Im —
Politische Ethik
und
Chriſtentum.
ER Don
Ernft Troeltich
. Doktor u. 0. Profeffor der: Theologie in Heidelberg.
NET Zweites Tauſend.
Er Göttingen |
VvVandenhoeck und Ruprecht
* 1904.
GERMAN
Theology Library
SCHOOL OF THEOLOGY
AT CLAREMONT
California
IJ08z
Jen
Politifhe Ethik
und
Chriftentum.
Don
Ernſt Troeltſch
Doktor u. o. Profeſſor Theologie in Heidelberg.
Zweites Tauſend.
Göttingen
Vandenhoeck und Ruprecht
1994.
Theologe | ibrany
SCHOOL OE TH -OLDOH
ALCLAREM ONT
Cal ifornia
Vorbemerkung.
Der auf dem 15. Evangelifch-fozialen Kongreß in der Pfingftwoche
in Breslau gehaltene Vortrag erjcheint hier mit einigen Zufäßen unter
dem Titel „Politiiche Ethik und Chriftentum“. Ich Hatte urjprünglich
als Thema „Das demokratiſche Prinzip und die chriftliche Ethik“ vor-
geijlagen, weil mir gerade die ethilch-politiichen Forderungen der De—
mofratie und die Gegenjäbe dagegen den Kern des ethifch-politischen
Problems der Gegenwart zu bezeichnen jchienen. Bei der Durcharbei-
tung hat ſich dann das Thema zu der allgemeineren Frageftellung er-
weitert, die in dem jebt vorgejegten Titel zum Ausdrud fommt. Der
in der offiziellen Ankündigung gewählte Titel „Das Chriftentum und
die heutige Gejellichaft“ war von dem Breslauer Lofalfomitee veran-
laßt, dag einen jolchen harmloſen Titel den lofalen Verhältnifien ange-
‚mefjener erachtete.
Der Vortrag Handelt wejentlic) von politifcher Ethik und über-
ichreitet injofern nicht die Kompetenz des Verfaſſers. Freilich Tonnte
davon dann nur unter vielfacher Bezugnahme auf praftijch-politiiche
Probleme geredet werden, in denen der Verfaſſer durchaus nicht Fach—
mann ijt, aber von denen er doch foviel zu verjtehen meint, als der
gebildete und politifch intereffierte Mann im Allgemeinen davon über-
Haupt zu verjtehen pflegt. Es iſt dabei eine Pflicht der Aufrichtigfeit,
hervorzuheben, daß ſehr Vieles von den hier vorausgeſetzten oder er-
örterten praktiſch-politiſchen und ftaatsrechtlichen Anfichten ſich auf
meine Kollegen Mar Weber und Georg Sellinef zurücdführt. Für die
von mir gemachten Anwendungen find freilich die beiden Herren in feiner
Weiſe mit verantwortlich.
Die hier zu Grunde liegenden Anfchauungen über Religion und
Moral überhaupt, über das Weſen der Hriftlich-fittlichen Idee und über
die Gefchichte diefer Idee in der abendländischen Kultur find von mir
H341%
er
an anderem Ort begründet. Ic erlaube mir daher dieje Abhandlungen
hier al3 meine Grundlage und Vorausſetzung zu nennen: „Die Selbit-
ſtändigkeit der Religion“, Zeitjchrift f. Theol. u. Kirche 1895/96; „Grund⸗
probleme der Ethif“, Ebd. 1902; „Die wifjenjchaftlihe Lage und ihre
Anforderungen an die Theologie”, Tübingen 1900; „Die Abjolutheit
des ChHriftentums und die Neligionsgejchichte", Tübingen 1902; ferner
meine Artikel in der NReal-Encyklopädie für prot. Theologie. 3. Aufl.
über „Aufklärung“ und „Moraliſten, Engliſche“; fchließlich meine An—
zeigen in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen“ von Seeberg, Dogmen—
gejchichte Bd. IL, 1901; Hoennide, Altproteftantiiche Ethik, 1902;
Häring, Das chriftliche Leben, 1904.
Einen wichtigen Punkt Habe ich abjichtlich bei Seite gelaſſen, das
ift die amerikanische Demokratie. Teils habe ich davon zu geringe
Kenntnis, teil® wäre dag über dag Thema Hinausgegangen. Die
politiich=ethifchen Lehren, die aus ihr zu gewinnen find, bilden ein
Thema für fih. Hier möchte ich dazu nur fo viel bemerken, daß der
amerikaniſche Staat bei jo völlig anderen hiſtoriſchen Vorausſetzungen auch
eine andere Ethik Haben muß. Außerdem aber werden doch auch durch
die amerifanische Demokratie die hier entwicelten Anfichten kaum Hin-
fällig gemacht. Denn einerjeit3 erzeugt auch Amerika allmählich eine
Ariftofratie von felbjtgejchaffenen Autoritäten, andererſeits hat es in
jeiner puritanijchen Verehrung der Bibel eine Duelle Tonfervativ-arifto-
fratifcher Tugenden, die für den deutjchen Liberalismus und die deutjche
Demofratie völlig verfiegt ift oder nie gefloffen hat. Die leßtere bezog
eben ihr Ideenmaterial wejentlich aus dem franzöfiichen Radikalismus,
während die metaphyfiichen Unterlagen aller politiichen Ethik bei den
Angeljachjen ihren Zujammenhang mit dem Chriftentum viel ftärfer
gewahrt haben. Das aber begründet nnter den Gefichtspunften meines
Themas einen wejentlichen Unterjchied, der mehr für als gegen die hier
entwidelten Anfichten jpricht. Im übrigen verweife ich auf das eben
erichienene Buch von Miünjterberg „Die Amerikaner“.
Die Auffafjung von Staat und Gefellichaft fteht heute im Zeichen des
Realismus. Ethiſche und Fulturelle Ziele des Staates, mie fte die von
Kant, Fichte und Hegel erzogene Generation verehrte, gelten als doktri—
näre Kunftwerfe der Studirftube oder als abftrafte Prinzipienreiterei.
Auch juriftiiche Deduftionen des Staates und die Ableitung feiner Tätigkeit
oder Aufgaben aus feinem Nechtsbegriff find des gleichen Fehlers ver-
dächtig. Schon die Frage nad) dem Wefen des Staates fcheint nad)
Staat3-Metaphufif zu fchmeden. Uns ift der Staat vor allem ein Er-
zeugni3 der Macht, die im Kampfe menschlicher Intereſſen ich jo
oder jo bildet, und die GStaatleitung vor allem die Kunft, Die
jeweilige Lage Elug und raſch mit den ihr entfprechenden Mitteln zur Be-
hauptung und Ausbreitung der Staatsmacht zu benutzen. Der Staat ift
phyſiſche, intellektuelle und wirtfchaftliche Macht, die in dem großen Kampf
der Bölfer ums Dafein fich bildet, durch DOrganifation und Militär fich
befejtigt und durch eine rechtliche Theorie die tatjächliche Lage und ihre
Beherrihung ein für allemal in Regeln befeitig. Cr ift als Staat
genau jo viel wert, al er Macht Hat und nah innen und außen
zu verwenden veriteht. Die Geheimniffe der Politik find die Geheimnifje
der Kunſt, Macht zu bilden, zu befeftigen, auszubreiten, gegen drohende
Veränderung zu ſchützen, aber nicht die Geheimnifje einer Staatstheorie
und einer politiihen Ethif. Den Staatsmann bildet die ftarfe Herricher-
natur, die mit dem ſicheren Mactinftinft nur die nötige Kenntnis,
Umfiht und Ruhe zu verbinden braucht. Wie hat ung als junge Stu—
denten feiner Zeit das Herz geflopft, wenn und Heinrich v. Treitſchke
mit feiner glühenden Rhetorik fo den Staat befchrieb und die ethischen
und juriftiichen Doftrinäre des StaatSbegriffes mit wenig wähleriſchem
Spotte übergog! Mit einer Art Wolluft der Entjagung haben wir auf
die dem jugendlihen Sinn fo nahe Liegenden theoretiihen und ethiichen
Ideale verzichtet und mit dem nicht minder jugendlichen Bedürfnis, irgend
etwas gründlich zu verachten, Haben wir in unjeren Gefprächen jeinen
Spott noch zu überbieten gefucht.
Es find hauptjächlich zwei, unter fich jehr verſchiedene Urfachen, die
zu diefer realiftifchen Stimmung geführt haben. An erjter Stelle jteht
DIABETES
die politifche Erziehung durch Bismard. Über ihn Hinaus haben bis jebt
nur jehr wenige Deutſche politisch denken gelernt. Ihr Kern war gerade
der, daß das Wefen des Staates Macht ift, daß er fein feites Knochen—
gerüft hat an einem fchlagfertigen Heere, daß er der bejtändig dro—
henden Gefahr von außen und innen nur durch ebenjo vorfichtigen als
rückſichtsloſen Machtgebrauch begegnen kann, und daß hierfür nichts fo
hinderlich iſt wie die Prinzipien und die Theorie. Zu diefen Prinzipien
haben — das muß offen anerkannt werden — auch die ethifchen gehört.
Selbſtverſtändlich nicht die des Privatlebens, von dem jeine Privatbriefe
ein fo großartiges und herzerwärmendes Bild geben, wohl aber die des
öffentlichen Lebens. Er hat im Handeln und in feinem Programm die
vollendete Prinzipienlofigfeit betätigt; ethifhe Mächte und Grundſätze
bald benubt und zu Hülfe gerufen, bald bei Geite geworfen und ver—
höhnt. Es ift ein Ideal der Vorurteilslofigfeit und Unbefangenheit, das
alles nur dem einen politifchen Grundgedanken der dauernden, jedem
Gegner überlegenen Macht unterordnet. Und diefes Ideal ijt un nach
den langen Jahren politiichen Elends, theoretifcher Staatsideale, patheti=
fcher Nefolutionen und unfruchtbarer Forderungen der öffentlichen Zei—
tungsmeinung als der ungeheure Fortichritt erjchienen, der uns die erften
Lebenzbedingungen des Staat erjt zum Berjtändnis gebradt hat. Man
braucht nur Hermann Baumgartens „Selbftkritif des deutſchen Libera-
lismus“ zu Iejen, die er unmittelbar nach den Ereignifjen von 1866 im
den „Preußiichen Jahrbüchern“ veröffentlicht Hat. Da empfindet man,
wie der doftrinäre Idealismus die Macht des Tatfächlichen und Politiſch—
Nealen zu begreifen begann. Heute ift die von jener Generation mit
ſchwerem Herzen erfannte Wahrheit zur billigen Selbftverjtändlichkeit ge-
worden. Wir glauben mit unferer Prinzipienlofigkeit hoch über jener
Generation zu ftehen. Sie ift unter uns felbft zur Theorie geworden,
die wir wohl auch mit etwas Niebfchefcher Herrenmoral oder Darwinifti-
ſchem Kampf ums Dafein verfegen, und die ſich nur allzu Yeicht mit den
Idealen der Eurzangebundenen Schneidigfeit oder der bureaufratiichen
Amtshoheit verbinden, von denen der Nachwuchs der regierenden Klaſſen
weithin erfüllt ift.
Bon einer andern Seite her hat uns das gleiche die fog. materiali=
ſtiſche Geſchichtstheorie gelehrt, die ja mit dem eigentlichen theoretifchen
Materialismus nichts zu tun hat. Sie lehrt vielmehr nur, daß die eigent-
lich treibende Gewalt der menfchlichen Dinge der phyſiſche Selbft-
behauptungs⸗ und Nahrungstrieb ift, daß aus den wirtfchaftlichen Lagen
und Kämpfen alle Gebilde der Kultur hervorgehen, und daß auch der
EEE
Staat nur das Werk wirtſchaftlicher Mächte if. Nach einem befannten
Wort ift die Gejchichte der Kampf um die Futtermenge und den Zutter-
pla und find alle Lehren und Theorien nur Spiegelungen twirtfchaft-
licher Lagen, alle Staatzbildungen nur Werkzeuge herrſchender Klaſſen
und alle Staatsummälzungen nur das Auffteigen anderer. Alle Staats—
theorien find nur Verhüllungen dieſes Sachverhaltes, und alle politifche
Ethik it nur ein Kampfmittel, mit dem jede Klaffe ihre Forderungen
ibealifiert. Hier ift nun auch erfannt, weshalb der Staat Macht fein
muß und gar nicht anders fann. Im Kampf ums Dafein behauptet fich
nur die gejteigerte und rückſichtsloſe Kraft, die die eigene Kraft vermehrt
durch die Aufſaugung aller, die fie zertreten hat, und die nur um den
Preis ihres Untergangs fi von Sentimentalitäten und allgemeinen Prin—
zipien anmwandeln lafjen darf. Jede allgemeine Theorie der Politit und
Betrachtung der Geſellſchaftszuſtände kann daher nur eine Abwägung
der vorhandenen Tendenzen fein, welche wirtichaftlich tiefer und kräftiger
begründet ift, welche die Ausfichten der Entwicklung für ſich hat, und
fann dementjprechend nur einen Ausgleich der Intereſſen verjuchen oder,
wenn das nicht mehr möglich ift, opfern, was unhaltbar geworden ift.
Es ift num nicht daran zu denken die Wahrheiten preiszugeben, die
wir beiden Erziehungen verdanten. Wir haben durch ſie die elementarfte
Lebensbedingung des Staats veritehen lernen, und wir haben erfannt,
wie der wirtichaftliche Untergrund unfere® Dafeins bis in die feinften
Berzweigungen politifcher Ideen und Smftitutionen, ja bis in die Ge—
ftaltungen der geiftigen Kultur felbft hineinreicht. Das unpolitifche vor—
märzliche und das doftrinäre nachmärzliche Deutfchland dankt diejen Er-
fenntnifjen zweifellos die Anfänge feiner politifchen Erziehung, und dieſe
Gedanken müfjen mit ihrem wirklichen Ernft uns noch viel mehr in Fleiſch und
Blut übergehen als das bisher der Fall ift. Nur freilich war das eine Er-
ziehung, die gerade uns in unferer Lage, den Kindern der Kleinftaaterei und
der äfthetifch-philofophifchen Epoche, befonders not tat. Eben damit ift aber
auch gejagt, daß e3 nur eine unferer politischen Unbildung befonders nötige
Wahrheit war, daß e3 aber eine Einfeitigfeit und nicht die ganze Wahrheit
war. Nur fo lange ein Staat die Grundlagen feiner Erijtenz erkämpft, ift
der Machtgedanfe der alles beherrjchende. Iſt die Macht errungen, jo ift
neben der Sorge um ihre Erhaltung und Befeftigung doch auch immer
die Frage, wozu ein machtvoller Staat dient und wie er diefe Macht
gebrauchen fol. Die Macht ift die grundlegende Lebensbedingung des
Staates, aber nicht fein ganzes Leben ſelbſt. Und die Antwort, daß
diefe Macht lediglich dem wirtfchaftlichen Gefamtintereffe, dem Ausgleich
BEN
in den Kämpfen twirtfchaftlicher Parteien oder gar der wirtichaftlichen
Selbſtſucht vegierender Klaſſen diene, dies widerſpricht doch zu jehr
allem, was wir an geiftigen und fittlichen Werten mit dem Gedanken des
Staates verbinden. Wir jehen wohl die ungeheure Wichtigfeit der Be—
völferungs- und Ernährungsfrage und den Zufammenhang der Parteien
mit Klaffeninterefien, aber wir empfinden doch auch, daß der Staat
für uns nur dann Wert und Intereſſe hat, wenn er zugleich die
Güter des geiftigen Lebens ſchützt, fürdert und verwaltet. Wohl
müffen wir erft leben können; aber wenn wir erft leben, jo leben wir
nicht um ver bloßen phyſiſchen Eriftenz willen, jondern für Gedanken
und Ideale. Sie aber müfjen dem Staat feinen lebten Sinn und Wert
geben; fonft müßte uns der Staat mit allen feinen Kämpfen nur ein
Zeichen der überreizten Lebensenergie der europäischen Raſſe und die buddhi—
ftiihe Ruhe und Kontemplation der natürlichere und gejundere Zuftand
zu jein fcheinen.
Aller Realismus der Politif fann eine Ethif der Politik nicht aus—
Tchließen und nicht überflüflig machen. Wir find in Gefahr, die neue
Erfenntnis uns über den Kopf wachſen zu laſſen und aus dem prinzip-
und theoriefreien Machtftaate des wirtichaftlichen Egoismus ſelbſt eine
Theorie zu machen. Der viel reichere Inhalt des Staates muß ung
wieder zu Bewußtjein fommen und damit auch die Forderung, daß der
Machtbeſitz und die Machtverwendung des Staates von der unvertilg-
baren fittlichen Idee nach Möglichkeit beitimmt werden muß.
ragen wir aber nach einer Ethik der Politik, fo find wir an die
ethischen Kräfte und Überzeugungen gewiefen, die tatfächlich unter ung
vorhanden find. Wie fein Staat jemals Yediglih vom Machtinftinft ge-
baut und Lediglich vom wirtichaftlichen Intereſſe geformt worden ift, jo
it ja auch heute der politiiche Kampf und das politifche Denken immer
noch zugleich mitbeftimmt durch Ideenmächte, durch fittliche Auffaffungen vom
Staat und fittliche Forderungen an den Staat. Sie find es nur nicht
allein und find es nicht in erfter Linie, die den Staat bauen und er-
Halten. Wohl aber fegen fie auf dem maffiven Unterbau der elementaren
Inſtinkte und Bebürfniffe ein und errichten fie darüber einen Oberbau,
der in letzter Linie felbft erft die feſte Klammer um den Unterbau fchlingt,
die ihn davor ſchützen, von denfelben Inſtinkten zerriffen zu merden, die
ihn gebaut Haben. Unfere erfte Frage ift daher: melches find die ethi-
ihen Gedanken, die Heute in unferem Volke über den Staat gedacht werden
und die der Staatägefinnung das feite Metall einer idealen Ueberzeugung
geben fünnen?
Es ſind vier Gruppen, die wir bei einer ſolchen Umſchau er—
blicken: die Ethik des Lediglich der freien Kultur dienenden Rechtsſtaates,
die rein nationaliftifche Ethik der VBaterlandgliebe, die Ethik der Demo-
fratie und die des Konſervatismus.
Am kürzeſten Tann ich mich über die erfte Gruppe fallen. Es
it diejenige Lehre, die den Staat als Mittel und Vorausſetzung der gei=
figen Kultur anſieht. Es ift die Lehre, wie fie auf der Höhe unferer
äfthetifhen Kultur von dem jungen Wild. v. Humboldt in feiner gegen
Dalbergs Bielregiererei gerichteten Abhandlung ausgefprochen wurde, wie
fie zuſammen mit der Denk- und PVreßfreiheit von Männern der Geiftes-
bildung je und je gefordert worden ift, und wie fie heute Unzäh-
ligen, vor allem den Trägern einer äfthetifchen Bildung, als ſelbſtver—
ftändlich erfcheint. Im der modernen Geftalt diefer Theorie bedeutet fie
die möglichite Einſchränkung des Staates auf die Aufrechterhaltung der
Ordnung und des wirtfchaftlichen Gedeihens, ſoweit er etwas dafür tun
kann. Mit alledem foll er nichts Schaffen als die Unterlage und den
Schuß der geiftigen Kultur, die ohne Staatsordnung unmöglich ift; nicht
mehr und nicht weniger. Er foll die Freiheit geben, in der ein reiches
und harmonifches geiftiges Leben erwachſen fanır, aber jelbft fich in dieſes
nicht mischen. Es ift der Liberalismus Locefcher Prägung, der von den
Puritanerfänpfen um die Freiheit der Religion vom Staatszwang aus—
ging und die Freiheit der Aultur vom Staate zugleich mit ihrer Förde-
rung dur den Staat zum Prinzip machte. Es iſt die Liberale Staats—
auffaſſung im Sinne der liberalen Bildung, mit der der heutige bürger-
liche Liberalismus von demokratischer und Rouſſeauſcher Tendenz nur
mehr durch das Mißtrauen gegen eine allzu ftarfe Staatsgewalt zu-
jammenhängt. Wir find dem Bauber diejes Gedanken heute zu ſehr
entrücdt, als daß mir feine relative Wahrheit noch ganz jo empfänden, wie
wir müßten. Wir dürfen uns durch ihn allerdings immer wieder daran
mahnen Yafjen, daß unfere ſchwer errungene Geiftezfreiheit und Yitera-
riſche Kultur eines unferer höchſten Güter bildet, und daß dag Zeitalter
Goethes für uns nicht bloß die politifche Kinderſtube, fondern die jchönfte
Sugenderinnerung bildet, aus der wir unferen Idealismus immer neu
beleben. Allein eine politifche Ethik bringt diefer Gedanfe nicht hervor.
Er lehrt ung nur, daß wir den neuen Erwerb nicht den Feind des alten
werden Yafien, das eine Gut nicht über dem andern vernachläffigen dürfen.
Aber über den fittlichen Wert des Staats, über die fittliche Regelung der
Staatsgefinnung ſelbſt, jagt er uns nichts. Er betrachtet ihn wie ein
notwendiges Übel oder wie einen äußerlihen Schugapparat, der feinen
SEAT
ethifchen Gedanken in fich felber trägt. Und eben weil eine wirkliche
ethifche Verbindung zwiſchen beiden nicht bejteht, Elaffen fie auch immer
wieder auseinander. Der Staat ift mit wefentlich politifchen und fozialen Pro—
blemen bejchäftigt, die mit diefer geiftigen Kultur nur jehr indirekt zu tun
haben und die daher oft genug dieſe Kultur begraben und verfchlingen oder
auf die Seite drängen. Dft muß er in feinem Kampfe um die Eriftenz ſogar
al das opfern. Können wir die Schiffe, die ung für eine Weltkrifis unent-
behrlich find, nicht anders befommen als durch ein Bündnis mit dem Papſt,
fo muß diefem Bündnis eben ein Stück deutſcher Bildung nach dem andern ge—
opfert werden. Andererfeits ift die geiftige Kultur verhältnismäßig unabhängig
vom Staat, wenigſtens vom eigenen Staat. Sie fann auch unter der Fremd=-
herrichaft gedeihen. Das Stalien der Nenaiffance jtand zum guten Teil
unter direfter oder indirefter Sremdherrfchaft, zum mindeften auf einem
politisch ganz und gar nicht gefeftigten Boden. Wären wir 1806 eine Provinz
Frankreichs geworden, Wifjenihaft und Kunſt Deutichlandg wären ſchwer—
ich gehaltlofer geworden. Ein Helmholg und Mommfen, ein Richard
Wagner und Mar Klinger wären auch in einem unter franzöfiicher Lei—
tung jtehenden Rheinbundftaate möglich gewefen. Eben deshalb gewährt
die größere Kultur auch nicht die mindefte politifhe Gefinnung, trägt
feinerlei ethiichen Wert in die ftaatlichen Inſtitutionen und Rechte jelbft
hinein. Die völlige politifche Indolenz und Rraftlofigfeit unjeres heu—
tigen Üfthetentums legt davon Zeugnis genug ab. Und alles in allen
it eben die geiftige Kultur überhaupt Fein fittliher Wert von
endgiltig entjcheidender Bedeutung, für das Leben überhaupt nicht und
am wenigſten für die Politik. Wohl trägt fie zur Vertiefung und Be-
veicherung, zur Harmonifierung und Sittigung des menjchlichen Lebens
wejentliches bei und verlangt fie jelbftverleugnende Urbeit, aber es bleibt
in ihr doch das geiftige Ariftofratentum, das von dem politifchen Ariſto⸗
kratentum mit ſeiner Fürſorge über ganze Bevölkerungskreiſe und mit
ſeiner ſtarken politiſchen Leiſtung ſo grundverſchieden iſt durch ſeine ganz
individuelle Sonderſtellung und feine völlige Unfruchtbarkeit in allen
Fragen des menſchlichen Gemeinſchaftslebens. Es ift der Ariftofratismug,
der Taujende pflügen, fäen, ſchwitzen läßt, damit einige wenige dichten
und forihen fünnen, und von dem Kant durch Rouſſeau geheilt worden
zu fein mit tiefer fittlicher Überzeugung befennt. Eine politiiche Ethik
muß viel tiefer im eigentlichen Weſen des Staates jelbft ihren Halt
haben.
; Größere Bedeutung kommt dem reinen Nationalismus zu. Es
ift die ethische Gefinnung Zahlloſer, denen die Religion feine ernite Rea=
RER
lität mehr ift und die ihr Feines Ich doch an eine große Sache hingeben
wollen. Die Vaterlandsliebe als die Hingabe des Einzelnen an die Ehre
des Ganzen ift ihr großes ethifches Pathos. Und zwar handelt es ſich
hierbei beſonders um den Gedanken der Gemeinſchaftsehre, die das per—
ſönliche Ehrgefühl zum kollektiven Ehrgefühl werden läßt und aus dieſem
Ehrgefühl die Beziehungen des Einzelnen zum Ganzen regelt. „Nichts—
würdig ift die Nation, die nicht ihr Alles febt an ihre Ehre“. Das-
ruft alle Kräfte ftolzer und ftarfer Männlichkeit auf, das bindet jeden an
die Inſtitutionen des Ganzen, das begeiftert zu jedem Opfer. Angeſehen
und geehrt will die Nation nach außen ſein und läßt im Innern jeden
Bürger erhöht und geadelt werden durch die Teilnahme an dieſem Ganzen,
das in der Welt ſeinen Mann ſteht. Der Bürger lebt für eine Idee, die Idee
der Ehre, die an unſeren Fahnen haftet, die von unſeren Inſtitutionen
und von unſeren Schiffen und Kanonen getragen wird. Von hier aus
kann äußere und innere Politik ethifch beurteilt werden. Es muß unbe-
dingt alles gejchehen, was nach außen den Staat behauptet und ihn vor
Demütigungen jchügt, und was nah innen ihm die für die Selbftbe-
Hauptung nötige Gliederung gibt. Bon diefem Ziel aus verlangen die Reſte
der ächten nationalliberalen Bartei immer wieder die Begrabung der innern.
großen wirtjchaftlichen Differenzen um der Einheit und Gefchloffenheit:
feiner noch immer bedrohten Existenz willen. Von dem gleichen Biel aus
fordert Naumann, deſſen Politik weniger demokratiſch oder gar fozialiftifch-
als nationaliſtiſch mit einem jtarfen Zuſatz des Mitgefühls für die auf-
ftrebenden Stände ift, die Opferung der Klafjen, welche der Selbftbe--
hauptung einer zur induftrialiftiichen Mafje werdenden Nation unabänder-
ih im Wege ftehen. Won diefem Gedanken aus vevolutionieren die All—
deutihen die Landkarten Europas und verkünden politiihe Träumer eine
Raſſen- und Nationalitätsbegeifterung, die über den bloßen Kollektiv—
Egoismus ſich nur durch den Gedanken der perjönliche Opfer erfordernden:
Gemeinjchaftsehre erheben. Und e3 fann feine Frage fein, daß hier ein.
Prinzip wirkliher und unmittelbarer politifcher Ethik vorliegt. Es ift
das nächftliegende, elementarfte und ftärfite Prinzip politiiher Ethik.
Was Zwang und Zufall, Lage und Verhältniffe, natürliche Vermandtichaft
und Kampf ums Dafein gejchaffen haben, das erfaßt fich als Bewußtſeins—
und Gefühlseinheit, ordnet das Individuum der Idee des Ganzen unter
und entwicelt in diefer Unterordnung das Chrgefühl, da allen die ge—
meinfame Exiſtenz als eine große Ehrenangelegenheit erjcheinen läßt und
auch drückende Verhältniffe und innere Difjonanzen um defjen willen er-
träglich macht. Im Staatsgefühl hat der Menjch niemand über fich zu
PERS —
fürchten als allenfalls Gott, und in dieſer Unberührbarkeit empfindet er
einen vom Egoismus unterſchiedenen Wert, weil ſie nicht vom einzelnen
Individuum ſondern vom Ganzen gilt und weil ſie nur durch ſtarke
Selbſtzucht und perſönliche Unterwerfung möglich iſt. In dieſem Staats—
gefühl erſt wird ein Staat zur Nation, wobei es ihn freilich unterſtützt, wenn
die Nation auch ſprachlich und anthropologiſch einheitlich iſt, und erſt als
ſolche politiſch empfindende Nation hat der Staat einen ethiſchen Wert
erlangt. Bei ſteigender Kraft und Bevölkerung eroberiſch und vordrin—
dringend, bei geſättigtem Zuſtand und begrenzter Exiſtenzmöglichkeit ruhig
und ſtandfeſt, immer empfindet er ſich als ſittlichen Wert und als ſittliches
Sollen, das er mit dem ganzen Pathos moraliſcher Empfindung geltend machen
kann und oft genug geltend macht. Aber trotz allem kann dieſer Nationalitäts-
gedanfe doch unmöglich das letzte Wort einer politifchen Ethik fein. Dagegen
Spricht jchon der ganze grauenvolle Nationalitätenjchwindel, der in einer
Miihung romantischer Ideen vom Volksgeiſte und demokratiſcher Auf-
wedung der Mafjen die europäifchen Bölfer und Völkchen ergriffen hat
und gegen einander mit einem finnlofen Dünfel aufhetzt. Wir laffen den
Nationalitätsgedanken nur für die großen Nationen gelten und jehen
ihn bei den andern wie eine Kinderfranfheit an. Aber warum nur bei
den großen Nationen? Doch wohl nur, weil diefe außer dem geſtei—
gerten Ehrgefühl noch etwas anderes haben, was nicht bloß mit der
‚größeren Zahl gegeben ift. Aber was ijt dies andere? Man pflegt zu
Sagen, die von großen Nationen getragene geiftige Kultur. Allein deren
Verhältnis zum Staat ift, wie wir gefehen haben, locker, und eine pofi-
tiſche Ethik begründet fie nicht. Wiſſenſchaft und Kunft hängen wohl
an Zahl und Ausbreitung eines Volkes, an der Größe des Nejonanz-
bodens und der Auslefe der Talente aus einer großen Maſſe. Aber
diefe Mafje braucht nicht ftaatlich geeinigt und nicht politifch ftarf orga-
nifiert zu fein. Der ethifche Wert eines Staates kann daher nie bloß im
Nationalismus al folchen, aber auch nie bloß in der Größe der nationa-
liſtiſch zu organifierenden Mafje liegen. Er muß, ob der Staat groß oder
klein fei, überdies auch noch in dem Geift der politifchen Inftitutionen ſelbſt,
in den die Organifation durchdringenden ethischen Gedanken, Liegen. Die
Heine Schweiz, deren geiftige Kultur deutsch oder franzöſiſch ift, hat einen
hohen ethifch-politiihen Wert, die große Türkei, der e3 an Nationalismus
nicht fehlt, gar feinen, und das ehemalige Heinftaatliche Deutschland, dem
es an hoher Kultur nicht fehlte, nicht viel mehr.
Ethifch-politifche Prinzipien, die in das innere Gefüge der ftaatlichen
Inſtitutionen eingedrungen find und die es nach politifchen und doch zus
ea
gleich ethiſchen Idealen beurteilen und geftalten Iehren, die daher dem
Staat, ob groß oder klein, einen inneren ethifchen Wert geben, find nur
die Demokratie und der Konfervatismus.
Das demofratifche Prinzip fommt hierbei ala ethifches Prinzip
der Staatsgeftaltung und Staatsauffafjung überhaupt, nicht als das einer
Partei in Betracht, für die es nur ein Dedmantel oder eine Waffe ihrer
Intereſſen wäre. Wohl mag e3 überall: erft aus beftimmten Bevölke—
rungs- und Wirtichaftszuftänden hervorgehen, aber das ift nur feine
Entjtehungsweife, nicht fein Weſen. An fich bezieht es ſich auf den
Staat als folhen und als Ganzes. Wo es im Klaſſenkampfe entfteht
und dem Plebejertum oder dem Proletariertum als Waffe gegen herr:
ihende Schichten dient, da ift es doch immer eine moralifche Waffe,
deren Wert darin liegt, daß auch von der Gegenfeite dieſes Prinzip an-
erfannt werden müßte und oft genug anerfannt wird. Die Identifizirung
von Demokratie und proletarifcher Maſſe ift nur eine falfche Denkge—
mwöhnung, die aus diefen Verhältniſſen entjteht. An fich ift e& geradezu
die Aufhebung des Klafjenfampfes und feinem Ideal nach der foziale
Friede. Nennt fih die aufftrebende Schicht vorzugsweife Demokratie und
wird fie auch) von der herrſchenden fo genannt, jo gejchieht das doch nur,
weil fie die Trägerin eines Prinzips ift, das den Klaſſenkampf ſelbſt zu
überwinden beftimmt if. So leicht in der Praris der Broletarierhaß
oder der Plebejerehrgeiz mit ihr identisch werden mag, im Weſen des
Gedanfens Liegt er nit. Der Gedanke jelbft ift ein ethischer, es ift
der große Gedanke der Menfhenrehte Die Menfchenrechte be-
deuten das fittliche Necht der Perjönlichkeit, einen eigenen jelbftändigen
Wert für ſich jelbft darzuftellen, oder, wie Kant es formulierte, das
Recht, nie bloß als Mittel, fondern immer auch als Selbitzwed in Be—
tracht zu fommen. Und zwar gilt das Recht von jedem, der Menjchen-
antlig trägt, nicht bloß von den durch zufällige Gunft der Umstände
Rultivierten, Befißenden und Herrichenden, fondern auch von den zahl»
loſen Kindern der dunklen Mafje, die unaufhörlih aus dem Schoße
menjhliher Mütter geboren werden und ohne deren Arbeit es feine
Bildung, feinen Befig und feine Herrichaft gäbe. Sie alle tragen den.
Marſchallſtab der Perfönlichkeit im Torniſter. Das erwedt alle ethiſchen
Gefühle der Selbſtachtung bei dem Einzelnen und ruft alle ethifchen Ge—
fühle der Gerechtigkeit und der Sympathie in der Gemeinjchaft auf. Die
Erklärung der Menfchenrechte in der amerikanischen und der franzöfiichen
Berfaffung ift daher, wie eine der folgenreichjten, fo auch eine der ethiſch
bedeutjamften Taten der neueren Gefchichte.
Es ift ein rein ethifches Prinzip, aber diefes ethische Prinzip ift zu—
gleich einer politifhen Anwendung größten Stiles fähig, Man kann
fagen: alles was in Staat und Gejellichaft modern ift, hat, ſoweit es
einer ethifchen Beurteilung unterfteht, Hierin feine Wurzeln. Iſt doch
von der Demokratie auch die Frau aus den uralten Fefjeln des abjoluten
Männerftaates und Männerrechtes nicht bloß zu ſelbſtändiger Perſönlich—
feit, fondern auch zu der ihr angemefjenen öffentlichen Betätigung befreit
worden. Das Prinzip fordert politifch zwei Dinge, erftlich die Bildung
der Organe der Staatsmacht in einer Weife, daß dabei die Mitwirkung
und die Mitverantwortung der Einzelperfönlichfeit nad) Möglichkeit zur
Geltung kommt; zweitens dementjprechend auch die Yafjung des Staats—
zweckes als einer möglichit gleichen Beteiligung der Einzelperfünlichfeit an
den vom Staat zu vermittelnden Lebensgütern materieller und geijtiger
Art. Die Löfung beider Probleme bietet natürlich eine große Zahl
praftifch-technifcher Schwierigkeiten. Das erjtere hat fich bis jetzt nur auf
dem Wege der Barteibildung und der Majoritätsherrichaft Höfen Lafjen,
und, da dieſes Prinzip notwendig zur Zwei-Parteien-Theorie führt, To
find die eigentlich demofratifchen Ideale nur bedingt erfüllt worden.
Immerhin kann doch in alledem der Geift der Freiheit und der Mit-
verantwortung tätig fein. Auch die Verwirklichung des Staatszweckes
bietet ftarfe technische Schtwierigfeiten, indem die gleiche Beteiligung an
den Gütern doch immer im Verhältnis zur Leiftung und Arbeit des Ein-
zelnen jtehen muß, und indem möglichite Ausgleihung der Befig- und
Bildungsunterfchiede nicht fo Leicht herbeizuführen if. Aber, tie viel
‚oder wenig gelingen mag, es waltet doch das deal einer neidlofen Ge-
rechtigfeit und einer möglichjt der wirklichen Leiftung entiprechenden Ver—
«teilung.
Sndem das demokratiſch-ethiſche Prinzip jo zugleich ein politisches
"Prinzip ift, ift e8 aber damit auch ein nationales. Die Demokratie
‚verfennt nicht, daß auf abjehbare Beiten die Menjchheit durch Abftammung,
‚Sprache, Wirtichaftzlage, geſchichtliche Verhältniſſe in nationale Gruppen
‚geteilt wird, und fie denkt zunächft nur daran, die eigene Nation, nach—
dem fie die Kraft und Macht politifcher Eriftenz erworben, nach dieſem
Ideal zu gejtalten. Aber fie weiß, daß das einzelne Volk ſich damit
vieler Machtmittel begibt, die es vor der demofratifchen Ara hatte, und
auf die e& nur verzichten Tann, wenn die anderen Nationen ſich auf der
gleichen Grundlage einrichten. Daher ſtammt die demofratifche Idee
‚der Äußeren Politik, ein internationaler Wölferbund demokratischer
‚Staaten und fchiedsgerichtliche Austragung aller Gegenfäge. Denn e3 gilt
EHRE
ja auch von der VBölfergemeinfchaft das Perſönlichkeitsprinzip wie von der
Einzelgemeinihaft. Auf gegenfeitige Achtung und Beteiligung der Einzel-
nationen am Weltverfehr begründet, bedarf die Welt der rohen Menſchen—
Ichlächterei und der ausgeffügelten Mörderfünfte des Krieges nicht mehr,
der ja geradezu nur aus der Mißachtung der menfchlichen Perfönlichkeit
hervorgeht. Die an fich nüßliche erzieherifche Wirkung des Krieges ift, wie
auch ſchon Kant meinte, durch Körperübung, wagemutige Kulturarbeit und
Berteidigungsmiliz zu erjeben. Auch Hört dann natürlich alle aus—
beuterifche Kolonialpolitif auf und wird auch das Menfchenrecht der
fremden Rafjen in friedlicher Kolonifation gewahrt. Das alles aber ift
feine prinzipielle Snternationalität oder Vaterlandsloſigkeit, wie es oft miß-
veritanden wird. Der Schein entfteht nur dadurch, daß bei der heutigen
Lage die Demokraten aller Länder die Intereſſengemeinſchaft gegenüber
den regierenden undemofratiichen Gemwalten empfinden. Auch braucht das
nicht eine Utopie idealiftiicher Schwärmer zu fein. Wie die Demokratie
in der Konftruftion der Machtorgane und in der Handhabung der Staat3-
zwede Kompromifje mit den praftiichen Schwierigkeiten fchließen kann und
muß, jo fönnte fie auch in der Nationalitätsfrage, da ein Staat doch
erit leben muß, Kompromiffe mit den vealiftifchen Lebensbedingungen
der Staatsmacht ſchließen. Es ift eine Eigentümlichkeit nur der deutſchen
Demokratie, daß fie Lediglich die Theorie und das Zukunftsideal in Agi-
tationen, PBarlamentsreden und Parteiprogrammen feiert und darüber den
Staat zu Grunde gehen Yäßt, auf den fie das Ideal anwenden will.
Auch iſt Hierbei fein prinzipieller Unterfchied zwiſchen der bürger-
Yihen und der fozialen oder proletarifchen Demokratie. Sie unterjcheiden
fi nur duch das Weſen der in ihren Gefichtöfreis fallenden Mafjen
und durch die Mittel der Durchführung. Im Geſichtskreis der bürger-
lichen Demokratie ftand der gebildete und wirtjchaftlich tätige Mittelftand.
Ihm follte die Eröffnung der Nechtögleichheit und der freien Kon-
kurrenz von ſelbſt durch den gegenfeitigen Ausgleich der Intereſſen den
Spealftaat in den Schoß werfen. Im Gefichtsfreis der ſozialen
Demokratie ftehen dagegen die wirtichaftlich abhängigen und über Feine
Bildung verfügenden Maffen, denen NRechtögleichheit und freie Konkurrenz
nicht? helfen, fondern denen nur durch eine ftarfe Nachhilfe in der Ge-
famtorganifation de3 Staats, vor allem durch die Sozialifierung der Pro—
duftionsmittel und der Bildung, ihr berechtigter Anteil gefchaffen werden kann.
Politifch-ethifch ift zwischen beiden fein Unterfchied, außer daß das Aufftreben
einer neuen Schicht natürlich die Anteilnahme des Gerechtigkeitsſinns und der
menfchlihen Sympathie noch ftärfer fordert. Wenn die Sozialdemokratie
er —
dabei den demokratiſchen Gedanken zum einzigen Eigentum der proletarijchen
Klaffen ftempelt und ihren Klaſſenkampf als den Kampf für alle fittliche,
geiftige Kultur feiert, fo ift diefe Idealiſiernng nur ein agitatorifches
Mittel, der eigenen Sache die moralifchen Sympathieen oder das moralijche
Selbftvertrauen zu verfchaffen. An fich ift die Demokratie mit proleta-
riſcher Maffenherrfehaft keineswegs identiih. Denn die Proletarier follen
ja gerade durch fie entproletarifiert werden.
Schließlich bedeutet dies demokratische Prinzip zugleich eine Welt-
anihauung, eine Metaphyfif und Religion. Sie bedeutet eine durch
und durch teleologiſche Weltanfhauung, einen überzeugten Glauben an
den Sieg der fittlihen Vernunft. Aus allen Intereſſenkämpfen und aus
allen dumpfen Mafjenzuftänden muß die Individualifierung des Menfchen
zu perjönlich felbftändigen Einzelwerten erwachſen, und dieſe Individua—
Yifierung muß aud dem Gemeinfchaftsieben jchließlich jeinen Stempel
geben. Die Welt muß jo eingerichtet fein, daß dieſer Sieg des ethifchen
Staates in ihr möglich wird troß aller Hemmungen der Natur und aller
Ungunft der äußeren Lagen, troß aller Rafjen-, Farben, Standes= und
Sndividualitätsunterfchiede; und der Menſch muß jo organifiert fein, daß
troß aller Torheit und Trägheit, aller Bosheit und Selbſtſucht dieſes
Ideal aus feinem edleren Streben hervorgehen muß. Es ijt eine Meta-
phyfit des Optimismus, die hier zu Grunde Tiegt und die in der Älteren
Demokratie ja auch ihrer religiöfen Grundlage fich deutlich bewußt war,
die aber auch heute mit naturaliftiichen und gejchichtsmaterialiftiichen Ideen
nur unter der Vorausfegung ſich verbinden kann, daß eine verborgene
Gottheit den Kampf ums Dafein und die wirtjchaftlichen Lebensformen
auf die Hervorbringung des allgemeinen und gleichen Wertes der Individuen
hin mit ftarfen Händen lenkt. Und wie eine beſtimmte Metaphyſik, jo ift auch
eine bejtimmte Ethik hierbei vorausgejegt, die Ethif der allgemeinen
Menjchenliebe und Gerechtigkeit, die alle aus einer Wurzel ftammen und
alle auf ein Ziel Hin angelegt fein läßt, die die Idee der Menfchheit in
jedem Einzelnen verwirklicht jehen will. Auch diefe Ethif war in älteren -
Beiten ihres Zufammenhangs mit ftoischen und chriftlihen Gedanken fich
bewußt und ift nur im Moment mit naturaliftiihen Theorieen verbindet,
die den Menjchen zum Spielball des Zufall und die Idee der Menfch-
heit zu einem idealiftifhen Traum machen. In Wahrheit Yeuchtet daher
doch eine idealiftifche Metaphyfif und Ethik überall durch. Daher hat Adam
Smith feiner Lehre den Theismus der Weltharmonie zu Grunde gelegt.
Daher glaubt die bürgerliche Demokratie an den Fortſchritt als an
die große ©ottheit, die die Menſchen von felbft mit eherner Gewalt im
ge
Laufe der Zeit vorwärts drängt, und daher glaubt die ſoziale Demokratie
an das Entwickelungsgeſetz, das die primitive Gejellichaft zur feudalen,
die feudale zur bürgerlichen und die bürgerliche zur follektiviftiich-jozialen
mit innerer Dialeftif treibt. Daher ftammt vor allem auch der enge
Zuſammenhang der demofratiihen Ideale mit dem Chriftentum, durch
das die moderne Demokratie fi) von der antiken, im Grunde doch immer
ſtark ariftofratifchen oder rein klaſſenkämpferiſchen Demokratie unter-
fcheidet. Aus den Buritanerkreifen und dem reformierten Ideal der Volks—
jouveränetät hat die entftehende moderne Demofratie ihre ftärkjten Im—
pulſe erhalten, und noch heute rechtfertigt der Katholizismus feine weit—
gehende Anerkennung der Demokratie mit dem riftlihen Perjönlichkeits-
glauben, empfinden proteftantifche Gruppen den Anfchluß an die Demo-
fratie als eine fittliche Pflicht um des Evangeliums willen, und beansprucht
die Sozialdemokratie für ſich den reinen, gefchichtlihen Jeſus. Sa, die
Hriftlihde Empfindung, daß den aufftrebenden Armen und Kleinen ge-
holfen werden müfje, ift überhaupt der ſtärkſte Bundesgenoffe und Helfer
der heutigen Demokratie, und der Kirchenhaß der Demokratie ift oft mehr
Haß gegen die Staatskirche, der — wenigſtens in der außerdeutichen De—
mofratie — die Zugehörigkeit zu den Sekten keineswegs ausjchließt. Auch
hier täufcht der religionsfeindliche, dem franzöſiſchen Naturalismus ent-
ftammende Doftrinarismus der deutfchen Demokratie mit feinem offiziellen
Pfaffenhaß über das wahre Weſen der Demokratie.
Ein ganz anderes Bild zeigt fih, wenn wir und von hier zur Be—
trachtung des Konfervatismus menden. Auch er fommt hier nicht in
Betracht als Programm einer beftimmten Partei oder als bloße Zolge
wirtfchaftliher Verhältniffe, die es einer fozialen Schicht zur Lebens—
bedingung machen, alte Verhältniffe feftzuhalten. Er fommt vielmehr in
Betracht als ein ethifches Prinzip, und ift ein echtes und vechtes ethiſch—
politifches Prinzip, das die Seelen vieler Uninterefjierten mit echtem Pathos
erfüllt und denen vieler Intereffierten ein gutes Gewiſſen gibt. Und
zwar ift e8 auch hier eine einfache Formel, die fein Wejen charakterifiert:
„Autorität, niht Majorität!“ Ruht das demofratiiche Prinzip auf
der Vorausfegung der prinzipiellen, nur noch nicht verwirklichten Gleich—
heit der Menfchen, fo ruht das konſervative auf der Vorausſetzung der
prinzipiellen und nie auszutilgenden Ungleichheit der Menjchennatur.
Und zwar ift diefe Verfchiedenheit der Anlage und zufälligen Emporhebung
oder Niederhaltung nicht bloß ein ſchweres, ödes Schickſal, jondern eine
finnvolle Befchaffenheit der Menſchen, aus der mit der Möglichkeit der Ge-
meinf&haftsorganifation felbft auch alle in der Gemeinschaft zu betätigenden
Troeltſch, Politiſche Ethik. 2
-
— —
ſittlichen Kräfte und Werte im ihrer reichen Mannigjaltigkeit und Ab-
ftufung erſt hervorgehen. Auf diefer Ungleichheit nämlich berubt übers
haupt wie das Zuftandefommen jo aud die Erhaltäng des Staates, der
al3 Vertrag atomiftiicher Individuen nie zu Stande gekommen wäre und
Heute noch nie zufammenhalten würde. Auf ihr berubt jomit der nicht
auszutilgende Unterſchied von Leitenden und Geleiteten, und in diejen Ver⸗
Hältniffen der Unter, Neben- und Überordnung entſtehen erſt all die
fittlichen Kräfte des Vertrauens und der Fürjorge, der Genũgſamkeit und
de3 Verantwortlichkeitsgefühls, der Pietät und Treue Es find das
ethiiche Prinzipien, die bei beiden, den Leitern umd den Geleiteten, den
Egoismus ausrotten, und die die natürliche Ungleichheit der Menſchen zur
Duelle höchjter, nur in ihr möglicher, fittlicher Leiftungen machen. Nur
fo lange das Phantom der natürlichen Gleichbeanlagung des Menjchen
das Denken blendet, hängt es lediglich am Selbjtwert der Perſönlichkeit.
Sobald e3 die unbeftreitbare Tatjache der Verfchiedendeit und der daraus
gar nicht bloß erjt durch den Kampf ums Dafein, jondern durch die inneren
Berjchiedenheiten von ſelbſt herbeigeführten Machtdifferenzen erkannt bat,
erwächit ihm das Verftändnis der fittlichen Werte, die aus diefen Un—
gleichheiten und den Machtbeziehungen zu erwachien bejtimmt find, Das
bei braucht der Konjervatismus durchaus nicht notwendig an der Feſt—
haltung überlebter Ordnungen und Schiehten zu Kleben. Er kann das
wirklich wurzellos Gewordene preisgeben. Aber er wird nicht Gewor—
denes bloß deshalb preisgeben, weil man überhaupt von Autoritäten
nichts wiljen will, und er wird unter allen Umjtänden auf die Bildung
neuer Autoritäten hinwirken müſſen. So ijt der Name Konjervatismus
nur relativ berechtigt. Es handelt fich nicht um abjolutes Konfervieren
gegebener Autoritäten, jondern um das Autoritätsprinzip überhaupt. Es
ift deshalb im Grunde das ariſtokratiſche Prinzip, die Ariſtokratie nur
im politifch-jozialen Sinne verjtanden, wo fie die ans der Verſchieden—
heit und aus dem Kampf erwachjende, Herrichaft und Herrichaftsfühigkeit
'
Vie
forterbende, Macht Einzelner und einzelner Schichten bedeutet. Um aber
jede Verwechſelung mit der ganz perfünlichen und machtlofen Ariſtokratie
der Geiſteskultur zu verwechſeln, wird auch ſchon beſſer der Name Arijtos
fratie vermieden, umſomehr als die politifche Wirkung ſolcher Ariſtokratie
immer überwiegend Tonfervativ fein twird.
Denn die Umfegung diefer Ethik in politische Gedanken iſt ſelbſt—
verftändlich. Von hier erwächſt direkt der Grundſatz über die Geftaltung
der Organe der Staatsgewalt und die Zwecke der Staatstätigkeit. Die
erjte ijt vor allem gewiefen an die Gefchichte und von ihr im eviter
— 19 —
Zinie bedingt, Aus Übermacht, die als ſelbſtverſtändlich empfunden oder
gewaltſam durchgeſetzt wird, geht ber Staat hervor, und das Recht ratio-
nalifiert nur die vom vorftaatlihen Zuſtand aus bedingte Lage, fo daß
aus ihm eine Regel für die Behandlung aller etwa vorkommenden
Falle abgeleitet werben Tann. Diefe Urgewalten und was etwa weiter
durch innere und äußere Ummälzungen zu ihnen hinzufommen mag ober
als Gewalt fih durchſetzen Tann, fie find die Zräger ber rechtlichen
Staatsgewalt und fixieren ſich rechtlich in dieſem Beſitz. Es iſt der Hifto-
riſche Geiſt, der in jeder Ariſtokratie ſteckt, weil alle Macht ein Produkt
ber Geſchichte ift, wobei der ariſtokratiſche Charakter bei Monarchie, Re⸗
publif ober eigentlicher Geſchlechterherrſchaft im Grunde doch immer der⸗
felbe ift. Und ebenfo bringt es bie Natur der Dinge mit fi, daß ber Kern
folder Ariftofratie vorzugsweiſe in dem Grundbefige wurzelt, der feinerfeits
mit bem Urformen menſchlicher Geſellſchaft und mit ber Unbemweglichkeit
ber Mutter Erde eng zuſammenhängt. Alles nähere gehört der praktiſch⸗
techniſchen Geſtaltung an, die Hier wie in ber Demokratie nicht ohne
Mühe ift, wenn wirklich der ſittliche Gedanke des Ganzen durchgeführt
werben joll. Uber der enge Zufammenhang folder Staatsgeſtaltung mit
ſittlichen Gebanfen liegt doc, überall Far zu Zage. Freilich ift das we—
niger deutlich bei unjerem heutigen Fonfervatismus, der unter dem Drud
ber Berhältniffe zu einem Prinzip des Klaſſenkampfes auf demofratifcher
Borausfegung und mit demokratiſchen Mitteln geworben if. Wohl aber
Hot das ber ältere Sonfervatismus der Staählſchen Schule erfannt und
betätigt. Der Patriarchalismus für diejenigen Gejellihaftsihichten, Die
feiner bedürfen und bei ihm am beiten veriorgt find; die Hiftorifche Staats—
gefinnung, die weiß, daß man Autoritäten nicht improvifiert, fondern mit
dem Staat felbft von der Geihichte empfängt; alle Ideale der Anhäng-
lichkeit, Pietät, Treue, Genügfamleit für die jeweils Untergeorbneten
gegenüber den Höheren und der Fürforge, der Verantwortung, der Auf-
-opferung im umgefehrten Verhältnis; die Freude am Dienen und Der
Gemeinſinn im Herrchen; die Züchjtigfeit der Leiftung und die Vornehm⸗
heit der Gefinnung ; alles das aufeinander angewieſen und fich gegenjeitig
Hervorrufend und ergänzend; das madt die fittlihe Staatsgefinnung aus.
Und fo ift auch der Stantszwek zu verftehen. Nicht Befriedigung des
Einzelnen nach dem Moß feiner Leiftung, fondern Erhaltung des Ganzen
in feiner organifhen Einheit und in feinen Hiftoriich gewordenen Gliede—
rungen ift der Zwed. Erſt in einem ſolchen Ganzen wird auch der ein-
zelne feinen Wert fühlen und finden, freili nicht jeder den gleichen und
jeder nit ganz nah dem Maß feiner Züchtigfeit, aber es wird doch
2*
A
jeder an feinem Drt und in feiner Weiſe die Wohltaten der Staats—
ordnung empfinden. Für die Empfindung des rein perjönlichen Wertes
bleibt ja überdies jedem unangetaftet die Sphäre feines inneren und
privaten Lebens, während die äußere Stellung und der Anteil an den
Gütern des Beſitzes und der Bildung nun einmal durch die Natur der
Dinge ungleich bleiben muß. Es ift ein Wahn, den Anſpruch auf Men-
fchenreht und Menfchenwürde im Staat direkt verwirklichen zu mollen.
Das find Dinge, die der Sphäre des inneren Menfchen angehören und
die im Staate mit feinen realen Machtdifferenzen und hiſtoriſchen Macht-
und Befigverteilungen niemals uneingefchränftt und direkt zur Geltung
kommen fönnen. Preilich Länder, die wie Amerifa eine folhe Vor—
gefhichte nicht Haben und daher der aus ihr ftammenden Macht-
gliederung entbehren, können eine ſolche Staatögefinnung und ſolche
Staatsgewalt nicht Haben. Aber darum fehlt dem hiftorifchen Staats-
gefühl auch immer etwas an der amerifanifchen Staatsgefinnung, und
überdies wird die Zeit auch ihnen eine Ariftofratie bringen. Denn alles
Hiftorifche iſt ariftofratiich, und alle Ariftofratie bringt Ronfervatismus
mit ſich.
Bei der ſtarken Betonung des Hiftorifch-Gemwordenen ift der natio-
nale Charakter des Konſervatismus felbftverjtändlih. Aber fein Natio-
nalismus ift doch nur fo zu verftehen, daß eben der Kern Hiftorifcher
Bildungen immer die Nation fein wird. Im übrigen wird er die Ein-
verleibung fremder Nationsteile oder die Abfplitterung eigener Volksteile,
wo fie etwas gefchichtlich Gegebenes ift und mit der Machtverteilung eng
zufammenhängt, al® Tatfache refpektieren. Der unbedingte Nationalismus
“wird ihm wie in den Tagen Arndts und Jahns des Jakobinertums ver-
dächtig fein. Mit der befonderen Art des Fonjervativen Nationalismus
hängt darum auch die prinzipielle Auffaſſung der äußeren Politik zu⸗
ſammen. Auch hier wird er die Reſpektierung der hiſtoriſch gewordenen
Machtbeſtände fordern und wird er den eigenen Machtbeſtand mit vollem
Verſtändnis für die Machtmittel des Staates behaupten. Er wird daher
den Krieg für eine unvermeidliche Folge der in der Natur der Dinge
liegenden Machtkämpfe halten und wird in der für die Kriegsführung
notwendigen Disziplin und Autorität eine Erweiſung der höchſten fitt-
lichen Kräfte ſehen. Weiterhin wird er überhaupt auch auf die Ver—
hältniſſe der Völker ſeinen ariſtokratiſchen Begriff übertragen. Er
wird die Leitung der kleinen Staaten durch die Großen, die Unter—
werfung niederer Raſſen durch die herrſchaftsfähigeren und kulturreicheren
billigen und den Gedanken der Herrſchaft der weißen Raſſe für die
re
natürliche Folge der in der Gejchichte gewonnenen Stellung der weißen
Raſſe halten. Die natürliche Verſchiedenheit der Menſchen ift auch hier
die Grundlage des ariftofratifchen Gedankens, und der ariftofratifche Ge--
danfe bringt den Herrſchaftsgedanken mit allen jeinen fonfervativen Kon—
jequenzen zu Tage, der ja Unterwerfung und Leitung der zur Beherr-
Ihung Beftimmten durch die Herrfchfähigen und damit Ausbreitung und
Entwicklung der Macht nicht ausschließt.
Mit alledem beruht aber auch die Ethik des Konfervatismus auf
einer Weltanfhauung Es ift die Weltanfchauung, die vor allem
die Ungleichheit der Lagen und Menfchen betont und aus der Ergebung
in dieſe Ungleichheiten die fittlichen Gedanken entwidell. So wurde fie
ſchon von der ariftofratifchen Ethik des Griechentums auf die Raſſen—
unterjchiede begründet, und in Verbindung mit dem darwiniftiichen Kampf
ums Dajein und mit Niebjiches Herrenmoral ift die Raſſenethik heute noch
eine verbreitete Grundlage, ergänzt durch eine Betrachtung, welche die
einzelnen Stände und jozialen Gruppen nach Analogie der Nafjenethik
behandelt. Metaphyfifch betrachtet enthält er eine Metaphyfif des Nea-
lismus, der nüchternen Weltbeobachtung, die, durch feine voreilige Teleo-
logie oder optimiſtiſche DBegeifterung geblendet, Dinge und Menfchen
nimmt wie fie find. Se nad dem Temperament kann diefer Realismus
eine peſſimiſtiſche oder refignierte Stimmung annehmen, oft fehlt auch
nicht eine Dofis von Cynismus, wie fie Fontane in feinen Junker—
Nomanen jo anziehend jchildert. Aber, wo der ethische Gehalt diejer
Lehre betont werden fol, da iſt doch weitaus am häufigſten und ftärfften
ihr Anſchluß an das ChHriftentum. Denn nur das Chriftentum gewinnt
diefem Realismus eine innere fittliche Verwertung ab, die nicht eine Auf-
löſung aller natürlich empfundenen und von der Gejchichte gebildeten fitt-
Yihen Ideen ift, fondern gerade für fie diefen Sachverhalt fruchtbar
macht. Darnach iſt die Ungleichheit der Menfchen und ihre Folge,
die Machtbildung, die Herrichaftsorganifation und Ständetrennung, eine
natürliche Veranlagung, die Gott den Menjchen gegeben hat, um ge—
rade aus dieſer Ungleichheit die wichtigſten fittlihen Gemeinfchaftsfräfte
zu entwideln. Eben um deswillen find auch die in der Gejchichte er-
wachſenden Hiftorifchen Gewalten als Ordnungen Gottes zu betrachten,
denen man fich unterwirft als einer Stiftung Gottes; fie find von
Gottes Gnaden und verlangen die Fügung in diefe Ordnungen. Diefe
Fügung wird nun aber außerdem noch dadurch weiter ethifch gefordert, daß die
Hriftliche Ethik in ihrer Buß- und Siündenftimmung vom Menjchen
überhaupt die Demut und Ergebung, die innere Unabhängigkeit von äußeren
EIER
Gütern, die Bereitwilligkeit zu Gehorfam und Pietät, die Selbſtbeſchei—
dung und die fittliche Adelung jeder Stellung von innen Heraus durch
Tüchtigfeit und Treue der Leiftung fordert. So find ihr jene Macht:
fämpfe geradezu teils eine Folge der Sünde und ift ifre Not als Strafe
der Sünde zu ertragen; teil follen die von ihnen emporgetragenen
Mächte ſelbſt ihren Beruf ſittlich als vor Gott verantwortliche Lei—
ftung auffaffen und die natürliche Neigung des Menfchen zur Selbſt—
herrlichfeit und Meifterlofigkeit als fündigen und gemeinschaftsgefährlichen
Egoismus befämpfen. Freilich ift folche Demut zunächit nur Demut vor
Gott; aber fie überträgt ſich auch auf die von Gott geftifteten Ordnungen und
Yeiftet den Gehorfam um Gotteswillen, wie die Herrfchgewalten ihre Gewalt
ausüben follen als Gemeinfchaftsdienft um Gotteswillen. Wird die natürliche
Ungleichheit und ihre Folge derart im religiöfen Geifte aufgefaßt, dann wird
die im Kampf der Mächte immer mitwirkende Sünde zurüdgedrängt und
das Ergebnis des natürlichen Prozeſſes gereinigt, geadelt und geheiligt.
Dabei bleibt ja auch immer die innere Freiheit der religiöfen Perfönlich-
feit, die eben gerade nicht durch die äußere Lebenzftellung bedingt ift,
und die auch ihrerfeit3 nicht angeboren und allen gleich zugeteilt ift, ſon—
dern die in der Arbeit der fittlich-religiöfen Perſönlichkeit an ſich ſelbſt
exit gewonnen wird und darum zum Prinzip des politiichen Aufbaues
gar nicht werden kann.
Mit diefen vier Formen find die unter und vorhandenen Prinzipien
politifcher Ethik erſchöpft.
Es kann num freilich ſehr verwunderlich erfcheinen, daß dabei von
einer politischen Ethit des Chriftentums gar nicht die Nede war. Bei der
ftarken Macht des Chriftentums über die breiteften Volfsichichten, vor
allem über die, die Titerarifch nicht zu Worte kommen, bei der ftarfen
Macht der chriftlichen Kirchen, von denen die fatholifche ja geradezu ein
politifches Programm fühlbarfter Art befitt, möchte das auffallend er—
fcheinen. Es wird auch demjenigen nicht recht zu Sinne wollen, der, wie
alle Freunde des evangelifch-fozialen Kongrefjes, von der Vorausſetzung
ausgeht, daß in der chriftlichen Sittlichfeit die höchften Maßſtäbe unſres
Lebens enthalten find. Aber alles dag ändert nichts an der Tatjache, daß es
in Wahrheit eine unmittelbar und wefentlich aus den hriftlidhen
Ideen abgeleitete politifhe Ethik nicht gibt. Und es hat in Wahr-
heit auch niemals eine folche gegeben. Denn die Eirchliche Ethik, vor allem
die Staatsethik der mittelalterlichen, kirchlichen Weltkultur, ift nur zum
Teil hriftliche Ethik; fie arbeitet im übrigen im weiteften Umfang mit
Entlehnungen, die lediglich mehr oder minder chriftianifiert find. Die
Kirche Hat Politif im großen Stil nur durch Anleihen beim Naturrecht,
bei Aristoteles und beim römischen Recht treiben können. Und in all
diefer Politik zeigt doch der unvertifgliche Kampf von Staat und Kirche, der
ganze Gegenſatz zwiſchen geiftlichem und weltlichem Weſen den tiefen
inneren Gegenſatz. Die fatholifche Kirche hat im Grunde überhaupt
feine politiſche Ethik, die im Staate felbftändige fittliche Werte aner-
fennt, jondern Hat nur Negeln für die Unterordnung des Staates unter
die eigentlich religiöfen Ideen. Der Proteftantismus, der den Staat
freilich in feinem fittlichen Werte anerkennt, hat fein Mittel, ihn auch
wirkfih aus der religiöfen Idee zu erfaffen, trotz aller ſophiſtiſchen
Künfte und aller patriotifchen Gemeinpläße der durchichnittfichen theolo-
giſchen Ethif.
In Wahrheit ift das aber alles nur natürlich und ſelbſtverſtändlich.
Das Chriftentum kann feinem ganzen Sinn und Wefen nad) feine direfte
politische Ethif Haben. E3 hat von Haufe aus überhaupt Feine politischen
Gedanken. ES bezieht fich mit feinen fittlichen Geboten zunächſt vein auf
die Sphäre der Privatmoral. Auch wenn es mit feiner Liebestätigfeit
foziale Schäden heilt, geht doch dieſe Liebestätigkeit felbft von rein
religiöfen oder von Motiven der Privatmoral aus. Die Liebe zu
Gott und zu den Brüdern ift nie und nimmer ein politifhes Prinzip.
Praktiſch ift das Experiment des direft und eigentlich aus dem Chriften-
tum abgeleiteten Staates gemacht und gefcheitert. Die Lehren die der
Staat der Wiedertäufer, der Cromwellſchen Heiligen und in anderer, aber
ebenſo chriftlicher Weife der Jeſuitenſtaat in Paraguay gegeben haben,
follten nicht vergefjen werden. Aber e3 ift auch eine Täuschung, wenn
die Theorie glaubt aus dem Gedanken der chriftlich-freien Perfönlichkeiten
und der Gemeinschaft diefer Perfönlichkeiten den Staat gejtalten und ab—
Leiten zu fünnen. Einmal ift das ſchon eine Nativnalifierung und Ver—
weltlihung der chriftlichen Grundgedanken. Die Hriftlich-freie Berfönlichkeit
ift ja doch zunächſt nur frei in Gott und vor Gott, und die Gemeinschaft
diefer Verfönlichkeiten ift eine Gemeinschaft in der Liebe um Gottes willen.
Aber zum andern ift auch aus diefem bereit3 verweltlichten Gedanfen ein
das Weſentliche erichöpfendes politifches Prinzip nicht zu gewinnen. Die
Hriftlichen Ethifer pflegen hieraus zwar vielfach die Demokratie im Sinne
einer Forderung der Nächitenliebe, des Mitleids mit den Mafjen, den
Kleinen und Gedrücten abzuleiten. Die Achtung ift folhen Ethifern und
vor allem denen, die von ihrem Gemiffen getrieben als Geiftliche fi in
den Dienst diefer Idee ftellen, ficherlich im höchſten Grade zu zollen.
Denn fie geben den Mafjen, foweit das noch möglich ift, den Glauben
—
wieder, daß die Kirche und die Geiſtlichen nicht bloß eine ſchwarze Schutz-
truppe für die egoiftifche Herzenshärtigkeit von „Bildung und Beſitz“
ſind. Allein eine richtige Lehre iſt es trotzdem nicht. Die politiſche
Demokratie will nicht Liebe und Opfer, ſondern Recht und ſichere Ord—
nung, nicht Gaben einer ſubjektiven perſönlichen Zuneigung oder eines
perſönlichen Pflichtgefühls, ſondern allgemein und ſelbſtverſtändlich als
Baſis des Lebens dienende Zuſtände und Normen. Sie kann vom chriſt—
lichen Verfönlichfeitsgedanfen nur das brauchen, was aus ihm in recht:
Yihe Drdnung und felbftverftändliche Forderung übergehen kann, aber
niht das rein Innerliche und Perfönliche der eigentlich religiöjen
Stimmung und des Liebesgedanfens. Daher pflegt ja auch die moderne
Demokratie auf ein derartiges chriftliches Entgegenfommen nur mit Miß-
trauen zu antworten, fie fieht darin nur die Schwärmerei wohlmeinender
Spealiften, die Gefühlsmweichheit eines weltbeglüdenden Mijerabilismus
oder die Verſteckung eines nicht felbftlofen Liebeswerbens. So ungerecht
diefe Beurteilung der Perfonen meift ift, das Mißtrauen gegen die Theorie
ift völlig gerechtfertigt. Denn politifche Ordnungen erwachlen nun ein-
mal nicht unmittelbar aus ſolchen Mächten des rein perfönlichen Ge-
fühls- und Stimmungslebens, fondern in erjter Linie immer nur aus
den realen Organifationsbedingungen des Staatölebenz ſelbſt. Sie haften
nit an etwas fo Geltenem und Sublimen, an dem Aufichtwung der
religiöfen Stimmung und der Strenge religiöfer Forderung, jondern am
Geſetz und am Durhichnittlihen, am Objektiven der Gtruftur des
Staates.
Trogdem iſt natürlich der Eindrud fein Wahn, daß das Chriften-
tum tatfählih eine Hohe Bedeutung auch für die Politif Hat. ES Hat
fie auch Heute noch, wo das mittelalterliche Ideal einer alles leitenden
Weltfultur der Kirche überwunden ift, und wo uns der fittliche ſelbſtändige
Wert des Staates feſtſteht. Aber diefe Bedeutung ift feine Direkte,
fondern eine indirekte. Sie geht nicht aus dem Bentralgedanfen felbft
unmittelbar hervor, fondern fie äußert fich in einer Mehrzahl von Wirkungen,
die das Chriftentum hier und dort auf daS Leben des Staates ausgeübt hat.
Sie Hat ſich tief und umverlierbar in unfere politifhen Empfindungen
eingeprägt, aber als indirefte Wirkung chriftlicher Lebensbeurteilung.
Diefe Wirkungen müffen überhaupt erft aufgefucht werden, und e& ift bei
diejer indirekten Wirkung überhaupt eine offene Frage, wie weit fie zur
Einheit eines Prinzips zufammengehen. Sehen wir aber die Sache
unter dieſem Gefichtspunft an, dann beobachten wir, daß ja die Ein-
wirkungen des Chriftentums bereits zur Sprache gefommen find, indem
a
wir die vier Haupttypen politifcher Ethik aufgeftellt haben. Nur der
zweite hat fchlechterdings nichts mit der riftlichen Ethik zu tun. Uber
alle übrigen ftehen mit ihr in einem engen inneren Zuſammenhang, und
es iſt nur die Aufgabe dieſen Zuſammenhang ausdrücklich aufzuweiſen
und aus ihm dann die Bedeutung der chriſtlichen Ethik für die politiſche
Ethik nach Möglichkeit prinzipiell zu verſtehen.
Die Ethik des bloß der Kultur dienenden Rechtsſtaates, ſofern ſie die
Freiheit der geiſtigen Güter vom Staatszwang und die Beſchränkung des
Staates auf die Bedeutung des Dienens für dieſe Kulturwerte fordert, hängt
geſchichtlich eng zuſammen mit der Forderung der Freiheit der Kirche und des
Gewiſſens vom Staate, wobei doch der Staat ſelbſt als Vorausſetzung und
Schuß des religibs-ſittlichen Lebens überhaupt gedacht iſt. Das erſte iſt die
katholiſche Forderung, das zweite die puritanifch-proteftantifche. Und in
der Tat ift diefe Forderung der Freiheit vom Staate und der Unterord-
nung de3 Staates unter geiftige Werte nur da möglich, wo man einen
Beſitz Hat, der völlig unabhängig von der irdifchen Macht und den irdi-
Ihen Zwecken des Staates in der transfcendenten Welt verankert iſt.
Die bloße intellektuelle und äſthetiſche Kultur würde für ſich allein dieſe
Widerſtandskraft und Selbſtändigkeit gar nicht beſitzen. Ihr ganz perſön—
licher und individueller Ariſtokratismus hat ſogar erfahrungsmäßig die
größte Schmiegſamkeit und duldet alle politiſchen Zuſtände, wenn er in
ſeiner Sphäre unangetaſtet bleibt. Die ſtarke Wurzel der Freiheit vom
Staate und der Behauptung der geiſtigen Güter neben und über dem
Staate liegt viel mehr in der Religion, deren Glauben an ein Reich, das
nicht von diefer Welt ift, neben und in den Reichen diefer Welt eine
höhere Sphäre von Werten behauptet. So ift die hriftliche Ethik zuerft
und vor allem das ftarfe Rückgrat einer Staatzethif, die den menfchlichen
Lebenszweck nicht im Staate aufgehen Yäßt.
Aber indem fie das ift, zeigt fie auch am deutlichſten die völlig
unpolitiihe Natur einer folchen Ethik; indem fie den Staat einjchränft
und unterordnet, beurteilt fie ihn gerade aus Prinzipien, dieihm ſelbſt fremd
find. Die religiöfe Ethik ift im tiefften Grunde ſtaatslos und international
und ſchränkt wohl den Staat ein, aber fcheint feine eigentlich politische
Ethik und Gefinnung zu entwideln. Trotzdem ift Doch auch in dieſer
Hinficht, in der Hervorbringung eigentlich politiiher Maßftäbe und Ge-
finnungen die hriftliche Ethik nicht unfruchtbar gewefen. Es bedarf nur eines
Blides auf den dritten und vierten Typus, um zu erfennen, daß in jedem
von ihnen chriftliche Gedanken enthalten und zu ftarfer Bedeutung gelangt
find. Die eigentlich politifchen, das innere Gefüge felbft ergreifenden Kon—
on
fequenzen der hriftlichen Ethik verteilen fich auf Demokratie und Ronfervatig=
mus. Auf beiden Seiten ftehen daher auch begeifterte Verfechter von
zweifellos chriftlicher Gefinnung. Die einen glauben dem chriſtlichen Ge⸗
danken der Freiheit und Perſönlichkeit die Unterſtützung der Demokratie,
die anderen dem chriſtlichen Gedanken der Autorität und Ordnung die
Unterſtützung des Konſervatismus ſchuldig zu ſein, ein deutliches Zeichen,
daß hier der chriſtliche Gedanke ſich geſpaltet hat.
Wie und warum das als Ergebnis unſerer europäiſchen geſchicht—
lichen Entwickelung geſchehen iſt, das kann nur eine kurze hiſtoriſche Be—
trachtung zeigen.
Es iſt für eine univerſalhiſtoriſche Betrachtung zunächſt klar, daß das
Chriſtentum die Religion des Perſonalismus im höchſten Sinne iſt,
daß es für den Menſchen das Ziel ſteckt, Perſönlichkeit von unvergleich—
lichem Selbſtwert durch die Hingabe an Gott und die Auswirkung der
Gottesgeſinnung zu werden, daß es in Gottes Willen die Duelle aller
perfönlichen Werte fieht, zu denen der Menfh im Kampf mit Irrtum
und Sünde durch eine reine Tat des Vertrauens und der Hingebung er-
hoben werden fol. Damit ift gejagt, daß in feinem Bentrum die Per—
fönlichfeitsidee fteht, und zwar ganz anders als im Judentum, mo die
PVerfönlichkeit duch den Nationalismus noch gebunden ift, und anders als
in den ethnischen Religionen und Philofophemen, die wohl dag Indivi—
duum, aber nicht die Perfönlichkeit, wohl die Hingabe an Gott, aber nicht
das Perjonwerden in diefer Hingabe fennen. So hat diefe Perſönlich—
feitsidee auf einem Boden Fuß gefaßt, der durch den jüdischen ethiichen Mono-
theismus, die Entnationalifivrung und Smdividualifirung der antifen Ge—
ſellſchaft, die idealiſtiſchen Syſteme der Spätantife, die myſtiſchen Kult—
genoſſenſchaften der populären Religion wohl vorbereitet war, aber dem ſie
damit doch etwas Neues brachte. Die revolutionären Wirkungen zeigten
ſich denn auch ſofort in der Oppoſition des Gewiſſens gegen den Staat
des Kaiſerkultus und in der Schöpfung eines Staates im Staate, der
Kirche, die bei aller autoritären Organiſation doch die Verkörperung des
Gedankens der freien Perſönlichkeit, ihres überall gleichen Rechtes auf
das Heil und ihres Anſpruchs auf menſchliche Achtung und Liebe, war.
Aus der Kirche aber hat ſich unter Benutzung der antiken Staats- und
Rechtsphilofophie eine Staatslehre entwidelt, die den Gedanken der
Perſönlichkeit zu feiner politifchen Geltung bringt. Ihr Ideal war Adam,
der paradiefiihe Urmenich, der noch ohne Sünde war und darum frei war
von jeder Herrichaft, von jeder Eigentumsdifferenz und von jedem Zwang.
Freilih in der gefallenen erbjündigen Welt war das Ideal nicht ohne -
weiteres vealifierbar und mußten die von der Kirche geweihten und beſtätigten
Ordnungen der Herrſchaft und des Eigentums reſpektiert werden. Aber
das gilt nur in der erbſündigen Welt, war nicht im Urſtand und wird
mit der Vollendung der Erlöſung verſchwinden. So blieb in dem Adam
der kirchlichen Staats- und Geſellſchaftslehre das Perſönlichkeits-, Frei—
heits⸗, Gleichheits⸗ und Individualitätsprinzip als Ideal herrſchend, wobei
nur nicht zu vergeſſen iſt, daß dieſer Adam auf all das nur Anſpruch hatte,
weil er noch rein war und in Demut und Gottergebenheit die urſtändliche
Vollkommenheit beſaß. Hier liegen denn nun auch die Hauptwurzeln,
des modernen Individualismus und Demokratismus. Freilich hat hier
noch manches andere mitgewirkt, der noch von keiner zentraliſierenden
Kultur gebrochene Individualismus des Germanentums, die ſtädtiſche
Kultur des 13. Jahrhunderts, die Wiederbelebung einer kirchlich unge—
bundenen und das Gefühl individualifierenden Kunſt und Wiffenfchaft,
die Hentralifierung und Nivellierung durch die abfolute Monarchie, vor
allem auch das antife Naturreht und zuleßt die ungeheure Revolution.
alles Erwerbs und aller Arbeit durch die Maſchine. Aber der Haupt-
gang des Gedanfens ift bis über die Schwelle der modernen Welt dur
die Entwidelung der religiöfen Konfequenzen bedingt. Mönchiſche Ordens—
ideale, Myſtik, Nominalismus, Reformation, Puritanertum, Independen-
tismus bezeichnen den Zug des Gedanfens. Die reformierte hugenottiſche
Staatzlehre hat das Recht der Kontrole der Gewalten an dem fittlich-
religiöfen deal durch die Gemeinde und damit das Prinzip der Volks—
fonveränetät herausgearbeitet. Die Independenten haben von der Forderung.
der religiöfen Gewifjensfreiheit aus die Anteilnahme des freien Indivi—
duums an der Staatsgewalt gefordert. Der Zufammenhang der franzö—
fiihen Erklärung der Menfchenrechte mit den auf independenter Grund»
Yage ruhenden amerikanischen Verfaſſungen ift neuerdings nachgewieſen
worden. Freilich haben ſich dann in neuerer Zeit mit diefen religiöfen
Gedanken die naturredhtlihen, auf der Stoa beruhenden Prinzipien
immer ftärfer verbunden, bis fie fie fchließlich völlig überwuchert haben.
Allein auch diefe Verbindung ift uralt, und nur die Umkehrung des
Accentes in diefer Verbindung ift neu. Schon die alte Kirchenphilofophie
hatte mit dem Geſetze Chrifti das fittliche Naturgejeh der Stoa d. h. die
Lehre von fittlihen Rechten und Pflichten die in der Natur des Indivi—
duums begründet find, verbunden, und nur, indem fie zugleich den ariſto—
telifchen Staat und das Recht mit in diejes Naturgefeh einbezog, über-
haupt ihre politifche Lehre entwideln können. Der Unterjchied beider
wurde nicht beachtet, oder vielmehr die heidnifchen Schranfen des Natur-
rechts wurden einfach durch chriftliche Deutung und Zuſätze aufgehoben.
Das Naturrecht betrachtete das jelbftändige Individuum einfach als Aus—
fluß feiner natürlichen Befchaffenheit und die Regeln des Naturrechtes
einfach als die Mittel, in denen die menjchliche Natur fich ſelbſt in der
Gemeinschaft behauptet und ihre natürlichen Lebenszwecke erreicht. Daher
herrfcht in ihm die Idee der natürlichen Gleichheit. Der hriftliche Per—
fönlichfeitgedanfe dagegen fennt die Perfönlichfeit erſt als Auzfluß ihrer
Gemeinſchaft mit Gott, und die Zwecke der chriftlichen Sittlichfeit Liegen
im Übermeltlichen. Die Gleichheit ift daher hier nur Gleichheit vor Gott,
während die äußern Verhältniffe nur bei fündlofem Zuſtand Freiheit
und Gleichheit mit fih bringen. Diefer ſchon von der Kirchenphilo-
fophie verjchleierte Unterfchied verſchwand nun aber vollitändig für
den Rationalismus der Aufklärung, der den chriftlichen Perſönlichkeits—
gedanken auf das Niveau des Naturrechts herabzog und aus der chrift-
Yihen Empfindung nur die Sympathie für die Schwachen und Gedrüdten,
für die Mafje der Elenden beibehielt. In diefer Geſtalt Hat Roufjeau
dem Naturrecht feine welthiftorifche Bedeutung verichafft, den Sinn des
Evangeliums völlig demofratifiert und aus Chriſten Menfchen geworben,
die eben dadurch, daß fie rein menſchlich waren, doch auch die beften
Chriften ſchienen. Seitdem hat die Loslöfung der Demokratie von der
chriſtlichen Idee — wenigſtens bei den Romanen und Deutfhen — be—
fanntlih immer weitere Yortichritte gemacht, aber noch immer fehlt es
nicht an folhen, die den demofratifchen Gedanken nur mit den Gefühlen
des Mitleids und der Nächitenliebe zu verbinden brauchen, um in ihm
das Wejen des ächten Chriftentums wieder zu erfennen.
Das ijt aber nur die eine Seite der Sache. Daneben geht eine
völlig anderzartige Entwidelung der politifchen Konfequenzen des Chriften-
tums. Neben den Gedanken der Berfönlichkeit ftellt e& den der Er-
löſung. Es läßt die Perfönlichfeit geradezu erft durch die Erlöſung zu
Stande kommen. Für eine veligionsgefchichtliche Betrachtung ift das
Chriſtentum gerade durch die enge Verbindung beider Gedanken charakteri-
fiert, indem es den von der ganzen Spätantife entwidelten Gedanken
der Erlöfung pofitiv ethisch als Erhebung zu der in Gott gegründeten
Perfönlichfeit und als Überwindung der Welt durch eine Höhere, fittfich
vollfommenere Welt denkt. Diefer Erlöfungsgedanfe enthält nun aber
einen weitgehenden Peſſimismus fowohl in Bezug auf die irdifche Welt
überhaupt als in Bezug auf den Menfchen insbefondere. Der Menſch
ſteht überall unter der Macht ſündiger Triebe und die ſittliche Perſön—
lichkeit kann erſt werden durch den Kampf. So ergibt ſich überall ein
O0
Unterfhied von fittlih höher und tiefer Stehenden und eine Fülle von
Berhältniffen der Erziehung, Beratung, Unterordnung. Damit find bereits
Anfäge zu ariftofratifchen Gedanken gemacht; wenn fie zunächft aud nur
die innere und perfönliche Überlegenheit bedeuten, fo ergeben ſich daraus
doch ethiich begründete Uberordnungs- und Unterordnungsverhältniffe, die
zwar in der vollendeten Menjchheit verfchwinden, die aber in der noch
mit der Sünde kämpfenden Menfchheit von höchſter Bedeutung find. Die
gleichen Anſätze ergeben ſich von der peffimiftifchen Beurteilung des
Weltlauf? aus. Sie ift nicht im gleichen Sinne peffimiftifch, mie die
Beurteilung des Menſchen. Denn hier Handelt es fih num mehr um Er-
gebung in Naturordnungen und BVerhältniffe, die num einmal von Gott
geordnet find, und die den inneren Menschen nicht berühren und daher
von ihm ertragen werden. Die natürliche Ungleichheit der Lage fchafft
taufend Unterfchiede der Herrichaft, des Eigentums, der Stände, der
Gefchlechter, der Geſellſchaftszuſtände. So find die Mächte und Zuftände,
wie fie in diefem natürlichen Prozeß fich bilden, von den Gläubigen
al3 göttliche Zulafjung und Drdnung Hinzunehmen und zu ertragen
al3 der äußere Spielraum, innerhalb defjen die innere religiöfe und fitt-
liche Kraft von jedem an feinem Drt betätigt werden fol. Es kann dem
Kaifer gegeben werden, was nad natürlichem Weltlauf des Kaiſers ift,
wenn man nur die Hauptjache tut, wenn man Gott gibt, was Gottes ift.
Und wenn auch an dem Buftandefommen der weltlichen Macht und Ord—
nungen die Sünde mit ihrem Egoismus ftarf beteiligt ift, fo kann doc)
die Betrachtung dieſer Drdnungen als einer Zulafjung Gottes ihnen
einen relativen Wert einräumen. Gie tragen durch Gottes Ordnung das
weltliche Schwert des Nechtes und fchaffen die bürgerliche Zucht, in die
der Gläubige fich fügen jol. So Hat Paulus fein Verhältnis zu dem
heidnifchen Imperium aufgefaßt, und Hundert Jahre fpäter feiert der
Biſchof Melito das augufteifche Kaiſerreich und die chriftliche Kirche als
Zwillingskinder desfelben Geburtstages. So hat die Kirche die ſtändiſche
Gliederung und vor allem die Sklaverei äußerlich beibehalten und jogar
nach einigem Widerftreiten den der bürgerlichen Ordnung unentbehrlichen
Soldatenftand anerfannt. Hiermit ift die ariftofratifhe Wirfung der
natürlichen Machtfämpfe anerkannt und ein Prinzip des Konſervatismus
entwicelt, das eigentümlich gegen die revolutionären Konfequenzen des
Perſönlichkeitsgedankens Tontraftiert. Diefer ariftofratifche Konjervatis-
mus entwicelt fi) aber noch weiter feit dem Siege der Kirche und der
Chriftianifierung von Staat und Geſellſchaft. Nun werden die von
dem natürlichen Machtlampf und Auslefeprozeß emporgetragenen Gemalten
\
Be
nicht mehr bloß als natürliche Ordnungen ertragen, jondern nun wird
ihre göttliche Zulaſſung und Stiftung unmittelbar, betont, um fie Dazu
zu verpflichten, daß fie ihre äußere Gemaltftellung auch durch innere
fittliche Würdigkeit verdienen und Heiligen. Die Ariftofratie der ſittlichen
Überlegenheit und die Ariſtokratie der natürlichen Machtſtellung ſollen
nach Möglichkeit vereinigt werden. Die Herrſchenden in Familie, Ge—
ſchlecht, Arbeitsbetrieb, Stand, Kirche und Staat ſollen ihrer Stellung
entſprechend Fürſorger, Erzieher und Leiter werden, ſollen ſich als
Inhaber anvertrauter göttlicher Miſſion betrachten, für die ſie Gott
Rechenſchaft ſchuldig ſind. So kommt ſchließlich die Staats- und Geſell—
ſchaftslehre der Kirche dazu, die Regeln vorzuſchreiben, nach denen dieſe
Berufsausübung chriſtlich anerkannt und geordnet werden kann, und bean—
ſprucht ſie, dieſe Gewalten zu weihen und unantaſtbar zu machen, wenn ſie ihr
Amt im chriſtlichen Sinne führen. So wird die Politik der Kirche abſolut
ariſtokratiſch und konſervativ, ohne doch daneben die Theorie der Volksſouve—
ränität, des Gemeineigentums und des von der Sünde mit bedingten Urſprungs
des Staates aufzugeben. Der Staat und die Geſellſchaftsordnung entſtehen
erſt durch die Sünde und tragen vielfach die Spuren ſündigen Urſprungs,
aber ſie ſind in der ſündigen Welt doch Ordnungen Gottes, die nur die
Beimengung der Sünde möglichſt auszutilgen und ſich zu chriſtianiſieren
haben. Die politiſche Ethik der Kirche konſerviert den Staat, wenn
ſeine Gewalten ſich aus der chriſtlichen Idee beſtimmen. Hier iſt in
Wahrheit auch kein großer Unterſchied zwiſchen den Konfeſſionen. Die
katholiſche Staatslehre verlangt die direkte Beeinflußung des Staates
durch die zentraliſierte, internationale Kirche; der Proteſtantismus ent—
läßt den Staat aus der Gewalt und Bevormundung durch die Kirche,
erwartet aber von der perſönlichen ethiſchen Überzeugung des Trägers
der gefellfchaftlichen Gewalt die chriftlich-patriarchalifche Führung ihres
Amtes und die Rücdficht auf die Forderungen der Kirche, alfo die Unter-
ftellung der Obrigkeit unter die chriftlichen Ideen und die Unterftellung .
der Kirche unter den ftaatlihen Schu. Von Hier aus wurde der tat-
kräftige Calvinismus geradezu wieder genötigt zu einer gewaltfamen
religiöjen und fittlihen Kontrole des Staates und verlor darüber, indem
er nicht wie der Katholizismus fich auf die Kirchengewalt, fondern nur
auf die Gemeinde ftügen konnte, freilich ein gut Teil der fonfervativen
"Prinzipien. Das Luthertum aber Hat nur in dem gefteigerten Peſſimismus
feiner Erbfündenlehre auf die chriftliche ©eftaltung der Gewalten verzichtet
und fih mit der Leidjamfeit einer unbedingten Ergebung in die jeweils
herrſchenden Zuftände gefügt. Die puritanifche Revolution und dann vor
allem das Naturrecht brachten nun freilich eine große Erſchütterung dieſer
Theorieen, aber in der Gegenwirkung gegen die franzöſiſche Revolution
traten dieſe Gedanken wieder bei Katholiken und Proteſtanten hervor.
De Bonald, De Maiſtre und Stahl haben ſie wirkungsvoll erneuert.
Nur brachten die Zeitverhältniſſe es jetzt mit ſich, daß damit das
ariſtokratiſch-konſervative Prinzip der chriſtlichen Staatsethik den re—
aktionären Zug erhielt. Die frühere, allerdings oft widerſpruchsvolle Ver—
bindung mit dem revolutionären Perſönlichkeitsgedanken wurde faſt
völlig ausgeſchieden. Es handelt ſich nun um Konſervierung der
alten legitimen Gewalten, die ihrerſeits auch die alte legitime Theologie
gegen die moderne Wiſſenſchaft ſchützen und dafür von der Theologie
den Dank der Erhaltung ihrer Rechte ernten ſollen. Es iſt ein Bund
aller herrjchenden alten Gewalten gegen alle neuen, vom natürlichen Bro-
zeß emporgetragenen, Gewalten, auch wenn diefe an fich die viel ftärferen
Wurzeln in der Oejamtlage haben. Dadurch ift der Konfervatismus
hriftlicher Färbung heute mehr Eonfervativ als ariftofratisch geworden,
und ſchon fteht eine neue Entwidelung bevor, die ihn in einer fchwierigen
Lage zu einer Elafjenfämpferiichen Sntereffenpartei werden laſſen. Aber
all das darf den Blid dafür nicht verdunfeln, daß an fih in der
chriſtlichen Ethik eine ariftofratiich-Fonfervative Tendenz enthalten ift, die
die Ergebnifjfe des natürlichen Machtbildungsprozeſſes fich als natürliche
Fügung gefallen läßt und den Machtinhabern nur die möglichite Hand-
habung ihrer Macht als fittliches Amt und göttlichen Beruf zur Pflicht
madt. Und darin liegt heute noch für Unzählige der ethifche Idealis—
mus des fonjervativen Prinzips.
In diefen beiden Haupttendenzen hat fich die chriftliche Ethik politisch
ausgewirft. Es iſt Kar, daß e3 von Haufe aus eine Doppelheit in der
chriſtlichen Ethik ift, die diefer Spaltung der politisch-hriftlichen Idee zu
Grunde liegt. Es ift einmal der Gedanfe des abjoluten Perſönlichkeits—
wertes, und e3 iſt andrerfeit3 der Gedanke der Ergebung in Gottes
natürliche Weltordnung. In der einen Richtung Tiegen für die Bolitif
die revolutionären und demofratifhen Tendenzen, im der andern Die
aristofratifchen und Fonfervativen. In beiden Tendenzen iſt aber etwas
dem Chriftentum fremdes hinzugefommen, weltliche Motive und Gefichts-
punfte der natürlichen Befchaffenheit und Zwecke der Menſchen, im einen
Fall das Naturrecht mit feiner natürlichen Gleichheit des Menſchenweſens
und der Menfchenzivede, im andern Fall die an den beftehenden Beſitz
ſich klammernde Vergöttlichung älterer Machtverhältnifje mit ihrer Ver—
ervigung des Gegebenen und Aufhebung der Fortſchritte und Reformen.
Die Frage ift, ob die Hriftlihe Ethik, diefe beiden Bei-
ee
mifhungen wieder von ſich abftoßen fann, und ob fie die beiden
ihr mwefentlich zugehörigen Tendenzen wieder an ſich ziehen
und zufammen mit dem Prinzip der Freiheit vom Staate zu
der Idee einer politiihen Ethik des Kriftlihen Gedankens
vereinigen fann.
Diefe Frage hat natürlich nur für diejenigen ein lebendiges Inter—
effe, welche der Überzeugung find, daß die hriftliche Ethik für ung der
höchfte veligiöfe und fittliche Gedanke ift, den wir beißen. Und in dem
Maße, als wir diefer Überzeugung anhängen, wird ung auch von vorne:
herein eine bejahende Antwort wahrfcheinlich fein. Aber wollen wir dieſe
Frage beantworten, fo haben wir erſt eine naheliegende Vorfrage zu
erledigen: wie fommt es, daß eine folche Vereinheitlichung, eine folche
ihren Beſitz an fich ziehende Syntheſe, erſt jetzt möglich fein fol und
von faſt zwei Jahrtaufenden nicht erreicht worden ift? Spricht das nicht
vielmehr von Haufe aus für eine innere Uneinheitlichfeit der Idee ſelbſt
und für die Unmwahrjheinlichkeit einer folchen Syntheſe?
Der Einwurf ift meines Erachtens nicht berechtigt und zwar aus
folgenden vier Gründen, die freilich mit allgemeineren religionsgejchicht-
lien und ethiſchen Anjchauungen zufammenhängen und hier nicht in
ihrer vollen Bedeutung dargeftellt werden fünnen.
Der erite Grund liegt darin, daß wir heute mit Bejtimmtheit
wiffen: Das Evangelium enthält überhaupt Feine direkten politischen und
fozialen Weifungen, fondern ift von Grund aus unpolitiih; es ift nur
mit den höchiten Bielen des perjönlichen Lebens und der perfönlichen
Gemeinſchaft bejchäftigt und nimmt die Verwirklichung diefes deals in
der Erwartung des baldigen Weltendes und des kommenden Gottesreiches
mit einer Energie voraus, neben der die Welt und ihre Intereſſen über-
haupt verjchwinden. Politiſche Gedanken enthält es nur indireft ala
Konfequenzen, die aus ihm hHervortreten, wenn es vor die politifhen und
fozialen Aufgaben einer dauernden Welt geftellt wird und mit der Dauer
diefer Welt auch die Notwendigkeit anerkennen muß, ihre Ordnungen und
Bildungen vom chriftlichen Geifte aus zu beeinfluffen. Daher war Kirche
und Theologie jo lange völlig außer Stande, die politifchen Konfequenzen
de3 Evangeliums zu erfaflen, fo lange fie auf dem Standpunkt der
Inſpirationslehre ftand und an den einzelnen Bibelmorten haften mußte.
Sie hat da3 Neue Teſtament gequält und gepreßt und nichts gefunden,
ſich vielmehr an das Alte Teftament mit feinem auf einer fo viel tiefern
und unentwideltern Kulturſtufe jtehenden jüdifchen Staat halten müffen. .
Erſt eine rein gejchichtliche Auffafjung des Evangeliums, die nicht nur
an der Bibel hängt, fondern das Chriftentum in der Breite feiner
ER ea
hiſtoriſchen Entfaltung fieht, kann daher auch die politischen Ronfequenzen
der hriftlichen Idee zu erfaſſen streben.
Zweitens haben wir durch das gleiche Prinzip Hiftorifcher Forſchung
die Unterfchiede der chriftlihen Idee von den ihr entgegenfommenden
und verwandten, aber doc twieder amdersartigen individualiftiichen
Ideen der Spätantife feiner auffaſſen gelernt: die ältere Firchliche
Lehre hing nur an dem formellen Unterjchied, daß das Chriftentum über-
natürfih und daß die jpätantife Moral natürlich geoffenbart fei. Seit
der Aufgabe diefes Außerlichen DOffenbarungSbegriffes unterfcheiden mir
die verjchiedenen neben und mit dem Chriftentum die neue Welt bilden-
den Kräfte nach ihrem gedanflichen Inhalt. Dann aber wird der tiefe
Unterjchied zwijchen der chriftlichen Perfönlichkeitsethit und der Ethif des
Ipätantifen Naturrecht3 offenbar. Wir begreifen, daß die alte Kirche
diefe verwandte Kraft ergriff, heranzog und mit fich identifizierte. Sie
bejaß ja in ihrer Offenbarung feine Mittel politifcher Ideenbildung und
bejaß ja andrerfeits in ihrem Dffenbarungsglauben nötigenfall3 das Kor—
reftiv für die Übernahme der naturrechtlichen Politik. Für ung aber hat
diefe Verſchmelzung feit dem 17. Sahrhundert ſich aufgelöft; und wir
empfinden heute den tiefen fachlichen Gegenjah und fünnen die Ver—
fchmelzung der chriftlihen Perjönlichkeitsidee mit der naturrechtlichen
Gleichheitsidee wieder auflöfen.
Dritten® haben wir erfannt, daß das Cvangelium und das Ur-
chriſtentum unter dem Eindrud der Erwartung des baldigen Endes und
der baldigen Vollendung fteht, und daß die diefe eſchatologiſche Stimmung
ablöfende Exrbfündenlehre ein Erzeugnis des Beſtrebens ift, zwifchen Chriſten—
tum und Nichtehriftentum eine unüberbrückbare Kluft apologetifch zu befeitigen.
Wir teilen heute weder die efchatologiiche Stimmung der Urchriftenheit,
auch wenn wir keineswegs mit dem irdifchen Leben alles für abgefchloffen
halten, noch die ſchroffe Ausfchließlichkeit der Erbfündenlehre, auch wenn
wir dad Gute überall im Kampfe mit dem Böfen Yiegen ſehen. Damit
werden wir frei von der Stimmung der bloßen Öleichgiltigfeit und Unter-
mwerfung gegenüber den weltlichen Mächten und ebenfo frei von der
Stimmung des peffimiftifhen Mißtrauens, dag in ihnen nur Erzeugnifje
oder beftenfalls Einfehränfungen der Sünde fieht, denen der Fromme fi)
unterwirft als bloß äußern, feine Seele nicht berührenden Ordnungen. Wir
fönnen und müſſen den natürlichen Prozeß mit feiner Folge des Kampfes
ums Dafein, der Auslefe und der Machtbildung als die natürliche Ord—
nung der Dinge unbefangener anerfennen als eine nun einmal gegebene
Ordnung Gottes, die aus der Natur der Dinge jtammt. Wir können aber
Troeltſch, Politiſche Ethik. 3
BR EN
dann auch zuverfichtlicher die Reinigung diefer Erzeugnifje des natür-
Yichen Prozeſſes vom Egoismus und ihre Erfüllung mit ethiichem Geift
verlangen. Wir können die bon der Kirchenlehre verfuchten pofitiven
Wertungen der natürlichen Machtbildung noch viel ernftlicher fordern
und mit allen Mitteln darnach ftreben, fie mit fittlichem Gehalt zu er-
filfen. Wir Eönnen dann die ariftofratifchen Elemente der chriftlichen
Ethik anerkennen, ohne in fchmerzlich peifimiftiiche Refignation und in
einen paffiven Konfervatismus zu verfallen oder lediglich dag Gegebene
zu vergöttlichen. Wir können alte Ariftofratien untergehen und neue
entftehen jehen und beides gleich legitim finden, da fie beide von Gnaden
der natürlichen Ordnung find und beide berufen find, in ihre bloß natür—
Yiche Bildung fittlihen Gehalt aufzunehmen. Wir können Reformen
fordern, ohne rvevolutionär zu fein, und wir können die fittlichen Werte
ariftofratifcher Lebensordnungen anerkennen, ohne beftehende Verhältnifje
zu vergöttlichen. Der Wegfall des ejchatologishen und erbjündigen
Peſſimismus wird feine Verfennung der Sünde und des Böfen fein, und
die Anerfennung des natürlichen Lebensprozeßes wird Feine Verherrlihung
der noch nicht ethifierten, elementaren und triebhaften Natur fein, aber
die Ethif wird in dieſe Vorausſetzungen als natürliche und keineswegs
bloß aus der Sünde ftammende fich fügen und wird fie mit einer pofitiven
Kritif für das fittliche Leben verwerten und geftalten dürfen.
Vierten und vor allem haben und allgemeine ethiſche Erwägungen
gezeigt, daß die chriftliche Ethik überhaupt eine wejentlich religiöſe Ethik
it, deren Grundgedanfe die Vollendung und Länterung der Perſönlichkeit
in der Liebe zu Gott und die Beweifung einer gotterfüllten Gefinnung
in der Bruderliebe ift. Die fo religiös motivierte Liebe ift zweifellos
das höchſte und erhabenfte fittliche Ideal, aber es ift auch in erfter
Linie ein Ideal des inneren Menjchen und der perfünlich- menschlichen
Beziehungen. Es kann daher von ſich aus unter feinen Umftänden die
einzige und alle andern Normen hervorbringende fittliche Idee fein.
Aus der chriftlichen Liebe kann in alle Ewigkeit nicht der ganze Umfang
fttlicher Betätigungen des Menschen in der Welt abgeleitet werden. So
muß die chriftliche Ethik andere fittliche Prinzipien neben ſich anerkennen.
Das ift von der Ethik des Katholizismus und des älteren PBroteftantis-
mus überall durch tatfächliche Entfehnungen beftätigt, und nur die künſt—
liche Verſteckung des Entlehnungscharakters Eonnte darüber täufchen. Von
dem heutigen Chriftentum muß die bewußte umd prinzipielle Anerkennung
dieſes Sabes verlangt werden. Nenaifjance, Aufklärung, die moderne
Weltkultur, die wiſſenſchaftlichen, künſtleriſchen, technifchen Umwälzungen
a
Haben diefe Wahrheit Klar gemacht. Die innere ſeeliſche Ablöfung vor
dem abjoluten Dualismus zwifchen Chriftentum und Nicht-Chriftentum,
die Abwendung von dem abjoluten Peſſimismus der Erbſündenlehre haben
fie logiſch unausweichlich gemacht. Es bleibt nur die Wahl zwifchen An-
erfennung dieſes Sabes oder bibliziftifchem Seftenchriftentum, das ganz
fonjequent alle dieje Dinge ablehnen Tann, weil fie für es nicht eriftieren.
Die fittlichen Werte, die in Kunſt und Wiſſenſchaft, wirtſchaftlichem Er-
mwerb und politifcher Geftaltung enthalten find, kann das Chriftentum von
ſich aus nicht Hervorbringen. Insbeſondere Staat und Geſellſchaft aus der
chriſtlichen Liebe ableiten wollen, heißt die Duadratur des Zirkels fuchen.
Wohl aber kann es alle diefe Bildungen unter den Einfluß feiner Idee
bringen, und, wenn e3 hierbei auch feinen Zentralgedanfen, den der Liebe,
am wenigſten verwerten kann, fo wird es doch andere Grundgedanfen
äußern, durch die es dieſe fremden fittlichen Gebilde unter feinen Geift
und Einfluß bringt. So ift es ein völlig unmögliches Unternehmen, die
politiihe Ethif aus der Zentralidee des Chriftentums zu bejtimmen. Es
wird nicht die Bentralidee der Liebe, fondern es werden die beiden Be-
gleitgedanfen der Berjönlichfeit und der Ergebung in natür-
liche Drdnungen fein, die das Chriftentum zu einer pofitiv politiſchen Ethif
befähigen. Andererfeit3 werden wir auch nie erwarten Dürfen, daß die
Beeinfluffung des Staates durch die chriftlichen Ideen die ganze politiiche
Ethik erfchöpft. Der Staat hat eine felbftändige fittliche Idee, die Idee
des Nationalismus, die Ideen der Vaterlandsliebe und der politiichen
Ehre, die mit ihm jelbft gegeben find und aus feinem Wefen erwachſen.
Mit diefer Idee vermag auch das Chriftentum erfahrungsmäßig direkt
gar nichts anzufangen. Es muß fie als mit dem Staate gegebene fitt-
Yiche Idee vorausfegen und kann nichts anderes wollen als zeigen, daß
dieſe rein politifche fittliche Sdee nicht ausreicht, daß über dem fittlichen
Ideal des Staates überhaupt noch höhere Ideale des innern Lebens
Stehen, und daß aus diefen Idealen auch dem Staate Normen zufließen,
die neben denen des politiſchen Chrgefühls und der Vaterlandsliebe un-
entbehrlich find. Der Staat beruht nicht bloß auf der Vaterlandsliebe
und dem politifchen Ehrgefühl, er beiteht aus PBerfönlichkeiten und muß
ich in ariftofratifche Ordnungen fügen. Für beides gibt ihm die chrift-
Yiche Ethik einen feſten Halt und ethifche Nichtlinien. Es handelt ſich
alfo überhaupt nicht um eine hriftliche politifche Ethik, fondern um dem
Beitrag der riftlichen Ethik zur politifchen Ethik. Seit wir das er-
Zannt haben, können wir auch diefen Beitrag leichter ala einen einheit-
lichen Gedanken formulieren. Die Hriftlihe Ethik fteht über dem Staat,
BER an
und der Staat ift der Güter höchſtes nicht. Aber aus ihr fließen auch
dem Staat fittlihe Gedanken zu, in denen er die rein politifche Sitt-
Yichfeit ergänzen und vertiefen kann.
Mit diefer Beantwortung der Vorfrage ift nun auch die der Haupt-
frage gegeben. Es können nunmehr die Ergebnifje unjerer Betrachtung
zufammengezogen und die Formel für die politiiche Idee des Chriften-
tums aufgeftellt werden.
Die hriftliche Idee ift eine ftreng einheitliche nur, folange fie
in ihrer reinen Sunerlichfeit bei fich ſelber bleibt. Dann ift fie die von
der Gnade in und gewirfte Liebe Gottes, die fich auswirkt in der Rein—
heit de3 Herzens vor Gott und in der Bruderliebe um Gottes Willen.
Hier ift Gott als die Weltwirklichfeit und Gott als die erlöfende Gnade
ein- und derfelbe. Sowie aber das Chriftentum aus diefer Innerlichkeit
heraugtritt, treten auch feine Gedanken notwendig in eine Polarität.
Es trennt fich der Gott der Gnade von dem Gott der Weltwirflichkeit
und ebenfo die chriftliche religiöfe Innerlichkeit des höchſten perjünlichen
Seelenwertes von dem natürlichen Lauf der Welt, die Ubermweltlichkeit
des Gottesreiches von der Innerweltlichkeit des natürlichen Lebenslaufes,
feiner Geſetze, ſeiner Kämpfe und feiner weltlichen GSittlichfeit. Beide
Welten gehören Gott und ftammen von Gott, und wenn auch im natür=
lichen Weltlauf die Wurzeln und der Spielraum der Sünde liegen, jo ilt
doh auch fie von Gott. Daraus ergibt fich für die ganze hriftliche
Ethik ein Dfeilieren zwiſchen dem rein religiöfen Ideal der Herzenz-
reinheit und Bruderliebe, in dem das natürliche Leben gleichgiltig wird,
und den innerweltlichen Sdealen einer Beherrichung, Läuterung und Er-
höhung der natürlichen Welt. Die politiihe Ethik des Chriſtentums ift
daher die Wirkung feines Ideals auf den Staat, der aus dem
natürlihen Fluß und Kampf des Lebens entjtanden ift und feine eigene
politifch-fittliche Idee hervorgebracht hat, der aber num unter den Einfluß
der hriftlichen Idee gerät und unter diefem Einfluß in feinem innerften
Gefüge bejtimmt wird. Die chriftliche Idee ergreift ſowohl die Auffafjung
von der Bildung der Staatsgewalt als die Auffaffung vom Staats—
zwed. Sie erkennt den Staat an als eine der notwendigen natür-
lichen Lebensformen, die Fraft der politifchen See das Gefäß und die
Vorausſetzung für alles höhere Leben formt. Aber als Religion der
Perfönlichkeit und als Religion der Fügung in die Ordnungen Gottes
flößt fie der politifchfittlichen dee einen neuen Blutstropfen ein, die
unbedingte Schäßung der Perſönlichkeit und die pietätvolle Selbſtbeſchei—
dung. So bildet fie den Staatswillen aus den jelbjtändigen Einzelper-
—
ſönlichkeiten, die, zu einem ſelbſtſtändigen ſittlichen Wert berufen, auch
ihren Anteil am öffentlichen Leben fordern müſſen, und ſo verlangt ſie
von dieſen Perſönlichkeiten die Fügung in die natürlichen ariſtokratiſchen
Ordnungen, die mit Staat und Geſchichte von ſelbſt gegeben ſind. So
beſtreitet ſie dem Staate den Charakter des Selbſtzweckes, aber ſie macht
ihn nicht zu einem äußerlichen Schutz- und Rechtsapparat, ſondern fordert
von ihm in der Durchſetzung der Berfönlichkeitzidee, in der Stiftung von
Autorität und Pietätsgefühlen, in der Beteiligung aller Einzelnen an
der Eriftenzmöglichkeit und an der Bildung die Vorausfegung für einen
höheren fittlichen Wert des Menfchen, der fich dann im religiöfen Leben
vollenden kann. Sie hebt die Autarfie, die Selbſtgenügſamkeit des
Staates, auf und pflanzt über ihm das Gottesreich. Sie revolutioniert
die ſtaatlichen Bildungen durch die Forderung der Berfönlichkeit, die ihren
Wert und ihre Selbſtändigkeit nicht in fich verfchließen Tann, fondern
hinaus drängt zur Mitwirkung an der Bildung des Staatswillens. Gie
beugt den Individualismug mit feinem natürlichen Gleichheitsftreben unter
die erziehende Autorität und unter die aus Gottes natürlicher Ordnung
folgenden Machtgebilde. Sie ordnet den Staat unter Gott, fie gibt
Mann und Frau die Menjchenrechte und predigt allen den Gehorfam und
die Selbſtbeſcheidung. Die innere Spannung, die in diefen Gedanken
liegt, hebt fie aber auf Durch gegenfeitige Einfhränfung des einen
durch den andern. Der Wert der fittlihen Perfönlichkeit ift nicht ange—
boren, fondern wird erworben in Kampf und Arbeit; Kampf und Arbeit
aber, in denen fie wird, bewegen fich vor allem in der Bereitwilligkeit,
fich erziehen zu laſſen, und in den fittlihen Tugenden, die in den Ver-
bältniffen der Neben- und Unterordnung erworben werden. Die Perjön-
Yichfeit ift nicht ein einfacher Gegner der ariftofratiihen Ordnung, ſondern
entjteht exit durch die Fügung in dieſe Ordnungen. Andererſeits, die
ariftofratifche Macht ift feine Beute im Kampf ums Dafein, die dem
Erwerber zum Genuß zu Teil wird, fondern fie ift eine Pflicht gegenüber
dem Gefamtwohl. Sie hat feine Verheißung der Ewigkeit, fondern muß
weichen, wenn ihre Träger den inneren fittlichen Gehalt verloren haben,
oder went derfelbe Fluß der Dinge, der fie emporgetragen hat, ihren Boden
unterwühlt und neue emporträgt. Kein Werden der Perfönlichkeit ohne
Fügung in die ariftofratifchen Ordnungen, Feine ariſtokratiſche Ordnung
ohne Dienst am Werte der Verfönlichkeit: das ift die Formel für die vom
Chriftentum infpirierte politifche Gefinnung. Im politiiche Formeln über-
feßt heißt das: Das Chriftentum ift demokratiſch und Eonfervativ zugleich.
Es ift demofratifch, indem es in immer weiterem Umfang Berfittlihung,
a
Berfelbftändigung und geiftigen Gehalt der Perfünlichkeit fordert und dieſe
Berfünlichkeit in der Bildung der Staatsgewalt zur Wirkung kommen
läßt. Es ift konſervativ, indem e3 die Autorität in ihrer Begründung
durch fittliche Überlegenheit und durch politifche Machtverhältnifie aner-
fennt und die Beugung unter die Autorität al3 Duelle fittlicher Kräfte
verfteht. Wie beide Tendenzen jedesmal auszugleichen find, das iſt ab-
hängig von der jeweiligen Lage und ihren Umftänden. Die Aufgabe wird
zurücftreten, wenn der Staat im Kampfe um die Elemente feiner Eriftenz
fteht, fie wird in den Vordergrund treten, wenn er diefer Exiftenz ficher
ift und an feiner inneren Einrichtung arbeitet. Die Geſtaltung diefer
Einrichtung ift dann ein politifchstechnifches Problem, bei deſſen Löſung
es wie bei allen menschlichen Dingen ohne Compromifje nicht abgehen
wird. Aber der Gedanke jelbft ift ein Inbegriff politifcher Gefinnung,
der für alle hriftlich Gefinnten der politischen Arbeit als Ideal Leuchten
fol und ala Gefinnungsideal Har und Leicht verſtändlich ift.
Sn diefer Formel faßt fich die ethiſch-politiſche Idee des Chriſten—
tums zufammen. Sie ift, wie ich wiederhole, nicht eine Theorie des
Staates. Eine folche erftreckt ſich auf die natürlichen fozialen Entjtehungs-
prozeffe und auf die juriftifche Regelung defjen, was fo entjtanden iſt.
Sie betrifft nur die Ethik der Politik, nicht das Weſen des Staates über-
haupt. Aber auch als Ethik der Politik ift fie, wie ich gleichfalls wieder—
hole, nicht der Inbegriff aller politifchen Ethik, jondern nur der Bei—
trag der chriſtlichen Idee zur politifchen Ethik. Dabei aber ift deut-
lich, daß diefer Beitrag nichts Beiläufiges und Beliebiges ift, fondern ſich
auf das innerjte Gefüge des Staates und auf die ganze Temperatur der
politiihen Geſinnung felbft bezieht.
Man kann gegen eine folche Formel einmwenden, fie fei viel zu unbe—
ftimmt und allgemein, als daß praktisch mit ihr etwa angefangen werden
fönne, jedenfalls ftellen fich alle ihre Aufgaben und Schwierigkeiten erſt
in der praftiichen Anwendung heraus. Das ift gewiß richtig. Allein dag
iſt daS 208 aller allgemeinen ethifchen Prinzipien. Sie bezeichnen alle
nur eine prinzipielle Gefinnungsrichtung, aus der heraus dann im Ein-
zelnen gedacht und gehandelt werden fol. Die einzelnen Lagen und
Aufgaben ſelbſt find dann wieder von taufendfachen befonderen Bedingungen
de3 bejonderen Sachverhaltes abhängig, und der ethifche Gedanke bricht
ſich ſo Häufig an den harten Widerftänden realer Dafeinsverhältniffe, daß
immer alles von Fall zu Fall zu überlegen ist, und daß felten der ethifche
Gedanfe ganz rein wird durchgeführt werden fünnen. Das ift ja das
Härteſte am Menſchenſchickſal, daß die Reinheit des Ideals niemals völlig
RT a ee
durchführbar ift, daß dem Höchjften, was der Geift empfangen, immer
fremd und fremder der Stoff fich anflebt. Aber darin erwächlt auch der
Mut der Entfcheidung und der Berantwortung, der im einzelnen Fall die
Aufgabe beftmöglich zu Löfen fich getraut.
Die Einzelfälle müffen daher außer Betracht bleiben, wo es wie hier
ſich Lediglich um das Prinzip Handel. Das Prinzip aber ſelbſt Hat
praktiſch einfchneidende Bedeutung genug.
Das zeigt fich bei dem eriten und nächjten Gegenftand feiner An—
wendung, bei der Frage nach der Stellung der Kirche in den politischen
und jozialen Kämpfen. Aus allem folgt, daß die Kirche als religiöfe
Gemeinschaft unmittelbar überhaupt Feine politiichen Aufgaben hat. Sie
hat als erſte und wefentliche foziale Aufgabe, die Religion felbft zu pflegen
und ihre Auswirkung in der nächften und eigentlichjten Sphäre religiöfer
Sittlichfeit, in der Sphäre. der Privatmoral und der Liebestätigfeit, zu
beleben und zu leiten. Hier ift ihr in der furchtbaren Kriſis der mo—
dernen Weltanfchauungen, in dem Kampf der Skepfis, des Atheismus, der
Zweifelsmüdigkeit, der religiöfen Sehnfucht, der traditionellen Gläubigfeit,
wahrlich ein großes Feld eröffnet; und nicht minder gibt ihr das Elend
der modernen Übervöfferung, der Arbeitsitberlaftung, der Großftadtfünden,
der Verwahrloſung unverjorgter Jugend für ihre Liebestätigfeit eine
Überfülle von Gegenständen, fodaß fie neben allen organischen Gefellfchafts-
reformen immer noch genug zu tun übrig behält. Die religiöfe Lehre,
die Privatmoral und die Liebestätigfeit werden ihr nächſter Bereich fein,
und fie hat hier Arbeit und Aufgaben mehr als genug. Das Wort des
Kaiſers „Politiihe Baftoren find Unſinn“ ift fo, wie es vermutlich
gemeint ift, Daher nicht unberechtigt. Aber freilich ift um deswillen
die Kirche nicht ftumm und ideenlos in den Fragen der Moral des
des öffentlichen Lebens. Nur hat fie nicht ein eigenes Staats- und Ge—
fellichaftsprogramm, fondern fie kann nur von der chriftlichen Idee aus
die jeweils auftretenden und werbenden Parteien und Programme beur-
teilen und damit das allgemeine fittliche Urteil überhaupt beeinfluffen.
Da wird ihre Aufgabe fein in vollfommener Selbftändigfeit und
Unabhängigkeit gegenüber jedem Drud von oben und gegen populäre
Inſtinkte ſowohl ihre demofratifche als ihre ariftofratifche Richtlinie aufzu—
ftelen. Sie wird den Perſönlichkeisgedanken als ihren höchften Gedanken
befennen und die politifchen Forderungen im Prinzip als einen Fortſchritt
begrüßen, denen er zu Grunde liegt. Sie wird insbefondere die Volks—
Schichten ermuntern und ftärfen, die aus der dumpfen Mafjeneriftenz und
dem vertierenden Kampf um das tägliche Dafein aufjtreben nach dem
u AO —
Lichte perfönlichen Lebens und die die materiellen Vorbedingungen fordern,
ohne die von einem Leben der Perfönlichfeit nicht die Rede fein kann.
Allein fie wird ebenfo allen Blendungen des Naturrecht® und der Gleich—
heitsidee widerftehen, fie wird die Perſönlichkeit ſtets nur in dem fittlich
gehaltvollen Menfchen anerkennen, und fie wird die klaſſenkämpferiſche
Identifikation dieſer Ideale mit dem Geiſt des Proletariats, mit dem
Gegenſatz gegen herrſchende Klaſſen, niemals billigen. Sie wird immer
fordern, daß Genügſamkeit und Geduld, Selbſtbeſcheidung und Pietät,
Gehorſam und Dienſtbereitſchaft ſittliche Ideale bleiben, und, wenn man
ihr ſagt, daß damit keine politiſchen Kämpfe möglich ſind, ſo wird ſie das
rundweg verneinen und auch von dem politiſchen Kämpfer die chriſtliche
Zucht verlangen. Sie wird andererſeits ebenſo unabhängig ſein gegen
den Konſervatismus, ſeine Wahrheit ungeſcheut wahr und ſeinen
Egoismus Egoismus nennen. Sie wird die Notwendigkeit der Autorität,
die Pietätsgefühle gegen die Autorität, den Zuſammenhang der Autorität
mit der gefchichtlichen Überlieferung unverhohlen anerkennen und wird die
fittlichen Kräfte fördern, die nur in diefen Verhältniſſen erwachſen können.
Aber fie wird es niemals für ihre Aufgabe halten, eine herrſchende Drd-
nung um jeden Preis zu verteidigen und um der Autorität und Ordnung
willen alles Gegebene und Beftehende zu heiligen. In diefem Sinne hält
fih im Ganzen die Fatholifche Kirche. Ihre Verbindung demokratischer
und Eonjervativer Geſichtspunkte ift feineswegs bloß eine Taktik gejchidter
Politik, fondern ein Ausfluß ihres Weſens. Ihr fehlt nur bei der völlig
autorativen Struftur der Kirche felbjt die volle Macht des Perfünlichkeitz-
gedanfens und bei ihrer mittelalterlichen Denkweiſe die volle Unbefangen-
heit in der Würdigung der moderen hiſtoriſchen Gewalten und des mo—
dernen Geiſteslebens. Die proteitantische Kirche verfügt über die gewal—
tigſte Kraft der freien fubjeftiven Verfönlichkeit und über die Freiheit des
Eingehens auf die moderne geiftige Welt. Soll fie eine wirkliche hiſto—
riihe Miſſion als jelbjtändige Kraft Haben und nicht ihr Beſtes in den
Werken der inneren Milfion erichöpfen, dann muß fie die Haltung zu
den Fragen der öffentlichen Moral gewinnen, die ihrem Perſönlichkeits—
ideal und ihrer freien Anerkennung der gefchichtlichen Mächte entipricht.
Sie follte! — mehr ift Leider nicht zu jagen.
Aber alles das betrifft nur die Haltung der Kirche, und das heißt
derjenigen Inftitution, die unmittelbar aus dem veligiöfen Leben hervor-
geht. Daß für ihr politifches Verhalten die aus der chriftlichen Idee
hervorgehenden Richtlinien maßgebend find oder jein follten, ift ja nur
felbftverftändlih. ine ganz andere Frage ift nun aber, ob diefe politi-
BR 5 ug
{hen Ideen auch vom Standpunkt des Staates aus praftiih brauchbar
find. Die Antwort auf diefe Frage ift nun freilich nit durch eine Nüß-
lichfeitäberechnung zu geben, die den Wert diefer Gedanken für den Staat
feittellte. Es ift eine der großen Prinzipien- und Überzeugungsfragen,
eine der Örundvorausfeßungen und eines der Orundvorurteile, aus denen
das Leben ſelbſt erſt hervorgeht. Hier ift es ganz einfach die tage, ob
Hriftlichveligiöfe Maßftäbe gelten follen oder rein politifche, die dann
wohl nur in der Staatsidee des Nationalismus gefunden werden Fünnen.
Für riftliche Überzeugung verfteht ſich die Antwort don ſelbſt. Sie
fordert, daß der Staat nach ihr fich richte und wird in ihm um fo
höheren ethijchen Wert erkennen, je mehr er ihre Ideen in fich aufnimmt,
ſoweit ein Staatsgefüge und Staatsgedanke überhaupt chriftlihe Ideen
aufnehmen kann. Darnach und nicht nach einem eventuellen Nuben für
den Staat wird fie ihre Antwort richten. Was für den Staat dag
wahrhaft Nübliche fei, das fteht ja gerade ſelbſt erſt in Frage. Das
wahrhaft Nützliche mwird für chriftliche Überzeugung eben dasjenige fein,
was den ethiichen Gehalt des Staates fteigert, und fie wird die bloße
Behauptung des Staates nie für etwas jo wertvolles halten, daß fie
um deswillen von ihren Forderungen nachlaſſen könnte. Sie mag fie für
Zeiten, wo alles in den Naturzuftand des Werdens und in den Kampf
um die elementarjte Eriftenz zurücfält, fuspendieren, aber fie wird nur
dem Werdenden ihre Liebe und ihre Kraft zumenden, was ein Gefäß
ſolches fittlihen Inhaltes zu werden fähig ift.
Gleichwohl ſcheint mir doch auch unter dem engeren Gefichtzpunft
der Selbjtbehauptung und inneren fittlihen Feftigung des Staates das
nicht unwichtig zu fein, was die hriftliche Ethik in feine Gefüge hinein-
zubauen verjpricht. Es handelt fih um ein Prinzip politischer Gefinnung,
das auf die nationaliftiiche Vaterlandsliebe die höheren fittlichen Gedanken
des Dienſtes des Staates für die ideale Welt, des Wertes der Berfünlichkeit
und der Fügung in natürlich gejchichtliche Drdnung aufpropft. Und diefe
Aufpropfung ift nicht bloß eine Veredelung, jondern aud eine Stärkung
des Baumes. Sie feftigt feine Gefüge durch fittliche Überzeugungen und
befruchtet feine Säfte zu reicherer Entfaltung. Und man wird von
folder Gefinnung auch nicht fagen können, daß fie praftifch be-
deutungslos ſei. Wenn fie nur wirklich ehrliche und feite Ge—
finnung wird, jo wäre ihre Wirkung in der Politif wohl zu fpüren.
Sie würde fi darin äußern, daß die Grenze zmwifchen dem, was
der ftaatlihen Macht zugehört, und dem, was der Freiheit des inneren
Menſchen anheimfält, überall mit Feingefühl gezogen würde. Sie würde
a AS
fi äußern in der Anerkennung des Perſönlichkeitsgedankens im Ver—
faſſungsleben, im Verhalten der Stände gegen einander und im Berhalten
der Beamten und Polizei gegen das Volk, in der Bereitwilligfeit zum
Berftändnis der aufftrebenden Maffen und in dem Streben ber Gerech—
tigkeit, ihnen nach Möglichkeit berechtigte Forderungen zu erfüllen. Sie
würde ſich nicht minder äußern in der Achtung und Schätzung der grund—
legenden Rechtsinſtitutionen und in der Anerkennung der Bedeutung der
geſchichtlich gewordenen Autoritäten, in der Geſinnung der Selbſtbeſchei—
dung und Selbſtzucht, in der Bereitwilligkeit zu lernen und ſich leiten zu
laſſen. Sie würde den Egoismus der Sozialdemokratie nicht härter ver—
urteilen als den der Konfervativen, aber den einen wie den andern
Egoismus nennen. Sie würde die natürliche Nejpektlofigkeit der Demo-
fratie vor allem Großen ebenjo ablehnen wie die natürliche Überhebung
des Konſervatismus über die Maſſe. Mit alledem würde fie nicht bloß.
wirfen im Dienste des Ideals der Berfönlichkeit und in Achtung gegebener
Drdnungen, jondern fie würde auch die Verſöhnung der Gegenjähe
anbahnen, die wohl jchwerlich bei ihrer realen Intereſſennatur ohne
einen ſchweren Kampf entjchieden werden fünnen, aber die, ſoweit
fie verföhnt werden fünnen, jedenfalls nur vom — Willen und der
billigen Einſicht verſöhnt werden können
Bei dem Spielraum, welchen die Verbindung demokratiſcher und
ariſtokratiſcher Prinzipien eröffnet, möchte es freilich gerade darauf anzu—
kommen ſcheinen, daß man ſich darüber klar wird, welches der beiden Prin—
zipien gerade in der gegenwärtigen Lage beſonders der Betonung bedarf.
Das mag an ſich richtig ſein, wird aber gerade für unſere gegenwärtige
deutſche Lage kaum die Hauptfrage ſein. Denn die iſt gerade ſo be—
ſchaffen, daß die Betonung beider und die Aufeinanderbeziehung beider
die Hauptaufgabe wird. Sie haben die Fühlung mit einander verloren
oder nie gefunden. Und gerade die muß hergeſtellt werden. Freilich iſt
die Demokratie noch nicht entfernt zu ihrer richtigen ſittlichen Anerkenn—
ung und Wertung, ja nicht einmal zu ihrem richtigen hiſtoriſchen Ver—
ſtändnis gelangt. Die Karrikaturen, die Unverſtand und Hochmut, Angſt
und Selbſtſucht, Nachſprecherei und Gedankenloſigkeit von ihr entwerfen,
ſind deſſen mehr Zeugnis als genug. Und praktiſch läuft auch vielfach
alle Regierungsweisheit auf ihre Unterbindung und Verärgerung hinaus.
Aber daran iſt ſie zu einem guten Teil ſelbſt ſchuld, weil ſie mit den
gleichen Karrikaturen, mit dem gleichen Haß und Unverſtändnis, mit
hetzeriſchem Neid und leidenſchaftlichen Phraſen ſowohl die Realität der
Machtverhältniſſe und die Unvermeidlichkeit autoritativer Gliederungen
Ber ea Ne
verfennt als auch beſonders gerade die fittlichen Forderungen der Ein-
ordnung und Unterordnung verhöhnt. Die beiden Gedanfen müſſen fich
finden und ausgleichen. Die fittliche Perfönlichkeit, die Selbftbeftimmung
und Selbftverantwortung mögen einen wirklichen Anteil an der Staats—
gewalt gewinnen, aber fie werden dann auch bewußte, freie und männliche
Unterordnung unter die unentbehrlichen Gewalten fittlich ſchätzen Lernen
müffen. Der Konfervatismus mag den biftorifchen deutfchen Staat und
feine monardhifch-militärifche Grundlage behaupten, aber er wird es nur
bei bereitwilliger Anerkennung, der Verfünlichkeit, ihrer Selbftbehauptung
und ihrer Mitwirkung tun dürfen. Nur fo kann e& eine fittlich höhere
Entwidelung unjeres Staates und vor allem nur fo kann es eine Ver—
fühnung der fich innerlich immer fremder werdenden Öruppen geben. Das
alles Hat freilich nichts zu tun mit der Stellungnahme zu den heutigen
Parteien und der aftiven Beteiligung an der Politik, die ja nur bei folcher
Stellungnahme zu den Parteien ernftlich etwas ausrichten fann. Hier kann
e3 bei der momentanen Lage ſehr wohl Plicht fein, Liberal zu wählen,
auch wenn man nicht Yiberal if. In der praftiichen Politik mag wohl
eine Entſcheidung zwiſchen den Liberalen und fonjervativen Parteien not-
wendig fein. Das politiich-ethiiche Ideal ſelbſt aber fordert die Vereini—
gung des liberal-demofratifchen und des fonfervativen Gedankens. Und
diefeg Ideal wird länger dauern als die Parteien. Auf ihm wird Ge—
fundheit und Verſöhnung beruhen.
Diefe Verfühnung aber tut vor allem dem heutigen Staate not, den
die inneren Gegenfäge der Agrarariftofratie und des Induſtrialismus,
der Bevölferungsmaffe und der verfügbaren Güter, des aufwachenden
Selbftändigfeits- und Bildungsdranges der Maffe und des alten feiten
Kreifes von Bildung und Befis in unruhvolle Gärung verjeßt haben,
der bei alledem noch keineswegs eine völlig geficherte Exiſtenz gegenüber
den anderen Staaten befitt. Wie diefe Gegenjäge felbjt aufgelöft werden
follen, kann feine Ethik fagen. Das ift ein praftiich-politifches, tech—
nifches Problem, an dem der praftifche Politiker und der Mann der Sozial
wiſſenſchaften vor allem zu arbeiten hat. Aber, wenn die Auflöfung und
Segen bringen foll, dann muß fie im Geifte diejer Verſöhnung demofra-
tifcher und ariftofratifcher Motive gejchehen, und diefe Berfühnung hat
ihren fefteften Halt, ihren tiefiten Geſinnungsgrund, in den politifchen
Ideen der chriftlichen Ethik.
Univ.-Buchdruderet von E. A. Huth, Göttingen.
FB-3957-D
3-3
HEOLOGY LIBRARY
LAREMONT, CALIF.
N ie 22/5
BR
115
PT-
H5H1D
Troeltsch, Ernst, 1865-1923.
Politische Ethik und Christentum. Göttingen,
Vandenhoeck und Ruprecht, 1904.
43p. 23cm.
l. Christianity and politics--Addresses,
essays, lectures. 2. Political ethics--
Addresses, essays, lectures. I. Title.
9
CCSC/mmb
Verlag von Dandenhoed & Rupreht in Göttingen.
Raumann-Buch.
Eine Auswahl Baffifher Stüde aus D. Friedrich Naumanns Schriften
herausgegeben von Dr. Heinrich Meyer-Benfey, Göttingen. ö —
195 5. 8°. Mit einem Bildnis. BR
3. unveränderte Auflage. 5. und 6. Taufend. (Die erfte im Mai 1903.)
Preis fein Fartoniert ME. 1,75; elegant gebunden ME. 2,50.
„AS ich die Anzeige dieſes Buches jah, beftellte ich es, um es zu tadeln; ſchon
de3 Titels — der a ichlimmes ahnen ließ. Je Höher ich ‚eine Perjönlichteit ein-
ſchaͤtze, deſto abholder bin ich jedem Perſonenkultus, jeder Beweihräucherung des Lebenden,
benn fie muß auch dem beften jchaden. Und gar der Gedanfe, mit Friedrich Naumann
Reklame zu machen, könnte das Blut in Wallung bringen. Mit dem Titel habe ich mi
auch jet noch nicht ausgejöhnt; halte ihn auch nicht für zweckmäßig, um die Verbreitung
zu fördern. — Aber das Büchlein if prachtvoll # SE
Eine Auswahl aus Naumanns ſämtlichen Schriften, 43 Kabineitjtüdchen verjchiedenen
Inhaltes, Tünftlerifche, religiöfe, philoſophiſche, politilche, wirtichaftliche; vorn ein gutes
Bild des ehemaligen Pfarrers; das ganze in ein einfaches gejchmadvolles Gewand ge
Hleidet. Wer da3 Büchlein lieft wird dem Herausgeber dankbar fein.“ _ 495 —
olkswirtſchaftliche Blätter 1903, 12.)
„Die auf ihre Wirkung pſychologiſch wirklich fein berechnete Auswahl und An⸗
ordnung verleiht dem Buch einen Wert noch über den Hinaus, den für jeden Naumann
freund eine Zufammenftellung an fich jchon haben würde, und macht es daher bejonderd |
geeignet zur Verbreitung unter jolchen, die Naumann nicht oder oberflächlich kennen.“
(Monatſchr. F. d. f. Praxis 1093, 10.)
Kartell und Trust. Vergleichende Untersuchungen über deren Wesen
und Bedeutung von Dr. S. Tschierschkv. 1903. Preis 2 ME. so pf.
Die „Münd. Allg. Stg.", Ur. 192, fchreibt in einer längeren Befprehung:
„.... Um fo wichtiger erſcheint es aud, das große Publifum über das wahre
Wefen der genannten Derbände aufzuklären und dies ift der Zweck einer Schrif
Tichierfhfy’s, die in [harffinniger Weiſe Wefen, Entftehung und
Wirfung jener Derbände erörtert...“ RL
Bevölkerungsbewegung, Kapitalbildung u. periodische
Wirtschaitskrisen. Eine Betrahtung der Urfahen und fozialen Wirk.
ungen der modernen Jnöuftrie- und Bandelskrifen, _
mit besonderer Berücksichtigung der Kartellirage
- » Don -
Professor Dr. Ludwig Pohle.
1902. Preis 1 ME. 60 Pf. |
„Diefe Abhandlung ift eine intereffante, wiffenfhaftlihe Betrachtung der Ur⸗
fahen und fozialen MWirfungen der modernen Induſtrie- und Handelskriſen mit bes
fonderer Berüdfihtigung der Kartellfrage. Am Schluffe find dem Dortrage ein
gehende Erläuterungen und wertvolle ftatiftifche Unterlagen beigefügt. Befonderes
Intereſſe verdienen die Ausführungen über den volfswirtfchaftlihen Einfluß der
Kartelle und die ftaatliche Regelung des Syndifatswefens“. (Keipziger Stg. 1902, 143.) -
Skizzen aus dem siftlichen und kirchlichen Leben einer
Vorstadt. Ein Eleines Gegenſtück zur „bäuerlichen“ Glaubens und
Sittenlehre. Yon Traugott Kühn. 2 Teile. 1902/4. Preis geh. je ME. 1,20.
„Wahrheit, Wahrheit müffen wir fehen lernen und fuhen. In diefem Bude
wird fie ums gezeigt. Wer ihr Angeficht anfieht, erfhridt; wer e8 aber nicht an= _
fehen will, wird blind, Left dies Büchlein, ihr alle, die es angeht!”
Ze (ef. Kztg. 1902, 50.)