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Full text of "Platons Gastmahl"

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PL ATON 
GASTMAHL 


Fünfte  Auflage 


Die  deutsche  Philosophie  der 
Gegenwart  in  Selbstdarstellungen 

Herausgegeben  von 

Dr.  Raymund  Schmidt 

Band  I  enthält:  Paul  Barth,  Erich  Becher,  Hans  Driesch,  Karl 
Joel,  Alexius  Meinong,  Paul  Natorp,  Johannes  Rehmke 
Johannes  Volkelt 

Band  II  enthält:  Erich  Adickes,  Clemens  Baeumker,  Jonas  Cohn,. 
Hans  Cornelius,  Karl  Groos,  Alois  Hof  1er,  Ernst  Troeltsch, 
Hans  Vaihingen 

Tadelloses  weißes,  holzfreies  Papier!  Jedem  Beitrag 
ist  ein  Bildnis  des  Verfassers  beigegeben.  Vornehmer 
Geschenkband  (graues  Künstlerleinen,  auf  leuchten- 
des Blau  gestimmtes  Überzugpapier  mit  rotem  Schild) 

Preis  des  Bandes  geb.  M.  100. — ,  in  Halbpergament  M.  125.— 

Blne  kurze  Auslese  aus  vielen  bisher  vorliegenden  ÄuBerung^en: 

Zu  der  schönen  Ausstattung  des  Buches  kann  man  Ihnen  wie  zu  dem  ganzen  Plan 
aufrichtig  gratulieren,  und  die  Lektüre  mehrerer  wertvoller  Beiträge  überzeugte  mich 
wieder  von  der  dringenden  Wünschbarkeit,  ja  beinahe  inneren  Not- 
wendigkeit des  ganzen  Unternehmens.  Karl  Joel. 

Sie  haben  da  ein  sehr  schönes  und  lehrreiches  Werk  geschaffen,  wie  es  noch 
keines  gibt.  Und  alles  ist  so  wohl  geraten,  die  Ausstattung  sowohl  wie  die  Auf- 
sätze selbst.  Hans  Driesch. 

Ich  beglückwünsche  Sie  lebhaft  zu  der  Veröffentlichung.  Inhalt  und  äußere  Er- 
scheinung sind  gleich  wertvoll.  —  Meinongs  Sell^gtdarstellung  ist  nun,  da  er  soeben 
dahinschied,  doppelt  und  zehnfach  wertvoll  geworden.  Und  als  sein  ältester 
Freund  darf  ich  wohl  aussprechen,  daß  der  Oedanke  der  Selbstdarstellungen  den  sonst 
nur  ungern  von  sich  selber  sprechenden  Meinong  wohltuend  berührt  und  ihn  zu  einer 
ganz  besonders  kraft-  und  wertvollen  Zusammenfassung,  gleichsam  zum  Ernten 
seiner  Lebensarbeit  angeeifert  hat.  Alois  Höfler. 

•Der  neue  Gedanke,  der  nun,  wo  er  verwirklicht  vorliegt,  so  selbstverständlich 
wirkt,  ist  der,  die  Philosophie  der  Gegenwart  durch  eine  Sammlung  von  Selbst- 
Charakteristiken  ihrer  verschiedenen  Vertreter  darzustellen.  —  Einmal  ist  das  Werk 
für  alle  Philosophie- Beflissenen  unter  der  Studentenschaft  sowie  in  den  gebildeten 
Kreisen  ein  unübertreffliches  Orientierungsmaterial,  indem  es  Ton,  Schreibart, 
Persönlichkeit  und  Grundgedanken  der  verschiedenen  Philosophen  vor  Augen  führt. 
Zum  zweiten  wirkt  es  schöpferisch  auf  dem  Gebiet  der  Philosophie  selbst.  So  sind 
die  wundervollen  Beiträge  von  Driesch  und  Natorp  Zusammenfassungen  von  letzten 
philosophischen  Intentionen,  die  weit  über  den  Wert  der  Historie  hinaus  ihre 
selbständige  Bedeutung  behalten.« 

Günther  Murr  im  »Hamburgischen  Korrespondent." 

»Ist  es  nicht  ein  glänzender  Gedanke,  solche  Galerie  von  Selbstbildnissen  zä 
sammeln?  Den  hat  der  treffliche  Leipziger  Gelehrte  Raymund  Schmidt  gefaßt;  die 
Systeme  werden  von  schön  ausgeführten  Porträten  der  Verfasser  erfreulich  illustriert : 
nun  sieht  man  sie  leiblich  wie  geistig  vor  sich." 

Julius  Schultz  im  „Hamburger  Fremdenblatt*. 


VERLAG  VON   FELIX  MEINER 


AViV-gB-BEN-YBIUPA 
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ii 

7ar 


PHILOSOPHEN- BIOGRAPHIEN 

DAMASKIOS 
Das  Leben  des  Philosophen  Isidoros 

Wiederhergestellt,  übersetzt  und  erklärt  von  R.  Asmus. 
XVI,  126,  58  und  30  S.   M.  50.-,  geb.  M.  75.— 

Wer  eine  so  wichtige  Quellenschrift  aws  der  Zeit  des  untergehenden  Hellenismus, 
wie  sie  des  Damaskios  Leben  des  Philosophen  Isidoros  darstellt,  dem  allgemeinen 
■Gebrauche  zugänglich  macht,  hat  damit  sicher  vielen  zu  Danke  gearbeitet.  Der  Philo- 
loge, der  Historiker,  der  Archäologe  werden  das  Werk  mit  gleichem  Interesse  in  die 
Hand  nehmen;  vorab  werden  der  Philosophie  Beflissene  mit  Spannung  und  Aufmerk- 
samkeit die  letzten  Spuren  des  Silbergeäders  verfolgen,  mit  dem  sich  der  einst  so 
mächtige  Grundstock  der  platonischen  Intuition  in  andersgeartete  Lagerungen  verliert. 

Wochenschrift  für  klassische  Philologrie. 

DIOGENES  LAERTIUS 
Leben  und  Meinungen  berühmter  Philosophen 

Übersetzt  und  erläutert  von  Otto  Apelt 
1921.    2  Bände.     Preis  jedes  Bandes  M.  56.—,  in 
Halbleinen  M.  75. — ,  in  Halbpergament  M.  90.— 

FICHTE'S  Leben 

Von  Fritz  Medicus.    Mit  Porträt.    IV,  176  S. 
in  Halbleinen  M.  50.— 

Ein  Muster  unbefangener  und  freier  Würdigung,  die  bei  aller  Verehrung  für  den 
großen  Menschen  und  Denker  sich  das  Recht  des  eigenen  Urteils  nicht  nehmen  läßt. 
Das  Buch  ist  eine  tiefdringende  und  eigenartige  Arbeit  von  erheblichem  wissenschaft- 
lichen Wert,  mit  der  Medicus  sein  eigenes  Buch  über  Fichte  vom  Jahre  1905  noch 
übertroffen  hat.  Die  Biographie  wird  auch  dem,  der  die  Literatur  gut  zu  kennen 
glaubt,  manches  Neue  sagen.  Sie  ist  bei  aller  Knappheit  das  vollständigste  und  zu- 
verlässigste Bild  von  Fichtes  Leben,  das  wir  besitzen,  und  sie  findet  in  ihrer  herben 
Schlichtheit  die  glücklichste  Form,  in  der  dieser  nicht  immer  liebenswürdige,  aber 
stets  imposante  Cnarakter  darzustellen  ist.  Sie  gehört  zu  den  wertvollsten  Stücken 
der  gesamten  Fichteliteratur.  Logos. 

NIETZSCHE 
Sein  Leben  und  sein  Werk 

Von  Raoul  Richter. 

3.  Aufl.     1917.    VIII,  356  S.    M.  50.—,  Geschenkband  M.  80.— 

Ich  habe  selten  ein  Buch  (und  niemals  eins  über  Nietzsche)  mit  soviel  Freude 
und  Genuß  gelesen,  wie  diese  musterhaft  klare,  nirgends  überschwengliche,  doch 
überall  von  wohltuender,  liebevollster  Wärme  gleichsam  durchleuchtete  Arbeit,  deren 
letzter  Abschnitt  mit  seiner  sachlich  historischen  Bearbeitung  der  Lehre  Nietzsches 
voi  bildlich  beweist,  wie  bewundernde  Verehrung  für  einen  Großen  und  unbestechliche 
kritische  Besonnenheit  zu  vereinigen  sind.  Das  Literarisclie  Echo. 

VERLAG  VON  FELIX  MEINER  IN  LEIPZIG 


SCHELLING 

als  Persönlichkeit.    Briefe,  Reden,  Aufsätze 

Herausgeg.  von  O.  Braun.    Mit  Abb.  der  Jugendbüste  Schellings. 

282  S.     In  Ganzleinen  M.  50.— 

Der  Herausgeber  hat  mit  vorbildlichem  Geschick  und  großem  Qlück  ausgewählt. 
Fast  jedes  aufgenommene  Zeugnis  bietet  einen  neuen,  besonderen  Wesenszug  der 
PersönlichkeU  Schellings,  und  auch  die  weniger  sympathischen  Züge,  z.  B.  sein  über- 
starkes Selbstbewußtsein  in  der  Jugend  und  seine  Heftigkeit,   sind  nicht  unterdrückt. 

Beiträge  zur  Philosophie  des  deutschen  Idealismus. 


SPINOZA 
Lebensbeschreibungen  und  Gespräche 

Herausgegeben  von  Carl  Gebhardt. 

XI,  147  S.    Mit  Bild.    M.  25.—;  geb.  M.  40.—, 
in  Halbpergament  M.  60. — 

Ein  höchst  dankenswertes  Buch,  das  volle  Anerkennung  verdient.  Spinoza  gehört 
zu  den  Philosophen,  deren  Lehre  der  Ergänzung  durch  das  Bild  des  Menschen  bedarf. 
Deshalb  verdienen  die  Lebensbeschreibungen  Spinozas  als  ein  Widerschein  des  großen 
Menschen  ein  starkes  Interesse.  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht- 


LOTZE,   FECHNER,   HELMHOLTZ,  WUNDT 
in  „Die  Begründer  der  modernen  Psychologie" 

Von  Stanley  Hall. 
XXVIII,  392  S.    M.  60.-,  geb.  M.  90.- 

Ganz  anders,  als  es  bei  uns  bisher  geschehen  ist,  faßt  Stanley  Hall  die  Geschichte 
der  modernen  Psychologie  an.  Er  wählt  sich  eine  Reihe  von  Männern  aus,  die  er 
als  die  Führer  auf  den  Wegen  der  modernen  Psychologie  ansieht,  und  beschreibt  in 
erzählendem  Ton  ihr  Leben  und  ihre  Lehre.  Darstellung  verknüpft  sich  mit  behag- 
licher Kritik,  und  allmählich  entsteht  so  ein  reiches  Bild  der  Art  wie  sich  zur  großen 
Freude  Stanley  Halls  die  Psychologie  allmählich  von  der  Philosophie  vollständig  los- 
gelöst hat.  Seinem  positivistischen  Geist  ist  es  ein  ästhetisches  Vergnügen,  diese 
Loslösung  zu  beobachten,  und  mit  heller  Freude  berichtet  er  davon. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie. 


WUNDT 
Der  Begründer  der  modernen  Psychologie 

Von  Stanley  Hall. 

(S.-Abdr.  aus  dem  vorigen.)    Mit  Bildnisradierung. 

XVII,  158  S.    Geb.  M.  30.— 

In  diieser  Schilderung  der  wissenschaftlichen  Persönlichkeit  des  Nestors  der  deutschen 
Philosophie  erhalten  wir  endlich  die  Gesamtdarstellung  von  Wundts  Werk,  die  un» 
bisher  fehlte.  Besonders  hervorzuheben  ist  die  anschauliche  Schreibweise  des  Ameri- 
kaners, die  die  Lektüre  für  jedermann  zum  Genuß  macht.  Den  vielen  in  Deutschland 
und  in  der  ganzen  Welt  verteilten  unmittelbaren  Schülern  Wundt8  wird  das  Buch  als 
Führer  durch  das  Lebenswerk  ihres  Lehrers  unentbehrlich  sein.  Schulwart. 


T>reise  uom  Tlfirit  t922.  —  Preise  freibfeldcnd. 
Tilrs  hochualutlge  Austand  gelten  besondere  feste  Preise  In  fremder  (Vährung. 


VERLAG  VON  FELIX  MEINER  IN  LEIPZIG 


PLATONS 
GASTMAHL 


ÜBERTRAGEN  UND  EINGELEITET 

VON 

KURT  HILDEBRANDT 


FÜNFTE  AUFLAGE 
(DRITTE  AUFLAGE  DIESER  ÜBERTRAGUNG) 

DER  PHILOSOPHISCHEN  BIBLIOTHEK 
BAND  81 

LEIPZIG  1920  /  VERLAG  VON  FELIX  MEINER 


^ 


I  VELUT^i  ^,^V0 


I  ARBOR  I 


Presented  to  the 

LIBRARY  ofthe 

UNIVERSITY  OF  TORONTO 

by 

MIRIAM  SCHNEID-OFSEYER 

DR.  JACOB  SCHNEID 

ADAM  SCHNEID 


Druck  von  Carl  Marquart  in  Leipzig.     A201. 


Inhaltsübersicht. 


Soite 

Einleitung 1 

Der  Mythos 1 

I                Der  Eros 21 

Plato  und  Sokrates 35 

Übersetzung 43 

Anmerkungen 109 

Literaturübersicht.    Von  Otto  Apelt 127 

Register 130 


i 


EINLEITUNO 

Mitwelt  und  Nachwelt,  die  gern  an  Gestalten  wunder- 
gläubiger, dämmernder  Zeiten  ihren  Glauben  heften, 
haben  bisher  noch  nie  einem  Sohne  des  aufgeklärten^ 
bewußten  Alters  die  mythische  Krone  der  Göttlichkeit 
in  Jahrtausende  währendem  Einklang  zuerkannt  außer 
dem  Dichter  des  Gastmahl  und  Timäus,  dem  einzigen 
Plato.  Doch  wer  nach  Gründen  dieser  Verehrung 
fragt,  dem  schweigen  die  Bücher  der  Wissenschaft.  Ihren 
Zwecken  gemäß  müssen  sie  aus  Piatons  Werk  ein  begriff- 
liches System  spinnen,  aber  das  Göttliche  versagt  sich 
dem  unfrommen  Andrang.  Nicht  in  Begriffen  und  Mei- 
nungen, nein,  in  Plato  selbst,  wie  er  im  Werk  atmet  und 
glüht  und  leibhaft  sich  gestaltet,  kann  allein  das  Gött- 
liche geschaut  werden. 

Plato  hat  nie  eine  wissenschaftliche  Abhandlung  gegeben, 
immer  hob  er  sein  Gedachtes  mit  den  im  Lebendigen  ver- 
zweigten Wurzeln  sorgsam  aus.  Aber  man  kann  doch 
sagen,  in  einer  Gruppe  seiner  Dialoge  liegt  das  Gewicht  in 
der  philosophischen  Untersuchung  selbst;  in  der  zweiten 
Gruppe  liegt  das  Gewicht  in  der  Gesetzgebung  für  die 
Menschheit  (Staat,  Gesetze) ;  in  der  dritten  Gruppe  gibt  er 
Mythen.  (Die  Bedeutung  dieses  Wortes  wird  sich  mit  der 
Einleitung  von  selbst  entwickeln;  weder  das  Religiöse 
noch  das  Erfundene  sind  hier  als  wesentliche  Bestandteile 
angesehen).  Die  erste  Gruppe  ist  am  meisten  in  seiner 
Zeit  stecken  geblieben,  notwendigerweise,  denn  in  dieser 
Zeit  kämpften  noch  die  eben  werdenden  Begriffe  mit 
der  überlieferten  Sprache.  Die  Mythen  sind  ganz  aus  der 
zeitlichen  Verhaftung  freigeworden,  sie  sind  als  in  sich 
ruhende  Gebilde  in  die  Ewigkeit  übergegangen. 
Das  Gastmahl  ist  für  Eine  Form  der  Mythen  >die  reinste 
Erfüllung :  in  ihm  ist  die  momentane  Wirklichkeit  in  die 
Sphäre  einer  ewigen  Wirklichkeit  emporgehoben.  Jedes 

PUto,  Gastmahl  1 


2  Der  Mythos 

Wort  schwingt  in  jener  zauberischen  Luft,  jede  Gebärde 
steht  in  jenem  Licht,  die  das  nackte  Leben  ins  höchste 
Symbol  verwandeln.  Dieser  Mythos  ist  plastischer  und 
heller  als  jedes  begriffliche  Denken,  und  so  kann  jede 
weitere  Erklärung  als  die,  daß  man  nur  sehn  und  fühlen, 
inamer  nur  sinnlich  anschauen,  aber  nie  abstrahieren 
soll,  als  überflüssig,  ja  unbescheiden  gelten.  Und  doch 
ist  jene  sinnliche  Betrachtungsweise  heute  so  wenig  ge- 
übt, daß  ich  den  folgenden  Versuch  der  Erklärung  für 
erlaubt  halte. 

Daß  Plato  das  Gastmahl  als  Mythos  aufgefaßt  haben 
wollte,  ist  im  Vorspiel  lebhaft  genug  gesagt.  Das  erste 
Kapitel  erzählt  nur  von  der  Gesellschaft,  in  der  dieser 
Mythos  umgeht.  Jemand  hat  etwas  vom  Gastmahl  reden 
hören,  nun  will  er  Genaues  von  Apollodor  wissen.  Die- 
ser ist  in  der  gleichen  Weise  neulich  von  Glaukon  an- 
gegangen, der  hätte  auch  schon  davon  reden  hören, 
durch  Phönix.  Nun  kann  Apollodor  gut  berichten,  weil 
er  es  erst  kürzlich  erzählt  hat;  aber  selbst  teilgenommen, 
hat  er  nicht  am  Gastmahl,  er  verdankt  die  Kunde  davon 
dem  Aristodem;  der  war  dabei. 

Das  Gastmahl  liegt  lange  zurück,  im  Jahre  416.  Jetzt, 
8  Jahre  danach  spürt  man  die  weiten  Kreise,  die  jenes 
Ereignis  immer  größer  um  sich  zieht,  wie  ein  in  den 
Teich  geworfener  Stein.  Wir  hören  von  Aristodem,  dem 
treuen  Begleiter  und  Jünger,  und  wir  sehen  Apollodor, 
der  ähnlich  wie  jener  damals,  jetzt  seit  drei  Jahren  dem 
Sokrates  anhängt.  Wir  sehen  diesen  unbedingten  Jünger 
in  seiner  Berührung  mit  den  äußersten  Kreisen,  jenen 
Hörern,  die  nichts  von  der  Sache  selbst  wissen  und  die 
noch  nur  von  einer  gewissen  Neugierde  bewegt  werden. 
Früher  war  Apollodor  gerade  wie  diese  Freunde,  dann 
hat  der  Sokratische  Geist  der  haltlosen  Persönlichkeit 
erst  den  festen  Kern  gegeben.  Nun  ist  ihm  alles  schal 
und  lächerlich,  was  jene  treiben.  Er  greift  sie  derb,  aber 


Der  Mytho«  3 

ohne  Fanatismus  an,  und  ihr  Gegenspott  prallt  an  der 
Heiterkeit,  an  der  Sicherheit  des  unbedingten  Jüngers 
ab.  Mit  diesem  scherzhaften  Gefecht  wird  dem  folgenden 
Mythos  der  Boden  bereitet,  denn  wirklich  ist  diese  Heiter- 
keit ein  leiser  Vorklang  des  Apollinischen  Geistes,  in 
dem  nun  die  Welt  sich  spiegeln  soll. 
Dies  Mittel,  die  Erzählung  von  der  Begebenheit  weit  zu 
trennen,  ist  bis  in  unsre  Zeit  vielfach  angewandt,  um  die 
Begebenheit  in  eine  romantische  dämmerige  Ferne  zu 
rücken,  die  harte  Wirklichkeit  zu  besänftigen.  Plato  be- 
wirkte aber  mit  dem  scheinbar  gleichen  Mittel  das  Gegen- 
teil. Denn  die  spätere  Erzählung  ist  so  lebendig,  daß  wir 
immittelbar  teilnehmen ;  das  Vorspiel  rückt  die  Begeben- 
heit nicht  in  die  Vergangenheit,  sondern  beweist  ihre 
fortdauernde  Gegenwart.  Apollodor  hat  sich  nicht  bei  dem 
Berichte  beruhigt,  sondern  er  hat  sich  jetzt  von  Sokrates 
selbst  die  Einzelheiten  bestätigen  lassen;  er  ist  ja  jetzt 
täglich  mit  ihm  zusammen.  So  ist  Sokrates  nicht  nur 
Mittelpunkt  jenes  Festes  vor  8  Jahren,  sondern  wir  spüren 
im  Vorspiel  selbst  seine  unmittelbare  Nähe.  Alles  läuft 
darauf  hinaus,  die  Begebenheit  so  wirklich,  die  Gestalt 
des  Sokrates  so  leibhaft  als  möglich  zu  geben. 
Die  eigentliche  Erzählung  führt  uns  in  einen  ganz  andern 
Kreis  empor.  Wir  sahen  eben  den  Kreis  der  Wirkung 
nach  außen,  die  Gesinnung,  die  in  der  Verwirklichung 
des  Sokratischen  Willens  ihre  Aufgabe  sieht.  Das  Gast- 
mahl spielt  aber  im  Kreis  der  früheren  Freunde  des  So- 
krates, die  er  wohl  überragt  aber  nicht  ausfüllt;  denen 
er  nicht  nur  gibt,  sondern  von  denen  er  auch  nimmt. 
Agathon  hat  das  große  Spiel  gewonnen,  er  hat  mit  seiner 
Tragödie  gesiegt.  Gestern  hat  er  hiit  seinem  Chore  eine 
große  allgemeine  Feier  gegeben,  heute  gibt  er  dem  Kreis 
der  erlesenen  Freunde  ein  Gastmahl.  Die  Festfreude  ist 
angeregt  und  im  Wachsen,  aber  dem  gröberen  Sinn  ist 
gestern  Genüge  geschehn,  heute  begegnen  sich  die  Ge- 


4  Der  Mythos 

ladenen  im  Triebe  nach  einer  höheren  Feier.  Man  hebt 
den  Zwang  der  Trinkregeln  auf,  schickt  auch  die  Flöten- 
spielerin nach  Hause.  Daß  der  Abend  sich  so  reich  und 
schön  entfaltet,  ist  nur  durch  ein  glückliches  Ineinander- 
greifen der  entgegengesetzten  Charaktere  möglich.  Es 
wäre  nie  möglich  gewesen  ohne  einen  so  geschickten 
Mittler  wie  Eryximachos,  den  Arzt.  Er  ist  mäßig,  vorsich- 
tig, vom  Rausch  will  er  nichts  wissen  und  seine  Lehren 
haben  einen  Hauch  von  Pedanterie.  Aber  er  will  auch 
nie  mehr  scheinen  als  er  ist,  er  ordnet  sich  ganz  der 
Sache  unter  imd  schweigt  bescheiden,  wenn  ein  Höherer 
redet.  Er  hat  vom  Arzt  das  Hilfsbereite,  Vermittelnde, 
aber  nicht  den  behäbigen  Skeptizismus.  Durch  seine  Ver- 
mittlung wird  auch  die  Anregung  gegeben,  reihum  über 
den  Eros  eine  Rede  zu  halten,  und  ohne  sein  Einspringen 
im  rechten  Augenblick  würde  nachher  der  wilde  Alki- 
biades  das  Fest  gesprengt  haben. 
Phädros  beginnt  mit  der  Lobpreisung.  —  Die  modernen 
Kritiker  sind  fast  einig,  daß  seine  Rede  kläglich  und  un- 
bedeutend sei.  Sollte  wirklich  ein  leerer  Schwätzer  der 
Erste  sein,  dessen  Rede  ein  Kreis  von  solchen  Männern 
über  sich  ergehen  lassen  muß  ?  Solche  Fragen  sind  wich- 
tig, denn  solange  man  sich  nicht  in  die  Stimmung  ein- 
gefühlt hat,  die  zwischen  den  Gästen  schwebt,  kann  man 
den  Ton,  die  feinere  Bedeutung  der  Worte  nicht  auf- 
fassen. Es  ist  gut,  daß  wir  Phädros  aus  einem  andern 
Gespräch  mit  Sokrates  kennen.  Dort  ist  er  der  leicht 
entflammte  Junge,  in  Torheit  und  Vertrauen  durch  einen 
berühmten  Redner  ganz  in  die  Irre  geführt  und  von  So- 
krates mit  der  lustigsten  Ironie  wieder  auf  den  rechten 
Weg  geführt.  Aber  Sokrates  läßt  ihn  zum  einzigen  Zeugen 
seiner  göttlichen  Erweckung  werden  und  er  sagt  ihm  die 
großen  Worte :  „Wir  haben  in  einem  mythischen  Hym- 
nos  gehuldigt,  schicklich  und  ehrfürchtig,  dem  Eros, 
meinem  Herrn  und  deinem!"  —  Phädros  wird  ein  Typus 


Der  Mythos  5 

der  jungen  Schüler  des  Sokrates  sein,  nicht  ausgebildet, 
aber  bildsam.  Es  wäre  unangenehm,  ihn  mit  großem  An 
Spruch  und  tiefer  Gelehrsamkeit  reden  zu  hören.  Seine 
Haltung  ist  ganz  die  einer  wohlgezogenen  Jugend.  Er  ist 
zu  bescheiden,  den  Vorschlag  zur  Rede  über  den  Eros 
selbst  zu  machen,  das  überläßt  er  dem  älteren  Freunde. 
Den  späteren  Reden  folgt  er  mit  dem  größten  Feuer; 
denn  als  sich  nachher  störend  ein  Zwiegespräch  des 
Sokrates  und  Agathon  abzweigt,  unterbricht  er  es  kühn 
genug,  aber  in  schicklichster  Form,  und  erinnert  an  den 
Beschluß  der  Runde. 

I.REDE.  Phädros  schlägt  den  großen  feierlichen  Akkord 
an :  Chaos,  —  Gäa,  —  Eros.  Hesiod  und  Parmenides  wer- 
den berufen.  Für  die  Griechen  mag  die  Rede  sehr  ein- 
fach und  natürlich  gewesen  sein,  da  sie  ganz  in  der  all- 
gemeinen Erziehung  der  freien  Knaben  wurzelt.  Aber 
eben  aus  diesem  Grunde,  als  Dokument  dieser  Vorstel- 
lungen und  damit  als  Grundlage  alles  folgenden  ist  die 
Rede  für  uns  eine  notwendige  Belehrung.  Phädros  redet 
nicht  vom  Sentiment  der  Liebe,  sondern  vom  Aktiven, 
Männlichen,  Starkeji.  Eros  ist  ihm  der  Gott,  der  den  Hel- 
den Mut  einbläst.  Ein  großer  Gegensatz  des  Hellenischen 
gegen  uns  hätte  jedem  Denkenden  auffallen  sollen.  Unsre 
Vorstellung  von  der  echten  Liebe  ist  doch  die,  daß  sie 
ein  gegenseitiges  Verhältnis  anstrebt.  Die  einseitige  Liebe 
nennt  man  schlechthin  eine  unglückliche.  Der  Liebende 
verlangt  Gegenliebe  von  der  gleichen  Art,  er  fühlt  sich  ge- 
schädigt und  beleidigt,  wenn  ihm  nicht  in  vollem  Maße 
zurückgezahlt  wird.  Wenn  das  auch  nicht  immer  wirk- 
lich gilt,  so  tut  man  doch  allgemein,  als  ob  es  so  wäre 
und  sein  müsse,  und  man  würde  das  Brautpaar  tadeln, 
das  diese  Fiktion  nicht  aufrecht  erhielte.  Diese  Vor- 
stellung scheint  dem  Griechen  zu  fehlen.  Eros  ist  nicht 
gegenseitiges  Verhältnis,  sondern  einseitige  Leidenschaft. 
Die  Töne  des  seelischen  Verstehen,  des  Schenken  und 


ß  Der  Mythos 

Nehmen,  der  Erlösung  schlägt  der  junge  Grieche  nicht 
an.  Eros  verlangt  als  Antwort  nicht  wieder  Eros,  son- 
dern das  weniger  leidenschaftliche  Gefühl  der  Agape. 
(Vgl.  Anm.)  —  Nun  kommt  in  dieser  Rede  etwas  Sonder- 
bares heraus.  Nur  im  Liebenden  ist  das  Göttliche,  Eros ; 
er  ist  darum  mehr  als  der  Geliebte.  Daß  der  Liebend© 
sich  opfert,  ist  rühmlich  aber  natürlich;  wenn  aber  der 
Geliebte  für  den  Liebenden  sich  opfert,  so  ist  das  die 
herrlichste  Tat,  von  den  Göttern  am  höchsten  belohnt. 
Es  wird  also  ein  Göttliches,  das  in  allen  Wesen  wirkt 
und  ein  höchstes  seltenes  ethisches  Gut,  .das  aber  nicht 
göttlich  ist,  unterschieden.  Hier  ist  eine  Schwierigkeit, 
die  erst  spät  in  der  höheren  Betrachtungsweise  Diotimens 
ihre  Auflösung  findet. 

Der  Eros  des  Phädros  ist  also  sehr  männlich,  mehr  auf 
Tun  und  Wirken,  als  auf  genießende  Stimmung  gerichtet. 
Man  könnte  annehmen,  Eros  sei  die  Liebe  des  Mannes, 
Agape  die  der  Frau;  das  wäre  aber  ebenso  falsch  wie 
einfach.  Der  Grieche  denkt  sehr  sinnlich,  aber  er  klebt 
deswegen  doch  nicht  an  der  stofflichen  Gegebenheit. 
Wenn  er  nach  der  höchsten  Form  des  Menschen  blickt, 
so  verwirrt  ihm  die  Frage  ob  Mann  ob  Weib  nicht  den 
Sinn,  er  sieht  ein  Urbild  vor  sich,  an  dem  der  Mann 
überwiegend,  die  Frau  doch  aber  auch  teil  hat.  Wie 
anders  beim  Römer,  solange  er  noch  nicht  hellenisiert 
ist.  Auch  der  Römer  hat  heroische  Frauen,  aber  sie 
sind  es  gerade  in  ihrer  harten,  strengen  Geschlechtsehre. 
Bei  den  Griechen  haben  dagegen  hervorragende  Frauen 
etwas  Männliches,  und  die  edelsten  Männer  etwas  Weib- 
liches. Diese  wichtige  Vorstellung  wird  sich  später  noch 
entfalten,  bei  Phädros  ist  sie  durch  mythische  Beispiele 
einfach  und  sinnlich  angedeutet.  Denn  eine  so  männliche 
Art  Liebe  sein  Eros  auch  ist,  so  kann  er  doch  in  einer 
Frau  wirken,  und  er  kann  auch  im  Manne  zu  etwas 
Schwachem,  Weibischem  abarten.  Phädros  bringt  drei 


Der  Mythos  7 

Beispiele.  1.  Alkestis,  der  heroische  Eros  der  Frau.  Hier 
ist  der  Mann  nur  der  Geliebte.  2.  Orpheus,  der  Eros  des 
Mannes,  aber  zu  weichlich,  ohne  Todesmut,  und  darum 
von  den  Göttern  bestraft.  3.  Der  Eros  des  Patroklos  zu 
Achilleus,  das  Urbild  des  heroischen  Eros. 
Wie  eine  Knospe  enthält  diese  Rede  die  Gedanken  der 
folgenden  in  sich,  nicht  in  Begriffen  ausgewickelt,  son- 
dern in  Bildern  angedeutet.  Der  wohlgeratene  Jüngling 
ist  in  sich  reiner,  runder  als  die  werdenden  Männer. 
Zur  Weiterentwicklung  ist  keine  andre  Möglichkeit,  als 
daß  nun  die  einzelnen  Teile  gesondert  vorgenommen  und 
untersucht  werden. 

II.  REDE.  Pausanias  nimmt  mit  Entschiedenheit  diese 
analytische  Untersuchung  auf.  Er  schränkt  die  Frage 
ganz  auf  die  Knabenliebe  ein,  dann  scheidet  er  eine 
edle  und  eine  imedle  Liebe.  Die  Knabenliebe,  „die  grie- 
chische Liebe"  liegt  dem  modernen  Empfinden  so  fem, 
daß  wir  diese  heikle  Frage,  ohne  die  ein  Verständnis  des 
Gastmahls  nun  einmal  unmöglich  ist,  gesondert  betrach- 
ten wollen.  Vorläufig  wollen  wir  sie  ganz  ausschalten 
und  die  Grundsätze  des  Pausanias  auf  das  Verhältnis 
von  Marm  und  Weib  übertragen.  Dann  wird  offenbar, 
daß  Pausanias  sehr  hohe  ethische  Forderungen  stellt. 
Er  sagt,  es  sei  scheinbar  widersprechend:  Die  Männer 
ermutige  man  zu  werben,  man  lache  über  sie,  wenn  sie 
keinen  Erfolg  haben  und  beurteile  sehr  milde,  was  sie 
aus  Leidenschaft  fehlen ;  dagegen  verlange  man  von  dem 
umworbenen  Teil  größte  Sprödigkeit,  und  tadle,  wenn  er 
dem  andern  entgegelnkommt.  Pausanias  nennt  das  sehr 
gut  einen  Wettstreit,  einen  Agon  in  der  Liebe :  der  eine 
soll  seine  Tauglichkeit  durch  hartnäckiges  Verfolgen,  der 
andre  durch  standhaftes  Versagen  beweisen.  Diese  Span- 
nung zwischen  den  Geschlechtern  wird  ja  auch  bei  uns 
vielfach  gefördert  in  einer  durchaus  gesunden  Ethik, 
wenn  auch  vielleicht  dem  offiziellen  Kirchentum  nicht 


g  Der  Mythos 

entsprechend.  Weiter  verlangt  Pausanias  eine  strenge 
Ehe.  Man  soll  nicht  Unentwickelte  lieben,  sondern  erst 
die  geistig  Gereiften,  denn  vorher  kann  man  nicht  sehen, 
ob  man  zusammenpaßt.  Ja  es  ist  unedel,  den  Körper 
mehr  zu  lieben  als  die  Seele,  denn  die  Blüte  des  Körpers 
vergeht,  und  darum  kann  die  auf  sie  begründete  Liebe 
nicht  beständig  sein.  Man  sieht,  diese  Forderungen  sind 
auch  nach  modernen  Begriffen  streng  moralisch.  Viel- 
leicht allzu  moralisch  ?  Darauf  werden  Aristophanes  und 
Sokrates  antworten. 

III.  REDE.  Pausanias  ist  bestimmt  und  erschöpfend,  weil 
er  sich  auf  den  engsten  realen  Begriff  beschränkt.  Der 
gelehrte  Eryximachos  findet  den  richtigen  Ausweg,  um 
dem  Gespräch  neue  Gedanken,  neue  Möglichkeiten  zu 
öffnen:  Er  erweitert  durch  philosophische  Begriffe  das 
Gebiet  des  Eros  ins  Unendliche.  An  die  ethische  Unter- 
scheidung des  Pausanias  knüpft  der  Arzt  dankbar  an, 
aber  er  begreift  unter  dem  Eros  die  durchs  Weltall  wir- 
kende Kraft,  welche  nicht  nur  die  lebendigen  Wesen 
einander  paart,  sondern  auch  innerhalb  des  Leibes  die 
Verbindungen  der  Säfte  und  Triebe  bestimmt.  Und  der 
edle  Eros  mischt  sie  zur  Gesundheit,  der  unedle  zur 
Krankheit.  Dieselbe  Kraft,  die  den  Menschen  ordnet, 
regelt  auch  Jahreszeiten,  Wetter  und  Ernte:  Den  Men- 
schen und  das  Weltall  leitet  die  gleiche  Kraft.  (Ein  Ver- 
gleich mit  dem  Willen  Schopenhauers  liegt  sehr  nahe.) 
Die  Gedanken  sind  so  weit  ausgedehnt,  daß  sie  nicht  zu 
voller  Klarheit  reifen,  aber  man  spürt  die  Nähe  der  Vor- 
stellung von  Mikrokosmos  und  Makrokosmos.  Eryxima- 
chos gibt  die  Anregung  zu  einer  großartigen  Behandlung 
der  Frage,  die  er  doch  selbst  nicht  durchführen  kann, 
denn  wenn  er  auch  Eros  ins  Unendliche  ausdehnt,  so 
sieht  doch  auch  er  selbst  mit  Phädros  verglichen  teilhaft, 
einseitig.  Er  denkt,  aber  er  fühlt  nicht  sehr  stark,  und 
darum  bleibt  sein  Denken  dünn,  abstrakt.  Er  sagt  von 


Der  Mythos  9 

den  abgeleiteten  Wirkungen  des  Eros,  aber  nichts  von 
seinem  Wesen  aus. 

IV.  REDE.  Diese  drei  Reden  sind  Vorbereitung,  die  fol 
genden  drei  sind  das  große  Spiel.  Aristophanes  beginnt. 
Er  spricht  von  der  großen  Leidenschaft.  Aristophanes 
lockert  den  Boden  für  seine  Erzählung,  indem  er  Eryxi- 
machos  angreift,  nicht  mit  Gründen,  sondern  —  sozu- 
sagen —  mimisch.  Vorhin  hat  Eryximachos  ihm  ange- 
raten, gewaltsames  Niesen  zu  erregen,  um  sein  Schluk- 
ken zu  vertreiben;  Aristophanes  hat  es  getan  (hat  also 
schon  die  philosophische  Rede  des  andern  mit  Gurgeln 
und  Niesen  begleitet)  und  nun  spottet  er,  daß  der  edle 
imd  sittsame  Eros  der  Gesundheit  ein  so  großes  Getöse 
und  Gegurgel  erheische.  Dieser  Spott  trifft  die  Schwäche 
des  Eryximachos,  der  ein  wenig  pedantisch  die  ärztliche 
Betrachtungsweise  auf  den  Kosmos  ausgedehnt  hat. 
Alles  was  Aristophanes  sagen  will,  drückt  er  sinnlich 
und  heiter  aus,  aber  er  selbst  mahnt  mehrmals,  den 
glühenden  Kern  seiner  Rede  nicht  zu  verkennen,  und  er 
fühlt  das  Recht,  eine  anspruchsvolle  Einleitung  zu  geben. 
Das  erregende  Moment  der  Gespräche:  den  Gedanken 
des  Phädros,  daß  die  Dichter  dem  Eros  keinen  würdigen 
Hymnos  gesungen  haben,  nimmt  er  auf,  aber  er  erhöht 
ihn.  Nicht  Besingung,  nein  Kult  und  Tempel,  eine  Reli- 
gion des  Eros  fordert  er.  Aristophanes  will  seine  Lehre 
vom  Eros  verkünden,  die  andern  sollen  sie  weiterver- 
breiten. Aristophanes  sagt  —  zwar  nicht  so  deutlich, 
denn  daran  hindert  ihn  die  Urbanität  des  Atheners  — 
aber  er  sagt  es  doch  deutlich  genug:  Habt  denn  ihr, 
Eryximachos  und  Pausanias,  nie  die  Leidenschaft,  die 
Dynamis  des  Eros  in  euch  erlebt?!  Dann  erzählt  er  mit 
der  heitersten  Sinnlichkeit  den  Mythos  von  dem  Urge- 
schlecht  der  Menschen,  von  denen  wir  nur  die  Hälften 
sind.  So  sinnlich  er  spricht,  so  spricht  er  doch  nur  von 
der  echten  und  ganzen  Leidenschaft,  nicht  von  der  Be- 


10  De^  Mythos 

friedigung  der  unteren  Triebe,  dem  naturalistischen  Ge- 
nuß. Und  über  das  dunkle  Seelische  der  Liebe  wird- 
nichts  Tieferes  gesagt  werden  als  dies :  „Denn  es  kann 
doch  wohl  nicht  die  Gemeinschaft  des  Liebesgenusses 
sein,  deretwegen  der  eine  dem  andern  sich  so  froh  und 
mit  so  großem  Eifer  vereint;  sondern  etwas  Anderes  will 
offenbar  die  Seele  der  beiden,  was  sie  nicht  sagen  kann, 
aber  in  Zeichen  verkündet  sie  ihr  Wollen,  und  in  Rät- 
seln." Das  klingt  aus  einer  andern  Welt  doch  zusammen 
mit  Hölderlin :  „.  .  .  und  Winke  sind  von  alters  her  die 
Sprache  der  Götter." 

Doch  läßt  Aristophanes  das  große  Versprechen  unerfüllt. 
Er  weist  auf  die  Zeichen,  aber  er  deutet  sie  nicht  klar, 
nicht  hoch  genug.  Er  fordert  den  Tempel,  aber  er  baut 
ihn  nicht;  er  verheißt  die  Religion,  aber  er  verkündet 
sie  nicht.  Dies  hohe  Versprechen  zu  erfüllen,  kann  auch 
nicht  der  Beruf  des  jungen  Dichters  Agathen  sein. 
Agathen  und  Sokrates  sind  übrig,  und  die  Erwartung 
des  Wettstreites  zwischen  dem  jetzt  gefeierten  Dichter 
und  dem  berühmten  Philosophen  steigert  die  Spannung, 
wie  Eryximachos  und  Phädros  merken  lassen.  Sokrates 
und  Agathen  sind  untereinander  noch  wenig  bekannt, 
da  ist  es  nicht  zu  verwundem,  daß  Agathen  dem  großen 
Manne  gefallen  möchte,  und  Sokrates  den  hervorragend 
schönen  und  wohlbegabten  Jüngling  für  sein  Werk,  für 
seine  Person  gewinnen  möchte.  Agathen,  noch  im  Sieges- 
rausche, hascht  mit  zierlicher  Gefallsucht  eine  Erwäh- 
nung des  Sokrates  auf  und  unter  dem  Schein  der  Be- 
scheidenheit sucht  er  ein  größeres  Lob  hervorzulocken. 
Wie  schlecht  kennt  er  Sokrates!  Der  hat  ja  vor  nicht 
langer  Zeit,  als  von  Lysis  gesprochen  wurde,  ausein- 
andergesetzt, wie  töricht  es  sei,  den  Geliebten  eitel  zu 
machen.  Im  Gegenteil,  seine  Mängel  soll  man  ihm  deut- 
lich machen,  ihm  zeigen,  wo  er  des  älteren  Führers  be- 
darf. Allerdings  ist  Agathon  kein  Schulknabe  und  So- 


Der  MytliüJi  11 

krates  ist  ein  urbaner  Geist,  darum  antwortet  er  mit  der 
Maske  der  Schmeichelei  und  Bescheidenheit,  aber  der 
kaum  verhüllte  Sinn  ist  doch  der,  daß  Agathons  Worte 
nicht  durchdacht  und  seine  Bescheidenheit  nicht  ernst 
sei.  Der  dialektische  Trieb  des  Sokrates  scheint  zu  sie- 
gen, das  Zwiegespräch  ist  im  Gange.  Was  kümmert  So- 
krates, ob  die  andern  statt  des  Lobes  auf  Eros  einer 
Untersuchung  zuhören  müssen  und  so  um  die  Feier  des 
Abends  betrogen  werden,  wenn  er  nur  den  schönen  Jüng- 
ling gewinnt!  Da  springt  der  junge  Phädros  rettend  ein: 
Agathon  dürfe  nicht  weiter  antworten,  sonst  sei  es  vor- 
bei mit  den  Reden  auf  Eros. 

V.  REDE.  In  der  Tat  können  die  beiden  letzten  in  Ver- 
legenheit sein,  wenn  sie  Neues  und  Höheres  sagen  wol- 
len. Doch  hat  Aristophanes  als  einer  geredet,  der  die 
Leidenschaft  zwar  erlebt  hat,  nun  aber  kühl  betrach- 
tend darüber  steht.  So  ziemt  es  dem  Lustspieldichter, 
von  dem  Aristophanes  die  kühle  Betrachtungsweise,  die 
große  Heiterkeit,  ja  bisweilen  selbst  ein  Kömchen  Skep- 
tizismus in  seiner  Rede  beibehalten  hat.  Anders  steht 
es  dem  Tragöden  Agathon  an  vom  Gemüt  aus  zu  wirken, 
selber  erschüttert  zu  sein,  um  andre  zu  erschüttern.  Er 
sagt  nicht  so  Kluges  über  die  Liebe,  aber  er  redet  die 
Sprache  der  Liebe,  er  singt  einen  Hymnos.  Dieser  Hym- 
nos  steht  nicht  fremd  und  unvermittelt  im  Ganzen,  viel- 
mehr lenkt  Agathon  mehr  als  Aristophanes  in  die  logi- 
sche Weiterentwicklung  des  Gespräches  ein,  ja,  er  hebt 
auch  in  diesem  Betracht  die  Gespräche  auf  eine  neue 
Stufe.  Er  sieht  richtig  das  Wesentliche,  worin  alle  frühe- 
ren Gespräche  übereinstimmen :  Sie  priesen  die  Wirkung 
der  Liebe,  aber  nicht  Wesen,  Gestalt,  Gottheit  der  Liebe. 
Dann  beschreibt  er  dichterisch  verklärend  Gestalt  und 
Leben  des  Eros  und  besingt  dithyrambisch  begeistert 
seine  beseligende  Gewalt. 
Keiner  kann  sich  der  Süße  dieser  Rede  verschließen,  sie 


12  Der  Mythos 

jubeln  ihm  zu  und  spenden  das  stolze  Lob,  der  Jüngling 
habe  seiner  selbst  und  des  Gottes  würdig  gesprochen. 
Nur  Sokrates  hat  seine  Bedenken. 
Nicht  umsonst  fällt  das  Ende  der  Rede  genau  in  die  Mitte 
des  Werkes.  Wirklich  ist  hier  —  die  Berührung  des  Aga- 
thon  und  Sokrates  —  die  Achse  des  Ganzen.  (Nicht  daß 
hier  der  Schwerpunkt  der  Lehre  liegt,  aber  das  Verständ- 
nis der  Stimmung,  des  lebendigen  Hin  und  Her  im  Gast- 
mahl hängt  an  diesem  Punkt.) 

Die  meisten  Erklärer  hören  aus  Agathons  Rede  nur  ein 
„Wortgeklinger*.  Manche  geben  ja  zu,  daß  die  Rede 
schön  sei,  aber  ein  rechter  Wissenschaftler  sieht  heute 
in  der  Schönheit  ein  verdächtiges  Symptom.  Man  hat 
nicht  nötig  schön  zu  sein,  wenn  man  nicht  oberflächlich 
ist.  Ich  muß  zugeben,  daß  Zeller,  ja  auch  Schleiermacher 
Agathon  unterschätzen,  aber  ich  kann  auch  nicht  ver- 
schweigen, wie  sehr  dadurch  das  Ganze  vergröbert  und 
seiner  attischen  Anmut  beraubt  wird.  Die  Verfehlung 
kommt  daher,  daß  die  Erklärer  —  bei  ihrer  spezielleren 
Aufgabe  mit  vollem  Recht  —  die  begrifflich  klar  ge- 
setzten Gedanken  herausspüren  und  allein  bewerten. 
Aber  der  Piatonismus  wächst  nicht  logisch,  sondern 
lebendig,  und  so  sind  auch  in  Agathons  Rede  wichtige 
Andeutungen,  die  aber  nur  in  größerem  Zusammenhange 
entwickelt  werden  müßten.  Nun  darf  man  gewiß  ein  Ge- 
wächs einmal  bloß  auf  seine  geöffneten  Blüten  hin  be- 
trachten, aber  man  darf  nicht  sagen,  die  Knospen  seien 
ästhetische  Zutaten  oder  Spielereien.  Das  gilt  für  allen 
Piatonismus,  ganz  besonders  aber  für  das  Gastmahl; 
das  Gastmahl  will  nicht  begrifflich  analysiert,  es  will 
gefeiert  sein,  und  einem  strengen  Asketen  möchte  der 
Zugang  schwerfallen. 

Man  muß  sich  also  die  Zeit  nehmen,  Agathon  m  seinem 
Verhältnis  zu  Sokrates  forschend  auf  seinen  Wert  wie 
einen  Menschen  zu  betrachten,  von  dem  man  nicht  einen 


Der  Mythos  13 

neuen  Gedanken  für  sein  Fach  hören  will,  sondern  mit 
dem  man  in  menschliche  Beziehung  treten  möchte.  Die 
erste  ganz  flüchtige  Bekanntschaft  hat  Sokrates  schon 
beim  Besuch  des  Protagoras  gemacht,  und  er  erzählte 
so  von  seinem  Eindruck:  „Auf  den  nächsten  Polstern 
um  ihn  (Prodikos)  saßen  Pausanias,  und  neben  ihm  ein 
noch  kaum  halb  erwachsener  Jüngling  von  schöner  und 
edler  Natur,  wie  ich  glaube,  von  Gestalt  aber  gewiß  sehr 
schön;  mich  dünkt  gehört  zu  haben,  daß  man  ihn  Aga- 
thon  nannte,  und  es  sollte  mich  nicht  wundern,  wenn 
er  der  Liebling  des  Pausanias  wäre."  Und  man  glaubt 
wirklich,  daß  Sokrates  jetzt  diesen  Jüngling  mit  zer- 
störender Ironie  verkleinert?  Sokrates  mag  50  Jahre 
sein,  wohl  fast  auf  der  Höhe  seines  Ruhmes.  Alle  erwar- 
ten Hohes  von  ihm,  niemand  zweifelt,  daß  er  größer  ist 
als  Agathon,  dieser  selbst  am  wenigsten.  Es  wäre  ein 
unnötiger  Aufwand,  es  wäre  plump  und  ganz  unattisch, 
wenn  Sokrates  den  Agathon  lächerlich  machen  wollte. 
Man  bleibe  doch  im  Bilde  des  Ganzen:  Zur  Ideee  des 
Abends  wurde  gemacht,  Eros  die  seiner  würdigen  Hym- 
nen zu  singen,  die  ihm  bis  jetzt  die  Dichter  vorenthalten 
haben.  Agathon  ist  der  Hymnos  gelungen,  schön  für  alle 
Zeiten.  Sokrates  nennt  ihn  schön,  Aristophanes  ist  mit 
den  andern  begeistert.  Moderne  Kritiker  mögen  ja  klüger 
sein,  ich  neide  es  ihnen  nicht  und  möchte  mich  lieber  an 
die  attische  Tafelrunde  halten.  Der  schien  jedenfalls  die 
Aufgabe  des  Abends  gelöst,  das  Fest  konnte  schließen. 
VI.  REDE.  Sokrates  kann  also  wirklich  um  die  Fort- 
setzung in  Verlegenheit  sein.  Natürlich  ist  es  ihm  leicht, 
von  dem  Gesagten  etwas  zu  widerlegen  und  auch  etwas 
Neues  dazu  zu  sagen.  Aber  heute  will  man  ja  nicht  eine 
seiner  gewohnten  philosophischen  Untersuchungen  von 
ihm  haben,  sondern  eine  Lobpreisung,  er  soll  die  frohe 
Feier  noch  steigern.  Vorhin  hat  man  ihn  ja  schon  unter 
brochen,  als  er  mit  seiner  Methode  anfing.  So  ist  es  wohl 


14  I^CT  Mythos 

aufrichtig  gemeint,  wenn  er  zuerst  gar  nicht  reden  will ; 
dann  aber  lenkt  er  ein  und  bittet,  auf  seine  Weise  reden 
zu  dürfen.  Denn  seine  Begierde,  die  Wahrheit  zu  sagen, 
ist  groß. 

Ein  Sokrates  kann  nicht  einfach  anfügen  und  ergänzen. 
Er  muß  zuerst  alles  einreißen,  dann  kann  er  viel  von 
dem  ihm  Gebotenen  als  Stoff  benutzen  und  zusammen- 
fügen und  so  von  Grund  aus  einen  neuen  Bau  aufführen. 
Er  darf  es,  weil  er  es  kann,  weil  er  größer  ist  als  die 
andern. 

Nicht  wenigen,  die  Agathons  Hymnos  lesen,  wird  die 
Erinnerung  an  den  Paulinischen  im  Korintherbrief  auf- 
tauchen. Freilich  ist  die  Paulinische  Liebe  der  Gegen- 
satz der  attischen.  Die  attische  ist  ohne  Selbstsucht 
nicht  denkbar,  sie  ist  männlicher  Wille,  Zeugungstrieb, 
glühend  und  kalt.  Die  Liebe,  die  Paulus  besingt,  ist 
selbstlos,  hingebend,  warm.  Paulus  kennt  nur  Agape, 
nicht  Eros.  Auch  Agathon  bleibt  Heide,  Hellene,  aber 
sein  Gegensatz  zum  Christentum  ist  nicht  so  hart,  wie 
der  seiner  Gäste.  Er  vermischt  nämlich  Agape  und  Eros. 
Er  verwechselt  nicht  eigentlich,  wie  Sokrates  es  etwas 
zu  hart  ausdrückt.  Liebendes  und  Geliebtes,  sondern  er 
vermischt  es;  es  ist  weniger  ein  logischer  Fehler,  als 
eine  andre  Fühlweise.  Der  Dichter  denkt  sich  in  die 
Stimmung  der  beiden  Liebenden  hinein,  des  gegensei- 
tigen Schenkens.  Der  gemeinsame  Rausch,  ein  mysti- 
sches Einswerden,  hat  vielleicht  nicht  im  Bereich  der 
hellenischen  Natur  gelegen,  jedenfalls  gibt  auch  Agathon, 
der  sich  dem  nähert,  nur  eine  Abart  davon.  Er  gibt  eine 
recht  seelische,  stimmungsvolle  Liebe,  die  dem  „poeti- 
schen" Bilde  der  Liebe  in  den  Jahrzehnten  vor  und  nach 
1800  nahe  kommt:  Agathon  ist  Romantiker.  Es  ist  ganz 
übertrieben,  ihn  weibisch  zu  nennen,  auch  er  sieht  das 
Tätige,  Herrschende  und  Weise  des  Eros.  Aber  gegen- 
über den  so  sehr  männlichen  Hellenen  ist  er  allerdings 


Der  Mythos  16 

etwas  weichlich  und  es  ist  weiter  dem  Romantiker  ganz 
angemessen,  daß  seine  Rhethorik  vorwiegend  musika- 
lisch ist.  (Musikalisch  im  Sinne  des  Verflüssigenden, 
Stimmungmachenden).  So  mag  das  eine  Beispiel  des 
Phädros  vielleicht  schon  einen  gewissen  Gegensatz  aus- 
drücken: Orpheus  wurde  gestraft,  weil  er  sich  weich- 
lich benahm,  war  er  doch  ein  Lautenspieler. 
Diese  romantisch-musikalische  Stimmung  muß  Sokrates 
zerstören,  wenn  er  überhaupt  zu  Worte  kommen  will. 
Daher  enthält  sein  Zwischengespräch  mit  Agathon  etwas 
Ironie  (wenn  auch  nichts  grob  ironisch  ist,  und  nicht 
alles  ironisch  ist,  was  beim  ersten  Blick  so  scheinen 
kann).  Diese  schwärmerische  Stimmung,  die  das  Wirk- 
liche nicht  wirklich  sieht,  alles  Gestaltete  flüssig  macht, 
muß  Sokrates  vernichten,  dazu  braucht  er  seine  Ironie, 
nicht  um  seine  Überlegenheit  über  Agathon  zu  be- 
weisen. Man  kann  hier  schon  ein  Bild  anwenden,  das 
Alkibiades  nachher  auf  Sokrates  anwendet.  Auch  Aga- 
thon ist  ein  Schüler  des  Marsyas,  der  durch  sein  Spiel 
bezaubert  und  erschüttert.  Sokrates  hat  dieselbe  und 
größere  Wirkung,  aber  nicht  durch  Musik,  sondern  durch 
das  klare,  nackte  Wort.  Daß  es  nicht  die  schöne  Aus- 
drucksweise an  sich,  der  gepflegte  Gleichklang  und 
Wohlklang  ist,  den  Sokrates  mißbilligt,  sondern  nur  das 
Übertönen  desselben,  beweist  die  gehobene  Sprache 
des  Schlusses  seiner  eignen  Rede,  die  an  die  Agatho- 
nische  Redekunst  erinnert.  Den  Ursprung  dieser  Rede- 
kunst erkennt  er  in  Gorgias,  und  es  ist  wieder  zu  be- 
denken, daß  er  in  Gorgias  (und  Protagoras)  keine  ver- 
ächtlichen Gegner  sieht;  und  das  Stärkste,  was  er  gegen 
sie  einzuwenden  hätte,  möchte  wohl  im  Grunde  sein, 
daß  sie  ihm  gerade  die  besten  Jünglinge,  die  er  selbst 
braucht  und  liebt,  wegnehmen.  Er  hat  auch  hier  das 
Recht,  so  zu  denken,  denn  er  erkennt  sich  in  Wahrheit 
als  den  Größeren. 


16  Der  Mythos 

Dem  gleichen  Zwecke,  der  Zerstörung  der  musikalischen 
Stimmung,  aber  zugleich  auch  der  Grundlage  des  neuen 
Baues  dient  die  trockene  Gründlichkeit,  ja  wohl  absicht- 
lich betonte  Pedanterie,  mit  der  Sokrates  auf  die  Klärung 
der  Begriffe  hinarbeitet.  Man  darf  sich  hier  nicht  täu- 
schen lassen :  Daß  Agathons  Beschreibung  nicht  so  wider- 
sinnig ist,  wie  es  hier  herauskommt,  kann  aus  dem  oben 
Gesagten  abgeleitet  werden;  daß  aber  Sokrates  nach  un- 
söm  Begriffen  nicht  sehr  logisch  verfährt,  kann  aus 
seiner  Rede  leicht  entnommen  werden.  Daraus  kann 
man  schließen,  daß  für  Sokrates  die  logische  Beweis- 
führung nicht  das  allerletzte  Ziel  ist.  Er  will  die  neue, 
größere  Idee  vom  Eros  bringen.  Man  kann  fast  sagen,  er 
prägt  mit  seiner  schwerfälligen  Logik  nur  so  recht 
sinnenfällig  ein,  wie  gründlich,  gewissenhaft  und  sta- 
tisch man  arbeiten  muß,  wenn  man  etwas  Neues  Gei- 
stiges aufbauen  will.  Ihm  ist  die  Logik  nur  ein  Mittel, 
und  ein  kleiner  Mangel  daran  ist  ihm  nicht  gar  so  wich- 
tig ;  Urgrund  und  Ziel  seines  Wesens  liegen  anderswo. 
Die  Gegensätze,  welche  die  mystischen  Romantiker 
gern  in  Eins  verfließen  lassen,  sondert  Sokrates  aufs 
Strengste :  Das  Liebende  und  das  Geliebte.  Es  zeigt  sich 
schnell,  wie  fruchtbar  Sokrates  diese  Definitionen  ver- 
wendet. Er  folgert  etwa  so:  Dem  Eros  selbst  muß  das 
fehlen,  was  er  liebt  (denn  Eros  bedeutet  ja  nicht  gern 
haben,  sondern  begehren,  streben).  Weiter  ist  Eros  die 
Liebe  zum  Schönen,  und  auch  zum  Guten,  denn  das 
Gute  gehört  ja  zum  Schönen.  Darum  ist  Eros  nicht  voll- 
kommen schön  und  gut,  und  darum  ist  er  kein  Gott. 
Von  hier  an  berichtet  Sokrates  die  Lehre  der  Diotima. 
Diotima  geht  wieder  von  trocknen  Begriffen  aus,  daß 
es  zwischen  Gut  und  Schlecht,  Schön  und  Häßlich, 
Weise  und  Töricht  ein  Mittleres  gäbe.  So  trivial  dies 
als  Gedanke  scheint,  so  bedeutend  ist  es  als  Betrach- 
tungsweise.  Sokrates  selbst  mochte  bisweilen  zu  sehr 


Der  Mythos  1  7 

vom  Begril'fe  ausgegangen  sein,  die  Welt  hart  in  zwei 
Teile  geschnitten  haben;  jetzt  lenkt  Diotima  den  Blick 
auf  das  Ganze,  Lebendige,  denn  alles  höhere  Leben 
kann  nur  in  Kampf  und  Bindung  von  Gegensätzen  ge- 
schehen. Diotima  steht  wie  Goethe  auf  der  Höhe,  von 
der  sie  mit  Liebe  die  Welt  der  Erscheinungen,  und  mit 
Bescheidenheit  die  Seltenheit  des  Vollkommenen  erkennt. 
Eros  ist  also  nicht  Gott,  nicht  Sterbling:  er  ist  ein 
Dämon. 

Es  ist  nicht  leicht,  diese  neue  Fassung  gleich  in  ihrer 
ganzen  Wirkung  zu  verstehen.  Auch  Götter  werden  oft 
Dämonen  genannt,  dann  nämlich,  wenn  man  vermeidet, 
einen  bestimmten  Namen,  eine  bestimmte  Gestalt  anzu- 
rufen. Das  Dämonische  ist  etwa  das  noch  nicht  rein  ge- 
staltete, aber  z\\t  Gestaltung  drängende  Göttliche.  Wir 
denken  wieder  an  Phädros'  Anfang,  aus  dem  Chaos  mußte 
als  Erster  Eros  entstehen,  demi  er  mußte  sein,  damit  die 
Götter  sich  gestalten  konnten.  Das  Dämonische  ist  die 
kosmische  Kraft,  die  die  beiden  Hälften  der  Welt  zusam- 
menschließt, Gott  und  Mensch  vereint ;  es  ist  das  Religiöse, 
nicht  im  Sinn  der  Kirche,  sondern  als  schöpferischer 
Urgrund  des  Lebendig-Geistigen.  Hier  steht  das  große 
Gesetz,  nach  dem  Diotima  die  Menschheit  scheidet :  Wer 
mit  dem  Göttlichen  in  Verkehr  steht,  der  ist  Dämonisch ; 
wer  nicht,  der  ist  ein  Banause,  wenn  er  auch  in  einer 
Einzelkunst  weise  ist.  Dies  Gesetz  gilt  noch  in  unsem 
Tagen,  und  auch  bei  der  Scheidung  von  echten  Plato- 
nikem  und  bloßen  Spezialisten  muß  nach  ihm  verfahren 
werden.  Es  scheint  unmöglich  bei  diesem  Begriff  des 
Dämons  ihn  uns  sichtbar  und  plastisch  zu  machen,  und 
doch  tut  es  Diotima,  dadurch,  daß  sie  nicht  sein  Aus- 
sehen beschreibt,  sondern  seinen  Mythos  erzählt.  Sie 
erzählt,  wie  bei  dem  Geburtstagsfeste  der  Aphrodite 
Armut  vom  Reichtum  den  Eros  empfing.  Nun  ist  frei- 
lich ein  andrer  Eros  da  als  jener  zarte,  schöne,  selige 

Piato,  Gastmahl  9 


18  Der  Mythos 

des  Agathon.  Nun  ist  er  harter  Natur,  ein  gewaltiger 
Jäger,  arm  und  reich,  bald  blühend,  bald  hinschwindend. 
Diotima  sieht  das  höchst  Geistige  höchst  sinnlich,  und 
ihrer  einfachen  Kunst  gelingt  das  Wunder:  Aus  der  Un- 
endlichkeit zurückgerufen  steht  Eros  wieder  da,  in  stets 
wechselnder  Gestalt  doch  immer  der  Eine. 
Warum  trägt  Sokrates  das  Zwiegespräch  im  Einzelnen 
vor,  wie  er  in  seinem  früheren  Irrtu^  eines  Besseren 
belehrt  wurde  ?  Warum  trägt  er  die  Lehre  nicht  einfach 
vor,  wie  er  sie  jetzt  glaubt?  Sokrates  ist  gütig  gegen 
Agathon,  er  deutet  ihm  an :  „Laß  dich  nicht  kränken  in 
deiner  Freude  an  dir  selbst,  in  deiner  Begeisterung,  die 
vielleicht  lieber  das  Schöne  als  das  Wirkliche  sieht.  In 
deinem  Alter  dachte  ich  wie  du,  heute  kann  ich  dir 
Größeres  geben."  Diotima  bezeugt  an  dieser  Stelle,  daß 
der  Irrtum  des  Sokrates  natürlich  war  —  und  das  gilt 
zugleich  von  Agathon. 

Auffallend,  fast  unbegreiflich  könnte  scheinen,  daß  eine 
Frau  gleichsam  in  Person  am  Gastmahl  beteiligt  wird,  ja 
daß  von  ihr  die  oberste  Verkündung  ausgeht.  Was  ist 
damit  geschehn?  —  Die  Reden  vorher  sind  ganz  aus 
einer  Welt  der  Männer  gesprochen,  also  aus  einer  doch 
teilhaften  Welt,  nun  wird  in  Diotima  erst  die  andre 
Hälfte  der  Menschheit  zugefügt,  die  Welt  wieder  rund 
und  vollkommen.  Mit  welcher  Einschränkung  diese 
Schätzung  des  Weiblichen  zu  verstehen  ist,  wird  später 
aufgenommen  werden.  Wunderbar  und  doch  wieder 
natürlich-eiufach  ist,  daß  gerade  die  Frau  von  einem 
sehr  männlichen,  sehr  strengen  Eros  spricht:  Denn  erst 
sie  darf  von  Zeugung  und  Frucht  reden. 
Eros  liebt  das  Schöne.  Diese  Erklärung  ist  nicht  weiter 
zu  zerlegen,  Diotima  geht  deswegen  vorwärts,  indem  sie 
dies  einem  allgemeineren  Begriffe  unterstellt.  Jeder 
Mensch  will  glücklich  werden ;  das,  durch  dessen  Besitz 
wir  glücklich  werden,  nennen  wir  das  Gut,  das  Gute 


Der  Mythoi  1  9 

(ohne  jede  moralische  Färbung  zu  verstehn).  In  diesem 
Sinne  können  wir  nichts  andres  als  das  Gute  lieben 
Wir  lieben  es,  das  heißt,  wir  begehren  es  zu  besitzen ; 
und  weiter  heißt  es,  wir  begehren  es  für  die  Ewigkeit 
zu  besitzen.  Aus  dem  Gedanken  der  Ewigkeit,  der  Un- 
sterblichkeit springt  nun  die  Erklärimg  des  eigentlichen 
Eros,  der  Liebe  zum  Schönen  hervor.  Denn  Unsterblich- 
keit besitzen  die  irdischen  Wesen  nur  in  der  Fortpflan- 
zung, und  zeugen  kann  die  Liebe  nur  im  Schönen.  Und 
nun  folgt  die  klassische  Beschreibung  des  Eros  in  seinen 
Werken,  die  nicht  genug  bewundert  werden  kann.  Er- 
klärt, versinnlicht  werden  kann  sie  nicht  weiter,  man 
könnte  sie  nur  Wort  für  Wort  wiederholen.  Das  Ewige, 
die  zeugerische  Leidenschaft  und  ihre  Frucht,  der  dun- 
kelste Trieb  und  die  hellste  Bewußtheit  des  Wollens, 
Brunst  der  Tiere,  geistige  Zeugung  der  Denker  und  Ruhm- 
sucht der  Helden,  zartes  Genießen  und  hartes  Sichopfern 
—  alles  ist  im  einfachsten,  rein  und  kalt  betrachtetem 
Bilde  gefaßt.  Nebenher  sind  die  Gedanken  einbezogen, 
die  heute  den  Stolz  der  Materialisten,  und  die  den  der 
Idealisten  machen. 

Diotima  erfüllt,  was  Aristophanes  noch  vermissen  ließ. 
Der  fühlte  glühend  die  Leiden  und  Rätsel,  aber  Diotima 
deutet  sie  höher.  Eros  ist  nicht  Sehnsucht  zur  alten 
Natur,  sondern  Unsterblichkeit,  Zeugung  des  Neuen, 
Höheren. 

Aber  sie  ist  nicht  am  Ende,  in  heiliger  Feierlichkeit 
enthüllt  sie  nun  das  Höchste,  soweit  es  erlaubt  ist.  Dio- 
tima ist  Priesterin;  jetzt  redet  nicht  mehr  die  wissende 
Frau,  jetzt  lehrt  die  Priesterin.  Phädros  forderte  den 
Hymnos,  den  hat  Agathon  gesungen;  Aristophanes  ver- 
hieß den  Kult,  Diotima  vollzieht  ihn.  Es  sind  die  Eleusini- 
schen  Mysterien,  denen  die  Priesterin  ihre  Unterweisung 
gleichsetzt. 
Die  Stufen  dieser  Weihen,  auf  die  sie  anspielt,  sind: 


20  I>er  Mythos 

Katharsis,  —  Myesis,  —  Epoptika.  So  mag  sie  mit  der 
Katharsis,  Reinigung,  die  anfängliche  Reinigung  der  Be- 
griffe meinen;  mit  der  Myesis,  Einweihung  ins  Geheim- 
nis, mag  sie  die  ETkennung  und  Deutung  des  Eros  im 
irdischen  Geschehen  meinen.  Die  Epoptika,  die  oberste 
Weihe  der  Schauenden,  in  der  die  Geweihten  nach  der 
Irrsal  in  Finsternis  plötzlich  das  Eleusinische  Licht  und 
die  heiligsten  Kuitbilder  erblicken  —  diese  Weihe  setzt 
sie  gleich  der  höchsten  Schau  auf  die  Ewige  Reine  Schön- 
heit, die  Idee  des  Schönen.  (Freilich  muß  man  sich,  um 
die  große  Würde  und  Kühnheit  dieser  Gleichsetzung  zu 
begreifen,  erinnern,  daß  die  Eleusinien  damals  die  großen 
Mysterien  Griechenlands  sind,  das  Sakrament,  durch  das 
jeder  des  Ewigen  Lebens  teilhaftig  wird,  die  offenbare 
Vorstufe  des  Katholizismus.  Man  mag,  um  die  lebendige 
Wirkung  der  Symbole  nachzufühlen,  bei  der  Katharsis 
an  die  Taufe,  bei  der  Myesis  an  Abendmahl  und  Vorfüh- 
rung der  Passion,  bei  den  Epoptika  an  die  Anbetung  der 
heiligsten  Reliquien  denken.  —  Daß  Diotima  das  Ewige 
Leben  als  natürliche  und  geistige  Fortpflanzung  deutet, 
ist  sehr  zu  beachten.)  Nicht  oft  genug  kann  Diotima  er- 
innern, daß  man  auf  Stufen  aufsteigen  muß,  von  der 
Liebe  zu  Einem  schönen  Leibe  zur  Liebe  der  leiblichen 
Schönheit  an  sich,  der  Schönheit  der  Seele,  der  Lebens- 
führung und  der  Erkenntnisse.  Nur  wer  ganz  gefüllt  ist 
vom  Irdischen,  vom  Sinnlichen  darf  sich  ohne  Gefahr 
hinausbegeben  aufs  grenzenlose  Meer  der  Schönheit;  er 
darf  teilnehmen  am  mystischen  Rausche,  ohne  sich  zu 
verlieren,  er  ist  selig  in  der  sonnenhaften  reinen  Schau 
der  Urformen,  des  schöpferischen  Grundes  und  in  der 
Umarmung  mit  dem  Ewig-Schönen  erzeugt  er  wieder  das 
Schöne  und  Gute.  Weiterer  Erklärung  bedarf  dieser 
Rausch  der  mystischen  Erhebung  nicht. 
VII.  REDE.  So  sehr  Sokrates  auf  das  Wirken  drängt, 
so  scheint  doch  hier  die  höchste  Erhebung  und  Selig- 


Der  Eros  21 

keit  im  Schauen,  nicht  im  Wirken  zu  liegen.  Soll  nuii 
das  Lob  des  Eros,  die  mystische  Weihe  in  weltflüch- 
liger  Entrückung  verklingen?  So  will  es  die  hellenische 
Lebenskraft  nicht.  Gewaltsam  bricht  das  frohe  und  ge- 
nießende Leben  herein :  Alkibiades.  Wie  vorhin  die  Aga- 
thonische  „Stimmung"  von  Sokrates  aufgehoben  wurde, 
so  geschieht  es  jetzt  auch  mit  der  Sokratischen  durch  die 
laute  und  bunte  Lust  des  Alkibiades.  Alkibiades  im  dich- 
ten Veilchenkranz  und  Bändern,  an  die  Flötenspielerin 
gelehnt  in  ein  solches  Gespräch  einbrechend  —  ein  Er- 
eignis, das  im  geistigen  Leben  bis  auf  uns  gewirkt  hat. 
Er  beherrscht  nun  für  eine  Zeit  den  Abend;  niemand 
widersetzt  sich  dieser  Lebensfülle,  seinem  Willen,  den 
er  mit  so  graziöser  Gebärde  aufzuzwingen  weiß.  Es  ist 
Eryximachos  zu  danken,  daß  die  Feier  sich  nicht  schon 
jetzt  in  ein  unbändiges  Zechen  auflöst,  sondern  Alki- 
biades den  Kreis  der  Reden  mit  seiner  vollendet.  Drei 
vorbereitende  und  drei  große  Reden  sind  berichtet,  Alki- 
biades schließt  beide  Kreise  mit  der  siebenten  zusam- 
men. Er  preist  nicht  Eros  sondern  Sokrates.  Soll  nun, 
wie  manche  glauben,  Sokrates  und  Eros  gleichgesetzt 
werden?  Diotimens  Beschreibung  auf  Sokrates  gehen? 
Dies  ist  nicht  anders  zu  beantworten,  als  daß  wir  von 
Anfang  beginnend  noch  einmal  nach  dem  Wesen  des 
Eros  fragen  und  das  Versäumte  nachholend  von  der 
Knabenliebe  ausgehen. 


Ungern  erwähnt  man  in  diesem  Zusammenhange  jene 
pathologischen  Abweichungen,  die  heute  von  berufenen 
Forschem  sehr  eingehend  untersucht  wurden,  und  von 
recht  viel  Unberufenen  behaglich  breitgetreten  werden. 
Man  sollte  vor  oberflächlicher  Betätigung,  die  möglichst 
viel  Erscheinungen  unter  sogenannte  wissenschaftliche 
Begriffe  registriert,  weniger  Respekt  haben.  Zwei  Tat- 


22  Der  Eroa 

sachea  sind  unbestreitbar :  Erstens  iat  der  Geist  und  das 
Gefühl  im  Gastmahl  ausgesprochen  männlich,  von  einer 
V'erkehrung  in  den  weiblichen  Geschlechtscharakter  kann 
nirgends  die  Rede  sein.  Zweitens  kana  auch  von  der 
andern  pathologischen  Form,  dem  unnatürlich  gestei- 
gerten Bedürfnis  vieler  Entarteten  nach  Piaffinement  des 
Genusses,  im  Gastmahl  keine  Rede  sein.  Auch  in  der 
Knabenliebe  ist  der  Geist  ein  strenger,  ethischer.  Vom 
großen  Tun  ist  viel,  vom  Genüsse  seiir  wenig  die  Rede. 
Diese  Tatsachen  genügen,  um  die  pathologische  Betrach- 
tung des  Gastmahls  als  leichtfertigen  medizinischen 
Dilettantismus  zu  bezeichnen. 

Unklar  Denkende  werden,  wenn  sie  dies  auch  zugeben, 
doch  einwenden,  Xenophon  habe  ja  schon  im  Plato- 
nischen Zeitalter  die  Knabenliebe  als  höchst  unsittlich 
verurteilt,  sie  sei  also  damals  ähnlich  beurteilt  worden 
wie  heute.  Das  erste  ist  halbrichtig,  das  zweite  ganz 
falsch.  Nämlich  auch  Xenophons  Gastmahl  des  Kallias 
ist  auf  der  Grundlage  aufgebaut,  daß  die  Knabenliebe 
ein  großes  und  edles  Gefühl  ist,  die  echte  erotische 
Liebe,  nicht  die  Liebe  zu  Sohn  und  Schüler.  Man  mache 
doch  bei  Xenophon  dieselbe  Probe  wie  bei  seinem  Geg- 
ner Pausanias,  um  zu  finden,  auch  Xenophon  betrachtet 
die  Knabenliebe  kaum  anders,  als  heute  ein  sitten- 
strenger Mensch  die  Liebe  zum  Weibe  außerhalb  der 
Ehe;  das  heißt,  er  achtet  das  erotische  Gefühl  hoch,  er 
tadelt  nur  die  unsittlichen  Konsequenzen.  Heute  be- 
urteilen ja  auch  viele  den  Bruch  der  Sitte  streng,  viele 
milde;  aber  kaum  jemand  sieht  ihn  als  etwas  Häßliches 
und  Gemeines  an,  denn  niemand  wundert  sich,  daß  er 
in  den  größten  Dichtungen  zur  Schau  gestellt  wird,  wäh- 
rend man  die  Knabenliebe  als  etwas  Abscheuliches  zu- 
deckt. Diesen  „ästhetischen"  Unterschied,  um  es  schlecht 
und  modern  zu  sagen,  macht  der  Grieche  also  nicht. 
Dies  muß  man  sich  klar  gemacht  haben,  um  zu  begrei- 


Der  Eros  88 

fen,  wie  im  Xenophontischen  Gastmahl  derselbe  So 
krates  das  Unsittliche  der  Knabenliebe  sehr  freimütig 
tadelt  mid  doch  selbst  mit  Kritobulos  erotisch  scherzt. 
Jenen  großen  Unterschied  der  hellenischen  Sinnlich- 
keit von  der  modernen  muß  man  als  Grundtatsache  hin- 
nehmen, und  es  ist  notwendig,  sich  da  ein  wenig  hinein- 
zudenken. Daß  die  Knabenliebe  im  ganzen  aus  der  Ge- 
nußsucht hervorgeht,  ist  schon  abgewiesen.  Es  ist  histo- 
risch auch  damit  belegt,  daß  im  genußfreudigen  Home- 
rischen Kreise  nicht  von  ihr  die  Rede  ist  und  sie  auch 
später  im  loniertum  verurteilt  wird.  Es  war  offenbar 
eine  Steigerung  des  Harten,  Männlichen,  das  Jagd-  und 
Kriegsleben,  die  Unterdrückung  des  Interesses  am  Weibe 
bei  dem  Dorertum,  was  die  erotischen  Freundschaits- 
bünde  begünstigte.  Wie  hätte  der  Staat  auch  dem  wer- 
denden Jüngling  einen  besseren  Lehrer  geben  können, 
als  den  wenige  Jahre  älteren  Freund.  Die  natürliche 
Glut  des  Knaben  für  den  Jüngling,  der  Stolz  des  Jüng- 
lings, dem  Knaben  Vorbild  und  Lehrer  zu  sein,  das 
mußte  freilich  eine  andre  Frucht  zeitigen,  als  mecha- 
nischer Unterricht,  das  mußte  jene  stolze  und  beherrschte 
Haltung,  jenes  Feuer  erzeugen,  durch  das  die  Spartaner 
für  Hellas,  ja  für  das  Römische  Reich  die  vornehmste 
Gestalt  des  Menschen  verwirklichten.  Wie  sehr  diese 
Tatsachen  auch  den  Athenern  bewußt  sind,  beweisen 
die  Reden  des  Phädros,  Pausanias  und  Aristophanes. 
Aristophanes  zumal  ist  ein  Anhänger  der  alten  kriege- 
rischen Erziehung,  er  sieht  die  Marathonkämpfer  als 
Vorbild,  sozusagen  als  gute  alte  Zeit.  Wenn  man 
moderne  Moral  als  Maß  benutzt,  so  sieht  er  aber  trotz- 
dem sehr  frivol  und  unsittlich  aus.  Tatsächlich  geht  hier 
vielen  Modernen  das  Verständnis  aus:  Aristophanes  ist 
bald  Sittenprediger,  bald  selber  unmoralisch,  also  ist  er 
ein  Heuchler.  Das  ist  begrifflich,  nicht  leiblich  gesehn, 
denn  Aristophanes  liegt  nichts  daran,  einen  Moralbegriff 


24  1^6^'  Eros 

zu  rerwirkiichen,  sondern  er  will  ein  bestimmtes  Me.n- 
schentum  erziehen.  In  der  Liebe  zu  Männern  sieht  er 
den  Ausdruck  besonders  starken  männlichen  Wesens, 
den  Ansporn  großer  Taten;  in  der  Liebe  zu  Frauen  mehr 
die  Genußsucht,  die  das  Kriegerische  beeinträchtigt.  Der 
moralische  Reinheitsbegriff  mag  bei  ihm  nicht  sonder- 
lich entwickelt  gewesen  sein.  Pausanias  spricht  noch 
viel  bestimmter  von  den  großen  ethischen  Werten,  die 
er  in  der  Kjiabenliebe  sieht.  Aber  es  ist  kein  Zweifel, 
daß  es  in  den  Reden  des  Pausanias  und  Aristophanes 
sich  nicht  um  eine  bloße  erotische  Freundschaft  han- 
delt, sondern  um  jenen  sinnlichen  Genuß,  der  von  man- 
chen Griechen  gebilligt,  von  andern  verdammt  wurde. 
Entschuldigen  ist  hier  so  töricht  wie  tadeln,  man  muß 
die  Sache  sehen,  wie  sie  ist.  Wer  seine  moralisierenden 
Triebe  befriedigen  will,  der  wird  im  sexuellen  Leben  der 
Gegenwart  sehr  viel  Interessantes  finden  und  kann  sich 
eigentlich  die  Mühe  der  humanistischen  Bildung  er- 
sparen. So  überaus  gleichgültig  nun  auch  die  zudring- 
liche Frage  nach  Piatos  Geschlechtsleben  ist,  so  ist  es 
doch  zum  Verständnis  der  Knabenliebe  wichtig  genug 
zu  wissen,  welche  Stellung  Plato  in  der  öffentlichen 
Lehre  eingenommen  hat.  Es  zeigt  sich  dabei,  daß  Plato 
auf  einem  ähnlichen  Standpunkt  steht  wie  Xenophon. 
In  den  früheren  „Sokratischen"  Dialogen  wird  ein  leb- 
haftes erotisches  Gefühl  vorausgesetzt  (Charmides,  Alki- 
biades,  Lysis).  Ebenso  im  Gastmahl.  Diotima  berührt 
die  Frage  nach  jenem  unsittlichen  Genuß  überhaupt 
nicht,  mit  vollem  Rechte,  denn  sie  spricht  von  der 
körperlich  und  geistig  zeugenden  Liebe.  Aus  der  Er- 
zählung des  Alkibiades  kann  man  entnehmen,  daß  So- 
krates  ihn  mißbilligt,  aber  nicht  etwas  Abscheuliches 
darin  sieht,  denn  er  weist  die  Werbung  des  Alkibiades 
einfach  zurück,  ohne  daß  ihre  Freundschaft  dadurch 
getrübt  würde,    ja  er  sagt  nicht  einmal  ein  Wort  des 


Der  Eros  25 

Tadels.  Im  Phädros  glüht  Platons  Leidenschaft  am  stärk- 
sten, vielleicht  ist  hier  das  sittliche  Verbot  gerade  darum 
so  entschieden  ausgedrückt.  Doch  wird  den  Fehlenden 
eine  milde  Buße  nach  ihrem  Tode  verheißen,  denn  auch 
sie  „haben  keinen  geringen  Siegespreis  für  ihre  eroti- 
sche Mania;  denn  im  Finstern  und  unter  der  Erde  ihre 
Wanderimg  zu  machen  gebührt  nicht  denen,  die  den 
himmlischen  Weg  schon  betreten  haben."  Wie  die  mei- 
sten Ganzgroßen  sieht  Plato  auch  in  den  tierischen 
Trieben  das  Göttliche,  während  die  strengen  Moralisten 
nur  mit  bitterm  Schmerz  zugeben,  daß  bei  unsrer  Ent- 
stehung der  sündhafte  sinnliche  Reiz  nicht  fehlen  kann. 
—  Im  „Staat"  ist  natürlich  wenig  vom  Gefühl,  sondern 
mehr  vom  Gesetz  die  Rede.  Hier  wird  die  erotische 
Freundschaft  gelobt,  der  Bruch  der  Sitte  aber  zieht  den 
strengen  Vorwurf  eines  „unmusischen  Mannes"  zu.  Als 
Greis  hat  Plato  vom  erotischen  Gefühl  wenig  gesprochen 
und  er  verbietet  in  den  Gesetzen  den  widernatürlichen 
Verkehr  noch  strenger.  Es  ist  höchst  belehrend,  damit 
zu  vergleichen,  was  der  einundachzigjährige  Goethe 
über  die  griechische  Liebe  sagte:  „Er  entwickelte,  wie 
diese  Verirrung  eigentlich  daher  komme,  daß  nach  rein 
ästhetischem  Maßstabe  der  Mann  immer  weit  schöner, 
vorzüglicher,  vollendeter  wie  die  Frau  sei.  Ein  solches 
einmal  entstandenes  Gefühl  schwenke  dann  leicht  ins 
Tierische,  Grobmaterielle  hinüber.  Die  Knabenliebe  sei 
so  alt  wie  die  Menschheit,  und  man  könne  sagen,  sie 
liege  in  der  Natur,  ob  sie  gleich  gegen  die  Natur  sei." 
Wie  nun  Goethe  fortfährt  und  die  Heiligkeit  der  Ehe 
dagegen  in  Schutz  nimmt,  obgleich  die  Ehe  eigentlich 
unnatürlich  wäre,  aber  im  Interesse  des  gemeinen  We- 
sens so  notwendig,  daß  an  einigen  unglücklichen  Ehen 
gar  nichts  läge  —  das  ist  dieselbe  Gesinnung  wie  in  Pla- 
tons letztem  Werk,  den  Gesetzen.  (Goethe  zu  F.  v.  Müller. 
7.  IV.  1830.) 


26  ^^^  Eros 

Die  Ehe  ist  ja  die  praktische  Gegenfrage,  ohne  die  man 
die  Knabenliebe  nicht  betrachten  darf.  In  der  Perikle- 
ischen  Zeit  war  die  Stellung  der  Frau,  wie  sattsam 
bekannt,  recht  untergeordnet;  man  heiratete  der  legi- 
timen Nachkommen  wegen  und  legte  der  Frau  jede  Be- 
schränkung auf,  um  diese  Legitimität  zu  sichern.  Wir 
stehen  hier  vor  verwickelten  Fragen,  wo  man  sich 
nicht  zu  einem  unbedingten  Für  und  Wider  entscheiden 
kann.  Durch  das  ganze  Gastmahl  geht  ein  etwas  ab- 
schätziger Ton  gegen  die  Ehe,  es  wird  aber  nicht  die 
notwendige  Einrichtung  der  Ehe  angegriffen,  sondern 
es  werden  nur  jene  Männer  verächtlich  gemacht,  die 
durch  die  Ehe  ausgefüllt  werden,  die  keinen  Anteil  am 
Staate  haben.  Wie  wird  aber  damals  die  eheliche  Liebe, 
das  Gefühl  bewertet?  Es  wird  die  Aphrodite  Urania  (die 
Himmlische)  und  die  Pandemos  unterschieden.  Zu  wel- 
cher gehört  die  eheliche  Liebe?  Pausanias  rechnet  sie 
der  Pandemos,  andre  der  Urania  zu.  Urania  ist  der 
höchste  Ausdruck  des  Kosmos,  der  Trieb,  das  Höhere 
zu  erzeugen  (vgl.  Anm.).  Darum  hat  der  Kult  ganz  recht,  j 
der  die  Ehe  dem  Schutze  dieser  Göttin  anvertraut.  * 
Aber  Pausanias  hat  auch  nicht  Unrecht,  denn  die  große 
Mehrzahl  der  Ehen  lebt  von  der  Aphrodite  Pandemos. 
Einmal  kann  alles  Banausische,  nach  Diotimas  Begriff, 
an  der  Aphrodite  Urania  keinen  Anteil  haben.  Zweitens 
sind  viele  Ehen  die  Folge  der  animalen  sexuellen  Genuß- 
sucht, und  auch  diese  fallen  der  Pandemos  zu.  Xeno- 
phon  beweist  das  sehr  ergötzlich,  weil  sehr  wider 
Willen.  Er  gibt  in  seinem  Gastmahl  die  Gesinnung  des 
Sokrates  wohl  richtig  wieder,  der  gegen  die  grobsinn- 
liche Knabenliebe  der  Pandemos  die  geistigere  der 
Urania  aufruft.  Dies  gibt  Xenophon  also  richtig  wieder, 
aber,  wie  der  dazu  erfundene  Schluß  beweist,  ohne 
rechtes  Verständnis.  Denn  im  Schluß  kämpft  er  selber 
gegen  die  Urania,  und  für  die  Pandemos  der  ehelichen 


Der  Eros  27 

Liebe.  Der  Syrakusische  Gaukler  läßt  vor  den  Gästen 
ein  junges  Liebespaar  seine  ersten,  leidenschaftlichen 
aber  noch  schamhaften  Liebkosungen  tauschen.  ,, Zu- 
letzt, als  die  Gäste  sahen,  daß  sie  sich  innig  umarmten 
und  wie  zum  Brautlager  hinausgingen,  da  schworen  die 
Junggesellen  zu  heiraten,  die  Ehemänner  aber  schwangen 
sich  auf  ihre  Pferde  und  ritten  zu  ihren  Frauen."  Daß 
dies  eine  recht  herzhafte  Aufreizung  zur  Aphrodite 
Pandemos  ist,  wird  niemand  bestreiten.  Nur  scheinbar 
widerspricht  diese  Auffassung  den  Begriffen  des  Pau- 
sanias,  der  in  der  Pandemos  vor  allem  die  Wahllosig- 
keit  erkennt.  Denn  auch  die  bei  Xenophon  erweckte 
Liebe  ist  wahllos,  wenn  sie  auch  die  Ehe  will,  sie  rich- 
tet sich  gar  nicht  auf  das  erblickte  Schöne,  auf  Zeu- 
gung in  diesem  Schönen,  sondern  sie  verlangt  nur  die 
Befriedigung  der  Triebe  an  sich.  Unter  diesen  Voraus- 
setzungen glaube  ich  das  Richtige  zu  treffen,  wenn  ich 
Aphrodite  Pandemos  mit  „bürgerliche  Aphrodite"  über- 
setze. Die  „gemeine  Aphrodite",  wie  vielfach  übersetzt 
ist,  ist  nicht  passend.  Denn  wenn  man  dies  im  Sinn 
von  allgemein  faßt,  so  ist  der  Gegensatz  zur  Himm- 
lischen, Kosmischen  eher  verwischt,  als  ausgedrückt. 
Versteht  man  aber  „gemein"  mit  dem  Ton  der  morali- 
schen Beschimpfung,  so  wäre  das  ganz  ungriechisch, 
denn  auch  sie  ist  eine  Göttin.  „Bürgerlich"  vereinigt 
die  verschiedenen  Bedeutungen :  Man  kann  darunter  das 
Legitime,  Staatserhaltende  verstehen,  und  ihr  dann  die 
eheliche  Liebe  zuweisen;  man  kann  aber  auch  an  das 
Bürgerliche  im  Gegensatz  zum  Adligen  und  Heroischen, 
an  das  Gemeinmenschliche  im  Gegensatz  zum  Himm- 
lischen denken;  und  wir  verstehen  auch  den  etwas 
abschätzigen  Ton  init  dem  Pausanias  von  den  wahllosen 
Bedürfnissen  des  Spießbürgers  spricht. 
Für  den  ganzen  Sokratischen  Kreis  ist  dieses  wesent- 
lich: Die  Pandemos  in  der  Knabenliebe  wird  keineswegs 


28  I^er  Eros 

verkannt  oder  beschönigt;  aber  doch  wird  die  Aphro- 
dite Urania  vornehmlich  in  der  ICnabenliebe  gesehen. 
Es  ist  üblich  zur  Erklärung  und  Entschuldigung  dafür 
die  geistige  Leere  der  damaligen  Ehe  anzuführen.  Viel- 
leicht liegt  da  doch  eine  Verwechslung  von  Ursache  und 
Wirkung  zugrunde,  jedenfalls  liegt  hier  nicht  der  Kern 
der  Erklärung.  Die  Knabenliebe  ist  ja  gerade  dorisch 
und  kann  durch  die  Stellung  der  attischen  Frau  nicht 
erzeugt  sein.  Bei  Aristophanes  ist  es  doch  deutlich,  daß 
er  gar  nicht  nach  einer  Vergeistigung  der  Liebe  sucht, 
sondern  es  ist  seine  Liebe  für  den  kriegerischen  Mann, 
die  ihm  die  Ehe  im  ungünstigen  Lichte  zeigt.  Um  in 
dieser  Gnmdlage  deutlich  zu  sein:  Xenophon  begün- 
stigt mehr  die  bürgerliche  Ehe,  Sokrates  und  Plato 
mehr  eine  höhere  Form,  eine  geistigere  Liebe.  Alle 
drei  sind  einig  in  der  Verurteilung  der  grobsinnlichen 
Knabenliebe,  aber  im  Gefühl  sind  sie  alle  drei  trotzdem 
von  uns  Modernen  ganz  verschieden :  das  erotische  Ge- 
fühl der  Knabenliebe  ist  ihnen  etwas  Primäres,  Natür- 
liches, ja  darüber  hinaus  etwas  Göttliches.  Eine  Stelle 
am  Anfange  von  Xenophons  Gastmahl  ist  nicht  nur 
hierfür  beweisend,  sondern  auch  so  bildhaft  für  dies 
Gefülil,  daß  ich  sie  hier  nicht  übergehen  will.  Der  junge 
Autolykos,  den  der  reiche  Gastgeber  Kallias  liebt,  tritt 
zusammen  mit  seinem  Vater  in  die  Gesellschaft  ein. 
„Wer  aber  wahrnahm,  was  geschah,  der  mußte  urteilen, 
daß  die  Schönheit  etwas  Königliches  von  Natur  sei, 
immer,  aber  besonders  dann,  wenn  sie  mit  Scham  und 
Bescheidenheit  verbunden  ist,  wie  damals  bei  Auto- 
lykos. Denn  zueret,  v/ie,  wenn  ein  Licht  aufleuchtet  in 
der  Nacht,  aller  Augen  gelenkt  werden,  so  fesselte  da- 
mals die  Schönheit  des  Autolykos  aller  Augen  auf  ihn; 
dann,  da  sie  ihn  ansalm,  blieb  keiner  in  seiner  Seele  un- 
bewegt. Die  einen  wurden  schweigsam,  die  andern  gaben 
sich   eine  Haltung.  Denn  alle,  die  von  einem  Gott  be- 


Der  Eros  29 

sessen  sind,  bieten  einen  besondern  Anblick  dar.  Sind 
sie  aber  von  andern  Göttern  besessen,  so  wird  ihr  Blick 
wilder,  die  Stimme  schrecklicher  und  alles  gewaltsamer ; 
welche  aber  von  der  Gottheit  des  maßvollen  Eros  gefüllt 
sind,  deren  Augen  sind  freundlicher,  ihre  Stimme  banfter 
und  ihre  Haltung  freier.  So  geschah  es  auch  mit  KaUias 
unter  der  Wirkung  des  Gottes  und  diejenigen,  die  in  die 
Mysterien  dieses  Gottes  geweiht  waren,  mußten  ihn  an- 
schaun. 

So  nahmen  sie  schweigend  das  Mahl  ein,  als  ob  es  ihnen 
ein  Größerer  befohlen  hätte." 

Es  ist  bezeichnend,  daß  Xenophon  von  der  Knabenliebe 
schlicht,  fast  dichterisch  redet,  die  Ehe  aber  durch  die 
w^enig  edle  Theaterwirkung  des  Gauklers  empfiehlt.  Um 
nicht  den  Gedanken  aufkommen  z  .  lassen,  daß  es  sich 
um  eine  ästhetische  Mode  tändle,  führe  ich  noch  ein 
Beispiel  aus  der  Gegenwart  an.  Ich  entnehme  von  Gom- 
perz  (Griechische  Denker),  der  es  in  ähnlichem  Zu- 
sammenhange glücklich  verwendet  hat,  ein  Zitat  von 
Johann  Georg  Hahn,  das  die  Äußerung  eines  heutigen 
Albanesen  wiedergibt :  „Der  Anblick  eines  schönen  Kna- 
ben ist  reiner  als  Sonnenschein  ....  Es  ist  die  höchste 
und  stärkste  Leidenschaft,  deren  die  Menschenbrust 
fähig  ist  ...  .  Wenn  der  Geliebte  unerwartet  vor  ihm 
erscheint,  so  wechselt  er  die  Farbe  ....  Er  hat  nur  für 
den  Geliebten  Augen  und  Ohren.  Er  wagt  ihn  nicht  mit 
der  Hand  zu  berühren,  küßt  ihn  nur  auf  die  Stirn,  singt 
seine  Verse  ihm,  niemals  einem  Weibe  zu  Ehren.**  So 
klingt  heute  noch  Piatons  Phädros  nach,  lebt  noch  die 
Aphrodite  Urania. 

Xenophon  und  der  Albanese  reden  eine  sehr  ähnliche 
Sprache  wie  Goethe  in  dem  oben  angezogenen  Gespräch. 
Jene  Begründung,  daß  der  Mann  „schöner,  vorzüglicher, 
vollendeter"  sei  als  die  Frau,  wird  im  Reich  der  Faii- 
demos  viel,  im  Reich  der  Urania  wenig  Widerspruch 


30  r>er  Eros 

i 

finden.  Und  doch  sind  Sokrates  und  Plato  keine  Frauen- 
feinde. Daß  Diotima,  die  Frau,  unter  den  Männern  die 
bedeutendste  Rede  hält,  sagt  alles.  Aber  wir  wissen  ja 
auch  aus  andern  Stellen,  daß  Sokrates  und  Plato  die 
gleictie  Erziehung  für  Mann  und  Frau  fordern,  in  der 
Gymnastik,  selbst  im  Kriege.  Sie  sehen  in  der  Frau  die- 
selbe Art,  aber  ein  geringeres  Maß  von  Kräften.  Schwer 
vereinbare  Widersprüche.  —  Es  ist  wieder  daran  zu 
erinnern,  der  Grieche  geht  nicht  von  den  Begriffen  aus, 
er  erhitzt  sich  nicht  um  eine  so  plumpe  Frage,  ob  man 
sich  für  Mann  oder  Weib  entscheiden  soll.  Er  geht  viel- 
mehr von  der  lebendigen  Idee  der  vollkommenen  Men- 
schen; dabei  liegt  immer  der  Ton  auf  dem  Männlichen, 
aber  darum  das  Weibliche  ausschließen  wäre  ja  Ver- 
armung. Die  Göttergestalten  spiegeln  diese  Ideen  am 
reinsten  wieder.  Unter  ihnen  herrscht  immer  Zeus.  In 
der  strengeren  Zeit  neigen  sich  die  weiblichen  Götter 
nach  dem  Männlichen,  die  herbe  Artemis  und  die  kluge 
Athene.  In  der  Platonischen  Zeit  kommt  dazu,  daß  einige 
Götter  viel  Weibliches  zeigen,  Dionysos  besonders,  aber 
auch  ApoUon.  Natürlich  kann  dieser  Weg  schließlich 
zu  einer  Verweichlichung  des  männlichen  Typus  führen, 
aber  ebenso  so  gewiß  ist,  daß  in  einer  Glanzzeit  das 
Männliche  auf  der  höchsten  Stufe  stand  und  durch  die 
Einbeziehung  weiblicher  Kräfte  nur  bereichert,  nicht 
geschwächt  wurde :  größtes  männliches  Feuer  mit  weib- 
licher Anmut.  Und  diese  Verschmelzung  ist  vielleicht 
Athens  köstliche  Blüte. 

Der  Mann  drückt  das  Göttliche,  wenn  er  daran  teil  hat, 
dichter,  stärker,  reiner  aus  als  die  Frau;  aber  auch  die 
Frau  kann  teilhaben  am  Göttlichen. 
Von  diesen  tiefliegenden  Gründen  aus  kann  man  viel- 
leicht eher  verstehen,  was  sonst  unbegreiflich  scheint: 
Daß  gerade  in  diesen  Kreisen  der  sehr  männlichen  Liebe 
die  Geltung  der  Frau  besonders  hoch  sein  konnte.  In 


Der  Ero8  31 

keiner  frauenverehrenden  Zeit,  auch  nicht  im  Zeitalter 
des  Minnesangs  spielt  eine  Frau  im  imiersten  Wesen 
und  Geist  eine  so  bedeutende,  so  ehrende  Rolle  wie 
Diotima  im  Platonischen  Kreise.  Und  in  keinem  grie- 
chischen Staat  war  die  Selbstständigkeit  und  Angesehen- 
heit der  Frauen  größer  als  in  Sparta.  —  Heute  kann  man 
das  kaum  nachfühlen,  weil  man  immer  an  soziale  und 
politische  Rechte  denkt.  In  Griechenland  hatte  im  Staat 
nur  der  mitzureden,  der  politisch,  staatsbildend  war. 
Warum  wundert  man  sich,  daß  die  Frauen  im  staat- 
lichen Leben  keine  Rolle  spielten?  Heute  sieht  man 
allerdings  den  Zweck  des  Staates  nicht  mehr  in  den 
staatsbildenden  Menschen  selbst,  sondern  in  den  Un- 
staatlichen, Ungebildeten,  Schwachen. 


Doch  kehren  wir  nach  dieser  nötigen  Einschaltung  über 
attische  Anschauung  endlich  zum  Gastmahl  zurück.  In 
Diotima  ist  der  Wert  der  Frau,  ihr  Verhältnis  ;Zum  Gött- 
lichen glänzend  verbildlicht:  Ihre  Rede  ist  die  höchste 
geistige  Leistung  im  Kreise  der  Männer.  Aber  auch  Diotima 
ist  nicht  frei  von  der  griechischen  Wertung  des  Mannes : 
Sie  sieht  die  große  Liebe  auch  in  der  Ehe,  dem  Erzeugen 
der  Kinder;  aber  den  Weg  zum  Höchsten  sieht  sie  im 
geistigen  Zeugen,  in  der  Knabenliebe.  „Ihnen  (den  gei- 
stigen Schöpfern)  sind  auch  schon  viele  Heiligtümer 
entstanden  wegen  solcher  Kinder,  wegen  menschlicher 
Kinder  aber  noch  keinem."  Diotima  weist  den  Weg  zum 
Göttlichen,  aber  sie  stellt  es  nicht  in  ihrer  Person  dar. 
Das  wird  uns  erst  ganz  bewußt  in  der  folgenden  Rede 
des  Alkibiades.  Die  ist  als  neue  Leistung,  als  schöpfe- 
risches Denken  gar  nicht  bedeutend  verglichen  mit 
Diotimens  Rede,  aber  doch  gibt  er  Großes :  die  Person- 


32  Der  Eros 

lichkeit  des  Sokrates,  Jetzt  erst  sehen  wir  das  Göttliche 
wirkend,  wirklich  vor  uns:  Sokrates  selbst. 
Sokrates  strahlt  ein  neues  Lebensgefühl  aus,  das  er 
selbst  als  philosophisch  und  zugleich  als  erotisch  be- 
zeichnet; es  ist  kein  wissenschaftliches  Interesse,  son- 
dern geistiger  Eros.  Wer  das  Erotische  hier  nur  als 
„künstlerische  Metapher"  begreift,  dem  ist  nicht  zu  hel- 
fen. Erst  durch  die  Idee  des  lebendigen  geistigen  Reiches, 
im  Gegensatz  ebenso  zum  politischen  Staat  wie  zur  ab- 
strakten Wissenschaft  ist  das  Gastmahl  ganz  verständ- 
lich. Das  Erotische,  das  Dämonische  ist  die  Substanz 
dieses  Reiches  und  hier  ist  zu  ahnen,  warum  Sokrates 
aller  Orten  die  Knabenliebe  begünstigt.  Wir  berühren 
hier  aber  auch  eine  Umwandlung,  welche  die  Knaben- 
liebe in  ihrem  Wesen  erfahren  hat.  Sokrates  hat  seine 
Gründe,  es  nicht  offen  zu  sagen,  aber  Alkibiades  stellt 
es  unverhüllt  heraus.  Er  sagt:  Sokrates  stellt  sich,  als 
ob  er  in  die  Jünglinge  verliebt  sei,  und  nachher  zeigt 
sich,  daß  Sokrates  der  Geliebte  und  sie  die  Verliebten 
sind.  Das  trifft  die  Sache,  und  es  wird  nicht  nur  durch 
die  Erzählung  des  Alkibiades  bewiesen,  sondern  auch 
durch  das  folgende  erotische  Spiel  zwischen  Sokrates, 
Agathon  mid  Alkibiades.  Und  damit  sind  zwei  der 
schwebenden  Fragen  beantwortet.  Einmal  kam  es  bei 
Phädros  seltsam  heraus,  daß  der  Liebende  göttlich  sei, 
der  Geliebte  aber  nicht.  Jetzt  sehen  wir,  daß  doch  der 
Göttliche  am  meisten  geliebt  wird.  Die  zweite  Frage  war 
die,  ob  Diotimens  Schilderung  des  Eros  den  Sokrates 
selbst  meint.  Jetzt  sehen  wir,  wie  gerade  Alkibiades 
diesem  Bilde  entspricht;  in  ihm,  der  sich  dem  Meister 
zwar  hingeben  will,  aber  im  Grunde  der  Seele  sich  doch 
nicht  hingibt,  sondern  jenen  für  sich  gewinnen  will,  der 
von  Liebe  und  Selbstsucht  zerrissen  an  der  Schwelle 
des  neuen  Reiches  stehen  bleibt,  dilickt  sich  jenes  Bild 
mit  «einer  Pein  und  Härte,  seinen  Aufblühen  und  Hin- 


Der  Eros  33 

schwinden  am  lebhaftesten  aus.  Die  Feinde  des  Genius 
haben  diese  Freundschaft  gern  mit  ihrem  billigen  Spott 
befleckt,  aber  in  den  seltenen  Zeiten  des  erwachenden 
Geistes,  wenn  im  Kreise  weniger  Menschen  eine  neue 
Welt  knospend  in  die  Wirkhchkeit  trat,  dann  erkannten 
die  besten  Jünglinge,  um  ihre  Meister  werbend,  erschüt- 
tert in  Alkibiades  ihr  Bild.  Schon  Hamann  will  der  Alki- 
biades  des  sechs  Jahre  älteren  Kant,  er  soll  sein  So- 
krates  sein.  Aber  bei  Goethe  ist  es  nicht  mehr  ein  Bild, 
sondern  die  entfaltete  Leidenschaft.  Der  zweiundzwanzig- 
jährige  Goethe  schreibt  an  den  siebenundzwanzig  jäh- 
rigen Herder:  „Mein  ganzes  Ich  ist  erschüttert 

Apollo  von  Belvedere,  warum  zeigst  du  dich  uns  in 
deiner  Nacktheit,  daß  wir  uns  der  unsrigen  schämen 
müssen.  Spanische  Tracht  und  Schminke  1  Herder,  Her- 
der, bleiben  Sie  mir,  was  Sie  mir  sind.  Bin  ich  bestimmt, 
Ihr  Planet  zu  sein,  so  will  ich's  sein,  es  gern,  es  treu 
sein.  Ein  freundlicher  Mond  der  Erde.  Aber  das  — 
fühlen  Sie's  ganz  —  daß  ich  lieber  Merkur  sein  wollte, 
der  letzte,  der  kleinste  vielmehr  unter  siebnen,  der  sich 
mit  Ihnen  mn  Eine  Sonne  drehte,  als  der  erste  unter 
fünfen,  die  um  den  Saturn  ziehn. 
Adieu,  lieber  Mann.  Ich  lasse  Sie  nicht  I  Jacob  rang  mit 
dem  Engel  des  Herrn.  Und  sollt*  ich  lahm  darüber  wer- 
den! .  .  .  ."  Und  ein  halbes  Jahr  später  schreibt  er  wie- 
der an  Herder:  „.  .  .  .  ob  ich  mich  von  dem  Dienste  des 
Götzenbildes,  das  Plato  bemalt  und  verguldet,  dem  Xeno- 
phon  räuchert,  zu  der  wahren  Religion  hinaufschwingen 
kann,  der  statt  des  Heiligen  ein  großer  Mensch  erscheint, 
den  ich  nur  mit  Liebenthusiasmus  an  meine  Brust  drücke, 
und  rufe :  I\Iein  Freund  und  mein  Bruder  1  Und  das  mit 
Zuversicht  zu  einem  großen  Menschen  sagen  zu  dürfen ! 
—  War'  ich  einen  Tag  und  eine  Nacht  Alkibiades,  und 
dann  wollt'  ich  sterben!  — " 
So  will  es  Sokratee  (der  Sokrates  des  Gastmahls).  So 

Plato,  Gastmahl  3 


34  r>er  Eros 

hat  er  die  griechische  Liebe  umgekehrt.  Der  Knabe 
soll  sich  nicht  lieben  lassen,  sondern  umgekehrt  den 
Größeren  lieben.  Sokrates  will,  daß  die  Jünglinge  in  ihn 
verliebt  sind.  Schon  früher  einmal  hat  er  im  Gespräch 
mit  Alkibiades  scherzhaft  auf  diese  Vertauschung  der 
Rollen  angespielt;  und  hier  finden  wir  auch  etwas  von 
den  dunkleren  Gründen  dieser  Dinge.  Sokrates  bietet 
sich  dem  Alkibiades  zum  Führer  an;  vom  Gott  hat  er 
erfahren,  „daß  deine  Wiedergeburt  durch  keinen  andern 
als  mich  geschehen  wird."  Aber  sein  eigner  Führer  sei 
eben  jener,  der  Gott.  So  schließt  sich  diese  Betrachtung : 
Das  Erotische  ist  des  Sokrates  Reich,  und  so  ist  auch  er 
eins  von  den  Abbildern  des  Eros.  Aber  sein  Eros  ist  auf 
das  Göttliche  in  seiner  Gesamtheit  gerichtet,  auf  eine 
noch  ungeborene  Welt.  Innerhalb  der  irdischen  Kreise 
ist  Sokrates  selbst  das  Göttliche  als  Gestalt;  die  Jünger 
sind  die  Liebenden. 

Das  ist  die  große  Gesinnung,  von  der  der  letzte  Teil  des 
Gastmahls  sein  Leben  empfängt,  jede  Gebärde  ist  nur  Ihr 
Ausdruck.  Immer  wieder  bekennt  Alkibiades,  daß  So- 
krates göttlich  sei,  göttlich  selbst  im  Gegensatz  zum 
Göttersohn  Achill.  Diotima  hat  von  der  höchsten  Weihe, 
der  Weihe  der  Schauenden  gesprochen;  des  Alkibiades 
einleitendes  Wort :  „Wer  hier  ungeweiht  und  unerzogen 
ist,  lege  schwere  Pforten  vor  seine  Ohren"  verkündet, 
daß  er  nun  endlich  das  Götterbild  selbst  entliüllen  wird : 
Sokrates  selbst.  Wie  sehr  ihm  Göttliches,  Philosophie 
und  die  Person  des  Sokrates  das  gleiche  Ding  sind,  das 
entfährt  ihm  halb  ungewollt.  Als  er  erzählt,  wie  Sokrates 
seinen  Reiz  verschmähte,  da  faßt  ihn  wieder  die  Qual 
des  von  der  Schlange  Gebissenen.  Man  denkt,  er  meine 
die  Qual  der  abgewiesenen  Liebe  —  und  er  meint  sie 
auch,  aber  er  nennt  nicht  sie,  sondern  den  Wahnsinn 
und  die  bacchische  Wut  der  Philosophie.  So  sehr  ist 
ihm  Person  des  Sokrates  und  Philosophie  Eins. 


Plato  uud  Sokrates  35 

So  will  es  Sokrates,  und  vor  unsern  Augen  spielt  es  sich 
wieder  ab.  Der  schöne  Alkibiades,  der  berühmteste  Mann 
Athens,  der  wie  nie  ein  andrer  die  Anwartschaft  hatte, 
König  des  klassischen  Griechenland  zu  werden,  liegt 
beim  Gastmahl  auf  der  Mitte  des  einen  Polsters.  Neben 
ihm  auf  der  einen  Seite  Agathon,  der  gefeierte  Dichter 
und  schöne  Jüngling;  auf  der  andern  Seite  Sokrates.  In 
Agathon  scheint  die  Liebe  zu  Sokrates  zu  erwachen,  in 
Alkibiades  flammt  die  alte  wieder  stärker  auf.  Höchst 
lebendig  wird  jede  Gebärde,  in  dieser  Luft,  in  der  sich 
Götter  ihrer  Nacktheit  nicht  schämen.  Alkibiades  ist  un- 
treu im  geistigen  Reiche,  er  buhlt  mit  dem  Athenischen 
Demos.  Sokrates  sagt  kein  ernstes  Wort,  Edles  geschieht 
in  reiner  Heiterkeit,  er  tut  scherzend  mit  Agathon  schön.;, 
und  erregt  offen  die  Eifersucht  des  Alkibiades.  Dann, 
als  Alkibiades  vor  dem  sehr  gefährlichen  Eros  des  So- 
krates warnt,  ruft  er  Agathon  auf  seine  Seite  herüber. 
Alkibiades,  der  zugleich  von  Sokrates  geliebt  sein,  Aga- 
thon lieben  wollte,  liegt  nun  ausgeschlossen  neben  den 
beiden. 


Ich  sehe  das  überlegene  Lächeln  meiner  Kritiker,  weil 
ich  so  ganz  dem  naiven  Realismus  verfallen  bin  und 
vom  Gastmahl  sprach  nicht  wie  von  einem  Literatur- 
Erzeugnis,  sondern  wie  von  einer  wirklichen  Begeben- 
heit. Und  doch  bin  ich  im  Recht,  denn  darum  nannte 
ich  das  Gastmahl  einen  Mythos ;  es  gehört  zu  den  voll- 
kommenen Werken,  die  keiner  Erklärung  ihrer  Herkunft 
und  ihres  Zieles  bedürfen,  jedes  Wort  hat  durch  den 
Zusammenhang  seine  volle  und  ewige  Wirklichkeit.  Die 
Einzelwissenschaften  werden  niemals  nur  irgend  etwas 
Wesentliches  davon  erklären,  wie  so  etwas  gemacht  wird. 
Aber  umgekehrt  müssen  aus  diesem  Mythos  die  Einzel- 
wissenschaften abgeleitet  werden,  das  heißt,  in  diesem 

3"» 


36  Plato  und  Sokrates 

Mythos  ist  gesagt,  wie  das  Geistige  entsteht.  Das  wird 
man  nicht  zugeben,  und  beweisen  läßt  es  sich  allerdings 
nicht  anders,  als  durch  Tun.  Wer  hier  nicht  eine  ganz 
andre  Wirkung  spürt,  als  die  Vermehrung  des  Wissens, 
wer  nicht  selbst  den  Willen  gefühlt  hat,  sich  zu  solcher 
Feier  zu  bekränzen,  der  mag  ein  Philosophie-Gelehrter 
sein,  ein  Platoniker  ist  er  nicht. 

Die  Frage,  wie  weit  sich  Plato  für  sein  Werk  der  wirk- 
lichen Einzelheiten  bedient  hat,  hat  hier  keinen  Raum. 
Aber  die  Wechselwirkung  des  historischen  Sokrates  und 
Plato,  die  im  Platonischen  Sokrates  ihren  Ausdruck 
findet,  ist  selbst  eine  große  Begebenheit,  die  ihre  eigne 
ewige  Bedeutung  in  sich  hat.  Hierüber  ist  an  einiges  zu 
erinnern,  was  auf  das  Gastmahl  Bezug  hat.  In  den  frülie- 
ren  Dialogen  ist  Plato  nicht  weit  von  Sokrates  entfernt 
und  die  Übertragung  der  Gespräche  auf  jenen  bedeutet 
wohl,  daß  Plato  bewußt  im  Sinne  des  Meisters  weiter- 
wirken will.  Vielleicht  kündigt  sich  schon  im  Gorgias 
gerade  in  der  Gewaltsamkeit  des  strengen  Bekenntnisses 
ein  unterdrückter  Zweifel  an.  Im  Gastmahl  ist  die  Ver- 
wandlung geschehen,  das  Geschöpf  wurde  zum  Schöpfer, 
der  Jünger  zum  Meister:  Plato  erkennt  mit  hohem 
Selbstbewußtsein  in  sich  den  König  des  geistigen  Reiches. 
Die  Kluft  zwischen  Sokrates  und  Plato  ist  nicht  zu  über- 
brücken. Sokrates*  Lebensgefühl  hat  keine  unmittelbare 
Beziehung  zur  politischen  Wirksamkeit,  es  bleibt  in  der 
allgemeinen  Betrachtung.  Sokrates  erfüllt  sehr  streng 
seine  gesetzliche  Pflicht,  aber  er  lebt  sein  Leben  neben 
dem  Staate  her.  In  Plato  ist  eine  große  politische  Leiden- 
schaft; da  er  aber  einsieht,  daß  Athen  vom  Abwege  nicht 
mehr  umkehren  kann,  seine  Lehre  nicht  verwirklichen 
kann,  so  rührt  er  für  Diesen  Staat  keinen  Finger  mehr. 
Damit  hat  er  den  höchsten  Sinn  für  die  Realitäten  be- 
wiesen und  er  hat  bewußt  für  das  Menschentum  mehr 
getan,  indem  er  das  geistige  Leben  rein  und  ungemischt 


Plato  und  Sokrate»««  37 

in  seinem  FLreise,  der  Akademie,  bewahrte,  als  wenn  er 
durch  Kompromisse  den  Fortschritt  AtJiens  für  kurze 
Zeit  aufgehalten,  sein  höchstes  Gut  in  zweckloser  Be- 
mühung verschleudert  hätte.  Wenn  auch  innerhalb  des 
Gastmahls  der  Unterschied  von  der  reinen  Sokratik  mehr 
im  Ton,  in  der  größeren  Betrachtungsweise  sich  kund- 
gibt, so  ist  doch  der  bestimmte  Unterschied  im  Politischen 
wenigstens  angedeutet.  Als  Diotima  von  den  geistigen 
Schöpfern  spricht,  da  legt  sie  die  Betonung  nicht  auf  die 
Dichter  und  Künstler,  sondern  auf  die  Gesetzgeber; 
Lykurgs  Gesetze  nennt  sie  die  Retter  Griechenlands. 
Da  reckt  sich  Plato  auf,  in  dem  damals  die  Bücher  vom 
Staat  reifen,  und  der  noch  die  Hoffnung  hatte,  der  Soter 
von  Griechenland  zu  werden.  Warum  Plato  trotzdem 
nicht  selber  redend  in  den  Dialogen  auftritt,  dafür  wären 
viele  gute  Gründe  zu  vermuten.  Hier  genügt  die  Tat- 
sache, daß  Plato  die  Gestalt  seines  Vorgängers  so  um- 
bildet, wie  es  seinen  eignen  höheren  Zwecken  ange- 
messen ist. 

Diese  Umwandlung  ist  auch  in  der  bedeutenden  Lehre 
vom  Daimonion  mit  größter  Entschiedenheit  ausgespro- 
chen. Sokrates  wußte,  wie  wenig  wir  wissen,  er  kannte 
die  sehr  engen  Grenzen  des  Rationalismus.  Wo  ihn  nun 
sein  helles  Wissen  nicht  leitete,  da  hörte  er  auf  seinen 
dunklen  Instinkt.  Er  nannte  den  dunklen  Trieb,  der  für 
ihn  nicht  schöpferisch  war,  sondern  ihn  nur  von  Fehlem 
zurückhielt,  schlicht  und  groß  sein  Daimonion.  Dies 
füllte  also  nur  die  Lücke  aus,  die  er  notgedrungen  in 
seiner  Erkenntnis  zugestehen  mußte.  Diotima  knüpft 
daran  an,  aber  sie  erweitert  das  Dämonische  unendlich. 
Nun  ist  Eros,  ist  die  Philosophie,  ist  das  ganze  Lebens- 
gefühl des  neuen  Reiches  dämonisch.  Um  die  Richtung 
dieser  Bewegung  zu  begreifen,  blicken  wir  auf  den 
Phädros.  Ich  halte  es  für  ein  großes  Ergebnis  der  exakten 
Forschung,  daß  der  Phädros  nun  mit  Bestimmtheit  hin- 


3S  Plato  and  Sokrates 

ter  das  Gastmahl  gesetzt  ist,  der  Phädros,  den  die  Er- 
klärer wegen  seiner  Streitsucht  und  seiner  erotischen 
Leidenschaft  so  gerne  als  erstes  Jugendwerk  des  Plato, 
aber  sonst  doch  wenigstens  vor  das  Gastmahl  gesetzt 
hätten.  Im  Phädros  wird  der  extreme  Rationalismus  als 
überflüssige  Aufklärung  verächtlich  abgetan  und  alles 
Große  geschieht  nur  durch  die  göttliche  Mania !  Es  wäre 
wohl  befremdlich,  eine  so  veränderte  Lehre  unvermit- 
telt von  Sokrates  selbst,  dem  in  Athen  bekannten  Lehrer, 
vortragen  zu  lassen.  Darum  wird  im  Gastmahl  die  Lehre 
als  Eigentum  Diotimens  gegeben.  Der  Phädros  geht  zwei- 
fach darüber  hinaus:  Sokrates  redet  selbst,  aber  vom 
Gotte  begeistert.  In  engem  Zusammenhange  mit  dieser 
Wandlung  steht  der  hohe  religiöse  Ton.  Sokrates  be- 
faßte sich  mit  der  Religion  vorsichtig  und  zweideutig, 
sein  Ton  war  schlicht,  bürgerlich,  ein  wenig  optimistisch, 
mid  ein  wenig  skeptisch.  Plato  gibt  jetzt  in  aller  Lust 
am  Leben  die  höchsten  Dinge  mit  der  feierlichen  Weihe 
der  Mysten,  mit  dem  Feuer  des  Propheten. 
Dämonisch  ist  nun  nicht  mehr  bloß  negierend,  es  ist  im 
Gegenteil  die  zeugende  Kraft,  Eros.  Zwar  sollte  längst 
klar  sein,  aber  bei  der  gegenwärtigen  Verwässerung  der 
Ideen  muß  es  noch  deutlich  gesagt  werden :  Es  ist  kind- 
liche Eitelkeit,  wenn  man  unter  dem  Platonischen  Eros 
die  Personifikation  des  Wissenstriebes  versteht  und 
glaubt,  daß  jede  wissenschaftliche  Detailarbeit  durch 
ihn  geadelt  sei.  Es  wäre  Zeit,  dies  Mißverständnis  aus 
wissenschaftlichen  Büchern  zu  streichen.  Die  erlebte 
erotische  Leidenschaft  ist  doch  wohl  nicht  die  Grund- 
lage des  Aufstiegs  zur  höchsten  Erkenntnis,  ^vie  unsere 
Bildungsanstalten  sie  verheißen  und  so  ist  wohl  selbst 
für  unsre  unphilosophische  Zeit  die  Entscheidung  nicht 
zu  undeutlich,  daß  Diotima  nicht  einmal,  sondern 
mehrmals  mit  Nachdruck  feststellt,  der  einzige  Weg  zur 
obersten  Weihe  führe  durch  die  Liebe  zu  Einem  schönen 


Plato  und  Sokratea  39 

Leibe,  dann  zu  den  schönen  Leibern  überhaupt.  Doch 
ist  auch  diese  Frage  nicht  vollendet  durchgeführt,  wenn 
wir  den  Phädros  nicht  kennen.  Im  Gastmahl  ist  gesagt, 
daß  Philosophie  erotisch,  Wissenschaft  ohne  Eros  keine 
Philosophie  sei.  Aber  man  kann  zweifeln,  wie  weit 
dieser  Eros  auf  das  Leibliche  gerichtet  bleibt,  oder  ein 
Gefühl  ist,  das  in  mystischer  Weise  auf  etwas  Nicht- 
Sinnliches  gerichtet  ist.  Man  könnte  ja  so  weit  gehen, 
das  erotische  Spiel  mit  den  Schülern  sei  nur  ein  Mittel 
für  andere  Zwecke,  Sokrates  wolle  nur  seine  ideellen 
Zwecke  fördern  und  es  läge  ihm  nichts  weder  an  den 
Menschen  noch  an  ihren  Leidenschaften.  Im  Phädros  bleibt 
kein  Zweifel,  daß  aus  Plato  selbst  die  große  Leidenschaft 
redet.  Vielleicht  hat  Gomperz  recht,  daß  hier  die  Leiden- 
schaft für  Dion  ihren  Ausdruck  gefunden  hat.  (Wenn 
nicht,  so  ist  diese  Vorstellung  doch  erklärend.)  Das  wäre 
die  Eudaimonia  des  Plato,  daß  sein  Eros  in  Einem  die 
leibliche  Erscheinung  und  die  ewige  Idee  geliebt  hätte, 
denn  von  Dion  durfte  er  hoffen,  daß  er  das  Platonische 
Leben  auf  ein  großes  politisches  Reich  übertrüge.  Wie 
dem  auch  sei,  die  Glut  des  Phädros  stammt  nicht  aus 
dem  reinen  Denken,  sie  stammt  aus  dem  sinnlich-über- 
sinnlichen Erlebnis.  Jetzt  ist  Eros  nicht  mehr  bloß 
Führer  zur  Schau,  sondern  die  Schau  selbst;  nicht  mehr 
Dämon,  sondern  wieder  der  alte  Gott.  Was  im  Gastmahl 
noch  unsicher  war,  ist  nun  rein  und  einfach :  Der  Leib 
ist  wieder  das  A  und  0  aller  Dinge  geworden,  der  Ewige 
Ring  wieder  geschlossen.  Im  menschlichen  Leibe  er- 
schaut Plato  die  überirdische  Schönheit  wieder,  sie  will 
er  wieder  anbeten  wie  einen  Gott.  Die  Idee  der  über- 
geschlechtlichen Liebe  ist  gereift,  der  Grundton  ange- 
schlagen zu  den  großen  Liebes-Gesängen  des  Dante, 
Shakespeare,  George. 


40  Plato  und  Sokratet 

Der  große  Ton,  die  kosmische  Leidenschaft  sind  uu- 
sokratisch.  Trotzdem  hat  Plato  hier  auf  der  Wende  mit 
besonderer  Liebe  die  Gestalt  des  Meisters  teilweise  auch 
in  ihren  äußeren  Schicksalen  abgezeichnet.  Es  ist  ganz 
begreiflich,  daß  bei  diesem  allmählichen  Vorgange  der 
Umwandlung  des  historischen  Sokrates  in  den  Plato- 
nischen anfangs  Züge  erhalten  sind,  die  wie  eine  leise 
Kritik  am  Wesen  des  Vorgängers  klingen.  In  der  Apo- 
logie hatte  Plato  den  Aristophanes  bitter  angegriffen  als 
einen  der  mittelbaren  Ankläger  des  Sokrates.  Muß  nicht 
eine  erstaunliche  Wandlung  vorgegangen  sein,  daß  ihm 
nun  Aufnahme  in  dies  Gastmahl  gewährt  ist,  ja  daß 
Sokrates  mit  ihm  den  letzten  Becher  trinkt.  Muß  man 
nicht  schließen,  wenn  man  die  Rede  des  Aristophanes 
bedenkt,  Plato  habe  andeuten  wollen,  daß  Sokrates  doch 
eines  gefehlt:  das  verstehende  Gefühl  für  eine  große 
sinnliche  Leidenschaft  ?  —  Und  wie  bürgerlich  und  breit 
scherzt  Sokrates  im  Xenophontischen  Gastmahl  über 
sich  selbst,  seine  Ehe,  sein  Zimmertumen  und  beson- 
ders seine  Häßlichkeit.  Auch  der  Alkibiades  des  Plato 
vergleicht  ihn  mit  einem  Silen,  aber  die  Häßlichkeit  wird 
nicht  ausgesprochen,  das  Übermütige  im  großen  Sinne 
gefaßt  und  vor  allem  das  Göttliche  ans  Licht  gestellt. 
Gleichwohl  mag  auch  hier  ein  kleiner  Einwand  gegen 
den  Mangel  der  schönen  Gebärde  im  Äußeren  versteckt 
liegen,  sich  selbst  würde  Plato  sicherlich  lieber  mit 
Apollon  verglichen  gesehn  haben,  als  mit  Marsyas.  — 
Wie  die  Rede  des  Phädros  die  noch  ungewisse  Knospe 
des  Ganzen  ist,  so  wird  die  Bewegung  des  Ganzen  am 
Schluß  noch  einmal  in  einem  einfachen  Bilde  zusammen- 
gefaßt. Wie  die  Rede  über  den  Eros  rechts  herum  ge- 
kreist ist,  so  kreist  zwischen  den  dreien,  die  am  Morgen 
allein  noch  wach  sind :  Agathon,  Aristophanes  und  So- 
krates eine  große  Schale  Wein,  —  rechtsherum,  was  zu 
bemerken  der  Dichter  nicht  unterläßt.  —  Sokrates'  Ge- 


Plato  und  Sokrate«  41 

danken  weilen  noch  in  der  Höhe,  er  beweist  den  Dich- 
tern ihre  Teilhaftigkeit,  denn  der  rechte  Mann  müsse 
Tragödie  und  Komödie  zu  dichten  verstehen.  Das  ist 
wieder  Plato  selbst,  er  ist  jener  rechte  Mann.  Das  neue 
Leben,  das  er  in  die  Welt  bringt,  hat  er  anderswo  die 
wahre  Tragödie,  das  heißt  das  festlich-große  Spiel  ge- 
nannt. Und  wemi  Sokrates  im  Gastmahl  die  beiden  durch 
eine  R.ede  übertrifft,  so  setzt  sich  Plato  durch  das  Gast- 
mahl noch  mehr  über  den  Tragöden  und  Komöden  (Aga- 
thon  und  Aristophanes),  denn  diese  würden  wohl  nicht 
wenig  drum  gegeben  haben,  wenn  diese  Reden,  die  Plato 
ihnen  schenkt,  ihr  eigenes  Werk  gewesen  wären.  Plato 
schlägt  die  Gegner  auf  deren  eigenem  Felde.  Eros,  der 
Erreger  des  Wettkampfes,  hat  ihn  zum  Sieger  in  allen 
Agonen  gemacht,  und  nun  bindet  er  die  größte  Fülle  der 
entgegengesetzten  Ej*äfte  in  sich.  Damit  nichts  fehle,  da- 
mit Sokrates  auch  im  Agon  der  unteren  Kräfte  siege,  so 
bleibt  er  übrig,  als  die  letzten  beiden  in  Schlaf  sinken. 
Die  Enthaltsamkeit  des  Eryximachos  ist  ein  Mangel,  die 
gewohnte  Enthaltsamkeit  des  Sokrates  ein  Überfluß  an 
Kraft.  Und  dieser  Gedanke  ist  für  Plato  besonders  wichtig, 
eine  ganze  Reihe  Stellen  im  Gastmahl  deuten  auf  ihn. 
Die  Philosophie  ist  eine  überströmende  Lebenskraft,  nicht 
ein  einseitiger  Intellektualismus.  Auch  im  vegetativen 
Leben,  in  seiner  unglaublichen  Vitalität,  ist  Sokrates 
jedem  überlegen.  Auf  dem  Feldzuge  inPotidäa  spottet  er 
der  Anstrengungen,  des  bitteren  Frostes  in  einer  Weise, 
daß  die  Soldaten  glauben,  er  wolle  sie  verhöhnen.  Und 
dann  steht  er  —  ein  Bild  von  mythischem  Schimmer  — 
einen  ganzen  Tag  und  eine  Nacht  durch  aufrecht  da, 
einsam  philosophierend,  bis  die  Sonne  aufgeht,  dann 
betet  er  zur  Sonne  und  geht  fort.  Sein  geistiges  Sein  ist 
nicht  ein  Gegensatz,  nicht  ein  vom  Leiblichen  losgelöstes, 
es  ist  vielmehr  nur  die  edelste  Blüte  auf  dem  kräftigen 
Stamme  des  leiblichen  Lebens.  Mit  so  mühsamem  Sinnen 


42  Plato  und  Sokrates 

und  Trachten  bahnen  wir  uns  wieder  einen  Weg  zu  dem 
unmittelbaren  sinnlichen  Geschehen  jener  Zeit ;  jenen  war 
es  freilich  gegeben,  das  alles  anmutig  mit  der  leichtesten 
Gebärde  zli  sagen :  Sokrates  erhebt  sich,  nachdem  er  die 
letzten  zur  Ruhe  gebracht  hat.  Dann  geht  er  ins  Lykeion, 
badet  und  bringt  den  ganzen  Tag  zu  wie  er  es  sonst  tat. 
Abends  begibt  er  sich  nach  Haus  znr  Ruhe. 


DAS  GASTMAHL 

•.1 APOLLODOR :  Ich  denke  für  eure  Fragen  nicht  unvorbe- 

172  reitet  zu  sein.  Ich  ging  nämlich  gerade  neuhch  von  Hause 
in  die  Stadt  hinauf,  von  Phaleron  aus ;  da  bemerkte  mich 
von  hinten  ein  Bekannter  und  rief  mich  von  weitem  an 
und  scherzte  im  Anruf:  ,,Phalereus,  he,  du  Apollodor, 
warte  doch!"  Ich  blieb  stehn  und  wartete.  Und  jener 
sagte :  „Apollodor,  schon  neulich  suchte  ich  dich,  da  ich 
dich  ausfragen  wollte  über  die  Zusammenkunft  von  Aga- 
thon  und  Sokrates  und  Alkibiades  und  der  andern  die 
damals  am  Gastmahl  teilnahmen,  wegen  der  Reden  über 
die  Liebe,  welches  ihr  Inhalt  war.  Mir  hat  es  ja  schon  ein 
andrer  erzählt,  der  es  von  Phönix,  dem  Sohn  des  Philip- 
pos, gehört  hatte;  er  sagte  aber,  du  wüßtest  es  auch. 
Aber  der  konnte  nichts  Genaues  sagen;  du  also  wirst  mir 
erzählen!  Dir  vor  allen  ist  es  ja  gemäß,  des  Freundes 
Worte  zu  verkünden.  Zuvor  aber  sage  mir :  nahmst  du 
selbst  an  dieser  Zusammenkunft  teil  oder  nicht?"  Und 
ich  sagte :  Jener  Erzähler  scheint  dir  ja  schon  gar  nichts 
Genaues  erzählt  zu  haben,  wenn  du  glaubst  die  Zusam- 
menkunft sei  kürzlich  gewesen,  nach  der  du  fragst,  so 
daß  auch  ich  teilgenommen  hätte?  —  Ja,  ich  glaubte. 
—  Und  ich:  Woher  denn,  Glaukon!  Weißt  du  nicht, 
daß  Agathon  seit  vielen  Jahren  hier  nicht  gewohnt  hat? 
Daß  ich  aber  mit  Sokrates  lebe  und  jeden  Tag  beeifert 
bin  zu  wissen  was  er  wohl  sagt  und  tut,  das  sind  noch 
nicht  drei  Jahre.  Vordem  lief  ich  herum  wie  es  sich  traf, 

173  glaubte  etwas  zu  schaffen  und  war  armseliger  als  irgend- 
wer, nicht  weniger  als  du  heute,  der  du  glaubst  eher  alles 
andre  tun  zu  müssen  als  zu  philosophieren.  —  Spotte 
nicht,  sagte  jener,  sondern  sage  mir,  wann  jene  Zusam- 
menkunft stattfand.  —  Und  ich  antwortete :  Wir  waren 
noch  Knaben;  damals  als  Agathon  mit  der  ersten  Tragö- 
die gesiegt  hatte,  am  Tage,  nachdem  er  das  Siegesfest  ge- 


44  Apollodor 

feiert  hatte,  er  selbst  und  seine  Choreuten.  —  Also  vor 
sehr  langer  Zeit,  sagte  er,  nicht  wahr  ?  Aber  wer  hat's  dir 
erzählt?  Etwa  Sokrates  selbst?  —  Nein,  beim  Zeus,  sagte 
ich;  sondern  der,  welcher  es  auch  dem  Phönix  erzählt 
hat;  Aristodem  war's,  jener  kleine,  barfüßige  Kydathe- 
naeer;  er  war  bei  der  Zusammenkunft  und  war  damals 
am  meisten  von  allen  in  Sokrates  verliebt,  wie  ich  glaube. 
Aber  auch  Sokrates  habe  ich  nach  einigem  gefragt,  was 
ich  von  jenem  gehört  hatte,  und  er  hat  es  mir  so  be- 
stätigt, wie  jener  es  erzählte.  —  Warum  erzählst  du  also 
nicht  schon  ?  sagte  jener.  Der  Weg  in  die  Stadt  ist  ganz 
wie  geschaffen  im  Gehen  zu  reden  und  zu  hören.  —  So 
gingen  wir  und  redeten  zugleich  davon,  daher  bin  ich 
wie  ich  anfangs  sagte  nicht  unvorbereitet.  Wenn  ihr  es 
nun  auch  zu  hören  verlangt,  so  muß  ich  es  tun.  Bin  ich 
doch  auch  sonst,  wenn  ich  Reden  über  die  Philosophie 
selbst  halte  oder  von  andern  höre,  über  die  Maßen  froh, 
abgesehen  davon,  daß  ich  mich  zu  fördern  glaube.  Wenn 
ich  aber  andre  höre,  zumal  die  von  euch,  die  der  Reichen 
und  Geschäftsmänner,  dann  werde  ich  selbst  verdrieß- 
lich und  bemitleide  euch  Freunde,  weil  ihr  glaubt  etwas 
zu  tun,  wo  ihr  nichts  tut.  Und  nun  meint  ihr  vielleicht  ich 
sei  elend,  und  ich  glaube  ihr  habt  recht;  ich  dagegen 
glaube  es  nicht  von  euch,  sondern  ich  weiß  es  gewiß.** 
DER  FREUND:  Immer  bist  du  der  gleiche,  Apollodor; 
immer  schmähst  du  dich  selbst  und  die  andern,  und  ich 
glaube,  du  hältst  wirklich  alle  für  armselig  ausgenommen 
Sokrates,  dich  selbst  zuerst.  Woher  du  den  Beinamen  er- 
halten hast  „der  Sanfte**  weiß  ich  nicht;  denn  im  Reden 
wenigstens  bist  du  immer  ein  solcher:  du  wütest  gegen 
dich  und  die  andern  außer  Sokrates. 
APOLLODOR :  Teuerster,  es  ist  ja  offenbar,  daß  ich  be- 
sessen werde  und  rase,  da  ich  über  mich  selbst  und  euch 
so  denke  1 
FREUND :  Es  hat  keinen  Wert,  jetzt  darüber  zu  streiten, 


Apollodor  45 

Apollodor.  Aber  worum  wir  dich  baten,  dem  weiche  nicht, 
ans,  sondern  berichte,  wie  waren  die  Reden? 
APOLLODOR :  Sie  waren  etwa  so :  —  nein,  ich  will  lieber 
174  von  Anfang  an,  so  wie  es  jener  erzählt  hat,  es  euch  zu 
c  2  erzählen  versuchen.  Also  jener  erzählte,  es  sei  ihm 
Sokrates  begegnet,  gebadet  und  mit  Schuhen  an  den 
Füßen,  die  er  selten  trug;  und  er  habe  jenen  gefragt,  wo- 
hin er  ginge,  daß  er  sich  so  schön  gemacht  habe.  Und  der 
habe  geantwortet:  Zum  Mahle  bei  Agathon.  Denn  gestern 
habe  ich  ihn  verlassen  bei  der  Siegesfeier,  aus  Scheu 
vor  der  Menge.  Ich  sagte  ihm  aber  zu,  heute  bei  ihm  zu 
sein.  Darum  habe  ich  mich  geschmückt,  damit  ich  ein 
Schöner  zum  Schönen  gehe.  Aber  du,  was  meinst  du 
dazu:  willst  du  nicht  ungeladen  zum  Mahle  kommen? 
—  Und  ich  sagte :  Ganz  wie  du  befiehlst. ' —  Begleite  mich 
also,  sagte  jener,  damit  wir  das  Sprüchwort  umdrehn  und 
vernichten,  nämlich :  „Zu  der  Guten  Mahle  kommen  von 
selbst  die  Guten."  Homer  scheint  nämlich  dies  Sprüch- 
wort nicht  nur  zu  vernichten  sondern  auch  seinen  Scherz 
damit  zu  treiben.  Denn  er  dichtet  den  Agamemnon  als 
einen  hervorragend  guten  Kriegsmann,  den  Menelaos  als 
weichlichen  Lanzenschwinger,  und  als  Agamemnon  ein 
Opfermahl  richtet  und  speist,  kommt  ungeladen  Menelaos 
zum  Schmause,  er  der  Schlechtere  zum  Mahle  des  Besse- 
ren. —  Darauf  habe  er  geantwortet:  Doch  fürchte  ich, 
ich  werde  vielleicht  nicht  nach  deinem  Wort,  Sokrates, 
sondern  nach  dem  des  Homer  als  ein  Geringer  zum 
Schmause  des  weisen  Mannes  ungeladen  kommen.  Wie 
wirst  du  midi  also  verteidigen,  wenn  du  mich  mitbringst? 
Denn  ich  werde  ja  nicht  zugeben,  daß  ich  ungeladen 
komme,  sondern  von  dir  geladen.  —  Zu  zweien  hinwan- 
delnd des  Weges,  sagte  jener,  wollen  wir  ratschlagen, 
was  wir  sagen  werden.  Also  gelm  wir!  Unter «olchen  Ge- 
sprächen seien  sie  gegangen.  Dann  sei  Sokrates  über 
irgend  etwas  bei  sich  nachsinnend  auf  dem  Wege  zurück- 


46  ApoUodor 

geblieben  und  wenn  er  auf  ihn  warten  wollte,  habe  er  ihn 
geheißen  weiter  vorauszugehen.  Als  er  aber  zum  Hause 
des  Agathon  gelangt  sei,  habe  er  das  Tor  offen  gefunden, 
und  da  sei  ihm  etwas  Lustiges  geschehn.  Es  kam  ihm 
nämlich  von  drinnen  sogleich  ein  Knabe  entgegen  und 
führte  ihn  hin  wo  die  andern  lagen,  die  eben  das  Mahl 
beginnen  wollten.  Kaum  erblickte  ihn  Agathon,  so  sagte 
er:  Ah,  Aristodeml  wie  schön,  daß  du  kommst,  mit  uns 
zu  speisen  I  Kamst  du  einer  andern  Sache  wegen,  so  ver- 
schieb sie  auf  ein  andermal;  denn  als  ich  dich  gestern 
suchte  um  dich  einzuladen,  konnte  ich  dich  nicht  finden. 
Aber  wieso  bringst  du  uns  Sokrates  nicht  mit?  Und  ich 
—  ich  wende  mich  um  und  sehe  nirgends  Sokrates  hin- 
terher kommen.  Ich  sagte  also,  daß  ich  ja  selbst  mit  So- 
krates gekommen  sei,  von  ihm  selbst  hierher  zum  Essen 
geladen.  —  Da  tatest  du  recht,  sagte  er.  Aber  wo  ist 
jener.  —  Er  ging  dicht  hinter  mir;  ich  wundre  mich  selbst  i7i 
wo  er  wohl  sein  mag.  —  Schau  doch  einmal  nach,  Knabe,  J 
sagte  Agathon,  und  führe  Sokrates  herein !  Und  du,  Ari- 
stodem,  lege  dich  neben  Eryximachos.  Und  der  Ejiabe  ci 
wusch  ihn,  damit  er  sich  niederlege.  Ein  andrer  Knabe 
kam  und  meldete,  jener  Sokrates  sei  in  den  Vorhof  der 
Nachbarn  abgeschwenkt  und  stünde  da  und  als  er  ihn 
anrief,  wollte  er  nicht  hereinkommen.  Du  redest  wunder- 
lich, sagte  Agathon;  also  ruf  ihn  nur  und  laß  nicht  ab. 
Da  habe  er  selbst  gesagt :  Auf  keinen  Fall,  sondern  laßt 
ihn,  denn  das  ist  seine  Gewohnheit,  öfters  bleibt  er  stehen, 
wo  es  gerade  ist,  und  da  steht  er.  Ich  glaube,  er  wird  bald 
kommen.  Stört  ihn  also  nicht,  sondern  laßt  ihn.  —  Wenn 
du  meinst,  soll  es  so  geschehn,  sagte  Agathon.  Uns  an- 
dere aber  bewirtet,  Knaben.  Tragt  auf,  ganz  was  ihr  wollt, 
da  euch  kein  Aufseher  gesetzt  ist,  was  ich  nie  und  nir- 
gends tue.  Nun  denkt  euch  also,  ich  und  die  andern  hier 
seien  von  euch  zum  Mahle  geladen,  sorgt  für  uns,  damit 
wir  euch  loben. 


Apollodur  47 

Danach  hätten  sie  gespeist,  Sokrates  aber  kam  nicht. 
Agathon  habe  oft  den  Auftrag  gegeben  Sokrates  zu  holen, 
er  jedoch  habe  es  nicht  zugelassen.  Endlich  sei  er  ge- 
kommen, wie  gewöhnlich  nicht  lange  Zeit  verweilend, 
sondern  als  sie  etwa  in  der  Mitte  des  Mahles  waren.  Da 
rief  Agathon  —  er  lag  nämlich  allein  am  Ende  der  Tafel: 
Hierher,  Sokrates,  lege  dich  zu  mir,  damit  ich  auch  von 
der  Weisheit  genieße,  die  sich  dir  im  Vorhof  gestellt  hat. 
Offenbar  hast  du  sie  entdeckt  und  hältst  sie,  denn  sonst 
hättest  du  nicht  abgelassen.  Und  Sokrates  setzte  sich 
und  sagte :  Schön  wäre  es,  Agathon,  wenn  die  Weisheit 
ein  Ding  wäre,  das  aus  dem  Volleren  in  den  Leereren 
von  uns  fließt,  so  oft  wir  einander  berühren,  wie  das 
Wasser  in  den  Schalen  durch  den  Wollfaden  aus  der 
volleren  in  die  leerere  fließt.  Denn  wenn  auch  die  Weis- 
heit sich  so  verhält,  so  schätze  ich  den  Platz  neben  dir 
hoch  ein,  weil  ich  glaube  von  dir  mit  vieler  und  schöner 
Weisheit  angefüllt  zu  werden.  Denn  die  meine  dürfte  wohl 
gering  sein  und  zweifelhaft,  sie  ist  wie  ein  Traum ;  deine 
aber  ist  strahlend  und  greift  mächtig  um  sich,  da  sie  von 
dir,  der  du  jung  bist,  so  gewaltig  ausstrahlte  und  vor- 
gestern offenbar  wurde  vor  den  Augen  von  mehr  als 
dreißig  Tausenden  der  Hellenen.  —  Du  Spötter,  Sokrates  1 
sagte  Agathon.  Diese  Frage  über  die  Weisheit  wollen  wir 
später  ausmachen,  ich  und  du,  Dionysos  soll  unser  Rich- 
ter sein.  Jetzt  aber  wende  dich  zuerst  dem  Mahle  zu.  ^ 
•.4  Danach  habe  sich  —  erzählte  er  —  Sokrates  niedergelegt 
17«  und  mit  den  andern  gespeist;  und  als  sie  die  Spende  ver- 
gossen, und  dem  Gotte  gesungen  und  die  übrigen  Bräuche 
erfüllt  hatten,  wandten  sie  sich  dem  Weine  zu.  Dann  be- 
gann Pausanias  mit  etwa  diesen  Worten :  Gebt  acht,  Män- 
ner, wie  machen  wir  uns  das  Trinken  möglichst  leicht?! 
Ich  wenigstens  sage  euch,  daß  ich  mich  wirklich  einiger- 
maßen beschwert  fühle  vom  gestrigen  Trünke  und  einiger 
Erholung  bedarf;  und  ich  glaube  auch  von  euch  die  mei- 


48  Apollcxior 

sten;  ihr  war't  ja  gestern  dabei.  Überlegt  also,  wie  wir  am 
leichtesten  triiiken.DarauferwiderteAristophanes :  Dahast 
du  recht  gesprochen,  Paiisaiiiais,  auf  allcWeise  müssen  wir 
für  eine  gewisse  Leichtigkeit  des  Zechens  sorgen ;  denn  ich 
gehöre  auch  zu  denen,  die  gestern  eingetaucht  wurden. 
Auf  diese  Worte  sagte  Eryximachos,  des  Akumenos  Sohn : 
Recht  habt  ihr!  Doch  von  einem  unter  euch  muß  ich 
noch  hören,  wie  es  mit  seiner  Ki-aft  zum  Trinken  steht 
—  Agathon !  —  Gar  nicht,  sagte  der,  auch  ich  bin  nicht 
bei  Kraft.  —  Glück  haben  wir  gehabt,  scheint  es,  fuhr  er 
fort,  ich  und  Aristodem  und  Phädros  und  diese  hier, 
wenn  ihr,  die  stärksten  Trinker  jetzt  verzichtet;  denn  wir 
sind  immer  schwache ;  Sokrates  nehme  ich  aus,  denn  er 
ist  in  beidem  tüchtig,  so  daß  er  zufrieden  ist,  wie  wir's 
auch  machen.  Da  es  mir  also  scheint,  keiner  der  Anwesen- 
den sei  begierig  viel  Wein  zu  trinken^  so  möchte  ich  viel- 
leicht, wenn  ich  über  das  AVesen  der  Betrunkenheit  die 
Wahrheit  sage,  nicht  allzu  lästig  fallen.  Ich  glaube  näm- 
lich dies  aus  der  Heilkunde  klar  erkannt  zu  haben,  daß 
für  die  Menschen  der  Rausch  etwas  Schweres  ist.  Und 
weder  würde  ich  selbst  geneigt  sein  freiwillig  drauflos 
zu  trinken  noch  würde  ich  einem  andern  dazu  raten,  zu- 
mal wenn  man  noch  vom  Tage  vorher  berauscht  ist.  — 
Aber  gewiß,  fiel  Phädros  der  Myrrhinusier  ein,  ich  bin 
gewohnt  dir  zu  folgen,  besonders  wenn  du  von  der  Heil- 
kunde redest;  diesmal  aber  auch  die  andera,  wenn  sie 
wohl  beraten  sind.  Darauf  kamen  alle  überein  die  heu- 
tige Zusammenkunft  nicht  auf  den  Rausch  einzustellen, 
sondern  so  nach  Lust  zu  trinken. 

Nachdem  also  dies  für  gut  befunden  ist,  sagte  Eryxi-  a 
machos,  daß  jeder  trinkt  soviel  er  will,  aber  nichts  er- 
zwungen wird,  so  schlage  ich  weiter  vor  die  eben  ein- 
getretene Flötenspielerin  sich  empfehlen  zu  lassen,  mag 
sie  sich  selbst  spielen  oder  wenn  sie  will,  den  Weibern 
nebenan,  daß  wir  den  heutigen  Tag  mit  Wechaelreden 


ApoUodor  49 

beisammen  sind.  Und  mit  welchen  Reden,  will  ich  euch 
177  vorschlagen,  wenn  ihr  wollt.  Alle  sagten,  sie  wollten  es 
und  er  solle  vorschlagen.  Darauf  sagte  Eryximachos  :  Ich 
beginne  die  Rede  mit  der  Melanippe  des  Euripides.  Zwar 
nicht  von  mir  ist  der  Gedanke  sondern  von  unserm  Phä- 
dros,  den  ich  aussprechen  will.  Denn  immer  wieder  sagt 
Phädros  unwillig  zu  mir :  „Ist  es  nicht  unerhört,  Eryxi- 
machos, daß  den  andern  Göttern  Hymnen  und  Danklieder 
von  den  Dichtern  gedichtet  sind,  dem  Eros  aber,  dem  so 
großen,  so  mächtigen  Gotte,  kein  einziger  der  Dichter,  so 
viele  schon  gelebt  haben,  jemals  einen  Lobgesang  ge- 
dichtet hat?  Betrachte  doch  dagegen  die  wackeren  So- 
phisten, wie  sie  das  Lob  des  Herakles  und  andrer  schrift- 
lich ausarbeiten,  der  vortreffliche  Prodikos  zum  Bei- 
spiel ;  und  das  ist  noch  weniger  zu  verwundern,  aber  ich 
bin  bereits  auf  ein  Buch  gestoßen,  in  welchem  das  Salz 
eine  wundervolle  Lobrede  wegen  des  Nutzens  erhielt, 
und  eine  Menge  solcher  Dinge  kann  man  gelobt  und  ge- 
priesen finden.  Sie  haben  also  auf  solche  Dinge  viel  Eifer 
verwandt,  keiner  der  Menschen  aber  hat  sich  bis  auf  den 
heutigen  Tag  erkühnt,  den  Eros  würdig  zu  besingen,  son- 
dern so  ist  vernachlässigt  der  so  große  Gottl"  Ich  meine, 
Phädros  hat  damit  recht  gesprochen.  Ich  begehre  daher 
zugleich  diesem  beizusteuern  und  gefällig  zu  sein,  zu- 
gleich scheint  mir  für  uns  Gegenwärtige  die  würdige 
Stunde  zu  sein,  den  Gott  zu  schmücken.  Wenn  nun  auch 
ihr  zustimmt,  so  hätten  wir  hinlänglichen  Stoff  für  unsre 
Reden.  Ich  denke,  es  sollte  jeder  von  uns  rechtsherum 
eine  Lobrede  auf  Eros  sagen,  so  schön  er  nur  irgend  ver- 
mag, Phädros  solle  anfangen  da  er  obenan  sitzt  und  weil 
er  auch  der  Vater  dieses  Gesprächs  ist.  —  Niemand, 
Eryximachos,  wird  gegen  dich  stimmen,  sagte  Sokrates. 
Weder  hätte  ich  etwas  einzuwenden,  da  ich  nichts  andres 
als  die  Dinge  der  Liebe  verstehe,  weder  Agathen  und  Pau- 
sanias,  auch  gewiß  Aristophanes  nicht,  dessen  ganzes 

Plato,  Gastmahl.  4 


50  Phädros 

Treiben  um  Dionysos  und  Aphrodite  sich  dreht,  noch 
irgendein  andrer  den  ich  hier  sehe.  Zwar  sind  wir  be- 
nachteiligt, die  wir  am  unteren  Ende  liegen;  aber  wenn 
die  Vorredner  angemessen  und  schön  sprechen,  so  wollen 
wir  zufrieden  sein.  Also  mit  gutem  Glück  beginne  Phä- 
dros und  preise  den  Eros.  Und  alle  andern  stimmten  ein 
und  verlangten  dasselbe  wie  Sokrates. 
Zwar  erinnerte  sich  Aristodem  nicht  an  alles  genau,  was  17* 
jeder  von  ihnen  sagte,  und  ich  wieder  nicht  an  alles, 
was  jener  sagte.  Was  aber  und  von  wem  es  mir  des  Ge- 
dächtnisses am  meisten  würdig  schien,  deren  Rede  will 
ich  euch  einzeln  sagen. 

Er  erzählte,  wie  gesagt,  Phädros  habe  zuerst  geredet  und  «.ß 
er  sei  davon  ausgegangen,  ein  großer  Gott  sei  Eros  und 
zu  bewundern  bei  Menschen  und  Göttern,  in  vielen  Din- 
gen, aber  nicht  zum  wenigsten  wegen  seines  Ursprunges. 
Denn  unter  den  Göttern  am  ältesten  zu  sein  ist  ruhmvoll. 
Das  aber  ist  bezeugt :  Denn  Eltern  des  Eros  gibt  es  nicht, 
kein  Laie,  kein  Dichter  nennt  sie,  sondern  Hesiod  sagt : 
Zuerst  wurde  das  Chaos,  aber  danach 

„Breitbrüstige  Gea,  allen  ewig  sicherer  Sitz 

Und  Eros." 
Er  sagt  also,  nach  dem  Chaos  seien  diese  beiden  gewor- 
den, Gea  und  Eros.  Parmenides  sagt  von  seinem  Ur- 
sprung :  „Zuerst  von  allen  Göttern  ersann  sie  den  Eros.'* 
Dem  Hesiod  stimmt  auch  Akusilaos  bei.  So  stinamen 
viele  überein,  Eros  sei  unter  ihnen  der  älteste.  Wie  der 
älteste,  so  ist  er  uns  der  größten  Güter  Urheber;  ja,  ich 
wüßte  kein  größeres  Gut  zu  nennen  als  schon  dem  Jüng- 
ling ein  wahrer  Liebender  und  dem  Liebenden  ein 
Liebling.  Denn  was  die  Menschen,  die  schön  zu  leben 
trachten,  ihr  ganzes  Leben  leiten  muß,  das  kann  nicht 
die  Verwandtschaft  ihnen,  noch  Ehren  noch  Reichtum 
noch  irgend  andres  so  schön  verleihen  wie  Eros.  Was 
meine  ich  damit?  Die  Scham  vor  dem  Schändlichen,  die 


Phädrog  51 

Ehrsucht  zum  Schönen.  Denn  ohne  diese  kann  nicht  Stadt, 
nicht  Einzelner  große  und  schöne  Werke  wirken.  Ich  be- 
haupte, wenn  ein  Mann  welcher  liebt  bei  etwas  Schänd- 
lichem betroffen  wird  oder  wenn  er  aus  Feigheit  sich 
etwas  gefallen  läßt,  so  schmerzt  es  ihn  nicht  so  sehr,  vom 
Vater  gesehn  zu  werden  oder  von  einem  Gefährten  oder 
von  irgendeinem  andern  als  vom  Geliebten.  Dasselbe  sehn 
wir  an  dem  Geliebten,  daß  er  sich  ganz  besonders  vor 
den  Liebhabern  schämt,  wenn  er  bei  irgend  etwas  Schänd- 
lichem gesehn  wird.  Gäbe  es  also  eine  Möglichkeit,  daß 
eine  Stadt  oder  Armee  aus  Liebenden  und  Geliebten  be- 
stünde, so  würde  niemand  des  Seinigen  besser  walten 
als  diese  sich  alles  Häßlichen  Enthaltenden  und  vorein- 

173  ander  Ehrsüchtigen;  und  gemeinsam  kämpfend  würden 
solche  siegen,  auch  wenn  sie  wenige  sind,  um  es  denn 
zu  sagen,  über  alle  Menschen.  Denn  den  Platz  verlas- 
send oder  die  Waffen  hinwerfend  vom  Geliebten  erblickt 
zu  werden,  würde  ein  liebender  Mann  wohl  weniger  leicht 
hinnehmen  als  von  sämtlichen  andern,  und  lieber  als 
das  würde  er  oftmals  sterben.  Aber  gar  verlassen  den 
Liebling  und  dem  Gefährdeten  nicht  helfen,  so  schlecht 
ist  keiner,  den  da  nicht  Eros  selbst  göttlich  begeistert 
zum  Edeltum,  so  daß  er  ähnlich  ist  dem  von  Natur  Adligen 
und  wahrhaftig,  was  Homer  sagt,  daß  einigen  der  Heroen 
der  Gott  Mut  einblase,  das  gewährt  Eros  den  Liebenden 

C.7  als  seine  Gabe.  Ja,  auch  zu  sterben  füreinander  begehren 
allein  die  Liebenden,  nicht  allein  Männer  sondern  auch 
die  Frauen.  Des  Pelias  Tochter  Alkestis  hat  ein  gültiges 
Zeugnis  abgelegt  für  dieses  Wort  vor  den  Hellenen ;  sie 
allein  begehrte  für  ihren  Gatten  zu  sterben,  da  ihm  noch 
Vater  imd  Mutter  lebten ;  diese  übertraf  sie  so  sehr  in  der 
Liebe  durch  ihren  Eros,  daß  sie  dartat,  jene  seien  dem 
Sohne  fremd  und  nur  mit  dem  Namen  angehörig.  Und 
als  sie  das  getan  hatte,  schien  sie  eine  so  schöne  Tat 
nicht  nur  den  Menschen  sondern  den  Göttern  getan  zu 


52  Phädros 

haben ;  und  während  doch  viele  Vieles  und  Schönes  taten, 
aber  nur  einigen  wenigen  diese  Ehrengabe  die  Götter 
verhehn,  aus  dem  Hades  die  Seele  wieder  zu  entlassen, 
so  entließen  sie  doch  die  Seele  jener,  ihre  Tat  bewun- 
dernd. So  ehren  auch  die  Götter  am  meisten  den  Eifer 
und  die  Tugend  aus  Liebe.  Aber  Orpheus  des  Oeagros 
Sohn  entließen  sie  ohne  Erfolg  aus  dem  Hades  und  zeig- 
ten ihm  einen  Schatten  des  Weibes,  um  das  er  gekommen 
war,  sie  selbst  aber  gaben  sie  nicht,  weil  er  sich  weich- 
lich benahm,  war  er  doch  Lautenspieler,  und  nicht  das 
Herz  hatte,  für  die  Liebe  zu  sterben  wie  Alkestis,  son- 
dern mit  List  lebendig  in  den  Hades  einging.  Dafür  haben 
sie  ihm  auch  Strafe  auferlegt  und  ließen  ihn  durch  Wei- 
ber sterben ;  nicht  wie  Achill  den  Sohn  der  Thetis  ehrten 
sie  ihn,  den  sie  auf  die  Inseln  der  Seligen  entrückten, 
wxil  er  belehrt  von  der  Mutter,  daß  er  Hektor  tötend 
stürbe,  ihn  nicht  tötend  aber  in  die  Heimat  kehren  und 
bejahrt  verscheiden  würde,  kühn  war  und  wählte  für  den 
Liebenden  Patroklos  rächend  einzustehn  und  nicht  nur 
an  seiner  Stelle  sondern  sogar  für  den  schon  Gefallenen  iw 
zu  sterben.  Woher  denn  die  Götter  ihn  höchlich  be- 
Vv^mderten  und  vor  Allen  ehrten,  weil  er  den,  der  ihn 
liebte,  so  sehr  hoch  achtete.  Äschylos  fabelt,  wenn  er 
sagt,  Achill  sei  in  Patroklos  verliebt  gewesen,  denn  er 
war  schöner  nicht  nur  als  Patroklos  sondern  als  alle  Hel- 
den, und  noch  bartlos,  auch  viel  jünger,  wie  Homer  sagt. 
Ja,  wahrlich,  diese  Tüchtigkeit  um  der  Liebe  willen  ehren 
am  höchsten  die  Götter,  mehr  jedoch  bewundern  und 
lieben  und  belohnen  sie,  wenn  der  Geliebte  dem  Lieben- 
den, als  wenn  der  Liebende  dem  Liebling  anhängt.  Gött- 
licher nämlich  ist  der  Liebende  als  der  Geliebte,  der  Gott 
ist  ja  in  ihm.  Deswegen  ehrten  sie  auch  den  Achill  mehr 
als  Alkestis  und  entrückten  ihn  auf  die  Inseln  der  Seligen. 
So  behaupte  ich  denn,  daß  Eros  unter  Göttern  der  älteste 
und  geehrteste  und  zum  Erwerbe  der  Tüchtigkeit  und 


Paiiaanias  53 

Glückseligkeit  den  Menschen  bestimmt  sei,  im  Leben  und 
nach  dem  Tode. 

c.i  Ungefähr  diese  Rede  —  erzählte  er  —  habe  Phädros  ge- 
halten ;  nach  Phädros  seien  einige  andre  gekommen,  deren 
er  sich  nicht  ganz  erinnerte.  Diese  ließ  er  aus  und  be- 
richtete die  Rede  des  Pausanias.  Dieser  sagte :  Ich  glaube, 
Phädros,  man  hat  uns  den  Gegenstand  nicht  gut  bestimmt, 
da  man  einfach  so  vorschrieb,  Eros  zu  preisen.  Ja,  wenn 
Eros  Einer  wäre,  nun  aber  ist  er  gar  nicht  Einer.  Da  er 
nicht  Einer  ist,  wäre  es  richtiger,  vorher  festzusetzen, 
welchen  man  loben  soll.  Ich  will  also  versuchen  dies  zu 
berichtigen;  zuerst  will  ich  sagen,  welchen  Eros  man 
loben  soll,  danach  ihn  loben  —  des  Gottes  würdig.  Wir 
alle  wissen  ja,  daß  keine  Aphrodite  ohne  Eros  ist.  Also 
wenn  sie  Eine  —  wäre  Eros  Einer.  Da  es  aber  zwei  sind, 
müssen  notwendig  zwei  Eroten  sein.  Sind  es  nicht  sicher- 
lich zwei  Göttinnen?  Die  eine  ist  älter  und  mutterlos, 
Uranos'  Tochter,  wir  nennen  sie  auch  Himmlische.  Die 
andere  jünger,  Zeus  und  Diones  Tochter,  wir  nennen  sie 
auch  Bürgerliche.  So  ist  es  notwendig  und  richtig,  Eros, 
den  Begleiter  der  einen,  bürgerlich  zu  nennen,  den  an- 
dern himmlisch.  Loben  soll  man  zwar  alle  Götter,  aber 
was  jedem  der  beiden  bestimmt  ist  wollen  wir  sagen. 

isi  Denn  so  gilt  es  von  jedem  Tun :  Das  Getane  ist  von  sich 
aus  weder  schön  noch  häßlich.  Wie  das,  was  wir  jetzt 
tun.  Trinken  und  Singen  und  Reden,  wie  davon  nichts 
an  sich  schön  ist,  sondern  innerhalb  des  Tuns,  wie  es 
getan  wird,  davon  hängt  es  ab.  Denn  wenn  es  schön  ge- 
tan wird  und  richtig,  wird  es  schön;  wenn  nicht  richtig 
wird  es  häßlich.  So  auch  das  Lieben,  und  nicht  jeder 
Eros  ist  schön  und  würdig  gepriesen  zu  werden,  sondern 
nur  der,  welcher  schön  zu  lieben  reizt. 

i«.9  Nun  ist  der  der  bürgerlichen  Aphrodite  wahrhaft  bürger- 
lich und  setzt  ins  Werk  was  sich  gerade  bietet.  Und  dieser 
ist  es  mit  dem  die  schlechten  unter  den  Menschen  lieben 


54  Paasanias 

Es  lieben  solche  erstlich  nicht  minder  Frauen  als  Kna- 
ben, dann  mehr  die  Leiber  als  die  Seelen  derer,  die  sie 
lieben,  dann  möglichst  die  geistlosen,  weil  sie  nur  stre- 
ben, zum  Ziel  zu  gelangen,  unbekümmert  ob  schön  oder 
nicht.  Daher  kommt  es,  daß  sie  ausführen  was  sich  ge- 
rade bietet,  ebenso  das  Gute  wie  das  Gegenteil.  Denn  er 
stammt  ja  von  der  Göttin,  welche  weit  jünger  ist  als  die 
andre  und  in  ihrer  Entstehung  an  Weiblichem  und  Männ- 
lichem teilhat.  Der  andere  aber  stammt  von  der  Hinmi- 
lischen,  welche  erstens  am  Weiblichen  nicht  teilhat  soa- 
dern  am  Männlichen  allein;  —  und  er  ist  der  Eros  zu 
Knaben  — ,  welche  ferner  älter  ist,  frei  von  Ausschwei- 
fung ;  daher  sich  zum  Männlichen  wendet,  wen  dieser  Eros 
anhaucht,  indem  er  das  von  Natur  Stärkere  und  mehr 
Vernunft  Enthaltende  gern  hat.  Und  man  kann  wohl  auch 
in  der  Knabenliebe  selbst  erkennen,  welche  rein  von  die- 
sem Eros  getrieben  werden.  Denn  sie  lieben  nicht  Kin- 
der, sondern  solche,  die  schon  anfangen  Vernunft  zu 
hegen.  Das  trifft  etwa  zusammen  mit  dem  Keimen  des 
Bartes.  Denn  wer  dann  anfängt  zu  lieben,  ist  gerüstet  — 
glaube  ich  —  das  ganze  Leben  zusammen  zu  sein  und 
in  Gemeinschaft  zu  leben,  aber  er  wird  jenen  nicht  be- 
trügen, da  er  ihn  im  knabenhaften  Unverstand  ergriffen, 
und  lachend  davon  gehen  und  zu  einem  andern  entlau- 
fen. Es  müßte  ein  Gesetz  sein,  nicht  Kinder  zu  lieben, 
damit  nicht  auf  ein  Ungewisses  viel  Eifer  verschwendet 
würde ;  denn  der  Ausgang  der  Kinder  ist  noch  ungewiß, 
in  welcher  Schlechtigkeit  oder  Tüchtigkeit  der  Seele  und 
des  Leibes  sie  enden  werden.  Die  Guten  geben  sich  selbst 
freiwillig  dies  Gesetz.  Man  muß  aber  auch  die  Bürgerlich- 
Verliebten  dazu  zwingen,  wie  wir  sie  auch  möglichst 
zwingen,  die  freigeborenen  Frauen  nicht  zu  lieben.  Demi  im 
diese  sind  es,  welche  die  Schande  gebracht  haben,  so 
daß  manche  zu  sagen  wagen,  den  Liebenden  zu  will- 
fahren sei  schimpflich.  Sie  sagen  es  mit  dem  Blick  auf 


Pau.sanias  55 

jene,  da  sie  deren  Ungebühr  und  Unrecht  sehen;  denn 
was  nach  Ordnung  und  Sitte  geschieht,  kann  niemals  mit 
Recht  Tadel  tragen. 

Zwar  ist  in  den  andern  Städten  die  Sitte  in  der  Liebe 
leicht  zu  verstehen,  denn  sie  ist  einfach  umgrenzt;  aber 
bei  uns  und  in  Lakedämon  ist  sie  vieldeutig.  Nämlich 
in  Elis  und  Böotien  und  wo  sie  nicht  zu  reden  wissen 
gilt  einfach  die  Sitte,  es  sei  schön  den  Verliebten  zu  will- 

•  fahren,  und  niemand  ob  jung  ob  alt  würde  es  häßlich 
nennen,  damit  sie  —  denke  ich  mir  —  keine  Umstände 
haben,  wenn  sie  mit  dem  Wort  die  Jünglinge  überreden 
wollen,  weil  sie  nicht  reden  können.  In  lonien  und  an 
vielen  andern  Orten,  wo  sie  im  Gebiet  der  Barbaren  leben, 
gilt  es  als  häßlich.  Denn  den  Barbaren  gilt  dies  und  die 
Liebe  zur  Weisheit  und  zur  Körperbildung  um  der  Ty- 
rannis  willen  für  häßlich.  Und  ich  glaube  auch,  es  för- 
dert die  Herrschenden  nicht,  wenn  in  den  Untertanen 
große  Gesinnung  entsteht,  oder  starke  Freundschaft  und 
Gemeinschaft,  welche  ja  vor  allem  die  Liebe  zu  erzeugen 
pflegt.  Dies  erfuhren  auch  unsere  Tyrannen  durch  die 
Tat:  Aristogeitons  Liebe  und  Harmodios'  unwandelbare 
Freundschaft  vernichteten  ihre  Herrschaft.  Wo  also  be- 
stimmt ist,  die  Hingabe  an  die  Liebenden  sei  häßlich,  da 
beruht  es  auf  der  Schlechtigkeit  der  Bestimmenden:  auf 
der  Gewinnsucht  der  Herrschenden,  auf  der  Feigheit  der 
Beherrschten.  Wo  es  aber  einfach  als  schön  geachtet 
wird,  da  geschieht  es  durch  die  Seelenträgheit  der  Be- 
stimmenden 
Die  bei  uns  geltende  Sitte  ist  viel  schöner  als  diese  und 

«10  sie  ist,  wie  ich  sagte,  nicht  leicht  zu  verstehn  Man  muß 
bedenken,  daß  es  für  schöner  gilt,  offen  zu  lieben  als 
heimlich,  und  vor  allem  die  Edelsten  und  Besten,  auch 
wenn  sie  häßlicher  als  andre  sind,  und  wie  der  Liebende 
wunderbar  von  allen  aufgemuntert  wird,  nicht  wie  einer 
der  Häßliches  tut.  Und  ihn  zu  gewinnen  gilt  schön,  ihn 


56  Pausanias 

nicht  zu  gewinnen  häßlich.  Die  Sitte  gestattet  auch  den 
Verliebten  zu  beloben,  wenn  er  bei  seiner  Werbung  un- 
gewöhnliche Dinge  ins  Werk  setzt,  die,  wenn  sie  jemand 
zu  einem  andern  Zweck  und  mit  irgendeinem  Ziele  außer 
der  Liebe  zu  tun  wagte,  ihm  die  größte  Schande  ein-isa 
bringen  würden.  Denn  wenn  jemand  mit  dem  Wunsche 
von  einem  andern  Geld  zu  erhalten  oder  ein  hohes  Amt 
oder  irgendeine  Gewalt  zu  erreichen  das  tun  wollte,  was 
die  Verliebten  ihren  Geliebten  gegenüber  tun,  mit  Ge- 
bärden und  Gebeten  sie  anflehn,  Eide  schwören  und  vor 
ihren  Türen  schlafen  und  Dienste  dienen  wollen  wie 
niemals  ein  Diener :  Freunde  und  Feinde  würden  ihn  hin- 
dern seine  Sache  so  zu  betreiben,  diese  seine  Streberei 
und  Niedrigkeit  schmähn,  jene  ihn  zurechtweisen  und 
sich  seiner  schämen.  Den  Liebenden  aber,  der  dies  alles 
tut,  geleitet  Anmut,  und  die  Sitte  gewährt  ihm,  es  ohne 
Schande  zu  tun,  weil  er  eine  vollkommen  schöne  Sache 
betreibe.  Das  Erstaunlichste  aber  ist,  daß  ihm  allein,  wie 
man  sagt,  wenn  er  geschworen  hat  und  den  Eid  bricht, 
bei  den  Göttern  Verzeihung  ist;  denn,  sagen  sie,  ein 
Liebeseid  sei  kein  Eid. 

So  haben  die  Götter  wie  die  Menschen  dem  Liebenden 
jede  Freiheit  gewährt,  wie  unsere  Sitte  besagt.  Danach 
sollte  man  also  glauben,  es  gelte  in  unsrer  Stadt  als  etwas 
Vollkommen-Schönes  zu  lieben  und  mit  den  Verliebten 
Freundschaft  zu  schließen.  Da  aber  die  Väter  denen  die 
geliebt  werden  Erzieher  bestellen  und  nicht  zulassen, 
daß  sie  sich  mit  ihren  Liebhabern  unterhalten,  und  dem 
Erzieher  vor  allem  dies  auftragen;  die  Altersgenossen 
und  Gefährten  Vorwürfe  machen,  wenn  sie  sehen,  daß 
derartiges  geschieht,  und  bei  diesen  Vorwürfen  von  den 
Älteren  nicht  gehindert  werden  und  nicht  getadelt  wer- 
den, daß  sie  unrecht  hätten,  —  wer  dies  dagegen  be- 
trachtet, müßte  glauben,  daß  jenes  bei  uns  im  Gegenteil 
als  das  Häßlichste  gilt.  Das  verhält  sich,  glaube  ich,  so : 


\  Pausanias  57 

Es  gibt  nicht  einlach,  wie  schon  anfangs  gesagt  wurde, 
ein  Schön-Sein  und  Häßlich-Sein  an  und  für  sich,  son- 
dern schön  getan  ist  es  schön,  häßlich  getan  häßlich.  Nun 
ist  es  häßlich,  dem  Schlechten  und  in  schlechter  Art  zu 
willfahren,  schön  einem  Tüchtigen  und  in  schöner  Art. 
Schlecht  aber  ist  jener  Bürgerlich-Liebende,  der  den 
Leib  mehr  als  die  Seele  liebt.  Er  ist, ja  nicht  beständig, 
weil  er  ein  nicht  beständiges  Ding  liebt.  Denn  sobald  die 
Blüte  des  Leibes,  die  er  ja  liebte,  schwindet,  fliegt  er 
davon  und  macht  viele  Worte  und  Versprechungen  zu- 
schanden.  Wer  aber  verliebt  ist  in  das  Wesen,  welches 
edel  ist,  beharrt  sein  lebelang,  weil  er  mit  dem  Bestän- 

iw  digen  verbunden  ist.  Unsere  Sitte  verlangt  nun  diese 
aufs  beste  zu  erproben,  den  einen  gefällig  zu  sein,  die 
andern  zu  fliehn.  Deswegen  also  fordert  sie  die  einen 
zum  Verfolgen,  die  andern  zum  Entfliehn  auf,  indem  sie 
Wettkampf  und  Probe  anstellt,  zu  welchen  der  Liebende 
gehört  und  zu  welchen  der  Geliebte.  So  gilt  aus  diesem 
Grunde  erstens  das  Schnell-sich-gewinnen-lassen  für  häß- 
lich, damit  Zeit  gewonnen  wird,  die  ja  offenbar  das  Mei- 
ste schön  auf  die  Probe  stellt ;  ferner  ist  es  häßlich,  durch 
Reichtum  oder  staatliche  Macht  gewonnen  zu  werden, 
mag  nun  einer  bei  übler  Behandlung  sich  beugen  und 
nicht  standhalten,  oder  mag  er  nicht  versclmiähn,  daß 
man  ihn  mit  Geld  oder  staatlichen  Maßnahmen  unter- 
stützt. Denn  von  diesen  Dingen  ist  offenbar  keines  fest 
und  beständig,  abgesehen  davon,  daß  edle  Freundschaft 
aus  ihnen  nicht  entspringt.  Ein  Weg  bleibt  nach  miserer 
Sitte  übrig,  wenn  der  Liebling  dem  Liebenden  in  schöner 
Weise  zuwillen  sein  will.  Denn  wie  es  für  die  Verliebten 
nicht  als  Kriecherei  und  nicht  als  schimpflich  galt,  frei- 
willig irgendwelchen  Dienst  den  Lieblingen  zu  dienen, 
so  gilt  uns  die  Sitte,  daß  jenen  eine  einzige  freiwillige 
Dienstbarkeit  bleibt,  die  nicht  schimpflich  ist :  das  ist  die 

c.ii  um  der  Tüchtigkeit  willen.  Bei  uns  bestimmt  nämlich  die 


58  Pausanias 

Sitte:  wenn  jemand  einem  andern  dienen  will,  weil  er 
glaubt  durch  ihn  in  irgendeiner  Weisheit  oder  in  einem 
andern  Teil  der  Ttlchtigkeit  besser  zu  werden,  so  gilt 
diese  Dienstwilligkeit  nicht  als  häßlich  und  niedrig.  Man 
muß  nun  diese  beiden  Gesetze  in  eines  verschmelzen, 
das  über  die  Knabenliebe  und  das  über  die  Philosophie 
und  andere  Tüchtigkeit,  wenn  sich  ergeben  soll,  es  sei 
schön  daß  der  Geliebte  dem  Liebenden  zuwillen  sei.  Denn 
wenn  Liebender  und  Geliebter  zusaromenkommen,  jeder 
mit  seinem  Gesetz :  der  eine,  daß  er  mit  Recht  diene,  wie 
er  auch  immer  dem  ihm,  freundlichen  Geliebten  diene,  der 
andre,  daß  er  dagegen  mit  Recht  überall  dienstbar  ist 
dem,  der  ihn  weise  und  gut  macht,  und  der  eine  es  dann 
vermag,  in  Vernunft  und  der  übrigen  Tüchtigkeit  zu  för- 
dern, der  andre  aber  das  Bedürfnis  hat,  Bildung  und  die 
übrige  Weisheit  zu.  gewinnen  —  dann  also,  wenn  diese 
beiden  Gesetze  in  eines  zusammenlaufen,  dann  allein 
ereignet  es  sich,  daß  es  schön  ist,  wenn  der  Geliebte  dem 
Liebenden  willfährig  ist,  anders  aber  niemals.  Und  hier- 
bei ist  auch  das  Betrogenwerden  nichts  Schimpfliches; 
aber  jede  andre  Art  bringt  Schande,  ob  man  betrogen 
wird  oder  nicht.  Denn  wenn  einer  des  Reichtums  wegen  is» 
einem  reichen  Liebhaber  sich  hinzugeben  glaubt  i^id 
keine  Schätze  bekommt,  weil  es  sich  zeigt,  daß  der  Lieb- 
haber arm  ist,  so  ist  es  um  nichts  weniger  schimpflich. 
Denn  ein  solcher  hat  doch  von  sich  bewiesen,  daß  er 
des  Geldes  willen  jedwedem  jeden  Dienst  erweist,  und 
das  ist  nichts  Schönes.  Und  aus  demselben  Grunde  ist 
dennoch  die  Täuschung  schön,  wenn  man  sich  einem 
Guten  hinzugeben  glaubt,  um  selbst  durch  die  Freund- 
schaft des  Liebhabers  besser  zu  werden,  es  sich  aber 
zeigt,  daß  jener  schlecht  ist  und  Tüchtigkeit  nicht  erwor- 
ben hat.  Denn  dieser  hat  doch  soviel  an  ihm  liegt  erwie- 
sen, daß  er  um  der  Tüchtigkeit  und  des  Besserwerdens 
willen  jedem  in  jeder  Sache  eifrig  zugetan  ist,  das  aber 


Eryximachoi  59 

ist  unter  allem  das  Schönste.  So  ist  es  überall  schön,  um 
Tüchtigkeit  sich  hinzugeben.  Dies  ist  der  himmlischen 
Göttin  Eros,  er  selbst  himixdisch  und  hoch  zu  würdigen 
für  Stadt  und  Einzelne,  da  er  große  Sorge  auf  die  Tüch- 
tigkeit zu  wenden  zwingt  den  Liebenden  um  seiner  selbst 
willen  und  den  Geliebten.  Die  andern  alle  gehören  der 
andern,  der  Bürgerlichen.  Dies  spende  ich  dir,  o  Phä- 
dros,  sagte  er,  im  Augenblick  über  den  Eros. 
Da  Tansanias  pausierte  —  denn  so  lehrten  mich  die  So- 
phisten mit  Gleichklängen  zu  reden  —  hätte  nach  Ari- 
stodems  Erzählung  Aristophanes  reden  sollen,  es  kam 
ihn  aber  zufällig,  infolge  von  Überfüllung  oder  eines  an- 
dern Grundes,  ein  Schlucken  an  und  er  war  nicht  ün- 
stande  zu  reden  sondern  sagte  —  neben  ihm  lag  nämlich 
der  Arzt  Eryximachos  — :  Eryx  imachos,  es  ist  biUig,  daß 
du  mein  Schlucken  beseitigst  oder  an  meiner  Stelle  redest, 
bis  ich  damit  fertig  bin.  Und  Eryximachos  sagte :  Dann 
werde  ich  beides  tun.  Ich  werde  an  deiner  Stelle  reden 
und  du,  wenn  es  vorüber  ist,  an  meiner.  Während  ich 
rede  wird  dir,  wenn  du  recht  lange  den  Atem  anhalten 
willst,  das  Schlucken  vergehn.  Wenn  nicht,  so  gurgle 
mit  Wasser.  Wenn  es  aber  sehr  hartnäckig  ist,  so  reize 
mit  irgend  etwas  die  Nase  und  niese.  Und  wenn  du  das 
ein-  oder  zweimal  getan  hast,  wird  es  aufhören  und 
wenn  es  noch  so  stark  ist.  —  Bitte  zaudre  nicht  und  rede, 
sagte  Aristophanes;  ich  will  so  tun. 

«.12ES  sagte  Eryximachos :  Mir  scheint  es  notwendig  zu  sein, 
nachdem  Tansanias  in  seiner  Rede  zwar  einen  schönen 
Anlauf  nahm,  sie  aber  nicht  befriedigend  zu  Ende  führte, 

186  daß  ich  versuche,  der  Rede  die  Vollendung  zu  geben. 
Die  Unterscheidung  in  einen  zweifachen  Eros  scheint 
mir  nämlich  treffend  zu  sein.  Aber  ich  glaube  aus  tmsrer 
Kunst,  der  Heilkunde,  erkannt  zu  haben,  daß  nicht  allein 
in  den  Seelen  der  Menschen  der  Eros  zu  den  Schönen 
ist,  nein  auch  in  vielen  Dingen  sonst  und  zu  anderen: 


60  Eryximachos 

in  den  Leibern  aller  Tiere  und  in  den  Gewächsen  der 
Erde,  ja,  ich  sage  in  allen  Wesen,  denn  groß  und  wunder- 
bar ist  der  Gott  und  er  umspannt  alles  im  menschlichen 
und  göttlichen  Geschehn.  Ich  will  von  der  Heilkunde  aus 
anfangen,  damit  wir  meiner  Kmist  Ehre  erweisen.  Die 
Natur  des  Leibes  enthält  also  diesen  zweifachen  Eros; 
denn  das  Gesunde  und  das  Kranke  des  Leibes  sind  un- 
zweifelhaft etwas  Verschiedenes  und  Ungleiches,  das  Un- 
gleiche begehrt  und  liebt  Ungleiches ;  ein  andrer  ist  also 
der  Eros  beim  Gesunden,  ein  andrer  beim  Kranken.  Es 
ist  schön,  wie  eben  Pausanias  sagte,  den  Guten  unter 
den  Menschen  zu  willfahren,  häßlich  —  den  Zuchtlosen. 
Ebenso  ist  es  mit  dem  Leiblichen:  dem  zu  willfahren, 
was  am  Leibe  gut  ist  und  gesund,  das  ist  schön  und  not- 
wendig, und  das  nennen  wir  eben  ärztlich ;  beim  schlech- 
ten und  krankhaften  ist  es  falsch  und  dem  muß  man 
widerstreben,  wenn  man  sachkundig  sein  will.  Die  Heil- 
kunde ist  nämlich  im  wesentlichen  die  Erkenntnis  der 
Liebesregungen  des  Leibes  zur  Füllung  und  Leerung  und 
^ver  hierin  den  schönen  und  den  häßlichen  Eros  unter- 
scheidet, der  ist  der  Heilkundigste,  und  wer  den  Wandel 
bewirkt,  so  daß  man  statt  des  einen  Eros  den  andern 
erwirbt  und  wer  denen,  welchen  keine  Liebe  inne  ist  und 
doch  inne  sein  sollte,  sie  einzupflanzen  versteht  und 
die  innewohnende  auszureißen,  der  wäre  der  rechte  Mei- 
ster. Denn  er  muß  fähig  sein  zu  bewirken,  daß  das  Feind- 
lichste im  Leibe  sich  freund  wird  und  einander  hebt. 
Das  Feindlichste  aber  ist  das  Entgegengesetzte:  Kaltes 
und  Warmes,  Bittres  und  Süßes,  Trocknes  und  Feuchtes 
und  alle  derartigen  Dinge.  Ihnen  verstand  Asklepios, 
unser  Ahn,  Eros  und  Eintracht  einzupflanzen  und  da- 
durch hat  er,  wie  die  Dichter  erzählen  und  ich  es  glaube, 
unsere  Kunst  begründet.  Also  wird  die  Heilkunst,  wie 
ich  sagte,  ganz  von  unserm  Gölte  gelenkt,  ebenso  auch 
Turnkunst  und  Landbau.  Vox\  der  Musik  ist  es  ja  jedem  is7 


Eryxiiiiacbos«  (>  1 

klar,  der  nur  ein  wenig  V^erniinft.  daranwendei,  daß  sie 
sich  ebenso  verhält;  was  vielleicht  auch  Heraklit  sagen 
will,  wenn  er  auch  nicht  den  rechten  Ausdruck  findet. 
Er  sagt  nämlich:  „Auseinanderstrebend  strebt  das  Eine 
in  sich  selbst  zusammen,  gleich  wie  die  Fuge  des  Bogens 
und  der  Lyra."  Doch  es  ist  ein  großer  Widersinn,  zu  sagen 
die  Fuge  strebe  auseinander  oder  sie  bestehe  im  noch 
Auscinanderstrebenden.  Aber  vielleicht  wollte  er  sagen, 
daß  sie  aus  der  Höhe  und  Tiefe  entstanden  sei,  die  vorher 
auseinanderstrebend  waren,  danach  durch  die  musische 
Kunst  geeinigt  wurden.  Denn  in  der  noch  auseinander- 
strebenden Höhe  und  Tiefe  wäre  keine  Fuge;  Fuge  näm- 
lich ist  Zusanmienklingen,  Zusammenklingen  ist  Eini- 
gung; Einigung  ist  aber  unmöglich,  solange  etwas  aus- 
einanderstrebt. Und  wieder  kann  unmöglich  sich  etwas 
zusammenfügen,  was  auseinanderstrebt  und  nicht  einig 
ist.  So  ist  auch  der  Rhythmus  geworden  aus  Schnelle 
und  Langsamkeit,  die  vorher  getrennt  später  sich  einig- 
ten. Wie  dort  die  Heilkunde  so  gibt  hier  die  Musik  all  die- 
sen Dingen  die  Einigung,  indem  sie  ihnen  Liebe  und  Ein- 
tracht untereinander  einpflanzt.  Und  somit  ist  die  Musik 
für  Fuge  und  Rhythmus  die  Kunde  von  den  Liebesregun- 
gen. Zwar  in  der  Zusammensetzung  von  Fuge  und  von 
Rhythmus  ist  es  nicht  schwierig,  die  Liebesregungen  zu 
beurteilen,  und  einen  zweifachen  Eros  gibt  es  dabei 
nicht.  Allein  wenn  man  vor  den  Menschen  Rhythmus 
und  Fuge  anwenden  will,  sei  es  schaffend,  was  Tondich- 
tung genannt  wird,  sei  es,  indem  man  sich  richtig  der 
vorhandenen  Lieder  und  Maße  bedient,  was  Schulung 
genannt  wird,  dann  ist  es  auch  schwierig  und  heischt 
einen  guten  Meister.  Dann  kehrt  derselbe  Satz  wieder, 
daß  man  den  Edlen  der  Menschen  sich  ergeben  muß  — 
damit  die  edler  werden,  die  es  noch  nicht  sind  und  deren 
Liebe  zu  behüten,  und  das  ist  der  schöne,  der  himm- 
lische, Uraniens  —  der  Muse  —  Eros.    Aber  den  Polym- 


62  Eryxiniacho« 

niens,  den  Bürgerlichen  soll  man  mit  Vorsicht  anregen, 
wenn  man  ihn  anregt,  damit  man  seine  Lust  ernte,  aber 
keine  Ausschweifung  erzeuge,  gerade  wie  es  in  unsrer 
Kunst  eine  große  Mühe  ist,  die  auf  die  Kochkunst  be- 
zogenen Begierden  richtig  zu  benutzen,  so  daß  man  ohne 
Krankheit  die  Lust  ernte. 

In  der  Musik  und  Heilkunde  und  in  allen  Dingen,  den 
menschlichen  und  den  göttlichen  muß  man,  soweit  es 
vergönnt  ist,  auf  den  doppelten  Eros  acht  geben,  denn  er  iss 
ist  da;  wie  ja  auch  die  Ordnung  der  Jahreszeiten  voll  istc  13 
von  diesen  beiden;  denn  wenn  zwischen  dem,  was  ich 
nannte,  zwischen  dem  Warmen  und  Kalten,  Trocknen 
und  Feuchten  der  edle  Eros  waltet  und  es  durch  ihn  Fuge 
und  sinnvolle  Mischung  empfängt,  dann  kommt  es  und 
bringt  Fruchtbarkeit  und  Gesundheit  den  Menschen  und 
allen  Tieren  und  Pflanzen,  und  tut  kein  Unrecht.  Wenn 
aber  jener  ausschweifende  Eros  in  den  Gezeiten  des  Jah- 
res überhand  nimmt,  so  verdirbt  es  viel  und  tut  Unrecht. 
Nämlich  Seuchen  pflegen  daraus  zu  entstehn  und  viele 
andre  ähnliche  Krankheiten  unter  Tieren  und  Pflanzen. 
Auch  Reif  und  Hagel  und  Mehltau  entstehn  dann  aus 
der  Begehrlichkeit  und  Unordnung  dieser  Liebesregun- 
gen gegeneinander,  deren  Kenntnis  bezogen  auf  den  Um- 
lauf der  Gestirne  und  die  Jahreszeiten  Himmelskunde 
genannt  wird.  Ferner  alle  Opfer  und  was  von  der  Seher- 
kunst geordnet  wird  —  dies  ist  der  Umgang  der  Götter 
mit  den  Menschen  —  ist  für  nichts  andres  als  für  die 
Pflege  und  Heilung  des  Eros.  Denn  die  Gottlosigkeit  pflegt 
zu  entstehn,  wenn  einer  nicht  dem  edlen  Eros  sich  hin- 
gibt und  ihn  nicht  ehrt  und  würdigt  in  allem  Tun,  son- 
dern dem  andern  Eros,  sei  es  gegenüber  den  lebenden 
Eltern,  oder  den  gestorbenen,  sei  es  gegenüber  den  Göt- 
tern. Das  eben  gebührt  der  Seherkunst,  die  Eroten  zu  be- 
obachten und  zu  heilen,  und  es  ist  die  Seherkunst  die 
Meisterin  der  Freundschaft  von  Gott  und  Mensch,  da- 


Ari»topba  ne«  63 

durch  daß  sie  das  Erotische  bei  den  Menschen  versteht, 
soweit  es  Recht  und  Gottlosigkeit  umfaßt.  So  viele  und 
große,  ja  alle  Gewalt  zusammengefaßt  besitzt  der  ganze 
Eros;  jener  aber,  der  mit  Besonnenheit  und  Gerechtigkeit 
im  Guten  sich  erweist  bei  uns  und  bei  den  Göttern,  ge- 
währt uns  die  Erfüllung  jeden  Glückes,  daß  wir  verkehren 
und  Freund  sein  können  untereinander  und  auch  mit 
denen,  die  größer  sind  als  wir:  den  Göttern. 
Vielleicht  habe  nun  auch  ich  im  Lobe  des  Eros  vieles  ver- 
fi^äumt  —  gewiß  nicht  mit  Willen.  Wenn  ich  aber  etwas 
ausließ,  ist  es  deine  Sache,  Aristophanes,  es  zu  ergänzen. 
Oder  wenn  du  eine  andre  Weise  im  Sinne  hast,  den  Gott 
zu  preisen,  so  preise;  denn  dein  Schlucken  hat  ja  auf- 
gehört. 

i»t  Darauf  habe  Aristophanes  das  Wort  genommen :  Jawohl 
hat  es  aufgehört,  aber  doch  nicht  eher,  als  bis  ich  ihm 
mit  Niesen  beikam,  so  daß  ich  mich  wundre,  wie  das 
Edle  des  Leibes  derartiges  Getöse  und  Gegurgel  begehrt, 
wie  das  Niesen  ist ;  denn  es  hörte  sofort  auf,  als  ich  ihm 
mit  Niesen  beikam.  —  Und  Eryximachos  habe  da  gesagt : 
Bester  Aristophanes,  bedenke,  was  du  tustl  Im  Begriff 
zu  reden  machst  du  mich  lächerlich,  und  zwingst  mich, 
auf  deine  eigene  Rede  aufzupassen,  ob  du  etwas  Komi- 
sches sagst,  wo  dir  doch  freigestanden  hätte,  in  Frieden 
zu  reden.  Und  lachend  sagte  Aristophanes :  Du  hast  recht, 
Eryximachos,  und  es  soll  ungesagt  sein,  was  ich  sagte. 
Also  passe  mir  nicht  auf,  denn  ich  bin  schon  in  Furcht  um 
das  was  ich  sagen  soll,  zwar  nicht,  daß  ich  etwas  Komi- 
sches sage  —  denn  das  wäre  ja  Gewinn  und  gehörte  ins 
Reich  unsrer  Muse  —  sondern  etwas  Lächerliches.  — 
Du  denkst  zu  entwischen,  Aristophanes,  nachdem  du  ge- 
schossen; nein,  strenge  deinen  Geist  an  und  rede  wie 
einer,  der  Rechenschaft  geben  muß;  vielleicht,  wenn  es 
mir  scheint,  werde  ich  dich  gleichwohl  durchlassen. 

«4 Freilich,  Eryximachos,  sagte  Aristophanes,  habe  ich  im 


64  Aristophanes 

Sinn  anders  zu  reden  als  du  und  Pausanias  getan.  Mir 
scheinen  nänilich  die  Menschen  die  Gewalt  des  Eros 
nicht  erfahren  zu  haben,  denn  sie  erfahrend  würden  sie 
ihm  die  größten  Heiligtümer  bereiten  und  Altäre,  und 
die  größten  Opfer  bringen,  da  doch  jetzt  hiervon  nichts 
geschieht  für  den,  dem  es  vor  allen  geschehen  soll.  Ist 
er  doch  den  Menschen  der  Freundlichste  von  den  Göt- 
tern, denn  er  ist  ihr  Helfer  und  Arzt  dafür,  worin  geheilt 
zu  werden  dem  Menschengeschlechte  das  höchste  Glück 
wäre.  Nun  will  Ich  versuchen,  euch  seine  Gewalt  zu  er- 
klären, Ihr  aber  werdet  die  Lehrer  der  andern  sein. 
Zuerst  müßt  ihr  die  menschliche  Natur  erkennen  und 
ihre  Leiden.  Früher  war  nämlich  unsere  Natur  nicht  die- 
selbe wie  jetzt,  sondern  andrer  Art.  Anfangs  gab  es  bei 
den  Menschen  drei  Geschlechter,  nicht  wie  jetzt  zwei, 
männlich  und  weiblich,  sondern  es  gab  dazu  ein  drittes, 
welches  diese  beiden  vereinte ;  sein  Name  ist  noch  übrig, 
es  selbst  verschwunden.  Mannweiblich  war  damals  das 
Eine ;  Gestalt  und  Name  aus  beidem :  Männlich  und  Weib- 
lich zusammengesetzt ;  jetzt  ist  aber  der  Name  ins  Schimpf- 
liche gewendet.  Damals  war  die  ganze  Gestalt  jedes  Men- 
schen rund,  so  daß  Rücken  und  Flanken  im  Kreis  standen ; 
er  hatte  vier  Hände  und  ebenso  viele  Beine,  und  zwei 
Gesichter  auf  kreisrundem  Nacken,  ganz  gleiche.  Und  100 
zu  den  zwei  gegenübergestellten  Gesichtern  nur  einen 
Kopf,  und  vier  Ohren,  und  zwei  Schamteile,  und  alles 
andre,  wie  man  es  sich  hiernach  vorstellen  kann.  Er 
ging  auch  aufrecht  wie  jetzt,  wohin  er  wollte;,  wenn  er 
aber  schnell  laufen  wollte,  so  bewegte  er  sich,  so  wie  die 
Radschlagenden  die  Beine  nach  oben  herumwerfend  einen 
Kreis  beschreiben,  von  seinen  acht  Gliedmaßen  getragen 
schnell  im  ICreise  davon.  Die  Zahl  und  Beschaffenheit 
dieser  drei  Geschlechter  kam  daher,  daß  das  Männliche 
ursprünglich  von  der  Sonne  stammte,  das  Weibliche  von 
der  Erde,  das  Gemischte  vom  Monde,  weil  ja  der  Mond 


Aristophane«  ß5 

an  beiden  teiJhat.  Rund  waren  sie  selbst  und  ihr  Lauf, 
weil  sie  ihren  Eltern  ähnlich  waren.  Sie  waren  nun  ge- 
waltig an  Kraft  und  Stärke,  und  hatten  eine  große  Gesin- 
nung, ja,  sie  legten  Hand  an  die  Götter  und  was  Homer 
von  Ephialtes  und  Otos  sagt,  bezieht  sich  auf  jene,  daß 
sie  es  unternahmen,  den  Himmel  zu  ersteigen,  um  die 

c.isGötter  anzugreifen.  Da  ratschlagten  Zeus  und  die  andern 
Götter,  was  sie  tun  sollten,  und  waren  in  Verlegenheit. 
Denn  es  war  nicht  möglich,  sie  zu  töten  und  w^ie  die  Gi- 
ganten mit  dem  Donner  zu  erschlagen  und  ihr  Geschlecht 
zu  vertilgen  —  dann  wären  ihnen  ja  auch  die  Ehren  und 
Heiligtümer  bei  den  Menschen  vertilgt  worden  —  aber  sie 
konnten  auch  nicht  den  Frevel  hingehn  lassen.  Endlich 
hatte  Zeus  etwas  ersonnen  und  er  sagte :  Ich  glaube  ein 
Mittel  zu  haben,  wie  die  Menschen  bestehn  und  doch 
von  ihrer  Zügellosigkeit  ablassen,  indem  sie  schwächer 
werden.  Jetzt  durchschneide  ich  sie  nämlich,  jeden  in 
zwei  Teile,  und  so  wie  sie  schwächer  werden,  werden  sie 
uns  auch  nützlicher  sein,  weil  sie  ja  an  Zahl  mehr  ge- 
worden sind;  und  sie  werden  aufrecht  auf  zwei  Beinen 
schreiten.  Wenn  sie  sich  aber  weiter  erfrechen  und  nicht 
Ruhe  halten,  werde  ich  sie,  sprach  er,  noch  einmal  ent- 
zwei schneiden,  so  daß  sie  sich  auf  einem  Bein  fortbe- 
wegen wie  beim  Sackhüpfen.  Dies  gesagt  zerschnitt  er 
die  Menschen  in  zwei  Hälften,  wie  man  Birnen  zerschnei- 
det um  sie  einzumachen,  oder  wie  man  Eier  mit  einem 
Haare  zerschneidet.  Und  immer  wenn  er  einen  zerschnit- 
ten hatte,  hieß  er  den  Apollo  ihm  das  Gesicht  und  den 
halben  Hals  nach  der  Schnittfläche  herumdrehen,  damit 
der  Mensch  seine  Zerschneidung  betrachtend  sittsamer  sei 
und  hieß  ihn  das  übrige  verheilen.  Jener  drehte  das  Gesicht 
herum,  zog  von  allen  Seiten  die  Haut  über  das  was  jetzt 
Bauch  heißt  zusammen  wie  einen  geschnürten  Geldbeutel 
und  band  es  zu  einer  Mündung  mitten  auf  dem  Bauche 

mab,  die  man  jetzt  Nabel  nennt.  Glättete  dann  die  vielen 

Plato.  OastmabJ  5 


66  Aristopliaues 

Falten  aus  und  fügte  die  Brust  zusammen  mit  einem 
Werkzeug,  wie  es  die  Schuster  haben,  um  über  dem  Lei- 
sten die  Falten  des  Leders  zu  glätten;  nur  einige  ließ  er 
übrig,  ein  Denkzeichen  des  alten  Zustandes  zu  sein. 
Nachdem  nun  so  die  Natur  entzweigeschnitten  war,  ging 
sehnsüchtig  jede  Hälfte  ihrer  andern  Hälfte  nach  und 
indem  sie  sich  mit  den  Armen  umschlangen  und  sich  zu- 
sammenflochten voll  Begierde  zusammenzuwachsen,  star- 
ben sie  aus  Hunger  und  gänzlicher  Untätigkeit,  weil  sie 
nichts  getrennt  voneinander  tun  wollten.  Und  wenn  eine 
der  Hälften  starb,  die  andere  übrig  blieb,  so  suchte  die 
gebliebene  wieder  eine  andre  und  verflocht  sich  mit  ihr, 
ob  sie  nun  die  Hälfte  eines  ganzen  Weibes  traf  —  die 
wir  jetzt  ein  Weib  nennen  —  oder  die  eines  Mannes ;  und 
so  gingen  sie  zugrunde.  Da  erbarmte  sich  Zeus  und  er- 
fand ein  anderes  Mittel :  er  versetzte  ihre  Schamteile  nach 
vorn.  Denn  bisher  hatten  sie  diese  außen,  und  sie  be- 
fruchteten und  zeugten  nicht  ineinander  sondern  in  die 
Erde  wie  die  Cicaden.  So  versetzte  er  sie  nun  nach  vom 
und  machte,  daß  sie  ineinander  zeugten,  das  Männliche 
im  Weiblichen;  deswegen  damit  in  der  Umarmung  ein 
Mann,  wenn  er  mit  einem  Weibe  zusammenkonmit,  zeugt 
und  Nachkommenschaft  entsteht ;  wenn  aber  Männliches 
mit  Männlichem,  ihnen  wenigstens  Sättigung  würde  aus 
der  Vereinigung  und  sie  sich  beruhigten  und  zum  Werke 
wendeten  und  auf  das  andere  Leben  bedacht  seien. 
Solange  schon  ist  die  Liebe  zueinander  den  Menschen 
eingepflanzt,  vereinend  die  ursprüngliche  Natur,  stre- 
bend aus  zweien  Eins  zu  machen  und  die  Natur  zu  hei- 
len, die  menschliche.  Daher  ist  jeder  von  uns  das  Gegen  c.ic| 
stück  eines  Menschen,  weil  wir  wie  die  Schollen  aus 
einem  in  zweie  geschnitten  wurden.  Ewig  sucht  jeder 
sein  Gegenstück.  Alle  Männer,  welche  ein  Stück  von  dem 
gemischten  Geschlecht  sind,  das  damals  mannweiblich 
hieß,  lieben  das  Weib ;  die  Ehebrecher  entstammen  die- 


Aristophanes  6  7 

sem  Geschlecht,  und  die  Frauen,  die  den  Mann  lieben 
und  ehebrecherisch  sind,  entstammen  auch  diesem  Ge- 
schlecht. Und  alle  Frauen,  die  Stücke  eines  Weibes  sind, 
richten  den  Sinn  nicht  sehr  auf  die  Männer,  sondern  hal- 
ten sich  mehr  an  die  Frauen,  und  diesem  Geschlecht  ent- 
stammen die  Buhlerinnen.  Alle,  die  Stücke  des  männ- 
lichen sind,  folgen  dem  Männlichen  und  als  lüiaben  lie- 
ben sie,  weil  sie  ja  Teile  vom  Männlichen  sind,  die  Män- 
192  ner,  und  sind  froh  wenn  sie  bei  den  Männern  liegen  und 
sie  umarmen ;  und  diese  sind  die  besten  unter  den  Kna- 
ben und  Jünglingen,  weil  sie  von  Natur  die  mannhaf- 
testen sind.  Manche  sagen,  sie  seien  schamlos,  aber  das 
ist  Lüge;  denn  sie  tun  nicht  aus  Schamlosigkeit  so,  son- 
dern aus  Mut  und  Mannheit  und  Männlichkeit :  das  ihnen 
Ähnliche  haben  sie  gern.  Das  ist  sicher  bewiesen :  Denn 
diese  allein  landen,  wenn  sie  zu  Männern  gereift  sind, 
im  Staatsleben.  Nachdem  sie  erwachsen  sind  lieben  sie 
Knaben  und  auf  Ehe  und  Kindererzeugung  lenken  sie 
nicht  von  Natur  den  Sinn,  sondern  sie  werden  durch  das 
Gesetz  genötigt;  sie  selbst  wären  zufrieden  miteinander 
it  ehelos  zu  leben.  Immerdar  muß  ein  solcher  Knaben  und 
Freunde  lieben,  weil  er  immer  das  Verwandte  gern  hat. 
Wenn  nun  ein  Knabenfreund  oder  jeder  andre  auf  seine 
eigene  Hälfte  selbst  trifft,  dann  werden  sie  wunderbar 
erschüttert  von  Freundschaft  und  Vertrautheit  und  Liebe, 
und  wollen  voneinander  nicht  lassen,  auch  nicht  einen 
Augenblick.  Diese  sind  es  auch,  die  gemeinsam  das  ganze 
Leben  zubringen  und  nicht  einmal  zu  sagen  wüßten,  was 
sie  voneinander  haben  wollen.  Denn  es  kann  doch  wohl 
nicht  die  Gemeinschaft  des  Liebesgenusses  sein,  deret- 
wegen  der  eine  dem  andern  sich  so  froh  und  mit  so 
großem  Eifer  vereint;  sondern  etwas  andres  will  offen- 
bar die  Seele  der  beiden,  was  sie  nicht  sagen  kann,  aber 
in  Zeichen  verkündet  sie  ihr  Wollen,  und  in  Rätseln. 
Und  wenn,  da  sie  beisammenliegen,  Hephäst  zu  ihnen 


68  Aristophaneg 

träte,  sein  Werkzeug  in  der  Hand,  und  fragte :  Was  ist  es, 
ihr  Menschen,  was  ihr  voneinander  haben  wollt?  Und 
sie  wüßten  es  nicht  und  er  fragte  wieder:  Begehrt  ihr 
wohl  dies,  so  sehr  als  möglich  in  Eins  zusammenzugehn, 
so  daß  ihr  Tag  und  Nacht  voneinander  nicht  ablaßt? 
Denn  w^enn  ihr  das  begehrt,  so  will  ich  euch  in  Eins  zu- 
sammenschmelzen und  -schweißen,  so  daß  ihr,  die  zweie, 
Einer  geworden  seid  und  solange  ihr  lebt,  als  Einer  beide 
gemeinsam  lebt,  und  wenn  ihr  gestorben  seid,  auch  dort 
im  Hades  Einer  statt  zweie  seid,  gemeinsam  im  Tode? 
Wohlan,  seht,  ob  ihr  das  erstrebt  und  euch  diese  Erfül- 
lung zufrieden  macht !  —  Wir  wissen,  das  hörend  würde 
nicht  einer  nein  sagen  oder  einen  andern  Wunsch  ver- 
raten, sondern  würde  meinen,  genau  das  gehört  zuhaben, 
was  er  von  je  begehrte:  Vereint  und  verschweißt  mit 
dem  Geliebten  aus  zweien  Einer  zu  werden.  Daran  ist 
schuld,  daß  unsere  ursprüngliche  Natur  so  war  und  wir 
ganz  waren.  Nun  trägt  die  Begierde  und  Jagd  nach  der 
Ganzheit  den  Namen  Eros. 

Früher  waren  wir  also  Ein  Wesen;  jetzt  aber  sind  winsa 
für  unser  Unrecht  vom  Gotte  auseinandergetrieben,  gleich- 
wie die  Arkader  von  den  Lakedämoniern.  Darum  ist  zu 
fürchten,  wenn  wir  nicht  sittsam  gegen  die  Götter  sind, 
daß  wir  noch  einmal  gespalten  werden  und  herumwan- 
deln wie  die  Menschen  auf  den  Grabreliefs  über  die  Nase 
weg  durchgesägt,  geteilt  wie  ein  Würfel.  Aber  aus  die- 
sem Grunde  muß  jeder  jeden  ermuntern,  die  Götter  zu 
ehren,  damit  wir  diesem  entgehn,  jenes  erlangen,  wozu 
Eros  uns  Führer  und  Feldherr  ist.  Ihm  soll  niemand  zu- 
wider handeln;  es  handelt  aber  zuwider,  wer  sich  die 
Götter  zu  Feinden  macht.  Denn  wenn  wir  dem  Gotte 
freund  und  vertraut  sind,  werden  wir  den  zu  uns  ge- 
hörigen Liebling  ausfindig  machen  und  gewinnen,  was 
heute  wenigen  gelingt.  Daß  nur  nicht  Eryximachos  aus 
Spott  mir  unterlege,  ich  meine  Tansanias  und  Agathon; 


ApoUodor  69 

vielleicht  sind  sie  ja  solche  und  sind  beide  von  männ- 
licher Natur.  Ich  aber  sage  es  von  allen,  iMännern  und 
Frauen,  daß  auf  solche  Weise  unser  Geschlecht  glück- 
lich werde,  wenn  wir  die  Liebe  vollenden  und  jeder  den 
ihm  eignen  Geliebten  gewinnt,  rilckkehrend  zur  alten 
Natur.  Wenn  dies  das  Beste  ist,  so  muß  von  dem  jetzt 
Bestehenden  das  Beste  sein,  was  ihm  am  nächsten  kommt, 
das  ist :  einen  Geliebten  finden,  der  nach  unserm  Sinne 
geartet  ist.  Und  w^enn  wir  dem  Gott  singen  wollen,  der 
dieses  wirkt,  so  gebührt  es  dem  Eros  zu  singen,  welcher 
in  der  Gegenwart  uns  am  meisten  hilft  und  uns  zum  Ver- 
wandten führt,  für  die  Zukunft  aber  uns  die  größten  Hoff- 
nungen schenkt,  wenn  wir  die  Götter  verehren,  daß  er 

■:  uns  in  die  uralte  Natur  zurückversetze  und  uns  heile, 
uns  selig  und  glücklich  mache. 

Dies,  mein  Eryximachos,  sagte  er,  ist  meine  Rede  vom 
Eros ;  anders  als  deine.  Wie  ich  dich  schon  bat,  verspotte 
sie  nicht,  damit  war  auch  die  übrigen  hören,  was  jeder 
sagt;  vielmehr  die  beiden,  denn  Agathon  und  Sokrates 
sind  übrig. 

«17 Ja,  ich  will  dir  folgen,  sagte  Eryximachos,  denn  deine 
R.ede  klang  mir  erfreulich.  Und  wenn  ich  nicht  wüßte, 
daß  Sokrates  und  Agathon  gewaltig  sind  in  den  Dingen 
der  Liebe,  so  hätte  ich  große  Furcht,  daß, sie  um  Ge- 
danken in  Verlegenheit  kämen,  weil  so  viel  und  so  viel- 
seitig gesprochen  wurde;  aber  nun  bin  ich  dennoch  ge- 
trost. Darauf  habe  Sokrates  gesagt :  Ja  du,  Eryximachos, 

194  hast  schön  gestritten;  wenn  du  aber  noch  wärst,  wo  ich 
bin,  oder  vielmehr  wo  ich  sein  werde,  wenn  auch  Aga- 
thon gesprochen  hat,  dann  würdest  du  schon  große  Angst 
haben  und  dich  gerade  so  fühlen,  wie  ich  mich  jetzt  fühle. 
—  Du  willst  mir  einen  Zaubertrank  geben,  Sokrates, 
sagte  Agathon,  damit  ich  außer  Fassung  gerate  in  dem 
Wahn,  die  Hörerschaft  setze  große  Erwartung  auf  eine 
gute  Rede  von  mir.  —  Und  Sokrates  antwortete :   Da 


70  Agathon 

müßte  ich  doch  vergeßlich  sein,  wenn  ich  glaubte  du 
würdest  wegen  uns  paar  Menschen  außer  Fassung  ge- 
raten, da  ich  deine  Sicherheit  und  große  Gesinnung  sah, 
als  du  mit  deinen  Schauspielern  die  Bühne  bestiegst, 
einer  so  großen  Hörerschaft  ins  Auge  blicktest  und,  im 
Begriff  deine  Dichtung  zur  Schau  zu  stellen,  nicht  im 
mindesten  verwirrt  warst.  —  Wie  denn,  Sokrates  ?  habe 
Agathon  erwidert,  glaubst  du  denn,  ich  sei  so  voll  vom 
Theater,  daß  ich  nicht  wüßte,  wer  Verstand  hat,  fürchtet 
sich  mehr  vor  wenigen  Klugen  als  vor  vielen  Toren  ?  — 
Allerdings  wäre  es  nicht  schön  von  mir,  sagte  Sokrates, 
wenn  ich  dir  etwas  Plumpes  zutraute.  Ich  weiß  ja,  wenn  du 
welchen  begegnetest,  die  du  für  weise  hältst,  so  würdest 
du  dich  mehr  um  sie,  als  um  die  vielen  sorgen.  Wir  aber 
sind  vielleicht  gar  nicht  solche,  denn  wir  waren  ja  auch 
dabei  und  gehörten  zu  den  vielen  ?  Wenn  du  nun  andern 
Weisen  begegnetest,  so  würdest  du  dich  wohl  vor  ihnen 
schämen,  wenn  du  das  Gefühl  hättest,  etwas  Häßliches 
zu  tun?  Oder  wie  denkst  du?  —  Du  hast  recht,  sagte 
jener.  —  Vor  den  Vielen  aber  würdest  du  dich  nicht 
schämen,  wenn  du  etwas  Häßliches  zu  tun  glaubst?  Da 
fiel  Phädros  ein  und  sagte:  Lieber  Agathon,  wenn  du 
Sokrates  Antwort  gibst,  so  wird  er  sich  gar  nicht  mehr 
darum  kümmern,  was  mit  uns  hier  geschieht,  wenn  er 
nur  einen  allein  zur  Zwiesprache  hat,  und  gar  einen,' 
Schönen !  Ich  höre  ja  gerne  den  Zwiegesprächen  des  So- 
krates zu,  ich  bin  aber  gezwungen  dem  Eros  für  die  , 
Preisung  zu  sorgen  und  von  einem  jeden  unter  euch  die 
Rede  einzufordern.  Die  beiden  sollen  dem  Gotte  zollen, 
und  danach  miteinander  reden.  —  Ja,  recht  so,  Phädros, 
sagte  Agathon,  und  nichts  hindert  mich  an  meiner  Rede ; 
denn  mit  Sokrates  kann  ich  noch  oft  Gespräche  führen. 

Ich  will  zuvor  sagen,  wie  ich  zu  reden  habe,  danach  c.i» 
reden.  Denn  mir  scheint,  alle  die  vorher  sprachen,  besin- 
gen nicht  den  Gott  sondern  preisen  dieMenschen  glücklich 


Agathon  7  j 

um  der  Güter  willen,  die  sie  dem  Gotte  danken.  Wie  aber 
i9fc  der  geartet  ist,  der  solches  schenkt,  hat  keiner  gesagt. 
Es  gibt  nur  einen  richtigen  Gang  für  jedes  Lob  in  jeder 
Sache :  zu  entwickeln,  wie  er  ist  und  was  er  wirkt,  von 
dem  die  Rede  ist.  So  ziemt  uns  auch  den  Eros  zu  preisen, 
zuerst  ihn,  wie  er  ist,  danach  seine  Gaben.  Nun  behaupte 
ich,  daß  alle  Götter  glückselig  sind,  aber  Eros,  wenn  es 
erlaubt  und  nicht  vermessen  ist  so  zu  sprechen,  der 
Glückseligste  von  allen,  er,  der  der  Schönste  und  Beste 
ist.  So  aber  ist  er  der  Schönste:  Erstlich  weil  er  der 
Jüngste  der  Götter  ist,  Phädros.  Ein  sicheres  Zeugnis  gibt 
er  selbst  dafür,  flüchtig  das  Alter  fliehend,  welches  doch 
selber  schnell  ist;  wenigstens  schneller  als  wir  wünschen 
ereilt  es  uns.  Eros  haßt  es  aus  tiefstem  Herzen  und  nicht 
von  fernher  mag  er  mit  ihm  umgehn;  aber  den  Jüng- 
lingen ist  er  immer  gleich  und  vereint,  denn  jenes  alte 
Wort  hat  recht,  daß  Ähnliches  Ähnlichem  immer  zu- 
strebt. Ich  stimme  in  vielem  dem  Phädros  bei,  aber  darin 
stimme  ich  nicht  bei,  daß  Eros  früher  sei  als  Kronos  und 
Japetos,  ich  aber  sage  der  Jüngste  sei  er  der  Götter  und 
ewig  jung,  und  die  alten  Taten  der  Götter,  die  Hesiod 
und  Parmenides  erzählen,  geschahn  durch  Ananke  und 
nicht  durch  Eros,  wenn  jene  wahr  erzählt  haben.  Denn 
nicht  wären  Entmannungen  und  Fesseln  und  viel  andre 
Gewalttaten  gegeneinander  ihnen  beschieden  gewesen, 
wäre  Eros  unter  ihnen  gewesen,  sondern  Freundschaft 
und  Friede,  wie  gegenwärtig,  seitdem  Eros  König  der 
Götter  ist. 

Jugendlich  also  ist  er,  dann  aber  auch  zart.  Eines  Dich- 
ters wie  Homer  bedarf  es,  um  eines  Gottes  Zartheit  sicht- 
bar zu  machen.  Homer  sagt  von  Ate,  sie  sei  eine  Göttin 
und  zart;  ihre  Füße  wenigstens  nennt  er  zart  und  sagt: 
„Ihre  Füße  sind  zart  denn  sie  berühret  den  Grund  nicht, 
Sondern  über  die  Häupter  der  Männer  nimmt  sie  die 

Schritte." 


7  2  Agathon 

Schön  und  deutlich,  denke  ich,  beweist  er  damit  ihre 
Zartheit,  daß  sie  nicht  über  Hartes  schreitet  sondern 
über  Weiches.  Ebenso  wollen  wir  auch  von  Eros  bewei- 
sen, daß  er  zart  ist.  Denn  er  schreitet  nicht  auf  der  Erde 
und  nicht  auf  den  Köpfen,  die  doch  nicht  sonderlich 
weich  sind,  sondern  in  den  weichesten  aller  Dinge  wan- 
delt und  wohnt  er.  Denn  in  Wesenheit  und  Seele  der 
Götter  und  Menschen  nimmt  er  Wohnung,  und  auch  Kiicht 
der  Reihe  nach  in  allen  Seelen,  sondern  wo  er  einer 
von  harter  Wesenheit  begegnet,  geht  er  vorüber,  wo  aber 
einer  weichen,  da  zieht  er  ein.  Da  er  mit  Fuß  und  Leib 
immer  die  weichsten  der  weichen  Dinge  berührt,  muß  er 
selbst  der  Zarteste  sein. 

Der  Jüngste  ist  er  und  Zarteste,  dazu  auch  geschmeidig  m' 
von  Gestalt.  Denn  er  würde  nicht  überall  sich  herum- 
winden können  noch  heimlich  in  die  Seele  eintreten  und 
heimlich  scheiden,  wenn  er  ungelenk  Aväre.  Seiner  eben- 
mäßigen und  geschmeidigen  Form  großes  Zeichen  ist 
seine  edle  Haltung,  die  unbestritten  vor  allen  Eros  aus- 
zeichnet. Denn  Krieg  ist  immer  zwischen  Eros  und  Halt- 
losigkeit. Seiner  Farbe  Schönheit  zeigt  das  Leben  des 
Gottes  unter  Blüten,  denn  in  Leib  oder  Seele  oder  was  es 
sei,  die  blütenlos  oder  abgeblüht  sind,  läßt  sich  nicht 
nieder  Eros,  wo  aber  ein  Ort  schön  blüht  und  duftet,  da 
sitzt  er  nieder  und  verharrt. 

Über  die  Schönheit  des  Gottes  mag  dies  genug  sein,  wie-o.i? 
wohl  noch  vieles  zu  sagen  bliebe.  Jetztist  von  der  Tüch- 
tigkeit des  Eros  zu  sagen,  und  das  Größte  zwar:  daß 
Eros  unrecht  weder  tut  noch  leidet,  weder  gegen  Götter 
noch  von  Göttern,  weder  gegen  Menschen  noch  von  Men- 
schen, denn  nicht  leidet  er  durch  Gewalt,  wenn  er  etwas 
leidet,  denn  Gewalt  berührt  den  Eros  nicht.  Noch  bedient 
er  sich  ihrer.  Denn  willig  sind  alle  dem  Eros  in  allem 
zu  Diensten;  was  man  aber  willig  dem  Wilhgen  zuge- 
steht, das  erklären  die  Gesetze,  die  Könige  des  Staates, 
für  gerecht. 


Nächst  der  Rechtlichkeit  hat  er  am  meisten  Teil  an  der 
Besonnenlieit.  Gilt  doch  als  ßesonaenheit  das  Beherr- 
schen der  Lüste  und  Begierden;  keine  Lust  aber  ist  stär- 
ker als  Eros.  Sind  sie  denn  schwächer,  so  werden  sie 
von  Eros  beherrscht,  der  aber  herrscht,  herrschend  über 
Lüste  und  Begierden  ist  Eros  besonnen  vor  allen. 
Und  dem  Mute  des  Eros  hält  selbst  Ares  nicht  stand. 
Denn  es  zwingt  nicht  Ares  den  Eros,  sondern  Eros  den 
Ares,  der  Eros  zu  Aphrodite,  wie  überliefert  ist.  Stärker 
als  der  Bezwungene  ist  der  Bezwingende.  Wer  den  Mutig- 
sten überwindet  ist  wohl  von  allen  der  Mutigste. 
Nun  ist  gesprochen  über  des  Gottes  Rechtlichkeit  und 
Besonnenheit  und  Mut,  es  bleibt  die  Weisheit.  Wir  müs- 
sen uns  bemühn  auch  hierin  nicht  zu  versagen.  Und 
erstlich  —  damit  auch  ich  unsere  Kunst  ehre,  wie  Eryxi- 
machos  die  seine :  Ein  Dichter  ist  der  Gott  so  weise,  daß 
er  auch  andre  zu  Dichtern  macht.  Jeder  nämlich  wird 
Dichter,  wenn  er  auch  zuvor  unmusisch  wai^  den  Eros 
anfaßt.  Darin  gebührt  uns  ein  Zeugnis  zu  sehn,  daß  Eros 
ein  tüchtiger  Schöpfer  in  der  ganzen  musischen  Schöp- 
fung ist.  Denn  was  einer  nicht  hat  und  nicht  weiß,  das 
97  kann  er  auch  dem  andern  nicht  geben  und  ihn  nicht 
lehren.  Und  gar  die  Schöpfung  aller  Kreaturen  —  wer 
könnte  wohl  widersprechen,  daß  es  des  Eros  Weisheit 
sei,  durch  die  alle  Kreaturen  werden  und  wachsen  ?  Und 
von  der  Meisterschaft  in  den  Künsten  —  wissen  wir  nicht, 
wessen  Lehrer  dieser  Gott  geworden,  der  ging  in  Ruhm 
und  Glanz  dahin,  wen  aber  Eros  nicht  anfaßte,  der  in 
Dunkelheit.  Bogenschießen  und  Heilkunst  und  Weissa- 
gung erfand  Apollon  von  Begierde  und  Liebe  geführt,  so 
daß  auch  dieser  Schüler  des  Eros  ist,  wie  die  Musen  in 
der  Musik,  Hephaist  in  der  Schmiedekunst,  Athene  in  der 
Webkunst,  und  Zeus  in  der  Lenkung  der  Götter  und  ^ilen- 
schen.  Woher  denn  das  Leben  der  Götter  geordnet  wurde, 
als  unter  ihnen  Eros  geworden  war,  der  Eros  der  Schön- 
heit offenbar;  denn  in  Häßlichkeit  ist  Eros  nicht.  Vordem 


7  4        ,  Agathon 

geschah,  wie  ich  schon  sagte,  nach  der  Überlieferung 
vieles  Furchtbare  unter  den.  Göttern,  weil  Ananke  regierte. 
Nachdem  aber  unser  Gott  entsprossen  war,  entstanden 
aus  der  Liebe  zum  Schönen  alle  Güter  für  Götter  und 
Menschen. 

So  scheint  mir,  o  Phädros,  Eros  zuerst  selber  der  Schön- 
ste und  Beste  zu  sein,  dann  aber  dasselbe  auch  den  an- 
dern zu  verleihn.  Dafür  taucht  mir  ein  Vers  auf,  daß  die- 
ser es  ist,  welcher  bewirkt: 

„Frieden  unter  den  Menschen,  dem  Meere  heitere  Glätte, 
Ruhe  von  Winden,  den  Stürmen  ein  Lager  und  Schlunmier 

in  Sorge." 
Und  uns  entledigt  er  der  Fremdheit  und  füllt  uns  mit 
Vertrautheit,  anordnend  alle  solche  Einungen  unter  uns, 
bei  Festen,  bei  Tänzen,  bei  Opferfeiern  die  Führung 
übernehmend. 

Mildheit  gewährend,  doch  Wildheit  zerstörend. 
Verschwenderisch  mit  Wohlwollen,  kargend  mit  Übel- 
wollen, 
Huldvoll  den  Guten,  geschaut  von  Weisen,  geliebt  von 

Göttern, 
Geneidet  von  Dürftigen,  gewonnen  von  Glücklichen, 
Der  Fülle,  der  Feinheit,   der  Wonne,  der  Anmut,  des 

Reizes,  der  Sehnsucht  Vater, 
Sorgend  um  Gute,  sorglos  um  Schlechte, 
In  Plagen  und  Zagen,  in  Sehnen  und  Sinnen  der  beste 
Lenkende  und  Leitende,  Helfende  und  Heilende, 
Aller  Götter  und  Menschen  Zier, 

Schönster  und  bester  Führer,  dem  jeglicher  Mann  folgen 
muß  schön  lobsingend  in  den  schönen  Hymnos  einstim- 
mend, den  singend  er  bezaubert  aller  Götter  und  Men- 
schen Sinn. 

Diese  Rede,  o  Phädros,  sei  von  mir  dem  Gotte  darge- 
bracht; sie  enthält  an  Spiel  und  an  schicklichem  Ernat 
soviel  in  meiner  Kraft  steht. 


ApoUodor  7  5 

«.•oAristodera  erzählte,  als  Agathon  gesprochen  hatte,  hät- 
iMteii  ihm  alle  Gäste  zugejubelt,  wie  würdig  seiner  selbst 
und  des  Gottes  der  Jüngling  geredet  habe.  Nun  habe  So- 
krates  den  Eryximachos  angesehen  und  gesagt:  Wie 
denkst  du  jetzt,  du  Sohn  des  Akumenos?  Hab'  ich  in  un- 
nötiger Not  mich  geängstigt  und  habe  ich  nicht  vorhin 
geweissagt,  als  ich  sagte,  daß  Agathon  wundervoll  reden 
und  ich  in  Verlegenheit  kommen  würde?  —  Das  eine, 
sagte  Eryximachos,  scheinst  du  allerdings  geweissagt  zu 
haben,  daß  Agathon  schön  reden  würde ;  daß  du  aber  in 
Verlegenheit  kommst,  glaube  ich  nicht.  —  Und  wie,  du 
Beseligter,  sagte  Sokrates,  sollte  ich  nicht  verlegen  sein, 
ich  oder  welcher  andere  es  sei,  der  reden  soll,  nachdem 
eine  so  schöne  und  reiche  Rede  gesprochen  ist?  Und 
wenn  auch  das  andere  nicht  ganz  so  wmidervoll  war, 
wer  sollte  am  Schlüsse  die  Schönheit  der  Worte  und 
Sätze  vernehmen,  ohne  begeistert  zu  sein?  Und  da  mir 
zum  Bewußtsein  kam,  daß  ich  nicht  fähig  sei,  auch  nur 
annähernd  etwas  so  Schönes  zu  sagen,  wäre  ich  beinahe 
aus  Scham  davongelaufen,  wenn  ich  nur  gewußt  wohin. 
Denn  an  Gorgias  erinnerte  mich  die  Rede,  so  daß  mir 
wirklich  zumute  war  wie  bei  Homer;  ich  fürchtete  Aga- 
thon würde  mir  des  Gorgias  Haupt  des  redegewaltigen 
in  seiner  Rede  gegen  meine  Rede  schwingen  und  mich 
selbst  zum  wortlosen  Stein  machen.  Und  dann  merkte 
ich  wohl,  wie  lächerlich  ich  war,  als  ich  mit  euch 
ausmachte,  der  Reihe  nach  den  Eros  zu  preisen,  und  ich 
sagte,  ich  sei  gewaltig  in  Dingen  der  Liebe,  da  ich  doch 
überhaupt  nichts  davon  verstehe,  wie  man  etwas  preisen 
muß.  Ich  glaubte  in  meiner  Einfalt,  man  müsse  die  Wahr- 
heit sagen  über  jedes  zu  Preisende  und  das  sei  gegeben, 
und  daraus  dann  das  Schönste  auswählen  und  so  schick- 
lich wie  möglich  aufbauen.  Und  sehr  groß  dachte  ich 
davon,  wie  schön  ich  reden  würde,  da  ich  ja  die  Wahr- 
heit von  dem  Dinge,  das  ich  zu  loben  hatte,  wußte.  Aber 


7  o  Sokrates 

darin  besteht,  wie  es  scheint,  gar  nicht,  ein  Ding  schön 
zu  loben,  sondern  darin,  der  Sache  so  Großes  und  Schönes 
wie  möglich  beizulegen,  ob  es  sich  nun  so  verhält  oder 
nicht;  wenn  es  aber  falsch  sein  sollte,  läge  nichts  daran. 
Es  war  also  anscheinend  verabredet,  daß  jeder  von  uns 
nicht  den  Eros  preise,  sondern  so  tue,  als  ob  er  ihn  preise. 
Deswegen  glaube  ich  bewegt  ihr  jedes  Wort  und  verleiht 
es  dem  Eros  und  sagt,  so  sei  er  und  solcher  Dinge  Ursache,  im 
damit  er  so  schön  und  gut  wie  möglich  erscheine.  Offen- 
bar für  die  Nichtkennenden;  für  die  Wissenden  doch 
wohl  nicht.  Und  schön  klingt  und  erhaben  dies  Lob.  Aber 
ich  kannte  ja  diese  Art  der  Preisrede  nicht,  und  unwis- 
send kam  ich  mit  euch  überein,  wenn  die  Reihe  an  mich 
käme,  zu  reden.  „Die  Zunge  also  hat  versprochen,  nicht 
das  Herz."  Es  fahre  dahin  I  Denn  ich  will  nicht  weiter 
auf  diese  Art  preisen,  ja  ich  könnte  es  gar  nicht.  Wahr- 
lich nicht!  Aber  die  Wahrheit,  wenn  ihr  mögt,  will  ich 
nach  meiner  Art  sagen,  nicht  wie  eure  Reden,  damit  ich 
nicht  Gelächter  verdiene.  Also,  Phädros,  bedenke,  ob  es 
auch  solcher  Rede  bedarf,  über  Eros  die  Wahrheit  gesagt 
zu  hören,  mit  Ausdrücken  und  solcher  Folge  der  Sätze, 
wie  sie  mir  gerade  beikomnien.  Phädros  und  die  anderen 
hätten  nun  gefordert,  er  solle  reden,  so  wie  er  glaube, 
daß  man  reden  müsse.  —  Aber,  Phädros,  habe  er  gesagt, 
gestatte  mir,  den  Agathon  etwas  weniges  zu  fragen,  da- 
mit ich  mich  mit  ihm  einige  und  erst  dann  rede.  —  Ja, 
ich  gestatte  es,  sagte  Phädros,  also  frage. 
Darauf  begann  Sokrates  etwa  so:  Aber  wirklich  schön,o.2i 
mein  lieber  Agathon,  scheinst  du  mir  die  Rede  damit  ein- 
geleitet zu  haben,  daß  man  zuerst  zeigen  müsse,  wie 
Eros  selbst  geartet  ist,  danach  seine  Werke.  Diesen  An- 
fang bewundere  ich  sehr.  Nun  vorwärts !  Sage  mir  über 
Eros,  nachdem  du  ja  im  übrigen  schön  und  prächtig  ge- 
schildert hast,  wie  er  ist,  auch  dieses:  Muß  der  Eros 
Liebe  jemandes  sein  oder  nicht?  Ich  frage  nicht,  ob  er 


Sokrales  77 

Iviebe  von  einer  Mutter  oder  von  einem  Vater  ist  —  denn 
es  wäre  lächerlich  zu  fragen,  ob  Eros  Mutter-  oder  Vater- 
liebe ist  —  sondern  wie  wenn  ich  dasselbe  vom  Vater 
fragte,  ob  er  jemandes  Vater  ist  oder  nicht?  Du  würdest 
doch  wohl  sagen,  wenn  da  recht  antworten  willst,  daß 
der  Vater  Vater  eines  Sohnes  oder  einer  Tochter  ist, 
nicht  wahr?  —  Gewiß,  sagte  Agathon.  —  Und  die  Mutter 
nicht  ebenso  ?  —  Auch  dies  bejahte  er.  —  Aber  antworte 
mir  noch  ein  wenig  mehr,  sagte  Sokrates,  damit  du  besser 
verstehst,  was  ich  will.  Wenn  ich  fragen  wijrde,  wie  aber  ? 
Ist  einer  als  Bruder  jemandes  Bruder  oder  nicht?  — 
Jener  sagte :  ja.  —  Nicht  eines  Bruders  oder  einer  Schwe- 
ster? —  Er  stimmte  zu.  —  Versuche  dasselbe  auch  vom 
Eros  zu  sagen.  Ist  Eros  Liebe  zu  nichts  oder  zu  etwas? 
200  -  -  Gewiß  zu  etwas.  —  Das  ist  es,  sagte  Sokrates,  das 
halte  fest  in  deinem  Gedächtnis :  zu  etwas.  Das  aber  sage 
noch,  ob  Eros  das,  wozu  er  Liebe  ist,  begehrt  oder  nicht? 
—  Er  tut  es,  antwortete  er.  —  Begehrt  und  liebt  er  das, 
was  er  begehrt  und  liebt,  dann,  wenn  er's  besitzt,  oder 
wenn  er  es  nicht  besitzt?  —  Wenn  er  es  nicht  besitzt, 
augenscheinlich,  antwortete  er.  —  Prüfe  statt  des  Augen- 
scheins, sagte  Sokrates,  ob  so  die  Notwendigkeit:  Das 
Begehrende  begehre,  wessen  es  bedürftig  ist  und  begehre 
nicht,  wenn  es  nicht  bedürftig  ist.  Denn  mir,  Agathon, 
scheint  es  so  ganz  offenbare  Notwendigkeit  zu  sein.  Wie 
dir?  —  Auch  mir  scheint  es,  sagte  er.  —  Schön.  Könnte 
also  jemand,  der  groß  ist,  groß  sein  wollen,  oder  der 
stark  ist,  stark?  —  Unmöglich  nach  unserem  Ergebnis. 
Denn  man  würde  dessen  nicht  bedürftig  sein,  was  man 
ist.  —  Du  hast  recht,  sagte  Sokrates.  Denn  wenn  ein  Star- 
ker stark  sein  wollte  und  ein  Schneller  schnell  und  ein 
Gesunder  gesund  —  denn  vielleicht  könnte  hierin  und 
in  allen  anderen  Dingen  jemand  meinen,  auch  die,  welche 
so  sind  und  solches  haben,  begehren  noch  das,  was  sie 
haben  —  damit  wir  nicht  etwa  irre  gehn,  sage  ich  dies. 


78  Sokrates 

Diese  müssen  ja,  wenn  du  aufmerkst,  Agathon,  notwen- 
dig das  alles  gegenwärtig  haben,  was  sie  eben  haben,  ob 
sie  wollen  oder  nicht.  Und  wer  könnte  das  wohl  begeh- 
ren ?  Wenn  aber  jemand  sagte,  ich,  der  gesund  bin,  will 
gesund  sein  und  ich,  der  reich  bin,  will  reich  sein,  und 
ich  begehre  das,  was  ich  habe,  so  würden  wir  ihm  sagen : 
Du  Mensch,  der  du  Reichtum  besitzest  und  Gesundheit 
und  Kraft,  willst  diese  auch  für  die  Zukunft  besitzen, 
denn  jetzt  im  Augenblicke  hast  du  sie  ja,  ob  du  willst 
oder  nicht.  Nun  überlege !  Wenn  du  sagst :  „Ich  begehre 
etwas,  was  ich  habe"  ob  du  nicht  dies  meinst :  „Ich  will 
das,  was  ich  gegenwärtig  habe,  auch  in  Zukunft  haben." 
Würde  er  das  zugeben  ?  —  Agathon  bejahte  es.  —  Darauf 
sagte  Sokrates :  Wenn  man  also  für  die  Zukunft  sich  ge- 
sichert wünscht,  was  man  gegenwärtig  hat,  heißt  dann 
das  nicht  jenes  lieben,  was  einem  noch  nicht  bereitet  ist 
und  man  noch  nicht  hat?  —  Gewiß,  sagte  er.  —  Also 
dieser  und  jeder  andere  Begehrende  begehrt  das  noch 
nicht  Bereitete  und  das  Nichtvorhandene;  und  was  er 
nicht  hat  und  nicht  selbst  ist  und  wessen  er  bedürftig  ist, 
das  sind  die  Dinge,  worauf  die  Begierde  und  die  Liebe 
gerichtet  ist?  —  Ja,  sagte  er.  —  Vorwärts,  sagte  Sokrates, 
fassen  wir  beide  das  Ergebnis  zusammen !  Nicht  wahr, 
erstens  ist  Eros  Liebe  zu  etwas,  dann  zu  dem,  woran  er 
Mangel  leidet?  —  Jawohl.  —  Hierzu  erinnere  dich,  was  m 
du  in  deiner  Rede  sagtest,  die  Liebe  zu  was  Eros  sei? 
Wenn  du  willst,  werde  ich  dich  erinnern.  Ich'  glaube 
nämlich,  du  sagtest  etwa  so :  Den  Göttern  sei  das  Dasein 
durch  den  Eros  zum  Schönen  geordnet  worden,  denn 
zum  Häßlichen  gäbe  es  keinen  Eros.  Sprachst  du  nicht 
etwa  so?  —  Ja,  so  sprach  ich,  sagte  Agathon.  —  Und 
das  hast  du  verständig  gesagt,  mein  Freund,  sagte  So- 
krates; und  wenn  es  richtig  ist,  so  wäre  Eros  Liebe  zur 
Schönheit,  zur  Häßlichkeit  nicht.  —  Er  stimmte  bei.  — 
War  nicht  festgesetzt,  was  man  bedarf  und  nicht  hat, 


Sokratee  —  Diotima  79 

das  liebt  man?  —  Jawohl.  —  Es  bedarf  also  und  hat 
nicht  Eros  die  Schönheit.  —  Notwendig,  sagte  er.  — 
Wie  aber?  Meinst  du  also,  was  der  Schönheit  bedarf  und 
sie  durchaus  nicht  besitzt,  sei  schön  ?  —  Unmöglich.  — 
Kannst  du  also  noch  zugeben,  Eros  sei  schön,  wenn  dies 
sich  so  verhält?  —  Und  Agathon  sagte  darauf:  Sokrates, 
mir  ahnt,  daß  ich  nichts  von  dem  weiß,  was  ich  vorhin 
redete.  —  Und  hast  doch  schön  geredet,  Agathon,  sagte 
er.  Aber  noch  ein  Kleines  sage:  Scheint  dir  das  Gute 
nicht  auch  schön  zu  sein  ?  —  Ja.  —  Wenn  also  Eros  des 
Schönen  bedürftig  und  das  Gute  schön  ist,  so  wäre  er  auch 
des  Guten  bedürftig  ?  —  Ich  könnte  dir  nicht  widerspre- 
chen, Sokrates,  sondern  so  soll  es  gelten,  wie  du  sagst. 
—  Vielmehr  der  Wahrheit  kannst  du  nicht  widersprechen, 
geliebter  Agathon,  denn  dem  Sokrates  widersprechen  ist 
nicht  schwer. 
«,22 Von  dir  will  ich  nun  endlich  ablassen;  aber  die  Rede 
über  den  Eros,  die  ich  einst  hörte  von  Diotima,  einer 
Frau  aus  Mantinea,  welche  hierin  und  in  vielem  andern 
weise  war  und  den  Athenern,  als  sie  gegen  die  Pest 
opferten,  zehn  Jahre  Aufschub  der  Krankheit  bewirkte, 
welche  denn  auch  mich  die  Dinge  der  Liebe  lehrte,  — 
die  Rede  also,  die  jene  mir  sagte,  will  ich  versuchen, 
euch  wiederzugeben,  von  dem  ausgehend,  worin  ich 
mich  mit  Agathon  einigte;  ich  selbst  von  mir  aus,  so 
gut  ich  vermag. 

Wir  müssen,  Agathon,  wie  du  auch  erklärtest,  zuerst  ihn 
selbst  beschreiben,  wie  er  ist,  der  Eros  und  wie  geartet, 
danach  seine  Werke.  Es  scheint  mir  am  leichtesten  zu 
sein,  ihn  so  zu  beschreiben  wie  damals  die  Mantineerin 
mich  befragend  es  tat.  Denn  ungefähr  das  gleiche  halte 
auch  ich  zu  ihr  gesagt,  wie  jetzt  zu  mir  Agathon,  daß 
Eros  ein  großer  Gott  wäre  und  zu  den  Schönen  gehöre. 
Sie  widerlegte  mich  mit  den  gleichen  Gründen,  wie  ich 
diesen  hier,  daß  er  nach  meinen  eigenen  Worten  weder 


80  Sokrates  —  Diotima 

schön  wäre  noch  gut.  Und  ich  sagte :  Wie  meinst  du  das, 
Diotima,  haßlich  also  ist  Eros  und  schlecht?  —  Und  sie: 
Lästere  nicht!  Oder  glaubst  du,  was  nicht  schön  ist,  das 
sei  notwendig  häßlich?  —  Ja,  gewiß.  —  Oder  auch  was 
nicht  weise,  das  töricht?  Oder  hast  du  nicht  bemerkt, 
daß  etwas  ist  zwischen  Weisheit  und  Torheit?  —  Was 
ist  es  denn  ?  —  Das  Richtig-Vorstellen,  ohne  doch  Gründe 
dafür  geben  zu  können,  sagte  sie,  weißt  du  nicht,  daß  das 
weder  Erkennen  ist,  denn  wie  könnte  eine  grundlose 
Sache  Erkenntnis  sein  —  noch  Torheit,  denn  was  zum 
W^irklichen  stimmt,  wie  kann  das  Torheit  sein?  Ein  sol- 
ches also  ist  das  Richtig-Vorstellen  mitten  zwischen  Er- 
kenntnis und  Torheit.  —  Du  hast  recht,  sagte  ich.  — 
Fordere  also  nicht,  was  nicht  schön  ist,  sei  häßlich  und 
was  nicht  gut  ist,  sei  schlecht.  Und  so  glaube  auch  nicht, 
daß  Eros,  wenn  du  selbst  zugibst,  er  sei  nicht  gut  und 
nicht  schön,  darum  schon  häßlich  und  schlecht  sein 
müsse,  sondern  etwas  zwischen  beiden.  —  Aber  doch 
sagte  ich,  sind  alle  einig,  er  sei  ein  großer  Gott.  —  Sprichst 
du  von  allen  Nichtwissenden,  fragte  sie,  oder  auch  den 
Wissenden  ?  —  Nun,  von  allen,  sagte  ich.  —  Und  lachend 
sprach  sie :  Und  wie,  Sokrates,  würde  wohl  zugegeben, 
er  sei  ein  großer  Gott,  von  denen,  die  sagen,  er  sei  über- 
haupt kein  Gott?  —  Wer  sind  diese?  fragte  ich.  —  Einer 
du,  eine  ich.  —  Und  ich  fragte  wieder:  Wie  meinst  du 
dies  ?  Und  sie :  Ganz  einfach  1  Sage  mir  doch,  ob  du  nicht 
annimmst,  alle  Götter  seien  glückselig  und  schön,  oder 
wolltest  du  dich  erkühnen  zu  sagen,  einer  der  Götter 
sei  nicht  schön  und  glückselig?  —  Beim  Zeus,  nein,  ich 
nicht.  —  Und  nennst  du  nicht  glückselig,  die  das  Gute 
und  Schöne  besitzen?  —  Freilich.  —  Aber  du  hast  doch 
zugegeben,  daß  Eros  aus  Mangel  des  Guten  und  Schönen 
eben  das  begehre,  dessen  er  ermangele.  —  Ich  habe  es  ja 
zugegeben.  —  Wie  also  wäre  Gott,  der  am  Schönen  und 
Guten  nicht  Teil  hat?  —  Gar  nicht,  wie  es  scheint.    — 


202 


i 


Sokrates  —  Diotima  gl 

Siehst    du    nun,    daß   auch   du   Eros    nicht    für   Gott 
hältst? 

«5. 23 Was  also,  sprach  ich,  wäre  der  Eros?  Sterblich?  —  Kei- 
neswegs. —  Aber  was  dann?  —  Wie  vorher,  sagte  sie, 
mitten  zwischen  Sterblichem  und  Unsterblichem.  —  Was 
also,  Diotima?  —  Ein  großer  Dämon,  o  Sokrates,  denn 
alles  Dämonische  ist  mitten  zwischen  Gott  und  Sterb- 
ling.  —  Welche  Kraft  hat  es?  fragte  ich.  —  Zu  verkün- 
den und  zu  überbringen  Göttern  was  von  Menschen  und 
Menschen  was  von  Göttern  kommt.  Von  den  Einen  Ge- 
bete und  Opfer,  von  den  Anderen  Aufträge  und  Antwor- 
ten auf  die  Opfer.  In  der  Mitte  von  beiden  ist  es  erfüllend, 
so  daß  das  All  selbst  in  sich  selbst  gebunden  ist.  Durch 
dies  Dämonische  geht  auch  Weissagung  und  die  Kunst 

203  der  Priester  in  den  Opfern  und  den  Weihen  und  den  Ge- 
sängen und  in  aller  Wahrsagung  und  Bezauberung.  Gott 
verkehrt  nicht  mit  Menschen,  sondern  durch  dies  ist  der 
ganze  Umgang  und  das  Gespräch  Göttern  mit  Menschen 
im  Wachen  und  im  Schlafe.  Und  der  in  diesen  Dingen 
Weise  ist  ein  dämonischer  Mann.  Wer  aber  in  etwas 
anderem  weise  ist,  in  irgend  Künsten  und  Handwerken, 
ein  Banause.  Dieser  Dämonen  sind  viele  und  mannig- 
fache, einer  von  ihnen  ist  auch  der  Eros. 
Wer  ist  sein  Vater,  sagte  ich,  und  seine  Mutter?  —  Das 
ist  langwierig  zu  erzählen,  sprach  sie,  doch  werde  ich*s 
dir  sagen.  Als  nämlich  Aphrodite  geboren  wurde,  schmau- 
sten die  Götter  und  unter  den  übrigen  auch  Reichtum 
der  Sohn  der  Klugheit.  Als  sie  aber  gespeist  hatten,  kam 
am  etwas  zu  erbetteln,  da  es  doch  festlich  herging,  Armut 
herbei  und  blieb  an  der  Pforte.  Trunken  vom  Nektar,  — 
Wein  gab  es  ja  noch  nicht  —  ging  Reichtum  in  den  Garten 
des  Zeus  und  war  schwer  und  fiel  in  Schlaf.  Armut  nun 
ergriff  der  Gedanke,  wegen  ihrer  Dürftigkeit  sich  ein  Kind 
vom  Reichtum  erzeugen  zu  lassen.  Sie  legte  sich  zu  ihm 
und  empfing  den  Eros.  Daher  auch  Eros  Aphroditens  Be- 

Plato,  Gastmahl  6 


32  Sokrates  —  Diotima 

gleiter  und  Diener  wurde,  erzeugt  bei  der  Feier  ihrer  Ge- 
burt und  zugleich  weil  er  von  Natur  verliebt  ist  in  das 
Schöne  und  Aphrodite  schön  ist.  Als  Sohn  von  Reichtum 
und  Armut  ist  Eros  in  solches  Geschick  gestellt:  Erst- 
lich bedürftig  ist  er  immer  und  viel  fehlt,  daß  er  zart  sei 
und  schön,  wie  die  Vielen  glauben,  sondern  hart  und 
rauh  und  barfuß  und  heimatlos,  immer  am  Boden  lagernd 
und  ohne  Decke,  vor  Türen  und  auf  Straßen  im  Freien 
schlafend,  da  er  die  Natur  der  Mutter  hat,  immer  der  Be- 
dürftigkeit Genoß.  Wie  der  Vater  hingegen  stellt  er  den 
Schönen  und  Guten  nach,  tapfer  und  verwegen  und  eifrig, 
gewaltiger  Jäger,  allezeit  Ränke  schmiedend  und  nach 
Erkenntnis  begierig  und  erfinderisch,  Weisheit  suchend 
sein  ganzes  Leben,  gewaltiger  Zauberer,  Giftkundiger 
und  Sophist,  und  weder  als  Unsterblicher  ist  er  geartet 
noch  als  Sterblicher,  sondern  bald  blüht  er  denselben 
Tag  und  lebt,  wenn  es  ihm  wohl  geht,  bald  aber  stirbt  er 
hin.  Und  wieder  lebt  er  auf  durch  des  Vaters  Natur,  und 
das  Erworbene  zerfließt  ihm  immer,  so  daß  Eros  weder 
jemals  arm  ist  noch  reich  und  in  der  Mitte  ist  von  Weis- 
heit und  Torheit.  Denn  so  verhält  es  sich:  Keiner  der 
Götter  sucht  die  Weisheit  oder  begehrt  weise  zu  werden, 
denn  er  ist  es.  Und  auch  wenn  ein  anderer  weise,  sucht  ao4 
er  nicht  Weisheit.  Aber  auch  die  Toren  suchen  nicht 
Weisheit  und  begehren  nicht,  weise  zu  werden.  Das  eben 
ist  ja  das  Schwere  in  der  Torheit,  daß  sie  ohne  schön 
und  gut  oder  vernünftig  zu  sein,  sich  selbst  genug  dünkt. 
Und  wer  nicht  glaubt,  bedürftig  zu  sein,  der  begehrt  auch 
nicht,  wessen  er  nicht  zu  ermangeln  glaubt.  —  Welches 
also  sind  die  Weisheitsuchenden,  Diotima,  wenn  nicht 
die  Weisen  und  nicht  die  Toren?  —  Auch  einem  Kinde, 
sagte  sie,  wäre  das  schon  klar,  die  zwischen  diesen  bei- 
den, deren  auch  Eros  einer  ist.  Die  Weisheit  gehört  näm- 
lich zu  den  schönsten  Dingen,  Eros  aber  ist  Liebe  zum 
Schönen,  so  daß  Eros  notwendig  weisheitsuchend  ist, 


Soki-fttM  —  Diotiroii  83 

weisheitsuchend  aber  ist  er  mitten  zwischen  weise  und 
töricht.  Ursache  ist  auch  hiervon  seine  Abstammung,  denn 
er  stammt  von  weisem  und  gabenreichem  Vater  und  von 
unweiser  und  unbegabter  Mutter.  Das  also  ist  die  diesem 
Dämon  eigene  Natur,  lieber  Sokrates.  Was  du  aber  glaub- 
test, daß  Eros  sei,  ist  nicht  verwunderlich.  Du  glaubtest 
aber,  wie  ich  aus  deinen  Worten  entnehme,  das  Geliebte 
sei  Eros,  nicht  das  Liebende.  Deswegen  glaube  ich,  schien 
dir  Eros  vollkommen  schön.  Denn  das  Liebenswerte  ist 
das  wirklich  Schöne  und  Zarte  und  Vollkommene  und 
Selige.  Das  Liebende  aber  hat  eine  andere  Gestalt,  so  wie 
ich  sie  beschrieb. 

«.24 Und  ich  sagte:  Ja,  so  soll  es  gelten,  Freundin,  denn  du 
redest  schön.  Wenn  aber  Eros  so  geartet  ist,  welchen 
Nutzen  bringt  er  den  Menschen  ?  —  Dies  will  ich  weiter 
dich  zu  lehren  versuchen,  Sokrates,  sagte  sie.  Denn  so 
ist  die  Art  und  so  die  Geburt  des  Eros;  er  liebt  also  das 
Schöne,  wie  du  sagst.  Wenn  aber  jemand  uns  fragte :  Was 
liebt  Eros  am  Schönen,  Sokrates  und  Diotima?  Und  so 
will  ich  noch  deutlicher  fragen :  Wer  das  Schöne  liebt, 
was  liebt  er?  —  Und  ich  sagte:  Daß  es  ihm  werde.  — 
Aber  diese  Antwort  fordert  folgende  Frage :  Was  geschieht 
jenem,  dem  das  Schöne  wird?  —  Ich  entgegnete,  daß 
ich  auf  diese  Frage  keine  Antwort  zur  Hand  habe.  — 
Aber,  sagte  sie,  wenn  jemand  statt  des  Schönen  das  Gute 
einsetzte  und  fragte :  Sprich,  Sokrates,  wer  das  Gute 
liebt,  was  liebt  er?  —  Daß  es  ihm  werde,  sagte  ich.  — 
Und  was  geschieht  jenem,  dem  das  Gute  wird?  —  Das 
habe  ich  leichter  zu  beantworten,  sagte  ich :  daß  er  glück-. 

205  lieh  sein  wird.  —  Denn,  sagte  sie,  durch  den  Besitz  des 
Guten  sind  die  Glücklichen  glücklich.  Und  weiter  zu  fra- 
gen bedarf's  nicht,  weshalb  denn  der  glücklich  sein  will, 
der  es  will,  sondern  die  Beantwortung  scheint  vollendet 
zu  sein.  —  Du  hast  recht,  sagte  ich.  —  Dieser  Wille  und 
diese  Liebe,  glaubst  du,  daß  sie  allen  Menschen  gemein 

6* 


34  Sokratei  —  Diotima 

sind,  und  wollen  alle  iminer  das  Gute  haben?  Oder  wie 
meinst  du?  —  Ja  so,  antwortete  ich,  sie  seien  allen  ge- 
mein. —  Warum  aber,  Sokrates,  sagen  wir  nicht,  daß 
.alle  lieben,  wenn  alle  dasselbe  lieben  und  immerfort, 
sondern  sagen,  die  einen  lieben,  die  anderen  lieben  nicht? 
—  Das  wundert  mich  selbst.  —  Nein,  wundere  dich 
nicht;  denn  indem  wir  von  der  Liebe  eine  Form  heraus- 
nehmen, geben  wir  dieser  den  Namen  des  Ganzen: 
„Liebe** ;  für  andere  Formen  aber  brauchen  wir  andere 
Namen.  —  Wie  denn  etwa?  fragte  ich.  —  Etwa  so:  du 
weißt,  daß  es  vielerlei  Schöpfung  gibt,  denn  für  den  Über- 
gang aus  dem  Nichtsein  ins  Sein  ist  jedesmal  Schöpfung 
die  Ursache,  daher  auch  in  allen  Künsten  die  Werke 
Schöpfungen  sind  und  alle  ihre  Meister  Schöpfer.  —  Du 
hast  recht.  —  Aber  doch  weißt  du,  sagte  sje,  sie  werden 
nicht  Schöpfer  genannt,  sondern  haben  andere  Namen, 
und  aus  aller  Schöpfung  wird  ein  Teil  getrennt,  der  der 
musischen  und  metrischen  Kunst,  und  mit  dem  Namen 
des  Ganzen  benannt.  Denn  dies  allein  wird  Schöpfung 
genannt  und  welche  diesen  Teil  der  Schöpfung  haben, 
Schöpfer.  —  Du  hast  recht,  sagte  ich.  —  Ebenso  auch 
bei  der  Liebe.  Das  Gemeinsame  ist  alle  Begierde  nach 
dem  Guten  und  dem  Glücklichsein,  für  jeden  die  größte 
und  listenreiche  Liebe.  Aber  die  sich  in  vielfacher  ande- 
rer Weise  ihr  zuwenden,  zum  Gelderwerb  oder  zur  Leibes- 
übung oder  zur  Philosophie,  von  denen  sagt  man  nicht, 
sie  lieben  oder  sind  Verliebte ;  die  aber  auf  eine  bestimmte 
Form  ausgehen  und  eifern,  tragen  den  Namen  des  Gan- 
«zen,  Liebe  und  Lieben  und  Verliebte.  —  Du  hast  wohl 
recht,  sagte  ich.  —  Nun  besagt  eine  Lehre,  daß  diejeni- 
gen, welche  ihre  eigene  Hälfte  suchen,  lieben.  Meine 
Lehre  aber  sagt,  weder  zur  Hälfte  gibt  es  Liebe,  noch 
zum  Ganzen,  wenn  es  nicht,  mein  Freund,  zugleich  ein 
Gutes  ist,  denn  die  Menschen  sind  ja  bereit  ihre  eigenen 
Hände  und  Füße  abschneiden  zu  lassen,  wenn  sie  ihnen 


Sükrates  —  Diotima  85 

schädlich  zu  sein  scheinen,  denn  sie  alle,  glaube  ich, 
hängen  nicht  am  Eigenen,  wenn  man  nicht  das  Gute  ver 

aoo  wandt  nennt  und  eigen,  aber  das  Schlechte  fremd.  So 
gibt  es  nichts  anderes,  was  Menschen  lieben  als  das 
Gute,  oder  glaubst  du  doch?  —  Bei  Gott,  ich  nicht.  — 
Soll  man  nun  einfach  sagen,  daß  die  Menschen  das  Gute 
lieben  ?  —  Ja,  sagte  ich.  —  Wie  denn  ?  Müssen  wir  nicht 
zusetzen,  daß  sie  das  Gute  zu  besitzen  begehren?  —  Das 
müssen  wir.  —  Und  weiter  1  sagte  sie,  auch  nicht  allein 
besitzen,  sondern  dazu  immer  besitzen?  —  Auch  dies 
muß  dazu  gefügt  werden.  —  Also  zusammengefaßt,  sagte 
sie,  heißt  nun  die  Liebe,  daß  man  das  Gute  für  immer 
besitzen  will.  —  Ganz  wahr  ist,  sagte  ich,  was  du  sprichst. 

•.25  Wenn  aber  immer  die  Liebe  hierauf  geht,  sagte  sie,  wie 
und  in  welchem  Tun  muß  der  Eifer  und  die  Leidenschaft 
ihm  folgen,  damit  man  sie  Liebe  benennt?  Welches  Wir- 
ken mag  dies  wohl  sein,  kannst  du  es  sagen?  —  Dann 
würde  ich  ja  dich,  Diotima,  nicht  bewundern  in  der  Weis- 
heit und  zu  dir  kommen,  um  eben  dies  zu  lernen.  — 
Wohlan,  ich  will  es  dir  sagen.  Es  ist  nämlich  ein  Zeugen 
im  Schönen,  sei  es  im  Leibe,  sei  es  in  der  Seele.  —  Man 
bedarf  der  Seherkunst  für  den  Sinn  deiner  Worte,  sj)rach 
ich,  und  ich  begreife  nicht.  —  So  will  ich  deutlicher 
sagen,  —  nämlich  brünstig  sind  alle  Menschen,  Sokrates, 
an  Leib  und  an  Seele,  und  wenn  sie  in  ihr  Alter  gekom- 
men sind,  so  begehrt  unsere  Natur  zu  erzeugen.  Doch 
im  Häßlichen  vermag  sie  nicht  zu  zeugen,  aber  im  Schö- 
nen. Denn  des  Mannes  und  Weibes  Gemeinschaft  ist 
Zeugung.  Dieser  Vorgang  aber  ist  göttlich  und  dies  ist 
im  sterblichen  Wesen  das  Unsterbliche :  die  Befruchtung 
und  die  Geburt.  Im  Unharmonischen  kann  Das  unmöglich 
geschehen.  Unharmonisch  aber  ist  das  Häßliche  mit  allem 
Göttlichen,  das  Schöne  harmonisch.  Moira  also  und 
Eileithyia  für  die  Erzeugung  ist  die  Schöne.  Deswegen: 
Wenn  das  Reifende  einem  Schönen  naht,  so  wird  e«  hei- 


86  Sokrates  —  Diotima 

ter  und  von  Freude  durchströmt  und  es  zeugt  und 
gebiert.  Wenn  es  aber  dem  Häßlichen  naht,  so  zieht  es 
feich  unwillig  und  trauernd  in  sich  zurück  und  wendet 
sich  ab  und  sinkt  zusammen  und  zeugt  nicht,  sondern 
behält  und  trägt  schAver  seine  Bürde.  Daher  wird  im  Rei- 
fenden und. schon  Geschwellten  so  vieler  Eifer  um  das 
Schöne,  weil  es  dem,  der  es  besitzt,  von  großen  Wehen 
befreit.  Denn  die  Liebe,  Sokrates,  gilt  nicht  dem  Schönen, 
wie  du  glaubst.  —  Aber  wem  denn?  —  Der  Zeugung  und 
dem  Gebären  im  Schönen.  —  So  mag  es  sein,  sagte  ich. 
—  Und  sie:  Sicherlich.  —  Waram  denn  nun  der  Zeu- 
gung? —  Weil  das  Ewige  und  Unsterbliche  im  Sterb- 
lichen die  Zeugung  ist.  Mit  dem  Guten  aber  Unsterblich- 
keit zu  begehren,  ist  notwendig,  wenn  wir  doch  fanden, 
daß  Liebe  das  Gute  für  immer  zu  besitzen  trachtet.  Not-  ao? 
wendig  ist  nach  dieser  Lehre,  daß  die  Liebe  auch  nach 
der  Unsterblichkeit  trachtet. 

Dies  alles  lehrte  sie  mich,  wenn  sie  über  die  Dinge  derc.2« 
Liebe  redete,  und  einmal  fragte  sie :  Was  glaubst  du,  So- 
krates, sei  die  Ursache  dieser  Liebe  und  der  Begierde? 
Oder  merkst  du  nicht,  wie  gewaltig  alle  Tiere  ergriffen 
werden,  wenn  sie  begierig  sind  zu  zeugen,  die  da  kriechen 
und  fliegen  ?  Krank  erscheinen  sie  alle  und  verliebt,  zu- 
erst wenn  sie  sich  miteinander  verbinden,  dann  beim 
Aufziehn  der  Brut.  Und  für  diese  sind  die  Schwächsten 
gegen  die  Stärksten  zu  kämpfen  bereit  und  für  sie  zu 
sterben,  und  sie  lassen  sich  vom  Hunger  quälen,  um  jene 
zu  ernähren  und  tun  auch  sonst  alles.  Bei  den  Menschen 
könnte  man  glauben,  sie  täten  es  aus  Überlegung.  Aber 
die  Tiere,  welche  Ursache  macht,  daß  sie  sich  so  verliebt 
gebärden  ?  Kannst  du  sie  nennen  ?  —  Und  wieder  sagte 
ich,  daß  ich  es  nicht  wüßte.  —  Sie  aber  sprach :  Meinst 
denn  du,  du  wirst  jemals  stark  sein  in  Dingen  der  Liebe, 
wenn  dir  dies  nicht  bewußt  ist?  —  Aber  deswegen,  Dio- 
tima —  eben  sagte  ich's  schon  —  bin  ich  ja  zu  dir  ge- 


I 


Sokrate«  —  Diotima  87 

kommen,  weil  ich  es  weiß,  daß  ich  der  Lehrer  bedarf. 
So  sage  mir  auch  hiervon  den  Grimd  und  von  dem  ande- 
ren, was  die  Liebe  angeht.  —  Wenn  du  nun  überzeugt 
bist,  die  Liebe  gelte  von  Natur  jenem,  über  das  wir  oft 
übereinkamen,  so  wundere  dich  nicht.  Denn  hier  strebt 
aus  demselben  Grunde  wie  dort  die  sterbliche  Natur  so- 
weit möglich  ewig  zu  sein  und  unsterblich.  Sie  vermag 
es  allein  durch  diese  Zeugung,  weil  sie  immer  ein  ande- 
res Junges  anstatt  des  Alten  zurückläßt.  Denn  man  sagt 
ja  auch,  daß  jedes  einzelne  der  Lebewesen  lebe  und  das- 
selbe bleibe,  wie  einer  auch  von  Kindheit  an  derselbe 
genannt  wird,  bis  er  alt  geworden  ist,  und  wird  gleich- 
wohl immer  derselbe  genannt,  da  er  doch  niemals  das- 
selbe in  sich  enthält,  sondern  immer  neu  wird  und  das 
andere  verliert,  an  Haaren  und  Fleisch,  Knochen  und 
Blut  und  am  gesamten  Körper,  und  das  nicht  nur  am 
Leibe,  sondern  auch  an  der  Seele:  Die  Denkweise,  die 
Sitten,  Meinungen,  Begierden,  Lüste,  Schmerzen,  Ängste, 
dies  alles  bleibt  in  keinem  jemals  dasselbe,  sondern  das 
eine  entsteht,  das  andere  verschwindet.  Noch  viel  wun- 
■'ios  derlicher  als  dies  ist,  daß  auch  die  Kenntnisse  nicht  nur 
die  einen  entstehen,  die  andern  verschwinden,  und  wir 
niemals  in  unseren  Kenntnissen  dieselben  sind,  sondern 
auch  jeder  einzelnen  Kenntnis  dasselbe  geschieht.  Denn 
was  man  Nachsinnen  nennt,  geschieht  weil  die  Kenntnis 
entweicht.  Vergessen  ist  nämlich  Ausgehn  der  Kenntnis. 
Nachsinnen  aber  bildet  eine  neue  Erinnerung  statt  der 
fortgegangenen  und  erhält  die  Erkenntnis,  so  daß  sie  die- 
selbe zu  sein  scheint.  So  wird  auf  diese  Weise  alles 
Sterbliche  erhalten,  nicht  dadurch,  daß  es  in  jeder  Be- 
ziehung immer  dasselbe  bleibt  wie  das  Göttliche,  son- 
dern indem  das  Verschwindende  und  Alternde  ein  ande- 
res Neues  von  der  Art  wie  es  selbst  war,  zurückläßt. 
Durch  diese  Einrichtung,  Sokrates,  hat  Sterbliches  an 
der  Unsterblichkeit  teil,  der  Leib  und  alles  übrige;  nie- 


88  Sokrates' —  Diotima 

mals  durch  eine  andere.  Wundere  dich  also  nicht,  daß 
ein  jedes  von  Natur  das  von  ihm  Entsprossene  ehrt;  denn 
der  Unsterblichkeit  zuliebe  ist  jedem  dieser  Eifer  und 
der  Eros  eigen. 

Und  als  ich  die  Rede  gehört  hatte,  war  ich  verwundert 0.27 
und  sagte:  Ja,  du  weiseste  Diotima,  verhält  sich  das 
wahrhaft  so  ?  —  Und  sie  sagte  wie  die  vollendeten  Lehrer 
der  Weisheit:  Du  sollst  es  begreifen,  o  Sokrates.  Wenn 
du  die  Ehrsucht  der  Menschen  betrachten  willst,  so  wür- 
dest du  dich  wohl  über  ihre  Unvernunft  wundern,  wenn 
du  das,  was  ich  gesagt  habe,  nicht  im  Sinne  hast  und 
bedenkst,  wie  gewaltig  sie  die  Liebe  beherrscht  berühmt 
zu  werden  und  für  immer  einen  unsterblichen  Namen  zu 
erwerben.  Und  dafür  sind  sie  bereit,  sich  in  allen  Ge- 
fahren zu  gefährden  mehr  als  für  ihre  Kinder,  ihren  Be- 
sitz zu  verbrauchen  und  jede  Mühsal  zu  erdulden  und 
dafüi'  zu  sterben.  Denn  meinst  du,  Alkestis  sei  für  Admet 
gestorben  oder  Achilleus  dem  Patroklos  in  den  Tod  ge- 
folgt, oder  euer  Kodros  voraus  für  das  Königtum  der 
Kinder  gestorben,  wenn  sie  nicht  geglaubt  hätten,  un- 
sterbliches Gedenken  ihrer  Tüchtigkeit  werde  um  sie 
sein,  welches  wir  nun  auch  bewahren?  Nein,  weit  ent- 
fernt, sondern  ich  glaube,  für  unsterbliche  Tugend  und 
solchen  hochklingenden  Namen  tun  alle  alles,  um  so 
mehr  je  edler  sie  sind,  denn  das  Unsterbliche  lieben  sie. 
Welche  nun  leiblich  reif  sind,  die  wenden  sich  mehr 
den  Frauen  zu,  und  hier  sind  sie  verliebt,  durch  Kinder- 
zeugen erwerben  sie  sich  Unsterblichkeit  und  Andenken 
und  Glückseligkeit,  wie  sie  glauben,  für  alle  folgende  Zeit.  209 
Welche  aber  in  der  Seele  —  denn  es  gibt  solche,  die  in 
den  Seelen  noch  mehr  zeugen  als  in. den  Leibern,  was 
der  Seele  zu  zeugen  und  zu  empfangen  gemäß  ist;  was 
also  ist  gemäß?  Erkenntnis  und  die  übrige  Tüchtigkeit, 
deren  Erzeuger  auch  die  Dichter  sind  und  unter  den 


Sokrates  —  Diotima  89 

Künstlern  die,  welche  erfinderisch  genannt  werden  kön 
nen.  Weitaus  die  größte  und  schönste  Erkenntnis  ist  die 
für  die  Ordnung  der  Städte  und  Haushaltungen,  die  den 
Namen  hat :  Besonnenheit  und  Gerechtigkeit.  Wenn  einem 
nun  von  Jugend  an  dies  in  der  Seele  reift,  da  er  göttlich 
ist  und  er,  da  seine  Zeit  kommt,  nunmehr  zu  befruchten 
und  zu  zeugen  begehrt,  schweift  dieser  umher  —  nicht 
wahr?  —  und  sucht  das  Schöne  indem  erzeugen  könnte; 
denn  im  Häßlichen  wird  er  niemals  zeugen.  Zu  den 
schönen  Leibern  fühlt  er  sich  mehr  hingezogen  als  zu 
den  häßlichen,  wenn  er  trächtig  ist  und  wenn  er  dabei 
auf  eine  schöne  und  edle  und  wohlgewachsene  Seele 
trifft,  so  fühlt  er  sich  heftig  hingezogen  zur  Vereinigung 
dieser  zwei;  und  zu  diesem  Menschen  ist  er  sogleich 
voll  von  Reden  über  Tüchtigkeit  und  über  das  was  Not 
ist,  damit  ein  Mann  gut  sei  und  wonach  man  streben  muß 
und  bemüht  sich,  ihn  zu  erziehn.  Denn,  glaube  ich,  in- 
dem er  den  Schönen  anfaßt  und  mit  ihm  umgeht,  zeugt 
und  gebiert  er,  womit  er  längst  trächtig  ist.  Und  anwesend 
und  abwesend  daran  denkend  zieht  er  gemeinschaftlich 
mit  jenem  das  Erzeugte  auf,  so  daß  sie  viel  engere  Ge- 
meinschaft als  die  durch  Kinder  miteinander  haben  und 
festere  Freundschaft,  weil  sie  durch  schönere  und  un- 
sterblichere Kinder  miteinander  verbunden  sind.  Und 
jeder  würde  sich  lieber  solche  Kinder  geboren  sehen  als 
die  menschlichen,  wenn  er  auf  Homer  schaut  und  Hesiod 
und  die  anderen  tüchtigen  Dichter,  sie  beneidend,  daß 
sie  solche  Kinder  zurücklassen,  die  ihnen  unsterblichen 
Ruhm  und  Gedächtnis  bereiten,  da  sie  ja  selbst  so  sind; 
und  wenn  du  willst  wie  Lykurgos  Kinder  zurückließ  in 
Lakedämon,  zu  Rettern  von  Lakedämon  und,  um  es  zu 
sagen,  von  Hellas.  Geehrt  ist  bei  euch  auch  Solon  in  der 
Erzeugung  der  Gesetze  und  viele  andere  Männer  ander- 
wärts bei  Hellenen  und  Barbaren,  viele  und  schöne  Werke 


90  Sokrates  —  Diotima 

offenbarend,  mancherlei  Tugend  erzeugend;  ihnen  sind 
auch  schon  viele  Heiligtümer  entstanden  wegen  solcher 
Kinder,  wegen  menschlicher  Kinder  aber  noch  keinem. 
Soweit  kannst  vielleicht  auch  du,  Sokrates,  in  den  Ge-c.21 
heimdienst  der  Liebe  geweiht  werden ;  ob  du  aber  reif  210 
bist  für  die  letzte  Schau  und  oberste  Weihe,  um  deret- 
willen  ja  dieses  alles  nur  die  rechte  Vorbereitung  ist, 
weiß  ich  nicht.  Ich,  fuhr  sie  fort,  will  nun  davon  sagen 
und  werde  es  an  Eifer  nicht  fehlen  lassen.  Versuche  du 
zu  folgen,  wenn  du  es  vermagst.  Denn  wer  in  der  rechten 
Weise  dieser  Sache  nachgeht,  der  muß  jung  beginnen 
den  schönen  Leibern  nachzugehen,  und  zuerst  wenn  der 
Geführte  richtig  geführt  wird,  Einen  schönen  Leib  lieben 
und  in  ihm  schöne  Worte  zeugen,  dann  aber  erkennen, 
daß  die  Schönheit  in  irgendeinem  Leibe  der  im  anderen 
Leibe  verschwistert  ist,  und  wenn  man  die  schöne  Ge- 
stalt an  sich  verfolgen  muß,  es  sinnlos  wäre,  nicht 
die  Schönheit  in  allen  Leibern  für  ein  und  dasselbe  zu 
halten.  Dies  erfahrend  zeigt  er  sich  in  alle  schönen  Lei- 
ber verliebt  und  wird  nachlassen.  Einen  allzusehr  zu 
lieben,  indem  er  das  für  gering  und  klein  hält.  Aber  da- 
nach wird  er  die  Schönheit  in  den  Seelen  für  verehrungs- 
würdiger halten  als  die  im  Leibe,  und  wenn  einer,  der 
an  Seele  löblich  ist,  nur  geringe  Blüte  hat,  so  ist  es  ihm 
genug,  und  er  liebt  und  sorgt  um  ihn  und  er  erzeugt  und 
sucht  solche  Gedanken,  welche  die  Jünglinge  tüchtiger 
machen,  um  ihn  zu  zwingen,  daß  er  auch  in  der  Lebens- 
führung und  in  dem  Gesetze  das  Schöne  erschaue  und 
wahrnehme,  dies  alles  sei  mit  sich  selbst  verwandt  und 
damit  er  überzeugt  sei,  das  Schöne  des  Leibes  sei 
wenig.  Von  der  Lebensführung  muß  er  zu  den  Erkennt- 
nissen wandeln,  damit  er  auch  der  Erkenntnisse  Schön- 
heit erblickt.  Und  da  er  das  Schöne  schon  in  der  Vielheit 
erschaut,  wird  er  ihm  nicht  mehr  bei  Einem  dienen,  ge- 
mein und  kleinlich  denkend  —  wie  ein  Sklave  die  Schön- 


Sokrate«  — Diotima  91 

heit  eines  Knäbleins  oder  eines  Mannes  oder  einer  ein- 
zigen Beschcäftigung  pflegend  —  sondern  auf's  weite 
Meer  des  Schönen  sich  begebend  und  ausschauend,  viele 
und  schöne  Worte,  prächtige,  gebären  und  Gedanken  in 
überfließender  Liebe  zur  Weisheit,  bis  er  hierin  gekräf- 
tigt und  gewachsen  Eine  Erkenntnis  erblickt,  jene  ein- 
zige, welche  zu  diesem  Schönen  gehört.  Mühe  dich, 
sagte  sie,  mir  deinen  Sinn  zu  öffnen,  so  sehr  du  ver- 
magst. Denn  wer  bis  hierher  für  die  Liebe  erzogen  wor- 

e.2oden  ist,  indem  er  das  Schöne  in  richtiger  Folge  betrach- 
tet, der  wird  plötzlich  in  den  Dingen  der  Liebe  zum  Ziel 
gelangend,  ein  Wunderbares,  im  Wesen  Schönes  er- 
blicken, eben  jenes  selbst,  o  Sokrates,  deswillen  auch 

211  alle  früheren  Mühsale  waren:  zuerst  ewig  seiend  und 
weder  werdend  noch  vergehend,  weder  wachsend  noch 
abnehmend,  weiter  nicht  hierin  schön  hierin  häßlich, 
und  nicht  bald  ja  bald  nein,  auch  nicht  in  dieser  Be- 
ziehung schön  in  jener  häßlich,  auch  nicht  dort  schön 
dort  häßlich,  wie  für  die  einen  schön  die  anderen  häß- 
lich ;  und  wieder  wird  sich  das  Schöne  ihm  nicht  offen- 
baren wie  ein  Antlitz  oder  Hände  oder  etwas  anderes, 
was  dem  Leibe  angehört,  auch  nicht  als  ein  Wort  oder 
eine  Erkenntnis,  auch  nicht  als  in  etwas  anderm  ent- 
halten, in  der  Kreatur  oder  auf  Erden  oder  im  Himmel 
oder  in  irgend  etwas,  sondern  als  ein  mit  sich  selbst  für 
sich  selbst  ewig  eingestaltiges  Sein.  Aber  alles  andere 
Schöne  hat  an  jenem  auf  irgendeine  Weise  derart  Teil, 
daß  wenn  dies  andere  entsteht  und  vergeht  jenes  weder 
zunimmt  noch  abnimmt  und  auch  sonst  nichts  erleidet. 
Wenn  aber  einer  von  diesem  andern  aufsteigend  durch 
die  echte  Liebe  zu  Knaben  jenes  Schöne  zu  schauen  be- 
ginnt, dann  berührt  er  fast  das  Ziel.  Denn  dies  heißt  rich- 
tig zum  Erotischen  gehen  oder  geführt  werden,  daß  man 
von  diesen  schönen  Dingen  beginnend  jenes  Schönen 
wegen  immer  hinaufsteige,  gleichsam  auf  Stufen  stei- 


92  Sokrates  —  Diotima 

gend,  von  einem  zu  zweien  und  von  zweien  zu  allen 
schönen  Leibern  und  von  den  schönen  Leibern  zur  schö- 
nen Lebensführung  und  von  der  schönen  Lebensführung 
zu  den  schönen  Erkenntnissen,  bis  man  von  den  Er- 
kenntnissen endlich  zu  jener  Erkenntnis  gelangt,  welche 
die  Erkenntnis  von  nichts  anderem  als  jenem  Schönen 
selbst  ist  und  man  am  Ende  jenes  Selbst,  welches  schön 
ist,  erkenne.  Und  hier,  wenn  irgendwo,  o  lieber  Sokrates, 
sagte  der  Gast  aus  Mantinea,  ist  das  Leben  dem  Men- 
schen lebenswert,  wo  er  das  Schöne  selbst  schaut.  Das, 
wenn  du  es  jemals  schaust,  dir  nicht  scheinen  wird  wie 
Gold  und  Gewänder  und  die  schönen  Knaben  und  Jüng- 
linge, bei  deren  Anblick  du  erschüttert  bist  und  gewillt 
bist  —  du  und  viele  andere  —  die  Lieblinge  zu  sehen 
und  immer  mit  ihnen  zusammen  zu  sein  und  wenn  es 
möglich  wäre  nicht  zu  essen,  nicht  zu  trinken,  sondern 
allein  zu  schauen  und  zusammen  zu  sein.  Was  aber  sollen 
wir  gar  glauben,  wenn  einer  das  Schöne  selbst  sonnen- 
haft  rein  ungemischt  sehen  dürfte,  aber  nicht  gefüllt  mit 
menschlichem  Fleische  und  Farben  und  vielem  anderen 
sterblichen  Tand,  sondern  das  Göttliche  Schön  in  seiner 
Eingestalt  zu  erschauen  vermöchte  —  glaubst  du  wohl, 
es  könnte  gering  sein  das  Leben  eines  Menschen,  der  212 
dorthin  blickt  und  jenes  anschaut  und  mit  ihm  zusam- 
men ist?  Oder  ist  dir  nicht  bewußt:  dort  allein  ist  ihm 
bestimmt,  blickend  mit  dem  Auge,  von  dem  das  Schöne 
sich  erblicken  läßt,  nicht  Schattenbilder  der  Tüchtigkeit 
zu  gebären,  weil  er  nicht  ein  Schattenbild  umarmt,  son- 
dern wahre  Tüchtigkeit,  weil  er  das  Wahre  umarmt? 
Wer  aber  wahre  Tüchtigkeit  gebiert  und  ernährt,  dem  ist 
vergönnt  ein  Götterfreund  zu  werden,  und  wenn  irgend- 
ein Mensch  darf  er  unsterblich  sein. 
Das  war  es,  Phädros  und  ihr  anderen,  was  Diotima  sagte ; 
gewonnen  bin  ich  und  als  Gewonnener  versuche  ich 
auch  die  anderen  zu  gewinnen  dafür,  daß  man  für  dieses 


Apollodor  93 

Gut  wohl  nicht  leicht  der  menschlichen  Natur  einen  bes- 
seren Helfer  fände  als  Eros.  Ich  behaupte  deswegen, 
jedermann  müsse  den  Eros  ehren,  und  ich  selbst  ehre 
alles  Erotische  und  übe  es  sonderlich  und  empfehle  es 
den  anderen.  Auch  lobsinge  ich  jetzt  und  immer  der  Ge- 
walt und  Kühnheit  des  Eros  soviel  an  mir  ist. 
Diese  Rede  nimm,  o  Phädros,  wenn  du  willst,  als  einen 
Lobgesang,  gesprochen  auf  Eros,  wo  nicht,  benenne  sie 
wie  und  wonach  du  sie  am  liebsten  nennst. 
9.30  Als  Sokrates  so  gesprochen,  hätten  die  andern  ihn  ge- 
lobt, nur  Aristophanes  habe  etwas  erwidern  wollen,  weil 
Sokrates  in  seiner  Rede  auf  ihn  angespielt  hatte;  da 
plötzlich  sei  mit  vielem  Getöse  an  das  Hoftor  gepocht 
wie  von  Festschwärmern  und  der  Ton  einer  Flöten- 
bläserin  sei  zu  hören  gewesen.  Agathon  habe  gesagt: 
Knaben,  seht  ihr  nicht  nach  ?  Und  wenn  es  einer  ist,  der 
zu  uns  gehört,  so  ladet  ihn  ein;  wenn  nicht,  so  sagt,  daß 
wir  nicht  trinken,  sondern  schon  ruhen.  Und  wenig  spä- 
ter habe  man  des  Alkibiades  Stimme  im  Hofe  gehört;  er 
war  sehr  berauscht  und  schrie  laut,  er  frug  wo  Agathon 
sei  und  befahl,  ihn  zu  Agathon  zu  führen.  Sie  führten 
also  ihn  und  die  Flötenbläserin  an  seinem  Arme  und 
einige  aus  seinem  Gefolge  herein.  Und  er  blieb  an  der 
Tür  stehen,  bekränzt  mit  einem  dichten  Kranze  von  Efeu 
und  Veilchen  und  trug  auf  dem  Haupte  viele  Bänder  und- 
sagte:  Ihr  Männer,  seid  gegrüßt!  Nehmt  ihr  einen  sehr 
heftig  Trunkenen  als  Mitzecher  auf  oder  müssen  wir 
gehn,  nachdem  wir  nur  Agathon  mit  ßändern  geschmückt 
haben?  Denn  dazu  sind  wir  gekommen.  Gestern  war  es 
mir  nämlich  nicht  möglich  zu  kommen;  nun  bin  ich  da 
mit  den  Bändern  auf  dem  Haupte,  damit  ich  von  meinem 
Haupte  das  Haupt  des  Weisesten  und  Schönsten  —  denn 
als  solchen  rufe  ich  ihn  aus  —  mit  Bändern  schmücke. 
Werdet  ihr  mich  also  verlachen  als  einen  Trunkenen? 
Ich  aber  —  wenn  ihr  auch  lacht  —  weiß  dennoch,  daß  ich 


94  Apollodor 

Wahres  sage.  Aber  sagt  mir  auf  der  Stelle,  soll  ich  dar-  in 
aufhin  hinein  oder  nicht?!  Trinkt  ihr  mit  oder  nicht?! 
—  Da  jauchzten  ihm  alle  zu  und  hießen  ihn  eintreten 
und  sich  niederlegen  und  Agathon  lud  ihn  ein.  Und  der 
kam  heran,  geführt  von  den  Leuten,  und  indem  er  zu- 
gleich die  Bänder  abnahm,  um  jenen  zu  schmücken,  hatte 
er  sie  zuerst  vor  den  Augen,  so  daß  er  Sokrates  nicht 
sah,  aber  er  setzte  sich  neben  Agathon  nieder  zwischen 
Sokrates  und  jenen;  Sokrates  war  nämlich  abgerückt, 
damit  er  sich  setzen  konnte.  Als  er  sich  gesetzt  hatte, 
umarmte  er  Agathon  und  wand  ihm  Bänder  um.  Nun 
sagte  Agathon:  Löst  Alkibiadas  die  Schuhe,  Knaben,  da,- 
mit  er  sich  als  Dritter  niederlege.  —  Recht,  sagte  Alki- 
biades,  aber  wer  ist  unser  dritter  Zechgenoss  ?  Und  in- 
dem er  sich  zugleich  umwandte,  sah  er  den  Sokrates  — 
ihn  erblickend  sprang  er  auf  und  rief:  0  Herakles!  Was 
war  das?!  Sokrates,  Du  hier!?  Mich  zu  belauern  lagst 
du  wieder  hier,  wie  du  gewöhnt  warst  plötzlich  zu  erschei- 
nen, wo  ich  dich  am  wenigsten  vermute;  und  wozu  bist 
du  jetzt  da?  Und  was  liegst  du  wieder  hier  und  nicht 
beim  Aristophanes  oder  sonst  irgendeinem,  der  komisch 
ist  und  sein  will,  sondern  hast  es  fein  gesponnen,  daß 
du  neben  dem  Schönsten  hierdrinnen  liegst?!  —  Und 
Sokrates  sagte:  Agathon,  sieh  zu,  ob  du  mir  beistehst; 
macht  mir  doch  die  Liebe  zu  diesem  Menschen  nicht 
wenig  zu  schaffen.  Denn  seit  der  Zeit,  daß  ich  mich  in 
jenen  verliebte,  ist  mir  nicht  Einen  Schönen  anzuschauen 
mehr  gestattet  noch  mit  ihm  zu  reden,  sonst  verübt  er 
aus  Eifersucht  und  Neid  unglaubliche  Dinge  und  schmäht 
mich  und  legt  beinahe  Hand  an  mich.  Gib  also  acht, 
daß  er  nicht  auch  jetzt  etwas  anstellt,  sondern  versöhne 
uns,  oder  wenn  er  Gewalt  anwenden  will,  so  steh  mir  bei, 
denn  ich  habe  große  Angst  vor  seiner  Raserei  und  Eifer- 
sucht. —  Nein,  keine  Versöhnung  zwischen  mir  und  dirl 
sagte  Alkibiades.  Aber  dafür  sollst  du  mir  ein  andermal 


^VpoUodor  95 

büßea.  Doch  jetzt,  Agathori,  gib  mir  von  den  Bändern 
zurück,  damit  ich  auch  diebom  hier  das  wunderbare 
Haupt  umwinde  und  er  mich  nicht  tadelt,  daß  ich  dich 
schmückte,  ihn  aber,  der  nicht  wie  du  allein  gestern  son- 
dern immer  in  Worten  alle  Menschen  besiegt,  danach 
nicht  schmückte.  Zugleich  nahm  er  von  den  Bändern, 
umwand  sie  dem  Sokrates  und  legte  sich  hin. 

c  3iAls  er  sich  gelegt  hatte,  sagte  er:  Wohlan,  ihr  Männer  1 
Ihr  scheint  mir  ja  nüchtern !  Das  müßt  ihr  nicht,  sondern 
trinken!  Denn  so  haben  wir  es  verabredet.  Also  er- 
nenne ich  zum  Herrn  der  Tafel,  bis  ihr  hinreichend  ge- 
trunken habt,  mich  selbst.  Aber  Agathon  soll  ein  großes 
Gefäß  bringen,  wenn  eins  da  ist.  Nein,  nicht  nötig  1 
Schnell,  Knabe,  bringe  das  Kühlgefäß  dort,  sagte  er,  denn 

214  er  sah  eins,  das  mehr  als  acht  Becher  faßte.  Als  dies 
gefüllt  war,  trank  er  selbst  es  zuerst  aus,  dann  befahl  er 
dem  Sokrates  einzuschenken  und  sagte  dazu :  Gegen  So- 
krates, ihr  Männer,  hilft  mir  keine  List,  denn  soviel  einer 
verlangt,  trinkt  er  aus  und  ist  gleichwohl  nie  trunken. 
Sokrates  also  trank,  als  der  Knabe  eingeschenkt  hatte. 
Doch  Eryximachos  sagte:  Alkibiades,  wie  wollen  wir*s 
nun  machen  ?  Wollen  wir  nur  trinken  ohne  zu  reden  und 
zu  singen,  sondern  kunstlos  wie  die  Durstigen  trinken? 
Und  Alkibiades  antwortete:  0  Eryximachos,  du  bester 
Sohn  des  besten  und  verständigsten  Vaters,  sei  gegrüßt  I 
—  Sei's  auch  du,  sagte  Eryximachos.  Aber  was  machen 
wir?  —  Was  du  befiehlst.  Dir  muß  man  gehorchen. 
„Kommt  doch  ein  Mann  der  Heilkunst  vielen  andern  an 
Wert  gleich."  Also  bestimme  was  du  willst!  —  Höre  also, 
sagte  Eryximachos,  wir  hatten  beschlossen,  bevor  du 
kamst,  daß  rechts  herum  jeder  der  Reihe  nach  über  Eros 
das  Schönste,  was  er  vermöchte,  sagen  müsse  und  ihn 
preisen.  Wir  andern  alle  haben  nun  gesprochen.  Jetzt 
kommt  es  dir  zu,  da  du  ausgetrunken  und  nicht  geredet 
hast,  zu  reden  und  danach  dem  Sokrates  aufzugeben  was 


96  Alkibiade« 

du  willst  und  dieser  dem  Nachbarn  rechts  und  so  die 
anderen  weiter.  —  Ja,  Eryximachos,  sagte  Alkibiades, 
schön  gesprochen,  daß  aber  ein  trunkener  Mann  seine 
R.eden  neben  die  der  Nüchternen  stelle,  wäre  wohl  nicht 
billig.  Und  läßt  du  dir,  du  Verklärter,  von  Sokrates  das  ein- 
reden, was  er  eben  sagte  ?  Oder  weißt  du  nicht,  daß  alles 
umgekehrt  ist,  wie  er  es  sagte  ?  Denn  wenn  ich  in  seiner 
Gegenwart  einen  andern  als  ihn  lobe,  Gott  oder  Mensch, 
so  wird  er  Hand  an  mich  legen.  —  Lästre  nicht,  sagte 
Sokrates.  —  Wahrlich  beim  Poseidon !  sagte  Alkibiades, 
sage  nichts  dawider  I  Denn  ich  würde  keinen  anderen 
loben,  wenn  du  dabei  bist.  —  Aber  so  tue  es,  wenn  du 
willst,  sagte  Eryximachos;  lobe  den  Sokrates.  —  Wie 
sagst  du?  erwiderte  Alkibiades;  meinst  du,  ich  soll, 
Eryximachos  ?  Soll  ich  den  Mann  anfallen  und  vor  euren 
Augen  Rache  nehmen?  —  Dul  sagte  Sokrates,  was  hast 
du  im  Sinn?  Willst  du  mich  zum  Spott  loben,  oder  was 
willst  du  tun  ?  —  Die  Wahrheit  sagen ;  gib  acht,  ob  du  es 
zugibst.  —  Aber  gewiß,  gab  er  zur  Antwort,  gebe  ich  die 
Wahrheit  zu  und  verlange,  daß  man  sie  sagt.  —  Was 
zaudre  ich?  sagte  Alkibiades.  Du  aber  mache  es  so :  wenn 
ich  die  Unwahrheit  sage,  unterbrich  mich  mitten  in  der 
Rede,  wenn  du  willst,  und  sage,  daß  ich  es  lüge,  —  denn 
absichtlich  werde  ich  nichts  lügen.  Doch  wenn  ich  aus  ais 
dem  Gedächtnis  etwas  durcheinander  rede,  so  wundere 
dich  nicht,  denn  in  meinem  Zustande  ist  es  nicht  leicht 
deine  Wunderlichkeit  gehörig  und  in  richtiger  Folge  zu 
schildern. 

Sokrates  zu  preisen,  ihr  Männer,  werde  ich  durch  Gleich-  csa 
nisse  versuchen.  Er  wird  dann  vielleicht  glauben  zum 
Gespött,  aber  um  der  Wahrheit  willen  wird  das  Gleich- 
nis« sein,  nicht  des  Spottes.  Ich  behaupte  nämlich, 
am  ähnlichsten  sei  er  jenen  sitzenden  Silenen  in  den 
Werkstätten,  welche  die  Bildhauer  mit  Syrinx  und  Flöte 
in  der  Hand  darstellen,  und  wenn  man  sie  öffnet,  so 


Alkibiade«  97 

zeigt  sich,  daß  sie  im  Innern  Götterbilder  enthalten.  Und 
wieder  behaupte  ich  er  gleiche  dem  Satyr  Marsyas. 
Daß  du  diesen  an  Gestalt  ähnlich  bist,  Sokrates,  wirst 
du  wohl  selbst  nicht  bestreiten,  wie  du  ihnen  aber  auch 
sonst  gleichst,  höre  weiter.  Hochmütig  bist  du,  oder  nicht? 
Denn  wenn  du  leugnest,  stelle  ich  Zeugen.  Oder  etwa 
nicht  Flötenspieler?  Ein  weit  wundersamerer  als  jener I 
Denn  mittels  Instrumenten  bezauberte  jener  mit  der  Ge- 
walt seines  Mundes  die  Menschen  und  auch  jetzt  noch, 
wenn  einer  nach  seiner  Weise  Flöte  spielt.  Denn  was 
Olympos  spielte,  rechne  ich  Marsyas  zu,  der  es  lehrte. 
Ob  nun  ein  tüchtiger  Flötenspieler  spielt  oder  auch  eine 
schlechte  Flötenspielerin,  sein  Werk  ist  es,  das  über- 
wältigt und  offenbart,  wen  nach  den  Göttern  und  den 
Weihen  verlangt,  dadurch  daß  es  selbst  göttlich  ist.  Du 
aber  übertriffst  jenen  nur  darin,  daß  du  ohne  Instrument 
mit  nackten  Worten  ganz  dasselbe  vollbringst.  Von  uns 
wenigstens  liegt  keinem  irgend  etwas  daran  —  um  das 
zu  sagen  —  wenn  wir  von  irgendeinem  andern  und  selbst 
einem  sehr  tüchtigen  Redner  andere  Worte  hören.  Wenn 
aber  einer  dich  hört  oder  einen  andern  deine  Worte  sagen 
hört,  wenn  der  Redende  auch  sehr  gering  ist,  ob  nun 
ein  Weib  oder  ein  Mann  zuhört  oder  ein  Knabe,  so  sind 
wir  erschüttert  und  überwältigt.  Ich  wenigstens,  ihr  Män- 
ner, würde,  wenn  ich  nicht  vollständig  berauscht  er- 
scheinen würde,  euch  sagen  und  beschwören  was  ich 
selbst  von  seinen  Reden  erlitt  und  auch  jetzt  noch  er- 
leide. Denn  wenn  ich  sie  höre,  klopft  mir  das  Herz  viel 
stärker  als  den  Korybantischen  Tänzern,  und  Tränen  wer- 
den mir  von  seinen  Reden  entpreßt.  Ich  sehe  aber  auch, 
daß  die  anderen  in  Menge  dasselbe  erleiden.  Wenn  ich 
hingegen  Perikles  und  andere  tüchtige  Redner  hörte,  so 
fand  ich,  daß  sie  gut  reden;  solches  aber  erlitt  ich  nie 
und  nicht  wurde  mir  die  Seele  erschüttert  und  betrübt, 
wie  einem,  der  geknechtet  wird ;  aber  von  diesem  Marsyas 

Plato,  Oattnuihl  7 


98  Alkibiadei 

hier  wurde  ich  oft  so  zugerichtet,  daß  ich  glaubte,  ich  »i« 
könne  nicht  leben,  da  ich  so  bin,  wie  ich  bin.  Und  du 
wirst  nicht  sagen,  Sokrates,  das  sei  nicht  wahr.  Ja  ich 
weiß  auch  jetzt  noch,  wenn  ich  meine  Ohren  preisgeben 
wollte,  so  würde  ich  nicht  stark  genug  sein,  sondern  das- 
selbe erleiden;  denn  er  zwingt  mich  einzugestehen,  daß 
mir  noch  vieles  fehlt  und  ich  doch  mich  selbst  vernach- 
lässige, aber  Athens  Geschäfte  betreibe.  Also  gewaltsam 
wie  vor  den  Sirenen  die  Ohren  zuhaltend  strebe  ich  zu 
entkommen,  damit  ich  nicht,  bis  ich  ein  alter  Mann  bin, 
bei  ihm  sitze.  Denn  er  ist  der  einzige  Mensch,  von  dem 
ich  erfuhr,  was  wohl  niemand  in  mir  vermutet :  daß  ich 
mich  vor  jemandem  schäme;  vor  ihm  allein  schäme  ich 
mich.  Ist  mir  doch  bewußt,  daß  ich  ihm  nicht  widerspre- 
chen kann:  es  sei  nicht  Not  zu  tun,  was  er  fordert;  daß 
ich  aber  dann,  wenn  ich  fort  bin,  dem  Ruhm  bei  den 
Vielen  unterliege.  Ich  entlaufe  ihm  also  und  fliehe  und 
wenn  ich  ihn  sehe,  schäme  ich  mich  des  Eingestandenen. 
Und  oftmals  würde  ich  gern  sehen,  er  weile  nicht  mehr 
unter  den  Menschen;  wenn  das  aber  geschähe,  weiß  ich 
wohl,  w^ürde  ich  noch  viel  betrübter  sein;  so  daß  ich 
nicht  weiß,  was  anfangen  mit  diesem  Menschen ! 
Durch  sein  Flötenspiel  haben  ich  und  viele  andere  sol-c,s2 
ches  erlitten,  von  diesem  Satyr.  Aber  vernehmt  von  mir, 
wie  ähnlich  er  denen  ist,  mit  welchen  ich  ihn  verglich 
und  wie  wunderbar  seine  Geweilt  ist.  Täuscht  euch  nicht, 
keiner  von  euch  kennt  ihn.  Aber  ich  will  ihn  enthüllen, 
da  ich  begonnen  habe.  Ihr  seht  ja,  daß  Sokrates  in  die 
Schönen  verliebt  ist  und  immer  um  sie  herum  ist  und 
durch  sie  ergriffen  wird;  und  wieder  gibt  er  sich  die  Hal- 
tung, als  ob  er  alles  verkennt  und  nichts  weiß.  Ist  das 
nicht  silenenhaft?  Sicherlich.  Denn  das  ist  nur  seine 
äußere  Umhüllung,  wie  beim  ausgehöhlten  Silen.  Aber 
innen,  wenn  man  ihn  öffnet,  was  glaubt  ihr,  ihr  Männer 
und  Freunde,  wie  er  strotzt  von  Vernunft.  Wisset,  daß 


Alkibiades  99 

es  ihn  gar  nicht  kümmert,  ob  einer  achön  ist,  sondern 
er  achtet  das  so  gering,  wie  wohl  niemand  glauben  würde, 
noch  ob  einer  reich,  noch  ob  er  einen  andern  der  von 
der  Menge  verhimmelten  Vorzüge  hat.  Er  erachtet  näm- 
lich alle  diese  Güter  für  wertlos  und  uns  selbst  für  nichts, 
sagt  es  aber  nicht,  sondern  treibt  seine  Ironie  und  sein 
Spiel  das  ganze  Leben  hindurch  mit  den  Menschen.  Ob 
aber  jemand  die  Götterbilder  seines  Innern  gesehn  hat, 
wenn  er  ernst  und  aufgeschlossen  war,  weiß  ich  nicht. 
Ich  aber  habe  sie  einm/al  gesehen,  und  mir  schienen  sie 
17  so  göttlich  und  golden  zu  sein  und  vollendet  schön  und 
wunderbar,  daß  ich  glaubte  sogleich  tun  zu  müssen,  was 
Sokrates  auch  fordere.  Da  ich  glaubte,  daß  er  um  meine 
Jugendblüte  eifere,  hielt  ich  das  für  einen  großen  Fund 
und  ein  wunderbares  Glück,  weil  mir  nun  offenstünde, 
wenn  ich  dem  Sokrates  gefällig  wäre,  alles  zu  hören, 
was  er  wüßte;  denn  ich  bildete  mir  auf  meine  Blüte 
wunderw^eviel  ein.  Mit  solchen  Gedanken  schickte  ich 
einmal  den  Begleiter  fort,  da  ich  vordem  nicht  ohne  Be- 
gleiter bei  ihm  zu  sein  gewöhnt  war,  und  war  allein  mit 
ihm  zusammen.  Doch  ich  muß  euch  die  ganze  Wahrheit 
sagen.  Also  wendet  mir  euren  Sinn  zu  und  wenn  ich 
lüge,  so  widersprich  mir,  Sokrates.  Wir  waren  also  zu- 
sammen, ihr  Männer,  beide  allein  und  ich  glaubte,  er  würde 
mit  mir  sogleich  reden  wie  ein  Liebender  zum  Liebling  in 
Einsamkeit  redet,  und  war  freudig.  Aber  gar  nichts  davon 
geschah,  sondern  er  verbrachte  wie  gewöhnlich  den 
ganzen  Tag  im  Gespräch  mit  mir,  und  dann  ging  er  fort. 
Darauf  lud  ich  ihn  ein  zu  gemeinsamen  Leibesübungen, 
und  übte  mit  ihm,  um  dadurch  etwas  zu  erreichen.  Er 
übte  also  und  rang  oft  mit  mir  ohne  daß  jemand'  zu- 
gegen war ;  und  was  brauch  ich  es  zu  sagen :  nichts  er- 
reichte ich  damit.  Da  ich  aber  auch  damit  nichts  gewann, 
so  glaubte  ich,  ich  müsse  dem  Manne  stärker  zusetzen 
und  nicht  ablassen,  da  ich  es  einmal  unternommen  hätte, 


100  Alkibiades 

sondern  ich  wollte  erfahren,  wie  die  Sache  stünde.  Ich 
lud  ihn  also  ein  mit  mir  zu  speisen  und  stellte  ihm  ge- 
radezu nach  wie  ein  Liebender  dem  Liebling.  Auch  dies 
nahm  er  nicht  sogleich  an,  aber  nach  einiger  Zeit  willigte 
er  ein.  Als  er  zum  ersten  Mal  gekommen  war,  wollte  er 
gleich  nach  der  Mahlzeit  fortgehen,  und  da  schämte  ich 
mich  und  ließ  ihn  gehen.  Aber  beim  zweiten  Versuch 
sprach  ich  mit  ihm  nachdem  er  gespeist  hatte  bis  tief 
in  die  Nacht  hinein,  und  als  er  gehen  wollte,  schützte  ich 
vor,  daß  es  spät  sei  und  nötigte  ihn  zu  bleiben.  Er  legte 
sich  also  zur  Ruhe  auf  das  Polster,  das  neben  dem  mei- 
nen stand  und  auf  welchem  er  auch  gespeist  hatte,  und 
kein  anderer  schlief  in  dem  Gemach  als  wir.  Und  bis  zu 
diesen  Worten  kann  man  gut  die  Sache  jedermann  er- 
zählen. Das  Weitere  aber  würdet  ihr  nicht  von  mir  ver- 
nommen haben,  wenn  nicht  erstlich  nach  dem  Sprich- 
wort der  Wein  mit  Kindern  oder  ohne  Kinder  wahrhaftig 
wäre,  dann  aber  es  mir  auch  ungerecht  schiene  des  So- 
krates  stolzes  Tun  zu  verschweigen,  wo  ich  ihn  zu  loben 
habe.  Und  noch  faßt  mich  der  Schmerz  des  von  der 
Schlange  Gebissenen.  Denn  mt-m  sagt,  wenn  einer  das 
erlitten  hat,  so  will  er  keinem  erzählen  wie  es  war,  außer 
denen,  die  selbst  gebissen  sind,  weil  diese  allein  es  ver- 
stehen und  verzeihen,  wenn  man  ohne  Scheu  alles  tut  si8 
und  redet  unter  der  Qual.  Ich  bin  nun  schmerzlicher  ge- 
bissen und  da,  wo  der  Biß  am  schmerzlichsten  ist  —  am 
Herzen  oder  der  Seele  oder  wie  es  zu  nennen  ist,  bin 
ich  geschlagen  und  gebissen  von  den  Worten  der  Philo- 
sophie, welche  wilder  als  Nattern  festhalten,  wenn  sie 
eine  junge  und  nicht  stumpfe  Seele  gefaßt  haben  und 
machen,  daß  sie  wer  weiß  ^vas  tut  und  sagtl  Und  ich 
sehe  euch  wieder  an,  ihr  Phädros',  ihr  Agathons,  Eryxi- 
machosse,  Pausaniasse,  Aristodeme  und  ihr  Aristopha- 
nesse,  —  Sokrates  selbst  brauche  ich  nicht  zu  nennen 
und  wieviele  andere,  denn  ihr  seid  alle  geeint  im  Wahn- 


Alkibiadei  101 

sinn  und  in  der  bacchischen  Wut  der  Philosophie.  Darum 
höret  alle  I  Denn  ihr  werdet  verstehen,  was  damals  getan 
wurde  und  jetzt  gesagt  wird.  Ihr  Diener  aber  und  wer 
sonst  ungeweiht  und  unerzogen  ist,  legt  schwere  Pforten 
vor  eure  Ohren! 
•  54  Als  nun  die  Lampe  erloschen  war,  ihr  Männer,  und  die 
Sklaven  draußen  waren,  schien  es  mir  nötig  mich  vor 
ihm  nicht  zu  zieren,  sondern  frei  zu  sagen,  wie  ich  dachte. 
Ich  stieß  ihn  an  und  sagte:  Sokrates  schläfst  du?  — 
Nein  doch^  erwiderte  er.  —  Weißt  du  wohl,  was  ich  im 
Sinn  habe  ?  —  Was  denn  schon,  sagte  er.  —  Ich  glaube 
du  liebst  mich  und  bist  der  einzige,  der  dessen  würdig 
ist  und  es  sieht  aus  als  zauderst  du  mit  mir  davon  zu 
reden.  Mit  mir  steht  es  aber  so:  für  sehr  unverständig 
würde  ich  es  halten,  dir  nicht  auch  hierin  gefällig  zu  sein 
oder  auch  wenn  du  etwas  anderes  bedürftest  von  mei- 
nem Besitz  oder  von  dem  meiner  Freunde;  denn  nichts 
ist  mir  wächtiger  als  daß  ich  so  tüchtig  wie  möglich 
werde,  und  ich  glaube,  daß  es  dafür  keinen  stärkeren 
Helfer  gibt  als  dich.  Wenn  ich  einem  solchen  Manne  nicht 
gefällig  wäre,  würde  ich  mich  vor  den  Vernünftigen  weit 
mehr  schämen,  als  vor  den  Vielen  und  Unvernünftigen, 
wenn  ich  ihm  gefällig  wäre.  —  Darauf  sagte  dieser  sehr 
ironisch  und  so  recht  nach  seiner  Art  und  Gewohnheit : 
Mein  lieber  Alkibiades,  du  scheinst  mir  wirklich  nicht 
dumm  zu  sein,  wenn  das  etwa  wahr  ist,  was  du  übe» 
mich  sagst,  und  eine  Kraft  in  mir  ist,  durch  welche  dn 
besser  würdest;  eine  unerklärliche  Schönheit  sähest  du 
in  mir  und  eine  von  deiner  Wohlgestalt  gar  sehr  ver- 
schiedene. Wenn  du  in  dieser  Erkenntnis  mit  mir  in  Ge- 
meinschaft zu  treten  und  Schönheit  gegen  Schönheit  aus- 
zutauschen versuchst,  so  gedenkst  du  mich  nicht  wenig 
zu  übervorteilen,  sondern  versuchst  statt  des  Scheines 
die  Wahrheit  des  Schönen  zu  erwerben  und  denkst  wirk- 
st« lieh  Gold  gegen  Kupfer  einzutauschen.  Aber,  du  Entrück- 


102  Alkibiades 

ter,  sieh  besser  hin,  ob  du  dich  nicht  täuschst  und  ich 
doch  nichts  bin;  denn  der  Blick  unseres  Verstandes  be- 
ginnt erst  scharf  zu  sehen,  wenn  der  unserer  Augen  an 
Schärfe  nachzulassen  anfängt;  du  aber  bist  davon  noch 
weit  entfernt.  —  Ich  hörte  es  und  sagte:  Bei  mir  liegt 
es  so  und  es  ist  nichts  anders  gesagt,  als  ich  gesonnen 
bin;  so  beschließe  nun  du  selbst,  was  du  dir  und  mir 
das  Beste  glaubst.  —  Ja,  sagte  er,  da  hast  du  recht  ge- 
sprochen; denn  in  Zukunft  wollen  wir  beschließen  und 
tun,  was  uns  beiden  hierin  und  in  andern  Dingen  das 
Beste  zu  sein  scheint.  —  Ich,  als  ich  das  gehört  und  ge- 
sagt und  wie  Pfeile  entsandt  hatte,  nahm  an  er  sei  ver- 
wundet, und  stand  auf  und  ließ  ihn  weiter  nichts  sagen, 
warf  meinen  eigenen  Mantel  über  ihn  —  denn  es  war 
Winter  —  legte  mich  unter  seinen  Mantel  und  schlang 
meine  Arme  um  diesen  wahrhaft  Dämonischen  und  Wun- 
derbaren, und  lag  so  die  ganze  Nacht.  Und  auch  hier, 
Sokrates,  wirst  du  wieder  nicht  sagen,  daß  ich  lüge. 
Und  da  ich  dies  alles  tat,  blieb  dieser  mir  so  sehr  über- 
legen und  verachtete  und  verlachte  meine  Blüte  und  war 
hochmütig;  und  doch  glaubte  ich,  an  diesem  sei  etwas, 
ihr  Richter;  denn  Richter  seid  ihr  über  den  Hochmut 
des  Sokrates.  Denn  wißt  wohl,  bei  Göttern,  bei  Göttinnen, 
nicht  anders  stand  ich  auf,  nachdem  ich  mit  Sokrates 
geschlafen  hatte,  als  wenn  ich  beim  Vater  oder  älteren 
Bruder  geschlafen  hätte. 

Was  meint  ihr,  wie  mir  damals  zumute  gewesen  sei,  da  es» 
ich  glaubte  beschimpft  zu  sein  und  doch  seine  Natur, 
Beherrschtheit  und  Männlichkeit  bewunderte,  und  ich 
einen  solchen  Mann  gefunden  hatte,  wie  ich  ihn  niemals 
zu  finden  geglaubt  hätte  an  Vernunft  und  Kraft?  Daher 
ich  nicht  hatte,  wie  ich  ihm  zürnen  und  mich  seinem 
Umgang  entziehen  konnte,  noch  fand  ich  Mittel  ihn  mir 
gefügig  zu  machen.  Denn  ich  wußte  wohl,  gegen  Geld  sei 
er  viel  unverwundbarer  überall  als  Ajas  gegen  Eisen,  und 


Alkibiadw  1 08 

worin  ich  glaubte,  daß  er  allein  zu  fangen  sei,  war  er 
entwischt.  So  war  ich  ratlos,  und  geknechtet  von  diesem 
Manne  wie  keiner  je  von  einem  andern  wandelte  ich 

umher 

Das  war  alles  früher  geschehen,  und  später  machten  wir 
beide  den  Feldzug  gegen  Potidäa  mit  und  wir  gehörten 
zu  einer  Tischgenossenschaft.  Erstlich  übertraf  er  in  den 
Anstrengungen  nicht  nur  mich,  sondern  auch  alle  andern. 

MO  Wenn  wir,  wie  es  im  Felde  geschieht,  abgeschlossen 
waren  und  hungern  mußten,  so  waren  die  andern  nichts 
gegen  ihn  an  Widerstandsfähigkeit.  Bei  den  Gelagen  hin- 
gegen war  er  einzig  fähig  zu  genießen,  und  besonders  im 
Trinken,  obschon  er  es  nicht  wünschte,  nahm  er  es  mit 
jedem  auf,  wenn  man  ihn  nötigte,  und  was  von  allem  das 
Seltsamste  ist,  kein  Mensch  hat  jemals  Sokrates  trunken 
gesehen.  Hierfür  wird  euch,  glaube  ich,  gleich  wieder  der 
Beweis  gegeben  werden.  Und  auch  im  Ertragen  des  Win- 
terfrostes —  denn  dort  sind  die  Winter  sehr  hart  —  ver- 
richtete er  Wunder;  besonders  einmal,  als  der  denkbar 
schärfste  Frost  war,  und  die  andern  entweder  gar  nicht 
ausgingen  oder,  wenn  es  einer  doch  tat,  sie  sich  wunder- 
wieviel  überzogen  und  Sandalen  unterbanden  und  die 
Füße  in  Filz  und  Schafpelz  einwickelten,  ging  dieser 
gleichwohl  mit  einem  kurzen  Mantel,  wie  er  ihn  auch 
sonst  gewöhnlich  trug;  und  mit  bloßen  Füßen  ging  er 
leichter  durch  das  Eis  als  die  andern  mit  Sandalen.  Die 
Soldaten  aber  blickten  ihn  scheel  an,  ob  er  sie  verhöhnen 
wolle. 

«seUnd  dieses  wäre  dieses. 

„Doch  wie  er  das  getan  und  bestanden  der  tapfere  Krie- 
ger" einmal  auf  jenem  Feldzuge  ist  wert  zu  hören.  Er 
stand  nämlich  in  Gedanken  versunken  bei  Tagesgrauen 
da  und  grübelte  über  etwas,  und  da  es  ihm  nicht  gelang, 
ging  er  nicht  fort,  sondern  blieb  forschend  stehen;  und 
es  war  schon  Mittag  und  die  Leute  bemerkten  es  und 


104  Alkibiadet 

wunderten  sich  und  einer  sagte  zum  andern,  daß  Sokra- 
tes  seit  Morgengrauen  dastünde  und  über  etwas  nach- 
sänne. Schließlich  als  es  Abend  war  brachten  einige 
lonier  nach  dem  Essen  ihre  Lagerdecken  heraus  —  es 
war  nämlich  damals  Sommer  —  teils  um  im  Kühlen  zu 
schlafen,  teils  um  aufzupassen,  ob  er  auch  die  Nacht 
stehen  bleiben  würde.  Er  aber  blieb  stehen  bis  das  Mor- 
genrot kam  und  die  Sonne  aufging.  Dann  betete  er  zur 
Sonne  und  ging  fort. 

Wollt  ihr  aber  auch  aus  den  Schlachten  —  denn  es  ist 
billig,  ihm  auch  das  zu  entrichten.  Nämlich  während  der 
Schlacht,  nach  welcher  mir  die  Feldherren  den  Preis 
gaben,  hat  mich  kein  andrer  von  den  Männern  gerettet 
als  er,  der  mich  Verwundeten  nicht  verlassen  wollte, 
sondern  meine  Waffen  und  mich  selbst  in  Sicherheit 
brachte.  Und  ich  verlangte  damals  auch,  Sokrates,  daß 
die  Feldherren  dir  den  Preis  gäben ;  auch  hierin  wirst  du 
mich  nicht  tadeln  und  nicht  sagen,  daß  ich  lüge.  Aber 
da  die  Feldherren  meine  Vornehmheit  ansahen  und  mir 
den  Preis  geben  wollten,  da  warst  du  selbst  noch  eifriger 
als  die  Feldherren,  daß  ich  ihn  erhielt  und  nicht  du. 
Doch  weiter,  ihr  Männer,  lohnte  es  sich  gewiß,  den  So-  iai 
krates  zu  schauen,  als  das  Heer  fliehend  von  Delion  ab- 
zog. Ich  war  nämlich  zu  Pferd  dabei,  er  aber  in  schwerer 
Rüstung  zu  Fuß.  Er  ging  zusammen  mit  Laches  zurück, 
als  das  Volk  schon  zerstreut  war.  Ich  begegne  ihnen  und 
sobald  ich  sie  sehe,  rede  ich  ihnen  Mut  zu  und  sage,  daß 
ich  sie  hiebt  verlassen  würde.  Und  da  konnte  ich  Sokra- 
tes noch  schöner  betrachten  als  in  Potidäa  —  ich  selbst 
war  ja  weniger  gefährdet,  weil  ich  zu  Pferd  war  —  erstens 
wie  sehr  er  den  Laches  durch  Gefaßtheit  überragte  und 
dann  schien  er  mir  dort  ganz  wie  in  deinem  Verse,  Aristo- 
phanes,  dort  grade  wie  hier  seinen  Weg  zu  gehen,  „schrei- 
tend wie  ein  Pfau  und  seine  Augen  rollend"  indem  er 
ruhig  nach  Freund  und  Feind  umblickte,  so  daß  jeder 


Alkibiade«  106 

schon  von  weitem  deutlich  erkennen  konnte,  daß  dieser 
Mann  sich  sehr  kraftvoll  verteidigen  würde,  wenn  ihn 
jemand  anrührte.  Deshalb  zog  er  auch  ungefährdet  ab, 
er  und  sein  Begleiter,  denn  im  Kriege  werden  fast  nie 
die  angerührt,  die  sich  so  halten,  sondern  man  verfolgt 
die  andern,  die  Hals  über  Kopf  fliehen. 
Nun  wäre  noch  vieles  andere  an  Sokrates  zu  loben  und 
Wunderbares.  Aber  bei  den  anderen  Lebensformen  körmte 
man  wohl  auch  von  einem  andern  das  Gleiche  sagen,  daß 
er  aber  keinem  der  Menschen  ähnlich  ist,  weder  unter 
den  Alten  noch  unter. den  Heutigen,  das  ist  der  höchsten 
Bewunderung  wert.  Denn  wie  Achill  war,  könnte  man 
Brasidas  und  andere  vergleichen  und  mit  Perikles  da- 
gegen Nestor  und  Antenor  und  so  noch  andere.  Und  in 
ähnlicher  Weise  kann  man  für  die  übrigen  Vergleiche 
finden.  Wie  aber  dieser  Mensch  in  seiner  Rätselhaftigkeit 
geworden  ist,  er  selbst  und  seine  Worte,  dafür  kann  man 
nicht  annähernd  einen  ähnlichen  finden,  weder  von  den 
Heutigen  noch  von  den  Alten,  es  sei  denn  daß  man  ihn, 
wie  ich  es  sagte,  nicht  mit  Menschen  vergleicht,  sondern 
mit  den  Silenen  und  Satyrn,  ihn  und  seine  Worte.  — 

*.87Doch  das  vergaß  ich  ja  vorhin  zu  sagen,  daß  auch  seine 
Reden  jenen  aufzuschließenden  Silenen  ganz  ähnlich 
sind !  Denn  wenn  einer  den  Reden  des  Sokrates  zuhören 
will,  so  erscheinen  sie  ihm  wohl  zuerst  komisch,  mit  sol- 
chen Worten  und  Benennungen  sind  sie  außen  umhüllt, 
wie  mit  dem  Fell  eines  übermütigen  Satyrs.  Denn  er 
spricht  von  Lasteseln  und  von  Schmieden  und  Schustern 
und  Gerbern  und  scheint  immer  mit  demselben  dasselbe 
zu  sagen,  so  daß  jeder  unwissende  und  geistlose  Mensch 

M2  seine  Reden  verlachen  muß.  Wenn  aber  einer  sie  geöff- 
net sieht  und  in  sie  eindringt,  so  wird  er  zuerst  finden, 
daß  diese  Worte  allein  Vernunft  in  sich  bergen,  dann 
aber,  daß  sie  ganz  göttlich  sind  und  die  meisten  Bilder 
des  Edeltums  enthalten  und  das  meiste,  ja  alles  umspan- 


1 06  Aiwllodor 

nen,  was  dem  zu  suchen  ziemt,  def  schön  und  gut  wer- 
den will. 

Das  ist,  ihr  Männer,  was  ich  zu  Sokrates'  Preise  sage, 
doch  auch,  was  ich  tadele,  denn  ich  mischte  hei  und 
sagte  wie  hochmütig  er  mich  behandelte.  Wahrlich  nicht 
an  mir  allein  hat  er  das  getan,  sondern  auch  an  Charmi- 
des,  Glaukons  Sohn  und  Euthydemos,  Diokles  Sohn  und 
sehr  vielen  andern,  welche  er  betrügt,  als  wäre  er  der 
Verliebte,  dann  aber  selbst  der  Liebling  wird  anstatt  des 
Verliebten.  Was  ich  auch  für  dich  sage,  Agathon,  damit 
du  nicht  von  diesem  betrogen  wirst,  sondern  durch  unsere 
Leiden  wissend  auf  deiner  Hut  bist  und  nicht  nach  dem 
Sprichwort  wie  ein  Kind  durch  Schaden  klug  wirst. 
Als  Alkibiades  so  gesprochen  hatte,  sei  über  seine  Offen- r« 
herzigkeit  ein  Gelächter  ausgebrochen,  weil  er  immer 
noch  in  Sokrates  verliebt  schien.  Nun  habe  Sokrates  ge- 
sagt :  Du  scheinst  mir  nüchtern  zu  sein,  Alkibiades,  denn 
sonst  hättest  du  dich  nicht  so  zierlich  im  Kreise  herum- 
gedreht und  das  zu  verbergen  gesucht,  weswegen  du  dies 
alles  gesagt  hast,  indem  du  es  wie  nebensächlich  an  den 
Schluß  setztest;  als  ob  du  nicht  alles  deswegen  gesagt 
hättest,  um  mich  und  Agathon  zu  entzwein.  Du  glaubst 
ja  ich  müsse  dich  lieben  und  niemand  sonst,  und  Agathon 
müsse  von  dir  geliebt  werden  und  von  niemand  sonst. 
Aber  du  bliebst  nicht  verborgen,  sondern  dein  Silenen- 
und  Satyrdrama  wurde  durchschaut.  Aber,  lieber  Aga- 
thon, es  soll  ihm  nichts  helfen,  sorge  du  nur,  daß  mich  und 
dich  niemand  entzweit.  Und  Agathon  antwortete:  Wirk- 
lich, Sokrates,  du  wirst  recht  haben.  Das  schließe  ich 
daraus,  daß  er  sich  zwischen  mich  und  dich  legte,  um 
uns  zu  trennen.  Das  soll  ihm  nun  gar  nichts  helfen,  son- 
dern ich  komme  und  lege  mich  neben  dich  I  • —  Ja,  sagte 
Sokrates,  lege  dich  hier  auf  meine  Seite.  —  0  Zeus, 
sagte  Alkibiades,  was  dulde  ich  wieder  von  diesem  Men- 
schen !  Überall  glaubt  er,  müsse  er  über  mich  triumphie- 


ApoUodoi  10  V 

renl  Aber  wenn  schon  nicht  anders,  du  Wunderbarer,  so 
laß  wenigstens  zwischen  uns  Agathon  sich  legen.  —  Aber 
unmöglich,  sagte  Sokrates,  denn  du  hast  mich  gelobt  und 
ich  muß  wieder  den  rechten  Nachbarn  loben.  Wenn  nun 
Agathon  nach  dir  kommt,  so  müßte  er  ja  noch  einmal 
mich  loben  anstatt  von  mir  gelobt  zu  werden.  Also  laß 

ans  gut  sein,  du  Dämonischer,  und  neide  dem  Jungen  nicht, 
von  mir  gelobt  zu  werden,  begehre  ich  doch  gar  sehr  ihn 
zu  preisen.  —  Wehe,  wehe,  Alkibiades,  rief  Agathon,  es 
ist  keine  Möglichkeit,  daß  ich  hier  bleibe,  sondern  vor 
allem  muß  ich  den  Platz  wechseln,  damit  ich  von  Sokra- 
tes gelobt  werde.  —  Das  ist  es  ja,  so  sind  wir  es  gewohnt, 
sagte  Alkibiades,  wenn  Sokrates  da  ist,  kann  kein  ande- 
rer von  den  Schönen  etwas  haben.  Und  jetzt,  wie  ge- 
schickt und  glaubhaft  er  begründete,  daß  dieser  gerade 
neben  ihm  liegen  muß ! 

csjSo  sei  Agathon  also  aufgestanden,  um  sich  neben  Sokrates 
zu  legen.  Plötzlich  seien  aber  eine  große  Menge  Fest- 
schwärmer an  das  Tor  gekommen  und  fanden  es  offen, 
da  zufällig  jemand  hinausgehen  wollte.  Und  so  kamen 
sie  geradenwegs  zu  ihnen  herein  und  legten  sich  nieder. 
Alles  sei  voll  von  Lärm  gewesen  und  man  wurde  ohne 
jede  Ordnung  gezwungen,  sehr  viel  Wein  zu  trinken.  Nun 
seien  Eryximachos  und  Phädros  und  einige  andere  hinaus 
und  fortgegangen,  so  erzählte  Aristodem.  Ihn  selbst  habe 
der  Schlaf  überkommen  und  er  habe  sehr  lange  geschla- 
fen, weil  die  Nächte  damals  lang  waren;  gegen  Morgen 
sei  er  aufgewacht,  als  die  Hähne  krähten;  erwacht  sah 
er,  daß  die  anderen  teils  schliefen,  teils  gegangen  waren. 
Aber  Agathon  und  Aristophanes  und  Sokrates  waren 
allein  noch  wach  und  tranken  aus  einer  großen  Schale 
rechts  herum.  Sokrates  führte  ein  Gespräch  mit  ihnen. 
Aristodem  sagte,  er  könne  sich  nicht  an  das  ganze  Ge- 
spräch erinnern,  denn  er  sei  ja  nicht  von  Anfang  an  ge- 
folgt und  sei  auch  nebenher  etwas  eingenickt.  Aber  die 


108  Apollodor 

Hauptsache  sei  doch  gewesen,  daß  Sokrates  sie  zwang 
einzugestehen,  derselbe  Mann  müsse  Komödie  und  Tra- 
gödie zu  dichten  verstehn  und  der  rechte  Tragödiendich- 
ter sei  auch  Komödiendichter.  Sie  gaben  es  zu,  aber  sie 
folgten  nicht  sehr,  weil  sie  schläfrig  wurden;  und  zuerst 
sei  Aristophanes  eingeschlafen,  dann  als  es  schon  Tag 
wurde,  Agathon.  Nun  sei  Sokrates,  da  er  jene  zur  Ruhe 
gebracht  hatte,  aufgestanden  und  gegangen  und  er  selbst 
sei  ihm  wie  gewöhnlich  gefolgt.  Er  ging  ins  Lykeion, 
badete  und  brachte  den  ganzen  Tag  zu  wie  er  es  sonst 
tat  und  als  er  so  getan  begab  er  ^ich  abends  nach  Haus 
zur  Ruhe. 


AiNMEßKUNGEN 

ZUR  EINLEITUNG.  Ich  bin  mir  jeden  Bedenkens  bewußt,  das  man 
einer  Erklärung  eines  so  bildhaften  vollkommenen  Werket  entgegen- 
setzen kann.  Doch  kann  ich  mich  auf  Plato  selbst  berufen,  der  im  Phä- 
dros  das  Unglück  alles  Geschriebenen  vorausgesehen  hat,  wie  es  sich 
auch  an  seinen  Werken  erfüllen  sollte.  So  glaube  ich  nicht  zu  dreist 
zu  sein,  wenn  ich  hoffe,  manches,  was  durch  die  veränderte  Denk- 
weise der  Zeitalter  nur  trübe  und  undeutlich  gesehn  wird,  wieder 
heller  und  lebendig  zu  machen.  Wer  an  der  geistigen  Bewegung  unsrcT 
Zeit  teilhat,  der  wird  bald  spüren,  ein  wie  großer  Lehrer  Plato  für 
uns  sein  kann,  die  zerspaltenen  Kräfte  wieder  zur  Einheit  zu  binden, 
und  aus  solchem  Verhältnis  wird  sich  ein  anderes  Bild  entwickeln  als 
aus  der  Betrachtung  des  Philosophen  nur  als  eines  Gliedes  in  der  Ge- 
schichte der  Begriffswelt.  So  wird  man  in  der  Einleitung  oft  einen 
Gegensatz  zu  den  heute  vertretenen  Auffassungen  spüren,  aber  keines- 
wegs ist  eine  Polemik  von  mir  beabsichtigt  Ich  will  nicht  die  vorhan- 
denen Auffassungen  um  eine  neue  vermehren,  sondern  denen  helfen, 
die  Plato  selbst  suchen.  In  diesem_  W^unsche,  nicht  etwa  zum  Zwecke 
einer  Kritik  oder  auch  nur  einer  Übersicht  über  das  Wichtigste,  füge 
ich  für  die  Anfangenden  einige  Hinweise  bei. 

Das  Beste  über  Plato  hat  wohl  Goethe  gesagt;  freilich  sind  es  sehr 
zerstreute  und  seltene  Bemerkungen,  die  nicht  im  einzelnen  erklären, 
sondern  nur  die  Gipfelhöhe  bezeichnen.  Schleiermacher  sah  Vieles 
and  Großes,  aber  die  unglückliche  Idee,  die  W^erke  zu  einem  vorbe- 
dachten System  anzuordnen,  mußte  ihn  vom  W^ege  abführen,  und 
seiner  theoretischen  Artung  mußte  die  mächtig  wirkende  und  gestal- 
tende Person  Piatos  im  letzten  Sinne  verborgen  bleiben.  Aus  dem 
letzteren  Grunde  mußte  auch  Schopenhauer  der  große  Wille  des  Mei- 
sters verborgen  bleiben,  über  die  Idee  hat  er  dagegen  höchst  wert- 
volle Gedanken  gegeben. 

An  Nietzsche  möchte  sich  zuerst  wenden,  wer  lebendigen  Geist  in 
den  überlieferten  Heiligtümern  sucht,  aber  er  wird  in  ihm  nicht  den 
Lehrer  des  Piatonismus  finden.  Plato  ist  ihm  \iel  zu  nahe,  als  daß 
er  betrachtend  und  gerecht  über  ihn  lehren  kann:  er  ringt  mit  seinem 
Schatten  sein  lebelang.  Aber  auch  bei  den  heftigsten  Angriffen  — 
oder  gerade  bei  ihnen  —  soll  man  sich  erinnern,  daß  er  mit  Stolz 
so  offen  über  jenen  seine  Meinung  sagt,  denn  er  fühlt  —  er  braucht 
selbst  diesen  Ausdruck  —  Piatons  Blut  in  seinen  Adern  rollen.  Ihre 
Aufgabe  im  großen  geistigen  Geschehen  war  so  nahe  verv.-andt,  und 
doch  kann  man  fast  sagen,  daß  ihre  Wegrichtung  die  entgegengesetzte 
war.  Dies  Ähnlichsein  und  Entgegengesetztsein  muß  man  nachfühlen, 
um  das  so  außerordentlich  schwankende  Verhältnis  zu  verstehen. 
Der  großartige  Anspruch  Piatons  begeistert  Nietzsche  und  verdrießt 
ihn  je  nach  seinen  seelischen  Umständen. 

Eine  allmähliche  „Entwicklung"  dieses  Gegensatzes  darf  man  nicht 
suchen.  Die  gegenwendige  Beurteilung  Piatons  ist  Nietzsches  Persön- 
lichkeit notwendiger  Teil  und  hat  mit  den  sogenannten  „Perioden" 
nichts  zu  tun.  Der  Pfortenser  bekennt  das  Symposion  als  seine  Lieb- 


110  Anm  erklingen 

lingsdichtung  und  noch  der  Autor  des  Willens  zur  Macht  fühlt  Plato 
als  geheimen  Maßstab.  „Im  Theages  Piatos  steht  es  geschrieben: 
, Jeder  von  uns  möchte  Herr  womöglich  aller  Menschen  sein,  am 
liebsten  Gott.'  Diese  Gesinnung  muß  wieder  da  sein."  Aber  schon 
dem  Freunde  Wagners  war  Sokrates  der  Fluch  der  hellenischen  Kultur, 
Ursache  des  Verfalles,  und  seitdem  gilt  ihm  Plato,  ..das  schönste 
Gewächs  des  Altertums",  „der  Göttliche"  als  kranK,  von  Sokrates  ver- 
dorben. (Richard  Wagner  und  Cosima  versuchen  mit  aller  Vorsicht 
ihn  von  dieser  Richtung  abzulenken.) 

Wenn  Nietzsche  Piatons  metaphysische  Dogmen  angreift,  so  wäre 
seine  Autorität  hierbei  erst  zu  prüfen;  wenn  er  j?n  inm  den  Vorläufer 
des  Christentums,  den  jenseitsgläubigen  Moralisten,  den  abstrakten 
Dialektiker,  den  Sozialisten  sieht,  so  können  an  dieser  Stelle  solche 
Bedenken  uns  nicht  beunruhigen,  denn  gerade  im  Gastmahl  schweigen 
diese  zweifelhaften  Regungen.  Was  man  sonst  auch  sagen  möge,  hier 
im  Gastmahl  nimmt  Plato  liebend  an  der  leiblichen  irdischen  Fülle 
teil  und  haucht  ihr  seine  Seele  ein,  ohne  sie  im  Geistigen  verflüch- 
tigen zu  lassen,  hier  wenn  irgendwo  gilt  Goethes  schönes  Wort :  „Plato 
verhält  sich  zu  der  Welt  wie  ein  seliger  Geist,  dem  es  beliebt,  einige 
Zeit  auf  ihr  zu  herbergen . . ."  (Mat.  z.  Gesch.  d.  Farbenlehre.)  Es 
scheint  mir  nicht  immer  beachtet,  wie  wenig  die  „Platonischen 
Dogmen"  im  Gastmahl  Geltung  haben.  Der  Mensch  hat  teil  an  der 
Unsterblichkeit  durch  Fortpflanzung!  Von  einer  persönlichen  Un- 
sterblichkeit ist  keine  Rede.  [Daraus  darf  man  nicht  schließen,  daß 
Diotimens  Lehre  nicht  Platonisch  ist.  Von  der  Unsterblichkeit  der 
Seele  wird  abgesehen,  sie  wird  nicht  verneint.  Wer  kann  sich  an- 
maßen, zu  wissen,  ob  Plato  von  dieser  Unsterblichkeit  fest  überzeugt 
war?  Er  hielt  den  Glauben  für  schön,  aber  er  kannte  den  Zweifel.  Es 
war  seiner  würdig,  im  Gastmahl  ganz  leiblich,  ohne  diesen  Dualismus 
auszukommen.  Allerdings  findet  sich  ein  Hinweis  auf  die  Unsterb- 
lichkeit, wenn  man  mit  der  ursprünglichen  Lesart  208  B  adavaxor  statt 
äövraxor  liest,  was  manches  für  sich  hat.  Aber  braucht  das  Unsterb- 
liche eine  f^rjxavrj  um  an  der  Unsterblichkeit  teilzuhaben  und  ver- 
liert nicht  eigentlich  der  Eros  Diotimens  den  Sinn,  wenn  die  Unsterb- 
lichkeit auch  so  gesichert  ist?!]  So  muß  es  sehr  auffallen,  daß  Nietzsche 
für  die  Platonische  Lehre  das  Gastmahl  überhaupt  nicht  heranzieht, 
für  die  Persönlichkeit  findet  sich  folgende  Stelle:  Plato  „sagt  mit  einer 
Unschuld,  zu  der  man  Grieche  sein  muß  und  nicht  , Christ',  daß  es 
gar  keine  Platonische  Philosophie  geben  würde,  wenn  es  nicht  so 
schöne  Jünglinge  in  Athen  gäbe:  deren  Anblick  sei  es  erst,  was  die 
Seele  des  Philosophen  in  einen  erotischen  Taumel  versetze  und  ihr 
keine  Ruhe  lasse,  bis  sie  den  Samen  aller  hohen  Dinge  in  ein  so 
schönes  Erdreich  hinab  gesenkt  habe."  Dies  gegen  die  Gelehrten- 
verlegenheit, die  den  philosophischen  Eros  Piatons  zu  einer  bloßen 
Metapher  verflacht 

Nach  dem  Erscheinen  dieser  Übertragung  ist  der  IIL  Band  der  Philt> 
logica  erschienen.  Trotz  des  reichen  Materials  über  Plato  bestätigen 
sie  nur  den  Eindruck  aus  den  eigentlichen  Werken  Nietzsches.   Unter 


ADmerkungon  {{{ 

lajigeu  Besprechungen  der  übrigen  Werke  finden  sich  über  das  Gast- 
mahl nur  wenige  Zeilen.  (Darunter  zu  meiner  Genugtuung  der  Satz, 
der  das  Motto  meines  Unternehmens  sein  konnte:  „Ganz  falsch  zu 
glauben,  daß  Plato  damit  verschiedene  verkehrte  Richtungen  habe 
darstellen  wollen :  es  sind  alles  philosophische  koyoi  und  alle  wahr, 
mit  immer  neuen  Seiten  der  Wahrheit.*')  Bei  der  Darstellung  der 
Lehre  wird  aber  wieder  das  Gastmahl  außer  acht  gelassen.  Woran 
liegt  das?  Warum  hat  Nietzsche,  so  entgegen  seiner  Methode,  das 
Wesen  Piatons  mehr  in  den  spczialistischen  Untersuchungen,  als  in 
dem  vollsten,  lebendigen  und  mythischen  Ausdruck  gesucht?  — 
Vielleicht  hätte  man  von  Rohde  das  Platobuch  erwarten  sollen.  Er  las 
ein  Kolleg  über  das  Gastmahl.  In  der  „Psyche"  ist  Schönes  und 
Tiefes  über  den  Piatonismus  gesagt,  aber  was  Plato  uns  heute  be- 
deutet, ist  nicht  gesagt.  —  Jakob  Burckhardt  fehlte  das  Organ  für 
Platonische  Philosophie. 

Wenn  ich  so  im  Jahre  1912  beim  Erscheinen  dieser  Übersetzung  in 
Verlegenheit  war,  auf  eine  hinlängliche  Darstellung  der  Gestalt 
Piatons  hinweisen  zu  können,  so  darf  ich  heute  das  Buch  eines  mir 
damals  noch  unbekannten  Freundes  nennen:  „Piaton,  Seine  Gestalt" 
von  Heinrich  Friedemann.  Blätter  für  die  Kunst.  Berlin  1914.  Eine 
schönere  Rechtfertigung  meiner  Übertragung  konnte  ich  mir  nicht 
wünschen,  als  daß  sie  auf  die  Entstehung  dieses  Buches  nicht  ganz 
ohne  Einfluß  blieb.  Friedemann  sieht  nicht  in  historischer  Enge,  son- 
dern auf  dem  Grunde  des  All  die  gewaltigen  Umrisse  des  Heroen  sich 
abzeichnen,  und  so  sehr  er  alle  subjektiven  Konstruktionen  ver- 
meidet und  jede  Behauptung  ausführlich  mit  Dialogstellen  belegt 
und  erläutert,  so  fühlen  wir  doch,  daß  er  an  der  einmaligen  Er- 
scheinung nicht  haftet.  Seine  Sicht  der  alten  Gegebenheiten  wird  von 
einer  neuen  Lichtquelle  gespeist.  Wir  sehen  in  ihm  «nicht  den  rück- 
gewandten Gelehrten,  wir  ahnen  und  ehren  in  ihm  den  Adler,  der 
der  neuen  Reichsgründung,  dem  lebendigen  Heros  voraufflog.  —  Die 
Hoffnung  auf  den"  weiteren  Ausbau  dieser  Entwürfe  hat  das  Schick- 
sal versagt.  Ihm  galt  als  Wesentliches  an  Sokrates,  der  Mitte  der 
Platonischen  Religion,  das  Zusammenstimmen  von  Wort  und  Tat  — 
und  damit  sein  Tod.  „Was  wäre  Sokrates  ohne  seinen  TodI"  Ihm 
selbst  fehlte  diese  Frömmigkeit  nicht,  und  als  ob  sie  das  äußere  Ge- 
schehen begierig  erwarte,  bot  er  sich  in  der  Begeisterung  eines 
Hölderlinischen  Jünglings  dem  Weltkriege  dar.  In  einer  der  wenigen 
Schlachten,  die  in  klassischer  Bildhaftigkeit  neben  den  großen  Schlach- 
ten alter  Geschichte  nicht  verbleicht,  die  ganz  die  Züge  des  Genius 
trägt,  der  die  Masse  zwingt,  in  der  Winterschlacht  in  Masuren  ist  er 
gefallen.  — 

Dies  über  die  Wertbestimmung,  über  das  Suchen  der  Idee.  Wer  zu- 
sammenhängende Belehrung  über  das  Tatsächliche  sucht,  wird 
Zellers  „Geschichte  der  griechischen  Philosophie*'  und  Gomperz 
„Griechische  Denker"  benutzen.  Emerson  kann  uns  heute  nicht 
viel  geben.  Pater,  der  uns  dichterisch  reine  Bilder  der  Antike 
schenkte,  zeigt  sich  im  „Plato  und  Piatonismus"  der  Aufgabe  nicht 


112  Amnerkung'er: 

gewachsen,  wie  aus  dem  unglücklichen  Einfall,  Plato  als  Essayisten 
zu  behandeln,  folgt.  Wüidelbands  populärem  „Plato"  fehlt  die 
heroische  Kraft.  Ritter  gibt  eine  ausführliche  und  kritische  Zu- 
sammenstellung ohne  tiefere  Deutung. 

Natorp  geht  in  „Piatos  Ideenlehre"  nicht  von  Piatons  Persönlichkeit, 
sondern  von  methodischem  Idealismus  aus.  Da  liegt  Natorps  leben- 
diger Kern,  und  er  zieht  Plato  in  dies  System  hinein.  Manches,  was 
für  Plato  wesentlich  ist,  erscheint  ihm  darum  als  bloße  Verunreini- 
gung der  Lehre.  Seine  Auffassimg  der  Idee  halte  ich  nicht  für  ganz 
richtig,  aber  wer  dies  Problem  zu  ergründen  sucht,  wird  diese  tiefe 
und  gründliche  Arbeit  mit  großem  Gewinn  lesen.  Sie  ist  auf  Friede- 
manns Auffassung  der  Idee  von  Einfluß  gewesen. 
Von  Walter  Tritsch  ist  eine  wertvolle  und  anregende  Dissertation: 
„Das  künstlerische  Element  in  der  Platonischen  Philosophie"  er- 
schienen- (Jena  1917.) 

Heute  ist  jeder,  der  die  unbedingte,  dogmatische  Anbetung  der  „Wissen- 
schaftlichkeit" nicht  mitmacht,  in  Gefahr,  als  Feind  dieser  voraus- 
setzungslosen Unfehlbarkeit  zu  gelten.  Wer  die  tieferen  Grundlagen 
kennen  will,  auf  denen  dies  Buch  ruht,  den  verweise  ich  auf  das 
„Jahrbuch  für  die  geistige  Bewegung"  (bei  v.  Holten,  Berlin)  in  seiner 
Gesamtheit,  femer  auf  Friedrich  Wolters  „Herrschaft  und  Dienst" 
(ebenda).  In  einer  spezialistischen  Wissenschaft,  die  sich  von  allen 
lebendigen  Quellen  abschneidet,  müssen  schließlich  die  Kräfte  ver- 
trocknen, aber  eine  Gefahr  kann  nur  dann  entstehn,  wenn  eine  so  ab- 
gelöste Wissenschaft  das  Leben  in  seiner  Gesamtheit  l^eherrschen  will. 
Im  Jahrbuch  1910  (vgl.  oben)  habe  ich  nicht  tdie  Wissenschaft,  son- 
dern die  anti-griechische  Gesinnung  angegriffen  (Hellas  und  Wilamo- 
witz).  Es  wäre  sinnlos,  die  Achtung  vor  einer  auf  das  Sichere  be- 
schränkten Wissenschaft  zu  untergraben,  nur  soll  man  doch  zugeben, 
daß  sie  eben  dieser  Beschränkung  wegen  unserm  Leben  nicht  alles 
geben  kann.  Wenn  man  aber  eine  allgemeine  Tendenz  aus  meiner  Arbeit 
herauslesen  will,  so  kann  sie  nur  auf  der  Gegenseite  liegen :  Gegen  das 
Ästheten  tum,  Literatentum,  Geschmäcklertum.  (Darin  fühle  ich  mich 
ganz  einig  mit  Wilamowitz.)  Nichts  ist  giftiger  als  ein  solcher  blasser 
Ästhet,  der  abgestumpft  von  allen  raffinierten  Reizungen  nun  die  Plato- 
nische Prosa  als  letzten  ästhetischen  Reiz  genießt.  Wer  in  Plato  nicht 
das  strenge  Gebot  zur  Formung  des  Lebens  ehrt,  ist  ein  Feind  Piatos. 
inzwischen  ist  der  „Plato"  von  Wilamowitz  erschienen.  Die  Ironie  des 
Schicksals  hat  gewollt,  daß  Nietzsche,  dessen  schönstes  Werk  der  junge 
Wilamowitz  verständnislos  angriff,  nun  mit  den  eben  (S.  111)  zitierten 
drei  Zeilen  seines  Nachlasses  die  beiden  das  Gastmahl  betreffenden  Kapitel 
des  alten  W.  fortblast.  W.  beweist  nur,  zu  welcher  flachen  Deutimg 
man  kommen  muß,  wenn  man  alle  Gäste  und  Diotima  dazu  schul- 
meistern wül.  Auch  sonst  sagt  uns  das  umfangreiche  Werk  nichts 
über  Platonf  Wesen  und  Gestalt. 

Zu  S.  1.  Plato  als  göttlich.  Ich  erinnere  nur  an  Aristoteles,  Frührenaia- 
sance,  Raffael,  Goothe,  Schopenhauer,  Nietzsche. 
S.  1.  Die  erste  und  dritte  Gmppo  ist  nicht  rein  zu  sondern,  weil  Plato 
meist  Mythen  mit  philosophischen  Untersuchungen  wechseln  läßl.    Die 


AnmerkiiTiQ:en  j  j  3 

großen  Mythen  sind  enthaJIeu  in:  Apologie,  Gastmahl,  Phädros,  Phfl- 
don,  Tirnäus,  Kritias. 

S.3.  Demnach  halte  ich  Zellers  Bemerkung  „es  dürfte  kaum  auszu- 
mitteln  sein,  warum  uns  Plato  die  Erzählung  aus  zweiter  Hand  mit- 
teilen läßt"  für  zu  skeptisch. 

S.  5.  Man  traut  seinen  Augen  nicht,  wenn  man  in  Zellers  Erläuterungen 
zum  Gastmahl  liest,  daß  Phädros  „ein  schwacher  und  urteilsloser 
junger  Mann"  sei,  „der  seine  erotische  Begeisterung  in  geckenhafter 
Weise  zur  Schau  trägt". 

S.  6.  Agape  ist  die  gütige,  selbstlose  Liebe,  Freundschaft,  Hoch- 
schätzung, das  Gewähren,  nicht  das  Begehren.  Dies  Substantiv  findet 
sich  nicht  bei  Plato,  wohl  aber  das  Verbum.  Im  ähnlichen  Sinne  werden 
(piXia,  xagii^sadai  gebraucht,  letzteres  darum  interessant,  weil  das  Neu- 
testamentliche  Agape  mit  Caritas  gleichgesetzt  wird. 
S.  7.  Es  folgen  noch  andre  Reden  auf  Phädros,  die  aber  vom  Er- 
zähler nicht  überliefert  sind.  Auch  das  soll  doch  wohl  heißen,  daß 
Phädros  als  Typus  anzusehen  ist. 

S.  10.  Zeller  hat  den  hohen  künstlerischen  Wert  dieser  Aristophanischen 
Erzählung  mit  Nachdruck  und  Wärme  gepriesen.  Gomperz  kann  ich 
darin  nicht  recht  geben,  daß  die  Rede  des  Aristophanes  (und  ebenso 
des  Agathon)  ein  Ruhepunkt  im  Ganzen  sei.  —  Daß  dieser  Mythos  von 
Plato  erfunden  ist,  ist  sehr  wahrscheinlich.  Den  Anlaß  oder  wenig- 
stens den  Anknüpfungspunkt  dürfte  wohl  Lysistrate  v.  115/16  bilden. 
S.  10.  Daß  Sokrates  und  Agathon  sich  wenig  kennen,  vgl.  Kap.  3. 
S,  12.  Furtwängler  fühlte  richtiger  als  Schleiermacher  u.  Zeller.  Vgl. 
Anm.  zum  Titelbild. 

S.  14.  „Der  Paulinische  Hymnos"  I.  Korinther  13.  Es  ist  bemerkenswert, 
daß  Paulus  im  folgenden  Kapitel  für  das  klare  Wort  im  Gegensatz  zum 
ekstatischen  Zungenreden  eintritt,  es  ist  also  ein  ähnlicher  Gegensatz 
wie  zwischen  Sokrates  und  Agathon,  freilich  ein  sehr  viel  gröberer, 
man  möchte  sagen  barbarischer  Gegensatz,  wo  es  sich  in  Athen  um 
sehr  feine  Unterschiede  handelt.  Auch  in  der  Stellung  zur  Ehe  kann 
man  bei  Paulus  und  Plato  eine  Parallele  finden,  eine  gewisse  Abnei- 
gung, weil  beiden  die  Ehe  als  ein  Hemmnis  im  Dienste  des  Geistigen 
Reiches  gilt.  Im  Wesen  ist  aber  der  große  Gegensatz  zwischen  Pauli- 
nischer  Agape  und  Platonischem  Eros:  Paulus  will  die  Masse  ge^ 
winnen,  vertröstet  sie  aufs  Jenseits,  ist  sinnenfeindlich;  Plato  will 
das  Schöne  in  voller  Reinheit  und  Sinnlichkeit  verwirklichen,  im  Dies- 
seits, und  er  betrachtet  die  Masse  als  feindliche  Gewalt, 
S.  16.  In  der  Logik  des  Sokrates  findet  sich  folgende  Ungenauigkeit : 
Alles  Gute  ist  schön.  (201  C.)  Wir  lieben  nur  das  Gute.  (206  A.)  Wir 
lieben  nicht  eigentlich  das  Schöne.  (206  E.)  Dieser  scheinbare  Wider- 
spruch läßt  sich  lösen,  aber  diese  Art  beweist  doch,  daß  der  Gedanke 
nicht  logisch,  mathematisch  erzeugt  wird,  sondern  in  einer  tieferen 
Form  da  ist  und  dann  logisch  gekleidet  wird. 

S.  16.  Gut  und  Schön  sind  bei  Plato  keine  festumgrenzten  Begriffe  und 
ihre  veränderliche  Bedeutung  könnte  nur  durch  einen  Vergleich  in 
allen  Werken  umschrieben  werden.  Hier  genügt  es,  daß  eine  Unter- 
pia t.o,  Gastmahl  8 


114  Anmerkungen 

Scheidung  zwischen  „ästhetischer  und  moralischer  Wdtanschauung" 
in  unserm  Sinne  dem  Griechen  jener  Zeit  nicht  möglich  war;  die  Ab- 
straktion jener  Zeit  war  noch  nicht  fortgeschritten  genug,  um  einen 
so  gedankenlosen  Unsinn  zu  entwickeln.  Dem  Griechen  ist  auch  das 
Wissen  des  Handwerkers  Weisheit,  auch  die  Kraft  des  Muskels  Güte 
(Tüchtigkeit),  auch  das  Sittliche  Schönheit. 
S. 21,  Ich  erinnere  nur  an  Hölderlin,  C.F.Meyer,  Feuerbach. 
S.  21/22.  Ich  nehme  für  diese  Stelle  das  fachmännische  Urteil  um  so 
lieber  für  mich  in  Anspruch,  als  ich  dadurch  die  Mißdeutung  abweise, 
daß  ich  die  exakt  wissenschaftliche  Methode  zugunsten  einer  ästhe- 
tischen Betrachtungsweise  (oder  mit  welchem  plumpen  Schlagwort 
man  sonst  meine  Stellung  treffen  will)  angreife.  Ich  bemühe  mich 
nur  um  ein  echtes  Verstehen  der  Sache  selbst  und  lasse  denen  ihren 
Dünkel,  die  mit  gelehrter  Miene  ihre  termini  technici  an  Dinge,  von 
denen  sie  im  Grunde  nichts  wissen,  anhängen. 

S.  23.  Es  gibt  Gelehrte,  welche  nachweisen,  ein  wie  klägliches  Fiasko 
die  spartanische  Erziehung  erlitten  habe.  Selbst  wenn  man  nicht  die 
ungeheure  Bedeutung  für  das  Menschentum  (allein  Olympia!)  in  Be- 
tracht zieht,  sondern  nur  die  tatsächliche  politische  Macht  durch 
eine  Reihe  von  Jahrhunderten,  die  dieser  kleine  Stamm  gehabt  hat, 
bis  er  sich  in  seiner  Aufgabe  verbraucht  hatte,  so  bleibt  immer  noch 
genug.  Man  vergißt  bei  einem  Vergleiche  mit  Rom  immer,  daß  Rom 
überhaupt  keine  Rasse  bedeutet;  von  Anfang  an  nahm  es  fremde 
Rassen  auf  und  auch  die  römischen  Kaiser  waren  zum  kleineren  Teil 
Römer.  Wer  aber  die  Ausbildung  des  Menschen  an  sich  meint,  den 
sollte  man  doch  fragen,  an  welchem  Maße  er  die  Dorier  bemißt. 
S.  26.  Pandemos  und  Urania.  Vgl.  Anm.  zu  S.  53. 
S.  26.  Für  uns  ist  das  Gebot  der  Aphrodite  Urania  als  Gesetz  der  Ehe 
wohl  im  Zarathustra  am  schärfsten  formuliert :  „Nicht  nur  fort  sollst 
du  dich  pflanzen,  sondern  hinauf  I  Dazu  helfe  dir  der  Garten  der  Ehe  1" 
(Von  Kind  und  Ehe.)  Die  Fragen  Geschlechtsleben  und  Ehe  sind  heute 
in  Europa  unendlich  verwickelter  und  brüchiger  als  damals  in  Athen. 
Selbst  wenn  wir  vom  plumpen  Naturalismus  der  Liebe,  wie  er  immer 
in  schlaffen  Zeitaltern  herrschen  muß,  nicht  reden,  so  bleibt  doch 
auch  bei  den  meisten  höheren  Menschen  eine  ganz  sonderbare 
Mischung  der  asketisch-christlichen  Verurteilung  des  Sinnlichen  und 
einer  romantischen,  poetischen  Verklärung  desselben  völlig  unaus- 
geglichen und  sinnlos  zurück.  Ich  kann  darum  keinen  besseren  Rat 
zur  Vorbereitung  für  diese  Fragen  im  Gastmahl  geben,  als  den:  „Re- 
alität und  Gesetzlichkeit  im  Geschlechtsleben"  von  Marie  Luise 
Enckendorff  (Leipzig  1910)  zu  lesen.  Mit  großer  Sicherheit  sind  in 
diesem  Buche  die  Fragen  offen  gestellt,  die  Begriffe  gereinigt,  mit 
tiefer  Liebe  ist  alles  Lebendige  wieder  auf  das  Kosmische,  das  Gött- 
liche verwiesen.  Vieles  was  in  ihm  von  Suchen  und  Wünschen  an- 
geregt ist,  mag  dem  Tieferdringenden  gerade  im  Gastmahl  beantwortet 
erscheinen.  Um  so  lieber  erwähne  ich  dies  Buch,  als  dadurch  zugleich 
jener  Einwand  gegen  Plato  widerlegt  wird,  er  habe  der  Diotima  eine 
ganz  unweibliche  Betrachtungsweise  beigelegt.  Denn  auch  bei  Marie 


Anmerkungen  I  j^^ 

Luise  Enckendorff  sehen  wir  aus  einer  rein  weiblichen  Fühlweiae 
eine  Betrachtung  von  ganz  männlichem  Geist  hervorwachsen.  (Es 
scheint  mir,  daß  Marie  Luise  Enckendorff  in  dem  andern  Buche  „Vom 
Sein  und  vom  Haben  der  Seele"  dem  Tone  Diotimens,  der  ruhigen 
Betrachtung  des  natürlichen  Wachsens,  noch  näher  ist.) 
Es  ist  eine  wenig  begründete  Befürchtung,  daß  durch  solchen  Aus- 
tausch die  Grenzen  der  Geschlechter  verwischt  werden.  Diotima  ist 
klug  und  weise,  doch  ist  in  ihr  nicht  die  Hingabe  des  Apollodor,  die 
Leidenschaft  des  Alkibiades  für  den  irdischen  Meister.  Ihr  Verhältnis 
zum  Göttlichen  bleibt  mehr  fühlend  und  betrachtend,  als  empfangend, 
zeugend,  gestaltend. 

S.  29.  Ich  verweise  für  die  ganze  Frage  der  Männerliebe  noch  auf 
Herder,  Ideen  z.  P.  d.  G.  d.  M.  XIII,  4.  und  führe  einige  Sätze  aus  dem 
Kapitel  an:  „.  .  .  Nie  hat  ein  Zweig  schönere  Früchte  getragen  als 
der  kleine  Öl-,  Epheu-  und  Fichtenzweig,  der  die  griechischen  Sieger 
kränzte.  Er  machte  die  Jünglinge  schön,  gesund,  munter;  ....  was 
endlich  das  schätzbarste  ist,  er  gründete  in  ihrem  Gemüt  jenen  Ge- 
schmack für  Männerumgang  und  Männerfreundschaft,  der  die  Grie- 
chen ausnehmend  unterscheidet.  Nicht  war  das  Weib  in  Griechenland 
der  ganze  Kampfpreis  des  Lebens,  auf  den  es  ein  Jüngling  anlegte, 
....  die  Gedanken  edler  Jünglinge  gingen  auf  etwas  Höheres  hin- 
aus: das  Band  der  Freundschaft,  das  sie  unter  sich  oder  mit  erfah- 
renen Männern  knüpften,  zog  sie  in  eine  Schule,  die  ihnen  eine 
Aspasia  schwerlich  gewähren  konnte.  Daher  in  mehreren  Staaten  die 
männliche  Liebe  der  Griechen  mit  jener  Nacheiferung,  jenem  Unter- 
richt, jener  Dauer  und  Aufopferung  begleitet,  deren  Empfindungen 
und  Folgen  wir  im  Plato  beinahe  wie  den  Roman  aus  einem  fremden 

Planeten  lesen Wie  uns  nun  die  Freundschaft  der  Jugend  die 

süßeste,  und  keine  Empfindung  dauernder  ist  als  die  Liebe  derer,  mit 
denen  wir  uns  in  den  schönsten  Jahren  unserer  erwachenden  Kräfte 
auf  einer  Laufbahn  der  Vollkommenheit  übten,  so  war  den  Grie- 
chen diese  Laufbahn  in  ihren  Gymnasien  ....  öffentlich  bestimmt." 
Und  über  den  unsittlichen  Mißbrauch:  „.  .  .  allein  auch  dieser  Miß- 
brauch lag  leider  im  Charakter  der  Nation,  deren  warme  Einbildungs- 
kraft, deren  fast  wahnsinnige  Liebe  für  alles  Schöne,  in  welches  sie 
den  höchsten  Genuß  der  Götter  setzten,  Unordnungen  solcher  Art  un- 
umgänglich machte." 

Goethe  hat,  durch  dies  Kapitel  Herders  vorbereitet,  in  Rom  die  Wirk- 
lichkeit gesehn,  wo  Herder  in  der  Literatur  blieb.  Ich  entnehme  aus 
einem  Brief  an  Carl  August  (Rom,  29,  XII.  87)  folgende  bedeutende 
Stelle:  „Nach  diesem  Beitrag  zur  statistischen  Kenntnis  des  Landes 
werden  Sie  urteilen,  wie  knapp  unsre  Zustände  sein  müssen,  und 
werden  ein  sonderbar  Phänomen  begreifen,  das  ich  nirgends  so  stark 
als  hier  gesehen  habe,  es  ist  die  Liebe  der  Männer  untereinander. 
Vorausgesetzt,  daß  sie  selten  bis  zum  höchsten  Grad  der  Sinnlichkeit 
getrieben  wird,  sondern  sich  in  den  mittlem  Regionen  der  Neigung 
und  Leidenschaft  verweilt,  so  kann  ich  sagen,  daß  ich  die  schönsten 
Erscheinungen   davon,   welche  wir  nur  aus   griechischen  Überliefe. 

8* 


116  Anmerkungen 

rungen  haben  (S.  Herders  Ideen)  hier  mit  eignen  Augen  sehen  und 
als  ein  aufmerksamer  Naturforscher  das  Physische  und  Moralische 
davon  beobachten  konnte.  Es  ist  eine  Materie,  von  der  sich  kaum 
reden,  geschweige  schreiben  läßt,  sie  sei  also  zu  künftigen  Unter- 
haltungen aufgespart." 

Gegen  diejenigen,  die  jenen  männlichen  Eros  möglichst  als  eine 
Besonderheit  des  Platonischen  Kreises  behandeln  wollen,  mögen 
nur  wenige  Tatsachen  erinnert  sein.  Der  Mythos  des  Ganymed  hat 
schon  bald  nach  der  Homerischen  Zeit  erotische  Bedeutung.  Wich- 
tiger ist  noch  der  Kult :  Das  größte  spartanische  Fest  gilt  Hyakinthos, 
dem  Liebling  Apolls.  Man  opfert  Eros  in  Sparta,  auf  Kreta,  nachdem 
die  schönsten  Bürger  in  Schlachtordnung  gestellt  sind.  Das  Gym- 
nasium von  Samos  ist  ihm  geweiht,  in  Athen  steht  sein  Bild  vor 
dem  Gymnasium  usf.  Also  sieht  das  Gesamthellentum  gerade  wie 
Plato  den  edelsten  Eros  in  der  männlichen  Liebe.  Jene  extreme 
Richtung  (Pausanias),  die  den  Eros  zur  Frau  nicht  gelten  lassen 
will,  ist  gerade  im  Gastmahl  sonnenhaft  klar  bekämpft.  Nach  alledem 
ist  zu  sagen:  der  moderne  Begriff  des  „Platonischen  Eros*'  ist 
gerade  so  sinnlos  wie  der  entgegengesetzte  der  „Platonischen  Liebe". 
S.  30.  Diese  Tendenz,  im  Manne  auch  etwas  Weibliches  und  im  Weibe 
das  Männliche  zu  erziehn,  ist  gerade  in  jenen  Epochen  groß,  wo  man 
ein  erhöhtes  Menschentum  als  höchsten  Zweck  des  Menschen  ansah; 
man  erinnerte  sich  neben  Mann  und  Weib  wieder  der  reinen  Idee 
Mensch  (Renaissance.  Goethe.)  Dagegen  ist  in  jenen  Zeiten,  die  sich 
ihrer  realen  Zwecke  als  oberstes  Ideal  rühmen,  eine  besonders  scharfe 
Sonderung  der  Geschlechter  natürlich.  Der  Mann  soll  Geld  oder 
Macht  verdienen,  kann  gar  nicht  trocken,  unmusisch,  fachspezia- 
1  istisch  genug  sein,  die  Frau  kaum  genug  naiv,  genießend,  ätherisch, 
blumenhaft.  Freilich  muß  diese  Trennung,  von  der  man  eine  gesunde 
Spannung  zwischen  den  Geschlechtern  erhofft,  in  ihrer  Übertreibung 
dahin  führen,  daß  die  geistige  Gemeinschaft  aufgehoben  ist.  Dem  Mann 
ist  alles  Leben  materiell,  er  hat  keine  Zeit  zum  Geistigen,  oder  sein 
Geistiges  wird  ganz  abstrakt;  die  Frau  ist  ausgehungert,  fühlt  sich 
von  der  Welt  abgeschnitten.  Dann  ist  der  rächende  Umschlag  unaus- 
bleiblich. Wenn  der  Mann  geistig  und  lebendig  der  Frau  nichts  geben 
kann,  ist  es  natürlich,  daß  sie  flirtet  und  den  Mann  arbeiten  läßt, 
oder  wenn  ihr  das  nicht  genügt,  die  Berufstätigkeit  des  Mannes  nach- 
ahmt, und  wenn  das  verhindert  wird,  megärenhaft  in  dem  vom  Manne 
gebauten  Staate  wütet. 

S.  31.  „Knabenliebe."  Es  ist  daran  zu  erinnern,  daß  die  Frau  und 
Priesterin  ausdrücklich  für  das  Höhersteigen  die  Knabenliebc  fordert. 
211.  B. 

S.  33.  Kant.  Hamann.  —  Vgl.  Anm.  zu  S.  40. 

S.  34.  Alcibiades  primus,   Schluß  und  124.  „Wiedergeburt"  ist  nicht 
genau,   trifft   aber  den  Sinn   immerhin  besser  als  das   zu   farblose 
„Ruhm."    Ich   sehe  keine  überzeugenden   Gründe   gegen,   aber  sehr 
wesentliche  für  die  Echtheit  dieses  Gespräches. 
S.  37.  Ich  verweise  für  diesen  Begriff  des  Geistigen  Reiches  auf  Fried 


Aumerkuugfen  1  \  7 

rieh  Wolters  „Herrschaft  und  Dienst"  und  auf  den  Aufsatz  „Gestalt" 
desselben  Verfassers  im  „Jahrbuch  für  die  geistige  Rewe^ung"  1011 
(vgl.  S.  111). 

S.  38.  Stellung  des  Pliädros.  Da  die  Gegengründe  subjektiver  Natur 
sind,  und  die  exakte  Sprachvergleichung  die  Nachstellung  des  Phär 
dros  bestimmt,  so  kann  die  Frage  wohl  als  entschieden  gelten.  Ich 
verweise  auf  Ritter:  Plato  (München  1910). 

S.  38.  Dämonisch.  Goethe  hat  sich  besonders  im  Jahre  1831  viel  mit 
diesem  Betriff  beschäftigt.  Man  vergleiche  die  Gespräche  mit  Ecker- 
mann 2.  fll,  8.  III,  30.  III,  20.  VI.  Ebenso  1828,  11.  III. 
S.  38.  Wilamowitz  hat  1911  in  einem  Vortrage  (von  dem  mir  nur  ein 
kurzer  Bericht  vorhegt)  ausgeführt,  daß  Plato  die  Rede  der  Diotima 
nicht  als  Ausdruck  seiner  wissenschaftlichen  Überzeugung  betrachtet 
wissen  will,  Offenbarungen  mögen  noch  so  Großes  und  Schönes  ent- 
halten, Wahrheit  werde  nur  in  wissenschaftlicher  Dialektik  gefunden. 
—  Es  scheint  mir  nicht  sehr  glücklich,  Plato  auf  eine  „wissenschaft- 
liche", also  doch  teilhafte  Überzeugung,  festzulegen.  An  Urphäno- 
mene  soll  man  nicht  mit  konventionellen  Scheidungen  wie  Wissen- 
schaft und  Poesie  herangehen.  Jedenfalls  verkündet  Diotima  die 
Platonische  Wahrheit  (was  die  moderne  wissenschaftliche  Überzeu- 
gung nicht  immer  von  sich  rühmen  darf).  Man  muß  schon  das 
ganze  Gastmahl,  besonders  aber  die  Stellen  199  B  und  212  B  auf  den 
Kopf  stellen;  und  es  scheint  nicht  einmal  mehr  nötig,  noch  auf  die 
Mania  des  „Phädros"  und  die  Tatsache,  daß  dieser  Dialog  auf  das 
Gastmahl  folgt,  .-^u  verweisen,  um  Wilamowitz  zu  widerlegen.  Das 
Beste  an  solcher  gewaltsamen  Umdeutung  ist  das  merkliche  Gefühl, 
daß  man  sich  vor  Plato  zu  rechtfertigen  habe. 

S.  39.  Die  Platonische  Idee  der  übergeschlechtlichen  Liebe.  Wem  die 
angedeuteten  Beziehungen  nicht  verständlich  smd,  der  möge  lesen: 
Dante,  Fegefeuer,  XXX.  und  XXXI.  Gesang;  Shakespeare,  Sonnette 
(etwa  XVIII.  und  XXX.);  George,  der  siebente  Ring. 
Neben  diesen  Dichtungen,  deren  Fühlweise  klassisch  ist,  ist  an  Werke 
von  mehr  romantischer  Färbung  zu  erinnern,  den  Schluß  des  Faust 
und  Bettinens  Briefwechsel  mit  Goethe. 

S.  40.  Die  Trennung  des  Plato  von  Sokrates  mag  man  gern  mit  der 
allgemeinen  geistigen  Entwicklung  in  der  späten  Zeit  vergleichen. 
Mit  einem  solchen  Vergleich  soll  selbstverständlich  nicht  die  Persön- 
lichkeit getroffen  werden,  sondern  weiter  nichts,  als  die  Parallele  der 
großen  Bedingungen.  Kants  Stellung  hat  eine  Ähnlichkeit  mit  der  des 
Sokrates,  das  Größere  des  Piatonismus  mag  mit  Hamann,  Herder,. 
Goethe  bezeichnet  werden.  Hamanns  eignen  Vergleich  habe  ich  oben 
schon  angeführt.  Nun  führe  ich  noch  einen  Brief  von  Kant  an  Ha- 
mann an  (zitiert  nach  Karl  Vorländer,  Kants  Leben,  Leipzig,  bei 
Felix  Memer,  1911),  ,,.  .  .  ich  bitte  mir  Ihre  Meinung  in  einigen  Zeilen 
aus;  aber  womöglich  in  der  Sprache  der  Menschen.  Denn  ich  armer 
Erdensohn  bin  zu  der  Göttersprache  der  anschauenden  Vernunft  gar 
nicht  organisiert.  Was  man  mir  aus  den  gemeinen  Begriffen  nach 
logischer  Regel  vorbuchstabieren  kann,  das  erreiche  ich  wohl."  (1774. j 


118  Anjnerkungen 

Hätte  Sokrates  nicht  ähnlich  sprechen,  können,  wenn  er  den  Phädros  ge- 
hört hätte,  wenn  er,  der  Schöpfer  des  Begriffes  seinen  Schüler  von  Mania. 
und  den  göttlichen  Gesichten  der  Seele  hätte  schwärmen  hören? 
S.  42.  Vielleicht  wird  jemand  sagen,  meine  Einleitung  sei  eine  ästhe- 
tische Betrachtung  und  habe  mit  Philosophie  nichts  zu  tun.  Ich  meine 
aber,  der  wird  eine  Grundlage  der  Philosophie  gewonnen  haben,  der 
das  Gastmahl  nicht  in  irgendeiner  „Auffassung",  sondern  als  'leben- 
diges, weiter  wachsendes  Gebilde  in  sich  aufgenommen  hat.  Es 
herrscht  ja  heute  die  Tendenz,  aus  der  Philosophie  eine  Art  Zentral- 
bureau für  alle  Wissenschaften  zu  machen.  Dann  muß  man  ans  Plato 
herausklauben,  was  anderswo  besser  gesagt  ist  und  den  Gelehrten 
Plato  vom  Künstler  Plato  säuberlich  trennen.  Plato  ist  aber  nie  das 
oder  das,  er  ist  in  jedem  Worte  Plato.  'Piatos  Philosophie  ist  nicht 
der  oberste  Schaum  der  Erkenntnis,  sondern  ganze  Welt,  wirkende 
und  erkennende  Welt  zugleich. 

ZUM  GASTMAHL.  Ich  folge  in  der  Hauptsache  der  Ausgabe  von 
C.  F.  Hermann.  Ich  danke  an  dieser  Stelle  dem  Freunde  Wilhelm 
Andreae,  dem  Platoforscher,  für  manchen  Rat  bezüglich  der  Les- 
arten. —  Schleiermachers  Übersetzung  scheint  mir  nicht  deutsch 
genug,  Kassners  gar  zu  wenig  Platonisch.  Mit  diesen  Grenzen  wäre 
mein  Ziel  angedeutet.  Schleiermachers  Übersetzung  ist  immer  noch 
sehr  zu  verehren  und  wie  er  habe  ich  nach  unbedingter  Treue  ge- 
strebt. Freilich  glaube  ich,  daß  man  durch  genaueste  Wiedergabe 
jeder  kleinen  Partikel  einen  ganz  fremden  Ton  hineinbringt,  schlep- 
pend, unlebendig  wird.  Man  muß  nicht  nur  die  Worte,  sondern  auch 
den  Tonfall,  die  Länge  der  Satzteile  beachten.  Um  griechisch©  Verbal- 
formen mit  ihren  feinen  Nuancen  wiederzugeben,  müßte  man  schwer- 
fälhge  Umschreibungen  machen,  dann  findet  der  Grammatiker  seine 
Nuancen  wieder,  aber  der  Ton  ist  zerstört.  Die  indirekte  Rede  klingt 
griechisch  ganz  anders  als  deutsch,  die  einfachen  Infinitive  kommen 
der  lebhaften  Präsens-Erzählung  nahe.  Plato  ist  in  der  Verwendung 
der  indirekten  Rede  selbst  nicht  konsequent.  So  glaubte  ich,  ein 
Recht  zu  haben,  bisweilen  etwas  abzuweichen,  um  die  Nähe  und 
Feme  der  Erzählung  im  ganzen  um  so  genauer  nachzuahmen.  —  Vor 
allem  habe  ich  aber  vermieden,  alles  was  dem  modernen  Empfinden 
näher  liegt,  besonders  zu  unterstreichen,  „künstlerische"  Glanzlichter 
aufzusetzen.  Ich  möchte  zu  Plato  führen,  nicht  Plato  dem  modernen 
Geschmacke  anpassen.  Kassners  Übersetzungen  mögen  ihr  Ver- 
dienst haben.  Er  hat  sich  aber  gerade  im  Gastmahl  von  einem 
lyrischen  „stimmungsvollen"  Ton  verführen  lassen  und  darüber 
das  Gestaltete,  Mythische  verloren.  Die  Übersetzung  ist  recht  für 
den,  der  eine  schöne  Lektüre  sucht,  sie  ist  aber  zu  salopp  für  den, 
dem  es  ernsthaft  um  Plato  zu  tun  ist.  Von  andern  Übersetzungen  er- 
wähne ich  noch  die  Lemgo-Übersetzung  (Meyersche  Buchhandlung 
1783).  Sie  kommt  zwar  an  Plato  bei  weitem  'nicht  heran,  gibt  aber 
einen  äußerst  lebendigen  Ton  der  Zeit  ihrer  Entstehung.  Eduard 
Zellers  Übersetzung  (Marburg  1857)  hat  gegenüber  Schleiermachers 
•chon  den  Vorzug  eines  besseren  Deutsch,  einer  Befreiung  von  zu 


Anmerkuugej)  1 1 9 

sklavischer  Silbonwiedergabe.  Lehrs  (Leipzig  1869)  ist  in  Ton  und 
Satzbildung  ebenfalls  im  ganzen  sehr  deutsch,  bringt  aber  anderer- 
seits eine  unerträgliche  Beimischung  von  Fremdworten.  Die  neueste 
Übersetzung  von  Emil  Müller  scheint  mir  gegenüber  den  älteren  eine 
gewisse  Verflauung  zu  bedeuten.  Zwei  Ausgaben  nenne  ich  noch,  die  aus 
äußeren  Gründen  dem  jungen  Menschen  am  leichtesten  zugänglich  sind 
und  nur  daher  eine  besondere  Bedeutung  haben.  Die  eine  ist  die  von 
Oberbreyer,  welcher  die  Schleiermachersche  Übersetzung  wiedergibt, 
aber  durch  widerliche  Anmerkungen  beschmutzt.  Die  zweite  ist  die 
von  Prantl.  Dieser  macht  seine  eigene  lederne  Schulübersetzung  durch 
Anmerkungen,  aus  welchen  unverhohlen  der  Haß  gegen  die  Attische 
Kultur  spricht,  nicht  eben  genießbarer. 

Zu  S.  43.  „ApoUodor".    Er   tritt   auch  im    Phädon   auf,   ähnlich  wie 
Kriton  hängt  er  mehr  einfach -menschlich  als  philosophisch  an  So- 
krates.  Er  ist  es,  der  am  heftigsten  schluchzt,  als  Sokrates  stirbt. 
S.43.  „Glaukon".   Er  ist  nicht  identisch   mit  einer  Person  gleichen 
Namens  in  andern  Dialogen. 

8.43.  Agathon,  der  tiagische  Dichter,  ist  um  445  geboren;  Aristo- 
phanes  hat  ihn  einmal  parodiert,  dagegen  erwähnt  er  ihn  in  den  Frö- 
schen als  „tüchtigen  Dichter".  Der  im  Gastmahl  gefeierte  Sieg  des 
Agathon  mit  seiner  Tragödie  fällt  ins  Jahr  416.  In  diesem  Jahre  spielt 
also  das  Gastmahl.  —  Agathon  ging  später  an  den  Hof  des  Königs 
Archelaos  von  Mazedonien.  Aus  dem  Zusammenhange  ist  anzuneli- 
men,  daß  dieses  Gespräch  zwischen  ApoUodor  und  Glaukon  etwa  für 
409  anzunehmen  ist,  denn  408  verläßt  Alkibiades  für  immer  Athen 
und  diese  Tatsache  ist  im  Einleitungs-Gespräch  nicht  vorausgesetzt. 
S.  44.  Kydathen  heißt  die  südliche  Region  von  Athen. 
S.  45.  Das  Wortspiel  geht  in  der  Übersetzung  verloren.  „Der  Guten" 
ist  gleichlautend  mit  Agathon.  —  Betreffend  die  übliche  Spielerei  mit 
Homer-Zitaten  vgl.  Rias:  II.  408,  III.  179,  XVII.  588. 
S.  46.  „Knabe"  bedeutet  hier  natürlich  Sklave,  aber  aus  dem  folgen- 
den Worte  Agathons  geht  ja  deutlich  hervor,  daß  dieser  Ausdruck 
hier  zu  plump  wäre. 

S.  48.  Akumenos  ist  ein  berühmter  Arzt.  Von  Eryximachos  ist  ander- 
weitig auch  nicht  mehr  bekannt,  als  daß  er  ein  Arzt  ist. 
S.  49.  „Kein  einziger  der  Dichter".  Derselbe  Gedanke  bei  Euripides, 
Ilippoly  tos  535.  Man  könnte  diesen  beiden  Antigone,  781  entgegenhalten. 
S.  49.  „Nichts  anderes  als  die  Dinge  der  Liebe".  Vgl.  Lysis  204,  Phä- 
dros  249.  Anklänge  auch  im  Charmides,  Protagoras,  Gorgias. 
S.  50.  Hesiod.  Theogonie  116. 

S.  51.  „Armee  aus  Liebenden."  Dieser  Gedanke  wurde  verwirklicht 
in  der  heiligen   Schar  des  Pelopidas. 

S.  52.  Achill.  Die  Entrückung  auf  die  Inseln  der  Seligen  entspricht 
bekanntlich  nicht  der  Odyssee,  auch  die  erotische  Deutung  fehlt  bei 
Homer;  ob  sie  bei  Äschylos  enthalten  war,  ist  nicht  bekannt. 
S.  52.  „Tüchtigkeit".  Arete  ist  unübersetzbar.  Tugend  im  Sinne  von 
Tüchtigkeit  enthält  etwas  von  dem  Begriff.  Man  denkt  heute  aber  zu 
sehr  an  das  Negative,  an  eine  tugendsame  Jungfrau.  Die  sehr  aktive, 


1 20  Anmerkungeii 

ganz  männliche  Arete  ist  dem  diametral  entgegengesetzt.  Güte  enthält, 
auch  etwas  von  dem  Begriff,  aber  nur,  wenn  sie  nicht  seelisch  gefaßt 
ist,  sondern  in  dem  Sinne  der  guten  Qualität  eines  Materials.  Dem 
Worte  Tüchtigkeit  fehlt  bei  uns  allerdings  der  Gedanke,  daß  sie  das 
oberste  Gut  überhaupt  bedeute.  Indessen  ist  doch  von  Goethe  das 
Wort  vollkommen  im  Sinne  der  Arete  gebraucht,  nämlich  als  er  von 
Shakespeare  (S.  und  kein  Ende)  sagt:  „Die  Wahrheit  und  Tüchtigkeit 
seines  Lebens  ist  die  große  Base,  worauf  sie  (seine  Werke)  ruhen." 
S.  53.  Pandemos  und  Urania.  Die  scharfe  Tremmng  dieser  beiden  Göt- 
tinnen ist  im  ursprünglichen  Glauben  nicht  begründet;  es  handelt 
sich  vielmehr  um  zwei  Kultnamen  derselben  Göttin.  Pandemos  bezieht 
sich  möglicherweise  auf  einen  Kult,  der  bei  der  Vereinigung  von  ver- 
schiedenen Demen  zur  Stadt  Athen  eingesetzt  wurde.  Trotzdem  ist  in 
der  Platonischen  Zeit  diese  Scheidung  des  Pausanias  schon  fest  über- 
liefert. Solon  hat  der  Aphrodite  Pandemos,  um  die  Ehe  zu  schützen, 
ein  öffentliches  Haus  von  Hetären  errichtet,  dessen  Besuch  die  Sitte 
den  Ehemännern  verbot.  Als  Phidias  in  seiner  Kunst  die  Vorstellung 
von  der  Göttin  ins  Erhabene  steigerte,  knüpfte  er  an  den  alten  Namen 
der  Urania  an  (sein  Standbild  der  Aphrodite  Urania  in  Olympia). 
Damit  ist  die  Differenzierung  der  himmlischen  und  der  bürgerlichen 
Göttin  geschehen.  Vgl.  auch  Einleitung. 

Die  Differenzierung  zweier  entsprechender  Eroten  ist  wohl  des  Pau- 
sanias Erfindung,  wenn  auch  schon  Pindar  die  Mehrzahl  der  Eroten 
annimmt.  —  Pausanias'  Rede  scheint  im  Kern  historisch.  (Vgl.  Xeno- 
phon,  Gastmahl.) 

S.  55.  Aristogeiton.  Die  Ermordung  des  Hipparch.  Historiker  wenden 
gern  und  mit  Recht  ein,  daß  die  Ermordung  nicht  unmittelbar  die 
Freiheit  zur  Folge  hatte,  aber  in  tieferem  Sinne  haben  die  Athener 
doch  wohl  recht,  dies  Freundespaar  als  Symbol  der  Freiheit  zu  be- 
trachten, denn  in  ihrer  Tat  kommt  die  Leidenschaft  und  der  Stolz  einer 
hochgesinnten  Jugend  zur  Erscheinung  und  diese  Gesinnung  ist  doch 
wohl  die  wirkliche  Ursache  der  Befreiung  Athens  wie  später  Thebens. 
S.  61.  „Fuge  des  Bogens  und  der  Lyra".  Harmonie  sagt  im  modernen 
Gebrauch  etwas  zu  wenig,  sie  bedeutet  mehr  Zusammenklingen  als 
das  Festgefügtsein  des  Entgegengesetzten.  In  dieser  Anwendung  des 
Wortes  Fuge  folge  ich  Friedrich  Wolters  (vgl.  oben).  Zeller  sagt  ähn- 
lich: Gefüge. 

Diese  Worte  des  Heraklit  gelten  meist  als  kaum  verständlich.  Dein- 
hard  hat  folgende  geistreiche  Deutung  gegeben  (zitiert  nach  Jung, 
Piatos  Gastmahl) :  Bogen  und  Leier  bilden  zusammen  eine  Harmonie, 
nämlich  als  Symbol  der  gymnastischen  und  musischen  Erziehung.  Als 
Erklärung  fügt  er  die  Verse  des  Horaz  an: 
quondam  cithara  taceiitem 
suscitat  Musam  neque  semper  arcum 
tendit  Apollo. 
Diese  Erklärung  ist  gewiß  schön,  aber  wohl  zu  geistreich,  um  glaub- 
haft zu  sein.  Wie  weit  ist  Heraklit  von  Horaz  entfernt  I  Die  gymna- 
stische Erziehung  hat  wenig  mit  dem  Bogen,  und  Heraklit  wenig  mit 


Anmerkung-en  1  2 1 

dor  gymnastischen  Bildung  zu  tun.  Das  te  xcu,  auf  das  sich  D.  bo- 
sonders  stützt,  fehlt  in  einer  andern  Überlieferung,  die  in  Diels  Frag- 
menten der  Vor-lSokratiker  als  gültig  angegeben  ist.  Es  mulj  also  bei 
der  alten  Auffassung,  Fuge  des  Bogens  und  Fuge  der  Leier  bleiben, 
der  alten  und,  wie  ich  glaube,  tieferen  Auffassung.  Denn  wo  wäre 
ein  tieferes  Sinnbild  der  entgegengesetzten  und  doch  sich  nicht  auf- 
hebenden, sondern  zu  ganz  neuer  Wirkung  gebundenen  Kräfte,  als 
Bogen  und  Sehne,  die  den  Pfeil  in  die  Ferne  schnellen.  (Freilich  ist 
einer  materialistisch-energetischen  Zeit  ein  einfaches  Summieren 
gleichgerichteter  Kräfte  leichter  verständlich  als  die  schöpferische 
Synthese  entgegengesetzter  Kräfte).  Dieser  Sinn  des  Spruches,  der 
eben  nichts  mit  dem  Musikalischen  zu  tun  hat,  springt  mit  dem  Worte 
Fuge  viel  deutlicher  heraus  als  mit  dem  Worte  Harmonie.  Allerdings 
muß  ich  zugeben,  daß  hierdurch  das  Mißverständnis  des  Eryxiraachos 
noch  etwas  krasser  erscheint. 

S.  61.  Polymnia.  Daß  Eryximachos  an  Stelle  der  Aphrodite  die  Musen 
setzt,  ist  begreiflich,  weil  er  ja  nicht  vom  Geschlechtlichen  spricht. 
Diese  Auffassung  der  Namen  der  Musen  ist  willkürlich.  Daß  Plato  die 
Polymnia,  die  Muse  der  vielen  Lieder,  der  Pandemos  parallel  setzt, 
ist  aus  seinen  Ansichten  über  die  Musik  leicht  zu  verstehen.  —  Die 
Ausdehnung  des  Begriffes  Eros  auf  die  Gesamtkraft  der  W^elt  erinnert 
etwas  an  Empedokles. 

S  64  Der  folgende  Mythos  ist  wahrscheinlich  von  Plato  erfunden.  — 
Der  Vergleich  der  Geschlechter  mit  den  Gestirnen  kommt  im  Deut- 
schen nicht  so  glücklich  heraus,  weil  bei  uns  perverserweise  die 
Sonne  weiblich  und  der  Mond  männlich  ist  (im  Alt-Hochdeutschen  ist 
meist  die  Sonne  männlich,  der  Mond  weiblich). 

S.  65.  „Sackhüpfen".  Wettspiel  beim  Dionysos-Fest;  man  hüpfte  mit 
einem  Bein  aui  einem  eingeölten  Weinschlauch. 
S.  66.  Zikaden.  Die  Zikaden  zeugen  natürlich  nicht  in  den  Boden,  son- 
dern sie  legen  nur  ihre  Eier  mit  dem  Legestachel  in  den  Boden  hinein. 
Genauer  wäre  also  der  Vergleich  mit  Fröschen  und  Fischen  gewesen, 
die  erst  die  bereits  abgesetzten  Eier  befruchten.  Aber  mit  den  Zikaden 
verbindet  sich  die  mythische  Vorstellung  der  Autochthonie,  des  Erd- 
geborenen. 

S.  66.  „Gegenstück",  eigentlich  Symbol.  Gastfreunde  zerbrachen  beim 
Scheiden  einen  Würfel,  damit  sie  und  ihre  Nachkommen  sich  an  den 
Bruchstücken  erkennen  konnten. 

S.  67.  „Buhlerinnen".  Manche  meinen,  es  seien  Tribaden  gemeint  unö 
in  der  Tat  wäre  dann  der  Sinn  viel  einfacher.  Aber  auch  mit  der  ux 
sprünglichen  Bedeutung  Buhlerin  gibt  es  Sinn.  Aristophanes  meint  — 
natürlich  in  scherzhafter  Übertreibung:  Die  Männlichen  brechen  ihre 
Ehe  nicht,  weil  sie  keinen  Trieb  zum  Weibe  haben;  die  Mannweib- 
lichen haben  immer  den  Trieb,  die  Ehe  zu  brechen;  die  Weiblichen 
brauchen  die  Ehe  nicht  und  gerade  darum  machen  sie  aus  der  Liebe 
zu  Männern  ein  Gewerbe;  ein  Gegenstück  zur  ersten  Gruppe,  den 
Männlichen,  die  ohne  Trieb  zum  Weibe  doch  aus  staatlicher  Rück- 
siebt die  Ehe  schließen. 


122  Anmerkungen 

S.  68.  „Gleich  wie  die  Arkader".  Diese  Stelle  spielt  in  der  Geschichte 
der  zeitlichen  Bestimmung  des  Dialogs  eine  große  Rolle.  Im  allge- 
meinen bezieht  man  sie  auf  das  Jahr  385/84.  Die  Spartaner  hoben 
Mantinea  auf  und  siedelten  die  Einwohner  zerstreut  an.  371  stellt 
Epaminondas  die  Stadt  her.  Also  begeht  Plato  einen  Anachronismus, 
da  das  Gespräch  ja  viel  früher  gedacht  ist.  Er  muß  aber  den  Dialog 
zwischen  85  und  71  geschrieben  haben.  Zeller  ninmit  an,  bald  nach 
85,  als  das  Ereignis  noch  im  frischen  Gedächtnis  war.  Lehrs  meint 
dagegen:  lange  nachher,  weil  dann  der  Anachronismus  weniger  kraß 
sei.  Wilamowitz  bezieht  die  Erwähnung  auf  die  Aufhebung  des  arka- 
dischen Bundes  418,  wogegen  Räder  erinnert,  daß  der  Ausdruck  öiq)- 
xia^fuv  nicht  dazu  paßt. 

S.  71.  Ananke.  Die  Notwendigkeit,  der  innere  und  der  äußere  Zwang. 
Schon  frühzeitig  als  Göttin  gedacht,  ähnlich  den  Moiren,  aber  nicht 
wie  sie  kultisch  verehrt  —  Hesiod,  Theogonie.  Von  Parmenides  ist  eine 
entsprechende  Stelle  nicht  bekannt. 
S.  71.  „Ate".  Göttin  der  Verblendung.  (II.  XIX,  92.) 
S.  73.  „Eros  besonnen  vor  allen".  Man  kann  hier  zweifeln,  ob  es  sich 
um  einen  scherzhaft-sophistischen   Schluß  handelt,  oder  ob  an  die 
Wahrheit  gedacht  ist,  daß  der  Liebe  zur  Erreichung  ihrer  Zwecke  die 
erstaunlichste  Unterdrückung  anderer  Leidenschaften  gelingt. 
S.  73.  „Schöpfung".  Dies  Wort  gibt  das  griechische  Poiesis  gut  wieder, 
wobei  allerdings  die  eine  Differenz  etwas  stört,  daß  Schöpfung  erst 
in  zweiter  Linie,  Poiesis  in  erster  Linie  das  Spezielle,  nämlich  die 
Dichtung  bedeutet. 

§.  74.  Die  Herkunft  der  Verse  „Frieden  unter  den  Menschen"  ist  nicht  b^ 
kannt;  vielleicht  bedeuten  sie  kein  »Zitat,  so^ndern  einen  Einfall  Agathons. 
S.  74.  Agathen  ist  der  erste,  der  den  Gott  als  Gestalt  zu  geben  versucht. 
Es  scheint  nicht  überflüssig,  über  die  bildhafte  Vorstellung  des  Eros 
in  jener  Zeit  einige  Andeutungen  zu  geben,  da  heute  selbst  hervor- 
ragende Gelehrte  solche  Fragen  etwas  lässig  behandeln  und  sich  jenen 
Eros  als  einen  lustigen,  schalkhaften  Buben  vorstellen.  Man  muß 
aber  für  jene  Zeit  die  Alexandrinischen  flatternden  Putten  mit  Pfeil 
und  Bogen  strengstens  abweisen.  Allerdings  wird  Eros  auch  auf  den 
attischen  Vasenbildern  oft  klein  dargestellt,  aber  nicht  in  kindlichen 
Proportionen,  sondern  als  verkleinerte  Gestalt,  schwebend,  nach  Art  der 
entweichenden  Seelen.  Viel  wichtiger  sind  für  uns  die  Bilder  des 
strengen  Stils  im  Anfang  des  5.  Jahrhunderts,  wenn  Eros  allein,  nicht  alsl 
Nebenfigur  gezeichnet  ist;  dann  ist  er  der  anmutig-herbe  Jüngling  mit 
Blumen,  Lyra,  Bändern.  (Titelbild.)  —  Ein  besonderes  Glück  für  uns 
ist  die  Erhaltung  des  herrlichen  Reliefs  am  Thron  des  Priesters  im 
Dionysos-Theater  zu  Athen.  Eros  hat  hier  Kampfhähne  in  der  Hand, 
eine  Verherrlichung  des  Agons,  die  zu  der  harten  und  unchristlichen 
Auffassung  des  Plato  so  schön  paßt.  —  Wie  fern  dem  Platonischen 
Eros  noch  der  Bogen  liegt,  geht  aus  Diotimens  Vergleich  des  Eros 
mit  einem  Jäger  hervor,  denn  hier  wird  nicht  von  Pfeil,  sondern 
von  Netzen  gesprochen.  Allerdings  ist  in  der  Platonischen  Zeit  die 
Verwandlung  des  Eros  schon  vorbereitet,  es  scheint,  daß  Euripides  den 


Anmerkangen  123 

Aiisfoß  gab.  Bei  Praxiteles  ist  der  Bogen  schon  da,  aber  er  bildpl 
noch  ganz  den  schönen  Jüngling  und  er  muß  wohl  (wenn  wir  aus 
dem  Genius  von  Centocelle  im  Vatikan  und  einem  erhaltenen  Epi- 
gramm schließen  dürfen)  dem  Bilde  des  Agathon  sehr  nahe  gekommen 
sein.  —  Erst  Lysipp  (oder  Skopas  ?)  bringen  den  Übergang  zum  bogen- 
spannenden  Kinde. 

S.  75.  Des  Gorgias   Haupt;   vgl.  Homer  Od.  XI,  634. 
„Fürchtend,  es  sende  mir  jetzo  die  strenge  Persephoneia 
Tief  aus  der  Nacht  die  Schreckengestalt  des  Gorgonischen  Unholds, 

Floh  ich  eilend  von  dannen " 

Es  ist  bekannt,  daß  der  Anblick  des  Hauptes  der  Gorgo  (Medusa)  ver- 
steinert. Das  Wortspiel  kommt  im  Deutschen  weniger  zur  Geltung; 
im  Original  klingen  die  Genitive  von  Gorgias  und  Gorgo  ähnlich. 
Natürlich  ist  es  Sokrates  weniger  um  den  Wortwitz  als  um  das  Bild 
zu  tun;  denn  wirklich  mochte  er  sich  fast  gelähmt  fühlen  von  dieser 
musikalischen  Stimmung,  die  alle  bezaubert. 

Gorgias  aus  Leontinoi  (Sizilien)  ist  neben  Prodikos  das  Haupt  der 
Sophistenschule;  er  ist  philosophisch  weniger  bedeutend  als  dieser, 
aber  der  Meister  einer  glänzenden  Rhetorik.  427  wird  er  als  Ge- 
sandter nach  Athen  geschickt,  wo  er  nicht  nur  politisch,  sondern 
auch  als  Lehrer  der  Rhetorik  einen  günstigen  Boden  findet.  Mehi'mals 
kehrt  er  später  dorthin  zurück.  Für  die  Frage  Sokrates — Agathon  im 
Gastmahl  ist  Piatos  Urteil  über  Gorgias  von  Bedeutung.  Im  Dialog 
Gorgias  ist  er  durchaus  nicht  verächtlich  behandelt,  das  Lächerliche 
fällt  ganz  auf  den  dazwischengeschobenen  Schüler  Polos.  Gorgias  be- 
kundet Interesse  an  der  Weitelführung  des  Dialogs,  in  welchem  er 
Sokrates  die  Führung  überläßt.  Daraus  geht  hervor,  daß  Plato  den 
hochberühmten  Sophisten  nicht  für  sehr  eitel  oder  geistig  leer  hält. 
S.  76.  „Die  Zunge  also".  Hippolytos  617. 

S.  79.  Diotima.  Wir  wissen  von  ihr  nichts  anderes,  als  was  im  .Gast- 
mahl enthalten  ist;  Vasenbilder,  die  sie  zugleich  mit  Sokrates  zeigen, 
beziehen  sich  also  wohl  ebenfalls  hierauf. 

S.  80.  Doxa,  der  wichtige  und  nicht  unwandelbare  Platonische  Begriff. 
Er  begreift  die  empirische  Wissenschaft  in  sich.  Die  Übersetzung  „Vor- 
stellung" gibt  ihn  besser  wieder  als  „Meinen".  Meinen  enthält  nicht 
das  sinnliche  Element.  Wer  von  Goethe  die  richtige  Vorstellung  (in 
weitem  Sinne)  hat,  kann  daraus  die  richtige  Meinung  ableiten.  Wer 
aber  nur  die  richtige  Meinung  hat,  Goethe  sei  ein  großer  Dichter,  hat 
im  Grunde  nichts. 

S.SO.Amathia  bedeutet  1.  Falsche  Vorstellung.  2.  Nichtwissen.  3.  Die 
Eigenschaft  Dummheit.  Dies  alles  läßt  sich  mit  dem  ebenfalls  mehr- 
deutigen „Torheit"  wiedergeben. 
S.  81 .  Dämonisch,  vgl.  Einleitung. 

S.81.  „Reichtum"  ist  hier  nicht  im  Sinne  des  Geldes,  sondern  von  allem 
lebendigen  Reichtum  zu  verstehen,  mit  seinen  Folgen:  Macht,  Mittel, 
Erfolge.  —  Auch  dieser  Mythos  ist  wohl  von  Plato  erfunden. 
S.  83  Glücklich,  Eudaimon.  Plato  ist  also  ein  so  überzeugter  Eudai- 
cnom'st,  daß  er  hier  überhaupt  keine  Frage  gelten  läßt.  Es  dürft©  auch 


124  Anmerkungen 

schwer  fallen,  an  Stelle  des  Eudämonismus  ein  anderes  lebendiges 
Prinzip  zu  setzen.  Etwas  ganz  anderes  ist  es  mit  dem  Hedonismus, 
den  man  freilich  mit  jenem  vermischt,  Eudaimon  ist  nicht  zu  über- 
setzen. Es  liegt  in  ihm  die  Erfüllung  der  inneren  Bestimmung.  Man 
muß  hierbei  nicht  an  die  flüchtige  Lust,  sondern  an  den  Daimon,  die 
unwandelbare  Persönlichkeit  denken.  Goethe  hat  in  den  orphischen 
ürworten  diesen  Begriff  in  seiner  Größe  gefaßt, 
S.  84.  Schöpfung,  vgl.  Anmerkung  zu  S.  73. 
S.  84.  „Eine  Lehre",  bezieht  sich  auf  die  Rede  des  Aristophanes. 
S.  85.  „Zeugen  und  gebären".  Hier  in  seinem  tiefen  lebendigen  Sinne 
als  fast  identisch  genonmaen_,  wofür  die  griechische  Sprache  mit  ihren 
doppeldeutigen  Ausdrücken  die  natürliche  Vorbedingung  gibt.  Ich 
glaube,  daß  auch  dies  ein  bedeutsamer  Beweis  für  das  ist,  was  ich 
oben  über  die  Scheidung  und  Vermischung  der  Geschlechter  gesagt  habe. 
S.  85.  Moira,  die  Göttin  des  Schicksals.  Ihr  Begriff  ist  dem  der  Ananke 
verwandt,  aber  sie  wird  kultisch  verehrt.  (Ananke  wird  bisweilen  als 
Mutter  der  Moiren  bezeichnet).  Eileithyia  ist  die  geburtshelfende 
Göttin,  teils  als  besondere  Göttin  verehrt,  teils  der  Artemis  oder 
andern  Göttinnen  gleichgesetzt.  —  Zur  Ergänzung  des  Früheren  kann 
noch  gesagt  werden,  daß  Aphrodite  Urania  in  Athen  auch  als  die  Älteste 
der  Moiren  aufgefaßt  wurde  und  als  solche  Heiligtum  und  Kult  besaß. 
B.  Schmidt  gibt  im  „Volksleben  der  Neugriechen"  an,  daß  heute  noch 
Frauen,  die  schwanger  werden  wollen,  an  einem  Felsen  in  der  Nähe 
der  Kallirrhoe  sich  reiben  und  die  Moiren  anrufen.  Diese  Stelle  ist 
nicht  weit  von  dem  eben  erwähnten  Heiligtum.  (Ich  kann  augenblick- 
lich nicht  angeben,  von  wo  ich  diese  Notiz  übernommen  habe.)  Offen- 
bar kommt  der  Moira  mehr  die  Erzeugung,  die  Pflanzung  des  künf- 
tigen Geschicks  zu,  der  Eileithyia  nur  der  Geburtsvorgang  als  solcher. 
S.  87.  „Nachsinnen".  Diese  Vorstellung  erinnert  an  die  Lehre  im  Me- 
non,  daß  alles  Lernen  nur  ein  Wiedererinnern  des  vor  der  Geburt 
Gelernten  ist.  Aber  die  Ausdrücke  und  auch  der  Zusammenhang  ver- 
bieten, diese  Stelle  wirklich  auf  jene  Lehre  zu  beziehen,  denn  die 
VViedererinnerung  bedeutet  Seelenwanderung,  Ewigkeit  der  Einzel- 
seele, und  hier  ist  ja  gerade  davon  die  Rede,  daß  man  nur  durch 
Zeugung  weiterlebt. 

S.  90.  „Letzte  Schau".  Niemand  wird  verkennen,  daß  hier  von  der 
Ideenlehre  die  Rede  ist;  es  würde  aber  nötig  sein,  die  Ideenlehre  im 
großen  aufzurollen,  wenn  wir  diese  Fra^e  hier  verfolgen  wollen. 
S.  92.  „Schattenbild."  Eidolon,  Schatten  in  der  Unterwelt,  Truggestalt, 
Götzenbild.  Bei  Plato  Abbild  im  Gegensatz  zur  Idee,  Urbild.  —  Viel- 
leicht liegt  hier  eine  Erinnerung  an  Ixion  zugrunde,  der  statt  der  Hera 
ein  Wolkenbild  umarmte  und  mit  ihm  die  Kentauern  zeugte. 
S.  95.  „Acht  Becher".  Ich  finde  die  Maße  verschieden  angegeben,  sie 
betragen  zusammen  wahrscheinlich  etwa  zwei  Liter,  wobei  zu  be- 
denken ist,  daß  der  Wein  mit  etwa  zwei  Teilen  Wasser  verdünnt  ist. 
S.  95.  Der  Hexameter :  IL  XI,  514. 

S.  96.  Silen,  Satyr.  Marsyas  wird  meist  als  Silen  bezeichnet  und  so 
könnte  es  scheinen,  als  ob  Plato  diese  Worte  willkürlich  vermischt 


Anmerknng'eii  ^05 

gebraiichl.  Aber  die  Frage  liegt  anders  und  sehr  kompliziert.  Silenen 
sind  ursprünglich  pferdeähnliche  Wesen,  Begleiter  der  phrygischen 
Kybelo,  dann  auch  in  Nordgriechenland  des  Dionysos.  Als  Sölme  die- 
ser Silenen  gelten  in  Nordgriechcnland  die  Satyrn.  Nun  findet  iü 
Athen  bei  der  Entstehung  der  Tragödie  und  des  Satyrspiels  eine  merk- 
würdige Vermischung  statt  (vgl.  Wilamowitz,  Einleitung  in  die  griechi- 
sche Tragödie).  Diese  tragischen  Spiele  entwickeln  sich  nämlich  aus 
den  Bockschören  des  Peloponnes,  den  Dithyramben,  die  Böcke  sind 
dem  Pan  nachgebildet,  Panisken  (oder  Pan  nach  ihnen  umgestaltet?). 
Diese  gehen  aber  nicht  in  das  attische  Satyrspiel  über.  Hier  bleibt  der 
Silen  und  der  Satyr.  Der  Silen  wird  zum  alten,  dickbäuchigen,  wein- 
seligen Trinker;  der  Satyr  ist  jünger,  nicht  mißgestaltet,  seine  Tierheit 
nur  durch  die  gespitzte  Ohrmust:hel  und  durch  den  kleinen  Schweif 
angezeigt.  Wenn  man  dies  weiß,  so  erscheint  es  ganz  natürlich,  daß 
Plato  den  Marsyas  als  Satyr  und  nicht  als  Silen  bezeichnet.  Dagegen 
ist  es  ein  späteres  Mißverständnis,  wenn  man  infolge  der  Vermischung 
dieser  Begriffe  den  Marsyas  als  Panisken,  d.  h.  als  Bocksgestalt  bildet. 
Auch  in  die  moderne  Kunst  ist  ja  der  Satyr  in  der  Bocksgestalt  des 
arkadischen  Panisken  übergegangen.  Dies  hat  aber  mit  der  Vorstel- 
lung des  Plato  nichts  mehr  zu  tun. 

S.  97.  Flötenspiel.  Auch  diese  Stelle  ist  für  Piatos  Vorstellung  von  der 
Musik  bezeichnend.  Die  berauschende  Gewalt  der  Musik  erkennt  er 
an,  ja  er  betrachtet  sie  als  etwas  Göttliches.  Aber  er  selbst  schreibt 
sich  die  viel  größere  Kraft  zu,  dieselbe  Wirkung  mit  dem  nackten 
Wort  zu  erreichen.  Es  wiederholt  sich  hier  also  der  Mythos  von 
Apollo  und  Marsyas  auf  einer  höheren  Stufe. 
S.  103.  Feldzug  gegen  Potidäa  (auf  der  Halbinsel  Chalkidike).  432. 
S.  103.  „In  Gedanken  versunken".  Eine  ähnliche,  wenn  auch  weniger 
lange  Versonnenheit  ist  schon  im  Anfang  des  Gastmahls  erzählt.  So 
wird  durch  die  gegenseitige  Unterstützung  der  Berichte  der  Eindruck 
der  Wahrheit  erhöht.  Wahrscheinlich  hat  Plato  diese  Zustände  des 
Sokrates  hier  so  betont,  weil  er  in  ihnen  einen  Ausdruck  des 
Dämonischen  sieht. 

S.  104.  Schlacht  bei  Delion.  424.  Schwere  Niederlage  durch  Theben. 
Laches  ist  als  Feldherr  bekannt,  ist  aber  an  dieser  Schlacht  als  Ge- 
meiner beteiligt. 

S.  104.  Vers  des  Aristophanes.  Wolken,  360.  Plato  bricht  dem  Verse 
die  Spitze  ab,  indem  er  den  Vorwurf  leerer  Eitelkeit  in  ein  hohes  Lob 
der  Tapferkeit  verwandelt.  —  Die  Wolken  mit  ihren  recht  schweren 
Angriffen  auf  Sokrates  werden  423  aufgeführt.  Das  Stück  fiel  durch. 
414  folgt  noch  eine  harmlose  Bemerkung  in  den  Vögeln,  ebenso  405 
in  den  Fröschen.  Über  das  persönliche  Verhältnis  von  Sokrates  und 
Aristophanes  ist  sonst  nichts  bekannt.  Daß  die  Wolken  mittelbar  zur 
Hinrichtung  des  Sokrates  beigetragen  haben,  ist  weder  zu  beweisen 
noch  auszuschließen. 

S.  105.  Brasidas.  Der  Held  und  Feldherr  von  Sparta.  Daß  der  Vergleich 
während  des  peloponnesischen  Krieges  einen  Spartaner  betrifft,  ist 
für  Alkibiades  und  Plato  bezeichnend  (vielleicht  richtet  Plato  auch 


126  Aum  erklingen 

damit  eine  Spitz©  gegen  Lysander,  der  jenen  an  äußeren  Erfolgen  so 
sehr  übertrifft  und  auch  wirklich  göttliche  Verehrung  genoß).  —  Diese 
Stelle  ist  auch  ein  lebhafter  Ausdruck  dafür,  wie  lebendig,  d.  h.  weder 
literarisch  noch  romantisch  Plato  die  Homerische  Dichtung  aufge- 
nommen hat,  und  andererseits  mit  wie  hohem  Selbstgefühl  er  die 
Gegenwart  an  den  Homerischen  Helden  bemißt. 
S.  105.  Fell  eines  Satyrs.  Ich  scheine  hier  der  Anmerkung  zu  S.96  zu 
widersprechen,  wenn  ich  hier  Fell  Und  nicht  Haut  übersetze.  Aber 
offenbar  springt  Alkibiades  hier  von  den  mythischen  Wesen  auf  die 
Schauspieler  über,  sei  es,  daß  er  sie  als  pferdeartige  Silenen  ver- 
kleidet denkt,  sei  es,  daß  er  an  jene  denkt,  die  (wie  ein  Überrest  der 
Entstehung  des  Satyrspiels  aus  den  Bockschören)  ein  Bocksfell  um- 
geworfen haben.  Die  so  unvermittelt  hervorspringenden  Bilder  sind 
der  Redeweise  des  trunkenen  Alkibiades  recht  angemessen,  sie  wir- 
ken nach  seinen  sehr  ernsten  Worten  selbst  wie  ein  Satyrspiel  und 
geben  so  in  doppelter  Beziehung  dem  Sokrates  den  Anlaß  zu  seinem 
folgenden  Scherz. 

S.  107.  „Wehe",  lov,  Agathon,  der  Tragöde,  Wendet  den  in  der  Tragödie 
üblichen  Ausruf  des  Schmerzes  an.  Allerdings  ist  derselbe  Laut  auch 
bisweilen  Ausdruck  der  Freude;  mir  scheint  hier  aber  der  Scherz  viel 
feiner,  wenn  Agathon  seinen  Liebhaber  und  zugleich  Nebenbuhler 
ironisch-pathetisch  bemitleidet,  als  wenn  er  gar  zu  kindhaft  seine 
Freude  über  die  Verheißung  des  Sokrates  ausdrückt. 


ANMERKUNG  ZUM  TITELBILD  DER  VORZUGSAÜSGARE. 

Die  Abbildung  ist  (wenig  verkleinert)  mit  Genehmigung  des  Verlages 
von  Guttentag  (Berlin)  aus  der  IV.  Lieferung  von  Benndorf:  Griechi- 
sche und  Siziiische  Vasenbilder  entnommen.  —  Die  Lekythos,  der  das 
Original  angehört,  stammt  aus  Gela  und  befindet  sich  heute  in  der 
Sammlung  Navarra  in  Terranova.  Die  Figur  ist  rot  auf  schwarzem 
Grunde,  mit  hellbrauner  Innenzeichnung.  (Bull.  d.  inst.  1867.  p.231.)  Sie 
trägt  den  Stil  des  reifen  Archaismus.  Benndorf  sagt  über  das  Bild: 
„  . . . .  sehr  fein  und  streng  ausgeführt  und  überrascht  durch  eine 
Größe  der  Auffassung,  welche  unter  den  zahlreichen  im  Grundgedanken 
sich  berührenden  oder  deckenden  Darstellungen  kaum  ihresgleichen 
finden  dürfte.  In  mächtiger  jugendlicher  Gestalt  mit  schön  gelocktem 
umbundenen  Haar  schwebt  Eros  in  den  Lüften  leyerspielend  nicht  be- 
ziehungslos im  unendlichen  Raum,  sondern  durch  Ohr  und  Auge 
wahrgenommen  als  himmlische  Erscheinung,  im  Begriff,  sich  auf  die 
Erde  herabzulassen." 

Mit  Genugtuung  finde  ich,  daß  Furtwängler  (Eros  in  der  Vasenmalerei. 
München  1875.  —  S.  15)  bei  diesem  Eros,  den  er  „das  schönste,  ja 
großartige  Produkt  dieser  Art"  nennt,  an  Agathons  Rede  im  Platoni- 
schen Gastmahl  gedacht  hat. 


Literaturübersicht. 

Von  Otto  Apelt. 


Gastmahl. 

Von  Ausgaben  nenne  ich  außer  den  Gesamtausgaben  von 
Bekker,  K.  F.  Hermann,  den  Zürichern,  Stallbaum,  Schanz  und 
I.  Burnet  folgende  Einzelausgaben: 

F.  A.  Wolf,    mit   kritischen    und    erklärenden    Anmerkungen,    Lpi;. 
1782,  mit  Zusätzen  eines  Ungenannten.     Lpz.  1828. 

F.  Ast.     Landshut  1809. 

P.  A.  Reynders.     Groningen  1825. 
L.  J.  Rückert.     Lpz.  1829. 
A.  Hommel.     Lpz.  1834. 

Griechisch  und  deutsch  mit  erklärenden  Anmerkungen  2.  Aufl. 

Lpz.  1853  bei  Engelmann. 
0.  Jahn,  Bonn  1864. 

G.  F.  Rettig,  mit  Kommentar.     2  Bde.    Halle  1875.    1876. 
C.Schmelzer,  mit  erklärenden  Anmerkungen.     Berlin  1882. 

A.  Hug,    mit    umfassender    Einleitung    und    Erklärung.      2.    Aufl. 
Lpz.  1884. 

Von  Übersetzungen  nenne  ich  außer  den  Gesamtübersetzun- 
gen von  Schleiermacher,  von  H.  Müller,  von  der  Metzlerschen,  Lan- 
genscheidtsehen  und  Diederichsschen  Sammlung  die  Einzelübersetzun- 
gen von  F.  Ast  (Jena  1817),  von  E.  Zeller  (Marburg  1857),  von 
K.  Lehrs  (Lpz.  1870). 

Zur  Erläuterung. 

Alberti,  E.  Ztschr.  f.  Philos.  und  phil.  Kritik  N.  F.  51  (1867),  29ff., 

169  ff. 
Boeckh,  A.     De  siraultate  Piatonis  et  Xenophont.     Kleine  Sehr.  IV 

p.  Iff.,  Vir  p.  585  f. 
Brede,  Die  Ethik  des  pl.  Symposion.     Eckernförde  1870. 
Crain,  P.     De  ratione  quae  inter  Phaedrum  Symposiumque  inter- 

cedat.     Diss.    Jena  1905. 
Creuzer.  F.     Über  Pls.  Sjmp.  in  „Zur  Gesch.  der  gr.  u.  röm.  Lit.*' 

Lpz.  1847.     p.  107—162. 


128  Literaturübersicht. 

Deinhardt,  J.  H.    Über  Inhalt  und  Zusammenhang  des  plat.  Symp. 

Prg.    Bromberg  1865. 
Delbrück,  F.    De  partibus,  quas  Aristophanes  agat  in  PI.  Symp. 

Bonn  1839. 
Deventer,  van.    Het  Symp,   Plat.  Studien.   Amsterdam  1896.   p.  113 

bis  151. 
Fortlage,  C.     Philos.  Meditationen  über  Pls.  Symp.  Heidelberg  1835. 
Fortlage,  C.     Über  das  Gastmahl  des  PL,  in:  Sechs  philos.  Vor- 
lesungen.   Jena  1869. 
Graef,  A.   Ist  Pl.s  oder  Xenoph.s  Svmp.  das  frühere?   Prg.  Aschaf- 
fenburg 1898. 
Hahn,  H.      Das  gegenseitige  Verhältnis   der  pl.  Dialoge    Phaedrus 

und  Symp.     Prg.     Birkeafeld  1882.     18  S. 
Hartmann,  H.  L.     De  Erote  Socratis  in  Symp.   PI.   Prg.  1731.  16  p. 
Hartmann,  H.  L.     Chronologia  Symp.    PI.    Prg.  1798.     30  p.  4*. 
Hartmann,  H.  L.     Prolusio  de  raytho  Aristoph.  in  Symp.   PI.   Prg. 

1799.     14  p.  40. 
Hartmann,  H.  L.     Prolusio   de    mytho  Socr.  in  Symp.     PI.     Prg. 

1803.     15  p.  4°. 
Henrichsen,  Über  das  Verhältnis  des  Plat,   zum   Xenoph.   Symp, 

Prg.  Altena  1840.     Schleswig  1844. 
Hermann,  C.  F.   Num  PI.  an  Xenoph.    Convivium  suum  prius  scrip- 

serit.     Ind.   lect,    Marburg  1834.      Vgl.  Ind.   lect.   Goth.    1844, 

1845.    Philol.  VIII.    1853.    p.  329—333, 
Hille,  H,   Die  plat.  Lehre  vom  Eros.   Prg.  Liegnitz  (Ritterakademie) 

1892.     45  p. 
Hochegger,  R.    Über  die  Plat.  Liebe.     Berlin  1887. 
Hug,  A.   Philol.  VII  (1852)  p.  638—695.    S.  seine  erklärende  Ausg, 

p.  XXVff. 
Kiefer,   0.     Pl.s  Stellung  zur  HomosexuaHtät.     Jahrb.   f,   sexuelle 

Zwischenst.     1905,     p.  109—127, 
Kleemann,  A,  v.     Das  Problem  des  PI.  Symp.     Prg.     "Wien  1906. 
Koch,  M.   Die  Rede  des  Sokr.  im  Symp.   Prg.   Berlin  1886.  Luisenst.- 

Gym.).    25  p. 
Lenormant,  C.     Cur  PI.  Aristophanem  in  Conviv.  induxerit,   Paris 

1838. 
Lindemann,  De  Agathonis  oratione  in  PI.  Conviv,     Prg.     Dresden 

1871. 
Lüdekke,  C.     Über  Beziehungen   zwischen  Sokrates'    Lobrede  auf 

Helena  und  Pls,  Symp.    Rh.  M,  52  (1897)  S.  628—632. 
Marxsen,   Das  Verhältnis  des  pl,  Symp,   zu  d^n  Thesmophor,   des 

Aristophanes.     Rendsburg  1853. 
Ostendorf,  A.     Der  plat.  Eros.     Prg.  Schleswig  1874. 
Palmer,  V.   Das  Verhältnis  des  plat.  und  xenoph.  Svmp,   Prg.  Baden 

(Österreich)  1878. 
Plundrich,  A,    Der  Charakter  des  pl,  Sympos.  Prg.  Stockereu  1879. 

25  p. 
Resl,  W.     Das  Verhältnis   der    Reden    im    pl.    Symp.    zueinander. 

Prg.  Brody  1886. 


Literatlirübersicht.  ^29 

Rettig,  G.  F.     Do  Convivionim  ratione  mutua.  Index  schol.  Bernens. 

1864.     S.  auch  s.  erklärendo  Ausg.  des  Symp.  u.  Philol.   Bd.  41 

(1882). 
Ritschi,  Fr.     Kurze   Parallele  der   Symp.    des   PI.    u.    XenophoD. 

Index  lect.  Bonn  1839. 
Robin,  L.     La  theorie  plat.  de  l'amour.    Paris  1908. 
Rötscher,  H.  Th.    Das  Gastmahl  als  philos.  Kunstwerk.    Prg.  Brom- 
berg 1832. 
Sauppe,   H.      Pls.    Symp.    in    den    Ausgewählten    Schriften    (von 

C.  Trieber).     Beriin  1896. 
Schenk  1,  K.   Beitr.  zur  Krit.  u.  Erkl.  des  pl.  Symp.    Ztschr.  f.  österr. 

Gymn.     12  (1861).     p.  589ff. 
Schirlitz,  C.     ßeitr.  z.  Erklärung  der  Rede  des  Sokr.  in  Pls.  Symp. 

Jahresber.  f.  Philol.    1893.     p.  561-585.  641-665. 
Schwanitz.     Plat.  Stu'iien  J.     Diotima.     Frankfurt  a.  M.  1864. 
Schwegler,  A.     Über  die  Komposition  des  pl.  Symp.   Diss.  Tübingen 

1843. 
Siedlecki,  St.  Die  Unsterblichkeit  der  Seele  in  Pls.  Symp.    Eos  11 

(1905).    p.  115. 
Sommerbrodt,  J.   Der  Dichter  Agathon  in  Pls.  Symp.    Rh.  M.  N.  F. 

23  (1868).     533  ff. 
Spiller,  J.     De  temporibus  Convivii  PI.     Prg.  Gleiwitz  1841. 
Spiller,  J.     De  oratione  Agathonis.     Prg.  Gleiwitz  1857. 
Steinberger,  L.   Zur  Kritik  u.  Exeg.  von  Pls.  Symp.   Blätter  f.  d. 

bayr.  Gymn.     .1906.     p.  524—528. 
Steinhart,    K.     Über   das   Verh.    des   PI.  u.   Xen.  Symp.  in  der 

Müllerschen  Platoübers.  IV,  267  u.  Leben  Pls.  HOO,  Kote. 
Susemihl,  F.     Über  die  Komposition  des  pl.  Gastmahls.    Philol.  VI 

(1851)  p.  177ff.     VIII  (1853)  p.  153ff. 
Sybel,  L.  V.    Pls.  Symp.,  ein  Prgr.  der  Akademie,     Marburg  1888. 
Sybel,  L.  V.    Pls.  Technik,  nachgewiesen  an  Symp.  u.  Euthy.   Mar- 
burg 1889. 
Sybel,  L.  v.     De  PI.  prooemiis  acad.     Marburg  1889. 
Sybel,  L.  v.     Pls.  akad.  Schriften.      Preuß.  Jahrb.  64  p.  696—716. 
Was,  H.     Pls.  Symp.     Prg.  Ärnheim  1887. 
Was,  H.    Een  nieuwe  verklaring  van  Pls.  Symp.    Theol.  Tijdschr.  28 

(Leiden  1894)  p.  608-617. 
Weicker,  W.     Amor  Platonicus.     Prg.  Zwickau  1869.     24  p. 
Wiegand,  W.    Die  wissensch.  Bedeutung  der  pl.  Liebe.   Sammlung 

gemeinverstl.    Vorträge    (Virchow   u.    Holtzendorff).     Heft  284. 

Berlin  1877. 
Wohlrab,  M.     Knabenliebe  und  Frauenliebe  im  Symp.     Jahrb.  f. 

Philol.  119  (1879)  p.  673—684. 
Wolcott,  D.     The  Symp.  of  PI.  in  The  Piatonist  Bd.  3  p.  148-162. 
Wolf,  Fr.  A.     Vermischte  Sehr.     p.  288—339. 
Wunder,  E.    Blick  in  Pls.  Symp.    Philol.  VI  p.  682ff. 
Zannetos,  J.    ZvjußoXal  (piXoaoip.  eis  ro  IIX.  ovfinöo.    Diss.  Erlan- 
gen 1888.     99  p. 
Zimmermann,  L.  C.     Ausführliche  Erklärung  des  pl.  Gastm.    Prg. 

Darmstadt  1830.     15  p.  4^ 
Plato,  Gastmahl.  9 


130 


REGISTEE 


(a  bedeutet  Anmerkung,  die  folgcude  Zahl  bezieht  sich  auf  die  Zahlen  am  Kopf 
jeder  Anmerkung.  Die  anderen  Zahlen  bedeuten  die  Seiten ;  soweit  sie  sich  auf  di« 
Einleitung  beziehen,  sind  sie  eingeklammerte 


Abfassung'szeit  des  Gastmahls  a68. 

Achill  52.  88.  105. 

Admet  88. 

Agamemnon  45. 

Agape  [5.  6.  14].  a  6. 

Agathon.  Zuerst  48.  [10—13.]  a  43. 

Ag-on  [41]. 
A.  in  der  Liebe  [7J. 
(Wettkampf)  57. 

Ajas  102. 

Akumenos  48. 

Akusilaos  50. 

Alexandrinische  Eroten  a74. 

Alkestis  51.  88. 

Alkibiades.  Zuerst  43.  [21. 32—36]. 
(Dialoge)  34.  a34. 

Ananke  71.  74. 

Antenor  105. 

Aphrodite  50.  73.  81. 
A.  Urania  u.  Pandemos  53.  [26 — 
29].  a26.  a53.  a85. 

ApoUo  65.  73.  [33].  a61. 

ApoUodor.    Zuerst  43.  [2J.  a43. 

Archelaos  a43. 

Ares  78. 

Arete  [Tüchtigkeit]  57.   92.   a52. 

Arkader  68. 

Aristodem.    Zuerst  44. 

Aristogeiton  55. 

Aristophanes.  Zuerst  47.  Zitat  104. 
[8  u.  f.  23.  40.]  a  7.  a  104. 

Armee    aus   Liebenden    und    Ge- 
liebten 51. 

Äschylos  52. 

Asklepios  60. 

Ate  71. 

Athene  73. 

Autolykos  [28]. 

Banause  81. 

Bänder  [Tänien].    93—95. 

Barbaren  55. 

Benndorf.    Anm.  zum  Titelbild. 


Böotien  55. 
Brasidas  105. 
Brunst  85.  86.  89. 
Burckhardt  [111]. 

Chaos  50. 
Charmides  106. 
Cikaden  66. 

Dämonisch  81. 102.  [17.37.38].  a38. 

Deinhard  a61. 

Delion  104. 

Diokles  106. 

Dion  [89]. 

Dione  53. 

Dionysos  47.  50. 

Diotima.    Zuerst  79.  [18.  31]. 

Dorier  a23. 

Doxa  [Vorstellen]  80.  a.  80. 

Ehe  54  u.  E.  67.  [26—29.  31].  a  80. 

Ehebrecher  66. 

Eileithyia  85. 

Elis  55. 

Emerson  [110]. 

Enckendorff  a26. 

Ephialtes  65. 

Erinnern  87. 

Eros. 

E.  und  Agape  [5.  6]. 

E.  ein  Dämon  81.  83.  [17]. 

E.  in  der  Dichtung  49. 

Doppelnatur  des  E.  82. 

E.  zum  Göttlichen  [32.  34]. 

Kardinaltugenden  des  E.  72 — 73. 

E.  eine  kosmische  Kraft  60 — 62. 

Kult  des  E.  64.  [9].  a29. 

E.  in  der  bildenden  Kuiist  a  74. 

E.  die  Leidenschaft  [9].  67.  68. 

Mythologie  des  E.  50.  71. 

Objekt  des  E.  77. 

E.  zur  Seele  89.  90. 

E.  bei  Tieren  86. 

Unvollkomraenheit  des  E.  78. 


Kegifltor 


131 


Eros. 

Zeugung  des  E.  81. 
Eryximachos.  Zuerst  46.  [4.  8  u.  f.] 
Eudaimonia  83.  a  88. 
Euripides  49,  a  74. 

Citat  76. 
Euthydemos  106. 

Flötenspieler  48.  93.  97. 

Fortpflanzung  (und  Unsterblich- 
keit) 85—90. 

Frauen  s.  u.  Weibliches. 

Fuge  61. 

Furtwängler  a  12.  Anm.  zum  Titel- 
bild. 

Ganymed  a29. 

Gea  50. 

Geistige  Kindschaft  89—92. 

Gesetz  für  die  Liebe  in  verschiede- 
nen Staaten  54 — 56. 

Giganten  65. 

Glaukon  43. 

Glaukon  [Vater  des  Charmides]  106. 

Glück  [Eudaimonia]  83. 

Gomperz  [29.  39.  111].  a7. 

Gorgias  75.  [15].  a  75. 

Gorgo  75. 

Göthe  [25.  33.  109].  a  29.  a  52 
a83. 

Gutes  und  Schönes  79. 83.  [16].  a  16 

Hades  52.  68. 

Hahn  (Johann  Georg    [29]. 

Hamann  [33].  a40. 

Harmodios  55. 

Harmonie  a61. 

Heilkunde  60. 

Hektor  52. 

Hephäst  67.  73. 

Herakles  49. 

Heraklit  61.  a61. 

Herder  [33],  a29. 

Hesiod  50.  71.  89. 

Himmelskunde  62. 

Hipparch  a55. 

Homer  45.  52.  65.  71.  75.  89.  95. 

al05. 
Horaz  a61. 
Hyakinthos  a29. 


Jahrbuch  für  die  geistige   Bewe- 
gung [112]. 
Japetos  71. 

Ideeulehre  91.  92.  [20J. 
Indirekte  Rede  [118]. 
Insel  der  Seligen  52. 
lonien  55. 

Kant  [33].  a40. 

Kassner  [118]. 

Knabenüebe  54.  [21  u.  f.].  a29. 

Albanesen  [29]. 
K.  und  Philosophie  57—58. 
K.  und  Staatsleben  67. 

Goethe  [25].  a29. 

Herder  a29. 
Kodros  88. 
Komödie  108.  [41]. 
Kritobulos  [23]. 
Kriton  a43. 
Kronos  71 
Kydathen  a44. 

Laches  104. 

Lakedäraon  55.  68.  89.  a28. 

Lautenspieler  52.  [15]. 

Lehrs  [119]. 

Lemgo-Übersetzung  [118], 

Lobrede  75—76. 

Logik  [16].  a  16. 

Lykeion  108. 

Lykurg  89. 

Lysipp  a74. 

Mannweibliches  Geschlecht  64. 

Mantinea  79. 

Mantik  s.  u.  Seherkunde. 

Marsyas  97. 

Menelaos  45. 

Moira  85.  a85. 

MüUer,  Emü  [119]. 

Musen  73. 

Musik  61.  84.  [15].  a97. 

Mysterien  [Geheimdienst]  90.  [19. 

20]. 
Mystische  Schau  90—92. 
Mythen.    Gastmahl  [1  u.  f.  35]. 

Zweiteilung  der  Menschen  64  u.  f. 

Erzeugung  des  Eros  81. 


132 


Register 


Natorp  [112]. 
Nestor  105. 
Nietzsche  [119].  a26. 

Öagros  52. 
Olympos  97. 
Orpheus  52. 
Otos  65. 

Panisken  a83. 

Parmenides  50.  7L 

Pater  [lllj. 

Patroklos  52.  88. 

Paulus  [14].  al4. 

Pausanias.    Zuerst  47.  [7  u.  f.]. 

Pelias  51. 

Perikles  97.  105. 

Phädros.    Zuerst  48.  [4.  5  u.  f.]. 

ODialog)  [25].  a38.  a40. 
Philippos  43. 
Phönix  48. 
Polymnia  61. 
Potidäa  108. 
Praxiteles  a74. 
Prodikos  49.  [13]. 
Protagoras  [13]. 

Rausch  48.  93. 
Rhythmus  61. 
Ritter  [112].  a38. 
Rohde  [lllj. 
Romantik  [14]. 
Ruhmsucht  88. 

Satyrdrama  106. 
Satyren  97.  a96. 
Schlangenbiß  100. 
Schöpfung  (Poiesis)  73.  84. 
Schleiermacher  [12.  119.  US]. 
Seherkunde  62.  81. 
Silenen  96.  a96. 
Sirenen  98. 

Sitt^.n  der  Liebe  54—59. 
Sklaven  [Knaben]  46  s  46 


Sokrates. 
Zuerst  43.  [6  u.  f.].   Versonnen- 
heit 45—46.  108.  a  103.    Iro- 
nie [15]. 
KnabenUebe  94. 96.  99. 107.  [32]. 
S.  nie  berauscht  95.  103. 
Vergleich  mit  Marsyas  97.  98. 
„        „    Satyr  105. 
„        „    Silenen  96.   98. 
105. 
S.  und  Plato  [36  u.  f.]. 
Selon  89. 

Sophisten  49.  59.  [15].  89. 
Sophokles  a.  49. 
Staat  [86.  37].    (Dialog)  [25]. 
Symbolen  (Gegenstück)  66.  a66. 

Theater  47.  70. 
Thetis  52. 
Tragödie  108.  [41]. 
Tyrannis  55. 

Übersetzung  [118]. 
Unsterblichkeit  85.  90. 
Urania  (s.  auch  Aphrodite)  61. 
Uranos  53. 

Vorstellen  (Doxa)  80. 
Vasenbilder  a74.    Anm.  zum  Titel- 
bild. 

Das  Weibliche  [6. 18.  30—31].  a30. 
Weisheit.    Überleitung  der  Weis- 
heit auf  andere  47. 
Weissagung  81. 
Wiedererinnern  a87. 
Wilamowitz  [112].  a  38.  a96. 
Windelband  [112]. 
Wolters  [112].  a37. 

Xenophon  [22.  26.  29.  40]. 

Zeller  [12.  111.  118].  a3.  a5.  alO 
Zeus  53.  65.  73.  81. 
Zikaden  66   a66 


Katalog 

DER 

PHILOSOPHISCHEN 
BIBLIOTHEK 


Die  Philosophische  Bibliothek  ist  ein  wirklich  wundervolles  In- 
strument der  Forschung  und  der  Kultur,  um  das  alle  Nationen^  in 
denen  der  Geschmack  an  den  tiefsten  Problemen  des  Geistes  vorhanden 
oder  im  Erwachen  ist.  Deutschland  beneiden  müssen. 

La  Cultura  (Rom). 


Inhaltsübersicht. 

SeHc 

Nummernverzeichnis  der  Philosopliisclien  Bibliottiei( II 

I.  Aipliabetisches  Verzeichnis  der  Philosophischen  Bibliothek     1—20 

II.  Lehrbücher  der  Philosophischen  Bibliothek 21 

III.  Taschenausgaben  der  Philosophischen  Bibliothek      .    .    .    22/23 

IV.  Wissen  und  Forschen.  Schriften  zur  Einführung  i.d.  Philosophie    24 

V.  Neuere  philosophische  Einzelwerke       25—31 

VI.  Philosophische  Zeltfragen 32 

Liste  von  Sortimentsfirmen IV 


Die  in  diesem  Verzeichnis  angegebenen  Preise  sind  freibleibend.  —  Bei  Lieferung 
ins  Ausland  ist  jeder  deutsche  Buchhändler  verpflichtet,  die  Preise  gemäß  der  , »Ver- 
kaufsordnung für  das  Ausland"  in  fremde  Währung  umzurechnen. 

Leipzig,  30.  September  1921.  FELIX  MEINF.R. 

Postscheck  Leipzig  9886. 
Ausgabe  September  1921. 


f» 


Nummern  üb  ersieht  der 
Philosophischen  BibliotheK**. 


y 


y 


Bd.  Bd  Bd. 

1—5,  7—13.  Aristoteles.  97.           Orotius.  125. 

19.  Bacon  (vergr.).  98.            Krause.  126. 

20.  Berkeley.  99.            Bolzano.  127—132. 

21.  Bruno.  100.         Thomas  v.  Aquin.  133—135. 
M— 24.    Cicero.  102.          Berkeley.  136—139. 
25.           Condillac  (verirr.).  103.         Schiller.  140. 
2«— 29.    Descartes.  104.         Schelling.  141|142. 
31i33.       Orotius  (vergr.).  107/108.    Leibniz.  143. 
38/34.       Hegel.  109.         Goethe.  144. 
35/36.       Hume.  110/111,    Shaftesbury.  146. 
37—52.    Kant.  112.         Herder.  146. 
53/54.       DiogenesLafirtius.  113.         Cohenz.Kr.d.r.V.  147/148. 
55.           Brentano.  114.          Hegel.  149. 
56/57.       Hegel.  115.         Witasek  (S.  22).  150/153. 
65—66.    Kirchraaitn.  116.         Kaiser  Julian.  154 
68.           U  Mettri«.  117.         Schleiermacher.  155. 
69—71.    Leibniz.  119.         Lessing.  156. 
75-79.    Locke.  120.          Fichte-Schleier-  157/158. 
80—83.    Plato.                                         macher-Steffens.  159/160. 
84/85.       Schleiermacher.  121.          Lessing.  161/162. 
86/88.       Scotus  Eriugena.  122.          Wolff.  171. 
89/90.       Sextus  Empiricus.  123.          Humboldt.  172/182. 
91—96.    Spinoza.  124          Hegel. 

Die  Nummern  der  alten  Zählung  6,  14—18,  53-64,  72—74,  77^8,  97—101  enthielten 

Erläuterungen  Kirchmanns,  die  jetzt  allgemein  als  gänzlich  veraltet  angesehen  werden 
und  durch  die  Neubearbeitungen  überflüssig  geworden  sind.    Diese  Erläuterungshcffe 

wurden  deshalb  aus  der   «Philosophischen   Bibliothek"  ausgeschieden.    Die  so  frei- 
gewordenen Nummern  werden  allmählich  neubesetzt. 


Damaskios. 

Kants  Leben. 

Fichte. 

Schelling. 

Schleiermacher 

D'Alembert. 

Lotze. 

Berkeley. 

Hegel. 

Plato. 

Herbart. 

Plato. 

Berkeley. 

Plato. 

Ficinus. 

Comte. 

Berkeley. 

Hobbes. 

Plato. 

Leibniz. 

Hegel. 

Plato. 


Mit  dem  Erscheinen  dieses  Kataloges  verlieren  alle  früher  ge- 
maditen  Preisangaben  ihre  Gültigkeit.  Die  Preise  des  vorliegenden 
Verzeichnisses  werden  bis  31.  12.  21  nach  Möglichkeit  aufrecht- 
erhalten werden. 

Teuerungsaufschfag.  Mit  meinen  hauptsächlichsten  Abnehmern 
im  Gebiet  des  Deutschen  Reiches  habe  ich  als  Mitglied  der  „Arbeits- 
gemeinschaft wissenschaftlicher  Verleger«  ein  Abkommen  getroffen,  wo- 
nach diese  Firmen  sich  verpflichtet  haben,  auf  meine  Verkaufspreise 
Teuerungsaufschläge  nicht  mehr  zu  erheben. 

Ausstattung.  Nachdem  ich  bis  zum  Jahre  1919  daran  festgehalten 
hatte,  nur  holzfreies  Papier  zu  verwenden,  zwang  mich  die  starke 
Teuerung  jenes  Jahres  dazu,  von  dem  Grundsatze  abzugehen,  um  er- 
trägliche Vj^rkaufspreise  beibehalten  zu  können.  Lediglich  für  die  Gesamt- 
ausgaben im  Rahmen  der  „Philosophischen  Bibliothek"  wurden  kleine 
Auflagen  auf  holzfreiem  Papier  hergestellt,  die  aber  einzeln  nicht  abge- 
geben werden  können.  Nachdem  neuerdings  die  Anforderungen  an  die 
Ausstattung  wieder  gewachsen  sind,  gehe  ich,  trotz  der  großen  damit  ver- 
knüpften Opferwiederdazuüber,  durchweg  auf  holzfreiem  Papier 
zu  arucken,  so  daß  die  künftigen  Neuauflagen  und  Neuausgaben  wieder 
die  Vorkriegsausstattung  zeigen  werden.  Bei  den  Einbänden  habeich 
bei  der  Philosophischen  Bibliothek  immer  am  Halbleinenbande  fest- 
gehalten. Ich  beabsichtige,  jetzt  wenigstens  die  stärkeren  Bände  wieder  in 
Ganzleinen  binden  zu  lassen.  Neben  diesem  einfacheren  Einbände  habe 
ich  bei  einer  Reihe  von  Werken  und  insbesondere  bei  den  Gesamt- 
ausgaben einen  verwöhnteren  Ansprüchen  genügenden  Einband  hei 
gestellt,  bei  dem  neben  Verwendung  bester  Materialien,  insbesondere  au! 
eine  lebhaftere FarbigkeitWert  gelegt  wurde,  ohne  dabei  die  einem  wissen- 


schaMfWWMtfnie  gezogciitn  (jr«i/en  zu  um  iMurmen.  Mit  Lcinen- 
rücken  und  l.cincnfckt'ii  verbinden  sich  einfache  farbige  oder  modern- 
gemusterte Überzugpapicre  und  farbige  Titel-  und  Rückcnschilder  zu 
einem  ansprechenden  Ganzen.  Diese  Ausstattung  pflege  ich  ins- 
besondere auch  bei  den  in  Abteilung  5  verzeichneten  neueren  Werken 
lebender  Autoren,  bei  denen  die  während  des  Krieges  teilweise  ein- 
geführten Pappbände  jetzt  nicht  mehr  hergestellt  werden. 

Die  Preise  der  älteren  Verlagswerke  mußten  neuerdings  nochmals 
etwas  erhöht  werden.  Werke,  bei  denen  die  Vorräte  zu  linde  gehen, 
können  nicht  gut  billiger  abgegeben  werden,  als  zu  den  Selbstkosten 
eines  Neudruckes.  So  unwillkommen  mir  die  Erhöhung  der  Preise 
im  Hinblick  auf  die  gesunkene  Kaufkraft  ,  der  hau pl sächlichsten 
Abnehmer  ist,  so  bleibt  doch  zu  bedenken,  daß  unmöglich  verlangt 
werden  kann,  daß  Werke,  deren  Herstellung  s.  Zt.  in  Goldmark 
bezahlt  vioirde,  jetzt  für  den  gleichen  Nominalbetrag  in  Papier- 
mark abgegeben  werden  sollen,  deren  Kaufwert  vom  Reichsminister 
Dr.  Wirth  mit  lÖ  Pfg.  bemessen  wurde,  seitdem  aber  noch  weiter  zu- 
rückgegangen ist.  Die  Preise  der  Bände  der  Philosophischen  Bibliothek 
betrugen  vor  dem  Kriege  zwischen  15  und  30  Pfg.  pro  Druckbogen, 
während  der  Durchschnittspreis  jetzt  immerhin  erst  75  Pfg.  bis  M.  1.50 
beträgt.  Der  Verleger  muß  aus  dem  Verkauf  der  älteren  Bestände 
wenigstens  so  viel  erlösen,  daß  er  daraus  die  Kosten  der  neuen  Auf- 
lagen und  einer  mäßigen  Erweiterung  seiner  Verlagstätigkeit  bestreiten 
kann.  Tut  er  das  nicht,  so  ist  die  Folge,  daß  das  in  seinem  Betriebe 
angelegte  Kapital  sich  in  kurzer  Frist  verflüchtigt  und  so  nicht  nur 
er  selbst,  sondern  mittelbar  auch  die  Nation  schwere  wirtschaftliche 
Nachteile  erleidet. 

Bei    Lieferung   ins   hochvalutige  Ausland    treten   für   meine 
Verlagswerke  Preise  in  der  entsprechenden  Landeswährung  in  Kraft. 
Diese  Preise  errechnen  sich  im  allgemeinen  nach  folgendem  Schlüssel: 
100  Papiermark  =  (Dänemark)   25  Kronen  =    (Frank- 
reich) 50  Franken    ^    (Großbritannien    und    Kolonien) 
20  Schilling  =  (Holland)  12.50  Gulden  =  (Italien)  60  Lire 
=  Gapan)  4  U.  S.  Dollar  =  (Nordamerika)  4  Dollar  ==» 
^Norwegen)   25   Kronen    «=    (Schweden)  20  Kronen  = 
(Schweiz)  25  Franken   =   (Spanien)  25  Peseta.     (Nach 
Südamerika  100 '^/o  Aufschlag  auf   den  deutschen  Preis.) 

Diese  Umrechnung  soll  der  ständigen  Spannung  zwischen  dem 
Inlandskauf  wert  der  Mark  und  ihrer  Bewertung  am  Devisenmarkt 
Rechnung  tragen.  Die  Bücher  im  Ausland  sind  trotzdem  noch  billig 
genug.  Beispielsweise  kostete  im  Jahre  1913  Berkeley,  Abhandlung 
2  Goldrnark  od.  2,60  Schweizer  Franken,  dasselbe  Werk  heute  9  Papier- 
mark oder  1,80  Franken,  Man  kann  also  kaum  behaupten,  daß  die 
Verbreitung  deutscher  Wissenschaft  durch  die  Höhe  der  Auslands- 
preise beeinträchtigt  werde,  zumal  auch  bei  den  Neutralen  und  Sieger- 
staaten die  Bücher  gegen  früher  auf  etwa  den  doppelten  Preis  gestiegen 
sind.  Würde  die  Auslands -Verkaufsordnung  wegen  der  zeitweise  so 
lebhaft  betriebenen  Agitation  einer  kleinen  Gruppe  aufgehoben  werden, 
50  /ürde  der  Verzicht  auf  den  Valuta-Mehrerlös  den  deutschen  wissen- 
schaftlichen Verleger  zwingen,  seine  (mit  Rücksicht  auf  diese  Mehr- 
einnahmen niedriggehaltenen)  Inlandspreise  nochmals  um  mindestens 
25  —  SO^'o  zu  erhöhen. 

LEiPziG,  30.  Sept.  1921  Felix  Meiner