliM 
wir  mit  dem  Worte  „Mimik"  bezeichnen.  Auf  das  Antlitz  wradK 
sich  zuerst  der  Blick,  wenn  wir  den  Ausdruck  der  Gemütshewegmi^ 
an  uns  oder  an  unserer  TJmgebimg  studieren  woÜeu. 

Alle  Äußerungen  der  Gemütsbewegungen  geschehen  ur- 
sprünglich unbewußt  und  unwillkürlich.  Das  ist  eine  der  wich. 
tigsten  Erkenntnisse,  zu  denen  das  Studium  dieser  Vorgänge  goftüm 
hat.  Die  Muskeln  sind  freilich  die  Diener  unserer  WillensimpuUe. 
welche  bewußt  aus  dem  Linern  des  Gehirns  heraus  gegeben  werden. 
Aber  die  Muskeln  folgen  auch  oft  den  Erregungen  der  empfind«nilcn 
Abteilung  des  Nervensystems,  ohne  daß  irgend  ein  Willenaimpals  da- 
bei im  Spiele  wäre.  Die  Tierexperimente  haben  dafür  eine  Fülle  von 
Beweisen  gehefert;  die  zweckmäßigen  Bewegungen  der  enthauptet«ii 
Frösche  sind  in  dieser  Beziehung  allgemein  bekannt. 

Ein  seines  Gehirns  beraubtes  Tier  dieser  Art  wischt  den  Tropfiai 
Säure,  den  man  auf  seine  Haut  bringt,  mit  dem  Fuße  ab.  Li  seinnn 
Bückeumark  ist  also  ein  Mechanismus  vorhauden,  der  darcb  eincu 
Reiz  in  Thätigkeit  versetzt,  eine  Anzahl  von  Muskeln  in  geordoelPt 
Beihenfolge  so  zur  Zusammenziehung  veranlaßt,  daß  das  »Hmliclw 
entsteht,  als  ob  eine  bewußte  Empfindung  den  Befehl  zu  zweckmä- 
ßigen Bewegungen  gegeben  hätte.  Diese  unbewußte,  mechaniKJie 
Leistung  des  Nervensystems  bezeichnet  man  als  Reflex.  Damit  vto 
solcher  stattfinde,  ist  notwendig:  die  Erregung  eines  sensibelD 
Nerven;  dann  eine  bestimmte  Stelle  in  dem  Zentralnerveusptem, 
welche   die  EiTegung  empfängt,   das  Reflexzentrum   und   ein  nioto- 


Mufkeln  des  Kopfes.  309 

rischer  Nerv,  der  von  dem  Zentrum  zu  den  Muskeln  hinfuhrt.  Diese 
ganze  Bahn  heißt  Reflexbogen.  Ihre  Einrichtung  ist  von  der 
alleräußersten  Feinheit  der  Konstruktion,  und  es  ist  schwer,  sich  eine 
genügende  Vorstellung  davon  zu  machen.  Der  Vergleich  mit  einer 
Telegraphenleitung  zwischen  zwei  bestimmten  Orten  ist  trotz  des  Um- 
standes,  daß  das  Telegraphenbüreau  dem  Reflexzentrum,  die  Drähte 
den  Nerven  vergleichbar  sind,  doch  nur  ein  sehr  unvollkommenes 
Beispiel,  nicht  als  ob  der  Grad  der  mechanischen  Komplikation  nicht 
hinreichend  dadurch  angedeutet  wäre,  sondern  weil  bei  den  Nerven- 
Yorgängen,  um  die  es  sich  hier  handelt,  das  Bewußtsein  ausgeschlossen 
ist.  Das  ist  aber  gerade  der  wichtigste  Punkt,  auf  den  es  bei  dem 
Stadium  der  Ausdrucksbewegungen  ankommt. 

Die  Arten  der  Reflexe  sind  sehr  zahlreich,  es  ist  zweckmäßig 
an  dieser  Stelle  zwei  derselben  auseinander  zu  halten: 

Der  einfache  Reflex  ist  dadurch  charakterisiert,  daß  die 
Erregung  eines  sensibeln  Bezirkes  die  Bewegung  von  nur  einem  Mus- 
kel oder  doch  nur  von  einer  bestimmten  Gruppe  auslöst.  So  ent- 
steht bei  Berührung  der  Bindehaut  des  Auges  Schluß  der  Lidspalte. 
Der  Reflexbogen  ist  einfach  und  kurz,  die  Erregung  geht  von  der 
gereizten  Stelle  aus  nach  dem  Gehirn,  und  durch  das  Reflexzentrum 
hindurch  auf  jene  motorische  Bahn,  welche  ausschließlich  den  Ring- 
muskel des  Auges  innei*viert.  Ein  ähnlicher  einfacher  Reflex  tritt 
bei  starkem  Lichtreiz  ein,  der  die  Netzhaut  des  Auges  z.  B.  bei  dem 
Leuchten  eines  Blitzes  trifft.  Diese  beiden  Bewegungen  sind  nicht 
nur  Beispiele  einfacher  Reflexe,  sondern  gleichzeitig  Belege  für  die 
Zweckmäßigkeit  derselben.  Denn  der  Lidschlag  bei  Berührung  des 
Augapfels  dient  dazu,  die  Schädlichkeit  zu  beseitigen,  und  der  Schluß 
des  Lides  bei  dem  Aufleuchten  des  Blitzes,  die  Reizung  der  Netz- 
haut zu  verhüten.  Es  ist  für  unsere  Betrachtung  gleichgültig,  ob  die 
Zweckmäßigkeitslehre  in  allen  Fällen  zutrifft,  oder  ob  andere  Bedin- 
gungen, wie  der  Kampf  ums  Dasein,  die  Notwendigkeit,  eine  passen- 
dere Erklärung  enthalten;  zweifellos  sind  in  vielen  Fällen  die  Reflexe 
von  Nutzen,  wenn  sie  auch  in  manchen  anderen  völlig  zwecklos  sind. 

Die  ausgebreiteten  Reflexe  sind  eine  andere  Form,  bei  der 
nach  Erregung  einer  sensibeln  Faser  innerhalb  großer  und  sogar 
verschiedener  Muskelgruppen  Bewegungen  komplizierter  Art  aus- 
gelöst werden,  welche  nicht  bloß  den  Charakter  der  Zweckmäßig- 
keit, sondern  auch  den  Schein  der  Absicht  an  sich  tragen.  Hierher 
gehört  das  Niesen ,  Husten ,  das  Zurückziehen  der  Arme  und  der 
Beine  bei  unerwarteter  Berührung,  die  Abwehr-  und  Fluchtbewe- 
gungen u.  s.  w. 


310  Achter  AbschniU. 

Diese   Auseinandersetzung    über   Eeflexbewegungen    sollte  danot 
vorbereiten,  die  mechanische  Grundlage,  auf  welcher  der  Ausdrack  der 
Gemütsbewegungen  beruht,  in   den  Hauptumrissen  zu  schildern.    Die 
Gemütsbewegung  ist  freilich  nicht  direkt  dem  Reiz  der  Bindehaut  oder 
der  Wirkung  des  Blitzes  auf  die  Netzhaut  vergleichbar.     Sie  ist  ein 
geheimnisvoller  Zustand  unseres  Nervensystems,  und  zwar  jener  Sphäre, 
die  wir  als  Bewußtsein  bezeichnen.     Freude,  Trauer,  Zorn  erzeugen 
Vorstellungen,  d.  i.  eine  Kette  von  freudigen  oder  schmerzlichen  Vor- 
gängen in  unseim  Inneni.     Sie  dürfen  mit  Fug  und  Kecht  durch  den 
Ausdruck   „Bewegungen"    bezeichnet    werden,    sie    lassen    sich  nicht 
denken^    ohne    eine    bestimmte   Störung    des    Gleichgewichtszustandes 
unserer  Nervenmoleküle.     Wenn  eine  Vorstellung  oder,  was  gleichb^ 
deutend  ist,  ein  Affekt  unser  Inneres  bewegt,  so  entsteht  jene  Stim- 
mung, welche  die  Gefühle  von  Freude  und  Schmerz  und  Zorn  begleitet^ 
Dabei   überschreiten  jene  geheimnisvollen  Wellen   der  Bewegung  die 
Bahnen   innerhalb   der   Schädelkapsel,    und   setzen  sich  unabhängig 
von  dem  Willen  in  die  motorischen  Nervenfasern  des  Körpers  f(Ät 
Sie  überfluten  gleichsam  die  Ufer,  und  die  Wellen  erreichen  entfernte, 
an  der  Peripherie   des  Körpers  liegende  Gebiete.     Diese   in  die  Peri- 
pherie getragenen  Bewegungen  werden  schließlich  als   Muskelzug  be- 
merkbar, und  stellen  in  ihrer  Gesamtheit  dasjenige  dar,  was  Ausdrack 
der  Gemütsbewegungen   genannt   wird;    der   Zug  bestimmter  Muskel- 
gruppen erzeugt  Gel)ärdeu,  und  so  werden  die  Muskeln  die  Dolmetscher 
unserer  inneren  Regungen.     Die  Muskeln  können  wie  bei  der  einfachen 
Reflexbewegung,    nur  gering  an  Zahl,  sich  in  Bewegung  setzen,  oder 
harmonisch    ineinandergreifend    als    ganze    Gruppe    zusammenwirken. 
Die  Erregung   l)estimmter   empfindender  Nervengebiete    des    Gehirnes 
springt  in  dem  letzteren  Falle  auf  weit  ausgedehnte  motorische  Nerren- 
bahnen  über  und  veranlaßt  eine  Association  zahlreicher  Muskelgmppen. 
So   fälirt   der  Schreck   oder  die  Freude   gleichzeitig   in    verschiedene 
Muskelnerven,  und  veranlaßt  unbewußt  Zuckungen  die  sich  über  den 
ganzen  Köri)er  ausdehnen  und  l)ei  dem  Zoni  können  nach  und  nach 
oder  sofort  alle  Muskeln  des  ganzen  Körpers  in  Aufregung  geraten. 

Es  werden  sich  später  noch  Beispiele  finden,  welche  zeigen,  daß 
nicht  bloß  die  Muskeln,  sondern  auch  die  Gefäße,  die  Haut  und 
andere  Organe  im  Dienste  der  Mimik  stehen,  allein  dieser  Zusammen- 
hang mit  den  Gemütsbewegungen  wird  sich  besser  am  Schluß  dieser 
Betrachtung  anfügen  lassen.    Dort  kann  auch  von  einer  Klassifikation 


*  Für  eiue  weitere  Analyse  der  Gemütsbewegungen,  nameutlich  iu  bezog  anf 
eine  Trennung  der  Affekte  und  Triebe  verweise  ich  auf  Wundt,  Grundzäge  der 
physiologischen  Psychologie.    Iueii)zig.    V.  Abschnitt.    S.  820  u.  ff. 


Muskeln  des  Küi»fe8.  311 

der  Geberden  die  Eede  sein,  auf  die  wir  zunächst  verzichten,  nachdem 
es  sich  hier  um  keine  systematische  Auseinandersetzung  dieses  Gegen- 
standes handelt,  sondern  lediglich  um  den  Hinweis  auf  einige  der  wich- 
tigsten Erscheinungen,  welche  für  die  Beobachtung  von  Vorteil  sein 
können.  Das  Werk  von  Ch.  Daewin:  Über  den  Ausdruck  der  Ge- 
mütsbewegungen l)ei  Mensch  und  Tier,  deutsch  von  V.  Caiius,  enthält 
unter  den  neueren  Werken  wohl  die  vielseitigste  Eröi-terung  dieses 
Gegenstandes.  Der  Wert  dieses  ausgezeichneten  Buches  bleibt  auch 
dann  unbestreitbar,  wenn  nicht  alle  Erkläningen,  welche  dort  für  die 
Entstehung  der  Geberden  gegeben  werden,  vor  der  Kritik  bestehen  sollten. 

Darwin  macht  in  selir  Weloii  Fallen  die  Gewohnheit,  die  von  den  Vor- 
fahren ererbt  wurde,  zum  Aiuigang8])unkt  seiner  Erörterungen,  wie  die  Geberden 
einst  entstanden  seien.  Gewohnheit  int  einer  der  wichtig8t(?n  aber  auch  der  dun- 
kelsten Begritte,  und  eine  Theorie,  die  ihn  zur  Leuelite  ninnnt,  muß  notwendig 
mehr  neue  Rätsel  scliaffen  als  hisen.  Die  Vererbung  mag  manclies  Ixjgreiflich 
machen,  aber  doch  nicht  alliw.  Es  giebt  unmittelbares  der  Willkür  ganz  entzogene 
Lebensäußenuigen,  die  wie  die  Schamröte  bei  der  Verlegenheit  oder  der  Gallen- 
erguß beim  Arger  in  das  Dominium  des  sympathischen  Nerven  fallen.  Wenn  wir 
nachts  an  irgend  eine  Verlegenheit  des  vorhergegangenen  Tages  uns  erinnern,  liegt 
der  ganze  Leib  wie  auf  Nesseln.  Durch  die  Annahme,  daß  schon  die  Ur-Urgroß- 
väter  diese  Wirkung  auf  die  Schweißdrüsen  und  Hautnerven  hatten,  wird  der 
ganze  Vorgang  um  kein  Haar  verständlicher.  Gleichwohl  sind  alle  von  Darwin 
mitgeteilten  Beobachtungen  über  den  Grad  und  die  Ausdehnung  des  Errötens  und 
über  die  Gebänlen  bei  dem  Schämen  im  höchsten  Grade  wertvoll  und  verlieren 
nichts  von  ihrem  hervorragenden  Interesse. 

Ohne  irgend  welche  Kenntnis  von  dem  komplizierten  Vorgang  in 
unserm  Nervensystem  bei  der  Entstehung  der  Gebärden  sind  wir  doch 
alle  durch  die  Beobachtung  schon  von  frühester  Jugend  an  zu  geschickten 
Physiognomiken!  geworden.  Wir  deuten  nicht  allein  den  Ausdruck 
der  Freude  oder  des  Schmerzes  und  vieler  anderer  Affekte  vollkommen 
zutreffend  in  ihren  stärksten  Graden,  auch  die  leisesten  Zuckungen 
der  Muskeln,  welche  nach  der  einen  oder  der  anderen  Eichtung  aus- 
schlagen, werden  schon  verstanden.  Es  ist  dabei  die  Beobachtung  der 
Umgebung  lehrreich,  aber  auch  das  Beschauen  unserer  eigenen  Ge- 
bärden bereichert  die  Erfahmng.  Dabei  wird  die  Sicherheit  unseres 
Urteils  so  groß,  daß  wir  weder  in  der  Beurteiliuig  dieser  starken  Affekte 
noch  air  der  anderen,  die  als  Wohlwollen,  Freundlichkeit,  oder  Hohn 
und  Spott  ihren  weniger  scharf  ausgeprägten  Ausdnick  in  das  Gesicht 
legen,  jemals  fehlen.  Es  hängt  dies  damit  zusammen,  daß  der  Aus- 
druck der  Gemütsbewegungen  überall  derselbe  ist,  mag  die  Heimat 
und  die  Abstammung  noch  so  verschieden  sein.  Wir  können  unsere 
eigene  Mimik  als  Maßstab  benützen  für  diejenige  der  Mitmenschen. 
Aus  dieser  Thatsache  hat  sich  jene  Kunst  entwickelt,  durch  Mienen 
und  Gebärden  die  Affekte  anderer  Menschen  auszudrücken. 


312  Achter  Abeduiitt 

Mimische  Künste  sind  nachahmende  oder  darstellende  Künste,  and  g«bei 
darauf  aus,  gewisse  Individualitäten  nach  ihrer  äußeren  Erscheiniing  zur  Anschamng 
zu  bringen,  bestehe  sie  nun  in  der  Nachahmung  körperlicher  oder  peychologisdier 
Seiten.  Die  letztere  wird  ein  Hauptmittel  dramatischer  Darstellmig.  £«  giebc 
bekanntlich  eine  tragische,  komische,  oratorische  Mimik.  Der  Künstler  lauscht  die 
Zeichen  der  psychologischen  Vorgänge  in  den  äußeren  Organen  des  Köipers.  dv 
Spiel  der  Seele,  sich  selbst  und  der  Menschheit  ab. 

Eine  Folge  unserer  Erfahrungen  über  den  Ausdruck  der  Gemöts- 
bewegungen  ist  der  Wunsch,  aus  diesen  Zeichen  auch  deu  Charakter  des 
Menschen  zu  deuten.  Die  Versuche,  zwischen  dem  Äußern  des  Menschen, 
namentlich  seinen  Gesichtszügen  und  seinem  Innern,  gewisse  Regeln  der 
Beziehung  aufzufinden  sind  uralt,  sie  gründen  sich  auf  die  Wechselwir- 
kung zwischen  Geist  und  Körper.    In  den  folgenden  Erörterungen  ist 
jeder  Versuch  gänzlich  ausgeschlossen,  aus  der  Form  des  Antlitzes  oder 
eines  konstanten  Ausdruckes  weissagende  Regeln  für  die  Kenntnis  des 
Charakters   abzuleiten.     Auch   den   Knochenbau   oder   andere   Eigen- 
schaften des  Körpers  werden   wir  nicht  als  bedeutungsvolle  Symbole 
des  Charakters  betrachten,  wie  dies  im  täglichen  Leben  so  oft  geschieht, 
denn   diese  Dinge  haben  mit  der  Entwickelung  des  Geistes  nichts  zu 
schaffen.    Nur  der  allgemeine  Satz  ist  unbestreitbar:    in  corpore  sww, 
mens  sana  —  in  einem  gesunden  Körper  wohnt  eine  gesunde  Seele. 
Ob  dabei  der  Schädeldurchmesser   lang  oder  kurz,   die   Nase  stampf 
oder  spitz  ist,  bleibt  für  die  Entwickelung  des  Verstandes  und  des 
Charakters   völlig  gleichgültig.     Wie   eine  Physiognomik    verfehlt  vX, 
welche  auf  solchen  „Symbolen*^   sich  aufbaut,  so  sind  auch  die  Ter- 
gleichungen  menschlicher  Züge  mit  denjenigen  der  Tiere  völlig  wert- 
los,  sobald  man  sich  aus  ganz  oberiiächlichen  Ähnlichkeiten  für  l)e- 
rechtigt  hält,  auf  eine  Verwandtschaft  des  Temperamentes  oder  scuistiger 
Eigenschaften  zu  schließen. 

1)  Der  Blick. 

Die  Mimik  des  Blickes  oder  die  Sprache  der  Augen  ist  am  besten 
bekannt,  sie  wird  am  meisten  studiert,  weil  sie  wichtig  und  leicht  ver- 
ständlich zugleich  ist.  Um  dieselbe,  soweit  sie  unwillkürlich,  also  ein 
Reflex  der  Affekte  ist,  richtig  zu  beurteilen,  sei  liier  zunächst  be- 
schrieben, wie  der  Blick,  soweit  er  von  dem  Willen  beherrscht 
wird,  beurteilt  werden  muß. 

Die  Richtung  der  Augen  auf  einen  bestimmten  Gegenstand  heißt 
gemeiniglich  „der  Blick**.  Er  wird  durch  die  Augenmuskeln  herbei- 
geführt und  geschieht  bekanntlich  immer  in  der  Weise,  daß  sich  beide 
Augen  zugleich  dem  zu  'betrachtenden  Gegenstand  zuwenden.  Wir 
können  einen  Gegenstand  nur  dann  scharf  sehen,  wenn  er  im  Ver- 
einigungspunkt der  verlängerten  Augenachsen  liegt.    Ist  dies 


Mutkeln  des  Kopfes.  313 

der  Fall,  dann  „fixieren"  wir.  Schon  früher  wurde  erwähnt,  daß 
es  nur  eine  Stelle  in  der  Netzhaut  giebt,  durch  welche  die  darauf 
entworfenen  Bilder  mit  vollkommener  Schärfe  aufgefaßt  werden  können. 
Diese  kleine  Stelle  liegt  an  dem  hinteren  Ende  der  Sehachse,  also  in 
der  Mitte  der  Netzhaut.  Je  weiter  ab  von  dieser  Stelle,  desto  un- 
deutlicher werden  die  Eindrücke,  ohne  jedoch  vollkommen  unkenntlich 
zu  sein.  Dieser  Einrichtung  verdanken  wir  die  Wahrnehmung  von 
Gegenständen,  welche  seitlich  in  den  Bereich  unserer  Netzhaut  ge- 
langen, obwohl  der  Blick,  d.  h.  die  Stelle  des  schärfsten  Sehens,  direkt 
nach  vom  gerichtet  ist.  Jene  Gegenstände,  deren  Bilder  die  Seiten- 
flächen der  Netzhaut  treffen,  erscheinen  aber  unbestimmt;  wenn  wir 
sie  nach  ihren  Einzelnheiten  kennen  lernen  wollen,  muß  der  Blick,  d.  h. 
die  Stelle  des  schärfsten  Sehens,  auf  sie  gerichtet  werden.  Folgende 
Thatsache  ist  für  die  Beurteilung  des  Blickes  von  großer  Tragweite: 

Die  Stellung  der  Augenachsen  ist  verschieden  nach  der 
Entfernung  des  Gegenstandes. 

Ruht  der  Bück  in  unendlicher  Ferne,  so  ist  die  Konvergenz  der 
Augenachsen  so  gering,  daß  wir  sie  als  parallel  gestellt  erklären. 
Wendet  er  sich  über  eine  weite  Ebene  hinweg  dem  fernen  Horizonte 
zu,  so  ruhen  die  Augen  in  der  horizontalen  Ebene;  sie  sind  weit  ge- 
öffnet, um  das  volle  Licht  unbegrenzt  in  das  Innere  dringen  zu  lassen. 
Betrachten  wir  dagegen  einen  nahen  Gegenstand,  so  drehen  sich  die 
Augen  und  damit  die  Augenachsen  nach  innen,  dem  Zug  der  innern 
geraden  Muskeln  folgend.  Von  dem  Punkte  des  schärfsten  Sehens 
nach  dem  Gegenstand  hin  fortgesetzt  gedacht^  schneiden  sich, 
wie  der  technische  Ausdruck  heißt,  die  beiden  Augenachsen. 
Der  Grad  der  Konvergenz  wird  auch  als  „Neigung"  be- 
zeichnet. Dabei  ist  es  gleichgültig,  ob  der  Kopf  gehoben  oder  gesenkt 
ist,  ob  er  sich  gerade  dem  betrachteten  Punkt  gegenüber  befindet, 
der  Blick  also  voll,  oder  ob  er  von  der  Seite  her  darauf  gerichtet  ist. 
Bei  einem  normalsichtigen  Auge  können  die  Gegenstände  zeitweise, 
wie  bei  dem  Lesen,  bis  auf  12  Zoll  =  36  cm  genähert  werden. 
Zwischen  dem  Blick  nach  dieser  Entfernung  und  dem  damit  verbun- 
denen starken  Grade  der  Konvergenz  der  Augen,  bis  zu  dem  Blick  in 
die  unendliche  Feme,  giebt  es  eine  Reihe  von  Zwischenstellungen,  die 
wir  an  jedem  Auge  mit  vollständiger  Schärfe  zu  beurteilen  verstehen, 
bei  dem  Menschen,  wie  bei  denjenigen  Tieren,  deren  Augen  eine  dem 
Menschen  ähnliche  Lage  besitzen,  wie  Affen  und  Raubtiere.  Bei 
Wiederkäuern  und  Nagern,  deren  Augen  mehr  seitwärts  am  Kopfe 
sitzen,  ist  die  Unterscheidung  beträchtlich  schwieriger. 

Für  den  Menschen,  also  im  weitesten  Sinn  flir  die  ganze  Men- 
schengattung,  ist  unsere  Übung  in  der  Beurteilung  des  Blickes  so  ent- 


314  Muskeln  des  Kopfes. 

wickelt,  daß  wir  die  feinsten  Änderungen  wahrnehmen,  obwohl  sie  nnp 
Bruchteile  eines  Millimeters  ausmachen.  Jeder  Mensch  mit  normaler 
Sehweite  soll  eine  von  seiner  Beschäftigungsweise,  also  von  seinem 
ganzen  Gedankengang  abhängige  mittlere  Stellung  besitzen, 
in  welche  die  Augen  immer  wieder  zurückkehren,  so  oft  sie  auch  durch 
die  Aufmerksamkeit  auf  vorübergehende  Erscheinungen  abgelenkt  werden 
Diese  mäßig  große  mittlere  Augenstellung  darzustellen,  liegt  ebenso 
in  der  Willkür  des  Künstlers,  als  die  Wahl  der  parallelen  Stellung, 
oder  diejenige  der  stärksten  Neigung  der  Augenachsen.  Welche  n 
erwählen  ist,  hängt  ab  von  der  Situation,  um  deren  Darstellung  es 
sich  handelt,  gleichviel  ob  sie  der  Wirklichkeit  entsprechen  soll  oder 
erfunden  ist.  Die  Augenstellung  ist  dabei  ein  wichtiges  Mittel,  die 
Persönlichkeit  eines  Menschen  zu  charaktersieren.  Deshalb  sind  die 
Profilansichten  bei  Porträts  zu  verwerfen,  denn  das  bedeutungsvolle 
der  Augenstellung  geht  verloren. 

Nach  der  Erörterung  der  durch  den  Willen  bedingten  Stellung  der 
Augen  sollen  einige  Arten  des  Blickes  besprochen  werden,  soweit  sie 
von  Affekten  abhängig  sind  und  also  unwillkürlich  eintreten. 

Sobald  sich  unsere  Vorstellung  mit  Gedanken  beschäftigt,  die  weit 
abliegen  von  den  Dingen  der  sichtbaren  Umgebung,  geht  das  Auge  in 
parallele  Stellung  über.  Bei  Gedanken  über  das  Jenseits,  über  wissen- 
schaftliche Probleme,  über  femabliegende  Fragen  der  Vergangen- 
heit oder  der  Zukunft,  bei  der  Überlegung  weitangelegter  Pläne, 
sei  es  im  Interesse  der  Familie,  des  Staates,  oder  der  eigenen  Person, 
ist  der  Blick  mit  paralleler  Augenstellung  fixiert  wie  auf  einen 
bestimmten  Punkt  in  unendlicher  oder  wenigstens  in  sehr  großer 
Entfernung.  Die  parallele  Augeustellung  an  sich  kann  also  in  einem 
Poi-trät,  sobald  die  Augen  gleichzeitig  in  horizontaler  Bichtuug 
wie  in  die  Ferne  gerichtet  dargestellt  werden,  auf  bedeutende, 
weitschauende,  tiefgehende  Gedanken  hindeuten. 

Sobald  das  Auge  von  der  eben  erwähnten  Eichtung  abweicht, 
kann  sofort  seine  Mimik  eine  andere  Bedeutung  gewinnen.  Es  ist  eine 
aus  der  täglichen  Erfahrung  abgeleitete  Regel,  daß  sich  bei  der  Be- 
geisterung oder  bei  der  Hoffnung,  z.  B.  auf  himmlischen  Lohn,  der 
Blick  nach  oben  richtet,  aber  bei  paralleler  Stellung  der  Augenachsen. 

Der  gesenkte  Blick,  dem  die  oberen  Lider  folgen,  wodurch 
weniger  Licht  in  das  Lmere  des  Auges  dringt,  steht  zwar  ebenfalls 
mit  einem  nachdenkenden  Geist  in  Verbindung,  aber  er  steht  in  un- 
willkürlichem Zusammenhang  mit  der  Vorstellung  der  Entsagung 
von  so  manchem,  was  teuer  war.  Auch  die  Verzweiflung  starrt  mit 
parallelen  Sehachsen  vor  sich  hin,  ebenso  die  Reue  und  die  unbedingte 
Ergebung  in  das  unvermeidliche  Schicksal. 


Maskeln  des  Kopfes.  315 

Wenden  sich  die  parallel  gestellten  Sehachsen  zur  Seite,  ent- 
weder etwas  gesenkt,  oder  in  der  Horizontalebene  gelegen,  so  entsteht 
der  Blick  des  Zweifels,  der  in  der  Ferne  die  Entscheidung  sucht. 

Der  Nachdenkende  richtet  den  Blick  mit  gehobenem  oberen  Augenlide 
ohne  irgend  eine  Fixierung  in  die  Fenie  oder  nach  ob<?n;  er  will  alle  Zer- 
streuung meiden  dadurch,  daß  er,  die  Augen  ins  Leere  oder  Einförmige  richtend, 
aich  daran  hindert,  irgend  einen  Gegenstand  zu  sehen,  der  etwa  seine  Aufmerksam- 
keit ablenken  könnte.  —  Für  alle  diese  Fülle  ist  das  Gemeinsame  das  Vermeiden 
der  Fixierung,  sei  es  aus  Absicht  oder  aus  Indolenz;  es  giebt  aber  noch  eine  Reihe 
von  Arten  des  Blickes,  bei  welchen  das  Fehlen  der  Fixierung  ebenfalls  charak- 
teristisch ist,  bei  welchen  aber  dieselbe  nicht  fehlt,  weil  sie  vermieden  wird,  son- 
dern weil  sie  nicht  zustande  kommen  kann,  wie  bei  dem  „starren  Blick ^'  der 
Hoffiiungslosigkeit  und  des  Schmerzes.  Bei  der  Hoffnungslosigkeit,  in  welcher  alle 
Energie  schwindet,  hat  der  Blick  den  Charakter  der  sclilaflfen  Kühe  und  nüliert 
sich  auch  in  der  häufig  damit  verbundenen  Senkung  des  oberen  Augenlids  dem 
schläfrigen  Blick.  Bei  dem  Schmerz,  der  Angst,  der  Verzweiflung  aber,  welche  ja 
alle  mit  heftiger  Aufregung  verbunden  sind,  hat  die  Starrheit  des  Blicke»  den 
Charakter  einer  knunpf haften  Anstrengung  aller  das  Auge  bewegenden  Muskeln. 
Bei  hohen  Graden  dieser  Affekte  erscheint  das  Auge  deshalb  mit  weit  geöffneter 
Lidspalte  festgestellt. 

Die  mittlere  Stellung  oder  die  mäßige  Konvergenz  der  Augen- 
achsen erfordert  eine  ganz  bestimmte  Thätigkeit  der  Augenmuskeln; 
die  Achsen  schneiden  sich  in  mäßiger  Entfernung,  beispielsweise  von 
6 — 10  m  (wie  in  den  Figuren  102  und  103).  Der  Willensimpuls 
lenkt  sie  nach  dem  bestimmten  Punkt,  der  „ins  Auge  gefaßt*'  ruhig 
und  fest  fixiert  wird ;  das  volle  Interesse  konzentriert  sich  für  den  fixier- 
ten Gegenstand.  Sind  wir  seihst  dieser  Gegenstand,  so  werden  wir 
von  dem  Blick  gefesselt,  angezogen,  gleichviel,  ob  er  mit  Ernst,  Teil- 
nahme oder  mit  Liebe  auf  uns  ruht.  Die  Empfindung,  welche  dieser 
Blick  in  uns  weckt,  ist  zwar  verschieden  nach  dem  Ausdruck,  der 
in  dem  übrigen  Gesicht  der  herrschende  ist,  aber  die  Grundbedingung 
für  unsere  persönliche  Beziehung  zu  dem  Beschauenden  liegt  zunächst 
darin,  daß  die  Augenachsen  uns  treffen.  Der  erhöhte  Eeiz,  den  Por- 
träte ausüben,  deren  Blick  auf  den  Beschauer  gerichtet  ist,  liegt  in 
dieser  ganz  persönlichen  Beziehung,  welche  sofort  gegeben  ist. 

Die  mittlere  Augenstellung  wurde  hier  nur  insofern  berücksich- 
tigt, als  sie  durch  einen  Willensimpuls  herbeigeführt  ist.  Sie  ist  von 
dem  Gesichtspunkt  der  plastischen  Anatomie  vor  allem  wichtig  wegen 
des  Porträtes.  Der  ruhige  Beobachter  fixiert  den  Gegenstand  seiner 
Aufmerksamkeit  mit  sicherer  Festhaltung  der  nötigen  Augenstellung, 
wobei  das  Objekt  in  einer  senkrecht  zum  Gesichte  stehenden  Ebene 
gleich  weit  von  beiden  Augen  gelagert  ist;  der  gerade,  vorwärts  ge- 
richtete, in  der  entsprechenden  Fixierung  beharrende  Blick  charakte- 
risiert  also   den   unbefangenen   aufmerksamen   Beobachter.  —  Ein 


anderes    ist  es    mit  dem   befangenen  Beobachter,    weicher  «  i 
bemerkt  wissen   will,    daß   er   beobachtet.     Auch    er   zeigt 
ruhigeu  fixierenden  Blick,  die  Gesichtsfläche  ist  aber  von  dem  Objd 
der  Beobachtung  abgewendet,  seitwärts  gerichtet,  je  »ach  den  Ve» 
nissen  etwa   auch  noch  mit  Beimengung  einer  Richtimg  nach  » 
oder  nach  nnt«n,    ak  ob   sich  der  Beschauer  einem    anderen  ( 


lera     ZmkatzuDg  nach  e 
I  dem  Müueliener  Knpfetetichkabinet. 

stand   zugewendet   hätte.     Dieses   Verhalten  bat   man    auch   wohl  I 
„lauernden"  Blick  bezeichnet. 

Bei  mittlerer  Augenstelluug  tragen  die  folgenden  Arten  des  Blieb 
die  Zeichen  der  unwillkürlichen,  also  der  Keilexbewegung  entwed 
vollständig  oder  nur  teilweise  an  sich. 

Wird  eine  Person  fixiert,  die  der  Fixierende  als  über  sich  s 
anerkennt,  so  senkt  er  dabei  in  Anerkennung   seiner  untergeorC 
oder  abhängigen  Stellung  den  Kopf  und  muß,  um  die  Fixierung  » 
führen   zu   können,  mit  stark  gehobenem   oberen  Augenlid   die  At^ 


If nikala  dw  KopfM. 


317 


btsprecheiul  stark  nacli  oben  riclilen.  Das  ht  der  Blick  des  Kindes, 
I  vertraueusvoU  Bittenden,  des  demütig  Dankenden,  des  Andächtigen 
br  dem  Heiligenbilde,  —  die  Auadnicksbewegiing,  mit  welcher  der 
Demütige  oder  Gebeugte  zu  dem  höher  Stehenden  „Itinaufblickt", 
lesseu  Wohlwollen  er  voraUBsetzt  oder  gewinnen  will.  —  Dieson 
Brade  entgegengesetzt  ist  die  Fixierung  nach  unten  mit  erhobenem, 


I  Fig.  103 


l'orträt  eiuca  Malers     Ziiikntzimg  nach  e 
13  dcni  Müncbpncr  Kiipfrr8tt(,hkHbiii(  I 


r  Rikdieraiif; 


} 

m  auch  wohl  etwas  seitwärts  gewendetem  Koi)fe.  Der  Fixierende  bezeugt 
U  dadurch,  daß  er  sich  höher  fühlt,  als  die  fixiert«  Person.  Es  ist  der 
Blick  des  Hochmuts  und  der  Verachtung.  —  Wie  die  verschiedenen 
Arten  der  Fixierung  den  Augen  einen  bestimmten  Ausdruck  oder 
,,Blick*'  geben,  so  giebt  auch  die  verschiedene  Art,  wie  eine  Fixie- 
rung vermieden  wird,  ebenso  verschiedene  charakteristische  Arten 
des  Blickes,  nameutlicb  anderen  Personen  gegenüber.  Der  Gede- 
m&tigte  oder  Beschämte  vermeidet  die  gegenüberstehende  Person, 
vor  der  er  sich  zu  schenen  hat,   direkt  zu  fixiereu.     Er  ..kann  ihr 


318  Achter  Abschnitt. 

nicht  in  die  Augen  sehen".  Er  richtet  deswegen  ohne  einen  Zweck 
der  Fixierung  die  Augen  nach  unten,  womit  sich  ein  leichtes  Senken 
des  oberen  Augenlides  und  auch  wohl  des  ganzen  Kopfes  zu  yerbindet 
pflegt.  Fixiert  er  auch  dabei  vielleicht  einen  bestimmten  Gegensttni 
etwa  seine  Fingerspitzen,  so  erscheint  dieses  als  ein  mehr  Zufälligem 
denn  das  Charakteristische  seines  Blickes  bleibt  doch  immer  das  Ver- 
meiden der  Fixierung  der  gegenüberstehenden  Person.  —  Einen  an- 
deren Blick  zeigt,  wer  dem  ihm  gegenüberstehenden  ebenfalls  nicht 
in  die  Augen  sishen  darf,  aber  sich  nicht  gebeugt  ftlhlt.  Auch  er 
vermeidet  die  Fixierung  des  anderen,  wendet  aber  die  Augen  seit- 
wärts, zugleich  etwa  auch  wohl  einen  beliebigen  Fixienmgsponkt 
suchend.  Es  ist  der  Blick  des  ungebeugten  Trotzes ,  der  sich  aber 
noch  nicht  bis  zum  Widerstände  steigert;  —  es  ist  aber  auch  der 
Blick  eines  Menschen,  der  einen  anderen  nicht  ansehen  darf,  etwa  aas 
Furcht,  sich  durch  seine  Gebärden  zu  veiTaten  oder  mit  Lachen  her- 
auszuplatzen. —  Das  Mienenspiel  des  übrigen  Gesichtes  muß  hier 
den  Unterschied  feststellen. 

Die  starke  Neigung  oder  starke  Konvergenz  der  Augen- 
achsen ist  notwendig  für  die  Betrachtung  ganz  naher  Objekte;  die 
Hand  oder  das  Buch  vor  dem  Gesicht  treffen  die  nach  innen  gekehrten 
Augen.  In  derselben  Stellung  befinden  sie  sich  bei  dem  Schreibenden 
und  bei  dem  Geizigen,  der  in  seinem  Golde  wühlt.  Bei  solchem  Blick 
nach  abwärts  ist  immer  gleichzeitig  das  obere  Augenlid  gesenkt. 
Rückt  der  Gegenstand  dicht  vor  die  Augen,  so  kann  die  Konvergenz 
bis  zum  Schielen  fortschreiten.  Der  Zecher  blickt  auf  den  an  den 
Mund  gesetzten  Rand  des  Bechers  und  schielt  wie  derjenige,  der  seine 
eigene  Nasenspitze  betrachtet. 

Wir  reihen  hier  aus  praktischen  Gründen  die  Charakteristik  des 
toten  Auges  an,  obwohl  sie  weder  in  das  Kapitel  des  Blickes  noch  in 
dasjenige  der  Ausdrucksbewegung  überhaupt  gehört. 

2)  Unterschied  des  Schlafenden  und  des  Toten. 

Bei  dem  Schlafenden  sind  bekanntlich  die  Lider  geschlossen,  bei 
dem  Toten  meist,  jedoch  nicht  immer.  Nehmen  wir  der  leichteren  Ver- 
gleichung  wegen  an,  das  Auge  des  Toten  sei  geschlossen,  so  ist  selbst- 
verständlich, daß  bei  der  ünsichtbarkeit  des  Augapfels  in  beiden 
Fällen  der  wesentliche  Unterschied  nur  in  der  Form  liegen  kann,  mit 
der  die  vordere  Halbkugel  des  Augapfels,  namentlich  diejenige  der 
stärker  geki'ümmten  Hornhaut  durch  die  Lider  hindurch  erkennbar 
ist.  Das  entscheidende  Merkmal  bleibt  der  Ort  des  höchsten  Lichtes 
auf  den   geschlossenen  Lideni.     Im  Schlaf  rollt  das  Auge  nach 


Muskeln  de^  Kopfes.  319 

aufwärts,  und  verbirgt  sich  nach  oben  unter  dem  Augendeckel.  Es 
ist  das  lebendige  Übergewicht  des  oberen  geraden  Augenmus- 
kels, der  die  Kugel  nach  oben  dreht.  Gleichzeitig  wird  sie 
durch  den  innem  geraden  Muskel  etwas  nach  innen  gestellt.  Bei 
Menschen,  welche  mit  dem  Schlafe  kämpfen,  läßt  sich  diese  Bewegung 
des  Auges  leicht  beobachten.  Das  Licht  des  schlafenden  Auges  be- 
findet sich  demnach  nach  oben  und  innen,  als  ob  seine  Sehachsen 
einen  nahen  Gegenstand  fixierten.  Bei  dünnem  Lid  läßt  sich  die 
Wölbung  der  Hornhaut  deutlich  sehen. 

Das  tote  Auge  ruht  im  Parallelismus  der  Sehachsen.  Der 
Tod  überläßt  die  Augen  der  physikalischen  Elastizität  ihrer  Muskeln, 
welche  vermöge  ihrer  Anheftungsweise  und  wegen  des  gleich  starken 
Zuges  das  Auge  in  der  Horizontalebene  des  Kopfes  einstellen.  Bei 
dem  Toten  befindet  sich  deshalb  das  höchste  Licht  dicht  an  dem 
Lidspalt. 

In  den  bisher  betraclitcteu  Fällen  ist  der  lebendige  Muskelzug  Oiler  der  Tod 
der  sichere  Beherrscher  der  Augenstellung.  Allen  bisher  mitgeteilten  Regeln  spottet 
das  weintrunkene  Auge.  Infolge  der  Erschlaffung  des  Muskels  sinkt  das  obere 
Lid  halb  herab,  die  Augenachsen  neigen  sich  stark  gegeneinander,  und  erzeugen 
durch  diese  Stellung  Undeutlichkeit  des  Sehens.  Durch  dit^  Wirkung  des  Alkohols 
ist  der  Einfluß  des  Willens  auf  die  Zusanimenziehung  der  Muskeln  des  ganzen 
Körpers  unregelmäßig,  er  kommt  verspätet  an,  oder  die  Zusammenziehung  ist  bald 
nicht  hinreichend  kräftig,  bald  zu  übermäßig.  Air  das,  was  die  Physiologie  als 
Mnskelgefühl  bezeichnet,  ist  in  Unordnung  geraten  und  der  ganze  Mechanismus 
der  Nerveuleitung  ist  alteriert.  Deshalb  die  Unbchilflichkeit  in  dem  gaiusen  Mus- 
kelsystem, die  bekannte  Unsicherheit  des  Ganges,  sowie  jeder  anderen  Bewegung. 
Ahnlich  willenlos,  aber  bei  parallelen  Sehachsen,  ist  das  Auge  bei  völliger 
Gedankenlosigkeit.  In  der  Ohnmacht,  in  der  die  geistige  Kraft  gelähmt  ist,  starrt 
der  gläserne  Blick  bewegungslos  in  derselben  Stellung  ins  Leere,  während  bei  dem 
ungebäudigten  Lachen  das  Auge  eine  und  dieselbe  Zügellosigkeit  der  Bewegungen 
ergreift,  welche  in  den  Gesichts-  und  Atcmmu.Hkeln  herrscht.  Die  Bestimmtheit 
des  Blickes  in  der  genauen  Fixierung  dessen,  was  gesehen  werden  soll,  zeichnet 
die  Physiognomie  des  Mannes  aus,  der  die  Bestimmtheit  des  Handelns  besitzt. 

3)  Oebärdenspiel  des  Oesichtes. 

Der  Ausdi'uck  der  Gemütsbewegungen  im  Antlitz  gliedert  sich 
für  die  Beschreibung  am  besten  nach  den  Hauptgruppen  der  Muskeln 
in  der  Umgebung  von  Mund  und  Auge.  Dabei  lassen  sich  gleich- 
zeitig die  Kategorieen,  welche  in  dem  psychologischen  Gegensatz  der 
Lust-  und  Unlustaffekte  liegen,  wenigstens  zu  einem  ansehnlichen 
Teil  berücksichtigen.  Wenn  bei  den  Erörterungen  des  Gebärdenspieles 
im  Antlitz  auch  die  Ausdrucksbewegungen  des  ganzen  Körpers  ange- 
deutet werden,  so  geschieht  es,  um  das  Bild  der  verschiedenen  Affekte 
etwas  abzurunden. 


320  Achter  Abachnitt. 

Für   die   Deutung    der   Muskelzusammenziehungen    des   Antlitzes 
ist   folgendes   zu   berücksichtigen:    Die   Muskulatur   der   ganzen  Um» 
gebung  des  Auges  kann  zunächst  nur  zweierlei  bewirken:   den  Zu- 
gang  des  Lichtes    zu   dem  Auge   möglichst  frei  machen  oder 
denselben    mäßigen,    dämpfen    und    gänzlich    absperren.     Auf» 
schlagen  des  oberen   und  Herabsinken  des  unteren  Lides,  Aufziehen 
der    Augenbrauen    durch     die    Zusammenziehung     des     Stimmn«kek. 
Glättung   der   Haut    über   der   Nasenwurzel,    parallele    Augensteiluiig 
zeichnen  das  nach  Licht  begierige  Auge  aus.    Es  will  das  volle  Licht 
eines    ihn   erfreuenden    Gegenstandes    aufnehmen.     So    öflhet   stari[e> 
Begehren   die   Lider,   so   ist   bei   allen   angenehmen    Eindrücken 
das  Auge   offen,    und  die  Stii*n  geglättet.    Das   ist    gleichzeitijr 
der  Grundzug  der  freudigen  Stimmung.    Nach  dem  Prinzip  der 
Association  kehrt  dieselbe  ungezwungene  leichte  Spannung  in  der  Um- 
gebung des  Mundes  wieder.    Der  auf  beiden  Seiten  gleich  hoch,  wenn 
auch  wenig  hinaufgezogene  Mundwinkel  läßt  die  Thätigkeit  der  Heber 
der  Oberlippe   und    des  Mundwinkels   erkennen,  jedoch   so,    daß  nur 
eine   schwache   Spur   einer   Dehnung  in   der   Haut    des    Mundwinkels 
entsteht.     Dort  macht  sich  ein  mäßiger  Druck  bemerkbar,  der  Mund- 
winkel geht  empor  und  schiebt  die  leichter  bewegliche  Haut  der  Wange 
gegen   die  etwas   schwerer  verschiebbare  Portion   in  der   Begion  des 
Wangenbeins. 

Bei  höheren  Graden  zieht  sich  der  Mund  horizontal  in  die  Breite, 
entweder  nur  auf  der  einen  Seite  oder  auf  beiden,  wir  sprechen  danu 
vom  ..Lächeln". 

Bei  lauter  Freude  öftnet  sich  der  Mund,  so  daß  die  Zähne  leicht 
sichtbar  werden,  oder  es  kommt  zum  Lachen,  d.  h.  zu  kurzen,  schnell 
folgenden  Ausatmungsstößen  durch  die  zu  hellen  Tönen  gespannten 
Stimmbänder.  Dabei  werden  die  Stimmbänder  bald  genähert,  bald 
voneinander  entfernt  und  es  entstehen  charakteristische  unartikulierte 
Laute  im  Kehlkopf  mit  Erzittern  des  weichen  Gaumens.  Der  Mund 
wird  mehr  oder  weniger  leicht  geöffnet,  die  Mundwinkel  werden  stark 
nach  hinten  und  ein  wenig  nach  oben  gezogen,  ebenso  w^ie  die  Ober- 
lippe. Durch  das  Rückwärts-  und  Aufwärtsziehen  der  Mundwinkel 
wird  die  Wangenhaut  nach  oben  geschoben,  es  bilden  sich  hierdurch 
Falten  unter  den  Augen  und  an  den  äußeren  Augenwinkeln,  und 
diese  sind  für  Lachen  und  Lächeln  äußerst  charakteristisch.  Das 
Hinaufschiebeii  der  Wangenhaut  bei  dem  Lachen  häuft  die  Masse  der 
emporgedrängten  Haut  auf  der  vorderen  Fläche  des  Wangenbeines 
in  der  Nähe  des  unteren  Augenhöhlenrandes  an,  diese  Masse  stant 
sich  und  drängt  die  weiter  oben  liegende  Partie  gegen  das  untere 
Augenlid,  das  in  diesem  Falle  gehoben  wird.     Bei  viel  Fettanhäufang 


Unikdn  ilw  KOjita. 


321 


.  Gesicht    kann    die  Lidspalle    dmlurcli    in    sein-  hnliem   Grade  \er- 
mgei-t    werileii.     Durch    tlieselbeii    Ursachen    wird   offenbar   auch   der 
sre   Augenwinkel    hfiliPr   gestellt,    unil    dadurch  ein   Hauplzug  des 
»udigen  Antlitzes  bedingt. 

Ein  helles  und  glänzendes  Ange  ist  für  einen  verguügteu  Seelen- 
^tand   ehensn  charakterisliscli   wie  die  Zurilckziehung  der  Oberlippe 


I'hütogiFiiibii', 


mit  doli  dadurch  iier vorgerufenen  Falten.  Der  Turmclu-te  Glanz  dvr 
Äugen  ist  wahrscheinlich  eine  Folge  erhöhter  Spannung  und  Wölbung 
der  Cornea,  durch  stärkere  FllUung  der  GefAße  im  Innern  des  Auges 
und  des  um  den  Augapfel  betindlichcu  Muskel-  und  Felltagers  her- 
beigeführt. 

Bei  ßbri^roßcr  Frotidc  kommt  m  uebro  Jt-oi  Lachen  ta  vorwlii eilen Pn  Kwock- 
li>sen  Bewt^gnn^co.  Am  lebhaftesten  und  nueb  ilurch  keine  kniiventbiiellen  rönnen 
beeinflußt  ist  der  Ausdruck  der  Freude  bei  den  Kindern.  Ihr  lautre  liacheii,  daa 
ZusammenscLlagen  der  Händchen  und  du  Iltipti-n  «ind  judum  bukannL  Dei  den 
Tieren  gesrbjeht  die  ÄuSenuig  der  Freude  durch  alinlichc  Mittt^l.  Das  Spriogeu 
und  Bellen  des  Hundes,  wenn  er  mit  seinem  Homi  ausgelion  will.  di<.-  munleruit 


322  •  Achter  Abschnitt. 

Sprünge  des  Pferdes,  wenn  es  auf  ein  offenes  Feld  gelassen  wird,  sind  den  ÄiiBe- 
rungen  des  Vergnügens  beim  Kind  völlig  gleichwertig. 

Bei  freudiger  Stimmung  liält  der  Mensch  seinen  Körper  aufrecbt 
seinen  Kopf  erhoben,  und  die  Bewegungen  sind  elastisch  und  von 
vollkommener  Freiheit.  Die  Farbe  des  Gesichtes  ist  erhöht,  das  Herz 
schlägt  voll  und  regelmäßig  und  unterhält  eine  beschleunigte  Zi^ 
lation.  Alle  Säfte  scheinen  schneller  durch  den  Körper  zu  eilen,  tum! 
der  Zustand  des  Wohlbehagens  erstreckt  sich  auf  alle  Organe.  Dm 
durch  den  vermehrten  Blutzuiiuß  gereizte  Gehirn  wirkt  auf  die  gri. 
stigen  Fähigkeiten  zurück;  es  ziehen  lebendige  Ideen  schneller  durcli 
die  Seele,  und  die  Affekte  werden  wärmer.  Dabwin  giebt  die  A^lß^ 
rung  eines  Kindes,  das,  noch  nicht  ganz  vier  Jahre  alt,  gefragt  wurde, 
was  es  heiße  in  guter  Stimmung  sein.  Darauf  antwortete  es:  ,JD« 
heißt  lachen,  schwatzen  und  küssen."  Es  dürfte  schwierig  sein,  eine 
richtigere  und  praktischere  Definition  zu  geben. 

Liebe,  zärtliche  Empfindungen  und  ähnliche  Stimmungen 
unseres  Innern  sind  auf  dieselben  Mittel  des  Ausdruckes  angewiesen, 
und  bedingen  dieselben  Erscheinungen  in  dem  ganzen  Körper.  Vöo 
der  Freude  hat  die  Liebe  die  Böte  der  Wangen,  den  Glanz  d« 
Augen,  den  vollen  Puls  und  alle  Zeichen  der  Heiterkeit  und  Fröh- 
lichkeit in  dem  lächelnden  Antlitz.  Sie  ist  die  Gemütsbewegung  der 
Lust  mit  vorwaltendem  Streben,  den  geliebten  Gegenstand  beständig 
gegenw^ärtig  zu  erhalten.  Gleichviel  ob  die  sinnliche  Liebe,  die  der 
Mutter,  oder  eine  rein  ästhetische  Liebe,  z.  B.  zu  einem  Kunstweit 
in  Betracht  kommt,  stets  sind  bei  der  Betrachtung  desselben  <iie 
Augen  offen  und  frei,  die  Stirn  geglättet,  um  den  vollen  Lichteindruck 
zu  empfangen.  Verschieden  ist  nur  die  Zeitdauer,  nicht  die  Form 
des  Ausdruckes.  AU'  die  eben  angeführten  Gemütszustände,  so  ver- 
schiedene und  feine  Stufen  auch  denkbar  sind,  stimmen,  was  ihren 
Ausdruck  betrifft,  darin  überein,  daß  die  Muskeln  der  oberen  Gesicht>- 
hälfte  in  eine  Art  der  Spannung  geraten,  bei  der  das  Auge  frei  und 
offen  daliegt.  Die  Änderungen  in  der  unteren  Gesichtshälfte  folgen 
mit  zwingender  Notwendigkeit  demselben  Rettex,  der  unwülkürhch 
auch  auf  sie  überspringt. 

Verwandte  Rettexbewegungeu  zeigt 

die  Aufmerksamkeit:  ein  geöffnetes  Auge  und  ein  vollständig 
erhobenes  Lid.  Sobald  sich  dieser  Zustand  etwas  verschärft,  ver- 
bindet sich  damit  leichtes  Erheben  der  Augenbraue.  Allein  die 
Muskulatur  des  Mundes  bleibt  noch  in  vollkommener  Ruhe. 
Selbstverständlich  wendet  sich  der  Kopf  dem  betrachteten  Gegenstand 
zu.     Es  giebt  jedoch   eine  Aufmerksamkeit,    bei  der  das   Gehörorgan 


Muskeln  des  Kopfes.  323 

eine  größere  Rolle  spielt  als  das  Auge.  Dann  wendet  sich  das  Ohr 
dem  Redner  zu,  während  die  geöffneten  Augen  nach  einer  anderen 
Richtung  unverwandt  gerichtet  sind,  als  kämen  die  Schallwellen  wie 
strahlendes  Licht  auch  zu  ihm.  Dieselbe  Bewegung  des  Kopfes  zeigt 
der  Horchende,  er  sucht  dem  Ohr  durch  das  Anlegen  der  geöffneten 
Hand  an  die  Ohrmuschel  alle  Schallwellen  zuzuführen.  Die  Augen 
Bind  weit  geöffnet,  und  der  ganze  Körper  ist  nach  der  Seite  vorgebeugt, 
von  der  der  Schall  herkommt.  Das  Offnen  der  Augen  wird,  abge- 
sehen von  der  unwillkürlichen  Thätigkeit  des  Aufhebens  des  Lides 
noch  besonders  durch  die  Zusammenziehung  des  Stirnmuskels  herbei- 
gefiihrt.  Der  französische  Forscher  Duchenne  hat  ihn  deshalb  Muskel 
der  Aufmerksamkeit  (Muscle  de  Pattention)  genannt.  Allein  mit  diesem 
Namen  ist  nur  das  erste  Glied  einer  ganzen  Reihe  von  Reflexen  be- 
zeichnet, bei  denen  der  Aufheber  der  Stirn  durch  eine  längere  oder 
kürzere  Zusammenziehung  beteiligt  ist.  Bei  dem  Erstaunen  wie  bei 
der  Verwunderung  hebt  sich  unter  seiner  Wirkung  ebenfalls  die 
Stirnhaut  und  legt  sich  in  parallele  Falten.  Mit  ihr  heben  sich  die 
Brauen,  und  die  weitgeöffneten  Augen  zeichnen  die  sprachlose  Ver- 
wunderung des  naiven  Beschauers,  dessen  Blick  lange  Zeit  unverwandt 
auf  dem  neuen  Gegenstande  ruht.  Die  Überraschung,  wodurch  die 
Wirkung  eines  unerwarteten  Ereignisses  auf  unsern  Geist  bezeichnet 
wird,  drückt  sich  ebenfalls  in  verstärktem  Öffnen  der  Augen  mit 
gleichzeitiger  Zusanmienziehung  des  Stirnmuskels  in  eine  Reihe  von  hori- 
zontalen Falten  aus;  die  ganze  Ausdrucksbewegung  ist  intensiv,  aber 
von  kurzer  Dauer.  Eine  Steigerung  der  Gebärden  besteht  in  dem 
Öffnen  des  Mundes  und  dem  Herabsinken  des  Unterkiefers.  Endlich 
kann  der  ganze  Körper  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden,  er  reckt 
sich,  die  Hände  werden  erhoben,  die  Thätigkeit  des  Herzens  wird  be- 
schleunigt, vermehrter  Zufluß  des  Blutes  nach  dem  Kopf  stellt  sich 
ein,  Erröten  und  sogar  jener  Zustand  des  Geistes,  der  als  Verwirrung 
bezeichnet  wird. 

Das  weite  Offenhaltoii  der  Augeu  und  des  Mundes  ist  eine  ganz  allgemein  für 
die  Überraschung  o<ler  das  Erstaunen  erkannte  Ausdrucksform  durch  alle  Men- 
Bchenrassen  hindunth  bis  zu  den  Völkern  Australiens.  Bemerkenswert  ist,  daß  sehr 
häufig  mit  dem  Öffnen  des  Mundes  ein  kiurzer  Laut  gehört  wird,  der  mit  dem  Ein- 
atmen oder  mit  dem  Ausatmen  in  Verbindung  steht.  Diese  Laute  können  sehr 
verschieden  sein,  namentlich  diejenigen,  welche  bei  der  Ausatmung  entstehen. 
,Ha",  „ho",  „uih"  kann  man  hören,  dabei  werden  die  Lippen  vorgestreckt,  ja 
manche  spitzen  den  Mund  und  lassen  aus  Überraschung  einen  pfeifenden  Ton 
hören.  Die  Hände  spielen  bei  der  Gebärde  eine  bedeutende  Rolle.  Die  geöffneten 
Handflächen  »in^  »ach  der  Person  hingekehrt,  welche  dies  Gefühl  verursacht,  und 
die  ausgestreckten  Finger  sind  gespreizt.  Auf  dem  „Abendmahl**  von  Leonardo 
DA  Vinci  halten  zwei  der  Apostel  ihre  Hände  halb  erhoben  und  driicken  dadurch 

deutlich  ihr  Erstaunen  aus. 

21* 


324  Achter  Abschnitt 

Überraschung  mit  der  gleichzeitigen  Wahrnehmung  unmittelbarei 
Gefahr  bringt  das  Gefühl  der  Furclit  hervor,  dereu   höchste  Gnde 
Schrecken  und  Entsetzen  sind.    Bei  der  Furcht  werden  zunächst  die 
Augen   und  der  Mund  weit  geöffnet,  dann  die  Augenbrauen  erhoben 
und  all  das  ebenfalls  mit  großer  Schnelligkeit.     Die  unbedeckten  ood 
vortretenden  Augäpfel  sind  auf  den  Gegenstand  des  Schreckens  fixiert 
oder  können  auch  ruhelos  von  der  einen  Seite  zur  anderen  rolleiL   Die 
Gesichtszüge  erhalten  etwas  Versteinei-tes,  denn  die  Züge  bleiben  einige 
Zeit  stan*,  das  Gesicht  ist  überdies  erblaßt,  selbst  die  Lippen  werden 
weiß,   welche  sonst  ihre  Röte  doch  nur  selten  verlieren.     Das  Hen 
zieht  sich  nämlich  schnell  und  heftig  zusammen,  so  daß  es  stark  u 
die  Rippen  pocht.     Schon   dieser  Umstand  stört  die  Zirkulation  d« 
Blutes,  dazu  kommt  aber  noch,  daß  wohl  nebenbei  das  Nervenzentnim, 
von   dem  aus  die  Gefäßnerven   beeinflußt   werden,    eine   Verengenmg 
der    kleinen  Gefäße    direkt    herbeiführt.     Infoge  dieser    Yermiuderte& 
Blutzufulu:  wird  auch  das  Gehirn  unvollständig  mit  dem  ernährenden 
Safte  versorgt  und  kann  in  seiner  Thätigkeit  so  gestöi"t  werden,   diB 
Ohnmacht  eintritt.     Die  ganze  Reihe  der  die  Furcht  begleitenden  Er- 
scheinimgen  zu  beschreiben,  wie  „kalter  Schweiß",  Zittern  der  Lippen 
und   des   Köi-pers,    die   besclüeunigte   Atmung,    die    Trockenheit  des 
Mundes,  heisere  Stimme,  oder  gänzliches  Versagen  der  Stimme  u.  s.  v. 
liegt  nicht  in  dem  Bereich  unserer  Aufgabe.     Dagegen  soll  daran  er- 
innert werden,  daß  sich  die  Haare  aufstellen   und  die    Anne  vorge- 
streckt werden,   als  wollten  sie  eine  Gefahr  abwenden.      In   anderen 
Fällen  tritt  eine  plötzliche  und  unbezwingbare  Neigung  zur  kopflosen 
Flucht  ein;  und   diese  ist  dann  so  stark,   daß  die  tapfersten  Manner 
von  einem  panischen  Schrecken^  ergriffen  werden  können. 

Wenn  die  Furcht  auf  den  höclisten  Gipfel  steigt,  dann  wird  der  Schrei  de« 
Entsetzens  gehört,  der  Unterkiefer  föllt  uiclit  herab,  sondern  wird  durch  Muskehi 
herabgerissen.  Der  Mund  hat  die  Mundwinkel  stark  nach  abwärts  gezogen.  Dabei 
beteiligt  sich  in  ganz  her^'orragendem  Grade  der  Hautmoskcl  des  Halses.  Die 
Augen  starren  nach  dem  Gegenstand  des  Entsetzens  hin,  weit  aufgerisseo.  aber 
die  Stirn  zeigt  kräftige  Zusammenziehung  der  Braucnrunzler.  Der  Körper  ist  in 
dem  Zustand  äußerster  Anspannung  und  alle  Muskeln  in  einer  momentanen  ener- 
gischen Zusammenziehung.  Die  Energie  zeigt  sich  bei  dem  Herabziehen  des  Unter- 
kiefers und  in  der  kraftvollen  Verkürzung  des  Hautmuskels,  dessen  vorderer  Band 
mit  größter  Deutlichkeit  hervortritt. 

Die  Entstehung  dieser  Art  der  Ausdrucksbewegungen  bei  den 
Affekten  der  Überraschung,  der  Furcht  und  des  Entsetzens  läßt  sich 


^  Panischer  Schrecken,  terreur  panique ,  engl,  j^atiie,  ein  plötzlicher  aber 
unnötiger  oder  ungegründeter  Schrecken,  als  deren  Urheber  man  im  Altertum 
den  Pan,  den  Gott  der  Hirten  und  Herden  betrachtete. 


Muikeln  des  Kopfes.  325 

nicht  mehr  in  Einklang  mit  dpm  Charakter  bringen,  welche  die  Ka- 
tegorie  der  Lustalfekte  begleiten.  Daß  unangenehme  Überraschungen 
und  daß  Furcht  und  Entsetzen  mit  weitgeöffneten  Augen  und  weit- 
geöffnetem Munde  sich  in  unseren  Gebärden  widerspiegeln,  also  dem- 
selben Mechanismus  gehorchen,  der  das  Auge  dem  Licht  und  den 
angenehmen  Eindrücken  öffnet,  ist  schwer  zu  deuten.  Es  ist  auch 
durchaus  zur  Zeit  unmöglich,  die  Zweckmäßigkeit  dieser  Gebärden 
einzusehen.  Besser  reihen  sich  in  dieser  Hinsicht  die  Ausdrucksbewe- 
gungen der  Andacht  an.  Das  geöffnete  Auge  ist  nach  oben  gewendet, 
als  ob  von  dort  her  Licht  in  dasselbe  überströmte.  Es  giebt  übrigens 
verschiedene  Formen  der  Andacht.  Die  modernen  abendländischen 
Völker  kehren  das  Gesicht  nach  dem  Himmel  und  rollen  die  Aug- 
äpfel nach  oben,  sodaß  die  Iris  zu  einem  beträchtlichen  Teil  unter 
dem  Lid  sich  verbirgt.  Diese  Miene  hängt  wohl  mit  dem  Glauben 
zusammen,  daß  der  Himmel  über  unseren  Häuptern  gelegen  sei.  Die 
demütig  knieende  Stellung  mit  erhobenen  und  ineinander  gelegten 
Händen  stammt  vielleicht  aus  dem  römischen  Altertum.  Sie  war  dort 
die  Stellung  sklavischer  Unterwürfigkeit,  welche  die  vollständige  Unter- 
werfung dadurch  beweist,  daß  sie  die  Hände  dem  Sieger  zum  Binden 
darbietet.  Es  ist  möglich,  daß  diese  Gebärde  in  die  moderne  Religion 
mit  hinüber  genommen  wurde,  um  die  heidnische  Form  der  Andacht 
zu  vermeiden,  denn  der  Römer  betete  in  ganz  anderer  Weise.  Der 
Blick  des  antiken  Beters  erhob  sich  zwar  auch  zum  Himmel,  die 
Hände  waren  jedoch  nicht  gefaltet,  sondern  die  erhobenen  Hände 
zeigten  die  Flächen  nach  oben  gewendet.  —  Eine  andere  Form  der 
Andacht  hat  der  Muhamedaner.  Er  kniet,  aber  sitzt  dabei  auf  seinen 
Fersen,  die  Hände  auf  die  vordere  Schenkelfläche  platt  angelegt,  oder 
über  die  Brust  gekreuzt.  Diese  F'ormen  der  Andacht  sind  von  der 
Menschheit  erst  allmählich  entwickelt  und  erlernt  worden;  aus  einer 
ursprünglich  gewollten  Ausdrucksbewegung  wurde  eine  reflektorische. 
Bei  vielen  Naturvölkern  ist  nichts  der  Art  zu  finden,  was  wir  mit  dem 
Ausdruck  „Andacht"  bezeichnen  könnten. 

Wie  die  Kultur  Ausdrucksfonnen  für  den  Affekt  der  Andacht 
geschaffen  hat,  —  und  die  Gebärden  sind  noch  mannigfaltiger  als 
die  beschriebenen  —  so  bemächtigt  sich  oft  der  Wille  ein- 
zelner Bewegungen,  sei  es  um  sie  für  bestimmte  Affekte  zu  verwenden, 
sei  es  um  einzelne  Bewegungen  zu  unterdrücken.  Der  Kulturmensch 
richtet  den  Ausdruck  seiner  Affekte  nach  den  anderen,  von  denen 
er  sich  beobachtet  weiß,  und  sucht  Gebärden  und  Mienen  dieser 
Rücksicht  anzupassen.  Er  l^nit  es  nach  und  nach,  gewisse  Affekte 
durch  Unterdrückung  der  Reflexbewegungen  zu  verbergen,  oder  unter 
Umständen   andere,   geradezu   entgegengesetzte   hervortreten  zu 


326  Achter  Abschnitt. 

lassen.  Die  Erziehung  und  die  Überlegung  sind  hier  von  großem  Ein- 
fluß. Wer  sich  das  nil  admirari  —  nichts  ist  der  Bewunderung  wen 
—  zum  Grundsatz  gemacht  hat,  der  vermag  schließlich  jedes  Zeichen 
des  Erstaunens  bei  dem  ersten  Auftauchen  zu  unterdrücken^  and  sein 
Gesicht  bewalu-t  stets  dieselbe  kühle  Ruhe.  Er  scheint  gleichgültig, 
selbst  gelangweilt,  ohne  es  in  Wirklichkeit  zu  sein.  Das  konventioneDe 
Lächeln  in  der  Gesellschaft  und  die  mancherlei  Höflichkeitsgebäxden  Bind 
bald  moderierte,  bald  übertriebene,  bald  willkürlich  fingierte  AuBe- 
Hingen.  Dieser  Einfluß  des  Willens  wird  aber  in  der  Eegel  ohn- 
mächtig, wenn  die  Gemütsbewegung  zu  hohen  Graden  anwächst  Anch 
gelingt  es  ihm  meistens  nur  das  Innere  zu  verschleiern,  selten  es  ganz 
zu  verhüllen,  da  die  imiere  Bewegung  mit  der  Macht  einer  Natur- 
gewalt  sich  zu  äußern  strebt  und  dies  unfehlbar  thut,  sobald  die  Ani- 
merksamkeit  auf  das  Ich  erschlafiPt  und  die  Stärke  des  Affektes  den 
zügelnden  Einfluß  des  Willens  durchbricht. 

Die  Umgebung  des  Auges  hat,  wie  schon  in  der  Muskellehre  aus- 
einandergesetzt wurde,  die  Fähigkeit,  durch  kürzeren  oder  längeren 
Schluß  der  Lider  das  Licht  fern  zu  halten  und  den  Augapfel  zn 
schützen.  Das  Verfahren,  das  die  Natur  dabei  einschlägt,  ist  folgendes: 
Soll  der  Zufluß  des  Lichtes  abgeschwächt  werden,  so  senkt  sich  das 
obere  Lid,  das  untere  steigt  etwas  in  die  Höhe.  Soll  grelles  Licht 
das  dem  Auge  Schmerz  verui'sacht,  abgehalten  werden,  doch  so  daß 
der  Blick  auf  die  Umgebung  frei  bleibt,  so  nähern  sich  nicht  nur  die 
Lidränder,  sondern  der  ganze  ßingmuskel  tritt  in  Aktion.  Die 
Haut  aus  der  Umgebung  des  Augenhöhleneinganges  zieht  sich  zu- 
sammen, namentlich  bethätigt  sich  dabei  der  Augenbrauenrunzler,  wo- 
durch das  Auge  von  oben  her  beschattet  wird.  Dabei  erscheinen 
Längsfalten  über  der  Nasenwurzel,  welche  die  Wii'kung  des  Brauen- 
runzlers  besonders  deutlich  erkennen  lassen;  selbst  die  Haut  vom 
Rücken  der  Nase  her  und  von  der  Umgebung  des  unteren  Augen- 
höhlenrandes hebt  sich.  Die  Sehachsen  konvergieren,  ein  Beweis,  daß 
nicht  allein  die  äußeren  Muskeln  des  Antlitzes  erregt,  sondern  selbst 
verborgene  der  Bewegung  dienende  Ei'äfte  gleichzeitig  in  Thätigkeit 
versetzt  werden.  Die  ebengenannten  Bewegungen  sind  durch  Willens- 
ei nfluß  herbeigeführt. 

In  die  nämlichen  Spannungen  geraten  dieselben  Muskeln  un- 
willkürlich bei  Afi'ekten  fi-eudloser,  unangenehmer,  trauriger  oder 
schmerzlicher  Art.  Der  Kummer,  die  Sorge  und  die  Scham  schlagen 
die  Augen  nieder,  wie  die  Bescheidenheit,  die  nicht  in  den  Vorder- 
grund treten  und  nicht  auffallen  will  und  die  den  Blicken,  die  ihr  be- 
gegnen, entweichen  möchte.   In  allen  diesen  Affekten,  w^elche  der  großen 


Muskeln  des  Kopfes.  327 

Kategorie  der  Unlustaffekte  angehören,  verhält  »ich  das  Auge  und 
verhält  sich  der  Mund,  als  handelte  es  sich  um  die  Abwehr  von  Schäd- 
lichkeiten. Die  beiden  muskulösen  Haupt^nippen  des  Antlitzes  wirken, 
wie  unter  dem  nämlichen  Kommando  stehend,  gleichzeitig  zusammen 
nach  der  längst  bekannten  Regel,  daß  Muskelzusammenziehungen  nicht 
immer  auf  die  bewegten  Gruppen  beschränkt  bleiben,  sondern  auch 
unwillkürlich  in  anderen  auftreten.  Bei  dem  Heben  schwerer  Lasten 
geraten  u.  a.  auch  die  Antlitzmuskeln  in  Aufruhr,  obwohl  sie  sich 
völlig  zwecklos  bei  dieser  Anstrengung  beteiligen. 

Es  giebt  wenige  Ausdrucksbewegungen,  welche  nur  auf  die  Mus- 
keln des  Mundes  beschränkt  bleiben.  Eine  derselben  ist  die  Ent- 
schiedenheit. Der  Mund  ist  geschlossen,  die  Lippen  etwas  aneinander 
gepreßt,  ebenso  wie  die  Zähne.  Es  ist  eine  ganz  zutreiFende  Bemer- 
kung Dabwin's,  daß  kein  entschlossener  Mensch  einen  offenstehenden 
Mund  zeige.  Ein  Mund  nur  mit  wenig  rotem  Lippenrand  hat  den 
Ausdruck  der  Entschiedenheit  in  gesteigertem  Grad. 

Die  Miene  des  Trotzes  begleitet  ebenfalls  ehi  geschlossener  Mund, 
dabei  folgen  aber  die  äußeren  Umhüllungen  des  Auges  gleichzeitig 
derselben  Regel,  auf  die  soeben  hingewiesen  wurde,  sie  schließen  sich 
nämlich  in  größerem  oder  geringerem  Grad,  wobei  der  Brauenrunzler  in 
Thätigkeit  tritt.  Trotz  ist  Widerstand,  und  schon  der  Entschluß  hierzu 
muß  sich  in  diesen  Muskelbündeln  abspiegeln.  Das  Niederschlagen  der 
Augen,  das  Wegwenden  des  Blickes  und  des  Kopfes  stehen  damit  im 
Einklang. 

Derselben  Regel  unterliegen  die  Ausdnicksbewegungen  der  Schüch- 
ternheit und  der  Scham.  Das  Auge  deutet  durch  seine  Bewegimg 
die  Empfindung  der  Unlust  an.  Der  Blick  wendet  sich  zur  Erde,  die 
Lider  folgen.  Das  „Niederschlagen  der  Augen^^  ist  die  treffende  Be- 
zeichnung fllr  diese  Gebärde.  Dazu  kommen  eigentümliche  verkehi*te 
die  innere  Unruhe  charakterisierende  Bewegungen  namentlich  der  Finger, 
wie  Zupfen  an  den  Kleidern,  Betrachten  der  Fingerspitzen,  Kauen  der 
Nägel,  dann  auch  Bewegungen  der  Zehen,  der  Fußspitzen  oder  der 
Ferse  (Bohren  des  Fußes  an  der  Erde). 

Der  Schmerz  mit  seinen  verschiedenen  Variauten,  sei  er  nun 
physisch  oder  sei  er  als  „Seelenschmerz^'  reiner  Affekt,  hat  einen  Aus- 
druck in  der  Umgebung  des  Auges,  als  ob  es  sich  um  Abhalten  des 
Lichtes  handelte.  Die  Lider  werden  etwas  geschlossen  (an  dem  oberen 
Lid  ist  dies  vorzugsweise  zu  bemerken)  und  die  Haut  der  Stirn  legt 
sich  in  Längsfalten.  Diese  Form  der  Muskelzusammenziehung  spiegelt 
sich  auch  in  der  Umgebung  des  Mundes.  Er  ist  geschlossen,  die  Er- 
weiterer verharren  in  vollkommener  Ruhe,  während  der  Ringmuskel 
und  seine  den  Mund  schließenden  Fasern  in  eine  im  Anfang  mäßige 


Anspannung  versetzt  sind.     Mit  der  Zunahme  des  Schmerzes  i 
im  Bereich  des  Auges  stärkere  Zusammenziehungen  iles  Aogmiljnafl 
rtiuzlers   bemerkbar,   in   der  Umgebung  des  Mundes   beginnt  krut^ 
artiges  Zucken,  die  dreiseitigen  Muskeln  des  Mundwinkel»,  »päter  u^ 
die  vierseitigen  Muskeln,  ziehen  sich  zuanmmen,   so   wie  es   Iwi  ^ 
Weinen  der,  Fall  ist. 


l'hotoprapliU 


Die  Flg.   1Ü5 ,   naLh   einem  kleinen   Liditdruckbüde    in  Ca.  ' 
win's    Werk    vergrößert,     zeigt    die    übereinstimmendea    Zusai 
Ziehungen   in    der  Umgebung   des  Auges   und   des  Mundes  sehr   ' 
kommen.     Der  nach  abwärts  gerichtete  Zug  der  Muskeln  dos  Moi 
setzt  sich,   innerhiith  der  Haut  fortwirkend,   der  Wange   entlang  i 
oben  fort,  soduß  selbst  die  äußeren  Augenwinkel  ihre  Lage  etwas  1 
dem    im   Vergleich  zu  der  mittleren  Stellung.     Vei-gleicht 
aber   mit  derjenigen   bei   dem  Ausdruck   d^s   Lachens,  so   stehen  i 
äußeren  Augenwinkel  offenbar  tiefer.    An  der  Fig.  105  ist  die  1 
hafte  Zusammen  Ziehung  des  Augeubrauenrunzlers  besonders  starlc  • 
gepräfft.     Die  jugendliche  Haut  der  Stirn   läßt  es  in  diesem  Fal 


Muskeln  des  Kopfes.  329 

keinen  senkrechten  Falten  kommen,  allein  die  Annäherung  der  Augen- 
braneubogen,  das  Dickerwerden  der  Stirnhaut  in  ihrem  Bereich  ist  als 
eine  Folge  der  Kontraktionen  zu  betrachten..  Wie  sehr  der  pyramiden- 
förmige Muskel  sich  beteiligt,  beweist  der  Wulst  an  der  Nasenwurzel. 

Die  Wirkung  des  MuskelzupreH  im  Gr«fiiicht  des  Moiischcn  wird  vertHihieden 
aeiii  bei  fetten  und  bei  magern.  Kinder-  und  Frauengosichter  zeiehncn  sich  be- 
kanntlich durch  den  Mangel  markierter  Züge  aus.  Dieser  Mang(d  liegt  nicht  in 
einer  geringeren  Erregbarkeit  mler  einer  Monotonie  der  fjeistigen  Stimmung,  sondern 
an  den  Mitteln,  Nuancen  des  Gefiihlleben»  \viederzusi)iegeln.  Wegen  des  Fett- 
reielitums  bilden  sich  weniger  Falten.  A2)athie  —  Gleichgültigkeit  ohne  alle  innere 
Bewegung,  —  lA'idenschaftslosigkeit,  den  Vollgenuß  inneren  Behagens  wird  man 
leichter  mit  fetten  Gesichtern  ausdnicken  können  als  mit  mageren.  Fettgesicht<T 
lassen  auf  körperlich«»,  und  peistijre  Ruhe  Hchließi'n.  Deswegen  saprt  Cäsar  zu 
Antonius: 

,J^6t  Miinner  um  mich  sein  von  fettem  Bau 

Mit  glatten  Köpfen,  welche  ruhig  schlafen; 

Di»r  Cassiiu*  hat  so  hohlen  Iluni^erblick, 

Er  denkt  zu  viel,  die  Leute  sind  g(?tahrlich. 

Dergleichen  Gei«t<T  haben  niemaln  Ruh  —  —  —  — .•' 

Sowohl  bei  physischem  Schmerz  als  lK*i  Ijciden  di»r  Seele  kann  es  zum  Er- 
guß von  Thränen  kommen,  wobei  stets  diesellien  Erregungen  d(»s  Augenbrauen- 
nmzlers  mit  denen  des  Kingmuskels  bis  zu  dem  Verschluß  der  Lider  ertblpren; 
Zuckungen  in  der  Muskulatur  des  Mundes  gehen  damit  Hand  in  Hand.  Bei  Kin- 
dern springt  die  Erregung  von  der  Umgebinig  des  Auges  gleichz(?itig  auf  die  Mus- 
kulatur des  Mundes  über,  die  Mundwinkel  zucken,  werden  nach  abwärts  gezogen, 
die  Unterlippe  hebt  sich  in  der  Mitte,  d.  h.  in  dem  Bereich  der  unteren  Schneide- 
zähne, in  die  Höhe  und  wird  etwas  vorgestreckt. 

Diese  Gebärde  fftr  den  Schmerz  erreicht  eine  weitere  Entwickelung,  sobald 
jemand  in  lautes  Weinen  ausbricht  Der  Mund  öifnet  sich  jetzt  dadurch,  daß  die 
Oberlippe  in  die  Höhe  gezogen  winl,  der  Unterkiefer  herabsinkt,  und  bei  abwärts 
gezogenen  Mundwinkeln  der  erste  weinende  Ton  während  des  Ausatmens  langge- 
zogen ausgestoßen  wird.  E*<  ist  erklärlich,  daß  durch  den  Lidschluß  bei  dem  Weinen 
die  Oberlippe  in  die  H<»he  gezogen  werden  muß,  denn  der  Ringmuskel  des  Mundes 
hängt  durch  den  kleinen  Jochbeinmuskel  sehr  innig  mit  dem  Kreismuskel  des 
Auges  zusammen.  Zieht  dieser  sich  also  ungewöhnlich  stark  zusammen,  so  winl 
gleichzeitig  die  Oberlippe  in  die  Höhe  gezogen  werden,  denn  der  kleine  tlochbein- 
muskel  besteht  aus  Fasern,  welche  aus  <lem  Kreismuskel  des  Auges  ausbrechen. 

Die  Trauer  zeigt  in  ihren  Ausdrucksbewegungen  eine  nahe  Ver- 
wandtschaft mit  dem  Schmerz,  aber  sie  hat  bestimmte  Merkmale,  die 
sie  unterscheiden.  Sie  sollen  hier  aufgeführt  werden,  obwohl  manche 
dieser  Einzelnheiten  weder  der  Pinsel  noch  der  Meisel  geben  kann. 
Ist  es  doch  die  Aufgabe,  hier  den  Ausdruck  der  AflFekte  zu  schildern, 
zunächst  unkekümmert  darum,  wie  weit  das  künstlerische  Bedüi-fnis 
reicht.  Bei  der  Trauer  ist  die  Kraft  der  Muskeln  beträchtlich  herab- 
gestimmt.   Der  Blick  ist  gesenkt,  gerade  so  wie  die  Lider,  die  Augen- 


330  Achter  Abschnitt. 

bewegung  ist  träge;  nur  flüchtig  erheben  sich  die  Augen ^  um  einen 
Gegenstand  zu  betrachten,  sie  kehren  sofort  zu  ihrer  früheren  Stellung 
zurück.  Der  einzige  Muskel,  der  mit  zäher  Ausdauer  seine  Scboldig. 
keit  thut,  ist  der  Augenbrauenrunzler,  wodurch  der  Ernst  noch  gesto- 
gei*t  wird.  Die  übrigen  Züge  sind  gänzlich  in  Buhe  mit  dem  Charakter 
der  ErschlaflFung.  Dies  rührt  davon  her,  daß  bei  deprimierender  Ge- 
mütsbewegung alle  Vorgänge  der  Ernährung  und  des  StofiwechseU 
herabgesetzt  sind.  Das  Schwächegefiihl  ist  vorherrschend,  das  Atmes 
schwer,  verlangsamt,  der  Herzschlag  träge,  der  Blutumlauf  gehemmt 
deshalb  die  Muskeln  erschlaift.  Die  ganze  Ernährung  leidet,  der 
Appetit  ist  gering  oder  gänzlich  aufgehoben,  das  Gesicht  deshalb 
blaß,  es  herrscht  Apathie  imd  jeder  Entschluß  fällt  schwer.  Die  Er- 
schlaffung der  Gesichtsmuskeln  und  die  verminderte  Blutzofiihr  lifk 
das  Gesicht  „länger  werden",  ^  die  Umgebung  der  Augen  sinkt  ein,  die 
Augen  selbst  sind  in  die  Höhlen  zurückgezogen  und  infolge  spär- 
licher Zirkulation  trübe,  es  fehlt  der  Glanz,  den  das  Glück  ihnen 
verleiht. 

Die  Trauer  äußert  sich  auch  in  der  Haltung  des  übrigen  Körpers: 
der  Kopf  sinkt  gegen  die  Brust  herab,  der  Oberkörper  ist  vorgebengt, 
und  die  herabhängenden  Arme  suchen,  bei  dem  Fehlen  irgend  eines 
Stützpunktes,  durch  Übereinanderlegen  der  Hände  oder  Ineinander* 
greifen  der  Finger  irgend  einen  Halt  zu  gewinnen. 

Die  Beschreibung  des  Verhaltens  der  Augenbrauen  bedarf  noch 
einer  Erweiterung.  Bei  sehr  hochgradigem  Schmerz  ziehen  sich  die 
Augenbrauen  bei  manchen  Menschen  nach  innen  in  die  Höhe.  (Vor- 
trefflich ist  diese  Art  der  Stellung  bei  Laokoon  erkennbar.)  Dies 
kommt  wahrscheinlich  dadurch  zustande,  daß  in  die  Zusammenziehimg 
der  Augenbrauenrunzler  der  mittlere  Teil  der  Stimmuskeln  eingreift 
Diese  letzteren  Bündel  erheben  durch  ihre  Zusammenziehnng  die  inneren 
Ränder  der  Augenbrauen;  dabei  sind  aber  dennoch  die  Brauenrunzler 
in  voller  Thätigkeit,  rufen  senkrechte  Falten  hervor  und  beschatten 
das  Auge,  dessen  Lider  sich  etwas  senken.  Duchenne  giebt  die  Photo- 
graphie eines  Mannes,  dessen  Stirnmuskeln  sich  in  der  eben  ange- 
gebenen Weise  zusammenziehen.  2  Der  Ausdruck  tiefen  Leidens  ist 
unverkennbar. 3  Auffallend  ist  dabei,  daß  gleichzeitig  in  dem  mittleren 


*  Von  einer  Person,  welche  eine  böse  Nachricht  empfängt,  sagt  oian,  daß^sie 
ein  langes  Gesicht  mache. 

*  Auch  bei  Dakwin  Taf.  II,  Fig.  1. 

^  Von  Irrenärzten  wird  bei  Melancholie  diese  Doppelwirkung  auf  die  Htot 
der  Stirn  als  sehr  häufig  bezeichnet,  und  Darwin  erwähnt,  daß  diese  Auadrucks- 
form  des  Grams  allen  Menschenrassen  zukomme.  Siehe  die  angdföhrten  Beispiele 
in  seinem  Werk  auf  S.  188  u.  fF. 


Miukdn  des  Kopfes.  331 

Teil  der  Stini  Quer  falten  entstehen.  Die  griechischen  Bildhauer 
waren  offenbar  mit  dieser  Ausdrucksform  wohl  vertraut,  nur  verlänger- 
ten sie  die  queren  Furchen  über  die  ganze  Stimbreite,  vielleicht,  wie 
Dabwin  meint,  um  die  Wirkung  zu  steigern. 

Zu  den  elementarsten  En*egungen  der  menschlichen  Seele  gehören 
neben  Freude  und  Schmerz  der  Haß  und  der  Zorn.  Die  Abnei- 
gung, die  erste  Stufe  des  Hasses,  hat  schwer  erkennbare  Zeichen,  es 
sei  denn,  man  halte  das  bezeichnende  Wort  selbst  als  die  beste  Schil- 
derung dieses  Gemütszustandes.  Denn  während  „Zuneigung**  das  Hin- 
neigen des  Körpers  nach  dem  Gegenstand  des  Gefallens  ausdrückt, 
eine  Stellung,  die  wie  eine  Zwangsbewegung  mit  absoluter  Regelmäßig- 
keit aufritt,  so  besteht  die  Gebärde  der  „Abneigung"  in  dem  Weg- 
wenden dos  Blickes,  des  Kopfes  oder  des  ganzen  Körpers.  Die  Sprache 
drückt  also  durch  ihi-  Wort  gleichzeitig  am  schärfsten  die  Äußerung 
dieses  seelischen  Zustandes  aus.  Wir  suchen  von  unserem  Auge  wie  von 
unserem  Geist  den  unangenehmen  sinnlichen  Eindruck  fenizuhalten.  Der 
Blick  streift  den  Gegenstand  kaum,  und  eine  Person  wird  für  uns  „Luft", 
wie  ein  modemer  Ausdruck  lautet,  sie  wird  „geschnitten",  was  sagen  will, 
daß  der  Blick  an  der  Erscheinung  vorübergleitet,  mit  der  Absicht,  sie 
nicht  zu  bemerken,  obwohl  sie  sich  in  dem  Gesichtskreis  befindet.  Mit 
dem  Wegwenden  von  einer  Person,  welche  sonst  unserer  Beachtung 
oder  noch  mehr  unseres  Mitgefühles  wert  wäre,  ist  die  Abneigung 
schon  deutlich  durch  eine  Gebärde  des  ganzen  Körpers  ausgedrückt. 
Sie  kann  sich  dabei  gegen  die  Persönlichkeit  richten  oder  nur  gegen 
ihi-  Begehren.  In  beiden  Fällen  ist  die  Gebärde  dieselbe.  Die  Aus- 
drucksform giebt  der  Abneigung  den  Charakter  der  Geringschätzung 
sobald  mit  dem  teilweisen  Schließen  der  Augenlider,  dem  Wegwenden 
der  Augen  und  des  ganzen  Körpers  gleichzeitig  das  Erheben  und  das 
Zurückwerten  des  Kopfes  sich  verbindet,  eine  Gebärde,  welche  die  Er- 
hebung über  das  Geringe,  Niedrige  ausdrückt.  Die  Gestalt  streckt  sich, 
um  an  Höhe  zu  gewinnen.  Während  diese  Gebärde  nur  vorübergehend 
ist,  wird  sie,  wenn  dauernd,  zu  derjenigen  des  Stolzes. 

Ein  stolzer  Mensch  drückt  sein  Gefühl  der  Überlegenheit  über 
andere  dadurch  aus,  daß  er  seinen  Kopf  und  Körper  auffallend  auf- 
recht hält.  Er  ist  erhaben,  und  macht  sich  selbst  so  groß  als  mög- 
lich, so  daß  man  in  übertragenem  Sinn  von  ihm  sagt,  er  sei  von  Stolz 
geschwollen  oder  aufgebläht.  Ein  arroganter  Mensch  blickt  auf  an- 
dere herunter,  und  läßt  sich  nur  dazu  herbei,  sie  mit  gesenkten  Lidern 
anzusehen. 

Während  bei  all'  diesen  stummen  Äußerungen  der  den  Geist  be- 
herrschenden Vorstellungen  das  Auge  sich  wegwendet,  kommen  gleich- 
zeitig, wie  schon  erwähnt,  Muskelwirkungen  in  der  Umgebung  des  Aug- 


332  Achter  Abadmitt 

apfels  hinzu;  das  obere  Lid  senkt  sich,  und  sobald  nur  etwas  Groll 
in   die  Empfindung  sich  mischt,  ziehen  sich  die  Augenbrauenninzlop 
zusammen  und  breiten  einen  Schatten  über  das  Auge  aus.    Diese  Zu- 
sammenziehung   in   der  Umgebung   der  Lidspalte   wird    begleitet  tob 
einer   ganz   bestimmten   Muskelwirkung   im   Bereich    der   Mundspalte. 
Der  Mund  wird  geschlossen,   die  Lippen  pressen  sich  erst  leicht,  bri 
erhöhten  Graden  stärker  an  die  Zähne,   die  Unterlippe  hebt  »ich  in 
ihrem  mittleren  Teil  höher,  wodurch  die  Mundwinkel  tiefer  stehen  and 
eine  Richtung  nach  abwärts  erlangen.    Es  ist  der  „unangenehme  Zog 
um  den  Mund",  den  alle  kennen.     Man  hat  dieses  Emporheben  der 
Unterlippe  dem  Kinnmuskel  zugeschrieben.     Auf  diesen  Muskel  paßt 
die    von    den   alten   Anatomen   gewählte   Bezeichnung    „Muskeln  des 
Stolzes",    Musculi   superbL     Das   gleichzeitige   Erweitem    der  Nasen- 
löcher,  wie  es  bei  starker  Ausatmung  durch  die  Nase  stattfindet,  trägt 
wesentlich  dazu  bei,  den  Ausdruck  der  Geringschätzung,   des  Hoch* 
mutes  unji  des  Stolzes  zu  erhöhen. 

Bei  air  diesen  Wirkungen  in  der  Muskulatur  des  Mundes  treten 
an  der  Nasenlippenfurche ,  die  von  der  Ansatzstelle  des  Nasenilügels 
gegen  die  Mundwinkel  zieht  und  die  Lippen  von  der  Wangengegend 
trennt,  Veränderungen  auf,  die  in  einem  schwer  zu  beschreibenden 
Herabziehen  bestehen,  wobei  die  dreiseitigen  Muskeln  des  Unterkiefers 
beteiligt  sind.  Damit  spannt  sich  gleichzeitig  die  Haut  zwischen  Augen- 
und  Mundwinkel  und  alle  diese  Umstände  zusammen  machen  den  Ein- 
druck, als  sei  das  Gesicht  verlängert. 

Das  Totalbild  aller  Vorgänge  bei  der  leisen  Regung  der  Gleich- 
gültigkeit, der  Geringschätzung  ist  also  ähnlich  demjenigen,  das  bei 
dem  Abschluß  grellen,  unangenehmen  Lichtes  (halber  Schluß  der  Lider, 
Zusammenziehen  des  Ringmuskels  an  Aug  und  Mund)  auftritt. 

Ohne  die  Mittelstufen  zu  berücksichtigen,  wenden  wir  uns  zur 
Schilderung  der  Ausdrucksbewegung  bei  dem  vollen  leidenschaftlichen 
Affekt  des  Zorns.  Im  Gesicht  treten  bei  dem  Zorn  vier  Muskel- 
gebiete in  Contraktionen.  Die  Augen  heften  sich  auf  den  Gegenstand 
des  Zorns,  als  wollten  sie  ihn  durchbohren,  es  sind  die  Augenmuskeln; 
welche  den  Bulbus  gleichsam  festschrauben  —  „der  stechende  Blick** 
ergiebt  sich  dadurch.  Von  den  Muskeln  in  der  Umgebung  des  Aug- 
apfels zieht  sich  der  Brauenrunzler  stark  zusammen,  auch  der  Kreis- 
muskel drängt  seine  Fasern  mehr  zusamnien.  Die  Lidspalte  wird 
rundlich.  Der  Mund  wird  durch  seine  Muskeln  zusammengedrückt 
und  die  Nasenflügel  werden  gehoben.  Die  Erregung  springt  auch  auf 
die  Kaumuskeln  über,  die  Kiefer  werden  aneinander  gepreßt;  die 
Anschwellung  des  äußeren  Kaumuskels  ist  in  Form  von  einzelnen  strang- 
artig   vortretenden   Leisten   seiner   Muskelbündel    und    der   Spannung 


^r 


Muskeln  des  Kopfes.  333 

seines  vorderen  Bandes  wahrzunehmen.  Auch  der  Schläfenmuskel 
schwillt  an.  Endlich  wird  die  ganze  Körpermuskulatur  unwill- 
kürlich in  Erregung  versetzt  und  der  Mensch  nimmt  eine  Stellung  ein, 
bereit  zum  Angriff  oder  zum  Niederschlagen  seines  Gegners.  Der  Kopf 
ist  aufrecht,  die  Füße  fest  auf  den  Boden  gestellt  und  in  forcierter 
Streckung.  Die  Arme  sind  entweder  gleichfalls  in  forcierter  Streckimg, 
oder  etwas  gebeugt  und  dabei  nach  vorn  gerichtet.  Bei  Europäern 
werden  gewöhnlich  die  Fäuste  geballt.  Die  Haltung  der  Brust  ist 
dabei  ganz  charakteristisch,  sie  ist  in  einem  weit  stärkeren  Grade  mit 
Luft  gefüllt,  als  während  der  ruhigen  Stimmung,  sodaß  der  Thorax 
erhoben  ist.  Voll  aufgebläht  trägt  er  wesentlich  dazu  bei,  den  Ein- 
druck physischer  Kraft  zu  steigeni.  Aber  nicht  bestimmte  Absicht 
des  Zornigen,  so  kraftvoll  als  möglich  auszusehen  trägt  die  Schuld, 
warum  sich  die  Lunge  bis  zu  dem  äußersten  Grade  mit  Luft  füllt,  son- 
dern ein  Reflexmechanismus,  der  mit  der  Anspannung  der  Armmuskeln 
sofort  auch  auf  diejenigen  der  Respiration  überspringt  und  die  Lunge 
zu  einer  stärkeren  Füllung  zwingt.  Das  Atemholen  ist  bei  dem  Zorn 
ebenfalls  affiziert,  wie  das  Herz.  Die  Atemzüge  sind  tief  und  mit 
Geräusch  wird  die  Luft  durch  die  weitgeöffneten  Nasenlöcher  geblasen, 
oder  sie  fährt  mit  lautem  Ton  aus  dem  Mund,  sobald  sich  die  drohende 
oder  herausfordernde  Rede  dem  Gegner  zuwendet.  Immer  ist  der 
Herzschlag  und  die  Zirkulation  affiziert.  Der  Herzschlag  ist  vermehrt 
und  durch  die  starke  Füllung  der  Lunge  mit  Luft  oft  die  Rückkehr 
des  Blutes  aus  dem  Kopf  auf  kurze  Zeit  gehemmt.  Schon  aus  diesem 
Grunde  rötet  sich  das  Gesicht,  es  „glüht  vor  Zorn".  Eine  solche 
leidenschaftliche  Erregung  vermag  das  Herz  so  zu  stacheln,  daß  es 
sich  in  seiner  Arbeit  überstürzt.  Die  Schläge  vermehren  sich,  es 
kommt  zu  jener  Erscheinung,  die  man  als  Herzklopfen  bezeichnet.  Dabei 
sind  die  Zusammenziehungen  zwar  häufiger,  allein  weniger  tief;  weniger 
Blut  verläßt  das  zentrale  Pumpwerk  durch  die  Abflußröhren.  Dazu 
kommt  bisweilen,  herbeigeführt  durch  die  Miterregung  des  sympathi- 
schen Nervensystems,  ein  Gefäßkrampf  in  den  Schlagadern,  der  ftlr 
die  Beobachtung  zunächst  im  Gesicht  erkennbar  wird  durch  die  Blässe, 
die  sich  bis  in  die  Lippen  erstreckt.  Der  Eintritt  der  Blässe  kann 
früher  oder  später  erfolgen,  stets  geht  aber,  wenn  auch  nur  kurz,  das 
Botwerden  voraus.  Man  kann  leicht,  wie  Dabwin  an  seinen  Kindern 
vom  sechsten  Monat  an,  beobachten,  daß  das  erste  Symptom  eines  sich 
nähernden  leidenschaftlichen  Anfalls  das  Einströmen  des  Blutes  in 
die  Haut  des  Gesichtes  und  Kopfes  ist.  Die  individuellen  Eigenschaften 
des  Lidividuums  bedingen  eine  Reihe  von  Unterschieden,  die  darin 
liegen,  daß  bei  dem  einen  die  Dauer  der  Zomesröte  sehr  lange  und 
das  Stadium  der  darauffolgenden  Blässe  nur  sehr  kurz  ist,  während 


334  Achter  Abschnitt. 

die  Zeitabschnitte  in  ihrer  Dauer  bei  anderen  sich  gerade  amgekefart 
verhalten  können.     Gleichzeitig  sind  eine  Reihe  verschiedener  Abstii> 
fangen   möglich,   vne   in  dem  Verhalten  des  Mundes,   der  Arme  und 
Hände.     Beinahe  von  jedem,  der  über  den  Ausdruck  geschrieben  bat, 
ist  auf  das  Fletschen  der  Zähne  in  der  Wut  aufmerksam  gemacht 
worden.     Was  die  Arme  betrifft,  so  kann  einer  oder  können  beide  Ell- 
bogen eingestemmt  sein;   das  Ballen  der  Fäuste  ist  zwar  die  für  die 
künstlerische  Darstellung  markierteste  Form  des  Ausdruckes,  allein  nidit 
die  einzige.     Bei  vielen  Menschen  suchen  die  Finger  nnd  die  Hände 
nach  einem  Gegenstand,  an  welchem  ein  Teil  der  anfs   äußerste  er- 
regten  Muskelkraft    sich    zu   entladen   vermag.     Finden    endlich  die 
tastenden  Bewegungen  eine  Falte  des  Gewandes,  oder  die  Lehne  eines 
Stuhles  u.  s.  w.,  so  werden  diese  Gegenstände  krampfhaft  gefaßt  and 
gedrückt.    Streitende  Menschen  sieht  man  sich  beständig  näher  treten 
mit  vorgebeugtem  Oberkörper  und  vorgestrecktem  Kopf,  während  die 
Anne  mit  heftigen  Geberden  die  Voi*würfe  begleiten  u.  s.  w.   Aber  so 
zahllos  die  Varianten  auch  sein  mögen,  das  charakteristische  Bild  des 
gesamten  Ausdruckes  bleibt  dadurch  unverändert.     Es  ist  die  Ennst, 
welche    für    die    beabsichtigte   Darstellung    einer   Situation    auch  die 
treflfendste   Ausdrucksform   findet    und   eine    der    vielen    Abstufungen 
herausgreift. 

Bei  den  folgenden  Affekten:  Spott,  Hohn,  Verachtung,  Ab- 
scheu, Ekel  kann  eine  sehr  ausdrucksvolle  Miene  vorkommen,  die 
mit  dem  unbedeutenden  Entblößen  des  Eckzahnes  auf  einer  Seite  des 
Gesichtes  inr  Zusammenhange  steht.  Ob  sich  in  den  schwächsten  Gra- 
den dieser  Affekte  nun  der  Mund  wirklich  vollständig  öffnet  oder  nur 
verzieht,  ist  liir  verschiedene  Individuen  verschieden,  aber  die  Bewe- 
gung ist  höchst  charakteristisch  und  gewinnt  an  Schärfe,  sobald  sie  von 
einer  leichten  kurzen  Ausatmung  begleitet  ist,  wobei  die  Lufl  mit 
einem  schwach  zischenden  Geräusch  durch  die  entsandene  Lücke  aus- 
gestoßen wii-d.  Dieselben  Thätigkeiten  wenden  wir  an,  wenn  wir  einen 
widrigen  Geruch  wahrnehmen,  welchen  wir  von  uns  abzuhalten  und 
wegzutreiben  suchen.  Der  Blick  wendet  sich  bei  all  den  erwähnten 
Affekten  dem  Gegenstand  des  Affektes  nur  kurz  und  von  der  Seite  her 
zu  und  die  Lider  sind  etwas  geschlossen. 

Dieselben  Bewegungen  treten  ein,  wenn  unsere  Empfindungen  von 
Verachtung  beherrscht  werden.  Die  halbgeschlossenen  Lider  und  das 
Wegwenden  des  Gesichtes  soll  vielleicht  die  Flucht  andeuten,  durch 
die  wir  uns  von  dem  Anblick  des  Verhaßten  frei  machen  möchten. 
Es  ist  jedoch  schwer  zu  sagen,  ob  diese  Absicht  ursprüngUch  die  Ge- 
bärde bestimmte  oder  die  Absicht  des  Wegwerfens.  Vielleicht  darf 
man  aus  dem  sprachlichen  Ausdruck  auf  das  letztere  schließen.    Der 


Muikeln  des  Kopfes.  335 

bezeichnende  Ausdruck  sagt  nämlich:  Der  wegwerfende  Blick  be- 
gleite die  Gebärde  der  Verachtung;  der  Verhaßte  soll  mit  den  Augen 
gefaßt  und  weggeschleudert  werden.  Die  vielsagende  Bedeutung  wird 
dann  durch  Bewegungen  des  Mundes,  der  Nase,  des  Kopfes,  der  Hand 
und  des  Körpers  unterstützt.  Die  Bewegung  der  Hand  ist  die  des 
raschen  Wegschleudems  eines  leichten,  wertlosen  Gegenstandes.  Die 
halbgeöffnete  Hand  dreht  sich  schnell  nach  außen,  so  daß  jeder  Gegen- 
stand, der  in  ihr  enthalten  wäre,  seitlich  von  unserem  Weg  fallen 
würde.  Dabei  wendet  sich  gleichzeitig  der  Kopf  seitlich,  so  daß  wir 
nicht  einmal  betrachten,  wohin  der  weggeworfene  Gegenstand  fällt, 
80  wenig  Interesse  besitzt  er  für  uns. 

Verwandt  sind  die  Gebärden  des  Absehens,  des  Widerwillens 
und  des  Ekels.  Der  Grundton  ist  dabei  das  unserm  Wesen  Feind- 
liche, sei's  unserm  Geschmack  oder  Geruch  Widerwärtige.  Die  Aus- 
drucksbewegungen spielen  sich  also  nach  derselben  allgemeinen  Regel 
ab,  welche  die  Reflexe  für  Unlustaffekte  beherrscht.  Um  die  Augen 
zieht  sich  die  Haut  unter  der  Wirkung  des  Ringmuskels  zusammen, 
und  der  Brauenrunzler  legt  mit  einer  schnellen  Zuckung  die  Stini  in 
Längsfalten.  Der  Mund  wird  etwas  geöffnet,  als  wollte  man  einen 
widrigen  Bissen  herausfallen  lassen  oder  herausschleudern.  Dabei 
werden  die  Lippen  vorgestreckt,  die  Luft  wird  ausgestoßen  mit  einem 
hörbaren  dumpfen  Ton,  als  reinigte  man  sich  die  Kehle,  er  erinnei-t 
an  die  Silbe  „uch*^  Die  Oberlippe  hebt  sich  dabei  so  heftig,  daß  die 
Nase  in  die  Höhe  gehoben  wird,  und  sich  der  Beginn  der  Nasenlippen- 
furche  stark  vertieft.  Der  Oberkörper  fährt  zurück,  uaf^  die  Hände 
erheben  sich,  als  sollte  mit  der  dachen  Hand  der  Gegenstand  weg- 
gedrückt werden. 

Die  nämlichen  Gebärden  drücken  auch  den  Abscheu  vor  irgend 
einer  widerwärtigen,  verabscheuungswürdigen  Handlung  oder  einer  Per- 
son aus,  obwohl  es  sich  dabei  nicht  um  die  Entfernung  eines  wider- 
lichen Bissens  handelt. 

Eine  Variante,  die  offenbar  hohen  mimischen  Wert  hat,  weil  sie 
außerordentlich  charakteristisch  ist,  besteht  in  dem  Schiefziehen  des 
Mundes,  wobei  sich  die  Lippen  etwas  abheben,  sich  vorstrecken,  wäh- 
rend in  der  rundlichen  Bucht  der  Eckzahn  sichtbar  wird.  Das  Ver- 
ziehen der  Zähne  folgt  stets  einer  uns  unangenehmen  Geschmacksempfin- 
dung, man  schneidet  ein  Gesicht,  das  denselben  Ton  aus  der  seitlich 
verzerrten  Mundspalte  hervorkommen  läßt.  Die  übrigen  Vorgänge  sind 
vollkommen  gleich  mit  den  oben  geschilderten.^ 

^  Ausspucken  scheint  ein  allgemeiner  Ausdruck  der  Verachtung  oder  des 
Absehens  zu  sein,  selbst  die  Australier  spucken  vor  Abscheu  auf  die  Erde,  die 
Neger  und  Abessinier  thun  dasselbe. 


336  Achter  Abschnitt. 

Zweifel.  Unentschiedenheit.     Der  Zweifel  malt  auf  das  6^ 
sieht  zunächst  eine  ähnliche  Miene,  wie  jene  des  Nachdenkens,  insofen 
nämlich   die  Augenbrauen   in   die  Höhe  gezogen  und  die  Stirn  dud 
die  Wirkung  des  Stirnmuskels  in  Querfalten  gelegt  wird.     Wir  sek« 
also  wieder  die  allgemeine  Kegel  zum  Durchbruch  kommen,  bei  der  sidi 
das  Auge  öffnet,  wenn  es  sich  um  Licht  handelt.  Der  Zweifelnde  hrfa. 
det  sich  in  einer  Lage,  die  unklar  ist  imd  die  durch  Helligkeit,  sei  sk 
materiell,  oder  sei  sie  psychologisch  durch  gute  Gründe  herbeigef&bit 
an  Klarheit  gewinnen  und  die  Entscheidung,  die  der  Zweifelnde  sucfcu 
erleichtern  soll.    Während  aber  in  der  oberen  Gesichtshälft«  die  Sehn- 
sucht nach  Licht  hervortritt,  zeigt  sich  in  der  unteren  Gesichtshalfte, 
um  den  Mund,  der  entgegengesetzte  Ausdruck;  er  ist  geschlossen  und 
dabei  sind  die  Mundwinkel  nach   abwärts  gezogen,    wie  bei  trauriga 
Erregungen  unserer  Seele.    Der  Zweifel  ist  in  der  That  das  Hin-  nod 
Herschwanken  zwischen  zwei  Empfindungen,  die  abwechselnd  die  Ober- 
hand gewinnen,  und  dieser  Widerstreit,  hervorgerufen  durch  die  WaU 
zwischen  zwei  Möglichkeiten,  spiegelt  sich  in  den  Gebärden  des  Ge- 
sichtes.    Dabei   ist   der  Blick  in  paralleler  Stellung  der  Augenachsen 
entweder   seitlich   oder   abwärts  gerichtet,   als  erwarte   das  Auge  ans 
der  Ferne  Hilfe  für  eine  Entscheidung.     Die  Haltung   des  Kopfes  ist 
etwas  schief,    er  ist  dabei  leicht  nach   vorn   geneigt   und    ändert  die 
Stellung  bald  nach  rechts,  bald  nach  links.    Eine  besonders  charakte- 
ristische Gebärde  ist  die  des  Achselzuckens,   und  zwar  wird  entweder 
nur  die  eine  bewegt,  oder  beide  gleichzeitig.    Wenn  die  Gebärde  voll- 
kommen angeführt  wird,  so  wird  der  Arm  im  Ellbogengelenk  gebeugt 
und  dabei  an  den  Köi-per  angedrückt,  während  die  offenen  Hände  mit 
gespreizten  Fingern  sich  nach  auswärts  drehen,   gleichsam  bereit  nur 
Annahme   oder   zur   Abwehr   der   Gabe   oder   der   Zumutung.     Diese 
ganze  Gruppe  von  Gebärden  äußert  sich  in  allen  möglichen  Graden, 
indem  die  ganze  Reihe  der  einzelnen  Akte  auftritt,   oder  nur  ein  un- 
bedeutendes  Seitwärtswenden   der   offenen  Hände   mit    ausgespreizten 
Fingern   erfolgt.     Daß   es   sich  hier  nicht  um  eine  von  komplizierten 
Kulturverhältnissen  erzeugte  Gebärde  handelt,  sondern  um  eine  durch 
innere  Organisation  bedingte,  geht  daraus  hervor,  daß  sie  in  derselben 
Form  auch  bei  Naturvölkern  vorkommt,  welche  keinen   Verkehr  mit 
Europäern  hatten. 

Diese  Gebärde  wird  übrigens  auch  für  nahe  verwandte  Empfin- 
dungen gebraucht;  so  hilft  sie  die  Unmöglichkeit  ausdrücken,  eine 
verlangte  Handlung  auszufiihren,  das  Antlitz  und  der  Körper  ziehen 
das  Gewand  der  Unentschiedenheit  an,  obwohl  schon  der  Entschluß 
feststeht,  „ich  will  es  nicht  thun";  dieselben  Gebärden  lehnen  auch 
die  Verantwortung  ab  für  einen  Schritt,  den  ii-gend  eine  andere  Person 


Muskeln  des  Kopfes.  337 

ausfährt,  welchen  wir  aber  nicht  verhindern  können.  Sie  begleiten 
Bedensarten,  wie  „es  war  nicht  meine  Schuld",  oder  ,,er  muß  seinen 
eigenen  Gang  gehen,  ich  kann  ihn  nicht  aufhalten."  Das  Zucken  mit 
der  Schulter  drückt  gleichfalls  Geduld  oder  die  Abwesenheit  irgend 
welcher  Absicht  zu  widerstehen  aus.  Daher  werden  die  Muskeln, 
welche  die  Schultern  erheben,  zuweilen  auch  „Geduldmuskeln"  genannt. 


Die  Außerungsformen  der  einzelnen  Affekte  zeigen,  wie  die  vor- 
ausgehende Beschreibung  ergiebt,  eine  unbestreitbare  Verwandtschaft 
innerhalb  bestimmter  psychologischer  Gruppen,  die  als  Lust-  und  Un- 
lustgeftlhle,  als  Begehrungen  und  Widerstrebungen  einander  gegenüber 
stehen.  Es  unterliegt  kaum  einem  Zweifel,  daß  diese  Art  der  Glie- 
derung zutreffend  und  für  die  Zwecke  der  plastischen  Anatomie 
belehrend  ist.  Gleichwohl  giebt  die  Unterscheidung  der  Ausdrucks- 
bewegungen nach  ihrem  symptomatischen  ('harakter  noch  keinen  genü- 
genden Einblick  in  ihr  Wesen,  und  man  hat  deshalb  versucht,  sie 
nach  ihrem  unmittelbaren  Ursprung  in  gewisse  Gruppen  zu  sondern. 
Diese  Versuche  sind  höchst  wertvoll,  und  für  eine  richtige  Auffassung 
des  Ausdruckes  der  Gemütsbewegungen  unerläßlich. 

Innerhalb  der  großen  Reihe  der  durch  Affekte  hervorgerufenen 
Bewegungen  unterscheidet  man  eine  Gruppe,  welche  aus  dem  physio- 
logischen Gesetz  der  Assoziation  analoger  Empfindung  ent- 
springt. Nach  dieser  allgemeinen  Regel  entsteht  der  Ausdruck  des 
Sauren  und  Süßen  in  den  Muskeln  des  Mundes  und  d^  Zunge  auf 
die  bloße  Vorstellung  dieser  beiden  Empfindungen  hin  genau  ebenso, 
wie  er  entstehen  würde,  wenn  saure  und  süße  Stoffe  unsere  Ge- 
8chmacksner\'en  direkt  treffen.  Diese  Bewegungen  haben  sich  so  fest 
mit  den  betreffenden  Geschmacksempfindungen  assoziiert,  daß  schon 
die  Vorstellung  eines  süßen  Gerichtes  genügt,  um  unfehlbar  die  näm- 
lichen Bewegungen  hervorzurufen.  Die  Beobachtung  hat  nun  ermittelt, 
daß  alle  jene  Gemütsstimmungen,  welche  auch  die  Sprache  mit  „bitter" 
oder  „süß"  bezeichnet,  sich  mit  den  entsprechenden  mimischen  Be- 
wegungen des  Mundes  für  das  Bittere  und  Süsse  kombinieren.  Das 
Prinzip  der  Assoziation  beherrscht  auch  das  Offnen  und  Schließen  der 
Nasenlöcher  bei  der  Vorstellung  angenehmer  oder  widerlicher  Geruchs- 
empfindungen,  sowie  das  Offnen  und  Schließen  der  Lider  bei  Freude 
oder  Schmerz,  als  ob  es  sich  dabei  um  Aufiiahme  von  Lichtstrahlen 
oder  um  Schutz  vor  solchen  handele. 

Eine  andere  Reihe  von  Ausdrucksbewegungen  der  kompliziertesten 
Art  beruht  auf  dem  Umstände,  daß  starke  Gemütsbewegungen  eine 
plötzliche  Lähmung  zahlreicher  Muskelgruppen  zur  Folge  haben.    Die 

KoLUf  Airx,  Plastische  Anatomie.  22 


388  Achter  Abschnitt. 

Totenblässe  der  Angst,  der  Erguß  der  Thränen,  der  Galle,  das  Hen- 
klopfen  und  die  Ohnmacht  erklären  sich  befriedigend  ans  dem  Prin« 
zip  der  direkten  Inneryationsänderung  innerhalb  der  Mechaink 
unserer  Nerven.  Die  Ausdrucksbewegungen  dieser  Art  sind  voll- 
kommen der  Herrschaft  unseres  Willens  entzogen,  und  (kr 
festeste  Entschluß  ist  machtlos  gegen  ihr  Hervorbrechen.  Das  Errdta 
ist  ebenfalls  diesem  Prinzip  untergeordnet,  gleichviel ,  ob  es  den  Zorn 
begleitet,  oder  ob  es  bei  den  mäßigeren  Affekten  der  Scham  und  der 
Verlegenheit  auftritt. 

Die  innige  Verkettung  unseres  gesamten  Nervensystemes,  freilich 
innerhalb  einer  strengen  Gliederung,  hilft  zu  der  Erklärung  jener  Ge- 
bärden, die  man  unter  dem  Namen  symbolische  Bewegungen  zu- 
sammengefaßt  hat,   eine   Bezeichnung,    die   zwar  leicht  Mißverständ- 
nisse   erzeugen    kann,    aber    dennoch    die    innige,     unbewußte   Be- 
ziehung der  Bewegung  zu  unseren  Sinnesvorstellungen  ver- 
ständlich  ausdrückt.      Die  Gliedmaßen   werden   vor   allem   durch  die 
symbolischen   Bewegungen    zu    einer   Beteiligung   bei    dem    Ausdruck 
von  Affekten   mit   fortgerissen.     Einige  Beispiele   mögen    diese  Sym- 
bolik   erklären.     Wenn    wir    mit   Affekt   von   Personen    und   Dingen 
sprechen,  weisen  wir  unwillkürlich  mit  der  Hand  in  jene  Richtung,  in 
der  sie  sich  befinden.     In  gleicher  Weise  bilden  wir  in  affektvollem 
Sprechen   oder  Denken  Raum-  und  Zeitverhältnisse  nach,    indem  wir 
das  Große   und  Kleine   durch  Erhebung   und  Senkung    der  Hand  an- 
deuten.   In  der  Empörung  über  eine  Beleidigung  ballen  wir  die  Faust 
selbst  dann,  wenn  der  Beleidiger  gar  nicht  anwesend  ist  und  wir  nicht 
im  mindesten  die  Absicht  haben ,  *  ihm  persönlich  zu  Leibe  zu  gehen. 
(Nach  Darwins  Ermittelungen  scheint  übrigens  diese  Gebärde  nur  bei 
Völkern  heimisch  zu  sein,  welche  mit  den  Fäusten  zu  kämpfen  pflegen.] 
Bei   heftigem  Zoni   kann    sich   die   nämliche  Bewegung   mit   der  Ent- 
blößung  der  Zähne   verbinden ,    als   sollten    auch   diese    zum  Kampfe 
verwendet  werden  (Zähuefletschen).    Als  Gegensatz  zu  dem  aggressiven 
Emporrecken  des  Halses,  wie  es  dem  Zorn  und  dem  Mut  entspricht, 
erscheint  das  Achselzucken,  eine  ursprünglich  vielleicht  dem  ängstlichen 
Verbergen  eigentümliche  Gebärde,  welche  nunmehr  Zweifel,  Ungewiß- 
heit und  verwandte  Gemütslagen  bezeichnet.     Symbolisch  sind  femer 
die  Gebärden  der  Bejahung  und  Verneinung.    Bei  der  ersteren  neigen 
>vii'  den  Kopf  vor  einem  fingierten  Objekte,  bei  der  letzteren  wenden 
wir  uns  mehrmals  von  demselben  ab.     Der  Billardspieler  will  oft  die 
Richtung  des  Balles  mit  der  Hand,  dem  Kopf  oder  dem  ganzen  Kör- 
per bestimmen.    Zuweilen  kann  man  Personen  sehen,  welche,  wenn  sie 
irgend  etwas  mit  einer  Scheere  schneiden,  ihre  Kinnbacken  in  gleichem 
Tempo   mit   den  Scheerenblättern   bewegen.     Wenn  Kinder   schreiben 


V    - 


Muakeln  des  Kopfes.  339 

lernen,  so  drehen  sie  häufig,  sowie  sie  ihre  Finger  bewegen,  die  Zunge 
umher.  Das  Falten  der  Hände  bei  der  Andacht  gehört  hierher.  Der 
ausgestreckte  Zeigefinger  wird  gewöhnlich  erhoben  beim  Verweisgeben 
oder  Warnen.  Auch  beim  Nachdruck,  den  wir  auf  ein  Wort  legen, 
wird  er  gewöhnlich  mit  Energie  zum  Boden  gekehrt,  um  das  Drin- 
gende zu  bezeichnen. 

Der  Arm  wii*d  vorwärts  geworfen  bei  Ausübung  des  Ansehens 
(beim  Befehlen  und  dergleichen).  Beide  Arme  werden  weit  ausgebreitet 
bei  der  Bewunderung.  Beide  werden  vorwärts  (und  oft  aufwärts)  ge- 
halten beim  Anflehen  um  Hilfe.  Beide  fallen  plötzlich  nieder  bei  dem 
Fehlschlagen  eines  Planes  oder  bei  plötzlicher  Verlegenheit. 

Kaum  ist's  möglich  zu  sagen,  wie  viel  symbolische  Bewegungen  die 
Hände  anführen;  der  übrige  Körper  hilft  zwar  auch  dem  Reden- 
den, die  Hände  aber  sprechen  selbst  —  sie  fordern,  geloben,  rufen, 
entlassen,  drohen,  bitten,  verabscheuen.  Freude,  Traurigkeit, 
Zweifel,  Reue  zeigen  wir  mit  ihnen  an.  Der  Grad  der  Ausstreckung 
und  die  Stellung  der  Finger  hängt  von  der  Stimmung  und  Natur  des 
Sprechenden  ab.  Wenn  der  Sprechende  ruhig  und  unbewegt  ist,  so 
nehmen  die  Finger  ihre  verschiedenen  Lagen  und  Richtungen  ohne 
Anstrengungen  an.  Wenn  er  aufgeregt  ist,  so  werden  die  Finger  mit 
Kraft  ausgestreckt  oder  zusammengezogen. 

Öie  Hand,  an  den  Kopf  gehalten,  kann  Schmerz  oder  Kummer,  bisweilen 
auch  Überlegung:  oder  Nachsinnen  anzeigen.  Die  Hand,  vor  das  Auge  gi^halten, 
drückt  Beschämung  aus,  in  der  bekannten  Art  an  die  Lippen  gehalten:  Still- 
schweigen. Keine  dieser  Bewegungen  ist  von  dem  Willen  beeinflußt,  keine  läßt 
sich  auf  den  Instinkt  zurückführen,  domi*  sie  sind  völlig  zwecklos,  aber  alle  be- 
weisen die  unendliche  Jjoichtigkeit,  mit  welcher  die  Gemütsbewegung  weit  über 
die  Grenzen  des  Antlitzes  hinausiivirkcu  kann.  Die  Physiologie  bezeichnet  diese 
Erscheinung  als  Irradation.  Das  schreibende  Kind  wälzt  seine  Zunge  im  Munde 
hin  und  her,  weil  die  Erregung  gleichzeitig  die  Bewegungsnerven  des  Armes  und 
der  Zunge  mitergreift.  Die  Erregung  s<*hreitct  oft  zu  den  verschiedensten  Zentren 
für  Muskelzusammenziehungen  fort  und  veranlaßt  eine  Menge  von  zwecklosen  Be- 
wegungen, obwohl  die  Handlung  an  sich  abgeschlossen  und  vollendet  ist,  wie  bei 
dem  Billards])ieler,  der  den  Gang  der  Billanlkugel  durch  völlig  unzweckmäßige 
Handlungen  beeinflussen  möchtA\  Alle  diese  Beispiele  zeigen,  daß  der  Zusammen- 
hang selbst  der  entfemt4?sten  Teile  unseres  Köqiers  vermittels  der  Nervenfasern 
in  dem  Zentralnervensystem  ein  außerordentlich  inniger  ist,  und  daß  jeder  äußere 
Reiz,  ebenso  wie  jede  in  unserm  Geist  auftauchende  Vorstellung  imstande  ist,  alle 
Organe,  selbst  die  verborgensten,  in  Mitleidenschaft  zu  ziehen.  Wer  mit  dieser 
Thatsache  vertraut  ist,  und  die  Kompliziertheit  der  Konstruktion  des  Nervensyste- 
mes  vor  Augen  hat,  in  welchem  „ein  Faden  tausend  Verbindungen  schlägt",  imd 
zwar  bei  allen  höher  organisierten  Wesen,  vermag  sich  wenigstens  teilweise  den 
überraschenden  Zusammenhang  der  Grebärden  klar  zu  machen. 

Während  die  Ausdrucksbewegungen,  welche  aus  dem  Prinzip  der 
Assoziation  analoger  Empfindung   oder   demjenigen   der  direkten   In- 


340  Achter  Abschnitt. 

nervationsänderung  entspringen,  dem  Einfluß  unseres  Willens  mit  g^ 
ringer  Ausnahme  entzogen  sind,  kann  der  Wille  über  die  s^'mbolitKrbei 
Bewegungen  eine  bedeutende  Herrschaft  erlangen.     Der  Billardspieler 
vermag  die  zwecklosen  Bewegungen  seines  Körpers  im  Zaum  zu  halten, 
der  Zornige  die  sämtlichen  symbolischen  Bewegungen,  welche  den  Körper 
in  En*egung  versetzen,  zu  unterdrücken.    Das  laute  Lachen  der  Kind«, 
das  zwecklose  Klatschen   dui'ch  Aneinanderschlagen    der  Hände,  dn 
Springen  und  Tanzen,   alle  diese  Ausbrüche  der  Freude,   die  wir  u 
ihnen  und  an  Naturmenschen  sehen,  können  durch    den  Einfloß  des 
Willens  abgeschwächt  werden,  so  daß  nur  noch  vorübergehende  Zeichet 
davon  bemerkbar  sind,  welche  dem  unbefangenen  Beobachter  leicht  ent- 
gehen können.    Unser  Geist  besitzt  also  die  bewundernswerte  Fähig- 
keit, in  eine  Eeihe  von  Reflexbewegungen  hemmend  einzugreifen. 
Die  Physiologie  nimmt  ein  Zentrum  für  diese  Fähigkeit  in  dem  Gehin 
an  und  bezeichnet  dasselbe  als  Hemmungszentrum.  Wie  alle  Fähig* 
keiten  unseres  Geistes,  so  kann  auch  jene  des  Hemmungszentrums  g^ 
steigert  oder  geschwächt   werden.     Wir  müssen  uns   hier  mit  dieser 
Andeutung  begnügen,   obwohl   der  Nachweis  von  der  Existenz  hem- 
mender Kräfte  sowohl  für  die  Auffassung  und  richtige  Beurteilung  der 
Ausdrucksbewegungen,   als  für  die  praktische   Menschenkenntnis  von 
großer  Wichtigkeit  ist. 

Von  kaum  geringerem  Wert  ist  in  ersterer  Hinsicht  die  Erkennt- 
nis, daß  die  Ausdrucksbewegungen  bei  allen  Menschen  auf  dem  Erden- 
rund innerhalb  geringer  Schwankungen  dieselben  sind.  Der  Affekt 
der  Freude,  des  Schmerzes,  des  Hasses,  des  Zorns  u.  s.  w.  —  sie 
sprechen  überall  mit  denselben  Zeichen.  Nui*  ist  dabei  zu  beachten, 
daß  der  Ausdi-uck  einer  bestimmten  EiTegung  nicht  bei  allen  Menschen 
gleich  deutlich  ist.  Er  zeigt  verschiedene  Grade  bei  Kindern  und 
Erwachsenen,  Frauen  und  Männern,  Kranken  und  Gesunden.  Das  Kind 
und  der  Naturmensch  wird  ähnlich  wie  das  Tier  durch  die  unmittel- 
baren Eindrücke  beherrscht.  Je  reicher  die  geistige  Entwickelung  sich 
gestaltet,  desto  mannigfacher  werden  unsere  Vorstellungen,  und  damit 
werden  auch  die  Affekte  und  ihr  Ausdruck  beeinflußt,  aber  in  ihrem 
Grundton  nicht  verändert,  nur  verschleiert. 

Wer  sich  mit  dem  Ausdruck  der  Gemütsbewegungen  beschäftigt, 
dem  wird  endlich  die  Thatsache  nicht  entgehen,  daß  das  Verhalten 
gegen  die  Affekte  und  Begehrungen  verschieden  ist  nach  dem  Tem- 
perament. Zu  starken  Affekten  neigt  der  Choleriker  und  Melancholiker, 
zu  schwachen  der  Sanguiniker  und  Phlegmatiker.  Dabei  macht  sich 
noch  ein  Unterschied  in  bezug  auf  die  Schnelligkeit  des  Wechsels  be- 
merkbar. Die  Melancholiker  und  Phlegmatiker  halten  den  Affekt  lauge 
und  zähe  fest,   schwelgen  fort  und   fort   in  einer  und   derselben  un- 


Muskeln  des  Kopfes.  341 

angeuehmen  Vorstellung,  immer  neue  gleich  peinliche  Gedanken  wälzen 
sich  nach,  es  scheint  kaum  ein  Entrinnen  möglich;  der  Sanguiniker 
und  Choleriker  ist  dagegen  stets  zu  raschem  Umschlagen  von  einer 
Stimmung  in  die  andere  bereit.  Der  Übergang  vom  Haß  zur  Liebe 
wird  ihm  leicht,  er  kann  ihn  zehnmal  in  einer  Stunde  fertig  bringen. 
Auch  diesen  Grundton  des  Wesens  im  Porträt  zum  Ausdruck  zu 
bringen,  ist  Aufgabe  der  Kunst.  Auch  nach  dieser  Seite  hin  schehien 
mir  die  Figuren  102  und  103  der  Betrachtung  weil;. 

Zu  den  schon  genamiten  Wcrktni  von  Darwin  und  Wundt,  in  welchen  zahl- 
reiche Litteraturangaben,  seien  hier  noch  folgende  Werke  genannt: 

Lavateb,  Johann  Caspar,  Physiognoiniache  Frjiginente  zur  Betörderung  der 
Menschenkenntnis  etc.  Leipzig  und  Winterthur  1775  in  4  Quartbänden.  —  Noch 
heute  wertvoll  wegen  der  schönen  Stiche. 

Camper,  Vorlesungen  über  die  Weise,  die  verschiedenen  I^eidenschaften  auf 
anBerm  Gesichte  darzustellen.  Deutsch  von  SniAz  G.  Berlin  \m  Voß  1798. 
4?  mit  4  Kupfertafeln. 

Französisch  finden  sich  diesi;  Vorlesungen  im  dritten  Bande  des  folgenden 
Werkes : 

OeuvTcs  d(^  P.  Camper,  qui  ont  pour  objet  lliistoire  naturelle,  la  physiologie  et 
Fanatomie  coniparee.   Tom  I— IN.   Paris  1803.   Text  in  8^   Tafeln  in  Folio. 

Bell,  Cii.,  The  Anatomy  and  philo8<jphy  of  expression  as  connwted  with  the 
fine  arts.  4.  AuH.   Ix>ndon  1847. 

Duchenne,  G.  B.,  Mecanisme  de  la  physiognomie  humaine,  ou  Analj^se  electro- 
physiologrique  de  l'expression  des  passions.  Mit  Atlas.  1862.  Kleine  Ausgabe  1866. 
Mit  9  Tafeln  enthaltend  74  Photographien. 

Derselbe,  Physiologie  der  Bewegungen.  Aus  dem  Französischen  von 
Dr.  C.  Wernicke.     Mit  100  Abbildungen.     Kassel  und  Berlin  1885. 

In  diesem  Werke,  das  vorzugsweise  für  Arzte  bestimmt  ist,  befindet  sich  ein 
Abschnitt  ..Bewegungen  des  Gesichtes",  S.  625—663,  in  welchem  interessante  Mit- 
teilungen über  Wirkungen  der  Gesichtsmuskeln  enthalten  sind. 


Nennter  Abschnitt. 

Muskeln  des  Rumpfes. 


I.  Die  Anatomie  des  Halses. 

Der  Hals  (Collum)  bildet  das  Bindeglied  zwischen  Kopf  und 
Stamm  und  stellt  eine  kurze  cylindrische  Säule  dar,  deren  knöcherne 
Achse  nicht  in  der  Mitte,  sondern  der  hinteren  Halsgegend  näher  liegt. 
Der  Hals  steigt  breit  aus  dem  Brustkasten  hervor,  um  sich  zu  ver- 
schmälem  und  an  der  Verbindung  mit  dem  Kopf  wieder  an  Umfang 


342  Neunter  Abschnitt. 

zuzuiiehiueii.  Neben  der  Wirbelsäule  und  den  Muskeln,  welche  ent- 
weder dem  Halse  angehören  oder  ihm  entlang  ziehend  den  Weg  xm 
Schädel  nehmen,  umschließt  die  Haut  noch  viele  lebenswichtige  Or- 
gane, welche  alle  in  der  vorderen  Halsregion  sich  befinden,  kh  er- 
wähne nur  die  Herz-,  Lungen-  und  Zwerchfellnerven,  die  großen  Bl«. 
gefäße,  die  Speiseröhre  und  vor  allem  den  Kehlkopf.  Das  letztere 
Organ  ist  samt  seinen  einzelnen  Teilen,  welche  sich  nach  oben  imd 
unten  anschließen,  auf  die  Formen  des  Halses  von  dem  allerweit- 
gehendsten  Einfluß. 

Verfolgt  man  bei  etwas  gestrecktem  Hals  die  Mittellinie  desselben 
vom  Kinn  bis  zum  oberen  Rande  des  Brustbeins,   so  stößt  man  drei 
Querfinger  breit  unter  dem  Kinn  auf  das  Zungenbein.     Unter  di^ 
sem   folgt   eine   bei  Männern   gut   ausgeprägte   und  über  den  Kontor 
vorspringende  Ecke,   der  Adamsapfel,   welcher  von   dem  unter  der 
Haut   liegenden   Kehlkopf  herrührt.     Etwas   tiefer   liegt   ein   weicW 
umfangreicher  Wulst,  der  Schilddrüse  angehörend;  sie  ist  an  schönen 
Hälsen   nur  wenig   sichtbar,    fällt  aber  bei  Dick-  und  Blähhälsen  in 
unschöner  Weise  auf.    Unter  diesem  durch  die  Drüse  hervorgebrachten 
Wulst   endet   die   mittlere  Halsregion  dicht  über  der  Handhabe  des 
Brustbeins   als    untere    Halsgrube    oder   Drosselgrube  (Fossa 
juffularis). 

Zu  dem  Zungenbein  und  dem  Kehlkopf  stehen  einige  Muskeln  in 
direkter  Beziehung,  wodurch  bei  sonst  ruhigem  Hals  Verschiebungen 
sowohl  dieser  beiden  eben  erwähnten  Teile,  als  anderer  tiefliegender 
Organe  ausgeführt  werden  können.  Diese  Muskeln  liegen  mit  geringer 
Ausnahme  verborgen,  sind  überdies  entsprechend  dem  geringen  Um- 
fang der  Organe,  zu  denen  sie  sich  begeben,  selbst  wenig  umfangreicL 
Anders  verhält  es  sich  mit  der  übrigen  Muskulatur  des  Halses^  welche 
die  Bewegungen  des  Kopfes  auffuhrt.  Sie  ist  für  die  Formen  von 
hoher  Wichtigkeit. 

Wir  betrachten  zunächst  die  in  der  Mittellinie  des  Halses  liegen- 
den Organe: 

1)    Zungenbein,  Kehlkopf  und  Schilddrüse. 

Das  Zungenbein  (Os  hyoides,  so  genannt  von  seiner  Ahnh'ch- 
keit  mit  dem  griechischen  Buchstaben  v,  Fig.  106  Nr.  13)  liegt  an  der 
vorderen  Seite  des  Halses  und  stützt  die  Zunge.  Man  imterscheidet 
an  ihm  den  Körper  oder  das  Mittelstück  und  zwei  Paar  seitliche 
Hönier.  Das  Mittelstück  ist  gekrümmt  und  ragt  mit  seiner  Kon- 
vexität, die  in  ihrer  Ausdehnung  eine  Breite  von  3  cm  und  eine  Höhe 
von  8  mm  besitzt,  nach  vorn.     Bei  gewöhnlicher  Haltung  des  Kopfes 


Hndteln  de*  BnmpAi, 


Igt  da«  Zungenbein  hinter  jei 
iefer   mit   dem  Hals    liiltlrt. 


1  Winkel  vei-tieft.  welchen  dei-  Unter- 
■i    rfk'kwarts  K''lc'gteni  Kopf  wird   es 


Fii 


%•  ' 


MilskL'lii  ilia  Ku|)leB. 


.  SliRiinuiltcl. 

.  Hliigroaikel  dn  Aug«s. 

,  Der  PynunWenrauakel  der  Ko«. 

.  Aafhcbvrd.Oberlippeu.deBNuenAÜgels, 

>.  ZiuatnmeDdrücker  der  Nbm. 

I.  Niedenieher  der  NasaDadieidewauü. 

.  Dreiseitiger  Muike)  der  Oberlippe. 

..  SchUeOiQDBkel  des  Mundes. 

.  Drdaeitiger  Miukd  der  l'Dterlipj«, 

I.  Vierseitiger  Muskel  der  CnUrlippe. 

.  Kinnrnnikel. 

'.  Zvd'biuchlger  Ualerhiefenuuikel. 

I.  Zungenbein. 


r.  Liniler  Rapäiieker. 

I.  ScliildknorpeluuswhDiti. 

■.  Schlüfcamustpl. 

I.  Jochbugau. 

I.  Großer  Jodibeiniuiukel. 

I.  Kleiner  JoohbeiniaiMkel. 

.  Änllerer  KBoniuakel. 

I,  Tmu]>el«niiu>kel. 

1.  rnlerkieter. 

1.  Ko]>fiilcker. 

I.  Kapuicniniukei. 

i,  Aunieber  dp>  Scliult^rblutiei. 


^mehr  gegen   die  Haut  gedt^ngt   und   dann   erscheint   sein  Körper  er- 
kennbar  ansgeprügt.     Von    dem   Mittelstück    des  Knochens    laufen   in 


344  Neunter  Abschnitt. 

derselben  Art,  wie  bei  dem  obenerwähnten  griechischen  Bnchst&beii 
die  großen  Hörner  aus,  welche  länger,  aber  bedeutend  dünner  ih 
das  Mittelstück  sind.  Die  kleinen  Hörner,  nur  5  mm  groß,  sind 
am  oberen  Rande  der  Verbindungsstelle  des  Mittelstückes  mit  den 
großen  Hömei*n  durch  Gelenke  angeheftet. 

Die   kleinen  Hörner   stehen  durch  ein  Band,  das  Griffel-Zungenbeinb»! 
mit  dem  Griffelfortsatz  des  Sehläfenbeines  in  Verbindung. 

Der    Kehlkopf    (Larynx   von   dem    griechischen    Wort  laniza, 
schreien)   stellt  ein  längliches  aus  Knorpelplatten  bestehendes  Käst- 
chen  vor,   das   oben   an   das  Zungenbein   befestigt  ist,   und  unten  in 
unmittelbarem   Zusammenhang   mit   der   Luftröhre    steht.     In   diesem 
aus  Knorpelplatten  gebildeten  Raum  ist  das  vollkommenste  aller  mu- 
sikalischen Instrumente   angebracht,    das  die  menschliche  Stimme  er- 
zeugt mit  ihrer  Höhe  und  Tiefe  und  Stärke  und  all  dem  Wohllaut,  der 
nur  sie  auszeichnet.    Anatomisch  betrachtet  stellt  der  Kehlkopf  ein  be- 
wegliches hohles  Gerüste  dar,  welches  mit  einer  Fortsetzung  der  Eachen- 
schleimhaut  ausgekleidet  ist  und  durch  Schwingungen  zweier  an  seiner 
inneren  Oberfläche  befestigter  elastischer  Bänder,  der  Stimmbänder, 
die  Stimme  hervorbringt.     Physikalisch  gesprochen  gehört   der  Kehl- 
kopf zu   den   sogenannten  Zungenpfeifen  mit  doppelter  membranöi?er 
Zunge.     Sein  oberes  Ende  liegt- dicht  an   dem  Zungenbein   und  ver- 
rät sich  bei  dem  Manne  durch  einen  beweglichen  eckigen  Vorsprang 
in  der  Mitte  der  vorderen  Halsgegend,  welcher  den  Namen  des  Adams- 
apfels (Tomum  adami)  führt.    Die  obere  Fläche  des  dreiseitigen  Vor- 
sprunges ist  geteilt,  deshalb  erscheint  sie  vertieft,  denn  die  Haut  sinkt 
in    die  Spalte  ein.     Je  stärker  der  Vorsprung,    desto  deutlicher  diese 
Vertiefung:    Schildknorpeleinschnitt  (Incisura   thyreoidea    superioTj 
Fig.  107  oberhalb  Nr.  2)  genannt.    Die  sichtbare  Ecke  ist  nur  ein  klei- 
ner Teil  des  Kehlkopfes,  der  Rest  liegt  verborgen  zwischen  Muskeln. 
Die  obere  Fläche  des  Adamsapfels  steigt  schief  hinauf,    die   vordere 
Kante  und  die  beiden  Seitenflächen  verschwinden  schon  nach  kurzem 
Verlauf  in  der  Tiefe  des  Halses. 

Das  Gerüste  des  Kohlkopfes  besteht  aus  folgenden  Teilen: 

a)  dem  Schildknorpel  (Cartilago  thyreoidea ,  von  dem  griechiflchen  Wort 
thyreosy  Schild,  hergeleitet).  Er  besteht  aus  zwei  unter  einem  Winkel  nach  vorn 
zusammenstoßenden  Platten,  deren  oberer  Rand  mit  dem  der  anderen  Seite  den 
erwähnten  Adamsapfel  mit  Schildknorpeleinschnitt  bildet 

b)  Der  Ringknorpel  (Cartilago  crivoidea  von  krücos  Ring)  liegt  unter  dem 
Schildknorpel;  er  wird  von  den  hinteren  Rändern  des  Schildknorpels  noch  am£i0t 
und  durch  Gelenke  verbunden.  Der  Ringknorpel  hat  die  Grestalt  eines  horizontAl 
liegenden  Siegelringes,  dessen  schmaler  Reif  nach  vom,  dessen  Platte  nach  hinten 
gerichtet  ist  Sein  unterer  Rand  ist  durch  ein  elastisches  Band  mit  der  Luflrölixe 
verwachsen. 


Motkeln  dei  Rnni)ifn. 


345 


et  Zwei  Gießbecken-  o<ler  GicßkiuiiieMkn.irpfl  I Carlilatfines  aryUiemi- 
deae  von  arylaimi.  GieSbeckenl.  Sie  tiitzcn  panrig  auf  dem  hiiiten-ii  olii^rcii  Rande 
des  Rinp'knorpeU. 

Diin-h  (liMi  vor  den  GicßbiTkcnknorpel  und  di'in  Schildknorpel  faefiiid  liehen 
Banm  ziehen  zwei  Bttnder  von  eigenartiger  KonKrruktton.  Sie  sind  zwischen  den  beiden 
erwtthnten  Knorpeln  m  anegeepnnnt,  daU  sie  einen  Spalt  oder  eine  Ritze  zwinchen 
■ii^  freila^een,  welche  die  Atemritzo  heißt.  Die  Ahniinf^iift  strcieht  durch  die- 
selbe in  die  Lungen  ein  nnd  aua.  Durch  wuhlfacrcchnetcn  Zug  bestimmter  Mus- 
keln können  diesie  Bünder  in  8Hlrkpri-m  oiler  gerinKcreiii  Grude  p-tipannt  und  durch 


Dreisdtiser  Kinnmuskel  l' 
Knpfhick«'  llnka    10- 


9eitl   HttlBKmlie    12--^' 
KopfD]ek«ri,rub«  ]; 


Fif.  1U7.    Hals 


den  auB  der  Lunge  ausgetriebenen  Luftatrom  in  Schwingungen  versetzt  werden. 
Diese  IScbwingaiigen  verursachen  den  Tod  der  menschlichen  Summe,  dessen  Höhe 
und  Tiefe  von  der  Länge  der  Bänder  und  dem  Grade  ihrer  Spannung  abhfingt. 

Die  Luftröhre  (Trachea)  ist  ein  mehr  als  daumendickes  steifes 
Bohr,  das  die  Verbindung  zwischen  dem  Kehlkopf  und  den  Lungen 
herstellt.  Das  Änlangsstück  der  Luftröhre  liegt  nur  wenig  von  der  Ober- 
fläche der  Haut  entfernt  in  der  Höhe  des  5.  Halswirbels;  je  mehr  sich 
aber  die  Luftröhre  dem  Brustkorb  nähert,  desto  mehr  rUckt  sie  gegen 
die  Wirbelsäule  hin,  weil  die  Eintrittstelle  ihrer  Äste  an  dem  hinteren ' 


346  Neunter  Abschnitt. 

Umfang  der  Lungen  liegt.  Nachdem  sie  als  einfaches  Rohr  in  den 
Raum  des  Thorax  gelangt  ist,  teilt  sie  sich  hinter  dem  Bogen  der 
großen  Körperschlagader  zunächst  in  zwei  Aste,  deren  jeder  einer 
Lunge  angehört.  Die  Luftröhre  besitzt  eine  quergeringelte  Oberflldie, 
welche  von  kleinen  Knorpelringen  herrührt,  die  in  die  Wand  der 
Röhre  eingefügt  sind,  um  sie  unter  allen  Umständen  weit  und  UaieBd 
zu  erhalten.  An  abgemagerten  Individuen  sind  oft  einige  dieser 
Knorpelringe  sichtbar. 

Obwohl  der  Eingang  in  den  Kehlkopf  und  die  Luftröhre  durch  eine  beitf- 
liche    Klappe,    den    Kehldeckel,    bei   jedem    Schlingakt    zugedeckt    wird,  w 
können   doch   bisweilen  fremde  Körper   in  den  Kehlkopf  und  selbst  tiefer  lunib- 
geratcn,  z.  B.  Teile  unserer  Nahrung;  sie  rufen  sofort  einen  heftigen  Hosten  \m- 
vor.    Was  Rir  den  Magen  ein  Labsal  ist,  ist  für  die  Lunge  ein  Greuel.    In  gii- 
stigen  Fällen  schleudert  denn  auch  der  durch  den  Husten  erzeugte  Luftstarom  da 
Fremdling  wieder  heraus.    Glatte  Fremdkörper  können  oft  wieder  dadurch  entfeat 
werden,  daß  der  Oberleib  eine  stark  abschüssige  Richtung  erhält     Der  beiäkinte 
Erbauer  des  Themsetunnels,  Brünnel,  hatte  das  Unglück,  während  er  mit  öim 
Kinde  spielend  eine  halbe  Guinee  in  den  Mund  nalim,  dieselbe  zu  verschlucken.  Sie 
gelangte    in   die  Luftwege.    Die  ersten  Chirurgen  Londons  entschlossen  sich  tarn 
Luftröhrenschnitt    Er  wiurdc  ohne  Erfolg  gemacht.    Als  man  einen  Monat  spitcr 
den  Kranken  so  lagerte,  daß  sein  Oberleib  eine  stark  abschüssige  Richtung  hatte 
und  der  Arzt  mit  der  flachen  Hand  wiederholt  auf  den  Rücken  des  Kranken  edihi^ 
stellte  sich  Husten  ein,  welcher  die  Münze  herauswarf.    Die  bei  schweren  Erknuh 
kungen  durch  Diphtherie  imd  Croup  drohende  Erstickungsgefahr  wird  oft  mit  Er 
folg  durch  den  Luftröhrenschnitt  beseitigt. 

Die  Schilddrüse  (Glandula  thyreoidea)  besteht  aus  zwei  seit- 
lichen, durch  ein  schmales  Mittelstück  (Isthmus)  verbundenen  Lappen. 
Das  Mittelstück  liegt  auf  den  oberen  Luftröhrenknorpeln  auf,  die 
paarigen  Seitenlappen  umfassen  die  Luftröhre,  und  stoßen  an  die 
großen  Blutgefäße  des  Halses:  die  Halsschlagader  (Carotis  canh 
munis)  und  die  innere  Dross.e lader  (Vena  jugularis  interna).  Die 
Höhe  des  Isthmus  beträgt  ungefähr  2  cm,  die  Breite  des  ganzen 
Organes  5 — 6  cm  (mit  dem  Bandmaß  seiner  gekrümmten  vorderen 
Fläche  entlang  gemessen)  und  ebenso  viel  die  Höhe  der  Seitenlappen. 
Trotz  dieses  beträchtlichen  TJmfanges  ruft  die  Schilddrüse  doch  nur 
eine  leichte  Verdickung  des  Halses  hervor,  die  am  meisten  in  der 
Profillinie  auffällt.  Das  Mittelstück  ist  eben  dünn,  verursacht  also 
nur  eine  geringe  Volumenszunahme,  die  Seitenteile  sind  aber  unter 
den  Kopfnicker  in  die  Tiefe  des  Halses  hineingeschoben. 

Die  Schilddrüse  hat  nicht  die  entfernteste  Ähnlichkeit  mit  einem 
Schilde  und  sollte  deshalb  richtiger  „Schildknorpeldrüse"  genannt 
werden,  weil  sie  in  der  Nachbarschaft  dieses  Knorpels  liegt.  Die 
Schilddrüse  ist  ungemein  gefäßreich  und  wird  von  einer  dünnen  aber 
festen  Bindegewebsmembran  umschlossen,  welche  das  Organ  in  größere 


Muskeln  des  Kampfes.  347 

und  kleinere  Läppchen  abteilt.  Der  große  Gefäßreichtum  macht  ihre 
Verwundungen  sehr  gefährlich,  er  ist  so  bedeutend,  daß  ihre  Verwun- 
dung bei  Selbstmordversuchen  tödlich  werden  kann,  ohne  daß  die 
großen  Gefäßstämme  des  Halses  verletzt  wurden.  Vergrößert  sich  die 
Drüse  und  wird  ihre  Anschwellung  bleibend,  so  spricht  man  von  einem 
Kropf.  Die  Drüse  kann  sich  so  bedeutend  vergrößern,  daß  sie  bis 
zum  oberen  Rande  des  Brustbeines  herabreicht,  dabei  kann  die  Ver- 
größerung an  einzelnen  Stellen  viel  umfangreicher  werden  als  an 
anderen,  wodurch  die  Unregelmäßigkeit  der  Kröpfe  entsteht.  Voll- 
ständige Herausnahme  der  vergrößerten  Kropfdrüse  hatte  schon  wieder- 
holt Blödsinn  zur  Folge. 

2)   MuBkeln  des  ZungenbeineB. 

Diese  Muskeln  stehen  anatomisch  und  physiologisch  in  gleich  naher 
Beziehung  sowohl  zu  dem  Unterkiefer  als  zu  dem  Zungenbein.  Sie 
können  das  Zungenbein  mit  samt  daran  befestigtem  Kehlkopf  in  die 
Höhe  heben  oder  den  Mund  dadurch  öffnen,  daß  sie  den  Unterkiefer 
gegen  das  durch  andere  Muskeln  befestigte  Zungenbein  herabziehen. 

Der  zweibäuchige  Muskel  des  Unterkiefers  (M.  digastrictis 
Fig.  106.  Nr.  12)  besitzt  wie  sein  Name  sagt  zwei  Muskelbäuche.  Der 
hintere  Bauch  entspringt  an  der  inneren  Fläche  des  Warzenfortsatzes 
tief  unter  dem  Kopfhicker,  strebt  schräg  zu  dem  Zungenbein  herab 
und  geht  dabei  in  eine  federkieldicke  cylindrische  Sehne  über.  Diese 
Sehne  ist  an  dem  Zungenbein  befestigt,  endigt  jedoch  nicht  an  dem- 
selben, sondern  geht  aufs  Neue  in  einen  Muskelbauch  über,  der  sich  in 
einem  Grübchen  an  der  hinteren  Wand  des  Kinnes  anheftet.  Der 
Verlauf  beschreibt  also  einen  Winkel,  dessen  stumpfe  Spitze  am  Zungen- 
bein liegt.  In  dem  Dreieck,  das  man  das  Unterkieferdreieck  nennt, 
liegt  eine  taubeneigroße  Speicheldrüse,  die  Unterkieferdrüse  (Glau" 
dula  submaxillaris  in  Fig.  106  dargestellt).  Wirkung:  Er  zieht  bei  fest- 
stehendem Zungenbein  den  Unterkiefer  herab. 

Der  Griffel-Zungenbeinmuskel  (M.  stylohyoideus)  ist  ein 
schlanker  spindelförmiger  Muskel,  der  von  dem  Griffelfortsatz  des 
Schläfenbeines  entspringt  und  sich  gleichfalls  an  dem  großen  Zungen- 
beinhom  befestigt. 

Der  Kiefer-Zungenbeinmuskel  (M, mylohyoideus)  nimmt  seinen 
Ursprung  an  der  innem  Fläche  des  Unterkiefers  und  stellt  einen  breiten 
Muskel  dar,  dessen  Fasern  an  dem  Zungenbeinkörper  endigen.  Er  hebt 
das  Zungenbein,  wenn  es  herabgezogen  war.  Um  ihn  zu  sehen,  muss 
der  zweibäuchige  Muskel  des  Unterkiefers  entfernt  werden.  Der  Muskel 
hilft  den  Boden  der  Mundhöhle  bilden.    Höher  liegt  noch 


348  Xeanter  Abtchnitt. 

der  Kiniizungenbeinmuskel  (Muitaibm  geniohyoideHs)^  der  du 
Zungenbein  nach  vomärts  zieht,  dann  folgen  die  Muskeln  der  Zonp, 
welche  sie  zu  all*  den  mannigfaltigen  Bewegungen  tauglich  machen. 

3)  Die  MuBkeln  des  Halset. 

Die  Muskulatur  des  Halses  scheidet  sich  nach  ihrer  Lage  nr 
Wirbelsäule  in  zwei  große  Abschnitte: 

1)  in  die  hinter  der  Wirbelsäule  im  Nacken  gelagerten  Moskd* 
massen.  Sie  werden  als  Nackenmuskeln  bezeichnet  und  den  Ma^^keln 
des  Rückens  beigezählt,  da  sie  eine  Fortsetzung  derselben  darstellen; 
sie  werden  auch  mit  ihnen  beschrieben  werden; 

2)  in  die  vor  der  Wirbelsäule  liegenden  Muskeln,  die   ausschließ- 
lich als  Halsmuskeln  bezeichnet  werden.     Hier  ist  nur  von  den  leti- 
teren  die  Eede.     Dabei  ist  daran  zu  erinnern,  daß  eine  oberflächliche 
dünne  Muskelschichte,  der  Hautmuskel  des  Halses,  schon  bei  den 
Antlitzmuskeln  erwähnt  wurde.     Allein  auch  die  vor  der  Wirbelsäule 
liegenden  Muskeln  werden  der  leichteren  Übersicht  wegen  mit  Nutzen 
in  eine  oberflächliche  und  eine  tiefe  Schichte  getrennt.    Als  unter- 
scheidendes Merkmal  gilt  abgesehen  von  der  Lage  auch  noch  der  Um- 
stand,   daß   die   tiefe  Schichte   eine   große  Anzahl   von   Befestigungs- 
punkten  an   der  Halswirbelsäule   findet   und   von  der  obertiächlichen 
Lage  durch  die  vom  Kopfe  herabsteigenden  Speise-  und  Luftwege  so- 
wie durch  die  großen  Blutgefäßstämme  getrennt  ist. 

a)  Oberflächliche  Schichte  der  Halsmuskeln. 

Der  Kopfnicker  (M.nutator^  Fig.  108.  Nr.  12  u.  12*),  liegt  an  der 
Seite  des  Halses  und  ist  einer  der  bedeutendsten  Muskeln  fiir  die  Formen 
dieser  Körperregion.  Er  besteht  aus  einem  langen  Muskelstrang,  der  von 
der  vorderen  Halsgrube  zum  Warzenfortsatz  hinter  das  Ohr  hinaufzieht. 
Sein  Ursprung  ist  in  zwei  Köpfe  getrennt.  Der  innere  entspringt  an 
der  Vorderfläche  des  Brustbeines  zunächst  dem  Schlüssel-Brustbein- 
gelenk mit  einer  starken  plattrunden  Sehne,  die  am  Muskelrand  4 — 6  cm 
hoch  hinaufreicht  (Fig.  108  Nr.  12*).  Der  äußere  Kopf  nimmt  den 
zunächst  liegenden  Abschnitt  des  Schlüsselbeines  ein.  Dieser  ür- 
sprungskopf  (Fig.  108  Nr.  12)  ist  6  cm  breit,  seine  Muskelfasern  ziehen 
steil  in  die  Höhe  und  schieben  sich  dabei  unter  den  inneren  Kopf 
hinein.  Zwischen  beiden  Köpfen  existiert  ein  Spalt,  welcher  sich  durch 
die  Haut  hindurch  als  längliche  Grube  namentlich  während  der  Be- 
wegung markiert.  Seine  Tiefe  wechselt,  je  nachdem  der  äußere  Kopf  breit 
oder  sehmal  ist.    Die  Trennnungsfurche  dieser  beiden  Köpfe  reicht  bis- 

*  Xutator  capitis  =  Kopfhicker.    Da  man  nur  mit  dem  Kopf  nickt,  venteht 
sich  bei  XuMor  der  Zusatz  capitis  von  selbst  und  kann  wegbleiben. 


Uukeln  dei  Eumpfea. 


349 


weilen  hoch  liinauf,  so  daß  man  namentlich  bei  dünner  Haut  den 
ftoßeren  und  inneren  Kopf  eine  große  Strecke  (6 — 8  cm  lang)  vonein- 
ander unterscheiden  kann.  Der  Muskel  befestigt  sich  an  dem  breiten  Teil 
des  Warzenfortsatzes  mit  der  Hauptmasse  seiner  Fasern,  die  Übrigen 
folgen  der  angrenzenden  oberen  Nuckeulinie.  Fig.  108  Nr.  i.  Wirkung: 
Zieht  sich  nur  ein  Kopfnicker  zusammen,  so  dreht  sich  der  Kopf;  ziehen 
sich  beide  zusammen,  so  hebt  er  den  Kopf  aus  der  gestreckten 
Körperlage.     Am    auffallendsten    tritt   seine  Wirkung   hervor  bei   der 


VateAiefenir  8 


Bchildlcnorj 

Brattmngeiibei  um  uek 
3ohnll«rb1  ZDnguibc 
Kopftiicker  Sclilij 
bcuportioa 
Sdiulterb]  Zaog. 
KopblckET  Bmsi 
porboD 


gr.  Bnutmiuk. 


Fig.  108.    HaU  im  Profil  iinth  Entfernung  <lc8  Hautmiukcls. 


Drehung  des  Kopfes,  wenn  also  nur  der  eine  der  beiden  Muskeln 
wirkt.  Sein  schiefer  Verlauf  wird  dadurch  gerade  und  der  vordere 
Band  des  Muskels  springt  stark  vor.  Dabei  wird  die  vordere  Eals- 
gnibe  zwischen  den  beiden  Ursprungsköpfen  sehi-  deutlich. 

Um  die  Bewcguiigcn  der  Kopfnkkcr  vollkotnmen  beurteilen  za  können,  em- 
pfiehlt es  sich,  einen  bestimmten  F&li  eu  anolyMcrcn.  Der  Kopf  sei  links  gedreht, 
dann  ist  der  rechte  Kopfnicker  in  seiner  rollen  Wirkung,  d.  h.  verkürzt.  Sein 
olteres  Ende,  iiftmcntlich  der  vordere  Eaud,  tritt  als  starker  Strang  hinter  dem  Ohr 
hervor,  zieht  zu  dem  Brnstbciu  herab  und  ist  fast  senkrecht  gerichtet;  er  springt 
dabei  so  über  die  Haut  hervor,  daß  man  ihn  mit  den  Fingern  umgreifen  kann. 
Die  vordere  Hslsgrabe  wird  dadurch  auf  der  rechten  Seite  vertieft.  Der  Kopfiiicker 
der  linken  Seite  ist  während  dieser  Stellung  durch  die  Drohung  des  Kopfes  scbrau- 


350  Neunter  Abschnitt. 

benfbnnig  fast  um  den  halben  Umfang  des  Halses  herumgewickelt.    Wih- 
rend  durch  den  Zug  des  rechten  Muskels  der  Warzenfortsatz  und  damit  die  redoi 
Schädelhälfte  nach  vom  gedreht  wird,  rückt  der  linke  Warzenfortsatz  nach  Inmci 
gegen  die  Schulter.    Dadurch   iivird  auch  die  obere  Hälfte   des  linken  Kop&ickm 
über  die  Reihe  der  Querfortsätze  der  Halswirbel  weit  nach   hinten  hernni|e* 
führt    Dabei  liegt  er  platt  und  fest  an  die  unter  ihm  liegenden  Muskeln  tu- 
geschmiegt.    Die  Haut,  die  zwar  niu:  lose  mit  ihm  verbunden  ist,  bentit  dod 
keinen  so  beträchtlichen  Spielraum,   daß  sie  von  dieser  Verschiebung  des  linket 
Kopfnicken}  nicht  beeinflußt  würde.    Sie  folgt  ihm  und  bildet  regelmäßig  zwei  Fal- 
ten, von  welchen  die  eine  seinem  vorderen,  die  andere  seinem  hinteren  Rande  io^L 
Diese  Falten  zeichnen  auf  der  Oberfläche  der  Haut  den  Weg,  den  der  linke  Kopf* 
nicker  in  unserem  Beispiel  nimmt.    Die  Falten  sind  in  der  Mitte  seines  We^  an 
stärksten^  um  gc^n  auf-  und  abwärts  allmählich  auszulaufen.     Auf  der  entgegoh 
gesetzten  Seite  ist  der  Verlauf  des  Muskels  ob(>nfalls  klarer  gezeichnet,  allfin  dort 
ist  es  die  aktive  Thätigkeit,  welche  seine  Gestalt  unter  der  Haut  hervortreten  lik 

Bei  aufrechter  Haltung  grenzen  die  beiden  Kopfnicker  ein  Gebiet 
ab,  das  mau  die  vordere  Halsregion  nennt.     Diese  bei  dem  Maim 
scharf  gezeichnete  Region  hat  ihre  Grenzen  in  den  vorderen  Eandern 
der  Kopfnicker,    in  dem  Unterkiefer  und   in   der  Brustbeinhandhabe. 
Am  TJnterkieferrand  ist  die  Region  am  breitesten,  um  nach  unten  mehr 
und  mehr  sich  zu  verschmälern  und  in  der  vorderen  Halsgrube  ihr 
vertieftes  Ende  zu  finden.    Bei  dem  Mann  ist  sie  kielförmig  abgedacht, 
und  beherbergt,   wie  schon  envähnt,  das  Zungenbein,   den  Eehlkopi^ 
die  Schilddrüse  und  die  Luftröhre,  die  Speiseröhre  und  die  großen  n 
dem  Kopf   aufsteigenden  Blutgefäße.     Die  vordere  Halsregion  erfahrt 
beträchtliche  Andeiiingcn  bei  den  vei-schiedenen  Stellungen  des  Kopfe». 
Sie  ist  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  sichtbar  bei  hochgehobenem  Haupte. 
Sowohl    bei    der  Betrachtung  von  vorn   als   von   der  Seite   ist  zu  be- 
merken,  wie  sie   oben   den  Unterkieferästen  folgt  und  in  Form  einer 
tiefen  Furche,    der  Ohrkehlkopffurche,    bis  hinter  das  Ohr  empor 
steigt.     Bei   dem  Senken    des  Hauptes    kann    die   vordere    Halsregiun 
vollständig  verdeckt  werden,  wenn  das  Kinn  bis  auf  die  Brust  herab- 
sinkt,   d.  h.    der  Unterkiefer   auf  dem  oberen  Rande   des   Brustbein- 
handgrifi'es  aufliegt.     Einige  Änderungen  der  vorderen  Halsregion  bei 
den   Seitwärtsbewegungen    des  Kopfes    wurden   schon    oben   (siehe  die 
kleingedruckte  Note)  beschrieben.     Hier  muß  noch   die  Frage  beant- 
wortet werden:    was   geschehen  für  Vei-schiebungen  an   all'  jenen  Or- 
ganen, welche  in  der  kielförmig  vorspringenden  Mittellinie  des  Halses 
liegen?     Die  Kiefer   und    alles    was   mit    ihnen   fest   zusammenhängt, 
müssen    natürlich   der  Bewegung  des  Kopfes    folgen.      Dadurch   ver- 
liert die   vordere  Halsregion  ihre  Symmetrie  und  wird  einseitig. 
Ist  z.  B.  der  Kopf  links  gedreht,  so  breitet  sich  rechts  die  obere  Ab- 
teilung der  Region  weit  aus,  auf  der  anderen  Seite  wird  sie  zu  einer 
engen  Spalte  zusammengedrängt,  in  der  sich  die  Haut  aufstaut.    Der 


Muskeln  des  Rumpfes.  351 

Kopf  ist  samt  dem  Zungenbein  gedreht,  während  der  Kehlkopf  in 
seiner  Stellung  nahezu  unverändert  bleibt. 

Eb  machen  also  nicht  alle  Organe  des  Halses  die  Drehbewegung  des  Kopfes 
mit;  die  Grenze,  an  der  die  Torsion  aufhört^  ist  z\iischen  dem  Zungenbein  und  dem 
Schildknorpel  zu  suchen.  Während  sich  das  Zungenbein  auf  seiner  Stelle  herum- 
dreht, rührt  sich  der  Kehlkopf  kaum  vom  Fleck,  und  der  Kiel  des  Adamsapfels 
bleibt  gerade  nach  vom  gerichtet* 

Bisher  wurde  bei  der  Beurteilung  des  Kopfnickers  stets  voraus- 
gesetzt, daß  der  Kopf  beweglich  sei,  das  Schlüsselbein  dagegen  fest 
stehe.  Allein  diese  beiden  Punkte  können  unter  verschiedenen  Um- 
ständen ihre  Rollen  tauschen.  Ist  der  Kopf  durch  die  Nackenmuskeln, 
welche  an  dem  Hinterhaupt  angreifen,  fixiert,  so  wendet  sich  die  Kraft 
des  Kopfnickers  gegen  das  Schlüsselbein,  um  dasselbe  samt  dem 
Brustbein  und  den  Rippen  zu  heben.  Dies  geschieht  bei  Atmungs- 
beschwerden, dem  krampthaften  Husten,  überhaupt  bei  forcierter  schneller 
Einatmung.  In  dem  Beginn  einer  solchen  Einatmung,  dem  sog.  Luft- 
schnappen, ziehen  sich  der  Kopfnicker  und  der  Hautmuskel  des  Halses 
schnell  zusammen  und  beide  werden  auf  einen  Augenblick  bemerkbar 
und  zwar  alle  ihre  Fasern,  sogar  diejenigen,  welcke  von  dem  Haut- 
muskel des  Halses  zu  dem  Mundwinkel  in  die  Höhe  ziehen.  Daher 
zuckt  der  Mundwinkel  und  wird  nach  abwärts  gezogen. 

Der  Brustbein-Zungenbeinmuskel  (ALstenw-hijoideiis  Fig.  108 
Nr.  10)  liegt  dicht  neben  der  Mittellinie  des  Halses,  hat  bei  ruhiger 
Lage  die  Breite  von  ca.  2  cm  und  erstreckt  sich  von  dem  Brustbein 
bis  zum  Zungenbein  hinauf.  Er  entspringt  an  der  hinteren  Fläche 
der  Brustbeinhandhabe  und  des  nahen  Schlüsselbeinendes,  ist  doiii 
von  dem  inneren  Kopf  des  Kopfhickers  bedeckt,  während  er  weiter 
oben  nui'  mehr  von  dem  Hautmuskel  überlageii;  ist  (Fig.  107  Nr.  3). 
Er  setzt  sich  an  dem  Mittelstück  des  Zungenbeins  an.  Zwischen 
beiden  Muskeln  ragt  oben  der  Kehlkopf  vor,  unten  helfen  sie  zur  Be- 
grenzung der  vorderen  Halsgrube. 

DerSchulterblatt-Zungeubeinmuskel(^J/.owir>.ÄyoiV/<?M*,Fig.  108 
Nr.  11  u.  ir)  hat  einen  seltsamen  Verlauf;  er  kommt  fern  von  dem 
Schulterblatt  her,  steigt  also  von  der  unteren  Nackengegend  herauf 
bis  zum  Mittelstück  des  Zungenbeines.  Er  kreuzt  dabei  den  Kopfnicker, 
indem  er  hinter  ihm  seinen  Weg  an  der  Seite  des  Halses  hinauf  nimmt. 
Dabei  ist  der  Schulterblatt-Zungenbeinmuskel  in  der  Regel  zweibäuchig. 
Der  hintere  Bauch  entspringt  vom  oberen  Rande  des  Schulterblattes 
nahe  der  Gelenkpfanne,  folgt  dann  eine  Strecke  weit  dem  Schlüssel- 
bein,  kommt   dann  unter  dem  vorderen  Rande  des  Kapuzenmuskels 


^  Henke,  W.    Zur  Topographie  der  Bewegungen  am  Halse  bei  Drehungen  «le^ 
Kopfes  auf  die  Seite.     Mit  4  Holz84>hnittcn. 


352  Neunter  Abschnitt. 

(Fig.  108  Nr.  2')  hervor,  und  durchzieht  die  seitliche  Halsregion,  ukim 
er  einen  Winkel  beschreibt.  Die  Halsfascie  zwingt  ihn  za  dieses 
Verlauf.  Hinter  dem  Kopfiiicker  geht  aus  dem  ebenbeschriebenai 
Muskelbauche  eine  Zwischensehne  hervor,  aus  welcher  sich  der  zwwte 
Bauch  mit  steilerem  Verlaufe  entwickelt.  Dieser  steigt  nun  zu  seiner 
Ansatzstelle  an  dem  Zungenbein  empor,  welche  seitlich  von  demBnisi- 
bein-Zungenbeinmuskel  sich  befindet.  Wirkung:  Zieht  das  ZungeDbem 
herab  und  gleichzeitig  etwas  nach  hinten. 

Hinter  den  beiden  ebenerwähnten  Muskeln  liegen,  zum  gröfiten 
Teile  bedeckt: 

Der  Brust-  Schildknorpelmuskel  (M.  stemo-thyreoideui).  Er 
entspringt  hinter  dem  Brustbein-Zungenbeinmuskel  von  der  hinteren 
Fläche  des  Brustbeines  und  läuft  die  Schilddrüse  bedeckend  zum  Schild- 
knorpel des  Kehlkopfes,  um  sich  an  der  Seitenfläche  desselben  zu  b^ 
festigen.     Wirkung:  zieht  den  Kehlkopf  herab. 

Der  Schildknorpel-Zungenbeinmuskel  (M.  thyreO'hyoideui)in 
streng  genommen  nur  eine  Fortsetzung  des  vorhergehenden,  welche  sich 
bis  zu  dem  großen  Honi  des  Zungenbeines  erstreckt. 

b)  Tiefliegende  Schichte  der  Halsmuskeln. 

Diese  Schichte  kommt  erst  nach  Entfernung  der  oberflächlich  liegen- 
den Muskelschichte  und  der  Weichteile  des  Halses  zum  Vorschein,  wobei 
sich  zeigt,  daß  sie  die  vordere  Fläche  und  die  seitlichen  Partien  der 
Halswirbelsäule  bedeckt.  Diese  letztere  Abteilung  ei-streckt  sich  vcn 
den  Querfortsätzen  der  Halswirbel  zu  den  oberen  Bippen,  ist  von  dem 
tiefen  Blatt  der  Halsfascie  bedeckt,  und  der  hintere  Bauch  des 
Schulterblatt-Zungenbeinmuskels  (Fig.  108  Nr.  ii')  zieht  über  sie  hin- 
weg.    Es  sind  dies: 

die  drei  Rippenhalter,  bestehend  aus  dem  vorderen  Bippen* 
halt  er  (3  f.  scalenus  antiais),  dem  mittleren  Rippenhalter  (^.V.  jvö- 
lenus  medius),  welcher  den  vorigen  an  Stärke  und  Länge  übertnffL 
und  dem  hinteren  Rippenh alter  (M,  scalenus  posticusjj  dem  klein- 
sten von  den  dreien  und  häufig  mit  dem  mittleren  verwachsen. 

Diese  drei  Muskeln  zusammengenommen  stellen  eine  dreiseitige, 
von  den  Querfortsätzen  der  Halswirbel  zu  den  zwei  oberen  Rippen 
herabsteigende  Muskelmasse  dar;  sie  halten  die  Rippen  und  können 
sie  in  die  Höhe  heben,  jedoch  nur  dann,  wenn  zuvor  der  Kopf  und 
damit  auch  der  Hals  durch  andere  Muskeln  fixiert  ist.  Unter  solchen 
Umständen  entsprechen  sie  erst  ihrem  Namen  als  Rippenhalter  und 
Rippenheber.  Sind  aber  die  Rippen  fixiert  und  der  Hals  beweglicL 
so    werden    dieselben   Rippenhalter    den   Hals    drehen    und    seitwärts 


Muakeln  des  Kämpfet.  353 

beugen,  wenn  sie  nur  auf  einer  Seite  thätig  sind  oder  ihn  vor- 
wärts beugen,  wenn  sie  gleichzeitig  auf  beiden  Seiten  wirken.  Ihre 
Znsammenziehungen  bei  dem  forcierten  Seitwärtsneigen  des  Kopfes 
lassen  sich  direkt  beobachten.  —  Auf  der  vorderen  Fläche  der  Hals- 
wirbelsäule liegt 

der  lange  Halsmuskel  (M.longus  colli) j  er  bildet  einen  rundlichen 
Strang,  der  von  der  Vorder-  und  Seitenfläche  der  drei  obersten  Brust- 
nnd  der  zwei  bis  drei  untersten  Halswirbel  entspringt  und  bis  zum  vorderen 
Dmfang  des  Atlas  in  die  Höhe  steigt,  um  sich  dort  zu  befestigen. 
EIhe  er  den  Atlas  erreicht,  giebt  er  an  die  übrigen  Halswirbel  mehrere 
Zacken  ab,  wodurch  seine  Wirkung  augenscheinlich  zu  derjenigen  eines 
Beugers  der  Halswirbelsäule  wird.     Nach  außen  von  ihm  liegt 

der  grosse  vordere  gerade  Kopfmuskel  (Musculus  rectus capitis 
anticus  major)  ^  etwas  mächtiger  als  der  vorerwähnte.  Er  deckt  ihn 
auch  mit  seinem  inneren  Rande,  denn  der  Ursprung  von  den  Querfort- 
satzhöckem  des  dritten  bis  sechsten  Halswirbels  berührt  direkt  den  Verlauf 
seines  Nachbars.  Der  aus  diesen  Ursprüngen  hervorgehende  Muskelbauch 
erstreckt  sich  bis  zu  dem  Grundbeiu  des  Schädels  hinauf,  wo  er  sich 
befestigt.  Er  beugt  den  Kopf  nach  vorwärts  und  verdient  also  eben- 
falls den  Namen  eines  Kopfnickers. 

4)  Die  vordere  Region  des  Haltes  und  die  Seitenregionen  desselben. 

Die  Aufstellung  scharf  begrenzter  Halsregionen,  wodurch  die  Über- 
sicht erleichtert  wird,  ist  in  der  plastischen  Anatomie  nicht  mit  solchen 
Schwierigkeiten  verbunden  wie  in  der  beschreibenden  oder  in  der 
chirurgischen  Anatomie.  In  der  plastischen  Anatomie  ist  der  Aus- 
gangspunkt für  das  Studium  der  kräftig  entwickelte  männliche  Körper, 
der  bestimmte  Regionen  in  großer  Zahl  feststellen  läßt,  denen  es  an 
sicheren  und  leicht  erkennbaren  Grenzen  durchaus  nicht  fehlt;  ferner 
handelt  es  sich  hier  lediglich  um  Klarlegung  der  Formen,  also  vor- 
zugsweise um  die  oberflächlichen  Schichten,  und  es  liegt  kein  zwingen- 
der Grund  vor,  diese  Regionen  durch  alle  Tiefen  hindurch  bis  auf  den 
Knochen  zu  analysieren,  wo  die  trennenden  Linien  mehr  und  mehr 
verschwinden.  Die  plastische  Anatomie  faßt  also  auch  an  dem  Hals 
die  oberflächlichen  Formen  in's  Auge,  und  greift  zunächst  nach  dem 
Hals  des  wohlgebauten  Mannes.  Verständnisvolle  Auswahl  des  Mo- 
delles  ist  gerade  hier  die  allererste  Bedingung.  An  kurzen  Hälsen 
wohlbeleibter  Individuen  läßt  sich  kaum  absehen,  wo  eine  Region  auf- 
hört und  die  andere  beginnt,  und  an  den  schönen  Frauenhälsen  sucht 
man  vergebens  nach  scharfen  Grenzlinien.  An  einem  kräftigen  männ- 
lichen Körper  ist  dagegen  der  Hals  durch  vier  Flächen  begrenzt: 

KouMAjm,  PUstische  Anatomie.  23 


354  Neunter  Abschnitt. 

Die  vordere  Halsregion,  welche  durch  den  Verlauf  der  beidei 
Kopfnicker  begrenzt  wird,  erstreckt  sich  vom  Kinn  bis  zu  der  Hak- 
grübe.  Durch  die  Beweglichkeit  des  Kopfes  und  der  Halswirbelsänk 
kann  sie,  wie  alle  Seiten  des  Halses,  verschiedene  Gestalt  annek- 
men.  In  wie  fern  dies  der  Fall  ist,  wurde  schon  oben  bei  der  B^ 
schi'eibung  des  Kopfnickers  erwähnt.  Die  Haut  zeigt  bei  dea 
Senken  des  Kopfes  in  dieser  Region  Falten,  die  um  so  zahlreicher 
werden,  je  stärker  der  Kopf  gebeugt  wird.  Schon  bei  dem  Ofii€n 
des  Mundes,  wobei  der  Unterkiefer  herabsinkt,  ensteht  eine  Keri* 
dicht  über  dem  Kehlkopf,  die  sich  bis  gegen  das  Ohrläppchen  hinzieht 
Ist  der  Kopf  bis  an  das  Bioistbein  herabgesunken,  so  wird  die  Hart 
zu  niederen  Falten  zusammengeschoben,  welche  im  Bogen  nach  rück- 
wärts laufen  und  einerseits  dem  Hinterhaupt,  andererseits  dem  Dorn- 
fortsatz  des  siebenten  Halswirbels  zustreben. 

Die  hintere  Halsregion  umfaßt  diejenige  Fläche,  die  man  im 
gewöhnlichen  Leben  Nacken  nennt.  Ihre  Ausdehnung  erstreckt  sich 
von  dem  Hinterhaupt  bis  zu  dem  siebenten  Halswirbel,  dessen  Dorn- 
fortsatz am  meisten  von  allen  Halswirbeln  über  die  Nackenfläche  her- 
vorspringt. Die  seitlichen  Grenzen  sind  durch  den  Rand  der  Kapuzen- 
muskeln  gebildet  (vergl.  die  Fig.  109).  An  dem  Lebenden  oder  der 
unversehrten  Leiche  eines  Mannes  kann  man  kaum  im  Zweifel  sein, 
wo  die  Seitenlinien  des  Nackens  herablaufen,  an  dem  Präparat  ist 
die  Entscheidung  schwieriger,  weil  Kopf-  und  Nackenursprung  de> 
Kapuzenmuskels  nicht  auf  die  hintere  Halsregion  beschränkt  bleiben, 
sondern  in  die  seitliche  Halsregion  umbiegen,  wie  sich  dies  aus  der 
Fig.  108  Nr.  2  u.  2'  und  aus  der  Fig.  109  entnehmen  läßt.  Der  Hai* 
ist  in  beiden  Figuren  im  Profil  dargestellt,  die  hintere  Profillinie  zieht 
dem  Kapuzenmuskel  entlang,  dessen  Muskelbündel  die  Nackenregion 
verlassen,  um  auf  die  SeitenHäche  des  Halses  überzugreifen  und  dort 
an  dem  Akromion  und  dem  akromialen  Ende  des  Schlüsselbeins  sicli 
zu  befestigen.  Ist  man  mit  dieser  Thatsache  vertraut,  so  bietet  die 
Beschreibung  der  seitlichen  Halsregion  und  ihrer  Veränderungeu  bei 
der  Bewegung  keinerlei  Schwierigkeiten. 

Die  seitliche  Halsregion  erstreckt  sich  von  dem  hinteren 
Rande  des  Kopfnickers  bis  zu  derjenigen  Linie,  an  der  die  Seitenfläche 
in  den  Nacken  umbiegt.  Diese  seitliche  Halsregion  hat  eine  vertiefte, 
länglich  vierseitige  Grube  aufzuweisen,  welche  zwischen  dem  eben- 
erwähnten Rande  des  Kopfnickers  und  dem  vorderen  Rande  des 
Kapuzenmuskels  liegt  (Fig.  108  Nr.  2  u.  2'  und  Fig.  109).  Die  untere 
Grenze  wird  von  dem  beweglichen  Schlüsselbein  dargestellt,  die  obere 
von  dem  Hinterhaupt,  doch  verschmälert  sich  die  vertiefte  Fläche  gegen 
oben.     Zwischen    diesen  Rändern    kommen  von   der  tiefen   Halsfkscie 


1                                   KehlUpfW—    - 

Ko[i(iiii.-ker  n 

BnutmaBkel  i— J^^ 

Brumnuskcl  I- ~^BS| 

otgetnnakel  U-<^ 

'  '     r          -' 

i^^^ 

GonuJ.  lUuotim.  IS  l.    1 

l^^ 

k^> 

t-S  VII.  HfliswirWl. 

l  -C   KH]iiiEBiim,-Sdiue. 
—  'S    Deltiuiiiukel. 
-U  Unt-Grüipiiniuakel. 

1  Br.  Rüvkuiiaiuakel. 

—I    Br.  Büffcm.-Sühin?. 


10   Küvküiittrücker. 


-M  Hittl.CeiültiniukeL 

— — -iM  Ol.  üeuUliiinake!. 
-tt  Gr.  Bollhap-l. 


t^'lirukelrucic. 


l 

^Hpsdeckt,  die  Züge  jener  Muskeln  zu  Tage,   ^Yelche  schon  weiter  ulieu 
^Büs  Rippenhalter  heKchneben  wiirilcii.   ferner  Teile  des  Aufhebera 


K^^v*-?'''»«»^. 


Die  linltR  Fliklie  diw  KuviJL-rs  niit'Ii  Abiiabtni^  der  U»ut-  und 
Fettd'bit'htc  und  des  Anßcivii  »'hirfcii   [taucliinUHkelB. 


856  Neunter  AbMhnitt. 

des  Schulterblattes  und  des  Bauschmuskels.    Alle  diese  Maskdii, 
deren  Verlauf  bei  der  Anatomie  der  Nackenregion  noch  zu  erwilmeii 
sein  wird,  haben,  wie  in  der  Fig.  108  bei  Nr.  3  n.  3'  angedeutet  ist, 
einen   sehr   steilen  V^lauf.     Es    bedarf  dünner    fettloser  Haat  bei 
gleichzeitiger   kräftiger  Entwickelung    der  Muskulatur,    um   bei  dn 
gewöhnlichen  Bewegungen  des  Halses  etwas  von  diesen  tiefliegenda 
Muskelzügen  zu  sehen.    Bei  forcierter  Seitwärtsbengnng  und  Drehng 
des  Halses  oder  bei  krampfartigem  Husten,  wobei  die  Arme  sich  u 
irgend  einem  Gegenstand.  (Stuhlrand)  festklammem,  treten  sie  henor. 
Mit  wenig  Schwierigkeiten  läßt  sich  der  SchiQterblatt-Zungenbeimiiiukd 
auffinden,  obwohl  auch  er  von  einem  Blatt  der  HalsfBiscie  und  Ikber* 
dies   von   dem  Hautmuskel  des  Halses  bedeckt  ist.     Dreht  sich  dir 
Kopf  z.  B.  nach  links,  während  der  gestreckte  rechte  Arm  einen  StnU 
auf  Brusthöhe  emporhebt,  so  wird  der  Verlauf  des  hinteren  Mmkd- 
bauches  durch  die  seitliche  Halsgrube  leicht  sichbar. 

Der  vierseitige,  vertiefte,  von  Muskeln  begrenzte  Baum  der  seit- 
lichen Halsregion  verändert  seine  Form  bei  verschiedenen  Stellnngoi 
des  Kopfes.  Wendet  sich  der  Kopf,  so  wird  die  ganze  seitliche  Hals- 
region der  entgegengesetzten  Seite  breiter  und  tiefer  als  sie  voiher 
war,  denn  der  Kopfnicker  verläßt  seinen  früheren  Platz  und  r&ckt 
mit  dem  Warzenfortsatz  nach  vom.  .  Auf  derjenigen  Seite  aber,  nadi 
welcher  die  Drehung  des  Kopfes  stattfand,  ist  die  Halsregion  ver- 
schmälert und  der  vertiefte  Baum  ist  verschwunden.  Der  um  die 
Halswirbelsäule  herumgelegte  Kopfhicker  hat  sich  mit  seinem  hinteren 
Rande  dem  Kapuzenmuskel  so  genähert,  daß  statt  der  vierseitigen 
Vertiefung  nur  eine  Hautrinne  bemerkbar  ist,  die  wir  samt  ihren 
Rändern  eben  mit  dem  Ausdruck  „Hautfalte^^  bezeichnen.  Das  obere 
Ende  der  seitlichen  Halsregion  bietet  kein  besonderes  Interesse,  da- 
gegen das  untere,  das  als 

seitliche  Halsgrube  in  der  plastischen  Anatomie  noch  be- 
sondere Erwähnung  verdient.  Sobald  der  Arm  seine  Stellung  zu  dem 
Rumpf  verändert,  erhält  diese  Grube  eine  andere  Oestalt.  In  der 
Fig.  107  läßt  sich  durch  die  SchrafiFur  bei  Nr.  12  eine  leicht  angedeutete 
Vertiefung  erkennen,  die  nach  aufwärts  sich  allmählich  verliert  Ihre 
untere  Grenze  ist  das  Schlüsselbein,  ihre  seitlichen  Ränder,  wie  aas 
dem  vorhergehenden  zu  entnehmen,  der  Kop&icker  und  der  Kapuzen- 
muskel.  Geht  man  von  der  ruhigen  Haltung  des  männlichen  Körpers 
und  der  dadurch  bedingten  Ausdehnung  der  seitlichen  Halsgrube  ans, 
so  ist  folgendes  zu  beachten: 

Bei  dem  Zurückgreifen  des  Armes  wird  die  Grube  seichter,  als 
sie  bei  der  natürlichen  Stellung  der  oberen  Gliedmaßen  ist,  weU  das 


Huikiln  da  Bampftt. 


1.  Sohlünelbdn. 

2.  DntenchlüMctbeiDgnibe.   Spalt  i 

Delta-  nnd  BrnBUnuikel. 

3.  Akroniialciide  da  BcblütMlbdDc«. 

4.  Akromlon. 

5.  Delttmoikel. 

6.  Btreder  dtn  Oberannei. 

7.  SehneDfeld  da  Streoken, 

B.  EUbogcQ.       S*.  E&pfiih«D  der  EU«. 
9.  ÄDfbeber  de*  VonÜerarme«,  un  linken 

nnd  reäiten  Atm. 
B*.  Spetobeutrcdter  der  Hand. 


10.  achvelloDg  dei  Bnutmnikeli  vor  dem 

Übergang  in  uine  Sriine. 

11.  LADgcT  Btreeker  derFlDKeT. 

12.  Eilenbeiwe  t.  langen  Anfheber  b^ienit. 

13.  Der  mnde  ProaUor. 

14.  StreckeiMhne. 

15.  Kniewdieibe. 

16.  Knieaebelbenband. 

17.  Spanner  der  Faade. 
IB.  OroBer  GMiHmnikel. 

19.  Furche  iw.  d.  Strecker-  n.  Bengergmppe. 

20.  Bengergmppe. 


858  Neunter  Abflchnitt. 

Schlüsselbein   an   die   tiefe   Schichte   der  Halsmuskeln   gepreßt  wirf. 
Wird   der  Arm   vorgestreckt,    so   vertieft  sich   dagegen    die  seitliche 
Halsgrube   beträchtlich,   weil  die  vordere  Spange  des  Schultergürtda, 
das  Schlüsselbein,  sich  von  dem  Rumpf  abhebt.     Die  Figur  110  zeigt 
zwischen  Nr.  i  u.  2   die   seitliche  Halsgrube   auf  der  linken  Seite  b^ 
deutend  vertieft,  weil  der  linke  Arm  vorgreift.     Ihre  untere  Grenze» 
das  Schlüsselbein,  ist  deutlich   ausgeprägt,  ebenso   der  vordere  Rind 
des  Kapuzenmuskels,  der,  kräftigst  entwickelt,  an  dem  Akromialende 
des  Schlüsselbeines  sich  befestigt.  — 

Zwischen  der  äußersten  Abflachung  und  Vertiefung  der  seithchen 
Halsgrube   giebt   es   zahlreiche  Übergänge,   die  sich  leicht  von  selbst 
erklären.     Bei   hochgehobenem  Arm  verschwindet  die  seitliche  Hak- 
grube, ja  selbst  die  Stelle,  die  sie  einnahm,  vollständig,  denn  der  ganze 
Schultergürtel  kann  sich  soweit  in  die  Höhe  heben,  bis  das  Schlüssd- 
bein  und  der  Deltamuskel  die  Seitenfläche  des  Halses  berühren.    Schon 
in  der  Knochenlehre  S.  159  wurde  auf  dieses  Verhalten  vorübergehend 
hingewiesen,  an  dieser  Stelle  geschieht  es  noch  einmal,  weil  die  über- 
raschenden Veränderungen  der  seitlichen  Halsregion    und    namenäich 
der  seitlichen  Halsgrube  mit  den  Bewegungen  des  Schlüsselbeines  zn- 
sammenhängen. 

Auf  die  Gestalt  der  seitlichen  Halsgrube  ist  auch  das  forcierte 
Atmen  und  alle  Thätigkeiten,  welche  davon  abhängen,  von  wesentlichem 
Einfluß.  Bei  tiefer  Einatmung  sinkt  die  seitliche  Halsgrube  tief  ein, 
um  mit  dem  Beginn  der  Ausatmung  wieder  auf  ihren  früheren  Stand 
zurückzukehren.  Bei  dem  Singen  und  Schreien,  wobei  allmähliches 
Ausströmen  der  in  den  Lungen  enthaltenen  Luft  bei  verengter  Sümm- 
ritze  stattfindet,  füllt  sich  die  seitliche  Halsgrube  mehr  und  mehr,  je 
länger  der  Ton  erschallt,  um  in  demselben  Augenblick,  wo  eine  neue 
Einatmung  erfolgt,  einer  starken  Einsenkung  Pl^tz  zu  machen.  Das 
Verständnis  dieser  Formen  bei  Frauen  und  Kindern,  bei  denen  sowohl 
das  Fettgewebe  unter  der  Haut  als  dasjenige  zwischen  den  Schichten 
der  Halsfascie  so  viel  verschleiert,  bietet  keine  Schwierigkeiten  mehr, 
sobald  die  anatomische  Zergliederung  und  das  Studium  eines  hierftr 
tauglichen  männlichen  Modelies  den  wahren  Grund  all'  der  wechseln- 
den Erscheinungen  aufgedeckt  hat. 

Die  seitliche  Ilalsgrube  spielt  auch  iu  der  systematischen  Anatomie  due  gn>fie 
Rolle.  Man  nennt  sie  dort  obere  Schlüsselbeingrubc  (Fossa  supraelariculariiL 
Die  Gmbe  enthält  nämlich,  neben  zahlreichen  kleinen  Blutgefäßen  und  Nerven,  in  ihrem 
Grunde  die  Nervenstränge  für  sämtliche  Muskeln  des  SchultergürteU  und  des  Aimt. 
Mit  dem  Armge flocht,  Plexus  brachialis  genannt,  verläuft  eng  verbanden  die 
große  Schlüsselbeiuschlagader  über  die  erste  Rippe  und  gelangt  so,  bedeckt  voo 
dem  großen  und  kleinen  Brustmuskeln  in  die  Achselhöhle.  Yerwandiingen  im 
Bereich  dieser  Grube  werden  also  stets  besondere  Gefahren  mit  sich  bringen,  and 


Moikeln  des  Rumpfes.  359 

Operationen  wird  dort  nur  derjenige  mit  Erfolg  ausführen  können,  dem  die  ge- 
naueste Kenntnis  der  Lage  und  des  Verlaufes  der  einzelnen  Organe  zur  Seite  steht. 

Die  Haut  ist  an  der  seitlichen  Halsregion  verschiebbar,  doch 
nimmt  die  Verschiebbarkeit  gegen  den  Kopf  hin  mehr  und  mehr 
ab,  und  mit  dem  oberen  Ende  des  Kapuzenmuskels  und  des  Kopf- 
nickers  ist  sie  so  innig  verwachsen,  daß  das  regelrechte  Abnehmen, 
das  sog.  Lospräparieren  mit  großen  Schwierigkeiten  verbunden  ist  und 
besonderer  Aufmerksamkeit  und  Übung  bedarf.  Diese  innige  Ver- 
wachsung ist  der  Grund,  daß  sich  die,  bei  der  Seitwärtsneigung  ent- 
stehende Hautfalte  an  dem  oberen  Ende  des  Halses  aufstaut. 

Durch  die  Haut  des  Halses  sehen  Venen  hindurch,  von  denen 
eine  durch  den  regelmäßigen  Verlauf  und  durch  ihre  Größe  aus- 
gezeichnet ist,  es  ist  dies  die  äußere  Drosselader  (Vena  jugularis 
externa),  Sie  liegt  unter  dem  Hautmuskel  des  Halses  und  entsteht 
aus  oberflächlichen  Zweigen,  die  vom  Hinterhaupt  und  von  der  Ohr- 
gegend herabkommen.  Sie  steigt  steil  über  den  Kopfnicker  hinab  und 
begiebt  sich  in  die  seitliche. Halsgrube  um  zu  dem  Stamm  der  inneren 
Drosselader  zu  gelangen,  welche  hinter  dem  Kopfnicker  den  Weg 
zum  Herzen  nimmt.  Bei  dem  Anhalten  des  Atems  nach  vorher- 
gegangener tiefer  Einatmung  staut  sich  das  Blut  derart  in  den  Venen 
des  Halses  und  Kopfes ,  daß  auch  die  äußere  Drosselader  an- 
schwillt und  ihr  Ursprung  leicht  festzustellen  ist.  Bei  schweren  An- 
strengungen schwillt  sie  aus  denselben  Gründen  an,  weil  dabei  der 
Atem  angehalten  wird.  Mit  gutem  Grunde  ist  sie  deshalb  bei  dem 
Borghesischen  Fechter  und  bei  dem  Laokoon  von  den  antiken 
Meistern  angegeben.  Wenn  diese  Ader  bei  dem  Singen,  Schreien 
und  dergl.  hervortritt,  so  liegt  der  letzte  Grund  immer  in  dem  zeit- 
weise verhinderten  Rückfluß  des  Blutes,  wobei  die  Venen  des  Kopfes 
und  Halses  anschwellen.  Unter  den  ebenerwähnten  Umständen  treten 
auch  noch  andere  Venen,  die  unter  der  Haut  liegen,  zum  Vorschein. 
Dies  ist  der  Fall  mit 

der  vorderen  Drosselvene  (Vena ßigularis  anterior),  welche  durch 
den  Zusammenfluß  mehrerer  Venen  der  Unterkinngegend  entsteht  und 
von  der  Mitte  des  Halses  entweder  paarig  oder  unpaar  herabsteigt, 
um  in  der  Tiefe  der  Drosseladergrube  sich  zu  verlieren.  Bei  der 
zarten  Haut  blonder  Kinder  und  Frauen  sehen  überhaupt  im  Gesicht 
wie  in  dem  Bereich  der  vorderen  und  seitlichen  Halsregion  zahlreiche 
Venen  in  Form  von  blauen  oft  untereinander  zusa,mmenhängenden 
Bahnen  hindurch.  Niemals  bemerkt  man  im  Nacken  etwas  der  Art, 
weil  dort  die  Haut  zu  dick  ist,  und  die  Venen  ähnlichen  Kalibers  zu 
tief  liegen,  als  daß  sie  noch  durch  die  Haut  hindurchscheinen  könnten. 


360  Neunter  Abschnitt. 


n.    Muskeln  der  Brust. 

Äußere  Ansicht  der  vorderen  und  seitlichen  Bmstgegend. 

Als  Brust  erscheint y   anatomisch  aufgefaßt,    eine  Eörpetregioik. 
welche  sich  von  dem  Schlüsselbein  nach  abwärts  bis  gegen  die  unteni 
Rippen   erstreckt.     Dieser   Abschnitt   des  Stammes    scheidet  sich  h 
eine  vordere,    seitliche  und  hintere  Brustregion.     Die  vordere 
Brustregion  ist  in  der  Mitte  von  einer  schmalen  Binne,  der  vorderes 
Medianrinne,   durchzogen.     Sie  ist  durch  die  kräftige  Entwickelmig 
des  großen  Brustmuskels  hervorgebracht,  denn  bei  mageren  Individnoi 
verwandelt  sie  sich  in  das  Gegenteil,  in  einen  hochragenden  StreUen. 
Das  Brustbein  ist  dann  breit  unter  der  Haut  sichtbar  und  läßt  den 
Ansatz  der  Rippenknorpel  deutlich  erkennen,  welche  sonst  durch  die 
Schichte  des  großen  Brustmuskels  bis  auf  schwache  Spuren  verdeckt 
werden.     Der   ebenfalls   nur  nach  der  Abmagerung  dentliche.  qaen 
Vorsprung   an  der  Vereinigungsstelle  der  .Handhabe  des   Brustbeines 
mit  dem  Körper  desselben  wurde  schon  in  der  Knochenlehre  erwähnt 
Eine  leichte  Vertiefung  zeigt  das  Ende  des  Brustbeinkörpers  und  den 
Beginn  des  Schwertknorpels   an.     Auf  den  Schwertknorpel  folgt  die. 
schon  dem  Unterleib  angehörige  Magen-   oder  Herzgrube  (Scrobkuhu 
cordis.    Vergl.  die  Fig.  110,   an  der  die  Rinne  zwischen   den  beiden 
Brustmuskeln  vortreflFlich  hervortritt,  ebenso  das  Ende  des  Brustbeines, 
das  Ende  des  Schwertknorpels  und  dann  die  weiter  abwärt«  folgende 
Magengrube).  Durch  die  Medianrinne  wird  die  vordere  große  Bru&tiiäche 
in  zwei  kleinere,  in  eine  rechte  und  linke  abgeteilt.     Kntbehmngen. 
Krankheit  und  Alter  können  selbst  den  gewaltigsten  Bnistmuskel.  wie 
in  Fig.  110,  vollkommen  zerstören,  so  daß  die  Rippen  zu  zählen  sind. 
Freilich  sind  dann  ebenfalls  noch  Flächen  zu  sehen,  aber  sie  zeigen 
eben   nur   die  Rippen,    welche   in   ihrer  Kahlheit  die  Erinnerung  an 
des  Lebens  Notdurft  hervorrufen.     Diese  beiden  Brustflächen  sind  in 
verschieden  starkem  Grade  entwickelt  in  den  Fig.  110  und  111  wohl 
zu  erkennen. 

Die  Brustwarzen  samt  dem  Warzenhofe  bilden  etwas  nach 
außen  gerichtete  Kugelsegmente,  deren  Spitzen  mit  dem  unteren  Band 
der  vierten  Rippe  zusammenfallen.  Sie  liegen  10 — 12  cm  von  der 
Mittellinie  des  Brustbeines  entfernt. 

Die  Haut  ist  in  der  Mittellinie  dünn  und  über  dem  Brustbein 
wenig  verschiebbar,  seitwärts  wird  sie  dicker  und  läßt  sich  in  Falten 
aufheben.  Das  Unterhaut-Bindegewebe  zeichnet  sich  auf  der  Vorder- 
fläche der  Brust,  besonders  aber  um  die  Brustdrüsen  herum,  durch 


Unikeln  da  Rnmpfti.  361 

ansehnlidien  Fettgehalt  aus,  welcher  jedoch  auf  dem  Bmetbein  fast 
Tollkommen  fehlt. 

Die  seitliche  Bruatregion  hat  als  vorderea  Rand  den  Bmst- 
maskel  (Fig.  111  t)r  geht  nach  anfirärts  in  die  Achsetgrube  und  nach 
unten  in  die  Weichen  allmählich  und  ohne  bestimmte  Grenze  Über. 

Die  Rückenfläche  der  Brust  ist  durch  die  von  Muskeln  be- 
deckten Schulterblätter  ausgezeichnet,  welche  durch  ihre  verschiedenen 
Stellungen  die  Formen  des  BUckens  abwechdungsreich  gestalten. 


1  Eiid«d.Bnutkorbei. 

2  Falte  cwi•cbenBnu^ 

korb  und  Kabel. 

3  Falte,  welche  mitder 

dritten  ZwiMhen* 
aehne  de«  gerades 
Bauchmnikels   in 
ZnBammenhoDg 
iteht. 


Fig  111      Die  Vcrder    und  Siitenäachon  der  Bnut. 
Skuze  nach  emom  Knpferstidi  von  Habc  Antoh. 

Die  oben  erwähnten  Flächen  der  Brust  sind  nicht  anatomischen 
Einteilungsgrundsätzen,  soodem  dem  thatHächUchen  Bau  des  knöchernen 
Brustkorbes  und  seiner  durch  die  Muskeln  bedeckten  Teile  entnommen. 
Je  Tolleodeter  der  männliche  Organismus  geformt,  nm  so  schärfer  ist 
die  Qliederong  der  Brust  in  große  Hauptflächen.  Alle  Kunstwerke, 
von  der  Antike  bis  herauf  zu  uns  haben  diese  Thatsache  erkannt  und 
dat^estellt. 

Die  Muskulatur  der  Brust  liegt  in  mehreren  Schichten  überein- 
ander.   Die  tiefsten  Schichten  Rind  ausschließlich  dem  Brustkorbe 


362  NeunterAbschnitt. 

eigen  und  füllen  die  Spalträume  zwischen  den  einzelnen  Rippen  aas; 
sie  heißen  Muskeln  des  Thorax.  Die  obertiächlichen  Schichten  ver- 
lassen  den  Brustkorb,  und  setzen  sich  an  den  oberen  Glied- 
maßen fest;  sie  heißen  deshalb  auch  Gliedmaßenmuskeln.  Die 
meisten  derselben  sind  große  mächtige  Fleischmassen,  welche  in  erster 
Linie  für  die  weitausgreifenden  Bewegungen  des  Armes  dienen.  E^ 
ist  dabei  gleichgültig,  ob  sie  sich  direkt  an  dem  Arm  befestigen,  oder 
an  einem  Abschnitt  des  Schultergürtels,  sei  es  des  Schulterblattes  oder 
des  Schlüsselbeines. 

Die  oberflächliche  Muskellage  wird  von  einer  Fascie  bedeckt,  der 
Brustfascie,  welche  von  dem  Unterleib  heraufkommt  und  in  iu 
oberflächliche  Blatt  der  Halsfascie  übergeht. 

1)  Gliedmafsenmnskeln  der  Brust. 

Der  große  Brustmuskel  (31,  pectoralis  major ^  Fig.  112)  be- 
deckt den  größten  Teil  der  Vorderfläche  der  Brust.  Er  entspringt  Tom 
Schlüsselbein  (Fig.  112  Nr.  2),  von  der  ganzen  Vorderfläche  des  Brust- 
beines herab  bis  zu  dem  Ansatz  des  sechsten  Rippenknorpels.  Je  näher 
seine  Ursprungsbündel  gegen  diese  Rippenknorpel  gelangen,  desto 
weiter  entfernen  sie  sich  von  der  Mittellinie  des  Brustbeines.  Unter- 
halb der  sechsten  Rippe  gesellt  sich  noch  eine  platte  Ursprungszacke 
(Fig.  112  bei  *),  von  der  Aponeurose  des  äußeren  schiefen  Bauchmuskels 
her,  zu  ihnen. 

Alle  diese  Ursprungspartien  ziehen  zu  dem  Oberarmknochen,  und 
befestigen  sich  mit  einer  platten  Sehne  an  der  scharfen  Knochenleiste. 
welche  von  dem  großen  Höcker  des  Oberarmknochens  herabkommt 
Die  Hauptmasse  der  Ansatzsehne  wird  von  dem  Deltamuskel  über- 
lagert. Der  übrige  Teil  des  Muskels  ist  nur  von  der  Haut  und  der 
Fascie  bedeckt.  Wirkung:  Der  Muskel  zieht  den  Arm  an  den  Körper 
heran,  wobei  er  sich  verdickt.  Bei  aufgehobenem  Arm  ist  er  gedehnt 
und  verlängert,  also  auch  dünner  im  Vergleich  zu  der  Dicke,  die  er 
bei  der  ruhigen  Haltung  der  oberen  Gliedmaßen  besitzt. 

Von  dem  Deltamuskel  wird  der  große  Brustmuskel  durch  eine 
dreieckige,  oben  breite,  unten  spitzig  verlaufende  Spalte  geschieden 
(Fig.  112  bei  Nr.  5,  in  Fig.  109  Nr.  3  sehr  stark  dargestellt),  in  wel- 
cher Fett  und  eine  Vene  liegt.  Diese  Vene,  das  obere  Ende  der 
Kopfvene  des  Armes,  schimmert  b/si  Frauen  bisweilen  durch  die 
zarte  Haut  bläulich  hindurch.  Die  Spalte  verwandelt  sich  durch  die 
darüber  hinziehende  Haut  und  Fascie  in  eine  kleine  dreieckige  Grube, 
die  Unterschlüsselbeingrube,  welche  bei  verschiedenen  Stellungen 


Mtuktla  des  Rumpfea. 


Fig.  112.     Der  groBc  BrUHtiiiuskcl  auf  den  Torao  il<«  ßorgheeischpa  Fechters 
gezeichnet 

7.  Gerader  Bauchmnikel. 
S.  Vordere    Begrenzungillnie    des    in  Heren 
•chiefeD  Bmuchmuikels. 

4.  DelbUDOikcl.  *   Di«  von  der  Scheide  des  geraden  Bauch- 

5.  Untenehlünelbdngmbe.  mnikela  entapringende  Zack«  de«  BroM- 

6.  Spalt  i«.  Bmitbein-  u.  Schlünelbrinporl.  mnskeli. 


364  Neunter  Abschnitt. 

des  Armes   an   Deutlichkeit   ab-  und   zunimmt.      Michelakoelo  bt 
sie  in  der  Skizze  Fig.  HO  bei  Nr.  2  scharf  markiert. 

Eine  ähnliche  dreieckige  aber  weniger  tiefe  Furche  findet  dck 
zwischen  dem  Schlüsselbeinursprnng  des  Muskels  und  dem  Brustbein- 
urspning  desselben  (Fig.  112  Nr.  6),  Dennoch  kann  man  auch  die« 
Trennungsstelle  der  Ursprungsportionen  wohl  erkennen,  und  so  findet 
wir  denn  auch  die  Furche  in  den  Figuren  110  und  111   angedeut^ 

Der   große  Brustmuskel   bildet   vorzugsweise   die    vordere  Wand 
der  Achselhöhle,  was  am  besten  bei  aufgehobenem  Arm  zu  sehen  i^. 
Der  seitliche,  zur  Achselhöhle  aufsteigende  Band  ist  dick^  er  läßt  sid 
am  Lebenden  umgreifen  und  von  seiner  Unterlage  abziehen,  denn  er 
ist  nur  durch,  lockeres  Bindegewebe  mit  ihr  verbunden,   wie  sich  ja 
überhaupt  die  Muskeln  auf  ihrer  Unterlage  verschieben   und  sich  Ton 
ihr    entfernen.      Bei    bestimmten   Bewegungen   hebt    sich    der  groBe 
Brustmuskel  von  der  knöchernen  Wand  des  Brustkorbes  sogar  sehr 
beträchtlich  ab,  z.  B.  bei  dem  Vorstrecken  des  Armes.    Dabei  wandert 
die  Achselhöhle  ebenfalls  mehr  nach  vom,  denn  mit  dem  vorgestreckten 
Arme  rückt  auch  das  Schulterblatt,  das  die  hintere  Wand  der  Achsel- 
höhle  bildet,   in   eine   andere  Stellung.     Bei  kräftigen  Männern  ver- 
dickt sich  der  seitlich  zur  Achselhöhle  aufsteigende  Band  unmittelbar 
vor  dem  Übergang  in  die  Sehne.    In  der  Fig.  110  ist  diese  Stelle  fast 
übermäßig  ausgeprägt.    Diese  Anschwellung  kann  so  beträchtlich  sein, 
daß    sie   den  Anschein    einer   krankhaften   Verdickung    innerhalb  der 
Fleischmasse  vortäuscht.    Die  Anschwellung  rührt  davon  her,  daß  die 
von  der  Brust  herkommenden  Fleischfasern  sich  an  dieser  Stelle  zu- 
sammendrängen;   es  staut  sich   gleichsam  die  Flut    aller   Fasern  an 
dieser    einzigen    Stelle,    um    gleichzeitig    in   die    Ansatzsehne    über- 
zugehen. 

Der  seitliche  zur  Achselhöhle  aufsteigende  Muskelrand  ist  nicht 
gerade,  sondern  leicht  gebogen,  denn  die  von  dem  Brustbeinende,  von  dem 
sechsten  Rippenknorpel  und  der  Aponeurose  des  äußeren  schiefen  Bauch- 
muskels aufsteigenden  Muskelbündel  schieben  sich  unter  die  von  der 
Mitte  des  Binistbeines  kommenden  hinein.  Die  von  der  Aponeurose 
des  äußeren  schiefen  Bauchmuskels  aufsteigende  Muskelzacke  ist  sehr 
dünn  und  wird  überdies  von  starken  bogenfönnig  verlaufenden  Strängen 
der  Brustfascie  so  fest  an  die  Vorderfläche  des  siebenten  und  achten 
Rippenknorpels  angedrückt,  daß  diese  Ursprungszacke  durch  die  Hant 
hindurch  nicht  erkennbar  ist.  Deshalb  Jiaben  weder  antike  noch  moderne 
Künstler  auf  diesem  Teil  des  Muskels  Rücksicht  genommen,  sondern 
die  vordere  Begrenzungslinie  des  großen  Brustmuskels  bogenförmig  in 
die  seitliche  übergeführt.    (Siehe  die  Figuren  110  und  111.)     Der  An- 


llmkeln  dei  Rmcpte.  366 

tktz  des  großen  BrustmuakeU  wird  erst  nach  Entfernung  des  Delta- 
muskels sichtbar. 

Von  d«r  Sehne  du  Bnutmiukels,  die  eine  6  cm  breite,  doppelt  geachicbtete 
Putte  dantellt  (Fig.  112  Nr.aJ,   ist  imter  natürlichen  UmsUnden  nur  ein  kleines 


f  SchnlterblBlt-ZuDgeiilKliiiiiuakel 

Akmmion  7 


SchlÜMBlbcin. 

Aufli.d.SdiQltbl. 


Fig.  118.    Der  vordere  Sagemuakel  auf  den  Totbo  de«  Borgheiiachen  Fechters 

gaeMhnet.     Das  SchlUBselhdn  ist  durchgeschnitten  ond  dos  Bchulterblatt  nach  der 

Seile  abgezogen  dargestellt 


dreieckiges  Feld  sichtbar,  das  durch  seine  vertiefte  Lage  auf&Ut,  namentlich  dann, 
wenn  der  Muskel  in  Thätigkeit  venetzt  wird,  der  gestreckte  Arm  a.  B.  irgend  eine 
LAst  gegen  den  Körper  heranzieht.  Da  lAfit  sich  auch  der  acharf  gespannte  Band 
der  Sehne  fühlen  und  umgreifen. 

Der  kleine  Brustmuskel  (M.  peetoralU  minor,  Fig.  73  Nr.?)  ent- 
springt mit  drei  dünnen  Sehnen  an  der  dritten,  vierten  und  Itlnften 
Rippe.     Die   an    diese  Sehnen    sich  anschließenden  Muskelportionen 


366  Neunter  Abschnitt 

stellen,  je  höher  sie  steigen,  desto  mehr  einen  gemeinsamen  Mnskd* 
bauch  her,  der  sich  mit  einer  kurzen  Endsehne  an  dem  Hackenfortiats 
des  Schulterblattes  befestigt.  Wirkung:  Zieht  das  Schulterblatt  aod 
damit  den  Schultergürtel  herab.  Der  kleine  Brustmuskel  wird  ?6b 
dem  großen  bedeckt.  Nur  bei  aufgehobenem  Arm  und  bei  dOimer 
Haut  kommt  der  äußere  Rand  des  kleinen  Brustmuskels  ab  ein 
schmaler  Streifen  zum  Vorschein. 

Der  kleine  Brustmuskel  heißt  auch  der  kleine  vordere  SägemaBkeL 
Häufig  empfängt  er  eine  Zacke  von  der  sechsten  Kippe,  zuweilen  auch  noch  TOi 
der  zweiten. 

Der  Schlüsselbeinmuskel  (il£  ^^cfartW^ liegt  verborgen  zwiscbea 
Schlüsselbein  und  erster  Bippe. 

Der  vordere  Sägemuskel  (M.  serratus  anticug,  Fig.  113)  am- 
greift  die  Seitenwand  der  Brust  und  entspringt  mit  neun  Zacken  von 
der  ersten  bis  zur  achten  Rippe.  Die  auffallende  Art  seines  Ursprunges 
verhalf  ihm  zu  seinem  Namen.  Die  oberen  Zacken  sind  von  doii 
großen  und  kleinen  Brust muskel  bedeckt,  nur  die  unteren  sind  frei 
und  durch  die  Haut  hindurch  sichtbar. 

Aus  den  Urspi-ungszacken  formt  sich  ein  platter  Muskelbauch. 
der  unter  dem  Schulterblatt  nach  hinten  zieht,  um  sich  an  den  inneren 
Band  des  Schulterblattes  anzusetzen.  Um  den  Muskel  in  seinem 
ganzen  Verlauf  übersehen  zu  können,  muß  der  große  und  kleine  Bnist- 
muskel  entfernt  und  das  Schlüsselbein  durchschnitten  werden,  damit 
der  Arm  weit  genug  von  dem  Rumpf  entfernt  werden  kann.  Auf  der 
Brust  des  Borghesi scheu  Fechters  ist  in  Fig.  113  der  Muskel  so 
dargestellt,  wie  er  nach  Abnahme  der  bedeckenden  Schichten  und  nach 
Dui'chschneidung  des  Schlüsselbeines  an  einer  in  ähnlicher  Stellung 
befindlichen  Leiche  zum  Vorschein  kommen  würde.  Die  Zacken  werden 
von  oben  nach  unten  gezählt.  Die  erste  Zacke  entspringt  von  der 
ersten  Kippe,  die  zweite  Zacke  von  der  zweiten  und  einem  zwischen 
der  ersten  und  zweiten  Rippe  ausgespannten  Sehnenbogen.  Die  dritte 
Zacke  entspringt  ebenfalls  von  der  zweiten  Rippe;  diese  drei  Zacken 
bilden  di^  obere  Portion  des  Muskels  (Fig.  113  Nr.  l).  Die  vierte  Zacke 
kommt  von  der  dritten  Rippe  und  so  fort,  bis  die  neunte  Zacke 
(Fig.  113  Nr.  2')  die  achte  Rippe  erreicht  hat. 

Für  das  Verständnis  der  Formen  des  Muskels  verdienen  folgende 
Punkte  besondere  Beachtung: 

1)  Von  der  sechsten  Rippe  an  nehmen  die  Zacken  mehr  und  mehr 
an  Umfang  ab.  Die  von  der  sechsten  Rippe  kommende  Zacke  ist 
nach  der  ebenerwähnten  Zählungsart  die  siebente  in  der  Reihe;  unter 
ihi'  liegen  also  noch  zwei ;  die  neunte  Zacke  ist  unter  allen  sichtbaren 
Zacken  die  kleinste. 


Muskeln  des  Rampfes.  367 

2)  Die  Zacken  liegen  nicht  in  einer  geraden ,  sondern  in  einer 
Bogenlinie.  Die  siebente  Zacke  ragt  am  weitesten  nach  vom,  die 
achte  und  neunte  ist  schon  ganz  an  die  Seitenlinie  des  Brustkorbes 
gerückt.  ^ 

Die  Fig.  114  ist  in  den  Text  gesetzt,  um  die  unteren  Zacken 
des  Sägemuskels  in  ihrem  Verhalten  zu  dem  seitlichen  Rand  des 
Bmstmuskels  und  dem  vorderen  Bande  des  breitesten  Rückenmuskels 
beurteilen  zu  können.  Durch  die  Linien  der  Nr.  ii  ist  die  siebente, 
achte  und  neunte  Zacke  kennbar  gemacht,  die  sechste  Zacke  ist  zur 
Hälfte  von  dem  großen  Brustmuskel  bedeckt. 

3)  Die  drei  unteren  Zacken,  die  siebente,  achte  und  neunte,  liegen 
an  dem  Thorax  tiefer  als  der  untere  Schulterblattwinkel  hinabreicht. 
Nachdem  sich  diese  Zacken  dicht  zusammengedrängt  an  dem 
unteren  Schulterblattwinkel  festsetzen,  müssen  sie,  um  dorthin  zu  ge- 
langen, in  die  Höhe  steigen.  Obwohl  sie  auf  dem  Wege  dorthin  von 
dem  breitesten  ßückenmuskel  bedeckt  werden,  so  ist  doch  der  ganze  Ver- 
lauf gegen  den  unteren  Schulterblattwinkel  als  eine  ansehnliche  Fläche 
zu  erkennen,  welche  den  breitesten  Rückenmuskel  herausdrängt.  Sehr 
klar  zu  sehen  bei  dem  Borghesischen  Fechter,  dem  Laokoon 
u.  a.  m. 

4)  Bei  aufgehobenem  Arm  ist  ein  größerer  Umfang  des  Säge- 
muskels sichtbar,  als  bei  dem  an  der  Seite  des  Körpers  herabhängen- 
den Arm,  In  dem  ersteren  Falle  steigt  der  seitliche  Rand  des  Brust- 
muskels wie  überhaupt  der  ganze  Muskel  in  die  Höhe,  der  vordere 
Rand  des  breitesten  Rückenmuskels  wird  bei  dem  Erheben  des  Annes 
gleichfalls  dünn  und  weicht  zurück,  und  dadurch  wird  die  sechste 
Zacke,  die  sonst  nur  halb  sichtbar  ist,  in  ihrem  ganzen  vorderen  Um- 
fange frei,  und  ebenso  ist  eine  größere  Strecke  der  letzten  (neunten) 
Zacke  bemerkbar. 

5)  Der  Ansatz  der  fieischreichen  unteren  Zacken  zeigt  am  Leben- 
den dicht  an  dem  Schulterblattwinkel  durch  die  Haut  und  den 
breitesten  Rückenmuskel  hindurch  ein  längliches  Grübchen.  Es  riihrt 
teilweise  davon  her,  daß  sich  dicht  aus  den  vereinigten  unteren  Zacken 
des  Sägemuskels  eine  sonst  untergeordnete  kurze  Sehne  entwickelt, 
wodurch  die  Masse  des  Fleisches  abnimmt,  und  der  Muskel  an  dieser 
Stelle  etwas  von  seinem  früheren  Umfang  verliert. 

Die  Wirkung  des  Muskels  besteht  in  einer  Vorwärtsbewegung  des 
Schulterblattes,  welche  hauptsächlich  an  dem  unteren  Winkel  stattfindet, 
der  vorzugsweise  nach  dieser  Richtung  beweglich  ist,  und  an  den  sich 
die  meisten  Bündel  des  Sägemuskels  befestigen.  Bei  dem  Aufheben 
des  Armes  unterstützt  der  Sägemuskel  dadurch  die  anderen  Aufheber 
in   einer   sehr   wirksamen   Weise,    daß   er   den   unteren   Winkel   des 


H                                   3(8                                                            HeauWl  Absrhnllt 

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^^^^H                         BrartmuBkel               ,-    ^_^L^  I-tf/Ajl 

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H _»i  Gr.  Eollhägd. 

^^^H                 Gerad.  ScbEDkeliD.  W- m^^^^^B^^M 

j^-V-t-^'*'*^ 

^^^H                                 Fig.  114.    Muskulatur  dcE>  Smi»m,^G 

..  der  Seite  gwehen. 

^^^H             Schulterblattes  nach  vorwärts   tUhii.     Bei 

dem  Aufheben  des  An 

^^^1             schwellea  deshalb  die  sichtbaj-en  Zacken  des  Sägemaskele  betrichtf^| 

^^^H,             an,  während  sie  bei  dem  Niedersinken  de 

Armes  sich  abflachen.    ^| 

MuBkeln  des  Rumpfes.  369 

Damit  der  Sägemuskcl  das  Schulterblatt  an  dem  Brustkorb  mit  Kraft  fixieren 
kann,  müssen  zunächst  die  Lungen  durch  Zurückhalten  des  Atoms  gefüllt  und  da- 
darch  die  Rippen  festgestellt  sein.  Das  ist  eine  unerläßliche  Bedingung  für  einen 
forderten  Grebrauch  der  Gliedmaßenmuskeln.  Hieraus  wird  es  erklärlich,  warum 
Lähmung  des  Sfigemuskels  die  Kraft  des  Armes  schwächt.  ^  Alle  bisher  erwähnten 
Muskeln  der  Brust  haben  bei  verstärkter  Einatmung  die  Bedeutung  von  In- 
spirationsmuskeln. Man  sieht  deshalb  Kinder,  welche  am  Keuchhusten  leiden, 
oder  Erwachsene,  welche  von  Atemnot  (Asthma)  heimgesucht  werden,  unwill- 
kürlich sich  mit  den  Armen  aufetemmen  oder  einen  festen  Körper  umklammem, 
um  den  Arm  samt  dem  Schulterblatt  zu  einem  fixen  Punkt  zu  machen,  damit  die 
Urepitbige  der  Muskeln  den  Brustkorb  erweitem  können,  indem  ihre  Zacken  das 
Brustbein  und  die  einzelnen  Rippen  in  die  Höhe  heben.  —  Der  Sägemuskel  be- 
sitst  bisweilen  eine  zehnte  Zacke,  welche  von  der  neunten  Rippe  entspringt  Sie 
liegt  dann  unter  dem  breitesten  Rfiekenmuskel  verborgen. 

2)  Muskeln  des  Thorax. 

Die  ausschließlich  dem  Thorax  zukommenden  Muskeln,  welche 
seine  Wandung  umgeben,  entspringen  teils  von  den  Querfortsätzen 
der  Wirbel,  teils  von  den  Rippen  selbst.  Zu  ihnen  gehören:  1)  Die 
Zwischenrippenmuskeln  (Mm.  intercostales) ,  eine  die  Zwischen- 
rippenräume einnehmende  Muskulatur  (siehe  die  Figur  11 3,  an  welcher 
die  von  dem  großen  Sägemuskel  nicht  bedeckte  Fläche  des  Thorax 
die  Zwischenrippenmuskeln  erkennen  läßt;  sie  liegen  in  zwei  Schichten 
übereinander).  —  2)  Die  Aufheber  der  Rippen  (Mm.  levatores 
castarum)  sind  platte,  von  den  Querfortsätzen  des  letzten  Halswirbels 
und  der  Brustwirbel  bis  zu  dem  letzten  Bnistwirbel  herab  entspringende 
kurze  Muskeln,  welche  wie  die  vorerwähnten  von  daraufliegenden  Fleisch- 
schichten bedeckt  sind. 

Zu  dem  System  der  Zwischenrippenmuskeln  gehören  noch  die  Querfortsutz- 
muskeln,  welche  in  dem  Bereich  der  Hals  Wirbelsäule  und  der  Lenden  Wirbelsäule 
vorkommen.  Alle  Muskeln  des  Thorax  im  engereJi  Sinne  liegen  so  tief,  daß  sie 
niemals  in  den  wechselnden  Formen  des  Körpers  eine  Rollo  spielen,  und  ihre  kurze 
Aufzählung  hier  genügt. 

III.   Muskeln  der  Bauehwand. 

Üie  fleischig-häutigen  Decken,  welche  die  großem  Lücke  am  Skelett 
zwischen  dem  unteren  Rande  des  Thorax  und  dem  oberen  Rande  des 
Beckens  ausfUllen,  werden  gemeinhin  als  Bauch  wand  bezeichnet.  Der 
von  der  Bauchwand  umgürtete  Raum  ist  die  Bauchhöhle,  welche  sich 
nach  abwärts  in  den  Raum  der  Beckenhöhle  fortsetzt.  Da  der  untere 
Rand  des  Thorax  mit  dem  oberen  Rande  des  Beckens  nicht  parallel 
läuft,  so  muß  die  Länge  der  weichen  Bauch  wand  an  verschiedenen 
Stellen  des  Bauches  eine  verschiedene  sein.  Zwischen  dem  Schwert- 
knorpel  und   der  Schamfuge   hat   die  Bauchwand   die  größte  Länge. 

KoiutAim,  Plastische  Axuitomle.  24 


Gerad.  BHuahm.  M 


Inn.  «Chief.  Bsuchtii.  U- 


TeDs.  Fudae   U— 


Gersd.  SF)i<!Dki'1iD.  M— 


^. S    BT.Räck>L-eM 

-  -      -  ~3     B».  H&dn.nJ 

t  i 

^- --o-— J 

^ _^U  Gl.  BaUlia«ri.1 

- 

— — — M    SchenkdÄ«*.  1 

Fig.  in.    Mnskulatiir  iJ.  s  'stomineB  vou  dor  Seite  gesehen. 

Schulterblattes  nach  vorwärts  führt.     Bei  dem  Aufheben   des   , 
schwellea  deshalb  die  sichtbaren  Zacken  des  Sügemuskels  beträchtli 
an,  während  sie  bei  dem  Niedersinken  des  Armes  sieb  abflacheu. 


MuBkeln  des  Rumpfes.  369 

Damit  der  Sägemuskel  das  Schulterblatt  an  dem  Brustkorb  mit  Kraft  fixieren 
kann,  müssen  zunächst  die  Lungen  durch  Zurückhalten  des  Atems  gefällt  und  da- 
durch die  Rippen  festgestellt  sein.  Das  ist  eine  unerläßliche  Bedingung  für  einen 
forcierten  Gebrauch  der  Gliedmaßenmuskeln.  Hieraus  wird  es  erklärlich ,  warum 
Lfthmung  des  Sägemuskels  die  Kraft  des  Armes  schwächt  ^  Alle  bisher  erwähnten 
Muskeln  der  Brust  haben  bei  verstärkter  Einatmung  die  Bedeutung  von  In- 
spirationsmuskeln.  Man  sieht  deshalb  Kinder,  welche  am  Keuchhusten  leiden, 
oder  Erwachsene,  welche  von  Atemnot  (Asthma)  heimgesucht  werden,  unwill- 
kürlich sich  mit  den  Armen  aufetemmen  oder  einen  festen  Körper  umklammern, 
um  den  Arm  samt  dem  Schulterblatt  zu  einem  fixen  Pimkt  zu  machen,  damit  die 
UraprÖBge  der  Muskeln  den  Brustkorb  erweitem  können,  indem  ihre  Zacken  das 
Brustbein  und  die  einzelnen  Rippen  in  die  Höhe  heben.  —  Der  Sägemuskel  be- 
ntst  bisweilen  eine  zehnte  Zacke,  welche  von  der  neunten  Rippe  entspringt  Sie 
li^  dann  unter  dem  breitesten  Rückenmuskel  verborgen. 

2)  Muskeln  des  Thorax. 

Die  ausschließlich  dem  Thorax  zukommenden  Muskeln,  welche 
seine  Wandung  umgeben,  entspringen  teils  von  den  Querfortsätzen 
der  Wirbel,  teils  von  den  Rippen  selbst.  Zix  ihnen  gehören:  1)  Die 
Zwischenrippenmuskeln  (Mm.  intercostales) ,  eine  die  Zwischen- 
rippenräume einnehmende  Muskulatur  (siehe  die  Figur  11 8,  an  welcher 
die  von  dem  großen  Sägemuskel  nicht  bedeckte  Fläche  des  Thorax 
die  Zwischenrippenmuskeln  erkennen  läßt;  sie  liegen  in  zwei  Schichten 
übereinander).  —  2)  Die  Aufheber  der  Rippen  (Mm,  levatores 
coMtarum)  sind  platte,  von  den  Querfortsätzen  des  letzten  Halswirbels 
und  der  Brustwirbel  bis  zu  dem  letzten  Brustwirbel  herab  entspringende 
kurze  Muskeln,  welche  wie  die  vorerwähnten  von  daraufliegenden  Fleisch- 
schichten bedeckt  sind. 

Zu  dem  System  der  Zwischenrippenmuskeln  gehören  noch  die  Querfortsutz- 
muskeln,  welche  in  dem  Bereich  der  Halswirbelsäule  und  der  Lendenwirbelsäulc 
vorkommen.  Alle  Muskeln  des  Thorax  im  engeren  Sinne  liegen  so  tief,  daß  sie 
niemals  in  den  wechselnden  Formen  des  Körpers  eine  Rolle  spielen,  und  ihre  kurze 
Anzahlung  hier  genügt 

III.   Muskeln  der  Bauehwand. 

Üie  fleischig-häutigen  Decken,  welche  die  große  Lücke  am  Skelett 
zwischen  dem  unteren  Rande  des  Thorax  und  dem  oberen  Rande  des 
Beckens  ausfUllen,  werden  gemeinhin  als  Bauchwand  bezeichnet.  Der 
Yon  der  Bauchwand  umgürtete  Raum  ist  die  Bauchhöhle,  welche  sich 
nach  abwärts  in  den  Raum  der  Beckenhöhle  fortsetzt.  Da  der  untere 
Rand  des  Thorax  mit  dem  oberen  Rande  des  Beckens  nicht  parallel 
läuft,  so  muß  die  Länge  der  weichen  Bauchwand  an  verschiedenen 
Stellen  des  Bauches  eine  verschiedene  sein.  Zwischen  dem  Schwert- 
knorpel  und    der  Schamfuge   hat   die  Bauchwand   die  größte  Länge, 

KoiuiAini,  PlMtische  Axuitomie.  24 


^^                              3gg                                                     Neunler  Abfobnitl. 

H 

H^-^  VII.  Halnririiil      ^H 

H|§-IS    D«lUiD«ik<L 

V                               Gerad.  Bauchm.  15  ^    j 

-9    Br.  RD.dUi..|ln^ 

Zickn. 

^^^^              Inn.  schief.  Banehiu.   tt— ^ 

t             U  UiltiGtrtllmi 

^^^^^H                       TcDB.  Fnsdae       — 

tfnsfculfttur  de^.  Stiimiiiea  von 

h  vorwärts   führt.     Bei  d 
iK  sichtbaren  Zacken  des 
1  dem  Niedeismken  des  I 

— ~»  Gr.  KoOIMfrf. 

^^^^1                Gmd.  8cb«ak«liu.  U— 

^^^1             Scliulterblattes  nac 
^^^^H              Bchwellen  deshalb 
^^^^1             au,  während  sie  he 

der  Sdte  gesehen. 

Bin  Aufheben   des   Ar 
SägemuskeU  betrftokl 
Vrmes  sioti  abfll^^^H 

MuBkeln  des  Rumpfes.  369 

Damit  der  Sägemuskcl  das  Schulterblatt  an  dem  Brustkorb  mit  Kraft  fmeren 
kann,  müssen  zunächst  die  Lungen  durch  Zurückhalten  des  Atems  gefüllt  und  da- 
durch die  Rippen  festgestellt  sein.  Das  ist  eine  unerläßliche  Bedingung  für  einen 
forderten  Grebrauch  der  Gliedmaßenmuskeln.  Hieraus  wird  es  erklärlich,  warum 
lÜhmung  des  Sfigemuskels  die  Kraft  des  Armes  schwächt  —  Alle  bisher  erwähnten 
Muskeln  der  Brust  haben  bei  verstärkter  Einatmung  die  Bedeutung  von  In- 
spirationsmuskeln. Man  sieht  deshalb  Kinder,  welche  am  Keuchhusten  leiden, 
oder  Erwachsene,  welche  von  Atemnot  (Asthma)  heimgesucht  werden,  unwill- 
kürlich sich  mit  den  Armen  aufetemmen  oder  einen  festen  Körper  umklammem, 
um  den  Arm  samt  dem  Schulterblatt  zu  einem  fixen  Punkt  zu  machen,  damit  die 
Urepitbige  der  Muskeln  den  Brustkorb  erweitem  können,  indem  ihre  Zacken  das 
Brustbein  und  die  einzelnen  Rippen  in  die  Höhe  heben.  —  Der  Sägemuskel  be- 
ritst  bisweilen  eine  zehnte  Zacke,  welche  von  der  neunten  Rippe  entspringt  Sie 
liegt  dann  unter  dem  breitesten  Rückenmuskel  verborgen. 

2)  Muskeln  des  Thorax. 

Die  ausschließlich  dem  Thorax  zukommenden  Muskeln,  welche 
seine  Wandung  umgeben,  entspringen  teils  von  den  Querfortsätzen 
der  Wirbel,  teils  von  den  Rippen  selbst.  Zu  ihnen  gehören:  1)  Die 
Zwischenrippenmuskeln  (Mm,  intercostales) ,  eine  die  Zwischen- 
rippenräume einnehmende  Muskulatur  (siehe  die  Figur  113,  an  welcher 
die  von  dem  großen  Sägemuskel  nicht  bedeckte  Fläche  des  Thorax 
die  Zwischenrippenmuskeln  erkennen  läßt;  sie  liegen  in  zwei  Schichten 
übereinander).  —  2)  Die  Aufheber  der  Rippen  (Mm.  levatores 
costarum)  sind  platte,  von  den  Querfortsätzen  des  letzten  Halswirbels 
und  der  Brustwirbel  bis  zu  dem  letzten  Brustwirbel  herab  entspringende 
kurze  Muskeln,  welche  wie  die  vorerwähnten  von  daraufliegenden  Fleisch- 
schichten bedeckt  sind. 

Zu  dem  System  der  Zwischenrippenmuskeln  gehören  noch  die  Querfortsatz- 
muskeln,  welche  in  dem  Bereich  der  Halswirbelsäule  und  der  Lendenwirbelsttule 
vorkommen.  Alle  Muskeln  des  Thorax  im  engercji  Sinne  liegen  so  tief,  daß  sie 
niemals  in  den  wechselnden  Fonnen  des  Körpers  eine  Rolle  spielen,  und  ihre  kurze 
Aufieählung  hier  genügt 

III.   Muskeln  der  Bauehwand. 

Öie  fleischig-häutigen  Decken,  welche  die  große  Lücke  am  Skelett 
zwischen  dem  unteren  Rande  des  Thorax  und  dem  oberen  Rande  des 
Beckens  ausfUllen,  werden  gemeinhin  als  Bauchwand  bezeichnet.  Der 
von  der  Bauchwand  umgürtete  Raum  ist  die  Bauchhöhle,  welche  sich 
nach  abwärts  in  den  Raum  der  Beckenhöhle  fortsetzt.  Da  der  untere 
Rand  des  Thorax  mit  dem  oberen  Rande  des  Beckens  nicht  parallel 
läuft,  so  muß  die  Länge  der  weichen  Bauchwand  an  verschiedenen 
Stellen  des  Bauches  eine  verschiedene  sein.  Zwischen  dem  Schwert- 
knorpel  und    der  Schamfuge   hat   die  Bauchwand   die  größte  Länge. 

KoiÄMAXV,  PlMtische  Axuitomle.  24 


374  Neunter  Abechnitt. 

mehr  erkennbar  sind.  Die  Übergangslinie  der  Maskelbündel  in  die 
Sehne  erscheint  also  in  dem  unteren  Abschnitt  der  Maskelplatte  gerade 
und  zwar  erstreckt  sich  diese  gerade  Linie  von  der  fünften  Zacke  u 
(von  der  Höhe  des  oberen  Randes  der  achten  Rippe)  bis  zu  dem  idr- 
deren  oberen  Darmbeinstachel  (vergl.  die  Fig.  116  bei  Nr.  8).  Je 
weiter  nach  abwärts,  desto  stärker  wird  der  Unterschied 
zwischen  dem  Relief  der  Fleischplatte  und  der  Sehne,  and 
der  Niveauunterschied  ist  am  stäi'ksten  dort,  wo  die  Mnskelb&ndel 
eine  stumpfe  Ecke  bildend  vorspringen  (etwas  nach  amfwftrU  von  den 
vorderen  oberen  Darmbeinstachel,  Fig.  115  Nr.  ii). 

Das  Leistenband  oder  Poupart'sche  Band  (Fig.  115  Kr.iS) 
hat  drei  Befestigungen  an  dem  Hüftbein:  1)  An  dem  vorderen  obem 
Darmbeinstachel,  2)  am  Beginn  des  horizontal  laufenden  Schambein- 
astes,  also  in  der  Umgebung  des  Schenkelpfannenrandes,  und  3)  in  der 
Nähe  der  Schamfuge.  Auf  dieser  dreifachen  Befestigung  beruht  die 
geringe  Verschiebbarkeit  des  Leistenbandes  und  die  geschwungene  Ait 
seines  Verlaufes.  Der  geschwungene  Verlauf  (Fig.  116  Nr.  lO)  tritt 
freilich  nur  an  dem  anatomischen  Präparat  in  ganzer  Schärfe  henror 
und  wird  durch  die  Haut  etwas  abgeschwächt,  aber  niemals  stellt  du 
Leistenband  jene  steile  und  gestreckte  Linie  dar,  welche  so  viele  Sta- 
tuen aus  der  Augusteischen  Periode  aufweisen. 

Drei  Centimet^r  von  der  Schamfiige  entfernt  befindet  sich  in  der  Aponenrur 
des  äuBeren  schiefen  Bauchmuskels  eine  dreieckige  schräge  nach  aufien  and  obrn 
geschlitzte  Öffnung,  der  Leistenring.  Er  ist  die  äußere  Öffiiung  eines  Kaialnv. 
der  die  ganze  Dicke  der  Bauchwand  schief  durchsetzt,  um  nach  eineni  Verlanfe  T«iii 
4  cm  in  die  Bauchhöhle  einzumünden.  Durch  den  Leistenkanal  tritt  bri  dm 
Männern  der  Samenstrang,  hei  den  Weihern  das  runde  Gebärmutterband  aus  di^ 
Bauchhöhle  hervor. 

Zwischen  der  achten  (untersten)  Zacke  des  äußeren  schiefen  Bauehmuskels  und 
dem  breitesten  Kückenmuskel,  in  dem  Raum  zwischen  der  letzten  Rippe  und  dem 
Hüftbeinkamm,  zeigt  sich  eine  kleine  Lücke,  an  welcher  man  nach  der  Wegnahme 
der  Haut  sofort  auf  eine  tiefere  Schichte  der  Bauchwand  gelangt,  w^elehe  von  den 
inneren  scliiefen  Bauchmuskel  gebildet  wird.  Diese  Lücke  ist  länglich  und  bei  ver- 
schiedenen Männern  verschieden  groß.  Diese  Lücke  hilft  zur  Modellierung  der 
Lendengegend,  welche  später  besprochen  werden  soll,  denn  die  Spalte  zwischen  den 
beiden  Muskeln  bedingt  elTie  leichte  Einseukung  der  Hant  An  dieser  Stelle  driii^ 
die  Chirurgie  in  die  Bauchhöhle  ein,  um  die  kranke  Niere  zu  operieren  oder  gir 
zu  entfernen. 

Der  innere  schiefe  3auchmuske\  (iW.obliquusabdUnmnismiermiSf 
Fig.  115  Nr.  15)  ist  von  dem  äußeren  schiefen  Bauchmuskel  vollständig 
bedeckt.  Das  Interesse  der  plastischen  Anatomie  ist  deshalb  an  diesem 
tiefliegenden  Muskel  nicht  sehr  groß,  dennoch  verdienen  einige  That- 
sachen  Erwähnung.  Der  Ursprung  findet  von  dem  vorderen  oberen 
DaiTubeinstachel  und  der  zuuäclist  liegenden  Partie  des  Leistenbandes 


MoBkeln  des  Rampfes.  375 

statt,  und  femer  von  der  mittleren  Lefze  des  Hüftbeiukammes  (Fig.  115). 
Der  Verlauf  der  ansehnlichen  Muskelplatte  ist  in  ihrem  hinteren 
Abschnitt  direkt  nach  aufwärts  gegen  den  Brustkorb  gerichtet;  die 
Muskelbündel  des  mittleren  Abschnittes  ziehen  fächerförmig  nach 
innen  und  oben  zur  vorderen  Bauch  wand,  die  untersten,  welche  von 
dem  Leistenband  entspringen,  senken  sich  gegen  den  Leistenring  hin. 
Der  Ansatz  erfolgt,  entsprechend  dem  radienf5rmig  sio*h  ausbreitenden 
Verlauf,  an  verschiedenen  Stellen:  1)  an  den  drei  letzten  Rippen,  2)  im 
Bereich  der  weiBen  Bauchlinie  und  zwar  dadurch,  dafi  die  noch  übrige 
Muskelplatte  in  eine  breite  Sehne  übergeht,  noch  ehe  sie  den  äußeren 
Rand  des  geraden  Bauchmuskels  erreicht.  Diese  breite  Sehne  oder 
Aponeurose  zieht  mit  dem  größten  Teil  ihrer  Fasern  über  die  Vorder- 
fläche des  geraden  Bauchmuskels  hinweg  und  verwebt  sich  in  der 
weißen  Bauchlinie  mit  der  Sehne  der  gegenüberliegenden  Körperseite. 

Bei  diesem  Verlauf  erreicht  die  Sehne  auch  das  vordere  £nde  des  Brustkorbes, 
und  wo^  dieses  der  Fall  ist,  verwachsen  ihre  Fasern  mit  dem  Überzug  der  Rippen- 
knorpel. Diejenigen  Abteilungen  der  Sehne,  welche  dicht  an  dem  Leistenband  ver- 
laufen, verweben  ihre  Fasern  mit  denjenigen  dieses  Bandes.  Von  den  dort  herab- 
ziebenden  Muskelbilndeln  brechen  einige  aus  der  den  übrigen  angewiesenen  Bahn 
ans  und  folgen  dem  Samenstrang,  schlingenförmig  denselben  samt  dem  Hoden  um- 
greifend. Diese  Muskelschlingen  gelangen,  eng  dem  Samenstrang  anliegend,  bis  in 
den  Hodensack,  und  stellen  in  ihrer  Gesamtheit  den  Hebemuskel  des  Hodens 
(Musculus  cremasler)  dar.  Durch  die  Zusammenziehung  dieses  Hcbemuskels,  die 
regelmäßig  unter  dem  Einfluß  der  Kälte  (z.  B.  beim  Baden)  erfolgt,  wird  der  Hode 
bis  an  das  Leistenband  in  die  Höhe  gehoben.  —  Aus  der  Fig.  115  ist  ersichtlich,  daß 
die  Fleischbündel  des  inneren  schiefen  Bauchmuskels  nicht  alle  gleich  weit  gegen 
die  Mittellinie  des  Körpers  vordringen.  Diejenigen,  welche  von  dem  vorderen 
oberen  Darmbeinstachel  entspringen,  sind  die  kürzesten,  die  übrigen  länger,  steigen 
allmählich  höher  herab  und  höher  hinauf,  doch  bleiben  die  Flcischbüudel  von  dem 
geraden  Bauchmuskel  stets  etwas  entfernt  und  lassen  für  die  Entstehung  dor 
breiten  Sehne  dadurch  freien  Spielraum. 

An  der  Figur  115  ist  der  äußere  schiefe  Bauchmuskel  der  linken 
Seite  abgetragen,  jedoch  die  Hautlinie  angegeben,  welche  im  Leben 
den  Kontur  der  Weichen  bedingt.  Der  Abstand  dieser  in  der  Figur 
gezeichneten  Hautlinie  von  der  Fläche  des  inneren  schiefen  Bauch- 
muskels (bei  Nr.  19),  entspricht  der  Dicke  der  Fleischschichte  des  äußeren 
schiefen  Bauchmuskels,  wenn  der  Rumpf,  wie  bei  dem  Stehen  auf  einem 
Bein,  etwas  in  dem  Lendenteil  seitlich  zusammensinkt. 

Der  quere  Bauchmuskel  (M,  transversus  ahdominü)  ist  der 
hinterste  dieser  dreifach  übereinander  liegenden  Schichte.  Er  ent- 
springt von  der  inneren  Fläche  der  Knorpel  der  sechs  unteren  Rippen, 
von  den  Querfortsätzen  der  Lendenwirbel  und  von  dem  inneren  Rjind 
des  Darmbeinkammes.  Seine  Fasern  haben  eine  horizontale  Richtung 
und  die  aus  ihnen  hervorgehende  breite  platte  Sehne  trifft,  indem  sie 


376  Neunter  Abadmltt. 

hinter  dem  geraden  Bauchmuskel  zur  weifien  Linie   zieht ^  mit  der- 
jenigen des  queren  Bauchmuskels  der  anderen  Seite  zusammen. 

Gerade  Bauchmuskeln. 

Die  geraden  Bauchmuskeln   (Mm.  recti  ahd&minis)  sind  ivä 
kräftige  Muskeln,  welche  dicht  neben  einander  zu  beiden  Seiten  der 
weißen  Linie    sich  befinden.     An  der  Fig.  115  Nr.  12  ist   der  reche 
noch  bedeckt  von  der  Sehne  des  äußeren  schiefen  Bauchmuskeh  dv- 
gestellt,  an  dem  linken  ist  diese  Sehne  abgetragen  so,  daß  sein  g&iuer 
Verlauf  zu  übersehen  ist.    Jeder  Muskel   entspringt  mit   drei  gesoB- 
derten  fleischigen  Zacken  von  der  vorderen  Fläche  des  fttüfben,  sechsten 
und  siebenten  Rippenknorpels.  Seichte  Furchen  am  Anfang  des  Maskel« 
deuten  den  getrennten  Ursprung  an  (Fig.  115  Nr.  16). 

Der  Muskelbauch  wird  vom  Ursprung  bis  zum  Rand  des  Brust- 
korbes etwas  schmäler,  steigt  dann  in  unveränderter  Breite  bis  xor 
Gegend  des  Nabels  herab,  und  nimmt  von  da  an  gegen  den  AnsiU 
an  dem  Becken  wieder  an  Breite  ab,  doch  an  Dicke  zu,  um  in  eine 
verhältnismäßig  schmale  Sehne  sich  fortzusetzen.  Diese  Sehne  %A\, 
3  cm  oberhalb  des  Beckens  platt  aus  dem  Muskel  herror  und  setit 
sich  vom  Schambeinhöcker  bis  gegen  die  Schamfuge  hin  am  Knocbe» 
fest.  Die  innersten  Sehnenfasem  der  beiden  Muskeln  gehen  dort  sach 
kreuzweise  ineinander  über. 

Was  die  Erscheinung  dieser  Muskeln  am  Lebenden  schwer  ver- 
ständlich macht,  ist  der  Umstand,  daß  sie  keine  Fasern  besitzen, 
welche  ununterbrochen  bis  zum  Ende  des  Muskels  entlang  verlaufen: 
jeder  derselben  wird  vielmehr  durch  drei  Sehnenstreifen,  In- 
skriptionen, in  vier  Abschnitte  geschieden.  Der  erste  dieser 
querliegenden  Sehnenstreifen  findet  sich  längs  dem  Rande  des 
Brustkorbes,  der  dritte  in  der  Höhe  des  Nabels  und  der  zweite 
ungefähr  in  der  Mitte  zwischen  diesen  beiden.  Durch  die  Eigen- 
tümlichkeit im  Bau  der  beiden  Muskeln  entstehen  vom  Nabel  an  nach 
aufwärts  sechs  nahezu  vierseitige,  erhabene  Felder,  welche  bei  musku- 
lösen Männern  zwar  schon  während  der  Ruhe  des  Muskels  etwas 
hervortreten,  während  der  Zusammenziehung  jedoch  genauer  zu  ver- 
folgen sind. 

Die  Antike  hat  an  einzelnen  Figuren  mit  großer  Meisterschaft  diese  Form  d» 
Muskels  ausgedrückt  (Borghesischer  Fechter).  Der  Verlauf  des  obersteo  SeluMD- 
streifens,  der  sich  zum  großen  Teil  doch  nicht  vollständig  dem  Verlauf  des  siebes- 
ten  Kippenknorpels  anschließt,  ward  freilich  auch  der  Antike  niemals  völlig  kkr. 
und  dort  macht  sich  auch  stets  eine  gewisse  Unsicherheit  bemerkbar.  Es  ist  selbst 
für  den  Geübten  schwer,  Muskelzacken,  Sehnenstreifen,  Rippenknorpel  und  den 
Einfluß  des  Schwertknorpelfortsatzes  vollständig  auseinanderzuhalten.    Nur  dadurch 


Mnakeln  dea  Rumpfea.  377 

daß  man  die  Muskeln  während  ihrer  vollen  Wirkung  mit  dem  Aussehen  in  der 
Ruhe  vergleicht,  werden  die  Einzelnheiten  verständlich. 

Besondere  Merkmale  der  Inskriptionen.  Ihr  Verlauf  ist  zickzackförmig 
auf-  und  absteigend.  Der  oberste  Streifen  beginnt  am  unteren  Rand  des  Schwert- 
knorpelfortsatzes (Fig.  114  Nr.  18),  steigt  etwas  in  die  Höhe,  folgt  dann  eine  Strecke 
weit  dem  Verlauf  der  siebenten  Rippe,  um  dann  wieder  gegen  den  Zwisc'henraum 
der  sechsten  zur  siebenten  in  die  Höhe  zu  steigen.  Durch  diesen  Verlauf  entsteht 
zwischen  dem  seitlichen  Rand  des  Schwertknorpels  und  dem  Rand  des  Brustkorbes 
eine  seichte  dreieckige  Vertiefung,  die  auf  der  rechten  Seite  der  Figur  115  au  dem 
mit  der  Aponeurose  bedeckten  Muskel  deutlich  sichtbar  ist.  Die  Zahl  dieser  In- 
skriptionen kann  wechseln.  So  kommt  bisweilen  in  der  zwischen  Nabel  und  Scham- 
bein verlaufenden  Strecke  noch  eine  vierte  Inskription  vor,  seltener  ist  das  Fehlen 
einer  oder  eines  Paares  der  Inskriptionen.  Die  oben  als  dritte  Inskription  beschrie- 
bene kann  die  in  der  Figur  115  gegebene  Stelle  einnehmen,  oder  etwas  oberhalb 
des  Nabels  den  Muskel  durchsetzen.  Nach  den  von  mir  gewonnenen  Erfahrungen 
ist  die  abgebildete  Anordnung  die  häufigste.  Sollte  das  Auge  es  angenehmer  em- 
pfinden, daß  die  letzte  Inskription  oberhalb  des  Nabels  bemerkbar  sei,  so  ließe  sich 
anatomisch  eine  solche  Versetzung  wohl  rechtfertigen.  —  Zwischen  den  beiden  geraden 
Bauchmuskeln,  und  zwar  eingeschlossen  in  ihre  Scheide,  liegt  oft  dicht  an  der  Scham- 
fuge ein  kleiner  nur  8—10  cm  langer,  dreieckiger  Muskel  (M,  pyramidaUs), 
£r  entspringt  vor  der  Insertion  des  geraden  Bauchmuskels  imd  verläuft  neben  der 
'«reißen  Bauchlinie  aufwärts,  unter  Verschmälerung  seines  an  und  für  sich  schon 
anansehnlichen  Bauches.  Er  fehlt  nicht  selten,  und  dann  nimmt  die  Insertion  des 
^raden  Bauchmuskels  eine  größere  Fläche  ein. 

Die  geraden  Bauchmuskeln  sind  von  einer  Scheide  umschlossen, 
welche  von  den  platten  Sehnen,  den  Aponeurosen  der  breiten  Bauch- 
muskeln, gebildet  wird.  Damit  diese  Aponeurosen  ihren  Vereinigungs- 
punkt erreichen,  müssen  sie  vor  und  hinter  den  geraden  Bauchmuskeln 
Yorbeilaufen.  An  der  Stelle  der  Inskriptionen  ist  die  Scheide  fest 
mit  den  Bauchmuskeln  verwachsen  und  kann  nur  schwer  mit  dem 
Messer  gelöst  werden. 

Die  geraden  Bauchmuskeln  sind  an  dem  anatomischen  Präparat 
wie  an  .dem  Lebenden  seitlich  durch  eine  breite,  vertiefte  Rinne  von 
der  Fleischmasse  der  breiten  Bauchmuskeln  getrennt.  Nach  unten 
gegen  das  Leistenband  läuft  die  Rinne  in  eine  breite  Fläche  aus,  welche 
sich  nach  der  Schamgegend  hin  erstreckt. 

Die  Wirkung  der  Bauchmuskeln.  Die  Bauchmuskeln  ver- 
engern die  Bauchhöhle  und  beugen  den  Rumpf.  Werden  nur  die 
breiten  Bauchmuskeln  einer  Seite  in  Zusammenziehung  versetzt,  so 
wird  mit  der  Verengerung  der  betreffenden  Seite  gleichzeitig  eine 
Drehung  des  Rumpfes  herbeigeführt.  Von  diesen  komplizierten  Wir- 
kungsarten läßt  sich  folgendes  Bild  entwerfen. 

Die  Muskeln  der  Bauchwand  sind  imstande,  durch  ihre  Zusammen- 
ziehung auf  die  Eingeweide  einen  Druck  auszuüben.  Sie  schnüren 
mit  oder  ohne  Mitwirkung  des  Zwerchfells  den  Inhalt  der  Unter- 


378  Neantor  AbMhnitt 

leibshöhle  zusammen.    Man  bezeichnet  diesen  Druck  als  ,,Bit^uk- 
presse."    Die  für  die  Gestalt  des  Körpers  nächste  Folge  einer  «Milchen 
Zusammenziehung  der  Bauchmuskeln  besteht  in  einer  Abilachung  (i<f«> 
Leibes.      Dabei   wird    die   Breite   des  Körpers    in    der    Richtung  der 
Weichen   größer,   denn   der  Druck   auf  die   verschiebbaren  Gedine 
wirkt  wesentlich    von  vorn   nach  hinten;   sie  werden   nach  der  8riU 
gedrängt  und  verursachen  die  Breitenzunahme  des  Run^fiBS  m  diner 
Gegend.     Während  dieses  Druckes  senkt  sich  die  Oberbauchj^fuJ, 
welche  während  der  Ruhe  mehr  gewölbt  war,  schief  einw&rts  gifign  des 
Nabel  hin.     Unter  dem  Nabel  flacht  sich  der  Bauchmuskel  olvas  ik 
ohne  daß  er  sich  gerade  einwärts  zöge.     An  dem  Bmstkocb  ■■iWh! 
sich  dabei  die  Linie  der  zum  Brustbein  hinziehenden  RippooloMtfcl, 
an  dem  Unterieib  die  Furche  zwischen  den  geraden  und  den  wAktoi 
Bauchmuskeln.    Die  weiße  Linie  verliert  dagegen  ihre  Vertififimgi  ■  Bei 
einer  großen  Anzahl  von  physiologischen  Vorgängen,  bei  dem 
Schreien,  bei  der  Bauchpresse,  bei  dem  Erbrechen  wird  dieae 
der  Bauchwand  von  Bedeutung.  —  Eine  andere  Wirkung  der 
muskeln,  namentlich  der  geraden  Bauchmuskeln  besteht  in  deM  Her- 
beiführen  der  Rumpfbeuge.     Wenn  die  Muskeln  beider  KSr- 
perhälften  zusammenwirken,  so  wird  die  Wirbelsftale  nach 
vorn  gebeugt  und  die  einzelnen  Muskeln  tragen   nm  so  Bielir 
dazu   bei,  je   näher  sie   der   weißen   Bauchlinie    liegen*     Die 
Bauchmuskeln    sind     also     die    Antagonisten     der    Rflcken- 
strecker,   und   die  geraden  Bauchmuskeln  unter  ihnen  die  stiikslen. 
Am  deutlichsten    läßt    sich   dies  konstatieren   bei   dem  Versnchy  am 
der  Rückenlage  ohne  Hilfe  der  Hände  und  bei  gestreckten  Fftfien  sich 
zu  erheben.     Da  s])annen  sich  die  beiden  geraden  Bauchmuskeln  auf 
das  Äußerste,    um    den   Brustkorb   zu   erheben,   und  ziehen   als  zrei 
breite  vorspringende   Bänder   zum   Schambein   herab.      Man   bemeikt 
die   einzelnen   Ursprungszacken    am    filnften,    sechsten    und    siebenten 
Rippe iiknorpel   sowie  sämtliche   Inskriptionen,   welche   bei   der  bedeu- 
tenden Verkürzung  des  Muskels  sich  freilich  sehr  genähert  sind.    Je 
resistenter  der  Inhalt  der  Bauchhöhle,   um   so  mehr  kommt  die  Zu- 
sammenziehung der  Bauchmuskeln  den  Bewegungen  des  Hebens  zu  gutr. 
Deshalb   ftlUt  man    instinktmäßig   vor  jeder  Anstrengung   durch   eine 
tiefe  Inspiration  die  Lungen  mit  Luft,  und  drückt  dadurch  das  Zwerch- 
fell herab.    Der  Moment  der  höchsten  Anstrengung  der  geraden  Bauch- 
muskeln  während   des   erwähnten   Hebens   aus   der   Strecklage   in  die 
Sitzlage  ist  auch  der  Zeitpunkt,   um  die  durch  die  Inskriptionen  ent- 
standenen  Muskelvierecke  zu   studieren.      Dann  lassen  sich  leicht  die 
einzelnen  Formen  in  ruhigeren  Stellungen  verstehen.    Einzelne  Figuren 
der  Antike,   wie  z.  B.  der  Farnesische   Herkules,    der   Torso  des 


379 

dvedere  zeij^en  die  Oliederung  der  gemden  BauohinuBkelii  in  einem 
bheti  Grade  von  Übertreibung,  uamentlicli  die  ei-ste  der  beiden 
iBiuinTiten;  bei  dem  Burghesisclien  Feehter  und  bei  dem  Luukoou 

:  Maß  gebHiten.     Bei  d..>n  nihii;i.>n  Fit;mvii  dor  spät  griechischen  und 


Fig.  im.    Iti^liU:  K(>riH\rliitlt'tt^  i'uk 
k.  Medialer  lUnd  du  (vphtrnSchalterhlMl«). 
Jp.  Medialer  Rand  de»  UnitcD  ScIiuIlcrbUttm. 

.  Der  groBe  rande  .innmiukel. 

:  Der  latPFRle  Rand  Ar*  breitesten  BücksD- 

k  ITnlerer  Band  d»  8ik((cinuil<rl>. 
1  Der  Mtisk«lbauEh  im  Ksmeiiwohaftliohcn 
Kü  ok  Btialreokr  n. 


.  Der  latenle  TvH  Kiaes  Dniiri 


i(t<". 


>'.  Der  mediale  Tml  seiaea  Unpru 

.  D<-r  fieraile  Baachmiukvt. 

.  Die   <irense  iwliehen   dem   geradeq  iioil 

den)  iiiOvrcii  «chlefni  Bauohmuikel. 
I.  VnrUerBt    oberer    Donnbdiutaebcl     mit 

dem  Spanner  der  Siihenkvlbindp. 
0.  die  Ijeinh-nbeiige. 


IfiiniRchen  Kpuche  zeigt  sich  Hcbon  eine  sehr  Ni'beumllsi'he  Beliiindliiii^ 
lieser  Muflkelp&rtien. 

Die    Baut-hmuskelu    untersUltüen    in     selir    kiäftiger   Weise    die 

brehau^  des  Rumpfes,  sobald  si«  nicht  gleiclizeitig  wirken,  sonileu" 
pur  die  Muskeln  iUt  einen  Soito  in  'l'bätigkeit  tiiud.   ivülircnd  die  d(.'r 


380  Keanter  Abtehoitt. 

anderen  in  der  Ruhe  verharren.  Sie  unterstützen  unter  solchen  ro- 
ständen  jene  an  der  Wirbelsäule  angebrachten  Kräfte,  wodurch  ni/a 
allein  von  der  Seite,  sondern  auch  vom  Rücken  her  die  Beweinnkc 
vollzogen  wird.  Liegt  man  auf  dem  Rücken  and  sucht  sich  mh 
dem  Oberkörper  ohne  Hilfe  der  Hände  nach  irgend  einer  der  Seiten 
hinüberzuwenden,  so  zeigen  die  schiefen  Bauchmuskeln  der  entgefea- 
gesetzten  Seite  die  Einzelnheiten  ihrer  Formen  auf  das  vollkonuneiistie. 
Bei  demselben  Versuch  läßt  sich  auch  leicht  erkennen,  welchen  Antd 
die  einzelnen  Bauchmuskeln  während  dieser  Bewegung  haben.  iHe 
obersten  Zacken  des  äußeren  schiefen  Bauchmuskels,  deren  wir  8cm«t 
so  selten  ansichtig  werden,  treten  deutlich  hervor,  sodaß  seine  ganze 
Anatomie  am  Lebenden  verständlich  wird. 

Bei  einem  am  Kreuz  hängenden  Chiistus  ist  die  WirbeLsäole  gMieckt,  die  m- 
gCHunkene  Bauchwand  iHt  eine  Folge  des  Todes  der  ans  dem  Brustkorb  entwiekem 
Luft;  es  ist  also  falsch,  beim  Gekreuzigten  die  Zacken  des  ObUquus  abdomtmü  ia 
jener  krampfhaften  Kontraktion  darzustellen,  die  nur  zu  hftufig  beliebt  wiid.  DicKr 
Muskel  wurde  stets  mit  Unrecht  in  der  Aktion  vorgeftlhrt  Bei  gestreckter  lÜlriKl- 
säule  und  gestreckten  Beinen  verhält  er  sich  passiv.  —  Die  Banchmnükeln  vermflca 
die  Rumpfbeuge  nicht  allein  dadurch  zu  erzwingen,  daß  sie  den  Oberkörper  dnrdi 
Zug  an  dem  Brustkorb  in  die  Höhe  heben,  sondern  auch  auf  die  entgegeogeBetd« 
Art,  dadurch,  daß  sie  bei  festruhendem  Brustkorb  das  Becken  and  mit  ihm 
die  Beine  gegen  den  Oberkörper  heraufziehen.  Wenn  der  Jongleur  ssf 
dem  Rücken  liegend  mit  den  Beinen  eine  Stange  balanciert,  so  muß  du  Becka 
soweit  gedreht  werden,  daß  die  Beine  in  die  Luft  ragen  können.  Diese  Dräiim^ 
des  Beckens  bringen  die  Bauchmuskeln  dadurch  zustande,  daß  sie  bei  dieser  Anf- 
gäbe  ihren  Angrif&punkt  (Punctum  mobile)  an  dem  Schambein  und  an  dem  Haft- 
beinkamm  haben,  daß  also  jetzt  umgekehrt  wie  in  dem  vorhergehenden  Falle  der 
Honst  bewegliche  Brustkorb  fixiert  ist  (das  Punchim  fixum  darstellt)  und  das  (nh^t 
stabile  Becken  nunmehr  zur  Bewegung  gezwungen  wird.  —  Die  dreifach  geschiditete 
Bauchmuskulatur  mit  ihren  Aponeurosen  ist  ein  kräftiger  Verschluß  der  Baochhöhk. 
Obwohl  nach  innen  noch  zwei  derbe  Membranen  folgen,  die  quere  Bauchftscit- 
(Fascia  transversa)  und  das  Bauchfell  (Peritoneum),  so  sind  damit  doch  nicht  n\\^ 
Gefahren  beseitigt,  welche  da«  heftige  Anpressen  der  Eingeweide  gegen  die  Baucb- 
wand  mit  sich  brinp^;  es  können  teilweise  Zerreißungen  der  Muskel-  und  Sehneü- 
M'hii'hten  vorkommen.  Die  Stelle  der  früheren  Vereinigung  zwischen  Mutter  unJ 
Kind  ist  der  Nabel.  Hier  traten  während  der  Entwicklungsperiode  Blutgefäße  ein 
und  aus,  in  welchen  das  ernährende  Saft  von  der  Mutter  zu  dem  Kinde  ströiiit»>. 
und  umgekehrt  Nicht  immer  verwächst  sogleich  diese  Pforte  vollständig  fest  uuJ 
so  kann  es  geschehen,  daß  durch  das  Schreien  des  Kindes  d.  h.  dureh  Anpn:£M:L 
des  Darms  gegen  die  vordere  Bauchwand  während  des  Schreiens,  die  Nabelpforr«' 
von  innen  her  wieder  auseinander  gezerrt  wird,  und  eine  Darmschlinge  sich  den 
W(>g  bis  unti^r  die  Haut  bahnt.  Der  „Nabelbruch^'  macht  sich  dann  als  rundlielh* 
Gi^schwulst  bemerkbar.  Ein  ähnlicher  Vorgang  kann  bei  dem  Manne  dort  »tan- 
finden,  wo  die  beiden  Sameustränge  die  Bauchwandung  durehsetzen.  Die  Hoden 
entwickeln  sich  nämlich  in  der  Bauchhöhle  und  steigen  dureh  den  LieisteukacAl 
um  den  sechsten  Monat  in  den  Hodensack  hinab.  Gefäße  und  Nerven  sow'w 
der  Ausführungsgang  der  Samendrüse  folgen  nach  und  sind  in  jenen  Strang  ver- 
einigt,   den   man  Samenstrang  nennt.    Es  existiert  also  eine  Zeit  während  der 


Muskeln  des  Rumpfes.  381 

Ekitwickelung  des  Kindes,  in  der  die  Baachhöhle  in  direkter  Kommunikation  mit 
dem  Raum  des  Hodensackes  steht  Diesö  Kommunikation,  die  trichterförmig  an 
der  Innenfläche  der  Bauch  wand  beginnt,  muß  später  aufhören,  der  Leistenkanal 
maß  sich  verschließen,  soll  nicht  bei  einer  Anstrengung  ein  Teil  der  Eingeweide 
durch  den  Kanal  in  den  Hodensa<^  hinabgedräckt  werden.  Dies  geschieht  auch 
in  der  That;  der  Kanal  schließt  sich  in  den  meisten  Fällen  hinter  dem  Hoden 
uod  läßt  nur  so  viel  Raum,  als  für  den  Verlauf  des  Samenstranges  notwendig 
iflt.  In  seltenen  Fällen  kommt  der  Verschluß  des  Kanales  jedoch  nicht  zu- 
stande, und  dann  besitzt  oft  schon  das  neugeborene  Kind  einen  Leistenbruch, 
oder  eine  Leistenhernie,  d.  h.  in  dem  Hodensack  finden  sich  ein  paar  Einge- 
weideschlingen, welche  durch  den  offenen  Kanal  herabgedrungen  sind.  Doch  selbst 
dann,  wenn  der  Verschluß  eingetreten  ist,  kann  bei  großen  Anstrengungen  die  alte 
Bahn  wieder  frei  werden;  die  Verwachsungen  lockern  sich  unter  dem  bohrenden 
Druck  der  Eingeweide,  und  eine  Darmschlinge  macht  sich  in  dem  tiefer  gelegenen 
Hodensack  Platz.  Das  ist  der  erworbene  Leistenbruch  im  Gregensatz  zu  dem  an- 
geborenen. —  Die  Formen  des  Hodensackes  sind  abhängig  von  den  in  ihm  befind- 
liehen eiförmigen  Drüsen  und  dem  Zustande  seiner  Kontraktion.  Unter  der  dünnen 
fettlosen  Haut  sitzt  eine  Scnichte  von  Muskelfasern,  die  sich  unter  dem  Einfluß  der 
Kälte  und  anderer  Reize  zusammenzieht,  so  daß  die  Haut  die  Drüsen  fest  um- 
schließt Bei  Hitze,  Furcht  oder  Krankheiten  tritt  Erschlaffung  des  Hodensackes 
ein«  Die  Antike  hat  bei  ihren  Darstellungen,  soweit  ich  sie  kenne,  den  Hodensack 
zusammengezogen  dargestellt;  abgesehen  von  dem  Zeichen  physischer  Kraft,  das  in 
dieser  strammen  Zusammenziehung  liegt,  ist  es  auch  edler,  diesen  Anhang  unserer 
tierischen  Natur  so  reduziert  als  möglich  darzustellen. 

Die  verschiedene  sich  kreuzende  Fasenichtung  der  drei  breiten  Bauchmuskeln 
leistet  für  die  Festigkeit  der  Bauchwand  die  trefflichsten  Dienste.  Sie  erinnert  an 
das  Geflecht  eines  Rohrsessels,  welches,  wenn  es  hinlänglich  stark  und  tragfähig 
sein  soll,  niemals  bloß  aus  parallelen  Zügen  bestehen  darf. 

Von  der  Stärke  der  Bauchmuskeln  hängt  es  ab,  wie  viel  oder 
wie  wenig  von  den  Konturen  des  Hüftbeinkammes  zu  erkennen  ist. 
'Wie  aus  dem  oben  Gesagten  hervorgeht,  setzt  sich  der  äußere  schiefe 
Bauchmuskel  mit  einem  ansehnlichen  Teil  seiner  unteren  Fleischmasse 
an  der  äußeren  Lefze  des  Hüftbeinkammes  fest,  auch  die  zwei  hinter 
ihm  folgenden  Muskeln  sind  an  dem  Hüftbeinrande  befestigt.  Sind 
nun  diese  drei  Muskeln  kräftig  entwickelt,  so  gleicht  der  Hüftbein- 
kamm einem  starken  Wulst,  er  ist  mit  Muskelmasse  wie  gepolstert, 
welche  sogar  etwas  über  den  Rand  hinübergreift,  weil  die  Fasern  des 
äußeren  schiefen  Bauchmuskels  diesen  Rand  bei  der  Befestigung  et- 
was  überschreiten.  An  antiken  männlichen  Figuren  ist  diese  Über- 
lagerung des  Hüftbeinkammes  durch  Fleischbündel  der  Bauchmuskel 
sehr  stark  ausgeprägt  und  schematisiert.  Unterhalb  dieses  durch 
Fleisch  bedeckten  Hüftbeinkammes  zeigt  sich  ein  ziemlich  markierter 
Einschnitt,  von  dem  aus  die  äußere  Hüftmuskulatur  beginnt.  An 
der  Fig.  116  ist  das  Verhalten  der  an  dem  Hüftbeinkamm  ent- 
springenden Muskelmasse  gut  erkennbar.  Der  überhängende  dunkele 
Rand   der   Baudimuskeln   zeichnet   dadurch   die   Linie   des  Hüftbein- 


382  Neunter  AbschniU. 

kammes  bis  nach  vorn,  Fig.  116  Nr.  9,  wo  die  helle  Ecke  den  vordem 
oberen  Darmbeinstachel  anzeigt.     Es  ist  eine  weit  verbreitete  Ansicbi, 
die  Haut  bringe  diesen  überhängenden  Rand  hervor  —  dies  ist  falsch. 
Bei   unseren  Modellen  ist  allerdings  mitunter  an  diesen  Stellen  Fett 
aufgehäuft,    gerade   so  wie  bei  wohlgenährten  Frauen,   bei  denen  der 
Hilftknochen  ja  nie  sichtbar  ist,  aber  bei  dem  Manne  ist  der  Unterschied 
zwischen  Haut  und  Muskel  deutlich  genug   für   das   mit  Yerstandnii 
prüfende    Auge.      Vor    allem   lehrt    hier    die   Vergleichung    zwischen 
einem  kräftigen,  einem    fetten  und  einem  mageren  Menschen  schneD 
das   Richtige  finden.      Der   zußihlende   Finger   ist    ein    nicht   minder 
sicherer  Leiter.     Greift  man  die  Weichen  an,   während    der  Körper 
sich  gleichzeitig  nach  der  nämlichen  Seite  neigt,    so  wird    der  praD 
zusammengezogene  Muskel  deutlich  gefühlt,  die  Haut  dagegen,  welche 
dehnbar  ist,  läßt  sich  mit   den  Fingern  fassen,  und   schiebt   sich  bei 
starker   Rumpfbeuge   in   irgend   einer  Richtung    zu    starken  Wulstes 
übereinander. 

2)  Hintere  Banohmnskeln. 

Obere  und  untere  Bauchmuskeln. 

.  Diese  Überschrift  soll  jene  Muskeln  umfassen,    welche  den  mus- 
kulösen Abschluß  der  Bauchhöhle  vollenden. 

x\ls  hinterer  Bauchmuskel  ist  der  vierseitige  Lendenmuskel 
(M.  quadratns  lumbontm)  aufzufassen,  der  den  Raum  zwischen  der 
letzten  Rippe  und  dem  Darnibeinkamme  zur  Seite  der  Lendeuwirbel- 
säule  einnimmt.  Er  entspringt  am  hinteren  Abschnitt  des  Darmbein- 
kammes  und  inseriert  sich  mit  sehnigen  Zacken  an  den  Querfortsätzen 
der  vier  oberen  Lendenwirbel  und  mit  einer  breiten  Sehne  am  unteren 
Rande  der  zwölften  Rippe.  Der  Muskel  ist  nui'  von  der  Bauchhöhle 
her  zu  sehen.  Von  hinten  ist  er  durch  die  ganze  Dicke  der  Streck- 
muskeln der  Wirbelsäule  bedeckt. 

Unter  oberen  Bauchmuskeln  erscheint  jener  Muskelkomplex, 
der  als  Zwerchfell,  Diaphragma,  die  Bauchhöhle  von  der  Brusthöhle 
hermetisch  trennt. 

lY.    Die  Muskeln  des  Riiekens. 

Die  Rückenfiäche  des  Köq)ers  wird  im  täglichen  Sprachgebrauch 
wie  in  der  Sprache  der  Anatomie  in  den  Nacken  (hintere  Halsgegend), 
den  eigentlichen  Rücken  (hintere  Thoraxwand),  die  Lenden  (hin- 
tere Bauch  wand)  und  das  Kreuz  (hintere  Beckenwand)  abgeteilt.  Die 
Nackengegend    ist   von   oben    nach    unten    leicht   konkav,    und    unt^n 


Muskeln  des  Rampfes.  883 

• 

durch  den  Yorsprung  des  siebenten  Halsdornes  vom  Rücken  abge- 
grenzt. In  dem  Bereich  der  eigentlichen  Rückengegend  liegen  die  be- 
weglichen Schulterblätter.  Die  hintere  Thoraxwand  ist  dabei  gewölbt, 
während  die  Lenden  eingebogen  sind.  Eine  vertikale  Rinne  entspricht 
in  der  Mittellinie  des  Rückens  den  Domfortsätzen  der  Lendenwirbel, 
welche  zwischen  die  fleischigen  Bäuche  der  langen  Rückenstrecker 
▼ersenkt  sind  (Fig.  117).  Die  gewölbte  Kreuzgegend  wird  am  wenigsten 
▼on  Weichteilen  bedeckt,  und  deshalb  sind  ihre  Knochenformen  leicht 
durch  die  Haut  hindurch  zu  erkennen. 

Der  Rücken  wird  von  Muskelmassen  bedeckt,  welche  in  zwei  ver- 
schiedene Gruppen  getrennt  werden  müssen,  in  eine  oberflächliche, 
und  eine  tiefliegende.  Die  oberflächliche  Muskelgruppe  wird  aus 
ilächenhaft  ausgebreiteten  Muskeln  gebildet,  welche  sämtlich  für  die 
Bewegung  des  Schulterblattes  und  des  Armes  verwendet  werden. 
Die  tiefliegende  Muskelgruppe  besteht  zumeist  aus  längsgerichteten 
rundlichen  Muskelsträngen,  welche  von  dem  Kreuzbein  bis  zu  dem 
Hinterhaupt  sich  erstrecken.  Sie  liegen  in  den  zwei  Furchen  einge- 
bettet, welche  zwischen  den  Domfortsätzen  sämtlicher  Wirbel  und  dem 
Rippenwinkel  zu  ihrer  Aufnahme  bereitgehalten  sind.  Sie  sind 
Strecker  und  Dreher  der  Wirbelsäule,  und  in  dem  ersteren  Falle 
die  Antagonisten  der  Bauchmuskeln. 

Die  Haut  des  Rückens  zeichnet  sich  durch  ihre  Dicke  und  Derb- 
heit aus.  Sie  nimmt  sehr  leicht  Fett  auf,  und  bildet  dann  bei  der 
Streckung  des  Rumpfes  starke  Falten,  deren  Formen  schon  weiter 
oben  berücksichtigt  wurden.  Unter  der  Fettschichte  liegt  eine  derbe 
Fascie,  die  vom  Nacken  her  in  die  Halsfascie,  an  der  Schulter  in  jene 
des  Oberarms,  und  unten  in  die  Brust-  und  Bauchfascie  übergeht. 

a)  Oberfläohliohe  Vuskelgrappe» 
welche  die  Oiedmafsenmuskeln  des  Kückens  omfiafst. 

Der  Kapuzenmuskel  (M,  cucuUaris,  Fig.  117  Nr.  1—5)  nimmt 
den  größten  Teil  des  Rückens  bis  zur  Lendengegend  herab  ein.  Er 
entspringt  von  der  oberen  Nackenlinie  des  Hinterhauptsbeines,  von  dem 
Nackenband,  den  Domfortsätzeu  aller  Hals-  und  Brustwirbel,  sowie 
von  den  zwischen  den  Domfortsätzen  ausgespannten  Bändern.  Von 
diesem  ausgedehnten  Ursprung  ziehen  die  starken  Fleichbündel  zur 
Schulterblattgräte  und  dem  naheliegenden  Schlüsselbeinende.  Wirkung: 
Der  Muskel  zieht  das  Schulterblatt  nach  hinten,  und  hilft  den  Arm 
heben,  indem  er  das  Schulterblatt  dreht. 

Durch  die  wechselnde  Länge  der  Sehnenbündel  entsteht  sowohl 
an  der  ausgedehnten  Urspmngslinie,  als  an  den  Ansatzstellen  folgende, 


384  Neunter  Abschnitt. 

für   die  Formen   bedeutungsvolle  Anordnung:   an  dem.  Schädel,  des 
Nackenband   und   an  den  oberen  Halswirbeln  ist  die  Ursprungs^dme 
kurz,  kaum  erkennbar.     Schon  am  ftlnften  Halswirbel  wird  sie  jedud 
länger,    namentlich   im   Bereich   des   siebenten   Halswirbels   und  dn 
ersten  Brustwirbels,  um  an   dem  vierten  Brustwirbel   wieder  kiin  z« 
werden.     Durch  diese  wechselnde  Länge  der  ürspningssehne  entsteht 
in   der   Umgebung   des   am   meisten   vorspringenden    siebenten  HaIv 
wirbels  ein  lindenblattähnliches  Sehnenfeld  mit  der  Spitze  nach  auf- 
wärts  gerichtet  (Fig.  117  bei  Nr.  2).  —  Ein  ähnliches  Verhalten  der 
Sehne  kehrt  an   dem   unteren  Ende  des  Muskels  wieder,  wo  er  lang- 
sehnig  von  den  Dornfortsätzen  des  elften  und  zwölften   Brustwirbels 
(Fig.  117  Nr.  3)  entspringt.     Diese  Sehnenfelder  erscheinen  am  Lebeo- 
den   kleiner   als  an  dem  anatomischen  Präparat,  wegen  der  darüber 
hinziehenden  Haut.     Sie  erscheinen  femer  als  Vertiefungen  und  zw 
um   so   bestimmter,  je  kräftiger  der  Muskel  und  je   stärker  die  Zi- 
sammenziehung   seiner  Bündel   ist.     FtLr   den   mit   dem   Unterschied 
zwischen  Muskel   und  Sehne   nicht   vertrauten  Beobachter  scheint  es 
bei  der  Betrachtung  des  Lebenden,  als  ob  der  Muskel  an  dieser  Stelle 
aufhöre,  so  bedeutend  ist  der  Niveauunterschied  zvnschen  der  Flidw 
der  Fleischmasse  und  derjenigen  der  Sehne. 

Der  Ansatz  des  Muskels  zeigt  die  Eigentümlichkeit,  daß  er  sidi 
auf  die  beiden  Knochen  des  Schultergürtels  erstreckt.  Die  von 
dem  Hinterhaupt  und  den  oberen  Halswirbeln  herabkonunenden  Fleisch- 
bündel verlassen  dabei  die  Nackengegend,  und  biegen  in  die  seitliche 
Halsgegend  um  (Fig.  117  Nr.  i),.  wo  sie  sich  an  dem  Akromialende 
des  Schlüsselbeines  befestigen.  Die  abgerundete  Kante  dieser  Um- 
biegungsstelle  bildet  die  Konturlinie  des  Nackens  (Rg.  117  bei  Nr.  «). 
Was  von  dem  Muskel  vor  dieser  Linie  liegt,  liegt  in  dem  Gebiet  der 
seitlichen  Halsgegend.  (Vergleiche  die  Beschreibung  und  Abbildung 
der  seitlichen  Halsgegend  Seite  354  und  die  Figuren  108  u.  109.) 
Diejenigen  Fleischbündel,  welche  von  den  unteren  Hals-  und  oberen 
Brustwirbeln  kommen,  setzen  sich  au  dem  oberen  Hand  der  Schulter- 
gräte (Fig.  117  Nr.  5)  und  an  dem  Akromion  mit  kurzer  Sehne  fest 
Die  von  den  unteren  Brustwirbeln  kommenden  inserieren  sich  mit 
einer  dreieckigen  Sehne  an  dem  Ursprung  der  Schultergräte  (Fig.  117 
Nr.  4).  Dieses  letzterwähnte  dreieckige  Sehnenfeld  erscheint  durch  die 
Haut  hindurch  als  kleines  Giübchen. 

Die  Konvergenz  der  Fleischbündel  eines  Kapuzeninuskels  gegen  den  Schultei- 
gürtel  hin  bedingt  eine  dreieckige  Gestalt.  Beide  Kapuzenmufikelii  bildfoi  a- 
sammen  ein  ungleichseitiges  Viereck.  Der  lange,  untere,  spitzige  Winkel  diises 
Vierecks,  welcher  den  gleich  zu  erwähnenden  bi-eiten  Rückenmiiskel  überUgfsl 
ähnelt  einer  zurückgeschlagenen  Mönchskappe,  uud  daher  rührt  sein  Nam^.    Der 


Uodceln  dn  Bampfts.  3g5 

Muskel  endigt  nii^ht  sclleii  am  elften,  zehnten  oder  einem  noch  höher  gele^renen 
Brasttrirbeldorn,  zuweilen  beidereeits  verechieden.  Der  Ursprung  nn  ilem  Hinter- 
haupt bietet  gleichfalls  verschiedene  Grade  der  Ausdehnnng. 


XAr^^'I^V 


Fig.  117.     Rückenin uskulatiir  des  Stammen. 


Der  Muskel  kann  die  äußere  Hiüfte  der  Schultergräte,  da«.  Akro- 
mion  und  das  Schlüsselbein  heben.  Dabei  dreht  sich  das  Schulter- 
blatt nm  einen  Punkt,  der  in  der  Gegend  des  oberen  inneren  Schulter- 
blattwinkels liegt     Bei  dieser  Drehung  geht  der  untere  Schulterblatt- 


KoLUtun,  pluIlMtic  A 


386  Neunter  Abschnitt. 

Winkel  nach  außen,  der  Körper  des  Schulterblattes,  welcher  die  6^ 
lenkpfanne  trägt,  nach  oben,  und  der  innere  Schulterblattrand  sielh 
sich  schief  (vgl.  die  Fig.  117,  an  welcher  der  eine  Arm  gehoben  und 
die  Drehung  des  Schulterblattes  erkennbar  ist). 

Die  Kapuzenmuskeln  ziehen,  wie  schon  erwähnt,  auch  die  Amt 
nach  rückwärts,  dadurch  daß  sie  die  beiden  Schulterblätter  der  hinteren 
Mittellinie  des  Rumpfes  nähern.  Je  mehr  die  Schulterblätter  nach 
rückwärts  gehen,  um  so  dicker  werden  die  Kapuzenmuskeln  (Fig.  ll^i, 
so  daß  ihre  Fleischmasse,  schließlich  hoch  emporgewölbt,  die  Domfort- 
sätze  in  einer  tiefen  Furche  begräbt. 

Die  an  dem  anatomischen  Präparat  so  leicht  verständlichen  Formen  de»  R»- 
puzonmuskels  werden  durch  das  Zurückziehen  der  Schulterblätter  fast  bis  zur  Un- 
kenntlichkeit entstellt.  Sind  sie  sich  soweit  genähert ,  als  es  durch  den  Muskelz&ff 
geschehen  kann,  dann  existiert  zwischen  den  inneren  Schulterblatträndem  nur  eia 
schmaler  Spalt,  der  ebenso  lang  als  diese  Ränder  und  tief  eingesenkt  'ist.  Dh* 
beiden  Kapuzenmuskeln  bilden  im  Bereich  der  Schulterblätter  nunmehr  nmdlidK 
Wtilste,  die  nach  oben  auseinanderweichen  (Fig.  119);  das  ist  leicht  erklärlich,  siebe 
finden  sich  in  dem  äußersten  Grad  der  Yerkürzimg,  weil  die  Ursprungs-  und  An- 
satzpunkte sich  ganz  naheliegen.  Das  lindenblattähnliche  Sehnenfeld  in  der  Um- 
gebung des  siebenten  Halswirbels  liegt  dann  tief  zwischen  den  angcschwolknm 
Muskelbündeln,  deren  Grenzen  schon  bei  mäßiger  Anstrengung  bemerkbar  wenin. 

Wirkt  nur  ein  Eapuzenmuskel  auf  das  Schulterblatt  und  den  Arm,  wie  z.  B. 
bei  dem  Borghesischen  Fechter,  während  der  andere  Arm  nach  vom  gestreckt 
und  damit  auch  das  Schulterblatt  von  seiner  gewöhnlichen  Stellung  mehr  an  dp 
Seitenfläche  des  Rumpfes  gerückt  ist,  dann  kommt  in  die  Fläche  des  Kückens  ein 
sehr  großer  FormenwechseL 

Die  veränderte  Stellung  der  Schultern  ist  so  charakteristisch  und  tritt  dimrk 
den  Mechanismus  des  Armgeleukes  und  der  Muskeln  mit  solcher  Natumotwendi)!- 
keit  ein,  daß  man  von  der  Stellung  der  Schulterblätter  au  einer  Sratuc  auf  d^ 
Stellung  der  fehlenden  Arme  schließen  kann.  Ein  Anatom  hat  jüngst  von  die£«m 
Gesichtspunkt  aus  die  Venus  von  Milo  einer  erneuten  Untersuchung  unterworfen. ■ 

Der  breites  te  Rückenmuskel  (M.latissimus  dorsiFig.  117  Nr.  7— 12) 
hat  unter  allen  Muskeln  die  größte  Flächenausdehnung,  denn  er  nimmt 
den  ganzen  unteren  Teil  der  Rückenfläche  ein  und  erstreckt  sich  durch 
die  seitliche  Rumpfgegend  bis  zu  dem  Oberarm.  Er  entspringt  mit 
dünner  Sehne  von  den  Dornfortsätzen  der  sechs  bis  sieben  unteren 
Brustwirbel.  Dieser  Teil  seines  Ursprunges  ist  von  dem  Kapuzen- 
muskel bedeckt.  Er  entspringt  femer  von  den  Domfortsätzen  aller 
Lenden-  und  Kreuzwirbel.  An  den  Lenden  wird  die  Urspningssehne 
um  so  breiter,  je  näher  der  Ursprung  an  das  Kreuzbein  hinabrückt. 
Von  dem  Kreuzbein  setzt  sich   der  Ursprung  auf  den   hinteren  Teil 


^  Hasse,  C.  Die  Venus  von  Milo.  Eine  Untersuchung  auf  dem  Grebiete  Ar 
Plastik  und  ein  Versuch  zur  Wiederherstellung  der  Statue.  Mit  4  Lichtdruck*  and 
4  lith.  Tafeln.     Jena.     1882. 


388  Neunter  Abfldmitt 

von  dem  kleinen  Höcker  des  Oberarmkopfes  ausgeht.     (Siehe  Fig.  4t 
Nr.  18'  auf  S.  149.)    Wirkung:    Bewegt  den  Arm  nach  hinten. 

Der   oberste  Teil   des   Muskels,   der  unter  dem  Kapuzenmukd 
hervorkommt,  deckt  bei  dem  Verlauf  nach  dem  Arm  hin  den  unteren 
Winkel  des  Schulterblattes  (Fig.  117  Nr.  7).     Der   obere    Huskelnnd 
ist  so  dick,  daß  er  bei  kräftigen  Männern  durch  die  Haut  hindvdi 
erkennbar   ist  {bei  dem   Borghesischen  Fechter  Fig.  120  Nr. vir. 
Die  Muskelbündel  der  unteren  Abteilung  haben  einen  steilen  Yeiluf 
und  bedecken  auf  ihrem  Weg  über  die  seitliche  Eumpfwand  zu  eines 
großen  Teil  den  Sägemuskel.    An  der  Stelle,  wo  der  Bückenmuskel  über 
den  Sägemuskel  hinwegzieht,  entsteht  eine  Verdickung.    Sie  läßt  dentlid 
die  Richtung  erkennen,  welche  die  unteren  Bündel   des  Sägemnskels 
gegen   den   Schulterblattwinkel  hin  nehmen  (Fig.  117  Nr.  8,    auch  auf 
Fig.  118  angedeutet).   Indem  der  breiteste  Kückenmuskel  sich  dem  Arm 
•nähert,  zieht  er  dem  äußeren  Rand  des  Schulterblattes  entlang  und  hilft 
die  hintere  Wand  der  Achselhöhle  bilden.    Obwohl  gerade  dort  durch 
das  Zusammendrängen  der  Muskelbtlndel  die  Fleischschichte  beträcht- 
lich an  Dicke   zunimmt,   so  ist   doch  noch  die  Form  des  darunter- 
liegenden breiten  runden  Armmuskels  erkennbar  (Fig.  118  bei  Nr.«*). 
Nachdem  der  Muskel  selbst  dort,  an  der  Stelle  seiner  größten  Dichtig- 
keit die  tieferliegenden  Teile  noch  erkennen  läßt,  kann  es  kaum  über- 
raschen, wenn  in  dem  Bereich  seiner  breiten  ürsprungssehne,  in  der 
Lendengegend  die  Muskelmassen  der  Rückenstrecker  (Fig.  117  Xr.  9,  :o, 
11  u.  12)  mit  voller  Deutlichkeit  erkennbar  werden. 

Die  Endsehne  des  Muskels  besteht  in  einem  fünf  Centimeter  breiten  glAnzenden 
Streifen,  der  sich  gleichmäßig  aus  dem  Fleichbauch  entwickelt  und  mit  der  Sehne 
des  großen  runden  Armmuskels  (Fig.  118  Nr.  6)  vereinigt,  an  dem  Knochen  be- 
festigt ist.  An  dem  Übergang  in  die  Sehne  verdünnt  sich  der  Muskel,  und  der 
dscdurch  gewonnene  Raum  kommt  der  Achselhöhle  zu  gut.  —  Die  Wirkmig  des 
breitesten  Eückenmuskels  gestaltet  sich  ebenso  mannigfaltig  wie  jene  des  Bnut- 
muskels,  und  hängt  von  der  Stellung  des  Armes  ab.  Den  aufgehobenen  Arm  hilft 
er  gemeinschaftlieh  mit  dem  Brustmuskel  herabziehen ,  den  herabhängenden  Ann 
zieht  er  nach  rückwärts.  Sein  Verlauf  läßt  sich  am  leichtesten  erkennen,  wenn  der 
bis  zu  einem  rechten  Winkel  erhobene  und  gestreckte  Arm  einen  Stab  fiißt  imd 
ihn  gegen  die  Diele  drückt,  als  sollte  sie  durchbohrt  werden.  —  Die  Fig.  119 
stellt  den  Muskel  an  dem  aufgehobenen  Arm  des  Borghesischen  Fechters  dir. 
Die  Ansatzsehne  bei  Nr.  7  ist  um  den  Oberarmknochen  in  einer  halben  Tour  hemm- 
gewunden;  denn  durch  die  Drehung  des  Armes  ist  die  Ansatzstelle  soweit  nach 
oben  gewendet,  daß  sie  bei  der  Betrachtung  des  Rumpfes  von  der  Seite  und  von 
unten  unsichtbar  ist.  Wird  unter  solchen  Umständen  der  Arm  herabgezogen,  m 
muß  er  gleichzeitig  eine  Rot«tion  nach  innen  ausfuhren. 

• 

Nach  Entfernung  des  Kapuzenmuskels  und  des  breitesten  Rücken- 
muskels  erscheint: 

Der   rautenförmige    Muskel   (M,   rhomboides).      Er    entspringt 


Uukda  d««  Bumpfef. 


Fig.  119.    Eis  nackter  Krieger.    Facaimile  nach  Mickelahoblo. 

von  den  Domfortsäten  der  zwei  unteren  Halswirbel  nnd  der  vier  oberen 
Brustwirbel  und  läuft  schräg  nach  abwärts,  um  an  dem  inneren  Rande 


390  Neunter  Abschnitt 

des  Schulterblattes  zu  endigen.  Die  Fleischbündel  stellen  eine  nntoi. 
förmige  Platte  dar.  Wirkung:  Bewegt  das  Schulterblatt  aufvliti 
gegen  die  Wirbelsäule.  Von  diesem  Muskel  wird  bei  dem  Hochhebai 
des  Armes  die  untere  Ecke  sichtbar,  welche  vertieft  zwischen  dea 
inneren  Schulterblattrand,  dem  äußern  Eand  des  Eapazenmoskek  imd 
dem  oberen  Band  des  breitesten  Rückenmuskels  (Fig.  117  Kr.  24)  liegt 

Der  Aufheber  des  Schulterblattes  (M.levator  scapulae¥igA\i 
Nr.  5)  entspringt  mit  vier  Köpfen  von  den  hinteren  Zacken  der  Qaerfnt- 
sätze  der  vier  oberen  Halswirbel.  Die  vom  Atlas  entspringende  Portion 
ist  die  mächtigste.  Die  einzelnen  Köpfe  Toreinigen  sich  zu  einem  im- 
gefähr  zwei  Finger  breiten  Muskelbauch,  der  hinter  den  Bippenhalten 
zu  dem  oberen  Winkel  des  Schulterblattes  herabsteigt,  um  sich  nit 
kurzer  Sehne  an  ihm  zu  befestigen.    Wirkung:   hebt  das  ScholterbUtt 

Die  Figur  eines  nackten  Kriegers,  der  im  Begriffe  steht,  sein 
Schwert  in  die  Scheide  zu  stecken,  zeigt  viele  Linien,  welche  das  Ter- 
ständnis  lebendiger  und  bewegter  Formen  erleichtem.  Die  beida 
Schulterblätter  mit  ihren  Muskeln  treten  stark  hervor,  das  linke  Sdml- 
terblatt  ist  tiefer  gestellt,  weil  der  Körper  sich  nach  links  wendet  imd 
sich  etwas  seitwärts  beugt;  rechts  ist  das  Schulterblatt  höher  gestdU^ 
weil  auch  der  Arm  erhoben  ist.  Die  Krümmung  der  hinteren  3Gttd- 
linie  des  Körpers  zeigt  den  Grad  der  seitlichen  Eumpfbenge  an;  sie 
läuft  auf  das  Kreuzbein  aus.  Die  linke  Thoraxhälfte  ist  bei  solcher 
Stellung  verkürzt,  die  rechte  ist  dagegen  verlängert,  die  Wölbung  des 
Brustkorbes  gesteigert.  Von  dem  Kapuzenmuskel  ist  das  Sehnenield 
in  der  Umgebung  des  siebenten  Halswirbels  (Fig.  119  Nr.  i)  deatlich 
gekennzeichnet,  femer  seine  unmittelbar  nach  beiden  Seiten  sich  an- 
schließenden starken  Muskelbündel,  welche  nach  dem  Akromion  hin- 
ziehen, endlich  ist  der  äußerö  Rand  desselben  Muskels,  und  zwar  auf 
der  linken  Seite  (Fig.  119  Nr.  i')  mit  sicherer  Linie  angedeutet 

b.    Tiefliegende  Muskelgmppe. 

Nach  Entfernung  der  hochliegenden  Gruppe  findet  sich  zunächst: 
Der  hintere  obere  sägeförmige  Muskel  (M.  serratus  pattkiu 

superior),   ein  platter,   dünner  Muskel,    der  von  dem   rautenförmigen 

bedeckt  ist. 

Er  entspringt  mit  breiter  dünner  Sehne  vom  unteren  Teile  des  Nackenbandea 
und  den  Domen  des  siebenten  Hals-  und  der  zwei  oder  drei  oberen  BnutwirbeL 
Ansatz  mit  vier  fleischigen  Zacken  an  die  zweite  bis  fiinfte  Hippe  seitlich  vom 
Rippenwinkel.    Wirkung:  hebt  die  oberen  Rippen.    Weit  entfernt  von  ihm  Uegt: 

Der  hintere  untere  sägeförmige  Muskel  (M.  serratus  postieus 
inferior).  Er  ist  gleichfalls  sehr  dünn  und  wird  von  dem  breitesten 
Rückenmuskel  vollständig  bedeckt. 


Muskeln  des  Rampfes.  391 

Mittels  einer  dünneu  Ursprungsseime  kommt  der  Muskel  von  den  Domen  der 
swei  unteren  Brustwirbel  und  der  oberen  Lendenwirbel  her.  Diese  Sehne,  deren 
Ursprung  mit  der  Rückenfascie  sehr  innig  verwachsen  ist,  läuft  in  vier  fleischigen 
SSacken  aus,  welche  schräg  nach  außen  und  oben  ziehen,  um  sich  an  den  vier 
letzten  Rippen  zu  befestigen.    Wirkung:   Zieht  die  vier  letzten  Rippen  herab. 

Diese  beiden  Muskeln  sind  wegen  ihrer  mangelhaften  Entwicke- 
lung  von  geringem  Einfluß  auf  die  Formen  des  Rückens.  Es  ist  fest- 
g^estellt,  daß  sie  bei  dem  Menschen  verkümmerte  und  getrennte  Beste 
einer  bei  den  Nagern  (Kaninchen)  noch  in  voller  Ausdehnung  er- 
haltenen Muskellage  darstellen.  —  Anders  verhält  es  sich  mit  der  nun 
folgenden  Muskelschichte ,  die  langgezogen  sich  von  dem  Kreuzbein 
bis  zum  Schädel  erstreckt.  Nach  Ursprung  und  Ansatz  sowie  auch 
nach  Verlauf  der  Bündel  lassen  sich  mehrere  übereinander  liegende 
Abschnitte  unterscheiden ,  von  denen  sogar  einzelne  zu  selbständigen 
Muskeln  werden,  und  verschiedene  Wirkung  ausüben.  Wo  wir  dieser 
Muskelmasse  begegnen,  sei  es  im  Lenden-,  Bücken-  oder  Halsteil, 
überall  sind  aber  ihre  Bündel  dennoch  Teile  eines  und  desselben 
Systemes,  das  der  leichteren  Übersicht  halber  in  einzelne  Muskeln 
zerlegt  wird.  Wir  werden  sie  nach  ihrem  Werte  für  die  Plastik  der 
Beihe  nach  aufführen.  Diese  Beihe  entspricht,  wenigstens  der  Haupt- 
sache nach,  auch  der  anatomischen  Gliederung. 

Der  gemeinschaftliche  Bückenstrecker  (M.  extensor  dorsi 
communis  Fig.  120  Nr.  1—6)  entspringt  von  der  hinteren  Fläche  des 
Kreuzbeines  (bei  Nr.  i),  von  den  Dornfortsätzen  der  Lendenwirbel  (bei 
Nr.  2)  und  dem  hintersten  Teile  des  Hüftbeines  (bei  Nr.  3).  Dieser  Ur- 
sprung ist  in  der  Tiefe  fleischig,  aber  an  der  Oberfläche  von  einer 
starken  Sehne  bedeckt,  die  sich  kopfwärts  bis  zu  dem  zehnten  Brust- 
wirbel allmählich  verjüngt,  während  seitlich  der  Muskelbauch  (bei 
Nr.  4),  von  keiner  Sehne  eingeengt,  voll  bemerkbar  wird.  An  der 
Fig.  120  ist  auf  der  linken  Seite  der  gemeinschaftliche  Bückenstrecker 
so  dargestellt,  wie  er  nach  Wegnahme  der  Haut  und  der  ihn  be- 
deckenden Muskelschichten  bei  einem  Fechter  in  der  Stellung  des 
Borghesischen  zum  Vorschein  kommen  würde,  rechts  sind  die  Kon- 
turen der  Muskeln  angegeben,  welche  durch  die  Haut  hindurch  er- 
kennbar sind,  und  zwar  bei  Nr.  iv  der  ebenerwähnte  sehnenfreie 
Muskelbauch  des  Bückenstreckers,  bei  Nr.  in  eine  äußere  Portion,  bei 
Nr.  n  eine  innere  Portion  seines  Ursprunges. 

Der  Verlauf  des  Muskels  erstreckt  sich  dem  ganzen  Bücken  ent- 
lang bis  zu  dem  Hinterhaupt  hinauf,  wobei  er  sich  an  die  hinteren 
Enden  der  Bippen  (Fig.  120  Nr.  5)  und  an  die  hintere  Fläche  der 
Querfortsätze  der  Wirbel  befestigt.  Wirkung:  die  vereinigte  Thätig- 
keit  aller  Bündel  streckt  den  gekrümmten  Bücken  und,  auf  einer  Seite 


392  Neunter  Abschnitt. 

wirkend ,  biegt  dieser  Muskel  die  Wirbelsäule  nach  der  Seite  (Rompf. 
beuge  nach  rechts  oder  links).  Li  der  auf  der  Fig.  120  abgebildeten 
Stellung  des  Körpers  verhindert  der  Muskel  durch  seinen  Zug,  dat 
der  Rumpf  noch  mehr  nach  vom  sinke. 

Der  gemeinschaftliche  Kückenstrecker  zeigt  sowohl  an  seinem  Ur- 
sprung, als  in  seinem  Verlauf  eine  Längsspaltung.  Die  beschreibend« 
Anatomie  belegt  die  beiden  Teilstücke  mit  verschiedenen  Namen.  Die 
seitlich  liegende  Muskelportion  heißt  der  Darmbein -Bippenmnskel. 
die  am  nächsten  der  Mittellinie  liegende  Portion  der  längste  Bücken- 
muskel. Diese  beiden  Abteilungen  haben,  wie  die  Erfahrung  lehrt 
keine  vollkommen  übereinstimmende  Wirkungsart,  das  geht  sowohl 
aus  ihrem.  Verlauf  als  aus  ihrem  Verhalten  bei  der  Bewegung  des 
Rumpfes  hervor.  Bei  dem  ruhigen  Vorwärtsschreiten  ziehen  sie  sich 
nicht  gleichmäßig  zusammen,  sondern  abwechselnd,  und  so  kommt  es, 
daß  diese  beiden  Hauptabteilungen  ebenso  durch  die  Haut  des  Leben- 
den hindurch  erkennbar  sind,  wie  sie  sich  an  der  Lieiche  mit  dem 
Messer  nachweisen  lassen.  Li  Fig.  117  bezeichnet  Nr.  ii  den  Dann- 
bein-Bippenmuskel, und  Nr.  12  den  längsten  Bückenmuskel. 

Der  Darmbein-Rippenmuskel  M.  ilco-costalis  Fig.  120  Nr.  4-5)  besteht  tu 
derjenigen  Portion  des  gemeinschaftlichen  Rückenstreckers,  welche  vom  hinteren 
Teile  des  Darmbeinkammes  entspringt,  und  sich  längs  der  Kippen  aufwärts  bis  n 
dem  unteren  Teil  der  Hals\i'irbelsäule  erstreckt.  Die  an  den  untersten  Rippen  be 
festigten  Zacken  sind  breit  und  fleischig,  die  oberen  werden  nach  und  nach  dfinner 
und  setzen  sich  mit  deutlichen  glänzenden  Sehnen  an  den  Rippenwiukeln  und  an 
den  Spitzen  der  Querfortsätze  fest,  hören  jedoch  am  dritten,  bisweilen  schon  am 
vierten  Halswirbel  auf.  Der  Muskel  würde  trotz  seiner  anfänglichen  Stärke  nicht 
ausreichen,  um  allen  Rippen  und.  allen  Querfortsätzen,  an  denen  er  vorbeizieht 
eine  Zacke,  im  Ganzen  mehr  als  30  Fleichbündel  abzugeben.  Dies  wird  nur  da- 
durch möglich,  dass  neue  Ursprünge,  sog.  acccssorische  Bündel,  von  den  fünf 
bis  sieben  unteren  Rippen  hinzukommen,  und  den  Verlust  von  der  inneren  Seit^ 
her  teilweise  wieder  ausgleichen,  der  durch  Abgabe  der  Bündel  an  der  äußeren  Seite 
erfolgt.  Dennoch  erschöj)ft  sich  nach  und  nach  die  Fleischmasse,  und  am  dritten, 
oft  schon  am  vierten  Halswir])el  findet  der  Muskel  sein  Ende. 

Der  längste  Rückenmuskel  (M.  lonyissimus  dorsi  in  Fig.  117  bei  Nr.  12 
durch  die  Sehne  des  breitesten  Rückoinnu8k(>ls  hindurch  erkennbar  und  Fig.  120 
Nr.  1—3)  hat  einen  ähnlichen  Bau,  wie  der  mit  ihm  durch  Ursprung  und  Verlauf  ver- 
wandte Nachbar.  Der  FleLschbauch  des  längsten  Rückenmuskels  wird  bauptBäehlidi 
durch  die  vom  Kreuzbein  kommende  Fleiwhiujisse  vorgestellt.  Dazu  konunen 
starke,  von  den  Domfortsätzen  der  LendenwirlK^l  kommende  Ursprungssebnen.  Am 
Lenden-  und  Brustteil  des  Rückens  besitzt  der  Muskel  doppelte  Ansätze,  solche  die 
an  die  Querfortsätze,  und  andere,  welche  an  die  Rippen  treten.  Er  gelangt  bis  zu 
dem  zweiten  Halswirbel  und  bis  zu  dem  Warzenfortsatz  des  Sehädels  in  die  Hohe, 
aber  nur  dadurch,  daß  auch  ihm  aecessorische  Fleischbündel  zugeführt  werden, 
welche  mit  langen  Sehnen  von  den  Querfortsätzen  der  Wirbel  herkommen. 

Zu   dem  System   des   gemeinschaftlichen  Bückenstreckers  gehört 
noch  eine  Reihe  von  Muskeln,  die  kurz  genannt  werden  sollen: 


UiulMln  dci  Bump&«. 


Der  Baaschmuskel  (M.  splenäu)  bildet  eine  der  oberen  Brust- 
legion  und  dem  Nacken  zukommende  Muskelschichte,  von  dem  Kapuzeu- 


Fig.  120.    Der  BorghesJBchc  Fechter,  linlu  der  gemeinschaftliche  Räcken- 
strecker  da^;estellt,  richte  die  Konturen  der  RückenmuHkeln. 


.  Unpnmg  d.   g.  Rück«utrcckera  ui 

dem  KreuibeiD. 
,  2,  3.   lingatei  BückeniDusktl. 
.  Dannbein-EippeiiinaBkel, 
■  Anntaacken  so  den  Rippenniukela. 
.  Fortacisniig  tum  Nacken  und  Uiutcr- 


II.  I.ÄDggter  Bückenmuskel. 

III.  DarmbeJD-Bippcnmuikel. 

IV.  MuBketbauch. 

VI.  Unt.  Rand  d.  breit.  Rücken miukels. 
VII.  Ob.  Rand  d.  breitat.  Rückenmusk. 
VIII.  Kapuienmuikel. 
DC.  Sägemodcel. 
X.  Hinterer  Band  des  Deltamuskel». 


394  Neonter  Ab^hnitt 

muskel,  dem  rautenförmigen  Muskel,  und  dem  hinteren  oberen  Sige- 
muskel  bedeckt.  Der  Bauschmuskel  entspringt  von  den  DomfortdUiea 
der  oberen  sechs  Brustwirbel  und  der  anstoßenden  Halswirbel;  der 
platte  Muskelbauch  steigt  schräg  nach  aufwärts  und  spaltet  sich  in 
zwei  Portionen,  von  denen  die  eine  sich  an  dem  Hinterhauptsbein  b»* 
festigt  und  zwar  an  der  oberen  Nackenlinie  gegen  das  Ohr  zu,  wik* 
rend  die  andere  an  dem  hinteren  Bande  des  Warzenfortsatzes  ihm 
Ansatzpunkt  findet.  Wirkung:  Die  beiden  Bauschmuskeln  streckoi 
den  Kopf  mit  der  Halswirbelsäule.  Bei  einseitiger  Aktion  wirkt  der 
Bauschmuskel  auf  die  Drehbewegung  des  Kopfes. 

Entfernt  man  den  gemeinschaftlichen  Bückenstrecker  und  den 
Bauschmuskel,  dann  erscheinen  Fleischbündel,  die  von  Wirbeldomen 
entspringen,  und  an  solche  sich  inserieren,  mit  Überspringen  minde- 
stens eines  Wirbels.  Solche  Bündel  bilden  einen  zur  Seite  der  Dom- 
fortsätze verlaufenden  Muskelbauch,  aus  welchem  nach  und  nach  die 
Ansatzbündel  sich  ablösen.  Am  Brustteile  der  Wirbelsäule  entstdit 
so  der  Dornmuskel  des  Rückens  (M,  spirudis  darsi).  Eine  gau 
ähnliche  Anordnung  von  Fleischbündeln  kommt  nach  Ursprung  und 
Verlauf  an  den  Domen  der  obersten  Brustwirbel  und  der  Halswirbel 
vor.  Die  betreffende  Reihe  von  Fleischbündeln  heißt:  Dornmuskel 
des  Nackens  (M.  spinalis  cervicis). 

Während  diese  Muskeln  von  Wirbeldomen  zu  Wirbeldomen  ziehen, 
verlaufen  andere  von  den  Querfortsätzen  entspringend  zu  den  Wirbel- 
domen. Diese  Muskeln  ziehen  der  ganzen  Wirbelsäule  entlang.  Man 
unterscheidet  einen  Halbdornmuskel  des  Rückens  (äL  semtspinalu 
dorsi)  und  einen  Halbdornmuskel  des  Nackens  (M,  semispinahs 
cervicis).  Der  letztere  setzt  sich  bis  zu  dem  Hinterhaupt  fort,  und 
befestigt  sich  dort  unterhalb  der  Nackenlinie.  Dieser  letzte  dicht  am 
Schädel  liegende  Abschnitt  ist  durch  eine  Sehneninskription  ausge- 
zeichnet, welche  mit  den  Inskriptionen  des  geraden  Bauchmuskels  viel 
Ähnlichkeit  hat. 

Den  Nachtrab  dieses  zahlreichen  Heeres  von  langen  Hücken- 
muskeln  bilden  die  kurzen.  Sie  liegen  unmittelbar  auf  den  Wirbeb, 
und  bilden  kurze,  fleischig  sehnige  Muskelkörper,  welche  entweder 
zwischen  je  zwei  Wirbeln  sich  wiederholen,  oder  einen  Wirbel  über- 
springen. Sie  ziehen  wie  die  vorerwähnten  von  den  Querfortsätzen 
zu  den  Dornfortsätzen. 

Der  vielgeteilte  Rückenmuskel  (M.  multifidus  spinae)  besteht 
in  einer  Reihenfolge  vieler  kui-zer  und  schiefer  Muskelbündel,  welche 
von  den  Gelenk-  und  Querfortsätzen  unterer  Wirbel  zu  den  Dom- 
fortsätzen oberer  Wirbel  hinziehen.     Die  letzte  Schichte  von  Muskel- 


Muikelii  det  Bnmpfe«.  395 

bftndeln  hat  einen  fast  queren  Verlauf.  Sie  ziehen  von  ihren  Ur- 
sprungspunkten, vom  oberen  Band  der  Querfortsätze  zur  Basis  der 
hoher  gelegenen  Domfortsätze,  und  werden  als  Drehmuskeln  (Bo- 
tatores)  bezeichnet.  Je  mehr  die  Bichtung  eines  Bündels  sich  der 
queren  nähert,  desto  leichter  wird  seine  Zusammenziehung  eine 
Drehung  des  darüber  liegenden  Wirbels  auf  dem  darunterliegenden 
bewirken.  Abgesehen  von  einigen  unbedeutenden  Muskeln  verdienen 
noch  Erwähnung: 

0.  Die  Muskeln  swiiohen  Hinterhaupt  und  den  ersten  Halswirbeln. 

Eine  Gruppe  kleiner,  aber  im  Verhältnis  zu  ihrer  geringen  Länge 
starker  Muskeln  lagert  in  der  Tiefe  des  Nackens,  und  erstreckt  sich 
von  den  beiden  ersten  Halswirbeln  zum  Hinterhaupt.  Für  die  Be- 
wegung des  Kopfes  auf  den  beiden  ersten  Halswirbeln  ist  nämlich 
eine  eigene  Muskulatur  notwendig,  weil  nur  sehr  wenige  der  Bücken- 
muskeln  für  die  Bewegung  des  Kopfes  direkt  verwendbar  sind. 

Der  große  gerade  Kopfmuskel  (M,  reclus  capitis  mcy'or),  fünf  Centimeter 
lang,  entspringt  vom  Dom  des  zweiten  Halswirbels,  überschreitet  den  Bogen  des 
Atlas,  wird  im  Aufsteigen  breiter,  und  setzt  sich  an  der  unteren  Nackenlinie  fest. 
Wirkt  beim  Strecken  des  Kopfes. 

Der  kleine  gerade  Kopfmuskel  (M,  rectus  capitis  minor)  geht  von  dem 
hinteren  Umfiemg  des  Atlas  zu  derselben  Ansatzstelle  wie  der  große,  er  unterstützt 
ihn  auch  in  seiner  Wirkung. 

Der  seitliche  gerade  Kopfmuskel  (M,  rectus  capitis  lateralis)  entspringt 
von  dem  Querfortsatz  des  Atlas,  und  läuft  gerade  empor  zum  Hinterhauptsbein. 

Der  obere  schiefe  Kopfmuskel  (M,  obliqutis  c-apitis  superior)  entspringt 
von  dem  Querfortsatz  des  Atlas,  und  endigt  schräge  nach  oben  laufend  an  der 
unteren  Nackenlinie  des  Hinterhauptes  nahe  der  Mittellinie.  Auch  er  ist  ein  Strecker 
des  Kopfes. 

Der  untere  schiefe  Kopfmuskel  (M.  ohliquus  capitis  inferior)  begiebt 
sich  vom  Domfortsatz  des  zweiten  Halswirbels  nach  oben  zum  Querfortsatz  des 
Atlas.  Dreht  den  Atlas,  und  somit  auch  den  Kopf,  welcher  vom  Atlas  ge- 
tragen wird.  

Die  tiefe  Schichte  der  Bückenmuskeln  springt  in  der  Lenden- 
gegend jederseits  als  praller  Strang  so  stark  hervor ,  daß  die  Dorn- 
fortsätze der  Wirbel  dadurch  in  eine  vertiefte  Linie  versenkt  er- 
scheinen. (Vergl.  die  Fig.  117.)  Bei  der  Bumpfbeuge  wandelt  sich 
die  Mittelfurche  des  Bückens  in  einen  Kamm  um,  dessen  einzelne 
Zähne  die  im  Belief  vorspringenden  Domfortsätze  bilden.  Die  Ent- 
fernung der  Domfortsätze  der  Lendenwirbel  von  einander  steigert 
sich  dabei  ganz  besonders,  ebenso  rücken  die  Domfortsätze  der  oberen 
zwei  Brustwirbel  und  der  unteren  Halswirbel  beträchtlich  auseinander. 


396  Neunter  Abuchiiitt. 

Weniger  auffallend  ist  die  Erscheinung  in  dem  übrigen  Teil  der  Bnui. 
Wirbelsäule    wegen    des    dachziegelformigen    Übereinanderliegens  der 
Dornfortsätze.    Bei  abgemagerten  Menschen  fehlt  auch  bei  gestrecktes 
Kücken  wegen  des  Schwundes  der  Muskeln  die  Einne^  an  deren  Stelle 
vielmehr  die  Reihe  der  Doinfortsätze  vorspringt.    Auf  der  Krenzbdn- 
fläche  kommen  dann  die  rudimentären  Dom-  und  Querfortsätze  zun 
Vorschein,  und  bei  der  gespannten  Haut  erscheint    auch  die  Grenze 
zwischen  Wirbelsäule  und  Kreuzbein  in  Form  eines   leicht  einsin- 
genden Winkels.    Die  prallen  Stränge  des  gemeinschaftlichen  Bücken- 
Streckers  verlieren  sich  auf  dem  Weg  gegen  den  Kopf  hinauf.    Die 
Abnahme  ihres  Umfanges  ist  jedoch  nicht  so  bedeutend,   daß  sie  sidi 
nicht   doch   durch   die   Fleichschichte   des   Kapuzenmuskels   hindnrdi 
erkennen  ließen.    Das  Studium  der  Natur  ist  hier  vor  allem  lehrreicli; 
als  Vorbereitung    hierfür   mögen   die    Figuren   117    und   119    dienen. 
Michelangelo' s  Skizze  ist  dabei  wertvoll,  weil  die  einzelnen  Formen 
wie   mit   Frakturschrift   geschrieben   sind.      Fig.  119    Nr.  3    zeigt  den 
Muskelbauch  des  gemeinschaftlichen  Rückenstreckers  mit  fester  Linie 
an,  und  ebenso  seinen  Verlauf  nach  aufwärts,  der  trotz  des  Kapnzen- 
muskels,  bei  Nr.  i',  dennoch  erkennbar  bleibt. 

Die  derbe,  prall  anliegende  Haut  des  Rückens  und  die  gleichmäßige  Ftibe 
lassen  am  Lebenden  den  ganzen  Verlauf  dieser  gewaltigen  Streckmuskeln  leiditer 
beurteilen,  als  selbst  ein  anatomisches  Präparat,  an  welchem  die  Haut  and  die 
Kückenfascie  entfernt  ist.  Dennoch  ist  auch  in  Fig.  117  der  Zug  des  gemeinachtft- 
liehen  Streckmuskels  nach  aufwärts  festzustellen  und  zu  erkennen,  welch  groBtn 
Einfluß  auf  die  Formen  selbst  tiefliegende  Muskelmasscn  besitzen,  und  wie  das  Aag« 
des  Geübten  imstande  ist,  durch  Haut  und  Muskeln  hindurch  die  untencheidendn 
Merkmale  aufzufinden.  Auch  dem  Nacken  entlang  ist  der  Verlauf  des  Strecken 
der  Wirbelsäule  zu  verfolgen.  Die  Wölbung  zu  beiden  Seiten  des  Naekenbaiidcs 
rührt  von  ihm  her,  denn  der  Kapuzenmuskel  besitzt  in  der  Nähe  des  Hinterhauptes 
nur  eine  geringe  Dicke,  läßt  also  die  Massen  des  darunterliegenden  Dom-  und  Halb- 
dornmuskels  und  des  Bauschmuskels  verstehen,  welche  die  Stärke  des  Nackens  be- 
dingen helfen. 

Die  Wirkung  des  gemeinschaftlichen  Rückenstreckers  wurde 
schon  kurz  betont.  Nachdem  jetzt  der  komplizierte  Verlauf  seiner 
hoch-  und  tiefliegenden  Schichten  bekannt  ist,  soll  noch  auf  folgendes 
aufmerksam  gemacht  werden.  Während  des  Stehens  und  Gehen? 
haben  seine  verschiedenen  Portionen  die  Balance  des  Körpers 
herzustellen.  Es  ist  dies  eine  schwierige  Aufgabe«  denn  an  der 
aus  beweglichen  Stücken  zusammengesetzten  Wirbelsäule  hängt  das 
ganze  Gewicht  der  Bauch-  und  Brusteingeweide  und  überdies  das- 
jenige der  beiden  Arme.  Welchen  Aufwand  von  E^raft  und  Übung 
schon  das  Stehen  erfordert,  tritt  bei  den  ersten  Versuchen  des  Kindes 
deutlich  vor  Augen.  Kaum  ist  es  frei  hingestellt,  so  beginnen  die 
Schwankungen  und  besonders  nach  vorwärts,  weil  die  Eingeweide  nach 


Muikeln  des  Rumpfes.  397 

▼om  von  der  Wirbelsäule  liegen.  Durch  die  Thätigkeit  der  Rücken- 
strecker  wird  der  Zug  des  Gewichtes  nach  vom  zwar  einige  Zeit 
überwunden,  aber  sehr  bald  tritt  Ermüdung  der  noch  wenig  geübten 
Rttckenstrecker  ein  und  das  Kind  stürzt  nach  vorn  auf  die  Händchen, 
welche  im  Gefühl  der  Unsicherheit  schon  längst  ausgestreckt  wurden. 
Bei  den  ersten  Gehversuchen  kehrt  dieselbe  Erscheinung  wieder.  Bei 
jedem  Schritt  droht  der  Körper  des  Kindes  nach  vorne  überzukippen 
und  nur  eine  kräftige  Zusammenziehung  der  Rückenstrecker  vermag 
den  drohenden  Fall  zu  beseitigen.  Erst  nach  vielen  vergeblichen 
Anstrengungen  ist  jenes  Maß  von  Übung  und  Kraft  eireicht,  der 
Schwerlinie  des  Rumpfes  ihren  Unterstützungspunkt  zu  geben  und 
dadurch  das  Gleichgewicht  herzustellen.  —  Ahnliche  Erscheinungen 
kehren  bei  dem  trunkenen. Zecher  wieder.  Der  Alkohol  hebt  die  Herr- 
schaft des  Willens  über  die  Muskeln  teilweise  auf,  sie  ziehen  sich  ent- 
weder verspätet  oder  zu  stark  zusammen,  oder  der  Willensimpuls 
springt  auf  andere  Muskelgruppen  über,  deren  Zusammenziehung  zweck- 
lose Bewegungen  hervorruft.  Auch  die  Rückenstrecker,  welche  den 
einmal  gelernten  Dienst  sonst  mit  großer  Sicherheit  und  unbewußt  voll- 
bringen, künden  den  Gehorsam.  Der  Köri)er  verliert  das  Gleich- 
gewicht und  droht  nach  vorne  zu  fallen.  Dann  beginnt  jener  seltsame 
Wettlauf,  um  den  nach  vorn  stürzenden  Oberkörper  wieder  mit  Hilfe 
der  Rückenstrecker  in  die  Gleichgewichtslage  zurückzubringen.  Gelingt 
dies  nicht  schon  nach  einigen  Schritten,  dann  ist  der  endliche  Fall 
unausbleiblich,  wenn  nicht  eine  rettende  Planke  den  weit  vorgestreck- 
ten Armen  sich  darbietet. 

Bei  der  Seitwärtsbiegung  des  Rumpfes  ist  nicht  allein  der 
gemeinschaftliche  Rückenstrecker,  sondern  es  sind  auch  die  Bauch- 
muskeln der  betreffenden  Seite  beteiligt,  Schulter  und  Hüfte  rücken 
sich  näher,  während  sie  sich  auf  der  entgegengesetzten  Seite  entfernen. 
Auf  der  eingeknickten  Seite  verkleinern  sich  auch  die  Zwischenrippen- 
räume, die  letzten  drei  Rippen  schieben  sich  sogar  unter  den  Hüft- 
beinkamm hinein  und  die  Haut  staut  sich  auf,  wie  dies  schon  in 
einem  früheren  Abschnitt  (S.  53  u.  ff.)  erwähnt  wurde.  Auf  der  ent- 
gegengesetzten Seite  findet  in  jeder  Hinsicht  das  Gegenteil  statt.  Hier 
besteht  Spannung  der  Haut,  die  Seite  ist  gewölbt,  es  markieren  sich 
alle  Teile  des  Skelettes,  auch  die  Muskelmassen  des  Rückenstreckers, 
besonders  deren  äußerer  Rand,  denn  der  Rückenstrecker  hat  die 
Aufgabe,  die  Rumpfbeuge  zu  überwachen,  damit  der  Körper  nicht 
zusammenknicke.  Er  befindet  sich  also,  obwohl  verlängert,  dennoch 
in  einem  bestimmten  Zustand  der  Kontraktion.  Bei  kräftigem  Bau 
modelliert  sich  seine  ganze  untere  Partie.  Wo  unterer  Rand  des 
Brustkorbes   und   oberer   des   Beckens    sich   von   einander   entfernen, 


398  Neunter  Abschnitt. 

entsteht  ferner  als  seitliche  Begrenzung  der  Weichen  eine  schwid 
nach  innen  konkaye  Linie.  Der  größte  Teil  dieser  ebenerwUmtea 
Zeichen  ist  in  der  Fig.  119  zu  erkennen,  soweit  sie  überhaupt  äofier- 
lich  bemerkbar  sind.  Die  Verschiebungen  der  Bippen  kann  man  an  den 
eigenen  Körper  durch  ZufUhlen  kontrollieren,  und  wer  sich  fftr  das  Ver- 
halten  der  inneren  Organe  interessiert,  den  wird  die  einfache  Uberiegimf 
lehren,  daß  auf  der  gebeugten  Seite  die  Lunge  sich  etwas  entleeren  und 
die  Eingeweide  des  Unterleibes  sich  beträchtlich  verschieben  mftssen. 

Der  gemeinschaftliche  Bückenstrecker  ist,  wenn  er  einseitig  viikt 
in  hohem  Grade  bei  der  Drehung  des  Bumpfes  beteiligt.  Seiae 
tiefen  Schichten,  welche  als  Halbdommuskeln,  als  vielgeteilter  Muskd 
und  als  kurze  Dreher  in  drei  übereinanderliegenden  Schichten  von 
den  Querfortsätzen  zu  den  Domfortsätzen  höher  gelegener  Wirbel 
hinziehen,  bewirken  die  Torsion  der  Wirbelsäule.  Sie  betrigt 
wie  weiter  oben  (S.  125)  schon  ausgeführt  wurde,  47^,  wobei  nur  die 
Botierbarkeit  zwischen  dem  dritten  Hals-  bis  zu  dem  letzten  Lenden- 
wirbel gerechnet  ist,  denn  die  Bewegungen  des  Kopfes  und  die  Drehung 
im  Becken  müssen  abgerechnet  werden,  wenn  es  sich  um  die  Wirkung 
des  gemeinschaftlichen  Bückenstreckers  und  seiner  tiefen  Portionen 
handelt.  Der  Hauptangriffspunkt  derselben  ist  namentlich  im  Bereich 
der  untersten  Brustwirbel;  dort  zwischen  dem  achten  und 
zwölften  findet  allein  schon  eine  Botation  um  28  Grade 
statt.  Der  Best  mit  19  Graden  verteilt  sich  auf  die  übrigen  Gelenl^e 
bis  zu  dem  zweiten  Hals-  und  letzten  Lendenwirbel.  Nach  einer 
Torsion  der  Wirbelsäule  rückt  die  Mittellinie  des  Brustbeines  um 
10  cm  nach  der  Seite,  während  der  Nabel  keine  Ortsveränderung  zeigt. 
Auch  die  vordere  Halsgrube  verschiebt  sich  um  die  halbe  Halsbreit« 
in  gleichem  Sinne  wie  das  Brustbein.  Auf  der  Seite  der  Drehung 
überschneidet  der  äußere  Kontur  des  großen  Brustmuskels  die  Ann- 
linie, die  sonst  geschweifte  Linie  der  Weichen  wird  fast  gerade,  das 
untere  Ende  des  Brustkorbes  wird  undeutlich,  während  auf  der  ent- 
gegengesetzten Seite  das  Ende  deutlich  hervortritt. 

Vom  Bücken  her  zeigt  sich  auf  der  Seite  der  Drehung  eine  leichte 
Senkung  des  Schulterblattes,  während  der  untere  Winkel  gleichzeitig 
etwas  absteht.  Auf  der  entgegengesetzten  Seite  geht  das  Schulterblatt 
allmählich  in  die  Höhe. 

Die  Fig.  121  zeigt  einen  Mann,  der  über  ein  Hindernis  hinweg- 
steigt und  sich  dabei  gleichzeitig  nach  rechts  wendet.  Die  Mittellinie 
der  Brust,  die  Hautfalten,  die  Stellimg  des  Nabels  und  der  äußere 
Band  des  Brustkorbes  (Fig.  121  Nr.  lo)  zeigen  die  bei  der  Torsion  der 
Wirbelsäule  mit  Notwendigkeit  eintretenden  Verschiebungen  an  der 
vorderen  Bumpffläche.  — 


Untkelii  det  Bnmpfln. 


1.  SehliuNlbein. 

2.  DutenchlOuelbeingnib«.  Spalt  iviuhen 

Ddl4-  UDd  BnutiDiukel. 

3.  AkromiftleDde  de*  SehlünelbdDM. 

4.  Akromion. 

5.  Deltamnikel. 

6.  Strecker  äe»  Oberanoes. 

7.  Sehnenfeld  des  Strecken. 

a.  Ellbogen.       S*.  E5pfchen  der  Elle. 
9.  Ltmger  SupinaCor,  am  linken  und  recb- 

9*.  Spdahenitrecker  der  Hand. 


I.  Schwellung   des  Brustmuskels  vor  dem 

Überitang  in  leine  SehDe. 
.  Langer  Strecker  der  Finji^r. 
I.  Ellenbeuge  v.  langen  Aufheber  begrenit. 
I.  Der  mnde  Pronator. 
I.  Streekenehne. 
i.  Knieacheibe. 
I.  Knieacheibenbsnd. 
'.  Spanner  der  Faacie. 
I,  Groder  Gesälintiakel. 
•■  Furche  iw.  d.  Strecker'  u.  Bengergruppe. 
I.  Beugergruppe. 


400  Nennter  Abschnitt    Mnakdii  des  Kampfes. 

Der  gemeinschaftliche  Rückenstrecker  ist  auch  bei  der  Rumpf- 
beuge nach  rückwärts  beteiligt,  welche  in  einer  Fortsetzung  der 
Streckbewegung  über  die  gerade  Haltung  des  Körpers  hinaus  bestell. 
Deshalb   bezeichnet   man   diese  Art   der  Rumpfbeuge    auch  kurz  als 
„Uberstreckung".     Die  Zusammenziehung  der  langen  Muskelmuse 
zeigt  sich  als  Verdickung  bis  zu  dem  Schulterblatt  hinauf;  allein  das 
Bild  des  verdickten  Muskels  wird  verschleiert  durch  die  gleichzeitige 
Zusammenschiebung   der   Haut,   und   in   höheren    Graden    der  über- 
Streckung  durch   die  Entstehung  von  Hautfalten.     Die  Streckung  der 
Wirbelsäule   ruft   bekanntlich  eine  Mitbewegung  in   den   GliedmtBeih 
muskeln    des   Rückens    nach   sich;    die   Schulterblätter   werden  nad 
lückwärts  gezogen  und  durch  die  Einwärtsbewegung  der  ganzen  Wirbd- 
Säule   und   das  Dickerwerden  des   Rttckenstreckers    von   der   Thoru- 
fläche  weggedrängt,  so  daß  die  Furche  zwischen  den  Schulterblättai 
sich  vertieft. 

Je  mehr  die  Überstreckung  fortschreitet,  um  so  stärker  wird  die  Konkarilft 
der  Wirbelsäule,  die  in  der  höchsten  Ausdehnung  bei  den  sogenannten  Schlanget- 
menschen  den  Anschein  der  Knickung  erhalten  kann.  Diese  Steigerung  der  mtfr- 
liehen  Überstreckung  wird  jedoch  noch  durch  andere  Umstände  ala  nur  dmdi  d« 
Wirkung  der  Kückenstrecker  erzielt.  Wenn  die  Schlangenmenschen  dasjenige 
fiihren,  was  in  ihrer  Sprache  der  „Bogen"  heißt,  dann  wird  der  Hinterkopf 
an  den  Nacken  gelegt,  und  das  Ende  der  Brustwirbelsäule  (der  11.  Brust  wirbd) 
knickt  sich  so  ein,  daß  der  Hinterkopf  schließlich  dicht  unter  dem  Gesäß  die  Bflck- 
Seite  der  Oberschenkel  berührt;  bei  dieser  Art  Bewegung  hat  der  Rückenstrecker 
wegen  der  Annäherung  seiner  Ansatzpunkte  die  Fähigkeit  der  Zusammenziehmig 
verloren.  Der  Oberköq)er  fällt  bei  einem  bestimmten  Grad  der  Überstreekiaf 
durch  seine  eigene  Schwere  herab  und  wird  sodann  im  letzten  Akt  dnxdi  die 
Arme  gegen  die  Oberschenkel  herangezogen.  Abgesehen  von  der  nnbestmtbtrei 
Dehnungsftihigkeit  der  Bänder,  welche  auf  den  Wirbelkörpem  hcrablanfen.  und 
abgesehen  von  den  dehnbaren  Zwischenwirbelscheiben,  kommt  die  passive  Deh- 
nung sämtlicher  Muskeln  an  der  Vorderseite  des  Rumpfes  in  Betracht 
Wenn  nicht  jedem  von  uns  die  Ausfühnmg  solcher  „Bogen"  gelingt,  so  liegt  der 
Grund  in  dem  Widerstand,  den  die  Antagonisten  solchen  forcierten  Bewegungen 
entgegensetzen.  Diese  „antagonistische  Hemmung"  kann  durch  Übung  in  veriiilt- 
nismäßig  kurzer  Zeit  tiberwunden  werden.* 

Die  Haut  des  Kückens  ist  bisweilen  mit  einem  starken  Haarwuchs  bedeckt 
der  besonders  auf  der  Oberfläche  der  Schulterblätter  beträchtlichen  Umfang  gewinnt 
Allein  es  ist  keine  Stelle  des  Rückens  vor  übermäßigem  Haaiw^uehs  gfinzlich  sicher. 
Sind  doch  in  der  neuesten  Zeit  viele  Fälle  von  ungewöhnlicher  Behaarung  in  der 
Kreuzbeingegend  sowohl  aus  unseren  Breiten,  als  auch  aus  Griechenland  bekannt 
geworden.  Daß  Fälle  solcher  Behaarung  in  der  Phantasie  der  Alten  sich  za  Bilden 
geschwänzter  Satyre  gestalteten,  ist  wohl  sehr  naheliegend. 

^  ViRCHow,  Hans:  Zur  Frage  der  Schlangenmenschen.  Sitzungsberichte  der 
Würzburger  phys.-med.  Gesellschaft.     1881. 


Zehnter  Abschnitt     Muskeln  der  Gliedmaßen.  401 


Zehnter  Abschnitt. 

Muskeln  der  Gliedmaßen. 

Wie   die  oberen  Gliedmaßen  in  dem  Bau  des  Skelettes   manche 
wichtige  Übereinstimmung  mit  den  unteren  aufweisen,  so  auch  in  der 
Muskulatur.     Die  Untei'schiede  der  Funktion  zwischen  den  Armen  und 
Beinen   sind   zwar  bei   dem  Menschen    am    höchsten  entwickelt:    der 
Arm  ist  ausschließlich  zu  einem  Greiforgan  geworden  und  die  ganze 
Muskulatur  ist  diesem  Zweck  angepaßt,  das  Bein  dient  dagegen  ledig- 
lich der  Fortbewegung  als  ,, Gehwerkzeug",  wie  der  klassisch  gewordene 
Ausdruck  lautet,  und  ist  deshalb  sowohl  in  den  Knochen  wie  in  den 
Muskeln  stärker  —  dennoch  erkennt  man  zwischen  beiden  Gliedmaßen 
einen  tiefen  Grad  der  Verwandtschaft,  den  auch  die  Beobachtung  der 
bewegenden  Kräfte  überall  erkennen  läßt.     Dort  wie  hier  finden  sich 
Beuger  und  Strecker,  Aufheber  und  ihre  Antagonisten,  und  Muskeln, 
welche   in   Übereinstimmimg   mit   der   Konstruktion   der   Gelenke   im 
Stande  sind,   als  Eotatoren  die  Gliedmaßen  zu  drehen.     Obwohl  der 
Fuß  eine  große  Verschiedenheit  gegenüber  der  Hand  besitzt,  so  sind 
doch    viele    Teile    seines    muskulösen    Baues    von    bemerkenswerter 
Übereinstimmung.     Die  Zehenstrecker  und  die  Zehenbeuger,  die  Mus- 
keln ftir  die  große  und  ftir  die  kleine  Zehe,  endlich  die  Motoren  für 
die  Grundphalangen  (die  Zwischenknochenmuskeln)  sind,  was  ihre  ana- 
tomische Anordnung  wie  ihre  physiologische  Wirkung  betrifft,  so  nahe 
verwandt   mit   den  Beugern   und  Streckern   der  Finger,   mit  den  be- 
wegenden  Kräften   des   Daumens   u.   s.    w.,    daß   die  Leistungen   der 
„FuBkünstler"  sich  daraus  begreifen  lassen. 

lu  der  KiuK-henlelire  (8.  185)  wurde  auf  Maler  hingewiesen,  welche  den  Pinsel 
mit  den  Zehen  führten.  In  der  neuesten  Zeit  ist  (»in  Fußkünstler  bekannt  geworden, 
den  angc»borener  Mang(>l  der  Arme  dazu  vemnhißt  hat,  die  Geschicklichkeit  seiner 
Beine  zu  entwickeln.  Er  versuchte  von  selbst  dasjenige,  was  er  andere  mit  den 
Händen  thun  sah.  mit  den  Fiiß<»n  zu  machen,  bilde^i  sich  im  Violinenspiel  aus,  und 
lernte  außenlem  no<?h  Comet  ä  piston.  Für  -die  Vergleichung  der  oberen  Gliedniaße 
mit  der  unteren  sind  solche  Menschen,  deren  Hände  durch  eine  grausame  Laune  der 
Natur  verkümmert  sind  oder  gänzlich  fehlen,  von  dem  allerh(>chsten  Interesse.  Denn 
erst  unter  solchen  rmstäud^ai  gelingt  es,  den  diirch  unsere  Kulturverhältnisse  zu 
unnatürlicher  Kühe  venlammten  Apparat  ausgebildet  und  wirksam  zu  sehen.  Einen 
Bericht  über  den  Beinkünstler  Untlian  siehe  bei  Hans  Virchow,  Beiträge  zur  Kennt- 
nis der  IV»wegungcn  d^'s  ÄJenschen.  Sitzungsbericht  der  i>hys.-med.  Gesellschaft  zu 
Würzburg. 

Kollmann,  PlaAti»che  Anatomio.  20 


402  Zehnter  Abschnitt. 

I.    Die  Muskeln  der  oberen  Gliedmaßen. 

Ein  Teil  der  die  oberen  Gliedmaßen  bewegenden  Muskeln  bedeckt 
die  Brust-   und  Rückenfläche   des  Stammes ,   und  wurde  bei  der  Be- 
schreibung jener  Gegenden  abgehandelt.     Ein  anderer  Teil  entsprinit 
vom  Schultergtirtel   und   setzt  sich  zum  Arm  fort,    es   sind  dies  die 
Muskeln  der  Schulter.     Zu  dieser  Gruppe  gehören  alle  jene  Mus- 
keln,   welche    vom   Schulterblatt  und   vom   Schlüsselbein  entspringen 
und  sich  zu  dem  Oberarm  begeben.     Wieder  andere  Muskeln  gehören 
dem  freien  Arm  an,  und  man  unterscheidet  sie  der  leichteren  Über- 
sicht wegen  in  solche,  welche  am  Oberarm,  am  Vorderarm,  und  an 
der  Hand  ihre  Lage  haben. 

A.    Die  Muskeln  der  Schulter. 

Diese  bedecken  das  Schultergelenk,  bedingen  dadurch  die  Wölbung 
der  Schultergegend,  und  bedecken  femer  das  Schulterblatt  derart, 
daß  nur  die  Schultergräte  mit  dem  Akromion  von  ihnen  frei  bleibl 
Die  Fascie  setzt  sich  von  der  Brust,  wie  von  dem  Bücken  her  auf 
die  Schulter  und  ihre  Muskeln  fort  und  bildet  eine  Schichte,  welche 
den  ganzen  Arm  überzieht,  an  den  Rändern  des  großen  Brustmuskels 
und  des  breitesten  iRückenmuskels  in  die  Achselhöhle  eintritt  und 
dort  einerseits  mit  der  Haut,  andererseits  mit  den  Gefäßen  und 
Nerven  und  Lymphdrüsen  in  Verbindung  tritt.  Einer  der  plastisch 
bedeutendsten  unter  den  Muskeln  der  Schulter  ist  der 

Deltamuskel  (M.  deltoides  Fig.  122  Nr.  i).  Er  entspringt  vom 
unteren  Band  der  Schultergräte,  von  dem  äußeren  Rand  des  Akro- 
mion und  vom  unteren  Band  des  Schlüsselbeines.  Diese  drei  ver- 
schiedenen XJrsprungspunkte  markieren  sich  so  deutlich  im  ganzen 
Bau  des  Muskels,  daß  man  sagen  kann,  er  bestehe  aus  drei  Ab- 
teilungen. Starke  Sehnenblätter  gehen  von  der  hinteren  Ecke  des  Akro- 
mion und  von  der  Stelle  des  Schulterblatt-Schlüsselbeingelenkes  in  die 
Tiefe  der  Muskelmasse  und  bedingen  einschneidende  Furchen.  Bei 
starken  Männern  treten  schon  bei  mäßiger  Anstrengung  die  starken 
sich  durcheinanderdrängenden  Muskelbündel  hervor,  welche  den  Delta- 
muskel vor  vielen  anderen  auszeichnen.  Die  Bündel  konvergieren  ab- 
wärts und  setzen  sich  an  die  dreieckige  rauhe  Fläche  an  der  Außen- 
seite in  der  Mitte  des  Oberarms  an.  Wirkung:  der  Muskel  hebt  den 
Oberarm. 

Von  dem  Brustmuskel  ist  dieser  Arinheber  getrennt  durch  eine 
tiefe  Furche,  die  nach  oben  gegen  das  Schlüsselbein  zu  breiter  wird. 
Obwohl  sie   am  Lebenden  von  Fett  erfüllt  ist,   ist  doch   eine  leichte 


Hukeln  du  Gl[edm«D«D. 


Vertiefung   selbst  bei  wohlgenährteii   IndiTidnen  zu  sehen,   besonders 
noch  deswegen,  «eil  diese  Furche  mit  der  KrUmmung  des  SchlUssel- 


Sehne  ä<a  Tricepi 


U   Lang.  Abäeh.  d.  Daumens. 
-](  Kun.  Abtieb.  d.  Daameni. 

-D  HnndrockenlHUid. 

.^  Sehne  d.  lang.  DtameDstreck. 
15  AiiMti  d.  Spelcbenitreck. 


Fig.  122.    Arm  von  der  Seite  geselieii.  - 


404  Zehnter  Abschnitt. 

beines   nach   hinten  zusammenfällt.  —  Diejenigen  Bündel    des  Delu- 
muskels,    welche   von   dem   Anfang   der  Schultergräte    kommen,  ent- 
springen  langsehnig,   eine   Eigentümlichkeit,    die    sich    dadurch  nur- 
kiert,  daß  der  sonst  gewulstete  Band  des  Deltamuskels  kurz  vorder 
Schultergräte  aufzuhören  schehit.     Die  starke  Wölbung   der  Schuller 
rührt  nicht*  ausschließlich  vom  Deltamuskel  her,    auch  der  darunter- 
liegende Gelenkkopf  des  Oberarmknochens  hat  seinen  Teil  daran.  Bei 
schwächlicher   Muskulatur,    und   im    hohen   Alter    kann    man  wef^ 
Muskelschwund   die   ganze  Form   des  Oberarmkopfes   erkennen.     Die 
scharfe  Ecke   an   dem   vorderen  Umfang  des  Deltamuskels  (Fig.  122 
bei  *)  rührt  von  der  Spitze  des  darunter  liegenden  Hackenfortsatzes  her. 
Die   hintere  Fläche   des  Schulterblattes  giebt   drei   Muskeln  den 
Ursprung,    von    denen    zwei:    der   Untergrätengrubenrauskel   und  der 
große  runde  Armmuskel,  auf  die  Formen  von  Einfluß  sind.     Die  Mus- 
keln sind  stark  und  äußerst  wirksam,  jedoch  in  großer  Ausdehnunj;, 
ja  einer,  der  Obergrätengrubenmuskel,  sogar  ganz  von  Muskeln  I>edec]a. 

Der  Obergrätcngrubcumuskel  (M,  supraspinatusj  entspringt  in  in 
Obergrätengrube,  ist  dieser  Vertiefung  entsprechend  geformt  und  geht  in  eine  rviid- 
liehe  Sehne  über,  welche  unter  dem  Akromiou  hinweg  zum  großen  Höcker  dicht  aa 
Gelenkkopf  des  Oberarms  zieht.  Dieser  Muskel  ist  vom  Kapiizenmuskel  bedtirkL 
seine  Anschwellung  beim  Aufheben  des  Armes  ^ird  also  nicht  direkt  bemerkt  wenkt 
können,  sondern  nur  indirekt  dadurch,  daß  sich  der  Kapuzenmiiskel  etwas  verdkkL 
Wirkung:  Hebt  den  Arm  und  unterstützt  die  Wirkung  des  Deltamuskels. 

Der  Untergräten  grub  enmuskel  (M.  infraspinatus  Fig.  127 
Nr.  2)  füllt  die  Untergrätengrube  aus,  doch  bedeckt  er  nicht  voUstäiidi? 
den  unteren  Winkel;  der  Muskel  zieht  schief  nach  aus-  und  aufwärts 
um  sich  an  dem  großen  Höcker  des  Oberaimknochens  festzusetzeu. 
Wirkung:  rollt  den  Arm  nach  auswärts. 

Ein  Vergleich  der  beiden  Untergrätengrubenmuskelii  rechts  und 
links  auf  Fig.  117  zeigt,  daß  bei  aufgehobenem  Arm  ein  größerer 
Teil  sichtbar  ist  als  bei  gesenktem.  Dies  rühi-t  djivon  her.  daß  die 
hintere  Abteilung  des  Deltamuskels  beim  Aufheben  des  Armes  siih 
verkürzt  und  höher  hinaufrückt,  beim  herabhängenden  Arm  dagegen 
herunter  gleitet  und  einen  großen  Teil  des  Untergrätengrubenmuskek 
wieder  verdeckt. 

Die  systematische  Anatomie  unterscheidet  an  dein  UutergTätengTubenniUskH 
einen  rundlichen  Strang  als  kleinen  runden  Armmuskcl  (Ter es  minor  . 
An  Fig.  117  Nr.  20  ist  dieser  kleine  Muskel  zu  erkennen.  Er  setzt  sich  an  eiikt 
Ix^sondercn  Stelle  des  großen  Oberarnihöckers  fest.  Nur  bei  sehr  foreit*rteu  Aa- 
strenjxungen  wird  er  sichtbar,  und  es  map  also  diese  vorübergehende  Erwähnun;: 
penüfren. 

Von  der  äußeren  Fläche  des  unteren  Schulterblattwinkels  uiid 
von  einem  Teil  des  äußeren  Randes  entspringt  der 


r 

t 

I. 


Mnskeln  der     Gliedmaßen.  405 

Große  runde  Armmuskel  (M,  teres  major  Fig.  127  Nr.  3  und 
Fig.  117  Nr.  17  u.  17'),  ein  im  Verhältnis  zu  seiner  Länge  sehr  dicker 
Muskelstrang,  der  zum  Oberarm  hinaufzieht  und  sich  mit  einer  flachen 
breiten  Sehne  und  in  Verbindung  mit  dem  breitesten  Eückenmuskel 
(an  der  Spina  tuberculi  minoris)  festsetzt.  Der  Ursprung  des  großen 
runden  Armmuskels  ist  wie  der  ganze  untere  Schulterblattwinkel  von 
dem  oberen  Rand  des  breitesten  Rückenmuskels  bedeckt.  Wirkung: 
Niederziehen  und  Einwärtsrollen  des  Armes.  Folgendes  Verhalten 
ist  von  großer  Wichtigkeit  für  das  Verständnis  der  Formen:  der  ünter- 
grätengrubenmuskel  zieht  zum  Oberarmkopf  in  die  Höhe,  der  große 
runde  Armmuskel  nach  unten  an  die  Grenze  zwischen  dem  ersten  und 
zweiten  Drittel  des  Oberarmknochens.  Diese  beiden  Muskeln  diver- 
gieren  also  von  ihrem  Ursprungspunkt  aus.  Dadurch  muß  notwendig 
ein  gegen  den -Oberarm  hin  sich  erweiternder  Spalt  entstehen  (Fig.  117 
zwischen  Nr.  I7'u.i9).  Aus  der  Tiefe  dieses  Spaltes  kommt  der  lange 
£opf  des  Vorderarmstreckers  hervor  (Fig.  117  Xr.  2i).  Läßt  man  bei 
ausgestrecktem  Arm  einen  I72  ™  hohen  Stab  kräftig  gegen  die 
Erde  drücken,  so  treten  der  Spalt  und  der  Verlauf  des  Vorderarm- 
streckers, des  Untergrätengrubenmuskels ,  der  obere  Rand  des  breite- 
sten Rückenmuskels  und  der  hintere  Rand  des  Deltamuskels  deutlich 
hervor. 

Dieselben  Formen  sind  in  der  Fig.  127  am  Rücken  und  rechten 
Arm  des  Borghesischen  Fechters  gut  zu  sehen.  Nr.  3  bezeichnet 
den  großen  runden  Armmuskel,  über  ihm  bei  Nr.  2  befindet  sich 
der  Untergrätengrubenmuskel,  zwischen  Nr.  2  u.  3  der  Spalt,  aus  welchem 
der  lange  Kopf  des  Streckmuskels  Nr.  8  hervorkommt.  Der  hintere 
Rand  des  Deltamuskels  Nr.  1  deckt  den  Verlauf  von  Nr.  2  u.  3  gegen 
den  Oberarmknochen  hin,  und  der  große  runde  Armmuskel  selbst  wird 
seinerseits  teilweise  bedeckt  von  dem  oberen  Rande  des  breitesten 
Rückenmuskels  Nr.  4. 

DaA  Studium  der  Schulterblattmuskeln  muß  zuerst  an  <;ineHi  kräftigen  Modell 
und  bei  aufgehobenem  Arm  begonnen  werden,  denn  in  solcher  Stellung  sind  die  Muskeln 
am  wenigsten  bedeckt  und  überdies  mit  Ausnahme  des  großen  runden  Armmuskels 
in  Aktion.  Der  oben  beschriebene  Spalt,  in  den  die  Haut  einsinkt,  tritt  am  deut- 
lichsten bei  der  eben  erwähnten  Prozedur  mit  dem  Stab  hervor.  Sind  erst  l)ei  for- 
cierter Bewegung  die  einzelnen  Formen  verstanden,  dann  macht  auch  ihre  Deutung 
bei  herabhängendem  Arm  keine  Schwierigkeiten  mehr. 

Die  eben  beschriebenen  Muskeln  bedecken  die  hintere  Fläche»  des  Schulter- 
blattes. Auch  die  vordere  Fläche  ist  von  einem  Muskel  bedeckt,  dem  Unter- 
schulterblattmuskel {M.  subscapularis).  Dieser  kräftige  Muskel  nimmt 
die  vertiefte  Schulterblattfläche  ein,  von  der  er  bis  auf  je  eine  schmale,  den 
unteren  und  oberen  Winkel  abgrenzende  Strecke  entspringt  Sein  Ursprung  ruft 
auf  dem  Knochen  oft  die  Entstehung  kleiner  Leisten  hervor.  P>  setzt  sich  an  dem 
kleinen   Höcker   des   Oberarmknochens    fest.     Wirkung:    rollt   den  Ann  einwärts. 


406  Zehnter  Abschnitt. 

Durch  die  Zunahme  seiner  Dicke  bei  der  Kontraktion  wird  das  Schiilteri>Utt  od 
namentlich  der  untere  Winkel  desselben  von  der  Rückenfläche  weggedringt  Bö 
Turnern,  welche  Reck  und  Barren  bevorzugen,  wird  die  Muskulatur  der  obnto 
Gliedmasse  besonders  stark.  Die  Schultermuskeln  erreichen  oft  eine  monströse  Eat- 
Wickelung  und  durch  die  Zunahme  des  Untergrätengrubenmuskels  spring;!  dai 
Schulterblatt  ungewöhnlich  vor.  Diese  einseitige  Zunahme  ist  nicht  schön,  aber  fiir 
das  Studium  der  Muskelformen  höchst  lehrreich. 

Der  Ober-  und  Untergrätengrubenmuskel,  ebenso  der  Unterschulterblattmojkri 
geben  bei  ihrem  Ansatz  au  den  entsprechenden  Knochenpunkten  auch  starke  Sehnn- 
bündel  an  die  Kapsel  des  Schultergelenkes  ab,  und  spannen  sie  dadurch  bei  OiRft 
Zusammenziehungen. 

B.    Die  Muskeln  des  Oherarmes. 

Bei  dem  Manne  ist  der  Oberarm  ein  plattgedrückter  Cylinder,  so 
daß  außen  und  innen  Flächen  entstehen,  während  er  vom  und  hinten 
mehr  gerundet  ist.  Auf  der  innern  Seite  zieht  eine  Furche  herab, 
die  Fortsetzung  der  Achselhöhle.  Sie  verläuft  dem  innern  Rand  des 
Biceps,  des  zweibäuchigen  Armmuskels  entlang  und  heißt  die  innere 
Bicepsfurche  (Fig.  125).  Schon  bei  einem  leichten  Druck  machen  sich 
in  ihr  einzelne  Stränge,  die  Armnerven,  und  die  pulsierende  Armschlag- 
ader bemerkbar.  In  einer  von  der  Fascie  gebildeten  Köhre  ziehen 
nämlich  die  Nerven  und  Schlagadern  herab  und  die  Venen  hinaoü 
Auf  der  äußeren  Armseite  ist  eine  ähnliche  aber  kürzere  Furche,  die 
äußere  Bicepsfurche.  welche  an  der  Anheftungsstelle  des  Delta- 
muskels beginnt,  um  wie  die  andere  in  der  Ellenbeuge  auszulaufen. 
Diese  beiden  Furchen  verdanken,  ebenso  wie  die  platte  Gestalt  de^* 
Oberarms,  ihre  Entstehung  der  kräftigen  Entwickelung  der  Muskulatur 
und  dem  Verhalten  der  Armfascie.  Die  letztere  umschließt  nicht 
allein  die  Muskeln,  sondern  setzt  sich  im  Bereich  dieser  Furchen  l)i> 
auf  den  Knochen  fort,  um  mit  dessen  Beinhaut  zu  verwachsen.  St» 
entstehen  zwei  Fascienscheiden,  welche  die  Gruppe  der  Beuger  und 
die  Ginippe  der  Strecker  voneinander  trennen.  Beide  Gruppen  werden 
in  ihrem  obersten  Abschnitt  von  dem  großen  Brustmuskel  und  dem 
Deltamuskel  bedeckt.  Die  starken  bandähnlichen  Blätter  der  Fascien- 
scheiden, welche  bis  auf  den  Knochen  eindringen,  werden  als  inneres 
und  äußeres  Zwischenmuskelband  (Ligamentum  intermusculart 
internum  und  externum)  bezeichnet.  Sie  dienen  auch  zum  Ursprung 
einiger  Muskelbündel. 

1)  Vordere  Muskeln  des  Oberarmes, 

Der  zweiköpfige  Armmuskel  (M,  biceps  brachii,  auch  kurz 
Biceps  genannt,  Fig.  122  Nr.  2)  hat  zwei  Ursprungsköpfe.  Der  innere 
und  kürzere  kommt  vom  Hackeufoi-tsatz  am  Schulterblatt,    er  ist  an- 


Huikelo  der  OliedmkOcD. 


fangs  noch  mit  seinem  Nachbar,  dem  Hackenmuskel,  verwachsen;  der 
andere  lange  Kopf  entspringt  von  dem  oberen  Rand  der  Gelenkpfanne. 


DelUuntukel  i 
LsQg;«  Sehne  i.  Bio.  i 
KncH  Sehne  d.  Bic.   t- 


L.  Streck.  U- 
lodieator  b- 


Jt  liunifr  SlrFcli«!  d.  Dauiueai. 


U  Sehnen  der -Daumen mmkaln. 


Fig.  123.     Der  icolitc  Arm  des  Borgheaiachen  Fechters.    Einzelne  Huskelo  sind 
nicht  ausgeführt,  doch  ist  ihre  Hautlinie  angegeben. 


Die  beiden  Köpfe  bilden  einen  länglichen  Muskelbauch,  der  über  der 
Ellenbeage  an  Umfang  rasch  abnimmt  und  in  eine  rundliche  Sehne 


408  Zehnter  AbschniH. 

übergeht,  die  sich  an  dem  Höcker  des  Radius  festsetzt  (Fig.  123  5r.  i\ 
Vermöge  des  Ansatzes  an  dem  beweglichen  Radius   kann   der  Moskd 
nicht  allein  den  Arm  beugen,  sondern  vermag  auch  als  Auswärtsdreher 
der  Hand,  als  Supinator   zu  wirken  (siehe  S.  164).     Von  dem  inneren 
Rand   der   Ansatzsehne   geht,   bevor   sie   in  die  Ellenbeuge  tritt,  ein 
breites    Sehnen  band   ab,    das  in  die  Kategorie  der  sehniggewordenen 
Muskelabschnitte   gehört.     Dieser   Fascikel  (Lacertus  fibroms)  wendet 
sich  schräg  nach  innen  (Fig.  124  Nr.  15),   um  die  Fascie  des  Vorder- 
arms  zu   verstärken.     Im  Zustand   der  Zusammenziehung    bildet  der 
Biceps  einen  prallen  Vorsprung,    an  dessen  Rändern  die  Bieepsfurche 
herabläuft. 

Während  der  Zusammenzichung  lassen  sich  an  dem  Biceps  einige  benierko»- 
werte  Eigentümlichkeiten  beobachten.  Schon  bei  einem  mäßigen  Grad  der  Anstren- 
gung kann  man  die  Trennungslinie  zwischen  beiden  Ursprungsköpfen  deutiieh  w- 
kennen.  Bei  gesteigerter  Anstrengimg  tritt  im  Bereich  des  kurzes  Kopfes  dort 
wo  er  unter  dem  Pectoralis  hervorkommt,  eine  Abplattung  auf.  Sie  rührt  davioi 
her,  daß  die  Sehne  fächerförmig  sich  über  den  Muskelbauch  fortsetzt.  An  dem 
unteren  Ende  des  Muskels  kehrt  dieselbe  Erscheinung  wieder,  weil  die  Sehne  sek 
fächerförmig  auch  von  der  Oberfläche  des  Muskels  her  entwickelt. 

Im  Anfang  einer  starken  Beugung  wird  an  der  Innern  Seite  des  Vorderuiu 
der  fingerbreite  Sehnenfaszikel  bemerkbar.  Bei  kräftig  entwickelten  Vorderann- 
muskeln bringt  er  auf  dem  runden  Pronator  eine  rinnenartige  Vertiefung 
hervor.     Sie  ist  um  so  tiefer,  je  kräftiger  die  Muskulatur  und  je  stärker  der  Zog. 

Der  Hackenmuskel  (M,  coracobrachialis  Fig.  124  Nr.  13)  ent- 
springt gemeinschaftlich  mit  dem  kurzen  Kopf  des  Biceps  vom  Hacken- 
fortsatz, bildet  einen  schlanken,  dem  Biceps  nach  innen  dicht  an- 
gelagerten Bauch,  der  sich  an  dem  innern  Rand  des  Oberarmknochens, 
in  der  Mitte  der  Länge  desselben  festsetzt.  Wirkung:  hilft  den  Arm 
heben,  ist  deshalb  bei  erhobenem  Arm  gespannt,  und  springt  als 
schmaler  Strang  an  dem  oberen  Ende  der  Bieepsfurche  hervor  (Fig.  125 
Nr.  3).     Unter  dem  Biceps  liegt: 

Der  innere  Armmuskel  (M,  brachialis  internus  Fig.  122  und  123 
Nr.  3).  Mit  seinem  Ursprung  umfaßt  er  gabelförmig  den  Ansatz  des 
Deltamuskels,  verstärkt  sich  auf  seinem  Zuge  nach  abwärts  durch 
Muskelbündel  sowohl  von  dem  äußeren  als  inneren  Zwischenmuskel- 
band  und  geht  über  das  Ellbogengelenk  hinweg  zur  Rauhigkeit  der 
Ulna.  Dieser  Muskel  überragt  zu  beiden  Seiten  den  Biceps,  und  zwar 
wird  der  äußere  Rand  am  Lebenden  unmittelbar  unter  dem  Ansatz 
des  Deltamuskelns  sichtbar,  aber  nur  in  einer  Länge  von  unge- 
fähr 10  cm,  denn  der  nach  außen,  in  dem  unteren  Drittel  des 
Vorderarmes  entspringende  lange  Supinator  (Fig.  122  No.  e)  verdeckt 
den    übrigen  Teil;   der   innere  Muskelrand   tritt   als   ein   schief   nach 


Muskeln  der  Güedmaßen.  409 

der  Ellenbeuge    zustrebender   2  cm   breiter   und  10  cm  langer  Wulst 
bei  starker  Beugung  hervor  (vergl.  Fig.  124  No.  4). 

2)  Hintere  Muskeln   des   Oberarmes. 

Der  dreiköpfige  Vorderarmstrecker  (M,  triceps  brachü,  kurz 
als  Triceps  bezeichnet,  Fig.  122  Nr.  4  u.  4)  setzt  sich,  wie  schon  der 
Name  andeutet,  aus  drei  Köpfen  zusammen,  die  sich  am  unteren 
Drittel  des  Oberarmes  vereinigen,  um  sich  mit  einer  starken  breiten 
Sehne  am  Ellbogen  zu  befestigen.  Der  lange  Kopf  kommt  vom 
äußeren  Rand  des  Schulterblattes  dicht  an  der  Gelenkpfanne  mit 
einer  5  cm  langen  Sehne,  aus  der  sich  rasch  der  beträchtliche 
Muskelstrang  entwickelt.  Schon  oben  wurde  erwähnt,  wie  dieser 
Muskelkopf  aus  dem  Spalt  zwischen  Untergrätengrubenmuskel  und  dem 
großen  runden  Armmuskel  hervorkomme.  Die  Sehne  erstreckt  sich 
in  einer  dünnen  Schichte  über  die  Oberfläche  dieses  Kopfes  herab 
(Fig.  124  Nr.  1).  Der  äußere  Kopf  (Fig.  122  Nr.  4  u.  4')  entspringt 
längs  einer  Linie,  welche  von  der  Ansatzstelle  des  Untergrätengruben- 
muskels  bis  gegen  das  untere  Drittel  des  Oberarmes  reicht.  Die 
Bündel  laufen  schräg  herab,  um  die  gemeinschaftliche  Ansatzsehne 
zu  erreichen.  Der  innere  Kopf,  der  kleinste,  beginnt  unter  der  An- 
satzstelle des  breitesten  Rückenmuskels.  AUch  seine  Bündel  (Fig.  124 
Nr.  2)  haben  einen  schrägen  Verlauf,  und  steuern  auf  die  gemein- 
schaftliche Ansatzsehne  zu.  Diese  stellt  ein  in  die  Länge  gezogenes 
Fünfeck  dar,  dessen  Spitze  nach  oben  ragt.  Bei  dünner  Haut  wird 
diese  Sehne,  namentlich  während  der  Zusammenziehung  des  Muskels, 
als  eine  vertiefte  Fläche  wahrgenommen.  Sie  wird  noch  besonders 
dadurch  deutlich,  daß  Fleischbündel  des  Triceps  sie  auf  der  inneren 
und  äußeren  Seite  bis  zu  dem  Ellbogen  herab  begleiten  (vergl.  die 
Figuren  122  und  124).  Während  die  anatomische  Zergliederung  über 
das  wahre  Verhalten  der  drei  Köpfe  und  über  ihren  Ansatz  keinen 
Zweifel  aufkommen  läßt,  scheint  es  bei  der  Betrachtung  der  Haut,  als 
ob  nur  zwei  Köpfe  vorhanden  wären,  die  auseinander  weichend  sich 
gegen  die  Ellbeuge  wenden,  während  sie  in  Wirklichkeit  nach  dem 
Ellbogen  durch  Vermittelung  der  Sehne  hinziehen. 

Zum  Studium  der  schwerverstÄndlichen  Form  des  Triceps  empfiehlt  sich  auch, 
als  ein  lehrreiches  Modell,  der  Borghesische  Fechter.  Die  Figuren  126  und  127 
stellen  den  rechten  Arm  von  hinten  gesehen  dar,  und  zwar  zeigt  Figur  126  die 
äußeren  Konturen  und  das  Skelett,  die  Figur  127  die  Muskeln.  An  der  Figur  127 
ist  vorzugsweise  der  lange  und  der  äußere  Kopf  zu  sehen,  von  dem  innem  nur  jenes 
Muskelbändel,  das  die  Ansatzsehne  bis  zu  dem  Ellbogen  herabbegleitet.  Berück- 
sichtigt man  den  Umstand,  daß  der  äußere  Kopf  ebenfalls  starke  Muskelbündel  dem 
äußeren  Rand  der  Sehne  entlang  herabsendet,  so  erklärt  sich  jener  seltsame  Kontur 


410  Zehnter  AbMhnitt. 

in  Figur  126  Nr.  8  im  Bereich  des'  Triceps.  Die  gabelig  auseinaoderweidieidei 
Linien  bezeichnen  den  Beginn  der  Ansatzsehne  und  ihren  Verlauf.  (VerjßekW 
auch  die  Skizze  Michelanoelo's,  Fig.  134  Nr.  13  und  14.) 

Mit  dem  Triceps  steht  noch  ein  Muskel  sowohl  äußerlich  als  auA 
bezüglich  der  Wirkung  in  innigstem  Zusammenhang,  obwohl  er  bereits 
an  dem  Vorderarm  liegt.     Es  ist 

der  Ellbogenmuskel  (Anconaetts  parvus,  Fig.  122  Nr.  ii).  Er 
entspringt  von  dem  äußeren  Knorren  mit  einer  kurzen  sich  auch  auf 
die  Oberfläche  des  Muskels  fortsetzenden  Sehne  und  endigt  facher* 
förmig  ausgebreitet  an  dem  Seitenrande  des  Ellbogens-  Er  ist  stets 
deutlich  durch  die  Haut  hindurch  zu  sehen.  Die  Wirkung  des  ED- 
bogenmuskels  besteht,  wie  diejenige  des  Triceps,  in  einer  Streckunr 
des  Vorderarmes. 

3)  Die  Achselhöhle  (Axilld). 

Die  Achselhöhle  stellt  eine  Hohlpyramide  dar;  die  vordere  Wan*i 
wird  durch  den  großen  und  kleinen  BrustmuskeL  die.  hintere  Wand 
durch  den  vereinigten  breitesten  Rücken-  und  runden  Armmuskel  ge- 
bildet;  die  innere  Wand  besteht  aus  der  von  dem  großen  Sägemuskel 
bedeckten  Rumpfwand,  und  die  äußere  aus  dem  Oberarm,  der  in 
dieser  Stelle  den  Biceps,  den  Hackenmuskel  und  den  Triceps  aufweist 
Bei  herabhängendem  Arm  berühren  sich  die  Wände,  und  nur  eine 
scharfgezeichnete  Furche  zeigt  auf  der  vorderen  und  hinteren  Seite 
die  Stelle  an,  wo  der  Oberarm  den  Rumpf  verläßt,  um  zum  freien 
Glied  zu  werden.  Die  Achselhöhle  entsteht  durch  Kinsinken  der 
Haut  zwischen  die  Ränder  des  breiten  Rücken-  und  großen  Bmst- 
muskels,  die  Höhle  vertieft  sich,  weil  die  Haut  wie  überall  durch  innige 
Verbindung  mit  dei*  enganliegenden  Fascie  folgen  muß. 

Tiefe  und  Gestalt  der  Achselhöhle  sind  nicht  bei  jeder  Ann- 
stellung gleich.  Je  weiter  der  Arm  abgezogen,  un^  endlich  empor- 
gehoben wird,  desto  mehr  verflacht  sie  sich.  Bei  einer  Erhebung  des 
Armes  bis  60  Grad  zeigt  sich  folgendes:  die  hintere  Wand  ist  grOßer 
als  die  vordere  und  zeigt  abgesehen  von  den  schon  erwähnten  Mos- 
kein  auch  ihre  Ansatzsehnen,  hinter  denen  man  auf  das  Fleisch  des 
üntergi-ätengrubenmuskels  stößt.  .  Die  vordere  Wand  läßt  sich  mit  den 
Fingern  umfassen  und  von  der  Rumpfwand  abheben.  Folgt  man 
ihrem  Rand,  so  trifft  man  auf  die  schaifkantige  Ansatzsehne  de> 
großen  Brustmuskels.  Bei  kräftigen  Männern  gehen  die  vorderen  und 
hinteren  Ränder  allmählich,  in  die  Achselhöhle  über,  bei  mageren 
Menschen  ist  der  Rand  des  großen  Brustmuskels  scharf  gezeichnet. 
Die  Höhle  ist  dann  auch  tiefer,  wegen  des  Fettmangels.  Aus  ihr 
hervor   kommt   der   Biceps    und    der   Hackenmuskel   und   die   Achsel- 


1  dv  GliednuAen. 


höhle    setzt    sich    direkt   in    die    schmale    innere    Bic^nfurche    fort 
Wird   der  Ann    his    zu   dem   Kopf  emporgehoben,    so  bleibt  schlie&- 


Hackeamiukel  Ji 


ScfaiwDfiucikel  dn  Bicep« 


i  Lang.  Tiicepskopf. 

t  Inn.  TrlcepBltopf. 

3  ZwiwhmmaskelbaDd. 
l  InD.  Armmiukel. 
-^  Kund.  Pronator. 
c   Idr.  Knorren. 


Speichenmiukel. 
HohlhandiDUsIc«!. 


-it  IJuiTCH  Hohlhnndband. 
W  Fingerlieuferwhn*n. 


Fig.  124.    Ann  von  innen  geseh< 


iich  nur  eine  seichte  Grube  übrig,   denn  der  Oherarmkopf  drängt  die 
Haut  vor. 


412  Zehnter  Abschnitt. 

Die  Haut  der  Achselhöhle  ist  dünn  und  zart,  bei  Brünetten  dunkel  pigmcutiat 
im  mftnnlichen  Geschlechte  stärker  als  im  weiblichen  behaart,  äuBeret  empfindlMk 
gegen  Kitzel,  und  reich  mit  Schweiß-  und  Talgdrüsen  ausgestattet,  deren  Sekm  d« 
bekannte  gelbliche  Farbe  und  die  Spuren  in  der  Wäsche  zurückläßt.  Die  Fett- 
säuren des  Schweißes  (Essig-Butter-Propionsäure  u.  s.  w.)  sind  zugleich  die  Unv^ 
seines  spezifischen  Geruches  und  des  häufigen  Entfärbens  unecht  gefärbter  Kleidu^ 
stücke  unter  den  Achseln,  sowie  des  frühzeitigen  Abnützens  derselben  an  dieser  SceUe. 
Achsel  heißt  die  Wölbung  der  Schulter,  Achselhöhle  die  unter  dieser  Wolbu^ 
befindliche  Uohlpyramide.  Bei  dem  Beichtum  der  deutschen  Sprache  wird  es  niemaad 
sonderbar  finden,  daß  man  Achselbänder,  Achselzucken,  Achselträger  httt. 
über  die  Achsel  sieht,  und  etwas  auf  die  leichte  Achsel  nimmt. 

C.  Die  Muskeln  des  VorderamiB. 

Die  reiche  Gliederung  der  Muskulatur  des  Vorderarms  ist  durch 
die  Funktion  der  Hand  bedingt.  Die  einen  Muskeln  dienen  zur  Beu- 
gung der  Hand,  der  Finger,  und  zur  Pronation,  die  anderen  mr 
Streckung  und  zur  Supination.  Scharf  getrennt  wie  die  Wirkung 
der  Muskeln  ist  auch  ihr  Ursprung  und  ihr  Verlauf.  Die  Beuger  und 
die  Pronatoren  liegen  in  der  Nähe  des  inneren  Oberarmknorrens. 
Die  ersteren  bilden  auf  diese  Weise  den  inneren  und  hinteren  üm&Dg 
des  Vorderarms  (Fig.  125  Nr.  7,  8  u.  9),  die  letzteren  bilden  die  auf  der 
äußeren  Seite  des  Vorderarms  liegende  Fleischmasse  (Fig.  125  Nr.  10—12). 
Die  Grenze  der  beiden  Gruppen  ist  vorne  in  der  EUenbenge;  die 
Grenze  auf  der  Rückseite  folgt  der  hinteren  Kante  der  Elle,  welche 
ihrer  ganzen  Länge  nach  durch  die  Haut  hindurch  zu  fühlen  ist  und 
als  eine  Furche  bemerkbar  wird,  die  mit  sanfter  Biegung  von  dem  O- 
bogen  gegen  die  Hand  herabzieht.  Die  Muskeln  bedecken  den  äußeren 
Oberarmknorren  so,  daß  nur  seine  hintere  Fläche  frei  bleibt  und  über- 
dies wegen  der  angehäuften  Muskelmassen  vertieft  liegt  (Fig.  122). 
Bei  Frauen  und  Kindern  wird  diese  Vertiefung  in  ein  rundes  Grüb- 
chen umgewandelt.  Der  an  derselben  Stelle  piHfende  Finger  bemerkt 
sowohl  den  Gelenkspalt  zwischen  Speichenköpfchen  und  Oberarm,  als 
auch  den  rundlichen  Umfang  des  Radiusköpfchens  während  der  Dreh- 
bewegungen der  Speiche.  Der  innere  Oberarmknorren  ist  nach  innen 
und  hinten  nur  von  der  Haut  bedeckt  und  selbst  durch  die  Kleider 
zu  fühlen. 

Die  Form  des  Arms  am  Handgelenk  rührt  davon  her,  daß  nahezu 
alle  in  der  Nähe  des  Oberarms  entspringenden  Muskeln  ihr  Fleisch 
verlieren  und  statt  dessen  lange  strangförmige  Sehnen  zu  den  Ansatz- 
punkten am  Handgelenk  oder  den  Fingeni  senden.  Diese  Sehnen  gehen 
unter  sehr  starken  Bändern  hindurch  zu  ihrem  Bestimmungsort  und 
zwar  die  Beuger  der  Finger  unter  dem  Hohlhandband,  die  Strecker 
unter  dem  Rückenband  (Fig.  122  Xr.  17). 


Maskeln  der  GliedmaOen.  413 

1)  Die  Muskeln  an  der  Beugefläche  des  Vorderarmes. 

Sie  sind  in  zwei  übereinanderfolgendeu  Abteilungen  angeordnet, 
von  denen  die  oberflächliche  unsere  ganze  Aufmerksamkeit  verdient, 
während  die  tiefere,  wenn  auch  für  die  Mechanik  der  Bewegungen  von 
der  allerhöchsten  Wichtigkeit,  für  die  Formen  doch  nur  als  Masse 
wirkt.  Die  einzelnen  Muskeln  der  oberflächlichen  Schichte  sind  nicht 
allein  wegen  ihrer  oberflächlichen  Lage  deutlich  zu  sehen,  sondern 
auch  wegen  der  Fascie,  die  jeden  Muskel  in  ein  besonderes  Fach  ein- 
schließt. Sie  ist  an  allen  Al)bildungen  der  Armmuskulatur  weg- 
gelassen. 

Die  oberflächliche   Schichte. 

Zählt  man  die  Muskeln  von  der  Ellenbeuge  ausgehend  der  Reihe 
nach  auf,  wie  sie  sich  nach  dem  inneren  Knorren  zu  folgen,  so  ist 
der  erste: 

der  runde  Pronator  (Jf.  pronator  teres,  Fig.  124  Nr.  r>).  Er 
kommt  vom  inneren  Knorren  herab,  geht  schief  nach  außen  und  endigt 
mit  einer  Sehne,  welche  sich  um  die  Speiche  herumschlägt  und  an 
einer  Rauhigkeit  in  ihrer  Mitte  feststeht.  Wirkung:  dreht  die  Speiche 
und  wendet  die  Hohlhand  nach  abwärts  (proniert).  Nebenwirkung: 
Beugung  des  Vorderarmes. 

Der  innere  Speichenmuskel  (^f.  radialis  internus,  Fig.  124  Nr.  7) 
kommt  von  demselben  Knochenpunkt  und  wächst  zu  einem  spindel- 
förmigen Muskelbauch  aus.  der  etwas  über  der  Mitte  des  Vorderarmes 
in  eine  platt  cylindrische  Sehne  übergeht.  Ansatz:  an  der  Vorder- 
fläche des  zweiten  Mittelhandknochens.  Er  geht  durch  einen  l)eson- 
deren  Sehnenkanal  (Fig.  130  unterhalb  Nr.  5),  tief  unter  dem  queren 
Band  der  Hohlhand  zu  seinem  Bestimmungsort.  Wirkung:  beugt  die 
Hand  nach  der  Speichenseite  hin. 

Der  lange  Hohlhandmuskel  (M,  palmaris  longiut,  Fig.  124  und 
1 25  Nr.  8),  ein  schlanker  Muskelbauch,  der  an  derselben  Stelle  wie  die 
ebengenannten  entspringt,  dann  aber  bald  in  eine  lange  dünne  Sehne 
übergeht,  welche  in  die  Hohlhandbinde  ausläuft.  Es  ist  jene  Sehne, 
die  in  der  Mitte  des  Vorderarmes  so  auffallend  vorspringt,  sobald  die 
Hand  gebeugt  wird.  (S.  auch  Fig.  130  Nr.  7.)  Dieser  Muskel  zeigt 
zahlreiche  Abweichungen  der  Form,  von  denen  nur  das  Vorkommen 
eines  zweiten  Muskelbauches  in  der  Nähe  des  Handgelenkes  erwähnt 
werden  soll;  er  fehlt  oft  auf  einer  Seite,  bisweilen  sogar  auf  beiden. 

Der  innere  Ellenmuskel  (M.  ulnaris  internus,  Fig.  124  und  125 
Nr.  9)  entspringt  gemeinschaftlich  mit  den  übrigen  am  inneren  Knorren, 


414  Zehnter  Abschnitt. 

femer  an  der  Innenseite  des  Ellbogens  und  an  den  oberen  dreiViertdn 
der  Elle.  Die  Sehne,  welche  sich  aus  seinem  vorderen  Bande  entwickelt, 
setzt  sich  am  Erbsenbein  fest.  (Siehe  auch  Fig.  130  No.  i9m.K.) 
Dieser  Muskel  ist  nicht  so  fleischreich,  wie  man  auf  den  ersten  Augen- 
blick vermuten  sollte.  Ausgebreitet  stellt  er  eine  verhältnismiKg 
dünne  Schicht  dar,  welche  die  starke  Fleischmasse  der  Fingerbeoger 
bedeckt,  denn  diese  sind  es  hauptsächlich,  welche  die  VerbreiteroLg 
des  Armes  oben,  an  der  inneren  Seite  bedingen.  Nach  Entfemuog 
dieses  Muskels  erscheint: 

der  oberflächliche  Fingerbeuger  (M,fexor  diffitorum  sublhmt/, 
er  hat  gemeinschaftlichen  Ursprung  mit  den  vorigen.  Gegen  das  Hand- 
gelenk spaltet  er  sich  in  vier  starke  Sehnen,  welche  sich  am  Mittel- 
glied der  vier  inneren  Finger,  vom  Zeiger  bis  zum  Kleinen,  ansetzen. 
Seine  Sehnen  werden  oberhalb  des  Handgelenk  teilweise  sichtbar 
(Fig.  130  Nr.  20). 

Die  tiefliegende  Schichte. 

Sie  besteht  aus  dem 

tiefliegenden  Fingerbeuger  (M.  fiexor  diffitorum  profundiujf 
ein  ebenso  ansehnlicher  Muskel  wie  der  vorige,  der  von  der  inneren 
und  vorderen  Fläche  der  Elle  und  von  dem  Zwischenknochenbande 
entspringt.  Auch  er  spaltet  sich  in  vier  Sehnen.  An  dem  ersten 
oder  Grundglied  tritt  jede  Sehne  durch  einen  Spalt  in  der  Sehne  des 
oberflächlichen  Fingerbeugers  hindurch,  um  das  Nagelglied  zu  erreichen. 
Während  also  der  oberflächliche  Fingerbeuger  das  zweite  Glied  zn 
beugen  vermag,  beugt  der  tiefe  das  Nagelglied. 

Der  lange  Daumenbeuger  (M.  fiexor  pollicis  longus)  kommt  von 
der  vorderen  Speichenfläche  und  dem  Zwischenknochenbande;  seine 
starke  runde  Sehne  geht  bis  zum  Nagelglied  des  Daumens.  Die  Sehne 
dieses  Muskels,  sowie  die  Sehnen  aller  Fingerbeuger  gehen  sämtlich 
unter  dem  starken  Hohlhandbande  (Fig.  130  Nr.  23)  hindurch.  Während 
dieses  Verlaufes  liegen  sie  dicht  gedrängt  aneinander,  jenseits  diver- 
gieren sie.  An  der  unteren  Fläche  der  Fingerknochen  finden  sich 
Sehnenscheiden  (Fig.  130  Nr.  i8),  in  welchen  die  Sehnen  sicher  hin- 
und  hergleiten. 

Ganz  in  der  Tiefe  in  der  Nähe  des  Handgelenkes  liegt  dicht  am 
Knochen 

der  viereckige  Pronator  (M,  pronator  quadratus).      Er  kommt 

von  der  Elle  und  setzt  sich  an  der  Speiche  fest. 


Muskeln  der  Gliedmaßen. 


415 


2)  Muskeln  an  der  Streckfläche  des  Vorderarms.. 

Sie  sind  Strecker  der  Hand  oder  der  Finger  und  Auswärtsdreher. 
Sie  bilden  an  dem  äußeren  Knorren  eine  starke  Muskelmasse,  die 
wesentlich  dazu  beiträgt,  dem  Vorderarm  an  dieser  Stelle  seine  auf- 
fallende Breite  zu  geben.  (Vergleiche  Fig.  125,  an  welcher  die  mit 
Nr.  10  n.  11  bezeichnete  Erhebung  von  der  ebenerwähnten  Muskelmasse 
herrührt)     Sie  entspringen  über  und  auf  dem  äußeren  Knorren  und 


1.  Biceps. 

2.  Tricepe. 

3.  Hackenmuskel. 

4.  Inn.  Armmuakel. 


Fig.  125. 

5.  Tricepasehne. 

6.  Inn.  Knorren. 

7.  Fingerbeuger. 

8.  Hohlhandmuskel. 


''  8'.  Denen  Sehne. 
9.  Inn.  Ellenmuikel. 
10.  Strecker. 
12.  L.  DaumenmuBkeln. 


unterhalb  desselben  am  Vorderarm.  Die  fleischigen  Stränge  bedecken 
die  Speiche,  ebenso  das  Zwischenknochenband  und  die  Elle,  über- 
schreiten jedoch  nicht  die  hintere  Kante  derselben,  welche  im  Gegen- 
teil der  ganzen  Länge  nach  zu  sehen  ist  und  zwar  bei  mageren  Armen 
als  eine  Kante,  bei  starken  Armen  als  eine  Furche.  Diese  Kante  ist 
auch  in  Fig.  127  zu  sehen.  Die  schlanken  Endsehnen  verlaufen  größten- 
teils zum  Handrücken,  wobei  das  quere  Band  des  Handrückens 
(Fig.  122  Nr.  17),  das  aus  einer  Verstärkung  der  Fascie  hervorgeht, 
jeder  Sehne  Lage  und  Richtung  anweist.  Es  existieren  sechs  Fächer, 
welche  den  Sehnen  zum  Durchlaß  dienen.     Auch  unter  den  Muskeln 


ZehDier  AbcehDitt. 


an  der  Strecklläche  des  Vorderarmes  giebt  es  eine  oberflächlich«  ut^ 
eine  tiefe  Schiebte. 


Die  oberflächlicbe  Scbicbte. 
Von  der  Ellenbeuge  nach  auBen  und  hinten  fortschreiteDd.  tbl^r^^ 
sich  der  Reihe  nach: 


SehulWrgrltc  mit  Aki 
ÜDtergTätengrultt! 


Rücken  bcr. 


der  lange  Suinnatur  (Swpinatitr  hiit/iif.  Fig.  124  N>.  i«);  erkonuot 
von  iler  Knochenkaiite  über  dem  äußeren  Knorren,  Sein  glatter 
Fleisclibaucli  geht  in  der  Mitte  des  Vorderarmes  in  eine  dfiune  und 
flache  Sehne  über,  welche  sich  an  dem  äußeren  Rand  der  Speiche 
dicht  Jin  dem  Gnfielfortsatz  festsetzt. 

I;^t  dii.'  Speirlip  iiaeh  i-hm'ürU  gtilrelit.  die  Hnncl  niso  proniert,  eo  fnchnnt 
der  Mii»ki.>l  in  einer  liidben  St{iiniltuiir  um  <lon  Kooehon  liiTumgolegt.  wi«  da»  dimh 


MndtelB  der  OUadmaBm. 


417 


ut  hindoTcb  besonders  an  ihm,  wie  an  Beinen  Nat^hbani  m  Beben  ist 
129  Nr.9  und  9*  Seite  421  sowohl  an  dein  linken  aU  an  dem  rechten  Ann.) 
Lt  von  dieser  Stellung  aus  als  klüftiger  Auswärtsdreher  der  Ilaitd.  Indem 
der  Handteller  nach  oben  gerichtet  wird ,  wie  bei  dem  Ilaiidauflialten 
rtler,  führte  der  Miiskel  von  alters  her  den  nicht  unpassenden  Namen 
ts  paupentm  a.  mendteantimn  d.  h.  Bettlcrmoskel.     Nebenwirkung:   Beugt 


Fig.  127.    Muskeln  des  Arme«  von  rilckwUrts  gesehen. 


3er  lange  Speichen  Strecker  der  Handwurzel  (/\f.extejuorcarpi 
M  ionfftu,  Fig.  122  Nr.  7).  Er  entspringt  unter  dem  vorigen  vom 
irmkiiochen;  zwisclien  oberem  und  mittlerem  Drittel  des  Vorder- 
1  geht  er  in  eine  flache  Sehne  Über,  die  auf  der  hinteren  Fläche 
peiche  zur  Hand  herabläuft,  um  sich  am  zweiten  Mittelhandknochen 
war  an  der  Basis  desselben  festzusetzen.  Wirkung:  Streckung  und 
itreckung  (Dorsalflexion)  der  Hand  (s.  auch  Fig.  131  Nr.  2i). 


418  z^i 

Der  kurze  Speichenstrecker  der  Handwurzel  (M.  e 
carpi  radialis  brevis,  Fig.  122  Nr.  8)  entspringt  vom  äußeren  Knorren 
und  geht  im  unteren  Drittel  des  Vorderarmes  in  eine  platte  Seime 
über,  die  sich  am  Mittelhandknochen  des  Mittelfingers  festsetzt.  Wir- 
kung: Streckung  und  Überatreckung  der  Hand.  (Siehe  auch  Fig.  131 
Nr.  16.)  Die  drei  eben  beschriebenen  Muskebi  bilden  bei  gestrecktam 
Arm  jene  Muskelmasse,  deren  äußerer  Rand  an  den  gemeinschaft- 
lichen Fingerstrecker  (Fig.  122  Nr.  9)  grenzt,  deren  innerer  Band  die 
EllenbogeiJgrube  abschließt.  Bei  starker  Beugung  des  Vorderarmes  hebt 
der  innere,  von  dem  langen  Supinat^)r  gebildete  Rand  (Fig.  124Nr.  le) 
die  Haut  in  einer  scharfen  Falte  in  die  Höhe. 

Seitlich  von  diesen  Muskeln  kommt  unter  dem  äußeren  Knorren 
ein  allmählich  anschwellender  Strang  hervor: 

Der  gemeinschaftliche  Fingerstrecker  (M.  exteiuor  diffilonan 
eommiiHis,  Fig.  122  Nr.  o).  Er  entspringt  vom  äußeren  Knorren;  in 
der  Mitte  des  Vorderarmes  entwickeln  sich  aus  dem  Fleisch  in  der 
Regel  fünf  Sehnen,  die  unter  dem  RUckenband  der  Hand  hindurch- 
Ueteii,  am  Handrücken  auseinanderweichen  und  sich  an  die  vier  Finger 
verbreiten,  so  daß  der  kleine  Finger  zwei  Sehnen  erhält  {Fig.  122 
Nr.  18).  Die  Sehnen  erstrecken  sich  bis  auf  die  RückeuMäche  des 
Nikgelgliedes. 

Den  Ranm  von  dem  äußeren  Rand  des  gemeinschaftlichen  Finger- 
streckers, bis  zu  der  unter  der  Haut  fühlbaren  Kante  der  Ulna, 
welche  Beuger  und  Strecker  von  einander  scheidet,  nimmt 

der  Ellenstrecker  der  Hand  ein  (M.  txtewmr  carpi  ulnarit, 
Fig.  128  Nr.  6).  Er  hat  mit  dem  vorigen  den  nämlichen  Ursprang; 
der  spindelförmige  Muskel  schickt  seine  Sehne  am  inneren  Rand  des 
Elteiiköpfcliens  entlang  durch  ein  besonderes  Fach  des  Rückenbaudes 
zum  Mittelhandknochen  des  kleinen  Fingers  (Fig.  131  Nr.  u).  Hoch 
oben  stößt  der  Ellenstrecker  der  Hand  an  den  Ellbogeumuskel  (Fig.  126 
Nr,  5),    der   als   ein  Teil  des  Triceps    schon    weiter  oben   beschiielieu 


rde. 


Tiefe  Schichte. 


I 


Die    nun    zu   beschreibenden    Muskeln    entspringen   von  der 
und  der  benachbarten  Strecke  der  Zwischenknocbonhaut. 

Der  knrae  Rupiiiator  IM.  suptruitor  Irepia,  Pig.  123  Sr.iii)  liegt  tirf  vw- 
bor^n  unter  ilcai  laugeu  Supinator  und  dum  Bpeioheiiatreckür.  Er  entBpriii(i;t  vod 
dein  Süßeren  Knorren  und  von  dem  Riij(,'biiiid  der  Spciclie,  uuirnÜt  d«u  ub^vn  T«il 
der  Speiehe,  nnd  befentifct  aich  an  ihr<;r  innert-ii  Flüche.  Wirknnn: 
Speiche  and  danu't  die  Iliind  in  die  Supinutir»!. 


iinc:     [>n!kl  if^M 


Hiukdit  der  Gliednitilen. 


419 


Die  drei  folgeudeii  Muskeln  sind  für  die  Bewegung  des  Daumens 
bestimmt,  durchbreciieii  die  oberflächliclie  Schichte  zwischen  den 
Spoicheastreckern  (Fig.  122  Nr.  7  u.  8}  und  dem  gemeinschaftlichen 
Fingerstrecker  (dieselbe  Figur  Nr.  u).  Sie  drängen  sich  aus  der  Tiefe 
I  henror  und  kreuzen  dann  die  Bichtung  der  oberdächlicheu  Schiebte. 

Der  lange  Abzieher  des  Daumens  (M.  ndductar  pollicis  longus, 

\  Fig.  122  Nr.  13)  entspringt  von  der  äußeren  Fläche  der  Elle,  von  dem 

Zwischenknochenband  und  von  der  Speiche  unterhalb  des  Ansatzes  des 

I  kurzen  Supinator.     Seine  Sehne   zieht  dicht  an  derjenigen  des  kurzen 


Oberarm  ktiocheu   S- 


Nodua  intemiia  i— 


Köpfchen  der  EUe  ) 


-5  EllliogemiiiiBkel. 


EllpiiBtJ-Gcker  d.Hancl. 


Pig.  128.     Di'r  Vonlerurin  von  hipt^-ii. 


Daumen  Streckers  schief  zum  Daumen  und  befestigt  sich  an  der  Basis 
seines  Mittelhandknochens  (vergl.  auch  Fig.  131  Nr.  la).  Wirkung: 
entfernt  den  Daumen  von  den  übrigen  Fingern. 

Der  kurze  Strecker  des  Daumens  (M.  extensor  poilicis  brevis, 
Fig.  122  Nr.  14)  liegt  an  der  äußeren  Seite  (Ellenseite)  des  vorigen, 
mit  welchem  er  gleichen  Ursprung  und  Verlauf  hat,  seine  Sehne  geht 
jedoch  bis  zur  Eückenfläche  des  Nagelgliedes.  Bei  sehr  kräftigen,  sowie 
bei  sehr  abgezehrten  Armen  lebender  Menschen  sieht  man,  während 
die  Finger  gespreizt  werden,  den  schiefen  Verlauf  der  dicht  anein- 
anderliegenden Sehnen  beider  Muskeln  am  unteren  Knde  der  Speichen- 
seite des  Vorderarmes  deutlich  durch  die  Haut  hindurch  markiert. 

Der  lauge  Strecker  des  Daumens  (M.  exlenxnr  pollicis  lotu/us, 
Fig.  123  Nr.  13)   nimmt  seineu  Ursprung   neben   dem  vorigen  von  dem 


420  Zehnter  AbMhnitt. 

Zwischenknochenband  und  von  der  Elle.  Er  wird  bis  in  die  Slke 
des  Handgelenkes  von  dem  gemeinschaftlichen  Fingerstrecker  bedeckt 
geht  durch  das  dritte  Fach  des  queren  Handwurzelbandes  (die  beiden 
ersten  gingen  durch  das  erste  Fach),  kreuzt  die  Sehnen  der  beiden 
Speichenstrecker  wie  seine  Nachbarn,  und  verschmilzt  auf  der  Rflckea- 
Seite  des  Mittelhandknochens  mit  der  Sehne  des  kurzen  Strecken. 
Streckt  und  spreizt  man  den  Daumen,  so  sieht  man  zwiBchen  da 
Sehne  des  langen  Daumenstreckers  und  den  Sehnen  seiner  beidci 
Nebenmänner  einen  Spalt,  der  sich  nach  oben  etwas  erweitert  Die 
drei  Sehnen  erscheinen  durch  die  Haut  hindurch  nur  als  zwei  Selmei- 
stränge. 

Der  eigene  Strecker  des  Zeigefingers  (M.  ihdieaior)  liegt  an  derEDa- 
Seite  des  vorigen  und  bedeckt  ihn  zum  Teil,  entspringt  von  der  Elle  und  w- 
schmilzt  am  Handrücken  mit  der  vom  gemeinschaftlichen  Fingeratrecker  abgegebnci 
Strecksehne  des  Zeigefingers. 

3)  Die  Ellenbeuge. 

Der  Oberarm  vnrd  gegen  den  Ellbogen  zu  breiter  und  flacher. 
Die  Muskeln,  die  dort  auftreten,  sind  im  rechten  Winkel  zu  der  senk- 
rechten Durchschnittsebene  des  Oberarmes  geordnet  (Fig.  125).  Der 
Grund  liegt  in  der  Gegenwart  zweier  Vorderarmknochen  welche 
für  ihre  Gelenkverbindung  weitausgelegte  Gelenkknorren  bniuchtes. 
Damit  erhielt  die  reiche  Muskulatur  des  Vorderarmes  Ursprungspunkte. 
welche  in  einer  anderen  Richtung  zu  der  Achse  des  Annes  gestellt  sini 
Zu  der  Abflachung  trägt  femer  das  Sehnigwerden  der  Beuger  uivi 
Strecker  des  "Oberarmes  in  der  Nähe  des  EUbogengeleiikes  bei.  Aa* 
all  diesen  Umständen  ergiebt  sich  an  der  Beugefläche  des  V(»nier- 
armes  eine  dreieckige  Grube,  welche  allseitig  von  Muskeln  begrenzt 
ist.  Die  Grube  ist  seicht,  ja  bei  forcierter  Streckung  flacht  sie  sich 
so  ab,  daß  nur  eine  leichte  Andeutung  von  ihr  zu  bemerken  ist;  nadi 
Entfernung  der  Haut,  des  Fettes  und  der  Fascie  erscheint  sie  durch 
Muskelzüge  in  voller  Deutlichkeit  begrenzt  (Fig.  124). 

In  die  Mitte  der  Ellenbeuge  ragt  der  vom  Oberarm  herab- 
kommende Muskelbauch  des  Biceps.  Seitwärts  wird  die  Ellenbeoge 
begrenzt  von  den  gegen  die  Hand  konvergierenden  Mnskelmassen. 
welche  die  Beuger  (Fig.  125  Nr.  7—9)  und  die  Strecker  (Fig.  125 
Nr.  10—12)  enthalten.  In  die  seichte  Vertiefung  zwischen  diesen 
Muskelgruppen  mündet  die  äußere  und  innere  Bicepsfurche.  Durch 
die  Ellenbeuge  ziehen  Venen,  die  seit  Alters  zur  Aderlässe  verwendet 
wui'den;  die  dünne  Haut  der  Ellenbeuge  läßt  sie  mit  voller  Deutlich- 
keit erkennen.  Bis  zu  der  halben  Höhe  der  inneren  Bicepsfurdie 
zieht  die  Vena  basilica,    welche  wie  die  übrigien   die  Stärice  eines 


1.  Schlüiselbein. 

2.  UDtencfalÜBselMngrube,   Spalt  iwUchen 

Delt»-  und  Brastmaikel. 

3.  AkromUlende  dca  Schlüaselbeina. 

4.  Akromion. 

5.  Deltuniukel. 

6.  Strecker  des  Obenumes, 

7.  Sehnenfeld  de>  Strecken. 

6.  EUbogeo.      8*.  Köprefaen  der  Elle. 
9.  Langer  Snfanator,  am  linken  nod  reoh- 
tea  Arm, 
9*.  Sptiebenatreolur  der  Hand. 


<.  Schwellnng  des  BrustmuBkela  vor  dem 

Übergang  in  «eine  Sehne. 
.  Langer  Stredier  der  Finger. 
I.  Ellenbeuge  t.  langen  Anffaeber  hegteotX. 
;.  Der  runde  Tronator, 
.  Stniokeraehne. 
I.  KoieBchdbe. 
).  Knleacheibenband. 
'.  Tenaor  FsMäae. 
:.  OroBer  Qo&IImiukel. 
'.  Fnrebe  iw.  d.  Strecker-  a.  Beugeignippe. 
'.  Bengergnipii«. 


422  Zehnter  Abschnitt. 

Bleistiftes  hat.  Sie  bringt  das  Blut  von  der  Kleinfingerseüe  dn 
Handrückens  herauf.  In  sie  mündet  in  der  Ellenbeuge,  über  den 
Sehnenfaszikel  des  Biceps  (Fig.  124  Nr.  15)  hinweglaufend,  eine  in  in 
Regel  kurze  aber  weite  Vene,  die  Medianvene,  welche  als  V«- 
bindungsast  der  Kopfvene  von  der  äußeren  Begrenzung  der  Ellen- 
beuge herkommt. 

Bei    forcierter  Beugung   des   Armes   bis   zu    einem    Winkel  tm 
70— 80^  wechselt  die  Ellenbeuge  ihr  Aussehen  in  folgender  Weise:  du 
Bicepssehne  erhebt  sich  aus  ihr  und  bildet  einen  rundlichen  Strang, 
den   man   mit  Daumen   und  Zeigefinger  umgreifen   kann.     Der  Band 
des  langen  Supinator  springt  hoch  über  die  Beugergruppe  hervor,  ond 
zeigt   dabei   seine  Nebenwirkung   als  Armbeuger.     Die   Beugergruppe 
(Fig.    124   Nr.  7—9)    zeigt   an   ihrem   oberen  Ende    die    Wirkung  des 
Sehnenfaszikels  des  Biceps  (Fig.  124  Nr.  15),  der  bei  der  Beugung  des 
Armes  angespannt  wird,  und  in  den  runden  Pronator  und  den  Speichen- 
muskel   eine   muldenförmige   Rinne   drückt,    die    von    der   Ellenbeoge 
schräg   nach   der  Elle   hinüber   zieht.     Die  Ellenbeuge    geht   in  eine 
seichte  Rinne  über,  welche  auf  dem  Vorderarm  herabläuft.     Sie  stellt 
die  Grenze  zwischen   der  Gruppe  der  Beuger  und  Strecker  dar;  die 
Rinne  reicht   bis   in  die  Nähe   der  Hand,  und   läßt    an  Deutlichkeit 
nichts   zu    wünschen  übrig   (Fig.   124   zwischen   dem    Speichenmuskel 
Nr.  7  und  dem  langen  Supinator  Fig.  125).     Diese  Rinne,    die  Supi- 
natorfurche,    bildet  die  uuüberschreitbare  Grenze,  über  welche  kein 
Beuger   und   kein  Strecker  des  Vorderarmes  hinübergreifen  kann,  aus 
mechanischen  Ursachen,   welche  ihre  Wirkung  beherrschen.     Nur  die 
oberflächlichen  Hautvenen   ziehen   über  diese  Rinne  in   die  Höhe,  mo 
die  Medianvene  zu  erreichen. 

Auf  die  Form  der  Ellenbeuge  haben  Pronation  und  Supinatiuu 
einen  ebenso  bedeutenden  Einfluß,  wie  auf  die  Gestalt  des  ganzeu 
Vorderarmes.  Die  veränderte  Stellung  der  Elle  und  Speiche  wurde 
schon  in  der  Knochenlehre  ausführlich  geschildert.  Die  Verschiehong 
der  Muskeln  in  der  Haut  besteht  nun  an  einem  Vorderarm,  dessen 
Hand  in  Pronationsstellung  sich  befindet,  darin,  daß  der  lauge  Snpi- 
nator  nicht  gerade  herab  zieht,  wie  in  Fig.  124  Nr.  16,  sondern  eine 
halbe  Spiraltour  beschreibt,  deren  Größe  von  der  Stärke  der  Proiia- 
tion  abhängt.  In  der  Fig.  129  (ein  Facsimile  nach  Michjelangeui) 
befindet  sich  links  die  Hand  in  mäßiger  Pronation,  der  lange  Supi- 
nator Nr. 9  zieht  schräg  herab,  als  endigte  er  in  der  Hohlhand,  und 
sein  innerer  Rand  nähert  sich  demjenigen  des  runden  Pronator  nnd 
des  inneren  S])eichenmuskels.  Die  Supinatorfurche,  welche  au  dem 
gestreckten  Vorderarm  gerade  herabzieht,  bekommt  ebenfalls  eine 
andere  Richtung,  sie  wird  gegen  die  Elle  hin  vei-schoben.     Das  ist  an 


Muskeln  der  Gliedmaßen.  423 

dem  rechten  Arm  der  Figur  129  ebenfalls  deutlich  erkennbar,  obwohl 
das  Verhalten  der  Muskeln  durch  eine  ganz  andere  Bewegung  hervor- 
gerufen ist.  Links  ist  die  freischwebende  Hand  proniert,  rechts 
dagegen  der  ganze  Arm  an  der  festgestemmten  Hand  rotiert. 
Die  Wirkung  auf  die  Form  des  Vorderarmes  ist  in  beiden  Fällen 
dieselbe:  der  lange  Supinator  Fig.  129  Nr.  0  und  die  Speichenstrocker 
laufen  nicht  gerade,  sondern  schief  herab,  die  Supinatorfurche  zwischen 
der  Beuger-  und  Streckergruppe  des  Vorderarmes  ist  ebenfalls  nach 
innen  abgelenkt,  wie  dies  links  der  Fall,  dennoch  ist  der  Grund  der 
nämlichen  Muskelverschiebungen  durchaus  verschieden. 

Die  verschiedene  Stellung  der  beiden  Arme  ist  gleichzeitig  ein 
lehrreiches  Beispiel,  wie  der  fixe  Punkt  der  Muskelgruppen  an  den 
beweglichen  Punkt  verlegt  werden  kann.  An  dem  linken  Arm  der 
Fig.  129  ist  die  Hand  der  bewegliche  Punkt  (Punctum  mobile),  an  dem 
rechten  Arm  ist  dagegen  die  Hand  der  fixe  Punkt  {Punctum  fixum) 
geworden. 

D.    Die  Muskeln  der  Hand. 

Zu  der  reichen  Muskulatur,  mit  der  der  Vorderarm  die  Hand 
versorgt,  kommt  noch  diejenige  des  Handtellers  hinzu.  Die  Hand  be- 
sitzt auf  ihr  entspringende  und  endigende  Muskeln,  welche  die  Leistungs- 
fähigkeit des  Greiforganes  wesentlich  erhöhen  und  die  Formen  mit  be- 
stimmen. So  besteht  der  Daumenballen  aus  Muskeln,  welche  den  Um- 
fang des  polsterföiTnigen  Vorsprunges  bedingen,  und  der  Kleinfingerballen 
hat  eine  ähnliche  reiche  Unterlage.  Die  dazwischen  liegende  Fläche, 
die  eigentliche  Hohlhand  gestaltet  sich  dadurch  zu  einer  Vertiefung, 
in  der  die  Sehnen  der  Beuger  zu  ihren  Ansatzpunkten  ziehen.  In  der 
Hohlhand  finden  sich  ebenfalls  Muskeln,  welche  für  die  Bewegung  der 
Finger  in  Anspioich  genommen  werden.  An  dem  Handrücken  sind 
die  Formen  weniger  mannigfaltig,  weil  die  für  die  Greifbewegung  not- 
wendige Muskulatur  in  den  Handteller  verlegt  ist. 

Unter  der  Haut  dehnt  sich  die  Fascie  aus.  Auf  dem  Handrücken 
beteiligt  sie  sich  an  der  Bildung  des  queren  Rückenbandes  und  geht 
dann  in  eine  dünne  Schichte  über,  welche  sich  bis  auf  die  Finger- 
rücken fortsetzt.  Die  unter  ihr  liegenden  Sehnen  der  Fingerstrecker 
sind  deshalb  mit  aller  Schärfe  zu  sehen.  Die  Fascie  der  Hohl- 
hand ist  viel  stärker,  sie  nimmt  die  Sehne  des  langen  Hohlhand- 
muskels in  sich  auf  (Fig.  130  Nr.  7)  und  schickt  starke  bandartige 
Fortsetzungen  bis  zu  den  Fingern.  Andere  Teile  der  Fascie  um- 
hüllen die  Muskeln;  selbst  die  verborgensten  unter  ihnen  entgehen 
nicht  der  Umhüllung,  ebensowenig  wie  die  vorbeiziehenden  Sehnen. 


424  Zehnter  AbBchnitt. 

Auf  dieser  Hohlhandfascie  entspringt  ein  Hautmuskely  der  kurze 
Hohlhandmuskel  (M.  palmaris  brevis^  Fig.  130  Nr. 24).      E>  bestdii 
aus   einer  Anzahl  paralleler  Bündel,   welche  quer   zur  Längsrichtang 
der  Hand    liegen.      Sein   Ursprung    liegt  dicht    an    der    Grenze  d« 
Daunienballens.     Seine   Endigung   ist  in  der  Haut    des    Eleinfinger- 
ballens.     Wirkung:   er  wölbt   durch   Einziehen   der   Haut    den  Klein- 
fingerballen.     Bei   energischem  Beugen   der  Finger    wird   der  Kinflntt 
des  Muskels  auf  die  Haut  dadurch  sichtbar,   daß  eine  Reihe  kleiner 
Grübchen  seinen  Zug  auf  die  Haut  bezeichnen. 

1)  Muskeln  des  Daumenballens. 

Der  kurze  Abzieher  des  Daumens  (M,  abductor  pollicis  brerU^ 
Fig.  130  Nr.  11)  entspringt  vom  queren  Handwurzelband  und  Tom 
Vorsprung  des  Radiale  und  bildet  einen  ansehnlichen  Muskelbaach, 
der  mit  einer  kurzen  Endsehne  zu  dem  Seitenrand  der  Grundphalange 
geht.     Wirkung:  zieht  den  Daumen  ab. 

Der  kurze  Beuger  (M.  fexus  pollicis  brevis)  liegt  dem  kurzen 
Abzieher  gegen  die  Hohlhand  hin  dicht  an.  Er  besieht  aus  zwei 
Portionen,  zwischen  denen  die  Sehne  des  langen  Beugers   (Fig.  130 

Nr.  13)  zu  dem  Nagelglied  vordringt. 

Die  eine  der  Portionen  des  kurzen  Beugers  entspringt  vom  queren  Hand- 
wurzelband, die  andere  kommt  aus  der  Tiefe  der  Hohlhand.  Ihr  Ansatz  findet 
an  den  beiden  Sesambeinchen  des  ersten  Daumengelenkes  statt.  Der  Mnakel  ist 
vielen  Schwankungen  seiner  Größe  unterworfen. 

Der  Gegensteller  des  Daumens  (M,  opponens  pollicis,  Fig.  130 
Nr.  10)  wird  von  den  beiden  vorerwähnten  bedeckt.  Ursprung  am 
queren  Handwurzelband  und  am  Carpale  I,  Ansatz  an  der  ganzen 
Länge  des  seitlichen  Rundes  des  Mittelhandknochens .  des  Daumens. 
Wirkung:  bewegt  den  Daumen  gegen  die  Hohlhand  und  bringt  ihn  in 
Gegenstellung  zu  den  übrigen  Fingern. 

Der  Zuzieher  des  Daumens  (M,  adductor  pollicisy  Fig.  130 
Nr.  12)  liegt  tief  im  Grunde  der  Hohlliand,  an  seinem  Ursprung  bedeckt 
von  den  Sehnen  der  Fingerbeuger.  Er  entspringt  breit  vom  Mittel- 
handknochen  des  Mittelfingers  und  von  Bändern  der  Handwurzel. 
Seine  Bündel  drängen  sich  auf  ihrem  Verlauf  zu  dem  Daumen  melir 
und  mehr  zusammen  und  endigen  schließlich  zugespitzt  an  dem  inneren 
Sesambein  des  ersten  Daumengelenkes.  Der  freie  Rand  jener  Haut- 
falte, welche  sich  spannt,  wenn  der  Daumen  stark  abgezogen  wird, 
schließt  den  Rand  dieses  dreieckigen  Muskels  ein.  Wirkung:  er  zieht 
den  Daumen  an. 


Miuheln  der  GliedmaSen. 


M  Oberfl.  Fin(!et- 


.    a  ErbBGnWill. 

L\            »  llMhdn,. 

WmÜ^\  "       *  ingerbeuger 

J^BÄ     IS  Muskeln  d» 

^>^|"       Kldnßnger- 

nK^ 

jj       Sehne  e. 
MittelgUed. 

\^ 

g   Gelenkhöcker 
d    Gnindph»- 

^•^ 
^ 

svhe  Zciotiuung.) 

lußäclic  der  Haud.     iGeomebi 


2)  Muskeln   des  Kleinfingerballetis. 
Der  Abzieher  des  kleinen  Fingers  (M  abductor  lU^iti  qmnti, 
Fig.  130  Nr.  25)  entspringt  vun   dem  Erbsenbein  Nr.  22  und  geht  zur 


426  Zehnter  Absohnitt. 

Ellenfiäche  des  ersten  Gliedes  des  kleinen  Fingers  und  teilweise  aocfa 
zum  Rücken  desselben.     Wirkung:  zieht  den  kleinen  Finger  ab. 

Der  kurze  Beuger  (M,  flescus  digiÜ  brevis)  liegt  weiter  gegen  die  H«ihl- 
hand  zu,  cntspruigt  größtenteils  vom  queren  Handwurzelband  und  geht  wie  dfr 
vorige  an  dieselbe  Stelle  des  Kleinfingers.    Beugt  den  kleinen  Finger. 

Der  Gegensteller  des  kleinen  Fingers  (M.  opponens  digiH  quinii)  ent- 
springt, bedeckt  von  dem  kurzen  Beuger,  ipehr  gegen  die  Mitte  des  Handtelloi  n 
und  ebenfalls  mit  dem  überwiegenden  Teil  seiner  Bündel  von  dem  quem  Haiid- 
wurzelband.  Er  zieht  schräg  zum  Mittelhandknochen  des  kleinen  Fingers,  an  dewa 
Ellenrand  er  sich  der  ganzen  I^nge  nach  festsetzt,  in  derselben  Art,  wie  der  Gtp%- 
steiler  des  Daumens.  Bei  dem  Spreizen  der  Finger  bebt  sich ,  vom  Racken  Wr 
>>etrachtet,  der  Abzieher  des  kleinen  Fingers  durch  die  Verkürzniig  seiner  Fum 
deutlich  ab  und  läßt  den  Rand  des  Mittelhandknochcns  wobl  erkennen. 

Schließt  sich  die  Hand  oder  umgreift  sie  irgend  einen  G^en- 
stand  mit  Kraft,  dann  werden  diese  kleinen  Muskeln  herausgedrängt 
80  daß  sich  der  Eleinfingerrand  stärker  vorwölbt  als  bei  gestreckten 
Fingern.  Dasselbe  ist  bei  dem  Anstemmen  der  Hand  auf  eine  platte 
Unterlage  der  Fall,  wobei  auch  die  Wölbung  schwindet,  welche  der 
Handrücken  während  der  ruhigen  Haltung  und  noch  mehr  bei  ge- 
schlossener Hand  aufweist. 


3)  Muskeln  der  Hohlhand. 

Einige  sind  für  die  plastische  Anatomie  insofern  interessant,  als 
sie  auf  dem  Handrücken  zum  Vorschein  kommen. 

Die  Zwischenknochenmuskeln  füllen  die  Räume  zwischen  den 
Mittelhandknochen  aus  und  liegen  in  zwei  dichten  Lagen  übereinander. 
Die  inneren  Zwischenknochenmuskeln  sind  nur  von  der  Hohl- 
hand aus,  nach  Entfernung  der  darüber  hinwegziehenden  Sehnen,  Ar- 
terien und  Venen  aufzufinden.  Die  äußeren  Zwischenknochen- 
muskeln, von  der  ßückenflächc  der  Hand  her  sichtbar  (Fig.  131 
Nr.  14  u.  14'),  sind  zweiköpfig  und  entspringen  von  den  gegeneinander- 
gekehrten  Rändern  je  zweier  Mittelhandknochen.  Der  erste  ist  der 
mächtigste,  er  befindet  sich  in  dem  Kaum  zwischen  dem  Mittelhand- 
knochen  des  Daumens  und  des  Zeigefingers  (siehe  Fig.  131  Nr.  14'); 
er  gellt  zur  Speichenseito  der  Grundphalange  des  Zeigefingers,  teil- 
weise auch  zu  dessen  Rückensehne;  der  zweite  setzt  sich  in  ähn- 
licher Weise  an  der  Speichenseite  des  Mittelfingers  an,  der  dritte 
an  der  Ellenseite  desselben  Fingers  und  der  vierte  an  der  Ellenseite 
des  Ringfingers  (Fig.  131  Nr.  14).  Der  Mittelfinger  empfangt  somit 
zwei  äußere  Zwischenknochenmuskeln. 

Diese    Muskeln    (vier    äußere    und    drei   innere)    wirken    auf  die 
(jrrundphalanx  der  vier  Finger,  und  zwar  so,  daß  die  äußeren  Zwischen- 


Muskeln  der  Gliedniiißeii.  427 

knochenmuskeln  die  Finger  spreizen,  die  inneren  dagegen  als  Anta- 
gonisten vdrken  und  den  Fingerscliluß  herbeiführen.  Dabei  hat  jede 
Gruppe  noch  eine  Nebenwirkung:  die  vier  äußeren  strecken  gleicli- 
zeitig  die  Finger,  die  inneren  beugen  dieselben.  Am  deutlichsten  von 
den  vier  äußeren  Zwischenknochenmuskeln  ist  der  erste  durch  die 
Haut  hindurch  zu  erkennen.  Spreizt  man  die  gestreckten  Finger  und 
namentlich  Daumen  und  Zeigefinger,  so  erscheinen  vom  Handrücken 
aus  die  beiden  Ursprungsköpfe  vollkommen  deutlich,  der  eine,  welcher 
dem  Mittelhandknochen  des  Zeigefingers  entlang  läuft,  der  andere,  der 
breit  von  dem  Mittelhandknochen  des  Daumens  entspringt  und  auf 
seinem  Weg  gegen  die  Grundphalange  des  Zeigefingers  sich  allmählich 
verschmälert. 

Die  Sp u l wu r m in u ekeln  (Mm.  lumbrieales,  Fig.  130  Nr.  IT)  heißen  so  wegen 
ihrer  langen  drehrunden  Fonn,  die  sie  mit  Eingcweidewünnem  gemein  haben.  Sie 
entspringen  in  der  Hohlhand  von  den  Sehnen  des  tiefen  Fingerbeugers.  An  der 
Speichenseite  jedes  der  vier  Finger  treten  sie  zu  der  Kückensehne  der  Finger.  Sic 
beugen  die  Finger  au  der  Grundphalange. 

Aus  der  Beschreibung  der  Zwischenknochen  —  und  der  Spul- 
^wurmmuskeln  geht  hervor,  daß  die  Sehne  auf  der  Rückenftäche  der 
Finger  einen  sehr  zusammengesetzten  Bau  erhält,  denn  sie  wird  aus 
dem  Zufluß  der  ebengenannten  Muskelsehnen  und  den  Sehnen  des 
langen  Streckers  hergestellt,  der  von  dem  Vorderarm  herabkommt. 
Der  Zeigefinger  auf  Fig.  131  giebt  ein  Bild  der  Rücken  sehne 
der  Finger  überhaupt.  Bei  Nr.  17  kommt  von  dem  Vorderarm 
die  Strecksehne  des  Zeigefingers;  diejenige  des  gemeinschaftlichen 
Streckers,  welche  für  diesen  Finger  bestimmt  ist,  wurde  abgetragen 
und  bei  Nr.  17  sieht  man  ihren  Querschnitt.  Zu  diesen  beiden  Sehnen 
stoßen  die  Sehnen  des  äußeren  und  inneren  Zwischenmuskels  und 
eines  Spulwurmmuskels.  Dadurch  entsteht  ein  dreieckiges  Sehnen- 
blatt, aus  dem  im  weiteren  Verlauf  filr  jedes  Glied  die  Ansatzbündel 
so  geliefert  werden,  daß  die  Sehne  dennoch  ansehnlich  stark  das 
Nagelglied  erreicht.  —  Man  sollte  erwarten,  daß  die  Rückensehnen  der 
Finger,  die  auf  dem  höchsten  Punkt  des  Knöchels  liegen,  bei  der 
Beugung  von  diesen  rundlichen  Voraprüngen  abgleiten.  Dies  geschieht 
jedoch  nicht,  weil  die  Sehnen  der  kleinen  Muskeln,  welche  in  der 
Hohlhand  liegen,  heraufkommen  und  mit  der  Rückensehne  verwachsen. 
Eine  geringe  seitliche  Verschiebung  wird  jedoch  nicht  gänzlich  ausge- 
schlossen, wie  man  beim  Ballen  der  Faust  besonders  an  der  Streck- 
sehne des  Zeigefingers  sehen  kann,  welche  3 — 4  mm  weit  nach  der 
Daumenseite  rückt. 

Eine  intei'cssaute  Bewe^lichkeitsbescliränkung  des  vierten  Fingers  ündet  in  Fol- 
gendem ihre  Erklärung.    Wenn  man  eine  FiMist  macht,  so  kann  jeder  Finger  einzeln 


428  Zehnter  AbBchnitt 

wieder  vbllkommen  gerade  ausgestreckt  werden,  während  die  übrigen  gebogen  bkibn. 
Nur  der  Ringfinger  läßt  sich  nicht  vollkommen  gegen  den  Handrücken  etnckin. 
Die  yolbtändige  Streckung  desselben  gelingt  erst,  wenn  seine  beiden  Nachbarn.  W 
Mittel-   und  Ohrfinger,   zugleich  ausgestreckt   werden.    Die  Streckaebnc  des  Ring- 
fingers hängt  nämlich  mit  den  Strecksehnen  des  Mittel-  und  Ohrfingers  durch  fihn^ 
Zwischenbänder  zusammen,  welche,  wenn  Mittel-  und  Ohrfinger   gebeugt  sind,  äie 
Strecksehne  des  Ringfingers  so  festhalten,   daß  nur  die  halbe  Streckung  xiutaiide- 
kommen  kann.    Diese  Zwischenbänder  fehlen  nie.    Ihre  Ricbtung  ist  keine  qoen;. 
sondern  von  der  Strecksehne  des  Ringfingers  schief  nach  ab-  und  scitwärta,  zu  4ii 
Nachbarschncn  hingehend. 

Die  Hohlhand  enthält  zum  Schutz  der  in  ihr  verlaufenden  GefiBe 
und  Nerven  ein  derbes  Fettpolster,  das  die  Hohlhandfascie  bedeckt 
Werden  die  Finger  ausgestreckt,  so  springen  zwischen  den  ZOgea 
dieser  Fascie  dicht  vor  dem  Anfang  der  Finger  kleine  Fetthtigel  her- 
vor, welche  in  der  Chiromantie  einst  eine  wichtige  Rolle  spielten«  Die 
Wahrsager  glaubten  in  diesen  Hügeln  und  in  den  Furchen  der  Hohl- 
hand die  Schicksale  des  Menschen  geschrieben  zu  sehen.  Sie  stützten 
sich  dabei  auf  die  Worte  der  Schrift:  et  erit  signum  in  mann  tiuu 
„und  es  wird  em  Zeichen  in  deiner  Hand  sein".  Ein  Teil  die«er 
Linien  hängt  mit  Gelenken  zusammen,  ein  anderer  entsteht  durch  Zu- 
sammendrängen der  Haut  bei  dem  Schluß  der  Hand. 

Die  konstantesten  dieser  Linien  sind: 

1)  Die  Monatslinie  (Linea  merisalis),  sie  fängt  in  der  Nähe  des 
kleinen  Fingers  an,  verläuft  durch  den  Handteller  mit  oberer  Kon- 
vexität und  endigt  zwischen  Zeige-  und  Mittelfinger.  Sie  entspricht 
den  Gelenken  zwischen  den  Köpfchen  der  letzten  drei  Mittelhand- 
knochen und  den  ersten  Fingergliedern. 

2)  Die  Kopflinic  (JAnea  cephalica)  geht  quer  dui'ch  die  Flach- 
hand. Sie  beginnt  oberhalb  des  Zeigefingers,  erreicht  jedoch  den 
Kleinfingerrand  der  Hand  nicht  immer.  Nur  an  ihrem  Ursprung  liegt 
sie  mit  einem  Gelenk,  mit  dem  Mittelliandfingergelenk,  in  gleicher 
Höhe,  wie  man  bei  der  Beugung  des  Zeigefingers  gut  sehen  kann. 

3)  Die  Lebenslinie  (Linea  vitalis)  umgreift  das  Dickfleisch  des 
Daumens  und  fällt  mit  der  Ursprungsgrenze  des  Anziehers  des  Dau- 
mens zusammen. 

Die  Oberhaut  der  Hohl  band  zeichnet  sich,  wie  an  allen  Beuge- 
seiten der  Gliedmaßen  durch  ihre  Zartheit  aus,  besonders  an  ge- 
schonten Händen.  Sie  kann  sich  aber,  wie  die  hornigen  Fäuste  ge- 
wisser Handwerker  beweisen,  bis  auf  zwei  Linien  verdicken. 

Die  Gestalt  der  Hand  richtet  sich  überhaupt  viel  nach  ihrem 
Gebrauche,  welcher  an  ihr,  sowie  an  den  Finger  bleibende  Sparen 
zurückläßt.     So  wird  die  Hand  l)reit,   steif  und  zugleich  schwielig  bei 


K    Kixtt.  Sptrivlionslr. 
n  StreoV.  <l.  Zv'igtt. 


n  Abi.  il.  Iiftum, 


--    U    I^Dg.  9i«ieh.> 

Btrtcker. 
10  Ciupftle  II. 

10  Kura.  Spei- 
Rhenatr. 


IT  Strmk.  il.Zdgef. 


480  Zehnter  Abflchnitt. 

allen  schwer  arbeitenden  Handwerksleuten.  Mne  permanente  Bengiae 
der  Finger  findet  sich  infolge  der  Verhärtung  des  subkutanen  Bindt- 
gewebes  bei  Holzhauern  und  Zimmerleuten.  Die  zerstochene  Ober- 
haut am  Daumen  und  Zeigefinger  der  linken  Hand  macht  den 
Schneider  kenntlich,  und  die  schwielenartige  Verdickung  am  ersten 
Glied  des  Zeigefingers  und  am  Daumen  zeichnet  den  Tischler  xmi 
rührt  vom  Gebrauche  des  Hobels  her. 

E.   Die  Venen  des  Arms. 

Die  hochliegenden  oder  Hautvenen  (lenae  mihcutaneae)  scheinen  sk 
blaue  Stränge   durch   die   Haut   des  Armes   hindurch.      Diese  Venen 
springen  je  nach  der  Blutf&Ue  stärker  oder  schwächer  über  die  Fläche 
hervor.     Sie  liegen  zwischen  Haut   und   Fascie   in    der   Fettschichte» 
und  ihre  Deutlichkeit  hängt  also  auch  von  dem  Fettreichtum  ab.    Bei 
Kindern   und   fettleibigen  Personen   ist   deshalb   wenig   von  ihnen  n 
sehen,    dagegen  werden  sie  um  so  deutlicher,  je  geringer  das  Fett- 
polster wird.    Die  Venen  hängen  in  ihren  gröberen  Verzweigungen  viel- 
fach untereinander  zusammen  und  bilden  auf  diese  Weise  Venennetze. 

Neben   den   hochliegenden   Venen    giebt    es   auch    tiefliegende 
Venen   des   Armes,   welche   sich   genau   an  den  Verlauf  der  Arm- 
schlagader halten,  und  zwar  in  der  Weise,  daß  sie  von  zwei  Venen 
begleitet  wird.     Auch  diese  bilden  untereinander  Netze   und  hängen 
durch  Verbindungsäste  mit  den  oberflächlichen  Hautvenen  zusammen. 
Das  Blut  kann  demnach  durch  zwei  verschiedene  Bahnen   nach  dem 
Herzen  zuiiickkehren,  oder  wenn  innerhall)  des  oberflächlichen  Rohren- 
systems ein  Hindernis  für  den  Rückfluß  besteht,  durch  das  tiefe  seinen 
Weg  nehmen  oder  umgekehrt.    Von  dieser  Möglichkeit  wird  denn  auch 
der  ausgiebigste  Gebrauch  gemacht.     So  oft  sich  die  Muskeln,   sei  e> 
des  Armes  oder  des  Beines,   zusammenziehen,   drücken   sie  die  dünn- 
wandigen Venen  zusammen  und  verhindern  so  den  Rückfluß  durch  die 
tiefen  Abzugsröhren.     An  dem  Arm  füllen  sich  dann   die    Hautvenen 
strotzend,    sobald  durch  das  Schließen  der  Hand  zur  Faust  die  Mus- 
kulatur des  Vorderarms  sich  zusammenzieht.     Die  bei  der  Bewegung 
des  Körj)ers   stattfindenden  Zusammenziehungen   der  Muskeln  werden, 
wie  daraus  hervorgeht,  ein  wichtiges  Hilfsmittel  fiir  die  Bewegung  des 
Blutes,   namentlich  in  den  Gliedmaßen;  denn  in  ihnen  muß  das  Blut, 
den  allmächtigen  Gesetzen  der  Schwere  entgegen,  von  unten  nach  auf- 
wärts  strömen  und  bedarf  dringend  der  helfenden  Wirkung  der  Mus- 
keln.    Um   den  Rückfluß   des  I^lutes  noch  mehr  zu  unterstützen,  sind 
im  Innern   der  nach    dem  Herzen  aufsteigenden  Venen  Klappen  oder 
Taschen  Ventile   angel)racht,    welche   sich  in  der  Richtung  des  Stromes 
öffnen,  dagegen  einen  Küektiuß  des  Blutes  verhindern. 


Muskeln  der  Gliechnaflen.  431 

Die  Länge  des  Blutstroxnes  und  seine  der  Schwere  entgegengesetzte  Richtung 
machen  die  Venen  zu  einem  häufigen  Sitz  der  Erkrankung.  Die  rankenförnugen 
Krümmungen,  welche  der  Verlauf  der  Hautvenen  so  oft  am  Rein  aufweist,  unter 
dem  Namen  der  Krampfadern  bekannt,  erklären  sich  aus  statischen  Verhält- 
nissen. Idt  der  Kückfluß  des  Blutci«,  wie  in  den  letzten  Monaten  der  Schwanger- 
Bcbaft  gehemmt,  so  entstehen  durch  den  Blutilruck  Ausbuchtungen  und  Erweiterungen 
des  Venenrohres;  diese  bedingen,  wenn  die  erweiterten  Stellen  zahlreicher  sind, 
den  Anschein  schlangenförmiger  Krümmungen  und  führen  bei  längerer  Dauer  der 
Krankheit  eine  Verdickung  des  Gefäßrohres  herbei.  Durch  die  Verdickung  der 
Wände  erscheinen  die  Krampfadem  wie  harte,  tiefblaue  Stränge  über  die  Haut 
her>'or(|uellend.  Diese  Krampfadem  sind  jedoch  keine  ausschließliche  Plage  der 
Frauen.  Sie  kommen  auch  bei  Männern  vor;  so  bei  Handwerkern,  welche  bei 
ihrer  Arbeit  in  aufrechter  Körperstellung  während  des  ganzen  Tages  verharren. 

Die  Wurzeln  der  Armvenen  liegen  in  der  Hand,  von  denen  haupt- 
sächlich jene  des  Handrückens  in  Betracht  kommen,  denn  der  Hohl- 
hand fehlen  die  sichtbaren  oberflächlichen  Venen.  Die  Venen  des 
Handrückens  nehmen  ihren  Anfang  von  der  Fingerspitze  aus  zwei 
Asten,  welche  die  Nagelwurzel  umgreifen  (Fig.  132  Nr.  i).  Das  aus 
der  Vereinigung  entstandene  Stämmchen  steigt  am  Finger  in  die 
Höhe,  nimmt  aber  sofort  neue  Zuflüsse  auf,  welche  teilweise  von  der 
Hohlhandfläche  der  Finger  heraufkommen. 

Schon  am  mittleren  Fingergelenk  sind  die  Venen  stark  vermehrt. 
Durch  die  Beugungen  und  Streckungen  gezwungen,  wenden  sie  sich 
zu  den  Rändern  des  Gelenkes,  dorthin,  wo  die  geringste  Spannung  ein- 
tritt, um  oberhalb  des  Gelenkes  sich  wieder  durch  ein  Verbindungsrohr 
zu  vereinigen.  So  kann  es  kommen,  daß  unmittelbar  um  das  Gelenk 
zwischen  dem  Grund-  und  Mittelglied  ein  venöser  Kreis,  allerdings  von 
keineswegs  regelmäßiger  Form  entsteht. 

Die  Venenschlingen  um  das  Gelenk  zwischen  dem  Mittelglie<l  und  der  Gnind- 
phalangi^  fehlen  auch  })isw<^ilen,  dann  zi(^hen  die  Stännnchen  gleichmäßig  über  das 
Gelenk  hinauf.  Inmier  ist  dabei  eine  Abweichung  seitlich,  um  das  Gelenk  herum, 
nachzuweisen,  so  daß  bei  starker  Biegung  die  Blutströme  auch  den  günstigen 
Seitenweg  benutzen  können. 

Die  jetzt  umfangreicher  gewordenen  Venenströme  ziehen  dann 
gegen  den  Knöchel  fort,  seitlich  je  einer  oder  zwei,  also  wechselnd 
an  Zahl,  sich  teilend  und  wieder  vereinigend,  um  gegen  das  Ende 
des  obersten  Fingergliedcs  sich  in  einen  Venenbogen  der  Finger 
(Arais  dufitalis  veiiosus,  Fig.  132  Nr.  2)  zu  ergießen.  Dieser  Venen- 
bogen stellt  ein  Hauptstromgebiet  des  nach  dem  Vorderarm  rück- 
laufenden Blutes  dar;  denn  in  diesen  Bogen  ergießen  sich  nicht  nur 
die  Venen  des  Fingerriickens,  sondern  münden  auch  stets  jene  Venen- 
röhren ,  die  von  der  Hohlhandfläche  kommen ,  Zwischen knöchel- 
venen  (t'enae  intercnpihtlnres,  Fig.  182  Nr.3)  genannt.  Aus  all  diesen 
Veueubahnen  zusumniengeuommeu  entstehen  endlich  die  Mittelhand- 


MW£  LIBRARY.  STMlTOTi  mmVSS^ 


432  Zehnter  AlMchnltt. 

venen  (Fenae  metacarpeae,  Fig.  132  Nr.  4),  jene  oberflächlichen  dick« 
■  Venenstämme  des  Handrückens,  welche  vorzüglich  zwei  HauptrichtunjKi 
nehmen:  die  eine  nach  der  Kleinfingerseite  hin,  es  ist  die  Jena  salra. 
teUa  (Fig.  132  Nr.  4),  die  andere  nach  der  Daumenseite  zu,  ist  dit 
Kopfvene  des  Daumens  (Fena  cephalica  poUicis,  Fig.  132  NY  5). 
Mit  dieser  Schilderung  ist  nur  die  Hauptrichtung  der  Ströme  aaf 
dem  Handrücken  angedeutet,  weil  es  sich  um  diese  zunächst  handelt. 
Für  das  Verständnis  der  zahlreichen  Variationen  ist  folgendes  zu 
beachten. 

An   der  Hand   des   Neugeborenen   kommt  von  jedem   Zwischeo- 
knochenraum    eine    Mittelhandvene.     Zu    diesen    vier    Stämmen   der 
Zwischenknochenräume  kommen  noch  zwei  Band  venen  von  der  Speichen- 
und  Ellenseite  der  Hand.    Von  den  letzteren,  welche  unbedeutend  sind, 
wird  hier  nicht  weiter  die  Rede  sein,  dagegen  verdienen  die  ersteren 
eine    eingehende   Betrachtung.     Diese   vier   Stämme    sind    zuerst  von 
gleicher  Stärke  und  laufen  nebeneinander  an  dem  Handrücken  in  die 
Höhe.     Durch  Verbindungsröhren   sind   sie   ebenfalls    schon    von  der 
allerfrühesten   Zeit    der  Entstehung   her   miteinander    in    Zusammen- 
hang.    Der  Handrücken    ist   also  bedeckt  von   einem   reichen  Venen- 
netz.    Aber  schon   während  der  nächsten  Jahre  treten   einige  dieser 
Bahnen   zurück,   während    andere  sich   vergrößern.     Das   ^Endresultat 
gleicht   in   der  Regel   der  Fig.  132.     Die  Hauptmasse  des  Blutes  aus 
der  Kleinfin^erseite  ergießt  sich  dann  in  ein  weites   Rohr,    die  Fma 
salvatella    Fig.    132  Nr.  4,    das    im  Bogen    über   das    Handgelenk    zum 
Vorderarm  zieht.    Die  anderen  jetzt  nahezu  nutzlos  gewordenen  Venen- 
netze sinken  zu  dünnen  und  unbedeutenden  Röhren  herab.     Die  Blnt- 
menge,    welche    aus    dem  Daumen  und  dem  Zeigefinger    zurückkehrt, 
bildet  einen  besonderen  Strom,   die  Kopfvene  des  Daumens   (Fenn 
cephalica  pollicis^  Fig.  132  Nr.  5),  die   auf  der  Daumenseite    der  Hand 
in  die  Höhe  strebt. 

Die  Verschiedenheit  der  Ridituntj:  erscheint  vollkonunen  zweckmäßig,  wenn 
man  erwägt,  daß  für  die  an  der  Daumenseit^;  gelcfrenen  Venenquellen  der  Wi»jr  hi« 
zur  Kleinfingerpeite  auf  zu  vi(^le  Widerstände  stoßen  und  es  deshalb  gfrinjr^iv 
mechanische  Schwierif^keiten  venirsachen  wünle,  das  Blut  direkt  über  den  HäikI- 
rücken  durch  Röhren  hinaufzuheben. 

Die  Stelle,  wo  die  Kopfvene  aus  der  Vereinigung  der  Zeigefinger- 
vene (Fig.  132  Nr.  3  links)  und  der  Djiumenvene  entsteht,  ist  in  der 
Mitte  zwischen  dem  Griftelfortsatz  der  Speiche  und  dem  Handwurzel- 
Daumengelenk  auf  den  Sehnen  des  langen  Abziehers.  Von  diesem 
Punkt  aus  steigt  die  Vene  weiter  in  die  Höhe  und  vereinigt  sich 
10  cm  über  dem  Handgelenk  mit  der  von  der  Kleinfingerseite  her- 
kommenden  Jena  mlvatella. 


MDikeln  der  OIi«dm*Sea. 


Bei  der  Untersuchung  dieser  Veue  am  Lebenden  darf  man  nicht  übersehen, 
d&ß  hier  nur  von  den  Hauptbahnen  die  R^tlc   ist,   und  daß  nebenbei   noch  kleinere 


Vena  ulvatclln. 


3  Zwiftchm- Knöchel - 


t^.  132.     Die  tiautvenen  des  llandrückenB. 


ZwcigTuhrcn,  alle  iiiituiiiiuuler  dun-)i  Si^itciiäKtt^  verbunden,  an  dem  DaumcnTand  in 
die  Hiihe  strebi-n.  Einige  divuer  SeitenHtrcimn  Hiebt  man  unter  der  duruiiuiclitigen 
Haut  von  der  HoblImndHilcliu  den  DaninenballeiiB  lierkommi'U,  verstärkt  durch  Zu- 
lug  von  dem  Hftndleller. 

KoLLHAHif,  PlutlKh«  Anilomle.  28 


484  Zehnter  Abnhiiitt. 

Es  wurde  schon  oben  erwähnt,  daß  die  Natur  sich  nicht  immer 
dieselben  Bohren  aus  dem  Yorhandenen  Netz  aussucht ,  durch  die  sie 
hauptsächlich  das  Blut  nach  oben  leitet,  sondern  bald  diese,  bald  jene 
bevorzugt.  Der  individuellen  Gestaltung  ist  auch  darin  ein  weiter 
Spielraum  gegeben.  Ist  doch  oft  die  Form  dieses  Venennetzes  bei 
einem  und  demselben  Individuum  verschieden. ^ 

An  dem  Arm  unterscheidet  man  folgende  Hautvenen: 

1)  Die  Kopfvene  (Vena  cephalica)  führt  das  von  dem  Daumen 
und  Zeigefinger  kommende  Blut  an  dem  Vorder-  und  Oberarm  in  die 
Höhe,  steigt  am  Seitenrand  des  Supinator  und  dann  an  der  EUbenge 
hinauf,  erreicht  die  äußere  Bicepsfurche  und  gelangt  so  in  den  tie&t 
Spalt  zwischen  dem  großen  Brustmuskel  und  dem  Deltamuskel,  wo  die 
Eopfvene  Gelegenheit  findet,  sich  in  die  große  Achselvene  zu  enüeeren. 
Auf  dem  Wege  dorthin  nimmt  sie,  namentlich  in  dem  Bereich  de» 
Vorderarmes,  zahlreiche  kleinere  und  größere  Stämmchen  auC 

2)  Die  Vena  basüica  (ein  deutscher  Name  fehlt  für  diese  Vene. 
und  bei  dem  Ausdruck  innere  Armvene  liegt  die  Gefahr  eines  Mis» 
Verständnisses  allzu  nahe)  ist  die  Fortsetzung  der  Vena  salvatella, 
welche  von  der  Kleinfingerseite  des  Handrückens  aufsteigt.  An  derEUen- 
seite  erhält  sie  Aste  von  dem  Bücken  des  Vorderarmes  und  erreicht, 
beträchtlich  an  Umfang,  die  innere  Bicepsfurche,  in  der  sie  vier  finger- 
breit über  dem  inneren  Knorren  die  Fascie  durchbricht,  um  in  die 
tiefe  Armvene  einzumünden.  Die  Vena  basilica  hat  also  einen  weit  kür- 
zeren Verlauf  als  die  Kopfvene,  welche  bis  an  das  Schlüsselbein 
hinaufgelangt. 

Zwischen  den  beiden  größeren  Venenstämmen  des  Vorderarmes 
verlaufen  noch  kleinere  Längsstämmchen,  welche  sich  bald  in  die 
Vena  basilica,  bald  in  die  Kopfvene  ergießen,  und  zwar  geschieht  dies 
vorzugsweise  in  der  Nähe  der  Ellenbeuge  unter  doppelter  Form: 

1)  entweder  zieht  ein  Verbindungsast  schräg  durch  die  Ellenbenge 
von  der  Kopfvene  nach  der  Vena  basilica  hinüber.  Dieser  einfache 
und  kurze  Venenstamm  wird   Vena  mediana  genannt,  oder 

2)  eine  lange  Hautvene  der  inneren  Vorderarmseite  teilt  sich 
etwas  unterhalb  der  Ellenbeuge  in  zwei  Zweige,  deren  einer  zu  der 
Kopfvene   hinüberzieht,    deren  anderer  in  die  Vena  basilica  mündet. 

Für  die  Vornahme  der  Aderlässe  pflegt  man  stets  die  Vena 
mediana  zu  wählen.    Ist  die  von  dem  Vorderarm  herkommende  Haut- 

*  „Die  Venen  der  menschlichen  Hand".  Von  Braune  und  Trübioee.  Mit 
4  Tafeln  in  pliotogr.  Lichtdruck.  Leipzig  1873.  4°.  Das  Werk  enthält  die  neuest« 
Ergebnisse  anatomischer  Forschung  über  dieses  Kapitel. 


Muakeln  der  QlicdmaHen.  435 

vene  in  zwei  Zweige  gespalten,  so  wählt  man  den  zu  der  Vena  basilica 
ziehenden,  weil  er  voluminöser  ist  und  oberflächlicher  liegt. 


II.    Die  Muskeln  der  unteren  Gliedmaßen. 

Die  Muskehl  der  unteren  Gliedmaßen  lassen  vier  Hauptabteilungen 
unterscheiden,  welche  den  Abteilungen  des  Skelettes  entsprechen:  Mus- 
keln der  Hüfte,  des  Ober-,  des  Unterschenkels  und  des  Fußes. 
Diese  ganze  Muskulatur  ist  wie  diejenige  des  Armes  von  einer 
Fascie  bedeckt,  welche  eine  gesclilossene  Scheide  bildet.  Auch  sie 
wird  der  leichteren  Übersicht  wegen  in  eine  Oberschenkelfascie, 
in  eine  Unterschenkelfascie  und  in  eine  Fascie  des  Fußes  ab- 
geteilt. Jede  dieser  Abteilungen  sendet  Fortsetzungen  zwischen  ein- 
zelne Muskeln,  wodurch  oft  vollständige  Muskelscheiden  entstehen, 
welche  die  Verlaufsrichtung  und  die  Wirkung  der  in  ihnen  enthaltenen 
Muskeln  bestimmen.  Wie  an  dem  Arm,  so  erhält  auch  die  Fascie 
des  Beines  Verstärkungen  durch  Muskelsehnen  und  dient  ihrerseits 
Muskelbündeln  als  Ursprungsstelle.  So  durchdringen  sich  die  beiden 
Organe  auf  das  innigste,  und  ihre  Beziehungen  werden  von  dem 
auffallendsten  Einfluß  auf  die  Formen.  Das  ist  namentlich  auch  dort 
der  Fall,  wo  breite  Fortsetzungen  der  Fascie  in  die  Tiefe  bis  auf 
den  Knochen  dringen,  mit  ihm  verwachsen  und  dadurch  Zwischen - 
muskelbänder  veranlassen,  welche  als  tiefe  Rinnen  durch  die  Haut 
hindurch  erkennbar  sind. 

Die  Haut  ist  auf  der  Vorder-  und  Innenseite  des  Beines  dünn, 
auf  der  äußeren  und  hinteren  derb  und  mit  Haaren  besetzt,  das  Unter- 
hautfettgewebe bei  normalen  Männern  so  mäßig,  daß  die  Muskellinien 
deutlich  erkennbar  sind,  nur  am  Gesäß  wird  es  reichlich,  um  die  Um- 
gebung des  Sitzbeines  zu  polstern.  In  dem  Unterhautfettgewebe  ver- 
laufen wie  an  dem  Arm  die  oberflächlichen  oder  Hautvenen,  die 
ihre  Wurzeln  in  den  Venen  des  Fußes  besitzen. 

a.    Die  Muskeln  der  Hüfte. 

Es  gehören  zu  den  Hüftmuskeln  nur  jene,  welche  die  äußere  und 
innere  Fläche  des  Hüftbeines  einnehmen  und  an  dem  oberen  Ende  des 
Schenkels  endigen.  Viele  der  vom  Hüftbein  entspringenden  Muskeln 
gehen  weiter  am  Schenkel  herab,  überspringen  sogar  das  Kniegelenk, 
um  an  dem  Unterschenkel  anzugreifen.  Sie  werden  aus  diesem  Giamde 
nicht  zu  den  Hüftmuskehi  gezählt,  sondern  bei  den  Muskeln  des  Ober- 
schenkels beschrieben  werden. 

2b* 


436  Zehnter  Abedmitt. 

1)    Äußere  Muskeln  der  Hüfte. 

Sie  liegen  in  mehreren  Schichten  übereinander.     Von  rQckwän« 
nach  vorwärts  gezählt  sind  in  der  oberflächlichen  Schichte  folgende : 

Der  große  Gesäßmuskel  (Glutaeus  magnus  von   glout6s  Hinter- 
backe  Fig.   133  Nr.  3)    ist   ein   mächtiger,    aus    groben    Bündeln  zu- 
sammengesetzter Muskel,   die  bei  der  Zusammenziehung  wie  daumen- 
breite Stränge  unter  der  Haut  vorspringen.    Er  ist  die  Grundlage  der 
Hinterbacke.     Ursprung:    kurzsehnig    von   einer   kleinen    Fläche  des 
Darmbeines   dicht  über  dem  hinteren  oberen  Darmbeinstachel,  dun 
von  dem  Kreuz-  und  Steißbein  und  von  dem  Sitzknorren  —  KreQ^ 
beinband.   Verlauf:  gegen  den  großen  BoUhügel  hinab,  wobei  diejenigen 
Bündel,    welche   vom  Kreuzbein  und  den  tiefer  liegenden  Urspnugs- 
punkten  herabkommen,    sich  an  der  rauhen  Linie  des  Oberschenkel- 
knochens befestigen  (Fig.  133  Nr.  15').  Diejenigen  Muskelbündel,  welche 
von  dem  Darmbein  herabkommen,  gehen,  bevor  sie  den  großen  Koll- 
hügel erreichen,  in  eine  starke,  bis  zwei  mm  dicke  Sebne  über  (Fig.  133 
Nr.  15),  welche  unterhalb  des  Bollhügels  in  die  Schenkel faseie  über- 
geht.    Der  Muskel  setzt  sich  also  nur  zur  Hälfte  am  Knochen  fest,  die 
andere  Hälfte  strahlt  in  die  Fascie  aus,  welche  die  äußere  Schenkel- 
fläche bedeckt.     Bei  der  Beurteilung  seiner  Wirkung  ist  dies  wohl  zn 
beachten.     Er  hebt  das  Bein  nach  hinten,  eine  kräftige  Nebenwirkung 
liegt  in  dem  Beinspreizen.     Wie  alle  Muskeln,  welche   ein  Gelenk  um- 
geben,   hilft   er    ferner   zur  Befestigung  der  Knochenverbindung.    Sü 
sieht  man  ihn  denn  an  dem  Standbein  in  kräftiger  Zusammenziehong. 
wobei   seine  Sehne,    welche   in    weitem  Bogen   den   oberen  Rand  des 
Rollhügels  umzieht,  vertieft  liegt,  während  seine  Muskelfasern  im  Ver- 
gleich zu  der  Lage,  die  sie  während  der  Ruhe  besitzen,   hoch  erhoben 
sind.    Dieser  Unterschied  in  der  Form  des  Muskels  läßt  sich  vergleichen 
mit  dem  Aussehen  des  Deltamuskels  während  der  Ruhe  und  während 
der    Bewegung,    mit    dem    er    sonst    in    mancher    Hinsicht    überein- 
stimmt.  Die  Fonnen  des  Gesäßmuskels  werden  durch  die  Haut  und  das 
Fett,   sowohl  während   der  Ruhe  als  während  der  Bewegung    wesent- 
lich   alteriert.     Das   Fett   füllt   die   Gesäßspalte  so,    daß    sie    bei  ge- 
sunden Menschen   während    des  Stehens  niemals  klaffend   offen  steht, 
wie    bei    den   Tieren,    sondern    geschlossen,    den    After   vollkonmieu 
verdeckt.     Es  füllt  ferner  den  Raum  zwischen  dem  unteren  Rand  des 
Muskels    aus,    so    daß    der  Rand   der   Hinterbacke  nicht   wie   in  dem 
anatomischen    Präparat    (Fig.   133)    schief    gegen    den    Oberschenkel- 
knochen herabläuft,    sondern   durch  die  Gesäßfalte  sich  quer  von  der 
hinteren  Schenkeitiäche  absetzt  (Fig.  134). 


mS^T^uSiIbS^^^^^^^^^^S^^^^^^^H 

HüfUwiDkainDi  1 

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TlitKHMkitiwp    hl       ^ 

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cl.  r;r,  (Ic^Omuik.                                ^H 

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--      m' Sohononmmki-I. 

Sehollenmiukel   » 

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W— 

BS  Long.  W»d«nl>«inn.uri<rl. 

AchillMXebDe  n 

Ji 

iDD.   KDÜOhcl    B 

ll 

-        a   Ann.  Km'i'liel. 

i — 

Fig.  133.     Muskelu  des 

BeiuM  V 

n.   lliritfli  prwlii'li. 

Die  Veränderung 

der 

Form 

durch 

im    besten    die   Skizze 

Mi 

UELANOBLu'a 

(Fig.    134   Nr.  0):     iif    o^ere 

_ 

_ 

JHk^.^^H 

438  Zehnter  Abschnitt. 

Muskelhälfte,  die  vertieft  liegende  Sehne,  welche  namentlich  huks  diie 
Wölbung  des  großen  Rollhügels  noch  erkennen  läßt,  die  konvexe  (it- 
säßfalte  und  der  Ansatz  der  unteren  Hälfte  des  Glutaeos  an  der 
rauhen  Linie  des  Schenkelknochens  (Fig.  134  Nr.  s),  all  das  ist  mit 
starken  Zügen,  mit  vollstem  Verständnis  der  anatomischen  Gmudlafsr 
hingeworfen.  Auch  der  Borghesische  Fechter  eignet  sich  vortreff- 
lich zum  Vergleich,  um  dann  am  lebenden  Modell  die  Formen  kUr 
zu  erkennen. 

I^ei  aufrechter  Stellung  decken  die  unteren  Bündel  des  großen  6e»ftßiuib4fk 
den  Sitzknorren.  Beim  Niedersitzen  gleiten  nie  auf  die  Seite  und  dann  ruht  ^ 
Last  des  Kör|)ers  direkt  auf  dem  Knochen  und  dem  Fettpolster.  Der  vorderp  Biwi 
des  großen  Gesäßmuskels  ist  während  der  Ruhe  nicht  leicht  zu  sehen,  weil  doit 
seine  Bündel  schmäler  werden  und  auf  die  Fascie  des  mittleren  Gesäßmuskels  Sbir- 
greifen;  denn  wie  an  dem  ganzen  Bein  die  Fascie  sehr  stark  ist,  so  ist  sie  o^  todi 
auf  den  vom  Hüft-  und  Kreuzbein  entspringenden  Muskeln.  Unter  der  Sehne  d« 
großen  GeMßmuskels,  die  über  den  Rollhügel  hinwegzieht,  liegt  ein  Schleimbeotel 
der  die  sich  berührenden  Flächen  der  Sehne  und  des  Knochens  glättet,  damit  jeder 
Kraftverlust  durch  die  Reibung  während  der  Zusammenziehung  des  Muskels  ii»l 
der  damit  verbundenen  Verschiebung  vermieden  werde. 

Der  mittlere  Gesäßmuskel  (jV,  glutaeus  mediusy  Fig.  133  Sr.i4) 
entspringt  von  der  äußeren  Fläche  des  Darmbeines  bis  zu  dem  vor- 
deren Darmbeinstachel  und  reicht  bis  an  den  oberen  Rand  des  Knochens 
in  die  Höhe.  Eine  Portion  seines  hinteren  ümfanges  wird  von  dem 
großen  Gesäßmuskel  bedeckt  und  über  seine  ganze  freie  Fläche  zieht 
eine  derbe  Fascie  hinweg,  von  deren  Innenfläche  ebenfalls  Muskel- 
bündel auf  ihn  übergehen.  Der  Ansatz  erfolgt  mittels  einer  platten 
Sehne,  welche  den  oberen  Rand  des  großen  Rollhügels  umfaßt  und 
auf  dessen  vorderem  Rande  sich  fortsetzt.  Es  bleibt  also  die  äußere 
Fläche  des  großen  Rollhügels  von  Muskelbündeln  unbedeckt,  nur  die 
Sehne  des  großen  Gesäßmuskels  geht  über  ihn  hinweg.  Das  er- 
klärt die  Deutlichkeit  des  Rollhügels,  welche  freilich  verschiedene 
Grade  aufweist.  Bei  abgemagerten  Individuen  ragt  er  wie  ein  breiter 
Hügel  hervor,  bei  kräftigen  Männern  ist  er  zwischen  die  umgebenden 
Muskelmassen  versenkt,  bei  den  Frauen  deutet  nur  eine  leichte 
Schwellung  seine  Nähe  an,  und  selbst  dieses  schwache  Zeichen  geht 
oft  in  dem  Fett  unter  oder  verwandelt  sich  gar  in  eine  seichte  Mulde. 
Wirkung:  der  Muskel  sj)reizt  das  Bein.  Seine  Form  ist  sehr  gut 
erkennbar  in  Fig.  134  Nr.  5.  Nach  vom  grenzt  der  mittlere  Gesäß- 
muskel an  den 

Spanner  der  Schenkelfascie,  in  den  Figuren  der  Kurze 
halber  mit  seinem  lateinischen  Namen  Tensor  fasciae  bezeichnet 
(Fig.  135  Nr.  2);  er  entspringt  mit  einer  2  cm  langen  Sehne  von  dem 
vorderen  oberen  Darmbeinstachel.    Schon  nach  kurzem  Verlauf  nimmt 


Muskeln  der  Oliedmafien.  489 

er  bedeutend  an  Umfang  zu  und  entwickelt  einen  ansehnlichen  Bauch, 
der  im  ruhenden  Zustand  eine  Länge  von  20  cm  und  eine  Breite  von 
6 — 8  cm  besitzt.  Sein  Verlauf  geht  schräg  nach  außen,  sein  Ansatz 
geschieht  durch  Übergang  aller  seiner  Sehnenfasern  in  die  Fascie. 
Zieht  er  sich  zusammen,  so  wird  die  Schenkelfascie  gespannt;  nach 
dieser  Wirkung  erhielt  er  semen  Namen.  Dieser  Muskel  führt  der 
Schenkelfascie  eine  ansehnliche  Menge  von  Sehnenfasem  zu,  welche 
sich  eine  große  Strecke  weit  noch  deutlich  nachweisen  lassen,  so- 
wohl an  der  Leiche  wie  an  dem  Lebenden.  Bei  forcierter  Streck- 
stellung spannt  sich  ein  fingerbreiter  Strang  herab  bis  zu  dem 
äußeren  Knorren  des  Schienbeines.  In  der  Anatomie  wird  dieser  ge- 
spannte Strang  als  Hüftschienbeinband  (Ligamentum  üeo^tibiale)  be- 
zeichnet, und  der  an  der  Insertionsstelle  mehr  als  fingerdicke  Wulst 
ist  schon  von  Agasias  an  seinem  Fechter  scharf .  dargestellt.  Auf 
der  Fig.  134  Nr.  7  ist  der  hintere  Rand  des  Tensor  fasdae  kennt- 
lich; in  der  Stärke,  wie  ihn  Michelanqelg  angegeben,  ist  er  oft  zu 
finden. 

Der  schmale  Ureprung  des  Tensor  fasdae  erklärt  sich  bei  der  Betrachtung 
seiner  Rückseite,  dort  befindet  sich  eine  derbe  platte  Sehne,  die  den  Ursprung  von 
dem  Knochen  vermittelt  Bei  dem  Heben  des  Beines  nach  vorwärts  verkürzt  sich 
der  Muskel  sehr  stark,  sein  Muskelbauch  wird  dabei  breit  und  legt  sich  über  den 
vorderen  Rand  des  mittleren  Gesäßmuskels.  Die  Betrachtung  der  eben  beschriebenen 
B^on  des  Hüftbeines  muß  zuerst  an  einem  mageren  Menschen  angestellt  werden, 
dessen  schwache  Muskeln  den  großen  Rollhügel  wie  eine  breite  Geschwulst  hervor- 
treten lassen.  Je  kräftiger  die  Muskulatur  entwickelt  ist,  desto  schwieriger  ist  für 
den  Anfänger  die  Orientierung,  weil  der  Knochenvorsprung  tiefer  liegt  als  die  ihn 
umgebenden  Fleischmassen.  Die  oberflächliche  Muskellage  deckt  noch  eine  Reihe 
anderer  Muskeln,  welche  von  dem  Hüftbein  kommen  und  an  dem  Rollhügel  oder 
seiner  nächsten  Umgebung  sich  befestigen: 

Der  kleinste  Gesäßmuskel  ( Glutaeus  minimus,  Fig.  137  Nr.  i);  er  hilft  das 
Bein  spreizen. 

An  ihn  reiht  sich  der  birnförmige  Muskel  (M,  pyriformü,  Fig.  137  Nr.  3), 
der  das  große  Hüftbeinloch  ausfüllt. 

Der  innere  Hüftlochmuskel  (M,  obturator  internus),  der  das  Hüftbein- 
loch von  innen  her  bedeckt,  samt  seinen  zwei  kleinen  Nebenköpfen. 

Der  viereckige  Schenkelmuskel  (M,  quadratus  femoris,  Fig.  137  Nr. 6), 
der  breit  und  kurz  zwischen  der  äußeren  Fläche  des  Sitzknorrens  und  der  rauhen 
Linie  dicht  am  Rollhügel  ausgespannt  ist  Alle  diese  Muskeln  bilden  die  tiefe 
Schichte  der  äußeren  Hüftbeinmuskeln.  Die  drei  zuletzt  erwähnten  sind  mit 
dem  äußeren  llüftlochmuskel  (M,  obturator  extemus)  Auswärtsroller 
des  Beines. 

Die  innere,  schaufelförmige  Fläche  des  Hüftbeines  ist  eben- 
falls wie  die  äußere  von  kräftigen  Muskeln  bedeckt,  welche  dadurch 
auf  die  Formen  des  freistehenden  Beines  von  Einfluß  werden,  daß 
sie  die  Leibeshöhle  verlassen.    Unter  dem  Leistenband,  zwischen  dem 


Zehnter  AbKhiüU. 


Fig.  134.    Niw-kter  Krifger  von  Michfj^hqelo.    Facsimile. 

Torderen   oberen  Barmbeinstacliel   und   dem  Anfang  des  horizontalen 
3c)iiimbeinastes  verlassen  sie  ihre,  nur  nach  EröffnuDg  der  Bauchhöhle 


Muikeln  der  Gliedmaßen.  441 

sichtbare  Bahn,  um  sich  mit  einer  gemeinschaftlichen  Sehne  an  dem 
kleinen  Rollhügel  zu  befestigen.  Es  ist  ein  ansehnlicher  Muskelbauch, 
der  sich  unter  dem  Leistenband  hindurchschiebt  (Fig.  135  Nr.  17)  und 
80  jene  Fülle  bedingt,  welche  den  vorderen  Rand  des  Hüftbeines  be- 
deckt. Das  Leistenband  wird,  je  nach  dem  Umfang  des  Muskelbauches, 
entweder  mehr  gewölbt  oder  mehr  gesenkt  gegen  die  vordere  Schenkel- 
'fläche  zu  dem  Schambein  herüberziehen. 

Der  große  Lendeumuskel  (M.  lumbalis  mc^nus,  auch  M,  psoas)  entspringt 
von  den  vier  oberen  Lendenwirbeln  und  dem  zwölften  Brustwirliel  dort,  wo  diese 
in  die  Bauchhöhle  hereinragen. 

Der  Darinbeinmuskel  (M.  iliacus)  nimmt  die  schalenförmig  vertiefte  innere 
Fläche  des  Darmbeines  ein,  von  der  er  entspringt.  Gegen  das  Leisteuband  hin 
schieben  sich  seine  Bündel  mehr  und  melir  zusammen,  legen  sich  an  diejenigen  des 
M,  humbalisy  um  mit  ihm  die  Bauchliöhle  zu  verlassen  (Fig.  135  Nr.  17)  und,  wie 
schon  erwähnt,  an  den  kleinen  Kollhügel  sich  zu  befestigen.  Beinheben  ist  ihre 
Hauptwirkung.  Ist  das  Bein  fixiert,  so  beugen  sie  den  Kumpf  in  Verbindung  mit 
den  geraden  Bauchmuskeln;  Überdies  sind  sie  imstande,  das  Bein  nach  auswärts 
zu  rollen. 

b.    Die  Muskeln  des  Oberschenkels. 

Diese  starken  Muskeln  umhüllen  den  Schenkelknochen  oben  voll- 
ständig; unten  bekommen  seine  Knorren  eine  oberflächliche  Lage  und 
sind  durch  die  Haut  hindurch  erkennbar.  Die  Muskeln  dienen  teils 
der  Bewegung  des  Oberschenkels  und  endigen  also  dann  an  ihm, 
teils  erstrecken  sie  sich,  über  das  Kniegelenk  hinwegziehend,  an  den 
Unterschenkel,  um  als  Beuger  und  Strecker  zu  wirken.  Die  Muskeln 
lassen  sich  in  drei  Gruppen  sondern:  in  eine  vordere,  hintere  und 
innere  oder  mediale. 


1)  Vordere   Muskeln   des   Oberschenkels. 

Die  innere  Begrenzung  dieser  kraftvollen  und  umfangreichen 
Muskelmasse  bildet  der  Schneidermuskel  (M,  sartoriusj  Fig.  135 
Nr.  19,  Fig.  136  Nr.  3).  Ursprung:  vom  Darmbein  dicht  unter  dem 
vorderen  oberen  Darmbeinstachel.  Während  der  Tensor  fasciae  sich 
schräg  auswärts  wendet  (Fig.  135  Nx.  2),  läuft  der  Schneidermuskel 
schräg  über  den  vorderen  Umfang  des  Schenkels  nach  unten  an  die 
Innenseite  des  Kniegelenkes  und  setzt  sich  mit  einer  platten  Sehne 
am  oberen  Ende  der  freiliegenden  Schienbeinfläche  an.  Er  hat  eine 
Länge  von  mehr  als  60  cm  und  eine  Breite  von  4  cm  in  der  Streck- 
lage. Wirkung:  hilft  bei  der  Beugung  des  Unterschenkels.  Sein  Ver- 
lauf,  der  deutlich  erkennbar  ist,  sobald  man  bei  gebeugtem  Unter- 


442  Zehnter  AbMhDitt. 

Schenkel  das  Bein  nach  vorn  hebt  und  etwas  nach  außen  wendet 
stellt  zugleich  die  Grenzlinie  dar  zwischen  den  Streckern  des  Unter- 
schenkels und  den  Zuziehem.  Die  einen  liege»  nach  aufien  von  ihm, 
die  anderen  nach  innen.  Die  tiefe  Furche,  welche  an  der  vorderen 
Seite  des  Schenkels  durch  die  vom  Scham-  und  Sitzbein  kommenden 
starken  Zuzieher  (Fig.  135  Nr.  is,  20  u.  21)  entsteht,  füllt  der  Sartoria* 
teilweise  aus. 

Die  irrige  Vorstellung,  daß  dieser  lange  dünne  Muskel  die  schwere  LmI  da 
einen  Beines  über  das  andere  lege,  wie  die  Schneider  bei  der  Arbeit  zu  \km 
pflegen,  verleitete  einen  alten  Anatomen  (Spigeuus)  demselben  den  allgcmrin  und 
ausschließlich  gebrauchten  Namen  Schneidermuskel  beizulegen. 

Der  vierköpfige  Uuterschenkelstrecker  (Extensor  cruru  qwh 
driceps,    Fig.  135  Nr.  4,  5  u.  20)  besteht   aus  vier  großen    selbständig« 
Portionen,  von  denen  jedoch  nur  drei  nach  Entfernung  von  Haut  und 
Schenkelfascie   sichtbar   werden.     Von   diesen   drei    Köpfen    läuft  d« 
gerade  Schenkelmuskel  (M.  rectus  femoris,   auch    kurz    Rectus  ge- 
nannt) als  ein  ca.  6  cm  breiter  Strang  auf  der  Mitte    des   Schenkels 
zum  Knie  herab  (Fig.  135  Nr.  4u.  4').    Er  entspringt  von  dem  vorderen 
unteren  Darmbeinstachel  und  von  dem  oberen  Umfang   des   zunächst 
liegenden   Pfannenrandes.      Sein   Ursprung    ist    aber    durch    den   des 
Schneidermuskels  und  dea  Tensor  fasciae  (Fig.  185)  verdeckt.    Erst  nach- 
dem diese  auseinandergewichen,  wird  sein  oberes  Ende  frei.    An  dieser 
Stelle  befindet  sich  am  Lebenden  ein  kleines  Grübchen,   das  Schenkel- 
grübchen ^  (siehe  das  linke  Bein  des  Borghesischen  Fechters,  die  bei- 
den Beine  des  Merkur  und  des  tanzenden  Faunes).     Der  Anfang  des 
Muskelbauclies  ist  bedeckt  von  einer  blattähnlich  geformten  Sehne,  die 
10  cm  weit  herabreicht  (Fig.  135  Nr.  4).    Der  Muskelbauch  ist  während 
der  Ruhe  abgeplattet;  10cm  über  der  Kniescheibe  beginnt  seine  starke 
Sehne,  die  geradenwegs  nach  abwärts  zieht  (Fig.  135  Nr.  6).     &  liegt 
nicht   direkt   auf  dem  Schenkelknochen,    sondern   auf   einer    kräftigen 
und   mit  Sehne   bedeckten  Fleischplatte,    welche    mit    zu    dem   Unter- 
schenkelstrecker gehört  und  als    Schenkelmuskel    (M.  cruralis)  be- 
zeichnet wird. 

Der  Schenkelknochen  hat  bekanntlich  eine  ansehnliche  Krümmung 
nach  vorn.  Schon  darum  wird  der  Kontur  des  geraden  Schenkel- 
muskels im  Profil  eine  langgestreckte  Kurve  aufweisen.  Dazu  komm: 
noch,  daß  zwei  Muskellagen  sich  übereinander  befinden.  —  Sobald  man 
das  Bein  bei  gebeugtem  Knie  hebt,  zieht  der  Rectus  mit  besonderer 
Kraft,  weil  er  an  dem  Becken  entspringt;   seine  langgestreckte  Kurre 


^  Fossette  fcmorairc.     Gekdv,  Anatomie  des  formes  ext^rieurs.    Pans  1821». 


KbiIuId  ilrr  (}|icdn»in«n. 

443                     ^M 

'—— ^ 

^^^^^1 

Tensor  Fasciuc  I ~i|r/l 

^^^^^1 

II  SehnelilCTroOBk«!.                       ^^^^^B 

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n  Luigpr  ADWeher.                                  ^H 

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-  -     -      II  tjvhlaiüifr  Muskifl.                                 ^H 

wpniugMchned.iuB.  (-— ^|ul 

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---tD'lnD.  S<^l>eiikelinUHkr1.                                ^^H 

SfhM    f— 1 

.     .  .  -  a  KuieKbeibe.                                          ^H 

^H 

8oholle»mu«kd  1 /jl 

-  IS'Sehned.  SchndilRTm.                           ^H 

»  ViiM.  MikiilH-iii1lli<t1».                            ^H 

^H 

Sehiic  O "iKI 

IC   Zwcil'i>i''>K>'r   Wiidciiin.                                ^^^1 

M 

R  8chollel>mu<kc].                                              ^H 

■""■""     '"           1 

-  18  BruKer  der  Zeiten.                                   ^H 

Vord.  Eingban-I  I*  " ^ 

.     -  n  Kr<ni*hitQ<l.                                               ^H 
M  St-Une  il.  V.  Schiuiibeinm.                         ^H 

iiifl.  KnSdiel  ■ 

( 

H    a*«_4lrBv         9^    ynhil                                            ^^^^H 

i)  atrackir  ii.  gr.  Aon«.                               ^^^h 

Ti«.   ISf.-     MiwkiilKliir  der 

«iilemi  Gli 

-tlmaBaii  von  vorn.                                                ^H 

Bpringt  dann   noch  stärker  hervor.     (Siehe 

iLuch  rlaa  rechte  Beiu  des                   ^H 

Borgheflischeu  Fechters  Fig. 

laii   Nr.  4.) 

^^^J 

444  Zehnter  Abeohnitt 

Nach  außen  von  dem  geraden  Schenkelmuskel  liegt: 

der  äußere  Schenkelmuskel  (M,  vastus  extemus,  oder  lattndU, 
Fig.  135  Nr.  5),  der  umfangreichste  der  vier  Köpfe,*  denn  er  macht  nibe- 
zu  ein  Drittel  der  Oberschenkelmuskulatur  aus;  er   entspringt  sehnig, 
dicht  an  dem  großen  RoUhügel  und  der  seitlichen  Lippe  der  rauhen 
Linie.     Seine  Fleischmassen  ziehen  schräg  nach  abwärts  in  der  Sidk. 
tuug  nach   der  Kniescheibe.      Für  die  Form  ist  beachtenswert,  dil 
der  Muskel  von  einem  derben  Sehnenblatt  bedeckt   ist,   das  von  den 
großen  Rollhtigel  herab  sich  über  zwei  Drittel  seines  Umfanges  aov 
dehnt.     Die  Länge  dieses  Sehnenfeldes  beträgt  über   20  cm  und  die 
Länge  der  ganzen  Fleischplatte  bis  zu  der  Kniescheibe  ungefähr  35cm 
(Fig.  137  Nr.  19).    Sobald  der  Muskel  bei  forcierter  Streckstellnng  »ich 
spannt,  entsteht  in  dem  ganzen  Bereich  des  Sehnenblattes  eine  deut- 
lich erkennbare  Fläche  an  dem  früher  gewölbten  Oberschenkel.    Nad 
hinten  ist  dieser  äußere  Schenkelmuskel  durch  eine    tiefe  Furche  töb 
den   Beugemuskeln   getrennt   (Fig.    133    zwischen    Nr.  17  u.  18,   an  der 
Skizze  MiCHELAOGELo's  Fig.  134  bei  Nr.  lo);    der    vordere   Rand  d« 
äußeren  Scheukelmuskels  liegt  dem  Rectus  dicht  an. 

Der  innere  Schenkelmuskel  (AL  vastus  intemtts  oder  mediaiu, 
Fig.  135  Nr.  20'  und  Fig.  136  Nr.  5)  kommt  von  der  inneren  Lippe 
der  rauhen  Linie  und  zieht  um  den  inneren  umfang  des  Schenkd- 
knochens  gegen  die  Kniescheibe  hin,  an  die  er  näher  heranrückt,  ah 
der  äußere.  Gleichzeitig  nimmt  sein  Umfang  nach  unten  mehr  und 
mehr  zu,  was  aber  nicht  auf  einer  Vermehrung  seiner  Muskelbündd 
beruht,  sondern  auf  dem  Dickerwerden  des  Knochens.  Der  Schneider- 
muskel  verdeckt  seineu  Ursprung. 

Die  Endsehnen  aller  vier  Köpfe  vereinigen  sich  an  der  Knie- 
scheibe und  umfassen  ihre  vordere  Fläche,  ihren  oberen  und  seitlichen 
Rand.  Von  der  Kniescheibe  aus  setzen  sie  sich  fort,  um  zum  gröBten 
Teil  an  dem  Schienbeinstachel  ihren  Ansatz  zu  finden  (F^g.  135 
Nr.  24).  Bei  den  Zusammenziehungen  dieses  vierfachen  Muskels  folgt 
das  Schienbein  der  Bewegung  der  Kniescheibe  und  der  Unterschenkel 
wird  gerade  ausgestreckt. 

Das  iinttTo  Endo  des  inneren  Kopfes  des  Scheukelmiiskels  weist  biBwexlen  ein»» 
seiehte  P^insehnürun^  auf,  welche  4  cm  über  seinem  unteren  Rand  und  parallel  mit 
demselben  von  dem  Schneidermuskel  her  gegen  den  oberen  Rand  der  Kniescheibe 
zieht.  Sie  zeif^t  sich  nur  })ei  forcierter  Streckstellung  und  fehlt  in  der  Ruhe.  Ein 
starker  Ftiserzug  in  der  Schenkelfascie  ist  die  Ursache.  —  Der  innere  Kopf  Ii£c 
ferner  bei  forcierter  Streckstellnng  deutlich  zwei  Flächen  erkennen ,  eine  mediilf. 
die  unter  dem  Schneidermuskel  verschwindet,  und  jene,  welche  nach  vom  gewendef 

'  Diese  vier  Muskeln    werden   auch    als   Vasfi  bezeichnet,    von    rtutus,  on- 
geheuer.     Der   Vastus  externns  ist  in  der  That  eine  gewaltige  FleiBchmawe. 


Muskeln  der  GliedmaOen.  445 

in  der  Fig.  185  Nr.  30  hauptsächlich  sichtbar  ist  Die  Herkunft  der  medial  ge- 
stellten Fläche  erklärt  sich  aus  der  Untersuchung  des  Muskels.  Die  von  der  inneren 
Lappe  der  rauhen  Linie  entspringenden  Fleischmassen  sind  nämlich  von  einer  glän- 
zenden Sehne  bedeckt,  welche  hinter  dem  Schneidermuskel  aufsteigt  und  sich  dann 
allmählich  verliert ,  wobei  jedoch  <lurch  eine  scharfe  Grenzlinie  der  Beginn  der 
vorderen  von  sehnenfreien  Muskelbündeln  gebildeten  Portion  bezeichnet  wird.  Diese 
Linie  folgt  ca.  2  cm  entfernt  dem  vorderen  Rande  des  Schneidermuskels. 

Bei  forcierten  Bewegungen ,  u.  a.  auch  bei  der  Sitzhocke,  kommt  es  auf  der 
äußeren  Schenkclf lache  zur  Bildung  einer  Längsrinne,  welche  von  dem  großen 
Rollhügel  über  mehr  als  die  Hälfte  dos  äußeren  Schenkelmuakels  herabläuft.  Diese 
Furche  rührt  von  derjenigen  Sehne  de^  großen  Gesäßmuskels  her,  welche  in  die 
Schcnkelfascie  übergeht. 

2)  Muskeln  an  der  inneren  Fläche  des  Oberschenkels. 

Sie  erstrecken  sich  von  der  Schambeingegend  zu  dem  Ober- 
schenkelknochen und  füllen  den  Raum,  der  an  dem  Skelett  zwischen 
diesen  Knochenpunkten  übrig  bleibt,  so  vollständig  aus,  daß  bei  ge- 
schlossenen Schenkeln  keine  Lücke  bleibt.  Diese  Muskelgruppe  voll- 
zieht als  Hauptwirkung  den  Schluß  der  Beine,  das  heißt,  sie  nähert 
die  gespreizten  Schenkel.  Die  Muskeln  sind  also  auch  imstande, 
das  Festhalten  an  dem  zwischen  den  Schenkeln  befindlichen  Pferde- 
sattel zu  unterstützen,  und  daher  führen  sie  den  Namen  „R^iter- 
muskeln"  (Fig.  139  Nr.  3). 

Der  schlanke  Muskel  (M.  gracilis,  Fig.  136,  Nr.  18)  ist  der  ober- 
flächlichste und  wie  schon  sein  Name  richtig  andeutet,  nicht  dick 
dafür  aber  lang.  Er  entspringt  an  der  Schamfuge,  dicht  neben  der  Rute, 
läuft  an  der  inneren  Schenkeltiäche  herab  und  setzt  sich,  gemeinschaft- 
lich mit  dem  Schneidermuskel,  an  der  freien  Fläche  des  Schienbeines 
fest,  gelangt  also  über  das  Kniegelenk  hinab  bis  zum  Unterschenkel. 

Von  vorne  ist  nur  die  obere  Hälfte  seines  Verlaufes  sichtbar; 
denn  er  kommt  hinter  den  Schneidermuskel  zu  liegen,  sobald  sich 
die  beiden  Muskeln  auf  ihrem  Wege  zu  dem  gemeinschaftlichen  An- 
satzpunkte begegnen.  Auch  seine  lange  Endsehne  liegt  hinter  der- 
jenigen des  Schneidermuskels.  Sein  Ursprung  ist  plattsehnig,  voll- 
kommen sagittal  gestellt,  und  dieselbe  Richtung  behält  auch  der 
Fleischbauch.  Deshalb  erscheint  er  von  vorn  bei  forciertem  Zuziehen 
des  Beines  nur  als  ein  schmaler  Streifen. 

Der  lange  Zuzieher  (Adductor  longus,  Fig.  138  Nr.  6)  entspringt 
dicht  neben  dem  vorigen  gegen  den  oberen  Rand  des  Schambeines 
hin  mit  einer  starken  runden  Sehne,  nimmt  im  Herabsteigen  an  Breite 
zu  und  heftet  sich  an  das  mittlere  Drittel  des  Oberschenkels. 

Die  Figur  138  läßt  die  ürsprungsstelle  deutlich  werden,  die 
Zunahme  nach  abwärts,  den  Ort  des  Ansatzes  und  die  Thatsache,  daß 


446 


Z«bnt«r  Abfohnitt. 


nur  sein  vorderer  Raod  direkt  nach  der  vorderen  Schenkelfläche 
wendet  ist,  daß  nur  er  auf  das  Relief  der  Formen  einen  bervorragi 
den  EinHuß  üben  kann.  Seine  äußere  Fläche  ist  schief  gestellt, 
die  Schattierung  erkennen  läßt,  und  folglich  sein  hinterer  Rand  gej 
die  Hintcrtiäche  des  Schenkels  gewendet.  Dieselbe  Richtung  besit: 
auch  die  folgenden  Muskeln  und  daher  rührt  jene  Rinne 
großen  Gefäße  und  der  Schneidermuskel  Platz  finden. 

Der  kurze  Zuzieher  (Adductor  lirevis,  Fig.  138  Nr.  4)  entspi 
tiefer  als  der  vorige,  nämlich  vom  Beginn  des  absteigenden  Schi 
beinastes  und  gebt  an  das  obere  Ende  des  Schenkelknochens. 

Der  Kammmuskel  (Af.  pectinmn,  Fig.  135  Nr.  is)  entspringt  tod 
dem  Schambeinkamm,  ist  länglich  viereckig,  stark,  deckt  die  obere 
Hälfte  des  vorigen  und  setzt  sich  mit  einem  breiten  Sehnenrand  unter» 
halb  des  kleinen  GollhUgels  fest.  I 

Auf  der  Fig.  1.18  wurde  drr  Kammmuskel  weggelassen,  damit  tini  so  dea^ 
livher  der  dnhiutcr  litigende  große  Zusielier  dargcDtclIt  werden  kimote,  der  durch 
aeinen  beileutendeu  Umfa:ig  eiucii  beträchtlichen  Teil  der  ganzen  Oriipi«  auanudiL 

Der  große  Zuzieher  (Adductor  maf/nu!:,  Fig.  138  Nr. 3  a.  3)  liegt 
hinter  den  letztgenannten  und  besteht  der  Hauptsache  nach  aus  einer 
dreieckigen  Fleiscliplatte,  welche  zwischen  dem  Becken  und  dem  Schenkel- 
bein ausgespannt  ist.  Er  entspringt  breit  vom  absteigenden  Schanb- 
bein  und  läuft  demselben  entlang  weiterscbreitend  bis  zum  Sitzl 
höcker  hin.  Er  befestigt  sich  dann  mit  einem  langen  sehnigen 
Ton  dem  kleinen  Rollhügel  an.  bis  zum  inneren  Schenkelknorreu  her«h. 
Nicht  allein  an  Ausdehunng,  auch  an  Masse  übertrifft  er  alle  zu- 
sammengenommen; dennoch  wird  von  ihm  nur  sein  innerer  Rand  in 
der  oberen  Schenkelhälfte  sichtbar,  auch  dieser  nur  teilweise;  denn 
vom  Schambein  abwärts  ist  der  schlanke  Muskel  und  der  innere 
Schenkelmuskel  sein  Vormann  und  weiter  unter  deckt  ihn  der  Schnei- 
dermuskel. 

Das  linke  Bein  des  Borghesischen  Fechters  ist  im  Hüftgeli 
nach  auswärts  gedreht,  folgÜch  kommt  in  der  Abbildung  desselben, 
Figur  138,  ein  Teil  der  inneren  Fläche  des  großen  Zuziehers  zum 
Vorschein  und  die  Figur  zeigt  mehr  von  dem  Rand,  als  sonst  von 
vorne  bemerkbar  wird. 

In   der  Ruhe   ist   von    einzelnen   Reitermnskeln    nichts    za 
merken,  sie  erscheinen  stets  als  eine  Masse  an  der  inneren  Schenk) 
Hache  (Fig.  139  Nr.  3).    Bei  forciertem  Zuziehen  ist  dagegen  leicht 
schlanke  Muskel  und  der  lauge  Zuzicher  zu  erkennen. 

Da  die  Reitermaskeln  die  kräftige  .AmilLhoruitg  derBeiue,  wie  bei  dem  Seh« 
Bchlufi  des  Reitern  volbsiehen,  »o  intiß  bri  dem  Studium  ihrer  Formen  n 
du  Bein  ent  geaprebit  und  daun  der  Versuch  gemacht  werden,  ea  wieder 


icham^^— 
■zbein^H 


nei- 
ienkfl 


Unikels  der  GliedmaOen. 


Inn.  8cii«nkelm.  I- 
InO.  Sdienkelm.  S-- 


fi  Langer  Anaieher. 
U  (iroQer  Anzieher. 


■ffllalljseho.  Mu«k. 


—  aSi'lilanker  MiLitk. 


Vonl.  Schienbm.  y 


Vord.  Schienbfl. 


»Sütlcuiierbsiid. 

Abrieh  er  d.  gr.  Zehe. 


Fig.  136.    Ituthtta  B«i 


Wfilirend  glpicliieiög  der  innere  Fußrauil  an  dem  Boden  Widerstand  findet.  Eben- 
I  ebersiclitlicb  wi>rden  die  Einztilnheiteu,  wenn  man  stellend  das  eine  Bein  über 
U  andere  Bchlttgt,   ftber    auf  hallwui   Wege   innetiält.      Denn  dann   entfalten   die 


448 

Beitermnskeln  gleichzeitig  räne  ihrer  NebenwirknngeD ,   ^ic  hebe»  das  Bein  nach 
vorwIlrtB  and   deheD  ee   dann   aber  da»   andere  hinüber.     Diese  Beweg-ung   ivt  i 
so  belehrender,  sobald  der  UntcTEehenkel  dabei  in  halber  Beu^iitig  ist,   ( 
apringt  gleichaeitig    der  Schneide rinusk'']  hervor  und   aeheidet   wie   ein  Dumm  t 

Strecker  und  die  Züricher. 


3)  Muskeln  an  der  hinteren  Peripherie  des  Oberschenkels.  ' 
Sie  geben  »ilmtlich,  drei  an  der  Zahl,  von  dem  hinteren  Umfu 
des  Sitzhöckers  zu  dein  Unterschenkel,  den  sie  beugen.    Sie  sind  ob« 
zu  einem  nrinesdickeu  .Strang  vereinigt,  unten  weichen  sie  auseinandei 
um  die  Seitenränder  der  Kniekelde  zu  bilden,     Die  Form  der  BeugeiW 
gruppe  am  Lebenden  ist  in  Fig.   134  Nr.  ii  sehr  gut  dargestellt. 

Der  halbsehnige  Muskel  ("J/.  «emry«n(//no*üs,  Fig.  133  Nr.  5).  S«ilH 
Länge  beträgt  mehr  als  40  cm,  wovon  die  Hälfte  der  atrangformigen  Sehsi 
angehört,  die  aus  dem  nberfläcldich  liegenden  Muskelhuuch  hervorgebü 
daher  kommt  auch  sein  Name.    Der  Muskel  entspringt  mit  einer  kurzs^ 
Sehne  und  mit  seinem  Nachbar  verwachsen  von  dem  Sitzhöcker,  steig 
an  der  inneren  Seite  der  Beugergnippe  herab  und  schickt  seine  Sehdl 
hinter  derjenigen  des  schlanken  Muskels  zur  freien  Fläche  des  Schiei 
heiiies.    Die  Sehne  setzt  sich  verweht  mit  den  Endsebnen  des  schlanki 
and  des  Schneidermuskels  unter  dem  inneren  Knorren  (est,  wobei  ( 
noch   Sehnenbündel    in    die   Fascie    des  Unterschenkels    abgiebt.- 
dera   Beugen    des   Unterschenkels,    also  auch   bei   dem   Aufstellen   dos 
Beines    auf  einen  Stuhl,  springt  die  Sehne   am  schärfsten  hervor  und 
bildet   in    einer   Ausdeiinung    von    14   cm   den    inneren   Jland    dfll^ 
Kniekehle. 

Gegenüber,  auf  der  äußeren  Seit«  liegt 
der    zweiköpfige   Schenkelrausket    (M.    bicepi  femo 
kurz  Bieeps  genannt,  Fig.  133  Nr,  17).    An  seinem  Ursprung  mite 
-vorigen  verwachsen,  trennt  sich  die  Fleischmasse  des  Bieeps  bald  ' 
derjenigen   des  Nachbars,    nimmt   schnell  an   Umfang  zu  und  schw 
zn    einem    beträchtlichen   Unskelbauch  an,    der  im   Henibsteigeo 
der  rauhen  Linie  neuen  Zuwachs  erhält  dui'ch  deu  k-uizen  Knpfdd 
Bieeps.    Die  Sehne  befestigt  sich  an  dem  Wadenheiiiknpfchen.    Dni 
diesen  Ansatz  wird  der  äußere  Rand  der  Kniekehle  hergestellt^  1 

Die  Zusammensetzung  des  Muskels  aus  zwei  nach  ihrem  Urapni 
getrennten  und  in  der  Form  verschiedenen  Abteilungen  verändert  t 
geläufige  Bild  eines  Muskelansatzes.  Der  lauge  vom  Sitzknoi 
herabkoramende  Kopf  geht  c».  14  cm  über  dem  Wadenbeinküpfcfaen 
in  eine  starke  Sehne  über,  an  die,  von  der  rauhen  Linie  her,  der 
kurze  Kopf  sieb  befestigt;  die  Mwskelbündel  steigen  zu  beiden  Seit« 
der  Sehne  tief  herab,  ja  die  letzten  erreichen  sogar  noch  das  Wai 


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Langer  Biccpidiopf  I              ^VH^^IB 

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Kaner  Bi^Pimkopf  >-                      _    _5I 

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Fig.  137.     MuBkeln  df»  ».■i.ioh  i 

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450  Zehnter  Abschnitt. 

beiüköpfchen.  Der  Ansatz  des  Biceps  wird  deshalb  in  der  Streck« 
Stellung  einen  breiten  mit  einer  Hohlkehle  versehenen  Strang  du- 
stellen,  der  bei  forcierter  Zusammenziehung  der  Muskulatur  die  ebw 
erwähnten  Einzelnheiten  genau  erkennen  läßt.  Bei  der  Beugung  ändert 
sich  das  Bild;  bei  der  Annäherung  des  Wadenbeinköpfchens  an  da 
Sitzknorren  hebt  sich  nämlich  der  Muskel  von  seiner  Unterlage  ib. 
der  hinterste  Rand  springt  vor  und  bildet  einen  von  der  Haut  be- 
deckten Grat,  der  breiter  und  kürzer  als  der  des  gegenüberliegenden 
halbsehnigen  Muskels  die  Kniekehle  begrenzt. 

Der  halbhäutige  Muskel  (M.  gemimembranosus,  Fig.  133  Sr.  c«) 
liegt  zum  größten  Teil  bedeckt  von  den  beiden  vorigen,  zwischen  den 
halbsehnigen,  dem  schlanken  Muskel  und  dem  großen  Anzieher.    Nv 
seine  Ränder  sind  sichtbar.    Ursprung  am  Sitzknorren,  Ansatz  an  dem 
inneren   Schienbeinhöcker,   bedeckt   von   dem   Ursprung    des   Waden- 
muskels.     Der  Muskelbauch  bildet  einen  Halbkanal,    in   welchem  der 
Halbsehnige   liegt.    Da    die    breite  Ursprungssehne    an    der    äoBena 
Seite  bis  zur  Mitte  des  Oberschenkels  herabreicht,    gelangt  auch  da» 
Fleisch  bis  in   die  Kniekehle   herab  und  bildet  eine   rundliche  Ver- 
dickung, welche  plötzlich  mit  einem  scharfen  Absatz,  wie  abgeschuitten. 
aufhört,   weil    sich    die   Muskelbündel   nach   innen    wenden,    um  die 
Insertionssehne   zu    erreichen.     Diese  Verdickung    bedingt    eine  cha- 
rakteristische, nach  abwärts  konvexe  Linie  in  der  Kniekehle,  die  sowoU 
in   der  Streckung   als   in  der  Beugung   zu  sehen  ist  (Fig.   141  Nr.:]. 
in  der  letzteren  Haltung  freilich  viel  deutlicher  (auch  an  dem  Borghe- 
sischen  Fechter  und  bei  dem  Krieger  von  MiCHEiiAXGEiiO  rechts  unter 
der  Nr.  11  Fig.  134). 

Die  ganze  Gruppe  der  Beuger  des  Unterschenkels  ist  auf  der 
äußeren  Seite  durch  eine  tiefe  Furche  von  derjenigen  der  Strecker  ge- 
trennt, auf  welche  schon  öfter,  namentlich  bei  der  Anatomie  des  äußeren 
Schenkelmuskels,  hingewiesen  wurde  (siehe  überdies  Fig.  134  Xr. :. 
und  Fig.  137).  An  der  inneren  Schenkelfläche  ist  die  Grenze  zwischen 
den  Beugern  und  den  Reitermuskeln  nur  bei  mäßiger  Beugung  mit 
kräftiger  Anspannung  aufzufinden  (Fig.  134  Nr.  12).  —  Bei  der  Be- 
urteilung der  Wirkung  der  Beuger  ist  wohl  zu  beachten,  daß  sie  nicht 
allein  den  Unterschenkel  beugen,  sondern  umgekehrt  den  Sitzknonvn 
auch  herabziehen  können;  ist  nämlich  der  Rumpf  nach  vom  üWr- 
gebeugt,    so    richtet  ihr  Zug  das  Becken  und  damit  den  Körper  aui 

Dio  Kniekehle   ist   bei   gestrecktem   Bein    eine  gewölbte   Fläche    und  nur 
während  der  Beugung  eine  Grube,   welche  den  Namen   Kniekehle    verdient    Dir* 
Muskeln,   welche  ihre  Seitenwände  bilden,  spannen  sich  während    der  ZusammfJi- 
ziehung  an  und  erheben  sich  von  den  Knochen.    Deshalb  hat  sie  bei  halb  gebei^rtes. 
Bein    die   Fonn    eines   tiefen    unregelmäßigen   Dreieck«,    dessen   Spitze   nach  ahn 
gerichtet  ist. 


Unikeln  der  GliadmaOen. 


451 


Die  Haut  der  KDiekchle  ist  dflnn,  die  Haut  äea  (vorderen  Umfange«  des) 
Knieea  dagegen  dkk  und  die  Oberhaut  oA  ecliwiülig.  Die  Verdickung  kfinn  sich 
(Ubei  leiclit  bis  iiir  Veranstaltung  der  Form  stoigem.  Überall  wo  die  Haut  über 
Gelenke  von  großer  Beweglicbkeit  hinweggleitet,  finden  flicli  unter  ihr  Schleim- 
beutel,  kleine  abgesehloaaene  Säcke,  die  glatte  Flächen  beeitEen,  am  die  Keibnog 


IroQ.  OM&Omuakel. 


n  AuO,  Bcheakelmaskel. 


^hcr  des  OberachenkelB  (Beiternmakelnj. 


der  Hant  auf  den  Knochen vorsprilngen  zu  vermindern-  Ein  solcher  Schleimbcutel 
findet  sich  in  der  Haut  auf  der  KnicBcheibe.  Durch  viplea  Hcrumrutscheu  auf  den 
Kiiicen  oder  dun'h  Anstoßen  kann  sich  die  Haut  und  kann  sich  dieser  Schleim- 
bcutel entzünden.  Eb  cntutelit  dann  in  seinem  Hohlraum  oft  ein  wässeriger  Erguß, 
der  die  Haut  gesch wulstartig  eniporwölbcn  und  eine  bleibende  Verunstaltung  bervor- 
rnfen  kann.  In  anderen  Fällen  iitt  die  Haut  faltig,  weil  durch  die  aiihaltuDde 
Zerrung  bei  dem  Kniebeugen  die  Elaatizitüt  verloren  geht  und  die  Haut  bei  auf- 
rechter Stellung  nun  in  Qucrfaltcn  susammengeschoben  ist 

29' 


452  Zehnter  Abschnitt 

c.  Die  Muskeln  des  ünterflchenkels. 

Die  Muskeln  des  Unterschenkels  sind  am  oberen  Abschnitt  y<,i 
starkem  Umfang,  die  Fleischmasscn  liegen  wie  bei  dem  Vordenrnn 
am  Ursprung;  der  Ansatz  ist  dagegen  verschmälert,  weil  lange  Sehnen 
aus  den  Muskelbäuchen  hervorgehen ;  diese  Sehnen  bedingen  die  gegen 
das  Sprunggelenk  zu  sich  verjüngende  Gestalt  des  Unterschenkel*. 
Die  an  der  Hinterfläche  mächtiger  entwickelten  Muskelmasseu  be- 
zeichnet man  als  Wade.  Die  Muskulatur  des  Unterschenkels  ist 
durch  eine  geringere  Anzahl  von  Muskeln  hergestellt  im  Vergleich  mit 
dem  Vorderarm,  was  der  geminderten  Mannigfaltigkeit  der  Bewegungen 
des  Fußes  entspricht.  Die  Muskeln  zerfallen  in  drei  Gruppen,  in 
vordere,  seitliche  und  hintere  Muskeln. 

1)  Vordere  Muskeln  des  Unterschenkels. 

Sie  sind  sämtlich  lange  Muskeln,  welche  die  innere  Fläche  de* 
Schienbeines,  die  vordere  Schienbeinkante,  femer  den  inneren  und 
äußeren  Knöchel  und  die  anstoßende  Partie  des  Wadenbeines  unbe- 
deckt lassen.  Keiner  dieser  Muskeln  entspringt  am  Oberschenkel, 
alle  kommen  sie  vielmehr  von  den  Knochen  des  Unterschenkels  her. 
deshalb  ist  das  Kniegelenk  von  vorn  in  allen  Teilen  dem  Blicke  zu- 
gänglich. Sie  setzen  über  das  Sprunggelenk  hinweg  und  schicken  ihre 
Sehnen  teils  zu  den  Mittelfußknochen,  teils  zu  den  Zehen.  Zwischen 
der  vorderen  Schienbeinkante  und  dem  Wadenbein  liegen  oben  nur 
zwei  Muskeln.     Von  innen  nach  außen  gehend  findet  sich  zunächst 

der  vordere  Schienbeinmuskel  (M.  tibialis ajiticus,  Fig.  135  Xr.  12): 
er  ist  der  stärkste  von  den  beiden,  entspringt  von  dem  äußeren 
Knorren,  der  äußeren  Fläche  des  Schienbeines  und  dem  Zwischen- 
knochenbande. In  dem  unteren  Drittel  des  Unterschenkels  verwandelt 
er  sich  in  eine  starke  Sehne,  die  über  das  untere  Ende  des  Schien- 
beines und  über  das  Sprunggelenk  weg  schi'äg  nach  innen  läuft,  um 
am  ersten  Keilbein  (Os  tarsale  I)  und  an  dem  Mittelfußknochen  der 
großen  Zehe  zu  endigen. 

Die  Fonn  des  Muskelbauches  ist  spindelförmig,  sein  innerer  Rand 
steigt  über  die  vordere  Kante  des  Schienbeines  hinüber,  der  entgegen- 
gesetzte drängt  den  benachbarten  Zehenstrecker  hart  an  da.s  Waden- 
bein. Das  Schienbein  zeigt  deutlich  die  Spuren  des  vorderen  Schien- 
beinmuskels; denn  die  Schienbeinkante  ist  lediglich  durch  seine 
Gewalt  von  ihrer  geraden  Richtung  abgelenkt.  Wirkung:  er  hebt  die 
Fußspitze  (Dorsalflexion)  und  den  inneren  Fußrand,  eine  Bewegung, 
die  als  Supination  bezeichnet  wird,  weil  dabei  die  Fußsohle  nach 
oben  gekehrt  wiid. 


Hmkoln  der  GliedmaBcD. 


Fig.  139.    Stehender  Mann  von  MicRELAVaCLo.    Facsimile, 


454  Zehnter  Abschnitt. 

Der  lange  Strecker  der  Zehen  (M.  extensar  digiiorum  bmgu^, 
Fig.  135  Nr.  11)   entspringt  wie  der  vorige  von  dem  äußeren  Sdiien- 
beinknorren,  dem  Zwischenknochenband ,  dazu  aber  noch  weiter  rn 
dem  Köpfchen  und  der  vorderen  Kante  des  Wadenbeines.     Er  komat 
nur  mit  einem  schmalen  Streifen  seines  Muskelbauches  in  der  oberes 
Hälfte   des  Unterschenkels  zum  Vorschein,   seine  Hauptmasse  steckt 
in  der  Tiefe,  vergraben  unter  dem  starken  Nachbar  zur  Linken.  Je 
weiter  herab,   desto   mehr   wird  von  ihm  sichtbar,   weil   der  vordoe 
Schienbeinmuskel  sich  verschmälert.     Die  an  seinem  medialen  Bande 
befindliche   Sehne   teilt   sich   schon   über   dem  Sprunggelenk   in  ftof 
platte  Sehnenschnüre,   die,  vier  an  der  Zahl,  nach  den  vier  äuBerai 
Zehen   ziehen  (Fig.  135  Nr.  ii'),  während   eine   auf   der  Bückenfläcfae 
des  fünften  Mittelfußknochens  zurückbleibt  (vergleiche  auch  Fig.  142  Sr.iS). 

unmittelbar  über  dem  Sprunggelenk  wird  zwischen  den  beiden 
erwähnten  Muskeln 

der  lange  Strecker  der  großen  Zehe  (M.  extensar  haUmat 
hngusy  Fig.  135  Nr.  31)  sichtbar,  der  zwischen  dem  vorderen  Schien- 
beinmuskel  und  dem  gemeinschaftlichen  Zehenstrecker  entspringt,  oben 
jedoch  völlig  von  ihnen  verdeckt  wird;  erst  über  dem  Sprunggelenk 
kommt  die  starke  Sehne  zum  Vorschein,  welche  zu  dem  zweiten  Glied 
der  großen  Zehe  geht  (vergleiche  Fig.  142  Nr.  4  und  ii). 

2)  Seitliche  Muskeln  des  Unterschenkels. 

Sie  bedecken  das  Wadenbein,  von  dem  sie  entspringen,  doch  so, 
daß  das  untere  Viertel  des  Knochens  frei  bleibt.  Durch  die  Haut 
hindurch  erscheinen  sie  als  eine  einzige  Muskelmasse,  welche  der 
Längsrichtung  des  Wadenbeines  folgt. 

Der  lauge  Wadenbeinmuskel  (M.  peronaeus  longusj  Fig.  137 
Nr.  13)  entspringt  von  dem  Wadenbeinköpfchen  und  deni  Wadenbein 
entlang  bis  zum  letzten  Viertel  des  Knochens.  Die  platte  aber  dicke 
Sehne  gleitet  auf  die  hintere  Fläche  des  Wadenbeines  und  dann  in 
der  Furche  an  dem  hinteren  Rande  des  Knöchels  zu  dem  Fersenbein: 
hinter  dem  Höcker  des  Würfelbeines  gelangt  sie  dann  auf  die  Foß- 
sohle^  kommt  bis  an  den  inneren  Fußrand  und  endigt  am  ersten  Keil- 
bein und  an  dem  ersten  und  zweiten  Mittelfußknochen.  Wirkung: 
hebt  den  äußeren  Fußrand  und  bewirkt  die  als  Pronation  bezeichnete 
Bewegung  des  Fußes. 

Der  kurze  Wadenbeinmuskel  (M,  peroncLeus  brevisj  Fig.  137 
Nr.  13)  entspringt  von  der  unteren  Hälfte  des  Wadenbeines,  wobei  nnr 
die  vordere  Längsreihe  seiner  Muskelbündel  unbedeckt  zum  Vorschein 


Muskeln  der  Gliedmaßen.  455 

kommt.  Wie  sein  stärkerer  Vormann  wendet  auch  er  sich  an  der- 
selben Stelle  auf  den  hinteren  Rand  des  äußeren  Knöchels,  seine 
Sehne  nimmt  dieselbe  Richtung,  befestigt  sich  aber  an  dem  rauhen 
Vorsprung  des  fünften  Mittelfußknochens.  Wirkung:  derjenigen  des 
langen  Wadenbeinmuskels  ähnlich. 

Die  eben  geschilderten  Muskeln  prägen  sich  in  sehr  verschiedener  Weise  aus, 
je  nach  der  Höhe,  in  der  wir  sie  untersuchen.  Hebt  ein  kräftiger  Mann  den 
ftoßcren  Fußrand,  so  hat  man  oben,  in  der  Nähe  des  Knices,  von  der  freien 
Schienbeinfläche  nach  außen  gehend,  zuerst  den  spindelförmigen  Muskelbauch  des 
vorderen  Schienbeinmuskels,  dann  folgt  ein  nur  1  cm  breiter  Strang,  durch  eine 
Furche  von  dem  Nachbar  getrennt  Dieser  Strang  rührt  von  der  schmalen  vorderen 
Fläche  des  gemeinschaftlichen  Zehenstreckers  her.  Unmittelbar  daran  erscheint  der 
obere  fleischige  Teil  des  langen  Wadenmuskels.  —  Von  der  Mitte  des  Unter- 
schenkels bis  zu  dem  Sprunggelenk  herab  folgen  sich,  nach  demselben  Verfahren 
aufgezählt:  1)  der  sehmale  Teil  des  vorderen  Schienbeinmuskels,  2)  der  jetzt  breite 
Zehenstrecker,  an  dem  sich  bei  Bewegung  der  Zehen  schon  das  Spiel  der  einzelnen 
Fleischportionen  und  der  dazu  gehörigen  Sehnenstränge  erkennen  läßt,  8)  zwischen 
den  beiden  ebenerwähnten  die  Strecksehne  der  großen  Zehe,  4)  anstoßend  an  den 
langen  Zehenstrecker  die  beiden  Wadcnbeimuskeln  als  ein  längsgetcilter  Strang; 
die  Sehne  des  langen  Wadenbeinmuskels  liegt  nämlich  zwischen  zwei  Fleisch- 
wülsten, von  denen  der  hintere  dem  langen,  der  vordere  dem  kurzen  Wadenbein- 
muskel angehört.  Von  Knochen  wird  unter  der  Haut  die  freie  Schienbeinfläche 
sichtbar,  je  nach  der  Stärke  der  Muskulatur  vertieft  liegend;  von  dem  Waden- 
bein ist  unmittelbar  über  dem  äußeren  Knöchel  eine  schmale  Knochenfläche  von 
10  cm  Länge  sieht-  und  fühlbar,  welche  nach  oben  verschmälert  zwischen  dem 
langen  Zehenstrecker  und  dem  langen  Wadenbeinmuskel  frei  wird. 

3)  Die  Muskeln  an  der  hinteren  Seite  des  Unterschenkels. 

Sie  zerfallen  durch  ein  zwischen  sie  eingeschobenes  starkes  Blatt 
der  Unterschenkelfascie  in  eine  hohliegende  und  eine  tiefliegende 
Schichte.     Die  oberflächliche  Schichte  bildet  den  Bauch  der  Wade. 

Der  Zwillingswadenmuskel  (M.  gemellus  surae,  Fig.  140  Nr.  9 
u.  9*)  entspringt  mit  zwei  Köpfen,  welche  aus  der  Tiefe  der  Kniekehle 
hervorkommen,  denn  sie  nehmen  unmittelbar  über  den  beiden  Knorren 
des  Oberschenkels  ihren  Anfang.  Daher  rührt  auch  der  die  beiden 
Köpfe  trennende  Spalt,  der  jedoch  bald  verschwindet,  weil  sie  rasch 
an  Umfang  zunehmen,  um  die  bekannten  Fleichmassen  der  Wade  zu 
bilden.  Der  äußere  Kopf  ist  schwächer  und  reicht  nicht  so  weit  herab 
wie  der  innere.  Beide  Köpfe  sind  an  der  freien  Fläche  mit  einer  schim- 
mernden Fortsetzung  ihrer  Ursprungssehne  bedeckt,  welche  auf  jedem 
Kopf  fächerartig  nach  unten  an  Umfang  zunimmt  (siehe  auch  die  Fig.  136 
u.  137).  Die  unter  diesem  Sehnenblatt  hervorkommenden  Muskelbündel 
sitzen  durch  einen  halbmondförmigen,  nach  unten  konvexen  Fleisch- 
wulst auf  der  Ansatzsehne  auf.     Es  ist  für  die  Form  beachtenswert^ 


Hfiftbeinkauiiii  1 ^^ 

Krcuibein    ! WR 

Gr.  Ci^ällDiiiHkel  S  -        W^ 

Schlanker  Muskel  <i        

HnlWhniKW  M.  6 

HalblmutiKer  M.  * 

Halbhäatiger  M.  (■-'--:'_ 

Wttdeniu.  link.  Knpf   n-- 


Schollenmuskel  »- 


AchllleMehue  O-- 

Sehne  d.  Ii.  Sthiunliejutn.  13  — 

lim.  Knöchel  B  - 


IS   Srhiip  tl.  Gr.  Ot 
»  (ir.  Rnllhn^l. 


ff    Bicel«. 

a  lüfl.  S.-Iienk«lniiuk. 


a  Kuiekehle. 

II  Bicep«. 

M  Unijningii.  WadtDmiuk. 

a  Wad«iib«iaköprchet). 


II'    H'micnni.  recht   Kopf. 


lg.  WiulcjibeiniiiiHkrl. 


Kure.  WatlcntnintDOskcl. 


~  n  ÄuB.  Knüflhel. 
-  H  Sehleuderlmnd. 


Fig.  UO.     Moskeln  des  Beine«  von  hinten  geaebcii 


(täß  die   ürsprungsBehne  jene  Bündel   des  Zwitlingsmui^lieU  unLodcokl 
läßt,  welche  aus  der  Tiefe  der  Kuiekelile  au&teigeu.    Sie  sind  bei  dem 


MnAeln  der  QUedmaOcn. 


457 


Zehenstand  leicht  wieder  za  finden,  wie  denn  überhaupt  während  der 
Bewegung  die  erwähnten  Eigenschaften  des  Muskels  unverkennbar  sind 
(vergleiche  den  Ursprung  des  Muskels  in  Fig.  137). 

Der  Scholle nmuskeli  (M.  noleim)  hilft  durch  seine  Masse 
daa  dicke  Wadenfleisch  bilden;  er  kommt  vom  hinteren  Umfang  des 
Wadenbeinköpfchens  und  der  oberen  Hälfte  des  Wadenbeines,  dem 
Schienbein,  dann  noch  von  der  Kniekehlenlinie  (Linea  poplUea)  und 
der  hinteren  Eante  des  Schienbeines  bis  herab  zur  halben  Höhe, 
Die  Fleischuiasse  des  Muskels  erstreckt  sich  also  von  dem  Waden- 
hein bis  zu  dem  Schienbein  und  überragt  dabei  die  beiden  Köpfe 
des  Zwillingsmuskels  (Fig.  140  Nr.  lo  Schienheinuraprung,  Nr.  lo'  Waden- 
beinurspiTing,  Fig.  136  Nr. 21  Sthienbeinnraprung,  Fig.  137  Nr.  u  Waden- 
beinursprung). Die  starke  breite  Sehne,  in  welche  diese  Muskelbündel 
übergehen,  vereinigt  sich  mit  derjenigen  der  Zwillingsmuskeln,  und  so 
bilden  beide  miteinander  die  Achillessehne,  welche  am  Höcker  des 
Fersenbeines,  um  sog.  Hacken  ihr  Ende  findet. 

Diese  beiden  Muskeln  zusammengenommen  stellen  also  dasjenige 
dar,  was  man  die  Wade  nennt,  grundverschieden  während  der  Ruhe 
und  während  der  Bewegung.  Es  giebt  wenig  Köi-perstellen,  an  welchen 
dieser  Gegensatz  so  auf  den  ersten  BÜck  deutlich  ist,  und  sich  der 
EinHuß  der  Sehne  auf  die  Form  des  Muskels  für  daa  Verständnis  so 
belelu^end  darlegen  läßt.  In  der  Ruhe  ist  die  Wade  gerundet,  in  der 
Bewegung  treten  Flächen,  Kanten  und  Winkel  von  einer  außerordentr 
liehen  Schärfe  der  Linien  hervor,  die  sich  beim  Zehenstand  an  jeder 
Wade  erkennen  lassen.  Unter  der  Wade  verjüngt  sich  die  hintere 
Fläche  des  Unterschenkels  plötzlich  und  erhält  die  Form  eines  Drei- 
eckes, das  seine  Spitze  an  der  Ferse  hat  und  dessen  Seitenränder 
dem  Schollenmuskel  angehören. 

Der  Lange  WudenmuskEil  (M,  plantaris),  der  noch  mit  Eil  Aicaet  Bchiclitc  ge- 
hört, iat  ein  kraftloHer  Hilfamuskel  der  beiden  vorausgeg&ngenen,  zu  denen  er  sich 
beiläufig  wie  dur  Bindfadcu  aum  Ankcrtan  verhalt.  Nur  beim  Tiger  und  Leopurd 
kommt  er  dem  Zwillingsmuakel  un  Starke  (;leicL  und  verhilft  diesen  Tieren  zu  der 
außerordentlichen  Kraft  des  SpmngeR. 

Die  tiefliegende  Schichte  enthält  vier  Muskeln,  die  unter 
den  vorher  erwähnten  an  der  inneren  Seite  des  Unterschenkels  zum 
Vorschein  kommen  und,  umschlossen  von  einem  Blatt  der  Unter- 
schenkelfascie ,  durch  die  Haut  hindurch  wie  ein  einziger  Muskel  er- 
scheinen.     Sie    wirken   als   Antagonisten    der   an   der   vorderen  Seite 


')  Der  Schollenmuskel  entlehnt  «einen  Namen  aua  der  Zoologie,  indem  seine 
Uüiglich  ovale  Form  an  jene  der  Scholle,  <:incs  in  den  europäischen  Meeren  häufigen 
FiBChea  (PleuroTteetes  »olea  Ltsst),  erinnert 


458  Zehnter  Aheohnitt 

liegenden  Strecker.      Ihre  Sehnen  gehen  um   den  hinteren  Raud  d« 
inneren  Knöchels  zum  Hohlfuß. 

Der  hintere  Schien beinmuskel  (M.  tihialis  posticiis)  Hej^  dicht  an  fin^ 
langen    Beuger  der  Zehen  (M.  flexar  digitorum  lofigits),  der  an  der  hintmii 
Fläche  des  Schienbeines  entspringt  (Fig.  136  Nr.  22).    Die  Sehnen  der  beiden  Mif- 
keln    decken  sich;    sie  wenden  sich  dann  an  der  inneren  Seite  de»  Sprungbeina 
zur  Fußsohle.    Zwisc^hen  dem  Knöchel  und  dem  Abzieher  der  grofien  Zehe  nu\  at 
eine  kurze  Strecke  zu  scheu  (vergleiche  die  Fig.  142  Nr.  i  u.  7),  um  sich  ilann  für  <Wb 
übrigen  Verlauf  dem  Blick  zu  entziehen.     Der  hintere  Schienbeinmiiakel  «rtrt  »¥\ 
vorzugsweise  an  die  Knochen  des   inneren  Fußrandes   (Kahnbein,   die  Futtwurzei- 
knochen  I— IV,   femer  den  zweiten  und  dritten  Mittelfußknochen)  an.     r>er  Un?- 
Beuger  der  Zehen  verhält  sieh  wie  der  Beuger  der  Finger,   geht  also  zu  den  w 
äußeren  Zehen,  um  an  dem  letzten  Zehengliede  zu  endigen. 

Der  lange  Beuger  der  großen  Zehe  (M,  flexar  hallucis  longua)  irt  «W 
stärkste  der  tiefliegenden  Schichte.  Er  entspringt  von  dem  Wadonliein  und  i«chiekt 
seine  Sehne  wie  die  übrigeu  um  die  innere  Seite  des  Sprungbeines,  aber  tlwu 
weiter  rückwärts,  in  die  Tiefe  des  Hohlfußes,  wo  sie,  verborgen  zwischen  koTD» 
Muskeln,  bis  zu  dem  Nagelglied  der  großen  Zehe  gelangt 

4)  Die  Kniekehle. 

Mit  der  Kenntnis  der  Wadenmuskeln  läßt  sich  das  Bild  der  Knie- 
kehle jetzt  vervollständigen;    früher   wurde   nur   der    obere    Abschnitt 
derselben  erwähnt.    Der  untere  Abschnitt  prägt  sich  an  einem  stehen- 
den Bein,  auf  der  Haut,  in  folgender  Weise  aus:     an   dem   lateralen 
Rand   kommt   der   Biceps    zum  Vorschein    (Fig.   141    Nr.  7);    auf   dem 
medialen   Rand   die  Sehne    des    halbsehnigen    Muskel    (Fig.  141  Xr.  i;., 
welche    unmittelbar    an    dem    inneren   Urspnmgskopfe    des    Zwillinj:-!- 
wadenmuskels    liegt.      Der   dicke    Strang    der   zwischen    Nr.  i  u.  j   der 
Figur  141    liegt,    besteht  aus    dem    Ende    des    Schneidermuskels   und 
den  Sehnen  des  schlanken  Muskels,  des  Halbhäutigen  und   des  grußen 
Zuziehers.    Sie  haben  den  inneren  Knorren  des  Oberschenkelknochens 
und  den  inneren  Knoiren  des  Schienbeines  als   feste  Grundlage.    l>ie 
untere    Grenze    der    Kniekehle    wird    durch    eine    schwache    gebogene 
Hautfalte  hergestellt  (Fig.  141  Nr.  8),  welche  auf  derjenigen  Stelle  li»^?t. 
wo  die  Köpfe  der  Zwilliugswadenmuskeln  aus  der  Tiefe  der  Kniekehle 
hervortreten.     Der  Raum,   der  nach  anatomischer   Präparation,   nach 
Entfernung  der  Haut  und   der  Fascie  als  „Kniekehle'^  zum  Vorschein 
kommt,  ist  rhcmibisch   (siehe  Fig.  140).     Er  schließt,  in  viel  Fett  ver- 
senkt, die  großen  (lefäße  und  Nerven  ein,  welche  zu  dem  Untei'schenkel 
und  dem  Fuße  ziehen.      Oberflächlich   unter  der  Haut  liegt  das  End- 
stück   der    kleinen  Rosenader,    dann   folgt  die  Kniekehlenfascie,    eine 
Fortsetzung  der  Schenkellascie,  und  unter  ilir  der  Hauptn ervenstamm 
(Fortsetzung  des  ischiadischen   Nerven),    dann  die  große   Kniekehlen- 
vene    und    endlich    auf  der    Gelenkkapsel,    also    im    Hintergrund  der 


MuBkeln  der  QliedmiAeo. 


459 


Höhle,  die  Kniekehlenschlagader,  die  Fortsetzung  der  Schenkelschlag- 
ader. Trotz  dieser  tiefen  Lage  der  Kniekehlenschlagader  kann  man 
doch  an  sich  selbst  die  Kraft  der  in  ihr  eingeschlossene  Blutwelle 
beobachten.  Wenn  man  die  Beine  übereinander  schlägt,  beginnt 
die  Spitze  des  freischwebenden  Fußes  isochronisch  mit  den  Puls- 
schlägen zu  hüpfen,  sobald  der  Druck  der  Kniescheibe  die  Knie- 
kehlenarterie trifft. 


Linie  d.  halbsehn.  Muskels  1. 
Innerer  Knorren  2 


Zweiköpfiger  Wadenmuskel 


Innerer  Knöchel 


5  Halshäutiger  Muskel. 

V- — -^Äußerer  Knorren. 

— V- J  Biceps. 

*  Hautfalte. 


3  Äußerer  Knöchel. 


Fig.  141.    Formen  des  Unterschenkels  von  hinten  gesehen,  nach  Sohadow. 


Die  Wade  läuft  in  einen  rundlichen,  gegen  die  Knöchel  allmählich 
sich  verjüngenden  Strang  aus,  der  unter  der  Haut  deutlich  bemerkbar 
ist,  weil  zu  beiden  Seiten  eine  seichte  Vertiefung  herabläuft.  In  der 
inneren  Furche  ist  die  Haut  besonders  dünn  und  zart,  die  durch- 
scheinenden Blutadern  sind  ein  unverkennbares  Zeichen  hierfür.  Dieser 
rundliche  Strang  tritt  stärker  hervor,  sobald  der  Körper  auf  die  Zehen 
gestellt  wird;  er  ist  die  Fortsetzung  des  Wadenmuskels,  die  unter 
dem  Namen  der  Achillessehne  bekannt  ist. 


460  Zehnter  AbschniU. 

Während  des  Gehens  wird  die  Last  des  Körpers  abwechsehid  Tot 
einem  Fuß  auf  den  anderen  tibertragen.  Jeder  derselben  hat  während 
des  Schreitens  abwechselnd  das  ganze  Gewicht  zu  tragen,  woraus  sich 
der  dem  Menschen  zukommende  ansehnliche  Umfang  der  Waden- 
muskeln  erklärt.  Die  Aflfenwade  ist  deshalb  gering,  weil  die  Tiere 
vorzugsweise  auf  allen  Vieren  gehen. 

Auch  bei  den  Menschen  ist  die  Stärke  der  Wade  bekanntlich  sehr  veivchicdi« 
und  ihre  Schwäche  bei  rleiu  Neger  sprichwörtlich.    Man  hat   darin  einen  Hinvfv 
auf  besonders  nahe  Verwandtschaft  mit  dem  Affen  erkennen  wollen.     Offenbar  mn 
Unrecht:    denn   es   kommen   schlechte  Wahlen  auch    hei  Eurc^pücm    vor  omi  nru 
auch   bei   solchen,    deren  Gesicht   edle  Formen  aufweist     Es   ist  also  die  Muprl- 
haftigkeit   der  Wade   durchaus   kein    ausschließliches   Rasaenmerkmal    der  Volk« 
(Central-    und  Südafrikas.     Schon    wiederholt   haben  die  kühnen  Reisenden  in  <!«& 
letzten  Jahren  berichtet,  daß  mitten  in  dem  dunkeln  Kontinent  männliche  Kiirp« 
von  einer  Schönheit  zu  finden  seien,  die  als  Modelle  zu  einem  schwarzen  Aiitiii'>» 
dienen  könnten,  und  von  den  Uloveweibem  (Senegambien)  wird  miti^teilt  *,  sie  war- 
den  den  schönsten  tVjiueu  der  kaukasischen  Hasse  gleichen,  wenn  »ie  nicht  Khvtn 
wären    und    keine  Wollhaare  hätten.     Die  gerade  Nase,    die   senkrecht  im  Ki«fe 
steckenden  Zähne,  der  kleine   Mund,  das  zierliche  Ohr,    eine    tadellose  Büste  vM 
selbstverständlich    auch    p^itp^eformte    Waden    schmücken    diese    hochgewacluwiei 
Gkistalten.     Das  Alles  ist  ein  puter  Beweis  für  den  obigen  Satz,  weil  diese  schwtizda 
Schönheiten  aus  jenem  Teil  Afrikas  stammen,   der  sonst  auaschließlich  die  Uaee4- 
sche  Negerrasse  mit  dem  erschreckenden  Prognatismus  beherbergen  soll. 


d.   Sie  Muskeln  des  FuTses. 

Die  Muskulatur  des  Fußes  ist  ausschließlich  für  die  Bewegung 
der  Zeheu  l)estimmt,  wobei  in  allen  wesentlichen  Punkten  eine  Über- 
einstimmung mit  den  Muskeln  der  Hand  erkennbar  ist.  —  Die  Muskeln 
scheiden  sich  in  Muskeln  des  Fußrückens  und  in  Muskeln  der  S(»hlen- 
fläche.  Die  ersteren  stellen  eine  einzige  dünne  Schichte  dar,  welche 
duroll  die  von  dem  Unterschenkel  herabkommenden  Sehnen  gekreuzt 
wird,  und  über  die  eine  Fortsetzung  der  Schenkelfascie  hin  wegzieht. 
Die  letzteren  sind  in  bedeutender  Anzahl  vorhanden  und  zugleich  m 
ähnlicher  Weise  wie  diejenigen  der  Hand  angeordnet,  insofern  als  «ie 
mit  aller  Schärfe  in  Muskeln  der  großen  Zehe,  in  Muskeln  der  kleinen 
Zehe  und  in  Muskeln  der  Sohlenmitte  gesondert  sind.  Unter  ihnen 
wird  der  Fuß  von  einer  derben  Fascie  (Fascia  plantaris)  bedeckt 
welche  am  Fersenbein  beginnt  und  sich  durch  den  Hohlfuß  bis  n 
den  Zehen  erstreckt.  Sie  nimmt  vorzugsweise  die  Mitte  der  Sohlen- 
Häche  ein,   zu  beiden  Seiten   treten   die  von  einer  dünnen  Fascie  be- 

^  DE  RociiEBRUNE,  Etudcs  morpliologiqucs,  pbysiologiques  et  pathologiqne«  fsr 
l;i  femmc  ot  renfiint  dans  la  race  Oulove.  Revue  d' Anthropologie  T.  IV  1881. 
fjisc.  2  S.  2G0.     Mit  einer  Tafel,  das  Uloveweib  in  ganzer  Figur. 


Muskeln  der  Gliedmaßen.  461 

deckten  Muskelmassen  des  äußeren  und  inneren  Fußrandes  hervor. 
Zwischen  Haut  und  Fascie  liegt  eine  Fettschichte,  die  den  Druck 
der  Körperlast  gegen  die  harte  Unterlage  so  gleichmäßig  über  die 
Sohlenfiäche  verteilt,  daß  unter  normalen  Umständen  die  zahlreichen 
Nerven  vor  schmerzlicher  Empfindung  gesichert  sind. 

Die  Fascie  des  Unterschenkels  erhält  in  der  Höhe  des  Sprung- 
gelenkes bedeutende  Verstärkungen.  Es  treten  in  ihr  zunächst  (^ucre 
Züge  auf,  welche  von  der  Schienbeinkante  zu  der  Wadenbeinkaute 
ziehen  (Fig.  135  Nr.  15)  und  als  vorderes  Ringband  (Ligamentum  anmi- 
lare  anterius)  bezeichnet  werden.  Etwas  tiefer  treten  neue  Bündel 
auf,  die  kreuzweise  übereinander  wegziehen,  sich  durchtiechten  und 
mit  den  daninter  liegenden  Knochen  in  Verbindung  treten.  Auf  diese 
Weise  entsteht  ein  festes  Band,  das,  künstlich  abgegrenzt,  die  in 
Fig.  142  Nr.  5  dargestellte  Form  eines  s(*hiefliegenden  Kreuzes  besitzt 
und  als  Kreuzband  (Liffamentum  cruciatum)  benannt  ist.  Unter  ihm 
ziehen  die  Sehnen  der  vorderen  Unterschenkelmuskeln  zu  ihren  End- 
punkten, jede  in  einen  besonderen  Kanal  eingeschlossen.  Von  innen 
nach  außen  gehend  folgen  sich: 

1)  Die  Sehne  des  vorderen  Schienbcinmuskels  (Fig.  142  Nr.  3  u.  3'). 

2)  Die  Sehne  des  langen  Großzehenstreckers  (Nr.  4). 

3)  Die  Sehne  des  gemeinschaftlichen  Zehenstreckers  (Nr.  13). 
Durch  dieses  Band  werden  die  Sehnen  auf  dem  Rücken  des  Fußes 

zurückgehalten.  1  Während  der  Ruhe  ist  ihr  Verlauf  kaum  bemerkbar, 
nur  die  Sehne  des  vorderen  Schienbeinmuskels  bildet  eine  scharfe 
Grenze  zwischen  der  inneren  und  oberen  Fläche  des  Fußes.  Hebt 
sich  aber  der  Fuß  und  bewegen  sich  die  Zehen,  dann  tritt  eine  Sehne 
nach  der  anderen  deutlich  hervor.  Obwohl  das  Kreuzband  eine 
außerordentliche  Stärke  besitzt,  so  hebt  sich  doch  bei  jeder  Anspannung 
die  der  Sehne  entsprechende  Abteilung  des  Bandes  etwas  von  der 
knöchernen  Unterlage  empor  und  so  erscheint  der  ganze  Weg  er- 
kennbar, den  die  Sehnen  zurücklegen.  Man  sieht  leicht  ein,  wie  sehr 
die  darstellende  Kunst  es  in  der  Gewalt  hat,  Ruhe  oder  Bewegung 
durch  solch  kleine  Umstände  unverkennbar  auszudrücken.  Ein 
schwebender  Fuß  zeigt  keinerlei  Unruhe  in  diesen  Strängen  des  Fuß- 
rtickens,  während  ein  stehender  durch  die  verschiedenen  Grade  der 
Anspannung  eine  ganze  Stufenreihe  von  Kraftanstrengungen  anzudeu- 
ten vermag.    Von  ganz  besonderer  Wirkung  kann  dabei  das  Verhalten 

des  langen  Zehenstreckers  werden.  Dieser  Muskel  spaltet 
sich  schon  am  Unterschenkel  in  f\inf  Sehnen.  In  ehi  einziges  Bündel 
vereinigt  (Fig.  142  Nr.  13)  ziehen  sie  dann  durch  die  fllr  sie  bestimmte 


1  i> 


Übor  das  Kreuzband  als  Bandrolle  siehe  die  Einleitung  in  die  Muskellelirc  Ö.  242. 


462 


Zehnter  Abuhnltt. 


Sehnenscheide,  um  fächerartig  auf  dem  FuÜrücken  ausfiinander 
(Fig.  142  Nr,  la'  u,  13').    Vier  Stränge  gehen  zu  den  vier  üußsren  l 
einer   wendet  sich   zu  dem   Klein?ehenrand   des  Faßes,    nie   nni  i^ 
Höcker    des    entaprechenden    Mittelfußkuochenfi    zu    endigen. 
Sehneu  gitid  bei  dem  Heben  der  Zehen  sichtbar. 


Wadenbfin  u 
Langer  ZehcnntrwLir  O 


~^   e^bne  A.  GroBa 
Fig.  U2.     Dei-  Fuß  nach  EiiIfurniiTig  itor  Haut  iiud  Faacie  von  tlem  Fat 

1)   Muskeln   des   Fußrückens. 
Der   kurze   Strecker  der  Zehen  (M.  extentor  diffitona»  i 
läuft  auf  dem  Fußrücken  von  hinten  nach  vorn,   aber   scugleich  | 
die  große  Zehe  gerichtet,   und   ist   dabei  größtenteils  von  den  i 
des   langen   Zehensl  reckers    bedeckt   (Fig.  142   Nf.  14).      Er   entsjM 
von  der  oberen  Fläche  des  Fersenbeines  dicht  hinter  dem  WDrfclll| 
ist  dort  am  schmiilHten   aber  auch   am   dicksten  und  an  jedem  i 
liehen  Fuß  leicht  zu  linden  als  eine  Hache  Erhebung,  welche  die  | 
hervorwöibt.     Bei  dem  Burgbesischeu  Fechter   ist  der  Mmk< 


Miukeln  der  Gliedmaßen.  463 

tadellos  dargestellt,  dagegen  an  manchen  neueren  Werken  mehr  als  Ge- 
schwulst behandelt.  Das  charakteristische  der  Form  liegt  darin,  daß  der 
Muskelbauch  unmittelbar  an  seinem  Beginn  am  höchsten  ist  und  sich 
verjüngend  nach  vorn,  aber  gleichzeitig  auch  nach  innen,  unter  die 
Sehnen  des  langen  Streckers  schiebt.  Er  spaltet  sich  dabei  in  vier 
kleine  platte  Muskelbäuche,  aus  denen  ebensoviele  Sehnen  hervorgehen. 
Der  am  meisten  nach  oben  liegende  Bauch  ist  der  stärkste,  schickt 
seine  Sehne  zu  der  großen  Zehe  und  wird  deshalb  auch  als  kurzer 
Großzehenstrecker  bezeichnet.  Die  drei  Übrigen  Muskelbäuche 
gehen  zu  der  zweiten,  dritten  und  vieiien  Zehe,  die  kleine  geht  leer 
aus.  Die  Sehnen  des  kurzen  Streckers  kreuzen  unter  solchen  um- 
ständen diejenigen  des  langen  und  legen  sich  in  der  Nähe  des  vor- 
deren Endes  der  Mittelfußknochen  an  den  seitlichen  Rand  der  anderen 
an  (Fig.  142  Nr.  ii  u.  14').  Alle  die  erwähnten  Einzelnheiten  sind  durch 
die  Haut  hindurch  bei  Bewegungen  der  Zehen  zu  sehen. 

Die  äußeren  Zwischenknochenmuskeln  (Mm,  interossei  extenii, 
Fig.  143  Nr.  16),  nach  Abnahme  der  sie  bedeckenden  Fascie  darge- 
stellt, füllen  die  Spalten  zwischen  den  Mittelfußknochen  aus  und  ent- 
springen von  den  gegeneinander  gerichteten  Flächen.  Die  Muskeln  ver- 
halten sich  wie  jene  an  der  Hand,  nur  mit  dem  Unterschied,  daß 
nicht  die  Mittelzehe,  sowie  der  Mittelfinger  die  Richtung  der  Muskeln 
bestimmt  hat,  sondern  die  zweite  Zehe.  Sie  erhält  demnach  zwei 
äußere  Zwischenknochenmuskeln,  dann  folgt  die  dritte  und  vierte  Zehe 
mit  je  einem.  Sie  spreizen  die  Zehen.  In  der  Tiefe  des  Hohlfußes 
verlaufen  die  drei  inneren  Zwischenknochenmuskeln,  welche  wie 
jene  der  Hand  die  Annäherung  der  gespreizten  Zehen  an  die  zweite 
besorgen. 

2)   Muskeln  an  der  Sohlenfläche  des  Fußes. 

Längs  des  inneren  Fußrandes  finden  sich  die  für  die  Bewegung 
der  großen  Zehe  bestimmten  Muskeln.  Am  meisten  macht  sich  unter 
ihnen  bemerkbar 

der  Abzieher  der  großen  Zehe  (OV.  ahductor  hallucis  lonffus, 
Fig.  142  Nr.  9);  er  entspringt  mit  einem  kräftigen  Muskelbauch  von 
der  inneren  Fläche  des  Fersenbeines,  vom  Kahnbein,  dem  ersten  Keil- 
bein und  dem  Mittelfußknochen  der  großen  Zehe  selbst,  also  von  einer 
Reihe  von  festen  Punkten.  Die  Fascie  giebt  ebenfalls  Muskelbündeln 
den  Ursprung.  Alle  setzen  sich  an  einer  starken  Sehne  fest,  welche 
bis  in  die  Mitte  des  Muskelbauches  hineinreicht  (Fig.  142)  und  an 
dem  ersten  Gliede  der  großen  Zehe  endigt.  Während  dieser  Abzieher 
der   großen    Zehe    dem  ganzen  Innenrande  des  Fußes  entlaug   zieht, 


liegen  verltorgen  an  der  Fußsohle  noch  zwei  andere  Kuokeln, 
für  die  Bewegung  der  großen  Zehe  verwendet  Hind,  nämUrh; 

der  kürzt)  Beuger  der  großen  Zehe,  and 

der  Zuzieher  der  großen  Zehe. 
Wegfn  ihrer  verborgenen  Loge   kOiinen  wir  auf  Binii  ein; 
Beschreibung  ihres  Verlaufes   verzichten,  nur   der  Sehne  dos  Uii||l 


1  iJt.  ZAt. 
e%g.  MS.    Skulrtt  ii«  FnSca  ron  'autai  und  etwas  vou  oben  f 

Bpugora  der  groöen  Zehe   sei   grdarht,   velcbc   hinter   dtim   inni 
KmVliet  tu  den  Hohlfaß  zieht  und   zwischen  den  Bändeln  dea 
Brngers  zum  letzten  GÜi-d  der  gnißen  Zehe  gelaugt. 

Läugs    des    äußerrn    Fußrandes    bgerl    die    Muskulfttor  i 
kleiuiru  Zi-he.     Sie  besieht: 

Aas   den   Abzieher  der   kleinen   Zehe,    pUttmndUdi; 
Anwesenheit  ist  duThaos  nicht  ^eicfagültig  &r  die  Fonn.     Er  t 


"^5 


MnBkeln  der  Gliedmaßen.  465 

aus  einer  hinteren  Abteilung,  welche  von  dem  Fersenbein  kommt  und 
aus  einer  vorderen,  welche  von  dem  Höcker  des  fünften  Mittelfuß- 
knochens an  beträchtlich  anschwillt.  Diese  letztere  ist  von  bestimmen- 
dem Einfluß  auf  den  Kontur  des  Vorderfußes,  der  eine  konvexe  Linie 
lediglich  durch  ihn  erhält. 

Der  Beuger  der  kleinen  Zehe  ist  ein  kleiner  und  unbedeutender 
Muskel. 

Jede  der  Muskelgruppen  für  die  große  und  kleine  Zehe  wird  durch 
eine  besondere  Umhüllung  der  Fascie  begrenzt,  die  in  ihrer  ganzen 
Deutlichkeit  freilich  erst  nach  Entfernung  der  Haut  und  des  Fettes 
hervortritt,  von  der  man  jedoch  auch  an  dem  lebenden  Fuß  wenig- 
stens schwache  Andeutungen  in  Form  von  zwei  seichten  Furchen 
wahrnimmt,  welche  von  dem  Hohlfuß  aus  divergierend  nach  vom 
ziehen.  Diese  Furchen  heißen  in  der  beschreibenden  Anatomie  innere 
und  äußere  Sohlenfurche  (Sulcus  plantaris  internus  et  extemns). 

Zwischen  den  kurzen  Muskeln  der  großen  und  kleinen  Zehe 
findet  sich 

der  kurze  Zehenbeuger  (Flexor  digitorum  brevis).  Er  ent- 
springt von  dem  Fersenbein  und  teilt  sich  für  die  dreigliederigen  Zehen 
in  vier  fleischige  später  sehnige  Portionen,  die  sich  ähnlich  verhalten 
wie  der  oberflächliche  Fingerbeuger  an  der  Hand.  Auf  dem  kurzen 
Zehenbeuger  verläuft  die  Sehne  des  langen  Zehenbeugers  und  liegen 
noch  einige  andere  Muskeln,  wie  die  Spulwurmmuskeln,  die  schon  er- 
wähnten inneren  Zwischenknochenmuskeln,  endlich  ein  zweiter  mus- 
kulöser Kopf  des  langen  Zehenbeugers,  von  deren  Beschreibung  wir 
hier  Abstand  nehmen  können. 


e.    Die  Venen  des  FoTsrnokens  und  des  Beines. 

Von  den  Venen  des  Beines  verdienen  diejenigen  des  Fußrückens 
die  nächste  Aufmerksamkeit;  denn  sie  enthalten  die  ersten  sichtbaren 
Ströme  des  zurückkehrenden  Blutes.  Diese  müssen  also  auch  der 
Ausgangspunkt  der  Erörterung  sein.  Nebenbei  sei  bemerkt,  daß  frei- 
lich damit  nur  der  in  die  Augen  fallende  Teil  dieser  Bahnen  berück- 
sichtigt wird,  nämlich  die  oberflächlichen  oder  Hautvenen;  die 
tiefliegenden  bieten  für  die  plastische  Anatomie  kein  Interesse. 

Die  Hautvenen  liegen  auf  der  Fascie  (Fig.  144)  und  verlaufen 
in  dem  Fett  und  den  lockeren  Fasern,  welche  die  Verbindung  mit 
der  Lederhaut  herstellen.  Sie  führen  das  Blut  von  den  Zehenspitzen 
aus  der  Haut  und  dem  Fett  zurück.  Ihr  Verhalten  an  den  Zehen 
ist  ähnlich   demjenigen  an  den  Fingern.     Sie  nehmen  ihren  Anfang 

KOLUfAMN,  Plastische  Anatomie.  30 


466  Zehnter  Absclmitt. 

an  der  Zehenspitze';  an  den  Gelenken  entstehen  Venenschlingen,  ood 
dann  gelangen  die  kleinen  Venenströme  gegen  das  oberste  Zehengliei 
Diese  Grefäße  (Fig.  144  Nr.  8)  nehmen  dann  Venen  auf,  die  tod  der 
unteren  Fläche  der  Zehen  aufsteigen.  Aus  ihrem  Zusammenflnß  ent- 
steht eine  starke  Bogenvene  mit  einer  nach  den  Zehen  gerichtHn  ^ 
Konvexität.     Sie  enthält  den  Ursprung  der  beiden  Hauptstämme: 

der  großen  Rosenader,   Vena  saphena  magna,  und 

der  kleinen  Bosenader,   Vena  saphena  parva. 

Die  große  Bosenader  (Fig.  144  Nr.  ?),  an  ihrer  Bildnngsstittt 
bereits  5  mm  dick,  steigt  dem  inneren  EVißrand  folgend  gegen  den 
Knöchel  in  die  Höhe,  nimmt  die  Bandvenen  der  großen  Zehe  sowie 
Hautvenen  von  der  Fußsohle  (Fig.  144  Nr.  6)  auf  und  kurz  vor  der  Be- 
rührung mit  dem  Kreuzband  starke  Röhren,  welche  von  der  inneren 
Fläche  der  Ferse  zu  ihr  in  die  Höhe  steigen  (Fig.  144  Nr.  3);  des- 
gleichen Verbindungsäste  zwischen  den  tiefen  Rückenvenen  (Kr.  3;;. 
Die  große  Rosenader  nimmt  dann  ihren  Weg  hinauf  zum  Unter- 
schenkel, wendet  sich  über  die  freie  Fläche  des  Schienbeines  aHmählidi 
schief  ansteigend  zu  dem  inneren  Knorren  des  Oberschenkels,  folgt  dem 
Schneidermuskel  bis  dicht  unter  das  Leistenband  und  dringt  in  dem 
von  dem  Schneidermuskel  und  dem  langen  Zuzieher  begrenzten  Winkel 
durch  ein  besonderes  Loch  der  Schenkelfascie  zu  der  tiefen 
Schenkelblutader  (Vena  cruralis). 

Auf  diesem  Weg  erhält  die  große  Rosenader  Zuflüsse,  die  anf 
der  vorderen  und  inneren  Seite  des  Unter-  und  Oberschenkels  weite 
Netze  bildeten.  Kurz  vor  der  Einmündungsstelle  an  dem  Leistenbog 
münden  noch  kleinere  Venen  von  der  Schamgegend  und  der  be- 
nachbarten Bauchfläche  in  sie  ein,  namentlich  eine  größere  ober- 
flächliche Bauch vene  (Vena  epiffastrica  superficialis),  die  an  dem 
Laokoon  und  dem  Borghesischen  Fechter  dargestellt  ist  An 
der  Einmündungsstelle  in  die  Schenkelvene  hat  die  große  Rosenader 
bei  mäßiger  Füllung  eine  Dicke  von  8  mm. 

Die  kleine  Rosenader,  5  mm  dick,  entspringt  ebenfalls  ans 
der  starken  Bogenvene  des  Fußrückens  (Fig.  144  Nr.  lo*),  sie  strebt 
aber  dem  Kleinzehenrand  entlang  dem  äußeren  Knöchel  zu  und  geht 
hinter  ihm  an  den  Rand  der  Achillessehne.  Steil  ansteigend  folgt  sie 
ihr  eine  Strecke  von  10 — 15  cm,  lenkt  dann  in  die  Mitte  der  Wade, 
läuft  durch  die  Furche  zwischen  den  Köpfen  des  ZwillingsmnsleU 
bis  zu  der  Kniekehle,  um  dort  in  die  Kniekehlenvene  einzumünden. 
Das  Ende  der  kleinen  Rosenader  ist  nicht  immer  deutlich  am  Lebenden 
zu  verfolgen,  weil  die  Rinne  zwischen  den  beiden  Köpfen  des  Zwillings- 
muskels zu  tief  wird  und  derbe  Stränge  der  Muskelbinde  sie  bisweilen 


(decken.     Diigegcn  ist  ihi'  Aofatig  um  hü  klurer  gdzeicbnet:  ibru  Zu- 
jsse    von    flem    iltiBcR-ii    Kniicliel    und    von   der    üuBltcii    Seite   des 


-I  Gr.  Rnmiimler. 


Kun.ZpliciuU.   n 


Fig.  m.     Die  Vinien  des  FuBrlli-ki-ua. 


I  Feraeiibeiiifs  her.  Loiclit  sind  ferner  die  zahlreichen  Verhin düngen 
mit  der  großen  Roaeuader  zu  verl'.dgeii,  die  xii  dem  inneren  Rimde 
.der  Wade    iu    die   Höbe  ateigen,   uder   die  atrömo.    welche    von   dem 


468  Zehnter  Abschnitt 

äußeren  Rande  herkommen.  Auch  die  kleine  Rosenader  erbäh 
herabsteigende  Venen.  Eine  von  ihnen  ist  besonders  groß  ^fnif 
feinoro-poplitea) ,   sie  steigt  auf  den  Beugern  des  Oberschenkels  hemb. 


Au  dem  Oberschenkel  und  an  dem  Unterschenkel  werden  darrh 
die  Muskelgi'uppen  ganz  bestimmte  Flächen  hergestellt,  welche 
gegeneinander  gerichtet  sind.  Auf  der  vorderen  Seite  des  Oberschenkel 
ist  es  die  Gruppe  der  Zuzieher,  die  von  dem  Schambein  herabkommeud 
eine  dreieckige  Fläche  darstellt,  deren  längste  Seite  dem  Schneider- 
muskel folgt.  Die  obere  Grenze  dieser  Fläche  wird,  durch  das  Leisten- 
band, die  innere  durch  den  gerundeten  Kontur  der  inneren  Schenkel- 
Häche  gegeben  (Fig.  135).  Gegen  diese  ausgedehnte  Fläche  i<%t  jene 
der  Unterschenkelstrecker  gestellt,  soweit  sie  der  vorderen  Schenkel- 
Hache  angehört.  Um  diese  Flächen  in  ihrer  vollen  Deutlichkeit  zu  «^ehen. 
ist  es  am  besten,  den  Oberschenkel  bei  gebeugtem  Bein  nach  vorn  n 
heben.  An  dem  gestreckten  Bein  des  Borghesischen  Fechters,  an 
dem  Torso  vom  Belvedere.  am  Laokoon  und  in  Fig.  139  Xr.  2i.5 
sind  diese  ebenerwähnten  MuskeLSächen  vortrefflich  dargestellt. 

Die  äußere  Fläche  des  großen  Gesäßmuskels  ist  gegen  jene  des 
äußeren  Schenkelmuskels  gerichtet,  wie  das  die  Skizze  SIichelaxgelo's 
vFii:.  134  zwischen  6  u.  9)  erkennen  läßt.  Bei  verschiedenen  Stellungen 
wenion  diese  Flächen  größer  oder  kleiner,  sie  verschieben  sich,  da  ja 
Muskeln  es  sind,  welche  sie  bilden.  Dabei  zeigen  sich  aus  demselben 
Grunde  vUe  stärksteu  Unierschieiie  zwischen  Ruhe  und  Bewegung  in  allen 
denkbaren  Abstufungen.  Sie  girben  Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung 
sowv»hl  vies  Kunstwerkes  als  der  Fragmente  und  gestatten  in  letzterer 
Hiusioht  wertvolle  RiiofcschIi:'s>e  auf  «i:i.s  innere  Wesen  der  Dar>tellunc. 

tWtrAohtc:  ciJLz  .len  Obtrsch-rniel  h^i  kriftisen  Männern,  so  ist 
OS  er- Aub:,  v.;:i  eir.cr  ^irrscir.g  pr.s::ij.:i';*.:i'rL  Fnu  «iess^rlben  zu  sprechen. 
S^':-.o  vor.'Ur^  K.ü.tc  ii-rii:  l-=zi  ZT-'.:iZ!i:e-  R«ei:tu>  entlang:  an  sir 
<.l-."v-;i:  >:;b.  v.-:  '.  t-Ittv  "iz  :  iiitrr-  F-l^h-f  in  UL-i  hinten  ist  es  die 
IvM^ivr^ruy*-.:.  '*-:'.:h-'  L-e  "  i  inzr::  iz :  jLii^n  konmi^rnden  steiltii 
y.Ä.*-'  '• -r-::-.;:.  Tis  rir  L-e  liz^-r^r  F-ivii-f  Zr-^igte  gilt  natürlich 
•u"  ••    V.    ■.:.-   .'-■^äJf'ir;l'r  i::gT:.izg'fz.  ":>  zi   irzi  Animg  •i'ifr  Kniekehle. 

V  -:  r^c  :^-'j:;.:-vr/  iz-i  i-  ST^r'.'i-r  ':*r-^^r.Zr:L  mit  liem  Lei^tt-n- 
V.v'  ;!.  .:■  ;  .:-v>c  :.^*:  .-7*i'ir.  L.r  Lfi-:-:  .  x:i : -r  -.-i^r  Lei^tr-nkehlf. 
*,•::■  Kj."i':  i.  :<*:<  V'^.-v.v:<  "::'':-Tr:  -:  J:  z-^-z-ztl  -i-ri.  kl«eiii»rn  Ri»nLiigt'I 
:\      :   ^  "'1  •  -r.  y:::    i-.-i       ■:   irz  Ir.-tciiirlseL  ausarefiilit.  lieren 

V-  >v .:  V : .  -^L" ;  ^■,-      ■. ;  -  ^-  ■'"":_-.■  ^ : : :  f  z  N .un- ::  3  i ":    i-zz.  unigen.  Ine  Leisten- 
j:"i:i.    -«,!:   -rv:!:    _•:   ^"  wt::i   .--rriiT    m«:  ^'-■•--II  -tlz-   ii-r  S.- Lenkt  [schlag- 


Muskeln  der  Gliedinaßen.  469 

ader  und  die  Scheukelvene,  welche  unter  dem  Leistenband  aus  der 
Leibeshöhle  heraus  oder  in  die  Leibeshöhle  hineinziehen.  Man  kann 
von  dieser  Grube  aus  die  Hand  in  die  Bauchhöhle  einführen,  wenn 
das  Fett  und  die  Gefäße  entfernt  sind. 

Wie  wohlthätig  anatomische  Kenntnisse  auch  dem  Nichtarzte  sein  können,  be- 
weist folgender  Fall.  Ein  Prager  Student  schnitt  sich  auf  einem  Spaziergange 
einen  Weidenstock  zu.  Um  ihn  zu  schälen,  zog  er  ihn  unter  der  Schneide  eines 
Taschenmessers  durch,  welches  er  an  den  Schenkel  stemmte.  Einer  seiner  Ge- 
fährten stieß  ihn  an,  das  Messer  fuhr  in  den  Schenkel,  schnitt  die  Schenkebchlag- 
ader  durch,  und  bi»vor  Hilfe  kam,  war  er  eine  verblutete  Leiche.  Ein  Fingerdruck 
auf  den  horizontalen  Schambeinast  hätte  ihn  wahrscheinlich  gerettet 

Am  Unterschenkel  ist  schon  während  der  Ruhe,  aber  noch  mehr 
während  der  Bewegung  eine  dreiseitige  prismatische  Gestaltung  unver- 
kennbar.  In  der  Schienbeinkante  treffen  sich  zwei  Flächen,  die  äußere 
und  innere;  sie  schließen  sich  durch  die  Fläche  der  Wadenmuskeln. 
Die  vordere  Kante  dieser  prismatischen  Säule  ist  als  Schienbeinkante 
jedem  bekannt.  Hier  sei  unter  Hinweis  auf  ihre  besondere  Beschrei- 
bung und  Darstellung  in  der  Knochenlehre  nur  folgendes  bemerkt: 
ihr  Anfang  unmittelbar  unter  dem  Schienbeinstachel  ist  zwar  durch 
den  vorderen  Schienbeinmuskel  verdeckt,  dafür  springt  aber  dessen 
medialer  Eand  hervor.  Dieser  Rand  und  der  übrige  Teil  der  Schien- 
beinkante bedingen  mit  der  Sehne  des  ebengenannten  Muskels  die 
S  förmige  Biegung,  welche  an  der  Vorderfiäche  des  Unterschenkels  die 
geschwungene  Linie  hervorruft;  unter  dem  Fettpolster  der  weiblichen 
Formen  verschwindet  sie  freilich  nahezu  vollkommen.  Die  schmälste 
Stelle  des  Unterschenkels  liegt  unmittelbar  über  den  Knöcheln,  welche 
den  Beginn  des  Fußes  bezeichnen. 


Z^sveiter  TeiL 


Erster  Abschnitt 

Anatomie  des  Weibes. 

Die  Anatomie  des  Weibes  beschreibt  die  unterscheidenden  Merk- 
male im  Vergleich  mit  dem  Manne.  Die  physiologische  Rolle,  welche 
dem  Weibe  von  der  Schöpfung  zugewiesen  ist,  bedingt  die  Andenmg 
einzelner  Organe;  dadurch  erhält  nicht  nur  die  ganze  Gestalt  ein  cha- 
rakteristisches Gepräge,  auch  die  geistige  Sphäre  wird  beeinfloSt  Die 
körperlichen  Eigenschaften  sind  schon  oft  zutreffend  geschildert  worden; 
ich  beschränke  mich  daher  auf  eine  kurze  Charakteristik,  die  nur  die 
wichtigsten  Merkmale  hervorhebt,  welche  sich  jedem  aufmerksamen  Be- 
obachter von  selbst  aufdrängen. 

Die  Frau  ist  kleiner,  zailer,  aber  auch  weicher,  schwungvoller  in 
den  Formen,  an  Brüsten,  Hüften,  Sdienkeln  und  Waden.  Keine  Linie 
verläuft  bei  ihr  kurz,  scharf  eckig;  alle  schwellen  oder  wölben  sich  in 
weichen  Bogen.  Der  Hals  erscheint  wegen  des  geringeren  Umfanges  länger 
und  schlanker  als  der  des  Mannes.  Der  Hals  und  die  gerundeten  Schul- 
tern sind  in  geschwungenen  Linien  miteinander  verbunden,  während 
bei  dem  Mann  der  Hals  mehr  rechtwinklig  an  den  viereckigeren  Schultern 
sitzt.  Der  schlankere,  schmälere  Oberkörper  erscheint  durch  die  er- 
nährenden Brüste  reich  und  weich.  Die  Mitte  des  Körpers,  das  Becken, 
ist  breit  entwickelt;  die  starken  Sitzteile  könnte  man  als  zum  Gegen- 
gewicht gegen  den  befruchtenden  Leib  bestimmt  erklären.  Der  Schwer- 
punkt wird  dadurch  mehr  nach  unten  verlegt.  Die  Beine  sind  kürzer 
als  beim  Mann,  namentlich  vom  Knie  abwärts.  Durch  die  Schwellung 
der  vollen  Schenkel  zu  den  breiten  Hüften,  und  durch  die  Stellang 
des  Gelenkkopfes  zu  der  Achse  des  Schenkelknochens  ist  die  Richtung 
der  Oberschenkel  nach  der  Mittellinie  stärker  konvergent,  sie  machen 
dadurch  nicht  den  geraden,  festen  Eindruck.     Das  Haar  ist  weicher. 


Anatomie  des  Weibes.  471 

die  Haut  zarter,  durchscheinender.  Alle  Formen  sind  mehr  durch  die 
Fettbildung  überkleidet  und  zueinander  vermittelt,  wodurch  der  weiche 
Schwung  der  Linien  entsteht,  während  Alles,  Muskeln,  Sehnen,  Adern, 
Knochen,  beim  Mann  unverhüllter  zu  Tage  tritt. 

An  diese  allgemeinen  Bemerkungen  reihen  sich  die  folgenden  An- 
gaben über  Unterschiede  in  den  Formeu  des  Knochensystemes  an. 

1)  Merkmale  des  weiblichen  Skelettes. 

Alle  Knochen  sind  schwächer,  mit  weniger  vorspringenden  Ecken 
und  Fortsätzen.  Auch  die  Bänder  sind  entsprechend  dünner.  Dabei 
ist  jedoch  stets  zu  erwägen,  daß  alle  Formen  vorhanden  sind,  und 
nichts  Wesentliches  fehlt,  nur  jene  Merkmale  sind  gemindert,  welche 
durch  vermehrte  Muskelstärke  und  Muskelarbeit  an  den  Knochen  des 
Mannes  bedingt  werden.  Tritt  die  Frau  aus  dem  bei  den  europäischen 
Völkern  gewohnten  Kreis  von  mäßiger  Muskelarbeit  heraus,  wird  sie 
Lastträgerin,  oder  vollbringt  sie  wie  bei  manchen  Naturvölkern  die 
schwere  Feldarbeit,  während  der  Mann  sich  um  Jagd  und  Handel 
kümmert,  dann  erhalten  die  Knochen  Yorsprünge  und  Kanten,  wie 
bei  Männern.  Die  Verschiedenheit  der  Lebensweise  prägt  sich  also 
auch  an  dem  Knochen  deutlich  aus.  Der  Unterschied  kann  so  groß 
werden  wie  zwischen  den  Knochen  wilder  und  zahmer  (domestizierter) 
Tier-Rassen ,  und  die  Entscheidung ,  ob  man  in  einem  bestimmten 
Falle  den  Schädel  eines  Mannes  oder  eines  Weibes  vor  sich  habe,  in 

• 

hohem  Grrade  erschweren,  ja  sogar  unmöglich  machen.  In  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  ist  freilich  der  Unterschied  unverkennbar. 

Die  feinere  Modellierung  des  weiblichen  Skelettes  geht  jedoch 
niemals  bis  zur  Unterdrückung  der  Bassenmerkmale,  namentlich  nicht 
an  dem  Schädel.  Es  wurde  schon  wiederholt  erwähnt,  daß  wir  in 
Europa  die  Abkömmlinge  mehrerer  Menschenrassen  besitzen,  die  im 
Gesicht  durch  zwei  extreme  Formen  charakterisiert  sind.  Die  eine 
dieser  fiasseu  besitzt  ein  schmales,  langes  Gesicht,  mit  hoher  gerader 
Nase  und  eng  anliegenden  Jochbogen,  die  andere  ein  kurzes  und 
breites  Gesicht  mit  eingedrücktem  Nasenrücken  und  weit  ausgelegten 
Jochbogen.  Diese  beiden  rassenanatomischen  Gegensätze  treten  mit 
voller  Klarheit  auch  an  dem  weiblichen  Schädel  hervor,  und  keine 
%er  sonst  so  einflußreichen  Lebensbedingungen  ist  imstande,  daran 
etwas  zu  ändern.  Durch  Fett  können  die  Merkmale  verschleiert,  aber 
nie  ganz  unterdrückt  werden.  Das  Stumpfnäschen  und  die  hohen 
Wangenhöcker  sind  unverkennbare  Bassenmerkmale,  ebenso  ererbt 
von  den  Vorfahren,  wie  die  gerade  Nase  und  die  anliegenden  Wangen- 
beine.  Die  Kreuzung  der  Bässen,  die  seit  Jahrtausenden  sich  vollzieht, 


472  Zweiter  Teil.     Enter  AbechnitA. 

rüttelt  diese  Merkzeichen  sehr  oft  durcheinander.  Eine  kurze  Xa^t 
kann  dadurch  in  ein  langes  Gesicht,  oder  umgekehrt  eine  lange  Na^e 
in  ein  kurzes  Gesicht  kommen,  aber  niemals  schwächt  die  zartere 
Entwickelung  des  weiblichen  Organismus  die  Formen  so  ab,  daß  I»« 
Abkömmlingen  der  lang-  und  schmalgesichtigen  Rasse  die  weiblkbe 
Form  des  Antlitzes  ein  Stumpfnäschen  erhielte,  wie  dies  schon  b^ 
hauptet  worden  ist.  Wenn  also  nachstehend  die  Unterschiede  de* 
weiblichen  Körpers  im  allgemeinen  besprochen  werden,  so  gilt  duoh 
als  oberster  Grundsatz,  daß  die  Rassenmerkmale  von  dtrr 
sexuellen  Variabilität  verschont  bleiben.^ 

Im  einzelnen  finden  sich  an  dem  Schädel  folgende  Verschieden- 
heiten: Der  weibliche  Schädel  ist  leichter  und  von  geringerem  Kubik- 
inhalt als  der  männliche,  wie  die  folgende  Übersicht  zeigt: 

Schädcliuhalt  in  KubikcentimpttrxL 

Mittel:  Minimum:  Maximum: 
100  männliche  Schädel  einer  I^ndbevölkeninp:     1503           1260  1780 

100  weihliche  Schädel  ebendaher 1335  1100  16S3 

Differenz 168  160  97 

Diese  Verschiedenheit  des  Kubikinhaltes  des  Himschädels  ist 
äußerlich  von  einzelnen  Merkmalen  begleitet,  welche  die  Stirn  und 
den  Scheitel  betrefifen.  Die  Stirn  ist  beim  Weibe  schmaler  und 
niedriger,  steigt  jedoch  im  Vergleich  zu  der  Stirn  des  Mannes  mehr 
senkrecht  auf.  Die  Biegung,  mit  der  sie  sich,  von  der  Profillinie  aus 
gesehen,  zu  dem  Scheitel  wendet,  ist  »stärker  als  bei  dem  Manne,  da- 
gegen verläuft  der  ganze  Scheitel  flacher.  Dieses  Verhalten  tritt 
namentlich  in  der  Profilansicht  charakteristisch  hervor,  allein  aueh 
von  vorn  ist  dieser  Gegensatz  zwischen  männlicher  und  weiblicher 
Stirn-  und  Scheitelform,  namentlich  an  dem  Übergang  beider,  wohl  zu 
erkennen.  Der  Gesichtschädel  (von  der  Nasenwurzel  bis  zu  dem 
Kinn  gerechnet)  ist  in  Übereinstimmung  mit  den  gracileren  Formen 
absolut  und  relativ  kleiner  als  derjenige  des  Mannes.  Trotz  der  Große 
der  männlichen  Hirnkapsel  erscheint  doch  jene  der  Frau  im  Verhält- 
nis zu  dem  Antlitz  umfangreicher,  weil  der  Mann  einen  stärkeren 
Kauapparat  hat,  der  mehr  in  die  Augen  springt  (vgl.  die  Figuren  145 
und  146),    was   mit   seinem    stärkeren  Begehren   übereinstimmt.    Die 

*  Die  oberste  Regel  ist  ohne  Ausnahme  und  wird  selbst  nicht  durchbrochoi 
durch  jene  seltsamen  Frauen,  die  schon  die  Römer  mit  dem  Nameu  virago  bezeich- 
net haben,  zu  deutsch  ein  ,, männliches  Frauenzimmer,'*  „Mannweib,**  gemeinhin 
wohl  auch  weiblicher  Dragoner  genannt.  So  heißen  jene  Weiber,  welche  sitwohl  in 
ihrem  Äußeren  als  in  ihrer  Denkart  den  Männern  ähneln. 

•  Ranke,  J.  Die  Schädel  der  altbayorischen  Landbevölkerung  in:  Beiträge  rar 
Anthropologie  und  Urgeschichte  Bayerns.    München  1878.    Auch  separat  erschienen. 


Anatomie  des  Weibes.  473 

Frauen  sind  auch  genügsamer  in  Speise  und  Trank;  beim  Gastmahl 
über  Gebühr  zu  essen  und  zu  trinken,  ist  männliche  Tugend.  Bei  der 
Frau  ist  die  Nasen-  und  Mundhöhle  im  Verhältnis  kleiner  als  die 
gleichen  Räume  des  Mannes,  was  wir  begreitiich  tindeu,  dagegen  scheint 
die  überraschende  Behauptung,  die  Augenhcihleneingänge  seien  im  Ver- 
hältnis bei  den  Frauen  größer  als  bei  dem  Slanne,  noch  weiterer  Be- 
stätigung bedürftig.  Dagegen  ist  die  Thatsache  unbestreitbar,  daß 
ein  mäßiger  Grad  von  Prognathie  bei  Frauen  häutiger  vorkommt, 
als  bei  Männern. 

Der  BruBtkorb  ist  bei  der  Frau  kürzer  und  enger  und  das 
Brustbein  kleiner  als  dasjenige  des  Mannes.  Mit  dem  geringeren 
Umfang  der  Lungen  stimmt  auch  das  geringere  Atmungsbedürfnis 
tiberein,  welches  dem  Weib  den  längeren  Aufenthalt  in  geschlossenen 
Räumen  erträglich  macht,  während  der  Maim  schon  durch  sein  stär- 
keres Atmungsbedürfuis  in  das  Gewühl  des  thätigen  Lebens  getrieben 
wird.  Die  Rippen  sind  kürzer,  dünner  und  nicht  so  stark  gekrümmt, 
ihre  Richtung  ist  schiefer  nach  abwärts,  es  müssen  also  die  schrägen 
Rippen  sich  mehr  heben,  sie  müssen  beim  Atmen  einen  größeren  Bo- 
gen beschreiben,  um  das  nötige  Quantum  Luft  aufzunehmen.  Der 
Brustkorb  der  Frau  ist  im  oberen  Abschnitte  etwas  weiter  als  der 
männliche;  die  oberen  Rippen  des  Weibes  zeigen  auch  stärkere  At- 
mungsbewegungen als  die  des  Mannes,  weil  bei  ihnen  die  oberen 
Lungenlappen  stärker  entwickelt  sind  und  mehr  Luft  in  sich  aufnehmen, 
als  die  des  Mannes.  Deshalb  erscheinen  die  Atmungsbewegungen  beim 
Weibe  stärker  und  der  weibliche  Busen  wogt  selbst  bei  geringen  An- 
strengungen. Sie  ertragen  leichter  eine  Schuürbrust,  welche  die  untere 
Thoraxpartie  einengt,  als  die  Männer,  die  gerade  jenen  Teil  des  Brust- 
korbes beim  stärkeren  Atmen  zumeist  ausdehnen,  sie  empfinden  we- 
niger Atemnot  bei  Geschwülsten  im  Unterleib  oder  der  Bauchwasser- 
sucht, weil  durch  die  größere  Entwickelung  der  oberen  Lungenlappen 
schon  dafür  gesorgt  wurde,  daß  während  der  Schwangerschaft  die  an 
und  für  sich  beschwerliche  Vergrößerung  und  Füllung  des  Unterleibes 
nicht  noch  durch  Atemnot  unerträglich  werde. 

Die  Frau  besitzt  einen  etwas  längeren  Unterleib  als  der  Mann. 
Das  wird  von  allen  Beobachtern  angegeben,  auch  die  Darstellungen 
der  Antike  stimmen  damit  überein,  und  selbst  die  Figuren  145 — 146 
sind  ein  deutlicher  Beleg  hierfür,  allein  die  Thatsache  hängt  offenbar 
von  sehr  verschiedenen  Umständen  ab.  Das  untere  Ende  des  Brust- 
beins liegt  bei  dem  Weib  höher,  und  damit  auch  die  Herzgioibe; 
dann  kommt  die  geringe  Höhe  des  Beckens  in  Betracht  und  endlich 
der  Umstand,  daß  die  unteren  Rippen  bei  der  Frau  kleinere  Bögen- 
segmente  beschreiben   und    mehr  gesenkt  sind,  als  jene   des  Mannes 


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13  Hi^dwnrKl  mit  Ihna  Qt- 

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M. 


476  Zweiter  Teil.    Enter  Abschnitt. 

und  in  den  Bauchmuskeln  und  dem  Fett  sich  dem  Blick  völUg  ent- 
ziehen. So  kommt  es,  daß  schließlich  bei  der  gleichzeitig  starken 
Ausladung  des  Beckens  das  Ende  des  Brustkorbes  bei  der  Fran  nicht 
durch  die  Haut  bemerkbar  ist  und  daß  wegen  der  hohen  Lage  der 
Herzgrube  der  Leib  länger  erscheint,  als  dies  in  Wirklichkeit  der  Fall 
ist.  Umgekehrt  ist  das  Thoraxende  des  Mannes  wegen  der  groBen 
Weite  besonders  deutlich,  und  dem  hohen  und  schmalen  Beckea 
gerade  von  vorn  betrachtet  mehr  genähert. 

Das  Becken  bietet  die  auffallendsten  sexuellen  Merkmale. 
Es  ist  bei  der  Frau  in  allen  seinen  Teilen  weit,  namentlich  sind  die 
schaufelartigen  Darmbeine  weit  ausgelegt.  Daher  rührt  die  beden- 
tendere  Wölbung  der  Hüfte,  welche  so  stark  sein  kann,  daß  der  Becken- 
gürtel  den  Schultergürtel  an  Breite  übertrifft.  An  dem  größeren  Umfang 
des  weiblichen  Beckens  beteiligt  sich  auch  das  Kreuzbein,  das  breiter 
und  kürzer  und  mehr  nach  hinten  gerichtet  ist.  Die  Sitzbeine  sind 
weiter  von  einander  entfernt  und  laden  sich  aus.  Dadurch  wird  der 
Schambogen  {Arcus  ossium  pubis  Fig.  145  e)  weit,  während  er  bei 
dem  Mann,  (Fig.  146  Nr.  6)  im  Vergleich  dazu  eng  ist. 

Um  den  Grad  der  bisher  erwähnten  Merkmale  beurteilen  zu 
können,  sind  die  Figuren  145 — 148  so  einander  gegenüber  gestellt, 
daß  die  Ansicht  des  weiblichen  Skelettes  mit  der  des  männlichen  direkt 
vergleichbar  ist  und  zwar  sowohl  von  vorn  als  von  hinten.  Bei  der 
Betrachtung  von  vorn  wird  die  Verschiedenheit  der  Stimbildung,  die 
geringere  Größe  des  Gesichtschädels,  die  durchaus  andere  Gestalt  des 
Brustkorbes  und  des  Beckens  sehr  gut  ersichtlich.  Bei  der  Betrach- 
tung von  rückwärts  sind  zwar  nur  die  charakteristischen  Merkmale 
des  Brustkorbes  und  des  Beckens  der  Beurteilung  zugänglich,  aber 
gerade  hier  treten  die  oben  erwähnten  Formen,  die  als  sexuelle  Varia- 
bilität bekannt  sind,  mit  größter  Schärfe  heiTor. 

Die  unteren  Gliedmafsen  zeigen  eine  andere  Richtung  der  Achsen 
bei  der  Frau  als  bei  dem  Mann.  Wegen  der  größeren  Breite  des 
Beckens  stehen  die  Hüftgelenkpfannen  weiter  auseinander.  Eine 
natürliche  Folge  davon  ist  eine  stärkere  Ausladung  der  großen  R(ill- 
hügel.  Auch  dies  bestätigt  sich  bei  der  Betrachtung  unserer  Figuren. 
Um  dennoch  die  Schwankungen  des  Körpers  beim  Gehen,  welche  eine 
so  beträchtliche  Entfernung  der  Stützpunkte  mit  sich  bringt,  zu  ver- 
mindern, ist  der  Winkel  zwischen  dem  Hals  und  dem  Mittelstück  des 
Oberschenkelknochens  kleiner  als  bei  dem  Mann.  Eine  geringe  Ab- 
nahme des  Winkels  genügt  schon,  um  die  größere  Konvergenz  der  Ober- 
schenkel gegen  das  Knie  hin  bei  der  Frau  herbeizuführen. 


Anatomie  des  Weibes.  477 

Als  letzter  Punkt,  den  die  Knochenlehre  mit  genügender  Sicher- 
heit festgestellt  hat,  ist  die  Kürze  des  Unterschenkels  zu  nennen,  die 
bis  zu  5  cm  Unterschied  betragen  kann. 

Die  folgende  Tabelle  giebt  die  Vergleicliung  einiger  Teile  des  Skelettes.     Sie 

gründet  sich  auf  Mittelzahlcn  in  Centimetern,  an  mehreren  wohlgebildeten  Skeletten 
gewonnen,  von  welchen  die  männlichen  eine  Hohe  von  162—172,  die  weiblichen 
eine  Höhe  von  151—162  cm  hatten.* 

Länge  der  Skelettteile.         Männlich.  Weiblich. 

Höhe  des  Kopfes 14  13 

LÄnge  der  Wirbelsäule 70  68 

„       des  Brustbeins 18  16 

„        „    Oberarm knochens    .     .     .       32  30 

„       der  Elle 26  23 

„        „    Speiche 24  22 

,,       des  Oberschenkelknochens     .       55  43 

„        „    Schienbeines 39  34 

Aus  diesen  Unterschieden  des  Skelettes  erklären  sich  manche  der 
Hauptformen  der  lebenden  Frau.  Was  noch  sonst  der  Erwähnung 
hier  wert  ist,  betrifft 

2)  das  Fettpolster. 

Viele  Eigenschaften  des  Fettpolsters  wurden  schon  in  dem  Ab- 
schnitt über  die  Haut  erwähnt.  Hier  sei  auf  die  beträchtliche  Füllung 
der  Haut  mit  Fett  nochmals  hingewiesen,  das  in  der  Umgebung  des 
Beckens  alle  scharfen  Knochenformen  verhüllt,  und '  sich  eine  beträcht- 
liche Strecke  an  dem  Unterleib  hinauf  und  an  dem  Oberschenkel  hinab 
erstreckt.  Der  äußere  Kontur  des  Schenkels  beschreibt  eine  konvexe 
Linie,  die  nur  bei  forcierter  Streckstellung  an  dem  großen  Rollhügel 
endigt.  Bei  ruhiger  Haltung  erstreckt  sich  der  Kontur  mit  geringer 
Unterbrechung  hinauf  bis  zu  der  Lendengegend.  (Vergleiche  die  vor- 
trefiFlichen  Konturzeichnungen  in  Albbecht  Dükee's  Proportionslehre). 

Wie  in  der  Umgebung  des  Beckens,  so  sind  auch  an  dem  übrigen 
Körper  alle  Teile  durch  Fett  überkleidet,  welche  bei  dem  Manne 
scharfe  und  eckige  Formen  aufweisen.  Auch  auf  das  Knie  erstreckt 
sich  das  Fett,  die  Kniescheibe  bildet  nur  eine  rundliche  Erhabenheit. 
Die  Fettpolster  im  Innern  des  Kniegelenkes  sind  so  stark,  daß  sie  in 
der  ruhigen  Streckstellung  das  Kniescheibenband  verdecken.  Nur  in 
der  Beugung  werden  einige  Teile  deutlicher,  weil  die  Fettpolster  dann 
in  der  Tiefe  des  Gelenkes  versinken.  Auch  am  Unterschenkel  ist  die 
Haut  so  mit  Fett  gepolstert,  daß  man  kaum  mehr  als  eine  schwache 
Andeutung  der  bei  dem  Manne  so  deutlichen  vorderen  Schienbeinfläche 
und  ihrer  Formen  wiederfinden  wird. 

^  Kbause,  W.     Handbuch  der  menschlichen  Anatomie.     Hannover  1879. 


|r       Skelett  eil 


Kg.  »8. 

Skelett  eines  jungen 

Mannes, 

j  der  nat  Größe, 

ab  Sahdtelhähe. 

cd  Horiüontale  durch   äU 

Ebene  d.  Hinterhaupl«- 

öffo 
ef  Lin..  .-.^.„„  ,„.„ 

SchDJ  terblattwiD  kein. 
gh  KnlTernung  der  beiden 

äch  I  DskI  beinenden . 
ik  Horizontale  durcb  den 

10.  Rippen knorpcl. 
Im  HoriiontalB  durch  den 

vord.  unl.  Damibeinst. 
HO  Hor[Rontaieetna«uQt«r- 

halb  der  i.  Kopfhöhe. 


to  Eopfböhe  von  dem  tTn- 

terkieTerrand  bin  ab. 
El  Elle. 
H  HüllhriD. 
E      Kreuibein. 
O  Ellbogen. 

Q  Querfort«,  d.  Lenden». 
R  Rippen. 
Rh  OroDer  RollhGgel. 
Sa"  Sehanibein. 
Seh  ScheiHlinie. 
Si  Sitibein. 


Drehungspunktd.  Ober- 
arnikopfes. 
I  b  Enter  Bruatwirbel. 
XU  ZwöllW  Eruatwirbel. 
I   Enter  lendenwii-hel, 
lli  landen  Wirbel. 
V  Lendenwirbel. 


480  Zweiter  Teil.     Erster  AlMchiiitt 

An  dem  Hals  und  an  der  Brust  wie  an  dem  Rücken  wiederlkolt 
sich  dieselbe  Erscheinung.  Die  kantigen  Formen  des  männlicbea 
Halses  sind  verschwunden,  und  der  Adamsapfel  nur  als  eine  leichte 
Erhöhung  bemerkbar.  Er  ist  viel  kleiner  als  der  männliche,  auch  die 
Luftröhre  ist  enger  als  bei  dem  Manne,  zwei  Eigenschaften,  weldie 
die  Weichheit  und  Höhe  der  weiblichen  Stimme  genügend  erkläreu. 

Um   die   beträchtliche  Änderung   der  Formen    sich   zu  vergegeo- 
wärtigen,    welche  lediglich  der  Überzug  von  Fett,   der  sich  über  die 
Muskeln  hinweg  legt,  herbeiführt,  genügt  ein  Blick  auf  die  Abbildimg 
Fig.  125,  welche  den  Arm  eines  Mannes  darstellt,  oder  auf  den  nackten 
Krieger  Fig.  134,  Skizzen,  welche  die  eckigen  und  starken  Formen  de» 
Mannes  deutlich   wiedergeben ,    die   wir  an  ihm  bewundem ,   während 
sie  uns  an  der  Frau  abstoßend  erscheinen  würden.      Setzt  man  in  Ge- 
danken neben  den  in  Fig.   125  dargestellten  Arm    die    Linien   eines 
Frauenarms,  so  wird  der  Grad  der  sexuellen  Variabilität  vollkomniea 
deutlich  sein.    Die  Anordnung,  der  Bau  und  deshalb  die  Mechanik  der 
Muskeln  und  Gelenke  ist  dieselbe,  das  Fett  aber  erhält  die  Bedeutimg 
eines  sexuellen  Merkmales,  das  alle  harten  Formen  mit  seinem  weichen 
Schleier  überzieht,  der  mehr  ahnen  als  sehen  lässt. 

Die  BrüBte  liegen  auf  dem  großen  Brustmuskel  und  sind  mit 
ihm  durch  derbes  Gewebe  verbunden.  Die  ernährenden  Schlagaden 
treten  von  hinten  her  in  die  Drüse  ein  und  stammen  zu  einem  großen 
Teil  aus  dem  Innern  des  Brustraumes,  die  Venen  dagegen  sammeln 
sicli  sowolil  in  der  Tiefe  der  Drüse  als  auch  an  ihrer  Oberfläche. 
Audi  die  Brüste  haben  also  Hautvenen,  die  namentlich  während  des 
Stillens  erkennbar  sind,  weil  zu  dieser  Zeit  mehr  Blut  das  Organ 
durchströmt.  Die  Befestigung  auf  dem  großen  Brust  muskel  zwii;gt 
die  Brüste,  seinen  Bewegungen  zu  folgen.  Nähern  sich  die  Arme, 
so  nähern  sich  auch  die  Brüste ,  hebt  sich  der  Arm ,  wobei  der 
Muskel,  lang  und  gedehnt,  sich  über  einen  großen  Raum  ausbreitet 
so  liebt  sich  die  Brust  mit  ihm,  umgekehrt  senkt  sie  sich  mit  dem 
Arm,  und  entfernt  sich  von  der  Mittellinie,  wenn  sich  derselbe  nach 
rückwärts  wendet.  Die  Verschiebungen  sind  nicht  sehr  bedeutend, 
weil  die  Brüste  auf  dem  Urspningsgebiet  des  Muskels  liegen,  alw 
doch  groß  genug,  um  beachtet  zu  werden.  Bei  der  verwundeten  Am^i- 
Zone  auf  dem  Kapitol  ist  auf  der  Seite  des  erhobenen  Arms  der  Höhen- 
unterschied in  der  Lage  der  Brüste  sehr  wohl  berücksichtigt.  Bei  der 
niilesi sehen  Venus  steht  die  linke  Brust  höher,  was  auf  eine  hohe 
Haltung  des  fehlenden  Armes  hinweist. 

Die  Brüste  der  weißen  Rassen  sind  im  jungfi'äulichen  Zustande 
halbkngelig,  bei  den  farbigen  Rassen  ist  dies  nicht  immer  der  Fall. 
Die   zalilreidicii   Photographien  von   Mädchen   und  Frauen    aus  Afrika 


Anatomie  des  Kindes.  481 

und  den  Inseln  des  indischen  Ozeans  zeigen  nicht  immer ,  aber  doch 
oft  genug  Brüste,  welche  mehr  in  die  Länge  gezogen  und  zuge- 
spitzt sind.  Die  alten  wie  die  neuen  Bewohnerinnen  des  Nillandes 
scheinen  in  weitaus  überwiegender  Menge^  ebenso  wie  diejenigen  In- 
diens die  halbkugeligen  Brüste  zu  besitzen,  denn  weder  die  Darstel- 
lungen der  Sphynxe  und  anderer  himmlischen  Wesen,  noch  die  Dar- 
stellungen irdischer  Schönheiten  lassen  spitze  Brüste  erkennen. 

Die  Grösse  der  Brüste  unterliegt  zahllosen  Verschiedenheiten. 
Klein,  prall  und  halbkugelig  um  den  Eintritt  der  Geschlechtsreife, 
beginnen  sie  bei  Schwangeren  zu  strotzen  und  werden  hängend  durch 
die  Schwere.  Bei  alten  Frauen  werden  sie  nach  dem  Verlust  des 
Fettes  schlaff,  knotig  und  faltig.  Durch  ihr  eigenes  Gewicht  und 
durch  absichtliches  Ziehen  können  sie  so  lang  werden,  daß  die  Weiber 
der  Indianer  sie  über  oder  unter  der  Schulter  ihren  Säuglingen  reichen 
können,  welche  sie  auf  <lem  Bücken  tragen.  Bei  den  Römern  galten 
große  Brüste  fiir  keine  Schönheit.  Unter  den  europäischen  Frauen 
sollen  die  Portugiesinnen  die  größten,  die  Casti lianerinnen  die  kleinsten 
Brüste  haben.  Nach  Rubkns  nackten  weiblichen  Figuren  zu  schließen, 
dürften  die  Niederländerinneu  im  Luxus  der  Brüste  mit  den  Portugie- 
sinnen wetteifern.  Was  den  Brüsten  ihre  Größe  und  Rundung  ver- 
leiht;  ist  nicht  allein  das  drüsige  Organ,  sondern  auch  das  Fett,  das 
die  Drüse  bedeckt  und  zwischen  die  Hauptlappen  der  Drüse  eindringt. 
Das  Fett  ist  es,  das  der  aus  mehreren  Lappen  bestehenden  und  des- 
halb unebenen  Brustdrüse  die  glatte  Halbkugelform  giebt.  An  der 
Warze  und  ihrem  Hof  findet  sich  niemals  Fett. 


Zweiter  Abschnitt, 

Anatomie  des  Kindes. 

Der  Reiz  des  kindlichen  Körpers  liegt  in  den  weichen  gerundeten 
Formen  und  in  der  unvollkommenen  Entwickelung  der  Glieder,  die  zu 
kurz,  im  Mißverhältnis  stehen  zu  dem  großen  Rumpf,  an  dem  der 
Kopf  überwiegt.  Der  Kopf  ist  so  bedeutend  ausgebildet,  daß  im  An- 
fang die  Muskeln  noch  nicht  stark  genug  sind,  die  schwere  Last  zu 
tragen.  An  dem  Kopf  selbst  ist  es  wieder  der  Himschädel,  der  das 
Maß  überschreitet.  Die  Menge  des  Gehirns  bedingt  eine  gewölbte, 
vorragende  Stirn,  der  aber  noch  die  Augenbrauenbogen  und  die  Stim- 
glatze  des  Erwachsenen  fehlen;  nur  die  Stimhöcker  sind  deutlich  und 

KOLLMAMNy  Plastische  Anatomie.  81 


482  Zweiter  TeU.     Zweiter  Absdinitt. 

zeigen  die  Mittelpunkte  des  fortschreitenden  Wachstums,    ünterlulb 
der  Stii'n  sitzt  das  kleine,  unentwickelte  Gesicht  mit  der  kleinen  Ntie 
und  dem  kleinen  Mund,   der  bei  dem  Fehlen  aller  Zähne  noch  nidt 
imstande  ist,  feste  Nahrung  aufzunehmen.    Von  den  SinnesoiiganeD  in 
das  Auge  allen  anderen  in  der  Entwickelung  vorausgeeilt.     Wähnod 
das  Tastvermögen,  das  Gehör;  der  Geruch  und  der  Geschmack  em  m 
Empfangen  von  Eindrücken  thätig  sind ,  wirkt  schon  das  Auge  in  die 
Feme.     Groß  und  vertrauensvoll  leuchtet  es  aus   den   weitgeöfihetci 
Lidern,  begierig  nach  Licht  und  Liebe.  —  Die  Rührung,  mit  der  wir 
Kinder  betrachten,  entspringt  aus  dem  Eindruck  der  Hilfsbedürftigkeh, 
den  sie  auf  unseren  Geist  machen.    Kein  Wesen  der  Schöpfung  bedarf 
der  PHege  so  lange  als  das  Kind.     Dazu  kommt  noch  das  Interesse, 
weil  wir  in  jedem  Kind  eine  Periode  unseres  Lebens  vor  uns  sehen, 
von  der  die  eigene  Erinnerung  nichts  aufbewahrt  hat. 

Die  Eigenschaften  des  kindlichen  Körpers  sollen  zunächst  mh 
Maßstab  und  Zirkel  fest-gestellt  werden,  damit  die  weitere  Erörte- 
rung an  bestimmte  Angaben  anknüpfen  könne.  Aus  dem  Eindee- 
alter  sei  das  Kind  von  acht  Monaten  gewählt,  das  eben  imstande  ist 
mit  einiger  Sicherheit  zu  stehen. 

1)  Proportionen  des  Kindes  von  acht  Monaten. 

Das  Kind  besitzt  in  dem  Verhältnis  der  einzelnen  Abschnitte: 
Kopf,  Rumpf  und  Gliedmaßen  sein  besonderes  Gepräge  und  ist  nich 
einfach  nur  eine  verkleinerte  Ausgabe  des  Ei'wachsenen. 

Der  Kopf  ist  im  Verhältnis  zu  dem  ganzen  Körper  doppelt  ?o 
groß  bei  dem  Kinde  gegenüber  dem  Erwachsenen,  und  zwar  nach  jeder 
Dimension,  also  auch  nach  derjenigen  der  Höhe.  Als  Maßstab  kommt 
die  Höhe  des  Kopfes  in  Betracht,  von  dem  Scheitel  bis  zum  Kinn,  und 
projiziert  auf  eine  senkrechte  Linie,  wie  in  der  Fig.  149  Nr.  i. 

Die  Totalhöhe  eines  Kindes  beträgt  4^/2,  genau  4  •  6  Kopfhöhen 
„  „  „      Erwachsenen      8        Kopfhöhen. 

Nach  einer  anderen  Methode  der  Bestimmung,  wobei  die  Körper- 
höhe in  100  gleiche  Teile  geteilt  wird  und  die  vielleicht  größere  Ge- 
nauigkeit jedoch  nicht  gleiche  praktische  Verwendbarkeit  besitzt,  betragt 
die  Kopfhöhe  des  Kindes     ....     22  Teile 
„  „  „     Erwachsenen     .     .     13      „ 

Die  Kopfhöhe  des  Kindes  beträgt  also  auch  nach  diesem  Ergebnis 
der  Messung  nahezu  Y4  der  ganzen  Körperhöhe! 

Dieses  Überwiegen  des  Kopfes  deutet  bereits  die  spätere  Macki 
des  in  der  Schädelhöhle  ruhenden  Gehirns  erkennbar  an  und  ruft  bei 
dem    Beschauer   auch    diesen    Eindruck   hervor.     Wie    die    übennäBi^ 


Anatomie  des  Kindes.  483 

langen  Beine  des  Füllens  die  siegreiche  Schnelligkeit  des  erwachsenen 
Tieres  ahnen  lassen,  oder  die  Branke  des  jungen  Löwen,  die  so  schwer, 
daB  das  Tier  sie  anfangs'  kaum  zu  bewegen  vermag,  schon  die  spätere 
Sjrafb  des  Königs  der  Tiere  andeutet,  so  zeigt  schon  der  Kopf  des 
Kindes  das  Werkzeug  des  Geistes,  das  die  Welt  erobert.  An  den 
Figuren  149  und  150  ist  dieses  Überwiegen  des  Kopfes  gut  erkenn- 
bar, vielleicht  am  vollständigsten  in  Fig.  150,  weil  die  Breite  des 
Körpers  nicht  auf  den  Beschauer  wirkt,  wie  in  Fig.  149,  und  die 
auf  die  Brust  gelegte  Hand  die  Aufmerksamkeit  nicht  stört. 

Der  Kopf  des  Kindes  ist  nicht  nur  in  der  Länge,  sondern  auch 
nach  der  Breite  bedeutend  entwickelt.  Der  Querdurchmesser  ist  im 
Verhältnis  zu  dem  Querdurchmesser  des  Körpers  doppelt  so  groß  als 
der  Kopf  des  Erwachsenen.  Auch  hierin  sind  also  die  Proportionen 
von  Kind  und  Mann  gänzlich  verschieden.  Bei  dem  achtmonatlichen 
Knaben  ist  der  Körper  in  der  Höhe  des  Oberarmgelenkes  nur  um  die 
Hälfte  breiter  als  der  Kopf.  Auf  den  Figuren  149  und  150  rahmen 
zwei  gerade  Linien  den  kindlichen,  aufrecht  stehenden  Körper  ein,  und 
es  ist  leicht  ersichtlich,  wie  wenig  der  Durchmesser  des  Kopfes  den- 
jenigen des  Oberkörpers  überwiegt.  Bei  dem  Erwachsenen  beträgt  der 
Durchmesser  des  Körpers  in  der  Höhe  des  Schultergelcnkes  das  Drei- 
fache des  Querdurchmessers  seines  Schädels. 

Der  Kopf  ist  femer  ebenso  breit  wie  die  Weichengegend  und  wie 
der  Querdurchmesser  der  Beckengegend  (Fig.  151).  Die  drei  Ansichten 
Fig.  149 — 151  zeigen,  wie  die  Größe  des  Kopfes  fast  alle  Dimensionen 
des  kindlichen  Rumpfes  beherrscht.  So  ist  die  Länge  des  Schädels 
(gemessen  von  der  Stirn  bis  zu  dem  vorragendsten  Punkte  des  Hinter- 
hauptes) größer  als  die  Tiefe  des  Brustkorbes  und  des  Beckens 
(Fig.  150). 

Die  Proportion  des  kindlichen  Sumpfes  ist  folgender  Art: 

Bei  gerader  Stellung,  wie  in  den  Figuren  149 — 151,  beträgt  die 
Länge  des  Rumpfes,  vom  unteren  Rande  des  Kinns  aus  gemessen, 
weniger  als  zwei  Kopfhöhen,  bei  dem  Erwachsenen  beträgt  dieselbe 
Entfernung  drei  volle  Kopf  höhen.  Die  Fig.  149  bestimmt  mit  der 
Nr.  3  die  Entfernung  der  dritten  Kopfhöhe,  von  dem  Scheitel  des  Kindes 
aus  gemessen.  Diese  Linie  fällt  noch  unterhalb  das  Schambein.  Die 
oberhalb  der  horizontalen  Nr.  3  gezogenen  Linie  entspricht  der  wahren 
Länge  des  Rumpfes.  Genau  ausgedrückt  beträgt  dieselbe  nur  P/? 
Kopflängen. 

Die  Beine  des  Kindes  sind  im  Vergleich  mit  denen  des  Er- 
wachsenen außerordentlich  kurz,  sie  sind  in  der  Entwickelung  noch 
sehr  zurück  im  achten  Monat;   dieser  Zustand   erhält  sich  lange  und 

gleicht    sich    erst  allmählich   aus.      Bei   dem   achtmonatlichen   Kinde 

sr 


484 


Zweiter  Teil.    Zweiter  Abedmitt 


beträgt  die  Länge  der  Beine  ly,  —  IY7  Eopfhöhen,  gemessen  Ton  da 
nnt^ren  Bande  des  Schambeins  bis  zur  Grundfläche.  (Vergl.  die  Fig 
149 — 151,  Entfernung  der  Horizontalen  über  Nr.  3  bis  zu  der  Grundlinie 
Bei  dem  Erwachsenen  beträgt  dieselbe  Entfernung  4  Kopfhöhen. 

Wegen   der  kurzen  Oberschenkelknochen  reichen    die  Armchei 
obwohl  sie  auch  noch  unvollkommen  entwickelt  sind ,    dennoch  h\s  i 


Kopfhöhe 


Kopfhohe 
Körpermitte 


Rümpfende 
Kopf hohe 


Kopfhöhe 


1      KopfbölMr. 


Kopfböb«. 


m     Körpermine. 


...:        KunipfeDd«. 
-15      Kopf  höhe. 


l4.     Kopf  höhe. 


Fig.  149.     Kind  von  vorne.  Fig.  150.     Kind  von  der  Seite, 

nach  Si'iiADOW. 


der  Mitte  des  Oberschenkels  herab,  wie  bei  dem  Erwachsenen,  l 
Länge  der  Arme  steht  also  noch  in  einem  Mißverhältnis  zu  der  Hö 
des  ganzen  Körpei-s.  aber  namentlich  zu  derjenigen  der  Beine,  der 
Unterschenkel  noch  viel  zu  kurz  sind. 

Der  große  Gegensatz  der  kindlichen   Formen   zu   denen   des  1: 
wachsenen  spiegelt  sich  auch  noch  in  der  Lage  der  Körper miti 


Aofttomie  des  Kindes. 


485 


Bei  dem  achtmonatiichen  Kinde  geht  die  Horizontale,  welche  die  Total- 
höhe in  zwei  gleiche  Hälften  teilt,  dicht  unterhalb  des  Nabels  quer 
durch  den  Körper  (Figg.  149  —  151m).  Bei  dem  Erwachsenen  von 
acht  Kopflängen  liegt  die  Körpermitte  an  dem  unteren  Rande  des 
Schambeins. 

Diese  Angabe  zeigt  auf  das  deutlichste,  wie  sehr  die  Proportionen 


Kopfhöhe. 


Kopfhöhe. 
Körpermitte. 


Rampfende, 
Kopf  hohe. 


Kopfhöhe. 


Fig.  150.  Kind  vom  Rücken, 
nach  ScHADOw. 


des  Kindes  von  denen  des  Erwachsenen  abweichen.  Der  Unterschied 
in  der  Lage  der  Körpermitte  darf  als  der  Gesamtausdruck  der  kind- 
lichen Formen  angesehen  werden. 

Zu  weiterer  Ergänzung  des  Gesagten  giebt  die  folgende  T$.belle 
die  Proportionen  eines  acht  Monate  alten  Kindes,  die  ganze  Höhe  in 
100  Teile  geteilt.     Dieses  Verfiethren  wird  von  manchen  Forschern  auf 


486  Zweiter  Teil.    Zwdter  Abichnitt. 

dem  Gebiete  der  Proportionslehre  vorgezogen,  in  der  Uberzengimg, 
daß  die  erhaltenen  Maße  eine  größere  Genauigkeit  besäßen,  allein  tob 
den  Künstlern  wird  das  dem  Körper  selbst  entnommene  HaB  mit 
größerer  Vorliebe  in  Anwendung  gebracht. 

Beträgt  die  ganze  Höhe  des  Kindes 100,0  Teile. 

dann  treffen  auf:  < 

den  Kopf 22,0      „  i 

Vom  Scheitel  bis  zur  Schamfdge 60,0      „ 

Von  der  Schamfuge  bis  zur  Erde 40,0      „ 

„      „  „  „      „    Kniescheibe ....       16,0      „ 

Länge  des  Unterschenkels 24,0      „ 

Vom  Scheitel  bis  zum  Nabel 48,0      „ 

„     Nabel  bis  zur  Fußsohle 52,0      „ 

Länge  des  Halses 2,0      „ 

Von  der  Schul terhöhc  bis  zur  Spitze  des  Mittelfingers    40,0       „ 
Bei  einem  Kind  von  70  cm  Höhe  beträgt  die  Länge  der  Beine 

von  dem  unteren  Rand  des  Schambeins  gemessen  nur     28  cm, 

der  Oberkörper  vom  Scheitel  bis  zum  Schambein  .     .     42     „ 

Sowohl  aus  dem  Ergebnis  dieser  Berechnung,  als  aus  der  mit  der 
Kopf  höhe  angestellten  Untersuchung  des  kindlichen  Körpers  geht  her- 
vor, daß  die  Mitte  des  kindlichen  Körpers  im  achten  Monat  noch  dicht 
am  Nabel  liegt.  Der  Körper  steht  also  in  einem  Kreis,  dessen  Badiu 
vom  Nabel  aus  die  halbe  Höhe  beträgt.  Mit  dem  fortschreitenden 
Alter  rückt  der  Mittelpunkt  der  Körperhöhe  immer  weiter  gegen  die 
Schamfuge  hinab,  bis  er  im  21.  Jahr  an  dem  oberen  Rand  oder  auch 
tiefer,  an  dem  unteren  Rand,  angekommen  ist.  Will  man  die  Körper- 
höhe des  Erwachsenen  in  einen  Kreis  einschließen,  so  muß  der  eine 
Schenkel  des  Ziiicels  in  die  Schamfuge  eingesetzt  werden. 

Der  griechische  Kanon  nimmt  an,  daß  die  Körpermitte  des  Erwachsenen  an  dem 
unteren  Kand  der  Schamfuge  liege.  Das  ist  nicht  ganz  korrekt,  allein  die  an  sich 
wichtige  Korrektur,  welche  die  Körpermitto  des  Krwachsenen  auf  den  oberen  Rand 
des  Schambeins  vorlegt,  ist  für  die  praktischen  Ziele,  die  wir  hier  verfolgi^n,  ^-on 
untergeordneter  l^deutung. 

Es  sind  nur  die  Proportionen  eines  achtmonatlichen  Knaben  hier 
beschi'ieben  worden,  in  der  Überzeugung,  daß  dieses  Alter  besonders 
charakteristisch  l)ezüglich  der  Proportionen  ist  und  für  den  Künstler 
eine  gute  (rrundlagc  bildet,  um  seine  Erfahmngen  an  der  Hand  der 
mitgeteilten  Thatsachen  zu  erweitern,  sobald  er  sich  zunächst  dieses 
Bild  mit  allen  Einzelnheiten  in  das  Gedächtnis  geprägt  hat. 

Eine  Proportionslehre,  die  sich  auf  alle  Entwickelungsstufen  er- 
streckt, vom  neugeborenen  Knaben  bis  zum  reifen  Mann,  findet  sich 
künstlerisch  vortreftiich  illustriert  in  dem  schon  erwähnten  Werke  tod 


Anatomie  des  Kindes.  487 

SoHADOW.     Die  wissenschaftliche  Seite  des  Wachstums  und  der  davon 
abhängigen  Proportionen  erörtern  Welckee^  und  Lihabzik.  ^ 

3)  Besondere  Merkmale  der  einzelnen  KOrperabsehnitte. 

Der  Kopf  des  Kindes  zeigt  eine  auffallende  Verkümmerung  des 
Gesichtsschädels  im  anatomischen  Sinn,  also  in  demjenigen  Teile,  der 
zwischen  der  Nasenwurzel  und  dem  Kinn  liegt.  Es  rührt  dies  von 
dem  Fehlen  der  Zähne  her;  das  Kind  hat  in  der  Regel  bei  seiner 
Geburt  keine  Zähne.  Die  Keime  stecken  noch  in  der  Tiefe  der  Zahn- 
säckchen  und  werden  erst  nach  und  nach  mit  den  Kronen  hervor- 
geschoben. Die  Milchzahnkeime  nehmen  den  Raum  der  Kiefer  zu 
weitaus  dem  größten  Teile  ein.  Ein  Blick  auf  die  Figg.  153  und  154 
zeigt  den  bedeutenden  Unterschied  in  der  Konfiguration  der  Gesichts- 
knochen bei  dem  Kind  und  dem  Erwachsenen.  Die  beiden  Schädel 
sind  mit  dem  Orthoskop  gezeichnet,  stellen  also  geometrische  Auf- 
nahmen dar.  Sie  sind  femer  in  der  Horizontalen  aufgestellt,  welche 
den  unteren  Augenhöhlenrand  mit  dem  oberen  Rand  des  Gehörorganes 
verbindet.  Beide  Schädel  sind  in  gleicher  Höhe  orientiert  mittels 
einer  Linie,  welche  quer  durch  die  Spitze  der  Augenhöhlenpyramide 
zieht.  So  wird  es  deutlich,  wie  unfertig  bei  dem  Kinde  Ober-  und 
Unterkiefer  sind,  und  wie  sie  trotz  der  bedeutenden  Größe  des  kind- 
lichen Kopfes  dennoch  die  am  meisten  zurückgebliebenen  Teile 
darstellen.  Der  kleine,  von  oben  nach  unten  zusammengepreßte  Ge- 
sichtschädel verliert  zwar  dieses  Aussehen  etwas  an  dem  lebenden 
Kinde,  weil  die  Weichteile  an  den  Seiten  der  Wange  und  am  Kinn 
das  Antlitz  verlängern,  denn  sowohl  der  Kontur  der  Wange  als  jener 
des  Kinns  treten  beträchtlich  über  die  Knochengrenze  des  Unterkiefers 
herab;  dennoch  bleibt  die  Kleinheit  des  Gesichtes  im  Vergleich  zu  der 
Höhe  der  Hirnkapsel  anfallend  (Fig.  152  und  153),  und  nichts  vermag  den 
Charakter  des  kindlichen  Antlitzes  zu  zerstören.  Die  Fig.  154  zeigt 
die  Gestalt  der  vollentwickelten  Gesichtsknochen ,  die  nur  der  Zähne 
wegen  solchen  Umfang  erreichen.  Der  Körper  des  Oberkiefers,  die 
Nase  und  die  Zahnfortsätze  sind  stark  vergrößert  und  der  Unterkiefer 
des  Erwachsenen  ist  im  Vergleich  zu  demjenigen  des  Kindes,  in  der 
Höhe  der  Zähne  wegen  vervierfacht.  Sind  die  Zähne  ausgefallen,  so 
sinkt  im  Greisenalter  das  Verhältnis  des  Himschädels  zu  demjenigen 

'  H.  Welckbr,  Untersuchungen  über  Wachstum  und  Bau  des  menschlichen 
Schädels.     Leipzig  1862.    4". 

'  Fb.  Liharzik,'  Die  Geseztc  des  Wachstumes  und  der  Bau  des  Menschen. 
Die  Proportionslehre  aller  menschlichen  Körperteile  für  jedes  Alter  und  für  beide 
Geschlechter.    Mit  8  Tabellen  und  9  lith.  Tafeku    Wien  1862.  Folio. 


f  —I 


488 


Zweiter  Teil.     Zweiter  Abtehnitt. 


des  Gesichtes  wieder  zu  dem  Verhältnis  kindlicher  Formen  herab  (sicIk 
die  Figuren  Seite  106  und  107).  Mit  der  Kleinheit  des  kindlicki 
Oberkiefers  stehen  die  Nasenbeine  und  die  kleine  Nase,  die  eioei 
eingebogenen  Bücken  besitzt,  im  Finklang. 

Die  Augen  sind  für  das  kleine  Gesicht  des  Kindes  verhältöE 
mäßig  groß,  und  die  Lidspalte  ist  im  Vergleich  zu  derjenigen  d< 
Erwachsenen  weiter  geöffnet.  Das  Kind  fixiert  die  Gegenstände,  weW 
seine  Aufinerksamkeit  fesseln,  lange  und  sie  werden  nicht  so  sehne 
verlassen.  Das  volle  runde  Antlitz  ist  glatt  und  leidenschaftslos,  • 
hat  den  Mangel  markierter  Züge  mit  dem  Gesicht  der  Knaben  n 
der  Mädchen  gemein,  deshalb  ist  das  „Treffen"  mit  Schwierigkeit 
verbunden. 


Fig.  152.    Kopf  eines  achtmonatlichen  Kindes, 

nach  ScHADOw. 


Der  Rumpf  ist  vor  allem  unten  bedeutender  entvrickelt, 
Erscheinung,  welche  ganz  im  Gegensatz  zu  der  Rumpfform 
Mannes  steht,  bei  dem  gerade  die  Brust  die  Hauptmasse 
stellt  und  der  Unterleib  als  ein  ihr  untergeordneter  Nachbar  ii 
Augen  fällt.  Der  Bauch  des  Kindes  besitzt  einen  großen  Un 
ist  beträchtlich  nach  vom  gewölbt  und  tief  herabgesenkt,  so  dal 
oberhalb  der  Scham  eine  deutliche  Falte  bildet  (Fig.  149  ii.  150) 
Brust  ist  schmal,  kurz,  doch  keineswegs  platt,  sondern  gewölbt.  A 
der  unvollkommenen  Entwickelung  der  unteren  Grliedmaßen  is 
Becken  noch  wenig  ausgebildet,  die  Schaufeln  der  Hüftbeine  sine 
nicht  ausgelegt,  sondern  steigen  steil  in  die  Höhe. 

Die  Größe  dos  Unterleibes  steht  in  Zusammonhang  mit  der  vorgesch 
Ausbildung  der  Verdau ungsorganc,  insbesondere  der  Leber.  Dort,  \vo  <Hesci 
sitzt,  hoch  oben  an  der  fünften  Rippe,  beginnt  schon  die  Aii»ladiiii^  auf  Kos 
Brust,  deren  lufthaltige  Lungen  noch  gering  an  Umfang  sind.  W»i«  ihnen  i 
fang  abgeht,  ersetzen  sie  aber  durch  eine  größere  Zahl  von  Atemzügen. 


ADatomte  du  Kind«*.  489 

Der  Rucken  des  Kindes  ist  platt,  die  Schulterblätter  und  die 
Muskeln  sind  noch  klein  und  schwach,  und  die  Wirbelsäule  noch  nicht 
wie  die  des  Erwachsenen  mit  bestimmten  Krümmungen  versehen, 
sondern  gerade.  Die  Umprägung  der  geraden  kindlichen  Wirbelsäule 
beginnt  im  dritten  Monat  (die  Figuren  150  n.  151  drücken  dieses  Ver- 
halten des  Rückens  gut  aus),  um  erst  ganz  allmählich  durch  den  Ein- 
fluß der  aufrechten  Haltung  des  Rumpfes  die  charakteristischen 
Biegungen  zu  erhalten. 

Der  Hals  des  Kindes  wird  erst  hier  erwähnt,   weil  er  bei  der 


^  15S.    Schttdel  uince  iweimonatlicheii 
ndet  ron  vorn  geiwlii'u  und  wie  Fig.  152 
orieDtiert,  daß  die  llorizonlulc  durch 
das  Sehloch  gezogen  ist 


Fig.  154.  Schädel  eines  erwachsenen  Mannet, 
Die  t.)rientierung»linie  geht  durch  die  punk- 
tierte Gerade  zwischen  den  Nummern  4  und  & 
links,  und  den  Buchstaben  b  und  c  rccbta. 


Betrachtung  von  vorne  zu  fehlen  scheint.  Kr  ist  so  kurz,  daß  er  auch 
bei  der  Betrachtung  von  der  Seite  nur  eine  sehr  geringe  Ausdehnung 
besitzt,  1 — IVi  t^ni  Höhe.  Sinkt  gar  das  Köpfchen  etwas  tiefer,  wie 
dies  gewöhnlich  der  Fall  ist,  denn  nur  in  seltenen  t^ällen  ist  die  Hal- 
tung des  Kopfes  so  wie  in  der  Abbildung,  dann  besteht  statt  des 
Halses  nur  eine  tiefe  Hautrinne,  die  wie  mit  dem  Faden  eingeschnürt 
erscheint.  In  Übereinstimmung  mit  der  Kürze  des  Halses  ist  auch 
der  Kehlkopf  und  die  Schilddrüse  klein,  doch  das  sind  für  die  äußeren 
Formen  mehr  nebensächliche  Dinge,  wichtig  ist  für  den  Künstler  der 
Umstand,  daß  dem  nengebomen  Kind  und  hinauf  bis  zu  dem  achten 
Monat  ein  Hals  fast  fehlt  in  der  Form,  wie  ihn  der  Erwachsene  besitzt. 


490  Zweiter  Teil.     Zweiter  AlMoimllt. 

Die  Arme  des  Kindes  sind,  wie  die  Betrachtung  der  Figuren  uni 
die  MesHUiig  ergiebt,  ebenso  Ung  als  die  Beine.  Diese  ÜbeFeinstim- 
mnug  Tcrliert  sich  erat  allmählich.  Noch  bei  Kindern  von  sechs  Jahren 
ist  ihre  Länge  sehr  beträchtlich,  und  zeigt  sich  namentlich  während 
des  Laufens,  wobei  sich  ja  die  Knie  etwas  beugen.  Dann  pendeln 
die  langen  Äi-me  vor  und  zurück,  und  die  kleinen  Burscheu  mit 
ihren  großen  Bäuchlein  erhalten  in  ihren  Bewegungen  etwas  höchst 
Komisches. 

Die  Beine  des  Kindes  sind  nahezu  um  ein  Drittel  zu  kurz,  und  tragen 
so  dazu  bei,  dem  Oberkörper  das  Übergewicht  zu  sichern.  Die  mangel- 
hafte Entwickelung  der  Beine  betrifft  nicht  allein  den  Oberschenkel, 
sondern  auch  den  Unterschenkel.  Bei  der  Darstellung  von  Kindern 
muß  selbstverständlich  dieses  Mißverhältnis  zwischen  Körper-  und 
Beiulänge  vor  allem  mit  zum  Ausdruck  kommen,  ebenso  wie  dtusjenige 
von  Himschädel  und  Gesichtschädel,  soll  der  Beschauer  deu  Eindruck 
kindlicher  Formen  erhalten.  —  Die  Umgestaltung  der  Formen  erfolgt 
erst  mit  der  Reife  des  Individuums.  Bis  dahin  walten  die  schlanken, 
hageren  Knabenformen  vor,  welche  im  HöhenmaBe  genügend  gediehen, 
aber  in  der  Breite  noch  vieles  nachzuholen  haben.  Die  Jungen  be- 
sitzen lange  Arme  und  Beine,  erst  mit  dem  Eintritte  der  Reife  ent- 
falten sich  Brust  und  Blicken,  dann  erst  gewinneu  die  Lungen  ihr 
YollmaS  und  erweitem  sich  mehr,  als  je  früher. 

3)  Haut,  Huskeln  nnd  Skelett  des  Kindes. 

Von  der  Haut  des  Kindes  verdienen  hier  vor  allem  die  Zartheit  1 
und  die  Durchsichtigkeit  der  Oberhaut  Erwähnung.  Die  tiefen  Ge-  ] 
fäße  scheinen  hindurch  und  das  Kolorit  erhält  durch  die  Reinheit  der  | 
in  der  Tiefe  strömenden  Säfte  eine  Wärme,  die  nur  die  Jugend  be-1 
sitzt,  und  die  sich  bei  Mädchen  liluger  erhält  als  bei  Knaben.  , 
Die  Elastizität  ist  der  Haut  des  Kindes  im  höchsten  Grade  eigen;  siel 
wird  freilich  unterstützt  durch  das  überall  reichlich  angesammelt«  Fett,"| 
So  kommt  es,  daß  entstandene  Falteu  spurlos  wieder  verstreichen.  I 
Magert  das  Kind  ab,  dann  schwindet  mit  dem  Fett  der  hohe  Grad  j 
von  Elastizität,  und  selbst  Kinder  bekommen  dann  ein  faltenreiches^ 
Gesicht.  Wie  bei  dem  Erwachsenen ,  so  lassen  die  körperlichvo 
Schmerzen  auch  bei  dem  Kinde  sofort  die  Spuren  in  dem  Antlitz  be- 
merken,  auch  bei  ihm  kommt  die  Blässe  der  Entbehrung  und  die 
Röthe  des  Wohlbehagens  sehr  schnell  zum  Ausdrucke,  und  die  Äugen  , 
und  ihre  Umgebung  zeigen  zuerst  die  eingetretenen  Veränderungen.  I 
Sie  werden  glänzend,  oder  matt,  und  die  ganze  Umgebung  ist  ent- 1 
weder  gefüllt  oder  tief  eingesunken.     Beim  abgezehrten  Kiudo  werden  1 


I 


Automl«  dH  KlndM.  491 

ebeufalls  die  Augeiihölileniilndei-  und  die  Wangenliöcker  bemerkbar 
und  die  scharfen  Winkel  des  Unterkiefera. 

Die  Hautfaltca  an  den  Gelenken,  die  oft  der  Art  sind,  daß  sie 
von  einem  eingesciiiitirten  Fadi'n  herzurühren  scheinen,  werden  durch 
das  Unterhiiutfettgewebe  bedingt.  Einige  derselben  sind  an  den  Fi- 
guren 149 — 151  angedeutet.  An  den  Fingern  kunn  die  Fettiinhäufung 
oft  80  stark  werden,  daß  sie  das  Bengeu  erachwert. 

Die  Bnwtdrüae  der  neugeborenen  Knaben  ist  ebenso  groß,  wie  diejenige  der 
nengeborenen  Müdchen ,  untl  bleibt  es  niieh  noch  lange.  Sie  entwickelt  eich  eagai 
eine  Zeitlang  in  gleiuhcm  Schritt,  dann  FerkUmmert  die,  läBt  jedoch  eelbet  in  reifen 
Jahren  noch  Überreste  zurück.  Erat  im  hübem  Alter  bleibt  von  ihr  nichts  Qbrig 
oIb  der  Ort,  wo  sie  war.  N ich tede«t« weniger  hat  auch  diese  Begel  ihre  AuBnahmeu, 
nnd  CS  sind  von  glaubwürdigen  Beobachtern  FSllc  bekannt  gemocht  worden,  daß 
auch  Münncr  Ammen  abgeben  können.  Mit  dieser  Entwickelung  einer  wahren 
milchgebenden  Itrust  beim  münnliuben  Geschlecht  ist  die  scheinbare  ÜberemUhning 
(Btfpertrophie)  der  Bmat  nicht  3tt  verwechseln,  welche  durch  Wnehernng  de«  Unter- 
hautfettgewebes  vorgespiegelt  wini.  Man  hat  bei  einem  45jährigen  Mann  Brüste 
gesehen,  die  wie  Kfirbisse  berabhingcn,  und  deren  eine  40  eni  i^.)  Lauge  besafi. 

Die   Muskeln   sind    alle   vorhanden,    allein   noch   unvollkommen 

entwickelt  und  noch  nicht  der  Herrschaft  des  Willens  unterworfen. 
Nur  einige  folgen  schon  dem  äußern  Reiz  in  korrekter  Weise,  so 
der  Ringmuskel  des  Auges.  Bei  dem  Eindringen  von  Licht,  das  &a 
die  Netzhaut  des  Neugeborenen  noch  ein  Greuel  ist,  achließen  sich 
sofort  die  Lider.  —  Bei  der  Berülirung  der  Mutterbruat  machen  die 
Lippen  und  die  Zunge  sofort  die  komplizierten  Saugbewegungen,  und 
ebenso  sind  Beuger  und  Strecker  des  Rumpfes  und  der  Glieder  schon 
lauge  vor  der  Geburt  der  Zusammen  zieh ung  fähig;  allein  die  Entwicke- 
lung des  übrigen  Muskelsystems  ist  noch  so  weit  zurück,  daß  Monate 
vergehen,  bis  das  Kind  die  ersten  Gehversuche  zu  machen  imstande  ist. 
Dabei  ziehen  sich  die  Muskeln  sehr  unvollkommen,  bald  zu  stark,  bald 
zu  schwach  zusammen  und  die  ITiätigkeit  einer  jeden  Muskelgruppe 
ist  vou  vielen  unzweckmäßigen  Mitbewegungen  begleitet.  In  der 
Abbildung  des  Kindes  vou  rückwärts  (Fig.  151)  sind  die  großen  Ge- 
säßmuskeln bei  dem  einfachen  Stehen  iu  voller  Thätigkeit  dargestellt, 
Bei  dem  Erwachsenen,  der  es  gelernt  hat,  seinen  Körper  im  Gleich- 
gewicht zu  tragen,  geschieht  das  Stehen  mit  einer  sehr  geringen 
Muskelarbeit,  und  eine  Zusammenziehung  der  großen  Gesäßmuskeln 
tritt  nur  ganz  vorübergehend  auf.  In  voller  Leistungsfähigkeit  sind 
dagegen  schon  sehr  früh  jene  Muskeln  des  Kindes,  welche  im  Gebiet 
des  Kreislaufes  und  der  Ernährungsorgaue  thätig  sind.  Das  Herz 
schlägt  schon  seit  den  frühesten  Tagen  der  Entwickelung  regelmäßig 
und  voll;  die  gesamte  Muskulatur  des  Darmes  übernimmt  nach  der 
Geburt    die    ihr   zukommende    Rolle ,    ebenso    wie    die    Respirations- 


492  Zweiter  TeU.     Dritter  Abedmitt 

muskeln,   welche   sofort  ihren  Dienst  antreten,   um  ihn  ohne  Unter- 
brechung fortzuführen. 

Das  Skelett  des  kindlichen  Körpers  hat,  mit  Ausnahme  dem- 
jenigen des  Kopfes,  wenig  Einfluß  auf  die  äußeren  Formen.  Ea  ent- 
hält zwar  alle  einzelnen  Teile,  allein  viele  sind  noch  YoIlkom]ne& 
knorpelig  und  andere  erst  in  der  Yerknöcherung  begriffen.  Die  Bohren. 
knochen  geben,  wie  bei  dem  Erwachsenen,  Ursprungs-  und  Ansatzpunkte 
für  die  Muskeln,  aber  die  vorspringenden  und  scharf  gezeichneten 
Muskelleisten  fehlen  noch,  und  im  Innern  bestehen  die  langen  Knochen 
aus  drei  durch  Knorpel  getrennten  Stücken.  Erst  mit  der  Toikn 
Reife  des  Individuums  verwachsen  diese  einzelnen  Abteilungen  feet 
und  untrennbar  miteinander.  Bei  dem  geringen  Durchmesser  der 
Knochen  reicht  oft  schon  die  Schwere  des  Körpers  hin,  um  sie  bd 
den  ersten  Gehversuchen  zu  krümmen  und  einen  mäßigen  Gnd 
von  Säbelbeinen  zu  erzeugen.  Leidet  vollends  die  Emährong  der 
Kinder,  dann  wird  der  regelmäßige  Gang  der  Yerknöcherung  gestdrt 
und  führt  jene  Verkrümmungen  der  Beine  herbei,  die  aus  geraden 
Säulen  für  die  Stütze  des  kindlichen  Körpers  vielmehr  zu  bogen- 
förmigen Spangen  geworden  sind,  die  nur  einen  wackelnden  Gang  ge- 
statten. Doch  besitzt  die  Natur  manche  geheimnisvoll  aus  dem  Innen 
des  Organismus  wirkende  Kraft,  und  so  verschwinden  oft  in  späteren 
Tagen  durch  bessere  Ernährung  diese  Zeichen  früherer  Entbehrung. 


Dritter  Abschnitt. 

Mechanik  der  Stellungen  und  der 

Ortsbewegung. 

a«  Der  Schwerpunkt  und  das  Stehen« 

Bei  der  Mechanik  unserer  Bewegungen  gilt  vor  allem  der  Satz, 
daß  es  sich  um  die  Leistung  einer  Arbeit  handelt,  wobei  der  Mensch 
nicht  fremde  Massen  bewegt,  sondern  seine  eigene.  Selbst  zu  der 
aufrechten  Stellung  bedarf  es  schon  einer  gewissen  Muskelthätigkeit. 
Handelt  es  sich  doch  bei  dem  Stehen  darum,  das  Gewicht  des  Körpers 
von  70 — 75  kg  im  Gleichgewicht  zu  erhalten.  Es  ist  dabei  notwen- 
dig, daß  der  Schwerpunkt  des  Körpers  unterstützt  sei,  das  heißt,  daß 
die  sogenannte  Schwerlinie,  die  Senkrechte,  welche  durch  den  Schwer- 
punkt des  Körpers   geht,   in  den  Bereich  seiner  Unterstützungsfläche 


Mechanik  der  Stellungen  und  der  Ortobew^^g.  493 

üedle.  Gleichzeitig  ist  es  aber  auch  nötig,  daß  der  Körper  durch 
Muskelaktion  aufrecht  erhalten  werde;  denn  eine  Leiche,  wenn  man 
sie  auch  so  aufstellt,  daß  ihr  Schwerpunkt  unterstützt  ist,  fällt  zu- 
sammen, weil  ihre  Gelenke  nachgeben.  Die  Gelenke,  welche  zunächst 
in  Betracht  kommen,  sind  das  Sprunggelenk,  das  Kniegelenk,  das  Hüft- 
gelenk; dann  müssen  aber  auch  der  Kopf  und  die  Wirbelsäule  durch 
Muskelaktion  in  ihrer  Lage  erhalten  werden. 

Auf  diesen  leichtbeweglichen  und  glatten  Gelenken  müssen  wir 
also  den  Körper  bei  dem  aufrechten  Stehen  derart  durch  Muskeln  fest- 
halten, daß  beim  Stehen  auf  den  beiden  Füßen  die  Schwerlinie  zwischen 
die  beiden  Füße  fällt,  wie  in  den  Figg.  155  und  156.  In  der  Fig.  155 
ist  das  Skelett  eines  aufrecht  stehenden  Menschen  gezeichnet;  die 
Linie  Sch  entspricht  der  Schwerlinie.  Sie  geht  durch  die  Scheitelfläche 
(Sagittalebene)  des  Körpers  und  trifft  den  Boden  an  einer  Stelle,  die 
gleichweit  von  der  Stützfläche  der  beiden  Füße  entfernt  ist.  Bei  dem 
Kinde,  das  es  eben  so  weit  gebracht  hat,  einige  Augenblicke  zu  stehen, 
muß  die  Schwerpunktlinie  (Fig.  156)  genau  dieselbe  Richtung  haben 
wie  bei  der  vorhererwähnten  Figur.  Unser  Blick  ist  durch  die  eigenen 
Erfahrungen  in  dieser  Hinsicht  so  geschärft,  daß  die  geringste  Ab- 
lenkung dieser  Linie  an  irgend  einem  Körper  sofort  unsere  Aufmerk- 
samkeit erregt  und  unsere  Gedanken  beschäftigt.  Denn  das  Gesetz, 
daß  ein  Körper  nur  dann  in  der  Gleichgewichtslage  sich  befinde,  wenn 
seine  Schwerlinie  senkrecht  steht,  gilt  nicht  allein  Hlr  den  Menschen, 
sondern  fbr  alle  Körper.  Sobald  eine  Säule  oder  ein  Turm  nicht 
senkrecht  zu  der  Schwerlinie  aufgestellt  ist,  haben  wir  sofort  das 
Urteil  einer  falschen  Gleichgewichtslage  fertig. 

Der  Schwerpunkt  des  aufrecht  stehenden  menschlichen  Körpers 
befindet  sich  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Krouzwirbel,  in  dem 
Durchkreuzungspunkt  der  Linie  Sch  und  im  Fig.  155.  Wir  ergreifen 
selbst  unter  ungünstigen  Umständen  die  entsprechenden  Mittel,  diesen 
schwankenden  Punkt  zu  unterstützen.  Kein  unbewußter  Wille  hat 
uns  zum  Erlernen  dieser  schwierigen  Kunst  getrieben,  die  Notwendig- 
keit, die  harte  Lehrmeisterin,  zwang  uns  alle,  mit  Unyerdrossen- 
heit  dieselben  mühsamen  Studien  immer  wieder  zu  beginnen,  bis 
wir  die  genügende  Fertigkeit  erreicht.  Freilich  ist  die  Erinnerung 
an  diese  erste  schmerzliche  Zeit  des  Lernens  längst  verschwunden. 
Nur  dann,  wenn  wir  ein  Kind  betrachten,  das  den  schüchternen 
Versuch  macht  sich  zu  erheben,  sehen  wir,  wie  in  einem  Spiegelbild, 
wieder  die  eigenen  Anstrengungen  vor  uns  und  erkennen  die  Schwie- 
rigkeit jener  Aufgaben ,  die  wir  schon  im  zarten  Alter  lösen  muß- 
ten.  Welch'  langer  Übung  bedarf  es  nicht,  um  auf  einer  ebenen 
Fläche  einfach  zu  stehen!    Welches  Schwanken,  das  in  jedem  Augen- 


Zwriter  TeU.     Dritter  Atadmitt. 


blick  die  G«fahr  nahe  legt.  luA 
vor-  oder  rUckwärts  zd  rtörm. 
Und  dieser  Versuch  wird  ioA 
erst  dann  gemacht,  nachdem  du 
Kind  schon  lange  an  GeiftUa 
sich  gflflbt  hatte,  vom  Stuhl  na 
Tisch  und  wieder  zun  Stuhl  ^ 
wandert  und  oft  mit  dem  BOrken 
gegen  die  Wand  gestellt  worden 
war.  Die  Gefahr  des  Falles  tritt 
immer  ein,  sobald  der  Schwer- 
punkt nicht  genflgeud  untertttQtzl 
int.  So  lange  das  Kind  noch  tiiclit 
gelernt  hat,  die  Gelenke  hinnd- 
chend  zu  steifen  und  seine  Udb- 
kelu  so  zu  Iteherrschen ,  daß  der 
aus  dem  Gleichgewicht  geraleoe 
Schwerpunkt  schnell  durch  den 
Muskelzug  an  seine  frühere  Stelle 
L  zurtlckgefllhrt  wird,  oder  darth 
eine  andere  Position  der  Beine 
auch  in  seiner  neuen  Lage  ba- 
lanciert werden  kann,  erfolgt  nach 
dem  allmächtigen  Gesetz  der 
Schwere  der  Fall  zum  Bo<len.  die 
nicht  ujiterstiitzte  Masse  des  K"r- 
pers  fallt  zur  Erde.  Dunh  viele 
mililungene  Versuche  lernt  da? 
Kind  endlich  die  beiden  aus  meh- 
reren beweglichen  Stückeu  be- 
stehenden Pfeiler,  welche  die  Last 
des  kleinen  Körpers  stötzen.  ge- 
nügend zu  steifen.  Es  müssen  alle 
zwischen  dem  Rumpf  und  den 
Zeben  liegenden  Gelenke  hinrei- 
chend fixiert  werden,  um  das  \\h 
gleiteu  der  Gelenkflächen,  das 
Zusiinimenknic^ken  der  Beine  lo 
verbimlem.  Die  Willensimpulse 
milsAcn  erst  einen  hohen  Gnid 
von  Sicherheit  und  Genauigkeit 
eneicht    hahen ,    um    dieser   For- 


Mechanik  der  Stellungen  und  der  Ortobewegang. 


495 


demng  zu  genügen.  Erst  dann,  wenn  die  Herrschaft  über  die 
Muskeln  erreicht  ist,  vermag  das  Kind  sicher  seine  Eörperlast  zu 
balancieren.  Erwägt  man  die  Beweglichkeit  der  Wirbelsäule  und 
die  leicht«  Verschiebbarkeit  der  Gelenke,  erwägt  man  femer,  wie 
unzählige  Versuche  notwendig  sind  für  das  kleine  unerfahrene  Wesen, 
80    schwebt   vor  unserem  Geist  ein,  wenn  auch  unvollständiges  Bild 


Kopfhöhe. 


Kopfhöhe. 


Körpermitte. 


Rumpfende. 
Kopfhöhe. 


*  Kopf  höhe. 


Fig.  156.   Kind  vom  Kücken, 
nach  80HADOW. 


von  der  enormen  Schwierigkeit  dieser  Aufgabe.  Sie  ist  den  viorHlßigen 
Tieren  um  vieles  erleichtert;  denn  dort  hängt  ja  die  Last  des  Körpers 
an  vier  Säulen.  Bei  dem  Menschen  ist  der  Schwerpunkt  am  un- 
sichersten unterstützt,  und  es  besteht  eine  sehr  geringe  Bürgscliafb 
tUr  ein  längeres  Verbleiben  in  solcher  Gleichgewichtslage.  Man  nennt 
deshalb  diese  leicht  verschiebbare  Gleichgewichtslage  „labiles  (rleich- 
gewicht"  (von  UihUvtj  was  leicht  fallt).     Die  Schwierigkeit  des  Ver- 


496  Zweiter  Teil.     Dritter  AbechniU. 

harrens  in  der  Gleichgewichtslage  bei  dem  Stehen  kann  sich  anch  der 
Erwachsene  wieder  vergegenwärtigen ,  sobald  er  versacht,  anf  einer 
nur  etwas  schwankenden  Unterlage,  z.  B.  einem  Schwebebauin.  zu 
stehen.  Dann  befinden  sich  alle,  denen  auf  ebener  Unterlage  nicht 
die  geringsten  Schwierigkeiten  sich  bieten,  in  der  größten  Gefahr,  jeden 
Augenblick  die  Herrschaft  über  die  Masse  ihres  Körpers  zu  verlieren. 
Bei  dem  Stehen  auf  den  zwei  unmittelbar  voreinandergesetzten  Beinen 
nehmen  wir  auf  dem  Balken  eine  Stellung  ein,  die  wir  froher  nicht 
geübt;  wenn  auch  die  hinreichende  Steifung  der  Glieder  gelingt,  so 
sind  doch  die  Muskeln  nicht  imstande,  die  Lageverändeningen  des 
Schwerpunktes  durch  eine  entsprechende  Zugkraft  völlig  zu  beherr- 
schen. Sobald  nun  der  Körper  nicht  mehr  zur  Achse  des  Schwebe- 
balkens senkrecht  steht,  beginnt  er  zu  fallen.  Auf  dem  Wege  der  Er- 
fahrung haben  wir  gelernt,  noch  mit  anderen  Mitteln  als  denen  des 
Muskelzuges  das  Gleichgewicht  des  Körpers  unter  solchen  Umständen 
wiederherzustellen.  Wir  haben  unbewußt  einen  Schatz  von  Kennt- 
nissen gesammelt,  welchen  wir  praktisch  verwerten,  ohne  jemals  dar- 
über nachzudenken.  Wir  machen  in  einem  solchen  Falle  den  ent- 
sprechenden Gebrauch  von  den  Armen,  wenn  wir  bald  den  einen,  bald 
den  andern  erheben,  um  dadurch  den  Schwerpunkt  wieder  in  die  ünter- 
stützungslinie  zurückzubringen;  es  erhebt  sich  immer  der  Arm  gegen- 
über jener  Seite,  nach  der  das  Gewicht  der  Masse  zu  fallen  droht 
Aus  demselben  Grunde  benutzt  der  Seiltänzer  die  Balancierstanire. 
nach  demselben  Gesetze  ändert  der  menschliche  Körper  in  allen  Fällen, 
in  denen  er  auf  irgend  einer  Seite  belastet  wird,  seine  Haltung  nach 
der  unbelasteten  Seite. 

Wird  z.  B.  eine  Last  in  der  linken  Hand  getragen,  so  neigt  sich  der 
Rumpf  nach  der  entgegengesetzten  Seite  und  wird  gleichzeitig  auch  der 
Ann  horizontal  ausgestreckt;  durch  das  Seitwärtsbeugen  des  Kumpfes 
wird  die  Schwerpunktslinie  nach  der  entgegengesetzten  Seite  verlegt 
und  damit  ist  das  Gewicht  balanciert.  Hängt  die  Last  vom,  so  muß 
man  sich  verhältnismäßig  zurückbeugen;  liegt  sie  auf  dem  Rücken,  so 
muß  der  Körper  entsprechend  vorgebeugt  werden.  Dabei  hat  beständig 
das  eine  Bein  die  Last  zu  unterstützen.  Die  gerade  Haltung  des 
Körpers  ist  dagegen  nicht  verändert,  wenn  eine  Last  auf  dem  Kopf 
getragen  wird,  also  in  der  verlängerten  Linie  der  Körperachse.  Un-^ere 
Erfahrung,  fälschlich  „Gefühl"  genannt,  hat  das  Urteil  über  die  Rich- 
tigkeit und  Notwendigkeit  der  Bcwegimgen  über  die  veränderte  Lage 
des  Schwerpunktes  so  vollkommen  entwickelt,  daß  jeder  Fehler  der 
darstellenden  Kunst  von  uns  sofort  erkannt  wird.  Die  unerbittlichen 
Regeln  eines  fallenden  Körpers  zeigen  uns  in  demselben  Augenblick, 
wo  der  Schwerpunkt  desselben  nicht  mehr  unterstützt  ist,    schon  das 


MM^aoik  der  BtellanKfln  und  der  OrisbcwrguDg.  497 

endliche  Schicksal.  Strauchelt  jemand,  so  kennen  wir  die  drohende  Ge- 
fahr, Qoch  ehe  der  Sturz  vollendet  ist.  Es  sind  dies  Abstraktionen,  gebaut 
auf  unsere  eigenen  Erlebnisse.  An  der  Skizze  Fig.  157  erkennt  jeder  so- 
fort, daß  es  sich  hier  um  einen  Menschen  handelt,  der  das  Gleichge- 
wicht verloren  und  rückwärts,  unaufhaltsam  zu  Boden  stürzt.  Seihst  das 
emporgestreckte  Bein,  das  nach  derselben  Kegel,  wie  die  Balancierstange, 
der  Last  des  Korpers  noch  das  Gleichgewicht  halten  sollte,  kann  nichts 
mehr  nützen,  weil  die  Masse  des  Oborköipers  zu  groß  ist.  —  Dies  sind 
jedoch  sehr  komplizieiie  Fälle,  welche  unsere  Erfahrung  zu  beurteilen 


Fig.  157.     Skiu«  eines  EtUrzt-iKlrn  Titanea  nach  Qi'ido  Brni  (SUch  nach  B.  C011101.AH). 

hat.  Erinnern  wir  uns  an  einfache  Bilder,  z.  B.  an  die  verschiedenen 
Stellungen,  welche  eine  Grappe  fröhlicher  Genossen  zeigt,  die  unter 
einem  schattigen  Baum  gelagert  ausruhen.  Der  eine  sitzt  an  der  Erde 
und  hat  sich  gegen  den  Baumstamm  gelehnt,  der  andere  stützt  den 
Oberkörper  auf  den  wie  eine  Säule  gestreckten  Arm,  und  ein  dritter 
benutzt  dieselbe  Säule  nur  zur  Hälfte  und  legt  das  Haupt  in  die 
Hohlhand.  Die  Absicht  aller  dieser  Stellungen  ist,  den  Schweqtunkt 
zu  unterstutzen.  Dort  hilft  der  Baumstamm  das  Gewicht  des  ange- 
lehnten Körpers  tragen,  und  hier  übernimmt  es  der  Ann,  den  Rumpf 
vor  dem  Sinken  zu  bewahren.  Betrachten  wir  die  Darstellung  einer 
solchen  Gruppe  auf  einem  Gemälde,  so  regt  sich  sofort  der  kritischo 


498  Zweiter  Teil.     Dritter  Abflohnitt. 

Geist,  wenn  dem  Künstler  das  Natürliche  der  Stellungen  auch  nur  b 
einem  Punkte  mißlang. 

Der  Schwerpunkt  erleidet  bei  jeder  Änderung  der  iStellong  eine 
Verschiebung.  Wir  können  uns  ein  deutliches  Bild  dieser  LageTer- 
änderung  an  dem  Schwanken  eines  Kahnes  machen ,  sobald  der  d^rin 
Sitzende  die  Stellung  ändert.  Wer  hätte  sich  nicht  schon  darüber 
gefreut,  wenn  der  leichten  Neigung  des  eigenen  Körpers  im  Augenblick 
der  ganze  Nachen  folgt  und  bald  der  eine,  bald  der  andere  Rand  bU 
an  den  Spiegel  der  blauen  Fläche  niedertaucht.  Das  leicht  bewegliche 
Element  gestattet  dieses  ungefährliche  Spiel,  weil  es  doch  wieder  an 
allen  Stellen  den  schwankenden  Kahn  stützt;  aber  bei  der  Bewegung 
des  Menschen  auf  festem  Boden,  wenn  hier  der  Schwerpunkt  aus  seiner 
Gleichgewichtslage  gestoßen  wird,  so  kann  er  nur  durch  eine  rasche, 
zweckentsprechende  Unterstützung  vor  dem  gänzlichen  Falle  bewahrt 
werden.  Bis  zu  welchem  Grade  von  Geschicklichkeit  wir  es  hierin 
schon  als  Knaben  gebracht,  zeigt  die  Schnelligkeit,  womit  der  un- 
erwartete Stoß  durch  ein  paar  Sprünge  pariert  wird,  der  plötzlich 
unseren  ganzen  Körper  aus  dem  Gleichgewicht  geschleudert  hatte. 
Aber  es  bedarf  nicht  des  Hinweises  auf  solch  außerordentliche  Leistungen; 
üben  wir  doch  die  Verlegung  des  Schwerpunktes  bei  jedem  Wechseln 
des  Beines  während  des  ruhigen  Stehens!  Stellen  wir  uns  auf  das 
eine,  während  das  andere  als  sogenanntes  Spielbein  nur  leicht  auf 
dem  Boden  ruht,  so  zeigt  sich  deutlich,  wie  bei  der  Entlastung  (le> 
Einen  eine  Korrektion  in  der  Stellung  des  Rumpfes  notwendig  winl. 
Wir  bewegen  den  Körper  im  Hüftgelenk  und  den  Lendenwirbeln  seit- 
wärts und  zwar  ungefähr  um  20  cm,  gerade  soviel  als  notwendig  ist, 
um  durch  die  Seitwärtsneigung  den  Schwerpunkt  senkrecht  über  das 
unterstützende  Fußgelenk  zu  bringen. 

Dasjenige  Bein,  auf  dem  nunmehr  der  Körper  steht,  heißt  Stand- 
bein. Die  Figur  158  zeigt  jene  Stellung,  wie  zahllose  andere  aus  der 
alten  und  neuen  Zeit,  bei  denen  der  Mensch  auf  einem  Bein  steht, 
um  das  andere  unterdessen  ausruhen  zu  lassen.  Die  Seitwärtsneigung 
des  Rumpfes  und  die  Verschiebung  im  Hüftgelenk  ist  in  dieser  Skizie 
meisterhaft  dargestellt.  In  solcher  Stellung  fallt  also  die  Schwerlinie 
in  die  Sohle  des  Standbeines,  während  das  andere,  das  Spielbein,  nicht 
mehr  zur  Unterstützung  des  Köq)ers  dient  und  frei  ist  für  die  Be- 
wegung. Solange  die  Schwerlinie  zwischen  die  beiden  Füße  fallt,  kann 
man  kein  Bein  vom  Boden  aufheben,  denn  sobald  dies  geschieht, 
würde  der  Schwerpunkt  nicht  mehr  unterstützt  sein,  und  der  Mensch 
würde  nach  der  betreffenden  Seite  hinüberfallen.  Wenn  aber  der  Kör- 
per soweit  auf  die  eine  Seite  herübergebracht  ist,  wie  in  Fig.  158,  dann 
ist  das  eine  Bein  frei  und  vermag  verschiedene  Verwendung  erfahren. 


Mechanik  der  8tellaiig«ii  und  der  Oriahtwtgaag. 


Fig.  158.    Stehender  Mann  von  MiCHBLANaBLo.    Facstmile. 


500 


r  Teil.      Driitcr  Alwchnitt. 


Das  Gefällige  jeder  Eörperatellung  (die  absichtlich  fÖr  1 
btigtimmte  auägeiionimen]  liegt  in  der  anacheinenden  Leichtigkeit,  i 
der  sie  verändert  werden  kann.  Daher  ist  in  der  stehenden  Fig.  15 
die  Stellung  gefällig,  denn  das  Gewicht  des  Kärper^^  wird  hanptsäcii« 
lieh  von  einem  Fiiüe  getragen,  während  der  andere  so  gestellt  ist,  i 
er  das  Standheiu  leicht  ablösen  kann. 

Die  Art   des   Stellung   hat   auch   mimischen   Wert,     Di«    fet 
Stellung    der    Beine    zeigt   Mut    «iler    Trotz,      Das    Vorti-eten    deute 
auf  Verlangen    oder  Angriff.     Das  Zurückziehen   zeigt  Abscheu   o 
Furcht ,    das   Kuiemi    Demut ,    Unterwerfung.     Tn   den    heftigsten   ' 
mQtsbewegungeu   rücken  Hand    und  Fuß    auf  derselben  oder  der  ent^l 
gegeu gesetzten  Seite,   zusammen    vor.      Die  Leidenschaften,     die    ans| 
zum    Gegenstände   hinziehen,    wie   Liebe,    Verlangen,    Zorn,    Rachl 
veranlassen    dieses    Vorrücken    zugleich    mit    Kopf   und   Leib.     D« 
Borghesische    Fechter   ist    auch    in    dieser  Beziehung   lehrrdch, 
zeigt  das  Vorrücken  von  Kopf  und  Leib,   wobei  jedoch   die  einandorfl 
entgegengesetzten  Gliedmaßen  ausgreifen,  nämlich  der  linke  Arm  nndj 
das    rechte    Bein,      Dabei    ist    das    rechte    Beiti    unter    die   Schwei^fl 
llnie    des   vorgestreckten    Rum|)fes    gestellt;    ohne   diese    Position    er«] 
hielte   der  Beschauer   den  Kindruck  des  Stürzens.     Bei   der  Fig.   I59>fl 
wird  ein  völlig  unbefangener  Beschauer,  der  sich  zunächst  an  die  ImhJ 
kannte    Figur   nicht  erinnert,    die  Vorstellung  erhalten,    als   i 
nach  vom   fallende  Figur  hier  dargestellt.     Denn  nach  allen  nnBcre 
Erfahi-ungen    muß   ein   in   solcher   Lage   befindlicher   Oberkörper   ; 
Erde  stürzen.     Erst  dann,  wenn    man    die   durch   Linien    angegebeni 
Bichtnng  der  Beine   ins  Auge   faUt,   fiUlt  diese  Vermutung  fort,   d 
es  wird  sofort  einleuchtend,  daß   das  vordere  Bein   den  Rumpf  un 
stützt.     Bei  dem   Fechter   ist   dabei   die  Figur  in  dem   Moment  < 
gestellt,    in  welchem   das  Gewicht   des  Körpers   von  einem  Bein  j 
tragen  wird,  während  das  andere  so  gestellt  ist,  daß  es  leicht  ablösei 
kann.     Wir   wissen ,    daß  jetzt   im    nächsten  Moment   das  Standbi 
sich   strecken   und   dann   das   andere   zu    einem  weiteren  Schritt  i 
vorwärts    schwingen    kann.      Das    macht   uns   den   Eindruck   leii: 
Beweglichkeit   und    der  vorgebeugte  Oberkörper   denjenigen    des  V<w 
wärtsstürmens. 

Li  einem  direkten  Gegensatz  zu  dem  inneren  Wesen  des 
greifenden  Fechters  steht  die  Figur  160,  die  eines  fliehenden  MannOl 
Auch  sein  Kfirper  ist  vorgebeugt,  auch  der  Schwerpunkt  seines  1 
bedarf  der  Unterstützung,  denn  der  recht«  Ami,  der  offenbar  Halt  an 
einem  breiten  festen  Gegenstand  hat,  kann  den  fallenden  Körper  nicht 
mehr  stützen,  weil  Band  und  Vorderarm  weit  hinter  der  Sohwerlinie  _ 
des   Oberkörpers   sich   befinden.     Der  röchle  Arm   hilft   vielmehr 


Mediitiiik  der  Stelluninn  und  der  Ortabewc^ng. 


r  große  Itrustinuskt-I  auf  (ipn  Torso  (ips  Borghesischen  Peditcrs 
guKuirhuet. 


1.  BruMbeiniHirtion  den  BriutiuuskeU. 

2.  BchlÜBKlbeinjiorCioD  iea  Bntstniuakcla. 

3.  AnuUaebne. 

4.  DelhuuD^kel. 

5.  Unterechlii««e1bein  grübe. 

e.  Spalt  xw.  Broslbein-  ii,  Si-liIiisAclIipiiipur 


7.  Gerader  Bauvhinuakrl. 

ä.  Vordere    Be^^reaiungBlinie    des    änBereo 

Bchiefeu  Bnuchmiigkels. 
*   Die  von  der  Scheide  des  geruden  Bauuh- 

niuskcl»  enlKi'riugende  Zllcke  des  Brust- 

oiugkcta. 


502  Zweiter  Teil.     Dritter  Abschnitt. 

Körper  nach  vom  stoßen,  der  linke,  ausgestreckt,  hat  noch  kein«! 
Halt,  hilft  sogar  durch  sein  Gewicht,  den  Oberkörper  in  derM;llj«i 
Richtung  fortzuziehen.  Auch  das  linke  Bein  drückt  den  Korper 
fort,  allein  ehe  es  den  Boden  verläßt,  muß  das  rechte  den  Unler- 
stützungspunkt  gefunden  haben.  Das  setzen  wir  nach  allen  Re- 
geln der  Bewegung  des. Menschen  voraus.  Schon  ist  der  Fuß  nuch 
abwärts  gesenkt  und  aus  der  Stütze  der  linken  Hand,  die  durch  den 
Druck  verbreitert  ist,  ziehen  wir  den  Schluß,  daß  die  Grundflidie 
für  das  Aufsetzen  des  rechten  Fußes  nicht  mehr  fem  ist.  All  du, 
was  hier  aus  einer  langen  Erörterung  über  die  Stellung  der  einzelnen 
Glieder  hervorgeht,  nimmt  das  Auge  sofort  wahr,  und  unser  Geist 
verkündet  uns  das  Urteil,  daß  hier  ein  schwieriges  Problem,  die  Dar- 
stellung eines  fliehenden  Mannes,  zufiriedenstellend  gelöst  ist.  Wir 
finden  die  Stellung  leicht  und  natürlich,  weil  die  Verteilung  der  Massen 
des  Körpers  nicht  gegen  die  Gesetze  der  Schwerkraft  verstößt  und 
dabei  ein  hoher  Grad  von  Leichtigkeit  zum  Ausdruck  kommt.  Wenn 
wir  überdies  sofort  wissen,  daß  die  Flucht  eilig  ist,  wobei  der  Eörp^ 
nach  der  Seite  gewendet  ist  und  der  Blick  nach  rückwärts,  obwohl 
an  der  Figur  der  Kopf  fehlt,  so  ist  es  unsere  Erfahrung,  welche  au» 
dieser  Stellung  des  Körpers,  d.  i.  aus  der  in  der  Stellung  liegenden  Mi- 
mik, die  Geschichte  des  Vorganges  abliest. 

b«    Grehen« 

Die  Erkenntnis  der  Thatsaclie  vom  Schwerpunkt  des  menschlichen 
Körpers  und  seiner  Unterstützung  nach  mechanischen  Prinzipien 
läßt  vermuten,  daß  bei  dem  Gehen  dieselben  Grundsätze  ihre  Geltung 
finden.  Denn  der  natürliche  Gang  hat  die  Aufgabe  zu  er- 
füllen, den  Rumpf,  d.  i.  ein  Gewicht,  in  einem  bestimmten  Abstand 
von  dem  Boden  mit  gleichförmiger  Geschwindigkeit  fortzubewegen. 
Wenn,  wie  bei  dem  Stehen,  die  Scliwerlinie  nicht  mehr  zwischen  beide 
Füße,  sondern  in  die  Sohle  eines  Fußes  fällt,  in  das  Standbein,  so 
kann  man  das  Spielbein  aufheben.  Wenn  nun  der  Körper  sich  so- 
weit nach  vorn  neigt,  daß  die  Schwerlinie  vor  den  Fuß  fällt,  so  wird 
sie  nicht  mehr  unterstützt  sein  und  man  kommt  in  die  Gefahr,  vorn- 
über zu  fallen,  wenn  nicht  das  Spielbein  in  diesem  Augenblicke  vom 
Boden  gelöst  wird.  Ist  dies  geschehen,  so  schwingt  es,  da  es  im  Hüft- 
gelenke frei  beweglich  ist,  nach  vorwärts.  Sobald  es  dann  den  Boden 
erreicht  hat,  ist  damit  ein  neuer  Stützpunkt  gewonnen;  man  ist  nach 
vorwärts  gefallen,  aber  zum  Glück  auf  die  eigenen  Füße  oder  viel- 
mehr auf  das  neue  Standbein.  Jetzt  macht  man  das  Bein,  welches 
früher  Spielbein  war,  zum  Standbein.    Neigt  man  aufs  neue  den  Körper 


HMhanik  der  SMllungea  und  der  Ortabewegung. 


1.  SchlJUHlbein. 

2.  UnlencblrinelbeingTulM,   Spalt  iiirüchen 

Delta-  und  Brnstmuikel. 

3.  Akromitdende  d«i  SchliuKlbeinca. 

4.  Akromion. 

5.  Deltamoakel. 

6.  Strecker  des  Oberarmea. 

7.  Behnenfbld  des  Strtckera. 

8.  Ellbc^ni.       8*.  KöpfcheD  der  Ell«. 

Q.  Langer  Sapiaalor,  am  liuken  und  rech- 

9*.  Spriehenitrtdier  der  Hund. 


I.  Schwellung  des  Bnutmuakel«  *or-  dem 

Übergang  in  aeine  Sehne. 
..  Langer  Stmker  der  Finger. 
!.  EHenbeuge  *.  langen  Supinator  begrenit. 
l.  Der  runde  Pronator. 
;.  SCreckeraehne. 

i.  Knieichdbe. 

1.  EDieacheibenband. 

'.  Tenwir  Fasdae. 

I.  OroOer  GeaäQmaikel. 

I.  Furche  iw.  d.  Strecker- D.  Bengergjnppe. 


504  Zweiter  Teil.     Dritter  Abschnitt. 

nach  vorn,  und  läßt  das  andere  Bein  nach  vorwärts  schwingen,  setzt 
CS  dann  auf,  so  ist  ein  neuer  Stützpunkt  gewonnen  u.  s.  w.  Das  6efa«i 
ist  also  gewissermaßen  ein  fortwährendes  Fallen  nach  vorn,  was  immer 
dadurch  verhindert  wird,  daß  das  vorwärts  schwingende  Bein  einen 
neuen  Stützpunkt  herstellt. 

Dabei  wird  der  ganze  Rumpf  gleichzeitig  auch  in  die  Höhe  gedrückt, 
er  und  mit  ihm  der  Schwerpunkt  beschreiben  einen  leichten  Bogen  nach 
oben,  und  zwar  ebenso  hoch  als  der  Fuß  durch  seine  Streckung  die  Kör|)er- 
last  emporgedrückt  hatte;  dann  aber  beginnt  dieselbe  wieder  nach  vorae 
hinabzusinken.    Von  jenem   Augenblick  an,  in  welchem  die  Erhebnng 
geschah,  übernimmt  das  Standbein  gleichzeitig  die  Balance  des  ganza 
Körpers.  So  wiederholt  sich  derselbe  Vorgang  während  der  ganzen  Dauer 
der  Bewegung.     Die  Arbeit   der  Beine  ist   also    abwechselnd  immer 
dieselbe.     Während    das  eine  sich  gegen   den   unnachgiebigen  Bodeb 
stemmt  und  unterstützt,  schwingt  das  andere  freihängend,  um  in  den 
rechten  Augenblick  die  Last  auf  seine  Schultern  zu  laden  und  sie  wiede 
sicher  eine  kleine  Strecke  weiter  zu  befördern.     Die  Zergliederung  dei 
Vorganges  läßt  die  Kraftleistung  der  Beine  sehr  bedeutend  erscheinau 
wenn  man  bedenkt,  daß  immer  nur  eines  die  Fortbewegung  der  Last 
auszufuhren   hat.     Wenn   trotzdem   die   Ermüdung    beim    natürlicben 
Gang  erst  sehr  spät  eintritt,  und  wir  das  Gehen   lange  Zeit  hindnid 
ertragen,    so   erklärt   sich  dies    einmal    durch  die  Ruhe,    welcher  die 
Beine  abwechselnd  hingegeben  sind,   indem  das  jedesmal    schwingende 
Glied   von    der  Luft   getragen    ohne   Muskelanstrengung    bewegt  wird 
und    dann  aus    dem  Umstand,    daß    die  Muskulatur    der   Beine  ganz 
außerordentlich  günstig  für  die  Fortbewegung  der   Körperlast  gebaut 
ist.     Ein  zweistündiges  Stehen  bei  der  Parade  strengt  mehr  an.  ak 
ein  doppelt  so  langer  Marsch,  weil   die  Beine  niemals    so  vollkommen 
entlastet   werden.     Das   Kommando   „rührt  euch**,   wobei    die  Trnppc 
sich  bequem  stellt  und  das  eine  Bein  etwas  von  der  Last  befreit,  ge- 
währt  keine    so  vollkommene  Erholung,    als  jene   Rulie  während  de* 
Gehens,  welche  durch  die  Teilung  der  Arbeit  bedingt  ist. 

Alle,  denen  die  Kontrolle  dieser  veränderten  Richtung  am  Rumpfe 
während  des  eigenen  Ganges  schwer  fällt,  mögen  sich  erinnern,  wie 
schwierig  es  ist,  Ann  in  Arm  zu  gehen,  wenn  nicht  dabei  gleichzeitig 
Schritt  gehalten  wird.  Denn  dann  begegnen  sich  stets  die  regel- 
mäßigen Schwankungen  des  Rumpfes  und  die  Schultern  stoßen  an- 
einander. Ganz  anders,  wenn  im  Tempo  die  gleichen  Beine  belastet 
werden,  dann  bewegt  sich  der  Rumpf  in  beiden  Körpern  gleichzeitig 
nach  rechts  und  nach  links,  je  nachdem  das  rechte  oder  das  linke  Bern 
gerade  in  Thätigkeit  ist.  Am  vollendetsten  kann  man  sich  von  den 
einzelnen  Tempi  des  Ganges,  dem  Erheben  des  Körpers  und   den  ab- 


Mechanik  der  Stellungen  und  der  Orttfbewegung.  505 

wechselnden  Lageveränderungen  des  Schwerpunktes  nach  rechts  und 
links,  an  einem  vorbeimarschierenden  Bataillon  tiberzeugen.  Bei  dem 
gleichen  Tempo  und  dem  gleichen  Schritt  sieht  man  die  Spitzen  der 
Bajonette  und  der  Helme  der  ganzen  Schar,  abwechselnd  nach  rechts 
und  links  sich  bewegen,  je  nachdem  das  rechte  oder  linke  Bein  in 
Thätigkeit  ist. 

Die  gerade  Haltung  des  Körpers  ist  bei  dem  ruhigen  Gange  nicht 
wesentlich  verändert,  aber  sie  wird  sofort  eine  andere  auf  der  schiefen 
Ebene,  weil  dadurch  der  Schwerpunkt  verschoben  wird.  Denn  ist  der 
Boden  geneigt,  so  steht  der  Schwerpunkt  unter  dem  Einfluß  zweier 
Kräfte.  Die  eine  drückt  ihn  gegen  die  Erde,  die  andere  sucht  ihn 
längs  jener  Ebene  herabzutreiben.  Schreiten  wir  bergauf  oder  berg- 
ab, so  müssen  wir  den  Körper  stark  neigen,  so  daß  die  Schwerlinie 
vor  oder  hinter  das  stehende  Bein  fällt. 

Die  Treppe  ist  nur  eine  andere  Form  der  schiefen  Ebene,  von 
Stufe  zu  Stufe  durch  eine  horizontale  Fläche  unterbrochen.  Steigt 
man  Treppen  rasch  hinauf  und  herab,  so  muß  der  Körper  in  eine 
ähnliche  Stellung  gebracht  werden,  wie  bei  dem  Gehen  auf  der  schiefen 
Ebene  eines  Berges.  Nur  dann  wird  sich  dieses  Gesetz  in  der  Er- 
scheinung des  Schreitenden  nicht  vollständig  scharf  ausprägen,  wenn 
er  langsam  oder  gravitätisch  hinanschreitet.  In  diesem  Falle  hebt 
man  bei  jeder  Stufe  den  Körper  durch  das  Strecken  des  mit  gebogenen 
Gelenken  aufgestützten  Beines.  ''Ruht  der  Fuß  auf  der  nächst  höheren 
Stufe,  so  kann  der  Rumpf  erst  dann  gehoben  werden,  wenn  der 
Schwerpunkt  senkrecht  über  den  höhergestellten  Fuß  gebracht  ist. 

Eine  der  auffallendsten  Erscheinungen,  welche  durch  die  Unter- 
suchung des  Ganges  zu  Tage  gefördert  wurde,  ist  die,  daß  das  un- 
belastete Bein  nach  den  Gesetzen  eines  freihängenden  Pendels  an  dem 
emporgehobenen  Rumpfe  nach  vorn  schwingt,  und  daß  keinerlei  Muskel- 
ki'aft  für  diese  Bewegung  erforderlich  ist.  Durch  das  Erheben  erhält 
das  in  der  Hüftpfanne  befestigte  Bein  Raum,  die  Pendelschwingung 
nach  vorne  auszuführen.  Gleichzeitig  wird  die  Länge  desselben  durch 
eine  Beugung  im  Kniegelenke  in  geringem  Maße  verkürzt.  Der  Be- 
weis nun,  daß  die  Schwingungen  des  Beines  in  die  Reihe  der  Pendel- 
schwingungen gehören,  liegt  zunächst  darin,  daß  die  Schwingungszeit 
des  lebenden  und  toten  Beines  genau  übereinstimmt,  und  zwar  gerade 
soviel  beträgt,  als  die  eines  Pendels  von  der  Länge  desselben  und  der 
ihm  zukommenden  Massenverteilung.  Die  Länge  des  natürlichen 
Schrittes  bei  dem  ruhigen  Gange  ist  demnach  nicht  Sache  der  Willkür, 
sondern  die  Folge  eines  physikalischen  Gesetzes,  das  die  Größe  einer 
Schwingung  abhängig  macht  von  der  Pendellänge.  Je  kürzer  die 
Beine,    desto    rascher   die   Schwingungen    (siehe  S.  200).     Dies  alles 


506  Zweiter  Teil.     Dritter  Abschnitt. 

gilt  jedoch  nur  für  den  ruhigen  Gang.  Sobald  die  Schwingungen  dei 
Fußpendels  beschleunigt  werden  sollen,  müssen  sie  durch  Muskel- 
kräfte unterstützt  werden  und  daraus  erklärt  sich,  warum  schnelles 
Gehen  mehr  ermüdet  als  langsames. 

Die  Gangarten  der  Menschen  sind  bekanntlich  individuellen  Ver- 
schiedenheiten unterworfen.  Sie  wechseln  nicht  nur  bezüglich  des 
Tempo,  sondern  auch  bezüglich  der  Haltung  des  Kumpfes  und  der 
Bewegungsart  der  Beine  innerhalb  bestimmter  Grenzen.  So  hat  s.  R 
bei  sehr  fetten  Leuten  der  Gang  etwas  Schwankendes,  andere  geben 
ihm  dadurch,  daß  sie  die  Beine  möglichst  wenig  beugen  und  strecken 
und  dabei  doch  weite  Schritte  machen,  etwas  Gravitätisches,  wieder 
andere  beugen  die  Knie  sehr  stark,  wodurch  der  Gang  nachlassig  er- 
scheint. Und  was  die  Haltung  des  Sumpfes  betrifft,  so  ist  von  Ein- 
fluß, ob  dieser  vor-  oder  rückwärts  geneigt  getragen  wird,  ob  er  un- 
nötige Schwankungen  in  derselben  Richtung  ausführt  oder  nach  den 
Seiten.  Die  Erscheinungen  all  dieser  Verschiedenheiten  prägt  sich 
unserem  Auge  und  der  Schall  der  verschiedenen  Tempi  unserem  Ohr 
ein  und  ebenso  sicher,  wie  wir  Freunde  an  dem  Tone  ihrer  Summe 
erkennen,  vermögen  wir  es  auch  an  dem  Geräusch  ihrer  Gangart 

Zu  dem  Gehen  ist  das  geringste  Maß  von  Muskelanstrengong 
nötig,  wenn  man  in  seiner  natürlichen,  durch  die  Länge  der  Beine  be- 
dingten Schrittdauer  geht.  Das  ist  der  Grund,  warum  man  die  Soldaten 
bei  großen  Märschen  nicht  in  gleichem  Tempo  gehen  läßt;  sie  würden 
sonst  viel  früher  ermüden,  weil  sie  größere  Muskelanstrengungen  brau- 
chen. Wenn  jeder  nach  seiner  natürlichen  Schrittdauer  marschiert, 
so  geht  der  Marsch  mit  geringer  Muskelanstrengung,  einfach  nach 
den  Peudelgesetzen  von  statten.  Immerhin  verzehrt  diese  Bewegung 
einen  ansehnlichen  Teil  des  in  den  Muskeln  der  Beine  vorhandenen 
Kräftevorrates,  und  endlich  tritt  doch  Ermüdung  ein.  Man  begreift 
dies,  wenn  man  die  Last  berücksichtigt,  welche  bei  dem  Gehen  fort- 
bewegt wird.  Die  bei  einfachem  Gehen  auf  horizontalem  Wege  voll- 
brachte Arbeit  eines  Menschen  von  70  kg  Körperge¥richt  beläuft  sich 
für  eine  Stunde  Weges  auf  25  000  Kilogrammmeter,  in  acht  Stunden 
werden  somit  200  000  Kilogi*ammmeter  durch  die  Beine  bewältigt 

Der  menschliche  Organismus  ist  eine  Bewegungs-  und  Kraftmaßclmie,  die  sieb 
in  betreff  ihrer  Leistungen  z.  B.  im  Fortbcwegen  und  Heben  von  Liasten  voll- 
kommen mit  den  Maschinen  unserer  Mechanik,  vor  allem  mit  den  Dampfinaschinea 
vergleichen  läßt.  Die  kontraktile  Substanz  der  Muskeln  repräsentirt  die  Kraft,  die 
Knochen  mit  ihren  Gelenkverbindungen  repräsentieren  die  Maschine,  durch  welche 
die  Arbeit  des  Menschen  geschieht.  Die  Arbeit  eines  Menschen  wird  ebenso  be- 
zeichnet, wie  die  irgend  einer  Maschine.  Man  hat  als  Einheit  der  Arbeitsgroße  das 
Kilogrammmeter  angenommen,  d.  h.  diejenige  Arbeit,  welche  1  kg  in  einer  Sekunde 
1  m  hoch  zu  heben  vermag.     Nimmt  man  eine  Arbeit  von  acht  Stunden  an,  eine 


Mechanik  der  Stellungen  und  der  Ortabewegung.  507 

Thätigkeit,  welche  das  arbeitende  Individuum  ohne  Nachteil  für  seine  Gesundheit 
ertragen  kann,  so  crgiebt  sich,  daß  der  Mensch  von  70  k  Schwere  eine  I^eistung 
am  Goppel  in  runder  Summe  von  200  000  Kilogramm meter  zu  vollbringen  vermag. 
Es  ist  dies  eine  bedeutende  Arbeit,  die  sich  unter  günstigen  Umständen  (z.  B.  am 
Tretrad  bei  einer  Steigung  von  24*^)  auf  345  000  kg  steigern  läßt,  d.  h.  in  acht 
Stunden  vermag  also  ein  Mann  ein  Kilogramm  auf  eine  Höhe  von  345  000  m  zu 
heben.  Diese  enorme  Leistung  im  letzteren  Falle  ist  besonders  dadurch  möglich, 
daß  die  menschlichen  Beine  für  das  Gehen  ganz  außerordentlich  zweckmäßig  ein- 
gerichtet sind,  und  die  Vortrefflichkeit  ihrer  Konstruktion  hilft  in  ganz  hervorragender 
Weise,  um  ein  solch'  überraschendes  Resultat  zu  erzielen.  Um  sich  von  der  Größe 
der  Arbeit  während  des  Bergsteigens  einen  l^egriff  zu  machen,  wobei  lediglich  durch 
die  Kontraktion  der  Muskeln,  und  zwar  vorzugsweise  derjenigen  der  Beine,  ein 
Gewicht  von  70  kg  Körper  einen  Berg  von  2000  m  hinaufgetragen  wird,  so  diene 
die  Angabe,  daß  damit  in  sechs  Stunden  eine  Leistung  von  1 40  000  Kilogrammmeter 
erzielt  wurde.  Sie  würde  auf  das  Doppelte  steigen,  wenn  eine  Last,  die  dem  Körper- 
gewicht gleich  wäre,  auf  dem  Rücken  emporgetragen  würde. 

In  den  letzten  Jahren  ist  die  Frage  der  Muskelbewegung  des  Menschen  in  ein 
neues  Licht  gestellt  worden.  Aus  der  Lehre  von  der  Unzerstörbarkeit  der  Kraft 
wissen  wir,  daß  bei  mechanischer  I^istimg  unserer  Muskeln  ein  Verschwinden  von 
Wärme  aus  dem  Kcirper  stattfinden  muß.  Helmiioltz  hat  gezeigt,  daß  der  mensch- 
liche Leib  im  Lichte  einer  zur  Ver^valldlung  von  Wanne  bestimmten  Maschine  be- 
trachtet, die  beste  je  konstruierte  Msischine  weit  übertrifft.  Von  der  durch  die  Ver- 
brennung der  Nahrungsmittel  abgegebenen  Gesamtwärme  kann  ein  Mensch  in  Form 
wirklicher  Arbeit  den  ftinften  Teil  nutzbar  machen,  während  es  noch  niemals  ge- 
langen ist,  eine  Dampfmaschine  zu  konstruieren,  die  mehr  als  Vo  ^^r  Kraft  des 
unter  dem  Kessel  verbrannten  Brennmaterials  nutzbar  machen  konnte.  Die  Muskeln 
des  menschlichen  Körpers  sind  aber  nicht  nur  Mittel  für  die  äußere  Arbeit.  Der 
Leib  hat  beständig  noch  eine  Masse  innerer  Arbeiten  zu  verrichten,  um  das  Leben 
zu  erhalten.  So  muß  z.  B.  das  Blut  in  Zirkulation  erhalten  und  durch  Lunge  und 
GefUße  getrieben  werden ;  Brust  und  Zwerchfell  müssen  sich  heben  zum  Zwecke  des 
Atmens;  die  Verdauung  muß  fortgeführt  und  der  Leib  aufrecht  erhalten  werden 
und  alles  dieses  verbraucht  Kraft.  Man  hat  erkannt,  daß  das  Herz  in  24  Stunden 
eine  Arbeit  verrichtet,  welche  gleichkommt  dem  Heben  eines  Zentners  Gewicht  zu 
der  Höhe  von  1276  m.  Die  Arbeit  des  Atmens  ist  geschätzt  worden  als  ungefähr 
gleich  dem  Heben  des  nämlichen  Gewichtes  zu  der  Höhe  von  200  m.  Die  Summe 
der  übrigen  Arbeit  innerhalb  des  menschlichen  Körpers,  welche  jeden  Tag,  auch 
ohne  das  Zuthun  unseres  Willens  vollzogen  wird ,  hat  man  bis  jetzt  noch  nicht  ge- 
schätzt, allein,  es  ist  ganz  augenfiillig,  daß  die  Arbeitssumme  selbst  des  Trägsten 
eine  sehr  große  ist. 

c.   Das  Laufen. 

Bei  dem  Laufen  wird  der  Körper  vom  Boden  abgeschnellt  durch 
einen  Stoß,  der  von  der  plötzlichen  Streckung  des  vorher  ge- 
beugten Beines  herrührt.  Der  Körper  wird  aber  auch  gleichzeitig 
fortgetragen,  denn  das  sich  streckende  Bein  schnellt  den  Körper  nicht 
allein  in  die  Höhe,  sondern  wirft  ihn  auch  nach  vom.  Das  abwech- 
selnde Emporschnellen  des  Körpers  und  die  forcierte  durch  Muskel- 
aktion  unterstützte   Pendelbewegung   durch   die   Beine   geschieht  mit 


508  Zweiter  Teil.     DriUer  Abschnitt. 

solcher  Geschwindigkeit,  daß  beim  Laufen  der  Körper  einen  Moment 
in  der  Luft  schwebt.  Die  Kunst  wählt  selten  dieses  Moment,  um  das 
Laufen  zu  charakterisieren,  sondern  jenes,  in  welchem  das  eine  Bein 
mit  dem  Boden  in  Berührung  ist,  während  das  andere  seine  Schwingung 
beginnt,  also  hinter  dem  Rumpf  in  der  Luft  schwebt. 

Die  Schnelligkeit  des  Laufens  wird  bei  der  Darstellung  dadurcb 
angedeutet,  daß  der  Abstand  des  Sumpfes  vom  Boden  geringer  ist 
als  bei  dem  Gehen.  Bei  leichtem  Trab  befindet  sich  das  springende 
wie  das  pendelnde  Bein  viel  weniger  in  der  Beugung,  als  bei  schnel- 
lem Lauf,  also  wird  in  dem  einen  Fall  der  Körper  weniger  tiel 
herabsinken  als  in  dem  anderen.  Nicht  allein  die  Schnelligkeit  dei 
Laufes  ist  aber  verschieden,  sondern  auch  die  Art  desselben.  Diente 
hängt  hauptsächlich  davon  ab,  wie  der  Fuß  aufgesetzt  wird.  Setzt 
man  nur  den  Zehenballen  auf  (Zehenlauf),  so  wird  der  Lauf  sehr 
leicht  erscheinen;  wird  jedoch  der  ganze  Fuß  aufgesetzt,  so  erscheint 
die  Bewegung  schwerfälliger.  Femer  ist  der  Eillauf  von  dem  Sprung- 
lauf zu  unterscheiden.  Bei  dem  einen  ist  die  SchneUigkeit,  bei  dem 
anderen  die  Wurfbewegung  größer. 

Die  Erklärung  des  Gehens  wie  des  Laufens  wird  in  den  nächsten 
Jaliren  sich  vervollständigen  und  vertiefen  lassen.  Man  ist  eben 
damit  beschäftigt,  mit  Hilfe  der  sogenannten  Momentaufiiahme  die 
vei-schiedenen  Gangarten  des  Menschen  und  der  Tiere  auf  photo- 
grapliischem  Wege  zu  fixieren,  und  darf  auf  eine  Menge  interessanter 
Ergebnisse  gefaßt  sein. 

d.    Das  Sitzen. 

Unter  Sitzen  versteht  man  jene  Gleichgewichtslage,  bei  welcher 
der  Körper  auf  den  Sitzhöckern  seine  Unterstützung  findet,  auf  denen 
eine  nach  allen  Seiten  wiegende  Bewegung  stattfinden  kann.  Es  giebt 
vielerlei  Ai'ten  des  Sitzens;  wir  gehen  zunächst  von  der  mittleren 
Sitzlage  aus,  bei  welcher  der  Körper  gerade  und  frei  sitzt,  und  die 
Beine  im  rechten  Winkel  gebeugt  vor  der  Bank  ruhen.  Unter  solchen 
Umständen  fällt  die  Scliwerlinie  in  eine  Linie  zwischen  den  beiden 
Sitzhöckeru.  Die  Muskeln  der  unteren  Gliedmaßen  sind  erschlafft, 
der  gestreckte  Rumpf  wird  durch  Zusammenziehungen  der  an  ihm 
befestigten  Muskeln  balanciert.  Das  Hintenüberfallen  wird  durch  die 
inneren  Hüftmuskeln  und  den  geraden  Schenkelmuskel  verhütet,  das 
Vornüberfallen  durch  den  starken  Rückenstrecker.  Der  große  Gesäß- 
muskel gleitet  beim  Niedersitzen  von  den  Sitzhöckem,  die  er  beim 
Stehen  bedeckt,  seitlich  ab,  so  daß  die  Last  des  Rumpfes  auf  den 
mit  einem  Fettpolster  versehenen  Sitzknorren  ruht.     Die   Haut-  und 


Mechanik  der  Stellungen  und  der  Ortsbewegung.  509 

Fettmasse  wird  samt  dem  Gesäßmuskel  seitlich  herausgedrückt  und 
die  hintere  Fläche  des  Oberschenkels  wird  breit.  Ist  die  Unterlage 
hart,  so  entsteht  nach  einiger  Zeit  ein  unbehagliches  Gefühl  in  der 
Haut  des  Gesäßes,  welche  zwischen  den  Knochen  und  die  harte  Unter- 
lage durch  das  Körpergewicht  gepreßt  wird.  Also  auch  hier  kommt 
das  Körpergewicht  in  Betracht,  ebenso  wie  sein  Schwerpunkt,  der  sich 
jetzt  dicht  am  neunten  Brustwirbel  befindet.  Das  Sitzen  ist  bekannt- 
lich keine  Ruhelage  für  den  ganzen  Körper,  sondern  nur  vorzugsweise 
für  die  Beine,  denn  die  Muskeln  des  Rumpfes  befinden  sich  stets  in 
einer  gewissen  Spannung,  wenn  sie  auch  nicht  sehr  groß  ist.  Nach 
längerem  Sitzen  ermüden  darum  auch  die  Muskeln  an  dem  Rumpf, 
und  wir  suchen  nach  Erleichterung,  nach  einer  anderen  Art  des  Sitzens. 

Die  Aufgabe,  den  Körper  beim  Sitzen  zu  halten,  ist  keine  so  geringe,  wenn 
man  erwägt,  daß  die  Wirbelsäule  gegliedert  ist,  also  einen  hohen  Grad  von  Beweg- 
lichkeit besitzt  und  daß  das  Becken  mit  einem  Kugelgelenk  von  vortrefflichster 
Konstruktion  auf  dem  Schenkclknochen  ruht  An  der  Wirbelsäule  zieht  überdies 
das  ganze  Gewicht  der  Arme,  fenier  der  Kopf  und  sämtliche  in  Brust  und  Bauch- 
höhle eingeschlossenen  Eingeweide.  Würde  dieses  Gewicht  ungehindert  wirken 
können,  so  sänke  es  so  weit,  bis  das  Maximum  der  Krümmimg  dieser  beweglichen 
Säule  erreicht  wäre.  Der  nächst  beste  Versuch  am  eigenen  Körper  kann  uns  über- 
zeugen, daß,  sobald  wir  die  Muskeln  des  Rückens  abspannen,  der  Rumpf  die  ge- 
bückt€  Haltung  annimmt.  Zweifler,  welche  die  kräftige  Mitwirkung  der  Rumpf- 
muskeln für  das  aufrechte  Hitzen  leugnen,  mögen  sich  an  die  Schwankungen  erin- 
nern, welche  der  Oberkörper  eines  Schlafenden,  der  auf  einem  Sitze  ohne  Rücklehnc 
ruht,  beständig  zeigt.  Die  Herrschaft  über  die  Muskeln  ist  im  Schlafe  herabges(»tzt 
und  mit  dem  Aufhören  des  Wille ns-Impulses  sinkt  die  Masse  bald  nach  vorne,  bald 
nach  der  Seite;  wenn  der  Schlaf  tief  geworden  ist,  stürzt  sie  endlich  zur  Erde, 
ist  er  weniger  tief,  dann  entstehen  im  rechten  Augenblick  noch  Reflexbewegungen, 
welche  den  Schweq)unkt  in  eine  günstige  Lage  zurückführen.  Kräftige  Personen 
sitzen  gerade,  schwache  und  ermüdete  stützen  den  Oberkörper  auf  die  Arme  und 
ein  Zeichen  höchster  Kraftlosigkeit  ist  es,  wenn  der  Sitzende  in  sich 
zusammensinkt. 

Die  vordere  Sitzlage  ist  jene  Art  des  Sitzens,  bei  der  der 
Körper  vorgebeugt  ist,  wobei  er  sich  entweder  mittels  der  Arme  auf 
einen  Tisch  stemmt  oder  wenn  dies  nicht  möglich  ist,  sich  auf  einen 
Oberschenkel  stützt.  Dabei  geht  die  Schwerlinie  vor  den  Sitzknorren 
herab.  Der  Sitzende  nimmt  also  noch  die  Arme  zu  Hilfe,  um  durch 
sie  den  Rumpf  tragen  zu  lassen  und  die  Muskeln  zu  entlasten.  Wir 
sehen  deshalb,  daß  der  am  Tisch  Sitzende  bald  den  einen,  bald  den 
andern  Arm  auflegt,  sich  mit  der  Brust  anlehnt,  mit  den  Händen  den 
Rand  des  Sitzes  faßt,  um  den  Rückenmuskeln  wenigstens  für  einige 
Zeit  ihre  Last  abzunehmen.  Bekannt  ist  jene  Haltung,  bei  welcher 
die  Ellbogen  auf  den  Tisch  gestemmt  und  der  Kopf  in  die  hohle  Hand 
gelegt  wird.  Kinder  entdecken  von  selbst  diese  Stellung  und  sie  ist 
bei   ihnen  so  häufig  zu   sehen,    daß   sie  geradezu  charakteristisch  ist. 


510 


Zwnter  Teil.     Dritter  Abnihiiitt. 


Auf  dem  berühmten  Werke  Eaphael's  ,  der  Sixtinischen  Madonu. 
Htemmt  einer  jener  Engel  am  Fuße  des  Bildes  seine  Hand  gegen  du 
Köpfchen  und  in  den  lieblichen  Darstellungen  von  Kindern  anderer 
Meister  giebt  es  viele  Varianten  ein  und  derselben  Erscheinung.  Nicht 
Laune  treibt  daa  Kind  dazu,  Kopf  und  Rumpf  zu  stützen,  sonilen 
die  Ermüdung  der  Kückenmuskeln,  welche  durch  die  Schwere  des 
Rumpfes  bedingt  ist. 


I    Ende  d.  Bnutkortn. 

Pal  te  EwiadiaiBn» 

korb  imd  NibcL 

1  FkII«,  w«ldie  mitdH 
dritten  Zvucbca- 
sehne  dcaj^mlt* 
naachidiukck  io 
ZusanimeDhug 
stellt. 


Fig.  1. 


Kiipfersticli  von  Mabc  Anton. 


Eine  andere  Form  der  vorderen  Sitzlage  ist  möglich  durch  Anf- 
stcmmcn  des  Armes  auf  den  Oberschenkel,  wie  sie  die  Fig.  161 
darstellt.  Der  Rumpf  ist  in  geringem  Maß  vornüber  gebeugt,  weil 
das  rechte  Bein  so  Iiocli  gestellt  ist,  daß  es  den  rechten  Ellbogen 
leicht  erreicht.  Der  Körper  ist  gleichzeitig  nach  rechts  geneigt,  weil 
eben  der  rechte  Arm  das  rechte  Beiu  zur  Stütze  sucht.  Das  linke 
Bein  ist  gestreckt,  ihm  ist  weniger  Last  übertragen,  die  Hauptmas-e 
des  Gewichtes  i'uht  vielmehr  auf  dem  rechten  Sitzhöcker. 

Die  hintere  Sitzlage  ist  durch  das  Niedergehen  der  SchwerUnie 
hinter  die  Sitzhücker  charakterisiert.     Das  Hintcnüberfallen  wird  ver- 


Mechanik  der  Stellungen  und  der  Ortsbewegung.  511 

hindert  durch  Anlehnen.  So  liegt  man  in  einem  Armstuhl  mit  ge- 
neigter Bücklehne,  die  Beine  gestreckt;  sie  stützen  sich  auf  den 
Boden,  um  im  Falle  des  Abrutschens  zum  Stemmen  parat  zu  sein, 
oder  sie  sind  übereinander  gelegt. 

Die  Bewegungen  des  menschUchen  Körpers  bieten  einen  rei- 
chen Wechsel  und  spielen  sich  vor  unseren  Augen  in  unendlichen 
Verschiedenheiten  ab.  Es  sei  nur  an  den  Tanz  erinnert,  der  bei 
den  Europäern,  wie  so  vieles,  der  Mode  unterworfen  ist.  Im  Beginn 
dieses  Jahrhunderts  hebte  man  die  graziösen  und  gemessenen  Schritte, 
jetzt  wird  ein  lebhafteres  Tempo  beliebt  und  zahllos  sind  die  Varianten 
bei  den  Naturvölkern.  Bei  dem  Tanz  bewegt  sich  der  Körper  frei. 
Es  giebt  aber  noch  eine  sehr  große  Reihe  von  Bewegungen,  wobei 
der  Körper  sich  in  einem  Kampf  mit  mechanischen  Widerständen  be- 
findet: wie  das  Tragen,  das  Heben,  das  Niederlassen,  das  Ziehen, 
das  Drücken  von  Lasten.  Dazu  kommen  Bewegungen,  welche  man 
mit  dem  Namen  Hieb,  Stoß  und  Wurf  bezeichnet.  Endlich  hat  sich 
die  ideale  Kunst  noch  eine  Aufgabe  gestellt,  welche  von  der  Natur 
nicht  gelöst  ist,  nämlich  fliegende  und  schwebende  Gestalten  zu  bilden, 
auf  welche,  wenn  man  sie  sich  als  existierend  vorstellt,  entweder 
die  Schwere  keine  Kraft  mehr  ausübt,  oder  welchen  ein  Bewegungs- 
apparat (Flügel)  angedichtet  ist. 

Wir  müssen  uns  mit  dieser  Andeutung  begnügen,  und  verweisen 
auf  Habless  und  H.  v.  Meter,  welche  diese  Bewegungsarten  und  die 
dabei  in  Betracht  kommenden  Schwerpunktsfragen  berücksichtigt  haben, 
und  auf  einige  neuere  Schriften,  welche  den  Weg  zeigen,  auf  dem  wir 
neue  und  unerwartete  Aufschlüsse  erlangen  werden. 

Habless  a.  a.  0.  III.  Buch.  H.  v.  Meyer,  die  Statik  und  Mechanik  des  mensch- 
lichen Knochengerüstes.     Leipzig  1873.    Mit  43  Figuren  in  Holzschnitt 

L.  Olivier,  La  Photographie  du  mouvcment  Revue  scientifique  23  Dec.  1882. 
Nr.  26.  Mit  Photogravur-Bildem  des  Pferdes  im  Trab,  im  Schritt  und  im  Sprung; 
eines  Vogels  (Möve);  femer,  eines  Mannes,  der  läuft,  und  eines  andern,  der  über 
ein  Hindernis  hinwegspringt. 

Marey,  la  machine  animale.  Bibliothöque  scientif.  internationale  G.  Bailu^re  et 
Cie.  1873. 

J.  D.  B.  Stillmann,  The  Horse  in  Motion  as  shown  by  instantaneous  Photo- 
graphy  with  a  study  on  animal  Mcchanics.  Boston.  James  R.  Osgood  &  Co.  1882.  4°. 
127  Seiten  mit  107  Tafeln. 


512  Zweiter  Teil.     Vierter  Abechnitt. 


Vierter  Abschnitt. 

Proportionslehre  des  menschlichen 

Körpers. 

Das  Wort  Proportion  bedeutet  Ebenmaß,  und  die  Lehre  über 
den  zahlenmäßigen  Nachweis  eines  solchen  Ebenmaßes  heißt  die  Ptch 
portionslehre.  Mit  Hilfe  eines  Grundmaßes,  des  Modul ^,  wird  die 
Norm  (d.  h.  die  normale  Länge  und  Breite)  des  menschlichen  Eörpen 
und  seiner  Teile  festgestellt.  Die  Regel,  welche  man  aus  diesen  Stadien 
für  den  praktischen  Gebrauch  entwirft,  hat  man  Kanon*  genannt 

Die  Proportionslehre  hat  ein  doppeltes  Ziel.  Sie  sucht  die  rela- 
tiven und  absoluten  Maße,  welchen  die  ganze  Gestalt  und  deren  ein- 
zelne Glieder  innerhalb  verhältnismäßig  enger  Grenzen  unterworfen 
sind,  darzulegen.  In  diesem  Sinne  verfolgt  sie  ein  wissenschaftliches 
Problem  und  bleibt  nicht  allein  bei  dem  Menschen  stehen,  sondern 
erstreckt  ihre  forschende  Thätigkeit  auch  auf  die  Tiere,  die  Pflanzen, 
selbst  auf  leblose  Erscheinungen,  wie  den  Kristall,  oder  die  Schöpfungöi 
der  Architektur. 

Abgesehen  von  dieser  streng  wissenschaftlichen  Aufgabe  verfolgt 
sie  aber  auch  das  rein  praktische  Ziel,  einfache  Regeln  all'  denen  dar- 
zubieten, welche  menschliche  oder  andere  Körper  künstlerisch  gestallen 
wollen. 

Die  folgenden  Angaben  sind  nur  von  diesem  letzten  Gesichts- 
punkt aus  gemacht.  Um  die  zahlreichen  Anstrengungen  nach  der  wissen- 
schaftlichen Seite  der  Proportionslelu*e  hin  beurteilen  zu  können,  finden 
sich  an  dem  Schluß  dieses  Abschnittes  einige  der  namhaftesten  Werke 
citiert. 

Praktische  Bedürfnisse  waren  es,  welche  die  Proportionslehre  des 
menschlichen  Körpers  geschaffen  haben.  Schon  bei  den  Ägypten], 
die  ja  das  Nilland  mit  Statuen  überschüttet  haben,  stellte  sich  das 
Bedürfnis   heraus,    für  die  Herstellung  ihrer  menschlichen  Bildwerke 


^  Modul  vom  lateinischen  Modulus,  ein  Maß,  Maßstab;  daher  Model,  in  der 
Bedeutung  als  Gießform.  Auch  Modell  kommt  auf  dem  Umweg  durch  das  italienische 
Wort  modclh  von  dem  lateinischen  Wort.     Ebendaher  modellieren,  modeln. 

-  Kanon  griechisch  Kanon  heißt  die  Regel,  Richtschnur,  Ordimngsvonjchrift 
auch  Kirchengesetz  und  Verzeichnis  d(*r  heiligen  Schriften.  Daher  kanonische 
Bücher,  kanonisches  Recht,  und  Kanoniker,  wie  die  Domherren  bisweilen  heißen. 


PropoiÜonalehre  des  mensohlicheo  Körpen.  513 

nach  einer  bestimmten  Begel  zu  arbeiten.  Bei  den  Griechen  hat 
PoLYKLET  von  Sjkone  den  sog.  Lanzenträger  (Doryphorus)  hergestellt, 
welcher  den  griechischen  Künstlern  zur  Zeit  des  Pebikles  und 
noch  lange  später  der  Kanon  für  ihre  Schöpfungen  gewesen  sein 
soll.  Diesem  Künstler  zu  Ehren  gab  Schadow,  der  kenntnisreiche 
Direktor  der  Berliner  Akademie  der  bildenden  Künste,  seinem  großen 
Werk:  „Von  den  Maßen  des  Menschen  nach  Geschlecht  und  Alter" 
den  Titel  ,,Polyklef'. 

Nach  den  Angaben  eines  römischen  Architekten  aus  der  Augustei- 
schen Zeit,  des  Vitruvius  Pollio,  betrachteten  schon  die  Griechen  den 
menschlichen  Körper  achtmal  höher  als  das  Haupt.  Andere  Künstler 
und  Forscher  auf  dem  Gebiet  der  Proportionslehre  haben  eine  andere 
ISinheit  angenommen,  so  Leonbatista  Albebti  die  Fußlänge,  Jobibert 
die  Nase,  Gaeüs  die  Rückgratslänge  des  Neugeborenen.  Der  Maßstab, 
mit  dem  man  mißt,  ist  aber  an  sich  völlig  gleichgültig.  Mit  jedem 
solchen  Modulus  können  die  Dimensionen  aller  Körperteile  entworfen 
werden.  Man  kann  den  gewählten  Modulus  wieder  in  kleinere  gleich- 
heitliche Teile  gliedern,  und  so  den  Kanon  noch  melir  verschärfen. 
Wenn  in  den  folgenden  Blättern  die  Kopfhöhe  als  Modul  verwendet 
wird,  so  geschieht  es,  weil  sie  als  ein  von  der  Figur  selbst  gegebenes 
Maß  manche  Vorteile  bietet.  Auch  haben  sich  gerade  dieser  Maß- 
einheit unzählige  Künstler  bedient  und  unter  diesen  kein  geringerer 
als  LiOKABDO  DA  ViNCi,  SO  daß  auch  ein  historischer  Grund  für  die 
Beibehaltung  dieser  Maßeinheit  spricht.  Überdies  kann  die  Propor- 
tionslehre in  der  Praxis  keine  andere  Aufgabe  erfüllen,  als  die  Künstler 
vor  groben  Fehlern  zu  schützen.  Man  muß  sich  in  der  Praxis  mit 
einigen  wertvollen  Angaben  begnügen,  denn  die  Figuren  stehen  nicht 
alle  kerzengerade  auf  der  Leinwand,  oder  auf  dem  Postament,  und 
alle  unsere  Studien  über  die  Proportionen  beziehen  sich  nur  und 
können  sich  nur  auf  die  senkrechte  Haltung  beziehen.  Dazu  kommt 
noch,  daß  die  Angaben  über  die  Meßpunkte  wegen  der  Beweglichkeit 
des  Körpers  und  der  verborgenen  Lage  der  Knochen  stets  etwas 
schwankendes  haben  und  nur  eine  relative  Genauigkeit  erreichbar  ist. 
So  scheint  es  mir  denn  wohl  gerechtfertigt,  an  dem  historischen  Modul 
der  Kopfhöhe  festzuhalten. 

A.    Die  Proportion  des  Erwachsenen. 

1)  Die  Proportion  der  Körperhöhe. 

Der  Körper  eines  ausgewachsenen,  normal  gebauten  Menschen, 
Mann  oder  Weib,  kann  bei  aufrechter  Stellung  auf  acht  Kopfhöhen 
angenommen  werden. 

KOLLMAMN,  PUiilscbe  Anatomie.  83 


Zirdtet  Tdl.    Tioter  Abadiattt. 


Als  EopffaOb»  gilt  die  Entferniing  tod 
dem  höchsteD  Punkt  des  Scheitels  bis  nm 
Kinn,  projiziert  auf  eine  senkrechte  Linie 
wie  in  der  Fig.  1S2  Nr.  i.  Dieser  HaßsUli 
ist  an  zwei  in  aufrechter  Haltung  gegebena 
Abbildungen  des  Menschen  angelegt,  <lk 
eine  zeigt  diesen  Modul  auf  die  Seit«iu- 
sicbt,  die  andere  Fig.  163  auf  die  Vorder- 
ansicht übertragen.  Der  Modul  der  Kopf- 
höbe trifft  in  beiden  Figuren  korregpoo- 
dierende  Punkte: 

Die  erste  Eopfhöhe  endigt  an  dem 
Kinn. 

Die  zweite  Eopfhöhe  trifft  die  Brust- 
warzen, doch  nur  dann,  wenn  der  Blick  und 
der  Kopf  horizontal  gerichtet  sind. 

Die  dritte  Kopfhöhe  trifft  drei  Qner- 
Snger  oberhalb  des  Nabels. 

Die  vierte  Kopfhöhe  geht  durch  du 
Schambeim. 

Die  fünfte  Kopfltdhe  schneidet  den 
Oberschenkel  an  dem  unteren ,  äußerlich 
sichtbaren  Ende  der  Heitermuskeln,  oder  an 
der  Übergangsstelle  des  Schiieidermuskds 
auf  die  innere  Schenkeldäcbe. 

Die  sechste  Kopfböhe  geht  durch  die 
Schieubeinstacheln. 

Die  siebente  Kopfhöhe  geht  durch 
den  Unterschenkel  drei  Querfinger  unterhalb 
des  innern  Kopfes  des  Zwillingswudenmuskeh. 

Die  achte  Kopfhöhe  erstreckt  sich  tob 
Nr.  T   bis  zu  der  Grundfläche. 

Um  die  Knochenpunkte  kennen  zu  ler- 
nen, welche  dieser  Modul  berQhrt,  ist  in  die 
linke  Körperhälfte  der  Vorderansicht  das 
Skelett  eingezeichnet.  Es  ergiebt  sich  fol- 
gendes : 

Die  erste  Kopfhöhe  trifft  auf  die  Grenze 
zwischen  dem  vierten  und  fünften  Halswirbel. 
(Vergleiche  auch  die  Figuren   166  und  !6J.) 

Die  zweite  Kopfhöhe  trifft  auf  das 
Brustende  der  vierten  Rippe. 


ProportioulehTe  des  mcntdiliclieii  K5rp«n. 


Die  dritte  Kopfhöhe  trifft 
auf  die  Verbindung  des  zweiten 
Lendenwirbels  mit  dem  dritten. 

Die  vierte  Kopfhöhe 
schneidet  die  Oberschenkel- 
knochen dicht  unterhalb  des 
-großen  Rollhögels  und  des  un- 
teren Randes  der  Schanifuge. 

Die  fünfte  Kopfhöhe  geht 
durch  den  Oberschenkelknochen, 
ohne  einen  charakteristischen 
Knochenpunkt  zu  treffen. 

Die  sechste  Kopfhöbe 
schneidet  den  durch  die  Haut 
sieht-  und  fühlbaren  Schien- 
beinstachel. 

Die  siebente  Kopf  höhe 
schneidet  die  Unterschenkel- 
knochen, ohne  ein  von  außen 
kennbares  Merkmal  zu  treffen. 

Die  achte  Kopfhöhe  iällt 
mit  der  StützHäche  des  Körpers 
'  zusammen. 

Das  Hauptergebnis  der  An- 
wendung unseres  Moduls  an  die 
menschliche  Gestalt  gipfelt  in 
folgenden  Sätzen. 

Die  ganze  Körperhöhe 
wird  durch  eine  Linie  an 
dem  unteren  Band  der  Scham- 
fuge halbiert.  Was  darüber, 
heißt:  überhöhe,  was  darunter, 
heißt:   Unterhöhe  des  Körpers. 

Die  Oberhöhe  ist  die 
Entfernung  vom  Scheitel  zum 
Schambein  bei  '  horizontaler 
Richtung  des  Kopfes  und  um- 
faßt vier  Kopfböhen.  Die 
Unterhöhe  oder  die  Höhe 
der    Beine    betrtlgt   von    dem 


516  Zweiter  Teil.     Vierter  Abfldmitt. 

unteren  Rand  der  Schamfiige  bis  zu  der  Gtundfläche  ebenfalls  Tier 
Höhen  des  Modul. 

Kopf,  Hals  und  Brust  entsprechen  Y^  der  Körperhöhe 
(vergleiche  die  Figuren),  denn  sie  messen  zusammen  zwei  Kopfbohen 
=  Ys  =  Vi  ^^  Körperhöhe. 

Die  Entfernung  von  den  Brustwarzen  bis  zu  den  Schamteilen. 
d.  i.  bis  zu  dem  Spaltrand  zwischen  den  Schenkeln ,  beträgt  Y^  der 
Körperhöhe  =  zwei  Kopfhöhen. 

Vom  Schenkelspalt  bis  zu  dem  Schienbeinstachel  sind  zwei 
Kopfhöhen  enthalten  =   V4  der  Körperhöhe,   und    ebensoviel 

# 

beträgt  die  Entfernung  des  Schienbeinstachels  von  der 
Grundfläche. 

Die  auf  die  zweite  Kopfhöhe  gezogene  Horizontale  (Figg.  162 
u.  163  Nr.  2)  trifft  an  dem  frei  herabhängenden  Arm  den  Ansatz 
des  Deltamuskels. 

Von  dem  Ansatz  des  Deltamuskels  bis  zu  dem  Spalt  des 
Ellbogengelenks  erstreckt  sich  eine  Kopfhöhe:  Figg.  162  u.  1(>3 
Nr.  3. 

Von  dem  Ellbogengelenk  bis  zu  dem  Handgelenk  beträgt 
die  Entfernung  eine  Kopfhöhe. 

Die  Entfernung  von  dem  Ansatz  des  Deltamuskels  bis  zum  Hand- 
gelenk beträgt  also  zwei  Kopfhöhen.  Das  Handgelenk  liegt  bei  dem 
frei  herabhängenden  Arm  in  gleicher  Höhe  mit  dem  unteren  Raud 
der  Schamfuge.  Rechnet  man  die  Länge  der  gestreckten  Hand 
hinzu,  so  erreicht  dieselbe  die  Mitte  des  Oberschenkels. 

Während  die  bis  jetzt  angegebenen  Maße  fiir  die  ganze  Körper- 
höhe den  praktischen  Anforderungen  in  mancher  Hinsicht  genügende 
Sicherheit  gewähren,  zeigen  sich  doch  einige  Schwierigkeiten,  um  mit 
demselben  Maß,  in  ebenso  sicherer  Weise  die  Länge  des  Armes  zu 
bestimmen.  An  einer  Figur,  bei  welcher  der  Arm  herabhängt,  ist  die 
Anwendung  unseres  Modul  noch  verhältnismäßig  einfach.  Sobald  je- 
doch irgend  eine  bewegte  Stellung  zu  untersuchen  ist,  wird  die  An- 
wendung wesentlich  erschwert.  Bei  einer  Beugung  des  Armes  bleibt 
nur  eines  dieser  beiden  Maße  verhältnismäßig  sicher,  nämlich  dasjenige 
für  die  Länge  des  Vorderarmes.  Stets  läßt  sich  mit  ziemlicher  Ge- 
nauigkeit durch  die  Kopfliöhe  die  richtige  Proportion  des  Vorderarmes 
kontrollieren,  weil  vom  Handwurzelgelenk  bis  zum  Ellbogengelenk  keine 
Verschiebungen  stattfinden.  Schwieriger  ist  die  genaue  Prüfung  des 
Abstandes  vom  Deltamuskel  abwärts,  weil  die  Beugung  d.  i.  die  Ver- 
schiebung des  Ellbogens  auf  der  Streckfläche  des  Armes,  und  die  Ver- 
kürzung der  Muskeln  auf  der  Beugefläche  das  Urteil  über  die  Länge 
des  Oberarmes  erschweren.    Immerhin  wiid  die  Benutzung  dieses  Maß- 


Propoiüonslehre  des  menschlichen  Körpen.  517 

Stabes  einen  erheblichen  Vorteil  gewähren,  sobald  man  sich  an  die 
Konstruktion  des  Ellbogengelenkes  und  an  die  scheinbare  Verlängerung 
des  Oberarms  bei  der  Beugung  erinnert. 

Mit  Hilfe  des  eben  für  den  erwachsenen  Menschen  gegebenen 
Kanon  lassen  sich  nicht  allein  Entwürfe  vor  der  endgültigen  Vollendung 
prüfen,  sondern  der  nämliche  Kanon  kann  schon  bei  der  Konzeption 
eines  Entwurfes  mit  großem  Vorteil  Anwendung  finden. 

1.  Beispiel.  Bei  einer  Kolossal figur  von  4  m  inuB  nach  unserem  Kanon  die 
Oberhöhe  und  die  Unterhöhe  je  2  m  betragen.  Die  Kopfhöhe  wird  V»  ™>  ebenso- 
viel der  Vorderarm  und  der  Unterschenkel  betragen  müssen.  Von  der  Brustwarze 
bis  zum  Schenkelspalt  beträgt  die  Entfernung  1  m,  denn  der  Kanon  verlangt  zwei 
Kopfhöhen. 

2.  Beispiel.  Anwendung  des  Kanon  auf  eine  Figur  von  1.76  m  Körperhöhe 
(mittlere  Größe  eines  Mannes).  Man  teile  diese  Zahl  mit  8,  weil  die  Kopfhöhe 
achtmal  in  der  Körperhöhe  enthalten  ist,  dann  ergiebt  sich: 

Kopfhöhe 22  cm 

Vom  Scheitel  zur  Brustwarze 44  „ 

„          „        zum  Schambein ^8  „ 

„          „          „     Schienbeinstachel 132  „ 

Unterlänge 88  „ 

Unterschenkel  bis  zur  Grundfläche ^^  n 

Vom  Ellbogengelenk  zur  Handwurzel 22  „ 

Vom  Ansatz  des  Deltamuskels  bis  zum  Ellbogengelenk  22  „ 

Allgemeine  Kegel  für  die  Anwendung  des  Kanon  von 
acht  Kopf  höhen.  Man  teile  in  die  Körperhöhe,  deren  Zahl  gleichviel 
ob  in  Metern  oder  Centimetern  oder  Millimetern  gegeben  sei,  mit  der 
Ziffer  acht.  Die  gefundene  Zahl  giebt  die  Kopfhöhe,  die  Länge  des 
Oberarmes,  des  Vorderarmes;  mit  4  multipliziert  wird  die  Zahl  für  die 
Oberhöhe  und  die  Unterhöhe  erhalten.  Mit  5  multipliziert  ergiebt  sich 
die  Entfernung  von  der  Scheitelhöhe  bis  zum  unteren  Ende  der  Reiter- 
muskeln, dort  wo  ihre  Kontur  unter  dem  Schneidermuskel  verschwindet; 
mit  6  multipliziert,  findet  sich  die  Zahl  für  die  Entfernung  der  Scheitel- 
höhe von  dem  Schienbeinstachel  u.  s.  w. 

Für  manche  Bedürfnisse  ist  die  Kopfhöhe  ein  zu  großer  Modul. 
Um  weitergehenden  Wünschen  zu  entsprechen,  hat  man  dieses  Grund- 
maß  in  fünf  Teile  geteilt.  (Siehe  die  punktierten  Linien  zwischen 
den  ausgezogenen  an  den  Figg.  162  u.  163.)  Diese  kleinere  Einheit 
ist  in  jeder  proportionierten  menschlichen  Figur  5  X  ^  ==*  '^^  ™*^ 
enthalten.  Der  Abstand  zwischen  zwei  punktierten  Linien  entspricht 
also  Y40  der  Körperlänge. 

Für  die  Proportionen  des  Kopfes  ergiebt  sich  folgendes:  Die  Ent- 
fernung, der  Scheitelhöhe  bis  zur  Haargrenze  beträgt  Y40  der  Körper- 
höhe oder  Ye  ^^^  Kopfhöhe. 


518  Zweiter  Teil.     Vierter  AbschniU. 

Die  Höhe  des  ganzen  Gesichtes  von  der  Haargrenze  (Knunmiing 
des  Stirnbeins  zum  Scheitel)  bis  zu  dem  Kinn  beträgt  Y5  der  Kopfhöhe. 

Die  Länge  des  Gesichtsschädels  von  dem  oberen  Augenhöhlen- 
rand  gemessen  bis  zu  dem  Kinn  beträgt  '/s  ^^^  Kopf  höhe ,  von  der 
Lippenspalte  bis  zum  Kinn  Y5  der  Kopf  höhe.  (Vergleiche  die  Fig.  163.) 

Aus  der  Vergleichung  der  ganzen  Gesichtshöhe  =  ^/s  der  Kopt 
höhe  mit  der  Hand  zeigt  sich,  daß  ihre  Länge  ebenfalls  */^  beträgt 
Die  Annahme  ist  schon  unendlich  alt,  daß  Handlänge  und  Gesichte- 
höhe einander  gleich  sind. 

Nachdem  das  Gnindmaß,  mit  dem  die  Proportion  des  menachlichen  Körpen 
gesucht  wird,  gleichgültig  ist,  läßt  sich  mit  dem  gleichen  Erfolg  auch  die  Gtachti' 
länge,  oder  die  Handlänge  als  Modul  benutzen. 

Jtuin  de  Ärphe  y  ViUafräne^  aus  einer  nach  Spanien  übergesiedelten  deatKlm 
Künstlerfamilie  Namens  Arfe,  nahm  fiir  seine  Figuren,  fär  Männer  und  Weiber, 
zehn  Gesichtslängen  als  Maß  des  ganzen  Körpers  an.  Durch  Abgrafen 
der  Figuren  162  und  163  mit  dem  Zirkel  wird  man  sich  überzeugen,  daB  waA 
eine  Proportionslehre,  welche  auf  diesem  Modul  fußt,  vollkommen  brauchbar  ist 

Wendet  man  diesen  verkleinerten  Modul  von  Y40  Körperlänge  zur 
Verschärfung  des  Kanon  an,  so  empfiehlt  es  sich,  nicht  nur  horizon- 
tale Dimensionen  von  dieser  Länge  auf  die  menschliche  Gestalt  auf- 
zutragen, sondern  auch  longitudinale  Dimensionen.  Dies  ist  in  Fig.  163 
zwischen  Nr.  1  u.  2,  also  zwischen  Kinn  und  Brustwarze  (von  der  Figur 
aus  links),  geschehen. 

Die  Methode  mit  diesem  verkleinerten  Modul  zu  arbeiten,  ist 
vollständig  die  nämliche,  wie  jene  mit  dem  großen  Modul.  Die  Prüfung 
einer  Figur  auf  ihr  Ebenmaß  geschieht  dadurch,  daß  sie  zunächst  in 
acht  Theile  entsprechend  den  acht  Kopfhöhen  zerlegt  und  dann  dieser 
Hauptkanon  noch  vervollständigt  wird  durch  die  Zerlegung  jedes 
Abschnittes  in  fünf  kleinere.  Die  in  den  Abbildungen  gegebene 
Vorder-  und  Seitenansicht  des  Körpers  gestattet  eine  solche  weiter- 
gehende Prüfung.  Nach  den  bereits  gegebenen  Beispielen  genügt  dieser 
Hinweis  auf  die  Verwendbarkeit  der  beiden  Abbildungen  Fig.  162 
u.  163  für  die  Prüfung  des  Ebenmaßes  mit  Hilfe  des  verkleinerten 
Modul. 

Diese  Abbildungen  können  auch  als  Grundlage  für  jede  belie- 
bige  Vergrößerung  dienen,  überträgt  man  die  Hauptpunkte  des 
Kanon  auf  eine  senkrechte  Linie,  die  je  nach  Bedürfnis  2  mal  oder 
X  mal  größer  ist,  als  die  Abbildung,  so  lassen  sich  sofort  die  acht 
Hauptpunkte  des  Kanon  mit  dem  Zirkel  an  diese  Linie  übertragen. 

Beispiel:  es  sei  eine  Figur  aufzubauen,  zehnmal  so  groß,  wie 
der  vorliegende  Kanon,  so  handelte  es  sich  um  ein  Gerüste,  von  lü 
X  Länge  des  Kanon.     Der  Modul  entspräche  für  diese  Statue  10  X 


Propoiüonftlehre  des  menschlichen  Körpers.  519 

der  Kopfhöhe  unserer  Abbildung.  Ist  diese  Länge  auf  einen  Maßstab 
übertragen,  so  können  alle  Hauptpunkte:  Höhe  der  Brustwarze,  des 
Nabels,  des  Schambeins,  des  Ober-  und  Unterschenkels  aufgetragen 
werden.  Für  ein  Thonmodell  lassen  sich  auf  diese  Weise  sofort  sichere 
Angaben  für  das  Gerüste  machen. 

Auch  für  eine  sitzende  Figur,  sei  sie  zu  Pferd  oder  auf  einer 
anderen  Unterlage  gedacht,  ist  der  in  den  Abbildungen  gegebene 
Kanon  verwendbar.  Der  Mensch  ruht  bei  der  sitzenden  Haltung  vor- 
zugsweise auf  den  beiden  Sitzhöckem;  die  Höhe  des  Sitzenden  beträgt 
also  von  der  SitzHäche  bis  zu  dem  Scheitel  etwas  mehr  als  die  halbe 
Körperlänge  oder  vier  Kopfhöhen  unseres  Kanon.  (Vergleiche  die  Figg. 
162  u.  163.)  Die  Anwendung  des  Kanon  kann  nun  so  geschehen, 
daß  die  Oberlänge  in  vier  gleiche  Teile  geteilt  wird.  Man  erhält  da- 
durch nicht  allein  die  Kopf  höhe,  die  Höhe  der  Brustwarze,  die  Ent- 
fernung des  Nabels  u.  s.  w.,  sondern  noch  mehrfache  Anhaltspunkte, 
sobald  die  Teilung  noch  weiter  getrieben  wird,  und  die  so  erhaltenen 
Hauptentfernungen  aufs  Neue  übereinstimmend  mit  dem  Kanon  in 
weitere  fUnf  Teile  zerlegt  und  mit  der  Vorder-  und  Seitenansicht  der 
Figuren  verglichen  werden. 

Mit  Hilfe  des  griechischen  oder  jedes  anderen  Kanon  läßt  sich 
für  jeden  einzelnen  Fall  folgende  Art  der  Vergrößerung  bequem  her- 
stellen : 

Man  konstruiert  auf  einer  Leinwand  oder  an  der  Wand  des  Ateliers 
ein  für  allemal  eine  senkrechte  Linie  A.  B.  von  2 — 4  m  Höhe  und 
teilt  sie  in  acht  Teile.  Jeder  solche  Teil  entspricht  einer  Kopfhöhe 
des  Kanon,  und  diese  Einteilung  bezeichnet  man  mit  den  ent- 
sprechenden Zahlen.  Von  den  einzelnen  Punkten  zieht  man  gegen 
die  in  großer  Entfernung  auf  der  gleichen  Wand  angeklebte  Kgur, 
sei  es  Fig.  162  oder  163,  konvergierende  Linien.  Die  senkrechte 
Linie  der  Figuren,  die  wir  mit  a  b  bezeichnen  wollen,  muß  parallel 
sein  zu  der  großen  Linie  A  B.  Zieht  man  in  dem  Raum  zwischen 
beiden  Linien  A  B  und  a  b  mehrere  Parallelen,  so  sind  mit  einem 
Schlag,  je  nach  der  Distanz  der  Linien,  die  Kanones  fiir  Figuren 
von  Yi  m  bis  4  m  in  beliebiger  Menge  gegeben. 

Dieses  Verfahren  ist  längst  bekannt  und  wegen  seiner  außerordent- 
lichen Einfachheit  überall  anwendbar,  aber  dennoch  wenig  im  Gebrauch. 

Bei  der  Herstellung  des  Thonmodelles  für  Statuen  macht  es  nach  diesen  An- 
gaben keine  Schwierigkeiten,  die  Richtigkeit  der  Uauptproportionen  zu  prüfen.  Es 
ließe  sich  dadurch  leicht  der  so  häufige  Fehler  vermeiden,  daß  der  Oberkörper  zu 
kurz  ausfällt.  An  vielen  Statuen  der  Neuzeit  wiederholt  sich  die  Sünde  gegen  diese 
einfachste  und  augenfiälligste  Regel  der  Proportionslehre  wie  eine  erbliche  Krank- 
heit. Der  Oberkörper  ist  zu  kurz,  und  dadurch  gewinnt  es  den  Anschein ,  als  ob 
die  bedeutenden  Männer  der  Vergangenheit  an  einer  Verkümmerung  der  Wirbel- 


520 


Zmil«!  TeU.    Vierter  AbMimlU. 


süiiIp  g>'litli?n  hätt«n.    Die  Rcid^  scheinen  aus  dem  wisichen  Rauch  hprvnrziikDmn 
statt  in  dem  festen  Knoehengürtel  des  Beckens  ihren  Anfang  zu  nehmen.    l>aB  M 
Figuren,    die   auf  einem  Postament   sti-hen,   also  von   unli'n  gesehen  werden,    die 
Oberhnhe    überdies  grüBer  »ein   muS  als   diu  Ünti.<rhöhe,    ist  bekannt,    »Hein  diei 
Verlängerung  darf  nicht  auf  Kosten  der  Beine  geschehen. 

Die  Länge  der  Beine  beti-ägt  vier  Kopfhöhen,  wenn  als  Aasgangs<  1 
ptiukt  illr  die  Mefsimg  der  untere  Rand  der  Scbumfaeinfugc  oder  das  1 
untere  Ende  des  großen  Rollhügel»  angeDummen  wird.    (Siehe  die  Figg. 
162  n.   IBft.)     Streng  genommen   entspricht  die  Schamfuge  nicht  dem  j 
Anfang  der  Beine,     äuh  den  anatomischen  Erörterungen  und  aus  dem 
Anblick  der  Figuren  geht  hervor,    daß  der  Anfang  der  Beine   höher  ' 
liegt,  und  zwar  äußerlich   bestimmt  wird  durch  den   sog,   Leistenbug,  | 
der    dem    PouPABx'schen    Bande    entsprechend    vom    vorderen    oberen 
Darmbein  Stachel   zur  Scham   zieht.     Am  Skelett  bestimmt  das   obere  ' 
ICnde  des  Schenkelbeines,  also  der  Gelenkkopf  des  Femur  oder  genauer  1 
der  Drehungspunkt  der  Gelenkkugel,  die  wahre  Grenze.   Wenn  einmal 
wie  in   dem   vorliegenden   Fall  die  Kopfhöhe   als  Maß  gelten  soll, 
bleibt  nichts  anderes  übrig,   als  selbst  im  Widerspruch  mit  der  iii 
tomischen  Thatsache,    lediglich   aus    praktischen   Gründen    die   Länge  J 
der  Beine  von  deu  in  den  Figuren  bezeichneten  Punkten  beginnen  zu 
lasReu.     Bei  jedem  anderen  Kanon  giebt  es  ähnliche  Schwierigkeiten. 

Die  Länge  der  Hand  von  dem  Uundgelenk  bis  zur  Spitze  de«  1 
ausgestreckten  Mittelfingers  beträgt  vier  Teile  des  kleinen  Modul  oder  I 
*/^  der  Kopfhöhe  oder  ebensoviel  wie  die  Gesichtslänge.  {Vergleiche  1 
die  Figiiren   162  u.  163.) 

Die  Länge  der  Fußsohle  beträgt  eine  Kopl'höhe  und  '/(„  der  1 
Körperhöhe  dazu. 

Die  Länge  dee  FuBrilckens  ist  gleich  einer  Uundläuge  oder  1 
vier  Teile  des  kleinen  Modul.     (Vergl.  die  Figg.   162  u.  163.) 


2)  Proportion  der  Körperbreite. 

Die  Breite  des  Körpers  ist  an  dem  Kanon  von  acht  Kopflängen  j 
(Fig.  163)  ebenfalls  verzeichnet;  nach  diesem  Beispiel  können 
ähnlicher  Weise  die  nämlichen  Dimensionen  an  jeder  anderen  Figur  I 
festgestellt  werden. 

Mit  Hilfe   des   kleinen    Modul  =   '/»n   "^er   Körperlänge   und   de«  ] 
großen  Modul  =  i/^  der  Körperlänge  läßt  sich  folgendes  nachweisen;  I 

Die  Breite  des  Oberkörpers  zwischen   den  vorragendstei 
Punkten   des    Deltamuskels    beträgt   zwei    große    und   zwei  kleine  I 
Modul,  oder  zwei  Kopfhöhen  und  */^^  der  Köriterhöhe  dazu,  wenn  der  1 
Maßstab  der  Quere  nach  an  den  Körper  gelegt  wird.   Siebe  die  Fig.  163^] 
an  welcher  auf  der  Linie  Nr.  2  fortlaufende  Punkte  angebracht  tiiud.  | 


Proportionslehre  des  menschUcheD  Körpers.  521 

Die  Distanz  zwischen  zwei  solchen  Punkten  entspricht  wie  dies  schon 
aus  früheren  Angaben  hervorgeht,  Vs  ^^^  Kopf  höhe  oder  ^/^q  der 
Körperlänge. 

Die  Breite  des  Brustkorbes  in  der  Höhe  der  Brustwarze  be- 
trägt bei  erhobenem  Arm  ^/^^  der  Körperhöhe  (Fig.  163),  d.  h.  die 
Breite  jeder  Thoraxhälfte  beträgt  Ys  der  Kopfhöhe  oder  soviel  als  die 
Gesichtshöhe  oder,  wie  die  früheren  Angaben  zeigten,  soviel  wie  eine 
Handlänge.  Man  kann  also  mit  anderen  Worten  sagen,  die  Breite  des 
Brustkorbes  in  der  Höhe  der  Brustwarze  betrage  bei  erhobenem  Arm 
zwei  Handlängen. 

Die  Breite  zwischen  den  entferntesten  Punkten  der  beiden 
Akromien  beträgt  zwei  Kopfhöhen,  den  Maßstab  der  Quere  nach  an 
den  Körper  gelegt. 

Die  Breite  zwischen  den  vorderen  oberen  Darmbeinstachel  beträgt 
Ys  der  Körperhöhe  =  eine  Kopfhöhe. 

Die  Breite  zwischen  der  größten  Entfernung  der  Hüftbeinränder 
(Fig.  163  zwischen  3  u.  4  bei  dem  Zeichen  c)  beträgt  y^^  der  Körper- 
länge oder  eine  Kopfhöhe  und  2/40  ^^^  Körperlänge  dazu.  Die  Breite 
zwischen  den  Hüften  ist  also  nach  dem  griechischen  Kanon  um  Y^^ 
der  Körperlänge  schmaler  als  der  Brustkorb  in  der  Höhe  der  Brustwarze. 

Die  Dicke  des  Oberschenkels  beträgt  in  der  Vorderansicht 
Ys  der  Kopfhöhe,  d.  i.  soviel  als  eine  Gesichtshöhe,  oder  eine  Handlänge. 

Die  Dicke  der  Wade  beträgt  in  der  Vorderansicht  Ys  ^^^ 
Kopfhöhe  oder  so  viel  als  die  Entferirung  von  dem  Oberaugenhöhlen- 
rand bis  zu  dem  Kinn. 

Die  Breite  des  Fußes  im  Bereich  des  Zehenballens  beträgt 
Y40  der  Körperhöhe  oder  die  Länge  des  Mittelfingers  vom  Knöchel 
bis  zur  Nagelspitze. 

3)  Proportion  der  Körpertiefe. 

Was  die  Tiefe  des  Körpers  betrifft,  so  giebt  der  Kanon  mehr- 
fache Anhaltspunkte. 

Die  Entfernung  des  Brustbeins  von  den  Spitzen  der  Dorn- 
fortsätze beträgt  bei  mäßiger  Einatmung  eine  Kopf  höhe  und  Y40  der 
Körperhöhe  dazu.     (Vergleiche  Fig.  162.) 

Die  Entfernung  von  dem  vorderen  Rand  des  Schambeins  bis  zum 
höchsten  Punkt  des  Gefäßes  beträgt  ebenfalls  eine  Kopf  höhe  und  Y* 
der  Körperhöhe  dazu.  (Vergleiche  die  Fig.  162  bei  Nr.  4,  wobei  jedoch 
zu  bemerken,  daß  die  Rundung  des  Gesäßes  offenbar  etwas  zu  stark 
gebaucht  wurde.) 


522  Zweiter  Teil.     Vierter  AlMehnitt. 

Andere  Tiefendimensionen  des  Körpers  lassen  sich  ohne  Schwierig, 
keit  mit  dem  Zirkel  an  der  Figur  bestimmen. 

4)  Die  Proportion  des  Oesichtes« 

Die  Schwierigkeiten,  welche  die  Darstellung  eines  proportionierten 
Kopfes  von  der  Vorderansicht  aus  begleiten,  haben  schon  seit  lange  (U- 
hin  geführt,  an  dem  Gesicht,  das  ja  die  kompliziertesten  Formen  be- 
sitzt, einzelne  horizontal  übereinanderliegende  Regionen  zu  unterscheiden. 
Am  bekanntesten  ist  die  Einteilung  in  drei  gleich  hohe  Zonen,  wobei 
die  Proportionslehre  annimmt,  daß  die  Höhe  der  Stirn,  der  Nase  and 
des  Untergesichtes  einander  gleich  sind,  wenn  das  Gesicht  ebenmäßig 
gebaut  ist.  Es  giebt  nun  in  )Virklichkeit  Menschen,  an  denen  diese 
Voraussetzung  vollkommen  erfiillt  wird,  bei  denen  die  Weich  teile  des 
Gesichtes  ein  solch'  proportionales  Verhältnis  zu  einander  ergeben. 
In  allen  Zeichnungsschulen  werden  dem  Anfänger  Vorlagen  geboten, 
welche  von  dieser  Annahme  aus  entworfen  sind,  denn  auch  die  Antike 
hat  dieselbe  Proportion  gelehrt  und  an  ihren  Schöpfungen  durchge- 
führt. Wir  setzen  deshalb  die  Kenntnis  dieser  Linien  voraus  und 
gedenken,  den  Verlauf  der  Zonen  an  dem  normalen  Schädel  zu  ver- 
folgen, der  die  Grundlage  für  die  Weichteile  bildet.  Nicht  allein  der 
mit  Weichteilen  bedeckte  Kopf  läßt  die  gleiche  Länge  der  obener- 
wähnten Zonen  erkennen,  es  giebt  auch  Schädel,  an  denen  sich  die 
vollkommene  Reinheit  dieser  Proportionen  nachweisen  läßt.  Der  Nach- 
weis der  Gliederung  an  dem  Sjchädel  selbst  bietet  überdies  manche 
andere  Vorteile.  Es  steigert  sich  die  Schärfe  der  Orientierung,  durch 
die  Kanten  und  Vorsprünge,  und  die  Beurteilung  der  großen  Unter- 
schiede zwischen  den  Proportionen  des  kindlichen  Gesichtes  und  den- 
jenigen des  Greisenantlitzes  tritt  erst  dann  klar  hervor,  wenn  der 
Anteil  der  einzelnen  Gesichtsknochen  an  den  oben  beschriebenen  Ab- 
teilungen des  Gesichtes  deutlich  erkannt  ist. 

Die  Gliederung  des  Gesichtes  in  drei  gleich  große  Zonen  ftr 
Stirn,  Nase  und  Untergesicht  trifft  bei  einem  normalen  Schädel,  der 
so  gestellt  ist,  als  ob  das  in  den  Augenhöhlen  sitzende  Auge  den 
Blick  horizontal  richten  würde  (Fig.  164),  auf  folgende  Teile: 

Die  oberste  Zone  oder  die  Stirnzone  (Fig.  164  zwischen  a  u.  b) 
umfaßt  die  Gesichtsfiäche  des  Stinibeins  (der  Scheitelteil  ist  ausge- 
schlossen). Ihr  Ende  findet  sie  an  der  Grenze  der  Stimnasennaht 
Das  ist  eine  sichere  Linie,  die  bei  den  Schädelmessungen,  und  in  der 
Anatomie  überhaupt,  als  die  Begrenzung  des  Stirnbeines  und  zwar 
mit  Recht  betrachtet  wird.  Von  dieser  Linie  aus  wird  sowohl  beim 
en  Kopf,  als  bei  dem  Schädel  der  Beginn  der  Nase  gerechnet. 


Propaitioiui«hre  dei  meiuchlichpn  Körpera. 


523 


dort,  an  der  StimnaseiinHht,  ist  die  Nasenwurzel  iliirch  eine  seichte 
Vertiefung  markiert.  In  der  Stirnzone  liegen  noch  die  oberen  Bänder 
der  Augenhöhlen  und  die  Brauenbogen  und  seitlich  in  gleicher  Höhe 
mit  der  Stirnnasennaht  auch  die  Stirn-Wangenbeinnaht. 

In  der  zweiten  Zone  (Fig.  16-1  zwischen  b  u.  c)  liegt  der  gröBte 
Teil  der  Augenhöhle,  das  Wangenbein,  der  .Twchbogen,  die  Nasenbeine 
und  der  Naseneingang.  Die  zwei  letzteren  Teile  bilden  zusammen 
am  Schädel  die  Nasenlänge.  Am  Lebenden  ist  nie  bei  geraden  Nasen 
etwas  länger,  wegen  der  Dicke  der  Haut  und  einer  leichten  Verlän- 
gerung der  Nase II Scheidewand  und  der  Nasenspitze  nach  abwärts.    Die 


Knaihant  %. 
SrhliUealiiik  }-- 

Gr.  Keilbeinflüg.  j— 

ScbläfFDbein  ^ 
StimfbrtraU   dm 
Wrageobeinaa 

Jochbogen  ( — 

Wangen  hein  r .- 

WarzenfortnatE  »-  - 


Unt«rkiererwink.ii  - 


Fig.   16J.     l^hädcl  cineH  FJithi 


untere  Grenze  dieser  Zone  (Fig.   104  Linie  c)  geht  durch  den  Nascn- 
stachel  und  durch  die  Unterkieferäste  nahe  dem  .Jochbogen. 

Die  unterste  Zone  erstreckt  sich  von  dem  Nasenstachel  bis  zu 
dem  Kinnrand  (Fig.  164  zwischen  c  und  d),  umfaßt  den  Zahnfortsatz 
des  Oberkiefers,  den  Zahnfortsatz  des  Unterkiefers,  die  beiden  Zahn- 
reihen, dazwischen  die  Mundspalte  und  den  Körper  des  Unterkiefers. 
Die  Mundspalto  liegt  nicht  in  der  Mitte  der  Zone,  sondern  höher, 
wegen   der    beträchtlichen  Höhe   des   Unterkiefers  in  der  Kinngegend. 


'  Die  FifTiir  ll>4  stellt  iVm  auf  '/)  6r'>ßc  reduzierte  Abbildung  ciniw  maiiiiliuhrn 
Svhftdi'lH  iIhf,  iltT  von  Innpfin,  Bchmaluin  Geeicht  uud  hoher  Naw,  vi>lik<iiniiu>ii 
richtig  proportiiniiert  war.  Die  Abbildung  int  mit  dem  Orthoehop  hergestellt,  und 
wie  die  Abbildungen  der  Skelette,  geometrisch  richtige  Nachbildungen  des  Originales. 


524  Zweiter  TeU.     Vierter  Abschnitt. 

Mit  dem  Verlust  der  Zähne  im  Greisenalter  erfahrt  die  unterste 
Zone  sehr  bedeutende  Veränderungen,  welche  in  der  Knochenlehrt 
S.  108  ausführlich  geschildert  wurden.  Die  Zone  wird  beträchtlich 
niedriger,  uud  damit  ist  die  eben  geschilderte  Proportion  fÄr  dis 
Greisenantlitz  zerstört. 

Schädel  von  solcher  Regelmäßigkeit,  wie  sie  die  Proportionslehre 
verlangt,  sind  nicht  allzuhäutig  in  unseren  anatomischen  Sammlungen. 
Die  Thatsache,  daß  bei  der  europäischen  Bevölkerung  die  Vertreter 
zweier  ganz  verschiedener  Gesichtsformen  in  denselben  Gebieten  mit- 
einander leben,  und  sich  miteinander  kreuzen,  bedingt  den  großen 
Wechsel  der  Gesichtsformen  und  der  Proportionen  der  drei  Haupt- 
abschnitte. Infolge  der  Kreuzung  kann  die  Stumpfnase,  die  zu  der 
Rasse  mit  kurzem  und  breitem  Gesicht  gehört,  in  das  Antlitz  der 
schmalgesichtigen  Rasse  gelangen,  oder  umgekehrt.  Und  das  kaon 
mit  jedem  einzelnen  Abschnitt  geschehen,  mit  dem  Unterkiefer,  mit 
den  Augen,  mit  der  Stirn  u.  s.  w.  Das  Resultat  der  Kreuzung  zweier 
Formen  ist  nicht  einer  chemischen,  sondern  einer  mechanischen 
Mischung  vergleichbar.  Unter  solchen  Umständen  ist  aber  das  Eben- 
maß gestört,  und  es  läßt  sich  begreifen,  daß  ein  aus  dem  Leben  heraus- 
gegriffener Fall  sehr  beträchtlich  von  dem  Schema  abweichen  kann. 
Je  nach  Rasse  oder  Individualität  tritt  der  eine  oder  andere  Teil  aus 
dem  durch  die  Durchschnittsgröße  gegebenen  Rahmen  heraus,  ver- 
größert oder  verkleinert  sich.  Oft  schwankt  die  unterste  Zone.  Das 
hängt  in  der  Regel  mit  der  Bewaffnung  der  Kiefer  zusammen,  die 
Zahnkronen  stehen  z.  B.  nicht  senkrecht,  sondern  schief,  so  daß  die 
Lippen  schon  bei  leichtem  Offnen  die  Zahnreihen  in  weiter  Ausdehnung 
hervortreten  lassen.  Es  entsteht  so  eine  europäische  Prognathie 
(vorstehendes  Kiefergerüst).  In  anderen  Fällen  geht  die  Entwicke- 
lung  mehr  in  die  Breite.  Die  Zahnreihen  des  Unter-  und  Oberkiefers 
beschreiben  einen  weiten  Bogen,  die  Knochen,  welche  dieselben  tragen, 
sind  stark  entwickelt,  und  dadurch  erhält  der  unterste  Abschnitt  des 
Gesichtes  eine  Wucht,  welche  zu  der  Entwickelung  der  übrigen  tie- 
sichtsknocheu  in  einem  Mißverhältnis  steht.  Doch  auch  der  mittlere 
Abschnitt  kann  eine  große  Unabhängigkeit  zeigen,  wodurch  die  Höhe 
desselben  entweder  hinter  dem  normalen  Maß  zurückbleibt,  oder  das- 
selbe überschreitet;  selbst  die  Stini,  die  oberste  Zone,  ist  indivi- 
duellen und  Rassenänderungen  ausgesetzt.  Bei  der  Niedrigkeit 
des  Hiruschädels ,  der  Chamaecephalie,  ist  die  Stirn  niedrig, 
weil  der  Scheitel  abgeflacht  und  wie  von  oben  plattgedrückt  ist 
Diese  eigenartige  Schädelform  ist  von  R.  Virchow  in  ihrer  ethno- 
logischen Bedeutung  erkannt  worden.  Sie  kommt  am  häufigsten  im 
Bereich  der  früheren  friesischen  Lande  vor.     Nachdem  diese  Form  in 


Proportionslehre  des  menschlichen  Korper«.  525 

hohem  Grade  charakteristisch  ist,  konnte  sie  auch  den  scharfbeobach- 
tenden niederländischen  Maleni  nicht  entgehen.  An  Porträten  begegnet 
man  zuweilen  niedrigen  Stirnen  und  flachem  Scheitel,  welche  aus  dem 
Rahmen  der  oben  angeführten  Proportionen  heraustreten.  Solche 
Köpfe  entsprechen  nicht  den  idealen  Proportionen,  sind  aber  von  emi- 
nenter Bedeutung  für  die  Beurteilung  der  charakteristischen  Formen 
eines  Kopfes.^ 

5)  Kanones,  denen  ein  anderer  Modul  zu  Grunde  liegt. 

Ein  Blick  auf  die  nach  dem  griechischen  Kanon  entworfenen  Fi- 
guren 162  u.  163  lehrt,  daß  ihre  Proportion  eine  ganz  brauchbare  ist, 
aber  doch  nicht  mehr.  Ein  lebendiger  Mensch  dieser  Art  hätte  etwas 
plumpes,  namentlich  wenn  er  wie  Fig.  163  geformt  wäre,  und  man  würde 
wünschen,  daß  er  etwas  länger  und  freier  aussähe.  Das  ist  der  Unterschied 
zwischen  einer  mit  Hilfe  des  Kanon  konstruierten,  und  einer  auf  Grund- 
lage des  Kanon  frei  entworfenen  und  mit  künstlerischer  Kraft  gestalteten 
Menschenfigur.  Man  hat  offenbar  gemeint,  es  ließe  sich  nicht  allein 
ein  Kanon  entdecken,  der  einen  guten  Maßstab  für  die  Kenntnis  der 
menschlichen  Figur  abgäbe,  sondern  auch  einen  Kanon,  der  mehr 
leistete,  der  die  Konstruktion  eines  Kunstwerkes  gestattete.  Die  letztere 
Voraussetzung  ist  ein  Irrtum;  wo  die  praktische  Brauchbarkeit  irgend 
eines  Kanon  aufhört,  hat  die  künstlerisch  schöpferische  Thätigkeit 
erst  zu  beginnen.  Die  Maße  für  eine  richtig  proportionierte  Figur 
kann  nach  den  obigen  Regeln  jeder  auf  das  Papier  oder  die  Leinwand 
werfen,  eine  künstlerisch  vollendete  Figur  daraus  zu  machen,  das  wird 
nur  dem  Künstler  gelingen.  In  Paris  soll  man  aus  einer  Schlosser- 
werkstätte die  Drahtgestelle  beziehen,  welche,  nach  einem  bestimmten 
Kanon  und  in  verschiedenen  Größen  hergestellt,  in  dem  Modelliei*saal 
der  Pariser  Akademie  Verwendung  finden.  Ich  weiß  nicht,  ob  etwas 
Ahnliches  auch  schon  anderwärts  im  Brauch  ist,  ich  fände  dieses  Ver- 
fahren für  Lehrer  und  Lernende  gleich  vorteilhaft,  denn  es  ersparte 
Zeit  und  Mühe  und  verunglückte  Proportionen. 

Man  hat  sich,  wie  mir  scheint,  die  Leistungsfähigkeit  eines  Kanon 
nicht  immer  mit  vollkommener  Ofienheit  eingestanden,  und  die  Schwie- 
rigkeiten nur  zu  oft  in  dem  Modul  gesucht;  daraus  erklärt  sich  die 
Jagd  nach  immer  neuen  Grundmaßen,  ohne  daß  damit  für  den  Lehr- 
zweck mehr  erreicht  worden  wäre.  Vor  lauter  Proportionsschlüsseln 
traute  man  keinem  recht.  Bei  ruhiger  Prüfung  wird  man  jedoch  zu- 
gestehen müssen,  daß  jeder  Kanon  vor  groben  Fehlern  schützt.    Wenn 


*  Der  für  das  Gehini  notwendige  Raum  wird  an  Schädeln  solcher  Form  durch 
eine  größere  Lauge  kompensiert. 


526  Zweiter  Tdl.     Vierter  Abschnitt. 

überhaupt  nur  gemessen  wird,  mit  welchem  der  verschie- 
denen Proportionsschlüssel  ist  völlig  gleichgültig.  Hier  kann 
man  dein  Geschmack  und  der  Laune  den  freiesten  Spielraum  gestatten. 
Hat  doch  jeder  bedeutende  Künstler  sich  seinen  eigenen  Kanon  l>e- 
wußt  oder  unbewußt  gemacht,  und  seit  Albbecht  Dürer  sein  be- 
rühmtes Werk  von  der  menschlichen  Proportion  veröflFentlicht  hat,  ist 
es  sonnenklar,  daß  jeder  Modul  seine  Berechtigung  in  einem  beson- 
deren Fall  haben  kann.  Werden  Menschen  mit  67,  Kopfhöhen  kon- 
struiert,  so  sind  sie  eben  klein  und  gedrungen,  solche  von  acht  and 
darüber  sind  groß  und  schlank,  so  wie  sie  ja  auch  im  Leben  sind. 
Der  griechische  Kanon,  wie  jeder  andere,  ist  eine  durch  Rechnung  ge- 
fundene Abstraktion,  die  Menschen  dagegen  sind  Individuen,  groß  und 
klein,  dünn  und  dick,  fett  und  mager  aus  der  freien  Werkstätte  der 
Natur  hervorgegangen.  Dieser  Wechsel  ist  ein  großes  Glück,  wie 
einförmig  wären  Männer  und  Weiber,  wenn  alle  nach  dem  Muster 
eines  Kanon  geformt  wären.  Um  diese  Freiheit  innerhalb  der  Regel 
zu  zeigen,  ist  eine  Skizze  MiCHEiiANGELo's  in  den  Text  eingeHigt 
Fig.  165,  und  die  Abbildung  eines  Skelettes,  Fig.  166,  das  von  einem 
wohlproportionierten  Manne  stammt. 

6)  Michelangelo^s  Kanon. 

Michelangelo  teilte  die  Totalhöhe  auch  in  acht  Kopfhohen,  wie 
aus  dem  von  Giovanni  Fabri  gestochenen  Blatt  hervorgeht,  allein  M. 
nahm  offenbar  neben  der  Kopfhöhe  auch  noch  die  Nasenhöhe  nh 
kleineren  Modul  zu  Hilfe.  Bei  nur  acht  Kopflängen  waren  die  Menschen 
offenbar  nicht  nach  seinem  Geschmack.  So  schob  er  an  der  Stelle, 
wo  in  dem  griechischen  Kanon  die  Mitte  des  Körpers  liegt,  also  an 
dem  unteren  Rand  des  Schambeins  eine  Nasenlänge  ein.  Dieses  Maß. 
dessen  Ausdehnung  aus  dem  Original  hervorgeht  1,  macht  die  Beine 
länger  und  hebt  den  Rumpf  etwas  höher.  Dann  setzte  M.  zu  den  vier 
unteren  Kopfhöheu  auch  noch  die  Entfernung  von  dem  äußeren 
Knöchel  bis  zu  der  Fußsohle  hinzu,  welche  etwas  mehr  als  eine  halbe 
Nasenlänge  beträgt.  Auch  die  Oberhöhe  erhielt  noch  eine  kleine  Zu- 
that,  welche  zwar  durch  den  Zirkel  nicht  direkt  nachzuweisen  ist. 
allein  sie  steckt  in  dem  Körper,  was  deutlich  wird,  wenn  man  erwägt, 
daß  der  Mann  auf  einem  Beine  steht.  (Diese  Stellung  macht  die 
Körperhöhe  um  ungefähr  2  cm  niedriger.)  Dazu  kam  noch  die  Ent- 
fernung der  Nasenwurzel  bis  zum  Scheitel.  Durch  all*  das  bekommt  die 
ganze  Figur  etwas  hohes,  reckenliaftes,  sie  wird  zu  einer  Heldengestalt. 

^  Von    C.   SoHMiDT,    in    seiner   „Proportionalehre    des    menschlichen    Körpern" 
Tiibiiifi:en   lh82.  nach  dem  Urigiiial  reproduziert. 


nvportioaulehre  de*  menteUkbeii  K3rpen. 


^^v^-. 


Kopfhöhf  '=t 


fböhe   ii 

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Kopf hShe  1 

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KopfhBhe  S 

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Kopfliöh.  < 

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KopfhÖhe   T 

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Kopfli^l.^   1 

/ 

Fig.   lea.     MicHBLAMUEi^'s  Kadod.     FkCMlltile. 


528  Zwdtei  Teil.     Vlertn  AbadudO. 

was  man  von  dem  in  der  Fig.  162  dargestellten  Mann  nicht  bebaupt 
wii'd.  Wie  viel  davon  dem  Griffel  Micuelanoelo'h  zukommt  and  wie' 
viel  den  8'/,  Kopflängen  ist  schwer  iiuseinanderzuhalten.  Uns  genUgt, 
duü  selbst  dieser  gewaltige  Meister  gemessen  und  mit  den  Proportionen 
der  lueuHchlichen  Gestalt  sich  ernstlich  beschäftigt  hat.  Auf  dem 
Kiw^simile  Fig.  165  wnirde  der  von  Michelanoeui  an  den  Rand  gezeiob- 
nete  MaUstub  weggelassen,  und  nur  acht  Koi>fhfihen  aufgetragen,  weil 
der  Modul  Michelamoelo's  durchaus  nicht  so  eiulach  zu  durchschauen, 
ist,'  Die  Unterhöhe  bei  dem  Fticsimile  beginnt  an  der  Wurzel  di 
Gliedes,  also  nahe  dem  oberen  Scham  bei  nrand,  zum  Unterschied 
der  Fig.  163,  wo  die  Unterlänge  an  dem  unteren  Schambeinrand  b»-] 
ginnt.  Bei  sonst  gleicher  Länge  erscbenit  der  Kumpf,  namentlicl 
auch  der  Hals  länger,  nilenhar  wegen  der  geringeren  Kürperbrcite. 


7)   Die  Proportion  einet  natürlichen  Skelettes. 

Die  Proportion  eines  wohlgebauten  Menschen  darf  nicht  allein 
nach  Schöpfungen  der  Kunst  gelehrt  werden,  sondern  muß  sich  auch 
direkt  an  dem  einzelnen  Individuum,  das  ja  ein  Repräsentant  der 
Spezies  ist,  zeigen  lassen. 

Alle  bisher  betrachteten  Kanones  sind,  wie  schon  einmal  hervor- 
gehoben, Abstraktionen,  stellen  gleichsam  den  Mittelmenschen  dar, 
der  alle  schönen  körperlichen  Eigenschaften  des  menschlichen 
Schopfes  in  seiner  Gestalt  vereinigt.  Allein  nicht  alle  Menschen  aioAl 
nach  diesem  Schema  gebaut,  die  einzelneu  Teile  variieren  innerhall 
einer  bestimmten  Grenze,  eine  Eigenschaft,  welche  man  als  Variabilität' 
bezeichnet  hat. 

Es  giebt   drei  vi?rechiedeae  Abetufuugen  dieser  interessanten   ]^geiiBc!iaft  i 
mennchlichon  Orgauienitu; 

1)  die  V&riabilitat  der  Individuen  (indiriiluclle  VaiiabiliUttl.  Die  Hft-1 
woliiutr  tiima  Lnudua  iietsb  bis  zu  de niin  einer  F^amilie  miilI  in  den  HauptmcrlunKlwl 
einander  gleidi,  in  uutergeordneten  Merkmalen  vurw-'hiedeu. 

2)  die  BeEuelle  Variabilität.  Dii.'  Ucxtlileebter  luitcrscheidcn  sieb  in  b«-| 
atinimteii  Merkmalen,  und  daher  rtllirt  der  Unterachied  des  Maiiiiua  von  dtr  Fn 

'  in  buKUg  auf  viele  Eigeiiscluiften.  bis  auf  die  Miuikebi  imd  Kiiocbeu  liiuab. 

'  Der  Kanon  Midhei.anueu>'s  (plattet  eine  duppelte  Deutung.  Man  vriÜ  nidtl 
genau,  gehl  er  von  der  Geaiebtaliöhc  oder  der  Kopfliübe  aus.  Kevlils  £tuli-t  « 
im  Ürigiiia)  ein  Ma&ttab  in  acht  gleiche  Teile  geteilt.  Er  reicht  nicht  au»  i 
HtCMELANuBLo  setxt  Hn  dem  Kikichel  und  au  der  Scham  je  eine,  und  an  dem  Ku{ 
Doeh  zwei  NosenlllngL-n  an.  DhB  er  Naaeulüagen  auch  als  Modul  beuät«!  bat,  z 
ein  kleiner  Maßstab  Unks,  und  so  kommen  ungefähr  2S  Naaeulllngen  henuia,  will 
C.  ScHMioT  angiebt;  aber  wie  weit  das  eiue  oder  ilas  andere  HaÜ  alu  der  Aiugai^^l 
punkt  KU  betraehten  Ut,  UBr  aii-h  iiii'hl  bestiuiinl  en (scheid ei i .  ohne  neue  Aulädckl 
uuiigeu  iiue  BiuNAK-jT-n'«    NuililuÜ. 


■h- 
eil 

i 


I  Protwrtioädran  dti  mmschlidiai  KBipeis.  529 

3)  Die  Variahilititt  der  MenBchpiiraBfien;  sie  ist  der  Grund  der  körper- 
lichen Unterechiede  zwiechen  den  Weißeji,  8cbwar/en  und  Kiipfiirfiirbencn  und  an- 
deren Menschenrassen. 

Die  ersten  zwei  Sorten   von   VaiiabilitSt   existieren   auch  in   der  Funktion  der 

verboi^nsten  Organe  wie  des  Gehirns.    Die  ViiriabilitÜt  des  Dcnketts  und  Wollens 

besteht  zwischen   den  Individuen   wie   zwiscbeD   den  Geechlechtem.    Ob  auch  die 

Kassen   in   dieser  Hinsicht  andere  organisiert  sind,   ist  schon  oft  behauptet  worden, 

,    doch  noch  keineswegs  über  allen  Zweifel  erhaben. 

Die  Natur  ist  und  sei  stets  die  LehrmeL^terin  und  deshiill)  sind 
in  den  Text  mit  dem  Orthosliop  gezeichnete,  also  geometrisch  richtige 
Figuren  aufgenommen  worden,  welche  die  Messung  mit  Zirkel  und 
Maßstab  gestatten,  und  ttlr  jede  beliebige  VergröBerung  brauchbar 
sind,  weil  sie  eben  keine  perspektivischen  Bilder,  sondern  geometrische 
sind  (Fig.  166 — 169).  Sobald  es  sich  darum  handelt,  die  Proportions- 
lehre  praktisch  verwendbar  auseinanderzusetzen,  ist  die  aufrechte, 
gerade  Haltung  die  Grundstellung,  von  der  man  auszugehen  hat.  Um 
für  Messungen  die  allseitigste  Anwendung  zu  gestatten,  sind  drei 
£örperaQsichten  in  den  Text  aufgenommen,  und  zwar  die  Ansicht 
eines  männlichen  Skelettes  von  vom,  von  der  Seite  und  von   hinten. 

Dieser,  nach  kompetentem  Urteil  wohlgebaute  Mann  besitzt  nun 
nicht  acht  Kopfhöhen,  sondern  nur  77b  ^^^  zwar  ergiebt  die  Kontrolle, 
daä  seine  Beine  zu  kurz  sind.  Um  dem  griechischen  Kanon  zu 
entsprechen,  müßten  die  Beine  um  y^^  seiner  Hohe  länger  sein-  Der 
Mann  hatte  also  im  Leben  im  Vergleich  zu  dem  Oberkörper  etwas 
zu  kurze  Beine.  Um  dem  Kanon  Michelangelo's  und  anderer  neuerer 
Meister  zu  entsprechen,  welche  die  Körpermitte  auf  den  oberen  Rand 
versetzen,  müßte  er  Beine  haben,  die  um  Ö^/s  Centimeter  länger  sind. 
Die  Kürze  der  Beine  ist  in  diesem  Fall  eine  wertvolle  Thatsache;  sie 
lehrt,  daß  individuelle  Variabilität  einen,  wenn  auch  für  das  Auge 
nicht  sofort  auffallenden .  aber  für  die  Messung  wohl  nachweisbaren 
Grad  von  Abwechslung  in  die  menschlichen  Formen  bringt. 

Die  Figuren  166 — 169  sind  durch  senkrechte  und  horizontale 
Linien  in  Quadrate  geteilt,  welche  mit  dem  Höhenmaß  des  Hirn- 
schädels, d.  i.  vom  vorderen  Anfang  des  Hinterhauptsloches  bis  zum 
Scheitel,  entworfen  sind. 

Das  Quadrat  Fig.  166  nnd  167  abcd  ist  entstanden  aus  dsr  Höhe  des  Hirn- 
BchftdeU  oder  der  Sehädelbiihe,  gemessen  von  dem  vorderen  UmFang  des  Uiuter- 
liaupteloches  bis  zum  höchsten  Pnnkt  des  Scheitels  (siebe  Fig.  167j. 

Man  nimmt  sehr  oft  an,  die  Brette  den  MetuchenschädeU  sei  ebenso  grofi  als 
eöne  Höhe,  aber  due  trlfit  durchaus  nicht  immer  zu,  und  auch  nicht  in  dem  vor- 
liegenden Falle,  denn  das  mit  der  Schttdelhübe  konstruierte  Quadrat  schneidet,  wie 
die  Figuren  /eigen,  ein  nicht  nnbetrSchtliches  Stück  der  Schädelbreite  ab- 

XOLLKA»,    FlHliMhe    AnalDIntC,  34 


Zwdter  T«l.     Vierter  Aladmitt. 


Die  Sebädelhöhe  kann  mau  auch  bei  der 
Vorderansicht  des  Skelettes  und  des  Leben- 
den messen ,  denn  bei  horizontaler  Haltung 
des  Kopfes  erstreckt  sich  die  Schädelhuhe  bii 
zum  Nasenstachel.    Fig.  167  «.  168  h4 

Das  Skelett  mißt  UV«  solcher  Scbi- 
delhöben  oder  Schädelquadrate,  welche  anf 
der  Scheitellinie  (Linie  Seh  aller  drei  FignreD) 
aufgetragen  sind. 

Die  erste  Schädelhöhe  reicht  his  n 
dem  Nasenstachel,  Fig.  166 — 168  cd. 

Die  zweite  Schädelhöhe  reicht  his  zn 
dem  Schlüsselbein,  Fig.  166— 168  «f. 

Die  dritte  Schädelhöhe  reicht  bis  unter 
die  Brustwarze,  Fig.  168  R'. 
''  Die   vierte   Schädelhöbe    reicht  bis  ni 

dem  Brustkorbende,  Fig.  167  und   168  iK. 

Die  ftinfte  Schädelhöhe  erreicht  die 
Mitte  des  Hüftheines,  Fig.  166— 168lm. 

Die  sechste^  Schädelböhe  reicht  bis 
unter  den  grollen  BollhUget,  Fig.  166 — 168  no. 

Die  siebente  Scbädelhöhe  reicht  bis 
nahe  zu  dem  Ende  der  Reitermuskeln. 

Die  achte  Schädelhöhe  reicht  his  nahe 
zu  dem  oberen  Bande  der  Kniescheibe. 

Die  neunte  Schädelhöbe  reicht  bis 
unter  den  Scbienbeinstacbel, 

Die  zehnte  Scbädelhöhe  trifft  keinen 
für  die  OrientieiTing  brauchbaren  Punkt 

Die  elfte  Schädelhöhe  gebt  durch  den 
inneren  Knöchel. 

Der  Rest  reicht  von  dort  bis  zu  der 
Grund  ebene. 

Die  Breitendimensionen  des  männlichen 
Körpers  lassen  sich  durch  zwei  Linien  be- 
grenzen, welche  in  der  Entfernmig  einer 
halben  Kopfliöbe  {Fig.  167  et  oder  da)  zu 
beiden     Seiten     der    Schädelquadrate     ange- 


'  Von  hier  ab  sind  die  Grenzen  der  SchädelhöbeD 
nicht  mehr  durch  Quadrate,   sondern  durch  einfachr 

Zeichen  angegeben. 


Fig.  187. 
Obere  Skelctthälfte  eines  Mannes, 
von   der  Seite   gesehen.     '|^  der 
aaX.  Größe.   Geometrische«  Bild. 


cb  S<üieit«IUme. 

cd  Ohr-Naaenstachel-Unie. 

ef  Zireite  SchMelhöhe. 

efik  Zwei  Quadrat«,  welche  mit  den 

Rech  lecken 
fgih  den  Bruatkorb  begrenieii. 

ik  Vierte  Schndeihahe. 

Im  Fünfte  SchädelhShe. 

DO  Sechste  Schädelhöbe. 

VW  Linie  EwiscbeD  SCeißheiniipitze 
und  oberem  Rand  der  Seham- 
fuge  —  Horizontal  liaie. 

D  Dorafortträtie  der  Wirbel. 

H  Uüftbeia. 

O  Ellbogen. 

R— K"  IKe  Ewölf  Rippen. 

Rh  GroQer  Rollhügel. 

Soh  Schwerpunktlinie. 

Xl   Drehungapiinkt  des  Kopfei. 

«3  UotercB  Ende  der  Ilalawirbel- 

■>4v  Linie  lU  der  Schambeinftige, 
Ae  leigt  mit  der  Horizontalen 
T  ir    den    Neigungswiukel    des 


xiO  DrehungKpimkt    des  Obererm- 

■11  DrehuugBpunkt   de»   Ellbogen- 

Ib  Er«t«r  Brustwirbel. 

IUI  Dritter  Lendenwirbel. 

VII»  Siebenter  Halswirbel. 


Zweiter  Teil.     Vierter  Abn^DfU. 


bracht  sind.  Dadurch  ergebei 
sich  die  Linien  gn  u.  ho,  Fig.  168, 
welche  mit  ihren  Längsseiteo  & 
Grenzen  des  Rumpfes  umziehen. 

Fflr  die  Bestimmung  der  T» 
fendurchmesser  der  Brust  mufi  ene 
halbe  Schädelhöbe  an  die  der 
Scheitellinie  entlang  Terlaufeodt 
Kette  der  Quadrate  nach  Jon 
angefügt  werden.  Dann  entsteht 
wie  in  Pig.  166  u.  167  ein  großei 
Quadrat  egkh,  das  die  Ausdebnang 
des  Brustkorbes  angiebt 

Die  Tiefe  des  Beckens  ent- 
spricht einer  SchädelhShe,  dem 
Fig.  167  TW  ist  gleich  einer  Schi- 
delhöhe.  Wie  die  Betrachtang 
ergiebt,  ist  diese  Angabe  nicbt 
ganz  genau  richtig,  denn  die  Wöl- 
^p  bung  des  Kreuzbeines  fällt  etwu 
El  außerhalb  der  Linie  mD,  aUeiD 
dieser  Fehler  wird  dadurch  etvu 
ausgeglichen,  daß  die  Linie  i* 
vor  der  Schamfuge  herabsteigt. 

Das  Becken  ist  nicht 
so  tief  als  der  Brustkorb. 
Diese  Thatsache  ergiebt  sich  ans 
der  seitlichen  Betrachtung  anf 
das  entschiedenste.  In  dieser 
Hinsicht  ist  der  Kanon  Fig.  16ä 
nicht  vollkommen  korrekt ,  die 
Brust  ist  zu  schmal  und  zo 
wenig  gewölbt.  Michelaxoblo's 
Skizze  (Fig.  165)  ist  in  dieser 
Beziehung  naturgetreu. 

LüCA£,  mit  desseu  Erlaubnis 
diese  Figuren  in  das  vorliegende 
Werk  aufgenommen  sind,  hat  die 
Schädelhöhe  als  Modul  verwen- 
det, jedoch  ist  auch  die  Kopfhöhe 
angegeben  (s.dieFigg.  166 — 169  m). 
Mit  Hilfe  dieses  Modul  und  eines 


FroportioMtehre  dea  menadiliahan  KÖipen. 


Zirkels  läBt  eich  leicht  feststellen, 
daß  die  Kopfhöhe  nicht  achtmal 
ic  dem  Körper  enthalten  ist,  son- 
dern nur  T'/g  mal,  wie  schon  oben 
angegeben  wurde.  Durch  Striche 
mit  einem  Rotstift  lassen  »ich 
sämmtliche  Figuren  leicht  nach 
dem  griechischen  Kanon  und  nach 
Kopf  höhen  einteilen ,  sobald  die 
Kopfhöhen  mit  Hilfe  eines  Zirkels 
auf  die  Scheitellinie  eingetragen 
sind. 

8)   Die  Proportionen   dei  mensch- 
lichen Sörpen  bei  Anwendung  des 
SezimaliyatemB. 

Man  hat  allen  Proportions- 
lehren ,  welche  auf  einem  der 
menschlichen  Figur  entnommenen 
Maßstäbe  beruhen ,  den  Vor- 
wurf gemacht,  dieselben  seien 
unzweckmäßig  und  schwer  an- 
wendbar. Das  Dezimalsystem  habe 
große  Vorteile  voraus,  denn  es  sei 
in  jeder  Beziehung  brauchbarer 
und  vor  allem  viel  genauer.  Bei 
der  individuellen  Variabilität  des 
Ueuschen  halte  ich  die  letztere 
Behauptung  für  einen  Irrtum, 
dagegen  muß  zugegeben  werden, 
daß  bei  der  allgemeinen  Verbrei- 
tung des  Metermaßes  die  Anwen- 
dung des  gleichen  Zahlenprinzipes 
auf  die  Proportionslehre  große 
Vorteile  bieten  kann.  In  den  fol- 
genden Zeilen  sind  also  die  Pro- 
portionen des  menschlichen  Körpers 
auch  auf  Grund  des  Dezimal- 
systems in  Kürze  dargelegt. 

Die  Angaben  des  belgischen 
Gelehrten  Qdetelet   stützen   sich 


534  Zweiter  Teil.     Vierter  Abschnitt. 

auf  die  Untersuchungen  an  Grenadieren  eines  belgischen  Regimentes. 
Diesem  Regiment  gehörten  Leute  von  tadellosem  Wüchse  an.  Die  Körper- 
hohe  jedes  einzelnen  wurde  in  1000  Teile  geteilt^  und  nun  zonichst 
die  Durchschnittsmaße  der  Höhe  und  Breite  der  einzelnen  Teile  fest- 
gestellt. In  gleicher  Weise  wurden  die  Statuen  der  Antike  untersucht 
und  auf  diese  Weise  Resultate  erzielt,  welche  mit  dem  oben  gege- 
benen natürlichen  Kanon  aus  der  Kopfhöhe  gut  übereinstimmen,  mit 
Ausnahme  des  schon  erwähnten  Punktes,  daß  nämlich  die  wahre 
Körpermitte  oberhalb  des  Schambeines,  nahe  seinem  Rande,  und 
nicht  unterhalb  des  Schambeins  liegt. 

Die  untenfolgende  Tabelle  ist  auf  diese  Weise  gewonnen;  sie  giebt 
die  Proportionen  nach  der  Einteilung  der  Körperhöhe  in  1000  Teile. 
In  allen  Fällen,  in  denen  von  dieser  Tabelle  Gebrauch  gemacht  werden 
soll,  muß  die  zu  kontrollierende  Figur  in  1000  Teile  oder,  wenn  die« 
zu  mühsam,  in  100  Teile  geteilt  werden.  In  dem  letzteren  Fall,  Ein- 
teilung in  100  Teile,  beträgt: 

Die  Oberhöhe  vom  Scheitel  bis  zum  oberen  Rand  der  Scham- 
fuge     52,5. 

Die  Unterhöhe  vom  oberen  Rand  der  Schamfuge  bis  zur  Fuß- 
sohle 47,5. 

Die  Kopf  höhe 13,5  u.  s.w. 

Das  weitere  ergiebt  die  Tabelle. 

Durchschnitt»maßo    DurctuehnitUmafie 
Teile  des  Körpers  der  Bolgier        griechi»cber  SUtoca 

Totalhöhe 100,0  Teile  100,0  TtnW 

Kopf 13,5       „  13,0    .. 

Vom  Scheitel  bis  zu  den  Schlüsselbeinen      ....  17,2       „  16.7     ,. 

Vom  Scheitel    bis  zur  Schamfuge  =»  01)erhoho  des 

Stammes 52,5     ..  51,8     .. 

Von  der  Schamfuge  bis  zur  Erde  =  Unterliohe        .  47,5     .,  4js,2    .. 

Von  der  Schamfuge  bis  zur  Kniescheibe 19,5     „  20,3     ,. 

Von  der  Kniescheibe  bis  zur  Erde 28,0     ..  27,9     .. 

Höhe  des  Knöcliels 5,1     .,  4,8 

Länge  des  Fußes 15,4     ,.  14,9     .. 

Länge    des    Armes    von    der   Sehulterhöhe    bis  zum 

Handgelenk 34,1 

Länge  der  Hand 10,4 

Von  der  Schultcrliöhe  bis  zur  Spitze  des  Mittelfingers  44,5 

Vom  Kopf  des  Oberarmbeines  bis  zum  Einbug  beim 

Beugen  des  Ellbogens 16,7 

Von  der  Spitze  des  Ein)ogens  bis  zur  Hand     .     .     .  14,1 

Von  der  Fußsohle  bi.s  Ende  der  herabhängenden  Hand  38,1 

Von  der  Fußsole  bis  zu  den  Brustwarzen 74,2 

^ .,    .,     „    Achselhöhlen 76,3     „  — 

»>      V         V  ..    ,,    der  Halsgrube  =  Schulterhöhe  82,7     ,, 

7»      V         M  „    „    dem  Kehlkopf 85,4     „  — 


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Proportionalehre  des  menschlichen  Köipen.  535 

Das  Dezimalmaß  hat  den  Vorzug  einer  besonders  leichten  Ver- 
wendbarkeit. Irgend  welche  Reduktion  ist  unnötig.  Die  Zahlen  bleiben 
stets  dieselben,  ob  es  sich  um  die  Herstellung  eines  nur  spannhohen 
Figürchens  oder  um  diejenige  einer  Kolossalstatue  handelt. 

Eine  Vergleichung  der  auf  diesem  Wege  gefundenen  Proportionen 
mit  den  weiter  oben  angegebenen  zeigt,  daß  die  Ergebnisse  beider  in 
den  wichtigsten  Punkten  übereinstimmen. 

Bei  einer  Figur  von  acht  Kopflängen  endigt  nach  dem  griechischen 
Kanon  die  Oberhöhe  am  unteren  Rande  des  Schambeines.  Bei  den 
Belgiern  und  den  griechischen  Statuen  beträgt  nach  Qüetelet  die 
Höhe  von  dem  Scheitel  bis  zum  oberen  Rand  der  Schamfuge  etwas 
mehr  als  50,0  (genau  zwischen  51,8 — 52,5)  Teile,  von  der  Schamfuge 
bis  zur  Erde  48,2 — 47,5.  Es  handelt  sich  also  um  Unterschiede  von 
2 — 27,  Teile  oder  bei  einer  Totalhöhe  der  Figur  von  1  m  um  2 — 2  Y,  mm. 
Dieser  Unterschied  ist  bei  einer  wissenschaftlichen  Untersuchung  der 
Wachstumsgesetze  sehr  beachtenswert.  Ob  auch  bei  der  künstlerischen 
Darstellung  des  Menschen,  mögen  die  Künstler  entscheiden. 

Sehr  groß  ist  die  Übereinstimmung  beider  Methoden  bezüglich 
der  Kopfhöhe.  Diejenige  der  griechischen  Statuen  beträgt  nach  Qüe- 
TELET  13,0,  gleich  dem  achten  Teil  der  Totalhöhe,  bei  seinen  Belgiern 
giebt  er  eine  Kopfhöhe  von  13,5  an. 

Aus  Lihab2ik's  Angaben  und  Messungen  der  neuesten  Zeit,  die 
höchst  sorgfältig  durchgeführt  wurden,  läßt  sich  der  Beweis  führen, 
daß  die  Oberhöhe  des  Körpers,  vom  Scheitel  bis  zum  oberen  Rand 
der  Schamfuge  angenommen,  gleich  ist  der  Unterlänge,  gemessen  von 
demselben  Punkt  aus  bis  zu  der  Fußsohle.  Hier  liegt  also  wieder 
eine  kleine  Differenz  der  Angaben  vor;  LiHABiUK  hat  Österreicher 
gemessen,  und  es  ist  sehr  wohl  möglich,  daß  Rassenunterschiede  bei 
diesen  kleinen  Zahlendififerenzen  in's  Spiel  kommen. 

Es  ist  femer  zu  bemerken,  daß  bei  allen  Messungen  am 
Lebenden  nur  ein  relativer  Grad  von  Genauigkeit  zu  erreichen  ist. 
Die  Ausmessung  hat  sehr  große  Schwierigkeiten,  denn  wegen  des 
sanften  Überganges  aller  Konturen  ist  es  äußerst  schwierig,  immer 
genau  an  demselben  Ort  das  Meßinstrument  anzusetzen.  Das  gilt 
selbst  von  der  Anwendung  des  goldenen  Schnittes  auf  den  mensch- 
lichen Körper,  welche  durch  Zeising  in  einer  weitgreifenden  und 
fruchtbringenden  Weise  geschehen  ist. 

Hier  ist  der  Platz,  um  noch  mit  einem  Wort  der  Klafterlänge 
zu  gedenken. 

Nach  allgemeiner  Annahme  entspricht  die  Klafter  länge  (von  der 
Spitze  des  einen  Mittelfingers  bis  zur  Spitze  des  anderen  quer  über 
die  Brust)  der  ganzen  aufrechten  Höhe  des  menschlichen  Körpers. 


536      Zweiter  Teil.   Vierter  Abschnitt.  Proportionaiehre  des  mensdilichen  Korpen. 

Im  Oroßen  ist  dieser  Satz  für  Erwachsene  richtig.  Jedoch  maB 
man  stets  nur  gut  gewachsene  und  völlig  entwickelte  Individuen  in 
Auge  behalten.  Bei  genauerem  Zusehen  zeigt  sich,  daß  jedoch  aack 
hier  Verschiedenheiten  vorkommen  und  Unterschiede  der  Gesamthöhe 
zur  Klafterlänge y  welche  bis  zu  6  cm  gehen  können;  es  kann  dabei 
die  Elafterlänge  bedeutender  als  die  Gesamthöhe  sein  und  umgekehrt 

Aus  diesem  Überblick  über  die  Proportionslehre  geht  auf  das 
klarste  hervor,  daß  wir  eine  große  Auswahl  sehr  guter  Methoden  be> 
sitzen  y  welche  die  praktische  Anwendung  irgend  eines  Kanon  höchst 
empfehlenswert  machen.  Die  vielen  Methoden  bestätigen  den  alten 
Rat:  Practica  multiplex,  zu  deutsch:  Es  führen  viele  Wege  nach  Born. 
Als  Hauptregel  gilt  vor  allem:  miß,  miß  Groß  und  Klein,  miß  oft!! 


Dürer,  Albrecht:  Von  der  menschlichen  Proportion.  In  Latein  und  in  Hoch- 
deutsch zu  Nürnberg  gedruckt  im  Jähr  1527.  Das  Werk  wurde  in  alle  Sprachen 
übersetzt.    Die  Holländische  Ausgabe  erschien  1622  in  Amheim. 

LiHARiiK,  Franz:  a.  a.  0. 

Derselbe:  12  Gipsmodelle  en  miniature,  männliche  Individuen  in  verschie- 
denem Lebensalter  vom  mehrjährigen  Knaben  bis  zum  Erwachsenen  darstellend. 

Derselbe:  12  Gipsmodelle  en  miniature,  Weibliche  Individuen  in  verBchi^ 
denem  Lebensalter  vom  Neugeborenen  bis  zum  erwachsenen  Mädchen  darstelleiuL 

ScHADOw,  Gottfried:  Polyklet  oder  von  den  Maßen  des  Mensehen  nach  dem 
Greschlechtc  und  Alter  mit  Angabe  der  wirklichen  Naturgröße  und  Abhandlang  von 
dem  Unterschiede  der  Gesichtszüge  und  Kopfbildung  der  Völker  des  Erdbodens 
Berlin  1834.  2  Teile.  Text  4*^  und  2  Teile  eines  Atlas  in  fol.  max.  mit  Welen  litho- 
graphierten Tafeln. 

Schmidt,  C.  (Professor  an  der  Kimstschule  zu  Stuttgart):  Projwrtionsl ihre  des 
menschlichen  Körpers.  Tübinge^i  1882.  Schkidt  nimmt  als  Maßstab  die  Finger- 
breite und  findet  83  Fingerbreiten.  Er  stimmt  mit  Michelangelo  überein  über  die 
28  Nasenlängen  der  menschlichen  Gestalt  und  verfeinert  nun  den  Maßstab.  Eine 
Nasenhöhe  entspräche  also  3  Fingerbreiten,  und  er  teilt  dem  Oberkörper  40,  den 
Beinen  43  solcher  Teile  zu. 

Zeising,  Dr.  A.:    Neue  Lehre  von  den  Proportionen  des  menschlichen  Körp<7B. 

Derselbe:  Die  Unterschiede  in  den  Proportionen  der  Racentypen.  Vierordt's 
Archiv  für  physiologische  Heilkunde.     1856. 

Derselbe:  Über  die  Metamorphosen  in  den  Verhältnissen  der  menschlichen  Ge- 
stalt von  der  Geburt  bis  zur  Vollendung  des  Längenwachstums.  Mit  10  Tabellen, 
2  graphischen  Darstellungen  imd  1  Tafel  mit  Zeichnungen  von  9  menschlichen  Fi- 
guren. Verhandlungen  der  kaiserl.  Leopold  -  Carolinischen  Akademie  der  Natur- 
forscher.    Vol.  XXVI.  p.  II. 


Ffinfter  AbcchDitt     Über  Menachenmaen.  537 


Fünfter  Abschnitt 

■  ■ 

Über  Menschenrassen. 

In  diesem  Abschnitte  sollen  die  in  Centraleuropa  vorhandenen 
Menschenrassen^  nach  ihren  Eigenschaften  an  dem  Gesicht  und  an 
dem  Schädel  beschrieben  werden.  Das  Gesicht  ist  sowohl  für  die 
Kunst  wie  für  die  Wissenschaft  von  der  Abstammung  des  Menschen 
und  der  Verwandtschaft  der  Rassen  untereinander  viel  wichtiger  als  die 
Himkapsel.  Auf  die  Beschreibung  der  europäischen  Gesichts  formen 
ist  aus  diesem  Grunde  besonderer  Nachdruck  gelegt.  Die  Porträte 
von  Menschen  anderer  Kontinente  sind  dem  Text  mit  eingefügt  worden, 
um  die  Merkmale  der  Europäer  um  so  schärfer  hervortreten  zu  lassen. 

Die  Rassenanatomie  berücksichtigt  alle  Merkmale,  sowohl  diejenigen 
der  Weichteile,  als  diejenigen  der  Knochen,  und  zwar  sowohl  an  Kopf 
und  Rumpf,  als  auch  an  den  Gliedmaßen.  Der  widerstandsfähigste  Apparat 
des  Körpers,  das  Skelett  hat  am  meisten  schon  wegen  seiner  Dauerhaftig- 
keit die  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen.  Kann  man  die  Lebenden 
nicht  zur  Stelle  schaffen,  so  gelingt  es  wenigstens  mit  ihren  Knochen. 
Unter  allen  Teilen  des  Skelettes  ist  es  dann  wieder  der  Schädel,  der 
am  meisten  Rassenmerkmale  von  allen  übrigen  Knochen  erkennen 
läßt,  weil  er  am  vollkommensten  die  Formen  des  Hauptes  wiedergiebt, 
wie  dies  im  einzelnen  die  Osteologie  in  den  vorhergehenden  Blättern 
gezeigt  hat. 

Eine  Vergleichung  europäischer  Schädel  untereinander  hat  nun 
ergeben,  daß  die  Hirnkapsel  dreierlei  Formen  aufweist,  sie  ist  lang, 
mittellang  oder  kurz.  Dies  wurde  mit  Hilfe  genauer  Methoden 
nachgewiesen;  die  extremsten  Formen  sind  aber  auch  mit  freiem  Auge 
zu  unterscheiden. 

Der  Langschädel  (Dolichocephalus ,  der  Dolichocephale 
Fig.  170  a)  ist  gestreckt,  die  Hirnkapsel  gleichsam  walzenförmig,  an 
der  Schläfen-  und  der  Scheitelgegend  wenig  gebaucht.  Die  vordere 
Begrenzungslinie  entspricht  der  Stirn,  über  welche  bei  der  horizon- 
talen Aufstellung  des  Schädels  nur  die  vorspringenden  Nasenbeine 
etwas  hinausragen.     Die  seitlichen  Ecken  an  der  Stirn  rühren  von  dem 


^  Die  Kenntnis  fremder  Rassen  ist  in  den  letzten  Jahren  durch  die  zahlreichen 
Beisebeschreibungen  wesentlich  gefördert  worden,  besonders  auch  durch  die  Schau- 
stellungen, welche  Vertreter  von  Naturvölkern  aller  Art  in  Europa  zur  Beobachtung 
brachten. 


538 


Zureiter  Teil.     Fünfter  Abeehnitt 


scharfen  und  geknickten  Übergang  der  Stirnfläche  in  die  Schlifen- 
fläche  her.  Das  Hinterhaupt  ist  ausgezogen,  und  springt  dadurch  weh 
über  die  Nackenfläche  des  Halses  hervor,  was  besonders  dann  deutlich 
wird,  wenn  man  einen  Menschen,  der  solche  Schädelform  besitzt,  lon 
der  Seite  betrachtet. 

Der  Kurzschädel  (Brachycephalus,  der  Brachycephale 
Fig.  170  b)  hat  an  Breite,  was  ihm  an  Länge  abgeht.  Die  Breite 
beginnt  unmittelbar  hinter  der  Stirn,  die  Schläfen  sind  also  schoo 
gebaucht,  die  größte  Breite  liegt  aber  in  der  Gegend  der  Scheitel- 
höcker  und  des  Warzenfortsatzes;  das  Hinterhaupt  ist  kurz  und  ge- 
rundet,   und   betrachtet   man    eine   solche  Form   der  Himkapsel  am 

T) 


Fig.  170.     Zwei  europäische  Schädel  von  oben. 

a.  LaDgschädel,  b.  Kurzschädel. 

1.  Kreuznaht.     2.  Scheitelnaht.     3.  Lambdanaht. 

Lebenden,  dann  fällt  das  Hinterhaupt  rasch  ab,  denn  der  Scheitel  be- 
schreibt nur  eine  kurze  Linie  und  senkt  sich  sofort  zu  der  Nackeu- 
ebene  hinab.  Die  drei  Figuren  171,  172,  173  sind  geeignet,  die 
außerordentliche  Verschiedenheit  der  Schädelform  am  Lebenden  zu 
beweisen.  Der  eine  Kopf,  Fig.  171,  ist  kurz,  der  Scheitel  steigt  von 
der  Stirn  zu  ansehnlicher  Höhe  empor,  der  höchste  Punkt  liegt  etwas 
hinter  der  Ohröflfnung.  Von  da  an  beschreibt  der  Scheitel  eine  kurze 
Strecke,  auf  der  er  sich  allmählich  nach  abwärts  senkt,  um  dann  steil 
den  Hinterkopf  entlang  bis  zu  dem  Nacken  herabzusteigen.  An  dem 
kurzgeschorenen  Haupt  zeigt  eine  leichte  Einsenkung  den  Beginn  der 
Hinterhauptschuppe  an,  und  die  überhängende  Stirn  verursacht  eine 
tief  eingesetzte  Nase,  wodurch  die  Grenze  zwischen  Gesicht-  und 
Hirnschädel  scharf  zum  Ausdruck  kommt.  Bei  der  Betrachtung  des 
nämlichen  Kopfes  von  vorne,  Fig.  172,  steigt  der  Scheitel  beträchtlich 
in  die  Höhe. 


OWrl 


539 


Die  Figuren  171  a.  172  stamnicn  aas  einer  Abhandlung  von  Dr.  Lanobbruis, 
tlber  dio  heutigen  Bewohner  PiklttstinBa.  Nach  der  Gruppierung  der  Völker  auf 
Omnd  ihrer  Sprache  gehört  der  Grundstock  der  Bevölkerung  PaläBtiuae  und  der 
angrenzenden  Länder  zu  dem  nemiüschen  Völkerkomplei.  Ob  wir  die  Semiten  auf 
Grund  ihrer  raeaenanatoniischen  Merkmale  zu  den  EnropBcm  oder  zu  den 
AsiaCen  rechnen  railMcn,  ist  noch  nicht  entschieden.  Gleichwohl  wurde  diese» 
Portrfit  hierher  gesetzt,  weil  es  der  Anforderung  einer  raasenanatomischen  Ab- 
bildung entspricht  und  als  Beispiel  eines  Brachyccphalen  alle  Zeichen  der  Schädel- 
bildung, vortrefflich  ausgeprägt,  an  sich  trügt  Um  den  Anforderungen  degenigen 
Wissenschaft  lu  entsprechen,   welehe  die  Klassifikation  des  Menschengeschlechtes 


Fig.  171. 
SD,  Fellache  (Bauer)  ans 
ein  Brach^cephale. 


Fig.  178. 
>,  Fellache  (Bauer)  aus 
dn  Bnohyoephale. 


auf  Grund  der  körperlichen  Merkmale  anstrebt,  ist  e»,  abgesehen  von  der 
Messung  der  Schadclform,  auch  notwendig,  genaue  Porträte  eo  profil  und  en  &ce 
zu  besitzen,  wobei  der  Kopf  in  der  horizontalen  Ebene  getragen  wird  und  der 
Blick  in  die  Feme  gerichtet  ist  Nur  unter  solchen  Umständen  lassen  sich  die 
beiden  Ansichten  gut  vergleichen.  Das  Porträt  dieses  Mannes  aus  Palästina 
ist  nach  den  an  Ort  und  Stelle  von  Dr.  Lanobrbins  aufgenommenen  Photographien 
durch  einen  Künstler  mit  der  Lupe  auf  Holz  gezeichnet  worden,  und  wird  also 
auch  weit  gehenden  Ansprüchen  insofern  gerecht,  als  die  sicher  gezogenen  Linien 
Porträltreue  wiedergeben.  Sollte  die  Basscnanatomie  zu  dem  Ergebnis  gelangen, 
daB  die  Semiten  nicht  den  europäischen  Menschenrassen  beigezählt  werden  dürfen, 
ebenso  wie  sie  von  dem  Standpunkt  der  Bprachenkunde  mit  Recht  einer  anderen 
Gruppe  zugeteilt  werden,  so  könnte  dennoch  die  Form  dieses  HimscbädeU  hier  als 
ein  Beispiel  für  Brachycephalie  überhaupt  seine  Stelle  beibehalten. 


540  Zweiter  Teil.     Fünfter  Abschnitt. 

Der  Sokrateskopf  (Fig.  173)  zeigt  die  Form  eines  Langschädels. 
Die  gerade  aufsteigende  Stirn  biegt  in  einen  langgezogenen  Scheitel 
um,  der,  im  Gegensatz  zu  der  Form  der  Eurzschädel,  in  der  Sprache 
der  Kraniologie  „gestreckt"  heißt.  Das  Hinterhaupt  ist  weit  ausge- 
zogen und  überragt  die  Nackenlinie  sehr  beträchtlich.  Es  ist  dies 
wegen  der  Haare  leider  nicht  mit  jener  Schärfe  zu  sehen,  wie  es 
wünschenswert  wäre,  allein  der  Unterschied  zwischen  dem  Hinterkopf 
des  SoKBATES  und  dem  des  brachycephalen  Mannes  ist  nicht  zu  Ter- 
kennen,  weil  eben  beide  sehr  charakteristische  Vertreter  der  lang-  und 
kurzköpfigen  Hirnschädel  sind.  Kurzköpfe,  wie  jene  der  Fellachen,  oder 
Langköpfe,  wie  jener  des  Sokbates,  sind  heute  noch  unter  den  Lebenden 
zu  finden,  jedes  anatomische  Museum  kann  solche  Exemplare  auf- 
weisen. Die  Naturtreue  des  sokratischen  Himschädels  ist  wohl  kaum 
in  Zweifel  zu  ziehen,  denn  der  Künstler  hat  sicherlich  nicht  nur  das 
Gesicht,  sondern  auch  den  Scheitel  als  charakteristisches  Zeichen  der 
Individualität  kopiert. 

Köpfe  mit  einer  mittellangen  Hirnkapsel  lassen  sich  nur  durch 
Vergleichung  mit  Lang-  und  Kurzschädeln  bestimmen,  überdies  be- 
darf es  genauer  Messungen ,  will  man  sie  sicher  klassifizieren. 
Da  die  Beschreibung  dieses  Verfahrens  in  das  Gebiet  der  Kranio- 
metrie,  der  Schädelmeßkunst,  gehört,  verweisen  wir  auf  die  Fachzeit- 
schriften, von  denen  am  Schluß  dieses  Abschnittes  einige  aufgeführt 
werden. 

Zu  diesen  Rassenmerkmalen  am  Himschädel  kommen  die  viel 
wichtigeren  Rassenmerkmale  des  Gesichtschädels.  An  jede  der  drei 
Himschädelformen  kann  sich  entweder  ein  Breitgesicht  oder  ein  Lang- 
gesicht anschließen.  Die  Rassenmerkmale  an  dem  europäischen  Lang- 
und  Kurzgesicht  wurden  im  allgemeinen  schon  in  der  Knochenlehre 
berührt,  hier  sollen  sie  in  dem  neuen  Zusammenhang  noch  einmal 
aufgezählt  werden,  und  zwar  ausgehend  von   dem  Knochen. 

Bei  den  Langgesichtern  herrschen  in  allen  einzelnen  Teilen 
des  Gesichtsschädels  die  Höhendimensionen  vor.  Der  Oberkieferknochen 
ist  hoch  geformt,  seitlich  etwas  zusammengedrückt;  der  die  Zähne 
tragende  Abschnitt,  sowie  der  zu  der  Stirn  hinaufragende  Fortsatz 
sind  laug.  In  dem  Zahnfortsatz  stecken  längliche  Zähne,  namentlich 
ist  dies  an  den  Schneidezähnen  zu  bemerken.  Die  Nasenbeine  sind 
gerade  und  in  einem  spitzen  Winkel  gegeneinander  gestellt.  In  der- 
selben Neigung  reihen  sich  auch  die  Stirnfortsätze  des  Oberkiefers 
an  die  Nasenbeine  an,  wodurch  der  Nasenrücken  erst  seine  Höhe  und 
Schmalheit  erhält.  Eine  notwendige  Folge  der  schmalen  hohen  Nase 
ist  geringe  Distanz  der  Augenhöhlen  und  damit  der  Augen  selbst 
Die  Länge  und  die  steile  Stellung  der  Nasenfortsätze  des  Oberkiefers 


Ober  UuuohennMeD.  541 

bringt  es  ferner  mit  sich,  daß  der  Eingang  der  knöchernen  Naae  hoch' 
bimförmig  erscheint.  Der  Joch  Fortsatz  des  Oberkiefers  ist  kurz, 
das  Wangenbein  wendet  nur  einen  sehr  kleinen  Teil  seiner  Fläche 
nach  vorn  zu,  der  größere  Teil  ist  an  die  Seitenfläche  des  Gesichtes 
gestellt.  Die  Jochbogen  sind  angelegt  und  durch  die  Haut  hindurch 
nur  hei  magerem  Antlitz  zu  sehen;  bei  der  gewöhnlichen  Fülle  läßt 
eine  leicht  erhabene  Linie  den  in  der  Tiefe  der  Haut  liegenden  Joch- 
bogen Terraten.  Die  Form  des  Unterkiefers  steht  mit  der  Höhe  und 
Schmalheit  des  Gesichtes  im  Einklang,  damit  die  Zahnreihen  sich 
treffen,  muß  der  Bogen  des  Unterkiefer-Körpers  enge  sein. 

Zu  diesen  Merkmalen  des  langen  Gesichtsschädels  kommen  runde, 
hoch  angerissene  Atigenhöhleneiiigänge.  Auch  sie  folgen  der  all- 
gemeinen Regel,  nach  welcher  in  dem  Langgesicht  die  Höheiidimensionen 
vorherrschen. 


Fig.  118.    Ein  dolichocephaler  Mann 
(SoKKATis).     Kojda  Dich  Schaiww, 

Die  Figur  174  stellt  den  Schädel  eines  Bolchen  Langgesichtes 
dar,  an  welchem  die  eheuerwähnten  Eigenschaften  gut  ausgeprägt  sind. 
Auf  einen  Gesichtschädel  solcher  Art  legen  sich  Muskeln,  Fett  und 
Haut,  ohne  irgend  eines  der  charakteristischen  Merkmale  zu  verdecken. 
Niemals  wird  unter  normalen  Umständen  diese  durch  die  Knochen  ge- 
gebene Grundform  verwischt.  Um  ihre  Merkmale  zu  studieren,  darf 
man  aber  nur  zu  dem  Schädel  des  Erwachsenen  greifen,  nicht  zu  dem- 
jenigen des  Kindes  und  des  Greises.  Bei  dem  Greis  tritt  durch  das  Aus- 
fallen der  Zähne  und  durch  den  darauffolgenden  Schwund  der  Zahnfort- 
sätze des  Ober-  und  Unterkiefers  eine  starke  Verkürzung  der  Gesichts- 
höhe ein,  und  bei  dem  Kind  ist  die  Proportion  des  Gesichtes  aller 
Kassen  kurz  und  breit  aus  den  schon  weiter  oben  erörterten  Grilnden, 
and  Überdies  die  Nase  eingebogen. 

Von  den  die  Knochen  bedeckenden  Weichteilen  der  langgesich- 
tigen  Europäer  ist  folgendes  zu  bemerken.  Die  Komplexion,  so  beißt 


542  Zweiter  Teil.     Fünfter  Abschiiitt. 

die  Gesamtheit  der  Merkmale  aii  den  Äugen,  den  Haaren  iiikI  der  B 
kämmt  in  zwei  Arten  vor,  uämüchals  dunkle  Komplexion,  mil'lu 
Augen,  dunklen  Haaren  und  dunkler  Haut,  und  als  helle  EomplexioH 
mit  helleu  Augen,  hellen  Haaren  und  holkT  Haut.    Man  Ijciteicbnet  i 
eine  als  brünette,  die  andere  als  die  blonde  Unterrasse  dei'  Kuropäer.  ( 
gleich  es  noch  nicht  möglich  geworden  ist,  einen  Uuterachied  an  dem  S3cel(j 


Fig.   174.     Eriropäiscln:s  Liiiifrgi wicht 
{Oeönie[r[sche»  £ 

des  Schädels  zwischen  diesen  beiden  Formen  der  europäischen  Mensel 
nachzuweisen,  so  ist  es  doch  zweifellos.  daB  die  Verschiedenheil  < 
Knmplexiun  au  ein  sehr  altes  Erbstück  erinnert.  Die  Regel  miittigkoifl 
mit  der  diese  EigenRchaften  schon  bei  Kindern  hervortreten,  und  i 
Ausdauer  mit  der  sie  selbst  bei  der  Kreuzung  blonder  und  brUnet 
Individuen  wieder  zum  Vorschein  kommen,  beweist,  duß  dieüe  Merl 
male  vun  unseren  Vorfahren  schon  seit  uralter  Zeit  erworben  worden  sioi 

Bei    der    wiederholten   KrPUKUiip    von    Individuen    verwhiiHli-ncr  Kriinpln: 
werden    diuse  Merkmale    achÜuBliuh    duKlieinaiidrr   j^Türlolt,    anil   timu    6n(kl  I 


Hüllt  des  brünetten  mit  hellou  Augen  xusauiniengetlvllt  iinil  umgekptirt;  allein 
■obalii  ebli  invci  Individuen  i;leiclicr  Kumplciiun  «uBummttnfiRdt^u,  kuiiitiil  in  der 
B^rel  die  reine  Koinplexioii  wieder  >nm  Vorsehein. 

Von  anderen  Organen  des  GcBichtsscliädela  sei  nur  noch  die  Nase 
berücksichtigt.  Sie  vtiriiert  wie  alle  Organe  des  menschlichen  Kfirpers 
iimerhalb  gewisser  Grenzen.  Kb  wurde  die  Nuse  bisher  ulsgeri\de  bezeich- 
net, womit  niu-  die  Grundform  bezeichnet  werden  eollte.  Der  Nasen- 
rücken steigt  vim  der  etwas  eingesetzten  Nftsenwnr7el  (wie  bei  Fig.  171} 


Fig.   1"5.     EuropHiseln»  Kurifti-si 

(GtarnttriKh»  Bild.1 


Eine 


gerade  oder  leicht  gewölbt  herab,  aber  niemiils  eingobogen. 
Wfilbung  des  Nasenrückens  kommt  an  der  Stelle  vor,  wn  die 
Nasenbeine  an  den  Nttsenknorpel  stoUen  (in  einem  geringen  Grade  hei 
Fig.  171),  Ist  diese  Krümmung  der  Nase  stark,  so  daß  die  Nasen- 
spitze »ich  etwas  nach  abwärts  senkt,  dann  sprechen  wir  von  einer 
Ädlernas«.  Der  Exceß  dieser  an  sich  milnnlich  schönen  Form  ist 
die  krumme  Nase,  die  hakenartig  mit  der  Spitze  stark  nach  abwärts 
gesenkt  ist  und  ein  Attribut  derjenigen  Gesichtsform  ist,  die  wir  als 
Bocksgüsichl  i)C<;eichuen  (Mephisln). 


544  Zweiter  Teil.     Fünfter  Abiehnitt. 

Das  Alter  entstellt  den  Körper  überhaupt,  und  entstellt  aach  die 
namentlich  ist  es  die  Haut  der  Nase,  die  sieh  seltsam  verdickt  und  filrbt  Der 
Mann,  dessen  Gesicht  (in  Fig.  176)  von  einer  plumpen  Nase  entstellt  ist,  hat  ae 
erst  in  späteren  Jahren  erhalten.  Auch  sein  Antlitz  war  einst  mit  einer  geiadea 
europäischen  Nase  versehen.  Erst  im  Alter  hat  der  untere  Teil  der  Nase  tetw 
unförmliche  Grestalt  angenommen,  wie  ja  der  knorpelige  Teil  und  seine  Haot  et 
sind,  welche  die  mißlichen  Veränderungen  erleiden.  In  diesem  Fall,  wie  in  allei 
ähnlichen  Fällen,  liegt  also  kein  Bassenmerkmal  vor,  sondern  ein  Zeichen  io- 
dividueller  Veränderung. 

Bei  den  europäischen  Menschenrassen  mit  kurzem  Gesichts- 
Schädel  (Fig.  175)  treten  folgende  Eigenschaften  auf :  Der  Hauptknocheo 
des  Gesichtes,  der  Oberkiefer,  ist  kurz  in  allen  seinen  Teilen :  der  Nasen- 
fortsatz,  wie  der  Körper  und  wie  der  die  Zähne  tragende  Zahnfortsatz. 
Was  ihnen  an  Höhe  abgeht,  ersetzten  sie  durch  Breite,  denn  der 
Jochfortsatz   ragt   seitlich  weit   hinaus  weiter  als  bei   der  Rasse  der 


Fig.  176.    Gesicht  eines  alten  Mannes. 

Langgesichter.  Es  ist  jedoch  nicht  allein  die  Kürze  des  Oberkiefers, 
welche  dabei  in  Betracht  kommt,  sondern  auch  die  eigenartige  Stel- 
lung der  Flächen.  Die  Nasenfortsätze  stehen  nicht  steil  in  das  Stirn- 
bein eingefügt,  wie  bei  den  Langgesichtern,  sondern  sie  kehren  ihre 
Fläche  zu  einem  großen  Teile  nach  vorn,  die  Nasenbeine  müssen  ihnen 
folgen  und  bilden  also  nur  einen  verhältnismäßig  niedrigen  Nasen- 
rücken, der  überdies  eingebogen  ist.  Was  den  Nasenbeinen  an  Länge 
abgeht,  ersetzen  sie  durch  Breite,  und  so  wird  der  Nasenrücken  nicht 
nur  eingebogen,  sondern  auch  breit.  (Fig.  175.)  Damit  ändert  sich 
auch  die  Form  des  Naseneinganges;  er  wird  weit  und  „viereckig*'.  Die 
Nasenfortsätze  des  Oberkiefers  und  die  Nasenbeine  drängen  durch  ihre 
flache  Lage  mit  Hilfe  des  entsprechend  breiten  Ansatzes  an  dem  Stirn- 
bein die  Augenhöhlen  beträchtlich  auseinander,  viel  mehr  als  dies  bei 
den  Langgesichtern  der  Fall  ist,  die  Augenachsen  stehen  also  ebenfalls 
weiter  auseinander.  Die  Wangenbeine  rücken,  gezwungen  durch  die 
größere  Ausdehnung  der  Jochfortsätze,   weiter  von  der  Mittellinie  des 


über  Mengchenraasen.  545 

Gesichtes  ab,  aber  sie  selbst  haben  auch  eine  Krümmung  ihrer  äußeren 
Fläche,  wodurch  oft  die  eine  Hälfte  nach  dem  Gesicht  und  die  andere 
nach  der  Schläfenfläche  des  Kopfes  gerichtet  ist,  entgegengesetzt  zu 
der  Form  der  Wangenbeine  bei  den  Langgesichtern.  Der  Jochbogen 
ist  stark  ausgelegt,  und  setzt  mit  weitem  Bogen  über  die  Schläfen- 
grübe  hinweg.  In  Übereinstimmung  mit  diesen  Rassenmerkmalen  ist 
die  niedrige  Form  des  Augenhöhleneinganges,  der,  länglich  viereckig, 
in  vollkommener  Übereinstimmung  zu  der  Form  des  Kurzgesichtes 
steht  (Fig.  175).  Der  Unterkiefer  hat  sich  ebenfalls  dem  gedrungenen 
Gesichtsskelett  angepaßt,  er  ist  niedrig,  weit,  selbst  die  Zähne  stimmen 
mit  der  gedrungenen  Gestalt  aller  Teile  überein,  denn  die  Kronen 
sind  kurz  und  cylindrisch  im  Vergleich  mit  denen  der  Langgesichter. 
Besonders  deutlich  ist  der  Gegensatz  an  den  Schneidezähnen. 

Die  Weich  teile,  welche  sich  über  die  Knochen  des  Gesichtes 
hinweglegen,  sind  nur  imstande,  die  Linien  der  Knochen  zu  mäßigen, 
nicht  aber  den  Charakter  des  Kurzgesichtes  zu  unterdrücken.  Der 
Nasenrücken  bleibt  eingebogen,  und  die  knorpelige  Nase  ist  wie  die 
knöcherne  kurz.  Die  Spitze  ragt  in  die  Höhe,  so  daß  die  Nasenlöcher 
und  die  Nasenscheidewand  freier  liegen,  als  bei  den  Langgesichtem. 
Die  abstehenden  Wangenbeine  bedingen  ein  mehr  breites  Gesicht,  in 
welches  die  etwas  erhöhten  Wangenhöcker  eine  wohlthuende  Abwechs- 
lung bringen. 

Die  Figur  173,  Sokrateskopf  von  der  Seite  gesehen,  zeigt  ein 
Kurzgesicht  unter  einem  Langschädel.  Verhindern  auch  Bart  und 
Profilzeichnung  die  volle  Betrachtung  aller  Einzelnheiten,  so  ist  doch 
ersichtlich,  daß  die  Gesichtsform  kurz  ist,  denn  die  Unterlippe,  welche 
unter  dem  Schnurrbart  zum  Vorschein  kommt,  steht  so  hoch,  daß 
die  Vermutung,  der  Unterkiefer  sei  ebenfalls  niedrig,  gewiß  berechtigt 
ist.  Die  Nase  ist  kurz,  ihr  Rücken  eingebogen,  die  Spitze  nach  auf- 
wärts gewendet,  genug  Zeichen,  daß  dieser  gewaltige  Ritter  vom  Geist, 
dessen  philosophische  Gedanken  ihn  Jahrtausende  überlebt  haben,  das 
Antlitz  eines  Abkömmlinges  einer  europäischen  Rasse  besaß,  die  heute 
wie  damals  über  ganz  Europa  verbreitet  war.  Ist  es  vom  rassen- 
anatomischen Standpunkte  aus  schon  wichtig,  eine  Bestätigung  dafür 
zu  haben,  daß  es  in  Griechenland  nicht  lauter  Leute  mit  griechischer 
Nasenform  gab,  so  ist  noch  besonders  beruhigend,  daß  die  höchste 
Weisheit  auch  hinter  einer  Stirn  thronen  kann,  die  über  einer  Stumpf- 
nase ihren  Sitz  aufgeschlagen  hat.  Die  Thätigkeit  des  Gehirns  ist  übri- 
gens nicht  nur  unabhängig  von  der  Gestalt  des  Gesichtsschädels,  sie  ist 
auch  unabhängig  von  der  Form  des  Himschädels.  Ob  Dolicho-  oder 
Meso-  oder  Brachycephal,  das  Gehirn,  denkt  mit  gleicher  Kraft,  wenn 
es   nur  groß   genug  ist  und   hinreichenden   Raum  besitzt.     Was   bei 

KOLUfAinr,  Plastische  Anatomie.  35 


546  Zweiter  Teil.     Fünfter  Abechnitt. 

den  Kurzköpfen  an  Länge  dem  Hirnschädel  abgeht ,  ersetzt  er  eben 
durch  Breite  und  Höhe.  —  Dieselben  Kurzgesichter,  wie  sie  der  Sokrates- 
kopf  aufweist,  kommen  unter  der  europäischen  Menschheit  ebenfalls 
mit  zwei  verschiedenen  Komplexionen  versehen  vor,  nämlich  als  brü- 
nette und  als  blonde  Komplexion. 

Aus  den  obigen  Mitteilungen  ergiebt  sich,  daß  über  Europa  die 
Abkömmlinge  mehrerer  Menschenrassen  verbreitet  sind,  die  wir  nach 
ihren  Merkmalen  im  Gesicht  und  am  Schädel  unterscheiden.  In 
erster  Linie  helfen  zu  einer  Klassifizierung  die  Rassenmerkmale  des 
Knochens,  in  zweiter  Linie  diejenigen  der  Farbe  der  Augen,  der  Haare 
und  der  Haut.  Es  ist  hier  nicht  die  Aufgabe,  eine  solche  Klassi6- 
kation  durchzuführen,  sondern  lediglich  daran  zu  erinnern,  daß  unter 
den  Bewohnern  aller  Kulturstaaten,  und  zwar  aller  Orten,  diese  ver- 
schiedenen Formen  zu  finden  sind.  Die  Angabe  von  dem  Vorkommen 
mehrerer  Rassen  in  Europa  mag  wohl  bei  manchem  Beobachter  auf 
Widerspruch  stoßen,  denn  man  hat  stets  vorausgesetzt,  daß  die  Unter- 
schiede zwischen  Rassen  viel  tiefer  greifen  müßten,  als  dies  bei  dem 
„Kaukasier"  der  Fall  ist.  Allein  was  früher  als  eine  große  alles  um- 
fassende Einheit  erschien,  löst  sich  bei  genauerem  Zusehen  doch  in 
eine  bestimmte  Anzahl  von  Formen  auf,  die  ihre  Merkmale  regelmäßig 
auf  ihre  Nachkommen  vererben.  In  dieser  Vererbungsfähigkeit  gewisser 
Merkmale,  die  immer  auftauchen,  die  selbst  unter  ungünstigen  Um- 
ständen mit  gleicher  Zähigkeit  immer  wiederkehren,  die  der  Zeit,  dem 
Wechsel  des  Klimas,  dem  Wechsel  der  Nahrung  widerstehen,  liegt 
für  die  klassifizierende  Anthropologie  die  Veranlassung,  von  Unter- 
arten, von  Rassen  und  von  Unterrassen  zu  sprechen.  Andere  werden 
vielleicht  andere  Namen  für  die  einzelnen  Formen  wünschen  und  an 
die  Stelle  setzen,  allein  damit  werden  nur  die  Begrifife  eine  Andernng 
erfahren,  nicht  aber  die  Merkmale,  welche  in  den  europäischen  Ab- 
kömmlingen der  Menschenspezies  wie  in  denen  anderer  Kontinente 
unzerstörbar,  stets  aufs  Neue  sich  verjüngen.  Brünette  und  blonde 
Individuen  mit  langem  und  breitem  Gesicht,  und  beide  Formen  sei  es 
mit  langem,  mittellangem  oder  kurzem  Hirnschädel  verbunden,  sind 
in  ganz  Europa  verbreitet  samt  ihren  zahlreichen  Mischlingen.  Es 
mag  schwierig  sein,  in  einem  bestimmten  Fall  den  Grad  der  Rassen- 
reinheit des  Individuums  festzustellen,  stets  lassen  sich  aber  wenigstens 
einige  der  oben  angegebenen  Merkmale  nicht  bloß  in  den  Weichteilen, 
sondern  auch  im  Skelett  des  Hauptes  auffinden.  Und  diese  sind  es, 
welche  nicht  minder  wie  Farbe  der  Augen,  der  Haare  und  der  Haut 
für  den  Künstler  die  Individualität  kennzeichnen.  —  Wo  wir  hinkom- 
men mit  dem  Spaten,  da  sind  immer  schon  Lang-  und  Breitgesichter. 
Aus    einer   solchen    zufällig    zusammengetroffenen    Gesellschaft    haben 


über  Menichenrassen.  547 

sich  allmählich  die  Horden,  die  Stämme,  die  Völker,  kurz  die  großen 
und  die  kleinen  ethnischen  Einheiten  entwickelt.  Sie  hatten  Zeit  da- 
zu, denn  es  liegt  eine  unendlich  lange  Periode  hinter  uns.  Es  ist 
also  kaum  zu  hoffen,  daß  irgendwo  in  Europa  noch  ein  Volk  existiere, 
das  sich  reiner  Abstammung  in  der  Weise  rühmen  kann,  daß  sämt- 
liche Glieder  einer  und  der  nämlichen  Rasse  angehören.  Für  Europa 
und  Asien  ist  eine  solche  Hoffnung  wohl  ausgeschlossen.  Wenn  schon 
Wogulen  und  Baschkiren  und  Meschtscheräken  aus  verschie- 
denen Rassen  zusammengewürfelt  sind,  dann  werden  wohl  auch  die 
Thäler  des  Kaukasus  keine  reinen  ungemischten  Volksstämme  mehr 
beherbergen,  jene  Thäler,  in  welche  sich  die  Flut  der  Menschheit 
zuerst  ergoß,  als  sie  von  Asien  her  gegen  Europa  auf  ihrer  Wan- 
derung vordrang.  Daß  in  dem  alten  Europa  selbst  das  letzte  Dorf 
schon  mit  den  Abkömmlingen  von  Blonden  und  Brünetten  gefüllt  ist, 
das  hat  die  große  Statistik  über  die  Farbe  der  Augen,  der  Haare  und 
der  Haut  an  den  Schulkindern  gezeigt,  welche  auf  die  Anregung 
R.  ViKCHOw's^  in  Deutschland,  Belgien,  Osterreich  und  der  Schweiz 
durchgeführt  wurde. 

Über  alle  diese  Gebiete  breiten  sich,  wie  diese  Statistik  gezeigt 
hat,  die  Abkömmlinge  europäischer  Rassen  aus,  die  sich  in  zwei  große 
Gruppen,  in  die  Blonden  und  Brünetten,  gliedern.  Dieses  Ergebnis 
bestätigt  die  Untersuchung  an  den  Schädeln,  überall  finden  wir 
Lang-  und  Kurzschädel,  Lang-  und  Breitgesichter,  sowohl  unter  den 
Lebenden  wie  unter  den  seit  Jahrhunderten  und  Jahrtausenden  Ver- 
storbenen. Die  Menschenschädel  der  Pfahlbau-Bevölkerung  oder  der 
fränkisch-allemannischen  Periode  sind  identisch  mit  denen  von  heute. 
Die  centraleuropäischen  Menschenrassen  sind  in  der  Form  der  Schädel- 
kapsel und  in  derjenigen  ihres  Antlitzes  immer  schon  fertig,  wohl- 
geformt, wo  immer  wir  sie  finden,  sie  haben  sich  körperlich  nicht 
geändert.  Sprachen,  Sitten  und  Staatsformen  und  Völkemamen  haben 
gewechselt,  die  Rassen  sind  immer  dieselben  geblieben  in  bezug  auf 
die  anatomischen  Eigenschaften  ihres  Körpers. 

Die  Statistik  der  Schädelformen  und  der  Farbe  der  Augen,  der 
Haare  und  der  Haut  hat  also  bewiesen,  daß  die  verschiedenen  oben- 
geschilderten Rassen  über  ganz  Europa  verbreitet  sind,  sie  hat  aber 
ferner  noch  gezeigt,  daß  ihre  Verbreitung  keine  gleichmäßige  ist,  dort 
sind  mehr  von  diesen,  hier  mehr  von  jenen  Unter-Rassen  vorhanden. 


*  Die  General -Übereicht  über  diese  Statistik  wird  wahrscheinlich  noch  in 
diesem  Jahre  in  dem  Archiv  für  Anthropologie,  Braunschweig,  Vieweg  &  Sohn, 
mit  mehreren  Karten  illustriert  erscheinen.  Kürzere  Mitteilungen  sind  schon  wieder- 
holt von  R.  ViRCHOW  in  den  Sitzungsberichten  der  deutschen  anthropologischen 
Gesellschaft  veröflTentlicht  und  durch  die  Tagespresse  verbreitet  worden. 

35* 


548  Zvelter  Tül.     Fönftor  AbaeluiiU. 

So  herrschen  im  Norden  mehr  die  blonden  Rassen   mit   ihren  Misch- 
lingen vor,  im  Süden  mehr  die  brünetten.' 

Für  die  Beurteilang  der  Rassenreinheit  und  der  Rassenkrenznng 
giebt  die  schon  erwähnte  Statistik  über  die  Augen-,  Haar-  und  Haut- 
&irbe  ebenfalls  wertvolle  Aufklärung.  Von  dem  rein  blonden  Typus 
existiert  in  Mitteleuropa  ViVo-  ■*■"'  ^^^  brünetten  Typus  fallen  etwas 
mehr  als  »/e  %•  Mehr  als  die  Hälfte  aller  Menschen  sind  also  Misch- 
linge, entstanden  aus  der  Kreuzung  zwischen  Blonden  und  Brünetten. 
Selbstverständlich  steigen  nnd  fallen  auch  hier  in  den  verschiedenen 
Gebieten  mit  der  Ab-  oder  Zunahme  der  reinen  Formen  die  Zahlen 
der  Mischlinge.  Bei  diesen  statistischen  Erhebungen  wurde  Beiubeil 
oder  Mischung  eines  Individuums  nach  Merkmalen  bestimmt,  welche  in 
den  Weicbteilen  liegen,  es  läßt  sich  aber  zeigen,  daß  die  Vermischung 
der  europäischen  Rassen  auch  die  Rasseneigenschaften    der  Knochen 


durcheinandenüttelt.  Dann  kommt  eine  lange  Nase  mit  hohem  Rücken 
in  ein  Kurzgesicht,  oder  umgekehrt  in  das  Langgesicht  eine  kurze 
Nase.  Die  Wangenbeine  treten  vor  und  die  Jochbogen  stehen  in  einem 
Langgesicht  weit  ab,  statt  eng  anzuliegen,  oder  das  entgegengesetzte 
findet  in  einem  Kurzgesicht  statt,  kurz  das  Massenverhältnis  der  ein- 
zelnen Teile  zu  einander  ist  zerstört,  die  Proportion  ist  durchbrochen, 
die  ein  Antlitz  harmonisch  macht.  Bei  farbigen  Rassen  ist  die  natürliche 
Prüportion  der  einzelnen  Abteilungen  des  Gesichtsschädels,  oder  die  Pro- 
portion des  Gesichtsscbädels  zu  dem  Himschädel  an  sich  schon  gestört 
Darin  liegt  das  Fremdartige  der  Erscheinung,  das  sich  jedem  geübten 

'  Die  Verteilnng  ist  folgende; 

Btonda         BrOnelle        MbeUlage 

In  Deutschland    ....    31,80  14,05  M,15 

„   Osterreich 19,79  23,1t  68,04 

„   der  Schweii     ....     11,10  25,70  63,20 


über  Menachenranen. 


549 


Beobachter  auch  dann  aufdrängt,  wenn  er  nur  die  gebleichten  Schädel 
vor  sich  hat.  Eine  solche  Verschiebung  des  Gleichgewichts  zwischen 
Hirnschädel  und  Gesichtschädel  ist  in  einem  auffallenden  Grade  bei 
der  Prognathie  zu  beobachten.  Ihr  Wesen  wurde,  soweit  dies  bei 
dem  heutigen  Stande  unserer  Kenntnisse  gestattet  ist,  mit  Hilfe  des 
CAMPEB'chen  Gesichtswinkels  am  Schädel  bestimmt.  (Siehe  Seite  87.) 
Am  Lebenden  wirken  die  vorgeschobenen  Kiefer  noch  weit  stärker, 
weil  die  Weichteile  das  Vortreten  der  Kauwerkzeuge  noch  steigern. 
Bei  dem  Negergesicht  ist  dies  wegen  der  kleinen  Nase  und  den  ver- 


S^r^^)^%\ 


Fig.  178.    Neger  von  Mozambique. 


dickten  Lippen  so  auffallend,  daß  die  Größe  der  Stirn  und  des 
Schädels  dem  Beschauer  fast  gar  nicht  mehr  auffällt,  und  er  nur  große 
Kauwerkzeuge  vor  seinen  Augen  sieht.  An  Zeichnungen  ist  dies  nicht 
in  dem  Grade  auffallend,  wie  in  der  Natur,  doch  geben  die  Figuren 
177  und  178  eine  gute  Vorstellung  von  dem  Mißverhältnis  der  ein- 
zelnen Organe  untereinander  und  mit  denjenigen  des  Europäers.  Bei 
dem  Knaben  aus  Dar  für  zeigt  die  Profillinie,  welche  von  der  Stirn 
senkrecht  nach  abwärts  zieht,  die  beträchtliche  Prognathie,  welche 
durch  die  gewulsteten  Lippen  noch  gesteigert  wird.  Der  Mittelpunkt 
der  ganzen  Prognathie,  der  vorgestreckte  und  gewulstete  Mund  wirkt 
um  so  mächtiger,  weil  gleichzeitig  die  Nase  so  sehr  verkümmert  ist. 
Der  Nasenrücken  ist  tief  eingebogen  und  breit,  erhebt  sich  aus  der 
Ebene  des  Gesichtes  nur  sehr  wenig,  und  das  Nasenende  ist  nur 
schwach  erhoben,  dehnt  sich  dagegen  in  die  Quere  aus,  so  daß  die 
Nasenöfihungen  dieselbe  Richtung  einschlagen  müssen.     Was  oben  an 


060 


Zwetor  Tdl.    FüdAct  AfaKhnitt. 


der  Nase  fehlt,  wird  unten  durch  vermehrte  Breite  in  durchaus  nuTor> 
teilhafter  Weise  ersetzt,  und  dient  nur  dazu,  den  £indruck  der  Prognathie 
zu  vergrößern  statt  ihn  abzuschwächen.  Bei  dem  Neger  von  Mo- 
zambique  ist  die  Prognathie  des  Gesichtsskelettes  ebenso  stark  wie 
bei  dem  Euabeo  aus  Darfur,  und  doch  wirkt  sie  etwas  weni^r. 
weil  der  Naseniilcken  nicht  so  stark  abgeplattet  ist. 

In  Europa  kommt  ebenfalls  Prognathie  vor,  sie  ist  nicht  so 
selten,  wie  es  den  Anschein  hat,  und  zwar  erscheint  sie  sowohl  bei 
Lang'  als  Kurzgesichtern.  Bei  den  letzteren  kann  sie  oft  sehr  aus- 
gesprochene Eigenschaften  erhalten,  sobald  wegen  der  schiefstehenden 


HtzA-EL-XiUR,  Beduine,  Palästina. 


Zähne  die  Lippen  etwas  kurz  sind  und  der  Nasenrücken  breit  und 
niedrig  ist.  Bei  den  Langgesichtem  erscheint  sie  wegen  des  hohen 
Nasenrückens  sehr  gemäßigt.  Mag  jedoch  die  Prognathie  bei  Europäern 
einen  noch  so  bedeutenden  Grad  erreichen,  und  die  Messung  am  Skelett 
CAMPER'sche  Gesichtswinkel  ergeben,  welche  seihst  unter  diejenigen  der 
Australier  hinabgehen,  niemals  wird  der  Ausdruck  der  Prognathie  am 
lebenden  Europäer  dieselbe  Wirkung  auf  den  Beschauer  hervorbringen, 
wie  die  Prognathie  bei  Negern  oder  Malayen. '  Es  fehlt  die  Verküm- 
merung der  Nase  und  die  Schwellung  der  Lippen. 


'  Eh   darf  hier  iiioht  iiuerwähDt  bicibea,   daß  sowohl   unter  den  Negern  i 
uoter  den  klalajen  PhysiguoDiien  mit  geradem  Profil,  also  ohne  Prognatbie,  v 


Ober  HaludieiilUKiL  551 

Unser  Äuge  ist  für  die  feinsten  Unterschiede  empfindlich,  durch 
welche  dae  Gleichgewicht  der  einzelnen  Teile  gestört  wird.  Die  Fi- 
guren  179a.  180  stellen  ein  und  denselben  Mann*  von  vorne  und  tod  der 
Seite  dar.  Die  ganze  Form  des  Antlitzes  von  der  Fig.  179  ist  markig 
und  edel,  und  könnte  fllr  den  Eopf  eines  Apostels  kaum  besser  ge- 
funden werden.  Was  noch  mehr,  die  Silhouette  macht  den  vollen  Ein- 
druck, als  ob  sie  von  einen  europäischen  Mann  stamme.  Bei  der 
Betrachtung   von   vorne   wird    die   Vermuthung    auf  europäische   Ab- 


Hau-bl-Nihb,  Beduine,  Palästina. 


stammung  wesentlich  modifiziert,  denn  der  Mund  hat  etwas  Fremd- 
artiges, die  verdickte  gewulstete  Unterlippe  deutet  auf  andere  Heimat. 
Dieses  im  ganzen  wenig  hervortretende  Zeichen  hat  hier  den  Wert 
eines  sekundären  Rassenmerkmales,  das  das  Gleichgewicht  der  Teile, 
wie  wir  es  von  dem  europäischen  Antlitz  her  gewöhnt  sind,  etwas,  wenn 
auch  in  geringem  Grade  abändert.  Diesem  Eindruck  folgt  der  Schluß 
sofort  nach,  daß  wir  es  mit  einer  fremden  Basse  zu  thun  haben. 
Wie  in  Europa,  so  giebt  es  auch  in  Asien  Lang-  und  Eurzgesichter, 

kommcD,  welche  dann  europäischen  Menschen  gleichen,  freilich  die  Haut  und  die 
Haare  des  Siegern  besitzen. 

■  Hau  EL  NiMR,  Führer  einer  kleinen  Keiteischar  im  Os^ordan lande.  Ana 
Dr.  P.  Lanoerhans'  Abhandlung  über  die  heutigen  Bewohner  des  heiligen  Landes. 
Archiv  fiirAnthropolußie  1873.  Bd.  VI.  S.  45  und  202.  Die  Porträts  sind  vom  Maler 
Lims  nach  Photographien  mit  der  Lupe  auf  Holz  gezeichnet  in  ','ie  natÜrL  Größe. 


553 


Zweiter  Teil.     Fünfter  Abaehnitt. 


die  an  langen,  mittellangen  und  kurzen  Hirnkapseln  sitzen.  Dennoch 
sind  die  Rassen  beider  Kontinente  wesentlich  voneinander  verschiedeiL 
Wenn  auch  von  gleicher  Abkunft,  und  übereinstimmend  in  den  Haupt- 
merkmalen, die  sie  von  dem  gemeinsamen  Stammvater  ererbt  haben,  so 
sind  sie  doch  jetzt  durch  sogenannte  sekundäre  Bassenzeichen  wohl 
charakterisiert  und  zwar  sowohl  für  das  Auge,  wie  ftir  den  Maßstab.  Es 
sind  also  die  nämlichen  Grundformen  hier  wie  dort,  der  unterschied  liegt 
aber  darin,  daß  sowohl  die  Langgesichter  als  die  Breitgesichter  im  Ver- 
gleich mit  denen  Europas  eine  exzessive  Form  erreichen.  Was  bei  Ela- 
ropäeni  noch  maßvoll  ausgeprägt  ist,  wie  z.  B.  ausgelegte  Jochbogen, 


"" 1  Schläfen  linie. 


*  Kontur  der  Augenhöhle. 

*  Jochbogen. 


5  Wangenbein. 


— k  Unterkieferwinkel. 


5  Kinnhöcker. 


Fig.  181.     Porträt  eines  Mongolen,  von  Schadow  gezeichnet. 

hervortretende  Wangenbeine,  eingedrückte  Nase,  breites  Untergesicht, 
erscheint  dort  fast  bis  zum  Übermaß  gesteigert.  Der  Nasenrücken 
scheint  zu  fehlen,  wenigstens  ist  äußerlich  nichts  von  ihm  zu  bemerken 
als  der  Platz  fiir  die  Nasenbeine,  die  Wangenbeine  springen  kantig 
hervor  und  stellen  die  höchsten  Punkte  des  Obergesichtes  dar. 

In  den  Figuren  181  und  182  sind  zwei  Porträts  zu  sehen,  welche 
Asiaten  mit  Kurzgesichtern  darstellen.  Was  uns,  den  Europäern,  an 
diesen  Asiaten  auffallt,  ist  die  Größe  des  Kauapparates,  dem  die 
Hirnkapsel  untergeordnet  scheint,  obwohl  dies  bei  genauerer  Betrach- 
tung nicht  in  jenem  Grade  und  jedenfalls  nicht  in  physiologischer 
Hinsicht,    bezüglich  des  Inhaltes^,    der  Fall  ist.     Die  beiden  Figuren 

*  Die  Chinesen  haben  ein  großes  und  reiches  Staatswesen  entwickelt,  Dichter, 
Philosophen,  Politiker  ersten  Hanges  zeiclmen  dieses  Volk  aus,  also  die  physio- 
logische Thätigkcit  des  Gehirns  bleibt  auch  hier  von  einer  stärkeren  Entwicklang 
des  Kauapparates  unberührt. 


Ober  Hensehenraven.  553 

ergänzen  sich,  denn  an  der  Fig.  182  ist  durch  die  Wendung  des  Kopfee 
die  SeiteuacBicht  der  Wangen  noch  etwas  mehr  gestattet,  als  dies  bei 
Fig.  181  möglich  ist.  Die  große  Ma^se  des  Kauapparates  wird  durch 
nichts  in  dem  übrigen  Gesicht  'gemäßigt.  Der  Nasenrücken  fehlt  ganz, 
das  Ende  der  Nase  mit  den  Nasenöffnungen  ist  klein,  der  Oberkiefer  und 
namentlich  der  Unterkiefer  samt  den  Muskeln  mächtiger  als  bei  Euro* 
päem  und  die  Lippen  dicker  und  großer  aln  bei  uns.  Dazu  kommt 
die  kleine  schiefgestellte  Lidspalte;  das  Äuge  wird  durch  die  Lider  in 
einem  weit  höheren  Grade  zugedeckt,  als  bei  uns,  es  verliert  dadurch 
etwas  von  dem  beherrschenden  Ausdruck,  den  es  bei  der  weißen  Rasse 
besitzt.  Um  die  Größe  des  Gesichtes  gegenüber  dem  Himachädel 
noch  in  unvorteilhafter  Weise  zu  steigeru,  sind  die  Äugenbrauen  an 
die  Stirn  hinaufgerUckt,  während  sie  bei  uns  auf  dem  Augenhöhlen- 
rand  sitzen.     Diese   scharfe  Linie   bestimmt  aber  bei  dem  Beschauer 


Fig.  le2.     Portrat  des  Kalmückou  Feodob, 

d«r  sich  selbst  gezeichnet  hat,   und  uiil«r  den  Kunstfreund  cd  durch  die  in  Kapfer 

gegebenen  Zeiehnnngen    von   den  Broniethilren    des  Lokedzo  Ghibsbti    sich   einen 

gutt'ii  Namen  gemacht  bat.  .  Bchadow  (Polyklet). 

das  Urteil  Über  die  Größe  des  Antlitzes,  denn  von  dort  herab  bis 
zum  Kinn  erscheint  uns  Alles  als  „Gesicht",  wenn  auch  nicht  im 
anatomischen  Sinn,  aber  in  dem  der  Auffassung  des  täglichen  Lebens. 
In  Asien  kommen  aber  unter  den  Dämlichen  Völkern,  die  man 
in  der  Ethnologie  gemeinhin  unter  dem  Namen  der  Mongolen  zusammen- 
faßt,  auch  Individuen  mit  langem  Gesicht,  also  mit  langer  Nase,  an- 
liegenden Jochbogen,  mäßig  vorspringenden  Wangenbeinen  und  eng  ge- 
formtem Unterkiefer  vor.  Diese  Langgesichter  unter  den  Chinesen  sind 
bezüglich  der  Hauptmerkmale  ebenfalls  gleich  denjenigen  Europas  geformt. 
Die  Verschiedenheit  in  der  Gesichts-  und  Schädelform,  welcha  dennoch 
unverkennbar  das  mongolische  Langgesicht  von  dem  europäischen  aus- 
zeichnet, liegt  in  der  Übertreibung  der  sekundären  Rassenmerkmale. 
Ihre  hohen  und  schmalen  Adlernasen  sind  schnabelförmig  nach  abwärts 
gebogen,    das  Untergesicht  ist  schmäler  und  länger  als  bei  uns,  die 


554  Zweiter  Teil.     Fünfter  Abschnitt. 

Haut  hat  einen  anderen  gelben  Ton  als  der  unserer  südlichen  Brü- 
netten ist,  und  die  schwarzen  Haare  sind  mähnenartig.  So  entsu-ht 
trotz  der  Übereinstimmung  der  Grundform  dennoch  eine  Verschieden- 
heit durch  die  sekundären  Bassenmerkmale. 

Die  Rassenanatomie  kommt,  sobald  sie  die  einzelnen  Indivi- 
duen  untersucht,  und  die  Eigenschaften  derselben  gewissenhaft  dar- 
stellt und  registriert,  zu  dem  gleichen  Resultat,  daß  überall  die  Ver- 
treter der  Hauptgrundformen  des  Gesichtes  und  der  Schädel  zu  tinden 
sind,  und  daß  kein  Volk  nur  aus  Abkömmlingen  einer  einzigen  Menschen- 
rasse besteht,  wie  man  zumeist  angenommen  hat.  Die  Begriffe  von 
Nation  und  Rasse  sind  vermischt  worden,  und  so  hielt  man  Franzosen. 
Italiener,  Deutsche  und  Engländer,  jedes  dieser  Völker  für  eine  Ton 
den  übrigen  verschiedene  Rasse  oder  Unterrasse,  der  nach  und  nach 
unter  dem  Einfluß  des  Klimas,  des  Bodens,  der  Nahrung  und  der 
Lebensgewohnheiten  immer  schärfere  Merkmale  angezüchtet  worden 
wären,  bis  schließlich  jedes  dieser  Völker  ein  körperlich  apartes  na- 
tionales Gepräge  erhalten  hätte.  Die  statistische  Behandlung  der 
Rassenanatomie,  welche  mit  großen  Zahlen  operiert  und  die  Körper- 
form wie  diejenige  des  Schädels  und  des  Gesichtes  aus  dem  mittleren 
Durchschnitt  herausrechnet,  hat  dieser  irrigen  Meinung  auch  ein 
wissenschaftliches  Gewand  gegeben.  Sobald  die  Untersuchung  jedoch 
die  Individuen  ins  Auge  faßt,  und  diese  vergleichend  nebeneinander 
stellt,  ergiebt  sich  ein  Resultat,  das  der  ebenerwähnten  Auffassung 
direkt  widerspricht.  Die  Völker  sind  aus  rassenanatomisch  ver- 
schiedenen Individuen  zusammengesetzt,  die  wir,  trotz  Jahrtausend 
langer  Kreuzung,  immer  noch  hier  und  dort  rein  auffinden.  Ihre 
Merkmale  sehen  wir  in  der  Nachbildung  des  Künstlers,  der  das 
individuelle  giebt,  statt  der  Schablone,  der  bei  seinen  Schöpfungen 
sich  daran  erinnert,  daß  es  nicht  bloß  Menschen  in  Europa  mit  Adler- 
nasen, sondern  auch  solche  mit  kurzen,  aufgestülpten  Nasen  giebt. 
und  daß  in  Spanien  auch  blaue  Augen  und  blonde  Haare  und  helle 
Haut  vorkommen,  wie  umgekehrt  in  Deutschland  brünette  Komplexionen 
mit  südlicher  Tiefe  des  Kolorites. 


His  und  RüTiMEYER,  Crania  helvctica.  Basel  und  Genf  1804.  4*^.  —  J.  Koll- 
mann, Beiträge  zu  einer  Kraniologie  der  europäischen  Völker.  Archiv  fiir  Anthro- 
pologie. Bd.  XIII.  u.  XIV.  DieAutochthonen  Amerikas,  Zeitschrift  für  Ethnologie.  1883. 
—  J.  Ranke,  Die  Schädel  der  altbayerischen  Landbevölkerung.  Beitr.  z.  Anthrop.  u. 
Urgesch.  Bayerns.  Bd.  V.  1883.  —  R.  Virchow,  Beiträge  zur  physischen  Anthropologie 
der  Deutschen  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Friesen.  Abhandl.  der  königl. 
Akad.  der  Wissensch.  zu  Berlin.    1876. 


Register. 


A 

Abdominalatmen  142. 
Abduktion  156. 
Abneigung  331. 
Abscheu  334,  335. 
Abplattung  der  Muskeln  65. 
Abzieher  d.  kleinen  Fingers 
425. 

—  der  ^ßen  Zehe  463. 

—  der  kleinen  Zehe  464. 

—  kurzer  d.  Daumens  424. 

—  langer  d.  Daumens  419. 
Abziehen  und  Anziehen  des 

Beines  199. 
Acetabulum  36. 
Achillessehne  222,  459. 
Adamsapfel  342,  344. 
Adduktion  156. 
Adductor  brevis  446. 

—  longus  445. 

—  magnus  446. 
Aderhaut  des  Auges  275. 
Adhäsion  35. 
Adlernase  543. 

Aste  des  Unterkiefers  102. 
Akromion  152. 
Alveolarfortsätze  109. 
Alveole  105. 
Anconacus  parvus  410. 
Andacht  325. 

Ansatzder  Muskeln  227, 249. 
Ansatz  der  Rippen  128. 
Antlitzmuskeln  253. 
Anthelix  304. 
Antitragus  304. 
Anthropoiden  85. 
Antinous  76. 
Apertura  pyriformis  83. 
Apollo  76. 
Aponeurosen  230. 
Arcus  digitalis  venosus  431. 

—  superciliares  75,  93. 

—  zygomaticus  78. 
Armmuskel,  großer  runder 

405. 

—  innerer  408. 

—  kleiner  runder  404. 

—  zweiköpfiger  406. 


Arrectores  pili  70. 
Arthrologie  24. 
Articulatio  brachio  radialis 
167. 

—  brachio  ulnaris  164. 

—  humeri  32,  38. 

—  metacarpo-phalangea41. 
Association  der  Empfindung 

337. 
Astragalus  212. 
Atemritze  345. 
Atlas  116. 

Atmen,  forciertes  134. 
Aufheben  der  Arme  141. 
Aufheber  des  Nasenflügels 

264. 

—  des  oberen  Lides  289. 

—  der  Oberlippe  und  des 
Nasenflügels  262. 

—  des  Ohres  265. 

—  der  Rippen  369. 

—  des  Schulterblattes  390. 
Aufmerksamkeit  322. 
Augapfel  274. 

Auge  274. 
Augenbrauen  71. 
Augenbrauenbogen  93. 
Augenhaut,  weiße  275. 
Augenhöhle  83,  280,  282. 
Augenhöhlenfurche  284. 
Augenhöhlenrand,  ober.  92. 
Augenhöhlenspalte ,     obere 
280. 

—  untere  280. 
Augenkammer,  vordere  276, 

278. 
Augenlid,  oberes  72. 

—  unteres  72. 
Augenmuskeln  295. 
Augenbrauenr unzler  256. 
Augenstellung ,       parallele 

314. 
Ausatmung  137. 
Auswärtsroller  des   Beines 

439. 

B 

Backzähne  105. 

Balance  des  Körpers  396. 


Balancieren  des  Schädels  95. 

Bandrolle  242. 

Bandscheiben ,  halbmond- 
förmige 206. 

Bart  71. 

Basis  des  Schädels  74. 

Baucheingeweide  141. 

Bauchhöhle  132. 

Bauchmuskel,  äußerer  schie- 
fer 135,  371. 

—  gerader  376. 

—  innerer  schiefer  374. 

—  querer  375. 
Bauchpresse  378. 

Bauch  vene,    oberflächliche 

466. 
Bauschmuskel  393. 
Bänder,  strafie  32. 
Bänderder  Wirbelsäule  123, 

124. 
Becken  120,  138,  193,  476. 
Beckengürtel  188. 
Behaarung  der  Brust  72. 
Beine  des  Kindes  483.  490. 
Beinheben  und  Beinsenken 

199. 
Bestimmung  der  Höhenlage 

des  Ohres  306. 
Beuger  des  Arms  406. 

—  des  Beines  448. 

—  der  Hand  413. 

—  der  Finger  414. 

—  des  Fufes  458. 

—  der  kleinen  Zehe  465. 

—  kurzer  426. 

—  des  kleinen  Fingers  414. 

—  kurzer  des  Daumens  424. 

—  kurzer  der  großen  Zehe 
464. 

—  langer  der  großen  Zehe 
458. 

—  langer  der  Zehen  458. 
Beugung  im  Ellbogengelenk 

167. 

Bewegungen  der  Brust  134. 

Bewegung  des  Kopfes  115, 
116. 

Bewefi^ungen  der  Wirbel- 
säule 114,  1^4. 


556 


Register. 


Bewegungen  im  Unterkie- 
fergelenk 104. 

Bewegungen,  symbolische 
338. 

Bieeps  406. 

Bicepsfurche,  innere  406. 

—  äußere  406. 
Bindegewebe ,    subkutanes 

49. 
Bindehaut  des  Auges  293. 
Blätter,  sehnige  281. 
Blick  312. 
Blick  des  Zweifels  315. 

—  gesenkter  314. 

—  wegwerfender  335. 
Blödsinn  82. 

Bock  304. 

Bogenvene  466. 

Brachycephalen  74,  538. 

Breite  des  Oberkörpers  s. 
Proportion. 

Brust  133,  134,  141,  360. 

Brustbein  127,  130,  132, 
135,  137,  141. 

Brustbein  —  Zungenbein- 
muskel 351. 

Brustglieder  185. 

Brusthöhle  132. 

Brustkorb  111,  118,  131, 
132,  473. 

Brustmuskel,  großer  362. 

—  kleiner  365. 
Brustregion,  vordere,  seit- 
liche und  hintere  60,  360. 

Brust  -  Schildknorpelmuskel 

352. 
Brustumfang  135. 
Brustwarzen  135,  360. 
Brustwirbel  118,  131. 
Brüste  480. 
Bucht  27. 
Busen  55. 

c 

Calcaneus  213. 
Calvaria  74. 

CAMPERScher    Gesichtswin- 
kel 86,  87,  88. 
Canalis  sacralis  120. 
Carpale  I,  171. 

—  II,  171. 

—  III,  173. 

—  IV,  173. 
Capitulum  der  Elle  162. 

—  des  Oberarms  155. 

—  des  Mittel handknochcns 
175. 

—  der  Rippe  130. 

—  des  Wadenbeines  204. 
Caput  articulare  30. 
Carotis  communis  346. 
Cartilagines  alares  299. 

—  arytaenoideae  345. 


Cartilagines  interarticulares 

34. 
Cartilago  cricoidea  344. 

—  intervertebralis  113. 

—  thyreoidea  344. 

—  trlangularis  298. 
Chamaecephalie  524. 
Choanen  80,  83. 
Chorioidea  275. 
Cilien  291. 
Clavicula  147. 
Cornea  274. 
Conjunctiva  oculi  293. 
Crista  27. 

—  lacrymalis  281. 

—  sacralis  media  120. 
Crusta  ostoides  105. 
Cutis  46,  49,  69. 

D 

Dach  der  Augenhöhle  92. 
Darmbein  189. 
Darmbeinmuskel  441. 
Darmbein  -  Rippenmuskel 

392. 
Darmbeinstachel  189,   190. 
Darm-Schambeinhöck.  190. 
Daumen  64. 

Daumenbeuger,  langer  414. 
Daumengelenk  64. 
Deltamuskel  402. 
Dentin  105. 
Depressor  alae  nasi  264. 

—  septi  mobiiis  narium  264. 
Diaphragma  382. 
Dolichocephalen  74,  537. 
Dornfortsatz  29,  60,  62, 114, 

119. 
Dornmuskel    des    Nackens 

und  des  Rückens  394. 
Dorsalflexion  177. 
Drehmuskeln  d.  Kopfes  395. 
Drehung  des  freistehenden 

Körpers  125. 

—  des  Rumpfes  379,  398. 

—  der  Wirbelsäule  125,398. 
Dreh  Wirbel  118. 
Drosselader,  äußere  359. 

—  innere  346,  359. 
Drosselgrube  342. 
Drosselvene,  vordere  359. 

E 

Ecke  am  Ohr  304. 
Eckel  334. 
Eckzähne  105,  107. 
Eillauf  .^^08. 

Einatmung,  tiefe  136,  137. 
Einziehen    des    Unterleibes 

136. 
Ellbogcngclenk  43,  45,  164. 
Ellbogengrube  155. 
Ellbogeniiiuskel  410. 


EUe  44,  161. 
Ellenbeuge  65,  420. 
Ellenmuskel,  innerer  iXX 
Ellenstrecker  der  Hand  418. 
Email  105. 

£lmpiindungen,zärtliche321 
Endphalangen  176. 
Endsehnen  227. 
Entsetzen  324. 
Entschiedenheit  327. 
Epicondylus   extemus  und 

internus  199. 
Epidermis  46. 
Epistropheus  116,  117. 
Ergrauen  der  Ha&re  71. 
Erstaunen  323. 
Exspiration  134. 
Extensor  cruris 

442. 


Farbe  der  Haare  70. 
Farbe  der  Haat  47. 
Fascia  buccalis  272. 

—  palmaris  250. 

—  plantaris  460. 
Fascie  247,  248.  460. 

—  des  Fußes  435. 

—  der  Hohlhand  250.  423w 
Felsenbein  80. 
Felsenteil  d.  SchlAfenbeinei 

96.  104. 
Fersenbein  213. 
Festigkeit  des  Thorax  137. 
Fettanhäufungen  58. 
Fett  des  Unterhautgewebes 

271. 
Fettläppchen  49. 
Fettpolster  50,  52,  207,  477. 
Fibula  204. 
Fingerbeuger  414. 
Fingergelenke  184. 
Fingerhandgelenk  41. 
Fingerstrecker  418. 
Fixicrungslinien  d.  Haut  62. 
Flachkopf  76. 
Fleischfarbe  47. 
Fleischstränge,  rundliche  60. 
Flügelgaumengrube  280. 
Fitigelmuskel  104.  269. 
Foramen  mentale  103. 

—  obturatum  189. 

—  transversarium  115. 

—  vertebrale  113. 

Form  des  Haarschaftes  71. 
Form  Veränderungen        de» 

Thorax  136. 
Fortsätze  der  Knochen  30. 
Fossa  costalis  118. 

—  infraclavicularis  186. 

—  infraspinata  152. 

—  supraspinata  152. 

—  jugularis  342. 


malaris  97. 
^^Bupraclavicularis  186,358. 
'-^  supratrochlearis  anterior 
168. 

—  —  posterior  163. 
Foveae  ardcularcs  30. 
Furcht  324. 

Galca  aponeurotica  256, 266. 

Gang,  natürlicher  502. 

Gaumen  80,  100. 

Gänsehaut  70. 

Gebärdenspiel  des  Gesich- 
tes 319. 

G^uld  337. 

Gefäße  132,  281. 

Gefäßlöchcr  93. 

Gefühl  der  Überlegenheit 
331. 

G-egenecke  des  Ohres  304. 

Gegcnleiste  304. 

Gegcnsteller  des  Daumens 
424. 

Gegensteller  des  kleinen 
Fingers  426. 

Gehen  502. 

Gehörgang  302. 

Gehörioch,  ovales  78. 

Gelenke  24,  31,  32,  36,  43, 
102,  123. 

Gelenke,  zusammengesetzte 
44. 

—  straffe  45. 
Gelenkenden  65. 
Gelenke    und    Bänder   der 

Wirbelsäule  122. 
Gelenkfortsätze    114,    119, 

123. 
Gelenkfurche  64. 
Gelenkhöcker  79,  96,  116. 
Gelenkkapsel  33,  206. 
Gelenkkerbe  64. 
Gelenkkopf  30,  104. 
Gelenkpfanne  30,  67,   104. 
Gelenkschmiere  33. 
Gelenkspalte  64. 
Geringschätzung  331. 
Gesä£nuskeln  51,  251,  436. 

438,  439. 
Gcsääspalte  120. 
Geschwindigkeitshebel  245. 
Gesichtsformen  537. 
Gesichtsknochen  83,  97. 
Gesichtschädel  82,  83,  84. 

—  kurzer  544. 
Gesichtsmuskeln  253. 
Gkwebe,  feuchtes  137. 
Gießbeckenknorpel  345. 
Ginglymus  40. 
Glabella  75. 

Glandula  submaxillaris  347. 
*-  thyreoidea  346. 


(jlanz  der  Haare  69. 
Glaskörper  276. 
Gliedmaßengürtel  146. 
Gliedmaßenmuskeln  362. 
Gleichgewicht,  labiles  495. 
Gorilla  86. 
Gorillaschädel  87. 
(Treisengesicht  109. 
(»reuze  des  Gesichtes  102. 
Griffelfortsatz  des  Schädels 
80. 

—  der  Elle  162. 

—  der  Speiche  163. 
Griffel  -  Zungenbeinmuskel 

|-      347. 
Großzehenstrecker,    kurzer 

463. 
Grübchen  in  der  Haut  58. 
Grube  d.  Oberarmknochens, 

hintere  163. 

—  vordere  163. 

Gruben  ober-  und  unterhalb 
des  Schlüsselbeins  132. 

Grundbein  80. 

Grundphalange  der  Finger 
176. 

Grundzug  der  freudigen 
Stimmung  320. 

H 

Haare  69. 

Haarbalgmuskcln  70. 

Haarwachs  96. 

Hackenmuskel  408. 

Halbdommuskel  394. 
!  Halbgelenke  123. 
jHals  30,  105,  341. 

Hals  des  Kindes  489. 

Halsdreieck,  oberes  51. 

—  unteres  51. 
Halsgrube  55,  60,  128,  135, 

342,  356. 
Halsmuskel,  langer  353. 
Halsmuskeln  348. 
Halsregion  350.  354. 
Halsschlagader  346. 
Halswirbel  115,  123. 
Halswirbel,  der  siebente  62. 
Halswirbelsäule  68. 
Hand  402. 
Handknöchel  162. 
Handwurzelknochen  170. 
Hauptwirkung  der  Muskeln 

242. 
Haut  46,  66,  490. 
Hautfalten  53,  57,  63,  64. 
Haut  des  Toten  48. 
Hautmuskel  235,  254,  258, 

348. 
Hautvenen  435,  465. 
Haß  331. 
Helix  803. 
Hemmungscentrum  840. 


Herz  131. 

Herzgrube  55,  60,  370. 
Highmorshöhle  97. 
Hilfsbänder  34. 
Hinterhaupt  74,  123. 
Hinterhauptsbein  75,  95. 
Hiuterhauptsloch,  großes  79. 
Hinter  ha  uptsmuskel  266. 
Hinterhauptstachel   79,   95. 
Hirnhäute  74. 
Himkapsel  74,  84,  85. 
Himschädel  74,  88,  529. 
Hohlhandmuskel ,       kurzer 
424. 

—  langer  413. 
Hohlmuskcln  235. 
Hohn  334. 
Hornhaut  274,  276. 
Hüftbein  52,  120,  189,439. 
Hüftgegend  52. 
Hüftgelenk  38,  66,  67. 
Hüftgelenkfurche  67. 
Hüftloch  189. 
Hüftlochmuskel ,      äußerer 

439. 

—  innerer  439. 
Hüftschienbeinband  439. 


Inspirationsmuskeln  369. 
Intermcdium  171. 
;  Interstitia  interossea  175. 
Jochbeinmuskel,  großer  261. 

—  kleiner  262. 
Jochbogen  50,  78,  85,  94. 
Jochfortsatz  92,  97,  99,  101. 
Irradiation  339. 

Iris  275,  278. 

Incisur  102. 

Incisura  ischiadica  193. 

—  patellaris  199. 

—  scmilunaris  128. 

—  thyreoidea  344. 
Innervationsänderung  338. 
Insertio  227. 

Insertion  des  Schläfenmus- 
kels 103. 
Inskriptionen  376. 
Inspiration  134,  138. 


Kahlköpfe  81. 
Kahnbein  214. 
Kammmuskel  446. 
Kanon  512. 

Kanon,  griechischer  529. 
Kanon  Michelangelo^s  526. 
Kauapparat  85,  88. 
Kaumuskel  50,  78, 101, 104, 

266. 
Kapuzenmuskel  883. 
Kehldeckel  846. 
Kehlkopf  65.  344. 


558 


Register. 


Keilbeine  des  Fußes  214. 
Kinnzungenbeinmuskel  348. 
Kiefer-  Zungenbeinmuskel 

347. 
Kinn  58,  103. 
Kinnloch  103. 
Kinnmuskel  263. 
Klafterlänge  535. 
Kniegelenk  36,  206,  207. 
Kniekehle  65,  448,  450. 
Knochenkamm  27. 
Knochen  des  Stammes  111. 
Knochenrolle  244. 
Knorpel  32,  38. 
Knorpelfuge  31,  32. 
Knorpelscheiben,  elastische 

32. 
Knöchel  der  Finger  63,  182. 
Komplexion  541. 
Konkavitätdes  Nackens  115. 
Kopf,  dessen  Bewegung  60, 

68,  116. 
Kopf  höhe  513. 
Kopflinie  428. 
Kopfmuskeln  395. 
Kopfoicker  68,  97,  135,  348. 
Kopfvene  422,  432,  434. 
Körperhaltung,      aufrechte 

136. 
Körperhöhe  515. 
Körperstellung  500. 
Krampfadern  431. 
Kranznaht  74,  81,  93. 
Kreuz  382. 
Kreuzband  des  Fußrückens 

243,  252,  461. 
Kreuzbänder  206. 
Krcuzbeiu  60,  72,  120,  188. 
Kreuzbciuausschnitt  120. 
Kreuzkoufe  82. 
Kreuznaht  31,  74. 
Kristall  linse  275. 
Kronennaht  81. 
Krümmungen   der  Wirbel- 

säuh-  121,  122,  136. 
Kugelgelenk  36,  38,  66. 
Kurzgesicht,     europäisches 

91,  543. 
Kurzschädel  31,  74,  538. 


Langschädcl  31,  74,  537. 
Labyrinth  78. 
Lacertus  iibrosus  251. 
LachmuHkel   259,  262,  273. 
Lambdanaht  31,  74,  bl. 
Langgesicht,     europäisches 

89,  90,  97,  542. 
Lar}nix  344. 

Längsfurclio,  hintere  62. 
Lauf,  schneller  508. 
Laufen  507. 
Lebenslinie  428. 


Leber  131. 
Lederhaut  46,  253. 
Leistenband  62,  371,  374. 
Leistenbug  370. 
Leistenfurche  52. 
Leistengegend  370. 
Leistengrube  oder  Leisten- 
kehle 468. 
Leistenlinie  67. 
Lenden  382. 
Lendenaushöhlung  122. 
Lendengegend  52,  370. 
Lendenmuskel,  großer  441. 

—  vierseitiger  382. 
Lendenwirbel  119, 120, 125. 

126. 
Levator  palpebrae  superioris 

289. 
Lichtreflex  276. 
Lidfalte,  obere  und  untere 

290. 
Lidknorpel  289. 
Lidmuskel  254. 
Lidspalte  290. 
Ligamenta  accessoria  34. 

—  annularia  252. 

—  auxilaria  34. 

—  intercruralia  123. 

—  interspinalia  123. 

—  intertransversalia  124. 

—  intervertebralia  123. 
Ligamentum  capsulare    33. 

—  cruciatum  252,  461. 

—  ileotibiale  439. 

—  intermusculare  406. 

—  nuchae  95,  124. 

—  patcUare  208. 

—  Poupartii  371. 

—  tuberoso-sacrum  192. 

—  spinoso-sacrum  192. 
Linea  alba  371. 

—  cephalica  428. 

—  mensalis  428. 

—  nuchae  95. 

—  tcraporalis  77,  93,  94. 

—  obliqua  103. 

—  vermiana  95,  123. 

—  vitalis  428. 
Lippeumuskel,  gerader  263. 
Luftdruck  35. 
Luftrohre  132,  345. 
Lungen  131. 

M 

Magen  131. 

Magengrube  370. 

Mandibula  102. 

Margo  supraorbitalis  92. 

Markhöhlo  30. 

Masseter  50,  101,  104. 

Maulsperre  105. 

Maxilla  97. 

Mechanik  der  Atmung  142. 


Medianvene  422. 
Menschenraasen  537. 
Membranen,  sehnige  231. 
Menisci  206. 
Metacarpalknochen  175. 
Mikrocephalie  82. 
Milchzähne  108. 
Milz  IBl. 
Mitbewegung  137. 
Mittelbaacbgegend  370. 
Mittelfiirche  des  Kückens  60. 
Mittelfnßknochen  215. 
Mittelhandknocben  175. 
Mittelhandvenen  432. 
Mittellinie,  vordere  60. 
Mittelphalange  176. 
Modul  512. 
Monatslinie  428. 
Mons  Veneris  52,  67,  192. 
Mundhöhle  83. 
Musculus  abductor  digiti 
V  425. 

—  abductor  ballucis  longos 
463. 

—  abductor  pollicis  longns 
419. 

—  abductor  pollicis  brevis 
424. 

—  attolens  auriculae  265. 

—  attrahcns  auriculae  265. 

—  biceps  brachii  406. 

—  biceps  femoris  448. 

—  brachialis  internus  408. 

—  buccinatorius  260. 

—  comprossor  narium  263. 

—  coracobrachialis  408. 

—  corrugator  su]>ercilii  256. 

—  cruralis  442. 

—  cucullaris  383. 

—  deltoides  402. 

—  digastricus    des    Unter- 
kiefers 347. 

—  extensor    carpi    radialis 
longus  417. 

—  —  brevis  418. 

—  extensor     carpi    ulnaris 
418. 

—  extensor  digitonim  brevis 
462. 

—  extensor  digitorum  com- 
munis 418. 

—  extensordigitorumlontrus 
454. 

—  extensor  dorsi  communis 
391. 

—  extensor  hallucis  longus 
454. 

—  extensor   pollicis   brevis 
419. 

—  ext.  poll.  longus  419. 

—  flexor  digitorum   longus 
458. 

—  flexor  hallucis  longus  458. 


Register. 


559 


Musculus  flexor  digitorum 
profundus  414. 

—  fl.  dig.  sublimis  414. 

—  flexor  pollicis  longus  414. 

—  flexor  digiti  brevis  426. 

—  flexor  pollicis  brevis  424. 

—  frontalis  256. 

—  gemellus  surae  455. 

—  geniohydoideus  348. 

—  glutaeus  magnus  436. 

—  glutaeus  medius  438. 

—  gracilis  445. 

—  infraspinatus  404. 

—  -  ileo-costalis  392. 

—  iliacus  441. 

—  indicator  420. 
Musculi  intercostales  369. 

—  interossci  externi  463. 
Musculus    latissimus    dorsi 

386. 

—  levator   labii   supcrioris 
alaeque  nasi  262. 

Musculi  levatores  costarum 

369. 
Musculus    levator  scapulae 

390. 

—  longissimus  dorsi  392. 

—  longus  colli  353. 

—  lumbalis  magnus  441. 
Musculi  lumbricxiles  427. 

—  Masseter  266. 
Musculus  mentalis  263. 

—  multifldus  Spinae  394. 

—  mylohyoideus  347. 

—  nasalis  263. 

—  nutator  348. 

—  obliquus  abdominis   ex- 
temus  371. 

—  obli({uus   abdominis  in- 
ternus 374. 

—  obliquus  capitis  inferior 
395. 

—  o.  c.  superior  395. 

—  obturator  extemus  439. 

—  obturator  internus  439. 
--  occipitalis  266. 

—  omo-hyoideuH  351. 

—  Opponent    digiti    quinti 
426. 

—  opponens  pollicis  424. 

—  orbicularis  oculi  254. 

—  orbicularis  oris  260. 

—  palmaris  brevis  424. 

—  palmaris  longus  413. 

—  pectineus  446. 

—  pectoralis  major  362. 

—  pectoralis  minor  365. 

—  peronaeus  brevis  454. 

—  peronaeus  longus  464. 
--  plantaris  457. 

—  -  Pronator  quadratus  414. 

—  Pronator  teres  413. . 

—  pterygoideusextemua269; 


Musculus  pterygoideus  inter- 
nus 269. 

—  pyramidalis  377. 

—  P3nramidalis  nasi  264. 

—  pyrifonnis  439. 

—  quadratus  femoris  439. 

—  quadratus  labii  superioris 
262. 

—  quadratus  labii  inferioris 
262. 

—  quadratus  lumborum  382. 

—  radialis  internus  413. 
Musculi  recti  des  Auges  295. 

—  recti  des  Unterleibes  376. 
Musculus  rectus  capitis  an- 

ticus  major  353. 

—  rectus    capitis    lateralis 
395. 

—  r.  c.  major  395. 

—  r.  c.  minor  395. 

—  rectus  des  Beines  442. 

—  rectus  der  Lippen  263. 

—  retrahens  auriculae  265. 

—  rhomboides  388. 

—  sartorius  441. 

—  scalenus  anticus  352. 

—  scalenus  nicdius  352. 

—  scalenus  posticus  352. 

—  semimembranosus  450. 

—  semispinalis  cervicis  394. 

—  semisp.  dorsi  394. 

—  semitendinosus  448. 

—  serratus  anticus  366. 

—  serratus  posticus  superior 
390. 

—  serratus  posticus  inferior 
390. 

—  soleus  457. 

—  spinalis  cervicis  394. 

—  spinalis  dorsi  394. 
I  —  splenius  393. 

I  —  sterno-hyoideus  351. 
i  —  stemo-thyreoideus  352. 

—  stylohyoideus  347. 

—  subscapularis  405. 

—  subclavius  366. 

—  subcutaneus  colli  258. 

—  supinator  brevis  418. 

—  supraspinatus  404. 

—  temporalis  267. 

—  teres  major  405. 

—  teres  minor  404. 

—  thyreohyoideus  352. 

—  tibialis  anticus  452. 

—  tibialis  posticus  458. 

—  transversus     abdominis 
375. 

—  triangularis  maxillae  in- 
ferioris 261. 

—  triangularis      maxillae 
superioris  261. 

—  triceps  brachii  409. 

—  ulnaris  internus  413. 


Musculus    vastus    extemus 
oder  lateralis  444. 

—  vastus  internus  oder  me- 
dialis  444. 

—  zygomaticus  major  261. 

—  z.  minor  262. 
Muskelabschnitt ,     sehniger 

251. 
Muskelbauch  225,  227. 
Muskelbinden  247. 
Muskel,  bimförmiger  439. 

—  dreieckiger  377. 

—  dreiseitiger    des    Ober- 
kiefers 261. 

—  dreiseitiger   des   Unter- 
kiefers 259,  261. 

Muskelfortsätze  114. 
Muskelgruppe ,     oberfläch- 
liche 383. 

—  tiefliegende  383. 
Muskel,  halbhäutiger  450. 

—  halbsehniger  448. 

—  hint<Ter  oberer  sägeför- 
miger  390. 

—  hint.  unterer  sägef.  390. 
Muskelinsertionen  114. 
Muskeln  des  Schädeldaches 

265. 

—  des  Thorax  362. 

—  der  Schulter  402. 

—  eingelenkige  246. 

—  mehrgelenkige  246. 
Muskel,  rautenförmiger  388. 
Muskeln,  ringförmige  235. 
Muskelscheiden  252,  435. 
Muskel,  schlanker  445. 

—  vierseitiger    der    Ober- 
lippe 262. 

—  vierseitiger   des   Unter- 
kiefers 259. 

—  zwei  bäuchiger  des  Unter- 
kiefers 347. 

Muskeln,  zwei-,  drei-  und 
vierköpfige  284. 

—  des  Auges  294. 

—  der  Bauchwand  369. 

—  der  Brust  860. 

—  des  Kopfes  253. 

—  der  Mundöffnung  259. 

—  der  Nase  263. 

—  des  Unterkiefers  267. 

—  des  Halses  348. 

—  des  Ohres  307. 

—  der  oberen  Gliedmaßen 
401. 

—  der  unteren  Gliedmaßen 
485. 

—  des  Rumpfes  341. 

—  des  Rückens  382. 

N 

Nacken  382. 
Nackenband  95,  123. 


560 


Register. 


Nackenhaut  53. 
Nackenlinie  95. 
Nagelglied  64,  69,  70,  176. 
Naht  31. 

Naht,  gezackte  75. 
Nase,  äußere  296. 
NascDbeine  100. 
Naseneingang  83,  90,  541. 
Nasenflögelknorpel,  paarige 

299. 
Nasenfortsatz  d.  Stirnbeines 

92. 
Nase,  griechische  76. 
Nase,  krumme  543. 
Nasenhöhle  80. 
Nasenmuscheln  102. 
Nasenmuskel  263. 
Nasenohrlinie  86. 
Nasenrücken ,      knöcherner 

100. 
Nasenscheidewand  83. 
Nasenstachel  83,  100. 
Nasenwulst  75,  76. 
Nasenwurzel  75. 
Naturalienhändler  19. 
Naviculare  171. 
Nähte,  falsche  81. 
Nähte,  wahre  81. 
Nebenwirkung  d.  Muskeln 

242. 
Negerschädel  87. 
Neigung   der  Augenachsen 

313,  318. 
Neigungswinkel  d.  Beckens 

194. 
Nerven  132. 
Nervenäste  120. 
Netzhaut  276,  278. 
Nickhautfalte  293. 
Niederzieher     des     Nasen- 
flügels 264. 

—  der    Nasenscheidewand 
264. 

Nigritier  86. 
Nodus  lateralis  154. 

—  medialis   154. 
Norm  512. 
Nußgelenk  199. 

0 

Oberarm  65,  402. 

Oberanngelenk  38. 

Oberarmknochen   147,   152. 

Oberbauchgegend  370. 

Obergräteugrube   s.  Schul- 
terblattgrube. 

Obergrätengrubenm  uskel 
404. 

Oberhaut  46,  69,  70,  428. 

Oberhöhe  515,  534. 

Oberkiefer  109. 

Oberkieferbein  97. 

Oberkieferhöhle  97. 


Oberschenkelfascie  435. 
Oberschenkelknochen  138. 
Öiihung     des     knöchernen 
. ..  Gehörganges  96. 
Öffiien  des  Mundes  104. 
Öffnung,  forcierte,  der  Lid- 
spalte 282. 
Ohrkehlkopffurche  350. 
Ohrkieferfurche  68. 
Ohrknorpel  96. 
Ohrläppchen  65,  305. 
Ohrleiste  303. 
Ohrmuschel  302. 
Ohrritze  304. 
Orbitalfurche  284. 
Orbitalfurche,  obere  286. 

—  untere  287. 
Orbitalteil  des  Lides  290. 
Origo  227. 
Orthognathie  88. 

Os  coccygis  120. 

—  coxae  189. 

—  cuboideum  214. 

—  ethmoideum  96. 

—  froutis  74. 

—  hyoides  342. 

—  ilei  189. 

—  intcrmedium  170,  171. 

—  ischii  192. 

—  malare  100. 

—  naviculare  214. 

—  occipitis  75,  95. 

—  pubis  190. 

—  sacrum  120. 

—  temporum  77,  96. 

—  vespiforme  96. 
Ossa  metacarpi  175. 

—  nasalia  100. 

—  parietalia  74,  95. 

—  tar8alia  214. 
Osteologie  24,  30,  73. 


Palatum  durum  80. 

Panniculus  adiposus  50. 

Paukratiasten-Ohr  307. 

Patella  204. 

Patelleneinschnitt  199. 

Pelvis  111. 

Perone  204. 

Phalanges  176. 

Phalanges  digitorum  176, 
217. 

Pigment  47. 

Plastisch -anatomische  Prä- 
parate 18. 

Plicae  adiposae  207. 

Pomum  adami  344. 

PoüPABTSches  Band  371, 
374. 

Pflugscharbein  80,  101. 

Processus  30. 


Processus  alveolariii  mazil- 
lae  superioritf  HS. 

—  artieulares  superiore»  ft 
inferiores  114. 

—  condyloidei  96,  116. 

—  condyloideus  102. 

—  coracoideus  150. 

—  dentalis  99. 

—  ensiformis  12». 

—  frontalis  99. 

—  mastoideus  78,  97. 

—  nasalis  92. 

—  odontoideus  116. 

—  palatinus  99. 

—  spinosus  29,   114. 

—  styloideus  80. 

—  transversi  114. 

—  z7gomaticusniaxillae9d. 

—  zygomaticus  oasis  frontL$ 
92. 

—  zygomaticu.**    a-^Ls   tem- 
porum 97. 

Profil  76. 
Profil  gerades  88. 
Profillinie  lOH. 
Profilwinkel  8«. 
Prognathie,  europäische  524. 
Prognathismus  87. 
Promontorium  121. 
Pronation  177,  454. 
Pronator,  runder  413. 

—  viereckiger  414. 
Proportionslehre     de«     Er- 
wachsenen 512. 

—  de.s  Kindes  482,  484. 
Protuberantia  27. 

—  occipitali.s  externa  79.  \Kk 
Punctum  fixum  380. 

—  mobile  380. 
Pupille  275. 
Pvramidenmuskcl  der  Nase 


264. 


<i 


Querfalten  im  Nacken  53. 
—  am  Rücken  62. 
Querfortsatzmuskeln  369. 
Querfortsätze  29.  114,   lly. 
Querfortsätze ,   durchlx  »hrtp 

115,  116. 
Quorfortsatzpfaune  119. 

K 

Rabenschnabelfortsatz    1 50. 
Rachenraum  80. 
Radiale  171. 
Radialflexion  177. 
Rand,  unterer  d.  Thorax  136. 
Räume,  lufthaltige  75. 
Rectus  442. 
Reflex  308,  309. 
Reflexbogen  309. 
Reflexcentrum  308. 


Regenbogenhaut  275,  27  S. 
H«itcrmu£ikeln  415. 
Kespiratiou  139. 
BeBpiration,  kÜDstliche  143, 
RetiDa  276. 
K<:(LuacLiliim  245,  252. 
Kingbiuid  lÜT,  353,  461. 
Eiagknorpel  HU. 
Killen iiskel  den  ÄiigeB  2b*. 
—  des  Munde»  260. 
ItiDgmuHketderI'uptlle2Te. 
Rippen   1.10,  132.  137,  141. 
Rippenbalter  352. 
Kippenhocker  130, 
Kippenknochen  1311. 
Kippenknorpcl   ISO,  136. 
Rippenknorpelgelenk   131. 
Ripiwopfanne  HS. 
Rippenwinkel  130,   133. 
Rii<or  262. 
RuhrcnknochcD  30. 
Rolle  40,  1G5. 
Rollliitgel,  kleiner  u.  großer 

I9S. 
RoBcnader,  groBe  466. 


-  klein. 


466. 


Koüitoren  157,  395. 
Rumpf  483,   488. 

Rumpfbeuge  62,  123,  126, 

127,  395,  400. 
KiLiiiptVtnvke  126. 
Kiiekendiii'hc  13.3,  361,  382. 
Rücken,  (gekrümmter  119. 
Rückgrat  121. 
Ktiekenmark   120. 
Rti(^ke»^ILl«kel .     breitester 

396. 
~  UngBter  3M2. 
—  vielgetcilter  394. 
Rilckenmuskdn  119,  133. 
Rüekenschne  derPinger427. 
KackeuMtrecker         gemcin- 

sehftfltieher  391. 
Räi^kw&rtswhwiiigen      des 

Arne«  BS. 
RüokwiirtsziuhiT  des  Ohre»  1 


Schädeldach  74,  78,  95. 

SfhÄdelgriind  9:>,  104, 

Schädelhöhe  529,  530. 

Sehftdelhehle   14. 

Stliftdel,  weiblicher  472. 

Schadelknoclicn  —  ihre  Ver- 
bind ung»arten  81. 

Scheide  wandknorpel  100, 
297, 

Scheitel  69,  74,  77. 

Scheitel beino  95. 

Schcitelhöcker  95. 

Soheitalnaht  31,  74,  61. 

SchenkelblutAder,  tiefe  466. 

ächenkeUäscie  498, 

SchenkelmuBkel  442,  444. 

—  viereckiger  439. 

—  zweiköpfiger  448. 
Schienbein  202. 

Schien  boinmuskel,  hinterer 
456. 

—  vorderer  452. 
Scbienbeinatoche!  204. 
gchilddrflsc  S4e. 
Schildknorpel  34*. 
Sehläfc  74,  77,  95. 
Wchläfcnbein  77,  96. 
-fascie  268. 

—  uTiibc  .M»,  95,   101. 

—  liiiii'  77,  78,  !l3,  94,  95. 

--n)ii:.k.'l  1».  267. 
Si-bk'imbeutel  451. 
Sehleudcrband  245,  252. 
Kch]ü«aelbein  51,  132,  135, 

47 
SchlÜBKelbeiDgelanke  128. 
Scbliiiwelbeiiigrnbe  51,  186, 

35Ö. 
."^fblilsHcibcinmiiskel  366. 
Schuieh  105. 


Schnv 


E  327. 


Schneiderrnuaket  441, 
äehollenmoskel  457. 
Schrecken  324. 
Schulterblätter     136, 


Sagemuskel,  vonlerer  966. 
Satyrgesehlecht  72. 
Saugpolster  der  Wange  272. 
ijcapula  148. 
Seeleton  arlificalc  24. 
Seeleton  naturale  24, 


S,-iS8l 


s  304. 


Sciera  275. 
Schambein  190. 
Schaniberg  52,  192. 

Scham  bogen  192. 
Schamgegend  370. 
Scham-  od.  Scho&fiige  19( 
Schädel  73,  80,  95,  115. 

KOLLHANH,  FlotüKhe  AdbI 


SehulterblattgTubc  152. 

Si:hult4!rlilattwinkel   148. 

Schulterblatt    Zungenbein- 
muskel  3,')l. 

Schultergelenk  66,  68,   155. 

Schultergräte  150, 
i  SchultTj^rtel  146. 
j  Schuppennaht  31. 
'  Schwanz  deti  MuKkclB  227. 
!  Schwerlinie  492. 
'  SchwciiiLinkf  493. 


I  Sehloch  275. 


,  Sehnenhaube  256,  26i 
I  Sehnenaeheiden  245. 
I  Seitenbänder  207. 


,  Senkrücken  121. 

Septum  cartilagineum  297. 
'  Septum  narium  83, 
,  Sennenhaube  256. 
,  Secieren  7. 

Siebbein  96. 

Sinnesorgane  74,  83. 
'  Sinus  27,  55. 
I  Sinus  frontaleti  75. 
'Sitzbein  189,  192. 
I  Sitzbeinaiisscliniti  193. 

Sitzbeinloch  192, 

Sitzen  508. 
I  Sitzhöcker  192. 
j  SiUknorren- Kreuzbeinband 
I      192. 
i  Sitzlage  509,  510. 

Sitxfltachel  192, 

Sitzstachcl  -  Krenzbeinband 
193. 

Skelett  23,  24,  73,  129,  492. 

Skelett  der  oberen  Glied- 
uiilBcu   140. 

Skelett  der  unteren  Glied- 
maßen 188. 

Solilcafurclie  465. 

Sokrateskopf  545, 

Spanner  der  Schenkelbinde 
I      250,  r.w. 
,  SpcichcuHf'ik   167. 
'  Speiclu-imiiiskcl  418. 
!  Speiehcnstreckcr  417,  418, 

Speiseröhre  132, 
I  Spielbein  498. 
I  Spbincter  pupillae  278. 

Spina  27. 
I  Spina  doni  121. 
I  Spina  naaalia  83,  100. 
Ispina  ossis  ischii   192. 

Spina  Bcapulae  150. 

Spina  tibiac  204. 

Spitze  des  Scbwertknorpels 
136. 

Spott  334, 

Sprungbein  212. 

Sprunggeleuk  2IH. 
,  Spmnglanf  508. 

Spulwurmmuskeiu  427. 

Standbein  498. 
I  Stehen  492. 

Stellung  der  Augen  StS. 

—   des  Reckens  193. 

Steißbein  120. 

Stemum  127. 

Stimmbänder  344. 

Stimmritze  137. 

Stirn  74,  76,  84. 

Stirnbein  74, 77, 92, 100, 102. 

StJmglatze  77,  93,  10?. 

Stimhöeker  93,  94. 

Stirnhöhlen  75,  76. 
,Stimnaht  8t. 

Stimm  uskel  256, 
36 


562 


Register. 


Stimnascnnaht  75. 

Stolz  331. 

Stürzen  497. 

Strecker  d.  Zeigefingers  420. 

—  des  Daumens  419. 

—  knrzer  der  Zehen  462. 

—  der  großen  Zehe  454. 

—  langer  der  Zehen  454. 
Streckmuskeln  29,  141. 
Streifen,  sehnige  231. 
Stutzohr  305. 
Substantia  spongiosa  30. 
Substanz,  schwammige  30. 
Sulcus  plantaris  465. 
Supercilia  71,  287. 
Supination  177,  452. 
Supinatorfurche  422. 
Supinator,  kurzer  418. 

—  langer  416. 
Sutura  coronalis  81,  93. 

—  frontalis,  persistente  82. 

—  interpariotalis  81. 

—  lambdoidea  81. 

—  mastoidea  81. 

—  naso-frontalis  75. 

—  squamosa  31. 
Suturae  verae  81. 
Suturen  81. 
Symmetrie  59. 
Synovia  33. 
Synchondroscs  32. 
Symphysen  32. 

T 

Talgdrüsen  69. 

Talus  212. 

Tarsalteil  des  Lides  289. 

Tendines  225,  228. 

Tendines  intermedii  227. 

—  terminales  227. 
Tensor  fasciae  250,  438. 
Tete  carn^e  95. 
Thorax   111,  134,  141. 
Thoraxmuskclu  369. 
Thränenfurche  100. 
Thränenkarunkel  293. 
Thränennasenkanal  281. 
Thränensackgrube  281. 
Tibia  202. 

Tod  144,  145,  318. 

Torsion  d.  Wirbelsäule  398. 

Trab,  leichter  508. 

Trachea  345. 

Tragus  304. 

Trauer  329. 

Triceps  409. 

Trigonum  colli  inflerius  51. 

—  colli  superius  51. 
Triquetrum    171. 
Trochanter  minor  198. 

—  major  198. 
Trochlea  155. 
Trommelhöhle  78. 


Trompetermuskel  260. 
Trotz  327. 
Tuber  27. 

—  ossis  ischii  1^2. 

—  parietale  95. 
Tubera  frontalia  98. 
Tuberculum  27. 

—  articulare  104. 

—  ileo-pectineum  190. 

—  majus  154. 

—  minus  154. 

—  mentale  103. 

u 

Ulna  161. 

Ulnare  171. 

Ulnarflexion  177. 

Überraschung  323. 

Überstreckung  62. 

Umänderung  der  Farbe  70. 

Unentschiedenheit  336. 

UnlustaHekte  327. 

Unterbauchgegend  370. 

Untergrätengrubenmuskel 
404. 

Unterhöhe  515,  534. 

Unterleib  141,  473. 

Unterhautbindegewebe    49. 

Unterkiefer    65,    80,    102, 
541,  545. 

Unterkieferast  83. 

— drüse  347. 

— fortsätze  109. 

— gelenk  104. 

— muskel,  vierseitiger  262. 

Unterschenkel  67,  469. 

Unterschenkelfascie  435. 

—Strecker,  vierköpfiger  442 
!  Unterschlüsselbeingrube 
362. 

Unterschulterblattmuskel 
405. 

Ursprung  des  Muskels  227. 

Urspriinge      der      Rücken- 
marksnerven 124. 

V 

Vaginae  tendinum  245. 
Variabilität  528,  529. 
Vena  basilica  420,  434. 

—  cephalica  poUicis  432,434. 

—  cruralis  466. 

—  epigastrica  superficialis 
466. 

—  femoropoplitea  468. 

—  jugularis  anterior  359. 

—  jugularis  externa  359. 

—  jugularis  interna  346. 

—  mediana  434. 

—  salvatella  432. 

Venae  intercapitulares  431. 
Venae  metacurpae  432. 
Venenbogen  d.  Finger  431. 


Venennetze  430. 

Venen,  tiefliegende  de«  Ar- 
mes 430. 

Venter  225,  227. 

Venushügel  192. 

Verachtung  334. 

Verdauungsorgane  83,  131. 

Vergrößerung  von  Figuren 
518. 

Verlauf  des  Muskels  227. 

Verschiebbarkeit  d.  Fettes 
65. 

Verstopftes  Loch  189. 

Vertebrae  111,  113. 

Vertebrae  colli  115. 

Verwunderung  323. 

Vomer  80,  101. 

Vorderarm  65,   160,  402. 

Vorderarmknochen  147. 

Vorderarmstrecker ,  drei- 
köpfiger 409. 

Vorgebirge  121. 

Vorspringen  d.  Kiefer  8i». 

Vorwärtszieher  d.  Ohres  2fi5. 

w 

Wade  452. 
Wadenbein  202. 
Wadenb3inköpfchen  204. 
Wadenbeinmuskel ,    kurzer 

454. 
—  langer  454. 
Wadenmuskel,  langer  4.');. 
Wange  58. 
Wangenbein  50,  85,  92,  !*T, 

100,  101. 
Wangenfascie  272. 
Waugengrube  97,  98. 
■  Wangenhöcker  101. 
Warzenfortsatz  78,  97. 
Warzeunaht  81. 
Weichen  135. 
Weiße  des  Auges  27.'>. 
Wespenbein  96,    104. 
Widerwillen  335. 
Willenseinfluß  326. 
Wimperhaare  71,  291. 
Wiukelgelenke  30,  40,  44, 

66. 
Wirkung  der  Muskeln  23«. 
Wirbel  111,  113,   ll.V  lls, 

119. 
Wirbelanhang,  schwaiizffir- 

miger  120. 
Wirbelkörper  133. 
Wirbelloch   113. 
Wirbelsäule  111,    121,   137, 

141. 
Wirkung  der  Muskeln  239. 
Wölbung  der  Brust    141. 
Würfelbein  214. 
Wurfhebel  245. 


Register. 


563 


Z 

Zackennaht  95,  99. 
Zahnbein  105. 
Zahnfortsatz  99,  117. 
ZahnhalB  106. 
Zahnwirbel  116,  117. 
Zahnwurzeln  103,  109. 
Zähne  105,  109. 
Zehenbeuger,  kurzer  465. 
Zehenglieder  217. 
Zehenlauf  508. 
Zehenstrecker,  langer  461. 
Zehe,  zweite  468. 
Zonen  des  Gesichtes  522, 523. 


Zorn  331. 

Zungenbein  342. 

Zurückziehen  der  Schulter 
141. 

Zusammendriicker  der  Nase 
,      263. 
1  Zuzieher  des  Daumens  424. 

Zuzieher  d.  großen  Zehe  464. 
'  Zuzicher  des  Oberschenkels 
1      445,  446. 
!  Zweifel  336. 
i  Zwerchfell  132,  382. 

Zwillingswadenmuskel  455. 

Zwischenbein  170,  171. 
,  Zwischenbogenbändor   123. 


Zwischenknöchel venen  481. 
Zwischenknochenmuskeln, 

äuß(>re  463. 
—  innere  426. 
Zwischenknochenräume 

175. 
Zwischenknorpel  34,  113. 
Zwischenmuskelband     251, 

406,  435. 
Z  wischenrippenm  iiskeln 

369. 
Zwischeuaehnen  227,  228. 
Zwischenwirbelscheiben 

121,  123. 


SinnstOreiide  Drnekfehler. 

Seite  101  in  der  18.  Zeile  von  unten  lies  Flg.  29  statt  Fig.  30. 

V4  uat.  Grösse  statt  *'g. 


113 

3.     , 

t                 y^ 

oben 

11 

128 

3.     , 

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155 

15.     , 

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11 

11 

178 

6.     , 

,                 ,« 

unten 

11 

190 

3.     , 

1                '' 

oben 

11 

276 

4.     , 

»                 11 

11 

11 

339 

17.     , 

J                11 

unten 

11 

428 

2.     , 

1                1* 

11 

11 

11 


*» 


'S* 

trochlearis. 


\\  uftt.  Grösse 

sapra  trochlearis 

Yorderarmknochen  st.  Vorderknochen. 

V4  nat.  Grösse  statt  Vg. 

¥ig.  84  statt  Fig.  83. 

Irradiation  statt  Irradation. 

Fingreru  statt  Finger. 


Nachweis  zn  den  Abbildangen. 


Einige  der  Abbildungen  sind  aus  anderen  Werken  entlehnt  Die  Heikunft 
ist  größtenteils  im  Text  oder  in  der  Einleitung  angegeben.  Die  Skelett%aicii 
(von  Lucas)  wurden  in  einer  durch  das  Format  des  Buches  bedingten  Vcrkleinening, 
aber  sonst  unverändert,  aufgenommen.  Die  ganzen  Skelettfiguren  1,  115,  166,  168, 
169  sind  nahezu  in  %,  die  halben  Skclettfiguren  2,  33,  45,  60,  145,  146,  147,  148 
und  167  nahezu  in  ^l^  natürlicher  Größe  hergestellt.  Diese  Größenangabe  ist  aucb 
dann  giltig,  wenn  sich,  wie  bei  den  Figuren  33,  45  und  60,  irrtümlicher  Weise  eine 
andere  Zahl  (Vg  statt  ^j^  findet. 

Die  Figuren  72,  73,  112,  113,  118,  120,  126,  127,  136,  137,  138,  162,  163  sind 
Teile  von  Figuren  aus  dem  Werke  von  Salvage  „Z/c  gladiateur  comhattant\  jedoch 
ist  die  Darstellung  der  Muskeln  und  Knochen  durch  Herrn  Kunstmaler  Fr.  Schideb 
in  Basel  auf  Grund  anatomischer  Präparate  wesentlich  geändert  worden. 

Die  Figuren  78,  79,  84  und  108  sind  mit  unwesentlicher  Abänderung  Hexle'« 
Grundriß  der  Anatomie,  die  Figur  144  Nuhn's  topographisch  -  anatomischem  Athui 
und  die  Figuren  85,  86,  96,  97  und  98  Sömering's  Werk  über  die  Sinnesorgane  ent- 
nommen. 

Einige  Figuren  (3,  7,  19,  21,  22,  28,  29,  30,  130,  174  und  175)  sind  von  mir 
mit  dem  Orthoskop  gezeichnet,  jedoch  wurden  auch  zwei  dieser  Figuren,  7  und  130, 
sowie  sämtliche  hier  nicht  aufgeführten  Figuren  nach  sorgfältigem  Studium  der  Natur 
von  Herrn  Schi  der  mit  der  Feder  gezeichnet  und  durch  die  x^iographisohe  Anstalt 
von  E.  Singer  in  Leipzig  auf  Holz  übertragen. 

Die  Handzeichnung  Michelanoelo's,  der  nackte  Krieger  Fig.  119  S.  389,  findet 
sich  in  dem  Münchener  Kupferstichkabinet;  eine  genaue  Kopie  wurde  mir  zur  Be- 
nutzung freundliclist  überlassen.  Die  Fig.  110  S.  357  stammt  aus  dem  Prachtwerk 
von  Seroux  d'Aoincoürt  „Histoire  de  lart  par  les  monuments^^  Tom.  VI  pl.  ITs. 


u,    mlDICAu  libwv  ; 

S(«.FOHD  UNIVtßSin 
3O0  MSUUR  , 

pdLO  AUU,  CAUFORW» 


1 

S26     Kolljnann,   Jxiliuc  K.E- 
K75        Plastische  AnEtande. 

DATE  DUI 

H 

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.......      ^  2 

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