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PLATONISCHE AUFSÄTZE
VON
THEODOR GOMPERZ,
WIRKL. MITGLIEDS DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
ZUR ZEITFOLGE PLATONISCHER SCHRIFTEN.
LIBRARY
ritt
WIEN, 1887.
IN COMMISSION BEI CARL GEROLD'« SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
Aus dem Jahrgange 1887 der Sitzungsberichte der phil.-hist. Classe der kais. Akademie
der Wissenschaften (CXIV. Bd., II. Hft. S. 741) besonders abgedruckt.
Druck von Adolf Holzhausen,
k k. Hof- und Uiiivcrsitüts-Huchdriicker in Wien.
d
JJie zum Mindesten ein halbes Jahrhundert fruchtbaren
Schaffens umspannenden, so vielgestaltigen und widerspruchs-
vollen Werke Plato's nach der Folge ihrer Abfassungszeit an-
ordnen zu wollen — dies ist sicherlich mehr als ein blosses
Verlangen wohlberechtigter Wissbegier. Die Lösung des heiss
umstrittenen Problemes verheisst uns reichen Gewinn. Von ihr
erwarten wir die schliessliche Beseitigung des auf diesem Boden
noch immer üppig wuchernden 7 Discrepanzen verhüllenden,
äusserlichen Einklang erzwingenden, harmonistischen Bemühens;
• die Sicherung und in anderen Fällen die Anbahnung eines völlig
unbefangenen und eindringenden Verständnisses gar vieler dieser
Schriften; desgleichen die Beschaffung eines unverächtlichen
Hilfsmittels zur Entscheidung der Echtheitsfrage in Ansehung
des angefochtenen Theils der Sammlung; ja schliesslich viel-
leicht auch die Gewinnung neuer Einblicke in die Entwicklungs-
und Bethätigungsweise schöpferischer Geister überhaupt.
Allein so lockend das Ziel, so gewaltig ist das Heer der
Schwierigkeiten, welches sich seiner Erreichung hindernd in
den Weg stellt. Sie entspringen insgesammt der schriftstelleri-
schen Eigenart Plato's, und zwar zumeist an zwei Punkten
derselben. Seine Scheu vor der Ueberlieferung fertiger, von
ihrer Gedankenwurzel abgelöster oder ablösbarer und darum
leicht zu leblosen Dogmen erstarrender Ergebnisse hat ihn die
seiner künstlerischen Begabung so congeniale Gesprächsform
zugleich endgiltig wählen und sie vielfach in einer Weise hand-
le
\ 24976
4 Gomperz. r742]
Laben lassen, bei welcher das Endziel einer verschlungenen
und wechselvollen Erörterung unausgesprochen, ja selbst ein
Zweifel darüber bestehen bleibt, ob ein solches in Wahrheit
erreicht ist oder nicht. Daher der nicht enden wollende Streit
über den Lehrgehalt so vieler Dialoge, über die zwischen
ihnen obwaltenden Uebereinstimmungen und Widersprüche Be-
ziehungen und Anspielungen, und somit auch über die Reihen-
folge ihres Entstehens. Dieselben und verwandte Beweggründe
(darunter gewiss auch das Widerstreben gegen die Identificirung
seiner eigenen wandelbaren und in stetem Flusse begriffenen
geistigen Persönlichkeit mit irgend einer ihrer Entwicklungs-
phasen) haben ihn dazu vermocht, nicht sich selbst, sondern
seinen verehrten Meister Sokrates zum Mittelpunkt und zur
Hauptperson der meisten Gespräche zu machen. So lange nun
die Sokrates-Maske sein Antlitz deckt, ist ihm jeder Ausblick
auf Personen, Lehren, Ereignisse verwehrt, die jenseits der
Lebensgrenzen seines Meisters gelegen sind, das heisst auf Alles
oder nahezu Alles, was in die Zeitgrenzen seines eigenen schrift-
stellerischen Wirkens fällt. Mitunter freilich lüftet er die Maske,
ein paarmal offen, wie in übermüthiger Laune die selbstgezogenen
Schranken durchbrechend; häufiger jedoch in verstohlener und
versteckter Weise, durch Winke und Andeutungen, welche uns
nicht seltener irrezuleiten als aufzuklären geeignet sind und die
wir — was das Schlimmste ist — sicherlich ebenso oft dort,
wo sie vorhanden sind, übersehen, als wir sie dort, wo sie nicht
vorhanden sind, zu sehen vermeinen.
Nichts begreiflicher, als dass angesichts dieser Häufung
von Schwierigkeiten die Zahl der allgemein anerkannten Er-
gebnisse verschwindend klein, jene der Meinungsverschieden-
heiten überaus gross und in beständigem Wachsen begriffen
ist, nicht minder, dass Worte wie , Chaos' und ,Verzweiflung'
sich den Beurtheilern dieser Versuche immer häufiger auf die
Lippen drängen. Wenn ich es trotzdem wage, in die im Laufe
der letzten Jahre mit so regem Eifer betriebenen Studien auch
meinerseits durch einen Beitrag eingreifen zu wollen, so leitet
mich hierbei vornehmlich die nachfolgende Erwägung. Es <;il)t
— das ist meine feststehende Ueberzeugung — auf diesem
Gebiete einen Grundstock zweifelloser Wahrheiten.
Diesen aus der Masse des blos mehr oder minder Wahrschein
[743] Platonische Aufsätze. 5
liehen auszusondern, durch strenge Beweisführung gleichwie
durch den Hinweis auf bereits vorgebrachte, aber nicht nach
Gebühr gewürdigte Argumente zu sichern und in stetigem,
behutsamem Vorschreiten zu mehren — ein anderes Mittel kenne
ich nicht, um aus dem Gewirr einander kreuzender Einzelpfade
endlich in die breite und gefestigte Bahn continuirlicher For-
schung zu gelangen. Der Arbeit des Wegebauers geht jene
des Feldmessers voraus, der die Richtpunkte ermittelt und
absteckt, welche die vollendete Strasse dereinst wird verbinden
müssen. Solch einer bescheidenen Vorarbeit sind die nach-
folgenden Blätter gewidmet.
1. Der Dialog Menon bildet einen Knotenpunkt platoni-
scher Schriftstellerei. Zunächst verschlingen sich in ihm Fäden,
die aus zwei verschiedenen Gesprächen stammen und daher
auch diese selbst mit einander verknüpfen. Die Durchsichtigkeit
des wenig umfangreichen Dialogs und sein vergleichsweiser
Reichthuin an positivem Lehrgehalt machen diese Beziehungen
zugleich deutlich erkennbar und fruchtbar an Folgerungen. Zwei
dieser Fäden reichen aus dem Protagoras herüber. Es sind
die hier und dort verhandelten Fragen: 1. wie kann Tugend
Erkenntniss und somit lehrbar sein, da wir doch keine" Lehrer
derselben aufzuweisen vermögen? 2. wie lässt es sich unter
derselben Voraussetzung erklären, dass treffliche Staatsmänner
ihre Söhne nicht zu gleicher Trefflichkeit heranbilden? Die
zweite dieser Aporien erhält hier durch die Unterscheidung der
allein zum Lehren befähigenden ^wissenschaftlichen Erkennt-
niss* und der für die Praxis vielfach ausreichenden ,richtigen
Meinung' ihre Lösung. Und eben hiedurch wird, da es ja
baare Thorheit wäre, ein schon gelöstes Räthsel den Lesern
von Neuem zur Lösung vorzulegen, das Zeitverhältniss der zwei
Gespräche (wie schon Schleiermacher aufs Beste erkannt hat)
unwidersprechlich festgestellt. Im engsten Anscbluss an diese
fundamentale Unterscheidung tritt jene glimpfliche Beurtheilung
athenischer Staatslenker auf, die zu dem giftigen Hohn, mit
welchem der Gorgias sie überschüttet, einen so denkwürdigen
Gegensatz bildet. Einen Gegensatz überdies, der allezeit be-
merkt werden musste und mithin, da nicht die Werke eines
Stümpers vor uns liegen, gewiss auch bemerkt werden sollte.
Hier wie dort werden vier athenische Staatsmänner ersten
6 Gomperz. r744l
Ranges genannt; zwei von ihnen sind an beiden Orten iden-
tisch, zwei andere wechseln nach dem Bedarf des jeweiligen
Zusammenhanges. Dort heisst es von ihnen, sie haben ,den
Staat lediglich mit Häfen, Werften, Mauern, Tributen und der-
gleichen Possen mehr angefüllt' (Gorg. 519 a), hier müssen
sie sich zwar immer noch mit dem zweiten Platz hinter den
Philosophen begnügen, allein den Gegenständen allgemeinster
Verehrung und ihrem gesammten Wirken wird doch nicht mehr
mit wegwerfender Verachtung begegnet. Was darf uns das
Wahrscheinlichere dünken? Dass Plato sein etwaiges Empor-
steigen von einer massigen Paradoxie zu einer masslosen und das
Fallenlassen der wohlerwogenen, sorgsam begründeten Theorie,
auf der jene beruhte, so geflissentlich hervorzuheben bemüht
war? Oder dass er dem Leser vernehmlich genug andeuten
wollte, er habe eine ausschweifende, die stärksten Empfindungen
seiner Landsleute schwer verletzende Ansicht endlich zu massigen
und einzuschränken gelernt? Sicherlich das letztere, und darum
ist der Menon jünger nicht nur als der Protagoras, sondern auch
als der Gorgias.
Und hier möchte ich — falls mir ein Schritt vom Wege
gestattet ist — die Vermuthung aussprechen, dass diese
^Ehrenrettung' athenischer Staatsmänner geradezu den Kern-
und Quellpunkt des Menon ausmacht. Sie bildet das Ende des
Dialogs, und mit diesem Eindruck werden wir entlassen. Auch
erklärt sich von hier aus der Aufbau des ganzen Gespräches.
Für die Palinodie des Gorgias, um einen kräftigen, vielleicht
überkräftigen Ausdruck zu gebrauchen, galt es eine angemessene,
das Selbstgefühl des Autors nach Möglichkeit schonende Form
zu gewinnen. Dazu empfahl sich in vorzüglicher Weise die
Anknüpfung an jene zweite Aporie des Protagoras. Freilich
war Plato's Meinung im zuletzt genannten Dialoge fast sicher-
lich dahin gegangen, dass es den Staatsmännern an Weisheit
gebreche und dass die vielfachen Misserfolge in der Erziehung
ihrer Kinder dies mit beweisen helfen. Allein er hatte doch jene
Meinung dort keineswegs in so schroffer und unumwundener
Weise geäussert wie im Gorgias, vielmehr die Endentscheidung
scheinbar in der Schwebe gelassen. So durfte sich denn der
kunstreiche, niemals um eine Auskunft verlegene Schriftsteller
sehr wohl den Anschein geben, auf jene als eine noch ungelöst
[745] Platonische Aufsätze. 7
gebliebene Frage zurückzugreifen — darauf zurückzugreifen
in einem Gespräche, dessen Personen als gleichsam hungernd
nach positiven Lösungen, als müde des ewigen Vexirspiels und
der unablässigen Mystificationen überdrüssig gewiss nicht ohne
tiefen Grund erscheinen. Denn nicht blos an den historischen
Sokrates möchte ich bei dem berühmten Zitteraal - Gleichniss
(80a) denken, sondern Plato selbst lässt sich — an der Schwelle
des positiven Theiles jenes Dialogs — von seinen Lesern zu
den lange vermissten und heiss ersehnten Darlegungen drängen,
welche den Rest des Werkes in so dichter Fülle einnehmen.
Ihrer aller Zielpunkt aber ist jene den Staatsmännern dar-
gebrachte ^Ehrenerklärung*, wenn sie gleich (und wann wäre
dies bei Plato nicht der Fall?) selbstständiger Bedeutung keines-
wegs entbehren. Das glimpflichere Urtheil über die Politiker
ruht ja auf der Unterscheidung von e*U<jtiJ[/.7J und opS?) loqa, den
artbildenden Unterschied beider Begriffe (ihre differentia) macht
der alv.aq \o^[G\i5q aus und dieser selbst wird (98 a) auf die
Lehre von der avaf/.VYjo'i? aufgebaut. Ist damit der dem Menon
eigenthümliche Lehrgehalt nicht so gut als erschöpft?
Doch — um von dieser Abschweifung zurückzukehren
— ich habe des Einwandes noch nicht gedacht, dass jene
Ehrenerklärung* nur ironisch gemeint sei. Bedarf dieser
unglückliche Einfall Schleiermacher's einer weitläufigen Wider-
legung? Ein ironisch gemeintes Lob muss doch vor Allem
ein übertriebenes, ein überschwängliches sein. Welchem zeit-
genössischen, zumal welchem athenischen Leser konnte die
Stellung, die der Menon Athens leitenden Staatsmännern hinter
den , Philosophen*, das heisst hinter Sokrates und seinen Jüngern,
anweist, in diesem Licht erscheinen? ,Eine gar seltsame Rang-
folge*, so mochten neunundneunzig unter hundert Lesern aus-
rufen, ,die unseren grossen Männern nichts weniger als gerecht
wird!* Dass sie diesen mehr als gerecht wird, dies konnte
selbst der hundertste nicht wähnen. Wie sollte sich da ein
Gedanke an Ironie einstellen? Oder ward ein solcher vielleicht
durch die Persönlichkeit der Männer nahegelegt, welche Plato
diesmal zu Vertretern der Gattung erkoren hat? Dieser Punkt
ist einer kurzen Ueberlegung werth. Von den Viermännern,
welche der platonische Gorgias so erbarmungslos verurtheilt hat,
kehren zwei unverändert wieder: Themistokles und Perikles ;
ij oro p er z.
[746]
zwei andere, Miltiades und Kimon, rnussten weichen — der
erstere, weil der bedeutende Vater eines bedeutenden Sohnes
nicht in einen Zusammenhang passte, welcher von der Frage
ausgeht: wie kommt ess dass hervorragende Staatsmänner nicht
gleich hervorragende Söhne zurücklassen? Der letztere, wenn
aus keinem • anderen Grunde, so doch jedenfalls darum, weil
es der Gipfel schriftstellerischen Ungeschicks gewesen wäre,
durch die Nennung auch nur des Sohnes an jene Ausnahme
von der hier behaupteten Regel zu erinnern. Wer tritt nun in
die freigewordenen Stellen? Thukydides, des Melesias Sohn,
und — Aristides! Dieser eine Name entscheidet endgiltig
die Frage, die uns hier beschäftigt, wenn es anders jemals
eine Frage sein konnte. Und er würde sie auch dann ent-
scheiden, wenn nicht Plato selbst durch das überquellend warme
Lob, welches er sogar im staatsmännerfeindlichen Gorgias dem
Sohne des Lysimachos gespendet hat (526 b), man möchte fast
sagen dafür Sorge getragen hätte, uns jeden Irrweg zu ver-
sperren. Wer noch einen Scrupel hegt, der lese die gewundenen,
den Stempel sichtlicher Verlegenheit tragenden Sätze, in welchen
Schleiermacher den Schwierigkeiten auszubeugen versucht, die
seiner Auffassung unserer Stelle aus dem Erscheinen des , Ge-
rechten' im Kreise der hier beurtheilten athenischen Staats-
männer erwachsen.
Wäre ich nicht ängstlich darauf bedacht, diese nur auf
feste Grundlegung abzielenden Erörterungen von jeder dem
Meinungsstreit neue Nahrung zuführenden Zuthat frei zu halten:
nichts wäre leichter, als auf die verschiedenen Stufen in Plato's
Lebens- und Entwicklungsgang hinzuweisen, welchen das ver-
änderte Verhältniss zur praktischen Politik entspricht, wie es
im Gorgias und wie es im Menon uns entgegentritt. Dort Welt-
flucht, herausfordernde Abkehr von der Wirklichkeit; hier das
Bestreben, der letzteren und ihren ruhmvollen Vertretern einiger*
massen gerecht zu werden. Dort eine gähnende, abgrundtiefe
Kluft zwischen dem Zukunftsideal und der realen Gegenwart:
hier das Bemühen, jene Kluft zwar nicht auszufüllen, aber doeli
auch nicht als völlig unüberbrückbar darzustellen. Dort ein
hochfahrendes Verschmähen jeglichen Compromisses; hier die
Suche nach Surrogaten — ach ! sie wird sich noch oft er
neuen! — 7 nach Ersatzmitteln der so schwer und so selten zu
I 7 j 7 | Platonische Aufsätze. 9
erreichenden geistigen und sittlichen Vollkommenheit. Man
kennt die Stimmung, aus welcher der Gorgias geflossen ist.
Plato gründet seine Schule,1 die Brust geschwellt von stolzen
und, da keinerlei Erfahrung sie einschränken konnte, wohl auch
von masslosen Hoffnungen, — vielfach verspottet ob seines uner-
hörten, des Sprösslings edler Ahnen so wenig würdig scheinen-
den Beginnens, — verklagt darob, dass er, der Reichbegabte, die
Arena des öffentlichen Lebens meide, um in engen Jüngercon-
ventikeln Begriffe zu spalten und Worte zu klauben (Gorg. 485d):
und gegen all' den Hohn und all' die Anklagen der Freunde
und Angehörigen wohl noch mehr als der Gegner sich mit
unbeugsamem Trotze wappnend.
Ein paar Jahre sind dahingegangen. Die junge Schule
gedeiht, wenngleich unter Kämpfen. Zu des Meisters Füssen
drängen sich hochstrebende Jünglinge, welche hier die Waffen
für den politischen Parteistreit zu erwerben trachten. Die Inter-
essen der neuen Lehranstalt, die Anforderungen, denen sie ge-
nügen soll, die Fehden, die sie zu bestehen hat, knüpfen ihren
Leiter mit engeren Banden an das Leben. Der Vorwurf der
Weltentfremdung, des starren Doctrinarismus lässt ihn nicht so
gleichgiltig wie ehedem. Sein Selbstgefühl ist zugleich sicherer
und massvoller geworden und gewinnt daher minder heftigen
Ausdruck. Auch die Behutsamkeit ist ihm nicht mehr gänzlich
fremd. Denn Nebenbuhler erspähen emsig jede Blosse, die er
ihnen bieton mag. Haben wir nicht in dieser Phase von Plato's
Geistesverfassung, welcher wieder andere und sehr verschiedene
Phasen folgen sollten, den Boden gefunden, welchem der Menon '2
entspriessen mochte ? Doch ich eile, wieder in die Bahn ge-
sicherter Beweisführung zurückzulenken.
2. Mit den Fäden, welche von Protagoras und Gorgias
her im Menon zusammenlaufen, verknüpft sich ein anderer,
\ Vgl. Schleiermacher I, 2, 15—16; Bonitz 34—35; Grote II, 143.
2 Unserer Auffassung dieses Dialogs kommt am nächsten jene K. Fr. Her-
mann's, S. 484. Auch seine Abhandlung ,De Piatonis Menone' enthält
manche zutreffende Bemerkung , namentlich p. 59 — 60. Wer übrigens
Wesentliches von Unwesentlichem scheiden gelernt hat, der wird in
dem Scherzwort von den , göttlichen Männern' (99 d) eine wenig bedeu-
tende Rückzugsplänkelei, nicht aber einen für die gesammte Auffassung
des Gespräches Mass und Richtung gebenden Wink erkennen.
10 Gomperz. [748]
der vom Menon zum Phädon herabreicht. Ich meine jene
Rück Verweisung auf die Lehre von der , Wiedererinnerung'
und ihre Darlegung im Menon (81afF.), welche uns im Phädon
(72 e ff.) begegnet — eine Kückverweisung, welche zumal von
Ueberweg (289 — 290) und neuerlich wieder von Siebeck (228)
so trefflich beleuchtet worden ist, dass jedes weitere Wort
darüber von Uebernuss wäre. Mit bestem Fug durfte schon
Schleiermacher sagen, Plato berufe sich im Phädon auf den
Menon , vielleicht bestimmter und ausdrücklicher als irgend
sonstwo auf ein früheres Werk' (II, 3, 11).
Darf uns somit die Folgeordnung :
Protagoras. .Gorgias
Menon
Phädon
als gegen jede Anfechtung gesichert gelten, so erscheint ein
weiterer Fortschritt zunächst davon abhängig, ob wir irgend-
welche andere Dialoge dem Schlussglied dieser Kette voran-
zustellen berechtigt sind. Und da ist es denn freilich längst
anerkannt, bereits von Schleiermacher angedeutet und von
Bonitz mit gewohnter siegreicher Klarheit nachgewiesen, dass
im Phädon ,kein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele von
Piaton anders unternommen wird als auf Grund der Ideen-
lehre' (307). Da aber eben diese Lehre im Phädon selbst
erörtert wird , so musste die Frage , ob Plato seine eigen-
thümlichste Doctrin bereits in anderen vor der Abfassung dieses
Dialogs veröffentlichten Schriften dargelegt habe, darum noch
nicht nothwendig eine ausnahmslos bejahende Beantwortung
finden. Und sie hat sie in der That nicht gefunden. Viel-
mehr haben treffliche Kenner unseres Philosophen wie Fritz
Schultess l und nach ihm Wilhelm Dittenberger, desgleichen (mit
einer geringen Einschränkung) Martin Schanz kein Bedenken
1 ,Kurz, man erkennt, dass die ganze Ideenlehre dem Verfasser des Phädon
ein jüngst erst zu Stande gekommenes Lehrgebäude ist, dass er sie,
ohne irgend eine Bekanntschaft vorauszusetzen, seinen Lesern zum
ersten Male vorträgt' u. s. w. (65) ; Schanz (442 ff.) lässt dem Phädon
von allen einschlägigen Schifften nur das Symposion, Dittenberger (386
und 342) selbst dieses nicht vorangehen.
[749] Platonische Aufsätze. 11
getragen, den Phädon an die Spitze sämmtlicher die Ideenlehre
behandelnden Gespräche zu stellen. Sie hätten dies sicherlich
unterlassen , wenn sie sich rechtzeitig zweier hochwichtiger
Stellen dieses Dialogs erinnert hätten, nämlich der folgenden:
*Ap' oüv outü)£ iyj,'., s<j>yj? tjijuv, u> Ziy.y.ia- d \).kv Soriv ä Opu-
XoSfAev disi, xaXov te y.al ayaöbv x,at rcaca yj ictauTYj oucri'a, x,as im
raÖTYjv xa ex tg>v aiffOrjsswv roxvTa ava^spojASv /.ts. (Phaedo, 76 d).
'AXVj vj 8' 8?, ü>5e Xe^w, oüSev xaivov, dXX' owusp asi stal dXXors
y.as h tw icapeXityXuQ&n Xö^w oüosv Trs-au^at Xe^cov. ep^öjxat *fdp oyj
i-r/s'.pwv cot eicc3e(£äa6a( "rijg aiii'a«; to t$0£ o TCSiupa'YfJi'dTeufji.ai , xat
et\)A TuaXiv eV exelv« xä TCoXuOpuXYjTa xal ap/o^a'. die* efceivwv, utcoÖs-
jasvoi; elvat Tt xaXbv auTo xaö' auib y,at dyaOov y,ac jJL£va xal xaXXa
«dtofc'wci (ib. 100b).
Wenn dies keine Rückbeziehungen sind, so weiss ich
nicht, was man unter solchen zu verstehen hat. Es sind sonnen-
klare Verweisungen auf früher erfolgte Darlegungen der Ideen-
lehre; und nur so erklärt sich ja auch das rasche Verständniss
und die bereitwillige Zustimmung, welche Sokrates mit seiner
kurzen Recapitulation bei Simmias findet (76 d — 77 a), das heisst
doch, welche der Autor bei seinen Lesern zu rinden mit Zu-
versicht erwarten durfte! Fragt man uns aber, worauf jener
Hinweis ziele und welche Dialoge auf Grund desselben dem
Phädon voranzustellen seien , so darf unsere Antwort vorerst
also lauten.
Die Schriften, welche sich mit der Ideenlehre einlässlich
genug beschäftigen, um hier überhaupt in Betracht zu kommen,
sind Phädros, Symposion, Republik, Timäos, Parmenides und
Sophistes. Es soll die Möglichkeit, dass die zwei zuletzt ge-
nannten Gespräche gemeint seien, hier nicht erörtert und be-
stritten werden. Wohl aber ist es unmöglich, dass sie — ein-
zeln oder vereinigt — allein gemeint seien. Denn Werke,
in welchen so tiefgreifende Einwürfe gegen die Ideenlehre er-
scheinen und nicht minder tiefgreifende, auf die Hinwegräumung
bereits wahrgenommener Schwierigkeiten abzielende Modifika-
tionen derselben erfolgen, sind sicherlich nicht eben jene, mittelst
welcher der Urheber dieser Doctrin sie zuerst bekannt gemacht
hat.. Geht der Parmenides oder der Sophistes oder beide dem
Phädon voraus, so geht — dies wird niemand bezweifeln —
ihnen selbst wieder eine oder mehrere der obgenannten vier
sssft
12 Gomperz. [750]
Schriften voraus. Ueber diese gilt es daher, gleichviel, welche
die Stelle jener zwei dialektischen Dialoge sein möge, eine
Entscheidung zu treffen, entweder in dem Sinne, dass sie ins-
gesammt oder dass ein Theil von ihnen dem Phädon vor-
angehen.
Was nun das Symposion anlangt, so steht es mit ihm in
gewissem Masse ähnlich wie mit den zwei zuletzt besprochenen
Dialogen. Es setzt zwar nicht gleich diesen eine vorgängige
Darstellung der Ideenlehre voraus, aber es kann so wenig als
diese allein gemeint sein, weil in ihm nicht von der Ideen-
lehre in der hier erforderten Ausdehnung, sondern ausschliess-
lich von einer Idee, jener des Schönen die Rede ist. Vom
Timäos brauchen wir nicht zu sprechen, da ihm unbestrittener
Massen die Republik voraufgeht oder (da in Betreff des zehnten
Buches ein, wenngleich haltloser Zweifel geäussert worden ist)
doch jedenfalls die Theile der Republik, nämlich die Bücher
V — VII, die uns hier allein zu kümmern haben. Somit steht der
Schluss unabweisbar fest: Dem Phädon geht der Phädros
oder die Republik oder beide voran. Welche der beiden
hiernach allein ernstlich in Frage kommenden Folgeordnungen:
a) Phädros, Phädon, Republik (Timäos) oder b) Phädros, Re-
publik (Timäos), Phädon — denn die noch übrig bleibenden:
c) Republik (Timäos), Phädon, Phädros und d) Republik (Ti-
mäos), Phädros, Phädon, dürfen wohl aus allgemein bekannten
und anerkannten 'Gründen vorerst aus dem Spiele bleiben —
die richtige ist, soll hier nicht entschieden werden. Die Ent-
scheidung wird in erster Reihe von dem Gewicht abhängen,
welches man einerseits den Rückbeziehungen auf den Phädon,
die Schleiermacher (III, 1, 395 — 396) und nach ihm viele
Andere in der Republik X, 611 zu erkennen glaubten, und
andererseits den Argumenten einräumt, welche August Krolm
(266 und 273) und Paul Tannery (p. 152) gegen diese Anordnung
ins Feld geführt haben.1 Auch andere Elemente, welche zum
Theil noch gar nicht in die Discussion gezogen wurden, werden
hiebei eine Rolle spielen.
1 Die Möglichkeit, dass Phädon nach Repuhlik Buch V VII, aber vor
Buch X verfasst sei, braucht uns, da sie bisher sidlist nicht von- den
Leugnern der Einheit der Republik ins Auge gefasst ward, so wenig als
die oben erwähnten Möglichkeiten c) und d) ku beschäftigen.
[751] Platonische Aufsitze. 13
Die Wandlungen in Plato's psychologischen Lehren
aber, welche diese ganze Streitfrage veranlasst haben, werden
schwerlich den Stoff zu ihrer Schlichtung liefern. Denn Ein-
wendungen von mindestens beträchtlicher Scheinbarkeit lassen
sich gegen jede der zwei in Frage stehenden Folgeordnungen
erheben. Das Stärkste was sich gegen die Schleierniacher'sche
Anordnung (a) vorbringen Hess, war dies, dass sie zur An-
nahme eines schwer begreiflichen Hin- und Herschwankens in
Plato's Geiste nöthige durch die Folge: Dreitheilung der Seele,
Einheitlichkeit derselben, wieder Dreitheilung der Seele. Es
scheint aber noch nicht bemerkt zu sein, dass eine ganz
gleichartige Schwierigkeit auch der anderen, von Ueberweg
vorgeschlagenen, Folgeordnung (b) innewohnt, vermöge der
Succession der Lehren: Unsterblichkeit der ganzen Seele, Un-
sterblichkeit nur eines Seelentheils, wieder Unsterblichkeit der
ganzen Seele. Wo sich uns ein Ausweg aus diesem Irrsal zu
öffnen und welche die richtige Erklärung jener Oscillationen
zu sein scheint — dies bleibt vielleicht besser unausgesprochen,
bis wir in Betreff der Reihenfolge dieser Dialoge einen festen
Stamm von Beweisgründen gewonnen haben, an welchem die
diesbezüglichen Wahrscheinlichkeits - Erwägungen sich empor-
zuranken vermögen.
Mich mit den chronologischen Sprachkriterien,
welche Dittenberger und nach ihm Schanz ermittelt haben,
an dieser Stelle vollständig auseinanderzusetzen, daran hindert
mich der Plan meiner Arbeit. Müsste ich hiebei doch der spä-
teren Beweisführung vorgreifend Zeitbestimmungen aufstellen,
welche vorerst nur den Werth beweisloser Behauptungen be-
sässen. Allein wenn nichts Anderes, so muss mich doch der
Widerspruch, in welchem ich mich betreffs des Zeitverhält-
nisses zwischen Phädon und Phädros mit den Ergebnissen jener
Forscher befinde, daran verhindern, an denselben stillschweigend
vorüberzugehen. Und zwar ist meine Lage hiebei eine selt-
same. Ich sehe mich genöthigt, einzelne Missbräuche und Fehl-
anwendungen einer Methode abzuwehren, deren hohen Werth
ich voll und freudig anerkenne, ja von deren Mithilfe ich
14 Gomperz. [752]
die wesentlichste Förderung bei der endgiltigen Lösung der
hier verhandelten Probleme erwarte.
Wilhelm Dittenberger hat in seinem epochemachenden
Aufsatz eine Reihe von bedeutsamen Thatsachen festgestellt,
deren Tragweite man nicht dadurch vermindert, dass man,
wie dies bedauerlicher Weise kein Geringerer als Zeller
(S. 216 — 219) gethan hat, ausschliesslich die schwächste Seite
jener Erörterungen ins Auge fasst. Als solche muss uns
nämlich der — von Dittenberger selbst nur mit weitreichenden
Vorbehalten (S. 335 — 336) unternommene — Versuch er-
scheinen, aus den Frequenz- Verschiedenheiten gewisser
Partikeln und Partikel -Verbindungen entscheidende Schlüsse
auf die Abfassungszeit platonischer Schriften zu ziehen. Auch
hier freilich thut mehr als eine Unterscheidung
Noth. Dass die Frequenz jedes beliebigen, in den Schriften
eines Autors vorkommenden Wortes oder Wörtchens eine
ihren Entstehungszeiten entsprechende auf- oder absteigende
Reihe bilden sollte, dies von vornherein zu erwarten ist nicht
der mindeste Grund vorhanden; und bedurfte es, um das
Eitle solch einer Erwartung zu erweisen , nicht erst der zu
diesem Behufe unternommenen weitläufigen Zusammenstellungen
Höfer's. Etwas Aehnliches ist aber Dittenberger , gegen
dessen Methode man diese Instanzen ins Feld führt, niemals
in den Sinn gekommen. Sein Ausgangspunkt war ein völlig
andersartiger. Es war die Wahrnehmung, dass das
Wörtchen \xr^ der ältesten attischen Prosa ganz und
gar fremd ist und nur allmälig reichere Verwendung
findet. Da war denn der Gedanke, Plato's Schriften darauf
anzusehen , ob die seinem Zeitalter gemeinsame Neuerung
nicht auch in ihrem Bereiche Phasen des Wachsthums offen-
bare, nicht mehr ein verkehrter, wohl aber verhiess er von
vornherein (so lange die Häufigkeit des Gebrauches allein
in Betracht kam) nichts weniger als durchweg befriedigende
Ergebnisse. Denn den allgemeinen Ursachen -- einer
stilistischen Neigung des Zeitalters oder auch der wachsenden
Vorliebe des individuellen Autors — standen allzu viele sie
einschränkende oder verdeckende Sonderursaohen : Inhalt.
Form, Ton der einzelnen Dialoge, auch Laune und Stimmung
des Schriftstellers, gegenüber, als dass man die «Tsleivn zu
[753] Platonische Aufsätze. 15
reinem und sicherem Zahlenausdruck gelangen zn sehen mit
Zuversicht erwarten konnte. Um Vieles günstiger gestaltete
sich jedoch das Unternehmen auf Grund der weiteren
Wahrnehmung, dass gewisse Gebrauchsweisen jener
Partikel einem sehr beträchtlichen Theil der platoni-
schen Gespräche durchaus abgehen. Hier konnte mit
weit besserem Recht der Versuch gewagt werden, aus dem
mehr oder weniger häufigen Auftreten dieser im Verlaufe der
Schriftstellerei unseres Autors selbst neu gewonnenen Ausdrucks-
mittel chronologische Schlüsse zu ziehen. Denn die Vermuthung
spricht ja in der That dafür, dass eine Sprachneuerung sowohl
im Geiste ihres Urhebers allmälig tiefere Wurzeln schlage, als
auch mit Rücksicht auf den derselben ungewohnten Leserkreis
nur stufenweise zu ausgedehnterer Verwendung gelange. Allein
auch diese Präsumtion muss sich nicht jedesmal als durch
die Thatsachen gerechtfertigt erweisen. Ist doch Stetigkeit
im Wachsthum einer Sprachgewohnheit zwar die Regel, aber
keineswegs eine ausnahmslose Regel. Bewusstes, ja planmässiges
Wollen kann selbst dort, wo man es am wenigsten voraus-
setzt, das blindwirkende Walten des Geschmacks und der An-
gewöhnung durchkreuzen. Ranke erzählt irgendwo, er habe
einmal seine übermässige Vorliebe für den Gebrauch einzelner
Partikeln wahrgenommen und diese dann eine Zeit lang streng
und ängstlich gemieden. Aehnliches konnte auch Plato be-
gegnen, bei der Erweiterung seines Sprachschatzes noch leichter
als bei der blossen Anwendung des Altgewohnten und Altver-
trauten. Wie schwer freilich diese und verwandte Möglich-
keiten in die Wagschale unseres Urtheils zu fallen haben
und inwieweit sie im Verein mit den anderweitigen, oben er-
wähnten Fehlerquellen die Triftigkeit auch dieser Schlussweise
beeinträchtigen, lässt sich schwerlich von vornherein und im
Allgemeinen in bestimmter Weise feststellen.
Ungleich bedeutsamer als alle Frequenz-Verschiedenheiten
ist jedoch jene oben berührte fundamentale Thatsache selbst,
durch deren Ermittlung Dittenberger sich ein hervorragendes
Verdienst erworben hat. Ich meine das vollständige Fehlen
dreier Gebrauchsweisen der Partikel jwjv in nahezu einem
vollen Drittheil alles dessen, was Plato .geschrieben hat.
Hierin ein blosses Spiel des Zufalls zu erblicken, davon
16 Goraperz. [754]
kann gar Vieles abmahnen. Ausser alle dem was Dittenberger
(insbesondere S. 327 — 334) ausgeführt hat, zunächst auch
der Umstand, dass die aus der Beachtung jenes Unter-
schiedes entspringende Haupt-Grupp en- Scheidung jene
Untergruppen unangetastet lässt, welche Plato selbst als solche
bezeichnet hat: Theätet , Sophistes und Politikos einer-, Re-
publik (sammt Kleitophon), Timäos und Kritias andrerseits;
kaum weniger die Thatsache, dass die rein-sokratischen Dialoge
sich (mit der einen Ausnahme des an der Grenzscheide stehen-
den Lysis) auf der einen Seite jener sprachlichen Unter-
scheidungslinie befinden, desgleichen die sogenannten dialekti-
schen Gespräche insgesammt auf der anderen. Den Versuch
aber, dieses Argument dadurch zu Falle zu bringen, dass
man einige offenkundigermassen auf blossen Coincidenzen beru-
hende, vermeintliche Parallelerscheinungen nachwies (Freder-
king, S. 538 und 540), hat meines Erachtens seine Kraft nicht
erschüttert, sondern nicht unwesentlich erhöht. Vermochte doch
selbst die eifrigste Suche nach derartigen Pseudo-Sprachkriterien
nichts den Dittenberger'schen Nachweisen irgend annähernd
quantitativ oder qualitativ Gleichwerthiges zu Tage zu fördern.
Weit tiefgehender sind andere Einwürfe , welche gegen
die Dittenberger'schen Resultate theils erhoben worden sind,
theils sich erheben lassen. Sie fassen auf der Kleinheit
mancher hiebei ins Spiel kommender Zahlen, auf der ungleich-
massigen Vertheilung der massgebenden sprachlichen That-
sachen und auf der Abhängigkeit jener stilistischen Besonder-
heiten von zum Theil klar erkennbaren Specialursachen. Diese
Einwürfe sind bis zu einem gewissen Punkte wirklich triftig,
aber sie berühren, wie ich meine, nicht das von jenem Forscher
erzielte Hauptergebniss.
Die Zustimmungsformel ti (jlvjv; (,wie sonst? wie anders?'),
die mit gutem Grunde in diesen sprachstatistischen Unter-
suchungen die hervorragendste Rolle spielt (s. Dittenberger,
S. 334), fehlt im ersten Buch der Republik gänzlich; die
Formeln ys fjt^v und aXXa — jji^v begegnen darin nur je einmal
(332 c und 348 c). So ruht denn die Zuweisung dieses Buches
an die zweite Sprachperiode Plato's nur auf zwei Sätzchen.
Hätte er diese . nicht geschrieben — und wer möchte wolil
behaupten, dass er sie schreiben musste? so stünde dieses
[755] Platonische Aufsätze. 17
Buch, wie Frederking (S. 536) richtig bemerkt hat, so weit
jene Kriterien in Betracht kommen, auf dem Sprachniveau der
ersten Periode und würde, falls es eine selbständige Schrift
wäre, mit demselben Rechte wie etwa der gleich umfangreiche
Laches dieser zugewiesen. Dies kann als eine ernste Mahnung
zur Vorsicht gelten — eine Mahnung freilich, welcher derjenige
nicht bedarf, der mit der erforderlichen logischen Schulung
an derartige Untersuchungen herantritt. Denn ein solcher weiss,
dass sprachstatistische gleich allen anderen statistischen, d. h.
rein empirischen Ermittlungen nicht Gesetze oder Causal-
verbindungen irgendwelcher Art beweisen können, sondern
nur Präsumtionen einerseits und Verificationen andererseits
schaffen helfen, und dass somit die aus ihnen hervorgehenden
Ergebnisse niemals einen absoluten Werth zu beanspruchen
berechtigt sind.1 Er weiss ferner, wie trüglich negative
Kriterien jeder Art sind, und endlich, dass grosse Zahlen
allein im Stande sind, auch nur jenen Grad von Gewissheit zu
erzeugen, welchen aus statistischen Beobachtungen fliessende
Folgerungen überhaupt zu gewähren vermögen.
Noch dringendere Mahnungen zur Behutsamkeit ertheilt
uns das Symposion. Denn hier erfahren wir nicht nur, wie
nahe die Gefahr liegt auf dem in Rede stehenden Wege in
die Irre zu gehen, sondern wir ersehen daraus auch, dass
derselbe in der That bereits in die Irre geführt hat. Die Ver-
bindung dtXXa — pu{v begegnet in diesem Gespräch zweimal, und
dieses zweimalige Vorkommen ist nebst dem einmaligen Auf-
tauchen von v£ <nf«v der alleinige Grund, weshalb dasselbe
Plato's zweiter Sprachperiode zugetheilt wird. Nun stehen aber
diese beiden Stellen (202 d—e und 206 e) ganz nahe bei einander,
inmitten eines völlig eigenartigen Stückes dieser Schrift, nämlich
in dem ungemein lebhaften Wechselgespräch zwischen Sokrates
und Diotima, d. h. in der einzigen eigentlich dialogischen
Partie des Werkes, welche Hug (S. LIII) sehr treffend einen
platonischen Dialog innerhalb des Dialogs genannt hat. Man
1 Denn wie sollte das empirische Gesetz successiver Erscheinungsreihen,
welche von vielen, an Zahl und Stärke wechselnden, Ursachen abhängen,
etwas Anderes zum Ausdruck bringen als Tendenzen, von denen nur
der Unverstand die Unverbrüchlichkeit ausnahmsloser Causa 1-
verbin düngen erwarten oder heischen könnte?
2
18 Gomperz. [756]
sieht, Plato konnte längst im Besitze dieses Ausdrncksmittels
sein, er konnte das ganze jGastmahl', genau so wie es vor uns
liegt, geschrieben haben, es brauchte nur dieser Dialog im
Dialoge zu fehlen — und die Merkzeichen der zweiten Sprach-
periode waren, bis auf das eine -ys jrr,v (197 a), geschwunden;
das Symposion wäre dann (soweit dieses Kriterium in Betracht
kommt) dem an Umfang gleichen Protagoras zeitlich gleich-
gestellt worden. Freilich hätten sich in solchem Falle die be-
treffenden Forscher, sobald sie über ein non liquet hinausgingen,
eines logischen Fehlers schuldig gemacht; denn sie durften in
einem wesentlich nicht-dialogischen Werke nicht Wendungen
erwarten, die nur oder fast nur dem belebten Wechselgespräch
eigen sind. Eben denselben Fehler haben aber Dittenberger
und Schanz gerade in Betreff des Symposion wirklich begangen,
indem sie aus dem Fehlen der dialogischen Formel xi jj/r^v;
die Priorität dieses Werkes vor dem Phädros (mit Unrecht,
wie schon Frederking sah, S. 535, A. 1) erschliessen zu dürfen
glaubten.
Auch die nachfolgenden Erwägungen mögen nicht jeder
Beachtung unwerth scheinen. Die Formel xt jjl^v ; dient zur Varii-
rung des Ausdrucks der Zustimmung. Das Bedürfnis» solcher
Variirung tritt dort am stärksten auf, wo lange Reihen bei-
pflichtender Aeusserungen einander folgen. Dies findet in den
lehrhaften Dialogen in weit höherem Masse statt als in jenen,
welche das Alterthum agonistische genannt hat, also im
Philebos, Sophistes, Politikos ungleich mehr als z. B. im Prota-
goras. Auch fehlen in jenen die der sprachlichen Mannigfaltig-
keit an sich förderlichen qualitativen Verschiedenheiten der Zu-
stimmungsäusserung , wie sie durch ein erceveuo-e, [AOft? src&euoe,
£gtoj goc tcuto u. s. w. im Protagoras und Gorgias zur Anwendung
gelangen. Ferner besitzt diese Formel eine Lebhaftigkeit, welche
den dramatischen Gesprächen oder Gesprächspartien um
Vieles besser ansteht als den nacherzählten. Beweis dessen
der Umstand, dass in der Republik 32 Fällen des blossen -;.
pp; nur je einer von xi jJrtjv; ift\ (410a) und v. jrr,v; rt S'5$ (583a)
gegenüberstehen. Auch ist die in Frage stehende Formel ein
Ausdruck nicht nur lebhafter, sondern auch williger, freudiger,
rückhaltloser Zustimmung, wie er in den Schülergesprächen
der spätesten Epoche, aber auch in solchen wohl am Platze
T7571 Platonische Aufsätze. 19
ist, in welchen — sie mögen nun welcher Zeit immer ange-
hören — der Mitunterreder die unselbständige Fügsamkeit
eines Phädros besitzt. Man könnte sich versucht fühlen, in
diesen mehr als in chronologischen Unterschieden die Ursache
des Gebrauchs und Nichtgebrauchs jener Formel zu finden.
Damit habe ich den Köcher meiner skeptischen Ein-
wendungen geleert. Dieselben sind von sehr verschiedenem
Gewicht; allein sie treffen, wie ich meine, im besten Falle nur
die Aussenwerke der Dittenberger'schen Beweisführung, nicht
ihren Mittelpunkt und Kern. Zumal die zuletzt angeregten Ge-
sichtspunkte sind ergiebig genug, wo es gilt, einzelne Fehlan-
wendungen (insonderheit in Betreff der aus der Partikel-Fre-
quenz zu ziehenden Schlüsse) hintan zuhalten und uns davor zu
bewahren, die Instanzen blos zu zählen anstatt sie auch zu wägen.
Aber das grosse Gesammtergebniss , die Scheidung zweier
Hauptgruppen wird von ihnen nicht berührt. Den zehn
Fällen von ti [xy]v; welche die letzten 25 (Hermann'schen) Seiten
des Phädros enthalten, steht z. B. das vollständige Fehlen dieser
Verbindung in dem durch die gleich fügsame Willfährigkeit des
Haupt-Mitunterredners ausgezeichneten, 29 Seiten zählenden
Charmides gegenüber. Die Form der Nacherzählung wird in
diesem Dialog gleichwie im Phädon, Euthydem u. s. w. häufig
genug durchbrochen, um dem von uns erhobenen Einwurf
einen grossen Theil seiner Kraft zu rauben. Und warum bietet
der zugleich rein -dramatische und durchaus lehrhafte Menon
mit seinen langen Reihen von copoSpoc y&, wdvu -/e, iaxi xauxa,
s-fio-fc, 7Uöevu ptiv ouv, [j.aXtcia ye, vai, avocy^Y) u. s. w. kein einziges
Beispiel jener Formel? Weshalb der Phädon in seinen grossen
dramatisch-dialogischen Bestandtheilen ? Ja, selbst im Gorgias
fehlt es nicht an umfangreichen Abschnitten, wo die gehäuften
vai, avcrp% ^w? -yap ou; u. s. w. solch eine Abwechslang als
sehr erwünscht erscheinen Hessen. Welcher neckische Zufall
soll es endlich gefügt haben, dass der langen Reihe dieser
Schriften auch jene zwei anderen ^v-Verbindungen durchaus ab-
gehen, von welchen jeder Bestandtheil der zweiten Reihe,
wenngleich oft nur vereinzelte Beispiele aufweist?
So mag denn das Urtheil immerhin in Ansehung eines
oder des anderen Gruppenglieds schwanken, die Gruppen-
scheidung selbst dürfte aus allen Anfechtungen unversehrt
20 Gomperz. [758]
hervorgehen. Denn die Bedenken, welche die kleinen
Zahlen wachrufen, widerlegen die grossen. Ja, die ana-
lytische Detailbetrachtung, welche wir durch die obigen Erör-
terungen den Plato -Forschern empfehlen wollten, bietet Mittel
dar, nicht nur um Zweifel zu erregen, sondern auch um schon
geweckte Zweifel zu zerstreuen. So hilft z. B. der agonisti-
sche Charakter eines grossen Theiles des ersten Buchs der
Republik (dort, wo Thrasymachos der Haupt-Mitunterredner ist)
das vollständige Fehlen von xi fj^vj erklären. Die Hauptsache
aber ist und bleibt die grosse Zahl und Mannigfaltigkeit der
auf beiden Seiten der Sprachgrenze befindlichen Schriften. Ich
gehe nicht so weit zu sagen, dass der Zufall hiedurch voll-
ständig und unbedingt eliminirt ist. Aber in sofern kann er
sicherlich als ausgeschieden gelten, dass die Annahme zeit-
licher Trennung der beiden sprachlich geschiedenen Gruppen
den Werth einer in hohem Masse beachtenswerthen Präsum-
tion für sich in Anspruch nehmen darf. Daraus erwächst uns
die dringende Aufforderung, die Consequenzen jener Annahme
zu ziehen und sie mit anderen gewichtigen Kriterien zusammen-
zuhalten. Dass jene Präsumtion die hieraus entstehende Probe,
wie wir schon gesehen haben und noch des Weiteren sehen
werden, im Wesentlichen siegreich besteht, — dieser Umstand
lässt sie in der Scala der Wahrscheinlichkeiten zu einem so
hohen Punkte emporsteigen, als dies bei derartigen Forschungen
nur irgend zu erwarten ist.
Oder die Untersuchung mag auch — man verzeihe die
Breite dieser methodologischen Erörterung — einen theilweise
umgekehrten Weg einschlagen. Dass die rein - sokratischen
Dialoge einander zeitlich benachbart sind , dass dasselbe von
den dialektischen Gesprächen gilt, dass die ersteren den
letzteren vorangehen: von diesen und ähnlichen an sich wahr-
scheinlichen Voraussetzungen mag die Forschung ihren Aus-
gang nehmen, während den sprachstatistischen Ermittlungen
die Aufgabe zufällt, welcher die Methodcnlehrc den Namen
der Verification ertheilt hat. Diesem schlagenden Oon-
sensus von einander unabhängiger Forschungsweisen wird
endlich durch zwei weitere Reihen von Thatsachen eine neue
Beglaubigung zutheil. Einmal dadurch, dass die also erwachsene
Gruppenbildung mit den von Plato selbsi aufgestellten unter-
[759] Platonische Aufsätze. 21
gruppen (wie schon einmal bemerkt) nirgendwo in Widerstreit
gerätli, zweitens durch die Gewinnung einer Anzahl anderer, von
den Gebrauchsweisen der Partikel \rr^ völlig unabhängiger, aber
mit diesen im Grossen und Ganzen in erstaunlicher Weise parallel-
gehender Sprachkriterien, welche in erster Reihe von Dittenberger
selbst, in zweiter von Schanz ermittelt worden sind. Zumal der
von Ersterem als II b bezeichnete Haupttheil der zweiten Gruppe
(wozu nur von allem Anfang an auch Timäos und Kritias zu
zählen waren) ist es, der hiedurch einen, meines Erachtens, jedem
Angriff trotzenden Bestand gewonnen hat. Auf die verhält-
nissmässig geringfügigen Differenzen zwischen den Ergeb-
nissen dieser zwei Gelehrten hier einzugehen, ist nicht meine
Absicht. Doch kann ich nicht umhin, mein Bedauern darüber
auszusprechen, dass Schanz sich an mehreren Stellen seiner so
schätzenswerthen Abhandlung in einer Weise ausgedrückt hat,
welche einen Mangel an methodischer Strenge bekundet und
sicherlich zu principiellen Anfechtungen dieser ganzen Unter-
suchungsweise neuen und willkommenen Anlass bieten wird.
Ich meine Folgendes. Dass ein Schriftsteller nicht alle oder viele
seiner Stileigenthümlichkeiten an einem Tage oder mit einem
Schlage wechseln wird, ist selbstverständlich, und nur die Thor-
heit könnte etwas Anderes erwarten. Nichts natürlicher daher,
als dass die verschiedenen, den Uebergang von einer Epoche zur
anderen bezeichnenden Sprachwandlungen Plato's nicht durch-
aus strenge Gleichzeitigkeit offenbaren. Es kann, ja es muss
geschehen, dass dasselbe Werk an dem Massstab des einen
Sprachkriteriums gemessen noch in die Periode A und nach
dem Ausweis eines anderen bereits in die Periode B zu fallen
scheint. Solch eine Schrift, die in sprachlicher Rücksicht gleich-
sam mit einem Fusse in der vorangehenden und mit dem an-
deren in der nachfolgenden Phase steht, muss selbstverständlich
auch ihrer Abfassungszeit nach (falls nicht eine Ueberarbeitung
angenommen werden soll) der Grenzscheide zweier Epochen an-
gehören. Gelingt es, diese ihre Stellung als möglich zu er-
weisen, so geschieht der Geltung jener Sprachkriterien, die
in diesem einzelnen Falle mit einander in Conflict gerathen,
keinerlei Abbruch. Tritt an die Stelle blosser Möglichkeit ein
geringerer oder höherer Grad der Wahrscheinlichkeit, so
erfährt die Autorität der bezüglichen Kriterien sogar eine dem
22 Gomperz. [760]
entsprechende Steigerung; und jene Grenzwerke erlangen da-
durch , dass sie gewissermassen zu Knoten des Zeitfadens
werden , eine hohe methodische Bedeutung. Schlagen aber
alle derartigen Versuche fehl, so muss zwischen den einander
widerstreitenden Prüfmitteln eine Wahl getroffen und das
eine der beiden nicht nur für den einzelnen Fall , sondern
überhaupt verworfen werden. Es scheint undenkbar, dass
Schanz sich dieser Einsicht sollte versehliessen wollen. Allein
er gibt ihr jedenfalls keinen Ausdruck; ja, manche seiner
Aeusserungen klingen so, als ob er die besondere Artung
dieses Problems sich noch nicht zu deutlichem Bewusstsein ge-
bracht hätte und es für statthaft hielte, zwei Sprachkriterien,
deren Ergebnisse sich an mehreren Punkten widersprechen, ohne
weiteres neben einander zu gebrauchen und sich je nach Be-
darf bald des einen bald des anderen zu bedienen (vgl. S. 448
bis 449 und 452).
Doch es dürfte angemessen und an der Zeit sein, die
beiden Hauptreihen, wie sie sich nach den von mir ergänzten
Untersuchungen Dittenberger's auf Grund der drei massgeben-
den (Ji^v-Verbindungen darstellen, dem Leser vorzulegen. Und
zwar wähle ich hiefür die alphabetische Anordnung.
[761]
Platonische Aufsätze.
23
Gesammt-
Umfang nach
it pfa
T£ FW
aXXa —
zahl der
Beispiele
Seiten der
Hermann'schen
von {ir;v
Ausgabe
I *,AtcoAoywc . . .
—
—
—
1
33
Top^iaq
—
—
—
24
116
Eü968yj[/.os . . .
—
—
—
12
45
Euöucppwv ....
—
—
—
2
23
Thmac sXaxxwv .
—
—
—
5
20
Kpav'jXoq ....
—
—
—
18
79
KpiTWV
—
—
—
—
17
Aay^;
—
—
—
7
32
*Mev£§evos . . .
—
—
—
1
19
Mevwv
—
—
—
10
46
Ilpwiayopa; . .
—
__
—
5
63
<I>a'3(i)v
—
—
20
79
XapixßYj? ....
II 6eafor)Toq . . .
. —
—
—
7
29
112
601
13
1
1
38
101
*KXeiTO<piov
—
—
1
2
6
*KptTia? . .
—
1
—
2
19
Auati;1 . .
1
—
4
12
24
Nofxct . .
48
24
2
166
417
Hap[j(,£Vi§Yj<;
6
5
2
81
50
Ho/aTSia .
34
2
11
158
318
[IoXtTtx6(; .
20
8
3
75
83
Lö^ionj? .
12
5
2
72
82
Sujjwuoariov
—
1
2
15
62
*Tt[j.c«o<; . .
—
6
—
9
88
<I>ai8po<; .
11
1
1
24
68
$i>vY]ßb<; .
26
7
2
78
87
171
61
31
732
1405
Gesamii
atzahl
263
Auf dao eine — von Dittenberger übersehene — xl fin^v; im Lysis (219 e)
hat mich Otto Apelt in Weimar freundlichst aufmerksam gemacht.
24 Gomperz. [762]
Mit einem Sternchen habe ich diejenigen Schriften be-
zeichnet , welche Dittenberger von der Untersuchung auszu-
schliessen , ich in diese mit einzubeziehen als angemessen
erachtet habe. Von , Apologie, Tiinäus und Kritias' hat nämlich
jener Forscher darum ^abgesehen, weil in ihnen das dialogische
Element so zurücktritt, dass das Vorkommen der in Rede
stehenden Partikelverbindungen, welche theils ausschliesslich,
theils vorwiegend in der Wechselrede ihre Stelle haben, der
Natur der Sache nach ein ganz sporadisches sein muss und nach
keiner Seite zu sicheren Schlüssen berechtigt'. (S. 326 — 327,
Anm. 2). Dieses Verfahren mochte sich bei der Abfassung
jenes grundlegenden Aufsatzes bis zu einem gewissen Masse
empfehlen, wenn sich gleich der Doppeleinwand nicht völlig
abweisen lässt, dass die eine der drei Verbindungen — 76 |rr,v
— mit dem dialogischen Elemente wenig zu thun hat, und
dass die individualisirende Behandlung, sobald sie einmal
überhaupt beliebt ward, auch auf andere Stücke, in welchen
die zusammenhängende Darlegung über die Wechselrede über-
wiegt (vor Allem auf das Symposion), hätte ausgedehnt werden
können. Doch wie dem auch sei; jetzt, wo es die erzielten
Ergebnisse zu überprüfen, gegen Einwendungen zu sichern
und ins Feinere auszuarbeiten gilt, scheint jene Ausschliessung
jedenfalls nicht mehr am Platze zu sein. Wenn die Apologie,
deren Abfassungszeit unmöglich um viele Jahre von der Hin-
richtung des Sokrates entfernt sein kann, auch nur ein Bei-
spiel jener drei Verbindungen aufwiese, so stünde es schlimm
um die These, dass Plato zur Zeit, da er die Schriftengruppe I
verfasste, deren Glieder entweder insgesammt oder doch
sicherlich zum allergrössten Theil der Apologie nachfolgten,
die fraglichen Verbindungen seinem Sprachschatz noch nicht ein-
verleibt hatte. In Wahrheit begegnet uns in der Apologie jjiyjv
nur als Betheuerungsformel (yj ptvjv), und zwar blos einmal (22*)
— nebenbei ein in quantitativer und qualitativer (s. Ditten-
berger, S. 329) Rücksicht höchst beachtenswerthes Vorkomm-
niss, welches im Verein mit der vollständigen Abwesenheit der
Partikel im nächstverwandten Kriton gar viel zu denken gibt.
Wenn andererseits die der Republik nachfolgenden und somit
in die zweite Sprachschicht eingebetteten Werke Timäos und
Kritias gar kein Beispiel einer jener drei Verbindungen
[763] Platonische Aufsätze. 25
enthielten, so wäre auch dies nicht wohl mit der Annahme zu
vereinigen, dass die zweite Sprachphase im Wesentlichen mit
einer zweiten Zeitperiode zusammenfällt. Der nicht-dialogische
Charakter der beiden Schriften lässt freilich die Anwendung
weder von t( fjwjv; noch von aXXa — \j:rtv voraussehen; ja die zum
grossen Theil nicht einmal argumentative, sondern expositorische
und (namentlich im Kritias) beschreibende Darstellung stellt uns
von vornherein eine nur geringe Häufigkeit der Partikel über-
haupt in Aussicht; allein das sechsmalige Vorkommen von
Ys jjl-^v (20d, 41 b, 53b, 63e, 72d, 77d), gleichwie das einmalige
Auftreten von y.at jjlt^v (19 a) nebst dem zweimaligen 8oy,eT jxtqv
und TCpoöujAYjTsov fjufiv (20 d, 87 b) im Timäos, denen im Kritias
ein y£ \ufjp (108 b) und ein xauxbv \j:r,v (ebendort) gegenübersteht,
ist nach keiner Richtung hin geeignet, unser Befremden zu
erregen. Dass die Gesammtfrequenz der Partikel in den beiden
engverbundenen Schriften durch fast genau dieselbe Zahl be-
zeichnet wird, nämlich 9'7 (Timäos) und 9'5 (Kritias), mag im
Vorübergehen angemerkt werden. Aehnlich Laches (4-5) und
Charmides (44). Vgl. S. 764, Anm. 1.
Den Menexenos und Kleitophon endlich habe ich in
das Untersuchungsmaterial mit aufgenommen, weil mir ihre
Echtheit ausser jedem Zweifel zu stehen scheint, und freue
ich mich, nunmehr auch auf Diels' gewichtiges Votum und seine
mit der Grote'schen (III, 10 — 11) durchaus übereinstimmende
Auffassung des erstgenannten Gesprächs verweisen zu können
(S. 21 — 22). Im Uebrigen gilt es hier nur zu constatiren, dass
diese Schrift, die durch ihren überwiegend rhetorischen, nicht-
dialogischen Charakter noch mehr als das Symposion eine Aus-
nahmsstellung einnimmt, kein Merkmal der zweiten Periode auf-
weist, sondern mit ihrem einmaligen xai jr^v (234 c) und — wenn
wir ausnahms- und aushilfsweise mit dem vorerst noch so noth-
wendigen Vorbehalt auch die Schanz'schen Kriterien herbeiziehen
dürfen — ihrem sechsmaligen toi ovti (237 c, 239% 244 a, 247 d,
247 e [bis], welchem kein ovtwc; gegenüber, wohl aber ein aLkrßü<z
[237 e] ohne ein uq &krß(oq zur Seite steht) bis auf Weiteres der
ersten Sprachphase einzureihen ist. Das kleine Kleitophon-
Fragment hingegen, welches der Republik so nahe steht, besitzt an
aXV afoxpov l^v (407a, neben einem oü ^rjv, 410e), wenn nicht
auch an övtoj: (409 e) in der That Merkzeichen der zweiten Phase,
26 Gomperz. [764]
Wer das Gesarnnitmaterial , wie unsere Tabelle es zur
Darstellung bringt, überblickt, der dürfte finden, dass, was wir
über die annähernde Eliminirung des Zufalls in Betreff der
Gesammtgruppen (nicht jedes einzelnen ihrer Glieder) bemerkt
haben, die Grenzen der Wahrheit jedenfalls nicht überschreitet,
wahrscheinlich aber hinter denselben nicht unbeträchtlich zurück-
bleibt. Schwerlich lässt sich, angesichts der grossen Zahl und
Mannigfaltigkeit der in jeder der zwei Gruppen enthaltenen
Schriften, für das vollständige Fehlen jener drei ^v- Verbin-
dungen in I und dem fast durchgängig vereinigten Auftreten
derselben in II ein anderer Grund ersichtlich machen als Nicht-
vertrautheit mit ihnen im ersten, Vertrautheit mit ihnen im
zweiten Falle. Aber auch die Frequenz- Steigerung der
Partikel jj.vp überhaupt in II (mit I verglichen) ist allzu an-
sehnlich und allzu gleichmässig wahrnehmbar, um sich dem Ein-
fluss von Sonderursachen allein füglich zuschreiben zu lassen.
Fassen wir die Total-Ziffern ins Auge, so steht dem Gesammt-
Frequenz - Quotienten 5'3 in I die Zahl 1'9 in II gegenüber
(d. h. in der Gruppe I als Ganzes genommen entfällt ein p.^v
auf 5*3 Hermann'sche Seiten, in II schon auf 19). Und dieses
Verhältniss wird nicht wesentlich verändert, wenn wir die
exceptionellen, d. h. vom jeweiligen Mittel sich weit ent-
fernenden Stücke (Kriton, Apologie, Euthyphron, Protagoras,
Menexenos in I, Timäos, Kritias und Symposion in II) aus
der Rechnung ausschliessen. Dann werden die Zahlen 5*3
und 1*9 durch 43 und 1*7 ersetzt. Ferner: das Frequenz-
Maximum der zweiten Reihe beträgt mehr als das Sechs-
fache des Frequenz - Maximums der ersten Reihe (nämlich
06 Parmenides l gegenüber von 3'7 Euthydemos). Ja dieses
letztere erreicht — sobald wir nur jene drei, vom Mittelmass,
und zwar aus klar erkennbaren Gründen, am meisten ab-
weichenden Stücke der zweiten Reihe ausschliessen — nickt
einmal die Höhe des Frequenz-Minimums derselben. Wird doch
dieses Minimum durch 3*0 (Kleitophon) und dem zunächst durch
Oder es sei auch, da die — meines Eraehtens freilich völlig grund-
losen — Anfechtungen der Echtheit, dieses Dialogs noch immer nicht
verstummt sind, statt seiner der Sophistes und Politikos oder der diesen
genau gleichstehende Philebos mit 1*1 namhaft gemacht. Man sieht. d.-is<
seihst dann das Multiplnm noch immer ein ansehnliches bleibt.
[765] Platonische Aufsätze. 27
2*8 (Phädros), jenes Maximum aber, wie wir soeben sahen, durch
den Quotienten 3*7 bezeichnet. Endlich: die Frequenz -Zu-
nahme in II erweist sich selbst dann als eine erhebliche,
wenn wir den Zuwachs ganz und gar ausser Acht lassen,
welcher aus der Anwendung der drei neuen Partikel-
verbindungen entsprungen ist. Denn dann bleiben 469
Fälle auf 1405 Seiten übrig und der Gesammt-Frequenz-Quotient
wird durch die Zahl 2*9 bezeichnet. Schliesslich und letztlich ist
es vielleicht auch nicht nutzlos, daran zu erinnern, dass der
Frequenz - Quotient in den acht Normalschriften der ersten
Gruppe zwischen 3-7 und 4*8 (Gorgias), in den zehn Normal-
schriften der zweiten Gruppe zwischen 06 (Parmenides und
dem zunächst 11 Sophistes, Politikos, Philebos) und 3, be-
ziehungsweise 2*8 schwankt. Hiebei scheint die Enge der
jeweiligen Oscillationsgrenzen vielleicht mehr als alles
Andere auf das Vorwalten allgemeiner Ursachen hinzuweisen,
welche in diesem Falle kaum etwas Anderes sein können als
die Sprachgewohnheiten verschiedener Epochen des schrift-
stellerischen Schaffens.
Somit darf es uns als in hohem Masse wahrscheinlich
gelten, dass die zwei von Dittenberger nachgewiesenen Sprach-
phasen Plato's im Grossen und Ganzen in der That zwei Zeit-
phasen entsprechen. Die Erhebung hochgradiger Wahrschein-
lichkeit zur Gewissheit kann sich aber freilich nur aus der
weiteren Erörterung und Feststellung der sachlichen Entschei-
dungsgründe ergeben. Hier will ich vorläufig lediglich meine
Ueberzeugung dahin aussprechen, dass die erforderliche Ueber-
einstimmung in Wahrheit vorhanden ist — bis auf eine ge-
wichtige Ausnahme. Dem Phädros weisen die Sachkrite-
rien eine andere Stellung an als die Sprachkriterien.
Haben uns doch die ersteren bereits die volle Gewissheit gegeben,
dass der Phädon diesem Dialoge nicht vorangeht, sondern
nachfolgt. Desgleichen erscheint es aus mehr als einem Grunde
gewiss, dass dasselbe mit dem Euthydemos der Fall ist. Denn
an Spengel's (S. 36 ff..) diesbezüglichen Ermittlungen (an welche
ich Dittenberger schon 1883 brieflich erinnert habe) zu rütteln
scheint unmöglich, um so mehr, als die von Ueberweg (S. 278)
hervorgehobene, in diesem Dialog erfolgende technische Anwen-
dung des Wortes Dialektik, welches im Phädros noch der Er-
28 Gomperz. [766]
klärung bedürftig schien, unterstützend hinzutritt. Das letztere
Argument gilt auch für den Kratylos, während die Grote'sche,
bisher unwiderlegte, neuerlich auch von Diels vorgebrachte und
mir als zweifellos richtig geltende Ansicht von den Beweggründen^
welche die Abfassung des Menexenos veranlasst haben, mit
der Priorität auch dieses Gespräches vor dem Phädros unver-
einbar ist. Das Symposion will ich lieber nicht herbeiziehen,
da ich einerseits es zwar für höchst wahrscheinlich, aber nicht
für streng bewiesen erachte, dass der Phädros ihm voranging,
andererseits die von Dittenberger für das umgekehrte Ver-
hältniss geltend gemachten sprachstatistischen Gründe sich nicht
als zutreffend erwiesen, Schanzens in gleicher Richtung verwer-
thete Kriterien aber uns, wie bemerkt, noch nicht als vorbehaltlos
annehmbar erscheinen.1 Es genügt, dass man jenen Widerstreit
zwischen Sach- und Sprachkriterien auch nur in Betreff der
Stellung des Phädros zu den vier vorgenannten Schriften oder
(falls man auch vom Menexenos lieber absieht) doch zu drei
derselben als thatsächlich vorhanden anerkenne, um sich vor die
entscheidungsschwere Frage gestellt zu sehen: sollen die Sprach-
kriterien gar nichts gelten? Genauer gesprochen: darf man es
für glaubhaft halten, dass Plato sich im Besitz jener drei vielbe-
sprochenen Partikel- Verbindungen, zumal von xi jjuflvj befand, als
er den Phädros schrieb, und dass er trotzdem von ihnen — die in
einer langen Reihe von zum grüssten Theil nachweislich späten
Schriften eine so grosse Rolle spielen, — bei der Abfassung des
Euthydein, des Kratylos und des Phädon, die zu ihrer An-
wendung reiche Gelegenheit boten, keinerlei Gebrauch gemacht
hat? Oder vielmehr, um die Fragestellung noch schärfer und
bestimmter zuzuspitzen, was darf uns als das minder Unwahr-
scheinliche gelten: dass Plato dies gethan hat oder dass uns
— der einzige Ausweg, der sich sonst aus diesem Wirrsal auf-
thut — der Phädros in zweiter Bearbeitung vorliegt?
Ich entscheide mich unbedenklich für die letztere Alternative,
obgleich ich vielfachen und lebhaften Widerspruches gewärtig
Diese Suspension des Urtheils dürfte um so angemessener sein, als
Schanz im Schlusssatz seiner Abhandlung auf , weiteres Material',
welches ihm ,zur Verfügung steht', hingewiesen und dessen Verarbeitung
in, hoffentlich nahe, Aussicht gestellt hat.
[767] Platonische Aufsätze. 29
bin. Doch mag man immerhin über das Wagniss dieser Muth-
massung zetern. Mit Fug darf dies nur derjenige thun, dem
es gelungen ist, der Gesammtheit der in Frage kommenden
Thatsachen in allseitig befriedigenderer Weise gerecht zu wer-
den, nicht Jene, die sich der Notwendigkeit einer vereinzelten
kühneren Vermuthung blos dadurch zu entziehen vermögen,
dass sie einen ansehnlichen Theil der Elemente des zu lösenden
Problems willkürlich ignoriren — sei es, dass sie vor unbe-
quemen Facten und Folgerungen einfach das Auge verschliessen,
sei es, dass sie dieselben mit polternden Kraftworten hinweg-
zuschelten bemüht sind. Der Sieg wird auf diesem gleichwie
auf jedem anderen Forschungsgebiete schliesslich der Ansicht
verbleiben, welche mit einem Maximum von vollbewiesenen
Sätzen ein Minimum an sich kaum erweisbarer, aber zur Ver-
vollständigung des Causal-Netzes nicht zu entbehrender An-
nahmen verbindet.
Literatur.
Boiiitz (Hermann), Platonische Studien, 3. Auflage. Berlin, 1886.
Diels (Hermann), Ueber das dritte Buch der aristotelischen Rhetorik.
Aus den Abhandlungen der k. preuss. Akademie der Wissenschaften.
Berlin, 1886.
Dittenberger (Wilhelm), Sprachliche Kriterien für die Chronologie der
platonischen Dialoge. Hermes XVI, 321 ff. Berlin, 1881.
Frederking (Arthur), Sprachliche Kriterien für die Chronologie der pla-
tonischen Dialoge. Fleckeisen's Jahrbücher. Leipzig, 1882, 534 ft.
Grote (George), Plato and the other companions of Socrates. London, 1865.
Hermann (Karl Friedrich), Geschichte und System der platonischen Philo-
sophie. Erster (einziger) Band. Leipzig, 1839.
— De Piatonis Menone, Marburger Universitäts-Programm 1837; wieder
abgedruckt im 6. Supplementband der Jahn'schen Jahrbücher für
Philologie und Pädagogik. Leipzig, 1840, S. 51 ff.
Höfer (Hermann), De particulis Platonicis. Bonn, 1882.
Hug (Arnold), Platon's Symposion. Leipzig, 1876.
Krohn (August), Der platonische Staat. Halle, 1876.
Schanz (Martin), Zur Entwicklung des platonischen Stils. Hermes XXI,
439 ff. Berlin, 1886.
Schleiermacher (Friedrich), Platon's Werke. 3. Auflage. Berlin, 1855
bis 1861.
30 Gomperz. Platonische Aufsätze. [768]
Schultess (Fritz), Platonische Forschungen. Bonn, 1875.
Siebeck (Hermann), Zur Chronologie der platonischen Dialoge. Fleckeisen's
Jahrbücher. Leipzig, 1885, 226 ff.
Spengel (Leonhard), Isokrates und Piaton. Aus den Abhandlungen der k.
bayer. Akademie der Wissenschaften. München, 1855.
Tann er y (Paul), L'Education platonicienne, Revue philosophique. Paris,
1881 (August-Heft).
Ueberweg (Friedrich), Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge
platonischer Schriften. Wien, 1861.
Zell er (Eduard), Ueber die Unterscheidung einer doppelten Gestalt der
Ideenlehre in den platonischen Schriften. Sitzungsberichte der k.
preuss. Akademie der Wissenschaften. Berlin, 1887, 197 ff.
Ausgegeben am 31. October 1887.
* v. .-*?.•*.••
Ausgegeben am 31. October 1887.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN
PHILOSOPHISCH - HISTORISCHE CLASSE.
BAND CXLI.
VII.
PLATONISCHE AUFSÄTZE.
II.
DIE ANGEBLICHE PLATONISCHE SCHULBIBLIOTHEK
UND DIE TESTAMENTE DER PHILOSOPHEN.
VON
THEODOR GOMPERZ,
WIRKL. MITGLIEÜE DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
WIEN, 1899.
IN COMMISSION BEI CARL GEEOLD'S SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN WIEN
PHILOSOPHISCH -HISTORISCHE CLASSE.
BAND CXLI.
VII.
PLATONISCHE AUFSÄTZE.
II.
DIE ANGEBLICHE PLATONISCHE SCHULBIBLIOTHEK
UND DIE TESTAMENTE DER PHILOSOPHEN.
VON
THEODOR GOMPERZ,
WIRKL. MITGLIEDE DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
RARY
TM
ÜN1VEI NOIS.
WIEN, 1899.
IN COMMISSION BEI CARL GEROLD'S SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
Druck von Adolf Holzhausen,
k. und k. Hot- und Univcisit-its-Hnclxhueki'r in Wien.
Der gegenwärtige Aufsatz bedeutet die Abtragung einer
alten Schuld. Als der Verfasser im Sommer 1867 sich als
Privatdocent habilitierte , wählte er zum Gegenstand seines
Probevortrags eben das Thema , welches hier behandelt wird,
die Frage nach dem Bestände einer platonischen Schulbibliothek.
Da ich die damals erzielten Ergebnisse jüngst anderwärts kurz
zu verzeichnen genöthigt war (Griechische Denker II 221 f.), so
ziemt es sich, die Gründe , die mein Urtheil bestimmt haben,
gleichzeitig den nachprüfenden Mitforschern vorzulegen.
Den Anlass zu jener Erörterung gab das 1865 veröffent-
lichte Werk George Grote's ,Plato und die anderen Gefährten
des Sokrates', beziehentlich das ,Der platonische Kanon' be-
titelte Capitel, welches von dem Vorhandensein solch einer
Bibliothek als von einer feststehenden Thatsache handelt
(I I32ff.7 insbesondere 135, 144 f., 147, 152, 154). Grote hat
bekanntlich an der Echtheit sämmtlicher uns aus dem Alter-
thum als platonisch überlieferten Schriften festgehalten. Er
glaubte der immer grössere Verhältnisse annehmenden Skepsis
einen unangreifbaren Wall entgegensetzen zu sollen. Dass
diese skeptische Bewegung ins Ungemessene wachsen würde,
hat er mit Recht erwartet. Ist doch in dem Jahre, das der
Veröffentlichung seines Werkes folgte, das Buch erschienen,
Sitzungsber. d. ptril.-hist. Cl. CXLI. Bd. 7. Abb. 1
2 VII. Abhandlung: GomperZ.
welches ihren Höhepunkt bezeichnet : Schaarschmidt's ,Die
Sammlung der platonischen Schriften, zur Scheidung der echten
von den unechten untersucht', worin nur mehr ein Vierttheil von
Piaton' s Schriften als unzweifelhaft echt anerkannt wurde. Diesen
und verwandten Abenteuerlichkeiten stand auch ich so fern wie
Grote. Auch mir wäre es in hohem Mass erwünscht gewesen,
dem Umsichgreifen der hyperkritischen Seuche endgiltig ein
Ziel setzen zu können. Ich unterzog darum die Grote'sche
Aufstellung sofort einer sorgsamen Prüfung und wurde, trotz
des lebhaften Wunsches,, sie als haltbar zu erkennen, von ihrer
Unnahbarkeit überzeugt. Nicht nur dass Grote es an jedem
Versuch einer positiven Beweisführung fehlen Hess. Die innere
Wahrscheinlichkeit, dass die platonische Lehranstalt Platon's
Werke in authentischen Exemplaren oder vielmehr die Original-
handschriften des Meisters besass, dass die Bibliothekare von
Alexandrien und Pergamon zur Zeit der Gründung dieser
grossen Büchersammlungen sich hier über das, was aus Platon's
Feder geflossen war, den zuverlässigsten Bescheid holen konnten,
und dass die Ausgabe, welche der alexandrinische Bibliothekar
Aristophanes von Byzanz um 200 v. Chr. G. veranstaltete,
auf eben dieser unantastbaren Grundlage ruhte — die innere
Wahrscheinlichkeit, sagen wir, all dieser Annahmen schien ihm
so gross, dass er sie einer Bestätigung durch überlieferte That-
sachen nicht bedürftig glaubte. Zu diesem Mangel an posi-
tiven Indicien gesellten sich dem Nachprüfenden gar bald Gegen-
indicien von unverächtlicher Beweiskraft.
1. Die aristotelische Schule ward nach dem Vorbild der
platonischen errichtet. Hätte es in dieser eine Schulbibliothek
gegeben, wie unwahrscheinlich, dass in jener eine solche ge-
fehlt hätte ! Sie hat aber gefehlt. Darüber besitzen wir authen-
tische Kunde. Wir wissen, dass Theophrast seine Werke
und zugleich mit ihnen die Werke seines Vorgängers, des
Schulstifters Aristoteles, nicht einer Schulbibliothek, sondern
seinem Mitschüler und Freunde Neleus, der zu Skepsis in der
Landschaft Troas zuhause war, letztwillig hinterlassen hat.
Das bei Laertius Diogenes erhaltene Testament lässt nicht
dem Schatten eines Zweifels Raum. Strabon's bekannte Er-
zählung (XIII G08f.) über das Schicksal dieser Büchcrsammlung
und ihre Ergänzung durcli Plutarch (Sulla c. 20) soll uns hier
Platonische Aufsätze. II. 3
nicht beschäftigen. Wie viel oder wie wenig von aristotelischen
Schriften vor der Wiederauffindung jener Bücherei des Neleus
und ihrer schliesslichen Bearbeitung durch den Grammatiker
Tyrannion in anderen Abschriften vorhanden und im Umlauf
war, soll uns hier ebenso wenig kümmern. Mag immerhin
Strabon's Bericht an einiger Uebertreibung leiden: dass die
Gesammtheit der aristotelischen Werke vor jenem Zeitpunkt
kein Gemeinbesitz der griechisch-römischen Gelehrtenwelt war,
steht ausser aller Frage, so wenig wir auch Derartiges von
vornherein vermuthet hätten, so überraschend es auch wirkt,
das Schicksal der Werke eines grundlegenden Denkers und
Schulhauptes in so hohem Grade von äusseren Zufällen bedingt
zu sehen. Grote hat sich mit der Schwierigkeit, welche dieser
Parallelfall seiner Hypothese bereitet, nicht auseinandergesetzt.
Allein, dass hier eine Schwierigkeit vorliegt, scheint er em-
pfunden zu haben, und er begegnet ihr mit der beiläufig hin-
geworfenen Bemerkung: Theophrast , glaubte sich berechtigt*
(,thinking himself entitled* a. a. O. I 138), über die Werke des
Aristoteles wie über einen Privatbesitz zu verfügen.
Es ist nach unserer Ansicht nicht der mindeste Zweifel
daran gestattet, dass Theophrast sich nur zu dem berechtigt
glaubte, wozu er thatsächlich berechtigt war. Dafür gibt es,
abgesehen von der gewichtigen Präsumtion, die uns der ehren-
werthe Charakter des Mannes liefert, zwei vollgiltige Beweise.
Kaum zwei Besitzthümer stehen einander so nahe wie Bücher
und Landkarten. Die letzteren, die in der Schule befindlich
waren, belässt Theophrast in derselben und veranlasst ihre
Aufbewahrung in einer bestimmten Oertlichkeit, in der ,unteren
Halle*, in der sie wohl an den Wänden befestigt werden sollten
(Laert. Diog. V 51). Diese Unterrichtsmittel gehörten zur Lehr-
anstalt, und Theophrast hat sie ihr nicht entzogen, als er die
Anstalt jenen Zehnmännern vermachte, die er beschwört, alle
, Mitphilosophierenden* an der Nutzniessung derselben theil-
nehmen zu lassen. Von den Büchern handelt er als von einem
Bestandtheil seines durch keinerlei moralische Verpflichtungen
eingeschränkten Privateigenthums, unmittelbar nachdem er über
ein in Stagira befindliches, ihm gehöriges Grundstück verfügt
und es gleichfalls einem Privatfreunde Kallinos vermacht hat.
Das zweite Argument liefern die gleichartigen, auf Bücherbesitz
l*
4 VII. Abhandlung: Gomperz.
bezüglichen Bestimmungen, die wir in anderen Philosophen-
Testamenten vorfinden, und von denen späterhin noch die Rede
sein soll. Zu allem Uebernuss findet der gewissenhafte, das
Sonderinteresse der Individuen und das Gesammtinteresse der
Schule strenge scheidende Sinn desselben Testators in den nach-
drücklichen Warnungen vor privater Aneignung dessen, was
allen gehören soll, und in der dringenden Aufforderung, unter
keinen Umständen und unter keinerlei Vorwand, wie etwa dem
längerer Abwesenheit von der Bildungsstätte, diese der gemein-
samen Benützung zu entziehen und zu einem Monopol Einzelner
zu machen, den kräftigsten Ausdruck.
2. Laertius Diogenes berichtet uns (III 66) von einer kriti-
schen Ausgabe der Werke Platon's, in der man mit höchster Wahr-
scheinlichkeit eben die von dem Grammatiker und Bibliothekar
Aristophanes von Byzanz veranstaltete Edition erkannt hat.
Die Beschaffenheit dieser Ausgabe lässt sich nicht mit der An-
nahme vereinigen, dass es damals zu Athen ein Exemplar der
platonischen Schriften gab, welches im Besitz der Schule selbst
war und daher einen Text von unbedingter Authenticität ent-
hielt. Denn wir erfahren von mannigfachen kritischen Zeichen,
die genau wie bei den homerischen Gedichten und den Werken
anderer Autoren so auch bei diesem Texte in Verwendung
kamen. Die wagrechte Linie (6ßsX6<;) diente zur Bezeichnung
der Athetese, d. h. der Ausschaltung einer als interpoliert gel-
tenden Stelle; der mit Punkten versehene Doppelstrich (Situayj
7i£pi£STtYyivYj) wurde verwendet, um conjecturale Aenderungen
ersichtlich zu machen, und der mit Punkten versehene wage-
rechte Strich (ofieXoq TOEptsGTrfptivoq) sollte vor ,willkürlichen Athe-
tesen' warnen (ycpbq xac, eiy.aiouq aOexiqcsti;).
All das, zumal die zwei zuletzt angeführten Zeichen, deutet
sonnenklar auf einen Text hin, der, wie so viele andere Texte
des Alterthums, auf mannigfachen Handschriften von ungleichem
Werthe beruhte, der die kritische Arbeit der Philologen wieder-
holt und mit wechselndem Ergebnis in Anspruch genommen
hatte. (Die ersten zwei Zeichen kehren in gleichartiger Ver-
wendung mehrfach wieder, vgl. Suetonius de viris inlustribus ed.
Reifferscheid p. 137 sqq.) Wäre Platon's Original -Exemplar oder
auch nur eine unter der Aufsicht der Schulhäupter daraus ge-
wonnene Copie am Sitz der Schule selbst vorhanden gewesen,
Platonische Aufsätze. II. Ö
dann hätte es all dieser Vorkehrungen, all dieser kritischen
Anstalten nicht bedurft. Man hätte aus Alexandrien einfach
eine Anzahl verlässlicher Schreiber nach Athen entsandt, und
diese hätten in der Lehranstalt selbst eine Abschrift genommen,
deren Vertrauenswürdigkeit keiner Anfechtung unterlag; man
wäre, kurz gesagt, in nicht wesentlich anderer Art vorgegangen,
als wie man von Alexandrien aus mit dem auf Veranlassung
des Lykurgos verfertigten Staatsexemplar der drei grossen
Tragiker verfahren ist. Der Warnung vor Verunstaltungen,
welche der Text bis dahin in uncontrolierten Exemplaren er-
fuhr, hätte es vielleicht immer noch bedürfen können; aber die
Art dieser Warnungen hätte es wohl erkennen lassen müssen,
dass der Text nunmehr auf dem festen Grunde einer unantast-
baren Ueberlieferung stand, was der Ausgabe ein von ihrer hier
geschilderten Gestalt sehr verschiedenes Ansehen gegeben hätte.
Ein Vorkommnis mag unerwartet, unwahrscheinlich oder
auch von vornherein unglaubhaft sein; dennoch muss es sich,
sobald seine Thatsächlichkeit über jeden Zweifel hinaus fest-
gestellt ist, in den Zusammenhang der Dinge einfügen und,
falls uns dieser ausreichend bekannt ist, aus ihm erklären
lassen. Die letztere Voraussetzung trifft in unserem Falle zu.
Warum haben — so fragt man sich nicht ohne berech-
tigte Verwunderung — die Häupter der Philosophenschulen
ihre Werke nicht einfach auf diese vererbt? Die Antwort er-
theilt uns ein Blick auf die Art, in welcher die Schulvorstände
bestellt wurden. Es geschah dies, soweit unsere Nachrichten
reichen, in vierfacher Weise:
1. durch Uebergabe der Lehranstalt bei Lebzeiten,
2. durch letztwillige Anordnung oder eine gleichwerthige
nichttestamentarische Verfügung,
3. durch die Wahl aus letztwillig bestimmten Zehn-
männern,
4. durch freie unmittelbare Wahl der Schulgenossen.
Von jeder dieser Bestellungsarten kennen wir Beispiele,
und ebenso kennen wir Beispiele der Vererbung der Bücher
des scheidenden Schulhauptes. Die Durchmusterung dieser Bei-
spiele wird uns zeigen, in welchen Instanzen beides Hand in
Hand ging, und in welchen das nicht der Fall war und, wie
wir vorgreifend bemerken dürfen, nicht der Fall sein konnte.
6 VII. Abhandlung: Gomperz.
1. Die Uebergabe der Lehranstalt bei Lebzeiten des Vor-
standes an einen andern ist ein völlig singuläres Vorkommnis.
Der Akademiker Lakydes wird uns in diesem Betracht allein
genannt (Laert. Diog. IV 60: xal \xövoq twv am ai&voc, '(wv Tuap-
sOor/.s ty]v ayoXYjv TirjXexXet xai Euavöpw toiq <J>G>y.a£Üci). Da uns das
Testament des Lakydes nicht erhalten ist, so fehlt uns über
die Vererbung seiner Bücher jegliche Kunde.
2. Zwischen diesem und dem ersten Fall besteht die
engste Verwandtschaft, und nicht in jeder Instanz lässt sich
zwischen beiden eine scharfe Grenzlinie ziehen. Hat Aristoteles,
als er ein Jahr vor seinem Tode, um dem gegen ihn anhängig
gemachten Asebie-Processe zu entgehen, Athen verliess und
sich nach Chalkis zurückzog, die Lehranstalt dem Theophrast
übergeben? Ohne Zweifel. Allein es ist sehr wahrscheinlich,
dass er schon vorher diesen seinen Lieblingsschüler zu seinem
Nachfolger bestimmt hat, so dass dessen Schulvorstehung gleich
sehr gesichert war, mochte nun Aristoteles seine Tage zu Athen
oder anderwärts beschliessen. Piaton hat seinen Neffen Speusipp
zum Nachfolger eingesetzt, wobei es wieder unentschieden
bleibt, ob diese Verfügung erst nach seinem Tode in Wirk-
samkeit treten sollte, oder ob er etwa im höchsten Greisenalter
die Verwaltung der Anstalt bereits dem nahen Verwandten
übergeben hat.
Nur in zwei Fällen kennen wir den Wortlaut einer der-
artigen testamentarischen Verfügung: bei Epikur und bei dem
Peripatetiker Straton. Epikur beruft sich im Eingang seines
Testamentes auf eine im Staatsarchiv aufbewahrte Schenkungs-
urkunde, vermöge deren er sein Gesammtvermögen dem Amy-
nomachos und Timokrates zugedacht hat, , unter der Be-
dingung, dass sie den Garten sammt allem Zubehör dein
Hermarchos und denen, die mit ihm Philosophie treiben, und
desgleichen jenen, welche Hermarchos als wissenschaftliche
Nachfolger hinterlassen wird', zur Verfügung halten. Er be-
stellt somit Hermarchos zum Schulhaupt und verewigt zugleich
durch die hier angeführte und noch weitere nachfolgende ] Be-
stimmungen diesen, man möchte sagen monarchischen Be-
stellungsmodus des Schulhauptes (Laert. Diog. X 16ff.). Im
besten Einklang damit steht es, dass Epikur auch seine ganze
Bücherei (die selbstverfassten Werke offenbar ebensowohl wie
Platonische Aufsätze. II. 7
jene fremder Verfasser) dein Hermarchos hinterlässt: Soüvat Ss
(eine der vielen den Universalerben auferlegten Verpflichtungen)
-ua ßißXi'a Ta u^ap/ovia ^jaw Tuavca 'Ep^apyto. Es kann keinem ernst-
lichen Zweifel unterliegen, dass Hermarchos die Bücher, durch
seine eigenen Schriften und Erwerbungen vermehrt, in gleicher
Weise seinem Nachfolger und diese den ihrigen hinterlassen
haben. In der epikureischen Schule dürfen wir demgemäss den
Bestand einer wahrhaften Schulbibliothek mit Fug voraussetzen,
zwar nicht als Eigenthum der Schule selbst — wenigstens
nicht in alter Zeit — wohl aber als Eigenthum der in ununter-
brochener Folge von den jedesmaligen Vorgängern ernannten
Schulhäupter. Dazu stimmt es, dass wir innerhalb dieser
Schule Veranstaltungen kennen, welche die sichere Bewahrung
literarischen Materials , desgleichen eine sammelnde und ord-
nende Thätigkeit kennen, die anderen Schulen abging. Ich
denke hierbei an die nach Jahrgängen geordnete Briefsammlung
der vornehmsten Schulmitglieder (vgl. ,Ein Brief Epikur's an
ein Kind' Hermes V, 386), auch an die Vermerke in hercu-
lanischen Exemplaren von Epikur's Hauptwerk, welche die
Abfassungszeit der einzelnen Bücher von yiuepc <p6<jsü><;c bekunden.
Ausnahmsweise begegnet eine Vererbung der Lehranstalt auch
innerhalb der peripatetischen Schule, nämlich, wie schon be-
merkt, bei Straton, und wieder ist mit ihr die Vererbung der
Bücher verbunden, jedoch mit einem bedeutsamen Vorbehalt.
In seinem Testamente nämlich lesen wir (bei Laert. Diog. V 62):
Y.axa.'kd'Kby §£ tyjv pt.lv ScaTpißvjV Auxtovc . . . y.atGihd'Kii) S'auTG) y,a! toc
ßißXi'a Tuavua, tuXyjv wv aöxot ^e^pd^a^ev — . Auf diesen Vor-
behalt werden wir alsbald zurückkommen.
3. Die Wahl des Nachfolgers aus Zehnmännern, die der
Vorgänger designirt, scheint innerhalb der peripatetischen Schule
der, wie wir soeben sahen, nicht ausnahmslose, aber doch weit-
aus überwiegende Besteilungsmodus gewesen zu sein. Wenig-
stens erscheint er zweimal, im Testament des Theophrast und
in jenem des Lykon, während, vom Schulstifter abgesehen,
dessen Verfügungsrecht überall der Natur der Sache gemäss
ein unumschränktes war, nur eine Ausnahme, eben bei Straton,
begegnet. In beiden Fällen fehlt die Vererbung an den —
eventuellen — Schulnachfolger. Theophrast vermacht seine
Bücher, wie schon oben bemerkt ward, einem Privatfreunde (toc
ö VII. Abhandlung: Gomperz.
hh ßtßXfa TiccvTa Nvfiäi Laert. Diog. V 52), Lykon hinterlässt seine
bereits publicierten Schriften seinem Freigelassenen Chares, die
noch unveröffentlichten einem jener Zehnmänner, dem ihm augen-
scheinlich hierfür als am meisten geeignet geltenden Kallinos,
,zum Behuf sorgfältiger Herausgabe' (Laert. Diog. V 73: ia&
XapYjxa a<pfy|ju £A£ÖÖ£pov . . . xal Suo y^äq auxw Sicwfj.c y,al Tapia ßtßAi'a
xa av£Yvwqj.£va ' toc §' avs^Soxa KaAAiva) 8tuo)<; £7UfJL£AÖ? auia £X§io).
Also hier eine Scheidung innerhalb der eigenen Werke , wie
wir bei Straton eine solche zwischen eigenen und fremden
fanden.
4. Die Wahl des Schulhauptes durch die Jungen Leute'
war innerhalb der platonischen Schule die Regel, und zwar
fand diese Wahl mittelst geheimer Abstimmung statt; sie er-
folgte bisweilen mit knapper Mehrheit; nicht immer gab die
wissenschaftliche oder persönliche Bedeutung den Ausschlag,
auch Höflichkeitsrücksichten gegen ein bejahrtes Schulmitglied
haben gelegentlich mitgespielt. Ueber all das sind wir nunmehr
durch die reichen Details, welche der herculanensische Papyrus
1021 anlässlich der Erwählung des Xenokrates und des Arke-
silaos enthält, eingehend unterrichtet. In keinem dieser Fälle
findet eine Vererbung der Bücher an den Schulnachfolger statt.
Und wir dürfen sofort hinzufügen : sie konnte nicht stattfinden.
Das Ergebnis der Wahl liess sich ganz und gar nicht voraus-
sehen; es war durch zufällige Umstände, wie die zeitweilige
Abwesenheit eines angesehenen Schulmitgliedes, bedingt; der
Wahlkampf war ein heftiger; der schliessliche Sieger liess an-
dere Mitbewerber nur um wenige Stimmen hinter sich; die
geheime Abstimmung endlich liess das Wahlergebnis noch we-
niger vorhersehen, als es sonst möglich gewesen wäre. Man
erwäge die nachfolgende gar bedeutsame Schilderung der Wahl,
aus welcher Xenokrates als Sieger hervorging: oi he vsavuntot
d/Y5©o©op7]<javT£c öq-zic, auxwv ifjppfaeTat, EevoKpaT/jv sTXovto tov KaX-
/vpoviov, 'Apt<7TOT£Aouc [X£v gctto 8 £§ Yj [/. y) x 6 x o <; £i? May.s8ov(av, Äfeve-
oyj[j.ou §£ tou Iluppafou xal ,Hpay.Xe(Sou tou 'HpaxA^oTOu ^ap' iXfyjtc
<brty ouq r^xr/Ö^vitov. 6 \xh ouv 'MpayXeßriq dw^pev de, tov IIovtov. 5
c£ Mevior^xoq £T£pov rcepte&O *ai 8taTpißv)v fcOTeoxsufltearo (Col. 7.
Vgl. ,Die Akademie und ihr vermeintlicher Philomacedonismus',
Wiener Studien 1882). Nicht minder die Erwähnung des Vor-
gangs, der sich vor der Erwählung des Arkesilaos abspielte:
Platonische Aufsätze. II. 9
Ziov.zy-izzj i'A'/Locr^y.'r.oz xjto), cv oix tb icpeffßÖTöCTOV ovxa Tupo-
Thut es noth, aus diesen Darlegungen die Summe zu
ziehen? Die Vererbung der Bücher an den Schulnach-
folger geht mit der Vererbung der Schulvorstehung
Hand in Hand. Aristoteles hat Theophrast zu seinem Nach-
folger bestellt. Was Wunder, dass er ihm auch seinen ganzen Be-
sitz an Büchern, an eigenen wie an fremden, hinterliess. Nicht
anders steht es um Epikur und Hermarch und wohl auch um
Piaton und Speusipp. Wenn gelegentlich einmal ein anderer als
ein Schulstifter das Lehramt vererbt, da begleitet den ausnahms-
weisen Vorgang auch die ausnahmsweise Büchervererbung, dann
aber nicht ohne Vorbehalt, weil eben die Gewohnheit, die selbst-
verfassten Werke theils um ihres pecuniären Werthes willen,
theils im Hinblick auf die besonderen Eigenschaften, welche
ihre Herausgabe erforderte, bestimmten Privatpersonen zu ver-
machen, bereits die herrschende geworden war. Und da ergibt
sich denn auch naturgemäss die Trennung der publicierten
von den Nachlassschriften, indem es bei den ersteren mehr
auf ein dem Erben zugedachtes Benefiz abgesehen war, bei den
letzteren eine verantwortungsvolle kritische Aufgabe in Frage
kam. Völlig beispiellos und, wie nunmehr jedermann begreift,
geradezu unmöglich war eine letztwillige Verfügung, welche
jenes Benefiz und diese Aufgabe demjenigen zuwies, der in
einem bestrittenen und von mannigfachen Zufälligkeiten be-
dingten Wahlkampf als Sieger aus der Urne hervorgehen
würde. Diesem Unbekannten sein in jeder Rücksicht werth-
vollstes und wichtigstes Besitzthum von vornherein zuzusprechen
— das lag jedem Schulhaupt des Alterthums ebenso ferne, wie
es jedem Denker und Schriftsteller zu allen Zeiten ferngelegen
ist. Und darum hat es in den Schulen, die nicht wie die
epikureische eine gleichsam monarchische Verfassung besassen,
keine Schulbibliotheken gegeben, am allerwenigsten solche,
welche die Original-Handschriften der Werke der Schulhäupter
enthielten.
Möge niemand einwenden, dass die Vererbung des be-
deutungsvollsten Besitzes zwar nicht füglich an den unbe-
kannten künftigen Schulvorstand, wohl aber an die Schule
selbst erfolgen konnte. Das würde voraussetzen , dass die
Sitzungsber. d. phil.-hist. Cl. CXLI. Bd. 7. Abh. 2
10 VII. Abhandlung : Gomperz.
Philosophenschule ein Rechtssubject, eine juristische Person ge-
wesen ist, dass sie Corporationsrechte besessen hat. Das trifft
für eine späte Zeit zu, in welcher (etwa erst unter der
Herrschaft des römischen Rechtes?) die Philosophenschulen, sei
es in der Rechtsform der societas, sei es in jener der univer-
sitas, Vermögen besassen, Schenkungen empfangen und Erb-
schaften antreten konnten. In der Epoche, die uns hier be-
schäftigt, war das erweislichermassen nicht der Fall. Das
lehren die Philosophen-Testamente mit sonnenklarer Deutlich-
keit und unwiderleglicher Sicherheit. Diesen Schluss haben aus
ihnen auch die wenigen Juristen gezogen, die sich bisher mit
dem Gegenstand beschäftigt haben. Vgl. C. Gr. Bruns, Kleinere
Schriften (Weimar 1882) II, S. 218, 220, 225, 236.1 Desgleichen
Dareste im Recueil des inscriptions juridiques grecques, 2. Serie,
1. Fascikel (Paris 1898): cependant, un College de philosophes
ne pouvait etre assimile legalement a une corporation reli-
gieuse, quoique groupe autour d'un temple ou d'un musee, und
dazu Anmerkung 3: l'organisation du culte et des fetes etait
bien analogue a celle des communautes religieuses, mais la
personnalite juridique faisait defaut. Wenn schon im
Alterthum Harpokration s. v. 'Op-fsöWcc; unter Verweisung auf
Theophrast's Testament das Gegentheil behauptet, so wird ihm
p. 115 vollkommen richtig erwidert: mais il n'y a pas un mot
de cela dans le testament de Theophraste, dont le texte prouve
precisement que le Lycee n'etait pas personne civile.
Die äusserste Annäherung, aber doch nur eine Annäherung an
den Begriff eines Zweckvermögens findet sich in den (von uns
zum Theil angeführten) Bestimmungen des Testamentes Epi-
kur's, welche das Eigenthum an Haus und Garten nicht mehr
blos moralischen, sondern rechtlichen, auf die Nutzniessung be-
züglichen Beschränkungen unterwerfen. Darum heisst jenes
Eigenthum a. a. O. mit Recht: une propriete qui se trouve
ainsi grevee d'un droit d'usage fideicommissaire.
1 Minder klar und consequent erscheinen Bruns1 Aeusserungen über die
Vererbung der Bücher S. 217, 226 und 231. Diesen Punkt scheint jener
Gelehrte nicht in ausreichendem Masse erwog-en zu baben.
Platonische Aufsätze. II. 1 1
Hier mag dieser kleine Aufsatz ?chliessen, dem vielleicht
ein andermal eine Erörterung des Testamentes Platon's nach-
folgen soll. Würde ich diese hier unmittelbar anschliessend so
möchte der falsche Schein entstehen, als ob die beiden Fragen
mit einander in einem engeren Zusammenhang stehen, als es
in Wirklichkeit der Fall ist; und die Unsicherheit, die einer
Hypothese über die ursprüngliche Textgestalt jenes Schrift-
stückes anhaftet, könnte leicht ihren Schatten auf Ergebnisse
werfen, die mir von solcher Ungewissheit frei zu sein scheinen.
Ausgegeben am 25. Juli 1899.
Gitlbauer, Michael: Die drei Systeme der griechischen Tachy-
graphie. Mit 4 Tafeln. 4°. 1894. 1 fl. 80 kr. = 3 M. 60 Pf.
Gomperz, Theodor: Neue Bemerkungen über den ältesten Entwurf
einer griechischen Kurzschrift. 8°. 1895. 25 kr. = 50 Pf.
— Beiträge zur Kritik und Erklärung griechischer Schrift-
steller. V. 8°. 1895. 25 kr. = 50 Pf.
VI. 8°. 1898. 40 kr. = 80 Pf.
— Zu Aristoteles' Poetik. II. 8°. 1896. 35 kr. = 70 Pf.
III. 8°. 1896. 55 kr. = 1 M. 10 Pf.
Marx, Friedrich : Ein Stück unabhängiger Poesie des Plautus.
8°. 1899. 40 kr. = 80 Pf.
Müller, Johann : Kritische Studien zu den Naturales Quaestiones
Senecas. 8°. 1894. 40 kr. = 80 Pf.
— Kritische Studien zu den Briefen Senecas. 8°. 1897.
45 kr. = 90 Pf.
Reiter, Dr. Siegfried: Drei- und vierzeitige Längen bei Euripides.
8°. 1893. 80 kr. = 1 M. 60 Pf.
Usener, H. : Der Stoff des griechischen Epos. 8°. 1&97.
75 kr. = 1 M. 50 Pf.
Wessely, Dr. C. : Neue griechische Zauberpapyri. 4°. 1893.
2 fl. 50 kr. = 5 M.
— Ein System altgriechischer Tachygraphie. 4°. 1895.
1 fl. 75 kf. = 3 M. 50 Pf.
Zu den beigefügten Preisen durch Carl Gerold's Sohn. Buchhand-
lung der kais. Akademie der Wissenschaften (Wien, I., Barbar:
zu beziehen.
DEMCO
PAMPHLET BINDER
Tan Pressb~ard
UNIVERSITY OF ILLINOIS-URBANA
II
3 0112 028108717