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ifibmrM o(
l^xintetan lltiibrröilg[.
V
PRAKTISCHE
PSYCHOLOGIE
MONATSSCHRIFT
FÜR DIE GESAMTE ANGEWANDTE PSYCHOLOGIE,
FÜR BERUFSBERATUNG UND INDUSTRIELLE
PSYCHOTECHNIK
HERAUSGEBER;
PROF. DR. W. MOEDE - DR. C. PIORKOWSKI
BERLIN
4. JAHRGANG
1922/23
S. HIRZEL . VERLAG IN LEIPZIG
Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS
•) bedeutet Buchbesprechung
Argelander, BeitrSge z. Psychologie d. Übung.
(Zeitschrift für angewandte Psychologie 1921
und 1923) 384*).
Baerwald, Das weibliche Seelenleben und die
Frage seiner Gleichwertigkeit 286*).
Baumgarten, Der Analogietest 201.
Becker, Die Begabten-Auslese 192*).
Bericht über die erste Sitzung des Psycho-
technischen Ausschusses der Reichsbahnver-
waltung 361.
Berliner, Die Bedeutung der Rangordnungs-
methode fiir die Werbeforschung 284*).
Bobertag, Bericht über neue Fortschritte auf
dein Gebiete der padagogischen Psychologie
189.
Bogen, Die psychologische Abteilung in der
Praxis des BeruTsamtes 303.
Bondy, Die proletarische Jugendbewegung in
Deutschland 88*).
Busse, BeruFskundliche Untersuchung des
Rangierdienstes 350.
BQhler, Das Seelenleben d. Jugendlicben 191*).
Couvé, Eisenbahnbetriebsunfalle und Psycho-
tecbnik 193.
Couvé, Organisation und AuFbau der Lebrlings-
eignungsprüFung bei der Deutschen Reicbs-
bahn 328.
Dannenberg, Erfahrungen bei der Prüfung
und Berufsberatung künstlerisch Begabter in
GroH-Berlin 236.
Dunkmann, Die Lehre vom Beruf 316*).
Dünnhaupts Studiën- und Berufsführer, Bd.2:
Psychologie und Psychotechnik 94*).
Ebel, GegenwSrtige Organisationsformen der
Psychotechnik 309.
EignungsprOfungen in England 62.
Erisman-Moers, Psychologie der Berufsarbeit
und der Berufsberatung 90*).
Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus
165.
' Fin der, AuFbau und Wirkungsweise von Zwei-
o handprüFern 359.
Fried rich. Das Anlernen auFpsychotechnischer
Grundlage. „FShigkpitsschulung** 1.
Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwoll-
Feinflyer 265.
Glasel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichs-
babn 335.
Grunwald, P3dagogische Psychologie 189*).
O
Cn
Habrich, Pedagogische Psychologie 255*). ,
Hallbauer, PrQFung der AuFmerksamkeits- und
Reaktionsweise von TriebwagenFührern 104.
Hamburger, Die unmittelbaren psycholo-
gischen Folgen des Gebrauches der Papier¬
merk in der Wirtschaft 81.
H an Ffstaengel, NeueGrundlagen der Werbung
122 .
Hartungen, Psychologie der Reklame 91*).
Henning, Zur Psychotechnik der Frauen-
beruFe 219.
Henning, Eine TestprüFung des Willens 97.
Hochschule, Technische, Stuttgart 315.
HoFFmann, Die ReiFezeit 191*).
Huth, Anieitung zur Schüler-Personalbe-
schreibung. (Zeitschrift für pedagogische
Psychologie, Bd. 23) 191*).
Hylla, Die Bedeutung der Begabungsforschung
für die Berufsberatung 191*).
Kesselring, IntelligenzprüFungen und ihr
pSdagogischer Wert 319*).
Kimura, Ermüdungsstudien bei genau be-
messener körperlicher Arbeit 316*).
Klemm-Sander,Experimentelle Untersuchun-
gen über die Form des Handgriffes an Dreh-
kurbeln 300.
Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung
für Punker 289.
Koffka, Grundlagen der psychischen Entwick-
lung 190*).
Koehier, Wesen und Bedeutung des Indivi-
dualismus 256*).
Konferenz, Allrussische, für wissenschaftliche
Arbeitsorganisation und Betriebsfübrung 224.
Konferenz, Die 111. internationale, für Psycho-
tecbnik und Berufsberatung in Mailand vom
2.-4. Oktober 1922 126.
Kongreö, Achter, für Psychologie in Leipzig
vom 17.—20. April 1923 246.
KraulJ, Betriebsrat und Arbeitswissenschaft
285*).
Liepmann, Psychologie der Frau 287*).
Lipmann, Psychologie für Lehrer 190*).
Le Bon, Psychologische Grundgesetze in der
Völkerentwicklung 92*).
Lobsien, Untersuchungen über die Befahigung
zur Erlernung der Fremdsprache 33.
Marbe, Über Unfallversicherung und Psycho'
technik 257.
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der
praktischen Psychologie 129.
564047
IV
Inhaltsverzeicbnis
Mühlen, vonder, Statistische Erhebung über
die Geneigtbeit der gesamten Barmer Lebrer-
schaft, einen Beobachtungsbogen zu führen 185.
Müller, G. E., Komplextbeorie und Gestalt-
theorie 320*).
Müller, H., Die Mertnersche Reform-Sprachen-
lernmethode 279.
Obst, Das Buch des Kaufmanns 93*).
Piorkowski,Wirkungssteigerung bei Reklame-
mitteln durcb Vereinfachung 210.
Poppelreuter, Ober die Gesetzlicbkeit der
praktiscben körperlichen Arbeitskurve 365.
Poppelreuter, Die Aufgaben des Landarbeits-
und Berufsamtes bei der Organisation prak-
tisch-psycbologischer Einrichtungen 320*).
Praktische Psychologie und Berufsberatung 32.
Psychologische Schülerbeobacbtung zur Vor-
bereitung der Berufsberatung (Zeitscbrift für
angewandte Psychologie, Band 18) 191*).
Psychologiscbes Beobachten für die Berufs¬
beratung (nebst Beobachtungsbogen) 191*).
Psychotecbnik bei den flnnischen Staatseisen-
bahnen 284.
Quiel, Beitrkge zur Berufswahl an Hand einer
Fragebogen-Enquete 56.
Roemer, PsychographiscbeTiefenanalyse eines
Gro&industriellen und seines Stabes 16.
Rosé, Der Selbstbericbt und die Berufsberatung
der Schüler höherer Lehranstalten 294.
Rosé, Die Organisation der Berufsberatung241.
Ruffer, Auswertungserfabrungen der Psycbo-
tecbniscben Prüfstelle der Osram G. m. b. H.
Kommanditgesellscbaft, Pabrik S 225.
Scbnelckert, DasWiedererkennen von Hand¬
schriften 117.
Schneider, Das BriefstempelgeschSft 65.
Scborn, Übungsfübigkeit und Eignungsprü-
fung 383.
Schreber, DerMensch als Kraftmascbine 127*).
Schriften, Eingegangene, 128, 256, 362, 386.
Scbulbof, Die Mitwirkung des Arztes bei der
Ausarbeitung und Durcbfübrung psychotech-
nischer Eignungsprüfungen 222.
Skutsch, Die Psychotechnische Versuchsstelle
der Reichsbahn, ihre Eignungsprüfungen und
Erfolgskontrollen 321.
Sozial-psycbologiscbe Untersuchungen in
Amerika 86.
Stern, Die Festslellung der psychiscben Be-
rufseignung und die Scbule (Beiheft zur Zeit-
schrift für angewandte Psychologie) 191*).
Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textil-
industrie 175.
Stern, Zur Frage der Gewinnung einer charak-
terologiscben Typologie aus Beobachtungs-
bögen 76.
Tagung, Die erste, für angewandte Psychologie
der Gesellschaft für experimentelle Psycho¬
logie in Berlin 28.
Technische Hochscbule, Stuttgart 315.
Thorndike, Educational Psychology — Psycho¬
logie der Erziebung, berausgegeben von Bober-
tag 190*)^
Tramm, Ober die Behandlung der Arbeiter 44.
Tucb, Die Dreiwortmethode als Kombinations-
probe 272.
Tumlirz, Einfübrung in die Jugendkunde 189*).
Valentiner, Zur experimentellen Feststellung
von berufswichtigen Willenseigenscbaften bei
Jugendlichen 10.
Valentiner, Zur Auslese für die höheren
Schulen (Beiheft zur Zeitscbrift für ange¬
wandte Psychologie) 191*).
Verband Praktischer Psychologen 32.
Werner, Prüfung der FShigkeit der Geschwin-
digkeitsscbStzung und Bremsfübrung anTrieb-
wagenführern 113.
Wildbrett, Individuelle Beobacbtung bei Eig¬
nungsprüfungen und Erfolgskontrollen 355.
Wittmann, Über das Sehen von Scheinbe-
wegungen und Scheinkörpern 93*).
Wulf fen,DasWeibalsSexualverbrecherin288*).
Zühlsdorff, Das Begabungsproblem in der
Grundschule 191*).
REGISTER
Amerika, Sozialpsychologische Untersuchungen
86 ff.
Analogietest 201 ff.
Aniernen auf psychotechnischer Grundlage
„Fkhigkeitsschulung** 1 ff.
Arbeit, Psychologische Analyse der 126.
Arbeiter, Ober die Bebandlung der 44ff.
Arbeitsanalysen 175.
Arbeitsanalysen, materiale, aus der Textil-
industrie 175 ff.
Arbeitsbeobacbtungen am BaumwollTeinflyer
265 ff.
Arbeitskurve, Ober die Gesetzlichkeit der prak-
tiscben körperlicben 363 ff.
Arbeitsleistungen, Analyse wirklicber 365 f.
Arbeitsorganisation, Allrussiscbe Konferenz für
224.
Arbeitsprobe 11 ff.
Arbeitsrbytbmus, Das Problem des 165 ff.
Arbeitsuntersucbung (Briefstempelgescbafi)
65 ff.
Arbeitswissenscbaft und Betriebsrat 285 f.
Arztes, Mitwirkung des, bei der Ausarbeitung und
Durcbfübrung psychotechnischer Eignungs-
prüfungen 222 ff.
Aufbau undWirkungsweise von Zweihandprüfern
359 ff.
AuFmerksamkeits- und Reaktionsweise vonTrieb-
wagenfOhrern, Prüfung der 104 ff.
Ausfragung, Eigenschaftsfeststellungdurch 136 ff.
Auslese für die höheren Scbulen 191.
Auswertungserfahrungen der Psychotecbniscben
Prüfstelle der Osram G. m. b. H. Kommandit-
gesellscbaft. Pabrik S, 225 ff.
Barmer Lebrerscbaft, Geneigtheit der, einen
Beobachtungsbogen zu führen 185 ff.
Baumwollfeinflyer, Arbeitsbeobacbtungen am
265 ff.
Befahigung zurErlernung derFremdspracbe33ff.
Begabtenauslese 192.
Begabtenauslese GroB-Berlin, Erfahrungen mit
dem Beobachtungsbogen 146 ff.
Begabungsforschung für die Berufsberatung 191.
Begabungsproblem in der Grundschule 191 f.
Begutacbtungsverfahren, Wesen, Methodologie
und Erfolg der verschiedenen 29.
Bebandlung der Arbeiter 44ff.
Beobachtung, Schul- und Berufsleistungen und
ibre psychologische Zergliederung als Brücke
zwischen Experiment und unbewaffneter 163 f.
Beobachtungsbogen bei Jugendlichen 192.
Beobachtungsbogen bei der Begabtenauslese
Grofi-Berlin 146 ff.
Beobachtungsbogen, Frage- und, in der prak-
tischen Psychologie 130 ff.
Beobachtungsbogen, Statistische Erhebung über
die Geneigtheit der gesamten'Barmer Lebrer-
schaft, einen.. zu führen 185ff.
Beobachtungsbogen, Zur Frage der Gewinnung
einer charakterologischen Typologie aus 76 ff.
Beruf, Die Lehre vom 316.
Berufsamtes, Aufgaben des, bei der Organisation
praktisch-psychologischer Einrichtungen 320.
Berufsamtes, Die psychologische Abteilung in
der Praxis des 303 ff.
Berufsarbeit und Berufsberatung 90 f.
Berufsberatung künstlerisch Begabter in GroB-
Berlin 236 ff.
Berufsberatung und Begabtenforscbung 191.
Berufsberatung, Die Organisation der 241 ff.
Berufsberatung der Schüler höherer Lehran-
stalten 294 ff.
Berufsberatung, Psychologie der Berufsarbeit
und 90 f.
Berufsberatung, Psychologische Schülerbeob-
achtung zur Verbreilung der 191.
Berufsberatung und Tayiorismus 127.
Berufseignung, Feststeliung der psycbischen,
und die Schule 191.
Berufskundlicbe Untersuchung des Rangier-
dienstes 350 ff.
Berufsneigungen und Berücksichtigung bei
Eignungsprüfungen 127.
Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete
56 ff.
Bestimmungsmetboden für Persönlicbkeitstypen
247 f.
Betriebsführung, Allrussiscbe Konferenz für 224.
Betriebsrat und Arbeitswissenscbaft 285f.
Bremsführung, Prüfung der Fahigkeit der Ge-
schwindigkeitsscbatzung und, an Triebwagen-
führern 113 ff.
BriefstempelgeschSft 65 ff.
Cbarakter- und Begabungsunterschiede, Experi-
mentelle Untersuchungen bei Tieren 254 f.
Charakterologischen Typologie, Gewinnung aus
Beobachtungsbogen 76 ff.
Charlottenburg, Technische Hochscbuie, Tagung
der Gesellschaft für experimentelle Psycho¬
logie in Berlin 28 ff.
Dezimal-Klassiükation, Internationale 125 f.
Dreiwortmethode als Kombinationsprobe 272 ff.
Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn 335ff.
Eigenschaften, Natürlicbe und erworbene 126 f.
Eigenschaften, Was sind berufiiche? 126.
Eigenschaftsfeststellungdurch Ausfragung 136ff.
VI
Register
Eigenschaftsfeststellung, Forderungen zur Be-
gründung einer wissenschaftlichen Methode
der Eigenschaftsfeststellung durch Beobach-
tung von Schul- und Berufsleistungen und
Befragung BerufstStiger 154ff.
Eignungsprüfung, Psychotechnische, für Punker
289 ff.
Eignungsprüfung und Übungsfahigkeit 383 ff.
Eignungsprüfungen, Mitwirkung des Arztes bei
222 ff.
Eignungsprüfungen, Individuelle Beobachtungen
bei 355 ff.
Eignungsprüfungen in England 62 ff.
Eignungsprüfungen der Psychotechnischen Ver-
suchsstelle der Reichsbahn 322 ff.
Eisenbahnbetriebsunfalle u.Psychotechnik 193ff.
England, Eignungsprüfung 62 ff.
Entwicklung der angewandten Psychologie 28 f.
Entwicklung, Grundlagen der psychischen 190.
Erfolgskontrollen, Individuelle Beobachtung bei
355 ff.
Erfolgskontrollen der Psychotechnischen Ver-
suchsstelle der Reichsbahn 321 ff.
Ergographie 363 ff.
Erkenntnisvermögen (Padagogische Psychologie,
Band 1) 255 f.
Ermüdungsstudien bei genau bemessener körper-
licher Arbeit 316 ff.
Erziehung, Psychologie der 190.
Experiment und Probe der praktischen Psycho¬
logie, Angriffe der Fragelistentheoretiker gegen
132 ff.
Experiment und unbewaffnete Beobachtung,
Reprasentative Schul- und Berufsleistungen
und ihre psychologische Zergliederung als
Brücke zwischen 163f.
Fahigkeitsschulung 1 ff.
Feststellungsmethoden der angewandten und
praktischen Psychologie 29.
Fragebogen, Internationale Vereinheitlichung
der Teste und 126.
Frage- und Beobachtungsbogen in der prak¬
tischen Psychologie 130 ff.
Fragebogens, Verwendungsformen des 129 ff.
Frau, Psychologie der 287 f.
Frauenberufe, Zur Psycbotechnik der 219 ff.
Fremdsprache, BefShigungzurErIernungder33ff.
Funker, Psychotechnische Eignungsprüfung für
289 ff.
Gesellschaft für experimentelle Psychologie in
Berlin, Die erste Tagung für angewandte
Psychologie 28 ff.
Geschlechtsunterschiede, Problematik der 250.
Geschwindigkeitsschatzung, Prüfung der Fahig-
keit der, und Bremsführung an Triebwagen-
führern 113 ff.
Gestalttheorie und Komplextheorie 320.
Grundschule und Begabungsproblem 191 f.
Hallbauer-Stern, Signalstreckenapparat 108.
Handgriffes, Experimentelle Untersuchungen
über die Form des Handgriffes, an Dreh-
kurbeln 300 ff.
Handschriften, Wiedererkennen 117ff.
Individualismus, Wesen und Bedeutung des 256.
Intelligenzprüfungen und ihr pidagogischer
Wert 319.
Jugendbewegung, Die proletarische, in Deutsch-
land 88 ff.
Jugendkunde, Einführung 189.
Jugendlichen, Das Seelenleben der 191.
Jugendlichen, Zur experimentellen Feststellung
von berufswichtigen Willenseigenschaften bei
10 ff.
Jugendpsychologie, Über das Verhaltnis von
experimenteller Mnd strukturpsychologischer
Forschung in der 252 f.
Kartei, Technisch-wissenschaftliche 123 ff.
Kaufmann, Das Buch des 93.
Kinderpsychologie 190.
Kinderzeichnungen, Primitive Komplexquali-
taten in 253 f.
Kombinationsprobe, Die Dreiwortmethode als
272 ff.
Kompensationswerte der Persönlichkeit 251.
Komplextheorie und Gestalttheorie 320.
Körperlicher Arbeit, Ermüdungsstudien bei ge¬
nau bemessener 316 ff.
Kragsche Maschine mit Rillenkasten 70.
Künstlerisch Begabte, Prüfung und Berufs-
beratung 236 ff.
Landarbeitsamtes, Die Arbeit des, bei der Or-
ganisation praktisch-psychologischer Einrich*
tungen 320.
Lehrer, Psychologie für 190.
Lebrlingseignungsprüfung bei der Deutschen
Reichsbahn, Organisation u. Aufbau der 329ff.
Lehrmittelzentrale, Technisch-wissenschaftliche
123 ff.
Leipzig, Achter KongreD für Psychologie 246ff.
Mailand, 111. Internationale Konferenz für Psy-
chotechnik und Berufsberatung 126 f.
Martin-Methode 64.
Mensch als Kraftmaschine 127 f.
Menschenbehandlung 44 ff.
Mertnersche Reform-Sprachlernmethode 279 ff.
Mosso, Ergographie 363 f.
Organisationsformen, Gegenwartige derPsycho-
technik 309 ff.
Osram G. m. b. H., Psychotechnische Prüfstelle,
Auswertungserfahrungen 225.
Papiermark, Die unmittelbaren psychischen
Folgen des Gebrauchs in der Wirtschaft 81 ff.
Papiernormung, Benutzung für Werbung 123.
Padagogische Psychologie, Bericht über neuere
Fortschritte auf dem Gebiete der 189 ff.
PSdagogische Psychologie 255 f.
PadagogischerWert, Intelligenzprüfungen u. 319.
Persönlichkeit, Kompensationswert der, 251.
Persönlichkeit und Vererbung 249.
Persönlichkeitsforschungu.Selbstbiographie250.
Persönlichkeitstypen und die Methoden ihrer
Bestimmung 247.
„Praktische Psychologie" 191.
Praktiker, Urteilsgrundlage des 31.
Register
VII
Proletarische Jugendbewegung 88 ff.
Prüfung und Berufsberatung künstlerisch Be-
gabterinGroQ-Berlin,Erfahrungenbeider236ff.
„Psychologisch-pidagogiscbe Arbeiten" 191.
Rangierdienst, Berufskundliche Untersuchung
350 ff.
Reichsbahn, Organisation und Aufbau der Lehr-
lingseignungsprüfung bei der 328 f.
Reichsbahn, Psychotechnische Versuchsstelle
193 ff.
Reichsbahn, Die Psychotechnische Versuchs¬
stelle, ihre Eignungsprüfungen und Erfolgs-
kontrollen 321 ff.
Reichsbahn, Von der Dresdner Prüfstelle der
335 ff.
Reichsbahnverwaltung, Psychotechnischer Aus-
schuQ der 361 f.
Reklame, Psychologie der 91 f.
Reklamemitteln, Wirkungssteigerung durch Ver-
einfachung bei 210 ff.
Religiöser Gedanke, Erscheinungsweise des 250 f.
Rhytbmus bei der Arbeit 165 ff.
Seelenleben des Jugendlichen 191.
Seelenleben, Das weibliche, und die Frage seiner
Gleichwertigkeit 286 f.
Sehscharfeapparat 226.
Selbstbericbt und Berufsberatung bei Schülern
höherer Lehranstalten 294 ff.
Seibstbiographie und Persönlicbkeitsforschung
250.
Setzer, Eignungsprüfung 62 ff.
Sexualverbrecherin, Das Weib als 288.
Sitzung des Psychotechnischen Ausschusses der
Reichsbahnverwaltung 361 ff.
Sozialpsychologische Untersuchungen in Ame¬
rika 86 ff.
Sylbesche Maschine SIterer Bauart 69.
Scheinbewegungen und Scheinkörper 93 f.
Scheinkörper und Scheinbewegungen 93 f.
Schokoladenfabrik, Eignungsprüfung in einer
engliscben 64.
Schul- und Berufsleistungen und ihre psycho¬
logische Zergliederung als Brücke zwischen
Experiment und unbewaffneter Beobachtung
163 ff.
Schul- und Berufsleistungen , Eigenschaftsfest-
stellung durch Beobachtung von 154 ff.
Schuie und Feststellung der psycbischen Be-
rufseignung 191.
Schuier höherer Lehranstalten, Berufsberatung
der 294 ff.
SchüIer-Personalbeschreibung,Anleitungzur 191.
Schülertypus, Die Beeinflussung durch die Unter-
richtsart 252.
Sprachlernmethode, Die Mertnersche Reform-
279 ff.
Staatseisenbahnen, Psychotechnik bei den Finni-
schen 284.
StempelgeschSft, eine Arbeitsuntersuchung 65ff.
Strebevermögen (Padagogische Psychologie,
Band 11) 255 f.
Strukturbegriff in der Psychologie 246 f.
Studiën- und BerufsfQhrer, Dünnhaupt 93 ff.
Stuttgart, Technische Hocbschule 315.
Tagung, Erste, des Verbandes Praktischer Psy¬
chologen 32.
Tayiorismus und Berufsberatung 127.
Teste und Fragebogen, Internationale Verein-
heitlichung der 126.
Testprüfung des Willens 97 ff.
Tiefenanalyse, Psychographische, eines GroB-
industriellen und seines Stabes 16 ff.
Tieren, Experimentelle Untersuchungen über
Charakter- u. Begabungsunterschiede bei 254 f.
Tierpsychologie, rSumliche Gebundenheit bei
Tieren 254.
Triebwagenführern, Prüfung der Fahigkeit der
Geschwindigkeitsschützung und Bremsführung
an 113 ff.
Triebwagenführern, Prüfung der Aufmerksam-
keits- und Reaktionsweise von 104 ff.
Typenforschung 248 f.
Typenlehre,psychologische, für PSdagogen 189 f.
Typologie, Zur Frage der Gewinnung einer
charakterologischen, aus Beobachtungsbögen
76 ff.
Unfallversicherung und Psychotechnik 257 ff.
Unterrichtsart und Schülertypus 252.
Urteile, Beziehungen der psychologischen und
praktischen 31.
Übungsfkhigkeit und Eignungsprüfung 383 ff.
Verband Praktischer Psychologen 32.
Vereinfacbung von Reklamemitteln 210ff.
Vereinheitlichung, Internationale, der Teste und
Fragebogen 126.
Vererbung und Persönlichkeit 249.
Verwendungsformen des Fragebogens 129 ff.
Völkerentwicklung, Psycbol. Grundgesetze 92f.
Weib, als Sexualverbrecherin 288.
Werbeforschung, Die Bedeutung der Rang-
ordnungsmethode für die 284 f.
Werbung, Neue Grundlagen der 122 ff.
Willens, Eine Testprüfung des 97 ff.
Willenseigenschaften, Zur experimentellen Fest¬
stellung von berufswicbtigen, bei Jugend¬
lichen 10 ff.
Willensfreibeit und PSdagogik des freien Wollens.
(PSdagogische Psychologie, Bd. III) 255 f.
Wiedererkennen von Handschriften 117 ff.
Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durch
Vereinfacbung 210 ff.
„Zeitschrift für padagogische Psychologie" 191.
Zweihandprüfer, Aufbau u. Wirkungsweise 359 ff.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. OKTOBER 1922 1. HEFT
Die Praktische Psychologie erschelnt in monatllchen Heften lm Uroftnge von zwel Bogen zum Preiee von 300 Mark vlerteljibrllch
fOrs Inland. FQrs Ausland besondere Prelse. (Vierteliabrspreis bei unmlttelbarer Zustellung unter Krtuzband lm Inland ein*
scblIeOlicb österreich - Ungarn 400 Mark.) Bestellungen nebmen alle Bucbhandlungen, die Post sowie die Verlagsbucbbandlung
entgegen. Anzelgen vermlttelt die Verlagabuchbandlung S. Htrzel In Lelpzlg, KönlgstraOe 2. Postscbeckkonto Leipzlg226.—
AHe Manuakrlptsendungen und darauf bezügllche Zuachrlfteo aind zu richten an die Adresse der Schriftleltung: Prof. Dr. W. M oed e
und Dr. C. Piorkowaklf BerllnWSO, LuitpoldstraOe 14.
Das Anlernen auf psychotechnischer Grundlage
„Fahigkeitsschulung“
Von Dr.-Ing. A. Friedrich, Privatdozent für Psychotechnik
an der Technischen Hochschule zu Hannover
Das Anlernen erfolgt in '/a—der bisberigen Zeit und führt
zu einer handwerklichen Vertiefung der Arbeit, damit zur Er-
höhung der Güte und Schnelligkeit, zur Verringerung des
Verbrauchs an Kraft (Strom) und Material.
D as Merkmal unserer Zeit ist der Mangel an Werten, der im Wirtschafts-
leben und im Dasein des einzelnen lahmend wirkt. Für uns bestehc somit
die Aufgabe, alles Unproduktive, d. h. alles, was letzten Endes nutzlos getan wird,
zu beseitigen und sowohl in der Verwendung als auch in der Erzeugung
von Werten eine Wirtschaftlichkeit eintreten zu lassen, welche dauernde
Früchte tragt.
Durch die Einstellung jahrelangen SchafPens auf den Kriegsbedarf muDte
eine Armut an Werten des alltaglichen Lebens eintreten und die Sparsamkeit
in der Verwendung der Güter erlangt dadurch zweitgeordnete Bedeutung,
daO es sich ja nur um eine Verteilung, eine Verschiebung unter vorhandenen
Werten handelt.
Von ungleich höherer Bedeutung ist die Vermehrung der Werte, wie sie im
Arbeitsgang, in dem Zusammenspiel zwischen Mensch und StofF, erreicht wird.
Hier gilt es nun, Umschau zu halten nach allen Mittein, welche durch Be-
seitigung der Hemmungen materieller und menschlicher Art die organische
Kraftauswirkung erhöhen. Zu dieser Aufgabe ist die Psychotechnik berufen.
Die Notwendigkeit der Psychotechnik ist gegeben durch den Zwiespalt
zwischen dem technischen Fortschritt und Zurückbleiben menschlicher
Schulung, d. h. durch die Tatsache, daO die menschlichen Fertigkeiten dem
technischen Fortschritt nicht entsprechen.
Um diesem Übelstande abzuhelfen, gelangte eine Auslese der Besten zur An-
wendung, die in willkürlicher Form oder nach objektiven Methoden der Psycho¬
technik vorgenommen wurde. Eine derartige Auslese setzt voraus ein Mehr-
anfebot an Berufstatigen, wie wir es indessen nicht immer anhnden. Für unser
Betriebsleben ergibt sich folgendes Bi ld 1:
P. P. IV. I.
1
2
Friedricb, Das Aniernen auf psycbotechnischer Grundlage
In einer groQen Anzahl von Fallen ist also eine Auswahl unmöglich, und es
entsteht die Notwendigkeit, mit geringeren bzw. den vorhandenen Kraften die
gewfinschte Leistung zu erzieien.
Dies ist möglich durch
Vorrichtungsbau Schuiung der Krafte
d. h. d. h.
Einschranken der Fahigkeiten , Erweitern und Verstarken
der Fahigkeiten
Der Vorstellung, daO durch zweckmaOigen Vorrichtungsbau alles zu er-
reichen sei, muO entgegengehalten werden, daQ durch das Ausschalten wichtiger
menschlicher Krafte diese schlieQlich verkümmern. Der praktisch und ethisch
wertvolle Teil ist die Krafteschulung in einer Form, daO sie sich auch am Be-
rufsplatz auszuwirken vermag. Diese Schuiung kann indessen nur so erfolgen,
daO sie nicht nur die AuOerungen des Handelns, sondern ebenso die Triebkrafte
des Menschen bedenkt.
Die menschiiche Kraftauswirkung
Das Bestreben der Organisation geht dahin, die Arbeltsauswirkung zu erhöhen
(Bild 2). Das Herausziehen, das Erzwingenwollen einer Arbeltsauswirkung durch
Bestimmungen aller Art entspricht dem Vorgehen eines Gartners, welcher, urn
Früchte schneller zu erzieien, die Pflanzen aus dem Boden herauszuziehen trachtete.
Dieses so sinniosc Vernachlassigen des Organischen erleben wir in unseren
technischen Organisationen taglich in der Verwendung menschlicher Krafte.
Die organische Erhöhung der Arbeltsauswirkung wird erreicht
a) durch Beseitigung der Hemmungen: harmonische, technische und
menschiiche Organisation,
b) durch Beseitigung der Spannung: Eiternerziehung, Jugenderziehung,
Vermeidung spannungerregender Einfiüsse,
c) durch Verstarkung der Grundkrafte.
Friedricb, Das Aniernen auf psycbotechnischer Grundlage
3
Arbeitsiuswirkung
Arbeitstrieb
WirkuDgsirleb
Hemmungen luOerer Art,gegcbcn
durch faltche Beachiftigung,
Organisttionamangel usw.
Spannungen innerer Art, gegebcn
durch Verarbung, Erxlehuog,
Umgebung usw.
Abbildung 2
Innerhalb des Fabriklebens spielen die Arbeiten a und c die bedeutungsvollste
Rolle, insbesondere aber die Verstarkung der Grundkrafte in einer Form, welche
der jeweiligen BeruFsarbeit entspricht.
Bild der Arbeit
Die Arbeit stellt sich danach FoIgendermaOen dar:
Die Triebhaftigkeit
des Menschen
' —»■ wirkt sich aüs
I durch
^ die Arbeitsfdhigkeit
Innerstes Lebendigsein, Auswirkungs-
möglichkeit
Zielstrebigkeit
abhangig
mit Hilfe der
Arbeitsmittel
Organisches
Mittelglied
zwischen
Mensch/Arbeit
in der
Arbeitstat
\
Aniagen Fertigkeiten
Es kommt also nicht nur darauf an, nur Fahigkeiten der Arbeitsausübung Fest-
zustellen, sondern diese Ausübung tatsachlich zu erzielen! Dazu aber
muO zwischen den oben genannten 4 Gliedern Harmonie bestehen und die Trieb-
1 *
4
Friedrich, Das Aniernen auf psychotechnischer Grundlage
hafcigkeit als Grundelement vorrücken. Insbesondere darf diese (d. h. die eigent-
lichen Strebungen des Menschen) nicht durch Spannungen lahmgelegt sein.
Diese Spannungen entsprechen der Bremse eines Motorwagens, der trotz
betriebsfahigen Motors (Arbeitsfahigkeit) nicht fahren kann. Die leichte Um-
schaltung des Bremshebeis macht unvergleichlich hohe Werte frei.
Ahnlich gelingt es, durch Beseitigung und Vermeidung innerer
Spannungen die Kraftauswirkung des Menschen zu erhöhen!
So ergibt sich als Fragestellung: Wie ist es möglich, die ganze hinreiGende
Triebkraft des Menschen zur Erschaffung von Werten zur Auswirkung zu bringen?
Hierfür sind nun Bedingungen: 1. Gestalten der Arbeit in mittelschwerer Form,
(zu leicht führt zur nachlassigen Berufsausübung, zu schwer führt zum Versagen).
Bedacht werden muB, daO der Mann an sich Kampfnatur ist, aber infolge jahr-
hundertelanger Fehler mit Minderwertigkeitsgefühlen schlimmster Art behaftet ist,
die seinen AngrifFsgeist im Arbeitskampfe lahmen. 2. Aniernen auf psycho¬
technischer Grundlage. Beseitigen der feindseligen Einstellung zu der betr. Arbeit,
3. Verstehen der Arbeit und ihrer Einzelheiten, 4. Hineinwachsen in die Berufs-
notwendigkeiten.
Das Aniernen
1. Merkmal: Vor Übertragung der Fertigkeiten werden die Fahigkeiten geübt.
der Fertigkeiten
Beispiel: Kaltrichten von Laschen. Ergebnis der
Analyse: a) Schlagwahl, b) Zielsicherheit, c) Richtsicherheit,
d) AugenmaB usw.
Zur Berufsausübung wird verlangt, daB jede Fahigkeit
eine bestimmte vorgeschriebene Güte (100%) aufweise;
die erste Prüfung ergibt die Werte in den einzelnen Fahig¬
keiten (Abbildung 3).
Anl ernen
auf psychotechnischer Grundlage (Abbildungen 4/5)
„Fahigkeitsschulung"
Abbildung 4 Abbildung 5
Da an dem Berufsplatz die ganzen
Fahigkeiten in derFertigkeitzusammen-
hangen, ist für das Aniernen die
schlechteste Fahigkeit maBgebend. Von
dieser aus muB alles hochgeführt
werden, so daB auch die schon ent-
wickelten Funktionen ganz nutzlos
immer wieder mitgeübt werden.
Nur das Fehlende wird mit
besonderer Sorgfalt angelernt!
Berücksichtigung der individuellen
Eigenart!
Folge: Sehr starker Zeitgewinn,
Vertiefung der Arbeit.
Friedrich, Das Aniernen auf psychotechnischer Grundlage
5
2. Merkmal: An Stelle des Autoritativen des Vorarbeiters tritt der Kampf-
richterstandpunkt des Übungsleiters.
3. Merkmal: Die Übermittlung der Fahigkeiten erfolgt in sport-
lichem Wettkampf, d. h. die Arbeit wird Sport und Handwerkergeist
kommt zur Entfaitung!
Die Bedingungen sind — wie bei dem Sport — für jeden gleich. Wie dort,
ist der einzelne auch im Übungsraum nur auf sich angewiesen und sieht an den
meist selbstregistrierenden Apparaten bald ein, daö er einen Fehler, der unnach-
sichtlich und ganz objektiv vermerkt wird, nur sich zuzuschreiben bat. Da die
Lösung der Aufgabe in den einzelnen SchwierigkeitsstafFelungen möglich ist,
bricht allmahlich die reine Leistungsfreude durch, welche um so mehr entfacht
wird, ais die Anlerner jederzeit ihre Leistungen selbst nachprüfen können.
Die Freude an der gelungenen Arbeit, der Qualitatsarbeit, vernichtet
das Minderwertigkeitsgefühl, das der Arbeiter in Anbetracht des unver-
standenen Berufskomplexes emplindet und das nur zu oft ins Gegenteil —
in Selbstüberhebung — umschlagt.
Die Gerate halten sich nach Möglichkeit von Abstraktionen fern und geben
den Berufsvorgang in mefibarer Form so wieder, daO der Arbeiter die Verwandt-
schaft bzw. Gleichheit zwischen Apparatur und Wirklichkeit sofort erkennt.
Da der Arbeiter meist anschaulich denkt, ist hierauf besonderer Wert
zu legen! Die Apparatur muB in ihm eine ahnliche Gemütseinstellung wie
die Werkstattarbeit hervorrufen!
Der Arbeiter muli sich, ohne lange SchluBfolgerungen, standig bei der Arbeit
an den Übungsgeraten sagen können: „Dies ist tatsachlich meine Arbeit."
„Genau dieselben Verrichtungen habe ich auszufiihren." „Wenn ich
in derWerkstatt etwas leisten will, muB ich erst dies können!"
Deshalb ist vorteilhaft: Möglichst klare Übernahme der analysierten Berufs-
Funktionen in das Übungsgerat, dadurch Betonung des Lustgefiihls wahrend
der Übung!
Beispiel: Schmiedegerat für Feststellung und Übung der Schlagwahl bei
Richten von Laschen, Schmieden usw. (Abbildungen 6 und 7 a b).
6
Friedricb, Das Anlernen auf psychotecbnischer Grundlage
AuFgabe; Der Schenkel S ist mit zwei Schlagen in wagerechte Lage zu bringen:
1. Schlag: Fühlschlag, 2. Schlag: Richtschlag. Hierbei schreibt der BleistiFt B
auF der SchreibtaFel*).
Nach jeder AuFgabe wird das Gewicht verstellt, so dafi die Harte des Materials
stets eine andere ware.
Die Herstellung der Gerate kann nach Angabe von jeder Werkstatt auF
Grund der Analyse selbst erFolgen, wobei meist AbFallstücke verwertbar sind.
Hierdurch werden die Kosten auF einen Bruchteil herabgedrückt und
die AnschaFFung wird auch kleinen Firmen, ja sogar Handwerkern
leicht!
Für die VertieFung der Güte geiten ahnlic-he Gesetze.
Abbildung 7 b
ScbmiedegerSt
Abbildung 7c
Gerat zum Einstellen von Gleicbgewicbtslagen
Hierzu kommt noch die wesentliche Verringerung von Strom-
verbrauch, Verschleifi von Maschinen, Werkzeug und Material, Wrack-
a rbeiten.
Dabei wird — durch die Eigenartigkeit der Methodik — die Anlernzeit au F
'/ 2 —Vs verringert, so daB hierbei ganz auBerordentliche Gewinne Für das
Werk und die Arbéiter zu erzielen sind.
Beispiel SchleiFer: Durch je 20 Übi^ngsstunden betrug der Anlerngewinn
beispielsweise
bei SchleiFer A 17 Schichten
B 13
zusammen 30 Schichten
d. h. durch 20 Stunden methodischen Anlernens wurden 30 Schichten (Lohn und
Zuschlage) gespart (siehe nebenstehende Abbildung 8).
*) Der Vorgang entspricbt der Arbeit bei dem Richten und Scbmieden von Lascben. Es
bestebt bier der aulSerordentlicbe Vorteil, obne MaterialverscbleiB und Zeitverlust fOr Neben-
arbeiten den Scbmiedevorgang konzentriert einzuscbulen.
Durchschnittsleistung je Schicht
Friedrich, Das Aniernen auf psychotechniscber Grundlage
7
Das gleiche gilt für alle anderen behandelten Berufe, wie Nietenverstemmer,
Bohrer, Fraser, Kranführer usw. (Abbildung 9).
Die Erfahrung hat gezeigt, daU die Anlerner mit groBer Freude sich den
Obungen unterziehen und zum Teil auch noch an anderen Geraten ausgebildet
Leistung
•/.
Gewinn durch psychotechnisches
Aniernen bei zwei Feinschleifern
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Anlernschichten
3 0 4 0
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7 o
80
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1 00
too
U hprotlukt V» 2p,5 5 hichtfen
10 20 30
■ Anlernschichten
Gewinn
Schichten Geld
ZflhI % (Schlcbtlohn + Zu-
sch!ag2.Z.2500M.)
17,25 45,7 34 500 M.
Anlernschichten
B
13 34,5 26000 M.
60500 M.
d. h. ein Gewinn von 60000 M.
allein bei zwei Leuten durch
je 20 psychotechnische An*
lernstunden.
Abbildung 8
werden wollen. Durch die Vertiefung der Arbeit steigt die Selbstbeobachtung,
und der Arbeiter gibt schon nach den ersten Stunden an, wo es ihm in der
Werkstatt noch fehlt und an welchen Geraten er noch Fehler aufweist. So hilft
er selbst mit, seine eigenen Krafte zu stahlen und im sportlichen Wett-
kampf der Beste zu sein.
8
Friedrich, Das Anlernen auf psychotechnischer Grundlage
Nachdem die Pahigkeiten in Fleisch und Blut übernommen sind, besteht kein
AnlaO, sie am BeruFsplatze nicht anzuwenden, da sonst hierzu im Gegenteil
eine neue Anstrengung erforderlich ware.
Das Haftenbleiben der übermittelten BeruFsfahigkeiten erFolgt wie bei Turn-
übungen, Schwimmen u. dgl. und wird um so leichter, als der Arbeiter ja in der
gleichen BeruFsumgebung verbleibt.
ErFahrungen: Die Fahigkeitsschulung, das Anlernen auF psychotech¬
nischer Grundlage ist in jedem BeruFe — nicht nur Werkstatttatigkeit —
möglich, Für welchen eine auF eingehender BeruFskenntnis beruhende Ana¬
lyse auFgestellt wurde.
Beispiel der Arbeitsverbesserung: Kranführer. An einer besonderen
Übungsanordnung, die neben den sonstigen GerSten für die einzelnen Berufs-
funktionen besteht, wird der ganze Berufskomplex vor und nach der Übung
geprüft. Nach schon eintSgiger Übung ergab sich eine Verbesserung der Fahr-
zeit von 30%, wie obenstehende Kurve zeigt
Durch das allmahliche Hineinwachsen in die BeruFsFunktionen gehen die
einzelnen UnterFahigkeiten in Fleisch und Blut über und der Arbeiter vermag
am BeruFsplatze die einFachen Arbeiten mit wesentlich geringerer Mühe, die ab-
weichenden, schwlerigeren Arbeiten mit besonderer SorgFalt zu erledigen, d. h.
es wird schnelle Qualitatsarbeit gewahrleistet, in der Weise, wie sie bei
dem Handwerker vorbildlich war.
Durch die genaue Kenntnis der Arbeitsbedingungen, das Bemeistern des
Arbeitsvorgangs, wird die seelische Beziehung zwischen Mensch und
Arbeit im Sinne des Handwerks wieder hergestellt.
Der Arbeiter steht nicht unverstandenen BeruFskomplexen gegenüber, die ihn
beherrschen, mitreiOen oder niederdrücken, sondern er wachst mit der Auf-
gabe, er kennt sein Arbeitsprojekt, seine eigenen KraFte, die beste Arbeitsart.
Es entsteht statt Arbeitserledigung
statt Minderwertigkeitsge-
Fühl gegenüber der Über-
macht der Maschine
Arbeitsbeherrschung
Ruhiges SelbstbewuBtsein
in der Bemeisterung des
Stoffes.
Friedrich, Das Anlernen auf psychotechnischer Grundlage
9
Zusammenfassung
Das Anlernen des Berufstatigen entspricht dem Vergillen des Materials.
In derselben Weise wie hier das Material für einen bestimmten Zweck nicht
nur ausgesucht, sondern auch vergütet wird, tritt dort auch bei den Menschen
neben die Berufsberatung auf Grund der Prüfung die Schulung der Fahigkeiten.
Das helfende Prinzip
Prüfen (Berufsberatung) Anlernen der Fahigkeiten
ermöglicht dem
Arbeiter
leichteres und frohes Arbeiten, hand-
werkliche Vertiefungder ArbeitjLebens-
freude, gute Verdienstmöglichkeit.
Die Me
baut sii
Werk
auDerordentliche Gewinne durch Ver-
ringerung der Anlernzeit auf V2 —', 3.
Vermeidung von VerschleiB und Ver-
brauch an Kraft und Material.
hodik
h auf
\
A
auf den Grundlagen auf der individuellen Eigenart
des Berufskomplexes jedes Menschen
* *.' .*■
Fabrikation Organisation Triebhaftigkeit ^ Arbeitsfahigkeit
Es muö betont werden, daG der Aufbau der für die einzelnen Berufe und
Berufsunterartcn in Frage kommenden Verfahren, sowie deren sinngemaGe
Anwendung unter Berücksichtigung der individuellen Verschiedenheiien das
Wichligste der neuen arbeitswissenschafilichen Methodik sind. Die Gerate dürfen,
so bedeutungsvoll sie sind, lediglich als das notwendige Hilfsmittel betrachtet
werden. So stellt die auGere Einrichtung eines derartigen Laboratoriums, sowie
die Prüf- und Übungsordnung gewissermaGen nur das Gerippe des ganzen Vor-
gehens dar, in ahnlicher Form, wie es bei einem Chemischen Laboratorium der
Fall ist. Über dem Ganzen aber muG — wie dort der Geist des Chefchemikers —
hier der organisch ausgleichende und höherführende Geist des berufskundigen
Menschenführers stehen, welcher einerseits jeden einzelnen seiner höchsien Höhe
zuzuführen hat, andererseits durch Beseitigung aller nutzlosen Arbeit dem
Wirtschaftsleben höchste Gewinne zu bringen vermag!
So setzt die Methode voraus: eine aus jedem Berufe erwachsene Analyse,
eine sich an die Bedingungen der Praxis anlehnende Prüf- und Übungsordnung,
einen gerecht und menschlich eingestellten berufskundigen Übungsleiter.
Durch die Betonung des Helfenden wird die Methodik in jedem
Falie fürWerk und Arbeiter fruchtbar!
10 Valentiner, Zur experitn. Feststellung v. berufswicht. Willenseigenscharten bei Jugendlichen
Zur experiraentellen Feststellung
von berufswichtigen Willenseigenschaften bei Jugendlichen
Von Dr. Th. Valentiner, Leiter des Instituts für Jugendkunde in Bremen
I m vorigen Jahre wurden im Bremer Institut für Jugendkunde etwa 350 Jugend-
liche auf ihre Eignung für industrielle Berufe geprüft. Die Prüfung unter-
schied sich vor allem in einem Punkt recht wesentiich von den üblichen: Es
wurden nicht nur über Sinnestüchtigkeit, Handgeschicklichkeit, Begabungen und
Intelligenz Feststellungen gemacht, sondern auch über berufswichtige Willens¬
eigenschaften, namlich den Arbeitswillen und die Arbeitsart. Die Prüfkarten
enthielten meist eingehende Angaben über diese Eigenschaften.
Es ist wohl überflüssig, die Wichtigkeit derartiger Feststellungen zu betonen.
Sie wird allgemein zugegeben. Ob ein Lehrling sorgfaltig, gewissenhaft, gründ-
lich bei der Arbeit ist, ob er die notwendige Ruhe, Sicherheit, das richtige Ar-
beitstempo besitzt, ob sein Arbeitswille ausreicht, ob er eine gewisse EntschluO-
kraft und Selbstandigkeit zeigt — das alles kann bei der Frage der Tauglichkeit
ebenso, ja oft mehr ins Gewicht fallen, als beispielsweise sein intellektuelles
Verhalten. Nun haben mir zahlreiche Vorversuche, die ich an 12—14jahrigen
Jugendlichen ausführte und ausführen lieB, gezeigt, dafi es in der Tat möglich
ist, derartige Feststellungen im Laboratorium zu machen. Diese Jugendlichen
waren mir aus mehrjahriger Beobachtung bekannt. Ich lieli ihre Willenseigen¬
schaften von Mitarbeitern, die weder diese Jugendlichen noch meine Beobach-
tungen über sie kannten, feststellen und ersah beim Vergleichen, daD und wie-
weit es möglich ist, auf dem hier gewahlten Wege zu sicheren Ergebnissen zu
kommen. Dieser Untersuchung waren ferner förderlich die Lehrerurteile, die
ich über die zu prüfenden Lehrlinge einforderte. Hier ergab sich freilich eine
brauchbare Grundlage erst, als ich die Möglichkeit hatte, Lehrerurteil, Prüfungs-
ergebnis und Urteil der Meister über die Lehrlinge einander gegenüberzustellen.
Dies lieO sich erst vor wenigen Wochen bewerkstelligen, da die Lehrlinge am
1. April 1922 eintraten und doch erst einige Monate vergangen sein muQten, ehe
man von den Meistern ein eingehendes Urteil erhalten konnte.
Das Ergebnis dieser Untersuchungen habe ich in Leitsatzen niedergelegt, die
dem ersten KongreC der Gruppe für angewandte Psychologie vom 10.—14. Ok¬
tober vorgelegen haben und die ich am dritten KongreOtage kurz zu begründen
Gelegenheit hatte. Ich möchte hier das Wichtigste wiederholen und noch einiges
zur Erganzung hinzufügen, urn so weiteren Kreisen Gelegenheit zu geben, durch
Nachprüfung und Ausgestaltung dieses ungeheuer wichtige, bisher noch so wenig
bearbeitete Forschungsgebiet weiter auszubauen.
Zur Feststellung von Willenseigenschaften hat man sich bisher neben der
Gelegenheitsbeobachtung vor allem der Handschriftendeutung bedient. Ohne
Frage wird die Graphologie, einmal aus ihrem vorwissenschaftllchen Stadium
Valentiner, Zur experim. Feststellung v. berufswicht. Willenseigenscbaften bei Jugendlichen 11
herausgehoben, gewisse Dienste leisten können. Für Ujahrige Volksschüler ist
schon aus dem Grunde mit der Handschriftenanalyse wenig anzufangen, weil
deren Schrift mit wenig Ausnahmen noch so sehr unter schulischen Einflüssen
steht, daO sich Individuelles nur wenig bemerkbar macht. Als das einzige Mittel,
urn im Laboratorium zu sicheren Feststellungen bei allen Jugendlichen zu
kommen, hat sich mir die Arbeitsprobe erwiesen. Sie ist schon langst vor allem
zur Prüfung von Handgeschick sowie von geistigen Fahigkeiten im Gebrauch.
Zur Feststellung von Willenseigenschaften wird sie meines Wissens noch nicht
verwendet, obwohl sie gerade hierfür von unschatzbarem Werte ist.
Bei Erledigung eines Arbeitspensums zeigt schlieOlich ein jeder, wie er ar-
beitet, ob er flüchtig, oberflachlich, ungenau, nachlassig, schlurig bei der Arbeit
ist, ob das Gegenteil der Fall oder die eine oder andere Eigenschaft in höherem
oder niederem Grade vorhanden ist.
Die Wahl der Arbeitsproben erfolgt nach bestimmtem Plane. Einmal ist es
zweckmaOig, dabei auf die spatere Berufsarbeit Rücksicht zu nehmen. Man wird
den Büroangestellten, urn seine Sorgfalt zu prüfen, nicht Nagel sortieren lassen
und den zukünftigen Schlosser nicht mit Adressenschreiben beschaftigen. Be-
rufsnahe Arbeit ist, wie bei Feststellungen über intellektuelles Verhalten, so auch
bei charakterologischen, ganz besonders aufschlufireich. Bei unseren Instituts-
versuchen haben sich besonders einige Versuchsreihen von Lipmann-Stolzenberg
(Einpassen von Eisenplattchen in die Lehre) und das von Moede empfohlene
Aussuchen von Werkstücken nach Zeichnung bzw. umgekehrt, sowie das be-
kannte Blechbiegen als sehr brauchbar erwiesen. Selbstverstandlich ist Versuchs-
anordnung und Instruktion dem andersartigen Zwecke, dem sie dienen sollen,
angepaOt. Wichtig ist hierbei, folgendes zu beachten: Es handelt sich nicht urn
eine Begabungsprüfung. An das Können dürfen keine hohen Anforderungen
gestellt werden, wo das Wollen festgestellt werden soll. Je mehr der Versuch
so angeordnet ist, daO die Leistungen bei Individuen verschiedenster Begabung
nach der Begabungsseite geringe Streuungen ergeben, urn so mehr dürfen wir er-
warten, daQ die gewünschten Willenseigenschaften zutage kommen. Verlangt die
Arbeitsprobe besondere Intelligenz, so kann es vorkommen, daQ der wenig in¬
telligente, aber ruhige und sorgfaltige Arbeiter Uhruhe zeigt und ungenau ar-
beitet, also unter dem Druck der Aufgabe ganz andere Willenseigenschaften kund-
gibt, als .er wirklich besitzt. Und ahnlich erweckt der Ungeschickte, dem die
verlangte Arbeit zu schwer ist, leicht den Anschein eines unsorgfaltigen, un-
genauen Arbeiters. Umgekehrt wird der intelligente, aber flüchtige Arbeiter an-
gesichts einer Aufgabe, die seinen Scharfsinn reizt und vielleicht seiner Eitelkeit
schmeichelt, da er die Schwierigkeit erkennt und sich ihr doch gewachsen fühlt,
seinen Willen zu einer ihm sonst ungewohnten Betatigung zwingen und das Bild
des sorgfaltigen Arbeiters abgeben. Ist dagegen die Arbeitsprobe so, daQ jeder
sich sagt: Das ist ja leicht, das kannst du — so wird er schon eher dazu kommen,
sein wahres Gesicht zu zeigen.
12 Valentiner, Zur experim. Feststellung v.berufswicht.Willenseigenschaften bei Jugendlichen
Ich nenne weitere Merkmale einer guten Arbeitsprobe: Sie muO die Möglich-
keit zu verschiedenartigster Behandlung bieten, und sie muQ jeden auf seine
Weise zu einem ihn befriedigenden Ziele kommen lassen: Der Flüchtige muB
zum Ziele kommen, wenn er oberflachlich darüber huscht, der Griindliche muli
es erreichen können, wenn er in der ihm gewohnten Weise zu Werke geht usf.
Sie muli den, der schnell befriedigt ist, obwohl er nur einen kleinen Teil der
erwarieten Arbelt geleistet bat, zu einem gewissen AbschluB kommen lassen, wie
auch den, der immer wieder prüft und sich die Arbeit schwerer macht als nötig
ist. Weiter ist von der Arbeitsprobe zu verlangen, daB sie den Prüfling oft
langere Zeit in Anspruch nimmt, ohne daB ihm dabei geholfen zu werden braucht.
Denn wie der Meister den Lehrling in der Werkstatt nicht standig unter Kon-
trolle haben kann und je nachdem dies nötig erscheint, gewisse Willenseigen¬
schaften des Lehrlings beurteilt, so werden wir auch im Laboratorium Arbeits-
proben haben mussen, die zeitweise ohne Kontrolle ausgeführt werden können
und so Gelegenheit bieten, vom Prüfling nicht bemerkte oder beachtete Be-
obachtungen zu machen. Es laBt sich dabei feststellen, wie der Lehrling bei
nicht gefühlter Kontrolle arbeiten wird.
Aber selbst wenn wir in dieser Weise auf Grund psychologischer Erwagungen
die Arbeitsprobe auswahlen, so ist doch der Erfolg, wie ich wiederholt feststellen
konnte, nicht immer so, wie erwartet. Die Arbeitsproben sind, wie die Teste,
von sehr verschiedenem Symptomwert, der nur auf empirischem Wege bestimmt
werden kann. Daher gilt hier als eine der wichtigsten und unerlaBlichsten
Forderungen; Vor der Verwendung auch noch so schön erdachter Arbeitsproben
für die Praxis muB ihr Wert durch praktische Bewahrung festgestellt sein.
Gerade bei der Frage der Verwendung der über Willenseigenschaften gemachten
Feststellungen ist die Verantwortung zu groB, als dafl wir etwas unterlassen
dürften, was die Sicherheit des Ergebnisses in Frage stellen könnte. Ich gestehe
gern, daB mir manche Arbeitsprobe anfangs wertvoller erschien, als sich nach-
her bei ihrer Eichung herausstellte. So schien mir ein Versuch, bei dem Papier-
streifen in ein Heft zu kleben waren, besonders brauchbar zur Prüfung der Sorg-
falt und Exaktheit bei der Arbeit. Aber die Ergebnisse standen in recht
ungünstiger Korrelation zu den durch Gelegenheitsbeobachtungen gewonnenen
Urteilen über die Sorgfalt der betreflfenden Prüflinge. Erst spater konnte ich
dann feststellen, daB sich diese ungünstige Beziehung durch die Verschiedenheit
unterrichtlich-erziehlicher Einflüsse erklarte, die bei den Betreffenden gewirkt
batten. Der im Kleben geübte, aber im allgemeinen wenig sorgfaltige Schüler
zeigte bei dieser Arbeit mehr Sorgfalt als der ungeübte, dessen sonst gerühmte
Sorgfalt hier durch seine Ungeschicklichkeit und mangelnde Übung verdeckt wurde.
Vor Anstellung des Versuchs empfiehlt sich eine Art Vororientierung über
die Persönlichkeit des Prüflings. Ich sehe mir die Schulzeugnisse der letzten
vier Jahre an, ich lese den Aufsatz durch, den er im Institut verfaBt hat, ich
lasse mir die Bastelarbeiten erklaren, die er mitgebracht hat, spreche mit ihm
Valentiner, Zurexperim. Feststellung v.berufswicht. Willenseigenschaften bei Jugendlichen 13
über dieses und jenes. Dadurch wird viel gewonnen. Selbstverstandlich nehme
ich das Bild, das ich hier erhalte, nicht unkritisch hin oder lasse mich gar da¬
durch in meinem Urteil beeinflussen. Der nachfolgende Versuch wird in der
Regel zu erheblichen Veranderungen des Bildes führen. Aber es ist doch schon
etwas da, worauf ich meine Beobachtungen beziehen kann, wenn ich mit dem
Versuch beginne. Ich brauche die Willensstruktur des Jungen nicht gleichsam
aus dem Nichts zu schaffen, ich habe gewisse Anhaltspunkte und gewisse Pro-
bleme, die der Versuch klaren muB.
Nun der Versuch selbst! Hier verfahre ich, soweit nur irgend möglich, mit
der Strenge und Vorsicht, die bei Anstellung irgendeines wissenschaftlichen
Versuches nötig ist. Nur die Rücksicht auf die Schranken, die jede praktisch
gerichtete Aufgabe setzt,. zwingt, in mancher Hinsicht weitherziger zu sein. Ich
führe hier einiges an, was mir besonders beachtenswert erscheint. Fremd- und
Befangenheitsgefühle sind besonders geeignet, das gewohnte Willensverhalten zu
deformieren. Die neue Umgebung — der Prüfraum, ein unbekannter Prüfer, die
Anwesenheit dritter, bekannter oder unbekannter Personen — kann hier auBer-
ordentlich storend wirken. Hier ist es leicht, Abhilfe zu schaffen. Die Fest¬
stellung der Willenseigenschaften erfolgt nicht zu Anfang, sondern wird tunlichst
ans Ende der Prüfung verlegt, wenn der Junge vielleicht schon einmal oder
zweimal im Institut war und die Erfahrung gemacht hat, daB es sich hier nicht
um etwas wie eine Zahnoperation oder Schulprüfung handelt, sondern um Dinge,
die er gern erledigt und bei deren Erledigung er nie belehrt, ermahnt oder gar
getadelt wird. Voraussetzung für das Gelingen des Versuches ist, daB überall
so geprüft wird, daB der Junge stets das Gefühl hat, daB er seine Sache gut
macht. Fallt einem empfindsamen Jungen gegenüber irgendeine AuBerung, aus
der er schlieBt, daB er höchst MittelmaBiges geleistet oder gar versagt hat, so
wird er bei dem nachfolgenden Versuch unter dem Druck des Erlebten vielleicht
hastig, unruhig, unsicher, unentschlossen, ja vielleicht sogar oberflachlich und
Büchtig erscheinen, wenn er auch sonst ein Muster von Genauigkeit und Gründ-
lichkeit ist und den Prüfer zu ganz verkehrten Schlüssen über seine Willens¬
eigenschaften veranlassen.
Viel schwieriger als die günstigen ist es die ungünstigen Eigenschaften zu
fassen, was nebenbei für den Auslesezweck ungleich wichtiger ist. Der Sorg-
faltige, Gründliche, Zuverlassige wird sich in der Regel so geben wie gewöhnlich,
weiB er doch, daB er bei diesem Verhalten die günstigsten Aussichten hat, an-
genommen zu werden. Dagegen wird derjenige, der diese Eigenschaften nur in
geringem MaBe besitzt, geneigt sein, sich besser zu zeigen, als er ist, um das
gewünschte Ziel zu erreichen. Hier liegt eine Schwierigkeit, die bei sonstigen
Fahigkeitsprüfungen nicht besteht, die in der Eigenart des Willens begründet ist.
Wahrend beispielsweise der Dumme sich auf die Dauer nicht klug geben kann
und der Ungeschickte seine Ungeschicklichkeit bei entsprechenden Proben not-
wendig einmal an den Tag legen wird, ist der unzuverlassige, oberflachliche.
14 Valentiner, Zur experim.Feststellung v. berufswicht.Willenseigenscbaften beijugendlicben
flüchtige, nachlassige Arbeiter potentiell zuverlassig, gründlich, genau und sorg-
faltig bei seiner Arbeit und kann es ohne groOe Anstrengung wenigstens für die
Dauer des Experiments wirklich sein. Da muD noch etwas anderes mithelfen,
damit der Prüfling sein gewöhniiches Willensverhalten zeigt, namlich eine Art
Suggestion, der der Prüfling bei besonderer Fassung der Instruktion fast stets
unterliegt. Die Instruktion ist zweckmaOigerweise so gefaQt, daO der Prüfling
unter dem Eindruck steht, daQ es bei dieser Arbeit auf etwas ganz anderes an-
kommt, als das wirklich der Fall ist. Bei dem Eisenblattchenversuch mag er
denken, dafi es sich urn eine AugenmaQprüfung handelt, bei dem Aussuchen der
Werkstücke nach Zeichnungen urn die Fahigkeit, Zeichnungen richtig auffassen
und deuten zu können usw.
LaOt man soiche suggestive Einflüsse wirken, so muQ man freilich damit
rechnen, daO ein Teil der Prüfung wenig wertvoll ist. Mit den Ergebnissen der
Prüfung, die unmittelbar unter diesen Einflüssen zustande gekommen sind, ist nicht
viel anzufangen. Aber das muD in Kauf genommen werden. Ist doch der Gewinn,
der auf der andern Seite bleibt, wenn man jene Teilbefunde ausgesondert hat,
urn so gröQer, die Feststellungen über Arbeitswille und Arbeitsart um so sicherer,
da es auf diese Weise gelingt, den Prüfling in seiner gewöhnlichen Arbeitsweise
kennenzulernen.
An den Prüfer werden nicht geringe Anforderungen gestellt. Nur psycho¬
logisch geschulte und im Beobachten geübte Persönlichkeiten werden diese Ver-
suche mit Erfolg ausführen können. Wenig geeignet erscheint in der Regel dazu
der Praktiker. Da er dem Jugendlichen als Erzieher und Instruktor gegenüber-
zutreten pflegt, so bedarf es bei ihm der völligen Umstellung, wenn er die Auf-
gabe lösen will. Er hat dem Psychologen voraus, daö er das Verhalten des
Jugendlichen bei Ausführung der Probe sogleich als typisches erkennt, da er
Jugendliche tagtaglich bei den verschiedensten Arbeiten gesehen und dabei die
möglichen Verhaltungsweisen kennengelernt hat. Dieser Vorteil wird aber durch
einen viel gröGeren Nachteil mehr als wettgemacht: Seine Beobachtungen er-
scheinen in einem dem psychologischen Ziele wenig dienlichen Lichte. Sie
verbinden sich mit der Tendenz, den Jugendlichen zu belehren, oder treten
schon mit dieser Tendenz zusammen in das BewuDisein ein. Ganz anders bei
dem psychologischen Beurteiler, dessen beobachtende Tatigkeit stets mit der
Tendenz verbonden ist, sich belehren zu lassen. Weiter: hat der Praktiker
die Folgen im Auge, die das augenblickliche Verhalten des Jugendlichen für das
Zustandekommen der vorliegenden Leistung hat, so forscht der Psychologe den
Ursachen des So und so Verhaltens nach, prüft, wieweit das momentane Verhalten
durch zufallige und vorübergehende Gefühls- und Willensimpulse oder durch
konstante Verhaltenseigenschaften bestimmt ist und gewinnt so Anhaltspunkte für
die Frage, wie das Verhalten bei künftig geforderten Leistungen sein wird.
Die schwierige Aufgabe des Prüfers kann durch auOere Dinge wesentlich
erleichtert werden. So kann man vor allem durch geeignete Vordrucke erreichen.
Valentiner, Zur experim Peststellung v. berufswicht. WillenseigenscbaFten bei Jugendlichen 15
daO sich das Protokollieren fast mechanisch vollzieht und die fast ungeteiice
Aufmerksamkeit der Versuchsaufgabe gewidmet ist.
Ober die Frage, wie lange ein Versuch dauern soll, laBt sich a priori nichts
ausmachen. Die Dauer wird nicht nur durch die Ergiebigkeit der Arbeitsprobe
für die gewünschten Feststellungen und die von den PrüFlingen durchschnittlich
zur Erledigung erforderte Zeit bestimmt, sondern auch durch ganz auQere
Faktoren, wie etwa die Organisation der Prüfung. Bei unseren Prüfungen hat
sich bisher die etwa '/aStündige Dauer als am zweckmaQigsten erwiesen. Wichtiger
ist die Frage, ob ein einzelner Versuch ausreicht. Es gibt ofFene, natüriiche,
unbefangene, sorglose Naturen, die sich schon beim erstenmal so geben, wie sie
sind und schon nach dem ersten Versuch richtig beurteilt werden. Dann gibt
es wieder solche, die zurückhaltend, verschlossen, versteekt, verschlagen sind,
so daC auch nach dem dritten oder vierten Versuch unter verschiedenen Prüf-
leitern noch Unsicherheit in ihrer Beurteilung bleibt. Hier kann nicht nach
einem Schema verfahren werden. Wir können nur eine untere Grenze setzen.
Es würde der Subjektivitat Tür und Tor geöiFnet, wenn man es bei einem Ver¬
such bewenden lieOe. Zwei Versuche von zwei Prüfern an verschiedenen Tagen
ausgeführt, sind das mindeste, das wir bei jedem Prüfling fordern mussen. Oft
wird diese Zahl nicht ausreichen, und wir nehmen eine dritte, ja auch eine vierte
und fünfte Prüfung vor. Mit anderen Worten, wir werden so lange prüfen, bis
wir völlige Klarheit über alles Gewünschte haben.
Das Auswerten der einzelnen Befunde geschieht zweckmaQig unter zwei Ge-
sichtspunkten. Wahrend die qualitative Wertung beim ersten Kennenlernen des
Prüflings einsetzt und alle Versuche durchlauft, so hat die quantitative erst am
Ende ihre volle Berechtigung. Beide Wertungen erganzen sich gegenseitig. Wenn
ich beispielsweise in den Protokollen haufig die Sorgfalt eines Prüflings erwahnt
finde, dagegen vereinzelt auch auf ungenaues Arbeiten hingewiesen wird, so ist
die zahlenmaOige Feststellung notwendig, doch würde sie allein noch wenig er-
geben. Ich muB vor allem wissen, worauf die vereinzelt erwahnte Ungenauigkeit
beruht. Stellt sich beispielsweise heraus, daB sie bei Teilen des Arbeitsvor-
ganges erwahnt wird, die etwas höhere Anforderungen an die Intelligenz stellen,
und haben andere Prüfungen ergeben, daB der Prüfling recht beschrankt ist, so
wird vielleicht in diesen Fallen jenes Manko sich mehr aus geistiger Unfahigkeit,
als aus einem Willensmangel erklaren. Man wird dann in dem Endurteil über
die Sorgfalt des Prüflings die Ungenauigkeit überhaupt nicht zum Ausdruck
bringen. lm übrigen wird das Ziel aller Wertung sein, daB sich jede einzeine
Angabe, die in den Protokollen steht, in den schlieBlich auf der Prüfkarte er-
scheinenden quantitativen und qualitativen Angaben in zusammenfassendem Aus¬
druck wiederfindet.
Ich konnte hier nur einige Andeutungen machen über ein Forschungsgebiet,
das noch in den ersten Anfangen liegt, das aber praktisch und theoretisch be-
deutungsvoll zu werden verspricht. Wenn es einmal gelingt, alle wichtigen
16 Valentiner, Zur experim. Feststellung v. berufswicht. Willenseigenschaften bei Jugendlicfaen
Willenseigenschaften der Jugendlichen im Laboratorium zu erfassen, so wird der
Psychologe nicht nur bei der Berufsberatung, sondern auch bei Ein- und Um-
schulung der Kinder, der normalen wie der anormalen, viel mehr gehort werden
müssen, als das bis jetzt noch der Fall ist. Der Wissenschaft wird es erst dann
möglich werden, typische Formen des Willens exakt zu erfassen und tiefe Ein-
blicke in die Willensstrukturen der Jugendlichen zu gewinnen. Dizu ist es not-
wendig, dali erst einmal eine Reihe leicht verwendbarer Arbeitsproben gewonnen
werden, die es ermöglichen, bei Jugendlichen beiderlei Geschlechts und ver-
schiedenen Alters jene Feststellungen zu machen. Schon jetzt aber sollten die
Feststellungen der hier behandelten berufswichtigen Willenseigenschaften zum
notwendigen Bestandteile einer jeden in einem psychologischen Institut aus-
zuführenden Tauglich- und Tüchtigkeitsprüfung werden.
Psychographische Tiefenanalyse eines Grofiindustriellen
und seines Stabes
Von Dr. Georg A. Roemer, Göttingen
Wir bitten, die Austührungen Roemers als Anregungen zu betrachten,
und betonen ausdrücklich, daD wir die Deutungsproben nur als psycho¬
logisch interessantes Material zur ErgSnzung analytischer Funktions-
proben ansehen mochten, wie auch der Verfasser selbst diese Proben
ja keineswegs als Universaltest empflehlt. Die Schriftleitung,
W er höhere Angestellte richtig einschatzen und bei der Neubesetzung wich-
tiger Posten Enttauschungen vermeiden will, muO sich bisher letzten Endes
auf sein gefühlsmaOiges Urteil verlassen. Dabei erlebt auch der Geübte immer
wieder Überraschungen. Manche bisher Wortlose und wenig Auffallende ent-
wickeln sich in selbstandigerer Stellung zu vorzüglichen Arbeitern mit originellen
Einfallen, andere lassen dabei in ihrer Arbeitsleistung nach, werden eingebildet
und bequem und arbeiten nur noch für ihre eigene Tasche. Solche Erfahrungen
lassen immer wieder den Wunsch nach tieferer Erkenntnis der Untergebenen
aufkommen. Manche Firmen haben in diesem Bestreben die Schriften ihrer
höheren und niederen Angestellten graphologisch priifen lassen. Ein guter
Graphologe mit langerer Erfahrung kann sicher eine Reihe von wichtigen Eigen¬
schaften aus den Schriftzügen feststellen, aber gerade über Anlagen und künftige
Entwicklungsmöglichkeiten gibt die Graphologie wenig oder keinen AufschluO.
Sie bietet bestenfalls eine Analyse der augenblicklichen Fertigkeiten, Fahigkeiten
und Eigenschaften, die einem wohlinstruierten Personalchef meist an sich
schon bekannt zu sein pflegen. Für die Beurteilung künftiger Entwicklungs¬
möglichkeiten wird aber mehr verlangt, als die Graphologie und alle bisherigen
Methoden leisten können. Es gilt namlich, den wahren Kern einer Persön-
lichkeit zu erfassen, der wahrend langerer Jahre, ja, meist wahrend eines
ganzen Lebens sich gleich bleibt. So paradox es auf den ersten Bliek erscheint:
Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroDindustriellen und seines Stabes 17
Es gibt kaum etwas so Konstantes, wie diesen Kern der Persönlichkeit. Ein
echt preuOischer Geheimrat alter Tradition ist in den Grundzügen seines Wesens
schon in den Referendarjahren „fertig“, in seiner Welt- und Lebensanschauung,
seinem Auftreten, seiner inneren Einstellung zu den Mitmenschen wie zu sich
selbst. Daher auch das in der Gesellschaft kursierende Wort: „Wer es in der
Jugend nicht in sich hat, wird es nie bekommen." Ein typischer Schulmeister
pflegt ebenfalls schon mit 20 Jahren fertig zu sein. Seine Amtszeit ist eigentlich
nur dem periodischen Ablaufen einer Maschine vergleichbar, und die geistige
„Verkalkung", der er mit bO Jahren so handgreiflich verfallt, hat meist schon in
seinen Studienjahren, wenn nicht noch früher, begonnen. Öfter laBt sich ja
diese Entwicklungslinie bis in noch frühere Jahre hinein verfolgen. Dahin ge¬
boren die Musterknaben, die urn leere Theorien und urn eine sterile Anpassung
an die Meinung des Lehrers alle lebendige Schaffenskraft schon langst verloren
haben, ehe sie überhaupt ins Leben eintreten. Schon in der Pubertat, noch
früher, im Knaben- und Kindesalter, treten mitunter Neigungen, Anlagen, Kraft-
richtungen mit solcher Deutlichkeit zutage, daO jeder Erzieher, wenn er nur
wirklich beobachtet, sehen kann: hier blickt ein Kernstück des Wesens durch,
das zeitlebens bleiben wird. Trotz aller Entwicklung, trotz dem Hinzulernen
neuer Kenntnisse und Fahigkeiten andern sich diese tiefliegenden Triebkrafte
nicht. Ob er als Knabe mit seinen Kameraden ficht oder ob er im spateren
Leben als Wissenschaftler, Politiker oder Kaufmann im Kampf der öffentlichen
Meinung seinen Mann steht — die Inhalte wechseln, es bleibt die Einstellung,
das Bedürfnis nach Überwindung fremder Widerstande.
Wer somit als Vorgesetzter die Fertigkeiten und Fahigkeiten seiner Unter-
gebenen kennt, der bedarf zu seinem Urteil über deren Gesamtpersönlichkeit
noch eines: der Kenntnis ihrer tiefliegenden Triebkrafte. Eben hier ver-
sagt aber so oft das, was wir Menschenkenntnis heiOen. Diese Krafte liegen zu
sehr unter der Oberflache, ais daO sie das Auge, selbst eines guten Menschen-
kenners, sehen könnte. Und auch wenn man den Betreffenden selber danach
fragen würde, er könnte nur selten eine Antwort darauf geben; denn die meisten
Menschen, besonders in jüngeren Jahren, pflegen sich ihrer eigenen Triebkrafte
nur sehr wenig bewuOt zu sein. Nur ihre Traume könnten etwa Hinweise und
Fingerzeige geben; aber damit würden wir einen Forschungsweg beschreiten
müssen, der nur unter langwierigen Mühen und nur in Ausnahmefallen praktisch
gangbar ware. Hier kann lediglich ein Verfahren helfen, das kurz und klar uns
diese tiefgelegenen Inhalte an das Tageslicht befördert: die psychographische
Tiefenanalyse. Ursprünglich erfunden zur Erkennung geistiger Erkrankungen,
wuchs sich das Verfahren zu einer umfassenden Methode aus, die den ganzen
Bereich der Gesamtpersönlichkeit umspannt.
Der auQere Verlaaf einer Analyse ist so einfach wie möglich. Durch ein
kurzes Gesprach über expressionistische Kunst, über Schattenbilder, moderne
Reklame oder ein ahniiches Thema werden die Gedanken des Betreffenden auf
P. P. IV, 1.
2
18 Roemer, Psychographiscbe Tiefenanalyse eines GroBindustriellen und seines Stabes
den kommenden Versuch hingelenkt. Dann wird der Versuchsperson eine Reihe
von formlosen Bildern vorgelegt mit der Aufforderung, diese einzelnen „Biider"
so auszudeuten, wie es ihr am naheliegendsten erscheine, wobei die Bilden von
allen Seiten betrachtet werden dürfen. Durch jahrelange systematische Versuche
an Gesunden und Kranken, an Menschen aller Berufs- und Bildungsklassen
geschaffen, regen diese „Bilder“ in ihrer Formlosigkeit und Unbestimmtheit den
Deutungswillen des Beschauers lebhaft an und bringen ihn zur Aufierung seiner
unterbewuOten Gedankenwelt. Nicht einmal bewuDte Tauschungsversuche, die
zum Teil von mit der Methode eng Vertrauten ausgeführt wurden, konnten die
Abbildung 1 (Bild 4)*)
gesetzmaOige Bedingtheit der einzelnen Kernfaktoren des Versuchs andern. lm
Doppelversuch, d. h. bei gleichzeitiger Vorlage der Tafeln an zwei Versuchs-
personen zugleich, deren Wechselrede stenographisch notiert wird, ergeben sich
oft die ergötzlichsten Situationen, weil der eine durchaus nicht erkennen kann,
was der andere sieht, und weil jeder den anderen von der Richtigkeit seiner
eigenen Deulungsweise zu überzeugen sucht. Die Reihe der Bilder ist nicht grofJ.
Sie umfaOt für einen einfachen Versuch nur neun, zum groOen Teil farbige Bilder,
so daB die Dauer des Versuchs bei ungewöhnlich Geistesgegenwartigen und
Kurzentschlossenen nur Minuten, bei Phantasiereichen, Umstandlichen oder be-
sonders „FleiBigen“ eine halbe oder eine Stunde betragt.
"lAnmerkungzu den Bildern:
Rote Farbe; durch Punktierung angedeutel.
Schwarzblaue Farbe: durch Schrafflerung angedeutet.
Die hSufiger gedeuteten Teilstücke sind in der vorliegenden Wiedergabe durch die Art der
Schrafflerung hervorgehoben.
Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GrofJindustrielIen und seines Stabes 19
Es kann hier nicht auf alle Feinheiten des Versuchs, auf seine psychologisch-
wissenschaftliche Begriindung und auf die ganze Technik der spezialwissenschaft-
lichen Auswertung der Befunde eingegangen werden. Um aber ein lebendiges
Bild zu geben, wie stark der Versuch dilFerenziert, wie auCergewöhnlich charakte-
ristisch die einzelnen Versuchspersonen sich ihrem Wesen nach dabei verhalten,
werden in folgendem einige stenographische Niederschriften zu zwei Bildern der
Abbildung 2 (Bild 6)*)
Serie wiedergegeben. Das erste der Bilder lauft gewöhnlich als Bild 6 der
Normalserie, tiefschwarz, mit dunkien Schattenbildungen in den Seitenteilen
und einer kleinen roten Figur in der Mitte oben. Dieses Bild mit seinen reichen
Randlinien ist z. B. für psychologisch interessierte Beobachter der AnlaO, eine
Reihe von Gestalten und Köpfen darin zu sehen, wahrend der technisch Inter¬
essierte die scharf umrissene Mittelform des Bildes als rein architektonischen
AuFbau oder als technische Konstruktion emphndet usw. Das zweite der hier
veröffentlichten Bilder ist Bild 4 der Normalserie und hat drei mehr oder
weniger schwarze Bilder als Vorganger. Es bietet mit seiner roten Mitte, seinen
rosa Seitenstücken und einer Reihe feinroter Schattierungen zum erstenmal
wahrend des Versuchs dem Beschauer ein farbiges Bild, und es ist besonders
charakteristisch, wie die verschiedenen Versuchspersonen sich dem neuen Anblick
2 *
20 Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroQindustriellen und seines Stabes
gegenüber verhalten. Die nachFolgenden Bildreaktionen stammen von den Herren
eines gröBeren Industriewerkes, deren Tatigkeitsbereich im Betriebe jeweils mit
ein paar Wonen angedeutet ist.
Befand A. (Seniorchef, zugleich Leiter der „Auflenpolitik'" der Firma.)
(Bild 6.) Ah, das ist ein grofier Leuchtturm, der rechts und links starke Rauchwolken
ausstöBt und ganz Kraterbildung zeigt. Der Leuchtturm ist wirklich nett ausgeführt.
(Bild 4.) Das ist ein Vampyr, der reitet. Es ist ein neues Moment, dafi Sie Farben
hereinbringen.
Bef und B. (Juniorchef, zugleich Leiter der „Innenpolitik^ der Firma.)
(Bild 6.) Das ist jetzt von ganz ernster Art. Ein etwas besseres Abbild religiösen
Inhalts, als die man gewöhnlich in den christlichen Missionsbuchhandlungen sieht. Es
ist eine Verdammung des Krieges.
In der Mitte steht ein Panzerturm irgendeiner Art, aus dem heraus eine unglaubliche
Menge Geschützfeuer speit. Der Pulverdampf zieht sich in grauen Schwaden gegen den
Himmel und verdüstert ihn förmlich. Man sieht die zuckenden Blitze, aber von den Opfern
sieht man nichts. Dafür ist oben ein blutrotes Symbol, wie wenn alles Blut, das auf
der Erde flieUt, von dem Geschütz emporgesammelt würde in den Himmel und sich von
oben herunter ergieöen wollte. Akkurat mitten herunter auf den Turm, der doch das Blut-
vergieBen verursacht hat, wie wenn das wenige Blut diesen schwarzen, qualmenden Rauch
und Pulverwolken überschütten, vergieBen, löschen, zu Boden schlagen wollte. Das ist
namlich schön! Wie kommen Sie auf solche Sachen?
(Bild 4.) Das ist eine Art von siamesischen Zwillingen, da einer und da einer, zwei
Gesichter, in der Mitte sind sie zusammengewachsen, vermutlich geht es da nach unten noch
weiter. In der Mitte ist ein Furunkel schwer entzündet, man muB den Sanitatsrat....
kommen und ihn schneiden lassen. Auf der Seite sind zwei KlöBe, — man weiB nicht,
ob sie sich daran überessen haben, oder ob sie die erst einnehmen müssen.
Befund C. (Junger Anwdrter fiir einen selbstdndigen Posten.)
(Bild 6.) Das ist ziemlich ahnlich. Das erinnert mich an eine Sandtorte (weiBe Aus-
sparung in der Mitte) und dann erinnert es mich an einen Turm (Mittelteil unten), das
ist ja ganz klar, aus dem aus beiden Seiten Flammenrufer (kleine Zackchen) hervorwinken,
diese Fahnen, und im Zusammenhang damit tritt der bizarre Eindruck eines technischen
Glockenturmes sofort hervor. Und dieser technische Glockenturm erinnert mich an
den Mann, der in den Wald hinausging, um den Glockenspielstander zu suchen. Diese
Kombination kann ich gut verwetten... Um dem Unteren naher zu treten, das den etwas
pflanzenhaften Eindruck macht,.. und dieser chinesiche Glockenturm, wenn man den schon
nehmen will, — in Verwendung mit einem groBen Komplex könnte man alle möglichen
Geschichten erzahlen von einer Glocke und einer Wurzelknolle, aus der der Turm
wachst, ohne dabei aber geschmacklos zu werden. (Bild gekehrt.)
Wenn man schon weiter arbeitet, so kommt man auf, — auf eine sehr interessante Ge-
schichte, namlich daB, — wenn man von dem Glockenturm ausgeht, und diese merkwürdige
Figur auswertet, diesen Riesensalamander der in die Höhe wachst (seitliche Figur),
wenn man dies mit dem Oberen in Verbindung zu bringen sucht, so wird man den merk-
würdigen Eindruck nicht los, man müBte beides da an den Seiten, dafür heranziehen und
verwetten und in einen ZusammenschluB bringen und ohne aus derSkizze herauszugehen,
es vielleicht so zusammenzufassen, — für vielleicht eine Art-. .. (Pause.)
22 Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroBindustriellen und seines Stabes
Befund G. (Hauptvertreter der Firma fiir Handelsbeziehungen nach dem Osten.)
(Bild 6.) Aber das — (komischer Seufzer) nein, das ist ein Vieh, ausgesprochenes Vieh.
Nur weiC ich nicht, wie man das Vieh betitelt. Ich weiC zu wenig Bescheid mit den Rind-
viechern. (Figuren, die in der Aussparung der Mitte hereinragen.) Das da, die zwei, das
ist ein böhmischerWenzel. Hier hat er die Haube an und da ist die Nase, die böhmische.
(Rot) Und das können zwei Stockzahne sein, aber ob das zwei menschliche sein können?
Das soll der Kiefer sein. Stellt vielleicht eine alte Frau vor, die noch zwei Zahne im Munde
hat. (Spitzedes Mittelteils unten.) Und das stellt dieSpitzeeinesTurmes vor, und das ist
ein Mann, bedeckt mit einer bezipfelten Mütze, (Seite des Mittelteils) natürlich einer eigen-
tümlichen Mütze.
(Bild 4.) Das ist ein kolossales Stück! Kolossal ist das! ! Das könnte man gut, so schrag
gestellt, als Schneemann nehmen, aber die zwei zusammengenommen ist es auch irgend-
eine Schmetterlingsart (seitliche Köpfe). Das ist ein Gesicht, das ist die Hauptsache, so.
(Nachahmung des Schreiens.) Sehen Sie wohl, ich habe gleich durchgeschaut. Ja, und so
ist es ein Schneemann,
Befund H. (Aufsichtsbeamter des technischen Betriebes.)
(Bild 6.) (Dunkle Schattierungen in der Mitte.) Auch zwei Gestalten, die sich
gegenüberstehen mit zwei Zöpfen, Pierettenfiguren (die schon öfters erwahnten
Figuren der mittleren Aussparung). (Bild gekehrt.) Zwei Gestalten von einer Zange
gefaCt und heruntergedrück t, der eine Arm verstümmelt, der andre hier, der Kopf nicht
zu sehen, also heruntergedrückt.
(Bild 4.) (Schüttelt den Kopf.) Kann da eigentlich nichts herausfinden. Zwei Ge¬
stalten, die hier etwas emporhalten, festhalten.
Befund I. (Beamter der Reklameabieilung.)
(Bild 0.) Jetzt kommt der Freudentempel, jetzt, das ist der Weingott, oder ist es
der Biergott, es ist der Gambrinus oder ist es der Weininus hier oben, nicht wahr
(Figuren der Aussparung). Das ist aber eine Lampenart oder soll — ist es nicht eine
Lüsterart, wenn sie die Sachen verlangern, da weiter bauen wollen? (Bild gekehrt, seit¬
liche Figur.) Was kann das für ein Tier sein hier? Das ist ein Viech, das einen langen
Schwanz hat, kann man sehen. So eine Art Pfau, Pfau ist etwas schlanker im Kopf; aber
es sollte sich mit der langen Rückenwand decken, mit der langen Endfeder, der Pfauen-
feder, könnte es sich decken. Die alle beiden (Figuren der Aussparung) die riechen, was
hier aus diesem Dunst herausströmt, aus diesem Kelch oder Apparat, was es vorstellt
(Mittelteil unten). Soll es riechende Düfte, Nektar ausströmen? Ich sage ja; ein gutes Bier
oder ein guter Wein, daI3 sie Nasen zu arg daran laben, durch die Ausdünstungen, die
dort oben hingehen.
(Bild 4.) Das ist eine eigenartige Sache. Aber es möchte auch bald zu einer — hier
möchte man in Versuchung kommen — ja wissen, wie das nun aussieht, wie — Sie haben
das gemacht als — sagen wir Schattenschattierung, wenn wir das so betrachten, könnte
man denken, ein Neger reiOt das Maul auf, ein brüllender Neger (seitlicher Kopf). Der
Neger brüllt wie ein Verrückter. Dagegen das, das ware, das Mittelstück hat wieder eine
Tierahnlichkeit, möchte man mit einem Schmetterling vergleichen, wie ich ihn ge-
sehen habe in der Natur. Ich habe namlich erst vor kurzem eine Schmetterlingssammlung
gesehen (ganze Bild gekehrt). Haben Sie hier etwas gedacht? Wie wenn etwas eingehangt
Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroQindustrieilen und seines Stabes 23
ware, wie wenn ein Balken herüberginge und an diesem Haken dürfte das ganze Ding
hangen. Könnte auch der Querschnitt sein von einem Baldachin. Hier könnte auch noch
etwas sein, aber definitiv kann ich mich nicht entscheiden.
So wenig diese Ausschnitte die Wiedergabe des gesamten Versuchsprotokolls
ersetzen können, so wird doch schon durch sie etwas von dem unmittelbaren
und persönlichen Eindruck vermittelt, den jedes Protokoll dieses Versuchs an
sich tragt — ein Resultat, das nur durch sorgfaltigste Konstruktion und Auswahl
der Bilder zu erreichen war. Dieser Eindruck beruht zunachst vor allem auf
der Diktion, der sprachlichen Form, in die die aufsteigenden Ideen gefalit werden.
Die knappe, klare, fast militiirische Diktion des Seniorchefs ist ebenso charakte-
ristisch wie das haufige Abbrechen von Satzen der Befunde C {Junger Anwarter)
und I (Reklamebeamter) und die impulsive, ungepflegte Art der AuCerungen
des Betriebsleiters (£).
Was aber weiter schon unmittelbar in die Augen fallt, ist die verschiedene
Art des kombinatorischen Vorgehens. Der Juniorchef {Befund B) reiht
mit ausgeglichener Diktion und spielender Leichtigkeit die Hauptteile des Bildes
nach einem leitenden Prinzip aneinander, um schlieBlich das Ganze zu einem
einheitlichen, völlig geschlossenen Bilde unter Berücksichtigung aller einzelnen
wichtigen Teile abzurunden. Es liegt darin diejenige Sorgfalt, Geschmeidigkeit
und Sicherheit kombinatorischen Vorgehens, die ein Innenorganisator wirklicher
Befahigung als unerlalJliche Eigenschaft benötigt. Zugleich verraten aber die
leicht asthetische Betrachtungsweise, die Neigung zum Symbolisieren und manche
andere Züge einen Anflug gelehrtenhafter Einstellung, die ihn erheblich von
seinem praktisch-geschaftlich gerichteten Vater unterscheiden. Er reprasentiert
darin einen Typus, der sich nicht selten unter den Söhnen von bedeutenden
GroOindustriellen oder GroBfinanzleuten findet, und es ist jetzt schon vorher-
zusagen, daB er spater einmal die Firma in ausgepragt anderem Sinne als sein
Valer leiten wird. Wahrend er sich in straffem Aufbau seiner Deutung auf die
Hauptteile des Bildnisses beschrankt, zeigt der Befund C (der junge Anwarter)
wohl viel Originalitat, aber zugleich ein planloses Hin- und Herwandern auf dem
betrachteten Bilde. Sein Bliek wirft sich zuerst auf die leere weiBe Form in
der Mitte, die er sofort zu einer Deutung verarbeitet; er nimmt also in gewissem
Sinne das Umgekehrte, das Negativ dessen, was die Allgemeinheit als das Wesent-
liche betrachtet. Dann heftet sich sein Bliek an winzigen Zackchen der Mittel-
form fest: Er sieht Flammenrufer, und dann erst wendet er sich dem gegebenen
Mittelstück zu, das ihm durch die Geschichte des Glockenturmes eine Erinnerung
an chinesische Philosophie heraufruft, der er sich in seinen Freistunden seit
Jahren widmet. Von da an verliert er sich endlos ins Theoretische, wohl immer
mit dem Bestreben und Eifer zu wirklicher Kombination, zu der er zweifellos
originelle und groBgeschaute Bilder mitbringt, aber ohne zu wirklich praktisch
greifbarer Realisation zu kommen. Er ist also der Typus eines noch in Theorien
verstrickten, asthetisch interessierten jungen Mannes, der noch Jahre braucht, um
24 Roemer, Psycbographische Tiefenanalyse eines GroOindustriellen und seines Stabes
sich im Leben zurechtzufinden. Auch der Befund D {Leiter des Innenbeiriebs) zeigt
bei Bild 6 eine betrachtliche Kombinationskraft, einen Drang zum Aufbauen, wie
zu gründlicher organisatorischer Arbeit, auch er schafft im wesentlichen wie B und
C aus wirklicher Schaffenslust, aber er erreicht doch nicht die Geschmeidigkeit des
Vorgehens des Befundes B und die endgültige ZusammenFassung zu einem groO-
geschauten Bild. Er bleibtvielmehrbei der AusarbeitungmehrerergroCerZusammen-
fassungen stehen, die alle in sich organisch zusammengefügt und mit flüssiger Diktion
geauQert sind. So gut wie gar nicht kümmert sich der Betriebsleiter {Befund E)
urn die einheitliche Erfassung des Ganzen, er versucht gar nicht erst, die Haupt-
teile, d. h. die beiden Seitenstücke und das Mittelteil sowie die rote Figur mit-
einander in Beziehung zu setzen. Er ist reiner Praktiker und halt sich aus-
schlieOlich an lose Teilstücke, aber er beweist darin eine vorzügliche Eigenschaft:
Er greift mit wenigen Ausnahmen gerade diejenigen Teilstücke heraus, die nach
der Statistik des Versuchs den höchsten Prozentsatz von Deutungen aufzuweisen
haben, d. h., die von der Mehrzahl der Menschen für wichtig und wesentlich
gehalten werden. Er bringt also für seinen Betriebsleiterposten weniger Über-
legung und Fahigkeit theoretischen Denkens mit, als den sog. „gesunden Menschen-
verstand", der immer nur das herausfaOt, was auch den andern wichtig erscheint.
Worin seine eigentliche Starke als Betriebsleiter beruht, erweist sich aber erst
bei Betrachtung eines weiteren Faktors des Versuchs, der Farbe.
Es ist eine bekannte Tatsache, daO Rot, in leuchtender Farbe auFgetragen,
eine, wenn auch noch so abgestufte Erregung erzeugen kann, die mit dem afFek-
tiven Leben zusammenhangt. Gerade in dieser Hinsicht sehen wir in den fünf
Befunden A—E entscheidende Unterschiede des Gefühlslebens sich widerspiegeln.
Für D {Leiter des Innenbeiriebs) ist das Auftreten der roten Farben verbunden
mit einem düsteren, fremdartigen, beinahe furchterregenden Eindruck. Fast wider
Willen spürt er in sich das Gefühl des Unbehagens, und diese scheinbar leichte
affektive Schwankung ist stark genug, ihn davon abzuhalten, die beiden KöpFe
auf den Seiten zu erkennen, die er seinem sonstigen Vorgehen nach unter allen
Umstanden hatte erkennen müssen. So sehr ist er durch den ihm unheimlichen
Eindruck des Roten gebannt, und er versucht wahrend der Betrachtung des Bildes
dauernd, diesen Eindruck wieder loszuwerden, ihn „abzureagieren“, indem er
sich darüber klar zu werden versucht, wieso eigentlich dieser Eindruck in ihm
entstehen konnte. Er ist damit das Beispiel eines Menschen, der sehr empfind-
lich ist für AfFekte, für alle Vorkommnisse des Gefühlslebens; er beherrschr
seine AfFekte nicht, sondern er wird, wenn auch nur für Augenblicke, durch sie
beherrscht, und er lalJt darum gerade die Eigenschaft vermissen, die z. B. ein
AuOenpolitiker in erster Linie benötigt: Vollkommene Ruhe, Klarheit und Ge-
lassenheit in jeder noch so erregungsvollen Situation. Ein ausgezeichnetes Bei¬
spiel dieser Art ist der Befund A, der Seniorchef der Firma. Mit Leichiigkeit wird
die neu auftretende rote Farbe in die Deutung mit übernommen und in aller
Ruhe konstatiert, dafJ hier ein neues Moment hinzugeireten ist. Es ist dieselbe
Roemer, Psycbographische Tiefenanalyse eines GroBindustriellen und seines Stabes 25
Ruhe, mit der er in erregten Situationen mit geistesgegenwartiger Bestimmtheit
den Tatsachen gegenüber Stellung nimmt, um mit vollkommener Sicherheit auch
die veranderte Lage für sein Ziel dienstbar zu machen. Leicht, aber doch erst
in zweiter Linie, wird von seinem Sohne {Befund B) das neue, erregungsvolle
Moment einbezogen. Was er an Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit, an plötz-
lichem Übersehen und Beherrschen der Situation seinem Vater gegenüber ver¬
missen laOt, macht er durch die Sicherheit seines systematischen, ebenfalls durch-
aus nicht langsam zufassenden Vorgehens wett. Was er durch dieses zurück-
haltendere Eingreifen gewinnt, ist eine vollkommenere sachliche Lösung, ein
restloseres Aufarbeiten der gegebenen Vorlage und, da(J die Farbe zugleich seinen
Humor erweckt, ist nicht zufallig, sondern bedeutet einen charakteristischen
Wesensunterschied gegenüber dem Leiter des Innenbetriebs (Befund D), in dem
nur düstere Affekte und plötzliche Hemmungen durch die neue Situation her-
vorgerufen werden. lm Befund C {Junger Anwarter) wird die Farbe an sich
nicht beachtet, und doch tritt eine ausgepragte Reaktion auf sie ein: Das Bild
einer Gralsburg, einer schonen Königskrone, steigt in dem jungen Kopfe auf —
das Rot verrat seine unterbewuCten Gedanken. Dal3 er selbst, wenn auch durch-
aus unbewuQt, fühit, um was für Luftschlösser es sich dabei handelt, pragt sich
in dem rührenden Zusatz aus: „Ja, helfen Sie mir mal!" Zusammengehalten
mit den Beobachtungen bei seiner Diktion und seiner Kpmbination bietet
also sein Verhalten gegen die Farbe wie seine ideellen Inhalte das Bild eines
sehr strebsamen, aber durchaus noch nicht ausgereiften Menschen, der wahrend
der nachsten Entwicklungsjahre an verantwortungsvollem Posten mit Sicherheit
versagen würde oder sogar geradezu befremdliche Torheiten begehen könnte.
Noch eine andere Wirkung entfaltet das Rot beim Befund des Betriebsleiters
{Befund E): Hier entladt sich eine ungezügelte Explosion „Donnerwetter noch
einmal!" Es ist der Typus eines zu jahen, affektiven Entladungen neigenden
Menschen, der Untergebenen gegenüber es an Ausbrüchen nicht fehlen laOt.
Dazu paCt nicht nur inhaltlich seine Deutung „Vesuv“, sondern auch, daC er
immer wieder durch das ganze Protokoll hindurch Gesichter sieht, die „das
Maul aufreiCen", und in Wahrheit spielt er in der Betriebsleitung die fast un-
ersetzliche Rolle des „Treibenden", der es vorzüglich versteht, eine Verdoppelung
und Verdreifachung der Leistung aus dem Betriebe herauszuholen, So sehr er
hier an seiner Stelle steht, so wenig ware er an einem höheren innerorganisa-
torischen Posten am Platze, dazu fehlt ihm alles kombinatorische Denken zu sehr.
Er hat zu wenig Kultur und ist als Mensch viel zu grob geschnitzt, um selber
Vorgesetzter von gehobenen Beamten werden zu können. Wie der übrige Be¬
fund erweist, ist er hauptsachlich mit zwei Komplexen behaftet, namlich dem
zügelloser Weiberwirtschaft und dem ehrgeiziger Leistungen.
Gegenüber diesem explosiven Charakter bietet der Befund F, der Leiter der
Buchhaltungsabteilung, einen fast sterilen Anblick. Unbeweglich, unelastisch,
Freundlich, nicht astheiisch veranlagt, ziemlich phantasielos, in der Diktion nicht
26 Roemer, Psycbograpbische Tiefenanalyse eines GroBindustrielIen und seines Stabes
ungewandt, aber arm, ist er das Bild eines Menschen, der auBer der stereotypen
Arbeit seines BeruPs und dem Kreise seiner Familie nach der Welt wenig Ver¬
langen bat und sie höchstens mit verwunderten Blieken „wie ein freundlicher
alter Papa“ betrachtet. Er besitzt durchaus die Klarheit und AfFektlosigkeit, die
an seinem Posten bei der bestandigen Beschaftigung mit der Zahl notwendig ist,
wenn er sich nicht in seinem Berufe unbefriedigt und unausgefüllt fühlen soll.
Ein anderes Charakterbild, aber in seiner Weise ebenso am Platze, ist der
Vertreter fiir die Handelsbeziehungen im Osten {Befund G), der den nötigen
Humor und die nötige „freundliche Grobheit" fiir östliche Verhaltnisse durch¬
aus mitbringt. Er nimmt alles, wie es kommt, bewegt sich Prei, leicht und leb-
haPt in seinen GePiihlsauBerungen. Das Rot begrüBt er mit dem motorisch-
dramatischen, aber durchaus nicht ernst gemeinten AusruP „Kolossal". Durch
alle seine AuBerungen geht eine spielerische Note. Was er sieht, kann er Pür
das oder jenes ausgeben. Oberzeugt von dem relativen Werte aller Dinge, ist
er ein vorzüglicher VerkauPer, der jedes Ding so wenden kann, wie es ihm Pür
den BetrefFenden am gegebensten und am gangbarsten erscheint. Ohne viel
innere Hemmungen hat er eine natürliche Freude am Umgang mit Menschen,
schonen und haBlichen, und entsprechend seinen Fahigkeiten ist denn auch sein
ErPolg: Sein monatliches Einkommen bélieP sich schon AnPang dieses Jahres auP
einige Hunderttausend deutsche Reichsmark.
In erheblichem Abstand von diesen BePunden Polgen noch zwei andere (H und I)
aus weniger gehobenen Stellungen. MiBmutig, mürrisch, mit depressiven Phan-
tasien, die seine unterbewuBten Strömungen deutlich verraten, ist der Aufsichts-
beamte der technischen Abteilung (H), das Bild eines Menschen, der sich be-
drückt und ausgesogen Pühlt. Mit Beschwerden gegen die Leitung der Firma,
die seine Verdienste nicht anerkenne, verbittert und seiner Arbeit wie dem Leben
mit reichlich viel Widerwillen gegenüberstehend, ist er ein Typ, wie er wohl
jedem Leiter eines industriellen Unternehmens bekannt ist. Trotzdem Püllt er
die Funktionen seines Postens bePriedigend aus; denn wie er Pür sich selbst
mürrisch jedes Ereignis betrachtet, so wacht er mit Argusaugen über die Tatig-
keit der ihm unterstellten Arbeiter. Man kann nicht sagen, daB er kleinlich ware;
dazu müBte er sich auch im Versuch viel mehr auP die Ausdeutung kleiner
Details legen. Es ist nicht ungerecht, was er an den Arbeitern auszusetzen hat,
und doch spüren sie seine miBmutige Einstellung zum Leben und zu ihnen selbst
so deutlich durch, daB ihm keiner einen guten Bliek schenkt.
Ein heiteres Gegenbeispielzu ihm ist die Figurdes Reklamebeamten{l)derheraus-
sprudelt, sich dutzendemal unterbricht, korrigiert, und ironisiert, und der immer
wieder auP eine lustige Deutung herauskommt. Fast von übergroBer Witzelsucht,
gibt er seine Ideen und iisthetischen Betrachtungen, wie seine eigenen „Kom-
plexe“ mit Lust und Liebe preis, genau, wie er in privatem Leben als harmloser
Verschwender und jovialer Tunichtgut sich prasentiert und dabei doch Pür seine
Sparte im GeschaPt eine ganz respektable Leistung auPzuweisen hat.
28 Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroQindustrielIen und seines Stabes
gleichsam durch ein Brennglas aufgefangen und dieses kleine, aber auQerordentlich
scharfe Abbild mit dem Mikroskop untersucht und ausgemessen. Diese Tatsache
spricht sich auch in dem Gutachten aus, das von dem Chef des groQindustriellen
Unternehmens über die vorliegenden Tiefenanalysen abgegeben wurde.
Rundschau
Die erste Tagung
fOrangewandte PsychologiederGesell-
schaft fOr experimentelle Psychologie
in Berlin
Die Gruppe für angewandte Psychologie
der Gesellschaft für experimentelle Psycho¬
logie hielt in der Zeit vom 10. bis 14. Oktober
in Berlin ihre erste Tagung ab. Am 10. und
11. fanden Besichtigungen industrieller so-
wie sonstiger Prüfeinrichtungen sowie De-
monstrationen statt. Vom 11. bis 14. da-
gegen wechselten Besichtigungen mit Ver-
handlungen ab. Die Vortrage und Verhand-
lungen fanden am 13. in der Technischen
Hochschule Charlottenburg, am 12. und 14.
in den Raumen der Universitöt statt.
Die Tagung wurde eröffnet durch einen
Vortrag von Prof. Stern, Hamburg, in dem er
eine kurze Darstellung der Entwicklung der
angewandten Psychologie unter besonderer
Berücksichtigung der Berliner Verhaltnisse
gab. Er führte u. a. aus:
„Die angewandte Psychologie ist janus-
köpfig; auf der einen Seite blickt sie hin zur
theoretischen Psychologie; so wie sie aus
dieser hervorgegangen ist, so wird sie auch
stets in enger Fühlung mit ihr bleiben
müssen, um ihren wissenschaftlichen Cha-
rakter zu bewahren. Die Fortschritte der
psychologischen Erkenntnis und Methodik,
die von der reinen Forschung erarbeitet
werden, müssen dauernd einbezogen werden
in die Anwendungstatigkeit, sonst gerat die
angewandte Psychologie in Gefahr, zu einem
mechanischen Gebaren zu erstarren. So sei
etwa hinzuweisen auf die neuen Gesichts-
punkte der Gestaltspsychologie, die auch
für Anwendungsfragen von entscheidender
Wichtigkeit werden können. Aber freilich
sollte auch die reine Psychologie nicht mit
Geringschatzung auf die angewandte blieken,
denn auch sie kann von ihr lemen und be-
deutsame neue Fragestellungen erhalten.
Es ware dringend zu wünschen, daO die schon
auftauchendè Gefahr einer schroffen Schei-
dung der wissenschaftlichen Psychologen in
Theoretiker und Anwender vermieden werde.
Auf der anderen Seite blickt die ange¬
wandte Psychologie hin zur Praxis; nicht
mehr nur im Studienzimmer und Laborato¬
rium hat sie zu wirken, sondern in der Schul-
klasse, im Verwaltungsbüro, in der Werk-
statt, derKlinik, dem Gerichtssaal. Sie lehrt
nicht nur, wie psychologische Einsichten
praktisch verwertbar sein können, sondern
beteiligt sich auch an diesen Anwendungen
selbst und greift damit — als „praktische"
Psychologie — unmittelbar ins Leben ein.
Aber auch hier ist eine Warnung nötig.
Werden diese Anwendungsformen von den
Vertretern der Praxis, den Lehrern, Inge-
nieuren, Werkmeistern usw. selbst über-
nommen, so entsteht die Gefahr, daO diese
MSnner die wissenschaftliche (d.h. hier fach-
psychologische) Fundierung nicht genügend
würdigen, welche diesen Verfahrungsweisen
erst ihren Sinn und ihre Bedeutung gibt.
„Psychotechnik" ist keine bloOe Technik,
die man durch Beherrschung der üuCeren
maschinellen und rechnerischen Hilfsmittel
auch schon bewaltigen kann; sie ist und
bleibt zugleich alle Zeit Psychologie und ver-
Rundschau
29
langt daher auch unbedingt eine fachmanni-
sche Schulung in dieser Wissenschaft.
Diese Tagung soll nun dazu beitragen, die
unentbehrliche Vermittlungsstellung der an-
gewandten Psychologie zwischen der rein
psychologischen Wissenschaft und der Pra¬
xis klarzulegen und zu festigen; sie wird ein
zentrales Problem, namlich die Aufgabe der
FShigkeitsfeststellung bei Arbeitern, Lehr-
lingen und Schülern sowohl von der Seite
der psychologischen Methoden wie von der
des Praktikerurteils beleuchten; sie wird
ferner versuchen, wie beide Verfahrungs-
weisen zusammenwirken und sich gegen-
seitig stützen und erganzen können. Es ist
die erste Tagung dieser Art in Deutschland,
wahrend zwei internationale psychotechni¬
sche Konferenzen, im Vorjahre in Barcelona
und soeben inMailand vorausgegangen sind.
Berlin wurde für diese erste deutsche Ta¬
gung gewahlt, weil hier eine Reihe von In¬
stituten schon seit langem der angewandt
psychologischen Arbeit dienen und weil hier
auch praktische Betriebe in einem Umfange
wie sonst nirgends in Deutschland die Ge-
legenheit zur Besichtigung psychotechni-
scher Einrichtungen gewahren.“
Den einleitenden Vortrag hielt Prof.
Poppelreuter, Köln-Bonn, über Wesen,
Methodologie und Erfolg der verschiedenen
Begutachtungsverfahren, beurteilt nach
eigenen Erfahrungen in der Praxis. Folgende
Leitsatze legte er seinen Ausführungen zu-
grande: 1. Die ein-zweitagige Serientest-
methode hat ihren Erfolg überwiegend in
der Konkurrenzauslese. Für die Zwecke der
allgemeinen Begutachtung ist sie nur teil-
weise verwondbar. 2. Serientestprüfungen
sind nicht psychologische Begutachtungen,
sondern Leistungsprüfungen nach vor-
wiegend psychologischer Methodik. 3. Die
Begutachtung hat ihren unter den gegen-
wartigen Verhaltnissen optimalen Erfolg nur
durch eine Kombination der verschiedenen
Methoden; a) der praktischen, b) der rein
arztlich-klinischen, c) der menschenkund-
lichen (padagogischen), d) der Testserien,
e) der symptomatisch-typologischen (psych-
iatrischen), f) der Methode derpsychologisch-
monographischen Arbeitsprüfungen.
Danach wurden von den einzelnen Rednern
die von ihnen eingereichten Leitsatze in der
kurzen zur Verfügung stehenden Zeit be-
gründet. An die Begründung schloD sich
stets eine lebhafte Diskussion an. Die Leit¬
satze des ersten Tages bezogen sich auf
die Feststellungsmethoden der ange-
wandtenundpraktischenPsychologie.
So berichteten: u. a. Baumgarten über Test-
methodik, Giese über Arbeitsprüfung,Moede
über Systematik der Prüfmittel und Wieder-
holungsversuche, Rupp über Wesen und Be-
griff psychischer Fahigkeiten, Sachs über
Psychotechnik und Sozialpolitik, Stern über
allgemeine psychologische Methodik unter
den verschiedenen Gesichtspunkten, Schulte
über Übungsfahigkeit und Versuchsum-
stande, Valentiner über Feststellung berufs-
wichtiger Willenseigenschaften bei Jugend-
lichen,RohloffüberÜbungsstudien. Lipmann
war krankheitshalber am Erscheinen ver¬
hindert.
Der zweite Verhandlungstag wurde mit
einer Besichtigung des psychotechnischen
Laboratoriums der Technischen Hochschule
Charlottenburg eröffnet, in dem die Prüf-
verfahren für Lehrlinge und Meister der
Metallindustrie sowie für Facharbeiter und
Facharbeiterinnen des Holz- und Textil-
gewerbes vorgeführt wurden. Vor dem Ein-
tritt in die Aussprache hielt Prof. Schlesinger
eine BegrüQungsansprache. Er führte etwa
folgendes aus:
„lm Auftrage des Rektors derTechnischen
Hochschule habe ich die Ehre, die Mitglieder
der Psychologischen Gesellschaft in den
Raumen der Technischen Hochschule will-
kommen zu heiOen. Rektor und Senat wün-
schen Ihrer wichtigen Tagung von ganzem
Herzen einen erfolgreichen Verlauf.
30
Rundschau
Wenn ich persönlich noch ein paar Worte
ankniipfen darf als Vertreter des Lehrstuhis
für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetriebe,
so geschieht das insbesondere, weil wir Be-
triebsingenieure ja in unserem Beruf seit so
vielen Jahren das Bestreben haben, die Har¬
monie zwischen der technischen Einrichtung
und dem Menschen herzustellen. Der Be-
triebsleiter hat sich ja taglich mit der Ein-
stellung von Lehrlingen, Arbeitern, Vor-
arbeitern und Angestellten zu befassen und
er hat von jeher bloC aus seinem Gefühl
und seiner Erfahrung heraus diese Auslese
und Zuweisung an die richtigen Platze treffen
müssen. Wir sind also eigentlich gewohnt,
durch die Praxis Psychologie zu treiben.
Wir haben sie aber in den Betrieben bisher
in der Form der Meisterwirtschaft, im besten
Sinne, geübt. Auch der Betriebsmeister ar-
beitetjanurausdiesem Gefühlherans. Wenn
jetzt die Forschung dazu kommt und zu dem
was der Meister persönlich kann, den objek-
tiven MaOstab liefert und das Erfahrungs-
gemaCe durch Messung auf feste Unterlagen
stellt, dann wird das Ziel, Menschen auszu-
lesen und zu heraten, viel schneller, sicherer
und gefestigter erreicht werden als es bisher
möglich war. Es wird an Stelle der bloOen
Addieruug der Arbeit von Technikern und
Psychologen eine Potenzierung der Wirkung
eintreten. Man muB also die Arbeit von zwei
Seiten anfassen. Der Ingenieur muD, wenn
er Menschen richtig einweihen will, in der
Lage sein, bis in die tiefsten Winkel ihrer
psychologischen Werkstatten hineinzu-
schauen, ohne daO von ihm verlangt werden
kann, er müsse das ganze Werkzeug beherr-
schen, und es muO vom Psychologen verlangt
werden, daD er auf der Basis seiner psycho¬
logischen Kenntnisse sich eine klare An-
schauung der gerade zu untersuchenden
technischen Arbeit verschafft. Wir Char-
lottenburgersfehen aber auch auf dem Stand-
punkt: Ingenieur, Arzt, Lehrer, National-
ökonom können alle Psychotechniker werden
unter der einen Bedingung, daB sie ihren
früheren Beruf aufgeben und sich der neuen
Wissenschaft ganz widmen wollen. Wir er¬
kennen aber niemals an, daB man heides
vereinigen kann, ja, wir verurteilen es, wenn
einer auf beiden Gebieten doch nur Laien-
haftes Leistet. Weder Industrie noch Land-
wirtschaft noch Handwerk noch Haushalt
kennen heute wirklich genau die zu ihrer
musterhaften Ausübung erforderlichen Vor-
bedingungen. Das wird erstdurchtiefgehende
Berufsforschung kommen. Und nur auf ganz
wenigen Gebieten sind wirklich feste Grund-
lagen geschaffen. Solange aber eine Berufs-
kunde nicht besteht, kann auch keine gründ-
liche Berufsberatung erteilt werden und dann
ist auch die richtige Berufswahl unmöglich.
Die Dreiheit Kunde, Beratung und Wahl wird
sich erst entwickeln müssen und sie wird
um so schneller entstehen, wenn die Univer-
sitat als Mutter und die Technische Hoch-
schuiealskraftigerSproBzusammenarbeiten.
Es fallt uns Ingenieuren gar nicht ein, in das
innere Arbeitsgebiet der Psychologen ein¬
dringen zu wollen. Wir sind aber Empfanger
und Ausführer Ihrer schürfenden Arbeit.
Wir wollen hoffen, daB die Arbeiten, die
bisher ausgeführt wurden und bei denen die
gekennzeichnete Arbeitsteilung in Char-
lottenburg durchgeführt wurde, sich be-
wahren wird. Die Charlottenburger Eigenart
ist, daB Ingenieur und Psychologe Schulter
an Schulter zwar getrennt arbeiten, aber
vereint schlagen.
Wir wissen, daB zu einem Studium, wie
es die praktische Psychologie verlangt, vtele
Jahre Arbeit gehort, und wir haben niemals
den Ehrgeiz gehabt, in wenigen Monaten
praktische Psychologen zu werden oder gar
auszubilden. Das wollen Sie als die innerste
Überzeugung eines Mannes hinnehmen, der
bei der Ausbildung und Beratung insbeson-
ders von Lehrlingen viele Jahre praktisch
tatig war und der dann spater die Freude
hatte, die psychotechnischen Verfahren als
Krönung seiner Bestrebungen zur Heran-
ziehung eines technischen Nachwuchses
Rundschau
31
kennenzulernen. Die ganze technische
Welt verfolgt diese vielversprechenden An-
Tdnge mit lebhaftester Teilnahme und ich
persönlich wünsche Ihnen als mitarbeitender
Ingenieur von Herzen Gliickauf zur Lösung
der stolzen Aufgabe; Jedem Menschen den
ihtn durch angeborene Fahigkeiten am besten
liegenden Platz zuzuweisen!"
Der zweite Verhandlungstag war der Be-
sprechung der Urteilsgrundlagen des
Praktikers gewidmet. Zunachst berichtete
Rektor Ruthe über die Urteilsgrundlagen des
Lehrers in der Volksschulpraxis. Darauf
trug Herr Chaym über die Grundlagen der
Beurteiiung von Schülern höherer Lehr-
anstalten vor und ging besonders auf die
mannigrachen, für die Beurteiiung von Schü¬
lern in Frage kommenden Gelegenheiten
des Schulunterrichtes ein. Das SchluQ-
referat erstattete Dr. Heyland über die Ge-
sichtspunkte der Beurteiiung von Industrie-
lehrlingen und Facharbeitern. Die Nach-
mittagsverhandlung war unter anderm der
Besprechung des Beobachtungsbogens ge¬
widmet. Moede hatte den Leitsatz ein-
gereicht: Die Wünsche und Bemühungen
zur Feststellung schul- und berufswichtiger
Eigenschaften mit Hilfe eines Beobachtungs-
und Fragebogens haben bisher eine wissen-
schaftliche Begründung nicht erfahren. Er
begründete seine These mit zahireichem, in
der Praxis des Laboratoriums für industrielle
Psychotechnik gewonnenem Erfahrungs-
material und teilte unter anderm auch die
Erfahrungen mit dem Beobachtungsbogen
bei der Berliner Begabtenprüfung mit. Herr
Bogen entwarf Richtlinien für die wissen-
schafiliche Arbeit zur Grundlegung der
psychologischen Beobachtung. Er verlangt
u. a. Arbeitsanalyse auch für die Schule,
um den Beobachter in den Stand zu setzen,
sachgemaOe und zuverlassige sowie psycho¬
logisch wertvolle Urteile abzugeben. AuCer-
dem verlangt er, den Beobachtern die Grund-
züge einer zweckmafligen Beobachtungs-
technik zu vermitteln.
Am dritten Tage standen die Bezie-
hungen der psychologischen und
praktischen Urteile zueinander zur
Diskussion. Piorkowski hatte den Grund-
satz eingereicht, dal3 es nicht ohne weiteres
angangig sei, die „Bewahrung“ bzw. „Rich-
tigkeit“ von Intelligenz- und Eignungsprü-
fungen dadurch zu konstatieren, daO eine
Korrelation mit dem Lehrer- bzw. Meister-
urteil vorliegt, da es sich herausgestellt hat,
daC diese Urteile in vielen Fallen sehr viel
weniger begründet sind als die Ergebnisse
einer sorgfültigen psychotechnischen Prü-
fung. Er begründete diese Anschauung durch
zahireiche üuOerst interessante Falie seiner
Praxis und hob immer wieder hervor, daO
die in der psychotechnischen Untersuchung
erfaBte potentielle Energie sich je nach den
in Frage kommenden Arbeitsbedingungen
in der verschiedensten Weise in aktuelle
Energie umsetzen kann. Moede begründete
seine These, daB bei dem gegenwartigen
Stande unseres Wissens bei Anstellung von
Erfolgskontrollen irgendwelcher Art auf eine
gründliche Aussprache des Psychologen
oder Psychotechnikers mit dem Praktiker
am Verhandlungstisch nicht verzichtet wer¬
den kann. In der Diskussion beleuchtete
u. a. Marbe, Würzburg, die Psychologie des
Urteilens und wies auf seine Gleichförmig-
keitsuntersuchungen hin.
Herwig begründete seinen Leitsatz über
die Integralkurve mit ihrer Unterteilung als
zweckmaBiges Auswertungsprinzip.
Eingeleitet wurde der dritte Verhandlungs¬
tag durch eine Besichtigung der Psychotech¬
nischen Versuchsstelle der Reichseisenbahn-
verwaltung in Eichkamp. Geheimer Rat
Schwarze vom Reichsverkehrsministerium
begrüBte die Teilnehmer der Tagung und
legte die Richtlinien der Psychotechnik im
Reichseisenbahndienst dar. Oberbaurat
Skutsch, Leiter der Psytev, trug über
Arbeitsgrundsatze und Erfahrungen der
Psychotechnischen Versuchsstelle vor und
32
Rundschau
besprach die Erfolgskontrollen der Lehr-
lingsprüfungen aufGrund umfassenden sta-
tistischen Materials, das von den einzelnen
Prüfstellen eingereicht worden war.
Besichtigt wurden an den übrigen
Tagen; A.E.G., Siemens & Halske, Sie¬
mens-Schuckert, Prüfmittelsammiung des
Ingenieurvereins, psychotechnische Prüfein-
richtungen der Reichspostverwaltung (Tele-
phonistinnen- und Fahrerprüfung), Labora¬
torium der Osram-G.m.b.H. u. a. m.
Allgemein wurde dem Wunsche Ausdruck
gegeben, daO dieser ersten Tagung eine
Reihe weiterer folgen möchte.
AuGer den öffentlichen Sitzungen fan¬
den interne Aussprachen der Gruppenmit-
glieder statt.
Als Vorstand wurden in geheimer Wahl
gewahlt; Stern, Marbe, Poppelreuter, Moede,
Rupp, die die Wahl annehmen. Stern spricht
dem ausscheidenden Schriftführer Lipmann
seinen Dank aus.
Verband Praktischer Psychologen
Der Verband der Praktischen Psychologen
hielt anlaOlich der Tagung der Gruppe für
angewandte Psychologie gleichfalls seine
erste Tagung ab. Als Vorstand wurden ge¬
wahlt die Herren Marbe, Moede, Piorkowski.
Praktische Psychologie
und Berufsberatung
Die Gruppe für angewandte Psychologie
sowie der Verband der Praktischen Psycho¬
logen reichten dem Reichsamt für Arbeits-
vermittlung beim Reichsarbeitsministerium
einen einstimmig angenommenen Antrag
ein, wonach bei der gesetzlichen Neurege-
lung des Berufsberatungswesens die Psy¬
chologie entsprechend der ihren Erfahrungen
und Erfolgen zukommenden Bedeutung ge-
bührend berücksichtigt werden soll.
Zwanzigtausend Mark
für einen kurzen Satz
oder einen Vers
Der Anzeigenteil dieses Heftes enthalt
ein Preisausschreiben der Deka Pneu*
matik G. m. b. H., Berlin.
A
Ferner liegt diesem Heft ein Prospekt
der Firma Felix Meiner in Leipzig über
philosophische Werke bei.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr.C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf Gr Hdrtel in Leipzig.^
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. NOVEMBER 1922 2. HEFT
Die Praktische Psychologie erscbelnt io roooetlicben Herteti lm Umfange voq zwel Bogeo zum Preise von 300 Mark vterielfibriich
fura Inlind. Füra Ausland besondere Preise. (Viertellabrapreis bel unmitielbarer Zustellung uoter Kreuzbaod lm Inlaad eio-
acbUeOlich ösierrelch • Uogarn 400 Mark.) Bestellungen nehmeo alle Bucbbaodlungen, die Post sowie die Verlagabuchbandlung
eatgegeo. Aozelgeo vermittelt die VerUgsbuchbandlung S. Hlrzel io Lelpzlg, KdnigsiraOe 2. Postscbeckkooto Leipzlg226.—
Alle Manuskripiseodungen uod darauf bezugliche Zuacbrlftea aind zu richten aa die Adrease der Schriftleituag: Prof. Dr. W. M oed e
und Dr. C. Piorkowaki, BerllnV(^30, LuItpoldatraOe 14.
Untersuchungen über die Befahigung zur Erlernung
der Fremdsprache
Von Max Lobsien, Kiel
N ach vollendeter Grundschulzeit tritt an die Schule die auOerordentlich ernste
Aufgabe heran, eine Scheidung vorzunehmen in solche Zöglinge, die ihrer
Begabung nach der Volksschule verbleiben müssen und solche, die einem höheren
Bildungsgange zugewiesen werden dürfen. Sehr ins Gewicht fallt dabei die Aus-
lese der sprachlich-logisch Befahigten. Kann der Vérsuch hier wesentliche Dienste
leisten? Ist insonderheit der Versuchsgang, den Felix Schlotte, Johannes Schlag
und Dr. Handrick in Leipzig entwarfen, für diesen Zweck geeignet? Die Frage
zu beantworten erachte ich von um so gröBerer Bedeutung, als die Zeit in greifbare
Nahe rückt, da die Auslese in der Grundschule praktische Gestalt annehmen muD.
X Art der Versuche
Zu zwei verschiedenen Zeiten nahm ich eine sorgsame Nachprüfung der Leip-
ziger Versuche vor, einmal vor Jahresfrist, worüber kurz wiederholt werden moge,
und dann vor Beginn der Herbstferien 1922. In beiden Fallen schloO ich mich
mit einigen Anderungen, die aus örtlichen und zeitlichen Verhaltnissen notwendig
sich ergaben, an die Leipziger an. (Vgl. Pad.-psych. Arb. Bd. XI. Leipzig 1921.)
Ihre Prüfung zerfallt in zwei Hauptgruppen, die Untersuchung des Gedachtnisses
und der sprachlich-logischen Fahigkeiten. Beide schienen einer allgemein-psycho-
logischen Erwagung für die Auslese unerlaClich.
Sowohl das unmittelbare Merken als die Gedachtnistreue für sinnlose und sinn-
volle Stoffe wurden untersucht. Das Gedachtnis für einfache sinnvolle Stoffe wurde
mit Hilfe von zehn Dreiwortgl^edern geprüft. Sie wurden einzeln und dann noch-
mal im ganzen durch Vorlesen und Nachsprechen im Chor eingepragt. Die Ab-
nahme geschah, indem der Versuchsleiter das erste Wort in buntem Durchein-
ander der Glieder diktierte und den Schüler veranlaOte, das Nichtgenannte dazu-
zuschreiben, eine Lücke durch einen Strich anzudeuten. Nach einem langeren
Zeitraum wurde die Abnahme in anderer Folge der Glieder unerwartet wieder¬
holt. — Wenn beide Wörter richtig erganzt wurden, ward die Leistung durch
zwei Punkte gewertet; wenn ein richtiges Wort durch ein sinnvolles ersetzt ward,
galt die Leistung = 1,5, waren beide vertauscht oder wurde nur ein richtiges,
aber an falscher Stelle geschrieben, galt der Wert = 1,0, ein richtiges und ein
falsches an verkehrter Stelle wurden mit 0,5 eingestellt.
P. P. IV. 2.
3
34
Lobsien, Untersuchungen Qber die Befahigung zur Erlernung der Fremdsprache
Das Gedachtnis für sinniose Wörter wurde nach dem Vorschlage Handricks
mittels des Vokabelversuchs geprüft. Zehn Wortpaare, deren jedes erste der
türkischen Sprache entnommen war, standen an der Wandtafel und wurden laut
iesend eingepragt. Die Fremdwörter wurden dann in bunter Folge dargeboten,
und die Schuier muOten die zugehörige Verdeutschung niederschreiben — die
richtige Wiedergabe wurde mit einem Punkt gewertet.
Das Behalten gröCerer sinnvoller Zusammenhange ward untersucht, indem
langere Satze, die aber gleichviele inhaltliche Einheiten enthielten, lesend und
sprechend einmal von der Wandtafel abgenommen und unmittelbar darauf nieder-
geschrieben wurden; die Anzahl der behaltenen wurde durch einfache Punkte
angegeben.
Die Prüfung der sprachlich-logischen Fahigkeiten umfaOte die Begabung für
sprachliche Kombination, die Lautauffassung und Lautdarstellung, den Sinn für
logische Zusammenhange, logische Ordnung und den Reichtum und die Beweg-
lichkeit des Vorstellungsschatzes.
Der Sinn für logische Zusammenhange wurde mit Hilfe durcheinandergeworfener
Satzteile (Mosaiksatze) erkundet. Die Anzahl der richtig geordneten Beziehungen
galt als Wertmesser der Leistung.
Der Sinn für logische Ordnung wurde nach dem Verfahren Schiracks im
Leipziger Institut untersucht, indem die Prüflinge veranlaBt wurden, zu einem
gegebenen Begriff zwei nebengeordnete und den OberbegrifF zu linden. Ein
richtiger NebénbegrilF bekam 3, der richtige OberbegrifF 6 Punkte, zu weite nur
4 oder 2.
Die gebundene sprachliche Kombinationsfahigkeit wurde mit einem Lückentext
geprüft. Jede sinnvolle Erganzung galt 1 Punkt, und die freie Kombination wurde
mit dem Masselonschen Versuch geprüft, der 10 Wortpaare umfaOte. Die Punkt-
zahlen wurden nach dem Wert der Leistungen festgestellt.
Der Vorrat und die Flüssigkeit des Wortschatzes wurden gemessen, indem man
die Prüflinge veranlaOte, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu einem ge¬
gebenen Worte inhaltlich verwandte (keine Wortfamilien) in möglichst grofier
Anzahl aufzuschreiben.
lm Lautauffassungs- und Lautdarstellungsversivph soll der Prüfling zeigen,
wie weit er vorgesprochene Worte einer ihm fremden Sprache klanglich auf-
zufassen und richtig niederzuschreiben vermag.
Soweit die notwendigsten Angaben über die Art der Versuche!
Die Prüflinge
Unsere Versuche wollen feststellen, inwieweit nach eigenen Erfahrungen die
Leipziger Prüfungen für ihre Absicht brauchbar erscheinen. Die Prüflinge unter-
scheiden sich da und hier nach zwei Richtungen. Zunachst stand mir eine
wesentlich geringere Anzahl zur Verfügung, es waren ihrer lm ersten Versuch
nur 25, im zweiten 29. Es liegt auf der Hand, daO eine so geringe Prüflings-
Lobsien, Untersuchungen über die BefShigung zur Erlernung der Fremdsprache 35
schar wenigstens für allgemeinere Schlüsse eine schmalere Grundlage abgeben.
Der Mangel darf bei dem Vergleich der Ergebnisse nirgend unbeachtet bleiben,
Sodann waren im ersten Versuch meine Prüflinge etwa 'A Jahr alter als die
Leipziger, dafür aber waren sie wahrend dieses Zeitraumes von einer vorzüglichen
Lehrkraft in der englischen Sprache unterrichtet worden, und das hat den groDen
Vorteil, zu vergleichen, ob die Erfahrungen zu jenen Versuchsergebnissen stimmten,
ob vor allem die beiderseits gewonnenen Leistungsrangreihen übereinstimmten
oder nicht. Der Vergleich war mir so wertvoll, daB ich beschloB, nach einem
Jahre den Versuch mit denselben Schülern — nur die Sitzengebliebenen schieden
aus — zu wiederholen urn zu prüfen, wie nun die Rangreihen sich zueinander
verhaken würden. Der Unterricht im Englischen war in derselben Hand geblieben,
nur erforderte der Altersfortschritt urn ein Jahr eine etwas gesteigerte Höhe der
Versuchsanforderungen, ohne ihr Wesen zu verandern.
Eichung der Versuchsmethoden
Einige kurze methodische Bemerkungen sind unerlaBlich. Zunachst gilt zu
überlegen, wie hoch man die Anforderungen an die Prüflinge stellen könnte.
Sie dürfen weder zu hoch noch zu niedrig sein. Jedenfalls mussen sie, ent-
sprechend unserer Aufgabe, eine mittlere Schwierigkeit besitzen, die man nach dem
Leipziger Muster als prozentuale Erfüllung berechnen kann. Darunter versteht man
das Verhaltnis der tatsachlichen Leistungen einer Gruppe zu den Höchstmöglichen.
Wenn z. B. eine Prüflingsgruppe 868 Rohwertpunkte aufweist gegenüber einer Ideal-
leistung von 1375, so ergab sich ein Hundertwert von 63. Der strenge Mittelwert
ist 50, und der Versuch erweist sich als um ein geringes zu leicht. Erst auf Grund
zahlreicher Versuche wird es gelingen, wirklich geeichte Methoden zu gewinnen,
d. h. solche, die über 50 Prozent nicht wesentlich hinaus- oder hinuntergehen.
Ich stelle die prozentualen Erfüllungswerte in Leipzig und Kiel zusammen:
■
Leipzig
Kiel 1
Kiel 2
mm
Vokabelversuch.
30
29,6
34
B
Vorstellungsreichtum. . .
(30)
(51,4)
(42)
B
freie Kombination.
48
B
gebundene Kombination.
46,2
32
B
Über- und Nebenordnung
50
49,8
66
6.
LautauFfassung.
61
67,0
89
7.
Mosaiksatze.
62
63,1
70
8.
Wortgedachtnis.
64
64,0
62
9.
Satzgedachtnis.
75
73,1
79
Die prozentuale Erfüllung stimmt bei den letzten Versuchen mit den Leipziger
Rechnungen weniger gut überein als bei den ersten. Die Anforderungen waren
bei mehreren etwas zu niedrig. Der Leistungszuwachs eines Jahres war gröBer
3*
36
Lobsien, Untersuchungen über die Befahigung zur Erlernung der Hremdsprache
als die Erschwerung der Prüfungen voraussetzte. Wie weit dadurch die Rang-
unterschiedlichkeit berührt wird, könnte nur durch umfangliche Nachunter-
suchungen festgestellt werden. Hier müssen wir uns damit begnügen, die Unter-
schiede durch Rechnung in etwas auszugleichen.
Deutung der Rohergebnisse
Für ihre rechnerische Auswertung sind zwei MaOe von ausschlaggebender
Bedeutung: der HÖchst- und der Schwierigkeitswert. Ich streife sie kurz.
Den Untersuchungen lag jeweils eine Reihe von Aufgaben zugrunde, etwa
38 Auslassungen beim Lückentext oder 10 Einzelreihen beim Vokabelversuch.
Wenn man jede richtige Leistung mit einem Punkt bewertet und die Leistungs-
summe zu den höchstmöglichen, idealen Leistungen in Beziehung setzt, würde
man ohne groOe Mühe eine Leistungsrangreihe unter den Schülern einer Gruppe
aufbauen können. Die Reihe ware aber deshalb anfechtbar, weil die einzelnen
Glieder der Aufgabe von unterschiedlicher Schwierigkeit sind; man würde dann
lediglich die Menge des Geleisteten, nicht aber die Güte berücksichtigen. Beide
zugleich müssen in die Rechnung einbezogen werden, und zwar nach der Regel:
Je haufiger eine der zehn Teilaufgaben innerhalb der Schülergruppe gelost worden
ist, desto geringere Leistungsanforderungen stellt sie, die geringste jene Teil-
auFgabe, die von allen Prüflingen gelost worden ist. Bezeichnen wir die Anzahl
der Schüler mit n, den Höchstwert der tatsachlich von der Gruppe geiösten
Einzelaufgaben = h, dann ware der Schwierigkeitswert = n + 1 — /t zu bewerten.
Die Rechnung ist nur möglich, wenn jede Einzelleistung in den Rohpunkten
mit 1 angegeben wird. Wenn aber, wie etwa beim Lautauffassungsversuch, die Roh-
punkte komplizierter gewertet werden müssen, dann empfiehlt es sich, die Reihen-
leistungen in Prozenten der Idealleistung anzugeben und die zehn Glieder, weil
die Haufigkeit im umgekehrten Verhaltnis zur Schwierigkeit steht, einzeln von
100 zu subtrahieren. Mit diesem Werte werden die einzelnen Leistungen multi-
pliziert und zu Endsummen verrechnet.
Oft aber ergeben sich durch das angedeutete Verfahren unbequeme Zahlen,
und man bemüht sich urn kleinere Faktoren, die Schwierigkeitsfaktoren;
sie sind verkürzte Schwierigkeitswerte. Man kommt im allgemeinen mit den
Wenen 0- 5 aus. Durch einfache Proportionsrechnung setzt man den gefundenen
Höchstwert == 5 und setzt die andern dazu in Beziehung; die Zwischenwerte
werden in der üblichen Weise auf ganze Zahlen erhöht.
Streuung der Ergebnisse
Die prozentuale Ecfüllung zeigt nur die Lage der Durchschnitts- zur idealen
Höchstleistung, sie sagt aber nicht, ob die Anforderungen der Reihen sich über
einen genügend weiten Punktspielraum verteilen. Sind die Anforderungen
nicht schwer genug, dann liegt der Durchschnittswert hoch und die Einzelleistungen
Lobsien, Untersuchungen über die BefShigung zur Erlernung der Fremdsprache
37
drangen sich nahe dem Höchstwerte eng zusammen oder übereinander. Das ist
Für eine Rangverteilung natürlich ungünstig. Aus der prozentualen ErfüIIung
lassen sich die Verhaltnisse nicht ersehen, man muQ die Streuung der Sonder-
leistungen genauer erfassen. Ich versuchte das durch ein zwar nicht einwandfreies
aber immerhin brauchbares Verfahren. Für jede Versuchsart berechnete ich den
Durchschnitt der über und unter der Durchschnittsleistung liegenden Punktwerte
und gewann aus ihnen das Mittel, die durchschnittliche Streuung. Liegt
dieser Wert in der Nahe der Klassendurchschnittsleistung, ist die Streuung gering
ausgefallen. Wird die Punktzahi auf 100 verteilt, dann ist die ideale Verteilung
50 und die ideale Streuung nach oben und nach unten - 25. Durch die
Wertung der gefundenen Durchschnittsstreuung in Prozenten der idealen findet
man einen Ausdruck dafür, wie weit die Streuung für die Rangverteilung günstig
gewesen ist.
Das Ergebnis meiner Untersuchungen zeigt folgende Übersicht:
+
■
B
+
2. Ve
rsuch
Durch*
scbnitt
%v.25
Wortgedachtnis: 1. Abnahme.
18,5
27,8
23,2
EBI
24,8
23,3
24..
„ 2. Abnahme.
18,5
24,3
21,3
85,2
^1
31,2
29,3
117,2
Vokabelgedachtnis: 1. Abnahme ....
17,6
19,0
18,3
22,6
17,3
80,0
„ 2. Abnahme ....
15,4
19,2
76,8
16,3
1L4
13,9
55,6
Satzgedachtnis.
18,3
18,8
75,2
19,5
21,2
84,8
Logischer Zusammenhang.
25,7
24,0
ESI
99,6
18,5
19,0
18,8
75,2
Logische Ordnung.
24,2
20,6
16,5
16,7
66,8
Gebundene Kombination.
19,3
20,9
20,1
80,4
20,6
16,4
18,5
74,0
Freie Kombination.
18,7
22,3
82,0
24,2
19,3
21,8
87,2
Vorstellungsschatz.
26,3
14,8
20,6
82,4
18,1
19,4
18,4
73,6
Lautversuch.
15,3
15,7
62,8
17,8
15,1
16,5
66,0
Die Übersicht zeigt, wo die Streuung sich über den Nullpunkt verschiebt und
welche Versuchsart die günstigste Punktverteilung ermöglichte. Es ist nicht an-
gangig, die Zahlenwerte kleinlich auszudeuten, das verbietet schon die geringe
Anzahl der Versuchspersonen in beiden Prüfungen; immerhin aber gibt die starke
Abweichung bei manchen Versuchsarten zu Bedenken AnIaO. Vor allem bedarf
es der Aufklarung, warum die Streuungszone in der zweiten Wiedergabe der
Vokabeln und bei der logischen Ordnung im Versuch 2 so erheblich herabgesunken
ist. Sicherlich kann die Altersentwicklung nicht allein verantwortlich gemacht
werden. Ich will hier keinen weiteren Erwagungen Raum geben, sondern nur
darauf hinweisen, dali die Streuungszone mancher Versuchsarten methodische
Anderungen für weitere Prüfungen notwendig macht.
38 Lobsien, Untersuchungen über die Befihigung zur Erlernung der Fremdsprache
Berechnung der Rangreihe
Es ware ein ganz rohes Verfahren, wollte man die Rangreihe allein durch
die fortlaufende Ziffernreihe aufbauen, die man den bewerteten Punktreihen anlegt.
Die Wertabstande sind zwischen den geordneten Prüflingen sehr ungleich groö.
Die Rangreihe muO die Abstande werten und darf sie nicht mechanisch in eine
gleiche Stufenfolge zwangsweise ein-
ordnen. Zu zweit sind die Abstande
zwischen der geringsten und höchsten
Leistung bei den einzelnen Versuchs-
arien sehrverschieden. Beide Mangel
werden durch Rechnung ausgeglichen.
Die gleiche Spannung innerhalb
der einzelnen Versuchsarten erreicht
man dadurch, daO man einheitlich
100 Punkte zugrunde legt, so daO der
niedrigste Wert 0, der höchste
= 100 ist. Der erste Versuch über
die logische Ordnung ergab 12 und
621 Punkte. Die DifFerenzvon609 Punk-
ten wird durch Rechnung auf den
Raum von 100 zusammengedrangt,
so daO jeder Punkt der Wertreihe mit
100/109 zu bezeichnen ist. Ist etwa
der zweitniedrigste Wert 133, dann
ist einzusetzen (131 —12) 100/109 usw.
Auf diese Weise verwandelt man die
absolute Wertreihe in eine relative
Leistungsreihe (s. Abbildung 1)*).
Die relative Leistungsreihe mufl
nun in die Lelstungsrangreihe unserer
Prüflingsgruppe umgewandelt werden.
Dem ersten Versuch wurden 25 Prüflinge unterworfen. Der beste erhalt den
Rangplatz 1, der letzte 25; dazwischen liegen 24 Rangplatze. Jeder Platz
entspricht dem loo der relativen Leistung. Der oben gefundene Wert von
(133 — 12) muö mit ^/loo multipliziert werden 4,42. Subtrahieren wir den
Wert von 25, ergibt sich ein Rangplatz von 20,58. Allgemein: Bezeichnen wir die
Schülerzahl mit n, die relative Leistung mit p, dann ergibt sich die Huthsche Formel:
Rangplatz: n — p setzt man die Fehlerwerte ein: r 1 + P
lüü lUU
*) Vgl.: Huth, Eine neue Berechnungsmethode zur Feststellung der Rangreihe. Zeitschrift
für pedagogische Psychologie. 1920.
100
go
E
O
bd
4 -
O
+
'j:
+
Abbildung 1
Lobsien, LIntersuchungen über die Ber3higung zur Erlernung der Fremdspracbe
39
I.
Oie Endrangrelhe
Wir stellen sie fest, indem wir die p-Werte jedes Prüflings erst addieren und
dann die Huthsche Formei anwenden. Daneben moge auch die Leistungsreihe
der einzelnen Versuchsgruppen berechnet werden, obgleich sie wegen des ge-
ringen Schülermaterials erheblich unsicherer ist.
Versuch 1
Gedachtnis
2
3
Sprachleistung logischer
4 5 6 7
Fibigkeiten
8 9
Leistungs¬
reihe
Prüfling
wmm
Satz
Zus.
Ord.
Koit
geb.
ibin.
frei
Wort-
schatz
M
•!> . c
S-S s
J « «
1
11,08
11.08
34,36
17,08
4,60
14.44
7,96
13,00
10,12
16,82
8,18
14,44
2
2,46
13,72
20,44
1,00
5,08
1,00
4,36
1,00
18,28
1,58
6,18
3
19.24
17,08
20,92
22,36
25,00
16,60
16,72
9,98
23,80
3,64
23,82
4
11,08
9,88
25,00
wmi
6,52
15,64
19,24
12,76
11,56
20,44
4,30
18,90
5
8,92
7,72
21,40
EiaFiül
19,24
3,40
5,32
12,71
3.64
1,00
12,28
13,60
6
17.80
21,64
4,84
13,96
14,68
22,00
15,64
20,44
17,56
17,80
25,00
24,79
7
5,80
20,44
11,56
16,84
13,24
21,16
11,80
18,04
16,12
14,20
4,84
17,25
8
4,12
14,68
13,86
10,12
10,36
23,80
7,24
13,72
12,52
14.92
10,60
14,56
9
1,00
1,00
17,28
22,84
10,12
9,50
7,72
9,16
9,19
3,78
14,22
10
13,48
22,36
14,40
18,22
11,32
13,48
9,16
8,48
3,64
25,00
5,32
15,57
11
10.12
14,52
13,86
16,60
4,84
lEO
5,80
13,96
12,76
13.24
6.04
13,10
12
11,08
13,48
14,68
20,20
16,36
16,12
19,00
4,12
21,64
6,80
16,95
13
10,60
14,20
5,80
18,76
3,88
11,08
8,44
14,44
9,88
11,56
4,84
11,28
14
10,60
5,56
14,12
18,52
6,28
16,36
11,56
12,52
1,24
23,08
9,16
10,86
IS
23,56
25,00
5,56
um
18,52
Bini
9,88
21,88
14,44
22,12
9,78
19,84
16
6,28
14,44
16,60
17,56
8,44
19,24
15,40
20.68
4,60
11,08
13,00
16,96
17
24,52
21,88
7,00
19,24
19,48
20,44
20,20
21,88
10,84
16,56
3,40
22,00
18
16,12
22,84
13,72
14,44
19,00
16,12
25,00
21,40
25,00
18,04
9,16
25,00
19
17,56
14,68
8,44
16,12
14,20
16,60
25,00
20,44
20,92
10,60
9,78
20
11,08
18,68
IbXIl
2,68
10,60
4,36
11,32
19,24
20,93
4,36
12,81
21
3,88
2,12
KILI
13,00
3,64
1,72
4,12
15,40
18,76
3,36
6,93
22
25,00
9,88
20,44
21,64
9,16
6,04
9,16
13,00
6,80
24,99
83)
17,30
23
21,88
24,04
18,00
24,96
15,40
5,32
15,64
22,36
8,08
12,28
7,72
20,49
24
1,00
7,48
1,00
1,00
4,30
1.00
6,52
1,00
12,76
1,00
1,00
25
1,28
10,60
24.52
21,16
10,36
24,50
9,50
19,72
20,44
19,24
5,56
19,20
Durcb-
schnitt
15,68
11,34
15,16
11,57
15,58
10,69
17,14
7,38
15,85
Auf diese beiden Übersichten driingt sich die mühsame Rechnung zusammen.
Sonderergebnisse
Es ist nicht anzunehmen, daO die geprüften Fahigkeiten zu der sprachlich-
logischen BeFahigung in gleichem Verhaltnis stehen. Wir wollen untersuchen,
ob der Anteil der einzelnen oder gewisser Gruppen zur Endrangreihe feststell-
bar ist. Nach aligemeiner Meinung und Überlegung ist die Fahigkeit zur Er-
40
Lobsien, Untersuchungen über die Befahigung zur Erlernung der Fremdsprache
Versuch 2
Gedachtnis
1 2 3
Spracbleistung logischer Fahigkeiten
4 5 6 7 8 9
Leistungs-
reihe
Prüfling
W
1
>rt
2
Vok
1
abel
2
Satz
Zus.
Ord.
Koir
geb.
bin.
frei
Wort-
schatz
«L 1 c
«» 2
^ J
1 (10)
14,16
23,68
19,49
20,32
6,04
6,88
18,08
13,88
15,00
11,64
4,92
15,59
2
7.72
3,80
1,00
14.44
25,92
20,04
18,64
14,72
23,68
12,76
11,08
13,10
3(2)
16,12
27,04
27,60
28,44
7,44
19,20
21,72
14,16
16,96
23,96
15,84
18,92
4(14)
10,24
6,32
28,44
24,24
3,52
4,92
13,88
29,00
21,72
22,28
13,32
14,06
5 (5)
18,92
12,48
25,08
24,80
8,56
4,36
20,32
13,58
11,08
8,56
22,28
14,28
6
1,56
3,64
15,28
19,76
23,96
2,12
14,84
16,38
10,52
8,28
12,76
11,04
7
23,12
24,52
22,00
24,24
6,04
6,04
16,38
12,76
15,76
6,88
8,84
13,63
8(1)
19,44
18,92
25,31
22,84
6,88
7,16
20,00
8,00
21,18
14,44
14,44
15,14
9 (22)
24,52
23,40
27,60
27,60
20.00
27,04
17,20
14,16
4.08
29.00
6,88
20,29
10(18)
19,20
22,28
18,64
24,24
14,60
29,00
12,76
27,32
7,72
23,40
8,28
19,00
11
15,56
20.22
27,32
27,04
11,52
27.04
12,76
12,20
18,36
16,40
14,44
12,70
12 (13)
14,60
11,68
22,00
24,52
6,04
11,68
13,32
16,12
14,44
7,72
14,16
13,74
13(15)
27,88
21,44
25,08
29,00
29,00
19,48
29,00
22,28
29,00
13,32
22,84
29,00
14(6)
28,44
22,84
27,60
27,60
15,00
14,44
13,04
22,84
20,32
20.04
12,76
19,57
15 (25)
16,12
18 64
22,28
25,92
14,44
11,64
12,48
17,52
23,68
8,00
13,04
15,34
16 (20)
11,36
4,46
11,92
13,32
27.04
7,44
16,40
11,92
15,00
4,08
10,52
10,67
17(11)
22,56
18,08
20,88
22,28
9,40
5,48
10,80
18,08
16,94
1,00
19,20
14,94
18(9)
4,46
1,56
12,76
15,84
1,56
3,52
12,20
16,38
13,04
18,36
8,36
8,93
19 (12)
12,76
14,92
29,00
29,00
14,60
15.00
10,24
18,36
20,32
18,36
15,84
16,82
20 (2)
10,24
14,36
18,92
1,00
20,00
1,56
1,00
1,00
1,00
14,16
6,32
7,53
21 (23)
26,84
23,28
2B,20
24,24
14,60
7.72
23,12
22,28
19,76
15,00
15,56
19,40
22 (21)
8,00
1,28
27,60
27,60
3,52
15,08
9,68
16,38
2,96
18,64
12,48
11.25
23 (16)
21,44
25,36
21,16
19,98
12,48
11,08
19,48
25,08
16,35
22,56
13,84
18,67
24
12,67
4,64
29,00
29,00
12.48
4,08
15.28
16,94
13,04
22,84
14,72
14,53
25
29,00
29,00
27,60
29 00
3,52
7,72
17,80
24,80
20,32
15,56
11,08
18,59
26 (24)
1,00
1,00
4,54
21.16
1,00
1,00
4,08
3,30
1,56
17,52
5,76
1,00
27
15,84
27,00
27,60
27,60
27,04
7,16
18,36
15,28
3,76
26,20
1,00
18,38
28 (19)
15,84
23.96
24.80
27,04
25,08
11,08
16,38
24,52
22,28
22,28
29,00
22,59
29
19,76
18,52
25,31
27.04
6.04
13,32
9,12
20,04
20,32
13,32
10,24
15,26
Durcti-
schnitt
15,28
22,98
11,08
11,36
_
15,28
20,04
15,56
15,92
12,88
lernung der Fremdsprache stark von einem guten Vokabelgedachtnis, der Kombi-
nation und der besonderen Fahigkeit, Laute aufzufassen und richtig wiederzugeben,
abhangig. Es fragt sich, ob sie auch unsere Rangreihe bestimmen, trotz ihres
unterschiedlichen Testwertes. Wir beantworten die Frage mit Hilfe der bekannten
Spearmanschen Korrelationsformel, wohl bedenkend, dafi sie umstritfen ist und
ihre Anwendung hier wegen der geringen Prüflingsanzahlen besonders schwierig
ist. Die Berechnungdeswahrscheinlichen Fehlers unterblieb aus denselbenGründen.
Zunachst untersuchen wir nach der
0=1 —
Forme!
6 1 (x—yY
n {n^—l)
Lobsien, Untersuchungen über die BefShigung zur Erlernung der Fremdsprache
41
ob die Endrangreihen beider Versuche von den Gedachtnis- oder den sprachlich-
logischen Leistungen vorwiegend abhangig ist.
Die Gedachtnisrêihen stehen zu den Endreihen in der Korrelation 0,75 bzw.
0,80, die logisch-sprachlichen 0,86 und 0,76. Beide Reihen sind demnach für
die Untersuchungen von groCer, annahernd übereinstimmender Bedeutung, ob-
gleich beide Reihen unter sich nur in mittlerer Korrelation stehen (0,49 und 0,55).
Es ist bedenklich, die einzelnen Reihen zur Endreihe in Beziehung zu setzen,
es moge daher unter allem Vorbehalt geschehen.
o zur Endrangreihe:
1.
2.
Vokabel .
Endreihe
0,03
0,31
logischer Zusammenhang
»
0,69 (
0,86
0,681
0,76
logische Ordnung.
yf
0,73 1
0,55)
gebundene Kombination .
0,58 1
n
0,50 1
0,60
freie Kombination.
0,41 1
0,54 1
Vorstellungsreichtum . . .
0,23
0,46
LautaufFassung.
»»
0,32
0,52
Auf Grund von Überlegungen scheinen zur sprachlichen Befahigung besonders
notwendig zu sein: Vokabelgedachtnis, gebundene Kombination und LautaufFassung.
Meine Berechnung ergab:
1 . 2 .
e V K + L ^ 0,40 0,77
o K -L L = 0,50 0,65
Trotz der Abweichungen in den Ergebnissen beider Reihen, deren Ursache nicht
naher untersucht werden soll, dürfen wir der Übersicht vorsichtig entnehmen,
daQ nicht das Vokabelgedachtnis oder der Vorstellungsreichtum, auch nicht die
LautaufFassung einzein, wohl aber das Gedachtnis und der logische Sinn für die
Endrangreihe vorwiegend bestimmend sind. Die beiden letzten Korrelationen
weichen aber so stark voneinander ab, daO es zum mindesten gewagt erscheint,
auf ihnen Schlüsse aufzubauen.
II.
Die Rangreihen im Lichte der tatsSchlichen Sprachleistungen
Unsere Rangreihen sind entstanden, indem auf Grund allgemeiner psycho-
logischer Erwagungen bestimmte Teste zusammengeordnet wurden. Es erhebt
sich die wichtige, aber schwierige Frage, ob sich die Reihen auch in der Praxis
bewahren, ob die auf Grund des Unterrichts gewonnenen Leistungsreihen den
gefundenen entsprechen. Eine gute Übereinstimmung würde eine wesentliche
Stütze für die praktische Brauchbarkeit unserer Untersuchungen abgeben. Wir
fragen also: Stehen die gefundenen Leistungsreihen zu den wirklichen Leistungs¬
reihen in guter Korrelation.
42
Lobsien, Untersucbungen über die Bef3bigung zur Erlernung der Fremdsprache
Es sollen Bedenken nicht verschwiegen werden. Ich erinnere erneut an die
geringe Anzahl der Prüflinge, die eine Korrelationsberechnung unsicher macht.
Ich erinnere ferner daran, daC die Versuche nicht mit zehn-, sondern zehnein-
halbjahrigen und erneut mit elfjahrigen Schülern vorgenommen wurden. Immer-
hin kann der letzte Umstand die Aufgabe, die uns hier angeht, nicht sonderlich
gefahrden, denn wenn die experimentelle Leistungsreihe wirklich deutlich die
sprachlich-logische Befahigung aufweist, dann muO die Bewahrung durch die
Praxis sowohl nach einem halben als nach einem Jahre nachweislich sein; man
darf nicht vergessen, daO die Methode unverandert blieb, nur die Anforderungen
wurden erschwert.
Schwerwiegender ist die Frage, ob schon nach einem halbjahrigen Unterricht
die unterrichtliche Leistungsfahigkeit sich so klar feststellen laOt, daO eine brauch-
bare Korrelation berechnet werden kann. Wir werden mit Übereinstimmung in
grölieren Umrissen zufrieden sein müssen und sicherlich bedenklich hnden, wenn
Korrelationen von weniger als 0,50 gefunden werden.
Wenn der Unterricht über ein weiteres Jahr ausgedehnt worden ist, also etwa
anderthalb Jahre gedauert hat und sich erneut groQe Abweichungen zeigen, dann
wird man gegen das Testverfahren gegründete Bedenken hegen oder ihr im um-
gekehrten Falie gröBeres Vertrauen entgegenbringen dürfen.
Als Grundlage der Beurteilung dienten die Klassenarbeiten, die durch gramma¬
tische Diktate erganzt wurden; jene wandten sich in erster Linie an das Behalten,
diese erforderten Denkleistungen. Dazu kamen Vokabeldiktate und eines im Dienste
der Lautaufnahme und -wiedergabe; jene wandten sich an den bisher erlernten
Wortschatz, dieses erforderte insofern eine besondere Leistung, als die Schüler
35 neue Wörter aus dem bisherigen Lernschatze heraus auf Grund der Klang-
ahnlichkeit richtig niederschreiben muOten.
Die Leistungen wurden einer rechnerischen Verarbeitung wie oben unterzogen,
die Rangreihe festgestellt und die Korrelation berechnet. Die erste Versuchsreihe
ergab zur sprachlichen Leistungsrangreihe nur eine mittlere Korrelation, namlich
0,57, etwas gunstiger die zweite = 0,65. Nur an den Endgliedern der Reihe
zeigte sich Übereinstimmung beider Beurteilungen, wahrend auf der sehr langen
Mittellinie sich starke Abweichungen ergaben.
Ich greife wieder die Versuchsreihen heraus, die nach allgemeiner Überlegung
zu der Lehrerreihe in engerer Beziehung stehen, also: Gedachtnis, Kombinations-
fahigkeit und Lautaufnahme und -wiedergabe. Zur Endrangreihe standen die ent-
sprechenden Versuchsreihen im Verhaltnis 0,40, bei Ausscheidung des Gedachtnisses
Q 0,50, zur Lehrerrangreihe fand ich in der ersten üntersuchung die Werte
0,37 und 0,48, in der zweiten gar nur 0,33 und 0,22. Es bestand also keine
nennenswerte Beziehung zwischen experimenteller und Lehrerrang¬
reihe; hüben und drüben lagen die Reihen nur zum geringen Teile auf gleichen
Voraussetzungen.
Lobsien, Untersuchungen über die Befdhigung zur Erlernung der Fremdspracbe
43
Ein umfanglicheres Urteil über beide Reihen finden wir, wenn wir die Korre-
lationen der einzelnen Testreihen zu der endgültigen Testrangreihe und der Lehrer-
rangreihe in beiden Versuchen berechnen.
Korrelation zur Endreihe Korrelation zum Englischen
1 .
2.
1.
2.
Log.
= 0,86
0,76
0,80
0,41
O.
= 0,73
0,55
0,8 J
0,44
z.
0,69
0,68
0,36
0,64
Ged.
0,75
0,80
0,48
0,43
V.
0,03
0,71
0,64
w.
= 0,58
0,61
s.
- 0,65
0,49
Komb.
- 0,81
0,60
HBi
geb.
0,58
0,50
0,10
0,41
frei
0,41
0,54
0,38
0,38
L-r K
0,65
0,48
0,22
L-r K + G
0,70
0,37
0,39
Laut
= 0,32
0,52
0,37
0,23
Vorst.
0,23
0,29
0,35
Ich stelle die unterstrichenen .Werte graphisch dar, urn einen Vergleich leichter
zu ermöglichen.
Zunachst ist wertvoll, die Korrelationen der Hauptleistungen im Versuch zur
versuchlichen Leistungsendreihe in Beziehung zu setzen. Trotz aller Sorgfalt,
die im einzelnen auFgewendet wurde, wird man natürlich nicht erwarten dürfen,
daB sich die Kurvenwerte decken. Dem steht entgegen auBer der geringen Prüflings-
anzahl der Umstand, daB ein nicht geringer Zeitunterschied zwischen der ersten
und zweiten Versuchsreihe lag; wir wissen aber nicht, wie die Altersentwicklung
auf die Leistungsfahigkeit einwirkte, ob diese und jene Versuchsart dem Alters-
fortschritt überhaupt nicht oder schnell oder langsam innerhalb der vorliegenden
Zeitspanne unterworfen war. Wir erschwerten ferner die Versuchsanordnungen,
es fehit uns aber die Möglichkeit, Festzustellen, ob sie überall im gleichen
Schritte erfolgt ist. Wir wissen endlich nicht, wie überhaupt eine Erschwerung
der Arbeit wirkt, ob sie ohne weiteres eine Leistungsveranderung veranlaBt
oder gar eine erhöhte Anspornung und wertvollere Arbeit innerhalb gewisser
Grenzen erzielt.
Es liegen also zweifellos Fehlermöglichkeiten genug vor, die zur Vorsicht
mahnen. Immerhin darf aber nicht vergessen werden, daB sie rechnerisch zu
einem Teile ausgeglichen werden, vor allem dadurch, daB wir den p-Wert be¬
rechnen, also der Rangreihenberechnung einen — allerdings künstlichen ein-
heitlichen Spannraum von 100 zugrunde legen.
44
Lobsien, Untersucbungen über die BefShigung zur Erlernung der Fremdspracbe
Endlich darf nicht vergessen werden, daC die Versuche Stichproben darstellen,
und auch unter sorgsamster Ausschaltung aller Sonderbeeinflussungen bleibt not-
wendig eine Schwankungsmöglichkeit in den Leistungen bestehen.
Wenn trotz aller dieser Bedenken eine verhaltnismaOig gute Übereinstimmung
zwischen den reinen Versuchsreihen und den sprachlichen Schulleistungen be-
steht und wenn gar die gute Korrelation im zweiten Versuch erneut in Erscheinung
tritt, so steht sicherlich nichts im Wege, die von den Leipzigern vorgeschlagenen
Teste und ihre Verwendungsart als brauchbar für die vorliegende Aufgabe zu
bezeichnen.
Die Übereinstimmung besteht nicht, wie aus der Zeichnung deutlich hervor-
geht. Der zweite Versuch hat das verhaltnismaöig günstige Ergebnis wesentlich
heruntergedrückt. Konnte aus dem ersten gefolgert werden, daO die Testreihen
die logischen und Gedachtnisreihen unverhaltnismaOig klarer auspragen als die
spezifisch sprachlichen, und daO das Gesamtverfahren vielleicht in Einzelheiten,
als Ganzes aber nur mangelhaft geeignet sei, die sprachlich Befahigten aus-
zusuchen, so muli das Ergebnis der zweiten Prüfung das Unterfangen noch viel
fraglicher erscheinen lassen. Auch die etwas höhere Gesamtkorrelation: 0,65
gegenüber 0,57 kann daran nichts andern, zumal die Werte für L ^ K und
L + K G erheblich ungünstiger ausgefallen sind.
Über die Behandlung der Arbeiter
Ein Beitrag zur Frage der Menschenbehandlung
Von K. A.Tramm, Oberingenieur der Berliner StraGenbabn
VV7elche Summe von Wissen und Können wird heute aufgewandt, urn erst-
Wklassiges Material, zweckmaliige Werkzeuge und leistungsfahige Maschinen
herzustellen.
Wie nachlassig, unwirtschaftlich und unverantwortlich geht man im Verhaltnis
hierzu mit den Menschen urn, die diese Dinge ausdenken, herstellen und über-
wachen? Die Menschen, das allerfeinste Material im Betriebe, die emphndlichsten
Werkzeuge und Maschinen, welche Güte, Menge und den Arbeitsfrieden jedes
Betriebes wohl am erheblichsten beeinflussen, werden auch heute noch ziemlich
planlos behandelt. Den Vorarbeitern, Meistern, Betriebsleitern und besonders
den Neulingen unter den Vorgesetzten, werden fast nirgends Richtlinien über
Arbeiterbehandlung gegeben. Jeder Vorgesetzte handelt hier nach seinen Ein-
gebungen und Erfahrungen. Jahrelange Übung und Erfahrung sind notwendig,
für die Aneignung der einfachsten Erkenntnisse.
Wieviel reibungsloser würde sich der Verkehr der Menschen untereinander
abwickeln, wenn die Erfahrungen der Seelenlehre berücksichtigt würden?
Der erfahrene Vorgesetzte mag sich der Stunde erinnern, wo er zuerst dem
Arbeiter einen „Befehl“ (Auftrag) hat erteilen müssen oder, wo er den Angriffen
Tramm, Uber die Behandlung der Arbeiter
45
einer Masse (Versammlung) gegenüberstand — um die Bedeutung der aufgeworfenen
Fragen ermessen zu können.
Eine Lehre von der Menschen- und besonders Arbeiterbehandlung
fehlt vollkommen!
In dem Kleinbetrieb macht sich dieser Mangel nicht so deutlich bemerkbar,
als im Grofibetrieb, wo oft Hunderte von Vorarbeitern, Meistern und sonstige
Vorgesetzte die gleichen Arbeitsleistungen von Tausenden von Arbeitern zu über-
wachen und zu kontrollieren haben. Reibereien und MiBverstandnisse sind hier
etwas Alltagliches. Niemand kommt auf den Gedanken, daC hier in sehr vielen
Pallen Fehler (ungewollte) in den Behandlungsmethoden vorliegen. Auch die
Uneinheitlichkeit der Behandlung macht sich oft sehr deutlich bemerkbar, daO
z. B. Arbeiter Betrlebe oder Abteilungen bevorzugen oder meiden, einfach darum,
weil der Vorgesetzte sie richtig oder falsch behandelt.
Der Verfasser unternimmt mit vorstehender Abhandlung den Versuch, einige
Regeln und Erfahrungen über die Behandlung von Arbeitern durch Meister zu
veröffentlichen, um andere Betriebe und Abteilungen zur Sammlung und Ver-
öffentlichung ihrer Erfahrungen anzuregen.
Die hier veröffentlichten Regeln sind in erster Linie für Fahrmeister von
StraCenbahnen bestimmt, deren Tatigkeit sich mit der Überwachung, KontroIIe
und Unterweisung der Stralienbahnführer beschaftigt.
Die Tatigkeit der Fahrmeister bei den Führern und die der Werkmeister in
Werkbetrieben bei den gelernten Facharbeitern ist eine verschiedene; nichtsdesto-
weniger dürften die hier gesammelten Erfahrungen für andere Betriebe als
StraBenbahnen brauchbare Regeln enthalten.
Was ist der Zweck der Menschenbehandlung?
Bei der Menschenbehandlung kommt alles darauf an, den Willen des anderen
Menschen für einen bestimmten Zweck gefügig zu machen, also die Selbstandig-
keit des anderen durch unseren Willen zu beeinhussen.
Die Kunst des richtigen Befehlens ist hier ausschlaggebend. Auch der strengste
Befehl, der unbequemste Arbeitsauftrag muO so in Worte gefaOt werden, daO er
vom Arbeiter willig ausgeführt wird. Das Gefühl des Arbeitszwanges soll mög-
lichst vermieden werden, weil es die Arbeitsfreude und Leistung des Arbeiters
ungünstig beeinfiuOt.
Bei der Vermittlung des Verkehrs zwischen Beiriebsleitung und Arbeiter spielt
die Art und Weise der Behandlung des Meisters eine Rolle.
Auch die Anregung der Arbeitslust und Erhaltung des Arbeitsfriedens sind
Aufgaben des Meisters und Ziel der Menschenbehandlung.
Will der Vorgesetzte die Untergebenen richtig behandeln, so muB er sich
über die folgende Frage klar sein:
Welche Auffassung hat der Untergebene über den Vorgesetzten?
Da der Vorgesetzte die Selbstandigkeit des Untergebenen vom Standpunkt und
nach den Gefühlen des Untergebenen behindert, so muB er von Anfang an als
46
Tramm, Ober die Behandlung der Arbeiter
etwas Selbstverstandliches mit dem ihm begegnenden MiOtrauen, offenen oder
geheimen Widerstand rechnen. Dieser an sich natürliche Widerstand des Unter-
gebenen darf vom Vorgesetzten niemals als Feindschaft aufgeFaOt werden. Der
Meister erinnere sich daran, daO er gegen den Obermeister, der Ingenieur gegen
den Oberingenieur usw. ahnliche Gefühle hegt.
Diese nicht gerade sympathischen Gefühle, die der Untergebene dem Vor¬
gesetzten entgegenbringt, müssen durch geschickte Behandlung und — nicht durch
Gewalt — überbrückt werden.
Gewalt hat immer nur die Kraft gehabt zu zerstören, sagt Hellpach; in
unserem Falie vergröCert die Anwendung von Zwang und Gewalt nur die un-
sympathischen Gefühle des Untergebenen und hemmt diesen in der Arbeitslust.
Ein zweckvoller EinfluB laBt sich nur erreichen, wenn der Vorgesetzte diese
seelische Einstellung des Untergebenen bei seiner Behandlung berücksichtigt und
nach und nach diese an sich natürlichen Gefühle überbrückt und überwindet.
Das Ziel ist hier für den Vorgesetzten, sympathische Gefühle (Vertrauen)
beim Untergebenen bewuBt zu erziehen. Die Behandlung, die der Vorgesetzte
bei den verschiedenen Arbeitern anzuwenden hat, muB sich stets den Eigenarten
des Untergebenen anpassen. Die erste Bedingung hierfür ist, daO der Vorgesetzte
seine Untergebenen nicht nur beim Namen, sondern auch ihren Charakter und
ihre Eigenschaften kennt. Auch hier mogen spater einige Beispiele für die An-
passung der Behandlung angeführt werden.
Auch werden der Vollstandigkeit halber noch einige Erfahrungen über die
„Gegner® der Vorgesetzten angeführt.
Die Gegnerschaft wird urn so gröBer sein, je bedeutender das, was sie be-
kampft, ist. Bei Einführung von Neuerungen, Verbesserungen für die Arbeiter usw.
ist mit diesen Widerstanden zu rechnen.
Diese Gegnerschaft teilt sich in zwei Gruppen: die sachgemaOen und unsach-
gemaOen. Die sachgemaBen Gegner bekampfen mit Verantwortungsgefühl;
es gibt hiervon allerdings nur wenige. Eine solche Gegnerschaft fördert die
Sache. Anders die unsachgemaBen Gegner. Sie arbeiten mit unmoralischen
Mitteln, mit Gemeinheiten. Jede Auseinandersetzung mit solchen Gegnern soll
man auf das Notwendigste beschranken. Das Totschweigen, der passive Wider¬
stand, das Aufstellen und Verbreiten unwahrer Behauptungen usw. sind ihre
Mittel. Die Ursachen sind meistens selbstsüchtige Triebe, es ist unangenehm
kontrolliert zu werden, die Macht des einzelnen wird verringert, das Neidgefühl,
warum andere so etwas einführen, oder eine bessere Entlohnung usw. geben hier
den Ausschlag.
Es ist allerdings betrübend, daB sich die unsachgemaBen Gegner in groBer
Zahl auch unter den Vorgesetzten befinden. Auf Kosten des Betriebes entwickelt
sich dieser Widerstand und vernichtet oft wertvolle Ideen und Krafte. Diese
Reibereien müssen aufhören, wenn der Betrieb wirtschaftlich arbeiten soll. Ganz
und gar verfehit erscheint es, wenn Vorgesetzte eine Gegnerschaft planmaBig
Tramm, Ober die Bebandlung der Arbeiter
47
zuchten. Das ist kein Wêtteifer, sondern das unwirtschaftlichste Verfahren, was
es überhaupt gibt. Die Beweisführung für unnötige Dinge, die Rückfragen aus
bürokratischen Gesichtspunkten, die Kontrolle von wirtschaftlichen Nebensach-
lichkeiten u. desgl., urn den Gegner „klein" zu kriegen, erfordert in derartigen
Pallen ungeheure Kosten und nicht nur das, sondern es verdirbt den Arbeits-
Frieden und die Arbeitslust.
Die Anpassung der Behandlung an die Eigenschaften des Unter-
gebenen.
Der geeignete und musterhafte Arbeiter bedarf eigentlich des Vor-
gesetzten nicht; erfahrungsgemaO gibt es hiervon allerdings nur wenig. Eine
gelegentliche Anregung und Belobigung erhöht jedoch auch hier die Arbeitslust.
Hemmend wirkt jedoch jedes Antreiben.
Beim langsamen und sicheren Arbeiter hat der Vorgesetzte besonders
für Übungsmöglichkeiten zu sorgen und gelegentlich durch Hinweise auf leistungs-
fahigere Arbeiter den Wetteifer anzuspornen.
Anders liegt die Sache bei den selbstbewuBt und gerauschvoll auf-
tretenden jungen Leuten, deren Arbeitsleistungen meistens im umgekehrten
Verhaltnis zum Selbstbewufitsein stehen. Diese „Blender" müssen haufig kon-
trolliert und dürfen nie im Unklaren darüber gelassen werden, daC sie erkannt
sind. Eine energische Behandlung ist hier am Platze, die nie die Zügel ganz
locker laDt, sonst wachsen gar bald die Baume über den Kopf auf Kosten der
Bescheidenen und Musterhaften.
Die Intriganten und Krakehler fehlen ebenfalls in keinem grööeren Be-
triebe. Wenn diese mit Sicherheit in ihrer Charakteranlage erkannt sind, so
hilft nur eine Isolierung in ihrem Wirkungskreis, d. h. diese Leute sind nicht in
der groBen Masse zu verwenden. Diese angeborenen Gegner jeder Ordnung und
Kontrolle bekampfen ofFen oder noch viel haufiger geheim jeden Vorgesetzten,
jede MaBnahme und „putschen" ihre Kollegen stiindig auf.
Dieser angeborene Widerstandsgeist laBt sich am schwersten behandeln. Rück-
sichtslose, energische Behandlung, standige Überwachung und Aufklarung der
Arbeitskollegen über die Intriganten sind hier die besten Behandlungsmethoden.
Bei den sog. Gelegenheitsarbeitern und Amateuren irgendeiner Beschaf-
tigung (Spiel, Sport usw.), welche die Arbeit nur als Lohnbeschaftigung betrachten,
hilft ebenfalls die planmaBige Überwachung und Kontrolle. Die Behandlung be-
gegnet hier selten Schwierigkeiten, jedoch das Interesse liegt meistens wo anders.
Die Redner bilden ebenfalls eine Klasse für sich, die ihre Fahigkeiten sehr
haufig im ungünstigen Sinne ausnutzen und bei den einfachsten Dingen lange
Erklarungen und Reden halten. Diesen Herren ist, wenn die Rede zu lange
dauert — das Ziel in drei Worten zu sagen.
Die Brutalen und Widersatzigen sind im Falie von Gewaltanwendung
mit den gleichen Mitteln zu behandeln. „Zu einem groben Klotz gehort ein
grober Keil" sagt der Volksmond.
48
Tramm, Ober die Behandlung der Arbeiter
Die für die Arbeitsleistung ungeeigneten oder am falschen Platze be-
findlichen Arbeiter sind nicht monate- oder jahrelang durchzuschleppen. Zu
den Ungeeigneten gehören auch dieTragen und Faulen. Trotz standiger Über-
wachung, Kontrolle, Unterweisung bleiben sie immer mehr oder weniger un-
zufriedene Stumper ihres Faches. Versetzung oder Entlassung sind hier die
einzigsten Hilfen, damit das Arbeitsniveau der anderen nicht gedrückt wird. Man
hüte sich vor leichtfertiger Abgabe des Urteils „ungeeignet“ und beobachte und
prüfe an Hand der Arbeitsaufgaben die Eignung. Besonders lasse man hier die
persönlichen Werturteile eines einzelnen Vorgesetzten niemals als entscheidend
geiten; sehr oft sind es rein persönliche Gründe, die überhaupt nichts mit der
Tüchtigkeit zu tun haben, die vom Vorgesetzten einseitig gewertet werden.
Die Witzemacher, Ncuigkeitenbringer und Kriecher verdienen hier
ebenfalls angeführt zu werden, weil sie den Vorgesetzten oft nur zu einer freund-
lichen Behandlung auf Kosten der schweigsamen, in sich gekehrten und nach auOen
hin mürrischen, dabei doch fleiOigen Arbeiter verleiten.
Diese wenigen Beispiele über die Anpassung der Behandlung zeigen, daB der
Vorgesetzte vor allen Dingen ein guter Menschenbeobachter sein muB, wenn er
jeden richtig behandeln will.
Einige Regein für die Menschenbehandlung
Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, ist die Anpassung der
Behandlung eine rein persönliche.
Die Eignung des Vorgesetzten als Menschenführer, das Wissen und Können
als Fachmann sind Vorbedingungen für Arbeitsüberwachung, Kontrolle und Unter¬
weisung. Das persönliche Können und Wissen des Vorgesetzten *imponiert“
den Untergebenen am meisten. Jeder Vorgesetzte muB deshalb an praktischen
Beispielen immer wieder den Untergebenen vor Augen führen, daO er ,etwas
von der Sache versteht". „Mit gutem Beispiel vorangehen!" Das Beispiel
überzeugt den Arbeiter mehr als alle Unterweisungen und Erklarungen. Be¬
sonders wenn der Arbeiter sieht, daB der Meister eiwas kann, dann laBt er sich
ganz anders behandeln als von einem Meister, über den das Gerücht im Betriebe
herumgeht, daB „er nichts versteht".
Taktisch ist es für den Vorgesetzten immer günstig, daB er danach trachtet,
die Achtung der Leute, daB „er etwas versteht®, immer wieder zu bestarken.
Dieses praktische Eingreifen des Meisters sorgt zugleich dafür, daB er standig
in Obung bleibt.
Eine zweite Hauptbedingung ist für Behandlung, Arbeitsfrieden und Arbeits¬
leistung, daB jeder Vorgesetzte für die ihm direkt unterstellten Leute persönlich
verantwortlich ist.
Der MaBstab der persönlichen Tüchtigkeit des Vorgesetzten liegt weniger im
.4ufdecken von Fehlern, als lm Vorbeugen dieser und in der Erziehung der
Untergebenen zum fehlerlosen Arbeiten. 1
Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter
49
Die Anzahl der Fehlermeldungen, die ein Vorgesetzter abliefert, darf daher
nicht allein als MaQstab für die Tüchtigkeit geiten. Die Hauptsache ist, daD die
Arbeitsleistungen den Unterwelsungen entsprechend und arbeitsfreudig aus-
geführt werden.
Wenn der Dienst eines Meisters seinen Zweck erfüllen soll, so mussen die
Arbeiter durch ihn in der Tatigkeit und Arbeitslust angeregt werden.
Das kann natürlich nicht durch das sog. „HerausbeiDen des Vor-
gesetzten" geschehen, d. h. es kommt hier nicht auf die Befehlsberechtigung
(auOere Autoritat) an, sondern auf geschickte Behandlung jedes einzelnen. Red-
nerische Begabung und Übung in der menschlichen Überredungskunst kommen
dem Vorgesetzten hierbei sehr zustatten.
Jedes dünkelhafte, anmaDende Gebarden, auffallige Benehmen bei Kleinig-
keiten durch Zuruf, Drohung usw. und sonstige Wichtigtuereien begegnen wohl
bei den meisten Menschen unsympathische oder gegnerische Gefühle. Auch eine
trockene, mürrische, frostige, polternde oder sonstige lieblose Art im Umgang
mit Menschen, schafft nur Widerwillen und hemmt die Arbeitslust. Der Vor-
gesetzte hüte sich deshalb an seinen „kritischen Stimmungstagen" „DampF"
hinter die Arbeiter zu setzen.
Das Oberwachungs- und Kontrollwesen darf daher nie in „Schikaniererei"
ausarten. Nur wirkliche VerstöOe, die absichtlich oder aus Nachlassigkeit ver-
schuldet werden, sind zu melden.
Die Stellung des Meisters oder jedes anderen Vorgesetzten verlangt die
Durchführung von MaCnahmen, die die nachst höhere Stelle angeordnet hat. Wer
als Meister oder Vorgesetzter diese in Gegenwart von Untergebenen ungünstig
kritisiert und sich im Gegensatz zur Betriebsleitung stellt, schadet dem Ansehen
der Betriebsleitung nicht nur, sondern er entwertet auch seine eigene Persönlich-
keit als Vorgesetzter. Die Verschwiegenheit über vertrauliche Mitteilungen und
dienstliche Angelegenheiten, die nicht für den Untergebenen bestimmt sind, ist
unerlaOlich für jeden Vorgesetzten. Ebenso verkehrt ist es, für die Behandlung,
die Verantwortung für MaCnahmen auf Betriebsleiter oder andere zu schieben.
Dies ist ebenso unanstandig, als wenn alles auf die Meister abgewalzt wird.
Auch sollen Meister und Vorgesetzte grundsatzlich gegenseitig ihre Hand-
lungen und MaCnahmen bei Untergebenen decken und sich niemals ungünstig
und kritisch beurteilen, das entwertet nach und nach jedes Ansehen der Vor¬
gesetzten.
Das Fehlen der Einigkeit unter Vorgesetzten untergrabt das Ansehen dieser.
Meister müssen deshalb gegenseitig Frieden halten, ihre Handlungen decken, einig
sein, sich nicht gegenseitig im Ansehen zersplittern und sich auch nicht auf
Kosten eines anderen herausstreichen.
Ein gesunder Wetteifer zwischen den einzelnen Vorgesetzten und Meistern
ist ebenso zu begrüCen und notwendig, wie bei den Arbeitern; jedoch nur auf
Grundlage der Tüchtigkeit.
P. P. IV. 2.
4
50
Tramm, Ober die Behandlung der Arbeiter
Das „Poussieren" der Arbeiter und Untergebenen durch Vorgesetzte, um
schneller vorwarts zu kommen oder sonstiger persönlicher Vorteile willen, tut
solchen Vorgesetzten spater meistens bitter leid, weil sie alle ihre früheren Zu-
sagen nicht halten können und Versprechungen brechen mussen.
Deshalb sind „Wahrheit im Handeln und Klarheit im Denken" wichtige
Hilfen in der Menschenbehandlung. Für beide Teile darf die Behandlung des¬
halb nicht in Kriecherei ausarten. Kriecherei ist ebenso zu verwerfen, wie die
unhöfiiche Behandlung.
Ebenso ist es Aufgabe des Meisters, Wünsche und Beschwerden entgegen-
zunehmen und an die entscheidenden Stellen welterzuleiten. Der Vorgesetzte
muO hierbei stets dahin streben, daU der Untergebene das Gefühl des Wohl-
wollens mitnimmt. Besonders muC man sich davor hüten, Zusagen und Ver¬
sprechungen zu machen, die über den Entscheidungs- und Befugnisbereich hinaus-
gehen. Ein Nichterfüllen von Zusagen und Versprechungen beeinBuQt das
Vertrauen des Untergebenen sehr ungünstig: er „glaubt" nicht mehr an den
Vorgesetzten.
In politische, religiöse oder sonstige auf rein persöniiche Anschauung
beruhende Angelegenheiten soll sich der Meister grundsatzlich nicht einlassen.
Es sind Gefühlsangelegenheiten, wo jeder entgegengesetzte Standpunkt den Vor¬
gesetzten in der Sympathie nur schadigt.
Es ist daher etwas Selbstverstandliches, daO der Vorgesetzte die allgemeine
Volksstimmung in poiitisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten weitgehend
bei der Behandlung berücksichtigen muO.
Der auCerdlenstliche, gesellige Verkehr mit Untergebenen führt meistens
zur Untergrabung der Autoritat des Vorgesetzten, wenn dieser nicht sehr vor-
sichtig in der Wahl dieses Verkehrs ist. Vorgesetzte und Meister, die aus dem
Betriebe hervorgegangen sind und als Vorgesetzte von früheren Arbeltskollegen
auftreten, mussen besonders zurückhaltend und vorsichtig in der Behandlung
ihrer früheren Kollegen sein*).
Jede Überwachung, Kontrolle und Unterweisung ist stets so unauffallig als
möglich auszuführen. Das geheimnisvolle Blattern, Lesen oder Schreiben in
Notizbüchern, Meldeblocks usw. hinter dem Rücken des Arbeiters beunruhigt und
reizt diesen; es ist daher zweckmaOig, schriftliche Aufzeichnungen nicht in Gegen-
wart des Arbeiters sondern an anderer Stelle vorzunehmen.
Die Kritik von Arbeitsleistungen soll stets belehrend für den Arbeiter
sein. Ein Vorgesetzter, der nur sagt „das ist schlecht oder falsch gemacht",
bessert oder beseitigt den Fehler nicht, da oft Unkenntnis beim Arbeiter die
Ursache ist. Der Wahrheit ist stets die mildeste Form zu geben. Die Anwendung
dieses Grundsatzes sollte nie vergessen werden.
*) Diese und andere Anregungen verdanke ich Herrn Bürovorstand Bandte, Berlrn, wofür
ich ihm an dieser Stelle meinen ergebensten Dank ausspreche.
Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter
51
Es empfiehlt sich, diese Unterweisungen durch Hinweise auf Fortbildungs-
möglichkeiten zu unterstützen, wie z. B.: „Sie muiten sich mal die Fahrschule
ansehen“ oder „Sehen Sie sich doch mal gelegentlich an, wie der Arbeiter Müller
es macht" usw. Wenn sich Gelegenheit dazu bietet, so soll der Meister die
richtige Art und Weise der Bedienung oder Arbeitsausführung selbst vorführen.
Der Untergebene soll hierbei das Gefühl bekommen, daO der Vorgesetzte ihm
helFen will. Ober die Art und Weise seiner Arbeitsleistung darf der Arbeiter
nicht im Unklaren gelassen werden. Gibt sich ein Arbeiter Mühe und leistet
gute Arbeit, so soll dies belobt und anerkannt werden; macht er Fehler, so ist
er zu unterweisen oder zu ermahnen.
Eine anstandige und höfliche Behandlung erleichtert derartige Unterwei¬
sungen auCerordentlich. Das Wort „Herr" und „Bitte", ein freundlicher „Grufi",
das „Anreden beim Namen" schmeichelt jedem Untergebenen und macht ihn
gefügig für die Unterweisung.
Diese Höflichkeitsformen muö der Vorgesetzte und Meister stets anwenden,
sie kosten nichts und wirken oft Wunder.
Die Unterweisung soll anschaulich, sachlich, kurz und interessant gehalten
sein; lange Wiederholungen sind zu vermeiden. Fremdworte sind zu vermeiden,
ebenso sind Fachausdrücke bei Anfangern zu erklaren. Jede Scharfe im Ton ist
bei der Unterweisuug ebenfalls zu vermeiden. Die beste Unterweisung ist, wenn
der Meister den Arbeiter zum Fragen anregt. Das kann z. B. geschehen, durch
die gelegentliche Frage: „Was entsteht wohl daraus für die Maschine, wenn . . .?“
oder „Was meinen Sie, was heute der Strom für einen StraOenbahnwagen kostet,
der eine Stunde lang fahrt? (600 M.) usw." Bei der Unterweisung vergesse der
Vorgesetzte hierbei nie das Sprichwort: „Alles sagen zu wollen, ist das Geheimnis
langweilig zu werden!" (Voltaire.) Das Ziel jeder Unterweisung ist, daC beim
Untergebenen der Wille geweckt wird, sich mit dieser Frage naher zu beschaftigen.
Für die Ausführung der Unterweisung gilt:
Nicht zuviel Denkkraft bei den Zuhörern voraussetzen. Die Wirkung der
Unterweisung, der sympathische oder unsympathische Eindruck hangt von dem
Benehmen des Unterweisers ab. Deshalb ist eine natürliche Sprechweise, mit
richtiger Betonung, richtigen Pausen und richtiger Stimmstarke unbedingt für den
Erfolg der Unterweisung notwendig.
Von vornherein dem Zuhörer versichern, dali seine Aufmerksamkeit nicht lange
in Anspruch genommen wird, er wird dann williger auf alles eingehen. Das
kann mit den Worten geschehen: „Ich will Sie nicht lange aufhalten."
Auch beim Anfang der Unterweisung ist es ebenfalls von sympathischer
Wirkung, wenn sich der Unterweisende auf den Standpunkt des Untergebenen
stellt. Hierdurch gewinnt man Sympathie und der Unterwiesene wird willig zu-
hören, und sich viel leichter überzeugen lassen, als wenn man von vornherein
mit der Tür ins Haus fallt. So kann man z. B. beginnen: „Heute hat ja jeder
den Kopf voll und es ist verstandlich, wenn.usw." Jedenfalls soll der
4*
52
Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter
Ausgangspunkt möglichst immer das Gemeinschaftliche, was den Vorgesetzten
mit dem Untergebenen verbindet, betonen.
Urn die Aufmerksamkeit zu fesseln, muB das Verstandnis durch Bilder und
Gleichnisse erleichtert werden und durch bestandige Abwechsiung wachgehalten
werden.
Der leitende Gedanke oder das Ziel der Unterweisung muB stets festgehalten
werden. Der Bliek ist also immer auf das Ziel zu richten. Deshalb sind alle
weitschweifigen Abweichungen zu vermeiden. Man soll nur sagen, was sich der
Untergebene merken kann. Zuviel sagen, nicht fertig werden, ist falsche Gründ-
lichkeit.
Ebenso soll man Anregungen von Arbeitern stets geduldig anhören, auch
wenn diese nichts Neues bieten. Die Anregungen zeugen davon, daB der Arbeiter
sich mit seiner Arbeit beschaftigt und sich dafür interessiert. Dieses Interesse muB
der Meister möglichst zu erweitern versuchen, durch Hinweise auf Belehrungs-
möglichkeiten. Nach erfolgter Belehrung ist es ratsam, das Gesprach auf
ermunternde Dinge zu lenken. Ein gelegentliches Scherzwort wirkt entspannend
und schafft meistens Sympathien. Auch schmeichelt es den Untergebenen und
berührt ihn angenehm, wenn der Vorgesetzte sich ab und zu nach seinem persön-
lichen Behnden, den Familienverhaltnissen usw. erkundigt. Besonders kann man
die Vater darin unterstutzen und heraten, das Los ihrer Kinder zu verbessern
(Nachweisung von Lehrstellen, Bildungsmöglichkeiten usw.).
Immer soll der Untergebene die Holfnung mitnehmen, daB der Vorgesetzte
ihm wohl wili, und daB, wenn er seine Pflicht tut, dieses auch anerkannt wird.
Die Aussichtslosigkeit des Fortkommens lahmt jeden Arbeitswilien, jedes
Interesse und Selbstvertrauen. Ober diese Dinge ist daher stets vorsichtig mit
dem Untergebenen zu sprechen.
Solche Arbeiter, deren Leistungen wiederholt zu wünschen übrig lassen, sind
zu ermahnen. Hierbei ist besonders an das Ehrgefühl, die Fachtüchtigkeit, das
persönliche Ansehen, die dauernde Beschaftigung zu appeliieren. Das kann etwa
mit folgenden Worten geschehen: „Ich habe Sie immer für einen tüchtigen Führer
gehalten und hoflPe, daB Sie es auch weiter bleiben werden®, oder „Ich nehme
an, daB Sie meine Belehrungen befólgen und sehe heute noch von einer Meldung ab“.
Eine strengere Form der Ermahnung beginnt etwa so: „Wenn Sie so weitermachen,
dann müssen Sie mit Meldungen usw. rechnen.® Ein Tadel oder eine Ermahnung
soll nie in Gegenwart anderer Arbeiter ausgesprochen werden, das beleidigt und
krankt den Arbeiter.
Ganz falsch ist es, verargerte Arbeiter, die bei irgendeiner Störung betroffen
werden, mit den Worten zu begrüBen: „Was haben Sie denn schon wieder aus-
gefressen?® In solchen Fallen muB der Vorgesetzte zunachst dem Untergebenen
seine Teilnahme und Hilfe anbieten, z. B. „Woran lag es denn?®
Beleidigende Vorhaltungen folgender Art, wie „Sie stehen auf der
schwarzen Liste®, „Ihr MaB ist voil®, „Was haben Sie denn schon wieder aus-
Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter
53
gefressen?® usw. sind auf alle Falie zu unterlassen. Hierdurch fühlt sich der
Untergebene beleidigt, sein Widerwille wird gereizt, so daO er meistens gar nicht
auf die spater folgende Unterweisung hort. Jeder Tadel soll eine Hoffnung
Fiir den Arbeiter enthaiten; das ist sehr wichtig für die Wachhaltung der Arbeits-
lust und den Arbeitsmut, z. B. „Nun gehen Sie man frisch an die Arbeit, es wird
schon alles werden".
Anfang und Ende sind die wichtigsten Glieder der Unterweisung. Der Vor-
gesetzte muQ sich deshalb im voraus mit Anfang und Schlul3 seiner Unterweisung
beschaftigen. Der Anfang muB gut sein. Das Ende der Unterweisung mulJ ganz
bestimmt, klar und fest sein. Am Schlusse soll man stets nach einer kurzen Zu-
sammenfassung nochmals den Willen des Untergebenen für die Sache anrufen.
Da die Belobigung erfahrungsgemaB einen günstigeren EinfluB auf die Arbeits-
leistung und Stimmung des Arbeiters ausübt, als der Tadel und die Ermahnung,
so ist weitgehendst von den Belobigungen Gebrauch zu machen. Der Einwand,
daB die Arbeiter sich auf die Belobigungen berufen, wenn sie spater getadelt
werden sollten, kann uns hieran nicht hindern. Als Grundsatz für die Belobigung
muB allerdings streng daran festgehalten werden, daB nur derjenige belobt wird,
der es verdient haf.
Einer besonders vorsichtigen und geschickten Behandlung bedürfen die auf-
geregten, reizbaren und verargerten Arbeiter. Hier darf der Vorgesetzte nie die
Ruhe und Selbstbeherrschung verlieren. Persönliche Redensarten, die der
Arbeiter nur in der Aufregung macht, werden am besten überhört und nicht erst
breitgetreten. Jeder laute und erregte Wortwechsel mit Untergebenen ist auf
alle Falie zu unterlassen. Durch Schreien wird niemand überzeugt, und Auf-
geregtheit des Vorgesetzten erzeugt auch beim Untergebenen nur Aufregung.
Wer schimpft hat Unrecht — mindestens im Ton! Auch im Falie von persönllchen
Beleidigungen muB die Ruhe bewahrt werden. Die Beleidigungen sind nicht
wieder durch Beleidigungen zu beantworten. Der Vorgesetzte, der sich in
laute Wortwechsel eInlaBt, auch wenn er im Recht ist, wird immer an An-
sehen einbüBen, da erfahrungsgemaB die Arbeiter ihre Gefühle auf der Gegen-
seite haben.
Kommen bei einem Wortwechsel zwischen Vorgesetzten und Untergebenen
viele Arbeiter oder Leute zusammen, so ist der Wortwechsel sofort abzubrechen,
weil die Masse sich immer gegen den Vorgesetzten ausspricht. Die Angelegen-
heit muB alsdann spater in Ruhe erledigt werden.
In Fallen gegenseitiger Beschuldigung von Untergebenen sind von An¬
fang an beide Parteien gegenüberzustellen, das verkürzt das Verhandlungsverfahren
und vermeidet bloBe Redereien und Gerüchte.
Nicht immer liegt die Ursache von Streitfallen beim Untergebenen, sondern
auch sehr hauhg beim Vorgesetzten, das vergesse der Vorgesetzte nie.
Die Frage, ob nicht die Behandlung die Ursache von Meinungsverschieden-
heiten, Widerstanden, Widersatzlichkeiten usw. ist, muB sich der Vorgesetzte bei
54
Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter
jedem Fall immer wieder verlegen. Besonders wenn sich diese Reibereien haufig
wiederholen, liegt dieses fast immer an der falschen Behandlung.
Wenn z. B. bei einer Unterweisung das Personal den Ausführungen des Vor-
gesetzten nicht folgt und sich anderweitig beschaftigt, so kann die Ursache in der
Art und Weise der Erklarung oder Behandlung liegen — und nicht in der Un-
interessiertheit des Personals. Überhaupt erfordert die Behandlung gröCerer
Menschenmassen eine besondere Behandlung, die teilweise von den bisher ge-
gebenen Regein abweicht.
Die Behandlung von Arbeitermassen
Jeder Meister und Vorgesetzte wird an sich und anderen beobachtet haben,
daO der einzelne Mensch in einer gröfieren Menschenmenge die gewöhnliche
Besonnenheit und Zurückhaltung verliert. Die Massenseele, die sozusagen alle
miteinander ansteckt, bringt diese Veranderungen des einzelnen hervor.
Ebenso kann beobachtet werden, daO sich die Massen willig ihren Führern
überlassen, wenn diese es verstehen, sie richtig zu behandeln.
In gröOeren Sitzungen und Versammlungen muO der Vorgesetzte bewuBt
seine Behandlungsform den Eigenarten der Masse anpassen. In Massenversamm-
lungen sollten eigentlich nur gewandte Redner die Masse behandeln, weil ein
geschickter Redner immer die Masse für sich hat. Der tüchtigste Fachmann, der
sich ungeschickt benimmt oder die richtige Behandlung nicht versteht, wird die
Masse immer gegen sich haben. Die Masse verlangt nach Worten der Begeiste-
rung und Entrüstung, nach Schlagworten, weil diese das Nachdenken erleichtern
und ersparen. Die Worte und Taten eines einfluBreichen Redners werden von
der Masse nicht auf die Wagschale gelegt.
Besonders die Wirkung des Schlagwortes muB sich der Vorgesetzte bei dpr
Behandlung von Massen zunutze machen. Das Schlagwort besitzt eine unheim-
liche Macht. BewuBt mussen Schlagworte von den Meistern und Vorgesetzten
gepragt und angewandt werden.
Es hat sich z. B. gezeigt, daB folgende Schlagworte den Führer zum sicheren
Fahren anregen;
1. Wer nicht nach Moabit*) will, macht keine Unfalle und ZusammenstöBe.
2. Bringt eure Familie nicht in Not! Vermeldet Unfalle und ZusammenstöBe!
Auch die Wirtschaftlichkeit bei der Arbeit und beim Fahren laBt sich etwa
durch folgendes Schlagwort günstig beeinflussen:
3. Wer Führer bleiben will, schaltet (den Strom) rechtzeitig aus!
Solche und ahnliche Schlagworte und Schlagzeilen, die den Sinn der Unter-
weisungen vertiefen helfen, sind möglichst haufig anzuwenden.
Von dieser günstigen Wirkung der Schlagworte macht die Praxis der Arbelter-
behandlung heute so gut wie keinen Gebrauch, wohl aber bedienen sich die
Arbeiter der Schlagworte, um MaBnahmen in Ihrem Sinne zu beeinflussen. Die
*1 Moabit ist ein in Berlin bekanntes Strafgericht und GeFiingnis.
Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter 55
von den Arbeitern gepragten Schlagworte richten sich meistens gegen Betriebs-
maOnahmen.
In den Versammlungen überhört der Vorgesetzte am besten die Gegenschlag-
worte. Vöilig zwecklos und falsch ware es, beweisen zu wollen, daB das Schlag-
wort des Gegners unrichtig ist. Am wirksamstem werden solche Gegner-Schlag-
worte bekampft durch neue Schlagworte, die möglichst das Gegenteil sinnfallig
behaupten.
Wo die Sache es zulaBt, soll man bei derartigen Gelegenheiten möglichst auch
wltzige Schlagworte anwenden. Das Lachen der Masse, wenn man es für sich
bat oder es gegen eine Sache gerichtet ist, ist von nicht zu unterschatzender
Bedeutung für das Behandlungsziel. Umgekehrt ist das Lacheriiche als Wider-
stand nur durch auBerst energisches Auftreten zu unterdrücken.
Bei der Behandlung von Massen leistet die bewuBte Ablenkung aus der
nicht gewollten Denkrichtung ebenfalls gute Dienste. In wirtschaftlich oder
politisch bewegten Zeiten, wo die Masse ihr Denken auf diese Dinge konzentriert,
bei Lohnkampfen usw. lassen sich oFt mit Leichtigkeit Neuerungen einführen,
die sonst auf Widerstand stoBen würden, weil die Masse eben abgelenkt ist.
Die Masse und noch viel haufiger der einzelne sind immer gegen die Ein-
führung von Neuerungen. Mit diesem Widerstande muB ebenfalls als etwas
Selbstverstandliches gerechnet werden. Von Neuerungen muB deshalb nie viel
AuFheben gemacht werden, sie mussen still und nach und nach eingeführt werden,
weil jede Gewaltsamkeit nur zerstört.
Die vorstehend gesammelten Erfahrungen machen keinerlei Anspruch auf Voll-
standigkeit; sie bezwecken nur, auf die Notwendigkeit der Behandlungsmethodik
hinzuweisen. Auch konnten die Behandlungsmethoden für weibliche Arbeiter
hier nicht berücksichtigt werden.
Zum Schlusse sei noch darauf hingewiesen, daB in der geschickten Menschen-
behandlung die Manner von den Frauen lemen können. Die Frauen verstehen
es oft meisterhaft, ihre Behandlung dem Wunsche dienstbar zu machen. Besonders
in der Anpassung der Behandlung an die Eigenart des anderen sind sie den
Mannern überlegen, weil sie eben mehr nach dem Gefühl handeln. Das soll
aber nicht heiBen, daB die Frauen besser zum Vorgesetzten geeignet sind, als die
Manner — die Erfahrung hat wohl das Gegenteil genügend bewiesen — sondern
soll nur zur Beobachtung der Behandlungstaktik der Frauen anregen.
Die Frauen als Vorgesetzte — man beobachte sie in Warenhausern, Schulen,
Krankenhausern usw. — betonen die auBere Autoritat zu stark — im reiferen
Alter oft bis zur Lacherlichkeit — ihre Gesichtszüge sind stets gespannt, so daB
der Untergebene nicht recht „warm" wird und selten Zutrauen gewinnt.
Auch verleitet die rein gefühlsmaBige Einstellung der Frau oft zur ungerechten
Behandlung. Die Frau nimmt meistens Partei für denjenigen, der einen mit-
leidigen Eindruck macht, der es versteht zu schmeicheln usw., ganz gleichgültig,
ob er im Recht oder Unrecht ist.
56
Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter
Ferner können durch Beobachtung von BeruFsvertretern, die viel im
Verkehr mit Menschen stehen, wie Kaufleute, Kellner usw. mancherlei ,Knlffe
der Behandlung" von diesen erlernt werden.
Ebenso erscheint es wertvoll, für die Leutecypen noch weitergehende Be-
obachtungen und ünterteilungen anzustellen.
Es wird Aufgabe der Praxis sein, die praktisch als wirkungsvoll erprobten
Behandlungsmethoden zu san)meln, wahrend es Aufgabe des Arbeitswissen-
schaftlers oder Psychologen ist, dieses Material systematisch zu einer
Menschenbehandlungslehre zu ordnen und weiter auszubauen.
Für den Praktiker, der sich die Lehren der Menschenbehandlung Für seinen
Betrieb und seine Vorgesetzten zunutze machen wiil, empliehlt es sich, die Meister
und Vorgesetzten an Hand eines Vortrages aufzuklaren. AnschlieOend an solche
Vortrage werden alsdann zweckmaOig die gedruckten Behandlungsrichtlinien an
die Vorgesetzten verteilt.
Nach dem Verarbeiten dieser Richtlinien durch die Vorgesetzten werden die
als gute Menschenbehandler bekannten Vorgesetzten über ihre ErFahrungen beFragt.
Hier ist möglichst nach Einzelheiten der Behandlung zu fragen und nicht nach
der allgemeinen Behandlung, weil die geschickten Vorgesetzten heute noch un-
bewuDt die richtige Behandlung treffen, ohne daO sie sich darüber klar sind.
Auf diese Weise dürfte es möglich sein, die für jeden Betrieb. in Betracht
kommenden besonderen Behandlungsmethoden nach und nach zu sammein mit
dem Ausblick, eine Lehre von der Menschenbehandlung auFzustellen.
Die Erfahrung beweist es alle Tage, daO die Behandlung das Wohlbefinden
des einzelnen und seine Leistungsfahigkeit maOgebend beeinfluOt. Es sind „Kleinig-
keiten", die nichts kosten, so daD deren Durchführung nur vom guten Willen ab-
bangig sind. Diese Behandlungsmethoden können wir, und wir müssen sie be-
rücksichtigen, wenn wir mit dem Mitmenschen friedlich und ohne Arger auskommen
wollen*). Das MaC an Arbeitsfreude, das ein Vorgesetzter urn sich verbreitet,
sollte mit ein MaOstab für dessen Tüchtigkeit sein.
Beitrage zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete
Von Bruno Quiel, Darmstadt
F ür die Mehrzahl aller Menschen nimmt der Beruf einen ganz erheblichen
Teil ihres Lebens in Anspruch. Schon aus dieser Tatsache allein ergibt sich
ohne weiteres, daO der Beruf im menschlichen Leben in der Regel eine domi-
nierende Stellung einnimmt, und daO Glück und ZuFriedenheit in starkem Grade
für den einzelnen von einer richtigen Berufswahl abhangig sind. Man sollte
nun annehmen, daO diese Wahl deswegen mit der gröOten Vorsicht vollzogen
würde, daD sowohl der Berufskandidat, als auch seine Angehörigen sich aller
*) Dem Verfasser wgren Mitteilungen und Anregungen über Menschenbehandlungstragen sehr
erwünscht. Diese sind zu richten an: K.A.Tramm, Berlin, Urbanstralie 167.
Quiel, Beitrige zur BerufswabI an Hand einer Fragebogen-Enquete 57
Konsequenzen, die mit der Berufswahl verknüpft sind, bewuOt bleiben und nur
nach genauester Kenntnis des Berufes und peinlichster Abwagung der Eignung
für diesen Beruf sich zur Wahl entschlieOen werden.
Die Praxis ergibt jedoch, daD diese Oberlegung in den allerwenigsten Pallen
in ausreichendem MaOe angestellt wird, daO vielmehr ein erschreckend groOer
Teil aller Berufstatigen sich durch rein zufallige Verhaltnisse in einen Beruf
hineinschieben lassen, von dem sie nur auQerst mangelhafte Kenntnis haben.
Die Folge davon muO naturgemaO die sein, daC diese Menschen dann oftmals
vor Aufgaben gestellt werden, denen sie nicht gewachsen sind, und andererseits
natüriiche Veranlagungen und Begabungen brach liegenbleiben, die, an anderer
Stelle elngesetzt, der Allgemeinheit wesentliche Dienste leisten und das persön-
liche Wohlbefinden erheblich steigern könnten. Nur persönliche Neigung und
gute Veranlagung für einen Beruf können erreichen, daO der Beruf nicht nur
Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck wird und so einen Erfolg und Zufrieden-
heit. in der Berufstatigkeit in gewissem Grade gewahrleisten.
Diese ideale Berufswahl nach Neigung und Veranlagung findet aber nur in
den wenigsten Pallen ihre Verwirklichung, meistenteils liegt ein Komplex von
rein auOerlichen Momenten materieller und sozialer Art der Berufswahl zugrunde.
Ich habe nun versucht, durch einen Fragebogen die wichtigsten Motive, die zur
Berufswahl führen, zu erfassen und will im nachfolgenden eine kurze Zusammen-
fassung dessen geben, was diese Enquete bisher ergeben hat. Zur Methodik des
Bogens will ich nur kurz erwahnen, daD ich durch 20 Fragen nach den Gründen
zur Berufswahl und den bisherigen Erfahrungen forschte. Suggestivfragen, so-
wie Fragen, deren ehrliche Beantwortung zweifelhaft sein könnte, habe ich streng
vermieden. Die Fragebogen sind von mir in erster Linie an Bekannte verteilt
worden, so daC ich in den meisten Pallen eine gewisse Gewahr für eine sach-
liche Ausfüllung habe. Ich bin mir natürlich trotzdem der Schwachen bewuOt,
denen ein Fragebogen, und sei er auch noch so geschickt abgefaOt, stets unter-
worfen bleiben muC.
Das mir zur Verfügung stehende Material umfaCt zur Zeit 101 zum Teil sehr
ausführlich beantworteter Bogen und ist in Berlin, Darmstadt und Freiburg i. Br.
gesammelt worden. Es enthalt die Antworten von
37 Akademikern (Studenten und bereits berufstatig),
12 höheren Schülern,
13 Angehörigen mittlerer Berufe,
27 Volksschülern, Lehrlingen und Handwerkern,
12 Damen (9 mittlere, 3 niedere Berufe).
Das interessanteste Ergebnis dieser Fragebogen ist wohl dasjenige, daC von
den 101 Bogen bei 33 die Berufswahl vom Berufswunsche abweicht. Dies
Resultat ergab sich aus den Antworten auf die Frage 12 meines Bogens. Die
Frage lautet: „Welchen Beruf würden Sie ergreifen, wenn Sie nicht auf Brot-
erwerb angewiesen waren? — Würden Sie dann überhaupt einen Beruf ergreifen?“
58
Quiel, BeitrSge zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete
Ich will hier von den drei Herren und zwei Damen absehen, die mir den
zweiten Teil dieser Frage negativ beantwortet haben, zumal ich überzeugt bin,
dafi bei EintrefFen der oben angeführten Bedingung ihre Zahl bedeutend gröCer
sein würde. Wesentlich sind hier die Bogen, die einen erheblich abweichenden
BeruF als Berufswunsch angeben. ünd dies ist nun tatsachlich bei V 3 aller Bogen
der Fall. Die groCe Bedeutung dieses Ergebnisses in psychologlscher wie sozialer
Hinsicht liegt klar auf der Hand und braucht hier nicht weiter erörtert zu werden.
Die Griinde zu dieser Erscheinung sind mannigfacher Art und ergeben sich
zum Teil aus den Antworten auf andere Fragen meines Bogens.
Zunachst mussen wir einmal eine Gruppe herausheben, die gesondert zu be¬
trachten ist. Es sind diejenigen, deren Berufswunsch durch die poiitische Lage
Deutschlands zur Zeit nicht erfülibar ist, also alle diejenigen, die Offiziere, Marine-
offiziere, Soldat oder Seemann waren oder werden mochten.
lm vorliegenden Material hnden wir von dieser Gruppe zehn und zwar:
2 ehemalige Offiziere,
4, die den Offizlerberuf ergreifen mochten,
2 , die den Marineoffizierberuf ergreifen mochten,
1 , der Soldat werden möchte,
1 , der Seemann werden möchte.
Diese wurden nun durch die Zeitverhaltnisse gezwungen, ihr Berufsideal auf-
zugeben und haben sich anderen Berufen zuwenden mussen, und zwar wurden:
2 Offiziere.Volkswirte, 1 Marineoffizier . Ingenieur,
1 Offizier.Ingenieur, 1 Marineoffizier Arzt,
1 Offizier.Zahnarzt, 1 Soldat .... Metzger |
1 Offizier.Chemiker, 1 Seemann . . . Metzger |
1 Offizier.Lehrer,
Da hier die Abweichungen vom Berufswunsch durch auCere Verhaltnisse er-
zwungen wurden, bieten sich weiter keine besonderen Probleme. Anders steht
es aber bei den übrigen Antworten. Hier handelt es sich darum, die Griinde
zu erfassen, die der Ergreifung des gewiinschten Berufes hinderlich im Wege
standen, und festzustellen, welche Motive für den Ersatzberuf ausschlaggebend
waren. Antworten auf andere Fragen meines Bogens ergeben hier mit der
Frage 12 zusammen in vielen Fallen recht klare Bilder.
Selbstverstandlich ist die finanzielle Frage das wichtigste Hindernis für den
Berufswunsch. Es sind besonders die akademischen und die Künstlerberufe, die
hiervon betroffen werden. Die Lange und Kostspieligkeit des heutigen Studiums,
sowie die Unterbewertung geistiger Arbeit sind die ausschlaggebenden Gründe.
Bei künstlerischen Berufen mag aulier diesen Gesichtspunkten noch ein gewisser
Zweifel mitsprechen, ob das Talent auch ausreichend sein wird. Ich führe nach-
stehend diese Gruppe auf, die in ihrer Antwort ausdrücklich Geldmangel als
Hinderungsgrund angegeben hat.
Quiel, Beitrgge zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete
59
Berufswunsch Gewdhlter Beruf
Bogen
8.
Geistlicher.
Kaufmann
»
40.
Oberlehrer.
Buchhandler
r*
55.
Historiker .
Buchhandler
n
86.
Mathematiker und Philologe .
Gewerbelehrer
y>
67.
Astronom und Philologe . . .
Volksschullehrer
»
14.
Ingenieur .
Zahnarzt
»
25.
Philologe.
Zahnarzt
90.
Journalist.
Steuerbeamter
»
88.
Arztin.
Lehrerin
n
87.
Malerin.
Lehrerin
yt
26.
Musiker.
Volkswirt
n
34.
Musiker.
Kaufmann
»
63.
Maler.
Ingenieur
89.
Schauspielerin.
Sekretarin
39.
Freier Schriftsteller.
Philologe
Wir sehen bei diesen 15 Bogen ganz deutlich, daO es sich hier um einen
glatten Ersatzberuf handelt, der entweder schneller zur Selbstandigkeit führt oder
eine sichere Existenz zu bieten scheint. Besonders deutlich tritt dies bei den
beiden in Erscheinung, die sich dem Buchhandlerberuf zugewandt haben, da hier
scheinbar mit der Gelegenheit gerechnet wird, durch autodidaktisches Verfahren
dem Berufsideal nahezukommen.
Bei zwei weiteren Beantwortern sind es körperliche Mangel, die am Ergreifen
des gewünschten Berufes hindern.
Fünf weitere Falie sind verhanden, wo der gewünschte Beruf nicht ein-
geschlagen wurde, weil zur entsprechenden Zeit am Aufenthaltsort keine Lehr-
stelle zu haben war. — Noch zahlreich sind die Griinde und Einflüsse in der Berufs¬
wahl. Besonders stark ist der EinfluO, den Eltern und Erzieher auf die Wahl des
Berufes haben. Oftmals steht der Wunsch der Eltern im Gegensatz zum Berufs¬
ideal des Kindes und bleibt entscheidend. Auch Lehrer und Freunde werden
mehrfach erwahnt. Nicht zu unterschatzen ist wohl der EinfluC, den die Literatur
auf die Berufswahl ausübt. Die Frage der sozialen Stellung spielt besonders
bei den höheren Berufen eine gröBere Rolle. Überhaupt zeigen die Fragebogen
der gebildeten Schichten einen bedeutend gröBeren Komplex von Einflüssen, als
diejenigen der niederen Berufsschichten. Ich will diese Frage jedoch in einem
anderen Zusammenhange behandeln. Hier sind noch von Interesse die drei
Fragebogen, die mir die Schüler einer Drogistenschule ausgefüllt haben und die
übereinstimmend angeben, dafi sie zur Wahl des Drogistenberufes deswegen ge-
kommen seien, weil dieser Beruf doch „mehr als bloBer Kaufmannsberuf sei
und daher ein höheres Ansehen genieBe“. Interessant und wohl für eine ganze
Reihe analoger Falie typisch ist das Gestandnis einer jungen Dame, daB sie ihren
Beruf (Bürotatigkeit) nur deshalb ergriffen habe, um vom Elternhause loszukommen.
60
Quiel, Beitrage zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete
Es ist nun keineswegs gesagt, daO mit Erfüllung des Berufswunsches eine
Garantie für die Bewahrung und für Zufriedenheit gegeben sei; der Wunsch
beweist zunachst nur, daO eine bestimmte Neigung zu diesem Berufe verhanden
ist. Ob dem eine entsprechende Veranlagung entspricht, bleibt noch immer
zweifeihaft und entzieht sich in vielen Pallen der Beurteilung des Berufsbewerbers,
da die Kenntnis über den zu ergreifenden Beruf oft recht gering ist. Eine bessere
Berufskenntnis ist fast nur da gegeben, wo der Beruf des Vaters ergriffen werden
soll, und hier ergibt meine Enquete wieder das schon öfter Festgestellte Bild,
daQ nur ein geringer Prozentsatz in den vaterlichen Beruf übergeht, namlich
13 von 101 Antworten, also etwa 13 Prozent. Meistenteils handelt es sich bei
diesen 13 Prozent sogar noch urn die Weiterführung des vaterlichen Unter-
nehmens. Es spielen also in sehr starkem MaOe Motive herein, die mit Neigung
nichts zu tun haben, wie materielle Gesichtspunkte und Tradition.
Zahllos sind noch die Einfiüsse und Griinde, die eine Berufswahl bewirken
oder verhindern können, so zahlreich und vielseitig, daO man sie in ihren Kom-
binationen und Spielarten unmöglich erschöpfend behandein kann. Es spielt
doch oft genug die Schrulle einer alten Erbtante hier eine ausschlaggcbende Rolle.
Zu diesen Gründen kommen dann noch unterstützend eine andere Kategorie
von Gründen hinzu, namlich diejenigen, die die Wahl eines anderen Berufes
als zweckmaOiger erscheinen lassen.
In überwiegendem MaOe hnden wir hier wieder die rein materiellen Gründe,
wie guter Verdienst, gute Aussichten im Berufe usw. Es spielen sich oftmals
verzweifelte Kampfe zwischen diesen schwerwiegenden materiellen Gründen und
Gründen idealer Natur ab, die dann oftmals zuungunsten der Ideale durch das
Eingreifen von Erziehern und Angehörigen entschieden werden. Hier wirft sich
die Frage auf, inwieweit überhaupt Ideale im Berufe vorhanden und von Ein-
fluO sind. Die Frage nach Idealen ist von 44 positiv und von 44 negativ be-
antwortet worden. Die restlichen 13 Bogen lassen keln klares Urteil in dieser
Frage zu. Positiv beantwortet wurde sie von 34 Akademikern und höheren
Schülern, 9 Angehörigen mittlerer Berufe und 1 aus niederem Berufskreise.
In groben Gruppierungen ergibt sich folgendes Bild: Arzteideal: 8, Lehrer-
ideal: 8, soziales Ideal: O, patriotisches Ideal: 6, Forscherideal: 5, Erhnderideal: 4,
Künstlerideal: 2, verschiedene Ideale: 3. Seibst bei der Gruppe, die nicht im
gewünschten Berufe stehen, hnden wir Ersatzberufe mit Idealen, wenn auch nur
in geringem MaOe (6). Von Frauen haben 4 das Lehrerideal und 1 das soziale
Ideal. 8 Frauen stehen ohne Irgendwelche Ideale in einem Berufe, wovon aller-
dings 4 nur einen Ersatzberuf haben. Bei Frauen ist wohl überhaupt die Frage
des Berufes etwas anders zu beurteilen, da die Heiratsmöglichkeit bzw. mangei-
hafte Aussichten in dieser Beziehung unberechenbare Faktoren bilden.
In den vorhergehenden Betrachtungen habe ich öfter den Ausdruck „Ersatz-
beruf" gebraucht und damit bewuOtermaOen ein gewisses negatives Urteil über
diesen Beruf gefalit. Der Beruf ist hier nicht das, was er eigentlich sein soll
Quiel, BeitrJge zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete
61
und was auch schon im Wort Beruf enthalten ist, namlich die Tatigkeit, zu der
sich der Mensch nach Idealen, Neigung und Veranlagung ,berufen“ fühit, son-
dern eine Last, die durch ungünstige Verhaltnisse auferlegt wird. Es ist damit
freilich nicht gesagt, daO der Mensch in einem solchen Ersatzberuf nichts
Tüchtiges leisten könne und sich auf alle Falie in ihm unglücklich fühlen müsse,
oft genug findet er sich völlig damit ab und geht auch in seinem neuen
Berufe auf. Im allgemeinen fehlt jedoch ein wesentlicher Bestandteil des Be-
rufes in diesem Falie, namlich eine ausgesprochene Neigung zu ihm. Der Be¬
ruf wird dadurch lediglich unumgangiiche Notwendigkeit für die Existenz ohne
ethischen Eigenwert und muB so naturgemafi unter dem Optimum der möglichen
Arbeitsfreudigkeit bleiben.
Wir haben also festgestellt, daO die Neigung zu einem Berufe sehr wesent-
lich für die Befriedigung in ihm ist. Kommt nun zu dieser Neigung noch eine
natürliche Veranlagung hinzu, so sind die idealen Vorbedingungen für ein be-
friedigtes Dasein in ihm gegeben. Die Beurteilung einer richtigen Veranlagung
für einen Beruf ist jedoch nicht so einfach und setzt zunachst einmal eine um-
fassende Kenntnis des erwahlten Berufes und seiner Ansprüche an den Men-
schen voraus. Wie ich an früherer Stelle schon hervorhob, ist jedoch diese
Berufskenntnis sehr selten vorhanden. Für die Berufsberatung, die bei uns noch
sehr in den Anfangen steht, erwachst hier die ungeheuer wichtige Aufgabe, dafür
zu sorgen, daO durch eingehende Berufsanalysen klare Berufsbilder geschaifen
werden, die es dem jugendlichen Berufsbewerber ermöglichen, seine Eignung
für diesen Beruf zunachst einmal in groben Umrissen selbst zu beurteilen. Eine
eingehendere Beurteilung dieser Eignung ist dann freilich Sache der Psycho-
technik, der es bis jetzt ja auch schon gelungen ist, für eine ganz stattliche An-
zahl von Berufen gute Prüfungen zu schaffen, die schon ein ziemlich sicheres
Urteil über die Eignung zulassen.
Zunachst sind es freilich nur eine Anzahl von gröOeren Werken der deut-
schen Industrie, die die Notwendigkeit solcher psychotechnischen Prüfungen für
ihre Lehrlinge erkannt und sie daher eingeführt haben, insbesondere ist es die
Berliner Groüindustrie. Sie hat ja allerdings auch den Vorteil, in dieser Be-
ziehung an der Quelle zu sitzen, da die gröOten Forschungsinstitute auf diesem
Gebiete zur Zeit wohl in Berlin zu hnden sind. Bei der Industrie sind es zwar
meist wirtschaftliche Vorteile, die zur Einführung dieser Prüfung geführt haben,
doch haben sie den Vorzug, damit zugleich auch Vorteile sozialer Art zu ver¬
binden. Von privater Seite wird zunachst noch recht selten von diesen Ein-
richtungen Gebrauch gemacht. Es ware zu wünschen, daB wir bald für alle
wichtigen Berufe Eignungsprüfungsmethoden haben und daB dann von den Be-
rufsbewerbern in ausgiebigster Weise davon Gebrauch gemacht würde. Ich bin
überzeugt, daB dann eine Enquete, wie die meine, ein weniger trauriges Ergebnis
aufweisen würde. Die Vorteile in soziologischer und wirtschaftlicher Hinsicht
liegen doch klar zutage.
62
Rundschau
Rundschau
Eignungsprüfungen in England
Verhaltnismaöig spat ist England mit Eig¬
nungsprüfungen hervorgetreten, wie wir ja
überhaupt beobachten konnten, dafi hier die
eigentlich psychotechnischen Bestrebungen
spater eingesetzt haben als in dem übrigen
Westeuropa (vgl. „Praktische Psychologie,
Jahrgang 3, Heft 6: „Das Nationalinstitut für
industrielle Psychotechnik"). Es liegen uns
jetzt einige Berichte des “Industrial Fatigue
ResearchBoard”vorüberEignungsprüfungen.
Dieser UntersuchungsausschuB für Ermü-
dungsstudien in der Industrie trat im Jahre
1917 an die Stelle des Komitees, das vom
Home Office aus unter dem Physiologen Kent
Ermüdungsstudien in der Kriegsindustrie
unternommen hatte.
Heft 12 und 16 der „Reports” haben als
Thema die Eignungsprüfungen (erschienen
1921 und 1922 in London). Heft 12 ist für
uns in bezug auf die Entwicklung der Eig¬
nungsprüfungen in England von Interesse.
Es bringt namlich einen Überblick über die
vorhandenenEignungsprüfungen überhaupt.
Dieser Überblick zeigt uns einmal die Tat-
sache, daC die amerikanischen Eignungs¬
prüfungen bei dem englischen Autor durch-
aus im Vordergrunde stehen, was uns eine
Erklarung für manche von Amerika über-
nommenen Proben gibt (vgl.unten). Sodann
können wir beobachten, dalJ der Autor durch-
aus kein vollkommenes Bild über den Stand
der deutschen Eignungsprüfungen hat, ihre
Methode, ihr System und ihre Fortschritte
gerade in den Nachkriegsjahren. — Nr. 16 der
„Reports” bringt eine psychotechnische Eig-
nungsprüfung für Setzer, eine physiologische
Untersuchung der Körperkrafl bei Schwer-
arbeitern und weitere physiologische Messun-
gen bei Arbeitern in der Schokoladenfabrik.
Die psychotechnische Eignungsprüfung für
Setzer*) von Musico geht von berufskund-
•) Vgl. Friedemann, Eignungsprüfung zum
Setzer- und Druckerberufe in der Buchdrucker-
Lebranstalt zu Leipzig. Prakt. Psych., 1. J., 8. H.
lichen Studiën aus, die im folgenden kurz
wiedergegeben werden mogen. Vor dem
Setzer steht der Setzkasten, der in zwei Ab-
teilungen, eine obere und eine untere ein-
geteilt ist. Die obere Abteilung enthalt die
groDen Buchstaben und diejenigen Zeichen,
die weniger haufig gebraucht werden. In der
unteren Abteilung befinden sich die kleinen
Buchstaben. Mit der rechten Hand ergreift
der Setzer die Buchstaben und reiht sie in
den Winkelhaken, den er in der linken Hand
halt, auf. Das richtige Herausgreifen der
Buchstaben aus dem Setzkasten ist nachder
Ansicht des Autors Übungssache: Hat der
Setzer wahrend der Lehrzeit den Platz der
einzelnen Typen kennengelernt, so zögert er-
nicht mehr ipi geringsten beim Suchen des
Lageortes irgendeiner Type. Nach dem Zu-
sammensetzen der Buchstaben wird der Satz
in Seiten abgeteilt; die einzelnen Zwischen-
raume füllt der Setzer durch „Keile“ und
„Winker aus. Sodann wird das Material
in Rahmen eingeschlossen.
Nach diesen berufskundlichen Studiën
wurden folgendepsychischen Fahigkeiten als
notwendig für den Setzer angesehen:
1. Geschicklichkeit, um die kleinen Typen
mit den Fingern schnell herauszugreifen und
schnelle Bewegungen mit dem rechten Arm
ausführen zu können.
2. Gute und schnelle Beobachtungsgabe,
um die Typen sofort richtig in den Winkel¬
haken aufzureihen.
3. Eingutes uhmittelbaresBehalten,damit
die Pause, in der der Setzer in seine Vor-
lage sieht, nicht zu groC ist und daher zu viel
Zeit verloren geht.
4. Sinn für GröBen und Formen (beim
Ausfüllen der Zwischenraume).
5. Allgemeine Intelligenz.
Zur Prüfung der Geschicklichkeit wurde
einStreichholzversuch angewandt: DerPrüf-
ling steht vor einem Brett, das Reihen von
kleinen Löchern enthalt. In diese soll er mit
der rechten Hand Streichhölzer einstecken;
Rundschau
63
diese werden einer Schachtel entnommen,
die zuerst in Armeslange vor dem Prüfling
steht (obere Abteilung des Setzkastens) und
dann in kürzerem Abstand (untereAbteilung).
MaC der Bewertung ist die Anzahl der ein-
gesteckten Hölzer in 30'' für jede der beiden
Stellungen der Schachtel. — Methodologisch
möchte ich zu dieser Probe bemerken,
daO sie ein Schema der Wirklichkeit dar-
stellt. (In der englischen Literatur der Eig-
nungsprüfungen wird dieses Prüfverfahren
“analogous test” genannt.) Aber die Probe
würde sich auch im allgemeinen zurPrüfung
der Handgeschicklichkeit eignen.
Um die Beobachtungsgabe festzustellen,
wurde ein Durchstreichversuch in zweierlei
Form angewandt. Zunachst sollten alle „e“
in einem Te.xt durchgestrichen werden. So-
dann wurden Zahlengruppen angestrichen.
Der Prüfling erhalt eine Tabelle mit sieben
vertikalen Reihen siebenstelliger Zahlen¬
gruppen und bekommt die Anweisung, jede
Zahlengruppe, die sowohl eine 2 wie eine 9
enthalt, anzustreichen*).
Um die Spanne des unmittelbaren Be-
haltens zu untersuchen, dienten ebenfalls-
ursprünglich zwei Proben. Die eine dieser
beiden Proben war eine Einsetzprobe.
Auf einer Tafel, mit Buchstaben bedruckt,
stehen am Kopf sechs Buchstaben, unter
denen je eine Zahl steht. Der Prüfling hat
die Aufgabe, von samtlichen auf der Tafel
beSndlichen Buchstaben diejenigen durch
die entsprechende Zahl zu ersetzen, die am
Kopf der Tafel sich befinden. Die zweite
Probe bestand darin, sieben Satze von wach-
sender Lange dem Prüfling vorzusprechen,
die dieser zu wiederholen hat.
Zur Prüfung des Sinns für Formen und
GröGen sollten 30durchweg keil- und winkel-
förmige Klötze, die aus einem Brett heraus-
geschnitten sind, in diese Löcher wieder
eingeordnet werden.
*) Vgl. Link, “Employment Psychology”, über-
setzt von J. Witte, Verlag Oldenburg, München.
AusfChrl. Referat: Prakt. Psych., 3.Jahrg., 3. Heft.
Die allgemeineintelligenzwird festgestellt
durch Auftrage, die derPrüfling auszuführen
hat, und wie sie uns aus der amerikanischen
Literatur der Eignungsprüfungen bekannt
sind*), z. B.: „Setze zwei Kreuze unter das
kürzeste Wort in diesem Satz ...“ Oder
eine schwerere Anweisung (vgl. unten-
stehende Abbildung): „Über jeder der
Linien befinden sich vierPunkte. DerPunkt
an der auOersten Linken ist Nr. 1, dernachste
jst Nr. 2, dann kommt Nr. 3 und dann Nr.4.
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Wenn die Entfernung zwischen 1 und 2
kleiner als zwischen 3 und 4 ist, so setze
ein Minuszeichen zwischen die Klammern
rechts; ist die Entfernung zwischen 4 und 3
kleiner als zwischen 1 und 2, so setze ein
Pluszeichen zwischen die Klammern. Ist die
Entfernung gleich, so schreibe eine 0 zwi¬
schen die Klammern."
Diese Proben für Geschicklichkeit, Be¬
obachtungsgabe, unmittelbares Behalten,
Formensinn und allgemeine Intelligenz wur¬
den lOOSetzerngegeben und die Korrelation
berechnet für jeden einzelnen Test sowie
für die Gesamtleistung. Durchweg ergab
sich eine gu te Übereinstimmung; nur die erste
der beiden Proben für unmittelbares Be¬
halten und die Formenprobe korrellierten
nicht in befriedigenderWeise. Diese Proben
wurden ausgeschaltet, die Probe für un¬
mittelbares Behalten, weil sie nicht das un-
mittelbare Behalten traf, wie es für den
Setzer erforderlich ist; die Formenprobe
wurde ebenfalls fallengelassen, aber es wurde
64
Rundschau
trotzdem das Verstandnis für Formen und
Gröflen als weiter notwendig für den Beruf
desSetzers erachtet und deswegen eine neue
Probe zur Feststellung dieser Fahigkeit in
Aussicht genommen.
Kritisch ware vielleicht zu dieser Setzer-
prüfung zu sagen, daü man ein etwas unbe-
friedigtes Gefühl gegenüber den Intelligenz-
proben hat. Sodann dürfte auch eine relativ
wichtige Funktion des Setzers, dasEinfühlen
in einen fremden, oft handschriftlichen Text
übersehen sein.
Es moge nun noch kurz überdie beiden mehr
physiologisch gerichteten Untersuchungen
referiert werden. Die erste der beiden, die
Untersuchung der Körperkraft bei Schwer-
arbeitern, wurde ebenfalls von Musico an-
gestellt. Sie ist eine Studie, die feststellen
will.aufwelcheWeiseeinwandfrei die Körper¬
kraft ermittelt werden kann, welche der
vorhandenen Proben die zuverlassigste ist.
Zu diesem Zweck wurden Dynamometer-
versuche gemacht, das Gewicht und die
Grööe festgestellt. Sodann wollte man eine
neue Methode untersuchen, die sogenannte
,Martin-Methode“, die von Musico leider nur
kurz, ohne Abbildungen beschrieben wird.
Es ist eine seibstregistrierende Wage dazu
erforderiich mit einem festen Griff an dem
einen Ende und einem Lederriemen an dem
andern. Die Messung der Körperkraft besteht
darin, daC der Lederriemen über irgend-
einenKörperteil, dessen Kraftmanfeststellen
will, geiegt wird. Die Versuchsperson hat
einem Druck entgegenzuarbeiten, den der
Versuchsieiter mittels des Lederriemens
ausübt auf den betreffenden Körperteii.
Die Resultate samtiicher Untersuchungen
zeigten, daC eine Kombination des Dynamo-
meterversuchs mit der Messung des Körper-
gewichtes am zuverlassigsten die Körper¬
kraft feststellten. Die „Martin-Methode"
zeigte keine einwandfreien Resultate.
Die zweite Untersuchung auf physiologi-
scher Basis wurde von Farmer in einer
Schokoladenfabrik gemacht. An drei Gruppen
Arbeiterinnen nahm man zu diesem Zwecke
Versuche vor. Es waren:
1. Packerinnen,
2. diejenigen Arbeiterinnen, die die Scho-
koladentafeln in Papier einwickein und
versiegein,
3. diejenigen, die mit dem Verzuckern von
Früchten, Mandein und Karamellen be-
schaftigt sind (das betreffende Konfekt
wird in ein GeFaC mit geschmolzenem
Zucker eingetaucht).
Die Untersuchungen, die vorgenommen
wurden, bestanden in Messungen, und zwar
wurde gemessen: die Spanne der Hand von
der Spitze des kleinen Fingers bis zur Spitze
des Daumens, die Lange des Mittelüngers,
die Dicke des Mittelüngers, die Lange des
kleinen Fingers, die Breite der Hand über
den Fingergelenken, die Dicke der Hand, die
Lange der Hand, sodann die Dicke des Hand-
gelenks,dieWeitedesHandgelenks,dieLSnge
des ganzen Arms, die Lange des Unterarms,
die GröCe im Stehen, die GröCe im Sitzen.
Es ergaben sich die interessanten Fest-
stellungen,daO fürdiePackerinnen der „lang-
spannige" Typ vorteilhaft ist, umgekehrt da-
gegen für die beiden anderen Gruppen von
Arbeiterinnen. Das erklart sich daraus, daB
bei den Packerinnen die Fingerandauernd in
gespreizter Stellung sein müssen, was bei den
beiden anderen Gruppen nicht erforderiich ist.
Zum SchluB möchte ich noch das Pro-
gramm wiedergeben,dasderUntersuchungs-
ausschuO für Ermüdungsstudien speziell für
die Eignungsprüfung aufgestellt hat. Durch-
Einführung der Berufsberatung auf der
Grundlage der Eignungsprüfung strebt der
Untersuchungsausschufl an:
I. Verminderung derErmüdung durch die
Industriearbeit, 2. Vermehrung der Produk-
tion, 3. Zufriedenheit des Arbeiters, 4. Ver¬
minderung des Arbeitswechsels, 5. Vermin¬
derung der Betriebsunfalle. Dr. Schorn.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr. C, Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Martel in Leipzig.
66
Schneider, Das BriefstempelgeschSft
laOt die Maschine nicht durch. Das ist allenfalls noch zu ertragen, weil die Zahl
dieser Sendungen vergleichsweise keine groOe Rolle spielt. Nachteiliger wirkt
es schon, daQ zahlreiche Absender es nicht übers Herz bringen, die Marke dort-
hin zu kleben, wohin sie gehort, namlich in die rechte obere Ecke der Sendung.
Ein besondrer Obelstand ist aber das Freimachen der Briefe mit ganzen Reihen
vop Marken niedrig^r Werte. Wir wissen, die Auflieferer sind hieran z. T. — nicht
alle — unschuldig, aber für den Betriebsbeamten ist das leider nur ein sehr
schwacher Trost
Alle diese Sendungen, die nach meiner Schatzung etwa die Halfte der ge-
saniten Briefauflieferung ergeben, müssen mit der Hand gestempelt werden.
Ein Handstempler kostet bei den heutigen Besoldungssatzen (Dezember 1922)
etwa 500000 Mark jahrlich. Geht man abends zur Zeit des starksten Betriebes
auf die groOen Postamter, so sieht man neben einer, höchstens zwei Stempel-
maschinen eine ganze Reihe von Handstemplern in Tatigkeit Der Leser kann
danach selbst beurteilen, welche hohen Ausgaben uns dadurch entstehen, daG
nur knapp die Haifte der Briefe usw. für die Maschinenstemplung geeignet ist
I. Stempelmaschinen
A. Arten
Drei Arten von Stempelmaschinen werden’benutzt:
1. die Sylbesche Maschine, hergestellt von Sylbe & Pondorf in Schmölin
(Sachsen-Altenburg),
2. die Kragsche Maschine, hergestellt von Schuchardt & Schütte in Berlin,
3. die Universalmaschine, hergestellt von der Deutschen Post- und Eisen-
bahn-Verkehrswesen A.-G. in Staaken.
Die Sylbesche und die Kragsche Maschine sind sog. Ganzstempelmaschinen,
d. h. der Stempel lauft wie ein endloses Band über die ganze Sendung hinweg,
wahrend die Universalmaschine auf Halbstempelbetrieb eingerichtet ist Der Halb-
stempel soll namentlich für Postkarten verwandt werden, um Mitteilungen der
Absender auf der linken Halfte der Postkarte nicht unleserlich zu machen.
Die Sylbesche Maschine laQt sich zwar auch durch einen Handgriff auf Halb-
stemplung bringen, in der Wirklichkeit unterbleibt das aber meistens, weil die
Postkarten und Briefe usw. durcheinander liegen und der Bedienungsmann die
Maschine nicht fortwahrend umstellen kann. Das Trennen der Sendungen vor-
her würde anderseits viel zu viel Arbeit machen und höchst unwirtschaftlich sein.
Auf eine Beschreibung der drei Maschinen muO verzichtet werden. Nur
einige Unterschiede sind hervorzuheben. Bei der Sylbeschen und Kragschen
Maschine werden die Sendungen von links zugeführt, bei der Universalmaschine
von rechts. Die Sylbesche Maschine kann mit einem Kurbeischalter auf ver-
schiedene Gangarten, langsamer und schneller, gebracht werden, die beiden
andern haben nur einen Gang.
Schneider, Das Briefstempelgeschaft
67
B. Leistungsfahigkeit der Maschinen
Sie ist genau ermittelt worden. Die Sylbesche Maschine stempelt je nach
der Art der Briefpost zwischen 300 und 600 Stück in der Minute, die Kragsche
zwischen 275 und 475, die Universalmaschine zwischen 100 und 270. Sind gleich-
förmige Sendungen zu stempein, wie Postkarten, Massendrucksachen in Um-
schlagen aus festem Papier, so steigt die Leistung bei Sylbe auf 800—1000, bei
Krag auf 600—700 und bei der Universalmaschine auf 350.-450 Stück in der
Minute. Zu berücksichtigen ist, daO die Sylbe- und Krag-Maschinen langer als
zehn Jahre im Betriebe sind, stark gebraucht werden und deshalb schon etwas
nachgeiassen haben. Die Pabrik Sylbe & Pondorf schatzt die Leistungsfahigkeit
neuer Maschinen auf 600—800 Stück bei gemischter Post, 1500—1800 Stück bei
gleichmaCiger Post. Inwieweit das zutrifft, konnten wir nicht prüfen, da Sylbe¬
sche Maschinen seit Jahren nicht mehr beschafft worden sind.
C. Arbeitsvorgang
Wir haben den Arbeitsvorgang an der Sylbeschen Maschine eingehend unter-
sucht und das Ergebnis in einer Übersicht zusammengestellt, die umstehend wieder-
gegeben wird. Der Vorgang an den beiden andern Maschinen weicht nur in
unwesentlichen Punkten ab. In der letzten Spalte der Übersicht sind die Schwachen
aufgeführt und die zu ihrer Beseitigung nötigen Mittel und Wege kurz angegeben.
Hierauf wird im folgenden Abschnitt (D) naher eingegangen werden.
D. Mangel und Verbesserungsvorschlage
1. Die Tischhöhe bei der Sylbeschen Maschine alterer Bauart betragt 87V2 cm,
bei den Sylbeschen Maschinen neuerer Bauart und der Kragschen Maschine 96 cm,
bei der Universalmaschine IOIV2 cm. Sie ist also verschieden. Am günstigsten ist
die Höhe von 96 cm. Sie gestattet ein ungehindertes Bewegen der Arme und Hande
auf der Tischplatte. Was für den Bedienungsmann herauskommt, wenn der Tisch
zu niedrig ist, zeigt Abbiidung 1 mit der cm hohen altern Sylbeschen
Maschine. In dieser Haltung soll der Mann stundenlang arbeiten. Es ist ohne
weiteres klar, daQ der Krafteverbrauch unnötig groO wird, die Ermüdung viel zu
früh eintreten muO und die Verwaltung den Schaden infolge der herabgesetzten
Leistungsfahigkeit des Mannes zu tragen hat, ganz abgesehen von der Gesundheits-
schadigung, die dieser im Laufe der Zeit davontragt. Die Universalmaschine ist
mit IOIV2 cm deswegen zu hoch, weil die Unterarme eines Mannes von mittlerer
GröDe auf der scharfen Kante liegen und gedrückt werden.
Der Tisch ist so auszubauen, da(3 die Unterarme des Stemplers bequem auf-
gelegt werden können. Dadurch wird nicht nur eine Schonung der Krafte er-
zielt, sondern die Sendungen lassen sich auch sicherer in die Maschine führen.
2. Der Bedienungsmann ist bei allen drei Maschinen gezwungen, seine Arbeit
im Stehen zu verrichten. Die sich hieraus ergebenden Nachteile liegen auf der
Hand und brauchen an dieser Stelle nicht eingehend erörtert zu werden. Es
5*
68
Schneider, Das BrieFstempelgeschSft
Arbeitsvorgang an der Sylbeschen Stempelmaschine
Bestandteil
der
Arbeit
TStigkeit
des
Bedienungsmannes
Kurze Besprecbung
Hineinsetzen eines
StoOes von Briefen
in den Behalter.
Ergreifen der Briefe
niit beiden Handen.
Bedienungsmann steht. Arbeit ist
im Sitzen auszufQhren. Maschine
muQ richtige Höhe haben. Sendungen
mussen so liegen, daO der Bedienungs¬
mann sie auf dem kürzesten Weg und
ohne erhebliche Belastung seiner
Aufmerksamkeit ergreifen kann.
Anlassen desMotors.
Vorrücken d. Schalt-
hebels an der linken
Seitenwand unterder
Tischplatte.
Bedienungsmann muQ sich bücken.
Verlegung des Schakers auf die Tisch¬
platte. Kürzester Weg, sinnfallige An-
ordnung nach der Regel des maOigen
Gegensatzes (Kontrastes).
Einschalten der Ma-
schine.
Niederdrücken des
Schalthebels an der
untern Kante der
linken Seitenwand
mit dem linken FuOe.
Der linke FuD muQ wahrend der gan¬
zen Stempelarbeit den Hebei nieder-
gedrückt halten. Unnötiger Kraftver-
brauch. Anderung durch Verlegung
der Schaltvorrichtung auf den Tisch
(m&Oiger Gegensatz).
Hineinschicken der
Briefe in die Ma-
schine.
Briefe werden mit
beiden Handen ge¬
halten und durch
schwachen Druck der
linken Hand in die
Maschine hineinge-
lassen. Daumen der
rechten Hand ruht
auf den Sendungen,
damit sie sich beim
Hineinlassen nicht
schrag stellen.
In der Pause lauft der Motor leer. Die
Pause ist daher möglichst abzukürzen.
FuOhebel wird wahrend der Pause los-
gelassen.
Hineinsetzen eines
neuen StoDes v.Brie-
fen in den Behalter.
Wie zu 1.
Wie zu 1.
Wie zu 4.
Wie zu 4.
Wie zu 4 und 5.
Ausschalten der Ma-
schine.
Loslassen des FuQ-
hebels.
Wie zu 3, letzter Satz.
Anhalten des Motors.
Zurückdrücken des
Schalthebels an der
linken Seitenwand
(siehe unter 2) in die
Ruhelage.
Wie zu 2.
Scbneider, Das Briefstempelgeschart
69
muO angesirebt werden, den Mann sitzen zu lassen. Die Maschinen sind deshalb
so einzurichten, daO der Stuhl nahe an den Tisch herangezogen werden kann.
Geeignet erscheint die Aufstellung der Maschine auf einem schweren guOeisernen
FuQ wie bei der Universaimaschine oder der Kragschen Maschine. Der Stuhl
muQ in der Höhe etwas verstellbar, nach den Seiten drehbar sein und mit Rücken-
und FuQstütze versehen werden. Die Ermittlungen über die zweckmaOigste Form
des Stuhles werden noch weitergeführt.
3. Die Vorrichtung für die Aufnahme der zu stempelnden Sendungen muB
vergröOert, d. h. verlangen werden und zwar von 36 cm auf etwa 45 cm. Es
könnte dann ein gröBerer StoB Briefe hinein-
gesetzt werden und der Bedienungsmann
brauchte nicht so oft nach neuen Briefen zu
greifen. Zwar dauert diese Bewegung jedes-
mal nur etwa drei Sekunden, wiederholt
sich aber in jeder Minute wenigstens ein-
mal, so daB dieVerluste zusammengerechnet
schlieBlich doch bemerkbar werden. AuBer-
dem liefe die Maschine weniger oft leer,
wiirde also sparsamer arbeiten.
4. Bei einigen Maschinen ist der Be-
halter schrag gestellt. Anscheinend hat man
dies getan, urn ein selbsttatiges Hineingleiten
der Sendungen in die Maschine zu fördern.
Die Überlegung ist aber unrichtig. Der
Stempler nimmt die im Behaiter aufge-
stapelten Briefe doch nur in kleinern Mengen
nach und nach in die Hand und führt sie
in das Getriebe. Die Schragstellung des
Behaiters stort ihn hierbei und beim Herübernehmen eines neuen StoBes von
Briefen mehr, als sie ihn unterstützt.
5. Die Schaker zum Ingangsetzen des Motors befinden sich bei der Kragschen
und der Universaimaschine auf der Tischplatte, bei der Sylbeschen Maschine an
der linken Seitenwand unter dem Tische. Die erste Art der Anbringung ist
natürlich die richtige, nur muB noch darauf geachtet werden, daB die Schaker
sich durch ihre Farbe vom Untergrunde des Tisches mehr abheben. Der Stempler
Bndet sie dann ohne überflüssige Anstrengung der Aufmerksamkeit.
Mit dem FuBhebel wird an der Sylbeschen Maschine das Getriebe eingeschaket
(nicht der Motor). Auf Abbildung 1, wo der FuBhebel hinter der Maschine an-
gebracht ist, laBt sich die Art dieser Einschakung erkennen. Der Stempler muB
wahrend der Arbeit den Hebei dauernd mit dem linken FuBe niedergedrückt
haken. Auch das ist unzweckmaBig, weil Krafte vergeudend. Ein Schaker auf
der Tischplatte müBte genügen.
70
Schneider, Das BriefstempelgeschSrt
6. Zum Aufstellen der zu stempelnden Brief-
massen werden Kasten mit rillenförmigen Ver-
tiefungen benutzt. Urn die Sendungen auf dem
kürzesten Wege in die Maschine zu bringen,
müssen sie auf dem Kopfe stehen und die Frei-
marken nach der von der Maschine abgewandten
Seite liegen. Andernfalls muD der Stempler die
Briefe erst jedesmal mit beiden Handen drehen
und wenden. Wir haben feststellen können, daO
diese eigentlich ofFen zutage liegende Arbeits-
erleichterung wenig bekannt war und nicht aus-
genutzt wurde. Für den Betriebswissenschafter
ist das ja allerdings nicht überraschend. Man
kann wohl in jedem Betriebe ohne groBe Mühe
handgreifliche UnzweckmaBigkeiten hnden, an
ASKïiH -> c,.. _ 1.., o., denen Arbeiter, Beamte, Leiter usw. jahrelang
Abbildung 2. Stempler an einer ’ ' ^ o
Kragschen Maschine mit Rillenkasten wie mit verbundenen Augen vorübergegangen sind.
Damit die Rillenkasten ganz ihren Zweck er-
füllen, müssen sie etwas schrag gestellt werden. Der Weg, den die linke Hand
zurückzulegen hat, wird dadurch kürzer und bequemer. Aus Abbildung 2 ist
dies zu entnehmen.
II. Handstempein
A. Arten der Handstempel
Es werden Faust- und Hammerstempel verwandt, wie sie Abbildung 3 und 4
zeigen. Der Griff besteht aus Holz, der eigentliche Stempel aus Stahl mit Tages- und
Stundenbuchstaben, die auf kreisförmigen, drehbaren Scheiben angeordnet sind, sich
daher leicht umsetzen lassen. Fauststempel benutzen wir nur bei kleinern Post-
anstalten mit schwacher Briefauflieferung. Sie scheiden für unsre Feststellungen aus.
B. Leistungsfahigkeit eines Handstemplers
MaBgebend ist die Zahl der Stempelschlage, die ein Mann in der Minute bei
stundenlanger Tiitigkeit ausführen kann. Zur Entwertung einer Briefmarke ist
ein Doppelschlag nötig, einer auf das Stempelkissen zum Schwarzen des Stempels,
Scbneider, Das BriefstempelgescbSft
71
der andre auf die Marke selbst. Durch langere genaue Beobachtungen, wobei
Stechuhren benutzt worden sind, haben wir ermittelt, daO ein geübter Stempler
im Durchschnitt 128 Schlage in der Minute ausführt. Das ist eine ganz erhebliche
Leistung. Wir werden spater gelegentlich versuchen, sie in mkg festzustellen
und dabei auch Ermüdungsbeobachtungen zu machen. Die Zahl der gestempelten
Sendungen, d. h. die unmittelbare Nutzleistung für den Betrieb ist, da die meisten
Briefe usw. nicht eine Marke tragen, sondern mehrere, wesentlich geringer. Sie
liegt zwischen 60 und 75 in der Minute. Die Zahlen verhalten sich wie 1: 1,7;
auf jede Sendung entfallen im Durchschnitt 1,7 Stempelschlage.
Ungeübte oder ungewandte Leute bleiben z. T. wesentlich hinter den an-
gegebenen Zahlen. Es ist daher für uns wichtig, ihre Lelstungsfahigkeit möglichst
rasch zu steigern und sie gleichzeitig zu sauberer Arbeit zu erzlehen. Wie un-
angenehm und folgenschwer
undeutlicheStempelabdrücke
mitunter sind, wird mancher
Leserwohlgelegentlich selbst
erfahren haben. Das von
Herrn Dr. Piorkowski gelei-
tete Orga-Institut in Berlin
hat nach dem Vorgehen Gie-
ses eine Übungsvorrichtung
für Stempler gebaut, deren
Einzelheiten aus Abbild. 5
zu ersehen sind. Der rechte
Klotz tragt eine mit Leder überzogene federnde Platte, die das Stempel-
kissen andeutet. Durch Hieb mit dem Holzhammer, der an der Schlagseite
eine Messingscheibe tragt, wird die Platte nach unten gedrückt, ein Kontakt
hergesteilt und ein Gesprachszahler in Tatigkeit gesetzt. Auf dem linken Klotz
beiindet sich in einem mit Gummiring umgebenen Stahlzylinder ein federnder
Stahistift. Er macht Kontakt und betatigt auch einen Gesprachszahler, aber nur
dann, wenn er genau senkrecht mit dem Hammer getroffen wird. Man kann
nun den Schüler mit dem Hammer langere Zeit arbeiten lassen, beobachtet
ihn dabei, gibt ihm Anleitung über richtiges Halten des Hammers (Stempels),
über zweckmaOige Bewegung der Gelenke usw. und vergleicht nachher auf
den Gesprachszahlern, wie oft der Mann schiecht gestempelt, d. h. links
keinen Kontakt gemacht hat. Die Vorrichtung hat noch Mangel, die beseitigt
werden müssen, ehe mit den Versuchen begonnen werden kann. Es steht aber
schon fest, daO solch ein Übungsgerat in groDen Betrieben nützlich wirken
könnte. Die Leute würden, da das Üben durch die Zahlung einen etwas sport-
maOigen Anstrich erhalt, sicher mit einem gewissen Eifer bei der Sache sein.
Man dürfte ihnen das Gerat nur nicht zu oft vorsetzen, weil es sonst bald an
Reiz verlieren würde.
72 Scbneider, D«s Briefsteinpelgetchift
C. Arbeitsvorgang
Nr.
Bestandteil
der Arbeit
. T3tigkeit des Stemplers
Kurze Besprecbung
1
Zurechtlegen
der Sendungen
zum Stempeln.
Ergreifen einer Anzahl Sen*
dungen (45—50) mit der linken
Hand und Auflegen auf die
Stempelunterlage.
Zurechtschieben mehrerer Sen¬
dungen aufderStempelunterlage,
gleichzeitig Ergreifen des Stem¬
pels mit der rechten Hand.
Sendungen müssen links von
der Stempelunterlage stehen.
Kürzester Weg für die linke
Hand. Geordnete Lagerung der
Sendungen an bestimmten
Stellen.
Richtiges Liegen der Briefe auf
der Stempelunterlage. Verwen-
dung von Holzkasten zur Unter-
stützung.
2
Stempeln.
Vorziehen einer Sendung durch
leichteBerührungmitdenSpitzen
von Zeige-, Mittel- und Ring-
finger der linken Hand. Gleich¬
zeitig Aufschlagen des Stempels
auf das Farbkissen und mit
rhythmischer Weiterführung des
Schwunges Aufschlagen d. Stem¬
pels auf die Sendung.
Fingerspitzen dürfen nicht ab-
gleiten.VerwendungvonGummi-
ringen oder von Schwammnüpf-
chen, die mit Holzkasten (unter 1 >
fest zu verbinden sind.
Stempelkissen muO festliegen.
RichtigeFormdesStempelgriffes.
Hubhöhe darf nicht zu groD, Be-
wegungskurve muC rhythmisch
ausgeglichen, flach, aber nicht
eckig sein.
1
ZurückbewegungderlinkenHand
zu den Briefen und rhythmisches
Zurückschwingen des Stempels
zum Farbkissen. Heranziehen ei¬
ner neuen Sendung unter gleich-
zeitigem AbstoQen der gestem¬
pelten von der Gummiunterlage
mit dem Daumen und Aufschlagen
des Stempels auf das Farbkissen.
Weiter wie vor.
Stempler müssen sitzen.
3
Ablegen der
gestempelten
Sendungen.
Ergreifen der Sendungen mit der
linken Hand und Ablegen nach
vorn.
1
D. Mangel und Verbesserungsvorschlage
1. Die für das Zurechtlegen der Sendungen auf der Gummi-Stempelunterlage
(Bewegung 1) nötigen Zeiten haben wir mit der Stechuhr gemessen. Sie richten
sich nach der Lange des Weges, den die linke Hand zum Erfassen der Sendungen
zurückzulegen hat. Die Briefe stehen in Reihen links neben der Stempeiunter-'
lage auf dem Stempeltische. Die Anfange der Reihen sind etwa 20 cm von der
Mitte der Unterlage entfernt, die Enden etwa 60 cm. lm Durchschnitt braucht
u/3 te
Scbneider, Das Briefstempelgescbift
73
die linke Hand PA—BVs Sekunden, um die Briefe zu ergreifen und in die günstigste
Stempellage zu bringen. Diese Zeiten können verbessert werden. Die Sendungen
stehen oft nicht ganz grade auf dem Stempeltische, so daO der Stempler sie erst
ordnen muD, auch nicht immer an derselben Stelle, so daQ der Stempler bei
jedem Griff den Bliek nach der Seite richten muD. Seine Aufmerksamkeit wird
unnötig belastet und auOerdem ein gewisser verargernder Gefühlston in die Arbeit
eingeschaltet, der auf die Leistung drückt. Die Sendungen müssen so liegen, daQ
der Mann sie stets an derselben Stelle findet, also nicht erst hinzusehen braucht.
Wir haben dazu folgenden Versuch gemacht (Abbildung 6). Ein Kasten ist links
von der Stempelunterlage auf dem Tische fest verschraubt worden. Er ist 50 cm lang
und 26 cm breit. Der Boden stellt eine in der Richtung .nach der Stempelunter-
Abbildung 6. Stempeltiscb mit Aufsatzkasten Stempeltiscb mit rillenförmigen Vertiefungen
lage abfallende schiefe Ebene dar. In diesen Kasten sind die zu stempelnden
Briefe gesetzt worden. Dann haben wir wieder die Zeiten mit der Stechuhr ge-
messen, die der Stempler zum Vorlegen der Sendungen braucht. Dabei haben wir
gefunden, daO die Bewegung schneller ausgeführt wird. Die Zeiten liegen zwischen
PA und 2*/i Sekunden. Der Gewinn betragt also bei jedem Griff ‘A—“A Sekunden.
Er ist für die Praxis nicht erheblich. Aus dem Versuch ist aber die Folgerung
zu ziehen, daO auf die Stempeltische links von der Stempelunterlage Rillenkasten
gleicher Art aufzusetzen sind, wie sie bei den Maschinen gebraucht werden. Die
Sendungen liegen für den Stempler dann bequemer als jetzt und gut geordnet,
so daO also das Hingreifen nach dem Kasten mechanisch wird und nicht mehr
die Aufmerksamkeit beansprucht.
Es kommt auch in Frage, die Platte des Stempeltisches seibst links von der
Stempelunterlage mit rillenförmigen Vertiefungen auszustatten, wie in obenstehender
Zeichnung (Abbildung?) angegeben ist.
2. Zum handgerechten Stellen der zu stempelnden Briefe sind Holzkastchen
zu benutzen. Wir haben nach langern Versuchen die in Abbildung 8 wieder-
gegebene und auch auf Abbildung? zu erkennende Form als die geeignetste
gefunden.
I
74
Schneider^ Das BriefstempelgeschSft
3. Damit die Finger der linken Hand, mit der die Sendungen zum Stempeln
auf die Gummiunterlage gezogen werden, nicht abgieiten, müssen .sie entweder
mit schmalen Gummiringen versehen oder haufiger angefeuchtet werden. Da
die Gummiringe jetzt sehr teuer sind, müssen wir zu dem zweiten Mittel, der
Anfeuchtung der Finger, greifen. Wir benutzen dazu Schwamme in kleinen
Napfchen, die mit dem Holzkastchen
(unter 2) fest verbanden werden, so
Bicch.nMt 7 demselben Platze
stehen und ohne Belastung der Auf-
•urdemTisch merksamkcit gefunden Werden könncn.
Holzkastchen z^riSuen von Briefen Abbildung 8 ergibt das Nahere.
Die Finger werden am besten dann
angefeuchtet, wenn grade eine Sendung mit mehreren Freimarken zu stempein
ist. Der Zeitverlust ist so am geringsten.
4. Der Blechkasten mit dem Stempelkissen ruht lose auf einer Filzunterlage
auf dem Stempeltische. Durch das dauernde Aufschlagen des Stempels verbiegt
sich der Boden des Kastens bald. Er liegt dann nicht mehr fest auf und das
Stempelkissen wandert bei der Arbeit, Der Stempler muQ es daher haufiger
zurechtrücken, um nicht fehlzuschlagen und dabei Stempel und Kissen zu be¬
schadigen. Diese ünterbrechung des Stempeigeschafts wirkt verstimmend und
setzt nicht nur dadurch, sondern auch durch den Zeitverlust die Leistung nicht
unbedeutend herab. Der Übelstand laBt sich beseitigen, wenn das Stempelkissen
auf dem Tische festgelegt wird. Es muD aber in der Richtung nach und vom
Stempler etwas verschiebbar sein, damit die Aufschlagstelle des Stempels ge-
wechselt, das Kissen also möglichst wirtschaftiich ausgenutzt werden kann. Beim
Aufschlagen aiif dieselbe Stelle würde namlich der mit Stempelschwarze ge-
trankte Stoffbezug des Kissens zu schnell durchlöchert werden.
5. Der Griff des Hammerstempels paCt sich
nicht ganz der Handform an. Das Holz wird
bei langerem Gebrauch an den Stellen, wo
Daumen und Zeigehnger anliegen, stark abge-
Abbildungg. AbgenutzterStempelgriff Abbildung 9 zeigt, wie solch ein Hand-
griff aussieht.
Um die richtigste Form des Griffes zu ermitteln, haben wir den Stiel eines
Stempels am untern Ende, wo er angefaOt wird, abgestochen, mit Isolierband
umwickelt und darüber eine dünne Lage Stanniolpapier'gelegt. Mit diesem Stempel
hat ein Mann im Betriebe mehrere Stunden gearbeitet. Es zeigten sich danach
die gleichen Eindrücke wie an den Handgriffen lange benutzter Stempel.
Ferner lieD sich genau erkennen, wo die Hand den Stiel berührt. Die Stanniol-
umwicklung hatte sich an den beanspruchten Stellen gelost und die Trank-
masse des Isolierbandes hatte auf die Haut abgefarbt. Beansprucht werden
danach
Schneider, Das Briefstempelgeschaft
75
1. der Daumen,
2. der Zeigefinger, '
3. das erste Glied des Mittelfingers,
4. das erste Glied des Ringfingers (schwacher),
5. der Daumenballen,
6. der Ballen des kleinen Fingers (schwacher).
Aus diesen Beobachtungen ist zu schlieOen, dafi der HandgrifF anders geformt
werden 'muB. Als wahrscheinlich richtig vermuten wir die in Abbildung 10
gezeigte Form. Ein zuverlassiges Urteil wird erst die Probe ergeben.
6. Wir haben versucht, die Hub-
höhe beim Stempeln zu messen. Zu
diesem Zweck ist beruCtes Papier
auf einen Pappdeckel gezogen und so
gestellt worden, daO es beim Arbeiten
vom Stempel gestreift wurde. Wir
haben die Versuche an einem guten
und einem mittelmaÖigen Stempler vor-
genommen. Der gewandte Mann hebt den Stempel 26 mm über die Stempelunterlage,
der mittelmaBige 72 mm. Der Unterschied ist also erheblich. Wenn man eine Reihe
Stempler von der Seite beobachtet, kann man die Unterschiede der Leistungen mit
bloBem Auge erkennen. Sie sind auBerordentlich groB, Ein guter Stempler drückt
den rechten Oberarm leicht an den Körper, den Ellenbogen in die Seite und bewegt
den Stempel mehr aus dem Handgelenk, als aus dem Unterarm in einer flachen
ausgeglichenen Kurve bei schwachem Stempelgerausch hin und her. Er befolgt
damit unbewuBt den Grundsatz, die Arbeit von den groBen Muskeln, zu deren
Ansicht
von der Ssit:
Ansicht
von oben
Abbildung 10. Richtige Form des StempelgrilTs
Abbildung II. Bewegungsbahn des Stempels
bei einem geübten Mann
Abbildung 12. Bewegungsbahn des Stempels
bei einem weniger geübten Mann
Erregung eine gröBere Kraft notwendig ist und die einen gröBern StofFwechsel
haben, auf die kleinern zu übertragen. Der schlechte Stempler arbeitet mit dem
ganzen Arm, hebt den Stempel in hohem Bogen, schlagt gerauschvoll auf und
leistet bei gröBerm Kraftverbrauch weniger, liefert schlechtere Abdrücke und be¬
schadigt auBerdem leicht die Sendungen. Urn ganz sicher zu gehen, haben wir
in Nachahmung des bekannten Gilbrethschen Versuchs die Bewegungsbahnen des
Stempels auch im Lichtbilde festgehalten. Abbildung 11 zeigt die Bahn bei
76
Schneider, Das Brierstempelgescb3ft
einem geübten Manne, Abbildung 12 bei einem weniger geübten. Die Auf-
nahmen geben das richtige, nicht das Spiegelbild wieder. Der Knoten der Bahn
rechts bezeichnet also die Aufschlagstelle auf dem Stempelkissen, der Knoten
links die Aufschlagstelie auf den Briefen. Der hohe Bogen ist der Weg vom
Stempelkissen zur Sendung, der niedrige der Weg zurück. Der groDe Leistungs-
unterschied ist aus den Bildern klar zu entnehmen. Es sei besonders darauf
hingewiesen, daO Abbildung 12 nicht etwa „gestelit" ist, sondern tatsachlich die
Bogenlinie bei einem beliebig herausgegriifenen Manne zeigt. Da die Bilder
eindringlicher wirken als mündliche oder schriftliche Belehrungen, müOten sie
vergröDert bei allen bedeutenden Postdienststellen aufgehangt werden.
7. Um den Stemplern das unter Umsianden stundenlange gleichförmige Arbeiten
zu erleichtern, müDten sie ebenso wie die Maschinenstempler zweckmaOig her-
gerichtete Stühie bekommen. Sitzen ist auch hier besser als Stehen.
8. Ein ganz bedeutender technischer und wirtschaftlicher Fortschritt ware die
Herstellung eines Stempels, der sich selbsttatig nach jedem Schlage farbt. Die
Arbeit würde um etwa 50 v. H. beschleunigt und die Zahl der Stempler könnte
— wenigstenft in den gröDten Betrieben — um ebensoviel verringert werden.
Trotz der höhern Anschaffungskosten würden sich voraussichtlich durch Wegfall
der Stempelkissen, sparsamere Ausnutzung der Farbe usw. auch die reinen Be-
triebskosten niedriger stellen als jetzt. Brauchbare Vorschlage zur Herstellung
eines solchen Stempels sind uns bisher nicht bekannt geworden.
SchluBbemerkung
Vor uns liegt das Ergebnis unsers ersten Versuchs mit betriebswissenschaft-
lichen Forschungen im Postdienste. Wenn sich die Untersuchung auch nur auf
einen kleinen, weniger bedeutsamen Zweig unsres vielseitig verastelten Betrlebes
erstreckt hat, so ist sie doch in mancher Hinsicht lehrreich gewesen und er-
mutigt uns zur Fortsetzung der Arbeiten. Wir werden allmahlich auf schwierigere
Geblete kommen, auch auf solche, mit denen die Öffentlichkeit tagtaglich in
nahere Berührung tritt, wie z. B. den Schalterdienst. Vielleicht bietet sich spater
Gelegenheit, über die hierbei gemachten Erfahrungen zu berichten.
Zur Frage der Gewinnung einer charakterologischen Typologie
aus Beobachtungsbögen
Von Dr. Erich Stern, Assistent am Orga-Institut, Berlin
m Verlauf der padagogisch-psychologischen Arbeit wird es immer klarer, daQ
das Arbeiten mit totem experimentellem Ergebnismaterial nicht zu einem Ziele
führt. Die charakterologischen Momente sind für die Padagogik mindestens eben¬
so wichtig wie die Ergebnisse des Experimentes, und diese sind ohne die Er-
ganzung durch Charakterologisches praktisch nur wenig zu verwerten. Es zeigt
sich also immer deutlicher das Bedürfnis nach einer Typologie der Charaktere.
Stern, Zur Frage der Gewinnung einer cbarakterolog. Typologie aus Beobachtungsbögen 77
Mit unsystematischen und verstreuten charakterologischen Beobachtungen ist auf die
Dauer nicht zu arbeiten, und es wird deshalb für die Weiterarbeit wichtig, ein System
zu bekommen, das die Beobachtungen erst planvoll macht, nutzbar werden laOt
und zu wissenschaftlicher Brauchbarkeit ordnet. Mit dem bloDen Material der
Beobachtung, einer reinen Kasuistik, laBt sich nicht arbeiten, und an übergeordneten
Begriffen haben wir bisher nur diejenigen der sog. Vulgarpsychologie.
Nun ware es sicherlich falsch, ein Arbeiten mit diesen Begriffen von vorn-
herein abzulehnen, weil sie unwissenschaftlich sind. Es ist vielmehr unsere Auf-
gabe, diese Begriffe, wie sie uns vorlaufig zur Verfügung stehen, zum Ausgangs-
punkt der Arbeit zu nehmen und ihnen durch das in den Bogen gewonnene
Beobachtungsmaterial eine wissenschaftliche Bedeutung zu verleihen. Ebensowenig,
wie es angeht, rein deduktiv vom Schreibtisch aus ein System der Charaktero-
logie zu schaffen, geht es an, sich den Zufalligkeiten des Materials vöUig auszu-
liefern und ein System zu schaffen aus der Beobachtung des zufallig vorliegen-
den Bestandes an beobachteten Personen. Eine Reihe von neueren Psychologen
haben deshalb den Weg betreten, der auch für uns der gegebene sein dürfte.
Ein vorliegendes Begriffsschema wird vorlaufig als richtig angenommen und unter
seinen leitenden Gesichtspunkten das in der Einzelarbeit gewonnene Material
geordnet. Durch die Bearbeitüng dieses Einzelmaterials wird dann standig das
vorliegende Begriffsschema beeinfluOt, korrigiert und erweitert. Auf diese Weise
vermeidet man die Gefahren der deduktiven Methode, das Material in ein ihm
nicht angemessenes Begriffsgerüst zu pressen, und hat trotzdem von vornherein
leitende Gesichtspunkte. Ein Beispiel für eine solche Art zu arbeiten haben wir
z. B. im Verhaltnis der psychiatrisch-klinischen Erfahrung und dem System der
allgemeinen Psychopathologie (vgl. hierzu etwa Jaspers, Allgemeine Psychopatho¬
logie, WO auch diese Methode eingehend besprochen ist).
Die Tendenz der psychologischen Forschung weist ganz allgemein auf diesen
Weg vom Einzelfall zum Typus. Es ware also für uns die Frage zu besprechen,
wie ist in der Praxis aus Beobachtungsbögen Material zu sammein, so daO daraus
das gewünschte System von Begriffen gewonnen werden kann? Die Arbeit wird
hier dadurch erschwert, daB sich die verschiedensten Begriffssysteme durch-
kreuzen. Da es sich urn Beobachtung Jugendlicher handelt, kommen Entwick-
lungstypen in Frage; unabhangig davon gehen danebenher die Temperaments-
typen, Arbeitstypen, Intelligenztypen usw. Für alle diese Gebiete hat der all-
gemeine Sprachgebrauch Bezeichnungen geschaffen, die zwar mehr Bilder als
Begriffe sind, die aber als Ausgangspunkt unserer Arbeit sehr gut dienen können,
und zwar in der Weise, daO wir in sie das aus Beobachtungsbögen gewonnene
Material einordnen und dabei aus dem konkreten Beobachtungsmaterial heraus
diesen Bezeichnungen allmahlich die feste Struktur und Umgrenzung eines wissen-
schaftlichen Begriffes verleihen.
Dem praktischen Psychologen kommt es nun nicht darauf an, ein systema-
tisches Gerüst von Begriffen zu bekommen, das ihm eine Übersicht über die
78 Stern, Zur Frage der Gewinnung einer charakterolog. Typologie aus Beobachtungsbögen
samtlichen Möglichkeiten liefert und die Bedingungen dieser Möglichkeiten ordnet,
das ihre logischen Zusammenhange klart, als vielmehr darauf, eine praktische
verwertbare Übersicht von Charaktertypen zu erhalten, von Typen, die je ihre
besondere Art der padagogischen Beeinflussung fordern und auf besondere Arten
der Berufsverwendung hinweisen. Es sollen daher im Folgenden einige Gesichts-
punkte für den Weg zur Gewinnung einer solchen Typologie aufgestellt werden.
Halten wir uns zunachst an einen Einzelzug von Typen, an den oben an-
gedeuteten Arbeitstypus, da er praktisch zunachst vom gröOten Interesse ist. Wir
linden hier in der Sprache eine Reihe von Bezeichnungen für Verhaltensweisen,
wie etwa fieiOig, eifrig, strebsam, interessiert, willig, gleichgültig, unwillig, faul usw.
Diese Bezeichnungen geben einen gewissen Anhaltspunkt dazu, sich die Arbeits-
weise des Betreffenden vage vorzustellen, ohne ein genaues Bild des Verhaltens
zu liefern. Es ist auch nicht so, daD etwa in einer dieser Bezeichnungen ein
Typus zu erfassen ware. Es ware nun Sache des Beobachtungsmaterials, hier
eine Art von .Symptomkatalog" anzulegen. Genau wie die Klinik das kasuistische
Material liefert, an Hand dessen die allgemeine Pathologie ihr Begriffssystem
aufbaut und kontrolliert, so könnte hier an Hand des Beobachtungsmaterials für
ein so begrenztes Gebiet wie das des Arbeitstyps, dem Begrlflf „Symptom® ein
fester, eindeutiger Inhalt gegeben werden. An einem Beispiel soll gezeigt wer¬
den, was Symptom hier bedeutet. Bedenken wir z. B., wie sich eine Reihe solcher
Synjptome in der experimentellen Praxis von selbst ergeben hat. Jeder Psycho-
techniker, sofern er Psychologe, nicht nur Techniker ist, stellt beim Experiment
seine Beobachtungen an und gewinnt an Hand dieser Beobachtungen zusammen
mit den Experimentergebnissen erst das Bild der Versuchsperson, aus dem er
dann sein Urteil gewinnt. Jeder, der selbst experimenten arbeitet, kennt hierbei
selbst aus Erfahrung den Symptombegriff, den wir meinen. In jedem Versuch,
jedem Test hat man eine oder einige Stellen, bei denen sich das charakterologische
Bild der Versuchsperson „enthüllt®, nicht in der Weise, dalJ in einem einzelnen
Versuch man sich sagt: so und so hat sich der PrüFling verhalten, also gehort
er in die und die charakterologische Kategorie, sondern so, daQ aus der Summe
dieser Verhaltensweisen an den „kritischen Punkten® sich ein Bild ergibt, das
sich auch nicht in einem BegrifF zusammenfassen laDt, das aber genügend deut-
lich für den echten Psychologen ist, daU es abgeschildert werden kann. Hierin
haben wir einen Hinweis auF den BegrifF des Symptoms, wie wir ihn brauchen,
auf den wir spater zurückgreifen werden. Es würden sich mit groCer Wahr-
scheinlichkeit bei genügend groQem Material bestimmte Symptome haufiger zeigen
als andere und somit sich in dem Material „dichtere® und „dünnere® Stellen
zeigen. Damit ware ein Anhaltspunkt für eine Typenbildung in Einzelfragen auf
einem fast rein statistischen Wege gewonnen. Es muO sich dann zeigen, inwie-
weit eine Einfügung dieser Ergebnisse in das vorliegende BegrifFsschema möglich
ist. Hier ware allerdings erst ein bescheidener erster Schritt getan zur Festigung
der verschwommenen BegrifFe des allgemeinen Sprachgebrauches zu einer wissen-
Stern, Zur Frage der Gewinnung einer cbarakterolog. Typologie aus Beobacbtungsbögen 79
schaftlich brauchbaren Terminologie. Der gieiche Schritt ware auf einer Reihe
anderer Gebiete zu tun, wie es die theoretische Psychologie teilweise schon getan
hat für Vorstellungs-, Gedachtnistypen usw., am vorgeschrittensten in der Kinder¬
psychologie im BegrifF des Intelligenzalters. Hier ist es allerdings kaum so weit,
daO man schon von bildhaft erfaObaren Aiterstypen sprechen könnte. Aber es
ist eine Entwicklung im Gange, die durch die Zusammenarbeit von experimen-
telien Untersuchungen und Beobachtungen einerseits mit der Psychographie einer
Altersstufe andererseits zu Resuitaten zu führen verspricht.
Aber mit der hier angedeuteten Arbeit ware noch keine charakterologische
Typologie im eigentlichen Sinne erreicht. Was wir unter einem charakterolo-
gischen Typus verstehen, ist ein einheitliches, charakterologisches Bild, nicht
eine Zusammensetzung aus Arbeits-, Temperaments-, Entwicklungs- usw. Typus.
Nun wird sich ja auf die Dauer eine Korrelation zwischen diesen verschiedenen
Typen ergeben, die aber immerhin nicht das einheitliche Bild gibt, wie wir es
wünschten. So viel auch mit diesen Einzeitypen gewonnen ware, so darf doch
dieses weiterliegende Ziei nie aus dem Auge gelassen werden.
Die Frage nach dem Weg zur Erreichung dieses Zieles führt nun auf eine
Reihe besonderer Schwierigkeiten hin, auf die im einzelnen hier nicht eingegangen
zu werden braucht. Die Praxis hat sie bereits zur Geniige erfahren. Es kann
sich hier viel weniger darum handeln, diese Schwierigkeiten, die ja in der Praxis
nun einmal bestehen, auf irgendeine Weise theoretisch wegzueskamotieren, als
vielmehr darum, einen Weg zu finden, der uns praktisch um diese Schwierig¬
keiten herumführt und uns doch an unser Ziel gelangen laBt. Von vornherein
muO man sich klar darüber sein, daO dieser Weg niemals in der Ausführung
des eigentlichen Beobachtungsschemas iiegen kann. Eine „Normalisierung" von
Psychischem ist Unsinn. Deshaib darf auch der BegrifF „Symptom“, den wir
oben anführten, nicht falsch genommen werden. Eine bestimmte Handlungsweise,
ein Ausdruck, ein Verhaiten ist Symptom eines Psychischen, aber Symptom als
AuOerungsform innerhalb eines verstehbaren Ganzen; nicht etwa Symptom in
dem Sinne, wie das Steigen der Quecksilbersaule „Symptom” für die Erwarmung
ist. Durch die Symptomatologie wird also der Beobachter keineswegs aus-
geschaitet. Auch hierfür können wir wieder auf die Analogie im Gebiete der
Psychiatrie verweisen. Wir haben also durch den SymptombegrifF eine gewisse
Struktur in das Material hineingebracht, ohne aber bisher so weit gekommen zu
sein, daO uns dadurch die Möglichkeit gegeben ist, eine Typologie herauszulesen.
Wir sahen auch schon, daO dieser Umstand im Material seine Gründe hat. Es
fragt sich nun, wie kommen wir von hier aus weiter. Nun scheint es mir, daQ
von hier aus ein Weg weiter führt, und soweit ich sehe, nur dieser eine. Das
empirisch zu gewinnende Material laOt sich von hier aus nicht mehr weiter durch
Prazisierung vereinheitlichen, ohne den Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu
verlieren oder zumindest an Wirklichkeitsgehait zu verarmen. Es ist aiso nur
noch die Möglichkeit, in der Bearbeitung des Materials an eine Vereinheitiichung
80 Stern,Zur Frage der Gewinnung einer charakterolog.Typologie aus Beobactatungsbögen
naher heranzukommen. Das ist aber durchaus möglich durch die Schaifung eines
mögHchst weiten und umfassenden Bearbeitungsscbemas für das in der Beobach-
tung gewonnene Material. Das am SchluO als Vorschlag angeführte Schema ist
zu diesem Zwecke gedacht und zeigt etwa in einem ersten Entwurfe einmal,
was ich mir unter einem solchen Schema vorstelle. Es ist dabei darauF zu
achten, daO die Fragestellung so erfolgt, daQ sie nicht zu einer Pressung des
Materials verleitet, aber aüch möglichst wenig von dem in der Beobachtung ge-
wonnenen Material unbenutzt unter den Tisch fallen laOt. Dabei schlagt dieses
Schema denselben Weg ein, wie er für die voraufgehende Beobachtungsarbeit
gefordert wurde. Es werden zunachst eine Reihe von Einteilungen gemacht, die
begriiFlich bezeichnet werden; diese Bezeichnung ist vorerst nicht viel mehr als
eine bloGe Namensgebung. Mit psychologischem Inhalt werden diese Namen
sich füllen, wenn erst eine gröOere Masse von Beobachtungsmaterial in sie ein-
gefügt ist. Dabei werden sich Korrelationen zwischen den einzelnen Punkten
des Schemas ergeben, die zu Korrekturen der Aufstellung führen.
Es sei schlieOlich gestattet, im Folgenden einen Vorschlag zur Diskussion
zu stellen, wie etwa ein Schema zu gestalten ware, das der Bearbeitung von
Beobachtungsmaterial zugrunde zu legen ware, urn dem Ziel einer charak-
terologischen Typologie naher zu kommen. Neben dem im Bogen bisher ge-
suchten Material soll in dieses Schema hinein das aus ihm sich ergebende cha-
rakterologische Material gegliedert werden. Die Entwickelungsstufe ist meist aus
dem Bogen direkt ersichtlich. Ich schlage nun vor, ihn als weitere charaktero-
logische Erganzung auf Folgende Gesichtspunkte hin durchzuarbeiten. Die Zusatze
(die ein vorlaufiger Vorschlag sind und keinerlei Anspruch auf Vollstandigkeit
erheben) sollen in dieser Weise gegliedert werden, und es müDten für sie sym¬
ptomatische Charakterlstika gewonnen und angeführt werden.
1. Verhalten der Persönlichkeit im engeren Sinne*).
a) Selbsteinschatzung (Selbstverherrllchung-Selbstverachtung, Akzentuierung
im Physischen oder Psychischen bei der Selbsteinschatzung).
b) Affektleben (jahzornig, schwer erregbar, sensibel, launisch, temperament-
voll, matt, cholerisch, sanguinisch, melancholisch, phlegmatisch, starke
Affektreaktionen worauf? usw.).
c) Sonstiges (ehrlich gegen sich, Konstanz der Persönlichkeit usw.).
2. Soziales Verhalten.
a) Verhalten im Schul- bzw. Berufsverkehr allgemein (ofFen-verschwiegen,
aufrichtig-hinterhaltig, zutraulich-zurückhaltend usw.).
b) Verhalten zu Kameraden (wie oben, dazu herrschsüchtig-unterordnend,
gesellig-einsam, streitsüchtig-vertraglich usw.).
c) Verhalten zu Eltern, Lehrern, Vorgesetzten usw. (vgl. oben, dazu bockig-
Folgsam, selbstbewuOt-kriecherisch, Lausbub-Duckmauser usw.).
•) Die angegebenen BegrifTspaare sollen die Richtung von BegrifFsreiben angeben, nicht etwa
als Alternativen aufgefaSt werden.
82 Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermark in der Wirtschaft
wahrung der Reichsbank. Das Wort Mark verlor damit seine alte Bedeutung.
Ein in wesentlichen Punkten anderer BegrifF trat an seine Stelle. Der alte Be-
grifF, der heutigen Tages mit dem Wort Friedensmark oder Goldmark ungefahr
bezeichnet wird, war eine quasi stati'onare Werteinheit. Als solche batte sie
nicht nur Gebrauch im engeren Zahlungsverkehr, sondern sie wurde überall ver-
wandt, WO ein Wert festzulegen war, sei es zur Feststellung eines Schuldver-
haltnisses, zur Berechnung eines AuFwandes (Kalkuiation) oder zur Vergleichung
zweier Wertsituationen (Bilanz).
Infolgedessen waren eine recht groDe Zahl von BegrifFen in Abhangigkeit von
dem MarkbegrifF, derart, daB die begrifFliche Werteinheit, eben die Mark, als
Kriterium für das Vorhandensein oder Auftreten der anderen Verwendung fand.
Es sei hier nur eine geringe Zahl solcher VasallenbegrifFe angeführt, die für die
Praxis aber die wichtigsten sein dürften: Teuer, billig, Wertzuwachs, Wert-
abnahme, Gewinn, Verlust, Rentabilitat, Gestehungskosten, Schuld, Pfand, Sparen,
Sp arpfennig), Wucher, Einkommensvermehrung (Gehaltszulage).
Nehme man z. B. das Wort und den BegrifF „teuer“. Die Mark konnte als
Kriterium angesehen werden in der Wertzahl des Preises, ob eine Ware teuer
oder billig war. In noch höherem MaOe der BegrifF Teuerung. Sobald nun das
Wort Mark Trager eines neuen BegrifFes wurde, entstand die Frage, wie es nun
mit den VasallenbegrifFen werden solle — nur daB sich niemand diese Frage vor-
legte. Entweder konnte man das Vasallenwort in Abhangigkeit von dem alten
BegrifF lassen, oder man muBte es in die gleiche Abhangigkeit zu dem neuen
BegrifF setzen, in der es zu dem alten gestanden hatte; dann blieb die Ab¬
hangigkeit von dem Wort „Mark" wie bisher; aber das Vasallenwort anderte den
BegrifF. SchlieBlich blieb noch eine zwar sinnlose, aber doch mögliche Art zu
verfahren. Man setze das Vasallenwort in Abhangigkeit zu dem neuen Mark¬
begrifF, aber hantiere mit dem neuen BegrifF, der so entstehen muB, als sei
das Wort noch für den alten BegrifF gültig.
Wir werden also zu fragen haben: Welchen Sinn hat ein solches Vasallen-
wort, bezogen auf Friedensmark, welchen Sinn hat es bezogen auf Papiermark,
und schlieBlich haben wir zu fragen, welche Begriffsbildung verbindet man in
der Praxis mit diesem Wort?
1. „Teuer und billig."
Bleiben wir zunachst hierbei. Die erste Schwierigkeit würde sein, die Friedens¬
mark für heutige Zeit zu fixieren. Mit Hilfe der Goldmarkparitat kommt man
zu einem anfechtbaren Wert. Die Indexziffern geben ebenfalls eine Möglichkeit
der Lösung; der innere Grund der Schwierigkeit ist aber, daB die Mark nicht
nur zeitlich, sondern auch örtlich verschiedenwertig ist und daher eine allgemeine
Relativierungszahl zur Friedensmark unmöglich ist. Abgesehen von dieser
Schwierigkeit aber dürfte auszusagen sein, daB Teuerung im alten Sinne des
Wortes dann zu konstatieren ist, wenn ein Gegenstand mehr Friedensmark kostet
als in den normalen Vergleichszeiten. Bindet man hingegen das Wort Teuerung
Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermark in der Wirtschaft 33
an das Wort Mark, so erhalt man einen neuen Begriff der Teuerung: Teuerung
ist alsdann der Tatbestand, daO der Preis eines Gegenstandes in einer höheren
Markzahl ausgedrückt wird als zu der Vergleichszeit. Dieser Begriff ist von dem
ersten ebenso verschieden wie Goldmark und Papiermark, an welch letzterer
Verschiedenheit wohl niemand zweifeln dürfte. Der so geFundene Begriff um-
faCt den der Geldentwertung und gegebenenfalls den der Teuerung in Einheic.
Die Praxis hingegen gebraucht dies Vasallenwort in dem Sinne, daB sie in
Ansehung der hohen Preisziffern von Teuerung spricht, aber dabei an den alten
Begriff der Teuerung denkt. Die Teuerung alten Sinnes bedeutet, daB man für
eine objektive Wertmenge bestimmter GröBe wenig erhalte. Das ist aber der
Gedanke, den noch heute fast alle haben, die von Teuerung sprechen, wahrend
man ihnen sagen könnte, daB lm Gegenteil alles sehr billig sei.
2. aGehaltszulage.“
Dem psychischen Zusammenhange nach gehort dieses Wort zunachst zur
Diskussion. lm alten Sinne des Wortes war die Konsumkraft-Vermehrung das
wesentliche Zeichen der Gehaltszulage. Will man hingegen nach dem neuen
Markbegriff analog definiëren, so erhalt man als Gehaltsvermehrung lediglich
eine Zuwachsziffer in Papiermark. In der Praxis horen wir dauernd die Kiage,
daB die Gehaltszulage keine Besserung der Lebenslage zur Folge gehabt habe.
Nach der alten Begriffsbestimmung lag nun allerdings überhaupt keine Gehalts¬
zulage vor, nach der neuen aber war von einer Gehaltszulage aus keinem sicht-
lichen AniaB eine Besserung der Lebenslage zu erwarten. Wir sehen auch hier
die Vermengung der alten und neuen Begriffe. Nach alter Terminologie müBte
man sagen: Obwohl alles billiger ist als je, ist die Gehaltsabnahme so bedeütend,
daB die Konsumkraft geringer ist als früher. Nach der neuen Terminologie: Die
Teuerung (Geldentwertung) ist so groB, daB die Gehaltszulage im Vergleich dazu
zurückbleibt.
Die letztere These bedeutet allerdings nur dann dasselbe wie die erste, wenn
tatsachiich die neuen Begriffe und nicht die alten dabei gedacht werden. In
Wirklichkeit wird aber meistens ein recht unklares Begriffsmonstrum aus beiden
gebiidet und — unklar gedacht.
Sozialpolitisch ist es natürlich von höchster Bedeutung, daB sich z. Z. die
Rückkehr zum alten Begriff zu vollziehen scheint, d. h. daB der Gehaltsempfanger
und Arbeiter (Lohnempfanger) nicht mehr über ein MiBverhaltnis zwischen
Teuerung und Lohnzulage, sondern über die immer niedriger werdende Be-
zahlung zu klagen beginnt.
„Wertzuwachs und Wertabnahme.“
Ein. Kriterium des Wertzuwachses im alten Sinne des Wortes ergibt ohne
weiteres die Wertvergleichung in Friedensmark. Dieses Wort nach analogem
Kriterium der Papiermark zuzuordnen, ist offenbar ein ganz skrupelloser sprach-
licher Gewaltakt. Man bedenke, dafi dann bei Substanzverminderung (etwa eines
Waldes durch Brand) doch noch ein Wertzuwachs entstehen soll. So ungeheuer-
6 *
84 Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermerk in der Wirtschaft
lich es klingt, es ist durch Gesetz, und zwar eine ganze Reihe von Gesetzen,
so bestimmt. Diese Begriffsbestlmmung hat somit das Wort „Wertzuwachs" er-
halten. Wenn man sie nun streng durchdenkt — man stöOt immer wieder auf
die Tönung des Wortes Wert —, so kommt man zu einem Begriff, der vielleicht
durch ein Wort wie Geldentwertungsschlüpfung bezeichnet werden könnte. Denn
dieser angebliche Zuwachs kennzeichnet lediglich, daO ein Gegenstand gegenüber
der Geldentwertung zurückgeblieben ist. Die Absicht, die Besitzer solcher Gegen-
stande zur Sonderbesteuerung heranzuziehen, führte zu dieser Verballhornung
und Verhunzung der Sprache, die weitaus verderblicher ist als der Gebrauch
der verpönten Fremdworte, die oft sehr saubere Begriffsschattierungen ermög-
lichen. Ja, sogar GesetzesmaCnahmen, die auf den ursprünglichen Wertzuwachs
gemünzt waren, werden mit gröCter Seibstverstandlichkeit auf den Scheinzuwachs
angewendet, wodurch dann ganz entgegen der Konstitution und Verfassung neue
gesetzgeberische MaDnahmen ad hoe in Kraft gesetzt werden. Entsprechend
spricht man von dem Reichwerden der Besitzer solcher Gegenstande, wahrend
man nach alter Terminologie nur aussagen dürfte, dall jene an der allgemeinen
Verarmung nicht teilnahmen.
„Gewinn und Verlust."
Ohne weiteres führt uns nun die Betrachtung zu den Begriffen des Gewinnes
und Verlustes. Nach alter Wertung verstand man unter Gewinn das Überragen
des Verkaufswertes über die Gestehungskosten (durch Produktion oder Einkauf)
bzw. den bilanzmaüigen Gesamtsaldo einer buchmaCigen Abrechnung über eine
Vielheit von Geschaften nach Abzug aller Aufwendungen, welcher Art auch
immer. Noch in den letzten Monaten haben sich die Spitzen der gröfJten Bundes-
staaten unterfangen, die Errechnung des Gewinnes entsprechend in Papiermark
zu fordern. Der BegrifF, der aber bei dieser Prozedur für das Wort Gewinn
heraussprang, war so ungeheuerlich, dal3 man nun dabei ist, diesen Standpunkt
aufzugeben. Gewinn ware nach dieser Bestimmung die Geldentwertung der Auf¬
wendungen vom Entstehungstage bis zum Tage der Abrechnung. So lacherlich
eine solche BegrifFsfalschung auch ist, sie wurde mit Hilfe autoritarer Kurz-
sichtigkeit und mit Unterstützung der Tagesprésse jahrelang gefordert und leider
mit Erfolg propagiert. Denn die breite Masse der schlecht geschulten Klein-
handler ruinierten ihre kraftigen kleinen Geschafte, da sie nur diese Pseudo-
gewinne machten, und die, welche gröDere Gewinne dieser Art machten, hatten
die Neigung, diese Pseudogewinne luxuriös zu konsumieren. Aber gerade Ein-
schrankung des Konsums ware im wirtschaftlichen Interesse der Allgemeinheit
gewesen.
3. „Gestehungskosten."
Bei den Gestehungskosten ist die BegrifFsbildung einen bemerkenswerten Weg
gegangen. Der alte BegrifF war auch durch Vorschrift der Obrigkeit verschwunden,
denn der buchmaCig aufgerechnete Wert der Gestehungen war eine recht zu-
fallige Zahl, die nicht mit den Gestehungskosten einer Goldmarkrechnung ver-
Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermark in der Wirtschaft 85
glichen werden konnte. Man denke etwa an die Gestehung eines Baumes aus
der Baumschule. Die buchmaliige Rechnung führt über etwa 5—7 Jahre zuriick;
die Aufwendungen von vor 7 Jahren sollen nun als Entstehungskosten ange-
sprochen werden. Wie ein solcher ZwangsjackenbegrifF aussieht, verlohnt sich
nicht zu untersuchen, das Rezept hierzu ist nach obigem genügend klar. Die
Geschaftswelt wollte wieder zu dem alten brauchbaren BegrifFe zuriick. Der
war aber durch obrigkeitliche Verfügung verschlossen. Die Folge war die Pragung
eines neuen Wortes für den alten BegrifF: WiederbeschafFungspreis. Der Wieder-
beschafFungspreis ist ofFenbar der in Papiermark umgerechnete Selbstkostenpreis
in Friedensmark. Trotz aller Widerstande wird die Rückkehr zu gesünderen
Wirtschaftszusianden die Anerkennung der gesunden Kalkulation vorausgehen
mussen.
4. „Wucher.“
In sehr engem Zusammenhang mit den vorhergehenden beiden BegrifFen steht
der BegrifF des Wuchers. Er war früher gegeben durch die Situation der Not-
lage und der Tatsache des übermaBigen Gewinnes. Da nun der Gewinn auf der
Gestehungskostenberechnung basiert, so muBte die Rechnung der Papiermark-
Gestehungskosten auch den BegrifF eines Papiermarkwuchers zur Folge haben,
der begrifFlich dem Friedensmarkwucher vollkommen fremd war. War für jenen
eine Friedensmarkvermehrung in ungebührlich hohem Mafie als Kennzeichen er-
forderlich, so genügte hier Papiermarkvermehrung, wenn selbst das fragliche Ge¬
schaft in Friedensmark umgerechnet einen Verlust ergab. Da auch hier von der
Obrigkeit an dem Worte (Mark) und nicht an dem Sinne der Bereicherung fest-
gehalten wurde, hatten wir das merkwürdige Bild, daB wir — im Gegensatz zum
Ausland — Geschafte als Wucher bezeichneten, die man in anderen Landern als
Verlustgeschafte bezeichnet haben würde. Die eigentlichen Wuchergeschafte er-
schienen nur graduell verschieden. Als Wucher wurde also, um es zu prazisieren,
die Deckungsforderung gegenüber der Geldentwertung bezeichnet. Alle Geschafte,
die im Ausland (nicht mit dem Ausland) in dieser Zeit getatigt wurden, hatten
bei der Umrechnung in den jeweiligen Papiermarkkurs die Kennzeichen des
Wuchers gehabt. Das Bedenkliche an dieser Art der BegrifFsanderung bei dem-
selben Wort ist, dafi die ganze Bevölkerung in auBerst leichtfertiger Weise mit
einem Wort umzugehen sich gewöhnt, das seit langer Zeit zur Kennzeichnung
gemeiner Verbrechen dient. DaB es sich aber darum nicht handelt, das sollte
mit dem Hinweis auf das Ausland und die dort getatigten Geschafte dargetan
werden. Das ganze Auslegen und Anwenden der Wucherverordnung steht etwa
auf einer Linie mit der Anwendung des Majestatsbeleidigungs-Paragraphen auf
Prinz Karneval.
7. „Rentabilitat."
Unter Rentabilitat wurde in früherer Zeit die Relativierung des Gewinnes
zum investierten Kapital verstanden. Sobald nun der Gewinn in Papiermark er-
rechnet wird, sollte diese Relativierung ohne weiteres unmöglich sein, ohne auch
86 Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermark in der Wirtschaft
hier den Begriff der Rentabilitat grundlegend zu verandern. Auch hier ist man
auf halbem Wege stehen geblieben. Weder bat man der Ausrechnung des Ge-
winnes die Umrechnung des Kapitals in Papiermark folgen lassen, noch hat man
zugegeben, daO die Papiermarkgewinne zum Zwecke der Rentabilitatsrechnung
in Friedensmark umgerechnet wurden. Die Folge ist, daC die Rentabilitat nach
der neuen BegrifFsbestimmung als das mathematische Produkt von Entwertungs-
faktor und Friedensrentabilitats-Begriff in die Erscheinung tritt. Die meisten
hingegen legen den RentabilitatszifFern ohne weiteres den friedensmaOigen Sinn
bei. Kaum ein Tag vergeht, ohne da(i in der Tagespresse von der hohen Ren¬
tabilitat der groCen Unternehmen zu lesen steht. Mehrfach war das gleiche
Urteil polemisch in der Rede des französischen Ministerpresidenten gegen uns aus-
gespielt. Immer wieder die gleiche Erscheinung, daO ein neuer BegrifF mit den
Merkmalen des alten auftaucht, eben nur, weil das alte Wort die Tönung mitbringt.
8. „Schuld, Pfand, Sparpfennig.“
Zum Schlusse sei noch die Aufmerksamkeit auf diese Worte gelenkt. lm
Frieden war die Wertbestandigkeit das Kennzeichen einer in Mark kontrahierten
Schuld. Den Begriff der Sicherheit der gelegentlich sogar zur gesetzgeberischen
Festsetzung (der Mündelsicherheit) führte, hat sich begrifflich grundlegend ge-
wandelt. Schuldverhaltnisse sind durch die immerwiederkehrende Grundanderung,
die Aufhebung der Wahrung, zu spekulativen Geschaftspositionen geworden.
Diese Erkenntnis kam Tausenden erst, als sie mit ihrem Vermogen die Spekulation,
die sie meist unbewuDt ausführten, bezahlt batten. Es haftet diesen Verhaltnissen
so sehr der Charakter des Sicheren an, daB noch heute hier die begriflfliche Ver-
wirrung am starksten anhalt.
Neben dem einheitlichen Gesichtspunkt, unter den alle diese verschieden-
artigen Erscheinungen des praktischen Lebens vom Standpunkte unserer Betrachtung
aus fallen, dürfte die Erkenntnis bemerkenswert sein, daB ohne praktische Er-
fahrung der Beweis zu erbringen war, daB durch die Begriflfsverwirrung in unsere
Wirtschaft schwere MiBstande kommen muBten. Gleichzeitig erhellt der Weg
zur Abhilfe, und wenn hier auch nicht der Ort ist, diese Fragen zu diskutieren,
so dürfte doch das Ergebnis unzweideutig die eine Parteiansicht stützen.
Rundschau
Sozlal* psychologische
Untersuchungen in Amerika
In einigen der früheren Hefte der „Prak¬
tischen Psychologie" wurde bereits auf die
stark sozialen Tendenzen in der englischen
Psychotechnik hingewiesen*). Interessant
*) „Das Nationalinstitut in London“, Jahr-
gang 2, Heft 12. — „Englische Eignungsprü-
fungen**, Jahrgang 4, Heft 2.
ist es, dafJ wir nun auch in Amerika ein
Auftauchen dieser Tendenzen beobachten
können. Es mufJ, so heiCt es noch, über die
Theorie des „rechten Mannes am rechten
Platz“ hinausgegangen werden. W.D.Scott
vertritt diesen Standpunkt in einem Artikel
„Changes in some of our conceptions and
practices of personnel" in der Zeitschrift
„Psychological Review", Marz 1920. Diese
Rundschau
87
Richtung können wir ferner in den von
E. W. Bott mitgeteilten Psychologischen
Studiën der Toronto-Universitat beobachten.
In einem einleitenden Artikel erlautert er
den neuen Standpunkt der industriellen
Psychologie in dem oben mitgeteilten Sinne.
An einer Untersuchung über die Arbeit
des Jugendlichen wird die Art und die
Methode naher gezeigt.
Das Prinzip der Untersuchung ist, alle
Fakta zu sammeln, die dazu beitragen
können, das Fortkommen des Jugendlichen
zu unterstützen. Dazu muO vor allem die
Umgebung des Jugendlichen einer ein-
gehenden Beobachtung unterzogen werden,
also Schule, Haus und die Arbeit selbst.
Ein Komitee für padagogische und indu-
strielle Psychologie untersuchte zu diesem
Zwecke 356 Falie.
Zunachst wurden die Listen des Educa-
tional Board daraufhin eingesehen, von
welchem Schulgrade, von welcher Schul-
klasse aus die meisten Abgange zur Arbeit
erfolgen. (Hier sind die anderen amerika-
nischen Schulverhaltnisse in Rechnung zu
ziehen.) Man Pand, dall sich in allen Schulen
in einer gewisseh Schulklasse die Abgange
haufen, so daG man also den SchluG ziehen
konnte, daO eine andere Beförderung in den
einzelnen Schulklassen notwendig ist.
Eingehend beschaftigte sich das Unter-
suchungskomitee mit der Erfassung des
hauslichen Faktors. Die hierzu not-
wendigen Erhebungen wurden im Verein
mit den Sozialbeamten und den Stadtfür-
sorgerinnen gemacht. Zunachst wird fest-
gestellt, ob die Eltern dem Wunsche der
Kinder, von der Schule zur Arbeit überzu-
gehen, zustimmen oder nicht. In 37,4 Pro-
zent aller Falie war es notwendig, daG
das Kind zur Vermehrung des Familien-
einkommens beitrug. Unterstützungen wür-
den manchmal den frühen Weggang der
Kinder von der Schule verhindert haben.
In 52,2 Prozent der Falie stimmten Eltern
und Kinder darin überein, daG der Ab-
gang von der Schule wünschenswert sei.
10,4 Prozent der FSIIe Pand man, in denen
die Eltern einen Fortgang der Studiën lieber
gesehen hatten, aber schlieClich dem Wun¬
sche der Kinder nachgaben.
Der hausliche Faktor wurde Perner auP
die mehr auGeren Einflüsse: Wohnung, Um¬
gebung usw. untersucht. Es wurden z. B. Pol-
gende Fragebogen angelegt, um über die
Umgebung des Hauses AuPschluG zu er-
halten:
Breite der StraGe,
Art des Fahrweges und Bürgersteiges,
Menge und Art des Verkehrslarmes,
Gras und schattige Baume,
Sauberkeit der StraGe,
Freie Platze, ausgePüllt durch Anlagen
oder Spielpiatze,
Menge der Fabriken in der Umgebung,
GeschaPtshauser, Garagen, Holz- und
Kohienlager,
Eisenbahnen, DampP, Rauch.
Für das Haus selbst wurde Polgender
Fragebogen auPgestellt:
Konstruktion — Sandstein, Stein, Stuck,
GröOe, Stockwerke; Dichte der Be-
völkerung, Aussehen: Holzwerk, Farb-
anstrich, Dach, Fensterglas,
Stabilitat,
Verhaltnis der Mauerflachen zu Anzahl
und GröOe der Fenster,
Verwendung unbebauten Grundstücks Pür
Lager oder Garten,
Pflege von Blumen und Pflanzen.
Erganzt wurden diese Erhebungen durch
Beobachtungen des sozial-moralischen Mi¬
lieus.
SchlieOlich wurde der Jugendliche bei der
Arbeit selbst einer Beobachtung unter¬
zogen. In Toronto besteht noch keine Be-
ruPsberatungsstelle, und so wurde zunachst
eine Statistik darüber angestellt, auP welche
Weise die Kinder ihre Arbeit bekommen.
UngePahr die HalPte aller Kinder Panden die
Arbeit durch direkte NachPrage, Va
Kinder durch verwandtschaPtliche oder
88
Rundschau — Buchbesprechungen
freundschaftliche Beziehungen, Ve durch
die Zeitung und die übrigen durch Vermitt-
lung der Schule. 60 Prozent der Kinder
wechselten ihre Stelle im Laufe des
Untersuchungsjahres.
Die Verteilung auf die einzelnen Arbeits-
arten geschah in folgendem Verhaltnis:
Pabrik.44,5 Prozent
Botendienst . . 9,4 „
Lagerarbeit . . 12,2 „
Büro.11,3 „
Kleinhandel . . 4,5 „
Verschiedenes 18 „
Kritisch möchte ich zu der Untersuchung
bemerken, daO die Resultate, die sich an
Hand der Fragebogen, der statistischen Er-
hebungen und der Beobachtung ergeben,
in wissenschaftlicher Hinsicht nicht immer
sehr befriedigend sind. Für rein praktisch-
soziale Zwecke, für Berufsamter, Jugend-
amter, Wohlfahrtseinrichtungen lassen sich
dagegen manche der angegebenen Unter-
suchungen mit Erfolg anwenden.
Dr. Maria Schorn.
Buchbesprechungen
Bondy, Curt, Die proletarische Jugend-
bewegung in Deutschiand mit beson-
derer Berücksichtigung der Hamburger
Verhaltnisse. Ein methodischer und psy-
chographischer Beitrag zur Jugendkunde.
AdolfSaal Verlag, Lauenburg/Elbe, 1922,
152 S., geheftet M. 50.—. Dissertation.
Hamburg.
Die Arbeit Bondys ist ein beachtens-
werter Versuch zur Erkundung der Psyche
jugendlicher — sozialistischer — Arbeiter.
Obgieich es sich „um einen naturgemaQ un-
vollkommenen Versuch® handelt, ist eine
scharfe Kritik geboten, damit spiter ahnlich
zweifelhafte Seelenbeschreibungen vielleicht
unterbleiben. Es ist unmöglich, alle bedenk-
lichen AuQerungen und Ansichten anzufüh-
ren, doch sollen absolute Unrichtigkeiten
möglichst berücksichtigt werden.
Der Verfasser bezeichnet seine Arbeit als
einen Beitrag zur Psychologie der prole-
tarischen Jugendbewegung in Deutsch¬
iand. Auf S. 2 u. 3 wird dagegen mitgeteilt,
dafi nur 66 Fragebogen ausgegeben wurden.
Aus der Arbeit ist aber nicht klar ersichtlich,
ob die Bogen nur an Jugendliche geschickt
wurden, die in Hamburg wohnen oder ob
auch Jugendliche, die an anderen Orten
Deutschlands wohnen, berücksichtigt worden
sind. (Auch eine Anfrage beim Vorstand der
Arbeiterjugend verschaffte mir keine Ge-
wiüheit.) Zweierlei ist hierzu zu bemerken:
l.Sind die Bogen nur an Hamburger und
Altonaer geschickt, so kann man nicht über
die deutsche Bewegung urteilen. 2. Sind
die Bogen auch an andere geschickt, so fehlt
in der Nachweisung die Bezeichnung, wo der
Beantworter ansüssig ist.
Ein wichtiger Einwand ergibt sich aus
folgender Bemerkung des Verfassers; ,Von
den 66 Bogen erhielt ich, teilweise erst nach
mehrmaliger Mahnung, bis jetzt (1.1. 1921)
29zurück. 10 von diesen 66 Bogen sind
an Madchen ausgegeben worden. Es haben
geantwortet: 28 Jungen und nur 1 Madchen;
in Prozenten ausgedrückt (Warum?) 52 °ó
Jungens und 10% Madchen®. Selbst fur
eine Beschreibung der Hamburger Jugend
ist das Material etwas wenig.
Bedenklich ist die Ausgestaltung des Frage-
bogens, die B. ,im allgemeinen als richtig®
bezeichnet. Wie soll ein Jugendlicher über
folgende Fragen eine klare Antwort geben,
deren Beantwortung selbst Erwachsenen
nicht leicht fallen würde:
Frage 8: Warum bist Du in eine andere
Gruppe gegangen?
Frage 9: Aus welchem Grunde bist Du
überhaupt in eine Gruppe gegangen und
warum gerade in diese?
Frage 10: Gedenkst Du auch spater als
Führer in der Gruppe zu bleiben?
Frage 11: Bist Du im allgemeinen mit
Deinem Beruf zufrieden, hast Du Nei-
gung und Begabung dazu?
Buctabesprechungen
89
Frage 17: Wie ist Deine Stellung zur Ge-
schlechterfrage in der Jugendbewegung?
Frage 22 : Aus welchen Gründen willst
Du Dich weiterbilden?
Frage 26: Welchen Dichter liebst Du am
meisten?
Frage 27: Welchen Musiker?
Frage 28: Welche Dichterwerke hast Du
gelesen?
Frage 29: Welche Bücher hast Du be-
sonders gelesen?
Frage 31: Wie stehst Du zum Expressio-
nismus?
Frage 32: Welches ist Dein Lieblings-
maler?
Eine Bemerkung zu dieser Fragestellung
erübrigt sich eigentlich. Mangelhafte Pra-
zision und anderes mehr müssen das Er-
gebnis wertlos machen. Der Fragebogen
enthalt 41 Fragen und diirfte wohl im
allgemeinen zu lang sein. Von den Ju-
gendlichen, die geantwortet haben, waren
bei AbschluB des Werkes (1. I. 1921) alt:
27 Jahre -- 1, 26 -- 2, 25 1, 24 2,
23 = 1, 22 = 5, 21 — 2, 20 7, 19 = 6,
18^3, 17 2. Es haben also geantwortet
32 und nicht 29. B. rechnet zu den Jugend-
lichen Leute im Alter von 15—25 Jahren. In
der sozialistischen Jugendbewegung — ins-
besondere in der Arbeiterjugend — rechnet
man zu den Jugendlichen Menschen im Alter
von 14—18 Jahren, Leute, die über 18 Jahre
sind, sind besonders in der jungsoziali-
stischen Vereinigung organisiert. Das relativ
hohe Alter der Beantworter irübt das Er-
gebnis der Ermittlung. Ihr Wert wird durch
die Berufszugehörigkeit noch weiter herab-
gemindert. 14 Leute gehören laut Aufstel-
lung kaufmannischen Berufen an, 15 sind
Handwerker, die ubrigen 3 verteilen sich
wie folgt: 1 Tagmadchen, 1 Bankbete und
1 Eisenbahner, ungelernt.
Der Nachweis bedarf bei einer Neuauflage
ebenso wie das Abkürzungsverzeichnis und
der Literaturnachweis einer Überarbeitung.
In der Tabelle ist angeführt, dalJ Nr. 3 auf
S. 58, Nr. 5 auf S. 45, Nr. 17 auf S. 52 an¬
geführt seien, doch sucht man dort die Nr.
vergebens. Dagegen findet man Nr. 4 auf
S.45u. 58, Nr. 17 auf S. 72, Nr. 21 auf S. 94.
Im Abkürzungsverzeichnis fehlt die Be-
zeichnung S. P. J., die im Text mehrmals
angewandt wird. Im Literaturnachweis
sind die Angaben Lv. 27—29 auüerst un-
genau und die Angabe Lv. 39 absolut falsch
(39: „Freiheit,Berliner Organ der S.P.D.“).
Die Geschichte der Jugendbewegung ist
sehr ungenau und oberflachlich zusammen-
geschrieben, so daO man sich beispielsweise
über die Gründe der politischen Aktivitat
der Jugend als AuCenstehender kein Urteil
bilden kann. Die graphische Darstellung auf
S. 15 zur Geschichte der proletarischen
Jugendbewegung in Hamburg gibt für den
Betrachter, der die Verhaltnisse in Hamburg
nicht kennt, ein absolut falsches Bild. Aus
derDarbietung geht hervor, daB dieSpaltung
des Jugendbundes von Hamburg-Altona be-
reits im Jahre 1909 begann und im Jahre 1916
zurGründung von zwei neuen Jugendorgani-
sationen (Jugendbund und freie Jugend-
organisation) führte. Das ist — bescheiden
gesagt — nicht ganz richtig. Die Spaltungs-
tendenzen beganneq im August 1914 und
führten 1916 zur Bildung einer neuen und
verschiedener illegaler Gruppen. Es ware
reizvoll, die übrigen historischen Unmöglich-
keiten in der Beschreibung kritisch zu be¬
trachten, doch das Angeführte mag als Bei-
spiel, wie man geschichtlicheVorgange nicht
darstellen soll, genügen.
Auf S. 16 wird die S. P. J. als S. P. D. —
laut Abkürzungsverzeichnis: Sozialdemo-
kratische Partei Deutschlands— bezeichnet.
Über die Sozialistische Proletarier-Jugend,
die zwar in Hamburg nicht sehr bedeutend
ist, die aber in Deutschland doch über
15000 Mitglieder zahit, ist Bondy besonders
schlecht informiert. Seinen Lesern berichtet
er dementsprechend.
Einige Merkwürdigkeiten ergeben sich bei
der Behandlung der Berufsfrage. Auf die
90
Buchbesprechungen
13. Frage: Welchen Beruf würdest Du gern
ergreifen? steht als Antwort eines 17jah-
rigen kaufmannischen Lehriings: Redakteur,
Schriftsteller, Philosoph, Prophet. Als Ant¬
wort eines 22jahrigen Bankbeten wird erst
angeführt: Schriftsteller und spïter: Post-
bote. Hier wflre es erwünscht, wenn die
Antworten auf Grund des Fragebogens oder
sonstiger Beobachtungen etwas erlautert
würden, da man mit dieser Antwort kauin
etwas Vernünftiges anfangen kann.
Die Methode, die der Verfasser bei seiner
Forschung angewandt hat, verleitet ihn zu
manchen Trugschlüssen, die er, wenn er
langere Zeit in der proletarischen Jugend-
bewegung gearbeitet hat, sicher selbst korri-
gieren wird. So ist es vielleicht erkiarlich,
daO er scheinbar sagt, wenn er anscheinend
meint und wo man besser augenscheinlich
sagen könnte.
Was die Arbeit aber wertvoll macht, sind
die in auDerst groCer Anzahl wiedergegebe-
nen Meinungen, Ansichten und Wünsche der
Jugendlichen. Doch findet man solches
Material besser und geschickter zusammen-
gestellt in „Das Weimar der arbeitenden
Jugend“, Niederschriften und Bilder vom
ersten Reichsjugendtag.der Arbeiterjugend
vom 28.—30. August 1920. Hans KrauB.
Erismann, Theodor, — Moers, Martha,
Psychologie der Berufsarbeit und
der Berufsberatung (Psychotechnik).
(Sammlung Göschen, Band 851 und 852;
1922.)
Die Arbeit der Verfasser gliedert sich
in einen allgemeinen und einen speziellen
Teil. Der allgemeine Teil bringt in seinem
ersten Abschnitt „Berufsarbeit" einekurze
Zusammenstellung der Rationalisierungs-
probleme unter dem Namen: Psychophy-
sische Telergetik. Die Hauptprobleme der
Rationalisierung: Bewegungsstudie, An-
passung des Arbeitsgerates, Beleuchtung,
Ermüdung, Pause, Lohnverhaltnisse, Anlern-
verfahren, Spezialisierung der Berufsarbeit
werden, wenn auch nicht erschöpfend, dar-
gestellt.
Ausführlicher behandeln die Verfasser
die psychologische Berufsberatung. Die
psychologische Berufsberatung umfaOt ein-
mal die Analyse des Berufs, sodann eine
Analyse des Berufskandidaten. Letztere kann
sich auf die Ausfragemethode stützen, oder
besser auf langjahrige Beobachtung und am
vollkommensten auf das Experiment. Es
schlieGen sich an diese allgemeinen Pro-
bleme Erörterungen über die Methoden der
Eignungsprüfungen an. Sodann folgt eine
Darstellung der Intelligenzprüfungen. Die
Auslese der Begabten, die Beratung der
unternormal begabten Kinder finden in
dieser Darstellung ihre Berücksichtigung,
sowie die mehr theoretischen Probleme
über den Begriff der Intelligenz, die Me¬
thodologie der Intelligenzforschung, das
Alter, den Unterschied der sozialen Schich¬
ten, der Nationen, der Geschlechter in ihrer
Beziehung zur Intelligenz. Allerdings ver-
miCt man hier z. B. Erwahnung und Wür-
digung der psychotechnischen Intelligenz¬
prüfungen (und ihrer Literatur), die zum
erstenmal in Berlin in den Begabtenprü-
fungen durchgeführt werden und die in einer
Darstellung, die die historische und methodo¬
logische Entwicklung der Eignungsprüfung
herausarbeiten sollte, nicht fehlen durfte.
In dem zweiten speziellen Teil der vor-
liegenden Arbeit werden die Eignungsprü¬
fungen für die einzelnen Berufe nüher be¬
handelt: für den StraGenbahnführer, den
Kraflfahrer, den Lokomotivführer und Fahrt-
dienstleiter, den Flugzeugführer und -Be-
obachter, den Metallarbeiter, den Kanzlei-
angestellten und kaufmannisch Angestellten,
den Schriftsetzer, den Buchdrucker, dieTele-
phonistin, den Telegraphisten und Funker,
den Feuerwehrangestellten, den Kriminal-
beamten, den Damenfriseur. Auch die Vor-
arbeiten zu den Eignungsprüfungen im Holz-
gewerbe, Baugewerbe, der Landwirtschaft,
dem Schneiderberuf und den höheren Be-
Buchbesprechungen
91
rufen finden Berücksichtigung. Vielleicht
batte das Wichtigere gegenüber dem Un-
wichtigeren, das Erprobte gegenüber dem
Nichterprobten eingehender behandelt wer¬
den dürfen. Einige unrichtige Angaben,
z. B. wann die Kraftfahrerprüfungen ein-
gesetzt haben, sind den Verfassern auch
unterlaufen. — Zum Schlusse werden die
einzelnen Möglichkeiten der Bewahrungs-
kontrolle betrachtet.
Nicht die Zusammenstellung der vorhan-
denen Ergebnisse der Psychotechnik macht
den Vorzug der beiden Bandchen aus. Ich sehe
ihn auf rein praktischem Gebiet; zum ersten-
mal wird hier das Gesamtgebiet der Eignungs-
prüfung unter dem direkten Gesichtspunkte
einerBerufsberatung betrachtet: dieEig-
nungsprüfung stellt sich uns hier tatsachlich
als wertvolle und notwendige Teilfunktion
der psychologischen Berufsberatung dar, die
sich organisch in ihr Gesamtgebiet einordnet.
S. L.
Hartungen,Dr.Ch., PsychologiederRe-
klatne. Stuttgart, Poeschel Verlag, 1921.
Verfasser geht von der Ansicht aus, daB
zu einer Psychologie der Reklame genaue
Kenntnis des menschlichen Seelenlebens
gehort, eine genaue Definition des Begriffs
„Reklame“, sowie eine Einteilung und Ana¬
lyse der vorhandenen Reklame in psycho-
iogischer Hinsicht.
Die Analyse der menschlichen Psyche
wird so weit getrieben, als dies für die ge-
stellte Aufgabe notwendig ist. Es werden
z. B. die typischen Unterschiede zwischen
Mann und Weib als Kaufer, zwischen den
einzelnen Nationalitaten herausgearbeitet.
Allerdingsdürften die Unterschiede zwischen
Mann und Weib als Kaufer etwas zu kraB
gezeichnet sein, wie sie vielleicht im prak-
tischen Leben doch nicht zutage treten.
Durch eine eingehende Auseinander-
setzung über den Begriff „Reklame" kommt
der Autor dann zu einer Einteilung der vor¬
handenen Reklame. Er teilt die Reklame
ein in solche, die wirkt:
1. durch das gesprochene Wort, sowohl
am Ort des Verkaufs wie durch Vertreter
und Reisende;
2. durch das geschriebene Wort (In-
serat, textliche Reklame, wissenschaftliche,
Autoritatsreklame, Drucksachen usw.);
3. durch das geschriebene Wort in Ver-
bindung mit Darstellung (Plakat, Film, Pro-
jektion);
4. durch die Ware selbst (Schaufenster,
Versandproben, Mannequinsystem, Aus-
stellung).
Die einzelnen Arten der Reklame werden
nun analysiert: an was für Motive die je-
weilige Reklameart appelliert, worauf sie be-
ruht, wie sie dementsprechend am günstig-
sten zu gestalten ist. — Es mogen einige
Beispiele folgen, um die Arbeitsweise des
Autors zu illustrieren. Z. B. die Autoritats¬
reklame. 1. Worauf beruht sie? Auf einem
dem Menschen innewohnenden Bedürfnis
nach Autoritat, auf der Bequemlichkeit des
Menschen, seiner Eitelkeit und Neugierde.
2. Wie ist sie am vorteilhaftesten zu ge¬
stalten? Die Autoritat braucht nicht immer
ein Sachverstandigerzu sein, sondernmanch-
mal empfiehlt es sich sogar, daB irgendeine
bekannte Autoritat gewahlt wird, da sich
beim Kaufer infolge seiner Bequemlichkeit
automatisch die Autoritat der Person auf
den Gegenstand übertragen wird. — Oder;
Analyse der Wortmarkenreklame. Das Wort-
markenplakat muB immer wieder dem Be-
schauer vor Augen geführt und immer wieder
„in die Seele gehammert werden", damit
dadurch das Bedürfnis nach Abreaktion ent-
steht, die sich eben durch den Kauf voll-
zieht. „So lange wir das Pixavon nicht an
unserer eigenen Haut eingerieben haben,
ist es für uns gewissermaBen ein verbotener
GenuB. Jedes Plakat, das uns seine Abbil-
dung zeigt, gleichgültig, ob wir es in der
Zeitung, im Kaffeehause, in einem Friseur-
laden oder auf einem StraBenplakate sehen,
erinnert uns daran und laBt den Wunsch nach
Abreaktion immer starker werden" (S. 157).
92
Bucbbesprechungen
Der Autor schlieOt mit der Analyse der
einzelnen Reklamearten seine Psychologie
der Reklame. Man vermiCt die klare Her-
ausarbeitung der Anforderungen, die man
an eine gute Reklame zu stellen hat, sowie
eine Würdigung der psychotechnischen Er-
gebnisse. Doch bietet das Buch wertvolle
Vorarbeit eben durch seine Analyse der ein¬
zelnen Reklamearten und gibt uns Richt-
linien an, von wo aus planmaOige Unter-
suchungen einzusetzen haben. Dr. Scborn.
Le Bon, Prof. Gustave, Psychologische
Grundgesetze in der Völkerentwick-
lung. 142Seiten. Leipzigl922, S.Hirzel.
Das Werk erschien 1895 als populare
Zusammenfassung einiger gröCerer Spezial-
arbeiten. Sie geboren zu den grund-
legenden der Rassentheorie. Die neue
Übersetzung ins Deutsche ist vollauf gerecht-
fertigt, insofem für jede Theorie ihre alten
vergrifFenen Klassiker mit das Wichtigste
sind. Le Bon aber gebührt in seiner Rich-
tung ein Ehrenplatz als Klassiker, auch wenn
er bei einigen von seinen deutschen Nach-
fahren jetzt verpönt wird.
Man setzte sich früher mit ihm in ver-
schiedener Weise auseinander. Es ist mir
noch gut im Gedachtnis, wie die ziinftigen
Fachprofessoren ihn ablehnten oder als be¬
langlos totschwiegen. Die exakten Forscher
verspotteten seine phantasiefrohe Art zu be-
weisen; und freilich muten die zahllosen
Widersprüche, z. B. im 4. Kapitel des
l.Buches, einem methodisch denkenden
Leser etwas viel zu. Seine groBe Nach-
wirkung — besonders in Deutschland und
gar bei den Slaven, weniger in Frankreich
selbst — sie hat man erst verspürt, als
die Folgen der Rassentheorie oifenkundig
wurden. Man sah nunmehr erst den Zu-
sammenhang zwischen der Zerspaltung
Europas in einander bassende Natiönchen
und derartigen Gelehrtenreden. (Vielleicht
erkennt man hier auch eine der Wurzeln
einer anderen Bewegung, namlich des inter¬
nationalen Faszismus.) Le Bon verbindet
namlich mit seiner Hauptthese eine andere,
eigentlich ganz widersprechende: einenGe-
danken von Benjamin DTsraeli (1878) weiter-
spinnend, erklarte er, es gabe schlieBlich
„doch nur zwei Rassen" in Europa, die
soziale Ober- und Mittelschicht. Der
letzteren gilt sein wütender HaO; und dieser
HaB nur kann es erklaren, warum er (selbst
einigen Anhangern) in wissenschaftlich wirk-
lich bedauerlicher Weise sich seine Haupt-
theorie verdarb. Zwischen Ober- und Unter-
schicht jedes Volkes in Europa klaffe eine
tiefere Kluft „als zwischen WeiBen und
Negern oder sogar zwischen Negern und
Affen".
Ein Unterschied trennt ihn von den mo¬
dernen Rassischen. Er erkennt in Europa
keine natürlichen Rassen mehr, sondern
„historische, langsam gewordene". GroBe
Teile des Buches befassen sich mit dem
Werden — als Beispiel! — der „franzö-
sischen Rasse" aus Bretonen, Normannen,
Provencalen, Gascognern usw. In diesem
Buche billigt er das Werden, wahrend er
zwei Jahrzehnte vorher und spater noch im
Weltkriege für eine stammestümliche De-
zentralisation Frankreichs eintrat. (Im Welt¬
kriege erblickte der greise Forscher eine
„Bestatigung* der Rassentheorien.) Viel¬
leicht ware „ Auswirkung" doch der passende
Ausdruck gewesen. (Abgesehen davon, ist
bereits alles Typische beisammen.) Der
Zentralbegriff „Kultur" ist durch „Rasse"
zu ersetzen. Die „Rassenseele" wird génau
erörtert. Der Intellekt wird immer wieder
als ganz belanglos hingestellt, „der Cha-
rakter" statt dessen hervorgehoben.
Auffallen könnte es vielleicht, daB schon
so früh „dasunvermeidlicheSchicksal
Europas" als These auftritt, der Untergang
der christlich-europaischen Kultur; diese
These hat man nach ihm fallen gelassen und
erst jetzt wieder hervorgeholt. Sehr be-
fremden wird es, daB nirgends bei Le Bon
das Wort Jude vorkommt; nun — er war
Buchbesprechungen
93
eben — bei aller Suggestivkraft — ziemlich
ofFenherzig; er sagte spater offen, daC die
Entdeckung „Judenrasse* ein bloBes Mittel
zu den Zwecken der Eingeweihten sei. Er
irrte zudem, wenn er das Mittel für untaug-
lich hielt. Er hat sich ja aber auch in der
Tauglichkeit von manchen seiner eigenen
Entdeckungen geirrt; die Völkischen seines
Vaterlandes haben ihm deshalb noch kurz
vor seinem Tode schwereVorwürfegemacht.
Doch können vereinzelte Abirrungen von
den Richtlinien nicht die bahnbrechende
Wegweiserschaft des Forschers beeintrach-
tigen. Man findet sogar im SchluBkapitel,
einer letzten feinsten Destillation, noch
immer deutlich die bewahrten Rezepte. Wie
man das daraus macht, hat er schalkhaft
selbstverraten (S. 106FF.). — Auch Gegnern
der Rassentheorie werden manche Stilblüten,
die nicht zu den Thesen gehören, ange-
nehm duFten. Einzelbemerkungen gescheiter
Gegner bieten doch wirklich Wertvolleres
als die minderbegabten Autoren der eigenen
Richtung! Und als einer der gescheitesten
Grondleger des 20. Jahrhunderts wird
Le Bon langst gewürdigt. Seien wir also
nichtChauvinisten und lemen wir von ihm ...
Dr. Schönfeldt.
Obst,Georg, Das Buch des Kaufmanns.
Ein Hand- und Lehrbuch der gesamten
HandelswissenschaFten. 6., völlig umge-
arbeitete AuFlage. 1320 Seiten in zwei
Banden. Verlag C. E. Poeschel, Stuttgart
1922. Preis 550 M. Freibleibend.
An diesem umFassenden Handbuch der
HandelswissenschaFten, welches nun schon
die 6. AuFlage erlebt, arbeitete ein Stab Füh-
render Manner der Theorie und Praxis.
Nicklisch schrieb über BetriebswirtschaFts-
lehre, von Mataja und Zeitler stammen Ab-
handlungen über„Reklame“; werdie schriFt-
stellerischen Arbeiten Matajas in den letzten
Jahren verFolgt, wird erkennen, und dies
besonders in diesen neuesten Abhandlungen,
wie Mataja sich mehr und mehrder exakten
und experimentellen, wissenschaFtlich be-
gründeten Reklame zuwendet. In den vor-
liegenden AuFsStzen wird vieles kurz und
pragnant gesagt, was sich in seinenr groDen
Werk über „Die Reklame" weit verstreut
vorfindet. — Georg Obst hat Arbeiten über
Bankwesen, Nationalökonomie, Handelspoli¬
tik, Kontormaschinen beigesteuert. Lans-
burgh erganzt den vorzüglichen AuFsatz von
Wagner über Geld mit einer Arbeit über In-
flation. Der KauFmann als Staatsbürger wird
vom ehemaligen sachsischen Justizminister
Hanisch behandelt. — Es ist indes nicht mög-
lich, hier über die Reichhaltigkeit des vorlie-
gendenWerkes auch nurannahernd zu berich¬
ten. Als Hand- und Lehrbuch der gesamten
HandelswissenschaFten dürFte das Werk
jedenFalls mit allen Vorzügen und Schwachen,
die einem solchen Unternehmen anhaFten,
weit über allem stehen, was bisher in dieser
Beziehung geschafFen worden ist. H. P.
Wittmann, Dr. Joh., Ober das Sehen
von Scheinbewegungen und Schein-
körpern. BeitragezurGrundlegungeiner
analytischen Psychologie. Mit 7 TaFeln.
204 S. J. A. Barth, Leipzig 1921. Preis
M. 22.-.
Die Bezeichnungen „Scheinbewegung"
und „Scheinkörper" sind, wie VerFasser sagt,
irreFührend, da die Verhaltnisse im Sehraum
nicht in Abhangigkeit von der mathemati-
schen Struktur eines realen Raumes zu
denken sind, sondern ganz wesentlich be¬
dingt sind durch die Art und die Richtung
der AuFFassung der Sehdinge und sich mit
beiden in mannigFaltiger Weise andern, ohne
daB die ReizverhSltnisse sich gleichFalls zu
andern brauchten. VerFasser lehnt die phy-
siologischen HilFsmittel, wie sie zur ErklS-
rung dieser Phanomene eingeFührt wurden,
ab. An eigenen Versuchen und Nachprü-
Fungen der Ergebnisse von Benussi, Wert-
heimer, Riffka usw. findet VerFasser, daB die
Erscheinungen der S-, a-, f, b-Bewegungen
bisher in zu groBer Isoliertheit uns als art-
94
Buchbesprecbungen
verschieden behandelt wurden, wahrend tat-
sachlich einerseits die Mannigfaltigkeit der
Phanomene viel gröGer, andererseits ihr Zu-
sammenhang untereinander viel enger sei.
Auch das Sehen von Scheinbewegungen und
Scheinkörpern ist ein und dasselbe Problem
von gleicher raumpsychologischer Natur,
das nur die Form eines jener besonderen
Probleme annimmt, je nachdem die raum-
lichen und zeitlichen Bestimmtheiten der
Reize oder vorzüglich nur die raumlichen
besonders geartet und betont sind. Ver-
fasser zeigt an einer Reihe ausführiich ge-
schilderter Versuche wie bei schematischen
Zeichnungen und wirklichen Objekten unler
bestimmten Bedingungen (Art der Reize und
objektive Sukzession bzw. Simultanitkt der
Bilder) durch die verschiedene Art der Zu-
wendung der Aufmerksamkeit Bewegungs-
und Inversionserscheinungen verschieden-
ster Art auftreten können. Die Gestaltauf-
fassung kommt ohne gedankliche Zutaten
auf rein perzeptive Weise zustande.
Dr. A. Argelander, Mannheim.
DQnnhaupts Studiën- und Berufs-
führer. Band 2: Psychologie und
Psychotechnik, bearbeitet von Dr. F r i t z
Giese, Halle. Dessau 1922. Verlag Dünn-
haupt. 63 Seiten.
Giese unterscheidet in diesem Buche
zwischen „Psychologen" und „Psychotech-
niker“. Unter ersterem versteht er den voll
akademisch auf einer Universitat Ausgebil-
deten, unter letzterem mehr eine technische
Hilfskraft. Er bildet damit ein Analogon
zu den auch in der Medizin bestehenden
Verhaltnissen, wo auch Arzt und Heilgehilfe
mit verschiedener Vorbildung zusammen
arbeiten. Für den Voll-Psychologen fordert
Giese folgende Vorbildung:
Studienplan
I. Semester (Winter)
Theoretische Experimentalpsycho-
logie 1.4 Std.
wöcbeatWch etwa
Anatomie I.15 Std.
Experimentalphysik I.5 „
Einführung in die Philosophie . . 2 „
Philosophiegeschichte I .... 4 „
Physikalisches Praktikum.... 4 „
2. Semester
Theoretische Experimentalpsycho-
■ logie li.4 „
Psychophysische MaOmethoden. . 2 .
Experimentalphysik II.5 „
Physiologie I.5 „
Philosophiegeschichte 11 .... 4 „
Logik.2 .
Physiologisches Praktikum I... 4 ,
Psychologisches Kolloquium ... 2 „
3. Semester
SpezielletheoretischeExperimental-
psychologie.2 „
Angewandte Psychologie I
(Padagogik).4 „
Erkenntnistheorie ...... 2 „
Physiologie II.5 „
Anatomie II.15 „
Psychologisch-padagog. Seminar . 2 „
4. Semester
Differentielle Psychologie (Typen,
Korrelationen).2—4 „
Angewandte Psychologie II (Berufs-
beratung, Eignungsprüfung) . . 2—4 .
Psychophysik der Arbeitsvorgange 2—4 „
Medizinische Psychologie ... 2 ..
Naturphilosophie.2 „
Psychologisches Institut:
Anfangerübungen.2 „
5. Semester
Völkerpsychologie.4 „
Angewandte Psychologie 111 (Ob-
jektspsychotechnik).4 „
Sozialpsychologie. 2 „
Forensische Psychologie (mit Krimi-
nalistik).2 „
GrundriO der Psychiatrie .... 2 „
Buchbesprechungen
95
Psychologisches Institut: us.'heniiich ma
Fortgeschrittenenübungen I . . 4 Std.
Forschungs- (seibstandige) Ar-
beiten.10 ,
6. Semester
Geschichte der Psychologie ... 2 „
Angewandte Psychologie IV
(Reklame, Organisation) ... 2 „
Soziologie. 2 „
Sprachpsychologie. 2 „
GrundriO der Sozialwissenschaften 2 ,
Psychologisches Institut:
Fortgeschrittenenübungen II . . 4 ,
Forschung. 20 „
7.-8. Semester
Parapsychologie. 2 „
Religionspsychologie. 2 „
Psycholog. Institut: Forschung . je 20 „
Für den Psychotechniker hingegen wird
von Giese neben Realschulvorbildung oder
Primareife ein sechssemestriges Studium
mit folgendem Lehrplan gefordert:
Lehrgang für Psychotechniker
Die mit einem * verschenen Ficher sind Pflicht-
fJcher der Laboranten, verteilbar auf einen
Jahreskurs
1. Semester
'’Beschaftigung im Laboratorium (Elementare
Hilfsarbeit: Kleben, Apparate putzen, Zu-
schauen bei Versuchen).
•Pappkursus.
•Holzbearbeitungskursus.
Vorlesungen:
•Physik (Mechanik, Optik, Akustik),
•Statistik (graphische Darstellungen,
Korrelationen),
‘Psychologie (Berechnungsmethoden,
Sinnespsychologie, Kinderpsycholog. I).
2. Semester
•Beschaftigung im Laboratorium (einfache
Mitarbeit in Sinnespsychologie und deren
Verrechnung).
LeichterBeschaftigungskurstisinSchlosserei,
Dreherei.
•Physikalischer Kursus (Elektrizitat).
StatistischerKursus(Übungeningraphischen
Darstellungen, Korrelations- u. Schwellen-
berechnung).
Vorlesungen:
Physik (Elektrizitat),
Medizin (Anatomie der Sinnesorgane, mit
Demonstrationen),
•Psychologie (Untersuchungs- und Rech-
nungsmethoden für Sinnesfunktionen,
Gedüchtnis, Aufmerksamkeit),
•Kinderpsychologie 11.
3. Semester
•Beschaftigung im Laboratorium: Eigene
Versuche an Erwachsenen (Sinnesfunk¬
tionen, Gedachtnis und Aufmerksamkeit),
Berechnungen.
Vorlesungen:
Physik (Repetitionsvorlesung),
Medizin, Gehirn und Nervensystem (mit
Demonstrationen),
•Psychologie, Willens- und Denkvorgange
(einschl. Intelligenzprüfung),
•Kinder- und Jugendlichenpsychologie III.
4. Semester
•Beschaftigung im Laboratorium: Binet-
Simon-Skala an Kindern, Sinnes- usw.
psychologische Versuche an Jugendlichen
und Erwachsenen wie im 3. Semester,
Berechnungen.
Vorlesungen:
Psychologie, Entwicklungspsychologie,
AbriB derVölkerpsychologie,
•Psychotechnik I,
Medizin, Pathopsychologie,
•TechnikjGesamtüberblicküberdieHaupt-
industriegebiete 1.
•Besichtigung von Lehrlingswerkstatten,
Fabriken, Behördenbetrieben.
96
Buchbesprechungen
5. Semester
•Beschaftigung im Laboratorium; Samtiiche
Eignungsprüfungen an Kindern, Berech-
nungen, Versuche mit Jugendlichen wie
im 4., Erwachsenen wie im 3. Semester,
Spezialkursus zur Testmethode für Er-
wachsene.
Vorlesungen:
Psychologie, Psychotechnik II,
Kollektivpsychologie,
•Differentielle Psychologie,
Medizin, Gesamtüberblick II,
*Wirtschaftswissenschaft, Berufskunde,
Werbekunde, Handels- und Verkehrs-
gewerbe in ihren Betriebsformen,
Kulturgeschichte, Biographien groOer
Persönlichkeiten und deren typologische
Analyse.
Psychologie der Kulturströmungen.
•Besichtigungen wie 4. Semester.
6'. Semester
•Beschaftigung im Laboratorium: Spezielle
Testprüfung an Kindern, darunter selb-
standige Eignungsprüfungen an Jugend¬
lichen. Umfassende Allgemeindiagnose
von Erwachsenen. Versuche mit patho-
logischem Material. Berechnungen.
Vorlesungen:
•Psychologie, Psychotechnik III,
Padagogik, Gesamtüberblick über die
modernen Schulsysteme,
Asthetik, psychologische Grondlagen und
Theorien,
•Technik, Gesamtüberblick III,
Wirtschaftswissenschaft, oberfliichlicher
AbriG der Grondlagen der Sozialver-
sicherungund der allgemeinen Arbeits-
gesetze, sonst wie 5. Semester.
•Besichtigungen wie 4. und 5. Semester,
gegebenenfalls mit Hospitieren in Fa-
briken.
Erst langere Erfahrung kann zeigen, in-
wieweit Gieses Vorschlage durchführbar
sind, insbesondere inwieweit neben der
Universitat nicht noch mehr oder unter Be-
rücksichtigung der Betriebswissenschaft als
Ausgangspunkt in erster Linie Technische
Hochschulen und Handelshochschulen an
der Ausbildung des psychotechnischen Nach-
wuchses mitzuwirken haben. Auf jeden Fall
aber bleibt die Arbeit Gieses ein beachtens-
wertes Dokument. C. P.
Diesem Heffe liegen folgende Prospekte bei:
Von C. DQnnhaupt Verlag, Dessau über DUnnhaupts Studiën- und BerufsfUhrer.
Vom Verlag von Felix Melner in Leipzig über Philosophlsche Werke.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr.C.Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Martel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. JANUAR 1923 4. HEFT
Die Praktische Psychologie erscheint in monetllcheo Herten lm Umfanse von zwel Bogen. PreU des Januarbertes 300 Mark
fura Inland. Füra Ausland besondere Prelse. (Preia bel unmittelbarer Zuatellung unter Kreuzband im Inland einachlieQUch
Österreich-Ungarn 400 Mark.) Bestellungen nehmen alle Bucbhandluogen, die Post aowie die Verlagabuchbandlunt entgegen.
Anzelgen vermittelt die Verlagsbucbbandlung S. Hlrzel In Lelpzig, KönIgatraOe 2. Poatscbeckkonto Leipzlg 226. — Alle
Manuakrlptaeodungen und darauf bezDglIche Zuachriften alnd zu richten an die Adreaae der Schrirtleitung: Prof. Or.W. Moede
und Or. C. Plorkowaki, BerllnW30, Lultpoldatrafle 14.
Eine Testprüfung des Willens
Von Professor Dr, Hans Henning,
Direktor des Psycbologiscben Instituts der Tecbniscben Hocbscbule Danzig
O bwohl der Wille In der Schule wie in den meisten Berufen eine ausschlag-
gebende Rolle spielt, wurden bisher nur Arbeitsproben, aber keine eigent-
lichen Willentests gemeldet. Hier liegt eine empfindliche Lücke, denn die beste
Intelligenz oder Fachbegabung nützt nichts, wenn der Wille, mithin auch der
FleiB versagt.
Ein zweites kommt binzu. Auf die scbwierige Frage, was Intelligenz eigentlicb sei, ant-
wortete Spearman*), daB die mannigfaltigen Methoden der Intelligenzprüfung alle einen ge-
meinsamen Faktor erfassen, den er “general intelligence” oder “general ability” nennt. Freilicb
ist diese allgemeine Intelligenz nicbt unbestritten. Man könnte den Generalfaktor aucb in Auf-
merksamkeitsprozessen sucben: dasjenige Tier wird als intelligentestes zur Dressur auserseben,
welcbes spontan mebr als seine Genossen auf einwirkende Reize acbtet, docb wurde eine solcbe
Tbese niemals exakt begründet. Hingegen fand Webb**), der ursprOnglicb die Theorie von
Speartnan ausbauen balf, daB dessen Generalfaktor sich zusammensetzt aus erstens dem Faktor g
(geistige Energie Spearmans) und zweitens einem zentralen Faktor w, dem Willen. Eliminiert
man g, so bleibt w als Generalfaktor; er entstammt der Charaktersphare und ist die „Beharr-
lichkeit der Motive", ja der .Wille" schlecbthin. Danach hitte jede Intelligenzprüfung den
Willen als Hauptelement scbon bei der Intelligenz als solcher zu berücksicbtigen.
Leider besitzen wir keine Deflnition der Intelligenz***), ja wir wissen, daB sie nur einen
SammelbegriiT für ganz verschiedenartige geistige Leistungen darstellt, welche in mannigfacher
Art aus dem groBen Reservoir des Gedichtnisses gespeist werden. Somit fehit jede Gewabr,
ob und in welchem MaBe die Intelligenzprüfung zugleich auch den Willen erfaBt.
Die unter dem EinfluQ von Zielvorstellungen erfolgenden Willenshandlungen
scheidet G.E.Müller'f') in unmittelbare Willenshandlungen und in willkürlich
vorbereitete Willensreaktionen. lm ersten Fall lost die Zielvorstellung oder
*) C. Spearman, The Proof and Measurement of Association between two Things. Amer.
Journ. of Psychol 15, S. 72 — 101, 1904. — “General Intelligence” Objectively Determined and
Measured. Ebenda, S. 201—292, 1904. — F. Krueger und C. Spearman, Die Korrelation
zwiscben verschiedenen geistigen Leistungsfihigkeiten. Zeitschrift für Psychologie 44, S. 50—114,
1906. — B. Hart and C. Spearman, General Ability, its Existence and Nature. Brit. Journ. of
Psychol. Monogr. Suppl. 1915. — Über die ailgemeine geistige Leistungsfahigkeit. Bericht über
den 5. KongreB für experimentelle Psychologie. Berlin 1912, S. 139—142. Leipzig 1912. —
C. Spearman, Die Theorie von zwei Faktoren. Bericht über den 6. KongreB für experimentelle
Psychologie. Göttingen 1914, S. 66—69. Leipzig 1914.
**) E. Webb, Character and Intelligence. Brit. Journ. of Psychol. Monogr. Suppl. 1915.
***) W. Peters, Das Intelligenzproblem und die Intelligenzforschung. Zeitschrift für Psycho¬
logie 89, S. 1—37, 1922.
*{■) G. E. Müller, Zur Analyse der GedachtnistStigkeit und des Vorstellungsverlaufs. III, S.426f.
Erginzungsband 8 der Zeitschrift für Psychologie 1913.
P. P. IV. 4.
7
98
Henning, Eine Testprüfung des Willens
das Willensmotiv ohne weiteres die entsprechende Handlung aus. Beim Mon-
tieren drangt sich etwa der Eindruck auf, die Drahte seien zu schlecht befestigt;
auf assoziativen AnIaO meidet sich aus der Konstellation nun die Zielvorstellung
„befestigen!", welche unmittelbar die nötigen Bewegungen hervorruft. Bei den
willkürlich vorbereiteten Willenshandlungen kommt es darauF an, daQ die Ziel¬
vorstellung oder das Willensmotiv sich mit der Reaktionsgelegenheit assoziiert,
und daO diese Verknüpfung bei eingetretener Reaktionsgelegenheit wirksam wird.
Das Ziel besteht etwa in der Absicht, das nachste Mal eine Verrichtung praziser
auszuführen, einen Posten richtig zu buchen oder einzukaufen. Tritt die Reaktions¬
gelegenheit nun ein, indem ich nach Minuten, Stunden oder Tagen wieder vor
dieser Verrichtung stehe, so kann auf Grund der gestifteten Assoziation ohne
weiteres das richtige Verhalten erfolgen. Unterblieb die Stiftung der Assoziation,
so ist der Vorsatz vergessen. Ob auQere oder innere Willenshandlungen — im
letzteren Fall spricht man von einer willkürlichen Beeinhussung des Vorstellungs-
verlaufs —, das macht keinen Unterschied.
Das Prüfungsverfahren
Die neue Methode priift, ob leitende Wiliensmotive oder Zielvor-
stellungen festgehalten werden können, wenn andere Motive zugleich
einwirken. Es handelt sich also urn die Zahigkeit der Wiliensmotive, seien
diese nun eigene Absichten, übernommene Auftrage, Befehle oder berufliche An-
weisungen. Dies pflegt die grundlegende Situation zu sein. Der Schiller halt
die vom Unterricht, der Lehrling die von der Arbeit gegebenen Zielvorstellungen
nicht aufrecht, sondern er laOt sich von anderen Motiven leiten, d. h. er bleibt
nicht bei der Sache; oder die Ziele unterliegen der konkurrierenden Absicht,
die Zeit lieber dem Spiele zu widmen, bzw. die Absicht, sich anzustrengen,
versinkt.
Nach Vorversuchen empfahl es sich, keinen wirklichkeitsnahen Fall als Test
zu wahlen, sondern die psychische Funktion als solche, von jedem unnötigen
Belwerk befreit, gewissermaOen für sich zu fassen, also die Macht der Wiliens¬
motive. So Fragen wir: Kann der Prüfling mit seiner Aufmerksamkeit, mit
assoziativer KraFt und willkürlicher Beeinflussung seines Vorstellungsablaufs die
ihm gegebenen Ziele bzw. eigene Absichten festhalten, selbst wenn sich andere
Motive einmischen, die vielleicht lustbetonter sind, und denen eine weniger
schwierige Willenshandlung entspricht? Die einschlagigen assoziativen Ver-
haltnisse beschrieb ich bereits an anderem Orte*).
Das Willensmotiv lautet: Auf ein zugerufenes Wort soll bzw. will ich mit
einem anderen Worte reagieren, welches einem bestimmten Gebiet (Ge-
sicht, Gehör, Geschmack, Geruch, Gemeingefühl, Anschaulichkeit, Abstraktion usf.)
*) H. Henning, Experimentelle Untersucbungen zur Denkpsychologie 1. Die assoziative
Mischwirkung, das Vorstellen von noch nie Wahrgenommenem und deren Grenzen. Zeitscbrift
für Psychologie 81, S. i —96, 1919.
Henning, Eine Testprüfung des Willens
99
angehört; vor der Reaktion muC aber ein zweites zugerufenes Wort erst ab-
gewartet werden, das zur Kontrolle, ob es wirklich beachtet wurde, nachtraglich
auch anzugeben ist. Ein Beispiel: Es soll mit einem akustischen Worte reagiert
werden. Gegeben ist als Reizwort „Pfeife" und als zweites Motiv „Tabak".
Wird mit dem Reaktionswort ,beizt“ oder „Rauch" geantwortet, so wurde die
Zielvorstellung fallen gelassen. Eine richtige Lösung ware „schrill*. Das dem
Prüfling an zwei ter Stelle gegebene Wort, welches in unseren Versuchen spa-
testens eine Sekunde nach dem ersten folgt, lenkt also in ein ganz anderes
Geleise, als die Zielvorstellung es verlangt.
Über die Ausbildung der Willensfunktionen mit steigendem Lebensalter des
Kindes, über die Anforderungen der einzelnen SchulstuFen und Lehrfacher an
den Willen des Schülers, ebenso über die Ansprüche, welche die mannigfaltigen
Berufe im Punkte der Energie und Zielstrebigkeit stellen müssen, sind wir leider
noch ganz unwissend. Deshalb durfte vorlaufig kein nach Altersstufen gestaffelter
Test angestrebt werden, vielmehr nur ein allgemeiner Alternativtest. Gleichwohl
empfahl es sich, die Erwachsenen mit schwierigeren Aufgaben von den 15—17Jah-
rigen abzuheben, und so halt unser Versuchsmaterial sich für Erwachsene etwas
abstrakter, für Kinder hingegen anschaulicher. AuDerdem müssen Kinder nach
dem Aussprechen ihres Reaktionswortes nur die Frage beantworten: „Wie lautete
das zweite Wort?“, wahrend Erwachsene den Bedeutungszusammenhang der
beiden Reizworte anzugeben haben.
Die Zeiten werden mit einer Zehntelsekunden-Stoppuhr gemessen, welche
zwei einzeln anzuhaltende Zeiger besitzt*). Beim Aussprechen des ersten Reiz-
wortes werden beide Zeiger in Bewegung gesetzt, beim Aussprechen des zweiten
Reizwortes wird der erste Zeiger, beim Aussprechen des Reaktionswortes der
zweite Zeiger angehalten. Soweit die durchschnittliche Reaktionszeit nicht aus
anderen Tests bekannt ist, wird sie in den stets vorausgeschickten Instruktions-
beispielen bestimmt.
Jeder Prüfling erhielt 50 Aufgaben. Bei der Halfte war das Motiv vor-
geschrieben (vgl. die Beispiele), bei der anderen Halfte durfte er das Gebiet
wahlen.
Die folgenden Beispiele geben die beiden Reizworte, auf welche möglichst
rasch mit einem Reaktionsworte aus dem genannten Gebiet zu antworten ist.
Reaktionswort aus dem Geschmacksgebiet Reaktionswort aus dem optlschen Gebiet
Für Erwachsene: Für Kinder:
Für Erwachsene: Für Kinder:
Kise — Export
Pfeffer — Land
Zitronen — Palier
Tee — Plantage
Granate — Artillerie
Eis — Bahn
Orange — Form
Kaffee — Strauch
Hering — schwimmt
Seife — Blasé
Welle — physikallsch
Regen — naU
Kloster — Musik
Nelkeri — Duft
Blind — geladen
Hund — Gebell
Bonbon — Gescbmack
Ofen — Hoeker
Floh — Stich
Pech — Unglück
Instruktionsbeispiel: Honig — Mond
Instruktionsbeispiel: Geige — Ton
•) a. a. O. S. 9.
7*
100
Henning, Eine Testprüfung des Willens
Reaktionswort
aus dem akustischen Gebiet
Reaktionswort aus dem Gebiet
des Gemeingeffihis
Für Erwachsene: Für Kinder:
Sturm — Bild
Pauken — Examen
Glocke — Schiller
Klangvoll — Name
Konversation —Lexikon
Ohr — Wurm
Ton — Lehm
Pfeife — Tabak
Horn — Knochen
Kuh — Milcb
Instruktionsbeispiel: Katze — Maus
Für Erwachsene:
Stich — Radierung
Druck — pekuniSr
Ofen — Stadt
Stechend — Bliek
Für Kinder:
Spitz — Hund
Regen — Bogen
Glas — glinzen
Rauh — Wort
Feuer — Begeisterung Hart — Herz
Instruktionsbeispiel: Nadel — KompaQ
Reaktionswort aus dem Geruchsgebiet
Für Erwachsene: Für Kinder:
Lysol — schützt Rosé — Name
Teer — Farbe Pech — klebrig
Dünger — chemischer Wein — Flasche
Harz — Reise Veilchen — Farbe
Scbwefel — Bande Tabak — Pflanze
Instruktionsbeispiel: Ather — Himmel
Die vom ersten Reizwort ausgelösten Reproduktionen laufen ohne weiteres
in dem Gleis, welches auf die Zielvorstellung führt. Das zweite Reizwort stelli
aber die Weiche um, wonach die Reproduktionen — zum mindesten wahrend
einer kürzeren Zeit — sich im Gieise des neuen Motivs bewegen. Nun entsteht
die Frage, und das prüft unsere Methode, ob der einzelne genug Kraft besitzt,
das alte Ziel festzubalten oder wiederzugewinnen.
Unsere Reizworte sind keineswegs ad hoe zufallig gruppiert, sondern aus je
50 Paaren der oben zitierten Abhandlung wurden diejenigen ausgewahlt, weiche
sich gemaQ der Selbstbeobachtung sowie der von Marbe*) auFgefundenen und
von Bauch**) für das Willensgebiet erharteten Gleichförmigkeit des psychischen
Geschehens am besten eigneten. Einmal wurden solche Zusammenstellungen
verworfen, deren Bedeutungszusammenhang selten auffiel; für akustische Reak-
tionen waren dies beispielsweise: „Sirene — Odysseus", „Fuge — Schrank*, oder
für optische: „Fleck — Charakter", „Katzen — Musik*, „Arm — reich*.
Zweitens wurden solche Paare ausgemerzt, deren Lösung infolge der voran-
gegangenen zu sehr erleichtert ware. Für akustische Aufgaben empfahl es sich
beispielsweise nicht, nach „Kuh — Milch* die verwandten Gruppen „Katze —
Maus* oder „Frosch — hüpft* zu bringen, weil sich eine Einstellung auf Tier-
stimmen bildete.
Nun könnte man erwarten, daQ die besten Leistungen wie die kürzesten Zeiten dort auF-
treten, wo Aufgabe und Vorsteilungstypus zusammenfallt, daü etwa der Auditive sein Optimum
in akustischen Aufgaben ündet. An und für sich ware das kein Schade. Ein rasches Mittel zur
Bestimmung des Vorsteilungstypus ist immer willkommen, auch brauchte man nur die optimale
Rubrik unter VernachUssigung der übrigen vier in Korreiation zu stellen. Tatsachlich kommt
es aber eher darauf an, ob Worte des betreffenden Sinnesgebietes zur Verfügung stehen, weil
gar keine sachlich-anschaulichen Vorstellungen gefordert werden. Spracbliche Attribute und
Beispiele der fünf volkstümlichen Sinne hat aber jeder Mensch in hinreichender Menge bereit.
*) K. Marbe, Die Gleichförmigkeit in der Welt. München 1916 und 1919.
**) M. Bauch, Zur Gleichförmigkeit der Willenshandlungen. Fortschritte der Psychologie 2,
S. 340 — 369. 1914.
Henning, Eine Testprüfung des Willens
101
Wir bleiben beim Volkstümlichen, weil speziellere Vorstellungsgebiete nicht ohne individuelle
Bedeutung für den Willen sind. Ein Mathematiker mag vielleicht auf tbeologischem Boden, ein
kunsthistorisch Interessierter auf logischem Pelde keine Willensabsichten ins Spiel setzen, weil
ihnen Theologie oder Logik weder Reiz noch Antrieb ist. Seine „fünf Sinne“ beberrscht aber jeder*).
Ber^chnet wird die Fehlerzahl und das arithmetische Mittel der be-
nötigten Zeiten. AuOerdem wird die Zunahme der Einzelzeiten im Verlauf
der Versuche als Ausdruck der Willensermüdung beobachtet. Vorschnelle Typen,
welche im Alltag oft den Eindruck besonderer Willenskraft voriauschen, reagieren
so rasch, daO das zweite Reizwort schon 0,5 Sekunden nach dem ersten erfolgen
muC, andernfalls sprechen sie das Reaktionswort vor dem Horen des zweiten
Reizworts aus, das sie gar nicht abwarten. Auch trotz des kürzeren Zeitabstandes
zwischen erstem und zweitem Reizwort überhören vorschnelle Versuchspersonen
unter AuQerachtlassung des Zieles das zweite Reizwort haufig. Die Anzahl der
nicht angebbaren zweiten Reizworte rechnet als volle Fehlerzahl und wird der
Zahl der Fehlreaktionen hinzuaddiert. Bei 3 (für Erwachsene bei 2) Fehlern ist
die Willensstarke durchaus genügend. Liegt der Mittelwert der benötigten Zeiten
über 6 (bei Erwachsénen über 5) Sekunden, so ist die Willenskraft unterdurch-
schnittlich und nicht ausreichend. Verdoppeln sich die benötigten Einzelzeiten
im letzten Versuchsdrittel gegenüber dem zweiten Versuchsdrittel, dann liegt eine
abnorme Willensermüdung vor. Die Bewertung der Willensstarke wechselt mit
den verschiedenen Berufen. Für einige akademische Berufe werden Ziffern und
Kurven an anderer Stelle gegeben.
Korrelationen
Nach Webb korrelieren die verschiedenen Taxierungen der Willensstarke
zwischen 0,40 und 0,75. Sie sind also ziemlich zuverlassig, wenn auch der idealen
1 noch fern. Ich erhielt Werte derselben Gröfienordnung.
1. Vergleichen wir unser Testergebnis mit dem Lehrerurteil über die In-
telligenz bei 27 Madchen der zweitobersten Klasse einer höheren Schule, so er-
gibt sich der Korrelationskoefüzient 0,60 mit dem wahrscheinlichen Fehler 0,05.
Der Wille ist also stark in der Intelligenzschatzung enthalten und bei genauerer
Analyse zeigte sich sogar, daO der Lehrer sich öfters durch einen energischen
FleiO eine zu hohe Inteliigenz hatte vortauschen lassen, und daD er in anderen
Fallen wegen geringerer Willenskraft auch die Inteliigenz unterschatzte.
2. Als Korrelation zwischen dem Intelligenztest von Ries**) und unserer
Willensprüfung ergab sich als Korrelationskoefhzient 0,73 bei einem wahrschein¬
lichen Fehler von 0,065. Diese hohe Korrelation darf nicht verwundern. Stern***)
hatte schon betont, daO dieser Intelligenztest nur eine Seite der Inteliigenz prüft.
*) Bei der groBen Verwandtschaft von Gerucb und Geschmack rechnen wir es nicht als
Fehler, wenn Attribute des einen Sinnes in Iandl3uflger Weise als Reaktionsworte des anderen
Sinnes benutzt werden. Auch sonst werteten wir tolerant aus.
•*) G. Ries, Beitr3ge zur Methodik der Intelligenzprüfung. Zeitschr. f. Psychol. 56, S. 335ff.,
1910. — Vgl. W. Stern, Die Intelligenzprüfung an Kindern und Jugendlichen. S. 93ff. Leipzig 1016.
***) W. Stern, a. a. O. S. 94.
102
Henning, Eine Testprüfung des Willens
Wir dürfen sogar weiter gehen: wenn bei Ries der Schuier das Reaktionswort
als Ursache nehmen und dazu die Wirkung reproduzieren soll, so handelt es
sich um ein willkürliches Besinnen, bei welchem die Aufgabe- oder Zielvorstellung
peinlich festgehalten werden muQ, damit sie ihre reproduzierende Kraft entfaltet.
Ob es sich nun um ein gewöhnliches willkürliches Sichbesinnen, um ein ziel-
bewuQtes Tatonnieren oder andere Verhaltungsweisen handelt, auF alle Falie kommt
eine willkürliche Beeinflussung des Vorstellungsverlaufes mit ausgesprochenen
Zielvorstellungen als Hauptmoment in Frage*). Dieser Intelligenztest stimmt sich
also wesentlich auF die Zielvorstellungen ab, weniger auf die Anpassung an neue
Forderungen, und deshalb muB sich eine hohe Korrelation zum Willen ergeben.
3. In der Tat zeigte eine Prüfung der Intelligenz mit der Bilderbogenmethode
nur die Korrelation 0,38 (wahrscheinlicher Fehler 0,45) zu unserm Willenstest.
4. Wir vergleichen nun die Rangordnung nach den Zensuren in Betragen,
FleiQ, Aufmerksamkeit und Ordnungsliebe (als Resultante) mit dem ex¬
perimentelen Willenstest für 22 Oberprimaner. Die allgemeine Erwartung, daO
in dieser Beurteilung das Willensmoment steekt, wird nicht getauscht: der Korre-
lationskoeffizient halt sich auf 0,72 bei einem wahrscheinlichen Fehler von 0,07.
5. Bei 28 Erwachsenen (Versuchspersonen der oben genannten Arbeit) ergab
sich als Korrelationskoeffizient zwischen Willenstest und Willensschatzung der
Wert 0,65 mit dem wahrscheinlichen Fehler 0,10. Für 30 Kinder im Alter von
15—17 Jahren erhielt ich den Wert 0,61 mit dem wahrscheinlichen Fehler 0,15.
6. Indessen fragt sich, ob und wieweit wir berechtigt sind, aus der Güte der
Leistung und ihrer Schnelligkeit eine Resultante zu bilden. Hierzu ver¬
wenden wir die Testergebnisse an 45 in Amt befindlichen Redakteuren und 25
Anwartern (Studenten), die sich von mir in dieser Hinsicht prüfen lieOen. Zur
Auswertung bieten sich am bequemsten die von Stern**) angegebenen Formeln
der Kontingenz dar.
Aus den Selbstbeobachtungen hatte sich ergeben, daO ein starkes innerliches
Schwanken, ein Hin- und Hergezogenwerden und eine Unentschiedenheit erlebt
wird, sobald die Reaktion langer als 5 Sekunden dauert. So wollen wir hier den
Schnitt zwischen rasche und langsame Reaktion anbringen, obwohl eine weniger
tolerante Bewertung unter „rasch" wesentlich kürzere Reaktionen verstehen dürfte,
bei denen ein innerer Kampf nicht immer ausbleibt. Die Scheidung in gute und
schlechte Leistung erfolgt nach den Fehlerdurchschnitten.
rasch
langsam
Summe
gute Leistung:
34 (48,6 Vo)
12 (17,1 Vo)
46 (65,7 Vo)
schlechte Leistung:
10 (14,3%)
14 (20%)
24 (34,3 Vo)
Summe:
44 (62,9 Vo)
26 (37,1 Vo)
70 (100 Vo)
*) G. E. M ü 11 er, a. a. O., S. 425IT., 1913. — **) W. S tern, Different. Psych., S. 310f., Leipzig 1911.
Henning, Eine TestprGfung des Willens
103
Die Wahrscheinlichkeit, daQ geschwinde Reaktionsform und gute Leistungs-
fahigkeit rein zufallig zusammentreffen, ist hier sehr hoch, namlich 41,3%. In
Wirklichkeit zeigen 34 Personen heides, aIso7,3% mehr, als die Wahrscheinlich¬
keit es nahelegt, wobei es sich um eine positive Tendenz handelt. Der Kontingenz-
grad (Geschwindigkeit - gute Leistung) betragt nur 0,338 und der Grad der Kon-
tingenz (gute Leistung Geschwindigkeit) ebenfalls 0,3. Da der ideale Wert
gleich 1 ist, scheint es schlecht um den inneren Zusammenhang der beiden Eigen¬
schaften zu stehen.
Betrachten wir das Menschenmaterial naher, so andert sich unser Urteil freilich,
denn wir stoQen dabei auf zwei getrennte berufspsychologische Gruppen.
Die 44 raschen Personen setzen sich namlich zusammen aus 20Politikern, 9 Studenten,
welche politische Redakteure werden wollen, 5 Sportredakteuren, 4 Handelsredak-
teuren, 1 Lokalredakteur und nur 2 beruflichen und 3 studentischen Feuilletonisten.
Hingegen hnden wir unter den 26 langsamen Persönlichkeiten 8 beruFliche und
13 studentische Feuilletonisten, 4 Lokalredakteure und 1 Handelsredakteur, aber
keinen einzigen politischen Redakteur.
Auch die zweite Scheidung nach der Güte der Leistung zeigt dieses Bild: kein
einziger der 20 Berufspolitiker rangiert unter den schiechten, aber 12 studentische
und 2 schon amtierende Feuilletonisten.
In der Tat stellt der Feuilletonist einen Sonderfall der Eignung dar: starr fest-
gehaltene Zielvorstellungen hindern gerade den flüssigen Ablauf der dichterischen
Phantasie, wie sich in besonderen Experimenten zeigte*), und worauf ich schon
einen entsprechenden Test für Künstler vorschlug**). In anderm Zusammenhang
greife ich hierauf zurück.
DaO die Feuilletonisten und einige wenige Lokalredakteure, die zudem etwas
behabig waren, nur ein beruFspsychologisches Extrem bilden, ergibt sich aus der
Korrelation zwischen der Güte der Leistung und Geschwindigkeit für die 16 und
12 Erwachsenen, für 25 Studenten (in wissenschaftlichen Übungen) und für die
genannten Kategorien der Kinder und jungen Manner. Die Korrelation betragt
hier sogar 0,83 bei einem wahrscheinlichen Fehler von 0,007. Gerade solche
extremen Werte lehren, daO man in mancher Hinsicht vorsichtiger sein muO als
bisher. Der Beruf trennt oft in gegensatzliche Gruppen, was im groQen ge-
mischt recht einheitlich aussehen mag. Die Börse braucht geschwinde Köpfe,
in Kanzleien sammeln sich langsamere, und ahnlich steht es überall.
7. SchlieDlich bleibt noch die Frage, ob unser Verfahren eine Korrelation zu
Ablenkungs- und Störungsversuchen aufweist, denn das zweite Reizwort lenkt
ja von der Richtung ab, welche die Zielvorstellung fordert, und eine gewisse
Störung ist damit gegeben. Freilich zeigte sich sofort, was schon der Selbst-
beobachtung zu entnehmen war, daO dieser innere Kampf der Motive nichts mit
einer sensorischen Ablenkung oder Störung zu tun hat.
*) Henni ng, a. a. O. S. 84ff.
**) a. a. O. S. 96.
104
Henning, Eine Testprüfung des Willens
Auditive Versuchspersonen muDten im einfachen Reproduktionsversuch auF
ein zugerufenes Reizwort reagieren, wahrend gleichzeitig mehrere Metronome un-
regelmaOig schlugen und anderer Larm ertönte; bei Visuellen bestand die Störung
in optischen Reizen, bei Motorischen in lautem Zahlen wahrend des Versuches.
Die Reproduktionsleistungen und Reproduktionszeiten stehen zu unserer Willens-
prüfung in einer negativen Korrelation. DaO beide Male ganz andere Anforderungen
vorliegen, zeigte sich schon an einzelnen Persönlichkeiten: mancher geistig sehr
Willensstarke wird durch Larm erheblich gestort, mancher Willensschwache
gar nicht.
Bew&hrung durch die Praxis
Unsere Versuche wurden 1911 —1913 in StraOburg, Koblenz, Tübingen, Berlin
und Hannover angestellt. Es fragt sich nun; bestatigt der Lebenserfolg das Test-
ergebnis? 10—12 Jahre sind eine hinreichende BewahrungsFrist. Freilich scheiden
inFolge des gesetzlichen Verbotes der Kündigung Angestellter, infolge der Kriegs-
verluste, der Ausweisung aus StraQburg und der Besetzung der Rheinlande von
500 Versuchspersonen 298 Personen aus, die ich nicht im Auge behalten und
werten konnte, und es bleiben nur 202, welche oben allein berücksichtigt sind.
Bei ihnen zeigt sich eine auOerordentliche Übereinstimmung sogar in
extremen Pallen.
Als Beispiel sei der markanteste Fall gegeben. Ein Chirurg und Sportsmann wurde von
zebn Beurteilern als ausgesprocbenste Willensnatur an erster Stelle der gescbStzten Rangordnung
gestellt, wihrend er nach dem experimentellen Ausgang als allerletzter rangierte. TatsScblicb
erlitt er im Kriege als Arzt einen Zusammenbruch mit Abulie (obne auQerordentlicbe kuBere
AnISsse), welcbe ausbellte. Nacb dem Kriege erhielt er bei seiner Ausweisung aus abgetretenem
Gebiet zwei vorteilbafte Stellen in Deutscbland. Er brach aber bald wieder mit seinem durcb-
aus auf alldeutscben Lebensauffassungen, preuBischen Oflizierstum und Korpswesen aufgebauten
Cbarakter zusammen, wechselte den Beruf und wanderte wegen.eines Augenblickvorteils in fremdes
Staatsgebiet zurück, verlor den Zusammenbang mit seinen Freunden und lieB feste Linien der
Lebensführung vermissen. Die neuerdings wieder befragten Beurteiler sagten^un: sie bStten
sicb damals tSuscben lassen durch die SuBeren Formen und gSben jetzt dem experimentellen
Ausgang recht.
Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise
von Triebwagenführern*)
Von Dipl.-Ing. Ulricb Hal
(Aus dem Psycbologischen Laboratorium
Ü berschaut man das ganze Gebiet der
vom psychotechnischen Gesichtspunkte
unterscheiden:
1. die Gruppe der Motorwagen-, SchifFs-
zipiell auF beiden Seiten, sowohl auF
seiten des die Freie Fahrt hemmenden
HandlungsFreiheit und Möglichkeit in
ohne jede Beschrankung.
Ibauer, Hamburg
der Hamburgischen UniversitSt)
FahrzeuglenkerberuFe, so muO man
aus prinzipiell drei groOe Gruppen
und FlugzeugFührerberufe, wo prln-
seiten des Fahrzeugführers, als auF
Hindernisses volle Bewegungs- und
der Flache bzw. im Raum vorliegt
*) Ein auf die Methodik und Eichung der gesamlen Prüfung besonders eingebender Bericht
wird sp3ter in der Zeitscbrift für angewandte Psychologie erscheinen.
Hallbauer, PrQfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von TriebwagenfObrern 105
Man kann diese Gruppe auch noch unterteilen unter dem Gesichtspunkt:
a) daO ein Motorwagenführer lediglich auf Grund der Bewegungen,
Bewegungsansatze und der durch die Fahrordnung gegebenen Bewegungs-
möglichkeiten der direkt auftretenden Hindernisse seine Entschlüsse und
Handlungen vollführt;
b) daO bei dem Schiffsführer für die Nachtfahrt auOerdem ganz be-
stimmte Zeichen (Lichter und Signale) hinzukommen, die erst durch
die Fahrordnung eine Bedeutung gewinnen.
2. die Gruppe der StraQenbahnführerberufe und der Führung ailer Art von
Fahrzeugen, die sich zwar auf Gleisen, aber nicht auf besonders abge-
sperrtem Gebiet, bewegen, wo auf Seiten der auftretenden Hindernisse
volle Bewegungsfreiheit und Möglichkeit vorherrscht, wo dagegen die eigene
Bewegungsfreiheit sehr eingeschrankt ist und zwar lediglich auf lineare
Bewegungen. Die Hindernisse treten hier direkt in die Erscheinung ohne
Vermittlung von Signalen und Zeichen.
3. Die Gruppe der Triebwagen- und Lokomotivführerberufe, wo nun auch die
Bewegungsmöglichkeit der Hindernisse durch den getrennten Fahrdamm
beschrankt ist und auQerdem die Hindernisse nur in seltenen Fallen, wie
bei Bahnübergangen odec auf denselben Gleisen sich bewegenden Zügen,
direkt in Erscheinung treten, sondern wo in der Regel die erforderlichen
Handlungen, soweit sie nicht in gleicher Weise wie bei der Führung jedes
Fahrzeuges in der Bedienung derMaschine bestehen, durch abstrakte Zeichen
und Signale geregelt werden, deren Bedeutung „gewnOt" werden muO.
Diese verschiedenen Gruppen erfordern nun auch von den Führern ver-
schiedene Arten und Grade von Handlungen und dementsprechend von Fahig-
’ kelten, die auQeren Ereignisse und Gegebenheiten „aufzufassen" und zu „be-
antworten".
Hierbei sei unter „Fahigkeit** lediglich auf Grund der ailgemeinen Lebens-
erfahrung und des Sprachgebrauches, unter Verzicht auf eine bisher von der
wissenschaftlichen Psychologie noch nicht gegebene befriedigende Grundlegung
des Begriffes, jene innere Bedingung bezeichnet, die erfülit werden muO, damit
auf einen bestimmten Reiz hin, der in den psychischen Bereich eines Menschen
einflieQt, eine bestimmt gerichtete Handlung des Menschen herausflieOt.
Und die Lebenserfahrung zeigt, daQ bei bestimmten gleichen Vorbedingungen
eine bestimmte GesetzmaOigkeit dieses Zusammenhanges vorhanden ist, und der
praktische Psychologe darf sich mit voller Berechtigung darauf stützen, so-
lange die wissenschaftliche Grundlegung noch nicht restlos geklart ist; er muO
sich nur darüber klar sein, daO er eine so gefundene Methode nicht ohne
weiteres verailgemeinern darf.
Daher war es auch nicht statthaft, für die Prüfung von Triebwagen-
führern, wie sie im Auftrage der Eisenbahndirektion Altona das Psychologische
Laboratorium an der Universitat Hamburg übernahm, ohne weiteres jene Methoden
106 Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenfübrern
anzuwenden, wie sie bisher für die Prüfung von StraOenbahn-, Kraftwagen-,
Fiugzeugführern ausgearbeitet sind, zu übernehmen. Ja, es erschien auch aus
demselben Grunde ratsam, selbst nicht die Lokomotivführerprüfung für Fern-
strecken der Reichsbahndirektion Dresden, die der oben erwahnten Gruppen-
einteilung nach der Triebwagenführer-Prüfung am nachsten kommt, unverandert
zu übernehmen, sondern von den besonderen Verhaltnissen der Hamburger Vor-
ortbahn ausgehend, eine spezielle Methode auszuarbeiten.
Das Studium des gesamten Fahrbetriebes, der Strecken- und Signalverhaltnisse
der Hamburger Vorortbahn ergab nun in groDen Zügen, daO für die Prüfung
eine Urteilsbildung über folgende „Fahigkeiten“ des Schaffners vor allem er-
forderlich sei:
1. Richtige Schatzung der Geschwindigkeit des Fahrzeuges relativ zur Um-
gebung, direkt und indirekt, ferner des Geschwindigkeitsabfalles bei der
Bremsung und des Beharrungsvermögens des Fahrzeuges bei dem Auslauf.
2. Streckenkenntnis und Streckengedachtnis.
3. Konzentration.
4. „Distributive“ Aufmerksamkeit.
5. Fabigkeit, die Aufmerksamkeit trotz zeitweiser Haufung und zeitweisen
langeren Ausbleibens der Reize dauernd in gleicher „Bereitschaft*' zu halten.
6. Fahigkeit des schnellen Erfassens kurz sichtbarer und plötzlich auftauchender
Signale usw., des schnellen und entschlossenen Handelns auf diese.
7. Fahigkeit einer sicheren, irrtumsfreien Zuordnung der geforderten Hand-
lungen zu den fordernden Signalen und Zeichen.
Ferner in einem gewissen Grade:
8. Fahigkeit, sich neuen allgemeinen Lagen anzupassen.
9. Übungsfahigkeit und Ermüdbarkeit.
10. Fahigkeit, vorhandene Hemmungen durch Willensanspannung und Ausdauer
zu überwinden,
11. Zuverlassigkeit und Gewissenhaftigkeit.
Für die Prüfung der unter 1. genannten Fahigkeiten wurde der „Geschwindig-
keitsschatzungs-Apparat und Bremsprüfer" nach Werner verwendet*).
Für die Prüfung des Signal- und Streckengedachtnisses wurden eine Reihe
von Bildertests entworfen, deren Anwendung aber wegen der zunachst nicht voll
befriedigenden Ergebnisse noch zurückgestellt wurde.
Für die Erfassung der übrigen Fahigkeiten wurde nun mit Rücksicht auf die
oben erwahnten theoretischen Schwierigkeiten auf eine Anwendung einzelner
allgemeiner Methoden verzichtet; dagegen wurde eine Methode ausgebildet, deren
Aufgabe es sein sollte, unter Anlehnung an die wahren Verhaltnisse des Berufes,
den psychischen Gesamtverlauf der Triebwagenführung als Ganzes zur Darstellung
zu bringen, wobei versucht wird, die Erfassung der Einzelfunktionen durch die
') Vgl. den folgenden Aufsatz.
Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenführern 107
richtige Beurteilung und Trennung der Endergebnisse zu erreichen, einerseits.
Andererseits wurde die Methode so ausgebaut, daB die Möglichkeit offen gelassen
wurde, die persönliche, individuelle Beobachtung, wie sie in der Praxis so über-
wiegend der Leistungswertung zugrunde gelegt wird, in vollem Umfange mit
heranzuziehen; eine Forderung, die gerade in letzter Zeit auch von praktischen
Psychologen scharf vertreten wird.
Auf Grund solcher Erwagungen wurde nun ein neuer Apparat gebaut, der
unter dem Namen „Signalstreckenapparat Hallbauer-Stern“ demniichst in der
Fachliteratur noch eingehender beschrieben werden wird. Hier soll nur das
Grundsatzliche der Methode und der Konstruktion gegeben werden.
Der Apparat bat also folgende drei Forderungen zu erfüllen:
1. Er muB eine exakte und dem Irrtum des Versuchsleiters entzogene Zahlung
und Messung einer Reihe von Teilhandlungen ermöglichen, die auf Grund
der Analyse des Gesamtarbeitsvorganges auf bestimmte Fahigkeiten rück-
schlieOen lassen.
2. Er muB — wenn auch im Schema — die innere Einheitlichkeit und Natür-
lichkeit des Gesamthandlungsverlaufes, wie er der Führung eines Trieb-
wagens zugrunde liegt, bis zu dem Grade gewahrleisten, daO dem Prüfling
die innere, seelische Einstellung ermöglicht wird, „als ob" er sich in der
„Wirklichkeit“ befande, und daB dem Prüfungsleiter die Grundlage einer
objektiven Beobachtungs- und Leistungswertung geboten wird, die im
Prinzip zu gleichen Ergebnissen zu kommen gestattet, wie eine solche
wahrend des wirklichen Fahrbetriebes.
3. Er muB so ausbaufahig und durchsichtig sein, daB er genügend Wege frei
laBt zu einer Entwicklung und wissenschaftlichen Erforschung der Beobach¬
tungs- und Wertungsfahigkeiten der Prüfungsleiter.
Hieraus ergab sich die
Gesamtanordnung der Einrichtung,
die aus den beigefügten Abbildungen 1 und 2 ersichtlich ist und im folgenden
kurz beschrieben werden söll.
a) Anordnung der Reizgebung.
Grundlage der Reizgebung sind Signale, die in ihrer Bedeutung entsprechend
der Signalordnung der Reichsbahn gewahlt sind. Sie behnden sich nicht, wie bei
der Dresdener Anordnung, auf einem festen Streckenbild, sondern sie bewegen sich
auf den Führer zu, der scheinbaren Bewegung bei dem Fahren gleichkommend.
Zur Erzielung dieser Wirkung wurde verwandt das bereits von Münsterberg
benutzte unendliche, über Rollen laufende Band mit aufgezeichneten Signalen,
die nach der Anordnung der Sternschen Apparatur*) mit einer von unten und
*) S. Zeitscbrift für angewandte Psychologie 1920, Heft 3/6, Abbandlung von Dr. Hildegard
Sachs über Prüfung zur Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise.
108 Hallbauer, Prüfung der Aufraerksamkeits* und Reaktionsweise von Triebwagenführern
in verschiedenen Kasten getrennt erfolgenden Beleuchtung versehen sind. Die
Bewegung des Bandes geschieht auch hier durch Motorantrieb.
Diese Vorrichtung wurde nun in folgender Weise weiter ausgebaut:
Das zur Verwendung kommende „Signalband“ ist in der Langsrichtung in
drei Streifen eingeteilt. Auf dem mittleren Streifen sind Vor- und Hauptsignale
aufgezeichiiet, die abwech-
selnd rot und grün auf-
ieuchten können. Auf den
beiden Seiten dagegen sind
einmal folgende Zeichen
und Signale angebracht, die
eine Reaktion von seiten
des Fahrers fordern: Aus-
schalt-,Einschalt-,zwei ver-
schiedene Halt-Scheiben,
eine Kopfscheibe, die einen
Mann auf der Strecke be-
deutet, zwei enge Reihen
weiOer Scheiben, die einen
Bahnhof bedeuten; diese
Signale sind nun ihrer Be-
deutung entsprechend zu
beantworten durch Aus-
schalten des Stromes, durch
Einschalten, durch Halten.
Ferner solche Zeichen und
Signale, die fiir den Fahrer
keine Bedeutung haben und
nur dazu dienen, das Ge-
samtbild vielseitiger zu ge¬
stalten und nach der Seite
hin verschiedene Zonen fiir
Abbildung 1. Signalstreckenapparat Hallbauer*Stern die Reizgebung ZU schaffen,
z. B. Hauptsignale, die ge-
wissermaQen als an Nebenstrecken befindlich keine Gültigkeit fiir den Fahrer haben.
Zum Zwecke der Belichtung dieser Signale lauft das Band iiber einen Kasten,
der dreimal in der Langsrichtung und einmal in der Querrichtung geteilt ist,
so daO sechs verschiedene Abteilungen entstehen. Die beiden mittleren Abteilungen
sind je abwechseind mit roten und grünen Lampen besetzt, die vier seitlichen
Kasten sind mit weiOen Glühbirnen besetzt, die ein- und ausgeschaltet werden können.
Diese bewegten Signale und Zeichen sind nun nicht im Zeltpunkt ihres Er-
scheinens, sondern erst an bestimmten Stellen ihres Weges iiber den erleuchteten
Hallbauer, PrGfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenfübrern 109
Kasten zu beantworten. Diese Stellen sind als Entfernungsmarken dargestellt
durch Zonenlichter, die am Rande des Kastens angebracht sind, und zwar bedeutet
Stelle 1 die Entfernung, bei der jedes Signal in seiner eigenen Bedeutung reaktions-
fordernd wirkt, wahrend Stelle 2 bei Haltsignalen die Entfernung für das Aus-
schalten des Stromes bedeutet. AuOer diesen in Bewegung befindlichen Signalen
und Bildern, die eine bestimmte Konzentration der AuFmerksamkeit von seiten
des Fahrers erforden, kommt noch eine Reihe abienkender Reize in Frage, und
zwar: ein im Führerstand angeordnetes Manometer, das das Anzeigen des Luft-
druckes vorstellen soll und dessen Zeiger (durch Ein- und Auslegen eines Schalters)
auf den Nullpunkt ausschiagen kann. Ferner kann als Gehörsreiz an dem Antriebs-
motor ein schnarrendes Gerausch ertönen, das das Defektwerden einer Motoren-
gruppe zur Darstellung bringt. Das AuFleuchten einer Brustscheibe neben der
Strecke bedeutet einen Menschen, der sich dem Gleise nahert; das Ertönen eines
dreimaligen Klingelzeichens bedeutet sofortiges Halten.
b) Prüfstand.
Der Stand des Prüflings ist dem Führerstand auf dem Triebwagen entsprechend
ausgebildet; er ist nach vorn und etwas seitlich durch einen runden Schirm
abgeschlossen, um Störungen von dem Prüfling abzuhalten; durch ein Fenster
im Schirm schaut der Prüfling auf das bewegte Band, d. h. gewissermaOen auf
die „Strecke".
lm Führerstand selbst sind dieselben Hebei und Kurbein angebracht wie im
Triebwagen, um dem Prüfling die gesamte wirklichkeitsahnliche Einsteliung zu
ermögiichen, indem man ihm mehr oder weniger gewohnte Einrichtungen in die
Hand gibt, und zwar: links die Kurbel zum Ausschalten und Einschalten des Stromes,
rechts der Hebei zum Betatigen der Bremse und zum Auffüllen des Luftdruck-
zylinders; ferner links oben ein Hebei zum Abgeben des Warnungssignales,
rechts unten ein Hebei zum Ausschalten des Motorgerausches und das Handrad.
Es besteht nun nicht nur der sinnvolle, konkrete Zusammenhang zwischen Reiz-
gebung und Reaktionsabgabe, sondern die Einrichtung ist so getroffen, daB auch
die Reaktionen wiederum auf die Reizgebung zurückwirken: Auf die Einschalt-
bewegung tritt die Bewegung des Bandes ein, auf die Bremsbewegung das
Halten usw.; denn erst wenn so durch Eintritt des Erwarteten die innere Spannung
des Fahrers gelost wird, ist die volle wirklichkeitsahnliche Einsteliung des Prüf¬
lings gewahrleistet.
c) Anordnung der Schreibvorrichtung.
Um nun eine exakte und objektive Notierung der tatsachlichen Ausführung
und des zeitlichen Zusammenhanges der Reaktionen mit den gegebenen Reizen
zu ermögiichen, ist mit der Apparatur ein Schreibapparat verbunden, bestehend
aus 12 Morseschreibern, die bei der Betatigung der Reaktionshandhaben und der
Reizschalter durch NebenschluB von Schwachstromkontakten zum Anzug gebracht
werden gegen einen mit der Bewegung des Signalbandes in Verbindung stehenden
Papierstreifen.
110 Hallbauer, PrilTung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenfübrern
Über die Anwendung und Bedienung der Apparatur
sei kurz folgendes gesagt:
a) Instruktion.
Da der Zweck der Prüfung ist, den Grad und die Form der Aufmerksamkeit
zu erfassen, nicht die Auffassungsgabe und Intelligenz, können gleiche Prüfungs-
bedingungen nur durch eine solche Vorbereitung erzielt werden, die einmal die
gleiche Einstellung des Prüflings, „als ob“ er sich auf der Strecke befande und
andererseits die vollkommene Klarheit des Prüflings darüber, was in der Aufgabe
gefordert wird, gewahrleistet.
Daher wurde einerseits von einem wortgetreuen Vorlesen dec Instruktion
ganz abgesehen, urn die Instruktion individuell gestalten zu können und von
Anfang an die Instruktion mit der Fragenbeantwortung und der praktischen
Ausführung zu verbinden, damit die Aktivitat des Prüflings von vornherein wach-
gerufen ist.
Und andererseits wurde die Instruktion bis zur vollkommenen theoretischen
Klarheit des Prüflings über die Aufgabe durchgeführt, Nach der Instruktion wird
eine, nicht für alle Prüflinge gleiche „Probestrecke" gefahren.
Aus der Gesamtzeit der Instruktion kann bei richtiger Beobachtung und
Beurteilung der Nebenumstande auf die Auffassungsgabe des Prüflings geschlossen
werden, aus der Art, wie die Probestrecke gefahren wird unter gleicher Vor-
bedingung, auf seine Einstellungs- und Zuordnungsfahigkeit und ebenso auf seine
Anpassungsfahigkeit an neue Lagen und Bedingungen.
b) Bedienung der Reizgebung.
Die Bedienung der Reizgebung geschieht durch Bewegen von Schaltern und
Tastern am hinteren Ende der Apparatur und durch Umlegen von Klappen, die
die weiBen Signale auf dem Band bedecken, und zwar nach einer ganz bestimmten
festen Vorschrift, die durch ein „Streckenschema“ dargestellt wird. In diesem
sind nun die verschiedenen Möglichkeiten der Reiz- und Signalgebung in ver-
schiedener Art zu einem sinngemiiOen und folgerichtigen Geschehensablauf
zusammengestellt, dergestalt, daB das Signalband von 7,8 m Lange zehnmal herum-
lauft und auf dieser Gesamtstrecke von 78 m alle möglichen Kombinationen der
Signale und Zeichen gegeben werden.
Es treten bei einer Strecke von 78 m im ganzen 105 Reize auf, die sich in
einer Geschwindigkeit von 1 cm/sek. bzw. 2 cm/sek. auf den Prüflihg zu bewegen.
Die Geschwindigkeit entspricht bei einem Modellverhaltnis von 1:25 einer solchen
von etwa 9 bzw. 18 km in der Sekunde.
Dlese wird dreimal gefahren und zwar:
1. Als lange Strecke, bei der die Signale bereits eine bestimmte Zeit vor der
„ersten Entfernungsmarke", d. h. der Stelle der ersten möglichen Reaktions-
forderung sichtbar sind.
2. Als kurze Strecke (Kurven), bel der das erste Auftauchen der Signale mit
der Stelle der ersten möglichen Reaktionsforderung zusammenfallt.
Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenführern 111
3. Die gleiche Strecke wie 2, nur mit doppelter Geschwindigkeit. Das Strecken-
schema liegt der Reizgebung, Beobachtung und Auswertung zugrunde.
Eine Mechanisierung der gesamten Reizgebung, wie sie in vorbildlicher Weise
in Dresden durchgeführt ist, sobald die Gesamtreizfolge für eine langere Prüfungs-
periode festliegt, ist eine naturgemaOe Forderung; sie muOte jedoch bisher wegen
Zeitmangels zurückgestellt werden.
c) Zur Frage der Beobachtung sei hier nur auf einiges Prinzipielle hingewiesen.
Zunachst gilt es zu unterscheiden zwischen der Beobachtung als Erganzung,
Kontrolle und zeitweisen Ersatz der Registriermethode und der eigentlichen
Beobachtung des Prüflings als besonderen selbstandigen Teil der Methode. —
Erstere ist durchaus untergeordneter Bedeutung, sie überflüssig zu machen das
Ziel einer weitergehenden Mechanisierung und Betriebsicherung der Apparatur.
Andererseits wird dadurch gerade erreicht, daC die Krafte des Prüfungsleiters,
entbunden von der mechanischen Arbeit, vollkommen frei gemacht sind für eine
intensive Beobachtung des Prüflings selbst in seinem ganzen Verhaken wahrend
der Fahrt, der Art seiner Bewegung, Grad seiner Ermüdung und Aufregung,
zugleich für ein offenes „Einfühlen" in die gesamte seelische Verfassung des
Prüflings, der Art vorhandener Hemmungen und Beschwerden. Um eine geordnete
Beobachtung möglichst wahrend der Prüfung selbst, solange die Eindrücke noch
unverwischt sind, zu erleichtern, wurden besondere Beobachtungsfragebogen
entworfen.
Ober die
Auswertung und Urteilsabgabe
ist folgendes zu sagen:
Die Diagramme der Schreibvorrichtung ergeben uns die Art und Zelt der
Reaktion in Beziehung zu den auftretenden Reizen. Die samtlichen Reize wurden
für die Auswertung in drei b|^ondere Gruppen zusammengefaGt:
1. Samtliche Reize, die nicht im Zeitpunkt ihres Erscheinens, sondern erst
an den bestimmten Entfernungsmarken zur Reaktion kommen, als sog.
„Konzentrationsreize", da sie eine ganz bestimmte Konzentration des Prüf¬
lings auf den einzelnen Reiz erfordern, um den richtigen Augenblick nicht
zu verpassen.
2. Die so benannten „Ablenkungsreize", wie Motorgerausch, Luftmanometer und
Erscheinen des Mannes neben der Strecke, die die Aufmerksamkeit von
der Strecke ablenken und befolgt werden müssen, sobald die Haupthand-
iung es zulaOt. Die Reaktionen auf diese Reize lassen einen bestimmten
SchluO zu auf die Fahigkeit zu distributiver Aufmerksamkeit.
3. In der dritten Gruppe sind samtliche Reize zusammengefaGt, die über-
raschend auftreten und so schnell wie möglich befolgt werden müssen:
wie das unerwartete Wechseln oder das plötzliche Auftauchen eines Signales
auf dem Laufbande oder das Versagen der Luftbremse, und so einen ge-
wissen Einblick in die schnelle EntschluGfahigkeit des Prüflings gestatten.
112 Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenfflhrern
Für dieWertung der Reaktionen wurde die Zahl der Fehler im Verhaltnis
zur Gesamtzahl der Reaktionen zugrunde gelegt. Die Schwierigkeit liegt nun in
der Bewertung der einzeln vorkommenden Fehlermöglichkeiten. Vollkommen
klar dürfte es sein, daO sie nicht gleichwertig sind. Über das Wie einer ver-
schiedenartigen Bewertung kann letzten Endes nur Erfahrung auf Grund einer
langen Versuchsreihe entscheiden, da eine systematische theoretische Entschei-
dung nicht unbedingt praktisch stichhaltig zu sein braucht; denn wenn es auch
das Ziel der Methode ist, den Gesamthandlungsablauf so zu gestalten, daO sie
möglichst vollkommen die gleiche seelische Einstellung wie in der Wirklichkeit
erzielt, so ware es dennoch falsch, aus der Schwere der Folgen, die ein be-
stimmter Fehler in Wirklichkeit nach sich ziehen würde, ohne weiteres die Be¬
wertung des Fehiers am Apparat abzuleiten. Diese Frage steht zugieich im engen
Zusammenhang mit der Frage, ob „Falsch*-Reaktionen und „Nicht®-Reaktionen
(d. h. das Übersehen von Reizen) gleichzusetzen sind.
Die Verschiedenheit der Bewertung wird durch verschiedene Punktzahl der
Fehler durchgeführt; auf die naheren Einzelheiten einzugehen verbietet hier der
zu knappe Raum.
üm die teilweise Unzulanglichkeit der reinen quantitativen Summierung der
Fehler durch eine qualitative Wertung ausgleichen zu können, werden die Fehler
nicht direkt aus den Diagrammen heraus summiert, sondern die Reaktionen werden
zunachst in besonderen Tabellen gruppenweise zusammengetragen nach Nummer
und Art der Reize und Art der Reaktion und dann die Gesamtzahl der Fehler
aus diesen Tabellen entnommen. Eine weitere Korrektur erhalten die quantitativen
Werte der Diagramme durch die qualitative Wertung der Beobachtungsbögen,
worüber in der schon erwahnten besonderen Abhandlung gesprochen werden soll.
Die endgültige Urteilsbildung geschieht durch Ausgleich der durch die Aus-
wertung der Diagramme und durch die Wertuhg der Beobachtungsbögen ge-
wonnenen Ergebnisse.
In Verbindung mit den Ergebnissen der Prüfung ari dem Wernerschen Ge-
schwindigkeitsmesser und der Testprüfung wurde dann in den bisher durch-
geführten Prüfungen das Gesamturteil gebiidet.
Zur Eichung der Methode und über die bisherigen Ergebnisse
sei kurz folgendes berichtet:
Eine erste Eichung oder besser gesagt Erprobung der Methode wurde an-
gestellt durch die Prüfung von 20 bereits langere Zeit im Eisenbahnbetrieb be-
hndlichen Fahrern. Der Vergleich der Prüfungsergebnisse mit den Betriebs-
urteilen, die in besonderen, von drei verschiedenen Stellen beantworteten
Fragebogen niedergelegt waren und am Verhandlungstische mit den Betriebs-
leitern eingehend durchgesprochen wurden,. ergab das übliche Bild, war aber
im allgemeinen zufriedensteilend.
Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenführern 113
1
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16
2. Prüfung
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Abbildung 2
Eine weitere „Masseneichung“ war, so sehr auch erstrebt, nicht möglich, da
die Eisenbahndirektion mit der Abnahme der eigentlichen Prüfungen drangte.
Mit Rücksicht darauF, daD die übliche theoretische und praktische Prüfung
beim Maschinenamt beibehalten wurde, und mit Rücksicht auf den Ausbau des
Beobachtungsanteils der Methode, gestützt auf eine mehrjahrige Betriebserfahrung,
wurde daher nach Einführung verschiedener Anderungen und Verbesserungen
zur eigentlichen Prüfung geschritten, die also eine „psychologische Vorprüfung"
darstellt.
Es wurden insgesamt geprüft in zwel Prüfungen 49 Schaffner. Die Ergebnisse
sind als Prozentzahlen in der beigefügten Kurve (Abbildung 2) zusammen-
gestellt.
Prüfung der Fahigkeit der Geschwindigkeitssch5tzung
und Bremsführung an Triebwagenführern
Von Privatdozent Dr. Heinz Werner
(Aus dem Psychologischen Laboratorium der Hamburgischen Universitat)
I rp AnschluO an die Ausführungen Hallbauers über die Aufmerksamkeits- und
Reaktionsprüfung von Triebwagenführern sei hier die Apparatur, die Geschwindig-
keitsschatzung und Bremsung betreffend, beschrieben, und der Gang der Prüfung
kurz erlautert.
1. Die Apparatur
Der Geschwindigkeitsschatz-Apparat besteht im wesentlichen aus einem Holz-
gestell von 2,25 m Lange (s. Abbildung 1), in das drei rollende Stahlbander
ohne Ende eingebaut sind. Für die Triebwagenführerprüfung wird allerdings bloli
der mittlere Streifen verwendet. Das Band enthalt eine Anzahl von weiBen, mit
P P. IV, 4. 8
114 Werner, Prüfung der FShigkeit der GescbwindigkeitsschStzung usw. an Triebwagenführern
Ziffern bezeichneten Marken. Bewegt wird dieses Band mittels eines Motors,
dessen Lauf durch einenWiderstand (»Geschwindigkeitsregulator“ s. Abbildung2)
beschleunigt oder verlangsamt werden kann. Die Marken des Stahibandes laufen
auf den Prüfling zu, entsprechend dem in der Abbildung 2 bezeichneten „Stand
des Prüflings“. Es ergibt sich durch die Betrachtung unter schiefem Gesichts-
winkel bei der Bewegung
des Bandes eine „Bewe-
gungsperspektive* derart,
daO eine Marke bei objek-
tiv gleicher Geschwindig-
keit urn so schneller zu
laufen scheint, je naher
sieheranrückt. Einesolche
Bewegungsperspektive ist
auch in der Natur ver¬
handen und darum in
der Versuchsanordnung
nicht vernachlassigbar. —
Durch die Bedienung ei¬
nes „Schalthebels® vermag
man das Band nach kur-
zem AusIauF zum Halten
zu bringen. Durch das
Zurückziehen des Hebeis
der „Haltbremse" kann
die Bewegung plötzlich
gestoppt werden ;dasStop-
pen wird dadurch er-
reicht, daQ der Strom
ausgeschaltet und gleich-
zeitig (vermittels eines
Drahtzuges) ein Brems-
klotz an das Schwungrad
des Motorvorgeleges an-
gepreOt wird. — Über den Stahlbandern befinden sich Klappen Ai, A 2 , As, A*,
welche eine teilweise Verdeckung des rollenden Streifens gestatten. — SchlieOlich
steht mit dem Apparat noch eine „Bremsvorrichtung" mit „Bremskontroller* in
Verbindung. Diese Bremsvorrichtung ist nichts anderes als ein Anlasser zu einem
Motor, d. h.einVorschaltwiderstand, der durch die halbkreisförmige Bewegung eines
Bremshebeis langs einer Skala mehr oder weniger eingeschaltet werden kann. Dabei
geschieht die Bremsung nicht kontinuierlich, sondern in Stufen; jedem Einschnitt
der Skala entspricht eine bestimmte Geschwindigkeitsstufe. Die Bewegung des Bandes
Abbildung 1
Vorrichtung zur Prüfung der Geschwindigkeitsschatzung
Werner, Prüfung der FShigkeit der GescbwindigkeitsschStzung usw. an Triebwagenführern 115
kann also durch das Einsetzen des Bremshebeis in die einzelnen Einschnitte von
Stufe zu Stufe abgebremst werden, bis sie schlieQlich beim letzten Einschnitt
zum Stillstand kommt. Die Führung dieses Bremshebeis wird aufgezeichnet durch
den Bremskontroller. Er besteht aus einem mittels eines Uhrwerks ablaufenden
Papierstreifen; auf diesen schreibt ein Bleistift die Bewegung des Bremshebeis
dadurch auf, daO dieser Stift an einem Zeiger angeschraubt ist, der zwangslauhg
(durch Zahnradübersetzung) die Drehung des Bremshebeis mitmacht. Den zehn
Einschnitten der Bremsskala entspricht eine Reihe von zehn Bleistiften, die auf
dem Papier schreiben, so daö sich bei Bewegung des Papierstreifens ebenso viele
parallele Linien selbsttatig einzeichnen.
2. Die Methodik
der Versuchsanordnung
Mittels dieser Apparatur
wurden — unter Mitwirkung
von cand. phil. H. Wunder-
lich — vier Versuchsanord-
nungen hergestellt, die sich
auf die Prüfung der Ge-
schwindigkeitsschatzung, der
Bremsung und der Kom-
bination beider Fahigkeiten
beziehen. Allgemein galt für
samtliche Versuche, daö die
eigentliche Prüfung erst nach einer Vorübung vor sich ging, die den Zweck
hatte, den Prüfling auDerlich und innerlich mit der Anordnung vertraut zu machen.
a) Der Gedachtnisversuch. Der Prüfleiter stellt mittels des „Geschwindig-
keits-Regulators“ eine bestimmte Geschwindigkeit her. Der Prüfling hat durch
die Betrachtung der Laufmarken sich die Geschwindigkeit einzupragen. Hierauf
wird gestoppt. SchlieQlich hat er durch das Bewegen eines Knaufes am «Regu¬
lator* von einer maximalen oder minimalen Geschwindigkeit her die ursprüng-
liche Bewegung selbst wieder herzustellen. Urn das ausschlieOlich optische
Geschwindigkeitsgedachtnis zu prüfen, eine Unterstützung durch das sich ent-
sprechend der Schnelligkeit verandernde Gerausch der Apparatur also auszu-
schalten, übertönt wahrend der Versuche ein Dauergerausch das Surren des
Motors*). Die Gedachtnisfehler ergeben sich als zahlenmaOige Abweichung der
Werte an der Skala des Widerstandes.
b) Der „Auslauf“-Versuch. Wird durch Bedienung des Schalthebels der
Strom ausgeschaltet, dann lauft das Band noch eine kurze Strecke infolge der
Tragheit weiter: es hat einen „Auslauf*, der um so gröBer ist, je gröOer die Ge-
•) Ich bemerke, daB gegenwartig weitere Versuche im Gange sind, welche bezwecken, auch
den durcb das Körpergefühl und die Gehörsempflndungen vermittelten Bewegungseindruck zu prüfen.
8 *
116 Werner, Prüfung der FSbigkeit der Geschwindigkeitsscbatzung usw.an Triebwagenfübrern
schwindigkeit war. In der Natur hat der Triebwagenführer seinen Zug stets unter
Berücksichtigung eines solchen Auslaufes zum Halten zu bringen, der je nach
der Anzahl der gekoppelten Wagen, nach der Steigung, der Glatte der Schienen,
der Letztgeschwindigkeit usw. verschieden sein wird. AusschlieOlich die Beziehung
zwischen Auslauf und Geschwindigkeit ist Gegenstand unseres Versuches. Die
Prüfung verlauft foIgendermaOen: Dem Prüfiing wird die AuFgabe gestellt, eine
Marke an einer durch einen Querscab gekennzeichneten Stelle genau zum Halten
zu bringen. Dabei muO dem Auslauf entsprechend um so viel früher vor Ankunft
der Marke an der bezeichneten Stelle gestoppt werden, je schneller das Band
lauft. Es werden drei verschiedene Geschwindigkeiten dem Prüfiing vorgegeben
und für jede derselben die Stoppreaktion unter Berücksichtigung des Auslaufes
eingeübt. Nach dieser Vorübung werden in der eigentlichen Prüfung die drei
Geschwindigkeiten gemischt dargeboten, so daB der Prüfiing, frei aus dem Ge-
dachtnis, aus seiner „Erfahrung", zu stoppen hat. Die Fehier slnd als absolute
Werte in der Abweichung des Halteortes vom Signalort gegeben und werden be-
sonders für jede der drei Geschwindigkeiten dem arithmetischen Mittel gemaO
samt Streuung berechnet.
c) Der „Tunnel“-Versuch. Durch diesen Versuch soll die Fahigkeit geprüft
werden, Bewegungen, die nur teilweise in ihrem Lauf gesehen sind, auch dann
zu beurteilen, wenn sie eine gewisse Zeit hindurch irgendwie unsichtbar werden.
Der klarste Fall in der Wirklichkeit ist der, daB ein Signal in seiner scheinbaren
Bewegung anfanglich gesehen, dann aber durch den Rauch einer entgegenkommenden
Lokomotive verdeckt wird, wobei trotzdem am Signalort gehalten werden muB.
AuBerordentlich viel hauhger sind die Falie, daB bewegte Gegenstande, auch
wenn sie gesehen werden könnten, überhaupt nicht wahrend ihrer ganzen Zeit
mit den Augen fixiert sind; der tüchtige Führer starrt die Dinge seiner Um-
gebung nicht kontinuierlich an; er muB die innere Möglichkeit haben, sich z. B.
seiner Apparatur zuzuwenden usw., ohne daB dadurch die Bewegungsschatzung
gestort wird. Der Versuch prüft die Fahigkeit der Beurteilung teilweise unsicht-
barer Bewegungen folgendermaBen: Ein Stück des Bandes wird durch die oben
angegebenen Klappen verdeckt, so daB die Marken zum Teil lm „Tunnel®, „unter-
irdisch", laufen. Der Prüfiing hat die Aufgabe, eine Marke zu verfolgen, bis sie
verschwindet, und nun zu stoppen, sobald er glaubt, daB die unterirdisch laufende
Marke an einem bestimmten, vom Versuchsleiter bezeichneten Signal angekommen
ist. Das Stoppen geschieht durch die plötzlich wirkende Haltbremse. Auch hier
kann der Fehier als Differenz zwischen dem Halteort der Marke und dem Signal¬
ort abgelesen werden. Der Versuch laBt eine betrachtliche Variation zu, einer-
seits durch Veranderung der Geschwindigkeit, andererseits durch die Verschieden-
artigkeit des Verdeckens.
d) Der Bremsversuch. Die Bremsung der Trlebwagen geschieht auf die
Weise, daB der Führer nach Ausschaltung des Stromes einen allmahlichen, aber
stufenweisen Stillstand des Zuges herbeiführt. Der Beginn der Bremsung ist
Werner, Prüfung der FSbigkeit der Geschwindigkeitsschatzung usw. an Triebwagenführern 117
ebenso vorgeschrieben wie der Ort, an welchem der Zug zum Halten kommen
soll. Dabei muD die Bremsung möglichst glelchmaCig vonstatten gehen. Die
Prüfung dieser stufenweise harmonischen Bremsung geschieht vermittels der
Bremsvorrichtung. Nachdem der Prüfling mit der Funktion des Bremswider-
standes genau vertraut gemacht worden ist, bat er die folgende Aufgabe zu er-
ledigen: Eine Marke, die am entgegengesetzten Ende auftaucht und vom Prüflelter
bezeichnet wird, muC durch stufenweises Einschalten der Bremse gleichmaOig
so abgebremst werden, daC bei Stillstand diese Marke sich an einem vorher
bezeichneten Signal in der Nahe des Prüflings befindet. Gemessen wird 1, der
Fehler der Abweichung der Marke vom Signalort, 2. wird die GleichmaCigkeit
der registrierten Kurve beurteilt. lm idealen Fall einer vollkommen harmonischen
Bremsung ergibt sich eine gleichmaBige treppenförmige Figur; die Stufen der
Treppe werden um so unregelmaBiger, je unharmonischer gebremst worden ist.
Ein zahlenmaOiges MaB für die RegelmaOigkeit wird gewonnen, indem Anfang
und Endpunkt der Treppe als Diagonale miteinander verbunden werden und dann
von jedem Eckpunkt der Treppe Normale auf diese Diagonale gefallt werden.
Das Mittel der absoluten GröDen dieser Normalen und die Streuung geben ein
durchaus brauchbares MaB für die Beurteilung der Bremskurve.
Anhangsweise sei bemerkt, daB für andere Führerberufe nicht bloB eine
(scheinbare) Bewegung, sondern Bewegungskombinationen in Betracht kommen;
z. B. ist für den StraBenbahnführer nicht nur die scheinbare Bewegung des Wagens,
sondern auch die Bezlehung dieser Bewegung zu der von FuBgangern und anderen
Wagen zu schatzen. Deshalb ist der Apparat so gebaut, daB die Bewegung des
mittleren Bandes kombiniert werden kann mit einer glelchsinnigen des linken,
oder gegensinnigen Bewegung des rechten Streifens, wobei die Geschwindigkeiten
der drei Bander absolut verschieden sind, sich im Verhaltnis aber zwangslaufig
gleich bleiben.
Das Wiedererkennen von Handschriften
Von Dr. Hans Schneickert, Leiter des Erkennungsdienstes beim Polizeiprasidium Berlin
D ieselben psychologischen Voraussetzungen, die der Wiedererkennung von
Personen zugrunde liegen*), wirken auch bei der Wiedererkennung von Hand¬
schriften. Es lassen sich hier zwei Hauptgruppen von Handschriften unter-
scheiden: einmal bekannte Handschriften, deren Urheber man also bereits kennt,
und Handschriften fremder Personen. Die ersteren kann jeder wiedererkennen,
die letzteren wiederzuerkennen und zu identihzieren setzt Sachkunde voraus.
Wir wollen uns hier zunachst mit der ersten Gruppe von Handschriften be-
schaftigen. Es ist eine unumstöBliche Tatsache, daB die meisten Menschen ihre
eigene Handschrift, die Handschriften ihrer Angehörlgen, naher Verwandten,
Freunde und Geschaftsbekannten, mit denen sie in standiger Korrespondenz
*) Vgl. Praktische Psychologie I, 6.
118
Schneickert, Das Wiedererkennen von Handschriften
stehen, mit Sicherheit wiederzuerkennen vermogen. Oft genügt schon ein bloQer
Bliek auf die Adresse des vom Brieftrager überreichten Briefes, urn den Ab-
sender zu erkennen. Wird mir ein selbstgeschriebenes Schriftstück vorgelegt,
so werde ich es an meiner Handschrift bestimmt wiedererkennen, auch ohne
daC ich erst den Inhalt lese oder die Unterschrift prüfe. Wird mir ein solches
Schriftstück aber zum Beweise von rechtserhebiiehen Tatsachen (z. B. in einem
Prozeöverfahren) vorgelegt, dann werde ich mich nicht auf die Wiedererkennung
der Handschrift allein verlassen, sondern werde auch den Inhalt nebst Unter¬
schrift prüfen, ob das mir vorgelegte Schriftstück auch wirklich von mir ver-
faOt, geschrieben und unterschrieben worden ist; denn ich muD unter Umstanden
mit Tauschungen rechnen oder kann auch annehmen, daQ vielleicht die betreffende
Urkunde im ganzen oder in einzelnen Teilen gefalscht worden ist. Diese von
jedem in solchen Pallen geübte Vorsicht hat aber nichts mit der grundsatzlichen
Wiedererkennbarkeit der Handschrift zu schaffen.
Eine erste Voraussetzung der Wiedererkennbarkeit der eigenen Handschrift, wie
auch jeder anderen mir bekannten Handschrift ist aber notwendig, namlich ein
ausreichender Umfang des Schriftstückes. Denn wenn mir nur ein Buch-
stabe oder ein einziges Wort aus meinem Schriftstück vorgelegt wird, so bin ich
niemals in der Lage, danach schon meine eigene oder eines Bekannten Handschrift
wiederzuerkennen. Warum nicht? Weil diese wenigen Schriftzeichen nicht die
Gesamtmerkmale meiner Handschrift enthalten können, sondern nur einen sehr
kleinen Bruchteil davon aufweisen, der mich allenfallszu einem Wahrscheinlichkeits-
schluD der Identitat mit meiner eigenen Handschrift berechtigt. Daher muO auch
einem Schriftvergleichungs-Verfahren, das sich nur auf ein einziges Wort eines
Schriftstückes stützt, wie z. B. die sog. Graphometrie, jede Zuverlassigkeit fehlen.
Was ist aus dem Gesagten zu folgern? Je gröCer der Umfang des Schrift¬
stückes ist, desto gröBer ist auch die Sicherheit Ihrer Wiedererkennbarkeit. Und
dann muG noch eine weitere Voraussetzung gegeben sein: Die Handschrift
muB die natürliche und gewohnte Schreibweise aufweisen, nicht eine ver-
stellte oder gekünstelte (z. B. Rundschrift) oder eine durch seelische oder körper-
liche Einflüsse veranderte. Das entspricht z. B. der Unmöglichkeit, einen Bekannten
im verhüllcnden Maskenkostüm auf den ersten Bliek wiederzuérkennen.
Und schlieBlich muB noch eine dritte Voraussetzung vorliegen: Die sub-
jektive Fahigkeit der Wiedererkennung. Wie es genug Menschen gibt, die
auf Grund taglicher Erfahrung von sich behaupten können, daB sie nur ein
schwaches Personengedachtnis besitzen, so gilt dies auch für Handschriften. In
der Tat gibt es auch eine Fahigkeit, minutiöse Dinge*), wie graphische Merkmale,
im einzelnen, wie auch in der Gesamtheit zu erkennen. Diese Fahigkeit müBte,
um Gutes leisten und einen sicheren Wegweiser in strittigen Pallen bilden zu
*) Wer Millimeter und Milligramme zu unterscheiden vermag, wird eine gröBere Wieder-
erkennungsfahigkeit haben als derjenige, dessen Unterscheidungsvermögen nur auf Zentimeter
und Gramme oder auf noch gröbere MaQe abgestimmt ist.
Schneickert, Das Wiedererkennen von Handscbriften
119
können, in geeigneter Weise geübt und gefördert werden. Wie in vielen anderen
Dingen des menschlichen Lebens genügt auch hier noch keineswegs der gesunde
Menschenverstand allein, urn richtig zu erkennen und zu urteilen, trotzdem viele
Menschen geneigt sind, den gesunden Menschenverstand vor die ofFenbaren Lücken
ihrer Kenntnisse und Fahigkeiten zu stellen. Sind die erwahnten drei Voraus-
setzungen gegeben, dann kann jeder seine eigene Handschrift, wie auch die ihm
bekannt gewordenen Handschriften Dritter mit einiger Sicherheit wiedererkennen,
andernfails ist er Irrtümern gar leicht ausgesetzt.
Wenn aber eine Handschrift bestimmt wiedererkannt werden kann, dann muC
sie auch individuelle Eigenschaften in sich tragen: das sind die Schrift-
merkmale, die, analog den körperlichen Merkmalen in der Signalementslehre, in
primare und sekundare Merkmale einzuteilen sind, urn einen brauchbaren
MaBstab für ihre Beweiswerte zu erhalten. Die primaren Merkmale sind die
individuellen, die einzigartigen Merkmale, die sekundaren dagegen sind die
nichtindividuellen, in ganz ahniicher Weise auch bei anderen Menschen haufig
auftretenden Merkmale. Wenn es auch keine strenge Grenze zwischen beiden
Arten von Merkmalen geben kann, weil in der Natur zwischen den einzelnen
Grundformen auch viele Übergangsformen auftreten, so weiC doch jeder Sach-
verstandige oder sollte es wenigstens wissen, was damit gemeint ist. Oft
beobachtet er rein instinktiv die Grenzen der Beweiswerte der primaren und
sekundaren Merkmale, wenn er von haufig und selten vorkommenden Merkmalen
spricht oder in anderer Weise auf die verschiedene Qualitat der vorhandenen
Schrifteigentümlichkeiten aufmerksam macht.
Der Nichtsachverstandige analysiert beim Wiedererkennen einer Handschrift
diese nicht etwa nach ihren Merkmalen, wie es der Sachverstandige tun muO,
sondern er urteilt nach dem Gesamteindruck oder einem nicht naher bestimm-
baren Merkmalenkomplex, ebenso wie das Wiedererkennen eines Menschen nach
seinem AuBeren, nach Gestalt und Gesichtszügen psychologisch vor sich geht, un-
geachtet mancher von ihm vielleicht besonders hervorgehobener, sein Gedachtnis
wesentlich unterstützender augenfalliger Kennzeichen. Gleich muB hier daran er-
innert werden, daB trotz der GewiBheit der absoluten Unterscheidbarkeit eines Men¬
schen von jedem anderen auf Grund aller seiner körperlichen Merkmale oder
primarer Einzelformen sehr oft Personenverwechslungen eintreten, weil der wieder-
erkennende Mensch gewohnt ist, am Oberflachlichen, namlich den sekundaren Merk¬
malen, haften zu bleiben und von selbst gar keinen Weg findet, sich Klarheit über
die vorhandenen, mangels Sachkunde von ihm aber gar nicht beobachteten Einzel-
merkmale und deren Beweiswert zu verschaffen. Genau so bei der Handschrift!
In meiner „Signalementslehre® ist zur Erklarung der primaren und sekun¬
daren Merkmale auf Quetelets Gesetz hingewiesen worden, das lautet: „Alles,
was lebt, wachst oder vergeht, schwankt zwischen einem Maximum und einem
Minimum, zwischen denen alle Mittelstufen liegen, die um so zahlreicher sind,
je mehr sie sich der Mitte nahem, und um so seltener, je mehr sie sich von
120 Schnejckert, Das Wiedererkennen von Handschriften
der Mitte entfernen." Bertillon hat danach eine Binomialkurve der Körper-
gröOe des Menschen aufgestellt, die sich analog auch auf die handschriftlichen
Merkmale anwenden laOt (Abbildung 1). In dieser Zeichnung bedeutet a die
Normalform, d. h. die Schriftform ohne jedes Merkmai. Die Endpunkte der
starksten Abweichungen von der Normaiform bilden b und c, wo sich die pri-
maren, also selten vorkommenden Formen finden werden, und zwar in b die
Schriftformen mit einem Minimum von Schreibbewegung, also die stark verein-
fachten Formen, und in c die Schriftformen mit einem Maximum von Schreib¬
bewegung, also die stark verzierten oder verschnörkelten Formen. Zwischen
a und b einerseits und a und
c andererseits liegen die gro-
Cen Gruppen der sekundaren
Merkmale.
Wenn nun aus der Wieder-
erkennbarkeit einer Hand¬
schrift das Vorhandensein von
bestimmten Merkmalen gefol-
^ gert werden kann und muC,
so ist damit auch die wissen-
Abbildung I. Binomialkurve schafti iche Grundlage der
Schriftvergleichung (zu
Identitatsfeststellungen) bewiesen. Daran andern auch nichts die sophistischen Ein-
wendungen durch Nichtsachverstandige, insbesondere von Parteivertretern, in
Prozessen, die berufsmaOig vieles bekampfen, was ihrer Beweisführung irgendwie
im Wege steht. Kommen Irrtümer bei der Schriftvergleichung vor, so sind sie
auf Mangel der oben erwahnten drei Voraussetzungen zurückzuführen, nicht aber
auf die bewiesene Tatsache der Unterscheidbarkeit der Handschriften.
Nun spielt das Wiedererkennen von Handschriften noch nach einer anderen
Richtung eine bedeutende Rolle, soweit sie namlich unleserlich sind, also
wegen ihrer schlechten und unvollstandigen Formen schwer oder nicht zweifels-
frei erkennbar sind. Dadurch entstehen zuweilen Irrtümer von folgenschwerer
Tragweite. Einzelne unleserlich geschriebene Wörter in einem sonst leserlich
geschriebenen -fortlaufenden Text sind nur aus dem Sinne des ganzen Wortlautes
zu entziffern. Stehen unleserlich geschriebene Wörter aber ohne Zusammenhang,
z. B. als Unterschriften oder als Einzelbezelchnungen in Verzeichnissen, Adressen,
Rezepten usw., dann ist das Entziffern oft sehr schwierig und führt leicht zu
falschen Wiedererkennungen der Schriftzeichen eines solchen Wortes oder Namens.
Darüber noch einige aufklarende Bemerkungen.
Eine schlechte, d. h. in diesem Falie eine unleserliche oder schlechtleser-
liche Handschrift kann in zwei Fallen schwere rechtliche Nachteile zur Folge
haben, einmal bei den Urkundenunterschriften und sodann bei den arzt-
lichen Rezepten. Es ist Tatsache, daü, wer sehr viel und schnell zu schreiben
Scbneickert, Das \(^iedererkennen von Handschriften
121
hat, seine Handschrift verdirbt, so daC sie schwer leserlich ist, nicht nur für
andere, sondern auch für den Schreiber selbst. Bekanntlich sind die Unter-
schriften bei den von Behörden ausgestellten Urkunden und Benachrichtigungs-
schreiben, wie auch im weitesten Geschaftsverkehr, meistens so unleserlich, daC
eine Entzifferung auch selbst für den Schriftsachverstandigen unmöglich ist. So-
weit gleichzeitig ein Firmenaufdruck oder Stempelabdruck den betreffenden Namen
in Druckschrift wiederholt, wird der Nachteil gewöhnlich ausgeglichen sein. Wer
Massenunterschriften in einem groQen Geschaftsbetrieb abzugeben hat, kann in-
folge der erforderlichen schnellen Erledigung der schriftlichen Arbeiten meistens
auch keine gut leserlichen Unterschriften von sich geben, sie ist und bleibt für
fremde Empfanger unleserlich. Manche gehen in ihrer Sorglosigkeit und Be-
quemlichkeit aber doch etwas zu weit, indem sie Unterschriften leisten, die kaum
noch eine entfernte Ahnlichkeit mit ihrem richtig geschriebenen Namen haben;
sie vergessen dabei, daO solche Unterschriften viel leichter zu falschen sind als
wohl gepflegte Unterschriften. Sie sind dann spater oft aufierstande, ihre eigene
Unterschrift von einer Falschung ihres Namenszuges zu unterscheiden, so daO
seibst echte Unterschriften vom Gegner mit Aussicht auf Erfolg bestritten werden
können; denn nicht in allen solchen Fallen kann bei Beurteilung solcher flüchtig
und oft stark verkürzten Unterschriften der Schriftsachverstandige aufklarend
wirken. Es ist aber ein weit verbreiteter Irrtum, zu glauben, daU eine Hand¬
schrift urn so schwieriger nachzuahmen sei, je flüchtiger sie geschrieben wurde.
Daher ist es erforderlich, daö jeder zum Schutze seiner eigenen Interessen einen,
wenn auch nicht gerade kalligraphischen, so doch gut leserlichen und üieQend
geschriebenen Namenszug sich angewöhnt, was selbstverstandlich nur durch
standige Selbstbeobachtung und -erziehung möglich ist.
Vor vielen Jahren hatte, um hier noch ein Schulbeispiel zu erwahnen, ein
Frankfurter Bankier einem Notar den Auftrag zur Ausstellung eines Wechsel-
protestes gegeben. Die nach Artikel 88 der Wechselordnung angefertigte „wört-
liche Abschrift* des (übrigens hochwertigen) Wechsels hatte die acht Girounter-
schriften alle falsch wiedergegeben, so daO der beklagte Akzeptant den Einwand
machte, daO der Wechselprotest ungültig sei, da er ganzlich falsche Namen ent-
halte und daher an- dem protestierenden Notar, der die Namen der Giranten
unrichtig angegeben habe, RegreO zu nehmen sei. Um nun festzustellen, ob die
in der Protesturkunde angegebenen Namen von dem Notar wirklich falsch gelesen
und abgeschrieben worden seien, wurde seitens des Gerichts bei den als Giranten
aufgeführten Stellen Nachfrage gehalten, die folgendes merkwürdiges Ergebnis hatte:
Die acht Giranten
vom Notar in der Protest¬
urkunde genannt: hieflen wirklich:
1. Richard Schulz
2. Wistling & Comp.
3. Kneisel
4. Wring
Max Senius
Wistinghausen
Kulisch
Lorenz
Die acht Giranten
vom Notar in der Protest¬
urkunde genannt:
5. Rost
6. Blochmann
7. Wimmer
8. Schmidt
hiefien wirklich:
Koch
H. Wendemann
Schmidt
Ullrich
122
Scbneickert, Das Wiedererkennen von Handschriften
Da durch diesen Nachweis ersichtlich war, daQ nach Artikel 88 der Wechsel-
ordnung die Protesturkunde ungültig war, wurde der Klager vom Gericht abgewiesen.
Von Zeit zu Zeit erfahrt man auch von miOverstandlichen Auslegungen der
arztiichen Rezeptniederschriften, die zuweilen von schweren Folgen begleitet sind.
Auch hier sei ein Fall erwahnt, der vor mehreren Jahren die Berliner Gerichte
beschaftigt hatte. Ein Kaufmann, der an Furunkulose litt, erhielt von seinem
Hausarzt das zum innerlichen Gebrauch bestimmte Mittel „Furunculin* ver-
schrieben; in dem Rezept hatte der Arzt die falsche Schreibweise *Forunculin“
gebraucht und das noch mit sehr unleserlicher Schrift geschrieben. Der Apotheker
hatte dies aber als „Formalin" gelesen und als „auBerlich" anzuwendendes
Mittel vorschriftsmaOig verabreicht (in einer Dosis von 100,0). Der Patiënt
wendete, trotz der deutlich lesbaren AuFschrift BAuBerlich“, entsprechend der
mündlichen Anweisung seines Arztes das Mittel innerlich an und spürte bald
seine unangenehme Wirkung, so daO Kalkwasser als Gegenmittel angewendet
werden muBte. Der Patiënt stelite Strafantrag wegen Körperverietzung und wollte
im AnschluO auch eine Schadenersatzklage einreichen. Das SchöfFengericht er-
kannte auf Freisprechung, da ein strafbares Verschuiden des Angeklagten nicht
anzunehmen sei. In der Berufungsinstanz kam die Strafkammer aber doch zu
einer Verurteiiung des Apothekers wegen Übertretung der Bestimmung des § 33
der Apotheker-Betriebsordnung in Verbindung mit fahriassiger Körperverietzung.
Nach jener Bestimmung dürfe eine unleserlich geschriebene Verordnung
ohneAufklarung durch den betre ff enden Arzt nicht angefertigt werden.
Diese zwei Beispiele aus der Praxis mogen jedem die Gefahrlichkeit der
unleserlichen Handschrift eindringlich vor Augen führen und ihn veranlassen,
sich die Pflege einer gut leserlichen Handschrift, namentlich aber auch des
Namenszuges, zur unabweislichen Pflicht zu machen.
Neue Grundlagen der Werbung*)
Von Professor G.v. Hanffstengel, Charlottenburg
D ie bisherige Werbung legt den Hauptnachdruck auf die Erragung der Auf-
merksamkeit und das Zustandekommen des Kaufentschlusses; verhaltnismaOig
wenig Beachtung hndet dagegen die Beeinflussung des Gedachtnisses. Das
Einhammern des Firmennamens durch stete Wiederholung, das Verteilen von
Rekiamegeschenken, die für den taglichen Gebrauch bestimmt sind, sollen zwar
in dieser Richtung wirken. Aber es wird nicht planmaBig dahin gearbeitet,
alles wertvolle Material, das von den Firmen mit hohen Kosten gedruckt und
verteilt wird, so einzurichten, daO die Aufbewahrung erleichiert und ein ge-
nügender Anreiz zum Sammeln gegeben ist. Hier haben nun MaOnahmen der ailer-
neuesten Zeit Wege eröffnet, die für die Industrie gröBter Beachtung wert erscheinen.
*) Vgl. bierzu auch das demnSchst erscheinende Werk: v. Hanffstengel, Die Reklaine
des Maschinenbaues (Verlag von Julius Springer, Berlin).
Hanffstengel, Neue Grundlagen der Werbung
123
1. Benutzung der Paplernormen
Eine Anzahl groDe Firmen, die über eine gut organisierte Reklame verfiigen,
haben sich schon seit einer Reihe von Jahren ihre eigenen Normalformate ge-
schafFen und Sammelmappen entsprechenden Formates an ihre Kunden verfeilt.
Besonders für die Firmen, die eigene Zeitschriften herausgeben, liegt dieses Ver-
fahren nahe. Der regelmaOige Empfanger der Drucksachen einer solchen Firma
erhalt dadurch allmahlich ein umfangreiches Nachschlagewerk, in dem er sich
vorkommendenfalls Auskunft über Art und Preis bestimmter Erzeugnisse holen kann.
Die in den allerverschiedensten Formaten erscheinenden Drucksachen anderer
Firmen zu sammeln,'ist dagegen eine wenig angenehme Aufgabe. Man kann wohl
Flugblatter oder kleine Hefte in Schnellheftern unterbringen, aber die Sammlung
wird stets ungeordnet und unübersichtlich sein, so daO der Anreiz zum Sammeln
gerade für den Ordnung Hebenden Mann nicht allzu groB ist. Es muB daher
vom Standpunkt einer planmaBigen Werbung aus als ein gar nicht hoch genug
zu schatzendes Verdienst des Normenausschusses der deutschen Industrie*) be-
zeichnet werden, daO er die Frage der Papiernormung zu einem endgüitigen
AbschiuB gebracht hat. Die für Werbezwecke wichtigen Gröfien aus der in erster
Linie zu verwendenden Reihe A (DINORM 476) sind:
A4, Viertelbogen, 210X297 mm,
A5, Blatt, 148X210 mm,
A6, Halbblatt, 105X148 mm.
Die Gröüe A4 entspricht in der Breite dem sog. „Folioformat“, in der Höhe
etwa dem bisher üblichen Geschaftsbriefbogen und geht nach kelner Seite über
die bisherigen Formate hinaus, so daO die Normalblatter in den vorhandenen
Ordnern und Schnellheftern untergebracht werden können.
Für die meisten starkeren Druckschriften wird das mittlere Format, 148X210 mm,
zu verwenden sein, das hoch und quer genommen werden kann. Die kleinste
GröBe, 105X148 mm, ist ein béquemes Taschenformat. Diese beiden GröBen
werden sich ohne Zweifel mit der Zeit neben 210x297 mm auch für Flugblatter
einführen, sobald die T.W.Karteien (s. unten) weitere Verbreitung gefunden haben.
Wichtig ist, daB das Normalformat auch für Anzeigen mit Vorteil verwendet
werden kann. Die Zeitschriften haben zwar heute meist ein gröBeres Format.
Es ist aber nur erforderlich, an zwei Seiten eine Linie vorzudrucken, die anzeigt,
WO das Blatt abzutrennen ist, damit der Ausschnitt dem Normalformat entspricht.
Man wird dann darauf rechnen dürfen, daB inhaltlich wertvolle Anzeigen von
einem groBen Teil der Empfanger aufbewahrt werden.
2. Die T.W. Kartel und die T.W. Lehrmlttelzentrale (TWL)
Auf die Papiernormung stützen sich die von der Technisch-Wissenschaft-
lichen Lehrmlttelzentrale**) durchgebildeten Kartelen, in denen alles technisch-
•) Berlin NW 7, SommerstraBe 4a.— **) Berlin NW 87, HuttenstraBe 1206. Vgl. Zeitschrift des
Vereins deutscher Ingenieure Nr. 1 vom 7.Januar 1922. — Stahl und Eisen Nr. 1 vom S.Januar 1922.
124
HanlTstengel, Neue Grundlagen der Werbung
wissenschaftliche Material planmaOig gesammelt werden kann. In diesen tech-
nisch-wissenschaftlichen Kartelen (T.W.Kartelen) können sich unter einem Stich-
wort oder einer Klassifikationsziffer u. a. zusammenfinden:
TWL-Referatenblatter, wie sie von der Lehrmittelzentrale herausgegeben
werden;
Auszüge aus Zeitschriften, Büchern und Patenten;
Ausschnitte aus Zeitschriftenschauen;
Wertvolle Werbeflugblatter, andere Orucksachen und Anzeigen;
Photographien;
Interne Versuchs- und Betriebsberichte eines Werkes;
Private wissenschaftliche Notizen.
Durch die Kartelen wird erreicht, daO alles, was auf einem bestimmten Ge¬
blete schon von anderer Seite oder im eigenen Betriebe geleistet ist, in jedem
Augenblicke zur Verfügung steht; der nachste Bearbeiter soll also da anfangen
können, wo der vorige aufgehört hat. In der Praxis ist es ja leider die Regel,
daö die Berichte über Betriebserfahrungen in den Akten des betrelFenden Kunden
verschwinden, so daO es ein reiner Zufall ist, wenn dieses unter Umstanden
ungeheuer wertvolle Material in einem spateren ahnlichen Falie noch einmal
zum Vorschein kommt. Man ist völlig von dem Gedachtnis weniger Persön-
lichkeiten abhangig, mit deren Ausscheiden elne groOe Summe von Erfahrungen,
obwohl schriftlich niedergelegt, einfach verloren gehen kann.
Wenn solche Berichte, nachdem sie nötigenfalls noch entsprechend redigiert
sind, gesammelt und richtig geordnet werden, so können sie eins der wirk-
samsten Mittel des technischen Fortschritts für ein Werk sein und gleichzeitig
einen Grundstock für die karteimaOige Aufbewahrung alles anderen oben an-
geführten Materials bilden. Hinweiskarten, die nur angeben, an welchen Stellen
das Material zu ünden ist, ohne selbst ausführliche sachliche Angaben zu ent-
halten, werden erfahrungsgemaö nicht in einem der Bedeutung der Aufgabe
entsprechendem MaQe benutzt, weil die Beschaffung der Originalunterlagen'zu-
viel Mühe und Zeitverlust zu verursachen pflegt. Von der TWL werden für den
Handgebrauch Kartelen empfohlen, in welche Blatter von der GröOe 105x 148 mm,
aufrecht stehend, einzuordnen sind. Man kann aber auch die bei den Organi-
sationsfirmen üblichen Kartelen für Karten in der GröOe 100x150 mm benutzen,
indem man die Karten quer stellt. Die Leitkarten sind in diesem Falie 5 mm
höher zu nehmen als sonst gebrauchlich.
Diese Kartelen werden als bestes Aufbewahrungsmittel für Druck-
schriften auch derWerbung in hervorragendem MaCe zugute kommen.
Für ihre eigenen Referatenblatter (TWL-Blatter) hat die Lehrmittelzentrale
eine bestimmte Form ausgebildet. Soweit solche Blatter auf Grund von Unter-
lagen hergestellt werden, die aus der Industrie geliefert sind, fertigt die Lehr¬
mittelzentrale für die Firmen Sonderdrucke an und übernimmt auch deren Ver-
teilung in Industriekreisen und an den Technischen Lehranstalten. Ein solches
Hanffstengel, Neue Grundlagen der Werbung
125
gut durchgearbeitetes, unter Verantwortung der TWL erscheinendes Blatt bildet
zweifellos eine der vornehmsten Formen der Werbung und erfüllt dazu noch
die wichtige Aufgabe, Material für Unterrichtszwecke zu liefern. BeiWerbe-
blattern, die unter eigener Verantwortung der Firtnen erscheinen, steht es
diesen natürlich frei, eine beliebige AusFührung zu wahlen; nur sollten auOer
Einhaltung des Normalformates die für das Ablegen und Wiederauffinden wich-
tigen Angaben in der linken oberen Ecke des Blattes angebracht sein. Je wert-
voller der Inhalt ist, je mehr sachliche Angaben er bringt, urn so starker ist
natürlich der Anreiz zum Aufbewahren des Blattes*).
Erwahnt sei noch, daO die TWL-Blatter regeimaOig den Fachzeitschriften und
Tageszeitungen zur Verwertung des Inhaltes zugestelit werden.
Auch Hefte (Broschüren) im Format 105X148 mm lassen sich ohne weiteres
in die Karteien abstellen. GröCere Hefte (148X210 mm) sind zweckmaOig von
vornherein so auszuführen, daB sie in den Umschlag, der die halbe GröBe,
d. h. die GröBe des Karteiblattes, hat, bequem eingefaltet werden können.
Die Zeichnungen für Abbildungen in Werbedrucksachen sollten stets so aus-
geführt werden, daB sie auch für die Herstellung von Diapositiven nach den
Leitsatzen der TWL benutzt werden können**).
3. Internationale Dezimal-Klassifikation (DK)
Für die Sammlung von Material, das aus den verschiedensten Quellen stammt,
ist ein einheitliches Verfahren der Registrierung dringend notwendig. Stich-
wort-Verzeichnisse lassen sich nicht einheitlich gestalten und am allerwenigsten
international verwenden. In der Tat weisen bereits die deutschen Zeitschriften
und Büchereien eine Fülle der allerverschiedensten Bezeichnungen für einen
Gegenstand auf, so daB der nicht Eingeweihte die gröBten Schwierigkeiten hat,
volistandiges Material zu linden.
Als allgemein verwendbar kommt nur die Internationale Dezimal-Klassifikation
(DK) in Frage, die ursprünglich von dem Amerikaner Dewey aufgestellt und von
dem Brüsseler Bibliographischen Institut weiter ausgebildet ist. Für Deutschland
liegt die Einführung des Systems in den Handen von Dr.-Ing. Lasche, Berlin.
Für das Gebiet der Technik ist die Ausarbeitung in deutscher Sprache der TWL
übertragen worden, die Einzelblatter über die Hauptgebiete herausgibt und das
System auch für die T.W. Karteien und ihre sonstigen Arbeiten verwendet. Im
Ausland ist das DK-System bereits stark verbreitet; neuerdings macht auch die
*) Nahere Angaben über das Zusammenarbeiten von Firmen mit der Lehrmittelzentrale ent-
hait TWL-Blatt 1210: TWL-Merkblatt und TWL 1143: Leitsitze für TWL-Lichtbilder, zu beziehen
von der Normenvertriebsstelle, Berlin NW 7, SommerstraBe 4a, zum Preise der Normblatter.
Vgl. auch die von der TWL erhaltlichen Beispielbiaiter: TWL 425 (Deutsche Petroleum-Akt.-Ges.),
Universal-Lagermetall „Thermit" (Tego-Handelsgesellschaft), Absperr-Schieberventile, System
Fischbach (Schaifer & Budenberg).
**) Die beste Ausnutzung der TWL-Diapositive wird durch die Schaffung zentraler Lichtbild-
sammlungen an Technischen Lehranstalten und bei den „Technisch-Wissenschaftlichen Vortrags-
wesen“, die der Ingenieurfortbildung dienen, zu erreichen sein.
126
Hanffstengel, Neue Grundlagen der Werbung
Einführung in Deutschiand rege Fortschritte. Es scheint nur eine Frage der Zeit
zu sein, daO für das Gebiet der Technik die allgemeine Annahme erfolgt.
Es empfiehlt sich daher, auf allen Drucksachen die DK-ZifFern, die von der
Lehrmittelzentrale zu erfahren sind, anzubringen, damit die Registrierung beim
Empfanger selbsttatig und in richtiger Weise vor sich geht.
Rundschau
Die III. internationale Konferenz
fflr Psychotechnik und Berufsberatung
in Mailand vom 2. bis 4. Oktober 1922
Vom 2. bis 4. Oktober fand in Mailand die
III. internationale psychotechnische Kon¬
ferenz statt. In Anbetracht dessen, daQ eine
Verstandigung der in verschiedenen Landern
auf dem Geblete der Psychotechnik arbei-
tenden Psychologen in einigen wichtigen
Fragen herbeizuführen erwünscht war, hatte
das Organisationskomitee beschlossen, die
Zahl der abzuhaltenden Vortrage auf ein
MindestmaO zurückzuführen und dafür Dis-
kussionen für einige wichtige Probleme zu
veranstalten.
Diese Probleme waren:
1. Was sind berufliche Eigenschaften?
2. Die natürlichen und die erworbenen
Eigenschaften.
3. Psychologische Analyse der Arbeit.
4. BerufsberatungundderTaylorismus.
5. Internationale Vereinheitlichung der
Teste und der Personalbögen.
Zum KongreD erschienen Vertreter von
England, Frankreich, Spanien, Schweiz,
Holland, Belgien, Tschechoslowakei, Luxem¬
burg, Rumanien und Polen.
Referent für die Einführung in die Dis-
kussion der ersten Frage war Lahy (Paris).
Er vertrat die Meinung, daO eine berufliche
Eigenschaft, d. h. die Fahigkeit, eine Berufs-
arbeit auszuführen, hauptsachlich von der
allgemeinen Intelligenz abhange, obwohl
man auch die Rolle dereinzelnen Fühigkeiten
mitberücksichtigen müsse. Der gröüte Teil
der Teilnehmer an der Diskussion war aber
der Ansicht, daO für die Ausführung der
beruflichen Arbeit einzelne Fahigkeiten
gröOere Bedeutung haben als das Vorhanden-
sein der allgemeinen Intelligenz.
Der Referent über das Problem der psy-
chologischen Analyse der Arbeit war Lip-
mann (Berlin). Er sprach die Ansicht aus,
daC eine psychologische Analyse der Arbeit
überhaupt unmöglich sei, da sie kein richtiges
Bild von dem Zusammenhang der in den
ProzeC der Arbeit eingreifenden Fahigkeiten
geben könne. In der Diskussion wurden
dann verschiedene Arten der psycholo-
gischen Analyse der Arbeit naher erörtert.
Die Frage der internationalen Vereinheit¬
lichung der Teste und Fragebogen hatte
Professor Myers (London) zum Referenten,
Er wies auf die Schwierigkeiten hin, eine
solche Vereinheitlichung herbeizuführen,
für welche jedoch Patrizi (Modena) stark
piadierte. Es wurde dann der Antrag Myers
auf die Schaffung einer internationalen
Kommission zur Kontrolle der zurZeit
angewandten Teste mit dem Nachtrag Baum-
garten über die internationale Vereinheit¬
lichung der Methode derTeste angenommen.
Unter Leitung Claparède’s (Genf) fand
eine spezielle Sitzung statt, in welcher die
Frage der internationalen Vereinheitlichung
der Fragebogen bei Berufsberatung ein-
gehend erörtert wurde.
Die Frage der „natürlichen und der er¬
worbenen Eigenschaften* behandelte ein
Referat Decroly s, das von Christieans vor-
getragen wurde. Decroly legte die Notwen-
digkeit einer Auseinanderhaltung dieser zwei
Rundschau — Bucbbesprecbung
127
Arten von Fahigkeiten dar und gab Kri-
terien an, urn sie zu unterscheiden und sie
bei den Kindern festzustellej^. In diesem
Zusammenhang hielt Baumgarten (Berlin)
ein Referat über die „BeruFsneigungen und
die Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung
bei Berufseignungsprüfungen". Fraulein
Vallenzano (Mailand) berichtete anschlie-
Oend über ihre Erhebungen in den Mailander
Schulen über die Berufswünsche.
In der Frage der Berufsberatung und
des Taylorismus berichtete Bauer (Mai¬
land) über einige negative Seiten der Ein-
führung des Taylorismus und F r o i s (Paris)
wies hin auf die groCe Rolle der beruflichen
Auslese bei den Unfallen auf Grund seiner
Erhebungen in den französischen Betrieben.
Die letzten Silzungen wurden den Ver¬
tragen eingeraumt. Hier berichtete Grün-
baum (Amsterdam) über einen neuen Appa-
rat zur Messung der Aufmerksamkeit,
Lipmann demonstrierte den im Hambur-
gischen Laboratorium angewandten Apparat
zur Prüfung der Triebwagenführer. Madame
Lahy-Hollebecque sprach über die Rolle
des Kinematographen für die Berufswahl
der Jugendlichen.
In der SchluDsitzung wurden Beschlüsse
der Konferenz gefaOt, von welchen die wich-
tigsten sich auF die Notwendigkeit der
Schaffung einer Kontrollkommission Für den
diagnostischen Wert der Teste, auf die Ein-
führung einer medizinischen Untersuchung
bei samtlichen Berufseignungsprüfungen
und auf die Mitarbeit der Ingenieure mit
Psychologen bezogen. Bn.
Buchbesprechung
Schreber, K., Der Mensch als Kraft-
maschine. Pflügers Archiv für die ge-
samte Physiologie 197, S. 300, 1922.
Schon Descartes nannte den Menschen
eine sehr verwickelte Maschine. Inwieweit
dieser Vergleich bei den augenblicklichen
Kenntnissen zulassig ist, untersuebt Ver-
fasser durch einen Vergleich mit einer Dampf-
maschine.
Jede Dampfmaschine hat zu ihrem Be-
trieb eine Reihe von Hilfsmaschinen nötig;
Die Förder- und Aufbereitungsmaschinen
auf der Kohlenzeche, die Maschine zum An-
trieb des Förderbandes und des Rostes im
Kesselhaus usw. Ebenso hat der Mensch
eine Reihe von Hilfsmaschinen, die man
innere Organe nennt, z. B. das Herz. Dieses
ist mit der Maschine zum Antrieb des Förder¬
bandes im Kesselhaus zu vergleichen; das
Blut tragt die Nahrmittel zu den einzelnen
Verbrauchsstellen, wie das Förderband die
Kohle zu den einzelnen Feuerstellen schafft.
Von jeder der Hilfsmaschinen seiner Dampf¬
maschine kennt der Betriebsingenieur Ener-
giebedarf und geleistete Arbeit; von den
einzelnen Organen des Menschen kennt
man diese Zahlen noch nicht. Würde man
den UmriB eines Menschen aufzeichnen und
in diesen an die Stelle, wo die inneren
Organe sitzen, die Zahlen für den Energie-
bedarf und die geleistete Arbeit aufschreiben
wollen, so würde das Bild sehr leer bleiben.
Die eigentlichen Kraftmaschinen, in denen
der Umsatz der Energie stattfindet, sind die
Muskeln. Wie dieser Umsatz vor sich geht,
darüber ist man sich noch nicht klar; jeden-
falls müssen aber die einzelnen Teile des
Muskels Umlaufe vollziehen, welche sie nach
jeder Zuckung wieder auf ihren Ausgangs-
zustand zurückführen. Bei den künstlichen
Maschinen sind diese Umlaufe Vierecke, in
denen die Zustandsanderungen der Gegen-
seiten nach demselben Gesetz aber mit
anderen Festwerten verlaufen; bei den Mus¬
keln sind derartige Umlaufe nicht möglich,
weil der Muskei keine Arbeit von auBen auf-
nehmen kann.
Der Mensch als Ganzes ist keine Kraft-
maschine in dem Sinne, wie wir das Wort
z. B. bei der DampFmaschine benutzen; er
gibt keine Arbeit nach auBen ab. Der Stein-
trager, der Steine auf den Bau eines Frem-
den tragt, sorgt nur für sich und seine
128
Buchbesprechung — Eingegangene Schriften
Familie, wie der Fuchs und der Sperling; nur
tut er es auf dem Umweg über das Geld.
Man kann aber doch unter gewissen will-
kürlichen Voraussetzungen den Menschen
als Kraftmaschine behandeln und dann nach
seinem Wirkungsgrade fragen. Über dessen
Berechnungsart herrscht zwischen Physio-
logen und Ingenieuren Meinungsverschieden-
heit. Die Ingenieure bezeichnen als Wir-
kungsgrad das Verhaltnis der geleisteten
Arbeit zur zugeführten Energie, die Physio-
logen dagegen das der Arbeit zum Unter-
schied der wahrend der Arbeit und der Ruhe
zugeführten Energie. Schreber weist auf die
Vorteile der ersteren und die Nachteile der
letzteren hin. Von diesen führe ich hier
nur den folgenden an. Rechnet man nach
Art der Ingenieure, so kann man das Ver¬
haltnis des Wirkungsgrades des Menschen
als Ganzes zu dem des Muskels, welches
ungefahr dem mechanischen Wirkungsgrad
der Ingenieure entsprechen würde, als MaO
für die Eignung festlegen oder für die Übung
in einer Arbeit ansehen; die Berechnungs¬
art der Physiologen macht die Bildung eines
solchen MaBes unmöglich. Dr. W. Ruffer.
Eingegangene Schriften
Apfelbach, Hans, Das Oenkgefühl. Eine
Untersuchung überden emotionalen Charakter
der Denkprozesse. (55 S.) 8®. Wien und Leip-
zig 1922. Wilhelm Braumüller.
Clauberg und Dublslav, Systematisches
Wörterbuch der Philosophie. (VIII,
565 S.) 8®. Leipzig 1923. Felix Meiner.
Doevenspeck, Heinrich, Taylorsystem
und schwere Muskelarbeit. (Lippmann
u. Stern, Schriften zur Psychologie d. Berufs-
eignung u. d. Wirtschaftslebens, Heft 23.) (38S,)
8». Leipzig 1923. J. A. Barth.
Erismann, Dr. Th., u. Moers, Dr. M., Psy¬
chologie der Berufsarbeit und derBe-
rufsberarung (Psychotechnik).
I. Allgemeiner Teil. Mit einer Übersichts-
tabelle (109 S.).
II. Spezieller Teil. Die praktische Anwen-
dung der psychologischen Eignungsprüfung
in den verschiedenen Berufen (114 S.).
(Sammiung Göschen, Band 851/852.) KI. 8®.
Berlin und Leipzig 1922. Vereinigung wissen-
schaftlicher Verleger.
Giese, Dr. Fritz, Psychologie und Psy¬
chotechnik (Dünnhaupts Studiën- und Be-
rufsführer, herausgegeben von Dr. K. Jagow
u. Dr. Fr. Matthaesius, Bd.2.) (VIII, 63 S.) 8®.
Dessau 1922. C. Dünnhaupt Verlag.
Hesse, Kurt, Der Feldhcrr Psychologos.
Ein Suchen nach dem Führer der deutschen
Zukunft. (XVI,219S.) Berlin 1922. E.S.Mittler
& Sobn.
Industrlelle Psychotechnik. Werkstattstechnik
XVI. Jahrg., 1922, Heft 18. Gr. 4®. Berlin 1922.
Julius Springer.
Lutz, Prof. Or. Karl, Tierpsychologie.
Eine Einführung in die vergleichende Psycho¬
logie. (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 826.)
Mit 29 Abbild. (120 S.) 8®. Leipzig u. Berlin
1923. B. G. Teubner.
Oestreich, Paul, Menschenbildung. Ziele
und Wege der entschiedenen Schulreform.
(Entschiedene Schulreform VIL) Vortrageent-
schiedenerSchulreformer,gehalten im Zentral-
institut für Erziehung u. Unterricht zu Berlin,
Januar bis MSrz 1922. (201 S.) 8®. Berlin 1922.
C. A. Schwetschke & Sohn.
Rosenstock, Dr. jur. Eugen, Werkstattaus-
siedlung. Uniersuchungen über den Lebens-
raum des Industriearbeiters in Veibindung mit
Eugen May und Martin Grünberg. (Sozial-
psychoiogische Forschungen, herausgeg. von
Prof. Dr. W. Hellpach, Bd. 2.) (286 S.) 8®.
Berlin 1922. Julius Springer.
Schneidemfihl, Dr. G., Die Handschriften-
beurteilung. Eine Einführung in die Psy¬
chologie der Handschrift. (Aus Natur und
Geisteswelt, Bd. 514.) 3. AuH. Mit 47 Hand-
schriftennachbildungen. (93 S.) 8®. Leipzig
und Berlin 1922. B. G. Teubner.
Schuize, Rudolf, Padagogisch-Psycho-
logische Arbeiten aus dem Institut des
Leipziger Lehrervereins. Bd.XlI. (1I2S.)
8®. Leipzig 1922. Verlag d. Dürr’schen Buchb.
Volkelt, Johannes, Wilhelm Wundt. Nach-
ruf auf Wilhelm Wundt. Sonderdruck aus den
Berichten d. Gesellsch. d. Wissensch., Bd. 73,
Heft 5. 8®. Leipzig 1922. B. G. Teubner.
Watts, Frank, M. A., Die psychologischen
Probleme der Industrie. Deuisch von
Herbert Freiherr Grote. Mit 4 Text-
abbild. (221 S.) 8®. Berlin 1922. Julius Springer.
Wentscher, Else, Das Problem des Em-
pirismus. Dargestellt an John Stuart Mill.
(153 S.) 8®. Bonn 1922. A. Marcus & Webers
Verlag.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
_ strafte 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Hartel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. FEBRUAR 1923 5. HEFT
Die Praktische Psychologie erscheint in monatlicben Heften lm UmfADge von zwei Bogen. Preis des Februarheftes 600 Merk
fBrs Inland. FGrs Ausland besoodere Prelse. (Prels bei unmlneibarer Zustellung unter Kreuzband im Inlaad elDscblIeOllcb
österreich' Ungarn 750 Mark.) Bestellungen nebmen alle Buchhandluagen, die Post sowie die Verlagsbucbbandlung entgegen.
Aozeigen vermittelt die Verlagsbuchbandlung S. Hirzel in Leipzig, KönigstraOe 2. Postscheckkonto Leipzig 226. — Alle
Manuskriptsendungen und darauf bezQgliche Zuschrlften sind zu rfcbten an die Adresse der Schriftleltuog: Prof. Dr. W. Moede
und Dr. C. Plorkowskl, BerlinW30, LuItpoldstraOe 14.
Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
Erweitertes Referat, gehalten auf der ersten Tagung für angewandte Psychologie
der Gesellschaft für experimentelle Psychologie, Berlin, Oktober 1922
Von Professor Dr. W. Moede, Berlin
Leitsatz. Die Wünsche und BemQbungen zur Fest-
stellung schul- und berufswichtiger Eigenschaften mit
Hilfe eines Beobachtungs- und Fragebogens baben bis-
her eine wissenschaftlicbe BegrQndung nicht erfahren.
I. Verwendungsfortnen des Fragebogens
D er Frage- und Beobachtungsbogen ist bisher in der praktischen Psychologie
in dreifacher Form aufgetreten. Man benutzt ihn erstens zur Beschaffung
berufskundlichen Materials, zweitens zum Zweck der Feststellung intellektueller
und moralischer schul- und berufswichtiger Eigenschaften von Jugendlichen und
Erwachsenen und drittens als Mittel für die Selbstbefragung der zu Beratenden.
A. Die Seibstbefragung und Selbstbekundung des zu Beratenden
Der Fragebogen in der dritten Form, namlich als Hilfsmittel der Selbst¬
befragung des Jugendlichen, soil im ailgemeinen im groDen MaOstabe in den
Berufsberatungsbüros der Parson-Schule in Amerika Verwendung hnden und zwar
gemaO den dortigen Berichten mit angemessenem Erfolge. Das Verfahren besteht
darin, daC man dem Ratsuchenden eine Reihe von Fragen vorlegt, die sich auf
seine Verstandes-, Gefühls- und Willenseigenschaften u. a. m. beziehen, und man
verwertet die von dem Ratsuchenden erhaltenen Antworten für die nun ein-
setzende berufliche Einweisung. Diese Art der praktisch-psychologischen Verwen¬
dung einer Frageliste kann kaum als wissenschaftlich vollgültig angesehen werden.
Die Selbstbefragung des zu Beratenden setzt ofFenbar voraus, dali der Prüfling
sich selbst, seine inteliektuellen und moralischen sowie sonstigen Eigenschaften
gut kennt, da es nur unter dieser Voraussetzung Zweck hat, ihm die Fülle der
Fragen vorzulegen, um eine mehr oder weniger richtige und vollstandige Be-
antwortung zu erhalten. Es sollen in einigen Büros, falls die Berichte zutreffend
sind, bis zu 200 Fragen vom Jugendlichen beantwortet werden.
Die Bewertung dieser Methode scheint relativ gewiO zu sein. Der Jugendliche
soll im Grunde die Arbeit leisten, die er eigentlich von dem fachpsychologischen
Beirat der Berufsberatungsstelle veriangt und erwartet. Man vertauscht ofFenbar
die Rollen, und der Jugendliche, der alle seine Fahigkeiten kennt, hat es eigentlich
gar nicht nötig, das Büro um Rat anzugehen, da er es ja selbst schlieOlich ist,
9
P. P. IV. 5.
130
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
der die Grundlagen für seine berufliche Verwendung der Beratungsstelle an die
Hand gibt. Verdeutlichen wir uns die Sachlage durch den ahnlich liegenden Faii
einer arztlichen Beratung. Der Patiënt würde sehr erstaunt sein, von dem Arzt
danach gefragt zu werden, ob er Herz-, Leber- oder Lungenbeschwerden habe oder
ob Störungen des Stoffwechsels oder GefaBsystems vorliegen, und er würde aller
Wahrscheinlichkeit nach auF entsprechende Fragen antworten, daO der Wunsch
nach Feststellung des Leidens ihn gerade veranlaBt habe, zum Arzt als Gesundheits-
Sachverstandigen zu gehen, und daO er ihn bitte, auF Grund Fachtnannischer
Schulung die Diagnose zu stellen.
Freilich muO man zugeben, daO diese Methode der SelbstbeFragung bei ge-
schulten und kritischen, in der Selbstbeobachtung erFahrenen Menschen und bei
kritischen und geschuiten Leitern der BeFragung eine Reihe von ErFoigen wird
auFzeichnen können. Nur bedenkiich erscheint das VerFahren in seiner Anwendung
auF Jugendliche. Falsche Angaben dürFten unvermeidiich sein und irgendein
zuveriassiges Kriterium Für die Vollstandigkeit und Richtigkeit der Aussagen kann
kaum geFunden werden. AuOerst heikel ist das Verlangen nach Selbstbeurteilung
besonders in moralischen Dingen. Man wird hier aus den Antworten weniger
auF das Vorhandensein von Ehrlichkeit, GewissenhaFtigkeit, Zuveriassigkeit
schlieOen können, sondern die Ergebnisse derartiger BeFragungen werden, da die
Eigenliebe und die GeltungsgeFühle den Ausschiag geben, vorwiegend Für den
Grad von SelbstbewuOtsein, Ehrlichkeit, Bescheidenheit des Klienten bedeutsam
sein, viel weniger dagegen einen Hinweis Für tatsachlich vorhandene Anlagen
der geFragten Art bieten. Wir können es kaum verlangen, daO der Jugendliche
oder Erwachsene, der sich um eine Stelie bewirbt, seine Neigung zur Flüchtigkeit,
zu Diebstahl, zu AusschweiFungen usw. zugibt, sondern es ist vieimehr zu ver-
muten, daO alle Angaben so ausFallen, daB eine Herabsetzung im Urteil des Be-
raters nicht eintreten kann. GewiB wird der kritische Beobachter, wenn er es
ehrlich mit sich selbst meint, einige verlaBliche Angaben über sich selbst machen
können, doch gibt es kaum sichere Kriterien über richtige und Falsche Angaben
der Selbstbeurteilung dieser Art.
B. Die beruFskundliche und arbeitsanaiytische Frageliste
Der Fragebogen ist weiter zur Beschaffung beruFskundiichen und beruFs-
analytischen Materials verwendet worden. Man hat einmal versucht, durch
zweckentsprechende BeFragung Festzustellen, welche beruFlichen Leistungen und
Arbeiten in einer bestimmten BeruFsgruppe verlangt werden, zum andern aber
auch das Wagnis unternommen, durch BeFragung von BeruFsangehörigen und
Praktikern die Fahigkeiten zu erFassen, die Für erFoigreiche beruFiiche Betatigung
erForderlich sind. Schon die restiose ErFassung ailer beruFlichen Arbeiten Für eine
ganz eng begrenzte BeruFs- oder Arbeitsstelle gelingt meistens nicht durch BeFragung
allein, wenn auch die Möglichkeit, gewisse VorFragen durch derartige Frageiisten
zu klaren, zugegeben werden kann. Ganz verFehlt dagegen ist es, wenn man den
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
131
Antworten alter Praktiker nach berufswichtigen Fahigkeiten mehr als hinweisenden
und vorlaufigen Wert beimiOt. Der Praktiker ist auch hier nicht der Psychologe,
und gerade die hervorragendsten Berufsangehörigen sind sich oftmals über die
wahren Gründe ihrer beruflichen Erfolge völlig im unklaren. Auch lauten die
Antworten meist so allgemein, daB die wissenschaftlich begründete Eignungs-
prüfung sie kaum erfolgreich verwerten kann. So ist es erklarlich, daO die
Zusammenstellung erforderlicher Fahigkeiten, die man durch Befragung etwa von
Angehörigen des Schneiderhandwerks zusammengebracht hat, in ahnlicher Weise
auch bei Befragung akademischer BeruFsgruppen erhalten werden. Legt man
die Liste erforderlicher Fahigkeiten neutralen Stellen vor und fragt nun rückwarts,
welcher Beruf wohl hier in Frage kommt für den glücklichen Inhaber dieser
Fahigkeiten, so schwanken die Antworten ganz auBerordentlich, und man darf
nicht überrascht sein, daB mitunter das angebliche psychische Profil des Staats-
sekretars oder des hohen politischen Beamten auf ganz andere Berufsgruppen,
etwa Geschaftsreisende oder Verkaufer, schlieBen laBt. Nur die wissenschaftliche
psychotechnische Arbeitsstudie kann letzten Endes zur Feststellung der erforder-
lichen Fahigkeiten dienen. Denn es ist ein auBerst schwieriges wissenschaftliches
Problem, einmal die Gesamtheit der erforderlichen Fahigkeiten zunachst in Bausch
und Bogen aufzustellen, dann die Scheidung in berufswichtige und unwichtige,
erfaBbare und nicht erfaBbare, in übbare und nicht übbare, in ersetzbare und
nicht ersetzbare, in beachtenswerte und nicht beachtenswerte vorzunehmen, urn
schlieBlich auf Grund zahlreicher Sonderstudien die Gewichtszahlen für die Be-
deutung der einzelnen erforderlichen Fahigkeiten ansetzen zu können. Besser
als die Zusendung von Fragelisten irgendeiner Art an möglichst viele Berufs-
angehörige ist schon die persönliche Fühlungnahme mit dem Arbeitenden an der
Arbeitsstelle selbst, und nur die eigene und unmittelbare Kenntnisnahme der
Berufshandgriffe sowie Berufsleistungen, sowie die wissenschaftliche psycho¬
technische Arbeftsstudie werden uns dem Ziele einer gründlichen Berufs- und
Arbeitsanalyse naher bringen. Niemals dürfte durch noch so eingehende Frage¬
listen die Arbeitsstudie ersetzt werden können. Die noch so eindringliche Be¬
fragung auch von Fachchemikern hat die Strukturformel einer Substanz, etwa die
quantitative und qualitative Zusammensetzung von Alkohol, gewiB nicht ans Tages-
licht gebracht, sondern nur der exakte Laboratoriumsversuch, der den Regeln
der fachwissenschafclichen Analyse folgt. Also auch hier bei Beschaffung be-
rufskundlichen Materials hat der Fragebogen nur vorlauhge Bedeutung.
C. Der Beobachtungsbogen für Schüler und Berufstatige in der Hand
des Vorgesetzten zur Gewinnung von Personalgutachten
SchiieBlich ist der Fragebogen auch in Form eines Beobachtungsbogens
für den Lehrer empfohlen worden. Der Lehrer soll an der Hand einer reich
gegliederten Frageliste den Schüler jahrelang beobachten, und das Ergebnis dieser
Beobachtung soll sowohl für die Feststellung schulwichtiger als auch die Erfassung
9*
132
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
berufswichtiger Fahigkeiten, also zur Feststellung eines Personalgutachtens
dienen. Dieses Personalgutachten wlrd der Vorauslese zugrunde gelegt, als
Ersatz, Erganzung oder Grundlage der psychotechnischen Prüfung benutzt oder
für Erfolgskontrollen zur Feststellung des Wirkungsgrades von Prüfverfahren
herangezogen. Auch dlese Methode hat ihre Bedeutung, doch dürfte der wissen-
schaftliche Wert dieser dritten Art der Fragebogentechnik, wenn man die bis-
herigen praktischen Erfolge berücksichtigt, nicht allzu hoch anzusetzen sein.
Gerade die Verfechter der Fahigkeitsfeststellung durch den Beobachtungsbogen
haben bisher den Beweis der Leistungsfahigkeit dieser Methode nicht erbringen
können, so erwiinscht eine solche Begründung ware angesichts der auDerst
scharfen Stellung dieser Richtung gegenüber dem experimentellen Verfahren, das
ja gleichfalls verwandt wird, um schul- und berufswichtige Fahigkeiten in einer
wissenschaftlichen Untersuchung zu erfassen.
II. AngrifFe der Fragelistentheoretlker gegen Experiment und Probe
der praktischen Psychologie
Theoretiker des Beobachtungsbogens verteidigen ihre Methode dem Experiment
gegenüber auf die verschiedenste Weise.
Das Experiment gestalte die Versuchsbedingungen absichtlich und wirke da-
durch unnatürlich und verfaische die Feststellung geistiger Anlagen. Weiter sei
der Prüfling stets mehr oder weniger befangen und stehe unter Hemmungen.
SchlieOlich seien Zeit und Kosten einer gründlichen experimentellen Untersuchung
im Verhaltnis zu einer völlig ausreichenden Beantwortung der Frageliste, die
gelegentlich geschehen könne, unverhaltnismaOig hoch. Endlich sei die Sicherheit
der Angaben des Fragebogens ungleich gröDer und ihre Reichhaltigkeit erheblicher,
weil das Experiment immer nur für den Augenblick der Untersuchung Gültlgkeit
habe und groCen Zufallen unterliege, wahrend die Beobachtung sich stets über
eine langere Zeitdauer erstrecke und ganz im Gegensatz zum Experiment auch
eine Fülle tieferliegender, moralischer und sonstiger Eigenschaften erfassen könne.
Die Praxis hat bisher gegenüber dieser Theorie den Beweis der Richtigkeit
für die Behauptungen noch nicht erbracht, trotzdem der Fragebogentheoretiker
sehr oft nach wie vor das Experiment nicht nur als unnötig abiehnt, sondern
es sogar für die Feststellung beruflicher Fahigkeiten als schadlich erklart. Ein
obligatorisch eingeführter Beobachtungsbogen, der den Menschen am besten von
der Wlege bis zum Grabe, zum mindesten aber vom Schuleintritt bis zur Be-
endigung der Lehre begleite, mache eigentlich jede experimentelle Untersuchung
überflüssig.
Mitunter bedingen wohl auch persönliche Eigenschaften des Psychologen die Ab-
lehnung der experimentellen Untersuchung, beispielsweise eigenes experimentelles Un-
geschick und Unsicherheit, mangelnde Erfahrung oder MiOerfoIge mit ungenügend er-
probten und schlecht durchgeführten psychotechnischen Prüfungen, Scheu vor Verant-
wortung und Streben gröQtmöglichster eigener Entlastung und möglichster Belastung
anderer Instanzen u. a. m.
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
133
A. Wesensverschiedenheit von psychotechnischen Proben und Frage-
listenfeststellung sowie diagnostische Überwertigkeit der
Ausfragung von Nichtpsychologen
Dem gegenüber ist zu erwidern: Ein grundsatzlicher Gegensatz zwischen einer
gründlichen psychotechnischen Untersuchung experimenteller Art und der Be-
obachtungsmethode besteht nicht, sondern bestenfalls ein gradueller. Die Be-
obachtung des Schülers durch den Lehrer ist unbewaffnete, die experimentelle
üntersuchung dagegen bewafFnete Beobachtung. Bei jeder psychotechnischen
Untersuchung bildet die eingehende Beobachtung des arbeitenden Schülers, die
Einfühlung in seine Arbeitsart, sowie seine eingehende Befragung stets einen
wesentlichen Bestandteil. Bei jeder psychotechnischen Prüfung wird neben der
quantitativen Analyse, die die MaOzahl der Leistung widerspiegelt, als Erganzung
eine qualitative verlangt, die aus Beobachtung, Einfühlung, systematischer Be¬
fragung des Jugendlichen sowie Erhebungen über sein Lebensschicksal besteht.
Auch der Lehrer wird in der Schule sich in gewisser Weise die Gesichtspunkte
experimenteller Beobachtung zunutze machen, wenn er den Schüler unter den
mannigfachsten Bedingungen des Unterrichtes beobachtet, ja wenn er vielleicht
zur Klarstellung gewisser Eigenschaften diese oder jene Frage ganz besonders
formuliert und ihm vorlegt und schlieOlich gewisse Probeaufgaben auch hier im
Unterricht zur Lösung zu geben versucht. Die systematischen Bedingungs-
veranderungen für die Reaktion der Schüler liegen teiis im Schulbetriebe selbst,
teils werden sie vom Lehrer künstlich gesetzt. Prüfverfahren der Psychotechnik
sind mitunter nichts anderes als reprasentative Schul- und Werkstatt-
arbeiten, die in derjenigen Form Verwendung hnden, welche eine reinliche und
relativ sichere Feststellung der in der Leistung sich spiegelnden Fahigkeiten
vorzunehmen gestattet. GewiO sind in Beruf und Schule eine Fülle neuer
Faktoren wirksam, etwa der Anreiz durch Bezahlung, die Kritik der Leistung
durch Lob und Tadel u. a. m., ohne daO es möglich ware, einen grundsatzlichen
Unterschied bei Betatigung des Prüflings im Laboratorium und in der Schul-
und Werkstattpraxis anzugeben. Ob die experimentellen Proben bedeutsam für
die praktische Bewahrung sind, hat die Erfolgskontrolle zu entscheiden. Nur
durch analytische Erfolgskontroiien kann man feststellen, ob in den einzelnen zur
Erörterung stehenden Fallen Wirklichkeits-, Schema- oder Abstraktionsverfahren
zweckmaOig sind, ob Zeit-, Anlern- und Funktionsproben Verwendung finden
sollen und welche Bedeutung den einzelnen Verfahren für die jeweiligen Ziele
der Untersuchung zukommt. Jedenfalls ist der theoretische Einwand, die künst-
liche Bedingung des Laboratoriums verfalsche unter allen Umstanden die Reaktions-
weise des Prüflings und mache den Prüfbefund wertlos, keinesfalls ohne weiteres
stichhaltig. Man könnte mit viel gröOerer Berechtigung umgekehrt den Einwand
erheben, die Bedingungen der Schul- und Berufspraxis sind derart einer wissen-
schaftlich berechtigten und einwandfreien Beobachtung ungünstig, daO von vorn-
herein zu vermuten ist, dalJ nur in den seltensten Fallen und unter besonders
134
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktiscben Psychologie
günstigen Bedingungen brauchbare Ergebnisse zu ernten sind. Denn der Lehrer
bat zunachst zu erziehen und ein bestimmtes Lehrziel durch Unterricht zu er-
reichen, desgleichen der Leiter der Lehrlingswerkstatt und Lehrlingsschule. Er
ist durch die dauernde und innige Berührung und Wechselwirkung mit seinen
Zöglingen, gerade wenn er seine Berufsaufgabe ernst nimmt, so spezifisch ein-
gestellt, daO die gute, nüchterne und objektive Erfassung und Zergliederung der
Reaktionsweise der ihm Unterstellten allergröBte Schwierigkeiten bereiten muö.
Das Benehmen und Verhalten der Schüler ihm gegenüber, deren Freundlichkeit
bzw. Widerspenstigkeit werden so innig mit den sonstigen Urteilsgrundlagen des
Lehrers verschmolzen, daO er zwar über den Schul-bzw. denWerkstatt- undBetriebs-
wert eines Zöglings vielleicht brauchbare Angaben machen kann, aber kaum eine
systematische Funktionsanalyse durchführen kann, die mitunter eine für seinen
Beruf heterogene und künstliche Einstellung verlangt, zu der er vielleicht gelegentlich
nach Anlage, Vorbildung und Erfahrung befahigt, in sehr vielen Fallen aber ganz
ungeeignet ist.
B. Befangenheit wahrend der Untersuchung
Was den Einwand der Befangenheit des Prüflings bei jeder Untersuchung
betrifft, ein Einwand, der fast nur von Leuten mit geringer praktisch-psycholo-
gischer Untersuchungserfahrung aufgestellt wird und den man immer wieder
nachgesprochen hndet ohne sachliche Belege, so muO man auch hier von den
bisher nachweisbaren Verhaltungsweisen der Prüflinge in geeigneten Unter-
suchungsbedingungen die Ausnahmefalle abtrennen. GewiO kann durch Un-
geschick des Experimentators und Prüfers Befangenheit eintreten, und sie wird
eintreten, falls er unzweckmaOig vorgeht. Weiter ist festzustellen, in welcher
Hinsicht die vorliegende Befangenheit die praktisch-psychologische Funktions¬
analyse gegebenenfalls beeinfluDt. Es ist eine Aufgabe der Gruppenpsychologie,
festzustellen, in welcher Weise die Befangenheit, die methodisch als Störung
anzusehen ist, die Fahigkeitsabnahme und im Gegensatz dazu die Reproduktion
von Kenntnissen beeinfluOt. Wahrscheinlich wird die in einer Prüfung geforderte
Wiedergabe gelernten Wissens ungleich starker durch Befangenheit gehemmt als
die Ausführung einfachster Proben zur Feststeilung von Sinnesleistungen, von
Aufmerksamkeit oder Handgeschicklichkeit. Natürlich muB der Versuchsleiter
das Vertrauen seines Prüflings gewinnen, genau wie es der Lehrer gewinnen
muB, da auch in der Schule durch Einflüsse der Gruppe sowie durch die
Distanzgefühle gegenüber dem Übergeordneten die natürliche Reaktion getrübt,
ja ins Gegenteil verkehrt werden kann. Deswegen ist eine allgemeine Aus-
sprache über Lieblingsfacher, Neigungen des Prüflings u. a. jeder Untersuchung
voranzuschicken, und die Prüfung selbst ist in mehreren Sitzungen, teils bei
Einzel-, teils bei Gruppenbetatigung, vorzunehmen. Auch die empfohlene Be-
obachtung des Schülers beim Spielen und Wandern durch den Aufsicht führenden
Lehrer kann mannigfache Hemmungen setzen, deren experimentelle Analyse
dringend geboten erscheint.
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
135
C. Die Interessiertheit des Prüflings
Nicht die Befangenheit stort in vielen Failen das Ergebnis der Prüfung,
sondern vielmehr sehr oft seine mangelnde Interessiertheit sowie Konzen-
tration. Auch hier ist es Sache der objektiven Analyse, festzustellen, durch
welche Proben am besten Interesse und Konzentration wachgerufen werden und
in welcher Anzahl man die Wiederholung der gleichen Proben durchführen kann.
Beispielsweise konnten wir in einigen eigens durchgeführten Sonderversuchen
feststellen, daO bei mehr als fünf Einstellungen gleicher Art die Leistung sich
verschlechterte und für die Fahigkeitsdiagnose schlechter verwertbar wurde,
wenn auch vielleicht rein theoretisch eine gröflere Konstanz durch gehaufte Ver-
suchszahlen vorausgeahnt und sichergestellt werden kann. Durch Wiederholung
der gleichen Proben an verschiedenen Tagen scheint sich in ahnlicher Weise
mitunter eine Verschlechterung der Leistung und ihre geringere Verwertbarkeit
für Eignungsprüfungen zu ergeben, da statt der ernsthaften Interessiertheit an
der Aufgabe am ersten Tage, ein mehr oder weniger nachlassiges Verhalten ein-
tritt, da weiter statt der unmittelbaren Art der Lösung der Prpbe ein Suchen
und Streben nach anderen Kriterien festzustellen war, urn gegebenenfalls auf
andere Weise das Ziel der Probe zu erreichen.
Die theoretische Frage der Konstanz der Werte ist daher scharf zu sondern von
der praktischen Frage nach dem berufsdiagnostischen Wert der Prüfverfahren,
und der Einwand, daO die auf kürzere Zeit zusammengedrangte Probe ein schlech-
teres Biid des Prüflings gabe als das Studium seines Verhaltens langere Zeit
hindurch, kann in dieser allgemeinen Form auch nicht aufrecht erhalten werden.
Sind die Bedingungen der Fahigkeitsfeststellung günstig, so ist die Bedeutung
weniger Stichproben gröOer als die noch so stattliche Haufung ungesicherter
und lückenhafter, ja falscher Angaben des Beobachters über noch so lange Zeit-
raume hin, sofern sie sich auf schwierig auszuwertende oder gar falsch gedeutete
Situationen der Praxis beziehen. Stets muD es das wissenschaftliche Ziel sein,
die Bedingungen der Gültigkeit der Feststellung zu erörtern, nicht aber ohne
Beweismaterial Behauptungen aufzustellen, die in dieser allgemeiner Form nun
und nimmer verifiziert werden können.
GewiO wird zugegeben werden müssen, daB im Experiment bei Prüflingen
mitunter Hochleistungen und Ausfalle auftreten, die zu Fehldiagnosen AniaO
geben können und den Wirkungsgrad der psychotechnischen Untersuchung herab-
setzen, ja man muB sogar von vornherein nicht mit einer hundertprozentigen
Wirkung einer praktisch-wissenschaftlichen MaBnahme rechnen, sondern es kann
lediglich die Höhe des möglichen Wirkungsgrades zur Erörterung stehen.
D. Zeit- und Kostenersparnis
Was schlieOlich den Einwand betrifft, die experimentelle Analyse verlange im
Verhaltnis zur Ausfüllung des Beobachtungsbogens mehr Zeit und Kosten, so
kann auch diese Behauptung kaum ernsthaft mit erforderlichen Unterlagen belegt
136
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktiscben Psychologie
werden. Aufstellungen über die für die gewissenhafte und richtige AusFüllung
der Frageliste erforderlichen Zeiten besitzen wir nicht, sondern man ist hier nur
auf Schatzungen angewiesen. Wenn darauF hingewiesen wird, daö man den Frage-
bogen gelegentlich wahrend der Frühstückspause im KonFerenzzimmer ausFüllen
kann, wahrend Für die psychotechnische Untersuchung zum mindesten ein Fach-
mannisch geschulter Spezialist mit gewissen PrüFeinrichtungen erForderlich ist,
der die Untersuchung ausFührt und die Ergebnisse auswertet, so ist auch hier
ein Fehler in der Rechnung, da bisher nicht der Beweis erbracht wurde, in
welchem MaOe solche gelegentlichen Angaben in der Frühstückspause gemacht
worden sind bzw. ob diesen Angaben überhaupt irgendeine Bedeutung zukommt.
Man darF nicht vergessen, daU zwar die NiederschriFt einer Beobachtung einige
Minuten beansprucht, daO dagegen die Erzielung wertvoller und einwandFreier
Beobachtungen eine planmaOige Arbeit in der Unterrichtszeit voraussetzt, deren
Zeitwert zu errechnen ware und deren Zeitdauer der eigentlichen Erziehungs-
arbeit nur indirekt zugute kommt, ganz abgesehen davon, daO eine gründiiche
und planmaOige Beobachtung offenbar Klassen von 8—10, nicht von 30—40 Schülern
voraussetzt, sowie die Anstellung von Fachtechnisch geschulten Spezialisten wün-
schenswert erscheinen laOt, MaOnahmen, deren Kosten ganz gewaltig hoch sich
belauFen würden.
Trotz dieser Bedenken ware es durchaus töricht, wenn der Experimentator
von vornherein darauF verzichten wollte, Unterstützung durch die Fragebogen-
methodik zu erhalten. lm Gegenteil, da auch er die Beobachtung im Rahmen
seiner Untersuchung schatzt, wird er es auFs auDerste begrüDen, wenn er zur
Erganzung seiner eigenen Arbeit sowie zur Bereicherung seiner eigenen BeFunde
gesicherte und einwandFreie Angaben, die auF Beobachtungen in der Praxis der
Schule und des BeruFes beruhen, erhalten könnte. In der bisherigen Form Frei-
lich sind die meisten der zur EinFührung empFohlenen Fragebogen durchaus von
Fragwürdigem Wert, und erst durch eine wissenschaFtliche Grundlegung kann die
Beobachtungsmethodik zu einem brauchbaren Mittel der FahigkeitsFeststeiiung
entwickelt werden.
III. Bedenken gegen Theorie und Praxis der Eigenschaftsfeststellung
durch Ausfragung
Die Haupteinwande gegen die Fragelisten können ihre Berechtigung aus der
Beschaffenheit der bisherigen Fragebogen, wie sie ohne vorherige gründliche
Eichung aller einzelnen Fragen entworFen und zusammengestellt wurden, und aus
den bisherigen Antworten der Lehrer und Praktiker herleiten. Der bisherige
MiOerFolg weist darauF hin, daO in der Sache seibst Schwierigkeiten gelegen sind,
so daO alie die AngrifFe auF die „Bequemlichkeit* des Lehrers und Praktikers,
der sich der Mühe der Beantwortung nicht unterziehen wili, in sehr vielen Fallen
durchaus haltlos sind. Der Psychologe, der durch Aussageversuche geschult
sein solite, vergiOt beim AuFstellen der Fragebogen sehr oFt, daO schon die auF-
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
137
zahlende Wiedergabe der Inhalte eines unter günstigen Bedingungen einmal oder
mehrmals dargebotenen und betrachteten Bildes oder Vorganges grofie Unsicher-
heit der Aussage ergibt, die teils in dem der Beobachtung zugrunde liegenden
objektiven Tatbestanden, teils in der Person des Betrachters, teils im ProzeO
der Wahrnehmung, Erinnerung und Wertung begründet sind. Wird nun im Frage-
bogen neben Beurteilung der eigentlichen Schularbeit eine Aussage über innerste
Gefühls- und Willensregungen des Schillers verlangt, so muB naturgemaC die
Unsicherheit des Beobachtungsergebnisses wachsen, und nur eine kritische prak¬
tisch-psychologische Grundlegung und Eichung aller Fragelisten, Hand in Hand
mit fortlauFenden Erfolgskontrollen, wird einen Fortschritt der Fragebogentechnik
ermöglichen können.
A. Allgemeinste Bestandteile jeder Beobachtung
Zergliedern wir die Beobachtung einer Person durch irgendeine ihr gleich-
geordnete oder übergeordnete Instanz, so sind eine Fülle individual- und kollektiv-
psychologischer Faktoren, die nach generellen und difFerentiellen Gesichtspunkten
zu werten sind, wohl zu bedenken.
1. Wahrnehmung
Mitunter ist der Tatbestand der Wahrnehmung für die Erfassung wesentlicher
Merkmale in ihm so schwierig, daO die unbewafFnete und reine Beobachtung
seibst unter günstigsten Bedingungen nicht ausreicht. Flüchtige und gelegentliche
AuQerungen werden nicht bemerkt, unwesentliche Reaktionen dagegen falschlich
registriert und zur Charakteristik verwendet. Durch Ausfalle in der Wahrnehmung
sind mehr oder weniger Lücken der Beobachtungsangaben möglich, wahrschein-
lich, ja notwendig.
2. Erinnerung
Soll nun der Tatbestand der Wahrnehmung nach gewissen zeitlichen Ab-
schnitten verwendet und bewertet werden, so treten Umformungen im Ge-
dachtnis ein, und bei Protokollierung und Niederschrift des mehr oder weniger
lange Zeit zurückliegenden Wahrnehmungsbestandes sind von neuem Gefahren-
quellen gegeben, die dem Praktiker teilweise seibst zum BewuOtsein kommen.
Eine Ungezogenheit des Knaben wirkt im Gedachtnis nach, zieht alle gegebenen-
falls ahnlich zu deutenden AuCerungsformen des Schillers gleichsam in ihren
Bereich, und durch die Umformung der Wahrnehmung sowie die Selektion ihrer
Inhalte und Gedachtnisrückstande wird nach AbschluB der Ausbildungszeit bei
der Rückschau auf die Leistung des Schülers gelegentlich des Zensurentermins
eine spezihsche Farbung aller Angaben des Beurteilers hervorgerufen werden
können, so daB die gegen den Willen des Lehrers infolge der mechanisch wir-
kenden Verschmelzungen, Umformungen und Auslesen des Gedachtnisses ein-
tretenden Falschungen mit in den Umkreis der kritischen Beurteilung der Er-
innerungsangaben zu ziehen sind.
138
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
3. Deutung und Wertung
Die mannigfachen Erlebnisse des Lehrers und die Erfahrungen mit seinem
Zögling wollen nicht nur in Wahrnehmung und Erinnerung registriert und wieder-
gegeben werden, sondern sie sind nun vom Lehrer zu werten und zu deuten.
Hier liegt die gröOte Gefahr für eine objektive Erfassung der den AuQerungen
des Schillers zugrunde liegenden inneren. Anlagen. Da der Lehrer stets eine
bestimmte Norm seinem Werturtell zugrunde legen wird — entweder ausgesprochen
oder nicht ausgesprochen —, so kann die Wertung ganz verschieden ausfallen,
und der eine wird AuQerungen des Übermutes als moralische Schwache des
Schülers deuten, der andere dagegen als erfreuliches Symptom jugendlichen
KraftbewuOtseins. Der Beobachter wird, wenn er die Umstande nicht kritisch
wertet, Gefahr iaufen können, die Fahigkeiten des Schülers, beispielsweise den
bei seinen Hausarbeiten bewiesenen FleiQ, auf ein falsches Konto zu buchen,
wenn er beispielsweise die Erziehungsbeihilfen der Familie nicht kennt und in
ihrer Bedeutung sicherstellen kann. Die Beteiligung des Schülers am Unterricht
nach psychologischen Gesichtspunkten zu zergliedern, Aufmerksamkeit und
Interesse zu sondern von Kombination, Kritik und Urteilsvermögen, ist ohne lang-
jahrige Schulung und Erfahrung sowie psychologische Vorbildung und Eignung nur
ungefahr möglich. Auch die Verwertung der Aussagen mehrerer Beobachter über
den gleichen Schüler kann nur unter bestimmten Bedingungen den Sachverhalt
aufhellen, da mitunter ein einstimmig als unfahig entlassener Schüler, man denke
an die Lebensgeschichte groQer Manner, in seinen spateren FahigkeitsauQerungen
die Beobachtung und Wertung des Lehrers sowie des Kollegiums Lügen straft.
GewiQ wird man an der Sicherstellung der Beobachtungsangaben durch mehrere
Beobachter festhalten müssen, ja mitunter sogar nur unter dieser Bedingung wichtige
Angaben der Fragelisten verwerten dürfen, doch darf man nicht übersehen, daB
gerade bei der Deutung psychologischer Tatbestande ein gut geschulter und gut
befahigter Beobachter in seinem alleinstehenden Urteil der Wahrheit naher-
kommen kann, als die Haufung von’ Angaben einer noch so groOen Zahl schlechter
Beurteiler.
Die Deutung und Wertung verlangt also eine eingehende psychologische
Arbeitsstudie der Schulbetatigung. Sie verlangt weiter, daB typische Falie der
Verhaltungsweisen von Schülern analysiert und in ihrer psychologischen Ver-
ursachung klargelegt werden. Sie verlangt weiter einen geeigneten Beobachter,
der nicht nur den objektiv erfaBbaren Vorgangen seiner Umwelt gegenüber nicht
versagt, sondern dem auch die Gabe der Einfühlung zu Gebote steht.
4. Sprachliche Formulierung
Die Anarchie auf dem Geblete der psychologischen Bezeichnungsweise bringt
groBe Gefahren bei der Formulierung psychologischer Beobachtungsbestande mit
sich. Wir haben in der Psychologie keine allgemein anerkannte Formelsprache wie
etwa in der Chemie, sondern verfügen nur über eine aus volkstümlichen und wissen-
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 139
schaftlichen Bestandstiicken bunt gemischte Terminologie. Allgemeine Angaben
über „Aufmerksamkeit‘‘ sind so vieldeutig, daO es oft Zufall ist, wenn der Leser
und Verwerter der Antworten der Frageliste das gleiche vermutet wie der
Beobachter und Ausfüller. Konzentration, logisches und mechanisches Ge-
dachtnis, Spontaneitat und Arbeitswille u. a. m. sind weitere Beispiele für die
Schwlerigkeiten der Bezeichnung bestimmter schulischer und beruflicher Ver-
haltungsweisen. Nur die Aussprache am Verhandlungstisch der Par-
teien bringt gegebenenfalls die Möglichkeit einer Verstandigung und verheiBt
eine mehr oder weniger gesicherte Erfassung des in dem sprachlichen Gewand
mannigfach umkleideten Beobachtungs- und Tatsachenkerns. Wenn gar Anhanger
einer bestimmten psychologischen Schule ohne weiteres die Kenntnis ihrerFormel-
sprache beim Schul- und Berufspraktiker voraussetzen und wenn sie unbesehen
die Angaben beisplelsweise über „Aufmerksamkeit" und „Gedachtnis" bei ihrer
Auslese mit verwerten, so werden mitunter mlt dem gleichen Wort die ver-
schiedensten Tatbestande und Fahigkeiten bezeichnet, die mitunter überhaupt
nichts miteinander zu tun haben. Nur die Aussprache des Praktikers und des
Psychologen über die der Angabe zugrunde liegende tatsachliche Erfahrung wird
in günstigen Fallen eine Aufhellung ermöglichen lassen.
5. Quantifizierung
Verlangt man vom Praktiker über das qualitative Urteil hinaus ein quantita-
tives lm Sinne von Zensuren und Noten oder im Sinne von Rangreihen, so
ergeben sich neue Gefahren. Denn schon bei der allgemeinen fünfgliedrigen
Zensurenskala ist die Zensur doch auch immer gleichzeitig eine Wertskala
auch für den Lehrer selbst. Ein Lehrer, der hohe Anforderungen an slch
und die Schüler stellt, spricht von genügenden Leistungen, wo ein anderer von
gut, ja sehr gut redet, wie unsere Erfahrungen lehren. Die groBe Unsicherheit
gerade der Bewertung des Grades von Leistungen oder gar von Fahigkeiten,
wenn sie analytisch oder in einer Gesamtnote verlangt wird, kann aus der Er¬
fahrung mannigfach belegt werden. Die Telephonamter Berlins beispielsweise
warfen ihre Beobachtungsrangreihe der Telephonistinnen urn, als ihnen die
Rangreihe des Laboratoriums bekanntgegeben wurde.
Hier gilt es die verschiedenen Umstande zu berücksichtlgen, die derartigen
Notengebungen zugrunde liegen können. Der Lehrer, der bei Schulentlassung
seinen Zögling nicht schadigen will, pflegt mitunter die Noten besonders über
moralische Qualitaten nicht unerheblich heraufzusetzen. Der Praktiker, der das
Ergebnis seiner Erziehungsarbelt am Schlusse des Jahres in der Zensur nieder-
legt, ist schlieBlich gewöhnt, da es üblich ist, ja ist mitunter beauftragt, da es
gewünscht wird, einen bestimmten Prozentsatz der Klasse als versetzungs- und
fahigkeitsreif zum Aufstieg zu empfehlen oder bei Lehrlingen eine erhöhte Be-
zahlung zuzubilligen, da sie hochwertlger geworden sind. Hier wird also das
Quantitatsurteil durch die Aufgabe und das Wesen der Berufsstellung beeinBuBt.
140
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
Wenn eine Statistik von den gebrauchlichen Noten überhaupt angelegt wird,
so scheiden sich, wie Marbe gezeigt hat, die sicher rangierenden Lehrer von
den KompromiQlern, die Zwischennoten bevorzugen und die bei Rangreihen nach
unseren Erfahrungen gelegentlich der Halfte der Schüler, wenn 20 zu rangieren
sind, den gleichen Platz anweisen.
Deswegen kann man sagen, daO in den Noten nicht nur der Schüler sich
spiegelt, sondern auch der Lehrer, seine Persönlichkeit sowie sein eigener
AnforderungsmaOstab, ja schlieOlich die gesamte Erziehungsorgani-
sation, die in ihrem Rahmen bei bestimmten Gelegenheiten Noten bestimmter
Art üblicherweise verlangt und erteilt wissen will. Der Lehrer setzt sich sogar
Schadigungen aus, wenn er beispielsweise zu schlecht zensiert oder wenn er
etwa - dies ist eln Fall unserer Erfahrung — einem Prüfling in den Be¬
obachtungsbogen die Bemerkung schreibt: „Er ist unsauber, schmutzig und lieder-
lich und Infolgedessen nur zu solchen Arbeiten zu gebrauchen, bei denen es
auf diese Ausfalle seiner Persönlichkeit nicht ankommt", und wenn nun der
Erziehungsberechtigte, etwa der Vater, von dem Grund der Abweisung seines
Sohnes bei Bewerbung urn eine Lehrstelle horend, den Lehrer mehr oder weniger
eindringlich zur Rede stellt, ja mit Tatlichkeiten bedroht. Gerade solche leb¬
haften Auseinandersetzungen der Parteien, bei denen es zu Tatlichkeiten kommen
kann, zum mindesten aber zu Androhungen von Gewalt, sind bei entschei-
denden Abschnitten der Lebensentwicklung zu erwarten. Mit gewisser Vorsicht
sind daher gerade die durch den Beobachtungsbogen erstrebten Angaben über
die moralischen Anlagen des Schülers und Lehrlings zu bewerten.
Da der Lehrer ein bestimmtes Erziehungsziel hat oder da der Meister eine
bestimmte Arbeitsmenge von gewisser Güte abliefern soll, so wird er natur-
gemaO alle diejenigen Knaben höher einschatzen und besser bewerten, mit
denen er reibungsloser das gegebene Ziel erreicht, die ihm also freundlich und
willig entgegenkommen, auf seine Vorschlage eingehen, nicht zu Dummheiten
und Quertreibereien geneigt sind und ihre Mitschüler anzustecken befahigt er-
scheinen. Es ist daher kein Wunder, daO Fahigkeitsnoten des Laboratoriums und
Fahigkeitsurteile des Praktikers auf Grund seiner Beobachtungsangaben mitunter
ganz erhebliche, aber in ihrer Richtung durchaus verstandliche Unterschiede auf-
welsen. Beispielsweise ist eine Statistik einer Lehrlingsgruppe von H. K. E. sehr
lehrreich. Hier wurde das Prüfungsergebnis im Laboratorium der Rangreihe zu-
grunde gelegt und der Werkschulleiter sollte an der Hand des ihm gegebenen
Beobachtungsbogens qualitativ und quantitativ, analytisch und zusammenfassend
die in Frage kommende Lehrlingsgruppe beurteilen. Wir ersehen aus der
Tabelle 1, daO immer da der Prüfling im Laboratorium besser als im Prak-
tikerurteil abschneidet, wo im Beobachtungsbogen sich die Angaben finden;
„Verstockt, frech, herausfordernd, trotzig, undiszipliniert, eingebildet, hnsteres
Aussehen“, wahrend wir dagegen in der Praxis immer dann einen höheren Ge-
samtplatz im Verhaltnis zur Wertnote des Laboratoriums finden, wo der Be-
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
141
obachtungsbogen angibt; „Der Knabe ist artig, ruhig, ehrerbietig, anstandig,
demütig.® Die Beispiele lieBen sich beliebig- vermehren, um auf die Gefahr der
Quantifizierung noch eindringlicher hinzudeuten.
Tabelle 1. Erfolgskontrolle Gruppe H. K. E.
Name
Labor.-
Rang-
reihe
Werk-
scbule
Werk-
statt
Gesamt-
platz
Differenz
aus
Labor.
u. Praxis
Beobachtungsbogen
Bei. . .
2
7
6
6
+ 4
verstockt, frech, heraus-
fordernd usw.
Ew. . .
9
4
4
5
— 4
demütig, ruhig und sachlich
Ho. . .
10
8
7
7,5
-2,5
Hu. . .
4
6
1
3,5
— 0,5
Kö. . .
3
10
9
10
4-7
eingebildet, trotzig, ruppig, un-
diszipliniert, frech, finsteres Aus-
sehen
Kr.. . .
5
3
3
2
— 3
ruhig, sachlich, anstandig
Le.. . .
7
5
10
7.5
4-0,5
Lu., . .
6
2
5
3,5
— 2,5
sehr artig, ruhig, ehrerbietig
Ra.. . .
1
1
2
1
0
Wan. .
8
9
8
9
-41
B. Die Beobachtung des Praktikers als Unbekannte und ihre Aufhellung
durch vergleichende Studiën zwischen Laboratorium und Praxis
Aus allem ergibt sich die Bedingtheit des Praktikerurteils. Es ist bedingt
durch seine Persönlichkeit, ihre Vorbildung, Erfahrung und Einstellung, durch
die Beobachtungsumstande sowie durch eine Fülle sonstiger, im einzelnen schwierig
nachweisbarer Faktoren, Die Struktur des Praktikerurteils ist daher zunachst
eine groOe Unbekannte, die in jedweden Fragebogen eingeht, und nur durch
planmaOige vergleichende Studiën, in denen Laboratoriumsurteil und Praktiker-
gutachten gegenübergestellt werden, kann eine Einsicht in die Urteilsgrundlagen
der Praxis ganz allgemein und eines spezieilen Praktikers alimahlich gewonnen
werden. Das Urteil des Laboratoriums, so gut oder schlecht es auch sein mag,
hat den groCen Vorzug, sich aus einer begrenzten Anzahl nachweisbarer quanti-
tativ und qualitativ belegter Bestandteile aufzubauen. Wirgeben im Laboratoriums¬
urteil an: Die Handgeschicklichkeit wurde durch fünf Proben gewertet, die sich
auf diese bzw. jene berufswichtige Funktion erstreckten und auf diese bzw. jene
Weise verrechnet werden. Wenn wir nun auch aus den einzelnen geprüften
Fahigkeiten Gesamtnoten über den Eignungswert des Lehrlings bilden, so ist es
dennoch möglich, da die Bestandstücke der Endnote gegeben sind, durch ana¬
lytische Kontrollen die Beziehungen aufzustellen, in denen das Laboratoriumsurteil
zum Praktikerurteil steht.
142
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
Tafel 2
Schema der analytischen Bezlehungskontrolle zwischen Laboratorlum-
I. Rangreihe auf Grund des
Praktikerurteils in Schule,
Werkstaft, Büro
R P
B. Vergleich der Rangreihen aus Praxis und Laboratorium:
RP : RL
RP ; RL(A)
; RL (B) usw.
R P ; R L (A + B)
: R L (A + C) usw.
C. Abstimmung der Rangreihen
durch Verwendung der auf Grund der Korrelationsrechnung abgeleiteten Gewicbtsfaktoren
für die analytischen Reihen des Laboratoriumurteils.
und Praktlkerurteü
A. Die Grundlagen:
II. Rangreihe der psychotechnischen Prüfstelle
RL
bestehend z. B. aus den Rangreihen
A
Sinnes-
tüchtigkeit
RL (A)
B
Hand-
geschicklichkeit
RL (B)
C
Aufmerk-
samkeit
RL (C)
D
Intelligenz
RL (D)
Nehmen wir an, die durch Praktikerurteil gewonnene Rangreihe RP steht
einer Laboratoriumsrangreihe RLgegenüber (vgl.Tafel 2), die aus den Komponenten
A, B, C, D gebildet wurde. Vergleichen wir zunachst die Gesamtrangreihen mit-
einander, so ergeben sich, wie die Erfahrung lehrt, die mannigfachsten Ober-
einstimmungen, aber auch ünstimmigkeiten, wenn das aus den gleichen Bestand¬
teilen abgeleitete und durch die gleiche Prüfung gewonnene Laboratoriumsurteil
dem Praktikerurteil der einzelnen Schulen, Werkstatten und Büros gegenüber-
gestellt wird. Gehen wir nun den Bedingungen des Zusammenhanges nach, so
hnden wir sehr oft den Fall, daO die Rangreihen des Laboratoriumsgutachtens,
die den Funktionen A und B entsprechen, beinahe völlig übereinstimmen, wahrend
die Funktionswerte der Reihen C und D völllg abweichen. In anderen Fallen
wieder ist eine Übereinstimmung gerade der Rangreihen der geprüften Funktionen
C und D augenfallig, wahrend die Rangwerte für A und B sehr gering korrelieren.
Auf diese Weise kann man bei hinreichender Erfahrung mit bestimmten Schulen,
Werkstatten und Büros das Praktikerurteil errechnen, indem man Gewichts-
ziffern bei den einzelnen Funktionswerten anbringt und erhalt dann mitunter
eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Ex¬
periment und Beobachtung. In Worten ausgesprochen können wir dann detn
Praktiker sagen: „Wenn Sie Rangreihen der Brauchbarkeit Ihrer Lehrlinge auf-
stellen, so legen Sie vorwiegend die reine Handgeschicklichkeit zugrunde, nicht
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
143
dagegen die intellektueile Befahigung Ihrer Zöglinge; denn es bestehen kaum
Unstimmigkeiten, wenn unsere Proben der Handgeschicklichkeit Ihren Noten der
allgemeinen Tüchtigkeit des Lehrlings gegenübergestellt werden." Oder wlr können
dem Lehrer der Schule X sagen: „Ihre Fahigkeitsrangreihe der Schüler beruht
ofFenbar auf vorwiegender Beurteilung der Auffassungs- und Gedachtnisleistungen
der Klassenangehörigen, denn unsere Versuchsreihen, die das Auffassen, Behalten
und Wiedergeben prüfen, zeigen eine auffallende Harmonie mit Ihren Zensuren,
wahrend unsere Proben, die das Kombinieren, Urteilen und kritische Denken
zu erfassen bestrebt sind, recht erhebliche Ausfalle gegenüber Ihrer Zensierung
aufweisen.®
Auf diese Weise kann die groOe Unbekannte, die das Praktikerurteil zunachst
darstellt, allmahlich aufgehellt werden, und es ist mitunter möglich, die Grund-
lagen der Beurteilung und Wertung aufzuRnden, die den Angaben und Wertungen
des Beobachtungsbogens zugrunde gelegt worden sind.
C. Konstanz und Schwankungsbreite derLeistung in Schule und Beruf
Genau wie das Experiment den Querschnitt durch die Fahigkeitsreaktionen
des Prüflings zu einem gewissen Zeitpunkt macht, einen Querschnitt, in dem
frühere Erfahrungen des Prüflings sich auswirken und künftige Entwicklungs-
möglichkeiten angedeutet sind, genau so wird im Beobachtungsbogen über einen
bestimmten Zeitabschnitt geurteilt, und genau wie Schwankungen bei den Stich-
proben experimenteller Art zu verschiedenen Zeiten zu erwarten sind, genau so
wird die Fahigkeitsbeurteilung durch die Beobachtung an den einzelnen Ter-
minen gewisse Schwankungen aufweisen. Wenn wir nun einen bestimmten zeit-
lichen Querschnitt herausgreifen, also das Ergebnis der experimentellen Unter-
suchung eines bestimmten Termins zugrunde legen und dies Ergebnis mit den
Angaben des Beobachtungsbogens über eine bestimmte Zeitspanne vergleichen,
so muO die Schwankungsbreite, die beiden Instanzen zukommen wird, von vorn-
herein nicht auDer Acht gelassen werden.
Sehr lehrreich für die Schwankungen der praktischen Leistungen ist eine
Statistik der Lehrlingsgruppe K. O., die sich auf sechs Monate bezieht. Hier
wurde von einer Beobachtungsrangreihe des Meisters nach einem bestimmten
Abschnitt der Lehrlingsausbildung ausgegangen, und wir wollten feststellen, in
welcher Weise die dem Urteil zugrunde liegenden tatsachlichen Leistungen der
Lehrlinge im Laufe der einzelnen Beobachtungsmonate Schwankungen unter-
worfen waren. Wir nahmen als MaBstab der Lehrlingsleistung die Zeit, die
der Prüfling zur Ausführung bestimmter lehrplanmaliiger Werkstattsarbeiten ge-
braucht hatte. In diesem Zeitwert steekt auch eine Qualitatsnote, da das
Werkstück erst dann abgenommen wurde, wenn es eine gewisse Güte aufwies,
und so oft zurückgegeben wurde, bis es als qualitativ abnahmefahig vom Meister
erklart wurde. Gewifi ist dieser Wert, der Arbeitsgüte und Arbeitsschnelligkeit
in gewisser Weise beleuchtet, durchaus nicht ideal, doch ist er immerhin besser
144
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie
als gar keine objektiv belegte Angabe der Praxis. Einige seiner Mangel seien
erwahnt: Die Zeit für Fehlerausgleich ist je nach der Art des Fehlers verschieden,
MiQmut tind Unlust des Prüflings bei mehrfacher Zurückweisung können auf-
treten, Ungeduld und Nachlassen der Meisteranforderungen bei allzu haufiger
Zurückgabe werden zu beobachten sein u. a. m.
Tabelle 3
Leistungs-Statistik und Meisterurteil in der Lehrlings-Werkstatt
Gruppe K. O.
Name des
Lebriings
Arbeitsstücke
nebst gebrauchten Zeiten
und
erteilten Rangplatzen
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(78,5) 6
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(2)
a—b
b—c
c—d
d—e
e-f
f—g
g-h
h~i
i-k
k—1
1—m
m—n
n—O
Korrel.- Meisterurteil
koefflzienten
0.27
0,541
0,118
0,667
m
0,756
0,714
0,256
0,387
0,252
u. Gesamtleistung o
=-f0,41 ;wF = i0,21
Wenn wir nun die tatsachlichen Leistungen der Lehrlinge in derWerkschule an der
Hand der Arbeitszeiten für die Stücke a—p miteinander vergleichen (vgl. Tabelle 3),
so zeigen sich teilweise ganz erhebliche Schwankungen des Rangplatzes, der dem
einzelnen Lehrling bei den einzelnen von ihm geforderten Arbeiten zukommt,
ein Umstand, der natürlich durchaus zu erwarten war, da die Anforderungen an
das Feilen eines Würfels andere sind wie bei Herstellung eines Gewindebolzens
oder eines Hammers, und da je nach der speziHschen Begabung des Prüflings
wohl die eine Arbeit besser und schneller als die andere ausgeführt werden wird.
Die Korrelationskoefflzienten zwischen den einzelnen Rangreihen erstrecken sich
denn auch von +0,8 bis —0,4.
Summieren wir die Rangplatze der einzelnen Leistungen, bilden also Gesamtnoten
der praktiscben Betatigung, und vergleichen mit diesen Gesamtnoten die Rang¬
platze auf Grund der Beobachtung des Meisters, so ergibt sich eine an sich
merkliche Übereinstimmung zwischen beiden WertmaCstaben bei einem aller-
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
145
dings sehr groGen wahrscheinlichen Fehler. ((> = 0,41; wF = ± 0,21.) Das Urteil
zwischen Leistungsstatistik und Melsterzensur ist in einigen Fallen recht über-
einstimmend. Beispielsweise bleibt der erste des Meisterurteils fast durchweg
auch bei der Zeit- und Qualitatsstatistik der erste wahrend der verschiedenen
Arbeitsmonate hindurch. Der schlechteste dagegen der Meisterzensurierung, der
die Note 4 erhalt, schneidet bei der Leistungsstatistik wesentlich besser ab, ist
er doch mitunter bei einzelnen Arbeiten der Beste oder unter den Besten, falls
Tabelle 4
Korrelationskoeffizienten ( q ) in aufsteigender Reihe
zwischen
A
Einzelarbeit und
Gesamtieistung
B
Einzelarbeit und
Gesamturteil des Meisters
(>
e
e
Bohrschablone
— 0,01
1
— 0,208
Gewindebolzen
f
Winkel
0,071
c
— 0,101
Dreikant
n
Schraubenzieher
0,137
d
0,048
Sechskant
0
Tasterzirkel
0,262
k
0,134
Gewindelehre
c
Dreikant
0,28
f
0,205
Winkel
a
Würfel
0,405
n
0,232
Schraubenzieher
k
Gewindelehre
0,548
0,262
Hammer
P
Lochtaster
0,590
m
0,333
PaOstück
h
Flachkeil
0,819
a
0,381
Würfel
i
Hammer
0,619
e
0,384
Bohrschablone
m
Pafistück
0,691
b
0,495
Vierkant
1
Gewindebolzen
0,721
P
0,598
Lochtaster
d
Sechskant
0,725
0
0,642
Tasterzirkel
b
Vierkant
0,779
h
0,642
Flachkeil
g
Durchschlag
0,851
g
0,685
Durchschlag
die Arbeitszeit des abnahmefahigen Werkstückes als MaOstab zugrunde gelegt
wird. Natürlich differenziert die Leistungsstatistik scharfer als das Urteil des
Meisters, der nur 4 Noten, die von 1—4 reichen, erteilen wollte. Wandelt
man die Notengruppen des Meisters in eine steigende Rangreihe um, so
können Korrelationskoeffizienten errechnet werden zwischen Einzel- und Gesamt-
leistung bzw. Meisterurteil, die in Tabelle 4 in aufsteigender Reihe wiedergegeben
sind. Man sieht, daO die gröBte Übereinstimmung zwischen dem Endurteil des
Meisters und Einzelarbeiten, b, p, o, h, g, der Lehrlinge besteht. Die Arbelten:
Vierkant, Lochtaster, Tasterzirkel, Flachkeil, Durchschlag sind offenbar mehr
oder weniger reprasentativ für die Beurteilung der Lehrlingsqualitat durch den
Meister. Ein anderer Beobachter dagegen kann sein Werturteil auf andere Ar-
P. P. IV.5. 10
146
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
beiten stützen, die vielieicht für ihn gröOeresymptomatische Bedeutung fürErfassung
der Arbeiterqualitat besitzen. Würde er beispielsweise im vorliegenden Falie Ge-
windebolzen, Dreikant und Sechskant für besonders kennzeichnende Arbeitsstücke
halten und bewerten, so kame eine wesentlich andere Rangreihe der Lehrlinge zu-
stande. Auch istdieZeitdauer derBeobachtung vongroOer Bedeutung. Würde schon
nach 3—4 Arbeitsstücken ein Urteil abzuleiten sein, so würden wir ganz andere Wert-
noten erhalten als nach 8—10 Werkstattleistungen. Mitunter liegen die Beurteilungs-
bedingungen bei gleichförmiger Beschaftigung des Facharbeiters teilweise günstiger.
Die Leistungen selbst, gemessen am Zeitwert, weisen eine gewisse Stetigkeit,
aber auch SchwankungsgröOe auF. Beziehen wir zunachst die Einzelleistungen
auf die Gesamtleistung der Sechsmonatsperiode, so zeigen die Arbeiten: PaD-
stück, Gewindebolzen, Sechskant, Vierkant, Durchschlag die gröOte Überein-
stimmung mit dem Leistungsendwert.
Eine gewisse bevorzugte Stellung sowohl für Meisterendnote sowie Leistung
und Wert weisen Durchschlag, Flachkeil, Lochtaster und Vierkant auf,
wahrend beispielsweise der Tasterzirkel in der reinen Leistungs-Zeit-Statistik
wenig Beziehung zum Endwert der Werkstattarbeiten verrat.
Wir erkennen, daO, je nach den zufallig in der Lehrwerkstatt ausgeführten
Arbeiten, der Zeitspanne, über die sich die Beobachtung erstreckt, und je nach
der Art der Beurteilungsgrundlagen des das Stück abnehmenden Meisters, ganz
verschiedene Noten den Prüflingen in den Beobachtungsbogen eingetragen werden
dürften. Eine gewisse GröDe der Schwankung jedes Leistungswertes und jeder
aus dem Leistungswert durch die Beobachtung abgeleiteten Fahigkeitsnote muO
als selbstverstandllch zugegeben werden, und auch die tatsachliche Leistung wird
in Schule, Werkstatt und Büro stets eine gewisse SchwankungsgröDe haben, die beim
sich entwickelnden, aber auch bei dem erwachsenen Menschen nachzuweisen ist.
Je nach dem zugrunde gelegten Ideal des „guten" Lehrlings sowie des „guten”
Arbeiters wird bald diese, bald jene Arbeitsleistung oder gar Arbeitskomponente
zur Ableitung des Werturteils bevorzugt, und es sind daher feste Urteilsgrund-
lagen der Beobachtung vorzuschreiben, sowie reprasentative Arbeiten zu¬
grunde zu legen, nicht, wie meist üblich, in buntem Wechsel bald wertvolle, bald
völlig belanglose Beobachtungsgelegenheiten in Schule und Beruf im Beobachtungs¬
bogen anzudeuten, damit der PraWker an der Hand der ihm gegebenen Arbeits-
analysen typischer Falie seine Beobachtung auf berufswichtige Arbeiten erstreckt,
um so nach Möglichkeit den Gefahren der zeltlichen und qualitativren Bedingtheit
eines jeweiligen Leistungsurteils zu begegnen.
IV. Erfahrungen mit dem Beobachtungsbogen bei der
Begabtenauslese GroB-Berlin
Die Vorauslese der Anwarter für die Begabtenschulen hndet in Berlin durch
die Lehrer der Volksschulen statt, die geeignete Knaben der padagogisch-psycho-
logischen Prüfkommission nennen. Bei dieser Vorauslese sollte nach Möglich-
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
147
keit auch ein Fragebogen Verwendung finden und so ersuchte die Schulbehörde
um Ausfüllung der behördlich eingeführten Rebhuhnschen Frageliste. Leider ist
vondiesen Fragebogen auch nichtein einziger ausgefüllt und eingesandt worden,
so daO seine Angaben in keiner Weise als Erganzung der psychotechnischen In-
telligenzprüfung benutzt werden konnten. Rückfragen bei verschiedenen Kollegien
ergaben, daO die Lehrer es für ganz unmöglich erkiarten, die ganz betrachtliche
Anzahl von Fragen zu beantworten, zumal eine Reihe dieser Fragen durch Be-
obachtung wahrend der Schulzeit überhaupt nicht beantwortet werden könnte.
Andere wieder empfanden die starren Kategorien des Fragebogens ais Zwang,
der ihnen untunlich erschien für ihr Bestreben, eine wertvolle und lebenswarme
Charakteristik des Schülers zu geben. AufVorschlag der Prüfkommission wurde
nunmehr die Lehrerschaft ersucht, entweder den Fragebogen auszufüllen oder eine
freie Charakteristik der empfohlenen Zöglinge der Liste beizulegen. Dieses Ver-
Fahren ergab schon wesentlich mehr, da eine ganze Reihe wertvoller Charakteristiken
mit mehr oder weniger gut zergliederten Belegen für die Fahigkeitsbeurteilung
in die Hande der Prüfkommission gelangten.
SchlieOiich schlugen wir ein vermittelndes Verfahren derart vor, daO ein Frage¬
bogen zur Verteilung kommt, der nur wenige Fragen enthait und der Freiheit des
Beantworters niöglichsten Spielraum gestattet. Dieser neue Fragebogen wurde prak¬
tisch für alle Begabungsschulanwarter mehr oder weniger gut ausgefüllt und der
Behördeeingesandt. Es erscheintzweckmaBig, unsere Erfahrungen mitdiesem Bogen
kritisch zu sichten. Der Entwurf des Bogens stammt von Rektor Ruthe und die
Kommission redigierte auf Grund eingehender Besprechungen seinen Entwurf.
Der Fragebogen (vgl. Tafel 5—7) soll vom Schularzt und vom Klassen-
lehrer bzw. anderen Mitgliedern des Lehrkörpers ausgefüllt werden. Der
Schularzt sollte Auskunft erteilen über den allgemeinen Zustand des Bewerbers,
über die BeschafFenheit wichtiger innerer Organe, Lungen und Herz, über das
Nervensystem und die Sinnesorgane, auch wurde nach Nervenkrankheiten in der
Familie gefragt und schlieOlich für Bemerkungen wichtiger Art Raum gelassen.
Das Urteil des Arztes war in einem Endergebnis zusammenzufassen, und der
Schularzt sollte vermerken, ob er das Kind den gesteigerten Lernaufgaben der
Begabtenschule für gewachsen hielt.
lm ganzen waren von den Anwartern 5,6 % körperlich ungeeignet nach arztlichem
Urteil (vgl.Tafel 7). Eine Beziehung zwischen körperlicher Geeignetheit und dem
Ergebnis der psychotechnischen Intelligenzprüfung konnte nicht festgestellt werden,
etwa derart, daO eine positive Korrelation zwischen körperlicher Leistungsfahig-
keit und inteilektueller Befahigung oder auch umgekehrt bestande. Vielmehr
verteilten sich die Untauglichen über die ganze Intelligenzrangreihe, die auf Grund
der Prüfung aufgestellt wurde. Auch die „kraftig" beurtèilten Kinder sind In-
haber der verschiedensten Platze dieser Reihe.
Der Klassenlehrer bzw. andere Mitglieder des Lehrkörpers hatten die unter III.
wiedergegebenen Auskünfte zu erteilen (Tafel 5/6). Zunachst wünschten wir zu
10 *
148
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktiscben Psychologie
Tafel 5
Fragebogen fOr die Begabtenauslese aus den GroB-Berliner Volksschulen
I. Des Kindes Zu> und Vorname: N. S’.
Geburtstag und Jabr:
Scbule:
Klasse:
Beruf des Vaters:
Wobnung;
II. Vom Scbularzt auszufüllen.
1. Sind in der Familie Nervenkrankbeiten vorgekommen? Nein.
2. Allgemeinzustand (Linge und Gewicht angeben):
151,5 cm 38,3 kg
3. Innere Organe (tnsbesondere Lunge und Herz): Obne Besonderheiten.
4. Nervensystem (Schlaf): Obne Besonderheiten.
5. Sinnesorgane (insbesondere SehschSrfe, Hörfkbigkeit): Kurzsicbtig.
6. Bemerkungen: KrSftig, wenn aucb etwas blutarm.
7. Ist hiernach zu erwarten, daQ das Kind gesteigerten LernauFgaben gewacbsen sein wird? Ja.
Der Schularzt: gez. Dr. N. N.
III. Vom Klassenlehrer bzw. von anderen Mitgliedern des Lebrkörpers auszufüllen.
1. U'ie lange kennen Sie das Kind nüber? 1. 10. 19.
2. Welcben Rangplatz würden Sie dem Kinde innerhalb seiner Klasse geben? 2.
a) nach seinen Leistungen: Platz 2 unter 24 SchQlern.
b) nacb seinen Fibigkeiten: Platz 2 unter 24 Schülern.
c) nach seinem FleiD: Platz 2 unter 24 Scbülern.
d) Welcbe FSblgkeiten sind bei ihm am stSrksten ausgeprigt? Gute scbriftlicbe
Darstellungen, flüssiger Stil.
3. WQrden Sie Ihre Klasse als einen guten, mittelmaOigen oder unternormalen Jabrgang
bezeichnen? (Zutreffendes unterstreichen.)
4. Tritt bei dem Kinde innerhalb oder aulSerhalb der Schule irgendeine Sonderbegabung
hervor? Wenn ja, wie SuQert sie sich? Nein.
5. Falls das Kind besondere Beweise von Arbeitsenergie, Zuverlassigkeit oder anderen wert-
vollen Willenseigenschaften gegeben hat, wird urn eine möglicbst eingehende Angabe
entsprechender Tatsacben gebeten. Bei Aufsatzübungen istderjunge bestrebt,
möglichst ausführlicbe Darlegungen in gutem Stil zu geben. HSuslicbe
Aufgaben werden, aucb wenn sie mal reichlicher ausfallen, gewissenhaft
von ihm ausgeführt.
6. Liegen irgendwelcbe Bedenken in sittlicher Beziehung gegen das Kind vor? Nein.
7. Liegen Erfahrungen vor, welche über Richtung, Starke, Dauer oder Feinheit des Gefühls-
lebens des Kindes AufscbluO geben könnten? Bejahenden Falies: welche Erfahrungen
sind dies? Der junge zeigt leicht Mutlosigkeit und Niedergesch la genheit,
wenn er aus irgendeinem Grunde die Unzufriedenheit des Lehrers erregt
hat. Anerkennung erweckt regen Arbeitseifer.
8. Welchen Beruf möchte das Kind am liebsten ergreifen und wie begründet es seine Wahl?
Tecbnischen Beruf: zeigt Freude an Fertigung technischer Zeichnungen
und physikalischen Unterrichtsstoffen.
9. Wird das Kind durch h3usliche Verhëitnisse gehemmt oder gefördert? lm allgemeinen
recht gefördert, jedoch durch Erkrankung der Mutter zuweilen bei baus-
iichen Arbeiten undVerrichtungen in Anspruch genommen.
10. (Nur bei Knaben zu beantworten.) Welche Schulart wQrden Sie dem Kinde, unabhingig
von wirtschaftlichen ErwSgungen, lediglich in Rücksicht auf die bestmögliche Entwicklung
seiner Aniagen, empfehien? Realschule, danacb ev. Oberrealschule.
11. FQr welche Schule haben sich die Eltern und das Kind nach Rücksprache mit dem
Klassenlehrer entschieden? Realschule oder Gymnasium? (Zutreffendes unterstreichen.)
Der Rektor: N.N..
Der Klassenlebrer: N N.
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie 149
Tafel 6
Fragebogen für die Begabtenauslese aus den Grofi-Berliner Volksschulen
I. Des Kindes Zu- und Vorname: N. N.
Geburtstag und Jahr:
Schule;
Klasse:
Beruf des Vaters:
Wobnung:
11. Vom Schularzt auszufüllen.
1. Sind in der Familie Nervenkrankbeiten vorgekommen? Angeblich nicht.
2. Allgemeinzustand (LSnge und Gewicht angeben): 36,5 kg Gewicht. 1,48 m GröQe.
Ziemlich kriftig.
3. Innere Organe (insbesondere Lungen und Herz): OhneBefund.
4. Nervensystem (Schlaf): Norm al.
5. Sinnesorgane (insbesondere SehschSrfe, Hörfahigkeit): Nor mal.
6. Bemerkungen:
7. Ist hiemach zu erwarten, daB das Kind gesteigerten Lernaufgaben gewachsen sein wird? Ja.
Der Schularzt: N. N.
lil. Vom Klassenlehrer bzw. von anderen Mitgliedern des Lehrkörpers auszufüllen.
1. Wie lange kennen Sie das Kind nSher? 1920 Oktober.
2. Welcben Rangplatz würden Sie dem Kinde innerhalb seiner Klasse geben? 5.
a) nach seinen Leistungen: Platz 5 unter 26 Schülern.
b) nach seinen Fahigkeiten: Platz — unter Schülern.
c) nach seinem FleiB: Platz — unter Schülern.
d) Welche Fühigkeiten sind bei ihm am starksten ausgepragt?
3. Würden Sie Ihre Klasse als einen guten, mittelmSBigen oder unternormalen Jabrgang
beurteilen? (ZutrefFendes unterstreichen.)
4. Tritt bei dem Kinde innerbaib oder auBerhalb der Schule irgendeine Sonderbegabung
hervor? Wenn ja, wie SuBert sie sich?
5. Falls das Kind besondere Beweise von Arbeitsenergie, Zuverlassigkeit oder anderen wert-
vollen Willenseigenschaften gegeben bat, wird um eine möglichst eingehende Angabe
entsprecbender Tatsacben gebeten.
6. Liegen irgendwelche Bedenken in sittlicher Beziehung gegen das Kind vor? Nein.
7. Liegen Erfahrungen vor, welche über Richtung, StSrke, Dauer oder Feinheit des Gefühls-
lebens des Kindes AufschluB geben könnten? Bejahenden Falies: welche Erfahrungen
sind dies?
8. Welchen Beruf möchte das Kind am liebsten ergreifen und wie begründet es seine Wahl?
9. Wird das Kind durch hausliche Verhaltnisse gehemmt oder gefördert? (Zutreffendes
unterstreichen.)
10. (Nur bei Knaben zu beantworten.) Welche Schulart würden Sie dem Kinde — unabhSngig
von wirtschaftlicben Erw3gungen — lediglicb in Rücksicht auf die bestmögliche
Entwicklung seiner Anlagen — empfehien? Gymnasium.
11. Für welcbe Schule haben sich die EItern und das Kind nach Rücksprache mit dem
Klassenlehrer entschieden? Realschule oder Gymnasium? (Zutrelfendes unterstreichen.)
Der Rektor: N. N.
Der Klassenlehrer: N. N.
150
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
Tafel 7
Statistische Erhebungen Ober den Fragebogen für die Berliner Begabtenauslese,
Michaelis 1922
1. Körperliche Ungeeignetheit. (Urteil des Arztes): 5,6 %.
2. Zeitraum der Kenntnis der Schuier durch den Lehrer: Arithmet. Mittel 1,79 Jahre.
(Mittl. Var. 0,89.)
3. Identitdt des Rangplatzes in
FleiO I
Leistungen > 55,5 %.
Fahigkeiten j
Identitat von Leistungen (L) u. Fahigkeiten (F): 77 % (13% F)
(10 % L < F)
Identitat von Fahigkeiten und FleiO (F/): 60,3 % (17 % F> F7)
(22% F<F/)
Identitat von Leistungen und FleiO: 71,3% (12 % FZ)
(16% L<FZ)
4. Starkst entwickelte Fahigkeit:
5.
33,3 % Nennung von Fertigkeiten,
66,6 % Nennung von Fdhigkeiten:
Darstellen und Schildern.33,4 %
Logisches Denken und Kombination . . . 24,5 %
Gedachtnis.21,8%
Auffassung.13,3 %
Phantasie. 4,5 %
Erfassung des Wesentlichen. 1,3 “u
Beobachtungsgabe . . . ‘. 1,3 %
Neigung zu selbstandigem Schaffen ... 1,2 %
Sonderbegabung:
Nichtbeantwortung oder Verneinung der Sonderbegabung . 57 %
Schulleistungen und Fertigkeiten . 12 %
Allgemeine Eigenschaften . Z %
Besondere Fdhigkeiten . Z %
Eigentliche Sonderbegabung . 30 % (davon 50 % belegt).
Der Haufigkeit der Angabe nach geordnet treten auf:
Zeichnen, Modellieren, Musik, Handgeschicklichkeit, sportliche Begabung, Führertalent.
6. Arbeitsenergie, Zuverldssigkeit, wertvolle Willenseigenschaften nebst Belegen:
Nichtbeantwortung . 38 %
Willenseigenschaften (mit Belegen) . 27 %
Willenseigenschaften (ohne Belege) . 34 %
7. Sittliche Bedenken:
Verneinung: 100%.
8. Richtung, Sidrke, Dauer oder Feinheit des Gefühlslebens:
Nichtbeantwortung 60 %,
Belegte Angaben 20 % (unbelegte 20 %).
9. Hemmung oder Förderung durch hdusliche Verhdltnisse:
Gehemmt. 7 % )
Nicht gehemmt. 77,4 % ?• davon begründet: 20 %.
Weder gehemmt noch gefördert . . 11,3 % \
Nicht beantwortet. 4,3 %.
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
151
wissen, auf wie lange Zeit die Beobachtung des Lehrers sich erstreckte, und konnten
feststellen, daO im Mittel der Lehrer etwa IVi Jahre den Knaben kannte, mit
einer Streuung von etwas mehr als V 4 Jahren.
In gröBter Aniehnung an die Kategorien des Abgangszeugnisses wünschten
wir eine Beurteilung des Knaben nach Leistungen, Fahigkeiten und FleiQ, wobei
dem jeweiligen Bewerber ein bestlmmter Rangplatz in der Klasse zuzuweisen
war. Der Lehrer also konnte die Auskunft geben: Der Knabe ist der Leistung
nach der fünfte in einer Klasse von 26 Schülern, seinen Fahigkeiten nach da-
gegen der Beste, seinem FlelC nach höchstens als zehnter oder elfter anzusetzen.
Um auch über die „absolute" Höhe der Begabung einen gewissen Anhalt zu
haben, sollte uns der Lehrer ein Werturteil über die Qualitat des gerade in Frage
kommenden Jahrganges mitteilen. NaturgemaO kann der Beste eines schlechten
Jahrganges durchaus noch unter einem mittelbefahigten Knaben eines guten
Jahrganges stehen. Ist der gerade für die psychotechnische Auslese in Frage
kommende Jahrgang unternormal, so kann bei dem relativen Charakter solcher
psychotechnischer Auslesen, sofern keine absoluten durch frühere Erfahrungen
gewonnenen Wertziffern zur Verfügung stehen und eingehalten werden, mit-
unter bei ungünstigen Bedingungen kaum eine hinreichende Anzahl geeigneter
Anwarter für die Schulen und Werkstatten herausgefunden werden.
Trotz der zu erwartenden erheblichen Abweichungen für die Rangplatze in
FleiO, Leistungen und Fahigkeiten steilte es sich heraus, daO im Durchschnitt
bei 55,5% der Schüler, also bei etwas mehr als der Halfte, Abweichungen hinsicht-
lich der Noten in Leistungen, FleiO und Fahigkeiten von dem Lehrer nicht vermerkt
werden und zwar ist die höchste Übereinstimmung zwischen Leistungen
und Fahigkeiten aufzufinden, da hier in 77% eine Identitat des Rangplatzes an-
gegeben wird. Der Lehrer dürfte also vorwiegend, wie es zu erwarten war, auf die
Leistungen den Schwerpunkt legen, jedenfalls solche Schüler für den Aufstieg vor
allem vorsehen, bei denen im allgemeinen erhebliche Abweichungen zwischen
Fahigkeiten und Leistungen ihm nicht vorliegend erscheinen. In 13% werden die
Leistungen als besser als die Fahigkeiten angegeben, nur in 10% als geringer
als die Fahigkeiten angegeben. In 71% stimmten Leistungen und FleiO überein
und in 60% Fahigkeiten und FleiO, legen wir die Angaben dieses Fragebogens zu-
grunde. Hervorzuheben ist das Ergebnis, daO in 22% der Falie der FleiO
gröOer als die Fahigkeiten beurteilt wlrd.
Die nachste Frage bezog sich auf die beim Schüler am starksten entwickelte
Fahigkeit. Leider werden nur in Vs der Angaben eigentliche Fahigkeiten
mitgeteilt, wahrend sich in dem Rest der Falie, also in 33% Fertigkeiten ge-
nannt linden. Beispielsweise wird sehr hauiig gesagt: Schüler(in) NN ist ein guter
und flotter Rechner, oder ein guter Geograph oder orthographisch sicher u. a. m.
Dieser Ausfall muO ganz besonders berücksichtigt werden, da schon nach dem Er¬
gebnis der Fragen III. 2a—c die Vermutung naheliegt, daO in vielen Fallen statt der
Fahigkeiten eigentlich Leistungen,bzw. wie sich jetztzeigt,Fertigkeiten gemeint werden.
152
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
Überblickt man nun die in den Fragebogen auftretenden Fahigkeiten, so be-
zieht sich der höchste Prozentsatz der Angaben, namlich 33,4 %, auf die Befahigung
des Anwarters zum Darstellen und Schildern. Offenbar war hier im Unter-
richt und beim Aufsatz Gelegenheit geboten, gerade diese Fahigkeiten kennen-
zulernen, wenn beispielsweise die gute Wiedergabe des vom Lehrer im Vortrag
oder Unterricht behandelten Stoffes, die sprachlich in gefalliger Form und logisch
vielleicht gut gegliedert und inhaltlich ohne wesentliche Lücken öfters vom Schüler
dargeboten wurde, die Aufmerksamkeit des Lehrers erregt hatte. Eine eigentliche
Fahigkeit dürfte dem Darstellen und Schildern auch nicht zugrunde liegen, sondern
die psychologische Zergliederung zeigt, daO stets, je nach den in Frage kommenden
ümstanden, eine Fülle in der Analyse erfaObarer, in den einzelnen Fallen durch-
aus nicht übereinstimmender Funktionen beim Darstellen und Schildern eine
Roile spielen dürften.
Angaben über Gedachtnis und Auffassung des Schillers hnden sich in
22 % bzw. 13% der Falie. Die geringe Hauhgkeit der Angaben über Befahigung
zu einer guten und schnellen Auffassung gegenüber den Angaben, die auf Güte
des Gedachtnisses Bezug haben, darf nicht übersehen werden.
In einem Viertel der Angaben (24,5 %) werden Kombination und Denkver¬
mogen als die besonderen Fahigkeiten des Bewerbers erwahnt. Vielleicht hat
hier die Arbeitsmethode, also eine besondere Form des Unterrichtes, die die
Selbsttatigkeit des Schülers anregt, AnlaO gegeben, AuDerungen des logischen
Denkens und der Kombinationsfunktionen besonders zu beobachten und anzuführen.
Die Phantasie wird nur in etwa 5%genannt und in etwa 1 % kommen Beobach-
tungsgabe und Neigung zu seibstandigem Schaffen zur Erwahnung. Mitunter
wurden schon bei dieser Frage eigentliche Sonderbegabungen, besonders haufig
im Zeichnen und Musik, genannt.
Der Schwerpunkt der eigentlichen Befahigung des Schülers kann,
so lehrt die Statistik, aus dem Beobachtungsbogen in den meisten Fallen
bei dieser Art Fragestellung und dem vorliegenden Material leider
nicht erkannt werden. Dagegen werden für die analytische Erfolgskontroile
der psychotechnischen Prüfung recht brauchbare Anhaltspunkte gegeben, und die
fortschreitende psychologische Analyse reprasentativer Unterrichtsleistungen wird
hoffentlich eine gröOere Reichhaltigkeit bei Beantwortung gerade dieser Frage in
Aussicht stellen. Gerade die Fehlangaben, wenn etwa eine gute Schreibfertigkeit
als starkst entwickelte Fahigkeit angegeben wird, sind sehr bezeichnend für die Ein-
stellungdesLehrersundgeben unsFingerzeigefürVerbesserungunserer Fragestellung.
In Frage III. 4 sollte Auskunft erteilt werden darüber, ob innerhalb oder auOer-
halb der Schule eine Sonderbegabung bei den Kindern hervortrltt. Gleich-
zeitig waren Belege für diese Sonderbegabung anzuführen. In mehr als der
Halfte der Antworten, in 57%, wird die Frage nicht beantwortet oder verneint.
Schulleistungen und Fertigkelten werden in 12% genannt, und nur in 30% hnden
wir Sonderbegabungen erwahnt, von denen wiederum leider nur die Halfte Be-
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
153
lege der Begabung anführt. Viele dieserBelege slnd vieldeutig („er nimmt Geigen-
stunde" u. a.), sogar unbrauchbar, einige dagegen auch gut und verwendungsfahig.
Einen besonderen Nachdruck wollten wir auf die Auskunft der Frage 5 legen,
nach Angaben besonders wertvoller Willens- und Charaktereigenschaften, von
Arbeitsenergie und Zuverlassigkeit sowie sonstiger Willensqualitaten. Auch hier
sollten möglichst eingehend die dem Urteil zugrunde liegenden Tatsachen be-
richtet werden. In 38% der Falie ist diese Frage überhaupt nicht beantwortet
worden, und nur in etwa einem Viertel der Antworten, in 27%, linden wir
Willenseigenschaften nebst Belegen angeführt, wahrend in 34% Angaben ohne
Begründung durch entsprechende Tatsachen zu verzeichnen sind. Gerade diese
Frage sollte für die Erganzung und Bereicherung des experimentellen Befundes
Verwendung hnden, da naturgemalJ hier für die Begutachtung von Willens- und
Charaktereigenschaften die Angaben des Fragebogens von uns nicht entbehrt
werden mochten, doch ist das Ergebnis auch hier so lückenhaft, daQ wir nur in
den wenigsten Fallen diese auch für den Schulaufstieg sehr wertvollen Eigen¬
schaften als gesichert durch die Beobachtung ansehen konnten.
Am haufigsten wurden, allerdings ohne Belege, genannt: Zuverlassigkeit, FleiO,
Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, W'illensstarke und Energie, Ordnungsliebe, Sauber-
keit, Pünktlichkeit.
Belege hnden sich in 27 % der Falie; Wiederum der Hauhgkeit des Vor-
kommens nach geordnet sind angeführt: Lerneifer, FleiC, Energie und Ausdauer,
Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt, Zuverlassigkeit, Selbstandigkeit, Führerqualitat
durch Autoritat und Beeinflussungsgabe, Ehrgeiz, Mut und Entschlossenheit, Wahr-
haftigkeit. Die Belege wurden teilweise auch brauchbar gedeutet, teilweise aber
sind mannigfache Interpretationen möglich und wahrscheinlich.
Auch Fehlangaben treten auf (zehnmal): Gute Lernfahigkeit und Rechenfertigkeit,
Anstelligkeit und Geschicklichkeit u. a. m.
Nicht minder wichtig erschien uns eine Befragung (III 7.) nach Richtung, Starke,
Dauer oder Feinheit des Gefühlslebens des Kindes, die aber auch in etwa zwei
Drittel der Falie überhaupt nicht beantwortet, in 20% der Falie ohne Angaben
und nur in dem Rest, also in einem Fünftel der Falie, mit Belegen mehr oder
weniger eindeutiger Art erteilt wurde.
Besonders haufig wird auf die Geltungsgefühle Bezug genommen. Wir
Hnden der Hauiigkeit nach geordnet folgende Angaben: Leichte Verletzlichkeit
bei Tadel, leichte Lenkbarkeit, Ehrgeiz, Stille, Zurückhaltung, empfanglich für
Freundlichkeit, asthetische Gefühlsempfanglichkeit, soziale Gefühle u. a.
SchlieQlich war es sehr wichtig, ob der Lehrer sittliche Bedenken gegen das Kind
vorzubringen hatte. Wir setzten daher eine entsprechende Frage unter Nr. 6 ein.
In 100%, also in allen Fragebogen, sind sittiiche Bedenken nicht angeführt worden.
Für die Entwicklung des Schülers auf der Begabtenschule war es wichtig, zu
wissen, ob die hauslichen Verhaltnisse als hemmend oder fördernd anzusehen
sind. Zu erwartende Hemmungen werden in 7 % der Falie genannt, wahrend
154
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
keinerlei Hemmung in 77 % in Aussicht gestellt wird. Bei 11,3 % findet sich die
Angabe: weder gehemmt noch gefördert, und nur in 4 % wird die Spalte nicht
ausgefüllt. lm allgemeinen kann es als durchaus erfreulich hervorgehoben
werden, daB der Lehrer diese Auskunft über die hauslichen Verhaltnisse
geben kann, wenn auch auf die geringe Anzahl der Falie, in denen begründete
Tatsachen angeführt werden, hinzuweisen ist.
Der Rest der Fragen bezog sich auf die Schulart, die die Eltern bzw. die
Lehrer empfahlen. Wir wollten feststellen, ob und in welchem MaOe eine Über-
einstimmung zwischen dem Vorschlag des Lehrers und der endgültigen Entschei-
dung durch die Erziehungsberechtigten eintritt. lm allgemeinen herrscht Über-
einstimmung, da in 81 % der Falie Differenzen nicht auftreten. In 70 %
entschieden Lehrer, Eltern und Kind für die Reaischule, in 11 % für das Gym¬
nasium. Die 19 % Abweichungen von Lehrer- und Elternurteilen vertellen sich
folgendermaOen: In 8,5 % entschieden die Lehrer für das Gymnasium, die Eltern
dagegen für die Reaischule, umgekehrt in nur 4,25 %, wo der Lehrer für die
Reaischule, die Eltern für das Gymnasium sich entschlossen. Bei etwa 6 %
wurde die Frage durch den Lehrer nicht beantwortet.
Die Frage nach der BeruFswahl hat ergeben, dali der Hauflgkeit nach folgende Berufe er*
wSbIt wurden: KauFmann, Bankbeamter, Technischer BeruF, Förster, Geistlicber, Mittlerer Beamter,
GSrtner, Chemiker, Musiker, Buchbandler u. a. ra.
In nur 8,7 % der Ffille wurde die Frage nicht beantwortet, zehnraal trat die Antwort „un-
entschieden" auF. Positive Antworten Fanden in der HkIFte der F3Ile Begründung. In zwei
Drittein der Begründungen wird die eigene Neigung angegeben. AuQerdera lesen wir: Wunsch
des Vaters und der Verwandten, Aussicbt auF Geldverdienst, gute Beziebungen u. a. ra.
Ein Hauptmangel dieses Fragebogens liegt darin, daO die Eignung des Lehrers
für sichere und zuverlassige Beobachtung nicht berücksichtigt worden ist. Die
Gefahr bestand, daO bei Verwendung einer SchluBfrage, etwa nach der Art, wie der
Lehrer seine Angaben gemacht habe, ob mehr oder weniger gefühlsmaOig oder auf
Grund planmaDiger Aufzeichnungen oder auf Grund besonderer ihm in der Er-
innerung noch haftender Einzelleistungen, noch mehr Ausfalle und noch mehrZurück-
haltung wahrscheinlich gewesen waren. Bedenklich ware es gleichfalls gewesen,
die Sicherheit des eigenen Urteils irgendwie durch den Lehrer bewerten zu lassen
oder nur Fragebogen zu verwenden, bei denen mehrere Beobachter bei der Analyse
Übereinstimmendes gefunden batten. Man muOte zufrieden sein, daO nach dem
völligen Ausfall des behördlich eingeführten Fragebogens doch immerhin entwick-
lungsfahige Ansatze zum Ausbau der Methode festgestellt werden konnten, so daQ
doch gewisse Grondlagen geschafFen wurden, auf denen weitergebaut werden kann.
V. Forderungen zur BegrOndung einer wlssenschaftlichen Methode der
Eigenschaftsfeststellung durch Beobachtung von Schul- und Berufsleistungen
und Befragung BerufstStiger
Auf Grund der bisherigen Erfahrungen sowie theoretischer Überlegungen wird
man eine Reihe von Forderungen betrefFs des Frage- und Beobachtungsbogens
aufzustellen haben, die bisher nur teilweise oder überhaupt nicht berücksichtigt,
geschweige denn erfüllt worden sind.
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
155
A. ErfaBbarkeit durch Beobachtung
Die Fragen müssen daraufhin gesichtet werden, ob die gewünschten Auskünfte
durch Beobachtung überhaupt gewonnen und erteilt werden können. Oberblickt
man die bisherigen Listen, so fallt die Übernahme zahlreicher Fragen aus den
experimentellen Arbeiten psychologischer oder padagogischer Art auf, ohne
daQ man sich vorher klargemacht und bewiesen hat, ob denn die Beobachtung
in der Lage ist, Auskunft zu geben über die auBerst verwickelten, der Frage
zugrunde liegenden Verhaltnisse des BewuQtseinslebens, oder ob nicht nur durch
eindringende experimentelle Analyse einer gut ausgerüsieten Prüfstelle die ge-
wünschte Antwort mit mehr oder weniger Sicherheit erteilt werden kann. Bei-
spielsweise kann eine Frage nach dem Vorstellungstyp eines Jugendlichen vielleicht
nach mehrtagiger, ausgiebiger experimenteller Untersuchung beantwortet werden,
wahrend die Typenfeststellung durch Beobachtung allein unter den Bedingungen
des Schul- oder Werkstattlebens kaum mit hinreichender Sicherheit möglich sein
dürfte, Trotz heftigster Gegnerschaft der Fragelistentheoretiker gegen das Ex¬
periment, verdankt eine Fülle ihrer Befragungskategorien ihre Existenz dem Studium
der experimentellen Literatur. Eine reinliche Scheidung der Fragen unter dem
Gesichtspunkt der ErfaDbarkeit und Erteiiungsmöglichkeit der Auskunft durch
Beobachtung wahrend des Berufslebens ware daher dringend erforderlich. Diese
Grenzregulierung zwischen Experiment und Fragebogen ist aber bisher noch nicht
in AngrifF genommen worden. Sie kann nicht theoretisch und nach Gutdünken
ausgeführt werden, sondern nur durch eingehende Erfahrungsgrundlagen.
Sehr lehrreich ware beispielsweise ein gewisser Vorversuch in dieser Richtung,
ob und in welchem MaBe gewisse experimenten ziemlich sicher erfaBbare Quali-
taten etwa aus dem Gebiete der Sinnesleistungen, des Farbensehens, der Gemein-
empBndungen u. a. von 100 berufstatigen Beobachtern gelegentlich der BeruFs-
arbeit erfaBt wurden, welche Zeit und Mühe sie aufwandten und welche Sicherheit
sie der Bekundung zuschreiben.
Man wird, urn jede unnötige Belastung des Fragebogens zu vermeiden und
um dem Wesen der Lehrerbeobachtung gerecht zu werden, zweckmaBig — natürlich
unter Würdigung der in Frage kommenden Verhaltnisse — besser diejenigen Fragen
ausschalten, deren Beantwortung durch das Experiment schneller, besser und
sicherer möglich ist. Dagegen wird man auf innere und zentrale Anlagen der
Persönlichkeit in einer kurzen, experimentellen Analyse mitunter nur gewisse
Schlaglichter werfen können, und gerade hier ware die Bundesgenossenschaft des
Fragebogens auBerst erwünscht. Es ist müBig, darüber zu streiten, ob das Ex¬
periment den Fragebogen oder der Fragebogen das Experiment zu erganzen hatte.
Beides sind Gesichtspunkte und Möglichkeiten der Feststellung
schul- und berufswichtiger Fahigkeiten des Jugendlichen und Er-
wachsenen.
Wenn jedoch behauptet wird, moralische und Charaktereigenschaften waren
grundsatzlich dem Experiment verschlossen, so ist das irrtümllch. Wir können
156
Moede, Frage* und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie
auch im Laboratorium oder in der Praxis der Schule und des Lebens Bedingungen
setzen und diese Bedingungen planmaOig verandern, urn gegebenenfalls über wich¬
tige moralische und Charakteranlagen, Redlichkeit, Pflichttreue, Gewissenhaftig-
keit, Auskunft zu erhalten, der je nach den Versuchsumstanden eine gröOere
oder geringere Bedeutung zukommt. Das Leben, das die Versuchung an den
Menschen in der verschiedensten Weise und Starke herantreten laQt, bietet uns
Voriage und Schema, nach dessen Richtlinien gearbeitet werden kann. Die in-
dustriellen Unternehmen, die eigens moralische Kontrollbeamte anstellen, deren
Aufgabe es etwa ist, seibstandigen Leitern von Filialen verlockende aber vertrags-
widrige Bedingungen vorzulegen, urn ihre Widerstandsfahigkeit gegenüber unzu-
lassigen, aber eintraglichen Angeboten hnanzieller und sonstiger Art festzustellen,
haben hinreichende Erfahrungen darüber, wie mit steigenden Anreizen mitunter
die Widerstandskraft den Versuchungen gegenüber mehr und mehr nachlaOt, bis
schlieOlich der Angestellte gegen die Bedingungen seines Anstellungsvertrages
sich vergeht. Verlockung mannigfachster Art, unerlaubte Eingriffe in das Eigentum
eines anderen zu begehen, Verführungen auf geschlechtlichem Gebiet u. a. m.,
dies alles kann auch unter dem Gesichtspunkt einer beabsichtigten experimentellen
Begutachtung von Willens- und Charaktereigenschaften betrachtet und ausgewertet
werden. Freillch ist es Sache des Laboratoriums, der Wohlfahrt seiner Klienten
zu dienen, und infolgedessen wird man grundsatzlich alle Versuche und Proben
dieser Art ablehnen und nur gelegentlich Stichproben der Zuverlassigkeit und
anderer Eigenschaften in bestimmten Pallen der Begutachtung auCerst vorsichtig
vornehmen dürfen, da selbstverstandlich durch die Bedingungen des Laboratoriums-
versuchs Fehldiagnosen möglich sein können.
Der experimentelle Befund muO jedenfalls so abgefaOt und niedergelegt sein,
daC er nur die Verantwortung für die in dem Gutachten aufgezahlten Qualitaten
zu übernehmen hat. Bestehen Lücken etwa bei der Fesstellung ethischer und
moralischer Eigenschaften, so ist dies nicht zu verheimiichen. Es werden dann
Vorwürfe bei Fehlleistungen der Prüflinge in der Praxis, die durch moralische
Mangel bedingt sind, ausbleiben. Inwieweit der Lehrer in der Lage und vor
allen Dingen auch gewilit ist, sittliche und Charaktermangel anzugeben, entzieht
sich unserer Erfahrung. Bisher haben wir fast niemals „Bedenken in sittlicher
Beziehung" in den Bogen angeführt gefunden, trotzdem doch Mangelfeststellung
oft ieichter zu sein pflegt als die Erfassung bestimmter positiver Anlagen und Vor-
züge des intellektuellen Willens- und Gefühlslebens sowie der Gesamtpersönlich-
keit. Dankbar wird man jedenfalls alle Hinweise auf Mangel und Vorzüge der
sittlichen Veranlagung begrüBen und sehr gern bereit sein, sie zu verwerten, falls
gesicherte Antworten und Eintragungen in der Beobachtungsliste sich vorRnden.
Wenn man, so kann zusammengefaOt werden, planmaOig die Fragen darauf-
hin durcheicht, ob sie in den Bereich des Experiments oder der Beobachtung
gehören oder beiden Instanzen vorzubehalten sind, ware ein wichtiger Schritt
vorwarts getan. Ist der Wirkungsgrad des Experiments wesentlich höher, so
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
157
wird man auf Beobachtung verzichten oder umgekehrt der Beobachtung die
Hauptaufgabe zuschreiben, wo die experimentellen Feststellungen unsicher und
schwierig sind.
B. Scheldung der Fragen nach ihrer Schul- bzw. Berufswichtigkeit
Zweitens sind die Beobachtungsbogen daraufhin durchzusehen, ob die in
ihnen gewünschten Auskünfte schul- bzw. berufswichtig zu nennen sind. So
seibstverstandlich diese Forderung erscheint, so wenig ist sie bisher bei vielen
Fragebogen berücksichtigt worden. Der Fragebogen soll doch ein Hiifsmittel für
die Feststellung wichtiger und wesentlicher erforderlicher Anlagen sein, dagegen
nicht eine MaOnahme, urn allerlei an sich sehr interessante Auskünfte einzuholen,
die bei einer rein wissenschaftlichen Enquete vielleicht von Bedeutuog sein könnten.
Aber wenn man Fragebogen für die Zwecke des Schulaufstieges oder der Berufs-
einweisung und -beratung verwendet, ist es untunlich, die Aufmerksamkeit des
Lehrers auf Beachtung von Merkmalen einzustellen, von denen es bisher durchaus
unbekannt ist, ob sie überhaupt für einen bestimmten Beruf irgendwelche Be-
deutung haben. Die Vermutung auf Grund einer oberflachlichen Betrachtung
beruflicher Verrichtungen, daO diese oder jene Eigenschaft dem Trager Vorteil
bringen könnte, ist kein zureichender Grund, um die Bogen mit Beobachtungs-
angaben zu belasten, deren Verwendungsfahigkeit noch gar nicht einmal feststeht.
Also in unmittelbarem AnschluO an die wissenschaftliche psychotechnische
Berufsstudie und planmaOige Arbeitsanalyse hat man die Fragen zu entwerfen
und nur diejenigen in dem Bogen auftreten zu lassen, deren Beantwortung
Zweck hat.
C. Zeitkontrollen
Drittens sind die Fragen zeitlich zu eichen. Wir müssen ungefahr wissen,
welche Zeit die Beantwortung einer Frage in Anspruch nimmt. Dabei ist zu
berücksichtigen, einmal, auf wie lange Dauer sich die Beobachtung zu erstrecken
hat, um eine berücksichtigenswerte Angabe erhalten zu können. Wenn sich dann
ergibt, daü bei Fragen über bestimmte Entwicklungshemmungen und -schwankungen
mehrere Jahre der Kontrolle durch planmaCige Beobachtung des Schülers durch
dieselben Personen erforderlich sind, der Gefragte dagegen aus bestimmten zu-
grunde liegenden Verhaltnissen im Durchschnitt sein Beobachtungsobjekt über¬
haupt nur Wochen und Monate studieren kann, so soll man nicht unnötig diese
Fragen stellen. Weiter muB man mit bestimmten Klassenfrequenzen oder sonstigen
Gruppen verschiedenster GröCe rechnen, und es ist notwendig, zu wissen, ob im
Rahmen des gemeinsamen Unterrichts der Lehrer, der zunachst zu erziehen und
zu unterrichten hat, um ein Klassenziel zu erreichen, die Zeit finden kann, um
die Beobachtung und Eintragung ausführen zu können; denn es hieOe, den Be-
obachter zum Leichtsinn zu verführen, wenn die für die gewjssenhafte Be¬
antwortung von mehr als 100 Fragen erforderliche Zeit gar nicht vorhanden ist
und wenn weiter die zur Verfügung stehende Zeit die Beantwortung von höchstens
158
Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie
10 nicht 100 Fragen an 3, aber nicht 30—60 Jugendlichen gestattet. SchlieOlich
ist auch mit der Zeit zu rechnen, die bei und nach planmaQiger Beobachtung für
die Niederschrift der Vermutungen, Bestatigungen, Zweifel, Belege usw. unter
allen Umstanden zu Gebote stehen muQ. Da man stets Belege für die einzelnen
Angaben verlangen wird und darüber hinaus auch eine Analyse des zugrunde ge-
legten Tatbestandes erstrebt, sind die Zeiten für Protokolle dieser Art keineswegs
gering zu veranschlagen. Schon die oberflachliche Summation solcher Zeiten für
die reine Niederschrift wird in vielen Pallen zur Beschrankung auf einen winzigen
Bruchteil der bei vielen Fragebogen verwendeten Fragenzahl führen müssen.
D. SicherheitskontroIIen
Der Schwerpunkt für die Beurteilung des Wertes eines ausgefüllten Be-
obachtungsbogens liegt effenbar in der Kenntnis des Zuveriassigkeitsgrades,
der den Eintragungen zugeschrieben werden kann. Die Erörterung dieser Zu-
verlassigkeit verlangt Berücksichtigung der Beobachtungsumstande, des Be-
obachters und seiner Eignung für die in Frage kommende Beobachtungsart
und das Beobachtungsziel, sowie Berücksichtigung der Methode, nach der der
Beobachter gearbeitet hat.
1 . Eignung des Beobachters als Grundfrage.
Die Erfahrung lehrt, daö die Eignung der einzelnen Menschen zu natur-
wissenschaftlicher, geisteswissenschaftlicher oder praktisch-psychologischer Be-
tatigung auOerst verschieden ist. Dem einen wollen botanische und zoologische
Beobachtungen nicht gelingen, wahrend er meisterhafte Leistungen bei der Er-
fühlung in fremdes Seeienleben durch seine rasche und sichere Deutung auch
flüchtigster Ausdruckssymptome aufweist. Die Erfahrungen wahrend des Krieges
haben beispielsweise den ungleichen Wert der Beobachtungsfeststellungen ver-
schiedener Personen aufs allerdeutlichste enthüllt. Diejenigen Dienststellen, deren
Aufgabe im Rahmen der militarischen Organisation es war, die Angaben solcher
Erkundungen durch Vorposten, Reiterpatrouillen, Rad-, Kraftfahrer- und Flieger-
beobachter kritisch zu verwerten, konnten nach nicht allzulanger Zeit der Zusammen-
arbeit mit einem Manne den Wert der Angaben ihrer verschiedenen Beobachter
ungefahr abschatzen. Es wird von Fliegerbeobachtern erzahlt, deren Berichte
bei den Kommandostellen meist nur Erheiterung auslösten, da ihre Auskünfte
über feindliche Truppenbewegungen, verdeckte Batteriestellungen u. a. m. bei
spaterer Kontrolle sich fast stets als übertrieben, ja phantastisch und unwahr
herausstellten. Einen Vorwurf konnte man aber dem betreffenden Beobachter
nicht machen, da er selbstverstandlich eifrig bestrebt war, nach bestem Wissen
seine Beobachtung auszuführen. Andere Beobachter wieder waren als Spezialisten
für Angaben bestimmter Art als auDerst zuverlassig geschatzt und die Kontrolle
ihrer Aussagen sowie die spatere Entwicklung der Dinge gab ihnen fast stets recht.
160
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie
4. Sicherung des Befundes durch eine Mehrzahl von Beobachtern und
Mehrheit spezifischer Einstellungsformen: Kollegiale, Vorgesetzten-,
Eigenurteile
Weiter wird man bestrebt sein, mehrere Beobachter über den gleichen Tat-
bestand zu befragen, doch schlieOen die Umstande und die zur Verfügung stehende
Zeit solch ein Verfahren sehr oft aus. Auch darf man sich nicht dem Irrtum hin-
geben, als ob durch Haufung von Beobachtungen, also doch auch unrichtiger
Deutungen, gerade bei der schwierigen Frage der psychologischen Analyse einer
Persönlichkelt eine gröCere Sicherheit allein durch das Prlnzip der gröOeren
Zahl gewahrleistet ware, ist doch das Verkennen einer Schülerpersönlichkeii
auch bei Begutachtung durch ein Gesamtkollegium mannigfach vorgekommen.
Andere Möglichkeiten der Sicherung des Befundes, die wir mit Vorllebe ver¬
wenden, bestehen.darin, neben dem Lehrer auch die Schuier und neben dem Meister
auch die Arbeitskollegen um Auskünfte anzugehen über ihre Kameraden. Wir
erganzen also das Vorgesetzten- durch das kollegiale Urteil. Mitunter zeigte sich,
daB diese Antworten der Kameraden treffender und sicherer waren als die Aus¬
künfte der Übergeordneten. Wir dürfen psychologisch nicht die Distanz vernach-
lassigen, die zwischen Vorgesetztem und Untergebenen besteht, sondern müssen
bedenken, daO durch das koliegiale und kameradschaftliche Zusammenleben und
Zusammenarbeiten der Klasse oder des Arbeitssaales mitunter die Bedingungen
für bestimmte Feststellungen keineswegs ungünstig sind. Schliefilich erganzen
wir die Auskünfte Gleichgeordneter übereinander durch die kritische Verwendung
der Angaben der Selbstbeurteilung des Schülers oder Berufstatigen. Wir fragen
ihn etwa selbst, was ihm besonders ieicht und schwer fallt, ob er ein guter oder
schlechter Arbeiter ist, wie er sich gegenüber den Vorhaltungen seiner Vorgesetzten
über schlechte Leistungen und Arbeiten rechtfertigt u. a. m., um durch Selbstaus-
künfte dieser Art neue Beitrage nichtexperimenteller Art zu erhalten.
5. Gewinnung von generellen und differenziellen Wertkoeffizienten der
einzelnen Fragen und ihrer Beantwortung durch Erfolgskontrollen
Die Objektivltat der Bekundung ist ein Problem, und es ist besser, Frage-
bogenauskünfte überhaupt nicht, als sie unkritisch zu verwenden. Durch eine
Eichung jeder einzelnen Frage, durch Erfolgskontrollen mannigfachster Art, bei-
spielsweise Erhebungen über die Beantwortungshaufigkeit, sowie die Chance der
Richtigkeit wird man dem Verwender des Fragebogens gewisse WertmaOstabe
für die Bedeutung der einzelnen Auskünfte allmahlich an die Hand geben können.
Leider liegen solche Erfolgskontrollen in nennenswertem Umfange
nicht vor, und gegenüber den mannigfachsten Erfolgskontrollen
psychotechnlscher Prüfungen an Jugendlichen und Erwachsenen sind
sie verschwindend gering.
Dies ist um so bedauerlicher, als viele an sich wichtige Aussagen des Beobach-
tungsbogens,beispielsweiseüberPünktlichkeit,Ordnungsliebe,Sauberkeitbestimmter
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie
161
Menschen, durch die spatere Beibringung von Belegen in vielen Pallen auf Gültig-
keit kontrollierbar sind, zumal wenn der zugrunde liegende Sachverhalt keine
MiOdeutung gestattet. Schon die rein tatsachliche Feststellung, welche Fragen
bei bestimmten gegebenen Umstanden praktisch gar nicht beantwortet werden,
könnte uns in den Stand setzen, die Bogen fortlaufend zu andern, den ürsachen
des Versagens der Praktiker nachzugehen, um so alimahlich nur solche Fragen
zu formulieren, die von vornherein, gemaO den statistischen Belegen, eine gewisse
Wahrscheinlichkeit der Beantwortbarkeit in Aussicht stellen.
Nur durch generelle und differentielle Erfolgskonrrollen der ver-
schiedensten Art (vgl. Praktische Psychologie, Band 111, Heft 10), vor allem
auch der Richtigkeit der einzelnen Angaben, werden wir ein Urteil
über den Wert des Fragebogenverfahrens im Rahmen der psycho-
technischen Feststellungsmethodik überhaupt erhalten.
6 . Feststellung der Beobachtungsweise: naiv-kritisch; gefühlsmaOig-
methodisch; interessiert oder kommandiert; geleitet oder frei; ge-
schultoderungeschult; formal-kategorial oder individualitatssuchend,
deutend oder tatsachenberichtend u. a. m.
Wünschenswert ware es auch, die Methodik kennenzulernen, nach der
beobachtet wurde und die Eintragung erfolgte bzw, die Methode vorzuschreiben,
nach der zu beobachten ware. Nach unseren Erfahrungen pflegt die mehr
oder weniger gefühismaOige Deutung und Wertung des Gesamtverhaltens des
zu Beobachtenden am hauhgsten vorzukommen. Mitunter sind gelegentliche
Erinnerungen über Hoch- und Tiefleistungen des Schülers die hauptsachlichste
Grundlage für die Urteiisabgabe, und nur in den seltensten Pallen dürften
systematische Beobachtungen wahrend der Ausbildungszeit und fortlaufende Ein-
tragungen von Erlebnissen, Deutungsversuchen, Bestatigungen usw. bisher aus-
geführt worden sein. Es muO hier angestrebt werden, den Lehrer oder Beobachter
auf bestimmte reprasentative Schul- und Berufsleistungen hinzuweisen, ihm eine
bestimmte Technik der Beobachtung zu vermitteln und ihm einige Analysen dieser
reprasentativen Leistungen und typischen Verhaltungsweisen des Schülers in
einer ihm verstandlichen Sprache zu übermitteln. Auch ware es dringend
notwendig, durch Übereinkommen bestimmte Bezeichnungsweisen festzulegen, da
die Vieldeutigkeit der gebrauchlichsten „Fach“-Ausdrücke wie „Aufmerksamkeit,
Apperzeption, Fahigkeit, Leistung, Fertigkeit", Unklarheit und Mi(3verstandnisse
schalft. Die Verwechslung von GrundbegrifFen, die dem Fachpsychologen ge-
lauhg sind, ist nach unserer Erfahrung recht haufig. Mitunter liegen sehr
viele Fehlangaben vor, wenn z. B. statt „Fahigkeiten" „Fertigkeiten", etwa
Rechnen genannt werden, wenn Gefühlsfaktoren mit Charaktereigenschaften ver-
wechselt werden und was dergleichen Verwechslungen mehr sind. Die psycho¬
logische Schulung der Beobachter ist an sich gar keine Sicherung ge'gen Fehl-
leistungen, falls keine Erfahrung gegeben ist. Es ist mitunter vorgekommen, daH der
P P. IV, 5. 11
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
163
Weise zu verrechnen, Gewichtsziffern für die Wertigkeit der einzelnen
Angaben des Bogens sowie der Gesamtausfüllung haben wir nicht, und
es hieCe Gold und Ersatzgold gleich zu bewerten, wollte man einen gewissenhaft
ausgefüllten Fragebogen mit demselben Gewicht und derselben Weise in das
endgültige Gutachten einsetzen, wie einen anderen, der auch nicht den zehnten
Teil von Objektivitat und Wertgehalt gegenüber dem ersten in sich birgt.
Man erhofFt von eingehender psychologischer Schulung Vollwertigkeit aller Bogen.
Leider wird eine gediegene psychologische Schulung der Praktiker nicht nur den
erholFten Erfolg haben, daB nun die Fragebogen besser und reicher ausgefüllt werden,
sondern mancher kritisch und klarsehend gewordene Beobachter wird nun auf
Grund der Einsicht in die Schwierigkeit der Aufgabe, nicht mehr wie bisher
auf Grund mehr oder weniger gefühlsmafiiger Abneigung, die verantwortlich zu
zeichnende Ausfüllung rundweg ablehnen. Die Sicherheit des natürlich und gut
veranlagten Beobachters kann durch psychologische Schulung verstarkt werden,
sie kann aber auch in Resignation umschlagen.
E. Reprësentative Schul- und Berufsleistungen und ihre psychologische Zer-
gliederung als Brficke zwischen Experiment und unbewaffneter Beobachtung
Man wird bestrebt sein müssen, die Beobachtung der Praktiker zu erleichtern
und in ihrem Werte zu erhöhen, indem reprasentative Schul- und Berufsleistungen
gesucht werden, die als geeignete objektive Grundlage für die ErschlieBung berufs-
und schulwlchtiger Fahigkeiten verwendet werden können. Es ist sehr lehrreich,
festzustellen, daB einige psychologisch geschulte Praktiker in der Werkstatt
Probearbeiten anfertigen lassen, in der Schule Probelektionen geben, die bald
Gedaihtnisleistungen, bald Aufmerksamkeits- und Begriffsleistungen, bald auch
Kombinations- und Urteilsfunktionen anregen, urn sich ein Urteil der Befahigung
der Schuier zu bilden. Auch wenn der Schüler von dem Zweck dieser Proben
nichis ahnt, so ist trotzdem die Einstellung der Probe gegenüber eine ahnliche
wie bei der Prüfung zum Zwecke experimenteller Begutachtung berufswichtiger
Fahigkeiten. In Wahrheit ist nun ein Mittelweg gefunden, der auf der Grenze
zwischen Beobachtung und Experiment liegt, und gerade dieses Grenzgebiet an-
zubauen, dürfte recht fruchtbar sein. Der Lehrer kann auBer dem Ergebnis
solcher im Rahmen des Unterrichts gestellter Proben die Fülle seiner sonstigen
mehr oder weniger gelegentlichen Beobachtungen verwerten und die einzelnen
Befunde miteinander abstimmen, falls er dazu Lust, Liebe und Befahigung be-
sitzt. Findet er Unstimmigkeiten, so schafFt er sich Sonderbedingungen der Be¬
gutachtung durch Sonderproben im Unterricht, ahnlich wie der Experimentator
seine Untersuchungstechnik planmaBig abwandelt, urn Vermutungen zu beweisen,
Fehler auszumerzen und Komponentenerfassung zu ermöglichen.. Wenn reprasen¬
tative Leistungen des Schul- und Werkstattlebens der Analyse des Praktikers zu-
grunde gelegt werden, und wenn diese Analysen durch langjahrige Kenntnis des
Schülers und mannigfachem Umgang mit ihm bereichert werden können, so
11 *
164
Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie
können brauchbare und aquivalente Grundlagen der Fahigkeitsfeststellung als
Gegeninstanz gegenüber der psychotechnischen Untersuchung geschaffen werden
und die Verstandigungsmöglichkeit beider Parteien, des Experimentators und des
Praktikers, Verstandigungswille vorausgesetzt, wachst, sowie die Möglichkeit ein-
wandfreier Verwertung solcher Praktikerangaben.
Aus allem ergibt sich, das der Fragebogen dem experimenten arbeitenden
praktischen Psychologen nur erwünscht sein kann, falls er richtig abgefaOt
ist, zuverlassig beantwortet wird und die Grenzen seiner Leistungs-
fahigkeit nicht überschreitet. Der Eignungspriifer kann vielmehr, gestützt
auf solche Fragebogenbefunde, schneller und besser zum Ziel kommen, indem
er grundlegende oder erganzende Angaben des Beobachtungsbogens kritisch ver-
wertet, und auch der Arbeitsforscher, der eine exakte Arbeitsstudie und Berufs-
analyse erstrebt, wird tatsachliche und begründete Angaben der Betriebsstatistik
über ArbeitsausschuO, differentielle Akkordlöhne u. a. sowie die Mitteilungen der
Fachleute der Praxis über die ihnen erforderlich erscheinenden beruflichen Fahig-
keiten dankbar hinnehmen. Auch wenn diese Angaben in der Sprache des Be-
rufspsychologen abgefaOt sind, so wird er bald inne werden, daO sie meist so all-
gemeiner Natur sind, daO er sie bestenfails als Hinweise, keinesfalls aber als
endgültige, gesicherte und feststehende Unterlagen und Richtlinien für sein be-
rufspsychologisches Schema und die exakten Bedingungen seiner Eignungsprüfung
betrachten darf. Der Fachpsychologe kann nicht seine eigentliche Hauptarbeit
auf Nichtpsychologen abwalzen, und auch der Eignungsprüfer wird die unmittel-
baren und lebensnahen AuCerungen seines Prüflings in einem den beruflichen
Anforderungen aufs engste angepaOten und durch zahlreiche Erfolgskontrollen
gelauterten Untersuchungsschema nicht missen wollen gegenüber den für ihn doch
stets mehr oder weniger unkontrollierbaren Angaben eines Beobachtungsbogens,
der von guten oder schlechten Beobachtern, gut oder nachlassig, aus eigenem
Interesse oder auf Grund behördlicher Anweisung, mit Lust oder Liebe oder
gleichgültig, kritisch oder leichtfertig ausgefüllt ist. Die Fragebogen und Be-
obachtungslisten müssen erst eine kritische Phase wissenschaftlicher Lauterung
durchmachen, ehe sie der experimentellen Begutachtung, die stets neben der
quantitativen Bewertung auch die qualitative Seite der Beobachtung kennt, als
erwünschte und zuverlassige Erganzungs- und Hilfsmannschaften an die Seite
treten können.
Aus allem erkennen wir, daO man die Behauptung wiederholen kann: Frage¬
bogen zu entwerfen ist leicht, Fragebogen zu beantworten schwer, und Frage¬
bogen richtig und objektiv zum Wohl des Jugendlichen zu verwenden, bei dem
bisherigen Stand der Fragebogenmethodik beinahe unmöglich.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafle 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf& Hdrtel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
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Die Praktische Psychologie erscheint in monttlichen Heften lm Umftnge von zwei Bogen. Preis des Marzheftes 600 Mark
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Manuskriptsenduogen und darauf bezQglicbe Zuscbrlften sind zu richten an die Adresse der Scbrlftleltung: Prof. Dr.W. Moede
und Dr. C. PiorkowskI, BerlinVr30, LuitpoIdstraOe 14.
Das Problem des Arbeitsrhythmus
Von J. Ermanski, Prof. an der UniversitSt Moskau
I.
I n den sehr weiten Kreis der mannigFaltigsten Fragen, die vom Problem der
rationellen Organisation der Arbeit umFaOt werden, gehort bekanntlich in nicht
unbedeutendem MaOe die Frage über den Rhythmus, als einen der wichtigsten
Faktoren der ökonomischen Organisation der Arbeitsprozesse. Nun wird wohl
kaum von jemandem behauptet werden, daO diese Frage, beim gegebenen Stande
der wissenschaFtlichen Erkenntnis, in erschöpFender Weise beleuchtet und geklart
ware. Nach dem Erscheinen des in seiner Art klassischen Werkes von K. Bücher
(„Arbeit und Rhythmus"), stockte leider der weiter untersuchende Gedanke, und
das Problem des Rhythmus lenkte seit damals auF sich zu wenig AuFmerksamkeit.
Nur von einer Seite werden hauhg manche prinzipielle Punkte dieses Problems
gestreiFt: ich habe da manche Vertreter der Kunst im Auge, hauptsachlich die
warmsten Anhanger der Schule der rhythmischen Erziehung von Jaques Dalcroz.
Nun wurde zwar, dank der engeren Berührung des GenFer ProFessors der Musik,
Jaques Dalcroz, mit dem ProFessor Für Psychophysiologie an der GenFer Universitat,
Ed. Claparède, eine neue Richtung der Dalcroz’schen Schule selbst geboren, unter
deren energischer Propaganda eine gewisse wissenschaFtliche Basis geFunden
werden konnte. Damit ist jedoch der Sache wenig geholFen, und es kann in den
Veröffentlichungen dieser neuorientierten Schule keineswegs die Lösung des
komplizierten Problems des Arbeitsrhythmus erblickt werden.
Es besteht unzweiFelhaFt das lebhaFte BedürFnis, dieses Problem seiner wissen¬
schaFtlichen Lösung naherzurücken. Namentlich in der letzten Zeit werden viele
Merkmale der immer scharFeren Aktualitat des Rhythmusproblems deutlich. Es
genügt auF die Frage der Arbeitserziehung (Arbeitsschule) hinzuweisen, die immer
mehr als selbstandiges padagogisches Problem auFtritt. In diesem Sinne wird
man vielleicht W. Ruttmann recht geben mussen, der in der ganzen modernen
Kultur der Arbeit einen „Hunger nach Rhythmus" zu spüren behauptet*).
Urn MiOverstandnissen vorzubeugen, seien hier ein paar Zeilen darüber
gestattet, was Für Inhalt in den BegrifF Rhythmus hineingelegt wird, von dem
hier die Rede ist.
*) W. Ruttmann, „BerufswabI, Begabung und Arbeitsleistung". Berlin u. Leipzig. 1916, S.38.
12
p. P. IV.6.
166
Ermanski, Das Probletn des Arbeitsrhythmus
Wir müssen in erster Linje den Begriff Rhythmus in den engeren Rahmen
eines wissenschaftlichen Begriffes einführen, wo unter Rhythmus die gesetzmaOige
Bewegung der Materie (oder Energie) verstanden wird, wobei diese Bewegung
sich in gleich groOen Intervallen zwischen den einzeinen Bewegungsakten wiederholt.
Die Gleichheit der Intervaile zwischen den einzeinen Bewegungsakten ist das
wesentlichste Merkmal des uns interessierenden Begriffes Rhythmus.
Wenn der Rhythmus, in diesem Sinne auFgefaOt, sowohl in den Schwankungen
einer klingenden Saite, als auch in den Prozessen der Blutzirkulation und in
anderen physiologischen Prozessen zutage tritt, so ist für uns, vom Standpunkte
der menschlichen Arbeitsprozesse, einer bestimmten Eigenschaft des Rhythmus
die gröOte Bedeutung beizumessen: das ist die Ökonomisierung der vom
arbeitenden Menschen verausgabten Energie, was deren optimale Ausnutzung
zur Folge hat, die Erreichung gröCerer Resultate bei Verwendung der-
selben oder sogar einer kleineren Menge von Energie des Arbeitenden.
In diesem Sinne erscheint uns der Rhythmus als Produkt vleier Jahrtausende
der biologischen Entwicklung. Die Gesetze des Kampfes ums Dasein, der
Anpassung an das umgebende Milieu führten zu dem Resultate, daO diejenigen
Organismen sich vorzugsweise lm Leben erhalten und fortpflanzen konnten, welche
ihre Energie am ökonomischsten ausnutzten, indem sie ihre Lebensprozesse und
Bewegungsakte rhythmisch gestaltet batten.
Besonders groC war die Rolle des Rhythmus in der Arbeitsbetatigung des
Menschen in der entfernten Vergangenheit. In den Perioden der primitivsten
Kultur war es die ungeheure technische Unbeholfenheit, die den Menschen kenn-
zeichnete: in seinen Arbeitsprozessen war derselbe noch nicht einmal imstande,
von den Vorzügen, die die elementarsten Gesetze des Hebeis, des Keils und
dergleichen bieten, Gebrauch zu machen. Die Entwicklung der Arbeltswerkzeuge
stand auf einer derartig niedrigen StuFe, daO sich die Arbeit des Menschen
sehr wenig von der Arbeitsbetatigung der Tiere unterschied, welche unmittelbar
mit ihren natürlichen Organen arbeiten.
Unter solchen Verhaltnissen muQte die schaffende Arbeit des primitiven
Menschen aus sehr anstrengenden undlangwierigen, monotonen Prozessen bestehen.
Eine um so gröOere Rolle muBte in diesen Prozessen jedes ihm zugangliche
Mittel spielen, das zur Ökonomisierung der vom Menschen zu verausgebenden
Energie führen konnte.
Dies war eben der Boden, worauf die Prozesse der biologischen und sozialen
Entwicklung die Rhythmisierung der Arbeitsakte aufgriffen und in der Arbeits-
kultur weiter entwickelten als Mittel des Fortschrittes. Demselben Boden ent-
wuchsen und auf derselben Grundlage entfalteten ihre ursprüngliche Entwicklung
manche Formen der geistigen Kultur, für welche der rhythmische Charakter der
Bewegungen ein wesentliches Element bildet. Der Rhythmus der Sprache,
Rhythmus des Arbeitsliedes, Rhythmus des Tanzes (der ursprünglich ebenfalls
Arbeitstanz war) erhob diese Zweige der geistigen Kultur des primitiven
Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus
167
Menschen auf die Höhe von wichtigen Formen der Ökonomisierung der
Arbeitsbetatigung und somit von Formen der rationelleren Organisation
des Lebens der primitiven Gesellschaft im allgemeinen.
Konnte der Rhythmus eine solche auDerordentlich wichtige Rolle spielen, so
ist dieselbe augenscheinlich dadurch zu erklaren, daO dem Rhythmus der
Bewegungen die mechanische Eigenschaft innewohnt, die Verausgabung an Energie
ökonomischer zu gestalten.
Wo liegt nun die Quelle dieser Eigenschaft? Worin besteht der Mechanismus
der rhythmischen Bewegungen, als Akten, die wiederholt in gleichgroOen Zwischen-
raumen nacheinander folgen?
II.
Was die rhythmischen Bewegungen kennzeichnet, ist in erster Linie ihre
leichte Automatisierung. Der automatische Charakter der Bewegung aber hat
schon an und für sich eine wesentliche Ökonomie in der Verwendung der physischen
und psychischen Energie des Menschen zur Folge. Zum klaren Verstandnis dieses
Gedankens sind einige kurze Betrachtungen notwendig.
In der Tat stellt der psychophysische Apparat des Menschen einen auIJer-
ordentlich komplizierten Komplex von Elementen der Materie (Zeilen) dar. In
groben Zügen kann derselbe betrachtet werden als zusammengesetzt aus zwei
Systemen — einem Muskei- und einem Nervensystem. Zwischen den Elementen
jedes von diesen Systemen sowohl, als auch zwischen diesen beiden existiert
ein enger funktioneller Zusammenhang. Der psychophysische Apparat verkörpert
letzten Endes die Einheit des Oganismus ais Ganzes. Die Aktivitat eines Teiles
der Elemente wird auf andere benachbarte Elemente leicht übertragen, indem
auch die letzteren in die Sphare der Wirkung hineingezogen werden. Auf dem
Geblete der Nervenbetatigung kommt da das Gesetz der Irradiation zur Geltung:
Die Innervation einer bestimmten Nervengruppe wird auf andere Gruppen über¬
tragen — ahnlich der induzierenden Wirkung des elektrischen Stroms.
Es versteht sich von selbst, daQ diese Art der Betatigung von einzelnen
Muskei- und Nervengruppen einen betrachtlichen Grad von nutzloser, ver-
schwenderischer Verausgabung der menschlichen Energie bedingt. Damit aber
der Organismus mit Erfolg arbeiten, damit er sich im Kampfe ums Dasein durch-
setzen kann, ist es notwendig, daO diese Verschwendung an Energie beseitigt
wird, daO die Betatigung, die Aktivitat jedesmal nur auf diejenigen Muskei- und
Nervengruppen beschrankt wird, deren Anteilnahme absolut unentbehriich ist
für die Vollziehung der verlangten Bewegungsakte.
Die rationelle, ökonomische Arbeitstatigkeit wird also dadurch bedingt, daD
aus der Arbeitssphare jedesmal diejenigen Gruppen des psychophyslschen Appa-
rates ausgeschaltet werden, deren Anteilnahme am gegebenen Akte nicht un-
mittelbar notwendig ist. Eine solche Ausschaltung wird auch in der Regel errelcht
auf dem Wege der mehrmaligen Wiederholung einer bestimmten Bewegung
infolge der Anhaufung von Übung: auf diese Weise laOt sich allmahlich die un-
12 *
168
Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhytbmus
mittelbar arbeitende Grundgruppe der Elemente ausscheiden, worin sich die
Energieverausgabe konzentriert, indem die übrigen Nerven- und Muskelgruppen
entlastet werden.
Es bletet sich jedermann haufig die Gelegenheit, eine Reihe von Erscheinungen
solcher Art zu beobachten. Hierher gehort z. B. die Arbeit eines Menschen, der
im Radfahren den ersten Versuch macht. Infolge des Mangels an Gewohnheit,
des Mangels an Übung setzt der beginnende Radfahrer eine Reihe von solchen
Elementen seines psychophysischen Apparates ins Werk, die zum Radfahren
durchaus nicht notwendig sind: er halt sich krampFhaft an der Lenkstange fest,
macht die gröQten Anstrengungen, um das Gleichgewicht zu behalten usw. Nach
ein paar Tagen, nachdem er den Versuch mehrere Male wiederholt hat und einen
gewissen Grad von Übung im Radfahren erreicht hat, bringt es der Organismus
fertig, das Radfahren viel ökonomischer durchzuführen, da sich im psycho¬
physischen Apparat ein bestimmtes Mali von Diszipliniertheit, von innerer
Organisation eingestellt hat. Der geübte Radfahrer begnügt sich damit, daB er
die Lenkstange mit der Hand nur ganz leicht oder gar nicht berührt; er behalt
am leichtesten das freie Gleichgewicht usw. Dabei kann er lange Zeit ununter-
brochen fahren, ohne betrachtlich müde zu werden.
Eine ahnliche Erscheinung beobachten wir beim ersten Versuch eines Kindes,
auf den Beinen zu marschieren: auch hier werden viele Teile des Organismus
(Hande usw.) unnötig ins Werk gesetzt, viele Anstrengungen nutzlos vollbracht.
Erst bedeutend spater, infolge mehrmaliger Wiederholung des Ganges, erlernt es
das Kind, den ProzeB des Gehens auf die Anteilnahme der absolut notwendigen
psychophysischen Gruppen zu beschranken. Der Erwachsene erreicht dasselbe
ganz automatisch: die Beine bewegen sich „von selbst®, das Gehen ruft sehr wenig
Ermüdung hervo'r, da sich dabei der Energieverbrauch viel ökonomischer gestaltet.
Ebenso unökonomisch verschwendet seine Energie ein des Schreibens wenig
kundiger Mann, wenn er auch nur seinen Namen zu zeichnen hat: schon am
vielen Schwitzen (buchstablich gemeint) laB< sich da der unzweckmaOige, ver-
schwenderische Verbrauch der Energie merken, wahrend jeder im Schreiben
Geübte imstande ist, eine langere Zeit mit der Feder zu arbeiten, ohne dabei
viel Energie zu verwenden.
In allen diesen und ahnlichen Pallen ist es stets die Wiederholung der
Bewegungsakte, ist es die Übung, die den Menschen in den Stand setzt, im Prozesse
der Arbeit nur die dazu notwendigen Muskei- und Nervengruppen zu betatigen,
dabei den Energieverbrauch zweckmaBig zu regulieren — in bezug auf Moment,
Richtung und Starke der Anstrengung. Diese Regullerung wlrd aber durch den
rhythmischen Charakter der Bewegungen bedeutend unterstützt, welcher die
Bewegungsakte in bezug auf Zeitpunkt fixiert und denselben den Zug der
Organisiertheit aufpragt.
Von groBem Belange ist dabei der automatische Charakter der rhythmischen
Bewegungen. Haben die Rechtzeitigkeit, die Gemessenheit und die ZweckmaBig-
170
Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus
allerbesten Dynamomaschinen*), nach dem Ausdrucke von Munck. Es genügt
festzustellen, daO der nützliche Wirkungsgrad der Muskei bis zu 40% steigt,
wahrend unsere gewöhnlichen Maschinen einen Wirkungsgrad von nur 10—15%
aufweisen und sogar bei den Dieselmotoren derselbe Koeffizient gewöhnlich 35%
nicht übersteigt. Das bedeutet, daQ das menschliche Muskelsystem ein auDer-
ordentlich günstiges Verhaltnis besitzt zwischen der mechanischen Arbeit (Arbeits-
efFekt) und der physiologischen Verausgabe (Verbrauch an chemischer Energie,
die der Nahrung entnommen wird).
Aber von allen Muskeln überhaupt erscheinen als die wirksamsten eben die
kleinen. Ihre Arbeit zeichnet sich durch gröBere Geschwindigkeit aus (z. B.
bis 540 Kontraktionen pro Minute für die Muskeln der Handefinger), als dié der
groOen Muskeln (z. B. 120 Kontraktionen für die Muskeln der Beine). Dies ist
nicht zu verwundern, wenn wir uns daran erinnern, daiJ die Beine, Arme, Finger,
an einem Ende fest gebunden, nach dem Prinzip des Pendels arbeiten, wo die
Bewegungsgeschwindigkeit zur Lange des Pendels in umgekehrter Proportion
steht. AuOerdem folgt die gröBere Ökonomie und gröBere Annaherung der Arbeit
der kleinen Muskeln an das Prinzip des Optimums schon daraus, daB sie eine
niedrigere Schwelle der Reizbarkeit besitzen: zur Reaktion der kleinen
Muskeln genügt ein so geringer Impuls, ein Reiz von so geringer Starke, daB er
unter der BewuBtseinsschwelle bleiben kann.
Die Arbeit der kleinen Muskeln zeichnet sich also durch die ökonomischste
Art aus: zu ihrer Reaktion gehört ein viel geringerer Impuls als für die groBen
Muskeln, und die Reaktion selbst ist mit einem geringeren Energieverbrauch
verbunden. Dadurch ist auch die Tatsache zu erklaren, daB die Entwicklung
der menschlichen Arbeitsformen sich in der Richtung der Übertragung der Arbeits-
betatigung von den groBen Muskeln auf die kleinen vollzieht, — was Gerson
als die Verwirklichung des „Prinzips der kleinsten Muskei" bezeichnet. Durch
diese Entwicklung wird erst recht der Boden geschaffen, in dem die Rolle des
die Arbeit ökonomisierenden Rhythmus tief verankert ist, Von diesem Gesichts-
punkte aus liefert der Vergleich der Arbeit des Schmiedes mit der des Pianisten
eine noch klarere Illustration der Energie sparenden Rolle der leicht automatisier-
baren rhythmischen Bewegungen.
Damit die vorher erwahnten Erscheinungen — unter anderem auch der an-
gegebene Vorzug der Arbeit der kleinen Muskeln — in richtiges Licht gesteilt
werden, ist es notwendig, noch eine besondere Eigenschaft der Tatigkeit des
psychophysischen Apparates des Menschen in Betracht zu ziehen. Das sind die
sogenannten Reiznachwirkungen der Innervation.
Bei der Einwirkung des Innervationsstromes auf den Muskei wird die Summe
der Innervation nicht restlos und unmittelbar auf den motorischen EfFekt des
Muskels — auf die Kontraktion desselben — verausgabt: es bleibt immer noch
•) Die Muskelreaktion verlSuft bekanntlich in der Form von Explosionen, analog den Diesel¬
motoren.
Ermanski, Das Problem des Arbeitsrbythmus
171
ein bestimtnter Rest zurück, eine gewisse potentielle Reiznachwirkung. Durch
mehrmalige Wiederholung der Innervation wird die Möglichkelt der Summation
dieser Reste geschaffen, — unter der Bedingung, daO die Innervationen nach-
einander in genügend kleinen Intervallen Folgen. In diesem Falie wird jede neue
Reiznachwirkung den noch nicht annullierten Innervationsrest aufgreifen und
denselben verstarken können.
Unter diesen Umstanden geschieht es leicht, daO der GröBe nach ganz ge¬
ringe Impulse — so gering, daO sie unter der BewuOtseinsschwelle bleiben, —
sich zu einer bedeutend gröDeren ununterbrochenen Wirkung vereinigen, als die,
welche von einer Reihe starkerer Innervationsströme ausgelöst werden kann, falls
die letzteren voneinander durch langere Zwischenraume getrennt sind. Der
Grund dazu ist eben der, daC im letzteren Falie die Reiznachwirkungen der
vorangehenden Innervationen nicht ausgenutzt werden können.
Ziehen wir diesen Umstand in Betracht, so wird es uns leicht, zu verstehen,
warum der Bewegungsrhythmus nur in dem Falie seine ökonomisierende Wirkung
zum Vorschein bringt, wo die Intervalle zwischen den einzelnen Bewegungs-
akten nicht zu groB sind*). Von demselben Gesichtspunkte tritt auch der be-
sondere Vorzug der rhythmisch wirkenden kleinen Muskein deutlich hervor, da
sich dieselben, wie schon oben erwahnt wurde, durch verhaltnismaBig gröBere
Bewegungsgeschwindigkeit auszeichnen.
III.
In den vorangehenden Zeilen sind verschiedene Seiten des Rhythmusproblems
kurz zusammengefaBt und geklart, soweit dies vom jetzigen Stande der Unter-
suchungen dieses Problems gestattet wird. Damit ist aber der Gegenstand noch
nicht völlig erschöpft. Eine Lücke ist dabei geblieben. Eine Seite des Problems
bleibt doch noch unberührt: das ist die Gleichheit der Intervalle zwischen den
einzelnen Akten der rhythmischen Bewegung.
Tatsache ist aber, daB die sich regelmaBig wiederholenden Bewegungen die
ökonomisierende Eigenschaft in vollem MaBe nur besitzen, wenn sie einander
in gleichgroBen Zwischenraumen folgen. Warum also ist diese Gleichheit not-
wendig? Worin besteht Ihre Rolle im Mechanismus des Rhythmus?
Dieser nicht unwesentliche Punkt im Rhythmusproblem bleibt bis jetzt noch
völlig ungeklart, sogar noch nicht beleuchtet in der uns bekannten Fachliteratur.
Ohne befriedigende Beantwortung der hier gestellten Frage kann aber von einer
Lösung des Rhythmusproblems noch nicht die Rede sein.
Mir scheint es, daB diese Lücke gefülit werden und daB die soeben auf-
geworfene Frage schon jetzt, bei gegebenem Stande der Wissenschaft, beantwortet
•) Diesem Umstande trHgt die Arbeitspraxis sehr bduflg Rechenschaft. Wo die Arbeit der
einzelnen Person, der Natur nach, Ikngere Intervalle erfordert (Handdrescben auf dem Lande,
Einrammen der Pbastersteine usw.), wird die TStigkeit von HilTspersonen eingeschaltet, so daO
ein kollektiver ArbeitsprozeQ entsteht, wo die Intervalle entsprechend verringert werden.
172
Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus
werden kann. Ich glaube, dalJ die Lösung der Frage durch das Gesetz der
Interferenz geboten werden kann.
Angenommen, daU die Anderungen irgendeiner Erscheinung wellenartig ver-
laufen: die Anderungen sind bald nach oben, bald nach unten gerichtet ^ ge-
rechnet von einer bestimmten neutralen Linie AB. Es ergibt sich dann eine
wellenartige Linie mit den Hochpunkten in Oj und den Tiefpunkten in f/j.
Fahrt die Ursache, durch welche die Bewegung hervorgerufen wurde, fort zu
wirken, so entsteht eine Reihe von wellenförmigen Schwankungen, die in be¬
stimmten Zwischenraumen nacheinander folgen, Jede folgende Welle kombiniert
sich mit der vorangehenden.
Dabei kann leicht eine solche Kombination zustande kommen, wo der Hoch-
punkt Og der folgenden Welle, der Zeit nach, mit dem Hochpunkt Oi der voran¬
gehenden und der Tiefpunkt f/g der folgenden mit dem Tiefpunkt Ui der voran¬
gehenden Welle zusammenfallt (Abbildung 1). Aus einer solchen Kombination
wird, nach dem Gesetz der Interferenz, bekanntlich nicht die einfache Wieder-
holung der vorangehenden Welle, sondern deren Verstarkung resultieren: der
Hochpunkt wird höher steigen, der Tiefpunkt wird niedriger sinken; der Punkt Og
wird über dem Punkte Oi, der Punkt f/g wird unter Ui zu liegen kommen. Wir
erhalten also eine VergröOerung der Schwankungsamplitude. Die volle Wellen-
höhe wird nicht mehr hi, sondern hg gleich sein. Und diese Verstarkung der
Schwankungen greift Platz auch in dem Falie, wo der Impuls oder die Ursache,
durch welche die Schwankungen hervorgerufen wurden, bei der sich wieder-
holenden Bewegung eine und dieselbe, eine der Starke nach konstante bleibt.
Nur eine Bedingung ist absolut notwendig, damit das Gesetz der Interferenz,
im angegebenen Sinne, in Wirksamkeit tritt. Die Bedingung ist die folgende:
Die Lange I jeder folgenden Welle muC der Lange I der vorangehenden gleich
sein; es muB die Bedingung erfüllt sein, dalJ li = U = lz= usw. Sollte diese Gleich-
heit nicht stimmen, so würde ein Auseinandergehen statthnden: in dem Moment,
WO der Hochpunkt einer folgenden Welle mit dem Hochpunkte der vorangehenden
zusammenfallen wird, wird ein solches Zusammenfallen der TrefFpunkte nicht
zustande kommen (Abbildung 2). Es wird dann auch die Interferenz, im Sinne
der VergröDerung der Schwankungsamplitude, ausbleiben.
Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus
173
Damit die Verstarkung der Schwankungen, die durch eine wiederholt wirkende
konstante Kraft hervorgerufen wird, eintritt, ist also die Langengleichheit der
einzelnen, einander Foigenden Wellen absolut notwendig. Mit anderen Worten: es
ist die Gleichheit der Intervalle zwischen den Momenten der Einwirkung der
die Schwankungen hervorrufenden Kraft, das heiCt, es ist der völlig rhythmische
Charakter der Bewegung notwendig.
DaO in der mechanischen Arbeit einer technischen Konstruktion die rhythmische
Einwirkung der StöBe oder der beweglichen Lasten eine Rolle spielt, ist eine
jedem Ingenieur bekannte Tatsache. Beim Projektieren einer Brücke z. B. wird
dieselbe auf die volle und in der ungünstigsten Weise verteilte bewegliche Be-
lastung, nebst deren StöBen, berechnet; was aber der Berechnung nicht zugrunde
gelegt wird, ist der Rhythmus der StöBe. Eine solche Brücke ist auch tatsachlich
hnstaade, der Belastung durch eine in rasendem Tempo fahrende Artillerie-
Kompagnie mit ihren schweren Geschützen Widerstand zu leisten. Sobald aber
dieselbe Brücke von einer Kavallerieabteilung befahren oder von einer Infanterie-
abteilung in regelmaBigem Marsche beschritten wird, andert sich die Sachlage
bedeutend.
lm letzteren Falie haben wir es zwar mit bedeutend geringeren Kraften,
die die Brücke belasten, zu tun; diese Krafte aber wirken rhythmisch: der
regelmaBige Gang der dressierten Kavalleriepferde, der rhythmische Schritt der
Infanteriereihen. Und das Resultat kann sein, daB die Brücke der letzteren Belastung
nicht genügend Widerstand leisten kann: die inneren Spannungen der einzelnen
Brückenteile (Gurtung, Stander, Diagonalen usw.) werden durch die Interferenz
der elastischen Wellen erhöht und können die Elastizitatsgrenze des Materials, aus
welchem die Brücke gebaut ist, überschreiten, — dann ist eine bleibende Deformation
mancher Brückenteile, eventuell auch der Sturz der Brücke selbst, unvermeidlich.
Falie, WO Brücken unter solchen Umstanden einstürzen, sind auch in Wirklichkeit
mehrmals schon vorgekommen. Wenn ich mich nicht irre, gehört zu diesen Fallen
auch der Einsturz der „Agyptischen Brücke" über den Fontanka-FluB in Peters-
burg. Ich glaube, daB zu dieser Kategorie der Erscheinungen auch der Einsturz
der Decke im Sitzungssaale der Reichsduma von 1907 gehört: in der Dachstuhl-
etage des Gebaudes war gerade über dem Sitzungssaale eine kleine Dynamo-
maschine aufgestellt, und die rhythmischen StöBe ihrer arbeitenden Teile konnten
die Balken der Deckenkonstruktion zum Einstürzen bringen.
174
Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus
Dieselbe Rolle spielt auch der Rhythmus in der Betatigung der lebenden
Organismen. Auch hier ist der Rhythmus der Bewegungen imstande, im Zu-
sammenhange mit den Interferenzerscheinungen die Wirkung der bewegenden
Kraft zu erhöhen, ohne VergröBerung deren Starke. Dadurch wird eine öko-
nomischere Ausnutzung der Energie, ein optimales Verhaltnis zwischen dem
gewonnenen Resultat und dem Krafteverbrauch erreicht.
Und namentlich trifFt dies in vollem MaOe zu in bezug auf die Arbeits-
prozesse des Menschen, in denen sich die Bewegungsakte stets mehrmals wieder-
holen. Im psychophysischen Apparate des Menschen, als Arbeitsmaschine, sind
es die rhythmischen Impulse, die, wie oben erwahnt, deren Reiznachwirkungen
summieren und auf diese Weise ihren Nutzeffekt noch mehr erhöhen. So wird
die Möglichkeit erreicht, gröOere Resultate zu gewinnen mit Verwendung der-
selben oder sogar kleinerer Energiemengen. Der Rhythmus verwirklicht
also die Grundbedingung der rationellen Organisation der Arbeit.
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet ist auch der Umstand leicht zu
erklaren, daC die Wurzeln des Rhythmus noch tiefer in die Vergangenheit reichen,
als in die Geschichte der menschlichen Arbeit. In der ganzen Tierwelt hat
sich die Entwicklung der wichtigsten Organe nach dem Prinzip des Rhythmus
gestaltet: der rhythmische Charakter zeichnet die Arbeit des Herzens, des
Atmungsapparates u. dgl. aus. Hier haben wir es mit dem Resultate eines sehr
viele Jahrtausende dauernden biologischen Prozesses zu tun, wo sich nur die
alIerangepaOtesten Organismen durchringen konnten, wo sich die natürliche
Auswahl nach dem Prinzip der ökonomischeren Energieausnutzung durchsetzen
muOte. In diesem Prozesse kam die wohltatige Rolle des Rhythmus zum Vor-
schein, dessen Mechanismus deshalb in der Sphare des organischen Lebens tiefe
Wurzeln greifen muOte.
In den Arbeitsprozessen des Menschen selbst war, wie schon oben erwahnt,
die Rolle des Rhythmus namentlich im Leben des Urmenschen von groCer
Bedeutung. Einerseits waren die Methoden seiner Arbeitsbetatigung den aus
der biologischen Entwicklung hervorgegangenen physiologischen Prozessen des
Organismus naher. Andererseits war die Rolle des Werkzeuges in der Arbeit
des Urmenschen fast gleich Null. Die Kettengliederung der Arbeitselemente war
noch sehr einfach: zwischen dem Menschen, als Subjekt der Arbeitstatigkeit, und
dem Objekte seiner Arbeit waren noch keine zahlreichen Zwischenglieder zu
linden, wie diejenigen, die sich in die modernen Arbeitsprozesse eingeschaltet
haben, wo wir es mit einer komplizierten, vielfach gegliederten maschinellen
Technik zu tun haben.
Unter solchen Verhaltnissen ist es nicht zu verwundern, daU nicht nur die
Arbeitstatigkeit, sondern das ganze Leben des Urmenschen durch und durch
mit Rhythmus getrankt war, wovon die ganze Kulturgeschichte Zeugnis ablegt.
Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
175
Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
Von Dr. Erich Stern-Aachen, Assistent am Orga-Institut Berlin
I m folgenden werden einige materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
festgehalten, wobei unter materialer Arbeitsanalyse nach Professor Moede ver¬
standen ist „eine Komponentenzerlegung der Arbeit, um vor allem die Be-
anspruchung des BewuQtseins durch einen bestimmten Beruf zu erkennen und
um daraus die für die erfolgreiche berufliche Betatigung notwendigen Anlagen
namhaft machen zu können"*). Hierbei soll das Hauptaugenmerk auf die Frage
der Übbarkeit gerichtet werden, da sich nach dieser Frage die Verwendung des
Analysenmaterials richtet, d, h. ob es verwendet wird für den Aufbau der psycho-
technischen Eignungsprüfung oder des Anlernwesens. In den folgenden Be-
trachtungen folgen wir dem Arbeltsgang in der Textilverarbeitung, wobei wir
fertig versponnenes Garn als Ausgangspunkt nehmen, also die Arbeiten des
Spinnereibetriebes auOer acht lassen, und ihm bis zur versandbereiten Ware
folgen.
Zuvor müssen einige Bemerkungen allgemeiner Art über die soziologischen
und ahnliche Verhaltnisse in der Textilindustrie gemacht werden. Trotzdem
tariflich fast alle Arbeiterkategorien der Textilindustrie als Facharbelter figurieren,
haben wir es hier fast nie mit gelernten Arbeitern im Sinne der Metallindustrie
zu tun, vielmehr mit einer Gruppe, die etwa die Mitte einnehmen dürfte zwischen
angelernten und ungelernten Arbeitern. Eine Ausnahme hiervon bilden einzelne
Arten von Spezialfarbern und Spezialwebern, die eine fachliche Ausbildung haben,
wahrend es z. B. bei gewöhnlichen Webern eine Seltenheit ist, daO ihnen auch
nur die einfachsten Regeln der Bindungslehre bekannt sind. Die Arbeit ist zum
groOen Teil Frauenarbelt, wiederum mit Ausnahme des Farbereibetriebes und
der Bedienung der gröOere Körperkrafte erfordernden groBen Appreturmaschinen.
In den beiden Betrieben, deren Untersuchung den folgenden Ausführungen zu-
grunde liegt, können wir mit etwa 70 Prozent Frauen in der gesamten Beleg-
schaft rechnen. Diese Zahl errechnet sich selbstverstandlich aus der reinen
Textilarbeiterschaft und sieht ab von Transport- und Hofarbeitern, Reparatur-
schlossern usw. Die Entlohnung erfolgt heute groBenteils im Akkordsystem.
Es ist ferner zu beachten, daB die Voraussetzungen örtlich sehr stark dilFerieren;
so haben wir z. B. im Elberfeld-Barmer Textilbezirk mit einer kaum im Beruf
vorgebildeten Arbeiterschaft zu rechnen, wahrend in Schlesien die Arbeiterinnen
groBenteils aus Hausern kommen, in denen Textilheimarbeit geleistet wird und
schon als Kinder beim Spuien, Aufbaumen, Einziehen usw. mitbeschaftigt worden
sind. Es fallt weiter eine offenbar durch Vererbung erworbene physische Be-
rufseignung auf, so z. B. die schmalen, langen und gelenkigen Finger in den
Weberfamilien.
*) Moede, Die psychotechnische Arbeitsstudie, Pr. Ps. I. 5. S. 135.
176
Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen wenden wir uns dem ersten Arbeits-
vorgang zu: der Spulerei. Die Spulerei hat das von der Spinnerei gelieferte
Garn von den sog. Copsen, auf denen es geliefert wird, abzuspulen auf die Spule,
in der es weiter verarbeitet wird. Hierbei wird das Kettgarn anders gespuit als
das SchuOgarn, und beide wiederum unterscheiden sich von der Spulung des
Garns für die Flechterei oder Wirkerei. lm Prinzip besteht die Arbeitsleistung
in jedem Fall in der Überwachung und Inganghaltung der Maschine durch Zu-
führung von Material und Beseitigung der Betriebsstörungen. Zum Teil ins Ge-
biet der formalen Arbeitsstudie gehort dabei die Festlegung der zulassigen
Spulenzahl, die einer Arbeiterin übergeben werden. Sie gehort aber auch in
unseren Zusammenhang, da hier die Gesetze der Aufmerksamkeitsvertellung mit
in Betracht kommen. Die geradlinige Anordnung des zu überwachenden Feldes
ist durch die Maschine festgelegt. Es ergibt sich, daD bei dieser Anordnung und
der üblichen Geschwindigkeit optimal im Durchschnitt zwölf Spuien einer Be-
dienerin übergeben werden können; es ist jedoch zu beachten, daO dieser Durch-
schnittswert mit der Qualitat und Starke des verarbeiteten Fadens sehr stark
variieren kann und bei der UngleichmaOigkeit der in Deutschland zur Zeit ver-
fügbaren Qualitaten nur begrenzten Wert hat. Die hier genannten Zahlen be-
ziehen sich auf einen einfachen Baumwollfaden mittlerer Qualitat und Starke (24).
Unter diesen Bedingungen ist die langste beobachtete Pause, die in der Tatigkeit
der Arbeiterin eintrat, 21 Sekunden, die nachste sinkt schon auf 14 Sekunden,
und haufiger treten erst Pausen von 8 Sekunden abwarts ein. Die Beobachtungen
setzen sich aus je 2 Stunden in 10 Tagen zusammen. Der langste Still-
stand einer Spule (abgesehen von Fallen, wo er von der Spulerin nicht bemerkt
wurde) betrug 143 Sekunden; haufiger kommen auf diese Weise Stillstande von
70 Sekunden abwarts vor. Stillstande, die auf das Nichtbemerken eines Faden-
bruches zurückzuführen sind, kommen bei ungeeigneten Arbeitskraften hauhg vor,
sind jedoch — da die Einzelspule nur etwa Vso der Leistung der Maschine dar-
steilt — nicht so bedenklich für die Flechtereispule. Bedenklicher sind sie für
die Kreuzspule, wie sie für die Farberei und Weberei hergestellt wird, die auf
einer Unterlage rotiert und bei langerem Laufen auf einer Lage in dieser schad-
haft wird. Wir müssen daher von der Kreuzspulerin höhere Leistungen der
verteilten Aufmerksamkeit fordern, als von der SchulJ- und Flechtereispulerin.
Weiterhin kommen hierfür bereits eine Reihe von Intelligenz- und Gedachtnis-
leistungen in Betracht. Die intelligente Spulerin kann sich ihre Aufgabe wesent-
iich erleichtern, indem sie ihre Arbeit „organisiert“. Sie leistet mehr, wenn sie
die Anordnung ihres gesamten Arbeitsfeides im Kopf hat, d. h. einigermaOen
sich einpragt, welche Copse in den nachsten Minuten leerlaufen und erneuert
werden müssen. Ahnliches gilt entsprechend, wo vom Strang gespuit wird.
Daneben spielt natürlich noch vor der Aufmerksamkeit die Güte des Auges eine
ausschlaggebende Rolle; der feinste verarbeitete Faden muö unter den ungün-
stigsten vorkommenden Verhaltnissen noch vollkommen deutlich wahrgenommen
Stern, Materiale Arbeilsanalysen aus der Textilindustrie
177
werden, so deutlich, daO bei Fadenbrüchen sein Fehlen sofort wahrgenommen
wird. Beim Spuien vom Strang ist dieses Moment weniger ausschlaggebend,
da hier das Stillstehen des groBen Garnkranzes sofort auffallt. Beim Spuien
von Copsen wird es für die Kreuzspulerin erleichtert durch das Hin- und Her-
schwirren des Fadens. AuBerdem können wir hierbei die Aufgabe erleichtern,
indem wir den weiBen Faden zwischen der Knotenbremse und der Schlitztrommel
über einer schwarzen ünterlage laufen lassen. Ist der Faden gerissen, so muB
er angeknotet werden; hierbei ist unbedingt wichtig, daB der richtige Weber-
knoten gemacht wird, da jeder andere unangenehme Störungen und Fehler in
der weiteren Fabrikation ergibt. Die psychotechnisch erfaBbare Voraussetzung
hierfür ist eine ziemlich hohe Fingergeschicklichkeit, die bereits zum AufBnden,
Greifen und Abheben des abgerissenen Fadenendes gehort. Die Fertigung des
Knotens selbst ist bei diesen Voraussetzungen dann nur noch Sache der ent-
sprechenden Anlernung. Wo keine ausgesprochene Anlernsteile vorhanden ist,
empfiehlt es sich, alle Neueingestellten (denn dieser Knoten wird in allen Be-
triebsteilen gebraucht) einem Anlerner zuzuführen, der zuerst mit grober Schnur,
dann mit immer feineren Faden, zuerst langsam, dann immer schneller mit ihnen
diesen Knoten „einexerziert®, bis die Bewegungen dazu völlig automatisiert sind.
Die zwei bis drei Übungsstunden, die das kostet, sind unbedingt rentabel. AuBer¬
dem werden in der Spulerei neben Abbildungen der richtigen Knotung und der
falschen (wobei die falsche dick, kreuzweise rot durchstrichen ist) Darstellungen
angebracht, die zeigen, daB die Spulerin, die einmal falsch knotet, vier Arbeits-
kollegen in ihrem Lohn schadigt und dem Betrieb viele Hundert Mark kostet.
Es sei an dieser Stelle gleich erwahnt, daB gerade im Textilbetrieb vorzügliche
EingrifFsgelegenheit für diese sog. „interne Betriebsreklame® ist; wir werden im
weiteren öfter Gelegenheit haben, auf diesen Punkt zu sprechen zu kommen.
Es bleiben nun noch einige Punkte zu erwahnen, die für den Spuler berufs-
wichtig sind. Wir müssen von ihm weiter ein erheblich gutes AugenmaB ver¬
langen, und zwar muB er (bei der Kreuzspule) nach AugenmaB abschatzen, wann
die Spule die nötige Dicke hat. Er hat hierzu zwar eine Lehre, die er aber
praktisch, wenn er nicht viel Zeit verlieren will, kaum anders als zur gelegent-
lichen Nachprüfung verwenden kann. Weiterhin muB er aber auch verschiedene
Fadenstarken unterscheiden können, da öfier von der Spinnerei Copse mit ver-
schiedener Garnstarke irrtümlich zusammen geliefert werden. Wird ein solches
Versehen beim Spuien nicht bemerkt, so können dadurch ganze Stücke Fertig-
ware unbrauchbar werden.
Zusammenfassend können wir also für die psychotechnische Eignungsprüfung
des Spulers folgende Eigenschaften verlangen: Sehscharfe, AugenmaB, verteilte
Aufmerksamkeit, Orientierungsvermögen, Raumgedachtnis und Fingergeschick-
- lichkeit. Wie diese Eigenschaften geprüft werden, in welchem MaBe sie verlangt
werden und wie die Prüfungen sich bewahren, wird für dieses wie die folgenden
Gebiete in einem spateren Bericht mitgeteilt werden.
178
Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
Wir folgen nun zunachst dem einfacheren Fabrikationsgang: dem der Flechterei,
in dem der Faden durch Verflechten mehrerer Faden gebunden wird. Auf diese
Weise entsteht die Wirk- und Strickware. Zur Durchführung unserer Analyse
betrachten wir die Arbeit an der Flecht- oder Kabelmaschine, die der Herstellung
von Spitzen, Kordein, Litzen und Kabeln dient. Die Maschine zieht von be-
wegten Spuien den Faden ab, wobei die Spulenstander, durch die Jacquardkarte
gesteuert, sich so bewegen, daO die Faden sich in dem in der Karte vorgeschrie-
benen Muster verhechten. Die Bindung erfolgt durch ein Schlagerwerk. Die
Aufgabe des Arbeiters (wir sehen vom Maschineneinrichter hierbei ab) besteht
im Aufstecken des Spulenmaterials und der Überwachung des Maschinenganges.
Für das Aufstecken müssen wir hierbei, ebenso wie vom Materialzutrager, vom
Maschinenbediener genügendes Unterscheidungsvermögen für die verschiedenen
Garnsorten verlangen. Obwohl ihm das Material sortiert zugebracht wird und
die z. B. in einer Spitze zur Verwendung kommenden Game durch verschieden-
farbigen Anstrich der Spulenköpfe kenntlich gemacht werden, sind Irrtümer nicht
ausgeschlossen und bedeuten gleich eine so wesentliche Schadigung für den Be-
trieb, daQ wir hier Nachkontrolle, bei jeder Stelle, die mit dem Material in Be-
rührung kommt, fordern müssen. Da die Garnnummern mit abnehmender Garn-
starke ansteigen, so können wir mit dem Prüfapparat gleich eine Anlerneinrichtung
verbinden. Wir hangen an einen Rechen eine gröOere Anzahl von Faden ver-
schiedener Dicke und lassen an ihnen den Neuling Nummernbezeichnungen an-
bringen. So können wir prüfen, ob er die Game unterscheiden kann, und gleich-
zeitig üben wir die assoziative Verbindung einer Garnstarke mit der zugehörigen
Nummer ein. Was die Überwachung des Maschinenganges betrifft, so stehen
wir hier vor der gleichen Aufgabe wie in der Spulerei, daC namlich zuerst
festgestellt werden muC, welche Spulenzahl dem einzelnen übergeben werden
kann. Nur liegen hier die Verhaltnisse bedeutend komplizierter als in der Spulerei.
Abgesehen von den gleichen Schwierigkeiten (Schwankungen mit der Garnstarke
und Qualitat) ist bei der Flechtmaschine zu bedenken, daO ein einzelner Faden-
bruch eine ganze Maschine (d. h. unter Umstanden bis zu 150 Spuien) stillstellt,
daC weiter die Überwachung von 8 Maschinen zu 100 Spuien viel geringere
Anforderungen stelit als die von 16 Maschinen zu 50 Spuien. Urn nur einige
Beispiele zu geben, sei angeführt, daQ bei mittleren Garnstarken und Qualitaten
(24) und zwischen 30- und 60spuligen Maschinen ein optimaler Wert bei
700 Spuien, von 60—QOspuligen Maschinen bei 900, bei Maschinen mit höherer
Spulenzahl bei 1000—1200 Spuien liegt. Diese Zahlen variieren natürlich sehr
stark mit dem verarbeiteten Material. Aus den angegebenen Zahlen geht bereits
hervor, daO es sich urn eine erhebliche Leistung der verteilten Aufmerksamkeit
handelt, die sich noch dadurch erhöht, daO auf dreierlei zu achten ist: das Leer-
laufen der Spuien, Fadenbruch und Spannung der Faden. Ist ein Faden nicht
genügend gespannt, ,schlappt er“, so bilden sich unerwünschte Ösen an den
AuQenseiten bzw. lose Maschen in der Mitte der entstehenden Spitze. Es gehort
Stern, Materiele Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
179
zur Überwachung dieses letzten Umstandes auCer der Aufmerksamkeit noch zweier-
lei hinzu: beim Aufziehen und vor dem Ingangsetzen muO sich der Arbeiter durch
Abtasten überzeugen, ob alle Faden genügend gespannt sind. Er muO also ein
genügendes Gelenkgefühl haben, urn Fadenspannungen beurteilen zu können.
Auch hier laOt sich das wirklichkeitsahnliche Prüfgerat als Übungsapparat ohne
weiteres für Anlernzwecke nutzbar machen. Zweitens mud der Überwacher das
Schlappen eines Fadens bemerken. Diese Leistung wird erheblich erleichtert
durch die symmetrische regelmaQige Zeichnung, die die radial gespannten Faden
auf der Maschine bilden, und wird weiter erleichtert durch zur Fadenfarbe kon-
trastierende farbige Unterlagen. (Es sei nur nebenbei an dieser Stelle darauf
hingewiesen, wie bedeutsam für den Textilbetrieb eine genaue Untersuchung der
Lichtverhaltnisse ist.) Die zu prüfende Eigenschaft ware demnach das schnelle
und sichere Unterscheiden symmetrischer von asymmetrischen Gebilden, eine
Prüfung, die tachistoskopisch leicht und mit einfachen Mitteln durchführbar ist.
Bei alledem steht aber durchaus im Mittelpunkt des zu fordernden Komplexes
die Aufmerksamkeitsleistung und zwar eine Leistung besonderer Art. Es handelt
sich hier nicht um die Beobachtung eines einzelnen Fertigungsprozesses zum
Zweck der Unterbrechung bei einem bestimmten Punkte, also um ein Eingreifen
nach einem vorhergehendem Stadium ansteigender Reaktionsbereitschaft, sondern
um ein standiges Oberwachen mit Reaktion auf'unregelmaOig eintretende Reize.
Wiederum ist dies Eingreifen aber auch nicht so, wie etwa in den Verkehrs-
berufen, wo es zwar ebenfalls durch unvorhergesehene, unregelmaBige Reize
veranlaOt wird, aber hier durch aufierst starke Reize, die kaum zu übersehen
sind, und wo die Situation so beschafFen ist, daB das Obersehen oder Nichtreagieren
aktuelle für den Fahrer selbst verhangnisvolle Folgen hat. Es handelt sich hier
vielmehr um die Reaktion auf Veranderungen, die in dem (auch rein raumlich)
sehr groBen Aufmerksamkeitsfeld als minimal bezeichnet werden können und
deren Unterlassung unter ümstanden (besonders beim Schlappen des Fadens)
sich lange Zeit hindurch nicht bemerkbar zu machen braucht. Wie diesen Ver-
haltnissen in der Prüfung Rechnung getragen ist, wird der spatere Bericht über
die Prüfmethoden zeigen.
Für den Flechtereibetrieb haben wir also folgende Eigenschaften als grund-
legend berufswichtig zu fordern: Sehscharfe, AugenmaB (Garnstarken unter¬
scheiden), verteilte Aufmerksamkeit, Orientierungsfahigkeit, Gelenkgefühl für Faden¬
spannungen und schnelles Unterscheiden symmetrischer von asymmetrischen
Figuren.
Von der Flechterei aus gelangt die Ware in die Aufmachungsabteilungen, zum
Scheren, Bügeln, Kontrollieren, Haspeln, Bündeln und Packen. Die letztgenannten
Abteilungen sollen hier nicht naher betrachtet werden, da sie nicht dem Textil¬
betrieb eigentümlich sind, vielmehr — zumindest das Bündeln und Packen — mit
geringen Abweichungen den Bedingungen jedes anderen Expeditionsgeschaftes ent-
spricht. Über sie soll in einem allgemeinen Rahmen gesprochen werden. Das
180
Stern, Materiele Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
Platten geschteht heute in den neuesten Betrieben maschinell mit Hilfe der Streck-
und Plattmaschine, deren Bedienung weiter nichts mehr erfordert als die Über-
wachung der Temperatur und des Maschinenganges, die so geringe Anforderungen
stellt, daO man dem Bediener meist noch eine zweite Tatigkeit geben kann. Auch
zur Beschauerin, d. h. der letzten Kontrolleurin, soll hier nur kurz Stellung ge¬
nommen werden, da in der Weberei hier ausführliche Analysen notwendig
sein werden. Die Spitzenschererin hat das vor ihr abrollende Stück Ware zu
kontrollieren, bei fehlerhaften Stellen anzuhalten, den Fehler herauszuschneiden
und die Enden wieder zusammenzunahen. Hier erleichtern wir die Aufgabe
natürlich ebenfalls wieder durch kontrastfarbige Unterlegung. Es gehort hierzu
auCer der Dauerkonzentration und der selbstverstandlichen Güte des Auges eine
geringe allgemeine Ermüdbarkeit der Aufmerksamkeit, insonderheit aber geringe
Ermüdbarkeit des Auges, da gerade die komplizierten Spitzenmuster bei ermüd-
barem Auge nach dauerndem Hinsehen schon nach sehr kurzer Zeit in ein un-
bestimmtes Flimmern übergehen. Ist die Spitze kontrolliert, so wird sie maschinell
gerollt und gemessen. Von der Rolle wird sie dann abgehaspelt auf kleine Papp-
stücke und ist damit versandfertig. Das Haspeln geschieht auch heute noch meist
von Hand aus und erfordert eine gewisse Verteilung der Aufmerksamkeit, Hand-
sicherheit und Geschickiichkeit. Die Hasplerin hat noch eine Nachkontrolle zu
üben, um die in der Schererei übersehenen Fehler noch zu finden. Gleichzeitig
muO sie das regeimaOige Aufhaspeln besorgen (wozu sie die Spitze mit der
linken Hand über die Unterlage langsam hin und her führt) und die MeOuhr im
Auge behalten, um im richtigen Augenblick abzuschneiden. Dabei soll sie ge-
wissenhaft verfahren, da sowohl zu kurze als zu lange Stücke den Betrieb schadigen.
Sie muO also eine gewissenhafte, zuverlassige Arbeiterin sein, muO gute Augen,
eine ruhige Hand haben, muO ihre Aufmerksamkeit verteilen können und — da
sie mit der rechten Hand schnell drehen, mit der linken Hand langsam führen soll
— beide Hande unabhangig voneinander bewegen können.
Die gehaspelte Spitze geht dann der Expedition zu und verlaOt damit den
Textilbetrieb. Wir kehren nun zum fertig gespuiten Garn zurück und sehen
weiter die verschiedenen Funktionen bei seiner Bearbeitung an, wenn es nicht
geflochten, sondern gewebt wird.
Geht das gespulte Garn nicht in den Flechtereibetrieb, sondern zur Weberei,
so macht es eine Reihe anderer Arbeitsprozesse durch. Wir betrachten auch
hier wieder zunachst die einfacheren Verhaltnisse in der Baumwoilweberei, um
spater erst auf die komplizierteren der Wollweberei und speziell auch der Tuch-
fabrikation zu kommen.
Von der Spulerei aus kommt das Garn entweder in Spuien (manchmal auch
schon ungespult im Strang) zum Farben, oder es wird erst, nachdem es auf den
Baum gebracht, „gezettelt" ist, im ganzen Baum gefarbt. Die modern ein-
gerichtete Farberei ist ein voll-automatisch arbeitender Betrieb, bei dem der
Arbeiter im allgemeinen die Funktion eines Automatenbedieners, das Zubringen
Stern, Materiele Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
181
und Abführen des Materials besorgt. Es kommen nur einige Besonderheiten
hier dazu. Der tüchtige Farber muQ Temperaturen unterscheiden und abschatzen
können. Trotz der zur Verfiigung stehenden MeBvorrichtungen paDt der er-
fahrene Farber die Lösungen der „lndividualitat“ des bearbeiteten Materials nach
dem Gefühl an, durch Zusetzen von kalter oder warmer Lösung. Er muB be¬
merken, wenn die Lösungen sich wahrend der Arbeit zu sehr abkühlen. Er muB
also auch kontinuierliche Temperaturanderungen wahrnehmen. Weiterhin gibt
es eine Reihe von Farbungen, die erst auf dem Faden entstehen, d. h. ein vor-
gefarbter Faden lauft durch ein Praparat, das seine Farbe chemisch verandert.
Hierbei hat der Arbeiter genau auf etwa elntretende Farbanderungen zu achten,
muB also auBer der absoluten Farbunterscheidungsfahigkeit auch noch ganz all-
mahlich elntretende kontinuierliche Farbanderungen wahrnehmen. AuBer dieser
Sinnesfahigkeit fordert die Arbeit natürlich eine sehr erhebliche Leistung der
Dauerkonzentration. Das Umlaufen des Fadens von einem Baum auf den anderen
muB dabei mitkontrolliert werden. Das erfordert bereits beim Auflegen der
Baume eine Reihe von Leistungen. Die Baume müssen genau parallel und genau
ausgerichtet aufgelegt werden, da sonst einerseits UngleichmaBigkeiten in der
Fadenspannung auftreten, die sich an allen möglichen anderen Stellen in der
Weiterverarbeitung durch das sogenannte „Wegplatzen" der Faden störend be¬
merkbar machen, andererseits lauft der Baum schief auf, d. h. die Rander werden
dicker oder diinner als die Mitte. Tritt die letztgenannte Erscheinung so auf,
daB ein Rand diinner, einer dicker ist, so sind die Baume nicht genau aus¬
gerichtet und müssen gegeneinander verschoben werden, tritt sie nur an einer
Seite auf, so muB durch Unterlegen nachgeholfen werden. Wir müssen also
neben der dauernden Aufmerksamkeit noch die entsprechenden Funktionen des
AugenmaBes fordern.
Das Zuletztgesagte, was für die Farber gilt, trifft in erhöhtem MaBe für das
Zetteln zu. Als Zettelei bezeichnet man den Betrieb, in dem das Garn von den
Spuien auf den Baum gebracht wird. Hier hat der Zettler ein Gatter, das
mehrere hundert Spuien tragt (bis zu 600 ), zu überwachen und die leerlaufenden
Spuien durch neue zu ersetzen. Da er dabei auch noch das Auflaufen auf den
Baum mit zu überwachen hat, so haben wir eine sowohl raumlich als auch be-
züglich der Heterogenitat der Sachen ziemlich weit verteilte Aufmerksamkeit vor
uns. Erschwerend kommt hinzu, daB er den Faden nicht völlig ablaufen lassen
soll, um Störungen lm Maschinengange zu vermeiden, dabei aber auch keinen
Abfall auf der Spule lassen darf. Die Faden laufen vom schriigstehenden Gatter
aus in die Maschine, so daB er vor sich das Bild der konvergent laufenden
Faden hat. In diesem Fadenbilde muB er sich schnell und sicher orientieren
können; er muB in kürzester Zeit finden, welche Spule er wieder anknüpfen muB.
Sucht er erst an falscher Stelle, so steht nicht nur die Maschine solange still,
sondern es besteht auch noch die Gefahr, daB er durch das Hineingreifen andere
Faden lockert, zum Verflechten bringt und dadurch weitere Fadenbrüche veranlaBt.
P. P. IV,6 13
182
Stern, Materiele Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
Beim Einlegen sind die Paden durch einen Kamm zu ziehen, wozu eine gewisse
Sehscharfe erforderlich ist, wobei die den paralaktischen Fehler verstarkenden
Fehlerquelien bei der Augenprüfung noch besonders zu beachten sind. Ferner
mussen hierbei die gerissenen Paden richtig und schnell geknotet werden, so
daD auch hier die Geschicklichkeit der Hand eine erhebliche Rolle spielt. Die
bereits fiir die Farberei genannten Momente, die Für das Aufziehen auF den Baum
wichtig sind, geiten natürlich auch hier. Der Zettler mufi die Fadenspannung
nach dem GeFühi einstellen, er muO darauF achten, daQ die Spannung in der
ganzen Kette gleich ist und darF die Rander nicht leer oder übervoll lauFen lassen.
Wir müssen also auch von ihm ein hierFür ausreichendes AugenmaO neben der
nötigen AuFmerksamkeit und SorgFalt verlangen. Aus der Zettlerei geht das
Material in die Farberei (soweit es im ganzen Baum geFarbt wird) und kommt
von da aus in die Schiichte. In der Schlichterei wird zunachst beim Ein¬
spannen in die Schlichtmaschine das Muster gebiidet. Hierzu müssen die Schiichter
das Muster „auszahlen", d. h. in vorgeschriebener Weise die verschiedenFarbigen
Paden in Gruppen zusammenFassen. Da sich ein kleines Muster in einer Kett-
breite oft viele Dutzende Male wiederholt, so ist also hierbei eine Dauerleistung
der AuFmerksamkeit in ganz ungewöhnlichem MaOe erForderlich. Das Auszahien
eines kleinen und komplizierten Musters kann oFt bis zu zwei Stunden dauern.
Trotz der raumlichen Trennung der verschiedenen Fadenlagen können hierbei
betrachtiiche Fehler durch Farbenuntüchtige oder Farbenblinde vorkommen, zu-
mal da manche EfFekte In der Ware mit Vorliebe durch nahe beieinander
liegende Farbnuancen oder komplementare Farben erzielt werden. Die aus-
gezahlte Kette geht dann in die Schlichtmaschine. Da sie hier wieder auF einen
anderen Baum (den spateren Kettbaum der Weberei) gebracht wird, muO dabei
auF alle die Punkte geachtet werden, die schon bei der Farberei und Zettlerei
genannt wurden. AuBerdem muB der Schiichter aber noch auF verschiedenes
andere achten. Er hat die Temperatur und Konsistenz der Schiichte im Auge
zu behalten. Wird die Lösung zu dünn oder zu kalt, so muB er zusetzen. Er
hat weiter die GieichmaBigkeit der Schlichtung durch .\btasten des Fertig ge-
schlichteten Fadens zu kontrollieren. Diese Kontrolle erFolgt meist, indem er
die Kette ein Stück lang zwischen Zeige- und Mittelfinger durchlauFen laBt.
AuBerdem muB er UnregelmaBigkeiten in der Farbung eines Baumes melden,
besonders auch darauF achten, daB er nicht in einen Zug zwei Baume gleicher
Farbe von abweichender Nuance (was bei bestimmten Farben In der Farberei
lelcht vorkommt) verwendet. Erganzend sei noch erwahnt, daB der Schiichter
dabei erhebliche KörperkraFt haben muB, da es üblich Ist, daB er das Aus-
wechseln der Baume selbst besorgt.
Die geschlichtete Kette kommt dann zum Einziehen; hier werden die KettFaden
dem Muster entsprechend in die Geschirre des Webstuhls ,eingezogen“. Die
Arbeit zerFallt dabei in zwei Teile: die Vorbereitung des Geschirrs und das
eigentliche Einziehen. Bei der Vorbereitung wird die notwendige Anzahl von
Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
183
„Rieden", d. h. Drahten, die in der Mitte ein Auge zum Durchziehen des Fadens
haben, auf den Geschirrahmen gebracht. Dabei ist darauf zu achten, daO alle
Riede in der gleichen Schragrichtung zum Rahmen liegen. Ein in falscher
Richtung liegendes Auge würde auf dem Webstuhl beim dauernden Auf- und
Abgehen scheuern und zu dauernden Fadenbrüchen AnlaO geben. Es ist also
für die Vorbereiterin neben der Handgeschicklichkeit beim Einziehen noch eine
Aufmerksamkeiisleistung erforderlich. Beides kann in noch höherem MaB von
der Einzieherin gefordert werden. Das Einziehen muO auf zweierlei Weise ge-
schehen. Ist eine Kette gleicher Fadenzahl abgewebt, so kann die neue Kette
einfach Faden für Faden an die Enden der alten Kette „angedreht" werden. Dabei
werden die beiden Fadenenden etwa zwei Finger breit umeinander gedreht und
die freien Enden in Gegenrichtung gegen den Drall umgeknickt. Welche be-
sondere Fingergeschicklichkeit dazu gehort, geht schon daraus hervor, daO man
selbst in der alten, sparsamen schlesischen Hausindustrie den eintraglichen Posten
eines Andrehers kannte. Es gab gut bezahlte Spezialisten, die von Haus zu
Haus zu den Heimwebern gingen und für sie das Andrehen besorgten. Ist keine
solche alte Kette vorhanden, so muO das Muster neu eingezogen werden. Diese
Arbeit wird von zwei Personen in der Weise ausgeführt, daO die eine von hinten
her den richtigen Faden zubringt, die andere von vorne mit einer Art Hakel-
nadel durch das Auge des Riedes fahrt und den Faden durchholt. Soll dabei
rasch und sicher gearbeitet werden, so muC die Zubringerin geschickte Finger
und gute Augen haben, urn den einzelnen Faden schnell und sicher zu fassen.
Sie muO aber auch über eine sichere Impulsbeherrschung verfügen, da der Faden
mit einer schnellen und ruckartigen Bewegung stramm gespannt zugebracht werden
soll, er darf aber dabei nicht zu straff angezogen werden, da er sonst (besonders
bei dünnen Baumwollgarnen) leicht reiOt. Die Einzieherin muC eine hoheTreff-
sicherheit der Hand haben, sie darf beim DurchstoDen weder neben das Auge
treffen, noch (was noch schlimmer ist) in ein falsches Auge geraten. Dabei
spielen Ermüdbarkeit des Auges und der Hand ebenfalls eine erhebliche Rolle.
.Sowohl beim Einziehen wie beim Andrehen wird dazu die gleiche Leistung des
Fadenzahlens wie beim Schlichter verlangt, nur daB hier unbedingt auBerste
Sorgfalt und Achtsamkeit notwendig ist, da die Kette von hier aus direkt auf den
Webstuhl kpmmt, also ein hier gemachter Fehler in der Ware unmittelbar sich aus-
wirkt und unter Umstanden bis zu zehn Stücke von 60 m unbrauchbar machen kann.
In der Weberei entsteht nun aus der bisher betrachteten Kette durch die Ein-
tragung des Schusses das Gebilde. Dazu gehort zunachst als Vorbereitungs-
betrieb noch die SchuBspulerei, die nicht auf Spuien, sondern auf die sog.
Copse spuit, sonst aber unter ahnlichen Bedingungen arbeitet, wie die anderen
Spulereien: der Faden lauft hier nicht auf eine horizontale Achse, sondern meist
auf eine vertikale auf. Diese Copse bilden die Einlage des Weberschiffchens
oder Schützen, der zwischen den Kettfaden durchschieBt. Dabei erfolgt die
Steuerung, welche Faden über und welche unter dem SchuB liegen, durch die
13*
184
Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
auf- und abgehenden Geschirre. Oer Webstuhl ist eine automatisch gehende und
automatisch gesicherte Maschine. Bei Fadenbrüchen stellt er sich automatisch
ab. Die Aufgabe des Webers besteht in der Überwachung des Fertigungs-
vorgangs und seiner Inganghaltung. Dazu gehort zunachst die Behebung von
Stockungen. Stelit sich die Maschine still, so muO er schnell hnden, wo der
Faden gerissen ist und ihn — wiederum mit dem Weberknoten — anknüpfen.
Er muQ also zunachst einmal sich schnell in dem Fadenbild orientieren können,
AugenmaO haben, urn, wenn er das eine lose Ende gefunden hat, zu wissen,
WO er das andere zu suchen hat, und die genügende Handgeschicklichkeit be-
sitzen, urn schnell und richtig zu knoten. Bei dem in Deutschland üblichen Zwei-
stuhlsystem ist ferner eine Verteilung der Aufmerksamkeit auf zwei Stühie nötig,
deren Leistung noch erheblich höher wird, wo — wie es heute schon an
manchen Stellen geschieht — dem einzelnen Weber vier Stühie zur Über¬
wachung gegeben werden. Speziell hat sich die Aufmerksamkeit des Webers noch
auf das Ablaufen des Fadens im Schützen zu richten. Es darf dabei nicht zu einem
Maschinenstillstand kommen, es soll aber auch der Stuhl nicht angehalten werden,
bevor der Schützen ganz leer gearbeitet ist. Insonderheit soll kein RestGarn auf den
Copsen gelassen werden. (Es sei nebenbei bemerkt, daü auch in diesem Punkt
Versuche mit der Einwirkung durch Betriebsreklame gemacht werden.) In An-
betracht des schnellen Hinundhergehens des Schützen müssen wir also eine
entsprechende Auffassungsgeschwindigkeit verlangen, und zwar spezialisiert
müssen wir fordern, daO in der kurzen Zeit, die der Schützen in Ruhelage ge-
sehen werden kann, erkannt wird, ob er nach den nachsten Schüssen schon
erneuert werden muO und daB richtig abgeschatzt wird, wann die Maschine ab-
gestellt werden muO.
Es ergeben sich für den Psychologen aber neben der reinen materialen
Analyse noch einige wichtige Fragen im Webereibetrieb, von denën hier jedoch
nur zwei genannt werden sollen, ohne sie elngehend zu erörtern. Ein Teil der
Betriebe hat am Webstuhl SchuBzahler angebracht, an denen der Arbeiter seine
Leistung standig ablesen kann und hat entsprechend die SchuOzahl auch zur
Akkordbasis gemacht. Es entsteht die Frage, wirkt die Entlohnung nach fertig-
gestellten Stücken oder die nach SchuBzahl mehr produktionsfördernd? Eine
endgültige Entscheidung dieser Frage ist noch nicht möglich, da Versuche in
dieser Richtung noch nicht genügend lange durchgeführt sind und einstweilen
noch aus verschiedenen Betrieben widersprechende Resultate vorliegen. Eine
weitere Frage ist es, ob man den Weber seine Ware selbst vom Warenbaum
abziehen lassen und dabei „vorputzen" d. h. die groben Unreinlichkeiten (Faden-
enden, Fremdkörper usw.) entfernen lassen soll, oder ob ihm seine Ware un-
abgezogen abgenommen und das Ausputzen ganz der Putzere! überlassen werden
soll. Es erscheint auf den ersten Bliek selbstverstandlich unrationell, den Spezia-
listen, den Weber, durch das Putzen von seiner Facharbeit fernzuhalten. Es ist
demgegenüber aber das qualitative Moment zu bedenken, daB der Anreiz zum
Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie
185
Schnell- und Unsauberarbeiten erheblich wachst, wenn der Zwang, solche Un-
sauberkeiten selbst zu entfernen, wegfallt.
Mit dem Putzereibetrieb kommen wir zum ersten Betrieb, in dem wesentliche
Unterschiede zwischen der Woll- und der Baumwollverarbeitung eintreten. Wie
schon eingangs gesagt, beschriinken wir uns in diesem Zusammenhang auf die
einfacheren Verhaltnisse in der Baumwollverarbeitung. Das Putzen braucht bei
Baumwollartikeln nicht so peinlich vorgenommen zu werden, wie bei den hoch-
wertigeren Wollartikeln. lm Prinzip ist jedoch die Arbeit die gleiche. Die Ware
wird „beschaut®, d. h. beim Durchlaufen werden die Fehler ausgemerzt. Dazu
ist neben der Aufmerksamkeit eine hohe Dauerleistung des Auges nötig. Be-
sonders bei kleinen Mustern und mechanischem Durchgang der Ware ist dazu
ein ungemein scharfes Auge mit schneller und sicherer Reaktion erforderlich.
GröBere Fehler werden dabei von dem für sein Stück verantwortlichen Weber
behoben, wahrend kleine Fehler der Putzer beseitigt. Das Einziehen einzelner
fehlender Faden und ahnliches erfordert dabei wiederum sehr hohe Geschicklich-
keitsleistungen der Hand.
Nach dem Putzen ist die Rohware fertig; sie wird jetzt nur noch appretiert
und aufgemacht. In der Appretur erfolgt heute die Arbeit fast aussdhlieClich durch
Automatmaschinen, die Wasch- und Starkmaschinen, Kalander, MeB-, Wickel-,
Leg- und Doubliermaschinen. Vom Arbeiter, der hier das Einlegen und Ab-
nehmen der Ware von der Maschine besorgt, fordern wir also zunachst die zum
Heben undTragen der teilweise recht schweren Stücke notwendige Kraft, sowie
eine gewisse Bewegungsgeschicklichkeit, die die genügende Schnelligkeit bei der
Arbeitsleistung gewahrleistet. AuBerdem bietet aber das mehrmalige Ablaufen
der Ware Gelegenheit zum Nachkontrollieren auf Fehler, so daB es vorteilhaft
ist, wenn wir beim Appreturarbeiter auch die Fahigkeiten des Kontrollers
prüfen. lm übrigen liegt die Möglichkeit der Leistungssteigerung der Appretur-
abteilung mehr auf arbeitsorganisatorischem Gebiete als auf psychotechnischem.
Die Bedingungen der Aufmachung, Packerei und Expedition entsprechen
ziemlich genau den auch in anderen Industriezweigen üblichen und brauchen
deshalb hier nicht erörtert zu werden.
Statistische Erhebung über die Geneigtheit der gesamten Barmer
Lehrerschaft, einen Beobachtungsbogen zu führen
Von Richard von der Mühlen, praktischer Psychologe,
Leiter des Psychologischen Instituts der Stadt Barmen
D as Psychologische Institut der Stadt Barmen erhielt vom hiesigen Schul-
dezernat den Auftrag, einen für Barmer Verhaltnisse zugeschnittenen Be¬
obachtungsbogen aufzustellen. Dieser Bogen sollte allen Bedingungen Rechnung
tragen, d. h. er sollte das Kind von seinem 6.—14. bzw. 18. Lebensjahr begleiten
können, und durch ihn sollte man in der Lage sein, Unterlagen für Hilfsschul-
186 V. d. MQblen, Stat. Erhebung der Barmer Lebrerscbaft, einen Beobacbtungsbogen zu fübren
überwetsungen, für den Übergang zu höheren Schulen und für die Berufsberatung
zu bekommen. Seit einiger Zeit befaOt sich eine besonders zusammengetretene
Arbeitsgemeinschaft fleiOig damit, die Idee des Beobachtungsbogens im Sinne der
uns gestellten Aufgabe zu verwirklichen.
Um sich zu vergewissern, inwieweit man mit der Unterstützung der Lehrer-
schaft samtlicher Barmer Schulen rechnen konnte, erlieO die obengenannte
Arbeitsgemeinschaft ein Rundschreiben an alle Schulen: 60 Volksschulen mit rund
500 Lehrkraften, 7 höhere Schulen und 4 Berufsschulen mit 265 Lehrkraften.
Heute wollen wir zunachst AufschluB geben über die Meinung der Lehrer-
schaft einer gröDeren Stadt in der Frage der Beobacbtungsbogen; wir boffen,
bald den von uns aufgestellten Bogen ebenfalls folgen lassen zu können.
In dem Rundschreiben hieO es u. a.:
„Die Auswahl der Beobachtungskategorien ist durch zwei Gesichtspunkte be-
stimmt, die Bedürfnisse der Förderung des Schulunterrichts seibst und besonders
durch den weitergehenden Zweck der Berufsauslese, wie er für Individuum und
Staat gleich wichtig ist.
Das Psychologische Institut der Stadt Barmen beabsichtigt, einen für die Barmer
Verhaltnisse passenden Beobacbtungsbogen aufzustelien und bittet zur Gewinnung
brauchbarer Gesichtspunkte um Ihre geh. Mitarbeit, zunachst um die Beantwortung
folgender Fragen:
I. Würden Sie geneigt sein, in Einzelfallen einen nach vorgeschriebenen groOen
Gesichtspunkten frei gefaöten Allgemeinbericht zu geben?*)
Solche Gesichtspunkte sind etwa:
1. Seelische Verfassung des Kindes.
a) Vorgeschichte: Vererbung, Entwicklungsverhaltnisse, Schicksalsschlage.
b) Beobachtungen über sein intellektuelles Leben: Sinnestatigkeit, Auf-
merksamkeit, Gedachtnis, Phantasie, Denken, Sprache, motorische Ge-,
schicklichkeit, Interessenrichtung, Sonderbegabung.
c) Beobachtungen über sein Gemüts- und Willensleben: Wirkung von
Lob und Tadel, Neigungen und Gewohnheiten, Verhalten in der Ge-
meinschaft.
II. Sollen spezielle Gesichtspunkte gegeben werden?
1. Auszufüllende, genau vorgeschriebene Rubriken**).
2. Beantwortung von formulierten Fragen nach einem methodischen Gang
mit Angabe der Beobachtungsgelegenheit, wie bei folgendem Beispiel***):
Anpassungsfahigkeit:
a) Findet das Kind sich langsam oder schnell in neue Situationen und
neue Einrichtungen, in neue Lesestoffe und Aufgaben, in neue Lehr-
weisen und neue Lehrer?
*) Psychologische Beobachtungsbogen von Eckhardt und Schüssler.
**) Psycholog. Personalbogen v. Dr. Weber, Provinzialinstitut für Psychologie. Munster i.Westf.
*♦*) Entnommen dem Hamburger Beobachtungsbogen Marta Muchow.
V. d. Mühlen, Stat. Erhebung der Barmer Lebrerscbaft, einen Beobacbtungsbogen zu fübren 187
b) Beruht die Langsamkeit auf Vorsicht oder Schwerfalligkeit?
Gelegenheit der Beobachtung:
Bei der Einführung neuer Stoffe, Spiele, bei Veranderung der Klassen-
ordnung, der Klassenamter, bei Lehrerwechsel.
Raum für die Antwort:
III. Würden Sie bevorzugen, den Bogen für alle Schüler zu führen?
IV. Soll nur in solchen Pallen ein Beobacbtungsbogen geführt werden, wenn
es der besondere Zweck erfordert? (Übergang zur Hilfsschule, zur höheren
Schule, zum Berufsleben.)
Weitere Anregungen werden dankbar begrüBt werden.
Psychologisches Institut Barmen.“
Zur festgesetzten Frist gingen alle Antworten pünktlich ein. Direkte Ab-
iehnungen des Beobachtungsbogens sind überhaupt nicht vorgekommen. Meist
wurde zu den einzelnen Fragen nacheinander Stellung genommen, wobei es vor-
kam, daO eine oder zwei von den aufgestellten Fragen aus sachlichen Gründen
verneint wurden. Es ist ratsam, bei der nachfolgenden statistischen Übersicht
das Material so geordnet wiederzugeben, daO jede Stimme zu jeder Einzeifrage,
positiv oder negativ, für sich genommen und für sich gewertet wird. Die Summe
aller positiven Meinungen sind dann 100 % der einen Seite und die Summe aller
negativen AuCerungen die entsprechenden 100% der anderen Vergleichsseite.
In der Skala sind beide Systeme nebeneinander dargestellt, und zuletzt ist das
Verhaltnis der gesamtpositiven zu den gesamtnegativen Antworten kurvenmaQig
ausgedrückt.
11
7
10% pos.
Es ist ein nacb grollen Gesicbtspunkten frei-
gefallter Allgemeinbericbt zu geben.
■■
II
25% neg.
■
■
20% pos.
Bestimmte spez. Gesicbtspunkte sind
I. in genau vorgescbriebenen Rubriken zu be-
bandeln.
■
■
8% neg.
11
■
1
1
■
■
25% pos.
2. in genau formulierten Fragen.
11
■
■
■
■
■
L
Der Beobacbtungsbogen ist für aile Scbüler
zu fübren.
■■
■
■
II
■
■
■
58% neg.
11
■
■
■
■
34% pos.
Nur für besondere Zwecke wird der Beobacb¬
tungsbogen gefübrt.
III
■
■
■
1
1
■
6% neg.
IS
80% pos.
Verbaitnis der gesamtpositiven zu den gesamt¬
negativen Antworten.
■■
1
■
■
■
1
■
■
20% neg.
0% 50% 100%
Übersicbt über die eingegangenen Antworten
188 v.d.Mühlen,Stat.Erhebung derBarmer Lehrerschaft, einen Beobachtungsbogen zu führen
Wir können also mit Unterstützung der Barmer Lehrerschaft den Schritt wagen,
den geforderten Beobachtungsbogen aufzustellen. Augenblicklich ist diese Arbeit
im FluO, und wir dürfen die HofFnung hegen, sie auch zum Segen vieler Menschen
zu einem guten Ende führen zu können.
AuBer der eigentlichen Fragenbeantwortung sind auch sonst mancherlei An-
regungen gekommen. Wenn solche auch meist schon vom Institut aufgestellte
Grundlagen betrafen, so sahen wir sie dennoch gern als Stimmen der Bejahung
und Erhartung unserer Gedanken, als zustimmende Resonnanz aus dem Kreis,
in dem spater der Beobachtungsbogen durchgeführt werden soll.
In dem Rundschreiben betonten wir besonders zwei Gesichtspunkte als für
die Auswahl der Beobachtungskategorien maBgebend:
1. Das Bedürfnis der Förderung des Schulunterrichts selbst,
2. den weitergehenden Zweck der Berufsberatung.
Die Aufrechterhaltung dieser beiden Richtlinien ist erforderlich, auch wenn
sich dadurch zum Teil zwei andere Komponenten einmischen, Diese ergeben
sich aus dem Stand der Begabungsforschungstechnik überhaupt, die reaktive
Leistungen apparativ oder mit Testmethoden erfaOt und zum andern Teil auf
Beobachtung angewiesen ist. Die letzte, rein mechanische Scheidungsbestimmung
ware unter AuOerachtlassung der wichtigen padagogischen und berufstechnischen
und ökonomischen Gesichtspunkte, wie oben angegeben, nur dann möglich und
gewinnbringend, wenn
1. keine Massenuntersuchung in Frage kame, und wenn es sich
2. nur urn interessante Erhebungen für die Wissenschaft der Begabungs-
forschung handelte.
Es soll bei der Aufstellung eines Beobachtungsbogens von uns stets folgendes
berücksichtigt werden:
1. Niemals mehr erfragen zu wollen, als wie einmal im Bereich der Antwort-
möglichkeit und dann im Dienste der Antwortnotwendigkeit liegt, ohne daO
dadurch ausschlaggebende Mehrbelastung von Schüler, Schule und Lehrer
entsteht;
2. den Bogen so einzurichten, dafi er für verschiedene Zwecke (Hilfsschule,
Übergang zu höheren Schulen, Berufswahl) einheitlichen Charakter tragt
aus Gründen der Einheit, Einfachheit und der praktischen Verwendungs-
möglichkeit;
3. im Kampf mit der Tatsache der oben angedeuteten Richtlinienverquickung
eine möglichst immer reine Auseinanderhaltung unserer aufgestellten Prin-
zipien durchzuführen.
Rundschau
189
Rundschau
Bericht über neuere Fortschrltte auf
dem Geblete der pMdagogischen
Psychologie
Von Dr. O. Bobertag, Berlin
Auf dem Gebiete der padagogischen Psy¬
chologie hat sich die im AnschluQ an den
Krieg und die Kriegsfolgen einsetzende
starke Reformbewegung im Erziehungs- und
Unterrichtswesen deutlich bemerkbar ge-
macht, und zwar in zwiefacher Beziehung.
Erstens hat das Auftauchen neuer padagogi-
scher Fragestellungen und die Notwendig-
keit, angesichts der veranderten Zeitum-
stande neue padagogische MaOnahmen zu
ergreifen, dazu geführt, daU man sich ein-
gehender mitden psychologischenTatsachen
auseinandersetzte,die jenen Fragestellungen
und MaOnahmen zugrunde liegen; und zwei-
tens haben die neuen Bildungsbestrebungen
der Lehrerschaft allgemein eine starkere Be-
rücksichtigung psychologischer Studiën in
der Ausbildung und Fortbildung der Lehrer
zur Folge gehabt. Diese aus praktischen Be-
diirfnissen stammenden Antriebe haben auf
die Entwicklung der theoretischen Forschung
eingewirkt, haben ihr neue Probleme gestellt,
sie zur Ausarbeitung neuer Methoden an-
geregt und die Nachfrage nach pSdagogisch-
psychologischer Belehrung verstarkt.
Die Wandlung, die seit Meumanns Tode
(1915) eingetreten ist, kommt in einigen
neueren Gesamtdarstellungen unseres Ge*
biets, auf die hier zun9chst hingewiesen sei,
deutlich zum Ausdruck. O. Tumlirz be¬
merkt im Vorwort zu seinem Werke „Ein-
führung in die Jugendkunde" (2 Bande,
Leipzig, Klinkhardt, 1920/21), daC die pada¬
gogische Bewegung, die im Zeichen der
Einheitsschule und des Aufstiegs der Be-
gabten steht, von der Lehrerschaft eine
gründliche psychologischeSchulung undein-
gehende Kenntnis des jugendlichen Seelen-
lebens voraussetzt. Er erkennt die Leistung
Meumanns an, betont aber, wie wichtig neben
dem Experiment vor allem die planmaOige,
über langere Zeitraume sich erstreckende,
sorgfaltige und allseitige Beobachtung der
natürlichen Verhaltungsweisen der Jugend
ist. Der erste Band seines Werkes behandelt
die geistige Entwicklung des jugendlichen
Geistes unter Abrechnung von der frühen
Kindheit, und zwar sind es die von dem
österreichischen Psychologen Meinong
und seinen Anhangern vertretenén Anschau-
ungen über die „Vorstellungsproduktion"
und die Neuartigkeit von Urteil und Annahme
gegenüber der Vorstellung, die T. seinen
Ausführungen zugrunde legt. Der zweite
Band behandelt die Bildsamkeit des jugend¬
lichen Geistes: innerhalb des Gesamtbil-
dungsprozesses werden unterschieden die
„Erbbildung" (durch Anlage und Reifung),
die „Fremdbildung" (durch Haus, Schule
und Lebensgemeinschaft) und die „Selbst-
bildung" (durch die Zielstrebigkeit der Per-
sönlichkeit und die Selbsterziehung).
Der Sch werpunkt der , Padagogischen Psy¬
chologie" von G. Grunwald (Berlin,
Dümmler, 1921) liegt gleichfalls in einer
Jugendpsychologie, die „bis in jene Tiefen
vorzudringen sucht, die dem Experiment
nicht mehr zuganglich sind". Doch ist hier
sowohl Stoffeinteilung wie Stoffbehandlung
eine wesentlich andere. Er geht im Gegen-
satz zu Tumlirz an den Ergebnissen der
„experimentell-padagogischen" Forschung
fast ganz vorbei und stellt dafür den rein
padagogischen Standpunkt mit einem stark
philosophischen Einschlag in den Vorder-
grund. Daher behandelt er die differentiell-
psychologische Seite seiner padagogischen
Psychologie im Sinne einer mehr padagogi¬
schen als psychologischen „Typenlehre"des
Zöglings und Erziehers, wahrend er für die
Darstellung der seelischen Entwicklungs-
tatsachen direkt die Verschiedenheit der
Erziehungsziele maOgebend sein laOt. Und
da ihm „die Erziehungsaufgabe darin besteht,
dem heranwachsenden Menschen die ab-
soluten Werte des Wahren, Schonen und
190
Rundschau
Guten und den übergreifenden des Heiligen
oder Religiösen zu vermitteln, so hat die
padagogische Psychologie die Entwicklung
des wissenschaftlichen Erkennens, des künst-
lerischen GenieCens und SchafFens, des sitt-
lichen Verhaltens und endlich des religiösen
Lebens zu vermitteln".
Auch O. Lipmann geht in seiner „Psy¬
chologie für Lehrer" (J. A. Barth, Leipzig)
von der diirch die padagogischen Bestre-
bungen der Gegenwart nahegelegten grund^
satzlichen Erwagung aus, daC die erzieh-
lichen und unterrichtlichen MaGnahmen einer
psychologischen Begründung bedürfen, und
daG es die Aufgabe des Psychologen sei,
den Lehrer „zu psychologischen Beobach-
tungen an seinen Schülern anzuregen und
es ihm zu ermöglichen, das Beobachtete zu
verstehen und in das Ganze einer Seelen-
kunde einzuordnen". L. wamt vor einer zu
eingehenden Beschaftigung des Lehrers mit
Experimenten und Apparaten, erwartet aber
viel von der psychologischen Fortbildung
des Lehrers in den „ Arbeitsgemeinschaften".
Seinem allgemeinen Standpunkt entspre-
chend behandelt er in seinem Buche ins-
besonders Denken und Wollen, Intelligenz
und Charakter und bemüht sich zu zeigen,
in welcher Weise der Lehrer im Rahmen des
Schulunterrichts und der Schulerziehung die
Methoden psychologischer Beobachtung der
Schüler handhaben und die Ergebnisse sol-
cher Beobachtung verwerten soll.
Auf dem Gebiete der Kinderpsychologie
ist das wichtigste neuere Werk gröGeren
Umfangs: K. Koffka, Die Grondlagen der
psychischen Entwicklung (Osterwieck, Eich-
feld, 1921). Nach den beiden groGen Werken
von W. Stern und K. Bühler bedeutet das
Koffkasche Buch insofern einen neuen
Schritt, als es versucht, die Tatsachen des
frühkindlichen Seelenlebens grundsatzlich
vom Standpunkte psychischer Entwicklungs-
gesetze zu betrachten. K. ist stark von der
amerikanischen „Verhaltens “-Psychologie
angeregt, die er jedoch im wesentlichen ab-
lehnt, indem er deren vorwiegend assozia-
tions-psychologische Erklarungsweise durch
eine „struktur“-psychologische ersetzt: er
sucht die Entwicklungstatsachen des Wahr-
nehmens. Lemens usw. auf teils angelegte,
teils neuerworbene Strukturen (einheitliche
Zusammenhange, deren „jedes Glied seine
Eigenart nur durch und mit den anderen
Gliedern besitzt") zurückzuführen. Auf
welche Weise und mit welchem Erfolge dies
im einzelnen geschieht,kann hier nicht naher
ausgeführt werden. Wenn auch bezweifelt
werden kann, ob das Buch, seinem Unter-
titel gemaG, geeignet ist, in die Kinderpsy¬
chologie „einzuführen" — da es für diesen
Zweck doch wohl zuviel Theorie und Pole-
mik enthalt—, sowird es um so mehr auf das
Interesse der bereits „Eingeführten" rechnen
dürfen. Solche wird es besonders auch da-
zu anregen, sich mit der Verhaltenspsycho-
logie eingehender zu beschaftigen. Die Mög-
lichkeit hierzu ist deutschen Lesern jetzt
durch die kürzlich erschienene Übersetzung
vonThorndikes „Educational Psychology"
gegeben (unter dem Titel „Psychologie der
Erziehung" von Bobertag herausgegeben;
Jena, S. Fischer, 1922).
Die kürzlich erschienene „Kinderpsycho¬
logie" (im „Handbuch der vergleichenden
Psychologie", hrsgb. von Kafka; München,
Reinhardt, 1922) von Fr. Giese ist keine
Kinderpsychologie im engeren Sinne, da sie
in ihrem ersten Teile das gesamte Jugend-
alter behandelt und im zweiten Teile einen
AbriO der „Padagogischen Psychologie" ent¬
halt. G. sucht vom vergleichend psycho¬
logischen Standpunkt aus einerseits die zahl-
reichen psychischen Entwicklungstatsachen
in ihrem Zusammenhange darzustellen,
anderseits die typischen Lebensformen der
Kindheit und Jugend in ihren Beziehungen
zur Umwelt und deren Einflüssen, nament-
lich erzieherischen und unterrichtlichen,
verstandlich zu machen. Er gibt ein an-
schauliches Bild der psychologischen, For-
scherarbeit, das das allgemeine Interesse
an ihr und ihren Ergebnissen hoffentlich
kraftig fördern wird.
Rundschau
191
Der Psychologie des Jugendalters im enge-
ren Sinne sind zwei neuere Gesamtdarstel-
lungen gewidmetrW.Hoffmann, Die Reife-
zeit (Leipzig, Quelle & Meyer, 1922) und
Charlotte Bühler, Das Seelenleben des
Jugendlichen (Jena, S. Fischer, 1922). HofF-
mann wendet sich mit seinem Buche nicht
bloQ an den Psychologen und Padagogen,
sondern auch an den Arzt und Juristen, den
Sozialhygieniker und -politiker. Er beginnt
mit einer Darlegung des Prinzips der „seeli-
schen Resonanz“, gibt dann eine Zergliede-
rung des Vorstellungslebens und behandelt
in einzelnen Kapitein die Kindheit, die gei-
stige, geschlechtliche, soziale Reifung. lm
Zusammenhange mit der jugendlichen Ver-
wahrlosung und Kriminalitat geht er auf
kulturphilosophische Fragen naher ein und
untersucht die historische und soziale Be-
dingtheit der Seelenstruktur des Jugend¬
lichen. Zur Charakteristik des seelischen
Zustandes im Reifealter legt er groCes Ge¬
wicht auf das erwachende BewuBtsein der
Individualitat und sieht in dem Gefühle der
seelischen Einsamkeit ein überall durch-
klingendes logisches Motiv dieses Lebens-
abschnittes. „Der Schlüssel zum Verstandnis
der Jugend liegt darin, daC wir sie durchaus
ernst nehmen.“ — Nach Ch. Bühler ist der
biologische Sinn der Pubertat der, daU sie
die Paarungsmöglichkeit entwickelt, woraus
sich als ihr psychologischer Grundzug die
Erganzungsbedürftigkeit ergibt, die dieWur-
zel des jugendlichen Gefühlslebens bildet.
Das Willensleben wird durch die neu ein-
setzenden Triebe zerstört; der Aufbau voll-
zieht sich in vier Stadiën: Triebbegehren,
Wollen als inhaltsleere Funktion, Zielsetzen
und Weiterleben. Der Übergang von der
Pubertat zur Adoleszenz ist zugleich ein
solcher von der Verneinung zur Bejahung
des Lebens.
Die padagogisch-psychologische Einzel-
forschung hat sich auch in den letzten Jahren
mit Eifer allen Teilproblemen des Gebietes
zugewandt; an Zahl und praktischer Bedeu-
tung stehen aber noch immer diejenigen
Untersuchungen an erster Stelle, die sich mit
den Fragen der Begabungsforschung, na-
mentlich im Hinblick auf die Schülerauslese
und Berufsberatung, beschaftigen. Es liegt da
zunachst eine Reihe von Berichten über ex-
perimentelle Begabtenauslesen vor, die nach
dem Muster der bekannten Berliner, Ham¬
burger und Leipziger Methoden in verschie-
denen Stadten Deutschlands vorgenommen
worden sind. Die hierher gehörigen Arbei-
ten sind zumeist in der „Zeitschrift für pad-
agogische Psychologie", der „Praktischen
Psychologie" und den „Psychologisch-pad-
agogischen Arbeiten" des Instituts des Leip¬
ziger Lehrervereins veröffentlicht worden.
In den Kreisen der Lehrerschaft hat sich
insbesondere auch das Interesse zu der psy-
chologischen Beobachtung der Schulkinder
durch den Lehrer an der Hand von Beob-
achtungsbogen verbreitet und gefestigt. Eine
ganze Reihe solcher Bogen ist von einzelnen
und von Arbeitsgemeinschaften herausge-
geben und mit mehr oder weniger ausführ-
lichen Anweisungen zu ihrer Ausfüllung
versehen worden. Von neueren Vorschlagen
seien hier genannt: der Frankfurter, Chem-
nitzer, Bremer, Dortmunder Bogen; die bei
Rathke (Magdeburg) erschienene Schrift
„Psychologisches Beobachten für die Be¬
rufsberatung" (nebst Beobachtungsbogen);
A. Huth, Anleitung zur Schüler-Personal-
beschreibung (Zeitschrift für pad. Psych.,
Bd. 23); „Psychologische Schülerbeobach-
tung zur Vorbereitung der Berufsberatung"
(Zeitschr. f. angew. Psychol., Bd. 18). Be-
sondere Beachtung verdienen zwei Beihefte
der„ZeitschriftfürangewandtePsychologie":
Valentiner, „Zur Auslese für die höheren
Schulen" und E. Stern, „Die Feststellung
der psychischen Berufseignung und die
Schule". Eine gute Gesamtübersicht gab
Hylla in seiner Schrift: „Die Bedeutung der
Begabungsforschung für die Berufsbera¬
tung" (Langensalza, J. Belto). Die schul-
organisatorischen Fragen der Begabtenaus-
lese finden eingehende Berücksichtigung in
den Schriften von Zühlsdorff, „Das Be-
192
Rundschau
gabungsproblem in der Grundschule" (Han-
noverl 920) und von B ec k e r, „Die Begabten-
auslese" (Annaberg i. Erzgb., Neupach-Ver-
lag, 1922).
Die Fragen, die sich hinsichtlich der
Durchführung einer allgemeinen und syste-
matischen Schülerbeobachtung zum Zwecke
der Schülerauslese erheben, sind noch
keineswegs geklart, und es bedarfvor allem
des Austausches der mit ihr gemachten prak-
tischen Erfahrungen, um eine solche Klarung
herbeizuführen. Besonders wichtig erscheint
es, eine Einigung darüber zu erzielen, 1. ob
die Beobachtungsbogen für alle oder nur
für einige Schüler geführt werden sollen,
2. wahrend welchen Zeitraumes sie die
Schüler begleiten sollen, 3. welchen Umfang
sie haben und welche Fragen sie im einzel-
nen enthalten sollen, 4. wie die Lehrer in
ihrer Allgemeinheit in den Stand gesetzt
werden sollen, solche Bogen überhaupt sach-
gemaB und zuverlassig auszufüllen. Auf
jeden Fall wird sich wohl bei der Durch¬
führung der Einheitsschule, die von der
Lehrerschaft eine starkere Beachtung der
Schülerindividualitaten fordert, die Einfüh-
rung von Beobachtungsbogen in irgend-
welchem Umfange durchsetzen, was freilich
eine allgemeine Verstarkung des jugend-
psychologischen Interesses und Verstand-
nisses der Lehrer und damit wieder eine
verstarkte Berücksichtigung der Jugend-
kunde in ihrer Ausbildung zur Voraussetzung
hat. Mit der durchgehenden Reform des
Schulwesens im Sinne der Einheitsschule
wird dann auch die Bedeutung der experi-
mentell-psychologischen Prüfung als eines
Hilfsmittels der Schülerauslese eine andere
werden, als sie bisher gewesen ist. Solche
Prüfungen zu einem integrierendenBestand¬
teil des schultechnischen Apparates zu
machen, dem die Auslese der Befahigten
zufallt, wird natürlich unmöglich sein; der
Schulunterricht wird sich so gestalten
müssen, dal! jene Auslese allein auf Grund
der Leistungen der Schüler unter gleich-
zeitiger Verwertung einer systematischen
Schülerbeobachtung erfolgt, und experimen-
telle Prüfungen werden nur unter besonde¬
ren Bedingungen oder in besonderen Fallen
in Betracht kommen können.
Der Gesichtspunkt der praktischen Ver¬
wertung für bestimmte padagogische Auf-
gaben, der für die psychologische Forschung
der letzten Jahre auf dem Geblete Be-
gabungsprüfung, Schülerbeobachtung und
Berufsberatung so bezeichnend ist, fehlt
zwar für die gleichzeitige Arbeit auf anderen
Teilgebieten nicht, tritt aber doch zurück.
Darum ist hier der Antrieb auch kein so
starker, das Ziel, auf das hin der Fortschritt
erfolgte, kein so einheitliches und klar er-
kanntes gewesen. Das Interesse an manchen
Fragen, die früher mit Vorliebe bearbeitet
wurden(z.B.Gedachtnis,Aussage,Ermüdung)
hat merklich nachgelassen, dagegen hat es
sich anderen in erhöhtem Malle zugewendet.
lm allgemeinen kann man wohl sagen, kommt
das Bestreben zur Geltung, das Kind und
den Jugendlichen mehr als bisher als Mit-
glied der menschlichen Gesellschaft, als
ein in eine bestimmte Kulturgemeinschaft
hineinwachsendes Wesen zu betrachten, es
in seiner Abhangigkeit von der Umwelt, in
seiner Stellung zu bestimmten natürlichen
oder kulturellen Einrichtungen, Einflüssen,
Forderungen zu studieren. Zum Teil haben
der Krieg und die Kriegsfolgen dazu bei-
getragen, dall den Beziehungen des jugend¬
lichen Seelenlebens zu den inneren und
auCeren Lebensbedingungen lebhafteres In¬
teresse entgegengebracht wurde, z. T. ent-
spricht diese Entwicklung wohl auch dem
zunehmenden Gewicht, das die Padagogik
den soziologischen Grundlagen alles Er-
ziehungs- und Unterrichtswesens in letzter
Zeit beizulegen begonnen hat. Zweifellos
ist diese veranderteEinstelIungzubegrüBen,
da zu hoffen ist, daB die aus ihr hervor-
gehenden Arbeiten helfen werden, die Über-
zeugung von der Bedeutung der Jugendkunde
für die Theorie und Praxis der Erziehung
weiter auszubreiten und dieser wertvolIeUn-
terlagen und Fingerzeige gewahren werden.
Auf einige dieser Arbeiten zurückzu-
kommen, wird vielleicht in einem der nach-
sten Hefte dieser Zeitschrift Gelegenheit
gegeben sein.
Für die Schriftleitung verantwortlich; Prof. Dr. W. Moede and Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafte 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Hdrtel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. APRIL 1923 7. HEFT
Die Praktische Psychologie erscheiat in monatUchen Heften lm Umfange von zwel Bogen. Preta des Aprilheftes 1000 Mark
r&ra Inland. Furs Ausland besondere Prelse. (Preis bel uomlrtelbarer Zustellung unter Kreuzband lm Inland elnschlleOllch
Öaterrelch-Uogarn 1200 Mark.) Eestellungen nehmen alle Buchhandlungen, die Post aowle die Veriagsbuchbandlung entgegen.
Anzeigen vermlttelt die Veriagsbuchbandlung S. Hlrzel In Lelpzlg, KönlgatraQe 2. Postscbeckkonto Lelpzlg 226. — Alle
Manuskriptsendungen und darauf bezQgllche Zuschrlften sind zu richten an die Adresse der Schrlftleltung: Prof. Dr. W. Moed e
und Dr. C. PiorkowakI, BerlloWSO, LultpoldstraOe 14.
Eisenbahnbetriebsunfalle und Psychotechnik.
Von Richard Couvé, Wissenschaftlichem Hilfsarbeiter
bei der Psychotechnischen Versuchsstelle der Reichsbahn
Eisenbahnbetriebsunfalle entstehen durch:
Mangel der Betriebseinrichtungen,
Personal verschalden,
Verschalden Dritter,
höhere Gewalt.
Aufgabe der Unfalluntersuchung ist es, die Unfallursache mögllchst einwandfrei
festzustellen, damit nach Erkenntnis der vorgekommenen Verstööe oder der be-
stehenden Mangel, die zur Erhöhung der Betriebssicherheit notwendigen MaO-
nahmen getroffen werden können. Diese Anordnungen können entweder für den
Einzelfall nach den örtlichen Verhaltnissen oder allgemein für die Ausführung
des Betriebsdienstes zu geben sein. Zur Gewinnung eines allgemeinen Über-
blicks über die vorgekommenen Betriebsunfalle, über ihre Entstehungsursachen
und ihre Folgen dient die Unfallstatistik, die bei der Deutschen Reichsbahn ge-
trennt geführt wird:
a) Entgleisungen,
b) ZusammenstöBe,
c) sonstige Betriebsunfalle (Überfahren von Fuhrwerken, einzelner
Personen usw.).
Die Unfallstatistik, die auf Grund der nach einheitlichen Gesichtspunkten geführten
Unfalluntersuchungen aufgestellt wird, zeigt, wie sich die Unfalle auf die ver-
schiedenen Ursachen vertellen. Sie geben der Zentralstelle die Möglichkeit, wert-
volle Schlüsse zu ziehen und hiernach notwendige allgemeine Anordnungen zu
treffen. So kann bei den durch Mangel der Betriebseinrichtungen entstandenen
Unfallen die Haufigkeit der verschiedenen Entstehungsursachen erkannt und eine
notwendige Verbesserung durchgeführt werden, soweit sie nicht schon auf Grund
der Untersuchung des Einzelfalls veranlaOt wurde.
Auch bei den durch Personalverschulden entstandenen Betriebsunfallen mussen
alle MaOnahmen getroffen werden, die zur Verhütung weiterer Unfalle notwendig
sind. Hier wird bei der Unfalluntersuchung bereits ein groCer Teil der Arbeit
durch Ermittlung des schuldigen Bediensteten geleistet.
Die disziplinarische Bestrafung des Schuldigen, seine Heranziehung zu den
Schadenkosten, bei schwereren Pallen auBerdem seine Entfernung aus dem Betriebs-
P P. IV, 7. 14
194
Couvé, Eisenbahnbetriebsunfaile und Psychotechnik
dienst und die Beantragung der strafrechtlichen Verfolgung sind nicht nur von
Bedeutung für die Ahndung des Einzelfalles, sondern sie haben dariiber hinaus
noch eine groCe erzieherische Bedeutung für das übrige Personal.
Für die Herabminderung der Zahl der durch Personalverschulden entstandenen
Betriebsunfalie ist aber neben der Verfolgung und Ahndung des Einzelfalles noch
die Erwagung maOgebend, daB die VerstöBe oder Nachlassigkeiten z. T. bedingt
oder doch beeinfluOt sind durch:
a) psychische oder physische Ungeeignetheit oder mangelnde Eignung
des Personals für den Dienst,
b) mangelnde Ausbildung und Unterrichtung des Personals.
Die Verwendung von vollgeeigneten und gut ausgebildetem Personal ist daher
eine wichtige Vorbedingung für die Erhöhung der Betriebssicherheit. Die Unfall-
statistik zeigt die Hauhgkeit der durch Personalverschulden entstandenen Unfalle
und laOt erkennen, bei welchen Anforderungen das Personal versagi hat. Bei
Feststellung der Berufseignung muB daher auf die hiernach als berufswichtig er-
kannten Fahigkeiten besonderer Wert gelegt werden. Für die psychotechnischen
Berufseignungsprüfungen wird so aus der Unfallstatistik eine wertvolle Erganzung
der Berufskunde gewonnen, mit deren Hilfe ein den Anforderungen des Betriebes
entsprechendes Prüfverfahren ausgebildet werden kann.
Die vom Reichsverkehrsministerlum geführte Unfallstatistik enthalt alle Zug-
unfalle und ferner die Rangierunfalle, bei denen Personen zu Schaden gekommen
sind. Als „sonstige Betriebsunfalie" sind die übrigen in Verbindung mit be-
wegten Fahrzeugen vorgekommenen Unfalle aufgenommen (Überfahren von Fuhr-
werken auf Überwegen, Überfahren von Personen, Sturz aus dem Zuge u. dgl.,
sowie Zugunfalle, die keine Entgleisungen oder ZusammenstöBe zur Folge batten.)
Nach der Unfallstatistik des Reichsverkehrsministeriums sind im Jahre 1921
vorgekommen: 479 Entgleisungen,
507 ZusammenstöBe,
2616 sonstige Betriebsunfalie.
Bei Beurteilung dieser Zahlen ist zu berücksichtigen, daB die zahlreichen Un¬
falle im Verschiebedienst, bei denen Personen nicht getötet oder verleizt wurden,
nicht in der Statistik enthalten sind.
Alle drei Arten von Eisenbahnbetriebsunfallen sind für die angestrebte Er-
kenntnis der berufswichtigen Fahigkeiten des Eisenbahnpersonals wichtig. Wahrend
aus Entgleisungen und ZusammenstöBen gefolgert werden kann, welche Eigen¬
schaften zur Erhöhung der Betriebssicherheit vom Personal verlangt werden
müssen, gibt die Betrachtung der in den „sonstigen Betriebsunfallen" enthaltenen
persönlichen Unfalle des Eisenbahnpersonals einen Überblick über die Gefahren
des Eisenbahnbetriebsdienstes für die Beamten und Arbeiter. Da diese Gefahren
für alle im Betriebsdienst beschaftigten Bediensteten — wenn auch in verschie-
denem Grade — vorliegen, können die Tötungen und Verletzungen von Bahnbeamten
und Arbeitern zunachst für alle Berufsgruppen gemeinsam betrachtet werden.
Couvé, Eisenbahnbetriebsunfaile und Ps>xhotechnik
105
Die Bedeutung und der Umfang der Verunglückungen von Bahnbediensteten
im Dienst ergibt sich aus folgenden für das Jahr 1911 ermittelten Zahlen:
getötet: verletzt:
1. beim Besteigen und Verlassen in Bewegung befindlicher
Fahrzeuge und wahrend des Aufenthalts darin .... 65 195
2. beim Wagenschieben und Bangieren. 119 378
3. beim An- und Abkuppeln. 80 145
4. beim Aufenthalt auf den Gleisen, namentlich beim Über-
schreiten der Gleise . 202 136
5. in sonstigen Pallen. 39 _ 148
505 1002
Auöerdem bei Entgleisungen und ZusammenstöBen ver-
unglückt. 27 _ 260
532 1262
Die Verteilung dieser Unfalle auf die einzelnen Berufe zeigt die folgende
Übersicht:
a) Bahnbeamte oder Angestellte im Dienst
getötet: verletzt:
1. Stationsaufsichts- und Telegraphenbeamte. 10 17
2. Weichensteller. 39 55
3. Rangierpersonal . 129 344
4. Bahnbewachungs- und Bahnunterhaltungspersonal ... 38 30
5. Lokomotivpersonal. 27 73
6. Zugbegleitpersonal. 93 251
7. Sonstige Beamte. 22 30
b) Bahnarbeiter im Dienst
1. Bahnunterhaltungsarbeiter. 80 77
2. Bahnhofsarbeiter. 25 28
3. Sonstige Arbeiter. 33 _^
496 948
AuBerdem bei Zugunfailen verunglückt. 36 314
532 1262
Mit Hiife der Eignungsprüfungen muB daher festgestellt werden, ob die Be-
werber urn Stellen des Eisenbahnbetriebsdienstes, die zur Vermeidung von per-
söniichen Unglücksfallen notwendigen Eigenschaften, wie Aufmerksamkeit, schnelle
EntschluBkraft, körperliche Gewandtheit usw. besitzen.
Nach diesem kurzen Überblick über die persönlichen Unfalle des Eisenbahn-
personals soll versucht werden, aus den Angaben der Unfallstatistik über die
Entgleisungen und ZusammenstöBe allgemeine Schiüsse auf die an die Bahn¬
bediensteten zu stellenden Anforderungen zu ziehen. Hierzu ist es zunachst not-
wendig, die Zahl der Entgleisungen und ZusammenstöBe aus der Unfallstatistik
zu entnehmen, die durch ein Personalverschulden entstanden sind.
14'
196
Couvé, EisenbahnbetriebsunfSlIe und Psychotechnik
An den Entgleisungen und ZusammenstöDen trilfc die Hauptschuld:
a) Stationspersonal .359
1. Fahrdienstleiter:
a) auf Bahnhöfen.153
ji) auf Blockstellen . 5
2. Aufsichtsbeamte auf Stationen .25
3. Telegraphenbeamte . 5
4. Steilwerkswarter. 89
5. Weichensteller in Handweichenbezirken usw. . . 10
6. Rangierleiter. 55
7. Rangierer. 17
b) Bahnunterhaltungsbeamte. 4
c) Lokomotivpersonal. 83
d) Zugbegleitpersonal . 43
1. Zugführer. 10
2. Sonstiges Zugbegleitpersonal. 33
e) Ladebeamte. 6
f) Wagenmeister und anderes technisches Per-
sonal. 4
g) Sonstige Angestellte. 7
Hieraus können schon Schlüsse auf das MaO der Verantwortung gezogen
werden, das auf den verschiedenen Berufsgruppen lastet. Auffallend erscheint
an diesen Zahlen der hohe Anteil der Stationsbeamten (laufende Nummern 1—5)
an dem Entstehen der Unfalle. Das nahere Eingehen auf die einzelnen Berufs¬
gruppen soll über die Anforderungen an die Betriebsbeamten Aufklarung geben.
Die Unfailstatistik enthalt in ihren drei Abteilungen (Entgleisungen, Zusammen-
stöBe und sonstige Betriebsunfalle) die Angabe der durch die Unfalluntersuchung
ermittelten Entstehungsursachen. Wenn ein Verschulden eines bestimmten Be-
diensteten durch die Unfalluntersuchung nicht in allen Pallen nachzuweisen ist
und die Zahl der vorstehend als „schuldig" ermittelten Bediensteten naturgemaO
nicht alle Falie des Personalverschuldens umfassen kann, so liefert die Unfail¬
statistik in ihren Angaben über die Ursachen der Unfalle doch hinreichend zu-
verlassige Unterlagen dafür, wie sich die durch Personalverschulden entstandenen
Betriebsunfalle auf die verschiedenen Entstehungsursachen vertellen.
Nachstehend werden daher für
a) Lokomotivführer,
b) Fahrdienstleiter, Aufsichtsbeamte und Weichensteller,
c) Zugbegleitpersonal
Übersichten derjenigen Unfalle gegeben, bei denen nach der Ursache ein Per¬
sonalverschulden vorliegt.
Couvé, Eisenbahnbetriebsunfalle und Psychofechnik
197
a) LokomotivfQhrer
Für ein Verschulden der Lokomotivführer kommen folgende Falie in Frage:
A. Entgleisungen
1. durch Überschreitung der zulassigen Fahrgeschwindigkeit 3 (2)*)
2. beim Auffahren auf Prellböcke durch Fehler des Loko-
motivführers in der Fahrkunst. 9 (^)
a) zu spate Betatigung der durchgehenden Bremse . . (4)
b) zu spates Bremssignal bei Handbremsen.2
c) unsachgemaCe Betatigung der durchgehenden Bremse 4
d) sonstige Fehler .3 (1)
3. durch plötzliches oder unglelchmaliiges Fahren (Zerrungen
und Stauchungen im Zuge). 28 (8)
4. ungleichmaDiges Arbeiten der Zug- und Schiebelokomo-
tiven . 6
5. Nichtbeachtung von Wartersignalen . (1)
6. Unvorsichtiges Ansetzen der Zug- oder Schiebelokomo-
tiven . 2
B. ZusammenstöBe
I. Überfahren von Haltesignalen:
1. Nichtbeachtung der Signale durch den Lokomotivführer 18 (7)
2. Fehler des Lokomotivführers in der Fahrkunst .... 20 (12)
a) zu spate Betatigung der durchgehenden Bremse . . 5 (2)
b) zu spates Bremssignal bei Handbremsen.9 (1)
c) unsachgemaOe Betatigung durchgehender Bremsen 1 (1)
d) Überschreitung der zulassigen Fahrgeschwindigkeit . 3 (8)
e) sonstige Fehler .2
II. Zugtrennungen durch plötzliches Anziehen .... H (6)
III. Abfahrt ohne Auftrag des zustandigen Beamten . . 7
IV. Überfahren von Fuhrwerken durch Schuld des
Lokomotivführers. 4 (7)
V. Kesselexplosionen. Falsche Bedienung des Kessels . . 0
108 (48)
Durch mangelnde Beobachtung der Signale und der Strecke sind die Unfalle
unter A5, Bil und BIV entstanden. Aufgabe der Eignungsprüfung muli es daher
sein, den Lokomotivführeranwarter auf Aufmerksamkeit, schnelle EntschluIJkraft
und Widerstand gegen Ermüdung zu prüfen. Dies wird mit den bisher vor-
handenen Prüfeinrichtungen für Fahrerberufe (Prüflaboratorium der Reichsbahn-
*) Die nicht eingeklammerten Zahlen geben die Falie an, die hauptsSchlich auf die ge-
nannten VerstöCe zurückzuführen sind, wdhrend aus den eingeklammerien Zahlen zu ersehen ist,
in wieviel Fallen ein Mitverschulden in dieser Hinsicht in Frage kommt.
Couvé, Eisenbahnbetriebsunfalle und Psychotechnik
199
d) fehlerhafte Bedienung beim Versagen von Kraft-
stellwerken.2
e) sonstige Ursachen.4 (1)
f) Drehscheiben unrichtig gestellt.1
g) Schiebebühnen unrichtig gestellt.O
h) bewegliche Brücken unrichtig gestellt.O
2. Umstellen einer Weiche:
a) unter einem Zuge.41 (3)
b) unter einer Rangierabteilung.8
3. Falsche Stellung der Weichen im Rangierdienst 13 (1) Z
III. Falsche Bedienung des Stationsblocks. 18 (18) Z
a) Bedienung eines falschen Blockfeldes.15 (8)
b) vorschriftswidrige Eingriffe.0
c) bei Blockstörungen .0
d) sonstige Bedienungsfehler .3 (10)
IV. Vorzeitige Streckenfreigabe. 9 E
a) bei Zugtrennungen .4
b) bei nachfolgender Schiebelokomotive.0
c) bei sonstigen Anlassen.5
V. Ausfahrt bei nicht freigegebener Strecke. 5 (2) Z
VI. Unterlassene oder verspatete Ankündigung der Züge 5 (2) S*)
VII. Sonstige Fehier im Zugmeldedienst. 3 (5) Z
VIII. Sonstige Fehier bei Bedienung des Streckenblocks . ' 1 (2) Z
IX. Fehier des Aufsichtsbeamten bei der Bremsbesetzung
in Zugbildung:
a) Überfahren von Haltesignalen durch unge-
nügende Bremsbesetzung.13 (1) Z
b) Nicht genügende Bremsbesetzung.3 (1) E
c) Entgleisung durch Mangel in der Zugbildung . 4 (6) E
Auffallend an dieser Zusammenstellung ist einmal die bei einzelnen Ursachen
verzeichnete groBe Haufigkeit der Unfalle und andererseits die zahlreichen ver-
schiedenen Fehlerquellen dieses Dienstes. Hieraus lassen sich schon Schlüsse
auf das MaB der Verantwortung der Stationsbeamten und auf die Vielseitigkeit
ihrer Tatigkeit ziehen. Auf kleineren Dienststellen hat der Fahrdienstleiter noch
einen Teil oder alle übrigen Betriebsgeschafte und z. T. auch Arbeiten des Ver-
kehrsdienstes zu erledigen. Auf gröBeren Stellen, auf denen er nur den Dienst
des Fahrdienstleiters und Aufsichtsbeamten oder eine dieser Tatigkeiten zu ver¬
richten hat, steht er einer groBen Haufung der Zugfahrten gegenüber. In jedem
Falie wird man für den Fahrdienstleiter und Aufsichtsbeamten eine starke Ab-
lenkung durch die verschiedenen Diensthandlungen annehmen mussen. Die An-
‘) S = Sonstiger Betriebsunfall.
200
Couvé, Eisenbahnbetriebsunfalle und Psychotecbnik
forderungen, die an die Aufmerksamkeit des Fahrdienstleiiers gestellt werden,
ergeben sich aus folgendem Schema, das die wesentlichen Richtungen seiner
Aufmerksamkeitsverteilung angibt:
Die Aufmerksamkeit des Fahrdienstleiters muö sich über dieses umfangreiche
Gebiet verteilen, damit er, sobald auf einem Teilgebiet sein Eingreifen notwendig
wird, schnell die vorgeschriebene und nach den Umstanden erforderliche Hand-
lung vornehmen kann. Die durch Verschulden des Siationspersonals entstandenen
Unfalle sind zum erheblichen Teil auf ein Versagen in dieser Beziehung zurück-
zuführen. Das .Übersehen einer für die Zugfahrt zu erfüllenden Bedingung liegt
z. B. vor bei den Unfallen, die entstanden sind, durch:
1. mangelhafte Prüfung der FahrstraBe,
2. vorzeitige Streckenfreigabe,
3. Ausfahrt bei nicht frei gewordener Strecke,
4. Unterlassen oder verspatete Ankiindigung der Züge.
Neben dem Versagen der Aufmerksamkeit kommen folgende persönliche Ver-
stöOe als Entstehungsursache der Betriebsunfalle in Betracht:
1. falsche Bedienung der Weichen und des Blocks,
2. Fehler im Zugmeldeverfahren,
3. mangelhafte Verstandigung zwischen den beteiligten Stellen,
4. Zulassen feindlicher, d. h, sich gefahrdender Fahrten.
Bei der Aufstellung psychotechnischer Prüfverfahren für Fahrdienstleiter und
Aufsichtsbeamte, wird man diejenigen Eigenschaften, die auf Grund der Er-
gebnisse der Unfallstatistik als berufswichtig erkannt sind, berücksichtigen mussen,,
um ungeeignete Krafte von vornherein diesem verantwortungsreichen Dienst fern-
zuhalten.
c) Zugbegleitpersonal
Zugführer und Bremser haben im Verhaltnis zum Lokomotivführer und Auf-
sichtsbeamten nur geringen Anteil an der gesicherten Durchführung des Betriebes.
Couvé, Eisenbabnbetriebsunfalle und Psychotechnik 201
Dies kommt auch in der Unfallstatistik zum Ausdruck, in der sie in folgenden
Pallen als Schuldige erscheinen:
1. Auffahren auf Prellböcke durch Verschulden der Bremser 2 (3) E
2. Überfahren von Haltesignalen durch Versehen der Bremser . . 12 (7) Z
3. Zugtrennungen durch ungleichmaliiges Bremsen. 3 (2) Z
4. ZusammenstöBe, begunstigt durch mangelhafte Zugsicherung und
Zugdeckung. (7) Z
Die unter 1—3 aufgeführten Unfalle sind auf unterlassene oder verspatete
Aufnahme des vom Lokomotivführer gegebenen Bremssignals zurückzuführen.
Soweit diese VerstöCe nicht durch Dienstvernachlassigung (Schlafen) ent-
standen sind, kann schlechtes Gehör als Entstehungsursache in Frage kommen.
Die Priifung des Personals auf Gehör ist Aufgabe der bahnarztlichen Unter-
suchung. Die Sicherung und Deckung auf der Strecke liegengebliebener Züge
oder Zugteile muB vom Zugbegleitpersonal nach den Vorschriften durchgeführt
werden. Besondere, durch psychotechnische Prüfungen zu erfassende Eigen¬
schaften werden hierbei nicht gefordert.
Der Analogietest
Von Dr. phil. Franziska Baumgarten, Berlin
I.
O bwohl der Analogietest in der letzten Zeit bei den Intelligenzprüfungen der
Jugendlichen oft angewandt wurde, ist er doch bisher noch gar nicht psy¬
chologisch untersucht worden. Wir finden in der psychologischen Literator auBer
der Angabe der Aufgaben kein Eingehen weder auf die Resultate, noch auf die
psychologische Seite des Testes selbst. Da diese Probe einige Male bei den
Begabtenpriifungen der Stadt Berlin angewandt wurde, unternahm ich in der
letzten Priifung, die im Februar d. J. stattgefunden hat, eine Auswertung der
Antworten der Kinder. Auf meinen Antrag wurde in der Kommission beschlossen,
den Kindern, nachdem sie bereits die 4. Proportionale zu 3 gegebenen Begriffen
gefunden haben, aufzugeben, auch die Beziehung zu nennen, welche zwischen
den Begriffen besteht. Ich wollte durch diese Vervollstandigung der Aufgabe
feststellen, inwiefern die Kinder sich der Beziehungen zwischen den gegebenen
Begriffen bewuBt sind. Denn die sogenannte Analogiebildung ist doch nichts
anderes, als das Erkennen einer Beziehung zwischen 2 gegebenen Begriffen, um
dann auf Grund dessen einen vierten Begriff finden zu können, der zu dem
dritten in derselben Beziehung steht. Eine solche geistige Tatigkeit gehort zu
den logischen Funktionen des Urteilens und Vergleichens, so daB eigentlich
ein Analogietest, vom psychologischen Standpunkt untersucht, einen Einblick in
die Entwicklung der logischen Funktionen des Kindes bietet. Zu diesem Zwecke
müBte der Test an Kindern verschiedenen Alters durchgeprüft werden. Ohne
202
Baumgarten, Der Analogietest
sich hier eine solch groBe Aufgabe zu stellen, soll versucht werden, die Auf-
merksamkeit auf diesen Test von psychotechnischer Seite zu lenken, um für die
Praxis gewisse Gesichtspunkte hervorzuheben.
II.
Die Aufgaben, die den Kindern auf Grund der gemeinsamen Auswahl der
Kommissionsmitglieder gestellt wurden, waren folgende:
1. Heer: Soldat = Verein: (Mitglied).
2. Zeit: Uhr = Warme: (Thermometer).
3. Berg: Hügel — See: (Teich).
4. Bach: Wasser = Zigarette: (Tabak).
5. Kreide: Tafel = Bleistift: (Papier).
6. Buch: Schriftsteller = Maschine: (Konstrukteur).
7. Butter: Margarine = Geldstück: (Papierschein).
8. Sparsamkeit: Geiz = Mut (Übermut).
9. Wagen: Pferd = Auto: (Motor).
10. Wanduhr: Gewicht = Mühle: (Wind oder Wasser).
Die Zeit für die Lösung der Aufgaben betrug 20 Minuten. Die Bewertung
geschah so, daB für eine jede richtige Antwort ein Punkt gegeben wurde, wobei
die beste Lösung samtlicher Aufgaben die Nummer 10 erhielt.
Nur den Knaben wurde die Aufgabe gestellt, die Beziehung, die zwischen den
Begriffspaaren besteht, anzugeben. Bei den Madchen wurde dieses unterlassen.
Diese Unterlassung übte aber keine Wirkung auf das von uns gesetzte Ziel aus,
denn die Antworten der Madchen waren meistens so schlecht, daB die Forderung,
die Beziehung anzugeben, sowieso wenig ergeben hatte.
Um von den Lösungen der Knaben und Madchen ein Bild zu geben, mag
hier verzeichnet werden, daB von 125 Knaben nur 2 die höchste Bewertungs-
note (10) und 13 Knaben die zweitbeste Note (9) erhielten, dagegen erlangten von
152 Madchen keine einzige die höchste Note, aber 3 von ihnen die niedrigste
und 13 die zweitniedrigste (s. Figur 1)*). Tabelle 1 zeigt weiter, daB der Test
38,08% fehlerhafte Antworten bei Knaben und 61,05% fehlerhafte Antworten bei
Madchen ergeben hat. Aus einer solchen DifFerenzierung des Testes muB ge-
schlossen werden, daB der Test in dieser Form für 12—13jahrige Madchen zu
schwer war. Es ist zu bedauern, daB die bisherigen Untersuchungen nicht die
Ergebnisse der von ihnen vorgenommenen Prüfungen angegeben haben. (Auch
in der Sternschen Methodennennung zur Intelligenzprüfung finden wir in dem
Abschnitt über Analogiebildung gar keine diesbezüglichen Angaben.) Wir müssen
uns daher notens volens bei der Beurteilung der Resultate nur auf die durch
die gegenwartige Prüfung erhaltenen Antworten beschranken, ohne einen Ver-
gleich mit Resultaten anderer Versuche machen zu können.
*) Diese Figur wurde nur für Demonstrationszweck hergestellt, um zu zeigen, wie sich die
Antworten der Knaben und Mkdchen verbatten, wenn sie von demselben Gesichtspunkt beurteilt
werden. Für die Praxis wurden die Antworten der Mkdchen viel nachsichtiger beurteilt.
Baumgarten, Der Analogietest
203
Knaben
0
2 *
2j.
5 3
Madcben
_ 3
13
IS
27
12_i,
22
19 5
29
20 6
22
22
10
22 8
0
12 9
2 IO
_3
Figur 1
Zablen in der Vertikale; Noten
Zablen in der Horizontale: Zabl der Kinder, die die betreffende Note erbalten baben
III.
Die Antworten der Kinder (125 Knaben und 152 Madchen) zeigen eine groQe
Verschiedenartigkeit der Lösungen. AuBer den oben gegebenen Antworten gaben
die Knaben z. B. noch die folgenden:
1. Heer: Soldat = Verein: Vereinigung (1), Leute (2), Menschen (1), Genosse (2),
Gründer (1), Vorsitzende (1), Oberste des Vereins (1), Mitwirkende (1).
2. Zeit: Uhr = Warme: Ofen (38), Kohle (6), Sonne (11), Feuerung (3), Feuer (3),
Temperatur (1), Licht (1), Kalte (1), Leben (1), Zimmer (1), Sommer (2).
3. Berg:Hügel = See: Wasser (15), Meer (8), Flufi (4), Wellen (3), Ufer (1),
Tümpel (2), Pfütze (3), Pfuhl (1), Bach (5), Woge (1), Lache (1), Land (1),
Becken (1), Insel (2), Tiefe (1), Mitte (1), Wald (1), FaB (1), Tal (2).
4. Bach: Wasser = Zigarette:Feuer (13), Rauch (9), Asche (2), Aroma (1),
Zigarre (2), Schachtel (1), Mann (1), Bier (1).
5. Kreide: Tafel = Bleistift: Heft (15), Zeichenblock (2), Spitze (1), Blatt (1).
6. Buch : Schriftsteller = Maschine: Schlosser (2), Buchdrucker (1), Arbeiter (22),
Heizer (2), Maschinist (3), Baumeister (1), Tippmamsell (1), Schneiderin (1),
Naherin (1), Rader (1), Kohle (1), Eisen (1), Fabrik (1), Hersteller (1),
Technlker (3), Führer (1).
7. Butler: Margarine = Geldstück: Portemonnaie (3), Lohn (1), Ware (1),
Einkaufen (1), Arbeit (1), Münze (2), Metall (3), Leben (1), Dalles (1), Geld-
tasche (2), Taler (1), Gold (1), Goldstück (1).
204
Baumgarten, Der Analogietest
8. Sparsamkeit :Geiz = MutrFeigheit (65), Furcht (3), Angst (4), Sieg (10),
Kraft (5), Ruhm (3), Kampf (3), Tat (2), Unmut (1), Prahlen (1), Ent-
schlossenheit (1), Schwert (1), Heuchelei (1), Ehrentitel (1), Todesverach-
tung (l), Schwachheit (1), Wille (1), Vorsicht (1), Machtlos (1), Frech-
heit (1), Prahler (1).
9. Wagen rPferd = Auto: Benzin (8), Führer (6), Kraftwagenführer (1),
Maschinist (2), SchofFör (3), Maschine (3), Ö1 (1), Fahren (1), Schaffner (1).
10. Wanduhr: Gewicht = Mühle:Flügel (33), Mühlstein (9), Steine (8), Rader (4),
Kraft (1), Mühlrad (14), Bach (2), Haus (1), Kaffee (1), Mittel (1), Trieb-
werk (1), Treibbalken (1), Treibkraft (1), Korn (1), Mahlen (1).
Man tate den Kindern grolies Unrecht, würde man eine Lösung, die nicht
wörtlich mit der Musterlösung übereinstimmt, als falsch werten. Das Kind, das
statt „Mitglied" — „Leute", „Menschen", „Genossen", „Mitwirkende" schreibt,
hat die richtige Beziehung, wenn auch nicht den passenden Ausdruck dafür ge-
funden. Aus demselben Mangel an sprachlicher Fahigkeit kann auch eine richtig
aufgefaBte Beziehung falsch formuliert werden, z. B. „der Soldat dient dem Heer,
das Mitglied dem Verein". Indem wir diesen Mangel an sprachlicher Formulierung
aufier Betracht lassen, können wir die bunten Antworten und nicht minder mannig-
faltigen Angaben über die zwischen den Begriffspaaren bestehenden Beziehungen
in 4 verschiedene Gruppen einteilen.
1. In solche, wo eine richtige Antwort und eine richtige Beziehung ange-
geben wurde, z. B.:
Zeit: Uhr = Warme ; Thermometer. (Die Zeit wird mit der Uhr gemessen,
die Warme mit dem Thermometer.)
Butter: Margarine = Geldstück : Papiergeld. (Beides ist Ersatz oder: Beides
ist minderwertig.)
Heer: Soldat = Verein : Mitglieder. (Das Heer besteht aus Soldaten. Der
Verein besteht aus Mitgliedern.)
Berg : Hügel ^ See : Teich. (GröCenverhaltnis.)
Wagen: Pferd - Auto: Motor. (Pferd zieht den Wagen, Motor treibt das Auto.)
Wanduhr : Gewicht Mühle : Wasserrad. (Regeler oder Gewicht zieht die
Wanduhr auf, das Wasser treibt die Mühle.)
Buch ; Schriftsteller = Maschine: Ingenieur. (Erzeuger.)
Eine humoristische Antwort hat ein Junge gegeben:
Butter: Margarine = Geldstück : Dalles!
2. In welchen eine richtige Antwort, aber eine falsche Beziehung angegeben
wurde, z. B.:
Heer : Soldat = Verein : Mitglied. (lm Heer ist der Soldat die Hauptperson,
im Verein das Mitglied, oder: Der Soldat gibt dem Heer die Kraft, das
Mitglied dem Verein. „Die Beziehung ist, daö kluge Manner dazu
gehören", oder: Das Heer gebraucht Kriifte und der Verein auch,
oder: Das Mitglied und der Soldat geben die Macht ab.)
Baumgarten, Der Analogietest
205
Berg: Hügel = SeerTeich. (Berge werden aus Hügel, Seen aus Teiche
gebildet.)
Bach : Wasser = Zigareite : Tabak. (Wasser ist ein kleiner Bruchteil vom
Bach, Tabak von der Zigarette, oder: Der Bach braucht Wasser, die
Zigarette Tabak.)
3. In welchen eine falsche Antwort, aber eine richtige Beziehung aufgestellt
wurde, z. B.:
Wanduhr: Gewicht = Mühle : Mühlrad. (Beziehung; Antreibungsmittel.)
Butter : Margarine Geldstück : Portemonnaie. (Margarine und Porte-
monnaie sind schlechter.)
Buch : Schriftsteller — Maschine : Arbeiter. (Beide machen die Sachen;
durch den Schriftsteller entsteht das Buch, durch den Arbeiter die
Maschine.)
Wagen : Pferd = Auto : Benzin. (Treibkraft.)
4. Wo eine falsche Antwort und eine falsche Beziehung gegeben wurden, z. B.;
Bach : Wasser = Zigarette : Feuer. (Wasser bildet den Bach. Wenn die
Zigarette kein Feuer hat, brennt sie nicht)
Bach ; WasserZigarette : Asche. (Der Bach enthalt Wasser, die Ziga¬
rette Asche)
bei der Antwort „Rauch“: (Der Bach brauchtWasserunddieZigarette Rauch).
Zeit: Uhr = Warme : Kohle. (Die Uhr sagt die Zeit an, die Kohle gibt
Warme, bei der Antwort die „Sonne“: Die Uhr gibt uns die Zeit an,
die Sonne gibt uns die Warme, oder bei der Antwort „Sornmer": Die
Uhr zeigt die Zeit an, der Sommer die Warme.)
Zeit: Uhr Warme : Sonne. (Die Sonne ist ewig und regelt den Tag,
die Uhr die Zeit oder: Die Zeit sieht man an der Uhr, die Warme
kommt von der Sonne.)
Zeit: Uhr - Warme rOfen. (Zeit kommt aus der Uhr, Warme aus dem
Ofen, oder: Die Zeit kann man mit der Uhr feststellen, die Wiirme
mit dem Ofen erzeugen oder: Die Warme und Zeit gehen von der
Uhr und Ofen aus.)
Berg: Hügel See : Wasser. (Der Berg besteht aus Hügeln, der See aus
Wasser; oder Hügel geben einen Berg, Flüsse einen See.)
Berg: Hügel See: Tal. (Der Hügel liegt tiefer als der Berg, das Tal
tiefer als der See.)
Butter: Margarine — Geldstück ; Taler. (Ahnlichkeit.)
Hier kommen auch ganz verkehrte Gedankengange vor, wie z. B.:
Berg : Hügel -= See : Meer. (Berg gröDer als Hügel, Meer gröBer als See,
oder: Der Hügel ist ein Teil des Berges, der See ein Teil des Meeres,
oder: Berg ist höher als der Hügel, See ist flacher als das Meer.)
Berg: Hügel = See : Wellen. (Die Erhöhungen der Berge sind die Hügel,
die der See die Wellen.)
206
Baumgarten, Der Analogietest
Butter : Margarine = Geldstiick ; Gold. (Margarine von Butter, Geldstück
von Gold.)
Bach : Wasser = Zigarette : Schachtel. (Bach ist Behalter von Wasser,
Schachtel von Zigarette.)
Zeit: Uhr = Warme : Sonne. (Von der Uhr erhalt man die Zeit, von der
Sonne die Warme.)
Eine ganz merkwürdige Antwort haben wir in:
Buch: Schriftsteller = Maschine.-Tippmamsell. (Beide stellen die Schrift her.)
Wir sehen also, daC eine Antwort des Kindes in der Art, wie sie bisher
verlangt worden ist — die bloDe Nennung der 4. Proportionale — unzureichend
ist, denn sie gibt keinen klaren Begriff von der gedanklichen Arbeit
des Kindes. Es würde sich verlohnen, bei den Untersuchungen über die logischen
Funktionen des Kindes rein psychologisch auf diese Tatsachen: richtige Antworten
— falsche Begründungen und falsche Antworten —richtige Begründungeneinzugehen;
vielleicht würde man hier eine gesetzmaOige Phase der Entwicklung der Denk-
arbeit oder eine spezifische Denkweise feststellen können. Urn schon jetzt diesem
Problem naherzukommen, werden wir die Frage aufrollen: Welche von den
hier gegebenen Analogiebildungen wurde am haufigsten, welche am seltensten
gut gelost?
Ein anschauliches Bild hierüber kann die nebenstehende Tabelle geben, die
die Anzahl der fehlerhaften Antworten für jede Aufgabe angibt.
Wir ersehen aus dieser Tabelle, daU die kleinste Fehlerzahl die 5. Aufgabe, also:
Kreide : Tafel = Bleistift: (Papier)
erzielt hat. Diese Beziehung wurde von den Kindern an ihnen gelaufigen Gegen-
standen am leichtesten erfaOt: ,Wenn ich Kreide habe, muG ich auch eine Tafel
haben zum Schreiben, wenn ich den Bleistift habe, muO ich Papier zum Schreiben
haben."
An zweiter Stelle kommt die Beziehung von Gegenstand zum Stoff:
Bach : Wasser = Zigarette : Tabak.
Auf diese beiden Beispiele beschrankt sich sowohl die Haufigkeit der guten
Antworten, wie auch die GleichmaGigkeit in den Antworten von Knaben und
Madchen. Es folgten dann ganz erhebliche Unterschiede in beiden Hinsichten
(siehe Tabelle 1).
Am sch wersten (nach der Zahl der Fehlerantworten zu urteilen) war die Aufgabe 8:
Sparsamkeit: Geiz = Mut: Übermut.
Die richtige Beziehung „Übermut" wurde überhaupt nur 3 mal genannt. Hin-
gegen 65 mal bei den Knaben: „Feigheit!"
Es fragt sich nun, warum die Kinder diese falsche Antwort gegeben haben?
Aus dem Beziehungnennen der Knaben erhalten wir eine Antwort darauf: Es
wurde fast immer „das Gegenteil" gesetzt, d. h. die Beziehung von Sparsamkeit
und Geiz wurde als eine gegensatzliche betrachtet und zum „Mut" deshalb das
Gegenteil gesucht — also „Feigheit" geschrieben. Eine solche Antwort ist aber
Baumgarten, Der Analogietest
207
Zahl der Fehler jeder Aufgabe
Aufgabe
Knaben (125)
Madchen (152)
1
O
11
p
70 = 46,05%
2
73 =58,04%
112 = 73,68%
3
58 =46,4%
98 =64,47%
4
35 =24%
61 = 43,55%
5
14 = 1 1,12%
18 = 11,9%
6
47 =37,6%
108 = 71,05%
7
29 = 15,24%
134 =88,15%
8
110 =88%
124 =80%
9
22 = 17,6%
90 = 59,21 %
10
88 = 70,4%
121 =79,60%
486 = 38,08%
936 =61,05%
der Gesamtzahl der Lösungen
der Gesamtzahl der Lösungen
Tabelle 1
ein Beweis, daO den Kindern in der Schule der Geiz als Gegenteil der Spar-
samkeit definiert worden ist, mit anderen Worten, es wird ihnen eine falsche
Angabe gemacht. Wir kommen auf diese Weise auf eine Art der Analogiefehler,
die in falschen Lehren, also die in Kenntnissen der Kinder wurzein. Diese Art
finden wir in dem Beispiel 3:
Berg : Hügel = See : Teich.
Der Begriff „Hügel" ist für die Knaben nicht scharf umrissen, obwohl er zu dem
Wortschatz gehort, der in der Schule zweifellos vorkommt und so wurden falsche
Antworten, wie Meer, Wasser, Wellen usw., auf Grund unrichtiger Kenntnisse
gegeben. EinigermaDen passable Antworten waren: Pfütze (3 mal), Tümpel
(2 mal), Pfuhl (1 mal).
Zur Kenntnisbeziehung gehort weiter Beispiel 7:
Butter : Margarine = Geldstück : Papierschein.
Es wurde von den Knaben in 15,2%, bei den Madchen in 88,15% Falien falsch
gelost. Die Knaben kannten also die Eigenschaften der Margarine besser als die
Madchen (trotzdem man erwarten könnte, daö gerade die Madchen das Wesen
des Wirtschaftsartikels besser kennen). Zu Kenntnisfehlern gehören auch falsche
Antworten der Aufgabe: Heer : Soldat = Verein : Mitglied, bei welchem die urn
1 Jahr jüngeren Madchen 46,05% Fehler gemacht haben, aus denen ersichtlich
ist, daG ihnen der Begriff „Verein" nicht gelaufig ist.
Also obwohl das Kind die Beziehung richtig aufgefaOt hat, hat es doch wegen
Unkenntnis des wahren Sachverhaltes eine falsche Antwort gegeben.
11. Viel haufiger kamen aber Fehler vor, in welchen den Kindern beide Worte
eines Begriffspaares bekannt sein muGten, und es sich darum handelte, die Be¬
ziehung zwischen ihnen festzustellen, also um das Wesentliche des Analogie-
208
Baumgarten, Der Analogietest
testes. Hier versagten sowohl Knaben wie Madchen in einer ganz erstaunlichen
Art. Nehmen wir ein solches BegrifFspaar wie Zeit: Uhr; beide BegrifFe: Zeit
und Uhr, müCten den Kindern wohl genügend gelaufig sein, ein Fehler in der
Beziehungsfeststellung beweist, wie wenig die Kinder diese Beziehung fest-
zustellen vermogen. Die Antworten lauteten in der Mehrzahl bei Knaben: Ofen
(38 mal!) Kohle (6 mal), Feuerung (3 mal), Sonne (11 mal), Feuer(3mal), Sommer
(2 mal). Licht (1 mal), Kiilte (1 mal).
Die Antwort „Ofen“ ist bei den Madchen fast durchweg zu finden. Sie be¬
weist, wie bei diesen BegrifFen überhaupt nicht gedacht worden ist, sondern,
dali rein assoziativ das Wort „Warme" gesetzt wurde. „Der Ofen gibt Warme",
ist eine in den Schulen oft eingepragte Assoziation, „die Uhr gibt die Zeit an“,
die zweite solche. Die Kinder, die diese Assoziationsantwort gegeben haben,
haben sie rein automatisch, ohne nachzudenken, geschrieben. Bei mündlicher Ant¬
wort würde das Kind vielleicht, wenn man es auf den Fehler hinweist, leicht
sich selbst korrigieren, bei der schriftlichen blieb aber der Fehler.
Dieselbe Art Assoziationsfehler finden wir im Beispiel 6: „Buch: Schriftsteller
= Maschine: Konstrukteur". Buch : Schriftsteller sind zwei Assoziationsbegriffe;
auch bei der Maschine ist eine feste Assoziation gebildet: Maschine, Arbeiter,
die Mehrzahl der falschen Antworten bei Knaben (15 bei 47), wie bei den Mad¬
chen bildete eben das Wort „Arbeiter".
Dafi feste Assoziationen Fehler bedingen, beweist noch eine andere falsche
Antwort: „Naherin" und „Schneiderin" und „Tippmamsell", die mit dem Wort
Maschine eben oft verbonden sind. Das Kind hatte nun ganz oberflachlich das
gegebene BegrifFspaar wahrgenommen und als 4. Proportionale ein Assoziations-
wort hinzugesetzt.
Zu diesen Assoziationsfehlern gehort auch die im 10. Beispiel „Wanduhr: Ge¬
wicht = Mühle" oft angegebene Antwort: Flügel, Steine, Mühlrad, und im 9. Bei¬
spiel „Wagen: Pferd = Auto" die fast durchweg angegebene Antwort: Benzin.
Eine zweite Art Fehler aus falschem Erfassen der Beziehung liegt da vor, wo
beide BegrifFe zwar bekannt sind, aber die Kinder nicht das innere Verhiiltnis dieser
BegrifFe zueinander gut verstehen, sondern es ganz oberflachlich nehmen. Z. B. wenn
sie bei „Wagen : Pferd = Auto : Motor" mit Führer, SchafFner, Maschinist antworten.
Hier tritt die Oberfiachlichkeit des Urteils und der Auffassung deutlich zutage.
Wir sehen also hier die Quellen der Fehler:
1. die unklare Kenntnis der BegrifFe und Worte.
2. das flache Assoziieren statt des Eindringens in das Wesen der Beziehung
zwischen den BegrifFen*).
*) Vgl. bei Meumann: „Fast alle Kinder haben eine starke Neigung, sich gegenüber un-
bekannten GegenstSnden und unbekannten Eigenschaften mit irgendwelchen Ersatzvorstellungen,
Ersatzbenennungen oder Surrogaten herauszuhelfen. So benennen sie mit Vorliebe Dinge, die
sie nicht kennen, nach Analogien mit anderen bekannten Dingen, und diese Analogien sind oft
auDerordentlich weit hergeholt."
Vorlesungen zur Einführung usw. 2. Auflage 1911. I. Bd. S. 316, auch Bd. III (1914) S. 407ff.
Baumgarten, Der Analogietest
209
Die erste Art des Fehlers muB oft dem mangelnden Unterricht zugeschrieben
werden und solche Fehler können als Mahnung für die Lehrerschaft dienen.
Beim zweiten Fall ist die natürliche Denkweise des Kindes am Fehler schuld
(Oberflachlichkeit). Aber eine Frage von prinzipieller Bedeutung muC hier
hervorgehoben werden: ist dieses „flache Assoziieren" nicht darauf zurückzu-
führen, daB die gegebenen Begriffspaare für die Kinder zu wenig anschaulich
sind, oder mehr allgemein ausgedrückt: ist das Kind imstande jede Art
logischer Beziehung aufzufassen, wenn sie nur genügend anschaulich
dargestellt ist (gemaB der „eidetischer“ Natur des Kindes)? Eine Antwort
hierauF ist auf Grund der vorliegenden Probe unmögiich, denn es müBten Ver-
suche angestellt werden, in welchen die Beziehungen an BegrifFen verschiedenen
Anschaulichkeitsgrades zu erkennen waren. Aber diese Frage muB psychologisch
untersucht werden, wiil man die Antworten der Kinder gerecht bewerten. Es
ist hier interessant, zu vermerken, daB die Kinder sich bei der Begründung einer
gewissen Art von anschauiichen Ausdrücken bedienen, die typisch ist, z. B.:
„Ohne Wasser kein Bach, ohne Tabak keine Zigarette.“ Aber mit denselben
Ausdrücken geben sie auch eine faische Antwort, wie z. B.: „Asche* mit der
Begründung: „Ohne Wasser kein Bach, ohne Zigarette keine Asche", oder:
„Ohne Bach kein Wasser, ohne Feu er keine Zigarette," oder: „Ohne Wasser
und Feuer nützt heides nicht". Wir haben diesen typischen Ausdruck auch in
anderer Form: Der Bach kann ohne Wasser nicht flieBen. Die Zigarette kann
ohne Feuer nicht brennen, oder: Heer:Soldat = Verein:Gründer. Ohne Soldat
kann^kein Heer entstehen. Ohne Gründer kann kein Verein entstehen, oder:
Zeit.-Uhr = Warme :Sonne. Ohne Uhr weiB ich keine Zeit. Ohne Sonne ist
keine Warme.
Eine zweite typische Redensart ist die Begründung „muB", z. B.: Heer:Soldat
= Verein:Oberste des Vereins. Das Heer muB Soldaten haben. Der Verein
muB einen Vorsitzenden haben.
Ebenso hautig findet man eine dritte stereotype Begründung: Zeit: Uhr =
Warme:Ofen. Die Zeit hangt von der Uhr ab. Die Warme hangt vom Ofen ab.
Eine vierte typische Redensart ist: Der Bach gibt das Wasser. Die Zigare tte
gibt den Rauch.
Eine fünfte: Heer .-Soldat. Der Soldat gehort zum Heer. Verein: Mitglied.
Das Mitglied gehort zum Verein. Wagen :Pferd. Zum Wagen gehort das Pferd.
Auto .-Motor. Zum Auto gehort der Motor. Bach: Wasser = Zigarette: Rauch.
Wasser und Rauch gehören notwendig zu Bach und Zigarette.
Interessant ist, daB bei dem Kinde, das eine gewisse typische Form der Ant¬
wort auBert, diese Form sich auch mehrmals wiederholt, ein Beweis, daB sie
einen Verlegenheitsausdruck für mangeinde begrifFiiche Formulierung darstelit.
Wenn wir aus der Untersuchung dieser einen Prüfung einen SchluB ziehen
dürfen, so könnten wir sagen: Da dieselben Analogieaufgaben von Knaben in
38,08%, von Madchen dagegen in 61,05% Fallen nicht gelost worden sind, so
P. P. IV, 7. 15
210
Baumgarten, Der Analogietest
ergibt sich die Notwendigkeit, eine Eichung der Beispiele vorzunehmen, Und
zwar würde es sich empfehlen, für jedes Alter entsprechende Beziehungsarten
festzustellen: Es erwies sich hier, daO die Beziehungen der Zusammengehörig-
keit, diejenigen des Ganzen zum Teile, die am leichtesten, dagegen die Be¬
ziehungen der Ursachlichkeit (in allen ihren Arten) die am schwersten zu er-
fassenden sind. Weitere psychologische Untersuchungen dieser Art müOten zu
einer Normenaufstellung des Beziehungsauffassens führen*). Es bleibt dabei noch
immer die Frage offen, inwiefern diese Unterschiede nicht nur auf das Alter
sondern auf grundsatzliche verschiedene Denktypen (anschaulichen bzw. begrilF-
liche) zurückgeführt werden können.
Aus der Tatsache, die sich bei dieser Untersuchung erwies, daO es richtige
Antworten und falsche Begründungen, falsche Antworten und richtige Begrün-
dungen gibt, folgt, daO von den Kindern immer eine Begründung ihrer Antworten
zu verlangen ist. Die Beurteilung der diesbezüglichen Leistung der Kinder muB auf
Grund der vollen Antwort: der BegrifFsnennung und ihrer Begründung erfolgen.
(Es würde sich empfehlen, für eine solche volle Antwort 2 Punkte zu geben, für
den jeweiligen richtigen Teil der Antwort je 1 Punkt.)
Unter diesen Bedingungen könnte sich der Test vorzüglich zur Prüfung von
logischer Denktatigkeit des Kindes eignen. So aber, wie der Analogietest zur Zeit
gehandhabt wird, muB er bei diagnostischer Verwertung zu Fehlschlüssen An-
laB geben. _
WirKungssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfachung
Von Dr. Hans Piorkowski, Dresden
D em Auffassungsvermögen des Menschen sind gewisse ziemlich enge Grenzen
gezogen. Wie die experimentelle Psychologie lehrt, werden bei einer Ex-
positionszeit von 0,01 Sekunden durchschnittlich 5 Einzelobjekte richtig erfaBt.
Dieser Umfang wird nicht wesentlich gröBer, wenn die Wahrnehmungszeit bis zu
einer ganzen Sekunde verlangert wird. 8 Elemente stellen jedenfalls normalerweise
die auBerste Grenze dar. Als Elemente in diesem Sinne würden Punkte, Striche,
aber auch Buchstaben, Zahlen usw. zu betrachten sein. Setzt man die Buch-
staben nun zu Wörtern zusammen, so lassen sich bei sehr kurzer Darbietungs-
zeit 4—5 Wörter mit 20 bis 30 Buchstaben auffassen, ganz im Gegensatz
zu aus sinnlosen Silben zusammengesetzten Wörtern, wo die Grenze etwa bei
acht Einheiten, d. h. Buchstaben, liegt. Diese Tatsache ist ein Beweis dafür, daB
ein sinnvolles Wort als ein geschlossenes Wortbild und somit als eine Einheit
aufgenommen wird. Sind Druckfehler in dem exponierten sinnvollen Wort ent-
*) Die Arbeit von Peter Vogel: „Untersuchungen über die Denkbeziebungen in den Urteilen
des Schulkindes" (Diss. GieOen 1911) bat zwar eine in dieser Richtung liegende Problemstellung :
„zu prüfen, in welcher fortschreitenden bzw. wechselnden Art die Urteile mit zunehmendem Alter
zur Entfaltung kommen" (S. 5), aber genügt leider in der Ausführung nicht, um ihre Resultate zu
verwetten.
Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfachung
211
halten oder sind Teile von Buchstaben weggelassen, so wird dies am Tachistoskop
nicht bemerkt. In diesem AssimilationsprozeO können wir einen Beweis er-
blicken, daO das Wort nur als Ganzheit erfaIJt wird, ohne daG die Einzelheiten
seitens der Versuchspersonen genau beobachtet werden könnten.
Voraussetzung bei derartigen tachistoskopischen Experimenten ist nun aber,
daO die Buchstaben deutlich, klar und schmucklos dastehen und einen für das Lesen
günstigen Abstand haben, da sonst die Bedingungen für das Erkennen ungünstig
sind und das Resultat sofort beeinflussen würden. Rob. Werner Schulte, der
experimentelle Untersuchungen auf diesem Gebiete anstellte, konstatierte als das
günstigste Verhaltnis von Schriftstarke zu Schrifthöhe etwa den Wert 1:4,5 bis
1:6,5, also im Mittel etwa 1:5*). Auch den für das Lesen günstigsten Zwischen-
raum steilte er experimenten fest. Er wahlte kurze, sinnlose Worte, die er sehr
kurze Zeit, 0,03 Sekunden, im Tachistoskop darbot, und zwar so oft, bis jedes
Wort restlos und richtig erfaOt war. Die Anzahl der Expositionen galt Ihm als
MaCstab für die Lesbarkeit. Es ergab sich, daG das Optimum der Lesbarkeit
dann vorhanden ist, wenn in der Druckschrift die Buchstaben durch einen
Zwischenraum von einer halben Buchstabenbreite getrennt sind**).
Der AnalogieschluG liegt nun nahe, diese GesetzmaGigkeiten sinngemaG auch
auf bildliche Darstellungen zu übertragen, wenn dort die Verhaltnisse auch nicht
so einfach wie bei Buchstaben liegen. Das bedeutet, daG entsprechend bei Bil-
dern ebenfalls ein Optimum für die Auffassung vorhanden sein muG und zwar
dann, wenn günstige Proportionen, klare Linienführung und eine dem Leistungs-
umfang des Auffassungsvermögens angepaGte Anzahl von wesentlichen Elementen
gegeben ist. Bühler geht bei seinen Untersuchungen über die Gestaltwahr-
nehmungen von dem Gedanken aus, daG die Gestalteindrücke sich in eine An¬
zahl elementarer Gestalterlebnisse psychologisch zerlegen lassen, so in die
Eindrücke von Geradheit, Krümmung, Parallelitat, Divergenz, Proportion,
Symmetrie usw. Die elementaren Faktoren der Gestalteindrücke gelte es zu be-
schreiben und die Bedingungen ihres Zustandekommens aufzusuchen. Die kom-
plexen Eindrücke waren dann durch das Zusammenwirken dieser einfachen Faktoren
verstandlich zu machen***). Ob allerdings in konkreten Fallen irgendwelchen
komplexen Dingen so, wie vorstehend beschrieben, genügend beizukommen ist,
müGte erst erwiesen werden.
Das Material, welches nun unseren Versuchen zugrunde gelegt wurde, bestand
in einer Bildserie, die für Reklamezwecke geschaffen war. Die Entwürfe stammen
von Professor Lucian Bernhard, Berlin. Sie zeigen das gleiche Motiv in standig
wachsender Vereinfachung (s. Abbildungen 1—5). Zuerst wurde die Idee durch
den Künstler in naturalistischer Feinheit durchgearbeitet und der zeichnerische
*) Rob. Werner Schulte: Über den Apperzepiionswert verschieden starker Lapidarschrift.
Seidels Reklame 1920, Nr. 23/24.
**) Rob. Werner Schulte; Buchstabenzwischenraum und Lesbarkeit. Praktische Psychologie
1920, Heft 1, Seite 28fF. Hirzel.
***) Karl Bühler: Oie Gestaltwahrnehmungen. I. Band, 1913. Verlag W. Spemann, Stuttgart.
15*
212
Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfachung
^tünlkSf C. tn. BéfUfi W 15. KiM/fOm 0 ndamm 74
Abbildung 1
Abbildung 3
Ausdruck in jede Geste
und jede Bewegung gelegt,
auch die Darstellung des
apparativen Teils wurde
so naturgetreu wie möglich
wiedergegeben. Durch all-
mahliche AbstoCung von
übertriebenen Ausführungs-
feinheiten kam der Künst-
ler nach und nach über
die verschiedenen Entwick-
lungsstadien zu der höch-
sten Vereinfachung des Ent-
wurfes Nr. 5. Hier sehen
wir nur noch die wesent-
lichsten Bestandteile des
ursprünglichen Entwurfes
und jeden Bestandteil wie¬
der in monumentaler Ein-
fachheit in sich selber und
im Verhaltnis zu den an¬
deren Teilen des Bildes.
Abgesehen von den rein
künstlerischen Wirkungen,
haben wir hier immer den
Zweckgedanken im Auge
zu behalten, und der be-
steht darin, dali das Bild
als Plakat auf die Ferne
und als Inserat in Druck-
werken oder Zeitungen aus
dem Chaos anderer Anzei-
gen wirken und aufgefaCt
werden soll, den flüchtigen
Bliek zu fesseln berufen ist.
Das tastende Gefühl der
Praxis zeigt sich in der
Tatsache, daO zunachst
sowohl der erste, natura¬
listische Entwurf drucktech-
nisch durchgeführt wurde,
wie erst spater Bild 5.
Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln 'durch Vereinfachung
213
Es galt nunmehr, expe¬
rimenten festzustellen, wel-
ches Bild den starksten
BewuDtseinsgrad erzielt,
welches von diesen fünf
Stadiën am schnellsten und
am klarsten in allen we-
sentlichenTeilen erfafit und
dem Sinne nach verstanden
wird. Auch die Frage nach
der asthetischen Bewertung
spielte bei den Experimen¬
ten eine Rolle bei der Be-
Abbildung 4
urteilung, wie spater gezeigt -
werden soll.
Die tachistoskopischen
Versuche, urn die es sich
in erster Linie handelte,
wurden in folgender Weise
durchgeführt: Die beiden
Entwiirfe Nr. 1 und 5, also
das AnFangs- und das End-
stadium, wurden zunachst
zu den Experimenten heran-
gezogen. Am AnFang der
Sitzung wurde Bild 1 ex- Abbildung 5
poniert Für die Zeit von
0,5 Sekunden. SoFort nach der Exposition hatte die Versuchsperson zu Protokoll
zu geben, was sie erkannt und was sie erlebt hatte. Der andere EntwurF Nr. 5
wurde erst nachVerlauF von mindestens 1/2 Stunde tachistoskopisch gezeigt. Die
Zwischenzeit war ganz angeFüllt mit einer groCen Anzahl von anderen Versuchen,
samtlich aus dem Gebiete der Reklamepsychologie. Die Versuchsperson wuCte
selbstverstandlich nicht, daO die erste Exposition am AnFang der Sitzung nur einen
Teil eines Versuches darstellte, der jetzt am Schlusse durch die Exposition von Ent¬
wurF Nr. 5 erst seinen AbschluO Fand. Es handelte sich also um das sogenannte
unwissentliche VerFahren. Auch soFort nach der Darbietung von EntwurF Nr. 5 wurde
wieder ein Protokoll auFgenommen über AuFgefalites und Erlebtes. Diese Freien Be¬
richte derVersuchspersonen wurden noch durch Fragen seitens des Versuchsleiters
erganzt, um Für die statistischen Zwecke jedesmal eine ausreichende Grundlage
zu schaffen. — Mit diesem Versuchsmaterial wurden 50 Versuchspersonen geprüFt.
Es ist auOerordentlich bemerkenswert, wie eindeutig die Versuchsergebnisse aus-
geFallen sind. Darüber soll in Folgendem berichtet werden.
214 Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemittein durch Vereinfachung
Unterziehen wir zunachst die beiden Entwürfe einer Analyse: 1. in quantita-
tiver und 2. in qualitativer Beziehung. Wir sehen auf beiden Bildern 5 Per¬
sonen, 2 Erwachsene und 3 Kinder, zwischen den beiden EItern und den Kindern
steht ein Lichtbild-Vorführungsapparat. Die Erwachsenen stehen, die Kinder
sitzen, aus dem Apparat strömt ein Lichtkegel nach vorn. Abgesehen Von un-
wesentlichen Kleinigkeiten ist in quantitativer Beziehung kaum ein Unterschied
zwischen diesen beiden Bildern zu konstatieren. Anders ist es dagegen beim
qualitativen Vergleich! Der markanteste Unterschied ist der, daC wir einmal
ein positives, das andere Mal ein negatives Bild vor uns haben. Einmal sehen
wir eine leichtbewegie Gruppe, auf dem anderen Bild die gleiche Gruppe in
monumentaler Ruhe mit sicherem Gefühl für feinen Rhythmus gezeichnet; das eine
Mal eine graziös durchgearbeitete, naturalistische Silhouette, dagegen im anderen
Falie eine im höchsten Grade vereinfachte, nur die allerwichtigsten Einzelheiten
betonende Zeichnung. Man könnte fast der Meinung sein, dalJ das Verstandnis für
die Gestalten bei dieser auöerordentlichen Vereinfachung verlorengehen könnte*).
Was lehrte nun das Experiment bei diesen Versuchen? Die quantitative Aus-
wertung der Protokolle zeigte zunachst, daU die Aussagen bei Bild 1 über die
Anzahl der aufgefaOten Personen stark schwankten; es lieO sich eine recht er-
hebliche Streuung urn den richtigen Wert herum konstatieren. Nur etwa 20%
aller Versuchspersonen gab die richtige Zahl, 5 Personen, an, im übrigen
schwankten die Aussagen zwischen 2 und 15 Personen, die erkannt worden
sein sollten. Der kinematographische Apparat wurde in 10 Pallen angegeben,
also nur in 20% der Versuche. Der Apparat wurde in der Mehrzahl der Falie
überhaupt nicht gesehen, oder das in der Mitte aufgefaOte Objekt wurde irgend-
wie anders gedeutet, als eckiger Tisch 3mal, als Nahmaschlne 2mal, als Wagen
2mal, als Rader mit Speichen 1 mal. Ein wesentlicher Bestandteil des Bildes
scheint noch der Licfitstrahl zu sein, der allerdingS hier nur durch zwei gerade,^
schwarze Linien, die andeuten sollen, wie der Lichtkegel abgegrenzt ist, gezeichnet
werden konnte. Die Aussagen einiger Versuchspersonen besagten jedoch trotz-
dem, daG selbst bei der kurzen Expositionszeit im Tachistoskop die durch die
beiden schwarzen Linien abgegrenzte Flache einen anderen Charakter hatte, als
die weiGe Flache der Umgebung, die objektiv doch genau dieselbe ist. Der
durch die beiden Linien eingefaGte Lichtkegel ist offenbar bereits genügend struk-
turiert, im Gegensatz zu der übrigen weiGen Flache und erhalt somit Gestalt-
charakter. Die Aussage: „Lichtschein" fand sich bei diesem Bilde allerdings nur
3mal vor, in 2 Pallen wurden Strahlen angegeben, 10% der Versuchspersonen
hatten demnach trotz der für das Erkennen etwas ungünstigen Bedingungen dieses
für den Sinn der Zeichnung doch sehr wichtige Merkmal erkannt. Von einer
Versuchsperson wurde die bemerkenswerte Aussage zu Protokoll gegeben, daG
*) Versuche, die zu diesem Zwecke an einer Klasse achtjShriger Kinder einer Dresdner
Volksschule vorgenommen wurden, bewiesen eindeutig das Verstandnis für unsere vereinfachte
Zeichnung schon in diesem Alter.
Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemittein durch Vereirfachung
215
sich die Blickrichtungen samtiicher Personen auf einen einzigen Punkt zu kon-
zentrieren schienen. lm übrigen wurde ausgesagt: zwei schwarze Linien über
dem Bild (3mal), ein Seil (1 mal), diese Versuchsperson glaubte, einen Wett-
kampf im Seilziehen gesehen zu haben. Etwa 80% der Versuchspersonen batten
von dem Merkmal „Lichtkegel" gar nichts bemerkt, dies scheint ein Beweis, daO
dieses für die Oarstellung einer kinematographischen Vorführung wichtige Be-
standstück nicht genügend zum Ausdruck gebracht worden ist. Die unter der
Zeichnung befindliche Schrift konnte in keinem Falie gelesen werden, trotzdem
es sich nur um 5 Worte mit zusammen 23 Buchstaben und 2 Zeichen handelt.
Dies nimmt nach den bereits angeführten experimentellen Ergebnissen über den
für die Lesbarkeit optimalen Buchstabenzwischenraum von R. W. Schulte nicht
wunder. In etwa einem Dritiel der Fiille wurden Buchstaben und Worte über¬
haupt nicht gesehen. Es besteht ofFenbar hier ein MiCverhaltnis zwischen der
Einwirkungskraft von Bild und Wort. Selbst wenn man sich mit Ch. v. Har-
tungen*) auf den Standpunkt stellr, daD bei Plakaten das Primare die Zeichnung
und Farbe, das Sekundare die Schrift zu sein hat, so darf die Schrift doch nicht
eine allzu untergeordnete Rolle spielen. Diese Frage soll indes hier nicht weiter
verfolgt werden, da unsere Bildvorlage des leizten Stadiums in der Entwicklungs-
reihe ohne Buchstaben und Worte gegeben war.
Die Versuchsergebnisse und ihre quantitative Auswertung von Bild 5 waren
im Gegensatz zu Bild 1 viel eindeutiger. Auch fiel die grofie Streuung in den
Aussagen weg, sie scharten sich eng um die objektiv richtigen Werte. Die rich-
tige Anzahl der abgebildeten Personen gaben 30 Versuchspersonen, also drei
Fünftel, an. 4—5 Personen wurden von 3 Versuchspersonen und 5—6 Figuren
von 9 Versuchspersonen angegeben. Folgende Tabelle moge naheres über die
angegebene Anzahl der erkannten Personen auf beiden Entwürfen zeigen:
2
Personen .
Bei dem ersten Bild:
. . . . 1 mal
dem letzten Stadium
3
« •
. . . . 2 mal . .
. . . 1 mal
4
. . . . Smal . .
. . . 4 mal
4—5
n
. . . 6mal . .
. . . 3mal
4-6
ry •
. . . . 1 mal
5
t* •
. . . . lOmal . .
. . . 30 mal
5-6
yy •
6 mal . .
. . . 9 mal
6
yy •
. . . . 5 mal . .
. . . 3mal
6—7
w
. . . . 5 mal
GO
1
yy •
. . . . 1 mal
7
„ ,
. . . . 2 mal
7-8
yy
. . . . 3mal
8—10
yy •
. . . . 1 mal
10—15
n •
. . . . 1 mal
12—15
»
. . . . 1 mal
) Ch. V. Hartungen: Psychologie der Reklame, 1921. Verlag C. E. Pöschel, Stuttgart, S. 152.
216
Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfacbung
Die Aussagen im zweiten Falie erfolgten gröBtenteils mit groOer Sicherheit
und Schnelligkeit, wahrend es den Anschein batte, daO beim ersten Bild stellen-
weise nur geschatzt werden konnte, da eine genügende Klarheit nicht zustande
kam. Im übrigen lieQ sich das folgende statistische Material aus den Aussagen
verwerten:
17 mal ist der Kinoapparat als solcher erkannt worden,
13mal wurde der Lichtstrahl erwahnt,
2 mal wurde der Lichtkegel als weiCes Dreieck gesehen,
2mal erfuhr man, dafi links über den Figuren etwas Undefinierbares sei,
der Apparat wurde in zwei Fallen als Tisch gesehen.
Dazu muB bemerkt werden, daO 9 Versuchspersonen sofort nach der Exposition
dieses letzten Bildes erklarten, dafi ihnen das Plakat von früher her bereits be-
kannt sei. Bei den Versuchen mit Entwurf 1 hatten lediglich 5 Versuchspersonen
ein gewisses Gefühl der Bekanntheit, wobei sie sich nicht klar wurden, ob das
angebiich Bekannte sich auch völlig mit dem soeben exponierten Bilde decke.
Die Bekanntheit hatte demnach in vier Fallen nicht genügt, urn irgendwelche
Erinnerungen bei Exposition des ersten Bildes an das tatsachlich durchgeführte
Plakat wachzurufen, denn jede Versuchsperson wurde nach jedem Bild gefragt, ob
es ihr vielleicht zufallig schon bekannt sei. In 2 Fallen wurde sogar spontan und
mit grofier Überzeugung erklart, dafi dieses letztere Bild etwas absolut Neues dar-
stelle und keine Beziehung zu Bild 1 habe.
Die qualitative Auswertung bewies noch deutlicher die Überlegenheit des ver-
einfachten Bildes. Wahrend bei dem letzteren Bilde der Sinn, die Idee der
Darstellung und somit auch der Zweck des Entwurfes, für kinematographische
Apparate zu werben, in den meisten Fallen richtig erkannt wurde, boten die In-
haltsangaben des ersten Entwurfes eine bunte Mannigfaltigkeit. Es wurden genannt:
Spiele, Tanze, Schlittenfahrten, Seilziehen, Kinder auf Radern, Festzug mit Wagen
in der Mitte, Landschaften, wandernde Kinder, Lehrerin mit Kindern in der
Schule, Spazierganger, Damen in Reifröcken usw. Nur in 9 Fallen wurde der
Sinn richtig gedeutet.
Die Tatsache, dafi wir es in beiden Bildern mit dem gleichen Motiv zu tun haben,
wurde verhaltnismafiig nur selien angegeben. Noch nicht die Halfte der Versuchs¬
personen bezeichnete den zuletzt exponierten Entwurf als ahnlich oder motivgleich
mit Bild 1. Es mag an dieser Stelle an eine von anderer Seite auf experimentellem
Wege gewonnene Feststellung erinnert sein. E. Rubin exponierte ein gleiches Bild
einmal positiv, das zweite Mal negativ und konnte konstatieren, dafi es nicht wieder-
erkannt wurde. Allerdings benutzte Rubin Bilder, die nicht ohne weiteres einen Sinn-
haben, bestehend aus homogenen schwarzen und weifien Feldern*). Diese Fest¬
stellung scheint uns indes nicht übertragbar auf sinnvolle Bilder, wie sie unser Ver-
suchsmaterial darstellen. Die sinnvolle Gestalt, d. h. eine Gestalt, wie sie uns er-
fahrungsgemafi gelaufig ist, lafit sich wohi im allgemeinen als etwas Eindeutiges
*) Rubin, Visuell wahrgenommene Figuren, Gyldendalske Verlag Berlin 1921.
Piorkowski, V^irkuagssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfachung 217
charakterisieren, wir werden sogar meist in der Lage sein, diese Gestalt mit
einem Wort hinreichend deutlich zu benennen, unserer Vorstellung wird es nicht
schwerfallen, sie zu reproduzieren. Anders bei einer sinnlosen Figur. Wenn
es nicht gelingt, mittels der Phantasie etwas hineinzudenken oder sich die Figur
durch einen AssimilationsprozeO verstandlich zu machen, dann ist zunachst die
klare Auffassung erschwert; ferner werden auch Vorstellung und Reproduktion
gehemmt sein. Die Bedingungen für das Wiedererkennen desselben Bildes einmal
positiv, das zweite Mal negativ sind also ganz verschiedene, je nachdem es sich
um sinnvolle oder sinnlose Figuren handelt.
Versuchen wir nunmehr, der Frage auf den Grund zu gehen, warum Bild 1
weder seinem quantitativen Inhalt nach, noch in bezug auf seinen Bedeutungs-
inhalt richtig erkannt wurde, wahrend die tachistoskopischen Experimente mit
dem anderen Bilde zu so eindeutigen und klaren Resultaten führten. Offenbar
wirken die feinen zeichnerischen Einzelheiten, wie der Künstler sie belm ersten Bild
mit lebenswarmen Humor ausgeführt hat, im Sinne einer Ablenkung. AuBerdem
können viele der zarten Linienführungen bei der Kürze der Expositionszeit über¬
haupt nicht erkannt werden, da der Reiz nicht kraftig genug ist, um ins BewuOt-
sein eintreten zu können. Vielleicht dürfte auch die Tatsache, daO mehr Augen-
bewegungen erforderlich sind, die Konturen des ersten Bildes und damit die Ge¬
stalten zu erfassen, als bei Bild 5, eine gewisse Bedeutung für den geringeren
Grad des Auffassungsvermögens haben. Diese Tatsache bestatigt sich allerdings
erstbei langerem Betrachten der Bilder, da Blickbewegungen bei tachistoskopischen
Experimenten ja nicht in Frage kommen!
Gehen wir nunmehr von Entwurf Nr. 5 aus! In diesem Bilde herrscht eine
ungeheure Ruhe und Monumentalitat. Dies wurde sogar mehrere Male nach
der tachistoskopischen Exposition als die das Bild beherrschende Stimmung aus-
drücklich hervorgehoben. Der Künstler hat das Kontrastgesetz in geschickter
Weise zur Hebung der Auffalligkeit ausgenutzt. Die Figuren erscheinen subjektiv
gröBer als sie in der Tat sind, die Ursache für diese Tauschung glaubt man
darin zu sehen, daO der Reiz, hier also die Figuren, durch Irradiation auch die
benachbarten Netzhautelemente, die nicht direkt von dem Lichtstrahl getroffen
werden, ergreift. Hinzu kommt das Moment der Sinnfalligkeit. Der Lichtkegel,
der aus dem Apparat strömt, ist nur auf diese Weise wirklich einleuchtend dar-
stellbar, dadurch wird das Verstandnis für die Zeichnung sofort wesentlich ge-
fördert. Überhaupt ist die Dunkelheit des Raumes, wie sie durch die negative Aus-
führung des Bildes zum Ausdruck kommt, dem Wesen einer kinematographischen
Aufführung mehr adaquat. Von ganz entscheidender Bedeutung scheint es haupt-
sachlich zu sein, daO der Künstler mit sicherem Instinkt sehr schone und straffe
Proporiionen geschaffen hat. Nach Bühler erweist sich „Der Proportionsfaktor
als eins der wichtigsten, wenn nicht schlechthin als das wichtigste Gestaltungs-
prinzip der Raumwahrnehmung"*). Diese These findet in unserer Zeichnung
*) Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen, 1. Bd., Stuttgart 1913, W. Speman, S. 55.
218 Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durcb Vereinfachung
eine feste Siütze. Auch die „parallele Orientierung*, um weiter mit Bühler
zu sprechen, die in einigen Teilen der Zeichnung vorherrschend ist, z. B.
bei Darstellung der drei Kinder, tragt bedeutend zur leichten und schnellen
Erfassung dieses komplexen Bildes bei. Die „paralelle" und die „symmetrische
Orientierung" machen bei Gestaltvergleichungen (um solche handelt es sich bei
den Versuchen Bühlers) die richtige Zuordnung homologer Teile der verglichenen
Figuren besonders leicht, sie stellen besonders einfache Zuordnungssysteme dar,
keineswegs die einzigen, wohl aber die natürlichsten, die uns besonders nahe-
liegenden. Nebenbei sei bemerkt, daO diese ausgezeichneten Falie der Orientierung
nicht durch einen Komplex von Parallel- oder Symmetrie-„Empfindungen“ zu-
stande kommen, dies hebt Bühler ausdrücklich hervor*).
Die Wirkung der Parallel- und der Symmetrie-Orientlerung auf das Auf-
fassungsvermögen nach Umfang und Genauigkeit, die Bühler bei einfachen geo-
metrischen Figuren experimenten feststellen konnte, bestatigte sich, wie wir
sahen, auch bei Bildkomplexen, wie sie unseren Versuchen zugrunde lagen.
Von diesen Faktoren, die Auffassung und Erinnerung erleichtern, ist vom
Künstler bei dem ersten Entwurf kein Gebrauch gemacht worden. Wir sahen zwar
eine sehr anmutige Szene dargestellt, die sicher geeignet sein kann, wenn auOere
Verhaltnisse und die Stimmung des Betrachters günstige sind, unsere Auf-
merksamkeit zu erregen und auch zu fesseln. Wie die tachistoskopischen Ver-
suche indes gezeigt haben, wurden weder die einzelnen Elemente noch der Sinn
des Ganzen bei flüchtigem Betrachten aufgefaöt. Da im Gebiet des Werbe-
wesens indes mit der Flüchtigkeit des Blickes gerechnet werden muö, ist der
Zeichnung der Vorzug zu geben, die den Bedingungen leichterer Auffassungs-
möglichkeit besser entspricht. So wird im allgemeinen eine auf seine einfachsten
Elemente zurückgeführte Zeichnung schneller und intensiver einwirken und dem-
zufolge besser erinnert und sicherer wiedererkannt werden, als das gleiche
Motiv in naturaiistischer Ausführung. Zu bedenken ist ferner auch, daO eine
Wirkung auf die Ferne, auf die bei Plakaten unbedingt Rücksicht genommen
werden muO, nicht in dem MaBe vorhanden ist, wenn die feinsten Linien des
Bildes möglichst naturgetreu wiedergegeben sind, als wenn Wesentliches betont,
Unwesentliches dagegen weggelassen wird. Nicht nur die zeichnerischen Fein-
heiten erschweren oder verhindern gar diese Wirkung auf die Entfernung, sondern
auch besonders das Fehlen der die Auffassung und das Gedachtnis begünstigenden
Proportionen und einer „parallelen Orientierung" tragen dazu bei, den Klarheits-
grad herabzumindern. Auch der Versuch, den Lichtkegel als UmriCgestalt
deutlich zu machen, dürfte als miClungen betrachtet werden müssen. Das Motiv
des Bildes fordert geradezu zu negativer Darstellung heraus, nicht nur um eine
eindeutige und sinnfallige Wiedergabe des Lichtkegels zu erhalten, sondern um
eine der ganzen Situation gemafie Stimmung zu erzeugen.
*) Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen, S. 53 ff.
Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklatnemittein durch Vereinfachung 219
Nach SchluO der tachistoskopischen Versuche wurden die Versuchspersonen
nun noch gefragt:
1. Welcher von den 5 Entwürfen rein nach astheiischen Gesichtspunkten,
also ohne irgendwelchen Zweckgedanken, der schönsce und
2. welcher der für Reklamezwecke am besten geeignete sei.
Diese Fragen wurden leider nicht von samtlichen Teilnehmern beantwortet.
Es liegen 36 Antworten vor, die folgendes besagen:
Am schönsten
: Reklametechnisch am besten:
Bild
Nr. 1 .
. . . . 25 mal
.Omal
i>
n 2 .
. . . . 4 mal
2 mal
ï»
„ 3 .
. . . . 3mal
.4mal
n 4 .
. . . . Omal
.4mal
* »
„ 5 .
. . . . 4 mal
.26 mal
Hiernach zu
urteilen.
würde eine gewisse
Diskrepanz zwischen dem Schön-
heitsurteil und dem ZweckmaCigkeitsurteil bestehen. Immerhin darf man bei der
Gemischtheit der Versuchspersonen*) aus diesen Urteilen keine zu weitgehenden
Folgerungen ziehen oder gar die Hoffnung auf wichtige Aufschlüsse aus den
Antworten erwarten. Auch für die differentielle Psychologie sind die Reaktionen
der Versuchspersonen kaum von Bedeutung. Was sie aber deutlich auch bei
kritischer Betrachtung samtlicher Entwürfe besagten, war die Überlegenheit des
letzten Stadiums, Bild Nr. 5, gegenüber den anderen Zeichnungen der Entwick-
lungsreihe in bezug auf das Urteil über den höchsten Grad der Einwirkung.
Abstrahieren wir indes nunmehr von diesem Beispiel und fassen unser Ur¬
teil zusammen, so laOt sich der Satz aufstellen:
Bei Piakaten und Inseraten (in letzter Linie bei jedem zur Werbung gehörigen,
bildlich ausgedrückten Mittel) lafit sich eine Wirkungssteigerung erzielen, wenn
man durch Betonung wesentlicher Teile und andererseits Weglassung von für
das Verstandnis unwichtiger Bestandstücke eine Vereinfachung der zeichnerischen
Linienführung durchführt, deren Grenze dort liegt, wo die beabsichtigte Gestalt-
auffassung nicbt mehr zustande kommen würde. Diese Wirkungssteigerung be-
zieht sich sowohl auf die sinnliche Einwirkung, wie auch auf die gedachtnis-
maCige Verarbeitung und das Wiedererkennen.
Rundschau
Zur Psychotechnik der Frauenberufe
Wege u. Beispiele neuer weiblicher Berufsarten
Von Professor Dr. Hans Henning,
Vorstand d. Psycholog. Insiituts d. Techn. Hochschule Danzig
Die allerschwierigsten Falie einer lang-
jahrigen Beratungspraxis bildeten Frauen,
welche die wenigen stereotypen Wege: Arz-
tin, Lehrerin, Büro nicht einschlagen können
oder wollen: sie besitzen geistig oft ein recht
gutes Material, jedoch passen sie in keinen
der bestehenden Berufe hinein.
*) Über die Zusammensetzung der sich an unseren Experimenten beteiliegenden Versucbs-
personen siehe: H. Piorkowski, Beitrage zur experimentellen Reklamepsychotechnik, „Prakt.
Psychologie" III. Jahrg. Heft 12, 1022.
220
Rundschau
Das hat verschiedenerlei Gründe. Fast samt-
licbe Berufe wurden im Laufe der Jahrbunderte
von Mannern nach mSnnlichen EigenschaTten
abgegrenzt und immer scharPer nach mSnnIichen
BedürPnissen difTerenziert. In diese manniichen
Formen drangen sicb plötzlich groQe Massen
von Frauen hinein, flnden aber begreiflicher-
weise, da(! ihrer weiblichen Eignung, Leistungs-
fSJiigkeit, Arbeitsweise, Interessenverieilung und
Natur diese manniiche Art gar nicht liegt. Es
ist die alte Sage vom Prokrustesbett, aber die
meisten Frauen suchen die Ursache nicht in
den falschen Proportionen des Gestelles, son-
dern in sich seibst. Irrigerweise trosten nam-
hapte Führerinnen der Frauenbewegung ihre
leidenden Geschlechtsgenossinnen: inPoIge der
jahrbundertlangen Versklavung seien die Frauen
noch nicht angepaflt, aber das werde schon
kommen. Tatsacblich ist der Unterschied
zwischen Mann und Frau ein Geschlechts-
koePflzient*), und dieser ist starker als der Ver-
erbungskoePflzient und als jede Milieuwirkung
der Vergangenheif. Wo Frauen den Mannern
gleichstanden — italienische Renaissance, alle-
zeit in Holland usP. —, da blieb der Unterschied
in gleicher Starke trotzdem bestehen, weil er
genau so biologisch bedingt ist wie derjenige
zwischen dem gleich lange domestizierten Hahn
und Henne, Stier und Kuh**).
Eine Besserung der beruflichen Lage kann
die Frau nur erreichen, wenn sie ihre Eig¬
nung und Natur nicht verkennt, sondern
klar durchschaut und darauf ihre Berufs-
form abstimmt.
Neue Frauenbefufe
DaO dies praktisch tnöglich ist, sei an
einigen Beispielen gezeigt. MehrereBota-
nikerinnen wünschten ein Tatigkeitsfeld
auCerhalb der wissenschaftlichen Theorie.
Da sie physisch nicht zum vollen Betrieb
einer Handelsgartnerei ausreichten (Be-
giefien nach Sonnenaufgang und -untergang,
auch Sonntags, schwere Arbeit in Sonnen-
glut, Autoritat über derbes Personal), sollten
sie nur zwei Pflanzenarten kultivieren: eine
*) G. Heymans, Die Psychologie der Frauen.
Winter, Heidelberg 1910. (Das gerechteste und
wissenschaPtlichsie Werk über die Frau.) Über
die Vergangenheit .vgl. J. J. BachoPen, Das
Mutterrecht. Basel 1897. Alle Literatur bei
O. Lipmann, Psychische Geschlechtsunter-
schiede. Leipzig 1917.
**) Gina Lombroso, Die Seele des Weibes.
S. 295. FrankPurt a. M. 1922.
Frühlings- und eine Herbstpflanze, und zwar
möglichst eine Nutz- und eine Luxuspflanze.
Dazu reichten sie physisch aus. Diese soll¬
ten sie tnit ihrer botanisch-akademischen
Bildung hochzüchten, z. B. die grün blühende
Nelke noch grüner, die Melone noch saftiger.
Dabei bleibt auDer der wissenschaftlichen
Botanik genügend Zeit auch für andere
geistige Bedürfnisse. Wie ich höre, haben
Madchen gebildeter Stande in England diese
Idee weit durchgeführt und beherrschen in
den Wochen ihrer Erntezeit den ganzen
Markt. In anderen Fdllen wurde die aus-
schlieOliche Züchtung von Obstsorten usw.
empfohlen und erfolgreich durchgeführt.
Auch sonst ist die Lage sehr entwicklungs-
pahig. InPoIge des Krieges sind über 50 Prozent
der Garten- und Luxuspflanzen aus Deutschland
verschwunden. PalmengewSchse und andere
tropische Arten werden mit Gold aufgewogen.
Die Gartenbaukunst ist erstarrt: die GewScbse
werden vom Ganenarchitekten nach geometri-
scben Gesichtspunkten angepflanzt und vom
Gartner nach geometrischen Gesichtspunkten
beschnitten; die biologischen BedürPnissé der
Pflanzen werden-in vielen Provinzen — einige
Ausnahmen zugegeben — überhaupt nicht mehr
berücksichtigt.
Dann wurde Zoologinnen — und die Frau
eignet sich ausgezeichnet zur Tierzucht —
empfohlen, auBerhalb der GroDstadt auf
einem Hof nur Hühner resp. Geflügel zu
züchten. GroIJvieh und Landbewirtschaftung
würde die meisten Frauen überlasten. Mit
ihren zoologischen Kenntnissen sollten sie
die Rassen veredeln, Seuchen erforschen
und verhüten, hygiënische Bedingungen aus-
proben, biologische und tierpsychologische
Forschungen über Hühner, Ganse, Enten,
Tauben, Truthahne anstellen, zugleich über
deren Parasiten.
Beide Kategorien erhielten bei den heu-
tigen Ernahrungsverhültnissen leicht das
Kapital zur Seibstandigmachung (zum Teil
zinslos gegen die Verpflichtung, den Geld-
geber zu ortsüblichen Preisen standig mit
Eiern, Obst usf. zu beliefern).
Andere Frauen gingen von sich aus eigene
Wege ohne abgestempelte Vorbildung. Viele
Rundschau
221
kamen auDerst erfolgreich in groDen Ver-
lagsunternehmungen, als Lektorinnen
usf. unter. Einige benutzten die heutige
Sammelwut und wurden Grossistinnen für
Briefmarken und Notgeld mit phano-
menalem Finanzerfolg. Hierher gehort die
Spezialisierung auf Kinderphotographie
(mit Abonnement: alle halbe Jahre werden
die Kinder photographiert), aufWohnungs-
photographie u. a.
Reform der Frauenberufe
Die Frau hat es weitgehend versaumt, die
Berufsform nach eigenen weiblichen Be-
dürfnissen zu difPerenzieren, sogar in den
ihr allein vorbehaltenen Berufsgruppen.
Ein Beispiel nur. Eine Krankenschwester
im Sinne des Volksurteils muQ sich durch
Scbrubben und übermaQige Körperarbeit so ab-
placken, daO sie abends wie ein Besenstiel ins
Bett fSlIt; sie muB sicb mit sehr wenig Schlaf
begnügen und dabei mit bescheidener, einför-
miger Kost auskommen. Indessen benötigt eine
Krankenpfiegerin, welche mit zarter Hand Ver-
bSnde aniegen soll u. dgl., schon psychomoto¬
risch andere Eignungen (zielsicbere kleine PrS-
zisionsbewegungen) als die Putzfrau und Grob-
arbeiterin (Psychomotorik für groBe, starke
Bewegungen). Die erstere soll sich auch in
den gebildeten Kranken sensitiv einfühlen, seine
Bedürfnisse mit Menschenkenntnis verstehen,
geistige Suggestionen ausüben, trösten, ablenken
usf. — geistige Veranlagungen, welche man
schwerlich bei einer Reinemachefrau suchen
wird, und die sich auch in derTat sebr selten
mit der Eignung zur schweren Muskelarbeit
paaren. Diese Doppelforderung steht etwa auf
derselben Linie, wie wenn man vom Pfarrer
oder Mikroskopiker forderte, sie müBten ein
Examen in Athietik besteben. Die Verkoppelung
rührt daber, daB ehemals die Krankenschwestern
von religiösen Orden gestellt wurden, welche
auf die Unterbindung sinnlicber Triebe durch
Strapazen Wert legten*). Diese auBerberufliche
Ordensregel wurde in sp3teren Jahrbunderten
•) Auf dem Frankfurter Berufsberatungskon-
greB 1921 bat ein Zeitungsreporter mich miB-
verstanden und mir eine Poiemik gegen die
katholiscbe Kirche angedichtet. Das liegt mir
fern: ich wünschte, durch Strapazen und Sport
wQrde in ganz Deutscbland, namentlich bei der
Jugend, die Erotik und Unsittlichkeit einge-
dSmmt. Aber desbaib verlange ich noch nicht,
daB jeder Akademiker beruflich als Scheuer-
frau wirken kann und muB.
vom evangelischen Diakonissenium als berufs-
wichtig übernommen und überboten, ebenso
vom jüdischen Diakonissentum. Infolge der
Revolution 1018 ist die berufliche Abgrenzung
aligemein verSndert.
Analog differenziert die Frau auch sonst ihre
Berufsform nicht nach ihren Bedürfnissen,
wahrend der Mann ihm nicht liegende Berufs-
anforderungen sofort an andere Berufskategorien
abgibt. Zudem liebt die Frau die ausgetretene
HeerstraBe.
Diese DifPerenzierung muf3 die Frau seibst
lemen, denn in vielen Pallen wird der Mann
da wegen seiner mannlichen Einstellung
nicht helfen können. Die Wege sind kiar
vorgezeichnet: 1. Beschrankung auf Spe-
ziaiitaten (z. B. botanisch, kaufmünnisch),
WO die jetzige Gesamtform nicht paBt. 2. Ist
diese Spezialitüt zu klein, dann Hinzu-
nahme anderer naher Speziaiitüten nach
eigener Eignung. 3. Umformung der be-
stehenden Frauenberufe nach dem jahr-
hundertalten Rezept des Mannes: Trennung
der physischen Arbeit in grobe und Pra-
zisionsarbeit, Abgabe dergrobmechanischen
Arbeit an die Maschine oder an neuzugrün-
dende subalterne Berufsformen, Gruppie-
rung der manuellen QualitStsarbeit und
geistigen Arbeit für sich, deren allmahliche
Höherentwickiung mit entsprechender Ein-
schaltung neuer mittierer Berufsformen.
4. Protest gegen die heutige Massen-
z ü c h t u n g von ungeeigneten Anwürterinnen,
z. B. des ungeeigneten Büropersonals durch
honorarsüchtige und unverantwortliche pri¬
vate ,Handelslehrer“, weil durch die hohen
Prozente der Ungeeigneten der ganze Stand
herabgedrückt und an der Höherdifferenzie-
rung gehindert wird. 5. Klarer, kritischer
Biick gegenüber Phrasen (z. B. „ich stu-
diere Nationalökonomie und werde dann
etwas Soziales"). 6. Erforschung der Be-
dürfnisfrage (z. B. muBte ich bereits über
hundert Anfragen, ob es private Anstalten
für leicht schwachsinnige Kinder aus gebii-
deten Standen gebe, verneinen. Oder: eine
tüchtige Jugendleiterin sah, daB die weib¬
lichen Lehrmadchen sich nach der Arbeits-
222
Rundschau
zeit auf der StraQe herumtrieben und sittlich
verkamen; sie gründete ein Heim mit Be-
schaftigung, Bildung und Unterhaltung, wel-
ches wohl demnachst von einer GroDstadt
kommunalisiert wird). 7. Wichtigstes: ein
Typus von Self made woman ist nötig.
Die alten ausgetretenen Wege genügen langst
nicht mehr, auGerdem zwingt jede Valuta-
anderung neue Frauenmassen zur Berufs-
tatigkeit. Es müssen Pfadfinderinnen er-
stehen, welche neue, bürokratisch noch nicht
abgestempelte Wege im Sinne der obigen
Ausführungen gehen und ihrem Geschlecht
als neues Beispiel dienen. NeuschöpFungen
— das lehrt die jahrhundertalte Berufs-
geschichte des Mannes — lassen sich (wie
Erfindungen) nicht einfach verordnen und
organisieren, sondern nur in Pionierarbeit
des Selfmadetums erringen.
Die Mitwirkung des Arztes bei der Aus*
arbeitung und Durchführung psycho-
technischer Eignungsprüfungen
Eine Rundfrage, bearbeitet von
Andreas SchuIhoF
Assistent am Laboratorium führ industrielle Psychotechnik
der Tecbnischen Hochschule Charlotienburg
DerLehrstuhl für Werkzeugmaschinen
und Fabrikbetriebe an der T. H. Berlin
ware, im allgemeinen Interesse, sehr
dankbar für weitere Beantwortungender
im nachfolgend wiedergegebenen Frage-
bogen angeführten Fragen, von seiten
solcher Industrieunternehmungen, die
ihre Arbeiter- bzw. LehrlingsanwSrter
psychotechn. Prüfungen unterziehen.
Vom Lehrstuhl für Werkzeugmaschinen
und Fabrikbetriebe an der Technischen
Hochschule zu Berlin (Professor Dr.-Ing. G.
Schlesinger)wurde an eine gröDereAnzahl
industrieller GroObetriebe und technischer
Behörden der verschiedensten Branchen
folgendes Schreiben mit zugefügtem Frage-
bogen zugesandt:
Gestatten Sie freundlichst, daG wir Ihnen
den beigefügten Fragebogen mit derBitte um
baldmöglichste Beantwortung unterbreiten.
Wir sind aufgefordert worden, sowohl
aus unserer persönlichen Erfahrung als
auch auf Grund der bisherigen Erfahrungen
industrieller Prüfstellen Bericht zu erstatten,
in welcher Weise der Arzt bisher an der
eigentlichen psychotechnischen Prüfung mit-
gewirkt hat.
Wir sind wohl unterrichtet darüber, daG
bei den meisten Industriewerken, Handels-
hausern. Banken usw. der psychotechnischen
Untersuchung die vertrauensarztliche vor-
auszugehen pflegt, doch sind uns nur
ganz vereinzelt darüber Nachrichten zuge-
kommen, daG auch die eigentliche psycho¬
technische Untersuchung, die die berufs-
wichtigen Eigenschaften der Prüflinge zu
erfassen sucht, von Arzten ausgearbeitet,
ausgeführt und überwacht wird. An den
meisten Stellen dürften Ingenieure, Fach-
psychologen oder Psychotechniker die Lei-
tung des Prüfwesens in Handen haben. Um
aber zahlenmaGige Angaben über die Be-
teiligung der Arzte am psychotechnischen
Prüfwesen zu erhalten, waren wir für
schuelle Auskunfterteilung durch Ausfüllung
des Fragebogens sehr dankbar.
Fragebogen
1. Findet im Rahmen der dortigen Unter¬
suchung derLehrlings- sowie-sonstigen
Stellenanwarter obligatorisch auch
eine arztliche Untersuchung statt?
2. Wird die psychotechnische Unter¬
suchung seibstandig und unabhangig
von der arztlichen vorgenommen?
3. Ist der Arzt bei der Ausarbeitung
der psychotechnischen Prüfverfahren
beteiligt?
4. Führt der Arzt auch psychotechnische
Prüfungen seibstandig aus?
5. Ist der Arzt mit der Überwachung und
Kontrolle des psychotechnischen Prüf¬
wesens beauftragt?
6. Wem untersteht die Leitung und Ver-
antwortung des Prüfwesens; einem
Ingenieur, einem Psychologen, einem
Arzt?
Rundschau
223
7. Ist neben dem Ingenieur ein Psycho¬
loge als Beirat tatig? oder neben dem
Psychologen ein Ingenieur bzw. Arzt?
8. In welcher Weise ist das Prüflabo-
ratorium in die Organisation des Be-
triebes eingegliedert?
Wie ersichtlich war dabei auöer der Frage
der Mitarbeit des Arztes auch die Ver-
teilung der psychotechnischen Betatigung
auf Techniker und Fachpsychologen im Auge
behalten.
Bisher sind von folgenden Firmen zur
Bearbeitung der Frage verwertbare Ant-
worten eingelaufen:
Allgem. Elektrizitats-Gesellschaft Berlin,
Benz-Werke, Gaggenau,
A. Borsig G. m. b. H., Berlin-Tegel,
Daimler-Motoren-Gesellschaft, Stuttgart-
Untertürkheim,
Deutsche Maschinenfabrik A.-G., Duis¬
burg,
Deutsche Werke A.-G., Spandau,
Friedrich Krupp A.-G., Gufistahlfabrik,
Essen,
Ludwig Loewe & Co., Berlin,
Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, A.-
G., Werk Nürnberg,
Osram G. m. b. H., Berlin,
Reichseisenbahnverwaltung, psychotech¬
nische Versuchsstelle, Berlin-Grune-
wald,
„Rheinpietall*, Düsseldorf-Derendorf,
Siemens & Halske A.-G., Wernerwerk,
Siemensstadt,
TelegraphentechnischesReichsamt,Berlin,
Fritz Werner A.-G., Berlin-Marienfelde.
Über das Ergebnis kann folgendes mit-
geteilt werden:
Frage 1: in bezug auf Lehrlinge durch-
weg bejahend beantwortet. Eine Firma, die
ungelernte Arbeiterinnen in groIJer An-
zahl in ihrem Betriebe auf Grund psycho-
technischer Auswahl beschaftigt, gibt an, die-
selben nicht arztlich untersuchen zu lassen.
Frage 2: Die psychotechnischen Unter-
suchungen werden bei allen Firmen all-
gemein unabhangig von der arztlichen vor-
genommen. Nur eine Firma gibt an, daD die
Arzte ihres Krankenhauses in Ausnahme-
fallen*) zur Verfiigung stehen.
Fragen 3, 4, 5: Die Beteiligung
des Arztes an der Ausarbeitung,
Ausführung oder Überwachung der
psychotechnischen Prüfungen wird
in allen Antworten verneint.
Frage 6: Die Verantwortung und Leitung
des Prüfwesens untersteht: in einem Falie
einem Oberregierungsbaurat, in einem Falie
einem Doktor-Ingenieur (psychologisch ge-
schult) in einem Falie einem Diplom-ln-
genieur, in zweiFallen einem Ingenieur, und
in allen übrigen Fallen sind nur allgemeine
Angaben, wie Werkschulleitung, Betriebs-
direktion oder Betriebsleitung mitgeteilt, die
aber eindeutig als technische Organe er-
kenntlich sind. Ausnahme bilden noch zwei
Antworten, bei denen jedoch bei
Frage 7 einmal ein Psychotechniker (In¬
genieur) das andere Mal ein Fachpsychologe
(Dr. phil.) angegeben sind. Sonst wird bei
dieser Frage entsprechend der Antworten
auf Frage 6 überall der Ingenieur benannt,
wobei in zwei Fallen eine psychologische
Schulung desselben betont wird.
Frage 8: In einem Falie, wo die Leitung
der Werkschule für die Prüfungen verant-
wortlich ist, wird als Ausführender ein
Psychologe angegeben. Eine Firma zieht den
Arzt in Ausnahmefallen zu (siehe bei Frage
2). In einem Falie ist neben dem leitenden
Ingenieur ein Psychologe als Beirat und ein
Psychologe als wissenschaftlicher Hilfsar-
beiter tatig. Bei einem Werk, wo die Leitung
einem psychologisch geschulten Doktor-In¬
genieur untersteht, ist auch der mitarbeitende
Ingenieur psychologisch geschult.
Frage 9: Insofern diese letzte Frage über¬
haupt beantwortet wurde, lauten die Ant¬
worten— wenn auch mit verschiedenen Aus-
drücken — mit einer Ausnahme dahin, daO
*) wohl bei pathologischen.
224
Rundschau
das psychotechnische Prüflaboratorium der
Betriebsleitung angegliedert ist. In detn einen
Ausnahmefalle ist das Laboratorium als un-
abhangig vom Betriebe, aber in engem Zu-
sammenarbeiten mit demselben bezeichnet.
Ein Werk hat den bei ihm verwendeten
Vordruck des arztlichen Befundes auch zu-
geschickt. Hier gibt der Vertrauensarzt der
Pabrik, bevor der Lehrlingsanwarter zur
Eignungsprüfung zugelassen wird, ein Attest
über die „Tauglichkeit für den gewahiten
Beruf“. Darunter ist, wie aus den übrigen
Befundpunkten hervorgeht, zu verstehen,
daö der Arzt aufGrund seiner Diagnose die
eventuellenegativeindikationhervorzuheben
hat, aber noch durchaus nichts darüber aus-
sagt, daO der Anwarter für den gewahiten
Beruf auch in irgendeinem MaOe oder über¬
haupt geeignet ist. Dies ist — wenn es aus
den eingelaufenen Antworten sonst auch
nicht so klar hervorgeht — im allgemeinen
der Zweck, der bei fast allen Werken obli-
gatorischen arztlichen Untersuchungen. Der
Arzt hat wohl zufolge seiner Fachkenntnisse
— die sich besonders auch auf das Gebiet
der Gewerbehygiene erstrecken werden —
die Aufgabe, einer Schadigung der Gesund-
heit der Anwarter, wie auch einer Ge-
fdhrdung der übrigen im Betriebe Beschaftig-
ten dadurch vorzubeugen, daC er die zu¬
folge körperlicher oder neuropathischer Ge-
brechen bzw. durch ungenügende Ent-
wicklung und Widerstandsfahigkeit zu einem
gewahiten Beruf Ungeeigneten nicht zulüCt.
Dies ist aber mithin auch die Grenze bis
zu welcher er in der Frage der Eignungs-
untersuchung mitsprechen kann, insofern er
nicht — auCer seiner medizinischen Vor-
bildung — auch die Probleme der Arbeits-
psychologie und die technischen Fragen der
menschlichen Berufsarbeit eingehend stu-
diert und praktisch verfolgt hat.
Allrussische Konferenz fflr wissen-
schaftliche Arbeitsorganisation und
BetriebsfQhrung
Am 15. April 1923 wird in Moskau eine
allrussische Konferenz für wissenschaftliche
Arbeitsorganisation und Betriebsführung
stattfinden. Das Programm der Konferenz
enthalt;
1. Einen allgemeinen Informationsbericht
über die Institute für wissenschaftliche
Arbeitsorganisation.
2. Organisation des Leitungsapparates.
3. Rationalisierung der Betriebsführung
(technische und wirtschaftliche).
4. Psychophysiologie der Arbeit.
5. Die Vorbereitung der Arbeitskraft.
(Das professionelle Anlernen, die Vor¬
bereitung der Administratoren, die
Methoden der Berufsauslese.)
6. Methodologie der Arbeit auf dem Ge¬
biet der wissenschaftlichen Arbeits¬
organisation.
a) Die Prinzipien der Forschungs-
arbeit.
b) Die Prinzipien der Organisations-
arbeit in UnternehmtKigen und
Instituten.
7. Die organisatorische Verbindung der
Institute, welche die wissenschaftliche
Arbeitsorganisation untersuchen und
anwenden.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W, Moede und Dr.C.Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafte 14. — Verlag von S.Hirzel in Leipzig. — Druckvon Breitkopf & Hdrtel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. MAI 1923 8. HEFT
Die PraktUctae Psychologie erscheiot In roonatlichen Heften lm Umfange von zwei Bogen. Preia des Malheftes 2000 Mark
furs Inland. Fürs Ausland besondere PreUe. (Preis be! unmirtelbarer Zustelluog unter Kreuzband lm loland elnschlleOlIch
Österrelch-Ungarn 2200 Mark.) Bestellungen nefamen alle Buchhandlungen, die Post aowle die Verlagsbucbhandlung entgegeo.
Anzelgen vermittelt die Verlagabuchbandlung S. Hirzel In Lelpzlg, KönlgatraOe 2. Poatacbeckkonto Leipzlg 226. — Alle
Manuakrlptsendungen und darauf bezügliche Zuacbrlften alnd zu rlcbten an die Adrease der Scbrlftleitung: Prof. Dr. W. Moede
und Dr. C. Piorkowskl, BerlinWSO, LultpoldstraOe 14.
Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der
Osram G. m. b. H. Kommanditgesellschaft, Pabrik S
Von Dr. W. Ruffer, Berlin
D ie Bewertung der Ergebnisse der psychotechnischen EignungsprüFung ist
neben der Festlegung der Prüfungsmethoden selbst von einer auOerordentlich
groOen Wichtigkeit. Über Auswertungsverfahren in dem Psychotechnischen
Laboratorium der Technischen Hochschule zu Charlottenburg ist bereits in dieser
Zeitschrift berichtet worden*). Desgleichen hat u. a. Dr.-Ing. A. Schreiber über
Auswertung seiner Eignimgsprüfungen für Lokomotivführer im sachsischen Eisen-
bahnwesen berichtet, und er weist auf die Bedeutung der Integralkurve als
Wertungsgrundlage hin**). Ein ahnliches Bewertungsverfahren ist auch von dem
Psychotechnischen Laboratorium der Osram G. m. b. H. Kommanditgesellschaft,
Pabrik S, eingeführt worden.
I. Apparate und Verfahren
Bevor auf das Bewertungsverfahren selbst eingegangen wird, seien zunachst die
zur Prüfung benutzten Apparate und Verfahren der Osram, Fabrik S, für die eine
objektive mathematische Bewertung möglich und durchgeführt worden ist, kurz
beschrieben.
a) Sehscharfeapparat (Abbildung 1)
Der Prüfapparat besteht aus einer MeBbank, die vorn mit einem Schauloch
versehen Ist, hinter welchem sich eln Rahmengesteli verschieben laOt. Eine Anzahl
Wolframdrahte verschiedener DurchmessermaOe sind im vordersten Rahmen
eingespannt, eine weiCe Tafel dient als Hintergrund. Der Rahmen mit den
Wolframdrahten ist auswechselbar und wird bei der Prüfung nacheinander durch
noch zwei andere mit Wolframdrahten anderen Querschnittes ersetzt. Der Prüf-
ling soll angeben, wieviel Drahte er bei stets konstanter Beleuchtung in den
einzelnen Rahmen sieht. Bewertet wird die gröCte Entfernung, auf die der
Prüfling die richtige Anzahl der Paden angibt.
•) Herwig, Auswertungsverfahren bei der psycbotechnischen Eignungsprüfung, Prakt. Psycho¬
logie, 2. Jahrgang, S. 45.
**) Dr.-Ing. A. Schreiber, Mitteiiungen aus dem Prüfungslaboratorium für Berufseignung bei den
Sichsischen Staatseisenbahnen. Verlagsabteilung des Vereins Deutscher Ingenieure, Berlin 1919.
P P-IV, 8 16
226 RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H.
b) Prüfung des AugenmaOes
Das AugenmaB wird mittels dreier Apparate festgestellt:
Streckenteiler (Abbildung 2),
Mittelpunktbestimmungs-Apparat (Abbildung 3),
Kreissiebenteiler (Abbildung 4),
Beim Streckenteiler wird verlangt, eine Strecke von 10,2 cm zu halbieren und zu
dritteln; bei dem Mittelpunktbestimmungs-Apparat ist der Mittelpunkt eines Kreises
von 8 cm Durchmesser aufzusuchen, und bei dem Winkelprüfer ist mittels sieben
Drahten eln Kreis in sieben gleiche Sektoren einzuteilen.
Abbildung 1. Sehschirfeapparat
c) Tastsinnpriifer (Abbildung 5)
Der Prüfling hat hier zwei Ringplatten auf genau die gleiche Höhe ein-
zurichten. Wahrend die linke Hand die Stellscheibe bedient, urn die Höhe des
inneren Zylinders zu verandern, kontrolliert der Zeigefinger der rechten Hand
die Ausrichtung der beiden Platten, indem er von einer zu anderen gleitet*).
d) Prüfung der verteilten Aufmerksamkeit
Hier sind aus einem Kasten heraus verschiedenartig gestaltete Glasstabe zu
sortieren und zu zahlen. Gleichzeitig sind zwei Sanduhren zu beobachten und, nach-
dem sie ausgelaufen sind, rechtzeitig umzudrehen. Bewertet wird die Zeit und die
Anzahl derFehler beim Sortieren, beim Zahlen und beiderUmstellung der Sanduhren.
*) Vgl. Praktische Psychologie, 1. Jahrgang, Seite 13.
Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G. m. b. H. 227
e)PrüfungderArbeitsschnelligkeit
bei einfachen Verrichtungen
Die Prüfung erfolgt mittels dreier
Verfahren. Bei dem ersten handelt es
sich darum, möglichst schnell mit bei¬
den Handen je ein Kupferstabchen aus
einer gefüllten Schachtel in die
numerierten Felder einer Tafel
zu legen. Bei dem zweiten Ver¬
fahren hat der Prüfling die Auf-
gabe, mit einer Pinzette feine Abbiidung 2. streckenteiier
Molybdanstabchen in die Mitte
der Karos zu bringen. Bei dem dritten Verfahren ist mit beiden Handen je eine
Kugel in systematisch angeordnete Vertiefungen einer Unterlage möglichst schnell
zu legen, wobei mit der rechten Hand die Belegung der Platte rechts oben und
mit der linken Hand die Belegung links unten angefangen wird. Bewertet wird
bei allen drei Verfahren die gebrauchte Zeit.
f) Tremometer (Abbildung 6)
Das Tremometer*) dient zur Prüfung der Handführung unter gleichzeitiger
Kontrolle durch das Auge. Bei diesem Prüfgerat muB der Prüfling mit einem
Metallstift durch verschieden geformte Schlitze hindurchfahren, ohne die Rander
der Schlitze zu berühren, Bewertet
wird die Anzahl der Schlitze, die der
Prüfling einwandfrei mit dem Metall¬
stift durchlaufen hat.
g) Prüfung der technischen
Auffassung
Drei Apparate:
Libelle (Abbildung 7),
Röhrenapparat (Abbildung 8),
Winkelirieb (Abbildung 9).
Libelle: Hier befindet sich
eine Libelle in der Mitte einer
Schale, die horizontal gestellt
werden soll. Die Schale ruht
auf einem Dreigestell. Es wird
dem Prüfling die Wirksamkeit der SchraubenfüBe des Dreigestells erklart und
gezeigt, worauf die Horizontaleinstellung zu erfolgen hat.
Abbildung 3. Mittelpunktsbestimmer
*) Vgl. Praktische Psychologie, l.Jahrgang, Seite 69.
16*
228 RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H.
Röhrenapparat: Dieser beruht auf dem Prinzip der kommunizierenden Röhren.
Es soll die in den drei kommunizierenden Röhren sich befindende gQfarbte
Flüssigkeit derart eingestellt werden, daO das Flüssigkeitsniveau mit den in
den Glasröhren eingeatzten Marken abschneidet.
Winkeltrieb: Dieser besteht aus vier Radern, die
zueinander beliebig in der Höhe und winkelig verstell-
bar sind. Der Prüfling bat die Rader so zu stellen, daC
durch Drehen eines Kurbelrades mittels Transmission
die anderen Rader mitbewegt werden können. Bewertet
wird bei allen drei Apparaten die gebrauchte Zeit.
II. Das Bewertungsverfahren
Das Prinzip der Bewertung
besteht darin,
die Leistungen
des Prüflings an
jedem Apparat
oder bei jedem
Verfahren durch
eineeinzige Zahl
auszudrücken
und diese dann
in Beziehung zu
den aus vielen Untersuchungen erhaltenen mittleren Leistungen zu setzen. Die
so gewonnenen Einzelergebnisse werden jetzt, urn ein Gesamtbild über die Ver-
anlagung des Prüflings zu erhalten, in einer Prüfkarte festgelegt und dann mit
dem von der Osram G. m. b. H. Kommanditgesellschaft zusammengestellten Be-
rufsanalysenschema verglichen, welches die einzelnen Untertatigkeiten der für die
Glühlampenindustrie nöti-
gen Arbeiten mit den zu
ihrer Verrichtung erforder-
lichen Fahigkeiten aufweist.
Abbildung 10 zeigt
das für die Glühlampen-
arbeiterinnen gültige Be-
rufsschema. Die sich der
Abbildung 4
Kreissiebenteiler
Abbildung 5
Tastsinnprüfer
Fabrik anbietenden Ar-
beitskrafte werden dann
an Hand des Vergleichs-
ergebnisses auf die ein¬
zelnen Fabrlkabteilungen
verteilt. Abbildung 6. Tremometer
Rufrer, Auswertungserfabrungen der Psycbotecbnischen Prufstelle der Osram G.m.b.H. 229
Um die Leistungen an den einzelnen Apparaten durch eine einzige Zahl auszudrücken,
werden je nach der Art des Apparates, nach der Anzahl der Aufgaben an einem Apparat
und nach der dem Prüfling vorgeschriebenen Arbeitsweise verschiedene Wege eingeschlagen.
Allgemein stellt man bei jedem ein¬
zelnen Versuch für jede Wertzahl (Ent-
fernung, Zeit usw.) fest, wieviel Prüflinge
diese Wertzahl erreichen und veranschau-
licht die Haufigkeitsverteilung in einer
Abbildung 7. Libelle
Abbildung 8. Röhrenapparat
Kurve, indem man auf der Abszisse eines rechtwinkeligen Koordinatensystems die Wert¬
zahl auf der dazu gehörigen Ordinate die Haufigkeit abtragt. Die so gefundene Kurve,
die sogenannte Haufigkeitskurve, ergibt dann in ihrem Maximum die mittlere Leistung.
Sie gestattet aber nur eine verhaltnismaCig grobe Beurtei-
lung nach guter, mittlerer und schlechter Leistung. Zur
Aufstellung einer feineren Bewertung wird deshalb diese
Haufigkeitskurve integriert, d. h. es wird in einer Kurve der
dauernd zunehmende Flacheninhalt dargestellt. Man erhalt
so die sogenannte Integral- oder Bewertungskurve, die an
derjenigen Stelle ihre gröDte Steigung hat, wo die Haufig¬
keitskurve ihr Dichtigkeitsmaximum besitzt. Der zu dem
Dichtigkeitsmaximum gehorende Kurvenpunkt wird mit „ge-
nügend“ bezeichnet. Um nun die weiteren Zensurzahlen
„2^“ und „4“ zu linden, werden durch den Punkt „3“ eine
Parallele zur Abszissenachse und zwei weitere (2) und (4) so
gezogen, daQ sie den Abstand einerseits zwischen der Ab¬
szissenachse und der Parallele (durch 3) und anderseits zwi¬
schen dieser und der horizontal verlaufenden Endstrecke der
Integralkurve halbieren. Der Abstand der Wertzahlen „2—3“
Abbildung 9. Winkeltrieb und „3—4“ auf der Abszissenachse wird dann nach links und
230 RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H.
rechts auf dieser von „2“ und „4“ abgetragen, wodurch die Zensuren ,1“ und „5“ er-
halten werden. Zur genaueren Differenzierung der Leistungen werden die Kurvenstrecken
zwischen den Zensurenpunkten nochmals in zehn Teile geteilt. Ist dagegen eine Differen¬
zierung der Leistungen nach fünf Zensuren nicht erforderlich, so können die Raume
zwischen den Zensur-Koordinaten zur Bewertung herangezogen werden, indem man sie
mit 1, 2, 3, und 4 bezeichnet. Diese Art der Bewertung wurde neuerdings für den
Osram-Konzern fest-
gelegt, um so auch
eine Übereinstimmung
mit den in dem Os¬
ram Berufsanalysen-
schema (s. Abb. 10)
festgesetzten Fahig-
keitszahlenzuerhalten.
III. Die H&ufigkeits-
und Bewertungs-
kurven
Nach dem unter II.
beschriebenen Ver-
fahren wurden die
Haufigkeits- und Be-
wertungskurven der
Resultate bei der
Prüfung der verteil-
ten Aufmerksamkeit,
der Schnelligkeit und
des technischen Ver-
standnisses, sowie
der Ergebnisse am
Siebenteiler, am Tre-
mometer und an den
einzelnen Rahmen des Sehscharfeprüfers gefunden. Zur Aufstellung dieser Kurven
wurden die Prüfungsergebnisse von 200 bzw. 300 Prüflingen (Versuchspersonen)
verwandt, die natürlich dem Kreis, der für die Aufnahme in den Osramfabriken
in Betracht kommt, angehören, also Berliner Madchen und Frauen. Die Abbil-
dungen 11 bis 16 und 20 zeigen die einzelnen Haufigkeits- und Bewertungs-
kurven. Die Kurven für die Apparate zur Prüfung des technischen Verstand-
nisses geiten nur für die in der Osramfabrik zur Aufnahme kommenden Mecha-
niker, Einrichter usw. Für diese sind bei den zu ihrer Prüfung verwandten
Apparaten und Verfahren ebenfalls besondere Kurven aufgestellt worden. Von
diesen sei nur die Schnelligkeitsbewertungskürve (Abbildung 15) des Kugellegens
angeführt, die einen interessanten Vergleich der Schnelligkeit der verschiedenen
RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 231
Geschlechter zeigt. Das weibliche Geschlecht ist, wie man sieht, für die Akkord-
arbeit in den Arbeiten, die von beiden Geschlechtern verrichtet werden können,
durchschnittlich weit mehr geeignet als das mannliche.
Bei diesen Prüfungen ist nur eine einmalige Verrichtung des Prüfprozesses bzw. eine
einmalige Einstellung notwendig. Bei den Apparaten, die im Gegensatz zu den vor-
genannten einen objektiven Nullpunkt besitzen, wie z. B. der Tastsinnprüfer, der Strecken-
teiler usw., sind unbedingt mehrere, doch mindestens drei Einstellungen erforderlich; denn
- Abbildung 11
es kommt hier darauf an, den sogenannten subjektiven Nullpunkt, d. h. die mittlere Ab-
weichung von der Nullstellung, bei dem Prüfling festzustellen. Die Praxis verlangt nam-
lich eine möglichst kleine Streuung in den Einstellungen des Prüflings. Selbst wenn dieser
bei der Ausführung möglichst gleichmaQiger Einstellungen z. B. an einer Maschine einen
Fehler macht, so wird er doch sehr viel bessere Arbeit leisten als ein solcher, der mit
seinen Einstellungen stark hin und her schwankt, da ersterer sich bei richtiger Anleitung
den Fehler abgewöhnen kann. Die GröCe der Streuung, d. h. die mittlere Abweichung
¥
Abbildung 13
Abbildung 14
der einzelnen Einstellungen von dem vorher errechneten subjektiven Nullpunkt gibt daher
immer den wesentlichen Ausschlag für die Leistung des Prüflings. Diese StreuungsgröDe,
die sogenannte mittlere Variation. — berechnet als arithmetisches Mittel der Einstellungen
(unter Berücksichtigung der Vorzeichen) — gilt bei den Apparaten mit objektivem Null¬
punkt also als Wertzahl. Von den hier betrachteten Prüfapparaten der Osram G.m.b.H.
Kommanditgesellschaft, Fabrik S, kommen zur Ermittlung der mittleren Variation in Be¬
tracht: der Streckenteiler, der Tastsinnprüfer und nach Abanderung des MeCverfahrens
auch der Mittelpunktbestimmungs-Apparat. Bei diesem wird allgemein der Fehler durch
einfaches Auflegen einer mit konzentrischen Ringen versehenen MeBscheibe auf die
232 Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H.
weifle Kreisflache als radiale Abweichung von dem tatsachlichen Mittelpunkt bis auf
einen Bruchteil eines Millimeters bestimmt. Einen Maöstab für die Streuung ergibt also
dieses MeCverfahren nicht. Daher wurde folgendes Auswertungsverfahren festgelegt:
Durch den objektiven Nullpunkt dieser MeOscheibe wurde ein Koordinatenkreuz gelegt
und an Hand einer Millimeterteilung die jeweiligen Koordinaten des eingestellten Mittel-
punktes bestimmt, Diese Koordinaten dienen dann dazu, den subjektiven Mittelpunkt und
die mittlere Variation zu errechnen. Es werden drei Einstellungen verlangt. Der sub-
jektive Mittelpunkt ist dann der Schwerpunkt des aus den drei Einstellungspunkten
gebildeten Dreiecks, so daC der subjektive Mittelpunkt und die mittlere Variation nach
folgenden Formeln berechnet werden können:
Xi + X2-\- X 3 yi + y-i + >>3
3 3
MKi = -|/(Xs-x,)2+(y,-yi)2
wobei die jeweiligen x und y die Koordinaten der eingestellten Punkte und Xa, ys die des
errechneten subjektiven Mittelpunktes bedeuten. Entsprechend werden MV^ und MK 3
errechnet und die Wertzahl als
MVi + MV2-{-MV3
3
bestimmt.
Dieses Verfahren ist dadurch schematisiert worden, daC die mittleren Varia-
tionen für alle vorkommenden Werte errechnet und in einer Tabelle zusammen-
gestellt worden sind, so daD der Prüfer nur die letzte einfache Rechnung an-
zustellen braucht.
Die für die drei Apparate — Streckenteiler, Tastsinnprüfer und Mittelpunkts-
bestimmer — hergestellten Integralkurven zeigen Abbildungen 17 bis 19.
Moede, der den Tastsinnprüfer konstruiert hat, hat in derselben eben be-
schriebenen Art auf Grund der Prüfungsergebnisse von 224 Versuchspersonen
(industriellen Lehrlingen) die entsprechende Integralkurve aufgestellt. Sie ist in
Abbildung 18 punktiert wiedergegeben. Es ist interessant, wie genau die beiden
Kurven zusammenfallen. Diese Genauigkeit der Übereinstimmung laCt darauf
schlieDen, daO bei beiden Geschlechtern das Tastgefühl gleichmaOig ausgebildet ist.
An einzelnen bereits oben besprochenen Apparaten, am Tremometer, Seh-
scharfeapparat, Streckenteiler, hat der Prüfling nun mehrere verschieden schwere
* RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 233
Aufgaben zu lösen. Es wurden daher Gewichtszahlen entsprechend den Schwierig-
keiten der einzelnen Aufgaben eingeführt, die durch Vergleich der Lage der ein-
zelnen Maxima gewonnen werden. Durch Multiplikation mit den zugehörigen
Gewichtszahlen werden dann die Wertzahlen miteinander vergleichbar; die Auf-
stellung einer Gesamtkurve für den Apparat wird ermöglicht. Der Prüfer braucht
jetzt also nur die an einem Apparat so erhaltenen Wertzahlen zu addieren und aus
der Gesamtkurve das Urteil zu entnehmen. Nach diesem Verfahren wurde zunachst
O’e Gesamtbewertungskurve der hierfür in Frage kommenden Apparate konstruiert.
Abbildung 19
3CQ ^
Ein Vergleich der einzelnen Zensuren an den für die verschieden schweren
Aufgaben konstruierten Einzelbewertungskurven mit der Endzensur der Gesamt¬
bewertungskurve zeigte jedoch eine Differenz von etwa 35% maximal, z. B. er-
gaben Prüfungen am Sehscharfeprüfer folgende Resultate:
Rahmen I
Rabmen II
Rahmen III
Gesamtergebnis
Wertzahl
Zensur
i
N
t.
4>
Zensur
Wertzahl
Zensur
Mittel aus
den Einzel¬
bewertungs¬
kurven
Alte Ge¬
samtbewer¬
tungskurve
% Ab-
weichung
Neue Ge¬
samtbewer¬
tungskurve
% Ab-
weichung
90
39
2.3
4.7
90
35
1.2
4.7
100
42
1.1
4.7
1.5
4.7
1
5
33
6
L _
1.5
4.7
0
0
234 Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psychotechniscben Prüfstelle der Osram G.m.b.H. *
Diese doch immerhin groCen Unterschiede liegen in der Tatsache begründet, daC
die bei den einzelnen Aufgaben und Apparaten (siehe spater!) erzielten Zensuren
stark differieren. Zur Vermeidung dieser Nachteile wurden daher in Abanderung
der bisherigen Konstruktion die Gesamtbewertungskurven nach Folgendem Ver-
fahren hergestellt:
Die Abszissen der einzelnen Bewertungskurven werden wie bisher mit den
zugehörigen Gewichtszahlen multipliziert. Diese so, arithmetisch gesprochen,
auf einen Hauptnenner gebrachten Bewertungskurven werden dann derart neben-
&•»»» » «>•
Abbildung 21
0 r » W •»-**< v^»»w *
einander gestellt, daO die mit „3" bezeichneten Kurvenpunkte auf derseiben
Ordinate liegen. Die gemeinsame Bewertungskurve resultiert dann aus den mitt-
leren Abszissen und Ordinaten der Einzelbewertungskurven. Die DifFerenzen
zwischen den Einzelbewertungskurven und der neuen Gesamtbewertungskurve
betragen dann höchstens nur bis zu 3%. Wie aus obiger Tabelle ersichtlich,
sind zwischen den Einzelbewertungskurven und der neuen Gesamtbewertungs¬
kurve in den beiden angeführten Beispielen keinerlei Abweichungen mehr ver¬
handen. Abbildung 21 zeigt die neue Gesamtbewertungskurve neben den für
jeden einzelnen Rahmen aufgestellten Einzelbewertungs- und der alten Gesamt¬
bewertungskurve des Sehscharfeprüfers.
Die für die hier in Frage kommenden Apparate gefundenen Gewichtszahlen
sind auf den in den Abbildungen 20 und 21 dargestellten Integralkurven auF-
geführt. Beispielsweise sind die Gewichtszahlen für die einzelnen Aufgaben am
Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psycholechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 235
Tremometer 1,5, 1, 1,2, 4,8, 7,5. Interessant ist wieder die ausgezeichnete Über-
einstimmung dieser Zahlen mit den Werten, die Moede auf Grund von Prüfungen
industrieller Lehrlinge in seinem Laboratorium an der Technischen Hochschule
gefunden hat und sich zu 1, 1, 1,3, 4,4 und 8 ergaben*).
Entsprechend dieser Zusammenfassung der verschiedenen Aufgaben an einem
Apparat wurden anderseits die zur Feststeilung des AugenmaOes und des tech¬
nischen Verstandnisses an den einzelnen Apparaten zusammengefaOt. Für die
Schneliigkeit wurde zur Gesamtbewertung nur das Kupfer- und Molybdanstabchen-
verfahren vereinigt, da die Prüflinge mit guter Sehscharfe nur mit diesem Ver-
fahren, die mit geringer Sehscharfe nur mit der Kugeimethode geprüft werden.
Die Abbildungen 22 bis 24 zeigen die Bewertungskurven für die Gesamt¬
bewertung des AugenmaOes, der Schneliigkeit und des technischen Verstandnisses
nebst den errechneten Gewichtszahien.
IV. Ergebnis der Betrachtungen
Bei den oben beschriebenen Untersuchungen wurde festgestelit, daO der Faden-
Sehscharfeprüfer (Abbildung 25) — bei dem es sich ebenfalls um das Wahr-
nehmen feiner Drahte handelt — in der alten Konstruktion eine Aufstellung einer
mathematischen Bewertung nur gering
gestattet, da sich ergab, daO man für
Glühlampenarbeiterinnen hier keine
genügende DifFerenzierung der Lei-
stung erhiilt. Es steilte sich heraus,
daC von 300 Prüflingen 57,5% alle
Drahte in den einzelnen Feldern sahen,
25,5% bis zum vorletzten Felde kamen
und 3% gar nichts erkennen konnten.
Somitkamen nur 13% fürdieZwischen-
werte in Frage. Daher wurde dieser
Apparat bisher nicht zur Feststeilung
der Sehscharfe verwandt, sondern nur Abbildung 25. Sehscharfeprüfer
in Verbindung mit dem oben erwahn-
ten selbstkonstruierten Sehscharfeprüfer zur Untersuchung auf Normal-Weit- bzw.
Kurzsichtigkeit des Prüflings. Um den Apparat auch zur Sehscharfeprüfung für
Glühlampenarbeiterinnen verwenden zu können, ist dieser jetzt so umgebaut, daO
einerseits durch Vorschalten eines Schiebewiderstandes die Beleuchtungsstarke
des roten Fadenuntergrundes veranderlich und anderseits der Tubus in einer Ent-
fernung von 15—45 cm verschiebbar gemacht wurde. 30 cm sollen als normaler
Ausgangspunkt bei der Einstellung dienen. Die Einstellung soll aber so vor-
genommen werden, dafl jeder Prüfling sich die ihm am günstigsten liegende Ent-
*) Moede, Ergebnisse der industriellen Psychotechnik, 2. Jahrgang, 304.
236 Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psycbotechnischen Prüfstelle der Osram G. m.b. H.
fernung nach einer verkleinerten Kreisprobe, die auf einem Felde des Apparates
angebracht werden soll, selbst einstellt.
Als weiteres interessantès Ergebnis der Untersuchungen sei zum SchluO noch
erwahnt, daO im allgemeinen festgestellt wurde, daO die vor Errechnung der
Integralkurven angewandte Beurteilung der Leistungen nach empirisch festgelegten
im Vergleich zu den neu wissenschaftlich errechneten Werten eine zu milde war.
Es ergab sich im Durchschnitt eine Abweichung im Mittel von 30%.
Erfahrungen bei der Prüfung und Berufsberatung
künstlerisch Begabter in Gro6-Berlin
Von Professor Otto Dannenberg, Berlin
A ls ich im Jahre 1920 in dieser Zeitschrift (vgl. 1.4) über „Auslese und Be¬
rufsberatung der künstlerisch Begabten" berichtete, hatten seit der Einrich-
tung dieser Prüfungsgelegenheit an der Unterrichtsanstalt des Staatlichen Kunst-
gewerbe-Museums in Berlin vier Prüfungen unter meiner Leitung stattgefunden,
aus denen neben greifbaren Erfolgen wohl manche Anregung und Belehrung er-
wuchs; das erstrebte Ziel lag aber unerreicht noch in weiter Ferne.
Auch heute, nachdem inzwischen weitere drei Jahre mit je zwei Prüfungen
dahingegangen sind, verhehle ich mir nicht, dali trotz der erweiterten Erfahrungen
und Erfolge, die diese sechs Prüfungen zeitigten, noch mancher Wunsch un-
erfüllt geblieben ist. Trotzdem hoffe ich in den beteiligten Kreisen auf Beach-
tung rechnen und sicher sein zu dürfen, daO die Ergebnisse meiner Tatigkeit
auf diesem Gebiete Anregung und Bereicherung an hierfür empfangliche Stellen
tragen und dort fruchtbar werden lassen.
Für die Auswirkung von Prüfung und Beratung war das neugeschaffene Be-
rufsamt der Stadt Berlin, jetziges Landesberufsamt, von einschneidender Bedeu-
tung. Es trat an die Stelle des bisher tatigen Jugendamtes, das durch den Um-
fang seiner Geschafte sehr überlastet war und, seiner eigentlichen Aufgabe
folgend, zu dem praktischen Berufsleben nicht die Beziehungen knüpfen und
pflegen konnte, wie es für eine gedeihliche Arbeit in der Berufsvermittlung un-
bedingt erforderlich ist. Meine Tatigkeit, die so lange mit der Feststellung der
gröBeren oder geringeren Begabung und des empfehlenswerten Berufes erledigt
war, bekam nun erst die richtige Umsetzung in ein greifbares Ergebnis durch
die Yorangegangene und nachfolgende Arbeit des Berufsamtes. Ehe letzteres mit
seiner Unterstützung einsetzte, wurde das ürteil über die künstlerische Begabung
und der Vorschlag zur Wahl eines entsprechenden Berufes den Kindern in
knapper Form mitgeteilt, alles weitere ihnen und ihren Eltern selbst überlassen.
Nur die hervorragend Begabten wurden mit den Eltern zu Herrn Professor
Bruno Paul, dem Direktor der obengenannten Unterrichtsanstalt, bestellt, wo in
meiner Gegenwart alle Fragen eingehende Beantwortung fanden. Dies war schon
Dannenberg, Erfahrungen bei der Prüfung und Berufsberatung künstlerisch Begabter 237
ein wesentlich verbesserter Weg, auf dem man den wenigen Hochbegabten nützen
konnte, wahrend die anderen leer ausgingen. Was ist für die Zukunft der Kinder
erreicht, wenn man bei der Mehrzahl von ihnen lediglich auf Grund der aus
den Arbeiten sprechenden Begabung einen Beruf empfiehlt, den zu erlernen und
auszuüben die vorauszusetzenden körperlichen und wirtschaftlichen Erfordernisse
vielleicht gar nicht verhanden sind, worüber zu vergewissern aber nur persön-
liche Fühlung mit den einzelnen die Möglichkeit bietet? Hier klaffte also eine
groQe Lücke, die zu überbrücken mein Bestreben sein muOte. In der Zusammen-
arbeit mit dem Berufsamt konnten diese Mangel inzwischen wesentlich behoben
werden. Das geschah einerseits durch vorbereitende Schritte in den Schulen,
WO durch Vortrage der Berufsberater und Beraterinnen den Kindern AufschluO
über die mit der Berufswahl zusammenhangenden Fragen gegeben wurde mit
Hinweis auf die erforderlichen Schritte und die geeignetsten Wege. In den
Volksschulen — leider bis jetzt nur in diesen, ebenso wichtig aber auch für die
höheren Schulen — bekam jedes Kind eine Karte, auf der dessen eigene Berufs-
wünsche mit den Beobachtungen der Lehrer über die besondere Eignung und
des Schularztes über die Körperbeschaflfenheit des Kindes vereinigt waren. Da-
durch entstand ein Material, dessen Wert bei der nun bei jedem Kinde ein-
setzenden persönlichen Rücksprache voll zur Geltung kam. Das in Abwesenheit der
Kinder über die eingelieferten Arbeiten und die Prüfungsarbeiten von den dazu auDer
mir bestellten drei Professoren der Unterrichtsanstalt gefalite Urteil muOte haufig
mit Rücksicht auf die bei der Beratung erst bekannt werdenden besonderen Um-
stande — körperlicher und geistiger Zustand des Kindes, wirtschaftliche Lage
der EItern, persönliche, bisher unausgesprochen oder unerkannt gebliebene eigene
Neigung und Wünsche — korrigiert werden, und ich unterzog mich angesichts
der zu erreichenden Vorteile unter treuer Hilfe eines Berufsberaters — bei den
Knaben — und einer Berufsberaterin — bei den Madchen — gern der freilich
erheblicheren Mehrarbeit. Nachdem auf diese Weise Klarheit über den in Frage
kommenden Beruf geschaffen war, setzte die eine entsprechende Lehrstelle ver-
mittelnde Arbeit des Berufsamtes ein, die Gesamttatigkeit somit zu einem ge-
wissen AbschluO bringend.
Ein groDer Teil der Kinder, hauptsachlich unter den Madchen, war sich über
einen in Betracht kommenden Beruf noch gar nicht klar und wuOte auf die von
mir gestellte Frage nach dem vielleicht schon erwahlten eigenen Beruf keine
Antwort oder nur eine solche zu geben, die auf ganz unklare Vorstellungen
schlieOen liel3, wahrend die Jungen sich haufiger schon eine bestimmte, wenn
auch nicht immer völlig zutreffende, Meinung gebildet hatten. Das mag bei
letzteren neben der bei ihnen günstigeren Einstellung zu praktischen Dingen auch
daher rühren, daO ihnen bei der Entscheidung eine gröCere Zahl von Berufen
zur Wahl steht, die Madchen dagegen wesentlich behinderter sind, da die Anzahl
der weiblichen Berufe geringer ist und viele Berufe des Mannes, die den Frauen
nach Begabung und körperlicher Leistungsfahigkeit wohl zuganglich sein könnten.
238 Dannenberg, Erfabrungen bei der Prürung und Berufsberatung künstlerisch Begabter
ihnen trotzdem aus anderen Gründen verschlossen bleiben. Wenn auch in
manchen Kreisen noch ein gewisses Vorurteil gegen eine handwerkliche Aus-
bildung — als nicht standesgemafJ — besteht, so trifft man doch, wahrscheinlich
als Folge der veranderten wirtschaftlichen Verhaltnisse, die Schillers. Wort im
„Tell“: „die Axt lm Haus erspart den Zimmermann", in mancherlei Anwendung
so bedeutungsvoll werden lieOen, vielfach in gebildeten Schichten das volle Ver-
standnis für die Wichtigkeit der handwerklichen Grundlage, gewiO nicht zum
Schaden des Handwerks selber, geschweige denn der wahlenden Kinder. Der
Zulauf zu BeruFen, die zur Zeit als besonders lohnend angesehen werden, kommt
unter AuOerachtlassung vielleicht ganz anders gerichteter Begabung haufig vor.
Inmitten dieser Schwierigkeiten muO der Berater den richtigen Ausgleich zu finden
suchen, was nicht selten miOlingt oder erst nach langen Verhandlungen zu er-
reichen ist.
In vereinzelten Pallen handelte es sich urn die Prüfung künstlerisch Begabter,
die bereits lohnenden Erwerb in einem, ihnen aber nicht zusagenden Beruf hatten.
Hier muOte natürlich besondere Vorsicht walten und als mildeste, mit dem ge-
ringsten Wagnis verknüpfte Form auch bei unzweifelhafter Begabung ein Über-
gang gewahlt werden, bei dem die sichere wirtschaftliche Basis nicht sofort auf-
gegeben zu werden brauchte. Bei nicht ausreichender Begabung wurde von
einem Berufswechsel unbedingt abgeraten. Der Drang, die seinerzeit bei der
Berufswahl gegen die nüchterne Überlegung zurückgestellte persönliche Neigung
und künstlerische Begabung, durch jahrelange Unterdrückung bei unbefriedigender
Tatigkeit immer wach gehalten und verstarkt, endlich in der richtigen Weise
betatigen zu können, ist haufig so groB, daB er die gröBten Widerstande über-
windet und die Betroffenen Opfer über Opfer willig auf sich nehmen laBt. Der-
artige Erscheinungen sind dem verStandnisvoll mitfühlenden Berater in unserer
heutigen so materiellen Zeit stets ein beglückendes Vorkommnis und willig wird
er nach besten Kraften zu helfen bestrebt sein.
Es ist ein groBer Nachteil, daB die Mehrzahl der Kinder mit der Unter-
bringung in eine Lehrstelle dem Gesichtskrels entschwindet und es nur ver-
einzelt gelingt, den weiteren Weg der Kinder zu verfolgen. Aus einer solchen
weiterbestehenden Verbindung lieBen sich gewiB wertvolle Schlüsse ziehen, und
man könnte den Entwicklungsgang der Kinder vorteilhaft beeinflussen. Ich be-
mühe mich redlich, dies zu erreichen durch den Hinweis, daB ich jederzeit gern
von dem Ergehen der Kinder horen werde und, soweit möglich, mit Rat und
Tat zur Verfügung stehe. Es sind aber nur vereinzelte Falie, wo eine gewisse
Verbindung erhalten bleibt; dies weiter ausgedehnt zu sehen, würde der Eignungs-
prüfung und Berufsberatung von gröBtem Vorteil sein.
Die Prüfung selbst hat sich in ihrem Verlauf nicht geandert. Die Kinder
hatten drei gestellte Aufgaben in je zwei Stunden zu lösen: Zuerst die Darstellung
einer, aus einer groBen Menge selbst zu wahlenden Pflanze in beliebiger Aus-
führungsart. Diese Freiheit in der Wahl der Ausdrucksmittel erstreckte sich auf
Oannenberg, Erfahrungen bei der Priifung und Berufsberatung künstlerisch Begabter 239
alle Arbeiten und war den Kindern absichtlich gelassen, um die ohnehin leicht
mit einer Priifung verknüpfie Befangenheit nicht durch einengende Vorschriften zu
steigern. Es wurde gemalt, gezeichnet mit Bleistift, Buntstift, der Feder, schwarz
oder farbig, mit aufgeklebtem Buntpapier gearbeitet, vielfach auch in Ton ge-
knetet, so daO ein jedes Kind sich in der ihm vertrauten Weise betatigen konnte.
Wahrend es sich bei der ersten Aufgabe um die Darstellung eines sichtbaren
Objektes, d. h. eines wahrend der ganzen Dauer der Arbeit sichtbaren Objektes,
handelte, war dies bei der zweiten insofern anders, als der wiederzugebende Gegen-
stand — ausgestopfter Vogel oder GefaO von charakteristischer Form und Farbe —
nur zehn Minuten besichtigt werden durfte und darauf aus dem Gedachtnis nach-
gebildet wurde. Die von den Kindern stets mit besonderem Eifer behandelte
dritte Aufgabe lieO jeglicher persönlichen Neigung freiesten Spielraum und war
als reine Phantasieprobe sehr geeignet, die besten Aufschlüsse über Vorhanden-
sein, Starke und Art der künstlerischen Begabung der Kinder zu geben. Meist
steilte ich kein bestimmtes Thema, sondern beschrankte mich darauf, die für
diesen Fall freier Betatigung denkbaren Möglichkeiten den Kindern zur Anregung
und Auswahl anzudeuten, und die meisten von ihnen waren nie lange in Ver-
legenheit um einen geeigneten Vorwurf. Sie gingen nach kurzer Überiegung
frisch ans Werk und boten dem Beschauer die wertvollsten Einblicke wahrend
der Arbeit. Die Unentschlossenen helen bald heraus aus den ZielbewuOten;
der Betatigungsdrang, die mehr oder minder vorhandene oder entwickelte Vor-
stellungsfahigkeit, die geistige Verarbeitung alles Gesehenen, die genossene oder
mangelnde hausliche Anregung, grundverschieden nach Herkunft und Eigenart
der Kinder, lieCen sich wohl erkennen und boten eine gute Grondlage für die
Beurteilung. Letztere möglichst sicher und frei von Fehlern zu gestalten, dienten
dann die eingelieferten, eigenen Arbeiten der Kinder, die in mannigfaltigster
Betatigungsart als freie oder angewandte Zeichnung, Malerei, Plastik, Handarbeit,
Bastelei usw. vorlagen.
Wahrend bei den früheren Prüfungen die Zulassung einerseits — bei den von
den Schulen geschickten Kindern — von dem Urteil der betreffenden Zeichen-
lehrer, andererseits — bei der infolge der Bekanntgabe in den Zeitungen er-
scheinenden Teilnehmern — von der aus den eingelieferten Arbeiten sprechenden
Begabung nach meinem Urteil abhangig war, sehe ich jetzt von jeder Auswahl
ab und lasse jeden zu, der, freiwillig gekommen oder mir zugeschickt, ein fach-
mannisches Urteil über seine Begabung wünscht. Ich tue das in der besonderen Ab-
sicht, das haufig auftretende Überschatzen der Begabung, durch die Kinder selbst,
mehr aber noch durch Eltern und Erzieher, mit Hilfe der Prüfung auf das
richtige MaO zurückzuführen. Bescheiden Begabte können in der Schule inmitten
unbegabter Mitschüler sehr leicht begabter erscheinen als sie sind. Durch die
Teilnahme an der Prüfung korrigiert sich dies bald bei dem Vergleich mit den
hier vereinigten höher Begabten, der MaUstab ist sofort ein anderer als in der
Schule, die in der Bewertung der Leistungen andere Forderungen zu berück-
240 Dannenberg, Erfabrungen bei der Prüfung und Berufsberatung künstlerisch Begabter
sichtigen hat, die auQere, geschickte Darstellung manchmal höher schatzt als den
inneren Gehalt, wahrend gar wohl die ungeschickte Hand eine Arbeit von un-
endlich besserer, künstlerischer Qualitat hervorzubringen vermag. Wer Phantasie
besitzt und Gedanken auszudrücken hat, kann durch Übung bald dahin gebracht
werden, die damit übereinstimmende Form zu hnden; wo dagegen die, für einen
kunsthandwerklichen Beruf wichtige künstlerische Grundlage fehlt, tauscht auch
die gute Vortragsweise nicht über die inneren Mangel hinweg. In beiden Pallen
kann aber wohl ein kunstgewerblicher Beruf empfehlenswert sein, selbst da, wo
vielleicht nur eine reproduktive, nicht schöpferische Fahigkeit vorhanden ist, es
muQ nur der jeder Art der Begabung entsprechende Wirkungskreis gefunden
werden. Um all diesen Möglichkeiten Rechnung zu tragen, mit gröBerem Nach-
druck warnen zu können vor der Wahl eines nur bei Vorhandensein künstlerischer
Begabung empfehlenswerten Berufes, was oft wichtiger ist als das Zuraten, ist
die Prüfung auch solchen auf eigenen Wunsch zuganglich, bei denen mir schon
die oberflachliche Betrachtung den Mangel jeglicher Begabung offenbart.
An der letzten Prüfung im Dezember vorigen Jahres nahmen zum ersten Male
auOer den Kindern aus GroG-Berlin auch solche aus der Provinz Brandenburg
auf Veranlassung des Brandenburgischen Landesarbeitsamtes teil. Um die diesen
Kindern durch die Teilnahme erwachsenden, pekuniaren Schwierigkeiten zu
verringern, lieO ich sie die gestellten drei Aufgaben an einem Tage bearbeiten.
Allerdings muOten die Kinder zu der spateren Berufsberatung noch einmal er-
scheinen. Da bei dlesem ersten, mit betrachtiichen Opfern für den einzelnen
verknüpften Versuch doch immerhin etwa 50 Kinder erschienen, lassen sich
daraus besondere Schlüsse auf den Wert und das Bedürfnis nach einer solchen
Einrichtung ziehen; sie wird deshalb auch künftig der erweiterten Benutzung zu¬
ganglich sein.
Die von mir im Interesse der Sache angestrebte Zusammenarbeit mit den
Schulen, insonderheit den zumeist in Betracht kommenden Zeichenlehrern, ist
leider noch nicht ausreichend. Ich bedaure dies um so mehr, als ich mir von dem
EinfluO des Zeichenunterrichts, wenn er die Ausblldung von Auge und Hand nicht
allein in ihrer allgemeinen Bedeutung betont, sondern sie ,in besonderen Pallen
auch den der Kinder wartenden, praktischen Anforderungen des Lebens an-
zupassen sucht, viel verspreche. An manchen Stellen geschieht dies schon, und
auch die Ausdehnung des Werkunterrichtes ist ein guter Schritt vorwarts zur Er-
reichung dieses Zieles; so ist zu hoffen, daO allmahlich auch der Zeichenunter-
richt eine für die Kinder — soweit künstlerische Begabung und Schulung des
Auges und der Hand für ihre Lebensgestaltung bedeutungsvoll sind — richtige
Einstellung hnden wird. Je mehr es geiingt, den unmittelbaren Nutzen eines ziel-
bewuOt geleiteten Zeichenunterrichts, der von Lehrern, die mit den Berufsfragen
vertraut sind, erteilt wird, überzeugend darzutun, um so günstiger wird deren und
ihrer Tatigkeit Stellung im allgemeinen Schulbetriebe sein, so daG dadurch die För-
derung der sachlichen und persönlichen Interessen vollkommen Hand in Hand geht.
Rosé, Die Organisation der Berufsberatung
241
Die Organisation der Berufsberatung
Von Dr. Heinrich Rosé, Leiter des Berufsamts der Stadt Breslau
D ie gesetzliche Neuordnung der Berufsberatung kann unter Umstanden eine
Verschlechterung der Verhaltnisse bedeuten mit ihrer allzu engen Ein-
beziehung der Berufsberatung in die Arbeitsvermittlung, wenn nicht von vornherein
grundsatzlich feststeht, in welcher Weise vorhandene selbstandige Organisationen
der Berufsberatung eingegliedert werden sollen. Es wird Aufgabe der bevor-
stehenden Ausführungsbestimmungen zum Arbeitsnachweisgesetz sein, die Selb-
standigkeit zum mindesten der groBstadtischen Berufsberatungsstellen im Rahmen
der Arbeitsnachweisamter zu sichern. Andererseits aber steht neben dieser
Spezialfrage die Organisationsfrage der Berufsberatung notwendig im Vorder-
grunde des Interesses, weil bei dem ,Für“ und „Wider“ der Meinungen über
die vorerwahnte Einbeziehung der Berufsberatung in das Arbeitsnachweiswesen
die ÖfFentlichkeit mehr als bisher auf die Angelegenheit hingewiesen worden ist.
Für die Sachbearbeiter der Berufsberatung entsteht somit die Verpflichtung, in
gewissen Grundzügen Mittel und Wege der Durchführung der Berufsberatung
unter Verwendung ihrer Erfahrungen darzulegen. Unter diesem Gesichtspunkte
bitte ich, die nachstehenden Zeilen zu werten, nicht, als ob damit die best-
mögliche Lösung dargetan werden soll, sondern vielmehr, daB damit Anregung
zur Diskussion des Organisationsproblems gegeben werden soll.
Die Breslauer Berufsberatung hat sich von Anfang an (gegründet 1915) im
Zusammenhange mit dem Arbeitsnachweis entwickelt und ganz von selbst eine ge¬
wisse Emanzipation, eine Verselbstandigung ihrer Organisation erreicht, wodurch
es zur Schaffung zweier, in elnem gemeinsamen Rahmen gespannter Geschafts-
zweige, hle Arbeitsnachweis, hie Berufsberatung, gekommen ist. Die Gliederung
der Organisation kennzeichnet sich durch das beigegebene Schema.
Der Dezernent des Berufsamtes ist gleichzeitig Dezernent der Arbeitsvermittlung.
Er ist der Vorsitzende des Verwaltungsausschusses des neuen Arbeitsnachweis-
amtes. Ihm steht ein Beirat zur Seite, der ganz nach den Bestimmungen der
alten preuBischen Verordnung über Berufsberatung zusammengesetzt ist, also nach
dem Prinzip der Heranziehung Sachverstandiger. Grundsatzlich teilt sich die
Arbeit in zwei Hauptgruppen nach dem Geschlecht der Interessenten. Es be-
stehen manniiche und weibliche Abteilungen, die von manniichen und weiblichen
Berufsberatern geleltet werden. Die Berufsberatung selbst wird in fünf Gruppen
erledigt und zwar werden diejenigen, die noch ganz unentschieden und unklar
sind, wie sich bei der Anmeldung herausstellt, einer allgemeinen Beratung zu-
geführt, wahrend diejenigen, die schon ein Spezialinteresse verraten, sei es für
Handbetatigung, Handwerk und Gewerbe, sei es für den Handel, sei es für eine
weitere Berufsausbildung, sei es für eine Berufsumstellung, den entsprechenden
Abteilungen „Handwerk und Gewerbe" (einschlieBlich Landwirtschaft), Handel
und Industriekontor (einschlieBlich Bürotatigkeit), Laufbahnberatung, Berufs-
17
P. P. IV. 8.
242
Rosé, Die Organisation der Berufsberatung
Berufsamt der Stadt Breslau (Organisationsplan)
Abkürzungen:
Allg. = Allgemeine Beratung. Lfb. = Laufbahnberatung.
Hw. = Handwerk and Gewerbe (einschl. Land- Bw. = Berufswechselberatung (einschl. Sonder-
wirtschaft). gruppe für Angehörige höherer Berufe).
Hi. = Handel, Industrie, Kantor (einschl. Büro- S.F. = Soziale Fiirsorge.
tdtigkeit aller Art).
wechsel (mit Sondergruppe für Angehörige höherer Berufe) zugewiesen werden.
Für alle in wirtschaftlicher Not befindlichen Jugendlichen wie Erwachsenen, die
einen Berufsrat und eine Berufsunterbringung suchen, arbeitet in engstem Zu-
sammenhang mit den Wohlfahnseinrichtungen der Stadt die Abteilung „Soziale
Fürsorge" des Berufsamies. Dem Rat soll möglichst sofort die Tat folgen, das
heifit die Vermittlung einer Lehr- oder Anfangsstelle. Dafür ist in der ent-
sprechenden Abteilung der Lehrstellenvermittlung die Möglichkeit gegeben. Bei
den weiblichen Abteilungen besteht noch eine Sondervermittlung für haus-
wirtschaftliche Anfangsstellen 14—löjahriger Bewerberinnen. Es hat sich in der
Praxis als zweckma(3ig herausgestellt, diese Vermittlung durch das Berufsamt
ausüben zu lassen, ebenso die Anfangsstellenvermittlung für Berufswechselnde
höherer Berufe (mit akademischer Vorbildung). Hier handelt sich ja ebensosehr
urn Berufsberatung wie um soziale Fürsorge für die stark bedrangten akademischen
Berufskreise und die seminaristisch gebildeien Lehrer, denen eine vorüber-
gehende oder zeitweilige Beschaftigung in einem neuen Berufe oft genug Lebens-
rettung bedeutet. lm abgelaufenen Geschaftsjahr 1922/23 meldeten sich allein in
der mannlichen Abteilung für Berufswechsel an Angehörigen höherer Berufe
906 Bewerber, denen 491 Stellen zugewiesen werden konnten und zwar 394 An-
Rosé, Die Organisation der Berufsberatung
243
fangsstellen, urn In einen neuen Beruf überzugehen und 07 Stellen nebenberuf-
licher Tatigkeit (Nachhilfestunden für Studierende u. a. m.). Soweit Studenten bei
dieser Vermittlung in Frage kommen, arbeitet das Berufsamt mit dem Wirtschafts-
amt der Studentenschaft zusammen. Welche Unterbringungsmöglichkeiten sich
eröffnen, moge der Hinweis zeigen, daO von den 223 gemeldeten Lehrern 4 als
Arbeiter, 14 als Anfanger für die Banklaufbahn, 9 als Bergarbeiter, 129 als An-
fanger im Bürodienst, 4 als Propagandisten eine neue Existenz zu linden ver-
suchten. Ein Jurist ging als Grenzwachter, desgleichen ein Ingenieur, 16 Studenten
ins Bergwerk usw.
Nun wird man vielleicht sagen, wie auch einzelne Rezensenten meines kleinen
Büchleins „Das Berufsamt, Wesen, Aufgabe und Organisation — ein Entwurf“
auOerten, daO eine derartig groOe Organisation bei dem allgemeinen Geldmangel
des Staates wie der Kommunen nicht durchführbar sei. Diese Auffassung ist
irrtümlich. In Breslau wird die eigentliche Berufsberatung (abgesehen vom Büro)
erledigt durch sechs Personen, die sich in den im vorstehenden Schema mitge-
teilten Aufgabenkreis teilen und teilen können dadurch, dafi für die einzelnen
Tatigkeiten, z. B. Laufbahnberatung, Berufswechsel, soziale Fürsorge, bestimmte
Sprechstunden angesetzt werden. Darin liegt überhaupt des Ratsels Lösung. Man
kann das vorgeschlagene Organisationsschema, abgesehen vom psychotechnischen
Institut, über das ich am SchluO noch einiges ausführen werde, im groOen und
ganzen durchführen mit zwei Personen, einer mannlichen und einer weiblichen.
Notwendig aber erscheint unbedingt, dall die sachliche Gliederung in der vor-
geschlagenen oder einer ahniichen Form zur Ausführung gelangt, weil es eine
Unmöglichkeit bedeutet, dad ein und dieselbe Person sich auf die vielfachen An-
forderungen tagtaglich mit gleicher Intensitat einstellen kann, die darin liegen,
dad die Interessenten der Berufsberatung mit mindestens sechs verschiedenen
Grundabsichten an den Berufsberater herantreten können. Eine Umstellung auf
diese im einzelnen auderordentlich mannigfaltigen Fragenkomplexe an einem
und demselben Vormittag von Viertelstunde zu Viertelstunde ist schlechterdings
unmöglich. Darum müssen bestimmte Tage und Sprechstunden für jeden Fragen-
komplex festgelegt werden. Freilich wird man urn die Notwendigkeit der Be-
schaftigung von zwei Personen in der Berufsberatung nicht herumkommen. So-
fern der Arbeitsvermittler herangezogen wird, besteht die Gefahr, dad zu stark
arbeitsmarkt-politische Aufgaben in den Vordergrund der Berufsberatung treten.
Deshalb wird es sich empfehlen, für die Berufsberatung besondere Persönlich-
keiten, die ja auch an Vorbildung besonderen Anforderungen entsprechen müssen,
heranzuziehen, sei es haupt-, sei es nebenamtlich bzw. ehrenamtlich. Mir scheint
eine ehrenamtliche Heranziehung von Gewerbelehrern noch immer besser als
die jetzt vielfach geübte Praxis, den Wohlfahrtspfleger oder den Arbeitsvermittler
mit der Berufsberatung der mannlichen und weiblichen Jugend zu beirauen.
Die Mittel, die nach der berufskundlichen Seite notwendig werden, sind selbst-
verstandlich notwendige Kosten, die der Arbeitsnachweis zu übernehmen hatte.
17 *
244
Rosé, Die Organisation der Berufsberatung
Die Provinzial-Berufsamter sollten ein übriges dazu tun, durch regste Mitarbeit
den einzelnen Beratungsstellen der Provinzen das nötige Material immer wieder
zuganglich zu machen, gegebenenfalls durch Einrichtung einer Wanderbücherei.
Denn das muO offen zugegeben werden, daO in kleineren Orten 'die Berufs¬
beratung bis heute noch im groOen und ganzen nichts anderes ist als Lehrstellen-
vermittlung, und daO die Voraussetzungen, unter denen man an die Sache heran-
geht, unzureichend sind. Das ist ja auch der tiefere Grund, weshalb bei der
gesetzlichen RegeLung die Berufsberatung zu kurz gekommen ist; meines Erachtens
zu Unrecht, denn selbst, wenn man den Grundlagen der Berufsberatung gegen-
über reichlich skeptisch ist und durch den Kampf der Meinungen über Experi-
mental- oder Beobachtungs-Psychologie den Eindruck gewonnen hat, daB noch
wesentliche Grundlagen praktischer Berufsberatung fehlen (woriiber man auch
noch streiten kann), so steht doch fest, daB schon allein durch die aufklarende
und werbende Arbeit der Berufsberatungsstelle den Eltern und Jugendlichen zum
mindesten die Frage der Berufswahl nicht mehr bloB eine Frage des guten Ver-
dienstes oder eine Zufalligkeit, sondern ein Problem geworden ist. Und damit
ist auBerordentlich viel erreicht, urn die geradezu katastrophaie Auswirkung
eines verfehlten Berufes zu hemmen, wenn nicht ganz aufzuheben. Freiiich
kommt für die kleineren Berufsamter das Experiment noch verhaltnismaBig wenig
in Betracht, so lange nicht bei allen Provinzial- oder Landesberufsamtern Zen-
tralinstitute für Psychotechnik unter fachpsychologischer Leltung eingerichtet
worden sind, die die Aufgabe batten, etwaige Hilfsmittel experimentell-psycho-
logischer Art für die Berufsberatung auszuarbeiten ünd ihre Anwendung dauernd
zu überwachen, damit nicht ein psychotechnischer Dilettantismus groBgezogen
wird, der der Sache mehr schaden als nutzen kann.
Wie aus dem vorstehenden Organisationsplan hervorgeht, ist dem stadtischen
Berufsamt in Breslau ein psychotechnisches Institut angegliedert, das seine Ent-
stehung der Spendefreudigkeit von Interessentenverbanden und einzelnen groBen
Firmen verdankt. Inwieweit dieses Institut im Sinne eines Zentralinstituts für
Schlesien zu arbeiten in der Lage sein wird, steht noch dahin, doch schweben
mit der Provinzialverwaltung bereits entsprechende Verhandlungen, die es nicht
ganz unwahrscheinlich erhoffen lassen, daB für Schlesien eine psychotechnische
Zentralstelle in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen wird. Im groBen und
ganzen stützt sich die Berufsberatung in Breslau auf beobachtungs-psychologisches
Material, das die Schulen durch Ausfüllung des absichtlich kürzest gehaltenen,
wenig Schreibarbeit fordernden Schulfragebogens (vgl. Schema) zur Verfügung
stellen, erganzt durch das arztliche Gutachten, das der Schularzt über jeden ab-
gehenden Breslauer Schulabganger gibt, und durch die persönliche Rücksprache
mit den Eltern. Es kann gesagt werden, daB der überwiegende Teil der Bres¬
lauer Volksschuljugend und ein nicht unbetrachtlicher Teil der Schüler höherer
Lehranstalten vom stadtischen Berufsamt betreut werden. Um an die Schüler
höherer Lehranstalten heranzukommen, ist in diesem Jahre erstmalig ein Selbst-
Rosé, Die Organisation der Berufsberatung
245
Berufsamt der Stadt Breslau
(Abteilung fUr mtlnnliche Bewerber)
GartenstraBe Nr. 3, ErdgeschoB, Gartenhaus — Fernsprecher Ring 8747
Dleser Bogen Ist nur fUr die Hand des Lehrers bestlmnit
Zum Wohle der Jugend und des Vaterlandes wird
dringend urn eine erschöpfende AuBerung gebeten
Hinweise fUr die Feststellung der Berufseignung
(NIchtzutrfifTendes ist deutUch zu durchstccichen)
1. Besondere Nelgung für.
(Auch Dinge, die auQcrhalb des Lehrstoffes liegen^ sind zu nennen)
2. GedSchtnis:
Das Auswendiglernen fallt leicht — schwer. Der Schuier behSlt gedanken-
los - verstandesgemSB. Der Schuier vergiBt schnell — behalt gut. Ton-
gedachtnis nicht verhanden — sehr gut — sehr schlecht. ZahlengedSchtnis
gut mittel — schlecht.
3. Aufmerksamkelt:
Ganz bei der Sache — leicht ablenkbar. Vermag sich nur einetn Gegen-
stande zuzuwenden. Vermag mehreres zugleich auFzufassen (z. B. tündelt
hauBg und folgt doch dem'Unterricht).
4. AnpassungsfShlgkeit:
Stellt sich schnell — langsam auF Neues ein.
5. EInbildungskraft:
Reich arm.
6. Schönheitssinn:
Schwach — stark entwickelt.
7. Beobachtungsgabe:
Gut — mittelmaBig schlecht (Bildbeschreibungen).
8. BeeInfluBbarkeit:
Gering — stark.
9. SlnnestMtigkelten:
Sieht gut — kurzsichtig weitsiebtig — farbenblind. Hort gut — schlecht
— taub.
10. Sonstlge Beobachtungen:
lOc. Beobachturgs* bzw. Feststelluogsblatt für Lehrer — manniich —
246
Rosé, Die Organisation der BeruTsberatung
bericht erfordert worden, über den ich im Einverstandnis mit der Redaktion
dieser Zeitschrift noch gesondert berichten werde.
Das psychotechnische Institut ist auDerstande, alle Interessenten des Berufs-
amtes zu prüfen. Das würde eines Mitarbeiterstabes bedürfen, der uns nicht
zur Verfügung steht. Es hnden nur in ZweiFelsfallen Stichprobeversuche statt
über die Veranlagung in einer bestimmten Richtung nach den typischen An-
forderungen des etwa gewünschten oder nichtgewünschten Berufes. Und dies
scheint für die Praxis wohl der einzige Weg, daB sowohl beobachtungs-psycho-
logisch wie experimenten, das eine das andere erganzend, verfahren wird. Ich
betone noch einmal, daO der geschilderte Organisationsplan kein Idealplan sein
soll, sondern lediglich Anreger sein will zur Erörterung des Problems der
Organisation der Berufsberatung, mit dem man sich von seiten der Praktiker
publizistisch meines Erachtens viel zu wenig befaOt hat.
Rundschau
Achter KongreB für Psychologie
in Leipzig vom 17.—20. April 1923
Bericht
Gber die einzelnen Sammelreferate und Referate
Sammelreferat Krueger-Leipzig:
„Der Strukturbegriff in der Psycho¬
logie." Der Vertragende entwickelt den
Strukturbegriff aus den Anschauungen Dil-
theys heraus. Der gesamte BewuDtseins-
inhalt hat bei Dilthey Strukturqualitat.
Dilthey betont das Lebensdenken gegenüber
dem mechanistischen Denken der Natur-
wissenschaft, wobei der ZweckmaDigkeits-
gedanke, die Lebenssteigerung an der Lust
bemessen, den Energieablaufdes seelischen
Lebens bestimmen.
Im Gegensatz zu Dilthey sieht Krueger
Struktur nur in dispositionellen Ganzheiten,
die Erlebnissen zugrunde liegen, nicht in
aktuellen Erlebnissen, wahrend Dilthey ge-
rade die Erlebnismöglichkeit des Struktur-
zusammenhangs selbst hervorhebt. Diese
Strukturen in dispositioneller Beziehung
sind nach Krueger in sich Ganzheiten, d. h.
nicht Aggregate, sondern wechselwirkend be-
zogene Einzelheiten, die zugleich neben und
übergeordnete Strukturen darstellen, aus
denen sich zuletzt die Persönlichkeit ergibt.
Krueger entwickelt dann den Struktur¬
begriff Sprangers, der die Zeitlichkeit dis¬
positioneller Strukturen überwindet. In-
dem Spranger eine Typik der Kultur und
Persönlichkeit aufstellt, gelangt er zu einer
geisteswissenschaftlichen Strukturpsycho-
logie, WO es auF LeistungszusammenhUnge
ankommt und zu einer rein phanomenalen
Erlebnispsychologie, bei der ihm nicht nur
die Mittel-Zwecklinie maOgebend ist, sondern
eher Wert- und Sinnzusammenhange. Der
Entwicklungsgedanke wird abgelehnt, das
Gesetzliche dadurch vielleicht zu wenig
betont. Spranger geht metaphysisch und
ethisch-normativ vor, der einzelne Mensch
ist nicht geworden, sondern verkörpert von
vornherein eine der möglichen Typenideen,
daher kommen die kollektiven Einflüsse von
Tradition, Sitte, Volkstum bei Spranger etwas
zu kurz.
Die Diskussion laDt den Standpunkt des
mehr im physikalischem Geschehen der
hirnphysiologischen Prozesse verankerten
StandpunktesderGestaltpsychologieKöhlers
und Wertheimers im Zusammenhang und
Gegensatz zum Kruegerschen Strukturbe-
griff klarer hervortreten. Stern betont die
sinn- und bedeutungsphilosophische Ein-
Rundschau
247
stellungim Personalismus gegenüber seinem
früher starker biologistisch orientierten
Standpunkt und weist auf die Psychoanalyse
als ein Forschungsgebiet hin, wo auch die
Probleme der Ganzheit, der gefühlsbetont
wirksamenKomplexe, wesentlich sind, wenn
auchdieLeitlinie derPersönlichkeitbei Adler
durch Miteinbeziehung des UnbewuQten
fiber die rein phanomenale Betrachtungs-
■weise der Strukturpsychologen hinausgeht.
Literaturangabe;
Dilthey, W., Ideen über eine beschreibende
und zergliedernde Psychologie. Sitzungsber.
d. Kgl. PreuO. Akad. d.Wissensch. 1894.
Krueger, Felix, Arbeiten zur Entwicklungs-
psychologie. Leipzig, W. Engelmann, 1914.
Das Sammelreferat Selz-Bonn:
,Über Persönlichkeitstypen und die
Methoden ihrer Bestimmung" verfolgt
das Strukturproblem im Rahmen einer spe-
zielleren Aufgabe, eben derjenigen, den Ty-
pus, sozusagen die Formel der Persönlichkeit
zu finden. Die Persönlichkeitsforschung ist
ein altespsychologischesProblem,besonders
der Geschichtswissenschaft und hat durch
Dilthey wesentliche Beeinflussung erfahren.
Dilthey wendet eine Methode des ver-
stehenden, einffihlenden Verfahrens an, die
sich gliedert in die Erkenntnis des Weltbildes
zur Zeit der zu untersuchenden Persönlich¬
keit, der Wertungen der Persönlichkeit und
schlieOlich in die Feststellung der Abhangig-
keit zwischen Weltbild und Wertrichtungen,
in den Hinweis der historischen Bedingtheit
der Werttypen. Den typischen Bildern der
Weltanschauung entsprechen nach Dilthey
besondere Persönlichkeitstypen; dem Eudai-
monismus, Naturalismus die sinnlich ge-
bundene Persönlichkeit, dem Idealismus,
Indeterminismus der heroische Mensch, der
durch sein Handeln dieUmwelt fiberwindet,
dem Pantheismus der kontemplative Mensch,
der sich in universeller Harmonie mit der
Welt eins ffihlt.
Spranger fibernimmt im wesentlichen die
Diltheysche Methode, will aber nur die
Charakterisierung der Wertrichtungen allein
geiten lassen, wahrend doch bei Primitiven
und Kindern eine andere qualitative Be-
schaffenheit des BewuGtseins vorliegt, die
eine Komplexbestimmtheit durch Wert-
richtung der Persönlichkeit ausschlieQt.
Spranger zielt nun darauf ab, Strukturen der
Wertrichtungen herzustellen. Seine sechs
Typen sind Idealtypen, die sich empirisch
nur selten vollstandig verifizieren lassen.
Und doch hat Spranger gerade dadurch, daQ
er ffir seine Typen die objektiven Kultur-
formen als Leitfaden benutzt und somit un-
bewuöt die induktive Methode der Natur-
wissenschaft hinzunimmt, einé sehr brauch-
bare Methode der Persönlichkeitsforschung
geschaffen.
Als zweite Hauptrichtung der Persönlich¬
keitsforschung wird die Jasperssche Schule
genannt. Jaspers’ verstehende Psychologie
der Weltanschauungen, die in der Dialektik
Hegels wurzelt, und eine stark metaphysische
Einkleidung aufweist, nimmt als Hauptein-
teilungs-Gesichtspunkt ein formales Merk¬
mal an: Die Konstanz oder Labilitfit der
Wertrichtungen des Menschen liefert den
Persönlichkeitstypus. Dieses Prinzip lafit
sich sowohl in der ganzen Menschheits-
entwicklung (vgl. Hegel) als auch in der
Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen
mehroder weniger stark nachweisen. Gerade
hier ergeben sich wertvolle Beziehungen zur
modernen Jugendpsychologie, insbesondere
der Pubertatsforschung. Wenn der tradi-
tionelle Mensch mit der Konstanz derWert-
richtung seine Selbstverstandlichkeit ver-
liert, so tritt dieTendenz zur Relativierung,
dasSophistentum auf; der chaotische Mensch
ist da, utd erst, wenn er sich zu neuen Wert-
idealen durchringt, die sein ganzes Leben
fortan herrschend beeinflussen, so ist der
damonische Typus Mensch entstanden. Es
ergeben sich aus dieser Typenaufstellung
Jaspers’ wertvolle Beziehungen zu psychia-
trischen Typen, etwa den hysterischen Men¬
schen, der unter den chaotischen Typ zu
rechnen ware.
248
Rundschau
Die Sprangersche und Jasperssche Rich-
tung sind augenblicklich die wirkungs-
reichsten Typenforschungen, denen sich die
Forschungen von Stern, Starbuck, Lucka,
Müller Freienfels unterordnen lassen, in-
dem sich erstere der Jaspersschen Richtung,
letztere der Sprangerschen Forschungs-
methode anschlieOen.
Als dritte Methode der Typenforschung
geht der Vertragende aufOstwalds induktiv
gewonnene Typen des romantischen und
klassischen Menschen ein. Ostwald ninimt
zugleich einen hypothetischen Strukturzu-
sammenhang an und schlieOt daraus wieder
empirisch auf die LebensauDerung seiner
Typen, vermischt dadurch seine Methode
und geht etwas zu sehr a priori vor.
Die vierte groBe Hauptrichtung der Typen¬
forschung fallt in das Forschungsgebiet
der differentiellen Psychologie, wo durch
Korrelationsstatistik und Experimente der
mehr oder weniger wahrscheinliche Zu-
sammenhang eines primaren Merkmals
mit einem sekundaren festgestellt wird.
Die verschiedensten Merkmale können als
Ausgangspunkt dienen. Rasse, Beruf, Ge-
schlecht usw.; es ergibt sich hier ein weites
Feld moderner Forschung, wo besonders
Heymans und seine Schule zu nennen ist,
der durch Fragebogenund Sammlung psycho-
graphischen Materials seine Korrelations-
typen als empirische Strukturtypen auf-
gestellt hat. Unter diese groDe Haupt-
gruppe der Persönlichkeitsforschung in der
differentiellen Psychologie gehören die Ar-
beiten von Liepmann, insbesondere auch
die Forschungen der Marburger Schule
Jaensch überden eidetischen Typus.
Die fünfte Hauptgruppe der Typenfor¬
schung, die Typen der Psychiatrie, stéht in
enger Beziehung zur differentiellen Psycho¬
logie, geht doch die Psychiatrie stark induktiv
empirisch vor und nimmtvielfachdasExperi-
ment zu Hilfe. Hierher gehort die Typen-
lehre von Jung, die Alfred Adler mit seiner
Leitlinie des Daseins und der Freudschen
Richtung mancherlei Anregung verdankt.
Die Jungschen Typen sind allgemeine Ein-
stellungstypen, Funktionstypen,die sich nach
objekt- und subjektbestimmtem Verhaken
gruppieren, dem extravertierten objektbe-
stimmten Menschen und dem intravertierten
mit dem Reservate des Ichs. Interessante An-
wendungen auf literarische Erzeugnisse gro-
Ber Denker wie Schiller, Meister Ekkard und
indische Mythologie lassen die Fruchtbar-
keit der Jungschen Typologie erkennen.
Kretschmers zyklothyme und schizothyme
Typen nehmen als Einteilungsgesichtspunkt
die endogene Stimmungslage des Menschen
und die Gefühlserregbarkeit nach auBen hin
an. Der zyklothyme wird nach seinem an-
geborenen Temperament gewertet, wobei
die Stimmungsproportionen zwischen hypo-
man und traurig maBgebend ist, wahrend
beim scHizothymen Typ die Beziehungen zum
Objekt entscheiden. Kretschmer stellt hier
dem hyperasthetischen den anasthetischen
Menschen gegenüber, je nachdem das Ob¬
jekt einen über- oder unterwertigen EinfliiB
auf die Psyche ausübt.
Literaturangabe:
Adler, Alfred, Praxis und Theorie der In-
dividualpsycbologie. Wiesbaden 1921.
Giese, Fritz, Der romantische Charakter.
Langensalza 1919.
Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen.
Berlin, Springer, 1919.
Jung, C. G., Psychologische Typen. Zürich 1921.
Kretschmer, Körperbau und Charakter. Berlin,
Springer, 1921.
Spranger, Ed., Lebensformen. Halle, Nie-
meyer, 1921.
Stern, William, Differentielle Psychologie.
Das Korreferat S o mm er, GieBen,
erganzt insbesondere die psychiatrische
Typenlehre und gibt zunachst einen histo-
rischen Überblick über die Typenforschung.
Sommer betont, daB im 20. Jahrhundert die
Familien- und Vererbungsforschung und die
Gruppenpsychologie als wesentliche ErgSn-
zung der Einzelforschung an die Seite zu
treten hat, wobei in der Methodik vor allem
die Beziehungen zur Tierpsychologie zu
Rundschau
249
pflegen sind. Sommer vermiDt bei Kretsch-
mer eine gründliche objektiv experimentelle
Forschung und genügende Verwertung der
Ausdrucksbewegung und Reflexe. Eine
Charakterlehre müsse unbedingt durch eine
Reflexlehre gestützt werden, treten doch
auBerordentlich haufig durch Gehirnvor-
stellungen zerebrale Hemmungen auf die
Reflexe ein. Insbesondere das Studium des
Genies und des Erfinderfyps will Sommer
durch exakte experimentelle Untersuchung
ausbauen und faBt seine Forderungen für
die Charakterlehre dahin zusammen: Eine
Charakterlehre hat zu bestehen in 1. experi-
menteller und beobachtender Psychologie,
2. in Familienforschung, 3. in Kultur- und
Völkerpsychologie und Volksgeschichte.
In der Diskussion hebt Litt hervor, dafl
die Sprangerschen T ypen nicht so sehr a priori
hypothetisch konstruiert seien, sondern daB
auch sie seelische Erfahrungen zusammen-
faBten, so daB im wesentlichen kaum ein
Unterschied im Erkenntnisverfahren zwi-
schen den empirischen und den konstru-
ierten Typen bestünde. Jaensch betont
den engen ZusammenhangderKonstitutions-
lehre mit der naturwissenschaftlichen For¬
schung, der Gegensatz zwischen Struktur-
psychologie und experimenteller Psycho¬
logie lieBe sich besonders in der Jugend-
psychologie vereinigen. Der Wertbegriff
Sprangers müsse noch auf elementareren
Gebieten erweitert werden. Erismann da-
gegen sieht zwischen natur- und geistes-
wissenschaftlicher Forschungsmethode noch
grofie Gegensatze. Selz bekraftigtin seinem
SchluBwortdie Einheitlichkeit derForschung
nach natur- und geisteswissenschaftlicher
Methodik. Auch in der Naturwissenschaft
bilde die Hypothese, die Annahme von Struk-
turzusammenhangen, die notwendige Grond¬
lage der Forschung. Sommer faBt den an-
scheinend so starken EinfluB Diltheys auf
das ganze Problem eher als eine Wieder-
belebung, als den Teil einer fortschreitenden
Entwicklung auf, so „daB der Begriff* ver-
stehende Psychologie Diltheys wahrschein-
lich bald überwunden sein würde.
Das Sammelreferat Peters, Mann-
heitn: „Vererbung und Persönlich-
keit", konstatiert für den heutigen Stand
der Vererbungsforschung auf psychischem
Gebiete ein vorwiegend negatives Resultat.
Die Methoden der Biologie lassen sich nur
mit Vorsicht auch aufs Psychische anwenden.
Es gibt dort kaum voneinander unabhangige
Erbanlagen, wie sie etwa Mendel bei nied-
rigen Organismen untersucht. lm Psychi-
schen sind Eigenschaftsanlagen wie Struk-
turen zusammengekoppelt, wobei noch be¬
sonders zu berücksichtigen ist, daB die
manifeste Eigenschaft auf unterschiedlicher
Aniage beruhen kann. Immerhin laBt sich
der Mendelsche Fall, wo Eigenschaften durch
dominante und rezessive Erbanlagen auf die
Nachkommen übergehen, aufs Psychische
anwenden. Gerade hier haben experimen¬
telle Untersuchungen ergeben, daB Misch-
typen selten aüftreten und insofern die
Mendelsche Aufspaltung der Eigenschaften
auch fürs Psychische gilt. Doch muB be¬
sonders betont werden, daB das Milieu als
Entwicklungsreiz die latente Aniage zu ver-
schiedener Entfaltung bringen kann. Nur
bei gleichen Milieufaktoren darf man einiger-
maBen gesicherte Ergebnisse nach der Men-
delschen Methode erwarten, wenn man auch
auf exakte Zahlenergebnisse völlig verzich¬
ten muB. Weil nun aber im Psychischen
das Milieu eine ganz auBerordentlich groBe
Rolle als Faktor der Gestaltung der mensch-
lichen Persönlichkeit spielt, so empfiehit
sich für die Lösung des Problems von Ver-
erbung und Persönlichkeit in der Psycho¬
logie nicht eine Untersuchungder Erbanlagen,
die der strukturellen Natur wegen sehr
schwierig und unsicher sein dürfte, sondern
es laBt sich das Problem durch eine Erfor-
^chung von der Milieuseite aus vielleicht
eher in Angriff nehmen.
Die Einzelreferate zeigen im wesent¬
lichen das Vorwiegen derselben Problem-
250
Rundschau
stellung wie der Sammelreferate. Die Per-
sönlichkeitsforschung nimmt auch hier einen
breiten Raum ein und liefert wertvolle Er-
ganzungen und Einzelforschungen zu dem
in den Sammelreferaten umrissenen Pro-
gramm.
VoigtI&nder, Leipzig, behandelt die
„Problematik der Geschlechtsunter-
schiede*. lm Gegensatz zu Weininger, der
a priori in Mann und Frau Geist und Un-
geist verkörpert, findet sie als Hauptunter-
schied zwischen den Geschlechtern einen
formalen, nicht sachlichen Gesichtspunkt,
namlich die Objektbeziehung zur Umwelt.
Beim Mann bestimmt sich der Gehalt und
Reichtum des Lebens nach dem Gebiete,
dem er sich zuwendet, die Frau weist nicht
dieselbe intensiv bewuCte Objektbeziehung
auf; ihr psychisches Leben spielt sich eher
im Ablauf der eigenen Bewegtheit ab. Die
Frauenpsyche lieCe sich etwa dem Meere
vergleichen, wo in lebendiger Bewegtheit
jede Bewegung nachzittert und immer wei¬
tere Kreise zieht.
Gruhie, Heidelberg, weist in seinem
Vortrag „Selbstbiographie und Per-
sönlichkeitsforschung" auf die groCe
Vorsicht hin, die bei Benutzung von Auto-
biographien zur Persönlichkeitsforschung
anzuwenden ist. Er zeigt im einzelnen die
mannigfachen Fehlerquellen auf, die in Auto-
biographien das wirkliche Verstandnis der
Persönlichkeit erschweren, wenn natürlich
auch die Autobiographie als wertvolles
Quellenmaterial in vieler Hinsicht nicht zu
unterschatzen ist. Die Gefahr besteht darin,
daU der Selbstbiograph rückschauend sich
als Idealtypus sieht und dementsprechend
seine eigentlichen Motive verwischt oder
andere unbewuflt unterschiebt, auch das,
was er wesentlich nennt, demgemaO aus-
wahlt. Besonders für den Historiker ist
wichtig zu wissen, dal3 es tatsachlich im
Leben Momente gibt, wo Motive offensicht-
lich nicht da sind und es falsch ware, durch-
aus Motive sehen zu wollen. Die Stimmungs-
lagen wahrend der Niederschrift einer Auto¬
biographie, dem Verfasser meist unbewuCt,
farben den Sachverhalt; die Ursachen
für endogene Verstimmungen werden nach
auOen hin projiziert. Am schlechtesten fun-
giert der Greis als Autobiograph, das Ge-
dachtnis laQt nach, und der Lebensverlauf
wird unter den Gesichtspunkten der doch
erst spater erworbenen Weisheit überblickt.
Ebenso führen auch auCere Lebensumstünde,
besonders solche unangenehmer Art, oft zu
falscher Darstellung der eigenen Persön¬
lichkeit. Nie darf man den Gesichtspunkt
auOer acht lassen, was ist so gewesen, was
wünschte der Autobiograph, daö es so war.
Und doch gibt uns die ganze Art der Auto¬
biographie einen tiefen Einblick in das Wesen
der Persönlichkeit, aber nicht durch das Was
der Darstellung, sondern durch das Wie.
Der Stil selbst, die Art, das eigene Leben
anzusehen, das Berauschen an eigenen
Worten, das Tempo der Niederschrift sind
eng mit dem Charakter wesensverwandt,
nicht nur mit der Intelligenz.
Girgensohn, Leipzig, rührt in seinem
Vortrage „Die Erscheinungsweise reli-
giöser Gedanken“ an das schwierige
Problem, die Persönlichkeit von der Seite
her zu erfassen, die am tiefsten im Persön-
lichkeitskern verankert ist. Er bringt nur
einen kleinen Ausschnitt seiner umfang-
reichen Arbeit, indem er hier nur die reli-
giöse Gedankenwelt erörtert, die Gefühls-
und Glaubenswelt zurücktreten laDt. Die
denkpsychologische Versuchsmethodik be¬
steht darin, dafi der Versuchsperson ein
Reizwort, etwa Schöpfung, gegeben und sie
aufgefordert wird, die sich ihr nun auf-
drangenden, innerlich geschauten Bilder und
Stimmungen im Protokoll niederzuschreiben.
Als Ergebnis stellt Girgensohn fest, daO es
ein rein religiöses Denken, abgesehen von
den Erscheinungsarten, deren er mehrere
unterscheidet, nicht geben kann, daO das
psychologische Denken nie ganz rein ist,
und ware es das, so würde damit der leben-
Rundschau
251
dige Seelenaugenblick vernichtet sein. lm
strengen, diskursiven Denken überschreit
die psychologische Denkweise sich selbst
und wird logisch sachlich. Nur im intuitiven
Gedankenerlebnis waltet der ganze Reich-
tum der Seele; der sachliche Gehalt ist
logischer, die Erscheinungsweise religiöser
Natur. Für die Erscheinungsweise nun ist
das Gefühl und die Tendenz zur Bildung
konkreter Symbole als Vorstufe religiöser
Ideen, an die sich das religiöse Erlebnis
noch im Denken und Fühlen vereint, heftet,
charakteristisch. Das Wort tritt bei der Er¬
scheinungsweise religiöser Gedanken am
wenigsten auf, ist am wenigsten anschaulich,
hingegen spielt die Fahigkeit zur Einfühlung
in fremde Ideen, das sich völlige Zueigen-
machen fremder Gedankengange, eine Art
von Ichprozessen für das religiöse Erleben,
eine ganz hervorragende Rolle.
Giese, Halle, nimmt in seinem Vortrage
„Kompensationswerte der Persön-
lichkeit® ein eigentlich psychiatrisches
Problem mit statistischen Methoden in An-
griff. In enger Fühlungnahme mit der
Sprangerschen Typologie stellt er als Kom-
pensationswert der allzu einseitig entwickel-
ten Persönlichkeit Sachwerte fest, neue
Objektgebiete, denen sich das Interesse der
Menschen zuwendet. Giese versteht also
hier unter Kompensation nicht eine funk-
tionelle Ausgleichung, eine Selbstregulie-
rung des psychischen Apparates formaler
Natur, wie es die Psychanalytiker, insbe-
sondere Jung, durch ihre Typenforschung
unter Mitheranziehung des UnbewuCten als
ausgleichende Gegentendenz zum bewuDten
Leben getan haben. An der Hand lexiko-
graphischer Unterlagen und zahlreicher
Autobiographien sogenannter öffentlicher
Persönlichkeiten stellt Giese die scheinbare
Anderung in der Leitlinie der Persönlichkeit
fest; es treten sowohl simultane Spaltungen,
als auch, und zwar noch haufiger, sukzessive
Anderungen der gegebenen Struktur der
Psyche auf. Oft ist eine Spaltung zwischen
Nührberuf und der eigentlichen Veranlagung
zu konstatieren; dann gibt es auch Leute
mit Doppelbegabung, die einmal hier, ein-
mal dort arbeiten, auQerdem kommt noch
die Kompensation in den Muöestunden, die
Tendenz zum spielerischen Ausgleich, in
Frage. Wenn natürlich auch gegenüber dem
statistischen Material gröBte Vorsicht am
Platze ist, besonders, weil es sich hier um
Selbstangaben der Persönlichkeiten handelt
und statistische Methoden an sich schon
leicht tauschende Ergebnisse liefern, so ist
es erfreulich, welche greifbaren Resultate
Giese mit seiner Methode erreicht, liegen
doch in der Abgrenzung der Hauptberufs-
gruppen aus dem lexikographischen Material
besonders groOe Fehlerquellen vor. Giese
beantwortet die Frage nach dem Sachgebiet,
auf dem die Tendenz zur Spaltung besonders
stark ist, und nach der Herkunft der Per¬
sonen, die zur Spaltung neigen. Als Haupt-
ergebnis ist zu würdigen, daC der Techniker
einen ganz besonders ausgesprochenen
Typus darstellt, keinen Mischtypus, der am
allerwenigsten die Neigung und Fahigkeit
hat, sich einem anderen Berufe zuzuwenden,
auch in seinen Lieblingsbeschaftigungen
sehr einseitig ist, wahrend beim Literaten
die Tendenz zur Spaltung den gröDten Um-
fang hat. Padagogische Neigung ist unter
allen Berufsgruppen stark vertreten. Bei
der Frau ist die Tendenz zur Spaltung im
allgemeinen geringer als beim Mann. Nur
die Frau als Künstlerin neigt starker zur
Spaltung als der Künstler. Als nachstes
Problem, das sich auf diesem Wege der
Bearbeitung in Angrilf nehmen lieCe, stellt
Giese die psychologische Erforschung der
Statistik des deutschen Vereinswesens auf,
WO der Mittelmensch vertreten ist, auf den
die Mode, die Zeittendenzen sehr viel star¬
ker einwirken, so dalJ solch kollektiver
Mensch weit mehr in seiner Leitlinie von
auBen als von der eigenen Struktur seiner
Persönlichkeit her beeinfluBt wird.
252
Rundschau
Wlrth, Leipzig, spricht über das Thema:
„Zur Zurückführung der seelischen
Akte auf BewuOtseinsinhalte und
psychische Dispositionen." Wirth
bringt seinen theoretischen Standpunkt in
der Psychologie zum Ausdruck. In engem
Anschluli an Wundt vertritt er die Ansicht,
daC alle höheren seelischen Akte genau so
wie die niederen auf Inhalte zurückzufiihren
seien. Jeder Erkenntnisakt weise auf das
Dasein von Inhalten zurück. So wie in der
physiologischen Differenzierung die Zelle
als letztes einheitliches Element auftrete,
erscheine es notwendig, den einzelnen Be-
wuDtseinsinhalt klarer herauszuheben, be-
tone doch auch die ganze Richtung der psy-
chophysischen Mefimethoden das inhaltliche
Element des seelischen Erlebens und führe
zu einer einheiilichen kausalen Auffassung
auch im Bereiche der Psychologie, zwar
nicht ganz in dem Sinne Köhlers, der die
Einheitlichkeit in der elektrolytischen Struk-
tur der physiologischen Gestalten sehe und
vielleicht etwas zu gewaltsam vorgehe, son-
dern unter Mitheranziehung biologischer
Grundfaktoren.
Der Akt ist für Wirth eine erst spater aus
dem Inhalt gewonnene Abstraktion. Hierin
unterscheidet sich Wirth von Husserl, der
den Akt scharf vom Inhalt getrennt und das
bewuCte Ich seinem Gegenstand gegenüber-
gestellt hat. Wirth sucht unter Betonung
des Inhalts, der Quantitat in pythagoraischer
Auffassung allgemein guitige Bedingungs-
zusammenhange zu schaffen, die ihren Voll-
wert aber erst bei Anwendung auf konkrete
Gegenstande erhalten.
Literaturangabe:
Wirth, Wilh., Die experimentelle Analyse des
BewuBtseinsphanomens. Braunschweig 1908.
Als zweite Hauptproblemgruppe der Ein-
zelreferate ist neben der Persönlichkeits-
forschung der Erwachsenen die Psychologie
des Kindes zu nennen. Hier sprach Frei-
Hng, Marburg, über „die Beeinflussung
des Schülertypus durch die Unter-
richtsart“. Freiling hat eine groCe Zahl
von Knaben und Madchen gleicher Alters-
stufe auf ihre eidetische Aniage hin unter-
sucht und ist dabei auf ungemein auffallige
Verschiedenheiten gestoCen. Den Grund
für diese Tatsache sucht Freiling im Schul-
system. Der Typus der Arbeitsschule pflegt
durch planmaDige Durchbildung die Sinne,
durch Malen, Zeichnen und Silhouetten-
schneiden die Anschauung und das Vor-
stellungsleben. Die Lernklasse dagegen laCt
die eidetische Aniage durch allzu groDe Be¬
tonung des logisch abstrakten Wissens ver-
kümmern. So ist es erklarlich, daC sich be-
deutend mehr Kinder mit ausgesprochen
eidetischer Aniage in der Arbeitsschule fin-
den, als unter den gleichaltrigen Kameraden
in der Lernschule. Das neue Ergebnis von
Freiling besteht also darin, dafi er neben der
bekannten engen Beziehung der eidetischen
Aniage zu den innersekretorischen Drüsen-
funktionen des Körpers nun auch psychische
Faktoren aufdeckt, welche auf die eidetische
Aniage einen fördernden oder nachteiligen
EinfluO ausüben können. Wie man den T-
und B-Typus durch geeignete Medikamente
modifizieren kann, so auch durch richtige
Wahl und Zuführungsart der psychischen
Nahrung. Es wird also als möglich hin-
gestellt, den Schülertypus durch Arbeits-
unterricht zu beeinflussen, besonders weil
beim Kinde alle Aniagen noch plastisch sind,
und es empRehlt sich, auch Synüsthesien
zu Hilfe zu nehmen, die beim Kinde hauRg
auftreten und zu gröCerer Deutlichkeit der
Anschauungsbilder führen.
Jaensch, Marburg, zeigt in seinem Vor-
trage „über das Verhaltnis von experi-
menteller und strukturpsychologi-
scher Forschung in der Jugendpsy-
chologie** eine neue Richtung, auf der es
sich erhoffen laGt, die geisteswissenschaft-
liche und experimentelle Forschung in ge-
meinsamem Schaffen und wechselseitiger
Befruchtung zu vereinen. Eingehend hat
der KongreD das Problem der Typen der
Rundschau
253
Erlebniswelt erörtert, versucht, Formen
des Sinn- und Wertzusatnmenhanges aufzu-
decken. Jaensch hat es nun unternommen,
der Erlebniswelt des Jugendlichen mit Hilfe
der experimentellen Methoden naherzu-
kommen. In der ökonomisch-technischen
Einstellung der alteren Jugendpsychologie
Meumanns, die auf Leistungsmessung ab-
zielte, wuOte man noch nichts über die innere
Erlebniswelt des heranwachsenden Kindes.
Hier im Gebiete der Vorstellungswelt des
Jugendlicben sind noch unbekannte Krafte
verhanden, die der padagogischen Aus-
nutzung harren.
Jaensch versucht nun, den asthetischen
Typ Sprangers mit den eidetischen Typen,
die er experimenten an Jugendlichen nach-
gewiesen hat, in Beziehung zu setzen. Die
Geistesart des Künstlers steht dem Jugend¬
lichen viel naher als die Art des Gelehrten;
doch ist im letzten Jahrhundert durch die
Entwicklung des logisch-wissenschaftlichen
Denkens der Rationalismus auch in die
Padagogik eingedrungen. Infolgedessen hat
die künstlerische Neigung des Kindes oft
nicht die genügende Beachtung gefuhden.
Wie unter Künstlern oft Eidetiker vorhanden
sind, man denke nur an den Franzosen
'Balzac und überhaupt das ganze französische
Volk, das einen groöen Prozentsatz an Ei-
detikern aufweist, so hat sich auch eine enge
Beziehung zwischen hoher Zeichenbegabung
und eidetischer Anlage beim Jugendlichen
konstatieren lassen. Es ist hierbei nun nicht
so einfach, daC der Jugendliche nur seine
Anschauungsbiider nachzeichnen könnte, die
verschieben und verlangern sich dabei in
der Strichrichtung; im Gegenteil stellt sich
eine bewuGte Getrenntheit der Anschauungs-
und Vorstellungsbilder für gute Zeichner
als unbedingt notwendig heraus. Inter¬
essante Einblicke in das produktiv künst¬
lerische Schaffen des jugendlichen Eidetikers
bei geeignetem Unterricht gibt die Aus-
stellung des Lehrers Heckmann aus dem
Landerziehungsheim llsenburg.
Jaensch weist dann noch auf die enge
Beziehung der eidetischen Anlage zum
romantischen Weltbild, etwa Schellings oder
Novalis’ hin, geht doch der Erzeugung der
Anschauungsbilder ein eidetischer Zustand
voraus, eine gewisse Erregung mit intensiver
Gebundenheit ans Objekt, die stark an Er-
lebnissederMystikererinnert. VorlaufigmuC
man sich natürlich darauf beschranken, den
seelischen Unterbau, wie Jaensch es nennt,
bei den Jugendlichen experimenten zu er-
forschen. Erst spater wird es gelingen,
hinsichtlich des seelischen Oberbaus bei
bleibender eidetischer Anlage über das
Jugendalter hinaus neue Aufschlüsse zu
gewinnen.
Jaensch weist im Schlufiwort der Aus-
sprache auf den grofien EinfluB hin, den das
eidetische Phanomen auf alle Funktionen
des seelischen Lebens überhaupt ausübe.
Es laBt sich nicht nur auf optischem Wege,
sondern auch anderweitig nachweisen und
ist primar bei alteren Jugendlichen von
einer starken Gefühlswelle getragen, die
dem eidetischen Phanomen vorangeht. Für
Jaensch istdie Jugendpsychologie im Gegen-
satz zu Meumann theoretisch. Wahrend sie
für jenen padagogisch, d. h. praktisch war,
kommt für Jaensch die Frage nach der Her-
vorbringung von Leistungen erst in letzter
Linie in Betracht.
Zur Gruppe der Vortrüge aus der Kinder¬
psychologie gehort noch Volkelt: „Primi-
tive Komplexqualitaten in Kinder-
zeichnungen". An der Hand von Licht-
bildern, welche die Zeichnungen eines sechs-
jahrigen Madchens darstellen, wird die
merkwürdige kindliche Art des Erlebens
gekennzeichnet. Die primitiven Kinder-
zeichnungen zeigen eine Starke des einheit-
lichen Erlebens, wie sie dem Erwachsenen
vollstandig verlorengegangen ist. Die Vor-
lage des Würfels und Quaders wird dyna¬
misch als rund und lang erfaBt und dement-
sprechend mit ausgesprochen motorischem
Zug in der Zeichnung dargestellt. Es ist
Rundschau — Buchbesprechungen
255
prüfung in ahnlicher Art bei Hunden und
Pferden vorzunehmen, urn die intelligen*
testen herauszubekomnien,scheint uns trotz
der guten Ergebnisse, die Katz bei seinen
Hühnern erreicht bat, verfrüht. Von einer
angewandten Tierpsychologie sind wir trotz
der Katzschen Versuche noch weit entfernt,
Überblickt man den ganzen Problemkreis
des Kongresses, so darf man wohl sagen,
daB in Zukunft bald weitere Ergebnisse auf
dem Gesamtgebiete der Psychologie zu er-
hoffen sind. Wenn auch der KongreC ge-
zeigt hat, daQ vielfach noch methodische
Streitfragen eine Hauptrolle spielen und daQ
die Wissenschaft der Psychologie eben noch
nicht auf dem Standpunkt der Physik an-
gelangt ist, in demselben MaOe gesicherte,
wohlerprobte Methoden zu besitzen, so hat
der KongreQ doch bewiesen, daD die Haupt-
schwierigkeit der Vereinigung natur- und
geisteswissenschaftlicher Methodik ihrer
Lösung um ein bedeutendes Stück naher-
gekommen ist.
Für die angewandte Psychologie ergeben
sich aus dem KongreC mancherlei Anre-
gungen. Zwar sindProbleme derPsychotech-
nik stark in den Hintergrund getreten,aber es
laCt sich gerade aus der allgemein-psycholo-
gischen Einstellung heraus für den speziellen
Problemkreis der PsychoteChnik mancherlei
entnehmen. Bei der Eignungsfrage und
Begabtenauslese tritt die Aufgabe der Per-
sönlichkeitserfassung als Typ im ganzen all-
zu leicht zurück gegenüber dem Vielerlei der
Einzeltests. Hier bieten die verschiedenen
Methoden der Bestimmung des Typus einer
Persönlichkeit wertvolle Erganzungen. Die
angewandte Tierpsychologie von Katz zeigt,
daC man sogar schon bei den Tieren mit In-
telligenzprüfungenErfolgezuverzeichnenhat.
Über den Vortrag Marbe: „Zur Psycho¬
logie der Unfallverhütung“ sowie Klemm:
, Arbeitswissenschaftliche Studiën" wird
noch berichtet werden. Cauer.
Buchbesprechungen
Habrich, Leonhard, P3dagogische Psy¬
chologie. Band I: Das Erkenntnis-
vermögen (4. Aufl.), 344 S.; Band II: Das
Strebevermögen (5. Aufl.), 348 S.;
Band III: Willensfreiheit und P3d-
agogik des freien Wollens (2. Aufl.),
483 S. Kempten, Verlag von Kösel
& Pustet, 1922.
Die Besonderheit dieses umfangreichen
Werkes der padagogischen Psychologie liegt
nicht in einer besonderen Anordnung wissen-
schaftlich-psychologischer Tatsachen und
Forschungsergebnisse — in dieser Hinsicht
bringt das Werk nichts wesentlich Neues —,
sondern in der Grundlegung der padagogi¬
schen Psychologie, in dem Aufbau auf die
aristotelisch-scholastische Philosophie. Der
Verfasser kann keine „Psychologie ohne
Seele" geben, sondern die Frage nach der
Seele, nach ihrem Wesen, nach der Unsterb-
lichkeit bildet für ihn den Mittelpunkt, von
dem aus die padagogische Psychologie ihre
Grondlagen gewinnen muC. Er kampft gegen
einen einseitigen Intellektualismus und sucht
einem Idealismus im Sinne Willmanns den
Boden zu bereiten. Im Mittelpunkt steht für
ihn die Willensfunktion, und es erhebt sich
hinsichtlich der Vorstellungswelt die Frage,
wie diese zu gestalten sei, um einen guten
Willen hervorzurufen. Schon aus dieser
Einstellung wird deutlich, daC Verfasser die
Herbartsche Padagogik ablehnen muC, wenn
seine eigenen Aufstellungen freilich auch
nicht so ganz ohne Beziehung zu dieser sind.
Im Mittelpunkt der padagogischen Psycho¬
logie steht für den Verfasser das Problem
der Willensfreiheit; für ihn ist die Freiheit
des Menschen, zu wollen, eine erwiesene
Tatsache, der Mensch kann seine Vernunft
frei gebrauchen; das Kind kann dies noch
nicht, weshalb man bei ihm auch von einem
freien Willen nicht reden kann. Der Beweis
für das Vorhandensein der Willensfreiheit
liegt im BewuCtsein der Verantworilichkeit,
256
Buchbesprechungen — Eingegangene Schriften
im Gewissen. Wenn nun Willensfreiheit als
eine eigenartige Vernunfttatigkeit bezeichnet
wird, so wird der Wille doch wieder intellek-
tualisiert. Es ist auch durchaus nicht richtig,
daO ein konsequenter Determinismus zum
Fatalismus führen müsse. Als das Ziel des
Menschen und der Erziehung bezeichnet
Habrich die Tugend. Tugend aber bedeutet
für ihn die Erfüllung des göttlichen Willens.
Der Mensch untersteht dem Gebot Gottes,
und er ist insofern also heteronom; indem
er dieses Gebot aber in sich selbst vorfindet,
ist er doch auch wieder autonom. Damit
sucht also Verfasser die bedrohte Willens¬
freiheit wieder zu retten. Tugend wird be-
trachtet als ein bestimmter Habitus des
Wollens, als erworbene Vollkommenheit.
Die Aufgabe der Erziehung ist es, den Men¬
schen zur Tugend zu führen. Drei Wege
unterscheidet er hier: Gewöhnung, Frei-
tatigkeit und Selbsterziehung. Er verfolgt
nun den Gang der Erziehung auf den ver-
schiedenen Gebieten. Endlich verfolgt er
die normale und krankhafte geistige Ent-
wicklung. — Wir sind gewiU nicht in den
Grundlagen und in verschiedenen Punkten
mit dem Verfasser einverstanden; wir wür-
den eine padagogische Psychologie anders
begründen und aufbauen; allein eine Kritik
ist hier nicht möglich, da diese sich in erster
Linie an die Grundlagen wenden müOte.
Dazu ist hier indessen nicht der Ort.
Erich Stern, GieBen.
Koehier, F., Wesen und Bedeutung des
Individualismus. Eine Studie. (Philo-
sophische Reihe, 59. Band.) München,
Rösl & Co. 1922. 189 S.
Die kleine,anregendgeschriebeneSchrift
sucht, ausgehend von einem geschichtlichen
Überblick über die Entwicklung des Indivi¬
dualismus, dessen Wesen und Bedeutung
für die Kultur der Gegenwart herauszu-
arbeiten. Psychologisch interessant sind
besonders die Ausführungen des V'erfassers
über den Individualismus des Kindes und
über die differentielle Psychologie der Ge-
schlechter. Die Rolle des Individualismus
für das geistig-kulturelle Leben wird ein-
gehend gewürdigt. Der Verfasser sieht aber
auch sehr scharf die Grenzen eines ab-
soluten Individualismus, der leicht in Un-
gebundenheit ausartet; so klingen seine Aus¬
führungen dahin aus, daQ nur dem sozial
gebundenen Individualismus Berechtigung
zukomme. Erich Stern, GieBen.
Eingegangene Schriften
Baumgarten, Dr. Franziska, Psychotech-
nik. (Russisch.) l.Teil: „Untersuchungen
über die Eignung zu Berufsarbeiten."
(246 S.) 8®. Berlin 1922. Verlag: Büro der
wissenschaftlich-tecbnischen Abteilung des
Obersten Volkswirtschaftsrates.
Bopp, Prof. Dr. Llnus, Moderne Psycb-
analyse, katholische Beichte undPad-
agogik. Religionspadagogische Zeitfragen
Nr. 8. (100 S.) 8». Kempten 1923. Josef
Kösel & Friedrich Pustet.
Friedlaender, Kurt, Th., Der Weg zum
Kaufer. Eine Theorie der praktischen Re-
klame. Mit 108 Abbildungen im Text. (VllI,
181 S.) 8®. Berlin 1923. Julius Springer.
Herzlg, Gotthard, Wertbestandsspiegel.
(Französisch.) Übersicht über das gesamte,
nach dem Studium der Reformsprachmethode
„Mertner", Ausgabe Französisch, erworbene
Wort- und Begriffsmaterial. (87 S.) 8®. Kemp¬
ten. Gesellscbaft für Verbreitung zeitgemaBer
Sprachmethoden.
— — desgl. Englisch (64 S.).
Mertner, Reformsprachmethode. Englisch
für Deutsche. Band 1—6. (480 S.) 8®. Kempten
1923. Gesellschaft für Verbreitung zeitge¬
maBer Sprachmethoden.
Mertner, Reformsprachmethode. Fran¬
zösisch für Deutsche. Band 1—6. (476 S.)
8®. Kempten 1922. Gesellschaft für Verbrei¬
tung zeitgemaBer Sprachmethoden.
Mertner, Robert, Fremde Sprachen durch
mechanische Suggestion. Grundsktze
zeitgemaBer Sprachübertragung. 121. Auflage.
(64 S.) kl. 8®. Kempten 1923. Gesellschaft
zur Verbreitung zeitgemSBer Sprachmethoden.
Philosophle-Bfichlein. Ein Taschenbuch
für Freunde der Philosophie. Heraus-
gegeben von Dr. August Horneffer. Zweiter
Band. (78 S.) kl. 8®. Stuttgart 1923. Franckh-
sche Verlagsbuchhandlung.
Pieper, Wllh., Dr.-Ing., Taylorsystem-
Literatur. Ein Wegweiser vornehmlich für
Bergleute. (Abhandlungen aus der Braun-
kohlen- und Kali-Industrie, Heft 3.) (32 S.)
8®. Halle a. S. 1922. Wilhelm Knapp.
Stumm, Der Mut im Kriege. Beobach-
tungen und Betrachtungen. (27 S.) 8". Leipzig
1922. Otto Hilimann.
Für die Schriftleitung verantwortlich; Prof. Dr. W. Moede und Dr.C.Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafte 14. — Verlag von S.Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Hdrtel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. JUNI 1923 9. HEFT
Die Praktische Psychologie erscheint in monatllcben Heften im Umfange von zwel Bogen. Prelt des Junibeftes 4000 Mark
fura Inland. FQrs Aualaod besoodere Prelae. (Prela bel unmlttelbarer Zuatellung unter Kreuzband im Inland eInacbtieOlicb
österreicb • Uogam 4500 Mark.) Beatelluogea oebmen alle Bucbbandlungeo, die Post aowie die Verlagsbucbhandluog entg^eo.
Anzeigen vermittelt die Verlagabuchbandlung S. Hiriel in Lelpzig, KÓnlgatraOe 2. Poatacheckkonto Lelpzig 226. — Alle
Manuakrlptaeoduogen und darauf bezQgllcbe Zuacbriften aind zu richten an die Adreaae der SchrlMeitung: Prof. Dr.W. Moede
und Dr. C. Piorkowakl, BerIinW30, LultpoldstraOe 14.
Über Unfallversicherung und Psychotechnik
(Nach einem im April 1923 auf dem Leipziger PsychologenkongreB gehaltenen Vortrag)
Von Karl Marbe, o. ö. Professor an der UniversitSt Würzburg
I m ersten Band melner Glelchförmigkeit in der Welt (München. S. 384 fT.) habe
ich den Satz aufgestellt, daO die Wahrscheinlichkeit für einen Menschen, einen
Unfall zu erléiden, nach der Anzahl seiner früheren ünfnlle zu bemessen ist.
Personen, welche z. B. innerhalb fünf Jahren mehrere Unfalle gehabt haben,
werden also nach meiner Theorie in den unmittelbar folgenden fünf Jahren
durchschnittlich mehr Unfalle erleiden als solche Personen, die in den ersten
fünf Jahren nur einen ünfall erlitten haben. Auch werden die letzteren nach
meiner Meinung in den zweiten fünf Jahren im allgemeinen gefahrdeter sein als
solche, die in den ersten fünf Jahren gar keinen Unfall hatten.
Obgleich diese Lehre mit der vielfach üblichen Praxis der Versicherungs-
gesellschaften im Einklang steht, welche den versicherten Personen nach mehreren
Unfallen, ja oft schon nach dem ersten Unfall kündigen, so wlrd sie doch haufig
mehr als humorvoll denn als richtig angesehen. Man betont, daO, von seltenen
Ausnahmen abgesehen, ein Kausalzusammenhang zwischen den einzelnen ünfallen
einer Person nicht bestehe und daO man deshalb die Erwartung spaterer Unfalle
nicht auf frühere Unfalle gründen dürfe. Trotz dieses Einwandes, auf den spater
zurückzukommen sein wird, ist die Lehre richtig.
Es gibt irgendwo in der Welt eine Versicherungsgesellschaft, welche in einer
militarischen Abteilung die Versicherung aktiver Offiziere und Unteroffiziere der
deutschen Armee gegen Unfalle aller Art betreibt und in welcher eine Kündigung
gegenüber den Personen, die mehrfach Unfalle hatten, nicht stattzuhnden pflegt.
Einer meiner Schüler, Herr Nico Greiveldinger, hat nun die Verhaltnisse bei
dieser Militarversicherung naher studiert und aufs Geratewohl 3000 Personen
herausgegrifFen, die zehn volle Kalenderjahre oder nach der Zeit vom Eintritt
bis zum Ende des Eintrittsjahres noch neun volle Kalenderjahre versichert waren.
Er steilte dann für jede dieser 3000 Personen Anzahl und Jahre der Unfalle fest,
wobel als erstes „Jahr“ bel den weniger als zehn volle Kalenderjahre versicherten
Personen die Zeit vom Eintritt bis zum Schluü des fraglichen Kalenderjahres
angesehen wurde. Ich habe dann in Verbindung mit Herrn Greiveldinger dieses
Material zur Prüfung der erwahnten These benützt.
P. P. IV. 9.
18
258
Marbe, Über Unfallversicherung und Psychotechnik
Diejenigen Personen, die in den ersten fünf Jahren keinen Unfall erlitten,
nenne ich Nuller; diejenigen, die in dieser Zeit nur einen Unfall batten, nenne
ich Einser; diejenigen, die in diesen ersten fünf Jahren mehr als einen Unfall
batten, sollen Mehrer heiOen. Wir bestimmten nun die Anzahl der Nuller, Einser
und Mehrer und zahlten die Anzahl der Unfalle dieser drei Kategorien von Per¬
sonen in den zweiten fünf Jahren ah. Hieraus ergab sich für jede der drei
Gruppen die durchschnittliche oder mittlere Unfailzahl pro Person in den zweiten
fünf Jahren. Das nahere ergeben folgende drei Zahlen, welche die mittleren Un-
fallzahlen der Nuller, Einser und Mehrer bedeuten;
0,52
0,91
1,34
Man sieht: Die Nuller haben in den zweiten fünf Jahren durchschnittlich
weniger Unfalle als die Einser und diese weniger als die Mehrer. Letztere zeigen
im Mittel reichlich 2 V 2 mal so viel Unfalle als die Nuller.
DaO es sich aber hier nicht um ein Zufallsresultat handelt, sondern daO unsere
Theorie durch unser statistisches Material wirklich bewiesen wird, ergibt sich
daraus, daB der Verlauf der mittleren Unfallzahlen für die Nuller, Einser und
Mehrer im gleichen Sinne wiederkehrt, wenn wir statt die 3000 Falie zusammen-
fassend zu betrachten, das Material in drei Fraktionen zu 1000 oder in sechs
Fraktionen zu 500 einteilen. Ja selbst wenn wir zehn Fraktionen zu 300 bilden,
zeigen die Mehrer in den zweiten fünf Jahren immer eine gröBere mittlere Un-
fallzahl als die Nuller. Nur die mittlere Unfailzahl der Einser fallt bei der
Fraktionierung in zehn Gruppen zu 300 zweimal aus der Ordnung heraus.
Wir haben nun auch die Unfalle in den beiden ersten und in den beiden
letzten der zehn behandelten Jahre untersucht. Hier nannte ich Nuller diejenigen
Personen, die in den ersten zwei Jahren keinen und Unfaller diejenigen, die in
den ersten zwei Jahren einen oder mehrere Unfalle gehabt haben. Wir bestimmten
demgemaB die mittleren Unfallzahlen für die Nuller und Unfaller in den letzten
zwei Jahren. Auch diese Zahlen, die ich anbei mitteile, waren wie man sieht,
im Sinne meiner Theorie deutlich verschieden:
0,24
0,42
Die Unfaller haben hiernach in den letzten zwei Jahren durchschnittlich mehr
und zwar 1,75 mal so viel Unglücksfalle als die Nuller. Zu dem prinzipiell
gleichen Resultat, daB die Unfaller mehr Unfalle zeigten als die Nuller, gelangten
wir in allen Fraktionen, wenn wir drei Fraktionen zu 1000 oder sechs zu 500
oder zehn zu 300 bildeten.
Die Betrachtung der ersten und letzten zwei Jahre bildet also gleichfalls eine
Stütze für meine Theorie. Das letzte Resultat ist aber auch insofern interessant
als es lehrt, daB man aus früheren Unfallen sogar noch nach einem Zwischen-
raum von sechs Jahren gewisse Schlüsse auf spatere Unfalle ziehen kann.
Marbe, Über Unfallversicherung und Psycbotechnik
259
Die Behauptung, die zu unseren statistischen Untersuchungen führte, ist nun
nicht nur richtig, sie erweist sich vielmehr bei naherer Betrachtung geradezu
ais trivial. Die Versicherungsgesellschaften pflegen mit Rücksicht auf die Ge-
fahrlichkeit ihrer Risiken sogenannte Gefahrenklassen zu statuieren. Die Büro-
beamten geboren i. B. einer niedereren Unfallgefahrenklasse an als die aufierhalb
des Büros beschaftigten Ingenieure oder gar als die Dachdecker und Feuerwehr-
leute. Die Zuteilung der gegen Unfall zu versichernden Personen in die ein-
zelnen Gefahrenklassen findet also nach MaOgabe der Gefahrlichkeit ihrer Berufe
statt. Auch bei unserer Militarversicherung werden verschiedene Gefahrenklassen
statuiert, wovon bald noch naher zu reden sein wird.
Hat man nun festgestellt, daO innerhalb einer Zeit t von N Personen gewisse
Personen keinen, andere einen und andere mehr als einen Unfall erlitten haben,
so wird man annehmen dürfen, daB die Personen mit mehr als einem Unfall im
Mittel einer höheren Gefahrenklasse angehören als die mit einem oder gar als
die mit keinem Unfall. Es ist demnach zu erwarten, daO die Personen mit mehr
als einem Unfall auch in einer auf die Zeit t folgenden Zeit ti mehr Unfalle
haben werden als die mit einem oder gar als die mit keinem Unfall. Denn mit
der höheren Gefahrenklasse wachst natüriich auch die Wahrscheinlichkeit, in
Zukunft Unfalle zu erleiden.
Unser Satz, daB die Wahrscheinlichkeit spaterer Unfalle nach früheren Un-
fallen zu bemessen sei, würde demnach einfach darauf beruhen, daB die ver-
schiedenen Berufen angehörigen Personen in verschiedenem MaBe gefahrdet
sind und daB die verschiedene Gefahrdung durch die verschiedenen Berufe in
der Vergangenheit auch in der Zukunft fortbesteht. Im Sinne dieser Betrachtung
habe ich auch schon in meiner Gleichförmigkeit in der Welt unseren Satz auf
den EinfluB der verschiedenen Berufe zurückgeführt. Ich habe aber dort auch
noch ein anderes Moment als Stütze für meine Theorie herangezogen, das wir
hier als das persönliche bezeichnen können.
Die Aussicht, Unfallen zu entgehen, ist in weitem Umfang von der Eigenart
der in Frage kommenden Person abhangig. Es gibt offenbar gewisse physio-
logische und psychologische Qualitaten, die ganz abgesehen von ofFensichtlichen
körperllchen und seelischen Defekten, zu Unfallen disponieren. Wir dürfen da-
her von einem persönlichen Moment oder einem persönlichen Faktor reden, der
beim Zustandekommen der Unfalle mitwirken kann.
GewiB gibt es Unfalle, bei denen der persönliche Faktor keine Rolle spielt.
Wenn jemand von einem Ziegelstein verletzt wird, der sich, ohne daB dies voraus-
zusehen oder zu erwarten war, von einem Dache ablöste, so spielt die Person
des BetrofFenen hier kaum eine Rolle. Jedem andern hatte wohl das gleiche
passieren können. Für das Zustandekommen anderer Unfalle ist aber die Eigen¬
art der in Frage kommenden Person sehr wesentlich. Der eine kommt beim
Abspringen von der Trambahn leichter zu Fall als der andere, dieser bringt als
Landwirt seine Finger eher in die Futterschneidemaschine als jener. Da die
18 »
260
Marbe, Ober Unfallversicberung und Psychotechnik
Vermeidung von Unfallen auch in weitem Umfang übungsfahig ist, so kann auch
die Erfahrung in den persönlichen Faktor eingehen, die jedoch in dem vor-
liegenden Aufsatz noch nicht berücksichtigt werden soll.
Ich habe nun die Ansicht vertreten, daO die Wahrscheinlichkeit spaterer Un-
falle auch deshalb nach früheren Unfallen zu bemessen ist, weil der persönliche
Faktor sowohl beim Entstehen der früheren als dem der spateren Unfalle mit-
wirkt. Die Richtigkeit dieser Behauptung laQt sich durch die bisherigen Zahlen
nicht beweisen. Sie fande jedoch dann eine Stütze, wenn sich zeigen lieQe, daO
unser Satz über den Zusammenhang früherer und spaterer Unfalle auch für
Personen gilt, die ein und derselben Gefahrenklasse angehören. Dies ist wirk-
lich der Fall.
Ich bat Herrn Greiveldinger festzustellen, welchen Berufen die verarbeiteten
3000 Personen angehörten. Da das Material für zwölf Personen aus versicherungs-
technischen Gründen gerade nicht zur Stelle war, so konnten nur 2988 Fest-
stellungen gemacht werden. Nach den Berufen wurde dann konstatiert, in welche
Gefahrenklasse jeder der 2988 Falie gehorte. Hlerbei wurden die drei heute bei
unserer Militarversicherung maOgebenden Gefahrenklassen in Betracht gezogen.
Unsere Militarversicherung unterscheidet heute drei Gefahrenklassen, die
alle versicherten Personen umfassen: erstens die Klasse der Bürobeamten und
standigen Schreiber, sofern sie nicht auGerhalb des Büro- oder Verwaltungs-
dienstes verwendet werden, zweitens die Klasse der im auOeren Dienst tatigen
Militarpersonen mit Ausnahme der Personen in besonders gefahrdeten For-
mationen, welche der dritten und höchsten Gefahrenklasse angehören. Früher
wurden viel mehr Klassen statuiert. Doch hat sich diese detaillierte Spezihkation
nicht bewahrt.
Die 2988 Falie zerfielen in 353 Falie der ersten, in 1674 der zweiten und in
961 Falie der dritten Gefahrenklasse. Wir bestimmten nun wieder für die
Personen der ersten Gefahrenklasse die Nuller, Einser und Mehrer in den ersten
fünf Jahren, und wir berechneten dann die mittlere Unfallzahl der Nuller, Einser
und Mehrer in den zweiten fünf Jahren. Dasselbe wurde für die Personen der
zweiten und dritten Gefahrenklasse durchgeführt. Dann wurden die Materialien
der einzelnen Gefahrenklassen in Fraktionen zu 300 eingeteilt, soweit sie durch
300 ohne Rest teilbar waren. Die nicht mehr durch 300 teilharen Reste der
drei Materialien blieben unberücksichtigt.
Die einzelnen Gefahrenklassen wurden dann in ganz analoger Weise auf ihr
Verhalten in den beiden ersten und in den beiden letzten Jahren untersucht,
wobei jedoch ebenso wie früher nur Nuller und Unfaller statuiert wurden. Auch
hier wurde wieder in Gruppen zu 300 fraktioniert.
Die Untersuchung der einzelnen Gefahrenklassen führte nun prinzipiell zu
den gleichen Resultaten wie die Prüfung unseres Gesamtmaterials. Auch hier
zeigte sich bei der Gegenüberstellung der ersten und zweiten fünf Jahre, daO in
den zweiten fünf Jahren die Nuller weniger Unfalle haben als die Einser und
Marbe, Über Unfallversicherung und Psychotecbnik 261
daO diese weniger Schaden erleiden als die Mehrer. Der Vergleich der ersten
und letzten zwei Jahre lehrte, daB die Unfalier in den letzten zwei Jahren ge-
fahrdeter sind als die Nuller. Auch die Fraktionierung in Gruppen zu 300 be-
statigte diese GesetzmaOigkeiten. Nur in einer einzigen Fraktion ist die mittiere
Unfallzahi der Nuiler um ein Hundertstel gröOer als die der Unfalier.
Wir sehen hiermit die Ansicht, daB die Wahrscheinlichkeit spaterer Unfalle
nach früheren zu bemessen ist, auch innerhalb ein und derseiben Gefahrenklasse
bestatigt. Besonderen Wert iege ich darauf, daB sie auch für die erste Gefahren-
kiasse, in welcher nur im Büro beschaftigte Personen vertreten sind, gilt. Wir
dürfen hieraus schlieBen, daB die Lehre, die wir auch kurz als die der Ab-
hangigkeit spaterer Unfaiie von früheren bezeichnen können, in der Tat nicht
nur auf die verschiedenen Berufe, sondern auch auf die verschiedenen Persön-
lichkeiten der Unfalle erleidenden Individuen zu stützen ist. Auch in dieser
letzteren Hinsicht erweist sich meine Ansicht übrigens als ganz selbstverstandlich,
wenn wir an Stelle der Berufsgefahrenklassen Persönlichkeitsgefahrenklassen
treten lassen. Untersuchungen nach Art der unserigen sind ofFenbar unter Um-
standen geeignet, eine groBe Anzahl versicherter Personen schon nach zwei-
jahriger Beobachtung unter Persöniichkeitsgefahrenklassen zu subsumieren, die
nach eineni Zwischenraum von sechs Jahren noch bedeutsam sein können.
Ein mir befreundeter Kollege meinte, die verschiedenen Unfallzahien der
Nuller, Einser und Mehrer bzw. der Nuiler und Unfalier könnten daher rühren,
daB diese Gruppen von Personen sich in verschiedenem MaBe auBerdienstlichen
sportlichen Nebenbeschaftigungen hingaben. Die verschiedenen Unfaiizahien
waren hiernach nicht auf die Unterschiede der Persönlichkeiten, sondern einfach
darauf zurückzuführen, daB in den ersten fünf bzw. zwei Jahren Nebenbeschaf¬
tigungen ausgeführt wurden, die zur Einteilung in Nuller, Einser usw. führten
und die, weil auch noch in den letzten fünf bzw. zwei Jahren ausgeübt, die ver¬
schiedenen mittleren Unfallzahien innerhalb dieser Zeitraume verschuldet batten.
Um diesen Einwand zu prüfen, griff ich aus unserem Material die im auBeren
Dienst stehenden Unterofflziere heraus, bei denen von sportlichen Betatigungen
in der Vorkriegszeit bekanntlich kaum die Rede sein konnte. Ich gelangte so zu
einem Material von 435 Personen, und ich fand den für das Gesamtmateriai und
für die einzelnen Berufsgefahrenklassen festgesteliten Verlauf der Zahlen auch
für dieses Material und zwar auch, wenn nur die 300 ersten Falie in Betracht
gezogen wurden, bestatigt. Hierdurch dürfte der Einwand, daB unsere Resuitate
nicht auf den verschiedenen Persönlichkeiten, sondern auf den verschiedenen
Nebenbeschaftigungen der untersuchten Personen beruhen, widerlegt sein.
Die vorhin gebrauchte Wendung von der Abhangigkeit spaterer Unfalle von
früheren bedarf auch im Hinblick auf den oben erwahnten Einwand noch einer
Erkiarung. Natürlich meine ich nicht, daB die spateren Unfalle einer Person
regelmaBig von ihren früheren Unfallen kausal abhangig sind. Dies wird nur
ausnahmsweise der Fall sein, z. B. dann, wenn der erste Unfali einer Person in
262
Marbe, Über Unfallversicherung und Psycbotectanik
einem Beinbruch bestand und wenn sie spater infolge der Nachwirkungen dieses
Schadens zu Fali kommt und von neuem ein Glied bricht. Die Abhangigkeit
spaterer Unfalle von früheren wird in der Regel eine bloC logische sein, d. h. sie
wird etwa derart sein, wie die Abhangigkeit des Kreisumfangs vom Radius. Wie
sich mit dem Radius auch der Umfang andert, so andert sich unseren Ergeb-
nissen zufolge mit der mittleren Anzahl der früheren Unfalle einer groOen An-
zahl von Personen auch die mittlere Anzahl ihrer spateren Unfalle. Und wie
wir aus dem Radius eines Kreises auf seinen Umfang schlieDen können, so
können wir aus den früheren Unfallen einer groBen Anzahl von Personen auf
die spateren Unfalle dieser Personen einen SchluB ziehen. Die Stringenz beider
SchluBweisen ist freilich eine verschiedene. In dem geometrischen Beispiel ist
sie eine absolute, in unserem Fali liegen nur nicht unbedingt stringente sta¬
tistische Schlüsse vor. (Über statistische Schlüsse habe ich in melner Gleich-
förmigkeit in der Welt [Band 1, Seite 232ff.] ausführlicher gehandelt.) Die Schlüsse
von früheren Unfallen auf spatere linden ihre Begründung darin, daB Bedingungen
der früheren Unfalle (speziell Beruf und persönlicher Faktor) in die Bedingungen
der spateren Unfalle eingehen.
Es erhebt sich nun die Frage, ob der Beruf oder der persönliche Faktor von
gröBerer Bedeutung für das Entstehen von Unfallen ist. Es hat aber natüriich
keinen Sinn, diese Frage ganz generell beantworten zu wollen. Es kommt immer
auf die Berufe an, welche die zu untersuchenden Individuen tatsachlich ausüben
und auf die persönlichen Qualitaten, die diesen Individuen in concreto eigen-
tümlich sind. Nur ob für eine bestimmte Anzahl von bestimmten Personen der
eine oder andere Faktor gewichtiger ist, laBt sich daher prüfen. Diese Prüfung
haben wir für unser Material vorgenommen.
Wir berechneten die mittleren Unfallzahlen für die Mitglieder der einzelnen
Gefahrenklassen in den letzten fünf bzw. zwei Jahren, wobei sich folgende Werte
ergaben:
Gefahrenklasse
Mittlere Unfallzahlen in den letzten
fünf Jahren
zwei Jahren
1
0,60
0,24
2
0,81
0,29
3
0,88
0,31
Wir sehen hieraus, daB die von der Gesellschaft statuierten Gefahrenklassen
auf viel geringere absolute und relative Unterschiede der mittleren Unfallzahlen
führen als die von uns statuierten Persönlichkeitsgefahrenklassen. Denn die
letzten Zahlen schwanken nur zwischen 0,60 und 0,88 bzw. zwischen 0,24 und
0,31, wahrend die oben mitgeteilten Zahlen des Gesamtmaterials für die Nuller,
Marbe, Über Unfallversicherung und Psychotechnik
263
Einser und Mehrer bzw. die NuUer und Unfaller absolut und relativ ganz er-
heblich viel mehr voneinander abweichen. Hieraus folgt, daO sich innerhalb
unseres Materials die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgefahrenklasse für
das Erleiden von Unfailen in den letzten fünf bzw. zwei Jahren viel irrelevanter
erweist, als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Persönlichkeitsgefahrenklasse.
Die Gesamtheit unserer Resultate scheint die praktische Forderung nahe-
zulegen, die von den Versicherungsnehmern zu zahlenden Pramien auch nach
der Haufigkeit ihrer früheren Unfiille abzustufen. Man könnte also z. B. die
Pramien zunachst nach Berufsgefahrenklassen festsetzen, nach einer gewissen Zeit
aber bei jeder versicherten Person je nach der Anzahl der bisher festgestellten
(Jnfalle Zuschlage oder Ermafiigungen eintreten lassen. Durch eine solche Be-
rücksichtigung der persönlichen Qualitaten der Versicherten würde sich sowohl
die private Unfallversicherung, auf die allein sich unsere bisherigen Unter-
suchungen stützen, als auch die soziale Arbeiterunfallversicherung gerechter ge¬
stalten lassen als bisher. Das bei der Privatversicherung heute beliebte Ver-
fahren, Personen, die mehrere Unfalle hatten, einfach auszustoQen, würde kaum
mehr in Frage kommen, wenn die Zahlungen der Versicherungsnehmer beizeiten
in ein vernünftiges Verhaltnis zu ihrer gröDeren oder geringeren persönlichen
Unfalldisposition gebracht würden. Natüriich können aber praktische Probleme
in diesen Gebieten erst dann ernstlich in Angriff genommen werden, wenn die
von mir angeregten Untersuchungen mannigfach erweitert und vertieft sind.
Meine Lehre von einem persönlichen, zu Unfailen disponierenden Faktor
führt auch auf die Aufgabe, diesen Faktor experimenten zu untersuchen. Die
heute vielgenannten Eignungsprüfungen haben den Zweck, mit Hilfe einer nicht
allzu umfangreichen Reihe von einfachen Versuchen, von sogenannten Tests, die
gröOere oder geringere Eignung des Prüflings für eine bestimmte Berufstatigkeit
im voraus festzustellen. Diese Eignungsprüfungen dienen insbesondere indu-
striellen Zwecken und Zwecken der Berufsberatung. So gut es aber möglich ist
z. B. zu konstatieren, ob dieser oder jener sich mehr oder weniger für das Fach
des Metallarbeiters, des Setzers oder des Lokomotivführers eignet, so gut muB
es auch möglich sein, durch geeignete Prüfungen zu beweisen, ob jemand mehr
oder weniger unfalldisponiert ist oder doch mehr oder weniger zu bestimmten
Unfailen neigt. Würden solche Untersuchungen mit Erfolg an in Betriebe ein-
zustellenden Arbeitern ausgeführt und könnte man auf Grund derselben stark
unfalldisponierte Arbeiter aus bestimmten Betrieben von vornherein ausschalten,
so kame man zu einem Verfahren, das gleichzeitig dem Unternehmer, dem Ar¬
beiter und der Unfallversicherung zugute kame. So lieBe sich die Psychotechnik,
die bekanntlich de facto nicht nur rein psychologische, sondern auch in weitem
Umfang physiologische Fahigkeiten prüft, auch in den Dienst der sozialen Un¬
fallversicherung stellen.
Diese Gedanken sollen zunachst nur ein Programm, eine Anregung darstellen.
Wie man im einzelnen zu verfahren haben wird, muB die Zukunft lehren.
264
Marbe, Ober Unfallversicherung und Psychotechnik
Die allgemeine Disposition zu Unfallen wird sich voraussichtlich nur dann
erfolgreich prüfen lassen, wenn man sich ihre psychologisch-physiologischen
Komponenten klar macht. So weit ich bisher sehe, wird jemand Unfalle im
allgemeinen urn so mehr vermeiden, je mehr Geistesgegenwart er zeigt, je rascher
er eine bestimmte Situation zu übersehen geeignet ist, je geschickter und be-
weglicher er ist, je weniger er Ablenkungen der Aufmerksamkeit zuganglich ist
und je weniger er zu Leichtsinn und Sorglosigkeit neigt. Alle diese Eigen¬
schaften lassen sich aber psychologisch prüfen und sie sind zum Teil schon ge-
prüft worden. Andere wertvolle Fahigkéiten, wie groQe Sinnestüchtigkeit, werden
natürlich gieichfalls der Eignung zur Vermeidung von Unfallen zustatten kommen.
In vielen Betrieben kommen trotz der Unfallverhütungsvorschriften mit Vor-
liebe ganz bestimmte Unfalle vor. Abgesehen von der allgemeinen Disposition
zu Unfallen wird man daher auch die Prüfung der Disposition zu diesen be-
stimmten Unfallen ins Auge zu fassen haben, deren physiologisch-psychologische
Komponenten gieichfalls zu suchen sind.
Die Probe für die ZweckmaOigkeit in Aussicht zu nehmender Prüfungs-
methoden würde vielleicht am besten in Verbindung mit der Statistik stattfinden.
Hat man z. B. statistisch festgestellt, daO von einer groDen Anzahl von Personen
n Personen innerhalb fünf Jahren keine, Personen innerhalb dieses Zeitraums
einen und Uo Personen mehr als einen Unfall hatten, und sind diese Personen
am Schlusse der fünf Jahre noch erreichbar und prüfbar, so werden bei den
Prüfungen die Personen, die keinen Unfall erlitten, durchschnittlich besser ab-
schneiden müssen als die, welche nur einen Unfall oder gar als diejenigen, die
mehrere Unfalle erlitten.
Auf der Tagung der Gruppe für angewandte Psychologie im Herbst 1922 zu
Berlin wurde besonders das Bewahrungsproblem erörtert, d. h. die Frage, inwie-
weit sich die Prüfungsergebnisse der Psychotechniker in der Praxis im Laufe
der Jahre bewahren. Bei den von mir angeregten Untersuchungen liegt das Ver¬
haken der Prüflinge in der Praxis auf Grund statistischer Untersuchungen so-
zusagen von vornherein vor. Hier gilt es, die Methoden zu schaffen, die dieses
auf statistischem Weg ergründete Verhaken durch psychotechnische Unter¬
suchungen zu manifestieren geeignet sind.
DaB zwischen Unfallversicherung und Psychologie Beziehungen bestehen, ist
allgemein bekannt. Die psychologischen Wirkungen der Unfalle versicherter
Personen auf diese Personen und spezieil die sogenannten Unfallneurosen werden
oft diskutiert. DaB aber auch die Voraussetzungen der Unfalle ein dankbares
Gebiet für den Psychologen und spezieil für den Psychotechniker darstellen, soll
durch diesen Aufsatz gezeigt werden. Zum SchluB möchie ich der Hoffnung
Ausdruck geben, daB die Psychologie künftig als praktische Psychologie auch
mit der sozialen Unfallversicherung in Fühlung treten wird.
Die ausführliche Mitteilung meines gesamten Tabellenmaterials an anderer
Stelle behake ich mir vor.
Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwolifeinflyer
265
Arbeitsbeobachtungen am Baumwolifeinflyer
Von Dr. Fritz Giese, Halle und Cöthen
N achstehende kurze und vorlaufige Mitteilung gilt einer psychotechnischen
Studie, die ich in einer mitteldeutschen Baumwollspinnerei anstellte. Letztes
Ziel der Aufgabe war, ein rationelles Anlernverfahren für Baumwollspinnerinnen
abzuleiten. Die Versuche und Beobachtungen stammen aus dem Winter bis Früh-
jahr 1922/23.
Zur Ausarbeitung des Anlernverfahrens bedurfte es zunachst einer zweck-
entsprechenden Betriebsbeobachtung. Hierbei zeigte sich sogleich, daC der
übliche, in der Maschinenindustrie bevorzugte Weg der reinen Zeit- und Be-
wegungsstudie für den Anfang nicht gangbar sein konnte. Denn das betreffende
Unternehmen besaO eine besondere soziologische wie fabrikatorische Struktur.
Soziologisch war zu vermerken, daO der Arbeiterinnenstamm keinerlei der üblichen
traditionellen Berufsqualitaten aufzeigte. Wahrend in typischen Textilgegenden
teils bestimmte Familien, teils Trusts von Werken eine Arbeiterinnenschicht ent-
wickelten, die besondere beruFliche, an sich einseitige, aber qualitativ hochwertige
Fahigkeiten besitzt, war in vorliegendem Fall die Population ausgesprochene
Ungelerntenbevölkerung. Die Frauen kamen aus Schokoladenfabriken, Kartonnage-
oder sonstigen örtlichen Werken, je nach der Arbeitsmarktkonjunktur, wiesen
so gut wie keine Vorkenntnisse auf und standen auch nicht in Parallelgruppen
in Konkurrenz. Bei guter Geschaftskonjunktur strömten sie gleichsam wahllos
hinzu, bei schlechter wieder ab. Fabrikationstechnisch war das Unternehmen
von Tochterfabriken isoliert. Es bildete eine Art Insel in einer Gegend mit teils
chemischen, agrikulturellen oder maschinenindustriellen Unternehmungen. Ein
Austausch Geeigneter oder Ungeeigneter war seitens der Verwaltung schwer
möglich. Die Bevölkerung stand der Sache ohne inneren Kontakt gegenüber.
Hinzu kam die Geschichte der Fabrik, die in den Kriegszeiten aus besonderen, hier
nicht zu erörternden Gründen schlieOlich zum Stilistand gelangt war. Es galt
durchaus Wiederaufbau mit einem winzigen Stamm von früheren Fachleuten und
AnschluO von neuem Personal. DaB hier die scharfe Einführung von Zeit- wie
Bewegungsstudien für den Anfang, mangels Muster von Standardarbeiterinnen,
fehlschlagen muBte, zudem bei der herrschenden innerpolitischen Stellung der
mitteldeutschen Ungelerntenschicht wenig erfolgversprechend war, muBte erkannt
werden. Daher begann ich vorsichtiger mit einigen allgemëinen Studiën, im Be-
wuBtsein, hierdurch keinesfalls für eine hochwertige Industrie das Letzte erlangen
zu können. Diesen Gedanken unterstützte auch die Fertigung selbst, die durch¬
aus erstklassiger, spezialisierter Qualitatsware — England, Tschechei, auch Polen —
noch fern stand, sondern mangels Tradition guten Durchschnitt ohne jedweden
Anspruch auf Finessen erstreben wollte. —
Als wichtigstes wurde zunachst nur der Feinflyer berücksichtigt. Die psycho¬
logische Arbeitsbeobachtung ergab folgende grundsiitzliche Feldstruktur:
266
Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwollfeinflyer
Abbildung 1. Spinnmascbine
Abbildung 1 ist eine Photoaufnahme
einer normalen Spinnmascbine. Man bat
die gedrangte Lagerung der Mascbinen,
ibre sebr gegensatzlicbe Beleucbtung, ibre
horizontale und vertikale Ausdebnung im
Arbeitsfeid ebenso zu beacbten, wie die
akustiscbe Wirkung durcb das Trans-
missionsgerauscb und die Bodenscbwin-
gung aus gleicbem Grunde.
Abbildung 2 und 3 Fübren sticb-
probenbaft naber an die Fragestellung.
Es ist die typische Konstellation aus-
gewahlt, wie sie bei Anfangerinnen und
bei guten Kraften vorliegt: hier eine Ar-
beiterin pro System, glatter Fabrikboden,
alles in bester Ordnung und Obersicht.
Dort Unsauberkeit durcb herumtreibende Baumwollflocken, Drangung der Arbei-
tenden, da jede nur ein knappes Feld beherrscht, also Unübersichtlichkeit und
Naheliegen gegenseitiger Störungen. AuOerdem Nervositat durcb notwendige Nahe
der Betriebsaufsicht (Meister oder Assistent).
Abbildung 4 ist Betriebsphoto einer eingefahrenen Maschine. Die Aufnahme
erganzt die Darstellung des Betriebseindrucks im einzelnen: Man sieht den sebr
groDen EinfluO, den die Verteilung der optischen Aufmerksamkeit bei den Ar-
beiterinnen haben muD, denn die Fülle der Spuien, das Reihenbild der Faden,
die zweckmaOigen Umlaufe der Spuien gehort zunachst zur Arbeitsaufgabe. Ohne
in dieser kurzen Mitteilung auf Zahlen einzugehen, ist doch ersichtlich, daO
der Grundsatz gehaufter Einzelbe-
obachtung beim Geiibten sich zu
einer abstrahierenden Gesamt-
Feldauffassung entwickeln wird.
Die Geübte sieht mit einem Blicke
die Gesamtmaschine und korri-
giertdie Fehler gleichsam aus der
Perspektive. Die AnFangerin klebt
— wie auch schon Bild 2 dartut —
am Feldelement und verliert da-
her die notwendige Beziehung zum
Akkord sebr leicht.
Indessen zeigten die Betriebs-
beobachtungen, daO ein weiteres
wichtiges Moment in dem so- ^ c- • j au-.
° Abbildung 2. Anfangenn bei der Arbeit
genannten Ansetzen des Fadens (Boden stark verflockt)
Giese, Arbeitsbeobacbtungen am Baumwollfeinflyer
267
liegt. Abbildung 5 moge dies verdeut-
lichen.
Von der oberen Spulenreihe — dem Vor-
garn — lauft ein auCerst feiner, fast hauch-
ahnlicher, unfester Faden über drei Quer-
walzen, dem Streckwerk. Von dort aus —
fester geworden — lauft er über einen Faden-
führer zur unteren Spinnspule, deren Ring
die Spindel mit der Holzspule lose umgibt und
einen Reiter (Öse) tragt, die auf dem Ring im
Kreise umlaufen kann. Der Fadenanfang ist
an der Spule befestigt. Diese lauft sehr
schnell urn. Hierdurch spannt sich der Faden
selbst an, das Reiterchen kommt auf dem
Ring in gleitende Bewegung. Da infolge des
hierbei entstehenden Widerstandes aber die Abbildung 3. Saai bei geübten KrSften
Spule schneller umlauft als der Reiter, so
wickelt sich der Faden auf der Spule selbst auf. Damit die Aufwickelung nicht nur auf
einer Stelle der Spule erfolgt, kann der Ring sich ve/tikal heben und senken. Umdrehung
der Spindel nebst Spule erfolgt durch Wirbelantrieb von einer durch Transmissiën be-
wegten Triebtrommel.
Psychotechnisch ist für die Lernenden wichtig, daO sie es verstehen,
1, den Faden beidhandig auf der Spule über Fadenführer und Reiter zu be-
festigen;
2. den abgerissenen oder abzureiOenden Faden (der etwa defekt ist) anzusetzen
am Streckwerk.
Abbildung 4. Eingefahrene Maschine
Die geübte Spinnerin befestigt den Faden
stets sehr rasch und zweihandig, setzt ihn
aber stets einhandig an den Streckwerk-
walzen an. Zu letzterem Zwecke nimmt
sie — je nach Lage — die rechte oder
linke Hand, zieht den festen Fadenrest
der unteren Spule jenseits vom Faden¬
führer hoch, indem sie zugleich die
Verbindung mit dem Wirbel durch Hoch-
heben der Spule auslöste, letztere also
zum Stillstand brachte. Der feste Faden
wird meist mit Daumen und Zeige-
Mittelfinger hochgehalten und an die
untere Streckwerkrolle gebracht. Hierbei
ist folgendes wichtig:
1. darf die Spinnerin keinen Augen-
blick hastig oder angstlich werden, wenn
268
Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwollfeinfiyer
sie mit dem Finger an die — also im Gegensatz zur ausgeschalteten Spindel —
weiterlaufende Streckwerkspule gerat.
2. muO die Spinnerin darauf achten, daO sie mit dem Finger den festen Faden
an den eben gestreckten Vorgarnfaden genau anlegt, d. h. mit dem Augen-
maO ihn anpaOt dem als flockigen Strich auf der Streckwerkrolle erkenn-
baren Anfang.
3. darf die Spinnerin keinesfalls zu früh den Anlegefinger loslassen, da sonst
Fadenfehler entstehen.
Die Spinnerinnen stehen in Akkord, und es ist auCerdem durch Kontrollen fest-
zustellen, wer am haufigsien AusschulJ fertigt und woher der AusschuO abzuleiten
ist. Aus diesem Grunde fallt es nicht schwer,
mittelst der Hauhgkeitsstatistik die Arten der
Fehler oder richtiger die Lernschwierigkeiten
für Anfangerinnen zu erkennen. Hierbei wurden
ausgesprochen geübte und ausgesprochen un-
geübte Spinnerinnen betrieblich beobachtet und
unvermerkt kontrolliert.
Praktisch zeigt sich, daO das Schwerste dasAn-
setzen des Fadens ist, weil immer wieder Fehler —
Verknotungen, Fadenteilaste, Verdickungen —
vorkommen. Alsdann scheint die Überschau über
das groBe Arbeitsfeld schwer zu fallen, was sich
aus brachliegenden Spuien, groben Spinnfehlern
und so aus dem Akkordwert ableiten laOt. Das
Befestigen der Faden, und zwar auch das beid-
handige, lemen dagegen die Frauen anscheinend
weniger schwer, was der psychotechnisch be-
kannten Befahigung des weiblichen Geschlechts durchaus entsprechen würde.
Viertens zeigt sich aber, daQ die Instandhaltung der Maschine für Anfanger zu
den unerfreulichsten Obliegenheiten gehort. Sie kommen — durch das Zwangs-
tempo des Arbeitsvorgangs sowieso in Druck und durch abgelaufene oder ab-
gebrochene Spuien ganz in Anspruch genommen — nicht dazu, über die Teil-
arbeit hinaus den Gesamtüberblick zu behalten, zu dem man auch die sogenannte
Propretat, die Sauberkeit der Maschine, rechnet. Bei der Geübten (s. Bild 3)
ist das Arbeitsfeld spiegelblank, bei der Anfangerin verhoekt. Erst langsam lernt
sie, die Reinigungsbürsten zu bedienen, vorsichtig durch die Fadenreihen — den
Maschinenhintergrund entlang — zu führen, auf den Boden zu achten und jedes
sich herumtreibende Flöckchen rechtzeitig abzufangen.
Eine nahere Analyse der Fehler zeigte, daC im Flockenherumtreiben und
Maschinenunsauberkeit (d. h. nicht Ölschmutz, sondern Flockenstaub) der eine
Grund für Fadenfehler liegt. Derartige Flocken treiben sich an die Faden zwischen
Vorgarn und Spinnschule und ergeben DickenunregelmaDigkeiten. Zweitens aber
Giese, Arbeitsbeobachtungen aiti Baumwolifeinflyer
269
zeigten sich die oben erwahnten Ansetzfehier stark durch Nervositat und
Dekonzentration bedingt. Interessanterweise fanden sich Falie von graviden
Spinnerinnen, die vormals als gut galten, in der Schwangerschaft aber nachlieOen
und Fehler erbrachten. Bei naheren Beobachtungen bemerkte man, daO Ungeduld
vor dem Walzenstück des Streckwerks schuld war, groOe Angstlichkeit, zum Teil
auch Nervositat durch die dauernde Vibration des FuCbodens. Bei bewuCter
Kontrolle wurden Gravide ganz verwirrt und machten grobe Fehler. Die Ver-
sager der Anfangerinnen beim Ansetzen sind zweifelsohne aus einer ahnlichen
geringen Aufmerksamkeitsintensitat abzuleiten wie bei den Graviden.
Das Anlernen selbst erforderte in genanntem Betriebe etwa bis zu drei Jahren.
Diese Zeit ist lang zu nennen, und man könnte vórerst darauF kommen, eine
Eignungsprüfung vorzuschlagen. Indessen schien dies bei einem dergestalt isolierten
Betriebe nicht angemessen zu sein. Auch enthalt der Spinnvorgang Arbeitswerte,
die sehr stark von der Übung abhangen, zunachst schwer fallen, dann leicht be-
herrscht werden: so die beidhandige Fadenbefestigung an der Spule. Anderer-
seits hangt die Leistung ab von charakterologischen Werten, die nicht ohne
weiteres prüfbar sind, urn Gültigkeit zu besitzen für Dauerarbeit im Achtstunden-
tag. Hierher rechnet die Sauberkeit der Arbeitenden (die „Propretat"). Nur die
Aufmerksamkeit dürfte eignungstechnisch prüfbar bleiben, vielleicht auch die
Handruhe. DaQ Gedachtnis und Intelligenz gar keine Rolle spielen, ist aus der
Analyse klar geworden. Unempfindlichkelt gegen Larm der Motoren und Vibration
des Bodens ist ebenfalls Gewöhnungssache und scheint nicht von erheblichem
Belang zu sein, zumal die Lernenden vielfach schon aus Fabriken stammen.
Nachdruck ware daher auf ein rationelles Anlernverfahren zu legen, das fol-
gendes ermöglicht:
1. Rückführung der Anlernzeit auf ein MindestmaO;
2. Erkennung wesentlicher Arbeitsfehler;
3. Sonderübung von Funktionsausfallen.
Hierbei wird die zeitliche Reduzierung ganz individuen liegen und schwerlich
Normalien ergeben. Die Erkennung von Arbeitsfehlern einer Person muB am
Übungsfeld viel klarer zum Ausdruck kommen können als im komplexeren Fabrik-
saal. Das Wichtigste ist aber das dritte: statt Zufaliskorrektur bei oder nach
Entdecken eines arbeitstechnischen Fehlers im Sinne der Inspektion hier ge-
regeltes Einüben der Vorgange, die erkannterweise schwer fallen. Die Zufalls-
korrektur macht nur aufmerksam, übt aber nicht im echten Sinne, drilit nicht
ein. Aus diesen Gesichtspunkten heraus konstruierte ich folgende erste Ent-
würfe für „Anlernvorrichtungen zur Baumwollflyerarbeit".
a) Anlegeübungsmaschine.
Eine ehemalige Zwirnmaschine wurde nach meinen Angaben wie folgt als
Anlegeübungsmaschine umgebaut: Wie beim Feinflyer sind obere und untere
Spuien am Arbeitsplatz gegeben. Auch horizontal ist ein hinreichend breites
270
Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwolifeinflyer
Arbeitsfeld geboten. Die Anlege-
maschine bat aber eine Besonder-
heit. Wahrend im wirklichen Be-
triebe der Faden bekanntlich immer
entweder seibst abreiQt (aus Zufall)
oder abgerissen werden muO, wenn
eine UnregelmaOigkeit beobachtet
wird, oder gelegentlich durch Neu-
aufsetzen der Spule zu Ende geführt
ist, kommt es hier darauf an, den
Kern des Arbeitsvorgangs, das An-
setzen, zwangslaufig als Aufgabe
dem Übenden zu stellen. Die Skizze,
Abbild ung 6, verdeutlicht meinen
Entwurf. Wie sonst laufen Faden
von den Streckerwalzen zu den unteren Spuien. Eingebaut ist aber auf Trans-
missionsband ein AbreiOer, der von einer Seite langsam herankommend Faden
für Faden zerstört. Infolgedessen muB der Übende immer wieder und ohne
Unterbrechung neuansetzen. Der Übungskurs besteht darin, erstlich die Breite des
Fadenfeldes horizontal langsam zu steigern und zweitens die AbreiOfolge im Tempo
zu verandern, langsam ansteigen zu lassen (beides steht in Korrelation). Der Übende
lernt so zwangsmaOig das Ansetzen, d. h. er angstigt sich nicht so vor der umlau-
fenden Walze, er wiederholt standig diese eine .^rbeit, er emphndet trotz Vorgesetzten-
anwesenheit das Neuansetzen nicht als Strafe oder Kritik, er arbeitet zudem an akkord-
freiem Platze. Diesem Vorteil schlieOt sich aber noch die sozial-psychologische
Möglichkeit an, angenommene und lassig werdende Arbeiterinnen auf den Anlege-
übungsplatz strafzuversetzen. Die Übungsmaschine wirkt dann gleichsam beschamend.
Raumlich angeschlossen wurde
seitlich eine Aufmerksamkeits-
übungsmaschine. Hier sind schrag-
parallel eine groDe Reihe weiBer
Garnfaden endlos gelagert. Man
kann aus ihrer Zahl ein beliebig
abstufbares Aufmerksamkeitsfeld
wahlen (siehe Abbildung 7). Zur
Feldabgrenzung dienen einmal die
Bezifferungen der Faden, zum an¬
deren — vertikal — Grenzschnüre
seitlicher Halter, die überdie ganze
Maschinenbreite gespannt werden.
Man kann daher — etwa zwischen
b) AuFmerksamkeitsübungsmaschine
Abbildung 6. Anlegeübungsvorricbtung
Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwolifeinflyer
271
der Zone A, B fF bis F — vertikale und zwischen Nr. 1,2 fF der Schnüre horizontale
Breiten stafFeln. Der Anfanger beginnt mit einem kleinen Pelde und steigt lang-
sam zur Normalausdehnung darin an. Die endlosen Schnüre zeigen Marken:
Kleine Knoten oder auch schwarze Punkte. Der Übende hat die Aufgabe, jede
Schnur, bei der ein derartiges Zeichen auftaucht, soFort festzulegen. Die Schnüre
laufen über vogelrollenahnliche Rader oben und unten. In der unteren Reihe
ist durch eine Friktionswelle durch Motor die Rotation solange gegeben, bis an
einem Bremsungsknopf der jeweiligen Schnur gezogen wird. Alsdann verschiebt
sich das untere Schnurlaufrad proxima! zum Übenden, ist von der Friktionswelle
also entfernt und die endlose Schnur steht still. Es wird als Übungsexponent
die Gesamtzeit bis zum Aufhnden aller Fehler — mit anderen Worten die Gesamt-
bremszeit — gemessen und statistisch verglichen.
c) Übungsplatz für Sauberungsarbeiten
Zur Vermeidung des Anflockens der Baumwollfaden diente eine dritte Ein-
richtutig den Lernenden. Der Entwurf sah ein Gestell vor, das schragparallele
Drahte ausgespannt zeigte (Abbildung 8). Zwei Gleitbahnen — ein oberes und
ein unteres Brett — lagen distal zum Übenden, hinter den Drahten. Es muOte
in die obere eine Walze zwischen die Drahte balanziert und auf Lager gelegt
werden, ahnlich wie am Feinflyer beim Saubern die Walzen zwischen die laufen-
den Paden ohne Anflockung zu führen sind. Auf der unteren Gleitbahn hatte
der Übende lateral-medial-lateral einen Holzklotz vorzuschieben, an Stelle der
Reinigungsbürste, die ebenfalis ohne Fadenberührung durchzuführen ist.
Die Drahte lagen oben auf Federkontakten, die bei geringster Drahtberührung
(durch Schwingung des Drahts) Kontakt gaben und so in einen elektrischen
Zahler Verbindung gaben. Man konnte
dieFehlerzahl unmittelbar bei jederÜbung
ablesen. Wiederum ist das Feld stalFel-
bar. Die Fehlerzahl dient statistischem
Übungsvergleiche.
Die erzielte Lernzeitersparnis in ihren
qualitativen und quantitativen Wirkungen
kann in dieser vorlauhgen Mitteilung noch
nicht angegeben werden, da infolge der
allgemeinen Wirtschaftslage viele Spinner-
innen zur Entlassung kamen und Neu-
ansteliungen nicht zum üblichen Oster-
termin erfolgten. Es handeite sich hier
nur urn Darstellung der Abieitung einer
Anlernvorrichtung aus Betriebsbeobach-
tungen und die jetzige Lage der Psycho-
technik erheischt strengste Zurückhaltung
Abbildung 8
Übungsplatz für Sauberungsarbeiten
272
Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwollfeinflyer
in Mitteilung von Erfolgen, solange nicht durch jahrelange Bewahrung feststeht,
daO gefundene Ziffern nicht nur Augenblickswert besitzen.
Zu gegebener Zeit wird eine Zahlenstatistik veröffentlicht und das Material in
wissenschaftlicher Form unterbreitet werden.
Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe
Von Dr. Tuch f
A n Hand zweier konkreter Beispiele wird im folgenden versucht, einen Beitrag
.zu liefern für die Anwendung und Auswertung der Dreiwortmethode*). Es
handelt sich um Versuche, die in den Seminarübungen des Instituts für Wirt-
schaftspsychologie der Handelshochschule Berlin angestellt worden sind.
Gegeben wurden in der Aufgabe folgende Beispiele:
Flüchtling — Wasser — Rettung
sowie
Kaufmann — Sturm — Schaden.
Für die erste Aufgabe lautete die Instruktion ganz allgemein: „Die drei Worte
sollen auf möglichst viel verschiedene Weisen verbunden werden.®
Für die zweite lautete die Instruktion: „Beim erstenmal batten Sie die Worte
verbunden, wie Sie wollten. Jetzt kommt es darauf an, daC die innere logische
Beziehung da ist, knapp und sachlich. Die innere Bindung muO da sein, phan-
tasiemaOiges Ausschmücken spielt diesmal keine Rolle, solche Lösungen geiten nicht.®
Hiernach erfolgte dann auch, wie wir weiter unten sehen werden, die Be-
wertung der Lösungen.
Die Resultate der zweiten Aufgabe werden im folgenden zuerst behandelt, weil
sie strengere Instruktion aufweist und daher tiefer in das Wesen der Beurteilung
des kombinatorischen Denkens einführt.
Es wurden im ganzen bei „Kaufmann — Sturm — Schaden® von 17 Versuchs-
personen abgegeben 62 Lösungen, von denen 34 als richtig, 28 als minderwertig
resp. falsch bewertet wurden, d. h. es kamen auf jede Versuchsperson durch-
schnittlich 2 richtige und 1,65 minderwertige Lösungen. Als wirklich voll-
gültig anzuerkennende Gedankenverbindungen ergaben sich nur sieben Möglich-
keiten, so daö hierauf prozentual berechnet jede Versuchsperson 28,8 % richtige
Lösungen gegeben hat. Die minderwertigen resp. falschen sind ebenfalls einer
genauen Gliederung unterworfen worden, wobei vier Hauptgedanken als ihnen
zugrunde liegend gefunden wurden, so daB also jede Versuchsperson 41,25 von
Hundert der möglichen falschen Lösungen gegeben hat.
Die Differenzierung der Lösungen an sich war recht günstig. Nach der Punkt-
bewertung, die noch besprochen werden wird, war die Höchstleistung von 11 Punkten
einmal, dann 10 zweimal, 9 zweimal, 8 zweimal, 7 viermal, 6 einmal, 5 zweimal,
*) Vgl- Piorkowski, Untersuchung über die Kombinationsfdhigkeit bei Scbulkindern,
Leipzig 1913.
Tuch, Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe
273
4 einmal und die Mindestleistung 3 zweimal vertreten. Die Mittelleistung war
mithin 7 Punkte. lm allgemeinen wird ein Test, der solche Streuung aufweist,
als guter Test betrachtet, indessen erschien uns doch der Wert erheblich be-
eintrachtigt durch die starke Beimengung ungültiger oder halbwertiger Lösungen,
die gebracht wurden. Die Ursache dafür kann in drei Faktoren liegen: In der
Unzulanglichkeit dieses Tests, d. h. dieser drei gewahiten Begriffe, in der erteilten
Instruktion oder endlich in den Versuchspersonen. Was den Test anbetrifft, so
kann er zu weit oder zu eng sein, d. h. zu viel Lösungen oder zu wenig zulassen.
lm ersteren Falie besteht einmal die Gefahr, daQ keine Streuung statthndet, weil
nahezu alle Versuchspersonen die leicht zur Hand liegenden Lösungen flnden
werden, zweitens würde er, weil eben kaum falsche oder unzureichende Kombi-
nationen statthnden würden, keinen RückschluB ziehen lassen auf das gesamte
geistige Niveau der Versuchspersonen. Dasselbe aber tritt ein, wenn der Test
zu eng ist. Auch hier gibt es, wegen der allzu geringen Anzahi möglicher
Kombinationen, keine Streuung und auch keinen RückschluB auf die intellektuelle
Einstellung der Versuchspersonen. In unserem Falie wollen wir es offen lassen,
inwieweit die vier faischen Gedankengange entstanden sind durch die sehr weit
gehaltene Instruktion oder dadurch, daB die Versuchspersonen nicht genügend
den erteilten Vorschriften gefolgt sind.
Es soll nun im folgenden auf die Prinzipien eingegangen werden, die der
Beurteilung des Tests und der Bewertung der Lösungen zugrunde gelegt worden
sind. Es erschien grundsatzlich notwendig, zunachst die gegebenen drei Begriffe
einer genauen Analyse zu unterwerfen. Wir fragten also: Wodurch wird ein
Kaufmann zum Kaufmann, und in welcher Weise kann er als solcher Schaden
erleiden? Der Kaufmann ist erst in dem Augenblick Kaufmann, indem er mit
einer Ware mittelbar oder unmittelbar in Beziehung tritt. Ohne dieses Moment
ist er nicht Kaufmann, sondern Mensch, Burger, Gatte, Vater oder was immer.
Sobald er aber zu einer Ware in kaufender oder verkaufender Absicht in Be¬
ziehung tritt, wird er Kaufmann, wie andererseits jedes Gut erst dadurch zur
Ware wird, daB es in den kaufmannischen Wirtschaftskreis eintritt. Soll also
der Kaufmann als solcher durch Sturm Schaden erleiden, so scheiden alle die-
jenigen Schaden aus, die ihn nicht gerade in dieser seiner Eigenschaft treffen.
Wir werden sehen, daB eine Reihe von Versuchspersonen dieses Argument
übersehen hat und dadurch zu faischen Kombinationen gekommen ist.
Es war nun zu prüfen, in welcher Weise der Kaufmann durch den Sturm
Schaden erleiden kann. Folgende vier Möglichkeiten sind vorhanden: Er kann
erstens in seiner Ware geschadigt werden, zweitens in seiner Person, drittens in
der geschaftlichen Abwicklung und viertens dadurch, daB die Konsumenten ihm
durch den Sturm ferngehalten werden.
Diese vier Hauptgedanken spalten sich in sleben gleichberechtigte, vollwertige
Lösungen:
P. P. IV, 9.
19
274
Tuch, Die Dfeiwortmetbode als Kombinationsprobe
Bei Nr. 1 sind drei solcher Lösungen verhanden:
la. Der Sturm schadigt die Ware am Ursprungsort. Beispiele: Das Getreide
auf dem Halm, das Obst auf dem Fruchtbaum. Diese beiden Varianten finden
sich zwei- resp. einmal.
l b. Der Sturm schadigt die Ware auf dem Transport. (SchifF, Eisenbahn
hnden sich dreizehn- resp. zweimal.)
l c. Der Sturm schadigt die Ware im Lagerraum resp. in der Verkaufsstatte,
Schaden im Lagerraum hndet sich einmal.
In der Verkaufsstelle werden die Fensterscheiben durch den Sturm eingedrückt,
wobei offen bleibt, ob der Schaden an der Fensterscheibe selbst oder der durch
die Glassplitter an der Ware verursachte Schaden gemeint ist — einmal.
Die Jalousien werden fortgerissen, wobei es ebenfalls oiFen bleibt, ob der
direkte Schaden gemeint ist oder der indirekte, da nunmehr die Waren den
Sonnenstrahlen ausgesetzt sind — einmal.
Für die Lösung Nr. 2 findet sich einmal der Gedanke, daO die Reise des
Kaufmanns durch den Sturm aufgeschoben wird.
Bei Nr. 3, daO namlich die geschaftliche Abwicklung durch den Sturm ge-
schadigt wird, sind folgende zwei Varianten gegeben:
3a. Das mit Waren beladene SchifF wird durch den Sturm aufgehalten —
zweimal.
3b. Die Telephonleitung wird durch Sturm gestort und dadurch die Ge-
schaftsabwicklung gehindert — sechsmal.
4. Lösung. Der Absatz selbst wird geschadigt, da die Konsumenten durch
den Sturm am Einkauf gehindert werden — einmal.
Ganz besondere Beachtung wurde bei der Auswertung der Probe den un-
zutrefFenden Lösungen gewidmet. Wie bereits erwahnt wurde, lagen vier ver-
schiedene Fehlerqueilen für die unzutrefFenden Lösungen vor.
1. Alle solche Lösungen, die ganz allgemein die Aufgabe selbst wiederholten,
muOten abgewiesen werden. Z. B.: Des Kaufmanns Güter können durch den
Sturm Schaden leiden. Oder: lm Mittelalter rnuQte der Kaufmann ungleich mehr
mit Sturmschaden rechnen.
2. Es wird, wie ich bereits ausführte, eine unklare Definition des BegrifFs
„Kaufmann" zugrunde gelegt, so daB der Sinn der Lösung darauf hinauslauft,
daO zwar ein Kaufmann durch Sturm Schaden erleidet, aber eben nicht als Kauf¬
mann. Z. B.: Der Kaufmann erleidet durch Sturm körperlichen Schaden, indem
ihm ein Ziegelstein auf den Kopf fallt. Oder: Der nervöse Kaufmann wird durch
Witterungsverhaltnisse in seiner geistigen Arbeit geschadigt.
3. Unter diese Gruppe fallen diejenigen Lösungen, die einen oder mehrere
der gegebenen BegrifFe nicht in ihrer realen, sondern in bildlicher resp. sym-
bolischer Bedeutung verwertet haben. Z. B.: Betrügerisch geschadigte Kaufleute
pfiegen ihre Entrüstung stürmisch zu auBern. Oder: Tüchtige Kaufleute ver-
stehen es, sich auch durch das stürmische heutige Wirtschaftsleben hindurch-
Tuch, Die Dreiwortmetbode als Kombinationsprobe
275
zusteuern. Oder: MiOerfolg bewirkt beim KauFmann einen Gefühlssturm. Oder:
Das starkbefestigte Haus des Kaufmanns nimmt keinen Schaden durch den
SturmangrifF, ein anderes Mal bat der Börsensturm viel Schaden angerichtet.
Als recht auFfallende Lösung im negativen Sinne erscheint mir, daO bei einem
SturmangrifF der Grenadier KauFmann keinen Schaden erlitt.
4. Bei den Lösungen dieser Gruppe handelt es sich darum, daB zwlschen die
beiden ersten und das dritte Wort ein oder mehrere BegrifFe zwischengeschaltet
werden. Ich Führe zunachst als Beispiele an:
Nicht jeder KauFmann Fürchtet Sturmschaden, z. B. Inhaber von Glasver-
sicherungsgesellschaFten. Der Gedankengang dieser Versuchsperson war etwa
Folgender:
1. Der Sturm beschadigt Fensterscheiben.
2. Der entstandene Schaden laBt den Geschadigten eine Versicherung bei einer
GlasversicherungsgesellschaFt nehmen.
3. Der Inhaber dieses Instituts hat daher durch den Sturm keinen Schaden,
sondern Vorteil.
Eine zweite Antwort lautet: Ein Klaviervirtuose erlitt durch einen Sturm
Schaden am rechten Handgelenk und wurde KauFmann. Der Gedankengang lautet:
1. Ein Klaviervirtuose leidet durch Sturm Schaden an der rechten Hand.
2. Hierdurch wird ihm die Ausübung seines BeruFes unmöglich gemacht.
3. Er muB daher einen anderen BeruF ergreiFen.
4. Er wird KauFmann.
Man sieht, daB hier eine Reihe nicht zum Thema gehöriger BegrifFe ein-
geschaltet und die AuFgabe umgestellt worden ist. Die letzte Konsequenz ergibt
sich übrigens keineswegs zwangsweise, da natürlich der Klaviervirtuose etwas
anderes werden kann als gerade KauFmann.
Diese Art von Lösungen ist ganz besonders wichtig. Sie hat unsere AuF-
merksamkeit intensiv auF sich gelenkt und durch sie sind wir dazu geFührt worden,
eine von der üblichen Art abweichende Beurteilung der Güte der gewahlten
Ausgangsworte und der Bewertung der Lösungen auFzustellen. Wir gingen hier-
bei von Folgendem Gedankengang aus:
Das Zwischenschalten von Mittelgliedern stört die streng kausal — logische —
unmittelbare Verbindung zwischen den drei BegrifFen. Hierdurch wird dem
Eindringen phantastischer BegrifFsverbindungen Tor und Tür geöfFnet. Es ist
zweiFellos möglich, zwischen drei BegrifFen, Falls nur möglichst viele Zwischen-
glieder eingeschaltet werden, immer eine Verbindung herzustellen, wie dies ja
auch haufig bei den ZuruFen beliebiger Worte aus dem Publikum von Variété-
künstlern — dann sogar meist noch in gereimter Form — ausgeFührt wird. Ein
bekanntes Beispiel hierFür ist auch das von Darwin einmal gebrachte, in dem
er auF den Zusammenhang zwischen einer guten Kinderzucht und dem Vorhanden-
sein von Katzen hinwies:
X
19 *
276
Tucb, Die Dreiwortmetbode als Kombinationsprobe
1. Rlnder bedürfen des Klees.
2. Der Klee bedarf der Hummel.
3. Die Hummeln bauen auf den Feldern ihre Nester.
4. Diese Nester werden von Feldmausen zerstört.
5. Feldmause werden von Katzen gefressen, also sind
6. Katzen zur Herbeiführung einer guten Kinderzucht erforderlich.
Piorkowski*) führt einmal das Beispiel an, wie ein Börsianer aus der Meldung,
daO in Amerika ein radikaier Republikaner gewahlt wurde, durch Einschaltung
einer ganzen Reihe von Mittelgliedern und Überlegungen zu dem SchluD kommt,
Aktien eines gewissen Unternehmens zu kaufen, mit der festen Absicht, sie nach
kurzer Zeit wieder abzustoQen. Der Gedankengang ist an sich durchaus schlüssig.
Dennoch könnte ein anderer Börsianer, der irgendeinem anderen politischen
oder wirtschaftlichen Faktor gröQere Bedeutung beimiOt, zu dem entgegengesetzten
Resultate kommen. Hieraus zogen wir den SchiuO, daO solche Tests, die einer-
seits eine spezifische Kenntnis des zu behandelnden Gebietes voraussetzen, und
andererseits mehr eine psychologische als logische Verknüpfung darstellen, wohl
geeignet sind, die Fahigkeit, phantastische Gedankenverbindungen herzustellen,
zu prüfen, aber nicht das rein logische kombinatorische Denken. Das ist ein
grundlegender Unterschied. Und man sollte unseres Erachtens diese beiden ver-
schiedenartigen intellektuellen Fahigkeiten nicht durch eine und dieselbe Probe
zu prüfen versuchen. Will ich das kombinatorische Denken prüfen, so darf ich
nur die unmittelbare streng logische und kausalbedingte Verbindung von Be-
griffen zulassen. Kommen dann trotzdem solche phantastischen Lösungen vor,
wie sie durch Einschaltung mehrerer Begriffe entstehen, so können diese nicht
zur eigentlichen Bewertung der Fahigkeit zu kombinatorischem Denken heran-
gezogen werden, wohl aber zur Bestimmung des Typs der Versuchsperson.
Es sei nunmehr kurz einiges über die erste Probe mit den Ausgangsworten
„Flüchtling — Wasser — Rettung" gesagt: Die, in derselben Weise wie oben aus-
geführt, erfolgte Analyse der Begriffe ergab eine überaus klare und übersichtliche
Gruppierung der Lösungen in vier Hauptgedanken, die sieben gesonderte Lösun¬
gen zulieOen.
Das Wasser bewirkt die Rettung des Flüchtlings:
1. als Transportmittel,
2. als lebenserhaltendes Nahrungsmittel,
3. als Verteidigungsmittel,
4. als politische Grenze.
Nr. 1. Das Wasser als Transportmittel bietet zwei Lösungen:
a) Der Flüchtling kann das Wasser benützen, der Verfolger nicht. Es
gibt verschiedene Varianten; Das Wasser tragt den Flüchtling direkt
als Schwimmer, in einem Kahn usw. Diese Lösung ist zwölfmal
_ gefunden worden.
*) Piorkowski: „Die psychologische Methodologie der wirtschaftl.Berufseignung.“ Leipzig 1919.
Tucb, Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe
277
b) Der Flüchtling benützt das Wasser nicht als Rettungsmittel, wie sein
Verfolger erwartet hatte, und entkommt so: einmal.
Nr. 2. Das Wasser als lebenserhaltendes Nahrungsmittel wird neunmal ge-
funden. Beispiele: Der Flüchtling ist am Verdursten und hndet eine
Oase, eine Quelle, auch eine trübe Pfütze.
Nr. 3. Das Wasser als Verteidigungsmittel wird in zweifacher Weise ange-
führt, aktiv und passiv:
a) aktiv. Beispiel: Der Flüchtling bedient sich eines Wasserschlauchs
gegenüber seinen Verfolgern oder des ausströmenden Dampfes einer
Leitung oder der Flüchtling vernichtet seine Verfolger durch
Schleusenöifnung oder er stöOt die Verfolger direkt ins Wasser.
Diese Varianten wurden je einmal gebracht;
b) passiv. Der Flüchtling wird durch Wasser als Verteidigungsmittel
gerettet: Durch die Flut (wie Moses im Roten Meer) —
durch den Regen, wenn der Flüchtling vor einem Steppenbrand
flieht, oder
durch den Regen, der seine Spuren verwischt und ganz kompliziert —
durch den Regen, der ihn belastende Dokumente vernichtet. Auch
diese Varianten wurden je einmal gefunden.
Nr. 4. Das Wasser rettet den Flüchtling, wenn es als politische Grenze dem
Flüchtling den Übergang gestattet, dem Verfolger nicht. Daö diese
Variante nur einmal gefunden worden ist, scheint uns den SchluQ zu-
zulas.sen, daQ diese Versuchsperson durch ihr Milieu (vielieicht hat sie
derartige Grenzübergange mehrfach beobachtet) zu dieser im aligemeinen
etwas ferner liegenden Lösung gebracht wurde.
Von den 32 als unzureichend resp. als unrichtig zu bezeichnenden Lösungen
seien nur einige besonders charakteristische hervorgehoben:
1. Der Flüchtling Odysseus wird von Athene aus dem Wasser gerettet. Es
fehlt jegliche kausale Verknüpfung und ist im Grunde nichts anderes als
eine Wiederholung des Themas.
2. Aus Wasser für Nichtschwimmer keine Flucht, auch Rettung schwer. —
Keineriei Zusammenhang.
3. Ein Flüchtling streckt die Arme aus dem Wasser und sucht Rettung. Weder
der Flüchtling noch das Wasser werden in einer ihnen charakteristischen
Eigenschaft genommen, und könnten leicht durch andere Worte ersetzt werden.
4. Wasser bildet oft die Rettung für vor dem Leben Flüchtende. Das Wort
Rettung paOt hier nicht, das Wasser ist dem Lebensmüden das „Mittel“ zum
Selbstmord.
5. Der Flüchtling springt vor dem Verfolger ins Wasser, wird aber von einem
Schupomann gerettet. Die Rettung erfolgt aus dem Wasser, nicht durch
das Wasser.
Diese Auswahl mag genügen.
278
Tuch, Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe
Was die Bewertung der Lösungen betrifft, so wurde, wie üblich, die erste
Lösung mit 2 Punkten, die zweite mit 3, die dritte mit 4 usw. gewertet. In der
Probe „Flüchtling —Wasser— Rettung“ wurden, wie schon erwahnt, die phan-
tastischen Lösungen mitgewertet und zwar mit 1 Punkt.
Hingegen wurden bei dem Test „Kaufmann — Sturm — Schaden®, bei dem aus-
drücklich die Instruktion gegeben war, phantastische Lösungen nicht zu bringen,
die dennoch gebrachten in der Weise zur Korrektur der ohne sie aufgestellten
Rangreihe beniitzt, daiJ den gegebenen Lösungen der Quotiënt aus der Anzahl
der minderwertigen Lösungen zu der Gesamtzahl der Lösungen hinzugefügt
wurde. Je kleiner dieser Quotiënt war, d. h. je weniger phantastische Lösungen
gebracht waren, urn so besser die Leistung. Diese Korrektur erscheint uns be-
sonders wichtig für die Falie, in denen verschledene Versuchspersonen denselben
Rangplatz einnehmen und sie ist gerecht, da sie demjenigen, der trotz erfolgter
Instruktion phantastische Lösungen gibt, unter denen, die mit ihm den gleichen
Rangplatz haben, die spatere Stelle anweist.
Als Resultat unserer Untersuchung über die Dreiwortmethode ergaben sich
folgende Forderungen: a) für die Wahl der in der Aufgabe gegebenen drei Worte
resp. für die Beurtellung der Güte dieser Aufgabe, b) für die Erteilung der In¬
struktion, c) für die Bewertung der Lösungen bei dieser Probe:
a) Wahl der drei Worte. Der Wahl der Worte hat die Analyse der drei
Begriffe vorauszugehen. Als Forderungen sind aufzustellen:
1. Die Worte müssen eindeutig sein (nicht etwa Tau, Tor, Bank o. dgl.).
2. Die Begriffe müssen in einen ohne Zwlschenglieder herstellbaren kau-
salen Zusammenhang gebracht werden können.
3. Der Test darf nicht zu viel Lösungen zulassen.
b) Die Instruktion zur Prüfung kombinatorischen Denkens hat folgender-
maOen zu lauten:
1. Es sollen zwischen je zwei der gegebenen Worte derartige Beziehungen
hergestellt werden, daO sich aus ihnen unmittelbar, d. h. ohne Mittel-
glieder, das dritte ergibt.
2. Symbolische oder bildliche Auffassung der Begriffe ist ausgeschlossen.
3. Die Reihenfolge der miteinander zu verknüpfenden Begriffe ist so zu
wahlen, dal3 sich stets eine geschlossene Kausalkette ergibt.
4. Es sind möglichst viele Lösungen zu geben.
c) Die Bewertung.
1. Vollgültig sind nur solche Lösungen, die im Sinne der Instruktion er-
folgt sind. Sie sind an erster Stelle mit 2, an zwelter mit 3, an
dritter mit 4 Punkten usw. zu bewerten.
2. Als halbe Lösung sind zuzulassen und mit 1 zu bewerten Variationen
schon gegebener Lösungen.
3. Die trotz gegenteiliger Instruktion gegebenen phantastischen, d. h. mit
Einschaltung von Zwischengliedern gegebenen Lösungen sind in der
Tuch, Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe
279
Weise zur Korrektur der Rangreihe heranzuziehen, daC der Quotiënt aus
den unrichtigen und der Gesamtzahl der erfolgten Lösungen den ge-
gebenen Lösungen hinzugefügt wird.
4. Diese phantastischen Lösungen sind auDerdem zur Feststellung des Typs
der Versuchsperson verwertbar.
Sollte es sich nicht urn die Prüfung des rein kombinatorischen Denkens, son-
dern urn die Fahigkeit phantastischer Gedankenverbindungen handeln, so fallen
natürlich die Punkte 3 und 4 der Bewertung fort, und auch diese Lösungen
sind als vollwertig einzureihen.
Die Mertnersche Reform-Sprachenlernmethode
Von Studienrat Dr. phil. Heinrich Muller
D ie Erlernung fremder Sprachen ist in der heutigen Zeit für unser Volk doppelt
wichtig, ebenso urn seiner Seibstbehauptung im Wirtschaftskampfe willen wie
zum weltpolitischen Verstandnis fremder Volksart. Der Tiefstand der deutschen
Mark und die sehr erschwerten Einreisebedingungen zwingen uns aber, diese
Sprachen fast ausschlieOlich im Inlande zu studieren. Damit hat die Frage nach
der besten Sprachenlernmethode erneut und für weite Kreise Interesse gewonnen.
DaO die früher übliche Schulmethodik zahlreiche Mangel aufwies, werden viele
Leser aus ihrer eigenen Erfahrung bestatigen können. Die Ergebnisse standen
meist in keinem Verhaltnis zu der aufgewandten Zeit und Mühewaltung. Der
Hauptfehier lag in dem Übergewicht der Grammatik, das die Schuier zwang, sich
einen Wust von syntaktischen Regeln und entlegenen Vokabeln einzupragen, deren
Schwierigkeit der Verwendbarkeit oft umgekehrt proportional war. Besonders
drückte lange auf die modernen Sprachen das Vorbild des altsprachlichen Unter-
richts. Was hier nötig und nützlich sein und zur geistigen Stabilisierung dienen
konnte, wirkte dort ganz unleidlich; „Gymnasialfranzösisch® und „Gymnasial-
englisch“ waren daher BegrifFe von zweifelhaftem Klange. Soweit man dabei
überhaupt von einer psychologischen Orientierung sprechen konnte, muBte man
feststellen, daB die ganze Lerntechnik fast nur das Gedachtnis in Anspruch nahm,
das maBlos überlastet wurde. Entschuidigt wird dieser Zustand in etwas durch
den ganzen Zuschnitt unseres staallichen Bildungswesens, das mit seinen starren
Pflichtfacherfronten den Lehrer zwingt, ein psychologisch bunt zusammen-
gewürfeltes Schülermaterial wenigstens einigermaBen im Gleichschritt ans Klassen¬
ziel zu bringen, und so des Pensendrills nicht ganz entbehren kann.
Aber für reifere, der Schule entwachsene Menschen fielen diese Gründe fort,
und von ihren Bedürfnissen nahm denn auch die Reform ihren Ausgang. Die
geschatzten Toussaint-Langenscheidtschen Unterrichtsbriefe haben schon vor Jahr-
zehnten Lernbeflissenen aus allen Standen und Berufen das Sprachenstudium aus
einer freudlosen Arbeit zu einer genuBreichen gemacht, indem sie ebenso in die
Sprache wie in die Kultur des fremden Landes einführten und dem Lernenden
280
Muller, Die Mertnerscbe Reforin-Sprachenlernmethode
vom ersten Tage an das genaue Idiom in einer sehr sorgfaltigen phonettschen
Umschrift boten in Texten, die nicht konventioneli zurecht gemacht waren, sondern
alle Eigenheiten unmittelbarer SprachauOerung zeigten und den ProzeO des Um-
setzens in die Muttersprache möglichst auszuschalten suchten.
Auch die höhere Schule hat sich diesem Vorgange nicht verschlossen und als
handgreifliches Beispiel für den gewaltigen Fortschritt der Methodik des fremd-
sprachlichen Unterrichts sei auf das bereits dreiClg Jahre alte englische Unter-
richtswerk von Hausknecht hingewiesen, das mit gröQter Frische und Lebendig-
keit auf den Gesprachen zweier englischer Knaben auFgebaut ist, an die sich
Umformungen des gegebenen SprachstofFes anschlieOen, um dann erst eine kurze
Zusammenfassung der Grammatik zu bieten, wahrend die Vokabeln mitsamt der
phonetischen Umschrift in einem getrennt gebundenen Anhang angefügt werden.
Die restlose Verwertung der hier angebahnten und von der modernen Sprach-
wissenschaft erarbeiteten psychologischen Einsichten in die Bedingungen erfolg-
reichen Sprachenstudiums, insbesondere die Erkenntnis, daO das Mittel der Über-
setzung in fremde Sprachen der Sprachaneignung eher abtraglich als zutraglich
ist, hat sich nun die Reformsprachmethode Mertner zur Aufgabe gemacht, die
von ihrem Begründer, Robert Mertner in Kempten, als die mechanisch-
suggestive bezeichnet wird. In der Schrift „Fremde Sprachen durch mechanische
Suggestion" hat er seine Grundsatze niedergelegt, und der Umstand, daO diese
Schrift in drei Jahren weit über hundert Auflagen erlebt hat, spricht für ein
bestehendes Bedürfnis. Bisher erschien ein englisches, ein französisches und ein
spanisches Unterrichtswerk, aus je sechs Heften bestehend.
Das Ganze ist eine Frucht des Weltkrieges, aus Sprachkursen im Gefangenen-
lager erwachsen, deren anfanglicher MiOerfolg den Verfasser veranlaQte, sich ein-
gehend mit den Problemen der Sprachmethodik zu beschaftigen, nachdem er
schon vorher durch langjahrige Tatigkeit im Auslande die allgemein bekannte
Beobachtung gemacht hatte, daO Leute ohne alle sprachlichen Vorkenntnisse, wie
Reisende, Oberkellner und Frlseure, sich nach ganz kurzer Zeit oft schon vor-
trefFlich in der fremden Sprache verstandigten. Die vom Verfasser bei seiner
Arbeit benutzte Literatur zahlt die geringe Zahl der einschlagigen Schriften auf,
so neben den alteren von Ebbinghaus, Wundt, Pöhlmann und Bourdon
die neueren Forschungen von Muller und Pilzecker über das Gedachtnis,
ferner: F. Franke, Praktische Sprachenerlernung auf Grund der Psychologie
(Leipzig); Gouin, L’Art d’enseigner et d’étudier les langues (Paris); J.O.Quantz,
Problems in the psychology of reading (London); Lotti Steffens, Experimentelle
Beitrage zur Lehre vom ökonomischen Lemen (Leipzig).
Für die Darstellung der Mertnerschen Methode entnehmen wir daraus nun
foigendes: Bei der Auswahl des Sprachmaterials ist der Haufigkeitswert der
Wörter maCgebend. Mertner redet hier vom „Münzsystem der Sprache". Wie
es in jedem Münzsystem Geldzeichen von den verschiedensten Werten gibt, den
Pfennig und den Tausendmarkschein, so bestehen ahnliche Verhaltnisse auch in
Muller, Die Mertnerscbe Reform-Spracbenlernmetbode
281
der Sprache. Je haufiger ein Wort angewandt werden kann, urn so gröCer ist
sein Verwendungswert. Die Anzahl der in diesem Sinne hochwertigen Wörter
ist beschrankt. Denn von den etwa 80000 Wortern einer Kultursprache sind es
kaum einige Hundert, denen der Wert eines Worttausenders zugesprochen
werden kann. Diesem erheblichen Wertunterschied schenken wir für gewöhnlich
wenig Beachtung, denn die Schatzkammern der Wortmünzen stehen ja stets zu
unserer beliebigen Verfügung. Beabsichtigen wir jedoch, aus dem Wortschatz
einer fremden Sprache Erwerbungen zu machen, so muO es für uns von groDer
Wichtigkeit sein, über die „Valuta" der einzelnen Wortmünzen genau unterrichtet
zu werden, Wir vergreifen uns sonst vielleicht an den aufgehauften Wort-
pfennigen, anstatt die Worttausender herauszusuchen. Denn im Bereich des
Sprachmünzwesens wird der Worttausender zu genau den gleichen Bedingungen
abgegeben wie der Wortpfennig. In der Kindheit haben wir alle mit sicherem
Instinkt die hochwertigen Worttausender zuerst ergriffen und die Wortpfennige
achtlos liegen lassen und selbst Erwachsene, die in einfachen Verhaltnissen leben,
kommen mit 300 Wörtern taglich aus.
Daraus ergibt sich als erster Grundsatz, kein minderwertlges Wort dem Oe-
dachtnis aufzuzwingen, sondern nur solche Wörter der fremden Sprache, die
sich durch haufiges und kurzfristiges Wiedererscheinen von selbst in Erinnerung
bringen und den lastigen Lernzwang aufheben. In fünfjahriger Arbeit, ausgeführt
von mehr als 1000 Personen, wurde, urn eine einwandfreie statistische Unter-
lage zu schaffen, das ungeheure Material von 11 Millionen Wörtern, die deutschen
Texten entnommen wurden, genau registriert und auf ihren Haufigkeitswert
untersucht. Dabei steilte sich heraus, daU die vier Wörtchen „die®, „der", „und"
und „zu" allein schon 1292144 mal vorgefunden wurden, mithin 11,89% der
deutschen Sprache ausmachen. Die 66 hauhgsten Wörter kamen 5462068 mal
vor und steilten somit 50,06% der deutschen Sprache dar. 320 Wörter vereinigten
7883469 Wiederholungen auf sich, d. h. jeder Auslander, der diese 320 hoch¬
wertigen Wörter beherrscht, wird in deutscher Lektüre von 100 Wörtern bereits
72 verstehen.
Eine zweite statistische Vorarbeit betraf das Wortverwandtschaftsregister, das
alle Wörter der fremden Sprache darauf zu untersuchen hatte, ob in irgendeiner
Hinsicht verwandtschaftliche Beziehungen zu dem begrifflich gleichen deutschen
Wort bestehen, und nach dem Verwandtschaftsgrade verschledene Klassen auf-
zustellen hatte. Je gröBer die Verwandtschaft ist, desto schneller und leichter
wird das fremde Wort vom Gedachtnis des deutschen Lesers übernommen werden.
Die französischen Wörter normal — feu — dos z. B, würden danach drei Gruppen
von verschiedener assoziativer Kraft angehören.
Je nach dem Grade der Verwandtschaft hat dies Register noch die Aufgabe,
darüber zu entscheiden, wieviel Wiederholungen einem fremden Wort zugemessen
werden müssen, bevor es in den geistigen Besitz des deutschen Lesers übergeht.
Diese Kontrolle übt der Wortwiederholungszahler, treffend Assoziations-
282
Muller, Die Mertnersche Reform-Sprachenlernmethode
barometer genannt, der jede im fremden Text vorgekommene Wiederholung
gewissenhaft bucht und so dem Verfasser genau anzeigt, wie hoch das Assoziations-
barometer inzwischen bei dem Leser gestiegen ist. Mit Rücksicht auf die Unter-
schiede der menschlichen Intelligenz wurden dabei die Grenzen der Wortwieder-
holung erheblich weiter gezogen, als der Normalfall erforderte. Bedarf ein fremdes
Wort, damit es vom Gedachtnis eines durchschnittlich befahigten Individuums
übernommen wird, etwa zwölf Vorführungen, so verringert sich diese Zahl urn
ein erhebliches, wenn zwischen diesen ein gewisser Zeitabstand gelassen wird
und die einzelnen Vorführungen bei entsprechender Konzentration von Interesse
und Aufmerksamkeit begleitet werden. Diese Gesetze sind beachtet und sowohl
auf den Begriffs- als auch auf den Ausspracheanzeiger angewandt. Da diese
Hilfsmittel, von denen gleich noch die Rede sein wird, den Text aber nicht unter-
brechen, sondern abseits angeordnet sind, so wird der schneller Apperzipierende
nicht in seinem Fortschreiten gestort und abgelenkt. Diese Elastizitat der Methode
ist mithin für solche Personen von besonderem Nutzen, die schon eine gewisse
Kenntnis der fremden Sprache besitzen und sich nur weiterbilden wollen.
'lm einzelnen verlauft die Tatigkeit des Benutzers der drei bis jetzt vorliegenden
Sprachwerke nun folgendermafien. Zuerst findet er Zeitungsausschnitte, die den
Weltkrieg betreffen und daher im Inhalt interessant und leicht verstandiich, im
Ausdruck mannigfaltig und unverfalscht sind. Spater folgen Erzahlungen, Novellen
und Bühnenstücke, denen man die auCerst geschickte Auswahl nachrühmen
muC. Das Verstandnis des Textes wird durch den „DechiffrierschlüsseP ver-
mittelt. Kleine Ziffern hinter den Wörtern verweisen das Auge biitzschnell nach
rechts zu den dort angelegten „Signalstationen", d. h. anfangs neben, spater unter
dem Text befinden sich Auskunftsspalten, die die phonetische Umschrift des
fremden Wortes und die deutsche Bedeutung enthalten. Die richtige Lautierung
der Vokabeln wird durch einen als Lesezeichen gedachten, leichtfaOlichen pho-
netischen Hilfsanzeiger unterstützt, die richtige Akzentuierung durch einen kleinen
Strich unter der Tonsilbe angestrebt.
Die Benutzung dieser Signalstationen schildert der Verfasser unter dem Bilde
von Schwimmgürtel und Leine, die am Anfang dem Schüler angelegt werden,
deren er sich aber bald entwöhnt, indem mit jedem Tage die Sicherheit und
das Vertrauen in die eigenen Krafte wachsen und der Umfang des Schwimm-
gürtels verringert werden kann, bis schlieOlich nur noch die schlaff herab-
hangende Leine übrigbleibt; d. h. die bewuOten Randnoten werden nach den
oben entwickelten psychologischen Gesetzen allmahlich abgebaut und der Ler-
nende dazu angehalten, in dem fremden Sprachelemente zu denken und zu reden.
Das so durch fortgesetzte Gewöhnung erlangte Können der Sprache ist an
praktischem Wert natürlich dem Wissen von der Sprache überlegen. Trotz-
dem halt auch Mertner den Besitz solider grammatischer Kenntnisse für not-
wendig, so daC er dem Leser in entsprechenden Abstanden die wichtigsten
grammatischen Regeln und Übersichten, in der fremden Originalform, gleich
Muller, Die Mertnerscbe Reform-Sprachenlernmethode
283
übermittelt. Das zeitraubende Nachschlagen in Wörterbüchern dagegen Tallt ganz
fort. Statt dessen hat ein Redaktionsmitglied der „Gesellschaft zurVerbrei-
tung zeitgemaUer Sprachmethoden" in Kempten einen „Wortbestandsspiegel"
herausgebracht, der die vom Lernenden endgültig übernommenen Wörter registriert
und ihm damit den Umfang seines erworbenen Sprachschatzes in einem hand-
lichen Hefte vor Augen führt. Eine psychologische Grammatik schlieOlich und
eine Handelslehre und -korrespondenz befinden sich noch in Vorbereitung.
Alles in allem: eine achtbare Leistung. Mertner hat das Verdienst, die Er-
gebnisse der experimentellen Psychologie nach dem gegenwartigen Stande der
Forschung verwertet und mit sicherem Bliek für die Bedürfnisse der Zeit in
kühnem Wurf ein Werk auf die Beine gestellt zu haben, das das hilFreiche Prinzip
der Taylorisierung auf das Sprachenstudium übertragt. Seine Genugtuung über
den durchschlagenden Erfolg ist berechtigt. Gleichwohl können zwei Bedenken
nicht unterdrückt werden. Nicht jeder Autodidakt wird sich nach der Mertner-
schen Methode ein idiomatisch richtiges Engiisch und Französisch aneignen, ganz
abgesehen von den durch die physiologlschen Unterschiede der Sprachwerkzeuge
gezogenen Grenzen der Fremdiautaneignung. Hierin scheint mir eine Methode
der persöniichen Wechselrede, wie sie die Berlitz-School pflegt, im Vorteil zu
sein. Da deren Verbreitungsbezirk freilich beschrankt ist, so kommt als Ersatz
wieder grade die Mertnerscbe Reformmethode in Frage.
Zum anderen aber dürfte die „mechanische* Übertragung des fremden Idioms
in keinem Falie so „mühelos* und „ohne Kopfarbeit* vonstatten gehen, wie es
in den Prospekten der Gesellschaft in verzeihlichem und psychologisch verstand-
lichem Optimismus behauptet wird. Der Erfolg wird in hohem Grade von
energetisch-moralischen Eigenschaften abhangen, der Fahigkeit zur Konzentration,
der Gewissenhaftigkeit und Ausdauer. Die praktische Psychologie neigt dazu,
diese Faktoren etwas zu vernachlassigen, weil sie sich der experimentellen Er-
fassung oft entziehen.
Und schlieOlich wird auch die sprachliche Begabung wesentlich ins Gewicht
fallen. DaO eine solche existiert, kann doch wohl nicht bestritten werden. Sie
tritt nicht so selten und ausgepragt auf wie etwa die mathematische, zeigt sich
oft nur in einer allgemeinen Disposition für sprachliche Dinge, steigert sich aber
auch bis zur Genialitat, wie historische Beispiele belegen. Über ihr Wesen und
ihre Komponenten wissen wir noch herzlich wenig. Vielleicht daO die Praxis
der Mertnerschen Methode berufen ist, hier wieder auf die Wissenschaft be-
fruchtend zu wirken und sprachliche Talentproben zu liefern. Bei den nachsten
Prüfungen Berliner Volksschulkinder zur Aufnahme in höhere Schulen gedenken
wir einen Versuch in dieser Richtung zu unternehmen.
284
Rundschau — Buchbesprecbungen
Rundschau
Psychotechnik bei den Finnischen
Staatseisenbahnen
Auf Veranlassung des früheren General-
direktors Professor Dr. Wuolle wurde in
Helsingfors ein psychotechnisches Labora¬
torium eingerichtet. Die ersten Prüfungen
sind von Dr. Rosenquist und Fraulein Hjelt
ausgefiihrt worden. Man beabsichtigt, die
Prüfung auch auf Lokomotivführer und das
Personal anderer Abteilungen derEisenbahn
auszudehnen. Das Laboratorium wurde dem
Vorsteher der Werkstattenbüros der Eisen-
bahn dienstlich unterstellt.
Buchbesprecbungen
Berliner, Anna, Die Bedeutung der
RangordnungsmethodefürdieWerbe-
forschung. ZeitschriftfürHandelswissen¬
schaft und Handelspraxis 1923, Heft 1.
Verfasser gibteinen kurzenÜberblick über
die Rangordnungsmethode, die in der ameri-
kanischen Geschaftspraxis von psychologisch
geschulten Werbeforschern allgemein be-
nutzt werde.
Dieses Verfahren ist aus dem taglichen
Leben bekannt: Aus einer Reihe von Bil-
dern z.B. ist dasjenige auszuwahlen, das am
besten gefallt, dann dasjenige, das von den
übrigbleibenden am besten gefallt u.s. f. bis
eine vollstandige Rangordnung der vorge-
legten Bilder verhanden ist. Das Verfahren
wird bei einer groCen Anzahl von Versuchs-
personen — typischen Reprasentanten —
vorgenommen und es wird so eine Tabelle
der Verteilung der Bilder auf die verschie-
denen Rangplatze bei den einzelnen Ver-
suchspersonen gewonnen. Aus den mittleren
Rangplatzen eines jeden Bildes erhalt man
dann die endgültige Rangreihe der Bilder.
Die Rangordnungsmethode hat in der
Werbeforschung vier Anwendungsgebiete:
1. Sie wird angewandt zur Bestimmung
des „Atmospharenwertes", worunter
man die Eigenschaft der Reklame zu ver-
stehen hat, dem Gegenstand und dem Pu-
blikum angepaüt zu sein. — Es wird dabei so
verfahren, dal3 die von einem oder mehreren
Künstlern gelieferten möglichst zahlreichen
und mannigfaltigen Entwürfe den Versuchs-
personen — typischen Reprasentanten —
vorgelegt werden und daQ diese, wie oben
beschrieben, denjenigen Entwurf auswUhlen,
der ihnen am besten geKllt u.s. f. — Jeder
einzelne Bestandteil der Werbung kann dieser
Untersuchung unterworfen werden: Fassung
desTextes, lllustration,Typen, der Name usw.
II. Das zweite groQe Anwendungsgebiet
der Rangordnungsmethode betrifft die » Auf-
machung", z.B. die Untersuchung, welche
Form der Verpackung die geeignete ist, um
den angebotenen Gegenstand möglichst groO
erscheinen zu lassen. Die Instruktion lautet
hier z. B.: „Finde die gröOte Büchse!“
III. Bei dem dritten Gebiet handelt es sich
um Feststellung objektiver Unterschiede,
z.B. die Lesbarkeit einer Reklame.
IV. Das vierte Gebiet ist die Bestimmung
der Zugkraft. Anfanglich ist dabei so vor-
gegangen worden, daD die Versuchsperson
nach der Einstellung, sie sei aufReisen in
einerfremden Stadt und sie müsse sich einen
ihr abhanden gekommenen Gegenstand kau-
fen, sich auf Grund einer Reihe vorgelegter
Reklameentwürfe entscheiden muO, zu wel-
cher Firma sie gehen würde. — Spater hat
man dieses Verfahren vereinfacht, indem
man einfach als Aufgabe die Frage steilte:
„Welcher Entwurf sagt Ihnen am mei-
sten zu?“
Für das Gebiet I hat die Rangordnungs¬
methode unumstrittene Bedeutung, für II
groOe, das dritte laOt Raum für Skepsis und
das vierte ist noch unsicherer.
Vergleichen wir die von A. Berliner be-
schriebene Rangordnungsmethode mit der
in Deutschland üblichen Methode der Re-
Bucbbesprechungen
285
klamebegutachtung •), so ist zunachst eine
Übereinstimraung zu konstatieren, insofern
als hier wie dort die Haufigkeitsstatistik bei
der Begutachtung ausschlaggebend ist. Be-
gutachter ist nicht mehr wie früher ein ein-
zelnes Individuum, sondern eine möglichst
groOe Anzahl Representanten des zumKauf
zu bestimmenden Publikums, Die Begut¬
achtung erfolgt aber — und darin besteht
die Abweichung — bei der Rangordnungs-
methode auf subjektiver Grundlage, bei der
von Moede angewandten Methode auf ob-
jektiver Grundlage. Bei der letzteren Me¬
thode wird die Reklame durch Aussagever-
suche auf Auffassungs- und Gedachtniswert
derwerbewichtigeninhalte untersucht. Dazu
ist als Erganzung die subjektive Methode,
wie sie von A. Berliner geschildert wird, auch
bei uns in Gebrauch (siehe Prakt. Psycho¬
logie, 2. Jahrg., S. 264): Die Versuchsper-
sonen werden um ihr Geschmacksurteil
gefragt und haben die Aufgabe — wenn
mehrere Entwürfe vorliegen — diese dar-
nach in eine Rangordnung zu bringen.
DieRangordnungsmethode hat gegenüber
der objektiven experimentellen Methode der
Reklamebegutachtung den Vorteil, dafi sie
unter Umstanden ökonomischer ist, namlich
dann, wenn mehrere Entwürfe zur Begut¬
achtung vorliegen. Nach der objektiven
Moedeschen Methode ist es dann notwendig,
für jeden Entwurf neues homogenes Men-
schenmaterial als Versuchspersonen zu
nehmen. Auf der anderen Seite ist die
Rangordnungsmethode mit manchen Man¬
gein behaftet:
1. Sie ist als subjektive Methode weniger
zuverlassig als die objektiv-experimen-
telle Methode.
2. Sie ist nur anzuwenden, wenn eine „mög¬
lichst groBe Anzahr von Entwürfen ver-
*) Moede, Psychologie der Reklame, Prak¬
tische Psychologie, I.Jahrg., 7. Heft. — Schorn,
Begutachtung von ReÜameplakaten u. Inseraten.
Praktische Psychologie, 2.Jahrgang, 9. Heft.
gleichsweise zur Begutachtung vorliegt,
was sehr oft nicht der Fall ist.
3. Es ist dabei — wegen der Subjektivitat
der Methode — eine noch gröCere Anzahl
von Versuchspersonen notwendig als bei
der objektiven Methode, umZufallsresul-
tate auszuschalten.
Was die vier Anwendungsgebiete der Rang¬
ordnungsmethode anlangt, von denen A.Ber¬
liner spricht, so ist die Methode wohl am
geeignetsten für das Gebiet der Beurteilung
der „Aufmachung". Handelt es sich aber
hier nicht schon um ein objektives Verfah-
ren, wenn z. B. die Versuchsperson die Auf¬
gabe ausführen soll: „Pinde die gröOte
Büchse?“ — Inwiefern die Rangordnungs¬
methode ein bequemeresMittel bei derPest-
stellung objektiver Unterschiede darstellt als
eine objektive Methode, ist nicht einzusehen.
Es scheint mir bei der Untersuchung der
Lesbarkeit z. B. nicht weniger bequem aber
sicherer zu sein, wenn die Versuchspersonen
die Aufgabe haben anzugeben, was sie lesen
können, also welche Schrift ihnen subjektiv
als am besten lesbar erscheint. — Das vierte
Gebiet, die Bestimmung der Zugkraft, ist —
wie A. Berliner selbst sagt — am unsicher-
sten. Besteht das auswahlende Prinzip nur
darin, wieweit die einzelne Reklame der Ver¬
suchsperson zusagt, so handelt es sich ja um
dasselbe wie bei der Bestimmung des „At-
mospharenwertes” der Reklame. Das kom-
pliziertere erste Verfahren hat neben der
Subjektivitat den Nachteil, daO die Aufgabe
für einen groBen Teil der Versuchspersonen
wohl sehr schwer ist, zu entscheiden, auf
Grund welchen Plakates sie sich zum Kaufe
entschlieBen würde. Dr. Frank.
KrauB, H., Betriebsrat und Arbeits-
wissenschaft. Eine arbeitswissenschaft-
liche Besprechung an der Berliner Be-
triebsrateschule. 79 S. Verlag: Gesellschaft
und Erziehung, Berlin-Lichtenau 1922.
Das Buch behandelt die an der Berliner
BetriebsrateschulegehaltenenVortrageüber:
286
Buchbesprecbungen
Die Rationalisierung der Wirtschaft und
der Betriebsrat,
Berufswahl und Berufsausbildung des
industriellen Arbeiters,
Der rationalisierte Betrieb,
Psychotechnische Eigriungsprüfungen und
Anlernverfahren.
Aufierdem enthalt die kleine Schrift die
gelegentlich einer Aussprache von Arbeitern
geauOerten Ansichten über Psychotechnik
und Taylorsystem. Diese Meinungsaufle-
rungen zeigen, daG die Arbeiter eher gegen
als für die arbeitswissenschaftlichen Ver-
fahren eingenommen sind. Sie zeigen weiter,
daG noch viel Aufklarungsarbeit geleistet
werden muG, bis die Bedeutung dieser
Verfahren von den Arbeitern richtig ge-
würdigt wird.
Das Streben der Arbeiterführer und der
BerlinerBetriebsrateschule, diese Vorurteile
durch Aufklarung zu beseitigen, kann des-
halb nur begrüGt werden. Für eine derartige
Aufklarung in Arbeiterkreisen dürfte das
Buch ganz besonders geeignet sein. Es bringt
in knapper, leichtverstandlicher Sprache
die wesentlichsten Erkenntnisse und prak-
tischen Anwendungen der Arbeitswissen-
schaft. AuGerdem gibt es für denjenigen,
der tiefer in das arbeitswissenschaftliche
Gebiet eindringen will, eine Aufstellung der
wichtigsten Literaturquellen.
Eine Verbreitung des Buches bei den
Arbeiterführern und in Arbeiterkreisen ware
nur zu begrüGen. Es ware zu wünschen,
daG die Betriebsrateschulen und -kurse in
anderen Stadten oder Betrieben sich eben-
falls mit diesen Fragen auseinandersetzen;
auch hierfür wird das vorliegende Buch gute
Dienste leisten. K. A. Tramm.
Baerwald, Richard, Das weibliche
Seelenleben und die Frage seiner
Gleichwertlgkeit. Buchenbach-Baden,
Felsenverlag, 1923. 202 Seiten.
Verfasser geht aus von physiologischen
Tatsachen: das geringere Gehirngewicht der
Frau besage gegen eine geringe geistige
Begabung nichts, da das Gewicht des Ge-
hirns nur im Vergleich zum Körpergewicht
in Betracht komme, wobei man das Körper-
fett auGer Betracht lassen müsse. Es sei zu
bedenken, daG die Sexualfunktion bei der
Frau eine weitaus gröGere Rolle spieit und
daG diese zur Ausbildung unserer Denk-
funktion in umgekehrtem Verhaltnis steht.
Die Frau ist sensibler als der Mann, die
Nervenprozesse laufen bei ihr hemmungs-
loser ab, womit der RedefluG und das Rede-
bedürfnis der Frau zusammenhangen; sie
zeigt auch ein gröGeres Geselligkeitsbedürf-
nis, sie ist leichter erregbar, womit im Zu-
sammenhang steht, daG sich bei ihr der Über-
gang vom Motiv zur Handlung leichter und
schneller vollzieht. Die Frau zeigt einen
gröGeren Reichtum an Gefühlen als der
Mann; daher neigt sie zum Sensationellen,
zur Angst, Gespensterfurcht; aber auch die
altruistischen Gefühle sind bei ihr starker
entwickelt als beim Mann; sie ist liebeFahiger,
humaner. Auch ihr Pflichtgefühl ist gröGer.
Ebenso überragt sie den Mann an religiösem
Gefühl. Schlecht ist das Gedüchtnis der
Frau; nur wo ein besonderes Interesse vor-
liegt, ist das Gedachtnis gut. Ihre Phantasie
ist lebhafter. Ein weiterer Grundzug der
weiblichen Seele ist ihre konservative Hal-
tung; weiter ist sie suggestibler und an-
lehnungsbedürftiger. Die Frage, ob das Weib
passiver sei, setzt eine Bestimmung dessen
voraus, was man unter Passivitat verstehen
will. Frauen sind irritabler, impulsiver,
rascher entschlossen, kommen daher leichter
in Tatigkeit; in diesem Sinne sind sie also
nicht passiver; wohl aber fehlt ihnen die
Spontanitat, die Selbstandigkeit, sie wan-
dern mehr in den Bahnen des Hergebrachten.
Die Frau interessiert sich mehr für Men-
schen als für Sachen; ihre Soziabilitat ist
eine gröGere als die des Mannes. Das Den¬
ken der Frau ist anschaulicher, intuitiver
als das des Mannes, ihre unbewuGten Vor-
stellungsmassen arbeiten stürker, ihr Unter-
bewuGtsein ist ausschlaggebender. Ihre Be-
Buchbesprechungen
287
Tahigung zur Wissenschaft ist zweifellos
geringer, sie bewegt sich im Herkömm-
lichen und pragt nur hengebrachte Ge¬
denken utn; da, wo es sich um reine Repro-
duktion handelt, da leistet sie Erstaunliches.
Sie ist fleiQiger, arbeitet mehr. Es fehit
ihr die Abstraktionsfahigkeit, womit ihre
Abneigung gegen das Rechnen zusammen-
hangt; der Kausaltrieb ist bei ihr nur
gering ausgebildet. Wissenschaftliches Stu¬
dium strengt sie QbermaQig an. Es fehit
ihr an Urteilsvorsicht, mit logischen Grün-
den ist ihr nicht beizukommen, wo das
Gefühl im Spiele ist, oder wo sie nicht sehen
will. Auch in der Kunst mangelt es ihr
an Originalitat, auch hier bewShrt sie
sich indessen als reproduktive Künstlerin.
Den Mangel an Originalitat führt Verfasser
zurück auf die geringere Ichliebe, die die
Voraussetzung der Originalitat bilde. Hin-
sichtlich der Unterschiedenheit in den sexu-
ellen Instinkten und Trieben betont Ver¬
fasser, daO eigentlich von Natur das Weib
die wahlende sei; der Wahltrieb der Frau
sei auch von eugenischen Gesichtspunkten
aus der natürlichere; sie ist in erster Linie
der geistigen Vollkommenheit zugewandt,
deren Züchtung die Sonderaufgabe der sexu-
ellen Auslese ist. Ebenso sieht das Streben
nach dem Kinde auf die geistigen und mora-
lischen Fahigkeiten des Vaters. Infolge der
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ver-
haltnisse hat sich die Frau aber ganz um-
gestellt, die Manner haben sie „anders ge-
modelt". Nachgiebigkeit und Persönlich-
keitsmangel, die der Frau schon an sich
eigen sind, werden zum Extrem gesteigert
und zum Ideal erhoben. Der Verlust der
Wahlmöglichkeit ist die Folge der gröOeren
Zahl von Frauen. Wo die Frauen in ge-
ringerer Zahl verhanden sind, wahlt auch
sie den Mann. Scheinbar finden wir heute
eine zunehmende Angleichung der beiden
Geschlechter aneinander. Hiermit sind die
eigentlich psychologischen Erörterungen des
Verfassers erledigt; man mag zu dem Pro-
blem der Psychologie der Frau eine andere
Grundeinstellung haben und methodisch
andere Wege gehen, man wird die Ausfüh-
rungen des Verfassers nicht ohne Interesse
lesen. Ganz anders jedoch seine lebens-
reformerischen Darlegungen; er empfiehlt
die Ehe auf Probe, den Geschlechtsverkehr
vor der Ehe, damit man sich nicht „mit der
konventionellen Binde vor den Augen“ ent-
scheide; er empRehIt, ja er sieht bereits
kommen die Besoldung der Mütter, wodurch
der Staat endlich die Mittel an die Hand
bekame, die Geburtenzahl nicht nur, son-
dern auch die Geburtenqualitat zu kontrol-
lieren und eine wirksame Rassenhygiene zu
treiben: dem erlaubt er gar kein Kind, dem
eins, dem zwei Kinder usw. Nun, zum Glück
sind wir einstweilen noch nicht so weit und
werden diese staatliche Konzessionierung
des GebSrens wohl auch so bald nicht er-*
reichen,ganz abgesehen von den höchst frag-
würdigen Ergebnissen einer solchen Eugenik.
Liepmann, W., Psychologie der Frau.
Zweite Auflage. Berlin und Wien, Urban
& Schwarzenberg, 1922; 322 S.
„Wer den Sexualismus von der
Psyche trennt, der trennt Körper von
Geist und enthauptet so seine For-
schung selbst." Dieser Satz ist das Leit-
motiv der Darstellungen des Verfassers.
Es wird hier der Versuch einer Deutung der
weiblichen Psyche aus der Sexualfunktion
heraus unternommen. Dabei will der Ver¬
fasser entwicklungsgeschichtlich vorgehen,
wobei ihn das biogenetische Entwicklungs-
gesetz leitet. Er geht also aus von einer
Darstellung der Entwicklung der Sexualitat
in der Tierreihe; die verschiedenen Formen
der Fortpflanzung werden zunachst behan¬
delt, ihre Entwicklung in der Tierreihe wird
dann naher betrachtet, und endlich Rndet
die Entwicklung der Sexualorgane und der
Sexualitat beim Menschen eine eingehendere
Darstellung. Dabei kommt Verfasser zu
einer Reihe von Grundgesetzen der physio-
logischen Geschlechtsdifferenz; zunachst
288
Bucbbesprecbungen
das Hemmungsgesetz des weiblichen Plas-
mas, dem die gröOere Trieberregbarkeit des
mannlichen gegenübersteht; ferner das Ge-
setz der gröCeren Vulnerabilitat des weib¬
lichen Plasmas, d. h. der gröCeren physio-
logischen Verwundbarkeit, wie sie sich in
den physiologischen Prozessen der Men-
struation, der Defloration und der Geburt
ausspricht. Diesen physiologischen Grund-
tatsachen entsprechen psychologische, so
vor allem die gröCere Irritabilitat der weib¬
lichen Psyche, welche einen ihrer Grund-
züge ausmacht. Verfasser untersucht dann
die Entwicklung der Beziehungen der bei¬
den Geschlechter im Tierreich und in der
Völkerentwicklung; er erörtert eingehend,
welche Bedeutung die verschiedenen Sinnes-
organe für die Annaherung der Geschlechter
haben, um dann auf den so geschaffenen
<3rundlagen die Individualentwicklung zu be-
leuchten. Das erotische Moment im Spiel
des Kindes wird herausgearbeitet, die Um-
gestaltungen der Sexualitat in der Pubertat
werden betrachtet, die Erotik analysiert und
dann die Durchgeistigung der Sexualpsyche
nach der Geschlechtsreife als Grundzug
hervorgehoben. Die Erotik laCt sich zer-
gliedern in den Naturtrieb und den Seelen-
trieb; der Seelentrieb überwiegt bei der
Frau, der Naturtrieb beim Manne; in diesem
Unterschied hat die Polygamie des Mannes
und die doppelte Moral ihre Ursache. Das
Zurücktreten des Naturtriebes bei der Frau
wird auf das Hemmungsgesetz zurückgeführt.
Eine eingehende Erörterung findet die Ehe,
welche der Verfasser als biologische Einheit
und als Stufe zu höherem Menschentum
charakterisiert. Aus den geschilderten Tat-
sachen wird dann noch die Promiskuitat und
die Prostitution abgeleitet. In einem letzten
Kapitel unternimmt es der Verfasser, kurz
die Ergebnisse früherer Untersuchungen
über die Differentialpsychologie der Ge¬
schlechter zu besprechen und sie vom Stand-
punkt seiner Auffassung aus zu deuten.
Seinen Ausführungen hat der Verfasser ein
reiches Material an Belegen beigegeben,
Selbstschilderungen von Hörern und Hörer-
innen, die sich meistens um das Problem
der sexuellen Aufklarung gruppieren.
Wulffen, Erich, Das Weib als Sexual-
verbrecherin. Berlin, Paul Langen-
scheidt 1923; 431 Seiten.
Verfasser versucht die ZusammenhSnge
zwischen der biologischen Natur des Wei-
bes und dem Verbrechen aufzudecken.
Ausgehend von einer kurzgedrangten Dar-
stellung der allgemeinen Psychologie des
Weibes und seiner Sexualitat, zeigt er,
welchen Anteil das weibliche Geschlecht
überhaupt am Verbrechertum hat; er geht
dann die einzelnen Verbrechen durch und
zeigt, wie die besondere psychophysische
Eigenart des Weibes, insbesondere auch die
Eigentümlichkeiten seiner Sexualitat, zu
besonderen Auspragungen der Verbrechen
führen; so behandelt er die weiblichen Diebe,
die Betrügerinnen, Brandstifterinnen, die
Raubmörderinnen, die Totschlagerinnen
aus gekrankter Ehre, die Giftmischerinnen,
Gattenmörderinnen, Familien-, Verwandten-
und Selbstmörderinnen; die grausamen
Verbrecherinnen (Erzieherinnen, Sklaven-
halterinnen, politische Verbrecherinnen);
er behandelt dann eingehend Abtreibung,
Kindesmord, Aussetzung, Kindesunterschie-
bung, Kindesentführung, um dann die spe-
zifisch sexuellen Delikte (Eheschwindel,
Ehebruch, Nymphomanie, Exhibitionismus,
Unzucht, Blutschande, die Homosexualitat
des Weibes, die Kuppelei und die Prosti¬
tution) darzustellen. Die einzelnen Kapitel
bringen reiche Beispiele, zum Teil Material
aus berühmten Prozessen der letzten Zeit,
eine groCe Reihe von Abbildungen erhöhen
den Wert des Werkes, das eine ganz be-
deutende Leistung darstellt, an der niemand,
der sich mit kriminalpsychologischen Fragen
befaCt, vorübergehen kann.
Erich Stern, GieCen.
Diesem Heft liegt ein Prospekt von Wendt & Klauwell, Halle a. S. — Carl Marhold, Halle a.S. bei
über vornehmlich psychologische Werke.
Für die Schriftleitung verantwortlich : Prof. Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Martel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. JULI 1923 10. HEFT
Die Praktische Psychologie erscheinr in monatllchen Heften lm Umfange von zwei Bogen. Preis des Heftes Grundzthl 2.—
mol Schlüsselzaht des Börsenvereins Oeutscher Buchhindler, die jede Buchbandlung auf Anfrage angeben kann. FQrs Ausland
besondere Preise. Bestellungen nehmen alle Buchhandiungen, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung entgegen. Anzeigen
vermlttelt die Verlagsbuchhandlung S. Hlrze) in Lelpzlg, KdoigstraOe 2. Postscheckkonto Lelpzig 226. — Alle Manuskript-
sendungen und darauf bezQgUche Zuschriften sind zu richten an die Adresse der Schrlftleltung: Prof. Dr. Moede und
Dr. C. Plorkowski, BerlinW30, Luitpoldstra&e 14.
Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker
Von Dr.-Ing. Oskar Klutke
(Mitteilung aus dem Telegrapbentechnischen Reichsamt)
A uf Ersuchen der Abteilung für Funkerwesen des Telegraphentechnischen
.Reichsamtes (T. R. A.), der u. a. die Ausbildung der Debeg und Transradio-
funker obliegt, begann das Referat für wissenschaftliche Betriebsführung (R. f. w. B.)
im September v. J. eine Eignungsprüfung für den Funkdienst auszuarbeiten, die
es — dem Wunsche dieser Abteilung entsprechend — ermöglichcn sollte, eine
geeignete Auslese unter ihren Bewerbern treffen zu können.
Auf den Hörempfang, als die wichtigste Tatigkeit des Funkers, richteten sich die
UnternehmungendesR.f.w.B.zunachst. Nach eingehenderpersönlicher Arbeitsstudie
wurden folgende Eigenschaften als berufswichtig für den Hörempfang erkannt:
1. Konzentration,
2. die Fahigkeit, sich bei akustischen Störungen nicht ablenken zu lassen
und die Aufmerksamkeit nur auf Teile des Gehörten richten zu können,
3. die Fahigkeit, gleichzeitig Zeichen mit dem Gehör aufzunehmen und andere
vorher gehörte Zeichen niederzuschreiben,
4. Gehör für Rhythmus,
5. Gehör für Unterschiede in der Tonhöhe,
6. eine deutliche und flüssige Handschrift.
Auf Grund dieser Feststellungen wurde nachstehend beschriebenes Prüfver-
fahren ausgearbeitet, das sich aus fünf einzelnen Proben zusammensetzt. Zur
Prüfung werden benötigt:
1. Ein Morseapparat und dazugehörige, mit Worten bedruckte Streifen,
2. ein Wheatstone-Sender mit dazugehörigen, speziell gestanzten Streifen,
3. eine Summereinrichtung, wie sie in Funkerschulen übiich ist,
4. ein speziell hergerichteter Tonsummer (Abbildung 1) zur Feststellung der
Gehörempfindlichkeit,
5. Kopffernhörer oder lautsprechendes Telephon.
Probe 1 und 2
Durch einen Morseapparat lauft ein Streifen mit ungefahr 400 in normalen
Abstanden gedruckten Worten, Es sind gebrauchliche deutsche Worte, Teile einer
Erzahlung. Sie sind bei Probe 1 als Klartext gegeben, urn den Prüfling durch
p. P. IV, 10 20
290
Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker
den Zusammenhang abzulenken, bei Probe 2 gewissermaOen als Codetext, un-
zusammenhangend, urn den Prüfling nicht abzulenken. Z. B.: „Lerchen die singen
Frühling im“, wahrend bei Probe 1 der Satz lauten würde: ,Im Frühling singen
die Lerchen." Die Geschwindigkeit des Apparates ist so eingestellt, daO der
Streifen 176 cm in einer Minute fortbewegt wird. Die auf dem Streifen stehenden
Worte werden, sobald sie hinter dem Transportrad sichtbar werden, vom Prö-
fenden klar und deutlich vorgelesen. Der Morseapparat soll lediglich dazu dienen,
den Streifen gleichmaDig fortzubewegen, damit die Ansagen in gleichmaOiger Ge¬
schwindigkeit erfolgen und die Prüfbedingungen stets gleichbleibend sind.
Der Prüfling hort das vorgelesene Wort und soll von jedem stets den Anfangs-
buchstaben niederschreiben. Er kann schreiben, wie er will, ganz gleich ob ge-
trennt oder zusammenhangend, groQ oder klein, lateinische oder deutsche Buch-
staben. Für die Prüfung ist nur wesentlich, daO seine Buchstaben klar und
leserlich sind.
3. Probe
Zu dieser Probe wird wiederum ein Morseapparat zur Regelung der Ansage-
geschwindigkeit und ein mit gebrauchlichen Vornamen bedruckter Streifen be-
nötigt. Beim Erscheinen eines Namens hinter dem Transportrad wird derselbe
klar und deutlich von dem Prüfenden angesagt.
Der Prüfling soll wiederum genau wie vorher nur auf die Anfangsbuchstaben
seine Aufmerksamkeit richten. Er soll sie aber nicht niederschreiben, sondern
in Gedanken aneinanderreihen. Durch richtige Aneinanderreihung derselben er-
halt er einen deutschen Klartext. Es werden jeweils 40—50 Worte angesagt, der
zu entziifernde Klartext besteht aus der entsprechenden Anzahl Buchstaben. Die
Prüflinge werden darauf aufmerksam gemacht, daö beim Vorlesen der Vornamen
Wortabstande nicht gemacht werden, daO sie diese selbst zu hnden haben.
Es würde zum Beispiel für den Text ,der Wind heult" vorgelesen werden:
Dora, Emil, Richard, Willy, Irma, Nathan, Dora, Hans, Emil, Ullrich,
Ludwig, Theodor.
Klutke, Psychotecbniscbe ETgnungsprüfung für Punker
291
Für diese Probe ist eine erschöpfende Erklarung, am besten durch ein Bei-
spiel, erforderiich. Dieselbe wird Fünfmal hintereinander vorgenommen, jedesmal
mit einem anderen Satze. Die Zwischenraume der auf den Streifen gedruckten
Vernamen sind bei der ersten Probe am grööten. Sie verringern sich bei jeder
folgenden Probe, wodurch eine Veranderung des Ansagetempos erreicht wird.
4. Probe
Bei dieser Probe wird der Wheatstonesender mit Streifen, die Summerein-
richtung und Kopffernhörer benötigt. Auf dem Streifen befinden sich in bestimmten
Abstanden Zeichen von 3—10 Einheiten (Punkt und Strich). Die Prüflinge sollen
diese Zeichen nicht in Buchstaben, soweit dies überhaupt möglich ist, übersetzen,
sondern nur die gehörten Punkte und Striche niederzeichnen. Als praktisch —
auch für die Auswertung — hat sich das senkrechte Niederschreiben von Punkten
und Strichen erwiesen, z. B. Strich = /, Punkt = .
Da es sich bei den Prüfungen um Personen handelt, die keine oder nur geringe
Ausbildung erhalten haben, so müssen sie zunachst an den für sie unbekannten
Summerton gewöhnt werden. Man laBt sie deshalb langere Zeit Zeichen durch
Summer anhören. Die Zeichen können entweder durch ein allgemeines lauttönendes
Telephon oder durch Vermittlung der Kopffernhörer für jeden besonders ge-
geben werden. ZweckmaDig ist die Geschwindigkeit, mit der die Zeichen gegeben
werden, anfangs niedrig zu halten, spater nach elniger Gewöhnung der Prüflinge,
allmahlich bis Tempo 100 zu steigern.
5. Probe
Zur Prüfung der Fahigkeit feine Tonunterschiede aufzufassen, wird ein
Tonsummer benutzt, mit welchem Töne verschiedener Höhenlage und beliebiger
Starke erzeugt und mittels Kopffernhörern aufgenommen werden können. Bei der
Prüfung wird zuerst ein Normalton und jedesmal darauf ein zu vergleichender
Ton in gleicher, höherer oder tieferer Lage und in gröCerer oder geringerer
Starke gegeben. Die Prüflinge haben anzugeben, ob der zu vergleichende Ton
dem Normalton gleicht oder ob er höher oder tiefer ist. Nach der Anzahl der
dabei gemachten Fehler wird die Gehörempfindlichkeit für Tonunterschiede fest-
gesteilt.
Samtliche Proben werden an einem zweiten Tage wiederholt, jedoch mit
anderen Satzen usw., Zeichen und Tönen.
Die Auswertung geschieht wie folgt:
bei der 1. und 2. Probe wird für jeden fehlenden oder falschen Buchstaben
ein Fehler berechnet,
bei der 3. Probe für jeden fehlenden Buchstaben ein Fehler,
bei der 4. Probe für jede fehlende oder falsche Einheit eines Zeichens ein
Fehler,
bei Probe 5 für jede falsche Tonangabe ein Fehler.
20‘
292
Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker
Die ersten psychologischen Eignungsprüfungen dieser Art begannen bei einem
Supernumerar-Kursus. Es wurden bis Ende Januar d. J. die Teilnehmer aller bei der
Abteilung für Funkwesen und bei dem Telegraphenschulamt der Oberpostdirektion
Berlin vorhandenen Kurse (Debeg- und Transradiokurse sowie Vorbereitungs-
kurse von Post- qnd Telegraphenbeamten) — insgesamt 154 Personen untersucht.
Die Ergebnisse der Laboratoriumsprüfung wurden rein zahlenmaOig auf Grund
der Leistungen berechnet. In jeder Person wurde eine Gesamtnote, die den
Durchschnltt aus den fünf verschiedenen Proben bildete, gegeben. Die Grenzen
für die Gesamtnoten sind zur Zeit 1,4 (sehr gut) und 5,2 (sehr schlecht).
Wie aus den Berichten der Unterrichtsstellen — teilweise an das Reichs-
postministerium oder an vorgesetzte Dienststellen — hervorgeht, hat die psycho¬
technische Eignungsprüfung bei den schlechten Kraften dasselbe Urteil ergeben,
das bei den Supernumeraren und bei Vorbereitungskursen erst wahrend eines
mehrwöchigen Unterrichts oder bei anderen Kursen durch die Aufnahme-
prüfung gewonnen worden ist.
Auch bei den vom Laboratorium als sehr gut und gut bezeichneten Kraften
ergab sich bei den wöchentlichen Leistungsvergleichungen fast immer eine Ober-
einstimmung. Bemerkt wird hierbei, daO aber auch vom Laboratorium als gut
bezeichnete Krafte nicht immer die Leistungen im Unterricht aufwiesen, die man
nach dem Ausfall der psychotechnischen Prüfung von ihnen erwartete. Es steilte
sich jedoch meist heraus, daQ sie beim Unterricht entweder faul und unlustig
waren oder als Provinzler sich dem GroOstadtIeben zu sehr gewidmet hatten.
Dadurch wurden die Unterschiede in der Beurteilung erklarlich. Es wird hierbei
auf einen Fail hingewiesen, bei dem das Urteil der psychotechnischen Prü¬
fung, das auf „geeignet” lautete, im Gegensatz zum ungünstigen Urteil der
Schule stand; auf besonderen Wunsch der psychotechnischen Prüfstelle wurde
diese Person ausgebildet und ihr konnte vor kurzem das Zeugnis erster Klasse
erteilt werden.
Urn für die Brauchbarkeit und Zuverlassigkeit der psychotechnischen Eig¬
nungsprüfung weitere Unterlagen und MaDstabe zur Bewertung der Leistungen zu
erhalten, sind auf Grund der günstigen Ergebnisse bei den oben erwahnten Prü-
fungen weitere Untersuchungen mit den Angehörigen der Funkabteilung des Haupt-
telegraphenamts vorgenommen worden. Auch diese Dienststelle erachtet eine
Auslese des Personals vor der Ausbildung für notwendig. Die Untersuchung
dieses Personals war für die Erprobung der Zuverlassigkeit des Verfahrens
sehr wertvoll, da nach Ansicht des R. f. w. B. dort eine Erfolgskontrolle leicht
möglich ist. Die Betriebsstelle kann infolge genauer Kenntnis des Personals
auf Grund oft jahrelanger Beobachtung und dauernden Zusammenarbeitens
ein weit eingehenderes und umfassenderes Urteil abgeben als der Lehrer, der
die Schüler nur aus den Kursen wahrend einzelner Stunden kennen lernt, ganz
abgesehen davon, daC Schule und Betrieb oft zu anderslautenden Urteilen infolge
verschieden gearteter Einstellung kommen müssen. Wenn auch in der Schule
Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker
293
durch die taglichen Übungen ein Bild der Leistungsfahigkeit entsteht, so war
doch oft in Pallen, wo Unterschiede in der Beurteilung zwischen psychotechnischer
Prüfstelle und -Amt verlagen, die Schule nicht in der Lage, eine Erklarung zu
geben, wahrend die Betriebssteile auf Grund genauer Kenntnis der Persönlichkeit
die Abweichung immer aufklaren konnte.
Es wurde fast das gesamte Punkbetriebspersonal (71 Personen) der Punk-
abteilung untersucht. Von diesen Personen bezeichnete das R. f, w. B. drei
Krafte als ganz hervorragend; diese Beamten wurden auch vom Betrieb als die
besten bezeichnet. Ebenso bestand bei den guten und mittelmaOigen Kraften
Übereinstimmung.
Das Laboratorium bezeichnete von dem Personal der Punkabteilung 15 Per¬
sonen als ungeeignet, die „inzwischen wegen ihrer ungenügenden Leistungen aus
dem Punkbetriebsdienst zurückgezogen worden sind". Bei einzelnen Personen
stimmten die Prüfergebnisse mit den Urteilen des Amtes nicht überein. Bei ihnen
sind diese Unterschiede durch das Amt aufgeklart worden. Es handelt sich in diesen
Pallen urn körperliche Gebrechen, hausliche Sorgen, Unlust oder Widerwillen
gegen die Prüfung. Das Laboratorium war bei allen Untersuchungen bestrebt,
Widerstande beim Personal auszuschalten. Der Zweck der Eignungsprüfungen
wurde erklart und gesagt, daO dem beteiligten Personal durch den Ausfall der
Untersuchung kein Nachteil in ihrer jetzigen Tatigkeit erwachsen wiirde. Dadurch
gaben viele ihr Bestes her, wahrend andere infolge grundsatzlicher Abneigung
gegen jede Prüfung (besonders altere Beamte) sich keine Mühe gaben. Wahr-
scheinlich lag in einigen Pallen absichtliche Verstellung vor, damit falsche Er-
gebnisse erzielt wurden.
Bei den Untersuchungen, an denen sowohl weibliches wie mannliches Personal
teilnahm, ist klar zutage getreten, daB der Punkdienst nie dem weiblichen Ge-
schlecht allein überlassen werden darf. Es wurde die Beobachtung gemacht, daB
viele weibliche Prüflinge, die dabei sehr aufgeregt waren, nach Aussage des Amtes
zwar den Anforderungen eines ruhigen Betriebes gewachsen sind, aber bei be¬
sonderen Anforderungen, z. B. bei Störungen, versagen und die Hilfe des mann-
lichen Personals in Anspruch zu nehmen gezwungen sind. Es wird vom R. f.
w. B. daher für den Betrieb als unzweckmaBig und nachteilig angesehen, mehr
als 50 Prozent weibliche Krafte zu gleicher Zeit im Punkdienst zu beschaftigen.
Gemeinsam mit Schule und Betrieb hat das R. f. w, B. mit Hilfe der Unter¬
suchungen eine Eignungsgrenze festgestellt und gefunden, daB Personen
a) mit einer Note von 2,7 und besser gute Anlagen für diesen Beruf besitzen,
b) mit einer Note von 2,6—3,4 mittelmaBig dafür veranlagt,
c) mit einer Note von 3,5 und schlechter nicht dafür geeignet sind.
Personen mit einer Note von 2,8—3,4 können durch PleiB und guten Willen
brauchbare Krafte werden, sind sie dagegen unlustig und trage, so werden sie
den Anforderungen des Dienstes nicht genügen.
294
Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker
Nach den bisherigen Erfahrungen hat das Telegraphentechnische Reichsamt
die Überzeugung gewonnen, daO diese psychotechnische Eignungsprüfung ein Mittel
ist, KraFte, die die erforderlichen geistigen Anlagen zumFunken nicht besitzen, von
vornherein als solche zu erkennen, und sie vor der kostspieligen Ausbildung zu
dieser LauFbahn auszuschalten.
Dies gilt insbesondere von den Personen, die die neue Funkerlaufbahn (Tele¬
graphen-Supernumerare) einschlagen. Sie werden zur Zeit zunachst etwa vier
Monate für die Telegraphendienstprüfung ausgebildet, bevor sie zu einem Aus-
bildungskursus für den Funkbetrieb zum Telegraphentechnischen Reichsamt ein-
berufen werden. ErfahrungsgemaO zeigen sich von diesen Personen immer mehrere
bei der Aufnahmeprüfung zum Funkerkursus ais ungeeignet und fallen für die
Funklaufbahn aus. Durch ihren vergeblichen viermonatigen Vorbereitungsdienst
entstehen der Verwaltung und ihnen selbst erhebliche Kosten, Mühe und Zeit-
verlust, auch erwachsen der Verwaltung durch die Nichtbesetzung der für diese
Personen bestimmten Stellen Schwierigkeiten und schlieOlich muQ neues Personal
dafür angeworben und ausgebildet werden.
In richtiger Erkenntnis dieser Sachlage haben im Zusammenhang mit der
psychotechnischen Prüfung die Funkabteilung des Haupttelegraphenamts Berlin
und die Oberpostdirektion Liegnitz beantragt, daO die Supernumerare vor der
Einstellung psychotechnisch geprüft und nur die Geeigneten eingestellt werden.
Das Reichspostministerium hat die Einführung der Prüfung vor Einstellung
der Bewerber grundsatzlich genehmigt, sich jedoch den Zeitpunkt des Beginns
der MaOnahme vorbehalten, da noch Vorarbeiten zwecks Ausdehnung des Prüf-
verfahrens im Reiche zu erledigen sind. Da sich die Bewerber für die Funker¬
laufbahn aus allen Teilen Deutschlands melden, ist in Aussicht genommen, die
Prüfung samtlicher Bewerber nicht in Berlin allein, sondern bei 8—10 Ober-
postdirektionen des Reichspostgebietes ausführen zu lassen, damit langere Reisen
und damit verbundene Kosten erspart werden.
Der Selbstbericht und die Berufsberatung
der Schüler höherer Lehranstalten
Von Dr. Heinrich Rosé,
Leiter des Berutsamtes der Stadt Breslau
D ie Berufsberatung für die sogenannten höheren Berufe muB auf einer so
weitgehenden differentiellen Analyse der Psyche des Berufsanwarters fuOen,
daB mit einem Fragebogen im Telegrammstil (vgl. Praktische Psychologie Jahr-
gang 1923, Seite 245) nicht auszukommen ist. Wollte man dem Philologen die
Ausfüllung von mindestens einem Schock Fragen zumuten, so würde er sich bei
der skeptischen Einstellung gegen die moderne Berufsberatung, urn nicht zu
Rosé, Der Seibstbericbt und die Berufsberatung der Schuier böherer Lehranstalten 295
sagen Psychologie, dessen in vielen Pallen weigern, ganz abgesehen überhaupt
von der Durchführbarkeit umfanglicher Berichte, über die man sehr geteilter
Meinung sein kann.
Wir haben daher in Breslau auf Pearsons Idee des Selbstberichtes zurück-
gegriffen.
Berufsamt der Stadt Breslau
Frageliste für Schüler böherer Lehranstalten
Ein Wort zuvor!
Sie stehen vor der schwierigen Frage, welchen Beruf Sie wahlen sollen. Von vielen
Seiten horen Sie ratende MeinungsauGerungen und dennoch sind Sie unsicher in Ihrem
EntschluQ. Das ist naturgemaO so. Gerade für die Schüler höherer Lehranstalten bietet
die Berufswahl in unseren Tagen besondere Schwierigkeiten infolge der starken Über-
füllung fast aller Berufsgruppen, die in Betracht kommen. Der künftige Daseinskampf
wird besonders schwer werden. Darum hat die deutsche Jugend heute mehr denn je die
Pflicht, wohl zu überlegen, welchen Arbeitsweg sie einschlagen soll. Nicht auBere oder
zufallige Gründe dürfen entscheiden, sondern allein das Wissen vom berufen-sein.
Jeder Mensch kennt sich selbst am besten, sofern er gegen sich selbst ehrlich ist. Seien
Sie das! Beobachten Sie sich und berichten Sie nachstehend rückhaltlos über Ihre Ab-
sichten in der Berufsfrage. Alle Ihre Mitteilungen, der Eigenbericht, Arztgutachten werden
streng vertraulich behandelt. Verheimlichen Sie auch Ihre Schwachen nicht. Es handelt
sich nicht um Zensuren, sondern darum, Ihnen den für Sie besten Weg zu weisen. Der
Berufsberater ist zum Schweigen verpflichtet! Das unterzeichnete Berufsamt erbietet sich,
Ihnen fachmannischen Rat zuteil werden zu lassen. Senden Sie den Fragebogen in ver-
schlossenem Kuvert durch den Herrn Direktor Ihrer Anstalt kostenfrei oder frankiert
durch die Post direkt an uns: Gartenstr. 3. Wir stehen Mittwoch und Freitag 12—2 Uhr
in der mannlichen Abteilung und taglich 11 — 1 Uhr in der weiblichen Abteilung für Sie
zur Verfügung. Sie erhalten gebührenfrei jede gewünschte Auskunft über die Anforde-
rungen, Aussichten, Ausbildungskosten aller möglichen Berufe, gegebenenfalls werden
auch Lehrstellen in Handel und Gewerbe zugewiesen.
gez. Dr. Rosé.
Mein kflnftiger Beruf
Eigenbericht*) des — der. wohnhaft
(Vor- und Zunime)
Schüler — Schülerin der Klasse des — der
(Lehrinstalt)
Welchen Beruf wahlen Sie?**)
Aus welchen Gründen?
a) Haben Eltern, Verwandte oder sonstige Personen (Lehrer, Seelsorger,
Bekannte) Ihnen geraten, diesen Beruf zu wahlen oder haben Sie sich
selbst entschlossen?
•) Vor der Anfertigung des Berichtes bitten wir, die vorstehenden Zeilen zu lesen.
••) Die Beantwortung der gestellten Fragen erbitten wir in ganzen SStzen.
296 Rosé, Der Selbstbericht und die Berufsberatung der Schuier böberer Lebranstalten
b) Unter welcher Begründung?
c) Würden Sie seibst lieber einen anderen Beruf ergreifen?
d) Welchen?
e) Wahlen Sie Ihren Beruf, urn gut zu verdienen oder aus anderen geld-
lichen Gründen? (Die Ausbildungskosten sind zu hoch u. a. m.)
f) Wahlen Sie ihn, weil Sie sich für diesen Beruf besonders geeignet glauben?
Inwiefern?
g) Sind Ihnen die Berufsanforderungen bekannt? Woher?
h) Welche Fahigkeiten erscheinen Ihnen für den Beruf besonders wichtig?
i) Woraus schlieOen Sie, da(3 Sie diese Fahigkeiten besitzen?
k) Waren Sie beim Arzt und was sagt dieser über Ihren gesundheitlichen
und sonstigen körperlichen Zustand?
l) Wofür haben Sie besonderes Interesse?
m) Was lesen Sie am liebsten? (Schone Literator, technische Literator, auch
einige Buchtitel besonders geschatzter Bücher angeben!)
Es soilte wohl kaum nötig sein, zu betonen, daO für den Psychologen von
Fach ein Selbstbericht jugendlicher Personen seine ganz besonderen Bedenklich-
keiten hat. Ich verweise auf die treffende Beurteilung von Piorkowski in
seinem Buch über die „Psychologische Methodologie der wirtschaftlichen Berufs-
eignung" (Seite 91). Der Breslauer AusschuO für die akademischen Berufe war
sich bei der Beratung über die Einführung eines Selbstberichtes zur Berufswahl
der Schüler höherer Lebranstalten durchaus klar, daO dieser Selbstbericht nicht
die einzige Grondlage der Berufsberatung sein kann. Er soll vielmehr nur
anregen:
1. die Frage der Berufswahl als schwerwiegendes Problem anzusehen,
2. bei der Beantwortung der Frage sich loszulösen von lediglich materiellen
Gesichtspunkten und ausschlaggebend zu machen das reine Wollen und
Können;
3. im Einzelfalle den Rat des öffentlichen Berufsamtes einzuholen als der
zweckmaOig organisierten Fachstelle für Berufsberatung;
4. den Arzt auf alle Falie heranzuziehen.
Rosé, Der Seibstbericht und die Berufsberatung der Schuier höberer Lebranstalten 297
Der Zweck der Unternehmung sollte uns schon als erreicht geiten, wenn
1. recht viele Bogen eingehen würden und sich daraus ersehen lieOe, daD die
Gewissen aufgerüttelt sind;
2. die Angaben Gelegenheit boten, an dieses oder jenes bedrückte Gemüt, an einen
NotleidendendurcbEinladungzurRückspracheheranzukommen, um zu helfen;
3. die Bogen ausreichten, um ein klareres Bild über die Motive der Be-
rufseingliederung der Schuier höberer Lebranstalten zu gewinnen.
Dieser dreifache Zweck ist ziemlich erreicht worden, wenn auch zahlenmaOig
mehr erhofft werden konnte. Von den vielen ausgegebenen Bogen kamen 62
aus 10 verschiedenen höheren Lebranstalten (Humanistisches Gymnasium, Real-
gymnasium, Oberrealschule, Realschulen) und 4 aus höheren Madchenschulen
zurück (diese letzteren sind nicht in den Bericht aufgenommen). Darunter be-
fanden sich Berichte von 45 Abituriënten neunklassiger Vollanstalten. DaO nicht
mehr Bogen zurückgegeben wurden, hatte seinen Grund in dem Fehlen einer
ausdrücklichen Anordnung des Provinzial-Schuikollegiums, die zwar erbeten,
aber abgelehnt worden war, weil man erst den Erfolg eines zwanglosen Ver-
suches abwarten wollte. Insbesondere hatte man auch das Bedenken, daO die
einwandfreie unbeeinhuOte AusfüIIung der Bogen wenig wahrscheinlich sei. Diese
Befürchtung hatsich nach dem voriiegenden Material als ganzlich hinfallig erwiesen.
Es wurden zum Teil derart intime (auch sexuelle Dinge erwahnende) Antworten auF
die Fragen k und I gegeben, daO die Wirkung des Vorspruchs für den Seibstbericht
ziemlich auOer Zweifel steht. Vielleicht laOt sich diese Wirkung noch verstarken
und zugleich ein regeres Interesse wachrufen durch Vortrage in Schulgemeinden,
in deren Verfolg die Blatter behandigt werden,
Inwieweit die übrige Fragestellung brauchbar ist, dürfte in etwas nach-
stehende Tabelle 1 dartun:
Es
wurden
beantworte t:
die Fragen;
a
b
c
d
e
r
g
h
k
1
m
überhaupt
61
4S
52
21
55
52
55
47
39
42
55
55
vollstandig
61
48
52
21
49
30
39
23
4
28
55
45
unvoIIstSndig
—
—
—
—
6
22
16
24
35
14
—
11
gar nicht
1
14
10
41
7
10
7
15
23
20
7
6
Tabelle 1
Ein einziger von 62 Berufsanwartern hatte sich, wie aus Tabelle 1 hervor-
geht, noch gar kein Bild von seiner Zukunft gemacht. Nur 77% geben eine
mehr oder weniger oberflachliche Begründung ihrer Berufswahl. Lieber einen
anderen Beruf wahlen würden 30%. Der Grund für die Aufgabe des ursprüng-
lichen Zukunftswunsches ist zumeist der Zwang wirtschaftlich ungünstiger Ver-
haltnisse (fast 53% aller Falie), sodann der Glaube an bessere Aussichten.
Die Tabelle 2 gibt hierfür einen eingehenderen Überblick. 18 von den 19
angeführten Fallen betreffen übrigens Abituriënten verschiedener neunklassiger
höherer Lebranstalten; Fall 8 ist Sekundaner.
298 Rosé, Der Selbstbericht und die BeruFsberatung der Schuier höherer Lehranstalten
Zur Frage c und ihrer Bejahung
Lfd.
Nr.
Der auFgegebene
BeruFswunscb
Der neue
BeruFswunsch
Veranlassung des Wechsels
1
Lehrer
Arzt
eigener Wille, da HoFPnung, in diesem
BeruF noch mehr leisten zu können
2
Chemiker
Getreide-CroC-
kauFmann
auF Rat von Bekannten, der guten Aus*
sichten halber
3
Jurist. Stud.
Bankbeamter
es Feblt an Mitteln zum Studium
4
Offlzier
Höherer Verwaltungs-
beamter
unter anderen UmstSnden
5
Chemiker
KauFmann (Kolonial-
waren)
es Fehlt an Mitteln
6
Historiker
Universitits-LauFb.
Jurist
auF Rat der Eltern, da am aussicbts-
reichsten
7
Stud. der Musik und
Kunstgescbichte
Architekt
eigener EntschluIS, da mit diesem BeruF
mehr zu verdienen ist
8
Forstbeamter
Bankbeamter
um zu verdienen (ein Verwandter ist
Bankdirektor)
9
Mediziner
KauFmann
da das medizinische Studium aussichts*
los ist
10
OFfizier
Techniker
ohne Angabe von Gründen
11
Mediziner
KauFmann
will erst so viel Geld verdienen, daQ er
spSter seinen ursprünglichen Plan ver-
wirklichen kann
12
Architekt
Masch.-Ingenieur
da das Studium Für Architekten nicht in
Breslau absolviert werden kann
13
Jurist. Stud.
KauFmann
es Fehlt an Mitteln
14
Lehrer
HQttenbeamter
weil der LehrberuF so aussichtslos ist
15
Mediziner
KauFmann
wegen der ÜberFQIIung des ArztberuFes
16
Komponist,
Kapellmeister
Versicherungsbeamter
aus flnanziellen Gründen, Not in der
Familie
17
LandwirtschaFtliches
Studium
KauFmann
es Fehlt an Mitteln
18
MarineoFfizier
Jurist. Stud.
da aussichtsreich
19
Diplomat
KauFmann
es Fehlt an Mitteln
Tabelle 2
Die Beantwortung der Fragen e, f, zum Teil auch b ergibt ein interessantes
Bild der Motivierung der Berufswahl der Schiller höherer Lehranstalten. Fast
90% der Antwortenden haben sich seibst entschlossen, doch geben einige aus-
drücklich an: „Unter dem Beirat des Vaters" u. a. m. Nur ein Fall direkten
Zwanges gegen den Willen des Jugendlichen ist zu vermerken. Aber bedauer-
licherweise nur knapp die Halfte aller Einsender wahlen ihren Beruf aus
Neigung. Für Ve spielen die billigen Ausbiidungskosten und die Verdienst-
möglichkeit wahrend der Lehrzeit (vornehmlich im kaufmannischen Beruf) eine
ausschlaggebende Rolle. Für die übrigen % ist das gute Auskommen, die Hoff-
nung auf eine geachtete gesellschaftliche Stellung maOgebend. Ein junger Mensch
wahlt seinen Beruf bezeichnenderweise nur, um überhaupt einen solchen zu
ergreifen. Dies sind nicht sehr erfreuliche Tatsachen. Noch bedenklicher wird
das Bild, wenn man die Berufskenntnis der Schüler höherer Lehranstalten kennen-
302 Klemm und Sander, Experim. Untersucbgn. über die Form des HandgrilTes usw.
II. Gruppe, Balllge Handgriffe:
Dicke
der
Modell:
Linge:
Rinne:
Wulst:
4. Form .... 115 mm
25 mm
40 mm
D. W.
III. Gruppe, Konische Handgriffe:
Lange:
Dicke
Rinne;
der
Wulst:
Modell;
5. Form .... 90 mm
25 mm
34 mm
D. W.
6. Form .... 110 mm
25 mm
34 mm
Ps. Inst.
7. Form .... 130 mm 25 mm
IV. Gruppe, Unsymmetrische Griffe:
34 mm
Ps. Inst.
Linge:
Dicke
Rinne:
der
Wulst:
Modell:
8. Form .... 130 mm
5 mm
34 mm
Ps. Inst.
Die einzelnen Handgriffe lieOen sich nach der objektiven Messung und ebenso
nach den subjektiven Schatzungen in eine sichere Stufenfolge bringen. Die Er-
gebnisse der beiden Methoden stimmten bei den geprüften Versuchspersonen im
wesentlichen überein. Vor allem erwiesen schon die ersten Versuche, daO der
ballige Griif (4) nicht in Frage kommt, auch der unsymmetrische Griff (8), der
an sich der Hand gut angepaOt werden könnte, scheidet als Gebrauchsform wegen
seiner Ungewöhnlichkeit aus. Zwischen der zylindrischen und konischen Gruppe
neigte sich die Entscheidung zugunsten der konischen. Und bei diesen wiederum
gab es je nach Lange und Dicke charakteristische Unterschiede. Als Beispiel
für die zahlenmaDigen Unterschiede der nach den einzelnen Griffen erhaltenen
Ergogramme teilen wir im folgenden eine solche Reihe mit, bei der als Leistungs-
wert die Anzahl der gleichmaOig ausführbaren Einzelpressungen gilt:
Leistungswert: 78 70 61 48 44 31 29
Art des Griffes: 7 6 2 5 3 1 4
Hiernach ist der Handgriff Nr. 7 der beste. Die individuellen Unterschiede
der Beobachter lagen in der Richtung, daO Leute mit kleinen Handen zur Not
auch mit dem kürzeren der konischen Griffe Nr. 6 auskamen. Der kürzeste
dieser konischen Griffe dagegen (Nr. 5) wurde auch bei ungewöhnlich kleinen
Handen abgelehnt. Die Angaben bei einer normalen Frauenhand deckten sich
mit dem Durchschnittswert der Mannerhande und führten ebenfalls zu einer sehr
sicheren Bevorzugung des Handgriffes Nr. 7.
Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes
303
Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes
(Aus der psychologischen Abteilung des Landesberufsamtes Berlin)
Von Hellmuth Bogen
er hauptsachlichste Trager der Eignungsfeststellung mit dem Ziel der Be-
rufseingliederung einer Person ist vorerst noch die GroOindustrie. In den
Berufsamtern selb'st hat sich der Zweig der angewandten Psychologie spater und
nur allmahlich seinen Platz schaffen können. Es dürfte deshalb von Interesse
sein, einmal in Kürze darzustellen, wie die Psychologie die tagliche Praxis der
Berufsberatung unterstützt, die in erster Linie Berufsauslese ist, wie aber das
Berufsamt auch nach der anderen Seite hin Personenauslese treiben muO.
Nebenstehendes Schema moge die Methode der
Berufsberatung in ihren Grundzügen veranschaulichen.
Die stark umrandeten Felder bezeichnen die Angriifs-
punkte der psychologischen Mitarbeit.
An der Darstellung des Regelfalles dürfte das
Wesen der psychologischen Hilfe am deutlichsten
werden. — Der Bewerber kommt mit einem mehr
oder weniger fest verankerten Berufswahlwunsch zum
Berufsberater. Ihm stehen für die Beurteilung der
seelischen Eignung eines Bewerbers der persönliche
Eindruck aus der Unterhaltung mit ihm über Neigungen
und Motive der Wahl, Aussagen der Eltern, Schul-
zensuren, Produkte der Schul- und freitatigen Arbeit und als wesentlichstes Mittel
der Beurteilung die Angaben des Lehrers auf dem Schulbogen zur Verfügung. In
einigen wenigen Pallen trat neuerdings versuchsweise die von mir angeregte Selbst-
charakteristik des Schülers dazu*).
(Zur Beurteilung der physischen Eignung liegt das Urteil des Schularztes vor.
Ferner ist standig die Möglichkeit gegeben, das Urteii des Gewerbearztes einzuholen,
was bei bestimmten Berufen mit besonders hohen Berufsgefahren immer geschieht.)
Ausgangspunkt bleibt dem Berater immer das Lehrergutachten, soweit es
brauchbar vorliegt. Aus einer Statistik über die Ausfüllung seien hier die Zahlen
der beiden ersten Gesichtspunkte von den zehn, nach denen die Schülercharak-
teristiken von mir durchgearbeitet worden sind, angegeben.
Um ein ailgemeines ürteil über die Güte der Ausfüllung zu haben, wurden
nach grober Vordurchsicht folgende fünf Gesichtspunkte der Zahlung gewonnen:
a) Sehr eingehend
b) eingehend
c) ausreichend
d) wenig brauchbar
e) gar nicht
*) Deine Berufswahl. In: Alfred Bogen, Realienbuch für Berlin, 3. Heft. Leipzig 1922.
ausgefüllte Karten.
304
Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes
Jede Gruppe wurde durch bestimmte Kriterien, die in Zusammenarbeit von
Berufsberater und Psychologe gewonnen wurden, gegen die nachstfolgende ab-
gegrenzt. Bei einer Zufallsauslese von 4000 Berliner und 1233 Neuköllner Karten
ergaben sich für die einzelnen Gruppen folgende prozentuelle Anteile.
a
b
c
d
e
Berlin
Neukölln
0,2%
0,8%
m
B
19,3%
8,8%
9,1%
13,9%
Die Beziehungen der Lehrerbeobachtung zum Berufswunsch werden durch
folgende Zahlen illustriert:
Lehrerbeobachtung und Berufswunsch bei 2000 Knaben
2000 Madchen
zeigen keine Beziehung aufeinander:
26,6%
29,3%
stimmen überein :
40,6%
44,5%
weisen teilweise Differenzen auf :
21,9%
21,0%
Beobachtung weist in andere Richtung :
10,9%
5,2%
100,0%
100,0%
Die erste Übersicht erweist, daQ mit rund 75% der Lehrerauskünfte wirklich
etwas anzufangen ist. — Die zweite Übersicht veranschaulicht, in wie vielen
Pallen etwa der Berufsberater weiteren psychognostischen Materials bedarf, um,
zunachst unter dem Gesichtspunkt der psychischen Eignung gesehen, einen nach
menschlichem Ermessen stichhaltigen positiven Vorschlag als künftigen Beruf
machen zu können*).
Gelingt es dem Berufsberater trotz’ Schulbeobachtung und all der anderen
bereits angeführten Hilfen nicht, sich ein nach seinem Ermessen und eingehen-
der Kenntnis der in Frage stehenden Berufe eindeutiges Bild von der Eignung
des Bewerbers zu verschaffen, so überweist er mit Übereinstimmung der Eltern
denselben der Eignungsprüfstelle zur weiteren Begutachtung. In der überwiegenden
Zahl der Falie liegt seiner Überweisung folgende Fragestellung zugrunde: Ist X
für den Beruf A oder B, in welchem Grade oder in welcher Richtung geeignet?
Falls nicht, für welche andere Berufsgruppe kommt er voraussichtlich in Frage? —
Seltener ist schon die Fragestellung: Ist X für den Beruf A oder B besser
geeignet? Sehr selten waren bisher die Falie, in denen man weder vom Kind
noch vom Berufsberater her einen Anhalt bekam, bei denen also die künftige
*) Nebenbei sei bemerkt, daH die eingehende Durcbarbeitung der SchGlercharakteristiken
nach verschiedenen Richtungen bin die Grundlage fGr eine Neuformulierung des Fragescbemas
gegeben bat, die für die höheren Scbulen zu Oktober 1923, ffir Volksschulen zu Ostern 1924 in
Anwendung kommen wird. Die Weiterarbeit an der Schulbeobachtung bat überhaupt als eine
der vornehmsten Aufgaben der psychologischen Abteilung zu geiten.
Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes
305
Berufseingliederung völlig fraglich war. Unter in vier Monaten bearbeiteten
490 Prüflingen waren nur neun Falie dieser Art zu verzeichnen.
Eine besondere Kategorle der Prüflinge wird durch die Abteilung des Be¬
rufsamtes gestellt, der die Beratung und Vermittlung körperlich, geistig und
moralisch Anbrüchiger obliegt. Hier wird haufig nicht nach Berufseignung,
sondern nach Arbeitseignung überhaupt gefragt.
Eine dritte, sehr wenig zahlreiche Gruppe überweist die Berufsumleitung,
soweit sie es mit körperlich und geistig Anbrüchigen zu tun hat mit der Frage:
Ist X noch in irgendeinem Grade für die Ausübung seines früheren Berufs
geeignet? — Es handelt sich hier urn Erwachsene. Die seltene Inanspruchnahme
ist durch die meist in groOer AusFührlichkeit vorliegenden Arztgutachten aus
Rentenverfahren, Anstaltsbehandlung, fürsorgerischer Überwachung u. a. gegeben.
Nach erfolgter zweitagiger Prüfung geht das Gutachten der Prüfstelle wieder
der Beratungsabteilung zu, urn dort neb en die andern diagnostischen Kriterien
als gleichwertiges zu treten.
Über den Modus der Gutachtengewinnung sei folgendes gesagt. In einer etwa
fünfstündigen GruppenprüFung handelt es sich zunachst urn Feststellung des all-
gemeinen „Intelligenzniveaus". In die GruppenprüFung werden Ferner solche
Proben hineinbezogen, die auf den BeruFswunsch der PrüfÜngsgruppe spezielien
Bezug haben und sich ohne schwerwiegendere Bedenken im MassenverFahren
erledigen lassen. An einem der darauffolgenden Tage findet die Einzelprüfung
statt, bei der analytische Funktionsprüfungen, Schema- und Arbeitsproben gleich-
berechtigt nebeneinander stehen. Die einzelnen Prüfer — für diffizilere Proben
natürlich der Psychologe selbst — haben neben der Festlegung der zahlenmaOigen
Ergebnisse die schriFtliche Aufnahme alles über Benehmen, Arbeitsart, Ausdrucks-
fahigkeit, Bewegungen usw. Bemerkten zur Pflicht. Die Bewertung der Leistungen
erfoigt dann nach den üblichen psychologisch-statistischen VerFahren. Normung,
gründliche Vor- und Durcharbeitung der Wertung, Eichung, Konstanzunter-
suchungen, Analyse u. dgl. sind AuFgabe des wissenschaftlichen Hilfsarbeiters der
Abteilung, der in standigem Erfahrungsaustausch mit wissenschaftlichen Instituten
und Prüfsteilen steht, und dem ferner an Schülern genügendes Versuchspersonen-
material zur Verfügung steht. Nach Fertigstellung der rein zahlenmaOigen Lei-
stungsbewertung treten alle Prüfer (in der Regel vier) zur Gutachtersitzung zu-
sammen. Hier erfolgt die Deutung des psychologischen Profils, die Zusammen-
arbeitung der notierten Beobachtungen, Vergleich mit den Lehrerangaben auf
dem Schulbogen und Begutachtung vom Prüfling vorliegender Arbeitsprodukte
(Zeichnungen, Bastei- und Formarbeiten, Buchbindereien, Aufsatze usw). Alle
Einzelergebnisse verdichten sich zu einem die qualitative Seite der Prüflings-
leistung berücksichtigenden kurzen Gutachten, das auf das Prüfzeugnis geschrieben
wird (Abbildung 2).
Bisher handeite es sich urn die Prüfung derjenigen Berufsuchenden, die vom
Berufsamt direkt überwiesen werden. Eine ebenso starke Gruppe etwa wird
21
P. P. IV. 10.
306
Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes
Abbildung 2
von den Prüflingen gestellt, welche durch Firmen, Innungen, Berufsverbande,
Behörden, öfFentliche und private Fürsorgeinstitutionen zur Begutachtung über-
wiesen werden. — An Firmen kommen besonders metallindustrielle GroB- und
Mittelunternehmen jn Frage, z. B.: C. P. Goerz, Dr. P. Meyer, Samsonwerk,
National-Registrierkassen A.-G., Weber & Co. usw. Bis jetzt gehen die Lehr-
stellenbewerber von 27 Firmen durch die psychologische Abteilung des L. B. A.
Prüf- und Gutachtertatigkeit sind die gleiche. Das Zeugnis wird der fordernden
Firma zugeschickt. Ein Duplikat verbleibt für die Falie, in denen Abweisung
des Bewerbers bei der Firma erfolgt, beim Berufsamt, so daB der Prüfling nach
erfolgter Ablehnung nicht in der Luft hangt. Es wird ihm nahe gelegt, in diesem
Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes
307
Fall spater das Berufsamt aufzusuchen, zwecks Beratung und anderweitiger
Vermittlung.
Die Gold- und Silberschmiedeinnung und der Verband der Chemigraphen
und verwandter Gewerbe lassen ihre Lehrlinge jetzt beim Berufsamt prüfen.
Nach erfolgtem Schluligutachten treten die Prüfausschüsse der Verbande zu-
sammen und vermittein unter Mitwirkung des psychologischen Assistenten in die
Lehrstellen nach MaOgabe der aus Prüfung und gegebenenfalls Lehrerbeobach-
tung vorliegenden individuellen Kriterien. Auch die hier Abgelehnten werden
den Beratungsabteilungen zu weiterer Bearbeitung übergeben.
Vom KunstausschuB des Deutschen Musikerverbandes werden halbjahrlich
etwa 20—35 Bewerber für die Orchesterschule bei der Hochschule für Musik
überwiesen. Die Bewerber werden einer psychologischen Fahigkeits-, einer
musikalischen Kenntnis- und Könnensprüfung unterworfen. Nur die psycho¬
logische Prüfung ist Sache des Berufsamtes. Sie erstreckt sich nur auf be-
stimmte, für qualifizierte Musikausübung unbedingt vorauszusetzende tonale,
rhythmische, manuelle und intellektuelle Grundqualitaten. Die anderen Teile der
Prüfung sind Sache des Kunstausschusses und der Hochschule selbst. Sie erst
richten ihr Augenmerk auf das, was man als musikalische Begabung zu bezeichnen
pflegt. Es muB das hier wegen der haufigen MiBverstandnisse, denen gerade diese
Prüfung begegnet, besonders hervorgehoben werden. Es soll auch nicht ver-
schwiegen werden, daB sie noch sehr des Ausbaues bedarf und daB standig daran
gearbeitet wird.
Ein neuer Zweig der Gutachtertatigkeit ist durch die Auslese von Büro- und
Beamtenanwartern für den mittleren kommunalen Verwaltungsdienst gegeben,
den das L. B. A. im Auftrage eines Berliner Bezirksamtes versuchsweise be-
arbeitet. Da wir hier noch mitten in Versuchen und Erfolgskontrollen stehen,
seien sie nur erwahnt. Die Arbeit dürfte grundsatzlich insofern bedeutungsvoll
sein, als das Berufsamt direkt in den Dienst der lastentragenden Gemeinde tritt.
Zuletzt sollen die fürsorgerischen Institutionen erwahnt werden. Es kommen .
hier Jugendliche in Frage (meist Kriegerwaisen), denen diese Wohlfahrtseinrich-
tungen besondere Zuwendungen für berufliche Spezialausbildung zuteil werden
lassen wollen. Sie versuchen, sich auf dem Wege über psychologische Begut-
achtung die GewiBheit zu verschaffen, daB ihre Sonderaufwendungen aller Wahr-
scheinlichkeit nach den rechten Menschen treffen.
Ein recht heikles Gebiet für die Arbeit in der Abteilung liegt in den Erfolgs-
und Bewahrungskontrollen. Unser Lehrlingsmaterial zerstreut sich vorwiegend
auf eine sehr groBe Zahi von Kleinbetrieben. Die Vergleichbarkeit der Lehr-
lingsieistungen ist damit wegen der verschiedenen Lehr- und Arbeitsbedingungen
fast zur Unmöglichkeit geworden. In dankenswerter Weise haben sich jetzt einige
GroBbetriebe für die Durchführung solcher Kontrollen zur Verfügung gestellt.
ZahlenmaBiges Materiai iiegt noch nicht vor. Wohl aber mündliche und schrift-
liche AuBerungen, aus denen erfolgreiche Arbeit hervorgeht.
21*
308
Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes
Wenn auch ein umfangreiches Gebiet neben der eigentlichen Prüfpraxis und
Durcharbeitung der Methoden, so sei doch nur kurz der direkten Mitwirkung
des Psychologen in schwierigen Einzelfallen der Beratung gedacht, ferner seiner
standigen Arbeit an der Vertiefung der psychologischen Einstellung der Be-
rufsberater.
Drei tabellarische Übersichten mogen den Bericht schlieOen. Sie beziehen
sich auf das erste Trimester Januar bis April 1923.
Es forderten Gutachten:
Berufsberatung
Firmen
Innungen-
Berufsverbande
Behörden
Wohlfahrts-
einrichtungen
264
70
57
94
5
53,93 %
14,03 %
11,42 %
18,85 %
1,0%
Die Prüflinge verteilen sich nach Alter und Geschlecht:
13—n
m
Jahre
f
m
21 —4(
m
) Jahre
f
293
46
45
12
77
17
Die Prüfiinge verteilen sich auf folgende Berufsgruppen:
Land- und Forstwirtschaft. 1
Steine und Erden. 1
Metallberufe.257
Chemische Berufe. 1
Papierbranche. 2
Lederindustrie .. 2
Holzindustrie. 8
Nahrungsmittelindustrie. 3
Reinigungs- und Bekleidungsgewerbe. 6
Graphisches Gewerbe. 18
Künstlerische Betriebe.21
Maschinisten, Heizer. 1
Handel, Verkehr.48
Freie Berufe. 18
Verwaltung.94
Unentschlossene. 9
490
Ebel, Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik
309
Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik
Von H. Ebel, Berlin
I.
D en Organisationsformen der Psychotechnik zufolge sind heute hauptsachlich
drei Arten zu unterscheiden: Behördliche Unternehmen, Hochschulinstitute
und private PrüFstellen.
Die behördlichen Unternehmen teilen sich wiederum in Provinzlal- und
Kommunalinstitute, die an sich aber keine Verschiedenheit aufweisen. Beiden
ist ein hauptamtlicher, festbesoldeter Leiter gemeinsam, der dem Interessenkampf
der Arbeitgeber und Arbeitnehmer neutral gegenübersteht und möglichst volks-
wirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigt. In den für jeden zuganglichen
Instituten, die in der Regel durch eine Arbeitsgemeinschaft mit einem Berufsamt
verbunden sind, werden nicht in erster Linie für einen Betrieb die besten Ar-
beitskrafte ausgelesen, sondern sollen diese auf Grund einer Eigenschaftsdiagnose
vor allem heraten und eventuell dem Berufe zugewiesen werden, für den sie sich
am besten eignen. Die enge Zusammenarbeit mit den Berufsamtern weist den
behördlichen Instituten ganz von selber diese Aufgabe zu. Die Prüfleiter wollen
nicht zugun^ten bestimmter Interessentenkreise dem Arbeitsmarkt die besten Krafte
entziehen und lehnen infolgedessen von diesen Interessenten jede hnanzielle
Unterstützung ab. Nur durch die freie Hand nach allen Seiten meinen die Leiter
volkswirtschaftlich Wertvolles leisten zu können. Die Gefahr einer Politisierung
und Bürokratisierung wird als gering bezelchnet, haben doch samtliche Parteien
ihre Unterstützung zugesagt, behalt doch der Leiter die Initiative, wenn er auch
für seine Tatigkeit verantwortlich ist. Die Provinzialinstitute von Giese in Halle
und Weber in Münster i. W., die kommunalen Prüfstellen von Hische in Hannover
und van der Wyenbergh in Köln sind an dieser Stelle zu erwahnen.
Eine Mittelstellung nehmen die Hochschulinstitute ein, von denen das Institut
für industrielle Psychotechnik von Moede das wichtigste ist. In Anlehnung an
eine Hochschule geschaffen, führen diese Institute neben reger Forschertatigkeit
Auftrage von bestimmten Auftraggebern aus. Auch die Hochschulinstitute stehen
den Interessenten als neutrale Gutachtenstellen gegenüber, wenn sie auch nicht
alle aus dem Zwange der Not heraus finanzielle Unterstützungen ablehnen. Ihr
Kundenkreis führt sie zu der anderen Aufgabe der Psychotechnik: aus einem
Überangebot die bestgeeigneten Arbeitskrafte auslesen, d. h. zur Bestenauslese.
Das Fehlen einer Arbeitsgemeinschaft mit einem Berufsamt — nur bei Stern-
Hamburg ist mir eine derartige Verbindung bekannt — laöt die Hochschulinstitute
in der Regel die als ungeeignet Ausgeschiedenen auch nicht heraten; sie geben
lediglich ihr Gutachten über die Eignung ab. Als Hochschulinstitute sind sie
neutrale Stellen, die weder dem Parteigetriebe, noch dem InteressenteneinfluD
unterliegen.
310
Ebel, GegenwSrtige Organisationsformen der Psychotechnik
SchlieOlich sind die privaten Organisationen zu erwahnen, von denen das
Orga-Institut von Piorkowski im AnschluB an einen Organisationskonzern und das
Bremer Institut im AnschluB an eine Jugendorganisation gegründet worden sind.
Als weitere Organisationsformen kann man nach der Tatigkeitsrichtung Zentral-
institute und Betriebsprüfstellen unterscheiden. Von ihnen können die ersteren
alle Formen der Organisation in sich schlieBen, wahrend bei den Betriebspriif-
stellen die Hochschulinstitute fortfallen. Die Zentralprüfstellen erhalten ihr Kenn-
zeichen dadurch, daB sie die Auftrage mehrerer Auftraggeber in ihrem Labora¬
torium verelnen, also eine Bedarfskonzentration vornehmen. An der Spitze steht
in der Regel ein Fachmann, der sich nur den Aufgaben seines Instituts widmet.
Er vertritt gewissermaBen einen neuen Lebensberuf, den des Psychotechnikers.
Die Spezialisierung auf die psychotechnischen Aufgaben und die kontinuierliche
Tatigkeit geben diesen Instituten vermöge ihrer sicheren und relativ billigen
Arbeit im Wirtschaftsleben eine groBe Zukunft. Ihnen stehen die Betriebsprüf-
stellen gegenüber, die nur für ihr eigenes Unternehmen Eignungsprüfungen aus-
führen. Die Betriebsprüfstellen vermogen sich den Eigenarten Ihres Unternehmens
völlig anzupassen und werden für gewöhnlich von Ingenieuren geleitet, die als
erfahrene Praktiker Arbeitsvorgang und Menschen beurteilen können und in
nebenamtlicher Tatigkeit bei Bedarf die Prüfungen ausführen. Ihre gröBteVoll-
kommenheit erreichen sie in den Zentralbetriebsprüfstellen, in dene^ bei groBen
Unternehmen die Elgnungsfeststellungen der eigenen Werke zentralisiert sind.
Bei fest umschriebenem Aufgabenkreis haben sie im allgemeinen dieselben Funk-
tionen wie die Zentralinstitute. Zu ihnen treten schlieBIich noch Prüfstellen
einzelner Berufsamter hinzu, die aber weder der Art noch dem Umfange nach
mit den anderen zu wetteifern vermogen.
2. Die Prüfmethoden weichen noch starker voneinander ab als die Formen
der Organisation. Nach der Art der Auslese lassen sich, den beiden möglichen
Aufgaben entsprechend, die Komplexdiagnose und die Personenauslese unter¬
scheiden. Aus ihrer Verbindung mit der Praxis geht als letztes und höchstes
Glied die deutsche wissenschaftliche Betriebsführung hervor.
Die besonders von Giese vertretene Komplexdiagnose erstrebt eine Erfassung
der Gesamtstruktur des PrüfUngs und Ist aus drei Gründen heraus zu verstehen:
erstens aus dem Bedarf heraus: Unter den Prüflingen befinden sich Ungelernte,
Unentschlossene und Rentenempfanger, die für eine passende Arbeit heraten
werden sollen; zweitens aus volkswirtschaftlichen Erwagungen: Es ist ein wirt-
schaftlicher Fehler, für einige Interessenten auf Kosten der anderen dem Arbeits-
markt die besten Krafte zu entziehen; drittens aus wissenschaftlichen Gründen:
Wie in der Medizin, ist eine Untersuchung nur dann von Werf, wenn sie die
Gesamtkonstitution berücksichtigt. Diese drei Gründe sprechen für die Komplex¬
diagnose, die gleichermaBen einen Schnitt durch die seelische Struktur des Prüf-
lings legt, ein psychisches Profil des Menschen zeichnet. Sie erstreckt sich so-
wohl auf die physischen und psychischen Fahigkeiten wie auf moralische und
Ebel, Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik
311
emotionale Eigenschaften und wird aufier mit Apparaten und Tests vor allem
mit Arbeitsproben und dem Prinzip des Spontanraums durchgeführt. Den Ge-
danken der Arbeitsprobe stellt Poppelreuther noch mehr als Giese in den Mittel-
punkt seiner Prüfungen, weil er nur auf diese Weise den ganzen Menschen zu
erfassen glaubt.
Die hauptsachlich von Moede verfochtene Personenauslese beschrankt sich
auf die Eignungsfeststellung für einen bestimmten Beruf oder eine Berufsgruppe.
Moede behauptet, daO die Psychotechnik die Komplexdiagnose noch nicht zur
vollen Zufriedenheit durchzuführen vermag. Die Analyse der seelischen Struktur
ist bezüglich ihrer Vollstandigkeit anfechtbar. Jede psychotechnische Priifung
hat sich heute noch an den Berufsanforderungen zu orientieren. Diese Berufs-
analysen fehlen bisher zum gröBten Teil, deshalb muB sich die Psychotechnik
auf die bescheidenere Aufgabe der Personenauslese beschranken, bel der be-
stimmte Anforderungcn gegeben sind. Von ihrem Vorhandensein oder Nicht-
vorhandensein hangt die Eignung ab. Dies festzustellen ist die Aufgabe der
Priifung, die durch genaue Beobachtung und „liebevolle Einfiihlung“ in die Psyche
des Prüflings nach ihrer Charakterseite hin erganzt wird. Um das Bild möglichst
vollstandig zu gestalten, werden aufierdem die Urteile von Schule und Haus,
sowie die Lebensschicksale mit herangezogen. Diese im praktischen Leben am
weitesten verbreitete Auslesemethode erreicht ihre Spitze in der dritten Art, der
deutschen wissenschaftlichen Betriebsführung, die sich vornehmlich an die Namen
Tramm, Friedrich u. a. knüpft. Friedrich, früher bei der Firma Krupp-Essen,
halt die psychotechnische Priifung erst dann für wirklich wertvoll, wenn sie über
die reine Auslese hinaus die Grundlage für die Anlernung und Arbeitsrationali-
sierung bildet. Die Prüfung ist gewissermaOen nur eine Eigenschaftsanalyse,
auf die sich der weitere Vorgang der Anlernung und Berufstatigkeit aufbaut.
Die Anlernung geschieht teils an denselben Apparaten, mit denen die Prüfung
vorgenommen wird, teils an besonderen Anlernapparaten mit Registriervorrich-
tung zum Ablesen der Übungskurve. Sie gestaltet sich dadurch einmal wesentlich
billiger und ermöglicht zum anderen eine Einübung der berufsnotwendigen Grund-
funktionen. Denselben Gedanken vertritt Tramm von der GroCen Berliner StraCen-
bahn, der ebenso wie Friedrich gute Erfolge erzielt hat. Die Vorteile gegenüber
der primitiven Auslese und der Fortschritt gegen das Taylorsystem sind unschwer
zu erkennen.
Die Ausdehnung der Prüfungen hat in den letzten Jahren groBe Fort-
schritte gemacht. In der Industrie hat die Metallindustrie den gröBten Anteil und
in ihr die Maschinenindustrie. Über 40 Werke der deutschen Maschinenindustrie
lassen z. B. ihre Lehrlinge nach psychotechnischen Grundsatzen auslesen. Hinzu
treten etwa fünf SchifFswerften, sechs Eisen- und Stahlwerke, drei Waggonfabriken,
ferner solche aus der feinmechanischen Industrie und schlieBlich der Gummi-,
Textil- und Papierindustrie. Auch im Verkehrswesen hat die Psychotechnik früh
Eingang gefunden. Die ersten Prüfstellen sind die bei der Berliner StraBenbahn
312
Ebel, GegenwSrtige Organisationsformen der Psycbotecbnik
und bei der Eisenbahngeneraldirektion in Dresden. Es haben sich bald die
Feuerwehren in Beriin und Dresden, die Hamburger Vorortbahn und die Ober-
postdirektion in Beriin und Dresden diesem Vorgehen angeschiossen. Vor aliem
entstand 1021 die psychotechnische Versuchsanstalt der Reichseisenbahnverwaltung
(Psytev) in Eichkamp bei Beriin als Zentralstelle für etwa 93 selbstandige Werk-
stattenprüfstellen, die jahrlich etwa 5—6000 Lehrstellenbewerber auf ihre Eignung
hin zu untersuchen haben. lm Handel sind ebenfalls derartige Methoden anzu-
treifen in Gestalt kaufmannischer Eignungsprüfungen. Oberblicken wir die Be-
rufe, für die psychotechnische Prüfungen eingeführt sind, so können wir ohne
weiteres scheiden- in Arbeiter, Angestellte und Beamte. Aus den Reihen der
Arbeiter werden auCer Meistern vor aliem die Lehrlinge ausgelesen. Die Berufe
der Schlosser, Werkzeugmacher, Modellschreiner, Schmiede, Drucker, Setzer und
manche andere gehören hlerher. Aber auch die Praktikanten unterliegen zum
groDen Teil schon elner Eignungsfeststellung. Sodann sind die anzulernenden
Arbeitskrafte zu nennen, wie Spulerinnen, Wicklerinnen, Spinnerinnen und Textil-
arbeiterinnen. Aus der Reihe der Angesteilten sind die StraOenbahnführer, die
kaufmannischen Lehrlinge und Angesteilten, Zeichnerinnen und Techniker zu er-
wahnen und unter den Beamten in erster Linie diejenigen der Reichseisenbahn.
Auch Kraftwagenführer der Post und Feuerwehr, Telephonistinnen, Telegraphisten
und teilweise Kriminalanwarter werden auf ihre Eignung hin untersucht. Dieser
recht ansehnlichen Ausdehnung der Prüfungen im Wirtschaftsleben entspricht die
Zahl der bestehenden Prüfstellen.
Allein an Zentralinstituten bestehen z. Zt. etwa 20 im Deutschen Reich, hier-
von vier an Technischen Hochschulen und ahnlichen Instituten, so in Charlotten-
burg, Darmstadt, Dresden und Cöthen, vier prlvater Art, so das Orga-Institut,
das Institut für Jugendkunde-Bremen, das des Leipziger Lehrervereins und der
Buchdruckerlehranstalt, ferner drei an Gewerbeschulen, wenn man sie als Zen-
tralinstitute bezeichnen will und einige andere. Die Zahl der Betriebsprüfstellen
ist selbstredend erhebllch gröOer. Weitaus die Mehrzahl der mit psychotech-
nischen Methoden arbeitenden Werke haben eigene Prüfstellen errichtet. So
sind mir neben 170 Werken mit Prüfzwang 147 selbstandige Prüfstellen bekannt,
von denen 93 allein auf die Reichseisenbahnverwaltung entfallen, wahrend
schatzungsweise etwa 42 Werke, darunter mittlere und kleine, die unter den oben
angeführten Zahlen nicht enthalten sind, ihre Prüfungen in Zentralstellen vor-
nehmen lassen. SchlieOlich sind noch einige Nebenprüfstellen bei den Berufs-
amtern zu erwahnen, die, auOer dem Kölner Institut, bisher gröQere Bedeutung
nicht erlangt haben. Sie bestehen in Beriin, Bonn, Düsseldorf, OlFenbach und
München. In Aachen, Breslau und Frankfurt a. M. wird die Einführung geplant.
Im groQen und ganzen also in den wenigen Jahren ein machtiges Anschwellen!
GewiO sind noch mancherlei Mangel verhanden, doch der Gedanke der Prüfungen
dringt in immer breitere Volksschichten. Angesichts dieses groOen Umfanges
entsteht immer dringender die Frage nach der Bewahrung der Prüfungen.
Ebel, GegenwSrtige Organisationsformen der Psychotechnik
313
Bei der Beantwortung der Frage nach der Bewahrung sind zunachst einige
Worte über die Methoden der Bewahrungsfeststellung, über die Erfolgskontrolle,
zu sagen. Auf sie haben Moede und Piorkowski schon hingewiesen und drei
Arten unterschieden: Total- oder Bruttokontroilen, bei denen die Gesamtleistung
der Belegschaft mit früheren Ergebnissen oder anderen Belegschaften verglichen
und an Lohnkosten, Materialverbrauch, Anlernzeiten, Unfallen usw. gemessen
wird; das Personaigutachten, das sich auf die Angaben der Vorgesetzten über
Eindruck, Fahigkeiten und Leistungen stützt, und die Teiikontrollc oder Kom-
ponentenzeriegung, die nur auf einige jeweiis bestimmte Tatigkeiten gerichtet ist.
Zu ihrer Ausführung dienen vor allem zwei Methoden: die Entwicklungskontrolle,
welche die Entwicklung des Prüflings im Betriebe verfolgt und eine exakte An-
lernkurve zu erlangen sucht und die Stufenkontrolle, die von bestimmtenLeistungs-
stufen auf den Wert der Prüfmethoden schlieOt und auch bei Lehriingskontrollen
angewandt wird, wenn man nicht die ganze Lehr- bzw. Anlernzeit abwarten will.
Diesen Methoden haften verschiedene Fehler an. Die Bruttokontrolle ist in-
folge ihres groben Urteils für eine exakte Erfolgsfeststellung wie für wissen-
schaftliche Zwecke nur bedingt zu verwerten. Bei den Personaigutachten haben
die Genannten in zahlreichen Versuchen bis zu 40 ja 65 % Widersprüche der
ürteile festgestellt. Am brauchbarsten ist dieTeilkontrolle. Bei ihr hat Piorkowski
darauf hingewiesen, daO eine Potentialfeststellung einer EfFektivIeistung gegen-
übersteht und sowohl das Meisterurteil, wie die Heranziehung der Akkordlöhne
nur von bedingtem Wert sind. Am leichtesten ist eine Erfolgskontrolle noch in
Lehrwerkstatten und Anlernschulen anzustellen. Aber auch bei den Lehrlingen
tauchen Schwierigkeiten auf. Bolt-Nürnberg hat betont, wie schwierig es ist, die
vielseitige Tatigkeit in eine Wertreihe zu bringen. Wie soll man die Spezial-
befahigung in einem Sonderberuf mit dem Versagen in einem anderen kom-
binieren? Aus ail diesen Gründen betont Moede die Notwendigkeit des Ver-
handlungstisches, urn ünklarheiten und MiOverstandnisse zu beseitigen, von
reprasentativen Arbeiten, auf die das praktische Urteil sich beziehen soll. Trotz
dieser Fehlerquellen, die zur Vorsicht mahnen sollen, liegen doch schon erfreu-
liche Bewahrungsresultate vor. So hat man bei den Kraftfahrerprüfungen eine
Minderung der Anlernzeiten um 40% feststellen können, Tramm bei der StraOen-
bahn sogar um 50% bei etwa 30—40% weniger Unfallen. Desgleichen berichtet
Friedrich über eine Herabsetzung der Anlernzeiten von Kranführern von 40 auf
17 und 13, die Schicht zu 3 Stunden. Höchst bedeutsame und erfreuliche Mit-
teilungen hat Oberbaurat Skutsch, der Leiter der Psytev, machen können. Trotz
eines infolge der Ausdehnung über das ganze Reich stark schematisierten Prüf-
verfahrens fallen bei 73 berichtenden Amtern auf 1276 Eingestellte nur 5,8 %
Versager. Diese Ergebnisse beziehen sich auf die sogen. Personenauslese.
Die Komplexdiagnose vermag noch nicht auf ein derart umfangreiches und
gutes Bewahrungsmaterial zurückzublicken. Auf die bei'der psychotechnischen
Beratung der Kriegsbeschadigten vorliegenden anderen Bedingungen ist weiter
314
Ebel, Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik
unten noch zurückzukommen. Über die Arbeitsfreude, ebenfalls ein Ziel psycho-
technischen Strebens, liegt nur sehr unbestimmfes Material vor, laCt sie sich
doch nicht in Zahlen kleiden. Soweit früher infolge schlechter Eignung usw.
Hemmungen bestanden, sind diese allerdings wesentlich gemindert. Über die
eigentliche Freude an der Arbeit seiber laDt sich nichts sagen.
Die letzte und entscheidende Frage ist schlieOlich die nach der Rentabilitat
der Prüfungen. Gerade hier liegen noch keine festen Zahlenwerte vor. Nehmen
wir aber den haufigsten Ausspruch der Arbeitgeber zum MaOstab: „wenn es
Ihnen nur gelingt, die 10%völlig Ungeeigneten von qualifizierten Arbeiten fern-
zuhalten, dann renderen sich diese Prüfungen”, so ist damit das Bewahrungsurteil
gesprochen. Es gelingt nicht nur, diese 10% fernzuhalten, sondern darüber
hinaus auch noch die etwa 20% sehr maQigen Arbeitskrafte, die dann mit unteren
Arbeiten beschaftigt werden. Hinzu treten noch Imponderabilien, wie die eines
objektiven Gutachtens und die einer gewissen psychologischen Schulung der
Vorgesetzten. Die Prüfungen an sich renderen sich also auf jeden Fali. Die
Frage richtet sich nur auf den zulassigen Grad der Intensitat. Und hier gilt,
wie überall im Wirtschaftsleben, daö nicht die maximale Übereinstimmung mit
der Praxis die beste ist, sondern die optimale. Sie richtet sich nach dem Ver-
haltnis von Mehr-Aufwand zu Mehr-Erfolg und ist für jeden Betrieb verschieden.
Zum SchluO dieses Überblickes ist noch die Frage nach den Entwicklungs-
tendenzen aufzuwerfen. An erster Stelie sind die erkennbaren Reduktions-
bestrebungen zu nennen, die sich einmal auf die geprüften Funktionen und zum
anderen auf die Prüfmittel beziehen. Das Streben geht unzweifelhaft dahin, die
Prüfungen zu vereinfachen, Unnötiges, weniger Wertvolles auszuschalten und
eindeutige, sichere Methoden mit hohem Symptomwert auszubilden. Das Streben
geht dahin, zu den psychischen Grundfunktionen vorzudringen. Bezüglich der
Prüfmittel sind zwei Richtungen verhanden: die eine strebt nach Kapitalreduktion,
die andere nach Intensivierung der Zeit. Möglichst billige und einfache Prüf¬
mittel stehen das eine Mal im Vordergrunde, sei es aus hnanziellen Gründen
oder Wertungen der Prüfungen seiber. Als Gründe werden auCer hnanziellen
Schwierigkeiten in der Regel angegeben: der Entwicklungszustand der Psycho¬
technik und das Risiko der teuren Prazisionsinstrumente, wie etwaige Furcht
mancher Prüflinge vor komplizierten Apparaten. Möglichster Zeitgewinn steht
das andere Mal im Vordergrund und hat zu den automatisierten Prüfmitteln und
der Mechanisierung der Auswertung geführt. Zeit soll gespart werden zum ein-
gehenden Beobachten, Zeit durch möglichste Mechanisierung des schwierigen
Auswertungsverfahrens. Zudem ist die apparative Auswertung sicherer, ihr glaubt
jeder Mensch; Apparate haben den Vorzug, so sagt man, daO sie das Interesse
anregen und das Gefühl der Objektivitat erzeugen.
Andererseits sind Ausdehnungsbestrebungen nicht zu verkennen. Namentlich
wili man die Lücken der psychotechnischen Prüfungen erganzen und vor allem
in die ethische und emotionale Veranlagung des Prüfiings eindringen; bildet
Ebel, Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik
315
doch das Fehlen der Charakterbeachtung den schwersten Vorwurf gegen die
Psychotechnik. Soweit hier* die Beobachtung wahrend der Prüfung nicht aus-
reicht, werden die Urteile von Schule und EIternhaus mit herangezogen. Trotz-
dem gerade bei der Charakterbeurteilung durch die Lehrerschaft 40% Versager
festgestellt worden sind*), will man zur Erganzung auf diese Gutachten nicht ver¬
zichten. Aber auch die Fahigkeitsprüfungen selber sollen in ihrem prognostischen
Wert erhöht werden. In systematischer Arbeitsverteilung sucht man die Fragen der
Übung und der Berufsanalyse zu klaren. SchlieQlich ist noch auf die Ausdehnungs-
tendenzen im Wirtschaftsleben hinzuweisen. Sowohl in der Holz-, wie Textil-
industrie und einigen anderen Fabriken ist man jetzt an die Einführung der Prü-
fungen herangetreten. Desgleichen sind bei Eisenbahn und Post Erweiterungen
geplant. Überall rege Tatigkeit und Anerkennung des Prinzips, wenn auch noch
nicht überall einwandfreie Arbeit.
Abschliefiend ist noch die wichtige Frage der Organisation zu streifen, bei
der sich zwei Richtungen gegenüberstehen; Betriebsprüfstelle — Zentralprüfstelle.
Unleugbar ist das Streben nach Betriebsprüfstellen das starkere. Der anfangliche
Mangel an Zentralinstituten, die Möglichkeit individueller Anpassung an die
eigenen Bedürfnisse und nicht zuletzt die Nutzenfrage der Bestenauslese wirken
in dieser Richtung. Andererseits sind aber auch schon starke Tendenzen zur
Zentralisierung vorhanden. Die Nachteile nebenamtlicher Leitung, die groOe
Arbeitsüberlastung sind die Ursachen. Man erkennt, daO fachmannisch geleitete
Zentralen vielfach sicherer und billiger arbeiten und trotzdem den Interessen des
eigenen Betriebes dienen können. In einem sind sich beide Bestrebungen einig:
keine Angliederung an ein kommunales Institut. Man fürchtet die Schwerfallig-
keit und die Gefahr der Beeinflussung; hingegen wird eine Arbeitsgemeinschaft
mit einem Berufsamt nicht abgelehnt. Am verbreitetsten hingegen sind die Be¬
triebsprüfstellen.
Rundschau
Technische Hochschule Stuttgart
An der Technischen Hochschule Stuttgart
wird ein psychotechnisches Laboratorium
eingerichtet. Zur Leitung desselben wurde
Dr. Fritz Giese (Halle) berufen. Giese
promovierte 1914 bei Wundt in Leipzig, war
im Kriege in der Kriegsbeschadigten-Berufs-
beratung tStig, wurde 1918 Assistent an der
Nervenstation für Kopfschüsse zu Köln bei
Poppelreuter. 1919 arbeitete er unter Moede
in Berlin und griindete im selben Jahr das
Institut für praktische Psychologie zu Halle,
das von Dr. A. Martin übernommen werden
wird. 1920 wurde er ao. Dozent an der
Handelshochschule Cöthen und 1921 an der
rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultat
der Universitat Halle mit einem Lehrauftrag
für Wirtschaftspsychologie betraut.
*) Vgl. Moede, Über Beobachtungsbögen, Praktische Psychologie IV, 6.
316
Buchbesprecbungen
Buchbesprechungen
Dunkmann, Karl, Die Lehre vom Be*
ruf. Eine Einführung in die Geschichte
und Soziologie des Berufs. Trowitzsch
& Sohn, Berlin 1922.
Das dem Reichsarbeitsmioister Dr.
Brauns gewidmete Buch von Professor
Dunkmann ist der systematische Versuch,
den „Beruf“ von allen seinen Richtungen zu
behandeln. Der Verfasser gliedert seine
Arbeiten in folgende Teile:
Erstes Buch. Geschichte des Berufs.
Der Beruf in der Vorzeit. Der Beruf im
Altertum. Der Beruf im Urchristentum. Der
Beruf bei Luther und im Luthertum. Der
Beruf bei Calvin und im Calvinismus. Der
Beruf im Zeitalter der Aufklarung und des
Idealismus. Der Beruf im Zeitalter des
-Kapitalismus und des Sozialismus. Rück-
blick auf die Geschichte des Berufs.
Zweites Buch. Soziologie des Berufs.
I. Der Berufsbegriff. Bedeutung der
Untersuchung. Der Ertrag der geschicht-
lichen Darstellung. Der soziologische Be-
rufsbegriff. Beruf und Religion. Beruf und
Wirtschaft. Beruf und Arbeitsteilung.
II. Die Differenzierung der Berufe.
Einleitung. Die quantitative Differenzierung
der Arbeitsteilung: Die Berufsstande. Die
qualitative Differenzierung der Arbeitslei-
stung: Die Berufstypen. Die Differenzierung
nach Graden: Die Berufsklassen. Die poli-
tische Differenzierung nach Verbanden und
Genossenschaften.
III. Die Differenzierung der Be-
gabungen. Einleitung. Die Differenzie¬
rung in der theoretischen Psychologie. Die
Differenzierung in der angewandten Psycho¬
logie. Die soziologische Differenzierung.
IV. Die Realisierung des Berufs-
ideals. Einleitung. Die Freiheit der Be-
rufswahl. Probleme der Berufsberatung:
a) Grenzen der Berufsberatung; b) Positive
Aufgaben der Berufsberatung. Spezialfragen
der Berufsberatung: Frauenberufe, akade-
mische Berufe, Organisation der Berufs¬
beratung. Zur Berufsstatistik. Literatur-
verzeichnis.
Die Aufgabe, die sich damit der Verfasser
gestellt hat, ist eine derart umfassende, daQ
man es leicht verstehen kann, daQ dieses
Buch bisher noch nicht geschrieben worden
ist. In Anbetracht des gewaltigen Umfanges
des Stoffes muD man die Bewaltigung der
Aufgabe als in hohem MaQe gelungen an-
sehen. Neben der psychologischen Seite,
die im dritten Kapitel „Differenzierung der
Begabungen “ behandelt wird, sind besonders
die soziologischen Beziehungen der ver-
schiedenen Berufsgruppen und Berufe in
sehr wertvoller Weise dargestellt und be¬
handelt.
Es ist zu wünschen, daQ dieses Buch nicht
nur bei allen Berufsamtern, sondern bei
allen soziologischen und kulturwissenschaft-
lichen Forschungsstellen Eingang hndet.
Kimura, Dr. Ritsuro: Ermüdungs-
studiën bei genau bemessener körper-
iicher Arbeit. Aus dem Hygienischen
Institut der Universitat Berlin. Zeitschrift
für Hygiene und Infektionskrankheiten,
Band 98, 1922.
Der Verfasser setzte zum Ziel der ge-
nannten Studiën, die verschiedenen in
der Literatur angegebenen ErmüdungsmeO-
methoden auf ihre Anwendbarkeit und Ver-
laQlichkeit bei verschiedener, genau be-
stimmter Muskelarbeit zu prüfen, um mit
den am meisten tauglichen Methoden den
EinfluQ der Temperatur, Luftfeuchtigkeit und
des C02-Gehalts des Arbeitsraumes auf die
Ermüdung festzustellen. Von besonderem
Interesse ist der erste kritische Teil der Ar¬
beit. Obwohl Verfasser selbst zum Schlusse
seiner Betrachtungen zugeben muO, daO „zur
Beurteilung des ermüdenden Einflusses der
Arbeit in der Praxis* die untersuchten Me-
Bucbbesprecbungen
317
thoden „nicht genügen**, finden wir in seinen
Versuchsresultaten viel Bemerkenswertes.
Namentlich untersuchte Kimura die Er-
müdungsmeDmethoden mittels Dynamo¬
meter und Ergographen, die Baursche
Akkomodationsbreiten -Methode, die
Blutdruck-, Pulsfrequenz- und Blut-
verteiiungsanderung bei körperlicher
Arbeit und schlieOlich das Verhalten der
Reaktionszeiten sowohl bei einfachen
wie auch komplizierten Reaktionen. Zu
der von den Versuchspersonen zu leistenden
genau dosierbaren körperlichen Arbeit wurde
durchweg ein Ergometer nach Zuntz ver-
wendet.
Mit dem Dynamometer sollte der
Unterschied der Druckkraft der rechten Hand
vor und nach der Arbeit festgestellt werden.
Verwendet wurde ein einfaches Collin-
sches Dynamometer, unter Berücksichtigung
der dem Instrumente anhaftenden möglichen
Fehler und bei einer einheitlichen, genau
angegebenen Versuchstechnik. Die mit
21 Versuchspersonen durchgeführten 25 Ver-
suchsreihen zeigen, dal3 die Druckkraft der
Hand bei schwerer Arbeit mit nur einer Aus-
nahme herabgesetzt ist, jedoch bei manchen
schon bei etwas leichter Arbeit, bei ganz
leichter Arbeit bei den meisten verstarkt ist.
Aus diesem Umstand, ferner daraus, daQ die
grööte Verminderung 19,2%, die mittlere
7,4% betrug, folgt, daC diese Methode bei
der Beurteilung von Einzelfallen kein ge-
nügend differenzierendes ErmüdungsmaO
liefert.
Über die Ermüdungsmessung mit dem
Ergographen betont schon Mosso: „Um
an jedem Tage dieselben Kurven zu erzielen,
muB unser Körper in denselben Verhalt-
nissen erhalten bleiben" usw. DaB dies bei
mehrere Wochen beanspruchenden Ver-
suchsreihen praktisch fast unerreichbar ist,
versteht sich von selbst. Kimura prüfte
auch die Beobachtung Stanley Kents, der
zufolge die Schnelligkeit, mit der sich der
am Ergographen völlig erschöpfte Muskei
erholt, in unermüdetem Zustande gröBer ist
als nach vorheriger Ermüdung. Die zahl-
reichen Kontroliversuche ergaben auch hier
kein eindeutiges Resultat, wenn sie auch im
allgemeinen die Wahrscheinlichkeit des von
Kent angegebenen Zusammenhanges zu
bestatigen scheinen.
Die von Baur als MaB der Ermüdung an-
gegebene Veranderung des Nah- und Fern-
punktes bzw. der Akkommodationsbreité des
Auges findet durch Verfassers Versuche
nur insofern eine Bestatigung, daB er auch
fast immer ein Abrücken des Fernpunktes
nach Ermüdung beobachtet und bemerkt,
daB auch die Methode, .„bei der man völlig
auf die Angabe der Versuchsperson ange-
wiesen ist, zu subjektiv ist, als daB sie als
eine exakte Methode zur Messung der Er¬
müdung geiten könnte*.
Bezüglich der mit einem Riva-Rocci-
schen Sphygmomanometer beobachteten
Blutdruckinderung wurde von Verfasser
bei 1/3 seiner Versuchspersonen gleich nach
geleisteter Arbeit ein Abfall des Blutdruckes,
bei den übrigen ein Ansteigen oder annahernd
unverandertes Verhalten festgestellt. „Trotz
dieser Verschiedenheit gleich nach der Ar¬
beit zeigte der Blutdruck nach kurzer Ruhe
— etwa 1 0 Minuten nach der Arbeit — o h n e
Ausnahme ein Absinken oder die Norm.®
Nach leichten Arbeiten wird die Norm in
10—30 Minuten wieder erreicht, nach
schwerer Arbeit oft auch nach 1 Stunde
Ruhe noch nicht, sondern bleibt — unab-
hangigvon einem etwaigen anfanglichen An-
stieg — dauernd tiefer.
Die Pulsfrequenz erreicht sofort nach
der Arbeit ihr Maximum und sinkt nach
einer Zeit von 10 Minuten bis 1 Stunde
auf normale Zahl.
Mit der plethysmographischen Me¬
thode, die zu einer objektiven Feststellung
des Ermüdungszustandes besonders Ernst
Web er anwendete,wurdenzuerstan24 Ver¬
suchspersonen in unermüdetem Zustande
die Volumveranderung des linken Unter-
318
Buchbesprechungen
armes bei einer Dorsalflexion des rechten
Fuöes beobachtet. Deutlich zeigten nur
6 Versuchspersonen einen An- und Abstieg
der Armvolumkurve wahrend der Hilfsbe-
wegung und Entspannung des FuOes. Bei
2 Versuchspersonen war die Neigung zu
entgegengesetztem Verhaken festzustellen.
Die übrigen Personen gaben entweder gar
keine oder undeutliche oder höchstens teil-
weise feststellbare Armvolumzunahme im
Sinne Webers. Nach Ermüdung am Ergo-
meter zeigte sich von 8 Versuchspersonen
bei 6 ein deutlicher Abfall des Armvolumens
wahrend der Hilfsbewegung, wogegen 1 Ver-
suchsperson sowohl vor wie nach der Ergo-
meterarbeit keine Veranderung der Volum-
kurve aufwies und bei 1 Versuchsperson
sogar nach gewaltiger Arbeit(über 55000 mkg
in -1 Stunde) bei starkem subjektiven Er-
müdungsempfinden eine Zunahme des Arm¬
volumens in der Hilfsbewegung — wie im
unermüdeten Zustande—zu verzeichnen war.
Von dem experimentalpsychologischen
Verfahren wurde erstens die Veranderung
der Reaktionszeit bei einfacher Reaktion
auf akustischen Reiz beobachtet. Verfasser
fand, daU viel eher die meistens eintretende
Streuungszunahme, als eine von anderen
Autoren angenommene Zunahme der Re¬
aktionszeit als ein Mali fiir die Ermüdung
dienen könnte, wenn die Schwankungen
selbst nicht geringer waren als die Unter-
schiede, welche durch Verschiebungen in
der Aufmerksamkeit auch ohne Ermüdung
verursacht werden können.
SchlieBlich wurden auch noch Re akti ons-
versuche mit einer Komplikationsappara-
tur (Wahlreaktionen) angestellt, die im
wesentlichen auch zu demselben Resultat
führen, wie die einfachen Reaktionsversuche.
Allerdings war hier in 5 Fallen von 6 auch
eine Verlangerung der Reaktionszeit nach
schwererer Körperarbeit eindeutig zu ver¬
zeichnen.
Nach einer gewissenhaften kritischen Zu-
sammenfassung der oben im Auszuge wieder-
gegebenen Resultate kommt K i m u ra zu der
eingangs angeführten Folgerung. Über die
geprüften Methoden wird folgendes zu-
sammengefaQt: „Sie lassen wohl einen ge-
wissen SchluD auf die Abnahme der Lei-
stungsfahigkeit einer Einzelperson zu, doch
bestehen schon hier betrachtliche Schwierig-
keiten. Ganz unzulassig ist es dagegen, die
ermüdende "Wirkung einer bestimmten Ar-
beitsmenge im allgemeinen dadurch be-
stimmen zu wollen, daC man aus der Zahl
der Arbeiter einzelne herausgreift und
an ihnen Ermüdungsmessungen vornimmt.
Für diesen Zweck sind nur Massenunter-
suchungen brauchbar, und dafür sind wieder
die besprochenen Methoden nicht geeig-
net.“ . . . „Es müssen noch weitere Me¬
thoden auf ihre ZweckmaCigkeit untersucht
werden."
Als zweiten kürzeren Abschnitt seiner
Arbeit bringt Verfasser Untersuchungen
über den Einflull stark veranderter Luft-
beschaffenheit (namentlich Temperatur,
Feuchtigkeit und COo-Gehalt) auf die Er¬
müdung körperlich arbeitender Personen.
Bei gleichzeitiger Anwendung von mehreren
oben beschriebenen Methoden und auch ge-
stützt auf die Aussage der Versuchspersonen
ergaben die Versuche folgendes:
Temperaturen von 30—38 Grad Celsius
bei trockener Luft sowie COg-Gehalt von
2—3% zeigen erst bei schweren Arbeiten
einen deutlich ungünstigen Einflull auf die
Arbeitsunfiihigkeit, wogegen feucht-heiCe
Luft (durchschnittlich 70 % relative Feuch¬
tigkeit) mit geringen Ausnahmen schon bei
ganz leichter Arbeit auch eine ungünstige
Wirkung ausübte. Beachtenswert ist, daB
in allen Fallen das vom Verfasser festge-
stellte Verhaken des Blutdruckes nach der
Ermüdung — ein Sinken des Maximaldruckes
etwa 10 Minuten nach Beendung der Ar¬
beit — zu beobachten war. Soll sich diese
Erscheinung durch andere Forscher besta-
tigen, so ware diese Feststellung als ein
Fortschritt auf dem sehr schwierigen
Bucbbesprechungen
319
Gebiete der objektiven Ermüdungsmessung
mit Freude zu begrüCen.
Von seiten der Psychotechnik, wo es sich
bei dem Ermiidungsproblem hauptsachlich
um die beiden Fragen handelt: In welchem
Maüe ist eine bestimmte Arbeit ermüdend?
oder: Wie steht es mit der Ermüdbarkeit
eines Arbeitenden? muC zu den Ausfüh-
rungen Kimuras noch hinzugefügt werden:
Wenn unter günstigen Umstanden die vor-
handenen Methoden auch ein qualitatives
Urteil über den ermüdenden EinfluG ge¬
wisser Arbeitsmengen oder Arbeitsbedin-
gungen liefern können (siehe Verfassers
eigene Versuche),so dürfen wirtrotzdem bei
einzelnen Personen durch Beobachtung
irgendeines oder auch mehrerer Symptome
im Vergleich zu dem allgemeinen oder in
Mehrzahl der Falie beobachteten Verhaltens
keinen SchluO auf die Ermüdung bzw. auf
das quantitative MaQ derselben ziehen.
(Schulhof.)
Kesselring, Michael, Intelligenzprü-
fungen und ihr pSdagogischer Wert.
(PadagogischeMonographien, Band XXII.)
München und Leipzig 1923; Verlag Otto
Nemnich. 199 S. Grundpreiszahl 2.—
Die vorliegende Schrift stellt eine wert-
volle Erganzung der vorliegenden Arbeiten
William Sterns, besonders seines Werkes
über die „Intelligenz der Kinder und Ju-
gendlichen und die Methoden ihrer Unter-
suchung” dar. Der erste Teil ist vorwiegend
historisch gerichter; er gibt uns in groOen
Zügen die Entwicklung der Intelligenzfor-
schung und die Geschichte ihrer Anwendung
auf praktische Probleme. Der Verfasser
unterscheidet hier fünf Stadiën: In dem
ersten tauchen vereinzelte und zusammen-
hanglose Ansatze zu einer experimentellen
Erforschung menschlicher Begabungsunter-
schiede auf (Catell, Münsterberg, Jastrow,
Gilbert, Krapelin, Bourdon u. a.), wahrend
das zweite Stadium systematische Versuche
zeigt; es erscheint beherrscht von den
Untersuchungen Binets, die darauf ausgehen,
ein MaG für Intelligenz zu Rnden. Das
dritte Stadium bringt die Nachprüfung und
kritische Behandlung dieser Arbeiten; alle
Kulturlander sind daran beteiligt, überall ist
man bemüht, den fruchtbaren Gedanken
Binets aufzugreifen und Staflfelsysteme zu
finden. Das vierte Stadium ist charakteri-
siert durch die theoretische Besinnung und
den systematischen Ausbau der Prüfver-
fahren; die einzelnen Probleme werden
scharfer durchdacht, Einwande melden sich,
man wird der Grenzen und der Notwendig-
keit einer Erganzung durch andere Unter-
suchungsverfahren gewahr. Das fünfte Sta¬
dium, in dem wir seibst noch mitten darin
stehen, zeichnet sich aus durch die Anwen¬
dung auf die Praxis, besonders auf die Pro¬
bleme der Begabungsauslese und der Be-
rufsberatung. An diese Darstellung schlieGt
Kesselring eine kritischeWürdigung. Kessel¬
ring bespricht dann die verschiedenen Prü-
fungsverfahren, die Wertungsweisen, das In-
telligenzmaG. Vor allem interessieren ihn die
Fragen der BeziehungenderEinzelfunktionen
zur Gesamtfunktion der Intelligenz — wobei
er zugeben muG, daG „kein Rechenexempel
uns zur eigentümlichen Gestaltqualitat der
Gesamtleistung der Intelligenz verdringen
lassen" wird — sowie der Notwendigkeit der
Erganzung des Test- durch das Beobach-
tungsverfahren; auch hier wieder ist die
Frage zu klaren, in welchem Verhaltnis beide
zueinander stehen müssen. Er geht dann
naher darauf ein, in welcher Richtung die
einzelnen Tests wissenschaftlich ausgebaut
werden mussen, wobei er naher auf den
Definitionstest, mit dem er seibst Versuche
angestellt hat, eingeht. Er zeigt dann, welche
praktischen Probleme die Intelligenzfor-
schung zu fördern geeignet ist, wobei er be¬
sonders auf das Problem der Verteilung der
Intelligenzen, auf Begabten- und Berufsaus-
lesen hinweist. Erich Stern, GieCen.
320
Buchbesprechungen
Mfiller, G. E., Komplextheorie und Ge-
stalttheorie. Göttingen 1023. Vanden-
hoeck & Ruprecht. I08S. GrundzahM.—
Diese streitbare Schrift des Altmeisters
der Psychologie führt mitten hinein in
den gegenwartigen Kampf der theoretischen
Seelenkunde. Ihr Gegenstand ist die Aus-
einandersetzung zwischen der — vielfach
durch die Assoziationstheorie allein — be-
gründeten Komplexlehre und der neueren
Gestaltauffassung seit Wertheimer, Koffka,
Kohier. In 15 Paragraphen setzt sich M.
mit der jüngeren Richtung auseinander. Frei-
lich bleibt die Schrift immer im Rahmen der
ausgesprochenen Wahrnehmungswelt, be-
rücksichtigt daher auch die Ergebnisse der
Hirnforschung seit Goldstein, Gelb, Fuchs
u. a., rückt aber die Anwendungen Köhlers
auf Intelligenzprüfungen an Menschenaffen
gar nicht und die in ihrem inneren Sinne
sozusagen genialische Idee Wertheimers von
den Querfunktionen nicht genügend in den
Mittelpunkt.
Man wird mit M. zugeben, daD die Ge-
staltlehre mancherlei im dunkien Feld der
Aufmerksamkeit versch winden laOt, daO viele
ihrer theoretischen Erweiterungen frag-
wQrdig sind: das wirklich Entscheidende der
Sache geht aber grundsatzlich unendlich
weiter hinaus, als der Laie es aus diesen
speziellen Entgegnungen ersehen mag. Denn
vielleicht ist für den Gedanken der Gestalt-
lehre die ausgesprochene Wahrnehmungs-
analyse gerade der schwüchste Teil und
sicher nur gröbster Anfang. Ihre Verwen-
dung bei praktischen Intelligenzprüfungen
und ihre theoretischen Beziehungen zur
Lokalisationslehre, der Topik des Gehirns,
wie zu Auffassungen der Chemie und Bio¬
logie überhaupt sind viel entscheidender.
Man muB jedem angewandten Psychologen
nur raten, M.s Schrift zu lesen, deren Einzel-
heiten kein kurzes Referat wiedergeben kann.
Die Entgegnungen sind von hoher Bedeutung
und ihre Logik wird viele erfreuen, auch
dann, wenn sie im wesentlichen zu anderer
Ansicht gelangten. Es ist unnötig, hinzu-
zufügen, daO jeder Einsichtige in endgültigen
Klarstellungen gerade auf diesem theore¬
tischen Gebiete ganz bedeutende Wirkungen
für die Psychotechnik erwarten muB. Hier
sind die Grondlagen einer Theorie der an¬
gewandten Psychologie — die wir bekannt-
lich noch gar nicht besitzen — uod seibst
eine simple Eignungsprüfung muO entschei¬
dende Erkenntnisse dieser Art berücksich-
tigen. F. Giese, Stuttgart.
Poppelreuter, W., Die Aufgaben des
Landarbeits- und Berufsamtes bei
der Organisation praktisch-psycho-
logischer Einrichtungen. (Schriften
des Landesarbeits- und Berufsamtes der
Rheinprovinz. Drittes Heft.)
Der Verfasser stellt als Aufgaben der
praktischen Psychologie im Dienste der Be-
rufsberatung und Arbeitsvermittlung in der
Hauptsache folgendes fest:
1 . die psychologische Begutachtung der
normalen Jugendlichen,
2 . die psychologische Begutachtung der
Abnormen und Defekten,
3. die psychologische Begutachtung der
Erwachsenen bei den Arbeitsnach-
weisen,
4. die Nutzbarmachung psychologisch-be-
triebswissenschaftlicher Erfahrungen
für die Praxis des Produktionspro-
zesses.
Er wamt die Arbeits- und Berufsamter,
sich auf eigene Faustder psychotechnischen
Prüfmethoden und Apparate zu bedienen und
empfiehlt dringend die Zusammenarbeit mit
einem Fachpsychologen. B. B.
Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr, W. Moede and Dr, C.Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafie 14. — Verlag von S.Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Martel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. DEZEMBER 1923 11. HEFT
Die Praktische Psychologie erscheint In monatlichen Heften lm Umfange von zwei Bogen. Prels des Heftes 1.50 Goldmark für
das Iniaod, 1.90 Schweizer Franken fUr das Aualand. Bel unmlttelbarcr Zustellung unter Kreuzband 1.70 Goidmark für das Inland
und 2.20 Schweizer Franken für das Ausland. Bestellungen nehmen alle Buchhandlungen, die Post sowle die Verlagsbuchhandlung
entgegen. Anzelgen vermlttelt die Verlagsbucbhandlung S. Hirzel in Lelpzlg, KönigstraOe 2. Postscheckkonto Leipzig226.—
Alle Manuskrlptsendungen und darauf bezügliche Zuschrlfien slnd zu richten an die Adresse der Schrlftleitung: Professor
Dr.W. Moede und Dr. C. Piorkowski, Berl 1 n W 30« LultpoldstraOe 14.
Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahn,
ihre Eignungsprüfungen und Erfolgskontrollen
Von Oberbaurat Professor Dr.-Ing. Skutsch
I ndustrielle Einrichtungen werden heute mehr als je nach ihrem Ertrag be-
urteilt. Dem natürlichen Strauben gegen die einseitige Betonung des unmittel-
baren materiellen Erfolges und der Vorliebe für sozialethische Gesichtspunkte
steht leider die Tatsache gegenüber, daO eine objektive Wertung der letzteren
recht unsicher ist, daQ jeder die Dinge nach seinem Geschmack deutet und oft
genug Auffassung gegen Auffassung steht. Was insbesondere die Psychotechnik
anbetriift, so ist dem einen die sorgfaltige Auslese der Geeigneten, frei von der
Parteien HaO und Gunst, ein hohes und edles Ziel, wahrend der andere darin
nichts Geringeres als eine Gefahr für das Gedeihen eines Persönlichkeitsvolkes
mit Herz und Gemüt wittert*). Der erstere wird der Meinung sein, daB psycho¬
technische Versuchsstellen ebenso wie etwa Einrichtungen zur Rechtsprechung,
zur Volksbildung, zur Hygiene selbst mit namhaften Opfern geschaffen und unter-
halten werden sollten, der andere wird ihre Existenzberechtigung auch bei glan¬
zend gelungenem Rentabilitatsnachweis glatt ablehnen. Dabei besteht allerdings
anscheinend keine Abneigung der Parteien, sich nebenher bei guter Gelegenheit
auch auf angebliche Erfahrungen der Praxis zu berufen, und wenn der verant-
wortliche Psychotechniker auch den Streit der Meinungen über den sozialen Wert
seiner Wissenschaft wohl oder übel allen, die slch dazu berufen fühlen, und die
endgültige Entscheidung der Zukunft überlassen muB, so hat er urn so mehr Ver-
anlassung, dafür zu sorgen, daB dort, wo man angibt, sich auf Tatsachen und
nicht auf Gefühie zu stützen, aus lauterer Quelle geschöpft wird. Das Dringendste
ist demgemaB heute die Peststellung, inwieweit die Ergebnisse der Eignungs¬
prüfungen mit den spateren Berufsleistungen der Prüflinge übereinstimmen. Für
die Durchführung solcher Erfolgskontrollen hat Herr Moede in seinem gedanken-
reichen Aufsatz „Ergebnisse der industriellen Psychotechnik" •*) zum erstenmal
Richtlinien gezogen, und jeder Schritt zur Erreichung seiner hochgesteckten Ziele
darf wohl Interesse beanspruchen. Über einen solchen Schritt soll in folgendem
berichtet werden.
*) Vgl. Professor Rudolf Franke in seiner „Zeitschrift für Fernmeldetechnik", Heft 4, 1923.
••) „Praktische Psychologie", 2. Jahrgang, 10. Heft.
p.P. IV. II.
22
322
Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichshahn
Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichshahn hat ihre erste groOe
Aufgabe, die Einführung und Einrichtung einer Eignungsprüfung für Lehrlings-
anwarter, zu einem gewissen AbschluC gebracht und darf jetzt mit ihren Er-
fahrungen an die Öffentlichkeit treten. Tausende von Anwartern werden seit
Herbst 1921 alljahrlich nach einem einheitlichen, unter fachpsychologischer Mit-
wirkung ausgearbeiteten Verfahren geprüft und die Ergebnisse der Prüfung in
sorgfaltiger Weise niedergeiegt. Die Eigenart der gelösten Aufgabe und des ge-
wonnenen Materials besteht vor allem darin, daO die Prüfungen nicht an einer
Stelie vorgenommen werden können, sondern sich auf fast aile Eisenbahnwerk-
statten Deutschlands verteilen. Die Tafel 1 zeigt nicht nur die Verteilung und
Lage der einzelnen Prüfstellen, sondern auch ihre Bedeutung im Rahmen der hier
zu gebenden Statistik. Zugrunde gelegt ist die Zahl der Ostern 1922 neu be-
setzten Lehrstellen.
Zur raumlichen Zersplitterung tritt erschwerend die zeitliche Haufung der
Lehrlingsprüfungen. Urn der Verwaltung ein genügendes Angebot zu sichern
und den Abgewiesenen noch Bewerbungen an anderer Stelle zu ermöglichen,
werden die Prüfungen im ganzen Reiche alljahrlich im Oktober, ein halbes Jahr
vor der Schulentlassung, vorgenommen. Da die Beamten der Hauptstelie unter
diesen Umstanden nicht entfernt ausreichen würden, um die Prüfungen an Ort
und Stelle vorzunehmen, so muOte eine groBe Anzahl örtlicher Prüfleiter mit
der selbstandigen Leitung der Eignungsprüfungen nebenamtiich betraut werden.
Seibstverstandlich wurde bei ihrer Auswahl in erster Linie darauf gehalten, daB
sie der eigenartigen Aufgabe das nötige Interesse und zugleich ein tieferes Ver-
standnis entgegenbrachten, und erfreulicherweise fanden sich diese Eigenschaften
nicht selten in hohem MaBe vereinig^t. Die Prüfleiter werden dann in Lehr-
gangen ausgebildet, die sich teils im Hinblick auf die Einführung von Neuerungen,
leils wegen des unvermeidlichen Wechsels in den Personen alljahrlich wieder-
holen; sie werden mit gedruckten Prüfanweisungen versehen, die bis in die
kleinsten Einzelheiten gehen, und die Beamten der Hauptstelie, die seibstver¬
standlich vielfach an den Eignungsprüfungen teilnehmen, um Erfahrungen zu
sammeln, benützen die Gelegenheit auch ganz besonders, um die richtige und
gleichmaBige Durchführung der Prüfungen seitens der Prüfleiter zu überwachen.
In gleicher Weise unterliegen auch die Erfolgskontrollen dem EinfluB der
örtlichen Zersplitterung, dem hier sogar noch schwerer zu begegnen ist. Die
Personalgutachten sind von 100 verschiedenen Meistern zu erstatten, mit denen
die Versuchsstelle keine Fühlung hat. Aber auch die Prüfleiter sind gröBten-
teils an anderen Orten und in anderen Betrieben tatig als die einzelnen Meister,
so daB die Personalgutachten ohne Frage eine Fülle von Subjektivitat einschlieBen
werden, nicht nur hinsichtlich des MaBstabes, sondern auch hinsichtlich des
Gesichtswinkels, unter welchem die Leistungen beurteilt sind. Andererseits
kommen diese Umstande aber doch auch wieder der Unparteilichkeit der Melster-
urteile zustatten. Für die Versuchsstelle ware es ohnehin eine nach Umfang
Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahn
323
Tafel 1
Verzeichnis der Werkstdtten der Reichsbahn, bei denen auf Grund
psychotechnischer Eignungsprüfungen Lehriinge eingesteilt werden
Rbd Altona Rbd Halle Rbd Trler
Glückstadt.10
Marburg.12
Neumünster.23
Oblsdorf. 7
Wiitenberge.24
Rbd Berlin
Berlin 1.21
Berlin 2.16
Berlin Tf..39
Beilln-Grunewald .... 20
Brandenburg.23
Potsdam.14
Rbd Breslau
Breslau 1.25
Breslau 2.20
Breslau 3.15
Breslau 4.17
Lauban.12
Oels.30
Rbd Cassel
Cassel.42
Göitingen.22
Paderborn-Nord.20
Paderborn.24
Rbd Elberfeld
Arnsberg.16
Langenberg.10
Opladen.40
Siegen. 15
Rbd Erfurt
Erfurt. 18
Gotha. 15
Jena.16
Meiningen.20
Rbd Essen
Dortmund.42
Oberbausen. 9
Recklinghausen. 11
Mühlheim-Speldorf ... 22
Wedau. 5
Witten. 19
Rbd Frankfurt a. M.
Betzdorf.18
Frankfurt a. M.21
Fulda.14
GieUeii.5
Limburg.25
Nied.28
Cottbus.14
Delitzsch. 9
Halle.24
Hoyerswerda.10
Rbd Hannover
Leinhausen.32
Sebaldsbrück.22
Stendal.29
Rbd Köln
Köln-Nippes.29
Crefeld-Oppum. 6
Jülich. 28
Jünckeratb. 9
Rbd Könlgsberg
Königsberg.25
Osterode.12
Rbd Magdeburg
Braunschweig.12
Halberstadt.16
Magdeburg-Buckau ... 31
Magdeburg-Saibke. ... 13
Rbd Malnz
Darmstadt 1.22
Darmstad! Lok. A.W. . . 29
Mainz.10
Rbd Münster
Lingen a. E.28
Osnabrück.24
Rbd Oppein
Gleiwitz 1.25
Gleiwitz 2.30
Oppein.17
Ratibor.17
Rofiberg. 7
Rbd Osten
Frankfurt a. 0.15
Glogau. 6
Guben.10
Schneidemühl.31
Rbd Stettin
Eberswalde.24
Greifswald.16
Stargard.27
Stolp . . .'. 8
Conz.21
Trier.20
Rbd Karlsruhe
Durlach.14
Freiburg. 7
Haltingen. 7
Karlsrube.47
Konstanz. 6
Lauda.10
Mannheim.15
Offenburg.13
Schwetzingen.10
Willingen. 5
Rbd Oldenburg
Oldenburg.10
Rbd Sachsen
Chemnitz.22
Dresden.16
Engelsdorf-Leipzig ... 11
Zwickau.14
Rbd Sctawerin
Rostock. 4
Schwerin. 4
Rbd Augsburg
Augsburg. 0
Rbd Ludwigshafen
Ludwigshafen. 0
Kaiserslautern 1 . . . . 0
Kaiserslautern 2 ... . 0
Rbd MUnchen
MQnchen A.W.39
Neuaubing W. 1.0
Ingolstadt W. 1. 0
Rbd Nürnberg
Nürnberg A.W.u.W. I.Rbf. 29
Rbd Regensburg
Regensburg 1 und 2 . . 20
Weiden 1 und 2 ... . 0
Rbd Stuttgart
Aaien. 6
Cannsladt. 0
EBIingen.12
Friedrichshafen. 6
Rottweil. 6
22*
324
Skutsch, Die Psychotecbniscbe Versucbsstelle der Reicbsbabn
und Schwierigkeiten fast aussichtslose Arbeit, etwa in mündlicher Verhandlung
mit den Meistern an die Aufstellung von Rangreihen der praktischen Bewahrung
zu gehen, um so die mangelnde Einheitlichkeit herzustellen, und der Umstand,
daD sich nach Herrn Moedes Erfahrungen bei solchen Besprechungen unter Um-
standen reibungsfrei nicht unerhebliche Rangplatzverschiebungen erzielen iassen,
bestarkte die Psychotechnische Versuchsstelle noch darin, den Meister bei der
Abgabe des Urteils völlig sich selbst zu überlassen. Das Urteil über einen Men-
schen kann im allgemeinen nicht mit der gleichen Bestimmtheit gefalit werden,
wie dasjenige über Dinge; dessen wird sich wohl gerade ein ernster Beurteiler
immer bewuQt bleiben. Infolgedessen wird er gern bercit sein, in auch nur
halbwegs zweifelhaften Pallen sein Urteil, wenn erst darüber diskutiert wird,
zugunsten des Betroifenen zu mildern, und er wird gegen mancherlei Deutungen
und Auslegungen dieses Urteils kaum etwas einwenden, wenn nicht etwa aus-
nahmsweise ganz bestimmte Tatsachen vorliegen, die für sich selbst sprechen.
Sicherlich wird man also nur selten einen Meister finden, der Neigung und
Interesse hatte, die von ihm angegebene Rangreihe, insbesondere der mittel-
maOigen Lehrlinge, am Verhandlungstisch zu verteidigen und aufrecht zu erhalten.
Die Versuchsstelle hat auf Grund dieser Überlegungen bei ihrer ersten im
Jahre 1922 durchgeführten Erfolgskontrolle geglaubt, auf die Erstattung von
Personalgutachten über samtliche Lehrlinge oder gar auf die Aufstellung von
Rangreihen von vornherein verzichten zu sollen und sich im wesentlichen auf
eine Umfrage beschrankt, welche von den im Herbst 1921 geprüften und Ostern
1922 eingestellten Lehrlingen nach Ansicht der Meister sich in der Praxis nicht
bewahrt haben und dementsprechend als ungeeignet oder wenig geeignet zu be-
zeichnen sein würden. Diese Urteile, die dem Wesen der Sache nach mit ver-
haltnismaOig groBer Bestimmtheit abgegeben werden können, sind dann ohne
jede weitere Verhandlung, die doch vielleicht noch zu einer BeeinBussung hatte
führen können, der nachstehenden Statistik zugrunde gelegt worden. Der Um¬
frage war ein kleiner Fragebogen beigegeben, durch dessen Beantwortung das
Urteil etwas naher zu begründen war. Beabsichtigt wurde damit in erster Linie,
dem Meister eine Anleitung zu geben, worauf er vorzugsweise zu achten hat,
allenfalls auch der Versuchsstelle einen Anhaltspunkt, ob das Urteil mit mehr
oder weniger Sorgfaic abgegeben wurde; in bescheidenem MaOe kann der Frage¬
bogen wohl auch als Unterlage für eine differentielie Psychologie der Versager
und zu einer Nachprüfung der einzelnen Falie dienen.
Die Umfrage erging im August 1922 an die in Tafel 1 verzeichneten Werk-
statten mit Ausnahme der bayerischen und württembergischen, deren Lehrlinge nach
abweichenden Verfahren geprüft worden waren; zur Beantwortung war reichlich Zeit
gelassen. Die Beobachtung erstreckte sich damals auf einen Zeitraum von etwa fünf
Monaten, wohl nicht zu wenig für eine ziemlich zuverlassige Beurteilung der Lehr¬
linge, und nicht so groB, daB in einer Vielzahl von Pallen mit einer wesentlichen Ver-
anderung des psychischen Bildes seit der Eignungsprüfung zu rechnen gewesen ware.
Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reicbsbahn
325
Der Eignungsprüfung im Herbst 1921 batten sich 5464 Bewerber unterzogen.
Wo besonders zahlreiche Meldungen vorlagen, wurde schon nach dem ersten
Prüfungstag eine grobe Sichtung vorgenommen, so daO am zweiten Prüfungstag
nur noch 4490 Anwarter zu prüfen waren. Zu besetzen waren 1730 Lehrstellen,
und zur Einstellung geiangten 1622 Bewerber auf Grund ihres guten Rangplatzes
bei der Prüfung, die übrigen 108 aus sozialen Rücksichten. Von den ersteren
1622 haben nun nach den Urteilen der Werkstatten 103 oder 6,4% versagt,
eine Zahl, die wohl ais recht niedrig angesehen werden darf. Allerdings liegen
Vergleichswerte aus früheren Jahren, in denen noch keine Eignungsprüfung statt-
fand, leider nicht vor, und auch der Umstand, daO die 108 aus sozialen Gründen
eingestellten Lehrlinge mit 14% Versagern sehr viel schlechter abschneiden,
besagt natürlich nicht sehr viel, da ein erheblicher Unterschied ja doch an sich
selbstverstandlich ist. Eine bessere Stütze für die ZweckmaOigkeit der Prüfungen
wird man darin erblicken können, daO die Versager sich gröDtenteils unter den
Lehrlingen befinden, die auch die Eignungsprüfung nicht eben besonders gut
bestanden haben. Teilt man etwa die 1622 Lehrlinge in drei Gruppen, deren
erste und zweite diejenigen Bewerber umfassen, die bei der Eignungsprüfung dem
besten bzw. zweitbesten Fünftel angehören, so entfallen
auf die 1. Gruppe mit 971 Eingestellten 45 Versager = 4,6 %,
auf die .2. Gruppe mit 480 Eingestellten 40 Versager = 8,3 %,
auf die 3. Gruppe mit 171 Eingestellten 18 Versager =10,5
Die aus sozialen Gründen eingestellten Lehrlinge konnten in diese Zusammen-
stellung nicht aufgenommen werden, weil ihre Rangplatze der Versuchsstelle zum
groOen Teil nicht bekannt sind.
Am Reichsdurchschnitt gemessen batten die 103 Versager durchschnittlich die
Eignungsprüfung begreiflicherweise nicht gerade schlecht bestanden, weil ja doch
infolge des hohen Angebots im allgemeinen eben nur Prüflinge mit mehr als
durchschnittlichen Leistungen eingestellt worden waren. Bei der Intelligenz-
prüfung hatte ein nicht geringer Teil der spateren Versager sogar recht gut ab-
geschnitten, und man könnte geneigt sein, daraus zu schlieOen, daQ wir dieser
Eigenschaft ein zu hohes Gewicht bei der Aufstellung der Rangreihen beigelegt
batten. Man darf aber nicht vergessen, daO von den Handwerkern der Reichs-
bahnen ein sehr groOer Teil in die Beamtenlaufbahn einrückt, vor allem ais Meister
oder Lokomotivführer, und deshalb die Bewahrung im Handwerk wohl nicht den
alleinigen MaQstab für die ZweckmaOigkeit der Prüfung abgeben kann.
Um so mehr fallt auf, daO die Versager im Tastsinn, der 1921 durch Ver-
gleichen von Sandpapier verschiedener Körnung festgestellt wurde, durchschnitt¬
lich stark unter dem Reichsdurchschnitt geblieben waren, ein Zeichen für die
Berufswichtigkeit dieser Eigenschaft, dem Beachtung geschenkt werden wird.
Besonderes Interesse bietet das Bild des Versagers lm Lichte der Meister-
urteile. Dem Psychotechniker wird ja, wie eingangs erwahnt, von mancher Seite
ein Vorwurf daraus gemacht, daO er die Charaktereigenschaften der Prüflinge
326
Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelie der Reichsbahn
nicht berücksichtigt. Diesen Vorwurf wagt man freilich nicht zu der Behauptung
zu verdichten, als ob es in dieser Hinsicht in früheren Zeiten besser bestellt
gewesen ware, oder als ob heute irgendwo in der Welt ein Verfahren bekannt
oder gar in Anwendung ware, durch das man sich AuFschluO über den Charakter
von Tausenden halbwüchsiger Knaben verschaffen könnte. Man könnte also den
Vorwurf vielleicht einfach mit der Erklarung erledigen, daO, wenn ein solches
Verfahren jemals entdeckt werden sollte, die Psychotechniker die ersten sein
werden, ihm neben den Eignungsprüfungen einen hervorragenden Platz bei der
Menschenauslese einzuraumen.
Da es indessen damit noch gute Wege haben dürfte, so scheint gegenwartig
die Frage erheblich naher zu liegen, wie denn der Charakter der Versager nach
dem Urteil der Meister beschaffen ist. Und da machen wir die Erfahrung, daO
von den — doch ohnehin nicht zahlreichen — Versagern wieder nur ein kleiner
Teil durch schlechtes Betragen oder geringen FleiU aufgefallen ist; es waren das
nicht mehr als 2,3 % der Eingestellten! Will man also nicht glauben, daO wirklich
98 % der Eingestellten guten Charakters sind — und diesen Zweifel mag man
ruhig hegen — so bleibt nichts übrig als anzunehmen, daO der Meister nicht ein-
mal bei fünfmonatiger Aufsicht die Charakterfehier bemerkt hat —ein neuesZeichen,
wie aussichtslos es erscheint, sie schon bei der Annahme feststellen zu wollen.
Dagegen sprechen die Meister dem gröOten Teil der Versager — rund zwei
Drittei — die Handgeschicklichkeit und das technische Verstandnis ab, also zwei
Eigenschaften von denen man annehmen sollte, daO sie durch eine Eignungs-
priifung zuverlassig erfaOt werden können. Bei der Priifung auf technisches Ver¬
standnis war aber nur die Halfte, bei der auf Handgeschicklichkeit gar nur ein
Viertel der Bemangelten unter dem Reichsdurchschnltt geblieben; hier muDte also
vor allem versucht werden, die Eignungsprüfung der Reichsbahn zu verbessern.
An MaDnahmen, welche diesem Zweck dienen sollen und bei der kürzlich ab-
gehaltenen dritten Eignungsprüfung bereits zur Anwendung kamen, sind zu
nennen die Einführung einer weiteren Geschicklichkeitsprobe mit Hilfe eines
neuen Zweihandprüfers, Vermehrung und sorgfaltigere Vorbereitung der Auf-
gaben für technisches Verstandnis und konstruktive Befahigung, Anweisungen für
eine einheitliche Beurteilung der Drahtbiegeproben und der Leistungen am Zwei-
handprüfer, Erschwerung der Drahtbiegeprobe durch Wahl einer dreidimensionalen
Vorlage und endlich eine höhere Bewertung der Geschicklichkeitsproben im
Rahmen der Gesamtprüfung.
So hat also die Erfolgskontrolle nicht nur den Beweis erbracht, daO die Eignungs¬
prüfungen der Reichsbahn dank ihrer sorgfaltlgen Vorbereitung im wesentlichen
das Richtige treffen und dafi die Ergebnisse dieser Prüfungen mit den spateren
Berufsleistungen der Prüflinge recht gut übereinstimmen, sondern sie gibt darüber
hinaus auch manchen Fingerzeig, an weichen Stellen begründete Hoffnung be-
steht, das Prüfverfahren noch zu verbessern, Freilich können solche Ver-
besserungen erst jetzt — zwei volle Jahre nach der ersten Eignungsprüfung —
Skutsch, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahn
327
eingeführt werden, weil ja die Ausarbeitung der Prüfverfahren und Prüf-
anweisungen, das unvermeidliche Halbjahr zwischen der Prüfung und der Schul-
entlassung und die Feststellung der praktischen Bewahrung zusammen viel mehr
als ein Jahr füllen. Oiese Feststellung konnte somit bei der zweiten Eignungs-
prüfung im Herbst 1922 noch nicht nutzbar gemacht werden, und es ware also
nicht verwunderlich, wenn die Erfolgskontrolle der 1922 geprüften und 1923 ein-
gestellten Lehrlinge keine nennenswerten Unterschiede gegenüber dem vorher-
gehenden Jahrgang aufwiese.
Bei dieser zweiten, noch nicht ganz abgeschlossenen Erfolgskontrolle fallen
bisher unter Zugrundelegung der gleichen Gruppeneinteilung wie oben
auf die 1, Gruppe mit 554 Eingestellten 22 Versager = 4,0”o»
auf die 2, Gruppe mit 442 Eingestellten 33 Versager = 7,5%,
auf die 3. Gruppe mit 361 Eingestellten 33 Versager = 9,1 %,
im ganzen auf 1357 Eingestellté 88 Versager = 6,5%.
Auch in diese Gruppeneinteilung sind die aus sozialen Gründen eingestellten
Lehrlinge — 56 mit 6 Versagern — der GleichmaOigkeit halber nicht auf-
genommen worden.
DaQ die erste Gruppe gegenüber dem Vorjahr verhaltnismaOig schwacher,
die dritte um so starker vertreten ist, ist eine Folge des verringerten Angebots.
Wahrend im Herbst 1921 von 5464 Bewerbern nur 1622 oder 30% psycho¬
technisch ausgelesen wurden, erhöhte sich dieser Bruchteil im folgenden Jahr
auf rund 40%. Will man also den Erfolg der Eignungsprüfungen in beiden
Jahren vergleichen, so muO man nicht sowohl das fast unveranderte Gesamt-
ergebnis in Betracht ziehen, als vielmehr den Prozentsatz der Versager in den
einzelnen Gruppen. Ja, man kann sogar berechnen, wieweit die Gesamtzahl
der Versager in diesem Jahr wahrscheinlich heruntergegangen sein würde, wenn
das Angebot so reichlich geblieben ware wie im vorhergehenden Jahr. Damals
gehörten von den auf Grund ihres Rangplatzes eingestellten Lehrlingen etwa 60
der ersten Gruppe, 30% der zweiten Gruppe und 10% der dritten Gruppe an;
hatte dieses Verhaltnis fortbestanden, so waren 1923 unter je 100 solchen Lehr¬
lingen wahrscheinlich nur 0,60-4,0 + 0,30-7,5 + 0,10-9,l = 5,6 Versager gewesen.
Oder umgekehrt: Da im Jahrgang 1923 nur 41% der ersten, dagegen 32% der
zweiten und 27% der dritten Gruppe angehören, so hatte man nach den Er-
fahrungen des Vorjahres mit 0,41 • 4,6 + 0,32 • 8,3 + 0,27 ■ 10,5 = 7,4 % Versagern
rechnen müssen. DaC das Ergebnis in Wirklichkeit besser war, ist vermutlich
weniger auf die geringfügigen Abanderungen der zweiten Eignungsprüfung gegen¬
über der ersten, als auf die wachsende Umsicht und Erfahrung der Prüfleiter
zurückzuführen.
Inwieweit die Erfolgskontrolle ihre schönste Aufgabe erfüllen und zu einer
wirksamen Verbesserung des Prüfverfahrens und einer weiteren Herabminderung
der Versagerzahl führen wird, diese Frage kann nach dem Vorstehenden nicht
vor dem nachsten Jahr beantwortet werden. Hier heiOt es sich bescheiden und
328
Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahn
Entwickelungen abwarten, so wie auch die Erfolge des Landwirtes oder des
Forstmannes nur iangsam reifen und durch keine Ungeduid beschieunigt werden
können. Möchte dieses Gleichnis den stark bioiogischen Einschlag der Psycho-
technik ins Licht stelien und denen zu denken geben, die in dieser lebensvollen
Wissenschaft ein totes Mechanisieren sehen wollen.
Organisation und Aufbau der Lehrlingseignungsprüfung
bei der Deutschen Reichsbahn
Von Richard Couvé,
wissenschaft!. Hilfsarbeiter bei der Psychotechnischen Versuchsstelle der Deutschen Reichsbahn
D ie Arbeitsvorgange bei den Eisenbahnen enthalten, verglichen mit anderen
Betrieben, einen groQen Anteil an persönlichen Arbeitsleistungen, die wegen
der Vielseltigkeit des Dienstes durch Maschinenarbeit nicht in dem Umfange er-
setzt werden können wie in der auf Massenerzeugung gerichteten Industrie. In
der Eigenart des Eisenbahndienstes liegt es ferner, daO ein erhebliches Personal
zur Durchführung, Leitung und Überwachung des Betriebes erforderlich ist.
Eine Hauptgrundlage für die wirtschaftliche Gestaltung des Eisenbahnbetriebes
ist daher die Arbeitsleistung des Personals, die auf der Brauchbarkeit und dem
FleiC der Bediensteten beruht. FleiO und Arbeitseifer hangen von einer ganzen
Reihe von Bedingungen ab, die einerseits mit der Beschaftigungsart zusammen-
hangen (Arbeitsdauer, Vorwartskommen, Arbeitsraum, Behandlung usw.) und
andererseits in der Person des Arbeitnehmers begründet sind (Tragheit, Ab-
neigung gegen den Beruf, Nebenarbeit u. dgl.). Die Brauchbarkeit des Personals
ist abhangig von der Eignung und von der Schulung für den Beruf.
Da die Brauchbarkeit des Bewerbers die Grundlage für eine nutzbringende
Beschaftigung bildet, ist es nötig, die Eignung der Bediensteten festzustellen, die
eingestellt oder in eine andere Stellung überführt werden sollen, und dann die
für geeignet Befundenen so auszubilden, daO sie ihren Beruf volt ausfüllen können.
Für die Auswahl der Einzustellenden waren früher allein die Schulkenntnisse
nach den Zeugnissen oder nach einer kurzen Kenntnisprüfung und das Ergebnis
der bahnarztlichen Untersuchung maOgebend. Ferner wurde haufig die Reihen-
folge der Meldung und der „Eindruck® berücksichtigt, den der Bewerber auf
den annehmenden Beamten machte.
Mit der notwendigen Feststellung, ob der Bewerber die erforderlichen Schul¬
kenntnisse und die körperliche Tauglichkeit für den Beruf besitzt, ist aber nur
ein Teil der Anforderungen erfüllt, die spater an den Bediensteten gestellt werden.
Nach diesen beruflichen Anforderungen kann man unterscheiden:
a) Berufe, die hohe Anforderungen an Entschlufikraft, Umsicht, Aufmerksam-
keit, Sachkenntnis stellen (Lokomotivführer, Fahrdienstleiter und einige
andere Gruppen von Betriebsbeamten),
Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehrlingseignungsprüfung b. d. Deutscben Reicbsbahn 329
b) Berufe, die besondere Fahigkeiten erfordern, wenn der Bewerber spater wirt-
schaftlich nutzbringend arbeiten soll (HandwerkerberuFe, Aufsichtspersonal,
verschiedeneGruppen des Betriebs-, Abfertigungs-, Kassen- u.Büropersonals),
c) Berufe, die von jedem Bewerber ausgefüllt werden können (Rottenarbeiter,
Schreiber).
Hieraus ergibt sich:
lm Falie a) müssen die Bewerber bestimmte Fahigkeiten besitzen, da sie sonst
den Betrieb gefahrden würden. Bei der Einsceliung muQ daher eine Aus-
lese nach der Tauglichkeit vorgenommen werden,
im Falie b) ist die Auslese bei der Einstellung im Interesse der Wirtschaft-
lichkeit geboten,
im Falie c) werden besondere Fahigkeiten nicht verlangt. Eine Auslese ist
daher nicht notwendig.
Die 'psychotechnischen Untersuchungsmethoden bieten die Möglichkeit, eine
Auslese der Bewerber vorzunehmen, die die im Berufe geforderten Fahigkeiten
besitzen. Nachdem die ersten Versuche im Heer und in der Industrie die Brauch-
barkeit der psychotechnischen Eignungsprüfungen ergeben batten, steilte das Reichs-
verkehrsministerium diese jüngste Wissenschaft in seinen Dienst.
Mit Erlaö des Reichsverkehrsministeriums vom 18. Dezember 1920 wurde zum
1. Februar 1921 die Psychotechnische Versuchsstelle der Deutschen Reichsbahn
bei der Reichsbahndirektion Berlin eingerichtet. Die Versuchsstelle ist besetzt
mit einem Leiter und je einem wissenschaftlichen Hilfsarbeiter für Betriebs- und
Bahnunterhaltungsdienst und für den Verkehrs- und Verwaltungsdienst. Ferner
ist noch ein fachpsychologischer Hilfsarbeiter bei der Psychotechnischen Ver¬
suchsstelle tatig. Als psychotechnischer Berater ist Professor Dr. Moede, Leiter
des Instituts für industrielle Psychotechnik an der Technischen Hochschule in
Charlottenburg, verpflichtet. Für das Entwerfen des Prüfgerats sind der Ver¬
suchsstelle drei technische Beamte zugewiesen, für die Herstellung von Versuchs-
gerat steht eine gut ausgerüstete eigene Werkstatt zur Verfügung.
Der Psychotechnischen Versuchsstelle ist folgendes Arbeitsgebiet zugeteilt:
Eignungsprüfungen für Stellen des Werkstattenbetriebes, für den Aufstieg Be-
gabter, Ausarbeiten von Vorschlagen für die praktische Ausbildung von Beamten
und Arbeitern, besonders in den Werkstatten und im Betriebe, Anleitung
für psychotechnische Lehr- und Ausbildungsverfahren, Rangiererprüfung und
weitere Aufgaben, die der Versuchsstelle vom Reichsverkehrsministerium gestellt
werden.
Bereits vor Einrichtung der Psychotechnischen Versuchsstelle hat im Jahre 1917
in Dresden das Psychotechnische Prüflaboratorium der Sachsischen Staatsbahn
die Ausarbeitung von psychotechnischen Prüfverfahren für Lokomotivführer in
AngrifF genommen und hierbei schon wesentliche Vorarbeiten geleistet. Am
1. Oktober 1922 wurde das Psychotechnische Prüflaboratorium der Reichsbahn¬
direktion München errichtet.
330 Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehriingseignungsprüfung b. d. Deutschen Reichsbahn
Sofort nach Zuteilung des notwendigen Personals begann die Psychotechnische
Versuchsstelle im Sommer 1921 mit der Ausarbeitung eines Prüfverfahrens für
Werkstatteniehrlinge. Die Lehrlingsprüfung war zu einer ersten Arbeit besonders
geeignet, weil auf den Erfahrungen der bestehenden psychotechnischen Laboratorien
auFgebaut werden konnte. Diese Aufgabe war aber auch besonders dringend,
weil es galt, aus einem iiberaus groBen Angebot die Brauchbarsten heraus-
zufinden. Betrug doch das Überangebot an Bewerbern Ostern 1921 in den ver-
schiedenen Bezirken auf je 100 Lehrstellen:
Altona.
. . . = 470
Oppeln.
=
400
Berlin.
. . . = 610
Köln.
=
390
Breslau ....
. . . =346
Königsberg.
=
343
Cassel.
. . . = 466
Magdeburg.
=
280
Elberfeld ....
. . . = 253
Mainz.
=
620
Erfurt.
. . . =390
Münster.
=
268
Essen .
. . . = 386
Osten.
=
290
Frankfurt....
. . . =596
Stettin.
225
Halle.
. . . = 270
Trler.
=
465
Hannover . . .
. . . = 340
(Im Mittel.
400)
In den Jahren 1919 und 1920 waren an einem Teil der Werkstatten
die Lehr-
linge bereits einer psychotechnischen Lehrlingsprüfung unterzogen worden, die
von Eisenbahnbeamten nach dem Prüfverfahren für Metallarbeiterlehrlinge von
Lipmann und Stolzenberg und nach dem Prüfverfahren von Oberregierungsbaurat
Fraenkel ausgeführt wurden. Für die Werkstatten der Reichsbahndirektion Berlin
hatte Professor Dr. Moede dieAuslese in dem Laboratorium für industrielle Psycho-
technik an der Technischen Hochschule in Berlin vorgenommen.
Für die Einstellung im April 1922 waren in der Zeit vom Oktober bis De-
zember 1921 dieBewerber urn Lehrlingsstellen der ehemals preuCischen,sachsischen,
badischen, mecklenburgischen und oldenburgischen Staatseisenbahnen einer Eig-
nungsprüfung zu unterziehen. Für Württemberg und Bayern war die gleieh-
maBige Prüfung 1921 noch nicht möglich. Jetzt wird aber lm gesamten Reichs-
bahnbereich die psychotechnische Lehrlingsauslese gleichmaBig durchgeführt.
Die Ausarbeitung der Prüfmethode und die Abnahme der Prüfung konnte weder
den einzelnen Verwaltungen, noch den örtlichen psychotechnischen Laboratorien
überlassen werden, da es sich um die Auswahl der Bewerber für einen Beruf
handelt, für den die Berufsanforderungen überall in gleicher Weise gestellt werden
müssen, Nur ein für alle Bewerber gleiches Prüfverfahren gestattet eine Be-
aufsichtigung der ordnungsmaBigen Auswahl, liefert für alle Bewerber vergleich-
bare Ergebnisse und schaltet jeden AnlaB zu Berufungen über verschieden hohe
Anforderungen an die Bewerber aus. Gegen die Prüfung nach einem einheitlichen
Verfahren wird der Einwand erhoben, daB hierdurch die Prüfungen mechanisiert
und schematisiert würden. Dieser Vorwurf trifft aber nicht das Wesen der ein-
Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehriingseignungsprüfung b. d. Deutschen Reicbsbahn 331
heitlich abgenommenen Prüfung; denn auch der Prüfleiter, der nach eigenem
Verfahren arbeitet, wird, wenn 'er brauchbare Ergebnisse erzielen will, jede Prüf-
aufgabe stets in genau der gleichen Weise durchführen mussen.
Bei der ersten Ausarbeitung eines Priifverfahrens für Lehrlinge waren besonders
hohe Schwierigkeiten zu überwinden, galt es doch, nicht nur die Prüfung aus-
zuarbeiten, sondern auch das erforderliche Prüfgerat bereitzustellen und die
Prüfleiter auszubilden. Das vom Vorjahre an einzelnen Stellen vorhandene Prüf¬
gerat von Lipmann-Stolzenberg konnte nicht verwendet werden, da es nicht gleich-
maQig hergestellt war und da ferner die Versuchsstelle das Lipmann-Stolzen-
bergsche Verfahren für die Verhaltnisse der Reichsbahn nicht als anwendbar
ansah. Die Schwache dieses Verfahrens beruht erstens auf der geringen Streuung
zwischen guten und schlechten Leistungen, zweitens auf der Hauhgkeit der Zu-
fallstreffer, da die Aufgaben ein Ordnen z, B. nach fünf Stücken verlangen, und
drittens auf der Nichtberücksichtigung berufswichtiger Fahigkeiten.
Ausscheiden muöte auch das Moedesche Prüfgerat, einmal, weil die Kosten
bei dem Umfange der Prüfungen nicht aufzubringen gewesen waren, und ferner,
weil die Ausbildung der Prüfleiter in der Kürze der Zeit an diesen Apparaten
nicht mögiich gewesen ware.
Die Lehrlingsprüfung bei der Deutschen Reichsbahn mufite auf einfachem
Prüfgerat aufgebaut werden, das im eigenen Betriebe hergestellt werden konnte
und durch die Prüfleiter einfach zu handhaben war.
Bei den Lehrlingen der Eisenbahnwerkstatten handelt es sich, wie die nach-
stehende Zusammenstellung zeigt, vorwiegend um eine Answahl für Metall-
arbeiterberufe.
Am 1. August 1921 waren bei der Reichsbahn vorhanden 13119 Lehrlinge,
davon:
Schlosser.12047
Schmiede. 28
Dreher. 319
Kesselschmiede. 526
Stellmacher. 20
Tischler. 82
Lackierer.34
Sattler.17
Klempner.8
Kupferschmiede.9
GelbgieDer.3
Sonstige.26
Durch das Prüfverfahren muC also die Berufseignung zum Metallarbeiter fest-
gestellt werden. Für die übrigen Handwerksberufe (Tischler, Sattler, Lackierer)
werden hierzu allmahlich Erganzungsproben ausgebildet werden.
Bei der Aufstellung des Prüfverfahrens war weiter zu berücksichtigen, daO nur
ein Teil der eingestellten Lehrlinge im Handwerkerstand verbleibt, wie durch
eine Untersuchung von Dr.-lng. Schwarze (Das Lehrlingswesen der preuOisch-
hessischen Staatseisenbahnverwaltung, S. 44, Springer, Berlin) zahlenmaOig nach-
gewiesen ist.
332 Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehrlingseignungsprfifung b. d. Deutschen Reichsbabn
Nach Ablauf von 10 Jahren waren
A. im Eisenbahndienst verblieben als
a) Handwerker (Schlosser) ... 34 vom Hundert
b) Beamte.46 vom Hundert
B. ausgeschieden.20 vom Hundert
Hieraus ergibt sich, daO ein wesentlicher Teil des Nachwuchses der technischen
Beamten aus dem Lehrlingsstande hervorgeht. Bei der Auswahl der Bewerber urn
Lehrlingsstellen müssen daher schon solche Anforderungen gestellt werden, daO
die Beamtenanwarter spater aus geeignetem Personal ausgewahlt werden können.
Die Eignungsprüfung muB sowohl die handwerkswichtigen als auch die zum
Aufstieg in den Beamtendienst notwendigen Intelligenzleistungen erfassen, wobei
natürlich das Schwergewicht auf die Eignung zum Handwerker zu legen ist.
Das Prüfverfahren umfaOte 1922 folgende Aufgaben:
1. Aiigemeine Intelligenz,
a) Lückentext (Kombinationsfahigkeit),
b) Sinnvolle Zusammenhange (Logisches Gedachtnis),
2. Merkfahigkeit für Zahlen in raumlicher Anordnung,
3. Veranlagung für technisches Denken,
4. Handgeschicklichkeit. Drahtbiegeproben,
5. Merkfahigkeit für Formen: Ausscheiden von Werkstücken durch Betrachten,
6. AugenmaO,
7. Gewichtsvergleichung,
8. Tastsinn: Ausscheiden von Formstücken durch Betasten,
9. Handgeschicklichkeit (Zieihammerprobe).
Die Prüfanweisung enthait jede dieser Aufgaben in folgender Anordnung:
A. Versuchsgerat.
Das Versuchsgerat wird von der Psychotechnischen Versuchsstelie in voli-
standigen Satzen den Prüfieitern überwiesen.
B. Vom Prüfleiter zu beachten.
Die vom Prüfleiter zu beachtenden Punkte sind der Reihe nach aufgeführt.
C. Erklarung für die Prüflinge.
Die Erklarung an die Prüflinge ist möglichst wörtlich nach der Prüfanweisung
abzugeben, damit alle Unklarheiten vermieden werden.
D. Bewertung.
Für jede Aufgabe ist in der Prüfanweisung festgelegt, wieviel Punkte der Prüf-
ling für jede Lösung erhait. Nach den ermittelten Punktzahlen werden dann aus
den Werttafeln die Wertzahlen entnommen, die unter Benutzung der bisherigen
Prüfergebnisse errechnet sind und der Schwierigkeit und Berufswichtigkeit der
Aufgaben angepaBt sind.
Couvé, Organisation u. Aufbau d. LehrIingseignungsprQfung b. d. Deutschen Reicbsbabn 333
Nach Aufstellung des Verfahrens muOten die Prüfleiter ausgewahlt und mit
den Grundzügen der Psychotechnik und mit dem Prüfverfahren vertraut gemacht
werden. Als PrüHeiter wurden Beamte bestellt, die mit dem Lehrlingswesen
vertraut waren (Amtsvorstande und deren Vertreter). Zur ersten Einführung
wurde von Professor Dr. Moede im Juni 1921 ein Kursus abgehalten, der die
verschiedenen Eignungsprüfungen und ihre Auswertung den Hörern naherbrachte.
Über die ausgearbeitete Prüfanweisung folgten dann Sonderkurse der Psycho-
technischen Versuchsstelle, in denen die einzelnen Aufgaben und ihre Bewertung
auch in Übungen behandelt wurden.
Die groCe Zahl der Bewerber machte es notwendig, Gruppenprüfungen ab-
zunehmen, soweit es nicht auf Beobachtung einer Einzelleistung ankommt. Nach-
dem in Vorversuchen die Durchfiihrbarkeit der Prüfung festgestellt war, wurde
die gesamte Prüfung in einer klaren und erschöpfenden Prüfanweisung zusammen-
gefaQt, damit der Prüfleiter genaue Unterlagen in der Hand hatte.
Ein Heft enthalt die Anweisung, ein weiteres die Anlagen hierzu, auOerdem
wird ein Heft mit Werttafeln beigegeben. Muster, Vorlagen und Prüfgerat werden
von der Psychotechnischen Versuchsstelle geliefert.
Der erste Abschnitt der Prüfanweisung enthalt die allgemeinen Bestimmungen
für die Abhaltung der Prüfung. Die psychotechnische Lehrlingsprüfung dauert
zwei Tage. Bei mehr als der dreifachen Bewerberzahl werden nach dem Er-
gebnis des ersten Prüftages, der hauptsachlich Gruppenprüfungen bringt, bereits
so viel Bewerber ausgeschieden, daB nur die dreifache Bewerberzahl zum zweiten
Prüftage zugelassen wird. Die Prüfung wird abgenommen von dem Prüfleiter
und seinem Vertreter und den notwendigen drei bis vier Hilfskraften für die
Einzelprüfung. Die Ausführung der Prüfung wird überwacht durch den Leiter
und die Hilfsarbeiter der Psychotechnischen Versuchsstelle.
Wenn die Güte der Schulzeugnisse und -kenntnisse auch keinen Beweis für
die Eignung zum Lehrling bildet und daher mit der Eignungsprüfüng nicht ver-
quickt werden darf, so muO bei der Einstellung das MaB der Schulkenntnisse
doch festgestellt werden, urn Bewerber auszuschalten, die die unbedingt notwen¬
digen Schulkenntnisse nicht besitzen.
In der Prüfung 1921 wurde den Prüfleitern aufgegeben, den Bewerbern einige
einfache Rechenaufgaben in den vier Grundarten, ein Diktat und einen kurzen
deutschen Aufsatz vorzulegen. Es zeigte sich aber, daO, wenn die Aufgaben nicht
genau vorgeschrieben werden, an einzelnen Stellen zu hohe Anforderungen an
die Bewerber gestellt wurden. In den weiteren Prüfungen wurden die Aufgaben
daher von der Versuchsstelle vorgeschrieben. Die Kenntnisprüfung füllt mit den
Gruppenprüfungen den ersten Prüftag aus.
Von Bedeutung für die Durchführbarkeit der Prüfungen ist die Zahl der
Prüflinge. Die Erfahrungen haben gezeigt, daB bei den Gruppenprüfungen des
ersten Prüftages höchstens 40 und an den Einzelprüfungen höchstens 20 Prüf-
334 Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehrlingseignungsprüfung b. d. Deutscben Reicbsbahn
linge teilnehmen dürfen, wenn der Prüfleiter die Prüfung in der Hand be-
halten und die Dauer der Prüfung nicht übermaOig in die Lange gezogen
werden soll.
Die Prüfung muO für alie Bewerber unter möglichst gleichen Bedingungen
vor sich gehen. Durch die einheitliche Durchführung ist dieses Ziel zum Teil
erreicht, es bleibt aber noch die persönllche Disposition des Prüflings am Prüf-
lage und die verschiedenartige Einstellung gegenüber der Prüfung zu berück-
sichtigen. Auch hierin muO nach GleichmaOigkeit gestrebt werden. Die Prüf¬
leiter sind daher gehalten, vor Eintritt in die Prüfung durch eine kurze Ansprache
alle Befangenheit und Scheu der Prüflinge zu beseitigen. ErfahrungsgemaB ver-
lieren die Prüflinge bei geeignetem Auftreten des Prüfleiters bald jede Befangen¬
heit und erledigen die Aufgaben ohne Hemmungen. Weiter muB festgestellt
werden, ob einzelne Bewerber Krankheiten oder besondere Aufregungen durch-
gemacht haben.
Wenn die Prüfung auch so aufgebaut sein muB, daB jedes subjektive Urteil
ausgeschaltet ist und die Einstellung nur von den erreichten Leistungen abhangt,
so ist es doch notwendig, Angaben über die persönlichen Verhaltnisse des Prüf¬
lings, über seine Gesundheit, über besondere Lieblingsbeschaftigung oder
Lieblingsfacher festzuhalten. Hierzu dienen Fragebogen, die bei der Meldung
und nach der Gruppenprüfung ausgefüllt werden. Der Ausfall der psycho-
technischen Prüfung kann hiernach spater der Bewahrung in der Praxis gegen-
übergestellt werden.
Wenn eindeutige Prüfergebnisse erzielt werden sollen, so müssen in der
Gruppenprüfung Abschreibversuche durch entsprechendes Setzen und in der
Einzelprüfung Störungen durch unbeschaftigte Prüflinge vermieden werden.
Für die Niederschrift der Prüfergebnisse werden den Prüfieitern von der
Psychotechnischen Versuchsstelle Ergebnisübersichten geliefert, die durch ihren
Vordruck alle notwendigen Angaben für die weitere Verarbeitung der Ergebnisse
verlangen. Die in den einzelnen Aufgaben erreichten Wertzahlen werden zu-
sammengerechnet und nach dieser Summe eine Rangreihe gebildet, die für die
Auswahl der Lehrlinge maBgebend ist.
AuBerhalb der Rangreihe dürfen eingestellt werden: Söhne von verstorbenen
oder infolge Eisenbahnunfalls dienstunfahigen Eisenbahnbediensteten und im Falie
der Bedürftigkeit Söhne im Kriege Gefallener oder Kriegsbeschadigter mit min-
destens 50 vom Hundert Erwerbsverminderung. Die auBerhalb der Rangreihe
Eingestellten müssen aber in der Eignungsprüfung eine Durchschnittsleistung
aüfweisen. Ihre Gesamtzahl darf 30 vom Hundert der Einzustellenden nicht
übersteigen.
GlSsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn
335
Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn
Von Dr.-Ing. GlSsel
Inhalt: I. Allgemeines. — II. Prüfverfahren. — III. Auswerlung. —
IV. Art der Prüflinge, Zahl der bisherigen Prüfungen. — V. PrüfgerSte.
— VI. Ober ZShler. — VII. Erfolgskontrollen. — VUI. Heizerprüfungen.
I. Allgemeines
D ie Anfange der Dresdner Prüfstelle gehen auf Dr.-Ing. Ulbricht zurück, der
in den Jahren 1916 und 1917 Prüfgerate und Prüfverfahren für Lokomotiv-
führer und Fahrdiensilelter schuf, als denjenigen Gruppen der Elsenbahn-
bediensteten, die die gröBte Verantwortung für Sachwerte und für Leib und
Leben tragen. Seine Arbeiten sind in den folgenden Jahren von Dr.-Ing. Schreiber
und Fröhlich nebenamtlich fortgeführt worden und haben ihren ersten Nieder-
schlag in den mehrfachen Veröffentlichungen*) des ersteren gefunden.
Anfang 1921 gelang es, Krafte für das Laboratorium frei zu machen, die sich haupt-
amtlich mit Eignungsprüfungen beschaftigen konnten. Das Personal besteht jetzt aus
einem Leiter und vier technischen Hilfskraften.
lm Herbst 1921 bezog die Prüfstelle neue Raume im Verwaltungsgebaude Dresden-A.,
Strehlener StraCe 1,1. Dieser AnlaU wurde benutzt, um die Prüfverfahren und Prüfgerate
auf Grund der bis dabin gesammelten Erfahrungen einer teilweise grundlegenden Um-
anderung zu unterziehen. Diese Erfahrungen hatten bereits gelehrt, daU die allgemeine
Anwendung von Eignungsprüfungen an Eisenbahnbediensteten angangig ist und der ein-
geschlagene Weg brauchbar war.
II. Prüfverfahren
Ulbricht und seine Nachfolger hatten sich hauptsachlich mit der Lokomoiiv-
führerprüfung beschaftigt und die ganze Prüfung auf diesen Fall zugeschnitten.
Die Prüfung für Fahrdienstleiier unterschied sich nur darin, dali noch eine Probe
für Gedachtnis von Zahlen und Namen hinzukam. Als berufswichtige Grund-
eigenschaften für den Lokomotivführer waren aufgestellt worden: Ruhe (Umsicht),
Ausdauer, Aufmerksamkeit, Auffassungsgabe, EntschluOfahigkeit, dazu das Gefühl
für Gcschwindigkeiten. Um diese zu erschlieBen, hatte Ulbricht die in der oben
erwahnten Quelle beschriebenen Prüfverfahren und Prüfgerate ersonnen. Alle
Proben sind Arbeitsproben, die auBerlich, soweit die Ausführung in Frage kommt,
sehr einfach sind, aber meist vielseitige geistige Fahigkeiten erfordern; auBerdem
sind sie durchweg Einzelproben. Gruppenprüfungen kommen nicht vor.
Das heutige Prüfverfahren ist auf den gleichen Anschauungen aufgebaut. Die
Mehrzahl der früheren Proben ist dem Wesen nach übernommen. Ihre heutigen
Formen sind unter V kurz beschrieben.
*) Dr. Schreiber: Das Prüflaboratorium für Berufseignung bei den Königlich Sachsischen
Staatseisenbahnen. „Zeitschrifi des Vereins Deutscher Ingenieure“ 1918, Nr. 28/29, 1919. (Auch
als Sonderdruck erschienen.) — Ders. in „Die Umschau" 1918, Nr. 44. — Ders. in „Praktische
Psychologie“, Il.Jahrgang, 1921, Heft 8.
336
GlSsel, Von der Dresdner Prfifstelle der Reicbsbahn
Die alten Ulbrichtschen Proben wandten sich hauptsachlich an die beruflich
wichtigen geistigen Fahigkeiten. Die Arbeit des Eisenbahnbetriebspersonals
unterscheidet sich von der in der Industrie durch eine gröOere Freizügigkeit in
den Einzelheiten der Ausführung. Der Eisenbahner ist, abgesehen von Bin-
dungen des Betriebes, meist nicht so straif in einen Herstellungsvorgang ein-
gespannt, an die Maschine und ihr Arbeitstempo gefesselt, als im Fabrikbetriebe.
Seine Leistung ist hinterher auch nicht mehr sichtbar und im einzelnen prüfbar
oder meCbar, wie das Arbeitsstück des Drehers oder Frasers z. B. Auch kann
eine Aufsicht im einzelnen wegen der Eigenart des Eisenbahnbetriebsdienstes
nicht durchgeführt werden. Das Lokomotiv- und Zugpersonal ist sich wahrend
der Fahrt selbst überlassen. Urn so wichtiger werden dadurch die Willenskrafte
im einzelnen Bediensteten, die sich auOern als Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Ver-
antwortungsgefühl, Eifer, Treue in der Arbeit usw. Die Prüfstelle ist deshaib
seit etwa einem Jahre bemüht, auch diese Veranlagung der Bewerber beurteilen
zu lemen und hat dazu Arbeitsproben eingeFührt, die einen AufschluQ geben
sollen über die allgemeine Einstellung des PrüFlings zur Arbeit, über seine Trieb-
kriifte zur Arbeit, weniger über sein Können.
Bei der Weiterbildung der Prüfverfahren und Durchführung der Prüfungen
wird besonderes Gewicht gelegt auf die Einstellung der Prüflinge zur Prüfhand-
lung, auF ihre Stimmung. Es ist allen PrüFlingen bekannt, daO der AusFall der
PrüFung über ihre Annahme entscheidet. Die PrüFgerate und PrüFmittel müssen
dem EmpHnden der PrüFlinge angepaBt sein. Alles muB Fest, dauerhaFt, körper-
lich sein. Papierarbeit, Schreibarbeit ist ungeeignet und wird von Handarbeitern
nicht Für voli angesehen. Die Naturnahe der PrüFgerate und PrüFvorgange ist
angestrebt worden, ihr Zusammenhang mit den Dingen und Vorgangen der Wirk-
lichkeit wird dem PrüFling bei den Erklarungen überall auFgezeigt und durch
Beispiele und Wandbilder erlautert. An die Erklarung schlieBt sich eine Vor-
übung am PrüFgerat, die solange Fortgesetzt wird, bis der PrüFling die verlangten
Handgriffe beherrscht und dies selbst bestatigt, so daB alle PrüFlinge gleich gut
vorbereitet in die einzelne PrüFhandlung eintreten.
Die PrüFung wird nur abgehalten, wenn der PrüFling volle körperliche und
geistige Frische und LeistungsFahigkeit schriFtlich bestatigen kann. Merkbare
PrüFungsangst ist bis jetzt eine sehr groBe Ausnahme gewesen. Geschickte Be-
handlung durch den PrüFer ist unentbehrlich und unersetzlich. Die PrüFung be-
ginnt mit einem kurzen EinFührungsvortrag über Sinn, Wesen und AusFührung,
über AnForderungen und Bewertung der EignungsprüFung. Das wirkt bei man-
chen PrüFlingen wie eine Erleichterung. Der EinfluB der sogenannten Disposition
wird wohl wesentlich überschatzt. Dagegen kann die Einstellung des PrüFlings
zur PrüFung, der Ernst, mit dem er an die PrüFung herangeht, ausschlaggebend
Für seine Leistung sein (vgl. Abschnitt über ErFolgskontrolle).
Die Eisenbahn war bis jetzt noch in der glücklichen Lage, Überangebot Für
den Nachwuchs des Betriebspersonals zu haben. Bei den LokomotivFührer-
Glisel, Von der Dresdner Prfifstelle der Reichsbabn
337
Anwartern tritt das Angebot jahrgangweise auf. Die Eignungsprüfung ist deshalb
eine „Auswahl der Besseren*. Sie ist zeitlich vor die Ausbiidung gesetzt, so
daO in Sachsen niemand mehr in die Ausbiidung zum Lokomotivführer, die zwei
bis drei Jahre dauert, eintritt, der nicht seine hinreichende berufliche Veranlagung
nachgewiesen hat.
Wenn die Leistungen einer Jahresgruppe von Anwartern sollen verglichen werden
können, so mussen alle Prüflinge unter genau gleichen Prüfbedingungen gestanden haben.
Das laüt sich aber nur erreichen, wenn der EinfluO des Prüfers wahrend des eigentlichen
Prüfvorganges ausgeschaltet wird. Dieser EinfluO ist gröOer, als man zunacbst anzu-
nebmen geneigt ist, und wird unberecbenbar, wenn der Prüfling, wie in Dresden, durcb
vier bis fünf verscbiedene Hande gebt. Grobe Febler des Prüfers (Ablese-, Scbreib- und
Recbenfebler usw.) mussen ausgescblossen sein, wenn die Prüfung zur Ausscbeidung des
Prüflings fübren kann. Solcbe Febler werden um so leicbter möglicb, sobald eine Prüf-
stelle monatelang Massenarbeit leisten muO. Das stellt so bobe Anforderungen an die
Prüfer, daO sie in jeder nur möglicben Beziebung entlastet werden müssen. Aucb die
Feststellung der Einzelleistung muO dem EinfluO des Prüfers tunlicbst entzogen sein. Die
Leistung muO nacb jedem Prüfvorgang in MaO oder Zabl fertig vorliegen, der Prüfling
muO sicb von ibrer Höbe überzeugen können. Ibm seine Leistung zu zeigen oder gar ibn
bei ibrer Feststellung mitwirken zu lassen, beseitigt das natürlicbe MiOtrauen gegen die
Prüfung besser als alle anderen Mittel und bat in erster Linie bewirkt, daO sicb die Prüf*
linge bis jetzt widersprucbslos dem Urteil der Prüfstelle unterworfen baben.
Alle Prüfgerate sind deshalb so eingerichtet worden, daO sie erstens den
Prüfvorgang seibsttatig darbieten, zweitens die Leistungen des Prüflings sofort
und von seibst auch für diesen sichtbar aufzeigen. Mit anderen Worten: Die
Prüfeinrichtungen sind jetzt, soweit wie irgend möglich, automatisch eingerichtet
worden. Auch neue werden von Anfang an darauf angelegt.
Die Prüfer sind gehalten, jeden Prüfling hinsichtlich Auffassungsgabe, Ruhe
und Gewissenhaftigkeit zu beobachten, und bringen ihr Urteil in Form von Zen-
suren mit zu Papier. Bei der Feststellung der Gesamtleistung bleiben diese ür-
teile auOer Ansatz. Sie sind aber hauhg eine willkommene Bestatigung oder
Erganzung des Leistungsergebnisses und bei Gutachten in besonderen Fallen
unentbehrlich.
III. Auswertung
Die Auswertung geschieht mit Hilfe der Haufigkeitskurve und der von
Dr. Schreiber empfohlenen Integralkurve (Zeitschrift des Vereins Deutscher
Ingenieure 1919, Nr. 28). Die frühere Zensurstufung ist jetzt allerdings durch
eine Prozentstufung ersetzt worden. Diese ist sinnfalliger. Die früheren Berech-
nungsformein für die Wertziffern, in denen mitunter verschiedene Prüfwerte
zusammengefaOt wurden, sind nicht mehr in Gebrauch. Jeder einzelne Prüfwert
wird selbstandig durch eine besondere Kurve erfaOt und einzeln bewertet. Da-
gegen werden die Leistungen (ausgedrückt in Prozenten), die jeder Prüfling bei
allen Proben erreicht, mit Gewichtszahlen belastet und nachtraglich zu einer
Gesamtleistung (ebenfalls in Prozenten) zusammengefaOt. Das geschieht, weil die
338
Giasel, Von der Dresdner PrGfstelIe der Reicbsbahn
„Auswahl der Besseren", also eine Gruppierung aller Prüflinge eines Jahrganges
nach ihrer Gesamtieistung gefordert wird, und die Kennzeichnung jedes Prüflings
durch eine Gesamtwertziffer sehr einfach ist. Die Gewichtszahlen sind nach
Schatzung festgesetzt und an vielen Beispielen in ihrer Wirkung auf die Gesamt-
wertzahl nachgeprüft worden. Beibehalten ist ferner die Zerlegung der einzelnen
Prüfwerte nach den Grundeigenschaften Umsicht und Ruhe, Aufmerksamkeit,
Auffassung, EntschluDfahigkeit. Auch das geschieht nach einem gewahlten und
vielfach nachgeprüften Schlüssel. Die Zerlegung hat auf die Beurteilung eines
Prüflings keinen EinfluD. Diese geschieht allein nach den Einzelprüfwerten. Sie
1 Aif/jMSe.
«fc* OirHetM Dret^.
On <//e ot/Uunehmen!
Gutachten über öerufse/^un ^.
des J-oAfrAon^... .€rjch.. .Me/nhacdt ... 2um .l.alxamo/jr.^^•ihrer..
geb!.3J.. jyae-emjber../dST.. .. Dienstste»e:....Lej^2jQ
CeSOm^Ur/e/A £ric/i. /iejnhar.dt, _ hoK., unfer. .. Bcfferb^n gJeidisr óéf^uf/icker
SM/ung chtt. &S... Platz be/e^è,
gwi • Zdpe/asgen veerden.
Dresden, omjSS..
Sr kann -
.guM..
.1023.
Abbildung 1
gibt aber den AuOenstehenden ein leicht verstandliches Bild von der beruflichen
Veranlagung des Prüflings. Die Einzelleistungen und die Grundeigenschaften
werden jetzt in einer Art Querschnitt bildlich dargestellt (nach Giese), der in
die Personalakten geht (Abbildung 1).
Mehrere der vorhandenen Prüfgerate werden sich auch zur Prüfung anderer
Gruppen von Bediensteten benutzen lassen. Nur muB dann die Gewichtsverteilung
anders festgesetzt werden.
Die Zahl der bisherigen Prüflinge jeder Jahresgruppe betrug mehrere Hundert,
war also so groD, daO sich gute Hauhgkeitskurven, also auch sichere Bewertungs-
maOstabe ergeben haben. Die Leistung gröDter Haufigkeit gilt als Mindestsoll-
leistung für die Zulassung. Sie wird mit 50% bezeichnet. Was unter etwa 35 %
liegt, ist ungenügend und zieht AusschluD nach sich. Über die Einstellung von
Prüflingen mit Gesamtleistungen zwischen 35 und 50 % entscheidet u. a. der Be-
GlSsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn
339
darf an Nachwuchs in jedem Jahre. Bei der Auswahl dieser „bedingt Zugelassenen"
wird dann alles herangezogen, was ein verlaQliches Urteil linden hilft: der per-
sönliche Eindruck des Prüflings auf die PrüFer, seine AuOerungen, sein Verhalten
wahrend der Prüfung, Beobachtungen auffalliger Art durch die Prüfer u, dgl.
In allen Pallen ist aber zunachst die Gesamdeistung des Prüflings in Prozenten
maOgebend, also die objektive Zahl, weil sie am verlaOlichsten ist und Zweifler
am leichtesten überzeugt. Diese Stütze kann eine Prüfstelle, die mit geschlossenen
Gruppen von Betriebspersonal und starken gewerkschaftlichen Organisationen in
einem staatlichen Unternehmen rechnen muO, auf keinen Fall aus der Hand geben.
IV. Art der Prüflinge, Zahl der bisherigen PrOfungen
Die bisherigen Prüfungen haben sich erstreckt auf:
1. Schlosser aus den sachsischen Eisenbahnwerkstatten im Alter von 20—24 Jahren,
die mindestens ein Jahr in der Lokomotivreparatur tatig gewesen sind und sich frei-
willig zum Lokomotivführer-Anwarter gemeldet hatten. Die Prüfungen erfolgen jahr.
gangweise an je rund 250 Mann. Sie geiten seit zwei Jahren in Sachsen als Zulassungs-
prüfung zur Anwürterlaufbahn. Wer als ungeeignet befunden wird, scheidet bis jetzt
für immer als Bewerber aus;
2. Schlosser gleicher beruflicher Herkunft und gleichen Alters, die schon einmal durch
die Eignungsprüfung gegangen waren und nach mehreren Monaten auf Antrag der Prüf¬
stelle nochmals geprüft wurden, a) um festzustellen, wieweit die Gruppierung der Leute
bei der ersten und zweiten Prüfung übereinstimmt, also um nachzuweisen, ob und wie¬
weit mit dem jetzigen Prüfverfahren Anlagen der Prüflinge erfaUt werden, ferner
b) um möglichst zahlenmaDig zu ermitteln, welchen EinfluO die Übung durch die erste
Prüfung auf die Leistung bei der zweiten hat. Hierbei sind samtiiche frühere Bewerber
wieder geprüft worden, auch die, die bei der ersten Prüfung versagt hatten. (Naheres
unter VII b);
3. Lokomotivführer-Anwarter aus dem sachsischen Bereich im Alter von 22—26 Jahren,
die seit etwa einem Jahre in der praktischen Ausbildung standen, d. h. auf der Loko-
motive als Heizer fuhren, aber früher noch nicht psychotechnisch geprüft worden waren,
um festzustellen, wieweit Laboratoriumsbefund und Urteil der Praxis übereinstimmten —
also als Erfolgskontrolle. Den Vergleich boten schriftliche Gutachten der Lokomotiv-
Lehrführer, die nach einem vorgeschriebenen Beurteilungsplane aufzustellen waren.
(Naheres unter VII);
4. Lokomotivheizer und -oberheizer aus dem sachsischen Bereiche im Alter von 37—61
Jahren auf Grund freiwilliger Meldungen, die nicht als Schlosser handwerklich vor-
gebildet sind, aber seit mindestens zehn Jahren als Heizer auf der Maschine fahren,
und neuerdings ebenfalls zur Führerlaufbahn zugelassen werden können. (Naheres
unter VIII, Heizerprüfungen);
5. Einzelpersonen von verschiedenen Gruppen des Betriebspersonals, die von anderen
Reichsbahndirektionen zur Abgabe eines besonderen Gutachtens zugewiesen worden
waren.
Seit Januar 1922, wo die Prüfstelle in den jetzigen Raumen wieder voll in Betrieb ge-
kommen war, sind über 900 Mann geprüft worden und zwar (in runden Zahlen):
23*
340
Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbabn
Zu 1. 440 Schlosser, ersttnalig zur Zulassung als Lokomotivführer-Anwarter,
Zu 2. 100 Schlosser in der Wiederholungspriifung,
Zu 3. 200 Lokomotivführer-Anw&rter, nachtraglich für die Erfolgskontrolle,
Zu 4. 160 Lokomotivheizer und -oberheizer erstmalig zur Zulassung zur Führer-
laufbahn,
Zu 5. 10 Einzelpersonen für besonderes Gutachten.
Hierzu kommen noch etwa 100 Versuchsprüfungen mit einem neuen Prüfverfahren
für Fahrdienstleiter und sehr zahlreiche Einzelproben mit den verbesserten alten oder
neugebauten Prüfgerüten für die Lokomotivführerprüfung.
Die Tagesleistung der Prüfstelle betrügt bei 3—4 Prüfern 9—10 Mann, vorübergehend
ist sie auf 12—13 Mann gesteigert worden. Für einen Prüfling dauert die Prüfung
3—4 Stunden.
lm Herbst jedes Jahres sind die Lehrlingsprüfungen in den süchsischen Eisenbahn-
werkstütten nach dem von der Psychotechnischen Versuchsstelle der Reichsbahn in Berlin
bearbeiteten Verfahren zu erledigen. Die Ausführung und die Auswertung der Prüfungen
lag bis jetzt in den Handen der Werkstütten selbst. Die Dresdner Prüfstelle war mehr
beratend und helfend beteiligt. In zwei Fallen helen ihr die Prüfungen ganz zu. Die
Lehrlingsprüfungen in Sachsen erfassen jahrlich rund 250 Jungen und erfordern im ganzen
etwa vier Wochen Zeit.
V. PrQfgerfite
Über die alten Ulbrichtschen Prüfgerate wolle man die oben angezogenen
Veröffentlichungen von Dr. Schreiber vergleichen. Im folgenden soll nur kurz
auf die wesentlichen Anderungen eingegangen werden. Diese batten den Zweck,
die Gerate psychotechnisch und technisch besser durchzubilden und sie durch Ein-
führung der selbsttatigen Darbietung des Prüfvorganges und Feststellung des
Prüfergebnisses für Massenprüfungen geeigneter zu machen.
1. Die Fahrerprobe bietet jetzt in der Reihenfolge der Reize (Signale) einen
möglichen Eisenbahnbetriebsvorgang dar, bei der auf ein und denselben Reiz je
nach den Umstanden verschieden gehandelt werden muO. Es kommt weniger auf
Schnelligkeit, sondern mehr auf Richtigkeit der Handlung an. Die Fahrerprobe
erfordert damit mehr eine überlegte Handlung (nach Hallbauers Vorgang). Sie
ist nicht mehr die alte einfache Reaktionseinrichtung. Der Aufmerksamkeits-
bereich ist durch die Einführung mehrfacher optischer Störungsreize wesentlich
vergröCert worden. Der ehemalige Schreckreiz wurde als unwirksam ganz ver¬
lassen. Auch andere Mittel batten keinen Erfolg. Auf diesem Wege wird die
Aufgabe, die Schreckhaftigkeit des Prüflings zu untersuchen, kaum gelost werden
können. Auch der frühere Blendreiz, der als Störungsreiz gedacht war, ist als
unwirksam aufgegeben worden. Vom Bremshebei des Prüflings wird ein Elektro¬
motor gesteuert, an dessen wechselndem Gerausch der Prüfling die Wirkung
seiner Handlungen spürt. Der gesamte Prüfablauf erfordert 20 Minuten. Die
Zahl der Reize wachst von 5 auf 20 in der Minute.
Als Prüfwerte werden festgehalten die mittlere Reaktionszeit und die Anzahl
der Fehler bei Bedlenung der Prüfeinrichtung. Alles geschieht selbsttatig. Der
Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn
34t
eigentlichen Prüfhandiung geht eine Einübung voraus, bei der der Prüfling mit
der Einrichtung und allen HandgrifFen vollstandig vertraut gemacht wird. Zur
Erleichterung des Prüfers und Beschleunigung der Prüfung ist zur Vorübung
eine vereinfachte Fahrerprobe geschaifen worden, an der die Prüflinge in die
hauptsachlichsten Einzelheiten der Einrichtung und in den Zusammenhang der
Prüfhandiung eingeführt werden. Dieses Hilfsmittel bat sich sehr bewahrt.
Die mehrfach angeschnittene Frage, ob das Reizbild beweglich sein solle, um die
Wirklichkeitsnahe zu vergröQern und die gefühlsmaOige Einstellung des Prüflings ahniich
wie im Betrieb zu erreichen, ist für die Dresdner Prüfstelle nach langen Erörterungen und
mehreren praktischen Versuchen bis auf weiteres verschoben worden. Es erscheint nach
den Erfahrungen mit der Hallbauerschen Fahrerprobe, die den bewegten Reizstreifen hat,
kaum noch zweifelhaft, daO eine groQe Zahl Menschen der Tauschung, selbst bewegt zu
sein, nicht unterliegen. Die technisch einwandfreie Lösung der Frage würde für die in
Dresden schon vorhandene Einrichtung ganz bedeutende Schwierigkeiten gemacht haben,
die nicht im Verhaltnis zur Wirkung gestanden hatten. Vor allem schien aber schon vor
mindestens einem Jahre nachgewiesen zu sein, daO die Dresdner Fahrerprobe auch mit
unbeweglichem Reizbild hinreichend sichere Ergebnisse erzielte.
Eine andere, verwandte Frage, die hier haufig hineinspielt, ist die, die Reizeinrichtung
so zu gestalten, daO unvorhergesehene auDergewöhnliche Betriebszustande dargeboten
oder Zufalligkeiten planmaOig herbeigeführt werden können, wobei sich dann Umsicht,
Ruhe, Überlegung und Entschlossenheit des Prüflings zeigen sollen. Diese Untersuchung
laDt sich m. E. nur an fertig ausgebildetem Personal auf einer Versuchsbahn ausführen,
nicht im Laboratorium. Die praktische Lösung einer solchen Versuchsbahn dürfte keine
besonderen technischen Schwierigkeiten, nur einige Kosten machen.
2. Der Wandermarkenapparat, der die Fahigkeit zu raschem und ent-
schlossenem Handein zeigen sollte, hat grundsatzlich weniger Anderungen er-
fahren.
Es werden jetzt nur volle Markengleichen vorgeführt, d. h. die Striche kommen stets
in voller Breite nebeneinander zu stehen, so daO die frühere Gewichtsbewertung der
Markengleichen wegfallt. Jedem Prüfling wird die gleiche Zahl Markengleichen und in
derselben Reihenfolge vorgeführt. Das Gerftt des Prüflings ist als kraftiger Hebei aus-
gebildet worden. Die beiden Prüfwerte: getroffene Markengleichen und falschliche Hebel-
bedienungen werden mit Hilfe elektrischer Zahler selbsttatig festgestellt. Ein verbesserter
Apparat, der zugleich für Geschwindigkeitsschatzungen benutzt werden kann, ist im Bau.
3. Der Geschwindigkeitsschatzer, jetzt Schatzuhr genannt, tragt vorn nur
noch einen Zeiger. Als objektive Nullpunkte für die Einstellung der Messing-
marke dienen jetzt nur 50° und 150°.
Die Registrierung der Schatzungsfehler geschieht auf der Rückseite mittels Schlepp-
zeigers und Prüfkarte, auf der die Schatzungsfehler und auch gleich in der für die rech-
nerische Weiterverarbeitung erwünschten MaCeinheit nach jeder Schatzung sofort ein-
genadelt werden. Jede Probe wird fünfmal wiederholt. Die verschiedenen Geschwindig-
keiten des Zeigers sind verlassen worden, weil sie keinerlei Streuung ergaben. Das Gerat
des Prüflings ist jetzt ein kraftiger Morsetaster.
342
Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn
Als Prüfwerte geiten der konstante Fehler und die mittlere Variation im Ge-
wichtsverhaltnis 1:4. Die Ermittlung der Variation geht mit einer Art Rechen-
schieber rasch und sicher vonstatten.
Die früher mit diesem Gerat noch geübte Ortsschatzung ist aufgegeben worden,
weil die Streuung ganz gering war.
4. Die Prüfung der von Ulbricht Raumgedachtnis benannten Fahigkeit wird
auch heute noch vorgenommen. Das frühere Punktnetz ergab jedoch keine ge-
nügende Streuung. Das neue Prüfgerat ist eine unregelmafiig begrenzte, dunkel-
gefarbte Flache und fiinf Metallblattchen in der GröCe eines Groschens. Der
UmriC der Flache erinnert an die Silhouette einer Tenderlokomotive. Auf der
Flache sind fünf gröDere Punkte in bestimmter Lage zum UmriC eingezeichnet.
Der Prüfling prSgt sich 1V 2 Minute lang „die Lage der Punkte auf der dunkeln Flache
scharf ein“ — wie, ist ihm ganz freigestellt — und legt dann alsbald fünf Metallblattchen
auf derselben dunkeln, aber jetzt leeren FlSche nach dem Gedachtnis auf. Die Fest-
stellung seiner Leistung geschieht in seinem Beisein mit Hilfe von Ringschablonen, die
aufgelegt werden. Die Probe wird dreimal mit verschiedener Lage der fünf Punkte wieder-
holt. Der Prüfwert ist die Summe aller Abweichungen vom objektiven Nullpunkt, aus-
gedrückt in Ringzahlen. Die Streuung ist sehr gut. Urn die Einwirkung von Nachbildern
zu vermeiden, wird stets eine andere Probe eingeschoben.
5. Der Ergograph, Bauart Dubois, mit dem früher die körperliche Ermüdung
festgesteilt werden sollte, wird heute hauptsachlich als Energieprobe gewertet.
Früher waren dem Prüfling Hubhöhe und Tempo freigestellt. Aus dem Ergogramm
wurde rechnerisch und zeichnerisch die Abnahme der Leistung in der Zeiteinheit er-
mittelt und als Ermüdung angesprochen. Durch Ansetzen eines Zahlwerkes und einer
Zeitmarkierung, die die Gesamtleistung in jeder Minute leicht festzustellen gestattet,
konnte nachgewiesen werden, daC alle Prüflinge bei Abnahme ihrer Hubhöhe im
Tempo schneller werden, so daO die minutlichen Leistungen, gemessen in mkg, im
groben Durchschnitt so gut wie konstant bleiben, die Ermüdung also nicht als Ab¬
nahme der Leistung in der Zeiteinheit definiert werden kann (unter den damaligen Prüf-
gewohnheiten). Das führte, im Hinblick auf die Verhaltnisse beim Eisenbahnbetrieb, dazu,
von allen Prüflingen eine Mindestleistung zu fordern. Diese ist aus den zahlreich vor-
handenen Ergogrammen für Lokomotivpersonal zu 1 m Gesamthubhöhe in jeder Minute
bei 7,5 kg Hubgewicht auf die Dauer von 15 Minuten festgesetzt worden. Die Hubhöhe
jedes Prüflings wird durch einen kurzen Vorversuch ermittelt und dann mit zwei Puffern
auf den Gleitstangen eingestellt, das Tempo dazu aus einer Tabelle abgelesen und dann
mit dem Metronom gegeben. Um aber auch die sehr ungleiche Art der Arbeitsausführung
scharfer zu erfassen und die Arbeitsbedingungen für alle möglichst gleich schwer zu ge¬
stalten, ist ein Dreitakt eingeführt worden, der sich gut bewahrt hat: 1 = ziehen, 2 = ab-
lassen, 3 = ruhen. Einer ganzen Anzahl von Prüflingen macht die Einhaltung dieses Drei-
taktes Schwierigkeiten. Die verlangte Leistung wird von etwa 74 % aller Prüflinge voll-
bracht, 17 % lassen in den letzten fünf Minuten nach, 9 % fallen schon nach der dritten
Minute ab.
Es besteht die Vermutung, daO die rhythmisch schwach begabten Prüflinge
auch das Bremsen eines Zuges nicht gut erlernen werden. Doch konnten hier-
Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbahn
343
über noch keine festen Beziehungen aufgefunden werden. Ein Bremsgefühls-
prüfer ist erst im Bau.
6. üm einen Einblick in die Willenseigenschaften des Prüfiings zu gewinnen,
sind seit Anfang 1922 einige Arbeitsproben cingeführt worden.
a) Sortierprobe I und II. Papierblattchen zwölf verschiedener Formen sind
zu sortieren. Arbeitszeit ist 30 Minuten. Aufgabe: So rasch wie möglich arbeiten,
aber ohne Fehler.
Die Zahl der abgeworfenen Blattchen = d gilt als Arbeitsgeschick, die Fehlerzahl ƒ,
dividiert durch x (x + 1), wo x = als Sorgfalt. Die Anforderung, die diese Probe
an die Formvisualitat der Prüflinge stellt, ist keineswegs zu hoch, denn alle Prüf-
linge sind gelernte Schlosser, seit mindestens einem Jahre in der Lokomotivreparatur
tatig und daher hinreichend gleichmaOig auf das Beobachten und Erkennen von Form*
unterschieden eingestellt. Trotzdem ist die Streuung mit den gewahlten Formen erstaun-
lich groC: d schwankt bei Schlossern zwischen 100 und 700 Stück, ƒ zwischen 0 und 30%.
Meistens gehen die schnelle und gute und die langsame und schlechte Arbeit zusammen.
Um auch denen noch gerecht zu werden, die ein schwaches Formerkennungsvermögen
besitzen, sind bei der Sortierprobe II die Formen der Blattchen so vereinfacht, daU die
Arbeit von einem fünf^ahrigen Kinde mit Leichtigkeit verrichtet wird. Aufgabe: 1200 Stück
ohne Fehler abwerfen und dabei arbeiten, wie es in der Natur des Prüfiings liegt. Die
Arbeitszeit steht frei. Die Streuung bei der Zeit betragt 30 bis 80 Minuten, bei den Fehlern
ist sie so gering, daO sie vernachlassigt werden kann.
Die Zeit wird als Arbeitseifer gewertet. Meistens geht die schwache Leistung
in beiden Proben überein. Die an sich höchst wünschenswerte Verlangerung
der Proben zur Dauerarbeit lalit sich leider prüftechnisch nicht gut durchführen.
Kürzlich ist auch die Sortierprobe automatisch hergestellt worden. Die zwölf ver-
schiedenen Formen sind auf Messingmarken schwarz eingelassen. Nach jedem Einwurf
wird vorn am FuOe sofort die nachste Marke ausgeliefert. d und ƒ werden durch elektrische
Zahler selbsttStig angezeigt.
b) Eine andere Arbeitsprobe, die erstens die Art erkennen lalJt, wie sich ein
Prüfling mit einer einfachen Arbeit überhaupt abfindet, und die zweitens ge-
stattet, ihn unter einem gewissen Drück arbeiten zu lassen, wie es im Eisenbahn-
betrieb bei Verspatungen oder bei starkem Verkehre haufig vorkommt, ist vor
kurzem in der sogenannten Schlieliprobe aufgenommen worden.
Sie besteht aus 20 SchloIJkasten mit je zwei Schlüsseln. In jedem Schloö steekt
ein Schlüssel, der nicht entfernt werden kann, bis er mit Hilfe eines zweiten Schlüssels
freigemacht wird. Dabei wird aber dann der zweite Schlüssel im SchloC festgehalten.
Der freigewordene Schlüssel schlieUt dann das nüchste Schloö auf usf. Erste Aufgabe:
Samtliche Schlosser schlieöen und den Schlüssel im letzten Schloö freimachen! Zeit
ist beliebig. Alle Schlüssel sind verschieden, die Schlosser in der Reihenfolge ver-
tauscht. Erforderlich ist also, zu jedem freigemachten Schlüssel nach der Bartform das
neue zugehörige Schloö zu suchen und dann beide Schlüssel zu schlieöen. Zweite Auf¬
gabe: Die Arbeit in umgekehrter Reihenfolge in einer bestimmten, kürzeren Zeit als das
erstemal tun! Die Zeit wird von fünf zu fünf Sekunden angesagt, um damit auf den Prüf-
344
GISsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbabn
ling einen Drack auszuüben. Die Schilderung einer bestiminten Eisenbahnbetriebslage
soll die gewünschte Einstellung des PrüFlings herbeiffihren helfen.
Die Beobachtung des Prüflings gibt vorzüglichen AufschluO über Ruhe, Um-
sicht, Arbeitsgeschick, Arbeitstrieb bzw. Tragheit. Es komint mitunter vor, daO
Prüflinge bei der Arbeit unter Druck vollstandig den Kopf verlieren und die
Arbeit selbst abbrechen. Eine genaue, zahlenmaDige Bewertung macht zunachst
noch einige Schwierigkeiten, die Beobachtung wird ausschlaggebend bieiben*).
7. Die Augenuntersuchung auf Nachtblindheit wird zunachst weiter als
Gutachten für den Augenarzt vorgenommen. Die Untersuchung auf Farben-
tüchtigkeit ist noch ausschlieOlich Sache des Augenarztes. Versuche, den Augen-
prüfer auch dafür nutzbar zu machen, sind im Gange.
Das von UIbricht gebaute, seinem Kugelphoto-
meter nachgebildete Prüfgerat ist nahezu unver-
andert erhalten. Nur die Lichtstufung wurde ver-
feinert. An Stelle der H*förmigen Reizformen
werden jetzt verschieden begrenzte, schwach er-
leuch^ete Flachen vorgeführt, die sich sicherer für
die Beurteilung erwiesen haben. Festgestellt wer¬
den die Reizschwelle nach vollkommener Dunkel-
anpassung der Augen und nach einem bestimmten
Abbildung 2 Hellreiz (Blendung). Urn die vollst&ndige Dunkel-
anpassung zu erreichen, kommt der Prüfling zu-
nSchst 20 Minuten in eine Dunkelkammer. Die Kurve in Abbildung 2, die experimenten
gefunden und wiederholt nachgeprüft worden ist, zeigt den EinfluO, den das MaQ der
Dunkelanpassung des Auges auf die Reizschwelle hat, d. h. in wie hohem MaQe und wie
lange die Nachwirkung des Tageslichtes im Auge die Prüfergebnisse beeinfluDt. Die ge-
wonnenen Reizschwellenwerte mussen aber vergleichbar sein. Das setzt jedoch gleiche
Prüfbedingungen, also gleichen Anfangszustand der Augen voraus. Die Kurve zeigt, daO
erst nach mindestens 15 Minuten eine Art Ruhezustand erreicht ist. .Zwischen je zwei
Ablesungen wurde eine volle Hellanpassung von je fünf Minuten an das Tageslicht ein-
geschoben, die im allgemeinen schon nach zwei bis drei Minuten hergestellt ist.
Entsprechende Untersuchungen liegen über die notwendige Lange des Hellreizes vor.
Augenuntersuchungen auf Nachtblindheit sind an etwa 380 Schlossern ge-
macht worden. Nachtblindheit hat bis jetzt nur in seltenen Pallen zur Aus-
schlieOung des Bewerbers geführt.
8. Für die handwerklich nicht vorgebildeten Lokomotivheizer ist eine Probe
auf technisches Verstandnis angewendet worden, die sich gut bewahrt hat.
Sie besteht in einer Reihe einfacher Bilder über Bewegungsvorgange und Gleich-
gewichtszustande, an die genau gefaOte Fragen, meist über Ursache und Wirkung, ge-
knüpft werden und den Prüfling zum Nachdenken zwingen sollen. Die Bewertung geschieht
auf Grund der jetzigen Prüfergebnisse nach Punkten.
*) Inzwiscben ist auch eine zablenmSBige Auswertung der Schlieüprobe gelungen, die an
über 100 Prüflingen erprobt wurde. Prüfwerte sind: Erstens die Arbeitszeit bei freier Arbeit als
MaB für Oberblick, Arbeitsgeschiik, Arbeiisirieb usw. Zweiiens ein bestimmtes Verhaltnis zwischen
Arbeitszeit bei freier Arbeit und Arbeitszeit unter Druck als MaB für Ruhe, Umsicht und Ge-
faBtbleiben. Die Beobachtung durch den Prüfer erscheint auch weiterhin wichtig.
Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn
345
VI. Ober Zahler
Ohne mechanische Registriervorrichtungen für die Prüfwerte sind Massenprüfungen
nicht gut durchführbar. Die Prüfer sind entlastet, grobe Fehler werden vermieden, vor
allem wird Zeit gespart.
Alle Zahler werden so eingerichtet, daQ sle von Null an vorwarts oder von
einer bestimmten Zahl an rückwarts laufen. Bei jeder Prüfung ist dann nur eine
einzige Ablesung nötig, mehrmaliges Ablesen, Rechnen und damit wesentliche
Fehlerquellen sind so ausgeschaltet.
Der nachsteSchritt ware der, die gezahlten Werte sofort auFdie Prüfkarte aufzudrucken
oder aufzustempein, um die Fehlerquelle, die immer noch im Ablesen und Aufschreiben
liegt, ganz zu beseitigen.
VII. ErfolgskontroIIen
Die Bedingungen für eine Erfolgskontrolle am psychotechnisch ausgewahlten
Lokomotivpersonale sind volikommen verschieden von allen anderen bisher be-
kannt gewordenen Pallen. Die besonderen Schwierigkeiten liegen in folgendem:
1. Der industrielle Lehrling oder Arbeiter steht dauernd unter Aufsicht. Seine
Leistung ist sichtbar und bestandig, sie kann jederzeit nachgeprüft und verglichen
werden. Die Kontrollmöglichkeit beginnt sofort nach der Einstellung. Der
psychotechnisch ausgewahlte Lokomotivführer-Anwarter besucht erst ein Jahr die
Werkschule und kommt erst dann auf die Lokomotive, wo er zunachst etwa ein
Jahr lang als Heizer fahrt und allmahlich in der Fahrkunst ausgebildet wird.
Bis er zur Fahrreife gelangt, vergehen so zwei bis drei Jahre. Der Lehrführer
wird haufig ein und mehrere Male gewechselt. Die Lehrführer können nicht so
sorgfaltig ausgesuchte Krafte sein wie der Lehrmeister im industriellen Betrieb.
Die Leistung des Lokomotivpersonals ist nicht bleibend sichtbar, nachprüfbar, sie
kann höchstens wahrend der Fahrt selbst beobachtet und beurteilt werden. Alle
anderen Kontrollversuche, die slch auf Berichte, Akten u. dgl. stützen wollen,
müssen versagen. Der Lokomotivführer, der aus dem Bahnhof hinausgefahren
ist, ist nahezu völlig jeder naheren Aufsicht und Kontrolle entzogen. Nur bei
gröberen UnregelmaOigkeiten hat seine vorgesetzte Dienststelle Veranlassung,
sich mit seinem Können oder Nichtkönnen zu befassen. Einen Zug von einem Bahn¬
hof zum andern bringen, kennzeichnet aber noch langst nicht einen guten Führer.
2. Der StraOenbahnführer erfahrt jetzt nach Berliner Muster eine elftagige
Ausbildung, dann kommt er sofort als selbstandiger Führer auf den Motorwagen.
Im groOstadtischen Betrieb gerat er nahezu taglich in alle überhaupt möglichen
Betriebslagen, auch in die nicht durchschnittlichen, so daD sein Verhalten unter
Umstanden in wenigen Stunden beobachtet und beurteilt werden kann. Sein
Stromverbrauch, der sich leicht genau messen laOt, ist ein guter MaOstab für
seine Fahrkunst. Beim Lokomotivführer dauert die Ausbildung, wie schon er-
wahnt, zwei bis drei Jahre. Lauft der Betrieb planmalJig ab, so kann die rich-
tige Führung der Maschine auch von einem schwach befahigten Führer geleistet
346
Glasel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbahn
werden. Schlüsse auf sein Verbatten in besonderen Betriebslagen waren auQerst
gewagt. Dort aber erst zeigt sich gerade der fahige Mann. Betriebliche Ge-
Fahrfalle lassen sich heute nicht künstlich schaffen. Oazu ware die schon er-
wahnte Versuchsbahn nötig. Diese gibt es aber noch nicht. Die wirtschaftliche
Seite der Fahrkunst, also Ersparnis an Kohlen, Ö1 und Wasser, tritt im Loko-
motivbetrieb ganz zurück. Zustand und Leistungsfahigkeit der Lokomotiven und
Güte der Kohlen sind zu verschieden und wechselnd, um hieraus irgendwelche
sicheren Beurteilungen ableiten zu können (von Einzelfallen abgesehen). Kon-
trolleinrichtungen für Öl- und Kohienverbrauch sind auf den Maschinen nicht
gebrauchlich.
Trotzdem ist es jetzt gelungen, die Frage von anderer Seite her in Angriff zu
nehmen und zu einem gewissen AbschluB zu bringen. Die Prüfstelle hat dazu
drei Wege beschritten.
a) Von etwa 100 mindestens ein Jahr selbstandig fahrenden Führern, die in
den ersten Jahren des Bestehens der Prüfstelle versuchswelse psychotechnisch
geprüft, aber noch nicht nach dem Prüfungsausfall eingestellt worden waren, sind
Anfang 1922 aus den Personalakten alle Anstande: Ermahnungen, Verwarnungen,
Geldstrafen, Unfalle u. dgl. zusammengestellt und mit dem Urteile der früheren
Eignungsprüfung verglichen worden. Die Personalakten sind nur eine sehr
dürftige Quelle für solche Angaben, zumal die verflossene Zeit noch recht kurz
war. Auch waren die Eignungsprüfungen in den Jahren 1917 und 1918 mehr
noch im Stadium der Versuche. Dennoch zeigte sich, daB diejenigen Leute, die
hauhger durch solche Anstande auFhelen, schon in der Eignungsprüfung hin-
sichtlich Aufmerksamkeit und Auffassungsgabe als schwach beurteilt worden
waren, und daB von den in der Eignungsprüfung als „gut“ bezeichneten Prüf-
lingen noch zwei Drittel, bei den als „ungeeignet” bezeichneten jedoch nur noch
ein Drittel keinerlei Anstande ergeben hatten. Der Versuch ist bis jetzt nicht
wiederholt worden. Er verspricht keinen gröBeren Erfolg.
b) Sommer 1922 und Sommer 1923 konnten je rund 50 Schlosser, die etwa
V 4 Jahr vorher durch die psychotechnische Prüfung zwecks Zulassung zur Lauf-
bahn als Lokomotivführer-Anwarter gegangen waren, nochmals in genau gleicher
Weise geprüft werden. Ihre Gruppierung in beiden Prüfungen ergab eine Rang-
platzkorrelation von p = 0,75 und eine mittlere Rangplatzverschiebung von m= 16%.
Bei dieser Untersuchung hat sich gezeigt, daB die Einstellung der Prüflinge
zur Prüfung das Ergebnis entscheidend beeinflussen kann. Wenn der Prüfling
nicht mit dem gleichen Ernst und Trieb an die zweite Prüfung herangeht, kann
er ein ganz anderes, scheinbares Bild seiner beruflichen Veranlagung ergeben.
Diese Vorbedingung bei beiden Prüfungen gleichzumachen, ist die gröBte
Schwierigkeit der ganzen Untersuchung, zugleich ein Hinweis darauf, daB die
Prüflinge erst dann ihre volle Leistungsfahigkeit offenbaren werden, wenn sie
mit dem BewuBtsein zu einer Prüfung kommen, daB von deren Ausfall wichtige
Entscheidungen für ihre Zukunft abhangen. Ihr EinfiuB drückt sich in einer ver-
GISsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbabn
347
haltnismaQig groDen Streuung aus, ohne daO dieser genauer abgegrenzt werden
könnte oder sich befriedigend ausschalten liefie. Diese Schwierigkeit möchte
bei der Bewertung der obigen Korrelation mit beachtet werden.
Diese Wiederholungsprüfungen gestatteten zugleich, ein zahlenmaOiges Bild
über den EinfluO der Wiederholung auf die Prüfleistungen zu gewinnen. Ab-
bildung 3 gibt die als Ausgleichslinie ermittelte „Hebungskurve", d. h. einen
ungefahren Anhalt für das MaB, um das sich die Leistung eines Prüfllngs nur
durch die Wiederholung der Arbeit bei der zweiten Prüfung heben sollte. Sie
wird benutzt, um in besonderen Pallen (Wiederholungspriifung an einzelnen
Leuten, Gutachten über fertig ausgebildete Anwarter) den EinfluB der auBeren
Umstande und der dienstlichen Verhaltnisse des Prüflings mit zu überschlagen.
Der EinfluB der Wiederholung der Prüfung auf die Leistung einer bestimmten
Gruppe von Bewerbern laBt sich noch anders darstellen. Bildet man nach den
Leistungen bei der ersten Prüfung eine Rangreihe, so entspricht jedem Rangplatz
eine gewisse Leistung. Tut man dasselbe für die zweite Prüfung, wobei jetzt
jeder Rangplatz im allgemeinen von einem anderen Prüfling eingenommen sein
wird, und vergleicht man dann jeweils die auf jeden Rangplatz fallenden Lei¬
stungen miteinander, so zeigt sich für alle Rangplatze eine nahezu gleiche Hebung
der Leistung bei der zweiten Prüfung von 8,4 %. In bildlicher Darstellung der
beiden Leistungswerte über jedem Rangplatz ergabe das zwei fast gleichlaufende
Linien im Abstande von %. Das bedeutet: Die Übung durch die erste
Prüfung erleichtert die zweite Prüfung und verbessert den Gesamtausfall, so daB
man sagen könnte, die Prüflinge stellen bei der zweiten Prüfung eine besser be-
fahigte Gruppe von Menschen dar als die der ersten Prüfung. Der Unterschied be-
tragt im Durchschnitt 8,4%, nur verteilt er sich in Wirklichkeit nach Abbildung 3.
c) Der unmittelbare Vergleich mit dem Urteile der Praxis ist auf folgendem
Wege versucht worden, den ein giücklicher Zufall ermöglichte, leider nur gerade
jetzt und dies eine Mal. In der praktischen Ausblldung befanden sich Früh-
348
GISsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbahn
Erfolgskonlrolle-Prüfungen an 182 Lokf.-Anwdri-.
jahr 1923 nahezu 200 Lokomotivführer-Anwarter, die vor 1922 ohne Eignungs-
prüfung dazu ernannt worden waren. Diese sind im Mai und Juni dieses Jahres
nachtraglich geprüft worden. Von ihren Lehrführern wurden nach einem ein-
heitlichen Plane schriftliche Beurteilungen über ihre berufliche Veranlagung ein-
gefordert. Im ganzen sind 182 Mann erfaCt worden. ^ Nach dem Ergebnis der
Eignungsprüfung und nach den
Lehrführergutachten sind sie
dann gruppiert und die beiden
Reihen miteinander verglichen
worden. Abbildung 4 zeigt die
Gegenüberstellung schematisch.
Jeder Strich stellt einen An-
warier dar und verbindet seinen
Platz in beiden Rangreihen. Eine
feinere Stufung der Lehrführer¬
gutachten ist nicht gut möglich.
Die Einstufung der einzelnen
Anwarter liegt zum Teil im Er-
messen und Gefühl des Bearbei-
ters. Die Lehrführergutachten
sind trotz aller Vorsorge und
Mühe für eine sachliche und
gleichmaOige Urteilsabgabe mit
allen Einflüssen persönlicher,
politischer, gewerkschaftlicher,
dlenstlicher Art usw., behaftet
und demgemaO vorsichtig zu be-
werten. Was Moede kürzlich In
der „Praktischen Psychologie"
über den Fragebogen ausgeführt
hat, gilt sinngemaQ auch hier.
Immerhin zeigt sich deutlich,
erstens, daO der Lehrführer aus
Vorsicht und ais Mensch geneigt ist, zu gut zu urteilen, und zweitens, daQ
von den 100 Mann mit mindestens 50 % Leistung in der Eignungsprüfung
keiner vom Lehrführer schlecht beurteilt wird, sich die psychotechnisch Aus-
gewahlten in der Praxis also bewahrt haben würden. Und das dürfte der
Kern der ganzen Untersuchung sein, da die Dresdner Eignungsprüfungen dank
genügenden Angebotes an Nachwuchs noch „Auswahiprüfungen der Besseren"
sein können. Die Übereinstimmung der schwacheren Gruppen nimmt
zwar wesentlich ab, doch spricht die Verschiebung zugunsten der Eignungs¬
prüfung.
Abbildung 4
GI3sel, Von der Dresdner PrQfetelle der Reicbsbahn
349
Die rechnerische Bearbeitung der Gegenüberstellung muGte von der Gruppen-
bildung der Lehrführergutachten ausgehen und konnte nur Gruppenplatze zu-
grunde legen.
a) Eine Berechnung nach W. Wirth ergab einen Rang-Korrelations-Koeffizienten
p = 0,587 bei einem milderen Fehler iv, — 0,0318 (vgl. hierzu untenstehend).
b) Der mildere Fehler aus den Gruppenplalzverschiebungen im Verhallnis
zum möglichen maximalen Wen der Gruppenabweichungen, berechnel als
miiderer Fehler von Wenen gleicher Genauigkeil nach der Meihode der
kleinsien Quadrale, ergab im Gesamivergleich aller sieben Gruppen
m=l,34 bei mmfl* = 4,12,
was einer Obereinsdmmung von 67% enlsprichl.
Erslrecki man diese Berechnung nur über die vier. obersien Gruppen (100
bis 50% Leislung), so sielli sich die Übereinslimmung auf 80,3%.
c) Die einfache Gruppenplaizverschiebung, die im GröOifalle vier Gruppen
beiragl, belaufl sich bei den sieben vorhandenen Gruppen
auf 13,1 %.
Das Wesendiche der Unlersuchung bleibl aber doch der Nachweis, wie die
in der Eignungsprüfung als .gul" bezeichneien und danach eingesielllen An-
warier sich im praklischen Diensie bewahren, wie groO also die Obereinsdmmung
der beiden Beurieilungen für die oberen Gruppen isi. GröDere Abweichungen
bei den unieren Gruppen sind daher weniger von Belang, zumal sie zugunsien
der Eignungsprüfung liegen, so daQ auch der unier a) berechneie Wen nichl als
bedenklich zu wenen isl.
Von den 100 Mann der vier obersien Gruppen (100—50% Leislung) werden
nur sechs Mann von den Lehrführern schlechler beurieili als in der Eignungs¬
prüfung, und auch nur in geringem MaOe, ergeben also keine ganz befriedigende
Übereinslimmung. Bei der Gruppe .Genügend" (Leislung 50—35%) beiragl die
volle Obereinsdmmung beider Beurieilungen nur 28%, der Lehrführer urleili
in 68% aller Falie besser und nur in 4% aller Falie schlechler. Bei den
schlechten Bewerbern wird die Obereinsdmmung noch geringer.
Der Zweck der Dresdner Eignungsprüfungen, die befahiglen Bewerber heraus-
zufinden, dürfle hiernach als erfülll angesehen werden können und damii zugleich
der Nachweis erbrachl sein, daQ das Dresdner Prüfverfahren geeignel erscheini,
die berufliche Veranlagung von Lokomoiivpersonal mil hinreichender Sicherheii
feslzuslelien.
Die Einzelguiachlen haben bis auf einen Fall zur Ablehnung der Geprüfien
geführl, so daQ eine weiiere Verfolgung der diensdichen Laufbahn dieser Leule
nichl möglich gewesen isl.
Über eine Erfolgskonirolle für die Heizerprüfungen vgl. Abschniii Vlll: Heizer-
prüfungen, leizier Absatz.
350
Glasel, Von der Oresdner Prüfstelle der Reichsbahn
VllI. Helzerprüfungen
lm Juni dieses Jahres sind zum erstenmal Eignungsprüfungen für Lokomotiv-
heizer abgehalten worden. Sie nahmen dadurch eine besondere Stellung ein,
als bei den Prüflingen sehr starke Unterschiede im Alter, in der beruflichen
Vorbjldung und in der Einstellung zur Prüfung bestanden. Die Bewerber sind
Lokomotivheizer mit mindestens zehnjahriger praktischer Tatigkeit im Fahrdienst,
stehen im Alter von 34 bis 61 Jahren und haben die Absicht, in die Führer-
laufbahn überzutreten. Sie besitzen ausnahmslos keine Vorbildung als Schlosser,
eine ganze Anzahl sind aber gelernte Handwerker anderer Fachrichtung.
Die Priifungen haben zunachst 100 Mann erfaCt. Das Prüfverfahren war das
gleiche wie bei den jungen Anwartern, auch wurden die gleichen Anforderungen an
die Prüflinge gestellt. Nach den bisherigen Feststellungen bleiben die Leistungen
der Heizer betrachtlich hinter denen der jungen Anwarter von 20—24 Jahren
zurück, so daO der EinfluB des Alters unverkennbar ist. Da aber zur Zeit weitere
40 Heizer in Arbeit sind und die bereits vorliegenden Untersuchungen über
diesen Punkt mit den neuesten Prüfwerten weiter gestützt werden mochten, sollen
eingehendere Mitteilungen hierüber heute zurückgestellt werden.
Berufskundliche Untersuchung des Rangierdienstes
Von Regierungsbaurat Dr.-lng. Busse
D ie Zusammenstellung der Unfalle des Eisenbahnpersonals zeigt, daB die Zahl
der im Rangierdienste Getöteten und Verletzten bei weitem gröBer ist als
in den anderen Dienstzweigen. Wenn nun auch zweifellos viele Unfalle durch
Unvorsichtigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber der standigen Gefahr beim Arbeiten
zwischen den Wagen und hauBgem Überschreiten der Gleise sowle durch Ent-
gleisungen usw. herbeigeführt sind, so ist doch auch hauhg der Mangel an be-
stimmten Fahigkeiten und Eigenschaften (z. B. Körpergewandtheit, EntschluBfahig-
keit, Konzentrationsfahigkeit) die ürsache von Unfailen. Diese lieBen sich aber
durch entsprechende Auswahl mittels einer Eignungsprüfung vermeiden. Die
Auswahl ist aber auch wichtig für die reibungslose und sichere Durchführung
des schwierigen Betriebes auf groBen Bahnhöfen. Dort muB jeder Rangierer
nach kurzer Einarbeitung rasch und zielbewuBt arbeiten, um nicht den auf die
Minute eingestellten Betrieb aufzuhalten. Rangierer, die nicht allen Anforde¬
rungen genügen, überlasten die anderen, hindern den Betrieb und bilden eine
stiindige Gefahr.
Die im folgenden wiedergegebenen Ergebnisse einer berufskundlichen Unter¬
suchung des Rangierdienstes sind aus eigenen Beobachtungen hergeleitet und
sollen als Grondlage für die Ausarbeitung einer Eignungsprüfung für Rangierer
dienen. Die Untersuchung beschrankte sich auf den Betrieb gröBerer Bahnhöfe,
da für die einfacheren Betriebsverhaltnisse kleinerer und mlttlerer Bahnhöfe eine
Eignungsprüfung zunachst entbehrt werden kann.
Busse, Berufskundliche Untersuchung des Rangierdienstes
351
Der Dienst des Rangierers umfaOt im wesentlichen folgende Arbeiten, wobei
der Begriif des Rangierens wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt werden kann:
a) Bremsschuhlegen in den Rangiergleisen
Zum Aufhalten der heranrollenden Wagen wird je nach ihrer Laufgeschwindig-
keit und Beladung in verschiedenen Entfernungen vor der Stelle, an der der
Wagen zum Stehen kommen soll, ein eiserner Bremsschuh auf die Fahrflache
einer Schiene des Gleises gelegt. Das vordere Wagenrad wird beim Auflaufen
auf den Bremsschuh festgehalten und die lebendige Kraft des sich zunachst
weiterbewegenden Wagens durch die gleitende Reibung zwischen Schiene und
belastetem Bremsschuh allmahlich bis zum Stillstand des Wagens aufgezehrt.
Der Schuh muO rasch und in einer ganz bestimmten Lage auf die Schiene ge¬
legt werden, damit er nicht von dem anrollenden Wagen beiseite gestoOen wird
und der Wagen ungebremst weiterlauft. Ebenso darf der Wagen nicht durch
faische Wahl der Bremsstrecke zu früh oder zu spat gebremst werden, weil er
sonst vorzeitig stehen bleibt oder auf andere Wagen aufprajlt. Jeder Brems-
schuhleger hat vier bis fünf Gleise auf den Zulauf von Wagen zu beobachten.
b) Bedienen der Gleisbremse am Ablaufberg
Auf Verschiebebahnhöfen verwendet man zur Ersparung von Lokomotivkraft
beim AbstoOen und Hin- und Herbewegen der Wagen schiefe Ebenen (Ablauf-
berge), von denen die Wagen eines ganzen Zuges unter gleichmaOigem Druck
einer Lokomotive nacheinander frei herunterlaufen. Je nach ihrer Beladung,
dem zurückzulegenden Wege, den Witterungsverhaltnissen (Gegenwind, Rücken-
wind. Eis usw.) wird dann ihre anfangliche Laufgeschwindigkeit am FuOe des
Ablaufberges durch eine Gleisbremse geregelt. Dies geschieht durch Auflegen
eines Bremsschuhes — wie oben geschildert —, der jedoch durch eine besondere
Vorrichtung jedesmal an einer bestimmten Stelle des Gleises zur Seite gleitet
und das Rad vor dem völligen Stillstand des Wagens freigibt. Der Grad der
Abbremsung wird von dem Rangierer durch Bemessung der Entfernung zwischen
Auflage- und Abgleitpunkt des Bremsschuhes bestimmt. Der Rangierer hat ferner
darauf zu achten, wie weit die Rangiergleise bereits besetzt sind, und dies bei
der Abbremsung zu berücksichtigen.
c) An- und Abkuppeln von Wagen
Das Ankuppeln erfolgt nach dem Hineinkriechen in den Raum zwischen den
Wagenstirnwanden durch Überwerfen der herunterhangenden Kuppelung des
einen Wagens auf den Kuppelhaken des anderen. Das Abkuppeln geschieht
durch Hochheben der Kuppelung. An den Ablaufbergen bedient man sich meist
zum Abkuppeln einer Entkuppelungsgabel, wobei das gefahrliche Arbeiten zwischen
den Wagenwanden fortfallt. Sle besteht aus einer langen, am Ende gabelförmigen
Eisenstange, die von der Seite zwischen Kuppelung und Kuppelhaken gestoCen
352
Busse, Berufskundliche Untersucbung des Rangierdienstes
wird, worauf durch rasche Drehung der Gabel die Kuppelung herunterfallt. Da
dies meist wahrend der Bewegung des Zuges über den AblauFberg geschieht, ist
besondere Geschicklichkeit erforderlich.
d) Teilen der ankommenden Züge nach den für ihre Neubildung
vorgesehenen Gruppen
Der abkuppelnde Rangierer muO aus den Bezettelungen der Wagen die Emp-
fangsstation ablesen und rasch entscheiden, zu welcher neuen Gruppe und in
welches Rangiergleis der Wagen gehort. Er muQ also genau im Gedachtnis
haben, wenn er sich z. B. in Halle befindet, daO ein von Berlin kommender nach
Suhl i. Th. bestimmter Wagen zur Gruppe Neudietendorf gehort und nach Gleis 14
lauFen muD. In das gleiche Gleis laufende Wagen, die zwar nach verschiedenen
Empfangsstationen bestimmt sind, aber zu derselben Gruppe gehören und hinter-
einander stehen, darf er nicht entkuppeln, da sie zur Zeitersparnis zusammen
ablaufen. Der Rangierer muO ferner beim AblauFen der Wagen dem Stellwerk
jedesmal die betreffende Gleisnummer übermittein, damit der entsprechende
Fahrweg eingestellt wird.
e) Begleiten von Rangierabteilungen
Die Rangierer müssen auch hautig Wagengruppen begleiten, hierbei auf sich
bewegende Fahrzeuge aufspringen oder von ihnen abspringen und standig darauf
achten, ob der Weg für ihre Abteilung richtig eingestellt und Frei ist oder sich
andere Abteilungen nahem.
F) Abgabe und Beachtung optischer und akustischer Signale
Wahrend der Rangierarbeiten haben sich die Rangierer mit dem Lokomotiv-
führer und den Weichenstellern durch Signale zu verstandigen, die aus einem
oder mehreren verschieden langen Horn- oder Pfeifentönen bestehen, zu denen
gleichzeitig bei Tage mit dem Arm, bei Nacht mit der Laterne genau vor-
geschriebene, sichtbare Signale gegeben werden müssen. Von der rechtzeitigen,
deutlichen Abgabe, Weitergabe und Beachtung dieser Signale hangt die Betriebs-
sicherheit hauptsachlich ab.
g) Leitung von Rangiftbewegungen
Jeder anstellige Rangierer kann nach entsprechender Ausbildung zur Leitung
von Rangierbewegungen herangezogen werden. Er erhalt dann vom Rangier-
meister haufig mehrere verschiedene Gleis- und Zugnummern enthaltende Auf-
trage, die er selbstandig erledigen und nicht miteinander verwechsein darf.
Hierzu muO er den oft recht verwickelten Bahnhofsplan beherrschen, urn bei
Überfüllung des BahnhoFs oder Sperrung von Gleisen und Weichen durch Un-
falle rasch seine Abteilung auch auf Umwegen an die richtige Stelle zu bringen.
Da es Ziel jedes Rangierers ist, einmal solchen Posten zu erhalten und das Vor-
Busse, Berufskundlicbe Untersuchung des Rangierdienstes
353
handensein der hierzu nötigen Fahigkeiten allein die von jedem Rangierer zu
fordernde Umsicht verbürgt, muQ die Eignungsprüfung beim Eintritt auch hierauf
ausgedehnt werden.
Die Zergliederung obengenannter Aufgaben des Rangierers an dieser Stelle
würde zu weit führen. Es soll daher nur das Endergebnis der Untersuchung in
Form einer Tafel der erforderlichen Fahigkeiten mit einigen Erlauterungen mit-
geteilt werden.
Tafel der erforderlichen F&hlgkelten
1 . Fahigkeit, Geschwindigkeit und Wucht von Fahrzeugen zu be¬
urteilen und zwar sowohl bei Fahrzeugen, die sich auf den Rangierer
zu- oder von ihm wegbewegen, als auch bei solchen, auf denen er sich
befindet (vgl. a, b und e).
2 . Fahigkeit, bei gegebenen Verhaltnissen den voraussichtlichen
Bremsweg abzuschatzen und hieraus rasch die jeweils nötige Ent-
fernung zwischen dem Auflagepunkt des Bremsschuhes und dem Haite-
punkt des Wagens bzw. Abgieitpunkt des Bremsschuhes zu bestimmen oder
hiernach rechtzeitig Signale abzugeben (vgl. a, b und f).
3. Gutes Sehvermögen (Sehscharfe, GesichtsfeldgröQe und Farbenunter-
scheidungsvermögen). Die Beobachtung vieler langer Gleise und der je
nach Stellung der Weiche verschiedene Zeichen zeigenden Weichenlaternen
erfordert gute Sehscharfe und GesichtsfeldgröQe. Das gleiche gilt für das
Auffassen von Signalen aller Art, wobei jedoch noch das Farbenunter-
scheidungsvermögen (besonders Rot - Grün) von Wichtigkeit ist (vgl. b, e und f).
4. Sehfahigkeit bei geringer und rasch wechselnder Helligkeit. Bei
Nacht tritt der Rangierer oft aus der grellen Beleuchtung elektrischer Lampen
oder Scheinwerfer der Lokomotiven in das Dunkle und umgekehrt. Bei
langsamer Anpassung an den Lichtwechsel kann er nahende Fahrzeuge
leicht übersehen und zu Schaden kommen. Menschen mit langsamer An-
passungsfahigkeit sind daher auszuschlieQen.
5. Gutes Hörvermögen. Oft kann das Heranrollen von Fahrzeugen, die
von anderen verdeckt sind, nur durch das Gehör wahrgenommen werden.
Ebenso bedarf es eines guten Gehörs, um bei Sturm oder gröOerer Ent-
fernung akustische Signale (Pfeife oder Horn) richtig zu verstehen (vgl.
a, e und f).
6 . Raumrichtungsauffassung. Der Rangierer muO, um sich vom Rücken
oder von der Seite nahernde Fahrzeuge rechtzeitig wahrnehmen zu können,
neben gutem Gehör auch über gute Raumrichtungsauffassung verfügen.
Dasselbe ist notwendig für die Aufnahme akustischer Signale, um die rich-
tigen von solchen anderer auf dem Bahnhof arbeitender Rangierabteilungen
sicher unterscheiden zu können (vgl. e, f und g).
P. P. IV, II.
24
354
Busse, Berufskundliche Untersuchung des Rangierdienstes
7. Aufmerksamkeit in Dauerleistung. Der Dienst des Rangierers er-
fordert angestrengte Aufmerksamkeit, da jede Ablenkung die Ursache von
ünfallen oder Betriebsstörungen bilden kann. Menschen mit mangelhafter
Konzentrationsfahigkeit sind daher ungeeignet.
8 . Verteilung der Aufmerksamkeit. Die vorstehend geforderte Aufmerk¬
samkeit muO sich aber auch hauiig auf mehrere Punkte erstrecken zur
gleichzeitigen Beobachtung mebrerer VorgSnge, z. B. am Ablaufberg, wo
der Rangierer nicht nur die herablaufenden Wagen, sondern auch die für
die Aufnahme dieser Wagen bestimmten Rangiergleise zu beobachten hat,
urn bei starker besetzten Gleisen die Wagen entsprechend abzubremsen
oder bei den haufiger vorkommenden Entgleisungen den weiteren Wagen-
zulauf rasch abzustoppen.
9. Geschicklichkeit (Treff- und Griffsicherheit). Beim Auflegen der Brems-
schuhe, beim Gebrauch der Entkuppelungsgabel und beim Überwerfen der
Kuppelung ist eine besondere Treff- und Griffsicherheit erforderlich (vgl.
a, b und c).
10. Körperliche Gewandtheit. Nur körperlich gewandte Menschen können
ohne Gefahr Bremsschuhe dicht vor dem rollenden Wagen auflegen, auf
sich bewegende Fahrzeuge aufspringen oder von ihnen abspringen und
unter den Wagen hindurchkriechen (vgl. a, b, c und e).
11 . Körperkraft und Ausdauer sowie geringe Ermüdbarkelt. Schwach-
liche und leicht ermüdbare Menschen sind den körperlichen Anstrengungen
des Rangierdienstes bei jeder Witterung nicht gewachsen und daher aus-
zuschlieflen.
12 . Geringe Erregbarkeit und Schreckhaftigkeit auch in Gefahr-
situationen. Leicht erregbare oder schreckhafte Menschen müssen vom
Rangierdienst ferngehalten werden, da sie sonst bei ZusammenstöOen, Ent¬
gleisungen oder auch nur gefahrdrohenden Situationen versagen und so
sich und andere, sowie den ganzen Betrieb gefahrden.
13. EntschluOfahigkeit. Jeder Rangierer braucht ein hohes MaQ von Ent-
schluDfahigkeit, um an seinem Posten jederzeit selbstandig handeln zu
können, wenn es gilt, durch geeignete rasche MaOnahmen Gefahren ab-
zuwenden, wie sie durch Flankenfahrten, Entgleisungen, falsche Weichen-
stellung oder dergleichen taglich auftreten. Auch das Auflegen der Brems¬
schuhe und die Abgabe von Signalen im richtigen Augenblick erfordern
EntschluOfahigkeit (vgl. a, b, e, f und g).
14. Gute Auffassungsgabe. Der Rangierer muO sich rasch in die Betriebs-
verhalcnisse seines Bahnhofs einarbeiten und alle gegebenen Signale schneli
in ihrer Bedeutung erfassen, um danach handeln zu können (vgl. d, f und g).
15. Kombinationsfahigkeit. Die Wagen tragen haufig unvollstandige oder
unleserlich gewordene Anschriften, aus denen sich z. B. der den ein-
gelaufenen Zug abkuppelnde Rangierer oft das Richtige erst erganzen muO.
Busse, Berufskundlicbe Untersuchung des Rangierdienstes
355
Ebenso ist bei der Leitung von Rangierbewegungen der richtige EntschluO
haufig nur unter Berücksichtigung verschiedener Tatsachen und Möglich-
keiten zu fassen (vgl. d und g).
16. Gutes Gedachtnis für die Zuordnung mehrerer Ortsnamen zu
einer Gruppe oder zu einem bestimmten Gleis. Urn den Gleisplan
beherrschen zu können, muC derRangierer die Gleisgruppen, Gleisnummern
und die Bestimmung der Gleise genau kennen (vgl. d und g).
17. Gute Merkfahigkeit für mehrere Auftrage und rasches Ablegen
nach Erledigung (vgl. g).
Auf Grund dieser berufskundlichen Untersuchung und der Tafel der erforder-
lichen Fahigkeiten ist ein Programm der Eignungsprüfung und eine Anzahl von
Versuchen und Vorrichtungen ausgearbeitet worden, deren VeröfFentlichung aber
vorlauhg noch nicht erfolgen kann, da die neue Eignungsprüfung erst erprobt
und auf Grund der Versuchsergebnisse weiter ausgebaut werden soll.
Individuelle Beobachtung bei Eignungsprüfungen
und Erfolgskontrollen
Von Regierungsbaurat Karl Wildbrett
Psychotechniscbes Laboratorium der Reicbsbahndirektion MQncben
Z U den Grundforderungen der psychotechnischen Eignungsprüfverfahren ge¬
hort Objektivitat des Urteils. Sie wird erreicht durch genaue Vorschrift
für den ganzen Hergang der Prüfung einschlieOlich der Erklarung für den Prüf-
ling, durch vollkommene Festlegung der LeistungsmaBstabe und durch Voraus-
bestimmung der Urteile für jeden Leistungsgrad. Bei strenger Durchführung
dieser Grundsatze wickeit sich die gesamte Prüfhandlung und Urteilsbildung in
gewissem Sinne mechanisch ab. Die Mechanisierung der Prüfung ist unver-
meidlich, wenn, wie z. B. bei der Reichsbahn, Gewahr bestehen soll, daO an
zahlreichen, örtlich getrennten Stellen durch notwendigerweise verschiedene
Personen einheitlich verfahren wird; sie kann aber auch für einen einzelnen ge-
schlossenen Betrieb zweckmaBig sein, urn unwillkürliche Störungen der Gleich-
maBigkeit zu verhüten. Abgesehen davon, daB dieser Mechanismus zur Unter¬
suchung von Individuen seibstverstandlich viel zu empHndlich ist, als daB er
von jedermann ohne weiteres in Gang gesetzt und gehandhabt werden könnte,
muB man sich stets vor Augen halten, daB man es bei den Eignungsprüfungen
nicht mit einer toten, gesetzmaBig gebildeten Masse, sondern mit dem unendlich
mannigfaltigen Menschen zu tun hat. Zwar können wir durch bestimmte Proben
zu einem bestimmten Zeitpunkt das Vorhandensein gewisser Eigenschaften und
Fahigkeiten feststellen. Für den ersten Zweck der Eignungsprüfung, namlich von
einem Arbeitszweige zweifellos ungeeignete Bewerber im voraus fernzuhalten,
genügt das. Denn eine überangstliche Berücksichtigung aller etwa möglichen
24*
356 Wildbrett, Individuelle Beobacbtung bei Eignungsprüfungen und ErfolgskontroIIen
Beeintrachtigungen der Prüfleistungen kann hier ebensowenig in Frage kommen
wie bei irgendwelchen anderen Prüfungen, welche über die Zukunft der Kandi¬
daten entscheiden; „hic Rhodus, sic salta" muO eben auch hier geiten. lm weiteren
Verfolge der Eignungsprüfergebnisse ist dagegen stets zu bedenken, daO die
untersuchten Gebiete nur ein Teil des Gesamtmenschen sind und daQ die übrigen
Komponenten sowohl seine Verfassung im Augenblick der Prüfung als auch sein
künftiges Verhalten wesentlich beeinhussen. Da aber diese Komponenten zum
groOen Teil dem Experiment überhaupt nicht oder wenigstens praktisch nicht
zuganglich sind, so müssen sie durch eine nebenher laufende individuelle Be-
obachtung und Beurteilung ergründet werden.
Bei der Eignungsprüfung selbst bezweckt diese individuelle Beobacbtung zu-
nachst, die Arbeitsbedingungen bei allen Prüflingen nach Möglichkeit gleichzu-
machen, indem MiOverstandnisse und Abschweifungen beseitigt, Unredlichkeiten
verhindert, schüchterne und angstliche Gemüter ermutigt werden. Insbesondere
kann bei auffalligen Leistungen sofort den vermutlichen Ursachen nachgegangen
werden, wozu spater keine Gelegenheit mehr ist. Man findet z. B. immer wieder
Leute, die trotz der eingangs gestellten Fragen über Wohlbehnden, Krankheiten,
aufregende Ereignisse in der Familie usw., Umstande, welche ihre Leistungs-
fahigkeit beeintrachtigen können, aus Ehrgeiz, Scheu oder sonstigen Gründen
verheimlichen. So konnte von einem Lehrlingsbewerber, der bei sehr schlechten
Leistungen durch besondere Stille und Verschlossenheit auffiel, nur mit Mühe
und nach langem Zureden herausgebracht werden, daO er durch den zwei Tage
vorher erfolgten Tod des Kindes seiner Schwester stark angegriffen wurde.
Wahrend bei so erheblicher Beeintrachtigung der LeistungsFahigkeit Aussetzung
der Prüfung geboten ist, liefern die übrigen angedeuteten Erscheinungen schon
wertvolle Beitrage zur Charakteristik der Prüflinge. Die Beobacbtung soll aber
nicht bei diesen sinnfalligen Merkmalen stehen bleiben, sondern ein tunlichst
umfassendes Bild des Charakters und der Arbeitsweise der Prüflinge anstreben.
Dadurch wird sie der Ausgangspunkt für die Erfolgskontrolle.
Die Bewahrung einer Eignungsprüfung kann ja auf dreierlei Weise untersucht
werden: durch wiederholte Eignungsprüfungen, durch die tatsachliche Arbeits-
leistung oder durch Vorgesetztenurteile. Nun geben Prüfungen und Probearbeiten,
welche nicht über das Fortkommen entscheiden, gerne ein entstelltes Bild von
der wahren LeistungsFahigkeit, weil Höchstleistungen im allgemeinen nun einmal
nur unter dem Druck drohender Gefahr (im weitesten Sinne) zu erreichen sind.
Auch die tatsachliche Arbeitsleistung ist zum groOen Teil eine Funktion von
mannigfachen auDeren Umstanden, wie z. B. von der Organisation des Betriebes,
von der Güte des Werkzeugs und Materials, bei Führerberufen von Witterung,
zufalliger Belastung usw., so daO eine absolute Vergleichsbasis meist schwer zu
hnden ist. Gelegentliche Urteile von Vorgesetzten und Lehrmeistern hangen sowohl
von der Selbstkritik und dem Charakter des Urteilenden als auch von seinem
augenblicklichen Gemütszustand ab und stehen im allgemeinen unter dem Eindruck
Wildbrett, Individuelle Beobachtung bei EignungsprQfungen und Erfolgskontrollen 357
der allerletzten Zeitspanne, vielleicht sogar eines unmittelbar vorangegangenen
Ereignisses. Trotz derünzulanglichkeiten ist man auf diese Wege der Bewahrungs-
kontrolle angewiesen. Es gilt also, sie nach Möglichkeit zu verbessern. Dazu
kann in erster Linie die individuelle Beobachtung beitragen, vorausgesetzt, daG
sie nach bestimmten Richtlinien erfolgt. Gelingt dies, so erlangt nicht nur die
Methode der Vorgesetztenurteile bedeutend mehr Zuverlassigkeit und Wert,sondern
wird gleichzeitig reichliches Material gewonnen, welches in die augenscheinlichen
Widersprüche zwischen Eignungsprüfung und Bewahrung hineinleuchtet.
Das ist aber der Kernpunkt der Erfolgskontrolle: Aufklarung der Ursachen,
welche die Widersprüche zeitigen können; denn allein auf der Kenntnis dieser
Ursachen kann die Vervollkommnung der Prüfverfahren aufgebaut werden, und
die Ursachen wiederum können, da sie in dem nicht experimenten erfaBten Teil
des menschlichen Ich liegen, nur durch individuelle Beobachtung ergründet
werden.
Es fragt sich nun, wie die individuelle Beobachtung anzustellen ist, um als
Kontrolle fiir die Eignungsprüfung zu taugen.
Die erste Forderung ist Normung des Urteils nach den zwei Richtungen:
a) Beobachtungsgebiete,
b) UrteilsmaDstab.
Die Vorgabe der Beobachtungsgebiete ist nötig einerseits, um das Urteil um-
fassend zu erhalten, andererseits um den urteiienden Personen die analysierende
Gedankenarbeit möglichst zu vereinfachen. LaGt man dem Urteil freien Lauf,
so ergeht es sich meistens auf Gemeinplatzen. Das ist natürlich, wenn man be¬
denkt, welche Leute im allgemeinen Urteil zu geben haben. Es müssen natürlich
Personen sein, welche mit den zu Beurteilenden in standiger unmittelbarer
Fühiung stehen, das sind also bei Lehrlingen die Lehrmeister und Lehrgeseilen,
bei alteren Dienstanfangern vielfach verhaltnismaGig wenig Höherstehende, so daG
an Vorbildung gewöhnlich nicht mehr als Volksschule und Fachschule angenommen
werden kann. Diesen Personen fehlt daher auf dem Geblete, das hier in Frage
steht, zum mindesten der Sprachschatz, wenn nicht überhaupt das scharfe Ana-
lysierungsvermögen, um aus sich heraus ein charakteristisches Urteil zu bilden.
Wird ihnen dagegen gewissermaBen eine Anzahl von Kastchen (für die ver-
schiedenen Beobachtungsgebiete) in die Hand gegeben und gleichzeitig das
symptomatische Merkmal für jedes Kastchen gezeigt, so haben sie schlieGlich
nur die einzelnen Bepbachtungsgegenstande, in unserem Falie Prüflinge, Lehr-
linge oder Dienstanfanger einzuordnen. Diese Tatigkeit ist erheblich einfacher
und kann schon nach einiger Übung befriedigend ausgeübt werden, vorausgesetzt,
daG die betreffende Person überhaupt zu einer Urteilsabgabe und damit zum
Lehrmeister befahigt ist.
Natürlich muB auch der MaBstab für die^Urteile gegeben werden. Wenngleich
der subjektive Einschlag des persönlichen Gradmessers damit nicht ganz aus-
geschaltet ist, so wird der Urteilende doch von selbstherrlicher Einschatzung
358 Wildbrett, Indivlduelle Beobachtung bei Eignungspi üfungen und Erfolgskontrollen
abgelenkt und kann altmahlich durch Übung und Scharfung der Kritik auf eine
feste einheitliche Bahn geführt werden.
Bei der praktischen Ausführung der Urteilsnormung ist nun möglichste Be-
schrankung und Einfachheit anzustreben, damit ihre Handhabung auch wirklich
eine wiilkommene Erleichterung bedeutet und nicht wegen Umstandlichkeit oder
Schwierigkeit als Arbeitsmehrung gescheut wird.
Bei meinem ersten Versuche anlaOIich Lehrlingsprüfungen beschrankte icb
mich darauf, den Prüfhelfern die wichtigsten Gesichtspunkte für eine erganzende
Beurteilung zu erzahlen; dabei erhielt ich nur allgemeine, wenig brauchbare An-
gaben. Ich ging dann dazu über, einen Merkzettel mit folgenden Leitpunkten
auszuhandigen:
1 . Körperliche Beschaffenheit; kraftig — schwach — unterernahrt
reinlich —unsauber
aufmerksam — zerstreut
leicht —schwer begreifend
ehrlich — unaufrichtig
ehrgeizig — gleichgültig
gewissenhaft — oberflachlich
gewandt — ungeschickt — umstandlich
sicher —unsicher
schnell —langsam
frisch —langweilig verschüchtert
ruhig — aufgeregt.
Daraus waren die passenden Urteile zu entnehmen und in die Fehlerlisten
als Bemerkung einzutragen; das Ergebnis war bereits erheblich besser, wenngleich
die Neigung zu gut zu urteilen nicht zu verkennen war. Nachdem auch bei
Bewahrungskontrollen ahnliche Beobachtungen gemacht wurden, wird nun für
Lehrlinge und Handwerker folgendes Schema angewendet, welches für andere
Berufsgruppen leicht sinngemaO umgestaltet werden kann.
Die Beobachtungen erstrecken sich auf folgende Geblete; Aufmerksamkeit, Auf-
fassung, Gedachtnis, Beobachtungsgabe, Arbeitsgeschick, Sorgfalt, FleiO, Ordnungs-
sinn, Willenskraft, körperliche Ausdauer, Nervenruhe, Regsamkeit, Verhaiten gegen
Vorgesetzte, Verhaiten gegen Kameraden, Ehrlichkeit.
Bei Prüfungen wird, da dieser ganze Komplex eine zuweitgehende Verteilung
der Aufmerksamkeit verlangen und Ermüdung der Beobachter verursachen würde,
nur auf Aufmerksamkeit, Auffassung, Arbeitsgeschick, Sorgfalt, Ordnungssinn,
Nervenruhe, Regsamkeit und Ehrlichkeit geachtet.
Die Urteile werden in Form von Noten gegeben und zwar bedeutet: III = durch-
schnittlich, II ^ erheblich über dem Durchschnitt, IV — erheblich unter dem Durch-
schnitt; I und V werden nur verwendet, wenn zur Kennzeichnung auOerordentlicher
Verhaltnisse der Stufen II und IV nicht genügen. (Der im wesentlichen nur drei-
teilige WertmaCstab mit breiter Durchschnittszone entspricht der Tatsache, dafS
2 . Geistige Eigenschaften:
3. Sittliche Eigenschaften:
4. Arbeitsweise:
5. Auftreten:
Wildbrett, Individuelle Beobachtung bei Eignungsprüfungen und Erfolgskontrollen 359
Für Bewahrungskontrollen ausschlieOlich die Zahl der Ausfalle maOgebend ist,
welche auf diese Weise genügend charakterisiert werden können.)
Die zweite Forderung an die individuelle Beobachtung ist Stetigkeit. Fehlt
diese, so krankt die Beobachtung von vornherein an denselben Übeln wie das
gelegentliche Vorgesetztenurteil. Die individuelle Beobachtung hat daher bei der
Eignungsprüfung einzusetzen und wahrend der Lehrzeit, wenn es die Verhaltnisse
gestatten, auch darüber hinaus, ununterbrochen anzudauern. Auch hierbei ist
wiederum so zu verfahren, daO der Vollzug nicht lastig empfunden wird. Des-
halb wird grundsatzlich nur dann ein Urteil verzeichnet, wenn bei einem Prüf-
ling oder Lehrling eine auffallige Erscheinung beobachtet wird, wenn also ein
erhebliches Abweichen von dem nicht weiter vermerkten Durchschnitt voriiegt.
In solchem Falie hat der Urteilende sich über das Wesen der auffallenden Er¬
scheinung (das Kastchen, in welche sie einzuordnen ist) klar zu werden und
bei der einschlagigen Eigenschaft die entsprechende Note mit Tagesangabe in
eine Liste samtlicher Beobachtungspersonen einzutragen. Auf diese Weise ist
einerseits die Schreibarbeit auf ein KleinstmaO beschrfinkt, andererseits das Ge-
dachtnis des Lehrmeisters vom Merken besonderer Vorkommnisse entlastet.
Urn nun aber Übersehen und Versehen zu verhüten und gleichzeitig gewissen-
hafte Beobachtung allmahlich zu vertiefen, soll in regelmaOigen Zeitabschnitten,
z. B. alle Vierteljahre, einmal über alle Lehrlinge Rechenschaft abgegeben werden,
indem bei jedem einzelnen Lehrling samtlicheBeobachtungsgebiete durchgenommen
und dafür Notenurteile abgegeben werden.
Die gesamte Anordnung, welche noch kurze Hinweise zur sicheren Unter-
scheidung der einzelnen Eigenschaften und Fahigkeiten enthalt, wird den mit der
Beurteilung betrauten Personen in der Form von „Beobachtungsrichtlinien" in
die Hand gegeben.
Urn etwaigen MiOverstandnissen vorzubeugen, möchte ich am Schiusse be-
sonders darauf hinweisen, daQ diese subjektiven Beobachtungen in das für die
Einsteliung maSgebende, zahlenmaOige Ergebnis der Eignungsprüfungen nicht
einbezogen werden, sondern ausschlieOlich zur Erfolgskontrolle der Prüfverfahren
verwendet werden. Sie sollen auf diesem Wege die Sicherheit der psycho-
technischen Prüfaussagen erhöhen. Darüber hinaus können sie vielleicht in Be-
trieben, wo mit den ausgebildeten Lehrlingen besondere Arbeits- oder Vertrauens-
posten besetzt werden sollen, schatzbare Anhaltspunkte liefern.
Aufbau und Wirkungsweise von Zweihandprüfern
Von S. Einder, Psychotechnische Versuchsstelle der deutschen Reichsbahn, Berlin
Z welhandprüfer prüfen die Fahigkeit zur Zusammenarbeit beider Hande, d. h.
es sollen vom Prüfling mit beiden Handen gleichzeitig Bewegungen so aus-
geführt werden, daO die resultierende Bewegung eines Schreibstiftes einem ebenen
Linienzuge folgt. Der Schreibstift muQ also zwei Bewegungsfreiheiten haben.
300
Finder, AuFbau und Wirkungsweise von Zweihandprüfern
und es ist unzulassig, daD etwa eine Hand beide Freih'eiten ausnutzen kann und
die andere Scheinarbeit leistet.
Gute Erfolge bei einer sehr groOen Zahl von Versuchen zeigt der Moede-
sche Zweihandprüfer, der im wesentlichen dem Kreuzsupport einer Drehbank
gleicht (s. Praktische Psychologie 1919, Heft 3),
Trotz der Einfachheit der nachzuzeichnenden Figur ergeben sich groGe
Streuungen, so daG die DifFerenzierung der Ergebnisse selten Schwierigkeiten
macht. Die Bewertung erfolgt auf Grund subjektiver Schatzung der Fehler,
Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahnverwaltung versuchte nun
auf Anregung von Regierungsbaurat Dr. Busse, zu einer selbsttatigen objektiven
Fehlerermittelung zu gelangen. Der Vordruck wurde durch ein IV 2 mm breites
Kupferband ersetzt, auf welchem ein Metallstift an Stelle des Schreibstiftes gleiten
kann. Zu beiden Seiten dieses Bandes laufen parallel dazu je drei Messing-
streifen von 1 mm Breite, die gut gegeneinander isoliert sind. Jeder Metall-
streifen ist mit einem elektrischen Zahler verbunden. Auf den beiden Wellen
sind je eine Kontaktscheibe befestigt. Bei jeder vollen Kurbeldrehung wird der
Stromkreis zweimal unterbrochen. Jeder StromstoG, der durch das Gestell, den
Schreibstift und den berührten Metallstreifen geleitet wird, betatigt den zu-
gehörigen Zahler, so daG man die Zahl der Kurbeldrehungen bzw. die Milli¬
meter, die der Metallstift auf den einzelnen Streifen geführt wurde, ablesen kann.
Urn beurteilen zu können, in welchem Verhaltnis'die Angaben der Zahler zu
den subjektiv beurteilten Leistungen stehen, ist der Arm, an welchem der Metall¬
stift sitzt, verlangert und daran ein Schreibstift befestigt, der auf einem Blatt
Papier den Linienzug mitzeichnet. Die bi'sherigen Versuche zeigen, daG die
Zahlerangaben mit dem subjektiven Urteil meistens übereinstimmen. Natürlich
müssen für die einzelnen Metallbander je nach der Entfernung vom kupfernen
Mittelband Wertziffern eingeführt werden, deren GröGen aus den im Gange be-
hndlichen Untersuchungen ermittelt werden.
Leider sind die Herstellungskosten des Apparates so hohe, daG bei der Reichs¬
bahnverwaltung an eine Verwendung auGerhalb des Laboratoriums wegen der
groGen Zahl der Prüflinge nicht gedacht werden kann. Die Psychotechnische
Versuchsstelle der Reichsbahnverwaltung suchte daher einen einfacheren Zwei¬
handprüfer zu bauen, der sich mit geringen Mitteln herstellen laGt. Das Er-
gebnis ist ein handlicher Apparat, der die Abhangigkeit zweier um einen ge-
meinsamen Punkt drehbaren Hebei in Verbindung mit zwei in geeigneter Weise
verbundenen Staben benutzt (Abbildung 2). AuQerlich betrachtet, scheint er
einem von Professor Rupp erbauten Apparat (Abbildung 1) ahnlich zu sein.
Dieser Apparat hat aber den eingangs erwahnten grundsatzlichen Pehler, daG die
Bedienung auch mit einer Hand möglich ist. Die Verschiedenheit beider Appa-
rate geht aus den folgenden Systemskizzen deutlich hervor:
Finder, Aufbau und Wirkungsweise von Zweihandprüfern
361
Die Stabe a sind um den festen Punkt A drehbar, die Stabe b um den
Punkt B bzw. Bj und Bg. S stellt den Schreibstift dar, bei Hi und Bg bewegt
der Prüfling das System. Es ist ohne weiteres klar, dafi bei Abbildung 1 ein Be¬
wegen von Hz genügt, um den Schreib¬
stift jede Figur, die in der Stabebene
oder parallel dazu liegt, nachfahren
zu lassen, soweit ihre GröCe die Lange
der Stabe nicht überschreitet. Hi
machtnurScheinbewegungen. Beider
Anordnung nach Abbildung 2 würde
das Bewegen von Hi oder Hz allein
nur eine Kreisbewegung von S um
Bi oder Bz zur Folge haben. Um be-
liebige Bewegungen in der Ebene zu erzeugen, mussen Bi und Hz gleichzeitig
bewegt werden.
Bei den kommenden Prüfungen der neu einzustellenden Werkstattenlehrlinge
wird der von der Psychotechnischen Versuchsstelle der Reichsbahnverwaltung
gebaute Apparat in gröBerer Zahl verwendet werden.
Rundschau
Bericht
Am 12. und 13. September fand in Dres-
den die erste Sitzung des Psychotechnischen
Ausschusses der Reichsbahnverwaltung statt.
Ministerialdirektor Hltzler, alsdann Ge-
heimrat Schwarze vom Reichsverkehrs-
ministerium, dem die deutsche Eisenbahn-
Psychotechnik unterstellt ist und der um
ihre Einführung und Ausgestaltung groBe
Verdienste hat, sowie der Herr Prasident
der Reichsbahndirektion Dresden, Dr.
Mellig, sprachen einige einleitende Worte,
worauf der Vorsitzende des Ausschusses,
Dr.-Ing. BloB, Dresden, über das all-
gemeine Arbeitsgebiet der Psychotechoik
vortrug.
Den Eröffnungsvortrag über Ziele und
Grenzen der Psychotechnik im Eisenbahn-
wesen hielt Professor Dr. Moede, der seit
Gründung der Psychotechnischen Versuchs¬
stelle Berlin als fachpsychologischer Beirat
angehört.
Es folgten Berichte über die bislang aus-
geführten Arbeiten, und zwar referierten
Oberbaurat Professor Dr.-lng. Skutsch
über die Arbeiten der Psychotechnischen
Versuchsstelle Berlin, Regierungsbaurat
Dr.-Ing. Glasel über das Psychotechnische
Laboratorium der Reichsbahndirektion Dres¬
den und Regierungsbaurat Wildbrett über
dasjenige der Zweigstelle Bayern in München.
Es schlossen sich Spezialberichte an über
die Prüfung der Handwerkslehrlinge auf
geistige Fahigkeiten allgemeiner und beruf-
licher Art, die Regierungsbaurat Wasmer
und Eisenbahn-Oberingenieur Breithaupt
übernommen hatten, über Handgeschick-
lichkeitsprüfung, über die Regierungsbaurat
Dr.-Ing. Busse und Werkstattenschlosser
Hage referierten, sowie über Sinnestüchtig-
keit und körperliche Anforderungen der
Lehrlinge, worüber Obermedizinalrat Dr.
Zeitlmann und Lokomotivführer Ludwig
Ausführungen machten.
362
Rundschau
Die psychotechnischen Anforderungen an
Fahrkartenverkaufer waren der Gegenstand
eines Vortrages der Herren Skutsch und
Eisenbahn-Oberinspektor S c h m i 11. Es wur-
den vor allem die Ergebnisse der Studiën
von Couvé von der Psytev-Berlin zu-
grunde gelegt. Den Fragen der Auswertung
von Eignungsprüfung sowie den Erfolgs-
kontrollen war ganz besondere Beachtung
geschenkt worden, und die Herren Glasel,
Wildbrett sowie die Baurate Behrens und
Karmann auDerten sich zu diesen Fragen.
SchlieDlich berichtete Moede über die
bei der Industrie zur Erhöhung der Wirt-
schaftlichkeit eingeführten Anlernverfahren
auf psychotechnischer Grundlage.
Den Vertragen schloO sich eine rege und
fruchtbare Aussprache an, als deren Er-
gebnis Beschlüsse und Leitsatze formuliert
wurden.
Diese erste Sitzung führte Vertreter der
Wissenschaft und Praxis, Angehörige der
verschiedensten Berufszweige aus den man-
nigfachsten Teilen Deutschlands zusammen,
die in gemeinsamer zweitSgiger Arbeit wohl
ausnahmslos reiche Anregungen erhalten
haben, die der Fortentwicklung der Psycho-
technik im Rahmen der Reichsbahnverwal-
tung nur nutzbar sein können.
Eingegangene Schriften
Ahlenstiel, Dr. Heinz, Über die Stellung
der Psychologie im Stammbaum der
Wissenschaften und die Dimension
ihrer Grundbegriffe. (56 S.) S®. Berlin
1923. S. Karger. Gz. 1.40.
Apfelbach, H., Der Aufbau des Charakters.
Elemente einer rationalen Charakteriologie des
Menschen. Mit einem Anhang über dieGesetze
d. eroiischen Attraktion. (VIII,21 IS.) 8®. Wien
u. Leipzig 1924. Wilhelm Braumüller. Gz.7.—.
Busse, Dr. H., Das literarische Verstin d-
nis der werktatigen Jugend zwischen
14 und 18. Eine entwicklungs- und sozial-
psychologische Studie. Beihefte zurZeitschrift
f. angewandte Psychologie, Beiheft32. (X, 289S.)
8®. Leipzig 1923. Joh. Ambr. Bartb. Gz. 8.—.
Flscher, Ludwig, Die Arbeit des Patent-
ingenieurs in ihren psycbologischen
Zusammenblngen. (Vlu.96S.) 8®. Berlin
• 1923. Julius Springer. Gz. 2.40.
Gefimann, G. W., Magnetismus und Hyp-
notismus. Mit 62 Abbildungen und20Tafel-
bildern im Text nach photographischen Ori-
ginaiaufnahmen. 3.,erweiterte Auflage. (232S.)
8®. Wien und Leipzig 1923. A. Hartlebens
Verlag. Gz. 5.—.
Giese, Dr. Fritz, Berufspsycbologiscbe
BeobacbtungenimReicbstelegrapben-
dienst. (Schriften zur Psychologie der Be-
rufseignung u. des Wirtschaftslebens, hrsg.von
Otio Lippmann u.William Stern, Heft24.) (74 S.)
8®. Leipzig 1923. Joh. Ambr. Bartb. Gz. 2.50.
Giese, Dr. Fritz, Psycbotecbniscbes Prak¬
tik urn. (153 S.) 8®. Halie a. S. 1923. Wendt
& Klauwen. Geb. Gz. 3.15, geb. Gz. 4.15.
Handbuch d. biologisohen Arbeitsmethoden,
brsg. von Emil Abderbalden. Abt. VI, Me¬
thoden d. experimentellen Psychologie, TeilB,
Heft 2. (Lieferung 111.)
Piorkowski,Curt,DieKombinationsmethode
(Prüfung des Kombinationsvermögens).
Fiscber, Siegfried, Die Methoden der In-
dividualpsycbologie der Spracbe.
Hoeker, Karl, Phanomenologie des reli-
giösen Gefühles. (592 S.) 4°. Berlin u. Wien
1923. Urban & Sebwarzenberg. Gz. 3.90.
Jaensch,E.R., Über den Aufbau derWabr-
nehmungswelt und ibre Struktur im
Jugendalter. EineUntersuebungüberGrund-
lagen und Ausgangspunkte unseres Weltbildes.
(XXIV,567 S.)8o. Leipzig 1923. J.A.Barth.Gz.15.-.
Katona, Dr. G., Psychologie der Rela-
tionserfass ung und des Vergleichens.
(1V,114S.) 8®. Leipzig 1924. J.A.Bartb. Gz.3.—.
Lahy, J. M., Professor an der Universitlt Paris,
Taylorsystem und Physiologie der be-
ruHichen Arbeit. Deutsche autorisierte
Ausgabe von Dr. J. Waldsburger. Mit 11 Ab¬
bildungen. (XV, 154 S.) 8®. Berlin 1923.
Julius Springer. Geb. Gz. 3.—, geb. Gz. 4.—.
Lauber, H., Handbuch der Srztiichen Be-
rufsberatung. Mit 6 Figuren. (XXIV,586S.)
gr. 80. Berlin u. Wien 1923. Urban & Schwar-
zenberg. Geb. Gz. 15.—, geb. Gz. 18.—.
Liertz, Rhaban, Wanderungen durch das
gesunde und kranke Seelenleben bei
Kindern und Erwachsenen. (IX, 168 S.)
8®. Kempten 1923. Verlag Kösel & Pustet.
Geh. Gz. 2.—, geb. Gz. 2.80.
Diesem Heft liegt ein Prospekt der Firma Emmanuel Reinicke, Leipzig'bei
über die 6. Auflage BUcher, Arbeit und Rhythmus.
Für die Schriftleitung verantwortlich; Prof. Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Laitpold-
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf Sr Hartel in Leipzig.
PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE
4. JAHRG. DEZEMBER 1923 12. HEFT
Die Praktische Psychologie erscheint {q monatlichen Heften lm Umfange von zwel Bogen. Frels des Heftes 1.50 Goldmark Tur
das Inland, 1.90 Schwelzer Franken ftir das Ausland. Bei unmittelbarcr Zustellung unter Kreuzband 1.70 Goldmark für das
Inland und 2.20 Schwelzer Franken für das Ausland. Besteliungen nehmen alle Buchhandlungen, sowle die Verlagsbuchhandluog
entgegen. Anzelgeo vermittelt die Verlagsbuchhandluog S. H i rzel in Lelpzig, KönigstraOe 2. Postscheckkooto Leipzig 226.—
Alle Manuskriptsendungen und darauf bezügliche Zuschrlften sind zu richten an die Adresse der Schrlftleltung: Professor
Dr. W. Moede und Dr. G. Piorkowskl, Berlin^X’' 30, LuitpoldstraOe 14.
Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
Von Professor Dr. phil. et med. W. Po ppelreuter
(Aus dem Institut für klinische Psychologie und Berufsbegutachtung Bonn)
I. Zum Studium der Gesetzlichkeit von körperlichen Arbeitsvorgangen bieten
sich zwei Wege. Erstens das Laboratoriumexperiment, die von Mosso begründete
Ergographie (s. Abbildungen 1 und 2) und zweitens die Analyse wirk-
licher Arbeltsleistungen.
Für die letztere reicht die übliche Betriebsregistrierung, die in summarischen
Zahlen über Stunden-, Tages- und Wochenleistungen besteht, keinesfalls aus, da
wir zur Auffindung von Gesetzlichkeiten die Arbeitskurve, den mathematischen
Verlauf der Arbeit innerhalb der Zeitabschnitte, brauchen.
Wie man solche Arbeitskurven von praktischer Arbeit mittels meiner „Arbeits-
schauuhr" gewinnt, habe ich schon früher beschrieben*).
Als Beispiel hierfür diene die Abbildung 3, welche von einer praktischen Schwer-
arbeit mitten aus der Fabrikation heraus gewonnen wurde. Der Arbeiter hatte Eisen-
scharniere an einer Presse durch Schraubendruck zu bördeln. Hierzu gehorte eine ganz
tüchtige Einzelanstrengung, so daO man bei pausenlosem, raschem Arbeiten schon nach
kurzer Zeit deutlich müde wurde. Bei jeder einzelnen Pressung machte der Steiger der
Arbeitsschauuhr auf dem Wege eines elektrischen Kontaktes einen kleinen Ruck aufwarts,
wahrend die Trommel sich gleichmaOig mit der Zeit fortbewegte. Alle zehn Minuten
*) Die Arbeitsschauuhr. Ein Beitrag zur praktischen Psychologie. Langensalza 1917. Jetzt
Verlag Marhold, Halle.
P. P. IV. 12.
25
364 Poppelreuter, Ober die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
wurde durch eine Kontaktuhr der Schreiber wieder zur Nullinie heruntergebracht. Die
Ordinaten verzeichnen also die in der Zeiteinheit erzielten Mengen. Die Schrage gibt die
Geschwindigkeiten des Arbeitens. Die horizontalen Unterbrechungen sind die Pausen.
Bei dem Versuch einer Analyse solcher praktischen Kurven hat sich ergeben,
daO zwischen der Laboratoriumergographie und der Praxis noch eine ungemein
breite Lücke klafft; es war gar nicht daran zu denken, mit der von der Laboratorium¬
ergographie herstammenden Gesetzlichkeit eine befriedigende Interpretation von
praktischen Arbeitskurven vorzunehmen.
Diese Lücke muCte von den zwei Seiten her überbrückt werden. Einerseits
durch Ausdehnung des Laboratoriumexperimentes auf diejenigen Faktoren,
welche sich bei der wirklichen Arbeit als wirksam erwiesen, anderseits durch
die eine Mittelstellung zwi-
! t schen Laboratoriumergogra-
i\^kiln(yr\All / /IPrH P*’*® wirklicher freier
fjlfvlf/fjlf I lif 1 1 Praxis einnehmenden ex-
- } l/KlJfKl/iyi/lrML/ Ir-JY 1/ L perimentellen modell-
q40 1125 ^
Abbildung 3 gemaö praktischen Ar-
beiten*).
Hiervon teile ich im folgenden einiges mit; es ist nicht nur wenig, weiPdie
Kostspieligkeit der Abbildungen dazu zwingt, sondern auch deshalb, weil ich
mich auf das beschranken möchte, was unabhangig von der Theorie von
wirklich praktischer Bedeutsamkeit ist.
Dabei beschranke ich mich auf diejenige Art der körperlichen Arbeit, die
ohne wesentliche intellektuelle und handwerkliche Beanspruchung vollzogen wird,
und hierbei noch auf die kurzen Zeitverlaufe. Die Gesetzlichkeiten von Arbeits¬
kurven handwerklicher Art und von tage-, wochen- und monatelanger Dauer-
arbeit mussen je in einem Rahmen für sich besprochen werden, verlangen über-
dies das hier Gebrachte als Vorarbeit.
Die in der Literatur zumeist übliche Interpretation auch der praktischen kör¬
perlichen Arbeitskurve nach der typischen Mossoschen Kurve (s. Abbildungen
1 und 2), die sich darin auQert, daO man das Progressive Absinken der Kraft-
werte durch Ermüdung in den Vordergrund stellt, ist sicherlich unberechtigt.
Dafür spricht schon allein die überwiegende Abweichung der prak¬
tischen Arbeitskurven von dem Mossoschen Typus,
Wenngleich das Mossosche Ergogramm Ausgangspunkt der theoretischen
Analyse sein kann, so ist es darum doch nicht Typus der praktischen körper¬
lichen Arbeit.
Vergleichen wir doch nur Duchtig den Tatbestand eines üblichen Laboratorium-
ergogramms und einer körperlichen Tagesarbeit, etwa des Mauerns:
*) Einige modellgemati praktische Arbeiten habe ich beschrieben in „Herabsetzung der
körperlichen LeistungsfShigkeit und des Arbeitswillens bei Hirnverletzten itn Vergleich zu Nor¬
malen und Psychogenen. Leipzig, Verlag von VoiJ, 1919.
Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 365
lm Laboratoriumergogramm haben wir entsprechend der maximalen Belastung
bzw. maximaier Anstrengung schon nach ganz kurzer Zeit eine deutliche Er-
müdung bzw. Erschöpfung, die sich nicht nur in den einzelnen Kraftwerten,
sondern auch in dem ganzen physiologischen Habitus der Versuchsperson auDert;
abgesehen von geringen Schwankungen des „Antriebes" wird mehr oder weniger
progressiv bis zu dem Punkte deutlicher Ermüdung fortgearbeitet.
Demgegenüber erscheint der praktische Arbeitsverlauf ais gleichförmig.
Nur sehr geübte Augen werden in der 6.-8. Stunde des Arbeitstages eine Er¬
müdung des Maurers bemerken können, von Erschöpfung ist gar nicht zu reden.
Die Willensanspannung bei ergographischen Versuchen ist maximal. Von
vornherein geht die Versuchsperson mit dem gröBten Antrieb an die Arbeit
heran. Das Ergogramm ist „Hetzarbeit".
Das fehlt in der Praxis. Nur in besonderen Pallen werden geübte Augen
feststellen können, daO bei der praktischen Arbeit eine höhere Willensanspannung
vorhanden ist.
Das Tempo des Ergogramms pflegt maximal zu sein, d. h. sehr nahe an der
Grenze der Leistungsfahigkeit zu liegen.
Bei der praktischen Arbeit ist auch dies nicht der Fall. Man sieht es den
Hantierungen des Maurers direkt an, dali er sie der physiologischen Möglichkeit
nach mit viel gröOerer Geschwindigkeit ausführen könnte. Er halt ein
Tempo ein, welches unterhalb des an sich physiologisch möglichen ist, wie weit
unterhalb, laOt sich nicht einmal schatzen.
Das Tempo des typischen Ergogramms ist gebunden, durch Metronom-
schlage bestimmt, das Tempo der praktischen Arbeit ist zumeist frei,
d. h. durch das Individuum selbst bestimmt. Das Tempo des Ergogramms pflegt
- konstant zu sein, das Tempo der praktischen Arbeit ist Schwankungen unter-
worfen.
Beim Ergogramm sind Pausen entweder nicht erlaubt, oder aber sie sind
festgelegt.
lm Gegensatz dazu phegen bei der praktischen Arbeit die Pausen spontan,
in ihrer Hauhgkeit, Zeitlage und ihrer Lange Frei, in das Belieben des Indivi-
duums gestellt zu sein.
Die allgemeine psychische Einstellung zu beiden Tatbestanden ist recht
verschieden. lm Laboratoriumexperiment handelt es sich urn ein „Abhetzen
aus Prinzip“, bei der gewöhnlichen Arbeit um die „Einstellung auf vul-
gare Tagesarbeit".
Die praktische Arbeit unterliegt zumeist der Einstellung auf die Hervor-
bringung eines Arbeitsproduktes und wird hierdurch mehr oder weniger
beeinfluBt. Das Laboratoriumergogramm ist „Anstrengung an sich“.
Angesichts solch groBer Unterschiede muB man sich eigentlich darüber wun-
dern, wie man überhaupt vom Laboratoriumergogramm aus eine Aufklarung der
Gesetzlichkeit des Verlaufes freier Arbeit erwarten konnte. Das ist nur zu ver-
25*
366 Poppelreuter, Ober die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
stehen aus einer, wie wir sehen werden, unberechtigten Einengung auf
eine mehr physiologische Betrachtungsweise. Wonach man schema-
tisierte: Ermüdung == Progressive Minderung der Leistung.
Man kann die Unterschiedlichkeit des Laboratoriumergogramms mit dem prak¬
tischen Ergogramm in den Gegensatz fassen: Die Ergogramme des Labora¬
toriums sind gebundene, die der Praxis freie Arbeitsverlaufe.
Die Gesetzlichkeit freier Arbeitsverlaufe zu ermitteln, scheint von vornherein
schwierig. Wir müssen uns ja, urn Gesetze zu finden, der Laboratoriumversuche
bedienen, und diese sind ja keine „freien Willenshandlungen", sondern „ge¬
bundene Sollhandlungen". Doch erscheint die Aufgabe verhaltnismaCig leicht
durchführbar, wenn wir uns der Methode bedienen, die „freien" Faktoren
komponentenweise in den im übrigen experimenten „gebundenen" Arbeits-
verlauf einzuführen.
11. Die überwiegende Beachtung des Mossoschen Ergo-
gramms brachte es mit sich, dali man ganz allgemein er-
wartete, in dem mathematischen Verlauf einer Kurve den
EinfluO der Ermüdung auch stets manifestiert zu erhalten.
Dies ist aber auch nur dann der Fall, wenn die Mosso-
sche Bedingung der maximalen Belastung erfüllt ist, nicht
aber, wenn diese, wie in der Praxis zumeist, gar nicht vorliegt.
Nehmen wir eine einfache Versuchsanordnung. Wir lassen am Mossoschen
Ergographen mit einem so leichten Gewicht arbeiten, daB es für eine langere
Zeit ohne gröBere Anstrengung die ganze zur Verfügung stehende Hubhöhe ge-
hoben werden kann. Wir lassen nun nach dem langsamen Takt eines Meironoms
diese Arbeit ausführen, und zwar so, daB wir sowohl unten als auch oben auf
der Schreibführung einen Anschlag anbringen. Unter der Voraussetzung, daB
die Versuchsperson bestrebt ist, stets die gleiche Kraftleistung zu vollführen,
wendet sie hierzu mit fortschreitender Ermüdung fortschreitend mehr Anstrengung
auf. Solange dann noch für diese jeweils gleiche Kraftleistung keine Erschöpfung
vorliegt, also noch bei schwerster Ermüdung, kann das Kurvenbild völlig stereo-
typ verlaufen, die Ordinaten behalten ihre gleiche Höhe (s. Abbildung 4).
Unter der Bedingung nicht maximaler Belastung kann also trotz
erheblicher Ermüdung eine körperliche Arbeitskurve völlig parallel
derAbszisse verlaufen, d. h. es kann erhebliche Ermüdung da sein, ohne daB
sie sich in dem Ordinatenverlauf des Ergogramms manifestiert.
Diese Überlegung, so selbstverstandlich und primitiv sie ist, hat doch eine
sehr groBe Bedeutung für die Interpretation freier Arbeitskurven. In der Praxis
liegt ja die Sache zu allermeist so, daB gleichbleibende untermaximale An-
strengungen fortlaufend verlangt werden. Nehmen wir nur das Beispiel der Be-
dienung einer Exzenterpresse. Hier werden jedesmal in einem bestimmten
Tempo, welches durch die Maschine gegeben ist, wenige Zugkilogramme ver¬
langt. Die Leistung ist also, wenn sie vollführt wird, genau ebenso durch die
Abbildung 4
Poppelreuter, Über die Gesetzlicbkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 367
auQeren Bedingungen festgelegt, wie bei dem eben geschilderten ergographischen
Versuche. Die registrierte Arbeitskurve ist die registrierte Maschinenleistung,
sie bleibt ebenso stereotyp; trotzdem aber ist, falls das Tempo schnell bzw.
die Kraftwerte hoch sind, mit fortlaufender Zeit eine Ermüdung des Arbeitenden
unverkennbar. Ermüdung ist da, sie manifestiert sich aber nicht in der Arbeits¬
kurve, ebensowenig die Übung und auch der Antrieb, obwohl selbstverstandlich
beides eine erhebliche Rolle spielen muO.
Wenn wir daraus den Grundsatz machen, daO immer ausdrücklich
untersucht werden muB, ob sich Ermüdung, Übung, Antrieb usw. auch
in der Arbeitskurve manifestieren kann, so ist das für die Analyse
der praktischen Arbeitskurven schon von erheblicher Fruchtbarkeit.
Pinden wir doch dann sehr haufig, dalJ Kurven die Einflüsse von Ermüdung,
Übung und Antrieb nur scheinbar vermissen lassen, weil eben die Möglichkeit
der Manil'estation dieser Faktoren in der Gestaltung der Arbeitskurve nicht ge-
geben ist.
DaI3 auch bei dem oben beschriebenen Ergogramm die Faktoren der Ermüdung,
Übung und des Antriebes verhanden sind, kann man, abgesehen von der Befragung und
der Habitusbeobachtung auch feststellen, wenn man genau zuhört. Mit zunehmender Er¬
müdung wird das Gerausch, welches durch den oberen Anschlag entsteht, weniger kraftig,
und dafür das Gerausch, welches durch Auftreffen des Gewichtes auf den unteren An¬
schlag entsteht, starker. Die Erklarung ist einfach. Je frischer die Versuchsperson ist,
desto gröDer ist der beim jedesmaligen Heben des Gewichtes aufgewendete Impuls,
deuto lauter also auch der Ton des Anschlages; je müder die Versuchsperson ist, urn so
mehr kommt die unwillkürliche Bremsung des herabfailenden Gewichtes in Fortfall.
Schreibt man die Ergogramme auf rascher Trommel, so zeigen sich die Verschiedenheiten
der Impulsgebung auch in der Form. Der ,ermüdete“ Impuls oder der Impuls geringeren
Antriebes — in diesem Falie laCt sich beides nicht genau differenzieren — ist langsamer, der
„frische“ schneller. Es laOt sich ein müdes „Pressen" von einem frischen „Schleudern"
differenzieren.
III. Für die völlige Stereotypie in vorgenannter Anordnung ist wesentlich die
Anbringung des unteren und besonders des oberen Anschlages. Hierin hat
die Versuchsperson ein Kriterium ihre Impulse zu dosieren. Lafit man ohne
den Anschlag arbeiten, so ist die Ordinatengleichheit nicht mehr vorhanden,
es zeichnen sich in der Verbindungslinie der Spitzen jetzt wellenförmige
Schwankungen auf, die wie die Selbst- und Fremdbeobachtung ergibt, den
Antriebsschwankungen parallel gehen. (Die Kurven sind so ahnlich der
Abbildung 6, dali darauf verwiesen werden kann.)
Diese Wellen zeigen einen Zusammenhang mit der Ermüdung dadurch, daC
sie progressiv höher und haufiger werden.
Die Ermüdung — bzw. die Resultate von Ermüdung und Antrieb, denn ge¬
nau differenzieren laCt sich beides nicht — auDert sich dann nicht in der
typischen Form des Absinkens der Ordinaten, sondern in ihrem
Sch wanken.
368 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
Da diese Art der Ermüdungsmanifestation in der Arbeitskurve entsprechend
dem ursachlichen Faktor, der nicht maximalen Belastung, im Verlauf eine groOe
gesetzliche Rolle spielen inuO, so berichte ich noch über Versuche, bei denen
dieser Faktor besser zum Vorschein kommt. Es sind dies die Ergogramme, die
man durch Arbeitenlassen an einem weichen Dynamometer gewinnt.
Ein weiches Dynamometer ist ein Instrument, bei dem durch das Zusammen-
drücken der Feder ein verhaltnismaOig groOer Weg zurückgelegt wird. Verwenden
wir z. B. einen Zugmesser, der 25 kg Bereich hat, d. h. wo eine vollstandige
Zusammendrückung der Feder durch eine Belastung von 25 kg erfolgt, wobei
aber die Weglange = 25 cm ist, so ist eine Zusammendrückung dieses Dynamo¬
meters mit der Hand gar nicht möglich, weil die Weglange, die im Handdruck
liegt, kleiner ist als 25 cm. Der Weg, den das Ende des Handgelenkes bis zum
völligen HandschluD zurücklegt, betragt je nach GröCe der Hand 6—10 cm, und
es kann daher an einem solchen weichen Dynamometer ein Handdruck nicht
mehr Zugkilogramme erzeugen als der Weglange entspricht, also bei dem oben
verwendeten Beispiel ebensoviel Kilogramme als Zentimeter der Handpressung
ausmachen. LaBt man an einem solchen Dynamometer im langsamen Tempo
drücken, so müBte theoretisch die Kurve infolge gleicher Ordinatenhöhe absolut
gleichmaOig sein, so wie die Abbildung 4 zeigte, da ja die jedesmalige An-
strengung nur wenige Zugkilogramme betragt, weniger als der Kraft entspricht.
Der wirkliche Versuch aber zeigt ein ausgesprochenes Schwanken der
Werte, und diese Schwankungen sind, wie die Seibst- und Fremdbeobachtung
zeigt, proportional den Antriebsschwankungen. Wird der Antrieb geringer,
so werden auch die Kraftwerte geringer, die Ordinaten niedriger; wird der An¬
trieb gröBer, so werden auch die Kraftwerte gröBer, die Ordinaten höher. Wahit
man das Verhaltnis von Weglange und Zugkilogramm passend und das Tempo
entsprechend langsam, so kommt für eine lange Zeit der Faktor der Er-
müdung in einem kurvengestaltenden EinfluB — nicht etwa überhaupt — zum
Fortfall bzw. zur geringeren Wirksamkeit und eine solche Kurve am
weichen Dynamometer ist in ihrem mathematischen Verlauf ein
Spiegelbild der Antriebsschwankungen (s. Abbildung 5).
Abbildung 5
Macht man derartige Ergogramme bei gleichbleibendem langsamem Metronom-
tempo, so ist bei vielen Versuchspersonen gesetzmaBig, daB gegenüber dem
Mossoschen Ergogramm das Maximum der Leistung gar nicht auf den
Anfang fallt, sondern erst nach einiger Zeit sich einstellt. Nach der
Seibstbeobachtung kommt man bei dieser Art des Arbeitens erst nach einiger
Poppelreuter, Ober die Gesetzlichkeit der praktiscben körperlichen Arbeitskurve 369
Zeit „in Gang", man arbeitet sich ein, der Antrieb nimmt zu und damit geht
parallel eine VergröBerung der Ausschlage (s. Abbildung 6).
Abbildung 6
Man könnte hier von einer „Ubung* sprechen, die unter den obwaltenden
Bedingungen den EinflulS der Ermüdung überwiegt, wenn wir eben das „In-den-
Zug-Kommen“ auch unter den Sammelbegriff der „Übung“ einreihen. Man hat
sich beinahe gewöhnt, bei rein körperlicher, zumal anstrengender Arbeit die
Übung als solche zu ignorieren, weil ja bekanntlich der Anfangsanstieg der ergo-
graphischen Kurve bei der Mossoschen Anordnung ein nur ganz geringer ist,
oft sogar fortfallt. Wir lemen aus diesen Versuchen, daö dieser EinfluD nur
deshalb gering erscheint, weil mit maximaler Belastung gearbeitet wurde; je
weniger maximal die Belastung ist, desto mehr zeigt sich auch bei Kraft-
anstrengung, selbst ermüdenden, die motorische Einübung, das In-den-Zug-
Kommen, in einer progressiven Erhöhung der Ordinaten.
Diese GesetzmaGigkeit ist hervorzuheben, weil wir bei praktiscben körper¬
lichen Arbeitskurven mit Ausdehnung der zeitlichen Lange einer Zunahme an
Leistung begegnen werden.
Zunahme an Leistung trotz progressiver Ermüdung, die wir haufig
bei praktiscben Arbeitskurven finden, ist also nicht paradox.
IV. Die groDe Bedeutung des Antriebes und das Zurücktreten der Ermüdung
als kurvengestaltenden Faktors tritt uns auch entgegen beim Vergleich ver-
schiedenen Menschenmaterials. Je ehrgeiziger und disziplinierter,
je arbeitswilliger die Versuchspersonen sind, urn so mehr kommt das
Ergogramm dem physiologischen nahe, ist also durch progressives
Absinken charakterisiert. Es entfernt sich davon um so weiter, je
weniger arbeitswillig und diszipliniert die arbeitenden Individuen sind.
Individuen, die etwa zum Zwecke der Rentenbegutachtung der Prüfung unter-
worfen werden und keinen guten Willen zeigen — ich meine nicht etwa Simu¬
lanten, die haben schiechten Willen —, zeigen ausgesprochen unregelmaBige
Ergogramme, Ergogramme, in denen die Ermüdung nicht als typisch form-
bestimmend hervortritt. Es sind dann diese Kurven weniger Ermüdungskurven
als „Antriebskurven"*).
Derselbe Unterschied zeigt sich für die Gruppe der Erwachsenen einerseits
und der Kinder anderseits. Ein Ergogramm von einem achtjahrigen Knaben
mit den typischen starken Antriebsschwankungen zeigt Abbildung 7. Die Er-
müdungsmanifestation ist dann ganz entsprechend gering. Vergleicht man all-
*) Vgl. hierzu Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie, I. Band. — Poppelreuter, 1. c.
370 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
gemein und obenhin, so kann man sagen; Die bei praktischer Arbeit ge-
wonnenen Arbeitskurven ahneln mehr denjenigen, welche von schlech-
ten als von guten Versuchspersonen gewonnen werden.
Man kann auch künstlich Ergogramme dadurch „freier‘‘ gestalten, daC man
den Versuchspersonen aufgibt, nicht mit maximaler Mühegabe, sondern nur
Abbildung 7
mit mittlerer oder gar schlechter Willensspannung zu arbeiten, urn dann Ergo¬
gramme zu erhalten, welche bezüglich des Willensverhaltens mit der praktischen
Arbeit wesentlich besser übereinstimmen.
Hierbei fallen die Kurven deutlich variabel aus; es besteht bezüglich der
Kurvenformen kein wesentlicher Unterschied zwischen dem künstlich herab-
gesetzten Antrleb und einem an sich herabgesetzten Antrieb, wie wir ihn bei
Rentenfallen, undisziplinierten Kindern, Schwachsinnigen usf. hnden. (Jedenfalls
nicht Unterschiede von der Art, daC sie hier in Betracht kamen.)
Bemerkenswert hnden wir hier individuelle Unterschiede. Wir hnden einer-
seits Versuchspersonen, welche bei der Instruktion nür mittlerer Willensspannung
Kurven liefern, die nur im Anfang eine gewisse Ahniichkeit mit der ergo-
graphischen Kurve haben, um dann im spateren Verlaufe ziemlich gleichmafiig
parallel zur Abszisse zu sein. Dlese Versuchspersonen arbeiten, wie ihre Selbst-
aussage und die auDere Beobachtung zeigt, „gleichmaOig bequem". Der Antrieb
ist an sich gering, aber es sind auch gering die Antriebsschwankungen infolge
Überwiegens eines rhythmischen Automatismus.
Der zweite Typus ist gekennzeichnet durch ein starkeres Hervortreten der
Wellenzeichnung (ahnlich, nur noch starker wie bei Abbildung 5). Die Be¬
obachtung ergibt, daO die Versuchspersonen, man könnte fast sagen, ohne daO
sie es wollen, doch gegen die Instruktion von Zeit zu Zeit wieder einem starkeren
Antrieb verfallen. Es ist sonderbar, daB die Aufgabe, mit geringerer Willens¬
spannung zu arbeiten, durchaus nicht einfach und leicht befolgbar ist. Es liegt
in der Art und Weise des ergographischen Arbeitens ein Anreiz, sich Mühe
zu geben, so daB viele Versuchspersonen — was nur dem paradox ist, der die
Versuche nicht selbst mitgemacht hat — gegen ihren guten Willen sich mehr
anstrengen, als sie wollten. Es zeigt sich das darin, daB gewissermaBen ein
typisches Ergogramm neben das andere zu stehen kommt, wodurch das Schwanken
der Werte ganz besonders groB wird.
Der dritte Typus ist der, welcher sich bei der Instruktion einer geringen
Willensspannung eigentlich überhaupt keine oder nur sehr- wenig Mühe gibt.
Derartige Kurven zeichnen sich aus durch die Verbindung der zwei Momente,
geringe Höhe, wellenförmige Schwankungen, und geringe Unterschiede von An-
Fang, Mitte und SchluB.
372 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktiscben körperlichen Arbeitskurve
Sekunden statt eine Sekunde — Kurve B, Abbildung 9 —
so ergibt dieMessung derZeiten umgekehrte Ten-
denz, d. h. eine Tendenz, rascher zu werden. Das
Tempo nimmt zu. Die Versuchsperson arbeitet
schneller, und zwar trotzdem sie auch in dem
zweiten Falie deutlich milder wird, wie sich in dem
Absinken der Kraftwerte zeigt, wenngleich sie weniger
milder wird, als bei dem anderen Versuch A.
Diese Tendenz ist, wie sich an einer Mehrheit von Versuchspersonen zeigt,
stets nachweisbar. Eine solche Beschleunigung des Tempos mit Zu-
nahme der Ermüdung scheint paradox zu sein, laOt sich aber auf-
klaren. Sie liegt zu allererst in der Tatsache des persönlichen Tem¬
pos, des individuellen Bestrebens, ein bestimmtes Tempo einzuschlagen, und
zwar in teilweiser Unabhangigkeit von der Ermüdung. lm Sonderfall
ist es die Tendenz, ein bestimmtes Tempo durch Zunahme jeweiligen Antriebes
konstant zu halten, falls die Ermüdung eine Herabsetzung bewirken will.
Wir sehen also, dall dann, wenn bei praktischer Arbeit eine Be¬
schleunigung des Arbeitstempos auftritt, dies mit Zunahme der Er¬
müdung gesetzlich vereinbar ist. Diese Gesetzlichkeit werden wir spater
bei der modelIgemaBen Schwerarbeit wiederfinden.
Aufklarung über die Gesetzlichkeit des freien Tempos kann man ferner er-
warten von solchen Versuchen, bei denen Tempo und Kraftleistung gegenüber
der Mossoschen Anordnung reziprok sind. Beim Mosso ist das Tempo kon¬
stant, die Variable ist das Absinken der Kraftwerte. Reziprok ware das
Konstanthalten der Kraftwerte und die Variation des Tempos, dabei
das Ausbleiben bzw. Aufschieben der Ermüdung. Theoretisch müBte
eine solche Kurve so aussehen, wie die Abbildung 10 zeigt.
Das wirkliche Experiment stöBt aber hier auf groBe Schwierigkeiten, gibt uns
aber dafür fruchtbare Erkenntnisse.
Ich gebe hier nur die Versuche wieder, bei denen (ex fortiori) auch Pausen er-
laubt waren. Die Versuchsanordnung war die übliche des Gewichtsergographen. Die
Belastung war maximal, für jede Versuchsperson besonders ermittelt. Die Instruktion
war: „Schnellanfangen,dannTempo
maBigen und Pausen einlegen; es
muB aberjedesmal das Gewicht auf
die maximale Höhe gebracht wer¬
den!" DaB diese Aufgabe von den
Versuchspersonen nicht befolgt werden
konnte, zeigt ein nur flüchtiger Bliek auf
die zwei Beispiele(Abbild. 11). Sie lassen
sich beide in drei voneinander zeitlich
abgegrenzte Phasen a, b und c zerlegen.
Abbildung 9
Poppelreuler, Über die Gesetzlicbkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 373
a) Schon im Anfang wird der
Bedingung der jedesmaligen
gleichen Hubhöhe nicht ge-
nügt. Es wird vielmehr
ein typisches Ergogramm ge-
schrieben, die Ordinaten fallen
progressiv ab. Das hierbei
eingeschlagene spontaneTem-
po bleibt zuerstziemlich gleich
und muOte schnell genannt
werden; es variierte bei den verschiedenen Versuchspersonen von erner zu drei
Sekunden.
b) Dann zeigt sich bei allen Versuchspersonen, plötzlich elnsetzend, eine er-
hebliche Tempoverlangsamung bei Gleichheit der erniedrigten Hubhöhen.
c) Auch dieses langsamere Tempo erweist sich noch als zu schnell, die Ver¬
suchspersonen sind danach ziemlich erschöpft, sie bringen das Gewicht nur müh-
selig oder gar nicht auf die erreichte Höhe, sie mussen ziemlich übergangslos
langere Pausen einlegen, die trotzdem in ihrem Erholungswerte nicht ausreichen,
um der Bedingung der gleichbleibenden Höhen gerecht werden zu können.
Das schwierige Moment des reziproken Ergogramms liegt in der allmah-
lichen entsprechenden Verlangsamung, die sich keinesfalls halb- oder gar
unwillkürlich einstellt. Die Gesetzlichkeit einer der progressiven Er-
müdung entsprechenden Verlangsamung ist keinesfalls in unserem
Nervensystem vorgebildet. Bei gutem Arbeitswillen ist die sich von selbst
einsteilende Verlangsamung vielmehr viel zu gering, als daO man ihr die
Rolle eines Ermüdungs-Kompensationsmechanismus zuweisen dürfe. Die
natürliche und, wie wir hinzufügen wollen, unökonomische Verhaltungs-
weise ist das Zuschnellnehmen des Tempos, das Streben nach Beibehalten eines
bestimmten Tempos und der Ausgleich bei Ermüdung durch Einlegen von Pausen
bzw. Aufhören.
Trotzdem ich einen Versuch dieser Art in einem Kursus als Massenversuch
machte, zeigte sich diese Tendenz, sich abzuhetzen und die Unmöglichkeit einer
Regulierung des Tempos zur Ermöglichung einer konstanten Kraftleistung als
ganz allgemein. Sogar dann noch, als die Instruktion verscharft wurde: „Ar-
beiten Sie so langsam wie möglich, nur mussen Sie jedesmal das Ge¬
wicht auf die volle Höhe bringen, Sie dürfen auf keinen Fall müde
werden." Trotzdem der MiBerfolg.
Bis eine Versuchsperson einfach folgendes Verfahren einschlug. Sie drückte
einmal, machte dann eine ganz lange Pause von ungefahr einer halben Minute,
drückte dann ein zweites Mal, machte wieder eine so lange Pause und sah sich
triumphierend um: „So könnte ich es bis morgen früh.“ Das war natürlich keine
Lösung des Problems, sondern ein Ausweichen, zeigt aber, worauf es ankommt:
374 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
das Arbeitstempo so zu regulieren, daO jedesmai eine maximale An-
strengung gerade möglich ist, stellt sich als eine ungemein schwierige
Aufgabe heraus, die nur dann gelost werden kann, wenn man sich aus-
drücklich darin übt. Zu dieser Übung kommt man dann, wenn man erkannt
bat, dafi man in bezug auf die Einschatzung der eigenen Kraft und Ausdauer sehr
wenig inteiligent ist. Dann muO man ausdrücklich und willküriich ein
, Tempo herausfinden, das einerseits so langsam ist, daB der Forderung der
maximalen Kraftleistung genügt und anderseits auch ein unzulassiges Fauienzen
vermieden wird.
lm allgemeinen ist man also in bezug auf das Tempo zu optimistisch. Man
pflegt das Tempo schneller zu wahlen, als zur jedesmaligen Vollführung der
einzelnen Kraftanstrengung ausreichend ist. Dieser Optimismus ist sogar dann
vorhanden, wenn schlechter Arbeitswille da ist, d. h. selbst dann, wenn man von
vornherein den Willen hat, sich nicht übermaOig anzustrengen, wird man infolge
zu schnellen Tempos eher müde, als man es gedacht hat. Abbildung 12 (von
iiiiiiiiHiiiiiiiiniiiiiiiiii
Abbildung 12
rechts nach links zu lesen!) zeigt uns eine reziproke Arbeitskurve einer Versuchs-
person, die in die Gesetzlichkeit eingeweiht und vorgeübt beinahe die Aufgabe
löst. Wir sehen, dafi von vornherein langsam angefangen und das Tempo pro-
gressiv sehr stark verlangsamt wird bzw. Pausen eingelegt werden. Cha-
rakteristischerweise sind hierbei die spateren Hubwerte gröBer als
die anfanglichen. Das beruht nicht etwa darauf, daB die Versuchsperson sich
zu Anfang bei der einzelnen Kraftleistung nicht maximal anstrengt, sondern ist
— ich kann diese Gesetzlichkeit hier nicht des genaueren begründen — Zu-
nahme an Kraftleistung, die sich dann einstellen kann, wenn ein langsames
Anfangstempo unter Einlegung von gröBer wordenden Pausen noch weiterhin
kontinuierlich verlangsamt wird. Es scheinen dann die Verhaltnisse so gelegen
zu sein, daB die „Übung” die „Ermüdung" überwiegt.
DaB das Beibehalten eines konstanten Tempos das „natürliche" Verballen
darstellt, geht aus der viel gröBeren Leichtigkeit hervor, mit der die Versuchs-
personen die Aufgabe lösen: „ein konstantes, langsames Tempo zu wahlen,
so daB sie es langere Zeit aushalten können”. Es werden dann ziemlich
regelmaBige Kurven geschrieben in einem anfangiich ziemlich konstant gehaltenen
Tempo. Aber charakteristisch ist, daB auch hierbei die Tendenz zu einem
zu schnellen Tempo sich noch deutlich auspragt. Gibt man die Instruktion
etwa, die Versuchsperson solle in einem Tempo arbeiten, „das eine Siunde lang
ohne Unterbrechung unter Beibehaltung maximaler Hubhöhe beibehalten werden
könne", so pflegen die meisten Menschen hierfür ein viel zu schnelles Tempo
Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperltchen Arbeitskurve 375
einzuschlagen. Das richtige Tempo hierfür liegt urn V 4 ~V 2 Minute
herum, wahrend die Versuchspersonen ein Tempo von 4—8 Sekunden
einzuschlagen pflegen.
Diese Tendenz zum schnellen Tempo, wenn sie auch allgemein ist, wird
zweifellos durch die Art des ergographischen Arbeitens sehr begunstigt. Es geht
von der Art der ergographischen Betatigung ein direkter Anreiz aus, schnell zu
arbeiten, d. h. unwillkürlich verfallt man in ein schnelles Tempo. Willkitflich
ist die Bremsung auf Grund von Überlegung und Erfahrung. Diese
Einstellung zeigt sich natürlich beim ergographischen Versuch, wo der allgemeine
Antrieb maximal ist, starker ausgepragt als bei der gewöhniichen praktischen
Arbeit. Er ist aber auch, wie wir sehen werden, bei der praktischen Arbeit
selbst nachzuweisen, selbst dann, wenn kein besonders guter Arbeitswille vor-
handen ist.
Nach diesen Versuchen werden wir also kaum erwarten können, bei
praktischen Arbeitskurven im freien Tempo ein Verhalten vorzu-
finden, welches dem typischen Mosso-Ordinatenverlauf irgendwie
reziprok ware.
VI. Die Komplikation wird nun noch weiter vermehrt durch das Einlegen von
Pausen.
Pausen wahrend der Arbeit haben vier Ursachen. Erstens werden Pausen
gemacht infolge Ermüdungsgefühls, Erholungspausen, zweitens infolge Unlust,
Nachlassen des Antriebes, drittens aus einer Gewohnheit, zwischendurch
Pausen zu machen, viertens infolge Ablenkung durch innere oder auOere Ge-
schehnisse.
Es leuchtet ein, daC nur die Pausen der ersteren und zweiten Art der ex-
perimentellen Forschung im Laboratorium zuganglich sind, daC wir uns in bezug
auf die beiden anderen Arten nur auf eine Analyse praktischer Arbeitskurven
stützen können, wobei es sich aber dann niemals urn Gesetzlichkeit, sondern
nur um Aufklarung im einzelnen Fall handeln kann.
Urn AufschluB darüber zu gewinnen, ob sich in bezug auf spontane Erholungs¬
pausen Gesetzlichkeiten finden lassen, empfiehlt es sich zu trennen: a) die Lange
der spontanen Pausen, b) ihre Lage innerhalb des Zeitverlaufes.
Versuche erster Art fanden so statt: Gearbeitet wurde diesmal am weichen
Dynamometer-Ergographen im Sekundentempo. Es wurde jedesmal mit dem
vollen Handdruck je ein kurzes Ergogramm von zehn Hüben geschrieben. Da-
nach sollte die Versuchsperson eine Pause machen und dann erst spontan zum
nachsten Ergogramm von je weiteren zehn Hüben übergehen, wenn sie sich von
dér Ermüdung erholt fühlte. Die Lange dieser Pausen war also dem spontanen
Verhalten der Versuchsperson überlassen. Versuchslange eine Stunde.
Die Auftragung der zwischen den Teilergogrammen liegenden Pausen als
Ordinaten (s. Abbildungen 13a und b) ergab folgende Gesetzlichkeit:
376 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
1. Durchweg nehmen die Pausen progressiv in ihrer Lange zu, zuerst un-
gefahr im Sinne einer arithmetischen Reihe.
2. Im spateren Verlauf werden die Pausenzuwachse wieder geringer und bleiben
sich schlieOlich gleich. Sie schwanken dann um einen Mittelwert herum.
Die ganze Kurve wird also in ihrer Gesetzlichkeit bezeichnet werden können
als hyperbolisch.
Diese Gesetzlichkeit könnte man ohne viele Worte als Ermüdungskompen-
sation erklart haben; ganz geht das nicht, da sie auch hervortritt als Folge ver-
I I
-Bt—H—JH_H_M_Hl_Hl-_Hl_Hl-WL
•—»
Abbildung 13a
ringerten Antriebes auch bei solchen Arbeiten, wo man von eigentlicher Ermü-
dung nicht sprechen kann. Das kann man aus praktischen Arbeitskurven ablesen;
in experimentellen Verlaufen habe ich letzteren nicht untersuchen können*).
Das zunehmende GröBermachen von spontanen Pausen ist bei prak¬
tischen Arbeitsverlaufen nahezu die Regel, wenngleich natürlich so genaue
mathematische Verhaltnisse wie im Experiment sich hierbei nicht vorfinden.
In bezug auf die Lage bzw. die Hauhgkeit der Pausen gilt das Gesetz; Spontane
Pausen werden mit Zunahme der Ermüdung haufiger. Ich verzichte
darauf, dieses auch schon an sich seibstverstandliche Gesetz aus ergographischen
Laboratoriumversuchen abzuleiten, weil wir dies gleich bei der Analyse der
modellgemaO praktischen Arbeit tun und uns so Wiederholungen sparen können.
VII. Ohne die Erörterung all dieser vom typischen Mosso abweichenden Be-
funde ware uns, wie wir gleich sehen werden, die Analyse einer modell-
gemaO praktischen experimentellen Schwerarbeit nicht gelungen
(s. hierzu Abbildung 14). Die Arbeit, die wir modellgemaO nachahmen, ist eine
Hebe-Bück-Arbeit, die Arbeit des Lagerarbeiters. Eine Holzkiste von 42 cm
Höhe und je 40 cm Breite und Lange, an deren Seitenwanden zwei 27 cm über
*) Eine ausführliche Arbeit hierüber ist in Vorbereitung.
Poppelreuter, Über die Gesetzlicbkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 377
dem Boden befindliche eiserne HandgrifFe angebracht sind,wird durch Einlegen von
Eisenschrot auf das Gewicht von einem halben Zentner gebracht. Transportiert
man eine solche Kiste und hebt sie etwa auf einen Tisch von einem halben
Meter Höhe, so bedeutet das eine ganz tüchtige Einzelanstrengung. Oiese liegt
auch darin, daO die Kiste sperrig ist; sie ist ihrer GröOe und Form wegen
unangenehm zu transportieren. Entsprechend der Erfahrung, daö bei der
praktischen Arbeit der Vorgang sinnvoli ist im Gegensatz zum sinnlosen Ergo-
graphieren, wurde hngiert, daO die Kiste abgewogen werden sollte, und zwar,
daO es jedesmal eine andere Kiste sei. Auf der Wage, die links neben dem
Abbildung 14
Tisch steht, ist das obere Brett urn ein gefedertes Scharniergelenk beweglich.
Wird die Kiste aufgesetzt, so senkt sich das obere Brett etwas. Dieses Senken be-
wirkt durch einen Klinkmechanismus ein Weiterdrehen einer in Sechzigerteilung
mit lauter verschiedenen Zahlen versehenen, unsichtbar angebrachten weiOen
Pappscheibe von 18 cm Durchmesser, so daO jedesmal, wenn man die Kiste auf-
setzt, oben am Zifferblatt der Scheinwage durch einen kleinen Spalt eine andere
Zahl erscheint. Die Aufgabe bestand nun darin, die Kiste von einem Eckplatz,
der sich rechts vom Tisch zwei Meter entfernt von der Wage befand, aufzuheben,
zu transportieren und dann auf die Wage zu setzen, die dann erscheinende Zahl
abzulesen, im Gedachtnis zu behalten und die Kiste wieder auf ihren alten Platz
zu bringen. An diesem Eckplatz hing, an einem Strick befestigt, ein Grünstift,
mit welchem dann im Bücken auf ein oben auf dem Deckel der Kiste geheftetes
Blatt die Zahl der gerade vollzogenen Wagung aufgeschrieben wurde. Damit
die Versuchspersonen ihre Kleider nicht beschadigen und urn Hemmungen, die
sich bei körperlicher Arbeit in guter Kleidung von selbst einstellen, zu vermeiden.
378 Poppelreuter, Ober die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
wurde ein Lederschurz vorgebunden. Die Versuchsperson arbeitete ohne Jacke
und Kragen.
Wie alle Versuchspersonen übereinstimmend erklart haben, hat diese Arbeit
tatsachlich die Struktur einer wirklichen Arbeit. Man glaubt wirklich zu wiegen.
Die exakte Messung dieser Arbeitsleistung geschah als Aufzeichnung auf
meine Arbeitsschauuhr*), die sich im Nebenzimmer befand. Bei jedesmaligem
AuFsetzen der Kiste auf die Wage machte der Schreiber einen Hub nach aufwarts
dadurch, daO ein auf der Wage befindlicher elektrischer Kontakt im Moment
der Belastung bedient wurde. Ein- und ausgerückt wurde der Schreiber in zehn
Minutenphasen. Die so gewonnenen Arbeitskurven zeigt Abbildung 15. Die
Dauer des Versuches, die Lange der Abzisse, betrug eine Stunde. Eine jede
Treppenstufe bedeutet eine
einzelne Wagung. Der Ab-
stand zwischen je zwei
Treppenstufen bedeutet die
Pause, die zwischen den
einzelnen Wagungen ge-
macht wird. Das Tempo,
in welchem die einzelnen
Wagungen volizogen wer¬
den, wird dargestellt durch
die Schrage derTreppe; je
schneller gearbeitet wurde,
desto steiler ist die Treppe,
je iangsamer, je flacher.
Die Ordinate ist direkt proportional den in je zehn Minuten geleisteten Wagungen;
die Gesamtieistung bemiOt sich als deren Summe. Die Pausen, die in Analogie
mit der wirklichen Arbeit gemacht werden durften, markieren sich deutlich als
die horizontalen Teile zwischen je zwei Stunden. Eine solche Kurve gibt
also als Mengenkurve gesetzmaOig den Gesamtverlauf der betref-
fenden körperlichen Arbeit wieder (s. Abbildung 15).
Die Instruktion war folgendermaUen: Die Arbeit wurde zuerst als Wiegearbeit
demonstriert und erklart mit dem Zusatz: ,Sie dürfen Pausen machen, wobei
Sie sich auf den danebenstehenden Stuhl setzen sollen." Von der Registrierung
dieses Sitzens wurde als unnötig Abstand genommen, weil sich ja die Pausen
im Kurvenbild deutlich genug markieren und nach ihrer Dauer berechen lassen.
Mit Absicht wurde eine ausdrückliche Mahnung zur Mühegabe oder
Schnelligkeit unterlassen, um der Einstellung vulgarer Arbeit nahezukommen,
bzw. den „natürlichen Arbeitstyp". hervortreten zu lassen.
Die Arbeitsdauer betrug bei allen Versuchspersonen eine Stunde. Dies wurde
ihnen nicht mitgeteilt, da wir den künstlichen „SchluOantrieb" ausschalten wollten.
*) Modell von Zimmermann, Leipzig.
Poppelreuter, Über die Gesetzlicbkeit der praktischer! körperlichen Arbeitskurve 379
AuffaUend an den zehn Arbeits-
kurven (Abbildung 15 gibt eine Aus-
wahl) ist ihre groBe Mannigfaltig-
keit. Sie geben damit das an prak-
tischen Arbeitskurven im Gegensatz zu
Laboratoriumergogrammen charakterl-
stischeBild:Bei praktischen Schwer-
arbeitskurven pragt sich in den
groBen Variationen aus, daB die
individuelien Verschiedenheiten
die generellen Gesetzlichkeiten
überiagern.
Ihrer Spontaneitat überiassen schia-
gen die Arbeitenden ganz verschiedene
Verfahren ein; der eine arbeitet langsam
und pausenlos, der andere schnell mit
Pausen, wieder ein anderer mit seltenen iangen, oder mit hauBgen kurzen Pausen
usw. usw.
Des Zusammenhangs wegen bespreche ich zunachst die hier aufgetretene Ge-
setzlichkeit der spontanen Pause bei den acht Versuchspersonen, die solche ge¬
wacht haben.
Zahlen wir zuerst die Pausen ohne Rücksicht auf ihre HauBgkeit in ihrer
Dauer zusammen, und zwar getrennt die Pausensumme der ersten und zweiten
Versuchshalfte, so ergibt sich ausnahmslos deren Verlangerung (Tabeile I).
Zahien wir dann die Zahl der Pausen, die bei je einer Versuchsperson in
der ersten und in der zweiten Halfte gemacht werden, so ergibt sich (Tabeile 2):
Danach ist wohl eine Tendenz zur Zunahme der Haufigkeit unverkennbar;
sie ist aber im Verhaltnis zur VergröBerung der Pausendauer nur
gering ausgesprochen.
Beides für sich genommen erscheint ziemlich selbstverstandlich, nicht selbst-
verstandlich, sogar gegen die ursprüngllche Erwartung ist aber der Befund, daB
bei spontanen Pausen die Verlangerung die gröBere Haufigkeit soweit-
aus überwiegt. Das ist, wie hier nicht weiter bewiesen werden kann, für prak¬
tische Arbeit beinahe ein ausnahmsloser Befund. Ob dieses Verhalten in er-
müdungsphysiologischen Faktoren seinen Grund hat, ob es ökonomisch ist usw.,
all dieses ware spater noch zu untersuchen; wir begnügen uns hier mit der
Tatsache.
Wir wenden uns nunmehr zur Ermüdungsmanifestation bezüglich der
Kraftwerte.
Wir untersuchen zuerst das Absinken der Lelstung in der Zeit, indem wir
die Zahl der Wagungen der ersten Halbstunde mit der der zweiten zusammen-
stellen. Das ergibt die Tabeile 3, in welcher die Versuchspersonen je nach
P. P. IV, 12. 26
Versuchs¬
person
I. Halbzeit
II. Halbzeit
1
5' 11"<
7' 46"
2
2' 58" <
3' 42"
3
9' 54" <
11'41"
4
4' 4" <
10' 44"
5
3' 42" <
11' 28"
6
- <
4' 26"
7
1' 28" >
—
8
6' 34" <
18' 16"
9
8' 52" <
14' 26"
10
—
—
Tabeile 1. Summen der Pausen
380 Poppelreuter, Ober die Gesetzlicbkeit der praktiscben körperlicben Arbeitskurve
Versuchs-
person
HSufigkeit der Pausen
1
Pi nach 38 Wagungen
Pa , 26
Pa - 44
P 4 nach 20 Wagungen
Ps » 37
2
Pi nach 66 Wagungen
Pa - 49
3
Pi nach 12 Wagungen
Pa » 9
Pa I» i 4 n
P 4 - 14
P 5 nach 16 Wagungen
Pe - 15
P 7 , 19
Pa « 20
4
Pi nach 74 Wagungen
P 2 » ^2 ff
5
Pi nach 19 Wagungen
Pa . 14
Pa , 20
P 4 nach 20 Wagungen
Ps , 15
6
P nach 99 Wagungen
7
P nach 25 Wagungen
8
Pi nach 31 WSgungen
Pa » 1 ® «
P 3 nach 15 Wdgungen
P 4 » 9 „
9
Pi nach 17 Wagungen
Pa „ 13
Pa » 12
P 4 nach 8 Wagungen
Ps . 8
10
Keine Pause
Tabelle 2
ihrer absoluten Leistung in eine von oben nach unten gehende Rangreihe ge-
gebracht worden sind.
Daraus ergibt sich: eine im Nachlassen der Leistung sich auQernde Ermüdungs-
manifestation fehlt bei zwei Versuchspersonen, wo wir sogar Mehrleistung finden,
bei weiteren drei Versuchs¬
personen ist sie sehr ge¬
ring.
Für denjenigen, welcher
die körperliche Arbeit im
Banne des Mossoschen
Ergogramms betrachtet, ist
das besonders bei Würdi-
gung des Umstandes, daD-
es sich hierbei um eine
recht anstrengende Arbeit
gehandelt hat, erstaunlich,.
Vp.
w,
w.
A
Wi+W.
1
97
91
— 6
188
2
73
67
— 6
140
3
64
73
+ 9
137
4
75
58
— 17
133
5
55
48
— 7
103
6
58
41
— 17
99
7
43
47
+ 4
90
8
49
34
— 15
83
9
34
23
— 11
57
10
32
25
— 7
57
Tabelle 3
Poppelreuter, Über die Gesetzlicbkeit der praktiscben körperlicben Arbeitskurve 381
urn so mehr, da ja die Pausenverlangerung, die ein Absinken der Leistung be-
wirken müOte, schon feststeht.
Verwenen wir aber jetzt unsere ergographischen Laboratoriumversuche, so
findet sich kein AnlaO zum Verwundern: Die Bedingung zum Ausbleiben der
Ermüdungsmanifestation war hier durchaus erfüllt, die einzelne Teilleistung, das
Abwiegen, war noch unterhalb der maximal möglichen Kraftleistung.
Ebenso war das spontane Tempo noch unterhalb des maximal Möglichen.
Danach kann es uns also nicht mehr überraschen, wenn wir eine nur geringe
Beziehung zu dem typischen Mossoschen Ermüdungsabfall vorfinden.
Vergleichen wir diesen Befund mit dem vorigen, so ist bemerkenswert, daD
die Veriangerung der Erholungspausen der Ermüdung eindeutiger
entspricht als das Absinken der Kraftleistung.
Wir wiesen schon früher nach, daO eine mit zunehmender Ermüdung parallel
gehende Tempoverlangsamung, so selbstverstandlich sie erscheint, nicht aus-
nahmslos ist. Wie wenig gesetzlich sie aber in dem freien von Pausen unter-
brochenen Schwerarbeitsverlauf ist, das zeigt uns die Tabelle 4.
In dieser Tabelle findet
sich — was man an den
schaubildlichen Arbeitskur-
ven leicht ausmessen kann —
eine Berechnung des einmal
„durchgangig® zu nennen-
den Tempos. Dies ist das-
jenige Tempo, welches der
Arbeitende in den Teilen des
Arbeitsverlaufes einschlagt,
in weichen er ohne Pausen
arbeitet. In den Schaubildern
der Abbildung 15 sind es
die nicht durch die Pausen unterbrochenen Schragen. Der Einfachheit halber
geben wir nur wieder das durchgangige Tempo je der ersten und je der letzten
Halfte zusammengerechnet.
Die Diiferenz A zeigt uns das Verhaltnis des durchgangigen Tempos des
Anfanges zu dem des Endes.
Die Spalte A zeigt uns, daO von den zehn Versuchspersonen nur vier lang-
samer, sechs dagegen schneller geworden sind.
Auch dieses „trotz Ermüdung schneller werden® ist uns aus ergogra¬
phischen Versuchen bekannt geworden; bemerkenswerterwelse ist es bei der
praktiscben Arbeit noch ausgepragter. Auch diese Schnelltendenz tragt wesent-
lich dazu bei, daO trotz Zunahme der Pausen die Leistungsminderung der zweiten
gegenüber der ersten Halfte der Versuchsarbeit soviel geringer ausgefallen ist,
als man erwartete.
Vp.
d.T,
d.T,
A
|(T,+T,)
1
45,8
43,9
- 1,9
44,9
2
66,4
70,5
+ 4,1
68,5
3
56,8
45,3
— 11,5
51,1
4
62,5
62,0
— 0,5
62,1
5
86,7
75,6
- 11,1
81,2
6
93,5
114,4
+ 18,9
104
7
120,2
116,9
— 3,3
118,6
8
87,0
60,5
— 26,5
73,8
9
116,1
124,8
+ 8,7
120,5
10
170
218,9
+ 48,9
194,5
Tabelle 4
26*
382 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve
Daraus kann man die für die Praxis so wichtige Folgerung ziehen, daO man
aus einer Beschleunigung des Tempos bei körperlicher Schwerarbeit
keinesfalls den SchluO auf fehlende oder geringe Ermüdung ziehen darf.
Diese Schnelltendenz des durchgangigen Tempos erscheint urn so ausgepragter
das Kurvenbild zu beherrschen, je mehr die Pausen eine erholende Wirkung
ausüben können.
Wie aus ahnlichen Versuchen entnommen werden kann, tritt bei anstrengender
körperlicher Arbeit, bei der Pausen nicht gemacht werden durften, die Schnell¬
tendenz gegenüber der Verlangsamung zurlick. Beziehungsweise handelt
es sich hier urn die Einschiebung kleinster Pausen zwischen die Teilarbeit, die
als Tempoverlangsamung imponieren. Ich teile diese Versuche hier nicht mit,
da sie uns in das Problem der Ökonomie hineinführen wiirden und übrigens
Schwerarbeit ohne Gelegenheit zu Erhoiungspausen praktisch nicht vorkommt.
Betrachten wir nunmehr die Beziehungen, die das individuelle durchgangige
Tempo zur individuellen Leistung aufweist, so führt dies zu einer, wie mir
scheinen will, auDerst wichtigen generellen Gesetzlichkeit.
In Tabelle 5 finden sich die Versuchspersonen der Reihe ihrer Leistung nach
geordnet; durch Berechnung
d. Tj -|- d. T 2
2
gewinnen wir das mittlere durch¬
gangige Tempo für jedes Individuum.
Die auffallige Korrelation ist unverkennbar. Berechnen wir nach Bravais-
Spearman den Korrelationskoeffizlent, den die aus der Spalte 2 und 3 berechnete
Rangreihe zu der Spalte 1 hat, so bekommen wir 0.89, d. h. die absolute Höhe
der erreichten Schwerarbeiterleistung hangt ganz überwiegend von
dem durchgangigen Tempo ab.
Das ist deshalb so erstaunlich, weil bei der Berechnung des durch¬
gangigen Tempos doch die Pausen völlig ignoriert wurden und diese
doch von allergröOter individueller Variation waren.
Die individuen groBe Verschiedenheit der Pausenlange beeinfluBte also das
Leistungsergebnis nur sehr gering gegenüber dem fast als ausschlaggebend er-
scheinenden Faktor des durchgangigen Tempos.
Anders ausgedrückt: OfFenbar kommt die Lange der Pausen durch ihren Er-
holungswert der Beibehaltung eines schnellen durchgangigen Tempos zugute,
so daB also die Leistungsergebnisse bei wenigen und bei vielen Pausen
auf dem Umwege über das durchgangige Tempo dieselben bleiben
können. In die Praxis übersetzt heiBt dies: Man kann aus der absoluten
Lange der spontanen Pausen keineswegs auf die mehr oder weniger
gute Leistung schlieBen.
Das gilt natürlich nicht für das Extrem, wo aus Mangel an gutem Arbeits-
willen der gröBte Anteil der Arbeit aus Pausen besteht.
Umgekehrt kann bei Schwerarbeit auch ein völliges Unterlassen
von Pausen sich mit schlechter Leistung kombinieren.
Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 383
Legt man also auf „Einkomponenten-Rechnung* Wert — was ich nur
der Praxis, nie aber der Wissenschaft zubilligen kann —, so kann bei mit
spontanen „beliebigen" Pausen durchsetzter Schwerarbeit das MaO an
Leistung in dem durchgangigen Tempo gefunden werden.
Es wird Aufgabe spaterer Veröffentlichungen sein, von den nunmehr ge-
wonnenen Erkenntnissen aus zur gesetzlichen Interpretation wirkiicher praktischer
Arbeitskurven, die aus dem Werkstattbetriebe entnommen sind, zu kommen: Sie
liegen schon in groOer Zahl vor und sind bei den vorstehenden Ausführungen
zwischen den Zeilen schon mitverwertet worden.
Das hier Gebrachte genügt aber wohl schon, urn zu zeigen, daO man auch
den weitgehend in der Spontaneitat begründeten, scheinbar willkürlichen, freien
— was in der Sprache der Praxis „beliebig", „gesetzlos" bedeutet — praktischen
Arbeitskurven mit genau demselben Erfolg analytisch gesetzlich nachgehen kann
wie den Laboratoriumergogrammen, deren Bedingungen man viel leichter ein-
deutig experimenten festlegen kann.
Damit erst haben wir die Basis, auf welche wir eine „gesetzliche
Ökonomik* der freien praktischen Arbelt bauen können.
Rundschau
Übungsffihigkeit und Eignungsprüfung
Von Dr. Maria Schorn, Würzburg
Methodologisch gehort die Frage der
Übungsfahigkeit in das Gebiet der Erfolgs-
kontrolle. Denn die Erfolgskontrolle hat zu
untersuchen, inwieweit sich die Rangreihen,
die durch die Prüfung gewonnen wurden,
im Laufe der Praxis verschieben. Die Ur-
sachen der Verschiebung können einerseits
in den Proben selbst liegen: die Proben
geben nur Zufallswerte und garanderen
keine Konstanz. Anderseits können die Ur-
sachen auch in den Prüflingen selbst liegen,
z. B. in verschiedener charakterologischer
Veranlagung: der eine Prüfling zeigt gröBe-
ren FleiO und Ausdauer als der andere und
kann daher bei geringerer Begabung viel-
leicht gerade soviel oder mehr in der
Praxis leisten als der höher Begabtere aber
weniger Fleiöige und Ausdauernde. Oder
der eine könnte sich vielleicht als übungs-
fahiger erweisen als der andere und da-
durch um mehrere Rangplatze in der Praxis
heraufriicken.
Wenn es nun in der Erfolgskontrolle ein"
zelner Prüfungen gelungen ist, eine sehr
hohe Korrelation zwischen Laboratorium-
rangreihe und Rangreihe der Praxis zu er-
zielen*), so ist man wohl ohne weiteres für
diese Prüfungen zu dem SchluO berechtigt,
daO die Proben nicht nur Zufallswerte lie-
fern und ferner zu dem allgemeinen SchluB,
daB die charakterologischen Faktoren und
die Faktoren verschiedener Übungsfahigkeit
der Prüflinge nicht so groB sein können, wie
man dies vielleicht a priori erwartete und
besonders in Laienkreisen immer wieder als
Argument gegen die Eignungsprüfung an-
geführt wird.
Um genauere Einblicke in die Übungs¬
fahigkeit zu gewinnen, um ihren Verlauf bei
den einzelnen Prüflingen studieren zu kön-
*) Vgl. den Korrelationskoeffizienten 0,87 der
Lebrlingsprüfung des Instituts für Industrielle
Psychofechnik der Technischen Hocbschule
Cbarlottenburg (Moede, Ergebnisse der indu-
striellen Psycbotecbnik; Prakt. Psycb. 1920/21,
Heft X.)
384
Rundschau
nen, um vor allen Dingen zahlenmaOiges
Material zu gewinnen über den Anteil der
verschiedenen Übungsrahigkeit an den Rang-
platzverschiebungen in derErfolgskontrolle,
empfiehlt es sich natürlich, die Frage der
Übungsfahigkeit gesondert zu betrachten.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich
aufdieKritikzweierArbeiten,diedieÜbungs-
fdhigkeit zum Gegenstand der Untersuchung
machen. Es sind die Arbeiten von Annelies
Argelander: „Beitrage zur Psychologie der
Übung“ mit dem Untertitel „Übungsfahig¬
keit und Anfangsleistung" (Zeitschrift für
angewandte Psychologie, 1921 und 1923).
Verfasseringeht bei ihrenUntersuchungen
zunachst nicht von dem Gesichtspunkte der
Eignungsprüfung aus, sie wird zunachst von
rein theoretischen Interessen geleitet. Aber
aus ihren Resultaten zieht sie weitgehende
Folgerungen für die Eignungsprüfung, so dafi
wir uns unter diesem Gesichtspunkte die
Untersuchungen naheransehen müssen, zu-
mal Verfasserin zu sehr skeptischer Ansicht
über die Eignung nach ihren Resultaten ge-
neigt ist.
Was zunachst die erste der beiden Ar¬
beiten anbelangt „Beitrage zur Psychologie 1“
(Zeitschrift für angewandte Psychologie 1921,
S. 1), so können wir mit der Verfasserin die
Folgerungen für die Eignungsprüfung nicht
ziehen, da wir die Untersuchung sowohl hin-
sichtlich ihres Zieles wie ihrer Methode und
ihrer Resultate für diese Folgerungen nicht
als beweiskraftig ansehen können.
I. Als Ziel der Untersuchung wahlt Ver¬
fasserin die Feststellung des Quantitats-
zuwachses innerhalb des Übungsverlaufes.
Kritisch möchte ich dazu bemerken, dal3 die
Quantitat, der Zeitfaktor, eine geringe Rolle
bei der Eignungsprüfung spielt und daher
aus einer verschieden groOen Übungsfahig¬
keit hinsichtlich der Quantitat nicht auf eine
verschieden groDe Übungsfahigkeit über¬
haupt geschlossen werden kann. Nehmen
wir z. B. die Lehrlingsprüfung des Instituts
für Industrielle Psychotechnik der Tech-
nischen Hochschule Charlottenburg, so (in¬
den wir nur bei zwei Proben, der Drabt-
biegeprobe und am Zweihandprüfer eine
Mitbewertung der Zeit.
II. Auch die Methode können wir nicht
für zweckmaOig halten, um zu allgemeinen
Folgerungen für die Eignungsprüfung zu ge-
langen. Verfasserin studiert den Übungs-
anstieg am Erlernen der Schreibmaschine
bei sechs Versuchspersonen. Versuchsper-
son hat mit einem Finger der rechten Hand
einen Text abzuschreiben. Der Versuch
dauert Vz Stunde und wird 20 Tage lang
fortgesetzt. Der Arbeitsvorgang an der
Schreibmaschine ist unseres Erachtens viel
zu kompliziert, um zu allgemeinen Resul¬
taten zu gelangen. In den Untersuchungen
des Instituts für Wirtschaftspsychologie der
HandelshochschuleBerlinzeigtendieÜbungs-
kurven an der Schreibmaschine einen von
der allgemeinen Übungskurve abweichenden
Verlauf, die auch auf keinen Fall mit dem
20. Tage schon als abgeschlossen geiten
konnte.
III. Was schlieOlich die Resultate an-
geht, so berechtigen sie auch nicht zu den
skeptischen Folgerungen der Verfasserinhin-
sichtlich der Eignungsprüfung. Die Resul¬
tate bestehen darin; 1. daD die schlechteren
Leistungen einen höheren prozentualen
Übungsanstieg aufzuweisen haben als die
guten Leistungen; 2. daO die individuellen
Differenzen der Anfangsleistung weitgehend
ausgeglichen werden. Für die Praxis der Eig¬
nungsprüfung wird eigentlich nur daszweite
Resultat wichtig, wenn namlich eine Rang-
reihenverschiebung durch die verschiedene
Übungsfahigkeit eintritt. Betrachten wir dar-
aufhin die Versuchspersonen der vorliegen-
den Arbeit. Verfasserin bemerkt selbst:
„Unsere Versuche haben ergeben, daO die
beiden Versuchspersonen mit der besten
und die Versuchsperson mit der schlech-
testen Leistung ihre Rangplatze am Anfang
und Ende der Rangreihe im Endresultat nicht
Rundschau
385
verlassen haben.“ Die drei mittleren Ver-
suchspersonen vertauschen ihre RangplMtze
miteinander. Berechnet man aus den mit-
geteilten Rangreihen die mittlere Rangplatz-
differenz, so ergibt sich 0,64, ein Resultat,
das fürdie praktischenZweckederEignungs-
prüfung vollauf genügen dürfte.
In der zweiten Arbeit („ Beitrage zur Psycho¬
logie der Übung II—IV“, Zeitschrift für ange-
wandte Psychol., 1923, S. 225) wird in einem
ersten Teile die Übungsrahigkeit der Lei-
stungsqualitat zum Gegenstand der Unter-
suchung gemacht. Die Versuchspersonen
batten Strecken zu schatzen nach dem Tast-
eindruck. Zu diesem Zwecke wurde eine
30 cm lange Metallröhre benutzt, in deren
Lüngsrichtung in einem Einschnitt zwei ver-
schiebbare Stifte R und L angebracht waren.
Ein feststehender Stift M bezeichnete die
Mitte. Von der Mitte aus war nach beiden
Seiten eine Skala in Millimetereinteilung an¬
gebracht. Der Versuchsleiter steilte auf der
einen Seite der Skala eine Strecke ein und
lieD die Versuchsperson mit geschlossenen
Augen auf der anderen Seite eine gleiche
Strecke einstellen. Diese Einstellung hatte
in vier verschiedenen Arten zu geschehen.
In der Versuchsreihe a strich die Versuchs¬
person mit dem Finger die gegebene Strecke
entlang undverglich durch Fingerbewegung
die von ihr hergestellte mit der gegebenen
so lange, bis sie die richtige Einstellung ge-
funden zu haben glaubte. In der Versuchs¬
reihe b war dieser Vergleich mit der ge¬
gebenen Strecke dagegen nicht statthaft.
In der Versuchsreihe c und d wurde die Ein¬
stellung der Strecke nicht nach dem Be-
wegungseindruck, sondern nach dem Gröfien-
eindruck der Spannung zwischen Daumen
und Zeigehnger verlangt, und zwar durfte
in Versuchsreihe c die eingestellte Strecke
durch Vergleich mit der Normalstrecke
immer wieder kontrolliert werden, bei Ver¬
suchsreihe d dagegen nicht. Die Versuche
wurden auf neun Tage ausgedehnt. Die An-
-zahl der Versuchspersonen betrug acht.
Die Ergebnisse der vier Versuchsanord-
nungen ist insoweit interessant, als bei zwei
Versuchsanordnungen b und d und teilweise
auch bei c sich kein höherer prozentualer
Leistungsanstieg bei schlechterer Anfangs-
leistung aufweisen laBt. Wenn nur durch-
weg in der Versuchsanordnung a bei sonst
gleichen Bedingungen der Leistungsanstieg
bei schlechterer Anfangsleistung prozentual
höher ist, so mussen wir daraus den SchluB
ziehen, daB prinzipiell nicht die X ge-
prüfte Fahigkeit als solche in ver-
schiedenem Grade übungsfahig ist
bei den einzelnen Versuchspersonen,
sondern daB lediglich dieVersuchsanordnung
als solche die sich hier ergebenden Resul-
tate erzielte.
In einem zweiten Versuch wurde eineSub-
stitutionsprobe bei 34 elf- bis zwölfjahrigen
Volksschülern angestellt. Eine Anzahl von
Wörtern sollten an Hand eines mitgegebenen
Schlüssels, den die Versuchsperson standig
benutzen durfte, in ein anderes Alphabet
übertragen werden. Der Versuch dauerte
zehn Minuten und wurde an sechsTagen mit
je einem Tag Zwischenraum wiederholt. —
Leider erstreckensich diegewonnenenResul-
tate nur auf die Quantitkt der'Leistung; wir
haben also hier wiederum nur eine reine
Zeitmessung vor uns.
In einem dritten Teile dieser zweiten Un-
tersuchung über (jbungsFahigkeit sammelt
Verfasserin Zahlen über die Zeiten, die
die Lehrlinge in einem GroBbetriebe der
Metallindustrie für ihre in der Werkstatt
angefertigtenÜbungsstückegebrauchtenund
berechnet auch hier den Übungsverlauf für
die einzelnen Lehrlinge. Da wir gerade in
diesem Falie den Zeitfaktor im Verhaltnis
zur Qualitat für ziemlich belanglos halten,
so besagen die gewonnenen Zahlen für die
Eignungsprüfung sehr wenig und berech-
tigen nicht zu dem SchluB, den Verfasserin
zieht, „daB bei der Auswahl von Lehrlingen
nicht ohne weiteres eine einmaligeEignungs-
386
Rundschau — Eingegangene Schriften
prüfung für die Einstellung in den Betrieb
entscheidend sein dürfte.®
Eingegangene Schriften
Lindworsky, J., Der Wille, seine Erschei-
nung und seine Beherrschung. Nach
den Ergebnissen d. experimentellen Forschung.
3., erweiterte Auflage. (VI, 282 S.) S". Leipzig
1923. Joh. Ambr. Barth. Gz. 7.—.
Lindworsky, J., UmriOskizze zu einer
theoretischen Psychologie. 2. Auflage.
Sonderabdruck aus der Zeitschrift für Psy¬
chologie, Band 89. (47 S.) 8®. Leipzig 1923.
Joh. Ambr. Barth. Gz. 1.20.
Oberth, Hertnann, Die Rakete zu den
PI a n e t e n r a u m e n. Mit 2 Tafeln und
58 Textabbildungen. (92 S.) gr. 8®. München
und Berlin 1923. R. Oldenbourg. Gz. 2.—.
Ordinans, Die Welt als Subjekt = Objekt.
EinfOhrung in die Lehre von den allgemeinsten
Gedanken. (XII, 323 S.) 8®. Berlin 1923.
Konrad Grethleins Verlag. Gz. 4.—.
Paull, Prof. Dr. R., PsychologischesPrak-
tikuro. Leitfaden für experimentell-psycho-
logische Übungen. 3., verbesserte Auflage.
Mit 100 Abbildungen im Text und 4 Tafeln.
(XVI, 247 S.) 8®. Jena 1923. Gustav Fischer.
Geh. Gz. 5.—, geb. Gz. 6.—.
Sachs, H., Die Trager der experimen¬
tellen Eignungspsychologie. (Schriften
zur Psychologie der Berufseignung und des
Wirtschaftslebens, hrsg. von Otto Lippmann u.
William Stern, Heft 25.) (34 S.) 8®. Leipzig
1923. Joh. Ambr. Barth. Gz. 1.20.
Für dieSchriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W.Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold-
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von BreitkopfCr Hartel in Leipzig.
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4
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