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Full text of "Praktische Psychologie 4.1922-23"

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PRAKTISCHE 

PSYCHOLOGIE 

MONATSSCHRIFT 

FÜR DIE GESAMTE ANGEWANDTE PSYCHOLOGIE, 
FÜR BERUFSBERATUNG UND INDUSTRIELLE 
PSYCHOTECHNIK 


HERAUSGEBER; 

PROF. DR. W. MOEDE - DR. C. PIORKOWSKI 

BERLIN 


4. JAHRGANG 
1922/23 



S. HIRZEL . VERLAG IN LEIPZIG 



Printed in Germany 


INHALTSVERZEICHNIS 

•) bedeutet Buchbesprechung 


Argelander, BeitrSge z. Psychologie d. Übung. 
(Zeitschrift für angewandte Psychologie 1921 
und 1923) 384*). 

Baerwald, Das weibliche Seelenleben und die 
Frage seiner Gleichwertigkeit 286*). 

Baumgarten, Der Analogietest 201. 

Becker, Die Begabten-Auslese 192*). 

Bericht über die erste Sitzung des Psycho- 
technischen Ausschusses der Reichsbahnver- 
waltung 361. 

Berliner, Die Bedeutung der Rangordnungs- 
methode fiir die Werbeforschung 284*). 

Bobertag, Bericht über neue Fortschritte auf 
dein Gebiete der padagogischen Psychologie 
189. 

Bogen, Die psychologische Abteilung in der 
Praxis des BeruTsamtes 303. 

Bondy, Die proletarische Jugendbewegung in 
Deutschland 88*). 

Busse, BeruFskundliche Untersuchung des 
Rangierdienstes 350. 

BQhler, Das Seelenleben d. Jugendlicben 191*). 

Couvé, Eisenbahnbetriebsunfalle und Psycho- 
tecbnik 193. 

Couvé, Organisation und AuFbau der Lebrlings- 
eignungsprüFung bei der Deutschen Reicbs- 
bahn 328. 


Dannenberg, Erfahrungen bei der Prüfung 
und Berufsberatung künstlerisch Begabter in 
GroH-Berlin 236. 

Dunkmann, Die Lehre vom Beruf 316*). 
Dünnhaupts Studiën- und Berufsführer, Bd.2: 
Psychologie und Psychotechnik 94*). 


Ebel, GegenwSrtige Organisationsformen der 
Psychotechnik 309. 

EignungsprOfungen in England 62. 
Erisman-Moers, Psychologie der Berufsarbeit 
und der Berufsberatung 90*). 

Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus 
165. 


' Fin der, AuFbau und Wirkungsweise von Zwei- 
o handprüFern 359. 

Fried rich. Das Anlernen auFpsychotechnischer 
Grundlage. „FShigkpitsschulung** 1. 

Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwoll- 
Feinflyer 265. 

Glasel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichs- 
babn 335. 

Grunwald, P3dagogische Psychologie 189*). 


O 

Cn 




Habrich, Pedagogische Psychologie 255*). , 

Hallbauer, PrQFung der AuFmerksamkeits- und 
Reaktionsweise von TriebwagenFührern 104. 

Hamburger, Die unmittelbaren psycholo- 
gischen Folgen des Gebrauches der Papier¬ 
merk in der Wirtschaft 81. 

H an Ffstaengel, NeueGrundlagen der Werbung 

122 . 

Hartungen, Psychologie der Reklame 91*). 

Henning, Zur Psychotechnik der Frauen- 
beruFe 219. 

Henning, Eine TestprüFung des Willens 97. 

Hochschule, Technische, Stuttgart 315. 

HoFFmann, Die ReiFezeit 191*). 

Huth, Anieitung zur Schüler-Personalbe- 
schreibung. (Zeitschrift für pedagogische 
Psychologie, Bd. 23) 191*). 

Hylla, Die Bedeutung der Begabungsforschung 
für die Berufsberatung 191*). 

Kesselring, IntelligenzprüFungen und ihr 
pSdagogischer Wert 319*). 

Kimura, Ermüdungsstudien bei genau be- 
messener körperlicher Arbeit 316*). 

Klemm-Sander,Experimentelle Untersuchun- 
gen über die Form des Handgriffes an Dreh- 
kurbeln 300. 

Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung 
für Punker 289. 

Koffka, Grundlagen der psychischen Entwick- 
lung 190*). 

Koehier, Wesen und Bedeutung des Indivi- 
dualismus 256*). 

Konferenz, Allrussische, für wissenschaftliche 
Arbeitsorganisation und Betriebsfübrung 224. 

Konferenz, Die 111. internationale, für Psycho- 
tecbnik und Berufsberatung in Mailand vom 
2.-4. Oktober 1922 126. 

Kongreö, Achter, für Psychologie in Leipzig 
vom 17.—20. April 1923 246. 

KraulJ, Betriebsrat und Arbeitswissenschaft 
285*). 

Liepmann, Psychologie der Frau 287*). 

Lipmann, Psychologie für Lehrer 190*). 

Le Bon, Psychologische Grundgesetze in der 
Völkerentwicklung 92*). 

Lobsien, Untersuchungen über die Befahigung 
zur Erlernung der Fremdsprache 33. 

Marbe, Über Unfallversicherung und Psycho' 
technik 257. 

Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der 
praktischen Psychologie 129. 


564047 


IV 


Inhaltsverzeicbnis 


Mühlen, vonder, Statistische Erhebung über 
die Geneigtbeit der gesamten Barmer Lebrer- 
schaft, einen Beobachtungsbogen zu führen 185. 

Müller, G. E., Komplextbeorie und Gestalt- 
theorie 320*). 

Müller, H., Die Mertnersche Reform-Sprachen- 
lernmethode 279. 

Obst, Das Buch des Kaufmanns 93*). 

Piorkowski,Wirkungssteigerung bei Reklame- 
mitteln durcb Vereinfachung 210. 

Poppelreuter, Ober die Gesetzlicbkeit der 
praktiscben körperlichen Arbeitskurve 365. 

Poppelreuter, Die Aufgaben des Landarbeits- 
und Berufsamtes bei der Organisation prak- 
tisch-psycbologischer Einrichtungen 320*). 

Praktische Psychologie und Berufsberatung 32. 

Psychologische Schülerbeobacbtung zur Vor- 
bereitung der Berufsberatung (Zeitscbrift für 
angewandte Psychologie, Band 18) 191*). 

Psychologiscbes Beobachten für die Berufs¬ 
beratung (nebst Beobachtungsbogen) 191*). 

Psychotecbnik bei den flnnischen Staatseisen- 
bahnen 284. 

Quiel, Beitrkge zur Berufswahl an Hand einer 
Fragebogen-Enquete 56. 

Roemer, PsychographiscbeTiefenanalyse eines 
Gro&industriellen und seines Stabes 16. 

Rosé, Der Selbstbericbt und die Berufsberatung 
der Schüler höherer Lehranstalten 294. 

Rosé, Die Organisation der Berufsberatung241. 

Ruffer, Auswertungserfabrungen der Psycbo- 
tecbniscben Prüfstelle der Osram G. m. b. H. 
Kommanditgesellscbaft, Pabrik S 225. 

Scbnelckert, DasWiedererkennen von Hand¬ 
schriften 117. 

Schneider, Das BriefstempelgeschSft 65. 

Scborn, Übungsfübigkeit und Eignungsprü- 
fung 383. 

Schreber, DerMensch als Kraftmascbine 127*). 

Schriften, Eingegangene, 128, 256, 362, 386. 

Scbulbof, Die Mitwirkung des Arztes bei der 
Ausarbeitung und Durcbfübrung psychotech- 
nischer Eignungsprüfungen 222. 


Skutsch, Die Psychotechnische Versuchsstelle 
der Reichsbahn, ihre Eignungsprüfungen und 
Erfolgskontrollen 321. 

Sozial-psycbologiscbe Untersuchungen in 
Amerika 86. 

Stern, Die Festslellung der psychiscben Be- 
rufseignung und die Scbule (Beiheft zur Zeit- 
schrift für angewandte Psychologie) 191*). 

Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textil- 
industrie 175. 

Stern, Zur Frage der Gewinnung einer charak- 
terologiscben Typologie aus Beobachtungs- 
bögen 76. 

Tagung, Die erste, für angewandte Psychologie 
der Gesellschaft für experimentelle Psycho¬ 
logie in Berlin 28. 

Technische Hochscbule, Stuttgart 315. 

Thorndike, Educational Psychology — Psycho¬ 
logie der Erziebung, berausgegeben von Bober- 
tag 190*)^ 

Tramm, Ober die Behandlung der Arbeiter 44. 

Tucb, Die Dreiwortmethode als Kombinations- 
probe 272. 

Tumlirz, Einfübrung in die Jugendkunde 189*). 

Valentiner, Zur experimentellen Feststellung 
von berufswichtigen Willenseigenscbaften bei 
Jugendlichen 10. 

Valentiner, Zur Auslese für die höheren 
Schulen (Beiheft zur Zeitscbrift für ange¬ 
wandte Psychologie) 191*). 

Verband Praktischer Psychologen 32. 

Werner, Prüfung der FShigkeit der Geschwin- 
digkeitsscbStzung und Bremsfübrung anTrieb- 
wagenführern 113. 

Wildbrett, Individuelle Beobacbtung bei Eig¬ 
nungsprüfungen und Erfolgskontrollen 355. 

Wittmann, Über das Sehen von Scheinbe- 
wegungen und Scheinkörpern 93*). 

Wulf fen,DasWeibalsSexualverbrecherin288*). 

Zühlsdorff, Das Begabungsproblem in der 
Grundschule 191*). 



REGISTER 


Amerika, Sozialpsychologische Untersuchungen 
86 ff. 

Analogietest 201 ff. 

Aniernen auf psychotechnischer Grundlage 
„Fkhigkeitsschulung** 1 ff. 

Arbeit, Psychologische Analyse der 126. 

Arbeiter, Ober die Bebandlung der 44ff. 

Arbeitsanalysen 175. 

Arbeitsanalysen, materiale, aus der Textil- 
industrie 175 ff. 

Arbeitsbeobacbtungen am BaumwollTeinflyer 
265 ff. 

Arbeitskurve, Ober die Gesetzlichkeit der prak- 
tiscben körperlicben 363 ff. 

Arbeitsleistungen, Analyse wirklicber 365 f. 

Arbeitsorganisation, Allrussiscbe Konferenz für 
224. 

Arbeitsprobe 11 ff. 

Arbeitsrbytbmus, Das Problem des 165 ff. 

Arbeitsuntersucbung (Briefstempelgescbafi) 

65 ff. 

Arbeitswissenscbaft und Betriebsrat 285 f. 

Arztes, Mitwirkung des, bei der Ausarbeitung und 
Durcbfübrung psychotechnischer Eignungs- 
prüfungen 222 ff. 

Aufbau undWirkungsweise von Zweihandprüfern 
359 ff. 

AuFmerksamkeits- und Reaktionsweise vonTrieb- 
wagenfOhrern, Prüfung der 104 ff. 

Ausfragung, Eigenschaftsfeststellungdurch 136 ff. 

Auslese für die höheren Scbulen 191. 

Auswertungserfahrungen der Psychotecbniscben 
Prüfstelle der Osram G. m. b. H. Kommandit- 
gesellscbaft. Pabrik S, 225 ff. 

Barmer Lebrerscbaft, Geneigtheit der, einen 
Beobachtungsbogen zu führen 185 ff. 

Baumwollfeinflyer, Arbeitsbeobacbtungen am 
265 ff. 

Befahigung zurErlernung derFremdspracbe33ff. 

Begabtenauslese 192. 

Begabtenauslese GroB-Berlin, Erfahrungen mit 
dem Beobachtungsbogen 146 ff. 

Begabungsforschung für die Berufsberatung 191. 

Begabungsproblem in der Grundschule 191 f. 

Begutacbtungsverfahren, Wesen, Methodologie 
und Erfolg der verschiedenen 29. 

Bebandlung der Arbeiter 44ff. 

Beobachtung, Schul- und Berufsleistungen und 
ibre psychologische Zergliederung als Brücke 
zwischen Experiment und unbewaffneter 163 f. 

Beobachtungsbogen bei Jugendlichen 192. 

Beobachtungsbogen bei der Begabtenauslese 
Grofi-Berlin 146 ff. 


Beobachtungsbogen, Frage- und, in der prak- 
tischen Psychologie 130 ff. 

Beobachtungsbogen, Statistische Erhebung über 
die Geneigtheit der gesamten'Barmer Lebrer- 
schaft, einen.. zu führen 185ff. 

Beobachtungsbogen, Zur Frage der Gewinnung 
einer charakterologischen Typologie aus 76 ff. 

Beruf, Die Lehre vom 316. 

Berufsamtes, Aufgaben des, bei der Organisation 
praktisch-psychologischer Einrichtungen 320. 

Berufsamtes, Die psychologische Abteilung in 
der Praxis des 303 ff. 

Berufsarbeit und Berufsberatung 90 f. 

Berufsberatung künstlerisch Begabter in GroB- 
Berlin 236 ff. 

Berufsberatung und Begabtenforscbung 191. 

Berufsberatung, Die Organisation der 241 ff. 

Berufsberatung der Schüler höherer Lehran- 
stalten 294 ff. 

Berufsberatung, Psychologie der Berufsarbeit 
und 90 f. 

Berufsberatung, Psychologische Schülerbeob- 
achtung zur Verbreilung der 191. 

Berufsberatung und Tayiorismus 127. 

Berufseignung, Feststeliung der psycbischen, 
und die Schule 191. 

Berufskundlicbe Untersuchung des Rangier- 
dienstes 350 ff. 

Berufsneigungen und Berücksichtigung bei 
Eignungsprüfungen 127. 

Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete 
56 ff. 

Bestimmungsmetboden für Persönlicbkeitstypen 
247 f. 

Betriebsführung, Allrussiscbe Konferenz für 224. 

Betriebsrat und Arbeitswissenscbaft 285f. 

Bremsführung, Prüfung der Fahigkeit der Ge- 
schwindigkeitsscbatzung und, an Triebwagen- 
führern 113 ff. 

BriefstempelgeschSft 65 ff. 

Cbarakter- und Begabungsunterschiede, Experi- 
mentelle Untersuchungen bei Tieren 254 f. 

Charakterologischen Typologie, Gewinnung aus 
Beobachtungsbogen 76 ff. 

Charlottenburg, Technische Hochscbuie, Tagung 
der Gesellschaft für experimentelle Psycho¬ 
logie in Berlin 28 ff. 

Dezimal-Klassiükation, Internationale 125 f. 

Dreiwortmethode als Kombinationsprobe 272 ff. 

Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn 335ff. 

Eigenschaften, Natürlicbe und erworbene 126 f. 

Eigenschaften, Was sind berufiiche? 126. 

Eigenschaftsfeststellungdurch Ausfragung 136ff. 



VI 


Register 


Eigenschaftsfeststellung, Forderungen zur Be- 
gründung einer wissenschaftlichen Methode 
der Eigenschaftsfeststellung durch Beobach- 
tung von Schul- und Berufsleistungen und 
Befragung BerufstStiger 154ff. 

Eignungsprüfung, Psychotechnische, für Punker 
289 ff. 

Eignungsprüfung und Übungsfahigkeit 383 ff. 

Eignungsprüfungen, Mitwirkung des Arztes bei 
222 ff. 

Eignungsprüfungen, Individuelle Beobachtungen 
bei 355 ff. 

Eignungsprüfungen in England 62 ff. 

Eignungsprüfungen der Psychotechnischen Ver- 
suchsstelle der Reichsbahn 322 ff. 

Eisenbahnbetriebsunfalle u.Psychotechnik 193ff. 

England, Eignungsprüfung 62 ff. 

Entwicklung der angewandten Psychologie 28 f. 

Entwicklung, Grundlagen der psychischen 190. 

Erfolgskontrollen, Individuelle Beobachtung bei 
355 ff. 

Erfolgskontrollen der Psychotechnischen Ver- 
suchsstelle der Reichsbahn 321 ff. 

Ergographie 363 ff. 

Erkenntnisvermögen (Padagogische Psychologie, 
Band 1) 255 f. 

Ermüdungsstudien bei genau bemessener körper- 
licher Arbeit 316 ff. 

Erziehung, Psychologie der 190. 

Experiment und Probe der praktischen Psycho¬ 
logie, Angriffe der Fragelistentheoretiker gegen 
132 ff. 

Experiment und unbewaffnete Beobachtung, 
Reprasentative Schul- und Berufsleistungen 
und ihre psychologische Zergliederung als 
Brücke zwischen 163f. 

Fahigkeitsschulung 1 ff. 

Feststellungsmethoden der angewandten und 
praktischen Psychologie 29. 

Fragebogen, Internationale Vereinheitlichung 
der Teste und 126. 

Frage- und Beobachtungsbogen in der prak¬ 
tischen Psychologie 130 ff. 

Fragebogens, Verwendungsformen des 129 ff. 

Frau, Psychologie der 287 f. 

Frauenberufe, Zur Psycbotechnik der 219 ff. 

Fremdsprache, BefShigungzurErIernungder33ff. 

Funker, Psychotechnische Eignungsprüfung für 
289 ff. 

Gesellschaft für experimentelle Psychologie in 
Berlin, Die erste Tagung für angewandte 
Psychologie 28 ff. 

Geschlechtsunterschiede, Problematik der 250. 

Geschwindigkeitsschatzung, Prüfung der Fahig- 
keit der, und Bremsführung an Triebwagen- 
führern 113 ff. 

Gestalttheorie und Komplextheorie 320. 

Grundschule und Begabungsproblem 191 f. 

Hallbauer-Stern, Signalstreckenapparat 108. 

Handgriffes, Experimentelle Untersuchungen 
über die Form des Handgriffes, an Dreh- 
kurbeln 300 ff. 

Handschriften, Wiedererkennen 117ff. 


Individualismus, Wesen und Bedeutung des 256. 

Intelligenzprüfungen und ihr pidagogischer 
Wert 319. 

Jugendbewegung, Die proletarische, in Deutsch- 
land 88 ff. 

Jugendkunde, Einführung 189. 

Jugendlichen, Das Seelenleben der 191. 

Jugendlichen, Zur experimentellen Feststellung 
von berufswichtigen Willenseigenschaften bei 
10 ff. 

Jugendpsychologie, Über das Verhaltnis von 
experimenteller Mnd strukturpsychologischer 
Forschung in der 252 f. 

Kartei, Technisch-wissenschaftliche 123 ff. 

Kaufmann, Das Buch des 93. 

Kinderpsychologie 190. 

Kinderzeichnungen, Primitive Komplexquali- 
taten in 253 f. 

Kombinationsprobe, Die Dreiwortmethode als 
272 ff. 

Kompensationswerte der Persönlichkeit 251. 

Komplextheorie und Gestalttheorie 320. 

Körperlicher Arbeit, Ermüdungsstudien bei ge¬ 
nau bemessener 316 ff. 

Kragsche Maschine mit Rillenkasten 70. 

Künstlerisch Begabte, Prüfung und Berufs- 
beratung 236 ff. 

Landarbeitsamtes, Die Arbeit des, bei der Or- 
ganisation praktisch-psychologischer Einrich* 
tungen 320. 

Lehrer, Psychologie für 190. 

Lebrlingseignungsprüfung bei der Deutschen 
Reichsbahn, Organisation u. Aufbau der 329ff. 

Lehrmittelzentrale, Technisch-wissenschaftliche 
123 ff. 

Leipzig, Achter KongreD für Psychologie 246ff. 

Mailand, 111. Internationale Konferenz für Psy- 
chotechnik und Berufsberatung 126 f. 

Martin-Methode 64. 

Mensch als Kraftmaschine 127 f. 

Menschenbehandlung 44 ff. 

Mertnersche Reform-Sprachlernmethode 279 ff. 

Mosso, Ergographie 363 f. 

Organisationsformen, Gegenwartige derPsycho- 
technik 309 ff. 

Osram G. m. b. H., Psychotechnische Prüfstelle, 
Auswertungserfahrungen 225. 

Papiermark, Die unmittelbaren psychischen 
Folgen des Gebrauchs in der Wirtschaft 81 ff. 

Papiernormung, Benutzung für Werbung 123. 

Padagogische Psychologie, Bericht über neuere 
Fortschritte auf dem Gebiete der 189 ff. 

PSdagogische Psychologie 255 f. 

PadagogischerWert, Intelligenzprüfungen u. 319. 

Persönlichkeit, Kompensationswert der, 251. 

Persönlichkeit und Vererbung 249. 

Persönlichkeitsforschungu.Selbstbiographie250. 

Persönlichkeitstypen und die Methoden ihrer 
Bestimmung 247. 

„Praktische Psychologie" 191. 

Praktiker, Urteilsgrundlage des 31. 



Register 


VII 


Proletarische Jugendbewegung 88 ff. 

Prüfung und Berufsberatung künstlerisch Be- 
gabterinGroQ-Berlin,Erfahrungenbeider236ff. 

„Psychologisch-pidagogiscbe Arbeiten" 191. 

Rangierdienst, Berufskundliche Untersuchung 
350 ff. 

Reichsbahn, Organisation und Aufbau der Lehr- 
lingseignungsprüfung bei der 328 f. 

Reichsbahn, Psychotechnische Versuchsstelle 
193 ff. 

Reichsbahn, Die Psychotechnische Versuchs¬ 
stelle, ihre Eignungsprüfungen und Erfolgs- 
kontrollen 321 ff. 

Reichsbahn, Von der Dresdner Prüfstelle der 
335 ff. 

Reichsbahnverwaltung, Psychotechnischer Aus- 
schuQ der 361 f. 

Reklame, Psychologie der 91 f. 

Reklamemitteln, Wirkungssteigerung durch Ver- 
einfachung bei 210 ff. 

Religiöser Gedanke, Erscheinungsweise des 250 f. 

Rhytbmus bei der Arbeit 165 ff. 

Seelenleben des Jugendlichen 191. 

Seelenleben, Das weibliche, und die Frage seiner 
Gleichwertigkeit 286 f. 

Sehscharfeapparat 226. 

Selbstbericbt und Berufsberatung bei Schülern 
höherer Lehranstalten 294 ff. 

Seibstbiographie und Persönlicbkeitsforschung 
250. 

Setzer, Eignungsprüfung 62 ff. 

Sexualverbrecherin, Das Weib als 288. 

Sitzung des Psychotechnischen Ausschusses der 
Reichsbahnverwaltung 361 ff. 

Sozialpsychologische Untersuchungen in Ame¬ 
rika 86 ff. 

Sylbesche Maschine SIterer Bauart 69. 

Scheinbewegungen und Scheinkörper 93 f. 

Scheinkörper und Scheinbewegungen 93 f. 

Schokoladenfabrik, Eignungsprüfung in einer 
engliscben 64. 

Schul- und Berufsleistungen und ihre psycho¬ 
logische Zergliederung als Brücke zwischen 
Experiment und unbewaffneter Beobachtung 
163 ff. 

Schul- und Berufsleistungen , Eigenschaftsfest- 
stellung durch Beobachtung von 154 ff. 

Schuie und Feststellung der psycbischen Be- 
rufseignung 191. 

Schuier höherer Lehranstalten, Berufsberatung 
der 294 ff. 

SchüIer-Personalbeschreibung,Anleitungzur 191. 

Schülertypus, Die Beeinflussung durch die Unter- 
richtsart 252. 

Sprachlernmethode, Die Mertnersche Reform- 
279 ff. 

Staatseisenbahnen, Psychotechnik bei den Finni- 
schen 284. 


StempelgeschSft, eine Arbeitsuntersuchung 65ff. 

Strebevermögen (Padagogische Psychologie, 
Band 11) 255 f. 

Strukturbegriff in der Psychologie 246 f. 

Studiën- und BerufsfQhrer, Dünnhaupt 93 ff. 

Stuttgart, Technische Hocbschule 315. 

Tagung, Erste, des Verbandes Praktischer Psy¬ 
chologen 32. 

Tayiorismus und Berufsberatung 127. 

Teste und Fragebogen, Internationale Verein- 
heitlichung der 126. 

Testprüfung des Willens 97 ff. 

Tiefenanalyse, Psychographische, eines GroB- 
industriellen und seines Stabes 16 ff. 

Tieren, Experimentelle Untersuchungen über 
Charakter- u. Begabungsunterschiede bei 254 f. 

Tierpsychologie, rSumliche Gebundenheit bei 
Tieren 254. 

Triebwagenführern, Prüfung der Fahigkeit der 
Geschwindigkeitsschützung und Bremsführung 
an 113 ff. 

Triebwagenführern, Prüfung der Aufmerksam- 
keits- und Reaktionsweise von 104 ff. 

Typenforschung 248 f. 

Typenlehre,psychologische, für PSdagogen 189 f. 

Typologie, Zur Frage der Gewinnung einer 
charakterologischen, aus Beobachtungsbögen 
76 ff. 

Unfallversicherung und Psychotechnik 257 ff. 

Unterrichtsart und Schülertypus 252. 

Urteile, Beziehungen der psychologischen und 
praktischen 31. 

Übungsfkhigkeit und Eignungsprüfung 383 ff. 

Verband Praktischer Psychologen 32. 

Vereinfacbung von Reklamemitteln 210ff. 

Vereinheitlichung, Internationale, der Teste und 
Fragebogen 126. 

Vererbung und Persönlichkeit 249. 

Verwendungsformen des Fragebogens 129 ff. 

Völkerentwicklung, Psycbol. Grundgesetze 92f. 

Weib, als Sexualverbrecherin 288. 

Werbeforschung, Die Bedeutung der Rang- 
ordnungsmethode für die 284 f. 

Werbung, Neue Grundlagen der 122 ff. 

Willens, Eine Testprüfung des 97 ff. 

Willenseigenschaften, Zur experimentellen Fest¬ 
stellung von berufswicbtigen, bei Jugend¬ 
lichen 10 ff. 

Willensfreibeit und PSdagogik des freien Wollens. 
(PSdagogische Psychologie, Bd. III) 255 f. 

Wiedererkennen von Handschriften 117 ff. 

Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durch 
Vereinfacbung 210 ff. 

„Zeitschrift für padagogische Psychologie" 191. 

Zweihandprüfer, Aufbau u. Wirkungsweise 359 ff. 




PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. OKTOBER 1922 1. HEFT 


Die Praktische Psychologie erschelnt in monatllchen Heften lm Uroftnge von zwel Bogen zum Preiee von 300 Mark vlerteljibrllch 
fOrs Inland. FQrs Ausland besondere Prelse. (Vierteliabrspreis bei unmlttelbarer Zustellung unter Krtuzband lm Inland ein* 
scblIeOlicb österreich - Ungarn 400 Mark.) Bestellungen nebmen alle Bucbhandlungen, die Post sowie die Verlagsbucbbandlung 
entgegen. Anzelgen vermlttelt die Verlagabuchbandlung S. Htrzel In Lelpzlg, KönlgstraOe 2. Postscbeckkonto Leipzlg226.— 
AHe Manuakrlptsendungen und darauf bezügllche Zuachrlfteo aind zu richten an die Adresse der Schriftleltung: Prof. Dr. W. M oed e 
und Dr. C. Piorkowaklf BerllnWSO, LuitpoldstraOe 14. 


Das Anlernen auf psychotechnischer Grundlage 
„Fahigkeitsschulung“ 

Von Dr.-Ing. A. Friedrich, Privatdozent für Psychotechnik 
an der Technischen Hochschule zu Hannover 

Das Anlernen erfolgt in '/a—der bisberigen Zeit und führt 
zu einer handwerklichen Vertiefung der Arbeit, damit zur Er- 
höhung der Güte und Schnelligkeit, zur Verringerung des 
Verbrauchs an Kraft (Strom) und Material. 

D as Merkmal unserer Zeit ist der Mangel an Werten, der im Wirtschafts- 
leben und im Dasein des einzelnen lahmend wirkt. Für uns bestehc somit 
die Aufgabe, alles Unproduktive, d. h. alles, was letzten Endes nutzlos getan wird, 
zu beseitigen und sowohl in der Verwendung als auch in der Erzeugung 
von Werten eine Wirtschaftlichkeit eintreten zu lassen, welche dauernde 
Früchte tragt. 

Durch die Einstellung jahrelangen SchafPens auf den Kriegsbedarf muDte 
eine Armut an Werten des alltaglichen Lebens eintreten und die Sparsamkeit 
in der Verwendung der Güter erlangt dadurch zweitgeordnete Bedeutung, 
daO es sich ja nur um eine Verteilung, eine Verschiebung unter vorhandenen 
Werten handelt. 

Von ungleich höherer Bedeutung ist die Vermehrung der Werte, wie sie im 
Arbeitsgang, in dem Zusammenspiel zwischen Mensch und StofF, erreicht wird. 
Hier gilt es nun, Umschau zu halten nach allen Mittein, welche durch Be- 
seitigung der Hemmungen materieller und menschlicher Art die organische 
Kraftauswirkung erhöhen. Zu dieser Aufgabe ist die Psychotechnik berufen. 

Die Notwendigkeit der Psychotechnik ist gegeben durch den Zwiespalt 
zwischen dem technischen Fortschritt und Zurückbleiben menschlicher 
Schulung, d. h. durch die Tatsache, daO die menschlichen Fertigkeiten dem 
technischen Fortschritt nicht entsprechen. 

Um diesem Übelstande abzuhelfen, gelangte eine Auslese der Besten zur An- 
wendung, die in willkürlicher Form oder nach objektiven Methoden der Psycho¬ 
technik vorgenommen wurde. Eine derartige Auslese setzt voraus ein Mehr- 
anfebot an Berufstatigen, wie wir es indessen nicht immer anhnden. Für unser 
Betriebsleben ergibt sich folgendes Bi ld 1: 

P. P. IV. I. 


1 





2 


Friedricb, Das Aniernen auf psycbotechnischer Grundlage 



In einer groQen Anzahl von Fallen ist also eine Auswahl unmöglich, und es 
entsteht die Notwendigkeit, mit geringeren bzw. den vorhandenen Kraften die 
gewfinschte Leistung zu erzieien. 

Dies ist möglich durch 


Vorrichtungsbau Schuiung der Krafte 

d. h. d. h. 

Einschranken der Fahigkeiten , Erweitern und Verstarken 

der Fahigkeiten 

Der Vorstellung, daO durch zweckmaOigen Vorrichtungsbau alles zu er- 
reichen sei, muO entgegengehalten werden, daQ durch das Ausschalten wichtiger 
menschlicher Krafte diese schlieQlich verkümmern. Der praktisch und ethisch 
wertvolle Teil ist die Krafteschulung in einer Form, daO sie sich auch am Be- 
rufsplatz auszuwirken vermag. Diese Schuiung kann indessen nur so erfolgen, 
daO sie nicht nur die AuOerungen des Handelns, sondern ebenso die Triebkrafte 
des Menschen bedenkt. 


Die menschiiche Kraftauswirkung 

Das Bestreben der Organisation geht dahin, die Arbeltsauswirkung zu erhöhen 
(Bild 2). Das Herausziehen, das Erzwingenwollen einer Arbeltsauswirkung durch 
Bestimmungen aller Art entspricht dem Vorgehen eines Gartners, welcher, urn 
Früchte schneller zu erzieien, die Pflanzen aus dem Boden herauszuziehen trachtete. 
Dieses so sinniosc Vernachlassigen des Organischen erleben wir in unseren 
technischen Organisationen taglich in der Verwendung menschlicher Krafte. 

Die organische Erhöhung der Arbeltsauswirkung wird erreicht 

a) durch Beseitigung der Hemmungen: harmonische, technische und 
menschiiche Organisation, 

b) durch Beseitigung der Spannung: Eiternerziehung, Jugenderziehung, 
Vermeidung spannungerregender Einfiüsse, 

c) durch Verstarkung der Grundkrafte. 




Friedricb, Das Aniernen auf psycbotechnischer Grundlage 


3 


Arbeitsiuswirkung 


Arbeitstrieb 


WirkuDgsirleb 



Hemmungen luOerer Art,gegcbcn 
durch faltche Beachiftigung, 
Organisttionamangel usw. 

Spannungen innerer Art, gegebcn 
durch Verarbung, Erxlehuog, 
Umgebung usw. 


Abbildung 2 


Innerhalb des Fabriklebens spielen die Arbeiten a und c die bedeutungsvollste 
Rolle, insbesondere aber die Verstarkung der Grundkrafte in einer Form, welche 
der jeweiligen BeruFsarbeit entspricht. 


Bild der Arbeit 

Die Arbeit stellt sich danach FoIgendermaOen dar: 
Die Triebhaftigkeit 
des Menschen 

' —»■ wirkt sich aüs 

I durch 

^ die Arbeitsfdhigkeit 


Innerstes Lebendigsein, Auswirkungs- 

möglichkeit 


Zielstrebigkeit 


abhangig 


mit Hilfe der 

Arbeitsmittel 


Organisches 
Mittelglied 
zwischen 
Mensch/Arbeit 


in der 

Arbeitstat 


\ 

Aniagen Fertigkeiten 

Es kommt also nicht nur darauf an, nur Fahigkeiten der Arbeitsausübung Fest- 
zustellen, sondern diese Ausübung tatsachlich zu erzielen! Dazu aber 
muO zwischen den oben genannten 4 Gliedern Harmonie bestehen und die Trieb- 

1 * 




4 


Friedrich, Das Aniernen auf psychotechnischer Grundlage 


hafcigkeit als Grundelement vorrücken. Insbesondere darf diese (d. h. die eigent- 
lichen Strebungen des Menschen) nicht durch Spannungen lahmgelegt sein. 

Diese Spannungen entsprechen der Bremse eines Motorwagens, der trotz 
betriebsfahigen Motors (Arbeitsfahigkeit) nicht fahren kann. Die leichte Um- 
schaltung des Bremshebeis macht unvergleichlich hohe Werte frei. 

Ahnlich gelingt es, durch Beseitigung und Vermeidung innerer 
Spannungen die Kraftauswirkung des Menschen zu erhöhen! 

So ergibt sich als Fragestellung: Wie ist es möglich, die ganze hinreiGende 
Triebkraft des Menschen zur Erschaffung von Werten zur Auswirkung zu bringen? 

Hierfür sind nun Bedingungen: 1. Gestalten der Arbeit in mittelschwerer Form, 
(zu leicht führt zur nachlassigen Berufsausübung, zu schwer führt zum Versagen). 
Bedacht werden muB, daO der Mann an sich Kampfnatur ist, aber infolge jahr- 
hundertelanger Fehler mit Minderwertigkeitsgefühlen schlimmster Art behaftet ist, 
die seinen AngrifFsgeist im Arbeitskampfe lahmen. 2. Aniernen auf psycho¬ 
technischer Grundlage. Beseitigen der feindseligen Einstellung zu der betr. Arbeit, 
3. Verstehen der Arbeit und ihrer Einzelheiten, 4. Hineinwachsen in die Berufs- 
notwendigkeiten. 

Das Aniernen 

1. Merkmal: Vor Übertragung der Fertigkeiten werden die Fahigkeiten geübt. 



der Fertigkeiten 


Beispiel: Kaltrichten von Laschen. Ergebnis der 
Analyse: a) Schlagwahl, b) Zielsicherheit, c) Richtsicherheit, 
d) AugenmaB usw. 

Zur Berufsausübung wird verlangt, daB jede Fahigkeit 
eine bestimmte vorgeschriebene Güte (100%) aufweise; 
die erste Prüfung ergibt die Werte in den einzelnen Fahig¬ 
keiten (Abbildung 3). 

Anl ernen 

auf psychotechnischer Grundlage (Abbildungen 4/5) 
„Fahigkeitsschulung" 



Abbildung 4 Abbildung 5 


Da an dem Berufsplatz die ganzen 
Fahigkeiten in derFertigkeitzusammen- 
hangen, ist für das Aniernen die 
schlechteste Fahigkeit maBgebend. Von 
dieser aus muB alles hochgeführt 
werden, so daB auch die schon ent- 
wickelten Funktionen ganz nutzlos 
immer wieder mitgeübt werden. 


Nur das Fehlende wird mit 
besonderer Sorgfalt angelernt! 
Berücksichtigung der individuellen 
Eigenart! 

Folge: Sehr starker Zeitgewinn, 
Vertiefung der Arbeit. 



Friedrich, Das Aniernen auf psychotechnischer Grundlage 


5 


2. Merkmal: An Stelle des Autoritativen des Vorarbeiters tritt der Kampf- 
richterstandpunkt des Übungsleiters. 

3. Merkmal: Die Übermittlung der Fahigkeiten erfolgt in sport- 
lichem Wettkampf, d. h. die Arbeit wird Sport und Handwerkergeist 
kommt zur Entfaitung! 

Die Bedingungen sind — wie bei dem Sport — für jeden gleich. Wie dort, 
ist der einzelne auch im Übungsraum nur auf sich angewiesen und sieht an den 
meist selbstregistrierenden Apparaten bald ein, daö er einen Fehler, der unnach- 
sichtlich und ganz objektiv vermerkt wird, nur sich zuzuschreiben bat. Da die 
Lösung der Aufgabe in den einzelnen SchwierigkeitsstafFelungen möglich ist, 
bricht allmahlich die reine Leistungsfreude durch, welche um so mehr entfacht 
wird, ais die Anlerner jederzeit ihre Leistungen selbst nachprüfen können. 



Die Freude an der gelungenen Arbeit, der Qualitatsarbeit, vernichtet 
das Minderwertigkeitsgefühl, das der Arbeiter in Anbetracht des unver- 
standenen Berufskomplexes emplindet und das nur zu oft ins Gegenteil — 
in Selbstüberhebung — umschlagt. 

Die Gerate halten sich nach Möglichkeit von Abstraktionen fern und geben 
den Berufsvorgang in mefibarer Form so wieder, daO der Arbeiter die Verwandt- 
schaft bzw. Gleichheit zwischen Apparatur und Wirklichkeit sofort erkennt. 

Da der Arbeiter meist anschaulich denkt, ist hierauf besonderer Wert 
zu legen! Die Apparatur muB in ihm eine ahnliche Gemütseinstellung wie 
die Werkstattarbeit hervorrufen! 

Der Arbeiter muli sich, ohne lange SchluBfolgerungen, standig bei der Arbeit 
an den Übungsgeraten sagen können: „Dies ist tatsachlich meine Arbeit." 
„Genau dieselben Verrichtungen habe ich auszufiihren." „Wenn ich 
in derWerkstatt etwas leisten will, muB ich erst dies können!" 

Deshalb ist vorteilhaft: Möglichst klare Übernahme der analysierten Berufs- 
Funktionen in das Übungsgerat, dadurch Betonung des Lustgefiihls wahrend 
der Übung! 

Beispiel: Schmiedegerat für Feststellung und Übung der Schlagwahl bei 
Richten von Laschen, Schmieden usw. (Abbildungen 6 und 7 a b). 










6 


Friedricb, Das Anlernen auf psychotecbnischer Grundlage 


AuFgabe; Der Schenkel S ist mit zwei Schlagen in wagerechte Lage zu bringen: 
1. Schlag: Fühlschlag, 2. Schlag: Richtschlag. Hierbei schreibt der BleistiFt B 
auF der SchreibtaFel*). 

Nach jeder AuFgabe wird das Gewicht verstellt, so dafi die Harte des Materials 
stets eine andere ware. 

Die Herstellung der Gerate kann nach Angabe von jeder Werkstatt auF 
Grund der Analyse selbst erFolgen, wobei meist AbFallstücke verwertbar sind. 
Hierdurch werden die Kosten auF einen Bruchteil herabgedrückt und 
die AnschaFFung wird auch kleinen Firmen, ja sogar Handwerkern 
leicht! 

Für die VertieFung der Güte geiten ahnlic-he Gesetze. 





Abbildung 7 b 
ScbmiedegerSt 



Abbildung 7c 

Gerat zum Einstellen von Gleicbgewicbtslagen 


Hierzu kommt noch die wesentliche Verringerung von Strom- 
verbrauch, Verschleifi von Maschinen, Werkzeug und Material, Wrack- 
a rbeiten. 

Dabei wird — durch die Eigenartigkeit der Methodik — die Anlernzeit au F 
'/ 2 —Vs verringert, so daB hierbei ganz auBerordentliche Gewinne Für das 
Werk und die Arbéiter zu erzielen sind. 

Beispiel SchleiFer: Durch je 20 Übi^ngsstunden betrug der Anlerngewinn 
beispielsweise 

bei SchleiFer A 17 Schichten 
B 13 

zusammen 30 Schichten 

d. h. durch 20 Stunden methodischen Anlernens wurden 30 Schichten (Lohn und 
Zuschlage) gespart (siehe nebenstehende Abbildung 8). 

*) Der Vorgang entspricbt der Arbeit bei dem Richten und Scbmieden von Lascben. Es 
bestebt bier der aulSerordentlicbe Vorteil, obne MaterialverscbleiB und Zeitverlust fOr Neben- 
arbeiten den Scbmiedevorgang konzentriert einzuscbulen. 



Durchschnittsleistung je Schicht 


Friedrich, Das Aniernen auf psychotechniscber Grundlage 


7 


Das gleiche gilt für alle anderen behandelten Berufe, wie Nietenverstemmer, 
Bohrer, Fraser, Kranführer usw. (Abbildung 9). 

Die Erfahrung hat gezeigt, daU die Anlerner mit groBer Freude sich den 
Obungen unterziehen und zum Teil auch noch an anderen Geraten ausgebildet 


Leistung 

•/. 


Gewinn durch psychotechnisches 
Aniernen bei zwei Feinschleifern 


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37,73 

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iO 2 0 

Anlernschichten 


3 0 4 0 


5 o 


6 o 


7 o 


80 


00 


1 00 


too 


U hprotlukt V» 2p,5 5 hichtfen 



10 20 30 

■ Anlernschichten 


Gewinn 

Schichten Geld 

ZflhI % (Schlcbtlohn + Zu- 
sch!ag2.Z.2500M.) 

17,25 45,7 34 500 M. 



Anlernschichten 


B 


13 34,5 26000 M. 


60500 M. 


d. h. ein Gewinn von 60000 M. 
allein bei zwei Leuten durch 
je 20 psychotechnische An* 
lernstunden. 


Abbildung 8 


werden wollen. Durch die Vertiefung der Arbeit steigt die Selbstbeobachtung, 
und der Arbeiter gibt schon nach den ersten Stunden an, wo es ihm in der 
Werkstatt noch fehlt und an welchen Geraten er noch Fehler aufweist. So hilft 
er selbst mit, seine eigenen Krafte zu stahlen und im sportlichen Wett- 
kampf der Beste zu sein. 





8 


Friedrich, Das Anlernen auf psychotechnischer Grundlage 


Nachdem die Pahigkeiten in Fleisch und Blut übernommen sind, besteht kein 
AnlaO, sie am BeruFsplatze nicht anzuwenden, da sonst hierzu im Gegenteil 
eine neue Anstrengung erforderlich ware. 

Das Haftenbleiben der übermittelten BeruFsfahigkeiten erFolgt wie bei Turn- 
übungen, Schwimmen u. dgl. und wird um so leichter, als der Arbeiter ja in der 
gleichen BeruFsumgebung verbleibt. 

ErFahrungen: Die Fahigkeitsschulung, das Anlernen auF psychotech¬ 
nischer Grundlage ist in jedem BeruFe — nicht nur Werkstatttatigkeit — 
möglich, Für welchen eine auF eingehender BeruFskenntnis beruhende Ana¬ 
lyse auFgestellt wurde. 



Beispiel der Arbeitsverbesserung: Kranführer. An einer besonderen 
Übungsanordnung, die neben den sonstigen GerSten für die einzelnen Berufs- 
funktionen besteht, wird der ganze Berufskomplex vor und nach der Übung 
geprüft. Nach schon eintSgiger Übung ergab sich eine Verbesserung der Fahr- 
zeit von 30%, wie obenstehende Kurve zeigt 


Durch das allmahliche Hineinwachsen in die BeruFsFunktionen gehen die 
einzelnen UnterFahigkeiten in Fleisch und Blut über und der Arbeiter vermag 
am BeruFsplatze die einFachen Arbeiten mit wesentlich geringerer Mühe, die ab- 
weichenden, schwlerigeren Arbeiten mit besonderer SorgFalt zu erledigen, d. h. 
es wird schnelle Qualitatsarbeit gewahrleistet, in der Weise, wie sie bei 
dem Handwerker vorbildlich war. 

Durch die genaue Kenntnis der Arbeitsbedingungen, das Bemeistern des 
Arbeitsvorgangs, wird die seelische Beziehung zwischen Mensch und 
Arbeit im Sinne des Handwerks wieder hergestellt. 

Der Arbeiter steht nicht unverstandenen BeruFskomplexen gegenüber, die ihn 
beherrschen, mitreiOen oder niederdrücken, sondern er wachst mit der Auf- 
gabe, er kennt sein Arbeitsprojekt, seine eigenen KraFte, die beste Arbeitsart. 


Es entsteht statt Arbeitserledigung 
statt Minderwertigkeitsge- 
Fühl gegenüber der Über- 
macht der Maschine 


Arbeitsbeherrschung 
Ruhiges SelbstbewuBtsein 
in der Bemeisterung des 
Stoffes. 








Friedrich, Das Anlernen auf psychotechnischer Grundlage 


9 


Zusammenfassung 

Das Anlernen des Berufstatigen entspricht dem Vergillen des Materials. 
In derselben Weise wie hier das Material für einen bestimmten Zweck nicht 
nur ausgesucht, sondern auch vergütet wird, tritt dort auch bei den Menschen 
neben die Berufsberatung auf Grund der Prüfung die Schulung der Fahigkeiten. 

Das helfende Prinzip 


Prüfen (Berufsberatung) Anlernen der Fahigkeiten 

ermöglicht dem 


Arbeiter 

leichteres und frohes Arbeiten, hand- 
werkliche Vertiefungder ArbeitjLebens- 
freude, gute Verdienstmöglichkeit. 

Die Me 
baut sii 


Werk 

auDerordentliche Gewinne durch Ver- 
ringerung der Anlernzeit auf V2 —', 3. 
Vermeidung von VerschleiB und Ver- 
brauch an Kraft und Material. 
hodik 
h auf 

\ 

A 


auf den Grundlagen auf der individuellen Eigenart 

des Berufskomplexes jedes Menschen 

* *.' .*■ 

Fabrikation Organisation Triebhaftigkeit ^ Arbeitsfahigkeit 

Es muö betont werden, daG der Aufbau der für die einzelnen Berufe und 
Berufsunterartcn in Frage kommenden Verfahren, sowie deren sinngemaGe 
Anwendung unter Berücksichtigung der individuellen Verschiedenheiien das 
Wichligste der neuen arbeitswissenschafilichen Methodik sind. Die Gerate dürfen, 
so bedeutungsvoll sie sind, lediglich als das notwendige Hilfsmittel betrachtet 
werden. So stellt die auGere Einrichtung eines derartigen Laboratoriums, sowie 
die Prüf- und Übungsordnung gewissermaGen nur das Gerippe des ganzen Vor- 
gehens dar, in ahnlicher Form, wie es bei einem Chemischen Laboratorium der 
Fall ist. Über dem Ganzen aber muG — wie dort der Geist des Chefchemikers — 
hier der organisch ausgleichende und höherführende Geist des berufskundigen 
Menschenführers stehen, welcher einerseits jeden einzelnen seiner höchsien Höhe 
zuzuführen hat, andererseits durch Beseitigung aller nutzlosen Arbeit dem 
Wirtschaftsleben höchste Gewinne zu bringen vermag! 

So setzt die Methode voraus: eine aus jedem Berufe erwachsene Analyse, 
eine sich an die Bedingungen der Praxis anlehnende Prüf- und Übungsordnung, 
einen gerecht und menschlich eingestellten berufskundigen Übungsleiter. 

Durch die Betonung des Helfenden wird die Methodik in jedem 
Falie fürWerk und Arbeiter fruchtbar! 



10 Valentiner, Zur experitn. Feststellung v. berufswicht. Willenseigenscharten bei Jugendlichen 


Zur experiraentellen Feststellung 
von berufswichtigen Willenseigenschaften bei Jugendlichen 

Von Dr. Th. Valentiner, Leiter des Instituts für Jugendkunde in Bremen 

I m vorigen Jahre wurden im Bremer Institut für Jugendkunde etwa 350 Jugend- 
liche auf ihre Eignung für industrielle Berufe geprüft. Die Prüfung unter- 
schied sich vor allem in einem Punkt recht wesentiich von den üblichen: Es 
wurden nicht nur über Sinnestüchtigkeit, Handgeschicklichkeit, Begabungen und 
Intelligenz Feststellungen gemacht, sondern auch über berufswichtige Willens¬ 
eigenschaften, namlich den Arbeitswillen und die Arbeitsart. Die Prüfkarten 
enthielten meist eingehende Angaben über diese Eigenschaften. 

Es ist wohl überflüssig, die Wichtigkeit derartiger Feststellungen zu betonen. 
Sie wird allgemein zugegeben. Ob ein Lehrling sorgfaltig, gewissenhaft, gründ- 
lich bei der Arbeit ist, ob er die notwendige Ruhe, Sicherheit, das richtige Ar- 
beitstempo besitzt, ob sein Arbeitswille ausreicht, ob er eine gewisse EntschluO- 
kraft und Selbstandigkeit zeigt — das alles kann bei der Frage der Tauglichkeit 
ebenso, ja oft mehr ins Gewicht fallen, als beispielsweise sein intellektuelles 
Verhalten. Nun haben mir zahlreiche Vorversuche, die ich an 12—14jahrigen 
Jugendlichen ausführte und ausführen lieB, gezeigt, dafi es in der Tat möglich 
ist, derartige Feststellungen im Laboratorium zu machen. Diese Jugendlichen 
waren mir aus mehrjahriger Beobachtung bekannt. Ich lieli ihre Willenseigen¬ 
schaften von Mitarbeitern, die weder diese Jugendlichen noch meine Beobach- 
tungen über sie kannten, feststellen und ersah beim Vergleichen, daD und wie- 
weit es möglich ist, auf dem hier gewahlten Wege zu sicheren Ergebnissen zu 
kommen. Dieser Untersuchung waren ferner förderlich die Lehrerurteile, die 
ich über die zu prüfenden Lehrlinge einforderte. Hier ergab sich freilich eine 
brauchbare Grundlage erst, als ich die Möglichkeit hatte, Lehrerurteil, Prüfungs- 
ergebnis und Urteil der Meister über die Lehrlinge einander gegenüberzustellen. 
Dies lieO sich erst vor wenigen Wochen bewerkstelligen, da die Lehrlinge am 
1. April 1922 eintraten und doch erst einige Monate vergangen sein muQten, ehe 
man von den Meistern ein eingehendes Urteil erhalten konnte. 

Das Ergebnis dieser Untersuchungen habe ich in Leitsatzen niedergelegt, die 
dem ersten KongreC der Gruppe für angewandte Psychologie vom 10.—14. Ok¬ 
tober vorgelegen haben und die ich am dritten KongreOtage kurz zu begründen 
Gelegenheit hatte. Ich möchte hier das Wichtigste wiederholen und noch einiges 
zur Erganzung hinzufügen, urn so weiteren Kreisen Gelegenheit zu geben, durch 
Nachprüfung und Ausgestaltung dieses ungeheuer wichtige, bisher noch so wenig 
bearbeitete Forschungsgebiet weiter auszubauen. 

Zur Feststellung von Willenseigenschaften hat man sich bisher neben der 
Gelegenheitsbeobachtung vor allem der Handschriftendeutung bedient. Ohne 
Frage wird die Graphologie, einmal aus ihrem vorwissenschaftllchen Stadium 


Valentiner, Zur experim. Feststellung v. berufswicht. Willenseigenscbaften bei Jugendlichen 11 

herausgehoben, gewisse Dienste leisten können. Für Ujahrige Volksschüler ist 
schon aus dem Grunde mit der Handschriftenanalyse wenig anzufangen, weil 
deren Schrift mit wenig Ausnahmen noch so sehr unter schulischen Einflüssen 
steht, daO sich Individuelles nur wenig bemerkbar macht. Als das einzige Mittel, 
urn im Laboratorium zu sicheren Feststellungen bei allen Jugendlichen zu 
kommen, hat sich mir die Arbeitsprobe erwiesen. Sie ist schon langst vor allem 
zur Prüfung von Handgeschick sowie von geistigen Fahigkeiten im Gebrauch. 
Zur Feststellung von Willenseigenschaften wird sie meines Wissens noch nicht 
verwendet, obwohl sie gerade hierfür von unschatzbarem Werte ist. 

Bei Erledigung eines Arbeitspensums zeigt schlieOlich ein jeder, wie er ar- 
beitet, ob er flüchtig, oberflachlich, ungenau, nachlassig, schlurig bei der Arbeit 
ist, ob das Gegenteil der Fall oder die eine oder andere Eigenschaft in höherem 
oder niederem Grade vorhanden ist. 

Die Wahl der Arbeitsproben erfolgt nach bestimmtem Plane. Einmal ist es 
zweckmaOig, dabei auf die spatere Berufsarbeit Rücksicht zu nehmen. Man wird 
den Büroangestellten, urn seine Sorgfalt zu prüfen, nicht Nagel sortieren lassen 
und den zukünftigen Schlosser nicht mit Adressenschreiben beschaftigen. Be- 
rufsnahe Arbeit ist, wie bei Feststellungen über intellektuelles Verhalten, so auch 
bei charakterologischen, ganz besonders aufschlufireich. Bei unseren Instituts- 
versuchen haben sich besonders einige Versuchsreihen von Lipmann-Stolzenberg 
(Einpassen von Eisenplattchen in die Lehre) und das von Moede empfohlene 
Aussuchen von Werkstücken nach Zeichnung bzw. umgekehrt, sowie das be- 
kannte Blechbiegen als sehr brauchbar erwiesen. Selbstverstandlich ist Versuchs- 
anordnung und Instruktion dem andersartigen Zwecke, dem sie dienen sollen, 
angepaOt. Wichtig ist hierbei, folgendes zu beachten: Es handelt sich nicht urn 
eine Begabungsprüfung. An das Können dürfen keine hohen Anforderungen 
gestellt werden, wo das Wollen festgestellt werden soll. Je mehr der Versuch 
so angeordnet ist, daO die Leistungen bei Individuen verschiedenster Begabung 
nach der Begabungsseite geringe Streuungen ergeben, urn so mehr dürfen wir er- 
warten, daQ die gewünschten Willenseigenschaften zutage kommen. Verlangt die 
Arbeitsprobe besondere Intelligenz, so kann es vorkommen, daQ der wenig in¬ 
telligente, aber ruhige und sorgfaltige Arbeiter Uhruhe zeigt und ungenau ar- 
beitet, also unter dem Druck der Aufgabe ganz andere Willenseigenschaften kund- 
gibt, als .er wirklich besitzt. Und ahnlich erweckt der Ungeschickte, dem die 
verlangte Arbeit zu schwer ist, leicht den Anschein eines unsorgfaltigen, un- 
genauen Arbeiters. Umgekehrt wird der intelligente, aber flüchtige Arbeiter an- 
gesichts einer Aufgabe, die seinen Scharfsinn reizt und vielleicht seiner Eitelkeit 
schmeichelt, da er die Schwierigkeit erkennt und sich ihr doch gewachsen fühlt, 
seinen Willen zu einer ihm sonst ungewohnten Betatigung zwingen und das Bild 
des sorgfaltigen Arbeiters abgeben. Ist dagegen die Arbeitsprobe so, daQ jeder 
sich sagt: Das ist ja leicht, das kannst du — so wird er schon eher dazu kommen, 
sein wahres Gesicht zu zeigen. 




12 Valentiner, Zur experim. Feststellung v.berufswicht.Willenseigenschaften bei Jugendlichen 

Ich nenne weitere Merkmale einer guten Arbeitsprobe: Sie muO die Möglich- 
keit zu verschiedenartigster Behandlung bieten, und sie muQ jeden auf seine 
Weise zu einem ihn befriedigenden Ziele kommen lassen: Der Flüchtige muB 
zum Ziele kommen, wenn er oberflachlich darüber huscht, der Griindliche muli 
es erreichen können, wenn er in der ihm gewohnten Weise zu Werke geht usf. 
Sie muli den, der schnell befriedigt ist, obwohl er nur einen kleinen Teil der 
erwarieten Arbelt geleistet bat, zu einem gewissen AbschluB kommen lassen, wie 
auch den, der immer wieder prüft und sich die Arbeit schwerer macht als nötig 
ist. Weiter ist von der Arbeitsprobe zu verlangen, daB sie den Prüfling oft 
langere Zeit in Anspruch nimmt, ohne daB ihm dabei geholfen zu werden braucht. 
Denn wie der Meister den Lehrling in der Werkstatt nicht standig unter Kon- 
trolle haben kann und je nachdem dies nötig erscheint, gewisse Willenseigen¬ 
schaften des Lehrlings beurteilt, so werden wir auch im Laboratorium Arbeits- 
proben haben mussen, die zeitweise ohne Kontrolle ausgeführt werden können 
und so Gelegenheit bieten, vom Prüfling nicht bemerkte oder beachtete Be- 
obachtungen zu machen. Es laBt sich dabei feststellen, wie der Lehrling bei 
nicht gefühlter Kontrolle arbeiten wird. 

Aber selbst wenn wir in dieser Weise auf Grund psychologischer Erwagungen 
die Arbeitsprobe auswahlen, so ist doch der Erfolg, wie ich wiederholt feststellen 
konnte, nicht immer so, wie erwartet. Die Arbeitsproben sind, wie die Teste, 
von sehr verschiedenem Symptomwert, der nur auf empirischem Wege bestimmt 
werden kann. Daher gilt hier als eine der wichtigsten und unerlaBlichsten 
Forderungen; Vor der Verwendung auch noch so schön erdachter Arbeitsproben 
für die Praxis muB ihr Wert durch praktische Bewahrung festgestellt sein. 
Gerade bei der Frage der Verwendung der über Willenseigenschaften gemachten 
Feststellungen ist die Verantwortung zu groB, als dafl wir etwas unterlassen 
dürften, was die Sicherheit des Ergebnisses in Frage stellen könnte. Ich gestehe 
gern, daB mir manche Arbeitsprobe anfangs wertvoller erschien, als sich nach- 
her bei ihrer Eichung herausstellte. So schien mir ein Versuch, bei dem Papier- 
streifen in ein Heft zu kleben waren, besonders brauchbar zur Prüfung der Sorg- 
falt und Exaktheit bei der Arbeit. Aber die Ergebnisse standen in recht 
ungünstiger Korrelation zu den durch Gelegenheitsbeobachtungen gewonnenen 
Urteilen über die Sorgfalt der betreflfenden Prüflinge. Erst spater konnte ich 
dann feststellen, daB sich diese ungünstige Beziehung durch die Verschiedenheit 
unterrichtlich-erziehlicher Einflüsse erklarte, die bei den Betreffenden gewirkt 
batten. Der im Kleben geübte, aber im allgemeinen wenig sorgfaltige Schüler 
zeigte bei dieser Arbeit mehr Sorgfalt als der ungeübte, dessen sonst gerühmte 
Sorgfalt hier durch seine Ungeschicklichkeit und mangelnde Übung verdeckt wurde. 

Vor Anstellung des Versuchs empfiehlt sich eine Art Vororientierung über 
die Persönlichkeit des Prüflings. Ich sehe mir die Schulzeugnisse der letzten 
vier Jahre an, ich lese den Aufsatz durch, den er im Institut verfaBt hat, ich 
lasse mir die Bastelarbeiten erklaren, die er mitgebracht hat, spreche mit ihm 



Valentiner, Zurexperim. Feststellung v.berufswicht. Willenseigenschaften bei Jugendlichen 13 

über dieses und jenes. Dadurch wird viel gewonnen. Selbstverstandlich nehme 
ich das Bild, das ich hier erhalte, nicht unkritisch hin oder lasse mich gar da¬ 
durch in meinem Urteil beeinflussen. Der nachfolgende Versuch wird in der 
Regel zu erheblichen Veranderungen des Bildes führen. Aber es ist doch schon 
etwas da, worauf ich meine Beobachtungen beziehen kann, wenn ich mit dem 
Versuch beginne. Ich brauche die Willensstruktur des Jungen nicht gleichsam 
aus dem Nichts zu schaffen, ich habe gewisse Anhaltspunkte und gewisse Pro- 
bleme, die der Versuch klaren muB. 

Nun der Versuch selbst! Hier verfahre ich, soweit nur irgend möglich, mit 
der Strenge und Vorsicht, die bei Anstellung irgendeines wissenschaftlichen 
Versuches nötig ist. Nur die Rücksicht auf die Schranken, die jede praktisch 
gerichtete Aufgabe setzt,. zwingt, in mancher Hinsicht weitherziger zu sein. Ich 
führe hier einiges an, was mir besonders beachtenswert erscheint. Fremd- und 
Befangenheitsgefühle sind besonders geeignet, das gewohnte Willensverhalten zu 
deformieren. Die neue Umgebung — der Prüfraum, ein unbekannter Prüfer, die 
Anwesenheit dritter, bekannter oder unbekannter Personen — kann hier auBer- 
ordentlich storend wirken. Hier ist es leicht, Abhilfe zu schaffen. Die Fest¬ 
stellung der Willenseigenschaften erfolgt nicht zu Anfang, sondern wird tunlichst 
ans Ende der Prüfung verlegt, wenn der Junge vielleicht schon einmal oder 
zweimal im Institut war und die Erfahrung gemacht hat, daB es sich hier nicht 
um etwas wie eine Zahnoperation oder Schulprüfung handelt, sondern um Dinge, 
die er gern erledigt und bei deren Erledigung er nie belehrt, ermahnt oder gar 
getadelt wird. Voraussetzung für das Gelingen des Versuches ist, daB überall 
so geprüft wird, daB der Junge stets das Gefühl hat, daB er seine Sache gut 
macht. Fallt einem empfindsamen Jungen gegenüber irgendeine AuBerung, aus 
der er schlieBt, daB er höchst MittelmaBiges geleistet oder gar versagt hat, so 
wird er bei dem nachfolgenden Versuch unter dem Druck des Erlebten vielleicht 
hastig, unruhig, unsicher, unentschlossen, ja vielleicht sogar oberflachlich und 
Büchtig erscheinen, wenn er auch sonst ein Muster von Genauigkeit und Gründ- 
lichkeit ist und den Prüfer zu ganz verkehrten Schlüssen über seine Willens¬ 
eigenschaften veranlassen. 

Viel schwieriger als die günstigen ist es die ungünstigen Eigenschaften zu 
fassen, was nebenbei für den Auslesezweck ungleich wichtiger ist. Der Sorg- 
faltige, Gründliche, Zuverlassige wird sich in der Regel so geben wie gewöhnlich, 
weiB er doch, daB er bei diesem Verhalten die günstigsten Aussichten hat, an- 
genommen zu werden. Dagegen wird derjenige, der diese Eigenschaften nur in 
geringem MaBe besitzt, geneigt sein, sich besser zu zeigen, als er ist, um das 
gewünschte Ziel zu erreichen. Hier liegt eine Schwierigkeit, die bei sonstigen 
Fahigkeitsprüfungen nicht besteht, die in der Eigenart des Willens begründet ist. 
Wahrend beispielsweise der Dumme sich auf die Dauer nicht klug geben kann 
und der Ungeschickte seine Ungeschicklichkeit bei entsprechenden Proben not- 
wendig einmal an den Tag legen wird, ist der unzuverlassige, oberflachliche. 



14 Valentiner, Zur experim.Feststellung v. berufswicht.Willenseigenscbaften beijugendlicben 

flüchtige, nachlassige Arbeiter potentiell zuverlassig, gründlich, genau und sorg- 
faltig bei seiner Arbeit und kann es ohne groOe Anstrengung wenigstens für die 
Dauer des Experiments wirklich sein. Da muD noch etwas anderes mithelfen, 
damit der Prüfling sein gewöhniiches Willensverhalten zeigt, namlich eine Art 
Suggestion, der der Prüfling bei besonderer Fassung der Instruktion fast stets 
unterliegt. Die Instruktion ist zweckmaOigerweise so gefaQt, daO der Prüfling 
unter dem Eindruck steht, daQ es bei dieser Arbeit auf etwas ganz anderes an- 
kommt, als das wirklich der Fall ist. Bei dem Eisenblattchenversuch mag er 
denken, dafi es sich urn eine AugenmaQprüfung handelt, bei dem Aussuchen der 
Werkstücke nach Zeichnungen urn die Fahigkeit, Zeichnungen richtig auffassen 
und deuten zu können usw. 

LaOt man soiche suggestive Einflüsse wirken, so muQ man freilich damit 
rechnen, daO ein Teil der Prüfung wenig wertvoll ist. Mit den Ergebnissen der 
Prüfung, die unmittelbar unter diesen Einflüssen zustande gekommen sind, ist nicht 
viel anzufangen. Aber das muD in Kauf genommen werden. Ist doch der Gewinn, 
der auf der andern Seite bleibt, wenn man jene Teilbefunde ausgesondert hat, 
urn so gröQer, die Feststellungen über Arbeitswille und Arbeitsart um so sicherer, 
da es auf diese Weise gelingt, den Prüfling in seiner gewöhnlichen Arbeitsweise 
kennenzulernen. 

An den Prüfer werden nicht geringe Anforderungen gestellt. Nur psycho¬ 
logisch geschulte und im Beobachten geübte Persönlichkeiten werden diese Ver- 
suche mit Erfolg ausführen können. Wenig geeignet erscheint in der Regel dazu 
der Praktiker. Da er dem Jugendlichen als Erzieher und Instruktor gegenüber- 
zutreten pflegt, so bedarf es bei ihm der völligen Umstellung, wenn er die Auf- 
gabe lösen will. Er hat dem Psychologen voraus, daö er das Verhalten des 
Jugendlichen bei Ausführung der Probe sogleich als typisches erkennt, da er 
Jugendliche tagtaglich bei den verschiedensten Arbeiten gesehen und dabei die 
möglichen Verhaltungsweisen kennengelernt hat. Dieser Vorteil wird aber durch 
einen viel gröGeren Nachteil mehr als wettgemacht: Seine Beobachtungen er- 
scheinen in einem dem psychologischen Ziele wenig dienlichen Lichte. Sie 
verbinden sich mit der Tendenz, den Jugendlichen zu belehren, oder treten 
schon mit dieser Tendenz zusammen in das BewuDisein ein. Ganz anders bei 
dem psychologischen Beurteiler, dessen beobachtende Tatigkeit stets mit der 
Tendenz verbonden ist, sich belehren zu lassen. Weiter: hat der Praktiker 
die Folgen im Auge, die das augenblickliche Verhalten des Jugendlichen für das 
Zustandekommen der vorliegenden Leistung hat, so forscht der Psychologe den 
Ursachen des So und so Verhaltens nach, prüft, wieweit das momentane Verhalten 
durch zufallige und vorübergehende Gefühls- und Willensimpulse oder durch 
konstante Verhaltenseigenschaften bestimmt ist und gewinnt so Anhaltspunkte für 
die Frage, wie das Verhalten bei künftig geforderten Leistungen sein wird. 

Die schwierige Aufgabe des Prüfers kann durch auOere Dinge wesentlich 
erleichtert werden. So kann man vor allem durch geeignete Vordrucke erreichen. 



Valentiner, Zur experim Peststellung v. berufswicht. WillenseigenscbaFten bei Jugendlichen 15 

daO sich das Protokollieren fast mechanisch vollzieht und die fast ungeteiice 
Aufmerksamkeit der Versuchsaufgabe gewidmet ist. 

Ober die Frage, wie lange ein Versuch dauern soll, laBt sich a priori nichts 
ausmachen. Die Dauer wird nicht nur durch die Ergiebigkeit der Arbeitsprobe 
für die gewünschten Feststellungen und die von den PrüFlingen durchschnittlich 
zur Erledigung erforderte Zeit bestimmt, sondern auch durch ganz auQere 
Faktoren, wie etwa die Organisation der Prüfung. Bei unseren Prüfungen hat 
sich bisher die etwa '/aStündige Dauer als am zweckmaQigsten erwiesen. Wichtiger 
ist die Frage, ob ein einzelner Versuch ausreicht. Es gibt ofFene, natüriiche, 
unbefangene, sorglose Naturen, die sich schon beim erstenmal so geben, wie sie 
sind und schon nach dem ersten Versuch richtig beurteilt werden. Dann gibt 
es wieder solche, die zurückhaltend, verschlossen, versteekt, verschlagen sind, 
so daC auch nach dem dritten oder vierten Versuch unter verschiedenen Prüf- 
leitern noch Unsicherheit in ihrer Beurteilung bleibt. Hier kann nicht nach 
einem Schema verfahren werden. Wir können nur eine untere Grenze setzen. 
Es würde der Subjektivitat Tür und Tor geöiFnet, wenn man es bei einem Ver¬ 
such bewenden lieOe. Zwei Versuche von zwei Prüfern an verschiedenen Tagen 
ausgeführt, sind das mindeste, das wir bei jedem Prüfling fordern mussen. Oft 
wird diese Zahl nicht ausreichen, und wir nehmen eine dritte, ja auch eine vierte 
und fünfte Prüfung vor. Mit anderen Worten, wir werden so lange prüfen, bis 
wir völlige Klarheit über alles Gewünschte haben. 

Das Auswerten der einzelnen Befunde geschieht zweckmaQig unter zwei Ge- 
sichtspunkten. Wahrend die qualitative Wertung beim ersten Kennenlernen des 
Prüflings einsetzt und alle Versuche durchlauft, so hat die quantitative erst am 
Ende ihre volle Berechtigung. Beide Wertungen erganzen sich gegenseitig. Wenn 
ich beispielsweise in den Protokollen haufig die Sorgfalt eines Prüflings erwahnt 
finde, dagegen vereinzelt auch auf ungenaues Arbeiten hingewiesen wird, so ist 
die zahlenmaOige Feststellung notwendig, doch würde sie allein noch wenig er- 
geben. Ich muB vor allem wissen, worauf die vereinzelt erwahnte Ungenauigkeit 
beruht. Stellt sich beispielsweise heraus, daB sie bei Teilen des Arbeitsvor- 
ganges erwahnt wird, die etwas höhere Anforderungen an die Intelligenz stellen, 
und haben andere Prüfungen ergeben, daB der Prüfling recht beschrankt ist, so 
wird vielleicht in diesen Fallen jenes Manko sich mehr aus geistiger Unfahigkeit, 
als aus einem Willensmangel erklaren. Man wird dann in dem Endurteil über 
die Sorgfalt des Prüflings die Ungenauigkeit überhaupt nicht zum Ausdruck 
bringen. lm übrigen wird das Ziel aller Wertung sein, daB sich jede einzeine 
Angabe, die in den Protokollen steht, in den schlieBlich auf der Prüfkarte er- 
scheinenden quantitativen und qualitativen Angaben in zusammenfassendem Aus¬ 
druck wiederfindet. 

Ich konnte hier nur einige Andeutungen machen über ein Forschungsgebiet, 
das noch in den ersten Anfangen liegt, das aber praktisch und theoretisch be- 
deutungsvoll zu werden verspricht. Wenn es einmal gelingt, alle wichtigen 





16 Valentiner, Zur experim. Feststellung v. berufswicht. Willenseigenschaften bei Jugendlicfaen 


Willenseigenschaften der Jugendlichen im Laboratorium zu erfassen, so wird der 
Psychologe nicht nur bei der Berufsberatung, sondern auch bei Ein- und Um- 
schulung der Kinder, der normalen wie der anormalen, viel mehr gehort werden 
müssen, als das bis jetzt noch der Fall ist. Der Wissenschaft wird es erst dann 
möglich werden, typische Formen des Willens exakt zu erfassen und tiefe Ein- 
blicke in die Willensstrukturen der Jugendlichen zu gewinnen. Dizu ist es not- 
wendig, dali erst einmal eine Reihe leicht verwendbarer Arbeitsproben gewonnen 
werden, die es ermöglichen, bei Jugendlichen beiderlei Geschlechts und ver- 
schiedenen Alters jene Feststellungen zu machen. Schon jetzt aber sollten die 
Feststellungen der hier behandelten berufswichtigen Willenseigenschaften zum 
notwendigen Bestandteile einer jeden in einem psychologischen Institut aus- 
zuführenden Tauglich- und Tüchtigkeitsprüfung werden. 


Psychographische Tiefenanalyse eines Grofiindustriellen 

und seines Stabes 

Von Dr. Georg A. Roemer, Göttingen 

Wir bitten, die Austührungen Roemers als Anregungen zu betrachten, 
und betonen ausdrücklich, daD wir die Deutungsproben nur als psycho¬ 
logisch interessantes Material zur ErgSnzung analytischer Funktions- 
proben ansehen mochten, wie auch der Verfasser selbst diese Proben 
ja keineswegs als Universaltest empflehlt. Die Schriftleitung, 

W er höhere Angestellte richtig einschatzen und bei der Neubesetzung wich- 
tiger Posten Enttauschungen vermeiden will, muO sich bisher letzten Endes 
auf sein gefühlsmaOiges Urteil verlassen. Dabei erlebt auch der Geübte immer 
wieder Überraschungen. Manche bisher Wortlose und wenig Auffallende ent- 
wickeln sich in selbstandigerer Stellung zu vorzüglichen Arbeitern mit originellen 
Einfallen, andere lassen dabei in ihrer Arbeitsleistung nach, werden eingebildet 
und bequem und arbeiten nur noch für ihre eigene Tasche. Solche Erfahrungen 
lassen immer wieder den Wunsch nach tieferer Erkenntnis der Untergebenen 
aufkommen. Manche Firmen haben in diesem Bestreben die Schriften ihrer 
höheren und niederen Angestellten graphologisch priifen lassen. Ein guter 
Graphologe mit langerer Erfahrung kann sicher eine Reihe von wichtigen Eigen¬ 
schaften aus den Schriftzügen feststellen, aber gerade über Anlagen und künftige 
Entwicklungsmöglichkeiten gibt die Graphologie wenig oder keinen AufschluO. 
Sie bietet bestenfalls eine Analyse der augenblicklichen Fertigkeiten, Fahigkeiten 
und Eigenschaften, die einem wohlinstruierten Personalchef meist an sich 
schon bekannt zu sein pflegen. Für die Beurteilung künftiger Entwicklungs¬ 
möglichkeiten wird aber mehr verlangt, als die Graphologie und alle bisherigen 
Methoden leisten können. Es gilt namlich, den wahren Kern einer Persön- 
lichkeit zu erfassen, der wahrend langerer Jahre, ja, meist wahrend eines 
ganzen Lebens sich gleich bleibt. So paradox es auf den ersten Bliek erscheint: 



Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroDindustriellen und seines Stabes 17 


Es gibt kaum etwas so Konstantes, wie diesen Kern der Persönlichkeit. Ein 
echt preuOischer Geheimrat alter Tradition ist in den Grundzügen seines Wesens 
schon in den Referendarjahren „fertig“, in seiner Welt- und Lebensanschauung, 
seinem Auftreten, seiner inneren Einstellung zu den Mitmenschen wie zu sich 
selbst. Daher auch das in der Gesellschaft kursierende Wort: „Wer es in der 
Jugend nicht in sich hat, wird es nie bekommen." Ein typischer Schulmeister 
pflegt ebenfalls schon mit 20 Jahren fertig zu sein. Seine Amtszeit ist eigentlich 
nur dem periodischen Ablaufen einer Maschine vergleichbar, und die geistige 
„Verkalkung", der er mit bO Jahren so handgreiflich verfallt, hat meist schon in 
seinen Studienjahren, wenn nicht noch früher, begonnen. Öfter laBt sich ja 
diese Entwicklungslinie bis in noch frühere Jahre hinein verfolgen. Dahin ge¬ 
boren die Musterknaben, die urn leere Theorien und urn eine sterile Anpassung 
an die Meinung des Lehrers alle lebendige Schaffenskraft schon langst verloren 
haben, ehe sie überhaupt ins Leben eintreten. Schon in der Pubertat, noch 
früher, im Knaben- und Kindesalter, treten mitunter Neigungen, Anlagen, Kraft- 
richtungen mit solcher Deutlichkeit zutage, daO jeder Erzieher, wenn er nur 
wirklich beobachtet, sehen kann: hier blickt ein Kernstück des Wesens durch, 
das zeitlebens bleiben wird. Trotz aller Entwicklung, trotz dem Hinzulernen 
neuer Kenntnisse und Fahigkeiten andern sich diese tiefliegenden Triebkrafte 
nicht. Ob er als Knabe mit seinen Kameraden ficht oder ob er im spateren 
Leben als Wissenschaftler, Politiker oder Kaufmann im Kampf der öffentlichen 
Meinung seinen Mann steht — die Inhalte wechseln, es bleibt die Einstellung, 
das Bedürfnis nach Überwindung fremder Widerstande. 

Wer somit als Vorgesetzter die Fertigkeiten und Fahigkeiten seiner Unter- 
gebenen kennt, der bedarf zu seinem Urteil über deren Gesamtpersönlichkeit 
noch eines: der Kenntnis ihrer tiefliegenden Triebkrafte. Eben hier ver- 
sagt aber so oft das, was wir Menschenkenntnis heiOen. Diese Krafte liegen zu 
sehr unter der Oberflache, ais daO sie das Auge, selbst eines guten Menschen- 
kenners, sehen könnte. Und auch wenn man den Betreffenden selber danach 
fragen würde, er könnte nur selten eine Antwort darauf geben; denn die meisten 
Menschen, besonders in jüngeren Jahren, pflegen sich ihrer eigenen Triebkrafte 
nur sehr wenig bewuOt zu sein. Nur ihre Traume könnten etwa Hinweise und 
Fingerzeige geben; aber damit würden wir einen Forschungsweg beschreiten 
müssen, der nur unter langwierigen Mühen und nur in Ausnahmefallen praktisch 
gangbar ware. Hier kann lediglich ein Verfahren helfen, das kurz und klar uns 
diese tiefgelegenen Inhalte an das Tageslicht befördert: die psychographische 
Tiefenanalyse. Ursprünglich erfunden zur Erkennung geistiger Erkrankungen, 
wuchs sich das Verfahren zu einer umfassenden Methode aus, die den ganzen 
Bereich der Gesamtpersönlichkeit umspannt. 

Der auQere Verlaaf einer Analyse ist so einfach wie möglich. Durch ein 
kurzes Gesprach über expressionistische Kunst, über Schattenbilder, moderne 
Reklame oder ein ahniiches Thema werden die Gedanken des Betreffenden auf 

P. P. IV, 1. 


2 



18 Roemer, Psychographiscbe Tiefenanalyse eines GroBindustriellen und seines Stabes 


den kommenden Versuch hingelenkt. Dann wird der Versuchsperson eine Reihe 
von formlosen Bildern vorgelegt mit der Aufforderung, diese einzelnen „Biider" 
so auszudeuten, wie es ihr am naheliegendsten erscheine, wobei die Bilden von 
allen Seiten betrachtet werden dürfen. Durch jahrelange systematische Versuche 
an Gesunden und Kranken, an Menschen aller Berufs- und Bildungsklassen 
geschaffen, regen diese „Bilder“ in ihrer Formlosigkeit und Unbestimmtheit den 
Deutungswillen des Beschauers lebhaft an und bringen ihn zur Aufierung seiner 
unterbewuOten Gedankenwelt. Nicht einmal bewuDte Tauschungsversuche, die 
zum Teil von mit der Methode eng Vertrauten ausgeführt wurden, konnten die 



Abbildung 1 (Bild 4)*) 

gesetzmaOige Bedingtheit der einzelnen Kernfaktoren des Versuchs andern. lm 
Doppelversuch, d. h. bei gleichzeitiger Vorlage der Tafeln an zwei Versuchs- 
personen zugleich, deren Wechselrede stenographisch notiert wird, ergeben sich 
oft die ergötzlichsten Situationen, weil der eine durchaus nicht erkennen kann, 
was der andere sieht, und weil jeder den anderen von der Richtigkeit seiner 
eigenen Deulungsweise zu überzeugen sucht. Die Reihe der Bilder ist nicht grofJ. 
Sie umfaOt für einen einfachen Versuch nur neun, zum groOen Teil farbige Bilder, 
so daB die Dauer des Versuchs bei ungewöhnlich Geistesgegenwartigen und 
Kurzentschlossenen nur Minuten, bei Phantasiereichen, Umstandlichen oder be- 
sonders „FleiBigen“ eine halbe oder eine Stunde betragt. 

"lAnmerkungzu den Bildern: 

Rote Farbe; durch Punktierung angedeutel. 

Schwarzblaue Farbe: durch Schrafflerung angedeutet. 

Die hSufiger gedeuteten Teilstücke sind in der vorliegenden Wiedergabe durch die Art der 
Schrafflerung hervorgehoben. 



Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GrofJindustrielIen und seines Stabes 19 


Es kann hier nicht auf alle Feinheiten des Versuchs, auf seine psychologisch- 
wissenschaftliche Begriindung und auf die ganze Technik der spezialwissenschaft- 
lichen Auswertung der Befunde eingegangen werden. Um aber ein lebendiges 
Bild zu geben, wie stark der Versuch dilFerenziert, wie auCergewöhnlich charakte- 
ristisch die einzelnen Versuchspersonen sich ihrem Wesen nach dabei verhalten, 
werden in folgendem einige stenographische Niederschriften zu zwei Bildern der 



Abbildung 2 (Bild 6)*) 

Serie wiedergegeben. Das erste der Bilder lauft gewöhnlich als Bild 6 der 
Normalserie, tiefschwarz, mit dunkien Schattenbildungen in den Seitenteilen 
und einer kleinen roten Figur in der Mitte oben. Dieses Bild mit seinen reichen 
Randlinien ist z. B. für psychologisch interessierte Beobachter der AnlaO, eine 
Reihe von Gestalten und Köpfen darin zu sehen, wahrend der technisch Inter¬ 
essierte die scharf umrissene Mittelform des Bildes als rein architektonischen 
AuFbau oder als technische Konstruktion emphndet usw. Das zweite der hier 
veröffentlichten Bilder ist Bild 4 der Normalserie und hat drei mehr oder 
weniger schwarze Bilder als Vorganger. Es bietet mit seiner roten Mitte, seinen 
rosa Seitenstücken und einer Reihe feinroter Schattierungen zum erstenmal 
wahrend des Versuchs dem Beschauer ein farbiges Bild, und es ist besonders 
charakteristisch, wie die verschiedenen Versuchspersonen sich dem neuen Anblick 

2 * 




20 Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroQindustriellen und seines Stabes 

gegenüber verhalten. Die nachFolgenden Bildreaktionen stammen von den Herren 
eines gröBeren Industriewerkes, deren Tatigkeitsbereich im Betriebe jeweils mit 
ein paar Wonen angedeutet ist. 

Befand A. (Seniorchef, zugleich Leiter der „Auflenpolitik'" der Firma.) 

(Bild 6.) Ah, das ist ein grofier Leuchtturm, der rechts und links starke Rauchwolken 
ausstöBt und ganz Kraterbildung zeigt. Der Leuchtturm ist wirklich nett ausgeführt. 

(Bild 4.) Das ist ein Vampyr, der reitet. Es ist ein neues Moment, dafi Sie Farben 
hereinbringen. 

Bef und B. (Juniorchef, zugleich Leiter der „Innenpolitik^ der Firma.) 

(Bild 6.) Das ist jetzt von ganz ernster Art. Ein etwas besseres Abbild religiösen 
Inhalts, als die man gewöhnlich in den christlichen Missionsbuchhandlungen sieht. Es 
ist eine Verdammung des Krieges. 

In der Mitte steht ein Panzerturm irgendeiner Art, aus dem heraus eine unglaubliche 
Menge Geschützfeuer speit. Der Pulverdampf zieht sich in grauen Schwaden gegen den 
Himmel und verdüstert ihn förmlich. Man sieht die zuckenden Blitze, aber von den Opfern 
sieht man nichts. Dafür ist oben ein blutrotes Symbol, wie wenn alles Blut, das auf 
der Erde flieUt, von dem Geschütz emporgesammelt würde in den Himmel und sich von 
oben herunter ergieöen wollte. Akkurat mitten herunter auf den Turm, der doch das Blut- 
vergieBen verursacht hat, wie wenn das wenige Blut diesen schwarzen, qualmenden Rauch 
und Pulverwolken überschütten, vergieBen, löschen, zu Boden schlagen wollte. Das ist 
namlich schön! Wie kommen Sie auf solche Sachen? 

(Bild 4.) Das ist eine Art von siamesischen Zwillingen, da einer und da einer, zwei 
Gesichter, in der Mitte sind sie zusammengewachsen, vermutlich geht es da nach unten noch 
weiter. In der Mitte ist ein Furunkel schwer entzündet, man muB den Sanitatsrat.... 
kommen und ihn schneiden lassen. Auf der Seite sind zwei KlöBe, — man weiB nicht, 
ob sie sich daran überessen haben, oder ob sie die erst einnehmen müssen. 

Befund C. (Junger Anwdrter fiir einen selbstdndigen Posten.) 

(Bild 6.) Das ist ziemlich ahnlich. Das erinnert mich an eine Sandtorte (weiBe Aus- 
sparung in der Mitte) und dann erinnert es mich an einen Turm (Mittelteil unten), das 
ist ja ganz klar, aus dem aus beiden Seiten Flammenrufer (kleine Zackchen) hervorwinken, 
diese Fahnen, und im Zusammenhang damit tritt der bizarre Eindruck eines technischen 
Glockenturmes sofort hervor. Und dieser technische Glockenturm erinnert mich an 
den Mann, der in den Wald hinausging, um den Glockenspielstander zu suchen. Diese 
Kombination kann ich gut verwetten... Um dem Unteren naher zu treten, das den etwas 
pflanzenhaften Eindruck macht,.. und dieser chinesiche Glockenturm, wenn man den schon 
nehmen will, — in Verwendung mit einem groBen Komplex könnte man alle möglichen 
Geschichten erzahlen von einer Glocke und einer Wurzelknolle, aus der der Turm 
wachst, ohne dabei aber geschmacklos zu werden. (Bild gekehrt.) 

Wenn man schon weiter arbeitet, so kommt man auf, — auf eine sehr interessante Ge- 
schichte, namlich daB, — wenn man von dem Glockenturm ausgeht, und diese merkwürdige 
Figur auswertet, diesen Riesensalamander der in die Höhe wachst (seitliche Figur), 
wenn man dies mit dem Oberen in Verbindung zu bringen sucht, so wird man den merk- 
würdigen Eindruck nicht los, man müBte beides da an den Seiten, dafür heranziehen und 
verwetten und in einen ZusammenschluB bringen und ohne aus derSkizze herauszugehen, 
es vielleicht so zusammenzufassen, — für vielleicht eine Art-. .. (Pause.) 




22 Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroBindustriellen und seines Stabes 


Befund G. (Hauptvertreter der Firma fiir Handelsbeziehungen nach dem Osten.) 

(Bild 6.) Aber das — (komischer Seufzer) nein, das ist ein Vieh, ausgesprochenes Vieh. 
Nur weiC ich nicht, wie man das Vieh betitelt. Ich weiC zu wenig Bescheid mit den Rind- 
viechern. (Figuren, die in der Aussparung der Mitte hereinragen.) Das da, die zwei, das 
ist ein böhmischerWenzel. Hier hat er die Haube an und da ist die Nase, die böhmische. 
(Rot) Und das können zwei Stockzahne sein, aber ob das zwei menschliche sein können? 
Das soll der Kiefer sein. Stellt vielleicht eine alte Frau vor, die noch zwei Zahne im Munde 
hat. (Spitzedes Mittelteils unten.) Und das stellt dieSpitzeeinesTurmes vor, und das ist 
ein Mann, bedeckt mit einer bezipfelten Mütze, (Seite des Mittelteils) natürlich einer eigen- 
tümlichen Mütze. 

(Bild 4.) Das ist ein kolossales Stück! Kolossal ist das! ! Das könnte man gut, so schrag 
gestellt, als Schneemann nehmen, aber die zwei zusammengenommen ist es auch irgend- 
eine Schmetterlingsart (seitliche Köpfe). Das ist ein Gesicht, das ist die Hauptsache, so. 
(Nachahmung des Schreiens.) Sehen Sie wohl, ich habe gleich durchgeschaut. Ja, und so 
ist es ein Schneemann, 

Befund H. (Aufsichtsbeamter des technischen Betriebes.) 

(Bild 6.) (Dunkle Schattierungen in der Mitte.) Auch zwei Gestalten, die sich 
gegenüberstehen mit zwei Zöpfen, Pierettenfiguren (die schon öfters erwahnten 
Figuren der mittleren Aussparung). (Bild gekehrt.) Zwei Gestalten von einer Zange 
gefaCt und heruntergedrück t, der eine Arm verstümmelt, der andre hier, der Kopf nicht 
zu sehen, also heruntergedrückt. 

(Bild 4.) (Schüttelt den Kopf.) Kann da eigentlich nichts herausfinden. Zwei Ge¬ 
stalten, die hier etwas emporhalten, festhalten. 

Befund I. (Beamter der Reklameabieilung.) 

(Bild 0.) Jetzt kommt der Freudentempel, jetzt, das ist der Weingott, oder ist es 
der Biergott, es ist der Gambrinus oder ist es der Weininus hier oben, nicht wahr 
(Figuren der Aussparung). Das ist aber eine Lampenart oder soll — ist es nicht eine 
Lüsterart, wenn sie die Sachen verlangern, da weiter bauen wollen? (Bild gekehrt, seit¬ 
liche Figur.) Was kann das für ein Tier sein hier? Das ist ein Viech, das einen langen 
Schwanz hat, kann man sehen. So eine Art Pfau, Pfau ist etwas schlanker im Kopf; aber 
es sollte sich mit der langen Rückenwand decken, mit der langen Endfeder, der Pfauen- 
feder, könnte es sich decken. Die alle beiden (Figuren der Aussparung) die riechen, was 
hier aus diesem Dunst herausströmt, aus diesem Kelch oder Apparat, was es vorstellt 
(Mittelteil unten). Soll es riechende Düfte, Nektar ausströmen? Ich sage ja; ein gutes Bier 
oder ein guter Wein, daI3 sie Nasen zu arg daran laben, durch die Ausdünstungen, die 
dort oben hingehen. 

(Bild 4.) Das ist eine eigenartige Sache. Aber es möchte auch bald zu einer — hier 
möchte man in Versuchung kommen — ja wissen, wie das nun aussieht, wie — Sie haben 
das gemacht als — sagen wir Schattenschattierung, wenn wir das so betrachten, könnte 
man denken, ein Neger reiOt das Maul auf, ein brüllender Neger (seitlicher Kopf). Der 
Neger brüllt wie ein Verrückter. Dagegen das, das ware, das Mittelstück hat wieder eine 
Tierahnlichkeit, möchte man mit einem Schmetterling vergleichen, wie ich ihn ge- 
sehen habe in der Natur. Ich habe namlich erst vor kurzem eine Schmetterlingssammlung 
gesehen (ganze Bild gekehrt). Haben Sie hier etwas gedacht? Wie wenn etwas eingehangt 



Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroQindustrieilen und seines Stabes 23 


ware, wie wenn ein Balken herüberginge und an diesem Haken dürfte das ganze Ding 
hangen. Könnte auch der Querschnitt sein von einem Baldachin. Hier könnte auch noch 
etwas sein, aber definitiv kann ich mich nicht entscheiden. 

So wenig diese Ausschnitte die Wiedergabe des gesamten Versuchsprotokolls 
ersetzen können, so wird doch schon durch sie etwas von dem unmittelbaren 
und persönlichen Eindruck vermittelt, den jedes Protokoll dieses Versuchs an 
sich tragt — ein Resultat, das nur durch sorgfaltigste Konstruktion und Auswahl 
der Bilder zu erreichen war. Dieser Eindruck beruht zunachst vor allem auf 
der Diktion, der sprachlichen Form, in die die aufsteigenden Ideen gefalit werden. 
Die knappe, klare, fast militiirische Diktion des Seniorchefs ist ebenso charakte- 
ristisch wie das haufige Abbrechen von Satzen der Befunde C {Junger Anwarter) 
und I (Reklamebeamter) und die impulsive, ungepflegte Art der AuCerungen 
des Betriebsleiters (£). 

Was aber weiter schon unmittelbar in die Augen fallt, ist die verschiedene 
Art des kombinatorischen Vorgehens. Der Juniorchef {Befund B) reiht 
mit ausgeglichener Diktion und spielender Leichtigkeit die Hauptteile des Bildes 
nach einem leitenden Prinzip aneinander, um schlieBlich das Ganze zu einem 
einheitlichen, völlig geschlossenen Bilde unter Berücksichtigung aller einzelnen 
wichtigen Teile abzurunden. Es liegt darin diejenige Sorgfalt, Geschmeidigkeit 
und Sicherheit kombinatorischen Vorgehens, die ein Innenorganisator wirklicher 
Befahigung als unerlalJliche Eigenschaft benötigt. Zugleich verraten aber die 
leicht asthetische Betrachtungsweise, die Neigung zum Symbolisieren und manche 
andere Züge einen Anflug gelehrtenhafter Einstellung, die ihn erheblich von 
seinem praktisch-geschaftlich gerichteten Vater unterscheiden. Er reprasentiert 
darin einen Typus, der sich nicht selten unter den Söhnen von bedeutenden 
GroOindustriellen oder GroBfinanzleuten findet, und es ist jetzt schon vorher- 
zusagen, daB er spater einmal die Firma in ausgepragt anderem Sinne als sein 
Valer leiten wird. Wahrend er sich in straffem Aufbau seiner Deutung auf die 
Hauptteile des Bildnisses beschrankt, zeigt der Befund C (der junge Anwarter) 
wohl viel Originalitat, aber zugleich ein planloses Hin- und Herwandern auf dem 
betrachteten Bilde. Sein Bliek wirft sich zuerst auf die leere weiBe Form in 
der Mitte, die er sofort zu einer Deutung verarbeitet; er nimmt also in gewissem 
Sinne das Umgekehrte, das Negativ dessen, was die Allgemeinheit als das Wesent- 
liche betrachtet. Dann heftet sich sein Bliek an winzigen Zackchen der Mittel- 
form fest: Er sieht Flammenrufer, und dann erst wendet er sich dem gegebenen 
Mittelstück zu, das ihm durch die Geschichte des Glockenturmes eine Erinnerung 
an chinesische Philosophie heraufruft, der er sich in seinen Freistunden seit 
Jahren widmet. Von da an verliert er sich endlos ins Theoretische, wohl immer 
mit dem Bestreben und Eifer zu wirklicher Kombination, zu der er zweifellos 
originelle und groBgeschaute Bilder mitbringt, aber ohne zu wirklich praktisch 
greifbarer Realisation zu kommen. Er ist also der Typus eines noch in Theorien 
verstrickten, asthetisch interessierten jungen Mannes, der noch Jahre braucht, um 



24 Roemer, Psycbographische Tiefenanalyse eines GroOindustriellen und seines Stabes 


sich im Leben zurechtzufinden. Auch der Befund D {Leiter des Innenbeiriebs) zeigt 
bei Bild 6 eine betrachtliche Kombinationskraft, einen Drang zum Aufbauen, wie 
zu gründlicher organisatorischer Arbeit, auch er schafft im wesentlichen wie B und 
C aus wirklicher Schaffenslust, aber er erreicht doch nicht die Geschmeidigkeit des 
Vorgehens des Befundes B und die endgültige ZusammenFassung zu einem groO- 
geschauten Bild. Er bleibtvielmehrbei der AusarbeitungmehrerergroCerZusammen- 
fassungen stehen, die alle in sich organisch zusammengefügt und mit flüssiger Diktion 
geauQert sind. So gut wie gar nicht kümmert sich der Betriebsleiter {Befund E) 
urn die einheitliche Erfassung des Ganzen, er versucht gar nicht erst, die Haupt- 
teile, d. h. die beiden Seitenstücke und das Mittelteil sowie die rote Figur mit- 
einander in Beziehung zu setzen. Er ist reiner Praktiker und halt sich aus- 
schlieOlich an lose Teilstücke, aber er beweist darin eine vorzügliche Eigenschaft: 
Er greift mit wenigen Ausnahmen gerade diejenigen Teilstücke heraus, die nach 
der Statistik des Versuchs den höchsten Prozentsatz von Deutungen aufzuweisen 
haben, d. h., die von der Mehrzahl der Menschen für wichtig und wesentlich 
gehalten werden. Er bringt also für seinen Betriebsleiterposten weniger Über- 
legung und Fahigkeit theoretischen Denkens mit, als den sog. „gesunden Menschen- 
verstand", der immer nur das herausfaOt, was auch den andern wichtig erscheint. 
Worin seine eigentliche Starke als Betriebsleiter beruht, erweist sich aber erst 
bei Betrachtung eines weiteren Faktors des Versuchs, der Farbe. 

Es ist eine bekannte Tatsache, daO Rot, in leuchtender Farbe auFgetragen, 
eine, wenn auch noch so abgestufte Erregung erzeugen kann, die mit dem afFek- 
tiven Leben zusammenhangt. Gerade in dieser Hinsicht sehen wir in den fünf 
Befunden A—E entscheidende Unterschiede des Gefühlslebens sich widerspiegeln. 
Für D {Leiter des Innenbeiriebs) ist das Auftreten der roten Farben verbunden 
mit einem düsteren, fremdartigen, beinahe furchterregenden Eindruck. Fast wider 
Willen spürt er in sich das Gefühl des Unbehagens, und diese scheinbar leichte 
affektive Schwankung ist stark genug, ihn davon abzuhalten, die beiden KöpFe 
auf den Seiten zu erkennen, die er seinem sonstigen Vorgehen nach unter allen 
Umstanden hatte erkennen müssen. So sehr ist er durch den ihm unheimlichen 
Eindruck des Roten gebannt, und er versucht wahrend der Betrachtung des Bildes 
dauernd, diesen Eindruck wieder loszuwerden, ihn „abzureagieren“, indem er 
sich darüber klar zu werden versucht, wieso eigentlich dieser Eindruck in ihm 
entstehen konnte. Er ist damit das Beispiel eines Menschen, der sehr empfind- 
lich ist für AfFekte, für alle Vorkommnisse des Gefühlslebens; er beherrschr 
seine AfFekte nicht, sondern er wird, wenn auch nur für Augenblicke, durch sie 
beherrscht, und er lalJt darum gerade die Eigenschaft vermissen, die z. B. ein 
AuOenpolitiker in erster Linie benötigt: Vollkommene Ruhe, Klarheit und Ge- 
lassenheit in jeder noch so erregungsvollen Situation. Ein ausgezeichnetes Bei¬ 
spiel dieser Art ist der Befund A, der Seniorchef der Firma. Mit Leichiigkeit wird 
die neu auftretende rote Farbe in die Deutung mit übernommen und in aller 
Ruhe konstatiert, dafJ hier ein neues Moment hinzugeireten ist. Es ist dieselbe 




Roemer, Psycbographische Tiefenanalyse eines GroBindustriellen und seines Stabes 25 


Ruhe, mit der er in erregten Situationen mit geistesgegenwartiger Bestimmtheit 
den Tatsachen gegenüber Stellung nimmt, um mit vollkommener Sicherheit auch 
die veranderte Lage für sein Ziel dienstbar zu machen. Leicht, aber doch erst 
in zweiter Linie, wird von seinem Sohne {Befund B) das neue, erregungsvolle 
Moment einbezogen. Was er an Geistesgegenwart und Schlagfertigkeit, an plötz- 
lichem Übersehen und Beherrschen der Situation seinem Vater gegenüber ver¬ 
missen laOt, macht er durch die Sicherheit seines systematischen, ebenfalls durch- 
aus nicht langsam zufassenden Vorgehens wett. Was er durch dieses zurück- 
haltendere Eingreifen gewinnt, ist eine vollkommenere sachliche Lösung, ein 
restloseres Aufarbeiten der gegebenen Vorlage und, da(J die Farbe zugleich seinen 
Humor erweckt, ist nicht zufallig, sondern bedeutet einen charakteristischen 
Wesensunterschied gegenüber dem Leiter des Innenbetriebs (Befund D), in dem 
nur düstere Affekte und plötzliche Hemmungen durch die neue Situation her- 

vorgerufen werden. lm Befund C {Junger Anwarter) wird die Farbe an sich 

nicht beachtet, und doch tritt eine ausgepragte Reaktion auf sie ein: Das Bild 

einer Gralsburg, einer schonen Königskrone, steigt in dem jungen Kopfe auf — 
das Rot verrat seine unterbewuCten Gedanken. Dal3 er selbst, wenn auch durch- 
aus unbewuQt, fühit, um was für Luftschlösser es sich dabei handelt, pragt sich 
in dem rührenden Zusatz aus: „Ja, helfen Sie mir mal!" Zusammengehalten 
mit den Beobachtungen bei seiner Diktion und seiner Kpmbination bietet 
also sein Verhalten gegen die Farbe wie seine ideellen Inhalte das Bild eines 
sehr strebsamen, aber durchaus noch nicht ausgereiften Menschen, der wahrend 
der nachsten Entwicklungsjahre an verantwortungsvollem Posten mit Sicherheit 
versagen würde oder sogar geradezu befremdliche Torheiten begehen könnte. 

Noch eine andere Wirkung entfaltet das Rot beim Befund des Betriebsleiters 
{Befund E): Hier entladt sich eine ungezügelte Explosion „Donnerwetter noch 
einmal!" Es ist der Typus eines zu jahen, affektiven Entladungen neigenden 
Menschen, der Untergebenen gegenüber es an Ausbrüchen nicht fehlen laOt. 
Dazu paCt nicht nur inhaltlich seine Deutung „Vesuv“, sondern auch, daC er 
immer wieder durch das ganze Protokoll hindurch Gesichter sieht, die „das 
Maul aufreiCen", und in Wahrheit spielt er in der Betriebsleitung die fast un- 
ersetzliche Rolle des „Treibenden", der es vorzüglich versteht, eine Verdoppelung 
und Verdreifachung der Leistung aus dem Betriebe herauszuholen, So sehr er 
hier an seiner Stelle steht, so wenig ware er an einem höheren innerorganisa- 
torischen Posten am Platze, dazu fehlt ihm alles kombinatorische Denken zu sehr. 
Er hat zu wenig Kultur und ist als Mensch viel zu grob geschnitzt, um selber 
Vorgesetzter von gehobenen Beamten werden zu können. Wie der übrige Be¬ 
fund erweist, ist er hauptsachlich mit zwei Komplexen behaftet, namlich dem 
zügelloser Weiberwirtschaft und dem ehrgeiziger Leistungen. 

Gegenüber diesem explosiven Charakter bietet der Befund F, der Leiter der 
Buchhaltungsabteilung, einen fast sterilen Anblick. Unbeweglich, unelastisch, 
Freundlich, nicht astheiisch veranlagt, ziemlich phantasielos, in der Diktion nicht 



26 Roemer, Psycbograpbische Tiefenanalyse eines GroBindustrielIen und seines Stabes 


ungewandt, aber arm, ist er das Bild eines Menschen, der auBer der stereotypen 
Arbeit seines BeruPs und dem Kreise seiner Familie nach der Welt wenig Ver¬ 
langen bat und sie höchstens mit verwunderten Blieken „wie ein freundlicher 
alter Papa“ betrachtet. Er besitzt durchaus die Klarheit und AfFektlosigkeit, die 
an seinem Posten bei der bestandigen Beschaftigung mit der Zahl notwendig ist, 
wenn er sich nicht in seinem Berufe unbefriedigt und unausgefüllt fühlen soll. 

Ein anderes Charakterbild, aber in seiner Weise ebenso am Platze, ist der 
Vertreter fiir die Handelsbeziehungen im Osten {Befund G), der den nötigen 
Humor und die nötige „freundliche Grobheit" fiir östliche Verhaltnisse durch¬ 
aus mitbringt. Er nimmt alles, wie es kommt, bewegt sich Prei, leicht und leb- 
haPt in seinen GePiihlsauBerungen. Das Rot begrüBt er mit dem motorisch- 
dramatischen, aber durchaus nicht ernst gemeinten AusruP „Kolossal". Durch 
alle seine AuBerungen geht eine spielerische Note. Was er sieht, kann er Pür 
das oder jenes ausgeben. Oberzeugt von dem relativen Werte aller Dinge, ist 
er ein vorzüglicher VerkauPer, der jedes Ding so wenden kann, wie es ihm Pür 
den BetrefFenden am gegebensten und am gangbarsten erscheint. Ohne viel 
innere Hemmungen hat er eine natürliche Freude am Umgang mit Menschen, 
schonen und haBlichen, und entsprechend seinen Fahigkeiten ist denn auch sein 
ErPolg: Sein monatliches Einkommen bélieP sich schon AnPang dieses Jahres auP 
einige Hunderttausend deutsche Reichsmark. 

In erheblichem Abstand von diesen BePunden Polgen noch zwei andere (H und I) 
aus weniger gehobenen Stellungen. MiBmutig, mürrisch, mit depressiven Phan- 
tasien, die seine unterbewuBten Strömungen deutlich verraten, ist der Aufsichts- 
beamte der technischen Abteilung (H), das Bild eines Menschen, der sich be- 
drückt und ausgesogen Pühlt. Mit Beschwerden gegen die Leitung der Firma, 
die seine Verdienste nicht anerkenne, verbittert und seiner Arbeit wie dem Leben 
mit reichlich viel Widerwillen gegenüberstehend, ist er ein Typ, wie er wohl 
jedem Leiter eines industriellen Unternehmens bekannt ist. Trotzdem Püllt er 
die Funktionen seines Postens bePriedigend aus; denn wie er Pür sich selbst 
mürrisch jedes Ereignis betrachtet, so wacht er mit Argusaugen über die Tatig- 
keit der ihm unterstellten Arbeiter. Man kann nicht sagen, daB er kleinlich ware; 
dazu müBte er sich auch im Versuch viel mehr auP die Ausdeutung kleiner 
Details legen. Es ist nicht ungerecht, was er an den Arbeitern auszusetzen hat, 
und doch spüren sie seine miBmutige Einstellung zum Leben und zu ihnen selbst 
so deutlich durch, daB ihm keiner einen guten Bliek schenkt. 

Ein heiteres Gegenbeispielzu ihm ist die Figurdes Reklamebeamten{l)derheraus- 
sprudelt, sich dutzendemal unterbricht, korrigiert, und ironisiert, und der immer 
wieder auP eine lustige Deutung herauskommt. Fast von übergroBer Witzelsucht, 
gibt er seine Ideen und iisthetischen Betrachtungen, wie seine eigenen „Kom- 
plexe“ mit Lust und Liebe preis, genau, wie er in privatem Leben als harmloser 
Verschwender und jovialer Tunichtgut sich prasentiert und dabei doch Pür seine 
Sparte im GeschaPt eine ganz respektable Leistung auPzuweisen hat. 




28 Roemer, Psychographische Tiefenanalyse eines GroQindustrielIen und seines Stabes 


gleichsam durch ein Brennglas aufgefangen und dieses kleine, aber auQerordentlich 
scharfe Abbild mit dem Mikroskop untersucht und ausgemessen. Diese Tatsache 
spricht sich auch in dem Gutachten aus, das von dem Chef des groQindustriellen 
Unternehmens über die vorliegenden Tiefenanalysen abgegeben wurde. 


Rundschau 


Die erste Tagung 

fOrangewandte PsychologiederGesell- 
schaft fOr experimentelle Psychologie 
in Berlin 

Die Gruppe für angewandte Psychologie 
der Gesellschaft für experimentelle Psycho¬ 
logie hielt in der Zeit vom 10. bis 14. Oktober 
in Berlin ihre erste Tagung ab. Am 10. und 
11. fanden Besichtigungen industrieller so- 
wie sonstiger Prüfeinrichtungen sowie De- 
monstrationen statt. Vom 11. bis 14. da- 
gegen wechselten Besichtigungen mit Ver- 
handlungen ab. Die Vortrage und Verhand- 
lungen fanden am 13. in der Technischen 
Hochschule Charlottenburg, am 12. und 14. 
in den Raumen der Universitöt statt. 

Die Tagung wurde eröffnet durch einen 
Vortrag von Prof. Stern, Hamburg, in dem er 
eine kurze Darstellung der Entwicklung der 
angewandten Psychologie unter besonderer 
Berücksichtigung der Berliner Verhaltnisse 
gab. Er führte u. a. aus: 

„Die angewandte Psychologie ist janus- 
köpfig; auf der einen Seite blickt sie hin zur 
theoretischen Psychologie; so wie sie aus 
dieser hervorgegangen ist, so wird sie auch 
stets in enger Fühlung mit ihr bleiben 
müssen, um ihren wissenschaftlichen Cha- 
rakter zu bewahren. Die Fortschritte der 
psychologischen Erkenntnis und Methodik, 
die von der reinen Forschung erarbeitet 
werden, müssen dauernd einbezogen werden 
in die Anwendungstatigkeit, sonst gerat die 
angewandte Psychologie in Gefahr, zu einem 
mechanischen Gebaren zu erstarren. So sei 
etwa hinzuweisen auf die neuen Gesichts- 


punkte der Gestaltspsychologie, die auch 
für Anwendungsfragen von entscheidender 
Wichtigkeit werden können. Aber freilich 
sollte auch die reine Psychologie nicht mit 
Geringschatzung auf die angewandte blieken, 
denn auch sie kann von ihr lemen und be- 
deutsame neue Fragestellungen erhalten. 
Es ware dringend zu wünschen, daO die schon 
auftauchendè Gefahr einer schroffen Schei- 
dung der wissenschaftlichen Psychologen in 
Theoretiker und Anwender vermieden werde. 

Auf der anderen Seite blickt die ange¬ 
wandte Psychologie hin zur Praxis; nicht 
mehr nur im Studienzimmer und Laborato¬ 
rium hat sie zu wirken, sondern in der Schul- 
klasse, im Verwaltungsbüro, in der Werk- 
statt, derKlinik, dem Gerichtssaal. Sie lehrt 
nicht nur, wie psychologische Einsichten 
praktisch verwertbar sein können, sondern 
beteiligt sich auch an diesen Anwendungen 
selbst und greift damit — als „praktische" 
Psychologie — unmittelbar ins Leben ein. 
Aber auch hier ist eine Warnung nötig. 
Werden diese Anwendungsformen von den 
Vertretern der Praxis, den Lehrern, Inge- 
nieuren, Werkmeistern usw. selbst über- 
nommen, so entsteht die Gefahr, daO diese 
MSnner die wissenschaftliche (d.h. hier fach- 
psychologische) Fundierung nicht genügend 
würdigen, welche diesen Verfahrungsweisen 
erst ihren Sinn und ihre Bedeutung gibt. 
„Psychotechnik" ist keine bloOe Technik, 
die man durch Beherrschung der üuCeren 
maschinellen und rechnerischen Hilfsmittel 
auch schon bewaltigen kann; sie ist und 
bleibt zugleich alle Zeit Psychologie und ver- 


Rundschau 


29 


langt daher auch unbedingt eine fachmanni- 
sche Schulung in dieser Wissenschaft. 

Diese Tagung soll nun dazu beitragen, die 
unentbehrliche Vermittlungsstellung der an- 
gewandten Psychologie zwischen der rein 
psychologischen Wissenschaft und der Pra¬ 
xis klarzulegen und zu festigen; sie wird ein 
zentrales Problem, namlich die Aufgabe der 
FShigkeitsfeststellung bei Arbeitern, Lehr- 
lingen und Schülern sowohl von der Seite 
der psychologischen Methoden wie von der 
des Praktikerurteils beleuchten; sie wird 
ferner versuchen, wie beide Verfahrungs- 
weisen zusammenwirken und sich gegen- 
seitig stützen und erganzen können. Es ist 
die erste Tagung dieser Art in Deutschland, 
wahrend zwei internationale psychotechni¬ 
sche Konferenzen, im Vorjahre in Barcelona 
und soeben inMailand vorausgegangen sind. 
Berlin wurde für diese erste deutsche Ta¬ 
gung gewahlt, weil hier eine Reihe von In¬ 
stituten schon seit langem der angewandt 
psychologischen Arbeit dienen und weil hier 
auch praktische Betriebe in einem Umfange 
wie sonst nirgends in Deutschland die Ge- 
legenheit zur Besichtigung psychotechni- 
scher Einrichtungen gewahren.“ 

Den einleitenden Vortrag hielt Prof. 
Poppelreuter, Köln-Bonn, über Wesen, 
Methodologie und Erfolg der verschiedenen 
Begutachtungsverfahren, beurteilt nach 
eigenen Erfahrungen in der Praxis. Folgende 
Leitsatze legte er seinen Ausführungen zu- 
grande: 1. Die ein-zweitagige Serientest- 
methode hat ihren Erfolg überwiegend in 
der Konkurrenzauslese. Für die Zwecke der 
allgemeinen Begutachtung ist sie nur teil- 
weise verwondbar. 2. Serientestprüfungen 
sind nicht psychologische Begutachtungen, 
sondern Leistungsprüfungen nach vor- 
wiegend psychologischer Methodik. 3. Die 
Begutachtung hat ihren unter den gegen- 
wartigen Verhaltnissen optimalen Erfolg nur 
durch eine Kombination der verschiedenen 
Methoden; a) der praktischen, b) der rein 


arztlich-klinischen, c) der menschenkund- 
lichen (padagogischen), d) der Testserien, 
e) der symptomatisch-typologischen (psych- 
iatrischen), f) der Methode derpsychologisch- 
monographischen Arbeitsprüfungen. 

Danach wurden von den einzelnen Rednern 
die von ihnen eingereichten Leitsatze in der 
kurzen zur Verfügung stehenden Zeit be- 
gründet. An die Begründung schloD sich 
stets eine lebhafte Diskussion an. Die Leit¬ 
satze des ersten Tages bezogen sich auf 
die Feststellungsmethoden der ange- 
wandtenundpraktischenPsychologie. 
So berichteten: u. a. Baumgarten über Test- 
methodik, Giese über Arbeitsprüfung,Moede 
über Systematik der Prüfmittel und Wieder- 
holungsversuche, Rupp über Wesen und Be- 
griff psychischer Fahigkeiten, Sachs über 
Psychotechnik und Sozialpolitik, Stern über 
allgemeine psychologische Methodik unter 
den verschiedenen Gesichtspunkten, Schulte 
über Übungsfahigkeit und Versuchsum- 
stande, Valentiner über Feststellung berufs- 
wichtiger Willenseigenschaften bei Jugend- 
lichen,RohloffüberÜbungsstudien. Lipmann 
war krankheitshalber am Erscheinen ver¬ 
hindert. 

Der zweite Verhandlungstag wurde mit 
einer Besichtigung des psychotechnischen 
Laboratoriums der Technischen Hochschule 
Charlottenburg eröffnet, in dem die Prüf- 
verfahren für Lehrlinge und Meister der 
Metallindustrie sowie für Facharbeiter und 
Facharbeiterinnen des Holz- und Textil- 
gewerbes vorgeführt wurden. Vor dem Ein- 
tritt in die Aussprache hielt Prof. Schlesinger 
eine BegrüQungsansprache. Er führte etwa 
folgendes aus: 

„lm Auftrage des Rektors derTechnischen 
Hochschule habe ich die Ehre, die Mitglieder 
der Psychologischen Gesellschaft in den 
Raumen der Technischen Hochschule will- 
kommen zu heiOen. Rektor und Senat wün- 
schen Ihrer wichtigen Tagung von ganzem 
Herzen einen erfolgreichen Verlauf. 




30 


Rundschau 


Wenn ich persönlich noch ein paar Worte 
ankniipfen darf als Vertreter des Lehrstuhis 
für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetriebe, 
so geschieht das insbesondere, weil wir Be- 
triebsingenieure ja in unserem Beruf seit so 
vielen Jahren das Bestreben haben, die Har¬ 
monie zwischen der technischen Einrichtung 
und dem Menschen herzustellen. Der Be- 
triebsleiter hat sich ja taglich mit der Ein- 
stellung von Lehrlingen, Arbeitern, Vor- 
arbeitern und Angestellten zu befassen und 
er hat von jeher bloC aus seinem Gefühl 
und seiner Erfahrung heraus diese Auslese 
und Zuweisung an die richtigen Platze treffen 
müssen. Wir sind also eigentlich gewohnt, 
durch die Praxis Psychologie zu treiben. 
Wir haben sie aber in den Betrieben bisher 
in der Form der Meisterwirtschaft, im besten 
Sinne, geübt. Auch der Betriebsmeister ar- 
beitetjanurausdiesem Gefühlherans. Wenn 
jetzt die Forschung dazu kommt und zu dem 
was der Meister persönlich kann, den objek- 
tiven MaOstab liefert und das Erfahrungs- 
gemaCe durch Messung auf feste Unterlagen 
stellt, dann wird das Ziel, Menschen auszu- 
lesen und zu heraten, viel schneller, sicherer 
und gefestigter erreicht werden als es bisher 
möglich war. Es wird an Stelle der bloOen 
Addieruug der Arbeit von Technikern und 
Psychologen eine Potenzierung der Wirkung 
eintreten. Man muB also die Arbeit von zwei 
Seiten anfassen. Der Ingenieur muD, wenn 
er Menschen richtig einweihen will, in der 
Lage sein, bis in die tiefsten Winkel ihrer 
psychologischen Werkstatten hineinzu- 
schauen, ohne daO von ihm verlangt werden 
kann, er müsse das ganze Werkzeug beherr- 
schen, und es muO vom Psychologen verlangt 
werden, daD er auf der Basis seiner psycho¬ 
logischen Kenntnisse sich eine klare An- 
schauung der gerade zu untersuchenden 
technischen Arbeit verschafft. Wir Char- 
lottenburgersfehen aber auch auf dem Stand- 
punkt: Ingenieur, Arzt, Lehrer, National- 
ökonom können alle Psychotechniker werden 
unter der einen Bedingung, daB sie ihren 


früheren Beruf aufgeben und sich der neuen 
Wissenschaft ganz widmen wollen. Wir er¬ 
kennen aber niemals an, daB man heides 
vereinigen kann, ja, wir verurteilen es, wenn 
einer auf beiden Gebieten doch nur Laien- 
haftes Leistet. Weder Industrie noch Land- 
wirtschaft noch Handwerk noch Haushalt 
kennen heute wirklich genau die zu ihrer 
musterhaften Ausübung erforderlichen Vor- 
bedingungen. Das wird erstdurchtiefgehende 
Berufsforschung kommen. Und nur auf ganz 
wenigen Gebieten sind wirklich feste Grund- 
lagen geschaffen. Solange aber eine Berufs- 
kunde nicht besteht, kann auch keine gründ- 
liche Berufsberatung erteilt werden und dann 
ist auch die richtige Berufswahl unmöglich. 
Die Dreiheit Kunde, Beratung und Wahl wird 
sich erst entwickeln müssen und sie wird 
um so schneller entstehen, wenn die Univer- 
sitat als Mutter und die Technische Hoch- 
schuiealskraftigerSproBzusammenarbeiten. 
Es fallt uns Ingenieuren gar nicht ein, in das 
innere Arbeitsgebiet der Psychologen ein¬ 
dringen zu wollen. Wir sind aber Empfanger 
und Ausführer Ihrer schürfenden Arbeit. 
Wir wollen hoffen, daB die Arbeiten, die 
bisher ausgeführt wurden und bei denen die 
gekennzeichnete Arbeitsteilung in Char- 
lottenburg durchgeführt wurde, sich be- 
wahren wird. Die Charlottenburger Eigenart 
ist, daB Ingenieur und Psychologe Schulter 
an Schulter zwar getrennt arbeiten, aber 
vereint schlagen. 

Wir wissen, daB zu einem Studium, wie 
es die praktische Psychologie verlangt, vtele 
Jahre Arbeit gehort, und wir haben niemals 
den Ehrgeiz gehabt, in wenigen Monaten 
praktische Psychologen zu werden oder gar 
auszubilden. Das wollen Sie als die innerste 
Überzeugung eines Mannes hinnehmen, der 
bei der Ausbildung und Beratung insbeson- 
ders von Lehrlingen viele Jahre praktisch 
tatig war und der dann spater die Freude 
hatte, die psychotechnischen Verfahren als 
Krönung seiner Bestrebungen zur Heran- 
ziehung eines technischen Nachwuchses 



Rundschau 


31 


kennenzulernen. Die ganze technische 
Welt verfolgt diese vielversprechenden An- 
Tdnge mit lebhaftester Teilnahme und ich 
persönlich wünsche Ihnen als mitarbeitender 
Ingenieur von Herzen Gliickauf zur Lösung 
der stolzen Aufgabe; Jedem Menschen den 
ihtn durch angeborene Fahigkeiten am besten 
liegenden Platz zuzuweisen!" 

Der zweite Verhandlungstag war der Be- 
sprechung der Urteilsgrundlagen des 
Praktikers gewidmet. Zunachst berichtete 
Rektor Ruthe über die Urteilsgrundlagen des 
Lehrers in der Volksschulpraxis. Darauf 
trug Herr Chaym über die Grundlagen der 
Beurteiiung von Schülern höherer Lehr- 
anstalten vor und ging besonders auf die 
mannigrachen, für die Beurteiiung von Schü¬ 
lern in Frage kommenden Gelegenheiten 
des Schulunterrichtes ein. Das SchluQ- 
referat erstattete Dr. Heyland über die Ge- 
sichtspunkte der Beurteiiung von Industrie- 
lehrlingen und Facharbeitern. Die Nach- 
mittagsverhandlung war unter anderm der 
Besprechung des Beobachtungsbogens ge¬ 
widmet. Moede hatte den Leitsatz ein- 
gereicht: Die Wünsche und Bemühungen 
zur Feststellung schul- und berufswichtiger 
Eigenschaften mit Hilfe eines Beobachtungs- 
und Fragebogens haben bisher eine wissen- 
schaftliche Begründung nicht erfahren. Er 
begründete seine These mit zahireichem, in 
der Praxis des Laboratoriums für industrielle 
Psychotechnik gewonnenem Erfahrungs- 
material und teilte unter anderm auch die 
Erfahrungen mit dem Beobachtungsbogen 
bei der Berliner Begabtenprüfung mit. Herr 
Bogen entwarf Richtlinien für die wissen- 
schafiliche Arbeit zur Grundlegung der 
psychologischen Beobachtung. Er verlangt 
u. a. Arbeitsanalyse auch für die Schule, 
um den Beobachter in den Stand zu setzen, 
sachgemaOe und zuverlassige sowie psycho¬ 
logisch wertvolle Urteile abzugeben. AuCer- 
dem verlangt er, den Beobachtern die Grund- 
züge einer zweckmafligen Beobachtungs- 
technik zu vermitteln. 


Am dritten Tage standen die Bezie- 
hungen der psychologischen und 
praktischen Urteile zueinander zur 
Diskussion. Piorkowski hatte den Grund- 
satz eingereicht, dal3 es nicht ohne weiteres 
angangig sei, die „Bewahrung“ bzw. „Rich- 
tigkeit“ von Intelligenz- und Eignungsprü- 
fungen dadurch zu konstatieren, daO eine 
Korrelation mit dem Lehrer- bzw. Meister- 
urteil vorliegt, da es sich herausgestellt hat, 
daC diese Urteile in vielen Fallen sehr viel 
weniger begründet sind als die Ergebnisse 
einer sorgfültigen psychotechnischen Prü- 
fung. Er begründete diese Anschauung durch 
zahireiche üuOerst interessante Falie seiner 
Praxis und hob immer wieder hervor, daO 
die in der psychotechnischen Untersuchung 
erfaBte potentielle Energie sich je nach den 
in Frage kommenden Arbeitsbedingungen 
in der verschiedensten Weise in aktuelle 
Energie umsetzen kann. Moede begründete 
seine These, daB bei dem gegenwartigen 
Stande unseres Wissens bei Anstellung von 
Erfolgskontrollen irgendwelcher Art auf eine 
gründliche Aussprache des Psychologen 
oder Psychotechnikers mit dem Praktiker 
am Verhandlungstisch nicht verzichtet wer¬ 
den kann. In der Diskussion beleuchtete 
u. a. Marbe, Würzburg, die Psychologie des 
Urteilens und wies auf seine Gleichförmig- 
keitsuntersuchungen hin. 

Herwig begründete seinen Leitsatz über 
die Integralkurve mit ihrer Unterteilung als 
zweckmaBiges Auswertungsprinzip. 

Eingeleitet wurde der dritte Verhandlungs¬ 
tag durch eine Besichtigung der Psychotech¬ 
nischen Versuchsstelle der Reichseisenbahn- 
verwaltung in Eichkamp. Geheimer Rat 
Schwarze vom Reichsverkehrsministerium 
begrüBte die Teilnehmer der Tagung und 
legte die Richtlinien der Psychotechnik im 
Reichseisenbahndienst dar. Oberbaurat 
Skutsch, Leiter der Psytev, trug über 
Arbeitsgrundsatze und Erfahrungen der 
Psychotechnischen Versuchsstelle vor und 



32 


Rundschau 


besprach die Erfolgskontrollen der Lehr- 
lingsprüfungen aufGrund umfassenden sta- 
tistischen Materials, das von den einzelnen 
Prüfstellen eingereicht worden war. 

Besichtigt wurden an den übrigen 
Tagen; A.E.G., Siemens & Halske, Sie¬ 
mens-Schuckert, Prüfmittelsammiung des 
Ingenieurvereins, psychotechnische Prüfein- 
richtungen der Reichspostverwaltung (Tele- 
phonistinnen- und Fahrerprüfung), Labora¬ 
torium der Osram-G.m.b.H. u. a. m. 

Allgemein wurde dem Wunsche Ausdruck 
gegeben, daO dieser ersten Tagung eine 
Reihe weiterer folgen möchte. 

AuGer den öffentlichen Sitzungen fan¬ 
den interne Aussprachen der Gruppenmit- 
glieder statt. 

Als Vorstand wurden in geheimer Wahl 
gewahlt; Stern, Marbe, Poppelreuter, Moede, 
Rupp, die die Wahl annehmen. Stern spricht 
dem ausscheidenden Schriftführer Lipmann 
seinen Dank aus. 

Verband Praktischer Psychologen 

Der Verband der Praktischen Psychologen 
hielt anlaOlich der Tagung der Gruppe für 
angewandte Psychologie gleichfalls seine 
erste Tagung ab. Als Vorstand wurden ge¬ 
wahlt die Herren Marbe, Moede, Piorkowski. 


Praktische Psychologie 
und Berufsberatung 

Die Gruppe für angewandte Psychologie 
sowie der Verband der Praktischen Psycho¬ 
logen reichten dem Reichsamt für Arbeits- 
vermittlung beim Reichsarbeitsministerium 
einen einstimmig angenommenen Antrag 
ein, wonach bei der gesetzlichen Neurege- 
lung des Berufsberatungswesens die Psy¬ 
chologie entsprechend der ihren Erfahrungen 
und Erfolgen zukommenden Bedeutung ge- 
bührend berücksichtigt werden soll. 


Zwanzigtausend Mark 
für einen kurzen Satz 
oder einen Vers 

Der Anzeigenteil dieses Heftes enthalt 
ein Preisausschreiben der Deka Pneu* 
matik G. m. b. H., Berlin. 

A 

Ferner liegt diesem Heft ein Prospekt 
der Firma Felix Meiner in Leipzig über 
philosophische Werke bei. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr.C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf Gr Hdrtel in Leipzig.^ 




PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. NOVEMBER 1922 2. HEFT 

Die Praktische Psychologie erscbelnt io roooetlicben Herteti lm Umfange voq zwel Bogeo zum Preise von 300 Mark vterielfibriich 
fura Inlind. Füra Ausland besondere Preise. (Viertellabrapreis bel unmitielbarer Zustellung uoter Kreuzbaod lm Inlaad eio- 
acbUeOlich ösierrelch • Uogarn 400 Mark.) Bestellungen nehmeo alle Bucbbaodlungen, die Post sowie die Verlagabuchbandlung 
eatgegeo. Aozelgeo vermittelt die VerUgsbuchbandlung S. Hlrzel io Lelpzlg, KdnigsiraOe 2. Postscbeckkooto Leipzlg226.— 
Alle Manuskripiseodungen uod darauf bezugliche Zuacbrlftea aind zu richten aa die Adrease der Schriftleituag: Prof. Dr. W. M oed e 
und Dr. C. Piorkowaki, BerllnV(^30, LuItpoldatraOe 14. 

Untersuchungen über die Befahigung zur Erlernung 
der Fremdsprache 

Von Max Lobsien, Kiel 

N ach vollendeter Grundschulzeit tritt an die Schule die auOerordentlich ernste 
Aufgabe heran, eine Scheidung vorzunehmen in solche Zöglinge, die ihrer 
Begabung nach der Volksschule verbleiben müssen und solche, die einem höheren 
Bildungsgange zugewiesen werden dürfen. Sehr ins Gewicht fallt dabei die Aus- 
lese der sprachlich-logisch Befahigten. Kann der Vérsuch hier wesentliche Dienste 
leisten? Ist insonderheit der Versuchsgang, den Felix Schlotte, Johannes Schlag 
und Dr. Handrick in Leipzig entwarfen, für diesen Zweck geeignet? Die Frage 
zu beantworten erachte ich von um so gröBerer Bedeutung, als die Zeit in greifbare 
Nahe rückt, da die Auslese in der Grundschule praktische Gestalt annehmen muD. 

X Art der Versuche 

Zu zwei verschiedenen Zeiten nahm ich eine sorgsame Nachprüfung der Leip- 
ziger Versuche vor, einmal vor Jahresfrist, worüber kurz wiederholt werden moge, 
und dann vor Beginn der Herbstferien 1922. In beiden Fallen schloO ich mich 
mit einigen Anderungen, die aus örtlichen und zeitlichen Verhaltnissen notwendig 
sich ergaben, an die Leipziger an. (Vgl. Pad.-psych. Arb. Bd. XI. Leipzig 1921.) 

Ihre Prüfung zerfallt in zwei Hauptgruppen, die Untersuchung des Gedachtnisses 
und der sprachlich-logischen Fahigkeiten. Beide schienen einer allgemein-psycho- 
logischen Erwagung für die Auslese unerlaClich. 

Sowohl das unmittelbare Merken als die Gedachtnistreue für sinnlose und sinn- 
volle Stoffe wurden untersucht. Das Gedachtnis für einfache sinnvolle Stoffe wurde 
mit Hilfe von zehn Dreiwortgl^edern geprüft. Sie wurden einzeln und dann noch- 
mal im ganzen durch Vorlesen und Nachsprechen im Chor eingepragt. Die Ab- 
nahme geschah, indem der Versuchsleiter das erste Wort in buntem Durchein- 
ander der Glieder diktierte und den Schüler veranlaOte, das Nichtgenannte dazu- 
zuschreiben, eine Lücke durch einen Strich anzudeuten. Nach einem langeren 
Zeitraum wurde die Abnahme in anderer Folge der Glieder unerwartet wieder¬ 
holt. — Wenn beide Wörter richtig erganzt wurden, ward die Leistung durch 
zwei Punkte gewertet; wenn ein richtiges Wort durch ein sinnvolles ersetzt ward, 
galt die Leistung = 1,5, waren beide vertauscht oder wurde nur ein richtiges, 
aber an falscher Stelle geschrieben, galt der Wert = 1,0, ein richtiges und ein 
falsches an verkehrter Stelle wurden mit 0,5 eingestellt. 


P. P. IV. 2. 


3 





34 


Lobsien, Untersuchungen Qber die Befahigung zur Erlernung der Fremdsprache 


Das Gedachtnis für sinniose Wörter wurde nach dem Vorschlage Handricks 
mittels des Vokabelversuchs geprüft. Zehn Wortpaare, deren jedes erste der 
türkischen Sprache entnommen war, standen an der Wandtafel und wurden laut 
iesend eingepragt. Die Fremdwörter wurden dann in bunter Folge dargeboten, 
und die Schuier muOten die zugehörige Verdeutschung niederschreiben — die 
richtige Wiedergabe wurde mit einem Punkt gewertet. 

Das Behalten gröCerer sinnvoller Zusammenhange ward untersucht, indem 
langere Satze, die aber gleichviele inhaltliche Einheiten enthielten, lesend und 
sprechend einmal von der Wandtafel abgenommen und unmittelbar darauf nieder- 
geschrieben wurden; die Anzahl der behaltenen wurde durch einfache Punkte 
angegeben. 

Die Prüfung der sprachlich-logischen Fahigkeiten umfaOte die Begabung für 
sprachliche Kombination, die Lautauffassung und Lautdarstellung, den Sinn für 
logische Zusammenhange, logische Ordnung und den Reichtum und die Beweg- 
lichkeit des Vorstellungsschatzes. 

Der Sinn für logische Zusammenhange wurde mit Hilfe durcheinandergeworfener 
Satzteile (Mosaiksatze) erkundet. Die Anzahl der richtig geordneten Beziehungen 
galt als Wertmesser der Leistung. 

Der Sinn für logische Ordnung wurde nach dem Verfahren Schiracks im 
Leipziger Institut untersucht, indem die Prüflinge veranlaBt wurden, zu einem 
gegebenen Begriff zwei nebengeordnete und den OberbegrifF zu linden. Ein 
richtiger NebénbegrilF bekam 3, der richtige OberbegrifF 6 Punkte, zu weite nur 
4 oder 2. 

Die gebundene sprachliche Kombinationsfahigkeit wurde mit einem Lückentext 
geprüft. Jede sinnvolle Erganzung galt 1 Punkt, und die freie Kombination wurde 
mit dem Masselonschen Versuch geprüft, der 10 Wortpaare umfaOte. Die Punkt- 
zahlen wurden nach dem Wert der Leistungen festgestellt. 

Der Vorrat und die Flüssigkeit des Wortschatzes wurden gemessen, indem man 
die Prüflinge veranlaOte, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zu einem ge¬ 
gebenen Worte inhaltlich verwandte (keine Wortfamilien) in möglichst grofier 
Anzahl aufzuschreiben. 

lm Lautauffassungs- und Lautdarstellungsversivph soll der Prüfling zeigen, 
wie weit er vorgesprochene Worte einer ihm fremden Sprache klanglich auf- 
zufassen und richtig niederzuschreiben vermag. 

Soweit die notwendigsten Angaben über die Art der Versuche! 

Die Prüflinge 

Unsere Versuche wollen feststellen, inwieweit nach eigenen Erfahrungen die 
Leipziger Prüfungen für ihre Absicht brauchbar erscheinen. Die Prüflinge unter- 
scheiden sich da und hier nach zwei Richtungen. Zunachst stand mir eine 
wesentlich geringere Anzahl zur Verfügung, es waren ihrer lm ersten Versuch 
nur 25, im zweiten 29. Es liegt auf der Hand, daO eine so geringe Prüflings- 



Lobsien, Untersuchungen über die BefShigung zur Erlernung der Fremdsprache 35 

schar wenigstens für allgemeinere Schlüsse eine schmalere Grundlage abgeben. 
Der Mangel darf bei dem Vergleich der Ergebnisse nirgend unbeachtet bleiben, 
Sodann waren im ersten Versuch meine Prüflinge etwa 'A Jahr alter als die 
Leipziger, dafür aber waren sie wahrend dieses Zeitraumes von einer vorzüglichen 
Lehrkraft in der englischen Sprache unterrichtet worden, und das hat den groDen 
Vorteil, zu vergleichen, ob die Erfahrungen zu jenen Versuchsergebnissen stimmten, 
ob vor allem die beiderseits gewonnenen Leistungsrangreihen übereinstimmten 
oder nicht. Der Vergleich war mir so wertvoll, daB ich beschloB, nach einem 
Jahre den Versuch mit denselben Schülern — nur die Sitzengebliebenen schieden 
aus — zu wiederholen urn zu prüfen, wie nun die Rangreihen sich zueinander 
verhaken würden. Der Unterricht im Englischen war in derselben Hand geblieben, 
nur erforderte der Altersfortschritt urn ein Jahr eine etwas gesteigerte Höhe der 
Versuchsanforderungen, ohne ihr Wesen zu verandern. 

Eichung der Versuchsmethoden 

Einige kurze methodische Bemerkungen sind unerlaBlich. Zunachst gilt zu 
überlegen, wie hoch man die Anforderungen an die Prüflinge stellen könnte. 
Sie dürfen weder zu hoch noch zu niedrig sein. Jedenfalls mussen sie, ent- 
sprechend unserer Aufgabe, eine mittlere Schwierigkeit besitzen, die man nach dem 
Leipziger Muster als prozentuale Erfüllung berechnen kann. Darunter versteht man 
das Verhaltnis der tatsachlichen Leistungen einer Gruppe zu den Höchstmöglichen. 
Wenn z. B. eine Prüflingsgruppe 868 Rohwertpunkte aufweist gegenüber einer Ideal- 
leistung von 1375, so ergab sich ein Hundertwert von 63. Der strenge Mittelwert 
ist 50, und der Versuch erweist sich als um ein geringes zu leicht. Erst auf Grund 
zahlreicher Versuche wird es gelingen, wirklich geeichte Methoden zu gewinnen, 
d. h. solche, die über 50 Prozent nicht wesentlich hinaus- oder hinuntergehen. 

Ich stelle die prozentualen Erfüllungswerte in Leipzig und Kiel zusammen: 


■ 


Leipzig 

Kiel 1 

Kiel 2 

mm 

Vokabelversuch. 

30 

29,6 

34 

B 

Vorstellungsreichtum. . . 

(30) 

(51,4) 

(42) 

B 

freie Kombination. 



48 

B 

gebundene Kombination. 


46,2 

32 

B 

Über- und Nebenordnung 

50 

49,8 

66 

6. 

LautauFfassung. 

61 

67,0 

89 

7. 

Mosaiksatze. 

62 

63,1 

70 

8. 

Wortgedachtnis. 

64 

64,0 

62 

9. 

Satzgedachtnis. 

75 

73,1 

79 


Die prozentuale Erfüllung stimmt bei den letzten Versuchen mit den Leipziger 
Rechnungen weniger gut überein als bei den ersten. Die Anforderungen waren 
bei mehreren etwas zu niedrig. Der Leistungszuwachs eines Jahres war gröBer 

3* 









































36 


Lobsien, Untersuchungen über die Befahigung zur Erlernung der Hremdsprache 


als die Erschwerung der Prüfungen voraussetzte. Wie weit dadurch die Rang- 
unterschiedlichkeit berührt wird, könnte nur durch umfangliche Nachunter- 
suchungen festgestellt werden. Hier müssen wir uns damit begnügen, die Unter- 
schiede durch Rechnung in etwas auszugleichen. 

Deutung der Rohergebnisse 

Für ihre rechnerische Auswertung sind zwei MaOe von ausschlaggebender 
Bedeutung: der HÖchst- und der Schwierigkeitswert. Ich streife sie kurz. 
Den Untersuchungen lag jeweils eine Reihe von Aufgaben zugrunde, etwa 
38 Auslassungen beim Lückentext oder 10 Einzelreihen beim Vokabelversuch. 
Wenn man jede richtige Leistung mit einem Punkt bewertet und die Leistungs- 
summe zu den höchstmöglichen, idealen Leistungen in Beziehung setzt, würde 
man ohne groOe Mühe eine Leistungsrangreihe unter den Schülern einer Gruppe 
aufbauen können. Die Reihe ware aber deshalb anfechtbar, weil die einzelnen 
Glieder der Aufgabe von unterschiedlicher Schwierigkeit sind; man würde dann 
lediglich die Menge des Geleisteten, nicht aber die Güte berücksichtigen. Beide 
zugleich müssen in die Rechnung einbezogen werden, und zwar nach der Regel: 
Je haufiger eine der zehn Teilaufgaben innerhalb der Schülergruppe gelost worden 
ist, desto geringere Leistungsanforderungen stellt sie, die geringste jene Teil- 
auFgabe, die von allen Prüflingen gelost worden ist. Bezeichnen wir die Anzahl 
der Schüler mit n, den Höchstwert der tatsachlich von der Gruppe geiösten 
Einzelaufgaben = h, dann ware der Schwierigkeitswert = n + 1 — /t zu bewerten. 

Die Rechnung ist nur möglich, wenn jede Einzelleistung in den Rohpunkten 
mit 1 angegeben wird. Wenn aber, wie etwa beim Lautauffassungsversuch, die Roh- 
punkte komplizierter gewertet werden müssen, dann empfiehlt es sich, die Reihen- 
leistungen in Prozenten der Idealleistung anzugeben und die zehn Glieder, weil 
die Haufigkeit im umgekehrten Verhaltnis zur Schwierigkeit steht, einzeln von 
100 zu subtrahieren. Mit diesem Werte werden die einzelnen Leistungen multi- 
pliziert und zu Endsummen verrechnet. 

Oft aber ergeben sich durch das angedeutete Verfahren unbequeme Zahlen, 
und man bemüht sich urn kleinere Faktoren, die Schwierigkeitsfaktoren; 
sie sind verkürzte Schwierigkeitswerte. Man kommt im allgemeinen mit den 
Wenen 0- 5 aus. Durch einfache Proportionsrechnung setzt man den gefundenen 
Höchstwert == 5 und setzt die andern dazu in Beziehung; die Zwischenwerte 
werden in der üblichen Weise auf ganze Zahlen erhöht. 

Streuung der Ergebnisse 

Die prozentuale Ecfüllung zeigt nur die Lage der Durchschnitts- zur idealen 
Höchstleistung, sie sagt aber nicht, ob die Anforderungen der Reihen sich über 
einen genügend weiten Punktspielraum verteilen. Sind die Anforderungen 
nicht schwer genug, dann liegt der Durchschnittswert hoch und die Einzelleistungen 


Lobsien, Untersuchungen über die BefShigung zur Erlernung der Fremdsprache 


37 


drangen sich nahe dem Höchstwerte eng zusammen oder übereinander. Das ist 
Für eine Rangverteilung natürlich ungünstig. Aus der prozentualen ErfüIIung 
lassen sich die Verhaltnisse nicht ersehen, man muQ die Streuung der Sonder- 
leistungen genauer erfassen. Ich versuchte das durch ein zwar nicht einwandfreies 
aber immerhin brauchbares Verfahren. Für jede Versuchsart berechnete ich den 
Durchschnitt der über und unter der Durchschnittsleistung liegenden Punktwerte 
und gewann aus ihnen das Mittel, die durchschnittliche Streuung. Liegt 
dieser Wert in der Nahe der Klassendurchschnittsleistung, ist die Streuung gering 
ausgefallen. Wird die Punktzahi auf 100 verteilt, dann ist die ideale Verteilung 

50 und die ideale Streuung nach oben und nach unten - 25. Durch die 
Wertung der gefundenen Durchschnittsstreuung in Prozenten der idealen findet 
man einen Ausdruck dafür, wie weit die Streuung für die Rangverteilung günstig 
gewesen ist. 

Das Ergebnis meiner Untersuchungen zeigt folgende Übersicht: 



+ 

■ 

B 


+ 

2. Ve 

rsuch 

Durch* 

scbnitt 

%v.25 

Wortgedachtnis: 1. Abnahme. 

18,5 

27,8 

23,2 

EBI 

24,8 

23,3 

24.. 


„ 2. Abnahme. 

18,5 

24,3 

21,3 

85,2 

^1 

31,2 

29,3 

117,2 

Vokabelgedachtnis: 1. Abnahme .... 

17,6 

19,0 

18,3 


22,6 

17,3 


80,0 

„ 2. Abnahme .... 


15,4 

19,2 

76,8 

16,3 

1L4 

13,9 

55,6 

Satzgedachtnis. 


18,3 

18,8 

75,2 

19,5 


21,2 

84,8 

Logischer Zusammenhang. 

25,7 

24,0 

ESI 

99,6 

18,5 

19,0 

18,8 

75,2 

Logische Ordnung. 


24,2 

20,6 



16,5 

16,7 

66,8 

Gebundene Kombination. 

19,3 

20,9 

20,1 

80,4 

20,6 

16,4 

18,5 

74,0 

Freie Kombination. 

18,7 

22,3 


82,0 

24,2 

19,3 

21,8 

87,2 

Vorstellungsschatz. 

26,3 

14,8 

20,6 

82,4 

18,1 

19,4 

18,4 

73,6 

Lautversuch. 

15,3 


15,7 

62,8 

17,8 

15,1 

16,5 

66,0 


Die Übersicht zeigt, wo die Streuung sich über den Nullpunkt verschiebt und 
welche Versuchsart die günstigste Punktverteilung ermöglichte. Es ist nicht an- 
gangig, die Zahlenwerte kleinlich auszudeuten, das verbietet schon die geringe 
Anzahl der Versuchspersonen in beiden Prüfungen; immerhin aber gibt die starke 
Abweichung bei manchen Versuchsarten zu Bedenken AnIaO. Vor allem bedarf 
es der Aufklarung, warum die Streuungszone in der zweiten Wiedergabe der 
Vokabeln und bei der logischen Ordnung im Versuch 2 so erheblich herabgesunken 
ist. Sicherlich kann die Altersentwicklung nicht allein verantwortlich gemacht 
werden. Ich will hier keinen weiteren Erwagungen Raum geben, sondern nur 
darauf hinweisen, dali die Streuungszone mancher Versuchsarten methodische 
Anderungen für weitere Prüfungen notwendig macht. 






















































































38 Lobsien, Untersuchungen über die Befihigung zur Erlernung der Fremdsprache 

Berechnung der Rangreihe 

Es ware ein ganz rohes Verfahren, wollte man die Rangreihe allein durch 
die fortlaufende Ziffernreihe aufbauen, die man den bewerteten Punktreihen anlegt. 
Die Wertabstande sind zwischen den geordneten Prüflingen sehr ungleich groö. 
Die Rangreihe muO die Abstande werten und darf sie nicht mechanisch in eine 

gleiche Stufenfolge zwangsweise ein- 
ordnen. Zu zweit sind die Abstande 
zwischen der geringsten und höchsten 
Leistung bei den einzelnen Versuchs- 
arien sehrverschieden. Beide Mangel 
werden durch Rechnung ausgeglichen. 

Die gleiche Spannung innerhalb 
der einzelnen Versuchsarten erreicht 
man dadurch, daO man einheitlich 
100 Punkte zugrunde legt, so daO der 
niedrigste Wert 0, der höchste 
= 100 ist. Der erste Versuch über 
die logische Ordnung ergab 12 und 
621 Punkte. Die DifFerenzvon609 Punk- 
ten wird durch Rechnung auf den 
Raum von 100 zusammengedrangt, 
so daO jeder Punkt der Wertreihe mit 
100/109 zu bezeichnen ist. Ist etwa 
der zweitniedrigste Wert 133, dann 
ist einzusetzen (131 —12) 100/109 usw. 
Auf diese Weise verwandelt man die 
absolute Wertreihe in eine relative 
Leistungsreihe (s. Abbildung 1)*). 

Die relative Leistungsreihe mufl 
nun in die Lelstungsrangreihe unserer 
Prüflingsgruppe umgewandelt werden. 
Dem ersten Versuch wurden 25 Prüflinge unterworfen. Der beste erhalt den 
Rangplatz 1, der letzte 25; dazwischen liegen 24 Rangplatze. Jeder Platz 
entspricht dem loo der relativen Leistung. Der oben gefundene Wert von 
(133 — 12) muö mit ^/loo multipliziert werden 4,42. Subtrahieren wir den 

Wert von 25, ergibt sich ein Rangplatz von 20,58. Allgemein: Bezeichnen wir die 
Schülerzahl mit n, die relative Leistung mit p, dann ergibt sich die Huthsche Formel: 

Rangplatz: n — p setzt man die Fehlerwerte ein: r 1 + P 

lüü lUU 

*) Vgl.: Huth, Eine neue Berechnungsmethode zur Feststellung der Rangreihe. Zeitschrift 
für pedagogische Psychologie. 1920. 


100 


go 


E 

O 

bd 


4 - 


O 

+ 

'j: 

+ 



Abbildung 1 


















Lobsien, LIntersuchungen über die Ber3higung zur Erlernung der Fremdspracbe 


39 


I. 

Oie Endrangrelhe 

Wir stellen sie fest, indem wir die p-Werte jedes Prüflings erst addieren und 
dann die Huthsche Formei anwenden. Daneben moge auch die Leistungsreihe 
der einzelnen Versuchsgruppen berechnet werden, obgleich sie wegen des ge- 
ringen Schülermaterials erheblich unsicherer ist. 


Versuch 1 




Gedachtnis 

2 

3 

Sprachleistung logischer 

4 5 6 7 

Fibigkeiten 

8 9 

Leistungs¬ 

reihe 

Prüfling 




wmm 

Satz 

Zus. 

Ord. 

Koit 

geb. 

ibin. 

frei 

Wort- 

schatz 

M 

•!> . c 

S-S s 

J « « 

1 

11,08 

11.08 

34,36 

17,08 

4,60 

14.44 

7,96 

13,00 

10,12 

16,82 

8,18 

14,44 

2 


2,46 

13,72 

20,44 

1,00 

5,08 

1,00 

4,36 

1,00 

18,28 

1,58 

6,18 

3 


19.24 

17,08 

20,92 

22,36 

25,00 

16,60 

16,72 

9,98 

23,80 

3,64 

23,82 

4 

11,08 

9,88 

25,00 

wmi 

6,52 

15,64 

19,24 

12,76 

11,56 

20,44 

4,30 

18,90 

5 

8,92 

7,72 

21,40 

EiaFiül 

19,24 

3,40 

5,32 

12,71 

3.64 

1,00 

12,28 

13,60 

6 

17.80 

21,64 

4,84 

13,96 

14,68 

22,00 

15,64 

20,44 

17,56 

17,80 

25,00 

24,79 

7 

5,80 

20,44 

11,56 

16,84 

13,24 

21,16 

11,80 

18,04 

16,12 

14,20 

4,84 

17,25 

8 

4,12 

14,68 

13,86 

10,12 

10,36 

23,80 

7,24 

13,72 

12,52 

14.92 

10,60 

14,56 

9 

1,00 

1,00 

17,28 

22,84 


10,12 

9,50 

7,72 

9,16 

9,19 

3,78 

14,22 

10 

13,48 

22,36 

14,40 

18,22 

11,32 

13,48 

9,16 

8,48 

3,64 

25,00 

5,32 

15,57 

11 

10.12 

14,52 

13,86 

16,60 

4,84 

lEO 

5,80 

13,96 

12,76 

13.24 

6.04 

13,10 

12 

11,08 

13,48 

14,68 

20,20 

16,36 


16,12 

19,00 

4,12 

21,64 

6,80 

16,95 

13 

10,60 

14,20 

5,80 

18,76 

3,88 

11,08 

8,44 

14,44 

9,88 

11,56 

4,84 

11,28 

14 

10,60 

5,56 

14,12 

18,52 

6,28 

16,36 

11,56 

12,52 

1,24 

23,08 

9,16 

10,86 

IS 

23,56 

25,00 

5,56 

um 

18,52 

Bini 

9,88 

21,88 

14,44 

22,12 

9,78 

19,84 

16 

6,28 

14,44 

16,60 

17,56 

8,44 

19,24 

15,40 

20.68 

4,60 

11,08 

13,00 

16,96 

17 

24,52 

21,88 

7,00 

19,24 

19,48 

20,44 

20,20 

21,88 

10,84 

16,56 

3,40 

22,00 

18 

16,12 

22,84 

13,72 

14,44 

19,00 

16,12 

25,00 

21,40 

25,00 

18,04 

9,16 

25,00 

19 

17,56 

14,68 

8,44 

16,12 

14,20 


16,60 

25,00 

20,44 

20,92 

10,60 

9,78 

20 

11,08 

18,68 

IbXIl 

2,68 

10,60 

4,36 

11,32 

19,24 


20,93 

4,36 

12,81 

21 

3,88 

2,12 

KILI 

13,00 

3,64 

1,72 

4,12 

15,40 


18,76 

3,36 

6,93 

22 

25,00 

9,88 

20,44 

21,64 

9,16 

6,04 

9,16 

13,00 

6,80 

24,99 

83) 

17,30 

23 

21,88 

24,04 

18,00 

24,96 

15,40 

5,32 

15,64 

22,36 

8,08 

12,28 

7,72 

20,49 

24 

1,00 

7,48 

1,00 

1,00 

4,30 

1.00 

6,52 

1,00 


12,76 

1,00 

1,00 

25 

1,28 

10,60 

24.52 

21,16 

10,36 

24,50 

9,50 

19,72 

20,44 

19,24 

5,56 

19,20 

Durcb- 

schnitt 


15,68 

11,34 

15,16 

11,57 

15,58 

10,69 

17,14 

7,38 

15,85 


Auf diese beiden Übersichten driingt sich die mühsame Rechnung zusammen. 

Sonderergebnisse 

Es ist nicht anzunehmen, daO die geprüften Fahigkeiten zu der sprachlich- 
logischen BeFahigung in gleichem Verhaltnis stehen. Wir wollen untersuchen, 
ob der Anteil der einzelnen oder gewisser Gruppen zur Endrangreihe feststell- 
bar ist. Nach aligemeiner Meinung und Überlegung ist die Fahigkeit zur Er- 































































































































































































































































































































40 


Lobsien, Untersuchungen über die Befahigung zur Erlernung der Fremdsprache 




Versuch 2 



Gedachtnis 

1 2 3 

Spracbleistung logischer Fahigkeiten 

4 5 6 7 8 9 

Leistungs- 

reihe 

Prüfling 

W 

1 

>rt 

2 

Vok 

1 

abel 

2 

Satz 

Zus. 

Ord. 

Koir 

geb. 

bin. 

frei 

Wort- 

schatz 

«L 1 c 

«» 2 
^ J 

1 (10) 

14,16 

23,68 

19,49 

20,32 

6,04 

6,88 

18,08 

13,88 

15,00 

11,64 

4,92 

15,59 

2 

7.72 

3,80 

1,00 

14.44 

25,92 

20,04 

18,64 

14,72 

23,68 

12,76 

11,08 

13,10 

3(2) 

16,12 

27,04 

27,60 

28,44 

7,44 

19,20 

21,72 

14,16 

16,96 

23,96 

15,84 

18,92 

4(14) 

10,24 

6,32 

28,44 

24,24 

3,52 

4,92 

13,88 

29,00 

21,72 

22,28 

13,32 

14,06 

5 (5) 

18,92 

12,48 

25,08 

24,80 

8,56 

4,36 

20,32 

13,58 

11,08 

8,56 

22,28 

14,28 

6 

1,56 

3,64 

15,28 

19,76 

23,96 

2,12 

14,84 

16,38 

10,52 

8,28 

12,76 

11,04 

7 

23,12 

24,52 

22,00 

24,24 

6,04 

6,04 

16,38 

12,76 

15,76 

6,88 

8,84 

13,63 

8(1) 

19,44 

18,92 

25,31 

22,84 

6,88 

7,16 

20,00 

8,00 

21,18 

14,44 

14,44 

15,14 

9 (22) 

24,52 

23,40 

27,60 

27,60 

20.00 

27,04 

17,20 

14,16 

4.08 

29.00 

6,88 

20,29 

10(18) 

19,20 

22,28 

18,64 

24,24 

14,60 

29,00 

12,76 

27,32 

7,72 

23,40 

8,28 

19,00 

11 

15,56 

20.22 

27,32 

27,04 

11,52 

27.04 

12,76 

12,20 

18,36 

16,40 

14,44 

12,70 

12 (13) 

14,60 

11,68 

22,00 

24,52 

6,04 

11,68 

13,32 

16,12 

14,44 

7,72 

14,16 

13,74 

13(15) 

27,88 

21,44 

25,08 

29,00 

29,00 

19,48 

29,00 

22,28 

29,00 

13,32 

22,84 

29,00 

14(6) 

28,44 

22,84 

27,60 

27,60 

15,00 

14,44 

13,04 

22,84 

20,32 

20.04 

12,76 

19,57 

15 (25) 

16,12 

18 64 

22,28 

25,92 

14,44 

11,64 

12,48 

17,52 

23,68 

8,00 

13,04 

15,34 

16 (20) 

11,36 

4,46 

11,92 

13,32 

27.04 

7,44 

16,40 

11,92 

15,00 

4,08 

10,52 

10,67 

17(11) 

22,56 

18,08 

20,88 

22,28 

9,40 

5,48 

10,80 

18,08 

16,94 

1,00 

19,20 

14,94 

18(9) 

4,46 

1,56 

12,76 

15,84 

1,56 

3,52 

12,20 

16,38 

13,04 

18,36 

8,36 

8,93 

19 (12) 

12,76 

14,92 

29,00 

29,00 

14,60 

15.00 

10,24 

18,36 

20,32 

18,36 

15,84 

16,82 

20 (2) 

10,24 

14,36 

18,92 

1,00 

20,00 

1,56 

1,00 

1,00 

1,00 

14,16 

6,32 

7,53 

21 (23) 

26,84 

23,28 

2B,20 

24,24 

14,60 

7.72 

23,12 

22,28 

19,76 

15,00 

15,56 

19,40 

22 (21) 

8,00 

1,28 

27,60 

27,60 

3,52 

15,08 

9,68 

16,38 

2,96 

18,64 

12,48 

11.25 

23 (16) 

21,44 

25,36 

21,16 

19,98 

12,48 

11,08 

19,48 

25,08 

16,35 

22,56 

13,84 

18,67 

24 

12,67 

4,64 

29,00 

29,00 

12.48 

4,08 

15.28 

16,94 

13,04 

22,84 

14,72 

14,53 

25 

29,00 

29,00 

27,60 

29 00 

3,52 

7,72 

17,80 

24,80 

20,32 

15,56 

11,08 

18,59 

26 (24) 

1,00 

1,00 

4,54 

21.16 

1,00 

1,00 

4,08 

3,30 

1,56 

17,52 

5,76 

1,00 

27 

15,84 

27,00 

27,60 

27,60 

27,04 

7,16 

18,36 

15,28 

3,76 

26,20 

1,00 

18,38 

28 (19) 

15,84 

23.96 

24.80 

27,04 

25,08 

11,08 

16,38 

24,52 

22,28 

22,28 

29,00 

22,59 

29 

19,76 

18,52 

25,31 

27.04 

6.04 

13,32 

9,12 

20,04 

20,32 

13,32 

10,24 

15,26 

Durcti- 

schnitt 

15,28 

22,98 

11,08 

11,36 

_ 

15,28 

20,04 

15,56 

15,92 

12,88 



lernung der Fremdsprache stark von einem guten Vokabelgedachtnis, der Kombi- 
nation und der besonderen Fahigkeit, Laute aufzufassen und richtig wiederzugeben, 
abhangig. Es fragt sich, ob sie auch unsere Rangreihe bestimmen, trotz ihres 
unterschiedlichen Testwertes. Wir beantworten die Frage mit Hilfe der bekannten 
Spearmanschen Korrelationsformel, wohl bedenkend, dafi sie umstritfen ist und 
ihre Anwendung hier wegen der geringen Prüflingsanzahlen besonders schwierig 
ist. Die Berechnungdeswahrscheinlichen Fehlers unterblieb aus denselbenGründen. 

Zunachst untersuchen wir nach der 

0=1 — 


Forme! 

6 1 (x—yY 
n {n^—l) 




Lobsien, Untersuchungen über die BefShigung zur Erlernung der Fremdsprache 


41 


ob die Endrangreihen beider Versuche von den Gedachtnis- oder den sprachlich- 
logischen Leistungen vorwiegend abhangig ist. 

Die Gedachtnisrêihen stehen zu den Endreihen in der Korrelation 0,75 bzw. 
0,80, die logisch-sprachlichen 0,86 und 0,76. Beide Reihen sind demnach für 
die Untersuchungen von groCer, annahernd übereinstimmender Bedeutung, ob- 
gleich beide Reihen unter sich nur in mittlerer Korrelation stehen (0,49 und 0,55). 

Es ist bedenklich, die einzelnen Reihen zur Endreihe in Beziehung zu setzen, 
es moge daher unter allem Vorbehalt geschehen. 

o zur Endrangreihe: 




1. 


2. 


Vokabel . 

Endreihe 

0,03 


0,31 


logischer Zusammenhang 

» 

0,69 ( 

0,86 

0,681 

0,76 

logische Ordnung. 

yf 

0,73 1 

0,55) 

gebundene Kombination . 


0,58 1 

n 

0,50 1 

0,60 

freie Kombination. 


0,41 1 


0,54 1 

Vorstellungsreichtum . . . 


0,23 


0,46 


LautaufFassung. 

»» 

0,32 


0,52 



Auf Grund von Überlegungen scheinen zur sprachlichen Befahigung besonders 
notwendig zu sein: Vokabelgedachtnis, gebundene Kombination und LautaufFassung. 
Meine Berechnung ergab: 

1 . 2 . 

e V K + L ^ 0,40 0,77 
o K -L L = 0,50 0,65 

Trotz der Abweichungen in den Ergebnissen beider Reihen, deren Ursache nicht 
naher untersucht werden soll, dürfen wir der Übersicht vorsichtig entnehmen, 
daQ nicht das Vokabelgedachtnis oder der Vorstellungsreichtum, auch nicht die 
LautaufFassung einzein, wohl aber das Gedachtnis und der logische Sinn für die 
Endrangreihe vorwiegend bestimmend sind. Die beiden letzten Korrelationen 
weichen aber so stark voneinander ab, daO es zum mindesten gewagt erscheint, 
auf ihnen Schlüsse aufzubauen. 


II. 

Die Rangreihen im Lichte der tatsSchlichen Sprachleistungen 

Unsere Rangreihen sind entstanden, indem auf Grund allgemeiner psycho- 
logischer Erwagungen bestimmte Teste zusammengeordnet wurden. Es erhebt 
sich die wichtige, aber schwierige Frage, ob sich die Reihen auch in der Praxis 
bewahren, ob die auf Grund des Unterrichts gewonnenen Leistungsreihen den 
gefundenen entsprechen. Eine gute Übereinstimmung würde eine wesentliche 
Stütze für die praktische Brauchbarkeit unserer Untersuchungen abgeben. Wir 
fragen also: Stehen die gefundenen Leistungsreihen zu den wirklichen Leistungs¬ 
reihen in guter Korrelation. 






42 


Lobsien, Untersucbungen über die Bef3bigung zur Erlernung der Fremdsprache 


Es sollen Bedenken nicht verschwiegen werden. Ich erinnere erneut an die 
geringe Anzahl der Prüflinge, die eine Korrelationsberechnung unsicher macht. 
Ich erinnere ferner daran, daC die Versuche nicht mit zehn-, sondern zehnein- 
halbjahrigen und erneut mit elfjahrigen Schülern vorgenommen wurden. Immer- 
hin kann der letzte Umstand die Aufgabe, die uns hier angeht, nicht sonderlich 
gefahrden, denn wenn die experimentelle Leistungsreihe wirklich deutlich die 
sprachlich-logische Befahigung aufweist, dann muO die Bewahrung durch die 
Praxis sowohl nach einem halben als nach einem Jahre nachweislich sein; man 
darf nicht vergessen, daO die Methode unverandert blieb, nur die Anforderungen 
wurden erschwert. 

Schwerwiegender ist die Frage, ob schon nach einem halbjahrigen Unterricht 
die unterrichtliche Leistungsfahigkeit sich so klar feststellen laOt, daO eine brauch- 
bare Korrelation berechnet werden kann. Wir werden mit Übereinstimmung in 
grölieren Umrissen zufrieden sein müssen und sicherlich bedenklich hnden, wenn 
Korrelationen von weniger als 0,50 gefunden werden. 

Wenn der Unterricht über ein weiteres Jahr ausgedehnt worden ist, also etwa 
anderthalb Jahre gedauert hat und sich erneut groQe Abweichungen zeigen, dann 
wird man gegen das Testverfahren gegründete Bedenken hegen oder ihr im um- 
gekehrten Falie gröBeres Vertrauen entgegenbringen dürfen. 

Als Grundlage der Beurteilung dienten die Klassenarbeiten, die durch gramma¬ 
tische Diktate erganzt wurden; jene wandten sich in erster Linie an das Behalten, 
diese erforderten Denkleistungen. Dazu kamen Vokabeldiktate und eines im Dienste 
der Lautaufnahme und -wiedergabe; jene wandten sich an den bisher erlernten 
Wortschatz, dieses erforderte insofern eine besondere Leistung, als die Schüler 
35 neue Wörter aus dem bisherigen Lernschatze heraus auf Grund der Klang- 
ahnlichkeit richtig niederschreiben muOten. 

Die Leistungen wurden einer rechnerischen Verarbeitung wie oben unterzogen, 
die Rangreihe festgestellt und die Korrelation berechnet. Die erste Versuchsreihe 
ergab zur sprachlichen Leistungsrangreihe nur eine mittlere Korrelation, namlich 
0,57, etwas gunstiger die zweite = 0,65. Nur an den Endgliedern der Reihe 
zeigte sich Übereinstimmung beider Beurteilungen, wahrend auf der sehr langen 
Mittellinie sich starke Abweichungen ergaben. 

Ich greife wieder die Versuchsreihen heraus, die nach allgemeiner Überlegung 
zu der Lehrerreihe in engerer Beziehung stehen, also: Gedachtnis, Kombinations- 
fahigkeit und Lautaufnahme und -wiedergabe. Zur Endrangreihe standen die ent- 
sprechenden Versuchsreihen im Verhaltnis 0,40, bei Ausscheidung des Gedachtnisses 
Q 0,50, zur Lehrerrangreihe fand ich in der ersten üntersuchung die Werte 
0,37 und 0,48, in der zweiten gar nur 0,33 und 0,22. Es bestand also keine 
nennenswerte Beziehung zwischen experimenteller und Lehrerrang¬ 
reihe; hüben und drüben lagen die Reihen nur zum geringen Teile auf gleichen 
Voraussetzungen. 



Lobsien, Untersuchungen über die Befdhigung zur Erlernung der Fremdspracbe 


43 


Ein umfanglicheres Urteil über beide Reihen finden wir, wenn wir die Korre- 
lationen der einzelnen Testreihen zu der endgültigen Testrangreihe und der Lehrer- 
rangreihe in beiden Versuchen berechnen. 

Korrelation zur Endreihe Korrelation zum Englischen 



1 . 

2. 

1. 

2. 

Log. 

= 0,86 

0,76 

0,80 

0,41 

O. 

= 0,73 

0,55 

0,8 J 

0,44 

z. 

0,69 

0,68 

0,36 

0,64 

Ged. 

0,75 

0,80 

0,48 

0,43 

V. 

0,03 

0,71 


0,64 

w. 

= 0,58 

0,61 



s. 

- 0,65 

0,49 



Komb. 

- 0,81 

0,60 


HBi 

geb. 

0,58 

0,50 

0,10 

0,41 

frei 

0,41 

0,54 

0,38 

0,38 

L-r K 


0,65 

0,48 

0,22 

L-r K + G 


0,70 

0,37 

0,39 

Laut 

= 0,32 

0,52 

0,37 

0,23 

Vorst. 

0,23 


0,29 

0,35 


Ich stelle die unterstrichenen .Werte graphisch dar, urn einen Vergleich leichter 
zu ermöglichen. 

Zunachst ist wertvoll, die Korrelationen der Hauptleistungen im Versuch zur 
versuchlichen Leistungsendreihe in Beziehung zu setzen. Trotz aller Sorgfalt, 
die im einzelnen auFgewendet wurde, wird man natürlich nicht erwarten dürfen, 
daB sich die Kurvenwerte decken. Dem steht entgegen auBer der geringen Prüflings- 
anzahl der Umstand, daB ein nicht geringer Zeitunterschied zwischen der ersten 
und zweiten Versuchsreihe lag; wir wissen aber nicht, wie die Altersentwicklung 
auf die Leistungsfahigkeit einwirkte, ob diese und jene Versuchsart dem Alters- 
fortschritt überhaupt nicht oder schnell oder langsam innerhalb der vorliegenden 
Zeitspanne unterworfen war. Wir erschwerten ferner die Versuchsanordnungen, 
es fehit uns aber die Möglichkeit, Festzustellen, ob sie überall im gleichen 
Schritte erfolgt ist. Wir wissen endlich nicht, wie überhaupt eine Erschwerung 
der Arbeit wirkt, ob sie ohne weiteres eine Leistungsveranderung veranlaBt 
oder gar eine erhöhte Anspornung und wertvollere Arbeit innerhalb gewisser 
Grenzen erzielt. 

Es liegen also zweifellos Fehlermöglichkeiten genug vor, die zur Vorsicht 
mahnen. Immerhin darf aber nicht vergessen werden, daB sie rechnerisch zu 
einem Teile ausgeglichen werden, vor allem dadurch, daB wir den p-Wert be¬ 
rechnen, also der Rangreihenberechnung einen — allerdings künstlichen ein- 
heitlichen Spannraum von 100 zugrunde legen. 















44 


Lobsien, Untersucbungen über die BefShigung zur Erlernung der Fremdspracbe 


Endlich darf nicht vergessen werden, daC die Versuche Stichproben darstellen, 
und auch unter sorgsamster Ausschaltung aller Sonderbeeinflussungen bleibt not- 
wendig eine Schwankungsmöglichkeit in den Leistungen bestehen. 

Wenn trotz aller dieser Bedenken eine verhaltnismaOig gute Übereinstimmung 
zwischen den reinen Versuchsreihen und den sprachlichen Schulleistungen be- 
steht und wenn gar die gute Korrelation im zweiten Versuch erneut in Erscheinung 
tritt, so steht sicherlich nichts im Wege, die von den Leipzigern vorgeschlagenen 
Teste und ihre Verwendungsart als brauchbar für die vorliegende Aufgabe zu 
bezeichnen. 

Die Übereinstimmung besteht nicht, wie aus der Zeichnung deutlich hervor- 
geht. Der zweite Versuch hat das verhaltnismaöig günstige Ergebnis wesentlich 
heruntergedrückt. Konnte aus dem ersten gefolgert werden, daO die Testreihen 
die logischen und Gedachtnisreihen unverhaltnismaOig klarer auspragen als die 
spezifisch sprachlichen, und daO das Gesamtverfahren vielleicht in Einzelheiten, 
als Ganzes aber nur mangelhaft geeignet sei, die sprachlich Befahigten aus- 
zusuchen, so muli das Ergebnis der zweiten Prüfung das Unterfangen noch viel 
fraglicher erscheinen lassen. Auch die etwas höhere Gesamtkorrelation: 0,65 
gegenüber 0,57 kann daran nichts andern, zumal die Werte für L ^ K und 
L + K G erheblich ungünstiger ausgefallen sind. 


Über die Behandlung der Arbeiter 

Ein Beitrag zur Frage der Menschenbehandlung 
Von K. A.Tramm, Oberingenieur der Berliner StraGenbabn 

VV7elche Summe von Wissen und Können wird heute aufgewandt, urn erst- 
Wklassiges Material, zweckmaliige Werkzeuge und leistungsfahige Maschinen 
herzustellen. 

Wie nachlassig, unwirtschaftlich und unverantwortlich geht man im Verhaltnis 
hierzu mit den Menschen urn, die diese Dinge ausdenken, herstellen und über- 
wachen? Die Menschen, das allerfeinste Material im Betriebe, die emphndlichsten 
Werkzeuge und Maschinen, welche Güte, Menge und den Arbeitsfrieden jedes 
Betriebes wohl am erheblichsten beeinflussen, werden auch heute noch ziemlich 
planlos behandelt. Den Vorarbeitern, Meistern, Betriebsleitern und besonders 
den Neulingen unter den Vorgesetzten, werden fast nirgends Richtlinien über 
Arbeiterbehandlung gegeben. Jeder Vorgesetzte handelt hier nach seinen Ein- 
gebungen und Erfahrungen. Jahrelange Übung und Erfahrung sind notwendig, 
für die Aneignung der einfachsten Erkenntnisse. 

Wieviel reibungsloser würde sich der Verkehr der Menschen untereinander 
abwickeln, wenn die Erfahrungen der Seelenlehre berücksichtigt würden? 

Der erfahrene Vorgesetzte mag sich der Stunde erinnern, wo er zuerst dem 
Arbeiter einen „Befehl“ (Auftrag) hat erteilen müssen oder, wo er den Angriffen 



Tramm, Uber die Behandlung der Arbeiter 


45 


einer Masse (Versammlung) gegenüberstand — um die Bedeutung der aufgeworfenen 
Fragen ermessen zu können. 

Eine Lehre von der Menschen- und besonders Arbeiterbehandlung 
fehlt vollkommen! 

In dem Kleinbetrieb macht sich dieser Mangel nicht so deutlich bemerkbar, 
als im Grofibetrieb, wo oft Hunderte von Vorarbeitern, Meistern und sonstige 
Vorgesetzte die gleichen Arbeitsleistungen von Tausenden von Arbeitern zu über- 
wachen und zu kontrollieren haben. Reibereien und MiBverstandnisse sind hier 
etwas Alltagliches. Niemand kommt auf den Gedanken, daC hier in sehr vielen 
Pallen Fehler (ungewollte) in den Behandlungsmethoden vorliegen. Auch die 
Uneinheitlichkeit der Behandlung macht sich oft sehr deutlich bemerkbar, daO 
z. B. Arbeiter Betrlebe oder Abteilungen bevorzugen oder meiden, einfach darum, 
weil der Vorgesetzte sie richtig oder falsch behandelt. 

Der Verfasser unternimmt mit vorstehender Abhandlung den Versuch, einige 
Regeln und Erfahrungen über die Behandlung von Arbeitern durch Meister zu 
veröffentlichen, um andere Betriebe und Abteilungen zur Sammlung und Ver- 
öffentlichung ihrer Erfahrungen anzuregen. 

Die hier veröffentlichten Regeln sind in erster Linie für Fahrmeister von 
StraCenbahnen bestimmt, deren Tatigkeit sich mit der Überwachung, KontroIIe 
und Unterweisung der Stralienbahnführer beschaftigt. 

Die Tatigkeit der Fahrmeister bei den Führern und die der Werkmeister in 
Werkbetrieben bei den gelernten Facharbeitern ist eine verschiedene; nichtsdesto- 
weniger dürften die hier gesammelten Erfahrungen für andere Betriebe als 
StraBenbahnen brauchbare Regeln enthalten. 

Was ist der Zweck der Menschenbehandlung? 

Bei der Menschenbehandlung kommt alles darauf an, den Willen des anderen 
Menschen für einen bestimmten Zweck gefügig zu machen, also die Selbstandig- 
keit des anderen durch unseren Willen zu beeinhussen. 

Die Kunst des richtigen Befehlens ist hier ausschlaggebend. Auch der strengste 
Befehl, der unbequemste Arbeitsauftrag muO so in Worte gefaOt werden, daO er 
vom Arbeiter willig ausgeführt wird. Das Gefühl des Arbeitszwanges soll mög- 
lichst vermieden werden, weil es die Arbeitsfreude und Leistung des Arbeiters 
ungünstig beeinfiuOt. 

Bei der Vermittlung des Verkehrs zwischen Beiriebsleitung und Arbeiter spielt 
die Art und Weise der Behandlung des Meisters eine Rolle. 

Auch die Anregung der Arbeitslust und Erhaltung des Arbeitsfriedens sind 
Aufgaben des Meisters und Ziel der Menschenbehandlung. 

Will der Vorgesetzte die Untergebenen richtig behandeln, so muB er sich 
über die folgende Frage klar sein: 

Welche Auffassung hat der Untergebene über den Vorgesetzten? 

Da der Vorgesetzte die Selbstandigkeit des Untergebenen vom Standpunkt und 
nach den Gefühlen des Untergebenen behindert, so muB er von Anfang an als 


46 


Tramm, Ober die Behandlung der Arbeiter 


etwas Selbstverstandliches mit dem ihm begegnenden MiOtrauen, offenen oder 
geheimen Widerstand rechnen. Dieser an sich natürliche Widerstand des Unter- 
gebenen darf vom Vorgesetzten niemals als Feindschaft aufgeFaOt werden. Der 
Meister erinnere sich daran, daO er gegen den Obermeister, der Ingenieur gegen 
den Oberingenieur usw. ahnliche Gefühle hegt. 

Diese nicht gerade sympathischen Gefühle, die der Untergebene dem Vor¬ 
gesetzten entgegenbringt, müssen durch geschickte Behandlung und — nicht durch 
Gewalt — überbrückt werden. 

Gewalt hat immer nur die Kraft gehabt zu zerstören, sagt Hellpach; in 
unserem Falie vergröCert die Anwendung von Zwang und Gewalt nur die un- 
sympathischen Gefühle des Untergebenen und hemmt diesen in der Arbeitslust. 

Ein zweckvoller EinfluB laBt sich nur erreichen, wenn der Vorgesetzte diese 
seelische Einstellung des Untergebenen bei seiner Behandlung berücksichtigt und 
nach und nach diese an sich natürlichen Gefühle überbrückt und überwindet. 

Das Ziel ist hier für den Vorgesetzten, sympathische Gefühle (Vertrauen) 
beim Untergebenen bewuBt zu erziehen. Die Behandlung, die der Vorgesetzte 
bei den verschiedenen Arbeitern anzuwenden hat, muB sich stets den Eigenarten 
des Untergebenen anpassen. Die erste Bedingung hierfür ist, daO der Vorgesetzte 
seine Untergebenen nicht nur beim Namen, sondern auch ihren Charakter und 
ihre Eigenschaften kennt. Auch hier mogen spater einige Beispiele für die An- 
passung der Behandlung angeführt werden. 

Auch werden der Vollstandigkeit halber noch einige Erfahrungen über die 
„Gegner® der Vorgesetzten angeführt. 

Die Gegnerschaft wird urn so gröBer sein, je bedeutender das, was sie be- 
kampft, ist. Bei Einführung von Neuerungen, Verbesserungen für die Arbeiter usw. 
ist mit diesen Widerstanden zu rechnen. 

Diese Gegnerschaft teilt sich in zwei Gruppen: die sachgemaOen und unsach- 
gemaOen. Die sachgemaBen Gegner bekampfen mit Verantwortungsgefühl; 
es gibt hiervon allerdings nur wenige. Eine solche Gegnerschaft fördert die 
Sache. Anders die unsachgemaBen Gegner. Sie arbeiten mit unmoralischen 
Mitteln, mit Gemeinheiten. Jede Auseinandersetzung mit solchen Gegnern soll 
man auf das Notwendigste beschranken. Das Totschweigen, der passive Wider¬ 
stand, das Aufstellen und Verbreiten unwahrer Behauptungen usw. sind ihre 
Mittel. Die Ursachen sind meistens selbstsüchtige Triebe, es ist unangenehm 
kontrolliert zu werden, die Macht des einzelnen wird verringert, das Neidgefühl, 
warum andere so etwas einführen, oder eine bessere Entlohnung usw. geben hier 
den Ausschlag. 

Es ist allerdings betrübend, daB sich die unsachgemaBen Gegner in groBer 
Zahl auch unter den Vorgesetzten befinden. Auf Kosten des Betriebes entwickelt 
sich dieser Widerstand und vernichtet oft wertvolle Ideen und Krafte. Diese 
Reibereien müssen aufhören, wenn der Betrieb wirtschaftlich arbeiten soll. Ganz 
und gar verfehit erscheint es, wenn Vorgesetzte eine Gegnerschaft planmaBig 




Tramm, Ober die Bebandlung der Arbeiter 


47 


zuchten. Das ist kein Wêtteifer, sondern das unwirtschaftlichste Verfahren, was 
es überhaupt gibt. Die Beweisführung für unnötige Dinge, die Rückfragen aus 
bürokratischen Gesichtspunkten, die Kontrolle von wirtschaftlichen Nebensach- 
lichkeiten u. desgl., urn den Gegner „klein" zu kriegen, erfordert in derartigen 
Pallen ungeheure Kosten und nicht nur das, sondern es verdirbt den Arbeits- 
Frieden und die Arbeitslust. 

Die Anpassung der Behandlung an die Eigenschaften des Unter- 
gebenen. 

Der geeignete und musterhafte Arbeiter bedarf eigentlich des Vor- 
gesetzten nicht; erfahrungsgemaO gibt es hiervon allerdings nur wenig. Eine 
gelegentliche Anregung und Belobigung erhöht jedoch auch hier die Arbeitslust. 
Hemmend wirkt jedoch jedes Antreiben. 

Beim langsamen und sicheren Arbeiter hat der Vorgesetzte besonders 
für Übungsmöglichkeiten zu sorgen und gelegentlich durch Hinweise auf leistungs- 
fahigere Arbeiter den Wetteifer anzuspornen. 

Anders liegt die Sache bei den selbstbewuBt und gerauschvoll auf- 
tretenden jungen Leuten, deren Arbeitsleistungen meistens im umgekehrten 
Verhaltnis zum Selbstbewufitsein stehen. Diese „Blender" müssen haufig kon- 
trolliert und dürfen nie im Unklaren darüber gelassen werden, daC sie erkannt 
sind. Eine energische Behandlung ist hier am Platze, die nie die Zügel ganz 
locker laDt, sonst wachsen gar bald die Baume über den Kopf auf Kosten der 
Bescheidenen und Musterhaften. 

Die Intriganten und Krakehler fehlen ebenfalls in keinem grööeren Be- 
triebe. Wenn diese mit Sicherheit in ihrer Charakteranlage erkannt sind, so 
hilft nur eine Isolierung in ihrem Wirkungskreis, d. h. diese Leute sind nicht in 
der groBen Masse zu verwenden. Diese angeborenen Gegner jeder Ordnung und 
Kontrolle bekampfen ofFen oder noch viel haufiger geheim jeden Vorgesetzten, 
jede MaBnahme und „putschen" ihre Kollegen stiindig auf. 

Dieser angeborene Widerstandsgeist laBt sich am schwersten behandeln. Rück- 
sichtslose, energische Behandlung, standige Überwachung und Aufklarung der 
Arbeitskollegen über die Intriganten sind hier die besten Behandlungsmethoden. 

Bei den sog. Gelegenheitsarbeitern und Amateuren irgendeiner Beschaf- 
tigung (Spiel, Sport usw.), welche die Arbeit nur als Lohnbeschaftigung betrachten, 
hilft ebenfalls die planmaBige Überwachung und Kontrolle. Die Behandlung be- 
gegnet hier selten Schwierigkeiten, jedoch das Interesse liegt meistens wo anders. 

Die Redner bilden ebenfalls eine Klasse für sich, die ihre Fahigkeiten sehr 
haufig im ungünstigen Sinne ausnutzen und bei den einfachsten Dingen lange 
Erklarungen und Reden halten. Diesen Herren ist, wenn die Rede zu lange 
dauert — das Ziel in drei Worten zu sagen. 

Die Brutalen und Widersatzigen sind im Falie von Gewaltanwendung 
mit den gleichen Mitteln zu behandeln. „Zu einem groben Klotz gehort ein 
grober Keil" sagt der Volksmond. 



48 


Tramm, Ober die Behandlung der Arbeiter 


Die für die Arbeitsleistung ungeeigneten oder am falschen Platze be- 
findlichen Arbeiter sind nicht monate- oder jahrelang durchzuschleppen. Zu 
den Ungeeigneten gehören auch dieTragen und Faulen. Trotz standiger Über- 
wachung, Kontrolle, Unterweisung bleiben sie immer mehr oder weniger un- 
zufriedene Stumper ihres Faches. Versetzung oder Entlassung sind hier die 
einzigsten Hilfen, damit das Arbeitsniveau der anderen nicht gedrückt wird. Man 
hüte sich vor leichtfertiger Abgabe des Urteils „ungeeignet“ und beobachte und 
prüfe an Hand der Arbeitsaufgaben die Eignung. Besonders lasse man hier die 
persönlichen Werturteile eines einzelnen Vorgesetzten niemals als entscheidend 
geiten; sehr oft sind es rein persönliche Gründe, die überhaupt nichts mit der 
Tüchtigkeit zu tun haben, die vom Vorgesetzten einseitig gewertet werden. 

Die Witzemacher, Ncuigkeitenbringer und Kriecher verdienen hier 
ebenfalls angeführt zu werden, weil sie den Vorgesetzten oft nur zu einer freund- 
lichen Behandlung auf Kosten der schweigsamen, in sich gekehrten und nach auOen 
hin mürrischen, dabei doch fleiOigen Arbeiter verleiten. 

Diese wenigen Beispiele über die Anpassung der Behandlung zeigen, daB der 
Vorgesetzte vor allen Dingen ein guter Menschenbeobachter sein muB, wenn er 
jeden richtig behandeln will. 

Einige Regein für die Menschenbehandlung 

Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, ist die Anpassung der 
Behandlung eine rein persönliche. 

Die Eignung des Vorgesetzten als Menschenführer, das Wissen und Können 
als Fachmann sind Vorbedingungen für Arbeitsüberwachung, Kontrolle und Unter¬ 
weisung. Das persönliche Können und Wissen des Vorgesetzten *imponiert“ 
den Untergebenen am meisten. Jeder Vorgesetzte muB deshalb an praktischen 
Beispielen immer wieder den Untergebenen vor Augen führen, daO er ,etwas 
von der Sache versteht". „Mit gutem Beispiel vorangehen!" Das Beispiel 
überzeugt den Arbeiter mehr als alle Unterweisungen und Erklarungen. Be¬ 
sonders wenn der Arbeiter sieht, daB der Meister eiwas kann, dann laBt er sich 
ganz anders behandeln als von einem Meister, über den das Gerücht im Betriebe 
herumgeht, daB „er nichts versteht". 

Taktisch ist es für den Vorgesetzten immer günstig, daB er danach trachtet, 
die Achtung der Leute, daB „er etwas versteht®, immer wieder zu bestarken. 

Dieses praktische Eingreifen des Meisters sorgt zugleich dafür, daB er standig 
in Obung bleibt. 

Eine zweite Hauptbedingung ist für Behandlung, Arbeitsfrieden und Arbeits¬ 
leistung, daB jeder Vorgesetzte für die ihm direkt unterstellten Leute persönlich 
verantwortlich ist. 

Der MaBstab der persönlichen Tüchtigkeit des Vorgesetzten liegt weniger im 
.4ufdecken von Fehlern, als lm Vorbeugen dieser und in der Erziehung der 
Untergebenen zum fehlerlosen Arbeiten. 1 



Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter 


49 


Die Anzahl der Fehlermeldungen, die ein Vorgesetzter abliefert, darf daher 
nicht allein als MaQstab für die Tüchtigkeit geiten. Die Hauptsache ist, daD die 
Arbeitsleistungen den Unterwelsungen entsprechend und arbeitsfreudig aus- 
geführt werden. 

Wenn der Dienst eines Meisters seinen Zweck erfüllen soll, so mussen die 
Arbeiter durch ihn in der Tatigkeit und Arbeitslust angeregt werden. 

Das kann natürlich nicht durch das sog. „HerausbeiDen des Vor- 
gesetzten" geschehen, d. h. es kommt hier nicht auf die Befehlsberechtigung 
(auOere Autoritat) an, sondern auf geschickte Behandlung jedes einzelnen. Red- 
nerische Begabung und Übung in der menschlichen Überredungskunst kommen 
dem Vorgesetzten hierbei sehr zustatten. 

Jedes dünkelhafte, anmaDende Gebarden, auffallige Benehmen bei Kleinig- 
keiten durch Zuruf, Drohung usw. und sonstige Wichtigtuereien begegnen wohl 
bei den meisten Menschen unsympathische oder gegnerische Gefühle. Auch eine 
trockene, mürrische, frostige, polternde oder sonstige lieblose Art im Umgang 
mit Menschen, schafft nur Widerwillen und hemmt die Arbeitslust. Der Vor- 
gesetzte hüte sich deshalb an seinen „kritischen Stimmungstagen" „DampF" 
hinter die Arbeiter zu setzen. 

Das Oberwachungs- und Kontrollwesen darf daher nie in „Schikaniererei" 
ausarten. Nur wirkliche VerstöOe, die absichtlich oder aus Nachlassigkeit ver- 
schuldet werden, sind zu melden. 

Die Stellung des Meisters oder jedes anderen Vorgesetzten verlangt die 
Durchführung von MaCnahmen, die die nachst höhere Stelle angeordnet hat. Wer 
als Meister oder Vorgesetzter diese in Gegenwart von Untergebenen ungünstig 
kritisiert und sich im Gegensatz zur Betriebsleitung stellt, schadet dem Ansehen 
der Betriebsleitung nicht nur, sondern er entwertet auch seine eigene Persönlich- 
keit als Vorgesetzter. Die Verschwiegenheit über vertrauliche Mitteilungen und 
dienstliche Angelegenheiten, die nicht für den Untergebenen bestimmt sind, ist 
unerlaOlich für jeden Vorgesetzten. Ebenso verkehrt ist es, für die Behandlung, 
die Verantwortung für MaCnahmen auf Betriebsleiter oder andere zu schieben. 
Dies ist ebenso unanstandig, als wenn alles auf die Meister abgewalzt wird. 

Auch sollen Meister und Vorgesetzte grundsatzlich gegenseitig ihre Hand- 
lungen und MaCnahmen bei Untergebenen decken und sich niemals ungünstig 
und kritisch beurteilen, das entwertet nach und nach jedes Ansehen der Vor¬ 
gesetzten. 

Das Fehlen der Einigkeit unter Vorgesetzten untergrabt das Ansehen dieser. 
Meister müssen deshalb gegenseitig Frieden halten, ihre Handlungen decken, einig 
sein, sich nicht gegenseitig im Ansehen zersplittern und sich auch nicht auf 
Kosten eines anderen herausstreichen. 

Ein gesunder Wetteifer zwischen den einzelnen Vorgesetzten und Meistern 
ist ebenso zu begrüCen und notwendig, wie bei den Arbeitern; jedoch nur auf 
Grundlage der Tüchtigkeit. 

P. P. IV. 2. 


4 



50 


Tramm, Ober die Behandlung der Arbeiter 


Das „Poussieren" der Arbeiter und Untergebenen durch Vorgesetzte, um 
schneller vorwarts zu kommen oder sonstiger persönlicher Vorteile willen, tut 
solchen Vorgesetzten spater meistens bitter leid, weil sie alle ihre früheren Zu- 
sagen nicht halten können und Versprechungen brechen mussen. 

Deshalb sind „Wahrheit im Handeln und Klarheit im Denken" wichtige 
Hilfen in der Menschenbehandlung. Für beide Teile darf die Behandlung des¬ 
halb nicht in Kriecherei ausarten. Kriecherei ist ebenso zu verwerfen, wie die 
unhöfiiche Behandlung. 

Ebenso ist es Aufgabe des Meisters, Wünsche und Beschwerden entgegen- 
zunehmen und an die entscheidenden Stellen welterzuleiten. Der Vorgesetzte 
muO hierbei stets dahin streben, daU der Untergebene das Gefühl des Wohl- 
wollens mitnimmt. Besonders muC man sich davor hüten, Zusagen und Ver¬ 
sprechungen zu machen, die über den Entscheidungs- und Befugnisbereich hinaus- 
gehen. Ein Nichterfüllen von Zusagen und Versprechungen beeinBuQt das 
Vertrauen des Untergebenen sehr ungünstig: er „glaubt" nicht mehr an den 
Vorgesetzten. 

In politische, religiöse oder sonstige auf rein persöniiche Anschauung 
beruhende Angelegenheiten soll sich der Meister grundsatzlich nicht einlassen. 
Es sind Gefühlsangelegenheiten, wo jeder entgegengesetzte Standpunkt den Vor¬ 
gesetzten in der Sympathie nur schadigt. 

Es ist daher etwas Selbstverstandliches, daO der Vorgesetzte die allgemeine 
Volksstimmung in poiitisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten weitgehend 
bei der Behandlung berücksichtigen muO. 

Der auCerdlenstliche, gesellige Verkehr mit Untergebenen führt meistens 
zur Untergrabung der Autoritat des Vorgesetzten, wenn dieser nicht sehr vor- 
sichtig in der Wahl dieses Verkehrs ist. Vorgesetzte und Meister, die aus dem 
Betriebe hervorgegangen sind und als Vorgesetzte von früheren Arbeltskollegen 
auftreten, mussen besonders zurückhaltend und vorsichtig in der Behandlung 
ihrer früheren Kollegen sein*). 

Jede Überwachung, Kontrolle und Unterweisung ist stets so unauffallig als 
möglich auszuführen. Das geheimnisvolle Blattern, Lesen oder Schreiben in 
Notizbüchern, Meldeblocks usw. hinter dem Rücken des Arbeiters beunruhigt und 
reizt diesen; es ist daher zweckmaOig, schriftliche Aufzeichnungen nicht in Gegen- 
wart des Arbeiters sondern an anderer Stelle vorzunehmen. 

Die Kritik von Arbeitsleistungen soll stets belehrend für den Arbeiter 
sein. Ein Vorgesetzter, der nur sagt „das ist schlecht oder falsch gemacht", 
bessert oder beseitigt den Fehler nicht, da oft Unkenntnis beim Arbeiter die 
Ursache ist. Der Wahrheit ist stets die mildeste Form zu geben. Die Anwendung 
dieses Grundsatzes sollte nie vergessen werden. 

*) Diese und andere Anregungen verdanke ich Herrn Bürovorstand Bandte, Berlrn, wofür 
ich ihm an dieser Stelle meinen ergebensten Dank ausspreche. 



Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter 


51 


Es empfiehlt sich, diese Unterweisungen durch Hinweise auf Fortbildungs- 
möglichkeiten zu unterstützen, wie z. B.: „Sie muiten sich mal die Fahrschule 
ansehen“ oder „Sehen Sie sich doch mal gelegentlich an, wie der Arbeiter Müller 
es macht" usw. Wenn sich Gelegenheit dazu bietet, so soll der Meister die 
richtige Art und Weise der Bedienung oder Arbeitsausführung selbst vorführen. 
Der Untergebene soll hierbei das Gefühl bekommen, daO der Vorgesetzte ihm 
helFen will. Ober die Art und Weise seiner Arbeitsleistung darf der Arbeiter 
nicht im Unklaren gelassen werden. Gibt sich ein Arbeiter Mühe und leistet 
gute Arbeit, so soll dies belobt und anerkannt werden; macht er Fehler, so ist 
er zu unterweisen oder zu ermahnen. 

Eine anstandige und höfliche Behandlung erleichtert derartige Unterwei¬ 
sungen auCerordentlich. Das Wort „Herr" und „Bitte", ein freundlicher „Grufi", 
das „Anreden beim Namen" schmeichelt jedem Untergebenen und macht ihn 
gefügig für die Unterweisung. 

Diese Höflichkeitsformen muö der Vorgesetzte und Meister stets anwenden, 
sie kosten nichts und wirken oft Wunder. 

Die Unterweisung soll anschaulich, sachlich, kurz und interessant gehalten 
sein; lange Wiederholungen sind zu vermeiden. Fremdworte sind zu vermeiden, 
ebenso sind Fachausdrücke bei Anfangern zu erklaren. Jede Scharfe im Ton ist 
bei der Unterweisuug ebenfalls zu vermeiden. Die beste Unterweisung ist, wenn 
der Meister den Arbeiter zum Fragen anregt. Das kann z. B. geschehen, durch 
die gelegentliche Frage: „Was entsteht wohl daraus für die Maschine, wenn . . .?“ 
oder „Was meinen Sie, was heute der Strom für einen StraOenbahnwagen kostet, 
der eine Stunde lang fahrt? (600 M.) usw." Bei der Unterweisung vergesse der 
Vorgesetzte hierbei nie das Sprichwort: „Alles sagen zu wollen, ist das Geheimnis 
langweilig zu werden!" (Voltaire.) Das Ziel jeder Unterweisung ist, daC beim 
Untergebenen der Wille geweckt wird, sich mit dieser Frage naher zu beschaftigen. 

Für die Ausführung der Unterweisung gilt: 

Nicht zuviel Denkkraft bei den Zuhörern voraussetzen. Die Wirkung der 
Unterweisung, der sympathische oder unsympathische Eindruck hangt von dem 
Benehmen des Unterweisers ab. Deshalb ist eine natürliche Sprechweise, mit 
richtiger Betonung, richtigen Pausen und richtiger Stimmstarke unbedingt für den 
Erfolg der Unterweisung notwendig. 

Von vornherein dem Zuhörer versichern, dali seine Aufmerksamkeit nicht lange 
in Anspruch genommen wird, er wird dann williger auf alles eingehen. Das 
kann mit den Worten geschehen: „Ich will Sie nicht lange aufhalten." 

Auch beim Anfang der Unterweisung ist es ebenfalls von sympathischer 
Wirkung, wenn sich der Unterweisende auf den Standpunkt des Untergebenen 
stellt. Hierdurch gewinnt man Sympathie und der Unterwiesene wird willig zu- 
hören, und sich viel leichter überzeugen lassen, als wenn man von vornherein 
mit der Tür ins Haus fallt. So kann man z. B. beginnen: „Heute hat ja jeder 

den Kopf voll und es ist verstandlich, wenn.usw." Jedenfalls soll der 

4* 




52 


Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter 


Ausgangspunkt möglichst immer das Gemeinschaftliche, was den Vorgesetzten 
mit dem Untergebenen verbindet, betonen. 

Urn die Aufmerksamkeit zu fesseln, muB das Verstandnis durch Bilder und 
Gleichnisse erleichtert werden und durch bestandige Abwechsiung wachgehalten 
werden. 

Der leitende Gedanke oder das Ziel der Unterweisung muB stets festgehalten 
werden. Der Bliek ist also immer auf das Ziel zu richten. Deshalb sind alle 
weitschweifigen Abweichungen zu vermeiden. Man soll nur sagen, was sich der 
Untergebene merken kann. Zuviel sagen, nicht fertig werden, ist falsche Gründ- 
lichkeit. 

Ebenso soll man Anregungen von Arbeitern stets geduldig anhören, auch 
wenn diese nichts Neues bieten. Die Anregungen zeugen davon, daB der Arbeiter 
sich mit seiner Arbeit beschaftigt und sich dafür interessiert. Dieses Interesse muB 
der Meister möglichst zu erweitern versuchen, durch Hinweise auf Belehrungs- 
möglichkeiten. Nach erfolgter Belehrung ist es ratsam, das Gesprach auf 
ermunternde Dinge zu lenken. Ein gelegentliches Scherzwort wirkt entspannend 
und schafft meistens Sympathien. Auch schmeichelt es den Untergebenen und 
berührt ihn angenehm, wenn der Vorgesetzte sich ab und zu nach seinem persön- 
lichen Behnden, den Familienverhaltnissen usw. erkundigt. Besonders kann man 
die Vater darin unterstutzen und heraten, das Los ihrer Kinder zu verbessern 
(Nachweisung von Lehrstellen, Bildungsmöglichkeiten usw.). 

Immer soll der Untergebene die Holfnung mitnehmen, daB der Vorgesetzte 
ihm wohl wili, und daB, wenn er seine Pflicht tut, dieses auch anerkannt wird. 
Die Aussichtslosigkeit des Fortkommens lahmt jeden Arbeitswilien, jedes 
Interesse und Selbstvertrauen. Ober diese Dinge ist daher stets vorsichtig mit 
dem Untergebenen zu sprechen. 

Solche Arbeiter, deren Leistungen wiederholt zu wünschen übrig lassen, sind 
zu ermahnen. Hierbei ist besonders an das Ehrgefühl, die Fachtüchtigkeit, das 
persönliche Ansehen, die dauernde Beschaftigung zu appeliieren. Das kann etwa 
mit folgenden Worten geschehen: „Ich habe Sie immer für einen tüchtigen Führer 
gehalten und hoflPe, daB Sie es auch weiter bleiben werden®, oder „Ich nehme 
an, daB Sie meine Belehrungen befólgen und sehe heute noch von einer Meldung ab“. 
Eine strengere Form der Ermahnung beginnt etwa so: „Wenn Sie so weitermachen, 
dann müssen Sie mit Meldungen usw. rechnen.® Ein Tadel oder eine Ermahnung 
soll nie in Gegenwart anderer Arbeiter ausgesprochen werden, das beleidigt und 
krankt den Arbeiter. 

Ganz falsch ist es, verargerte Arbeiter, die bei irgendeiner Störung betroffen 
werden, mit den Worten zu begrüBen: „Was haben Sie denn schon wieder aus- 
gefressen?® In solchen Fallen muB der Vorgesetzte zunachst dem Untergebenen 
seine Teilnahme und Hilfe anbieten, z. B. „Woran lag es denn?® 

Beleidigende Vorhaltungen folgender Art, wie „Sie stehen auf der 
schwarzen Liste®, „Ihr MaB ist voil®, „Was haben Sie denn schon wieder aus- 




Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter 


53 


gefressen?® usw. sind auf alle Falie zu unterlassen. Hierdurch fühlt sich der 
Untergebene beleidigt, sein Widerwille wird gereizt, so daO er meistens gar nicht 
auf die spater folgende Unterweisung hort. Jeder Tadel soll eine Hoffnung 
Fiir den Arbeiter enthaiten; das ist sehr wichtig für die Wachhaltung der Arbeits- 
lust und den Arbeitsmut, z. B. „Nun gehen Sie man frisch an die Arbeit, es wird 
schon alles werden". 

Anfang und Ende sind die wichtigsten Glieder der Unterweisung. Der Vor- 
gesetzte muQ sich deshalb im voraus mit Anfang und Schlul3 seiner Unterweisung 
beschaftigen. Der Anfang muB gut sein. Das Ende der Unterweisung mulJ ganz 
bestimmt, klar und fest sein. Am Schlusse soll man stets nach einer kurzen Zu- 
sammenfassung nochmals den Willen des Untergebenen für die Sache anrufen. 

Da die Belobigung erfahrungsgemaB einen günstigeren EinfluB auf die Arbeits- 
leistung und Stimmung des Arbeiters ausübt, als der Tadel und die Ermahnung, 
so ist weitgehendst von den Belobigungen Gebrauch zu machen. Der Einwand, 
daB die Arbeiter sich auf die Belobigungen berufen, wenn sie spater getadelt 
werden sollten, kann uns hieran nicht hindern. Als Grundsatz für die Belobigung 
muB allerdings streng daran festgehalten werden, daB nur derjenige belobt wird, 
der es verdient haf. 

Einer besonders vorsichtigen und geschickten Behandlung bedürfen die auf- 
geregten, reizbaren und verargerten Arbeiter. Hier darf der Vorgesetzte nie die 
Ruhe und Selbstbeherrschung verlieren. Persönliche Redensarten, die der 
Arbeiter nur in der Aufregung macht, werden am besten überhört und nicht erst 
breitgetreten. Jeder laute und erregte Wortwechsel mit Untergebenen ist auf 
alle Falie zu unterlassen. Durch Schreien wird niemand überzeugt, und Auf- 
geregtheit des Vorgesetzten erzeugt auch beim Untergebenen nur Aufregung. 
Wer schimpft hat Unrecht — mindestens im Ton! Auch im Falie von persönllchen 
Beleidigungen muB die Ruhe bewahrt werden. Die Beleidigungen sind nicht 
wieder durch Beleidigungen zu beantworten. Der Vorgesetzte, der sich in 
laute Wortwechsel eInlaBt, auch wenn er im Recht ist, wird immer an An- 
sehen einbüBen, da erfahrungsgemaB die Arbeiter ihre Gefühle auf der Gegen- 
seite haben. 

Kommen bei einem Wortwechsel zwischen Vorgesetzten und Untergebenen 
viele Arbeiter oder Leute zusammen, so ist der Wortwechsel sofort abzubrechen, 
weil die Masse sich immer gegen den Vorgesetzten ausspricht. Die Angelegen- 
heit muB alsdann spater in Ruhe erledigt werden. 

In Fallen gegenseitiger Beschuldigung von Untergebenen sind von An¬ 
fang an beide Parteien gegenüberzustellen, das verkürzt das Verhandlungsverfahren 
und vermeidet bloBe Redereien und Gerüchte. 

Nicht immer liegt die Ursache von Streitfallen beim Untergebenen, sondern 
auch sehr hauhg beim Vorgesetzten, das vergesse der Vorgesetzte nie. 

Die Frage, ob nicht die Behandlung die Ursache von Meinungsverschieden- 
heiten, Widerstanden, Widersatzlichkeiten usw. ist, muB sich der Vorgesetzte bei 




54 


Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter 


jedem Fall immer wieder verlegen. Besonders wenn sich diese Reibereien haufig 
wiederholen, liegt dieses fast immer an der falschen Behandlung. 

Wenn z. B. bei einer Unterweisung das Personal den Ausführungen des Vor- 
gesetzten nicht folgt und sich anderweitig beschaftigt, so kann die Ursache in der 
Art und Weise der Erklarung oder Behandlung liegen — und nicht in der Un- 
interessiertheit des Personals. Überhaupt erfordert die Behandlung gröCerer 
Menschenmassen eine besondere Behandlung, die teilweise von den bisher ge- 
gebenen Regein abweicht. 

Die Behandlung von Arbeitermassen 

Jeder Meister und Vorgesetzte wird an sich und anderen beobachtet haben, 
daO der einzelne Mensch in einer gröfieren Menschenmenge die gewöhnliche 
Besonnenheit und Zurückhaltung verliert. Die Massenseele, die sozusagen alle 
miteinander ansteckt, bringt diese Veranderungen des einzelnen hervor. 

Ebenso kann beobachtet werden, daO sich die Massen willig ihren Führern 
überlassen, wenn diese es verstehen, sie richtig zu behandeln. 

In gröOeren Sitzungen und Versammlungen muO der Vorgesetzte bewuBt 
seine Behandlungsform den Eigenarten der Masse anpassen. In Massenversamm- 
lungen sollten eigentlich nur gewandte Redner die Masse behandeln, weil ein 
geschickter Redner immer die Masse für sich hat. Der tüchtigste Fachmann, der 
sich ungeschickt benimmt oder die richtige Behandlung nicht versteht, wird die 
Masse immer gegen sich haben. Die Masse verlangt nach Worten der Begeiste- 
rung und Entrüstung, nach Schlagworten, weil diese das Nachdenken erleichtern 
und ersparen. Die Worte und Taten eines einfluBreichen Redners werden von 
der Masse nicht auf die Wagschale gelegt. 

Besonders die Wirkung des Schlagwortes muB sich der Vorgesetzte bei dpr 
Behandlung von Massen zunutze machen. Das Schlagwort besitzt eine unheim- 
liche Macht. BewuBt mussen Schlagworte von den Meistern und Vorgesetzten 
gepragt und angewandt werden. 

Es hat sich z. B. gezeigt, daB folgende Schlagworte den Führer zum sicheren 
Fahren anregen; 

1. Wer nicht nach Moabit*) will, macht keine Unfalle und ZusammenstöBe. 

2. Bringt eure Familie nicht in Not! Vermeldet Unfalle und ZusammenstöBe! 

Auch die Wirtschaftlichkeit bei der Arbeit und beim Fahren laBt sich etwa 

durch folgendes Schlagwort günstig beeinflussen: 

3. Wer Führer bleiben will, schaltet (den Strom) rechtzeitig aus! 

Solche und ahnliche Schlagworte und Schlagzeilen, die den Sinn der Unter- 
weisungen vertiefen helfen, sind möglichst haufig anzuwenden. 

Von dieser günstigen Wirkung der Schlagworte macht die Praxis der Arbelter- 
behandlung heute so gut wie keinen Gebrauch, wohl aber bedienen sich die 
Arbeiter der Schlagworte, um MaBnahmen in Ihrem Sinne zu beeinflussen. Die 

*1 Moabit ist ein in Berlin bekanntes Strafgericht und GeFiingnis. 


Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter 55 

von den Arbeitern gepragten Schlagworte richten sich meistens gegen Betriebs- 
maOnahmen. 

In den Versammlungen überhört der Vorgesetzte am besten die Gegenschlag- 
worte. Vöilig zwecklos und falsch ware es, beweisen zu wollen, daB das Schlag- 
wort des Gegners unrichtig ist. Am wirksamstem werden solche Gegner-Schlag- 
worte bekampft durch neue Schlagworte, die möglichst das Gegenteil sinnfallig 
behaupten. 

Wo die Sache es zulaBt, soll man bei derartigen Gelegenheiten möglichst auch 
wltzige Schlagworte anwenden. Das Lachen der Masse, wenn man es für sich 
bat oder es gegen eine Sache gerichtet ist, ist von nicht zu unterschatzender 
Bedeutung für das Behandlungsziel. Umgekehrt ist das Lacheriiche als Wider- 
stand nur durch auBerst energisches Auftreten zu unterdrücken. 

Bei der Behandlung von Massen leistet die bewuBte Ablenkung aus der 
nicht gewollten Denkrichtung ebenfalls gute Dienste. In wirtschaftlich oder 
politisch bewegten Zeiten, wo die Masse ihr Denken auf diese Dinge konzentriert, 
bei Lohnkampfen usw. lassen sich oFt mit Leichtigkeit Neuerungen einführen, 
die sonst auf Widerstand stoBen würden, weil die Masse eben abgelenkt ist. 

Die Masse und noch viel haufiger der einzelne sind immer gegen die Ein- 
führung von Neuerungen. Mit diesem Widerstande muB ebenfalls als etwas 
Selbstverstandliches gerechnet werden. Von Neuerungen muB deshalb nie viel 
AuFheben gemacht werden, sie mussen still und nach und nach eingeführt werden, 
weil jede Gewaltsamkeit nur zerstört. 

Die vorstehend gesammelten Erfahrungen machen keinerlei Anspruch auf Voll- 
standigkeit; sie bezwecken nur, auf die Notwendigkeit der Behandlungsmethodik 
hinzuweisen. Auch konnten die Behandlungsmethoden für weibliche Arbeiter 
hier nicht berücksichtigt werden. 

Zum Schlusse sei noch darauf hingewiesen, daB in der geschickten Menschen- 
behandlung die Manner von den Frauen lemen können. Die Frauen verstehen 
es oft meisterhaft, ihre Behandlung dem Wunsche dienstbar zu machen. Besonders 
in der Anpassung der Behandlung an die Eigenart des anderen sind sie den 
Mannern überlegen, weil sie eben mehr nach dem Gefühl handeln. Das soll 
aber nicht heiBen, daB die Frauen besser zum Vorgesetzten geeignet sind, als die 
Manner — die Erfahrung hat wohl das Gegenteil genügend bewiesen — sondern 
soll nur zur Beobachtung der Behandlungstaktik der Frauen anregen. 

Die Frauen als Vorgesetzte — man beobachte sie in Warenhausern, Schulen, 
Krankenhausern usw. — betonen die auBere Autoritat zu stark — im reiferen 
Alter oft bis zur Lacherlichkeit — ihre Gesichtszüge sind stets gespannt, so daB 
der Untergebene nicht recht „warm" wird und selten Zutrauen gewinnt. 

Auch verleitet die rein gefühlsmaBige Einstellung der Frau oft zur ungerechten 
Behandlung. Die Frau nimmt meistens Partei für denjenigen, der einen mit- 
leidigen Eindruck macht, der es versteht zu schmeicheln usw., ganz gleichgültig, 
ob er im Recht oder Unrecht ist. 



56 


Tramm, Über die Behandlung der Arbeiter 


Ferner können durch Beobachtung von BeruFsvertretern, die viel im 
Verkehr mit Menschen stehen, wie Kaufleute, Kellner usw. mancherlei ,Knlffe 
der Behandlung" von diesen erlernt werden. 

Ebenso erscheint es wertvoll, für die Leutecypen noch weitergehende Be- 
obachtungen und ünterteilungen anzustellen. 

Es wird Aufgabe der Praxis sein, die praktisch als wirkungsvoll erprobten 
Behandlungsmethoden zu san)meln, wahrend es Aufgabe des Arbeitswissen- 
schaftlers oder Psychologen ist, dieses Material systematisch zu einer 
Menschenbehandlungslehre zu ordnen und weiter auszubauen. 

Für den Praktiker, der sich die Lehren der Menschenbehandlung Für seinen 
Betrieb und seine Vorgesetzten zunutze machen wiil, empliehlt es sich, die Meister 
und Vorgesetzten an Hand eines Vortrages aufzuklaren. AnschlieOend an solche 
Vortrage werden alsdann zweckmaOig die gedruckten Behandlungsrichtlinien an 
die Vorgesetzten verteilt. 

Nach dem Verarbeiten dieser Richtlinien durch die Vorgesetzten werden die 
als gute Menschenbehandler bekannten Vorgesetzten über ihre ErFahrungen beFragt. 
Hier ist möglichst nach Einzelheiten der Behandlung zu fragen und nicht nach 
der allgemeinen Behandlung, weil die geschickten Vorgesetzten heute noch un- 
bewuDt die richtige Behandlung treffen, ohne daO sie sich darüber klar sind. 

Auf diese Weise dürfte es möglich sein, die für jeden Betrieb. in Betracht 
kommenden besonderen Behandlungsmethoden nach und nach zu sammein mit 
dem Ausblick, eine Lehre von der Menschenbehandlung auFzustellen. 

Die Erfahrung beweist es alle Tage, daO die Behandlung das Wohlbefinden 
des einzelnen und seine Leistungsfahigkeit maOgebend beeinfluOt. Es sind „Kleinig- 
keiten", die nichts kosten, so daD deren Durchführung nur vom guten Willen ab- 
bangig sind. Diese Behandlungsmethoden können wir, und wir müssen sie be- 
rücksichtigen, wenn wir mit dem Mitmenschen friedlich und ohne Arger auskommen 
wollen*). Das MaC an Arbeitsfreude, das ein Vorgesetzter urn sich verbreitet, 
sollte mit ein MaOstab für dessen Tüchtigkeit sein. 


Beitrage zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete 

Von Bruno Quiel, Darmstadt 

F ür die Mehrzahl aller Menschen nimmt der Beruf einen ganz erheblichen 
Teil ihres Lebens in Anspruch. Schon aus dieser Tatsache allein ergibt sich 
ohne weiteres, daO der Beruf im menschlichen Leben in der Regel eine domi- 
nierende Stellung einnimmt, und daO Glück und ZuFriedenheit in starkem Grade 
für den einzelnen von einer richtigen Berufswahl abhangig sind. Man sollte 
nun annehmen, daO diese Wahl deswegen mit der gröOten Vorsicht vollzogen 
würde, daD sowohl der Berufskandidat, als auch seine Angehörigen sich aller 

*) Dem Verfasser wgren Mitteilungen und Anregungen über Menschenbehandlungstragen sehr 
erwünscht. Diese sind zu richten an: K.A.Tramm, Berlin, Urbanstralie 167. 



Quiel, Beitrige zur BerufswabI an Hand einer Fragebogen-Enquete 57 

Konsequenzen, die mit der Berufswahl verknüpft sind, bewuOt bleiben und nur 
nach genauester Kenntnis des Berufes und peinlichster Abwagung der Eignung 
für diesen Beruf sich zur Wahl entschlieOen werden. 

Die Praxis ergibt jedoch, daD diese Oberlegung in den allerwenigsten Pallen 
in ausreichendem MaOe angestellt wird, daO vielmehr ein erschreckend groOer 
Teil aller Berufstatigen sich durch rein zufallige Verhaltnisse in einen Beruf 
hineinschieben lassen, von dem sie nur auQerst mangelhafte Kenntnis haben. 
Die Folge davon muO naturgemaO die sein, daC diese Menschen dann oftmals 
vor Aufgaben gestellt werden, denen sie nicht gewachsen sind, und andererseits 
natüriiche Veranlagungen und Begabungen brach liegenbleiben, die, an anderer 
Stelle elngesetzt, der Allgemeinheit wesentliche Dienste leisten und das persön- 
liche Wohlbefinden erheblich steigern könnten. Nur persönliche Neigung und 
gute Veranlagung für einen Beruf können erreichen, daO der Beruf nicht nur 
Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck wird und so einen Erfolg und Zufrieden- 
heit. in der Berufstatigkeit in gewissem Grade gewahrleisten. 

Diese ideale Berufswahl nach Neigung und Veranlagung findet aber nur in 
den wenigsten Pallen ihre Verwirklichung, meistenteils liegt ein Komplex von 
rein auOerlichen Momenten materieller und sozialer Art der Berufswahl zugrunde. 
Ich habe nun versucht, durch einen Fragebogen die wichtigsten Motive, die zur 
Berufswahl führen, zu erfassen und will im nachfolgenden eine kurze Zusammen- 
fassung dessen geben, was diese Enquete bisher ergeben hat. Zur Methodik des 
Bogens will ich nur kurz erwahnen, daD ich durch 20 Fragen nach den Gründen 
zur Berufswahl und den bisherigen Erfahrungen forschte. Suggestivfragen, so- 
wie Fragen, deren ehrliche Beantwortung zweifelhaft sein könnte, habe ich streng 
vermieden. Die Fragebogen sind von mir in erster Linie an Bekannte verteilt 
worden, so daC ich in den meisten Pallen eine gewisse Gewahr für eine sach- 
liche Ausfüllung habe. Ich bin mir natürlich trotzdem der Schwachen bewuOt, 
denen ein Fragebogen, und sei er auch noch so geschickt abgefaOt, stets unter- 
worfen bleiben muC. 

Das mir zur Verfügung stehende Material umfaCt zur Zeit 101 zum Teil sehr 
ausführlich beantworteter Bogen und ist in Berlin, Darmstadt und Freiburg i. Br. 
gesammelt worden. Es enthalt die Antworten von 

37 Akademikern (Studenten und bereits berufstatig), 

12 höheren Schülern, 

13 Angehörigen mittlerer Berufe, 

27 Volksschülern, Lehrlingen und Handwerkern, 

12 Damen (9 mittlere, 3 niedere Berufe). 

Das interessanteste Ergebnis dieser Fragebogen ist wohl dasjenige, daC von 
den 101 Bogen bei 33 die Berufswahl vom Berufswunsche abweicht. Dies 
Resultat ergab sich aus den Antworten auf die Frage 12 meines Bogens. Die 
Frage lautet: „Welchen Beruf würden Sie ergreifen, wenn Sie nicht auf Brot- 
erwerb angewiesen waren? — Würden Sie dann überhaupt einen Beruf ergreifen?“ 



58 


Quiel, BeitrSge zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete 


Ich will hier von den drei Herren und zwei Damen absehen, die mir den 
zweiten Teil dieser Frage negativ beantwortet haben, zumal ich überzeugt bin, 
dafi bei EintrefFen der oben angeführten Bedingung ihre Zahl bedeutend gröCer 
sein würde. Wesentlich sind hier die Bogen, die einen erheblich abweichenden 
BeruF als Berufswunsch angeben. ünd dies ist nun tatsachlich bei V 3 aller Bogen 
der Fall. Die groCe Bedeutung dieses Ergebnisses in psychologlscher wie sozialer 
Hinsicht liegt klar auf der Hand und braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. 

Die Griinde zu dieser Erscheinung sind mannigfacher Art und ergeben sich 
zum Teil aus den Antworten auf andere Fragen meines Bogens. 

Zunachst mussen wir einmal eine Gruppe herausheben, die gesondert zu be¬ 
trachten ist. Es sind diejenigen, deren Berufswunsch durch die poiitische Lage 
Deutschlands zur Zeit nicht erfülibar ist, also alle diejenigen, die Offiziere, Marine- 
offiziere, Soldat oder Seemann waren oder werden mochten. 

lm vorliegenden Material hnden wir von dieser Gruppe zehn und zwar: 

2 ehemalige Offiziere, 

4, die den Offizlerberuf ergreifen mochten, 

2 , die den Marineoffizierberuf ergreifen mochten, 

1 , der Soldat werden möchte, 

1 , der Seemann werden möchte. 

Diese wurden nun durch die Zeitverhaltnisse gezwungen, ihr Berufsideal auf- 
zugeben und haben sich anderen Berufen zuwenden mussen, und zwar wurden: 


2 Offiziere.Volkswirte, 1 Marineoffizier . Ingenieur, 

1 Offizier.Ingenieur, 1 Marineoffizier Arzt, 

1 Offizier.Zahnarzt, 1 Soldat .... Metzger | 

1 Offizier.Chemiker, 1 Seemann . . . Metzger | 

1 Offizier.Lehrer, 


Da hier die Abweichungen vom Berufswunsch durch auCere Verhaltnisse er- 
zwungen wurden, bieten sich weiter keine besonderen Probleme. Anders steht 
es aber bei den übrigen Antworten. Hier handelt es sich darum, die Griinde 
zu erfassen, die der Ergreifung des gewiinschten Berufes hinderlich im Wege 
standen, und festzustellen, welche Motive für den Ersatzberuf ausschlaggebend 
waren. Antworten auf andere Fragen meines Bogens ergeben hier mit der 
Frage 12 zusammen in vielen Fallen recht klare Bilder. 

Selbstverstandlich ist die finanzielle Frage das wichtigste Hindernis für den 
Berufswunsch. Es sind besonders die akademischen und die Künstlerberufe, die 
hiervon betroffen werden. Die Lange und Kostspieligkeit des heutigen Studiums, 
sowie die Unterbewertung geistiger Arbeit sind die ausschlaggebenden Gründe. 
Bei künstlerischen Berufen mag aulier diesen Gesichtspunkten noch ein gewisser 
Zweifel mitsprechen, ob das Talent auch ausreichend sein wird. Ich führe nach- 
stehend diese Gruppe auf, die in ihrer Antwort ausdrücklich Geldmangel als 
Hinderungsgrund angegeben hat. 







Quiel, Beitrgge zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete 


59 


Berufswunsch Gewdhlter Beruf 


Bogen 

8. 

Geistlicher. 

Kaufmann 

» 

40. 

Oberlehrer. 

Buchhandler 

r* 

55. 

Historiker . 

Buchhandler 

n 

86. 

Mathematiker und Philologe . 

Gewerbelehrer 

y> 

67. 

Astronom und Philologe . . . 

Volksschullehrer 

» 

14. 

Ingenieur . 

Zahnarzt 

» 

25. 

Philologe. 

Zahnarzt 


90. 

Journalist. 

Steuerbeamter 

» 

88. 

Arztin. 

Lehrerin 

n 

87. 

Malerin. 

Lehrerin 

yt 

26. 

Musiker. 

Volkswirt 

n 

34. 

Musiker. 

Kaufmann 

» 

63. 

Maler. 

Ingenieur 


89. 

Schauspielerin. 

Sekretarin 


39. 

Freier Schriftsteller. 

Philologe 


Wir sehen bei diesen 15 Bogen ganz deutlich, daO es sich hier um einen 
glatten Ersatzberuf handelt, der entweder schneller zur Selbstandigkeit führt oder 
eine sichere Existenz zu bieten scheint. Besonders deutlich tritt dies bei den 
beiden in Erscheinung, die sich dem Buchhandlerberuf zugewandt haben, da hier 
scheinbar mit der Gelegenheit gerechnet wird, durch autodidaktisches Verfahren 
dem Berufsideal nahezukommen. 

Bei zwei weiteren Beantwortern sind es körperliche Mangel, die am Ergreifen 
des gewünschten Berufes hindern. 

Fünf weitere Falie sind verhanden, wo der gewünschte Beruf nicht ein- 
geschlagen wurde, weil zur entsprechenden Zeit am Aufenthaltsort keine Lehr- 
stelle zu haben war. — Noch zahlreich sind die Griinde und Einflüsse in der Berufs¬ 
wahl. Besonders stark ist der EinfluO, den Eltern und Erzieher auf die Wahl des 
Berufes haben. Oftmals steht der Wunsch der Eltern im Gegensatz zum Berufs¬ 
ideal des Kindes und bleibt entscheidend. Auch Lehrer und Freunde werden 
mehrfach erwahnt. Nicht zu unterschatzen ist wohl der EinfluC, den die Literatur 
auf die Berufswahl ausübt. Die Frage der sozialen Stellung spielt besonders 
bei den höheren Berufen eine gröBere Rolle. Überhaupt zeigen die Fragebogen 
der gebildeten Schichten einen bedeutend gröBeren Komplex von Einflüssen, als 
diejenigen der niederen Berufsschichten. Ich will diese Frage jedoch in einem 
anderen Zusammenhange behandeln. Hier sind noch von Interesse die drei 
Fragebogen, die mir die Schüler einer Drogistenschule ausgefüllt haben und die 
übereinstimmend angeben, dafi sie zur Wahl des Drogistenberufes deswegen ge- 
kommen seien, weil dieser Beruf doch „mehr als bloBer Kaufmannsberuf sei 
und daher ein höheres Ansehen genieBe“. Interessant und wohl für eine ganze 
Reihe analoger Falie typisch ist das Gestandnis einer jungen Dame, daB sie ihren 
Beruf (Bürotatigkeit) nur deshalb ergriffen habe, um vom Elternhause loszukommen. 
















60 


Quiel, Beitrage zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete 


Es ist nun keineswegs gesagt, daO mit Erfüllung des Berufswunsches eine 
Garantie für die Bewahrung und für Zufriedenheit gegeben sei; der Wunsch 
beweist zunachst nur, daO eine bestimmte Neigung zu diesem Berufe verhanden 
ist. Ob dem eine entsprechende Veranlagung entspricht, bleibt noch immer 
zweifeihaft und entzieht sich in vielen Pallen der Beurteilung des Berufsbewerbers, 
da die Kenntnis über den zu ergreifenden Beruf oft recht gering ist. Eine bessere 
Berufskenntnis ist fast nur da gegeben, wo der Beruf des Vaters ergriffen werden 
soll, und hier ergibt meine Enquete wieder das schon öfter Festgestellte Bild, 
daQ nur ein geringer Prozentsatz in den vaterlichen Beruf übergeht, namlich 
13 von 101 Antworten, also etwa 13 Prozent. Meistenteils handelt es sich bei 
diesen 13 Prozent sogar noch urn die Weiterführung des vaterlichen Unter- 
nehmens. Es spielen also in sehr starkem MaOe Motive herein, die mit Neigung 
nichts zu tun haben, wie materielle Gesichtspunkte und Tradition. 

Zahllos sind noch die Einfiüsse und Griinde, die eine Berufswahl bewirken 
oder verhindern können, so zahlreich und vielseitig, daO man sie in ihren Kom- 
binationen und Spielarten unmöglich erschöpfend behandein kann. Es spielt 
doch oft genug die Schrulle einer alten Erbtante hier eine ausschlaggcbende Rolle. 

Zu diesen Gründen kommen dann noch unterstützend eine andere Kategorie 
von Gründen hinzu, namlich diejenigen, die die Wahl eines anderen Berufes 
als zweckmaOiger erscheinen lassen. 

In überwiegendem MaOe hnden wir hier wieder die rein materiellen Gründe, 
wie guter Verdienst, gute Aussichten im Berufe usw. Es spielen sich oftmals 
verzweifelte Kampfe zwischen diesen schwerwiegenden materiellen Gründen und 
Gründen idealer Natur ab, die dann oftmals zuungunsten der Ideale durch das 
Eingreifen von Erziehern und Angehörigen entschieden werden. Hier wirft sich 
die Frage auf, inwieweit überhaupt Ideale im Berufe vorhanden und von Ein- 
fluO sind. Die Frage nach Idealen ist von 44 positiv und von 44 negativ be- 
antwortet worden. Die restlichen 13 Bogen lassen keln klares Urteil in dieser 
Frage zu. Positiv beantwortet wurde sie von 34 Akademikern und höheren 
Schülern, 9 Angehörigen mittlerer Berufe und 1 aus niederem Berufskreise. 
In groben Gruppierungen ergibt sich folgendes Bild: Arzteideal: 8, Lehrer- 
ideal: 8, soziales Ideal: O, patriotisches Ideal: 6, Forscherideal: 5, Erhnderideal: 4, 
Künstlerideal: 2, verschiedene Ideale: 3. Seibst bei der Gruppe, die nicht im 
gewünschten Berufe stehen, hnden wir Ersatzberufe mit Idealen, wenn auch nur 
in geringem MaOe (6). Von Frauen haben 4 das Lehrerideal und 1 das soziale 
Ideal. 8 Frauen stehen ohne Irgendwelche Ideale in einem Berufe, wovon aller- 
dings 4 nur einen Ersatzberuf haben. Bei Frauen ist wohl überhaupt die Frage 
des Berufes etwas anders zu beurteilen, da die Heiratsmöglichkeit bzw. mangei- 
hafte Aussichten in dieser Beziehung unberechenbare Faktoren bilden. 

In den vorhergehenden Betrachtungen habe ich öfter den Ausdruck „Ersatz- 
beruf" gebraucht und damit bewuOtermaOen ein gewisses negatives Urteil über 
diesen Beruf gefalit. Der Beruf ist hier nicht das, was er eigentlich sein soll 




Quiel, BeitrJge zur Berufswahl an Hand einer Fragebogen-Enquete 


61 


und was auch schon im Wort Beruf enthalten ist, namlich die Tatigkeit, zu der 
sich der Mensch nach Idealen, Neigung und Veranlagung ,berufen“ fühit, son- 
dern eine Last, die durch ungünstige Verhaltnisse auferlegt wird. Es ist damit 
freilich nicht gesagt, daO der Mensch in einem solchen Ersatzberuf nichts 
Tüchtiges leisten könne und sich auf alle Falie in ihm unglücklich fühlen müsse, 
oft genug findet er sich völlig damit ab und geht auch in seinem neuen 
Berufe auf. Im allgemeinen fehlt jedoch ein wesentlicher Bestandteil des Be- 
rufes in diesem Falie, namlich eine ausgesprochene Neigung zu ihm. Der Be¬ 
ruf wird dadurch lediglich unumgangiiche Notwendigkeit für die Existenz ohne 
ethischen Eigenwert und muB so naturgemafi unter dem Optimum der möglichen 
Arbeitsfreudigkeit bleiben. 

Wir haben also festgestellt, daO die Neigung zu einem Berufe sehr wesent- 
lich für die Befriedigung in ihm ist. Kommt nun zu dieser Neigung noch eine 
natürliche Veranlagung hinzu, so sind die idealen Vorbedingungen für ein be- 
friedigtes Dasein in ihm gegeben. Die Beurteilung einer richtigen Veranlagung 
für einen Beruf ist jedoch nicht so einfach und setzt zunachst einmal eine um- 
fassende Kenntnis des erwahlten Berufes und seiner Ansprüche an den Men- 
schen voraus. Wie ich an früherer Stelle schon hervorhob, ist jedoch diese 
Berufskenntnis sehr selten vorhanden. Für die Berufsberatung, die bei uns noch 
sehr in den Anfangen steht, erwachst hier die ungeheuer wichtige Aufgabe, dafür 
zu sorgen, daO durch eingehende Berufsanalysen klare Berufsbilder geschaifen 
werden, die es dem jugendlichen Berufsbewerber ermöglichen, seine Eignung 
für diesen Beruf zunachst einmal in groben Umrissen selbst zu beurteilen. Eine 
eingehendere Beurteilung dieser Eignung ist dann freilich Sache der Psycho- 
technik, der es bis jetzt ja auch schon gelungen ist, für eine ganz stattliche An- 
zahl von Berufen gute Prüfungen zu schaffen, die schon ein ziemlich sicheres 
Urteil über die Eignung zulassen. 

Zunachst sind es freilich nur eine Anzahl von gröOeren Werken der deut- 
schen Industrie, die die Notwendigkeit solcher psychotechnischen Prüfungen für 
ihre Lehrlinge erkannt und sie daher eingeführt haben, insbesondere ist es die 
Berliner Groüindustrie. Sie hat ja allerdings auch den Vorteil, in dieser Be- 
ziehung an der Quelle zu sitzen, da die gröOten Forschungsinstitute auf diesem 
Gebiete zur Zeit wohl in Berlin zu hnden sind. Bei der Industrie sind es zwar 
meist wirtschaftliche Vorteile, die zur Einführung dieser Prüfung geführt haben, 
doch haben sie den Vorzug, damit zugleich auch Vorteile sozialer Art zu ver¬ 
binden. Von privater Seite wird zunachst noch recht selten von diesen Ein- 
richtungen Gebrauch gemacht. Es ware zu wünschen, daB wir bald für alle 
wichtigen Berufe Eignungsprüfungsmethoden haben und daB dann von den Be- 
rufsbewerbern in ausgiebigster Weise davon Gebrauch gemacht würde. Ich bin 
überzeugt, daB dann eine Enquete, wie die meine, ein weniger trauriges Ergebnis 
aufweisen würde. Die Vorteile in soziologischer und wirtschaftlicher Hinsicht 
liegen doch klar zutage. 



62 


Rundschau 


Rundschau 


Eignungsprüfungen in England 

Verhaltnismaöig spat ist England mit Eig¬ 
nungsprüfungen hervorgetreten, wie wir ja 
überhaupt beobachten konnten, dafi hier die 
eigentlich psychotechnischen Bestrebungen 
spater eingesetzt haben als in dem übrigen 
Westeuropa (vgl. „Praktische Psychologie, 
Jahrgang 3, Heft 6: „Das Nationalinstitut für 
industrielle Psychotechnik"). Es liegen uns 
jetzt einige Berichte des “Industrial Fatigue 
ResearchBoard”vorüberEignungsprüfungen. 
Dieser UntersuchungsausschuB für Ermü- 
dungsstudien in der Industrie trat im Jahre 
1917 an die Stelle des Komitees, das vom 
Home Office aus unter dem Physiologen Kent 
Ermüdungsstudien in der Kriegsindustrie 
unternommen hatte. 

Heft 12 und 16 der „Reports” haben als 
Thema die Eignungsprüfungen (erschienen 
1921 und 1922 in London). Heft 12 ist für 
uns in bezug auf die Entwicklung der Eig¬ 
nungsprüfungen in England von Interesse. 
Es bringt namlich einen Überblick über die 
vorhandenenEignungsprüfungen überhaupt. 
Dieser Überblick zeigt uns einmal die Tat- 
sache, daC die amerikanischen Eignungs¬ 
prüfungen bei dem englischen Autor durch- 
aus im Vordergrunde stehen, was uns eine 
Erklarung für manche von Amerika über- 
nommenen Proben gibt (vgl.unten). Sodann 
können wir beobachten, dalJ der Autor durch- 
aus kein vollkommenes Bild über den Stand 
der deutschen Eignungsprüfungen hat, ihre 
Methode, ihr System und ihre Fortschritte 
gerade in den Nachkriegsjahren. — Nr. 16 der 
„Reports” bringt eine psychotechnische Eig- 
nungsprüfung für Setzer, eine physiologische 
Untersuchung der Körperkrafl bei Schwer- 
arbeitern und weitere physiologische Messun- 
gen bei Arbeitern in der Schokoladenfabrik. 

Die psychotechnische Eignungsprüfung für 
Setzer*) von Musico geht von berufskund- 

•) Vgl. Friedemann, Eignungsprüfung zum 
Setzer- und Druckerberufe in der Buchdrucker- 
Lebranstalt zu Leipzig. Prakt. Psych., 1. J., 8. H. 


lichen Studiën aus, die im folgenden kurz 
wiedergegeben werden mogen. Vor dem 
Setzer steht der Setzkasten, der in zwei Ab- 
teilungen, eine obere und eine untere ein- 
geteilt ist. Die obere Abteilung enthalt die 
groDen Buchstaben und diejenigen Zeichen, 
die weniger haufig gebraucht werden. In der 
unteren Abteilung befinden sich die kleinen 
Buchstaben. Mit der rechten Hand ergreift 
der Setzer die Buchstaben und reiht sie in 
den Winkelhaken, den er in der linken Hand 
halt, auf. Das richtige Herausgreifen der 
Buchstaben aus dem Setzkasten ist nachder 
Ansicht des Autors Übungssache: Hat der 
Setzer wahrend der Lehrzeit den Platz der 
einzelnen Typen kennengelernt, so zögert er- 
nicht mehr ipi geringsten beim Suchen des 
Lageortes irgendeiner Type. Nach dem Zu- 
sammensetzen der Buchstaben wird der Satz 
in Seiten abgeteilt; die einzelnen Zwischen- 
raume füllt der Setzer durch „Keile“ und 
„Winker aus. Sodann wird das Material 
in Rahmen eingeschlossen. 

Nach diesen berufskundlichen Studiën 
wurden folgendepsychischen Fahigkeiten als 
notwendig für den Setzer angesehen: 

1. Geschicklichkeit, um die kleinen Typen 
mit den Fingern schnell herauszugreifen und 
schnelle Bewegungen mit dem rechten Arm 
ausführen zu können. 

2. Gute und schnelle Beobachtungsgabe, 
um die Typen sofort richtig in den Winkel¬ 
haken aufzureihen. 

3. Eingutes uhmittelbaresBehalten,damit 
die Pause, in der der Setzer in seine Vor- 
lage sieht, nicht zu groC ist und daher zu viel 
Zeit verloren geht. 

4. Sinn für GröBen und Formen (beim 
Ausfüllen der Zwischenraume). 

5. Allgemeine Intelligenz. 

Zur Prüfung der Geschicklichkeit wurde 
einStreichholzversuch angewandt: DerPrüf- 
ling steht vor einem Brett, das Reihen von 
kleinen Löchern enthalt. In diese soll er mit 
der rechten Hand Streichhölzer einstecken; 



Rundschau 


63 


diese werden einer Schachtel entnommen, 
die zuerst in Armeslange vor dem Prüfling 
steht (obere Abteilung des Setzkastens) und 
dann in kürzerem Abstand (untereAbteilung). 
MaC der Bewertung ist die Anzahl der ein- 
gesteckten Hölzer in 30'' für jede der beiden 
Stellungen der Schachtel. — Methodologisch 
möchte ich zu dieser Probe bemerken, 
daO sie ein Schema der Wirklichkeit dar- 
stellt. (In der englischen Literatur der Eig- 
nungsprüfungen wird dieses Prüfverfahren 
“analogous test” genannt.) Aber die Probe 
würde sich auch im allgemeinen zurPrüfung 
der Handgeschicklichkeit eignen. 

Um die Beobachtungsgabe festzustellen, 
wurde ein Durchstreichversuch in zweierlei 
Form angewandt. Zunachst sollten alle „e“ 
in einem Te.xt durchgestrichen werden. So- 
dann wurden Zahlengruppen angestrichen. 
Der Prüfling erhalt eine Tabelle mit sieben 
vertikalen Reihen siebenstelliger Zahlen¬ 
gruppen und bekommt die Anweisung, jede 
Zahlengruppe, die sowohl eine 2 wie eine 9 
enthalt, anzustreichen*). 

Um die Spanne des unmittelbaren Be- 
haltens zu untersuchen, dienten ebenfalls- 
ursprünglich zwei Proben. Die eine dieser 
beiden Proben war eine Einsetzprobe. 
Auf einer Tafel, mit Buchstaben bedruckt, 
stehen am Kopf sechs Buchstaben, unter 
denen je eine Zahl steht. Der Prüfling hat 
die Aufgabe, von samtlichen auf der Tafel 
beSndlichen Buchstaben diejenigen durch 
die entsprechende Zahl zu ersetzen, die am 
Kopf der Tafel sich befinden. Die zweite 
Probe bestand darin, sieben Satze von wach- 
sender Lange dem Prüfling vorzusprechen, 
die dieser zu wiederholen hat. 

Zur Prüfung des Sinns für Formen und 
GröGen sollten 30durchweg keil- und winkel- 
förmige Klötze, die aus einem Brett heraus- 
geschnitten sind, in diese Löcher wieder 
eingeordnet werden. 

*) Vgl. Link, “Employment Psychology”, über- 
setzt von J. Witte, Verlag Oldenburg, München. 
AusfChrl. Referat: Prakt. Psych., 3.Jahrg., 3. Heft. 


Die allgemeineintelligenzwird festgestellt 
durch Auftrage, die derPrüfling auszuführen 
hat, und wie sie uns aus der amerikanischen 
Literatur der Eignungsprüfungen bekannt 
sind*), z. B.: „Setze zwei Kreuze unter das 
kürzeste Wort in diesem Satz ...“ Oder 
eine schwerere Anweisung (vgl. unten- 
stehende Abbildung): „Über jeder der 
Linien befinden sich vierPunkte. DerPunkt 
an der auOersten Linken ist Nr. 1, dernachste 
jst Nr. 2, dann kommt Nr. 3 und dann Nr.4. 




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) 

Wenn die Entfernung zwischen 1 und 2 
kleiner als zwischen 3 und 4 ist, so setze 
ein Minuszeichen zwischen die Klammern 
rechts; ist die Entfernung zwischen 4 und 3 
kleiner als zwischen 1 und 2, so setze ein 
Pluszeichen zwischen die Klammern. Ist die 
Entfernung gleich, so schreibe eine 0 zwi¬ 
schen die Klammern." 


Diese Proben für Geschicklichkeit, Be¬ 
obachtungsgabe, unmittelbares Behalten, 
Formensinn und allgemeine Intelligenz wur¬ 
den lOOSetzerngegeben und die Korrelation 
berechnet für jeden einzelnen Test sowie 
für die Gesamtleistung. Durchweg ergab 
sich eine gu te Übereinstimmung; nur die erste 
der beiden Proben für unmittelbares Be¬ 
halten und die Formenprobe korrellierten 
nicht in befriedigenderWeise. Diese Proben 
wurden ausgeschaltet, die Probe für un¬ 
mittelbares Behalten, weil sie nicht das un- 
mittelbare Behalten traf, wie es für den 
Setzer erforderlich ist; die Formenprobe 
wurde ebenfalls fallengelassen, aber es wurde 



64 


Rundschau 


trotzdem das Verstandnis für Formen und 
Gröflen als weiter notwendig für den Beruf 
desSetzers erachtet und deswegen eine neue 
Probe zur Feststellung dieser Fahigkeit in 
Aussicht genommen. 

Kritisch ware vielleicht zu dieser Setzer- 
prüfung zu sagen, daü man ein etwas unbe- 
friedigtes Gefühl gegenüber den Intelligenz- 
proben hat. Sodann dürfte auch eine relativ 
wichtige Funktion des Setzers, dasEinfühlen 
in einen fremden, oft handschriftlichen Text 
übersehen sein. 

Es moge nun noch kurz überdie beiden mehr 
physiologisch gerichteten Untersuchungen 
referiert werden. Die erste der beiden, die 
Untersuchung der Körperkraft bei Schwer- 
arbeitern, wurde ebenfalls von Musico an- 
gestellt. Sie ist eine Studie, die feststellen 
will.aufwelcheWeiseeinwandfrei die Körper¬ 
kraft ermittelt werden kann, welche der 
vorhandenen Proben die zuverlassigste ist. 
Zu diesem Zweck wurden Dynamometer- 
versuche gemacht, das Gewicht und die 
Grööe festgestellt. Sodann wollte man eine 
neue Methode untersuchen, die sogenannte 
,Martin-Methode“, die von Musico leider nur 
kurz, ohne Abbildungen beschrieben wird. 
Es ist eine seibstregistrierende Wage dazu 
erforderiich mit einem festen Griff an dem 
einen Ende und einem Lederriemen an dem 
andern. Die Messung der Körperkraft besteht 
darin, daC der Lederriemen über irgend- 
einenKörperteil, dessen Kraftmanfeststellen 
will, geiegt wird. Die Versuchsperson hat 
einem Druck entgegenzuarbeiten, den der 
Versuchsieiter mittels des Lederriemens 
ausübt auf den betreffenden Körperteii. 

Die Resultate samtiicher Untersuchungen 
zeigten, daC eine Kombination des Dynamo- 
meterversuchs mit der Messung des Körper- 
gewichtes am zuverlassigsten die Körper¬ 
kraft feststellten. Die „Martin-Methode" 
zeigte keine einwandfreien Resultate. 

Die zweite Untersuchung auf physiologi- 
scher Basis wurde von Farmer in einer 


Schokoladenfabrik gemacht. An drei Gruppen 
Arbeiterinnen nahm man zu diesem Zwecke 
Versuche vor. Es waren: 

1. Packerinnen, 

2. diejenigen Arbeiterinnen, die die Scho- 
koladentafeln in Papier einwickein und 
versiegein, 

3. diejenigen, die mit dem Verzuckern von 
Früchten, Mandein und Karamellen be- 
schaftigt sind (das betreffende Konfekt 
wird in ein GeFaC mit geschmolzenem 
Zucker eingetaucht). 

Die Untersuchungen, die vorgenommen 
wurden, bestanden in Messungen, und zwar 
wurde gemessen: die Spanne der Hand von 
der Spitze des kleinen Fingers bis zur Spitze 
des Daumens, die Lange des Mittelüngers, 
die Dicke des Mittelüngers, die Lange des 
kleinen Fingers, die Breite der Hand über 
den Fingergelenken, die Dicke der Hand, die 
Lange der Hand, sodann die Dicke des Hand- 
gelenks,dieWeitedesHandgelenks,dieLSnge 
des ganzen Arms, die Lange des Unterarms, 
die GröCe im Stehen, die GröCe im Sitzen. 

Es ergaben sich die interessanten Fest- 
stellungen,daO fürdiePackerinnen der „lang- 
spannige" Typ vorteilhaft ist, umgekehrt da- 
gegen für die beiden anderen Gruppen von 
Arbeiterinnen. Das erklart sich daraus, daB 
bei den Packerinnen die Fingerandauernd in 
gespreizter Stellung sein müssen, was bei den 
beiden anderen Gruppen nicht erforderiich ist. 

Zum SchluB möchte ich noch das Pro- 
gramm wiedergeben,dasderUntersuchungs- 
ausschuO für Ermüdungsstudien speziell für 
die Eignungsprüfung aufgestellt hat. Durch- 
Einführung der Berufsberatung auf der 
Grundlage der Eignungsprüfung strebt der 
Untersuchungsausschufl an: 

I. Verminderung derErmüdung durch die 
Industriearbeit, 2. Vermehrung der Produk- 
tion, 3. Zufriedenheit des Arbeiters, 4. Ver¬ 
minderung des Arbeitswechsels, 5. Vermin¬ 
derung der Betriebsunfalle. Dr. Schorn. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr. C, Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Martel in Leipzig. 






66 


Schneider, Das BriefstempelgeschSft 


laOt die Maschine nicht durch. Das ist allenfalls noch zu ertragen, weil die Zahl 
dieser Sendungen vergleichsweise keine groOe Rolle spielt. Nachteiliger wirkt 
es schon, daQ zahlreiche Absender es nicht übers Herz bringen, die Marke dort- 
hin zu kleben, wohin sie gehort, namlich in die rechte obere Ecke der Sendung. 
Ein besondrer Obelstand ist aber das Freimachen der Briefe mit ganzen Reihen 
vop Marken niedrig^r Werte. Wir wissen, die Auflieferer sind hieran z. T. — nicht 
alle — unschuldig, aber für den Betriebsbeamten ist das leider nur ein sehr 
schwacher Trost 

Alle diese Sendungen, die nach meiner Schatzung etwa die Halfte der ge- 
saniten Briefauflieferung ergeben, müssen mit der Hand gestempelt werden. 
Ein Handstempler kostet bei den heutigen Besoldungssatzen (Dezember 1922) 
etwa 500000 Mark jahrlich. Geht man abends zur Zeit des starksten Betriebes 
auf die groOen Postamter, so sieht man neben einer, höchstens zwei Stempel- 
maschinen eine ganze Reihe von Handstemplern in Tatigkeit Der Leser kann 
danach selbst beurteilen, welche hohen Ausgaben uns dadurch entstehen, daG 
nur knapp die Haifte der Briefe usw. für die Maschinenstemplung geeignet ist 

I. Stempelmaschinen 
A. Arten 

Drei Arten von Stempelmaschinen werden’benutzt: 

1. die Sylbesche Maschine, hergestellt von Sylbe & Pondorf in Schmölin 
(Sachsen-Altenburg), 

2. die Kragsche Maschine, hergestellt von Schuchardt & Schütte in Berlin, 

3. die Universalmaschine, hergestellt von der Deutschen Post- und Eisen- 
bahn-Verkehrswesen A.-G. in Staaken. 

Die Sylbesche und die Kragsche Maschine sind sog. Ganzstempelmaschinen, 
d. h. der Stempel lauft wie ein endloses Band über die ganze Sendung hinweg, 
wahrend die Universalmaschine auf Halbstempelbetrieb eingerichtet ist Der Halb- 
stempel soll namentlich für Postkarten verwandt werden, um Mitteilungen der 
Absender auf der linken Halfte der Postkarte nicht unleserlich zu machen. 

Die Sylbesche Maschine laQt sich zwar auch durch einen Handgriff auf Halb- 
stemplung bringen, in der Wirklichkeit unterbleibt das aber meistens, weil die 
Postkarten und Briefe usw. durcheinander liegen und der Bedienungsmann die 
Maschine nicht fortwahrend umstellen kann. Das Trennen der Sendungen vor- 
her würde anderseits viel zu viel Arbeit machen und höchst unwirtschaftlich sein. 

Auf eine Beschreibung der drei Maschinen muO verzichtet werden. Nur 
einige Unterschiede sind hervorzuheben. Bei der Sylbeschen und Kragschen 
Maschine werden die Sendungen von links zugeführt, bei der Universalmaschine 
von rechts. Die Sylbesche Maschine kann mit einem Kurbeischalter auf ver- 
schiedene Gangarten, langsamer und schneller, gebracht werden, die beiden 
andern haben nur einen Gang. 



Schneider, Das Briefstempelgeschaft 


67 


B. Leistungsfahigkeit der Maschinen 

Sie ist genau ermittelt worden. Die Sylbesche Maschine stempelt je nach 
der Art der Briefpost zwischen 300 und 600 Stück in der Minute, die Kragsche 
zwischen 275 und 475, die Universalmaschine zwischen 100 und 270. Sind gleich- 
förmige Sendungen zu stempein, wie Postkarten, Massendrucksachen in Um- 
schlagen aus festem Papier, so steigt die Leistung bei Sylbe auf 800—1000, bei 
Krag auf 600—700 und bei der Universalmaschine auf 350.-450 Stück in der 
Minute. Zu berücksichtigen ist, daO die Sylbe- und Krag-Maschinen langer als 
zehn Jahre im Betriebe sind, stark gebraucht werden und deshalb schon etwas 
nachgeiassen haben. Die Pabrik Sylbe & Pondorf schatzt die Leistungsfahigkeit 
neuer Maschinen auf 600—800 Stück bei gemischter Post, 1500—1800 Stück bei 
gleichmaCiger Post. Inwieweit das zutrifft, konnten wir nicht prüfen, da Sylbe¬ 
sche Maschinen seit Jahren nicht mehr beschafft worden sind. 

C. Arbeitsvorgang 

Wir haben den Arbeitsvorgang an der Sylbeschen Maschine eingehend unter- 
sucht und das Ergebnis in einer Übersicht zusammengestellt, die umstehend wieder- 
gegeben wird. Der Vorgang an den beiden andern Maschinen weicht nur in 
unwesentlichen Punkten ab. In der letzten Spalte der Übersicht sind die Schwachen 
aufgeführt und die zu ihrer Beseitigung nötigen Mittel und Wege kurz angegeben. 
Hierauf wird im folgenden Abschnitt (D) naher eingegangen werden. 

D. Mangel und Verbesserungsvorschlage 

1. Die Tischhöhe bei der Sylbeschen Maschine alterer Bauart betragt 87V2 cm, 
bei den Sylbeschen Maschinen neuerer Bauart und der Kragschen Maschine 96 cm, 
bei der Universalmaschine IOIV2 cm. Sie ist also verschieden. Am günstigsten ist 
die Höhe von 96 cm. Sie gestattet ein ungehindertes Bewegen der Arme und Hande 
auf der Tischplatte. Was für den Bedienungsmann herauskommt, wenn der Tisch 
zu niedrig ist, zeigt Abbiidung 1 mit der cm hohen altern Sylbeschen 
Maschine. In dieser Haltung soll der Mann stundenlang arbeiten. Es ist ohne 
weiteres klar, daQ der Krafteverbrauch unnötig groO wird, die Ermüdung viel zu 
früh eintreten muO und die Verwaltung den Schaden infolge der herabgesetzten 
Leistungsfahigkeit des Mannes zu tragen hat, ganz abgesehen von der Gesundheits- 
schadigung, die dieser im Laufe der Zeit davontragt. Die Universalmaschine ist 
mit IOIV2 cm deswegen zu hoch, weil die Unterarme eines Mannes von mittlerer 
GröDe auf der scharfen Kante liegen und gedrückt werden. 

Der Tisch ist so auszubauen, da(3 die Unterarme des Stemplers bequem auf- 
gelegt werden können. Dadurch wird nicht nur eine Schonung der Krafte er- 
zielt, sondern die Sendungen lassen sich auch sicherer in die Maschine führen. 

2. Der Bedienungsmann ist bei allen drei Maschinen gezwungen, seine Arbeit 
im Stehen zu verrichten. Die sich hieraus ergebenden Nachteile liegen auf der 
Hand und brauchen an dieser Stelle nicht eingehend erörtert zu werden. Es 

5* 



68 


Schneider, Das BrieFstempelgeschSft 


Arbeitsvorgang an der Sylbeschen Stempelmaschine 


Bestandteil 

der 

Arbeit 

TStigkeit 

des 

Bedienungsmannes 

Kurze Besprecbung 

Hineinsetzen eines 
StoOes von Briefen 
in den Behalter. 

Ergreifen der Briefe 
niit beiden Handen. 

Bedienungsmann steht. Arbeit ist 
im Sitzen auszufQhren. Maschine 
muQ richtige Höhe haben. Sendungen 
mussen so liegen, daO der Bedienungs¬ 
mann sie auf dem kürzesten Weg und 
ohne erhebliche Belastung seiner 
Aufmerksamkeit ergreifen kann. 

Anlassen desMotors. 

Vorrücken d. Schalt- 
hebels an der linken 
Seitenwand unterder 
Tischplatte. 

Bedienungsmann muQ sich bücken. 
Verlegung des Schakers auf die Tisch¬ 
platte. Kürzester Weg, sinnfallige An- 
ordnung nach der Regel des maOigen 
Gegensatzes (Kontrastes). 

Einschalten der Ma- 
schine. 

Niederdrücken des 
Schalthebels an der 
untern Kante der 
linken Seitenwand 
mit dem linken FuOe. 

Der linke FuD muQ wahrend der gan¬ 
zen Stempelarbeit den Hebei nieder- 
gedrückt halten. Unnötiger Kraftver- 
brauch. Anderung durch Verlegung 
der Schaltvorrichtung auf den Tisch 
(m&Oiger Gegensatz). 

Hineinschicken der 
Briefe in die Ma- 
schine. 

Briefe werden mit 
beiden Handen ge¬ 
halten und durch 
schwachen Druck der 
linken Hand in die 
Maschine hineinge- 
lassen. Daumen der 
rechten Hand ruht 
auf den Sendungen, 
damit sie sich beim 
Hineinlassen nicht 
schrag stellen. 

In der Pause lauft der Motor leer. Die 
Pause ist daher möglichst abzukürzen. 
FuOhebel wird wahrend der Pause los- 
gelassen. 

Hineinsetzen eines 
neuen StoDes v.Brie- 
fen in den Behalter. 

Wie zu 1. 

Wie zu 1. 

Wie zu 4. 

Wie zu 4. 

Wie zu 4 und 5. 

Ausschalten der Ma- 
schine. 

Loslassen des FuQ- 
hebels. 

Wie zu 3, letzter Satz. 

Anhalten des Motors. 

Zurückdrücken des 
Schalthebels an der 
linken Seitenwand 
(siehe unter 2) in die 
Ruhelage. 

Wie zu 2. 







Scbneider, Das Briefstempelgeschart 


69 


muO angesirebt werden, den Mann sitzen zu lassen. Die Maschinen sind deshalb 
so einzurichten, daO der Stuhl nahe an den Tisch herangezogen werden kann. 
Geeignet erscheint die Aufstellung der Maschine auf einem schweren guOeisernen 
FuQ wie bei der Universaimaschine oder der Kragschen Maschine. Der Stuhl 
muQ in der Höhe etwas verstellbar, nach den Seiten drehbar sein und mit Rücken- 
und FuQstütze versehen werden. Die Ermittlungen über die zweckmaOigste Form 
des Stuhles werden noch weitergeführt. 

3. Die Vorrichtung für die Aufnahme der zu stempelnden Sendungen muB 
vergröOert, d. h. verlangen werden und zwar von 36 cm auf etwa 45 cm. Es 
könnte dann ein gröBerer StoB Briefe hinein- 

gesetzt werden und der Bedienungsmann 
brauchte nicht so oft nach neuen Briefen zu 
greifen. Zwar dauert diese Bewegung jedes- 
mal nur etwa drei Sekunden, wiederholt 
sich aber in jeder Minute wenigstens ein- 
mal, so daB dieVerluste zusammengerechnet 
schlieBlich doch bemerkbar werden. AuBer- 
dem liefe die Maschine weniger oft leer, 
wiirde also sparsamer arbeiten. 

4. Bei einigen Maschinen ist der Be- 
halter schrag gestellt. Anscheinend hat man 
dies getan, urn ein selbsttatiges Hineingleiten 
der Sendungen in die Maschine zu fördern. 

Die Überlegung ist aber unrichtig. Der 
Stempler nimmt die im Behaiter aufge- 
stapelten Briefe doch nur in kleinern Mengen 
nach und nach in die Hand und führt sie 
in das Getriebe. Die Schragstellung des 
Behaiters stort ihn hierbei und beim Herübernehmen eines neuen StoBes von 
Briefen mehr, als sie ihn unterstützt. 

5. Die Schaker zum Ingangsetzen des Motors befinden sich bei der Kragschen 
und der Universaimaschine auf der Tischplatte, bei der Sylbeschen Maschine an 
der linken Seitenwand unter dem Tische. Die erste Art der Anbringung ist 
natürlich die richtige, nur muB noch darauf geachtet werden, daB die Schaker 
sich durch ihre Farbe vom Untergrunde des Tisches mehr abheben. Der Stempler 
Bndet sie dann ohne überflüssige Anstrengung der Aufmerksamkeit. 

Mit dem FuBhebel wird an der Sylbeschen Maschine das Getriebe eingeschaket 
(nicht der Motor). Auf Abbildung 1, wo der FuBhebel hinter der Maschine an- 
gebracht ist, laBt sich die Art dieser Einschakung erkennen. Der Stempler muB 
wahrend der Arbeit den Hebei dauernd mit dem linken FuBe niedergedrückt 
haken. Auch das ist unzweckmaBig, weil Krafte vergeudend. Ein Schaker auf 
der Tischplatte müBte genügen. 








70 


Schneider, Das BriefstempelgeschSrt 


6. Zum Aufstellen der zu stempelnden Brief- 
massen werden Kasten mit rillenförmigen Ver- 
tiefungen benutzt. Urn die Sendungen auf dem 
kürzesten Wege in die Maschine zu bringen, 
müssen sie auf dem Kopfe stehen und die Frei- 
marken nach der von der Maschine abgewandten 
Seite liegen. Andernfalls muD der Stempler die 
Briefe erst jedesmal mit beiden Handen drehen 
und wenden. Wir haben feststellen können, daO 
diese eigentlich ofFen zutage liegende Arbeits- 
erleichterung wenig bekannt war und nicht aus- 
genutzt wurde. Für den Betriebswissenschafter 
ist das ja allerdings nicht überraschend. Man 
kann wohl in jedem Betriebe ohne groBe Mühe 
handgreifliche UnzweckmaBigkeiten hnden, an 
ASKïiH -> c,.. _ 1.., o., denen Arbeiter, Beamte, Leiter usw. jahrelang 

Abbildung 2. Stempler an einer ’ ' ^ o 

Kragschen Maschine mit Rillenkasten wie mit verbundenen Augen vorübergegangen sind. 

Damit die Rillenkasten ganz ihren Zweck er- 
füllen, müssen sie etwas schrag gestellt werden. Der Weg, den die linke Hand 
zurückzulegen hat, wird dadurch kürzer und bequemer. Aus Abbildung 2 ist 
dies zu entnehmen. 

II. Handstempein 
A. Arten der Handstempel 

Es werden Faust- und Hammerstempel verwandt, wie sie Abbildung 3 und 4 
zeigen. Der Griff besteht aus Holz, der eigentliche Stempel aus Stahl mit Tages- und 
Stundenbuchstaben, die auf kreisförmigen, drehbaren Scheiben angeordnet sind, sich 
daher leicht umsetzen lassen. Fauststempel benutzen wir nur bei kleinern Post- 
anstalten mit schwacher Briefauflieferung. Sie scheiden für unsre Feststellungen aus. 




B. Leistungsfahigkeit eines Handstemplers 

MaBgebend ist die Zahl der Stempelschlage, die ein Mann in der Minute bei 
stundenlanger Tiitigkeit ausführen kann. Zur Entwertung einer Briefmarke ist 
ein Doppelschlag nötig, einer auf das Stempelkissen zum Schwarzen des Stempels, 







Scbneider, Das BriefstempelgescbSft 


71 


der andre auf die Marke selbst. Durch langere genaue Beobachtungen, wobei 
Stechuhren benutzt worden sind, haben wir ermittelt, daO ein geübter Stempler 
im Durchschnitt 128 Schlage in der Minute ausführt. Das ist eine ganz erhebliche 
Leistung. Wir werden spater gelegentlich versuchen, sie in mkg festzustellen 
und dabei auch Ermüdungsbeobachtungen zu machen. Die Zahl der gestempelten 
Sendungen, d. h. die unmittelbare Nutzleistung für den Betrieb ist, da die meisten 
Briefe usw. nicht eine Marke tragen, sondern mehrere, wesentlich geringer. Sie 
liegt zwischen 60 und 75 in der Minute. Die Zahlen verhalten sich wie 1: 1,7; 
auf jede Sendung entfallen im Durchschnitt 1,7 Stempelschlage. 

Ungeübte oder ungewandte Leute bleiben z. T. wesentlich hinter den an- 
gegebenen Zahlen. Es ist daher für uns wichtig, ihre Lelstungsfahigkeit möglichst 
rasch zu steigern und sie gleichzeitig zu sauberer Arbeit zu erzlehen. Wie un- 
angenehm und folgenschwer 
undeutlicheStempelabdrücke 
mitunter sind, wird mancher 
Leserwohlgelegentlich selbst 
erfahren haben. Das von 
Herrn Dr. Piorkowski gelei- 
tete Orga-Institut in Berlin 
hat nach dem Vorgehen Gie- 
ses eine Übungsvorrichtung 
für Stempler gebaut, deren 
Einzelheiten aus Abbild. 5 
zu ersehen sind. Der rechte 
Klotz tragt eine mit Leder überzogene federnde Platte, die das Stempel- 
kissen andeutet. Durch Hieb mit dem Holzhammer, der an der Schlagseite 
eine Messingscheibe tragt, wird die Platte nach unten gedrückt, ein Kontakt 
hergesteilt und ein Gesprachszahler in Tatigkeit gesetzt. Auf dem linken Klotz 
beiindet sich in einem mit Gummiring umgebenen Stahlzylinder ein federnder 
Stahistift. Er macht Kontakt und betatigt auch einen Gesprachszahler, aber nur 
dann, wenn er genau senkrecht mit dem Hammer getroffen wird. Man kann 
nun den Schüler mit dem Hammer langere Zeit arbeiten lassen, beobachtet 
ihn dabei, gibt ihm Anleitung über richtiges Halten des Hammers (Stempels), 
über zweckmaOige Bewegung der Gelenke usw. und vergleicht nachher auf 
den Gesprachszahlern, wie oft der Mann schiecht gestempelt, d. h. links 
keinen Kontakt gemacht hat. Die Vorrichtung hat noch Mangel, die beseitigt 
werden müssen, ehe mit den Versuchen begonnen werden kann. Es steht aber 
schon fest, daO solch ein Übungsgerat in groDen Betrieben nützlich wirken 
könnte. Die Leute würden, da das Üben durch die Zahlung einen etwas sport- 
maOigen Anstrich erhalt, sicher mit einem gewissen Eifer bei der Sache sein. 
Man dürfte ihnen das Gerat nur nicht zu oft vorsetzen, weil es sonst bald an 
Reiz verlieren würde. 




72 Scbneider, D«s Briefsteinpelgetchift 


C. Arbeitsvorgang 


Nr. 

Bestandteil 
der Arbeit 

. T3tigkeit des Stemplers 

Kurze Besprecbung 

1 

Zurechtlegen 
der Sendungen 
zum Stempeln. 

Ergreifen einer Anzahl Sen* 
dungen (45—50) mit der linken 
Hand und Auflegen auf die 
Stempelunterlage. 
Zurechtschieben mehrerer Sen¬ 
dungen aufderStempelunterlage, 
gleichzeitig Ergreifen des Stem¬ 
pels mit der rechten Hand. 

Sendungen müssen links von 
der Stempelunterlage stehen. 
Kürzester Weg für die linke 
Hand. Geordnete Lagerung der 
Sendungen an bestimmten 
Stellen. 

Richtiges Liegen der Briefe auf 
der Stempelunterlage. Verwen- 
dung von Holzkasten zur Unter- 
stützung. 

2 

Stempeln. 

Vorziehen einer Sendung durch 
leichteBerührungmitdenSpitzen 
von Zeige-, Mittel- und Ring- 
finger der linken Hand. Gleich¬ 
zeitig Aufschlagen des Stempels 
auf das Farbkissen und mit 
rhythmischer Weiterführung des 
Schwunges Aufschlagen d. Stem¬ 
pels auf die Sendung. 

Fingerspitzen dürfen nicht ab- 
gleiten.VerwendungvonGummi- 
ringen oder von Schwammnüpf- 
chen, die mit Holzkasten (unter 1 > 
fest zu verbinden sind. 
Stempelkissen muO festliegen. 
RichtigeFormdesStempelgriffes. 
Hubhöhe darf nicht zu groD, Be- 
wegungskurve muC rhythmisch 
ausgeglichen, flach, aber nicht 
eckig sein. 

1 


ZurückbewegungderlinkenHand 
zu den Briefen und rhythmisches 
Zurückschwingen des Stempels 
zum Farbkissen. Heranziehen ei¬ 
ner neuen Sendung unter gleich- 
zeitigem AbstoQen der gestem¬ 
pelten von der Gummiunterlage 
mit dem Daumen und Aufschlagen 
des Stempels auf das Farbkissen. 
Weiter wie vor. 

Stempler müssen sitzen. 

3 

Ablegen der 

gestempelten 

Sendungen. 

Ergreifen der Sendungen mit der 
linken Hand und Ablegen nach 
vorn. 

1 


D. Mangel und Verbesserungsvorschlage 
1. Die für das Zurechtlegen der Sendungen auf der Gummi-Stempelunterlage 
(Bewegung 1) nötigen Zeiten haben wir mit der Stechuhr gemessen. Sie richten 
sich nach der Lange des Weges, den die linke Hand zum Erfassen der Sendungen 
zurückzulegen hat. Die Briefe stehen in Reihen links neben der Stempeiunter-' 
lage auf dem Stempeltische. Die Anfange der Reihen sind etwa 20 cm von der 
Mitte der Unterlage entfernt, die Enden etwa 60 cm. lm Durchschnitt braucht 








u/3 te 


Scbneider, Das Briefstempelgescbift 


73 



die linke Hand PA—BVs Sekunden, um die Briefe zu ergreifen und in die günstigste 
Stempellage zu bringen. Diese Zeiten können verbessert werden. Die Sendungen 
stehen oft nicht ganz grade auf dem Stempeltische, so daO der Stempler sie erst 
ordnen muD, auch nicht immer an derselben Stelle, so daQ der Stempler bei 
jedem Griff den Bliek nach der Seite richten muD. Seine Aufmerksamkeit wird 
unnötig belastet und auOerdem ein gewisser verargernder Gefühlston in die Arbeit 
eingeschaltet, der auf die Leistung drückt. Die Sendungen müssen so liegen, daQ 
der Mann sie stets an derselben Stelle findet, also nicht erst hinzusehen braucht. 
Wir haben dazu folgenden Versuch gemacht (Abbildung 6). Ein Kasten ist links 
von der Stempelunterlage auf dem Tische fest verschraubt worden. Er ist 50 cm lang 
und 26 cm breit. Der Boden stellt eine in der Richtung .nach der Stempelunter- 



Abbildung 6. Stempeltiscb mit Aufsatzkasten Stempeltiscb mit rillenförmigen Vertiefungen 


lage abfallende schiefe Ebene dar. In diesen Kasten sind die zu stempelnden 
Briefe gesetzt worden. Dann haben wir wieder die Zeiten mit der Stechuhr ge- 
messen, die der Stempler zum Vorlegen der Sendungen braucht. Dabei haben wir 
gefunden, daO die Bewegung schneller ausgeführt wird. Die Zeiten liegen zwischen 
PA und 2*/i Sekunden. Der Gewinn betragt also bei jedem Griff ‘A—“A Sekunden. 
Er ist für die Praxis nicht erheblich. Aus dem Versuch ist aber die Folgerung 
zu ziehen, daO auf die Stempeltische links von der Stempelunterlage Rillenkasten 
gleicher Art aufzusetzen sind, wie sie bei den Maschinen gebraucht werden. Die 
Sendungen liegen für den Stempler dann bequemer als jetzt und gut geordnet, 
so daO also das Hingreifen nach dem Kasten mechanisch wird und nicht mehr 
die Aufmerksamkeit beansprucht. 

Es kommt auch in Frage, die Platte des Stempeltisches seibst links von der 
Stempelunterlage mit rillenförmigen Vertiefungen auszustatten, wie in obenstehender 
Zeichnung (Abbildung?) angegeben ist. 

2. Zum handgerechten Stellen der zu stempelnden Briefe sind Holzkastchen 
zu benutzen. Wir haben nach langern Versuchen die in Abbildung 8 wieder- 
gegebene und auch auf Abbildung? zu erkennende Form als die geeignetste 
gefunden. 


I 






























74 


Schneider^ Das BriefstempelgeschSft 


3. Damit die Finger der linken Hand, mit der die Sendungen zum Stempeln 
auf die Gummiunterlage gezogen werden, nicht abgieiten, müssen .sie entweder 
mit schmalen Gummiringen versehen oder haufiger angefeuchtet werden. Da 
die Gummiringe jetzt sehr teuer sind, müssen wir zu dem zweiten Mittel, der 
Anfeuchtung der Finger, greifen. Wir benutzen dazu Schwamme in kleinen 

Napfchen, die mit dem Holzkastchen 
(unter 2) fest verbanden werden, so 
Bicch.nMt 7 demselben Platze 

stehen und ohne Belastung der Auf- 
•urdemTisch merksamkcit gefunden Werden könncn. 

Holzkastchen z^riSuen von Briefen Abbildung 8 ergibt das Nahere. 

Die Finger werden am besten dann 
angefeuchtet, wenn grade eine Sendung mit mehreren Freimarken zu stempein 
ist. Der Zeitverlust ist so am geringsten. 

4. Der Blechkasten mit dem Stempelkissen ruht lose auf einer Filzunterlage 
auf dem Stempeltische. Durch das dauernde Aufschlagen des Stempels verbiegt 
sich der Boden des Kastens bald. Er liegt dann nicht mehr fest auf und das 
Stempelkissen wandert bei der Arbeit, Der Stempler muQ es daher haufiger 
zurechtrücken, um nicht fehlzuschlagen und dabei Stempel und Kissen zu be¬ 
schadigen. Diese ünterbrechung des Stempeigeschafts wirkt verstimmend und 
setzt nicht nur dadurch, sondern auch durch den Zeitverlust die Leistung nicht 
unbedeutend herab. Der Übelstand laBt sich beseitigen, wenn das Stempelkissen 
auf dem Tische festgelegt wird. Es muD aber in der Richtung nach und vom 
Stempler etwas verschiebbar sein, damit die Aufschlagstelle des Stempels ge- 
wechselt, das Kissen also möglichst wirtschaftiich ausgenutzt werden kann. Beim 
Aufschlagen aiif dieselbe Stelle würde namlich der mit Stempelschwarze ge- 
trankte Stoffbezug des Kissens zu schnell durchlöchert werden. 

5. Der Griff des Hammerstempels paCt sich 
nicht ganz der Handform an. Das Holz wird 
bei langerem Gebrauch an den Stellen, wo 
Daumen und Zeigehnger anliegen, stark abge- 
Abbildungg. AbgenutzterStempelgriff Abbildung 9 zeigt, wie solch ein Hand- 

griff aussieht. 

Um die richtigste Form des Griffes zu ermitteln, haben wir den Stiel eines 
Stempels am untern Ende, wo er angefaOt wird, abgestochen, mit Isolierband 
umwickelt und darüber eine dünne Lage Stanniolpapier'gelegt. Mit diesem Stempel 
hat ein Mann im Betriebe mehrere Stunden gearbeitet. Es zeigten sich danach 
die gleichen Eindrücke wie an den Handgriffen lange benutzter Stempel. 
Ferner lieD sich genau erkennen, wo die Hand den Stiel berührt. Die Stanniol- 
umwicklung hatte sich an den beanspruchten Stellen gelost und die Trank- 
masse des Isolierbandes hatte auf die Haut abgefarbt. Beansprucht werden 
danach 





Schneider, Das Briefstempelgeschaft 


75 


1. der Daumen, 

2. der Zeigefinger, ' 

3. das erste Glied des Mittelfingers, 

4. das erste Glied des Ringfingers (schwacher), 

5. der Daumenballen, 

6. der Ballen des kleinen Fingers (schwacher). 

Aus diesen Beobachtungen ist zu schlieOen, dafi der HandgrifF anders geformt 
werden 'muB. Als wahrscheinlich richtig vermuten wir die in Abbildung 10 
gezeigte Form. Ein zuverlassiges Urteil wird erst die Probe ergeben. 

6. Wir haben versucht, die Hub- 
höhe beim Stempeln zu messen. Zu 
diesem Zweck ist beruCtes Papier 
auf einen Pappdeckel gezogen und so 
gestellt worden, daO es beim Arbeiten 
vom Stempel gestreift wurde. Wir 
haben die Versuche an einem guten 
und einem mittelmaÖigen Stempler vor- 
genommen. Der gewandte Mann hebt den Stempel 26 mm über die Stempelunterlage, 
der mittelmaBige 72 mm. Der Unterschied ist also erheblich. Wenn man eine Reihe 
Stempler von der Seite beobachtet, kann man die Unterschiede der Leistungen mit 
bloBem Auge erkennen. Sie sind auBerordentlich groB, Ein guter Stempler drückt 
den rechten Oberarm leicht an den Körper, den Ellenbogen in die Seite und bewegt 
den Stempel mehr aus dem Handgelenk, als aus dem Unterarm in einer flachen 
ausgeglichenen Kurve bei schwachem Stempelgerausch hin und her. Er befolgt 
damit unbewuBt den Grundsatz, die Arbeit von den groBen Muskeln, zu deren 


Ansicht 
von der Ssit: 


Ansicht 
von oben 


Abbildung 10. Richtige Form des StempelgrilTs 



Abbildung II. Bewegungsbahn des Stempels 
bei einem geübten Mann 


Abbildung 12. Bewegungsbahn des Stempels 
bei einem weniger geübten Mann 


Erregung eine gröBere Kraft notwendig ist und die einen gröBern StofFwechsel 
haben, auf die kleinern zu übertragen. Der schlechte Stempler arbeitet mit dem 
ganzen Arm, hebt den Stempel in hohem Bogen, schlagt gerauschvoll auf und 
leistet bei gröBerm Kraftverbrauch weniger, liefert schlechtere Abdrücke und be¬ 
schadigt auBerdem leicht die Sendungen. Urn ganz sicher zu gehen, haben wir 
in Nachahmung des bekannten Gilbrethschen Versuchs die Bewegungsbahnen des 
Stempels auch im Lichtbilde festgehalten. Abbildung 11 zeigt die Bahn bei 













76 


Schneider, Das Brierstempelgescb3ft 


einem geübten Manne, Abbildung 12 bei einem weniger geübten. Die Auf- 
nahmen geben das richtige, nicht das Spiegelbild wieder. Der Knoten der Bahn 
rechts bezeichnet also die Aufschlagstelle auf dem Stempelkissen, der Knoten 
links die Aufschlagstelie auf den Briefen. Der hohe Bogen ist der Weg vom 
Stempelkissen zur Sendung, der niedrige der Weg zurück. Der groDe Leistungs- 
unterschied ist aus den Bildern klar zu entnehmen. Es sei besonders darauf 
hingewiesen, daO Abbildung 12 nicht etwa „gestelit" ist, sondern tatsachlich die 
Bogenlinie bei einem beliebig herausgegriifenen Manne zeigt. Da die Bilder 
eindringlicher wirken als mündliche oder schriftliche Belehrungen, müOten sie 
vergröDert bei allen bedeutenden Postdienststellen aufgehangt werden. 

7. Um den Stemplern das unter Umsianden stundenlange gleichförmige Arbeiten 
zu erleichtern, müDten sie ebenso wie die Maschinenstempler zweckmaOig her- 
gerichtete Stühie bekommen. Sitzen ist auch hier besser als Stehen. 

8. Ein ganz bedeutender technischer und wirtschaftlicher Fortschritt ware die 
Herstellung eines Stempels, der sich selbsttatig nach jedem Schlage farbt. Die 
Arbeit würde um etwa 50 v. H. beschleunigt und die Zahl der Stempler könnte 
— wenigstenft in den gröDten Betrieben — um ebensoviel verringert werden. 
Trotz der höhern Anschaffungskosten würden sich voraussichtlich durch Wegfall 
der Stempelkissen, sparsamere Ausnutzung der Farbe usw. auch die reinen Be- 
triebskosten niedriger stellen als jetzt. Brauchbare Vorschlage zur Herstellung 
eines solchen Stempels sind uns bisher nicht bekannt geworden. 

SchluBbemerkung 

Vor uns liegt das Ergebnis unsers ersten Versuchs mit betriebswissenschaft- 
lichen Forschungen im Postdienste. Wenn sich die Untersuchung auch nur auf 
einen kleinen, weniger bedeutsamen Zweig unsres vielseitig verastelten Betrlebes 
erstreckt hat, so ist sie doch in mancher Hinsicht lehrreich gewesen und er- 
mutigt uns zur Fortsetzung der Arbeiten. Wir werden allmahlich auf schwierigere 
Geblete kommen, auch auf solche, mit denen die Öffentlichkeit tagtaglich in 
nahere Berührung tritt, wie z. B. den Schalterdienst. Vielleicht bietet sich spater 
Gelegenheit, über die hierbei gemachten Erfahrungen zu berichten. 

Zur Frage der Gewinnung einer charakterologischen Typologie 

aus Beobachtungsbögen 

Von Dr. Erich Stern, Assistent am Orga-Institut, Berlin 
m Verlauf der padagogisch-psychologischen Arbeit wird es immer klarer, daQ 
das Arbeiten mit totem experimentellem Ergebnismaterial nicht zu einem Ziele 
führt. Die charakterologischen Momente sind für die Padagogik mindestens eben¬ 
so wichtig wie die Ergebnisse des Experimentes, und diese sind ohne die Er- 
ganzung durch Charakterologisches praktisch nur wenig zu verwerten. Es zeigt 
sich also immer deutlicher das Bedürfnis nach einer Typologie der Charaktere. 




Stern, Zur Frage der Gewinnung einer cbarakterolog. Typologie aus Beobachtungsbögen 77 

Mit unsystematischen und verstreuten charakterologischen Beobachtungen ist auf die 
Dauer nicht zu arbeiten, und es wird deshalb für die Weiterarbeit wichtig, ein System 
zu bekommen, das die Beobachtungen erst planvoll macht, nutzbar werden laOt 
und zu wissenschaftlicher Brauchbarkeit ordnet. Mit dem bloDen Material der 
Beobachtung, einer reinen Kasuistik, laBt sich nicht arbeiten, und an übergeordneten 
Begriffen haben wir bisher nur diejenigen der sog. Vulgarpsychologie. 

Nun ware es sicherlich falsch, ein Arbeiten mit diesen Begriffen von vorn- 
herein abzulehnen, weil sie unwissenschaftlich sind. Es ist vielmehr unsere Auf- 
gabe, diese Begriffe, wie sie uns vorlaufig zur Verfügung stehen, zum Ausgangs- 
punkt der Arbeit zu nehmen und ihnen durch das in den Bogen gewonnene 
Beobachtungsmaterial eine wissenschaftliche Bedeutung zu verleihen. Ebensowenig, 
wie es angeht, rein deduktiv vom Schreibtisch aus ein System der Charaktero- 
logie zu schaffen, geht es an, sich den Zufalligkeiten des Materials vöUig auszu- 
liefern und ein System zu schaffen aus der Beobachtung des zufallig vorliegen- 
den Bestandes an beobachteten Personen. Eine Reihe von neueren Psychologen 
haben deshalb den Weg betreten, der auch für uns der gegebene sein dürfte. 
Ein vorliegendes Begriffsschema wird vorlaufig als richtig angenommen und unter 
seinen leitenden Gesichtspunkten das in der Einzelarbeit gewonnene Material 
geordnet. Durch die Bearbeitüng dieses Einzelmaterials wird dann standig das 
vorliegende Begriffsschema beeinfluOt, korrigiert und erweitert. Auf diese Weise 
vermeidet man die Gefahren der deduktiven Methode, das Material in ein ihm 
nicht angemessenes Begriffsgerüst zu pressen, und hat trotzdem von vornherein 
leitende Gesichtspunkte. Ein Beispiel für eine solche Art zu arbeiten haben wir 
z. B. im Verhaltnis der psychiatrisch-klinischen Erfahrung und dem System der 
allgemeinen Psychopathologie (vgl. hierzu etwa Jaspers, Allgemeine Psychopatho¬ 
logie, WO auch diese Methode eingehend besprochen ist). 

Die Tendenz der psychologischen Forschung weist ganz allgemein auf diesen 
Weg vom Einzelfall zum Typus. Es ware also für uns die Frage zu besprechen, 
wie ist in der Praxis aus Beobachtungsbögen Material zu sammein, so daO daraus 
das gewünschte System von Begriffen gewonnen werden kann? Die Arbeit wird 
hier dadurch erschwert, daB sich die verschiedensten Begriffssysteme durch- 
kreuzen. Da es sich urn Beobachtung Jugendlicher handelt, kommen Entwick- 
lungstypen in Frage; unabhangig davon gehen danebenher die Temperaments- 
typen, Arbeitstypen, Intelligenztypen usw. Für alle diese Gebiete hat der all- 
gemeine Sprachgebrauch Bezeichnungen geschaffen, die zwar mehr Bilder als 
Begriffe sind, die aber als Ausgangspunkt unserer Arbeit sehr gut dienen können, 
und zwar in der Weise, daO wir in sie das aus Beobachtungsbögen gewonnene 
Material einordnen und dabei aus dem konkreten Beobachtungsmaterial heraus 
diesen Bezeichnungen allmahlich die feste Struktur und Umgrenzung eines wissen- 
schaftlichen Begriffes verleihen. 

Dem praktischen Psychologen kommt es nun nicht darauf an, ein systema- 
tisches Gerüst von Begriffen zu bekommen, das ihm eine Übersicht über die 



78 Stern, Zur Frage der Gewinnung einer charakterolog. Typologie aus Beobachtungsbögen 

samtlichen Möglichkeiten liefert und die Bedingungen dieser Möglichkeiten ordnet, 
das ihre logischen Zusammenhange klart, als vielmehr darauf, eine praktische 
verwertbare Übersicht von Charaktertypen zu erhalten, von Typen, die je ihre 
besondere Art der padagogischen Beeinflussung fordern und auf besondere Arten 
der Berufsverwendung hinweisen. Es sollen daher im Folgenden einige Gesichts- 
punkte für den Weg zur Gewinnung einer solchen Typologie aufgestellt werden. 

Halten wir uns zunachst an einen Einzelzug von Typen, an den oben an- 
gedeuteten Arbeitstypus, da er praktisch zunachst vom gröOten Interesse ist. Wir 
linden hier in der Sprache eine Reihe von Bezeichnungen für Verhaltensweisen, 
wie etwa fieiOig, eifrig, strebsam, interessiert, willig, gleichgültig, unwillig, faul usw. 
Diese Bezeichnungen geben einen gewissen Anhaltspunkt dazu, sich die Arbeits- 
weise des Betreffenden vage vorzustellen, ohne ein genaues Bild des Verhaltens 
zu liefern. Es ist auch nicht so, daD etwa in einer dieser Bezeichnungen ein 
Typus zu erfassen ware. Es ware nun Sache des Beobachtungsmaterials, hier 
eine Art von .Symptomkatalog" anzulegen. Genau wie die Klinik das kasuistische 
Material liefert, an Hand dessen die allgemeine Pathologie ihr Begriffssystem 
aufbaut und kontrolliert, so könnte hier an Hand des Beobachtungsmaterials für 
ein so begrenztes Gebiet wie das des Arbeitstyps, dem Begrlflf „Symptom® ein 
fester, eindeutiger Inhalt gegeben werden. An einem Beispiel soll gezeigt wer¬ 
den, was Symptom hier bedeutet. Bedenken wir z. B., wie sich eine Reihe solcher 
Synjptome in der experimentellen Praxis von selbst ergeben hat. Jeder Psycho- 
techniker, sofern er Psychologe, nicht nur Techniker ist, stellt beim Experiment 
seine Beobachtungen an und gewinnt an Hand dieser Beobachtungen zusammen 
mit den Experimentergebnissen erst das Bild der Versuchsperson, aus dem er 
dann sein Urteil gewinnt. Jeder, der selbst experimenten arbeitet, kennt hierbei 
selbst aus Erfahrung den Symptombegriff, den wir meinen. In jedem Versuch, 
jedem Test hat man eine oder einige Stellen, bei denen sich das charakterologische 
Bild der Versuchsperson „enthüllt®, nicht in der Weise, dalJ in einem einzelnen 
Versuch man sich sagt: so und so hat sich der PrüFling verhalten, also gehort 
er in die und die charakterologische Kategorie, sondern so, daQ aus der Summe 
dieser Verhaltensweisen an den „kritischen Punkten® sich ein Bild ergibt, das 
sich auch nicht in einem BegrifF zusammenfassen laDt, das aber genügend deut- 
lich für den echten Psychologen ist, daU es abgeschildert werden kann. Hierin 
haben wir einen Hinweis auF den BegrifF des Symptoms, wie wir ihn brauchen, 
auf den wir spater zurückgreifen werden. Es würden sich mit groCer Wahr- 
scheinlichkeit bei genügend groQem Material bestimmte Symptome haufiger zeigen 
als andere und somit sich in dem Material „dichtere® und „dünnere® Stellen 
zeigen. Damit ware ein Anhaltspunkt für eine Typenbildung in Einzelfragen auf 
einem fast rein statistischen Wege gewonnen. Es muO sich dann zeigen, inwie- 
weit eine Einfügung dieser Ergebnisse in das vorliegende BegrifFsschema möglich 
ist. Hier ware allerdings erst ein bescheidener erster Schritt getan zur Festigung 
der verschwommenen BegrifFe des allgemeinen Sprachgebrauches zu einer wissen- 



Stern, Zur Frage der Gewinnung einer cbarakterolog. Typologie aus Beobacbtungsbögen 79 

schaftlich brauchbaren Terminologie. Der gieiche Schritt ware auf einer Reihe 
anderer Gebiete zu tun, wie es die theoretische Psychologie teilweise schon getan 
hat für Vorstellungs-, Gedachtnistypen usw., am vorgeschrittensten in der Kinder¬ 
psychologie im BegrifF des Intelligenzalters. Hier ist es allerdings kaum so weit, 
daO man schon von bildhaft erfaObaren Aiterstypen sprechen könnte. Aber es 
ist eine Entwicklung im Gange, die durch die Zusammenarbeit von experimen- 
telien Untersuchungen und Beobachtungen einerseits mit der Psychographie einer 
Altersstufe andererseits zu Resuitaten zu führen verspricht. 

Aber mit der hier angedeuteten Arbeit ware noch keine charakterologische 
Typologie im eigentlichen Sinne erreicht. Was wir unter einem charakterolo- 
gischen Typus verstehen, ist ein einheitliches, charakterologisches Bild, nicht 
eine Zusammensetzung aus Arbeits-, Temperaments-, Entwicklungs- usw. Typus. 
Nun wird sich ja auf die Dauer eine Korrelation zwischen diesen verschiedenen 
Typen ergeben, die aber immerhin nicht das einheitliche Bild gibt, wie wir es 
wünschten. So viel auch mit diesen Einzeitypen gewonnen ware, so darf doch 
dieses weiterliegende Ziei nie aus dem Auge gelassen werden. 

Die Frage nach dem Weg zur Erreichung dieses Zieles führt nun auf eine 
Reihe besonderer Schwierigkeiten hin, auf die im einzelnen hier nicht eingegangen 
zu werden braucht. Die Praxis hat sie bereits zur Geniige erfahren. Es kann 
sich hier viel weniger darum handeln, diese Schwierigkeiten, die ja in der Praxis 
nun einmal bestehen, auf irgendeine Weise theoretisch wegzueskamotieren, als 
vielmehr darum, einen Weg zu finden, der uns praktisch um diese Schwierig¬ 
keiten herumführt und uns doch an unser Ziel gelangen laBt. Von vornherein 
muO man sich klar darüber sein, daO dieser Weg niemals in der Ausführung 
des eigentlichen Beobachtungsschemas iiegen kann. Eine „Normalisierung" von 
Psychischem ist Unsinn. Deshaib darf auch der BegrifF „Symptom“, den wir 
oben anführten, nicht falsch genommen werden. Eine bestimmte Handlungsweise, 
ein Ausdruck, ein Verhaiten ist Symptom eines Psychischen, aber Symptom als 
AuOerungsform innerhalb eines verstehbaren Ganzen; nicht etwa Symptom in 
dem Sinne, wie das Steigen der Quecksilbersaule „Symptom” für die Erwarmung 
ist. Durch die Symptomatologie wird also der Beobachter keineswegs aus- 
geschaitet. Auch hierfür können wir wieder auf die Analogie im Gebiete der 
Psychiatrie verweisen. Wir haben also durch den SymptombegrifF eine gewisse 
Struktur in das Material hineingebracht, ohne aber bisher so weit gekommen zu 
sein, daO uns dadurch die Möglichkeit gegeben ist, eine Typologie herauszulesen. 
Wir sahen auch schon, daO dieser Umstand im Material seine Gründe hat. Es 
fragt sich nun, wie kommen wir von hier aus weiter. Nun scheint es mir, daQ 
von hier aus ein Weg weiter führt, und soweit ich sehe, nur dieser eine. Das 
empirisch zu gewinnende Material laOt sich von hier aus nicht mehr weiter durch 
Prazisierung vereinheitlichen, ohne den Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu 
verlieren oder zumindest an Wirklichkeitsgehait zu verarmen. Es ist aiso nur 
noch die Möglichkeit, in der Bearbeitung des Materials an eine Vereinheitiichung 



80 Stern,Zur Frage der Gewinnung einer charakterolog.Typologie aus Beobactatungsbögen 


naher heranzukommen. Das ist aber durchaus möglich durch die Schaifung eines 
mögHchst weiten und umfassenden Bearbeitungsscbemas für das in der Beobach- 
tung gewonnene Material. Das am SchluO als Vorschlag angeführte Schema ist 
zu diesem Zwecke gedacht und zeigt etwa in einem ersten Entwurfe einmal, 
was ich mir unter einem solchen Schema vorstelle. Es ist dabei darauF zu 
achten, daO die Fragestellung so erfolgt, daQ sie nicht zu einer Pressung des 
Materials verleitet, aber aüch möglichst wenig von dem in der Beobachtung ge- 
wonnenen Material unbenutzt unter den Tisch fallen laOt. Dabei schlagt dieses 
Schema denselben Weg ein, wie er für die voraufgehende Beobachtungsarbeit 
gefordert wurde. Es werden zunachst eine Reihe von Einteilungen gemacht, die 
begriiFlich bezeichnet werden; diese Bezeichnung ist vorerst nicht viel mehr als 
eine bloGe Namensgebung. Mit psychologischem Inhalt werden diese Namen 
sich füllen, wenn erst eine gröOere Masse von Beobachtungsmaterial in sie ein- 
gefügt ist. Dabei werden sich Korrelationen zwischen den einzelnen Punkten 
des Schemas ergeben, die zu Korrekturen der Aufstellung führen. 

Es sei schlieOlich gestattet, im Folgenden einen Vorschlag zur Diskussion 
zu stellen, wie etwa ein Schema zu gestalten ware, das der Bearbeitung von 
Beobachtungsmaterial zugrunde zu legen ware, urn dem Ziel einer charak- 
terologischen Typologie naher zu kommen. Neben dem im Bogen bisher ge- 
suchten Material soll in dieses Schema hinein das aus ihm sich ergebende cha- 
rakterologische Material gegliedert werden. Die Entwickelungsstufe ist meist aus 
dem Bogen direkt ersichtlich. Ich schlage nun vor, ihn als weitere charaktero- 
logische Erganzung auf Folgende Gesichtspunkte hin durchzuarbeiten. Die Zusatze 
(die ein vorlaufiger Vorschlag sind und keinerlei Anspruch auf Vollstandigkeit 
erheben) sollen in dieser Weise gegliedert werden, und es müDten für sie sym¬ 
ptomatische Charakterlstika gewonnen und angeführt werden. 

1. Verhalten der Persönlichkeit im engeren Sinne*). 

a) Selbsteinschatzung (Selbstverherrllchung-Selbstverachtung, Akzentuierung 
im Physischen oder Psychischen bei der Selbsteinschatzung). 

b) Affektleben (jahzornig, schwer erregbar, sensibel, launisch, temperament- 
voll, matt, cholerisch, sanguinisch, melancholisch, phlegmatisch, starke 
Affektreaktionen worauf? usw.). 

c) Sonstiges (ehrlich gegen sich, Konstanz der Persönlichkeit usw.). 

2. Soziales Verhalten. 

a) Verhalten im Schul- bzw. Berufsverkehr allgemein (ofFen-verschwiegen, 
aufrichtig-hinterhaltig, zutraulich-zurückhaltend usw.). 

b) Verhalten zu Kameraden (wie oben, dazu herrschsüchtig-unterordnend, 
gesellig-einsam, streitsüchtig-vertraglich usw.). 

c) Verhalten zu Eltern, Lehrern, Vorgesetzten usw. (vgl. oben, dazu bockig- 
Folgsam, selbstbewuOt-kriecherisch, Lausbub-Duckmauser usw.). 

•) Die angegebenen BegrifTspaare sollen die Richtung von BegrifFsreiben angeben, nicht etwa 
als Alternativen aufgefaSt werden. 





82 Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermark in der Wirtschaft 

wahrung der Reichsbank. Das Wort Mark verlor damit seine alte Bedeutung. 
Ein in wesentlichen Punkten anderer BegrifF trat an seine Stelle. Der alte Be- 
grifF, der heutigen Tages mit dem Wort Friedensmark oder Goldmark ungefahr 
bezeichnet wird, war eine quasi stati'onare Werteinheit. Als solche batte sie 
nicht nur Gebrauch im engeren Zahlungsverkehr, sondern sie wurde überall ver- 
wandt, WO ein Wert festzulegen war, sei es zur Feststellung eines Schuldver- 
haltnisses, zur Berechnung eines AuFwandes (Kalkuiation) oder zur Vergleichung 
zweier Wertsituationen (Bilanz). 

Infolgedessen waren eine recht groDe Zahl von BegrifFen in Abhangigkeit von 
dem MarkbegrifF, derart, daB die begrifFliche Werteinheit, eben die Mark, als 
Kriterium für das Vorhandensein oder Auftreten der anderen Verwendung fand. 
Es sei hier nur eine geringe Zahl solcher VasallenbegrifFe angeführt, die für die 
Praxis aber die wichtigsten sein dürften: Teuer, billig, Wertzuwachs, Wert- 
abnahme, Gewinn, Verlust, Rentabilitat, Gestehungskosten, Schuld, Pfand, Sparen, 
Sp arpfennig), Wucher, Einkommensvermehrung (Gehaltszulage). 

Nehme man z. B. das Wort und den BegrifF „teuer“. Die Mark konnte als 
Kriterium angesehen werden in der Wertzahl des Preises, ob eine Ware teuer 
oder billig war. In noch höherem MaOe der BegrifF Teuerung. Sobald nun das 
Wort Mark Trager eines neuen BegrifFes wurde, entstand die Frage, wie es nun 
mit den VasallenbegrifFen werden solle — nur daB sich niemand diese Frage vor- 
legte. Entweder konnte man das Vasallenwort in Abhangigkeit von dem alten 
BegrifF lassen, oder man muBte es in die gleiche Abhangigkeit zu dem neuen 
BegrifF setzen, in der es zu dem alten gestanden hatte; dann blieb die Ab¬ 
hangigkeit von dem Wort „Mark" wie bisher; aber das Vasallenwort anderte den 
BegrifF. SchlieBlich blieb noch eine zwar sinnlose, aber doch mögliche Art zu 
verfahren. Man setze das Vasallenwort in Abhangigkeit zu dem neuen Mark¬ 
begrifF, aber hantiere mit dem neuen BegrifF, der so entstehen muB, als sei 
das Wort noch für den alten BegrifF gültig. 

Wir werden also zu fragen haben: Welchen Sinn hat ein solches Vasallen- 
wort, bezogen auf Friedensmark, welchen Sinn hat es bezogen auf Papiermark, 
und schlieBlich haben wir zu fragen, welche Begriffsbildung verbindet man in 
der Praxis mit diesem Wort? 

1. „Teuer und billig." 

Bleiben wir zunachst hierbei. Die erste Schwierigkeit würde sein, die Friedens¬ 
mark für heutige Zeit zu fixieren. Mit Hilfe der Goldmarkparitat kommt man 
zu einem anfechtbaren Wert. Die Indexziffern geben ebenfalls eine Möglichkeit 
der Lösung; der innere Grund der Schwierigkeit ist aber, daB die Mark nicht 
nur zeitlich, sondern auch örtlich verschiedenwertig ist und daher eine allgemeine 
Relativierungszahl zur Friedensmark unmöglich ist. Abgesehen von dieser 
Schwierigkeit aber dürfte auszusagen sein, daB Teuerung im alten Sinne des 
Wortes dann zu konstatieren ist, wenn ein Gegenstand mehr Friedensmark kostet 
als in den normalen Vergleichszeiten. Bindet man hingegen das Wort Teuerung 



Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermark in der Wirtschaft 33 


an das Wort Mark, so erhalt man einen neuen Begriff der Teuerung: Teuerung 
ist alsdann der Tatbestand, daO der Preis eines Gegenstandes in einer höheren 
Markzahl ausgedrückt wird als zu der Vergleichszeit. Dieser Begriff ist von dem 
ersten ebenso verschieden wie Goldmark und Papiermark, an welch letzterer 
Verschiedenheit wohl niemand zweifeln dürfte. Der so geFundene Begriff um- 
faCt den der Geldentwertung und gegebenenfalls den der Teuerung in Einheic. 

Die Praxis hingegen gebraucht dies Vasallenwort in dem Sinne, daB sie in 
Ansehung der hohen Preisziffern von Teuerung spricht, aber dabei an den alten 
Begriff der Teuerung denkt. Die Teuerung alten Sinnes bedeutet, daB man für 
eine objektive Wertmenge bestimmter GröBe wenig erhalte. Das ist aber der 
Gedanke, den noch heute fast alle haben, die von Teuerung sprechen, wahrend 
man ihnen sagen könnte, daB lm Gegenteil alles sehr billig sei. 

2. aGehaltszulage.“ 

Dem psychischen Zusammenhange nach gehort dieses Wort zunachst zur 
Diskussion. lm alten Sinne des Wortes war die Konsumkraft-Vermehrung das 
wesentliche Zeichen der Gehaltszulage. Will man hingegen nach dem neuen 
Markbegriff analog definiëren, so erhalt man als Gehaltsvermehrung lediglich 
eine Zuwachsziffer in Papiermark. In der Praxis horen wir dauernd die Kiage, 
daB die Gehaltszulage keine Besserung der Lebenslage zur Folge gehabt habe. 
Nach der alten Begriffsbestimmung lag nun allerdings überhaupt keine Gehalts¬ 
zulage vor, nach der neuen aber war von einer Gehaltszulage aus keinem sicht- 
lichen AniaB eine Besserung der Lebenslage zu erwarten. Wir sehen auch hier 
die Vermengung der alten und neuen Begriffe. Nach alter Terminologie müBte 
man sagen: Obwohl alles billiger ist als je, ist die Gehaltsabnahme so bedeütend, 
daB die Konsumkraft geringer ist als früher. Nach der neuen Terminologie: Die 
Teuerung (Geldentwertung) ist so groB, daB die Gehaltszulage im Vergleich dazu 
zurückbleibt. 

Die letztere These bedeutet allerdings nur dann dasselbe wie die erste, wenn 
tatsachiich die neuen Begriffe und nicht die alten dabei gedacht werden. In 
Wirklichkeit wird aber meistens ein recht unklares Begriffsmonstrum aus beiden 
gebiidet und — unklar gedacht. 

Sozialpolitisch ist es natürlich von höchster Bedeutung, daB sich z. Z. die 
Rückkehr zum alten Begriff zu vollziehen scheint, d. h. daB der Gehaltsempfanger 
und Arbeiter (Lohnempfanger) nicht mehr über ein MiBverhaltnis zwischen 
Teuerung und Lohnzulage, sondern über die immer niedriger werdende Be- 
zahlung zu klagen beginnt. 

„Wertzuwachs und Wertabnahme.“ 

Ein. Kriterium des Wertzuwachses im alten Sinne des Wortes ergibt ohne 
weiteres die Wertvergleichung in Friedensmark. Dieses Wort nach analogem 
Kriterium der Papiermark zuzuordnen, ist offenbar ein ganz skrupelloser sprach- 
licher Gewaltakt. Man bedenke, dafi dann bei Substanzverminderung (etwa eines 
Waldes durch Brand) doch noch ein Wertzuwachs entstehen soll. So ungeheuer- 

6 * 



84 Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermerk in der Wirtschaft 

lich es klingt, es ist durch Gesetz, und zwar eine ganze Reihe von Gesetzen, 
so bestimmt. Diese Begriffsbestlmmung hat somit das Wort „Wertzuwachs" er- 
halten. Wenn man sie nun streng durchdenkt — man stöOt immer wieder auf 
die Tönung des Wortes Wert —, so kommt man zu einem Begriff, der vielleicht 
durch ein Wort wie Geldentwertungsschlüpfung bezeichnet werden könnte. Denn 
dieser angebliche Zuwachs kennzeichnet lediglich, daO ein Gegenstand gegenüber 
der Geldentwertung zurückgeblieben ist. Die Absicht, die Besitzer solcher Gegen- 
stande zur Sonderbesteuerung heranzuziehen, führte zu dieser Verballhornung 
und Verhunzung der Sprache, die weitaus verderblicher ist als der Gebrauch 
der verpönten Fremdworte, die oft sehr saubere Begriffsschattierungen ermög- 
lichen. Ja, sogar GesetzesmaCnahmen, die auf den ursprünglichen Wertzuwachs 
gemünzt waren, werden mit gröCter Seibstverstandlichkeit auf den Scheinzuwachs 
angewendet, wodurch dann ganz entgegen der Konstitution und Verfassung neue 
gesetzgeberische MaDnahmen ad hoe in Kraft gesetzt werden. Entsprechend 
spricht man von dem Reichwerden der Besitzer solcher Gegenstande, wahrend 
man nach alter Terminologie nur aussagen dürfte, dall jene an der allgemeinen 
Verarmung nicht teilnahmen. 

„Gewinn und Verlust." 

Ohne weiteres führt uns nun die Betrachtung zu den Begriffen des Gewinnes 
und Verlustes. Nach alter Wertung verstand man unter Gewinn das Überragen 
des Verkaufswertes über die Gestehungskosten (durch Produktion oder Einkauf) 
bzw. den bilanzmaüigen Gesamtsaldo einer buchmaCigen Abrechnung über eine 
Vielheit von Geschaften nach Abzug aller Aufwendungen, welcher Art auch 
immer. Noch in den letzten Monaten haben sich die Spitzen der gröfJten Bundes- 
staaten unterfangen, die Errechnung des Gewinnes entsprechend in Papiermark 
zu fordern. Der BegrifF, der aber bei dieser Prozedur für das Wort Gewinn 
heraussprang, war so ungeheuerlich, dal3 man nun dabei ist, diesen Standpunkt 
aufzugeben. Gewinn ware nach dieser Bestimmung die Geldentwertung der Auf¬ 
wendungen vom Entstehungstage bis zum Tage der Abrechnung. So lacherlich 
eine solche BegrifFsfalschung auch ist, sie wurde mit Hilfe autoritarer Kurz- 
sichtigkeit und mit Unterstützung der Tagesprésse jahrelang gefordert und leider 
mit Erfolg propagiert. Denn die breite Masse der schlecht geschulten Klein- 
handler ruinierten ihre kraftigen kleinen Geschafte, da sie nur diese Pseudo- 
gewinne machten, und die, welche gröDere Gewinne dieser Art machten, hatten 
die Neigung, diese Pseudogewinne luxuriös zu konsumieren. Aber gerade Ein- 
schrankung des Konsums ware im wirtschaftlichen Interesse der Allgemeinheit 
gewesen. 

3. „Gestehungskosten." 

Bei den Gestehungskosten ist die BegrifFsbildung einen bemerkenswerten Weg 
gegangen. Der alte BegrifF war auch durch Vorschrift der Obrigkeit verschwunden, 
denn der buchmaCig aufgerechnete Wert der Gestehungen war eine recht zu- 
fallige Zahl, die nicht mit den Gestehungskosten einer Goldmarkrechnung ver- 



Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermark in der Wirtschaft 85 


glichen werden konnte. Man denke etwa an die Gestehung eines Baumes aus 
der Baumschule. Die buchmaliige Rechnung führt über etwa 5—7 Jahre zuriick; 
die Aufwendungen von vor 7 Jahren sollen nun als Entstehungskosten ange- 
sprochen werden. Wie ein solcher ZwangsjackenbegrifF aussieht, verlohnt sich 
nicht zu untersuchen, das Rezept hierzu ist nach obigem genügend klar. Die 
Geschaftswelt wollte wieder zu dem alten brauchbaren BegrifFe zuriick. Der 
war aber durch obrigkeitliche Verfügung verschlossen. Die Folge war die Pragung 
eines neuen Wortes für den alten BegrifF: WiederbeschafFungspreis. Der Wieder- 
beschafFungspreis ist ofFenbar der in Papiermark umgerechnete Selbstkostenpreis 
in Friedensmark. Trotz aller Widerstande wird die Rückkehr zu gesünderen 
Wirtschaftszusianden die Anerkennung der gesunden Kalkulation vorausgehen 
mussen. 

4. „Wucher.“ 

In sehr engem Zusammenhang mit den vorhergehenden beiden BegrifFen steht 
der BegrifF des Wuchers. Er war früher gegeben durch die Situation der Not- 
lage und der Tatsache des übermaBigen Gewinnes. Da nun der Gewinn auf der 
Gestehungskostenberechnung basiert, so muBte die Rechnung der Papiermark- 
Gestehungskosten auch den BegrifF eines Papiermarkwuchers zur Folge haben, 
der begrifFlich dem Friedensmarkwucher vollkommen fremd war. War für jenen 
eine Friedensmarkvermehrung in ungebührlich hohem Mafie als Kennzeichen er- 
forderlich, so genügte hier Papiermarkvermehrung, wenn selbst das fragliche Ge¬ 
schaft in Friedensmark umgerechnet einen Verlust ergab. Da auch hier von der 
Obrigkeit an dem Worte (Mark) und nicht an dem Sinne der Bereicherung fest- 
gehalten wurde, hatten wir das merkwürdige Bild, daB wir — im Gegensatz zum 
Ausland — Geschafte als Wucher bezeichneten, die man in anderen Landern als 
Verlustgeschafte bezeichnet haben würde. Die eigentlichen Wuchergeschafte er- 
schienen nur graduell verschieden. Als Wucher wurde also, um es zu prazisieren, 
die Deckungsforderung gegenüber der Geldentwertung bezeichnet. Alle Geschafte, 
die im Ausland (nicht mit dem Ausland) in dieser Zeit getatigt wurden, hatten 
bei der Umrechnung in den jeweiligen Papiermarkkurs die Kennzeichen des 
Wuchers gehabt. Das Bedenkliche an dieser Art der BegrifFsanderung bei dem- 
selben Wort ist, dafi die ganze Bevölkerung in auBerst leichtfertiger Weise mit 
einem Wort umzugehen sich gewöhnt, das seit langer Zeit zur Kennzeichnung 
gemeiner Verbrechen dient. DaB es sich aber darum nicht handelt, das sollte 
mit dem Hinweis auf das Ausland und die dort getatigten Geschafte dargetan 
werden. Das ganze Auslegen und Anwenden der Wucherverordnung steht etwa 
auf einer Linie mit der Anwendung des Majestatsbeleidigungs-Paragraphen auf 
Prinz Karneval. 

7. „Rentabilitat." 

Unter Rentabilitat wurde in früherer Zeit die Relativierung des Gewinnes 
zum investierten Kapital verstanden. Sobald nun der Gewinn in Papiermark er- 
rechnet wird, sollte diese Relativierung ohne weiteres unmöglich sein, ohne auch 



86 Hamburger, Psychische Folgen des Gebrauches der Papiermark in der Wirtschaft 


hier den Begriff der Rentabilitat grundlegend zu verandern. Auch hier ist man 
auf halbem Wege stehen geblieben. Weder bat man der Ausrechnung des Ge- 
winnes die Umrechnung des Kapitals in Papiermark folgen lassen, noch hat man 
zugegeben, daO die Papiermarkgewinne zum Zwecke der Rentabilitatsrechnung 
in Friedensmark umgerechnet wurden. Die Folge ist, daC die Rentabilitat nach 
der neuen BegrifFsbestimmung als das mathematische Produkt von Entwertungs- 
faktor und Friedensrentabilitats-Begriff in die Erscheinung tritt. Die meisten 
hingegen legen den RentabilitatszifFern ohne weiteres den friedensmaOigen Sinn 
bei. Kaum ein Tag vergeht, ohne da(i in der Tagespresse von der hohen Ren¬ 
tabilitat der groCen Unternehmen zu lesen steht. Mehrfach war das gleiche 
Urteil polemisch in der Rede des französischen Ministerpresidenten gegen uns aus- 
gespielt. Immer wieder die gleiche Erscheinung, daO ein neuer BegrifF mit den 
Merkmalen des alten auftaucht, eben nur, weil das alte Wort die Tönung mitbringt. 

8. „Schuld, Pfand, Sparpfennig.“ 

Zum Schlusse sei noch die Aufmerksamkeit auf diese Worte gelenkt. lm 
Frieden war die Wertbestandigkeit das Kennzeichen einer in Mark kontrahierten 
Schuld. Den Begriff der Sicherheit der gelegentlich sogar zur gesetzgeberischen 
Festsetzung (der Mündelsicherheit) führte, hat sich begrifflich grundlegend ge- 
wandelt. Schuldverhaltnisse sind durch die immerwiederkehrende Grundanderung, 
die Aufhebung der Wahrung, zu spekulativen Geschaftspositionen geworden. 
Diese Erkenntnis kam Tausenden erst, als sie mit ihrem Vermogen die Spekulation, 
die sie meist unbewuDt ausführten, bezahlt batten. Es haftet diesen Verhaltnissen 
so sehr der Charakter des Sicheren an, daB noch heute hier die begriflfliche Ver- 
wirrung am starksten anhalt. 

Neben dem einheitlichen Gesichtspunkt, unter den alle diese verschieden- 
artigen Erscheinungen des praktischen Lebens vom Standpunkte unserer Betrachtung 
aus fallen, dürfte die Erkenntnis bemerkenswert sein, daB ohne praktische Er- 
fahrung der Beweis zu erbringen war, daB durch die Begriflfsverwirrung in unsere 
Wirtschaft schwere MiBstande kommen muBten. Gleichzeitig erhellt der Weg 
zur Abhilfe, und wenn hier auch nicht der Ort ist, diese Fragen zu diskutieren, 
so dürfte doch das Ergebnis unzweideutig die eine Parteiansicht stützen. 


Rundschau 


Sozlal* psychologische 
Untersuchungen in Amerika 

In einigen der früheren Hefte der „Prak¬ 
tischen Psychologie" wurde bereits auf die 
stark sozialen Tendenzen in der englischen 
Psychotechnik hingewiesen*). Interessant 

*) „Das Nationalinstitut in London“, Jahr- 
gang 2, Heft 12. — „Englische Eignungsprü- 
fungen**, Jahrgang 4, Heft 2. 


ist es, dafJ wir nun auch in Amerika ein 
Auftauchen dieser Tendenzen beobachten 
können. Es mufJ, so heiCt es noch, über die 
Theorie des „rechten Mannes am rechten 
Platz“ hinausgegangen werden. W.D.Scott 
vertritt diesen Standpunkt in einem Artikel 
„Changes in some of our conceptions and 
practices of personnel" in der Zeitschrift 
„Psychological Review", Marz 1920. Diese 


Rundschau 


87 


Richtung können wir ferner in den von 
E. W. Bott mitgeteilten Psychologischen 
Studiën der Toronto-Universitat beobachten. 
In einem einleitenden Artikel erlautert er 
den neuen Standpunkt der industriellen 
Psychologie in dem oben mitgeteilten Sinne. 
An einer Untersuchung über die Arbeit 
des Jugendlichen wird die Art und die 
Methode naher gezeigt. 

Das Prinzip der Untersuchung ist, alle 
Fakta zu sammeln, die dazu beitragen 
können, das Fortkommen des Jugendlichen 
zu unterstützen. Dazu muO vor allem die 
Umgebung des Jugendlichen einer ein- 
gehenden Beobachtung unterzogen werden, 
also Schule, Haus und die Arbeit selbst. 
Ein Komitee für padagogische und indu- 
strielle Psychologie untersuchte zu diesem 
Zwecke 356 Falie. 

Zunachst wurden die Listen des Educa- 
tional Board daraufhin eingesehen, von 
welchem Schulgrade, von welcher Schul- 
klasse aus die meisten Abgange zur Arbeit 
erfolgen. (Hier sind die anderen amerika- 
nischen Schulverhaltnisse in Rechnung zu 
ziehen.) Man Pand, dall sich in allen Schulen 
in einer gewisseh Schulklasse die Abgange 
haufen, so daG man also den SchluG ziehen 
konnte, daO eine andere Beförderung in den 
einzelnen Schulklassen notwendig ist. 

Eingehend beschaftigte sich das Unter- 
suchungskomitee mit der Erfassung des 
hauslichen Faktors. Die hierzu not- 
wendigen Erhebungen wurden im Verein 
mit den Sozialbeamten und den Stadtfür- 
sorgerinnen gemacht. Zunachst wird fest- 
gestellt, ob die Eltern dem Wunsche der 
Kinder, von der Schule zur Arbeit überzu- 
gehen, zustimmen oder nicht. In 37,4 Pro- 
zent aller Falie war es notwendig, daG 
das Kind zur Vermehrung des Familien- 
einkommens beitrug. Unterstützungen wür- 
den manchmal den frühen Weggang der 
Kinder von der Schule verhindert haben. 
In 52,2 Prozent der Falie stimmten Eltern 
und Kinder darin überein, daG der Ab- 


gang von der Schule wünschenswert sei. 
10,4 Prozent der FSIIe Pand man, in denen 
die Eltern einen Fortgang der Studiën lieber 
gesehen hatten, aber schlieClich dem Wun¬ 
sche der Kinder nachgaben. 

Der hausliche Faktor wurde Perner auP 
die mehr auGeren Einflüsse: Wohnung, Um¬ 
gebung usw. untersucht. Es wurden z. B. Pol- 
gende Fragebogen angelegt, um über die 
Umgebung des Hauses AuPschluG zu er- 
halten: 

Breite der StraGe, 

Art des Fahrweges und Bürgersteiges, 
Menge und Art des Verkehrslarmes, 

Gras und schattige Baume, 

Sauberkeit der StraGe, 

Freie Platze, ausgePüllt durch Anlagen 
oder Spielpiatze, 

Menge der Fabriken in der Umgebung, 
GeschaPtshauser, Garagen, Holz- und 
Kohienlager, 

Eisenbahnen, DampP, Rauch. 

Für das Haus selbst wurde Polgender 
Fragebogen auPgestellt: 

Konstruktion — Sandstein, Stein, Stuck, 
GröOe, Stockwerke; Dichte der Be- 
völkerung, Aussehen: Holzwerk, Farb- 
anstrich, Dach, Fensterglas, 

Stabilitat, 

Verhaltnis der Mauerflachen zu Anzahl 
und GröOe der Fenster, 

Verwendung unbebauten Grundstücks Pür 
Lager oder Garten, 

Pflege von Blumen und Pflanzen. 

Erganzt wurden diese Erhebungen durch 
Beobachtungen des sozial-moralischen Mi¬ 
lieus. 

SchlieOlich wurde der Jugendliche bei der 
Arbeit selbst einer Beobachtung unter¬ 
zogen. In Toronto besteht noch keine Be- 
ruPsberatungsstelle, und so wurde zunachst 
eine Statistik darüber angestellt, auP welche 
Weise die Kinder ihre Arbeit bekommen. 
UngePahr die HalPte aller Kinder Panden die 
Arbeit durch direkte NachPrage, Va 
Kinder durch verwandtschaPtliche oder 



88 


Rundschau — Buchbesprechungen 


freundschaftliche Beziehungen, Ve durch 
die Zeitung und die übrigen durch Vermitt- 
lung der Schule. 60 Prozent der Kinder 
wechselten ihre Stelle im Laufe des 
Untersuchungsjahres. 

Die Verteilung auf die einzelnen Arbeits- 
arten geschah in folgendem Verhaltnis: 

Pabrik.44,5 Prozent 

Botendienst . . 9,4 „ 

Lagerarbeit . . 12,2 „ 

Büro.11,3 „ 

Kleinhandel . . 4,5 „ 

Verschiedenes 18 „ 

Kritisch möchte ich zu der Untersuchung 
bemerken, daO die Resultate, die sich an 
Hand der Fragebogen, der statistischen Er- 
hebungen und der Beobachtung ergeben, 
in wissenschaftlicher Hinsicht nicht immer 
sehr befriedigend sind. Für rein praktisch- 
soziale Zwecke, für Berufsamter, Jugend- 
amter, Wohlfahrtseinrichtungen lassen sich 
dagegen manche der angegebenen Unter- 
suchungen mit Erfolg anwenden. 

Dr. Maria Schorn. 


Buchbesprechungen 
Bondy, Curt, Die proletarische Jugend- 
bewegung in Deutschiand mit beson- 
derer Berücksichtigung der Hamburger 
Verhaltnisse. Ein methodischer und psy- 
chographischer Beitrag zur Jugendkunde. 
AdolfSaal Verlag, Lauenburg/Elbe, 1922, 
152 S., geheftet M. 50.—. Dissertation. 
Hamburg. 

Die Arbeit Bondys ist ein beachtens- 
werter Versuch zur Erkundung der Psyche 
jugendlicher — sozialistischer — Arbeiter. 
Obgieich es sich „um einen naturgemaQ un- 
vollkommenen Versuch® handelt, ist eine 
scharfe Kritik geboten, damit spiter ahnlich 
zweifelhafte Seelenbeschreibungen vielleicht 
unterbleiben. Es ist unmöglich, alle bedenk- 
lichen AuQerungen und Ansichten anzufüh- 
ren, doch sollen absolute Unrichtigkeiten 
möglichst berücksichtigt werden. 


Der Verfasser bezeichnet seine Arbeit als 
einen Beitrag zur Psychologie der prole- 
tarischen Jugendbewegung in Deutsch¬ 
iand. Auf S. 2 u. 3 wird dagegen mitgeteilt, 
dafi nur 66 Fragebogen ausgegeben wurden. 
Aus der Arbeit ist aber nicht klar ersichtlich, 
ob die Bogen nur an Jugendliche geschickt 
wurden, die in Hamburg wohnen oder ob 
auch Jugendliche, die an anderen Orten 
Deutschlands wohnen, berücksichtigt worden 
sind. (Auch eine Anfrage beim Vorstand der 
Arbeiterjugend verschaffte mir keine Ge- 
wiüheit.) Zweierlei ist hierzu zu bemerken: 
l.Sind die Bogen nur an Hamburger und 
Altonaer geschickt, so kann man nicht über 
die deutsche Bewegung urteilen. 2. Sind 
die Bogen auch an andere geschickt, so fehlt 
in der Nachweisung die Bezeichnung, wo der 
Beantworter ansüssig ist. 

Ein wichtiger Einwand ergibt sich aus 
folgender Bemerkung des Verfassers; ,Von 
den 66 Bogen erhielt ich, teilweise erst nach 
mehrmaliger Mahnung, bis jetzt (1.1. 1921) 
29zurück. 10 von diesen 66 Bogen sind 
an Madchen ausgegeben worden. Es haben 
geantwortet: 28 Jungen und nur 1 Madchen; 
in Prozenten ausgedrückt (Warum?) 52 °ó 
Jungens und 10% Madchen®. Selbst fur 
eine Beschreibung der Hamburger Jugend 
ist das Material etwas wenig. 

Bedenklich ist die Ausgestaltung des Frage- 
bogens, die B. ,im allgemeinen als richtig® 
bezeichnet. Wie soll ein Jugendlicher über 
folgende Fragen eine klare Antwort geben, 
deren Beantwortung selbst Erwachsenen 
nicht leicht fallen würde: 

Frage 8: Warum bist Du in eine andere 
Gruppe gegangen? 

Frage 9: Aus welchem Grunde bist Du 
überhaupt in eine Gruppe gegangen und 
warum gerade in diese? 

Frage 10: Gedenkst Du auch spater als 
Führer in der Gruppe zu bleiben? 

Frage 11: Bist Du im allgemeinen mit 
Deinem Beruf zufrieden, hast Du Nei- 
gung und Begabung dazu? 





Buctabesprechungen 


89 


Frage 17: Wie ist Deine Stellung zur Ge- 
schlechterfrage in der Jugendbewegung? 

Frage 22 : Aus welchen Gründen willst 
Du Dich weiterbilden? 

Frage 26: Welchen Dichter liebst Du am 
meisten? 

Frage 27: Welchen Musiker? 

Frage 28: Welche Dichterwerke hast Du 
gelesen? 

Frage 29: Welche Bücher hast Du be- 
sonders gelesen? 

Frage 31: Wie stehst Du zum Expressio- 
nismus? 

Frage 32: Welches ist Dein Lieblings- 
maler? 

Eine Bemerkung zu dieser Fragestellung 
erübrigt sich eigentlich. Mangelhafte Pra- 
zision und anderes mehr müssen das Er- 
gebnis wertlos machen. Der Fragebogen 
enthalt 41 Fragen und diirfte wohl im 
allgemeinen zu lang sein. Von den Ju- 
gendlichen, die geantwortet haben, waren 
bei AbschluB des Werkes (1. I. 1921) alt: 
27 Jahre -- 1, 26 -- 2, 25 1, 24 2, 
23 = 1, 22 = 5, 21 — 2, 20 7, 19 = 6, 
18^3, 17 2. Es haben also geantwortet 

32 und nicht 29. B. rechnet zu den Jugend- 
lichen Leute im Alter von 15—25 Jahren. In 
der sozialistischen Jugendbewegung — ins- 
besondere in der Arbeiterjugend — rechnet 
man zu den Jugendlichen Menschen im Alter 
von 14—18 Jahren, Leute, die über 18 Jahre 
sind, sind besonders in der jungsoziali- 
stischen Vereinigung organisiert. Das relativ 
hohe Alter der Beantworter irübt das Er- 
gebnis der Ermittlung. Ihr Wert wird durch 
die Berufszugehörigkeit noch weiter herab- 
gemindert. 14 Leute gehören laut Aufstel- 
lung kaufmannischen Berufen an, 15 sind 
Handwerker, die ubrigen 3 verteilen sich 
wie folgt: 1 Tagmadchen, 1 Bankbete und 
1 Eisenbahner, ungelernt. 

Der Nachweis bedarf bei einer Neuauflage 
ebenso wie das Abkürzungsverzeichnis und 
der Literaturnachweis einer Überarbeitung. 
In der Tabelle ist angeführt, dalJ Nr. 3 auf 


S. 58, Nr. 5 auf S. 45, Nr. 17 auf S. 52 an¬ 
geführt seien, doch sucht man dort die Nr. 
vergebens. Dagegen findet man Nr. 4 auf 
S.45u. 58, Nr. 17 auf S. 72, Nr. 21 auf S. 94. 
Im Abkürzungsverzeichnis fehlt die Be- 
zeichnung S. P. J., die im Text mehrmals 
angewandt wird. Im Literaturnachweis 
sind die Angaben Lv. 27—29 auüerst un- 
genau und die Angabe Lv. 39 absolut falsch 
(39: „Freiheit,Berliner Organ der S.P.D.“). 

Die Geschichte der Jugendbewegung ist 
sehr ungenau und oberflachlich zusammen- 
geschrieben, so daO man sich beispielsweise 
über die Gründe der politischen Aktivitat 
der Jugend als AuCenstehender kein Urteil 
bilden kann. Die graphische Darstellung auf 
S. 15 zur Geschichte der proletarischen 
Jugendbewegung in Hamburg gibt für den 
Betrachter, der die Verhaltnisse in Hamburg 
nicht kennt, ein absolut falsches Bild. Aus 
derDarbietung geht hervor, daB dieSpaltung 
des Jugendbundes von Hamburg-Altona be- 
reits im Jahre 1909 begann und im Jahre 1916 
zurGründung von zwei neuen Jugendorgani- 
sationen (Jugendbund und freie Jugend- 
organisation) führte. Das ist — bescheiden 
gesagt — nicht ganz richtig. Die Spaltungs- 
tendenzen beganneq im August 1914 und 
führten 1916 zur Bildung einer neuen und 
verschiedener illegaler Gruppen. Es ware 
reizvoll, die übrigen historischen Unmöglich- 
keiten in der Beschreibung kritisch zu be¬ 
trachten, doch das Angeführte mag als Bei- 
spiel, wie man geschichtlicheVorgange nicht 
darstellen soll, genügen. 

Auf S. 16 wird die S. P. J. als S. P. D. — 
laut Abkürzungsverzeichnis: Sozialdemo- 
kratische Partei Deutschlands— bezeichnet. 
Über die Sozialistische Proletarier-Jugend, 
die zwar in Hamburg nicht sehr bedeutend 
ist, die aber in Deutschland doch über 
15000 Mitglieder zahit, ist Bondy besonders 
schlecht informiert. Seinen Lesern berichtet 
er dementsprechend. 

Einige Merkwürdigkeiten ergeben sich bei 
der Behandlung der Berufsfrage. Auf die 



90 


Buchbesprechungen 


13. Frage: Welchen Beruf würdest Du gern 
ergreifen? steht als Antwort eines 17jah- 
rigen kaufmannischen Lehriings: Redakteur, 
Schriftsteller, Philosoph, Prophet. Als Ant¬ 
wort eines 22jahrigen Bankbeten wird erst 
angeführt: Schriftsteller und spïter: Post- 
bote. Hier wflre es erwünscht, wenn die 
Antworten auf Grund des Fragebogens oder 
sonstiger Beobachtungen etwas erlautert 
würden, da man mit dieser Antwort kauin 
etwas Vernünftiges anfangen kann. 

Die Methode, die der Verfasser bei seiner 
Forschung angewandt hat, verleitet ihn zu 
manchen Trugschlüssen, die er, wenn er 
langere Zeit in der proletarischen Jugend- 
bewegung gearbeitet hat, sicher selbst korri- 
gieren wird. So ist es vielleicht erkiarlich, 
daO er scheinbar sagt, wenn er anscheinend 
meint und wo man besser augenscheinlich 
sagen könnte. 

Was die Arbeit aber wertvoll macht, sind 
die in auDerst groCer Anzahl wiedergegebe- 
nen Meinungen, Ansichten und Wünsche der 
Jugendlichen. Doch findet man solches 
Material besser und geschickter zusammen- 
gestellt in „Das Weimar der arbeitenden 
Jugend“, Niederschriften und Bilder vom 
ersten Reichsjugendtag.der Arbeiterjugend 
vom 28.—30. August 1920. Hans KrauB. 

Erismann, Theodor, — Moers, Martha, 
Psychologie der Berufsarbeit und 
der Berufsberatung (Psychotechnik). 

(Sammlung Göschen, Band 851 und 852; 
1922.) 

Die Arbeit der Verfasser gliedert sich 
in einen allgemeinen und einen speziellen 
Teil. Der allgemeine Teil bringt in seinem 
ersten Abschnitt „Berufsarbeit" einekurze 
Zusammenstellung der Rationalisierungs- 
probleme unter dem Namen: Psychophy- 
sische Telergetik. Die Hauptprobleme der 
Rationalisierung: Bewegungsstudie, An- 
passung des Arbeitsgerates, Beleuchtung, 
Ermüdung, Pause, Lohnverhaltnisse, Anlern- 
verfahren, Spezialisierung der Berufsarbeit 


werden, wenn auch nicht erschöpfend, dar- 
gestellt. 

Ausführlicher behandeln die Verfasser 
die psychologische Berufsberatung. Die 
psychologische Berufsberatung umfaOt ein- 
mal die Analyse des Berufs, sodann eine 
Analyse des Berufskandidaten. Letztere kann 
sich auf die Ausfragemethode stützen, oder 
besser auf langjahrige Beobachtung und am 
vollkommensten auf das Experiment. Es 
schlieGen sich an diese allgemeinen Pro- 
bleme Erörterungen über die Methoden der 
Eignungsprüfungen an. Sodann folgt eine 
Darstellung der Intelligenzprüfungen. Die 
Auslese der Begabten, die Beratung der 
unternormal begabten Kinder finden in 
dieser Darstellung ihre Berücksichtigung, 
sowie die mehr theoretischen Probleme 
über den Begriff der Intelligenz, die Me¬ 
thodologie der Intelligenzforschung, das 
Alter, den Unterschied der sozialen Schich¬ 
ten, der Nationen, der Geschlechter in ihrer 
Beziehung zur Intelligenz. Allerdings ver- 
miCt man hier z. B. Erwahnung und Wür- 
digung der psychotechnischen Intelligenz¬ 
prüfungen (und ihrer Literatur), die zum 
erstenmal in Berlin in den Begabtenprü- 
fungen durchgeführt werden und die in einer 
Darstellung, die die historische und methodo¬ 
logische Entwicklung der Eignungsprüfung 
herausarbeiten sollte, nicht fehlen durfte. 

In dem zweiten speziellen Teil der vor- 
liegenden Arbeit werden die Eignungsprü¬ 
fungen für die einzelnen Berufe nüher be¬ 
handelt: für den StraGenbahnführer, den 
Kraflfahrer, den Lokomotivführer und Fahrt- 
dienstleiter, den Flugzeugführer und -Be- 
obachter, den Metallarbeiter, den Kanzlei- 
angestellten und kaufmannisch Angestellten, 
den Schriftsetzer, den Buchdrucker, dieTele- 
phonistin, den Telegraphisten und Funker, 
den Feuerwehrangestellten, den Kriminal- 
beamten, den Damenfriseur. Auch die Vor- 
arbeiten zu den Eignungsprüfungen im Holz- 
gewerbe, Baugewerbe, der Landwirtschaft, 
dem Schneiderberuf und den höheren Be- 



Buchbesprechungen 


91 


rufen finden Berücksichtigung. Vielleicht 
batte das Wichtigere gegenüber dem Un- 
wichtigeren, das Erprobte gegenüber dem 
Nichterprobten eingehender behandelt wer¬ 
den dürfen. Einige unrichtige Angaben, 
z. B. wann die Kraftfahrerprüfungen ein- 
gesetzt haben, sind den Verfassern auch 
unterlaufen. — Zum Schlusse werden die 
einzelnen Möglichkeiten der Bewahrungs- 
kontrolle betrachtet. 

Nicht die Zusammenstellung der vorhan- 
denen Ergebnisse der Psychotechnik macht 
den Vorzug der beiden Bandchen aus. Ich sehe 
ihn auf rein praktischem Gebiet; zum ersten- 
mal wird hier das Gesamtgebiet der Eignungs- 
prüfung unter dem direkten Gesichtspunkte 
einerBerufsberatung betrachtet: dieEig- 
nungsprüfung stellt sich uns hier tatsachlich 
als wertvolle und notwendige Teilfunktion 
der psychologischen Berufsberatung dar, die 
sich organisch in ihr Gesamtgebiet einordnet. 

S. L. 

Hartungen,Dr.Ch., PsychologiederRe- 

klatne. Stuttgart, Poeschel Verlag, 1921. 

Verfasser geht von der Ansicht aus, daB 
zu einer Psychologie der Reklame genaue 
Kenntnis des menschlichen Seelenlebens 
gehort, eine genaue Definition des Begriffs 
„Reklame“, sowie eine Einteilung und Ana¬ 
lyse der vorhandenen Reklame in psycho- 
iogischer Hinsicht. 

Die Analyse der menschlichen Psyche 
wird so weit getrieben, als dies für die ge- 
stellte Aufgabe notwendig ist. Es werden 
z. B. die typischen Unterschiede zwischen 
Mann und Weib als Kaufer, zwischen den 
einzelnen Nationalitaten herausgearbeitet. 
Allerdingsdürften die Unterschiede zwischen 
Mann und Weib als Kaufer etwas zu kraB 
gezeichnet sein, wie sie vielleicht im prak- 
tischen Leben doch nicht zutage treten. 

Durch eine eingehende Auseinander- 
setzung über den Begriff „Reklame" kommt 
der Autor dann zu einer Einteilung der vor¬ 
handenen Reklame. Er teilt die Reklame 
ein in solche, die wirkt: 


1. durch das gesprochene Wort, sowohl 
am Ort des Verkaufs wie durch Vertreter 
und Reisende; 

2. durch das geschriebene Wort (In- 
serat, textliche Reklame, wissenschaftliche, 
Autoritatsreklame, Drucksachen usw.); 

3. durch das geschriebene Wort in Ver- 
bindung mit Darstellung (Plakat, Film, Pro- 
jektion); 

4. durch die Ware selbst (Schaufenster, 
Versandproben, Mannequinsystem, Aus- 
stellung). 

Die einzelnen Arten der Reklame werden 
nun analysiert: an was für Motive die je- 
weilige Reklameart appelliert, worauf sie be- 
ruht, wie sie dementsprechend am günstig- 
sten zu gestalten ist. — Es mogen einige 
Beispiele folgen, um die Arbeitsweise des 
Autors zu illustrieren. Z. B. die Autoritats¬ 
reklame. 1. Worauf beruht sie? Auf einem 
dem Menschen innewohnenden Bedürfnis 
nach Autoritat, auf der Bequemlichkeit des 
Menschen, seiner Eitelkeit und Neugierde. 
2. Wie ist sie am vorteilhaftesten zu ge¬ 
stalten? Die Autoritat braucht nicht immer 
ein Sachverstandigerzu sein, sondernmanch- 
mal empfiehlt es sich sogar, daB irgendeine 
bekannte Autoritat gewahlt wird, da sich 
beim Kaufer infolge seiner Bequemlichkeit 
automatisch die Autoritat der Person auf 
den Gegenstand übertragen wird. — Oder; 
Analyse der Wortmarkenreklame. Das Wort- 
markenplakat muB immer wieder dem Be- 
schauer vor Augen geführt und immer wieder 
„in die Seele gehammert werden", damit 
dadurch das Bedürfnis nach Abreaktion ent- 
steht, die sich eben durch den Kauf voll- 
zieht. „So lange wir das Pixavon nicht an 
unserer eigenen Haut eingerieben haben, 
ist es für uns gewissermaBen ein verbotener 
GenuB. Jedes Plakat, das uns seine Abbil- 
dung zeigt, gleichgültig, ob wir es in der 
Zeitung, im Kaffeehause, in einem Friseur- 
laden oder auf einem StraBenplakate sehen, 
erinnert uns daran und laBt den Wunsch nach 
Abreaktion immer starker werden" (S. 157). 





92 


Bucbbesprechungen 


Der Autor schlieOt mit der Analyse der 
einzelnen Reklamearten seine Psychologie 
der Reklame. Man vermiCt die klare Her- 
ausarbeitung der Anforderungen, die man 
an eine gute Reklame zu stellen hat, sowie 
eine Würdigung der psychotechnischen Er- 
gebnisse. Doch bietet das Buch wertvolle 
Vorarbeit eben durch seine Analyse der ein¬ 
zelnen Reklamearten und gibt uns Richt- 
linien an, von wo aus planmaOige Unter- 
suchungen einzusetzen haben. Dr. Scborn. 

Le Bon, Prof. Gustave, Psychologische 
Grundgesetze in der Völkerentwick- 
lung. 142Seiten. Leipzigl922, S.Hirzel. 

Das Werk erschien 1895 als populare 
Zusammenfassung einiger gröCerer Spezial- 
arbeiten. Sie geboren zu den grund- 
legenden der Rassentheorie. Die neue 
Übersetzung ins Deutsche ist vollauf gerecht- 
fertigt, insofem für jede Theorie ihre alten 
vergrifFenen Klassiker mit das Wichtigste 
sind. Le Bon aber gebührt in seiner Rich- 
tung ein Ehrenplatz als Klassiker, auch wenn 
er bei einigen von seinen deutschen Nach- 
fahren jetzt verpönt wird. 

Man setzte sich früher mit ihm in ver- 
schiedener Weise auseinander. Es ist mir 
noch gut im Gedachtnis, wie die ziinftigen 
Fachprofessoren ihn ablehnten oder als be¬ 
langlos totschwiegen. Die exakten Forscher 
verspotteten seine phantasiefrohe Art zu be- 
weisen; und freilich muten die zahllosen 
Widersprüche, z. B. im 4. Kapitel des 
l.Buches, einem methodisch denkenden 
Leser etwas viel zu. Seine groBe Nach- 
wirkung — besonders in Deutschland und 
gar bei den Slaven, weniger in Frankreich 
selbst — sie hat man erst verspürt, als 
die Folgen der Rassentheorie oifenkundig 
wurden. Man sah nunmehr erst den Zu- 
sammenhang zwischen der Zerspaltung 
Europas in einander bassende Natiönchen 
und derartigen Gelehrtenreden. (Vielleicht 
erkennt man hier auch eine der Wurzeln 
einer anderen Bewegung, namlich des inter¬ 


nationalen Faszismus.) Le Bon verbindet 
namlich mit seiner Hauptthese eine andere, 
eigentlich ganz widersprechende: einenGe- 
danken von Benjamin DTsraeli (1878) weiter- 
spinnend, erklarte er, es gabe schlieBlich 
„doch nur zwei Rassen" in Europa, die 
soziale Ober- und Mittelschicht. Der 
letzteren gilt sein wütender HaO; und dieser 
HaB nur kann es erklaren, warum er (selbst 
einigen Anhangern) in wissenschaftlich wirk- 
lich bedauerlicher Weise sich seine Haupt- 
theorie verdarb. Zwischen Ober- und Unter- 
schicht jedes Volkes in Europa klaffe eine 
tiefere Kluft „als zwischen WeiBen und 
Negern oder sogar zwischen Negern und 
Affen". 

Ein Unterschied trennt ihn von den mo¬ 
dernen Rassischen. Er erkennt in Europa 
keine natürlichen Rassen mehr, sondern 
„historische, langsam gewordene". GroBe 
Teile des Buches befassen sich mit dem 
Werden — als Beispiel! — der „franzö- 
sischen Rasse" aus Bretonen, Normannen, 
Provencalen, Gascognern usw. In diesem 
Buche billigt er das Werden, wahrend er 
zwei Jahrzehnte vorher und spater noch im 
Weltkriege für eine stammestümliche De- 
zentralisation Frankreichs eintrat. (Im Welt¬ 
kriege erblickte der greise Forscher eine 
„Bestatigung* der Rassentheorien.) Viel¬ 
leicht ware „ Auswirkung" doch der passende 
Ausdruck gewesen. (Abgesehen davon, ist 
bereits alles Typische beisammen.) Der 
Zentralbegriff „Kultur" ist durch „Rasse" 
zu ersetzen. Die „Rassenseele" wird génau 
erörtert. Der Intellekt wird immer wieder 
als ganz belanglos hingestellt, „der Cha- 
rakter" statt dessen hervorgehoben. 

Auffallen könnte es vielleicht, daB schon 
so früh „dasunvermeidlicheSchicksal 
Europas" als These auftritt, der Untergang 
der christlich-europaischen Kultur; diese 
These hat man nach ihm fallen gelassen und 
erst jetzt wieder hervorgeholt. Sehr be- 
fremden wird es, daB nirgends bei Le Bon 
das Wort Jude vorkommt; nun — er war 



Buchbesprechungen 


93 


eben — bei aller Suggestivkraft — ziemlich 
ofFenherzig; er sagte spater offen, daC die 
Entdeckung „Judenrasse* ein bloBes Mittel 
zu den Zwecken der Eingeweihten sei. Er 
irrte zudem, wenn er das Mittel für untaug- 
lich hielt. Er hat sich ja aber auch in der 
Tauglichkeit von manchen seiner eigenen 
Entdeckungen geirrt; die Völkischen seines 
Vaterlandes haben ihm deshalb noch kurz 
vor seinem Tode schwereVorwürfegemacht. 

Doch können vereinzelte Abirrungen von 
den Richtlinien nicht die bahnbrechende 
Wegweiserschaft des Forschers beeintrach- 
tigen. Man findet sogar im SchluBkapitel, 
einer letzten feinsten Destillation, noch 
immer deutlich die bewahrten Rezepte. Wie 
man das daraus macht, hat er schalkhaft 
selbstverraten (S. 106FF.). — Auch Gegnern 
der Rassentheorie werden manche Stilblüten, 
die nicht zu den Thesen gehören, ange- 
nehm duFten. Einzelbemerkungen gescheiter 
Gegner bieten doch wirklich Wertvolleres 
als die minderbegabten Autoren der eigenen 
Richtung! Und als einer der gescheitesten 
Grondleger des 20. Jahrhunderts wird 
Le Bon langst gewürdigt. Seien wir also 
nichtChauvinisten und lemen wir von ihm ... 

Dr. Schönfeldt. 

Obst,Georg, Das Buch des Kaufmanns. 
Ein Hand- und Lehrbuch der gesamten 
HandelswissenschaFten. 6., völlig umge- 
arbeitete AuFlage. 1320 Seiten in zwei 
Banden. Verlag C. E. Poeschel, Stuttgart 
1922. Preis 550 M. Freibleibend. 

An diesem umFassenden Handbuch der 
HandelswissenschaFten, welches nun schon 
die 6. AuFlage erlebt, arbeitete ein Stab Füh- 
render Manner der Theorie und Praxis. 
Nicklisch schrieb über BetriebswirtschaFts- 
lehre, von Mataja und Zeitler stammen Ab- 
handlungen über„Reklame“; werdie schriFt- 
stellerischen Arbeiten Matajas in den letzten 
Jahren verFolgt, wird erkennen, und dies 
besonders in diesen neuesten Abhandlungen, 
wie Mataja sich mehr und mehrder exakten 


und experimentellen, wissenschaFtlich be- 
gründeten Reklame zuwendet. In den vor- 
liegenden AuFsStzen wird vieles kurz und 
pragnant gesagt, was sich in seinenr groDen 
Werk über „Die Reklame" weit verstreut 
vorfindet. — Georg Obst hat Arbeiten über 
Bankwesen, Nationalökonomie, Handelspoli¬ 
tik, Kontormaschinen beigesteuert. Lans- 
burgh erganzt den vorzüglichen AuFsatz von 
Wagner über Geld mit einer Arbeit über In- 
flation. Der KauFmann als Staatsbürger wird 
vom ehemaligen sachsischen Justizminister 
Hanisch behandelt. — Es ist indes nicht mög- 
lich, hier über die Reichhaltigkeit des vorlie- 
gendenWerkes auch nurannahernd zu berich¬ 
ten. Als Hand- und Lehrbuch der gesamten 
HandelswissenschaFten dürFte das Werk 
jedenFalls mit allen Vorzügen und Schwachen, 
die einem solchen Unternehmen anhaFten, 
weit über allem stehen, was bisher in dieser 
Beziehung geschafFen worden ist. H. P. 

Wittmann, Dr. Joh., Ober das Sehen 
von Scheinbewegungen und Schein- 
körpern. BeitragezurGrundlegungeiner 
analytischen Psychologie. Mit 7 TaFeln. 
204 S. J. A. Barth, Leipzig 1921. Preis 
M. 22.-. 

Die Bezeichnungen „Scheinbewegung" 
und „Scheinkörper" sind, wie VerFasser sagt, 
irreFührend, da die Verhaltnisse im Sehraum 
nicht in Abhangigkeit von der mathemati- 
schen Struktur eines realen Raumes zu 
denken sind, sondern ganz wesentlich be¬ 
dingt sind durch die Art und die Richtung 
der AuFFassung der Sehdinge und sich mit 
beiden in mannigFaltiger Weise andern, ohne 
daB die ReizverhSltnisse sich gleichFalls zu 
andern brauchten. VerFasser lehnt die phy- 
siologischen HilFsmittel, wie sie zur ErklS- 
rung dieser Phanomene eingeFührt wurden, 
ab. An eigenen Versuchen und Nachprü- 
Fungen der Ergebnisse von Benussi, Wert- 
heimer, Riffka usw. findet VerFasser, daB die 
Erscheinungen der S-, a-, f, b-Bewegungen 
bisher in zu groBer Isoliertheit uns als art- 



94 


Buchbesprecbungen 


verschieden behandelt wurden, wahrend tat- 
sachlich einerseits die Mannigfaltigkeit der 
Phanomene viel gröGer, andererseits ihr Zu- 
sammenhang untereinander viel enger sei. 
Auch das Sehen von Scheinbewegungen und 
Scheinkörpern ist ein und dasselbe Problem 
von gleicher raumpsychologischer Natur, 
das nur die Form eines jener besonderen 
Probleme annimmt, je nachdem die raum- 
lichen und zeitlichen Bestimmtheiten der 
Reize oder vorzüglich nur die raumlichen 
besonders geartet und betont sind. Ver- 
fasser zeigt an einer Reihe ausführiich ge- 
schilderter Versuche wie bei schematischen 
Zeichnungen und wirklichen Objekten unler 
bestimmten Bedingungen (Art der Reize und 
objektive Sukzession bzw. Simultanitkt der 
Bilder) durch die verschiedene Art der Zu- 
wendung der Aufmerksamkeit Bewegungs- 
und Inversionserscheinungen verschieden- 
ster Art auftreten können. Die Gestaltauf- 
fassung kommt ohne gedankliche Zutaten 
auf rein perzeptive Weise zustande. 

Dr. A. Argelander, Mannheim. 

DQnnhaupts Studiën- und Berufs- 
führer. Band 2: Psychologie und 
Psychotechnik, bearbeitet von Dr. F r i t z 
Giese, Halle. Dessau 1922. Verlag Dünn- 
haupt. 63 Seiten. 

Giese unterscheidet in diesem Buche 
zwischen „Psychologen" und „Psychotech- 
niker“. Unter ersterem versteht er den voll 
akademisch auf einer Universitat Ausgebil- 
deten, unter letzterem mehr eine technische 
Hilfskraft. Er bildet damit ein Analogon 
zu den auch in der Medizin bestehenden 
Verhaltnissen, wo auch Arzt und Heilgehilfe 
mit verschiedener Vorbildung zusammen 
arbeiten. Für den Voll-Psychologen fordert 
Giese folgende Vorbildung: 

Studienplan 

I. Semester (Winter) 
Theoretische Experimentalpsycho- 

logie 1.4 Std. 


wöcbeatWch etwa 


Anatomie I.15 Std. 

Experimentalphysik I.5 „ 

Einführung in die Philosophie . . 2 „ 

Philosophiegeschichte I .... 4 „ 

Physikalisches Praktikum.... 4 „ 


2. Semester 

Theoretische Experimentalpsycho- 


■ logie li.4 „ 

Psychophysische MaOmethoden. . 2 . 

Experimentalphysik II.5 „ 

Physiologie I.5 „ 

Philosophiegeschichte 11 .... 4 „ 

Logik.2 . 

Physiologisches Praktikum I... 4 , 

Psychologisches Kolloquium ... 2 „ 


3. Semester 

SpezielletheoretischeExperimental- 


psychologie.2 „ 

Angewandte Psychologie I 

(Padagogik).4 „ 

Erkenntnistheorie ...... 2 „ 

Physiologie II.5 „ 

Anatomie II.15 „ 


Psychologisch-padagog. Seminar . 2 „ 

4. Semester 

Differentielle Psychologie (Typen, 

Korrelationen).2—4 „ 

Angewandte Psychologie II (Berufs- 


beratung, Eignungsprüfung) . . 2—4 . 

Psychophysik der Arbeitsvorgange 2—4 „ 
Medizinische Psychologie ... 2 .. 

Naturphilosophie.2 „ 

Psychologisches Institut: 

Anfangerübungen.2 „ 

5. Semester 

Völkerpsychologie.4 „ 

Angewandte Psychologie 111 (Ob- 

jektspsychotechnik).4 „ 

Sozialpsychologie. 2 „ 

Forensische Psychologie (mit Krimi- 

nalistik).2 „ 

GrundriO der Psychiatrie .... 2 „ 



















Buchbesprechungen 


95 


Psychologisches Institut: us.'heniiich ma 

Fortgeschrittenenübungen I . . 4 Std. 

Forschungs- (seibstandige) Ar- 

beiten.10 , 

6. Semester 

Geschichte der Psychologie ... 2 „ 

Angewandte Psychologie IV 

(Reklame, Organisation) ... 2 „ 

Soziologie. 2 „ 

Sprachpsychologie. 2 „ 


GrundriO der Sozialwissenschaften 2 , 

Psychologisches Institut: 

Fortgeschrittenenübungen II . . 4 , 

Forschung. 20 „ 

7.-8. Semester 

Parapsychologie. 2 „ 

Religionspsychologie. 2 „ 

Psycholog. Institut: Forschung . je 20 „ 

Für den Psychotechniker hingegen wird 
von Giese neben Realschulvorbildung oder 
Primareife ein sechssemestriges Studium 
mit folgendem Lehrplan gefordert: 

Lehrgang für Psychotechniker 

Die mit einem * verschenen Ficher sind Pflicht- 
fJcher der Laboranten, verteilbar auf einen 
Jahreskurs 

1. Semester 

'’Beschaftigung im Laboratorium (Elementare 
Hilfsarbeit: Kleben, Apparate putzen, Zu- 
schauen bei Versuchen). 

•Pappkursus. 

•Holzbearbeitungskursus. 

Vorlesungen: 

•Physik (Mechanik, Optik, Akustik), 
•Statistik (graphische Darstellungen, 
Korrelationen), 

‘Psychologie (Berechnungsmethoden, 
Sinnespsychologie, Kinderpsycholog. I). 

2. Semester 

•Beschaftigung im Laboratorium (einfache 
Mitarbeit in Sinnespsychologie und deren 
Verrechnung). 


LeichterBeschaftigungskurstisinSchlosserei, 

Dreherei. 

•Physikalischer Kursus (Elektrizitat). 
StatistischerKursus(Übungeningraphischen 
Darstellungen, Korrelations- u. Schwellen- 
berechnung). 

Vorlesungen: 

Physik (Elektrizitat), 

Medizin (Anatomie der Sinnesorgane, mit 
Demonstrationen), 

•Psychologie (Untersuchungs- und Rech- 
nungsmethoden für Sinnesfunktionen, 
Gedüchtnis, Aufmerksamkeit), 
•Kinderpsychologie 11. 

3. Semester 

•Beschaftigung im Laboratorium: Eigene 
Versuche an Erwachsenen (Sinnesfunk¬ 
tionen, Gedachtnis und Aufmerksamkeit), 
Berechnungen. 

Vorlesungen: 

Physik (Repetitionsvorlesung), 

Medizin, Gehirn und Nervensystem (mit 
Demonstrationen), 

•Psychologie, Willens- und Denkvorgange 
(einschl. Intelligenzprüfung), 

•Kinder- und Jugendlichenpsychologie III. 

4. Semester 

•Beschaftigung im Laboratorium: Binet- 
Simon-Skala an Kindern, Sinnes- usw. 
psychologische Versuche an Jugendlichen 
und Erwachsenen wie im 3. Semester, 
Berechnungen. 

Vorlesungen: 

Psychologie, Entwicklungspsychologie, 

AbriB derVölkerpsychologie, 
•Psychotechnik I, 

Medizin, Pathopsychologie, 
•TechnikjGesamtüberblicküberdieHaupt- 
industriegebiete 1. 

•Besichtigung von Lehrlingswerkstatten, 
Fabriken, Behördenbetrieben. 








96 


Buchbesprechungen 


5. Semester 

•Beschaftigung im Laboratorium; Samtiiche 
Eignungsprüfungen an Kindern, Berech- 
nungen, Versuche mit Jugendlichen wie 
im 4., Erwachsenen wie im 3. Semester, 
Spezialkursus zur Testmethode für Er- 
wachsene. 

Vorlesungen: 

Psychologie, Psychotechnik II, 

Kollektivpsychologie, 
•Differentielle Psychologie, 
Medizin, Gesamtüberblick II, 
*Wirtschaftswissenschaft, Berufskunde, 
Werbekunde, Handels- und Verkehrs- 
gewerbe in ihren Betriebsformen, 
Kulturgeschichte, Biographien groOer 
Persönlichkeiten und deren typologische 
Analyse. 

Psychologie der Kulturströmungen. 

•Besichtigungen wie 4. Semester. 

6'. Semester 

•Beschaftigung im Laboratorium: Spezielle 
Testprüfung an Kindern, darunter selb- 
standige Eignungsprüfungen an Jugend¬ 
lichen. Umfassende Allgemeindiagnose 
von Erwachsenen. Versuche mit patho- 
logischem Material. Berechnungen. 


Vorlesungen: 

•Psychologie, Psychotechnik III, 
Padagogik, Gesamtüberblick über die 
modernen Schulsysteme, 

Asthetik, psychologische Grondlagen und 
Theorien, 

•Technik, Gesamtüberblick III, 
Wirtschaftswissenschaft, oberfliichlicher 
AbriG der Grondlagen der Sozialver- 
sicherungund der allgemeinen Arbeits- 
gesetze, sonst wie 5. Semester. 

•Besichtigungen wie 4. und 5. Semester, 
gegebenenfalls mit Hospitieren in Fa- 
briken. 


Erst langere Erfahrung kann zeigen, in- 
wieweit Gieses Vorschlage durchführbar 
sind, insbesondere inwieweit neben der 
Universitat nicht noch mehr oder unter Be- 
rücksichtigung der Betriebswissenschaft als 
Ausgangspunkt in erster Linie Technische 
Hochschulen und Handelshochschulen an 
der Ausbildung des psychotechnischen Nach- 
wuchses mitzuwirken haben. Auf jeden Fall 
aber bleibt die Arbeit Gieses ein beachtens- 
wertes Dokument. C. P. 


Diesem Heffe liegen folgende Prospekte bei: 

Von C. DQnnhaupt Verlag, Dessau über DUnnhaupts Studiën- und BerufsfUhrer. 
Vom Verlag von Felix Melner in Leipzig über Philosophlsche Werke. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr.C.Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Martel in Leipzig. 


PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. JANUAR 1923 4. HEFT 


Die Praktische Psychologie erscheint in monetllcheo Herten lm Umfanse von zwel Bogen. PreU des Januarbertes 300 Mark 
fura Inland. Füra Ausland besondere Prelse. (Preia bel unmittelbarer Zuatellung unter Kreuzband im Inland einachlieQUch 
Österreich-Ungarn 400 Mark.) Bestellungen nehmen alle Bucbhandluogen, die Post aowie die Verlagabuchbandlunt entgegen. 
Anzelgen vermittelt die Verlagsbucbbandlung S. Hlrzel In Lelpzig, KönIgatraOe 2. Poatscbeckkonto Leipzlg 226. — Alle 
Manuakrlptaeodungen und darauf bezDglIche Zuachriften alnd zu richten an die Adreaae der Schrirtleitung: Prof. Or.W. Moede 
und Or. C. Plorkowaki, BerllnW30, Lultpoldatrafle 14. 


Eine Testprüfung des Willens 

Von Professor Dr, Hans Henning, 

Direktor des Psycbologiscben Instituts der Tecbniscben Hocbscbule Danzig 

O bwohl der Wille In der Schule wie in den meisten Berufen eine ausschlag- 
gebende Rolle spielt, wurden bisher nur Arbeitsproben, aber keine eigent- 
lichen Willentests gemeldet. Hier liegt eine empfindliche Lücke, denn die beste 
Intelligenz oder Fachbegabung nützt nichts, wenn der Wille, mithin auch der 
FleiB versagt. 

Ein zweites kommt binzu. Auf die scbwierige Frage, was Intelligenz eigentlicb sei, ant- 
wortete Spearman*), daB die mannigfaltigen Methoden der Intelligenzprüfung alle einen ge- 
meinsamen Faktor erfassen, den er “general intelligence” oder “general ability” nennt. Freilicb 
ist diese allgemeine Intelligenz nicbt unbestritten. Man könnte den Generalfaktor aucb in Auf- 
merksamkeitsprozessen sucben: dasjenige Tier wird als intelligentestes zur Dressur auserseben, 
welcbes spontan mebr als seine Genossen auf einwirkende Reize acbtet, docb wurde eine solcbe 
Tbese niemals exakt begründet. Hingegen fand Webb**), der ursprOnglicb die Theorie von 
Speartnan ausbauen balf, daB dessen Generalfaktor sich zusammensetzt aus erstens dem Faktor g 
(geistige Energie Spearmans) und zweitens einem zentralen Faktor w, dem Willen. Eliminiert 
man g, so bleibt w als Generalfaktor; er entstammt der Charaktersphare und ist die „Beharr- 
lichkeit der Motive", ja der .Wille" schlecbthin. Danach hitte jede Intelligenzprüfung den 
Willen als Hauptelement scbon bei der Intelligenz als solcher zu berücksicbtigen. 

Leider besitzen wir keine Deflnition der Intelligenz***), ja wir wissen, daB sie nur einen 
SammelbegriiT für ganz verschiedenartige geistige Leistungen darstellt, welche in mannigfacher 
Art aus dem groBen Reservoir des Gedichtnisses gespeist werden. Somit fehit jede Gewabr, 
ob und in welchem MaBe die Intelligenzprüfung zugleich auch den Willen erfaBt. 

Die unter dem EinfluQ von Zielvorstellungen erfolgenden Willenshandlungen 
scheidet G.E.Müller'f') in unmittelbare Willenshandlungen und in willkürlich 
vorbereitete Willensreaktionen. lm ersten Fall lost die Zielvorstellung oder 

*) C. Spearman, The Proof and Measurement of Association between two Things. Amer. 
Journ. of Psychol 15, S. 72 — 101, 1904. — “General Intelligence” Objectively Determined and 
Measured. Ebenda, S. 201—292, 1904. — F. Krueger und C. Spearman, Die Korrelation 
zwiscben verschiedenen geistigen Leistungsfihigkeiten. Zeitschrift für Psychologie 44, S. 50—114, 
1906. — B. Hart and C. Spearman, General Ability, its Existence and Nature. Brit. Journ. of 
Psychol. Monogr. Suppl. 1915. — Über die ailgemeine geistige Leistungsfahigkeit. Bericht über 
den 5. KongreB für experimentelle Psychologie. Berlin 1912, S. 139—142. Leipzig 1912. — 
C. Spearman, Die Theorie von zwei Faktoren. Bericht über den 6. KongreB für experimentelle 
Psychologie. Göttingen 1914, S. 66—69. Leipzig 1914. 

**) E. Webb, Character and Intelligence. Brit. Journ. of Psychol. Monogr. Suppl. 1915. 

***) W. Peters, Das Intelligenzproblem und die Intelligenzforschung. Zeitschrift für Psycho¬ 
logie 89, S. 1—37, 1922. 

*{■) G. E. Müller, Zur Analyse der GedachtnistStigkeit und des Vorstellungsverlaufs. III, S.426f. 
Erginzungsband 8 der Zeitschrift für Psychologie 1913. 


P. P. IV. 4. 


7 


98 


Henning, Eine Testprüfung des Willens 


das Willensmotiv ohne weiteres die entsprechende Handlung aus. Beim Mon- 
tieren drangt sich etwa der Eindruck auf, die Drahte seien zu schlecht befestigt; 
auf assoziativen AnIaO meidet sich aus der Konstellation nun die Zielvorstellung 
„befestigen!", welche unmittelbar die nötigen Bewegungen hervorruft. Bei den 
willkürlich vorbereiteten Willenshandlungen kommt es darauF an, daQ die Ziel¬ 
vorstellung oder das Willensmotiv sich mit der Reaktionsgelegenheit assoziiert, 
und daO diese Verknüpfung bei eingetretener Reaktionsgelegenheit wirksam wird. 
Das Ziel besteht etwa in der Absicht, das nachste Mal eine Verrichtung praziser 
auszuführen, einen Posten richtig zu buchen oder einzukaufen. Tritt die Reaktions¬ 
gelegenheit nun ein, indem ich nach Minuten, Stunden oder Tagen wieder vor 
dieser Verrichtung stehe, so kann auf Grund der gestifteten Assoziation ohne 
weiteres das richtige Verhalten erfolgen. Unterblieb die Stiftung der Assoziation, 
so ist der Vorsatz vergessen. Ob auQere oder innere Willenshandlungen — im 
letzteren Fall spricht man von einer willkürlichen Beeinhussung des Vorstellungs- 
verlaufs —, das macht keinen Unterschied. 

Das Prüfungsverfahren 

Die neue Methode priift, ob leitende Wiliensmotive oder Zielvor- 
stellungen festgehalten werden können, wenn andere Motive zugleich 
einwirken. Es handelt sich also urn die Zahigkeit der Wiliensmotive, seien 
diese nun eigene Absichten, übernommene Auftrage, Befehle oder berufliche An- 
weisungen. Dies pflegt die grundlegende Situation zu sein. Der Schiller halt 
die vom Unterricht, der Lehrling die von der Arbeit gegebenen Zielvorstellungen 
nicht aufrecht, sondern er laOt sich von anderen Motiven leiten, d. h. er bleibt 
nicht bei der Sache; oder die Ziele unterliegen der konkurrierenden Absicht, 
die Zeit lieber dem Spiele zu widmen, bzw. die Absicht, sich anzustrengen, 
versinkt. 

Nach Vorversuchen empfahl es sich, keinen wirklichkeitsnahen Fall als Test 
zu wahlen, sondern die psychische Funktion als solche, von jedem unnötigen 
Belwerk befreit, gewissermaOen für sich zu fassen, also die Macht der Wiliens¬ 
motive. So Fragen wir: Kann der Prüfling mit seiner Aufmerksamkeit, mit 
assoziativer KraFt und willkürlicher Beeinflussung seines Vorstellungsablaufs die 
ihm gegebenen Ziele bzw. eigene Absichten festhalten, selbst wenn sich andere 
Motive einmischen, die vielleicht lustbetonter sind, und denen eine weniger 
schwierige Willenshandlung entspricht? Die einschlagigen assoziativen Ver- 
haltnisse beschrieb ich bereits an anderem Orte*). 

Das Willensmotiv lautet: Auf ein zugerufenes Wort soll bzw. will ich mit 
einem anderen Worte reagieren, welches einem bestimmten Gebiet (Ge- 
sicht, Gehör, Geschmack, Geruch, Gemeingefühl, Anschaulichkeit, Abstraktion usf.) 

*) H. Henning, Experimentelle Untersucbungen zur Denkpsychologie 1. Die assoziative 
Mischwirkung, das Vorstellen von noch nie Wahrgenommenem und deren Grenzen. Zeitscbrift 
für Psychologie 81, S. i —96, 1919. 



Henning, Eine Testprüfung des Willens 


99 


angehört; vor der Reaktion muC aber ein zweites zugerufenes Wort erst ab- 
gewartet werden, das zur Kontrolle, ob es wirklich beachtet wurde, nachtraglich 
auch anzugeben ist. Ein Beispiel: Es soll mit einem akustischen Worte reagiert 
werden. Gegeben ist als Reizwort „Pfeife" und als zweites Motiv „Tabak". 
Wird mit dem Reaktionswort ,beizt“ oder „Rauch" geantwortet, so wurde die 
Zielvorstellung fallen gelassen. Eine richtige Lösung ware „schrill*. Das dem 
Prüfling an zwei ter Stelle gegebene Wort, welches in unseren Versuchen spa- 
testens eine Sekunde nach dem ersten folgt, lenkt also in ein ganz anderes 
Geleise, als die Zielvorstellung es verlangt. 

Über die Ausbildung der Willensfunktionen mit steigendem Lebensalter des 
Kindes, über die Anforderungen der einzelnen SchulstuFen und Lehrfacher an 
den Willen des Schülers, ebenso über die Ansprüche, welche die mannigfaltigen 
Berufe im Punkte der Energie und Zielstrebigkeit stellen müssen, sind wir leider 
noch ganz unwissend. Deshalb durfte vorlaufig kein nach Altersstufen gestaffelter 
Test angestrebt werden, vielmehr nur ein allgemeiner Alternativtest. Gleichwohl 
empfahl es sich, die Erwachsenen mit schwierigeren Aufgaben von den 15—17Jah- 
rigen abzuheben, und so halt unser Versuchsmaterial sich für Erwachsene etwas 
abstrakter, für Kinder hingegen anschaulicher. AuDerdem müssen Kinder nach 
dem Aussprechen ihres Reaktionswortes nur die Frage beantworten: „Wie lautete 
das zweite Wort?“, wahrend Erwachsene den Bedeutungszusammenhang der 
beiden Reizworte anzugeben haben. 

Die Zeiten werden mit einer Zehntelsekunden-Stoppuhr gemessen, welche 
zwei einzeln anzuhaltende Zeiger besitzt*). Beim Aussprechen des ersten Reiz- 
wortes werden beide Zeiger in Bewegung gesetzt, beim Aussprechen des zweiten 
Reizwortes wird der erste Zeiger, beim Aussprechen des Reaktionswortes der 
zweite Zeiger angehalten. Soweit die durchschnittliche Reaktionszeit nicht aus 
anderen Tests bekannt ist, wird sie in den stets vorausgeschickten Instruktions- 
beispielen bestimmt. 

Jeder Prüfling erhielt 50 Aufgaben. Bei der Halfte war das Motiv vor- 
geschrieben (vgl. die Beispiele), bei der anderen Halfte durfte er das Gebiet 
wahlen. 

Die folgenden Beispiele geben die beiden Reizworte, auf welche möglichst 
rasch mit einem Reaktionsworte aus dem genannten Gebiet zu antworten ist. 


Reaktionswort aus dem Geschmacksgebiet Reaktionswort aus dem optlschen Gebiet 


Für Erwachsene: Für Kinder: 


Für Erwachsene: Für Kinder: 


Kise — Export 
Pfeffer — Land 
Zitronen — Palier 
Tee — Plantage 
Granate — Artillerie 


Eis — Bahn 
Orange — Form 
Kaffee — Strauch 
Hering — schwimmt 
Seife — Blasé 


Welle — physikallsch 
Regen — naU 
Kloster — Musik 
Nelkeri — Duft 
Blind — geladen 


Hund — Gebell 
Bonbon — Gescbmack 
Ofen — Hoeker 
Floh — Stich 
Pech — Unglück 


Instruktionsbeispiel: Honig — Mond 


Instruktionsbeispiel: Geige — Ton 


•) a. a. O. S. 9. 


7* 



100 


Henning, Eine Testprüfung des Willens 


Reaktionswort 
aus dem akustischen Gebiet 


Reaktionswort aus dem Gebiet 
des Gemeingeffihis 


Für Erwachsene: Für Kinder: 


Sturm — Bild 
Pauken — Examen 
Glocke — Schiller 
Klangvoll — Name 
Konversation —Lexikon 


Ohr — Wurm 
Ton — Lehm 
Pfeife — Tabak 
Horn — Knochen 
Kuh — Milcb 


Instruktionsbeispiel: Katze — Maus 


Für Erwachsene: 
Stich — Radierung 
Druck — pekuniSr 
Ofen — Stadt 
Stechend — Bliek 


Für Kinder: 
Spitz — Hund 
Regen — Bogen 
Glas — glinzen 
Rauh — Wort 


Feuer — Begeisterung Hart — Herz 

Instruktionsbeispiel: Nadel — KompaQ 


Reaktionswort aus dem Geruchsgebiet 
Für Erwachsene: Für Kinder: 

Lysol — schützt Rosé — Name 

Teer — Farbe Pech — klebrig 

Dünger — chemischer Wein — Flasche 
Harz — Reise Veilchen — Farbe 

Scbwefel — Bande Tabak — Pflanze 
Instruktionsbeispiel: Ather — Himmel 


Die vom ersten Reizwort ausgelösten Reproduktionen laufen ohne weiteres 
in dem Gleis, welches auf die Zielvorstellung führt. Das zweite Reizwort stelli 
aber die Weiche um, wonach die Reproduktionen — zum mindesten wahrend 
einer kürzeren Zeit — sich im Gieise des neuen Motivs bewegen. Nun entsteht 
die Frage, und das prüft unsere Methode, ob der einzelne genug Kraft besitzt, 
das alte Ziel festzubalten oder wiederzugewinnen. 

Unsere Reizworte sind keineswegs ad hoe zufallig gruppiert, sondern aus je 
50 Paaren der oben zitierten Abhandlung wurden diejenigen ausgewahlt, weiche 
sich gemaQ der Selbstbeobachtung sowie der von Marbe*) auFgefundenen und 
von Bauch**) für das Willensgebiet erharteten Gleichförmigkeit des psychischen 
Geschehens am besten eigneten. Einmal wurden solche Zusammenstellungen 
verworfen, deren Bedeutungszusammenhang selten auffiel; für akustische Reak- 
tionen waren dies beispielsweise: „Sirene — Odysseus", „Fuge — Schrank*, oder 
für optische: „Fleck — Charakter", „Katzen — Musik*, „Arm — reich*. 

Zweitens wurden solche Paare ausgemerzt, deren Lösung infolge der voran- 
gegangenen zu sehr erleichtert ware. Für akustische Aufgaben empfahl es sich 
beispielsweise nicht, nach „Kuh — Milch* die verwandten Gruppen „Katze — 
Maus* oder „Frosch — hüpft* zu bringen, weil sich eine Einstellung auf Tier- 
stimmen bildete. 

Nun könnte man erwarten, daQ die besten Leistungen wie die kürzesten Zeiten dort auF- 
treten, wo Aufgabe und Vorsteilungstypus zusammenfallt, daü etwa der Auditive sein Optimum 
in akustischen Aufgaben ündet. An und für sich ware das kein Schade. Ein rasches Mittel zur 
Bestimmung des Vorsteilungstypus ist immer willkommen, auch brauchte man nur die optimale 
Rubrik unter VernachUssigung der übrigen vier in Korreiation zu stellen. Tatsachlich kommt 
es aber eher darauf an, ob Worte des betreffenden Sinnesgebietes zur Verfügung stehen, weil 
gar keine sachlich-anschaulichen Vorstellungen gefordert werden. Spracbliche Attribute und 
Beispiele der fünf volkstümlichen Sinne hat aber jeder Mensch in hinreichender Menge bereit. 

*) K. Marbe, Die Gleichförmigkeit in der Welt. München 1916 und 1919. 

**) M. Bauch, Zur Gleichförmigkeit der Willenshandlungen. Fortschritte der Psychologie 2, 
S. 340 — 369. 1914. 


Henning, Eine Testprüfung des Willens 


101 


Wir bleiben beim Volkstümlichen, weil speziellere Vorstellungsgebiete nicht ohne individuelle 
Bedeutung für den Willen sind. Ein Mathematiker mag vielleicht auf tbeologischem Boden, ein 
kunsthistorisch Interessierter auf logischem Pelde keine Willensabsichten ins Spiel setzen, weil 
ihnen Theologie oder Logik weder Reiz noch Antrieb ist. Seine „fünf Sinne“ beberrscht aber jeder*). 

Ber^chnet wird die Fehlerzahl und das arithmetische Mittel der be- 
nötigten Zeiten. AuOerdem wird die Zunahme der Einzelzeiten im Verlauf 
der Versuche als Ausdruck der Willensermüdung beobachtet. Vorschnelle Typen, 
welche im Alltag oft den Eindruck besonderer Willenskraft voriauschen, reagieren 
so rasch, daO das zweite Reizwort schon 0,5 Sekunden nach dem ersten erfolgen 
muC, andernfalls sprechen sie das Reaktionswort vor dem Horen des zweiten 
Reizworts aus, das sie gar nicht abwarten. Auch trotz des kürzeren Zeitabstandes 
zwischen erstem und zweitem Reizwort überhören vorschnelle Versuchspersonen 
unter AuQerachtlassung des Zieles das zweite Reizwort haufig. Die Anzahl der 
nicht angebbaren zweiten Reizworte rechnet als volle Fehlerzahl und wird der 
Zahl der Fehlreaktionen hinzuaddiert. Bei 3 (für Erwachsene bei 2) Fehlern ist 
die Willensstarke durchaus genügend. Liegt der Mittelwert der benötigten Zeiten 
über 6 (bei Erwachsénen über 5) Sekunden, so ist die Willenskraft unterdurch- 
schnittlich und nicht ausreichend. Verdoppeln sich die benötigten Einzelzeiten 
im letzten Versuchsdrittel gegenüber dem zweiten Versuchsdrittel, dann liegt eine 
abnorme Willensermüdung vor. Die Bewertung der Willensstarke wechselt mit 
den verschiedenen Berufen. Für einige akademische Berufe werden Ziffern und 
Kurven an anderer Stelle gegeben. 

Korrelationen 

Nach Webb korrelieren die verschiedenen Taxierungen der Willensstarke 
zwischen 0,40 und 0,75. Sie sind also ziemlich zuverlassig, wenn auch der idealen 
1 noch fern. Ich erhielt Werte derselben Gröfienordnung. 

1. Vergleichen wir unser Testergebnis mit dem Lehrerurteil über die In- 
telligenz bei 27 Madchen der zweitobersten Klasse einer höheren Schule, so er- 
gibt sich der Korrelationskoefüzient 0,60 mit dem wahrscheinlichen Fehler 0,05. 
Der Wille ist also stark in der Intelligenzschatzung enthalten und bei genauerer 
Analyse zeigte sich sogar, daO der Lehrer sich öfters durch einen energischen 
FleiO eine zu hohe Inteliigenz hatte vortauschen lassen, und daD er in anderen 
Fallen wegen geringerer Willenskraft auch die Inteliigenz unterschatzte. 

2. Als Korrelation zwischen dem Intelligenztest von Ries**) und unserer 
Willensprüfung ergab sich als Korrelationskoefhzient 0,73 bei einem wahrschein¬ 
lichen Fehler von 0,065. Diese hohe Korrelation darf nicht verwundern. Stern***) 
hatte schon betont, daO dieser Intelligenztest nur eine Seite der Inteliigenz prüft. 

*) Bei der groBen Verwandtschaft von Gerucb und Geschmack rechnen wir es nicht als 
Fehler, wenn Attribute des einen Sinnes in Iandl3uflger Weise als Reaktionsworte des anderen 
Sinnes benutzt werden. Auch sonst werteten wir tolerant aus. 

•*) G. Ries, Beitr3ge zur Methodik der Intelligenzprüfung. Zeitschr. f. Psychol. 56, S. 335ff., 
1910. — Vgl. W. Stern, Die Intelligenzprüfung an Kindern und Jugendlichen. S. 93ff. Leipzig 1016. 

***) W. Stern, a. a. O. S. 94. 



102 


Henning, Eine Testprüfung des Willens 


Wir dürfen sogar weiter gehen: wenn bei Ries der Schuier das Reaktionswort 
als Ursache nehmen und dazu die Wirkung reproduzieren soll, so handelt es 
sich um ein willkürliches Besinnen, bei welchem die Aufgabe- oder Zielvorstellung 
peinlich festgehalten werden muQ, damit sie ihre reproduzierende Kraft entfaltet. 
Ob es sich nun um ein gewöhnliches willkürliches Sichbesinnen, um ein ziel- 
bewuQtes Tatonnieren oder andere Verhaltungsweisen handelt, auF alle Falie kommt 
eine willkürliche Beeinflussung des Vorstellungsverlaufes mit ausgesprochenen 
Zielvorstellungen als Hauptmoment in Frage*). Dieser Intelligenztest stimmt sich 
also wesentlich auF die Zielvorstellungen ab, weniger auf die Anpassung an neue 
Forderungen, und deshalb muB sich eine hohe Korrelation zum Willen ergeben. 

3. In der Tat zeigte eine Prüfung der Intelligenz mit der Bilderbogenmethode 
nur die Korrelation 0,38 (wahrscheinlicher Fehler 0,45) zu unserm Willenstest. 

4. Wir vergleichen nun die Rangordnung nach den Zensuren in Betragen, 
FleiQ, Aufmerksamkeit und Ordnungsliebe (als Resultante) mit dem ex¬ 
perimentelen Willenstest für 22 Oberprimaner. Die allgemeine Erwartung, daO 
in dieser Beurteilung das Willensmoment steekt, wird nicht getauscht: der Korre- 
lationskoeffizient halt sich auf 0,72 bei einem wahrscheinlichen Fehler von 0,07. 

5. Bei 28 Erwachsenen (Versuchspersonen der oben genannten Arbeit) ergab 
sich als Korrelationskoeffizient zwischen Willenstest und Willensschatzung der 
Wert 0,65 mit dem wahrscheinlichen Fehler 0,10. Für 30 Kinder im Alter von 
15—17 Jahren erhielt ich den Wert 0,61 mit dem wahrscheinlichen Fehler 0,15. 

6. Indessen fragt sich, ob und wieweit wir berechtigt sind, aus der Güte der 
Leistung und ihrer Schnelligkeit eine Resultante zu bilden. Hierzu ver¬ 
wenden wir die Testergebnisse an 45 in Amt befindlichen Redakteuren und 25 
Anwartern (Studenten), die sich von mir in dieser Hinsicht prüfen lieOen. Zur 
Auswertung bieten sich am bequemsten die von Stern**) angegebenen Formeln 
der Kontingenz dar. 

Aus den Selbstbeobachtungen hatte sich ergeben, daO ein starkes innerliches 
Schwanken, ein Hin- und Hergezogenwerden und eine Unentschiedenheit erlebt 
wird, sobald die Reaktion langer als 5 Sekunden dauert. So wollen wir hier den 
Schnitt zwischen rasche und langsame Reaktion anbringen, obwohl eine weniger 
tolerante Bewertung unter „rasch" wesentlich kürzere Reaktionen verstehen dürfte, 
bei denen ein innerer Kampf nicht immer ausbleibt. Die Scheidung in gute und 
schlechte Leistung erfolgt nach den Fehlerdurchschnitten. 



rasch 

langsam 

Summe 

gute Leistung: 

34 (48,6 Vo) 

12 (17,1 Vo) 

46 (65,7 Vo) 

schlechte Leistung: 

10 (14,3%) 

14 (20%) 

24 (34,3 Vo) 

Summe: 

44 (62,9 Vo) 

26 (37,1 Vo) 

70 (100 Vo) 


*) G. E. M ü 11 er, a. a. O., S. 425IT., 1913. — **) W. S tern, Different. Psych., S. 310f., Leipzig 1911. 



















Henning, Eine TestprGfung des Willens 


103 


Die Wahrscheinlichkeit, daQ geschwinde Reaktionsform und gute Leistungs- 
fahigkeit rein zufallig zusammentreffen, ist hier sehr hoch, namlich 41,3%. In 
Wirklichkeit zeigen 34 Personen heides, aIso7,3% mehr, als die Wahrscheinlich¬ 
keit es nahelegt, wobei es sich um eine positive Tendenz handelt. Der Kontingenz- 
grad (Geschwindigkeit - gute Leistung) betragt nur 0,338 und der Grad der Kon- 
tingenz (gute Leistung Geschwindigkeit) ebenfalls 0,3. Da der ideale Wert 
gleich 1 ist, scheint es schlecht um den inneren Zusammenhang der beiden Eigen¬ 
schaften zu stehen. 

Betrachten wir das Menschenmaterial naher, so andert sich unser Urteil freilich, 
denn wir stoQen dabei auf zwei getrennte berufspsychologische Gruppen. 
Die 44 raschen Personen setzen sich namlich zusammen aus 20Politikern, 9 Studenten, 
welche politische Redakteure werden wollen, 5 Sportredakteuren, 4 Handelsredak- 
teuren, 1 Lokalredakteur und nur 2 beruflichen und 3 studentischen Feuilletonisten. 
Hingegen hnden wir unter den 26 langsamen Persönlichkeiten 8 beruFliche und 
13 studentische Feuilletonisten, 4 Lokalredakteure und 1 Handelsredakteur, aber 
keinen einzigen politischen Redakteur. 

Auch die zweite Scheidung nach der Güte der Leistung zeigt dieses Bild: kein 
einziger der 20 Berufspolitiker rangiert unter den schiechten, aber 12 studentische 
und 2 schon amtierende Feuilletonisten. 

In der Tat stellt der Feuilletonist einen Sonderfall der Eignung dar: starr fest- 
gehaltene Zielvorstellungen hindern gerade den flüssigen Ablauf der dichterischen 
Phantasie, wie sich in besonderen Experimenten zeigte*), und worauf ich schon 
einen entsprechenden Test für Künstler vorschlug**). In anderm Zusammenhang 
greife ich hierauf zurück. 

DaO die Feuilletonisten und einige wenige Lokalredakteure, die zudem etwas 
behabig waren, nur ein beruFspsychologisches Extrem bilden, ergibt sich aus der 
Korrelation zwischen der Güte der Leistung und Geschwindigkeit für die 16 und 
12 Erwachsenen, für 25 Studenten (in wissenschaftlichen Übungen) und für die 
genannten Kategorien der Kinder und jungen Manner. Die Korrelation betragt 
hier sogar 0,83 bei einem wahrscheinlichen Fehler von 0,007. Gerade solche 
extremen Werte lehren, daO man in mancher Hinsicht vorsichtiger sein muO als 
bisher. Der Beruf trennt oft in gegensatzliche Gruppen, was im groQen ge- 
mischt recht einheitlich aussehen mag. Die Börse braucht geschwinde Köpfe, 
in Kanzleien sammeln sich langsamere, und ahnlich steht es überall. 

7. SchlieDlich bleibt noch die Frage, ob unser Verfahren eine Korrelation zu 
Ablenkungs- und Störungsversuchen aufweist, denn das zweite Reizwort lenkt 
ja von der Richtung ab, welche die Zielvorstellung fordert, und eine gewisse 
Störung ist damit gegeben. Freilich zeigte sich sofort, was schon der Selbst- 
beobachtung zu entnehmen war, daO dieser innere Kampf der Motive nichts mit 
einer sensorischen Ablenkung oder Störung zu tun hat. 


*) Henni ng, a. a. O. S. 84ff. 
**) a. a. O. S. 96. 




104 


Henning, Eine Testprüfung des Willens 


Auditive Versuchspersonen muDten im einfachen Reproduktionsversuch auF 
ein zugerufenes Reizwort reagieren, wahrend gleichzeitig mehrere Metronome un- 
regelmaOig schlugen und anderer Larm ertönte; bei Visuellen bestand die Störung 
in optischen Reizen, bei Motorischen in lautem Zahlen wahrend des Versuches. 
Die Reproduktionsleistungen und Reproduktionszeiten stehen zu unserer Willens- 
prüfung in einer negativen Korrelation. DaO beide Male ganz andere Anforderungen 
vorliegen, zeigte sich schon an einzelnen Persönlichkeiten: mancher geistig sehr 
Willensstarke wird durch Larm erheblich gestort, mancher Willensschwache 
gar nicht. 

Bew&hrung durch die Praxis 

Unsere Versuche wurden 1911 —1913 in StraOburg, Koblenz, Tübingen, Berlin 
und Hannover angestellt. Es fragt sich nun; bestatigt der Lebenserfolg das Test- 
ergebnis? 10—12 Jahre sind eine hinreichende BewahrungsFrist. Freilich scheiden 
inFolge des gesetzlichen Verbotes der Kündigung Angestellter, infolge der Kriegs- 
verluste, der Ausweisung aus StraQburg und der Besetzung der Rheinlande von 
500 Versuchspersonen 298 Personen aus, die ich nicht im Auge behalten und 
werten konnte, und es bleiben nur 202, welche oben allein berücksichtigt sind. 

Bei ihnen zeigt sich eine auOerordentliche Übereinstimmung sogar in 
extremen Pallen. 

Als Beispiel sei der markanteste Fall gegeben. Ein Chirurg und Sportsmann wurde von 
zebn Beurteilern als ausgesprocbenste Willensnatur an erster Stelle der gescbStzten Rangordnung 
gestellt, wihrend er nach dem experimentellen Ausgang als allerletzter rangierte. TatsScblicb 
erlitt er im Kriege als Arzt einen Zusammenbruch mit Abulie (obne auQerordentlicbe kuBere 
AnISsse), welcbe ausbellte. Nacb dem Kriege erhielt er bei seiner Ausweisung aus abgetretenem 
Gebiet zwei vorteilbafte Stellen in Deutscbland. Er brach aber bald wieder mit seinem durcb- 
aus auf alldeutscben Lebensauffassungen, preuBischen Oflizierstum und Korpswesen aufgebauten 
Cbarakter zusammen, wechselte den Beruf und wanderte wegen.eines Augenblickvorteils in fremdes 
Staatsgebiet zurück, verlor den Zusammenbang mit seinen Freunden und lieB feste Linien der 
Lebensführung vermissen. Die neuerdings wieder befragten Beurteiler sagten^un: sie bStten 
sicb damals tSuscben lassen durch die SuBeren Formen und gSben jetzt dem experimentellen 
Ausgang recht. 


Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise 
von Triebwagenführern*) 


Von Dipl.-Ing. Ulricb Hal 
(Aus dem Psycbologischen Laboratorium 

Ü berschaut man das ganze Gebiet der 
vom psychotechnischen Gesichtspunkte 
unterscheiden: 


1. die Gruppe der Motorwagen-, SchifFs- 
zipiell auF beiden Seiten, sowohl auF 
seiten des die Freie Fahrt hemmenden 
HandlungsFreiheit und Möglichkeit in 
ohne jede Beschrankung. 


Ibauer, Hamburg 

der Hamburgischen UniversitSt) 

FahrzeuglenkerberuFe, so muO man 
aus prinzipiell drei groOe Gruppen 

und FlugzeugFührerberufe, wo prln- 
seiten des Fahrzeugführers, als auF 
Hindernisses volle Bewegungs- und 
der Flache bzw. im Raum vorliegt 


*) Ein auf die Methodik und Eichung der gesamlen Prüfung besonders eingebender Bericht 
wird sp3ter in der Zeitscbrift für angewandte Psychologie erscheinen. 



Hallbauer, PrQfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von TriebwagenfObrern 105 

Man kann diese Gruppe auch noch unterteilen unter dem Gesichtspunkt: 

a) daO ein Motorwagenführer lediglich auf Grund der Bewegungen, 
Bewegungsansatze und der durch die Fahrordnung gegebenen Bewegungs- 
möglichkeiten der direkt auftretenden Hindernisse seine Entschlüsse und 
Handlungen vollführt; 

b) daO bei dem Schiffsführer für die Nachtfahrt auOerdem ganz be- 
stimmte Zeichen (Lichter und Signale) hinzukommen, die erst durch 
die Fahrordnung eine Bedeutung gewinnen. 

2. die Gruppe der StraQenbahnführerberufe und der Führung ailer Art von 
Fahrzeugen, die sich zwar auf Gleisen, aber nicht auf besonders abge- 
sperrtem Gebiet, bewegen, wo auf Seiten der auftretenden Hindernisse 
volle Bewegungsfreiheit und Möglichkeit vorherrscht, wo dagegen die eigene 
Bewegungsfreiheit sehr eingeschrankt ist und zwar lediglich auf lineare 
Bewegungen. Die Hindernisse treten hier direkt in die Erscheinung ohne 
Vermittlung von Signalen und Zeichen. 

3. Die Gruppe der Triebwagen- und Lokomotivführerberufe, wo nun auch die 
Bewegungsmöglichkeit der Hindernisse durch den getrennten Fahrdamm 
beschrankt ist und auQerdem die Hindernisse nur in seltenen Fallen, wie 
bei Bahnübergangen odec auf denselben Gleisen sich bewegenden Zügen, 
direkt in Erscheinung treten, sondern wo in der Regel die erforderlichen 
Handlungen, soweit sie nicht in gleicher Weise wie bei der Führung jedes 
Fahrzeuges in der Bedienung derMaschine bestehen, durch abstrakte Zeichen 
und Signale geregelt werden, deren Bedeutung „gewnOt" werden muO. 

Diese verschiedenen Gruppen erfordern nun auch von den Führern ver- 
schiedene Arten und Grade von Handlungen und dementsprechend von Fahig- 
’ kelten, die auQeren Ereignisse und Gegebenheiten „aufzufassen" und zu „be- 
antworten". 

Hierbei sei unter „Fahigkeit** lediglich auf Grund der ailgemeinen Lebens- 
erfahrung und des Sprachgebrauches, unter Verzicht auf eine bisher von der 
wissenschaftlichen Psychologie noch nicht gegebene befriedigende Grundlegung 
des Begriffes, jene innere Bedingung bezeichnet, die erfülit werden muO, damit 
auf einen bestimmten Reiz hin, der in den psychischen Bereich eines Menschen 
einflieQt, eine bestimmt gerichtete Handlung des Menschen herausflieOt. 

Und die Lebenserfahrung zeigt, daQ bei bestimmten gleichen Vorbedingungen 
eine bestimmte GesetzmaOigkeit dieses Zusammenhanges vorhanden ist, und der 
praktische Psychologe darf sich mit voller Berechtigung darauf stützen, so- 
lange die wissenschaftliche Grundlegung noch nicht restlos geklart ist; er muO 
sich nur darüber klar sein, daO er eine so gefundene Methode nicht ohne 
weiteres verailgemeinern darf. 

Daher war es auch nicht statthaft, für die Prüfung von Triebwagen- 
führern, wie sie im Auftrage der Eisenbahndirektion Altona das Psychologische 
Laboratorium an der Universitat Hamburg übernahm, ohne weiteres jene Methoden 



106 Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenfübrern 

anzuwenden, wie sie bisher für die Prüfung von StraOenbahn-, Kraftwagen-, 
Fiugzeugführern ausgearbeitet sind, zu übernehmen. Ja, es erschien auch aus 
demselben Grunde ratsam, selbst nicht die Lokomotivführerprüfung für Fern- 
strecken der Reichsbahndirektion Dresden, die der oben erwahnten Gruppen- 
einteilung nach der Triebwagenführer-Prüfung am nachsten kommt, unverandert 
zu übernehmen, sondern von den besonderen Verhaltnissen der Hamburger Vor- 
ortbahn ausgehend, eine spezielle Methode auszuarbeiten. 

Das Studium des gesamten Fahrbetriebes, der Strecken- und Signalverhaltnisse 
der Hamburger Vorortbahn ergab nun in groDen Zügen, daO für die Prüfung 
eine Urteilsbildung über folgende „Fahigkeiten“ des Schaffners vor allem er- 
forderlich sei: 

1. Richtige Schatzung der Geschwindigkeit des Fahrzeuges relativ zur Um- 
gebung, direkt und indirekt, ferner des Geschwindigkeitsabfalles bei der 
Bremsung und des Beharrungsvermögens des Fahrzeuges bei dem Auslauf. 

2. Streckenkenntnis und Streckengedachtnis. 

3. Konzentration. 

4. „Distributive“ Aufmerksamkeit. 

5. Fabigkeit, die Aufmerksamkeit trotz zeitweiser Haufung und zeitweisen 
langeren Ausbleibens der Reize dauernd in gleicher „Bereitschaft*' zu halten. 

6. Fahigkeit des schnellen Erfassens kurz sichtbarer und plötzlich auftauchender 
Signale usw., des schnellen und entschlossenen Handelns auf diese. 

7. Fahigkeit einer sicheren, irrtumsfreien Zuordnung der geforderten Hand- 
lungen zu den fordernden Signalen und Zeichen. 

Ferner in einem gewissen Grade: 

8. Fahigkeit, sich neuen allgemeinen Lagen anzupassen. 

9. Übungsfahigkeit und Ermüdbarkeit. 

10. Fahigkeit, vorhandene Hemmungen durch Willensanspannung und Ausdauer 
zu überwinden, 

11. Zuverlassigkeit und Gewissenhaftigkeit. 

Für die Prüfung der unter 1. genannten Fahigkeiten wurde der „Geschwindig- 
keitsschatzungs-Apparat und Bremsprüfer" nach Werner verwendet*). 

Für die Prüfung des Signal- und Streckengedachtnisses wurden eine Reihe 
von Bildertests entworfen, deren Anwendung aber wegen der zunachst nicht voll 
befriedigenden Ergebnisse noch zurückgestellt wurde. 

Für die Erfassung der übrigen Fahigkeiten wurde nun mit Rücksicht auf die 
oben erwahnten theoretischen Schwierigkeiten auf eine Anwendung einzelner 
allgemeiner Methoden verzichtet; dagegen wurde eine Methode ausgebildet, deren 
Aufgabe es sein sollte, unter Anlehnung an die wahren Verhaltnisse des Berufes, 
den psychischen Gesamtverlauf der Triebwagenführung als Ganzes zur Darstellung 
zu bringen, wobei versucht wird, die Erfassung der Einzelfunktionen durch die 


') Vgl. den folgenden Aufsatz. 



Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenführern 107 

richtige Beurteilung und Trennung der Endergebnisse zu erreichen, einerseits. 
Andererseits wurde die Methode so ausgebaut, daB die Möglichkeit offen gelassen 
wurde, die persönliche, individuelle Beobachtung, wie sie in der Praxis so über- 
wiegend der Leistungswertung zugrunde gelegt wird, in vollem Umfange mit 
heranzuziehen; eine Forderung, die gerade in letzter Zeit auch von praktischen 
Psychologen scharf vertreten wird. 

Auf Grund solcher Erwagungen wurde nun ein neuer Apparat gebaut, der 
unter dem Namen „Signalstreckenapparat Hallbauer-Stern“ demniichst in der 
Fachliteratur noch eingehender beschrieben werden wird. Hier soll nur das 
Grundsatzliche der Methode und der Konstruktion gegeben werden. 

Der Apparat bat also folgende drei Forderungen zu erfüllen: 

1. Er muB eine exakte und dem Irrtum des Versuchsleiters entzogene Zahlung 
und Messung einer Reihe von Teilhandlungen ermöglichen, die auf Grund 
der Analyse des Gesamtarbeitsvorganges auf bestimmte Fahigkeiten rück- 
schlieOen lassen. 

2. Er muB — wenn auch im Schema — die innere Einheitlichkeit und Natür- 
lichkeit des Gesamthandlungsverlaufes, wie er der Führung eines Trieb- 
wagens zugrunde liegt, bis zu dem Grade gewahrleisten, daO dem Prüfling 
die innere, seelische Einstellung ermöglicht wird, „als ob" er sich in der 
„Wirklichkeit“ befande, und daB dem Prüfungsleiter die Grundlage einer 
objektiven Beobachtungs- und Leistungswertung geboten wird, die im 
Prinzip zu gleichen Ergebnissen zu kommen gestattet, wie eine solche 
wahrend des wirklichen Fahrbetriebes. 

3. Er muB so ausbaufahig und durchsichtig sein, daB er genügend Wege frei 
laBt zu einer Entwicklung und wissenschaftlichen Erforschung der Beobach¬ 
tungs- und Wertungsfahigkeiten der Prüfungsleiter. 

Hieraus ergab sich die 

Gesamtanordnung der Einrichtung, 

die aus den beigefügten Abbildungen 1 und 2 ersichtlich ist und im folgenden 
kurz beschrieben werden söll. 

a) Anordnung der Reizgebung. 

Grundlage der Reizgebung sind Signale, die in ihrer Bedeutung entsprechend 
der Signalordnung der Reichsbahn gewahlt sind. Sie behnden sich nicht, wie bei 
der Dresdener Anordnung, auf einem festen Streckenbild, sondern sie bewegen sich 
auf den Führer zu, der scheinbaren Bewegung bei dem Fahren gleichkommend. 

Zur Erzielung dieser Wirkung wurde verwandt das bereits von Münsterberg 
benutzte unendliche, über Rollen laufende Band mit aufgezeichneten Signalen, 
die nach der Anordnung der Sternschen Apparatur*) mit einer von unten und 

*) S. Zeitscbrift für angewandte Psychologie 1920, Heft 3/6, Abbandlung von Dr. Hildegard 
Sachs über Prüfung zur Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise. 



108 Hallbauer, Prüfung der Aufraerksamkeits* und Reaktionsweise von Triebwagenführern 



in verschiedenen Kasten getrennt erfolgenden Beleuchtung versehen sind. Die 
Bewegung des Bandes geschieht auch hier durch Motorantrieb. 

Diese Vorrichtung wurde nun in folgender Weise weiter ausgebaut: 

Das zur Verwendung kommende „Signalband“ ist in der Langsrichtung in 
drei Streifen eingeteilt. Auf dem mittleren Streifen sind Vor- und Hauptsignale 

aufgezeichiiet, die abwech- 
selnd rot und grün auf- 
ieuchten können. Auf den 
beiden Seiten dagegen sind 
einmal folgende Zeichen 
und Signale angebracht, die 
eine Reaktion von seiten 
des Fahrers fordern: Aus- 
schalt-,Einschalt-,zwei ver- 
schiedene Halt-Scheiben, 
eine Kopfscheibe, die einen 
Mann auf der Strecke be- 
deutet, zwei enge Reihen 
weiOer Scheiben, die einen 
Bahnhof bedeuten; diese 
Signale sind nun ihrer Be- 
deutung entsprechend zu 
beantworten durch Aus- 
schalten des Stromes, durch 
Einschalten, durch Halten. 
Ferner solche Zeichen und 
Signale, die fiir den Fahrer 
keine Bedeutung haben und 
nur dazu dienen, das Ge- 
samtbild vielseitiger zu ge¬ 
stalten und nach der Seite 
hin verschiedene Zonen fiir 

Abbildung 1. Signalstreckenapparat Hallbauer*Stern die Reizgebung ZU schaffen, 

z. B. Hauptsignale, die ge- 
wissermaQen als an Nebenstrecken befindlich keine Gültigkeit fiir den Fahrer haben. 

Zum Zwecke der Belichtung dieser Signale lauft das Band iiber einen Kasten, 
der dreimal in der Langsrichtung und einmal in der Querrichtung geteilt ist, 
so daO sechs verschiedene Abteilungen entstehen. Die beiden mittleren Abteilungen 
sind je abwechseind mit roten und grünen Lampen besetzt, die vier seitlichen 
Kasten sind mit weiOen Glühbirnen besetzt, die ein- und ausgeschaltet werden können. 

Diese bewegten Signale und Zeichen sind nun nicht im Zeltpunkt ihres Er- 
scheinens, sondern erst an bestimmten Stellen ihres Weges iiber den erleuchteten 




Hallbauer, PrGfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenfübrern 109 

Kasten zu beantworten. Diese Stellen sind als Entfernungsmarken dargestellt 
durch Zonenlichter, die am Rande des Kastens angebracht sind, und zwar bedeutet 
Stelle 1 die Entfernung, bei der jedes Signal in seiner eigenen Bedeutung reaktions- 
fordernd wirkt, wahrend Stelle 2 bei Haltsignalen die Entfernung für das Aus- 
schalten des Stromes bedeutet. AuOer diesen in Bewegung befindlichen Signalen 
und Bildern, die eine bestimmte Konzentration der AuFmerksamkeit von seiten 
des Fahrers erforden, kommt noch eine Reihe abienkender Reize in Frage, und 
zwar: ein im Führerstand angeordnetes Manometer, das das Anzeigen des Luft- 
druckes vorstellen soll und dessen Zeiger (durch Ein- und Auslegen eines Schalters) 
auf den Nullpunkt ausschiagen kann. Ferner kann als Gehörsreiz an dem Antriebs- 
motor ein schnarrendes Gerausch ertönen, das das Defektwerden einer Motoren- 
gruppe zur Darstellung bringt. Das AuFleuchten einer Brustscheibe neben der 
Strecke bedeutet einen Menschen, der sich dem Gleise nahert; das Ertönen eines 
dreimaligen Klingelzeichens bedeutet sofortiges Halten. 

b) Prüfstand. 

Der Stand des Prüflings ist dem Führerstand auf dem Triebwagen entsprechend 
ausgebildet; er ist nach vorn und etwas seitlich durch einen runden Schirm 
abgeschlossen, um Störungen von dem Prüfling abzuhalten; durch ein Fenster 
im Schirm schaut der Prüfling auf das bewegte Band, d. h. gewissermaOen auf 
die „Strecke". 

lm Führerstand selbst sind dieselben Hebei und Kurbein angebracht wie im 
Triebwagen, um dem Prüfling die gesamte wirklichkeitsahnliche Einsteliung zu 
ermögiichen, indem man ihm mehr oder weniger gewohnte Einrichtungen in die 
Hand gibt, und zwar: links die Kurbel zum Ausschalten und Einschalten des Stromes, 
rechts der Hebei zum Betatigen der Bremse und zum Auffüllen des Luftdruck- 
zylinders; ferner links oben ein Hebei zum Abgeben des Warnungssignales, 
rechts unten ein Hebei zum Ausschalten des Motorgerausches und das Handrad. 

Es besteht nun nicht nur der sinnvolle, konkrete Zusammenhang zwischen Reiz- 
gebung und Reaktionsabgabe, sondern die Einrichtung ist so getroffen, daB auch 
die Reaktionen wiederum auf die Reizgebung zurückwirken: Auf die Einschalt- 
bewegung tritt die Bewegung des Bandes ein, auf die Bremsbewegung das 
Halten usw.; denn erst wenn so durch Eintritt des Erwarteten die innere Spannung 
des Fahrers gelost wird, ist die volle wirklichkeitsahnliche Einsteliung des Prüf¬ 
lings gewahrleistet. 

c) Anordnung der Schreibvorrichtung. 

Um nun eine exakte und objektive Notierung der tatsachlichen Ausführung 
und des zeitlichen Zusammenhanges der Reaktionen mit den gegebenen Reizen 
zu ermögiichen, ist mit der Apparatur ein Schreibapparat verbunden, bestehend 
aus 12 Morseschreibern, die bei der Betatigung der Reaktionshandhaben und der 
Reizschalter durch NebenschluB von Schwachstromkontakten zum Anzug gebracht 
werden gegen einen mit der Bewegung des Signalbandes in Verbindung stehenden 
Papierstreifen. 



110 Hallbauer, PrilTung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenfübrern 


Über die Anwendung und Bedienung der Apparatur 
sei kurz folgendes gesagt: 

a) Instruktion. 

Da der Zweck der Prüfung ist, den Grad und die Form der Aufmerksamkeit 
zu erfassen, nicht die Auffassungsgabe und Intelligenz, können gleiche Prüfungs- 
bedingungen nur durch eine solche Vorbereitung erzielt werden, die einmal die 
gleiche Einstellung des Prüflings, „als ob“ er sich auf der Strecke befande und 
andererseits die vollkommene Klarheit des Prüflings darüber, was in der Aufgabe 
gefordert wird, gewahrleistet. 

Daher wurde einerseits von einem wortgetreuen Vorlesen dec Instruktion 
ganz abgesehen, urn die Instruktion individuell gestalten zu können und von 
Anfang an die Instruktion mit der Fragenbeantwortung und der praktischen 
Ausführung zu verbinden, damit die Aktivitat des Prüflings von vornherein wach- 
gerufen ist. 

Und andererseits wurde die Instruktion bis zur vollkommenen theoretischen 
Klarheit des Prüflings über die Aufgabe durchgeführt, Nach der Instruktion wird 
eine, nicht für alle Prüflinge gleiche „Probestrecke" gefahren. 

Aus der Gesamtzeit der Instruktion kann bei richtiger Beobachtung und 
Beurteilung der Nebenumstande auf die Auffassungsgabe des Prüflings geschlossen 
werden, aus der Art, wie die Probestrecke gefahren wird unter gleicher Vor- 
bedingung, auf seine Einstellungs- und Zuordnungsfahigkeit und ebenso auf seine 
Anpassungsfahigkeit an neue Lagen und Bedingungen. 

b) Bedienung der Reizgebung. 

Die Bedienung der Reizgebung geschieht durch Bewegen von Schaltern und 
Tastern am hinteren Ende der Apparatur und durch Umlegen von Klappen, die 
die weiBen Signale auf dem Band bedecken, und zwar nach einer ganz bestimmten 
festen Vorschrift, die durch ein „Streckenschema“ dargestellt wird. In diesem 
sind nun die verschiedenen Möglichkeiten der Reiz- und Signalgebung in ver- 
schiedener Art zu einem sinngemiiOen und folgerichtigen Geschehensablauf 
zusammengestellt, dergestalt, daB das Signalband von 7,8 m Lange zehnmal herum- 
lauft und auf dieser Gesamtstrecke von 78 m alle möglichen Kombinationen der 
Signale und Zeichen gegeben werden. 

Es treten bei einer Strecke von 78 m im ganzen 105 Reize auf, die sich in 
einer Geschwindigkeit von 1 cm/sek. bzw. 2 cm/sek. auf den Prüflihg zu bewegen. 
Die Geschwindigkeit entspricht bei einem Modellverhaltnis von 1:25 einer solchen 
von etwa 9 bzw. 18 km in der Sekunde. 

Dlese wird dreimal gefahren und zwar: 

1. Als lange Strecke, bei der die Signale bereits eine bestimmte Zeit vor der 
„ersten Entfernungsmarke", d. h. der Stelle der ersten möglichen Reaktions- 
forderung sichtbar sind. 

2. Als kurze Strecke (Kurven), bel der das erste Auftauchen der Signale mit 
der Stelle der ersten möglichen Reaktionsforderung zusammenfallt. 



Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenführern 111 

3. Die gleiche Strecke wie 2, nur mit doppelter Geschwindigkeit. Das Strecken- 
schema liegt der Reizgebung, Beobachtung und Auswertung zugrunde. 

Eine Mechanisierung der gesamten Reizgebung, wie sie in vorbildlicher Weise 
in Dresden durchgeführt ist, sobald die Gesamtreizfolge für eine langere Prüfungs- 
periode festliegt, ist eine naturgemaOe Forderung; sie muOte jedoch bisher wegen 
Zeitmangels zurückgestellt werden. 

c) Zur Frage der Beobachtung sei hier nur auf einiges Prinzipielle hingewiesen. 
Zunachst gilt es zu unterscheiden zwischen der Beobachtung als Erganzung, 
Kontrolle und zeitweisen Ersatz der Registriermethode und der eigentlichen 
Beobachtung des Prüflings als besonderen selbstandigen Teil der Methode. — 
Erstere ist durchaus untergeordneter Bedeutung, sie überflüssig zu machen das 
Ziel einer weitergehenden Mechanisierung und Betriebsicherung der Apparatur. 
Andererseits wird dadurch gerade erreicht, daC die Krafte des Prüfungsleiters, 
entbunden von der mechanischen Arbeit, vollkommen frei gemacht sind für eine 
intensive Beobachtung des Prüflings selbst in seinem ganzen Verhaken wahrend 
der Fahrt, der Art seiner Bewegung, Grad seiner Ermüdung und Aufregung, 
zugleich für ein offenes „Einfühlen" in die gesamte seelische Verfassung des 
Prüflings, der Art vorhandener Hemmungen und Beschwerden. Um eine geordnete 
Beobachtung möglichst wahrend der Prüfung selbst, solange die Eindrücke noch 
unverwischt sind, zu erleichtern, wurden besondere Beobachtungsfragebogen 
entworfen. 

Ober die 

Auswertung und Urteilsabgabe 

ist folgendes zu sagen: 

Die Diagramme der Schreibvorrichtung ergeben uns die Art und Zelt der 
Reaktion in Beziehung zu den auftretenden Reizen. Die samtlichen Reize wurden 
für die Auswertung in drei b|^ondere Gruppen zusammengefaGt: 

1. Samtliche Reize, die nicht im Zeitpunkt ihres Erscheinens, sondern erst 
an den bestimmten Entfernungsmarken zur Reaktion kommen, als sog. 
„Konzentrationsreize", da sie eine ganz bestimmte Konzentration des Prüf¬ 
lings auf den einzelnen Reiz erfordern, um den richtigen Augenblick nicht 
zu verpassen. 

2. Die so benannten „Ablenkungsreize", wie Motorgerausch, Luftmanometer und 
Erscheinen des Mannes neben der Strecke, die die Aufmerksamkeit von 
der Strecke ablenken und befolgt werden müssen, sobald die Haupthand- 
iung es zulaOt. Die Reaktionen auf diese Reize lassen einen bestimmten 
SchluO zu auf die Fahigkeit zu distributiver Aufmerksamkeit. 

3. In der dritten Gruppe sind samtliche Reize zusammengefaGt, die über- 
raschend auftreten und so schnell wie möglich befolgt werden müssen: 
wie das unerwartete Wechseln oder das plötzliche Auftauchen eines Signales 
auf dem Laufbande oder das Versagen der Luftbremse, und so einen ge- 
wissen Einblick in die schnelle EntschluGfahigkeit des Prüflings gestatten. 



112 Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenfflhrern 

Für dieWertung der Reaktionen wurde die Zahl der Fehler im Verhaltnis 
zur Gesamtzahl der Reaktionen zugrunde gelegt. Die Schwierigkeit liegt nun in 
der Bewertung der einzeln vorkommenden Fehlermöglichkeiten. Vollkommen 
klar dürfte es sein, daO sie nicht gleichwertig sind. Über das Wie einer ver- 
schiedenartigen Bewertung kann letzten Endes nur Erfahrung auf Grund einer 
langen Versuchsreihe entscheiden, da eine systematische theoretische Entschei- 
dung nicht unbedingt praktisch stichhaltig zu sein braucht; denn wenn es auch 
das Ziel der Methode ist, den Gesamthandlungsablauf so zu gestalten, daO sie 
möglichst vollkommen die gleiche seelische Einstellung wie in der Wirklichkeit 
erzielt, so ware es dennoch falsch, aus der Schwere der Folgen, die ein be- 
stimmter Fehler in Wirklichkeit nach sich ziehen würde, ohne weiteres die Be¬ 
wertung des Fehiers am Apparat abzuleiten. Diese Frage steht zugieich im engen 
Zusammenhang mit der Frage, ob „Falsch*-Reaktionen und „Nicht®-Reaktionen 
(d. h. das Übersehen von Reizen) gleichzusetzen sind. 

Die Verschiedenheit der Bewertung wird durch verschiedene Punktzahl der 
Fehler durchgeführt; auf die naheren Einzelheiten einzugehen verbietet hier der 
zu knappe Raum. 

üm die teilweise Unzulanglichkeit der reinen quantitativen Summierung der 
Fehler durch eine qualitative Wertung ausgleichen zu können, werden die Fehler 
nicht direkt aus den Diagrammen heraus summiert, sondern die Reaktionen werden 
zunachst in besonderen Tabellen gruppenweise zusammengetragen nach Nummer 
und Art der Reize und Art der Reaktion und dann die Gesamtzahl der Fehler 
aus diesen Tabellen entnommen. Eine weitere Korrektur erhalten die quantitativen 
Werte der Diagramme durch die qualitative Wertung der Beobachtungsbögen, 
worüber in der schon erwahnten besonderen Abhandlung gesprochen werden soll. 

Die endgültige Urteilsbildung geschieht durch Ausgleich der durch die Aus- 
wertung der Diagramme und durch die Wertuhg der Beobachtungsbögen ge- 
wonnenen Ergebnisse. 

In Verbindung mit den Ergebnissen der Prüfung ari dem Wernerschen Ge- 
schwindigkeitsmesser und der Testprüfung wurde dann in den bisher durch- 
geführten Prüfungen das Gesamturteil gebiidet. 

Zur Eichung der Methode und über die bisherigen Ergebnisse 
sei kurz folgendes berichtet: 

Eine erste Eichung oder besser gesagt Erprobung der Methode wurde an- 
gestellt durch die Prüfung von 20 bereits langere Zeit im Eisenbahnbetrieb be- 
hndlichen Fahrern. Der Vergleich der Prüfungsergebnisse mit den Betriebs- 
urteilen, die in besonderen, von drei verschiedenen Stellen beantworteten 
Fragebogen niedergelegt waren und am Verhandlungstische mit den Betriebs- 
leitern eingehend durchgesprochen wurden,. ergab das übliche Bild, war aber 
im allgemeinen zufriedensteilend. 


Hallbauer, Prüfung der Aufmerksamkeits- und Reaktionsweise von Triebwagenführern 113 


1 

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i. Pri/füng 

16 

2. Prüfung 
n 33 Scfys/Zher 

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Abbildung 2 

Eine weitere „Masseneichung“ war, so sehr auch erstrebt, nicht möglich, da 
die Eisenbahndirektion mit der Abnahme der eigentlichen Prüfungen drangte. 

Mit Rücksicht darauF, daD die übliche theoretische und praktische Prüfung 
beim Maschinenamt beibehalten wurde, und mit Rücksicht auf den Ausbau des 
Beobachtungsanteils der Methode, gestützt auf eine mehrjahrige Betriebserfahrung, 
wurde daher nach Einführung verschiedener Anderungen und Verbesserungen 
zur eigentlichen Prüfung geschritten, die also eine „psychologische Vorprüfung" 
darstellt. 

Es wurden insgesamt geprüft in zwel Prüfungen 49 Schaffner. Die Ergebnisse 
sind als Prozentzahlen in der beigefügten Kurve (Abbildung 2) zusammen- 
gestellt. 


Prüfung der Fahigkeit der Geschwindigkeitssch5tzung 
und Bremsführung an Triebwagenführern 

Von Privatdozent Dr. Heinz Werner 
(Aus dem Psychologischen Laboratorium der Hamburgischen Universitat) 

I rp AnschluO an die Ausführungen Hallbauers über die Aufmerksamkeits- und 
Reaktionsprüfung von Triebwagenführern sei hier die Apparatur, die Geschwindig- 
keitsschatzung und Bremsung betreffend, beschrieben, und der Gang der Prüfung 
kurz erlautert. 

1. Die Apparatur 

Der Geschwindigkeitsschatz-Apparat besteht im wesentlichen aus einem Holz- 
gestell von 2,25 m Lange (s. Abbildung 1), in das drei rollende Stahlbander 
ohne Ende eingebaut sind. Für die Triebwagenführerprüfung wird allerdings bloli 
der mittlere Streifen verwendet. Das Band enthalt eine Anzahl von weiBen, mit 

P P. IV, 4. 8 










114 Werner, Prüfung der FShigkeit der GescbwindigkeitsschStzung usw. an Triebwagenführern 



Ziffern bezeichneten Marken. Bewegt wird dieses Band mittels eines Motors, 
dessen Lauf durch einenWiderstand (»Geschwindigkeitsregulator“ s. Abbildung2) 
beschleunigt oder verlangsamt werden kann. Die Marken des Stahibandes laufen 
auf den Prüfling zu, entsprechend dem in der Abbildung 2 bezeichneten „Stand 
des Prüflings“. Es ergibt sich durch die Betrachtung unter schiefem Gesichts- 

winkel bei der Bewegung 
des Bandes eine „Bewe- 
gungsperspektive* derart, 
daO eine Marke bei objek- 
tiv gleicher Geschwindig- 
keit urn so schneller zu 
laufen scheint, je naher 
sieheranrückt. Einesolche 
Bewegungsperspektive ist 
auch in der Natur ver¬ 
handen und darum in 
der Versuchsanordnung 
nicht vernachlassigbar. — 
Durch die Bedienung ei¬ 
nes „Schalthebels® vermag 
man das Band nach kur- 
zem AusIauF zum Halten 
zu bringen. Durch das 
Zurückziehen des Hebeis 
der „Haltbremse" kann 
die Bewegung plötzlich 
gestoppt werden ;dasStop- 
pen wird dadurch er- 
reicht, daQ der Strom 
ausgeschaltet und gleich- 
zeitig (vermittels eines 
Drahtzuges) ein Brems- 
klotz an das Schwungrad 
des Motorvorgeleges an- 

gepreOt wird. — Über den Stahlbandern befinden sich Klappen Ai, A 2 , As, A*, 
welche eine teilweise Verdeckung des rollenden Streifens gestatten. — SchlieOlich 
steht mit dem Apparat noch eine „Bremsvorrichtung" mit „Bremskontroller* in 
Verbindung. Diese Bremsvorrichtung ist nichts anderes als ein Anlasser zu einem 
Motor, d. h.einVorschaltwiderstand, der durch die halbkreisförmige Bewegung eines 
Bremshebeis langs einer Skala mehr oder weniger eingeschaltet werden kann. Dabei 
geschieht die Bremsung nicht kontinuierlich, sondern in Stufen; jedem Einschnitt 
der Skala entspricht eine bestimmte Geschwindigkeitsstufe. Die Bewegung des Bandes 


Abbildung 1 

Vorrichtung zur Prüfung der Geschwindigkeitsschatzung 



Werner, Prüfung der FShigkeit der GescbwindigkeitsschStzung usw. an Triebwagenführern 115 


kann also durch das Einsetzen des Bremshebeis in die einzelnen Einschnitte von 
Stufe zu Stufe abgebremst werden, bis sie schlieQlich beim letzten Einschnitt 
zum Stillstand kommt. Die Führung dieses Bremshebeis wird aufgezeichnet durch 
den Bremskontroller. Er besteht aus einem mittels eines Uhrwerks ablaufenden 
Papierstreifen; auf diesen schreibt ein Bleistift die Bewegung des Bremshebeis 
dadurch auf, daO dieser Stift an einem Zeiger angeschraubt ist, der zwangslauhg 
(durch Zahnradübersetzung) die Drehung des Bremshebeis mitmacht. Den zehn 
Einschnitten der Bremsskala entspricht eine Reihe von zehn Bleistiften, die auf 
dem Papier schreiben, so daö sich bei Bewegung des Papierstreifens ebenso viele 
parallele Linien selbsttatig einzeichnen. 

2. Die Methodik 
der Versuchsanordnung 

Mittels dieser Apparatur 
wurden — unter Mitwirkung 
von cand. phil. H. Wunder- 
lich — vier Versuchsanord- 
nungen hergestellt, die sich 
auf die Prüfung der Ge- 
schwindigkeitsschatzung, der 
Bremsung und der Kom- 
bination beider Fahigkeiten 
beziehen. Allgemein galt für 
samtliche Versuche, daö die 
eigentliche Prüfung erst nach einer Vorübung vor sich ging, die den Zweck 
hatte, den Prüfling auDerlich und innerlich mit der Anordnung vertraut zu machen. 

a) Der Gedachtnisversuch. Der Prüfleiter stellt mittels des „Geschwindig- 
keits-Regulators“ eine bestimmte Geschwindigkeit her. Der Prüfling hat durch 
die Betrachtung der Laufmarken sich die Geschwindigkeit einzupragen. Hierauf 
wird gestoppt. SchlieQlich hat er durch das Bewegen eines Knaufes am «Regu¬ 
lator* von einer maximalen oder minimalen Geschwindigkeit her die ursprüng- 
liche Bewegung selbst wieder herzustellen. Urn das ausschlieOlich optische 
Geschwindigkeitsgedachtnis zu prüfen, eine Unterstützung durch das sich ent- 
sprechend der Schnelligkeit verandernde Gerausch der Apparatur also auszu- 
schalten, übertönt wahrend der Versuche ein Dauergerausch das Surren des 
Motors*). Die Gedachtnisfehler ergeben sich als zahlenmaOige Abweichung der 
Werte an der Skala des Widerstandes. 

b) Der „Auslauf“-Versuch. Wird durch Bedienung des Schalthebels der 
Strom ausgeschaltet, dann lauft das Band noch eine kurze Strecke infolge der 
Tragheit weiter: es hat einen „Auslauf*, der um so gröBer ist, je gröOer die Ge- 

•) Ich bemerke, daB gegenwartig weitere Versuche im Gange sind, welche bezwecken, auch 
den durcb das Körpergefühl und die Gehörsempflndungen vermittelten Bewegungseindruck zu prüfen. 

8 * 









116 Werner, Prüfung der FSbigkeit der Geschwindigkeitsscbatzung usw.an Triebwagenfübrern 

schwindigkeit war. In der Natur hat der Triebwagenführer seinen Zug stets unter 
Berücksichtigung eines solchen Auslaufes zum Halten zu bringen, der je nach 
der Anzahl der gekoppelten Wagen, nach der Steigung, der Glatte der Schienen, 
der Letztgeschwindigkeit usw. verschieden sein wird. AusschlieOlich die Beziehung 
zwischen Auslauf und Geschwindigkeit ist Gegenstand unseres Versuches. Die 
Prüfung verlauft foIgendermaOen: Dem Prüfiing wird die AuFgabe gestellt, eine 
Marke an einer durch einen Querscab gekennzeichneten Stelle genau zum Halten 
zu bringen. Dabei muO dem Auslauf entsprechend um so viel früher vor Ankunft 
der Marke an der bezeichneten Stelle gestoppt werden, je schneller das Band 
lauft. Es werden drei verschiedene Geschwindigkeiten dem Prüfiing vorgegeben 
und für jede derselben die Stoppreaktion unter Berücksichtigung des Auslaufes 
eingeübt. Nach dieser Vorübung werden in der eigentlichen Prüfung die drei 
Geschwindigkeiten gemischt dargeboten, so daB der Prüfiing, frei aus dem Ge- 
dachtnis, aus seiner „Erfahrung", zu stoppen hat. Die Fehier slnd als absolute 
Werte in der Abweichung des Halteortes vom Signalort gegeben und werden be- 
sonders für jede der drei Geschwindigkeiten dem arithmetischen Mittel gemaO 
samt Streuung berechnet. 

c) Der „Tunnel“-Versuch. Durch diesen Versuch soll die Fahigkeit geprüft 
werden, Bewegungen, die nur teilweise in ihrem Lauf gesehen sind, auch dann 
zu beurteilen, wenn sie eine gewisse Zeit hindurch irgendwie unsichtbar werden. 
Der klarste Fall in der Wirklichkeit ist der, daB ein Signal in seiner scheinbaren 
Bewegung anfanglich gesehen, dann aber durch den Rauch einer entgegenkommenden 
Lokomotive verdeckt wird, wobei trotzdem am Signalort gehalten werden muB. 
AuBerordentlich viel hauhger sind die Falie, daB bewegte Gegenstande, auch 
wenn sie gesehen werden könnten, überhaupt nicht wahrend ihrer ganzen Zeit 
mit den Augen fixiert sind; der tüchtige Führer starrt die Dinge seiner Um- 
gebung nicht kontinuierlich an; er muB die innere Möglichkeit haben, sich z. B. 
seiner Apparatur zuzuwenden usw., ohne daB dadurch die Bewegungsschatzung 
gestort wird. Der Versuch prüft die Fahigkeit der Beurteilung teilweise unsicht- 
barer Bewegungen folgendermaBen: Ein Stück des Bandes wird durch die oben 
angegebenen Klappen verdeckt, so daB die Marken zum Teil lm „Tunnel®, „unter- 
irdisch", laufen. Der Prüfiing hat die Aufgabe, eine Marke zu verfolgen, bis sie 
verschwindet, und nun zu stoppen, sobald er glaubt, daB die unterirdisch laufende 
Marke an einem bestimmten, vom Versuchsleiter bezeichneten Signal angekommen 
ist. Das Stoppen geschieht durch die plötzlich wirkende Haltbremse. Auch hier 
kann der Fehier als Differenz zwischen dem Halteort der Marke und dem Signal¬ 
ort abgelesen werden. Der Versuch laBt eine betrachtliche Variation zu, einer- 
seits durch Veranderung der Geschwindigkeit, andererseits durch die Verschieden- 
artigkeit des Verdeckens. 

d) Der Bremsversuch. Die Bremsung der Trlebwagen geschieht auf die 
Weise, daB der Führer nach Ausschaltung des Stromes einen allmahlichen, aber 
stufenweisen Stillstand des Zuges herbeiführt. Der Beginn der Bremsung ist 



Werner, Prüfung der FSbigkeit der Geschwindigkeitsschatzung usw. an Triebwagenführern 117 

ebenso vorgeschrieben wie der Ort, an welchem der Zug zum Halten kommen 
soll. Dabei muD die Bremsung möglichst glelchmaCig vonstatten gehen. Die 
Prüfung dieser stufenweise harmonischen Bremsung geschieht vermittels der 
Bremsvorrichtung. Nachdem der Prüfling mit der Funktion des Bremswider- 
standes genau vertraut gemacht worden ist, bat er die folgende Aufgabe zu er- 
ledigen: Eine Marke, die am entgegengesetzten Ende auftaucht und vom Prüflelter 
bezeichnet wird, muC durch stufenweises Einschalten der Bremse gleichmaOig 
so abgebremst werden, daC bei Stillstand diese Marke sich an einem vorher 
bezeichneten Signal in der Nahe des Prüflings befindet. Gemessen wird 1, der 
Fehler der Abweichung der Marke vom Signalort, 2. wird die GleichmaCigkeit 
der registrierten Kurve beurteilt. lm idealen Fall einer vollkommen harmonischen 
Bremsung ergibt sich eine gleichmaBige treppenförmige Figur; die Stufen der 
Treppe werden um so unregelmaBiger, je unharmonischer gebremst worden ist. 
Ein zahlenmaOiges MaB für die RegelmaOigkeit wird gewonnen, indem Anfang 
und Endpunkt der Treppe als Diagonale miteinander verbunden werden und dann 
von jedem Eckpunkt der Treppe Normale auf diese Diagonale gefallt werden. 
Das Mittel der absoluten GröDen dieser Normalen und die Streuung geben ein 
durchaus brauchbares MaB für die Beurteilung der Bremskurve. 

Anhangsweise sei bemerkt, daB für andere Führerberufe nicht bloB eine 
(scheinbare) Bewegung, sondern Bewegungskombinationen in Betracht kommen; 
z. B. ist für den StraBenbahnführer nicht nur die scheinbare Bewegung des Wagens, 
sondern auch die Bezlehung dieser Bewegung zu der von FuBgangern und anderen 
Wagen zu schatzen. Deshalb ist der Apparat so gebaut, daB die Bewegung des 
mittleren Bandes kombiniert werden kann mit einer glelchsinnigen des linken, 
oder gegensinnigen Bewegung des rechten Streifens, wobei die Geschwindigkeiten 
der drei Bander absolut verschieden sind, sich im Verhaltnis aber zwangslaufig 
gleich bleiben. 


Das Wiedererkennen von Handschriften 

Von Dr. Hans Schneickert, Leiter des Erkennungsdienstes beim Polizeiprasidium Berlin 

D ieselben psychologischen Voraussetzungen, die der Wiedererkennung von 
Personen zugrunde liegen*), wirken auch bei der Wiedererkennung von Hand¬ 
schriften. Es lassen sich hier zwei Hauptgruppen von Handschriften unter- 
scheiden: einmal bekannte Handschriften, deren Urheber man also bereits kennt, 
und Handschriften fremder Personen. Die ersteren kann jeder wiedererkennen, 
die letzteren wiederzuerkennen und zu identihzieren setzt Sachkunde voraus. 
Wir wollen uns hier zunachst mit der ersten Gruppe von Handschriften be- 
schaftigen. Es ist eine unumstöBliche Tatsache, daB die meisten Menschen ihre 
eigene Handschrift, die Handschriften ihrer Angehörlgen, naher Verwandten, 
Freunde und Geschaftsbekannten, mit denen sie in standiger Korrespondenz 


*) Vgl. Praktische Psychologie I, 6. 


118 


Schneickert, Das Wiedererkennen von Handschriften 


stehen, mit Sicherheit wiederzuerkennen vermogen. Oft genügt schon ein bloQer 
Bliek auf die Adresse des vom Brieftrager überreichten Briefes, urn den Ab- 
sender zu erkennen. Wird mir ein selbstgeschriebenes Schriftstück vorgelegt, 
so werde ich es an meiner Handschrift bestimmt wiedererkennen, auch ohne 
daC ich erst den Inhalt lese oder die Unterschrift prüfe. Wird mir ein solches 
Schriftstück aber zum Beweise von rechtserhebiiehen Tatsachen (z. B. in einem 
Prozeöverfahren) vorgelegt, dann werde ich mich nicht auf die Wiedererkennung 
der Handschrift allein verlassen, sondern werde auch den Inhalt nebst Unter¬ 
schrift prüfen, ob das mir vorgelegte Schriftstück auch wirklich von mir ver- 
faOt, geschrieben und unterschrieben worden ist; denn ich muD unter Umstanden 
mit Tauschungen rechnen oder kann auch annehmen, daQ vielleicht die betreffende 
Urkunde im ganzen oder in einzelnen Teilen gefalscht worden ist. Diese von 
jedem in solchen Pallen geübte Vorsicht hat aber nichts mit der grundsatzlichen 
Wiedererkennbarkeit der Handschrift zu schaffen. 

Eine erste Voraussetzung der Wiedererkennbarkeit der eigenen Handschrift, wie 
auch jeder anderen mir bekannten Handschrift ist aber notwendig, namlich ein 
ausreichender Umfang des Schriftstückes. Denn wenn mir nur ein Buch- 
stabe oder ein einziges Wort aus meinem Schriftstück vorgelegt wird, so bin ich 
niemals in der Lage, danach schon meine eigene oder eines Bekannten Handschrift 
wiederzuerkennen. Warum nicht? Weil diese wenigen Schriftzeichen nicht die 
Gesamtmerkmale meiner Handschrift enthalten können, sondern nur einen sehr 
kleinen Bruchteil davon aufweisen, der mich allenfallszu einem Wahrscheinlichkeits- 
schluD der Identitat mit meiner eigenen Handschrift berechtigt. Daher muO auch 
einem Schriftvergleichungs-Verfahren, das sich nur auf ein einziges Wort eines 
Schriftstückes stützt, wie z. B. die sog. Graphometrie, jede Zuverlassigkeit fehlen. 

Was ist aus dem Gesagten zu folgern? Je gröCer der Umfang des Schrift¬ 
stückes ist, desto gröBer ist auch die Sicherheit Ihrer Wiedererkennbarkeit. Und 
dann muG noch eine weitere Voraussetzung gegeben sein: Die Handschrift 
muB die natürliche und gewohnte Schreibweise aufweisen, nicht eine ver- 
stellte oder gekünstelte (z. B. Rundschrift) oder eine durch seelische oder körper- 
liche Einflüsse veranderte. Das entspricht z. B. der Unmöglichkeit, einen Bekannten 
im verhüllcnden Maskenkostüm auf den ersten Bliek wiederzuérkennen. 

Und schlieBlich muB noch eine dritte Voraussetzung vorliegen: Die sub- 
jektive Fahigkeit der Wiedererkennung. Wie es genug Menschen gibt, die 
auf Grund taglicher Erfahrung von sich behaupten können, daB sie nur ein 
schwaches Personengedachtnis besitzen, so gilt dies auch für Handschriften. In 
der Tat gibt es auch eine Fahigkeit, minutiöse Dinge*), wie graphische Merkmale, 
im einzelnen, wie auch in der Gesamtheit zu erkennen. Diese Fahigkeit müBte, 
um Gutes leisten und einen sicheren Wegweiser in strittigen Pallen bilden zu 

*) Wer Millimeter und Milligramme zu unterscheiden vermag, wird eine gröBere Wieder- 
erkennungsfahigkeit haben als derjenige, dessen Unterscheidungsvermögen nur auf Zentimeter 
und Gramme oder auf noch gröbere MaQe abgestimmt ist. 



Schneickert, Das Wiedererkennen von Handscbriften 


119 


können, in geeigneter Weise geübt und gefördert werden. Wie in vielen anderen 
Dingen des menschlichen Lebens genügt auch hier noch keineswegs der gesunde 
Menschenverstand allein, urn richtig zu erkennen und zu urteilen, trotzdem viele 
Menschen geneigt sind, den gesunden Menschenverstand vor die ofFenbaren Lücken 
ihrer Kenntnisse und Fahigkeiten zu stellen. Sind die erwahnten drei Voraus- 
setzungen gegeben, dann kann jeder seine eigene Handschrift, wie auch die ihm 
bekannt gewordenen Handschriften Dritter mit einiger Sicherheit wiedererkennen, 
andernfails ist er Irrtümern gar leicht ausgesetzt. 

Wenn aber eine Handschrift bestimmt wiedererkannt werden kann, dann muC 
sie auch individuelle Eigenschaften in sich tragen: das sind die Schrift- 
merkmale, die, analog den körperlichen Merkmalen in der Signalementslehre, in 
primare und sekundare Merkmale einzuteilen sind, urn einen brauchbaren 
MaBstab für ihre Beweiswerte zu erhalten. Die primaren Merkmale sind die 
individuellen, die einzigartigen Merkmale, die sekundaren dagegen sind die 
nichtindividuellen, in ganz ahniicher Weise auch bei anderen Menschen haufig 
auftretenden Merkmale. Wenn es auch keine strenge Grenze zwischen beiden 
Arten von Merkmalen geben kann, weil in der Natur zwischen den einzelnen 
Grundformen auch viele Übergangsformen auftreten, so weiC doch jeder Sach- 
verstandige oder sollte es wenigstens wissen, was damit gemeint ist. Oft 
beobachtet er rein instinktiv die Grenzen der Beweiswerte der primaren und 
sekundaren Merkmale, wenn er von haufig und selten vorkommenden Merkmalen 
spricht oder in anderer Weise auf die verschiedene Qualitat der vorhandenen 
Schrifteigentümlichkeiten aufmerksam macht. 

Der Nichtsachverstandige analysiert beim Wiedererkennen einer Handschrift 
diese nicht etwa nach ihren Merkmalen, wie es der Sachverstandige tun muO, 
sondern er urteilt nach dem Gesamteindruck oder einem nicht naher bestimm- 
baren Merkmalenkomplex, ebenso wie das Wiedererkennen eines Menschen nach 
seinem AuBeren, nach Gestalt und Gesichtszügen psychologisch vor sich geht, un- 
geachtet mancher von ihm vielleicht besonders hervorgehobener, sein Gedachtnis 
wesentlich unterstützender augenfalliger Kennzeichen. Gleich muB hier daran er- 
innert werden, daB trotz der GewiBheit der absoluten Unterscheidbarkeit eines Men¬ 
schen von jedem anderen auf Grund aller seiner körperlichen Merkmale oder 
primarer Einzelformen sehr oft Personenverwechslungen eintreten, weil der wieder- 
erkennende Mensch gewohnt ist, am Oberflachlichen, namlich den sekundaren Merk¬ 
malen, haften zu bleiben und von selbst gar keinen Weg findet, sich Klarheit über 
die vorhandenen, mangels Sachkunde von ihm aber gar nicht beobachteten Einzel- 
merkmale und deren Beweiswert zu verschaffen. Genau so bei der Handschrift! 

In meiner „Signalementslehre® ist zur Erklarung der primaren und sekun¬ 
daren Merkmale auf Quetelets Gesetz hingewiesen worden, das lautet: „Alles, 
was lebt, wachst oder vergeht, schwankt zwischen einem Maximum und einem 
Minimum, zwischen denen alle Mittelstufen liegen, die um so zahlreicher sind, 
je mehr sie sich der Mitte nahem, und um so seltener, je mehr sie sich von 



120 Schnejckert, Das Wiedererkennen von Handschriften 

der Mitte entfernen." Bertillon hat danach eine Binomialkurve der Körper- 
gröOe des Menschen aufgestellt, die sich analog auch auf die handschriftlichen 
Merkmale anwenden laOt (Abbildung 1). In dieser Zeichnung bedeutet a die 
Normalform, d. h. die Schriftform ohne jedes Merkmai. Die Endpunkte der 
starksten Abweichungen von der Normaiform bilden b und c, wo sich die pri- 
maren, also selten vorkommenden Formen finden werden, und zwar in b die 
Schriftformen mit einem Minimum von Schreibbewegung, also die stark verein- 
fachten Formen, und in c die Schriftformen mit einem Maximum von Schreib¬ 
bewegung, also die stark verzierten oder verschnörkelten Formen. Zwischen 

a und b einerseits und a und 
c andererseits liegen die gro- 
Cen Gruppen der sekundaren 
Merkmale. 

Wenn nun aus der Wieder- 
erkennbarkeit einer Hand¬ 
schrift das Vorhandensein von 
bestimmten Merkmalen gefol- 
^ gert werden kann und muC, 
so ist damit auch die wissen- 
Abbildung I. Binomialkurve schafti iche Grundlage der 

Schriftvergleichung (zu 
Identitatsfeststellungen) bewiesen. Daran andern auch nichts die sophistischen Ein- 
wendungen durch Nichtsachverstandige, insbesondere von Parteivertretern, in 
Prozessen, die berufsmaOig vieles bekampfen, was ihrer Beweisführung irgendwie 
im Wege steht. Kommen Irrtümer bei der Schriftvergleichung vor, so sind sie 
auf Mangel der oben erwahnten drei Voraussetzungen zurückzuführen, nicht aber 
auf die bewiesene Tatsache der Unterscheidbarkeit der Handschriften. 

Nun spielt das Wiedererkennen von Handschriften noch nach einer anderen 
Richtung eine bedeutende Rolle, soweit sie namlich unleserlich sind, also 
wegen ihrer schlechten und unvollstandigen Formen schwer oder nicht zweifels- 
frei erkennbar sind. Dadurch entstehen zuweilen Irrtümer von folgenschwerer 
Tragweite. Einzelne unleserlich geschriebene Wörter in einem sonst leserlich 
geschriebenen -fortlaufenden Text sind nur aus dem Sinne des ganzen Wortlautes 
zu entziffern. Stehen unleserlich geschriebene Wörter aber ohne Zusammenhang, 
z. B. als Unterschriften oder als Einzelbezelchnungen in Verzeichnissen, Adressen, 
Rezepten usw., dann ist das Entziffern oft sehr schwierig und führt leicht zu 
falschen Wiedererkennungen der Schriftzeichen eines solchen Wortes oder Namens. 
Darüber noch einige aufklarende Bemerkungen. 

Eine schlechte, d. h. in diesem Falie eine unleserliche oder schlechtleser- 
liche Handschrift kann in zwei Fallen schwere rechtliche Nachteile zur Folge 
haben, einmal bei den Urkundenunterschriften und sodann bei den arzt- 
lichen Rezepten. Es ist Tatsache, daü, wer sehr viel und schnell zu schreiben 





Scbneickert, Das \(^iedererkennen von Handschriften 


121 


hat, seine Handschrift verdirbt, so daC sie schwer leserlich ist, nicht nur für 
andere, sondern auch für den Schreiber selbst. Bekanntlich sind die Unter- 
schriften bei den von Behörden ausgestellten Urkunden und Benachrichtigungs- 
schreiben, wie auch im weitesten Geschaftsverkehr, meistens so unleserlich, daC 
eine Entzifferung auch selbst für den Schriftsachverstandigen unmöglich ist. So- 
weit gleichzeitig ein Firmenaufdruck oder Stempelabdruck den betreffenden Namen 
in Druckschrift wiederholt, wird der Nachteil gewöhnlich ausgeglichen sein. Wer 
Massenunterschriften in einem groQen Geschaftsbetrieb abzugeben hat, kann in- 
folge der erforderlichen schnellen Erledigung der schriftlichen Arbeiten meistens 
auch keine gut leserlichen Unterschriften von sich geben, sie ist und bleibt für 
fremde Empfanger unleserlich. Manche gehen in ihrer Sorglosigkeit und Be- 
quemlichkeit aber doch etwas zu weit, indem sie Unterschriften leisten, die kaum 
noch eine entfernte Ahnlichkeit mit ihrem richtig geschriebenen Namen haben; 
sie vergessen dabei, daO solche Unterschriften viel leichter zu falschen sind als 
wohl gepflegte Unterschriften. Sie sind dann spater oft aufierstande, ihre eigene 
Unterschrift von einer Falschung ihres Namenszuges zu unterscheiden, so daO 
seibst echte Unterschriften vom Gegner mit Aussicht auf Erfolg bestritten werden 
können; denn nicht in allen solchen Fallen kann bei Beurteilung solcher flüchtig 
und oft stark verkürzten Unterschriften der Schriftsachverstandige aufklarend 
wirken. Es ist aber ein weit verbreiteter Irrtum, zu glauben, daU eine Hand¬ 
schrift urn so schwieriger nachzuahmen sei, je flüchtiger sie geschrieben wurde. 
Daher ist es erforderlich, daö jeder zum Schutze seiner eigenen Interessen einen, 
wenn auch nicht gerade kalligraphischen, so doch gut leserlichen und üieQend 
geschriebenen Namenszug sich angewöhnt, was selbstverstandlich nur durch 
standige Selbstbeobachtung und -erziehung möglich ist. 

Vor vielen Jahren hatte, um hier noch ein Schulbeispiel zu erwahnen, ein 
Frankfurter Bankier einem Notar den Auftrag zur Ausstellung eines Wechsel- 
protestes gegeben. Die nach Artikel 88 der Wechselordnung angefertigte „wört- 
liche Abschrift* des (übrigens hochwertigen) Wechsels hatte die acht Girounter- 
schriften alle falsch wiedergegeben, so daO der beklagte Akzeptant den Einwand 
machte, daO der Wechselprotest ungültig sei, da er ganzlich falsche Namen ent- 
halte und daher an- dem protestierenden Notar, der die Namen der Giranten 
unrichtig angegeben habe, RegreO zu nehmen sei. Um nun festzustellen, ob die 
in der Protesturkunde angegebenen Namen von dem Notar wirklich falsch gelesen 
und abgeschrieben worden seien, wurde seitens des Gerichts bei den als Giranten 
aufgeführten Stellen Nachfrage gehalten, die folgendes merkwürdiges Ergebnis hatte: 


Die acht Giranten 
vom Notar in der Protest¬ 
urkunde genannt: hieflen wirklich: 


1. Richard Schulz 

2. Wistling & Comp. 

3. Kneisel 

4. Wring 


Max Senius 
Wistinghausen 
Kulisch 
Lorenz 


Die acht Giranten 
vom Notar in der Protest¬ 


urkunde genannt: 

5. Rost 

6. Blochmann 

7. Wimmer 

8. Schmidt 


hiefien wirklich: 

Koch 

H. Wendemann 

Schmidt 

Ullrich 



122 


Scbneickert, Das Wiedererkennen von Handschriften 


Da durch diesen Nachweis ersichtlich war, daQ nach Artikel 88 der Wechsel- 
ordnung die Protesturkunde ungültig war, wurde der Klager vom Gericht abgewiesen. 

Von Zeit zu Zeit erfahrt man auch von miOverstandlichen Auslegungen der 
arztiichen Rezeptniederschriften, die zuweilen von schweren Folgen begleitet sind. 
Auch hier sei ein Fall erwahnt, der vor mehreren Jahren die Berliner Gerichte 
beschaftigt hatte. Ein Kaufmann, der an Furunkulose litt, erhielt von seinem 
Hausarzt das zum innerlichen Gebrauch bestimmte Mittel „Furunculin* ver- 
schrieben; in dem Rezept hatte der Arzt die falsche Schreibweise *Forunculin“ 
gebraucht und das noch mit sehr unleserlicher Schrift geschrieben. Der Apotheker 
hatte dies aber als „Formalin" gelesen und als „auBerlich" anzuwendendes 
Mittel vorschriftsmaOig verabreicht (in einer Dosis von 100,0). Der Patiënt 
wendete, trotz der deutlich lesbaren AuFschrift BAuBerlich“, entsprechend der 
mündlichen Anweisung seines Arztes das Mittel innerlich an und spürte bald 
seine unangenehme Wirkung, so daO Kalkwasser als Gegenmittel angewendet 
werden muBte. Der Patiënt stelite Strafantrag wegen Körperverietzung und wollte 
im AnschluO auch eine Schadenersatzklage einreichen. Das SchöfFengericht er- 
kannte auf Freisprechung, da ein strafbares Verschuiden des Angeklagten nicht 
anzunehmen sei. In der Berufungsinstanz kam die Strafkammer aber doch zu 
einer Verurteiiung des Apothekers wegen Übertretung der Bestimmung des § 33 
der Apotheker-Betriebsordnung in Verbindung mit fahriassiger Körperverietzung. 
Nach jener Bestimmung dürfe eine unleserlich geschriebene Verordnung 
ohneAufklarung durch den betre ff enden Arzt nicht angefertigt werden. 

Diese zwei Beispiele aus der Praxis mogen jedem die Gefahrlichkeit der 
unleserlichen Handschrift eindringlich vor Augen führen und ihn veranlassen, 
sich die Pflege einer gut leserlichen Handschrift, namentlich aber auch des 
Namenszuges, zur unabweislichen Pflicht zu machen. 


Neue Grundlagen der Werbung*) 

Von Professor G.v. Hanffstengel, Charlottenburg 

D ie bisherige Werbung legt den Hauptnachdruck auf die Erragung der Auf- 
merksamkeit und das Zustandekommen des Kaufentschlusses; verhaltnismaOig 
wenig Beachtung hndet dagegen die Beeinflussung des Gedachtnisses. Das 
Einhammern des Firmennamens durch stete Wiederholung, das Verteilen von 
Rekiamegeschenken, die für den taglichen Gebrauch bestimmt sind, sollen zwar 
in dieser Richtung wirken. Aber es wird nicht planmaBig dahin gearbeitet, 
alles wertvolle Material, das von den Firmen mit hohen Kosten gedruckt und 
verteilt wird, so einzurichten, daO die Aufbewahrung erleichiert und ein ge- 
nügender Anreiz zum Sammeln gegeben ist. Hier haben nun MaOnahmen der ailer- 
neuesten Zeit Wege eröffnet, die für die Industrie gröBter Beachtung wert erscheinen. 

*) Vgl. bierzu auch das demnSchst erscheinende Werk: v. Hanffstengel, Die Reklaine 
des Maschinenbaues (Verlag von Julius Springer, Berlin). 



Hanffstengel, Neue Grundlagen der Werbung 


123 


1. Benutzung der Paplernormen 

Eine Anzahl groDe Firmen, die über eine gut organisierte Reklame verfiigen, 
haben sich schon seit einer Reihe von Jahren ihre eigenen Normalformate ge- 
schafFen und Sammelmappen entsprechenden Formates an ihre Kunden verfeilt. 
Besonders für die Firmen, die eigene Zeitschriften herausgeben, liegt dieses Ver- 
fahren nahe. Der regelmaOige Empfanger der Drucksachen einer solchen Firma 
erhalt dadurch allmahlich ein umfangreiches Nachschlagewerk, in dem er sich 
vorkommendenfalls Auskunft über Art und Preis bestimmter Erzeugnisse holen kann. 

Die in den allerverschiedensten Formaten erscheinenden Drucksachen anderer 
Firmen zu sammeln,'ist dagegen eine wenig angenehme Aufgabe. Man kann wohl 
Flugblatter oder kleine Hefte in Schnellheftern unterbringen, aber die Sammlung 
wird stets ungeordnet und unübersichtlich sein, so daO der Anreiz zum Sammeln 
gerade für den Ordnung Hebenden Mann nicht allzu groB ist. Es muB daher 
vom Standpunkt einer planmaBigen Werbung aus als ein gar nicht hoch genug 
zu schatzendes Verdienst des Normenausschusses der deutschen Industrie*) be- 
zeichnet werden, daO er die Frage der Papiernormung zu einem endgüitigen 
AbschiuB gebracht hat. Die für Werbezwecke wichtigen Gröfien aus der in erster 
Linie zu verwendenden Reihe A (DINORM 476) sind: 

A4, Viertelbogen, 210X297 mm, 

A5, Blatt, 148X210 mm, 

A6, Halbblatt, 105X148 mm. 

Die Gröüe A4 entspricht in der Breite dem sog. „Folioformat“, in der Höhe 
etwa dem bisher üblichen Geschaftsbriefbogen und geht nach kelner Seite über 
die bisherigen Formate hinaus, so daO die Normalblatter in den vorhandenen 
Ordnern und Schnellheftern untergebracht werden können. 

Für die meisten starkeren Druckschriften wird das mittlere Format, 148X210 mm, 
zu verwenden sein, das hoch und quer genommen werden kann. Die kleinste 
GröBe, 105X148 mm, ist ein béquemes Taschenformat. Diese beiden GröBen 
werden sich ohne Zweifel mit der Zeit neben 210x297 mm auch für Flugblatter 
einführen, sobald die T.W.Karteien (s. unten) weitere Verbreitung gefunden haben. 

Wichtig ist, daB das Normalformat auch für Anzeigen mit Vorteil verwendet 
werden kann. Die Zeitschriften haben zwar heute meist ein gröBeres Format. 
Es ist aber nur erforderlich, an zwei Seiten eine Linie vorzudrucken, die anzeigt, 
WO das Blatt abzutrennen ist, damit der Ausschnitt dem Normalformat entspricht. 

Man wird dann darauf rechnen dürfen, daB inhaltlich wertvolle Anzeigen von 
einem groBen Teil der Empfanger aufbewahrt werden. 

2. Die T.W. Kartel und die T.W. Lehrmlttelzentrale (TWL) 

Auf die Papiernormung stützen sich die von der Technisch-Wissenschaft- 
lichen Lehrmlttelzentrale**) durchgebildeten Kartelen, in denen alles technisch- 

•) Berlin NW 7, SommerstraBe 4a.— **) Berlin NW 87, HuttenstraBe 1206. Vgl. Zeitschrift des 
Vereins deutscher Ingenieure Nr. 1 vom 7.Januar 1922. — Stahl und Eisen Nr. 1 vom S.Januar 1922. 




124 


HanlTstengel, Neue Grundlagen der Werbung 


wissenschaftliche Material planmaOig gesammelt werden kann. In diesen tech- 
nisch-wissenschaftlichen Kartelen (T.W.Kartelen) können sich unter einem Stich- 
wort oder einer Klassifikationsziffer u. a. zusammenfinden: 

TWL-Referatenblatter, wie sie von der Lehrmittelzentrale herausgegeben 
werden; 

Auszüge aus Zeitschriften, Büchern und Patenten; 

Ausschnitte aus Zeitschriftenschauen; 

Wertvolle Werbeflugblatter, andere Orucksachen und Anzeigen; 

Photographien; 

Interne Versuchs- und Betriebsberichte eines Werkes; 

Private wissenschaftliche Notizen. 

Durch die Kartelen wird erreicht, daO alles, was auf einem bestimmten Ge¬ 
blete schon von anderer Seite oder im eigenen Betriebe geleistet ist, in jedem 
Augenblicke zur Verfügung steht; der nachste Bearbeiter soll also da anfangen 
können, wo der vorige aufgehört hat. In der Praxis ist es ja leider die Regel, 
daö die Berichte über Betriebserfahrungen in den Akten des betrelFenden Kunden 
verschwinden, so daO es ein reiner Zufall ist, wenn dieses unter Umstanden 
ungeheuer wertvolle Material in einem spateren ahnlichen Falie noch einmal 
zum Vorschein kommt. Man ist völlig von dem Gedachtnis weniger Persön- 
lichkeiten abhangig, mit deren Ausscheiden elne groOe Summe von Erfahrungen, 
obwohl schriftlich niedergelegt, einfach verloren gehen kann. 

Wenn solche Berichte, nachdem sie nötigenfalls noch entsprechend redigiert 
sind, gesammelt und richtig geordnet werden, so können sie eins der wirk- 
samsten Mittel des technischen Fortschritts für ein Werk sein und gleichzeitig 
einen Grundstock für die karteimaOige Aufbewahrung alles anderen oben an- 
geführten Materials bilden. Hinweiskarten, die nur angeben, an welchen Stellen 
das Material zu ünden ist, ohne selbst ausführliche sachliche Angaben zu ent- 
halten, werden erfahrungsgemaö nicht in einem der Bedeutung der Aufgabe 
entsprechendem MaQe benutzt, weil die Beschaffung der Originalunterlagen'zu- 
viel Mühe und Zeitverlust zu verursachen pflegt. Von der TWL werden für den 
Handgebrauch Kartelen empfohlen, in welche Blatter von der GröOe 105x 148 mm, 
aufrecht stehend, einzuordnen sind. Man kann aber auch die bei den Organi- 
sationsfirmen üblichen Kartelen für Karten in der GröOe 100x150 mm benutzen, 
indem man die Karten quer stellt. Die Leitkarten sind in diesem Falie 5 mm 
höher zu nehmen als sonst gebrauchlich. 

Diese Kartelen werden als bestes Aufbewahrungsmittel für Druck- 
schriften auch derWerbung in hervorragendem MaCe zugute kommen. 

Für ihre eigenen Referatenblatter (TWL-Blatter) hat die Lehrmittelzentrale 
eine bestimmte Form ausgebildet. Soweit solche Blatter auf Grund von Unter- 
lagen hergestellt werden, die aus der Industrie geliefert sind, fertigt die Lehr¬ 
mittelzentrale für die Firmen Sonderdrucke an und übernimmt auch deren Ver- 
teilung in Industriekreisen und an den Technischen Lehranstalten. Ein solches 



Hanffstengel, Neue Grundlagen der Werbung 


125 


gut durchgearbeitetes, unter Verantwortung der TWL erscheinendes Blatt bildet 
zweifellos eine der vornehmsten Formen der Werbung und erfüllt dazu noch 
die wichtige Aufgabe, Material für Unterrichtszwecke zu liefern. BeiWerbe- 
blattern, die unter eigener Verantwortung der Firtnen erscheinen, steht es 
diesen natürlich frei, eine beliebige AusFührung zu wahlen; nur sollten auOer 
Einhaltung des Normalformates die für das Ablegen und Wiederauffinden wich- 
tigen Angaben in der linken oberen Ecke des Blattes angebracht sein. Je wert- 
voller der Inhalt ist, je mehr sachliche Angaben er bringt, urn so starker ist 
natürlich der Anreiz zum Aufbewahren des Blattes*). 

Erwahnt sei noch, daO die TWL-Blatter regeimaOig den Fachzeitschriften und 
Tageszeitungen zur Verwertung des Inhaltes zugestelit werden. 

Auch Hefte (Broschüren) im Format 105X148 mm lassen sich ohne weiteres 
in die Karteien abstellen. GröCere Hefte (148X210 mm) sind zweckmaOig von 
vornherein so auszuführen, daB sie in den Umschlag, der die halbe GröBe, 
d. h. die GröBe des Karteiblattes, hat, bequem eingefaltet werden können. 

Die Zeichnungen für Abbildungen in Werbedrucksachen sollten stets so aus- 
geführt werden, daB sie auch für die Herstellung von Diapositiven nach den 
Leitsatzen der TWL benutzt werden können**). 

3. Internationale Dezimal-Klassifikation (DK) 

Für die Sammlung von Material, das aus den verschiedensten Quellen stammt, 
ist ein einheitliches Verfahren der Registrierung dringend notwendig. Stich- 
wort-Verzeichnisse lassen sich nicht einheitlich gestalten und am allerwenigsten 
international verwenden. In der Tat weisen bereits die deutschen Zeitschriften 
und Büchereien eine Fülle der allerverschiedensten Bezeichnungen für einen 
Gegenstand auf, so daB der nicht Eingeweihte die gröBten Schwierigkeiten hat, 
volistandiges Material zu linden. 

Als allgemein verwendbar kommt nur die Internationale Dezimal-Klassifikation 
(DK) in Frage, die ursprünglich von dem Amerikaner Dewey aufgestellt und von 
dem Brüsseler Bibliographischen Institut weiter ausgebildet ist. Für Deutschland 
liegt die Einführung des Systems in den Handen von Dr.-Ing. Lasche, Berlin. 
Für das Gebiet der Technik ist die Ausarbeitung in deutscher Sprache der TWL 
übertragen worden, die Einzelblatter über die Hauptgebiete herausgibt und das 
System auch für die T.W. Karteien und ihre sonstigen Arbeiten verwendet. Im 
Ausland ist das DK-System bereits stark verbreitet; neuerdings macht auch die 

*) Nahere Angaben über das Zusammenarbeiten von Firmen mit der Lehrmittelzentrale ent- 
hait TWL-Blatt 1210: TWL-Merkblatt und TWL 1143: Leitsitze für TWL-Lichtbilder, zu beziehen 
von der Normenvertriebsstelle, Berlin NW 7, SommerstraBe 4a, zum Preise der Normblatter. 
Vgl. auch die von der TWL erhaltlichen Beispielbiaiter: TWL 425 (Deutsche Petroleum-Akt.-Ges.), 
Universal-Lagermetall „Thermit" (Tego-Handelsgesellschaft), Absperr-Schieberventile, System 
Fischbach (Schaifer & Budenberg). 

**) Die beste Ausnutzung der TWL-Diapositive wird durch die Schaffung zentraler Lichtbild- 
sammlungen an Technischen Lehranstalten und bei den „Technisch-Wissenschaftlichen Vortrags- 
wesen“, die der Ingenieurfortbildung dienen, zu erreichen sein. 



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Hanffstengel, Neue Grundlagen der Werbung 


Einführung in Deutschiand rege Fortschritte. Es scheint nur eine Frage der Zeit 
zu sein, daO für das Gebiet der Technik die allgemeine Annahme erfolgt. 

Es empfiehlt sich daher, auf allen Drucksachen die DK-ZifFern, die von der 
Lehrmittelzentrale zu erfahren sind, anzubringen, damit die Registrierung beim 
Empfanger selbsttatig und in richtiger Weise vor sich geht. 


Rundschau 


Die III. internationale Konferenz 
fflr Psychotechnik und Berufsberatung 
in Mailand vom 2. bis 4. Oktober 1922 

Vom 2. bis 4. Oktober fand in Mailand die 
III. internationale psychotechnische Kon¬ 
ferenz statt. In Anbetracht dessen, daQ eine 
Verstandigung der in verschiedenen Landern 
auf dem Geblete der Psychotechnik arbei- 
tenden Psychologen in einigen wichtigen 
Fragen herbeizuführen erwünscht war, hatte 
das Organisationskomitee beschlossen, die 
Zahl der abzuhaltenden Vortrage auf ein 
MindestmaO zurückzuführen und dafür Dis- 
kussionen für einige wichtige Probleme zu 
veranstalten. 

Diese Probleme waren: 

1. Was sind berufliche Eigenschaften? 

2. Die natürlichen und die erworbenen 
Eigenschaften. 

3. Psychologische Analyse der Arbeit. 

4. BerufsberatungundderTaylorismus. 

5. Internationale Vereinheitlichung der 
Teste und der Personalbögen. 

Zum KongreD erschienen Vertreter von 
England, Frankreich, Spanien, Schweiz, 
Holland, Belgien, Tschechoslowakei, Luxem¬ 
burg, Rumanien und Polen. 

Referent für die Einführung in die Dis- 
kussion der ersten Frage war Lahy (Paris). 
Er vertrat die Meinung, daO eine berufliche 
Eigenschaft, d. h. die Fahigkeit, eine Berufs- 
arbeit auszuführen, hauptsachlich von der 
allgemeinen Intelligenz abhange, obwohl 
man auch die Rolle dereinzelnen Fühigkeiten 
mitberücksichtigen müsse. Der gröüte Teil 
der Teilnehmer an der Diskussion war aber 


der Ansicht, daO für die Ausführung der 
beruflichen Arbeit einzelne Fahigkeiten 
gröOere Bedeutung haben als das Vorhanden- 
sein der allgemeinen Intelligenz. 

Der Referent über das Problem der psy- 
chologischen Analyse der Arbeit war Lip- 
mann (Berlin). Er sprach die Ansicht aus, 
daC eine psychologische Analyse der Arbeit 
überhaupt unmöglich sei, da sie kein richtiges 
Bild von dem Zusammenhang der in den 
ProzeC der Arbeit eingreifenden Fahigkeiten 
geben könne. In der Diskussion wurden 
dann verschiedene Arten der psycholo- 
gischen Analyse der Arbeit naher erörtert. 

Die Frage der internationalen Vereinheit¬ 
lichung der Teste und Fragebogen hatte 
Professor Myers (London) zum Referenten, 
Er wies auf die Schwierigkeiten hin, eine 
solche Vereinheitlichung herbeizuführen, 
für welche jedoch Patrizi (Modena) stark 
piadierte. Es wurde dann der Antrag Myers 
auf die Schaffung einer internationalen 
Kommission zur Kontrolle der zurZeit 
angewandten Teste mit dem Nachtrag Baum- 
garten über die internationale Vereinheit¬ 
lichung der Methode derTeste angenommen. 
Unter Leitung Claparède’s (Genf) fand 
eine spezielle Sitzung statt, in welcher die 
Frage der internationalen Vereinheitlichung 
der Fragebogen bei Berufsberatung ein- 
gehend erörtert wurde. 

Die Frage der „natürlichen und der er¬ 
worbenen Eigenschaften* behandelte ein 
Referat Decroly s, das von Christieans vor- 
getragen wurde. Decroly legte die Notwen- 
digkeit einer Auseinanderhaltung dieser zwei 



Rundschau — Bucbbesprecbung 


127 


Arten von Fahigkeiten dar und gab Kri- 
terien an, urn sie zu unterscheiden und sie 
bei den Kindern festzustellej^. In diesem 
Zusammenhang hielt Baumgarten (Berlin) 
ein Referat über die „BeruFsneigungen und 
die Notwendigkeit ihrer Berücksichtigung 
bei Berufseignungsprüfungen". Fraulein 
Vallenzano (Mailand) berichtete anschlie- 
Oend über ihre Erhebungen in den Mailander 
Schulen über die Berufswünsche. 

In der Frage der Berufsberatung und 
des Taylorismus berichtete Bauer (Mai¬ 
land) über einige negative Seiten der Ein- 
führung des Taylorismus und F r o i s (Paris) 
wies hin auf die groCe Rolle der beruflichen 
Auslese bei den Unfallen auf Grund seiner 
Erhebungen in den französischen Betrieben. 

Die letzten Silzungen wurden den Ver¬ 
tragen eingeraumt. Hier berichtete Grün- 
baum (Amsterdam) über einen neuen Appa- 
rat zur Messung der Aufmerksamkeit, 
Lipmann demonstrierte den im Hambur- 
gischen Laboratorium angewandten Apparat 
zur Prüfung der Triebwagenführer. Madame 
Lahy-Hollebecque sprach über die Rolle 
des Kinematographen für die Berufswahl 
der Jugendlichen. 

In der SchluDsitzung wurden Beschlüsse 
der Konferenz gefaOt, von welchen die wich- 
tigsten sich auF die Notwendigkeit der 
Schaffung einer Kontrollkommission Für den 
diagnostischen Wert der Teste, auf die Ein- 
führung einer medizinischen Untersuchung 
bei samtlichen Berufseignungsprüfungen 
und auf die Mitarbeit der Ingenieure mit 
Psychologen bezogen. Bn. 


Buchbesprechung 

Schreber, K., Der Mensch als Kraft- 
maschine. Pflügers Archiv für die ge- 
samte Physiologie 197, S. 300, 1922. 
Schon Descartes nannte den Menschen 
eine sehr verwickelte Maschine. Inwieweit 
dieser Vergleich bei den augenblicklichen 
Kenntnissen zulassig ist, untersuebt Ver- 


fasser durch einen Vergleich mit einer Dampf- 
maschine. 

Jede Dampfmaschine hat zu ihrem Be- 
trieb eine Reihe von Hilfsmaschinen nötig; 
Die Förder- und Aufbereitungsmaschinen 
auf der Kohlenzeche, die Maschine zum An- 
trieb des Förderbandes und des Rostes im 
Kesselhaus usw. Ebenso hat der Mensch 
eine Reihe von Hilfsmaschinen, die man 
innere Organe nennt, z. B. das Herz. Dieses 
ist mit der Maschine zum Antrieb des Förder¬ 
bandes im Kesselhaus zu vergleichen; das 
Blut tragt die Nahrmittel zu den einzelnen 
Verbrauchsstellen, wie das Förderband die 
Kohle zu den einzelnen Feuerstellen schafft. 
Von jeder der Hilfsmaschinen seiner Dampf¬ 
maschine kennt der Betriebsingenieur Ener- 
giebedarf und geleistete Arbeit; von den 
einzelnen Organen des Menschen kennt 
man diese Zahlen noch nicht. Würde man 
den UmriB eines Menschen aufzeichnen und 
in diesen an die Stelle, wo die inneren 
Organe sitzen, die Zahlen für den Energie- 
bedarf und die geleistete Arbeit aufschreiben 
wollen, so würde das Bild sehr leer bleiben. 

Die eigentlichen Kraftmaschinen, in denen 
der Umsatz der Energie stattfindet, sind die 
Muskeln. Wie dieser Umsatz vor sich geht, 
darüber ist man sich noch nicht klar; jeden- 
falls müssen aber die einzelnen Teile des 
Muskels Umlaufe vollziehen, welche sie nach 
jeder Zuckung wieder auf ihren Ausgangs- 
zustand zurückführen. Bei den künstlichen 
Maschinen sind diese Umlaufe Vierecke, in 
denen die Zustandsanderungen der Gegen- 
seiten nach demselben Gesetz aber mit 
anderen Festwerten verlaufen; bei den Mus¬ 
keln sind derartige Umlaufe nicht möglich, 
weil der Muskei keine Arbeit von auBen auf- 
nehmen kann. 

Der Mensch als Ganzes ist keine Kraft- 
maschine in dem Sinne, wie wir das Wort 
z. B. bei der DampFmaschine benutzen; er 
gibt keine Arbeit nach auBen ab. Der Stein- 
trager, der Steine auf den Bau eines Frem- 
den tragt, sorgt nur für sich und seine 



128 


Buchbesprechung — Eingegangene Schriften 


Familie, wie der Fuchs und der Sperling; nur 
tut er es auf dem Umweg über das Geld. 
Man kann aber doch unter gewissen will- 
kürlichen Voraussetzungen den Menschen 
als Kraftmaschine behandeln und dann nach 
seinem Wirkungsgrade fragen. Über dessen 
Berechnungsart herrscht zwischen Physio- 
logen und Ingenieuren Meinungsverschieden- 
heit. Die Ingenieure bezeichnen als Wir- 
kungsgrad das Verhaltnis der geleisteten 
Arbeit zur zugeführten Energie, die Physio- 
logen dagegen das der Arbeit zum Unter- 
schied der wahrend der Arbeit und der Ruhe 
zugeführten Energie. Schreber weist auf die 
Vorteile der ersteren und die Nachteile der 
letzteren hin. Von diesen führe ich hier 
nur den folgenden an. Rechnet man nach 
Art der Ingenieure, so kann man das Ver¬ 
haltnis des Wirkungsgrades des Menschen 
als Ganzes zu dem des Muskels, welches 
ungefahr dem mechanischen Wirkungsgrad 
der Ingenieure entsprechen würde, als MaO 
für die Eignung festlegen oder für die Übung 
in einer Arbeit ansehen; die Berechnungs¬ 
art der Physiologen macht die Bildung eines 
solchen MaBes unmöglich. Dr. W. Ruffer. 


Eingegangene Schriften 

Apfelbach, Hans, Das Oenkgefühl. Eine 
Untersuchung überden emotionalen Charakter 
der Denkprozesse. (55 S.) 8®. Wien und Leip- 
zig 1922. Wilhelm Braumüller. 

Clauberg und Dublslav, Systematisches 
Wörterbuch der Philosophie. (VIII, 
565 S.) 8®. Leipzig 1923. Felix Meiner. 

Doevenspeck, Heinrich, Taylorsystem 
und schwere Muskelarbeit. (Lippmann 
u. Stern, Schriften zur Psychologie d. Berufs- 
eignung u. d. Wirtschaftslebens, Heft 23.) (38S,) 
8». Leipzig 1923. J. A. Barth. 

Erismann, Dr. Th., u. Moers, Dr. M., Psy¬ 
chologie der Berufsarbeit und derBe- 
rufsberarung (Psychotechnik). 

I. Allgemeiner Teil. Mit einer Übersichts- 
tabelle (109 S.). 

II. Spezieller Teil. Die praktische Anwen- 
dung der psychologischen Eignungsprüfung 
in den verschiedenen Berufen (114 S.). 


(Sammiung Göschen, Band 851/852.) KI. 8®. 
Berlin und Leipzig 1922. Vereinigung wissen- 
schaftlicher Verleger. 

Giese, Dr. Fritz, Psychologie und Psy¬ 
chotechnik (Dünnhaupts Studiën- und Be- 
rufsführer, herausgegeben von Dr. K. Jagow 
u. Dr. Fr. Matthaesius, Bd.2.) (VIII, 63 S.) 8®. 
Dessau 1922. C. Dünnhaupt Verlag. 

Hesse, Kurt, Der Feldhcrr Psychologos. 
Ein Suchen nach dem Führer der deutschen 
Zukunft. (XVI,219S.) Berlin 1922. E.S.Mittler 
& Sobn. 

Industrlelle Psychotechnik. Werkstattstechnik 
XVI. Jahrg., 1922, Heft 18. Gr. 4®. Berlin 1922. 
Julius Springer. 

Lutz, Prof. Or. Karl, Tierpsychologie. 
Eine Einführung in die vergleichende Psycho¬ 
logie. (Aus Natur und Geisteswelt, Bd. 826.) 
Mit 29 Abbild. (120 S.) 8®. Leipzig u. Berlin 
1923. B. G. Teubner. 

Oestreich, Paul, Menschenbildung. Ziele 
und Wege der entschiedenen Schulreform. 
(Entschiedene Schulreform VIL) Vortrageent- 
schiedenerSchulreformer,gehalten im Zentral- 
institut für Erziehung u. Unterricht zu Berlin, 
Januar bis MSrz 1922. (201 S.) 8®. Berlin 1922. 
C. A. Schwetschke & Sohn. 

Rosenstock, Dr. jur. Eugen, Werkstattaus- 
siedlung. Uniersuchungen über den Lebens- 
raum des Industriearbeiters in Veibindung mit 
Eugen May und Martin Grünberg. (Sozial- 
psychoiogische Forschungen, herausgeg. von 
Prof. Dr. W. Hellpach, Bd. 2.) (286 S.) 8®. 

Berlin 1922. Julius Springer. 

Schneidemfihl, Dr. G., Die Handschriften- 
beurteilung. Eine Einführung in die Psy¬ 
chologie der Handschrift. (Aus Natur und 
Geisteswelt, Bd. 514.) 3. AuH. Mit 47 Hand- 
schriftennachbildungen. (93 S.) 8®. Leipzig 
und Berlin 1922. B. G. Teubner. 

Schuize, Rudolf, Padagogisch-Psycho- 
logische Arbeiten aus dem Institut des 
Leipziger Lehrervereins. Bd.XlI. (1I2S.) 
8®. Leipzig 1922. Verlag d. Dürr’schen Buchb. 

Volkelt, Johannes, Wilhelm Wundt. Nach- 
ruf auf Wilhelm Wundt. Sonderdruck aus den 
Berichten d. Gesellsch. d. Wissensch., Bd. 73, 
Heft 5. 8®. Leipzig 1922. B. G. Teubner. 

Watts, Frank, M. A., Die psychologischen 
Probleme der Industrie. Deuisch von 
Herbert Freiherr Grote. Mit 4 Text- 
abbild. (221 S.) 8®. Berlin 1922. Julius Springer. 

Wentscher, Else, Das Problem des Em- 
pirismus. Dargestellt an John Stuart Mill. 
(153 S.) 8®. Bonn 1922. A. Marcus & Webers 
Verlag. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
_ strafte 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Hartel in Leipzig. 



PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. FEBRUAR 1923 5. HEFT 


Die Praktische Psychologie erscheint in monatlicben Heften lm UmfADge von zwei Bogen. Preis des Februarheftes 600 Merk 
fBrs Inland. FGrs Ausland besoodere Prelse. (Prels bei unmlneibarer Zustellung unter Kreuzband im Inlaad elDscblIeOllcb 
österreich' Ungarn 750 Mark.) Bestellungen nebmen alle Buchhandluagen, die Post sowie die Verlagsbucbbandlung entgegen. 
Aozeigen vermittelt die Verlagsbuchbandlung S. Hirzel in Leipzig, KönigstraOe 2. Postscheckkonto Leipzig 226. — Alle 
Manuskriptsendungen und darauf bezQgliche Zuschrlften sind zu rfcbten an die Adresse der Schriftleltuog: Prof. Dr. W. Moede 
und Dr. C. Plorkowskl, BerlinW30, LuItpoldstraOe 14. 


Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 

Erweitertes Referat, gehalten auf der ersten Tagung für angewandte Psychologie 
der Gesellschaft für experimentelle Psychologie, Berlin, Oktober 1922 

Von Professor Dr. W. Moede, Berlin 

Leitsatz. Die Wünsche und BemQbungen zur Fest- 
stellung schul- und berufswichtiger Eigenschaften mit 
Hilfe eines Beobachtungs- und Fragebogens baben bis- 
her eine wissenschaftlicbe BegrQndung nicht erfahren. 

I. Verwendungsfortnen des Fragebogens 

D er Frage- und Beobachtungsbogen ist bisher in der praktischen Psychologie 
in dreifacher Form aufgetreten. Man benutzt ihn erstens zur Beschaffung 
berufskundlichen Materials, zweitens zum Zweck der Feststellung intellektueller 
und moralischer schul- und berufswichtiger Eigenschaften von Jugendlichen und 
Erwachsenen und drittens als Mittel für die Selbstbefragung der zu Beratenden. 

A. Die Seibstbefragung und Selbstbekundung des zu Beratenden 
Der Fragebogen in der dritten Form, namlich als Hilfsmittel der Selbst¬ 
befragung des Jugendlichen, soil im ailgemeinen im groDen MaOstabe in den 
Berufsberatungsbüros der Parson-Schule in Amerika Verwendung hnden und zwar 
gemaO den dortigen Berichten mit angemessenem Erfolge. Das Verfahren besteht 
darin, daC man dem Ratsuchenden eine Reihe von Fragen vorlegt, die sich auf 
seine Verstandes-, Gefühls- und Willenseigenschaften u. a. m. beziehen, und man 
verwertet die von dem Ratsuchenden erhaltenen Antworten für die nun ein- 
setzende berufliche Einweisung. Diese Art der praktisch-psychologischen Verwen¬ 
dung einer Frageliste kann kaum als wissenschaftlich vollgültig angesehen werden. 

Die Selbstbefragung des zu Beratenden setzt ofFenbar voraus, dali der Prüfling 
sich selbst, seine inteliektuellen und moralischen sowie sonstigen Eigenschaften 
gut kennt, da es nur unter dieser Voraussetzung Zweck hat, ihm die Fülle der 
Fragen vorzulegen, um eine mehr oder weniger richtige und vollstandige Be- 
antwortung zu erhalten. Es sollen in einigen Büros, falls die Berichte zutreffend 
sind, bis zu 200 Fragen vom Jugendlichen beantwortet werden. 

Die Bewertung dieser Methode scheint relativ gewiO zu sein. Der Jugendliche 
soll im Grunde die Arbeit leisten, die er eigentlich von dem fachpsychologischen 
Beirat der Berufsberatungsstelle veriangt und erwartet. Man vertauscht ofFenbar 
die Rollen, und der Jugendliche, der alle seine Fahigkeiten kennt, hat es eigentlich 
gar nicht nötig, das Büro um Rat anzugehen, da er es ja selbst schlieOlich ist, 

9 


P. P. IV. 5. 






130 


Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


der die Grundlagen für seine berufliche Verwendung der Beratungsstelle an die 
Hand gibt. Verdeutlichen wir uns die Sachlage durch den ahnlich liegenden Faii 
einer arztlichen Beratung. Der Patiënt würde sehr erstaunt sein, von dem Arzt 
danach gefragt zu werden, ob er Herz-, Leber- oder Lungenbeschwerden habe oder 
ob Störungen des Stoffwechsels oder GefaBsystems vorliegen, und er würde aller 
Wahrscheinlichkeit nach auF entsprechende Fragen antworten, daO der Wunsch 
nach Feststellung des Leidens ihn gerade veranlaBt habe, zum Arzt als Gesundheits- 
Sachverstandigen zu gehen, und daO er ihn bitte, auF Grund Fachtnannischer 
Schulung die Diagnose zu stellen. 

Freilich muO man zugeben, daO diese Methode der SelbstbeFragung bei ge- 
schulten und kritischen, in der Selbstbeobachtung erFahrenen Menschen und bei 
kritischen und geschuiten Leitern der BeFragung eine Reihe von ErFoigen wird 
auFzeichnen können. Nur bedenkiich erscheint das VerFahren in seiner Anwendung 
auF Jugendliche. Falsche Angaben dürFten unvermeidiich sein und irgendein 
zuveriassiges Kriterium Für die Vollstandigkeit und Richtigkeit der Aussagen kann 
kaum geFunden werden. AuOerst heikel ist das Verlangen nach Selbstbeurteilung 
besonders in moralischen Dingen. Man wird hier aus den Antworten weniger 
auF das Vorhandensein von Ehrlichkeit, GewissenhaFtigkeit, Zuveriassigkeit 
schlieOen können, sondern die Ergebnisse derartiger BeFragungen werden, da die 
Eigenliebe und die GeltungsgeFühle den Ausschiag geben, vorwiegend Für den 
Grad von SelbstbewuOtsein, Ehrlichkeit, Bescheidenheit des Klienten bedeutsam 
sein, viel weniger dagegen einen Hinweis Für tatsachlich vorhandene Anlagen 
der geFragten Art bieten. Wir können es kaum verlangen, daO der Jugendliche 
oder Erwachsene, der sich um eine Stelie bewirbt, seine Neigung zur Flüchtigkeit, 
zu Diebstahl, zu AusschweiFungen usw. zugibt, sondern es ist vieimehr zu ver- 
muten, daO alle Angaben so ausFallen, daB eine Herabsetzung im Urteil des Be- 
raters nicht eintreten kann. GewiB wird der kritische Beobachter, wenn er es 
ehrlich mit sich selbst meint, einige verlaBliche Angaben über sich selbst machen 
können, doch gibt es kaum sichere Kriterien über richtige und Falsche Angaben 
der Selbstbeurteilung dieser Art. 

B. Die beruFskundliche und arbeitsanaiytische Frageliste 

Der Fragebogen ist weiter zur Beschaffung beruFskundiichen und beruFs- 
analytischen Materials verwendet worden. Man hat einmal versucht, durch 
zweckentsprechende BeFragung Festzustellen, welche beruFlichen Leistungen und 
Arbeiten in einer bestimmten BeruFsgruppe verlangt werden, zum andern aber 
auch das Wagnis unternommen, durch BeFragung von BeruFsangehörigen und 
Praktikern die Fahigkeiten zu erFassen, die Für erFoigreiche beruFiiche Betatigung 
erForderlich sind. Schon die restiose ErFassung ailer beruFlichen Arbeiten Für eine 
ganz eng begrenzte BeruFs- oder Arbeitsstelle gelingt meistens nicht durch BeFragung 
allein, wenn auch die Möglichkeit, gewisse VorFragen durch derartige Frageiisten 
zu klaren, zugegeben werden kann. Ganz verFehlt dagegen ist es, wenn man den 



Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


131 


Antworten alter Praktiker nach berufswichtigen Fahigkeiten mehr als hinweisenden 
und vorlaufigen Wert beimiOt. Der Praktiker ist auch hier nicht der Psychologe, 
und gerade die hervorragendsten Berufsangehörigen sind sich oftmals über die 
wahren Gründe ihrer beruflichen Erfolge völlig im unklaren. Auch lauten die 
Antworten meist so allgemein, daB die wissenschaftlich begründete Eignungs- 
prüfung sie kaum erfolgreich verwerten kann. So ist es erklarlich, daO die 
Zusammenstellung erforderlicher Fahigkeiten, die man durch Befragung etwa von 
Angehörigen des Schneiderhandwerks zusammengebracht hat, in ahnlicher Weise 
auch bei Befragung akademischer BeruFsgruppen erhalten werden. Legt man 
die Liste erforderlicher Fahigkeiten neutralen Stellen vor und fragt nun rückwarts, 
welcher Beruf wohl hier in Frage kommt für den glücklichen Inhaber dieser 
Fahigkeiten, so schwanken die Antworten ganz auBerordentlich, und man darf 
nicht überrascht sein, daB mitunter das angebliche psychische Profil des Staats- 
sekretars oder des hohen politischen Beamten auf ganz andere Berufsgruppen, 
etwa Geschaftsreisende oder Verkaufer, schlieBen laBt. Nur die wissenschaftliche 
psychotechnische Arbeitsstudie kann letzten Endes zur Feststellung der erforder- 
lichen Fahigkeiten dienen. Denn es ist ein auBerst schwieriges wissenschaftliches 
Problem, einmal die Gesamtheit der erforderlichen Fahigkeiten zunachst in Bausch 
und Bogen aufzustellen, dann die Scheidung in berufswichtige und unwichtige, 
erfaBbare und nicht erfaBbare, in übbare und nicht übbare, in ersetzbare und 
nicht ersetzbare, in beachtenswerte und nicht beachtenswerte vorzunehmen, urn 
schlieBlich auf Grund zahlreicher Sonderstudien die Gewichtszahlen für die Be- 
deutung der einzelnen erforderlichen Fahigkeiten ansetzen zu können. Besser 
als die Zusendung von Fragelisten irgendeiner Art an möglichst viele Berufs- 
angehörige ist schon die persönliche Fühlungnahme mit dem Arbeitenden an der 
Arbeitsstelle selbst, und nur die eigene und unmittelbare Kenntnisnahme der 
Berufshandgriffe sowie Berufsleistungen, sowie die wissenschaftliche psycho¬ 
technische Arbeftsstudie werden uns dem Ziele einer gründlichen Berufs- und 
Arbeitsanalyse naher bringen. Niemals dürfte durch noch so eingehende Frage¬ 
listen die Arbeitsstudie ersetzt werden können. Die noch so eindringliche Be¬ 
fragung auch von Fachchemikern hat die Strukturformel einer Substanz, etwa die 
quantitative und qualitative Zusammensetzung von Alkohol, gewiB nicht ans Tages- 
licht gebracht, sondern nur der exakte Laboratoriumsversuch, der den Regeln 
der fachwissenschafclichen Analyse folgt. Also auch hier bei Beschaffung be- 
rufskundlichen Materials hat der Fragebogen nur vorlauhge Bedeutung. 

C. Der Beobachtungsbogen für Schüler und Berufstatige in der Hand 
des Vorgesetzten zur Gewinnung von Personalgutachten 
SchiieBlich ist der Fragebogen auch in Form eines Beobachtungsbogens 
für den Lehrer empfohlen worden. Der Lehrer soll an der Hand einer reich 
gegliederten Frageliste den Schüler jahrelang beobachten, und das Ergebnis dieser 
Beobachtung soll sowohl für die Feststellung schulwichtiger als auch die Erfassung 

9* 



132 


Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


berufswichtiger Fahigkeiten, also zur Feststellung eines Personalgutachtens 
dienen. Dieses Personalgutachten wlrd der Vorauslese zugrunde gelegt, als 
Ersatz, Erganzung oder Grundlage der psychotechnischen Prüfung benutzt oder 
für Erfolgskontrollen zur Feststellung des Wirkungsgrades von Prüfverfahren 
herangezogen. Auch dlese Methode hat ihre Bedeutung, doch dürfte der wissen- 
schaftliche Wert dieser dritten Art der Fragebogentechnik, wenn man die bis- 
herigen praktischen Erfolge berücksichtigt, nicht allzu hoch anzusetzen sein. 
Gerade die Verfechter der Fahigkeitsfeststellung durch den Beobachtungsbogen 
haben bisher den Beweis der Leistungsfahigkeit dieser Methode nicht erbringen 
können, so erwiinscht eine solche Begründung ware angesichts der auDerst 
scharfen Stellung dieser Richtung gegenüber dem experimentellen Verfahren, das 
ja gleichfalls verwandt wird, um schul- und berufswichtige Fahigkeiten in einer 
wissenschaftlichen Untersuchung zu erfassen. 

II. AngrifFe der Fragelistentheoretlker gegen Experiment und Probe 
der praktischen Psychologie 

Theoretiker des Beobachtungsbogens verteidigen ihre Methode dem Experiment 
gegenüber auf die verschiedenste Weise. 

Das Experiment gestalte die Versuchsbedingungen absichtlich und wirke da- 
durch unnatürlich und verfaische die Feststellung geistiger Anlagen. Weiter sei 
der Prüfling stets mehr oder weniger befangen und stehe unter Hemmungen. 
SchlieOlich seien Zeit und Kosten einer gründlichen experimentellen Untersuchung 
im Verhaltnis zu einer völlig ausreichenden Beantwortung der Frageliste, die 
gelegentlich geschehen könne, unverhaltnismaOig hoch. Endlich sei die Sicherheit 
der Angaben des Fragebogens ungleich gröDer und ihre Reichhaltigkeit erheblicher, 
weil das Experiment immer nur für den Augenblick der Untersuchung Gültlgkeit 
habe und groCen Zufallen unterliege, wahrend die Beobachtung sich stets über 
eine langere Zeitdauer erstrecke und ganz im Gegensatz zum Experiment auch 
eine Fülle tieferliegender, moralischer und sonstiger Eigenschaften erfassen könne. 

Die Praxis hat bisher gegenüber dieser Theorie den Beweis der Richtigkeit 
für die Behauptungen noch nicht erbracht, trotzdem der Fragebogentheoretiker 
sehr oft nach wie vor das Experiment nicht nur als unnötig abiehnt, sondern 
es sogar für die Feststellung beruflicher Fahigkeiten als schadlich erklart. Ein 
obligatorisch eingeführter Beobachtungsbogen, der den Menschen am besten von 
der Wlege bis zum Grabe, zum mindesten aber vom Schuleintritt bis zur Be- 
endigung der Lehre begleite, mache eigentlich jede experimentelle Untersuchung 
überflüssig. 

Mitunter bedingen wohl auch persönliche Eigenschaften des Psychologen die Ab- 
lehnung der experimentellen Untersuchung, beispielsweise eigenes experimentelles Un- 
geschick und Unsicherheit, mangelnde Erfahrung oder MiOerfoIge mit ungenügend er- 
probten und schlecht durchgeführten psychotechnischen Prüfungen, Scheu vor Verant- 
wortung und Streben gröQtmöglichster eigener Entlastung und möglichster Belastung 
anderer Instanzen u. a. m. 







Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


133 


A. Wesensverschiedenheit von psychotechnischen Proben und Frage- 
listenfeststellung sowie diagnostische Überwertigkeit der 
Ausfragung von Nichtpsychologen 
Dem gegenüber ist zu erwidern: Ein grundsatzlicher Gegensatz zwischen einer 
gründlichen psychotechnischen Untersuchung experimenteller Art und der Be- 
obachtungsmethode besteht nicht, sondern bestenfalls ein gradueller. Die Be- 
obachtung des Schülers durch den Lehrer ist unbewaffnete, die experimentelle 
üntersuchung dagegen bewafFnete Beobachtung. Bei jeder psychotechnischen 
Untersuchung bildet die eingehende Beobachtung des arbeitenden Schülers, die 
Einfühlung in seine Arbeitsart, sowie seine eingehende Befragung stets einen 
wesentlichen Bestandteil. Bei jeder psychotechnischen Prüfung wird neben der 
quantitativen Analyse, die die MaOzahl der Leistung widerspiegelt, als Erganzung 
eine qualitative verlangt, die aus Beobachtung, Einfühlung, systematischer Be¬ 
fragung des Jugendlichen sowie Erhebungen über sein Lebensschicksal besteht. 
Auch der Lehrer wird in der Schule sich in gewisser Weise die Gesichtspunkte 
experimenteller Beobachtung zunutze machen, wenn er den Schüler unter den 
mannigfachsten Bedingungen des Unterrichtes beobachtet, ja wenn er vielleicht 
zur Klarstellung gewisser Eigenschaften diese oder jene Frage ganz besonders 
formuliert und ihm vorlegt und schlieOlich gewisse Probeaufgaben auch hier im 
Unterricht zur Lösung zu geben versucht. Die systematischen Bedingungs- 
veranderungen für die Reaktion der Schüler liegen teiis im Schulbetriebe selbst, 
teils werden sie vom Lehrer künstlich gesetzt. Prüfverfahren der Psychotechnik 
sind mitunter nichts anderes als reprasentative Schul- und Werkstatt- 
arbeiten, die in derjenigen Form Verwendung hnden, welche eine reinliche und 
relativ sichere Feststellung der in der Leistung sich spiegelnden Fahigkeiten 
vorzunehmen gestattet. GewiO sind in Beruf und Schule eine Fülle neuer 
Faktoren wirksam, etwa der Anreiz durch Bezahlung, die Kritik der Leistung 
durch Lob und Tadel u. a. m., ohne daO es möglich ware, einen grundsatzlichen 
Unterschied bei Betatigung des Prüflings im Laboratorium und in der Schul- 
und Werkstattpraxis anzugeben. Ob die experimentellen Proben bedeutsam für 
die praktische Bewahrung sind, hat die Erfolgskontrolle zu entscheiden. Nur 
durch analytische Erfolgskontroiien kann man feststellen, ob in den einzelnen zur 
Erörterung stehenden Fallen Wirklichkeits-, Schema- oder Abstraktionsverfahren 
zweckmaOig sind, ob Zeit-, Anlern- und Funktionsproben Verwendung finden 
sollen und welche Bedeutung den einzelnen Verfahren für die jeweiligen Ziele 
der Untersuchung zukommt. Jedenfalls ist der theoretische Einwand, die künst- 
liche Bedingung des Laboratoriums verfalsche unter allen Umstanden die Reaktions- 
weise des Prüflings und mache den Prüfbefund wertlos, keinesfalls ohne weiteres 
stichhaltig. Man könnte mit viel gröOerer Berechtigung umgekehrt den Einwand 
erheben, die Bedingungen der Schul- und Berufspraxis sind derart einer wissen- 
schaftlich berechtigten und einwandfreien Beobachtung ungünstig, daO von vorn- 
herein zu vermuten ist, dalJ nur in den seltensten Fallen und unter besonders 


134 


Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktiscben Psychologie 


günstigen Bedingungen brauchbare Ergebnisse zu ernten sind. Denn der Lehrer 
bat zunachst zu erziehen und ein bestimmtes Lehrziel durch Unterricht zu er- 
reichen, desgleichen der Leiter der Lehrlingswerkstatt und Lehrlingsschule. Er 
ist durch die dauernde und innige Berührung und Wechselwirkung mit seinen 
Zöglingen, gerade wenn er seine Berufsaufgabe ernst nimmt, so spezifisch ein- 
gestellt, daO die gute, nüchterne und objektive Erfassung und Zergliederung der 
Reaktionsweise der ihm Unterstellten allergröBte Schwierigkeiten bereiten muö. 
Das Benehmen und Verhalten der Schüler ihm gegenüber, deren Freundlichkeit 
bzw. Widerspenstigkeit werden so innig mit den sonstigen Urteilsgrundlagen des 
Lehrers verschmolzen, daO er zwar über den Schul-bzw. denWerkstatt- undBetriebs- 
wert eines Zöglings vielleicht brauchbare Angaben machen kann, aber kaum eine 
systematische Funktionsanalyse durchführen kann, die mitunter eine für seinen 
Beruf heterogene und künstliche Einstellung verlangt, zu der er vielleicht gelegentlich 
nach Anlage, Vorbildung und Erfahrung befahigt, in sehr vielen Fallen aber ganz 
ungeeignet ist. 

B. Befangenheit wahrend der Untersuchung 
Was den Einwand der Befangenheit des Prüflings bei jeder Untersuchung 
betrifft, ein Einwand, der fast nur von Leuten mit geringer praktisch-psycholo- 
gischer Untersuchungserfahrung aufgestellt wird und den man immer wieder 
nachgesprochen hndet ohne sachliche Belege, so muO man auch hier von den 
bisher nachweisbaren Verhaltungsweisen der Prüflinge in geeigneten Unter- 
suchungsbedingungen die Ausnahmefalle abtrennen. GewiO kann durch Un- 
geschick des Experimentators und Prüfers Befangenheit eintreten, und sie wird 
eintreten, falls er unzweckmaOig vorgeht. Weiter ist festzustellen, in welcher 
Hinsicht die vorliegende Befangenheit die praktisch-psychologische Funktions¬ 
analyse gegebenenfalls beeinfluDt. Es ist eine Aufgabe der Gruppenpsychologie, 
festzustellen, in welcher Weise die Befangenheit, die methodisch als Störung 
anzusehen ist, die Fahigkeitsabnahme und im Gegensatz dazu die Reproduktion 
von Kenntnissen beeinfluOt. Wahrscheinlich wird die in einer Prüfung geforderte 
Wiedergabe gelernten Wissens ungleich starker durch Befangenheit gehemmt als 
die Ausführung einfachster Proben zur Feststeilung von Sinnesleistungen, von 
Aufmerksamkeit oder Handgeschicklichkeit. Natürlich muB der Versuchsleiter 
das Vertrauen seines Prüflings gewinnen, genau wie es der Lehrer gewinnen 
muB, da auch in der Schule durch Einflüsse der Gruppe sowie durch die 
Distanzgefühle gegenüber dem Übergeordneten die natürliche Reaktion getrübt, 
ja ins Gegenteil verkehrt werden kann. Deswegen ist eine allgemeine Aus- 
sprache über Lieblingsfacher, Neigungen des Prüflings u. a. jeder Untersuchung 
voranzuschicken, und die Prüfung selbst ist in mehreren Sitzungen, teils bei 
Einzel-, teils bei Gruppenbetatigung, vorzunehmen. Auch die empfohlene Be- 
obachtung des Schülers beim Spielen und Wandern durch den Aufsicht führenden 
Lehrer kann mannigfache Hemmungen setzen, deren experimentelle Analyse 
dringend geboten erscheint. 






Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


135 


C. Die Interessiertheit des Prüflings 

Nicht die Befangenheit stort in vielen Failen das Ergebnis der Prüfung, 
sondern vielmehr sehr oft seine mangelnde Interessiertheit sowie Konzen- 
tration. Auch hier ist es Sache der objektiven Analyse, festzustellen, durch 
welche Proben am besten Interesse und Konzentration wachgerufen werden und 
in welcher Anzahl man die Wiederholung der gleichen Proben durchführen kann. 
Beispielsweise konnten wir in einigen eigens durchgeführten Sonderversuchen 
feststellen, daO bei mehr als fünf Einstellungen gleicher Art die Leistung sich 
verschlechterte und für die Fahigkeitsdiagnose schlechter verwertbar wurde, 
wenn auch vielleicht rein theoretisch eine gröflere Konstanz durch gehaufte Ver- 
suchszahlen vorausgeahnt und sichergestellt werden kann. Durch Wiederholung 
der gleichen Proben an verschiedenen Tagen scheint sich in ahnlicher Weise 
mitunter eine Verschlechterung der Leistung und ihre geringere Verwertbarkeit 
für Eignungsprüfungen zu ergeben, da statt der ernsthaften Interessiertheit an 
der Aufgabe am ersten Tage, ein mehr oder weniger nachlassiges Verhalten ein- 
tritt, da weiter statt der unmittelbaren Art der Lösung der Prpbe ein Suchen 
und Streben nach anderen Kriterien festzustellen war, urn gegebenenfalls auf 
andere Weise das Ziel der Probe zu erreichen. 

Die theoretische Frage der Konstanz der Werte ist daher scharf zu sondern von 
der praktischen Frage nach dem berufsdiagnostischen Wert der Prüfverfahren, 
und der Einwand, daO die auf kürzere Zeit zusammengedrangte Probe ein schlech- 
teres Biid des Prüflings gabe als das Studium seines Verhaltens langere Zeit 
hindurch, kann in dieser allgemeinen Form auch nicht aufrecht erhalten werden. 
Sind die Bedingungen der Fahigkeitsfeststellung günstig, so ist die Bedeutung 
weniger Stichproben gröOer als die noch so stattliche Haufung ungesicherter 
und lückenhafter, ja falscher Angaben des Beobachters über noch so lange Zeit- 
raume hin, sofern sie sich auf schwierig auszuwertende oder gar falsch gedeutete 
Situationen der Praxis beziehen. Stets muD es das wissenschaftliche Ziel sein, 
die Bedingungen der Gültigkeit der Feststellung zu erörtern, nicht aber ohne 
Beweismaterial Behauptungen aufzustellen, die in dieser allgemeiner Form nun 
und nimmer verifiziert werden können. 

GewiO wird zugegeben werden müssen, daB im Experiment bei Prüflingen 
mitunter Hochleistungen und Ausfalle auftreten, die zu Fehldiagnosen AniaO 
geben können und den Wirkungsgrad der psychotechnischen Untersuchung herab- 
setzen, ja man muB sogar von vornherein nicht mit einer hundertprozentigen 
Wirkung einer praktisch-wissenschaftlichen MaBnahme rechnen, sondern es kann 
lediglich die Höhe des möglichen Wirkungsgrades zur Erörterung stehen. 

D. Zeit- und Kostenersparnis 

Was schlieOlich den Einwand betrifft, die experimentelle Analyse verlange im 
Verhaltnis zur Ausfüllung des Beobachtungsbogens mehr Zeit und Kosten, so 
kann auch diese Behauptung kaum ernsthaft mit erforderlichen Unterlagen belegt 



136 


Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktiscben Psychologie 


werden. Aufstellungen über die für die gewissenhafte und richtige AusFüllung 
der Frageliste erforderlichen Zeiten besitzen wir nicht, sondern man ist hier nur 
auf Schatzungen angewiesen. Wenn darauF hingewiesen wird, daö man den Frage- 
bogen gelegentlich wahrend der Frühstückspause im KonFerenzzimmer ausFüllen 
kann, wahrend Für die psychotechnische Untersuchung zum mindesten ein Fach- 
mannisch geschulter Spezialist mit gewissen PrüFeinrichtungen erForderlich ist, 
der die Untersuchung ausFührt und die Ergebnisse auswertet, so ist auch hier 
ein Fehler in der Rechnung, da bisher nicht der Beweis erbracht wurde, in 
welchem MaOe solche gelegentlichen Angaben in der Frühstückspause gemacht 
worden sind bzw. ob diesen Angaben überhaupt irgendeine Bedeutung zukommt. 
Man darF nicht vergessen, daU zwar die NiederschriFt einer Beobachtung einige 
Minuten beansprucht, daO dagegen die Erzielung wertvoller und einwandFreier 
Beobachtungen eine planmaOige Arbeit in der Unterrichtszeit voraussetzt, deren 
Zeitwert zu errechnen ware und deren Zeitdauer der eigentlichen Erziehungs- 
arbeit nur indirekt zugute kommt, ganz abgesehen davon, daO eine gründiiche 
und planmaOige Beobachtung offenbar Klassen von 8—10, nicht von 30—40 Schülern 
voraussetzt, sowie die Anstellung von Fachtechnisch geschulten Spezialisten wün- 
schenswert erscheinen laOt, MaOnahmen, deren Kosten ganz gewaltig hoch sich 
belauFen würden. 

Trotz dieser Bedenken ware es durchaus töricht, wenn der Experimentator 
von vornherein darauF verzichten wollte, Unterstützung durch die Fragebogen- 
methodik zu erhalten. lm Gegenteil, da auch er die Beobachtung im Rahmen 
seiner Untersuchung schatzt, wird er es auFs auDerste begrüDen, wenn er zur 
Erganzung seiner eigenen Arbeit sowie zur Bereicherung seiner eigenen BeFunde 
gesicherte und einwandFreie Angaben, die auF Beobachtungen in der Praxis der 
Schule und des BeruFes beruhen, erhalten könnte. In der bisherigen Form Frei- 
lich sind die meisten der zur EinFührung empFohlenen Fragebogen durchaus von 
Fragwürdigem Wert, und erst durch eine wissenschaFtliche Grundlegung kann die 
Beobachtungsmethodik zu einem brauchbaren Mittel der FahigkeitsFeststeiiung 
entwickelt werden. 

III. Bedenken gegen Theorie und Praxis der Eigenschaftsfeststellung 

durch Ausfragung 

Die Haupteinwande gegen die Fragelisten können ihre Berechtigung aus der 
Beschaffenheit der bisherigen Fragebogen, wie sie ohne vorherige gründliche 
Eichung aller einzelnen Fragen entworFen und zusammengestellt wurden, und aus 
den bisherigen Antworten der Lehrer und Praktiker herleiten. Der bisherige 
MiOerFolg weist darauF hin, daO in der Sache seibst Schwierigkeiten gelegen sind, 
so daO alie die AngrifFe auF die „Bequemlichkeit* des Lehrers und Praktikers, 
der sich der Mühe der Beantwortung nicht unterziehen wili, in sehr vielen Fallen 
durchaus haltlos sind. Der Psychologe, der durch Aussageversuche geschult 
sein solite, vergiOt beim AuFstellen der Fragebogen sehr oFt, daO schon die auF- 



Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


137 


zahlende Wiedergabe der Inhalte eines unter günstigen Bedingungen einmal oder 
mehrmals dargebotenen und betrachteten Bildes oder Vorganges grofie Unsicher- 
heit der Aussage ergibt, die teils in dem der Beobachtung zugrunde liegenden 
objektiven Tatbestanden, teils in der Person des Betrachters, teils im ProzeO 
der Wahrnehmung, Erinnerung und Wertung begründet sind. Wird nun im Frage- 
bogen neben Beurteilung der eigentlichen Schularbeit eine Aussage über innerste 
Gefühls- und Willensregungen des Schillers verlangt, so muB naturgemaC die 
Unsicherheit des Beobachtungsergebnisses wachsen, und nur eine kritische prak¬ 
tisch-psychologische Grundlegung und Eichung aller Fragelisten, Hand in Hand 
mit fortlauFenden Erfolgskontrollen, wird einen Fortschritt der Fragebogentechnik 
ermöglichen können. 

A. Allgemeinste Bestandteile jeder Beobachtung 

Zergliedern wir die Beobachtung einer Person durch irgendeine ihr gleich- 
geordnete oder übergeordnete Instanz, so sind eine Fülle individual- und kollektiv- 
psychologischer Faktoren, die nach generellen und difFerentiellen Gesichtspunkten 
zu werten sind, wohl zu bedenken. 

1. Wahrnehmung 

Mitunter ist der Tatbestand der Wahrnehmung für die Erfassung wesentlicher 
Merkmale in ihm so schwierig, daO die unbewafFnete und reine Beobachtung 
seibst unter günstigsten Bedingungen nicht ausreicht. Flüchtige und gelegentliche 
AuQerungen werden nicht bemerkt, unwesentliche Reaktionen dagegen falschlich 
registriert und zur Charakteristik verwendet. Durch Ausfalle in der Wahrnehmung 
sind mehr oder weniger Lücken der Beobachtungsangaben möglich, wahrschein- 
lich, ja notwendig. 

2. Erinnerung 

Soll nun der Tatbestand der Wahrnehmung nach gewissen zeitlichen Ab- 
schnitten verwendet und bewertet werden, so treten Umformungen im Ge- 
dachtnis ein, und bei Protokollierung und Niederschrift des mehr oder weniger 
lange Zeit zurückliegenden Wahrnehmungsbestandes sind von neuem Gefahren- 
quellen gegeben, die dem Praktiker teilweise seibst zum BewuOtsein kommen. 
Eine Ungezogenheit des Knaben wirkt im Gedachtnis nach, zieht alle gegebenen- 
falls ahnlich zu deutenden AuCerungsformen des Schillers gleichsam in ihren 
Bereich, und durch die Umformung der Wahrnehmung sowie die Selektion ihrer 
Inhalte und Gedachtnisrückstande wird nach AbschluB der Ausbildungszeit bei 
der Rückschau auf die Leistung des Schülers gelegentlich des Zensurentermins 
eine spezihsche Farbung aller Angaben des Beurteilers hervorgerufen werden 
können, so daB die gegen den Willen des Lehrers infolge der mechanisch wir- 
kenden Verschmelzungen, Umformungen und Auslesen des Gedachtnisses ein- 
tretenden Falschungen mit in den Umkreis der kritischen Beurteilung der Er- 
innerungsangaben zu ziehen sind. 



138 


Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


3. Deutung und Wertung 

Die mannigfachen Erlebnisse des Lehrers und die Erfahrungen mit seinem 
Zögling wollen nicht nur in Wahrnehmung und Erinnerung registriert und wieder- 
gegeben werden, sondern sie sind nun vom Lehrer zu werten und zu deuten. 
Hier liegt die gröOte Gefahr für eine objektive Erfassung der den AuQerungen 
des Schillers zugrunde liegenden inneren. Anlagen. Da der Lehrer stets eine 
bestimmte Norm seinem Werturtell zugrunde legen wird — entweder ausgesprochen 
oder nicht ausgesprochen —, so kann die Wertung ganz verschieden ausfallen, 
und der eine wird AuQerungen des Übermutes als moralische Schwache des 
Schülers deuten, der andere dagegen als erfreuliches Symptom jugendlichen 
KraftbewuOtseins. Der Beobachter wird, wenn er die Umstande nicht kritisch 
wertet, Gefahr iaufen können, die Fahigkeiten des Schülers, beispielsweise den 
bei seinen Hausarbeiten bewiesenen FleiQ, auf ein falsches Konto zu buchen, 
wenn er beispielsweise die Erziehungsbeihilfen der Familie nicht kennt und in 
ihrer Bedeutung sicherstellen kann. Die Beteiligung des Schülers am Unterricht 
nach psychologischen Gesichtspunkten zu zergliedern, Aufmerksamkeit und 
Interesse zu sondern von Kombination, Kritik und Urteilsvermögen, ist ohne lang- 
jahrige Schulung und Erfahrung sowie psychologische Vorbildung und Eignung nur 
ungefahr möglich. Auch die Verwertung der Aussagen mehrerer Beobachter über 
den gleichen Schüler kann nur unter bestimmten Bedingungen den Sachverhalt 
aufhellen, da mitunter ein einstimmig als unfahig entlassener Schüler, man denke 
an die Lebensgeschichte groQer Manner, in seinen spateren FahigkeitsauQerungen 
die Beobachtung und Wertung des Lehrers sowie des Kollegiums Lügen straft. 
GewiQ wird man an der Sicherstellung der Beobachtungsangaben durch mehrere 
Beobachter festhalten müssen, ja mitunter sogar nur unter dieser Bedingung wichtige 
Angaben der Fragelisten verwerten dürfen, doch darf man nicht übersehen, daB 
gerade bei der Deutung psychologischer Tatbestande ein gut geschulter und gut 
befahigter Beobachter in seinem alleinstehenden Urteil der Wahrheit naher- 
kommen kann, als die Haufung von’ Angaben einer noch so groOen Zahl schlechter 
Beurteiler. 

Die Deutung und Wertung verlangt also eine eingehende psychologische 
Arbeitsstudie der Schulbetatigung. Sie verlangt weiter, daB typische Falie der 
Verhaltungsweisen von Schülern analysiert und in ihrer psychologischen Ver- 
ursachung klargelegt werden. Sie verlangt weiter einen geeigneten Beobachter, 
der nicht nur den objektiv erfaBbaren Vorgangen seiner Umwelt gegenüber nicht 
versagt, sondern dem auch die Gabe der Einfühlung zu Gebote steht. 

4. Sprachliche Formulierung 

Die Anarchie auf dem Geblete der psychologischen Bezeichnungsweise bringt 
groBe Gefahren bei der Formulierung psychologischer Beobachtungsbestande mit 
sich. Wir haben in der Psychologie keine allgemein anerkannte Formelsprache wie 
etwa in der Chemie, sondern verfügen nur über eine aus volkstümlichen und wissen- 



Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 139 

schaftlichen Bestandstiicken bunt gemischte Terminologie. Allgemeine Angaben 
über „Aufmerksamkeit‘‘ sind so vieldeutig, daO es oft Zufall ist, wenn der Leser 
und Verwerter der Antworten der Frageliste das gleiche vermutet wie der 
Beobachter und Ausfüller. Konzentration, logisches und mechanisches Ge- 
dachtnis, Spontaneitat und Arbeitswille u. a. m. sind weitere Beispiele für die 
Schwlerigkeiten der Bezeichnung bestimmter schulischer und beruflicher Ver- 
haltungsweisen. Nur die Aussprache am Verhandlungstisch der Par- 
teien bringt gegebenenfalls die Möglichkeit einer Verstandigung und verheiBt 
eine mehr oder weniger gesicherte Erfassung des in dem sprachlichen Gewand 
mannigfach umkleideten Beobachtungs- und Tatsachenkerns. Wenn gar Anhanger 
einer bestimmten psychologischen Schule ohne weiteres die Kenntnis ihrerFormel- 
sprache beim Schul- und Berufspraktiker voraussetzen und wenn sie unbesehen 
die Angaben beisplelsweise über „Aufmerksamkeit" und „Gedachtnis" bei ihrer 
Auslese mit verwerten, so werden mitunter mlt dem gleichen Wort die ver- 
schiedensten Tatbestande und Fahigkeiten bezeichnet, die mitunter überhaupt 
nichts miteinander zu tun haben. Nur die Aussprache des Praktikers und des 
Psychologen über die der Angabe zugrunde liegende tatsachliche Erfahrung wird 
in günstigen Fallen eine Aufhellung ermöglichen lassen. 

5. Quantifizierung 

Verlangt man vom Praktiker über das qualitative Urteil hinaus ein quantita- 
tives lm Sinne von Zensuren und Noten oder im Sinne von Rangreihen, so 
ergeben sich neue Gefahren. Denn schon bei der allgemeinen fünfgliedrigen 
Zensurenskala ist die Zensur doch auch immer gleichzeitig eine Wertskala 
auch für den Lehrer selbst. Ein Lehrer, der hohe Anforderungen an slch 
und die Schüler stellt, spricht von genügenden Leistungen, wo ein anderer von 
gut, ja sehr gut redet, wie unsere Erfahrungen lehren. Die groBe Unsicherheit 
gerade der Bewertung des Grades von Leistungen oder gar von Fahigkeiten, 
wenn sie analytisch oder in einer Gesamtnote verlangt wird, kann aus der Er¬ 
fahrung mannigfach belegt werden. Die Telephonamter Berlins beispielsweise 
warfen ihre Beobachtungsrangreihe der Telephonistinnen urn, als ihnen die 
Rangreihe des Laboratoriums bekanntgegeben wurde. 

Hier gilt es die verschiedenen Umstande zu berücksichtlgen, die derartigen 
Notengebungen zugrunde liegen können. Der Lehrer, der bei Schulentlassung 
seinen Zögling nicht schadigen will, pflegt mitunter die Noten besonders über 
moralische Qualitaten nicht unerheblich heraufzusetzen. Der Praktiker, der das 
Ergebnis seiner Erziehungsarbelt am Schlusse des Jahres in der Zensur nieder- 
legt, ist schlieBlich gewöhnt, da es üblich ist, ja ist mitunter beauftragt, da es 
gewünscht wird, einen bestimmten Prozentsatz der Klasse als versetzungs- und 
fahigkeitsreif zum Aufstieg zu empfehlen oder bei Lehrlingen eine erhöhte Be- 
zahlung zuzubilligen, da sie hochwertlger geworden sind. Hier wird also das 
Quantitatsurteil durch die Aufgabe und das Wesen der Berufsstellung beeinBuBt. 



140 


Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


Wenn eine Statistik von den gebrauchlichen Noten überhaupt angelegt wird, 
so scheiden sich, wie Marbe gezeigt hat, die sicher rangierenden Lehrer von 
den KompromiQlern, die Zwischennoten bevorzugen und die bei Rangreihen nach 
unseren Erfahrungen gelegentlich der Halfte der Schüler, wenn 20 zu rangieren 
sind, den gleichen Platz anweisen. 

Deswegen kann man sagen, daO in den Noten nicht nur der Schüler sich 
spiegelt, sondern auch der Lehrer, seine Persönlichkeit sowie sein eigener 
AnforderungsmaOstab, ja schlieOlich die gesamte Erziehungsorgani- 
sation, die in ihrem Rahmen bei bestimmten Gelegenheiten Noten bestimmter 
Art üblicherweise verlangt und erteilt wissen will. Der Lehrer setzt sich sogar 
Schadigungen aus, wenn er beispielsweise zu schlecht zensiert oder wenn er 
etwa - dies ist eln Fall unserer Erfahrung — einem Prüfling in den Be¬ 
obachtungsbogen die Bemerkung schreibt: „Er ist unsauber, schmutzig und lieder- 
lich und Infolgedessen nur zu solchen Arbeiten zu gebrauchen, bei denen es 
auf diese Ausfalle seiner Persönlichkeit nicht ankommt", und wenn nun der 
Erziehungsberechtigte, etwa der Vater, von dem Grund der Abweisung seines 
Sohnes bei Bewerbung urn eine Lehrstelle horend, den Lehrer mehr oder weniger 
eindringlich zur Rede stellt, ja mit Tatlichkeiten bedroht. Gerade solche leb¬ 
haften Auseinandersetzungen der Parteien, bei denen es zu Tatlichkeiten kommen 
kann, zum mindesten aber zu Androhungen von Gewalt, sind bei entschei- 
denden Abschnitten der Lebensentwicklung zu erwarten. Mit gewisser Vorsicht 
sind daher gerade die durch den Beobachtungsbogen erstrebten Angaben über 
die moralischen Anlagen des Schülers und Lehrlings zu bewerten. 

Da der Lehrer ein bestimmtes Erziehungsziel hat oder da der Meister eine 
bestimmte Arbeitsmenge von gewisser Güte abliefern soll, so wird er natur- 
gemaO alle diejenigen Knaben höher einschatzen und besser bewerten, mit 
denen er reibungsloser das gegebene Ziel erreicht, die ihm also freundlich und 
willig entgegenkommen, auf seine Vorschlage eingehen, nicht zu Dummheiten 
und Quertreibereien geneigt sind und ihre Mitschüler anzustecken befahigt er- 
scheinen. Es ist daher kein Wunder, daO Fahigkeitsnoten des Laboratoriums und 
Fahigkeitsurteile des Praktikers auf Grund seiner Beobachtungsangaben mitunter 
ganz erhebliche, aber in ihrer Richtung durchaus verstandliche Unterschiede auf- 
welsen. Beispielsweise ist eine Statistik einer Lehrlingsgruppe von H. K. E. sehr 
lehrreich. Hier wurde das Prüfungsergebnis im Laboratorium der Rangreihe zu- 
grunde gelegt und der Werkschulleiter sollte an der Hand des ihm gegebenen 
Beobachtungsbogens qualitativ und quantitativ, analytisch und zusammenfassend 
die in Frage kommende Lehrlingsgruppe beurteilen. Wir ersehen aus der 
Tabelle 1, daO immer da der Prüfling im Laboratorium besser als im Prak- 
tikerurteil abschneidet, wo im Beobachtungsbogen sich die Angaben finden; 
„Verstockt, frech, herausfordernd, trotzig, undiszipliniert, eingebildet, hnsteres 
Aussehen“, wahrend wir dagegen in der Praxis immer dann einen höheren Ge- 
samtplatz im Verhaltnis zur Wertnote des Laboratoriums finden, wo der Be- 



Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


141 


obachtungsbogen angibt; „Der Knabe ist artig, ruhig, ehrerbietig, anstandig, 
demütig.® Die Beispiele lieBen sich beliebig- vermehren, um auf die Gefahr der 
Quantifizierung noch eindringlicher hinzudeuten. 


Tabelle 1. Erfolgskontrolle Gruppe H. K. E. 


Name 

Labor.- 

Rang- 

reihe 

Werk- 

scbule 

Werk- 

statt 

Gesamt- 

platz 

Differenz 
aus 
Labor. 
u. Praxis 

Beobachtungsbogen 

Bei. . . 

2 

7 

6 

6 

+ 4 

verstockt, frech, heraus- 
fordernd usw. 

Ew. . . 

9 

4 

4 

5 

— 4 

demütig, ruhig und sachlich 

Ho. . . 

10 

8 

7 

7,5 

-2,5 


Hu. . . 

4 

6 

1 

3,5 

— 0,5 


Kö. . . 

3 

10 

9 

10 

4-7 

eingebildet, trotzig, ruppig, un- 
diszipliniert, frech, finsteres Aus- 
sehen 

Kr.. . . 

5 

3 

3 

2 

— 3 

ruhig, sachlich, anstandig 

Le.. . . 

7 

5 

10 

7.5 

4-0,5 


Lu., . . 

6 

2 

5 

3,5 

— 2,5 

sehr artig, ruhig, ehrerbietig 

Ra.. . . 

1 

1 

2 

1 

0 


Wan. . 

8 

9 

8 

9 

-41 



B. Die Beobachtung des Praktikers als Unbekannte und ihre Aufhellung 

durch vergleichende Studiën zwischen Laboratorium und Praxis 

Aus allem ergibt sich die Bedingtheit des Praktikerurteils. Es ist bedingt 
durch seine Persönlichkeit, ihre Vorbildung, Erfahrung und Einstellung, durch 
die Beobachtungsumstande sowie durch eine Fülle sonstiger, im einzelnen schwierig 
nachweisbarer Faktoren, Die Struktur des Praktikerurteils ist daher zunachst 
eine groOe Unbekannte, die in jedweden Fragebogen eingeht, und nur durch 
planmaOige vergleichende Studiën, in denen Laboratoriumsurteil und Praktiker- 
gutachten gegenübergestellt werden, kann eine Einsicht in die Urteilsgrundlagen 
der Praxis ganz allgemein und eines spezieilen Praktikers alimahlich gewonnen 
werden. Das Urteil des Laboratoriums, so gut oder schlecht es auch sein mag, 
hat den groCen Vorzug, sich aus einer begrenzten Anzahl nachweisbarer quanti- 
tativ und qualitativ belegter Bestandteile aufzubauen. Wirgeben im Laboratoriums¬ 
urteil an: Die Handgeschicklichkeit wurde durch fünf Proben gewertet, die sich 
auf diese bzw. jene berufswichtige Funktion erstreckten und auf diese bzw. jene 
Weise verrechnet werden. Wenn wir nun auch aus den einzelnen geprüften 
Fahigkeiten Gesamtnoten über den Eignungswert des Lehrlings bilden, so ist es 
dennoch möglich, da die Bestandstücke der Endnote gegeben sind, durch ana¬ 
lytische Kontrollen die Beziehungen aufzustellen, in denen das Laboratoriumsurteil 
zum Praktikerurteil steht. 





142 


Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


Tafel 2 


Schema der analytischen Bezlehungskontrolle zwischen Laboratorlum- 


I. Rangreihe auf Grund des 
Praktikerurteils in Schule, 
Werkstaft, Büro 
R P 


B. Vergleich der Rangreihen aus Praxis und Laboratorium: 

RP : RL 
RP ; RL(A) 

; RL (B) usw. 

R P ; R L (A + B) 

: R L (A + C) usw. 

C. Abstimmung der Rangreihen 

durch Verwendung der auf Grund der Korrelationsrechnung abgeleiteten Gewicbtsfaktoren 
für die analytischen Reihen des Laboratoriumurteils. 


und Praktlkerurteü 
A. Die Grundlagen: 

II. Rangreihe der psychotechnischen Prüfstelle 
RL 

bestehend z. B. aus den Rangreihen 


A 

Sinnes- 
tüchtigkeit 
RL (A) 



B 

Hand- 

geschicklichkeit 
RL (B) 


C 

Aufmerk- 
samkeit 
RL (C) 


D 

Intelligenz 
RL (D) 


Nehmen wir an, die durch Praktikerurteil gewonnene Rangreihe RP steht 
einer Laboratoriumsrangreihe RLgegenüber (vgl.Tafel 2), die aus den Komponenten 
A, B, C, D gebildet wurde. Vergleichen wir zunachst die Gesamtrangreihen mit- 
einander, so ergeben sich, wie die Erfahrung lehrt, die mannigfachsten Ober- 
einstimmungen, aber auch ünstimmigkeiten, wenn das aus den gleichen Bestand¬ 
teilen abgeleitete und durch die gleiche Prüfung gewonnene Laboratoriumsurteil 
dem Praktikerurteil der einzelnen Schulen, Werkstatten und Büros gegenüber- 
gestellt wird. Gehen wir nun den Bedingungen des Zusammenhanges nach, so 
hnden wir sehr oft den Fall, daO die Rangreihen des Laboratoriumsgutachtens, 
die den Funktionen A und B entsprechen, beinahe völlig übereinstimmen, wahrend 
die Funktionswerte der Reihen C und D völllg abweichen. In anderen Fallen 
wieder ist eine Übereinstimmung gerade der Rangreihen der geprüften Funktionen 
C und D augenfallig, wahrend die Rangwerte für A und B sehr gering korrelieren. 
Auf diese Weise kann man bei hinreichender Erfahrung mit bestimmten Schulen, 
Werkstatten und Büros das Praktikerurteil errechnen, indem man Gewichts- 
ziffern bei den einzelnen Funktionswerten anbringt und erhalt dann mitunter 
eine erstaunliche Übereinstimmung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Ex¬ 
periment und Beobachtung. In Worten ausgesprochen können wir dann detn 
Praktiker sagen: „Wenn Sie Rangreihen der Brauchbarkeit Ihrer Lehrlinge auf- 
stellen, so legen Sie vorwiegend die reine Handgeschicklichkeit zugrunde, nicht 





Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


143 


dagegen die intellektueile Befahigung Ihrer Zöglinge; denn es bestehen kaum 
Unstimmigkeiten, wenn unsere Proben der Handgeschicklichkeit Ihren Noten der 
allgemeinen Tüchtigkeit des Lehrlings gegenübergestellt werden." Oder wlr können 
dem Lehrer der Schule X sagen: „Ihre Fahigkeitsrangreihe der Schüler beruht 
ofFenbar auf vorwiegender Beurteilung der Auffassungs- und Gedachtnisleistungen 
der Klassenangehörigen, denn unsere Versuchsreihen, die das Auffassen, Behalten 
und Wiedergeben prüfen, zeigen eine auffallende Harmonie mit Ihren Zensuren, 
wahrend unsere Proben, die das Kombinieren, Urteilen und kritische Denken 
zu erfassen bestrebt sind, recht erhebliche Ausfalle gegenüber Ihrer Zensierung 
aufweisen.® 

Auf diese Weise kann die groOe Unbekannte, die das Praktikerurteil zunachst 
darstellt, allmahlich aufgehellt werden, und es ist mitunter möglich, die Grund- 
lagen der Beurteilung und Wertung aufzuRnden, die den Angaben und Wertungen 
des Beobachtungsbogens zugrunde gelegt worden sind. 

C. Konstanz und Schwankungsbreite derLeistung in Schule und Beruf 

Genau wie das Experiment den Querschnitt durch die Fahigkeitsreaktionen 
des Prüflings zu einem gewissen Zeitpunkt macht, einen Querschnitt, in dem 
frühere Erfahrungen des Prüflings sich auswirken und künftige Entwicklungs- 
möglichkeiten angedeutet sind, genau so wird im Beobachtungsbogen über einen 
bestimmten Zeitabschnitt geurteilt, und genau wie Schwankungen bei den Stich- 
proben experimenteller Art zu verschiedenen Zeiten zu erwarten sind, genau so 
wird die Fahigkeitsbeurteilung durch die Beobachtung an den einzelnen Ter- 
minen gewisse Schwankungen aufweisen. Wenn wir nun einen bestimmten zeit- 
lichen Querschnitt herausgreifen, also das Ergebnis der experimentellen Unter- 
suchung eines bestimmten Termins zugrunde legen und dies Ergebnis mit den 
Angaben des Beobachtungsbogens über eine bestimmte Zeitspanne vergleichen, 
so muO die Schwankungsbreite, die beiden Instanzen zukommen wird, von vorn- 
herein nicht auDer Acht gelassen werden. 

Sehr lehrreich für die Schwankungen der praktischen Leistungen ist eine 
Statistik der Lehrlingsgruppe K. O., die sich auf sechs Monate bezieht. Hier 
wurde von einer Beobachtungsrangreihe des Meisters nach einem bestimmten 
Abschnitt der Lehrlingsausbildung ausgegangen, und wir wollten feststellen, in 
welcher Weise die dem Urteil zugrunde liegenden tatsachlichen Leistungen der 
Lehrlinge im Laufe der einzelnen Beobachtungsmonate Schwankungen unter- 
worfen waren. Wir nahmen als MaBstab der Lehrlingsleistung die Zeit, die 
der Prüfling zur Ausführung bestimmter lehrplanmaliiger Werkstattsarbeiten ge- 
braucht hatte. In diesem Zeitwert steekt auch eine Qualitatsnote, da das 
Werkstück erst dann abgenommen wurde, wenn es eine gewisse Güte aufwies, 
und so oft zurückgegeben wurde, bis es als qualitativ abnahmefahig vom Meister 
erklart wurde. Gewifi ist dieser Wert, der Arbeitsgüte und Arbeitsschnelligkeit 
in gewisser Weise beleuchtet, durchaus nicht ideal, doch ist er immerhin besser 



144 


Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie 


als gar keine objektiv belegte Angabe der Praxis. Einige seiner Mangel seien 
erwahnt: Die Zeit für Fehlerausgleich ist je nach der Art des Fehlers verschieden, 
MiQmut tind Unlust des Prüflings bei mehrfacher Zurückweisung können auf- 
treten, Ungeduld und Nachlassen der Meisteranforderungen bei allzu haufiger 
Zurückgabe werden zu beobachten sein u. a. m. 


Tabelle 3 

Leistungs-Statistik und Meisterurteil in der Lehrlings-Werkstatt 

Gruppe K. O. 


Name des 
Lebriings 


Arbeitsstücke 

nebst gebrauchten Zeiten 

und 

erteilten Rangplatzen 




Is 

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Dl 

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5 

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8 

3 

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2 

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(78,5) 6 

3 

(2) 


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b—c 

c—d 

d—e 

e-f 

f—g 

g-h 

h~i 

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m—n 

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Korrel.- Meisterurteil 

koefflzienten 


0.27 

0,541 

0,118 

0,667 

m 

0,756 

0,714 


0,256 


0,387 

0,252 


u. Gesamtleistung o 
=-f0,41 ;wF = i0,21 


Wenn wir nun die tatsachlichen Leistungen der Lehrlinge in derWerkschule an der 
Hand der Arbeitszeiten für die Stücke a—p miteinander vergleichen (vgl. Tabelle 3), 
so zeigen sich teilweise ganz erhebliche Schwankungen des Rangplatzes, der dem 
einzelnen Lehrling bei den einzelnen von ihm geforderten Arbeiten zukommt, 
ein Umstand, der natürlich durchaus zu erwarten war, da die Anforderungen an 
das Feilen eines Würfels andere sind wie bei Herstellung eines Gewindebolzens 
oder eines Hammers, und da je nach der speziHschen Begabung des Prüflings 
wohl die eine Arbeit besser und schneller als die andere ausgeführt werden wird. 
Die Korrelationskoefflzienten zwischen den einzelnen Rangreihen erstrecken sich 
denn auch von +0,8 bis —0,4. 

Summieren wir die Rangplatze der einzelnen Leistungen, bilden also Gesamtnoten 
der praktiscben Betatigung, und vergleichen mit diesen Gesamtnoten die Rang¬ 
platze auf Grund der Beobachtung des Meisters, so ergibt sich eine an sich 
merkliche Übereinstimmung zwischen beiden WertmaCstaben bei einem aller- 














































Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


145 


dings sehr groGen wahrscheinlichen Fehler. ((> = 0,41; wF = ± 0,21.) Das Urteil 
zwischen Leistungsstatistik und Melsterzensur ist in einigen Fallen recht über- 
einstimmend. Beispielsweise bleibt der erste des Meisterurteils fast durchweg 
auch bei der Zeit- und Qualitatsstatistik der erste wahrend der verschiedenen 
Arbeitsmonate hindurch. Der schlechteste dagegen der Meisterzensurierung, der 
die Note 4 erhalt, schneidet bei der Leistungsstatistik wesentlich besser ab, ist 
er doch mitunter bei einzelnen Arbeiten der Beste oder unter den Besten, falls 


Tabelle 4 

Korrelationskoeffizienten ( q ) in aufsteigender Reihe 
zwischen 


A 

Einzelarbeit und 
Gesamtieistung 

B 

Einzelarbeit und 

Gesamturteil des Meisters 



(> 


e 


e 

Bohrschablone 

— 0,01 

1 

— 0,208 

Gewindebolzen 

f 

Winkel 

0,071 

c 

— 0,101 

Dreikant 

n 

Schraubenzieher 

0,137 

d 

0,048 

Sechskant 

0 

Tasterzirkel 

0,262 

k 

0,134 

Gewindelehre 

c 

Dreikant 

0,28 

f 

0,205 

Winkel 

a 

Würfel 

0,405 

n 

0,232 

Schraubenzieher 

k 

Gewindelehre 

0,548 


0,262 

Hammer 

P 

Lochtaster 

0,590 

m 

0,333 

PaOstück 

h 

Flachkeil 

0,819 

a 

0,381 

Würfel 

i 

Hammer 

0,619 

e 

0,384 

Bohrschablone 

m 

Pafistück 

0,691 

b 

0,495 

Vierkant 

1 

Gewindebolzen 

0,721 

P 

0,598 

Lochtaster 

d 

Sechskant 

0,725 

0 

0,642 

Tasterzirkel 

b 

Vierkant 

0,779 

h 

0,642 

Flachkeil 

g 

Durchschlag 

0,851 

g 

0,685 

Durchschlag 


die Arbeitszeit des abnahmefahigen Werkstückes als MaOstab zugrunde gelegt 
wird. Natürlich differenziert die Leistungsstatistik scharfer als das Urteil des 
Meisters, der nur 4 Noten, die von 1—4 reichen, erteilen wollte. Wandelt 
man die Notengruppen des Meisters in eine steigende Rangreihe um, so 
können Korrelationskoeffizienten errechnet werden zwischen Einzel- und Gesamt- 
leistung bzw. Meisterurteil, die in Tabelle 4 in aufsteigender Reihe wiedergegeben 
sind. Man sieht, daO die gröBte Übereinstimmung zwischen dem Endurteil des 
Meisters und Einzelarbeiten, b, p, o, h, g, der Lehrlinge besteht. Die Arbelten: 
Vierkant, Lochtaster, Tasterzirkel, Flachkeil, Durchschlag sind offenbar mehr 
oder weniger reprasentativ für die Beurteilung der Lehrlingsqualitat durch den 
Meister. Ein anderer Beobachter dagegen kann sein Werturteil auf andere Ar- 

P. P. IV.5. 10 




146 


Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


beiten stützen, die vielieicht für ihn gröOeresymptomatische Bedeutung fürErfassung 
der Arbeiterqualitat besitzen. Würde er beispielsweise im vorliegenden Falie Ge- 
windebolzen, Dreikant und Sechskant für besonders kennzeichnende Arbeitsstücke 
halten und bewerten, so kame eine wesentlich andere Rangreihe der Lehrlinge zu- 
stande. Auch istdieZeitdauer derBeobachtung vongroOer Bedeutung. Würde schon 
nach 3—4 Arbeitsstücken ein Urteil abzuleiten sein, so würden wir ganz andere Wert- 
noten erhalten als nach 8—10 Werkstattleistungen. Mitunter liegen die Beurteilungs- 
bedingungen bei gleichförmiger Beschaftigung des Facharbeiters teilweise günstiger. 

Die Leistungen selbst, gemessen am Zeitwert, weisen eine gewisse Stetigkeit, 
aber auch SchwankungsgröOe auF. Beziehen wir zunachst die Einzelleistungen 
auf die Gesamtleistung der Sechsmonatsperiode, so zeigen die Arbeiten: PaD- 
stück, Gewindebolzen, Sechskant, Vierkant, Durchschlag die gröOte Überein- 
stimmung mit dem Leistungsendwert. 

Eine gewisse bevorzugte Stellung sowohl für Meisterendnote sowie Leistung 
und Wert weisen Durchschlag, Flachkeil, Lochtaster und Vierkant auf, 
wahrend beispielsweise der Tasterzirkel in der reinen Leistungs-Zeit-Statistik 
wenig Beziehung zum Endwert der Werkstattarbeiten verrat. 

Wir erkennen, daO, je nach den zufallig in der Lehrwerkstatt ausgeführten 
Arbeiten, der Zeitspanne, über die sich die Beobachtung erstreckt, und je nach 
der Art der Beurteilungsgrundlagen des das Stück abnehmenden Meisters, ganz 
verschiedene Noten den Prüflingen in den Beobachtungsbogen eingetragen werden 
dürften. Eine gewisse GröDe der Schwankung jedes Leistungswertes und jeder 
aus dem Leistungswert durch die Beobachtung abgeleiteten Fahigkeitsnote muO 
als selbstverstandllch zugegeben werden, und auch die tatsachliche Leistung wird 
in Schule, Werkstatt und Büro stets eine gewisse SchwankungsgröDe haben, die beim 
sich entwickelnden, aber auch bei dem erwachsenen Menschen nachzuweisen ist. 

Je nach dem zugrunde gelegten Ideal des „guten" Lehrlings sowie des „guten” 
Arbeiters wird bald diese, bald jene Arbeitsleistung oder gar Arbeitskomponente 
zur Ableitung des Werturteils bevorzugt, und es sind daher feste Urteilsgrund- 
lagen der Beobachtung vorzuschreiben, sowie reprasentative Arbeiten zu¬ 
grunde zu legen, nicht, wie meist üblich, in buntem Wechsel bald wertvolle, bald 
völlig belanglose Beobachtungsgelegenheiten in Schule und Beruf im Beobachtungs¬ 
bogen anzudeuten, damit der PraWker an der Hand der ihm gegebenen Arbeits- 
analysen typischer Falie seine Beobachtung auf berufswichtige Arbeiten erstreckt, 
um so nach Möglichkeit den Gefahren der zeltlichen und qualitativren Bedingtheit 
eines jeweiligen Leistungsurteils zu begegnen. 

IV. Erfahrungen mit dem Beobachtungsbogen bei der 
Begabtenauslese GroB-Berlin 

Die Vorauslese der Anwarter für die Begabtenschulen hndet in Berlin durch 
die Lehrer der Volksschulen statt, die geeignete Knaben der padagogisch-psycho- 
logischen Prüfkommission nennen. Bei dieser Vorauslese sollte nach Möglich- 



Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


147 


keit auch ein Fragebogen Verwendung finden und so ersuchte die Schulbehörde 
um Ausfüllung der behördlich eingeführten Rebhuhnschen Frageliste. Leider ist 
vondiesen Fragebogen auch nichtein einziger ausgefüllt und eingesandt worden, 
so daO seine Angaben in keiner Weise als Erganzung der psychotechnischen In- 
telligenzprüfung benutzt werden konnten. Rückfragen bei verschiedenen Kollegien 
ergaben, daO die Lehrer es für ganz unmöglich erkiarten, die ganz betrachtliche 
Anzahl von Fragen zu beantworten, zumal eine Reihe dieser Fragen durch Be- 
obachtung wahrend der Schulzeit überhaupt nicht beantwortet werden könnte. 
Andere wieder empfanden die starren Kategorien des Fragebogens ais Zwang, 
der ihnen untunlich erschien für ihr Bestreben, eine wertvolle und lebenswarme 
Charakteristik des Schülers zu geben. AufVorschlag der Prüfkommission wurde 
nunmehr die Lehrerschaft ersucht, entweder den Fragebogen auszufüllen oder eine 
freie Charakteristik der empfohlenen Zöglinge der Liste beizulegen. Dieses Ver- 
Fahren ergab schon wesentlich mehr, da eine ganze Reihe wertvoller Charakteristiken 
mit mehr oder weniger gut zergliederten Belegen für die Fahigkeitsbeurteilung 
in die Hande der Prüfkommission gelangten. 

SchlieOiich schlugen wir ein vermittelndes Verfahren derart vor, daO ein Frage¬ 
bogen zur Verteilung kommt, der nur wenige Fragen enthait und der Freiheit des 
Beantworters niöglichsten Spielraum gestattet. Dieser neue Fragebogen wurde prak¬ 
tisch für alle Begabungsschulanwarter mehr oder weniger gut ausgefüllt und der 
Behördeeingesandt. Es erscheintzweckmaBig, unsere Erfahrungen mitdiesem Bogen 
kritisch zu sichten. Der Entwurf des Bogens stammt von Rektor Ruthe und die 
Kommission redigierte auf Grund eingehender Besprechungen seinen Entwurf. 

Der Fragebogen (vgl. Tafel 5—7) soll vom Schularzt und vom Klassen- 
lehrer bzw. anderen Mitgliedern des Lehrkörpers ausgefüllt werden. Der 
Schularzt sollte Auskunft erteilen über den allgemeinen Zustand des Bewerbers, 
über die BeschafFenheit wichtiger innerer Organe, Lungen und Herz, über das 
Nervensystem und die Sinnesorgane, auch wurde nach Nervenkrankheiten in der 
Familie gefragt und schlieOlich für Bemerkungen wichtiger Art Raum gelassen. 
Das Urteil des Arztes war in einem Endergebnis zusammenzufassen, und der 
Schularzt sollte vermerken, ob er das Kind den gesteigerten Lernaufgaben der 
Begabtenschule für gewachsen hielt. 

lm ganzen waren von den Anwartern 5,6 % körperlich ungeeignet nach arztlichem 
Urteil (vgl.Tafel 7). Eine Beziehung zwischen körperlicher Geeignetheit und dem 
Ergebnis der psychotechnischen Intelligenzprüfung konnte nicht festgestellt werden, 
etwa derart, daO eine positive Korrelation zwischen körperlicher Leistungsfahig- 
keit und inteilektueller Befahigung oder auch umgekehrt bestande. Vielmehr 
verteilten sich die Untauglichen über die ganze Intelligenzrangreihe, die auf Grund 
der Prüfung aufgestellt wurde. Auch die „kraftig" beurtèilten Kinder sind In- 
haber der verschiedensten Platze dieser Reihe. 

Der Klassenlehrer bzw. andere Mitglieder des Lehrkörpers hatten die unter III. 
wiedergegebenen Auskünfte zu erteilen (Tafel 5/6). Zunachst wünschten wir zu 

10 * 


148 


Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktiscben Psychologie 


Tafel 5 

Fragebogen fOr die Begabtenauslese aus den GroB-Berliner Volksschulen 

I. Des Kindes Zu> und Vorname: N. S’. 

Geburtstag und Jabr: 

Scbule: 

Klasse: 

Beruf des Vaters: 

Wobnung; 

II. Vom Scbularzt auszufüllen. 

1. Sind in der Familie Nervenkrankbeiten vorgekommen? Nein. 

2. Allgemeinzustand (Linge und Gewicht angeben): 

151,5 cm 38,3 kg 

3. Innere Organe (tnsbesondere Lunge und Herz): Obne Besonderheiten. 

4. Nervensystem (Schlaf): Obne Besonderheiten. 

5. Sinnesorgane (insbesondere SehschSrfe, Hörfkbigkeit): Kurzsicbtig. 

6. Bemerkungen: KrSftig, wenn aucb etwas blutarm. 

7. Ist hiernach zu erwarten, daQ das Kind gesteigerten LernauFgaben gewacbsen sein wird? Ja. 

Der Schularzt: gez. Dr. N. N. 

III. Vom Klassenlehrer bzw. von anderen Mitgliedern des Lebrkörpers auszufüllen. 

1. U'ie lange kennen Sie das Kind nüber? 1. 10. 19. 

2. Welcben Rangplatz würden Sie dem Kinde innerhalb seiner Klasse geben? 2. 

a) nach seinen Leistungen: Platz 2 unter 24 SchQlern. 

b) nacb seinen Fibigkeiten: Platz 2 unter 24 Schülern. 

c) nach seinem FleiD: Platz 2 unter 24 Scbülern. 

d) Welcbe FSblgkeiten sind bei ihm am stSrksten ausgeprigt? Gute scbriftlicbe 
Darstellungen, flüssiger Stil. 

3. WQrden Sie Ihre Klasse als einen guten, mittelmaOigen oder unternormalen Jabrgang 
bezeichnen? (Zutreffendes unterstreichen.) 

4. Tritt bei dem Kinde innerhalb oder aulSerhalb der Schule irgendeine Sonderbegabung 
hervor? Wenn ja, wie SuQert sie sich? Nein. 

5. Falls das Kind besondere Beweise von Arbeitsenergie, Zuverlassigkeit oder anderen wert- 
vollen Willenseigenschaften gegeben hat, wird urn eine möglicbst eingehende Angabe 
entsprechender Tatsacben gebeten. Bei Aufsatzübungen istderjunge bestrebt, 
möglichst ausführlicbe Darlegungen in gutem Stil zu geben. HSuslicbe 
Aufgaben werden, aucb wenn sie mal reichlicher ausfallen, gewissenhaft 
von ihm ausgeführt. 

6. Liegen irgendwelcbe Bedenken in sittlicher Beziehung gegen das Kind vor? Nein. 

7. Liegen Erfahrungen vor, welche über Richtung, Starke, Dauer oder Feinheit des Gefühls- 
lebens des Kindes AufscbluO geben könnten? Bejahenden Falies: welche Erfahrungen 
sind dies? Der junge zeigt leicht Mutlosigkeit und Niedergesch la genheit, 
wenn er aus irgendeinem Grunde die Unzufriedenheit des Lehrers erregt 
hat. Anerkennung erweckt regen Arbeitseifer. 

8. Welchen Beruf möchte das Kind am liebsten ergreifen und wie begründet es seine Wahl? 
Tecbnischen Beruf: zeigt Freude an Fertigung technischer Zeichnungen 
und physikalischen Unterrichtsstoffen. 

9. Wird das Kind durch h3usliche Verhëitnisse gehemmt oder gefördert? lm allgemeinen 
recht gefördert, jedoch durch Erkrankung der Mutter zuweilen bei baus- 
iichen Arbeiten undVerrichtungen in Anspruch genommen. 

10. (Nur bei Knaben zu beantworten.) Welche Schulart wQrden Sie dem Kinde, unabhingig 
von wirtschaftlichen ErwSgungen, lediglich in Rücksicht auf die bestmögliche Entwicklung 
seiner Aniagen, empfehien? Realschule, danacb ev. Oberrealschule. 

11. FQr welche Schule haben sich die Eltern und das Kind nach Rücksprache mit dem 
Klassenlehrer entschieden? Realschule oder Gymnasium? (Zutreffendes unterstreichen.) 


Der Rektor: N.N.. 


Der Klassenlebrer: N N. 



Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie 149 

Tafel 6 

Fragebogen für die Begabtenauslese aus den Grofi-Berliner Volksschulen 

I. Des Kindes Zu- und Vorname: N. N. 

Geburtstag und Jahr: 

Schule; 

Klasse: 

Beruf des Vaters: 

Wobnung: 

11. Vom Schularzt auszufüllen. 

1. Sind in der Familie Nervenkrankbeiten vorgekommen? Angeblich nicht. 

2. Allgemeinzustand (LSnge und Gewicht angeben): 36,5 kg Gewicht. 1,48 m GröQe. 
Ziemlich kriftig. 

3. Innere Organe (insbesondere Lungen und Herz): OhneBefund. 

4. Nervensystem (Schlaf): Norm al. 

5. Sinnesorgane (insbesondere SehschSrfe, Hörfahigkeit): Nor mal. 

6. Bemerkungen: 

7. Ist hiemach zu erwarten, daB das Kind gesteigerten Lernaufgaben gewachsen sein wird? Ja. 

Der Schularzt: N. N. 

lil. Vom Klassenlehrer bzw. von anderen Mitgliedern des Lehrkörpers auszufüllen. 

1. Wie lange kennen Sie das Kind nSher? 1920 Oktober. 

2. Welcben Rangplatz würden Sie dem Kinde innerhalb seiner Klasse geben? 5. 

a) nach seinen Leistungen: Platz 5 unter 26 Schülern. 

b) nach seinen Fahigkeiten: Platz — unter Schülern. 

c) nach seinem FleiB: Platz — unter Schülern. 

d) Welche Fühigkeiten sind bei ihm am starksten ausgepragt? 

3. Würden Sie Ihre Klasse als einen guten, mittelmSBigen oder unternormalen Jabrgang 
beurteilen? (ZutrefFendes unterstreichen.) 

4. Tritt bei dem Kinde innerbaib oder auBerhalb der Schule irgendeine Sonderbegabung 
hervor? Wenn ja, wie SuBert sie sich? 

5. Falls das Kind besondere Beweise von Arbeitsenergie, Zuverlassigkeit oder anderen wert- 
vollen Willenseigenschaften gegeben bat, wird um eine möglichst eingehende Angabe 
entsprecbender Tatsacben gebeten. 

6. Liegen irgendwelche Bedenken in sittlicher Beziehung gegen das Kind vor? Nein. 

7. Liegen Erfahrungen vor, welche über Richtung, StSrke, Dauer oder Feinheit des Gefühls- 
lebens des Kindes AufschluB geben könnten? Bejahenden Falies: welche Erfahrungen 
sind dies? 

8. Welchen Beruf möchte das Kind am liebsten ergreifen und wie begründet es seine Wahl? 


9. Wird das Kind durch hausliche Verhaltnisse gehemmt oder gefördert? (Zutreffendes 
unterstreichen.) 

10. (Nur bei Knaben zu beantworten.) Welche Schulart würden Sie dem Kinde — unabhSngig 
von wirtschaftlicben Erw3gungen — lediglicb in Rücksicht auf die bestmögliche 
Entwicklung seiner Anlagen — empfehien? Gymnasium. 

11. Für welcbe Schule haben sich die EItern und das Kind nach Rücksprache mit dem 
Klassenlehrer entschieden? Realschule oder Gymnasium? (Zutrelfendes unterstreichen.) 


Der Rektor: N. N. 


Der Klassenlehrer: N. N. 



150 


Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


Tafel 7 


Statistische Erhebungen Ober den Fragebogen für die Berliner Begabtenauslese, 

Michaelis 1922 


1. Körperliche Ungeeignetheit. (Urteil des Arztes): 5,6 %. 

2. Zeitraum der Kenntnis der Schuier durch den Lehrer: Arithmet. Mittel 1,79 Jahre. 
(Mittl. Var. 0,89.) 


3. Identitdt des Rangplatzes in 

FleiO I 
Leistungen > 55,5 %. 

Fahigkeiten j 

Identitat von Leistungen (L) u. Fahigkeiten (F): 77 % (13% F) 

(10 % L < F) 

Identitat von Fahigkeiten und FleiO (F/): 60,3 % (17 % F> F7) 

(22% F<F/) 

Identitat von Leistungen und FleiO: 71,3% (12 % FZ) 

(16% L<FZ) 

4. Starkst entwickelte Fahigkeit: 


5. 


33,3 % Nennung von Fertigkeiten, 
66,6 % Nennung von Fdhigkeiten: 


Darstellen und Schildern.33,4 % 

Logisches Denken und Kombination . . . 24,5 % 

Gedachtnis.21,8% 

Auffassung.13,3 % 

Phantasie. 4,5 % 

Erfassung des Wesentlichen. 1,3 “u 

Beobachtungsgabe . . . ‘. 1,3 % 

Neigung zu selbstandigem Schaffen ... 1,2 % 


Sonderbegabung: 

Nichtbeantwortung oder Verneinung der Sonderbegabung . 57 % 

Schulleistungen und Fertigkeiten . 12 % 

Allgemeine Eigenschaften . Z % 

Besondere Fdhigkeiten . Z % 

Eigentliche Sonderbegabung . 30 % (davon 50 % belegt). 


Der Haufigkeit der Angabe nach geordnet treten auf: 

Zeichnen, Modellieren, Musik, Handgeschicklichkeit, sportliche Begabung, Führertalent. 


6. Arbeitsenergie, Zuverldssigkeit, wertvolle Willenseigenschaften nebst Belegen: 

Nichtbeantwortung . 38 % 

Willenseigenschaften (mit Belegen) . 27 % 

Willenseigenschaften (ohne Belege) . 34 % 

7. Sittliche Bedenken: 

Verneinung: 100%. 

8. Richtung, Sidrke, Dauer oder Feinheit des Gefühlslebens: 

Nichtbeantwortung 60 %, 

Belegte Angaben 20 % (unbelegte 20 %). 

9. Hemmung oder Förderung durch hdusliche Verhdltnisse: 

Gehemmt. 7 % ) 

Nicht gehemmt. 77,4 % ?• davon begründet: 20 %. 

Weder gehemmt noch gefördert . . 11,3 % \ 

Nicht beantwortet. 4,3 %. 

















Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


151 


wissen, auf wie lange Zeit die Beobachtung des Lehrers sich erstreckte, und konnten 
feststellen, daO im Mittel der Lehrer etwa IVi Jahre den Knaben kannte, mit 
einer Streuung von etwas mehr als V 4 Jahren. 

In gröBter Aniehnung an die Kategorien des Abgangszeugnisses wünschten 
wir eine Beurteilung des Knaben nach Leistungen, Fahigkeiten und FleiQ, wobei 
dem jeweiligen Bewerber ein bestlmmter Rangplatz in der Klasse zuzuweisen 
war. Der Lehrer also konnte die Auskunft geben: Der Knabe ist der Leistung 
nach der fünfte in einer Klasse von 26 Schülern, seinen Fahigkeiten nach da- 
gegen der Beste, seinem FlelC nach höchstens als zehnter oder elfter anzusetzen. 
Um auch über die „absolute" Höhe der Begabung einen gewissen Anhalt zu 
haben, sollte uns der Lehrer ein Werturteil über die Qualitat des gerade in Frage 
kommenden Jahrganges mitteilen. NaturgemaO kann der Beste eines schlechten 
Jahrganges durchaus noch unter einem mittelbefahigten Knaben eines guten 
Jahrganges stehen. Ist der gerade für die psychotechnische Auslese in Frage 
kommende Jahrgang unternormal, so kann bei dem relativen Charakter solcher 
psychotechnischer Auslesen, sofern keine absoluten durch frühere Erfahrungen 
gewonnenen Wertziffern zur Verfügung stehen und eingehalten werden, mit- 
unter bei ungünstigen Bedingungen kaum eine hinreichende Anzahl geeigneter 
Anwarter für die Schulen und Werkstatten herausgefunden werden. 

Trotz der zu erwartenden erheblichen Abweichungen für die Rangplatze in 
FleiO, Leistungen und Fahigkeiten steilte es sich heraus, daO im Durchschnitt 
bei 55,5% der Schüler, also bei etwas mehr als der Halfte, Abweichungen hinsicht- 
lich der Noten in Leistungen, FleiO und Fahigkeiten von dem Lehrer nicht vermerkt 
werden und zwar ist die höchste Übereinstimmung zwischen Leistungen 
und Fahigkeiten aufzufinden, da hier in 77% eine Identitat des Rangplatzes an- 
gegeben wird. Der Lehrer dürfte also vorwiegend, wie es zu erwarten war, auf die 
Leistungen den Schwerpunkt legen, jedenfalls solche Schüler für den Aufstieg vor 
allem vorsehen, bei denen im allgemeinen erhebliche Abweichungen zwischen 
Fahigkeiten und Leistungen ihm nicht vorliegend erscheinen. In 13% werden die 
Leistungen als besser als die Fahigkeiten angegeben, nur in 10% als geringer 
als die Fahigkeiten angegeben. In 71% stimmten Leistungen und FleiO überein 
und in 60% Fahigkeiten und FleiO, legen wir die Angaben dieses Fragebogens zu- 
grunde. Hervorzuheben ist das Ergebnis, daO in 22% der Falie der FleiO 
gröOer als die Fahigkeiten beurteilt wlrd. 

Die nachste Frage bezog sich auf die beim Schüler am starksten entwickelte 
Fahigkeit. Leider werden nur in Vs der Angaben eigentliche Fahigkeiten 
mitgeteilt, wahrend sich in dem Rest der Falie, also in 33% Fertigkeiten ge- 
nannt linden. Beispielsweise wird sehr hauiig gesagt: Schüler(in) NN ist ein guter 
und flotter Rechner, oder ein guter Geograph oder orthographisch sicher u. a. m. 
Dieser Ausfall muO ganz besonders berücksichtigt werden, da schon nach dem Er¬ 
gebnis der Fragen III. 2a—c die Vermutung naheliegt, daO in vielen Fallen statt der 
Fahigkeiten eigentlich Leistungen,bzw. wie sich jetztzeigt,Fertigkeiten gemeint werden. 



152 


Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


Überblickt man nun die in den Fragebogen auftretenden Fahigkeiten, so be- 
zieht sich der höchste Prozentsatz der Angaben, namlich 33,4 %, auf die Befahigung 
des Anwarters zum Darstellen und Schildern. Offenbar war hier im Unter- 
richt und beim Aufsatz Gelegenheit geboten, gerade diese Fahigkeiten kennen- 
zulernen, wenn beispielsweise die gute Wiedergabe des vom Lehrer im Vortrag 
oder Unterricht behandelten Stoffes, die sprachlich in gefalliger Form und logisch 
vielleicht gut gegliedert und inhaltlich ohne wesentliche Lücken öfters vom Schüler 
dargeboten wurde, die Aufmerksamkeit des Lehrers erregt hatte. Eine eigentliche 
Fahigkeit dürfte dem Darstellen und Schildern auch nicht zugrunde liegen, sondern 
die psychologische Zergliederung zeigt, daO stets, je nach den in Frage kommenden 
ümstanden, eine Fülle in der Analyse erfaObarer, in den einzelnen Fallen durch- 
aus nicht übereinstimmender Funktionen beim Darstellen und Schildern eine 
Roile spielen dürften. 

Angaben über Gedachtnis und Auffassung des Schillers hnden sich in 
22 % bzw. 13% der Falie. Die geringe Hauhgkeit der Angaben über Befahigung 
zu einer guten und schnellen Auffassung gegenüber den Angaben, die auf Güte 
des Gedachtnisses Bezug haben, darf nicht übersehen werden. 

In einem Viertel der Angaben (24,5 %) werden Kombination und Denkver¬ 
mogen als die besonderen Fahigkeiten des Bewerbers erwahnt. Vielleicht hat 
hier die Arbeitsmethode, also eine besondere Form des Unterrichtes, die die 
Selbsttatigkeit des Schülers anregt, AnlaO gegeben, AuDerungen des logischen 
Denkens und der Kombinationsfunktionen besonders zu beobachten und anzuführen. 
Die Phantasie wird nur in etwa 5%genannt und in etwa 1 % kommen Beobach- 
tungsgabe und Neigung zu seibstandigem Schaffen zur Erwahnung. Mitunter 
wurden schon bei dieser Frage eigentliche Sonderbegabungen, besonders haufig 
im Zeichnen und Musik, genannt. 

Der Schwerpunkt der eigentlichen Befahigung des Schülers kann, 
so lehrt die Statistik, aus dem Beobachtungsbogen in den meisten Fallen 
bei dieser Art Fragestellung und dem vorliegenden Material leider 
nicht erkannt werden. Dagegen werden für die analytische Erfolgskontroile 
der psychotechnischen Prüfung recht brauchbare Anhaltspunkte gegeben, und die 
fortschreitende psychologische Analyse reprasentativer Unterrichtsleistungen wird 
hoffentlich eine gröOere Reichhaltigkeit bei Beantwortung gerade dieser Frage in 
Aussicht stellen. Gerade die Fehlangaben, wenn etwa eine gute Schreibfertigkeit 
als starkst entwickelte Fahigkeit angegeben wird, sind sehr bezeichnend für die Ein- 
stellungdesLehrersundgeben unsFingerzeigefürVerbesserungunserer Fragestellung. 

In Frage III. 4 sollte Auskunft erteilt werden darüber, ob innerhalb oder auOer- 
halb der Schule eine Sonderbegabung bei den Kindern hervortrltt. Gleich- 
zeitig waren Belege für diese Sonderbegabung anzuführen. In mehr als der 
Halfte der Antworten, in 57%, wird die Frage nicht beantwortet oder verneint. 
Schulleistungen und Fertigkelten werden in 12% genannt, und nur in 30% hnden 
wir Sonderbegabungen erwahnt, von denen wiederum leider nur die Halfte Be- 



Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


153 


lege der Begabung anführt. Viele dieserBelege slnd vieldeutig („er nimmt Geigen- 
stunde" u. a.), sogar unbrauchbar, einige dagegen auch gut und verwendungsfahig. 

Einen besonderen Nachdruck wollten wir auf die Auskunft der Frage 5 legen, 
nach Angaben besonders wertvoller Willens- und Charaktereigenschaften, von 
Arbeitsenergie und Zuverlassigkeit sowie sonstiger Willensqualitaten. Auch hier 
sollten möglichst eingehend die dem Urteil zugrunde liegenden Tatsachen be- 
richtet werden. In 38% der Falie ist diese Frage überhaupt nicht beantwortet 
worden, und nur in etwa einem Viertel der Antworten, in 27%, linden wir 
Willenseigenschaften nebst Belegen angeführt, wahrend in 34% Angaben ohne 
Begründung durch entsprechende Tatsachen zu verzeichnen sind. Gerade diese 
Frage sollte für die Erganzung und Bereicherung des experimentellen Befundes 
Verwendung hnden, da naturgemalJ hier für die Begutachtung von Willens- und 
Charaktereigenschaften die Angaben des Fragebogens von uns nicht entbehrt 
werden mochten, doch ist das Ergebnis auch hier so lückenhaft, daQ wir nur in 
den wenigsten Fallen diese auch für den Schulaufstieg sehr wertvollen Eigen¬ 
schaften als gesichert durch die Beobachtung ansehen konnten. 

Am haufigsten wurden, allerdings ohne Belege, genannt: Zuverlassigkeit, FleiO, 
Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, W'illensstarke und Energie, Ordnungsliebe, Sauber- 
keit, Pünktlichkeit. 

Belege hnden sich in 27 % der Falie; Wiederum der Hauhgkeit des Vor- 
kommens nach geordnet sind angeführt: Lerneifer, FleiC, Energie und Ausdauer, 
Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt, Zuverlassigkeit, Selbstandigkeit, Führerqualitat 
durch Autoritat und Beeinflussungsgabe, Ehrgeiz, Mut und Entschlossenheit, Wahr- 
haftigkeit. Die Belege wurden teilweise auch brauchbar gedeutet, teilweise aber 
sind mannigfache Interpretationen möglich und wahrscheinlich. 

Auch Fehlangaben treten auf (zehnmal): Gute Lernfahigkeit und Rechenfertigkeit, 
Anstelligkeit und Geschicklichkeit u. a. m. 

Nicht minder wichtig erschien uns eine Befragung (III 7.) nach Richtung, Starke, 
Dauer oder Feinheit des Gefühlslebens des Kindes, die aber auch in etwa zwei 
Drittel der Falie überhaupt nicht beantwortet, in 20% der Falie ohne Angaben 
und nur in dem Rest, also in einem Fünftel der Falie, mit Belegen mehr oder 
weniger eindeutiger Art erteilt wurde. 

Besonders haufig wird auf die Geltungsgefühle Bezug genommen. Wir 
Hnden der Hauiigkeit nach geordnet folgende Angaben: Leichte Verletzlichkeit 
bei Tadel, leichte Lenkbarkeit, Ehrgeiz, Stille, Zurückhaltung, empfanglich für 
Freundlichkeit, asthetische Gefühlsempfanglichkeit, soziale Gefühle u. a. 

SchlieQlich war es sehr wichtig, ob der Lehrer sittliche Bedenken gegen das Kind 
vorzubringen hatte. Wir setzten daher eine entsprechende Frage unter Nr. 6 ein. 
In 100%, also in allen Fragebogen, sind sittiiche Bedenken nicht angeführt worden. 

Für die Entwicklung des Schülers auf der Begabtenschule war es wichtig, zu 
wissen, ob die hauslichen Verhaltnisse als hemmend oder fördernd anzusehen 
sind. Zu erwartende Hemmungen werden in 7 % der Falie genannt, wahrend 



154 


Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


keinerlei Hemmung in 77 % in Aussicht gestellt wird. Bei 11,3 % findet sich die 
Angabe: weder gehemmt noch gefördert, und nur in 4 % wird die Spalte nicht 
ausgefüllt. lm allgemeinen kann es als durchaus erfreulich hervorgehoben 
werden, daB der Lehrer diese Auskunft über die hauslichen Verhaltnisse 
geben kann, wenn auch auf die geringe Anzahl der Falie, in denen begründete 
Tatsachen angeführt werden, hinzuweisen ist. 

Der Rest der Fragen bezog sich auf die Schulart, die die Eltern bzw. die 
Lehrer empfahlen. Wir wollten feststellen, ob und in welchem MaOe eine Über- 
einstimmung zwischen dem Vorschlag des Lehrers und der endgültigen Entschei- 
dung durch die Erziehungsberechtigten eintritt. lm allgemeinen herrscht Über- 
einstimmung, da in 81 % der Falie Differenzen nicht auftreten. In 70 % 
entschieden Lehrer, Eltern und Kind für die Reaischule, in 11 % für das Gym¬ 
nasium. Die 19 % Abweichungen von Lehrer- und Elternurteilen vertellen sich 
folgendermaOen: In 8,5 % entschieden die Lehrer für das Gymnasium, die Eltern 
dagegen für die Reaischule, umgekehrt in nur 4,25 %, wo der Lehrer für die 
Reaischule, die Eltern für das Gymnasium sich entschlossen. Bei etwa 6 % 
wurde die Frage durch den Lehrer nicht beantwortet. 

Die Frage nach der BeruFswahl hat ergeben, dali der Hauflgkeit nach folgende Berufe er* 
wSbIt wurden: KauFmann, Bankbeamter, Technischer BeruF, Förster, Geistlicber, Mittlerer Beamter, 
GSrtner, Chemiker, Musiker, Buchbandler u. a. ra. 

In nur 8,7 % der Ffille wurde die Frage nicht beantwortet, zehnraal trat die Antwort „un- 
entschieden" auF. Positive Antworten Fanden in der HkIFte der F3Ile Begründung. In zwei 
Drittein der Begründungen wird die eigene Neigung angegeben. AuQerdera lesen wir: Wunsch 
des Vaters und der Verwandten, Aussicbt auF Geldverdienst, gute Beziebungen u. a. ra. 

Ein Hauptmangel dieses Fragebogens liegt darin, daO die Eignung des Lehrers 
für sichere und zuverlassige Beobachtung nicht berücksichtigt worden ist. Die 
Gefahr bestand, daO bei Verwendung einer SchluBfrage, etwa nach der Art, wie der 
Lehrer seine Angaben gemacht habe, ob mehr oder weniger gefühlsmaOig oder auf 
Grund planmaDiger Aufzeichnungen oder auf Grund besonderer ihm in der Er- 
innerung noch haftender Einzelleistungen, noch mehr Ausfalle und noch mehrZurück- 
haltung wahrscheinlich gewesen waren. Bedenklich ware es gleichfalls gewesen, 
die Sicherheit des eigenen Urteils irgendwie durch den Lehrer bewerten zu lassen 
oder nur Fragebogen zu verwenden, bei denen mehrere Beobachter bei der Analyse 
Übereinstimmendes gefunden batten. Man muOte zufrieden sein, daO nach dem 
völligen Ausfall des behördlich eingeführten Fragebogens doch immerhin entwick- 
lungsfahige Ansatze zum Ausbau der Methode festgestellt werden konnten, so daQ 
doch gewisse Grondlagen geschafFen wurden, auf denen weitergebaut werden kann. 

V. Forderungen zur BegrOndung einer wlssenschaftlichen Methode der 
Eigenschaftsfeststellung durch Beobachtung von Schul- und Berufsleistungen 

und Befragung BerufstStiger 

Auf Grund der bisherigen Erfahrungen sowie theoretischer Überlegungen wird 
man eine Reihe von Forderungen betrefFs des Frage- und Beobachtungsbogens 
aufzustellen haben, die bisher nur teilweise oder überhaupt nicht berücksichtigt, 
geschweige denn erfüllt worden sind. 



Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


155 


A. ErfaBbarkeit durch Beobachtung 

Die Fragen müssen daraufhin gesichtet werden, ob die gewünschten Auskünfte 
durch Beobachtung überhaupt gewonnen und erteilt werden können. Oberblickt 
man die bisherigen Listen, so fallt die Übernahme zahlreicher Fragen aus den 
experimentellen Arbeiten psychologischer oder padagogischer Art auf, ohne 
daQ man sich vorher klargemacht und bewiesen hat, ob denn die Beobachtung 
in der Lage ist, Auskunft zu geben über die auBerst verwickelten, der Frage 
zugrunde liegenden Verhaltnisse des BewuQtseinslebens, oder ob nicht nur durch 
eindringende experimentelle Analyse einer gut ausgerüsieten Prüfstelle die ge- 
wünschte Antwort mit mehr oder weniger Sicherheit erteilt werden kann. Bei- 
spielsweise kann eine Frage nach dem Vorstellungstyp eines Jugendlichen vielleicht 
nach mehrtagiger, ausgiebiger experimenteller Untersuchung beantwortet werden, 
wahrend die Typenfeststellung durch Beobachtung allein unter den Bedingungen 
des Schul- oder Werkstattlebens kaum mit hinreichender Sicherheit möglich sein 
dürfte, Trotz heftigster Gegnerschaft der Fragelistentheoretiker gegen das Ex¬ 
periment, verdankt eine Fülle ihrer Befragungskategorien ihre Existenz dem Studium 
der experimentellen Literatur. Eine reinliche Scheidung der Fragen unter dem 
Gesichtspunkt der ErfaDbarkeit und Erteiiungsmöglichkeit der Auskunft durch 
Beobachtung wahrend des Berufslebens ware daher dringend erforderlich. Diese 
Grenzregulierung zwischen Experiment und Fragebogen ist aber bisher noch nicht 
in AngrifF genommen worden. Sie kann nicht theoretisch und nach Gutdünken 
ausgeführt werden, sondern nur durch eingehende Erfahrungsgrundlagen. 

Sehr lehrreich ware beispielsweise ein gewisser Vorversuch in dieser Richtung, 
ob und in welchem MaBe gewisse experimenten ziemlich sicher erfaBbare Quali- 
taten etwa aus dem Gebiete der Sinnesleistungen, des Farbensehens, der Gemein- 
empBndungen u. a. von 100 berufstatigen Beobachtern gelegentlich der BeruFs- 
arbeit erfaBt wurden, welche Zeit und Mühe sie aufwandten und welche Sicherheit 
sie der Bekundung zuschreiben. 

Man wird, urn jede unnötige Belastung des Fragebogens zu vermeiden und 
um dem Wesen der Lehrerbeobachtung gerecht zu werden, zweckmaBig — natürlich 
unter Würdigung der in Frage kommenden Verhaltnisse — besser diejenigen Fragen 
ausschalten, deren Beantwortung durch das Experiment schneller, besser und 
sicherer möglich ist. Dagegen wird man auf innere und zentrale Anlagen der 
Persönlichkeit in einer kurzen, experimentellen Analyse mitunter nur gewisse 
Schlaglichter werfen können, und gerade hier ware die Bundesgenossenschaft des 
Fragebogens auBerst erwünscht. Es ist müBig, darüber zu streiten, ob das Ex¬ 
periment den Fragebogen oder der Fragebogen das Experiment zu erganzen hatte. 

Beides sind Gesichtspunkte und Möglichkeiten der Feststellung 
schul- und berufswichtiger Fahigkeiten des Jugendlichen und Er- 
wachsenen. 

Wenn jedoch behauptet wird, moralische und Charaktereigenschaften waren 
grundsatzlich dem Experiment verschlossen, so ist das irrtümllch. Wir können 



156 


Moede, Frage* und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie 


auch im Laboratorium oder in der Praxis der Schule und des Lebens Bedingungen 
setzen und diese Bedingungen planmaOig verandern, urn gegebenenfalls über wich¬ 
tige moralische und Charakteranlagen, Redlichkeit, Pflichttreue, Gewissenhaftig- 
keit, Auskunft zu erhalten, der je nach den Versuchsumstanden eine gröOere 
oder geringere Bedeutung zukommt. Das Leben, das die Versuchung an den 
Menschen in der verschiedensten Weise und Starke herantreten laQt, bietet uns 
Voriage und Schema, nach dessen Richtlinien gearbeitet werden kann. Die in- 
dustriellen Unternehmen, die eigens moralische Kontrollbeamte anstellen, deren 
Aufgabe es etwa ist, seibstandigen Leitern von Filialen verlockende aber vertrags- 
widrige Bedingungen vorzulegen, urn ihre Widerstandsfahigkeit gegenüber unzu- 
lassigen, aber eintraglichen Angeboten hnanzieller und sonstiger Art festzustellen, 
haben hinreichende Erfahrungen darüber, wie mit steigenden Anreizen mitunter 
die Widerstandskraft den Versuchungen gegenüber mehr und mehr nachlaOt, bis 
schlieOlich der Angestellte gegen die Bedingungen seines Anstellungsvertrages 
sich vergeht. Verlockung mannigfachster Art, unerlaubte Eingriffe in das Eigentum 
eines anderen zu begehen, Verführungen auf geschlechtlichem Gebiet u. a. m., 
dies alles kann auch unter dem Gesichtspunkt einer beabsichtigten experimentellen 
Begutachtung von Willens- und Charaktereigenschaften betrachtet und ausgewertet 
werden. Freillch ist es Sache des Laboratoriums, der Wohlfahrt seiner Klienten 
zu dienen, und infolgedessen wird man grundsatzlich alle Versuche und Proben 
dieser Art ablehnen und nur gelegentlich Stichproben der Zuverlassigkeit und 
anderer Eigenschaften in bestimmten Pallen der Begutachtung auCerst vorsichtig 
vornehmen dürfen, da selbstverstandlich durch die Bedingungen des Laboratoriums- 
versuchs Fehldiagnosen möglich sein können. 

Der experimentelle Befund muO jedenfalls so abgefaOt und niedergelegt sein, 
daC er nur die Verantwortung für die in dem Gutachten aufgezahlten Qualitaten 
zu übernehmen hat. Bestehen Lücken etwa bei der Fesstellung ethischer und 
moralischer Eigenschaften, so ist dies nicht zu verheimiichen. Es werden dann 
Vorwürfe bei Fehlleistungen der Prüflinge in der Praxis, die durch moralische 
Mangel bedingt sind, ausbleiben. Inwieweit der Lehrer in der Lage und vor 
allen Dingen auch gewilit ist, sittliche und Charaktermangel anzugeben, entzieht 
sich unserer Erfahrung. Bisher haben wir fast niemals „Bedenken in sittlicher 
Beziehung" in den Bogen angeführt gefunden, trotzdem doch Mangelfeststellung 
oft ieichter zu sein pflegt als die Erfassung bestimmter positiver Anlagen und Vor- 
züge des intellektuellen Willens- und Gefühlslebens sowie der Gesamtpersönlich- 
keit. Dankbar wird man jedenfalls alle Hinweise auf Mangel und Vorzüge der 
sittlichen Veranlagung begrüBen und sehr gern bereit sein, sie zu verwerten, falls 
gesicherte Antworten und Eintragungen in der Beobachtungsliste sich vorRnden. 

Wenn man, so kann zusammengefaOt werden, planmaOig die Fragen darauf- 
hin durcheicht, ob sie in den Bereich des Experiments oder der Beobachtung 
gehören oder beiden Instanzen vorzubehalten sind, ware ein wichtiger Schritt 
vorwarts getan. Ist der Wirkungsgrad des Experiments wesentlich höher, so 



Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


157 


wird man auf Beobachtung verzichten oder umgekehrt der Beobachtung die 
Hauptaufgabe zuschreiben, wo die experimentellen Feststellungen unsicher und 
schwierig sind. 

B. Scheldung der Fragen nach ihrer Schul- bzw. Berufswichtigkeit 

Zweitens sind die Beobachtungsbogen daraufhin durchzusehen, ob die in 
ihnen gewünschten Auskünfte schul- bzw. berufswichtig zu nennen sind. So 
seibstverstandlich diese Forderung erscheint, so wenig ist sie bisher bei vielen 
Fragebogen berücksichtigt worden. Der Fragebogen soll doch ein Hiifsmittel für 
die Feststellung wichtiger und wesentlicher erforderlicher Anlagen sein, dagegen 
nicht eine MaOnahme, urn allerlei an sich sehr interessante Auskünfte einzuholen, 
die bei einer rein wissenschaftlichen Enquete vielleicht von Bedeutuog sein könnten. 
Aber wenn man Fragebogen für die Zwecke des Schulaufstieges oder der Berufs- 
einweisung und -beratung verwendet, ist es untunlich, die Aufmerksamkeit des 
Lehrers auf Beachtung von Merkmalen einzustellen, von denen es bisher durchaus 
unbekannt ist, ob sie überhaupt für einen bestimmten Beruf irgendwelche Be- 
deutung haben. Die Vermutung auf Grund einer oberflachlichen Betrachtung 
beruflicher Verrichtungen, daO diese oder jene Eigenschaft dem Trager Vorteil 
bringen könnte, ist kein zureichender Grund, um die Bogen mit Beobachtungs- 
angaben zu belasten, deren Verwendungsfahigkeit noch gar nicht einmal feststeht. 
Also in unmittelbarem AnschluO an die wissenschaftliche psychotechnische 
Berufsstudie und planmaOige Arbeitsanalyse hat man die Fragen zu entwerfen 
und nur diejenigen in dem Bogen auftreten zu lassen, deren Beantwortung 
Zweck hat. 

C. Zeitkontrollen 

Drittens sind die Fragen zeitlich zu eichen. Wir müssen ungefahr wissen, 
welche Zeit die Beantwortung einer Frage in Anspruch nimmt. Dabei ist zu 
berücksichtigen, einmal, auf wie lange Dauer sich die Beobachtung zu erstrecken 
hat, um eine berücksichtigenswerte Angabe erhalten zu können. Wenn sich dann 
ergibt, daü bei Fragen über bestimmte Entwicklungshemmungen und -schwankungen 
mehrere Jahre der Kontrolle durch planmaCige Beobachtung des Schülers durch 
dieselben Personen erforderlich sind, der Gefragte dagegen aus bestimmten zu- 
grunde liegenden Verhaltnissen im Durchschnitt sein Beobachtungsobjekt über¬ 
haupt nur Wochen und Monate studieren kann, so soll man nicht unnötig diese 
Fragen stellen. Weiter muB man mit bestimmten Klassenfrequenzen oder sonstigen 
Gruppen verschiedenster GröCe rechnen, und es ist notwendig, zu wissen, ob im 
Rahmen des gemeinsamen Unterrichts der Lehrer, der zunachst zu erziehen und 
zu unterrichten hat, um ein Klassenziel zu erreichen, die Zeit finden kann, um 
die Beobachtung und Eintragung ausführen zu können; denn es hieOe, den Be- 
obachter zum Leichtsinn zu verführen, wenn die für die gewjssenhafte Be¬ 
antwortung von mehr als 100 Fragen erforderliche Zeit gar nicht vorhanden ist 
und wenn weiter die zur Verfügung stehende Zeit die Beantwortung von höchstens 



158 


Moede, Frage- und Beobacbtungsbogen in der praktischen Psychologie 


10 nicht 100 Fragen an 3, aber nicht 30—60 Jugendlichen gestattet. SchlieOlich 
ist auch mit der Zeit zu rechnen, die bei und nach planmaQiger Beobachtung für 
die Niederschrift der Vermutungen, Bestatigungen, Zweifel, Belege usw. unter 
allen Umstanden zu Gebote stehen muQ. Da man stets Belege für die einzelnen 
Angaben verlangen wird und darüber hinaus auch eine Analyse des zugrunde ge- 
legten Tatbestandes erstrebt, sind die Zeiten für Protokolle dieser Art keineswegs 
gering zu veranschlagen. Schon die oberflachliche Summation solcher Zeiten für 
die reine Niederschrift wird in vielen Pallen zur Beschrankung auf einen winzigen 
Bruchteil der bei vielen Fragebogen verwendeten Fragenzahl führen müssen. 

D. SicherheitskontroIIen 

Der Schwerpunkt für die Beurteilung des Wertes eines ausgefüllten Be- 
obachtungsbogens liegt effenbar in der Kenntnis des Zuveriassigkeitsgrades, 
der den Eintragungen zugeschrieben werden kann. Die Erörterung dieser Zu- 
verlassigkeit verlangt Berücksichtigung der Beobachtungsumstande, des Be- 
obachters und seiner Eignung für die in Frage kommende Beobachtungsart 
und das Beobachtungsziel, sowie Berücksichtigung der Methode, nach der der 
Beobachter gearbeitet hat. 

1 . Eignung des Beobachters als Grundfrage. 

Die Erfahrung lehrt, daö die Eignung der einzelnen Menschen zu natur- 
wissenschaftlicher, geisteswissenschaftlicher oder praktisch-psychologischer Be- 
tatigung auOerst verschieden ist. Dem einen wollen botanische und zoologische 
Beobachtungen nicht gelingen, wahrend er meisterhafte Leistungen bei der Er- 
fühlung in fremdes Seeienleben durch seine rasche und sichere Deutung auch 
flüchtigster Ausdruckssymptome aufweist. Die Erfahrungen wahrend des Krieges 
haben beispielsweise den ungleichen Wert der Beobachtungsfeststellungen ver- 
schiedener Personen aufs allerdeutlichste enthüllt. Diejenigen Dienststellen, deren 
Aufgabe im Rahmen der militarischen Organisation es war, die Angaben solcher 
Erkundungen durch Vorposten, Reiterpatrouillen, Rad-, Kraftfahrer- und Flieger- 
beobachter kritisch zu verwerten, konnten nach nicht allzulanger Zeit der Zusammen- 
arbeit mit einem Manne den Wert der Angaben ihrer verschiedenen Beobachter 
ungefahr abschatzen. Es wird von Fliegerbeobachtern erzahlt, deren Berichte 
bei den Kommandostellen meist nur Erheiterung auslösten, da ihre Auskünfte 
über feindliche Truppenbewegungen, verdeckte Batteriestellungen u. a. m. bei 
spaterer Kontrolle sich fast stets als übertrieben, ja phantastisch und unwahr 
herausstellten. Einen Vorwurf konnte man aber dem betreffenden Beobachter 
nicht machen, da er selbstverstandlich eifrig bestrebt war, nach bestem Wissen 
seine Beobachtung auszuführen. Andere Beobachter wieder waren als Spezialisten 
für Angaben bestimmter Art als auDerst zuverlassig geschatzt und die Kontrolle 
ihrer Aussagen sowie die spatere Entwicklung der Dinge gab ihnen fast stets recht. 




160 


Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie 


4. Sicherung des Befundes durch eine Mehrzahl von Beobachtern und 
Mehrheit spezifischer Einstellungsformen: Kollegiale, Vorgesetzten-, 

Eigenurteile 

Weiter wird man bestrebt sein, mehrere Beobachter über den gleichen Tat- 
bestand zu befragen, doch schlieOen die Umstande und die zur Verfügung stehende 
Zeit solch ein Verfahren sehr oft aus. Auch darf man sich nicht dem Irrtum hin- 
geben, als ob durch Haufung von Beobachtungen, also doch auch unrichtiger 
Deutungen, gerade bei der schwierigen Frage der psychologischen Analyse einer 
Persönlichkelt eine gröCere Sicherheit allein durch das Prlnzip der gröOeren 
Zahl gewahrleistet ware, ist doch das Verkennen einer Schülerpersönlichkeii 
auch bei Begutachtung durch ein Gesamtkollegium mannigfach vorgekommen. 
Andere Möglichkeiten der Sicherung des Befundes, die wir mit Vorllebe ver¬ 
wenden, bestehen.darin, neben dem Lehrer auch die Schuier und neben dem Meister 
auch die Arbeitskollegen um Auskünfte anzugehen über ihre Kameraden. Wir 
erganzen also das Vorgesetzten- durch das kollegiale Urteil. Mitunter zeigte sich, 
daB diese Antworten der Kameraden treffender und sicherer waren als die Aus¬ 
künfte der Übergeordneten. Wir dürfen psychologisch nicht die Distanz vernach- 
lassigen, die zwischen Vorgesetztem und Untergebenen besteht, sondern müssen 
bedenken, daO durch das koliegiale und kameradschaftliche Zusammenleben und 
Zusammenarbeiten der Klasse oder des Arbeitssaales mitunter die Bedingungen 
für bestimmte Feststellungen keineswegs ungünstig sind. Schliefilich erganzen 
wir die Auskünfte Gleichgeordneter übereinander durch die kritische Verwendung 
der Angaben der Selbstbeurteilung des Schülers oder Berufstatigen. Wir fragen 
ihn etwa selbst, was ihm besonders ieicht und schwer fallt, ob er ein guter oder 
schlechter Arbeiter ist, wie er sich gegenüber den Vorhaltungen seiner Vorgesetzten 
über schlechte Leistungen und Arbeiten rechtfertigt u. a. m., um durch Selbstaus- 
künfte dieser Art neue Beitrage nichtexperimenteller Art zu erhalten. 

5. Gewinnung von generellen und differenziellen Wertkoeffizienten der 
einzelnen Fragen und ihrer Beantwortung durch Erfolgskontrollen 

Die Objektivltat der Bekundung ist ein Problem, und es ist besser, Frage- 
bogenauskünfte überhaupt nicht, als sie unkritisch zu verwenden. Durch eine 
Eichung jeder einzelnen Frage, durch Erfolgskontrollen mannigfachster Art, bei- 
spielsweise Erhebungen über die Beantwortungshaufigkeit, sowie die Chance der 
Richtigkeit wird man dem Verwender des Fragebogens gewisse WertmaOstabe 
für die Bedeutung der einzelnen Auskünfte allmahlich an die Hand geben können. 

Leider liegen solche Erfolgskontrollen in nennenswertem Umfange 
nicht vor, und gegenüber den mannigfachsten Erfolgskontrollen 
psychotechnlscher Prüfungen an Jugendlichen und Erwachsenen sind 
sie verschwindend gering. 

Dies ist um so bedauerlicher, als viele an sich wichtige Aussagen des Beobach- 
tungsbogens,beispielsweiseüberPünktlichkeit,Ordnungsliebe,Sauberkeitbestimmter 








Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktiscben Psychologie 


161 


Menschen, durch die spatere Beibringung von Belegen in vielen Pallen auf Gültig- 
keit kontrollierbar sind, zumal wenn der zugrunde liegende Sachverhalt keine 
MiOdeutung gestattet. Schon die rein tatsachliche Feststellung, welche Fragen 
bei bestimmten gegebenen Umstanden praktisch gar nicht beantwortet werden, 
könnte uns in den Stand setzen, die Bogen fortlaufend zu andern, den ürsachen 
des Versagens der Praktiker nachzugehen, um so alimahlich nur solche Fragen 
zu formulieren, die von vornherein, gemaO den statistischen Belegen, eine gewisse 
Wahrscheinlichkeit der Beantwortbarkeit in Aussicht stellen. 

Nur durch generelle und differentielle Erfolgskonrrollen der ver- 
schiedensten Art (vgl. Praktische Psychologie, Band 111, Heft 10), vor allem 
auch der Richtigkeit der einzelnen Angaben, werden wir ein Urteil 
über den Wert des Fragebogenverfahrens im Rahmen der psycho- 
technischen Feststellungsmethodik überhaupt erhalten. 

6 . Feststellung der Beobachtungsweise: naiv-kritisch; gefühlsmaOig- 
methodisch; interessiert oder kommandiert; geleitet oder frei; ge- 
schultoderungeschult; formal-kategorial oder individualitatssuchend, 
deutend oder tatsachenberichtend u. a. m. 

Wünschenswert ware es auch, die Methodik kennenzulernen, nach der 
beobachtet wurde und die Eintragung erfolgte bzw, die Methode vorzuschreiben, 
nach der zu beobachten ware. Nach unseren Erfahrungen pflegt die mehr 
oder weniger gefühismaOige Deutung und Wertung des Gesamtverhaltens des 
zu Beobachtenden am hauhgsten vorzukommen. Mitunter sind gelegentliche 
Erinnerungen über Hoch- und Tiefleistungen des Schülers die hauptsachlichste 
Grundlage für die Urteiisabgabe, und nur in den seltensten Pallen dürften 
systematische Beobachtungen wahrend der Ausbildungszeit und fortlaufende Ein- 
tragungen von Erlebnissen, Deutungsversuchen, Bestatigungen usw. bisher aus- 
geführt worden sein. Es muO hier angestrebt werden, den Lehrer oder Beobachter 
auf bestimmte reprasentative Schul- und Berufsleistungen hinzuweisen, ihm eine 
bestimmte Technik der Beobachtung zu vermitteln und ihm einige Analysen dieser 
reprasentativen Leistungen und typischen Verhaltungsweisen des Schülers in 
einer ihm verstandlichen Sprache zu übermitteln. Auch ware es dringend 
notwendig, durch Übereinkommen bestimmte Bezeichnungsweisen festzulegen, da 
die Vieldeutigkeit der gebrauchlichsten „Fach“-Ausdrücke wie „Aufmerksamkeit, 
Apperzeption, Fahigkeit, Leistung, Fertigkeit", Unklarheit und Mi(3verstandnisse 
schalft. Die Verwechslung von GrundbegrifFen, die dem Fachpsychologen ge- 
lauhg sind, ist nach unserer Erfahrung recht haufig. Mitunter liegen sehr 
viele Fehlangaben vor, wenn z. B. statt „Fahigkeiten" „Fertigkeiten", etwa 
Rechnen genannt werden, wenn Gefühlsfaktoren mit Charaktereigenschaften ver- 
wechselt werden und was dergleichen Verwechslungen mehr sind. Die psycho¬ 
logische Schulung der Beobachter ist an sich gar keine Sicherung ge'gen Fehl- 
leistungen, falls keine Erfahrung gegeben ist. Es ist mitunter vorgekommen, daH der 

P P. IV, 5. 11 




Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


163 


Weise zu verrechnen, Gewichtsziffern für die Wertigkeit der einzelnen 
Angaben des Bogens sowie der Gesamtausfüllung haben wir nicht, und 
es hieCe Gold und Ersatzgold gleich zu bewerten, wollte man einen gewissenhaft 
ausgefüllten Fragebogen mit demselben Gewicht und derselben Weise in das 
endgültige Gutachten einsetzen, wie einen anderen, der auch nicht den zehnten 
Teil von Objektivitat und Wertgehalt gegenüber dem ersten in sich birgt. 

Man erhofFt von eingehender psychologischer Schulung Vollwertigkeit aller Bogen. 
Leider wird eine gediegene psychologische Schulung der Praktiker nicht nur den 
erholFten Erfolg haben, daB nun die Fragebogen besser und reicher ausgefüllt werden, 
sondern mancher kritisch und klarsehend gewordene Beobachter wird nun auf 
Grund der Einsicht in die Schwierigkeit der Aufgabe, nicht mehr wie bisher 
auf Grund mehr oder weniger gefühlsmafiiger Abneigung, die verantwortlich zu 
zeichnende Ausfüllung rundweg ablehnen. Die Sicherheit des natürlich und gut 
veranlagten Beobachters kann durch psychologische Schulung verstarkt werden, 
sie kann aber auch in Resignation umschlagen. 

E. Reprësentative Schul- und Berufsleistungen und ihre psychologische Zer- 
gliederung als Brficke zwischen Experiment und unbewaffneter Beobachtung 

Man wird bestrebt sein müssen, die Beobachtung der Praktiker zu erleichtern 
und in ihrem Werte zu erhöhen, indem reprasentative Schul- und Berufsleistungen 
gesucht werden, die als geeignete objektive Grundlage für die ErschlieBung berufs- 
und schulwlchtiger Fahigkeiten verwendet werden können. Es ist sehr lehrreich, 
festzustellen, daB einige psychologisch geschulte Praktiker in der Werkstatt 
Probearbeiten anfertigen lassen, in der Schule Probelektionen geben, die bald 
Gedaihtnisleistungen, bald Aufmerksamkeits- und Begriffsleistungen, bald auch 
Kombinations- und Urteilsfunktionen anregen, urn sich ein Urteil der Befahigung 
der Schuier zu bilden. Auch wenn der Schüler von dem Zweck dieser Proben 
nichis ahnt, so ist trotzdem die Einstellung der Probe gegenüber eine ahnliche 
wie bei der Prüfung zum Zwecke experimenteller Begutachtung berufswichtiger 
Fahigkeiten. In Wahrheit ist nun ein Mittelweg gefunden, der auf der Grenze 
zwischen Beobachtung und Experiment liegt, und gerade dieses Grenzgebiet an- 
zubauen, dürfte recht fruchtbar sein. Der Lehrer kann auBer dem Ergebnis 
solcher im Rahmen des Unterrichts gestellter Proben die Fülle seiner sonstigen 
mehr oder weniger gelegentlichen Beobachtungen verwerten und die einzelnen 
Befunde miteinander abstimmen, falls er dazu Lust, Liebe und Befahigung be- 
sitzt. Findet er Unstimmigkeiten, so schafFt er sich Sonderbedingungen der Be¬ 
gutachtung durch Sonderproben im Unterricht, ahnlich wie der Experimentator 
seine Untersuchungstechnik planmaBig abwandelt, urn Vermutungen zu beweisen, 
Fehler auszumerzen und Komponentenerfassung zu ermöglichen.. Wenn reprasen¬ 
tative Leistungen des Schul- und Werkstattlebens der Analyse des Praktikers zu- 
grunde gelegt werden, und wenn diese Analysen durch langjahrige Kenntnis des 
Schülers und mannigfachem Umgang mit ihm bereichert werden können, so 

11 * 



164 


Moede, Frage- und Beobachtungsbogen in der praktischen Psychologie 


können brauchbare und aquivalente Grundlagen der Fahigkeitsfeststellung als 
Gegeninstanz gegenüber der psychotechnischen Untersuchung geschaffen werden 
und die Verstandigungsmöglichkeit beider Parteien, des Experimentators und des 
Praktikers, Verstandigungswille vorausgesetzt, wachst, sowie die Möglichkeit ein- 
wandfreier Verwertung solcher Praktikerangaben. 

Aus allem ergibt sich, das der Fragebogen dem experimenten arbeitenden 
praktischen Psychologen nur erwünscht sein kann, falls er richtig abgefaOt 
ist, zuverlassig beantwortet wird und die Grenzen seiner Leistungs- 
fahigkeit nicht überschreitet. Der Eignungspriifer kann vielmehr, gestützt 
auf solche Fragebogenbefunde, schneller und besser zum Ziel kommen, indem 
er grundlegende oder erganzende Angaben des Beobachtungsbogens kritisch ver- 
wertet, und auch der Arbeitsforscher, der eine exakte Arbeitsstudie und Berufs- 
analyse erstrebt, wird tatsachliche und begründete Angaben der Betriebsstatistik 
über ArbeitsausschuO, differentielle Akkordlöhne u. a. sowie die Mitteilungen der 
Fachleute der Praxis über die ihnen erforderlich erscheinenden beruflichen Fahig- 
keiten dankbar hinnehmen. Auch wenn diese Angaben in der Sprache des Be- 
rufspsychologen abgefaOt sind, so wird er bald inne werden, daO sie meist so all- 
gemeiner Natur sind, daO er sie bestenfails als Hinweise, keinesfalls aber als 
endgültige, gesicherte und feststehende Unterlagen und Richtlinien für sein be- 
rufspsychologisches Schema und die exakten Bedingungen seiner Eignungsprüfung 
betrachten darf. Der Fachpsychologe kann nicht seine eigentliche Hauptarbeit 
auf Nichtpsychologen abwalzen, und auch der Eignungsprüfer wird die unmittel- 
baren und lebensnahen AuCerungen seines Prüflings in einem den beruflichen 
Anforderungen aufs engste angepaOten und durch zahlreiche Erfolgskontrollen 
gelauterten Untersuchungsschema nicht missen wollen gegenüber den für ihn doch 
stets mehr oder weniger unkontrollierbaren Angaben eines Beobachtungsbogens, 
der von guten oder schlechten Beobachtern, gut oder nachlassig, aus eigenem 
Interesse oder auf Grund behördlicher Anweisung, mit Lust oder Liebe oder 
gleichgültig, kritisch oder leichtfertig ausgefüllt ist. Die Fragebogen und Be- 
obachtungslisten müssen erst eine kritische Phase wissenschaftlicher Lauterung 
durchmachen, ehe sie der experimentellen Begutachtung, die stets neben der 
quantitativen Bewertung auch die qualitative Seite der Beobachtung kennt, als 
erwünschte und zuverlassige Erganzungs- und Hilfsmannschaften an die Seite 
treten können. 

Aus allem erkennen wir, daO man die Behauptung wiederholen kann: Frage¬ 
bogen zu entwerfen ist leicht, Fragebogen zu beantworten schwer, und Frage¬ 
bogen richtig und objektiv zum Wohl des Jugendlichen zu verwenden, bei dem 
bisherigen Stand der Fragebogenmethodik beinahe unmöglich. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafle 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf& Hdrtel in Leipzig. 




PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. MARZ 1923 6. HEFT 


Die Praktische Psychologie erscheint in monttlichen Heften lm Umftnge von zwei Bogen. Preis des Marzheftes 600 Mark 
r&rs Inland. Fura Ausland besondere Prelse. (Preis bei unmlttelbarer Zustellung unter Kreuzband im Inland eioschlleOlicb 
ösrerreich'Ungarn 750 Mark.) Bestelluogeo nebmen alle Buchhandlungen, die Post sowie die Verlagsbucbhandlung entgegen. 
Anzeigen vermittelt die Verlagsbuchbandlung S. Hlrzel In Lelpzig, KdnigstraOe 2. Postscbeckkonto Lelpzig 226. — Alle 
Manuskriptsenduogen und darauf bezQglicbe Zuscbrlften sind zu richten an die Adresse der Scbrlftleltung: Prof. Dr.W. Moede 
und Dr. C. PiorkowskI, BerlinVr30, LuitpoIdstraOe 14. 


Das Problem des Arbeitsrhythmus 

Von J. Ermanski, Prof. an der UniversitSt Moskau 

I. 

I n den sehr weiten Kreis der mannigFaltigsten Fragen, die vom Problem der 
rationellen Organisation der Arbeit umFaOt werden, gehort bekanntlich in nicht 
unbedeutendem MaOe die Frage über den Rhythmus, als einen der wichtigsten 
Faktoren der ökonomischen Organisation der Arbeitsprozesse. Nun wird wohl 
kaum von jemandem behauptet werden, daO diese Frage, beim gegebenen Stande 
der wissenschaFtlichen Erkenntnis, in erschöpFender Weise beleuchtet und geklart 
ware. Nach dem Erscheinen des in seiner Art klassischen Werkes von K. Bücher 
(„Arbeit und Rhythmus"), stockte leider der weiter untersuchende Gedanke, und 
das Problem des Rhythmus lenkte seit damals auF sich zu wenig AuFmerksamkeit. 

Nur von einer Seite werden hauhg manche prinzipielle Punkte dieses Problems 
gestreiFt: ich habe da manche Vertreter der Kunst im Auge, hauptsachlich die 
warmsten Anhanger der Schule der rhythmischen Erziehung von Jaques Dalcroz. 
Nun wurde zwar, dank der engeren Berührung des GenFer ProFessors der Musik, 
Jaques Dalcroz, mit dem ProFessor Für Psychophysiologie an der GenFer Universitat, 
Ed. Claparède, eine neue Richtung der Dalcroz’schen Schule selbst geboren, unter 
deren energischer Propaganda eine gewisse wissenschaFtliche Basis geFunden 
werden konnte. Damit ist jedoch der Sache wenig geholFen, und es kann in den 
Veröffentlichungen dieser neuorientierten Schule keineswegs die Lösung des 
komplizierten Problems des Arbeitsrhythmus erblickt werden. 

Es besteht unzweiFelhaFt das lebhaFte BedürFnis, dieses Problem seiner wissen¬ 
schaFtlichen Lösung naherzurücken. Namentlich in der letzten Zeit werden viele 
Merkmale der immer scharFeren Aktualitat des Rhythmusproblems deutlich. Es 
genügt auF die Frage der Arbeitserziehung (Arbeitsschule) hinzuweisen, die immer 
mehr als selbstandiges padagogisches Problem auFtritt. In diesem Sinne wird 
man vielleicht W. Ruttmann recht geben mussen, der in der ganzen modernen 
Kultur der Arbeit einen „Hunger nach Rhythmus" zu spüren behauptet*). 

Urn MiOverstandnissen vorzubeugen, seien hier ein paar Zeilen darüber 
gestattet, was Für Inhalt in den BegrifF Rhythmus hineingelegt wird, von dem 
hier die Rede ist. 

*) W. Ruttmann, „BerufswabI, Begabung und Arbeitsleistung". Berlin u. Leipzig. 1916, S.38. 

12 


p. P. IV.6. 





166 


Ermanski, Das Probletn des Arbeitsrhythmus 


Wir müssen in erster Linje den Begriff Rhythmus in den engeren Rahmen 
eines wissenschaftlichen Begriffes einführen, wo unter Rhythmus die gesetzmaOige 
Bewegung der Materie (oder Energie) verstanden wird, wobei diese Bewegung 
sich in gleich groOen Intervallen zwischen den einzeinen Bewegungsakten wiederholt. 
Die Gleichheit der Intervaile zwischen den einzeinen Bewegungsakten ist das 
wesentlichste Merkmal des uns interessierenden Begriffes Rhythmus. 

Wenn der Rhythmus, in diesem Sinne auFgefaOt, sowohl in den Schwankungen 
einer klingenden Saite, als auch in den Prozessen der Blutzirkulation und in 
anderen physiologischen Prozessen zutage tritt, so ist für uns, vom Standpunkte 
der menschlichen Arbeitsprozesse, einer bestimmten Eigenschaft des Rhythmus 
die gröOte Bedeutung beizumessen: das ist die Ökonomisierung der vom 
arbeitenden Menschen verausgabten Energie, was deren optimale Ausnutzung 
zur Folge hat, die Erreichung gröCerer Resultate bei Verwendung der- 
selben oder sogar einer kleineren Menge von Energie des Arbeitenden. 

In diesem Sinne erscheint uns der Rhythmus als Produkt vleier Jahrtausende 
der biologischen Entwicklung. Die Gesetze des Kampfes ums Dasein, der 
Anpassung an das umgebende Milieu führten zu dem Resultate, daO diejenigen 
Organismen sich vorzugsweise lm Leben erhalten und fortpflanzen konnten, welche 
ihre Energie am ökonomischsten ausnutzten, indem sie ihre Lebensprozesse und 
Bewegungsakte rhythmisch gestaltet batten. 

Besonders groC war die Rolle des Rhythmus in der Arbeitsbetatigung des 
Menschen in der entfernten Vergangenheit. In den Perioden der primitivsten 
Kultur war es die ungeheure technische Unbeholfenheit, die den Menschen kenn- 
zeichnete: in seinen Arbeitsprozessen war derselbe noch nicht einmal imstande, 
von den Vorzügen, die die elementarsten Gesetze des Hebeis, des Keils und 
dergleichen bieten, Gebrauch zu machen. Die Entwicklung der Arbeltswerkzeuge 
stand auf einer derartig niedrigen StuFe, daO sich die Arbeit des Menschen 
sehr wenig von der Arbeitsbetatigung der Tiere unterschied, welche unmittelbar 
mit ihren natürlichen Organen arbeiten. 

Unter solchen Verhaltnissen muQte die schaffende Arbeit des primitiven 
Menschen aus sehr anstrengenden undlangwierigen, monotonen Prozessen bestehen. 
Eine um so gröOere Rolle muBte in diesen Prozessen jedes ihm zugangliche 
Mittel spielen, das zur Ökonomisierung der vom Menschen zu verausgebenden 
Energie führen konnte. 

Dies war eben der Boden, worauf die Prozesse der biologischen und sozialen 
Entwicklung die Rhythmisierung der Arbeitsakte aufgriffen und in der Arbeits- 
kultur weiter entwickelten als Mittel des Fortschrittes. Demselben Boden ent- 
wuchsen und auf derselben Grundlage entfalteten ihre ursprüngliche Entwicklung 
manche Formen der geistigen Kultur, für welche der rhythmische Charakter der 
Bewegungen ein wesentliches Element bildet. Der Rhythmus der Sprache, 
Rhythmus des Arbeitsliedes, Rhythmus des Tanzes (der ursprünglich ebenfalls 
Arbeitstanz war) erhob diese Zweige der geistigen Kultur des primitiven 





Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus 


167 


Menschen auf die Höhe von wichtigen Formen der Ökonomisierung der 
Arbeitsbetatigung und somit von Formen der rationelleren Organisation 
des Lebens der primitiven Gesellschaft im allgemeinen. 

Konnte der Rhythmus eine solche auDerordentlich wichtige Rolle spielen, so 
ist dieselbe augenscheinlich dadurch zu erklaren, daO dem Rhythmus der 
Bewegungen die mechanische Eigenschaft innewohnt, die Verausgabung an Energie 
ökonomischer zu gestalten. 

Wo liegt nun die Quelle dieser Eigenschaft? Worin besteht der Mechanismus 
der rhythmischen Bewegungen, als Akten, die wiederholt in gleichgroOen Zwischen- 
raumen nacheinander folgen? 

II. 

Was die rhythmischen Bewegungen kennzeichnet, ist in erster Linie ihre 
leichte Automatisierung. Der automatische Charakter der Bewegung aber hat 
schon an und für sich eine wesentliche Ökonomie in der Verwendung der physischen 
und psychischen Energie des Menschen zur Folge. Zum klaren Verstandnis dieses 
Gedankens sind einige kurze Betrachtungen notwendig. 

In der Tat stellt der psychophysische Apparat des Menschen einen auIJer- 
ordentlich komplizierten Komplex von Elementen der Materie (Zeilen) dar. In 
groben Zügen kann derselbe betrachtet werden als zusammengesetzt aus zwei 
Systemen — einem Muskei- und einem Nervensystem. Zwischen den Elementen 
jedes von diesen Systemen sowohl, als auch zwischen diesen beiden existiert 
ein enger funktioneller Zusammenhang. Der psychophysische Apparat verkörpert 
letzten Endes die Einheit des Oganismus ais Ganzes. Die Aktivitat eines Teiles 
der Elemente wird auf andere benachbarte Elemente leicht übertragen, indem 
auch die letzteren in die Sphare der Wirkung hineingezogen werden. Auf dem 
Geblete der Nervenbetatigung kommt da das Gesetz der Irradiation zur Geltung: 
Die Innervation einer bestimmten Nervengruppe wird auf andere Gruppen über¬ 
tragen — ahnlich der induzierenden Wirkung des elektrischen Stroms. 

Es versteht sich von selbst, daQ diese Art der Betatigung von einzelnen 
Muskei- und Nervengruppen einen betrachtlichen Grad von nutzloser, ver- 
schwenderischer Verausgabung der menschlichen Energie bedingt. Damit aber 
der Organismus mit Erfolg arbeiten, damit er sich im Kampfe ums Dasein durch- 
setzen kann, ist es notwendig, daO diese Verschwendung an Energie beseitigt 
wird, daO die Betatigung, die Aktivitat jedesmal nur auf diejenigen Muskei- und 
Nervengruppen beschrankt wird, deren Anteilnahme absolut unentbehriich ist 
für die Vollziehung der verlangten Bewegungsakte. 

Die rationelle, ökonomische Arbeitstatigkeit wird also dadurch bedingt, daD 
aus der Arbeitssphare jedesmal diejenigen Gruppen des psychophyslschen Appa- 
rates ausgeschaltet werden, deren Anteilnahme am gegebenen Akte nicht un- 
mittelbar notwendig ist. Eine solche Ausschaltung wird auch in der Regel errelcht 
auf dem Wege der mehrmaligen Wiederholung einer bestimmten Bewegung 
infolge der Anhaufung von Übung: auf diese Weise laOt sich allmahlich die un- 

12 * 


168 


Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhytbmus 


mittelbar arbeitende Grundgruppe der Elemente ausscheiden, worin sich die 
Energieverausgabe konzentriert, indem die übrigen Nerven- und Muskelgruppen 
entlastet werden. 

Es bletet sich jedermann haufig die Gelegenheit, eine Reihe von Erscheinungen 
solcher Art zu beobachten. Hierher gehort z. B. die Arbeit eines Menschen, der 
im Radfahren den ersten Versuch macht. Infolge des Mangels an Gewohnheit, 
des Mangels an Übung setzt der beginnende Radfahrer eine Reihe von solchen 
Elementen seines psychophysischen Apparates ins Werk, die zum Radfahren 
durchaus nicht notwendig sind: er halt sich krampFhaft an der Lenkstange fest, 
macht die gröQten Anstrengungen, um das Gleichgewicht zu behalten usw. Nach 
ein paar Tagen, nachdem er den Versuch mehrere Male wiederholt hat und einen 
gewissen Grad von Übung im Radfahren erreicht hat, bringt es der Organismus 
fertig, das Radfahren viel ökonomischer durchzuführen, da sich im psycho¬ 
physischen Apparat ein bestimmtes Mali von Diszipliniertheit, von innerer 
Organisation eingestellt hat. Der geübte Radfahrer begnügt sich damit, daB er 
die Lenkstange mit der Hand nur ganz leicht oder gar nicht berührt; er behalt 
am leichtesten das freie Gleichgewicht usw. Dabei kann er lange Zeit ununter- 
brochen fahren, ohne betrachtlich müde zu werden. 

Eine ahnliche Erscheinung beobachten wir beim ersten Versuch eines Kindes, 
auf den Beinen zu marschieren: auch hier werden viele Teile des Organismus 
(Hande usw.) unnötig ins Werk gesetzt, viele Anstrengungen nutzlos vollbracht. 
Erst bedeutend spater, infolge mehrmaliger Wiederholung des Ganges, erlernt es 
das Kind, den ProzeB des Gehens auf die Anteilnahme der absolut notwendigen 
psychophysischen Gruppen zu beschranken. Der Erwachsene erreicht dasselbe 
ganz automatisch: die Beine bewegen sich „von selbst®, das Gehen ruft sehr wenig 
Ermüdung hervo'r, da sich dabei der Energieverbrauch viel ökonomischer gestaltet. 

Ebenso unökonomisch verschwendet seine Energie ein des Schreibens wenig 
kundiger Mann, wenn er auch nur seinen Namen zu zeichnen hat: schon am 
vielen Schwitzen (buchstablich gemeint) laB< sich da der unzweckmaOige, ver- 
schwenderische Verbrauch der Energie merken, wahrend jeder im Schreiben 
Geübte imstande ist, eine langere Zeit mit der Feder zu arbeiten, ohne dabei 
viel Energie zu verwenden. 

In allen diesen und ahnlichen Pallen ist es stets die Wiederholung der 
Bewegungsakte, ist es die Übung, die den Menschen in den Stand setzt, im Prozesse 
der Arbeit nur die dazu notwendigen Muskei- und Nervengruppen zu betatigen, 
dabei den Energieverbrauch zweckmaBig zu regulieren — in bezug auf Moment, 
Richtung und Starke der Anstrengung. Diese Regullerung wlrd aber durch den 
rhythmischen Charakter der Bewegungen bedeutend unterstützt, welcher die 
Bewegungsakte in bezug auf Zeitpunkt fixiert und denselben den Zug der 
Organisiertheit aufpragt. 

Von groBem Belange ist dabei der automatische Charakter der rhythmischen 
Bewegungen. Haben die Rechtzeitigkeit, die Gemessenheit und die ZweckmaBig- 




170 


Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus 


allerbesten Dynamomaschinen*), nach dem Ausdrucke von Munck. Es genügt 
festzustellen, daO der nützliche Wirkungsgrad der Muskei bis zu 40% steigt, 
wahrend unsere gewöhnlichen Maschinen einen Wirkungsgrad von nur 10—15% 
aufweisen und sogar bei den Dieselmotoren derselbe Koeffizient gewöhnlich 35% 
nicht übersteigt. Das bedeutet, daQ das menschliche Muskelsystem ein auDer- 
ordentlich günstiges Verhaltnis besitzt zwischen der mechanischen Arbeit (Arbeits- 
efFekt) und der physiologischen Verausgabe (Verbrauch an chemischer Energie, 
die der Nahrung entnommen wird). 

Aber von allen Muskeln überhaupt erscheinen als die wirksamsten eben die 
kleinen. Ihre Arbeit zeichnet sich durch gröBere Geschwindigkeit aus (z. B. 
bis 540 Kontraktionen pro Minute für die Muskeln der Handefinger), als dié der 
groOen Muskeln (z. B. 120 Kontraktionen für die Muskeln der Beine). Dies ist 
nicht zu verwundern, wenn wir uns daran erinnern, daiJ die Beine, Arme, Finger, 
an einem Ende fest gebunden, nach dem Prinzip des Pendels arbeiten, wo die 
Bewegungsgeschwindigkeit zur Lange des Pendels in umgekehrter Proportion 
steht. AuOerdem folgt die gröBere Ökonomie und gröBere Annaherung der Arbeit 
der kleinen Muskeln an das Prinzip des Optimums schon daraus, daB sie eine 
niedrigere Schwelle der Reizbarkeit besitzen: zur Reaktion der kleinen 
Muskeln genügt ein so geringer Impuls, ein Reiz von so geringer Starke, daB er 
unter der BewuBtseinsschwelle bleiben kann. 

Die Arbeit der kleinen Muskeln zeichnet sich also durch die ökonomischste 
Art aus: zu ihrer Reaktion gehört ein viel geringerer Impuls als für die groBen 
Muskeln, und die Reaktion selbst ist mit einem geringeren Energieverbrauch 
verbunden. Dadurch ist auch die Tatsache zu erklaren, daB die Entwicklung 
der menschlichen Arbeitsformen sich in der Richtung der Übertragung der Arbeits- 
betatigung von den groBen Muskeln auf die kleinen vollzieht, — was Gerson 
als die Verwirklichung des „Prinzips der kleinsten Muskei" bezeichnet. Durch 
diese Entwicklung wird erst recht der Boden geschaffen, in dem die Rolle des 
die Arbeit ökonomisierenden Rhythmus tief verankert ist, Von diesem Gesichts- 
punkte aus liefert der Vergleich der Arbeit des Schmiedes mit der des Pianisten 
eine noch klarere Illustration der Energie sparenden Rolle der leicht automatisier- 
baren rhythmischen Bewegungen. 

Damit die vorher erwahnten Erscheinungen — unter anderem auch der an- 
gegebene Vorzug der Arbeit der kleinen Muskeln — in richtiges Licht gesteilt 
werden, ist es notwendig, noch eine besondere Eigenschaft der Tatigkeit des 
psychophysischen Apparates des Menschen in Betracht zu ziehen. Das sind die 
sogenannten Reiznachwirkungen der Innervation. 

Bei der Einwirkung des Innervationsstromes auf den Muskei wird die Summe 
der Innervation nicht restlos und unmittelbar auf den motorischen EfFekt des 
Muskels — auf die Kontraktion desselben — verausgabt: es bleibt immer noch 

•) Die Muskelreaktion verlSuft bekanntlich in der Form von Explosionen, analog den Diesel¬ 
motoren. 




Ermanski, Das Problem des Arbeitsrbythmus 


171 


ein bestimtnter Rest zurück, eine gewisse potentielle Reiznachwirkung. Durch 
mehrmalige Wiederholung der Innervation wird die Möglichkelt der Summation 
dieser Reste geschaffen, — unter der Bedingung, daO die Innervationen nach- 
einander in genügend kleinen Intervallen Folgen. In diesem Falie wird jede neue 
Reiznachwirkung den noch nicht annullierten Innervationsrest aufgreifen und 
denselben verstarken können. 

Unter diesen Umstanden geschieht es leicht, daO der GröBe nach ganz ge¬ 
ringe Impulse — so gering, daO sie unter der BewuOtseinsschwelle bleiben, — 
sich zu einer bedeutend gröDeren ununterbrochenen Wirkung vereinigen, als die, 
welche von einer Reihe starkerer Innervationsströme ausgelöst werden kann, falls 
die letzteren voneinander durch langere Zwischenraume getrennt sind. Der 
Grund dazu ist eben der, daC im letzteren Falie die Reiznachwirkungen der 
vorangehenden Innervationen nicht ausgenutzt werden können. 

Ziehen wir diesen Umstand in Betracht, so wird es uns leicht, zu verstehen, 
warum der Bewegungsrhythmus nur in dem Falie seine ökonomisierende Wirkung 
zum Vorschein bringt, wo die Intervalle zwischen den einzelnen Bewegungs- 
akten nicht zu groB sind*). Von demselben Gesichtspunkte tritt auch der be- 
sondere Vorzug der rhythmisch wirkenden kleinen Muskein deutlich hervor, da 
sich dieselben, wie schon oben erwahnt wurde, durch verhaltnismaBig gröBere 
Bewegungsgeschwindigkeit auszeichnen. 

III. 

In den vorangehenden Zeilen sind verschiedene Seiten des Rhythmusproblems 
kurz zusammengefaBt und geklart, soweit dies vom jetzigen Stande der Unter- 
suchungen dieses Problems gestattet wird. Damit ist aber der Gegenstand noch 
nicht völlig erschöpft. Eine Lücke ist dabei geblieben. Eine Seite des Problems 
bleibt doch noch unberührt: das ist die Gleichheit der Intervalle zwischen den 
einzelnen Akten der rhythmischen Bewegung. 

Tatsache ist aber, daB die sich regelmaBig wiederholenden Bewegungen die 
ökonomisierende Eigenschaft in vollem MaBe nur besitzen, wenn sie einander 
in gleichgroBen Zwischenraumen folgen. Warum also ist diese Gleichheit not- 
wendig? Worin besteht Ihre Rolle im Mechanismus des Rhythmus? 

Dieser nicht unwesentliche Punkt im Rhythmusproblem bleibt bis jetzt noch 
völlig ungeklart, sogar noch nicht beleuchtet in der uns bekannten Fachliteratur. 
Ohne befriedigende Beantwortung der hier gestellten Frage kann aber von einer 
Lösung des Rhythmusproblems noch nicht die Rede sein. 

Mir scheint es, daB diese Lücke gefülit werden und daB die soeben auf- 
geworfene Frage schon jetzt, bei gegebenem Stande der Wissenschaft, beantwortet 

•) Diesem Umstande trHgt die Arbeitspraxis sehr bduflg Rechenschaft. Wo die Arbeit der 
einzelnen Person, der Natur nach, Ikngere Intervalle erfordert (Handdrescben auf dem Lande, 
Einrammen der Pbastersteine usw.), wird die TStigkeit von HilTspersonen eingeschaltet, so daO 
ein kollektiver ArbeitsprozeQ entsteht, wo die Intervalle entsprechend verringert werden. 






172 


Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus 


werden kann. Ich glaube, dalJ die Lösung der Frage durch das Gesetz der 
Interferenz geboten werden kann. 

Angenommen, daU die Anderungen irgendeiner Erscheinung wellenartig ver- 
laufen: die Anderungen sind bald nach oben, bald nach unten gerichtet ^ ge- 
rechnet von einer bestimmten neutralen Linie AB. Es ergibt sich dann eine 
wellenartige Linie mit den Hochpunkten in Oj und den Tiefpunkten in f/j. 
Fahrt die Ursache, durch welche die Bewegung hervorgerufen wurde, fort zu 
wirken, so entsteht eine Reihe von wellenförmigen Schwankungen, die in be¬ 
stimmten Zwischenraumen nacheinander folgen, Jede folgende Welle kombiniert 
sich mit der vorangehenden. 

Dabei kann leicht eine solche Kombination zustande kommen, wo der Hoch- 
punkt Og der folgenden Welle, der Zeit nach, mit dem Hochpunkt Oi der voran¬ 
gehenden und der Tiefpunkt f/g der folgenden mit dem Tiefpunkt Ui der voran¬ 
gehenden Welle zusammenfallt (Abbildung 1). Aus einer solchen Kombination 



wird, nach dem Gesetz der Interferenz, bekanntlich nicht die einfache Wieder- 
holung der vorangehenden Welle, sondern deren Verstarkung resultieren: der 
Hochpunkt wird höher steigen, der Tiefpunkt wird niedriger sinken; der Punkt Og 
wird über dem Punkte Oi, der Punkt f/g wird unter Ui zu liegen kommen. Wir 
erhalten also eine VergröOerung der Schwankungsamplitude. Die volle Wellen- 
höhe wird nicht mehr hi, sondern hg gleich sein. Und diese Verstarkung der 
Schwankungen greift Platz auch in dem Falie, wo der Impuls oder die Ursache, 
durch welche die Schwankungen hervorgerufen wurden, bei der sich wieder- 
holenden Bewegung eine und dieselbe, eine der Starke nach konstante bleibt. 

Nur eine Bedingung ist absolut notwendig, damit das Gesetz der Interferenz, 
im angegebenen Sinne, in Wirksamkeit tritt. Die Bedingung ist die folgende: 
Die Lange I jeder folgenden Welle muC der Lange I der vorangehenden gleich 
sein; es muB die Bedingung erfüllt sein, dalJ li = U = lz= usw. Sollte diese Gleich- 
heit nicht stimmen, so würde ein Auseinandergehen statthnden: in dem Moment, 
WO der Hochpunkt einer folgenden Welle mit dem Hochpunkte der vorangehenden 
zusammenfallen wird, wird ein solches Zusammenfallen der TrefFpunkte nicht 
zustande kommen (Abbildung 2). Es wird dann auch die Interferenz, im Sinne 
der VergröDerung der Schwankungsamplitude, ausbleiben. 












Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus 


173 


Damit die Verstarkung der Schwankungen, die durch eine wiederholt wirkende 
konstante Kraft hervorgerufen wird, eintritt, ist also die Langengleichheit der 
einzelnen, einander Foigenden Wellen absolut notwendig. Mit anderen Worten: es 
ist die Gleichheit der Intervalle zwischen den Momenten der Einwirkung der 
die Schwankungen hervorrufenden Kraft, das heiCt, es ist der völlig rhythmische 
Charakter der Bewegung notwendig. 

DaO in der mechanischen Arbeit einer technischen Konstruktion die rhythmische 
Einwirkung der StöBe oder der beweglichen Lasten eine Rolle spielt, ist eine 
jedem Ingenieur bekannte Tatsache. Beim Projektieren einer Brücke z. B. wird 
dieselbe auf die volle und in der ungünstigsten Weise verteilte bewegliche Be- 
lastung, nebst deren StöBen, berechnet; was aber der Berechnung nicht zugrunde 
gelegt wird, ist der Rhythmus der StöBe. Eine solche Brücke ist auch tatsachlich 
hnstaade, der Belastung durch eine in rasendem Tempo fahrende Artillerie- 
Kompagnie mit ihren schweren Geschützen Widerstand zu leisten. Sobald aber 
dieselbe Brücke von einer Kavallerieabteilung befahren oder von einer Infanterie- 



abteilung in regelmaBigem Marsche beschritten wird, andert sich die Sachlage 
bedeutend. 

lm letzteren Falie haben wir es zwar mit bedeutend geringeren Kraften, 
die die Brücke belasten, zu tun; diese Krafte aber wirken rhythmisch: der 
regelmaBige Gang der dressierten Kavalleriepferde, der rhythmische Schritt der 
Infanteriereihen. Und das Resultat kann sein, daB die Brücke der letzteren Belastung 
nicht genügend Widerstand leisten kann: die inneren Spannungen der einzelnen 
Brückenteile (Gurtung, Stander, Diagonalen usw.) werden durch die Interferenz 
der elastischen Wellen erhöht und können die Elastizitatsgrenze des Materials, aus 
welchem die Brücke gebaut ist, überschreiten, — dann ist eine bleibende Deformation 
mancher Brückenteile, eventuell auch der Sturz der Brücke selbst, unvermeidlich. 

Falie, WO Brücken unter solchen Umstanden einstürzen, sind auch in Wirklichkeit 
mehrmals schon vorgekommen. Wenn ich mich nicht irre, gehört zu diesen Fallen 
auch der Einsturz der „Agyptischen Brücke" über den Fontanka-FluB in Peters- 
burg. Ich glaube, daB zu dieser Kategorie der Erscheinungen auch der Einsturz 
der Decke im Sitzungssaale der Reichsduma von 1907 gehört: in der Dachstuhl- 
etage des Gebaudes war gerade über dem Sitzungssaale eine kleine Dynamo- 
maschine aufgestellt, und die rhythmischen StöBe ihrer arbeitenden Teile konnten 
die Balken der Deckenkonstruktion zum Einstürzen bringen. 






174 


Ermanski, Das Problem des Arbeitsrhythmus 


Dieselbe Rolle spielt auch der Rhythmus in der Betatigung der lebenden 
Organismen. Auch hier ist der Rhythmus der Bewegungen imstande, im Zu- 
sammenhange mit den Interferenzerscheinungen die Wirkung der bewegenden 
Kraft zu erhöhen, ohne VergröBerung deren Starke. Dadurch wird eine öko- 
nomischere Ausnutzung der Energie, ein optimales Verhaltnis zwischen dem 
gewonnenen Resultat und dem Krafteverbrauch erreicht. 

Und namentlich trifFt dies in vollem MaOe zu in bezug auf die Arbeits- 
prozesse des Menschen, in denen sich die Bewegungsakte stets mehrmals wieder- 
holen. Im psychophysischen Apparate des Menschen, als Arbeitsmaschine, sind 
es die rhythmischen Impulse, die, wie oben erwahnt, deren Reiznachwirkungen 
summieren und auf diese Weise ihren Nutzeffekt noch mehr erhöhen. So wird 
die Möglichkeit erreicht, gröOere Resultate zu gewinnen mit Verwendung der- 
selben oder sogar kleinerer Energiemengen. Der Rhythmus verwirklicht 
also die Grundbedingung der rationellen Organisation der Arbeit. 

Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet ist auch der Umstand leicht zu 
erklaren, daC die Wurzeln des Rhythmus noch tiefer in die Vergangenheit reichen, 
als in die Geschichte der menschlichen Arbeit. In der ganzen Tierwelt hat 
sich die Entwicklung der wichtigsten Organe nach dem Prinzip des Rhythmus 
gestaltet: der rhythmische Charakter zeichnet die Arbeit des Herzens, des 
Atmungsapparates u. dgl. aus. Hier haben wir es mit dem Resultate eines sehr 
viele Jahrtausende dauernden biologischen Prozesses zu tun, wo sich nur die 
alIerangepaOtesten Organismen durchringen konnten, wo sich die natürliche 
Auswahl nach dem Prinzip der ökonomischeren Energieausnutzung durchsetzen 
muOte. In diesem Prozesse kam die wohltatige Rolle des Rhythmus zum Vor- 
schein, dessen Mechanismus deshalb in der Sphare des organischen Lebens tiefe 
Wurzeln greifen muOte. 

In den Arbeitsprozessen des Menschen selbst war, wie schon oben erwahnt, 
die Rolle des Rhythmus namentlich im Leben des Urmenschen von groCer 
Bedeutung. Einerseits waren die Methoden seiner Arbeitsbetatigung den aus 
der biologischen Entwicklung hervorgegangenen physiologischen Prozessen des 
Organismus naher. Andererseits war die Rolle des Werkzeuges in der Arbeit 
des Urmenschen fast gleich Null. Die Kettengliederung der Arbeitselemente war 
noch sehr einfach: zwischen dem Menschen, als Subjekt der Arbeitstatigkeit, und 
dem Objekte seiner Arbeit waren noch keine zahlreichen Zwischenglieder zu 
linden, wie diejenigen, die sich in die modernen Arbeitsprozesse eingeschaltet 
haben, wo wir es mit einer komplizierten, vielfach gegliederten maschinellen 
Technik zu tun haben. 

Unter solchen Verhaltnissen ist es nicht zu verwundern, daU nicht nur die 
Arbeitstatigkeit, sondern das ganze Leben des Urmenschen durch und durch 
mit Rhythmus getrankt war, wovon die ganze Kulturgeschichte Zeugnis ablegt. 



Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie 


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Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie 

Von Dr. Erich Stern-Aachen, Assistent am Orga-Institut Berlin 

I m folgenden werden einige materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie 
festgehalten, wobei unter materialer Arbeitsanalyse nach Professor Moede ver¬ 
standen ist „eine Komponentenzerlegung der Arbeit, um vor allem die Be- 
anspruchung des BewuQtseins durch einen bestimmten Beruf zu erkennen und 
um daraus die für die erfolgreiche berufliche Betatigung notwendigen Anlagen 
namhaft machen zu können"*). Hierbei soll das Hauptaugenmerk auf die Frage 
der Übbarkeit gerichtet werden, da sich nach dieser Frage die Verwendung des 
Analysenmaterials richtet, d, h. ob es verwendet wird für den Aufbau der psycho- 
technischen Eignungsprüfung oder des Anlernwesens. In den folgenden Be- 
trachtungen folgen wir dem Arbeltsgang in der Textilverarbeitung, wobei wir 
fertig versponnenes Garn als Ausgangspunkt nehmen, also die Arbeiten des 
Spinnereibetriebes auOer acht lassen, und ihm bis zur versandbereiten Ware 
folgen. 

Zuvor müssen einige Bemerkungen allgemeiner Art über die soziologischen 
und ahnliche Verhaltnisse in der Textilindustrie gemacht werden. Trotzdem 
tariflich fast alle Arbeiterkategorien der Textilindustrie als Facharbelter figurieren, 
haben wir es hier fast nie mit gelernten Arbeitern im Sinne der Metallindustrie 
zu tun, vielmehr mit einer Gruppe, die etwa die Mitte einnehmen dürfte zwischen 
angelernten und ungelernten Arbeitern. Eine Ausnahme hiervon bilden einzelne 
Arten von Spezialfarbern und Spezialwebern, die eine fachliche Ausbildung haben, 
wahrend es z. B. bei gewöhnlichen Webern eine Seltenheit ist, daO ihnen auch 
nur die einfachsten Regeln der Bindungslehre bekannt sind. Die Arbeit ist zum 
groOen Teil Frauenarbelt, wiederum mit Ausnahme des Farbereibetriebes und 
der Bedienung der gröOere Körperkrafte erfordernden groBen Appreturmaschinen. 
In den beiden Betrieben, deren Untersuchung den folgenden Ausführungen zu- 
grunde liegt, können wir mit etwa 70 Prozent Frauen in der gesamten Beleg- 
schaft rechnen. Diese Zahl errechnet sich selbstverstandlich aus der reinen 
Textilarbeiterschaft und sieht ab von Transport- und Hofarbeitern, Reparatur- 
schlossern usw. Die Entlohnung erfolgt heute groBenteils im Akkordsystem. 
Es ist ferner zu beachten, daB die Voraussetzungen örtlich sehr stark dilFerieren; 
so haben wir z. B. im Elberfeld-Barmer Textilbezirk mit einer kaum im Beruf 
vorgebildeten Arbeiterschaft zu rechnen, wahrend in Schlesien die Arbeiterinnen 
groBenteils aus Hausern kommen, in denen Textilheimarbeit geleistet wird und 
schon als Kinder beim Spuien, Aufbaumen, Einziehen usw. mitbeschaftigt worden 
sind. Es fallt weiter eine offenbar durch Vererbung erworbene physische Be- 
rufseignung auf, so z. B. die schmalen, langen und gelenkigen Finger in den 
Weberfamilien. 


*) Moede, Die psychotechnische Arbeitsstudie, Pr. Ps. I. 5. S. 135. 


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Nach diesen allgemeinen Bemerkungen wenden wir uns dem ersten Arbeits- 
vorgang zu: der Spulerei. Die Spulerei hat das von der Spinnerei gelieferte 
Garn von den sog. Copsen, auf denen es geliefert wird, abzuspulen auf die Spule, 
in der es weiter verarbeitet wird. Hierbei wird das Kettgarn anders gespuit als 
das SchuOgarn, und beide wiederum unterscheiden sich von der Spulung des 
Garns für die Flechterei oder Wirkerei. lm Prinzip besteht die Arbeitsleistung 
in jedem Fall in der Überwachung und Inganghaltung der Maschine durch Zu- 
führung von Material und Beseitigung der Betriebsstörungen. Zum Teil ins Ge- 
biet der formalen Arbeitsstudie gehort dabei die Festlegung der zulassigen 
Spulenzahl, die einer Arbeiterin übergeben werden. Sie gehort aber auch in 
unseren Zusammenhang, da hier die Gesetze der Aufmerksamkeitsvertellung mit 
in Betracht kommen. Die geradlinige Anordnung des zu überwachenden Feldes 
ist durch die Maschine festgelegt. Es ergibt sich, daD bei dieser Anordnung und 
der üblichen Geschwindigkeit optimal im Durchschnitt zwölf Spuien einer Be- 
dienerin übergeben werden können; es ist jedoch zu beachten, daO dieser Durch- 
schnittswert mit der Qualitat und Starke des verarbeiteten Fadens sehr stark 
variieren kann und bei der UngleichmaOigkeit der in Deutschland zur Zeit ver- 
fügbaren Qualitaten nur begrenzten Wert hat. Die hier genannten Zahlen be- 
ziehen sich auf einen einfachen Baumwollfaden mittlerer Qualitat und Starke (24). 
Unter diesen Bedingungen ist die langste beobachtete Pause, die in der Tatigkeit 
der Arbeiterin eintrat, 21 Sekunden, die nachste sinkt schon auf 14 Sekunden, 
und haufiger treten erst Pausen von 8 Sekunden abwarts ein. Die Beobachtungen 
setzen sich aus je 2 Stunden in 10 Tagen zusammen. Der langste Still- 
stand einer Spule (abgesehen von Fallen, wo er von der Spulerin nicht bemerkt 
wurde) betrug 143 Sekunden; haufiger kommen auf diese Weise Stillstande von 
70 Sekunden abwarts vor. Stillstande, die auf das Nichtbemerken eines Faden- 
bruches zurückzuführen sind, kommen bei ungeeigneten Arbeitskraften hauhg vor, 
sind jedoch — da die Einzelspule nur etwa Vso der Leistung der Maschine dar- 
steilt — nicht so bedenklich für die Flechtereispule. Bedenklicher sind sie für 
die Kreuzspule, wie sie für die Farberei und Weberei hergestellt wird, die auf 
einer Unterlage rotiert und bei langerem Laufen auf einer Lage in dieser schad- 
haft wird. Wir müssen daher von der Kreuzspulerin höhere Leistungen der 
verteilten Aufmerksamkeit fordern, als von der SchulJ- und Flechtereispulerin. 
Weiterhin kommen hierfür bereits eine Reihe von Intelligenz- und Gedachtnis- 
leistungen in Betracht. Die intelligente Spulerin kann sich ihre Aufgabe wesent- 
iich erleichtern, indem sie ihre Arbeit „organisiert“. Sie leistet mehr, wenn sie 
die Anordnung ihres gesamten Arbeitsfeides im Kopf hat, d. h. einigermaOen 
sich einpragt, welche Copse in den nachsten Minuten leerlaufen und erneuert 
werden müssen. Ahnliches gilt entsprechend, wo vom Strang gespuit wird. 
Daneben spielt natürlich noch vor der Aufmerksamkeit die Güte des Auges eine 
ausschlaggebende Rolle; der feinste verarbeitete Faden muö unter den ungün- 
stigsten vorkommenden Verhaltnissen noch vollkommen deutlich wahrgenommen 




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werden, so deutlich, daO bei Fadenbrüchen sein Fehlen sofort wahrgenommen 
wird. Beim Spuien vom Strang ist dieses Moment weniger ausschlaggebend, 
da hier das Stillstehen des groBen Garnkranzes sofort auffallt. Beim Spuien 
von Copsen wird es für die Kreuzspulerin erleichtert durch das Hin- und Her- 
schwirren des Fadens. AuBerdem können wir hierbei die Aufgabe erleichtern, 
indem wir den weiBen Faden zwischen der Knotenbremse und der Schlitztrommel 
über einer schwarzen ünterlage laufen lassen. Ist der Faden gerissen, so muB 
er angeknotet werden; hierbei ist unbedingt wichtig, daB der richtige Weber- 
knoten gemacht wird, da jeder andere unangenehme Störungen und Fehler in 
der weiteren Fabrikation ergibt. Die psychotechnisch erfaBbare Voraussetzung 
hierfür ist eine ziemlich hohe Fingergeschicklichkeit, die bereits zum AufBnden, 
Greifen und Abheben des abgerissenen Fadenendes gehort. Die Fertigung des 
Knotens selbst ist bei diesen Voraussetzungen dann nur noch Sache der ent- 
sprechenden Anlernung. Wo keine ausgesprochene Anlernsteile vorhanden ist, 
empfiehlt es sich, alle Neueingestellten (denn dieser Knoten wird in allen Be- 
triebsteilen gebraucht) einem Anlerner zuzuführen, der zuerst mit grober Schnur, 
dann mit immer feineren Faden, zuerst langsam, dann immer schneller mit ihnen 
diesen Knoten „einexerziert®, bis die Bewegungen dazu völlig automatisiert sind. 
Die zwei bis drei Übungsstunden, die das kostet, sind unbedingt rentabel. AuBer¬ 
dem werden in der Spulerei neben Abbildungen der richtigen Knotung und der 
falschen (wobei die falsche dick, kreuzweise rot durchstrichen ist) Darstellungen 
angebracht, die zeigen, daB die Spulerin, die einmal falsch knotet, vier Arbeits- 
kollegen in ihrem Lohn schadigt und dem Betrieb viele Hundert Mark kostet. 
Es sei an dieser Stelle gleich erwahnt, daB gerade im Textilbetrieb vorzügliche 
EingrifFsgelegenheit für diese sog. „interne Betriebsreklame® ist; wir werden im 
weiteren öfter Gelegenheit haben, auf diesen Punkt zu sprechen zu kommen. 

Es bleiben nun noch einige Punkte zu erwahnen, die für den Spuler berufs- 
wichtig sind. Wir müssen von ihm weiter ein erheblich gutes AugenmaB ver¬ 
langen, und zwar muB er (bei der Kreuzspule) nach AugenmaB abschatzen, wann 
die Spule die nötige Dicke hat. Er hat hierzu zwar eine Lehre, die er aber 
praktisch, wenn er nicht viel Zeit verlieren will, kaum anders als zur gelegent- 
lichen Nachprüfung verwenden kann. Weiterhin muB er aber auch verschiedene 
Fadenstarken unterscheiden können, da öfier von der Spinnerei Copse mit ver- 
schiedener Garnstarke irrtümlich zusammen geliefert werden. Wird ein solches 
Versehen beim Spuien nicht bemerkt, so können dadurch ganze Stücke Fertig- 
ware unbrauchbar werden. 

Zusammenfassend können wir also für die psychotechnische Eignungsprüfung 
des Spulers folgende Eigenschaften verlangen: Sehscharfe, AugenmaB, verteilte 
Aufmerksamkeit, Orientierungsvermögen, Raumgedachtnis und Fingergeschick- 
- lichkeit. Wie diese Eigenschaften geprüft werden, in welchem MaBe sie verlangt 
werden und wie die Prüfungen sich bewahren, wird für dieses wie die folgenden 
Gebiete in einem spateren Bericht mitgeteilt werden. 



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Wir folgen nun zunachst dem einfacheren Fabrikationsgang: dem der Flechterei, 
in dem der Faden durch Verflechten mehrerer Faden gebunden wird. Auf diese 
Weise entsteht die Wirk- und Strickware. Zur Durchführung unserer Analyse 
betrachten wir die Arbeit an der Flecht- oder Kabelmaschine, die der Herstellung 
von Spitzen, Kordein, Litzen und Kabeln dient. Die Maschine zieht von be- 
wegten Spuien den Faden ab, wobei die Spulenstander, durch die Jacquardkarte 
gesteuert, sich so bewegen, daO die Faden sich in dem in der Karte vorgeschrie- 
benen Muster verhechten. Die Bindung erfolgt durch ein Schlagerwerk. Die 
Aufgabe des Arbeiters (wir sehen vom Maschineneinrichter hierbei ab) besteht 
im Aufstecken des Spulenmaterials und der Überwachung des Maschinenganges. 
Für das Aufstecken müssen wir hierbei, ebenso wie vom Materialzutrager, vom 
Maschinenbediener genügendes Unterscheidungsvermögen für die verschiedenen 
Garnsorten verlangen. Obwohl ihm das Material sortiert zugebracht wird und 
die z. B. in einer Spitze zur Verwendung kommenden Game durch verschieden- 
farbigen Anstrich der Spulenköpfe kenntlich gemacht werden, sind Irrtümer nicht 
ausgeschlossen und bedeuten gleich eine so wesentliche Schadigung für den Be- 
trieb, daQ wir hier Nachkontrolle, bei jeder Stelle, die mit dem Material in Be- 
rührung kommt, fordern müssen. Da die Garnnummern mit abnehmender Garn- 
starke ansteigen, so können wir mit dem Prüfapparat gleich eine Anlerneinrichtung 
verbinden. Wir hangen an einen Rechen eine gröOere Anzahl von Faden ver- 
schiedener Dicke und lassen an ihnen den Neuling Nummernbezeichnungen an- 
bringen. So können wir prüfen, ob er die Game unterscheiden kann, und gleich- 
zeitig üben wir die assoziative Verbindung einer Garnstarke mit der zugehörigen 
Nummer ein. Was die Überwachung des Maschinenganges betrifft, so stehen 
wir hier vor der gleichen Aufgabe wie in der Spulerei, daC namlich zuerst 
festgestellt werden muC, welche Spulenzahl dem einzelnen übergeben werden 
kann. Nur liegen hier die Verhaltnisse bedeutend komplizierter als in der Spulerei. 
Abgesehen von den gleichen Schwierigkeiten (Schwankungen mit der Garnstarke 
und Qualitat) ist bei der Flechtmaschine zu bedenken, daO ein einzelner Faden- 
bruch eine ganze Maschine (d. h. unter Umstanden bis zu 150 Spuien) stillstellt, 
daC weiter die Überwachung von 8 Maschinen zu 100 Spuien viel geringere 
Anforderungen stelit als die von 16 Maschinen zu 50 Spuien. Urn nur einige 
Beispiele zu geben, sei angeführt, daQ bei mittleren Garnstarken und Qualitaten 
(24) und zwischen 30- und 60spuligen Maschinen ein optimaler Wert bei 
700 Spuien, von 60—QOspuligen Maschinen bei 900, bei Maschinen mit höherer 
Spulenzahl bei 1000—1200 Spuien liegt. Diese Zahlen variieren natürlich sehr 
stark mit dem verarbeiteten Material. Aus den angegebenen Zahlen geht bereits 
hervor, daO es sich urn eine erhebliche Leistung der verteilten Aufmerksamkeit 
handelt, die sich noch dadurch erhöht, daO auf dreierlei zu achten ist: das Leer- 
laufen der Spuien, Fadenbruch und Spannung der Faden. Ist ein Faden nicht 
genügend gespannt, ,schlappt er“, so bilden sich unerwünschte Ösen an den 
AuQenseiten bzw. lose Maschen in der Mitte der entstehenden Spitze. Es gehort 



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zur Überwachung dieses letzten Umstandes auCer der Aufmerksamkeit noch zweier- 
lei hinzu: beim Aufziehen und vor dem Ingangsetzen muO sich der Arbeiter durch 
Abtasten überzeugen, ob alle Faden genügend gespannt sind. Er muO also ein 
genügendes Gelenkgefühl haben, urn Fadenspannungen beurteilen zu können. 
Auch hier laOt sich das wirklichkeitsahnliche Prüfgerat als Übungsapparat ohne 
weiteres für Anlernzwecke nutzbar machen. Zweitens mud der Überwacher das 
Schlappen eines Fadens bemerken. Diese Leistung wird erheblich erleichtert 
durch die symmetrische regelmaQige Zeichnung, die die radial gespannten Faden 
auf der Maschine bilden, und wird weiter erleichtert durch zur Fadenfarbe kon- 
trastierende farbige Unterlagen. (Es sei nur nebenbei an dieser Stelle darauf 
hingewiesen, wie bedeutsam für den Textilbetrieb eine genaue Untersuchung der 
Lichtverhaltnisse ist.) Die zu prüfende Eigenschaft ware demnach das schnelle 
und sichere Unterscheiden symmetrischer von asymmetrischen Gebilden, eine 
Prüfung, die tachistoskopisch leicht und mit einfachen Mitteln durchführbar ist. 
Bei alledem steht aber durchaus im Mittelpunkt des zu fordernden Komplexes 
die Aufmerksamkeitsleistung und zwar eine Leistung besonderer Art. Es handelt 
sich hier nicht um die Beobachtung eines einzelnen Fertigungsprozesses zum 
Zweck der Unterbrechung bei einem bestimmten Punkte, also um ein Eingreifen 
nach einem vorhergehendem Stadium ansteigender Reaktionsbereitschaft, sondern 
um ein standiges Oberwachen mit Reaktion auf'unregelmaOig eintretende Reize. 
Wiederum ist dies Eingreifen aber auch nicht so, wie etwa in den Verkehrs- 
berufen, wo es zwar ebenfalls durch unvorhergesehene, unregelmaBige Reize 
veranlaOt wird, aber hier durch aufierst starke Reize, die kaum zu übersehen 
sind, und wo die Situation so beschafFen ist, daB das Obersehen oder Nichtreagieren 
aktuelle für den Fahrer selbst verhangnisvolle Folgen hat. Es handelt sich hier 
vielmehr um die Reaktion auf Veranderungen, die in dem (auch rein raumlich) 
sehr groBen Aufmerksamkeitsfeld als minimal bezeichnet werden können und 
deren Unterlassung unter ümstanden (besonders beim Schlappen des Fadens) 
sich lange Zeit hindurch nicht bemerkbar zu machen braucht. Wie diesen Ver- 
haltnissen in der Prüfung Rechnung getragen ist, wird der spatere Bericht über 
die Prüfmethoden zeigen. 

Für den Flechtereibetrieb haben wir also folgende Eigenschaften als grund- 
legend berufswichtig zu fordern: Sehscharfe, AugenmaB (Garnstarken unter¬ 
scheiden), verteilte Aufmerksamkeit, Orientierungsfahigkeit, Gelenkgefühl für Faden¬ 
spannungen und schnelles Unterscheiden symmetrischer von asymmetrischen 
Figuren. 

Von der Flechterei aus gelangt die Ware in die Aufmachungsabteilungen, zum 
Scheren, Bügeln, Kontrollieren, Haspeln, Bündeln und Packen. Die letztgenannten 
Abteilungen sollen hier nicht naher betrachtet werden, da sie nicht dem Textil¬ 
betrieb eigentümlich sind, vielmehr — zumindest das Bündeln und Packen — mit 
geringen Abweichungen den Bedingungen jedes anderen Expeditionsgeschaftes ent- 
spricht. Über sie soll in einem allgemeinen Rahmen gesprochen werden. Das 



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Platten geschteht heute in den neuesten Betrieben maschinell mit Hilfe der Streck- 
und Plattmaschine, deren Bedienung weiter nichts mehr erfordert als die Über- 
wachung der Temperatur und des Maschinenganges, die so geringe Anforderungen 
stellt, daO man dem Bediener meist noch eine zweite Tatigkeit geben kann. Auch 
zur Beschauerin, d. h. der letzten Kontrolleurin, soll hier nur kurz Stellung ge¬ 
nommen werden, da in der Weberei hier ausführliche Analysen notwendig 
sein werden. Die Spitzenschererin hat das vor ihr abrollende Stück Ware zu 
kontrollieren, bei fehlerhaften Stellen anzuhalten, den Fehler herauszuschneiden 
und die Enden wieder zusammenzunahen. Hier erleichtern wir die Aufgabe 
natürlich ebenfalls wieder durch kontrastfarbige Unterlegung. Es gehort hierzu 
auCer der Dauerkonzentration und der selbstverstandlichen Güte des Auges eine 
geringe allgemeine Ermüdbarkeit der Aufmerksamkeit, insonderheit aber geringe 
Ermüdbarkeit des Auges, da gerade die komplizierten Spitzenmuster bei ermüd- 
barem Auge nach dauerndem Hinsehen schon nach sehr kurzer Zeit in ein un- 
bestimmtes Flimmern übergehen. Ist die Spitze kontrolliert, so wird sie maschinell 
gerollt und gemessen. Von der Rolle wird sie dann abgehaspelt auf kleine Papp- 
stücke und ist damit versandfertig. Das Haspeln geschieht auch heute noch meist 
von Hand aus und erfordert eine gewisse Verteilung der Aufmerksamkeit, Hand- 
sicherheit und Geschickiichkeit. Die Hasplerin hat noch eine Nachkontrolle zu 
üben, um die in der Schererei übersehenen Fehler noch zu finden. Gleichzeitig 
muO sie das regeimaOige Aufhaspeln besorgen (wozu sie die Spitze mit der 
linken Hand über die Unterlage langsam hin und her führt) und die MeOuhr im 
Auge behalten, um im richtigen Augenblick abzuschneiden. Dabei soll sie ge- 
wissenhaft verfahren, da sowohl zu kurze als zu lange Stücke den Betrieb schadigen. 
Sie muO also eine gewissenhafte, zuverlassige Arbeiterin sein, muO gute Augen, 
eine ruhige Hand haben, muO ihre Aufmerksamkeit verteilen können und — da 
sie mit der rechten Hand schnell drehen, mit der linken Hand langsam führen soll 
— beide Hande unabhangig voneinander bewegen können. 

Die gehaspelte Spitze geht dann der Expedition zu und verlaOt damit den 
Textilbetrieb. Wir kehren nun zum fertig gespuiten Garn zurück und sehen 
weiter die verschiedenen Funktionen bei seiner Bearbeitung an, wenn es nicht 
geflochten, sondern gewebt wird. 

Geht das gespulte Garn nicht in den Flechtereibetrieb, sondern zur Weberei, 
so macht es eine Reihe anderer Arbeitsprozesse durch. Wir betrachten auch 
hier wieder zunachst die einfacheren Verhaltnisse in der Baumwoilweberei, um 
spater erst auf die komplizierteren der Wollweberei und speziell auch der Tuch- 
fabrikation zu kommen. 

Von der Spulerei aus kommt das Garn entweder in Spuien (manchmal auch 
schon ungespult im Strang) zum Farben, oder es wird erst, nachdem es auf den 
Baum gebracht, „gezettelt" ist, im ganzen Baum gefarbt. Die modern ein- 
gerichtete Farberei ist ein voll-automatisch arbeitender Betrieb, bei dem der 
Arbeiter im allgemeinen die Funktion eines Automatenbedieners, das Zubringen 




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und Abführen des Materials besorgt. Es kommen nur einige Besonderheiten 
hier dazu. Der tüchtige Farber muQ Temperaturen unterscheiden und abschatzen 
können. Trotz der zur Verfiigung stehenden MeBvorrichtungen paDt der er- 
fahrene Farber die Lösungen der „lndividualitat“ des bearbeiteten Materials nach 
dem Gefühl an, durch Zusetzen von kalter oder warmer Lösung. Er muB be¬ 
merken, wenn die Lösungen sich wahrend der Arbeit zu sehr abkühlen. Er muB 
also auch kontinuierliche Temperaturanderungen wahrnehmen. Weiterhin gibt 
es eine Reihe von Farbungen, die erst auf dem Faden entstehen, d. h. ein vor- 
gefarbter Faden lauft durch ein Praparat, das seine Farbe chemisch verandert. 
Hierbei hat der Arbeiter genau auf etwa elntretende Farbanderungen zu achten, 
muB also auBer der absoluten Farbunterscheidungsfahigkeit auch noch ganz all- 
mahlich elntretende kontinuierliche Farbanderungen wahrnehmen. AuBer dieser 
Sinnesfahigkeit fordert die Arbeit natürlich eine sehr erhebliche Leistung der 
Dauerkonzentration. Das Umlaufen des Fadens von einem Baum auf den anderen 
muB dabei mitkontrolliert werden. Das erfordert bereits beim Auflegen der 
Baume eine Reihe von Leistungen. Die Baume müssen genau parallel und genau 
ausgerichtet aufgelegt werden, da sonst einerseits UngleichmaBigkeiten in der 
Fadenspannung auftreten, die sich an allen möglichen anderen Stellen in der 
Weiterverarbeitung durch das sogenannte „Wegplatzen" der Faden störend be¬ 
merkbar machen, andererseits lauft der Baum schief auf, d. h. die Rander werden 
dicker oder diinner als die Mitte. Tritt die letztgenannte Erscheinung so auf, 
daB ein Rand diinner, einer dicker ist, so sind die Baume nicht genau aus¬ 
gerichtet und müssen gegeneinander verschoben werden, tritt sie nur an einer 
Seite auf, so muB durch Unterlegen nachgeholfen werden. Wir müssen also 
neben der dauernden Aufmerksamkeit noch die entsprechenden Funktionen des 
AugenmaBes fordern. 

Das Zuletztgesagte, was für die Farber gilt, trifft in erhöhtem MaBe für das 
Zetteln zu. Als Zettelei bezeichnet man den Betrieb, in dem das Garn von den 

Spuien auf den Baum gebracht wird. Hier hat der Zettler ein Gatter, das 

mehrere hundert Spuien tragt (bis zu 600 ), zu überwachen und die leerlaufenden 
Spuien durch neue zu ersetzen. Da er dabei auch noch das Auflaufen auf den 

Baum mit zu überwachen hat, so haben wir eine sowohl raumlich als auch be- 

züglich der Heterogenitat der Sachen ziemlich weit verteilte Aufmerksamkeit vor 
uns. Erschwerend kommt hinzu, daB er den Faden nicht völlig ablaufen lassen 
soll, um Störungen lm Maschinengange zu vermeiden, dabei aber auch keinen 
Abfall auf der Spule lassen darf. Die Faden laufen vom schriigstehenden Gatter 
aus in die Maschine, so daB er vor sich das Bild der konvergent laufenden 
Faden hat. In diesem Fadenbilde muB er sich schnell und sicher orientieren 
können; er muB in kürzester Zeit finden, welche Spule er wieder anknüpfen muB. 
Sucht er erst an falscher Stelle, so steht nicht nur die Maschine solange still, 
sondern es besteht auch noch die Gefahr, daB er durch das Hineingreifen andere 
Faden lockert, zum Verflechten bringt und dadurch weitere Fadenbrüche veranlaBt. 

P. P. IV,6 13 



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Beim Einlegen sind die Paden durch einen Kamm zu ziehen, wozu eine gewisse 
Sehscharfe erforderlich ist, wobei die den paralaktischen Fehler verstarkenden 
Fehlerquelien bei der Augenprüfung noch besonders zu beachten sind. Ferner 
mussen hierbei die gerissenen Paden richtig und schnell geknotet werden, so 
daD auch hier die Geschicklichkeit der Hand eine erhebliche Rolle spielt. Die 
bereits fiir die Farberei genannten Momente, die Für das Aufziehen auF den Baum 
wichtig sind, geiten natürlich auch hier. Der Zettler mufi die Fadenspannung 
nach dem GeFühi einstellen, er muO darauF achten, daQ die Spannung in der 
ganzen Kette gleich ist und darF die Rander nicht leer oder übervoll lauFen lassen. 
Wir müssen also auch von ihm ein hierFür ausreichendes AugenmaO neben der 
nötigen AuFmerksamkeit und SorgFalt verlangen. Aus der Zettlerei geht das 
Material in die Farberei (soweit es im ganzen Baum geFarbt wird) und kommt 
von da aus in die Schiichte. In der Schlichterei wird zunachst beim Ein¬ 
spannen in die Schlichtmaschine das Muster gebiidet. Hierzu müssen die Schiichter 
das Muster „auszahlen", d. h. in vorgeschriebener Weise die verschiedenFarbigen 
Paden in Gruppen zusammenFassen. Da sich ein kleines Muster in einer Kett- 
breite oft viele Dutzende Male wiederholt, so ist also hierbei eine Dauerleistung 
der AuFmerksamkeit in ganz ungewöhnlichem MaOe erForderlich. Das Auszahien 
eines kleinen und komplizierten Musters kann oFt bis zu zwei Stunden dauern. 
Trotz der raumlichen Trennung der verschiedenen Fadenlagen können hierbei 
betrachtiiche Fehler durch Farbenuntüchtige oder Farbenblinde vorkommen, zu- 
mal da manche EfFekte In der Ware mit Vorliebe durch nahe beieinander 
liegende Farbnuancen oder komplementare Farben erzielt werden. Die aus- 
gezahlte Kette geht dann in die Schlichtmaschine. Da sie hier wieder auF einen 
anderen Baum (den spateren Kettbaum der Weberei) gebracht wird, muO dabei 
auF alle die Punkte geachtet werden, die schon bei der Farberei und Zettlerei 
genannt wurden. AuBerdem muB der Schiichter aber noch auF verschiedenes 
andere achten. Er hat die Temperatur und Konsistenz der Schiichte im Auge 
zu behalten. Wird die Lösung zu dünn oder zu kalt, so muB er zusetzen. Er 
hat weiter die GieichmaBigkeit der Schlichtung durch .\btasten des Fertig ge- 
schlichteten Fadens zu kontrollieren. Diese Kontrolle erFolgt meist, indem er 
die Kette ein Stück lang zwischen Zeige- und Mittelfinger durchlauFen laBt. 
AuBerdem muB er UnregelmaBigkeiten in der Farbung eines Baumes melden, 
besonders auch darauF achten, daB er nicht in einen Zug zwei Baume gleicher 
Farbe von abweichender Nuance (was bei bestimmten Farben In der Farberei 
lelcht vorkommt) verwendet. Erganzend sei noch erwahnt, daB der Schiichter 
dabei erhebliche KörperkraFt haben muB, da es üblich Ist, daB er das Aus- 
wechseln der Baume selbst besorgt. 

Die geschlichtete Kette kommt dann zum Einziehen; hier werden die KettFaden 
dem Muster entsprechend in die Geschirre des Webstuhls ,eingezogen“. Die 
Arbeit zerFallt dabei in zwei Teile: die Vorbereitung des Geschirrs und das 
eigentliche Einziehen. Bei der Vorbereitung wird die notwendige Anzahl von 



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„Rieden", d. h. Drahten, die in der Mitte ein Auge zum Durchziehen des Fadens 
haben, auf den Geschirrahmen gebracht. Dabei ist darauf zu achten, daO alle 
Riede in der gleichen Schragrichtung zum Rahmen liegen. Ein in falscher 
Richtung liegendes Auge würde auf dem Webstuhl beim dauernden Auf- und 
Abgehen scheuern und zu dauernden Fadenbrüchen AnlaO geben. Es ist also 
für die Vorbereiterin neben der Handgeschicklichkeit beim Einziehen noch eine 
Aufmerksamkeiisleistung erforderlich. Beides kann in noch höherem MaB von 
der Einzieherin gefordert werden. Das Einziehen muO auf zweierlei Weise ge- 
schehen. Ist eine Kette gleicher Fadenzahl abgewebt, so kann die neue Kette 
einfach Faden für Faden an die Enden der alten Kette „angedreht" werden. Dabei 
werden die beiden Fadenenden etwa zwei Finger breit umeinander gedreht und 
die freien Enden in Gegenrichtung gegen den Drall umgeknickt. Welche be- 
sondere Fingergeschicklichkeit dazu gehort, geht schon daraus hervor, daO man 
selbst in der alten, sparsamen schlesischen Hausindustrie den eintraglichen Posten 
eines Andrehers kannte. Es gab gut bezahlte Spezialisten, die von Haus zu 
Haus zu den Heimwebern gingen und für sie das Andrehen besorgten. Ist keine 
solche alte Kette vorhanden, so muO das Muster neu eingezogen werden. Diese 
Arbeit wird von zwei Personen in der Weise ausgeführt, daO die eine von hinten 
her den richtigen Faden zubringt, die andere von vorne mit einer Art Hakel- 
nadel durch das Auge des Riedes fahrt und den Faden durchholt. Soll dabei 
rasch und sicher gearbeitet werden, so muC die Zubringerin geschickte Finger 
und gute Augen haben, urn den einzelnen Faden schnell und sicher zu fassen. 
Sie muO aber auch über eine sichere Impulsbeherrschung verfügen, da der Faden 
mit einer schnellen und ruckartigen Bewegung stramm gespannt zugebracht werden 
soll, er darf aber dabei nicht zu straff angezogen werden, da er sonst (besonders 
bei dünnen Baumwollgarnen) leicht reiOt. Die Einzieherin muC eine hoheTreff- 
sicherheit der Hand haben, sie darf beim DurchstoDen weder neben das Auge 
treffen, noch (was noch schlimmer ist) in ein falsches Auge geraten. Dabei 
spielen Ermüdbarkeit des Auges und der Hand ebenfalls eine erhebliche Rolle. 
.Sowohl beim Einziehen wie beim Andrehen wird dazu die gleiche Leistung des 
Fadenzahlens wie beim Schlichter verlangt, nur daB hier unbedingt auBerste 
Sorgfalt und Achtsamkeit notwendig ist, da die Kette von hier aus direkt auf den 
Webstuhl kpmmt, also ein hier gemachter Fehler in der Ware unmittelbar sich aus- 
wirkt und unter Umstanden bis zu zehn Stücke von 60 m unbrauchbar machen kann. 

In der Weberei entsteht nun aus der bisher betrachteten Kette durch die Ein- 
tragung des Schusses das Gebilde. Dazu gehort zunachst als Vorbereitungs- 
betrieb noch die SchuBspulerei, die nicht auf Spuien, sondern auf die sog. 
Copse spuit, sonst aber unter ahnlichen Bedingungen arbeitet, wie die anderen 
Spulereien: der Faden lauft hier nicht auf eine horizontale Achse, sondern meist 
auf eine vertikale auf. Diese Copse bilden die Einlage des Weberschiffchens 
oder Schützen, der zwischen den Kettfaden durchschieBt. Dabei erfolgt die 
Steuerung, welche Faden über und welche unter dem SchuB liegen, durch die 

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auf- und abgehenden Geschirre. Oer Webstuhl ist eine automatisch gehende und 
automatisch gesicherte Maschine. Bei Fadenbrüchen stellt er sich automatisch 
ab. Die Aufgabe des Webers besteht in der Überwachung des Fertigungs- 
vorgangs und seiner Inganghaltung. Dazu gehort zunachst die Behebung von 
Stockungen. Stelit sich die Maschine still, so muO er schnell hnden, wo der 
Faden gerissen ist und ihn — wiederum mit dem Weberknoten — anknüpfen. 
Er muQ also zunachst einmal sich schnell in dem Fadenbild orientieren können, 
AugenmaO haben, urn, wenn er das eine lose Ende gefunden hat, zu wissen, 
WO er das andere zu suchen hat, und die genügende Handgeschicklichkeit be- 
sitzen, urn schnell und richtig zu knoten. Bei dem in Deutschland üblichen Zwei- 
stuhlsystem ist ferner eine Verteilung der Aufmerksamkeit auf zwei Stühie nötig, 
deren Leistung noch erheblich höher wird, wo — wie es heute schon an 
manchen Stellen geschieht — dem einzelnen Weber vier Stühie zur Über¬ 
wachung gegeben werden. Speziell hat sich die Aufmerksamkeit des Webers noch 
auf das Ablaufen des Fadens im Schützen zu richten. Es darf dabei nicht zu einem 
Maschinenstillstand kommen, es soll aber auch der Stuhl nicht angehalten werden, 
bevor der Schützen ganz leer gearbeitet ist. Insonderheit soll kein RestGarn auf den 
Copsen gelassen werden. (Es sei nebenbei bemerkt, daü auch in diesem Punkt 
Versuche mit der Einwirkung durch Betriebsreklame gemacht werden.) In An- 
betracht des schnellen Hinundhergehens des Schützen müssen wir also eine 
entsprechende Auffassungsgeschwindigkeit verlangen, und zwar spezialisiert 
müssen wir fordern, daO in der kurzen Zeit, die der Schützen in Ruhelage ge- 
sehen werden kann, erkannt wird, ob er nach den nachsten Schüssen schon 
erneuert werden muO und daB richtig abgeschatzt wird, wann die Maschine ab- 
gestellt werden muO. 

Es ergeben sich für den Psychologen aber neben der reinen materialen 
Analyse noch einige wichtige Fragen im Webereibetrieb, von denën hier jedoch 
nur zwei genannt werden sollen, ohne sie elngehend zu erörtern. Ein Teil der 
Betriebe hat am Webstuhl SchuBzahler angebracht, an denen der Arbeiter seine 
Leistung standig ablesen kann und hat entsprechend die SchuOzahl auch zur 
Akkordbasis gemacht. Es entsteht die Frage, wirkt die Entlohnung nach fertig- 
gestellten Stücken oder die nach SchuBzahl mehr produktionsfördernd? Eine 
endgültige Entscheidung dieser Frage ist noch nicht möglich, da Versuche in 
dieser Richtung noch nicht genügend lange durchgeführt sind und einstweilen 
noch aus verschiedenen Betrieben widersprechende Resultate vorliegen. Eine 
weitere Frage ist es, ob man den Weber seine Ware selbst vom Warenbaum 
abziehen lassen und dabei „vorputzen" d. h. die groben Unreinlichkeiten (Faden- 
enden, Fremdkörper usw.) entfernen lassen soll, oder ob ihm seine Ware un- 
abgezogen abgenommen und das Ausputzen ganz der Putzere! überlassen werden 
soll. Es erscheint auf den ersten Bliek selbstverstandlich unrationell, den Spezia- 
listen, den Weber, durch das Putzen von seiner Facharbeit fernzuhalten. Es ist 
demgegenüber aber das qualitative Moment zu bedenken, daB der Anreiz zum 



Stern, Materiale Arbeitsanalysen aus der Textilindustrie 


185 


Schnell- und Unsauberarbeiten erheblich wachst, wenn der Zwang, solche Un- 
sauberkeiten selbst zu entfernen, wegfallt. 

Mit dem Putzereibetrieb kommen wir zum ersten Betrieb, in dem wesentliche 
Unterschiede zwischen der Woll- und der Baumwollverarbeitung eintreten. Wie 
schon eingangs gesagt, beschriinken wir uns in diesem Zusammenhang auf die 
einfacheren Verhaltnisse in der Baumwollverarbeitung. Das Putzen braucht bei 
Baumwollartikeln nicht so peinlich vorgenommen zu werden, wie bei den hoch- 
wertigeren Wollartikeln. lm Prinzip ist jedoch die Arbeit die gleiche. Die Ware 
wird „beschaut®, d. h. beim Durchlaufen werden die Fehler ausgemerzt. Dazu 
ist neben der Aufmerksamkeit eine hohe Dauerleistung des Auges nötig. Be- 
sonders bei kleinen Mustern und mechanischem Durchgang der Ware ist dazu 
ein ungemein scharfes Auge mit schneller und sicherer Reaktion erforderlich. 
GröBere Fehler werden dabei von dem für sein Stück verantwortlichen Weber 
behoben, wahrend kleine Fehler der Putzer beseitigt. Das Einziehen einzelner 
fehlender Faden und ahnliches erfordert dabei wiederum sehr hohe Geschicklich- 
keitsleistungen der Hand. 

Nach dem Putzen ist die Rohware fertig; sie wird jetzt nur noch appretiert 
und aufgemacht. In der Appretur erfolgt heute die Arbeit fast aussdhlieClich durch 
Automatmaschinen, die Wasch- und Starkmaschinen, Kalander, MeB-, Wickel-, 
Leg- und Doubliermaschinen. Vom Arbeiter, der hier das Einlegen und Ab- 
nehmen der Ware von der Maschine besorgt, fordern wir also zunachst die zum 
Heben undTragen der teilweise recht schweren Stücke notwendige Kraft, sowie 
eine gewisse Bewegungsgeschicklichkeit, die die genügende Schnelligkeit bei der 
Arbeitsleistung gewahrleistet. AuBerdem bietet aber das mehrmalige Ablaufen 
der Ware Gelegenheit zum Nachkontrollieren auf Fehler, so daB es vorteilhaft 
ist, wenn wir beim Appreturarbeiter auch die Fahigkeiten des Kontrollers 
prüfen. lm übrigen liegt die Möglichkeit der Leistungssteigerung der Appretur- 
abteilung mehr auf arbeitsorganisatorischem Gebiete als auf psychotechnischem. 

Die Bedingungen der Aufmachung, Packerei und Expedition entsprechen 
ziemlich genau den auch in anderen Industriezweigen üblichen und brauchen 
deshalb hier nicht erörtert zu werden. 


Statistische Erhebung über die Geneigtheit der gesamten Barmer 
Lehrerschaft, einen Beobachtungsbogen zu führen 

Von Richard von der Mühlen, praktischer Psychologe, 

Leiter des Psychologischen Instituts der Stadt Barmen 

D as Psychologische Institut der Stadt Barmen erhielt vom hiesigen Schul- 
dezernat den Auftrag, einen für Barmer Verhaltnisse zugeschnittenen Be¬ 
obachtungsbogen aufzustellen. Dieser Bogen sollte allen Bedingungen Rechnung 
tragen, d. h. er sollte das Kind von seinem 6.—14. bzw. 18. Lebensjahr begleiten 
können, und durch ihn sollte man in der Lage sein, Unterlagen für Hilfsschul- 



186 V. d. MQblen, Stat. Erhebung der Barmer Lebrerscbaft, einen Beobacbtungsbogen zu fübren 

überwetsungen, für den Übergang zu höheren Schulen und für die Berufsberatung 
zu bekommen. Seit einiger Zeit befaOt sich eine besonders zusammengetretene 
Arbeitsgemeinschaft fleiOig damit, die Idee des Beobachtungsbogens im Sinne der 
uns gestellten Aufgabe zu verwirklichen. 

Um sich zu vergewissern, inwieweit man mit der Unterstützung der Lehrer- 
schaft samtlicher Barmer Schulen rechnen konnte, erlieO die obengenannte 
Arbeitsgemeinschaft ein Rundschreiben an alle Schulen: 60 Volksschulen mit rund 
500 Lehrkraften, 7 höhere Schulen und 4 Berufsschulen mit 265 Lehrkraften. 

Heute wollen wir zunachst AufschluB geben über die Meinung der Lehrer- 
schaft einer gröDeren Stadt in der Frage der Beobacbtungsbogen; wir boffen, 
bald den von uns aufgestellten Bogen ebenfalls folgen lassen zu können. 

In dem Rundschreiben hieO es u. a.: 

„Die Auswahl der Beobachtungskategorien ist durch zwei Gesichtspunkte be- 
stimmt, die Bedürfnisse der Förderung des Schulunterrichts seibst und besonders 
durch den weitergehenden Zweck der Berufsauslese, wie er für Individuum und 
Staat gleich wichtig ist. 

Das Psychologische Institut der Stadt Barmen beabsichtigt, einen für die Barmer 
Verhaltnisse passenden Beobacbtungsbogen aufzustelien und bittet zur Gewinnung 
brauchbarer Gesichtspunkte um Ihre geh. Mitarbeit, zunachst um die Beantwortung 
folgender Fragen: 

I. Würden Sie geneigt sein, in Einzelfallen einen nach vorgeschriebenen groOen 
Gesichtspunkten frei gefaöten Allgemeinbericht zu geben?*) 

Solche Gesichtspunkte sind etwa: 

1. Seelische Verfassung des Kindes. 

a) Vorgeschichte: Vererbung, Entwicklungsverhaltnisse, Schicksalsschlage. 

b) Beobachtungen über sein intellektuelles Leben: Sinnestatigkeit, Auf- 
merksamkeit, Gedachtnis, Phantasie, Denken, Sprache, motorische Ge-, 
schicklichkeit, Interessenrichtung, Sonderbegabung. 

c) Beobachtungen über sein Gemüts- und Willensleben: Wirkung von 
Lob und Tadel, Neigungen und Gewohnheiten, Verhalten in der Ge- 
meinschaft. 

II. Sollen spezielle Gesichtspunkte gegeben werden? 

1. Auszufüllende, genau vorgeschriebene Rubriken**). 

2. Beantwortung von formulierten Fragen nach einem methodischen Gang 
mit Angabe der Beobachtungsgelegenheit, wie bei folgendem Beispiel***): 

Anpassungsfahigkeit: 

a) Findet das Kind sich langsam oder schnell in neue Situationen und 
neue Einrichtungen, in neue Lesestoffe und Aufgaben, in neue Lehr- 
weisen und neue Lehrer? 

*) Psychologische Beobachtungsbogen von Eckhardt und Schüssler. 

**) Psycholog. Personalbogen v. Dr. Weber, Provinzialinstitut für Psychologie. Munster i.Westf. 

*♦*) Entnommen dem Hamburger Beobachtungsbogen Marta Muchow. 



V. d. Mühlen, Stat. Erhebung der Barmer Lebrerscbaft, einen Beobacbtungsbogen zu fübren 187 


b) Beruht die Langsamkeit auf Vorsicht oder Schwerfalligkeit? 
Gelegenheit der Beobachtung: 

Bei der Einführung neuer Stoffe, Spiele, bei Veranderung der Klassen- 
ordnung, der Klassenamter, bei Lehrerwechsel. 

Raum für die Antwort: 

III. Würden Sie bevorzugen, den Bogen für alle Schüler zu führen? 

IV. Soll nur in solchen Pallen ein Beobacbtungsbogen geführt werden, wenn 
es der besondere Zweck erfordert? (Übergang zur Hilfsschule, zur höheren 
Schule, zum Berufsleben.) 

Weitere Anregungen werden dankbar begrüBt werden. 

Psychologisches Institut Barmen.“ 

Zur festgesetzten Frist gingen alle Antworten pünktlich ein. Direkte Ab- 
iehnungen des Beobachtungsbogens sind überhaupt nicht vorgekommen. Meist 
wurde zu den einzelnen Fragen nacheinander Stellung genommen, wobei es vor- 
kam, daO eine oder zwei von den aufgestellten Fragen aus sachlichen Gründen 
verneint wurden. Es ist ratsam, bei der nachfolgenden statistischen Übersicht 
das Material so geordnet wiederzugeben, daO jede Stimme zu jeder Einzeifrage, 
positiv oder negativ, für sich genommen und für sich gewertet wird. Die Summe 
aller positiven Meinungen sind dann 100 % der einen Seite und die Summe aller 
negativen AuCerungen die entsprechenden 100% der anderen Vergleichsseite. 

In der Skala sind beide Systeme nebeneinander dargestellt, und zuletzt ist das 
Verhaltnis der gesamtpositiven zu den gesamtnegativen Antworten kurvenmaQig 
ausgedrückt. 


11 

7 








10% pos. 

Es ist ein nacb grollen Gesicbtspunkten frei- 
gefallter Allgemeinbericbt zu geben. 

■■ 

II 








25% neg. 


■ 

■ 







20% pos. 

Bestimmte spez. Gesicbtspunkte sind 

I. in genau vorgescbriebenen Rubriken zu be- 
bandeln. 


■ 

■ 







8% neg. 


11 

■ 

1 

1 

■ 

■ 



25% pos. 

2. in genau formulierten Fragen. 

11 

■ 

■ 


■ 

■ 

■ 






L 








Der Beobacbtungsbogen ist für aile Scbüler 
zu fübren. 

■■ 

■ 

■ 


II 

■ 

■ 

■ 


58% neg. 



11 


■ 

■ 

■ 

■ 


34% pos. 

Nur für besondere Zwecke wird der Beobacb¬ 
tungsbogen gefübrt. 

III 

■ 

■ 


■ 

1 

1 

■ 


6% neg. 


IS 








80% pos. 

Verbaitnis der gesamtpositiven zu den gesamt¬ 
negativen Antworten. 

■■ 

1 

■ 

■ 

■ 

1 

■ 

■ 


20% neg. 


0% 50% 100% 


Übersicbt über die eingegangenen Antworten 


























188 v.d.Mühlen,Stat.Erhebung derBarmer Lehrerschaft, einen Beobachtungsbogen zu führen 

Wir können also mit Unterstützung der Barmer Lehrerschaft den Schritt wagen, 
den geforderten Beobachtungsbogen aufzustellen. Augenblicklich ist diese Arbeit 
im FluO, und wir dürfen die HofFnung hegen, sie auch zum Segen vieler Menschen 
zu einem guten Ende führen zu können. 

AuBer der eigentlichen Fragenbeantwortung sind auch sonst mancherlei An- 
regungen gekommen. Wenn solche auch meist schon vom Institut aufgestellte 
Grundlagen betrafen, so sahen wir sie dennoch gern als Stimmen der Bejahung 
und Erhartung unserer Gedanken, als zustimmende Resonnanz aus dem Kreis, 
in dem spater der Beobachtungsbogen durchgeführt werden soll. 

In dem Rundschreiben betonten wir besonders zwei Gesichtspunkte als für 
die Auswahl der Beobachtungskategorien maBgebend: 

1. Das Bedürfnis der Förderung des Schulunterrichts selbst, 

2. den weitergehenden Zweck der Berufsberatung. 

Die Aufrechterhaltung dieser beiden Richtlinien ist erforderlich, auch wenn 
sich dadurch zum Teil zwei andere Komponenten einmischen, Diese ergeben 
sich aus dem Stand der Begabungsforschungstechnik überhaupt, die reaktive 
Leistungen apparativ oder mit Testmethoden erfaOt und zum andern Teil auf 
Beobachtung angewiesen ist. Die letzte, rein mechanische Scheidungsbestimmung 
ware unter AuOerachtlassung der wichtigen padagogischen und berufstechnischen 
und ökonomischen Gesichtspunkte, wie oben angegeben, nur dann möglich und 
gewinnbringend, wenn 

1. keine Massenuntersuchung in Frage kame, und wenn es sich 

2. nur urn interessante Erhebungen für die Wissenschaft der Begabungs- 
forschung handelte. 

Es soll bei der Aufstellung eines Beobachtungsbogens von uns stets folgendes 
berücksichtigt werden: 

1. Niemals mehr erfragen zu wollen, als wie einmal im Bereich der Antwort- 
möglichkeit und dann im Dienste der Antwortnotwendigkeit liegt, ohne daO 
dadurch ausschlaggebende Mehrbelastung von Schüler, Schule und Lehrer 
entsteht; 

2. den Bogen so einzurichten, dafi er für verschiedene Zwecke (Hilfsschule, 
Übergang zu höheren Schulen, Berufswahl) einheitlichen Charakter tragt 
aus Gründen der Einheit, Einfachheit und der praktischen Verwendungs- 
möglichkeit; 

3. im Kampf mit der Tatsache der oben angedeuteten Richtlinienverquickung 
eine möglichst immer reine Auseinanderhaltung unserer aufgestellten Prin- 
zipien durchzuführen. 



Rundschau 


189 


Rundschau 


Bericht über neuere Fortschrltte auf 
dem Geblete der pMdagogischen 
Psychologie 

Von Dr. O. Bobertag, Berlin 

Auf dem Gebiete der padagogischen Psy¬ 
chologie hat sich die im AnschluQ an den 
Krieg und die Kriegsfolgen einsetzende 
starke Reformbewegung im Erziehungs- und 
Unterrichtswesen deutlich bemerkbar ge- 
macht, und zwar in zwiefacher Beziehung. 
Erstens hat das Auftauchen neuer padagogi- 
scher Fragestellungen und die Notwendig- 
keit, angesichts der veranderten Zeitum- 
stande neue padagogische MaOnahmen zu 
ergreifen, dazu geführt, daU man sich ein- 
gehender mitden psychologischenTatsachen 
auseinandersetzte,die jenen Fragestellungen 
und MaOnahmen zugrunde liegen; und zwei- 
tens haben die neuen Bildungsbestrebungen 
der Lehrerschaft allgemein eine starkere Be- 
rücksichtigung psychologischer Studiën in 
der Ausbildung und Fortbildung der Lehrer 
zur Folge gehabt. Diese aus praktischen Be- 
diirfnissen stammenden Antriebe haben auf 
die Entwicklung der theoretischen Forschung 
eingewirkt, haben ihr neue Probleme gestellt, 
sie zur Ausarbeitung neuer Methoden an- 
geregt und die Nachfrage nach pSdagogisch- 
psychologischer Belehrung verstarkt. 

Die Wandlung, die seit Meumanns Tode 
(1915) eingetreten ist, kommt in einigen 
neueren Gesamtdarstellungen unseres Ge* 
biets, auf die hier zun9chst hingewiesen sei, 
deutlich zum Ausdruck. O. Tumlirz be¬ 
merkt im Vorwort zu seinem Werke „Ein- 
führung in die Jugendkunde" (2 Bande, 
Leipzig, Klinkhardt, 1920/21), daC die pada¬ 
gogische Bewegung, die im Zeichen der 
Einheitsschule und des Aufstiegs der Be- 
gabten steht, von der Lehrerschaft eine 
gründliche psychologischeSchulung undein- 
gehende Kenntnis des jugendlichen Seelen- 
lebens voraussetzt. Er erkennt die Leistung 
Meumanns an, betont aber, wie wichtig neben 
dem Experiment vor allem die planmaOige, 


über langere Zeitraume sich erstreckende, 
sorgfaltige und allseitige Beobachtung der 
natürlichen Verhaltungsweisen der Jugend 
ist. Der erste Band seines Werkes behandelt 
die geistige Entwicklung des jugendlichen 
Geistes unter Abrechnung von der frühen 
Kindheit, und zwar sind es die von dem 
österreichischen Psychologen Meinong 
und seinen Anhangern vertretenén Anschau- 
ungen über die „Vorstellungsproduktion" 
und die Neuartigkeit von Urteil und Annahme 
gegenüber der Vorstellung, die T. seinen 
Ausführungen zugrunde legt. Der zweite 
Band behandelt die Bildsamkeit des jugend¬ 
lichen Geistes: innerhalb des Gesamtbil- 
dungsprozesses werden unterschieden die 
„Erbbildung" (durch Anlage und Reifung), 
die „Fremdbildung" (durch Haus, Schule 
und Lebensgemeinschaft) und die „Selbst- 
bildung" (durch die Zielstrebigkeit der Per- 
sönlichkeit und die Selbsterziehung). 

Der Sch werpunkt der , Padagogischen Psy¬ 
chologie" von G. Grunwald (Berlin, 
Dümmler, 1921) liegt gleichfalls in einer 
Jugendpsychologie, die „bis in jene Tiefen 
vorzudringen sucht, die dem Experiment 
nicht mehr zuganglich sind". Doch ist hier 
sowohl Stoffeinteilung wie Stoffbehandlung 
eine wesentlich andere. Er geht im Gegen- 
satz zu Tumlirz an den Ergebnissen der 
„experimentell-padagogischen" Forschung 
fast ganz vorbei und stellt dafür den rein 
padagogischen Standpunkt mit einem stark 
philosophischen Einschlag in den Vorder- 
grund. Daher behandelt er die differentiell- 
psychologische Seite seiner padagogischen 
Psychologie im Sinne einer mehr padagogi¬ 
schen als psychologischen „Typenlehre"des 
Zöglings und Erziehers, wahrend er für die 
Darstellung der seelischen Entwicklungs- 
tatsachen direkt die Verschiedenheit der 
Erziehungsziele maOgebend sein laOt. Und 
da ihm „die Erziehungsaufgabe darin besteht, 
dem heranwachsenden Menschen die ab- 
soluten Werte des Wahren, Schonen und 



190 


Rundschau 


Guten und den übergreifenden des Heiligen 
oder Religiösen zu vermitteln, so hat die 
padagogische Psychologie die Entwicklung 
des wissenschaftlichen Erkennens, des künst- 
lerischen GenieCens und SchafFens, des sitt- 
lichen Verhaltens und endlich des religiösen 
Lebens zu vermitteln". 

Auch O. Lipmann geht in seiner „Psy¬ 
chologie für Lehrer" (J. A. Barth, Leipzig) 
von der diirch die padagogischen Bestre- 
bungen der Gegenwart nahegelegten grund^ 
satzlichen Erwagung aus, daC die erzieh- 
lichen und unterrichtlichen MaGnahmen einer 
psychologischen Begründung bedürfen, und 
daG es die Aufgabe des Psychologen sei, 
den Lehrer „zu psychologischen Beobach- 
tungen an seinen Schülern anzuregen und 
es ihm zu ermöglichen, das Beobachtete zu 
verstehen und in das Ganze einer Seelen- 
kunde einzuordnen". L. wamt vor einer zu 
eingehenden Beschaftigung des Lehrers mit 
Experimenten und Apparaten, erwartet aber 
viel von der psychologischen Fortbildung 
des Lehrers in den „ Arbeitsgemeinschaften". 
Seinem allgemeinen Standpunkt entspre- 
chend behandelt er in seinem Buche ins- 
besonders Denken und Wollen, Intelligenz 
und Charakter und bemüht sich zu zeigen, 
in welcher Weise der Lehrer im Rahmen des 
Schulunterrichts und der Schulerziehung die 
Methoden psychologischer Beobachtung der 
Schüler handhaben und die Ergebnisse sol- 
cher Beobachtung verwerten soll. 

Auf dem Gebiete der Kinderpsychologie 
ist das wichtigste neuere Werk gröGeren 
Umfangs: K. Koffka, Die Grondlagen der 
psychischen Entwicklung (Osterwieck, Eich- 
feld, 1921). Nach den beiden groGen Werken 
von W. Stern und K. Bühler bedeutet das 
Koffkasche Buch insofern einen neuen 
Schritt, als es versucht, die Tatsachen des 
frühkindlichen Seelenlebens grundsatzlich 
vom Standpunkte psychischer Entwicklungs- 
gesetze zu betrachten. K. ist stark von der 
amerikanischen „Verhaltens “-Psychologie 
angeregt, die er jedoch im wesentlichen ab- 
lehnt, indem er deren vorwiegend assozia- 


tions-psychologische Erklarungsweise durch 
eine „struktur“-psychologische ersetzt: er 
sucht die Entwicklungstatsachen des Wahr- 
nehmens. Lemens usw. auf teils angelegte, 
teils neuerworbene Strukturen (einheitliche 
Zusammenhange, deren „jedes Glied seine 
Eigenart nur durch und mit den anderen 
Gliedern besitzt") zurückzuführen. Auf 
welche Weise und mit welchem Erfolge dies 
im einzelnen geschieht,kann hier nicht naher 
ausgeführt werden. Wenn auch bezweifelt 
werden kann, ob das Buch, seinem Unter- 
titel gemaG, geeignet ist, in die Kinderpsy¬ 
chologie „einzuführen" — da es für diesen 
Zweck doch wohl zuviel Theorie und Pole- 
mik enthalt—, sowird es um so mehr auf das 
Interesse der bereits „Eingeführten" rechnen 
dürfen. Solche wird es besonders auch da- 
zu anregen, sich mit der Verhaltenspsycho- 
logie eingehender zu beschaftigen. Die Mög- 
lichkeit hierzu ist deutschen Lesern jetzt 
durch die kürzlich erschienene Übersetzung 
vonThorndikes „Educational Psychology" 
gegeben (unter dem Titel „Psychologie der 
Erziehung" von Bobertag herausgegeben; 
Jena, S. Fischer, 1922). 

Die kürzlich erschienene „Kinderpsycho¬ 
logie" (im „Handbuch der vergleichenden 
Psychologie", hrsgb. von Kafka; München, 
Reinhardt, 1922) von Fr. Giese ist keine 
Kinderpsychologie im engeren Sinne, da sie 
in ihrem ersten Teile das gesamte Jugend- 
alter behandelt und im zweiten Teile einen 
AbriO der „Padagogischen Psychologie" ent¬ 
halt. G. sucht vom vergleichend psycho¬ 
logischen Standpunkt aus einerseits die zahl- 
reichen psychischen Entwicklungstatsachen 
in ihrem Zusammenhange darzustellen, 
anderseits die typischen Lebensformen der 
Kindheit und Jugend in ihren Beziehungen 
zur Umwelt und deren Einflüssen, nament- 
lich erzieherischen und unterrichtlichen, 
verstandlich zu machen. Er gibt ein an- 
schauliches Bild der psychologischen, For- 
scherarbeit, das das allgemeine Interesse 
an ihr und ihren Ergebnissen hoffentlich 
kraftig fördern wird. 



Rundschau 


191 


Der Psychologie des Jugendalters im enge- 
ren Sinne sind zwei neuere Gesamtdarstel- 
lungen gewidmetrW.Hoffmann, Die Reife- 
zeit (Leipzig, Quelle & Meyer, 1922) und 
Charlotte Bühler, Das Seelenleben des 
Jugendlichen (Jena, S. Fischer, 1922). HofF- 
mann wendet sich mit seinem Buche nicht 
bloQ an den Psychologen und Padagogen, 
sondern auch an den Arzt und Juristen, den 
Sozialhygieniker und -politiker. Er beginnt 
mit einer Darlegung des Prinzips der „seeli- 
schen Resonanz“, gibt dann eine Zergliede- 
rung des Vorstellungslebens und behandelt 
in einzelnen Kapitein die Kindheit, die gei- 
stige, geschlechtliche, soziale Reifung. lm 
Zusammenhange mit der jugendlichen Ver- 
wahrlosung und Kriminalitat geht er auf 
kulturphilosophische Fragen naher ein und 
untersucht die historische und soziale Be- 
dingtheit der Seelenstruktur des Jugend¬ 
lichen. Zur Charakteristik des seelischen 
Zustandes im Reifealter legt er groCes Ge¬ 
wicht auf das erwachende BewuBtsein der 
Individualitat und sieht in dem Gefühle der 
seelischen Einsamkeit ein überall durch- 
klingendes logisches Motiv dieses Lebens- 
abschnittes. „Der Schlüssel zum Verstandnis 
der Jugend liegt darin, daC wir sie durchaus 
ernst nehmen.“ — Nach Ch. Bühler ist der 
biologische Sinn der Pubertat der, daU sie 
die Paarungsmöglichkeit entwickelt, woraus 
sich als ihr psychologischer Grundzug die 
Erganzungsbedürftigkeit ergibt, die dieWur- 
zel des jugendlichen Gefühlslebens bildet. 
Das Willensleben wird durch die neu ein- 
setzenden Triebe zerstört; der Aufbau voll- 
zieht sich in vier Stadiën: Triebbegehren, 
Wollen als inhaltsleere Funktion, Zielsetzen 
und Weiterleben. Der Übergang von der 
Pubertat zur Adoleszenz ist zugleich ein 
solcher von der Verneinung zur Bejahung 
des Lebens. 

Die padagogisch-psychologische Einzel- 
forschung hat sich auch in den letzten Jahren 
mit Eifer allen Teilproblemen des Gebietes 
zugewandt; an Zahl und praktischer Bedeu- 
tung stehen aber noch immer diejenigen 


Untersuchungen an erster Stelle, die sich mit 
den Fragen der Begabungsforschung, na- 
mentlich im Hinblick auf die Schülerauslese 
und Berufsberatung, beschaftigen. Es liegt da 
zunachst eine Reihe von Berichten über ex- 
perimentelle Begabtenauslesen vor, die nach 
dem Muster der bekannten Berliner, Ham¬ 
burger und Leipziger Methoden in verschie- 
denen Stadten Deutschlands vorgenommen 
worden sind. Die hierher gehörigen Arbei- 
ten sind zumeist in der „Zeitschrift für pad- 
agogische Psychologie", der „Praktischen 
Psychologie" und den „Psychologisch-pad- 
agogischen Arbeiten" des Instituts des Leip¬ 
ziger Lehrervereins veröffentlicht worden. 
In den Kreisen der Lehrerschaft hat sich 
insbesondere auch das Interesse zu der psy- 
chologischen Beobachtung der Schulkinder 
durch den Lehrer an der Hand von Beob- 
achtungsbogen verbreitet und gefestigt. Eine 
ganze Reihe solcher Bogen ist von einzelnen 
und von Arbeitsgemeinschaften herausge- 
geben und mit mehr oder weniger ausführ- 
lichen Anweisungen zu ihrer Ausfüllung 
versehen worden. Von neueren Vorschlagen 
seien hier genannt: der Frankfurter, Chem- 
nitzer, Bremer, Dortmunder Bogen; die bei 
Rathke (Magdeburg) erschienene Schrift 
„Psychologisches Beobachten für die Be¬ 
rufsberatung" (nebst Beobachtungsbogen); 
A. Huth, Anleitung zur Schüler-Personal- 
beschreibung (Zeitschrift für pad. Psych., 
Bd. 23); „Psychologische Schülerbeobach- 
tung zur Vorbereitung der Berufsberatung" 
(Zeitschr. f. angew. Psychol., Bd. 18). Be- 
sondere Beachtung verdienen zwei Beihefte 
der„ZeitschriftfürangewandtePsychologie": 
Valentiner, „Zur Auslese für die höheren 
Schulen" und E. Stern, „Die Feststellung 
der psychischen Berufseignung und die 
Schule". Eine gute Gesamtübersicht gab 
Hylla in seiner Schrift: „Die Bedeutung der 
Begabungsforschung für die Berufsbera¬ 
tung" (Langensalza, J. Belto). Die schul- 
organisatorischen Fragen der Begabtenaus- 
lese finden eingehende Berücksichtigung in 
den Schriften von Zühlsdorff, „Das Be- 



192 


Rundschau 


gabungsproblem in der Grundschule" (Han- 
noverl 920) und von B ec k e r, „Die Begabten- 
auslese" (Annaberg i. Erzgb., Neupach-Ver- 
lag, 1922). 

Die Fragen, die sich hinsichtlich der 
Durchführung einer allgemeinen und syste- 
matischen Schülerbeobachtung zum Zwecke 
der Schülerauslese erheben, sind noch 
keineswegs geklart, und es bedarfvor allem 
des Austausches der mit ihr gemachten prak- 
tischen Erfahrungen, um eine solche Klarung 
herbeizuführen. Besonders wichtig erscheint 
es, eine Einigung darüber zu erzielen, 1. ob 
die Beobachtungsbogen für alle oder nur 
für einige Schüler geführt werden sollen, 
2. wahrend welchen Zeitraumes sie die 
Schüler begleiten sollen, 3. welchen Umfang 
sie haben und welche Fragen sie im einzel- 
nen enthalten sollen, 4. wie die Lehrer in 
ihrer Allgemeinheit in den Stand gesetzt 
werden sollen, solche Bogen überhaupt sach- 
gemaB und zuverlassig auszufüllen. Auf 
jeden Fall wird sich wohl bei der Durch¬ 
führung der Einheitsschule, die von der 
Lehrerschaft eine starkere Beachtung der 
Schülerindividualitaten fordert, die Einfüh- 
rung von Beobachtungsbogen in irgend- 
welchem Umfange durchsetzen, was freilich 
eine allgemeine Verstarkung des jugend- 
psychologischen Interesses und Verstand- 
nisses der Lehrer und damit wieder eine 
verstarkte Berücksichtigung der Jugend- 
kunde in ihrer Ausbildung zur Voraussetzung 
hat. Mit der durchgehenden Reform des 
Schulwesens im Sinne der Einheitsschule 
wird dann auch die Bedeutung der experi- 
mentell-psychologischen Prüfung als eines 
Hilfsmittels der Schülerauslese eine andere 
werden, als sie bisher gewesen ist. Solche 
Prüfungen zu einem integrierendenBestand¬ 
teil des schultechnischen Apparates zu 
machen, dem die Auslese der Befahigten 
zufallt, wird natürlich unmöglich sein; der 
Schulunterricht wird sich so gestalten 
müssen, dal! jene Auslese allein auf Grund 
der Leistungen der Schüler unter gleich- 
zeitiger Verwertung einer systematischen 
Schülerbeobachtung erfolgt, und experimen- 
telle Prüfungen werden nur unter besonde¬ 


ren Bedingungen oder in besonderen Fallen 
in Betracht kommen können. 

Der Gesichtspunkt der praktischen Ver¬ 
wertung für bestimmte padagogische Auf- 
gaben, der für die psychologische Forschung 
der letzten Jahre auf dem Geblete Be- 
gabungsprüfung, Schülerbeobachtung und 
Berufsberatung so bezeichnend ist, fehlt 
zwar für die gleichzeitige Arbeit auf anderen 
Teilgebieten nicht, tritt aber doch zurück. 
Darum ist hier der Antrieb auch kein so 
starker, das Ziel, auf das hin der Fortschritt 
erfolgte, kein so einheitliches und klar er- 
kanntes gewesen. Das Interesse an manchen 
Fragen, die früher mit Vorliebe bearbeitet 
wurden(z.B.Gedachtnis,Aussage,Ermüdung) 
hat merklich nachgelassen, dagegen hat es 
sich anderen in erhöhtem Malle zugewendet. 
lm allgemeinen kann man wohl sagen, kommt 
das Bestreben zur Geltung, das Kind und 
den Jugendlichen mehr als bisher als Mit- 
glied der menschlichen Gesellschaft, als 
ein in eine bestimmte Kulturgemeinschaft 
hineinwachsendes Wesen zu betrachten, es 
in seiner Abhangigkeit von der Umwelt, in 
seiner Stellung zu bestimmten natürlichen 
oder kulturellen Einrichtungen, Einflüssen, 
Forderungen zu studieren. Zum Teil haben 
der Krieg und die Kriegsfolgen dazu bei- 
getragen, dall den Beziehungen des jugend¬ 
lichen Seelenlebens zu den inneren und 
auCeren Lebensbedingungen lebhafteres In¬ 
teresse entgegengebracht wurde, z. T. ent- 
spricht diese Entwicklung wohl auch dem 
zunehmenden Gewicht, das die Padagogik 
den soziologischen Grundlagen alles Er- 
ziehungs- und Unterrichtswesens in letzter 
Zeit beizulegen begonnen hat. Zweifellos 
ist diese veranderteEinstelIungzubegrüBen, 
da zu hoffen ist, daB die aus ihr hervor- 
gehenden Arbeiten helfen werden, die Über- 
zeugung von der Bedeutung der Jugendkunde 
für die Theorie und Praxis der Erziehung 
weiter auszubreiten und dieser wertvolIeUn- 
terlagen und Fingerzeige gewahren werden. 

Auf einige dieser Arbeiten zurückzu- 
kommen, wird vielleicht in einem der nach- 
sten Hefte dieser Zeitschrift Gelegenheit 
gegeben sein. 


Für die Schriftleitung verantwortlich; Prof. Dr. W. Moede and Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafte 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Hdrtel in Leipzig. 


PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. APRIL 1923 7. HEFT 

Die Praktische Psychologie erscheiat in monatUchen Heften lm Umfange von zwel Bogen. Preta des Aprilheftes 1000 Mark 
r&ra Inland. Furs Ausland besondere Prelse. (Preis bel uomlrtelbarer Zustellung unter Kreuzband lm Inland elnschlleOllch 
Öaterrelch-Uogarn 1200 Mark.) Eestellungen nehmen alle Buchhandlungen, die Post aowle die Veriagsbuchbandlung entgegen. 
Anzeigen vermlttelt die Veriagsbuchbandlung S. Hlrzel In Lelpzlg, KönlgatraQe 2. Postscbeckkonto Lelpzlg 226. — Alle 
Manuskriptsendungen und darauf bezQgllche Zuschrlften sind zu richten an die Adresse der Schrlftleltung: Prof. Dr. W. Moed e 
und Dr. C. PiorkowakI, BerlloWSO, LultpoldstraOe 14. 


Eisenbahnbetriebsunfalle und Psychotechnik. 

Von Richard Couvé, Wissenschaftlichem Hilfsarbeiter 
bei der Psychotechnischen Versuchsstelle der Reichsbahn 

Eisenbahnbetriebsunfalle entstehen durch: 

Mangel der Betriebseinrichtungen, 

Personal verschalden, 

Verschalden Dritter, 
höhere Gewalt. 

Aufgabe der Unfalluntersuchung ist es, die Unfallursache mögllchst einwandfrei 
festzustellen, damit nach Erkenntnis der vorgekommenen Verstööe oder der be- 
stehenden Mangel, die zur Erhöhung der Betriebssicherheit notwendigen MaO- 
nahmen getroffen werden können. Diese Anordnungen können entweder für den 
Einzelfall nach den örtlichen Verhaltnissen oder allgemein für die Ausführung 
des Betriebsdienstes zu geben sein. Zur Gewinnung eines allgemeinen Über- 
blicks über die vorgekommenen Betriebsunfalle, über ihre Entstehungsursachen 
und ihre Folgen dient die Unfallstatistik, die bei der Deutschen Reichsbahn ge- 
trennt geführt wird: 

a) Entgleisungen, 

b) ZusammenstöBe, 

c) sonstige Betriebsunfalle (Überfahren von Fuhrwerken, einzelner 
Personen usw.). 

Die Unfallstatistik, die auf Grund der nach einheitlichen Gesichtspunkten geführten 
Unfalluntersuchungen aufgestellt wird, zeigt, wie sich die Unfalle auf die ver- 
schiedenen Ursachen vertellen. Sie geben der Zentralstelle die Möglichkeit, wert- 
volle Schlüsse zu ziehen und hiernach notwendige allgemeine Anordnungen zu 
treffen. So kann bei den durch Mangel der Betriebseinrichtungen entstandenen 
Unfallen die Haufigkeit der verschiedenen Entstehungsursachen erkannt und eine 
notwendige Verbesserung durchgeführt werden, soweit sie nicht schon auf Grund 
der Untersuchung des Einzelfalls veranlaOt wurde. 

Auch bei den durch Personalverschulden entstandenen Betriebsunfallen mussen 
alle MaOnahmen getroffen werden, die zur Verhütung weiterer Unfalle notwendig 
sind. Hier wird bei der Unfalluntersuchung bereits ein groCer Teil der Arbeit 
durch Ermittlung des schuldigen Bediensteten geleistet. 

Die disziplinarische Bestrafung des Schuldigen, seine Heranziehung zu den 
Schadenkosten, bei schwereren Pallen auBerdem seine Entfernung aus dem Betriebs- 

P P. IV, 7. 14 




194 


Couvé, Eisenbahnbetriebsunfaile und Psychotechnik 


dienst und die Beantragung der strafrechtlichen Verfolgung sind nicht nur von 
Bedeutung für die Ahndung des Einzelfalles, sondern sie haben dariiber hinaus 
noch eine groCe erzieherische Bedeutung für das übrige Personal. 

Für die Herabminderung der Zahl der durch Personalverschulden entstandenen 
Betriebsunfalie ist aber neben der Verfolgung und Ahndung des Einzelfalles noch 
die Erwagung maOgebend, daB die VerstöBe oder Nachlassigkeiten z. T. bedingt 
oder doch beeinfluOt sind durch: 

a) psychische oder physische Ungeeignetheit oder mangelnde Eignung 
des Personals für den Dienst, 

b) mangelnde Ausbildung und Unterrichtung des Personals. 

Die Verwendung von vollgeeigneten und gut ausgebildetem Personal ist daher 
eine wichtige Vorbedingung für die Erhöhung der Betriebssicherheit. Die Unfall- 
statistik zeigt die Hauhgkeit der durch Personalverschulden entstandenen Unfalle 
und laOt erkennen, bei welchen Anforderungen das Personal versagi hat. Bei 
Feststellung der Berufseignung muB daher auf die hiernach als berufswichtig er- 
kannten Fahigkeiten besonderer Wert gelegt werden. Für die psychotechnischen 
Berufseignungsprüfungen wird so aus der Unfallstatistik eine wertvolle Erganzung 
der Berufskunde gewonnen, mit deren Hilfe ein den Anforderungen des Betriebes 
entsprechendes Prüfverfahren ausgebildet werden kann. 

Die vom Reichsverkehrsministerlum geführte Unfallstatistik enthalt alle Zug- 
unfalle und ferner die Rangierunfalle, bei denen Personen zu Schaden gekommen 
sind. Als „sonstige Betriebsunfalie" sind die übrigen in Verbindung mit be- 
wegten Fahrzeugen vorgekommenen Unfalle aufgenommen (Überfahren von Fuhr- 
werken auf Überwegen, Überfahren von Personen, Sturz aus dem Zuge u. dgl., 
sowie Zugunfalle, die keine Entgleisungen oder ZusammenstöBe zur Folge batten.) 

Nach der Unfallstatistik des Reichsverkehrsministeriums sind im Jahre 1921 
vorgekommen: 479 Entgleisungen, 

507 ZusammenstöBe, 

2616 sonstige Betriebsunfalie. 

Bei Beurteilung dieser Zahlen ist zu berücksichtigen, daB die zahlreichen Un¬ 
falle im Verschiebedienst, bei denen Personen nicht getötet oder verleizt wurden, 
nicht in der Statistik enthalten sind. 

Alle drei Arten von Eisenbahnbetriebsunfallen sind für die angestrebte Er- 
kenntnis der berufswichtigen Fahigkeiten des Eisenbahnpersonals wichtig. Wahrend 
aus Entgleisungen und ZusammenstöBen gefolgert werden kann, welche Eigen¬ 
schaften zur Erhöhung der Betriebssicherheit vom Personal verlangt werden 
müssen, gibt die Betrachtung der in den „sonstigen Betriebsunfallen" enthaltenen 
persönlichen Unfalle des Eisenbahnpersonals einen Überblick über die Gefahren 
des Eisenbahnbetriebsdienstes für die Beamten und Arbeiter. Da diese Gefahren 
für alle im Betriebsdienst beschaftigten Bediensteten — wenn auch in verschie- 
denem Grade — vorliegen, können die Tötungen und Verletzungen von Bahnbeamten 
und Arbeitern zunachst für alle Berufsgruppen gemeinsam betrachtet werden. 



Couvé, Eisenbahnbetriebsunfaile und Ps>xhotechnik 


105 

Die Bedeutung und der Umfang der Verunglückungen von Bahnbediensteten 
im Dienst ergibt sich aus folgenden für das Jahr 1911 ermittelten Zahlen: 

getötet: verletzt: 

1. beim Besteigen und Verlassen in Bewegung befindlicher 


Fahrzeuge und wahrend des Aufenthalts darin .... 65 195 

2. beim Wagenschieben und Bangieren. 119 378 

3. beim An- und Abkuppeln. 80 145 

4. beim Aufenthalt auf den Gleisen, namentlich beim Über- 

schreiten der Gleise . 202 136 

5. in sonstigen Pallen. 39 _ 148 

505 1002 

Auöerdem bei Entgleisungen und ZusammenstöBen ver- 

unglückt. 27 _ 260 

532 1262 


Die Verteilung dieser Unfalle auf die einzelnen Berufe zeigt die folgende 
Übersicht: 

a) Bahnbeamte oder Angestellte im Dienst 

getötet: verletzt: 


1. Stationsaufsichts- und Telegraphenbeamte. 10 17 

2. Weichensteller. 39 55 

3. Rangierpersonal . 129 344 

4. Bahnbewachungs- und Bahnunterhaltungspersonal ... 38 30 

5. Lokomotivpersonal. 27 73 

6. Zugbegleitpersonal. 93 251 

7. Sonstige Beamte. 22 30 

b) Bahnarbeiter im Dienst 

1. Bahnunterhaltungsarbeiter. 80 77 

2. Bahnhofsarbeiter. 25 28 

3. Sonstige Arbeiter. 33 _^ 

496 948 

AuBerdem bei Zugunfailen verunglückt. 36 314 

532 1262 


Mit Hiife der Eignungsprüfungen muB daher festgestellt werden, ob die Be- 
werber urn Stellen des Eisenbahnbetriebsdienstes, die zur Vermeidung von per- 
söniichen Unglücksfallen notwendigen Eigenschaften, wie Aufmerksamkeit, schnelle 
EntschluBkraft, körperliche Gewandtheit usw. besitzen. 

Nach diesem kurzen Überblick über die persönlichen Unfalle des Eisenbahn- 
personals soll versucht werden, aus den Angaben der Unfallstatistik über die 
Entgleisungen und ZusammenstöBe allgemeine Schiüsse auf die an die Bahn¬ 
bediensteten zu stellenden Anforderungen zu ziehen. Hierzu ist es zunachst not- 
wendig, die Zahl der Entgleisungen und ZusammenstöBe aus der Unfallstatistik 
zu entnehmen, die durch ein Personalverschulden entstanden sind. 


14' 


















196 


Couvé, EisenbahnbetriebsunfSlIe und Psychotechnik 


An den Entgleisungen und ZusammenstöDen trilfc die Hauptschuld: 


a) Stationspersonal .359 

1. Fahrdienstleiter: 

a) auf Bahnhöfen.153 

ji) auf Blockstellen . 5 

2. Aufsichtsbeamte auf Stationen .25 

3. Telegraphenbeamte . 5 

4. Steilwerkswarter. 89 

5. Weichensteller in Handweichenbezirken usw. . . 10 

6. Rangierleiter. 55 

7. Rangierer. 17 

b) Bahnunterhaltungsbeamte. 4 

c) Lokomotivpersonal. 83 

d) Zugbegleitpersonal . 43 

1. Zugführer. 10 

2. Sonstiges Zugbegleitpersonal. 33 

e) Ladebeamte. 6 

f) Wagenmeister und anderes technisches Per- 

sonal. 4 

g) Sonstige Angestellte. 7 


Hieraus können schon Schlüsse auf das MaO der Verantwortung gezogen 
werden, das auf den verschiedenen Berufsgruppen lastet. Auffallend erscheint 
an diesen Zahlen der hohe Anteil der Stationsbeamten (laufende Nummern 1—5) 
an dem Entstehen der Unfalle. Das nahere Eingehen auf die einzelnen Berufs¬ 
gruppen soll über die Anforderungen an die Betriebsbeamten Aufklarung geben. 

Die Unfailstatistik enthalt in ihren drei Abteilungen (Entgleisungen, Zusammen- 
stöBe und sonstige Betriebsunfalle) die Angabe der durch die Unfalluntersuchung 
ermittelten Entstehungsursachen. Wenn ein Verschulden eines bestimmten Be- 
diensteten durch die Unfalluntersuchung nicht in allen Pallen nachzuweisen ist 
und die Zahl der vorstehend als „schuldig" ermittelten Bediensteten naturgemaO 
nicht alle Falie des Personalverschuldens umfassen kann, so liefert die Unfail¬ 
statistik in ihren Angaben über die Ursachen der Unfalle doch hinreichend zu- 
verlassige Unterlagen dafür, wie sich die durch Personalverschulden entstandenen 
Betriebsunfalle auf die verschiedenen Entstehungsursachen vertellen. 

Nachstehend werden daher für 

a) Lokomotivführer, 

b) Fahrdienstleiter, Aufsichtsbeamte und Weichensteller, 

c) Zugbegleitpersonal 

Übersichten derjenigen Unfalle gegeben, bei denen nach der Ursache ein Per¬ 
sonalverschulden vorliegt. 


















Couvé, Eisenbahnbetriebsunfalle und Psychofechnik 


197 


a) LokomotivfQhrer 

Für ein Verschulden der Lokomotivführer kommen folgende Falie in Frage: 

A. Entgleisungen 

1. durch Überschreitung der zulassigen Fahrgeschwindigkeit 3 (2)*) 

2. beim Auffahren auf Prellböcke durch Fehler des Loko- 

motivführers in der Fahrkunst. 9 (^) 

a) zu spate Betatigung der durchgehenden Bremse . . (4) 

b) zu spates Bremssignal bei Handbremsen.2 

c) unsachgemaCe Betatigung der durchgehenden Bremse 4 

d) sonstige Fehler .3 (1) 

3. durch plötzliches oder unglelchmaliiges Fahren (Zerrungen 

und Stauchungen im Zuge). 28 (8) 

4. ungleichmaDiges Arbeiten der Zug- und Schiebelokomo- 

tiven . 6 

5. Nichtbeachtung von Wartersignalen . (1) 

6. Unvorsichtiges Ansetzen der Zug- oder Schiebelokomo- 

tiven . 2 

B. ZusammenstöBe 

I. Überfahren von Haltesignalen: 

1. Nichtbeachtung der Signale durch den Lokomotivführer 18 (7) 

2. Fehler des Lokomotivführers in der Fahrkunst .... 20 (12) 

a) zu spate Betatigung der durchgehenden Bremse . . 5 (2) 

b) zu spates Bremssignal bei Handbremsen.9 (1) 

c) unsachgemaOe Betatigung durchgehender Bremsen 1 (1) 

d) Überschreitung der zulassigen Fahrgeschwindigkeit . 3 (8) 

e) sonstige Fehler .2 

II. Zugtrennungen durch plötzliches Anziehen .... H (6) 

III. Abfahrt ohne Auftrag des zustandigen Beamten . . 7 

IV. Überfahren von Fuhrwerken durch Schuld des 

Lokomotivführers. 4 (7) 

V. Kesselexplosionen. Falsche Bedienung des Kessels . . 0 

108 (48) 

Durch mangelnde Beobachtung der Signale und der Strecke sind die Unfalle 
unter A5, Bil und BIV entstanden. Aufgabe der Eignungsprüfung muli es daher 
sein, den Lokomotivführeranwarter auf Aufmerksamkeit, schnelle EntschluIJkraft 
und Widerstand gegen Ermüdung zu prüfen. Dies wird mit den bisher vor- 
handenen Prüfeinrichtungen für Fahrerberufe (Prüflaboratorium der Reichsbahn- 

*) Die nicht eingeklammerten Zahlen geben die Falie an, die hauptsSchlich auf die ge- 
nannten VerstöCe zurückzuführen sind, wdhrend aus den eingeklammerien Zahlen zu ersehen ist, 
in wieviel Fallen ein Mitverschulden in dieser Hinsicht in Frage kommt. 

















Couvé, Eisenbahnbetriebsunfalle und Psychotechnik 


199 


d) fehlerhafte Bedienung beim Versagen von Kraft- 


stellwerken.2 

e) sonstige Ursachen.4 (1) 

f) Drehscheiben unrichtig gestellt.1 

g) Schiebebühnen unrichtig gestellt.O 

h) bewegliche Brücken unrichtig gestellt.O 

2. Umstellen einer Weiche: 

a) unter einem Zuge.41 (3) 

b) unter einer Rangierabteilung.8 

3. Falsche Stellung der Weichen im Rangierdienst 13 (1) Z 

III. Falsche Bedienung des Stationsblocks. 18 (18) Z 

a) Bedienung eines falschen Blockfeldes.15 (8) 

b) vorschriftswidrige Eingriffe.0 

c) bei Blockstörungen .0 

d) sonstige Bedienungsfehler .3 (10) 

IV. Vorzeitige Streckenfreigabe. 9 E 

a) bei Zugtrennungen .4 

b) bei nachfolgender Schiebelokomotive.0 

c) bei sonstigen Anlassen.5 

V. Ausfahrt bei nicht freigegebener Strecke. 5 (2) Z 

VI. Unterlassene oder verspatete Ankündigung der Züge 5 (2) S*) 

VII. Sonstige Fehier im Zugmeldedienst. 3 (5) Z 

VIII. Sonstige Fehier bei Bedienung des Streckenblocks . ' 1 (2) Z 


IX. Fehier des Aufsichtsbeamten bei der Bremsbesetzung 
in Zugbildung: 

a) Überfahren von Haltesignalen durch unge- 


nügende Bremsbesetzung.13 (1) Z 

b) Nicht genügende Bremsbesetzung.3 (1) E 


c) Entgleisung durch Mangel in der Zugbildung . 4 (6) E 
Auffallend an dieser Zusammenstellung ist einmal die bei einzelnen Ursachen 
verzeichnete groBe Haufigkeit der Unfalle und andererseits die zahlreichen ver- 
schiedenen Fehlerquellen dieses Dienstes. Hieraus lassen sich schon Schlüsse 
auf das MaB der Verantwortung der Stationsbeamten und auf die Vielseitigkeit 
ihrer Tatigkeit ziehen. Auf kleineren Dienststellen hat der Fahrdienstleiter noch 
einen Teil oder alle übrigen Betriebsgeschafte und z. T. auch Arbeiten des Ver- 
kehrsdienstes zu erledigen. Auf gröBeren Stellen, auf denen er nur den Dienst 
des Fahrdienstleiters und Aufsichtsbeamten oder eine dieser Tatigkeiten zu ver¬ 
richten hat, steht er einer groBen Haufung der Zugfahrten gegenüber. In jedem 
Falie wird man für den Fahrdienstleiter und Aufsichtsbeamten eine starke Ab- 
lenkung durch die verschiedenen Diensthandlungen annehmen mussen. Die An- 


‘) S = Sonstiger Betriebsunfall. 
























200 


Couvé, Eisenbahnbetriebsunfalle und Psychotecbnik 


forderungen, die an die Aufmerksamkeit des Fahrdienstleiiers gestellt werden, 
ergeben sich aus folgendem Schema, das die wesentlichen Richtungen seiner 
Aufmerksamkeitsverteilung angibt: 



Die Aufmerksamkeit des Fahrdienstleiters muö sich über dieses umfangreiche 
Gebiet verteilen, damit er, sobald auf einem Teilgebiet sein Eingreifen notwendig 
wird, schnell die vorgeschriebene und nach den Umstanden erforderliche Hand- 
lung vornehmen kann. Die durch Verschulden des Siationspersonals entstandenen 
Unfalle sind zum erheblichen Teil auf ein Versagen in dieser Beziehung zurück- 
zuführen. Das .Übersehen einer für die Zugfahrt zu erfüllenden Bedingung liegt 
z. B. vor bei den Unfallen, die entstanden sind, durch: 

1. mangelhafte Prüfung der FahrstraBe, 

2. vorzeitige Streckenfreigabe, 

3. Ausfahrt bei nicht frei gewordener Strecke, 

4. Unterlassen oder verspatete Ankiindigung der Züge. 

Neben dem Versagen der Aufmerksamkeit kommen folgende persönliche Ver- 
stöOe als Entstehungsursache der Betriebsunfalle in Betracht: 

1. falsche Bedienung der Weichen und des Blocks, 

2. Fehler im Zugmeldeverfahren, 

3. mangelhafte Verstandigung zwischen den beteiligten Stellen, 

4. Zulassen feindlicher, d. h, sich gefahrdender Fahrten. 

Bei der Aufstellung psychotechnischer Prüfverfahren für Fahrdienstleiter und 
Aufsichtsbeamte, wird man diejenigen Eigenschaften, die auf Grund der Er- 
gebnisse der Unfallstatistik als berufswichtig erkannt sind, berücksichtigen mussen,, 
um ungeeignete Krafte von vornherein diesem verantwortungsreichen Dienst fern- 
zuhalten. 

c) Zugbegleitpersonal 

Zugführer und Bremser haben im Verhaltnis zum Lokomotivführer und Auf- 
sichtsbeamten nur geringen Anteil an der gesicherten Durchführung des Betriebes. 







Couvé, Eisenbabnbetriebsunfalle und Psychotechnik 201 

Dies kommt auch in der Unfallstatistik zum Ausdruck, in der sie in folgenden 
Pallen als Schuldige erscheinen: 

1. Auffahren auf Prellböcke durch Verschulden der Bremser 2 (3) E 

2. Überfahren von Haltesignalen durch Versehen der Bremser . . 12 (7) Z 

3. Zugtrennungen durch ungleichmaliiges Bremsen. 3 (2) Z 

4. ZusammenstöBe, begunstigt durch mangelhafte Zugsicherung und 

Zugdeckung. (7) Z 


Die unter 1—3 aufgeführten Unfalle sind auf unterlassene oder verspatete 
Aufnahme des vom Lokomotivführer gegebenen Bremssignals zurückzuführen. 
Soweit diese VerstöCe nicht durch Dienstvernachlassigung (Schlafen) ent- 
standen sind, kann schlechtes Gehör als Entstehungsursache in Frage kommen. 
Die Priifung des Personals auf Gehör ist Aufgabe der bahnarztlichen Unter- 
suchung. Die Sicherung und Deckung auf der Strecke liegengebliebener Züge 
oder Zugteile muB vom Zugbegleitpersonal nach den Vorschriften durchgeführt 
werden. Besondere, durch psychotechnische Prüfungen zu erfassende Eigen¬ 
schaften werden hierbei nicht gefordert. 


Der Analogietest 

Von Dr. phil. Franziska Baumgarten, Berlin 

I. 

O bwohl der Analogietest in der letzten Zeit bei den Intelligenzprüfungen der 
Jugendlichen oft angewandt wurde, ist er doch bisher noch gar nicht psy¬ 
chologisch untersucht worden. Wir finden in der psychologischen Literator auBer 
der Angabe der Aufgaben kein Eingehen weder auf die Resultate, noch auf die 
psychologische Seite des Testes selbst. Da diese Probe einige Male bei den 
Begabtenpriifungen der Stadt Berlin angewandt wurde, unternahm ich in der 
letzten Priifung, die im Februar d. J. stattgefunden hat, eine Auswertung der 
Antworten der Kinder. Auf meinen Antrag wurde in der Kommission beschlossen, 
den Kindern, nachdem sie bereits die 4. Proportionale zu 3 gegebenen Begriffen 
gefunden haben, aufzugeben, auch die Beziehung zu nennen, welche zwischen 
den Begriffen besteht. Ich wollte durch diese Vervollstandigung der Aufgabe 
feststellen, inwiefern die Kinder sich der Beziehungen zwischen den gegebenen 
Begriffen bewuBt sind. Denn die sogenannte Analogiebildung ist doch nichts 
anderes, als das Erkennen einer Beziehung zwischen 2 gegebenen Begriffen, um 
dann auf Grund dessen einen vierten Begriff finden zu können, der zu dem 
dritten in derselben Beziehung steht. Eine solche geistige Tatigkeit gehort zu 
den logischen Funktionen des Urteilens und Vergleichens, so daB eigentlich 
ein Analogietest, vom psychologischen Standpunkt untersucht, einen Einblick in 
die Entwicklung der logischen Funktionen des Kindes bietet. Zu diesem Zwecke 
müBte der Test an Kindern verschiedenen Alters durchgeprüft werden. Ohne 





202 


Baumgarten, Der Analogietest 


sich hier eine solch groBe Aufgabe zu stellen, soll versucht werden, die Auf- 
merksamkeit auf diesen Test von psychotechnischer Seite zu lenken, um für die 
Praxis gewisse Gesichtspunkte hervorzuheben. 

II. 

Die Aufgaben, die den Kindern auf Grund der gemeinsamen Auswahl der 
Kommissionsmitglieder gestellt wurden, waren folgende: 

1. Heer: Soldat = Verein: (Mitglied). 

2. Zeit: Uhr = Warme: (Thermometer). 

3. Berg: Hügel — See: (Teich). 

4. Bach: Wasser = Zigarette: (Tabak). 

5. Kreide: Tafel = Bleistift: (Papier). 

6. Buch: Schriftsteller = Maschine: (Konstrukteur). 

7. Butter: Margarine = Geldstück: (Papierschein). 

8. Sparsamkeit: Geiz = Mut (Übermut). 

9. Wagen: Pferd = Auto: (Motor). 

10. Wanduhr: Gewicht = Mühle: (Wind oder Wasser). 

Die Zeit für die Lösung der Aufgaben betrug 20 Minuten. Die Bewertung 
geschah so, daB für eine jede richtige Antwort ein Punkt gegeben wurde, wobei 
die beste Lösung samtlicher Aufgaben die Nummer 10 erhielt. 

Nur den Knaben wurde die Aufgabe gestellt, die Beziehung, die zwischen den 
Begriffspaaren besteht, anzugeben. Bei den Madchen wurde dieses unterlassen. 
Diese Unterlassung übte aber keine Wirkung auf das von uns gesetzte Ziel aus, 
denn die Antworten der Madchen waren meistens so schlecht, daB die Forderung, 
die Beziehung anzugeben, sowieso wenig ergeben hatte. 

Um von den Lösungen der Knaben und Madchen ein Bild zu geben, mag 
hier verzeichnet werden, daB von 125 Knaben nur 2 die höchste Bewertungs- 
note (10) und 13 Knaben die zweitbeste Note (9) erhielten, dagegen erlangten von 
152 Madchen keine einzige die höchste Note, aber 3 von ihnen die niedrigste 
und 13 die zweitniedrigste (s. Figur 1)*). Tabelle 1 zeigt weiter, daB der Test 
38,08% fehlerhafte Antworten bei Knaben und 61,05% fehlerhafte Antworten bei 
Madchen ergeben hat. Aus einer solchen DifFerenzierung des Testes muB ge- 
schlossen werden, daB der Test in dieser Form für 12—13jahrige Madchen zu 
schwer war. Es ist zu bedauern, daB die bisherigen Untersuchungen nicht die 
Ergebnisse der von ihnen vorgenommenen Prüfungen angegeben haben. (Auch 
in der Sternschen Methodennennung zur Intelligenzprüfung finden wir in dem 
Abschnitt über Analogiebildung gar keine diesbezüglichen Angaben.) Wir müssen 
uns daher notens volens bei der Beurteilung der Resultate nur auf die durch 
die gegenwartige Prüfung erhaltenen Antworten beschranken, ohne einen Ver- 
gleich mit Resultaten anderer Versuche machen zu können. 

*) Diese Figur wurde nur für Demonstrationszweck hergestellt, um zu zeigen, wie sich die 
Antworten der Knaben und Mkdchen verbatten, wenn sie von demselben Gesichtspunkt beurteilt 
werden. Für die Praxis wurden die Antworten der Mkdchen viel nachsichtiger beurteilt. 



Baumgarten, Der Analogietest 


203 


Knaben 

0 

2 * 
2j. 

5 3 

Madcben 

_ 3 

13 

IS 

27 

12_i, 

22 

19 5 

29 

20 6 

22 

22 

10 

22 8 

0 

12 9 

2 IO 

_3 


Figur 1 

Zablen in der Vertikale; Noten 

Zablen in der Horizontale: Zabl der Kinder, die die betreffende Note erbalten baben 


III. 

Die Antworten der Kinder (125 Knaben und 152 Madchen) zeigen eine groQe 
Verschiedenartigkeit der Lösungen. AuBer den oben gegebenen Antworten gaben 
die Knaben z. B. noch die folgenden: 

1. Heer: Soldat = Verein: Vereinigung (1), Leute (2), Menschen (1), Genosse (2), 
Gründer (1), Vorsitzende (1), Oberste des Vereins (1), Mitwirkende (1). 

2. Zeit: Uhr = Warme: Ofen (38), Kohle (6), Sonne (11), Feuerung (3), Feuer (3), 
Temperatur (1), Licht (1), Kalte (1), Leben (1), Zimmer (1), Sommer (2). 

3. Berg:Hügel = See: Wasser (15), Meer (8), Flufi (4), Wellen (3), Ufer (1), 
Tümpel (2), Pfütze (3), Pfuhl (1), Bach (5), Woge (1), Lache (1), Land (1), 
Becken (1), Insel (2), Tiefe (1), Mitte (1), Wald (1), FaB (1), Tal (2). 

4. Bach: Wasser = Zigarette:Feuer (13), Rauch (9), Asche (2), Aroma (1), 
Zigarre (2), Schachtel (1), Mann (1), Bier (1). 

5. Kreide: Tafel = Bleistift: Heft (15), Zeichenblock (2), Spitze (1), Blatt (1). 

6. Buch : Schriftsteller = Maschine: Schlosser (2), Buchdrucker (1), Arbeiter (22), 
Heizer (2), Maschinist (3), Baumeister (1), Tippmamsell (1), Schneiderin (1), 
Naherin (1), Rader (1), Kohle (1), Eisen (1), Fabrik (1), Hersteller (1), 
Technlker (3), Führer (1). 

7. Butler: Margarine = Geldstück: Portemonnaie (3), Lohn (1), Ware (1), 
Einkaufen (1), Arbeit (1), Münze (2), Metall (3), Leben (1), Dalles (1), Geld- 
tasche (2), Taler (1), Gold (1), Goldstück (1). 




204 


Baumgarten, Der Analogietest 


8. Sparsamkeit :Geiz = MutrFeigheit (65), Furcht (3), Angst (4), Sieg (10), 
Kraft (5), Ruhm (3), Kampf (3), Tat (2), Unmut (1), Prahlen (1), Ent- 
schlossenheit (1), Schwert (1), Heuchelei (1), Ehrentitel (1), Todesverach- 
tung (l), Schwachheit (1), Wille (1), Vorsicht (1), Machtlos (1), Frech- 
heit (1), Prahler (1). 

9. Wagen rPferd = Auto: Benzin (8), Führer (6), Kraftwagenführer (1), 
Maschinist (2), SchofFör (3), Maschine (3), Ö1 (1), Fahren (1), Schaffner (1). 

10. Wanduhr: Gewicht = Mühle:Flügel (33), Mühlstein (9), Steine (8), Rader (4), 
Kraft (1), Mühlrad (14), Bach (2), Haus (1), Kaffee (1), Mittel (1), Trieb- 
werk (1), Treibbalken (1), Treibkraft (1), Korn (1), Mahlen (1). 

Man tate den Kindern grolies Unrecht, würde man eine Lösung, die nicht 
wörtlich mit der Musterlösung übereinstimmt, als falsch werten. Das Kind, das 
statt „Mitglied" — „Leute", „Menschen", „Genossen", „Mitwirkende" schreibt, 
hat die richtige Beziehung, wenn auch nicht den passenden Ausdruck dafür ge- 
funden. Aus demselben Mangel an sprachlicher Fahigkeit kann auch eine richtig 
aufgefaBte Beziehung falsch formuliert werden, z. B. „der Soldat dient dem Heer, 
das Mitglied dem Verein". Indem wir diesen Mangel an sprachlicher Formulierung 
aufier Betracht lassen, können wir die bunten Antworten und nicht minder mannig- 
faltigen Angaben über die zwischen den Begriffspaaren bestehenden Beziehungen 
in 4 verschiedene Gruppen einteilen. 

1. In solche, wo eine richtige Antwort und eine richtige Beziehung ange- 
geben wurde, z. B.: 

Zeit: Uhr = Warme ; Thermometer. (Die Zeit wird mit der Uhr gemessen, 
die Warme mit dem Thermometer.) 

Butter: Margarine = Geldstück : Papiergeld. (Beides ist Ersatz oder: Beides 
ist minderwertig.) 

Heer: Soldat = Verein : Mitglieder. (Das Heer besteht aus Soldaten. Der 
Verein besteht aus Mitgliedern.) 

Berg : Hügel ^ See : Teich. (GröCenverhaltnis.) 

Wagen: Pferd - Auto: Motor. (Pferd zieht den Wagen, Motor treibt das Auto.) 

Wanduhr : Gewicht Mühle : Wasserrad. (Regeler oder Gewicht zieht die 
Wanduhr auf, das Wasser treibt die Mühle.) 

Buch ; Schriftsteller = Maschine: Ingenieur. (Erzeuger.) 

Eine humoristische Antwort hat ein Junge gegeben: 

Butter: Margarine = Geldstück : Dalles! 

2. In welchen eine richtige Antwort, aber eine falsche Beziehung angegeben 
wurde, z. B.: 

Heer : Soldat = Verein : Mitglied. (lm Heer ist der Soldat die Hauptperson, 
im Verein das Mitglied, oder: Der Soldat gibt dem Heer die Kraft, das 
Mitglied dem Verein. „Die Beziehung ist, daö kluge Manner dazu 
gehören", oder: Das Heer gebraucht Kriifte und der Verein auch, 
oder: Das Mitglied und der Soldat geben die Macht ab.) 



Baumgarten, Der Analogietest 


205 


Berg: Hügel = SeerTeich. (Berge werden aus Hügel, Seen aus Teiche 
gebildet.) 

Bach : Wasser = Zigareite : Tabak. (Wasser ist ein kleiner Bruchteil vom 
Bach, Tabak von der Zigarette, oder: Der Bach braucht Wasser, die 
Zigarette Tabak.) 

3. In welchen eine falsche Antwort, aber eine richtige Beziehung aufgestellt 
wurde, z. B.: 

Wanduhr: Gewicht = Mühle : Mühlrad. (Beziehung; Antreibungsmittel.) 

Butter : Margarine Geldstück : Portemonnaie. (Margarine und Porte- 
monnaie sind schlechter.) 

Buch : Schriftsteller — Maschine : Arbeiter. (Beide machen die Sachen; 
durch den Schriftsteller entsteht das Buch, durch den Arbeiter die 
Maschine.) 

Wagen : Pferd = Auto : Benzin. (Treibkraft.) 

4. Wo eine falsche Antwort und eine falsche Beziehung gegeben wurden, z. B.; 

Bach : Wasser = Zigarette : Feuer. (Wasser bildet den Bach. Wenn die 
Zigarette kein Feuer hat, brennt sie nicht) 

Bach ; WasserZigarette : Asche. (Der Bach enthalt Wasser, die Ziga¬ 
rette Asche) 

bei der Antwort „Rauch“: (Der Bach brauchtWasserunddieZigarette Rauch). 

Zeit: Uhr = Warme : Kohle. (Die Uhr sagt die Zeit an, die Kohle gibt 
Warme, bei der Antwort die „Sonne“: Die Uhr gibt uns die Zeit an, 
die Sonne gibt uns die Warme, oder bei der Antwort „Sornmer": Die 
Uhr zeigt die Zeit an, der Sommer die Warme.) 

Zeit: Uhr Warme : Sonne. (Die Sonne ist ewig und regelt den Tag, 
die Uhr die Zeit oder: Die Zeit sieht man an der Uhr, die Warme 
kommt von der Sonne.) 

Zeit: Uhr - Warme rOfen. (Zeit kommt aus der Uhr, Warme aus dem 
Ofen, oder: Die Zeit kann man mit der Uhr feststellen, die Wiirme 
mit dem Ofen erzeugen oder: Die Warme und Zeit gehen von der 
Uhr und Ofen aus.) 

Berg: Hügel See : Wasser. (Der Berg besteht aus Hügeln, der See aus 
Wasser; oder Hügel geben einen Berg, Flüsse einen See.) 

Berg: Hügel See: Tal. (Der Hügel liegt tiefer als der Berg, das Tal 
tiefer als der See.) 

Butter: Margarine — Geldstück ; Taler. (Ahnlichkeit.) 

Hier kommen auch ganz verkehrte Gedankengange vor, wie z. B.: 

Berg : Hügel -= See : Meer. (Berg gröDer als Hügel, Meer gröBer als See, 
oder: Der Hügel ist ein Teil des Berges, der See ein Teil des Meeres, 
oder: Berg ist höher als der Hügel, See ist flacher als das Meer.) 

Berg: Hügel = See : Wellen. (Die Erhöhungen der Berge sind die Hügel, 
die der See die Wellen.) 



206 


Baumgarten, Der Analogietest 


Butter : Margarine = Geldstiick ; Gold. (Margarine von Butter, Geldstück 
von Gold.) 

Bach : Wasser = Zigarette : Schachtel. (Bach ist Behalter von Wasser, 
Schachtel von Zigarette.) 

Zeit: Uhr = Warme : Sonne. (Von der Uhr erhalt man die Zeit, von der 
Sonne die Warme.) 

Eine ganz merkwürdige Antwort haben wir in: 

Buch: Schriftsteller = Maschine.-Tippmamsell. (Beide stellen die Schrift her.) 

Wir sehen also, daC eine Antwort des Kindes in der Art, wie sie bisher 
verlangt worden ist — die bloDe Nennung der 4. Proportionale — unzureichend 
ist, denn sie gibt keinen klaren Begriff von der gedanklichen Arbeit 
des Kindes. Es würde sich verlohnen, bei den Untersuchungen über die logischen 
Funktionen des Kindes rein psychologisch auf diese Tatsachen: richtige Antworten 
— falsche Begründungen und falsche Antworten —richtige Begründungeneinzugehen; 
vielleicht würde man hier eine gesetzmaOige Phase der Entwicklung der Denk- 
arbeit oder eine spezifische Denkweise feststellen können. Urn schon jetzt diesem 
Problem naherzukommen, werden wir die Frage aufrollen: Welche von den 
hier gegebenen Analogiebildungen wurde am haufigsten, welche am seltensten 
gut gelost? 

Ein anschauliches Bild hierüber kann die nebenstehende Tabelle geben, die 
die Anzahl der fehlerhaften Antworten für jede Aufgabe angibt. 

Wir ersehen aus dieser Tabelle, daU die kleinste Fehlerzahl die 5. Aufgabe, also: 

Kreide : Tafel = Bleistift: (Papier) 

erzielt hat. Diese Beziehung wurde von den Kindern an ihnen gelaufigen Gegen- 
standen am leichtesten erfaOt: ,Wenn ich Kreide habe, muG ich auch eine Tafel 
haben zum Schreiben, wenn ich den Bleistift habe, muO ich Papier zum Schreiben 
haben." 

An zweiter Stelle kommt die Beziehung von Gegenstand zum Stoff: 

Bach : Wasser = Zigarette : Tabak. 

Auf diese beiden Beispiele beschrankt sich sowohl die Haufigkeit der guten 
Antworten, wie auch die GleichmaGigkeit in den Antworten von Knaben und 
Madchen. Es folgten dann ganz erhebliche Unterschiede in beiden Hinsichten 
(siehe Tabelle 1). 

Am sch wersten (nach der Zahl der Fehlerantworten zu urteilen) war die Aufgabe 8: 

Sparsamkeit: Geiz = Mut: Übermut. 

Die richtige Beziehung „Übermut" wurde überhaupt nur 3 mal genannt. Hin- 
gegen 65 mal bei den Knaben: „Feigheit!" 

Es fragt sich nun, warum die Kinder diese falsche Antwort gegeben haben? 
Aus dem Beziehungnennen der Knaben erhalten wir eine Antwort darauf: Es 
wurde fast immer „das Gegenteil" gesetzt, d. h. die Beziehung von Sparsamkeit 
und Geiz wurde als eine gegensatzliche betrachtet und zum „Mut" deshalb das 
Gegenteil gesucht — also „Feigheit" geschrieben. Eine solche Antwort ist aber 



Baumgarten, Der Analogietest 


207 


Zahl der Fehler jeder Aufgabe 

Aufgabe 

Knaben (125) 

Madchen (152) 

1 

O 

11 

p 

70 = 46,05% 

2 

73 =58,04% 

112 = 73,68% 

3 

58 =46,4% 

98 =64,47% 

4 

35 =24% 

61 = 43,55% 

5 

14 = 1 1,12% 

18 = 11,9% 

6 

47 =37,6% 

108 = 71,05% 

7 

29 = 15,24% 

134 =88,15% 

8 

110 =88% 

124 =80% 

9 

22 = 17,6% 

90 = 59,21 % 

10 

88 = 70,4% 

121 =79,60% 


486 = 38,08% 

936 =61,05% 


der Gesamtzahl der Lösungen 

der Gesamtzahl der Lösungen 


Tabelle 1 


ein Beweis, daO den Kindern in der Schule der Geiz als Gegenteil der Spar- 
samkeit definiert worden ist, mit anderen Worten, es wird ihnen eine falsche 
Angabe gemacht. Wir kommen auf diese Weise auf eine Art der Analogiefehler, 
die in falschen Lehren, also die in Kenntnissen der Kinder wurzein. Diese Art 
finden wir in dem Beispiel 3: 

Berg : Hügel = See : Teich. 

Der Begriff „Hügel" ist für die Knaben nicht scharf umrissen, obwohl er zu dem 
Wortschatz gehort, der in der Schule zweifellos vorkommt und so wurden falsche 
Antworten, wie Meer, Wasser, Wellen usw., auf Grund unrichtiger Kenntnisse 
gegeben. EinigermaDen passable Antworten waren: Pfütze (3 mal), Tümpel 
(2 mal), Pfuhl (1 mal). 

Zur Kenntnisbeziehung gehort weiter Beispiel 7: 

Butter : Margarine = Geldstück : Papierschein. 

Es wurde von den Knaben in 15,2%, bei den Madchen in 88,15% Falien falsch 
gelost. Die Knaben kannten also die Eigenschaften der Margarine besser als die 
Madchen (trotzdem man erwarten könnte, daö gerade die Madchen das Wesen 
des Wirtschaftsartikels besser kennen). Zu Kenntnisfehlern gehören auch falsche 
Antworten der Aufgabe: Heer : Soldat = Verein : Mitglied, bei welchem die urn 
1 Jahr jüngeren Madchen 46,05% Fehler gemacht haben, aus denen ersichtlich 
ist, daG ihnen der Begriff „Verein" nicht gelaufig ist. 

Also obwohl das Kind die Beziehung richtig aufgefaOt hat, hat es doch wegen 
Unkenntnis des wahren Sachverhaltes eine falsche Antwort gegeben. 

11. Viel haufiger kamen aber Fehler vor, in welchen den Kindern beide Worte 
eines Begriffspaares bekannt sein muGten, und es sich darum handelte, die Be¬ 
ziehung zwischen ihnen festzustellen, also um das Wesentliche des Analogie- 




208 


Baumgarten, Der Analogietest 


testes. Hier versagten sowohl Knaben wie Madchen in einer ganz erstaunlichen 
Art. Nehmen wir ein solches BegrifFspaar wie Zeit: Uhr; beide BegrifFe: Zeit 
und Uhr, müCten den Kindern wohl genügend gelaufig sein, ein Fehler in der 
Beziehungsfeststellung beweist, wie wenig die Kinder diese Beziehung fest- 
zustellen vermogen. Die Antworten lauteten in der Mehrzahl bei Knaben: Ofen 
(38 mal!) Kohle (6 mal), Feuerung (3 mal), Sonne (11 mal), Feuer(3mal), Sommer 
(2 mal). Licht (1 mal), Kiilte (1 mal). 

Die Antwort „Ofen“ ist bei den Madchen fast durchweg zu finden. Sie be¬ 
weist, wie bei diesen BegrifFen überhaupt nicht gedacht worden ist, sondern, 
dali rein assoziativ das Wort „Warme" gesetzt wurde. „Der Ofen gibt Warme", 
ist eine in den Schulen oft eingepragte Assoziation, „die Uhr gibt die Zeit an“, 
die zweite solche. Die Kinder, die diese Assoziationsantwort gegeben haben, 
haben sie rein automatisch, ohne nachzudenken, geschrieben. Bei mündlicher Ant¬ 
wort würde das Kind vielleicht, wenn man es auf den Fehler hinweist, leicht 
sich selbst korrigieren, bei der schriftlichen blieb aber der Fehler. 

Dieselbe Art Assoziationsfehler finden wir im Beispiel 6: „Buch: Schriftsteller 
= Maschine: Konstrukteur". Buch : Schriftsteller sind zwei Assoziationsbegriffe; 
auch bei der Maschine ist eine feste Assoziation gebildet: Maschine, Arbeiter, 
die Mehrzahl der falschen Antworten bei Knaben (15 bei 47), wie bei den Mad¬ 
chen bildete eben das Wort „Arbeiter". 

Dafi feste Assoziationen Fehler bedingen, beweist noch eine andere falsche 
Antwort: „Naherin" und „Schneiderin" und „Tippmamsell", die mit dem Wort 
Maschine eben oft verbonden sind. Das Kind hatte nun ganz oberflachlich das 
gegebene BegrifFspaar wahrgenommen und als 4. Proportionale ein Assoziations- 
wort hinzugesetzt. 

Zu diesen Assoziationsfehlern gehort auch die im 10. Beispiel „Wanduhr: Ge¬ 
wicht = Mühle" oft angegebene Antwort: Flügel, Steine, Mühlrad, und im 9. Bei¬ 
spiel „Wagen: Pferd = Auto" die fast durchweg angegebene Antwort: Benzin. 

Eine zweite Art Fehler aus falschem Erfassen der Beziehung liegt da vor, wo 
beide BegrifFe zwar bekannt sind, aber die Kinder nicht das innere Verhiiltnis dieser 
BegrifFe zueinander gut verstehen, sondern es ganz oberflachlich nehmen. Z. B. wenn 
sie bei „Wagen : Pferd = Auto : Motor" mit Führer, SchafFner, Maschinist antworten. 
Hier tritt die Oberfiachlichkeit des Urteils und der Auffassung deutlich zutage. 

Wir sehen also hier die Quellen der Fehler: 

1. die unklare Kenntnis der BegrifFe und Worte. 

2. das flache Assoziieren statt des Eindringens in das Wesen der Beziehung 
zwischen den BegrifFen*). 

*) Vgl. bei Meumann: „Fast alle Kinder haben eine starke Neigung, sich gegenüber un- 
bekannten GegenstSnden und unbekannten Eigenschaften mit irgendwelchen Ersatzvorstellungen, 
Ersatzbenennungen oder Surrogaten herauszuhelfen. So benennen sie mit Vorliebe Dinge, die 
sie nicht kennen, nach Analogien mit anderen bekannten Dingen, und diese Analogien sind oft 
auDerordentlich weit hergeholt." 

Vorlesungen zur Einführung usw. 2. Auflage 1911. I. Bd. S. 316, auch Bd. III (1914) S. 407ff. 



Baumgarten, Der Analogietest 


209 


Die erste Art des Fehlers muB oft dem mangelnden Unterricht zugeschrieben 
werden und solche Fehler können als Mahnung für die Lehrerschaft dienen. 
Beim zweiten Fall ist die natürliche Denkweise des Kindes am Fehler schuld 
(Oberflachlichkeit). Aber eine Frage von prinzipieller Bedeutung muC hier 
hervorgehoben werden: ist dieses „flache Assoziieren" nicht darauf zurückzu- 
führen, daB die gegebenen Begriffspaare für die Kinder zu wenig anschaulich 
sind, oder mehr allgemein ausgedrückt: ist das Kind imstande jede Art 
logischer Beziehung aufzufassen, wenn sie nur genügend anschaulich 
dargestellt ist (gemaB der „eidetischer“ Natur des Kindes)? Eine Antwort 
hierauF ist auf Grund der vorliegenden Probe unmögiich, denn es müBten Ver- 
suche angestellt werden, in welchen die Beziehungen an BegrifFen verschiedenen 
Anschaulichkeitsgrades zu erkennen waren. Aber diese Frage muB psychologisch 
untersucht werden, wiil man die Antworten der Kinder gerecht bewerten. Es 
ist hier interessant, zu vermerken, daB die Kinder sich bei der Begründung einer 
gewissen Art von anschauiichen Ausdrücken bedienen, die typisch ist, z. B.: 
„Ohne Wasser kein Bach, ohne Tabak keine Zigarette.“ Aber mit denselben 
Ausdrücken geben sie auch eine faische Antwort, wie z. B.: „Asche* mit der 
Begründung: „Ohne Wasser kein Bach, ohne Zigarette keine Asche", oder: 
„Ohne Bach kein Wasser, ohne Feu er keine Zigarette," oder: „Ohne Wasser 
und Feuer nützt heides nicht". Wir haben diesen typischen Ausdruck auch in 
anderer Form: Der Bach kann ohne Wasser nicht flieBen. Die Zigarette kann 
ohne Feuer nicht brennen, oder: Heer:Soldat = Verein:Gründer. Ohne Soldat 
kann^kein Heer entstehen. Ohne Gründer kann kein Verein entstehen, oder: 
Zeit.-Uhr = Warme :Sonne. Ohne Uhr weiB ich keine Zeit. Ohne Sonne ist 
keine Warme. 

Eine zweite typische Redensart ist die Begründung „muB", z. B.: Heer:Soldat 
= Verein:Oberste des Vereins. Das Heer muB Soldaten haben. Der Verein 
muB einen Vorsitzenden haben. 

Ebenso hautig findet man eine dritte stereotype Begründung: Zeit: Uhr = 
Warme:Ofen. Die Zeit hangt von der Uhr ab. Die Warme hangt vom Ofen ab. 

Eine vierte typische Redensart ist: Der Bach gibt das Wasser. Die Zigare tte 
gibt den Rauch. 

Eine fünfte: Heer .-Soldat. Der Soldat gehort zum Heer. Verein: Mitglied. 
Das Mitglied gehort zum Verein. Wagen :Pferd. Zum Wagen gehort das Pferd. 
Auto .-Motor. Zum Auto gehort der Motor. Bach: Wasser = Zigarette: Rauch. 
Wasser und Rauch gehören notwendig zu Bach und Zigarette. 

Interessant ist, daB bei dem Kinde, das eine gewisse typische Form der Ant¬ 
wort auBert, diese Form sich auch mehrmals wiederholt, ein Beweis, daB sie 
einen Verlegenheitsausdruck für mangeinde begrifFiiche Formulierung darstelit. 

Wenn wir aus der Untersuchung dieser einen Prüfung einen SchluB ziehen 
dürfen, so könnten wir sagen: Da dieselben Analogieaufgaben von Knaben in 
38,08%, von Madchen dagegen in 61,05% Fallen nicht gelost worden sind, so 

P. P. IV, 7. 15 




210 


Baumgarten, Der Analogietest 


ergibt sich die Notwendigkeit, eine Eichung der Beispiele vorzunehmen, Und 
zwar würde es sich empfehlen, für jedes Alter entsprechende Beziehungsarten 
festzustellen: Es erwies sich hier, daO die Beziehungen der Zusammengehörig- 
keit, diejenigen des Ganzen zum Teile, die am leichtesten, dagegen die Be¬ 
ziehungen der Ursachlichkeit (in allen ihren Arten) die am schwersten zu er- 
fassenden sind. Weitere psychologische Untersuchungen dieser Art müOten zu 
einer Normenaufstellung des Beziehungsauffassens führen*). Es bleibt dabei noch 
immer die Frage offen, inwiefern diese Unterschiede nicht nur auf das Alter 
sondern auf grundsatzliche verschiedene Denktypen (anschaulichen bzw. begrilF- 
liche) zurückgeführt werden können. 

Aus der Tatsache, die sich bei dieser Untersuchung erwies, daO es richtige 
Antworten und falsche Begründungen, falsche Antworten und richtige Begrün- 
dungen gibt, folgt, daO von den Kindern immer eine Begründung ihrer Antworten 
zu verlangen ist. Die Beurteilung der diesbezüglichen Leistung der Kinder muB auf 
Grund der vollen Antwort: der BegrifFsnennung und ihrer Begründung erfolgen. 
(Es würde sich empfehlen, für eine solche volle Antwort 2 Punkte zu geben, für 
den jeweiligen richtigen Teil der Antwort je 1 Punkt.) 

Unter diesen Bedingungen könnte sich der Test vorzüglich zur Prüfung von 
logischer Denktatigkeit des Kindes eignen. So aber, wie der Analogietest zur Zeit 
gehandhabt wird, muB er bei diagnostischer Verwertung zu Fehlschlüssen An- 
laB geben. _ 


WirKungssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfachung 

Von Dr. Hans Piorkowski, Dresden 

D em Auffassungsvermögen des Menschen sind gewisse ziemlich enge Grenzen 
gezogen. Wie die experimentelle Psychologie lehrt, werden bei einer Ex- 
positionszeit von 0,01 Sekunden durchschnittlich 5 Einzelobjekte richtig erfaBt. 
Dieser Umfang wird nicht wesentlich gröBer, wenn die Wahrnehmungszeit bis zu 
einer ganzen Sekunde verlangert wird. 8 Elemente stellen jedenfalls normalerweise 
die auBerste Grenze dar. Als Elemente in diesem Sinne würden Punkte, Striche, 
aber auch Buchstaben, Zahlen usw. zu betrachten sein. Setzt man die Buch- 
staben nun zu Wörtern zusammen, so lassen sich bei sehr kurzer Darbietungs- 
zeit 4—5 Wörter mit 20 bis 30 Buchstaben auffassen, ganz im Gegensatz 
zu aus sinnlosen Silben zusammengesetzten Wörtern, wo die Grenze etwa bei 
acht Einheiten, d. h. Buchstaben, liegt. Diese Tatsache ist ein Beweis dafür, daB 
ein sinnvolles Wort als ein geschlossenes Wortbild und somit als eine Einheit 
aufgenommen wird. Sind Druckfehler in dem exponierten sinnvollen Wort ent- 

*) Die Arbeit von Peter Vogel: „Untersuchungen über die Denkbeziebungen in den Urteilen 
des Schulkindes" (Diss. GieOen 1911) bat zwar eine in dieser Richtung liegende Problemstellung : 
„zu prüfen, in welcher fortschreitenden bzw. wechselnden Art die Urteile mit zunehmendem Alter 
zur Entfaltung kommen" (S. 5), aber genügt leider in der Ausführung nicht, um ihre Resultate zu 
verwetten. 



Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfachung 


211 


halten oder sind Teile von Buchstaben weggelassen, so wird dies am Tachistoskop 
nicht bemerkt. In diesem AssimilationsprozeO können wir einen Beweis er- 
blicken, daO das Wort nur als Ganzheit erfaIJt wird, ohne daG die Einzelheiten 
seitens der Versuchspersonen genau beobachtet werden könnten. 

Voraussetzung bei derartigen tachistoskopischen Experimenten ist nun aber, 
daO die Buchstaben deutlich, klar und schmucklos dastehen und einen für das Lesen 
günstigen Abstand haben, da sonst die Bedingungen für das Erkennen ungünstig 
sind und das Resultat sofort beeinflussen würden. Rob. Werner Schulte, der 
experimentelle Untersuchungen auf diesem Gebiete anstellte, konstatierte als das 
günstigste Verhaltnis von Schriftstarke zu Schrifthöhe etwa den Wert 1:4,5 bis 
1:6,5, also im Mittel etwa 1:5*). Auch den für das Lesen günstigsten Zwischen- 
raum steilte er experimenten fest. Er wahlte kurze, sinnlose Worte, die er sehr 
kurze Zeit, 0,03 Sekunden, im Tachistoskop darbot, und zwar so oft, bis jedes 
Wort restlos und richtig erfaOt war. Die Anzahl der Expositionen galt Ihm als 
MaCstab für die Lesbarkeit. Es ergab sich, daG das Optimum der Lesbarkeit 
dann vorhanden ist, wenn in der Druckschrift die Buchstaben durch einen 
Zwischenraum von einer halben Buchstabenbreite getrennt sind**). 

Der AnalogieschluG liegt nun nahe, diese GesetzmaGigkeiten sinngemaG auch 
auf bildliche Darstellungen zu übertragen, wenn dort die Verhaltnisse auch nicht 
so einfach wie bei Buchstaben liegen. Das bedeutet, daG entsprechend bei Bil- 
dern ebenfalls ein Optimum für die Auffassung vorhanden sein muG und zwar 
dann, wenn günstige Proportionen, klare Linienführung und eine dem Leistungs- 
umfang des Auffassungsvermögens angepaGte Anzahl von wesentlichen Elementen 
gegeben ist. Bühler geht bei seinen Untersuchungen über die Gestaltwahr- 
nehmungen von dem Gedanken aus, daG die Gestalteindrücke sich in eine An¬ 
zahl elementarer Gestalterlebnisse psychologisch zerlegen lassen, so in die 
Eindrücke von Geradheit, Krümmung, Parallelitat, Divergenz, Proportion, 
Symmetrie usw. Die elementaren Faktoren der Gestalteindrücke gelte es zu be- 
schreiben und die Bedingungen ihres Zustandekommens aufzusuchen. Die kom- 
plexen Eindrücke waren dann durch das Zusammenwirken dieser einfachen Faktoren 
verstandlich zu machen***). Ob allerdings in konkreten Fallen irgendwelchen 
komplexen Dingen so, wie vorstehend beschrieben, genügend beizukommen ist, 
müGte erst erwiesen werden. 

Das Material, welches nun unseren Versuchen zugrunde gelegt wurde, bestand 
in einer Bildserie, die für Reklamezwecke geschaffen war. Die Entwürfe stammen 
von Professor Lucian Bernhard, Berlin. Sie zeigen das gleiche Motiv in standig 
wachsender Vereinfachung (s. Abbildungen 1—5). Zuerst wurde die Idee durch 
den Künstler in naturalistischer Feinheit durchgearbeitet und der zeichnerische 

*) Rob. Werner Schulte: Über den Apperzepiionswert verschieden starker Lapidarschrift. 
Seidels Reklame 1920, Nr. 23/24. 

**) Rob. Werner Schulte; Buchstabenzwischenraum und Lesbarkeit. Praktische Psychologie 
1920, Heft 1, Seite 28fF. Hirzel. 

***) Karl Bühler: Oie Gestaltwahrnehmungen. I. Band, 1913. Verlag W. Spemann, Stuttgart. 

15* 



212 


Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfachung 



^tünlkSf C. tn. BéfUfi W 15. KiM/fOm 0 ndamm 74 


Abbildung 1 



Abbildung 3 


Ausdruck in jede Geste 
und jede Bewegung gelegt, 
auch die Darstellung des 
apparativen Teils wurde 
so naturgetreu wie möglich 
wiedergegeben. Durch all- 
mahliche AbstoCung von 
übertriebenen Ausführungs- 
feinheiten kam der Künst- 
ler nach und nach über 
die verschiedenen Entwick- 
lungsstadien zu der höch- 
sten Vereinfachung des Ent- 
wurfes Nr. 5. Hier sehen 
wir nur noch die wesent- 
lichsten Bestandteile des 
ursprünglichen Entwurfes 
und jeden Bestandteil wie¬ 
der in monumentaler Ein- 
fachheit in sich selber und 
im Verhaltnis zu den an¬ 
deren Teilen des Bildes. 
Abgesehen von den rein 
künstlerischen Wirkungen, 
haben wir hier immer den 
Zweckgedanken im Auge 
zu behalten, und der be- 
steht darin, dali das Bild 
als Plakat auf die Ferne 
und als Inserat in Druck- 
werken oder Zeitungen aus 
dem Chaos anderer Anzei- 
gen wirken und aufgefaCt 
werden soll, den flüchtigen 
Bliek zu fesseln berufen ist. 
Das tastende Gefühl der 
Praxis zeigt sich in der 
Tatsache, daO zunachst 
sowohl der erste, natura¬ 
listische Entwurf drucktech- 
nisch durchgeführt wurde, 
wie erst spater Bild 5. 






Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln 'durch Vereinfachung 


213 


Es galt nunmehr, expe¬ 
rimenten festzustellen, wel- 
ches Bild den starksten 
BewuDtseinsgrad erzielt, 
welches von diesen fünf 
Stadiën am schnellsten und 
am klarsten in allen we- 
sentlichenTeilen erfafit und 
dem Sinne nach verstanden 
wird. Auch die Frage nach 
der asthetischen Bewertung 
spielte bei den Experimen¬ 
ten eine Rolle bei der Be- 



Abbildung 4 




urteilung, wie spater gezeigt - 

werden soll. 

Die tachistoskopischen 
Versuche, urn die es sich 
in erster Linie handelte, 
wurden in folgender Weise 
durchgeführt: Die beiden 
Entwiirfe Nr. 1 und 5, also 
das AnFangs- und das End- 
stadium, wurden zunachst 
zu den Experimenten heran- 
gezogen. Am AnFang der 
Sitzung wurde Bild 1 ex- Abbildung 5 

poniert Für die Zeit von 

0,5 Sekunden. SoFort nach der Exposition hatte die Versuchsperson zu Protokoll 
zu geben, was sie erkannt und was sie erlebt hatte. Der andere EntwurF Nr. 5 
wurde erst nachVerlauF von mindestens 1/2 Stunde tachistoskopisch gezeigt. Die 
Zwischenzeit war ganz angeFüllt mit einer groCen Anzahl von anderen Versuchen, 
samtlich aus dem Gebiete der Reklamepsychologie. Die Versuchsperson wuCte 
selbstverstandlich nicht, daO die erste Exposition am AnFang der Sitzung nur einen 
Teil eines Versuches darstellte, der jetzt am Schlusse durch die Exposition von Ent¬ 
wurF Nr. 5 erst seinen AbschluO Fand. Es handelte sich also um das sogenannte 
unwissentliche VerFahren. Auch soFort nach der Darbietung von EntwurF Nr. 5 wurde 
wieder ein Protokoll auFgenommen über AuFgefalites und Erlebtes. Diese Freien Be¬ 
richte derVersuchspersonen wurden noch durch Fragen seitens des Versuchsleiters 
erganzt, um Für die statistischen Zwecke jedesmal eine ausreichende Grundlage 
zu schaffen. — Mit diesem Versuchsmaterial wurden 50 Versuchspersonen geprüFt. 
Es ist auOerordentlich bemerkenswert, wie eindeutig die Versuchsergebnisse aus- 
geFallen sind. Darüber soll in Folgendem berichtet werden. 



214 Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemittein durch Vereinfachung 

Unterziehen wir zunachst die beiden Entwürfe einer Analyse: 1. in quantita- 
tiver und 2. in qualitativer Beziehung. Wir sehen auf beiden Bildern 5 Per¬ 
sonen, 2 Erwachsene und 3 Kinder, zwischen den beiden EItern und den Kindern 
steht ein Lichtbild-Vorführungsapparat. Die Erwachsenen stehen, die Kinder 
sitzen, aus dem Apparat strömt ein Lichtkegel nach vorn. Abgesehen Von un- 
wesentlichen Kleinigkeiten ist in quantitativer Beziehung kaum ein Unterschied 
zwischen diesen beiden Bildern zu konstatieren. Anders ist es dagegen beim 
qualitativen Vergleich! Der markanteste Unterschied ist der, daC wir einmal 
ein positives, das andere Mal ein negatives Bild vor uns haben. Einmal sehen 
wir eine leichtbewegie Gruppe, auf dem anderen Bild die gleiche Gruppe in 
monumentaler Ruhe mit sicherem Gefühl für feinen Rhythmus gezeichnet; das eine 
Mal eine graziös durchgearbeitete, naturalistische Silhouette, dagegen im anderen 
Falie eine im höchsten Grade vereinfachte, nur die allerwichtigsten Einzelheiten 
betonende Zeichnung. Man könnte fast der Meinung sein, dalJ das Verstandnis für 
die Gestalten bei dieser auöerordentlichen Vereinfachung verlorengehen könnte*). 

Was lehrte nun das Experiment bei diesen Versuchen? Die quantitative Aus- 
wertung der Protokolle zeigte zunachst, daU die Aussagen bei Bild 1 über die 
Anzahl der aufgefaOten Personen stark schwankten; es lieO sich eine recht er- 
hebliche Streuung urn den richtigen Wert herum konstatieren. Nur etwa 20% 
aller Versuchspersonen gab die richtige Zahl, 5 Personen, an, im übrigen 
schwankten die Aussagen zwischen 2 und 15 Personen, die erkannt worden 
sein sollten. Der kinematographische Apparat wurde in 10 Pallen angegeben, 
also nur in 20% der Versuche. Der Apparat wurde in der Mehrzahl der Falie 
überhaupt nicht gesehen, oder das in der Mitte aufgefaOte Objekt wurde irgend- 
wie anders gedeutet, als eckiger Tisch 3mal, als Nahmaschlne 2mal, als Wagen 
2mal, als Rader mit Speichen 1 mal. Ein wesentlicher Bestandteil des Bildes 
scheint noch der Licfitstrahl zu sein, der allerdingS hier nur durch zwei gerade,^ 
schwarze Linien, die andeuten sollen, wie der Lichtkegel abgegrenzt ist, gezeichnet 
werden konnte. Die Aussagen einiger Versuchspersonen besagten jedoch trotz- 
dem, daG selbst bei der kurzen Expositionszeit im Tachistoskop die durch die 
beiden schwarzen Linien abgegrenzte Flache einen anderen Charakter hatte, als 
die weiGe Flache der Umgebung, die objektiv doch genau dieselbe ist. Der 
durch die beiden Linien eingefaGte Lichtkegel ist offenbar bereits genügend struk- 
turiert, im Gegensatz zu der übrigen weiGen Flache und erhalt somit Gestalt- 
charakter. Die Aussage: „Lichtschein" fand sich bei diesem Bilde allerdings nur 
3mal vor, in 2 Pallen wurden Strahlen angegeben, 10% der Versuchspersonen 
hatten demnach trotz der für das Erkennen etwas ungünstigen Bedingungen dieses 
für den Sinn der Zeichnung doch sehr wichtige Merkmal erkannt. Von einer 
Versuchsperson wurde die bemerkenswerte Aussage zu Protokoll gegeben, daG 

*) Versuche, die zu diesem Zwecke an einer Klasse achtjShriger Kinder einer Dresdner 
Volksschule vorgenommen wurden, bewiesen eindeutig das Verstandnis für unsere vereinfachte 
Zeichnung schon in diesem Alter. 



Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemittein durch Vereirfachung 


215 


sich die Blickrichtungen samtiicher Personen auf einen einzigen Punkt zu kon- 
zentrieren schienen. lm übrigen wurde ausgesagt: zwei schwarze Linien über 
dem Bild (3mal), ein Seil (1 mal), diese Versuchsperson glaubte, einen Wett- 
kampf im Seilziehen gesehen zu haben. Etwa 80% der Versuchspersonen batten 
von dem Merkmal „Lichtkegel" gar nichts bemerkt, dies scheint ein Beweis, daO 
dieses für die Oarstellung einer kinematographischen Vorführung wichtige Be- 
standstück nicht genügend zum Ausdruck gebracht worden ist. Die unter der 
Zeichnung befindliche Schrift konnte in keinem Falie gelesen werden, trotzdem 
es sich nur um 5 Worte mit zusammen 23 Buchstaben und 2 Zeichen handelt. 
Dies nimmt nach den bereits angeführten experimentellen Ergebnissen über den 
für die Lesbarkeit optimalen Buchstabenzwischenraum von R. W. Schulte nicht 
wunder. In etwa einem Dritiel der Fiille wurden Buchstaben und Worte über¬ 
haupt nicht gesehen. Es besteht ofFenbar hier ein MiCverhaltnis zwischen der 
Einwirkungskraft von Bild und Wort. Selbst wenn man sich mit Ch. v. Har- 
tungen*) auf den Standpunkt stellr, daD bei Plakaten das Primare die Zeichnung 
und Farbe, das Sekundare die Schrift zu sein hat, so darf die Schrift doch nicht 
eine allzu untergeordnete Rolle spielen. Diese Frage soll indes hier nicht weiter 
verfolgt werden, da unsere Bildvorlage des leizten Stadiums in der Entwicklungs- 
reihe ohne Buchstaben und Worte gegeben war. 

Die Versuchsergebnisse und ihre quantitative Auswertung von Bild 5 waren 
im Gegensatz zu Bild 1 viel eindeutiger. Auch fiel die grofie Streuung in den 
Aussagen weg, sie scharten sich eng um die objektiv richtigen Werte. Die rich- 
tige Anzahl der abgebildeten Personen gaben 30 Versuchspersonen, also drei 
Fünftel, an. 4—5 Personen wurden von 3 Versuchspersonen und 5—6 Figuren 
von 9 Versuchspersonen angegeben. Folgende Tabelle moge naheres über die 
angegebene Anzahl der erkannten Personen auf beiden Entwürfen zeigen: 


2 

Personen . 

Bei dem ersten Bild: 

. . . . 1 mal 

dem letzten Stadium 

3 

« • 

. . . . 2 mal . . 

. . . 1 mal 

4 


. . . . Smal . . 

. . . 4 mal 

4—5 

n 

. . . 6mal . . 

. . . 3mal 

4-6 

ry • 

. . . . 1 mal 


5 

t* • 

. . . . lOmal . . 

. . . 30 mal 

5-6 

yy • 

6 mal . . 

. . . 9 mal 

6 

yy • 

. . . . 5 mal . . 

. . . 3mal 

6—7 

w 

. . . . 5 mal 


GO 

1 

yy • 

. . . . 1 mal 


7 

„ , 

. . . . 2 mal 


7-8 

yy 

. . . . 3mal 


8—10 

yy • 

. . . . 1 mal 


10—15 

n • 

. . . . 1 mal 


12—15 

» 

. . . . 1 mal 



) Ch. V. Hartungen: Psychologie der Reklame, 1921. Verlag C. E. Pöschel, Stuttgart, S. 152. 








216 


Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfacbung 


Die Aussagen im zweiten Falie erfolgten gröBtenteils mit groOer Sicherheit 
und Schnelligkeit, wahrend es den Anschein batte, daO beim ersten Bild stellen- 
weise nur geschatzt werden konnte, da eine genügende Klarheit nicht zustande 
kam. Im übrigen lieQ sich das folgende statistische Material aus den Aussagen 
verwerten: 

17 mal ist der Kinoapparat als solcher erkannt worden, 

13mal wurde der Lichtstrahl erwahnt, 

2 mal wurde der Lichtkegel als weiCes Dreieck gesehen, 

2mal erfuhr man, dafi links über den Figuren etwas Undefinierbares sei, 
der Apparat wurde in zwei Fallen als Tisch gesehen. 

Dazu muB bemerkt werden, daO 9 Versuchspersonen sofort nach der Exposition 
dieses letzten Bildes erklarten, dafi ihnen das Plakat von früher her bereits be- 
kannt sei. Bei den Versuchen mit Entwurf 1 hatten lediglich 5 Versuchspersonen 
ein gewisses Gefühl der Bekanntheit, wobei sie sich nicht klar wurden, ob das 
angebiich Bekannte sich auch völlig mit dem soeben exponierten Bilde decke. 
Die Bekanntheit hatte demnach in vier Fallen nicht genügt, urn irgendwelche 
Erinnerungen bei Exposition des ersten Bildes an das tatsachlich durchgeführte 
Plakat wachzurufen, denn jede Versuchsperson wurde nach jedem Bild gefragt, ob 
es ihr vielleicht zufallig schon bekannt sei. In 2 Fallen wurde sogar spontan und 
mit grofier Überzeugung erklart, dafi dieses letztere Bild etwas absolut Neues dar- 
stelle und keine Beziehung zu Bild 1 habe. 

Die qualitative Auswertung bewies noch deutlicher die Überlegenheit des ver- 
einfachten Bildes. Wahrend bei dem letzteren Bilde der Sinn, die Idee der 
Darstellung und somit auch der Zweck des Entwurfes, für kinematographische 
Apparate zu werben, in den meisten Fallen richtig erkannt wurde, boten die In- 
haltsangaben des ersten Entwurfes eine bunte Mannigfaltigkeit. Es wurden genannt: 
Spiele, Tanze, Schlittenfahrten, Seilziehen, Kinder auf Radern, Festzug mit Wagen 
in der Mitte, Landschaften, wandernde Kinder, Lehrerin mit Kindern in der 
Schule, Spazierganger, Damen in Reifröcken usw. Nur in 9 Fallen wurde der 
Sinn richtig gedeutet. 

Die Tatsache, dafi wir es in beiden Bildern mit dem gleichen Motiv zu tun haben, 
wurde verhaltnismafiig nur selien angegeben. Noch nicht die Halfte der Versuchs¬ 
personen bezeichnete den zuletzt exponierten Entwurf als ahnlich oder motivgleich 
mit Bild 1. Es mag an dieser Stelle an eine von anderer Seite auf experimentellem 
Wege gewonnene Feststellung erinnert sein. E. Rubin exponierte ein gleiches Bild 
einmal positiv, das zweite Mal negativ und konnte konstatieren, dafi es nicht wieder- 
erkannt wurde. Allerdings benutzte Rubin Bilder, die nicht ohne weiteres einen Sinn- 
haben, bestehend aus homogenen schwarzen und weifien Feldern*). Diese Fest¬ 
stellung scheint uns indes nicht übertragbar auf sinnvolle Bilder, wie sie unser Ver- 
suchsmaterial darstellen. Die sinnvolle Gestalt, d. h. eine Gestalt, wie sie uns er- 
fahrungsgemafi gelaufig ist, lafit sich wohi im allgemeinen als etwas Eindeutiges 

*) Rubin, Visuell wahrgenommene Figuren, Gyldendalske Verlag Berlin 1921. 



Piorkowski, V^irkuagssteigerung bei Reklamemitteln durch Vereinfachung 217 

charakterisieren, wir werden sogar meist in der Lage sein, diese Gestalt mit 
einem Wort hinreichend deutlich zu benennen, unserer Vorstellung wird es nicht 
schwerfallen, sie zu reproduzieren. Anders bei einer sinnlosen Figur. Wenn 
es nicht gelingt, mittels der Phantasie etwas hineinzudenken oder sich die Figur 
durch einen AssimilationsprozeO verstandlich zu machen, dann ist zunachst die 
klare Auffassung erschwert; ferner werden auch Vorstellung und Reproduktion 
gehemmt sein. Die Bedingungen für das Wiedererkennen desselben Bildes einmal 
positiv, das zweite Mal negativ sind also ganz verschiedene, je nachdem es sich 
um sinnvolle oder sinnlose Figuren handelt. 

Versuchen wir nunmehr, der Frage auf den Grund zu gehen, warum Bild 1 
weder seinem quantitativen Inhalt nach, noch in bezug auf seinen Bedeutungs- 
inhalt richtig erkannt wurde, wahrend die tachistoskopischen Experimente mit 
dem anderen Bilde zu so eindeutigen und klaren Resultaten führten. Offenbar 
wirken die feinen zeichnerischen Einzelheiten, wie der Künstler sie belm ersten Bild 
mit lebenswarmen Humor ausgeführt hat, im Sinne einer Ablenkung. AuBerdem 
können viele der zarten Linienführungen bei der Kürze der Expositionszeit über¬ 
haupt nicht erkannt werden, da der Reiz nicht kraftig genug ist, um ins BewuOt- 
sein eintreten zu können. Vielleicht dürfte auch die Tatsache, daO mehr Augen- 
bewegungen erforderlich sind, die Konturen des ersten Bildes und damit die Ge¬ 
stalten zu erfassen, als bei Bild 5, eine gewisse Bedeutung für den geringeren 
Grad des Auffassungsvermögens haben. Diese Tatsache bestatigt sich allerdings 
erstbei langerem Betrachten der Bilder, da Blickbewegungen bei tachistoskopischen 
Experimenten ja nicht in Frage kommen! 

Gehen wir nunmehr von Entwurf Nr. 5 aus! In diesem Bilde herrscht eine 
ungeheure Ruhe und Monumentalitat. Dies wurde sogar mehrere Male nach 
der tachistoskopischen Exposition als die das Bild beherrschende Stimmung aus- 
drücklich hervorgehoben. Der Künstler hat das Kontrastgesetz in geschickter 
Weise zur Hebung der Auffalligkeit ausgenutzt. Die Figuren erscheinen subjektiv 
gröBer als sie in der Tat sind, die Ursache für diese Tauschung glaubt man 
darin zu sehen, daO der Reiz, hier also die Figuren, durch Irradiation auch die 
benachbarten Netzhautelemente, die nicht direkt von dem Lichtstrahl getroffen 
werden, ergreift. Hinzu kommt das Moment der Sinnfalligkeit. Der Lichtkegel, 
der aus dem Apparat strömt, ist nur auf diese Weise wirklich einleuchtend dar- 
stellbar, dadurch wird das Verstandnis für die Zeichnung sofort wesentlich ge- 
fördert. Überhaupt ist die Dunkelheit des Raumes, wie sie durch die negative Aus- 
führung des Bildes zum Ausdruck kommt, dem Wesen einer kinematographischen 
Aufführung mehr adaquat. Von ganz entscheidender Bedeutung scheint es haupt- 
sachlich zu sein, daO der Künstler mit sicherem Instinkt sehr schone und straffe 
Proporiionen geschaffen hat. Nach Bühler erweist sich „Der Proportionsfaktor 
als eins der wichtigsten, wenn nicht schlechthin als das wichtigste Gestaltungs- 
prinzip der Raumwahrnehmung"*). Diese These findet in unserer Zeichnung 

*) Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen, 1. Bd., Stuttgart 1913, W. Speman, S. 55. 



218 Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklamemitteln durcb Vereinfachung 

eine feste Siütze. Auch die „parallele Orientierung*, um weiter mit Bühler 
zu sprechen, die in einigen Teilen der Zeichnung vorherrschend ist, z. B. 
bei Darstellung der drei Kinder, tragt bedeutend zur leichten und schnellen 
Erfassung dieses komplexen Bildes bei. Die „paralelle" und die „symmetrische 
Orientierung" machen bei Gestaltvergleichungen (um solche handelt es sich bei 
den Versuchen Bühlers) die richtige Zuordnung homologer Teile der verglichenen 
Figuren besonders leicht, sie stellen besonders einfache Zuordnungssysteme dar, 
keineswegs die einzigen, wohl aber die natürlichsten, die uns besonders nahe- 
liegenden. Nebenbei sei bemerkt, daO diese ausgezeichneten Falie der Orientierung 
nicht durch einen Komplex von Parallel- oder Symmetrie-„Empfindungen“ zu- 
stande kommen, dies hebt Bühler ausdrücklich hervor*). 

Die Wirkung der Parallel- und der Symmetrie-Orientlerung auf das Auf- 
fassungsvermögen nach Umfang und Genauigkeit, die Bühler bei einfachen geo- 
metrischen Figuren experimenten feststellen konnte, bestatigte sich, wie wir 
sahen, auch bei Bildkomplexen, wie sie unseren Versuchen zugrunde lagen. 

Von diesen Faktoren, die Auffassung und Erinnerung erleichtern, ist vom 
Künstler bei dem ersten Entwurf kein Gebrauch gemacht worden. Wir sahen zwar 
eine sehr anmutige Szene dargestellt, die sicher geeignet sein kann, wenn auOere 
Verhaltnisse und die Stimmung des Betrachters günstige sind, unsere Auf- 
merksamkeit zu erregen und auch zu fesseln. Wie die tachistoskopischen Ver- 
suche indes gezeigt haben, wurden weder die einzelnen Elemente noch der Sinn 
des Ganzen bei flüchtigem Betrachten aufgefaöt. Da im Gebiet des Werbe- 
wesens indes mit der Flüchtigkeit des Blickes gerechnet werden muö, ist der 
Zeichnung der Vorzug zu geben, die den Bedingungen leichterer Auffassungs- 
möglichkeit besser entspricht. So wird im allgemeinen eine auf seine einfachsten 
Elemente zurückgeführte Zeichnung schneller und intensiver einwirken und dem- 
zufolge besser erinnert und sicherer wiedererkannt werden, als das gleiche 
Motiv in naturaiistischer Ausführung. Zu bedenken ist ferner auch, daO eine 
Wirkung auf die Ferne, auf die bei Plakaten unbedingt Rücksicht genommen 
werden muO, nicht in dem MaBe vorhanden ist, wenn die feinsten Linien des 
Bildes möglichst naturgetreu wiedergegeben sind, als wenn Wesentliches betont, 
Unwesentliches dagegen weggelassen wird. Nicht nur die zeichnerischen Fein- 
heiten erschweren oder verhindern gar diese Wirkung auf die Entfernung, sondern 
auch besonders das Fehlen der die Auffassung und das Gedachtnis begünstigenden 
Proportionen und einer „parallelen Orientierung" tragen dazu bei, den Klarheits- 
grad herabzumindern. Auch der Versuch, den Lichtkegel als UmriCgestalt 
deutlich zu machen, dürfte als miClungen betrachtet werden müssen. Das Motiv 
des Bildes fordert geradezu zu negativer Darstellung heraus, nicht nur um eine 
eindeutige und sinnfallige Wiedergabe des Lichtkegels zu erhalten, sondern um 
eine der ganzen Situation gemafie Stimmung zu erzeugen. 


*) Bühler, Die Gestaltwahrnehmungen, S. 53 ff. 


Piorkowski, Wirkungssteigerung bei Reklatnemittein durch Vereinfachung 219 

Nach SchluO der tachistoskopischen Versuche wurden die Versuchspersonen 
nun noch gefragt: 

1. Welcher von den 5 Entwürfen rein nach astheiischen Gesichtspunkten, 
also ohne irgendwelchen Zweckgedanken, der schönsce und 

2. welcher der für Reklamezwecke am besten geeignete sei. 

Diese Fragen wurden leider nicht von samtlichen Teilnehmern beantwortet. 
Es liegen 36 Antworten vor, die folgendes besagen: 




Am schönsten 

: Reklametechnisch am besten: 

Bild 

Nr. 1 . 

. . . . 25 mal 

.Omal 

i> 

n 2 . 

. . . . 4 mal 

2 mal 

ï» 

„ 3 . 

. . . . 3mal 

.4mal 


n 4 . 

. . . . Omal 

.4mal 

* » 

„ 5 . 

. . . . 4 mal 

.26 mal 

Hiernach zu 

urteilen. 

würde eine gewisse 

Diskrepanz zwischen dem Schön- 


heitsurteil und dem ZweckmaCigkeitsurteil bestehen. Immerhin darf man bei der 
Gemischtheit der Versuchspersonen*) aus diesen Urteilen keine zu weitgehenden 
Folgerungen ziehen oder gar die Hoffnung auf wichtige Aufschlüsse aus den 
Antworten erwarten. Auch für die differentielle Psychologie sind die Reaktionen 
der Versuchspersonen kaum von Bedeutung. Was sie aber deutlich auch bei 
kritischer Betrachtung samtlicher Entwürfe besagten, war die Überlegenheit des 
letzten Stadiums, Bild Nr. 5, gegenüber den anderen Zeichnungen der Entwick- 
lungsreihe in bezug auf das Urteil über den höchsten Grad der Einwirkung. 

Abstrahieren wir indes nunmehr von diesem Beispiel und fassen unser Ur¬ 
teil zusammen, so laOt sich der Satz aufstellen: 

Bei Piakaten und Inseraten (in letzter Linie bei jedem zur Werbung gehörigen, 
bildlich ausgedrückten Mittel) lafit sich eine Wirkungssteigerung erzielen, wenn 
man durch Betonung wesentlicher Teile und andererseits Weglassung von für 
das Verstandnis unwichtiger Bestandstücke eine Vereinfachung der zeichnerischen 
Linienführung durchführt, deren Grenze dort liegt, wo die beabsichtigte Gestalt- 
auffassung nicbt mehr zustande kommen würde. Diese Wirkungssteigerung be- 
zieht sich sowohl auf die sinnliche Einwirkung, wie auch auf die gedachtnis- 
maCige Verarbeitung und das Wiedererkennen. 


Rundschau 


Zur Psychotechnik der Frauenberufe 

Wege u. Beispiele neuer weiblicher Berufsarten 
Von Professor Dr. Hans Henning, 

Vorstand d. Psycholog. Insiituts d. Techn. Hochschule Danzig 

Die allerschwierigsten Falie einer lang- 
jahrigen Beratungspraxis bildeten Frauen, 


welche die wenigen stereotypen Wege: Arz- 
tin, Lehrerin, Büro nicht einschlagen können 
oder wollen: sie besitzen geistig oft ein recht 
gutes Material, jedoch passen sie in keinen 
der bestehenden Berufe hinein. 


*) Über die Zusammensetzung der sich an unseren Experimenten beteiliegenden Versucbs- 
personen siehe: H. Piorkowski, Beitrage zur experimentellen Reklamepsychotechnik, „Prakt. 
Psychologie" III. Jahrg. Heft 12, 1022. 













220 


Rundschau 


Das hat verschiedenerlei Gründe. Fast samt- 
licbe Berufe wurden im Laufe der Jahrbunderte 
von Mannern nach mSnnlichen EigenschaTten 
abgegrenzt und immer scharPer nach mSnnIichen 
BedürPnissen difTerenziert. In diese manniichen 
Formen drangen sicb plötzlich groQe Massen 
von Frauen hinein, flnden aber begreiflicher- 
weise, da(! ihrer weiblichen Eignung, Leistungs- 
fSJiigkeit, Arbeitsweise, Interessenverieilung und 
Natur diese manniiche Art gar nicht liegt. Es 
ist die alte Sage vom Prokrustesbett, aber die 
meisten Frauen suchen die Ursache nicht in 
den falschen Proportionen des Gestelles, son- 
dern in sich seibst. Irrigerweise trosten nam- 
hapte Führerinnen der Frauenbewegung ihre 
leidenden Geschlechtsgenossinnen: inPoIge der 
jahrbundertlangen Versklavung seien die Frauen 
noch nicht angepaflt, aber das werde schon 
kommen. Tatsacblich ist der Unterschied 
zwischen Mann und Frau ein Geschlechts- 
koePflzient*), und dieser ist starker als der Ver- 
erbungskoePflzient und als jede Milieuwirkung 
der Vergangenheif. Wo Frauen den Mannern 
gleichstanden — italienische Renaissance, alle- 
zeit in Holland usP. —, da blieb der Unterschied 
in gleicher Starke trotzdem bestehen, weil er 
genau so biologisch bedingt ist wie derjenige 
zwischen dem gleich lange domestizierten Hahn 
und Henne, Stier und Kuh**). 

Eine Besserung der beruflichen Lage kann 
die Frau nur erreichen, wenn sie ihre Eig¬ 
nung und Natur nicht verkennt, sondern 
klar durchschaut und darauf ihre Berufs- 
form abstimmt. 

Neue Frauenbefufe 

DaO dies praktisch tnöglich ist, sei an 
einigen Beispielen gezeigt. MehrereBota- 
nikerinnen wünschten ein Tatigkeitsfeld 
auCerhalb der wissenschaftlichen Theorie. 
Da sie physisch nicht zum vollen Betrieb 
einer Handelsgartnerei ausreichten (Be- 
giefien nach Sonnenaufgang und -untergang, 
auch Sonntags, schwere Arbeit in Sonnen- 
glut, Autoritat über derbes Personal), sollten 
sie nur zwei Pflanzenarten kultivieren: eine 

*) G. Heymans, Die Psychologie der Frauen. 
Winter, Heidelberg 1910. (Das gerechteste und 
wissenschaPtlichsie Werk über die Frau.) Über 
die Vergangenheit .vgl. J. J. BachoPen, Das 
Mutterrecht. Basel 1897. Alle Literatur bei 
O. Lipmann, Psychische Geschlechtsunter- 
schiede. Leipzig 1917. 

**) Gina Lombroso, Die Seele des Weibes. 
S. 295. FrankPurt a. M. 1922. 


Frühlings- und eine Herbstpflanze, und zwar 
möglichst eine Nutz- und eine Luxuspflanze. 
Dazu reichten sie physisch aus. Diese soll¬ 
ten sie tnit ihrer botanisch-akademischen 
Bildung hochzüchten, z. B. die grün blühende 
Nelke noch grüner, die Melone noch saftiger. 
Dabei bleibt auDer der wissenschaftlichen 
Botanik genügend Zeit auch für andere 
geistige Bedürfnisse. Wie ich höre, haben 
Madchen gebildeter Stande in England diese 
Idee weit durchgeführt und beherrschen in 
den Wochen ihrer Erntezeit den ganzen 
Markt. In anderen Fdllen wurde die aus- 
schlieOliche Züchtung von Obstsorten usw. 
empfohlen und erfolgreich durchgeführt. 

Auch sonst ist die Lage sehr entwicklungs- 
pahig. InPoIge des Krieges sind über 50 Prozent 
der Garten- und Luxuspflanzen aus Deutschland 
verschwunden. PalmengewSchse und andere 
tropische Arten werden mit Gold aufgewogen. 
Die Gartenbaukunst ist erstarrt: die GewScbse 
werden vom Ganenarchitekten nach geometri- 
scben Gesichtspunkten angepflanzt und vom 
Gartner nach geometrischen Gesichtspunkten 
beschnitten; die biologischen BedürPnissé der 
Pflanzen werden-in vielen Provinzen — einige 
Ausnahmen zugegeben — überhaupt nicht mehr 
berücksichtigt. 

Dann wurde Zoologinnen — und die Frau 
eignet sich ausgezeichnet zur Tierzucht — 
empfohlen, auBerhalb der GroDstadt auf 
einem Hof nur Hühner resp. Geflügel zu 
züchten. GroIJvieh und Landbewirtschaftung 
würde die meisten Frauen überlasten. Mit 
ihren zoologischen Kenntnissen sollten sie 
die Rassen veredeln, Seuchen erforschen 
und verhüten, hygiënische Bedingungen aus- 
proben, biologische und tierpsychologische 
Forschungen über Hühner, Ganse, Enten, 
Tauben, Truthahne anstellen, zugleich über 
deren Parasiten. 

Beide Kategorien erhielten bei den heu- 
tigen Ernahrungsverhültnissen leicht das 
Kapital zur Seibstandigmachung (zum Teil 
zinslos gegen die Verpflichtung, den Geld- 
geber zu ortsüblichen Preisen standig mit 
Eiern, Obst usf. zu beliefern). 

Andere Frauen gingen von sich aus eigene 
Wege ohne abgestempelte Vorbildung. Viele 



Rundschau 


221 


kamen auDerst erfolgreich in groDen Ver- 
lagsunternehmungen, als Lektorinnen 
usf. unter. Einige benutzten die heutige 
Sammelwut und wurden Grossistinnen für 
Briefmarken und Notgeld mit phano- 
menalem Finanzerfolg. Hierher gehort die 
Spezialisierung auf Kinderphotographie 
(mit Abonnement: alle halbe Jahre werden 
die Kinder photographiert), aufWohnungs- 
photographie u. a. 

Reform der Frauenberufe 

Die Frau hat es weitgehend versaumt, die 
Berufsform nach eigenen weiblichen Be- 
dürfnissen zu difPerenzieren, sogar in den 
ihr allein vorbehaltenen Berufsgruppen. 

Ein Beispiel nur. Eine Krankenschwester 
im Sinne des Volksurteils muQ sich durch 
Scbrubben und übermaQige Körperarbeit so ab- 
placken, daO sie abends wie ein Besenstiel ins 
Bett fSlIt; sie muB sicb mit sehr wenig Schlaf 
begnügen und dabei mit bescheidener, einför- 
miger Kost auskommen. Indessen benötigt eine 
Krankenpfiegerin, welche mit zarter Hand Ver- 
bSnde aniegen soll u. dgl., schon psychomoto¬ 
risch andere Eignungen (zielsicbere kleine PrS- 
zisionsbewegungen) als die Putzfrau und Grob- 
arbeiterin (Psychomotorik für groBe, starke 
Bewegungen). Die erstere soll sich auch in 
den gebildeten Kranken sensitiv einfühlen, seine 
Bedürfnisse mit Menschenkenntnis verstehen, 
geistige Suggestionen ausüben, trösten, ablenken 
usf. — geistige Veranlagungen, welche man 
schwerlich bei einer Reinemachefrau suchen 
wird, und die sich auch in derTat sebr selten 
mit der Eignung zur schweren Muskelarbeit 
paaren. Diese Doppelforderung steht etwa auf 
derselben Linie, wie wenn man vom Pfarrer 
oder Mikroskopiker forderte, sie müBten ein 
Examen in Athietik besteben. Die Verkoppelung 
rührt daber, daB ehemals die Krankenschwestern 
von religiösen Orden gestellt wurden, welche 
auf die Unterbindung sinnlicber Triebe durch 
Strapazen Wert legten*). Diese auBerberufliche 
Ordensregel wurde in sp3teren Jahrbunderten 


•) Auf dem Frankfurter Berufsberatungskon- 
greB 1921 bat ein Zeitungsreporter mich miB- 
verstanden und mir eine Poiemik gegen die 
katholiscbe Kirche angedichtet. Das liegt mir 
fern: ich wünschte, durch Strapazen und Sport 
wQrde in ganz Deutscbland, namentlich bei der 
Jugend, die Erotik und Unsittlichkeit einge- 
dSmmt. Aber desbaib verlange ich noch nicht, 
daB jeder Akademiker beruflich als Scheuer- 
frau wirken kann und muB. 


vom evangelischen Diakonissenium als berufs- 
wichtig übernommen und überboten, ebenso 
vom jüdischen Diakonissentum. Infolge der 
Revolution 1018 ist die berufliche Abgrenzung 
aligemein verSndert. 

Analog differenziert die Frau auch sonst ihre 
Berufsform nicht nach ihren Bedürfnissen, 
wahrend der Mann ihm nicht liegende Berufs- 
anforderungen sofort an andere Berufskategorien 
abgibt. Zudem liebt die Frau die ausgetretene 
HeerstraBe. 

Diese DifPerenzierung muf3 die Frau seibst 
lemen, denn in vielen Pallen wird der Mann 
da wegen seiner mannlichen Einstellung 
nicht helfen können. Die Wege sind kiar 
vorgezeichnet: 1. Beschrankung auf Spe- 
ziaiitaten (z. B. botanisch, kaufmünnisch), 
WO die jetzige Gesamtform nicht paBt. 2. Ist 
diese Spezialitüt zu klein, dann Hinzu- 
nahme anderer naher Speziaiitüten nach 
eigener Eignung. 3. Umformung der be- 
stehenden Frauenberufe nach dem jahr- 
hundertalten Rezept des Mannes: Trennung 
der physischen Arbeit in grobe und Pra- 
zisionsarbeit, Abgabe dergrobmechanischen 
Arbeit an die Maschine oder an neuzugrün- 
dende subalterne Berufsformen, Gruppie- 
rung der manuellen QualitStsarbeit und 
geistigen Arbeit für sich, deren allmahliche 
Höherentwickiung mit entsprechender Ein- 
schaltung neuer mittierer Berufsformen. 
4. Protest gegen die heutige Massen- 
z ü c h t u n g von ungeeigneten Anwürterinnen, 
z. B. des ungeeigneten Büropersonals durch 
honorarsüchtige und unverantwortliche pri¬ 
vate ,Handelslehrer“, weil durch die hohen 
Prozente der Ungeeigneten der ganze Stand 
herabgedrückt und an der Höherdifferenzie- 
rung gehindert wird. 5. Klarer, kritischer 
Biick gegenüber Phrasen (z. B. „ich stu- 
diere Nationalökonomie und werde dann 
etwas Soziales"). 6. Erforschung der Be- 
dürfnisfrage (z. B. muBte ich bereits über 
hundert Anfragen, ob es private Anstalten 
für leicht schwachsinnige Kinder aus gebii- 
deten Standen gebe, verneinen. Oder: eine 
tüchtige Jugendleiterin sah, daB die weib¬ 
lichen Lehrmadchen sich nach der Arbeits- 



222 


Rundschau 


zeit auf der StraQe herumtrieben und sittlich 
verkamen; sie gründete ein Heim mit Be- 
schaftigung, Bildung und Unterhaltung, wel- 
ches wohl demnachst von einer GroDstadt 
kommunalisiert wird). 7. Wichtigstes: ein 
Typus von Self made woman ist nötig. 
Die alten ausgetretenen Wege genügen langst 
nicht mehr, auGerdem zwingt jede Valuta- 
anderung neue Frauenmassen zur Berufs- 
tatigkeit. Es müssen Pfadfinderinnen er- 
stehen, welche neue, bürokratisch noch nicht 
abgestempelte Wege im Sinne der obigen 
Ausführungen gehen und ihrem Geschlecht 
als neues Beispiel dienen. NeuschöpFungen 
— das lehrt die jahrhundertalte Berufs- 
geschichte des Mannes — lassen sich (wie 
Erfindungen) nicht einfach verordnen und 
organisieren, sondern nur in Pionierarbeit 
des Selfmadetums erringen. 

Die Mitwirkung des Arztes bei der Aus* 
arbeitung und Durchführung psycho- 

technischer Eignungsprüfungen 

Eine Rundfrage, bearbeitet von 
Andreas SchuIhoF 

Assistent am Laboratorium führ industrielle Psychotechnik 
der Tecbnischen Hochschule Charlotienburg 

DerLehrstuhl für Werkzeugmaschinen 
und Fabrikbetriebe an der T. H. Berlin 
ware, im allgemeinen Interesse, sehr 
dankbar für weitere Beantwortungender 
im nachfolgend wiedergegebenen Frage- 
bogen angeführten Fragen, von seiten 
solcher Industrieunternehmungen, die 
ihre Arbeiter- bzw. LehrlingsanwSrter 
psychotechn. Prüfungen unterziehen. 

Vom Lehrstuhl für Werkzeugmaschinen 
und Fabrikbetriebe an der Technischen 
Hochschule zu Berlin (Professor Dr.-Ing. G. 
Schlesinger)wurde an eine gröDereAnzahl 
industrieller GroObetriebe und technischer 
Behörden der verschiedensten Branchen 
folgendes Schreiben mit zugefügtem Frage- 
bogen zugesandt: 

Gestatten Sie freundlichst, daG wir Ihnen 
den beigefügten Fragebogen mit derBitte um 
baldmöglichste Beantwortung unterbreiten. 

Wir sind aufgefordert worden, sowohl 
aus unserer persönlichen Erfahrung als 


auch auf Grund der bisherigen Erfahrungen 
industrieller Prüfstellen Bericht zu erstatten, 
in welcher Weise der Arzt bisher an der 
eigentlichen psychotechnischen Prüfung mit- 
gewirkt hat. 

Wir sind wohl unterrichtet darüber, daG 
bei den meisten Industriewerken, Handels- 
hausern. Banken usw. der psychotechnischen 
Untersuchung die vertrauensarztliche vor- 
auszugehen pflegt, doch sind uns nur 
ganz vereinzelt darüber Nachrichten zuge- 
kommen, daG auch die eigentliche psycho¬ 
technische Untersuchung, die die berufs- 
wichtigen Eigenschaften der Prüflinge zu 
erfassen sucht, von Arzten ausgearbeitet, 
ausgeführt und überwacht wird. An den 
meisten Stellen dürften Ingenieure, Fach- 
psychologen oder Psychotechniker die Lei- 
tung des Prüfwesens in Handen haben. Um 
aber zahlenmaGige Angaben über die Be- 
teiligung der Arzte am psychotechnischen 
Prüfwesen zu erhalten, waren wir für 
schuelle Auskunfterteilung durch Ausfüllung 
des Fragebogens sehr dankbar. 

Fragebogen 

1. Findet im Rahmen der dortigen Unter¬ 
suchung derLehrlings- sowie-sonstigen 
Stellenanwarter obligatorisch auch 
eine arztliche Untersuchung statt? 

2. Wird die psychotechnische Unter¬ 
suchung seibstandig und unabhangig 
von der arztlichen vorgenommen? 

3. Ist der Arzt bei der Ausarbeitung 
der psychotechnischen Prüfverfahren 
beteiligt? 

4. Führt der Arzt auch psychotechnische 
Prüfungen seibstandig aus? 

5. Ist der Arzt mit der Überwachung und 
Kontrolle des psychotechnischen Prüf¬ 
wesens beauftragt? 

6. Wem untersteht die Leitung und Ver- 
antwortung des Prüfwesens; einem 
Ingenieur, einem Psychologen, einem 
Arzt? 



Rundschau 


223 


7. Ist neben dem Ingenieur ein Psycho¬ 
loge als Beirat tatig? oder neben dem 
Psychologen ein Ingenieur bzw. Arzt? 

8. In welcher Weise ist das Prüflabo- 
ratorium in die Organisation des Be- 
triebes eingegliedert? 

Wie ersichtlich war dabei auöer der Frage 
der Mitarbeit des Arztes auch die Ver- 
teilung der psychotechnischen Betatigung 
auf Techniker und Fachpsychologen im Auge 
behalten. 

Bisher sind von folgenden Firmen zur 
Bearbeitung der Frage verwertbare Ant- 
worten eingelaufen: 

Allgem. Elektrizitats-Gesellschaft Berlin, 
Benz-Werke, Gaggenau, 

A. Borsig G. m. b. H., Berlin-Tegel, 
Daimler-Motoren-Gesellschaft, Stuttgart- 
Untertürkheim, 

Deutsche Maschinenfabrik A.-G., Duis¬ 
burg, 

Deutsche Werke A.-G., Spandau, 
Friedrich Krupp A.-G., Gufistahlfabrik, 
Essen, 

Ludwig Loewe & Co., Berlin, 
Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, A.- 
G., Werk Nürnberg, 

Osram G. m. b. H., Berlin, 
Reichseisenbahnverwaltung, psychotech¬ 
nische Versuchsstelle, Berlin-Grune- 
wald, 

„Rheinpietall*, Düsseldorf-Derendorf, 
Siemens & Halske A.-G., Wernerwerk, 
Siemensstadt, 

TelegraphentechnischesReichsamt,Berlin, 
Fritz Werner A.-G., Berlin-Marienfelde. 
Über das Ergebnis kann folgendes mit- 
geteilt werden: 

Frage 1: in bezug auf Lehrlinge durch- 
weg bejahend beantwortet. Eine Firma, die 
ungelernte Arbeiterinnen in groIJer An- 
zahl in ihrem Betriebe auf Grund psycho- 
technischer Auswahl beschaftigt, gibt an, die- 
selben nicht arztlich untersuchen zu lassen. 

Frage 2: Die psychotechnischen Unter- 
suchungen werden bei allen Firmen all- 


gemein unabhangig von der arztlichen vor- 
genommen. Nur eine Firma gibt an, daD die 
Arzte ihres Krankenhauses in Ausnahme- 
fallen*) zur Verfiigung stehen. 

Fragen 3, 4, 5: Die Beteiligung 
des Arztes an der Ausarbeitung, 
Ausführung oder Überwachung der 
psychotechnischen Prüfungen wird 
in allen Antworten verneint. 

Frage 6: Die Verantwortung und Leitung 
des Prüfwesens untersteht: in einem Falie 
einem Oberregierungsbaurat, in einem Falie 
einem Doktor-Ingenieur (psychologisch ge- 
schult) in einem Falie einem Diplom-ln- 
genieur, in zweiFallen einem Ingenieur, und 
in allen übrigen Fallen sind nur allgemeine 
Angaben, wie Werkschulleitung, Betriebs- 
direktion oder Betriebsleitung mitgeteilt, die 
aber eindeutig als technische Organe er- 
kenntlich sind. Ausnahme bilden noch zwei 
Antworten, bei denen jedoch bei 

Frage 7 einmal ein Psychotechniker (In¬ 
genieur) das andere Mal ein Fachpsychologe 
(Dr. phil.) angegeben sind. Sonst wird bei 
dieser Frage entsprechend der Antworten 
auf Frage 6 überall der Ingenieur benannt, 
wobei in zwei Fallen eine psychologische 
Schulung desselben betont wird. 

Frage 8: In einem Falie, wo die Leitung 
der Werkschule für die Prüfungen verant- 
wortlich ist, wird als Ausführender ein 
Psychologe angegeben. Eine Firma zieht den 
Arzt in Ausnahmefallen zu (siehe bei Frage 
2). In einem Falie ist neben dem leitenden 
Ingenieur ein Psychologe als Beirat und ein 
Psychologe als wissenschaftlicher Hilfsar- 
beiter tatig. Bei einem Werk, wo die Leitung 
einem psychologisch geschulten Doktor-In¬ 
genieur untersteht, ist auch der mitarbeitende 
Ingenieur psychologisch geschult. 

Frage 9: Insofern diese letzte Frage über¬ 
haupt beantwortet wurde, lauten die Ant¬ 
worten— wenn auch mit verschiedenen Aus- 
drücken — mit einer Ausnahme dahin, daO 

*) wohl bei pathologischen. 



224 


Rundschau 


das psychotechnische Prüflaboratorium der 
Betriebsleitung angegliedert ist. In detn einen 
Ausnahmefalle ist das Laboratorium als un- 
abhangig vom Betriebe, aber in engem Zu- 
sammenarbeiten mit demselben bezeichnet. 

Ein Werk hat den bei ihm verwendeten 
Vordruck des arztlichen Befundes auch zu- 
geschickt. Hier gibt der Vertrauensarzt der 
Pabrik, bevor der Lehrlingsanwarter zur 
Eignungsprüfung zugelassen wird, ein Attest 
über die „Tauglichkeit für den gewahiten 
Beruf“. Darunter ist, wie aus den übrigen 
Befundpunkten hervorgeht, zu verstehen, 
daö der Arzt aufGrund seiner Diagnose die 
eventuellenegativeindikationhervorzuheben 
hat, aber noch durchaus nichts darüber aus- 
sagt, daO der Anwarter für den gewahiten 
Beruf auch in irgendeinem MaOe oder über¬ 
haupt geeignet ist. Dies ist — wenn es aus 
den eingelaufenen Antworten sonst auch 
nicht so klar hervorgeht — im allgemeinen 
der Zweck, der bei fast allen Werken obli- 
gatorischen arztlichen Untersuchungen. Der 
Arzt hat wohl zufolge seiner Fachkenntnisse 
— die sich besonders auch auf das Gebiet 
der Gewerbehygiene erstrecken werden — 
die Aufgabe, einer Schadigung der Gesund- 
heit der Anwarter, wie auch einer Ge- 
fdhrdung der übrigen im Betriebe Beschaftig- 
ten dadurch vorzubeugen, daC er die zu¬ 
folge körperlicher oder neuropathischer Ge- 
brechen bzw. durch ungenügende Ent- 
wicklung und Widerstandsfahigkeit zu einem 
gewahiten Beruf Ungeeigneten nicht zulüCt. 
Dies ist aber mithin auch die Grenze bis 
zu welcher er in der Frage der Eignungs- 
untersuchung mitsprechen kann, insofern er 


nicht — auCer seiner medizinischen Vor- 
bildung — auch die Probleme der Arbeits- 
psychologie und die technischen Fragen der 
menschlichen Berufsarbeit eingehend stu- 
diert und praktisch verfolgt hat. 

Allrussische Konferenz fflr wissen- 
schaftliche Arbeitsorganisation und 
BetriebsfQhrung 

Am 15. April 1923 wird in Moskau eine 
allrussische Konferenz für wissenschaftliche 
Arbeitsorganisation und Betriebsführung 
stattfinden. Das Programm der Konferenz 
enthalt; 

1. Einen allgemeinen Informationsbericht 
über die Institute für wissenschaftliche 
Arbeitsorganisation. 

2. Organisation des Leitungsapparates. 

3. Rationalisierung der Betriebsführung 
(technische und wirtschaftliche). 

4. Psychophysiologie der Arbeit. 

5. Die Vorbereitung der Arbeitskraft. 
(Das professionelle Anlernen, die Vor¬ 
bereitung der Administratoren, die 
Methoden der Berufsauslese.) 

6. Methodologie der Arbeit auf dem Ge¬ 
biet der wissenschaftlichen Arbeits¬ 
organisation. 

a) Die Prinzipien der Forschungs- 
arbeit. 

b) Die Prinzipien der Organisations- 
arbeit in UnternehmtKigen und 
Instituten. 

7. Die organisatorische Verbindung der 
Institute, welche die wissenschaftliche 
Arbeitsorganisation untersuchen und 
anwenden. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W, Moede und Dr.C.Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafte 14. — Verlag von S.Hirzel in Leipzig. — Druckvon Breitkopf & Hdrtel in Leipzig. 




PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. MAI 1923 8. HEFT 


Die PraktUctae Psychologie erscheiot In roonatlichen Heften lm Umfange von zwei Bogen. Preia des Malheftes 2000 Mark 
furs Inland. Fürs Ausland besondere PreUe. (Preis be! unmirtelbarer Zustelluog unter Kreuzband lm loland elnschlleOlIch 
Österrelch-Ungarn 2200 Mark.) Bestellungen nefamen alle Buchhandlungen, die Post aowle die Verlagsbucbhandlung entgegeo. 
Anzelgen vermittelt die Verlagabuchbandlung S. Hirzel In Lelpzlg, KönlgatraOe 2. Poatacbeckkonto Leipzlg 226. — Alle 
Manuakrlptsendungen und darauf bezügliche Zuacbrlften alnd zu rlcbten an die Adrease der Scbrlftleitung: Prof. Dr. W. Moede 
und Dr. C. Piorkowskl, BerlinWSO, LultpoldstraOe 14. 


Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der 
Osram G. m. b. H. Kommanditgesellschaft, Pabrik S 

Von Dr. W. Ruffer, Berlin 

D ie Bewertung der Ergebnisse der psychotechnischen EignungsprüFung ist 
neben der Festlegung der Prüfungsmethoden selbst von einer auOerordentlich 
groOen Wichtigkeit. Über Auswertungsverfahren in dem Psychotechnischen 
Laboratorium der Technischen Hochschule zu Charlottenburg ist bereits in dieser 
Zeitschrift berichtet worden*). Desgleichen hat u. a. Dr.-Ing. A. Schreiber über 
Auswertung seiner Eignimgsprüfungen für Lokomotivführer im sachsischen Eisen- 
bahnwesen berichtet, und er weist auf die Bedeutung der Integralkurve als 
Wertungsgrundlage hin**). Ein ahnliches Bewertungsverfahren ist auch von dem 
Psychotechnischen Laboratorium der Osram G. m. b. H. Kommanditgesellschaft, 
Pabrik S, eingeführt worden. 

I. Apparate und Verfahren 

Bevor auf das Bewertungsverfahren selbst eingegangen wird, seien zunachst die 
zur Prüfung benutzten Apparate und Verfahren der Osram, Fabrik S, für die eine 
objektive mathematische Bewertung möglich und durchgeführt worden ist, kurz 
beschrieben. 

a) Sehscharfeapparat (Abbildung 1) 

Der Prüfapparat besteht aus einer MeBbank, die vorn mit einem Schauloch 
versehen Ist, hinter welchem sich eln Rahmengesteli verschieben laOt. Eine Anzahl 
Wolframdrahte verschiedener DurchmessermaOe sind im vordersten Rahmen 
eingespannt, eine weiCe Tafel dient als Hintergrund. Der Rahmen mit den 
Wolframdrahten ist auswechselbar und wird bei der Prüfung nacheinander durch 
noch zwei andere mit Wolframdrahten anderen Querschnittes ersetzt. Der Prüf- 
ling soll angeben, wieviel Drahte er bei stets konstanter Beleuchtung in den 
einzelnen Rahmen sieht. Bewertet wird die gröCte Entfernung, auf die der 
Prüfling die richtige Anzahl der Paden angibt. 

•) Herwig, Auswertungsverfahren bei der psycbotechnischen Eignungsprüfung, Prakt. Psycho¬ 
logie, 2. Jahrgang, S. 45. 

**) Dr.-Ing. A. Schreiber, Mitteiiungen aus dem Prüfungslaboratorium für Berufseignung bei den 
Sichsischen Staatseisenbahnen. Verlagsabteilung des Vereins Deutscher Ingenieure, Berlin 1919. 

P P-IV, 8 16 




226 RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 


b) Prüfung des AugenmaOes 
Das AugenmaB wird mittels dreier Apparate festgestellt: 

Streckenteiler (Abbildung 2), 

Mittelpunktbestimmungs-Apparat (Abbildung 3), 
Kreissiebenteiler (Abbildung 4), 

Beim Streckenteiler wird verlangt, eine Strecke von 10,2 cm zu halbieren und zu 
dritteln; bei dem Mittelpunktbestimmungs-Apparat ist der Mittelpunkt eines Kreises 
von 8 cm Durchmesser aufzusuchen, und bei dem Winkelprüfer ist mittels sieben 
Drahten eln Kreis in sieben gleiche Sektoren einzuteilen. 



Abbildung 1. Sehschirfeapparat 
c) Tastsinnpriifer (Abbildung 5) 

Der Prüfling hat hier zwei Ringplatten auf genau die gleiche Höhe ein- 
zurichten. Wahrend die linke Hand die Stellscheibe bedient, urn die Höhe des 
inneren Zylinders zu verandern, kontrolliert der Zeigefinger der rechten Hand 
die Ausrichtung der beiden Platten, indem er von einer zu anderen gleitet*). 


d) Prüfung der verteilten Aufmerksamkeit 
Hier sind aus einem Kasten heraus verschiedenartig gestaltete Glasstabe zu 
sortieren und zu zahlen. Gleichzeitig sind zwei Sanduhren zu beobachten und, nach- 
dem sie ausgelaufen sind, rechtzeitig umzudrehen. Bewertet wird die Zeit und die 
Anzahl derFehler beim Sortieren, beim Zahlen und beiderUmstellung der Sanduhren. 

*) Vgl. Praktische Psychologie, 1. Jahrgang, Seite 13. 







Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G. m. b. H. 227 

e)PrüfungderArbeitsschnelligkeit 
bei einfachen Verrichtungen 

Die Prüfung erfolgt mittels dreier 
Verfahren. Bei dem ersten handelt es 
sich darum, möglichst schnell mit bei¬ 
den Handen je ein Kupferstabchen aus 
einer gefüllten Schachtel in die 
numerierten Felder einer Tafel 
zu legen. Bei dem zweiten Ver¬ 
fahren hat der Prüfling die Auf- 
gabe, mit einer Pinzette feine Abbiidung 2. streckenteiier 

Molybdanstabchen in die Mitte 

der Karos zu bringen. Bei dem dritten Verfahren ist mit beiden Handen je eine 
Kugel in systematisch angeordnete Vertiefungen einer Unterlage möglichst schnell 
zu legen, wobei mit der rechten Hand die Belegung der Platte rechts oben und 
mit der linken Hand die Belegung links unten angefangen wird. Bewertet wird 
bei allen drei Verfahren die gebrauchte Zeit. 

f) Tremometer (Abbildung 6) 

Das Tremometer*) dient zur Prüfung der Handführung unter gleichzeitiger 
Kontrolle durch das Auge. Bei diesem Prüfgerat muB der Prüfling mit einem 
Metallstift durch verschieden geformte Schlitze hindurchfahren, ohne die Rander 

der Schlitze zu berühren, Bewertet 
wird die Anzahl der Schlitze, die der 
Prüfling einwandfrei mit dem Metall¬ 
stift durchlaufen hat. 

g) Prüfung der technischen 
Auffassung 

Drei Apparate: 

Libelle (Abbildung 7), 
Röhrenapparat (Abbildung 8), 
Winkelirieb (Abbildung 9). 

Libelle: Hier befindet sich 
eine Libelle in der Mitte einer 
Schale, die horizontal gestellt 
werden soll. Die Schale ruht 
auf einem Dreigestell. Es wird 
dem Prüfling die Wirksamkeit der SchraubenfüBe des Dreigestells erklart und 
gezeigt, worauf die Horizontaleinstellung zu erfolgen hat. 



Abbildung 3. Mittelpunktsbestimmer 



*) Vgl. Praktische Psychologie, l.Jahrgang, Seite 69. 


16* 



228 RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 





Röhrenapparat: Dieser beruht auf dem Prinzip der kommunizierenden Röhren. 
Es soll die in den drei kommunizierenden Röhren sich befindende gQfarbte 
Flüssigkeit derart eingestellt werden, daO das Flüssigkeitsniveau mit den in 
den Glasröhren eingeatzten Marken abschneidet. 

Winkeltrieb: Dieser besteht aus vier Radern, die 
zueinander beliebig in der Höhe und winkelig verstell- 
bar sind. Der Prüfling bat die Rader so zu stellen, daC 
durch Drehen eines Kurbelrades mittels Transmission 
die anderen Rader mitbewegt werden können. Bewertet 
wird bei allen drei Apparaten die gebrauchte Zeit. 

II. Das Bewertungsverfahren 
Das Prinzip der Bewertung 
besteht darin, 
die Leistungen 
des Prüflings an 
jedem Apparat 
oder bei jedem 
Verfahren durch 
eineeinzige Zahl 
auszudrücken 
und diese dann 
in Beziehung zu 

den aus vielen Untersuchungen erhaltenen mittleren Leistungen zu setzen. Die 
so gewonnenen Einzelergebnisse werden jetzt, urn ein Gesamtbild über die Ver- 
anlagung des Prüflings zu erhalten, in einer Prüfkarte festgelegt und dann mit 
dem von der Osram G. m. b. H. Kommanditgesellschaft zusammengestellten Be- 
rufsanalysenschema verglichen, welches die einzelnen Untertatigkeiten der für die 
Glühlampenindustrie nöti- 
gen Arbeiten mit den zu 
ihrer Verrichtung erforder- 
lichen Fahigkeiten aufweist. 

Abbildung 10 zeigt 
das für die Glühlampen- 
arbeiterinnen gültige Be- 
rufsschema. Die sich der 


Abbildung 4 
Kreissiebenteiler 


Abbildung 5 
Tastsinnprüfer 


Fabrik anbietenden Ar- 
beitskrafte werden dann 
an Hand des Vergleichs- 
ergebnisses auf die ein¬ 
zelnen Fabrlkabteilungen 
verteilt. Abbildung 6. Tremometer 


Rufrer, Auswertungserfabrungen der Psycbotecbnischen Prufstelle der Osram G.m.b.H. 229 

Um die Leistungen an den einzelnen Apparaten durch eine einzige Zahl auszudrücken, 
werden je nach der Art des Apparates, nach der Anzahl der Aufgaben an einem Apparat 
und nach der dem Prüfling vorgeschriebenen Arbeitsweise verschiedene Wege eingeschlagen. 


Allgemein stellt man bei jedem ein¬ 
zelnen Versuch für jede Wertzahl (Ent- 
fernung, Zeit usw.) fest, wieviel Prüflinge 
diese Wertzahl erreichen und veranschau- 
licht die Haufigkeitsverteilung in einer 



Abbildung 7. Libelle 



Abbildung 8. Röhrenapparat 



Kurve, indem man auf der Abszisse eines rechtwinkeligen Koordinatensystems die Wert¬ 
zahl auf der dazu gehörigen Ordinate die Haufigkeit abtragt. Die so gefundene Kurve, 
die sogenannte Haufigkeitskurve, ergibt dann in ihrem Maximum die mittlere Leistung. 

Sie gestattet aber nur eine verhaltnismaCig grobe Beurtei- 
lung nach guter, mittlerer und schlechter Leistung. Zur 
Aufstellung einer feineren Bewertung wird deshalb diese 
Haufigkeitskurve integriert, d. h. es wird in einer Kurve der 
dauernd zunehmende Flacheninhalt dargestellt. Man erhalt 
so die sogenannte Integral- oder Bewertungskurve, die an 
derjenigen Stelle ihre gröDte Steigung hat, wo die Haufig¬ 
keitskurve ihr Dichtigkeitsmaximum besitzt. Der zu dem 
Dichtigkeitsmaximum gehorende Kurvenpunkt wird mit „ge- 
nügend“ bezeichnet. Um nun die weiteren Zensurzahlen 
„2^“ und „4“ zu linden, werden durch den Punkt „3“ eine 
Parallele zur Abszissenachse und zwei weitere (2) und (4) so 
gezogen, daQ sie den Abstand einerseits zwischen der Ab¬ 
szissenachse und der Parallele (durch 3) und anderseits zwi¬ 
schen dieser und der horizontal verlaufenden Endstrecke der 
Integralkurve halbieren. Der Abstand der Wertzahlen „2—3“ 
Abbildung 9. Winkeltrieb und „3—4“ auf der Abszissenachse wird dann nach links und 







230 RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 

rechts auf dieser von „2“ und „4“ abgetragen, wodurch die Zensuren ,1“ und „5“ er- 
halten werden. Zur genaueren Differenzierung der Leistungen werden die Kurvenstrecken 
zwischen den Zensurenpunkten nochmals in zehn Teile geteilt. Ist dagegen eine Differen¬ 
zierung der Leistungen nach fünf Zensuren nicht erforderlich, so können die Raume 
zwischen den Zensur-Koordinaten zur Bewertung herangezogen werden, indem man sie 
mit 1, 2, 3, und 4 bezeichnet. Diese Art der Bewertung wurde neuerdings für den 

Osram-Konzern fest- 
gelegt, um so auch 
eine Übereinstimmung 
mit den in dem Os¬ 
ram Berufsanalysen- 
schema (s. Abb. 10) 
festgesetzten Fahig- 
keitszahlenzuerhalten. 


III. Die H&ufigkeits- 
und Bewertungs- 
kurven 

Nach dem unter II. 
beschriebenen Ver- 
fahren wurden die 
Haufigkeits- und Be- 
wertungskurven der 
Resultate bei der 
Prüfung der verteil- 
ten Aufmerksamkeit, 
der Schnelligkeit und 
des technischen Ver- 
standnisses, sowie 
der Ergebnisse am 
Siebenteiler, am Tre- 
mometer und an den 

einzelnen Rahmen des Sehscharfeprüfers gefunden. Zur Aufstellung dieser Kurven 
wurden die Prüfungsergebnisse von 200 bzw. 300 Prüflingen (Versuchspersonen) 
verwandt, die natürlich dem Kreis, der für die Aufnahme in den Osramfabriken 
in Betracht kommt, angehören, also Berliner Madchen und Frauen. Die Abbil- 
dungen 11 bis 16 und 20 zeigen die einzelnen Haufigkeits- und Bewertungs- 
kurven. Die Kurven für die Apparate zur Prüfung des technischen Verstand- 
nisses geiten nur für die in der Osramfabrik zur Aufnahme kommenden Mecha- 
niker, Einrichter usw. Für diese sind bei den zu ihrer Prüfung verwandten 
Apparaten und Verfahren ebenfalls besondere Kurven aufgestellt worden. Von 
diesen sei nur die Schnelligkeitsbewertungskürve (Abbildung 15) des Kugellegens 
angeführt, die einen interessanten Vergleich der Schnelligkeit der verschiedenen 















RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 231 


Geschlechter zeigt. Das weibliche Geschlecht ist, wie man sieht, für die Akkord- 
arbeit in den Arbeiten, die von beiden Geschlechtern verrichtet werden können, 
durchschnittlich weit mehr geeignet als das mannliche. 

Bei diesen Prüfungen ist nur eine einmalige Verrichtung des Prüfprozesses bzw. eine 
einmalige Einstellung notwendig. Bei den Apparaten, die im Gegensatz zu den vor- 
genannten einen objektiven Nullpunkt besitzen, wie z. B. der Tastsinnprüfer, der Strecken- 
teiler usw., sind unbedingt mehrere, doch mindestens drei Einstellungen erforderlich; denn 



- Abbildung 11 



es kommt hier darauf an, den sogenannten subjektiven Nullpunkt, d. h. die mittlere Ab- 
weichung von der Nullstellung, bei dem Prüfling festzustellen. Die Praxis verlangt nam- 
lich eine möglichst kleine Streuung in den Einstellungen des Prüflings. Selbst wenn dieser 
bei der Ausführung möglichst gleichmaQiger Einstellungen z. B. an einer Maschine einen 
Fehler macht, so wird er doch sehr viel bessere Arbeit leisten als ein solcher, der mit 
seinen Einstellungen stark hin und her schwankt, da ersterer sich bei richtiger Anleitung 
den Fehler abgewöhnen kann. Die GröCe der Streuung, d. h. die mittlere Abweichung 


¥ 


Abbildung 13 


Abbildung 14 



der einzelnen Einstellungen von dem vorher errechneten subjektiven Nullpunkt gibt daher 
immer den wesentlichen Ausschlag für die Leistung des Prüflings. Diese StreuungsgröDe, 
die sogenannte mittlere Variation. — berechnet als arithmetisches Mittel der Einstellungen 
(unter Berücksichtigung der Vorzeichen) — gilt bei den Apparaten mit objektivem Null¬ 
punkt also als Wertzahl. Von den hier betrachteten Prüfapparaten der Osram G.m.b.H. 
Kommanditgesellschaft, Fabrik S, kommen zur Ermittlung der mittleren Variation in Be¬ 
tracht: der Streckenteiler, der Tastsinnprüfer und nach Abanderung des MeCverfahrens 
auch der Mittelpunktbestimmungs-Apparat. Bei diesem wird allgemein der Fehler durch 
einfaches Auflegen einer mit konzentrischen Ringen versehenen MeBscheibe auf die 



232 Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 

weifle Kreisflache als radiale Abweichung von dem tatsachlichen Mittelpunkt bis auf 
einen Bruchteil eines Millimeters bestimmt. Einen Maöstab für die Streuung ergibt also 
dieses MeCverfahren nicht. Daher wurde folgendes Auswertungsverfahren festgelegt: 
Durch den objektiven Nullpunkt dieser MeOscheibe wurde ein Koordinatenkreuz gelegt 
und an Hand einer Millimeterteilung die jeweiligen Koordinaten des eingestellten Mittel- 
punktes bestimmt, Diese Koordinaten dienen dann dazu, den subjektiven Mittelpunkt und 




die mittlere Variation zu errechnen. Es werden drei Einstellungen verlangt. Der sub- 
jektive Mittelpunkt ist dann der Schwerpunkt des aus den drei Einstellungspunkten 
gebildeten Dreiecks, so daC der subjektive Mittelpunkt und die mittlere Variation nach 
folgenden Formeln berechnet werden können: 

Xi + X2-\- X 3 yi + y-i + >>3 

3 3 

MKi = -|/(Xs-x,)2+(y,-yi)2 

wobei die jeweiligen x und y die Koordinaten der eingestellten Punkte und Xa, ys die des 
errechneten subjektiven Mittelpunktes bedeuten. Entsprechend werden MV^ und MK 3 
errechnet und die Wertzahl als 

MVi + MV2-{-MV3 
3 

bestimmt. 

Dieses Verfahren ist dadurch schematisiert worden, daC die mittleren Varia- 
tionen für alle vorkommenden Werte errechnet und in einer Tabelle zusammen- 
gestellt worden sind, so daD der Prüfer nur die letzte einfache Rechnung an- 
zustellen braucht. 

Die für die drei Apparate — Streckenteiler, Tastsinnprüfer und Mittelpunkts- 
bestimmer — hergestellten Integralkurven zeigen Abbildungen 17 bis 19. 
Moede, der den Tastsinnprüfer konstruiert hat, hat in derselben eben be- 
schriebenen Art auf Grund der Prüfungsergebnisse von 224 Versuchspersonen 
(industriellen Lehrlingen) die entsprechende Integralkurve aufgestellt. Sie ist in 
Abbildung 18 punktiert wiedergegeben. Es ist interessant, wie genau die beiden 
Kurven zusammenfallen. Diese Genauigkeit der Übereinstimmung laCt darauf 
schlieDen, daO bei beiden Geschlechtern das Tastgefühl gleichmaOig ausgebildet ist. 

An einzelnen bereits oben besprochenen Apparaten, am Tremometer, Seh- 
scharfeapparat, Streckenteiler, hat der Prüfling nun mehrere verschieden schwere 


* RufFer, Auswertungserfahrungen der Psychotechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 233 

Aufgaben zu lösen. Es wurden daher Gewichtszahlen entsprechend den Schwierig- 
keiten der einzelnen Aufgaben eingeführt, die durch Vergleich der Lage der ein- 
zelnen Maxima gewonnen werden. Durch Multiplikation mit den zugehörigen 
Gewichtszahlen werden dann die Wertzahlen miteinander vergleichbar; die Auf- 
stellung einer Gesamtkurve für den Apparat wird ermöglicht. Der Prüfer braucht 
jetzt also nur die an einem Apparat so erhaltenen Wertzahlen zu addieren und aus 
der Gesamtkurve das Urteil zu entnehmen. Nach diesem Verfahren wurde zunachst 
O’e Gesamtbewertungskurve der hierfür in Frage kommenden Apparate konstruiert. 






Abbildung 19 



3CQ ^ 



Ein Vergleich der einzelnen Zensuren an den für die verschieden schweren 
Aufgaben konstruierten Einzelbewertungskurven mit der Endzensur der Gesamt¬ 
bewertungskurve zeigte jedoch eine Differenz von etwa 35% maximal, z. B. er- 
gaben Prüfungen am Sehscharfeprüfer folgende Resultate: 


Rahmen I 

Rabmen II 

Rahmen III 

Gesamtergebnis 

Wertzahl 

Zensur 

i 

N 

t. 

4> 

Zensur 

Wertzahl 

Zensur 

Mittel aus 
den Einzel¬ 
bewertungs¬ 
kurven 

Alte Ge¬ 
samtbewer¬ 
tungskurve 

% Ab- 
weichung 

Neue Ge¬ 
samtbewer¬ 
tungskurve 

% Ab- 
weichung 

90 

39 

2.3 

4.7 

90 

35 

1.2 

4.7 

100 

42 

1.1 

4.7 

1.5 

4.7 

1 

5 

33 

6 

L _ 

1.5 

4.7 

0 

0 






234 Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psychotechniscben Prüfstelle der Osram G.m.b.H. * 

Diese doch immerhin groCen Unterschiede liegen in der Tatsache begründet, daC 
die bei den einzelnen Aufgaben und Apparaten (siehe spater!) erzielten Zensuren 
stark differieren. Zur Vermeidung dieser Nachteile wurden daher in Abanderung 
der bisherigen Konstruktion die Gesamtbewertungskurven nach Folgendem Ver- 
fahren hergestellt: 

Die Abszissen der einzelnen Bewertungskurven werden wie bisher mit den 
zugehörigen Gewichtszahlen multipliziert. Diese so, arithmetisch gesprochen, 
auf einen Hauptnenner gebrachten Bewertungskurven werden dann derart neben- 


&•»»» » «>• 



Abbildung 21 


0 r » W •»-**< v^»»w * 





einander gestellt, daO die mit „3" bezeichneten Kurvenpunkte auf derseiben 
Ordinate liegen. Die gemeinsame Bewertungskurve resultiert dann aus den mitt- 
leren Abszissen und Ordinaten der Einzelbewertungskurven. Die DifFerenzen 
zwischen den Einzelbewertungskurven und der neuen Gesamtbewertungskurve 
betragen dann höchstens nur bis zu 3%. Wie aus obiger Tabelle ersichtlich, 
sind zwischen den Einzelbewertungskurven und der neuen Gesamtbewertungs¬ 
kurve in den beiden angeführten Beispielen keinerlei Abweichungen mehr ver¬ 
handen. Abbildung 21 zeigt die neue Gesamtbewertungskurve neben den für 
jeden einzelnen Rahmen aufgestellten Einzelbewertungs- und der alten Gesamt¬ 
bewertungskurve des Sehscharfeprüfers. 

Die für die hier in Frage kommenden Apparate gefundenen Gewichtszahlen 
sind auf den in den Abbildungen 20 und 21 dargestellten Integralkurven auF- 
geführt. Beispielsweise sind die Gewichtszahlen für die einzelnen Aufgaben am 




Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psycholechnischen Prüfstelle der Osram G.m.b.H. 235 

Tremometer 1,5, 1, 1,2, 4,8, 7,5. Interessant ist wieder die ausgezeichnete Über- 
einstimmung dieser Zahlen mit den Werten, die Moede auf Grund von Prüfungen 
industrieller Lehrlinge in seinem Laboratorium an der Technischen Hochschule 
gefunden hat und sich zu 1, 1, 1,3, 4,4 und 8 ergaben*). 

Entsprechend dieser Zusammenfassung der verschiedenen Aufgaben an einem 
Apparat wurden anderseits die zur Feststeilung des AugenmaOes und des tech¬ 
nischen Verstandnisses an den einzelnen Apparaten zusammengefaOt. Für die 
Schneliigkeit wurde zur Gesamtbewertung nur das Kupfer- und Molybdanstabchen- 
verfahren vereinigt, da die Prüflinge mit guter Sehscharfe nur mit diesem Ver- 
fahren, die mit geringer Sehscharfe nur mit der Kugeimethode geprüft werden. 
Die Abbildungen 22 bis 24 zeigen die Bewertungskurven für die Gesamt¬ 
bewertung des AugenmaOes, der Schneliigkeit und des technischen Verstandnisses 
nebst den errechneten Gewichtszahien. 

IV. Ergebnis der Betrachtungen 

Bei den oben beschriebenen Untersuchungen wurde festgestelit, daO der Faden- 
Sehscharfeprüfer (Abbildung 25) — bei dem es sich ebenfalls um das Wahr- 
nehmen feiner Drahte handelt — in der alten Konstruktion eine Aufstellung einer 
mathematischen Bewertung nur gering 
gestattet, da sich ergab, daO man für 
Glühlampenarbeiterinnen hier keine 
genügende DifFerenzierung der Lei- 
stung erhiilt. Es steilte sich heraus, 
daC von 300 Prüflingen 57,5% alle 
Drahte in den einzelnen Feldern sahen, 

25,5% bis zum vorletzten Felde kamen 
und 3% gar nichts erkennen konnten. 

Somitkamen nur 13% fürdieZwischen- 
werte in Frage. Daher wurde dieser 
Apparat bisher nicht zur Feststeilung 
der Sehscharfe verwandt, sondern nur Abbildung 25. Sehscharfeprüfer 

in Verbindung mit dem oben erwahn- 

ten selbstkonstruierten Sehscharfeprüfer zur Untersuchung auf Normal-Weit- bzw. 
Kurzsichtigkeit des Prüflings. Um den Apparat auch zur Sehscharfeprüfung für 
Glühlampenarbeiterinnen verwenden zu können, ist dieser jetzt so umgebaut, daO 
einerseits durch Vorschalten eines Schiebewiderstandes die Beleuchtungsstarke 
des roten Fadenuntergrundes veranderlich und anderseits der Tubus in einer Ent- 
fernung von 15—45 cm verschiebbar gemacht wurde. 30 cm sollen als normaler 
Ausgangspunkt bei der Einstellung dienen. Die Einstellung soll aber so vor- 
genommen werden, dafl jeder Prüfling sich die ihm am günstigsten liegende Ent- 

*) Moede, Ergebnisse der industriellen Psychotechnik, 2. Jahrgang, 304. 





236 Ruffer, Auswertungserfahrungen der Psycbotechnischen Prüfstelle der Osram G. m.b. H. 

fernung nach einer verkleinerten Kreisprobe, die auf einem Felde des Apparates 
angebracht werden soll, selbst einstellt. 

Als weiteres interessantès Ergebnis der Untersuchungen sei zum SchluO noch 
erwahnt, daO im allgemeinen festgestellt wurde, daO die vor Errechnung der 
Integralkurven angewandte Beurteilung der Leistungen nach empirisch festgelegten 
im Vergleich zu den neu wissenschaftlich errechneten Werten eine zu milde war. 
Es ergab sich im Durchschnitt eine Abweichung im Mittel von 30%. 


Erfahrungen bei der Prüfung und Berufsberatung 
künstlerisch Begabter in Gro6-Berlin 

Von Professor Otto Dannenberg, Berlin 

A ls ich im Jahre 1920 in dieser Zeitschrift (vgl. 1.4) über „Auslese und Be¬ 
rufsberatung der künstlerisch Begabten" berichtete, hatten seit der Einrich- 
tung dieser Prüfungsgelegenheit an der Unterrichtsanstalt des Staatlichen Kunst- 
gewerbe-Museums in Berlin vier Prüfungen unter meiner Leitung stattgefunden, 
aus denen neben greifbaren Erfolgen wohl manche Anregung und Belehrung er- 
wuchs; das erstrebte Ziel lag aber unerreicht noch in weiter Ferne. 

Auch heute, nachdem inzwischen weitere drei Jahre mit je zwei Prüfungen 
dahingegangen sind, verhehle ich mir nicht, dali trotz der erweiterten Erfahrungen 
und Erfolge, die diese sechs Prüfungen zeitigten, noch mancher Wunsch un- 
erfüllt geblieben ist. Trotzdem hoffe ich in den beteiligten Kreisen auf Beach- 
tung rechnen und sicher sein zu dürfen, daO die Ergebnisse meiner Tatigkeit 
auf diesem Gebiete Anregung und Bereicherung an hierfür empfangliche Stellen 
tragen und dort fruchtbar werden lassen. 

Für die Auswirkung von Prüfung und Beratung war das neugeschaffene Be- 
rufsamt der Stadt Berlin, jetziges Landesberufsamt, von einschneidender Bedeu- 
tung. Es trat an die Stelle des bisher tatigen Jugendamtes, das durch den Um- 
fang seiner Geschafte sehr überlastet war und, seiner eigentlichen Aufgabe 
folgend, zu dem praktischen Berufsleben nicht die Beziehungen knüpfen und 
pflegen konnte, wie es für eine gedeihliche Arbeit in der Berufsvermittlung un- 
bedingt erforderlich ist. Meine Tatigkeit, die so lange mit der Feststellung der 
gröBeren oder geringeren Begabung und des empfehlenswerten Berufes erledigt 
war, bekam nun erst die richtige Umsetzung in ein greifbares Ergebnis durch 
die Yorangegangene und nachfolgende Arbeit des Berufsamtes. Ehe letzteres mit 
seiner Unterstützung einsetzte, wurde das ürteil über die künstlerische Begabung 
und der Vorschlag zur Wahl eines entsprechenden Berufes den Kindern in 
knapper Form mitgeteilt, alles weitere ihnen und ihren Eltern selbst überlassen. 
Nur die hervorragend Begabten wurden mit den Eltern zu Herrn Professor 
Bruno Paul, dem Direktor der obengenannten Unterrichtsanstalt, bestellt, wo in 
meiner Gegenwart alle Fragen eingehende Beantwortung fanden. Dies war schon 





Dannenberg, Erfahrungen bei der Prüfung und Berufsberatung künstlerisch Begabter 237 

ein wesentlich verbesserter Weg, auf dem man den wenigen Hochbegabten nützen 
konnte, wahrend die anderen leer ausgingen. Was ist für die Zukunft der Kinder 
erreicht, wenn man bei der Mehrzahl von ihnen lediglich auf Grund der aus 
den Arbeiten sprechenden Begabung einen Beruf empfiehlt, den zu erlernen und 
auszuüben die vorauszusetzenden körperlichen und wirtschaftlichen Erfordernisse 
vielleicht gar nicht verhanden sind, worüber zu vergewissern aber nur persön- 
liche Fühlung mit den einzelnen die Möglichkeit bietet? Hier klaffte also eine 
groQe Lücke, die zu überbrücken mein Bestreben sein muOte. In der Zusammen- 
arbeit mit dem Berufsamt konnten diese Mangel inzwischen wesentlich behoben 
werden. Das geschah einerseits durch vorbereitende Schritte in den Schulen, 
WO durch Vortrage der Berufsberater und Beraterinnen den Kindern AufschluO 
über die mit der Berufswahl zusammenhangenden Fragen gegeben wurde mit 
Hinweis auf die erforderlichen Schritte und die geeignetsten Wege. In den 
Volksschulen — leider bis jetzt nur in diesen, ebenso wichtig aber auch für die 
höheren Schulen — bekam jedes Kind eine Karte, auf der dessen eigene Berufs- 
wünsche mit den Beobachtungen der Lehrer über die besondere Eignung und 
des Schularztes über die Körperbeschaflfenheit des Kindes vereinigt waren. Da- 
durch entstand ein Material, dessen Wert bei der nun bei jedem Kinde ein- 
setzenden persönlichen Rücksprache voll zur Geltung kam. Das in Abwesenheit der 
Kinder über die eingelieferten Arbeiten und die Prüfungsarbeiten von den dazu auDer 
mir bestellten drei Professoren der Unterrichtsanstalt gefalite Urteil muOte haufig 
mit Rücksicht auf die bei der Beratung erst bekannt werdenden besonderen Um- 
stande — körperlicher und geistiger Zustand des Kindes, wirtschaftliche Lage 
der EItern, persönliche, bisher unausgesprochen oder unerkannt gebliebene eigene 
Neigung und Wünsche — korrigiert werden, und ich unterzog mich angesichts 
der zu erreichenden Vorteile unter treuer Hilfe eines Berufsberaters — bei den 
Knaben — und einer Berufsberaterin — bei den Madchen — gern der freilich 
erheblicheren Mehrarbeit. Nachdem auf diese Weise Klarheit über den in Frage 
kommenden Beruf geschaffen war, setzte die eine entsprechende Lehrstelle ver- 
mittelnde Arbeit des Berufsamtes ein, die Gesamttatigkeit somit zu einem ge- 
wissen AbschluO bringend. 

Ein groDer Teil der Kinder, hauptsachlich unter den Madchen, war sich über 
einen in Betracht kommenden Beruf noch gar nicht klar und wuOte auf die von 
mir gestellte Frage nach dem vielleicht schon erwahlten eigenen Beruf keine 
Antwort oder nur eine solche zu geben, die auf ganz unklare Vorstellungen 
schlieOen liel3, wahrend die Jungen sich haufiger schon eine bestimmte, wenn 
auch nicht immer völlig zutreffende, Meinung gebildet hatten. Das mag bei 
letzteren neben der bei ihnen günstigeren Einstellung zu praktischen Dingen auch 
daher rühren, daO ihnen bei der Entscheidung eine gröCere Zahl von Berufen 
zur Wahl steht, die Madchen dagegen wesentlich behinderter sind, da die Anzahl 
der weiblichen Berufe geringer ist und viele Berufe des Mannes, die den Frauen 
nach Begabung und körperlicher Leistungsfahigkeit wohl zuganglich sein könnten. 



238 Dannenberg, Erfabrungen bei der Prürung und Berufsberatung künstlerisch Begabter 

ihnen trotzdem aus anderen Gründen verschlossen bleiben. Wenn auch in 
manchen Kreisen noch ein gewisses Vorurteil gegen eine handwerkliche Aus- 
bildung — als nicht standesgemafJ — besteht, so trifft man doch, wahrscheinlich 
als Folge der veranderten wirtschaftlichen Verhaltnisse, die Schillers. Wort im 
„Tell“: „die Axt lm Haus erspart den Zimmermann", in mancherlei Anwendung 
so bedeutungsvoll werden lieOen, vielfach in gebildeten Schichten das volle Ver- 
standnis für die Wichtigkeit der handwerklichen Grundlage, gewiO nicht zum 
Schaden des Handwerks selber, geschweige denn der wahlenden Kinder. Der 
Zulauf zu BeruFen, die zur Zeit als besonders lohnend angesehen werden, kommt 
unter AuOerachtlassung vielleicht ganz anders gerichteter Begabung haufig vor. 
Inmitten dieser Schwierigkeiten muO der Berater den richtigen Ausgleich zu finden 
suchen, was nicht selten miOlingt oder erst nach langen Verhandlungen zu er- 
reichen ist. 

In vereinzelten Pallen handelte es sich urn die Prüfung künstlerisch Begabter, 
die bereits lohnenden Erwerb in einem, ihnen aber nicht zusagenden Beruf hatten. 
Hier muOte natürlich besondere Vorsicht walten und als mildeste, mit dem ge- 
ringsten Wagnis verknüpfte Form auch bei unzweifelhafter Begabung ein Über- 
gang gewahlt werden, bei dem die sichere wirtschaftliche Basis nicht sofort auf- 
gegeben zu werden brauchte. Bei nicht ausreichender Begabung wurde von 
einem Berufswechsel unbedingt abgeraten. Der Drang, die seinerzeit bei der 
Berufswahl gegen die nüchterne Überlegung zurückgestellte persönliche Neigung 
und künstlerische Begabung, durch jahrelange Unterdrückung bei unbefriedigender 
Tatigkeit immer wach gehalten und verstarkt, endlich in der richtigen Weise 
betatigen zu können, ist haufig so groB, daB er die gröBten Widerstande über- 
windet und die Betroffenen Opfer über Opfer willig auf sich nehmen laBt. Der- 
artige Erscheinungen sind dem verStandnisvoll mitfühlenden Berater in unserer 
heutigen so materiellen Zeit stets ein beglückendes Vorkommnis und willig wird 
er nach besten Kraften zu helfen bestrebt sein. 

Es ist ein groBer Nachteil, daB die Mehrzahl der Kinder mit der Unter- 
bringung in eine Lehrstelle dem Gesichtskrels entschwindet und es nur ver- 
einzelt gelingt, den weiteren Weg der Kinder zu verfolgen. Aus einer solchen 
weiterbestehenden Verbindung lieBen sich gewiB wertvolle Schlüsse ziehen, und 
man könnte den Entwicklungsgang der Kinder vorteilhaft beeinflussen. Ich be- 
mühe mich redlich, dies zu erreichen durch den Hinweis, daB ich jederzeit gern 
von dem Ergehen der Kinder horen werde und, soweit möglich, mit Rat und 
Tat zur Verfügung stehe. Es sind aber nur vereinzelte Falie, wo eine gewisse 
Verbindung erhalten bleibt; dies weiter ausgedehnt zu sehen, würde der Eignungs- 
prüfung und Berufsberatung von gröBtem Vorteil sein. 

Die Prüfung selbst hat sich in ihrem Verlauf nicht geandert. Die Kinder 
hatten drei gestellte Aufgaben in je zwei Stunden zu lösen: Zuerst die Darstellung 
einer, aus einer groBen Menge selbst zu wahlenden Pflanze in beliebiger Aus- 
führungsart. Diese Freiheit in der Wahl der Ausdrucksmittel erstreckte sich auf 



Oannenberg, Erfahrungen bei der Priifung und Berufsberatung künstlerisch Begabter 239 

alle Arbeiten und war den Kindern absichtlich gelassen, um die ohnehin leicht 
mit einer Priifung verknüpfie Befangenheit nicht durch einengende Vorschriften zu 
steigern. Es wurde gemalt, gezeichnet mit Bleistift, Buntstift, der Feder, schwarz 
oder farbig, mit aufgeklebtem Buntpapier gearbeitet, vielfach auch in Ton ge- 
knetet, so daO ein jedes Kind sich in der ihm vertrauten Weise betatigen konnte. 
Wahrend es sich bei der ersten Aufgabe um die Darstellung eines sichtbaren 
Objektes, d. h. eines wahrend der ganzen Dauer der Arbeit sichtbaren Objektes, 
handelte, war dies bei der zweiten insofern anders, als der wiederzugebende Gegen- 
stand — ausgestopfter Vogel oder GefaO von charakteristischer Form und Farbe — 
nur zehn Minuten besichtigt werden durfte und darauf aus dem Gedachtnis nach- 
gebildet wurde. Die von den Kindern stets mit besonderem Eifer behandelte 
dritte Aufgabe lieO jeglicher persönlichen Neigung freiesten Spielraum und war 
als reine Phantasieprobe sehr geeignet, die besten Aufschlüsse über Vorhanden- 
sein, Starke und Art der künstlerischen Begabung der Kinder zu geben. Meist 
steilte ich kein bestimmtes Thema, sondern beschrankte mich darauf, die für 
diesen Fall freier Betatigung denkbaren Möglichkeiten den Kindern zur Anregung 
und Auswahl anzudeuten, und die meisten von ihnen waren nie lange in Ver- 
legenheit um einen geeigneten Vorwurf. Sie gingen nach kurzer Überiegung 
frisch ans Werk und boten dem Beschauer die wertvollsten Einblicke wahrend 
der Arbeit. Die Unentschlossenen helen bald heraus aus den ZielbewuOten; 
der Betatigungsdrang, die mehr oder minder vorhandene oder entwickelte Vor- 
stellungsfahigkeit, die geistige Verarbeitung alles Gesehenen, die genossene oder 
mangelnde hausliche Anregung, grundverschieden nach Herkunft und Eigenart 
der Kinder, lieCen sich wohl erkennen und boten eine gute Grondlage für die 
Beurteilung. Letztere möglichst sicher und frei von Fehlern zu gestalten, dienten 
dann die eingelieferten, eigenen Arbeiten der Kinder, die in mannigfaltigster 
Betatigungsart als freie oder angewandte Zeichnung, Malerei, Plastik, Handarbeit, 
Bastelei usw. vorlagen. 

Wahrend bei den früheren Prüfungen die Zulassung einerseits — bei den von 
den Schulen geschickten Kindern — von dem Urteil der betreffenden Zeichen- 
lehrer, andererseits — bei der infolge der Bekanntgabe in den Zeitungen er- 
scheinenden Teilnehmern — von der aus den eingelieferten Arbeiten sprechenden 
Begabung nach meinem Urteil abhangig war, sehe ich jetzt von jeder Auswahl 
ab und lasse jeden zu, der, freiwillig gekommen oder mir zugeschickt, ein fach- 
mannisches Urteil über seine Begabung wünscht. Ich tue das in der besonderen Ab- 
sicht, das haufig auftretende Überschatzen der Begabung, durch die Kinder selbst, 
mehr aber noch durch Eltern und Erzieher, mit Hilfe der Prüfung auf das 
richtige MaO zurückzuführen. Bescheiden Begabte können in der Schule inmitten 
unbegabter Mitschüler sehr leicht begabter erscheinen als sie sind. Durch die 
Teilnahme an der Prüfung korrigiert sich dies bald bei dem Vergleich mit den 
hier vereinigten höher Begabten, der MaUstab ist sofort ein anderer als in der 
Schule, die in der Bewertung der Leistungen andere Forderungen zu berück- 



240 Dannenberg, Erfabrungen bei der Prüfung und Berufsberatung künstlerisch Begabter 

sichtigen hat, die auQere, geschickte Darstellung manchmal höher schatzt als den 
inneren Gehalt, wahrend gar wohl die ungeschickte Hand eine Arbeit von un- 
endlich besserer, künstlerischer Qualitat hervorzubringen vermag. Wer Phantasie 
besitzt und Gedanken auszudrücken hat, kann durch Übung bald dahin gebracht 
werden, die damit übereinstimmende Form zu hnden; wo dagegen die, für einen 
kunsthandwerklichen Beruf wichtige künstlerische Grundlage fehlt, tauscht auch 
die gute Vortragsweise nicht über die inneren Mangel hinweg. In beiden Pallen 
kann aber wohl ein kunstgewerblicher Beruf empfehlenswert sein, selbst da, wo 
vielleicht nur eine reproduktive, nicht schöpferische Fahigkeit vorhanden ist, es 
muQ nur der jeder Art der Begabung entsprechende Wirkungskreis gefunden 
werden. Um all diesen Möglichkeiten Rechnung zu tragen, mit gröBerem Nach- 
druck warnen zu können vor der Wahl eines nur bei Vorhandensein künstlerischer 
Begabung empfehlenswerten Berufes, was oft wichtiger ist als das Zuraten, ist 
die Prüfung auch solchen auf eigenen Wunsch zuganglich, bei denen mir schon 
die oberflachliche Betrachtung den Mangel jeglicher Begabung offenbart. 

An der letzten Prüfung im Dezember vorigen Jahres nahmen zum ersten Male 
auOer den Kindern aus GroG-Berlin auch solche aus der Provinz Brandenburg 
auf Veranlassung des Brandenburgischen Landesarbeitsamtes teil. Um die diesen 
Kindern durch die Teilnahme erwachsenden, pekuniaren Schwierigkeiten zu 
verringern, lieO ich sie die gestellten drei Aufgaben an einem Tage bearbeiten. 
Allerdings muOten die Kinder zu der spateren Berufsberatung noch einmal er- 
scheinen. Da bei dlesem ersten, mit betrachtiichen Opfern für den einzelnen 
verknüpften Versuch doch immerhin etwa 50 Kinder erschienen, lassen sich 
daraus besondere Schlüsse auf den Wert und das Bedürfnis nach einer solchen 
Einrichtung ziehen; sie wird deshalb auch künftig der erweiterten Benutzung zu¬ 
ganglich sein. 

Die von mir im Interesse der Sache angestrebte Zusammenarbeit mit den 
Schulen, insonderheit den zumeist in Betracht kommenden Zeichenlehrern, ist 
leider noch nicht ausreichend. Ich bedaure dies um so mehr, als ich mir von dem 
EinfluO des Zeichenunterrichts, wenn er die Ausblldung von Auge und Hand nicht 
allein in ihrer allgemeinen Bedeutung betont, sondern sie ,in besonderen Pallen 
auch den der Kinder wartenden, praktischen Anforderungen des Lebens an- 
zupassen sucht, viel verspreche. An manchen Stellen geschieht dies schon, und 
auch die Ausdehnung des Werkunterrichtes ist ein guter Schritt vorwarts zur Er- 
reichung dieses Zieles; so ist zu hoffen, daO allmahlich auch der Zeichenunter- 
richt eine für die Kinder — soweit künstlerische Begabung und Schulung des 
Auges und der Hand für ihre Lebensgestaltung bedeutungsvoll sind — richtige 
Einstellung hnden wird. Je mehr es geiingt, den unmittelbaren Nutzen eines ziel- 
bewuOt geleiteten Zeichenunterrichts, der von Lehrern, die mit den Berufsfragen 
vertraut sind, erteilt wird, überzeugend darzutun, um so günstiger wird deren und 
ihrer Tatigkeit Stellung im allgemeinen Schulbetriebe sein, so daG dadurch die För- 
derung der sachlichen und persönlichen Interessen vollkommen Hand in Hand geht. 



Rosé, Die Organisation der Berufsberatung 


241 


Die Organisation der Berufsberatung 

Von Dr. Heinrich Rosé, Leiter des Berufsamts der Stadt Breslau 

D ie gesetzliche Neuordnung der Berufsberatung kann unter Umstanden eine 
Verschlechterung der Verhaltnisse bedeuten mit ihrer allzu engen Ein- 
beziehung der Berufsberatung in die Arbeitsvermittlung, wenn nicht von vornherein 
grundsatzlich feststeht, in welcher Weise vorhandene selbstandige Organisationen 
der Berufsberatung eingegliedert werden sollen. Es wird Aufgabe der bevor- 
stehenden Ausführungsbestimmungen zum Arbeitsnachweisgesetz sein, die Selb- 
standigkeit zum mindesten der groBstadtischen Berufsberatungsstellen im Rahmen 
der Arbeitsnachweisamter zu sichern. Andererseits aber steht neben dieser 
Spezialfrage die Organisationsfrage der Berufsberatung notwendig im Vorder- 
grunde des Interesses, weil bei dem ,Für“ und „Wider“ der Meinungen über 
die vorerwahnte Einbeziehung der Berufsberatung in das Arbeitsnachweiswesen 
die ÖfFentlichkeit mehr als bisher auf die Angelegenheit hingewiesen worden ist. 
Für die Sachbearbeiter der Berufsberatung entsteht somit die Verpflichtung, in 
gewissen Grundzügen Mittel und Wege der Durchführung der Berufsberatung 
unter Verwendung ihrer Erfahrungen darzulegen. Unter diesem Gesichtspunkte 
bitte ich, die nachstehenden Zeilen zu werten, nicht, als ob damit die best- 
mögliche Lösung dargetan werden soll, sondern vielmehr, daB damit Anregung 
zur Diskussion des Organisationsproblems gegeben werden soll. 

Die Breslauer Berufsberatung hat sich von Anfang an (gegründet 1915) im 
Zusammenhange mit dem Arbeitsnachweis entwickelt und ganz von selbst eine ge¬ 
wisse Emanzipation, eine Verselbstandigung ihrer Organisation erreicht, wodurch 
es zur Schaffung zweier, in elnem gemeinsamen Rahmen gespannter Geschafts- 
zweige, hle Arbeitsnachweis, hie Berufsberatung, gekommen ist. Die Gliederung 
der Organisation kennzeichnet sich durch das beigegebene Schema. 

Der Dezernent des Berufsamtes ist gleichzeitig Dezernent der Arbeitsvermittlung. 
Er ist der Vorsitzende des Verwaltungsausschusses des neuen Arbeitsnachweis- 
amtes. Ihm steht ein Beirat zur Seite, der ganz nach den Bestimmungen der 
alten preuBischen Verordnung über Berufsberatung zusammengesetzt ist, also nach 
dem Prinzip der Heranziehung Sachverstandiger. Grundsatzlich teilt sich die 
Arbeit in zwei Hauptgruppen nach dem Geschlecht der Interessenten. Es be- 
stehen manniiche und weibliche Abteilungen, die von manniichen und weiblichen 
Berufsberatern geleltet werden. Die Berufsberatung selbst wird in fünf Gruppen 
erledigt und zwar werden diejenigen, die noch ganz unentschieden und unklar 
sind, wie sich bei der Anmeldung herausstellt, einer allgemeinen Beratung zu- 
geführt, wahrend diejenigen, die schon ein Spezialinteresse verraten, sei es für 
Handbetatigung, Handwerk und Gewerbe, sei es für den Handel, sei es für eine 
weitere Berufsausbildung, sei es für eine Berufsumstellung, den entsprechenden 
Abteilungen „Handwerk und Gewerbe" (einschlieBlich Landwirtschaft), Handel 
und Industriekontor (einschlieBlich Bürotatigkeit), Laufbahnberatung, Berufs- 

17 


P. P. IV. 8. 



242 


Rosé, Die Organisation der Berufsberatung 


Berufsamt der Stadt Breslau (Organisationsplan) 



Abkürzungen: 

Allg. = Allgemeine Beratung. Lfb. = Laufbahnberatung. 

Hw. = Handwerk and Gewerbe (einschl. Land- Bw. = Berufswechselberatung (einschl. Sonder- 
wirtschaft). gruppe für Angehörige höherer Berufe). 

Hi. = Handel, Industrie, Kantor (einschl. Büro- S.F. = Soziale Fiirsorge. 
tdtigkeit aller Art). 


wechsel (mit Sondergruppe für Angehörige höherer Berufe) zugewiesen werden. 
Für alle in wirtschaftlicher Not befindlichen Jugendlichen wie Erwachsenen, die 
einen Berufsrat und eine Berufsunterbringung suchen, arbeitet in engstem Zu- 
sammenhang mit den Wohlfahnseinrichtungen der Stadt die Abteilung „Soziale 
Fürsorge" des Berufsamies. Dem Rat soll möglichst sofort die Tat folgen, das 
heifit die Vermittlung einer Lehr- oder Anfangsstelle. Dafür ist in der ent- 
sprechenden Abteilung der Lehrstellenvermittlung die Möglichkeit gegeben. Bei 
den weiblichen Abteilungen besteht noch eine Sondervermittlung für haus- 
wirtschaftliche Anfangsstellen 14—löjahriger Bewerberinnen. Es hat sich in der 
Praxis als zweckma(3ig herausgestellt, diese Vermittlung durch das Berufsamt 
ausüben zu lassen, ebenso die Anfangsstellenvermittlung für Berufswechselnde 
höherer Berufe (mit akademischer Vorbildung). Hier handelt sich ja ebensosehr 
urn Berufsberatung wie um soziale Fürsorge für die stark bedrangten akademischen 
Berufskreise und die seminaristisch gebildeien Lehrer, denen eine vorüber- 
gehende oder zeitweilige Beschaftigung in einem neuen Berufe oft genug Lebens- 
rettung bedeutet. lm abgelaufenen Geschaftsjahr 1922/23 meldeten sich allein in 
der mannlichen Abteilung für Berufswechsel an Angehörigen höherer Berufe 
906 Bewerber, denen 491 Stellen zugewiesen werden konnten und zwar 394 An- 





















Rosé, Die Organisation der Berufsberatung 


243 


fangsstellen, urn In einen neuen Beruf überzugehen und 07 Stellen nebenberuf- 
licher Tatigkeit (Nachhilfestunden für Studierende u. a. m.). Soweit Studenten bei 
dieser Vermittlung in Frage kommen, arbeitet das Berufsamt mit dem Wirtschafts- 
amt der Studentenschaft zusammen. Welche Unterbringungsmöglichkeiten sich 
eröffnen, moge der Hinweis zeigen, daO von den 223 gemeldeten Lehrern 4 als 
Arbeiter, 14 als Anfanger für die Banklaufbahn, 9 als Bergarbeiter, 129 als An- 
fanger im Bürodienst, 4 als Propagandisten eine neue Existenz zu linden ver- 
suchten. Ein Jurist ging als Grenzwachter, desgleichen ein Ingenieur, 16 Studenten 
ins Bergwerk usw. 

Nun wird man vielleicht sagen, wie auch einzelne Rezensenten meines kleinen 
Büchleins „Das Berufsamt, Wesen, Aufgabe und Organisation — ein Entwurf“ 
auOerten, daO eine derartig groOe Organisation bei dem allgemeinen Geldmangel 
des Staates wie der Kommunen nicht durchführbar sei. Diese Auffassung ist 
irrtümlich. In Breslau wird die eigentliche Berufsberatung (abgesehen vom Büro) 
erledigt durch sechs Personen, die sich in den im vorstehenden Schema mitge- 
teilten Aufgabenkreis teilen und teilen können dadurch, dafi für die einzelnen 
Tatigkeiten, z. B. Laufbahnberatung, Berufswechsel, soziale Fürsorge, bestimmte 
Sprechstunden angesetzt werden. Darin liegt überhaupt des Ratsels Lösung. Man 
kann das vorgeschlagene Organisationsschema, abgesehen vom psychotechnischen 
Institut, über das ich am SchluO noch einiges ausführen werde, im groOen und 
ganzen durchführen mit zwei Personen, einer mannlichen und einer weiblichen. 
Notwendig aber erscheint unbedingt, dall die sachliche Gliederung in der vor- 
geschlagenen oder einer ahniichen Form zur Ausführung gelangt, weil es eine 
Unmöglichkeit bedeutet, dad ein und dieselbe Person sich auf die vielfachen An- 
forderungen tagtaglich mit gleicher Intensitat einstellen kann, die darin liegen, 
dad die Interessenten der Berufsberatung mit mindestens sechs verschiedenen 
Grundabsichten an den Berufsberater herantreten können. Eine Umstellung auf 
diese im einzelnen auderordentlich mannigfaltigen Fragenkomplexe an einem 
und demselben Vormittag von Viertelstunde zu Viertelstunde ist schlechterdings 
unmöglich. Darum müssen bestimmte Tage und Sprechstunden für jeden Fragen- 
komplex festgelegt werden. Freilich wird man urn die Notwendigkeit der Be- 
schaftigung von zwei Personen in der Berufsberatung nicht herumkommen. So- 
fern der Arbeitsvermittler herangezogen wird, besteht die Gefahr, dad zu stark 
arbeitsmarkt-politische Aufgaben in den Vordergrund der Berufsberatung treten. 
Deshalb wird es sich empfehlen, für die Berufsberatung besondere Persönlich- 
keiten, die ja auch an Vorbildung besonderen Anforderungen entsprechen müssen, 
heranzuziehen, sei es haupt-, sei es nebenamtlich bzw. ehrenamtlich. Mir scheint 
eine ehrenamtliche Heranziehung von Gewerbelehrern noch immer besser als 
die jetzt vielfach geübte Praxis, den Wohlfahrtspfleger oder den Arbeitsvermittler 
mit der Berufsberatung der mannlichen und weiblichen Jugend zu beirauen. 

Die Mittel, die nach der berufskundlichen Seite notwendig werden, sind selbst- 
verstandlich notwendige Kosten, die der Arbeitsnachweis zu übernehmen hatte. 

17 * 



244 


Rosé, Die Organisation der Berufsberatung 


Die Provinzial-Berufsamter sollten ein übriges dazu tun, durch regste Mitarbeit 
den einzelnen Beratungsstellen der Provinzen das nötige Material immer wieder 
zuganglich zu machen, gegebenenfalls durch Einrichtung einer Wanderbücherei. 
Denn das muO offen zugegeben werden, daO in kleineren Orten 'die Berufs¬ 
beratung bis heute noch im groOen und ganzen nichts anderes ist als Lehrstellen- 
vermittlung, und daO die Voraussetzungen, unter denen man an die Sache heran- 
geht, unzureichend sind. Das ist ja auch der tiefere Grund, weshalb bei der 
gesetzlichen RegeLung die Berufsberatung zu kurz gekommen ist; meines Erachtens 
zu Unrecht, denn selbst, wenn man den Grundlagen der Berufsberatung gegen- 
über reichlich skeptisch ist und durch den Kampf der Meinungen über Experi- 
mental- oder Beobachtungs-Psychologie den Eindruck gewonnen hat, daB noch 
wesentliche Grundlagen praktischer Berufsberatung fehlen (woriiber man auch 
noch streiten kann), so steht doch fest, daB schon allein durch die aufklarende 
und werbende Arbeit der Berufsberatungsstelle den Eltern und Jugendlichen zum 
mindesten die Frage der Berufswahl nicht mehr bloB eine Frage des guten Ver- 
dienstes oder eine Zufalligkeit, sondern ein Problem geworden ist. Und damit 
ist auBerordentlich viel erreicht, urn die geradezu katastrophaie Auswirkung 
eines verfehlten Berufes zu hemmen, wenn nicht ganz aufzuheben. Freiiich 
kommt für die kleineren Berufsamter das Experiment noch verhaltnismaBig wenig 
in Betracht, so lange nicht bei allen Provinzial- oder Landesberufsamtern Zen- 
tralinstitute für Psychotechnik unter fachpsychologischer Leltung eingerichtet 
worden sind, die die Aufgabe batten, etwaige Hilfsmittel experimentell-psycho- 
logischer Art für die Berufsberatung auszuarbeiten ünd ihre Anwendung dauernd 
zu überwachen, damit nicht ein psychotechnischer Dilettantismus groBgezogen 
wird, der der Sache mehr schaden als nutzen kann. 

Wie aus dem vorstehenden Organisationsplan hervorgeht, ist dem stadtischen 
Berufsamt in Breslau ein psychotechnisches Institut angegliedert, das seine Ent- 
stehung der Spendefreudigkeit von Interessentenverbanden und einzelnen groBen 
Firmen verdankt. Inwieweit dieses Institut im Sinne eines Zentralinstituts für 
Schlesien zu arbeiten in der Lage sein wird, steht noch dahin, doch schweben 
mit der Provinzialverwaltung bereits entsprechende Verhandlungen, die es nicht 
ganz unwahrscheinlich erhoffen lassen, daB für Schlesien eine psychotechnische 
Zentralstelle in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen wird. Im groBen und 
ganzen stützt sich die Berufsberatung in Breslau auf beobachtungs-psychologisches 
Material, das die Schulen durch Ausfüllung des absichtlich kürzest gehaltenen, 
wenig Schreibarbeit fordernden Schulfragebogens (vgl. Schema) zur Verfügung 
stellen, erganzt durch das arztliche Gutachten, das der Schularzt über jeden ab- 
gehenden Breslauer Schulabganger gibt, und durch die persönliche Rücksprache 
mit den Eltern. Es kann gesagt werden, daB der überwiegende Teil der Bres¬ 
lauer Volksschuljugend und ein nicht unbetrachtlicher Teil der Schüler höherer 
Lehranstalten vom stadtischen Berufsamt betreut werden. Um an die Schüler 
höherer Lehranstalten heranzukommen, ist in diesem Jahre erstmalig ein Selbst- 



Rosé, Die Organisation der Berufsberatung 


245 


Berufsamt der Stadt Breslau 

(Abteilung fUr mtlnnliche Bewerber) 

GartenstraBe Nr. 3, ErdgeschoB, Gartenhaus — Fernsprecher Ring 8747 

Dleser Bogen Ist nur fUr die Hand des Lehrers bestlmnit 
Zum Wohle der Jugend und des Vaterlandes wird 
dringend urn eine erschöpfende AuBerung gebeten 


Hinweise fUr die Feststellung der Berufseignung 

(NIchtzutrfifTendes ist deutUch zu durchstccichen) 

1. Besondere Nelgung für. 


(Auch Dinge, die auQcrhalb des Lehrstoffes liegen^ sind zu nennen) 

2. GedSchtnis: 

Das Auswendiglernen fallt leicht — schwer. Der Schuier behSlt gedanken- 
los - verstandesgemSB. Der Schuier vergiBt schnell — behalt gut. Ton- 
gedachtnis nicht verhanden — sehr gut — sehr schlecht. ZahlengedSchtnis 
gut mittel — schlecht. 

3. Aufmerksamkelt: 

Ganz bei der Sache — leicht ablenkbar. Vermag sich nur einetn Gegen- 
stande zuzuwenden. Vermag mehreres zugleich auFzufassen (z. B. tündelt 
hauBg und folgt doch dem'Unterricht). 

4. AnpassungsfShlgkeit: 

Stellt sich schnell — langsam auF Neues ein. 

5. EInbildungskraft: 

Reich arm. 

6. Schönheitssinn: 

Schwach — stark entwickelt. 

7. Beobachtungsgabe: 

Gut — mittelmaBig schlecht (Bildbeschreibungen). 

8. BeeInfluBbarkeit: 

Gering — stark. 

9. SlnnestMtigkelten: 

Sieht gut — kurzsichtig weitsiebtig — farbenblind. Hort gut — schlecht 
— taub. 

10. Sonstlge Beobachtungen: 


lOc. Beobachturgs* bzw. Feststelluogsblatt für Lehrer — manniich — 



















246 


Rosé, Die Organisation der BeruTsberatung 


bericht erfordert worden, über den ich im Einverstandnis mit der Redaktion 
dieser Zeitschrift noch gesondert berichten werde. 

Das psychotechnische Institut ist auDerstande, alle Interessenten des Berufs- 
amtes zu prüfen. Das würde eines Mitarbeiterstabes bedürfen, der uns nicht 
zur Verfügung steht. Es hnden nur in ZweiFelsfallen Stichprobeversuche statt 
über die Veranlagung in einer bestimmten Richtung nach den typischen An- 
forderungen des etwa gewünschten oder nichtgewünschten Berufes. Und dies 
scheint für die Praxis wohl der einzige Weg, daB sowohl beobachtungs-psycho- 
logisch wie experimenten, das eine das andere erganzend, verfahren wird. Ich 
betone noch einmal, daO der geschilderte Organisationsplan kein Idealplan sein 
soll, sondern lediglich Anreger sein will zur Erörterung des Problems der 
Organisation der Berufsberatung, mit dem man sich von seiten der Praktiker 
publizistisch meines Erachtens viel zu wenig befaOt hat. 


Rundschau 


Achter KongreB für Psychologie 
in Leipzig vom 17.—20. April 1923 

Bericht 

Gber die einzelnen Sammelreferate und Referate 
Sammelreferat Krueger-Leipzig: 
„Der Strukturbegriff in der Psycho¬ 
logie." Der Vertragende entwickelt den 
Strukturbegriff aus den Anschauungen Dil- 
theys heraus. Der gesamte BewuDtseins- 
inhalt hat bei Dilthey Strukturqualitat. 
Dilthey betont das Lebensdenken gegenüber 
dem mechanistischen Denken der Natur- 
wissenschaft, wobei der ZweckmaDigkeits- 
gedanke, die Lebenssteigerung an der Lust 
bemessen, den Energieablaufdes seelischen 
Lebens bestimmen. 

Im Gegensatz zu Dilthey sieht Krueger 
Struktur nur in dispositionellen Ganzheiten, 
die Erlebnissen zugrunde liegen, nicht in 
aktuellen Erlebnissen, wahrend Dilthey ge- 
rade die Erlebnismöglichkeit des Struktur- 
zusammenhangs selbst hervorhebt. Diese 
Strukturen in dispositioneller Beziehung 
sind nach Krueger in sich Ganzheiten, d. h. 
nicht Aggregate, sondern wechselwirkend be- 
zogene Einzelheiten, die zugleich neben und 
übergeordnete Strukturen darstellen, aus 
denen sich zuletzt die Persönlichkeit ergibt. 


Krueger entwickelt dann den Struktur¬ 
begriff Sprangers, der die Zeitlichkeit dis¬ 
positioneller Strukturen überwindet. In- 
dem Spranger eine Typik der Kultur und 
Persönlichkeit aufstellt, gelangt er zu einer 
geisteswissenschaftlichen Strukturpsycho- 
logie, WO es auF LeistungszusammenhUnge 
ankommt und zu einer rein phanomenalen 
Erlebnispsychologie, bei der ihm nicht nur 
die Mittel-Zwecklinie maOgebend ist, sondern 
eher Wert- und Sinnzusammenhange. Der 
Entwicklungsgedanke wird abgelehnt, das 
Gesetzliche dadurch vielleicht zu wenig 
betont. Spranger geht metaphysisch und 
ethisch-normativ vor, der einzelne Mensch 
ist nicht geworden, sondern verkörpert von 
vornherein eine der möglichen Typenideen, 
daher kommen die kollektiven Einflüsse von 
Tradition, Sitte, Volkstum bei Spranger etwas 
zu kurz. 

Die Diskussion laDt den Standpunkt des 
mehr im physikalischem Geschehen der 
hirnphysiologischen Prozesse verankerten 
StandpunktesderGestaltpsychologieKöhlers 
und Wertheimers im Zusammenhang und 
Gegensatz zum Kruegerschen Strukturbe- 
griff klarer hervortreten. Stern betont die 
sinn- und bedeutungsphilosophische Ein- 



Rundschau 


247 


stellungim Personalismus gegenüber seinem 
früher starker biologistisch orientierten 
Standpunkt und weist auf die Psychoanalyse 
als ein Forschungsgebiet hin, wo auch die 
Probleme der Ganzheit, der gefühlsbetont 
wirksamenKomplexe, wesentlich sind, wenn 
auchdieLeitlinie derPersönlichkeitbei Adler 
durch Miteinbeziehung des UnbewuQten 
fiber die rein phanomenale Betrachtungs- 
■weise der Strukturpsychologen hinausgeht. 
Literaturangabe; 

Dilthey, W., Ideen über eine beschreibende 
und zergliedernde Psychologie. Sitzungsber. 
d. Kgl. PreuO. Akad. d.Wissensch. 1894. 
Krueger, Felix, Arbeiten zur Entwicklungs- 
psychologie. Leipzig, W. Engelmann, 1914. 

Das Sammelreferat Selz-Bonn: 
,Über Persönlichkeitstypen und die 
Methoden ihrer Bestimmung" verfolgt 
das Strukturproblem im Rahmen einer spe- 
zielleren Aufgabe, eben derjenigen, den Ty- 
pus, sozusagen die Formel der Persönlichkeit 
zu finden. Die Persönlichkeitsforschung ist 
ein altespsychologischesProblem,besonders 
der Geschichtswissenschaft und hat durch 
Dilthey wesentliche Beeinflussung erfahren. 
Dilthey wendet eine Methode des ver- 
stehenden, einffihlenden Verfahrens an, die 
sich gliedert in die Erkenntnis des Weltbildes 
zur Zeit der zu untersuchenden Persönlich¬ 
keit, der Wertungen der Persönlichkeit und 
schlieOlich in die Feststellung der Abhangig- 
keit zwischen Weltbild und Wertrichtungen, 
in den Hinweis der historischen Bedingtheit 
der Werttypen. Den typischen Bildern der 
Weltanschauung entsprechen nach Dilthey 
besondere Persönlichkeitstypen; dem Eudai- 
monismus, Naturalismus die sinnlich ge- 
bundene Persönlichkeit, dem Idealismus, 
Indeterminismus der heroische Mensch, der 
durch sein Handeln dieUmwelt fiberwindet, 
dem Pantheismus der kontemplative Mensch, 
der sich in universeller Harmonie mit der 
Welt eins ffihlt. 

Spranger fibernimmt im wesentlichen die 
Diltheysche Methode, will aber nur die 
Charakterisierung der Wertrichtungen allein 


geiten lassen, wahrend doch bei Primitiven 
und Kindern eine andere qualitative Be- 
schaffenheit des BewuGtseins vorliegt, die 
eine Komplexbestimmtheit durch Wert- 
richtung der Persönlichkeit ausschlieQt. 
Spranger zielt nun darauf ab, Strukturen der 
Wertrichtungen herzustellen. Seine sechs 
Typen sind Idealtypen, die sich empirisch 
nur selten vollstandig verifizieren lassen. 
Und doch hat Spranger gerade dadurch, daQ 
er ffir seine Typen die objektiven Kultur- 
formen als Leitfaden benutzt und somit un- 
bewuöt die induktive Methode der Natur- 
wissenschaft hinzunimmt, einé sehr brauch- 
bare Methode der Persönlichkeitsforschung 
geschaffen. 

Als zweite Hauptrichtung der Persönlich¬ 
keitsforschung wird die Jasperssche Schule 
genannt. Jaspers’ verstehende Psychologie 
der Weltanschauungen, die in der Dialektik 
Hegels wurzelt, und eine stark metaphysische 
Einkleidung aufweist, nimmt als Hauptein- 
teilungs-Gesichtspunkt ein formales Merk¬ 
mal an: Die Konstanz oder Labilitfit der 
Wertrichtungen des Menschen liefert den 
Persönlichkeitstypus. Dieses Prinzip lafit 
sich sowohl in der ganzen Menschheits- 
entwicklung (vgl. Hegel) als auch in der 
Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen 
mehroder weniger stark nachweisen. Gerade 
hier ergeben sich wertvolle Beziehungen zur 
modernen Jugendpsychologie, insbesondere 
der Pubertatsforschung. Wenn der tradi- 
tionelle Mensch mit der Konstanz derWert- 
richtung seine Selbstverstandlichkeit ver- 
liert, so tritt dieTendenz zur Relativierung, 
dasSophistentum auf; der chaotische Mensch 
ist da, utd erst, wenn er sich zu neuen Wert- 
idealen durchringt, die sein ganzes Leben 
fortan herrschend beeinflussen, so ist der 
damonische Typus Mensch entstanden. Es 
ergeben sich aus dieser Typenaufstellung 
Jaspers’ wertvolle Beziehungen zu psychia- 
trischen Typen, etwa den hysterischen Men¬ 
schen, der unter den chaotischen Typ zu 
rechnen ware. 



248 


Rundschau 


Die Sprangersche und Jasperssche Rich- 
tung sind augenblicklich die wirkungs- 
reichsten Typenforschungen, denen sich die 
Forschungen von Stern, Starbuck, Lucka, 
Müller Freienfels unterordnen lassen, in- 
dem sich erstere der Jaspersschen Richtung, 
letztere der Sprangerschen Forschungs- 
methode anschlieOen. 

Als dritte Methode der Typenforschung 
geht der Vertragende aufOstwalds induktiv 
gewonnene Typen des romantischen und 
klassischen Menschen ein. Ostwald ninimt 
zugleich einen hypothetischen Strukturzu- 
sammenhang an und schlieOt daraus wieder 
empirisch auf die LebensauDerung seiner 
Typen, vermischt dadurch seine Methode 
und geht etwas zu sehr a priori vor. 

Die vierte groBe Hauptrichtung der Typen¬ 
forschung fallt in das Forschungsgebiet 
der differentiellen Psychologie, wo durch 
Korrelationsstatistik und Experimente der 
mehr oder weniger wahrscheinliche Zu- 
sammenhang eines primaren Merkmals 
mit einem sekundaren festgestellt wird. 
Die verschiedensten Merkmale können als 
Ausgangspunkt dienen. Rasse, Beruf, Ge- 
schlecht usw.; es ergibt sich hier ein weites 
Feld moderner Forschung, wo besonders 
Heymans und seine Schule zu nennen ist, 
der durch Fragebogenund Sammlung psycho- 
graphischen Materials seine Korrelations- 
typen als empirische Strukturtypen auf- 
gestellt hat. Unter diese groDe Haupt- 
gruppe der Persönlichkeitsforschung in der 
differentiellen Psychologie gehören die Ar- 
beiten von Liepmann, insbesondere auch 
die Forschungen der Marburger Schule 
Jaensch überden eidetischen Typus. 

Die fünfte Hauptgruppe der Typenfor¬ 
schung, die Typen der Psychiatrie, stéht in 
enger Beziehung zur differentiellen Psycho¬ 
logie, geht doch die Psychiatrie stark induktiv 
empirisch vor und nimmtvielfachdasExperi- 
ment zu Hilfe. Hierher gehort die Typen- 
lehre von Jung, die Alfred Adler mit seiner 
Leitlinie des Daseins und der Freudschen 


Richtung mancherlei Anregung verdankt. 
Die Jungschen Typen sind allgemeine Ein- 
stellungstypen, Funktionstypen,die sich nach 
objekt- und subjektbestimmtem Verhaken 
gruppieren, dem extravertierten objektbe- 
stimmten Menschen und dem intravertierten 
mit dem Reservate des Ichs. Interessante An- 
wendungen auf literarische Erzeugnisse gro- 
Ber Denker wie Schiller, Meister Ekkard und 
indische Mythologie lassen die Fruchtbar- 
keit der Jungschen Typologie erkennen. 
Kretschmers zyklothyme und schizothyme 
Typen nehmen als Einteilungsgesichtspunkt 
die endogene Stimmungslage des Menschen 
und die Gefühlserregbarkeit nach auBen hin 
an. Der zyklothyme wird nach seinem an- 
geborenen Temperament gewertet, wobei 
die Stimmungsproportionen zwischen hypo- 
man und traurig maBgebend ist, wahrend 
beim scHizothymen Typ die Beziehungen zum 
Objekt entscheiden. Kretschmer stellt hier 
dem hyperasthetischen den anasthetischen 
Menschen gegenüber, je nachdem das Ob¬ 
jekt einen über- oder unterwertigen EinfliiB 
auf die Psyche ausübt. 

Literaturangabe: 

Adler, Alfred, Praxis und Theorie der In- 
dividualpsycbologie. Wiesbaden 1921. 
Giese, Fritz, Der romantische Charakter. 
Langensalza 1919. 

Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen. 
Berlin, Springer, 1919. 

Jung, C. G., Psychologische Typen. Zürich 1921. 
Kretschmer, Körperbau und Charakter. Berlin, 
Springer, 1921. 

Spranger, Ed., Lebensformen. Halle, Nie- 
meyer, 1921. 

Stern, William, Differentielle Psychologie. 

Das Korreferat S o mm er, GieBen, 

erganzt insbesondere die psychiatrische 
Typenlehre und gibt zunachst einen histo- 
rischen Überblick über die Typenforschung. 
Sommer betont, daB im 20. Jahrhundert die 
Familien- und Vererbungsforschung und die 
Gruppenpsychologie als wesentliche ErgSn- 
zung der Einzelforschung an die Seite zu 
treten hat, wobei in der Methodik vor allem 
die Beziehungen zur Tierpsychologie zu 



Rundschau 


249 


pflegen sind. Sommer vermiDt bei Kretsch- 
mer eine gründliche objektiv experimentelle 
Forschung und genügende Verwertung der 
Ausdrucksbewegung und Reflexe. Eine 
Charakterlehre müsse unbedingt durch eine 
Reflexlehre gestützt werden, treten doch 
auBerordentlich haufig durch Gehirnvor- 
stellungen zerebrale Hemmungen auf die 
Reflexe ein. Insbesondere das Studium des 
Genies und des Erfinderfyps will Sommer 
durch exakte experimentelle Untersuchung 
ausbauen und faBt seine Forderungen für 
die Charakterlehre dahin zusammen: Eine 
Charakterlehre hat zu bestehen in 1. experi- 
menteller und beobachtender Psychologie, 
2. in Familienforschung, 3. in Kultur- und 
Völkerpsychologie und Volksgeschichte. 

In der Diskussion hebt Litt hervor, dafl 
die Sprangerschen T ypen nicht so sehr a priori 
hypothetisch konstruiert seien, sondern daB 
auch sie seelische Erfahrungen zusammen- 
faBten, so daB im wesentlichen kaum ein 
Unterschied im Erkenntnisverfahren zwi- 
schen den empirischen und den konstru- 
ierten Typen bestünde. Jaensch betont 
den engen ZusammenhangderKonstitutions- 
lehre mit der naturwissenschaftlichen For¬ 
schung, der Gegensatz zwischen Struktur- 
psychologie und experimenteller Psycho¬ 
logie lieBe sich besonders in der Jugend- 
psychologie vereinigen. Der Wertbegriff 
Sprangers müsse noch auf elementareren 
Gebieten erweitert werden. Erismann da- 
gegen sieht zwischen natur- und geistes- 
wissenschaftlicher Forschungsmethode noch 
grofie Gegensatze. Selz bekraftigtin seinem 
SchluBwortdie Einheitlichkeit derForschung 
nach natur- und geisteswissenschaftlicher 
Methodik. Auch in der Naturwissenschaft 
bilde die Hypothese, die Annahme von Struk- 
turzusammenhangen, die notwendige Grond¬ 
lage der Forschung. Sommer faBt den an- 
scheinend so starken EinfluB Diltheys auf 
das ganze Problem eher als eine Wieder- 
belebung, als den Teil einer fortschreitenden 
Entwicklung auf, so „daB der Begriff* ver- 


stehende Psychologie Diltheys wahrschein- 
lich bald überwunden sein würde. 

Das Sammelreferat Peters, Mann- 
heitn: „Vererbung und Persönlich- 
keit", konstatiert für den heutigen Stand 
der Vererbungsforschung auf psychischem 
Gebiete ein vorwiegend negatives Resultat. 
Die Methoden der Biologie lassen sich nur 
mit Vorsicht auch aufs Psychische anwenden. 
Es gibt dort kaum voneinander unabhangige 
Erbanlagen, wie sie etwa Mendel bei nied- 
rigen Organismen untersucht. lm Psychi- 
schen sind Eigenschaftsanlagen wie Struk- 
turen zusammengekoppelt, wobei noch be¬ 
sonders zu berücksichtigen ist, daB die 
manifeste Eigenschaft auf unterschiedlicher 
Aniage beruhen kann. Immerhin laBt sich 
der Mendelsche Fall, wo Eigenschaften durch 
dominante und rezessive Erbanlagen auf die 
Nachkommen übergehen, aufs Psychische 
anwenden. Gerade hier haben experimen¬ 
telle Untersuchungen ergeben, daB Misch- 
typen selten aüftreten und insofern die 
Mendelsche Aufspaltung der Eigenschaften 
auch fürs Psychische gilt. Doch muB be¬ 
sonders betont werden, daB das Milieu als 
Entwicklungsreiz die latente Aniage zu ver- 
schiedener Entfaltung bringen kann. Nur 
bei gleichen Milieufaktoren darf man einiger- 
maBen gesicherte Ergebnisse nach der Men- 
delschen Methode erwarten, wenn man auch 
auf exakte Zahlenergebnisse völlig verzich¬ 
ten muB. Weil nun aber im Psychischen 
das Milieu eine ganz auBerordentlich groBe 
Rolle als Faktor der Gestaltung der mensch- 
lichen Persönlichkeit spielt, so empfiehit 
sich für die Lösung des Problems von Ver- 
erbung und Persönlichkeit in der Psycho¬ 
logie nicht eine Untersuchungder Erbanlagen, 
die der strukturellen Natur wegen sehr 
schwierig und unsicher sein dürfte, sondern 
es laBt sich das Problem durch eine Erfor- 
^chung von der Milieuseite aus vielleicht 
eher in Angriff nehmen. 

Die Einzelreferate zeigen im wesent¬ 
lichen das Vorwiegen derselben Problem- 



250 


Rundschau 


stellung wie der Sammelreferate. Die Per- 
sönlichkeitsforschung nimmt auch hier einen 
breiten Raum ein und liefert wertvolle Er- 
ganzungen und Einzelforschungen zu dem 
in den Sammelreferaten umrissenen Pro- 
gramm. 

VoigtI&nder, Leipzig, behandelt die 
„Problematik der Geschlechtsunter- 
schiede*. lm Gegensatz zu Weininger, der 
a priori in Mann und Frau Geist und Un- 
geist verkörpert, findet sie als Hauptunter- 
schied zwischen den Geschlechtern einen 
formalen, nicht sachlichen Gesichtspunkt, 
namlich die Objektbeziehung zur Umwelt. 
Beim Mann bestimmt sich der Gehalt und 
Reichtum des Lebens nach dem Gebiete, 
dem er sich zuwendet, die Frau weist nicht 
dieselbe intensiv bewuCte Objektbeziehung 
auf; ihr psychisches Leben spielt sich eher 
im Ablauf der eigenen Bewegtheit ab. Die 
Frauenpsyche lieCe sich etwa dem Meere 
vergleichen, wo in lebendiger Bewegtheit 
jede Bewegung nachzittert und immer wei¬ 
tere Kreise zieht. 

Gruhie, Heidelberg, weist in seinem 
Vortrag „Selbstbiographie und Per- 
sönlichkeitsforschung" auf die groCe 
Vorsicht hin, die bei Benutzung von Auto- 
biographien zur Persönlichkeitsforschung 
anzuwenden ist. Er zeigt im einzelnen die 
mannigfachen Fehlerquellen auf, die in Auto- 
biographien das wirkliche Verstandnis der 
Persönlichkeit erschweren, wenn natürlich 
auch die Autobiographie als wertvolles 
Quellenmaterial in vieler Hinsicht nicht zu 
unterschatzen ist. Die Gefahr besteht darin, 
daU der Selbstbiograph rückschauend sich 
als Idealtypus sieht und dementsprechend 
seine eigentlichen Motive verwischt oder 
andere unbewuflt unterschiebt, auch das, 
was er wesentlich nennt, demgemaO aus- 
wahlt. Besonders für den Historiker ist 
wichtig zu wissen, dal3 es tatsachlich im 
Leben Momente gibt, wo Motive offensicht- 
lich nicht da sind und es falsch ware, durch- 
aus Motive sehen zu wollen. Die Stimmungs- 


lagen wahrend der Niederschrift einer Auto¬ 
biographie, dem Verfasser meist unbewuCt, 
farben den Sachverhalt; die Ursachen 
für endogene Verstimmungen werden nach 
auOen hin projiziert. Am schlechtesten fun- 
giert der Greis als Autobiograph, das Ge- 
dachtnis laQt nach, und der Lebensverlauf 
wird unter den Gesichtspunkten der doch 
erst spater erworbenen Weisheit überblickt. 
Ebenso führen auch auCere Lebensumstünde, 
besonders solche unangenehmer Art, oft zu 
falscher Darstellung der eigenen Persön¬ 
lichkeit. Nie darf man den Gesichtspunkt 
auOer acht lassen, was ist so gewesen, was 
wünschte der Autobiograph, daö es so war. 
Und doch gibt uns die ganze Art der Auto¬ 
biographie einen tiefen Einblick in das Wesen 
der Persönlichkeit, aber nicht durch das Was 
der Darstellung, sondern durch das Wie. 
Der Stil selbst, die Art, das eigene Leben 
anzusehen, das Berauschen an eigenen 
Worten, das Tempo der Niederschrift sind 
eng mit dem Charakter wesensverwandt, 
nicht nur mit der Intelligenz. 

Girgensohn, Leipzig, rührt in seinem 
Vortrage „Die Erscheinungsweise reli- 
giöser Gedanken“ an das schwierige 
Problem, die Persönlichkeit von der Seite 
her zu erfassen, die am tiefsten im Persön- 
lichkeitskern verankert ist. Er bringt nur 
einen kleinen Ausschnitt seiner umfang- 
reichen Arbeit, indem er hier nur die reli- 
giöse Gedankenwelt erörtert, die Gefühls- 
und Glaubenswelt zurücktreten laDt. Die 
denkpsychologische Versuchsmethodik be¬ 
steht darin, dafi der Versuchsperson ein 
Reizwort, etwa Schöpfung, gegeben und sie 
aufgefordert wird, die sich ihr nun auf- 
drangenden, innerlich geschauten Bilder und 
Stimmungen im Protokoll niederzuschreiben. 
Als Ergebnis stellt Girgensohn fest, daO es 
ein rein religiöses Denken, abgesehen von 
den Erscheinungsarten, deren er mehrere 
unterscheidet, nicht geben kann, daO das 
psychologische Denken nie ganz rein ist, 
und ware es das, so würde damit der leben- 



Rundschau 


251 


dige Seelenaugenblick vernichtet sein. lm 
strengen, diskursiven Denken überschreit 
die psychologische Denkweise sich selbst 
und wird logisch sachlich. Nur im intuitiven 
Gedankenerlebnis waltet der ganze Reich- 
tum der Seele; der sachliche Gehalt ist 
logischer, die Erscheinungsweise religiöser 
Natur. Für die Erscheinungsweise nun ist 
das Gefühl und die Tendenz zur Bildung 
konkreter Symbole als Vorstufe religiöser 
Ideen, an die sich das religiöse Erlebnis 
noch im Denken und Fühlen vereint, heftet, 
charakteristisch. Das Wort tritt bei der Er¬ 
scheinungsweise religiöser Gedanken am 
wenigsten auf, ist am wenigsten anschaulich, 
hingegen spielt die Fahigkeit zur Einfühlung 
in fremde Ideen, das sich völlige Zueigen- 
machen fremder Gedankengange, eine Art 
von Ichprozessen für das religiöse Erleben, 
eine ganz hervorragende Rolle. 

Giese, Halle, nimmt in seinem Vortrage 
„Kompensationswerte der Persön- 
lichkeit® ein eigentlich psychiatrisches 
Problem mit statistischen Methoden in An- 
griff. In enger Fühlungnahme mit der 
Sprangerschen Typologie stellt er als Kom- 
pensationswert der allzu einseitig entwickel- 
ten Persönlichkeit Sachwerte fest, neue 
Objektgebiete, denen sich das Interesse der 
Menschen zuwendet. Giese versteht also 
hier unter Kompensation nicht eine funk- 
tionelle Ausgleichung, eine Selbstregulie- 
rung des psychischen Apparates formaler 
Natur, wie es die Psychanalytiker, insbe- 
sondere Jung, durch ihre Typenforschung 
unter Mitheranziehung des UnbewuCten als 
ausgleichende Gegentendenz zum bewuDten 
Leben getan haben. An der Hand lexiko- 
graphischer Unterlagen und zahlreicher 
Autobiographien sogenannter öffentlicher 
Persönlichkeiten stellt Giese die scheinbare 
Anderung in der Leitlinie der Persönlichkeit 
fest; es treten sowohl simultane Spaltungen, 
als auch, und zwar noch haufiger, sukzessive 
Anderungen der gegebenen Struktur der 


Psyche auf. Oft ist eine Spaltung zwischen 
Nührberuf und der eigentlichen Veranlagung 
zu konstatieren; dann gibt es auch Leute 
mit Doppelbegabung, die einmal hier, ein- 
mal dort arbeiten, auQerdem kommt noch 
die Kompensation in den Muöestunden, die 
Tendenz zum spielerischen Ausgleich, in 
Frage. Wenn natürlich auch gegenüber dem 
statistischen Material gröBte Vorsicht am 
Platze ist, besonders, weil es sich hier um 
Selbstangaben der Persönlichkeiten handelt 
und statistische Methoden an sich schon 
leicht tauschende Ergebnisse liefern, so ist 
es erfreulich, welche greifbaren Resultate 
Giese mit seiner Methode erreicht, liegen 
doch in der Abgrenzung der Hauptberufs- 
gruppen aus dem lexikographischen Material 
besonders groOe Fehlerquellen vor. Giese 
beantwortet die Frage nach dem Sachgebiet, 
auf dem die Tendenz zur Spaltung besonders 
stark ist, und nach der Herkunft der Per¬ 
sonen, die zur Spaltung neigen. Als Haupt- 
ergebnis ist zu würdigen, daC der Techniker 
einen ganz besonders ausgesprochenen 
Typus darstellt, keinen Mischtypus, der am 
allerwenigsten die Neigung und Fahigkeit 
hat, sich einem anderen Berufe zuzuwenden, 
auch in seinen Lieblingsbeschaftigungen 
sehr einseitig ist, wahrend beim Literaten 
die Tendenz zur Spaltung den gröDten Um- 
fang hat. Padagogische Neigung ist unter 
allen Berufsgruppen stark vertreten. Bei 
der Frau ist die Tendenz zur Spaltung im 
allgemeinen geringer als beim Mann. Nur 
die Frau als Künstlerin neigt starker zur 
Spaltung als der Künstler. Als nachstes 
Problem, das sich auf diesem Wege der 
Bearbeitung in Angrilf nehmen lieCe, stellt 
Giese die psychologische Erforschung der 
Statistik des deutschen Vereinswesens auf, 
WO der Mittelmensch vertreten ist, auf den 
die Mode, die Zeittendenzen sehr viel star¬ 
ker einwirken, so dalJ solch kollektiver 
Mensch weit mehr in seiner Leitlinie von 
auBen als von der eigenen Struktur seiner 
Persönlichkeit her beeinfluBt wird. 



252 


Rundschau 


Wlrth, Leipzig, spricht über das Thema: 
„Zur Zurückführung der seelischen 
Akte auf BewuOtseinsinhalte und 
psychische Dispositionen." Wirth 
bringt seinen theoretischen Standpunkt in 
der Psychologie zum Ausdruck. In engem 
Anschluli an Wundt vertritt er die Ansicht, 
daC alle höheren seelischen Akte genau so 
wie die niederen auf Inhalte zurückzufiihren 
seien. Jeder Erkenntnisakt weise auf das 
Dasein von Inhalten zurück. So wie in der 
physiologischen Differenzierung die Zelle 
als letztes einheitliches Element auftrete, 
erscheine es notwendig, den einzelnen Be- 
wuDtseinsinhalt klarer herauszuheben, be- 
tone doch auch die ganze Richtung der psy- 
chophysischen Mefimethoden das inhaltliche 
Element des seelischen Erlebens und führe 
zu einer einheiilichen kausalen Auffassung 
auch im Bereiche der Psychologie, zwar 
nicht ganz in dem Sinne Köhlers, der die 
Einheitlichkeit in der elektrolytischen Struk- 
tur der physiologischen Gestalten sehe und 
vielleicht etwas zu gewaltsam vorgehe, son- 
dern unter Mitheranziehung biologischer 
Grundfaktoren. 

Der Akt ist für Wirth eine erst spater aus 
dem Inhalt gewonnene Abstraktion. Hierin 
unterscheidet sich Wirth von Husserl, der 
den Akt scharf vom Inhalt getrennt und das 
bewuCte Ich seinem Gegenstand gegenüber- 
gestellt hat. Wirth sucht unter Betonung 
des Inhalts, der Quantitat in pythagoraischer 
Auffassung allgemein guitige Bedingungs- 
zusammenhange zu schaffen, die ihren Voll- 
wert aber erst bei Anwendung auf konkrete 
Gegenstande erhalten. 

Literaturangabe: 

Wirth, Wilh., Die experimentelle Analyse des 

BewuBtseinsphanomens. Braunschweig 1908. 

Als zweite Hauptproblemgruppe der Ein- 
zelreferate ist neben der Persönlichkeits- 
forschung der Erwachsenen die Psychologie 
des Kindes zu nennen. Hier sprach Frei- 
Hng, Marburg, über „die Beeinflussung 
des Schülertypus durch die Unter- 


richtsart“. Freiling hat eine groCe Zahl 
von Knaben und Madchen gleicher Alters- 
stufe auf ihre eidetische Aniage hin unter- 
sucht und ist dabei auf ungemein auffallige 
Verschiedenheiten gestoCen. Den Grund 
für diese Tatsache sucht Freiling im Schul- 
system. Der Typus der Arbeitsschule pflegt 
durch planmaDige Durchbildung die Sinne, 
durch Malen, Zeichnen und Silhouetten- 
schneiden die Anschauung und das Vor- 
stellungsleben. Die Lernklasse dagegen laCt 
die eidetische Aniage durch allzu groDe Be¬ 
tonung des logisch abstrakten Wissens ver- 
kümmern. So ist es erklarlich, daC sich be- 
deutend mehr Kinder mit ausgesprochen 
eidetischer Aniage in der Arbeitsschule fin- 
den, als unter den gleichaltrigen Kameraden 
in der Lernschule. Das neue Ergebnis von 
Freiling besteht also darin, dafi er neben der 
bekannten engen Beziehung der eidetischen 
Aniage zu den innersekretorischen Drüsen- 
funktionen des Körpers nun auch psychische 
Faktoren aufdeckt, welche auf die eidetische 
Aniage einen fördernden oder nachteiligen 
EinfluO ausüben können. Wie man den T- 
und B-Typus durch geeignete Medikamente 
modifizieren kann, so auch durch richtige 
Wahl und Zuführungsart der psychischen 
Nahrung. Es wird also als möglich hin- 
gestellt, den Schülertypus durch Arbeits- 
unterricht zu beeinflussen, besonders weil 
beim Kinde alle Aniagen noch plastisch sind, 
und es empRehlt sich, auch Synüsthesien 
zu Hilfe zu nehmen, die beim Kinde hauRg 
auftreten und zu gröCerer Deutlichkeit der 
Anschauungsbilder führen. 

Jaensch, Marburg, zeigt in seinem Vor- 
trage „über das Verhaltnis von experi- 
menteller und strukturpsychologi- 
scher Forschung in der Jugendpsy- 
chologie** eine neue Richtung, auf der es 
sich erhoffen laGt, die geisteswissenschaft- 
liche und experimentelle Forschung in ge- 
meinsamem Schaffen und wechselseitiger 
Befruchtung zu vereinen. Eingehend hat 
der KongreD das Problem der Typen der 



Rundschau 


253 


Erlebniswelt erörtert, versucht, Formen 
des Sinn- und Wertzusatnmenhanges aufzu- 
decken. Jaensch hat es nun unternommen, 
der Erlebniswelt des Jugendlichen mit Hilfe 
der experimentellen Methoden naherzu- 
kommen. In der ökonomisch-technischen 
Einstellung der alteren Jugendpsychologie 
Meumanns, die auf Leistungsmessung ab- 
zielte, wuOte man noch nichts über die innere 
Erlebniswelt des heranwachsenden Kindes. 
Hier im Gebiete der Vorstellungswelt des 
Jugendlicben sind noch unbekannte Krafte 
verhanden, die der padagogischen Aus- 
nutzung harren. 

Jaensch versucht nun, den asthetischen 
Typ Sprangers mit den eidetischen Typen, 
die er experimenten an Jugendlichen nach- 
gewiesen hat, in Beziehung zu setzen. Die 
Geistesart des Künstlers steht dem Jugend¬ 
lichen viel naher als die Art des Gelehrten; 
doch ist im letzten Jahrhundert durch die 
Entwicklung des logisch-wissenschaftlichen 
Denkens der Rationalismus auch in die 
Padagogik eingedrungen. Infolgedessen hat 
die künstlerische Neigung des Kindes oft 
nicht die genügende Beachtung gefuhden. 
Wie unter Künstlern oft Eidetiker vorhanden 
sind, man denke nur an den Franzosen 
'Balzac und überhaupt das ganze französische 
Volk, das einen groöen Prozentsatz an Ei- 
detikern aufweist, so hat sich auch eine enge 
Beziehung zwischen hoher Zeichenbegabung 
und eidetischer Anlage beim Jugendlichen 
konstatieren lassen. Es ist hierbei nun nicht 
so einfach, daC der Jugendliche nur seine 
Anschauungsbiider nachzeichnen könnte, die 
verschieben und verlangern sich dabei in 
der Strichrichtung; im Gegenteil stellt sich 
eine bewuGte Getrenntheit der Anschauungs- 
und Vorstellungsbilder für gute Zeichner 
als unbedingt notwendig heraus. Inter¬ 
essante Einblicke in das produktiv künst¬ 
lerische Schaffen des jugendlichen Eidetikers 
bei geeignetem Unterricht gibt die Aus- 
stellung des Lehrers Heckmann aus dem 
Landerziehungsheim llsenburg. 


Jaensch weist dann noch auf die enge 
Beziehung der eidetischen Anlage zum 
romantischen Weltbild, etwa Schellings oder 
Novalis’ hin, geht doch der Erzeugung der 
Anschauungsbilder ein eidetischer Zustand 
voraus, eine gewisse Erregung mit intensiver 
Gebundenheit ans Objekt, die stark an Er- 
lebnissederMystikererinnert. VorlaufigmuC 
man sich natürlich darauf beschranken, den 
seelischen Unterbau, wie Jaensch es nennt, 
bei den Jugendlichen experimenten zu er- 
forschen. Erst spater wird es gelingen, 
hinsichtlich des seelischen Oberbaus bei 
bleibender eidetischer Anlage über das 
Jugendalter hinaus neue Aufschlüsse zu 
gewinnen. 

Jaensch weist im Schlufiwort der Aus- 
sprache auf den grofien EinfluB hin, den das 
eidetische Phanomen auf alle Funktionen 
des seelischen Lebens überhaupt ausübe. 
Es laBt sich nicht nur auf optischem Wege, 
sondern auch anderweitig nachweisen und 
ist primar bei alteren Jugendlichen von 
einer starken Gefühlswelle getragen, die 
dem eidetischen Phanomen vorangeht. Für 
Jaensch istdie Jugendpsychologie im Gegen- 
satz zu Meumann theoretisch. Wahrend sie 
für jenen padagogisch, d. h. praktisch war, 
kommt für Jaensch die Frage nach der Her- 
vorbringung von Leistungen erst in letzter 
Linie in Betracht. 

Zur Gruppe der Vortrüge aus der Kinder¬ 
psychologie gehort noch Volkelt: „Primi- 
tive Komplexqualitaten in Kinder- 
zeichnungen". An der Hand von Licht- 
bildern, welche die Zeichnungen eines sechs- 
jahrigen Madchens darstellen, wird die 
merkwürdige kindliche Art des Erlebens 
gekennzeichnet. Die primitiven Kinder- 
zeichnungen zeigen eine Starke des einheit- 
lichen Erlebens, wie sie dem Erwachsenen 
vollstandig verlorengegangen ist. Die Vor- 
lage des Würfels und Quaders wird dyna¬ 
misch als rund und lang erfaBt und dement- 
sprechend mit ausgesprochen motorischem 
Zug in der Zeichnung dargestellt. Es ist 




Rundschau — Buchbesprechungen 


255 


prüfung in ahnlicher Art bei Hunden und 
Pferden vorzunehmen, urn die intelligen* 
testen herauszubekomnien,scheint uns trotz 
der guten Ergebnisse, die Katz bei seinen 
Hühnern erreicht bat, verfrüht. Von einer 
angewandten Tierpsychologie sind wir trotz 
der Katzschen Versuche noch weit entfernt, 

Überblickt man den ganzen Problemkreis 
des Kongresses, so darf man wohl sagen, 
daB in Zukunft bald weitere Ergebnisse auf 
dem Gesamtgebiete der Psychologie zu er- 
hoffen sind. Wenn auch der KongreC ge- 
zeigt hat, daQ vielfach noch methodische 
Streitfragen eine Hauptrolle spielen und daQ 
die Wissenschaft der Psychologie eben noch 
nicht auf dem Standpunkt der Physik an- 
gelangt ist, in demselben MaOe gesicherte, 
wohlerprobte Methoden zu besitzen, so hat 
der KongreQ doch bewiesen, daD die Haupt- 
schwierigkeit der Vereinigung natur- und 
geisteswissenschaftlicher Methodik ihrer 
Lösung um ein bedeutendes Stück naher- 
gekommen ist. 

Für die angewandte Psychologie ergeben 
sich aus dem KongreC mancherlei Anre- 
gungen. Zwar sindProbleme derPsychotech- 
nik stark in den Hintergrund getreten,aber es 
laCt sich gerade aus der allgemein-psycholo- 
gischen Einstellung heraus für den speziellen 
Problemkreis der PsychoteChnik mancherlei 
entnehmen. Bei der Eignungsfrage und 
Begabtenauslese tritt die Aufgabe der Per- 
sönlichkeitserfassung als Typ im ganzen all- 
zu leicht zurück gegenüber dem Vielerlei der 
Einzeltests. Hier bieten die verschiedenen 
Methoden der Bestimmung des Typus einer 
Persönlichkeit wertvolle Erganzungen. Die 
angewandte Tierpsychologie von Katz zeigt, 
daC man sogar schon bei den Tieren mit In- 
telligenzprüfungenErfolgezuverzeichnenhat. 

Über den Vortrag Marbe: „Zur Psycho¬ 
logie der Unfallverhütung“ sowie Klemm: 
, Arbeitswissenschaftliche Studiën" wird 
noch berichtet werden. Cauer. 


Buchbesprechungen 
Habrich, Leonhard, P3dagogische Psy¬ 
chologie. Band I: Das Erkenntnis- 
vermögen (4. Aufl.), 344 S.; Band II: Das 
Strebevermögen (5. Aufl.), 348 S.; 
Band III: Willensfreiheit und P3d- 
agogik des freien Wollens (2. Aufl.), 
483 S. Kempten, Verlag von Kösel 
& Pustet, 1922. 

Die Besonderheit dieses umfangreichen 
Werkes der padagogischen Psychologie liegt 
nicht in einer besonderen Anordnung wissen- 
schaftlich-psychologischer Tatsachen und 
Forschungsergebnisse — in dieser Hinsicht 
bringt das Werk nichts wesentlich Neues —, 
sondern in der Grundlegung der padagogi¬ 
schen Psychologie, in dem Aufbau auf die 
aristotelisch-scholastische Philosophie. Der 
Verfasser kann keine „Psychologie ohne 
Seele" geben, sondern die Frage nach der 
Seele, nach ihrem Wesen, nach der Unsterb- 
lichkeit bildet für ihn den Mittelpunkt, von 
dem aus die padagogische Psychologie ihre 
Grondlagen gewinnen muC. Er kampft gegen 
einen einseitigen Intellektualismus und sucht 
einem Idealismus im Sinne Willmanns den 
Boden zu bereiten. Im Mittelpunkt steht für 
ihn die Willensfunktion, und es erhebt sich 
hinsichtlich der Vorstellungswelt die Frage, 
wie diese zu gestalten sei, um einen guten 
Willen hervorzurufen. Schon aus dieser 
Einstellung wird deutlich, daC Verfasser die 
Herbartsche Padagogik ablehnen muC, wenn 
seine eigenen Aufstellungen freilich auch 
nicht so ganz ohne Beziehung zu dieser sind. 
Im Mittelpunkt der padagogischen Psycho¬ 
logie steht für den Verfasser das Problem 
der Willensfreiheit; für ihn ist die Freiheit 
des Menschen, zu wollen, eine erwiesene 
Tatsache, der Mensch kann seine Vernunft 
frei gebrauchen; das Kind kann dies noch 
nicht, weshalb man bei ihm auch von einem 
freien Willen nicht reden kann. Der Beweis 
für das Vorhandensein der Willensfreiheit 
liegt im BewuCtsein der Verantworilichkeit, 



256 


Buchbesprechungen — Eingegangene Schriften 


im Gewissen. Wenn nun Willensfreiheit als 
eine eigenartige Vernunfttatigkeit bezeichnet 
wird, so wird der Wille doch wieder intellek- 
tualisiert. Es ist auch durchaus nicht richtig, 
daO ein konsequenter Determinismus zum 
Fatalismus führen müsse. Als das Ziel des 
Menschen und der Erziehung bezeichnet 
Habrich die Tugend. Tugend aber bedeutet 
für ihn die Erfüllung des göttlichen Willens. 
Der Mensch untersteht dem Gebot Gottes, 
und er ist insofern also heteronom; indem 
er dieses Gebot aber in sich selbst vorfindet, 
ist er doch auch wieder autonom. Damit 
sucht also Verfasser die bedrohte Willens¬ 
freiheit wieder zu retten. Tugend wird be- 
trachtet als ein bestimmter Habitus des 
Wollens, als erworbene Vollkommenheit. 
Die Aufgabe der Erziehung ist es, den Men¬ 
schen zur Tugend zu führen. Drei Wege 
unterscheidet er hier: Gewöhnung, Frei- 
tatigkeit und Selbsterziehung. Er verfolgt 
nun den Gang der Erziehung auf den ver- 
schiedenen Gebieten. Endlich verfolgt er 
die normale und krankhafte geistige Ent- 
wicklung. — Wir sind gewiU nicht in den 
Grundlagen und in verschiedenen Punkten 
mit dem Verfasser einverstanden; wir wür- 
den eine padagogische Psychologie anders 
begründen und aufbauen; allein eine Kritik 
ist hier nicht möglich, da diese sich in erster 
Linie an die Grundlagen wenden müOte. 
Dazu ist hier indessen nicht der Ort. 

Erich Stern, GieBen. 

Koehier, F., Wesen und Bedeutung des 
Individualismus. Eine Studie. (Philo- 
sophische Reihe, 59. Band.) München, 
Rösl & Co. 1922. 189 S. 

Die kleine,anregendgeschriebeneSchrift 
sucht, ausgehend von einem geschichtlichen 
Überblick über die Entwicklung des Indivi¬ 
dualismus, dessen Wesen und Bedeutung 
für die Kultur der Gegenwart herauszu- 
arbeiten. Psychologisch interessant sind 
besonders die Ausführungen des V'erfassers 
über den Individualismus des Kindes und 


über die differentielle Psychologie der Ge- 
schlechter. Die Rolle des Individualismus 
für das geistig-kulturelle Leben wird ein- 
gehend gewürdigt. Der Verfasser sieht aber 
auch sehr scharf die Grenzen eines ab- 
soluten Individualismus, der leicht in Un- 
gebundenheit ausartet; so klingen seine Aus¬ 
führungen dahin aus, daQ nur dem sozial 
gebundenen Individualismus Berechtigung 
zukomme. Erich Stern, GieBen. 


Eingegangene Schriften 

Baumgarten, Dr. Franziska, Psychotech- 
nik. (Russisch.) l.Teil: „Untersuchungen 
über die Eignung zu Berufsarbeiten." 
(246 S.) 8®. Berlin 1922. Verlag: Büro der 
wissenschaftlich-tecbnischen Abteilung des 
Obersten Volkswirtschaftsrates. 

Bopp, Prof. Dr. Llnus, Moderne Psycb- 
analyse, katholische Beichte undPad- 
agogik. Religionspadagogische Zeitfragen 
Nr. 8. (100 S.) 8». Kempten 1923. Josef 

Kösel & Friedrich Pustet. 

Friedlaender, Kurt, Th., Der Weg zum 
Kaufer. Eine Theorie der praktischen Re- 
klame. Mit 108 Abbildungen im Text. (VllI, 
181 S.) 8®. Berlin 1923. Julius Springer. 

Herzlg, Gotthard, Wertbestandsspiegel. 
(Französisch.) Übersicht über das gesamte, 
nach dem Studium der Reformsprachmethode 
„Mertner", Ausgabe Französisch, erworbene 
Wort- und Begriffsmaterial. (87 S.) 8®. Kemp¬ 
ten. Gesellscbaft für Verbreitung zeitgemaBer 
Sprachmethoden. 

— — desgl. Englisch (64 S.). 

Mertner, Reformsprachmethode. Englisch 
für Deutsche. Band 1—6. (480 S.) 8®. Kempten 
1923. Gesellschaft für Verbreitung zeitge¬ 
maBer Sprachmethoden. 

Mertner, Reformsprachmethode. Fran¬ 
zösisch für Deutsche. Band 1—6. (476 S.) 

8®. Kempten 1922. Gesellschaft für Verbrei¬ 
tung zeitgemaBer Sprachmethoden. 

Mertner, Robert, Fremde Sprachen durch 
mechanische Suggestion. Grundsktze 
zeitgemaBer Sprachübertragung. 121. Auflage. 
(64 S.) kl. 8®. Kempten 1923. Gesellschaft 
zur Verbreitung zeitgemSBer Sprachmethoden. 

Philosophle-Bfichlein. Ein Taschenbuch 
für Freunde der Philosophie. Heraus- 
gegeben von Dr. August Horneffer. Zweiter 
Band. (78 S.) kl. 8®. Stuttgart 1923. Franckh- 
sche Verlagsbuchhandlung. 

Pieper, Wllh., Dr.-Ing., Taylorsystem- 
Literatur. Ein Wegweiser vornehmlich für 
Bergleute. (Abhandlungen aus der Braun- 
kohlen- und Kali-Industrie, Heft 3.) (32 S.) 
8®. Halle a. S. 1922. Wilhelm Knapp. 

Stumm, Der Mut im Kriege. Beobach- 
tungen und Betrachtungen. (27 S.) 8". Leipzig 
1922. Otto Hilimann. 


Für die Schriftleitung verantwortlich; Prof. Dr. W. Moede und Dr.C.Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafte 14. — Verlag von S.Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Hdrtel in Leipzig. 





PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. JUNI 1923 9. HEFT 


Die Praktische Psychologie erscheint in monatllcben Heften im Umfange von zwel Bogen. Prelt des Junibeftes 4000 Mark 
fura Inland. FQrs Aualaod besoodere Prelae. (Prela bel unmlttelbarer Zuatellung unter Kreuzband im Inland eInacbtieOlicb 
österreicb • Uogam 4500 Mark.) Beatelluogea oebmen alle Bucbbandlungeo, die Post aowie die Verlagsbucbhandluog entg^eo. 
Anzeigen vermittelt die Verlagabuchbandlung S. Hiriel in Lelpzig, KÓnlgatraOe 2. Poatacheckkonto Lelpzig 226. — Alle 
Manuakrlptaeoduogen und darauf bezQgllcbe Zuacbriften aind zu richten an die Adreaae der SchrlMeitung: Prof. Dr.W. Moede 
und Dr. C. Piorkowakl, BerIinW30, LultpoldstraOe 14. 


Über Unfallversicherung und Psychotechnik 

(Nach einem im April 1923 auf dem Leipziger PsychologenkongreB gehaltenen Vortrag) 

Von Karl Marbe, o. ö. Professor an der UniversitSt Würzburg 

I m ersten Band melner Glelchförmigkeit in der Welt (München. S. 384 fT.) habe 
ich den Satz aufgestellt, daO die Wahrscheinlichkeit für einen Menschen, einen 
Unfall zu erléiden, nach der Anzahl seiner früheren ünfnlle zu bemessen ist. 
Personen, welche z. B. innerhalb fünf Jahren mehrere Unfalle gehabt haben, 
werden also nach meiner Theorie in den unmittelbar folgenden fünf Jahren 
durchschnittlich mehr Unfalle erleiden als solche Personen, die in den ersten 
fünf Jahren nur einen ünfall erlitten haben. Auch werden die letzteren nach 
meiner Meinung in den zweiten fünf Jahren im allgemeinen gefahrdeter sein als 
solche, die in den ersten fünf Jahren gar keinen Unfall hatten. 

Obgleich diese Lehre mit der vielfach üblichen Praxis der Versicherungs- 
gesellschaften im Einklang steht, welche den versicherten Personen nach mehreren 
Unfallen, ja oft schon nach dem ersten Unfall kündigen, so wlrd sie doch haufig 
mehr als humorvoll denn als richtig angesehen. Man betont, daO, von seltenen 
Ausnahmen abgesehen, ein Kausalzusammenhang zwischen den einzelnen ünfallen 
einer Person nicht bestehe und daO man deshalb die Erwartung spaterer Unfalle 
nicht auf frühere Unfalle gründen dürfe. Trotz dieses Einwandes, auf den spater 
zurückzukommen sein wird, ist die Lehre richtig. 

Es gibt irgendwo in der Welt eine Versicherungsgesellschaft, welche in einer 
militarischen Abteilung die Versicherung aktiver Offiziere und Unteroffiziere der 
deutschen Armee gegen Unfalle aller Art betreibt und in welcher eine Kündigung 
gegenüber den Personen, die mehrfach Unfalle hatten, nicht stattzuhnden pflegt. 
Einer meiner Schüler, Herr Nico Greiveldinger, hat nun die Verhaltnisse bei 
dieser Militarversicherung naher studiert und aufs Geratewohl 3000 Personen 
herausgegrifFen, die zehn volle Kalenderjahre oder nach der Zeit vom Eintritt 
bis zum Ende des Eintrittsjahres noch neun volle Kalenderjahre versichert waren. 
Er steilte dann für jede dieser 3000 Personen Anzahl und Jahre der Unfalle fest, 
wobel als erstes „Jahr“ bel den weniger als zehn volle Kalenderjahre versicherten 
Personen die Zeit vom Eintritt bis zum Schluü des fraglichen Kalenderjahres 
angesehen wurde. Ich habe dann in Verbindung mit Herrn Greiveldinger dieses 
Material zur Prüfung der erwahnten These benützt. 


P. P. IV. 9. 


18 




258 


Marbe, Über Unfallversicherung und Psychotechnik 


Diejenigen Personen, die in den ersten fünf Jahren keinen Unfall erlitten, 
nenne ich Nuller; diejenigen, die in dieser Zeit nur einen Unfall batten, nenne 
ich Einser; diejenigen, die in diesen ersten fünf Jahren mehr als einen Unfall 
batten, sollen Mehrer heiOen. Wir bestimmten nun die Anzahl der Nuller, Einser 
und Mehrer und zahlten die Anzahl der Unfalle dieser drei Kategorien von Per¬ 
sonen in den zweiten fünf Jahren ah. Hieraus ergab sich für jede der drei 
Gruppen die durchschnittliche oder mittlere Unfailzahl pro Person in den zweiten 
fünf Jahren. Das nahere ergeben folgende drei Zahlen, welche die mittleren Un- 
fallzahlen der Nuller, Einser und Mehrer bedeuten; 

0,52 

0,91 

1,34 

Man sieht: Die Nuller haben in den zweiten fünf Jahren durchschnittlich 
weniger Unfalle als die Einser und diese weniger als die Mehrer. Letztere zeigen 
im Mittel reichlich 2 V 2 mal so viel Unfalle als die Nuller. 

DaO es sich aber hier nicht um ein Zufallsresultat handelt, sondern daO unsere 
Theorie durch unser statistisches Material wirklich bewiesen wird, ergibt sich 
daraus, daB der Verlauf der mittleren Unfallzahlen für die Nuller, Einser und 
Mehrer im gleichen Sinne wiederkehrt, wenn wir statt die 3000 Falie zusammen- 
fassend zu betrachten, das Material in drei Fraktionen zu 1000 oder in sechs 
Fraktionen zu 500 einteilen. Ja selbst wenn wir zehn Fraktionen zu 300 bilden, 
zeigen die Mehrer in den zweiten fünf Jahren immer eine gröBere mittlere Un- 
fallzahl als die Nuller. Nur die mittlere Unfailzahl der Einser fallt bei der 
Fraktionierung in zehn Gruppen zu 300 zweimal aus der Ordnung heraus. 

Wir haben nun auch die Unfalle in den beiden ersten und in den beiden 
letzten der zehn behandelten Jahre untersucht. Hier nannte ich Nuller diejenigen 
Personen, die in den ersten zwei Jahren keinen und Unfaller diejenigen, die in 
den ersten zwei Jahren einen oder mehrere Unfalle gehabt haben. Wir bestimmten 
demgemaB die mittleren Unfallzahlen für die Nuller und Unfaller in den letzten 
zwei Jahren. Auch diese Zahlen, die ich anbei mitteile, waren wie man sieht, 
im Sinne meiner Theorie deutlich verschieden: 

0,24 

0,42 

Die Unfaller haben hiernach in den letzten zwei Jahren durchschnittlich mehr 
und zwar 1,75 mal so viel Unglücksfalle als die Nuller. Zu dem prinzipiell 
gleichen Resultat, daB die Unfaller mehr Unfalle zeigten als die Nuller, gelangten 
wir in allen Fraktionen, wenn wir drei Fraktionen zu 1000 oder sechs zu 500 
oder zehn zu 300 bildeten. 

Die Betrachtung der ersten und letzten zwei Jahre bildet also gleichfalls eine 
Stütze für meine Theorie. Das letzte Resultat ist aber auch insofern interessant 
als es lehrt, daB man aus früheren Unfallen sogar noch nach einem Zwischen- 
raum von sechs Jahren gewisse Schlüsse auf spatere Unfalle ziehen kann. 


Marbe, Über Unfallversicherung und Psycbotechnik 


259 


Die Behauptung, die zu unseren statistischen Untersuchungen führte, ist nun 
nicht nur richtig, sie erweist sich vielmehr bei naherer Betrachtung geradezu 
ais trivial. Die Versicherungsgesellschaften pflegen mit Rücksicht auf die Ge- 
fahrlichkeit ihrer Risiken sogenannte Gefahrenklassen zu statuieren. Die Büro- 
beamten geboren i. B. einer niedereren Unfallgefahrenklasse an als die aufierhalb 
des Büros beschaftigten Ingenieure oder gar als die Dachdecker und Feuerwehr- 
leute. Die Zuteilung der gegen Unfall zu versichernden Personen in die ein- 
zelnen Gefahrenklassen findet also nach MaOgabe der Gefahrlichkeit ihrer Berufe 
statt. Auch bei unserer Militarversicherung werden verschiedene Gefahrenklassen 
statuiert, wovon bald noch naher zu reden sein wird. 

Hat man nun festgestellt, daO innerhalb einer Zeit t von N Personen gewisse 
Personen keinen, andere einen und andere mehr als einen Unfall erlitten haben, 
so wird man annehmen dürfen, daB die Personen mit mehr als einem Unfall im 
Mittel einer höheren Gefahrenklasse angehören als die mit einem oder gar als 
die mit keinem Unfall. Es ist demnach zu erwarten, daO die Personen mit mehr 
als einem Unfall auch in einer auf die Zeit t folgenden Zeit ti mehr Unfalle 
haben werden als die mit einem oder gar als die mit keinem Unfall. Denn mit 
der höheren Gefahrenklasse wachst natüriich auch die Wahrscheinlichkeit, in 
Zukunft Unfalle zu erleiden. 

Unser Satz, daB die Wahrscheinlichkeit spaterer Unfalle nach früheren Un- 
fallen zu bemessen sei, würde demnach einfach darauf beruhen, daB die ver- 
schiedenen Berufen angehörigen Personen in verschiedenem MaBe gefahrdet 
sind und daB die verschiedene Gefahrdung durch die verschiedenen Berufe in 
der Vergangenheit auch in der Zukunft fortbesteht. Im Sinne dieser Betrachtung 
habe ich auch schon in meiner Gleichförmigkeit in der Welt unseren Satz auf 
den EinfluB der verschiedenen Berufe zurückgeführt. Ich habe aber dort auch 
noch ein anderes Moment als Stütze für meine Theorie herangezogen, das wir 
hier als das persönliche bezeichnen können. 

Die Aussicht, Unfallen zu entgehen, ist in weitem Umfang von der Eigenart 
der in Frage kommenden Person abhangig. Es gibt offenbar gewisse physio- 
logische und psychologische Qualitaten, die ganz abgesehen von ofFensichtlichen 
körperllchen und seelischen Defekten, zu Unfallen disponieren. Wir dürfen da- 
her von einem persönlichen Moment oder einem persönlichen Faktor reden, der 
beim Zustandekommen der Unfalle mitwirken kann. 

GewiB gibt es Unfalle, bei denen der persönliche Faktor keine Rolle spielt. 
Wenn jemand von einem Ziegelstein verletzt wird, der sich, ohne daB dies voraus- 
zusehen oder zu erwarten war, von einem Dache ablöste, so spielt die Person 
des BetrofFenen hier kaum eine Rolle. Jedem andern hatte wohl das gleiche 
passieren können. Für das Zustandekommen anderer Unfalle ist aber die Eigen¬ 
art der in Frage kommenden Person sehr wesentlich. Der eine kommt beim 
Abspringen von der Trambahn leichter zu Fall als der andere, dieser bringt als 
Landwirt seine Finger eher in die Futterschneidemaschine als jener. Da die 

18 » 



260 


Marbe, Ober Unfallversicberung und Psychotechnik 


Vermeidung von Unfallen auch in weitem Umfang übungsfahig ist, so kann auch 
die Erfahrung in den persönlichen Faktor eingehen, die jedoch in dem vor- 
liegenden Aufsatz noch nicht berücksichtigt werden soll. 

Ich habe nun die Ansicht vertreten, daO die Wahrscheinlichkeit spaterer Un- 
falle auch deshalb nach früheren Unfallen zu bemessen ist, weil der persönliche 
Faktor sowohl beim Entstehen der früheren als dem der spateren Unfalle mit- 
wirkt. Die Richtigkeit dieser Behauptung laQt sich durch die bisherigen Zahlen 
nicht beweisen. Sie fande jedoch dann eine Stütze, wenn sich zeigen lieQe, daO 
unser Satz über den Zusammenhang früherer und spaterer Unfalle auch für 
Personen gilt, die ein und derselben Gefahrenklasse angehören. Dies ist wirk- 
lich der Fall. 

Ich bat Herrn Greiveldinger festzustellen, welchen Berufen die verarbeiteten 
3000 Personen angehörten. Da das Material für zwölf Personen aus versicherungs- 
technischen Gründen gerade nicht zur Stelle war, so konnten nur 2988 Fest- 
stellungen gemacht werden. Nach den Berufen wurde dann konstatiert, in welche 
Gefahrenklasse jeder der 2988 Falie gehorte. Hlerbei wurden die drei heute bei 
unserer Militarversicherung maOgebenden Gefahrenklassen in Betracht gezogen. 

Unsere Militarversicherung unterscheidet heute drei Gefahrenklassen, die 
alle versicherten Personen umfassen: erstens die Klasse der Bürobeamten und 
standigen Schreiber, sofern sie nicht auGerhalb des Büro- oder Verwaltungs- 
dienstes verwendet werden, zweitens die Klasse der im auOeren Dienst tatigen 
Militarpersonen mit Ausnahme der Personen in besonders gefahrdeten For- 
mationen, welche der dritten und höchsten Gefahrenklasse angehören. Früher 
wurden viel mehr Klassen statuiert. Doch hat sich diese detaillierte Spezihkation 
nicht bewahrt. 

Die 2988 Falie zerfielen in 353 Falie der ersten, in 1674 der zweiten und in 
961 Falie der dritten Gefahrenklasse. Wir bestimmten nun wieder für die 
Personen der ersten Gefahrenklasse die Nuller, Einser und Mehrer in den ersten 
fünf Jahren, und wir berechneten dann die mittlere Unfallzahl der Nuller, Einser 
und Mehrer in den zweiten fünf Jahren. Dasselbe wurde für die Personen der 
zweiten und dritten Gefahrenklasse durchgeführt. Dann wurden die Materialien 
der einzelnen Gefahrenklassen in Fraktionen zu 300 eingeteilt, soweit sie durch 
300 ohne Rest teilbar waren. Die nicht mehr durch 300 teilharen Reste der 
drei Materialien blieben unberücksichtigt. 

Die einzelnen Gefahrenklassen wurden dann in ganz analoger Weise auf ihr 
Verhalten in den beiden ersten und in den beiden letzten Jahren untersucht, 
wobei jedoch ebenso wie früher nur Nuller und Unfaller statuiert wurden. Auch 
hier wurde wieder in Gruppen zu 300 fraktioniert. 

Die Untersuchung der einzelnen Gefahrenklassen führte nun prinzipiell zu 
den gleichen Resultaten wie die Prüfung unseres Gesamtmaterials. Auch hier 
zeigte sich bei der Gegenüberstellung der ersten und zweiten fünf Jahre, daO in 
den zweiten fünf Jahren die Nuller weniger Unfalle haben als die Einser und 





Marbe, Über Unfallversicherung und Psychotecbnik 261 

daO diese weniger Schaden erleiden als die Mehrer. Der Vergleich der ersten 
und letzten zwei Jahre lehrte, daB die Unfalier in den letzten zwei Jahren ge- 
fahrdeter sind als die Nuller. Auch die Fraktionierung in Gruppen zu 300 be- 
statigte diese GesetzmaOigkeiten. Nur in einer einzigen Fraktion ist die mittiere 
Unfallzahi der Nuiler um ein Hundertstel gröOer als die der Unfalier. 

Wir sehen hiermit die Ansicht, daB die Wahrscheinlichkeit spaterer Unfalle 
nach früheren zu bemessen ist, auch innerhalb ein und derseiben Gefahrenklasse 
bestatigt. Besonderen Wert iege ich darauf, daB sie auch für die erste Gefahren- 
kiasse, in welcher nur im Büro beschaftigte Personen vertreten sind, gilt. Wir 
dürfen hieraus schlieBen, daB die Lehre, die wir auch kurz als die der Ab- 
hangigkeit spaterer Unfaiie von früheren bezeichnen können, in der Tat nicht 
nur auf die verschiedenen Berufe, sondern auch auf die verschiedenen Persön- 
lichkeiten der Unfalle erleidenden Individuen zu stützen ist. Auch in dieser 
letzteren Hinsicht erweist sich meine Ansicht übrigens als ganz selbstverstandlich, 
wenn wir an Stelle der Berufsgefahrenklassen Persönlichkeitsgefahrenklassen 
treten lassen. Untersuchungen nach Art der unserigen sind ofFenbar unter Um- 
standen geeignet, eine groBe Anzahl versicherter Personen schon nach zwei- 
jahriger Beobachtung unter Persöniichkeitsgefahrenklassen zu subsumieren, die 
nach eineni Zwischenraum von sechs Jahren noch bedeutsam sein können. 

Ein mir befreundeter Kollege meinte, die verschiedenen Unfallzahien der 
Nuller, Einser und Mehrer bzw. der Nuiler und Unfalier könnten daher rühren, 
daB diese Gruppen von Personen sich in verschiedenem MaBe auBerdienstlichen 
sportlichen Nebenbeschaftigungen hingaben. Die verschiedenen Unfaiizahien 
waren hiernach nicht auf die Unterschiede der Persönlichkeiten, sondern einfach 
darauf zurückzuführen, daB in den ersten fünf bzw. zwei Jahren Nebenbeschaf¬ 
tigungen ausgeführt wurden, die zur Einteilung in Nuller, Einser usw. führten 
und die, weil auch noch in den letzten fünf bzw. zwei Jahren ausgeübt, die ver¬ 
schiedenen mittleren Unfallzahien innerhalb dieser Zeitraume verschuldet batten. 
Um diesen Einwand zu prüfen, griff ich aus unserem Material die im auBeren 
Dienst stehenden Unterofflziere heraus, bei denen von sportlichen Betatigungen 
in der Vorkriegszeit bekanntlich kaum die Rede sein konnte. Ich gelangte so zu 
einem Material von 435 Personen, und ich fand den für das Gesamtmateriai und 
für die einzelnen Berufsgefahrenklassen festgesteliten Verlauf der Zahlen auch 
für dieses Material und zwar auch, wenn nur die 300 ersten Falie in Betracht 
gezogen wurden, bestatigt. Hierdurch dürfte der Einwand, daB unsere Resuitate 
nicht auf den verschiedenen Persönlichkeiten, sondern auf den verschiedenen 
Nebenbeschaftigungen der untersuchten Personen beruhen, widerlegt sein. 

Die vorhin gebrauchte Wendung von der Abhangigkeit spaterer Unfalle von 
früheren bedarf auch im Hinblick auf den oben erwahnten Einwand noch einer 
Erkiarung. Natürlich meine ich nicht, daB die spateren Unfalle einer Person 
regelmaBig von ihren früheren Unfallen kausal abhangig sind. Dies wird nur 
ausnahmsweise der Fall sein, z. B. dann, wenn der erste Unfali einer Person in 




262 


Marbe, Über Unfallversicherung und Psycbotectanik 


einem Beinbruch bestand und wenn sie spater infolge der Nachwirkungen dieses 
Schadens zu Fali kommt und von neuem ein Glied bricht. Die Abhangigkeit 
spaterer Unfalle von früheren wird in der Regel eine bloC logische sein, d. h. sie 
wird etwa derart sein, wie die Abhangigkeit des Kreisumfangs vom Radius. Wie 
sich mit dem Radius auch der Umfang andert, so andert sich unseren Ergeb- 
nissen zufolge mit der mittleren Anzahl der früheren Unfalle einer groOen An- 
zahl von Personen auch die mittlere Anzahl ihrer spateren Unfalle. Und wie 
wir aus dem Radius eines Kreises auf seinen Umfang schlieDen können, so 
können wir aus den früheren Unfallen einer groBen Anzahl von Personen auf 
die spateren Unfalle dieser Personen einen SchluB ziehen. Die Stringenz beider 
SchluBweisen ist freilich eine verschiedene. In dem geometrischen Beispiel ist 
sie eine absolute, in unserem Fali liegen nur nicht unbedingt stringente sta¬ 
tistische Schlüsse vor. (Über statistische Schlüsse habe ich in melner Gleich- 
förmigkeit in der Welt [Band 1, Seite 232ff.] ausführlicher gehandelt.) Die Schlüsse 
von früheren Unfallen auf spatere linden ihre Begründung darin, daB Bedingungen 
der früheren Unfalle (speziell Beruf und persönlicher Faktor) in die Bedingungen 
der spateren Unfalle eingehen. 

Es erhebt sich nun die Frage, ob der Beruf oder der persönliche Faktor von 
gröBerer Bedeutung für das Entstehen von Unfallen ist. Es hat aber natüriich 
keinen Sinn, diese Frage ganz generell beantworten zu wollen. Es kommt immer 
auf die Berufe an, welche die zu untersuchenden Individuen tatsachlich ausüben 
und auf die persönlichen Qualitaten, die diesen Individuen in concreto eigen- 
tümlich sind. Nur ob für eine bestimmte Anzahl von bestimmten Personen der 
eine oder andere Faktor gewichtiger ist, laBt sich daher prüfen. Diese Prüfung 
haben wir für unser Material vorgenommen. 

Wir berechneten die mittleren Unfallzahlen für die Mitglieder der einzelnen 
Gefahrenklassen in den letzten fünf bzw. zwei Jahren, wobei sich folgende Werte 
ergaben: 


Gefahrenklasse 

Mittlere Unfallzahlen in den letzten 


fünf Jahren 

zwei Jahren 

1 

0,60 

0,24 

2 

0,81 

0,29 

3 

0,88 

0,31 


Wir sehen hieraus, daB die von der Gesellschaft statuierten Gefahrenklassen 
auf viel geringere absolute und relative Unterschiede der mittleren Unfallzahlen 
führen als die von uns statuierten Persönlichkeitsgefahrenklassen. Denn die 
letzten Zahlen schwanken nur zwischen 0,60 und 0,88 bzw. zwischen 0,24 und 
0,31, wahrend die oben mitgeteilten Zahlen des Gesamtmaterials für die Nuller, 




Marbe, Über Unfallversicherung und Psychotechnik 


263 


Einser und Mehrer bzw. die NuUer und Unfaller absolut und relativ ganz er- 
heblich viel mehr voneinander abweichen. Hieraus folgt, daO sich innerhalb 
unseres Materials die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Berufsgefahrenklasse für 
das Erleiden von Unfailen in den letzten fünf bzw. zwei Jahren viel irrelevanter 
erweist, als die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Persönlichkeitsgefahrenklasse. 

Die Gesamtheit unserer Resultate scheint die praktische Forderung nahe- 
zulegen, die von den Versicherungsnehmern zu zahlenden Pramien auch nach 
der Haufigkeit ihrer früheren Unfiille abzustufen. Man könnte also z. B. die 
Pramien zunachst nach Berufsgefahrenklassen festsetzen, nach einer gewissen Zeit 
aber bei jeder versicherten Person je nach der Anzahl der bisher festgestellten 
(Jnfalle Zuschlage oder Ermafiigungen eintreten lassen. Durch eine solche Be- 
rücksichtigung der persönlichen Qualitaten der Versicherten würde sich sowohl 
die private Unfallversicherung, auf die allein sich unsere bisherigen Unter- 
suchungen stützen, als auch die soziale Arbeiterunfallversicherung gerechter ge¬ 
stalten lassen als bisher. Das bei der Privatversicherung heute beliebte Ver- 
fahren, Personen, die mehrere Unfalle hatten, einfach auszustoQen, würde kaum 
mehr in Frage kommen, wenn die Zahlungen der Versicherungsnehmer beizeiten 
in ein vernünftiges Verhaltnis zu ihrer gröDeren oder geringeren persönlichen 
Unfalldisposition gebracht würden. Natüriich können aber praktische Probleme 
in diesen Gebieten erst dann ernstlich in Angriff genommen werden, wenn die 
von mir angeregten Untersuchungen mannigfach erweitert und vertieft sind. 

Meine Lehre von einem persönlichen, zu Unfailen disponierenden Faktor 
führt auch auf die Aufgabe, diesen Faktor experimenten zu untersuchen. Die 
heute vielgenannten Eignungsprüfungen haben den Zweck, mit Hilfe einer nicht 
allzu umfangreichen Reihe von einfachen Versuchen, von sogenannten Tests, die 
gröOere oder geringere Eignung des Prüflings für eine bestimmte Berufstatigkeit 
im voraus festzustellen. Diese Eignungsprüfungen dienen insbesondere indu- 
striellen Zwecken und Zwecken der Berufsberatung. So gut es aber möglich ist 
z. B. zu konstatieren, ob dieser oder jener sich mehr oder weniger für das Fach 
des Metallarbeiters, des Setzers oder des Lokomotivführers eignet, so gut muB 
es auch möglich sein, durch geeignete Prüfungen zu beweisen, ob jemand mehr 
oder weniger unfalldisponiert ist oder doch mehr oder weniger zu bestimmten 
Unfailen neigt. Würden solche Untersuchungen mit Erfolg an in Betriebe ein- 
zustellenden Arbeitern ausgeführt und könnte man auf Grund derselben stark 
unfalldisponierte Arbeiter aus bestimmten Betrieben von vornherein ausschalten, 
so kame man zu einem Verfahren, das gleichzeitig dem Unternehmer, dem Ar¬ 
beiter und der Unfallversicherung zugute kame. So lieBe sich die Psychotechnik, 
die bekanntlich de facto nicht nur rein psychologische, sondern auch in weitem 
Umfang physiologische Fahigkeiten prüft, auch in den Dienst der sozialen Un¬ 
fallversicherung stellen. 

Diese Gedanken sollen zunachst nur ein Programm, eine Anregung darstellen. 
Wie man im einzelnen zu verfahren haben wird, muB die Zukunft lehren. 



264 


Marbe, Ober Unfallversicherung und Psychotechnik 


Die allgemeine Disposition zu Unfallen wird sich voraussichtlich nur dann 
erfolgreich prüfen lassen, wenn man sich ihre psychologisch-physiologischen 
Komponenten klar macht. So weit ich bisher sehe, wird jemand Unfalle im 
allgemeinen urn so mehr vermeiden, je mehr Geistesgegenwart er zeigt, je rascher 
er eine bestimmte Situation zu übersehen geeignet ist, je geschickter und be- 
weglicher er ist, je weniger er Ablenkungen der Aufmerksamkeit zuganglich ist 
und je weniger er zu Leichtsinn und Sorglosigkeit neigt. Alle diese Eigen¬ 
schaften lassen sich aber psychologisch prüfen und sie sind zum Teil schon ge- 
prüft worden. Andere wertvolle Fahigkéiten, wie groQe Sinnestüchtigkeit, werden 
natürlich gieichfalls der Eignung zur Vermeidung von Unfallen zustatten kommen. 

In vielen Betrieben kommen trotz der Unfallverhütungsvorschriften mit Vor- 
liebe ganz bestimmte Unfalle vor. Abgesehen von der allgemeinen Disposition 
zu Unfallen wird man daher auch die Prüfung der Disposition zu diesen be- 
stimmten Unfallen ins Auge zu fassen haben, deren physiologisch-psychologische 
Komponenten gieichfalls zu suchen sind. 

Die Probe für die ZweckmaOigkeit in Aussicht zu nehmender Prüfungs- 
methoden würde vielleicht am besten in Verbindung mit der Statistik stattfinden. 
Hat man z. B. statistisch festgestellt, daO von einer groDen Anzahl von Personen 
n Personen innerhalb fünf Jahren keine, Personen innerhalb dieses Zeitraums 
einen und Uo Personen mehr als einen Unfall hatten, und sind diese Personen 
am Schlusse der fünf Jahre noch erreichbar und prüfbar, so werden bei den 
Prüfungen die Personen, die keinen Unfall erlitten, durchschnittlich besser ab- 
schneiden müssen als die, welche nur einen Unfall oder gar als diejenigen, die 
mehrere Unfalle erlitten. 

Auf der Tagung der Gruppe für angewandte Psychologie im Herbst 1922 zu 
Berlin wurde besonders das Bewahrungsproblem erörtert, d. h. die Frage, inwie- 
weit sich die Prüfungsergebnisse der Psychotechniker in der Praxis im Laufe 
der Jahre bewahren. Bei den von mir angeregten Untersuchungen liegt das Ver¬ 
haken der Prüflinge in der Praxis auf Grund statistischer Untersuchungen so- 
zusagen von vornherein vor. Hier gilt es, die Methoden zu schaffen, die dieses 
auf statistischem Weg ergründete Verhaken durch psychotechnische Unter¬ 
suchungen zu manifestieren geeignet sind. 

DaB zwischen Unfallversicherung und Psychologie Beziehungen bestehen, ist 
allgemein bekannt. Die psychologischen Wirkungen der Unfalle versicherter 
Personen auf diese Personen und spezieil die sogenannten Unfallneurosen werden 
oft diskutiert. DaB aber auch die Voraussetzungen der Unfalle ein dankbares 
Gebiet für den Psychologen und spezieil für den Psychotechniker darstellen, soll 
durch diesen Aufsatz gezeigt werden. Zum SchluB möchie ich der Hoffnung 
Ausdruck geben, daB die Psychologie künftig als praktische Psychologie auch 
mit der sozialen Unfallversicherung in Fühlung treten wird. 

Die ausführliche Mitteilung meines gesamten Tabellenmaterials an anderer 
Stelle behake ich mir vor. 



Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwolifeinflyer 


265 


Arbeitsbeobachtungen am Baumwolifeinflyer 

Von Dr. Fritz Giese, Halle und Cöthen 

N achstehende kurze und vorlaufige Mitteilung gilt einer psychotechnischen 
Studie, die ich in einer mitteldeutschen Baumwollspinnerei anstellte. Letztes 
Ziel der Aufgabe war, ein rationelles Anlernverfahren für Baumwollspinnerinnen 
abzuleiten. Die Versuche und Beobachtungen stammen aus dem Winter bis Früh- 
jahr 1922/23. 

Zur Ausarbeitung des Anlernverfahrens bedurfte es zunachst einer zweck- 
entsprechenden Betriebsbeobachtung. Hierbei zeigte sich sogleich, daC der 
übliche, in der Maschinenindustrie bevorzugte Weg der reinen Zeit- und Be- 
wegungsstudie für den Anfang nicht gangbar sein konnte. Denn das betreffende 
Unternehmen besaO eine besondere soziologische wie fabrikatorische Struktur. 
Soziologisch war zu vermerken, daO der Arbeiterinnenstamm keinerlei der üblichen 
traditionellen Berufsqualitaten aufzeigte. Wahrend in typischen Textilgegenden 
teils bestimmte Familien, teils Trusts von Werken eine Arbeiterinnenschicht ent- 
wickelten, die besondere beruFliche, an sich einseitige, aber qualitativ hochwertige 
Fahigkeiten besitzt, war in vorliegendem Fall die Population ausgesprochene 
Ungelerntenbevölkerung. Die Frauen kamen aus Schokoladenfabriken, Kartonnage- 
oder sonstigen örtlichen Werken, je nach der Arbeitsmarktkonjunktur, wiesen 
so gut wie keine Vorkenntnisse auf und standen auch nicht in Parallelgruppen 
in Konkurrenz. Bei guter Geschaftskonjunktur strömten sie gleichsam wahllos 
hinzu, bei schlechter wieder ab. Fabrikationstechnisch war das Unternehmen 
von Tochterfabriken isoliert. Es bildete eine Art Insel in einer Gegend mit teils 
chemischen, agrikulturellen oder maschinenindustriellen Unternehmungen. Ein 
Austausch Geeigneter oder Ungeeigneter war seitens der Verwaltung schwer 
möglich. Die Bevölkerung stand der Sache ohne inneren Kontakt gegenüber. 
Hinzu kam die Geschichte der Fabrik, die in den Kriegszeiten aus besonderen, hier 
nicht zu erörternden Gründen schlieOlich zum Stilistand gelangt war. Es galt 
durchaus Wiederaufbau mit einem winzigen Stamm von früheren Fachleuten und 
AnschluO von neuem Personal. DaB hier die scharfe Einführung von Zeit- wie 
Bewegungsstudien für den Anfang, mangels Muster von Standardarbeiterinnen, 
fehlschlagen muBte, zudem bei der herrschenden innerpolitischen Stellung der 
mitteldeutschen Ungelerntenschicht wenig erfolgversprechend war, muBte erkannt 
werden. Daher begann ich vorsichtiger mit einigen allgemëinen Studiën, im Be- 
wuBtsein, hierdurch keinesfalls für eine hochwertige Industrie das Letzte erlangen 
zu können. Diesen Gedanken unterstützte auch die Fertigung selbst, die durch¬ 
aus erstklassiger, spezialisierter Qualitatsware — England, Tschechei, auch Polen — 
noch fern stand, sondern mangels Tradition guten Durchschnitt ohne jedweden 
Anspruch auf Finessen erstreben wollte. — 

Als wichtigstes wurde zunachst nur der Feinflyer berücksichtigt. Die psycho¬ 
logische Arbeitsbeobachtung ergab folgende grundsiitzliche Feldstruktur: 



266 


Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwollfeinflyer 




Abbildung 1. Spinnmascbine 


Abbildung 1 ist eine Photoaufnahme 
einer normalen Spinnmascbine. Man bat 
die gedrangte Lagerung der Mascbinen, 
ibre sebr gegensatzlicbe Beleucbtung, ibre 
horizontale und vertikale Ausdebnung im 
Arbeitsfeid ebenso zu beacbten, wie die 
akustiscbe Wirkung durcb das Trans- 
missionsgerauscb und die Bodenscbwin- 
gung aus gleicbem Grunde. 

Abbildung 2 und 3 Fübren sticb- 
probenbaft naber an die Fragestellung. 
Es ist die typische Konstellation aus- 
gewahlt, wie sie bei Anfangerinnen und 
bei guten Kraften vorliegt: hier eine Ar- 
beiterin pro System, glatter Fabrikboden, 
alles in bester Ordnung und Obersicht. 
Dort Unsauberkeit durcb herumtreibende Baumwollflocken, Drangung der Arbei- 
tenden, da jede nur ein knappes Feld beherrscht, also Unübersichtlichkeit und 
Naheliegen gegenseitiger Störungen. AuOerdem Nervositat durcb notwendige Nahe 
der Betriebsaufsicht (Meister oder Assistent). 

Abbildung 4 ist Betriebsphoto einer eingefahrenen Maschine. Die Aufnahme 
erganzt die Darstellung des Betriebseindrucks im einzelnen: Man sieht den sebr 
groDen EinfluO, den die Verteilung der optischen Aufmerksamkeit bei den Ar- 
beiterinnen haben muD, denn die Fülle der Spuien, das Reihenbild der Faden, 
die zweckmaOigen Umlaufe der Spuien gehort zunachst zur Arbeitsaufgabe. Ohne 
in dieser kurzen Mitteilung auf Zahlen einzugehen, ist doch ersichtlich, daO 
der Grundsatz gehaufter Einzelbe- 
obachtung beim Geiibten sich zu 
einer abstrahierenden Gesamt- 
Feldauffassung entwickeln wird. 

Die Geübte sieht mit einem Blicke 
die Gesamtmaschine und korri- 
giertdie Fehler gleichsam aus der 
Perspektive. Die AnFangerin klebt 
— wie auch schon Bild 2 dartut — 
am Feldelement und verliert da- 
her die notwendige Beziehung zum 
Akkord sebr leicht. 

Indessen zeigten die Betriebs- 
beobachtungen, daO ein weiteres 

wichtiges Moment in dem so- ^ c- • j au-. 

° Abbildung 2. Anfangenn bei der Arbeit 

genannten Ansetzen des Fadens (Boden stark verflockt) 













Giese, Arbeitsbeobacbtungen am Baumwollfeinflyer 


267 



liegt. Abbildung 5 moge dies verdeut- 
lichen. 

Von der oberen Spulenreihe — dem Vor- 
garn — lauft ein auCerst feiner, fast hauch- 
ahnlicher, unfester Faden über drei Quer- 
walzen, dem Streckwerk. Von dort aus — 
fester geworden — lauft er über einen Faden- 
führer zur unteren Spinnspule, deren Ring 
die Spindel mit der Holzspule lose umgibt und 
einen Reiter (Öse) tragt, die auf dem Ring im 
Kreise umlaufen kann. Der Fadenanfang ist 
an der Spule befestigt. Diese lauft sehr 
schnell urn. Hierdurch spannt sich der Faden 
selbst an, das Reiterchen kommt auf dem 
Ring in gleitende Bewegung. Da infolge des 
hierbei entstehenden Widerstandes aber die Abbildung 3. Saai bei geübten KrSften 
Spule schneller umlauft als der Reiter, so 

wickelt sich der Faden auf der Spule selbst auf. Damit die Aufwickelung nicht nur auf 
einer Stelle der Spule erfolgt, kann der Ring sich ve/tikal heben und senken. Umdrehung 
der Spindel nebst Spule erfolgt durch Wirbelantrieb von einer durch Transmissiën be- 
wegten Triebtrommel. 


Psychotechnisch ist für die Lernenden wichtig, daO sie es verstehen, 

1, den Faden beidhandig auf der Spule über Fadenführer und Reiter zu be- 
festigen; 

2. den abgerissenen oder abzureiOenden Faden (der etwa defekt ist) anzusetzen 


am Streckwerk. 



Abbildung 4. Eingefahrene Maschine 


Die geübte Spinnerin befestigt den Faden 
stets sehr rasch und zweihandig, setzt ihn 
aber stets einhandig an den Streckwerk- 
walzen an. Zu letzterem Zwecke nimmt 
sie — je nach Lage — die rechte oder 
linke Hand, zieht den festen Fadenrest 
der unteren Spule jenseits vom Faden¬ 
führer hoch, indem sie zugleich die 
Verbindung mit dem Wirbel durch Hoch- 
heben der Spule auslöste, letztere also 
zum Stillstand brachte. Der feste Faden 
wird meist mit Daumen und Zeige- 
Mittelfinger hochgehalten und an die 
untere Streckwerkrolle gebracht. Hierbei 
ist folgendes wichtig: 

1. darf die Spinnerin keinen Augen- 
blick hastig oder angstlich werden, wenn 
















268 


Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwollfeinfiyer 


sie mit dem Finger an die — also im Gegensatz zur ausgeschalteten Spindel — 
weiterlaufende Streckwerkspule gerat. 

2. muO die Spinnerin darauf achten, daO sie mit dem Finger den festen Faden 
an den eben gestreckten Vorgarnfaden genau anlegt, d. h. mit dem Augen- 
maO ihn anpaOt dem als flockigen Strich auf der Streckwerkrolle erkenn- 
baren Anfang. 

3. darf die Spinnerin keinesfalls zu früh den Anlegefinger loslassen, da sonst 
Fadenfehler entstehen. 

Die Spinnerinnen stehen in Akkord, und es ist auCerdem durch Kontrollen fest- 
zustellen, wer am haufigsien AusschulJ fertigt und woher der AusschuO abzuleiten 

ist. Aus diesem Grunde fallt es nicht schwer, 
mittelst der Hauhgkeitsstatistik die Arten der 
Fehler oder richtiger die Lernschwierigkeiten 
für Anfangerinnen zu erkennen. Hierbei wurden 
ausgesprochen geübte und ausgesprochen un- 
geübte Spinnerinnen betrieblich beobachtet und 
unvermerkt kontrolliert. 

Praktisch zeigt sich, daO das Schwerste dasAn- 
setzen des Fadens ist, weil immer wieder Fehler — 
Verknotungen, Fadenteilaste, Verdickungen — 
vorkommen. Alsdann scheint die Überschau über 
das groBe Arbeitsfeld schwer zu fallen, was sich 
aus brachliegenden Spuien, groben Spinnfehlern 
und so aus dem Akkordwert ableiten laOt. Das 
Befestigen der Faden, und zwar auch das beid- 
handige, lemen dagegen die Frauen anscheinend 
weniger schwer, was der psychotechnisch be- 
kannten Befahigung des weiblichen Geschlechts durchaus entsprechen würde. 
Viertens zeigt sich aber, daQ die Instandhaltung der Maschine für Anfanger zu 
den unerfreulichsten Obliegenheiten gehort. Sie kommen — durch das Zwangs- 
tempo des Arbeitsvorgangs sowieso in Druck und durch abgelaufene oder ab- 
gebrochene Spuien ganz in Anspruch genommen — nicht dazu, über die Teil- 
arbeit hinaus den Gesamtüberblick zu behalten, zu dem man auch die sogenannte 
Propretat, die Sauberkeit der Maschine, rechnet. Bei der Geübten (s. Bild 3) 
ist das Arbeitsfeld spiegelblank, bei der Anfangerin verhoekt. Erst langsam lernt 
sie, die Reinigungsbürsten zu bedienen, vorsichtig durch die Fadenreihen — den 
Maschinenhintergrund entlang — zu führen, auf den Boden zu achten und jedes 
sich herumtreibende Flöckchen rechtzeitig abzufangen. 

Eine nahere Analyse der Fehler zeigte, daC im Flockenherumtreiben und 
Maschinenunsauberkeit (d. h. nicht Ölschmutz, sondern Flockenstaub) der eine 
Grund für Fadenfehler liegt. Derartige Flocken treiben sich an die Faden zwischen 
Vorgarn und Spinnschule und ergeben DickenunregelmaDigkeiten. Zweitens aber 





Giese, Arbeitsbeobachtungen aiti Baumwolifeinflyer 


269 


zeigten sich die oben erwahnten Ansetzfehier stark durch Nervositat und 
Dekonzentration bedingt. Interessanterweise fanden sich Falie von graviden 
Spinnerinnen, die vormals als gut galten, in der Schwangerschaft aber nachlieOen 
und Fehler erbrachten. Bei naheren Beobachtungen bemerkte man, daO Ungeduld 
vor dem Walzenstück des Streckwerks schuld war, groOe Angstlichkeit, zum Teil 
auch Nervositat durch die dauernde Vibration des FuCbodens. Bei bewuCter 
Kontrolle wurden Gravide ganz verwirrt und machten grobe Fehler. Die Ver- 
sager der Anfangerinnen beim Ansetzen sind zweifelsohne aus einer ahnlichen 
geringen Aufmerksamkeitsintensitat abzuleiten wie bei den Graviden. 

Das Anlernen selbst erforderte in genanntem Betriebe etwa bis zu drei Jahren. 
Diese Zeit ist lang zu nennen, und man könnte vórerst darauF kommen, eine 
Eignungsprüfung vorzuschlagen. Indessen schien dies bei einem dergestalt isolierten 
Betriebe nicht angemessen zu sein. Auch enthalt der Spinnvorgang Arbeitswerte, 
die sehr stark von der Übung abhangen, zunachst schwer fallen, dann leicht be- 
herrscht werden: so die beidhandige Fadenbefestigung an der Spule. Anderer- 
seits hangt die Leistung ab von charakterologischen Werten, die nicht ohne 
weiteres prüfbar sind, urn Gültigkeit zu besitzen für Dauerarbeit im Achtstunden- 
tag. Hierher rechnet die Sauberkeit der Arbeitenden (die „Propretat"). Nur die 
Aufmerksamkeit dürfte eignungstechnisch prüfbar bleiben, vielleicht auch die 
Handruhe. DaQ Gedachtnis und Intelligenz gar keine Rolle spielen, ist aus der 
Analyse klar geworden. Unempfindlichkelt gegen Larm der Motoren und Vibration 
des Bodens ist ebenfalls Gewöhnungssache und scheint nicht von erheblichem 
Belang zu sein, zumal die Lernenden vielfach schon aus Fabriken stammen. 

Nachdruck ware daher auf ein rationelles Anlernverfahren zu legen, das fol- 
gendes ermöglicht: 

1. Rückführung der Anlernzeit auf ein MindestmaO; 

2. Erkennung wesentlicher Arbeitsfehler; 

3. Sonderübung von Funktionsausfallen. 

Hierbei wird die zeitliche Reduzierung ganz individuen liegen und schwerlich 
Normalien ergeben. Die Erkennung von Arbeitsfehlern einer Person muB am 
Übungsfeld viel klarer zum Ausdruck kommen können als im komplexeren Fabrik- 
saal. Das Wichtigste ist aber das dritte: statt Zufaliskorrektur bei oder nach 
Entdecken eines arbeitstechnischen Fehlers im Sinne der Inspektion hier ge- 
regeltes Einüben der Vorgange, die erkannterweise schwer fallen. Die Zufalls- 
korrektur macht nur aufmerksam, übt aber nicht im echten Sinne, drilit nicht 
ein. Aus diesen Gesichtspunkten heraus konstruierte ich folgende erste Ent- 
würfe für „Anlernvorrichtungen zur Baumwollflyerarbeit". 

a) Anlegeübungsmaschine. 

Eine ehemalige Zwirnmaschine wurde nach meinen Angaben wie folgt als 
Anlegeübungsmaschine umgebaut: Wie beim Feinflyer sind obere und untere 
Spuien am Arbeitsplatz gegeben. Auch horizontal ist ein hinreichend breites 



270 


Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwolifeinflyer 


Arbeitsfeld geboten. Die Anlege- 
maschine bat aber eine Besonder- 
heit. Wahrend im wirklichen Be- 
triebe der Faden bekanntlich immer 
entweder seibst abreiQt (aus Zufall) 
oder abgerissen werden muO, wenn 
eine UnregelmaOigkeit beobachtet 
wird, oder gelegentlich durch Neu- 
aufsetzen der Spule zu Ende geführt 
ist, kommt es hier darauf an, den 
Kern des Arbeitsvorgangs, das An- 
setzen, zwangslaufig als Aufgabe 
dem Übenden zu stellen. Die Skizze, 

Abbild ung 6, verdeutlicht meinen 
Entwurf. Wie sonst laufen Faden 
von den Streckerwalzen zu den unteren Spuien. Eingebaut ist aber auf Trans- 
missionsband ein AbreiOer, der von einer Seite langsam herankommend Faden 
für Faden zerstört. Infolgedessen muB der Übende immer wieder und ohne 
Unterbrechung neuansetzen. Der Übungskurs besteht darin, erstlich die Breite des 
Fadenfeldes horizontal langsam zu steigern und zweitens die AbreiOfolge im Tempo 
zu verandern, langsam ansteigen zu lassen (beides steht in Korrelation). Der Übende 
lernt so zwangsmaOig das Ansetzen, d. h. er angstigt sich nicht so vor der umlau- 
fenden Walze, er wiederholt standig diese eine .^rbeit, er emphndet trotz Vorgesetzten- 
anwesenheit das Neuansetzen nicht als Strafe oder Kritik, er arbeitet zudem an akkord- 
freiem Platze. Diesem Vorteil schlieOt sich aber noch die sozial-psychologische 
Möglichkeit an, angenommene und lassig werdende Arbeiterinnen auf den Anlege- 
übungsplatz strafzuversetzen. Die Übungsmaschine wirkt dann gleichsam beschamend. 

Raumlich angeschlossen wurde 
seitlich eine Aufmerksamkeits- 
übungsmaschine. Hier sind schrag- 
parallel eine groDe Reihe weiBer 
Garnfaden endlos gelagert. Man 
kann aus ihrer Zahl ein beliebig 
abstufbares Aufmerksamkeitsfeld 
wahlen (siehe Abbildung 7). Zur 
Feldabgrenzung dienen einmal die 
Bezifferungen der Faden, zum an¬ 
deren — vertikal — Grenzschnüre 
seitlicher Halter, die überdie ganze 
Maschinenbreite gespannt werden. 
Man kann daher — etwa zwischen 


b) AuFmerksamkeitsübungsmaschine 




Abbildung 6. Anlegeübungsvorricbtung 




Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwolifeinflyer 


271 


der Zone A, B fF bis F — vertikale und zwischen Nr. 1,2 fF der Schnüre horizontale 
Breiten stafFeln. Der Anfanger beginnt mit einem kleinen Pelde und steigt lang- 
sam zur Normalausdehnung darin an. Die endlosen Schnüre zeigen Marken: 
Kleine Knoten oder auch schwarze Punkte. Der Übende hat die Aufgabe, jede 
Schnur, bei der ein derartiges Zeichen auftaucht, soFort festzulegen. Die Schnüre 
laufen über vogelrollenahnliche Rader oben und unten. In der unteren Reihe 
ist durch eine Friktionswelle durch Motor die Rotation solange gegeben, bis an 
einem Bremsungsknopf der jeweiligen Schnur gezogen wird. Alsdann verschiebt 
sich das untere Schnurlaufrad proxima! zum Übenden, ist von der Friktionswelle 
also entfernt und die endlose Schnur steht still. Es wird als Übungsexponent 
die Gesamtzeit bis zum Aufhnden aller Fehler — mit anderen Worten die Gesamt- 
bremszeit — gemessen und statistisch verglichen. 

c) Übungsplatz für Sauberungsarbeiten 

Zur Vermeidung des Anflockens der Baumwollfaden diente eine dritte Ein- 
richtutig den Lernenden. Der Entwurf sah ein Gestell vor, das schragparallele 
Drahte ausgespannt zeigte (Abbildung 8). Zwei Gleitbahnen — ein oberes und 
ein unteres Brett — lagen distal zum Übenden, hinter den Drahten. Es muOte 
in die obere eine Walze zwischen die Drahte balanziert und auf Lager gelegt 
werden, ahnlich wie am Feinflyer beim Saubern die Walzen zwischen die laufen- 
den Paden ohne Anflockung zu führen sind. Auf der unteren Gleitbahn hatte 
der Übende lateral-medial-lateral einen Holzklotz vorzuschieben, an Stelle der 
Reinigungsbürste, die ebenfalis ohne Fadenberührung durchzuführen ist. 

Die Drahte lagen oben auf Federkontakten, die bei geringster Drahtberührung 
(durch Schwingung des Drahts) Kontakt gaben und so in einen elektrischen 
Zahler Verbindung gaben. Man konnte 
dieFehlerzahl unmittelbar bei jederÜbung 
ablesen. Wiederum ist das Feld stalFel- 
bar. Die Fehlerzahl dient statistischem 
Übungsvergleiche. 

Die erzielte Lernzeitersparnis in ihren 
qualitativen und quantitativen Wirkungen 
kann in dieser vorlauhgen Mitteilung noch 
nicht angegeben werden, da infolge der 
allgemeinen Wirtschaftslage viele Spinner- 
innen zur Entlassung kamen und Neu- 
ansteliungen nicht zum üblichen Oster- 
termin erfolgten. Es handeite sich hier 
nur urn Darstellung der Abieitung einer 
Anlernvorrichtung aus Betriebsbeobach- 
tungen und die jetzige Lage der Psycho- 
technik erheischt strengste Zurückhaltung 



Abbildung 8 

Übungsplatz für Sauberungsarbeiten 





272 


Giese, Arbeitsbeobachtungen am Baumwollfeinflyer 


in Mitteilung von Erfolgen, solange nicht durch jahrelange Bewahrung feststeht, 
daO gefundene Ziffern nicht nur Augenblickswert besitzen. 

Zu gegebener Zeit wird eine Zahlenstatistik veröffentlicht und das Material in 
wissenschaftlicher Form unterbreitet werden. 


Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe 

Von Dr. Tuch f 

A n Hand zweier konkreter Beispiele wird im folgenden versucht, einen Beitrag 
.zu liefern für die Anwendung und Auswertung der Dreiwortmethode*). Es 
handelt sich um Versuche, die in den Seminarübungen des Instituts für Wirt- 
schaftspsychologie der Handelshochschule Berlin angestellt worden sind. 
Gegeben wurden in der Aufgabe folgende Beispiele: 

Flüchtling — Wasser — Rettung 
sowie 

Kaufmann — Sturm — Schaden. 

Für die erste Aufgabe lautete die Instruktion ganz allgemein: „Die drei Worte 
sollen auf möglichst viel verschiedene Weisen verbunden werden.® 

Für die zweite lautete die Instruktion: „Beim erstenmal batten Sie die Worte 
verbunden, wie Sie wollten. Jetzt kommt es darauf an, daC die innere logische 
Beziehung da ist, knapp und sachlich. Die innere Bindung muO da sein, phan- 
tasiemaOiges Ausschmücken spielt diesmal keine Rolle, solche Lösungen geiten nicht.® 
Hiernach erfolgte dann auch, wie wir weiter unten sehen werden, die Be- 
wertung der Lösungen. 

Die Resultate der zweiten Aufgabe werden im folgenden zuerst behandelt, weil 
sie strengere Instruktion aufweist und daher tiefer in das Wesen der Beurteilung 
des kombinatorischen Denkens einführt. 

Es wurden im ganzen bei „Kaufmann — Sturm — Schaden® von 17 Versuchs- 
personen abgegeben 62 Lösungen, von denen 34 als richtig, 28 als minderwertig 
resp. falsch bewertet wurden, d. h. es kamen auf jede Versuchsperson durch- 
schnittlich 2 richtige und 1,65 minderwertige Lösungen. Als wirklich voll- 
gültig anzuerkennende Gedankenverbindungen ergaben sich nur sieben Möglich- 
keiten, so daö hierauf prozentual berechnet jede Versuchsperson 28,8 % richtige 
Lösungen gegeben hat. Die minderwertigen resp. falschen sind ebenfalls einer 
genauen Gliederung unterworfen worden, wobei vier Hauptgedanken als ihnen 
zugrunde liegend gefunden wurden, so daB also jede Versuchsperson 41,25 von 
Hundert der möglichen falschen Lösungen gegeben hat. 

Die Differenzierung der Lösungen an sich war recht günstig. Nach der Punkt- 
bewertung, die noch besprochen werden wird, war die Höchstleistung von 11 Punkten 
einmal, dann 10 zweimal, 9 zweimal, 8 zweimal, 7 viermal, 6 einmal, 5 zweimal, 

*) Vgl- Piorkowski, Untersuchung über die Kombinationsfdhigkeit bei Scbulkindern, 
Leipzig 1913. 




Tuch, Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe 


273 


4 einmal und die Mindestleistung 3 zweimal vertreten. Die Mittelleistung war 
mithin 7 Punkte. lm allgemeinen wird ein Test, der solche Streuung aufweist, 
als guter Test betrachtet, indessen erschien uns doch der Wert erheblich be- 
eintrachtigt durch die starke Beimengung ungültiger oder halbwertiger Lösungen, 
die gebracht wurden. Die Ursache dafür kann in drei Faktoren liegen: In der 
Unzulanglichkeit dieses Tests, d. h. dieser drei gewahiten Begriffe, in der erteilten 
Instruktion oder endlich in den Versuchspersonen. Was den Test anbetrifft, so 
kann er zu weit oder zu eng sein, d. h. zu viel Lösungen oder zu wenig zulassen. 
lm ersteren Falie besteht einmal die Gefahr, daQ keine Streuung statthndet, weil 
nahezu alle Versuchspersonen die leicht zur Hand liegenden Lösungen flnden 
werden, zweitens würde er, weil eben kaum falsche oder unzureichende Kombi- 
nationen statthnden würden, keinen RückschluB ziehen lassen auf das gesamte 
geistige Niveau der Versuchspersonen. Dasselbe aber tritt ein, wenn der Test 
zu eng ist. Auch hier gibt es, wegen der allzu geringen Anzahi möglicher 
Kombinationen, keine Streuung und auch keinen RückschluB auf die intellektuelle 
Einstellung der Versuchspersonen. In unserem Falie wollen wir es offen lassen, 
inwieweit die vier faischen Gedankengange entstanden sind durch die sehr weit 
gehaltene Instruktion oder dadurch, daB die Versuchspersonen nicht genügend 
den erteilten Vorschriften gefolgt sind. 

Es soll nun im folgenden auf die Prinzipien eingegangen werden, die der 
Beurteilung des Tests und der Bewertung der Lösungen zugrunde gelegt worden 
sind. Es erschien grundsatzlich notwendig, zunachst die gegebenen drei Begriffe 
einer genauen Analyse zu unterwerfen. Wir fragten also: Wodurch wird ein 
Kaufmann zum Kaufmann, und in welcher Weise kann er als solcher Schaden 
erleiden? Der Kaufmann ist erst in dem Augenblick Kaufmann, indem er mit 
einer Ware mittelbar oder unmittelbar in Beziehung tritt. Ohne dieses Moment 
ist er nicht Kaufmann, sondern Mensch, Burger, Gatte, Vater oder was immer. 
Sobald er aber zu einer Ware in kaufender oder verkaufender Absicht in Be¬ 
ziehung tritt, wird er Kaufmann, wie andererseits jedes Gut erst dadurch zur 
Ware wird, daB es in den kaufmannischen Wirtschaftskreis eintritt. Soll also 
der Kaufmann als solcher durch Sturm Schaden erleiden, so scheiden alle die- 
jenigen Schaden aus, die ihn nicht gerade in dieser seiner Eigenschaft treffen. 
Wir werden sehen, daB eine Reihe von Versuchspersonen dieses Argument 
übersehen hat und dadurch zu faischen Kombinationen gekommen ist. 

Es war nun zu prüfen, in welcher Weise der Kaufmann durch den Sturm 
Schaden erleiden kann. Folgende vier Möglichkeiten sind vorhanden: Er kann 
erstens in seiner Ware geschadigt werden, zweitens in seiner Person, drittens in 
der geschaftlichen Abwicklung und viertens dadurch, daB die Konsumenten ihm 
durch den Sturm ferngehalten werden. 

Diese vier Hauptgedanken spalten sich in sleben gleichberechtigte, vollwertige 
Lösungen: 

P. P. IV, 9. 


19 



274 


Tuch, Die Dfeiwortmetbode als Kombinationsprobe 


Bei Nr. 1 sind drei solcher Lösungen verhanden: 

la. Der Sturm schadigt die Ware am Ursprungsort. Beispiele: Das Getreide 
auf dem Halm, das Obst auf dem Fruchtbaum. Diese beiden Varianten finden 
sich zwei- resp. einmal. 

l b. Der Sturm schadigt die Ware auf dem Transport. (SchifF, Eisenbahn 
hnden sich dreizehn- resp. zweimal.) 

l c. Der Sturm schadigt die Ware im Lagerraum resp. in der Verkaufsstatte, 
Schaden im Lagerraum hndet sich einmal. 

In der Verkaufsstelle werden die Fensterscheiben durch den Sturm eingedrückt, 
wobei offen bleibt, ob der Schaden an der Fensterscheibe selbst oder der durch 
die Glassplitter an der Ware verursachte Schaden gemeint ist — einmal. 

Die Jalousien werden fortgerissen, wobei es ebenfalls oiFen bleibt, ob der 
direkte Schaden gemeint ist oder der indirekte, da nunmehr die Waren den 
Sonnenstrahlen ausgesetzt sind — einmal. 

Für die Lösung Nr. 2 findet sich einmal der Gedanke, daO die Reise des 
Kaufmanns durch den Sturm aufgeschoben wird. 

Bei Nr. 3, daO namlich die geschaftliche Abwicklung durch den Sturm ge- 
schadigt wird, sind folgende zwei Varianten gegeben: 

3a. Das mit Waren beladene SchifF wird durch den Sturm aufgehalten — 
zweimal. 

3b. Die Telephonleitung wird durch Sturm gestort und dadurch die Ge- 
schaftsabwicklung gehindert — sechsmal. 

4. Lösung. Der Absatz selbst wird geschadigt, da die Konsumenten durch 
den Sturm am Einkauf gehindert werden — einmal. 

Ganz besondere Beachtung wurde bei der Auswertung der Probe den un- 
zutrefFenden Lösungen gewidmet. Wie bereits erwahnt wurde, lagen vier ver- 
schiedene Fehlerqueilen für die unzutrefFenden Lösungen vor. 

1. Alle solche Lösungen, die ganz allgemein die Aufgabe selbst wiederholten, 
muOten abgewiesen werden. Z. B.: Des Kaufmanns Güter können durch den 
Sturm Schaden leiden. Oder: lm Mittelalter rnuQte der Kaufmann ungleich mehr 
mit Sturmschaden rechnen. 

2. Es wird, wie ich bereits ausführte, eine unklare Definition des BegrifFs 
„Kaufmann" zugrunde gelegt, so daB der Sinn der Lösung darauf hinauslauft, 
daO zwar ein Kaufmann durch Sturm Schaden erleidet, aber eben nicht als Kauf¬ 
mann. Z. B.: Der Kaufmann erleidet durch Sturm körperlichen Schaden, indem 
ihm ein Ziegelstein auf den Kopf fallt. Oder: Der nervöse Kaufmann wird durch 
Witterungsverhaltnisse in seiner geistigen Arbeit geschadigt. 

3. Unter diese Gruppe fallen diejenigen Lösungen, die einen oder mehrere 
der gegebenen BegrifFe nicht in ihrer realen, sondern in bildlicher resp. sym- 
bolischer Bedeutung verwertet haben. Z. B.: Betrügerisch geschadigte Kaufleute 
pfiegen ihre Entrüstung stürmisch zu auBern. Oder: Tüchtige Kaufleute ver- 
stehen es, sich auch durch das stürmische heutige Wirtschaftsleben hindurch- 




Tuch, Die Dreiwortmetbode als Kombinationsprobe 


275 


zusteuern. Oder: MiOerfolg bewirkt beim KauFmann einen Gefühlssturm. Oder: 
Das starkbefestigte Haus des Kaufmanns nimmt keinen Schaden durch den 
SturmangrifF, ein anderes Mal bat der Börsensturm viel Schaden angerichtet. 
Als recht auFfallende Lösung im negativen Sinne erscheint mir, daO bei einem 
SturmangrifF der Grenadier KauFmann keinen Schaden erlitt. 

4. Bei den Lösungen dieser Gruppe handelt es sich darum, daB zwlschen die 
beiden ersten und das dritte Wort ein oder mehrere BegrifFe zwischengeschaltet 
werden. Ich Führe zunachst als Beispiele an: 

Nicht jeder KauFmann Fürchtet Sturmschaden, z. B. Inhaber von Glasver- 
sicherungsgesellschaFten. Der Gedankengang dieser Versuchsperson war etwa 
Folgender: 

1. Der Sturm beschadigt Fensterscheiben. 

2. Der entstandene Schaden laBt den Geschadigten eine Versicherung bei einer 
GlasversicherungsgesellschaFt nehmen. 

3. Der Inhaber dieses Instituts hat daher durch den Sturm keinen Schaden, 
sondern Vorteil. 

Eine zweite Antwort lautet: Ein Klaviervirtuose erlitt durch einen Sturm 
Schaden am rechten Handgelenk und wurde KauFmann. Der Gedankengang lautet: 

1. Ein Klaviervirtuose leidet durch Sturm Schaden an der rechten Hand. 

2. Hierdurch wird ihm die Ausübung seines BeruFes unmöglich gemacht. 

3. Er muB daher einen anderen BeruF ergreiFen. 

4. Er wird KauFmann. 

Man sieht, daB hier eine Reihe nicht zum Thema gehöriger BegrifFe ein- 
geschaltet und die AuFgabe umgestellt worden ist. Die letzte Konsequenz ergibt 
sich übrigens keineswegs zwangsweise, da natürlich der Klaviervirtuose etwas 
anderes werden kann als gerade KauFmann. 

Diese Art von Lösungen ist ganz besonders wichtig. Sie hat unsere AuF- 
merksamkeit intensiv auF sich gelenkt und durch sie sind wir dazu geFührt worden, 
eine von der üblichen Art abweichende Beurteilung der Güte der gewahlten 
Ausgangsworte und der Bewertung der Lösungen auFzustellen. Wir gingen hier- 
bei von Folgendem Gedankengang aus: 

Das Zwischenschalten von Mittelgliedern stört die streng kausal — logische — 
unmittelbare Verbindung zwischen den drei BegrifFen. Hierdurch wird dem 
Eindringen phantastischer BegrifFsverbindungen Tor und Tür geöfFnet. Es ist 
zweiFellos möglich, zwischen drei BegrifFen, Falls nur möglichst viele Zwischen- 
glieder eingeschaltet werden, immer eine Verbindung herzustellen, wie dies ja 
auch haufig bei den ZuruFen beliebiger Worte aus dem Publikum von Variété- 
künstlern — dann sogar meist noch in gereimter Form — ausgeFührt wird. Ein 
bekanntes Beispiel hierFür ist auch das von Darwin einmal gebrachte, in dem 
er auF den Zusammenhang zwischen einer guten Kinderzucht und dem Vorhanden- 
sein von Katzen hinwies: 


X 




19 * 




276 


Tucb, Die Dreiwortmetbode als Kombinationsprobe 


1. Rlnder bedürfen des Klees. 

2. Der Klee bedarf der Hummel. 

3. Die Hummeln bauen auf den Feldern ihre Nester. 

4. Diese Nester werden von Feldmausen zerstört. 

5. Feldmause werden von Katzen gefressen, also sind 

6. Katzen zur Herbeiführung einer guten Kinderzucht erforderlich. 

Piorkowski*) führt einmal das Beispiel an, wie ein Börsianer aus der Meldung, 

daO in Amerika ein radikaier Republikaner gewahlt wurde, durch Einschaltung 
einer ganzen Reihe von Mittelgliedern und Überlegungen zu dem SchluD kommt, 
Aktien eines gewissen Unternehmens zu kaufen, mit der festen Absicht, sie nach 
kurzer Zeit wieder abzustoQen. Der Gedankengang ist an sich durchaus schlüssig. 
Dennoch könnte ein anderer Börsianer, der irgendeinem anderen politischen 
oder wirtschaftlichen Faktor gröQere Bedeutung beimiOt, zu dem entgegengesetzten 
Resultate kommen. Hieraus zogen wir den SchiuO, daO solche Tests, die einer- 
seits eine spezifische Kenntnis des zu behandelnden Gebietes voraussetzen, und 
andererseits mehr eine psychologische als logische Verknüpfung darstellen, wohl 
geeignet sind, die Fahigkeit, phantastische Gedankenverbindungen herzustellen, 
zu prüfen, aber nicht das rein logische kombinatorische Denken. Das ist ein 
grundlegender Unterschied. Und man sollte unseres Erachtens diese beiden ver- 
schiedenartigen intellektuellen Fahigkeiten nicht durch eine und dieselbe Probe 
zu prüfen versuchen. Will ich das kombinatorische Denken prüfen, so darf ich 
nur die unmittelbare streng logische und kausalbedingte Verbindung von Be- 
griffen zulassen. Kommen dann trotzdem solche phantastischen Lösungen vor, 
wie sie durch Einschaltung mehrerer Begriffe entstehen, so können diese nicht 
zur eigentlichen Bewertung der Fahigkeit zu kombinatorischem Denken heran- 
gezogen werden, wohl aber zur Bestimmung des Typs der Versuchsperson. 

Es sei nunmehr kurz einiges über die erste Probe mit den Ausgangsworten 
„Flüchtling — Wasser — Rettung" gesagt: Die, in derselben Weise wie oben aus- 
geführt, erfolgte Analyse der Begriffe ergab eine überaus klare und übersichtliche 
Gruppierung der Lösungen in vier Hauptgedanken, die sieben gesonderte Lösun¬ 
gen zulieOen. 

Das Wasser bewirkt die Rettung des Flüchtlings: 

1. als Transportmittel, 

2. als lebenserhaltendes Nahrungsmittel, 

3. als Verteidigungsmittel, 

4. als politische Grenze. 

Nr. 1. Das Wasser als Transportmittel bietet zwei Lösungen: 

a) Der Flüchtling kann das Wasser benützen, der Verfolger nicht. Es 
gibt verschiedene Varianten; Das Wasser tragt den Flüchtling direkt 
als Schwimmer, in einem Kahn usw. Diese Lösung ist zwölfmal 
_ gefunden worden. 


*) Piorkowski: „Die psychologische Methodologie der wirtschaftl.Berufseignung.“ Leipzig 1919. 



Tucb, Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe 


277 


b) Der Flüchtling benützt das Wasser nicht als Rettungsmittel, wie sein 
Verfolger erwartet hatte, und entkommt so: einmal. 

Nr. 2. Das Wasser als lebenserhaltendes Nahrungsmittel wird neunmal ge- 
funden. Beispiele: Der Flüchtling ist am Verdursten und hndet eine 
Oase, eine Quelle, auch eine trübe Pfütze. 

Nr. 3. Das Wasser als Verteidigungsmittel wird in zweifacher Weise ange- 
führt, aktiv und passiv: 

a) aktiv. Beispiel: Der Flüchtling bedient sich eines Wasserschlauchs 
gegenüber seinen Verfolgern oder des ausströmenden Dampfes einer 
Leitung oder der Flüchtling vernichtet seine Verfolger durch 
Schleusenöifnung oder er stöOt die Verfolger direkt ins Wasser. 
Diese Varianten wurden je einmal gebracht; 

b) passiv. Der Flüchtling wird durch Wasser als Verteidigungsmittel 
gerettet: Durch die Flut (wie Moses im Roten Meer) — 

durch den Regen, wenn der Flüchtling vor einem Steppenbrand 
flieht, oder 

durch den Regen, der seine Spuren verwischt und ganz kompliziert — 
durch den Regen, der ihn belastende Dokumente vernichtet. Auch 
diese Varianten wurden je einmal gefunden. 

Nr. 4. Das Wasser rettet den Flüchtling, wenn es als politische Grenze dem 
Flüchtling den Übergang gestattet, dem Verfolger nicht. Daö diese 
Variante nur einmal gefunden worden ist, scheint uns den SchluQ zu- 
zulas.sen, daQ diese Versuchsperson durch ihr Milieu (vielieicht hat sie 
derartige Grenzübergange mehrfach beobachtet) zu dieser im aligemeinen 
etwas ferner liegenden Lösung gebracht wurde. 

Von den 32 als unzureichend resp. als unrichtig zu bezeichnenden Lösungen 
seien nur einige besonders charakteristische hervorgehoben: 

1. Der Flüchtling Odysseus wird von Athene aus dem Wasser gerettet. Es 
fehlt jegliche kausale Verknüpfung und ist im Grunde nichts anderes als 
eine Wiederholung des Themas. 

2. Aus Wasser für Nichtschwimmer keine Flucht, auch Rettung schwer. — 
Keineriei Zusammenhang. 

3. Ein Flüchtling streckt die Arme aus dem Wasser und sucht Rettung. Weder 
der Flüchtling noch das Wasser werden in einer ihnen charakteristischen 
Eigenschaft genommen, und könnten leicht durch andere Worte ersetzt werden. 

4. Wasser bildet oft die Rettung für vor dem Leben Flüchtende. Das Wort 
Rettung paOt hier nicht, das Wasser ist dem Lebensmüden das „Mittel“ zum 
Selbstmord. 

5. Der Flüchtling springt vor dem Verfolger ins Wasser, wird aber von einem 
Schupomann gerettet. Die Rettung erfolgt aus dem Wasser, nicht durch 
das Wasser. 

Diese Auswahl mag genügen. 



278 


Tuch, Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe 


Was die Bewertung der Lösungen betrifft, so wurde, wie üblich, die erste 
Lösung mit 2 Punkten, die zweite mit 3, die dritte mit 4 usw. gewertet. In der 
Probe „Flüchtling —Wasser— Rettung“ wurden, wie schon erwahnt, die phan- 
tastischen Lösungen mitgewertet und zwar mit 1 Punkt. 

Hingegen wurden bei dem Test „Kaufmann — Sturm — Schaden®, bei dem aus- 
drücklich die Instruktion gegeben war, phantastische Lösungen nicht zu bringen, 
die dennoch gebrachten in der Weise zur Korrektur der ohne sie aufgestellten 
Rangreihe beniitzt, daiJ den gegebenen Lösungen der Quotiënt aus der Anzahl 
der minderwertigen Lösungen zu der Gesamtzahl der Lösungen hinzugefügt 
wurde. Je kleiner dieser Quotiënt war, d. h. je weniger phantastische Lösungen 
gebracht waren, urn so besser die Leistung. Diese Korrektur erscheint uns be- 
sonders wichtig für die Falie, in denen verschledene Versuchspersonen denselben 
Rangplatz einnehmen und sie ist gerecht, da sie demjenigen, der trotz erfolgter 
Instruktion phantastische Lösungen gibt, unter denen, die mit ihm den gleichen 
Rangplatz haben, die spatere Stelle anweist. 

Als Resultat unserer Untersuchung über die Dreiwortmethode ergaben sich 
folgende Forderungen: a) für die Wahl der in der Aufgabe gegebenen drei Worte 
resp. für die Beurtellung der Güte dieser Aufgabe, b) für die Erteilung der In¬ 
struktion, c) für die Bewertung der Lösungen bei dieser Probe: 

a) Wahl der drei Worte. Der Wahl der Worte hat die Analyse der drei 

Begriffe vorauszugehen. Als Forderungen sind aufzustellen: 

1. Die Worte müssen eindeutig sein (nicht etwa Tau, Tor, Bank o. dgl.). 

2. Die Begriffe müssen in einen ohne Zwlschenglieder herstellbaren kau- 
salen Zusammenhang gebracht werden können. 

3. Der Test darf nicht zu viel Lösungen zulassen. 

b) Die Instruktion zur Prüfung kombinatorischen Denkens hat folgender- 

maOen zu lauten: 

1. Es sollen zwischen je zwei der gegebenen Worte derartige Beziehungen 
hergestellt werden, daO sich aus ihnen unmittelbar, d. h. ohne Mittel- 
glieder, das dritte ergibt. 

2. Symbolische oder bildliche Auffassung der Begriffe ist ausgeschlossen. 

3. Die Reihenfolge der miteinander zu verknüpfenden Begriffe ist so zu 
wahlen, dal3 sich stets eine geschlossene Kausalkette ergibt. 

4. Es sind möglichst viele Lösungen zu geben. 

c) Die Bewertung. 

1. Vollgültig sind nur solche Lösungen, die im Sinne der Instruktion er- 
folgt sind. Sie sind an erster Stelle mit 2, an zwelter mit 3, an 
dritter mit 4 Punkten usw. zu bewerten. 

2. Als halbe Lösung sind zuzulassen und mit 1 zu bewerten Variationen 
schon gegebener Lösungen. 

3. Die trotz gegenteiliger Instruktion gegebenen phantastischen, d. h. mit 
Einschaltung von Zwischengliedern gegebenen Lösungen sind in der 




Tuch, Die Dreiwortmethode als Kombinationsprobe 


279 


Weise zur Korrektur der Rangreihe heranzuziehen, daC der Quotiënt aus 
den unrichtigen und der Gesamtzahl der erfolgten Lösungen den ge- 
gebenen Lösungen hinzugefügt wird. 

4. Diese phantastischen Lösungen sind auDerdem zur Feststellung des Typs 
der Versuchsperson verwertbar. 

Sollte es sich nicht urn die Prüfung des rein kombinatorischen Denkens, son- 
dern urn die Fahigkeit phantastischer Gedankenverbindungen handeln, so fallen 
natürlich die Punkte 3 und 4 der Bewertung fort, und auch diese Lösungen 
sind als vollwertig einzureihen. 


Die Mertnersche Reform-Sprachenlernmethode 

Von Studienrat Dr. phil. Heinrich Muller 

D ie Erlernung fremder Sprachen ist in der heutigen Zeit für unser Volk doppelt 
wichtig, ebenso urn seiner Seibstbehauptung im Wirtschaftskampfe willen wie 
zum weltpolitischen Verstandnis fremder Volksart. Der Tiefstand der deutschen 
Mark und die sehr erschwerten Einreisebedingungen zwingen uns aber, diese 
Sprachen fast ausschlieOlich im Inlande zu studieren. Damit hat die Frage nach 
der besten Sprachenlernmethode erneut und für weite Kreise Interesse gewonnen. 

DaO die früher übliche Schulmethodik zahlreiche Mangel aufwies, werden viele 
Leser aus ihrer eigenen Erfahrung bestatigen können. Die Ergebnisse standen 
meist in keinem Verhaltnis zu der aufgewandten Zeit und Mühewaltung. Der 
Hauptfehier lag in dem Übergewicht der Grammatik, das die Schuier zwang, sich 
einen Wust von syntaktischen Regeln und entlegenen Vokabeln einzupragen, deren 
Schwierigkeit der Verwendbarkeit oft umgekehrt proportional war. Besonders 
drückte lange auf die modernen Sprachen das Vorbild des altsprachlichen Unter- 
richts. Was hier nötig und nützlich sein und zur geistigen Stabilisierung dienen 
konnte, wirkte dort ganz unleidlich; „Gymnasialfranzösisch® und „Gymnasial- 
englisch“ waren daher BegrifFe von zweifelhaftem Klange. Soweit man dabei 
überhaupt von einer psychologischen Orientierung sprechen konnte, muBte man 
feststellen, daB die ganze Lerntechnik fast nur das Gedachtnis in Anspruch nahm, 
das maBlos überlastet wurde. Entschuidigt wird dieser Zustand in etwas durch 
den ganzen Zuschnitt unseres staallichen Bildungswesens, das mit seinen starren 
Pflichtfacherfronten den Lehrer zwingt, ein psychologisch bunt zusammen- 
gewürfeltes Schülermaterial wenigstens einigermaBen im Gleichschritt ans Klassen¬ 
ziel zu bringen, und so des Pensendrills nicht ganz entbehren kann. 

Aber für reifere, der Schule entwachsene Menschen fielen diese Gründe fort, 
und von ihren Bedürfnissen nahm denn auch die Reform ihren Ausgang. Die 
geschatzten Toussaint-Langenscheidtschen Unterrichtsbriefe haben schon vor Jahr- 
zehnten Lernbeflissenen aus allen Standen und Berufen das Sprachenstudium aus 
einer freudlosen Arbeit zu einer genuBreichen gemacht, indem sie ebenso in die 
Sprache wie in die Kultur des fremden Landes einführten und dem Lernenden 



280 


Muller, Die Mertnerscbe Reforin-Sprachenlernmethode 




vom ersten Tage an das genaue Idiom in einer sehr sorgfaltigen phonettschen 
Umschrift boten in Texten, die nicht konventioneli zurecht gemacht waren, sondern 
alle Eigenheiten unmittelbarer SprachauOerung zeigten und den ProzeO des Um- 
setzens in die Muttersprache möglichst auszuschalten suchten. 

Auch die höhere Schule hat sich diesem Vorgange nicht verschlossen und als 
handgreifliches Beispiel für den gewaltigen Fortschritt der Methodik des fremd- 
sprachlichen Unterrichts sei auf das bereits dreiClg Jahre alte englische Unter- 
richtswerk von Hausknecht hingewiesen, das mit gröQter Frische und Lebendig- 
keit auf den Gesprachen zweier englischer Knaben auFgebaut ist, an die sich 
Umformungen des gegebenen SprachstofFes anschlieOen, um dann erst eine kurze 
Zusammenfassung der Grammatik zu bieten, wahrend die Vokabeln mitsamt der 
phonetischen Umschrift in einem getrennt gebundenen Anhang angefügt werden. 

Die restlose Verwertung der hier angebahnten und von der modernen Sprach- 
wissenschaft erarbeiteten psychologischen Einsichten in die Bedingungen erfolg- 
reichen Sprachenstudiums, insbesondere die Erkenntnis, daO das Mittel der Über- 
setzung in fremde Sprachen der Sprachaneignung eher abtraglich als zutraglich 
ist, hat sich nun die Reformsprachmethode Mertner zur Aufgabe gemacht, die 
von ihrem Begründer, Robert Mertner in Kempten, als die mechanisch- 
suggestive bezeichnet wird. In der Schrift „Fremde Sprachen durch mechanische 
Suggestion" hat er seine Grundsatze niedergelegt, und der Umstand, daO diese 
Schrift in drei Jahren weit über hundert Auflagen erlebt hat, spricht für ein 
bestehendes Bedürfnis. Bisher erschien ein englisches, ein französisches und ein 
spanisches Unterrichtswerk, aus je sechs Heften bestehend. 

Das Ganze ist eine Frucht des Weltkrieges, aus Sprachkursen im Gefangenen- 
lager erwachsen, deren anfanglicher MiOerfolg den Verfasser veranlaQte, sich ein- 
gehend mit den Problemen der Sprachmethodik zu beschaftigen, nachdem er 
schon vorher durch langjahrige Tatigkeit im Auslande die allgemein bekannte 
Beobachtung gemacht hatte, daO Leute ohne alle sprachlichen Vorkenntnisse, wie 
Reisende, Oberkellner und Frlseure, sich nach ganz kurzer Zeit oft schon vor- 
trefFlich in der fremden Sprache verstandigten. Die vom Verfasser bei seiner 
Arbeit benutzte Literatur zahlt die geringe Zahl der einschlagigen Schriften auf, 
so neben den alteren von Ebbinghaus, Wundt, Pöhlmann und Bourdon 
die neueren Forschungen von Muller und Pilzecker über das Gedachtnis, 
ferner: F. Franke, Praktische Sprachenerlernung auf Grund der Psychologie 
(Leipzig); Gouin, L’Art d’enseigner et d’étudier les langues (Paris); J.O.Quantz, 
Problems in the psychology of reading (London); Lotti Steffens, Experimentelle 
Beitrage zur Lehre vom ökonomischen Lemen (Leipzig). 

Für die Darstellung der Mertnerschen Methode entnehmen wir daraus nun 
foigendes: Bei der Auswahl des Sprachmaterials ist der Haufigkeitswert der 
Wörter maCgebend. Mertner redet hier vom „Münzsystem der Sprache". Wie 
es in jedem Münzsystem Geldzeichen von den verschiedensten Werten gibt, den 
Pfennig und den Tausendmarkschein, so bestehen ahnliche Verhaltnisse auch in 




Muller, Die Mertnerscbe Reform-Spracbenlernmetbode 


281 


der Sprache. Je haufiger ein Wort angewandt werden kann, urn so gröCer ist 
sein Verwendungswert. Die Anzahl der in diesem Sinne hochwertigen Wörter 
ist beschrankt. Denn von den etwa 80000 Wortern einer Kultursprache sind es 
kaum einige Hundert, denen der Wert eines Worttausenders zugesprochen 
werden kann. Diesem erheblichen Wertunterschied schenken wir für gewöhnlich 
wenig Beachtung, denn die Schatzkammern der Wortmünzen stehen ja stets zu 
unserer beliebigen Verfügung. Beabsichtigen wir jedoch, aus dem Wortschatz 
einer fremden Sprache Erwerbungen zu machen, so muO es für uns von groDer 
Wichtigkeit sein, über die „Valuta" der einzelnen Wortmünzen genau unterrichtet 
zu werden, Wir vergreifen uns sonst vielleicht an den aufgehauften Wort- 
pfennigen, anstatt die Worttausender herauszusuchen. Denn im Bereich des 
Sprachmünzwesens wird der Worttausender zu genau den gleichen Bedingungen 
abgegeben wie der Wortpfennig. In der Kindheit haben wir alle mit sicherem 
Instinkt die hochwertigen Worttausender zuerst ergriffen und die Wortpfennige 
achtlos liegen lassen und selbst Erwachsene, die in einfachen Verhaltnissen leben, 
kommen mit 300 Wörtern taglich aus. 

Daraus ergibt sich als erster Grundsatz, kein minderwertlges Wort dem Oe- 
dachtnis aufzuzwingen, sondern nur solche Wörter der fremden Sprache, die 
sich durch haufiges und kurzfristiges Wiedererscheinen von selbst in Erinnerung 
bringen und den lastigen Lernzwang aufheben. In fünfjahriger Arbeit, ausgeführt 
von mehr als 1000 Personen, wurde, urn eine einwandfreie statistische Unter- 
lage zu schaffen, das ungeheure Material von 11 Millionen Wörtern, die deutschen 
Texten entnommen wurden, genau registriert und auf ihren Haufigkeitswert 
untersucht. Dabei steilte sich heraus, daU die vier Wörtchen „die®, „der", „und" 
und „zu" allein schon 1292144 mal vorgefunden wurden, mithin 11,89% der 
deutschen Sprache ausmachen. Die 66 hauhgsten Wörter kamen 5462068 mal 
vor und steilten somit 50,06% der deutschen Sprache dar. 320 Wörter vereinigten 
7883469 Wiederholungen auf sich, d. h. jeder Auslander, der diese 320 hoch¬ 
wertigen Wörter beherrscht, wird in deutscher Lektüre von 100 Wörtern bereits 
72 verstehen. 

Eine zweite statistische Vorarbeit betraf das Wortverwandtschaftsregister, das 
alle Wörter der fremden Sprache darauf zu untersuchen hatte, ob in irgendeiner 
Hinsicht verwandtschaftliche Beziehungen zu dem begrifflich gleichen deutschen 
Wort bestehen, und nach dem Verwandtschaftsgrade verschledene Klassen auf- 
zustellen hatte. Je gröBer die Verwandtschaft ist, desto schneller und leichter 
wird das fremde Wort vom Gedachtnis des deutschen Lesers übernommen werden. 
Die französischen Wörter normal — feu — dos z. B, würden danach drei Gruppen 
von verschiedener assoziativer Kraft angehören. 

Je nach dem Grade der Verwandtschaft hat dies Register noch die Aufgabe, 
darüber zu entscheiden, wieviel Wiederholungen einem fremden Wort zugemessen 
werden müssen, bevor es in den geistigen Besitz des deutschen Lesers übergeht. 
Diese Kontrolle übt der Wortwiederholungszahler, treffend Assoziations- 



282 


Muller, Die Mertnersche Reform-Sprachenlernmethode 


barometer genannt, der jede im fremden Text vorgekommene Wiederholung 
gewissenhaft bucht und so dem Verfasser genau anzeigt, wie hoch das Assoziations- 
barometer inzwischen bei dem Leser gestiegen ist. Mit Rücksicht auf die Unter- 
schiede der menschlichen Intelligenz wurden dabei die Grenzen der Wortwieder- 
holung erheblich weiter gezogen, als der Normalfall erforderte. Bedarf ein fremdes 
Wort, damit es vom Gedachtnis eines durchschnittlich befahigten Individuums 
übernommen wird, etwa zwölf Vorführungen, so verringert sich diese Zahl urn 
ein erhebliches, wenn zwischen diesen ein gewisser Zeitabstand gelassen wird 
und die einzelnen Vorführungen bei entsprechender Konzentration von Interesse 
und Aufmerksamkeit begleitet werden. Diese Gesetze sind beachtet und sowohl 
auf den Begriffs- als auch auf den Ausspracheanzeiger angewandt. Da diese 
Hilfsmittel, von denen gleich noch die Rede sein wird, den Text aber nicht unter- 
brechen, sondern abseits angeordnet sind, so wird der schneller Apperzipierende 
nicht in seinem Fortschreiten gestort und abgelenkt. Diese Elastizitat der Methode 
ist mithin für solche Personen von besonderem Nutzen, die schon eine gewisse 
Kenntnis der fremden Sprache besitzen und sich nur weiterbilden wollen. 

'lm einzelnen verlauft die Tatigkeit des Benutzers der drei bis jetzt vorliegenden 
Sprachwerke nun folgendermafien. Zuerst findet er Zeitungsausschnitte, die den 
Weltkrieg betreffen und daher im Inhalt interessant und leicht verstandiich, im 
Ausdruck mannigfaltig und unverfalscht sind. Spater folgen Erzahlungen, Novellen 
und Bühnenstücke, denen man die auCerst geschickte Auswahl nachrühmen 
muC. Das Verstandnis des Textes wird durch den „DechiffrierschlüsseP ver- 
mittelt. Kleine Ziffern hinter den Wörtern verweisen das Auge biitzschnell nach 
rechts zu den dort angelegten „Signalstationen", d. h. anfangs neben, spater unter 
dem Text befinden sich Auskunftsspalten, die die phonetische Umschrift des 
fremden Wortes und die deutsche Bedeutung enthalten. Die richtige Lautierung 
der Vokabeln wird durch einen als Lesezeichen gedachten, leichtfaOlichen pho- 
netischen Hilfsanzeiger unterstützt, die richtige Akzentuierung durch einen kleinen 
Strich unter der Tonsilbe angestrebt. 

Die Benutzung dieser Signalstationen schildert der Verfasser unter dem Bilde 
von Schwimmgürtel und Leine, die am Anfang dem Schüler angelegt werden, 
deren er sich aber bald entwöhnt, indem mit jedem Tage die Sicherheit und 
das Vertrauen in die eigenen Krafte wachsen und der Umfang des Schwimm- 
gürtels verringert werden kann, bis schlieOlich nur noch die schlaff herab- 
hangende Leine übrigbleibt; d. h. die bewuOten Randnoten werden nach den 
oben entwickelten psychologischen Gesetzen allmahlich abgebaut und der Ler- 
nende dazu angehalten, in dem fremden Sprachelemente zu denken und zu reden. 

Das so durch fortgesetzte Gewöhnung erlangte Können der Sprache ist an 
praktischem Wert natürlich dem Wissen von der Sprache überlegen. Trotz- 
dem halt auch Mertner den Besitz solider grammatischer Kenntnisse für not- 
wendig, so daC er dem Leser in entsprechenden Abstanden die wichtigsten 
grammatischen Regeln und Übersichten, in der fremden Originalform, gleich 


Muller, Die Mertnerscbe Reform-Sprachenlernmethode 


283 


übermittelt. Das zeitraubende Nachschlagen in Wörterbüchern dagegen Tallt ganz 
fort. Statt dessen hat ein Redaktionsmitglied der „Gesellschaft zurVerbrei- 
tung zeitgemaUer Sprachmethoden" in Kempten einen „Wortbestandsspiegel" 
herausgebracht, der die vom Lernenden endgültig übernommenen Wörter registriert 
und ihm damit den Umfang seines erworbenen Sprachschatzes in einem hand- 
lichen Hefte vor Augen führt. Eine psychologische Grammatik schlieOlich und 
eine Handelslehre und -korrespondenz befinden sich noch in Vorbereitung. 

Alles in allem: eine achtbare Leistung. Mertner hat das Verdienst, die Er- 
gebnisse der experimentellen Psychologie nach dem gegenwartigen Stande der 
Forschung verwertet und mit sicherem Bliek für die Bedürfnisse der Zeit in 
kühnem Wurf ein Werk auf die Beine gestellt zu haben, das das hilFreiche Prinzip 
der Taylorisierung auf das Sprachenstudium übertragt. Seine Genugtuung über 
den durchschlagenden Erfolg ist berechtigt. Gleichwohl können zwei Bedenken 
nicht unterdrückt werden. Nicht jeder Autodidakt wird sich nach der Mertner- 
schen Methode ein idiomatisch richtiges Engiisch und Französisch aneignen, ganz 
abgesehen von den durch die physiologlschen Unterschiede der Sprachwerkzeuge 
gezogenen Grenzen der Fremdiautaneignung. Hierin scheint mir eine Methode 
der persöniichen Wechselrede, wie sie die Berlitz-School pflegt, im Vorteil zu 
sein. Da deren Verbreitungsbezirk freilich beschrankt ist, so kommt als Ersatz 
wieder grade die Mertnerscbe Reformmethode in Frage. 

Zum anderen aber dürfte die „mechanische* Übertragung des fremden Idioms 
in keinem Falie so „mühelos* und „ohne Kopfarbeit* vonstatten gehen, wie es 
in den Prospekten der Gesellschaft in verzeihlichem und psychologisch verstand- 
lichem Optimismus behauptet wird. Der Erfolg wird in hohem Grade von 
energetisch-moralischen Eigenschaften abhangen, der Fahigkeit zur Konzentration, 
der Gewissenhaftigkeit und Ausdauer. Die praktische Psychologie neigt dazu, 
diese Faktoren etwas zu vernachlassigen, weil sie sich der experimentellen Er- 
fassung oft entziehen. 

Und schlieOlich wird auch die sprachliche Begabung wesentlich ins Gewicht 
fallen. DaO eine solche existiert, kann doch wohl nicht bestritten werden. Sie 
tritt nicht so selten und ausgepragt auf wie etwa die mathematische, zeigt sich 
oft nur in einer allgemeinen Disposition für sprachliche Dinge, steigert sich aber 
auch bis zur Genialitat, wie historische Beispiele belegen. Über ihr Wesen und 
ihre Komponenten wissen wir noch herzlich wenig. Vielleicht daO die Praxis 
der Mertnerschen Methode berufen ist, hier wieder auf die Wissenschaft be- 
fruchtend zu wirken und sprachliche Talentproben zu liefern. Bei den nachsten 
Prüfungen Berliner Volksschulkinder zur Aufnahme in höhere Schulen gedenken 
wir einen Versuch in dieser Richtung zu unternehmen. 



284 


Rundschau — Buchbesprecbungen 


Rundschau 


Psychotechnik bei den Finnischen 
Staatseisenbahnen 
Auf Veranlassung des früheren General- 
direktors Professor Dr. Wuolle wurde in 
Helsingfors ein psychotechnisches Labora¬ 
torium eingerichtet. Die ersten Prüfungen 
sind von Dr. Rosenquist und Fraulein Hjelt 
ausgefiihrt worden. Man beabsichtigt, die 
Prüfung auch auf Lokomotivführer und das 
Personal anderer Abteilungen derEisenbahn 
auszudehnen. Das Laboratorium wurde dem 
Vorsteher der Werkstattenbüros der Eisen- 
bahn dienstlich unterstellt. 


Buchbesprecbungen 

Berliner, Anna, Die Bedeutung der 
RangordnungsmethodefürdieWerbe- 
forschung. ZeitschriftfürHandelswissen¬ 
schaft und Handelspraxis 1923, Heft 1. 

Verfasser gibteinen kurzenÜberblick über 
die Rangordnungsmethode, die in der ameri- 
kanischen Geschaftspraxis von psychologisch 
geschulten Werbeforschern allgemein be- 
nutzt werde. 

Dieses Verfahren ist aus dem taglichen 
Leben bekannt: Aus einer Reihe von Bil- 
dern z.B. ist dasjenige auszuwahlen, das am 
besten gefallt, dann dasjenige, das von den 
übrigbleibenden am besten gefallt u.s. f. bis 
eine vollstandige Rangordnung der vorge- 
legten Bilder verhanden ist. Das Verfahren 
wird bei einer groCen Anzahl von Versuchs- 
personen — typischen Reprasentanten — 
vorgenommen und es wird so eine Tabelle 
der Verteilung der Bilder auf die verschie- 
denen Rangplatze bei den einzelnen Ver- 
suchspersonen gewonnen. Aus den mittleren 
Rangplatzen eines jeden Bildes erhalt man 
dann die endgültige Rangreihe der Bilder. 

Die Rangordnungsmethode hat in der 
Werbeforschung vier Anwendungsgebiete: 

1. Sie wird angewandt zur Bestimmung 
des „Atmospharenwertes", worunter 


man die Eigenschaft der Reklame zu ver- 
stehen hat, dem Gegenstand und dem Pu- 
blikum angepaüt zu sein. — Es wird dabei so 
verfahren, dal3 die von einem oder mehreren 
Künstlern gelieferten möglichst zahlreichen 
und mannigfaltigen Entwürfe den Versuchs- 
personen — typischen Reprasentanten — 
vorgelegt werden und daQ diese, wie oben 
beschrieben, denjenigen Entwurf auswUhlen, 
der ihnen am besten geKllt u.s. f. — Jeder 
einzelne Bestandteil der Werbung kann dieser 
Untersuchung unterworfen werden: Fassung 
desTextes, lllustration,Typen, der Name usw. 

II. Das zweite groQe Anwendungsgebiet 
der Rangordnungsmethode betrifft die » Auf- 
machung", z.B. die Untersuchung, welche 
Form der Verpackung die geeignete ist, um 
den angebotenen Gegenstand möglichst groO 
erscheinen zu lassen. Die Instruktion lautet 
hier z. B.: „Finde die gröOte Büchse!“ 

III. Bei dem dritten Gebiet handelt es sich 
um Feststellung objektiver Unterschiede, 
z.B. die Lesbarkeit einer Reklame. 

IV. Das vierte Gebiet ist die Bestimmung 
der Zugkraft. Anfanglich ist dabei so vor- 
gegangen worden, daD die Versuchsperson 
nach der Einstellung, sie sei aufReisen in 
einerfremden Stadt und sie müsse sich einen 
ihr abhanden gekommenen Gegenstand kau- 
fen, sich auf Grund einer Reihe vorgelegter 
Reklameentwürfe entscheiden muO, zu wel- 
cher Firma sie gehen würde. — Spater hat 
man dieses Verfahren vereinfacht, indem 
man einfach als Aufgabe die Frage steilte: 
„Welcher Entwurf sagt Ihnen am mei- 
sten zu?“ 

Für das Gebiet I hat die Rangordnungs¬ 
methode unumstrittene Bedeutung, für II 
groOe, das dritte laOt Raum für Skepsis und 
das vierte ist noch unsicherer. 

Vergleichen wir die von A. Berliner be- 
schriebene Rangordnungsmethode mit der 
in Deutschland üblichen Methode der Re- 



Bucbbesprechungen 


285 


klamebegutachtung •), so ist zunachst eine 
Übereinstimraung zu konstatieren, insofern 
als hier wie dort die Haufigkeitsstatistik bei 
der Begutachtung ausschlaggebend ist. Be- 
gutachter ist nicht mehr wie früher ein ein- 
zelnes Individuum, sondern eine möglichst 
groOe Anzahl Representanten des zumKauf 
zu bestimmenden Publikums, Die Begut¬ 
achtung erfolgt aber — und darin besteht 
die Abweichung — bei der Rangordnungs- 
methode auf subjektiver Grundlage, bei der 
von Moede angewandten Methode auf ob- 
jektiver Grundlage. Bei der letzteren Me¬ 
thode wird die Reklame durch Aussagever- 
suche auf Auffassungs- und Gedachtniswert 
derwerbewichtigeninhalte untersucht. Dazu 
ist als Erganzung die subjektive Methode, 
wie sie von A. Berliner geschildert wird, auch 
bei uns in Gebrauch (siehe Prakt. Psycho¬ 
logie, 2. Jahrg., S. 264): Die Versuchsper- 
sonen werden um ihr Geschmacksurteil 
gefragt und haben die Aufgabe — wenn 
mehrere Entwürfe vorliegen — diese dar- 
nach in eine Rangordnung zu bringen. 

DieRangordnungsmethode hat gegenüber 
der objektiven experimentellen Methode der 
Reklamebegutachtung den Vorteil, dafi sie 
unter Umstanden ökonomischer ist, namlich 
dann, wenn mehrere Entwürfe zur Begut¬ 
achtung vorliegen. Nach der objektiven 
Moedeschen Methode ist es dann notwendig, 
für jeden Entwurf neues homogenes Men- 
schenmaterial als Versuchspersonen zu 
nehmen. Auf der anderen Seite ist die 
Rangordnungsmethode mit manchen Man¬ 
gein behaftet: 

1. Sie ist als subjektive Methode weniger 
zuverlassig als die objektiv-experimen- 
telle Methode. 

2. Sie ist nur anzuwenden, wenn eine „mög¬ 
lichst groBe Anzahr von Entwürfen ver- 


*) Moede, Psychologie der Reklame, Prak¬ 
tische Psychologie, I.Jahrg., 7. Heft. — Schorn, 
Begutachtung von ReÜameplakaten u. Inseraten. 
Praktische Psychologie, 2.Jahrgang, 9. Heft. 


gleichsweise zur Begutachtung vorliegt, 
was sehr oft nicht der Fall ist. 

3. Es ist dabei — wegen der Subjektivitat 
der Methode — eine noch gröCere Anzahl 
von Versuchspersonen notwendig als bei 
der objektiven Methode, umZufallsresul- 
tate auszuschalten. 

Was die vier Anwendungsgebiete der Rang¬ 
ordnungsmethode anlangt, von denen A.Ber¬ 
liner spricht, so ist die Methode wohl am 
geeignetsten für das Gebiet der Beurteilung 
der „Aufmachung". Handelt es sich aber 
hier nicht schon um ein objektives Verfah- 
ren, wenn z. B. die Versuchsperson die Auf¬ 
gabe ausführen soll: „Pinde die gröOte 
Büchse?“ — Inwiefern die Rangordnungs¬ 
methode ein bequemeresMittel bei derPest- 
stellung objektiver Unterschiede darstellt als 
eine objektive Methode, ist nicht einzusehen. 
Es scheint mir bei der Untersuchung der 
Lesbarkeit z. B. nicht weniger bequem aber 
sicherer zu sein, wenn die Versuchspersonen 
die Aufgabe haben anzugeben, was sie lesen 
können, also welche Schrift ihnen subjektiv 
als am besten lesbar erscheint. — Das vierte 
Gebiet, die Bestimmung der Zugkraft, ist — 
wie A. Berliner selbst sagt — am unsicher- 
sten. Besteht das auswahlende Prinzip nur 
darin, wieweit die einzelne Reklame der Ver¬ 
suchsperson zusagt, so handelt es sich ja um 
dasselbe wie bei der Bestimmung des „At- 
mospharenwertes” der Reklame. Das kom- 
pliziertere erste Verfahren hat neben der 
Subjektivitat den Nachteil, daO die Aufgabe 
für einen groBen Teil der Versuchspersonen 
wohl sehr schwer ist, zu entscheiden, auf 
Grund welchen Plakates sie sich zum Kaufe 
entschlieBen würde. Dr. Frank. 

KrauB, H., Betriebsrat und Arbeits- 
wissenschaft. Eine arbeitswissenschaft- 
liche Besprechung an der Berliner Be- 
triebsrateschule. 79 S. Verlag: Gesellschaft 
und Erziehung, Berlin-Lichtenau 1922. 

Das Buch behandelt die an der Berliner 
BetriebsrateschulegehaltenenVortrageüber: 



286 


Buchbesprecbungen 


Die Rationalisierung der Wirtschaft und 
der Betriebsrat, 

Berufswahl und Berufsausbildung des 
industriellen Arbeiters, 

Der rationalisierte Betrieb, 
Psychotechnische Eigriungsprüfungen und 
Anlernverfahren. 

Aufierdem enthalt die kleine Schrift die 
gelegentlich einer Aussprache von Arbeitern 
geauOerten Ansichten über Psychotechnik 
und Taylorsystem. Diese Meinungsaufle- 
rungen zeigen, daG die Arbeiter eher gegen 
als für die arbeitswissenschaftlichen Ver- 
fahren eingenommen sind. Sie zeigen weiter, 
daG noch viel Aufklarungsarbeit geleistet 
werden muG, bis die Bedeutung dieser 
Verfahren von den Arbeitern richtig ge- 
würdigt wird. 

Das Streben der Arbeiterführer und der 
BerlinerBetriebsrateschule, diese Vorurteile 
durch Aufklarung zu beseitigen, kann des- 
halb nur begrüGt werden. Für eine derartige 
Aufklarung in Arbeiterkreisen dürfte das 
Buch ganz besonders geeignet sein. Es bringt 
in knapper, leichtverstandlicher Sprache 
die wesentlichsten Erkenntnisse und prak- 
tischen Anwendungen der Arbeitswissen- 
schaft. AuGerdem gibt es für denjenigen, 
der tiefer in das arbeitswissenschaftliche 
Gebiet eindringen will, eine Aufstellung der 
wichtigsten Literaturquellen. 

Eine Verbreitung des Buches bei den 
Arbeiterführern und in Arbeiterkreisen ware 
nur zu begrüGen. Es ware zu wünschen, 
daG die Betriebsrateschulen und -kurse in 
anderen Stadten oder Betrieben sich eben- 
falls mit diesen Fragen auseinandersetzen; 
auch hierfür wird das vorliegende Buch gute 
Dienste leisten. K. A. Tramm. 

Baerwald, Richard, Das weibliche 
Seelenleben und die Frage seiner 
Gleichwertlgkeit. Buchenbach-Baden, 
Felsenverlag, 1923. 202 Seiten. 

Verfasser geht aus von physiologischen 
Tatsachen: das geringere Gehirngewicht der 
Frau besage gegen eine geringe geistige 


Begabung nichts, da das Gewicht des Ge- 
hirns nur im Vergleich zum Körpergewicht 
in Betracht komme, wobei man das Körper- 
fett auGer Betracht lassen müsse. Es sei zu 
bedenken, daG die Sexualfunktion bei der 
Frau eine weitaus gröGere Rolle spieit und 
daG diese zur Ausbildung unserer Denk- 
funktion in umgekehrtem Verhaltnis steht. 
Die Frau ist sensibler als der Mann, die 
Nervenprozesse laufen bei ihr hemmungs- 
loser ab, womit der RedefluG und das Rede- 
bedürfnis der Frau zusammenhangen; sie 
zeigt auch ein gröGeres Geselligkeitsbedürf- 
nis, sie ist leichter erregbar, womit im Zu- 
sammenhang steht, daG sich bei ihr der Über- 
gang vom Motiv zur Handlung leichter und 
schneller vollzieht. Die Frau zeigt einen 
gröGeren Reichtum an Gefühlen als der 
Mann; daher neigt sie zum Sensationellen, 
zur Angst, Gespensterfurcht; aber auch die 
altruistischen Gefühle sind bei ihr starker 
entwickelt als beim Mann; sie ist liebeFahiger, 
humaner. Auch ihr Pflichtgefühl ist gröGer. 
Ebenso überragt sie den Mann an religiösem 
Gefühl. Schlecht ist das Gedüchtnis der 
Frau; nur wo ein besonderes Interesse vor- 
liegt, ist das Gedachtnis gut. Ihre Phantasie 
ist lebhafter. Ein weiterer Grundzug der 
weiblichen Seele ist ihre konservative Hal- 
tung; weiter ist sie suggestibler und an- 
lehnungsbedürftiger. Die Frage, ob das Weib 
passiver sei, setzt eine Bestimmung dessen 
voraus, was man unter Passivitat verstehen 
will. Frauen sind irritabler, impulsiver, 
rascher entschlossen, kommen daher leichter 
in Tatigkeit; in diesem Sinne sind sie also 
nicht passiver; wohl aber fehlt ihnen die 
Spontanitat, die Selbstandigkeit, sie wan- 
dern mehr in den Bahnen des Hergebrachten. 
Die Frau interessiert sich mehr für Men- 
schen als für Sachen; ihre Soziabilitat ist 
eine gröGere als die des Mannes. Das Den¬ 
ken der Frau ist anschaulicher, intuitiver 
als das des Mannes, ihre unbewuGten Vor- 
stellungsmassen arbeiten stürker, ihr Unter- 
bewuGtsein ist ausschlaggebender. Ihre Be- 





Buchbesprechungen 


287 


Tahigung zur Wissenschaft ist zweifellos 
geringer, sie bewegt sich im Herkömm- 
lichen und pragt nur hengebrachte Ge¬ 
denken utn; da, wo es sich um reine Repro- 
duktion handelt, da leistet sie Erstaunliches. 
Sie ist fleiQiger, arbeitet mehr. Es fehit 
ihr die Abstraktionsfahigkeit, womit ihre 
Abneigung gegen das Rechnen zusammen- 
hangt; der Kausaltrieb ist bei ihr nur 
gering ausgebildet. Wissenschaftliches Stu¬ 
dium strengt sie QbermaQig an. Es fehit 
ihr an Urteilsvorsicht, mit logischen Grün- 
den ist ihr nicht beizukommen, wo das 
Gefühl im Spiele ist, oder wo sie nicht sehen 
will. Auch in der Kunst mangelt es ihr 
an Originalitat, auch hier bewShrt sie 
sich indessen als reproduktive Künstlerin. 
Den Mangel an Originalitat führt Verfasser 
zurück auf die geringere Ichliebe, die die 
Voraussetzung der Originalitat bilde. Hin- 
sichtlich der Unterschiedenheit in den sexu- 
ellen Instinkten und Trieben betont Ver¬ 
fasser, daO eigentlich von Natur das Weib 
die wahlende sei; der Wahltrieb der Frau 
sei auch von eugenischen Gesichtspunkten 
aus der natürlichere; sie ist in erster Linie 
der geistigen Vollkommenheit zugewandt, 
deren Züchtung die Sonderaufgabe der sexu- 
ellen Auslese ist. Ebenso sieht das Streben 
nach dem Kinde auf die geistigen und mora- 
lischen Fahigkeiten des Vaters. Infolge der 
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ver- 
haltnisse hat sich die Frau aber ganz um- 
gestellt, die Manner haben sie „anders ge- 
modelt". Nachgiebigkeit und Persönlich- 
keitsmangel, die der Frau schon an sich 
eigen sind, werden zum Extrem gesteigert 
und zum Ideal erhoben. Der Verlust der 
Wahlmöglichkeit ist die Folge der gröOeren 
Zahl von Frauen. Wo die Frauen in ge- 
ringerer Zahl verhanden sind, wahlt auch 
sie den Mann. Scheinbar finden wir heute 
eine zunehmende Angleichung der beiden 
Geschlechter aneinander. Hiermit sind die 
eigentlich psychologischen Erörterungen des 
Verfassers erledigt; man mag zu dem Pro- 


blem der Psychologie der Frau eine andere 
Grundeinstellung haben und methodisch 
andere Wege gehen, man wird die Ausfüh- 
rungen des Verfassers nicht ohne Interesse 
lesen. Ganz anders jedoch seine lebens- 
reformerischen Darlegungen; er empfiehlt 
die Ehe auf Probe, den Geschlechtsverkehr 
vor der Ehe, damit man sich nicht „mit der 
konventionellen Binde vor den Augen“ ent- 
scheide; er empRehIt, ja er sieht bereits 
kommen die Besoldung der Mütter, wodurch 
der Staat endlich die Mittel an die Hand 
bekame, die Geburtenzahl nicht nur, son- 
dern auch die Geburtenqualitat zu kontrol- 
lieren und eine wirksame Rassenhygiene zu 
treiben: dem erlaubt er gar kein Kind, dem 
eins, dem zwei Kinder usw. Nun, zum Glück 
sind wir einstweilen noch nicht so weit und 
werden diese staatliche Konzessionierung 
des GebSrens wohl auch so bald nicht er-* 
reichen,ganz abgesehen von den höchst frag- 
würdigen Ergebnissen einer solchen Eugenik. 
Liepmann, W., Psychologie der Frau. 

Zweite Auflage. Berlin und Wien, Urban 

& Schwarzenberg, 1922; 322 S. 

„Wer den Sexualismus von der 
Psyche trennt, der trennt Körper von 
Geist und enthauptet so seine For- 
schung selbst." Dieser Satz ist das Leit- 
motiv der Darstellungen des Verfassers. 
Es wird hier der Versuch einer Deutung der 
weiblichen Psyche aus der Sexualfunktion 
heraus unternommen. Dabei will der Ver¬ 
fasser entwicklungsgeschichtlich vorgehen, 
wobei ihn das biogenetische Entwicklungs- 
gesetz leitet. Er geht also aus von einer 
Darstellung der Entwicklung der Sexualitat 
in der Tierreihe; die verschiedenen Formen 
der Fortpflanzung werden zunachst behan¬ 
delt, ihre Entwicklung in der Tierreihe wird 
dann naher betrachtet, und endlich Rndet 
die Entwicklung der Sexualorgane und der 
Sexualitat beim Menschen eine eingehendere 
Darstellung. Dabei kommt Verfasser zu 
einer Reihe von Grundgesetzen der physio- 
logischen Geschlechtsdifferenz; zunachst 



288 


Bucbbesprecbungen 


das Hemmungsgesetz des weiblichen Plas- 
mas, dem die gröOere Trieberregbarkeit des 
mannlichen gegenübersteht; ferner das Ge- 
setz der gröCeren Vulnerabilitat des weib¬ 
lichen Plasmas, d. h. der gröCeren physio- 
logischen Verwundbarkeit, wie sie sich in 
den physiologischen Prozessen der Men- 
struation, der Defloration und der Geburt 
ausspricht. Diesen physiologischen Grund- 
tatsachen entsprechen psychologische, so 
vor allem die gröCere Irritabilitat der weib¬ 
lichen Psyche, welche einen ihrer Grund- 
züge ausmacht. Verfasser untersucht dann 
die Entwicklung der Beziehungen der bei¬ 
den Geschlechter im Tierreich und in der 
Völkerentwicklung; er erörtert eingehend, 
welche Bedeutung die verschiedenen Sinnes- 
organe für die Annaherung der Geschlechter 
haben, um dann auf den so geschaffenen 
<3rundlagen die Individualentwicklung zu be- 
leuchten. Das erotische Moment im Spiel 
des Kindes wird herausgearbeitet, die Um- 
gestaltungen der Sexualitat in der Pubertat 
werden betrachtet, die Erotik analysiert und 
dann die Durchgeistigung der Sexualpsyche 
nach der Geschlechtsreife als Grundzug 
hervorgehoben. Die Erotik laCt sich zer- 
gliedern in den Naturtrieb und den Seelen- 
trieb; der Seelentrieb überwiegt bei der 
Frau, der Naturtrieb beim Manne; in diesem 
Unterschied hat die Polygamie des Mannes 
und die doppelte Moral ihre Ursache. Das 
Zurücktreten des Naturtriebes bei der Frau 
wird auf das Hemmungsgesetz zurückgeführt. 
Eine eingehende Erörterung findet die Ehe, 
welche der Verfasser als biologische Einheit 
und als Stufe zu höherem Menschentum 
charakterisiert. Aus den geschilderten Tat- 
sachen wird dann noch die Promiskuitat und 
die Prostitution abgeleitet. In einem letzten 
Kapitel unternimmt es der Verfasser, kurz 
die Ergebnisse früherer Untersuchungen 
über die Differentialpsychologie der Ge¬ 
schlechter zu besprechen und sie vom Stand- 
punkt seiner Auffassung aus zu deuten. 


Seinen Ausführungen hat der Verfasser ein 
reiches Material an Belegen beigegeben, 
Selbstschilderungen von Hörern und Hörer- 
innen, die sich meistens um das Problem 
der sexuellen Aufklarung gruppieren. 
Wulffen, Erich, Das Weib als Sexual- 
verbrecherin. Berlin, Paul Langen- 
scheidt 1923; 431 Seiten. 

Verfasser versucht die ZusammenhSnge 
zwischen der biologischen Natur des Wei- 
bes und dem Verbrechen aufzudecken. 
Ausgehend von einer kurzgedrangten Dar- 
stellung der allgemeinen Psychologie des 
Weibes und seiner Sexualitat, zeigt er, 
welchen Anteil das weibliche Geschlecht 
überhaupt am Verbrechertum hat; er geht 
dann die einzelnen Verbrechen durch und 
zeigt, wie die besondere psychophysische 
Eigenart des Weibes, insbesondere auch die 
Eigentümlichkeiten seiner Sexualitat, zu 
besonderen Auspragungen der Verbrechen 
führen; so behandelt er die weiblichen Diebe, 
die Betrügerinnen, Brandstifterinnen, die 
Raubmörderinnen, die Totschlagerinnen 
aus gekrankter Ehre, die Giftmischerinnen, 
Gattenmörderinnen, Familien-, Verwandten- 
und Selbstmörderinnen; die grausamen 
Verbrecherinnen (Erzieherinnen, Sklaven- 
halterinnen, politische Verbrecherinnen); 
er behandelt dann eingehend Abtreibung, 
Kindesmord, Aussetzung, Kindesunterschie- 
bung, Kindesentführung, um dann die spe- 
zifisch sexuellen Delikte (Eheschwindel, 
Ehebruch, Nymphomanie, Exhibitionismus, 
Unzucht, Blutschande, die Homosexualitat 
des Weibes, die Kuppelei und die Prosti¬ 
tution) darzustellen. Die einzelnen Kapitel 
bringen reiche Beispiele, zum Teil Material 
aus berühmten Prozessen der letzten Zeit, 
eine groCe Reihe von Abbildungen erhöhen 
den Wert des Werkes, das eine ganz be- 
deutende Leistung darstellt, an der niemand, 
der sich mit kriminalpsychologischen Fragen 
befaCt, vorübergehen kann. 

Erich Stern, GieCen. 


Diesem Heft liegt ein Prospekt von Wendt & Klauwell, Halle a. S. — Carl Marhold, Halle a.S. bei 

über vornehmlich psychologische Werke. 

Für die Schriftleitung verantwortlich : Prof. Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Martel in Leipzig. 




PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. JULI 1923 10. HEFT 


Die Praktische Psychologie erscheinr in monatllchen Heften lm Umfange von zwei Bogen. Preis des Heftes Grundzthl 2.— 
mol Schlüsselzaht des Börsenvereins Oeutscher Buchhindler, die jede Buchbandlung auf Anfrage angeben kann. FQrs Ausland 
besondere Preise. Bestellungen nehmen alle Buchhandiungen, die Post sowie die Verlagsbuchhandlung entgegen. Anzeigen 
vermlttelt die Verlagsbuchhandlung S. Hlrze) in Lelpzlg, KdoigstraOe 2. Postscheckkonto Lelpzig 226. — Alle Manuskript- 
sendungen und darauf bezQgUche Zuschriften sind zu richten an die Adresse der Schrlftleltung: Prof. Dr. Moede und 

Dr. C. Plorkowski, BerlinW30, Luitpoldstra&e 14. 


Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker 

Von Dr.-Ing. Oskar Klutke 
(Mitteilung aus dem Telegrapbentechnischen Reichsamt) 

A uf Ersuchen der Abteilung für Funkerwesen des Telegraphentechnischen 
.Reichsamtes (T. R. A.), der u. a. die Ausbildung der Debeg und Transradio- 
funker obliegt, begann das Referat für wissenschaftliche Betriebsführung (R. f. w. B.) 
im September v. J. eine Eignungsprüfung für den Funkdienst auszuarbeiten, die 
es — dem Wunsche dieser Abteilung entsprechend — ermöglichcn sollte, eine 
geeignete Auslese unter ihren Bewerbern treffen zu können. 

Auf den Hörempfang, als die wichtigste Tatigkeit des Funkers, richteten sich die 
UnternehmungendesR.f.w.B.zunachst. Nach eingehenderpersönlicher Arbeitsstudie 
wurden folgende Eigenschaften als berufswichtig für den Hörempfang erkannt: 

1. Konzentration, 

2. die Fahigkeit, sich bei akustischen Störungen nicht ablenken zu lassen 
und die Aufmerksamkeit nur auf Teile des Gehörten richten zu können, 

3. die Fahigkeit, gleichzeitig Zeichen mit dem Gehör aufzunehmen und andere 
vorher gehörte Zeichen niederzuschreiben, 

4. Gehör für Rhythmus, 

5. Gehör für Unterschiede in der Tonhöhe, 

6. eine deutliche und flüssige Handschrift. 

Auf Grund dieser Feststellungen wurde nachstehend beschriebenes Prüfver- 
fahren ausgearbeitet, das sich aus fünf einzelnen Proben zusammensetzt. Zur 
Prüfung werden benötigt: 

1. Ein Morseapparat und dazugehörige, mit Worten bedruckte Streifen, 

2. ein Wheatstone-Sender mit dazugehörigen, speziell gestanzten Streifen, 

3. eine Summereinrichtung, wie sie in Funkerschulen übiich ist, 

4. ein speziell hergerichteter Tonsummer (Abbildung 1) zur Feststellung der 
Gehörempfindlichkeit, 

5. Kopffernhörer oder lautsprechendes Telephon. 

Probe 1 und 2 

Durch einen Morseapparat lauft ein Streifen mit ungefahr 400 in normalen 
Abstanden gedruckten Worten, Es sind gebrauchliche deutsche Worte, Teile einer 
Erzahlung. Sie sind bei Probe 1 als Klartext gegeben, urn den Prüfling durch 

p. P. IV, 10 20 





290 


Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker 


den Zusammenhang abzulenken, bei Probe 2 gewissermaOen als Codetext, un- 
zusammenhangend, urn den Prüfling nicht abzulenken. Z. B.: „Lerchen die singen 
Frühling im“, wahrend bei Probe 1 der Satz lauten würde: ,Im Frühling singen 
die Lerchen." Die Geschwindigkeit des Apparates ist so eingestellt, daO der 
Streifen 176 cm in einer Minute fortbewegt wird. Die auf dem Streifen stehenden 
Worte werden, sobald sie hinter dem Transportrad sichtbar werden, vom Prö- 
fenden klar und deutlich vorgelesen. Der Morseapparat soll lediglich dazu dienen, 
den Streifen gleichmaDig fortzubewegen, damit die Ansagen in gleichmaOiger Ge¬ 
schwindigkeit erfolgen und die Prüfbedingungen stets gleichbleibend sind. 



Der Prüfling hort das vorgelesene Wort und soll von jedem stets den Anfangs- 
buchstaben niederschreiben. Er kann schreiben, wie er will, ganz gleich ob ge- 
trennt oder zusammenhangend, groQ oder klein, lateinische oder deutsche Buch- 
staben. Für die Prüfung ist nur wesentlich, daO seine Buchstaben klar und 
leserlich sind. 

3. Probe 

Zu dieser Probe wird wiederum ein Morseapparat zur Regelung der Ansage- 
geschwindigkeit und ein mit gebrauchlichen Vornamen bedruckter Streifen be- 
nötigt. Beim Erscheinen eines Namens hinter dem Transportrad wird derselbe 
klar und deutlich von dem Prüfenden angesagt. 

Der Prüfling soll wiederum genau wie vorher nur auf die Anfangsbuchstaben 
seine Aufmerksamkeit richten. Er soll sie aber nicht niederschreiben, sondern 
in Gedanken aneinanderreihen. Durch richtige Aneinanderreihung derselben er- 
halt er einen deutschen Klartext. Es werden jeweils 40—50 Worte angesagt, der 
zu entziifernde Klartext besteht aus der entsprechenden Anzahl Buchstaben. Die 
Prüflinge werden darauf aufmerksam gemacht, daö beim Vorlesen der Vornamen 
Wortabstande nicht gemacht werden, daO sie diese selbst zu hnden haben. 

Es würde zum Beispiel für den Text ,der Wind heult" vorgelesen werden: 
Dora, Emil, Richard, Willy, Irma, Nathan, Dora, Hans, Emil, Ullrich, 
Ludwig, Theodor. 




Klutke, Psychotecbniscbe ETgnungsprüfung für Punker 


291 


Für diese Probe ist eine erschöpfende Erklarung, am besten durch ein Bei- 
spiel, erforderiich. Dieselbe wird Fünfmal hintereinander vorgenommen, jedesmal 
mit einem anderen Satze. Die Zwischenraume der auf den Streifen gedruckten 
Vernamen sind bei der ersten Probe am grööten. Sie verringern sich bei jeder 
folgenden Probe, wodurch eine Veranderung des Ansagetempos erreicht wird. 

4. Probe 

Bei dieser Probe wird der Wheatstonesender mit Streifen, die Summerein- 
richtung und Kopffernhörer benötigt. Auf dem Streifen befinden sich in bestimmten 
Abstanden Zeichen von 3—10 Einheiten (Punkt und Strich). Die Prüflinge sollen 
diese Zeichen nicht in Buchstaben, soweit dies überhaupt möglich ist, übersetzen, 
sondern nur die gehörten Punkte und Striche niederzeichnen. Als praktisch — 
auch für die Auswertung — hat sich das senkrechte Niederschreiben von Punkten 
und Strichen erwiesen, z. B. Strich = /, Punkt = . 

Da es sich bei den Prüfungen um Personen handelt, die keine oder nur geringe 
Ausbildung erhalten haben, so müssen sie zunachst an den für sie unbekannten 
Summerton gewöhnt werden. Man laBt sie deshalb langere Zeit Zeichen durch 
Summer anhören. Die Zeichen können entweder durch ein allgemeines lauttönendes 
Telephon oder durch Vermittlung der Kopffernhörer für jeden besonders ge- 
geben werden. ZweckmaDig ist die Geschwindigkeit, mit der die Zeichen gegeben 
werden, anfangs niedrig zu halten, spater nach elniger Gewöhnung der Prüflinge, 
allmahlich bis Tempo 100 zu steigern. 

5. Probe 

Zur Prüfung der Fahigkeit feine Tonunterschiede aufzufassen, wird ein 
Tonsummer benutzt, mit welchem Töne verschiedener Höhenlage und beliebiger 
Starke erzeugt und mittels Kopffernhörern aufgenommen werden können. Bei der 
Prüfung wird zuerst ein Normalton und jedesmal darauf ein zu vergleichender 
Ton in gleicher, höherer oder tieferer Lage und in gröCerer oder geringerer 
Starke gegeben. Die Prüflinge haben anzugeben, ob der zu vergleichende Ton 
dem Normalton gleicht oder ob er höher oder tiefer ist. Nach der Anzahl der 
dabei gemachten Fehler wird die Gehörempfindlichkeit für Tonunterschiede fest- 
gesteilt. 

Samtliche Proben werden an einem zweiten Tage wiederholt, jedoch mit 
anderen Satzen usw., Zeichen und Tönen. 

Die Auswertung geschieht wie folgt: 

bei der 1. und 2. Probe wird für jeden fehlenden oder falschen Buchstaben 
ein Fehler berechnet, 

bei der 3. Probe für jeden fehlenden Buchstaben ein Fehler, 

bei der 4. Probe für jede fehlende oder falsche Einheit eines Zeichens ein 
Fehler, 

bei Probe 5 für jede falsche Tonangabe ein Fehler. 


20‘ 



292 


Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker 


Die ersten psychologischen Eignungsprüfungen dieser Art begannen bei einem 
Supernumerar-Kursus. Es wurden bis Ende Januar d. J. die Teilnehmer aller bei der 
Abteilung für Funkwesen und bei dem Telegraphenschulamt der Oberpostdirektion 
Berlin vorhandenen Kurse (Debeg- und Transradiokurse sowie Vorbereitungs- 
kurse von Post- qnd Telegraphenbeamten) — insgesamt 154 Personen untersucht. 

Die Ergebnisse der Laboratoriumsprüfung wurden rein zahlenmaOig auf Grund 
der Leistungen berechnet. In jeder Person wurde eine Gesamtnote, die den 
Durchschnltt aus den fünf verschiedenen Proben bildete, gegeben. Die Grenzen 
für die Gesamtnoten sind zur Zeit 1,4 (sehr gut) und 5,2 (sehr schlecht). 

Wie aus den Berichten der Unterrichtsstellen — teilweise an das Reichs- 
postministerium oder an vorgesetzte Dienststellen — hervorgeht, hat die psycho¬ 
technische Eignungsprüfung bei den schlechten Kraften dasselbe Urteil ergeben, 
das bei den Supernumeraren und bei Vorbereitungskursen erst wahrend eines 
mehrwöchigen Unterrichts oder bei anderen Kursen durch die Aufnahme- 
prüfung gewonnen worden ist. 

Auch bei den vom Laboratorium als sehr gut und gut bezeichneten Kraften 
ergab sich bei den wöchentlichen Leistungsvergleichungen fast immer eine Ober- 
einstimmung. Bemerkt wird hierbei, daO aber auch vom Laboratorium als gut 
bezeichnete Krafte nicht immer die Leistungen im Unterricht aufwiesen, die man 
nach dem Ausfall der psychotechnischen Prüfung von ihnen erwartete. Es steilte 
sich jedoch meist heraus, daQ sie beim Unterricht entweder faul und unlustig 
waren oder als Provinzler sich dem GroOstadtIeben zu sehr gewidmet hatten. 
Dadurch wurden die Unterschiede in der Beurteilung erklarlich. Es wird hierbei 
auf einen Fail hingewiesen, bei dem das Urteil der psychotechnischen Prü¬ 
fung, das auf „geeignet” lautete, im Gegensatz zum ungünstigen Urteil der 
Schule stand; auf besonderen Wunsch der psychotechnischen Prüfstelle wurde 
diese Person ausgebildet und ihr konnte vor kurzem das Zeugnis erster Klasse 
erteilt werden. 

Urn für die Brauchbarkeit und Zuverlassigkeit der psychotechnischen Eig¬ 
nungsprüfung weitere Unterlagen und MaDstabe zur Bewertung der Leistungen zu 
erhalten, sind auf Grund der günstigen Ergebnisse bei den oben erwahnten Prü- 
fungen weitere Untersuchungen mit den Angehörigen der Funkabteilung des Haupt- 
telegraphenamts vorgenommen worden. Auch diese Dienststelle erachtet eine 
Auslese des Personals vor der Ausbildung für notwendig. Die Untersuchung 
dieses Personals war für die Erprobung der Zuverlassigkeit des Verfahrens 
sehr wertvoll, da nach Ansicht des R. f. w. B. dort eine Erfolgskontrolle leicht 
möglich ist. Die Betriebsstelle kann infolge genauer Kenntnis des Personals 
auf Grund oft jahrelanger Beobachtung und dauernden Zusammenarbeitens 
ein weit eingehenderes und umfassenderes Urteil abgeben als der Lehrer, der 
die Schüler nur aus den Kursen wahrend einzelner Stunden kennen lernt, ganz 
abgesehen davon, daC Schule und Betrieb oft zu anderslautenden Urteilen infolge 
verschieden gearteter Einstellung kommen müssen. Wenn auch in der Schule 



Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker 


293 


durch die taglichen Übungen ein Bild der Leistungsfahigkeit entsteht, so war 
doch oft in Pallen, wo Unterschiede in der Beurteilung zwischen psychotechnischer 
Prüfstelle und -Amt verlagen, die Schule nicht in der Lage, eine Erklarung zu 
geben, wahrend die Betriebssteile auf Grund genauer Kenntnis der Persönlichkeit 
die Abweichung immer aufklaren konnte. 

Es wurde fast das gesamte Punkbetriebspersonal (71 Personen) der Punk- 
abteilung untersucht. Von diesen Personen bezeichnete das R. f, w. B. drei 
Krafte als ganz hervorragend; diese Beamten wurden auch vom Betrieb als die 
besten bezeichnet. Ebenso bestand bei den guten und mittelmaOigen Kraften 
Übereinstimmung. 

Das Laboratorium bezeichnete von dem Personal der Punkabteilung 15 Per¬ 
sonen als ungeeignet, die „inzwischen wegen ihrer ungenügenden Leistungen aus 
dem Punkbetriebsdienst zurückgezogen worden sind". Bei einzelnen Personen 
stimmten die Prüfergebnisse mit den Urteilen des Amtes nicht überein. Bei ihnen 
sind diese Unterschiede durch das Amt aufgeklart worden. Es handelt sich in diesen 
Pallen urn körperliche Gebrechen, hausliche Sorgen, Unlust oder Widerwillen 
gegen die Prüfung. Das Laboratorium war bei allen Untersuchungen bestrebt, 
Widerstande beim Personal auszuschalten. Der Zweck der Eignungsprüfungen 
wurde erklart und gesagt, daO dem beteiligten Personal durch den Ausfall der 
Untersuchung kein Nachteil in ihrer jetzigen Tatigkeit erwachsen wiirde. Dadurch 
gaben viele ihr Bestes her, wahrend andere infolge grundsatzlicher Abneigung 
gegen jede Prüfung (besonders altere Beamte) sich keine Mühe gaben. Wahr- 
scheinlich lag in einigen Pallen absichtliche Verstellung vor, damit falsche Er- 
gebnisse erzielt wurden. 

Bei den Untersuchungen, an denen sowohl weibliches wie mannliches Personal 
teilnahm, ist klar zutage getreten, daB der Punkdienst nie dem weiblichen Ge- 
schlecht allein überlassen werden darf. Es wurde die Beobachtung gemacht, daB 
viele weibliche Prüflinge, die dabei sehr aufgeregt waren, nach Aussage des Amtes 
zwar den Anforderungen eines ruhigen Betriebes gewachsen sind, aber bei be¬ 
sonderen Anforderungen, z. B. bei Störungen, versagen und die Hilfe des mann- 
lichen Personals in Anspruch zu nehmen gezwungen sind. Es wird vom R. f. 
w. B. daher für den Betrieb als unzweckmaBig und nachteilig angesehen, mehr 
als 50 Prozent weibliche Krafte zu gleicher Zeit im Punkdienst zu beschaftigen. 
Gemeinsam mit Schule und Betrieb hat das R. f. w, B. mit Hilfe der Unter¬ 
suchungen eine Eignungsgrenze festgestellt und gefunden, daB Personen 

a) mit einer Note von 2,7 und besser gute Anlagen für diesen Beruf besitzen, 

b) mit einer Note von 2,6—3,4 mittelmaBig dafür veranlagt, 

c) mit einer Note von 3,5 und schlechter nicht dafür geeignet sind. 

Personen mit einer Note von 2,8—3,4 können durch PleiB und guten Willen 

brauchbare Krafte werden, sind sie dagegen unlustig und trage, so werden sie 
den Anforderungen des Dienstes nicht genügen. 



294 


Klutke, Psychotechnische Eignungsprüfung für Punker 


Nach den bisherigen Erfahrungen hat das Telegraphentechnische Reichsamt 
die Überzeugung gewonnen, daO diese psychotechnische Eignungsprüfung ein Mittel 
ist, KraFte, die die erforderlichen geistigen Anlagen zumFunken nicht besitzen, von 
vornherein als solche zu erkennen, und sie vor der kostspieligen Ausbildung zu 
dieser LauFbahn auszuschalten. 

Dies gilt insbesondere von den Personen, die die neue Funkerlaufbahn (Tele¬ 
graphen-Supernumerare) einschlagen. Sie werden zur Zeit zunachst etwa vier 
Monate für die Telegraphendienstprüfung ausgebildet, bevor sie zu einem Aus- 
bildungskursus für den Funkbetrieb zum Telegraphentechnischen Reichsamt ein- 
berufen werden. ErfahrungsgemaO zeigen sich von diesen Personen immer mehrere 
bei der Aufnahmeprüfung zum Funkerkursus ais ungeeignet und fallen für die 
Funklaufbahn aus. Durch ihren vergeblichen viermonatigen Vorbereitungsdienst 
entstehen der Verwaltung und ihnen selbst erhebliche Kosten, Mühe und Zeit- 
verlust, auch erwachsen der Verwaltung durch die Nichtbesetzung der für diese 
Personen bestimmten Stellen Schwierigkeiten und schlieOlich muQ neues Personal 
dafür angeworben und ausgebildet werden. 

In richtiger Erkenntnis dieser Sachlage haben im Zusammenhang mit der 
psychotechnischen Prüfung die Funkabteilung des Haupttelegraphenamts Berlin 
und die Oberpostdirektion Liegnitz beantragt, daO die Supernumerare vor der 
Einstellung psychotechnisch geprüft und nur die Geeigneten eingestellt werden. 

Das Reichspostministerium hat die Einführung der Prüfung vor Einstellung 
der Bewerber grundsatzlich genehmigt, sich jedoch den Zeitpunkt des Beginns 
der MaOnahme vorbehalten, da noch Vorarbeiten zwecks Ausdehnung des Prüf- 
verfahrens im Reiche zu erledigen sind. Da sich die Bewerber für die Funker¬ 
laufbahn aus allen Teilen Deutschlands melden, ist in Aussicht genommen, die 
Prüfung samtlicher Bewerber nicht in Berlin allein, sondern bei 8—10 Ober- 
postdirektionen des Reichspostgebietes ausführen zu lassen, damit langere Reisen 
und damit verbundene Kosten erspart werden. 


Der Selbstbericht und die Berufsberatung 
der Schüler höherer Lehranstalten 

Von Dr. Heinrich Rosé, 

Leiter des Berutsamtes der Stadt Breslau 

D ie Berufsberatung für die sogenannten höheren Berufe muB auf einer so 
weitgehenden differentiellen Analyse der Psyche des Berufsanwarters fuOen, 
daB mit einem Fragebogen im Telegrammstil (vgl. Praktische Psychologie Jahr- 
gang 1923, Seite 245) nicht auszukommen ist. Wollte man dem Philologen die 
Ausfüllung von mindestens einem Schock Fragen zumuten, so würde er sich bei 
der skeptischen Einstellung gegen die moderne Berufsberatung, urn nicht zu 



Rosé, Der Seibstbericbt und die Berufsberatung der Schuier böherer Lehranstalten 295 


sagen Psychologie, dessen in vielen Pallen weigern, ganz abgesehen überhaupt 
von der Durchführbarkeit umfanglicher Berichte, über die man sehr geteilter 
Meinung sein kann. 

Wir haben daher in Breslau auf Pearsons Idee des Selbstberichtes zurück- 
gegriffen. 

Berufsamt der Stadt Breslau 

Frageliste für Schüler böherer Lehranstalten 

Ein Wort zuvor! 

Sie stehen vor der schwierigen Frage, welchen Beruf Sie wahlen sollen. Von vielen 
Seiten horen Sie ratende MeinungsauGerungen und dennoch sind Sie unsicher in Ihrem 
EntschluQ. Das ist naturgemaO so. Gerade für die Schüler höherer Lehranstalten bietet 
die Berufswahl in unseren Tagen besondere Schwierigkeiten infolge der starken Über- 
füllung fast aller Berufsgruppen, die in Betracht kommen. Der künftige Daseinskampf 
wird besonders schwer werden. Darum hat die deutsche Jugend heute mehr denn je die 
Pflicht, wohl zu überlegen, welchen Arbeitsweg sie einschlagen soll. Nicht auBere oder 
zufallige Gründe dürfen entscheiden, sondern allein das Wissen vom berufen-sein. 
Jeder Mensch kennt sich selbst am besten, sofern er gegen sich selbst ehrlich ist. Seien 
Sie das! Beobachten Sie sich und berichten Sie nachstehend rückhaltlos über Ihre Ab- 
sichten in der Berufsfrage. Alle Ihre Mitteilungen, der Eigenbericht, Arztgutachten werden 
streng vertraulich behandelt. Verheimlichen Sie auch Ihre Schwachen nicht. Es handelt 
sich nicht um Zensuren, sondern darum, Ihnen den für Sie besten Weg zu weisen. Der 
Berufsberater ist zum Schweigen verpflichtet! Das unterzeichnete Berufsamt erbietet sich, 
Ihnen fachmannischen Rat zuteil werden zu lassen. Senden Sie den Fragebogen in ver- 
schlossenem Kuvert durch den Herrn Direktor Ihrer Anstalt kostenfrei oder frankiert 
durch die Post direkt an uns: Gartenstr. 3. Wir stehen Mittwoch und Freitag 12—2 Uhr 
in der mannlichen Abteilung und taglich 11 — 1 Uhr in der weiblichen Abteilung für Sie 
zur Verfügung. Sie erhalten gebührenfrei jede gewünschte Auskunft über die Anforde- 
rungen, Aussichten, Ausbildungskosten aller möglichen Berufe, gegebenenfalls werden 
auch Lehrstellen in Handel und Gewerbe zugewiesen. 

gez. Dr. Rosé. 


Mein kflnftiger Beruf 

Eigenbericht*) des — der. wohnhaft 

(Vor- und Zunime) 

Schüler — Schülerin der Klasse des — der 

(Lehrinstalt) 

Welchen Beruf wahlen Sie?**) 


Aus welchen Gründen? 


a) Haben Eltern, Verwandte oder sonstige Personen (Lehrer, Seelsorger, 
Bekannte) Ihnen geraten, diesen Beruf zu wahlen oder haben Sie sich 
selbst entschlossen? 


•) Vor der Anfertigung des Berichtes bitten wir, die vorstehenden Zeilen zu lesen. 

••) Die Beantwortung der gestellten Fragen erbitten wir in ganzen SStzen. 






296 Rosé, Der Selbstbericht und die Berufsberatung der Schuier böberer Lebranstalten 

b) Unter welcher Begründung? 

c) Würden Sie seibst lieber einen anderen Beruf ergreifen? 

d) Welchen? 

e) Wahlen Sie Ihren Beruf, urn gut zu verdienen oder aus anderen geld- 
lichen Gründen? (Die Ausbildungskosten sind zu hoch u. a. m.) 

f) Wahlen Sie ihn, weil Sie sich für diesen Beruf besonders geeignet glauben? 
Inwiefern? 

g) Sind Ihnen die Berufsanforderungen bekannt? Woher? 

h) Welche Fahigkeiten erscheinen Ihnen für den Beruf besonders wichtig? 

i) Woraus schlieOen Sie, da(3 Sie diese Fahigkeiten besitzen? 

k) Waren Sie beim Arzt und was sagt dieser über Ihren gesundheitlichen 
und sonstigen körperlichen Zustand? 

l) Wofür haben Sie besonderes Interesse? 

m) Was lesen Sie am liebsten? (Schone Literator, technische Literator, auch 
einige Buchtitel besonders geschatzter Bücher angeben!) 

Es soilte wohl kaum nötig sein, zu betonen, daO für den Psychologen von 
Fach ein Selbstbericht jugendlicher Personen seine ganz besonderen Bedenklich- 
keiten hat. Ich verweise auf die treffende Beurteilung von Piorkowski in 
seinem Buch über die „Psychologische Methodologie der wirtschaftlichen Berufs- 
eignung" (Seite 91). Der Breslauer AusschuO für die akademischen Berufe war 
sich bei der Beratung über die Einführung eines Selbstberichtes zur Berufswahl 
der Schüler höherer Lebranstalten durchaus klar, daO dieser Selbstbericht nicht 
die einzige Grondlage der Berufsberatung sein kann. Er soll vielmehr nur 
anregen: 

1. die Frage der Berufswahl als schwerwiegendes Problem anzusehen, 

2. bei der Beantwortung der Frage sich loszulösen von lediglich materiellen 
Gesichtspunkten und ausschlaggebend zu machen das reine Wollen und 
Können; 

3. im Einzelfalle den Rat des öffentlichen Berufsamtes einzuholen als der 
zweckmaOig organisierten Fachstelle für Berufsberatung; 

4. den Arzt auf alle Falie heranzuziehen. 



Rosé, Der Seibstbericht und die Berufsberatung der Schuier höberer Lebranstalten 297 

Der Zweck der Unternehmung sollte uns schon als erreicht geiten, wenn 

1. recht viele Bogen eingehen würden und sich daraus ersehen lieOe, daD die 
Gewissen aufgerüttelt sind; 

2. die Angaben Gelegenheit boten, an dieses oder jenes bedrückte Gemüt, an einen 
NotleidendendurcbEinladungzurRückspracheheranzukommen, um zu helfen; 

3. die Bogen ausreichten, um ein klareres Bild über die Motive der Be- 
rufseingliederung der Schuier höberer Lebranstalten zu gewinnen. 

Dieser dreifache Zweck ist ziemlich erreicht worden, wenn auch zahlenmaOig 
mehr erhofft werden konnte. Von den vielen ausgegebenen Bogen kamen 62 
aus 10 verschiedenen höheren Lebranstalten (Humanistisches Gymnasium, Real- 
gymnasium, Oberrealschule, Realschulen) und 4 aus höheren Madchenschulen 
zurück (diese letzteren sind nicht in den Bericht aufgenommen). Darunter be- 
fanden sich Berichte von 45 Abituriënten neunklassiger Vollanstalten. DaO nicht 
mehr Bogen zurückgegeben wurden, hatte seinen Grund in dem Fehlen einer 
ausdrücklichen Anordnung des Provinzial-Schuikollegiums, die zwar erbeten, 
aber abgelehnt worden war, weil man erst den Erfolg eines zwanglosen Ver- 
suches abwarten wollte. Insbesondere hatte man auch das Bedenken, daO die 
einwandfreie unbeeinhuOte AusfüIIung der Bogen wenig wahrscheinlich sei. Diese 
Befürchtung hatsich nach dem voriiegenden Material als ganzlich hinfallig erwiesen. 
Es wurden zum Teil derart intime (auch sexuelle Dinge erwahnende) Antworten auF 
die Fragen k und I gegeben, daO die Wirkung des Vorspruchs für den Seibstbericht 
ziemlich auOer Zweifel steht. Vielleicht laOt sich diese Wirkung noch verstarken 
und zugleich ein regeres Interesse wachrufen durch Vortrage in Schulgemeinden, 
in deren Verfolg die Blatter behandigt werden, 

Inwieweit die übrige Fragestellung brauchbar ist, dürfte in etwas nach- 
stehende Tabelle 1 dartun: 




Es 

wurden 

beantworte t: 





die Fragen; 

a 

b 

c 

d 

e 

r 

g 

h 


k 

1 

m 

überhaupt 

61 

4S 

52 

21 

55 

52 

55 

47 

39 

42 

55 

55 

vollstandig 

61 

48 

52 

21 

49 

30 

39 

23 

4 

28 

55 

45 

unvoIIstSndig 

— 

— 

— 

— 

6 

22 

16 

24 

35 

14 

— 

11 

gar nicht 

1 

14 

10 

41 

7 

10 

7 

15 

23 

20 

7 

6 


Tabelle 1 


Ein einziger von 62 Berufsanwartern hatte sich, wie aus Tabelle 1 hervor- 
geht, noch gar kein Bild von seiner Zukunft gemacht. Nur 77% geben eine 
mehr oder weniger oberflachliche Begründung ihrer Berufswahl. Lieber einen 
anderen Beruf wahlen würden 30%. Der Grund für die Aufgabe des ursprüng- 
lichen Zukunftswunsches ist zumeist der Zwang wirtschaftlich ungünstiger Ver- 
haltnisse (fast 53% aller Falie), sodann der Glaube an bessere Aussichten. 

Die Tabelle 2 gibt hierfür einen eingehenderen Überblick. 18 von den 19 
angeführten Fallen betreffen übrigens Abituriënten verschiedener neunklassiger 
höherer Lebranstalten; Fall 8 ist Sekundaner. 




298 Rosé, Der Selbstbericht und die BeruFsberatung der Schuier höherer Lehranstalten 


Zur Frage c und ihrer Bejahung 


Lfd. 

Nr. 

Der auFgegebene 
BeruFswunscb 

Der neue 
BeruFswunsch 

Veranlassung des Wechsels 

1 

Lehrer 

Arzt 

eigener Wille, da HoFPnung, in diesem 
BeruF noch mehr leisten zu können 

2 

Chemiker 

Getreide-CroC- 

kauFmann 

auF Rat von Bekannten, der guten Aus* 
sichten halber 

3 

Jurist. Stud. 

Bankbeamter 

es Feblt an Mitteln zum Studium 

4 

Offlzier 

Höherer Verwaltungs- 
beamter 

unter anderen UmstSnden 

5 

Chemiker 

KauFmann (Kolonial- 
waren) 

es Fehlt an Mitteln 

6 

Historiker 

Universitits-LauFb. 

Jurist 

auF Rat der Eltern, da am aussicbts- 
reichsten 

7 

Stud. der Musik und 
Kunstgescbichte 

Architekt 

eigener EntschluIS, da mit diesem BeruF 
mehr zu verdienen ist 

8 

Forstbeamter 

Bankbeamter 

um zu verdienen (ein Verwandter ist 
Bankdirektor) 

9 

Mediziner 

KauFmann 

da das medizinische Studium aussichts* 
los ist 

10 

OFfizier 

Techniker 

ohne Angabe von Gründen 

11 

Mediziner 

KauFmann 

will erst so viel Geld verdienen, daQ er 
spSter seinen ursprünglichen Plan ver- 
wirklichen kann 

12 

Architekt 

Masch.-Ingenieur 

da das Studium Für Architekten nicht in 
Breslau absolviert werden kann 

13 

Jurist. Stud. 

KauFmann 

es Fehlt an Mitteln 

14 

Lehrer 

HQttenbeamter 

weil der LehrberuF so aussichtslos ist 

15 

Mediziner 

KauFmann 

wegen der ÜberFQIIung des ArztberuFes 

16 

Komponist, 

Kapellmeister 

Versicherungsbeamter 

aus flnanziellen Gründen, Not in der 
Familie 

17 

LandwirtschaFtliches 

Studium 

KauFmann 

es Fehlt an Mitteln 

18 

MarineoFfizier 

Jurist. Stud. 

da aussichtsreich 

19 

Diplomat 

KauFmann 

es Fehlt an Mitteln 


Tabelle 2 


Die Beantwortung der Fragen e, f, zum Teil auch b ergibt ein interessantes 
Bild der Motivierung der Berufswahl der Schiller höherer Lehranstalten. Fast 
90% der Antwortenden haben sich seibst entschlossen, doch geben einige aus- 
drücklich an: „Unter dem Beirat des Vaters" u. a. m. Nur ein Fall direkten 
Zwanges gegen den Willen des Jugendlichen ist zu vermerken. Aber bedauer- 
licherweise nur knapp die Halfte aller Einsender wahlen ihren Beruf aus 
Neigung. Für Ve spielen die billigen Ausbiidungskosten und die Verdienst- 
möglichkeit wahrend der Lehrzeit (vornehmlich im kaufmannischen Beruf) eine 
ausschlaggebende Rolle. Für die übrigen % ist das gute Auskommen, die Hoff- 
nung auf eine geachtete gesellschaftliche Stellung maOgebend. Ein junger Mensch 
wahlt seinen Beruf bezeichnenderweise nur, um überhaupt einen solchen zu 
ergreifen. Dies sind nicht sehr erfreuliche Tatsachen. Noch bedenklicher wird 
das Bild, wenn man die Berufskenntnis der Schüler höherer Lehranstalten kennen- 








302 Klemm und Sander, Experim. Untersucbgn. über die Form des HandgrilTes usw. 


II. Gruppe, Balllge Handgriffe: 



Dicke 

der 

Modell: 

Linge: 

Rinne: 

Wulst: 


4. Form .... 115 mm 

25 mm 

40 mm 

D. W. 

III. Gruppe, Konische Handgriffe: 

Lange: 

Dicke 

Rinne; 

der 

Wulst: 

Modell; 

5. Form .... 90 mm 

25 mm 

34 mm 

D. W. 

6. Form .... 110 mm 

25 mm 

34 mm 

Ps. Inst. 

7. Form .... 130 mm 25 mm 

IV. Gruppe, Unsymmetrische Griffe: 

34 mm 

Ps. Inst. 

Linge: 

Dicke 

Rinne: 

der 

Wulst: 

Modell: 

8. Form .... 130 mm 

5 mm 

34 mm 

Ps. Inst. 


Die einzelnen Handgriffe lieOen sich nach der objektiven Messung und ebenso 
nach den subjektiven Schatzungen in eine sichere Stufenfolge bringen. Die Er- 
gebnisse der beiden Methoden stimmten bei den geprüften Versuchspersonen im 
wesentlichen überein. Vor allem erwiesen schon die ersten Versuche, daO der 
ballige Griif (4) nicht in Frage kommt, auch der unsymmetrische Griff (8), der 
an sich der Hand gut angepaOt werden könnte, scheidet als Gebrauchsform wegen 
seiner Ungewöhnlichkeit aus. Zwischen der zylindrischen und konischen Gruppe 
neigte sich die Entscheidung zugunsten der konischen. Und bei diesen wiederum 
gab es je nach Lange und Dicke charakteristische Unterschiede. Als Beispiel 
für die zahlenmaDigen Unterschiede der nach den einzelnen Griffen erhaltenen 
Ergogramme teilen wir im folgenden eine solche Reihe mit, bei der als Leistungs- 
wert die Anzahl der gleichmaOig ausführbaren Einzelpressungen gilt: 

Leistungswert: 78 70 61 48 44 31 29 

Art des Griffes: 7 6 2 5 3 1 4 

Hiernach ist der Handgriff Nr. 7 der beste. Die individuellen Unterschiede 
der Beobachter lagen in der Richtung, daO Leute mit kleinen Handen zur Not 
auch mit dem kürzeren der konischen Griffe Nr. 6 auskamen. Der kürzeste 
dieser konischen Griffe dagegen (Nr. 5) wurde auch bei ungewöhnlich kleinen 
Handen abgelehnt. Die Angaben bei einer normalen Frauenhand deckten sich 
mit dem Durchschnittswert der Mannerhande und führten ebenfalls zu einer sehr 
sicheren Bevorzugung des Handgriffes Nr. 7. 



Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes 


303 


Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes 

(Aus der psychologischen Abteilung des Landesberufsamtes Berlin) 

Von Hellmuth Bogen 

er hauptsachlichste Trager der Eignungsfeststellung mit dem Ziel der Be- 
rufseingliederung einer Person ist vorerst noch die GroOindustrie. In den 
Berufsamtern selb'st hat sich der Zweig der angewandten Psychologie spater und 
nur allmahlich seinen Platz schaffen können. Es dürfte deshalb von Interesse 
sein, einmal in Kürze darzustellen, wie die Psychologie die tagliche Praxis der 
Berufsberatung unterstützt, die in erster Linie Berufsauslese ist, wie aber das 
Berufsamt auch nach der anderen Seite hin Personenauslese treiben muO. 

Nebenstehendes Schema moge die Methode der 
Berufsberatung in ihren Grundzügen veranschaulichen. 

Die stark umrandeten Felder bezeichnen die Angriifs- 
punkte der psychologischen Mitarbeit. 

An der Darstellung des Regelfalles dürfte das 
Wesen der psychologischen Hilfe am deutlichsten 
werden. — Der Bewerber kommt mit einem mehr 
oder weniger fest verankerten Berufswahlwunsch zum 
Berufsberater. Ihm stehen für die Beurteilung der 
seelischen Eignung eines Bewerbers der persönliche 
Eindruck aus der Unterhaltung mit ihm über Neigungen 
und Motive der Wahl, Aussagen der Eltern, Schul- 
zensuren, Produkte der Schul- und freitatigen Arbeit und als wesentlichstes Mittel 
der Beurteilung die Angaben des Lehrers auf dem Schulbogen zur Verfügung. In 
einigen wenigen Pallen trat neuerdings versuchsweise die von mir angeregte Selbst- 
charakteristik des Schülers dazu*). 

(Zur Beurteilung der physischen Eignung liegt das Urteil des Schularztes vor. 
Ferner ist standig die Möglichkeit gegeben, das Urteii des Gewerbearztes einzuholen, 
was bei bestimmten Berufen mit besonders hohen Berufsgefahren immer geschieht.) 

Ausgangspunkt bleibt dem Berater immer das Lehrergutachten, soweit es 
brauchbar vorliegt. Aus einer Statistik über die Ausfüllung seien hier die Zahlen 
der beiden ersten Gesichtspunkte von den zehn, nach denen die Schülercharak- 
teristiken von mir durchgearbeitet worden sind, angegeben. 

Um ein ailgemeines ürteil über die Güte der Ausfüllung zu haben, wurden 
nach grober Vordurchsicht folgende fünf Gesichtspunkte der Zahlung gewonnen: 

a) Sehr eingehend 

b) eingehend 

c) ausreichend 

d) wenig brauchbar 

e) gar nicht 

*) Deine Berufswahl. In: Alfred Bogen, Realienbuch für Berlin, 3. Heft. Leipzig 1922. 


ausgefüllte Karten. 







304 


Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes 


Jede Gruppe wurde durch bestimmte Kriterien, die in Zusammenarbeit von 
Berufsberater und Psychologe gewonnen wurden, gegen die nachstfolgende ab- 
gegrenzt. Bei einer Zufallsauslese von 4000 Berliner und 1233 Neuköllner Karten 
ergaben sich für die einzelnen Gruppen folgende prozentuelle Anteile. 



a 

b 

c 

d 

e 

Berlin 

Neukölln 

0,2% 

0,8% 

m 

B 

19,3% 

8,8% 

9,1% 

13,9% 


Die Beziehungen der Lehrerbeobachtung zum Berufswunsch werden durch 
folgende Zahlen illustriert: 


Lehrerbeobachtung und Berufswunsch bei 2000 Knaben 

2000 Madchen 

zeigen keine Beziehung aufeinander: 

26,6% 

29,3% 

stimmen überein : 

40,6% 

44,5% 

weisen teilweise Differenzen auf : 

21,9% 

21,0% 

Beobachtung weist in andere Richtung : 

10,9% 

5,2% 

100,0% 

100,0% 


Die erste Übersicht erweist, daQ mit rund 75% der Lehrerauskünfte wirklich 
etwas anzufangen ist. — Die zweite Übersicht veranschaulicht, in wie vielen 
Pallen etwa der Berufsberater weiteren psychognostischen Materials bedarf, um, 
zunachst unter dem Gesichtspunkt der psychischen Eignung gesehen, einen nach 
menschlichem Ermessen stichhaltigen positiven Vorschlag als künftigen Beruf 
machen zu können*). 

Gelingt es dem Berufsberater trotz’ Schulbeobachtung und all der anderen 
bereits angeführten Hilfen nicht, sich ein nach seinem Ermessen und eingehen- 
der Kenntnis der in Frage stehenden Berufe eindeutiges Bild von der Eignung 
des Bewerbers zu verschaffen, so überweist er mit Übereinstimmung der Eltern 
denselben der Eignungsprüfstelle zur weiteren Begutachtung. In der überwiegenden 
Zahl der Falie liegt seiner Überweisung folgende Fragestellung zugrunde: Ist X 
für den Beruf A oder B, in welchem Grade oder in welcher Richtung geeignet? 
Falls nicht, für welche andere Berufsgruppe kommt er voraussichtlich in Frage? — 
Seltener ist schon die Fragestellung: Ist X für den Beruf A oder B besser 
geeignet? Sehr selten waren bisher die Falie, in denen man weder vom Kind 
noch vom Berufsberater her einen Anhalt bekam, bei denen also die künftige 


*) Nebenbei sei bemerkt, daH die eingehende Durcbarbeitung der SchGlercharakteristiken 
nach verschiedenen Richtungen bin die Grundlage fGr eine Neuformulierung des Fragescbemas 
gegeben bat, die für die höheren Scbulen zu Oktober 1923, ffir Volksschulen zu Ostern 1924 in 
Anwendung kommen wird. Die Weiterarbeit an der Schulbeobachtung bat überhaupt als eine 
der vornehmsten Aufgaben der psychologischen Abteilung zu geiten. 















Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes 


305 


Berufseingliederung völlig fraglich war. Unter in vier Monaten bearbeiteten 
490 Prüflingen waren nur neun Falie dieser Art zu verzeichnen. 

Eine besondere Kategorle der Prüflinge wird durch die Abteilung des Be¬ 
rufsamtes gestellt, der die Beratung und Vermittlung körperlich, geistig und 
moralisch Anbrüchiger obliegt. Hier wird haufig nicht nach Berufseignung, 
sondern nach Arbeitseignung überhaupt gefragt. 

Eine dritte, sehr wenig zahlreiche Gruppe überweist die Berufsumleitung, 
soweit sie es mit körperlich und geistig Anbrüchigen zu tun hat mit der Frage: 
Ist X noch in irgendeinem Grade für die Ausübung seines früheren Berufs 
geeignet? — Es handelt sich hier urn Erwachsene. Die seltene Inanspruchnahme 
ist durch die meist in groOer AusFührlichkeit vorliegenden Arztgutachten aus 
Rentenverfahren, Anstaltsbehandlung, fürsorgerischer Überwachung u. a. gegeben. 

Nach erfolgter zweitagiger Prüfung geht das Gutachten der Prüfstelle wieder 
der Beratungsabteilung zu, urn dort neb en die andern diagnostischen Kriterien 
als gleichwertiges zu treten. 

Über den Modus der Gutachtengewinnung sei folgendes gesagt. In einer etwa 
fünfstündigen GruppenprüFung handelt es sich zunachst urn Feststellung des all- 
gemeinen „Intelligenzniveaus". In die GruppenprüFung werden Ferner solche 
Proben hineinbezogen, die auf den BeruFswunsch der PrüfÜngsgruppe spezielien 
Bezug haben und sich ohne schwerwiegendere Bedenken im MassenverFahren 
erledigen lassen. An einem der darauffolgenden Tage findet die Einzelprüfung 
statt, bei der analytische Funktionsprüfungen, Schema- und Arbeitsproben gleich- 
berechtigt nebeneinander stehen. Die einzelnen Prüfer — für diffizilere Proben 
natürlich der Psychologe selbst — haben neben der Festlegung der zahlenmaOigen 
Ergebnisse die schriFtliche Aufnahme alles über Benehmen, Arbeitsart, Ausdrucks- 
fahigkeit, Bewegungen usw. Bemerkten zur Pflicht. Die Bewertung der Leistungen 
erfoigt dann nach den üblichen psychologisch-statistischen VerFahren. Normung, 
gründliche Vor- und Durcharbeitung der Wertung, Eichung, Konstanzunter- 
suchungen, Analyse u. dgl. sind AuFgabe des wissenschaftlichen Hilfsarbeiters der 
Abteilung, der in standigem Erfahrungsaustausch mit wissenschaftlichen Instituten 
und Prüfsteilen steht, und dem ferner an Schülern genügendes Versuchspersonen- 
material zur Verfügung steht. Nach Fertigstellung der rein zahlenmaOigen Lei- 
stungsbewertung treten alle Prüfer (in der Regel vier) zur Gutachtersitzung zu- 
sammen. Hier erfolgt die Deutung des psychologischen Profils, die Zusammen- 
arbeitung der notierten Beobachtungen, Vergleich mit den Lehrerangaben auf 
dem Schulbogen und Begutachtung vom Prüfling vorliegender Arbeitsprodukte 
(Zeichnungen, Bastei- und Formarbeiten, Buchbindereien, Aufsatze usw). Alle 
Einzelergebnisse verdichten sich zu einem die qualitative Seite der Prüflings- 
leistung berücksichtigenden kurzen Gutachten, das auf das Prüfzeugnis geschrieben 
wird (Abbildung 2). 

Bisher handeite es sich urn die Prüfung derjenigen Berufsuchenden, die vom 
Berufsamt direkt überwiesen werden. Eine ebenso starke Gruppe etwa wird 

21 


P. P. IV. 10. 



306 


Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes 



Abbildung 2 


von den Prüflingen gestellt, welche durch Firmen, Innungen, Berufsverbande, 
Behörden, öfFentliche und private Fürsorgeinstitutionen zur Begutachtung über- 
wiesen werden. — An Firmen kommen besonders metallindustrielle GroB- und 
Mittelunternehmen jn Frage, z. B.: C. P. Goerz, Dr. P. Meyer, Samsonwerk, 
National-Registrierkassen A.-G., Weber & Co. usw. Bis jetzt gehen die Lehr- 
stellenbewerber von 27 Firmen durch die psychologische Abteilung des L. B. A. 
Prüf- und Gutachtertatigkeit sind die gleiche. Das Zeugnis wird der fordernden 
Firma zugeschickt. Ein Duplikat verbleibt für die Falie, in denen Abweisung 
des Bewerbers bei der Firma erfolgt, beim Berufsamt, so daB der Prüfling nach 
erfolgter Ablehnung nicht in der Luft hangt. Es wird ihm nahe gelegt, in diesem 




Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes 


307 


Fall spater das Berufsamt aufzusuchen, zwecks Beratung und anderweitiger 
Vermittlung. 

Die Gold- und Silberschmiedeinnung und der Verband der Chemigraphen 
und verwandter Gewerbe lassen ihre Lehrlinge jetzt beim Berufsamt prüfen. 
Nach erfolgtem Schluligutachten treten die Prüfausschüsse der Verbande zu- 
sammen und vermittein unter Mitwirkung des psychologischen Assistenten in die 
Lehrstellen nach MaOgabe der aus Prüfung und gegebenenfalls Lehrerbeobach- 
tung vorliegenden individuellen Kriterien. Auch die hier Abgelehnten werden 
den Beratungsabteilungen zu weiterer Bearbeitung übergeben. 

Vom KunstausschuB des Deutschen Musikerverbandes werden halbjahrlich 
etwa 20—35 Bewerber für die Orchesterschule bei der Hochschule für Musik 
überwiesen. Die Bewerber werden einer psychologischen Fahigkeits-, einer 
musikalischen Kenntnis- und Könnensprüfung unterworfen. Nur die psycho¬ 
logische Prüfung ist Sache des Berufsamtes. Sie erstreckt sich nur auf be- 
stimmte, für qualifizierte Musikausübung unbedingt vorauszusetzende tonale, 
rhythmische, manuelle und intellektuelle Grundqualitaten. Die anderen Teile der 
Prüfung sind Sache des Kunstausschusses und der Hochschule selbst. Sie erst 
richten ihr Augenmerk auf das, was man als musikalische Begabung zu bezeichnen 
pflegt. Es muB das hier wegen der haufigen MiBverstandnisse, denen gerade diese 
Prüfung begegnet, besonders hervorgehoben werden. Es soll auch nicht ver- 
schwiegen werden, daB sie noch sehr des Ausbaues bedarf und daB standig daran 
gearbeitet wird. 

Ein neuer Zweig der Gutachtertatigkeit ist durch die Auslese von Büro- und 
Beamtenanwartern für den mittleren kommunalen Verwaltungsdienst gegeben, 
den das L. B. A. im Auftrage eines Berliner Bezirksamtes versuchsweise be- 
arbeitet. Da wir hier noch mitten in Versuchen und Erfolgskontrollen stehen, 
seien sie nur erwahnt. Die Arbeit dürfte grundsatzlich insofern bedeutungsvoll 
sein, als das Berufsamt direkt in den Dienst der lastentragenden Gemeinde tritt. 

Zuletzt sollen die fürsorgerischen Institutionen erwahnt werden. Es kommen . 
hier Jugendliche in Frage (meist Kriegerwaisen), denen diese Wohlfahrtseinrich- 
tungen besondere Zuwendungen für berufliche Spezialausbildung zuteil werden 
lassen wollen. Sie versuchen, sich auf dem Wege über psychologische Begut- 
achtung die GewiBheit zu verschaffen, daB ihre Sonderaufwendungen aller Wahr- 
scheinlichkeit nach den rechten Menschen treffen. 

Ein recht heikles Gebiet für die Arbeit in der Abteilung liegt in den Erfolgs- 
und Bewahrungskontrollen. Unser Lehrlingsmaterial zerstreut sich vorwiegend 
auf eine sehr groBe Zahi von Kleinbetrieben. Die Vergleichbarkeit der Lehr- 
lingsieistungen ist damit wegen der verschiedenen Lehr- und Arbeitsbedingungen 
fast zur Unmöglichkeit geworden. In dankenswerter Weise haben sich jetzt einige 
GroBbetriebe für die Durchführung solcher Kontrollen zur Verfügung gestellt. 
ZahlenmaBiges Materiai iiegt noch nicht vor. Wohl aber mündliche und schrift- 
liche AuBerungen, aus denen erfolgreiche Arbeit hervorgeht. 


21* 



308 


Bogen, Die psychologische Abteilung in der Praxis des Berufsamtes 


Wenn auch ein umfangreiches Gebiet neben der eigentlichen Prüfpraxis und 
Durcharbeitung der Methoden, so sei doch nur kurz der direkten Mitwirkung 
des Psychologen in schwierigen Einzelfallen der Beratung gedacht, ferner seiner 
standigen Arbeit an der Vertiefung der psychologischen Einstellung der Be- 
rufsberater. 

Drei tabellarische Übersichten mogen den Bericht schlieOen. Sie beziehen 
sich auf das erste Trimester Januar bis April 1923. 

Es forderten Gutachten: 


Berufsberatung 

Firmen 

Innungen- 

Berufsverbande 

Behörden 

Wohlfahrts- 

einrichtungen 

264 

70 

57 

94 

5 

53,93 % 

14,03 % 

11,42 % 

18,85 % 

1,0% 


Die Prüflinge verteilen sich nach Alter und Geschlecht: 


13—n 

m 

Jahre 

f 

m 


21 —4( 

m 

) Jahre 
f 

293 

46 

45 

12 

77 

17 


Die Prüfiinge verteilen sich auf folgende Berufsgruppen: 

Land- und Forstwirtschaft. 1 

Steine und Erden. 1 

Metallberufe.257 

Chemische Berufe. 1 

Papierbranche. 2 

Lederindustrie .. 2 

Holzindustrie. 8 

Nahrungsmittelindustrie. 3 

Reinigungs- und Bekleidungsgewerbe. 6 

Graphisches Gewerbe. 18 

Künstlerische Betriebe.21 

Maschinisten, Heizer. 1 

Handel, Verkehr.48 

Freie Berufe. 18 

Verwaltung.94 

Unentschlossene. 9 


490 









































Ebel, Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik 


309 


Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik 

Von H. Ebel, Berlin 

I. 

D en Organisationsformen der Psychotechnik zufolge sind heute hauptsachlich 
drei Arten zu unterscheiden: Behördliche Unternehmen, Hochschulinstitute 
und private PrüFstellen. 

Die behördlichen Unternehmen teilen sich wiederum in Provinzlal- und 
Kommunalinstitute, die an sich aber keine Verschiedenheit aufweisen. Beiden 
ist ein hauptamtlicher, festbesoldeter Leiter gemeinsam, der dem Interessenkampf 
der Arbeitgeber und Arbeitnehmer neutral gegenübersteht und möglichst volks- 
wirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigt. In den für jeden zuganglichen 
Instituten, die in der Regel durch eine Arbeitsgemeinschaft mit einem Berufsamt 
verbunden sind, werden nicht in erster Linie für einen Betrieb die besten Ar- 
beitskrafte ausgelesen, sondern sollen diese auf Grund einer Eigenschaftsdiagnose 
vor allem heraten und eventuell dem Berufe zugewiesen werden, für den sie sich 
am besten eignen. Die enge Zusammenarbeit mit den Berufsamtern weist den 
behördlichen Instituten ganz von selber diese Aufgabe zu. Die Prüfleiter wollen 
nicht zugun^ten bestimmter Interessentenkreise dem Arbeitsmarkt die besten Krafte 
entziehen und lehnen infolgedessen von diesen Interessenten jede hnanzielle 
Unterstützung ab. Nur durch die freie Hand nach allen Seiten meinen die Leiter 
volkswirtschaftlich Wertvolles leisten zu können. Die Gefahr einer Politisierung 
und Bürokratisierung wird als gering bezelchnet, haben doch samtliche Parteien 
ihre Unterstützung zugesagt, behalt doch der Leiter die Initiative, wenn er auch 
für seine Tatigkeit verantwortlich ist. Die Provinzialinstitute von Giese in Halle 
und Weber in Münster i. W., die kommunalen Prüfstellen von Hische in Hannover 
und van der Wyenbergh in Köln sind an dieser Stelle zu erwahnen. 

Eine Mittelstellung nehmen die Hochschulinstitute ein, von denen das Institut 
für industrielle Psychotechnik von Moede das wichtigste ist. In Anlehnung an 
eine Hochschule geschaffen, führen diese Institute neben reger Forschertatigkeit 
Auftrage von bestimmten Auftraggebern aus. Auch die Hochschulinstitute stehen 
den Interessenten als neutrale Gutachtenstellen gegenüber, wenn sie auch nicht 
alle aus dem Zwange der Not heraus finanzielle Unterstützungen ablehnen. Ihr 
Kundenkreis führt sie zu der anderen Aufgabe der Psychotechnik: aus einem 
Überangebot die bestgeeigneten Arbeitskrafte auslesen, d. h. zur Bestenauslese. 
Das Fehlen einer Arbeitsgemeinschaft mit einem Berufsamt — nur bei Stern- 
Hamburg ist mir eine derartige Verbindung bekannt — laöt die Hochschulinstitute 
in der Regel die als ungeeignet Ausgeschiedenen auch nicht heraten; sie geben 
lediglich ihr Gutachten über die Eignung ab. Als Hochschulinstitute sind sie 
neutrale Stellen, die weder dem Parteigetriebe, noch dem InteressenteneinfluD 
unterliegen. 


310 


Ebel, GegenwSrtige Organisationsformen der Psychotechnik 


SchlieOlich sind die privaten Organisationen zu erwahnen, von denen das 
Orga-Institut von Piorkowski im AnschluB an einen Organisationskonzern und das 
Bremer Institut im AnschluB an eine Jugendorganisation gegründet worden sind. 

Als weitere Organisationsformen kann man nach der Tatigkeitsrichtung Zentral- 
institute und Betriebsprüfstellen unterscheiden. Von ihnen können die ersteren 
alle Formen der Organisation in sich schlieBen, wahrend bei den Betriebspriif- 
stellen die Hochschulinstitute fortfallen. Die Zentralprüfstellen erhalten ihr Kenn- 
zeichen dadurch, daB sie die Auftrage mehrerer Auftraggeber in ihrem Labora¬ 
torium verelnen, also eine Bedarfskonzentration vornehmen. An der Spitze steht 
in der Regel ein Fachmann, der sich nur den Aufgaben seines Instituts widmet. 
Er vertritt gewissermaBen einen neuen Lebensberuf, den des Psychotechnikers. 
Die Spezialisierung auf die psychotechnischen Aufgaben und die kontinuierliche 
Tatigkeit geben diesen Instituten vermöge ihrer sicheren und relativ billigen 
Arbeit im Wirtschaftsleben eine groBe Zukunft. Ihnen stehen die Betriebsprüf- 
stellen gegenüber, die nur für ihr eigenes Unternehmen Eignungsprüfungen aus- 
führen. Die Betriebsprüfstellen vermogen sich den Eigenarten Ihres Unternehmens 
völlig anzupassen und werden für gewöhnlich von Ingenieuren geleitet, die als 
erfahrene Praktiker Arbeitsvorgang und Menschen beurteilen können und in 
nebenamtlicher Tatigkeit bei Bedarf die Prüfungen ausführen. Ihre gröBteVoll- 
kommenheit erreichen sie in den Zentralbetriebsprüfstellen, in dene^ bei groBen 
Unternehmen die Elgnungsfeststellungen der eigenen Werke zentralisiert sind. 
Bei fest umschriebenem Aufgabenkreis haben sie im allgemeinen dieselben Funk- 
tionen wie die Zentralinstitute. Zu ihnen treten schlieBIich noch Prüfstellen 
einzelner Berufsamter hinzu, die aber weder der Art noch dem Umfange nach 
mit den anderen zu wetteifern vermogen. 

2. Die Prüfmethoden weichen noch starker voneinander ab als die Formen 
der Organisation. Nach der Art der Auslese lassen sich, den beiden möglichen 
Aufgaben entsprechend, die Komplexdiagnose und die Personenauslese unter¬ 
scheiden. Aus ihrer Verbindung mit der Praxis geht als letztes und höchstes 
Glied die deutsche wissenschaftliche Betriebsführung hervor. 

Die besonders von Giese vertretene Komplexdiagnose erstrebt eine Erfassung 
der Gesamtstruktur des PrüfUngs und Ist aus drei Gründen heraus zu verstehen: 
erstens aus dem Bedarf heraus: Unter den Prüflingen befinden sich Ungelernte, 
Unentschlossene und Rentenempfanger, die für eine passende Arbeit heraten 
werden sollen; zweitens aus volkswirtschaftlichen Erwagungen: Es ist ein wirt- 
schaftlicher Fehler, für einige Interessenten auf Kosten der anderen dem Arbeits- 
markt die besten Krafte zu entziehen; drittens aus wissenschaftlichen Gründen: 
Wie in der Medizin, ist eine Untersuchung nur dann von Werf, wenn sie die 
Gesamtkonstitution berücksichtigt. Diese drei Gründe sprechen für die Komplex¬ 
diagnose, die gleichermaBen einen Schnitt durch die seelische Struktur des Prüf- 
lings legt, ein psychisches Profil des Menschen zeichnet. Sie erstreckt sich so- 
wohl auf die physischen und psychischen Fahigkeiten wie auf moralische und 


Ebel, Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik 


311 


emotionale Eigenschaften und wird aufier mit Apparaten und Tests vor allem 
mit Arbeitsproben und dem Prinzip des Spontanraums durchgeführt. Den Ge- 
danken der Arbeitsprobe stellt Poppelreuther noch mehr als Giese in den Mittel- 
punkt seiner Prüfungen, weil er nur auf diese Weise den ganzen Menschen zu 
erfassen glaubt. 

Die hauptsachlich von Moede verfochtene Personenauslese beschrankt sich 
auf die Eignungsfeststellung für einen bestimmten Beruf oder eine Berufsgruppe. 
Moede behauptet, daO die Psychotechnik die Komplexdiagnose noch nicht zur 
vollen Zufriedenheit durchzuführen vermag. Die Analyse der seelischen Struktur 
ist bezüglich ihrer Vollstandigkeit anfechtbar. Jede psychotechnische Priifung 
hat sich heute noch an den Berufsanforderungen zu orientieren. Diese Berufs- 
analysen fehlen bisher zum gröBten Teil, deshalb muB sich die Psychotechnik 
auf die bescheidenere Aufgabe der Personenauslese beschranken, bel der be- 
stimmte Anforderungcn gegeben sind. Von ihrem Vorhandensein oder Nicht- 
vorhandensein hangt die Eignung ab. Dies festzustellen ist die Aufgabe der 
Priifung, die durch genaue Beobachtung und „liebevolle Einfiihlung“ in die Psyche 
des Prüflings nach ihrer Charakterseite hin erganzt wird. Um das Bild möglichst 
vollstandig zu gestalten, werden aufierdem die Urteile von Schule und Haus, 
sowie die Lebensschicksale mit herangezogen. Diese im praktischen Leben am 
weitesten verbreitete Auslesemethode erreicht ihre Spitze in der dritten Art, der 
deutschen wissenschaftlichen Betriebsführung, die sich vornehmlich an die Namen 
Tramm, Friedrich u. a. knüpft. Friedrich, früher bei der Firma Krupp-Essen, 
halt die psychotechnische Priifung erst dann für wirklich wertvoll, wenn sie über 
die reine Auslese hinaus die Grundlage für die Anlernung und Arbeitsrationali- 
sierung bildet. Die Prüfung ist gewissermaOen nur eine Eigenschaftsanalyse, 
auf die sich der weitere Vorgang der Anlernung und Berufstatigkeit aufbaut. 
Die Anlernung geschieht teils an denselben Apparaten, mit denen die Prüfung 
vorgenommen wird, teils an besonderen Anlernapparaten mit Registriervorrich- 
tung zum Ablesen der Übungskurve. Sie gestaltet sich dadurch einmal wesentlich 
billiger und ermöglicht zum anderen eine Einübung der berufsnotwendigen Grund- 
funktionen. Denselben Gedanken vertritt Tramm von der GroCen Berliner StraCen- 
bahn, der ebenso wie Friedrich gute Erfolge erzielt hat. Die Vorteile gegenüber 
der primitiven Auslese und der Fortschritt gegen das Taylorsystem sind unschwer 
zu erkennen. 

Die Ausdehnung der Prüfungen hat in den letzten Jahren groBe Fort- 
schritte gemacht. In der Industrie hat die Metallindustrie den gröBten Anteil und 
in ihr die Maschinenindustrie. Über 40 Werke der deutschen Maschinenindustrie 
lassen z. B. ihre Lehrlinge nach psychotechnischen Grundsatzen auslesen. Hinzu 
treten etwa fünf SchifFswerften, sechs Eisen- und Stahlwerke, drei Waggonfabriken, 
ferner solche aus der feinmechanischen Industrie und schlieBlich der Gummi-, 
Textil- und Papierindustrie. Auch im Verkehrswesen hat die Psychotechnik früh 
Eingang gefunden. Die ersten Prüfstellen sind die bei der Berliner StraBenbahn 






312 


Ebel, GegenwSrtige Organisationsformen der Psycbotecbnik 


und bei der Eisenbahngeneraldirektion in Dresden. Es haben sich bald die 
Feuerwehren in Beriin und Dresden, die Hamburger Vorortbahn und die Ober- 
postdirektion in Beriin und Dresden diesem Vorgehen angeschiossen. Vor aliem 
entstand 1021 die psychotechnische Versuchsanstalt der Reichseisenbahnverwaltung 
(Psytev) in Eichkamp bei Beriin als Zentralstelle für etwa 93 selbstandige Werk- 
stattenprüfstellen, die jahrlich etwa 5—6000 Lehrstellenbewerber auf ihre Eignung 
hin zu untersuchen haben. lm Handel sind ebenfalls derartige Methoden anzu- 
treifen in Gestalt kaufmannischer Eignungsprüfungen. Oberblicken wir die Be- 
rufe, für die psychotechnische Prüfungen eingeführt sind, so können wir ohne 
weiteres scheiden- in Arbeiter, Angestellte und Beamte. Aus den Reihen der 
Arbeiter werden auCer Meistern vor aliem die Lehrlinge ausgelesen. Die Berufe 
der Schlosser, Werkzeugmacher, Modellschreiner, Schmiede, Drucker, Setzer und 
manche andere gehören hlerher. Aber auch die Praktikanten unterliegen zum 
groDen Teil schon elner Eignungsfeststellung. Sodann sind die anzulernenden 
Arbeitskrafte zu nennen, wie Spulerinnen, Wicklerinnen, Spinnerinnen und Textil- 
arbeiterinnen. Aus der Reihe der Angesteilten sind die StraOenbahnführer, die 
kaufmannischen Lehrlinge und Angesteilten, Zeichnerinnen und Techniker zu er- 
wahnen und unter den Beamten in erster Linie diejenigen der Reichseisenbahn. 
Auch Kraftwagenführer der Post und Feuerwehr, Telephonistinnen, Telegraphisten 
und teilweise Kriminalanwarter werden auf ihre Eignung hin untersucht. Dieser 
recht ansehnlichen Ausdehnung der Prüfungen im Wirtschaftsleben entspricht die 
Zahl der bestehenden Prüfstellen. 

Allein an Zentralinstituten bestehen z. Zt. etwa 20 im Deutschen Reich, hier- 
von vier an Technischen Hochschulen und ahnlichen Instituten, so in Charlotten- 
burg, Darmstadt, Dresden und Cöthen, vier prlvater Art, so das Orga-Institut, 
das Institut für Jugendkunde-Bremen, das des Leipziger Lehrervereins und der 
Buchdruckerlehranstalt, ferner drei an Gewerbeschulen, wenn man sie als Zen- 
tralinstitute bezeichnen will und einige andere. Die Zahl der Betriebsprüfstellen 
ist selbstredend erhebllch gröOer. Weitaus die Mehrzahl der mit psychotech- 
nischen Methoden arbeitenden Werke haben eigene Prüfstellen errichtet. So 
sind mir neben 170 Werken mit Prüfzwang 147 selbstandige Prüfstellen bekannt, 
von denen 93 allein auf die Reichseisenbahnverwaltung entfallen, wahrend 
schatzungsweise etwa 42 Werke, darunter mittlere und kleine, die unter den oben 
angeführten Zahlen nicht enthalten sind, ihre Prüfungen in Zentralstellen vor- 
nehmen lassen. SchlieOlich sind noch einige Nebenprüfstellen bei den Berufs- 
amtern zu erwahnen, die, auOer dem Kölner Institut, bisher gröQere Bedeutung 
nicht erlangt haben. Sie bestehen in Beriin, Bonn, Düsseldorf, OlFenbach und 
München. In Aachen, Breslau und Frankfurt a. M. wird die Einführung geplant. 
Im groQen und ganzen also in den wenigen Jahren ein machtiges Anschwellen! 
GewiO sind noch mancherlei Mangel verhanden, doch der Gedanke der Prüfungen 
dringt in immer breitere Volksschichten. Angesichts dieses groOen Umfanges 
entsteht immer dringender die Frage nach der Bewahrung der Prüfungen. 



Ebel, GegenwSrtige Organisationsformen der Psychotechnik 


313 


Bei der Beantwortung der Frage nach der Bewahrung sind zunachst einige 
Worte über die Methoden der Bewahrungsfeststellung, über die Erfolgskontrolle, 
zu sagen. Auf sie haben Moede und Piorkowski schon hingewiesen und drei 
Arten unterschieden: Total- oder Bruttokontroilen, bei denen die Gesamtleistung 
der Belegschaft mit früheren Ergebnissen oder anderen Belegschaften verglichen 
und an Lohnkosten, Materialverbrauch, Anlernzeiten, Unfallen usw. gemessen 
wird; das Personaigutachten, das sich auf die Angaben der Vorgesetzten über 
Eindruck, Fahigkeiten und Leistungen stützt, und die Teiikontrollc oder Kom- 
ponentenzeriegung, die nur auf einige jeweiis bestimmte Tatigkeiten gerichtet ist. 
Zu ihrer Ausführung dienen vor allem zwei Methoden: die Entwicklungskontrolle, 
welche die Entwicklung des Prüflings im Betriebe verfolgt und eine exakte An- 
lernkurve zu erlangen sucht und die Stufenkontrolle, die von bestimmtenLeistungs- 
stufen auf den Wert der Prüfmethoden schlieOt und auch bei Lehriingskontrollen 
angewandt wird, wenn man nicht die ganze Lehr- bzw. Anlernzeit abwarten will. 

Diesen Methoden haften verschiedene Fehler an. Die Bruttokontrolle ist in- 
folge ihres groben Urteils für eine exakte Erfolgsfeststellung wie für wissen- 
schaftliche Zwecke nur bedingt zu verwerten. Bei den Personaigutachten haben 
die Genannten in zahlreichen Versuchen bis zu 40 ja 65 % Widersprüche der 
ürteile festgestellt. Am brauchbarsten ist dieTeilkontrolle. Bei ihr hat Piorkowski 
darauf hingewiesen, daO eine Potentialfeststellung einer EfFektivIeistung gegen- 
übersteht und sowohl das Meisterurteil, wie die Heranziehung der Akkordlöhne 
nur von bedingtem Wert sind. Am leichtesten ist eine Erfolgskontrolle noch in 
Lehrwerkstatten und Anlernschulen anzustellen. Aber auch bei den Lehrlingen 
tauchen Schwierigkeiten auf. Bolt-Nürnberg hat betont, wie schwierig es ist, die 
vielseitige Tatigkeit in eine Wertreihe zu bringen. Wie soll man die Spezial- 
befahigung in einem Sonderberuf mit dem Versagen in einem anderen kom- 
binieren? Aus ail diesen Gründen betont Moede die Notwendigkeit des Ver- 
handlungstisches, urn ünklarheiten und MiOverstandnisse zu beseitigen, von 
reprasentativen Arbeiten, auf die das praktische Urteil sich beziehen soll. Trotz 
dieser Fehlerquellen, die zur Vorsicht mahnen sollen, liegen doch schon erfreu- 
liche Bewahrungsresultate vor. So hat man bei den Kraftfahrerprüfungen eine 
Minderung der Anlernzeiten um 40% feststellen können, Tramm bei der StraOen- 
bahn sogar um 50% bei etwa 30—40% weniger Unfallen. Desgleichen berichtet 
Friedrich über eine Herabsetzung der Anlernzeiten von Kranführern von 40 auf 
17 und 13, die Schicht zu 3 Stunden. Höchst bedeutsame und erfreuliche Mit- 
teilungen hat Oberbaurat Skutsch, der Leiter der Psytev, machen können. Trotz 
eines infolge der Ausdehnung über das ganze Reich stark schematisierten Prüf- 
verfahrens fallen bei 73 berichtenden Amtern auf 1276 Eingestellte nur 5,8 % 
Versager. Diese Ergebnisse beziehen sich auf die sogen. Personenauslese. 

Die Komplexdiagnose vermag noch nicht auf ein derart umfangreiches und 
gutes Bewahrungsmaterial zurückzublicken. Auf die bei'der psychotechnischen 
Beratung der Kriegsbeschadigten vorliegenden anderen Bedingungen ist weiter 



314 


Ebel, Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik 


unten noch zurückzukommen. Über die Arbeitsfreude, ebenfalls ein Ziel psycho- 
technischen Strebens, liegt nur sehr unbestimmfes Material vor, laCt sie sich 
doch nicht in Zahlen kleiden. Soweit früher infolge schlechter Eignung usw. 
Hemmungen bestanden, sind diese allerdings wesentlich gemindert. Über die 
eigentliche Freude an der Arbeit seiber laDt sich nichts sagen. 

Die letzte und entscheidende Frage ist schlieOlich die nach der Rentabilitat 
der Prüfungen. Gerade hier liegen noch keine festen Zahlenwerte vor. Nehmen 
wir aber den haufigsten Ausspruch der Arbeitgeber zum MaOstab: „wenn es 
Ihnen nur gelingt, die 10%völlig Ungeeigneten von qualifizierten Arbeiten fern- 
zuhalten, dann renderen sich diese Prüfungen”, so ist damit das Bewahrungsurteil 
gesprochen. Es gelingt nicht nur, diese 10% fernzuhalten, sondern darüber 
hinaus auch noch die etwa 20% sehr maQigen Arbeitskrafte, die dann mit unteren 
Arbeiten beschaftigt werden. Hinzu treten noch Imponderabilien, wie die eines 
objektiven Gutachtens und die einer gewissen psychologischen Schulung der 
Vorgesetzten. Die Prüfungen an sich renderen sich also auf jeden Fali. Die 
Frage richtet sich nur auf den zulassigen Grad der Intensitat. Und hier gilt, 
wie überall im Wirtschaftsleben, daö nicht die maximale Übereinstimmung mit 
der Praxis die beste ist, sondern die optimale. Sie richtet sich nach dem Ver- 
haltnis von Mehr-Aufwand zu Mehr-Erfolg und ist für jeden Betrieb verschieden. 

Zum SchluO dieses Überblickes ist noch die Frage nach den Entwicklungs- 
tendenzen aufzuwerfen. An erster Stelie sind die erkennbaren Reduktions- 
bestrebungen zu nennen, die sich einmal auf die geprüften Funktionen und zum 
anderen auf die Prüfmittel beziehen. Das Streben geht unzweifelhaft dahin, die 
Prüfungen zu vereinfachen, Unnötiges, weniger Wertvolles auszuschalten und 
eindeutige, sichere Methoden mit hohem Symptomwert auszubilden. Das Streben 
geht dahin, zu den psychischen Grundfunktionen vorzudringen. Bezüglich der 
Prüfmittel sind zwei Richtungen verhanden: die eine strebt nach Kapitalreduktion, 
die andere nach Intensivierung der Zeit. Möglichst billige und einfache Prüf¬ 
mittel stehen das eine Mal im Vordergrunde, sei es aus hnanziellen Gründen 
oder Wertungen der Prüfungen seiber. Als Gründe werden auCer hnanziellen 
Schwierigkeiten in der Regel angegeben: der Entwicklungszustand der Psycho¬ 
technik und das Risiko der teuren Prazisionsinstrumente, wie etwaige Furcht 
mancher Prüflinge vor komplizierten Apparaten. Möglichster Zeitgewinn steht 
das andere Mal im Vordergrund und hat zu den automatisierten Prüfmitteln und 
der Mechanisierung der Auswertung geführt. Zeit soll gespart werden zum ein- 
gehenden Beobachten, Zeit durch möglichste Mechanisierung des schwierigen 
Auswertungsverfahrens. Zudem ist die apparative Auswertung sicherer, ihr glaubt 
jeder Mensch; Apparate haben den Vorzug, so sagt man, daO sie das Interesse 
anregen und das Gefühl der Objektivitat erzeugen. 

Andererseits sind Ausdehnungsbestrebungen nicht zu verkennen. Namentlich 
wili man die Lücken der psychotechnischen Prüfungen erganzen und vor allem 
in die ethische und emotionale Veranlagung des Prüfiings eindringen; bildet 



Ebel, Gegenwartige Organisationsformen der Psychotechnik 


315 


doch das Fehlen der Charakterbeachtung den schwersten Vorwurf gegen die 
Psychotechnik. Soweit hier* die Beobachtung wahrend der Prüfung nicht aus- 
reicht, werden die Urteile von Schule und EIternhaus mit herangezogen. Trotz- 
dem gerade bei der Charakterbeurteilung durch die Lehrerschaft 40% Versager 
festgestellt worden sind*), will man zur Erganzung auf diese Gutachten nicht ver¬ 
zichten. Aber auch die Fahigkeitsprüfungen selber sollen in ihrem prognostischen 
Wert erhöht werden. In systematischer Arbeitsverteilung sucht man die Fragen der 
Übung und der Berufsanalyse zu klaren. SchlieQlich ist noch auf die Ausdehnungs- 
tendenzen im Wirtschaftsleben hinzuweisen. Sowohl in der Holz-, wie Textil- 
industrie und einigen anderen Fabriken ist man jetzt an die Einführung der Prü- 
fungen herangetreten. Desgleichen sind bei Eisenbahn und Post Erweiterungen 
geplant. Überall rege Tatigkeit und Anerkennung des Prinzips, wenn auch noch 
nicht überall einwandfreie Arbeit. 

Abschliefiend ist noch die wichtige Frage der Organisation zu streifen, bei 
der sich zwei Richtungen gegenüberstehen; Betriebsprüfstelle — Zentralprüfstelle. 
Unleugbar ist das Streben nach Betriebsprüfstellen das starkere. Der anfangliche 
Mangel an Zentralinstituten, die Möglichkeit individueller Anpassung an die 
eigenen Bedürfnisse und nicht zuletzt die Nutzenfrage der Bestenauslese wirken 
in dieser Richtung. Andererseits sind aber auch schon starke Tendenzen zur 
Zentralisierung vorhanden. Die Nachteile nebenamtlicher Leitung, die groOe 
Arbeitsüberlastung sind die Ursachen. Man erkennt, daO fachmannisch geleitete 
Zentralen vielfach sicherer und billiger arbeiten und trotzdem den Interessen des 
eigenen Betriebes dienen können. In einem sind sich beide Bestrebungen einig: 
keine Angliederung an ein kommunales Institut. Man fürchtet die Schwerfallig- 
keit und die Gefahr der Beeinflussung; hingegen wird eine Arbeitsgemeinschaft 
mit einem Berufsamt nicht abgelehnt. Am verbreitetsten hingegen sind die Be¬ 
triebsprüfstellen. 


Rundschau 


Technische Hochschule Stuttgart 
An der Technischen Hochschule Stuttgart 
wird ein psychotechnisches Laboratorium 
eingerichtet. Zur Leitung desselben wurde 
Dr. Fritz Giese (Halle) berufen. Giese 
promovierte 1914 bei Wundt in Leipzig, war 
im Kriege in der Kriegsbeschadigten-Berufs- 
beratung tStig, wurde 1918 Assistent an der 
Nervenstation für Kopfschüsse zu Köln bei 


Poppelreuter. 1919 arbeitete er unter Moede 
in Berlin und griindete im selben Jahr das 
Institut für praktische Psychologie zu Halle, 
das von Dr. A. Martin übernommen werden 
wird. 1920 wurde er ao. Dozent an der 
Handelshochschule Cöthen und 1921 an der 
rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultat 
der Universitat Halle mit einem Lehrauftrag 
für Wirtschaftspsychologie betraut. 


*) Vgl. Moede, Über Beobachtungsbögen, Praktische Psychologie IV, 6. 



316 


Buchbesprecbungen 


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Dunkmann, Karl, Die Lehre vom Be* 
ruf. Eine Einführung in die Geschichte 
und Soziologie des Berufs. Trowitzsch 
& Sohn, Berlin 1922. 

Das dem Reichsarbeitsmioister Dr. 
Brauns gewidmete Buch von Professor 
Dunkmann ist der systematische Versuch, 
den „Beruf“ von allen seinen Richtungen zu 
behandeln. Der Verfasser gliedert seine 
Arbeiten in folgende Teile: 

Erstes Buch. Geschichte des Berufs. 
Der Beruf in der Vorzeit. Der Beruf im 
Altertum. Der Beruf im Urchristentum. Der 
Beruf bei Luther und im Luthertum. Der 
Beruf bei Calvin und im Calvinismus. Der 
Beruf im Zeitalter der Aufklarung und des 
Idealismus. Der Beruf im Zeitalter des 
-Kapitalismus und des Sozialismus. Rück- 
blick auf die Geschichte des Berufs. 

Zweites Buch. Soziologie des Berufs. 

I. Der Berufsbegriff. Bedeutung der 
Untersuchung. Der Ertrag der geschicht- 
lichen Darstellung. Der soziologische Be- 
rufsbegriff. Beruf und Religion. Beruf und 
Wirtschaft. Beruf und Arbeitsteilung. 

II. Die Differenzierung der Berufe. 
Einleitung. Die quantitative Differenzierung 
der Arbeitsteilung: Die Berufsstande. Die 
qualitative Differenzierung der Arbeitslei- 
stung: Die Berufstypen. Die Differenzierung 
nach Graden: Die Berufsklassen. Die poli- 
tische Differenzierung nach Verbanden und 
Genossenschaften. 

III. Die Differenzierung der Be- 
gabungen. Einleitung. Die Differenzie¬ 
rung in der theoretischen Psychologie. Die 
Differenzierung in der angewandten Psycho¬ 
logie. Die soziologische Differenzierung. 

IV. Die Realisierung des Berufs- 
ideals. Einleitung. Die Freiheit der Be- 
rufswahl. Probleme der Berufsberatung: 
a) Grenzen der Berufsberatung; b) Positive 
Aufgaben der Berufsberatung. Spezialfragen 


der Berufsberatung: Frauenberufe, akade- 
mische Berufe, Organisation der Berufs¬ 
beratung. Zur Berufsstatistik. Literatur- 
verzeichnis. 

Die Aufgabe, die sich damit der Verfasser 
gestellt hat, ist eine derart umfassende, daQ 
man es leicht verstehen kann, daQ dieses 
Buch bisher noch nicht geschrieben worden 
ist. In Anbetracht des gewaltigen Umfanges 
des Stoffes muD man die Bewaltigung der 
Aufgabe als in hohem MaQe gelungen an- 
sehen. Neben der psychologischen Seite, 
die im dritten Kapitel „Differenzierung der 
Begabungen “ behandelt wird, sind besonders 
die soziologischen Beziehungen der ver- 
schiedenen Berufsgruppen und Berufe in 
sehr wertvoller Weise dargestellt und be¬ 
handelt. 

Es ist zu wünschen, daQ dieses Buch nicht 
nur bei allen Berufsamtern, sondern bei 
allen soziologischen und kulturwissenschaft- 
lichen Forschungsstellen Eingang hndet. 

Kimura, Dr. Ritsuro: Ermüdungs- 
studiën bei genau bemessener körper- 
iicher Arbeit. Aus dem Hygienischen 
Institut der Universitat Berlin. Zeitschrift 
für Hygiene und Infektionskrankheiten, 
Band 98, 1922. 

Der Verfasser setzte zum Ziel der ge- 
nannten Studiën, die verschiedenen in 
der Literatur angegebenen ErmüdungsmeO- 
methoden auf ihre Anwendbarkeit und Ver- 
laQlichkeit bei verschiedener, genau be- 
stimmter Muskelarbeit zu prüfen, um mit 
den am meisten tauglichen Methoden den 
EinfluQ der Temperatur, Luftfeuchtigkeit und 
des C02-Gehalts des Arbeitsraumes auf die 
Ermüdung festzustellen. Von besonderem 
Interesse ist der erste kritische Teil der Ar¬ 
beit. Obwohl Verfasser selbst zum Schlusse 
seiner Betrachtungen zugeben muO, daO „zur 
Beurteilung des ermüdenden Einflusses der 
Arbeit in der Praxis* die untersuchten Me- 



Bucbbesprecbungen 


317 


thoden „nicht genügen**, finden wir in seinen 
Versuchsresultaten viel Bemerkenswertes. 

Namentlich untersuchte Kimura die Er- 
müdungsmeDmethoden mittels Dynamo¬ 
meter und Ergographen, die Baursche 
Akkomodationsbreiten -Methode, die 
Blutdruck-, Pulsfrequenz- und Blut- 
verteiiungsanderung bei körperlicher 
Arbeit und schlieOlich das Verhalten der 
Reaktionszeiten sowohl bei einfachen 
wie auch komplizierten Reaktionen. Zu 
der von den Versuchspersonen zu leistenden 
genau dosierbaren körperlichen Arbeit wurde 
durchweg ein Ergometer nach Zuntz ver- 
wendet. 

Mit dem Dynamometer sollte der 
Unterschied der Druckkraft der rechten Hand 
vor und nach der Arbeit festgestellt werden. 
Verwendet wurde ein einfaches Collin- 
sches Dynamometer, unter Berücksichtigung 
der dem Instrumente anhaftenden möglichen 
Fehler und bei einer einheitlichen, genau 
angegebenen Versuchstechnik. Die mit 
21 Versuchspersonen durchgeführten 25 Ver- 
suchsreihen zeigen, dal3 die Druckkraft der 
Hand bei schwerer Arbeit mit nur einer Aus- 
nahme herabgesetzt ist, jedoch bei manchen 
schon bei etwas leichter Arbeit, bei ganz 
leichter Arbeit bei den meisten verstarkt ist. 
Aus diesem Umstand, ferner daraus, daQ die 
grööte Verminderung 19,2%, die mittlere 
7,4% betrug, folgt, daC diese Methode bei 
der Beurteilung von Einzelfallen kein ge- 
nügend differenzierendes ErmüdungsmaO 
liefert. 

Über die Ermüdungsmessung mit dem 
Ergographen betont schon Mosso: „Um 
an jedem Tage dieselben Kurven zu erzielen, 
muB unser Körper in denselben Verhalt- 
nissen erhalten bleiben" usw. DaB dies bei 
mehrere Wochen beanspruchenden Ver- 
suchsreihen praktisch fast unerreichbar ist, 
versteht sich von selbst. Kimura prüfte 
auch die Beobachtung Stanley Kents, der 
zufolge die Schnelligkeit, mit der sich der 
am Ergographen völlig erschöpfte Muskei 


erholt, in unermüdetem Zustande gröBer ist 
als nach vorheriger Ermüdung. Die zahl- 
reichen Kontroliversuche ergaben auch hier 
kein eindeutiges Resultat, wenn sie auch im 
allgemeinen die Wahrscheinlichkeit des von 
Kent angegebenen Zusammenhanges zu 
bestatigen scheinen. 

Die von Baur als MaB der Ermüdung an- 
gegebene Veranderung des Nah- und Fern- 
punktes bzw. der Akkommodationsbreité des 
Auges findet durch Verfassers Versuche 
nur insofern eine Bestatigung, daB er auch 
fast immer ein Abrücken des Fernpunktes 
nach Ermüdung beobachtet und bemerkt, 
daB auch die Methode, .„bei der man völlig 
auf die Angabe der Versuchsperson ange- 
wiesen ist, zu subjektiv ist, als daB sie als 
eine exakte Methode zur Messung der Er¬ 
müdung geiten könnte*. 

Bezüglich der mit einem Riva-Rocci- 
schen Sphygmomanometer beobachteten 
Blutdruckinderung wurde von Verfasser 
bei 1/3 seiner Versuchspersonen gleich nach 
geleisteter Arbeit ein Abfall des Blutdruckes, 
bei den übrigen ein Ansteigen oder annahernd 
unverandertes Verhalten festgestellt. „Trotz 
dieser Verschiedenheit gleich nach der Ar¬ 
beit zeigte der Blutdruck nach kurzer Ruhe 
— etwa 1 0 Minuten nach der Arbeit — o h n e 
Ausnahme ein Absinken oder die Norm.® 
Nach leichten Arbeiten wird die Norm in 
10—30 Minuten wieder erreicht, nach 
schwerer Arbeit oft auch nach 1 Stunde 
Ruhe noch nicht, sondern bleibt — unab- 
hangigvon einem etwaigen anfanglichen An- 
stieg — dauernd tiefer. 

Die Pulsfrequenz erreicht sofort nach 
der Arbeit ihr Maximum und sinkt nach 
einer Zeit von 10 Minuten bis 1 Stunde 
auf normale Zahl. 

Mit der plethysmographischen Me¬ 
thode, die zu einer objektiven Feststellung 
des Ermüdungszustandes besonders Ernst 
Web er anwendete,wurdenzuerstan24 Ver¬ 
suchspersonen in unermüdetem Zustande 
die Volumveranderung des linken Unter- 



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armes bei einer Dorsalflexion des rechten 
Fuöes beobachtet. Deutlich zeigten nur 
6 Versuchspersonen einen An- und Abstieg 
der Armvolumkurve wahrend der Hilfsbe- 
wegung und Entspannung des FuOes. Bei 
2 Versuchspersonen war die Neigung zu 
entgegengesetztem Verhaken festzustellen. 
Die übrigen Personen gaben entweder gar 
keine oder undeutliche oder höchstens teil- 
weise feststellbare Armvolumzunahme im 
Sinne Webers. Nach Ermüdung am Ergo- 
meter zeigte sich von 8 Versuchspersonen 
bei 6 ein deutlicher Abfall des Armvolumens 
wahrend der Hilfsbewegung, wogegen 1 Ver- 
suchsperson sowohl vor wie nach der Ergo- 
meterarbeit keine Veranderung der Volum- 
kurve aufwies und bei 1 Versuchsperson 
sogar nach gewaltiger Arbeit(über 55000 mkg 
in -1 Stunde) bei starkem subjektiven Er- 
müdungsempfinden eine Zunahme des Arm¬ 
volumens in der Hilfsbewegung — wie im 
unermüdeten Zustande—zu verzeichnen war. 

Von dem experimentalpsychologischen 
Verfahren wurde erstens die Veranderung 
der Reaktionszeit bei einfacher Reaktion 
auf akustischen Reiz beobachtet. Verfasser 
fand, daU viel eher die meistens eintretende 
Streuungszunahme, als eine von anderen 
Autoren angenommene Zunahme der Re¬ 
aktionszeit als ein Mali fiir die Ermüdung 
dienen könnte, wenn die Schwankungen 
selbst nicht geringer waren als die Unter- 
schiede, welche durch Verschiebungen in 
der Aufmerksamkeit auch ohne Ermüdung 
verursacht werden können. 

SchlieBlich wurden auch noch Re akti ons- 
versuche mit einer Komplikationsappara- 
tur (Wahlreaktionen) angestellt, die im 
wesentlichen auch zu demselben Resultat 
führen, wie die einfachen Reaktionsversuche. 
Allerdings war hier in 5 Fallen von 6 auch 
eine Verlangerung der Reaktionszeit nach 
schwererer Körperarbeit eindeutig zu ver¬ 
zeichnen. 

Nach einer gewissenhaften kritischen Zu- 
sammenfassung der oben im Auszuge wieder- 


gegebenen Resultate kommt K i m u ra zu der 
eingangs angeführten Folgerung. Über die 
geprüften Methoden wird folgendes zu- 
sammengefaQt: „Sie lassen wohl einen ge- 
wissen SchluD auf die Abnahme der Lei- 
stungsfahigkeit einer Einzelperson zu, doch 
bestehen schon hier betrachtliche Schwierig- 
keiten. Ganz unzulassig ist es dagegen, die 
ermüdende "Wirkung einer bestimmten Ar- 
beitsmenge im allgemeinen dadurch be- 
stimmen zu wollen, daC man aus der Zahl 
der Arbeiter einzelne herausgreift und 
an ihnen Ermüdungsmessungen vornimmt. 
Für diesen Zweck sind nur Massenunter- 
suchungen brauchbar, und dafür sind wieder 
die besprochenen Methoden nicht geeig- 
net.“ . . . „Es müssen noch weitere Me¬ 
thoden auf ihre ZweckmaCigkeit untersucht 
werden." 

Als zweiten kürzeren Abschnitt seiner 
Arbeit bringt Verfasser Untersuchungen 
über den Einflull stark veranderter Luft- 
beschaffenheit (namentlich Temperatur, 
Feuchtigkeit und COo-Gehalt) auf die Er¬ 
müdung körperlich arbeitender Personen. 
Bei gleichzeitiger Anwendung von mehreren 
oben beschriebenen Methoden und auch ge- 
stützt auf die Aussage der Versuchspersonen 
ergaben die Versuche folgendes: 

Temperaturen von 30—38 Grad Celsius 
bei trockener Luft sowie COg-Gehalt von 
2—3% zeigen erst bei schweren Arbeiten 
einen deutlich ungünstigen Einflull auf die 
Arbeitsunfiihigkeit, wogegen feucht-heiCe 
Luft (durchschnittlich 70 % relative Feuch¬ 
tigkeit) mit geringen Ausnahmen schon bei 
ganz leichter Arbeit auch eine ungünstige 
Wirkung ausübte. Beachtenswert ist, daB 
in allen Fallen das vom Verfasser festge- 
stellte Verhaken des Blutdruckes nach der 
Ermüdung — ein Sinken des Maximaldruckes 
etwa 10 Minuten nach Beendung der Ar¬ 
beit — zu beobachten war. Soll sich diese 
Erscheinung durch andere Forscher besta- 
tigen, so ware diese Feststellung als ein 
Fortschritt auf dem sehr schwierigen 



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Gebiete der objektiven Ermüdungsmessung 
mit Freude zu begrüCen. 

Von seiten der Psychotechnik, wo es sich 
bei dem Ermiidungsproblem hauptsachlich 
um die beiden Fragen handelt: In welchem 
Maüe ist eine bestimmte Arbeit ermüdend? 
oder: Wie steht es mit der Ermüdbarkeit 
eines Arbeitenden? muC zu den Ausfüh- 
rungen Kimuras noch hinzugefügt werden: 
Wenn unter günstigen Umstanden die vor- 
handenen Methoden auch ein qualitatives 
Urteil über den ermüdenden EinfluG ge¬ 
wisser Arbeitsmengen oder Arbeitsbedin- 
gungen liefern können (siehe Verfassers 
eigene Versuche),so dürfen wirtrotzdem bei 
einzelnen Personen durch Beobachtung 
irgendeines oder auch mehrerer Symptome 
im Vergleich zu dem allgemeinen oder in 
Mehrzahl der Falie beobachteten Verhaltens 
keinen SchluO auf die Ermüdung bzw. auf 
das quantitative MaQ derselben ziehen. 

(Schulhof.) 

Kesselring, Michael, Intelligenzprü- 
fungen und ihr pSdagogischer Wert. 

(PadagogischeMonographien, Band XXII.) 
München und Leipzig 1923; Verlag Otto 
Nemnich. 199 S. Grundpreiszahl 2.— 

Die vorliegende Schrift stellt eine wert- 
volle Erganzung der vorliegenden Arbeiten 
William Sterns, besonders seines Werkes 
über die „Intelligenz der Kinder und Ju- 
gendlichen und die Methoden ihrer Unter- 
suchung” dar. Der erste Teil ist vorwiegend 
historisch gerichter; er gibt uns in groOen 
Zügen die Entwicklung der Intelligenzfor- 
schung und die Geschichte ihrer Anwendung 
auf praktische Probleme. Der Verfasser 
unterscheidet hier fünf Stadiën: In dem 
ersten tauchen vereinzelte und zusammen- 
hanglose Ansatze zu einer experimentellen 
Erforschung menschlicher Begabungsunter- 
schiede auf (Catell, Münsterberg, Jastrow, 
Gilbert, Krapelin, Bourdon u. a.), wahrend 


das zweite Stadium systematische Versuche 
zeigt; es erscheint beherrscht von den 
Untersuchungen Binets, die darauf ausgehen, 
ein MaG für Intelligenz zu Rnden. Das 
dritte Stadium bringt die Nachprüfung und 
kritische Behandlung dieser Arbeiten; alle 
Kulturlander sind daran beteiligt, überall ist 
man bemüht, den fruchtbaren Gedanken 
Binets aufzugreifen und Staflfelsysteme zu 
finden. Das vierte Stadium ist charakteri- 
siert durch die theoretische Besinnung und 
den systematischen Ausbau der Prüfver- 
fahren; die einzelnen Probleme werden 
scharfer durchdacht, Einwande melden sich, 
man wird der Grenzen und der Notwendig- 
keit einer Erganzung durch andere Unter- 
suchungsverfahren gewahr. Das fünfte Sta¬ 
dium, in dem wir seibst noch mitten darin 
stehen, zeichnet sich aus durch die Anwen¬ 
dung auf die Praxis, besonders auf die Pro¬ 
bleme der Begabungsauslese und der Be- 
rufsberatung. An diese Darstellung schlieGt 
Kesselring eine kritischeWürdigung. Kessel¬ 
ring bespricht dann die verschiedenen Prü- 
fungsverfahren, die Wertungsweisen, das In- 
telligenzmaG. Vor allem interessieren ihn die 
Fragen der BeziehungenderEinzelfunktionen 
zur Gesamtfunktion der Intelligenz — wobei 
er zugeben muG, daG „kein Rechenexempel 
uns zur eigentümlichen Gestaltqualitat der 
Gesamtleistung der Intelligenz verdringen 
lassen" wird — sowie der Notwendigkeit der 
Erganzung des Test- durch das Beobach- 
tungsverfahren; auch hier wieder ist die 
Frage zu klaren, in welchem Verhaltnis beide 
zueinander stehen müssen. Er geht dann 
naher darauf ein, in welcher Richtung die 
einzelnen Tests wissenschaftlich ausgebaut 
werden mussen, wobei er naher auf den 
Definitionstest, mit dem er seibst Versuche 
angestellt hat, eingeht. Er zeigt dann, welche 
praktischen Probleme die Intelligenzfor- 
schung zu fördern geeignet ist, wobei er be¬ 
sonders auf das Problem der Verteilung der 
Intelligenzen, auf Begabten- und Berufsaus- 
lesen hinweist. Erich Stern, GieCen. 



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Buchbesprechungen 


Mfiller, G. E., Komplextheorie und Ge- 
stalttheorie. Göttingen 1023. Vanden- 
hoeck & Ruprecht. I08S. GrundzahM.— 
Diese streitbare Schrift des Altmeisters 
der Psychologie führt mitten hinein in 
den gegenwartigen Kampf der theoretischen 
Seelenkunde. Ihr Gegenstand ist die Aus- 
einandersetzung zwischen der — vielfach 
durch die Assoziationstheorie allein — be- 
gründeten Komplexlehre und der neueren 
Gestaltauffassung seit Wertheimer, Koffka, 
Kohier. In 15 Paragraphen setzt sich M. 
mit der jüngeren Richtung auseinander. Frei- 
lich bleibt die Schrift immer im Rahmen der 
ausgesprochenen Wahrnehmungswelt, be- 
rücksichtigt daher auch die Ergebnisse der 
Hirnforschung seit Goldstein, Gelb, Fuchs 
u. a., rückt aber die Anwendungen Köhlers 
auf Intelligenzprüfungen an Menschenaffen 
gar nicht und die in ihrem inneren Sinne 
sozusagen genialische Idee Wertheimers von 
den Querfunktionen nicht genügend in den 
Mittelpunkt. 

Man wird mit M. zugeben, daD die Ge- 
staltlehre mancherlei im dunkien Feld der 
Aufmerksamkeit versch winden laOt, daO viele 
ihrer theoretischen Erweiterungen frag- 
wQrdig sind: das wirklich Entscheidende der 
Sache geht aber grundsatzlich unendlich 
weiter hinaus, als der Laie es aus diesen 
speziellen Entgegnungen ersehen mag. Denn 
vielleicht ist für den Gedanken der Gestalt- 
lehre die ausgesprochene Wahrnehmungs- 
analyse gerade der schwüchste Teil und 
sicher nur gröbster Anfang. Ihre Verwen- 
dung bei praktischen Intelligenzprüfungen 
und ihre theoretischen Beziehungen zur 
Lokalisationslehre, der Topik des Gehirns, 
wie zu Auffassungen der Chemie und Bio¬ 
logie überhaupt sind viel entscheidender. 
Man muB jedem angewandten Psychologen 
nur raten, M.s Schrift zu lesen, deren Einzel- 
heiten kein kurzes Referat wiedergeben kann. 


Die Entgegnungen sind von hoher Bedeutung 
und ihre Logik wird viele erfreuen, auch 
dann, wenn sie im wesentlichen zu anderer 
Ansicht gelangten. Es ist unnötig, hinzu- 
zufügen, daO jeder Einsichtige in endgültigen 
Klarstellungen gerade auf diesem theore¬ 
tischen Gebiete ganz bedeutende Wirkungen 
für die Psychotechnik erwarten muB. Hier 
sind die Grondlagen einer Theorie der an¬ 
gewandten Psychologie — die wir bekannt- 
lich noch gar nicht besitzen — uod seibst 
eine simple Eignungsprüfung muO entschei¬ 
dende Erkenntnisse dieser Art berücksich- 
tigen. F. Giese, Stuttgart. 

Poppelreuter, W., Die Aufgaben des 
Landarbeits- und Berufsamtes bei 
der Organisation praktisch-psycho- 
logischer Einrichtungen. (Schriften 
des Landesarbeits- und Berufsamtes der 
Rheinprovinz. Drittes Heft.) 

Der Verfasser stellt als Aufgaben der 
praktischen Psychologie im Dienste der Be- 
rufsberatung und Arbeitsvermittlung in der 
Hauptsache folgendes fest: 

1 . die psychologische Begutachtung der 
normalen Jugendlichen, 

2 . die psychologische Begutachtung der 
Abnormen und Defekten, 

3. die psychologische Begutachtung der 
Erwachsenen bei den Arbeitsnach- 
weisen, 

4. die Nutzbarmachung psychologisch-be- 
triebswissenschaftlicher Erfahrungen 
für die Praxis des Produktionspro- 
zesses. 

Er wamt die Arbeits- und Berufsamter, 
sich auf eigene Faustder psychotechnischen 
Prüfmethoden und Apparate zu bedienen und 
empfiehlt dringend die Zusammenarbeit mit 
einem Fachpsychologen. B. B. 


Für die Schriftleitung verantwortlich: Prof. Dr, W. Moede and Dr, C.Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafie 14. — Verlag von S.Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf & Martel in Leipzig. 



PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. DEZEMBER 1923 11. HEFT 


Die Praktische Psychologie erscheint In monatlichen Heften lm Umfange von zwei Bogen. Prels des Heftes 1.50 Goldmark für 
das Iniaod, 1.90 Schweizer Franken fUr das Aualand. Bel unmlttelbarcr Zustellung unter Kreuzband 1.70 Goidmark für das Inland 
und 2.20 Schweizer Franken für das Ausland. Bestellungen nehmen alle Buchhandlungen, die Post sowle die Verlagsbuchhandlung 
entgegen. Anzelgen vermlttelt die Verlagsbucbhandlung S. Hirzel in Lelpzlg, KönigstraOe 2. Postscheckkonto Leipzig226.— 
Alle Manuskrlptsendungen und darauf bezügliche Zuschrlfien slnd zu richten an die Adresse der Schrlftleitung: Professor 
Dr.W. Moede und Dr. C. Piorkowski, Berl 1 n W 30« LultpoldstraOe 14. 


Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahn, 
ihre Eignungsprüfungen und Erfolgskontrollen 

Von Oberbaurat Professor Dr.-Ing. Skutsch 

I ndustrielle Einrichtungen werden heute mehr als je nach ihrem Ertrag be- 
urteilt. Dem natürlichen Strauben gegen die einseitige Betonung des unmittel- 
baren materiellen Erfolges und der Vorliebe für sozialethische Gesichtspunkte 
steht leider die Tatsache gegenüber, daO eine objektive Wertung der letzteren 
recht unsicher ist, daQ jeder die Dinge nach seinem Geschmack deutet und oft 
genug Auffassung gegen Auffassung steht. Was insbesondere die Psychotechnik 
anbetriift, so ist dem einen die sorgfaltige Auslese der Geeigneten, frei von der 
Parteien HaO und Gunst, ein hohes und edles Ziel, wahrend der andere darin 
nichts Geringeres als eine Gefahr für das Gedeihen eines Persönlichkeitsvolkes 
mit Herz und Gemüt wittert*). Der erstere wird der Meinung sein, daB psycho¬ 
technische Versuchsstellen ebenso wie etwa Einrichtungen zur Rechtsprechung, 
zur Volksbildung, zur Hygiene selbst mit namhaften Opfern geschaffen und unter- 
halten werden sollten, der andere wird ihre Existenzberechtigung auch bei glan¬ 
zend gelungenem Rentabilitatsnachweis glatt ablehnen. Dabei besteht allerdings 
anscheinend keine Abneigung der Parteien, sich nebenher bei guter Gelegenheit 
auch auf angebliche Erfahrungen der Praxis zu berufen, und wenn der verant- 
wortliche Psychotechniker auch den Streit der Meinungen über den sozialen Wert 
seiner Wissenschaft wohl oder übel allen, die slch dazu berufen fühlen, und die 
endgültige Entscheidung der Zukunft überlassen muB, so hat er urn so mehr Ver- 
anlassung, dafür zu sorgen, daB dort, wo man angibt, sich auf Tatsachen und 
nicht auf Gefühie zu stützen, aus lauterer Quelle geschöpft wird. Das Dringendste 
ist demgemaB heute die Peststellung, inwieweit die Ergebnisse der Eignungs¬ 
prüfungen mit den spateren Berufsleistungen der Prüflinge übereinstimmen. Für 
die Durchführung solcher Erfolgskontrollen hat Herr Moede in seinem gedanken- 
reichen Aufsatz „Ergebnisse der industriellen Psychotechnik" •*) zum erstenmal 
Richtlinien gezogen, und jeder Schritt zur Erreichung seiner hochgesteckten Ziele 
darf wohl Interesse beanspruchen. Über einen solchen Schritt soll in folgendem 
berichtet werden. 

*) Vgl. Professor Rudolf Franke in seiner „Zeitschrift für Fernmeldetechnik", Heft 4, 1923. 
••) „Praktische Psychologie", 2. Jahrgang, 10. Heft. 


p.P. IV. II. 


22 




322 


Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichshahn 


Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichshahn hat ihre erste groOe 
Aufgabe, die Einführung und Einrichtung einer Eignungsprüfung für Lehrlings- 
anwarter, zu einem gewissen AbschluC gebracht und darf jetzt mit ihren Er- 
fahrungen an die Öffentlichkeit treten. Tausende von Anwartern werden seit 
Herbst 1921 alljahrlich nach einem einheitlichen, unter fachpsychologischer Mit- 
wirkung ausgearbeiteten Verfahren geprüft und die Ergebnisse der Prüfung in 
sorgfaltiger Weise niedergeiegt. Die Eigenart der gelösten Aufgabe und des ge- 
wonnenen Materials besteht vor allem darin, daO die Prüfungen nicht an einer 
Stelie vorgenommen werden können, sondern sich auf fast aile Eisenbahnwerk- 
statten Deutschlands verteilen. Die Tafel 1 zeigt nicht nur die Verteilung und 
Lage der einzelnen Prüfstellen, sondern auch ihre Bedeutung im Rahmen der hier 
zu gebenden Statistik. Zugrunde gelegt ist die Zahl der Ostern 1922 neu be- 
setzten Lehrstellen. 

Zur raumlichen Zersplitterung tritt erschwerend die zeitliche Haufung der 
Lehrlingsprüfungen. Urn der Verwaltung ein genügendes Angebot zu sichern 
und den Abgewiesenen noch Bewerbungen an anderer Stelle zu ermöglichen, 
werden die Prüfungen im ganzen Reiche alljahrlich im Oktober, ein halbes Jahr 
vor der Schulentlassung, vorgenommen. Da die Beamten der Hauptstelie unter 
diesen Umstanden nicht entfernt ausreichen würden, um die Prüfungen an Ort 
und Stelle vorzunehmen, so muOte eine groBe Anzahl örtlicher Prüfleiter mit 
der selbstandigen Leitung der Eignungsprüfungen nebenamtiich betraut werden. 
Seibstverstandlich wurde bei ihrer Auswahl in erster Linie darauf gehalten, daB 
sie der eigenartigen Aufgabe das nötige Interesse und zugleich ein tieferes Ver- 
standnis entgegenbrachten, und erfreulicherweise fanden sich diese Eigenschaften 
nicht selten in hohem MaBe vereinig^t. Die Prüfleiter werden dann in Lehr- 
gangen ausgebildet, die sich teils im Hinblick auf die Einführung von Neuerungen, 
leils wegen des unvermeidlichen Wechsels in den Personen alljahrlich wieder- 
holen; sie werden mit gedruckten Prüfanweisungen versehen, die bis in die 
kleinsten Einzelheiten gehen, und die Beamten der Hauptstelie, die seibstver¬ 
standlich vielfach an den Eignungsprüfungen teilnehmen, um Erfahrungen zu 
sammeln, benützen die Gelegenheit auch ganz besonders, um die richtige und 
gleichmaBige Durchführung der Prüfungen seitens der Prüfleiter zu überwachen. 

In gleicher Weise unterliegen auch die Erfolgskontrollen dem EinfluB der 
örtlichen Zersplitterung, dem hier sogar noch schwerer zu begegnen ist. Die 
Personalgutachten sind von 100 verschiedenen Meistern zu erstatten, mit denen 
die Versuchsstelle keine Fühlung hat. Aber auch die Prüfleiter sind gröBten- 
teils an anderen Orten und in anderen Betrieben tatig als die einzelnen Meister, 
so daB die Personalgutachten ohne Frage eine Fülle von Subjektivitat einschlieBen 
werden, nicht nur hinsichtlich des MaBstabes, sondern auch hinsichtlich des 
Gesichtswinkels, unter welchem die Leistungen beurteilt sind. Andererseits 
kommen diese Umstande aber doch auch wieder der Unparteilichkeit der Melster- 
urteile zustatten. Für die Versuchsstelle ware es ohnehin eine nach Umfang 







Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahn 


323 


Tafel 1 


Verzeichnis der Werkstdtten der Reichsbahn, bei denen auf Grund 
psychotechnischer Eignungsprüfungen Lehriinge eingesteilt werden 

Rbd Altona Rbd Halle Rbd Trler 


Glückstadt.10 

Marburg.12 

Neumünster.23 

Oblsdorf. 7 

Wiitenberge.24 

Rbd Berlin 

Berlin 1.21 

Berlin 2.16 

Berlin Tf..39 

Beilln-Grunewald .... 20 

Brandenburg.23 

Potsdam.14 

Rbd Breslau 

Breslau 1.25 

Breslau 2.20 

Breslau 3.15 

Breslau 4.17 

Lauban.12 

Oels.30 

Rbd Cassel 

Cassel.42 

Göitingen.22 

Paderborn-Nord.20 

Paderborn.24 

Rbd Elberfeld 

Arnsberg.16 

Langenberg.10 

Opladen.40 

Siegen. 15 

Rbd Erfurt 

Erfurt. 18 

Gotha. 15 

Jena.16 

Meiningen.20 

Rbd Essen 

Dortmund.42 

Oberbausen. 9 

Recklinghausen. 11 

Mühlheim-Speldorf ... 22 

Wedau. 5 

Witten. 19 

Rbd Frankfurt a. M. 

Betzdorf.18 

Frankfurt a. M.21 

Fulda.14 

GieUeii.5 

Limburg.25 

Nied.28 


Cottbus.14 

Delitzsch. 9 

Halle.24 

Hoyerswerda.10 

Rbd Hannover 

Leinhausen.32 

Sebaldsbrück.22 

Stendal.29 

Rbd Köln 

Köln-Nippes.29 

Crefeld-Oppum. 6 

Jülich. 28 

Jünckeratb. 9 

Rbd Könlgsberg 

Königsberg.25 

Osterode.12 

Rbd Magdeburg 

Braunschweig.12 

Halberstadt.16 

Magdeburg-Buckau ... 31 
Magdeburg-Saibke. ... 13 

Rbd Malnz 

Darmstadt 1.22 

Darmstad! Lok. A.W. . . 29 
Mainz.10 

Rbd Münster 

Lingen a. E.28 

Osnabrück.24 

Rbd Oppein 

Gleiwitz 1.25 

Gleiwitz 2.30 

Oppein.17 

Ratibor.17 

Rofiberg. 7 

Rbd Osten 

Frankfurt a. 0.15 

Glogau. 6 

Guben.10 

Schneidemühl.31 

Rbd Stettin 

Eberswalde.24 

Greifswald.16 

Stargard.27 

Stolp . . .'. 8 


Conz.21 

Trier.20 

Rbd Karlsruhe 

Durlach.14 

Freiburg. 7 

Haltingen. 7 

Karlsrube.47 

Konstanz. 6 

Lauda.10 

Mannheim.15 

Offenburg.13 

Schwetzingen.10 

Willingen. 5 

Rbd Oldenburg 
Oldenburg.10 

Rbd Sachsen 

Chemnitz.22 

Dresden.16 

Engelsdorf-Leipzig ... 11 
Zwickau.14 

Rbd Sctawerin 

Rostock. 4 

Schwerin. 4 

Rbd Augsburg 

Augsburg. 0 

Rbd Ludwigshafen 

Ludwigshafen. 0 

Kaiserslautern 1 . . . . 0 

Kaiserslautern 2 ... . 0 

Rbd MUnchen 

MQnchen A.W.39 

Neuaubing W. 1.0 

Ingolstadt W. 1. 0 


Rbd Nürnberg 
Nürnberg A.W.u.W. I.Rbf. 29 


Rbd Regensburg 

Regensburg 1 und 2 . . 20 

Weiden 1 und 2 ... . 0 

Rbd Stuttgart 

Aaien. 6 

Cannsladt. 0 

EBIingen.12 

Friedrichshafen. 6 

Rottweil. 6 


22* 






































































































324 


Skutsch, Die Psychotecbniscbe Versucbsstelle der Reicbsbabn 


und Schwierigkeiten fast aussichtslose Arbeit, etwa in mündlicher Verhandlung 
mit den Meistern an die Aufstellung von Rangreihen der praktischen Bewahrung 
zu gehen, um so die mangelnde Einheitlichkeit herzustellen, und der Umstand, 
daD sich nach Herrn Moedes Erfahrungen bei solchen Besprechungen unter Um- 
standen reibungsfrei nicht unerhebliche Rangplatzverschiebungen erzielen iassen, 
bestarkte die Psychotechnische Versuchsstelle noch darin, den Meister bei der 
Abgabe des Urteils völlig sich selbst zu überlassen. Das Urteil über einen Men- 
schen kann im allgemeinen nicht mit der gleichen Bestimmtheit gefalit werden, 
wie dasjenige über Dinge; dessen wird sich wohl gerade ein ernster Beurteiler 
immer bewuQt bleiben. Infolgedessen wird er gern bercit sein, in auch nur 
halbwegs zweifelhaften Pallen sein Urteil, wenn erst darüber diskutiert wird, 
zugunsten des Betroifenen zu mildern, und er wird gegen mancherlei Deutungen 
und Auslegungen dieses Urteils kaum etwas einwenden, wenn nicht etwa aus- 
nahmsweise ganz bestimmte Tatsachen vorliegen, die für sich selbst sprechen. 
Sicherlich wird man also nur selten einen Meister finden, der Neigung und 
Interesse hatte, die von ihm angegebene Rangreihe, insbesondere der mittel- 
maOigen Lehrlinge, am Verhandlungstisch zu verteidigen und aufrecht zu erhalten. 

Die Versuchsstelle hat auf Grund dieser Überlegungen bei ihrer ersten im 
Jahre 1922 durchgeführten Erfolgskontrolle geglaubt, auf die Erstattung von 
Personalgutachten über samtliche Lehrlinge oder gar auf die Aufstellung von 
Rangreihen von vornherein verzichten zu sollen und sich im wesentlichen auf 
eine Umfrage beschrankt, welche von den im Herbst 1921 geprüften und Ostern 
1922 eingestellten Lehrlingen nach Ansicht der Meister sich in der Praxis nicht 
bewahrt haben und dementsprechend als ungeeignet oder wenig geeignet zu be- 
zeichnen sein würden. Diese Urteile, die dem Wesen der Sache nach mit ver- 
haltnismaOig groBer Bestimmtheit abgegeben werden können, sind dann ohne 
jede weitere Verhandlung, die doch vielleicht noch zu einer BeeinBussung hatte 
führen können, der nachstehenden Statistik zugrunde gelegt worden. Der Um¬ 
frage war ein kleiner Fragebogen beigegeben, durch dessen Beantwortung das 
Urteil etwas naher zu begründen war. Beabsichtigt wurde damit in erster Linie, 
dem Meister eine Anleitung zu geben, worauf er vorzugsweise zu achten hat, 
allenfalls auch der Versuchsstelle einen Anhaltspunkt, ob das Urteil mit mehr 
oder weniger Sorgfaic abgegeben wurde; in bescheidenem MaOe kann der Frage¬ 
bogen wohl auch als Unterlage für eine differentielie Psychologie der Versager 
und zu einer Nachprüfung der einzelnen Falie dienen. 

Die Umfrage erging im August 1922 an die in Tafel 1 verzeichneten Werk- 
statten mit Ausnahme der bayerischen und württembergischen, deren Lehrlinge nach 
abweichenden Verfahren geprüft worden waren; zur Beantwortung war reichlich Zeit 
gelassen. Die Beobachtung erstreckte sich damals auf einen Zeitraum von etwa fünf 
Monaten, wohl nicht zu wenig für eine ziemlich zuverlassige Beurteilung der Lehr¬ 
linge, und nicht so groB, daB in einer Vielzahl von Pallen mit einer wesentlichen Ver- 
anderung des psychischen Bildes seit der Eignungsprüfung zu rechnen gewesen ware. 



Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reicbsbahn 


325 


Der Eignungsprüfung im Herbst 1921 batten sich 5464 Bewerber unterzogen. 
Wo besonders zahlreiche Meldungen vorlagen, wurde schon nach dem ersten 
Prüfungstag eine grobe Sichtung vorgenommen, so daO am zweiten Prüfungstag 
nur noch 4490 Anwarter zu prüfen waren. Zu besetzen waren 1730 Lehrstellen, 
und zur Einstellung geiangten 1622 Bewerber auf Grund ihres guten Rangplatzes 
bei der Prüfung, die übrigen 108 aus sozialen Rücksichten. Von den ersteren 
1622 haben nun nach den Urteilen der Werkstatten 103 oder 6,4% versagt, 
eine Zahl, die wohl ais recht niedrig angesehen werden darf. Allerdings liegen 
Vergleichswerte aus früheren Jahren, in denen noch keine Eignungsprüfung statt- 
fand, leider nicht vor, und auch der Umstand, daO die 108 aus sozialen Gründen 
eingestellten Lehrlinge mit 14% Versagern sehr viel schlechter abschneiden, 
besagt natürlich nicht sehr viel, da ein erheblicher Unterschied ja doch an sich 
selbstverstandlich ist. Eine bessere Stütze für die ZweckmaOigkeit der Prüfungen 
wird man darin erblicken können, daO die Versager sich gröDtenteils unter den 
Lehrlingen befinden, die auch die Eignungsprüfung nicht eben besonders gut 
bestanden haben. Teilt man etwa die 1622 Lehrlinge in drei Gruppen, deren 
erste und zweite diejenigen Bewerber umfassen, die bei der Eignungsprüfung dem 
besten bzw. zweitbesten Fünftel angehören, so entfallen 

auf die 1. Gruppe mit 971 Eingestellten 45 Versager = 4,6 %, 

auf die .2. Gruppe mit 480 Eingestellten 40 Versager = 8,3 %, 

auf die 3. Gruppe mit 171 Eingestellten 18 Versager =10,5 

Die aus sozialen Gründen eingestellten Lehrlinge konnten in diese Zusammen- 

stellung nicht aufgenommen werden, weil ihre Rangplatze der Versuchsstelle zum 
groOen Teil nicht bekannt sind. 

Am Reichsdurchschnitt gemessen batten die 103 Versager durchschnittlich die 
Eignungsprüfung begreiflicherweise nicht gerade schlecht bestanden, weil ja doch 
infolge des hohen Angebots im allgemeinen eben nur Prüflinge mit mehr als 
durchschnittlichen Leistungen eingestellt worden waren. Bei der Intelligenz- 
prüfung hatte ein nicht geringer Teil der spateren Versager sogar recht gut ab- 
geschnitten, und man könnte geneigt sein, daraus zu schlieOen, daQ wir dieser 
Eigenschaft ein zu hohes Gewicht bei der Aufstellung der Rangreihen beigelegt 
batten. Man darf aber nicht vergessen, daO von den Handwerkern der Reichs- 
bahnen ein sehr groOer Teil in die Beamtenlaufbahn einrückt, vor allem ais Meister 
oder Lokomotivführer, und deshalb die Bewahrung im Handwerk wohl nicht den 
alleinigen MaQstab für die ZweckmaOigkeit der Prüfung abgeben kann. 

Um so mehr fallt auf, daO die Versager im Tastsinn, der 1921 durch Ver- 
gleichen von Sandpapier verschiedener Körnung festgestellt wurde, durchschnitt¬ 
lich stark unter dem Reichsdurchschnitt geblieben waren, ein Zeichen für die 
Berufswichtigkeit dieser Eigenschaft, dem Beachtung geschenkt werden wird. 

Besonderes Interesse bietet das Bild des Versagers lm Lichte der Meister- 
urteile. Dem Psychotechniker wird ja, wie eingangs erwahnt, von mancher Seite 
ein Vorwurf daraus gemacht, daO er die Charaktereigenschaften der Prüflinge 



326 


Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelie der Reichsbahn 


nicht berücksichtigt. Diesen Vorwurf wagt man freilich nicht zu der Behauptung 
zu verdichten, als ob es in dieser Hinsicht in früheren Zeiten besser bestellt 
gewesen ware, oder als ob heute irgendwo in der Welt ein Verfahren bekannt 
oder gar in Anwendung ware, durch das man sich AuFschluO über den Charakter 
von Tausenden halbwüchsiger Knaben verschaffen könnte. Man könnte also den 
Vorwurf vielleicht einfach mit der Erklarung erledigen, daO, wenn ein solches 
Verfahren jemals entdeckt werden sollte, die Psychotechniker die ersten sein 
werden, ihm neben den Eignungsprüfungen einen hervorragenden Platz bei der 
Menschenauslese einzuraumen. 

Da es indessen damit noch gute Wege haben dürfte, so scheint gegenwartig 
die Frage erheblich naher zu liegen, wie denn der Charakter der Versager nach 
dem Urteil der Meister beschaffen ist. Und da machen wir die Erfahrung, daO 
von den — doch ohnehin nicht zahlreichen — Versagern wieder nur ein kleiner 
Teil durch schlechtes Betragen oder geringen FleiU aufgefallen ist; es waren das 
nicht mehr als 2,3 % der Eingestellten! Will man also nicht glauben, daO wirklich 
98 % der Eingestellten guten Charakters sind — und diesen Zweifel mag man 
ruhig hegen — so bleibt nichts übrig als anzunehmen, daO der Meister nicht ein- 
mal bei fünfmonatiger Aufsicht die Charakterfehier bemerkt hat —ein neuesZeichen, 
wie aussichtslos es erscheint, sie schon bei der Annahme feststellen zu wollen. 

Dagegen sprechen die Meister dem gröOten Teil der Versager — rund zwei 
Drittei — die Handgeschicklichkeit und das technische Verstandnis ab, also zwei 
Eigenschaften von denen man annehmen sollte, daO sie durch eine Eignungs- 
priifung zuverlassig erfaOt werden können. Bei der Priifung auf technisches Ver¬ 
standnis war aber nur die Halfte, bei der auf Handgeschicklichkeit gar nur ein 
Viertel der Bemangelten unter dem Reichsdurchschnltt geblieben; hier muDte also 
vor allem versucht werden, die Eignungsprüfung der Reichsbahn zu verbessern. 
An MaDnahmen, welche diesem Zweck dienen sollen und bei der kürzlich ab- 
gehaltenen dritten Eignungsprüfung bereits zur Anwendung kamen, sind zu 
nennen die Einführung einer weiteren Geschicklichkeitsprobe mit Hilfe eines 
neuen Zweihandprüfers, Vermehrung und sorgfaltigere Vorbereitung der Auf- 
gaben für technisches Verstandnis und konstruktive Befahigung, Anweisungen für 
eine einheitliche Beurteilung der Drahtbiegeproben und der Leistungen am Zwei- 
handprüfer, Erschwerung der Drahtbiegeprobe durch Wahl einer dreidimensionalen 
Vorlage und endlich eine höhere Bewertung der Geschicklichkeitsproben im 
Rahmen der Gesamtprüfung. 

So hat also die Erfolgskontrolle nicht nur den Beweis erbracht, daO die Eignungs¬ 
prüfungen der Reichsbahn dank ihrer sorgfaltlgen Vorbereitung im wesentlichen 
das Richtige treffen und dafi die Ergebnisse dieser Prüfungen mit den spateren 
Berufsleistungen der Prüflinge recht gut übereinstimmen, sondern sie gibt darüber 
hinaus auch manchen Fingerzeig, an weichen Stellen begründete Hoffnung be- 
steht, das Prüfverfahren noch zu verbessern, Freilich können solche Ver- 
besserungen erst jetzt — zwei volle Jahre nach der ersten Eignungsprüfung — 



Skutsch, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahn 


327 


eingeführt werden, weil ja die Ausarbeitung der Prüfverfahren und Prüf- 
anweisungen, das unvermeidliche Halbjahr zwischen der Prüfung und der Schul- 
entlassung und die Feststellung der praktischen Bewahrung zusammen viel mehr 
als ein Jahr füllen. Oiese Feststellung konnte somit bei der zweiten Eignungs- 
prüfung im Herbst 1922 noch nicht nutzbar gemacht werden, und es ware also 
nicht verwunderlich, wenn die Erfolgskontrolle der 1922 geprüften und 1923 ein- 
gestellten Lehrlinge keine nennenswerten Unterschiede gegenüber dem vorher- 
gehenden Jahrgang aufwiese. 

Bei dieser zweiten, noch nicht ganz abgeschlossenen Erfolgskontrolle fallen 
bisher unter Zugrundelegung der gleichen Gruppeneinteilung wie oben 
auf die 1, Gruppe mit 554 Eingestellten 22 Versager = 4,0”o» 

auf die 2, Gruppe mit 442 Eingestellten 33 Versager = 7,5%, 

auf die 3. Gruppe mit 361 Eingestellten 33 Versager = 9,1 %, 

im ganzen auf 1357 Eingestellté 88 Versager = 6,5%. 

Auch in diese Gruppeneinteilung sind die aus sozialen Gründen eingestellten 
Lehrlinge — 56 mit 6 Versagern — der GleichmaOigkeit halber nicht auf- 
genommen worden. 

DaQ die erste Gruppe gegenüber dem Vorjahr verhaltnismaOig schwacher, 
die dritte um so starker vertreten ist, ist eine Folge des verringerten Angebots. 
Wahrend im Herbst 1921 von 5464 Bewerbern nur 1622 oder 30% psycho¬ 
technisch ausgelesen wurden, erhöhte sich dieser Bruchteil im folgenden Jahr 
auf rund 40%. Will man also den Erfolg der Eignungsprüfungen in beiden 
Jahren vergleichen, so muO man nicht sowohl das fast unveranderte Gesamt- 
ergebnis in Betracht ziehen, als vielmehr den Prozentsatz der Versager in den 
einzelnen Gruppen. Ja, man kann sogar berechnen, wieweit die Gesamtzahl 
der Versager in diesem Jahr wahrscheinlich heruntergegangen sein würde, wenn 
das Angebot so reichlich geblieben ware wie im vorhergehenden Jahr. Damals 
gehörten von den auf Grund ihres Rangplatzes eingestellten Lehrlingen etwa 60 
der ersten Gruppe, 30% der zweiten Gruppe und 10% der dritten Gruppe an; 
hatte dieses Verhaltnis fortbestanden, so waren 1923 unter je 100 solchen Lehr¬ 
lingen wahrscheinlich nur 0,60-4,0 + 0,30-7,5 + 0,10-9,l = 5,6 Versager gewesen. 
Oder umgekehrt: Da im Jahrgang 1923 nur 41% der ersten, dagegen 32% der 
zweiten und 27% der dritten Gruppe angehören, so hatte man nach den Er- 
fahrungen des Vorjahres mit 0,41 • 4,6 + 0,32 • 8,3 + 0,27 ■ 10,5 = 7,4 % Versagern 
rechnen müssen. DaC das Ergebnis in Wirklichkeit besser war, ist vermutlich 
weniger auf die geringfügigen Abanderungen der zweiten Eignungsprüfung gegen¬ 
über der ersten, als auf die wachsende Umsicht und Erfahrung der Prüfleiter 
zurückzuführen. 

Inwieweit die Erfolgskontrolle ihre schönste Aufgabe erfüllen und zu einer 
wirksamen Verbesserung des Prüfverfahrens und einer weiteren Herabminderung 
der Versagerzahl führen wird, diese Frage kann nach dem Vorstehenden nicht 
vor dem nachsten Jahr beantwortet werden. Hier heiOt es sich bescheiden und 



328 


Skutscb, Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahn 


Entwickelungen abwarten, so wie auch die Erfolge des Landwirtes oder des 
Forstmannes nur iangsam reifen und durch keine Ungeduid beschieunigt werden 
können. Möchte dieses Gleichnis den stark bioiogischen Einschlag der Psycho- 
technik ins Licht stelien und denen zu denken geben, die in dieser lebensvollen 
Wissenschaft ein totes Mechanisieren sehen wollen. 


Organisation und Aufbau der Lehrlingseignungsprüfung 
bei der Deutschen Reichsbahn 

Von Richard Couvé, 

wissenschaft!. Hilfsarbeiter bei der Psychotechnischen Versuchsstelle der Deutschen Reichsbahn 

D ie Arbeitsvorgange bei den Eisenbahnen enthalten, verglichen mit anderen 
Betrieben, einen groQen Anteil an persönlichen Arbeitsleistungen, die wegen 
der Vielseltigkeit des Dienstes durch Maschinenarbeit nicht in dem Umfange er- 
setzt werden können wie in der auf Massenerzeugung gerichteten Industrie. In 
der Eigenart des Eisenbahndienstes liegt es ferner, daO ein erhebliches Personal 
zur Durchführung, Leitung und Überwachung des Betriebes erforderlich ist. 

Eine Hauptgrundlage für die wirtschaftliche Gestaltung des Eisenbahnbetriebes 
ist daher die Arbeitsleistung des Personals, die auf der Brauchbarkeit und dem 
FleiC der Bediensteten beruht. FleiO und Arbeitseifer hangen von einer ganzen 
Reihe von Bedingungen ab, die einerseits mit der Beschaftigungsart zusammen- 
hangen (Arbeitsdauer, Vorwartskommen, Arbeitsraum, Behandlung usw.) und 
andererseits in der Person des Arbeitnehmers begründet sind (Tragheit, Ab- 
neigung gegen den Beruf, Nebenarbeit u. dgl.). Die Brauchbarkeit des Personals 
ist abhangig von der Eignung und von der Schulung für den Beruf. 

Da die Brauchbarkeit des Bewerbers die Grundlage für eine nutzbringende 
Beschaftigung bildet, ist es nötig, die Eignung der Bediensteten festzustellen, die 
eingestellt oder in eine andere Stellung überführt werden sollen, und dann die 
für geeignet Befundenen so auszubilden, daO sie ihren Beruf volt ausfüllen können. 

Für die Auswahl der Einzustellenden waren früher allein die Schulkenntnisse 
nach den Zeugnissen oder nach einer kurzen Kenntnisprüfung und das Ergebnis 
der bahnarztlichen Untersuchung maOgebend. Ferner wurde haufig die Reihen- 
folge der Meldung und der „Eindruck® berücksichtigt, den der Bewerber auf 
den annehmenden Beamten machte. 

Mit der notwendigen Feststellung, ob der Bewerber die erforderlichen Schul¬ 
kenntnisse und die körperliche Tauglichkeit für den Beruf besitzt, ist aber nur 
ein Teil der Anforderungen erfüllt, die spater an den Bediensteten gestellt werden. 
Nach diesen beruflichen Anforderungen kann man unterscheiden: 
a) Berufe, die hohe Anforderungen an Entschlufikraft, Umsicht, Aufmerksam- 
keit, Sachkenntnis stellen (Lokomotivführer, Fahrdienstleiter und einige 
andere Gruppen von Betriebsbeamten), 



Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehrlingseignungsprüfung b. d. Deutscben Reicbsbahn 329 

b) Berufe, die besondere Fahigkeiten erfordern, wenn der Bewerber spater wirt- 
schaftlich nutzbringend arbeiten soll (HandwerkerberuFe, Aufsichtspersonal, 
verschiedeneGruppen des Betriebs-, Abfertigungs-, Kassen- u.Büropersonals), 

c) Berufe, die von jedem Bewerber ausgefüllt werden können (Rottenarbeiter, 
Schreiber). 

Hieraus ergibt sich: 

lm Falie a) müssen die Bewerber bestimmte Fahigkeiten besitzen, da sie sonst 
den Betrieb gefahrden würden. Bei der Einsceliung muQ daher eine Aus- 
lese nach der Tauglichkeit vorgenommen werden, 

im Falie b) ist die Auslese bei der Einstellung im Interesse der Wirtschaft- 
lichkeit geboten, 

im Falie c) werden besondere Fahigkeiten nicht verlangt. Eine Auslese ist 
daher nicht notwendig. 

Die 'psychotechnischen Untersuchungsmethoden bieten die Möglichkeit, eine 
Auslese der Bewerber vorzunehmen, die die im Berufe geforderten Fahigkeiten 
besitzen. Nachdem die ersten Versuche im Heer und in der Industrie die Brauch- 
barkeit der psychotechnischen Eignungsprüfungen ergeben batten, steilte das Reichs- 
verkehrsministerium diese jüngste Wissenschaft in seinen Dienst. 

Mit Erlaö des Reichsverkehrsministeriums vom 18. Dezember 1920 wurde zum 
1. Februar 1921 die Psychotechnische Versuchsstelle der Deutschen Reichsbahn 
bei der Reichsbahndirektion Berlin eingerichtet. Die Versuchsstelle ist besetzt 
mit einem Leiter und je einem wissenschaftlichen Hilfsarbeiter für Betriebs- und 
Bahnunterhaltungsdienst und für den Verkehrs- und Verwaltungsdienst. Ferner 
ist noch ein fachpsychologischer Hilfsarbeiter bei der Psychotechnischen Ver¬ 
suchsstelle tatig. Als psychotechnischer Berater ist Professor Dr. Moede, Leiter 
des Instituts für industrielle Psychotechnik an der Technischen Hochschule in 
Charlottenburg, verpflichtet. Für das Entwerfen des Prüfgerats sind der Ver¬ 
suchsstelle drei technische Beamte zugewiesen, für die Herstellung von Versuchs- 
gerat steht eine gut ausgerüstete eigene Werkstatt zur Verfügung. 

Der Psychotechnischen Versuchsstelle ist folgendes Arbeitsgebiet zugeteilt: 

Eignungsprüfungen für Stellen des Werkstattenbetriebes, für den Aufstieg Be- 
gabter, Ausarbeiten von Vorschlagen für die praktische Ausbildung von Beamten 
und Arbeitern, besonders in den Werkstatten und im Betriebe, Anleitung 
für psychotechnische Lehr- und Ausbildungsverfahren, Rangiererprüfung und 
weitere Aufgaben, die der Versuchsstelle vom Reichsverkehrsministerium gestellt 
werden. 

Bereits vor Einrichtung der Psychotechnischen Versuchsstelle hat im Jahre 1917 
in Dresden das Psychotechnische Prüflaboratorium der Sachsischen Staatsbahn 
die Ausarbeitung von psychotechnischen Prüfverfahren für Lokomotivführer in 
AngrifF genommen und hierbei schon wesentliche Vorarbeiten geleistet. Am 
1. Oktober 1922 wurde das Psychotechnische Prüflaboratorium der Reichsbahn¬ 
direktion München errichtet. 


330 Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehriingseignungsprüfung b. d. Deutschen Reichsbahn 

Sofort nach Zuteilung des notwendigen Personals begann die Psychotechnische 
Versuchsstelle im Sommer 1921 mit der Ausarbeitung eines Prüfverfahrens für 
Werkstatteniehrlinge. Die Lehrlingsprüfung war zu einer ersten Arbeit besonders 
geeignet, weil auf den Erfahrungen der bestehenden psychotechnischen Laboratorien 
auFgebaut werden konnte. Diese Aufgabe war aber auch besonders dringend, 
weil es galt, aus einem iiberaus groBen Angebot die Brauchbarsten heraus- 
zufinden. Betrug doch das Überangebot an Bewerbern Ostern 1921 in den ver- 
schiedenen Bezirken auf je 100 Lehrstellen: 


Altona. 

. . . = 470 

Oppeln. 

= 

400 

Berlin. 

. . . = 610 

Köln. 

= 

390 

Breslau .... 

. . . =346 

Königsberg. 

= 

343 

Cassel. 

. . . = 466 

Magdeburg. 

= 

280 

Elberfeld .... 

. . . = 253 

Mainz. 

= 

620 

Erfurt. 

. . . =390 

Münster. 

= 

268 

Essen . 

. . . = 386 

Osten. 

= 

290 

Frankfurt.... 

. . . =596 

Stettin. 


225 

Halle. 

. . . = 270 

Trler. 

= 

465 

Hannover . . . 

. . . = 340 

(Im Mittel. 


400) 

In den Jahren 1919 und 1920 waren an einem Teil der Werkstatten 

die Lehr- 


linge bereits einer psychotechnischen Lehrlingsprüfung unterzogen worden, die 
von Eisenbahnbeamten nach dem Prüfverfahren für Metallarbeiterlehrlinge von 
Lipmann und Stolzenberg und nach dem Prüfverfahren von Oberregierungsbaurat 
Fraenkel ausgeführt wurden. Für die Werkstatten der Reichsbahndirektion Berlin 
hatte Professor Dr. Moede dieAuslese in dem Laboratorium für industrielle Psycho- 
technik an der Technischen Hochschule in Berlin vorgenommen. 

Für die Einstellung im April 1922 waren in der Zeit vom Oktober bis De- 
zember 1921 dieBewerber urn Lehrlingsstellen der ehemals preuCischen,sachsischen, 
badischen, mecklenburgischen und oldenburgischen Staatseisenbahnen einer Eig- 
nungsprüfung zu unterziehen. Für Württemberg und Bayern war die gleieh- 
maBige Prüfung 1921 noch nicht möglich. Jetzt wird aber lm gesamten Reichs- 
bahnbereich die psychotechnische Lehrlingsauslese gleichmaBig durchgeführt. 

Die Ausarbeitung der Prüfmethode und die Abnahme der Prüfung konnte weder 
den einzelnen Verwaltungen, noch den örtlichen psychotechnischen Laboratorien 
überlassen werden, da es sich um die Auswahl der Bewerber für einen Beruf 
handelt, für den die Berufsanforderungen überall in gleicher Weise gestellt werden 
müssen, Nur ein für alle Bewerber gleiches Prüfverfahren gestattet eine Be- 
aufsichtigung der ordnungsmaBigen Auswahl, liefert für alle Bewerber vergleich- 
bare Ergebnisse und schaltet jeden AnlaB zu Berufungen über verschieden hohe 
Anforderungen an die Bewerber aus. Gegen die Prüfung nach einem einheitlichen 
Verfahren wird der Einwand erhoben, daB hierdurch die Prüfungen mechanisiert 
und schematisiert würden. Dieser Vorwurf trifft aber nicht das Wesen der ein- 























Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehriingseignungsprüfung b. d. Deutschen Reicbsbahn 331 


heitlich abgenommenen Prüfung; denn auch der Prüfleiter, der nach eigenem 
Verfahren arbeitet, wird, wenn 'er brauchbare Ergebnisse erzielen will, jede Prüf- 
aufgabe stets in genau der gleichen Weise durchführen mussen. 

Bei der ersten Ausarbeitung eines Priifverfahrens für Lehrlinge waren besonders 
hohe Schwierigkeiten zu überwinden, galt es doch, nicht nur die Prüfung aus- 
zuarbeiten, sondern auch das erforderliche Prüfgerat bereitzustellen und die 
Prüfleiter auszubilden. Das vom Vorjahre an einzelnen Stellen vorhandene Prüf¬ 
gerat von Lipmann-Stolzenberg konnte nicht verwendet werden, da es nicht gleich- 
maQig hergestellt war und da ferner die Versuchsstelle das Lipmann-Stolzen- 
bergsche Verfahren für die Verhaltnisse der Reichsbahn nicht als anwendbar 
ansah. Die Schwache dieses Verfahrens beruht erstens auf der geringen Streuung 
zwischen guten und schlechten Leistungen, zweitens auf der Hauhgkeit der Zu- 
fallstreffer, da die Aufgaben ein Ordnen z, B. nach fünf Stücken verlangen, und 
drittens auf der Nichtberücksichtigung berufswichtiger Fahigkeiten. 

Ausscheiden muöte auch das Moedesche Prüfgerat, einmal, weil die Kosten 
bei dem Umfange der Prüfungen nicht aufzubringen gewesen waren, und ferner, 
weil die Ausbildung der Prüfleiter in der Kürze der Zeit an diesen Apparaten 
nicht mögiich gewesen ware. 

Die Lehrlingsprüfung bei der Deutschen Reichsbahn mufite auf einfachem 
Prüfgerat aufgebaut werden, das im eigenen Betriebe hergestellt werden konnte 
und durch die Prüfleiter einfach zu handhaben war. 

Bei den Lehrlingen der Eisenbahnwerkstatten handelt es sich, wie die nach- 
stehende Zusammenstellung zeigt, vorwiegend um eine Answahl für Metall- 
arbeiterberufe. 

Am 1. August 1921 waren bei der Reichsbahn vorhanden 13119 Lehrlinge, 
davon: 


Schlosser.12047 

Schmiede. 28 

Dreher. 319 

Kesselschmiede. 526 

Stellmacher. 20 

Tischler. 82 


Lackierer.34 

Sattler.17 

Klempner.8 

Kupferschmiede.9 

GelbgieDer.3 

Sonstige.26 


Durch das Prüfverfahren muC also die Berufseignung zum Metallarbeiter fest- 
gestellt werden. Für die übrigen Handwerksberufe (Tischler, Sattler, Lackierer) 
werden hierzu allmahlich Erganzungsproben ausgebildet werden. 

Bei der Aufstellung des Prüfverfahrens war weiter zu berücksichtigen, daO nur 
ein Teil der eingestellten Lehrlinge im Handwerkerstand verbleibt, wie durch 
eine Untersuchung von Dr.-lng. Schwarze (Das Lehrlingswesen der preuOisch- 
hessischen Staatseisenbahnverwaltung, S. 44, Springer, Berlin) zahlenmaOig nach- 
gewiesen ist. 













332 Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehrlingseignungsprfifung b. d. Deutschen Reichsbabn 

Nach Ablauf von 10 Jahren waren 

A. im Eisenbahndienst verblieben als 

a) Handwerker (Schlosser) ... 34 vom Hundert 

b) Beamte.46 vom Hundert 

B. ausgeschieden.20 vom Hundert 

Hieraus ergibt sich, daO ein wesentlicher Teil des Nachwuchses der technischen 
Beamten aus dem Lehrlingsstande hervorgeht. Bei der Auswahl der Bewerber urn 
Lehrlingsstellen müssen daher schon solche Anforderungen gestellt werden, daO 
die Beamtenanwarter spater aus geeignetem Personal ausgewahlt werden können. 

Die Eignungsprüfung muB sowohl die handwerkswichtigen als auch die zum 
Aufstieg in den Beamtendienst notwendigen Intelligenzleistungen erfassen, wobei 
natürlich das Schwergewicht auf die Eignung zum Handwerker zu legen ist. 

Das Prüfverfahren umfaOte 1922 folgende Aufgaben: 

1. Aiigemeine Intelligenz, 

a) Lückentext (Kombinationsfahigkeit), 

b) Sinnvolle Zusammenhange (Logisches Gedachtnis), 

2. Merkfahigkeit für Zahlen in raumlicher Anordnung, 

3. Veranlagung für technisches Denken, 

4. Handgeschicklichkeit. Drahtbiegeproben, 

5. Merkfahigkeit für Formen: Ausscheiden von Werkstücken durch Betrachten, 

6. AugenmaO, 

7. Gewichtsvergleichung, 

8. Tastsinn: Ausscheiden von Formstücken durch Betasten, 

9. Handgeschicklichkeit (Zieihammerprobe). 

Die Prüfanweisung enthait jede dieser Aufgaben in folgender Anordnung: 

A. Versuchsgerat. 

Das Versuchsgerat wird von der Psychotechnischen Versuchsstelie in voli- 
standigen Satzen den Prüfieitern überwiesen. 

B. Vom Prüfleiter zu beachten. 

Die vom Prüfleiter zu beachtenden Punkte sind der Reihe nach aufgeführt. 

C. Erklarung für die Prüflinge. 

Die Erklarung an die Prüflinge ist möglichst wörtlich nach der Prüfanweisung 
abzugeben, damit alle Unklarheiten vermieden werden. 

D. Bewertung. 

Für jede Aufgabe ist in der Prüfanweisung festgelegt, wieviel Punkte der Prüf- 
ling für jede Lösung erhait. Nach den ermittelten Punktzahlen werden dann aus 
den Werttafeln die Wertzahlen entnommen, die unter Benutzung der bisherigen 
Prüfergebnisse errechnet sind und der Schwierigkeit und Berufswichtigkeit der 
Aufgaben angepaBt sind. 





Couvé, Organisation u. Aufbau d. LehrIingseignungsprQfung b. d. Deutschen Reicbsbabn 333 

Nach Aufstellung des Verfahrens muOten die Prüfleiter ausgewahlt und mit 
den Grundzügen der Psychotechnik und mit dem Prüfverfahren vertraut gemacht 
werden. Als PrüHeiter wurden Beamte bestellt, die mit dem Lehrlingswesen 
vertraut waren (Amtsvorstande und deren Vertreter). Zur ersten Einführung 
wurde von Professor Dr. Moede im Juni 1921 ein Kursus abgehalten, der die 
verschiedenen Eignungsprüfungen und ihre Auswertung den Hörern naherbrachte. 
Über die ausgearbeitete Prüfanweisung folgten dann Sonderkurse der Psycho- 
technischen Versuchsstelle, in denen die einzelnen Aufgaben und ihre Bewertung 
auch in Übungen behandelt wurden. 

Die groCe Zahl der Bewerber machte es notwendig, Gruppenprüfungen ab- 
zunehmen, soweit es nicht auf Beobachtung einer Einzelleistung ankommt. Nach- 
dem in Vorversuchen die Durchfiihrbarkeit der Prüfung festgestellt war, wurde 
die gesamte Prüfung in einer klaren und erschöpfenden Prüfanweisung zusammen- 
gefaQt, damit der Prüfleiter genaue Unterlagen in der Hand hatte. 

Ein Heft enthalt die Anweisung, ein weiteres die Anlagen hierzu, auOerdem 
wird ein Heft mit Werttafeln beigegeben. Muster, Vorlagen und Prüfgerat werden 
von der Psychotechnischen Versuchsstelle geliefert. 

Der erste Abschnitt der Prüfanweisung enthalt die allgemeinen Bestimmungen 
für die Abhaltung der Prüfung. Die psychotechnische Lehrlingsprüfung dauert 
zwei Tage. Bei mehr als der dreifachen Bewerberzahl werden nach dem Er- 
gebnis des ersten Prüftages, der hauptsachlich Gruppenprüfungen bringt, bereits 
so viel Bewerber ausgeschieden, daB nur die dreifache Bewerberzahl zum zweiten 
Prüftage zugelassen wird. Die Prüfung wird abgenommen von dem Prüfleiter 
und seinem Vertreter und den notwendigen drei bis vier Hilfskraften für die 
Einzelprüfung. Die Ausführung der Prüfung wird überwacht durch den Leiter 
und die Hilfsarbeiter der Psychotechnischen Versuchsstelle. 

Wenn die Güte der Schulzeugnisse und -kenntnisse auch keinen Beweis für 
die Eignung zum Lehrling bildet und daher mit der Eignungsprüfüng nicht ver- 
quickt werden darf, so muO bei der Einstellung das MaB der Schulkenntnisse 
doch festgestellt werden, urn Bewerber auszuschalten, die die unbedingt notwen¬ 
digen Schulkenntnisse nicht besitzen. 

In der Prüfung 1921 wurde den Prüfleitern aufgegeben, den Bewerbern einige 
einfache Rechenaufgaben in den vier Grundarten, ein Diktat und einen kurzen 
deutschen Aufsatz vorzulegen. Es zeigte sich aber, daO, wenn die Aufgaben nicht 
genau vorgeschrieben werden, an einzelnen Stellen zu hohe Anforderungen an 
die Bewerber gestellt wurden. In den weiteren Prüfungen wurden die Aufgaben 
daher von der Versuchsstelle vorgeschrieben. Die Kenntnisprüfung füllt mit den 
Gruppenprüfungen den ersten Prüftag aus. 

Von Bedeutung für die Durchführbarkeit der Prüfungen ist die Zahl der 
Prüflinge. Die Erfahrungen haben gezeigt, daB bei den Gruppenprüfungen des 
ersten Prüftages höchstens 40 und an den Einzelprüfungen höchstens 20 Prüf- 



334 Couvé, Organisation u. Aufbau d. Lehrlingseignungsprüfung b. d. Deutscben Reicbsbahn 

linge teilnehmen dürfen, wenn der Prüfleiter die Prüfung in der Hand be- 
halten und die Dauer der Prüfung nicht übermaOig in die Lange gezogen 
werden soll. 

Die Prüfung muO für alie Bewerber unter möglichst gleichen Bedingungen 
vor sich gehen. Durch die einheitliche Durchführung ist dieses Ziel zum Teil 
erreicht, es bleibt aber noch die persönllche Disposition des Prüflings am Prüf- 
lage und die verschiedenartige Einstellung gegenüber der Prüfung zu berück- 
sichtigen. Auch hierin muO nach GleichmaOigkeit gestrebt werden. Die Prüf¬ 
leiter sind daher gehalten, vor Eintritt in die Prüfung durch eine kurze Ansprache 
alle Befangenheit und Scheu der Prüflinge zu beseitigen. ErfahrungsgemaB ver- 
lieren die Prüflinge bei geeignetem Auftreten des Prüfleiters bald jede Befangen¬ 
heit und erledigen die Aufgaben ohne Hemmungen. Weiter muB festgestellt 
werden, ob einzelne Bewerber Krankheiten oder besondere Aufregungen durch- 
gemacht haben. 

Wenn die Prüfung auch so aufgebaut sein muB, daB jedes subjektive Urteil 
ausgeschaltet ist und die Einstellung nur von den erreichten Leistungen abhangt, 
so ist es doch notwendig, Angaben über die persönlichen Verhaltnisse des Prüf¬ 
lings, über seine Gesundheit, über besondere Lieblingsbeschaftigung oder 
Lieblingsfacher festzuhalten. Hierzu dienen Fragebogen, die bei der Meldung 
und nach der Gruppenprüfung ausgefüllt werden. Der Ausfall der psycho- 
technischen Prüfung kann hiernach spater der Bewahrung in der Praxis gegen- 
übergestellt werden. 

Wenn eindeutige Prüfergebnisse erzielt werden sollen, so müssen in der 
Gruppenprüfung Abschreibversuche durch entsprechendes Setzen und in der 
Einzelprüfung Störungen durch unbeschaftigte Prüflinge vermieden werden. 

Für die Niederschrift der Prüfergebnisse werden den Prüfieitern von der 
Psychotechnischen Versuchsstelle Ergebnisübersichten geliefert, die durch ihren 
Vordruck alle notwendigen Angaben für die weitere Verarbeitung der Ergebnisse 
verlangen. Die in den einzelnen Aufgaben erreichten Wertzahlen werden zu- 
sammengerechnet und nach dieser Summe eine Rangreihe gebildet, die für die 
Auswahl der Lehrlinge maBgebend ist. 

AuBerhalb der Rangreihe dürfen eingestellt werden: Söhne von verstorbenen 
oder infolge Eisenbahnunfalls dienstunfahigen Eisenbahnbediensteten und im Falie 
der Bedürftigkeit Söhne im Kriege Gefallener oder Kriegsbeschadigter mit min- 
destens 50 vom Hundert Erwerbsverminderung. Die auBerhalb der Rangreihe 
Eingestellten müssen aber in der Eignungsprüfung eine Durchschnittsleistung 
aüfweisen. Ihre Gesamtzahl darf 30 vom Hundert der Einzustellenden nicht 
übersteigen. 




GlSsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn 


335 


Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn 

Von Dr.-Ing. GlSsel 

Inhalt: I. Allgemeines. — II. Prüfverfahren. — III. Auswerlung. — 
IV. Art der Prüflinge, Zahl der bisherigen Prüfungen. — V. PrüfgerSte. 
— VI. Ober ZShler. — VII. Erfolgskontrollen. — VUI. Heizerprüfungen. 

I. Allgemeines 

D ie Anfange der Dresdner Prüfstelle gehen auf Dr.-Ing. Ulbricht zurück, der 
in den Jahren 1916 und 1917 Prüfgerate und Prüfverfahren für Lokomotiv- 
führer und Fahrdiensilelter schuf, als denjenigen Gruppen der Elsenbahn- 
bediensteten, die die gröBte Verantwortung für Sachwerte und für Leib und 
Leben tragen. Seine Arbeiten sind in den folgenden Jahren von Dr.-Ing. Schreiber 
und Fröhlich nebenamtlich fortgeführt worden und haben ihren ersten Nieder- 
schlag in den mehrfachen Veröffentlichungen*) des ersteren gefunden. 

Anfang 1921 gelang es, Krafte für das Laboratorium frei zu machen, die sich haupt- 
amtlich mit Eignungsprüfungen beschaftigen konnten. Das Personal besteht jetzt aus 
einem Leiter und vier technischen Hilfskraften. 

lm Herbst 1921 bezog die Prüfstelle neue Raume im Verwaltungsgebaude Dresden-A., 
Strehlener StraCe 1,1. Dieser AnlaU wurde benutzt, um die Prüfverfahren und Prüfgerate 
auf Grund der bis dabin gesammelten Erfahrungen einer teilweise grundlegenden Um- 
anderung zu unterziehen. Diese Erfahrungen hatten bereits gelehrt, daU die allgemeine 
Anwendung von Eignungsprüfungen an Eisenbahnbediensteten angangig ist und der ein- 
geschlagene Weg brauchbar war. 


II. Prüfverfahren 

Ulbricht und seine Nachfolger hatten sich hauptsachlich mit der Lokomoiiv- 
führerprüfung beschaftigt und die ganze Prüfung auf diesen Fall zugeschnitten. 
Die Prüfung für Fahrdienstleiier unterschied sich nur darin, dali noch eine Probe 
für Gedachtnis von Zahlen und Namen hinzukam. Als berufswichtige Grund- 
eigenschaften für den Lokomotivführer waren aufgestellt worden: Ruhe (Umsicht), 
Ausdauer, Aufmerksamkeit, Auffassungsgabe, EntschluOfahigkeit, dazu das Gefühl 
für Gcschwindigkeiten. Um diese zu erschlieBen, hatte Ulbricht die in der oben 
erwahnten Quelle beschriebenen Prüfverfahren und Prüfgerate ersonnen. Alle 
Proben sind Arbeitsproben, die auBerlich, soweit die Ausführung in Frage kommt, 
sehr einfach sind, aber meist vielseitige geistige Fahigkeiten erfordern; auBerdem 
sind sie durchweg Einzelproben. Gruppenprüfungen kommen nicht vor. 

Das heutige Prüfverfahren ist auf den gleichen Anschauungen aufgebaut. Die 
Mehrzahl der früheren Proben ist dem Wesen nach übernommen. Ihre heutigen 
Formen sind unter V kurz beschrieben. 


*) Dr. Schreiber: Das Prüflaboratorium für Berufseignung bei den Königlich Sachsischen 
Staatseisenbahnen. „Zeitschrifi des Vereins Deutscher Ingenieure“ 1918, Nr. 28/29, 1919. (Auch 
als Sonderdruck erschienen.) — Ders. in „Die Umschau" 1918, Nr. 44. — Ders. in „Praktische 
Psychologie“, Il.Jahrgang, 1921, Heft 8. 



336 


GlSsel, Von der Dresdner Prfifstelle der Reicbsbahn 


Die alten Ulbrichtschen Proben wandten sich hauptsachlich an die beruflich 
wichtigen geistigen Fahigkeiten. Die Arbeit des Eisenbahnbetriebspersonals 
unterscheidet sich von der in der Industrie durch eine gröOere Freizügigkeit in 
den Einzelheiten der Ausführung. Der Eisenbahner ist, abgesehen von Bin- 
dungen des Betriebes, meist nicht so straif in einen Herstellungsvorgang ein- 
gespannt, an die Maschine und ihr Arbeitstempo gefesselt, als im Fabrikbetriebe. 
Seine Leistung ist hinterher auch nicht mehr sichtbar und im einzelnen prüfbar 
oder meCbar, wie das Arbeitsstück des Drehers oder Frasers z. B. Auch kann 
eine Aufsicht im einzelnen wegen der Eigenart des Eisenbahnbetriebsdienstes 
nicht durchgeführt werden. Das Lokomotiv- und Zugpersonal ist sich wahrend 
der Fahrt selbst überlassen. Urn so wichtiger werden dadurch die Willenskrafte 
im einzelnen Bediensteten, die sich auOern als Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Ver- 
antwortungsgefühl, Eifer, Treue in der Arbeit usw. Die Prüfstelle ist deshaib 
seit etwa einem Jahre bemüht, auch diese Veranlagung der Bewerber beurteilen 
zu lemen und hat dazu Arbeitsproben eingeFührt, die einen AufschluQ geben 
sollen über die allgemeine Einstellung des PrüFlings zur Arbeit, über seine Trieb- 
kriifte zur Arbeit, weniger über sein Können. 

Bei der Weiterbildung der Prüfverfahren und Durchführung der Prüfungen 
wird besonderes Gewicht gelegt auf die Einstellung der Prüflinge zur Prüfhand- 
lung, auF ihre Stimmung. Es ist allen PrüFlingen bekannt, daO der AusFall der 
PrüFung über ihre Annahme entscheidet. Die PrüFgerate und PrüFmittel müssen 
dem EmpHnden der PrüFlinge angepaBt sein. Alles muB Fest, dauerhaFt, körper- 
lich sein. Papierarbeit, Schreibarbeit ist ungeeignet und wird von Handarbeitern 
nicht Für voli angesehen. Die Naturnahe der PrüFgerate und PrüFvorgange ist 
angestrebt worden, ihr Zusammenhang mit den Dingen und Vorgangen der Wirk- 
lichkeit wird dem PrüFling bei den Erklarungen überall auFgezeigt und durch 
Beispiele und Wandbilder erlautert. An die Erklarung schlieBt sich eine Vor- 
übung am PrüFgerat, die solange Fortgesetzt wird, bis der PrüFling die verlangten 
Handgriffe beherrscht und dies selbst bestatigt, so daB alle PrüFlinge gleich gut 
vorbereitet in die einzelne PrüFhandlung eintreten. 

Die PrüFung wird nur abgehalten, wenn der PrüFling volle körperliche und 
geistige Frische und LeistungsFahigkeit schriFtlich bestatigen kann. Merkbare 
PrüFungsangst ist bis jetzt eine sehr groBe Ausnahme gewesen. Geschickte Be- 
handlung durch den PrüFer ist unentbehrlich und unersetzlich. Die PrüFung be- 
ginnt mit einem kurzen EinFührungsvortrag über Sinn, Wesen und AusFührung, 
über AnForderungen und Bewertung der EignungsprüFung. Das wirkt bei man- 
chen PrüFlingen wie eine Erleichterung. Der EinfluB der sogenannten Disposition 
wird wohl wesentlich überschatzt. Dagegen kann die Einstellung des PrüFlings 
zur PrüFung, der Ernst, mit dem er an die PrüFung herangeht, ausschlaggebend 
Für seine Leistung sein (vgl. Abschnitt über ErFolgskontrolle). 

Die Eisenbahn war bis jetzt noch in der glücklichen Lage, Überangebot Für 
den Nachwuchs des Betriebspersonals zu haben. Bei den LokomotivFührer- 



Glisel, Von der Dresdner Prfifstelle der Reichsbabn 


337 


Anwartern tritt das Angebot jahrgangweise auf. Die Eignungsprüfung ist deshalb 
eine „Auswahl der Besseren*. Sie ist zeitlich vor die Ausbiidung gesetzt, so 
daO in Sachsen niemand mehr in die Ausbiidung zum Lokomotivführer, die zwei 
bis drei Jahre dauert, eintritt, der nicht seine hinreichende berufliche Veranlagung 
nachgewiesen hat. 

Wenn die Leistungen einer Jahresgruppe von Anwartern sollen verglichen werden 
können, so mussen alle Prüflinge unter genau gleichen Prüfbedingungen gestanden haben. 
Das laüt sich aber nur erreichen, wenn der EinfluO des Prüfers wahrend des eigentlichen 
Prüfvorganges ausgeschaltet wird. Dieser EinfluO ist gröOer, als man zunacbst anzu- 
nebmen geneigt ist, und wird unberecbenbar, wenn der Prüfling, wie in Dresden, durcb 
vier bis fünf verscbiedene Hande gebt. Grobe Febler des Prüfers (Ablese-, Scbreib- und 
Recbenfebler usw.) mussen ausgescblossen sein, wenn die Prüfung zur Ausscbeidung des 
Prüflings fübren kann. Solcbe Febler werden um so leicbter möglicb, sobald eine Prüf- 
stelle monatelang Massenarbeit leisten muO. Das stellt so bobe Anforderungen an die 
Prüfer, daO sie in jeder nur möglicben Beziebung entlastet werden müssen. Aucb die 
Feststellung der Einzelleistung muO dem EinfluO des Prüfers tunlicbst entzogen sein. Die 
Leistung muO nacb jedem Prüfvorgang in MaO oder Zabl fertig vorliegen, der Prüfling 
muO sicb von ibrer Höbe überzeugen können. Ibm seine Leistung zu zeigen oder gar ibn 
bei ibrer Feststellung mitwirken zu lassen, beseitigt das natürlicbe MiOtrauen gegen die 
Prüfung besser als alle anderen Mittel und bat in erster Linie bewirkt, daO sicb die Prüf* 
linge bis jetzt widersprucbslos dem Urteil der Prüfstelle unterworfen baben. 

Alle Prüfgerate sind deshalb so eingerichtet worden, daO sie erstens den 
Prüfvorgang seibsttatig darbieten, zweitens die Leistungen des Prüflings sofort 
und von seibst auch für diesen sichtbar aufzeigen. Mit anderen Worten: Die 
Prüfeinrichtungen sind jetzt, soweit wie irgend möglich, automatisch eingerichtet 
worden. Auch neue werden von Anfang an darauf angelegt. 

Die Prüfer sind gehalten, jeden Prüfling hinsichtlich Auffassungsgabe, Ruhe 
und Gewissenhaftigkeit zu beobachten, und bringen ihr Urteil in Form von Zen- 
suren mit zu Papier. Bei der Feststellung der Gesamtleistung bleiben diese ür- 
teile auOer Ansatz. Sie sind aber hauhg eine willkommene Bestatigung oder 
Erganzung des Leistungsergebnisses und bei Gutachten in besonderen Fallen 
unentbehrlich. 

III. Auswertung 

Die Auswertung geschieht mit Hilfe der Haufigkeitskurve und der von 
Dr. Schreiber empfohlenen Integralkurve (Zeitschrift des Vereins Deutscher 
Ingenieure 1919, Nr. 28). Die frühere Zensurstufung ist jetzt allerdings durch 
eine Prozentstufung ersetzt worden. Diese ist sinnfalliger. Die früheren Berech- 
nungsformein für die Wertziffern, in denen mitunter verschiedene Prüfwerte 
zusammengefaOt wurden, sind nicht mehr in Gebrauch. Jeder einzelne Prüfwert 
wird selbstandig durch eine besondere Kurve erfaOt und einzeln bewertet. Da- 
gegen werden die Leistungen (ausgedrückt in Prozenten), die jeder Prüfling bei 
allen Proben erreicht, mit Gewichtszahlen belastet und nachtraglich zu einer 
Gesamtleistung (ebenfalls in Prozenten) zusammengefaOt. Das geschieht, weil die 



338 


Giasel, Von der Dresdner PrGfstelIe der Reicbsbahn 


„Auswahl der Besseren", also eine Gruppierung aller Prüflinge eines Jahrganges 
nach ihrer Gesamtieistung gefordert wird, und die Kennzeichnung jedes Prüflings 
durch eine Gesamtwertziffer sehr einfach ist. Die Gewichtszahlen sind nach 
Schatzung festgesetzt und an vielen Beispielen in ihrer Wirkung auf die Gesamt- 
wertzahl nachgeprüft worden. Beibehalten ist ferner die Zerlegung der einzelnen 
Prüfwerte nach den Grundeigenschaften Umsicht und Ruhe, Aufmerksamkeit, 
Auffassung, EntschluDfahigkeit. Auch das geschieht nach einem gewahlten und 
vielfach nachgeprüften Schlüssel. Die Zerlegung hat auf die Beurteilung eines 
Prüflings keinen EinfluD. Diese geschieht allein nach den Einzelprüfwerten. Sie 


1 Aif/jMSe. 

«fc* OirHetM Dret^. 


On <//e ot/Uunehmen! 




Gutachten über öerufse/^un ^. 

des J-oAfrAon^... .€rjch.. .Me/nhacdt ... 2um .l.alxamo/jr.^^•ihrer.. 

geb!.3J.. jyae-emjber../dST.. .. Dienstste»e:....Lej^2jQ 



CeSOm^Ur/e/A £ric/i. /iejnhar.dt, _ hoK., unfer. .. Bcfferb^n gJeidisr óéf^uf/icker 

SM/ung chtt. &S... Platz be/e^è, 

gwi • Zdpe/asgen veerden. 


Dresden, omjSS.. 


Sr kann - 

.guM.. 


.1023. 


Abbildung 1 


gibt aber den AuOenstehenden ein leicht verstandliches Bild von der beruflichen 
Veranlagung des Prüflings. Die Einzelleistungen und die Grundeigenschaften 
werden jetzt in einer Art Querschnitt bildlich dargestellt (nach Giese), der in 
die Personalakten geht (Abbildung 1). 

Mehrere der vorhandenen Prüfgerate werden sich auch zur Prüfung anderer 
Gruppen von Bediensteten benutzen lassen. Nur muB dann die Gewichtsverteilung 
anders festgesetzt werden. 

Die Zahl der bisherigen Prüflinge jeder Jahresgruppe betrug mehrere Hundert, 
war also so groD, daO sich gute Hauhgkeitskurven, also auch sichere Bewertungs- 
maOstabe ergeben haben. Die Leistung gröDter Haufigkeit gilt als Mindestsoll- 
leistung für die Zulassung. Sie wird mit 50% bezeichnet. Was unter etwa 35 % 
liegt, ist ungenügend und zieht AusschluD nach sich. Über die Einstellung von 
Prüflingen mit Gesamtleistungen zwischen 35 und 50 % entscheidet u. a. der Be- 
























GlSsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn 


339 


darf an Nachwuchs in jedem Jahre. Bei der Auswahl dieser „bedingt Zugelassenen" 
wird dann alles herangezogen, was ein verlaQliches Urteil linden hilft: der per- 
sönliche Eindruck des Prüflings auf die PrüFer, seine AuOerungen, sein Verhalten 
wahrend der Prüfung, Beobachtungen auffalliger Art durch die Prüfer u, dgl. 
In allen Pallen ist aber zunachst die Gesamdeistung des Prüflings in Prozenten 
maOgebend, also die objektive Zahl, weil sie am verlaOlichsten ist und Zweifler 
am leichtesten überzeugt. Diese Stütze kann eine Prüfstelle, die mit geschlossenen 
Gruppen von Betriebspersonal und starken gewerkschaftlichen Organisationen in 
einem staatlichen Unternehmen rechnen muO, auf keinen Fall aus der Hand geben. 

IV. Art der Prüflinge, Zahl der bisherigen PrOfungen 

Die bisherigen Prüfungen haben sich erstreckt auf: 

1. Schlosser aus den sachsischen Eisenbahnwerkstatten im Alter von 20—24 Jahren, 
die mindestens ein Jahr in der Lokomotivreparatur tatig gewesen sind und sich frei- 
willig zum Lokomotivführer-Anwarter gemeldet hatten. Die Prüfungen erfolgen jahr. 
gangweise an je rund 250 Mann. Sie geiten seit zwei Jahren in Sachsen als Zulassungs- 
prüfung zur Anwürterlaufbahn. Wer als ungeeignet befunden wird, scheidet bis jetzt 
für immer als Bewerber aus; 

2. Schlosser gleicher beruflicher Herkunft und gleichen Alters, die schon einmal durch 
die Eignungsprüfung gegangen waren und nach mehreren Monaten auf Antrag der Prüf¬ 
stelle nochmals geprüft wurden, a) um festzustellen, wieweit die Gruppierung der Leute 
bei der ersten und zweiten Prüfung übereinstimmt, also um nachzuweisen, ob und wie¬ 
weit mit dem jetzigen Prüfverfahren Anlagen der Prüflinge erfaUt werden, ferner 
b) um möglichst zahlenmaDig zu ermitteln, welchen EinfluO die Übung durch die erste 
Prüfung auf die Leistung bei der zweiten hat. Hierbei sind samtiiche frühere Bewerber 
wieder geprüft worden, auch die, die bei der ersten Prüfung versagt hatten. (Naheres 
unter VII b); 

3. Lokomotivführer-Anwarter aus dem sachsischen Bereich im Alter von 22—26 Jahren, 
die seit etwa einem Jahre in der praktischen Ausbildung standen, d. h. auf der Loko- 
motive als Heizer fuhren, aber früher noch nicht psychotechnisch geprüft worden waren, 
um festzustellen, wieweit Laboratoriumsbefund und Urteil der Praxis übereinstimmten — 
also als Erfolgskontrolle. Den Vergleich boten schriftliche Gutachten der Lokomotiv- 
Lehrführer, die nach einem vorgeschriebenen Beurteilungsplane aufzustellen waren. 
(Naheres unter VII); 

4. Lokomotivheizer und -oberheizer aus dem sachsischen Bereiche im Alter von 37—61 
Jahren auf Grund freiwilliger Meldungen, die nicht als Schlosser handwerklich vor- 
gebildet sind, aber seit mindestens zehn Jahren als Heizer auf der Maschine fahren, 
und neuerdings ebenfalls zur Führerlaufbahn zugelassen werden können. (Naheres 
unter VIII, Heizerprüfungen); 

5. Einzelpersonen von verschiedenen Gruppen des Betriebspersonals, die von anderen 
Reichsbahndirektionen zur Abgabe eines besonderen Gutachtens zugewiesen worden 
waren. 

Seit Januar 1922, wo die Prüfstelle in den jetzigen Raumen wieder voll in Betrieb ge- 
kommen war, sind über 900 Mann geprüft worden und zwar (in runden Zahlen): 

23* 




340 


Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbabn 


Zu 1. 440 Schlosser, ersttnalig zur Zulassung als Lokomotivführer-Anwarter, 

Zu 2. 100 Schlosser in der Wiederholungspriifung, 

Zu 3. 200 Lokomotivführer-Anw&rter, nachtraglich für die Erfolgskontrolle, 

Zu 4. 160 Lokomotivheizer und -oberheizer erstmalig zur Zulassung zur Führer- 
laufbahn, 

Zu 5. 10 Einzelpersonen für besonderes Gutachten. 

Hierzu kommen noch etwa 100 Versuchsprüfungen mit einem neuen Prüfverfahren 
für Fahrdienstleiter und sehr zahlreiche Einzelproben mit den verbesserten alten oder 
neugebauten Prüfgerüten für die Lokomotivführerprüfung. 

Die Tagesleistung der Prüfstelle betrügt bei 3—4 Prüfern 9—10 Mann, vorübergehend 
ist sie auf 12—13 Mann gesteigert worden. Für einen Prüfling dauert die Prüfung 
3—4 Stunden. 

lm Herbst jedes Jahres sind die Lehrlingsprüfungen in den süchsischen Eisenbahn- 
werkstütten nach dem von der Psychotechnischen Versuchsstelle der Reichsbahn in Berlin 
bearbeiteten Verfahren zu erledigen. Die Ausführung und die Auswertung der Prüfungen 
lag bis jetzt in den Handen der Werkstütten selbst. Die Dresdner Prüfstelle war mehr 
beratend und helfend beteiligt. In zwei Fallen helen ihr die Prüfungen ganz zu. Die 
Lehrlingsprüfungen in Sachsen erfassen jahrlich rund 250 Jungen und erfordern im ganzen 
etwa vier Wochen Zeit. 

V. PrQfgerfite 

Über die alten Ulbrichtschen Prüfgerate wolle man die oben angezogenen 
Veröffentlichungen von Dr. Schreiber vergleichen. Im folgenden soll nur kurz 
auf die wesentlichen Anderungen eingegangen werden. Diese batten den Zweck, 
die Gerate psychotechnisch und technisch besser durchzubilden und sie durch Ein- 
führung der selbsttatigen Darbietung des Prüfvorganges und Feststellung des 
Prüfergebnisses für Massenprüfungen geeigneter zu machen. 

1. Die Fahrerprobe bietet jetzt in der Reihenfolge der Reize (Signale) einen 
möglichen Eisenbahnbetriebsvorgang dar, bei der auf ein und denselben Reiz je 
nach den Umstanden verschieden gehandelt werden muO. Es kommt weniger auf 
Schnelligkeit, sondern mehr auf Richtigkeit der Handlung an. Die Fahrerprobe 
erfordert damit mehr eine überlegte Handlung (nach Hallbauers Vorgang). Sie 
ist nicht mehr die alte einfache Reaktionseinrichtung. Der Aufmerksamkeits- 
bereich ist durch die Einführung mehrfacher optischer Störungsreize wesentlich 
vergröCert worden. Der ehemalige Schreckreiz wurde als unwirksam ganz ver¬ 
lassen. Auch andere Mittel batten keinen Erfolg. Auf diesem Wege wird die 
Aufgabe, die Schreckhaftigkeit des Prüflings zu untersuchen, kaum gelost werden 
können. Auch der frühere Blendreiz, der als Störungsreiz gedacht war, ist als 
unwirksam aufgegeben worden. Vom Bremshebei des Prüflings wird ein Elektro¬ 
motor gesteuert, an dessen wechselndem Gerausch der Prüfling die Wirkung 
seiner Handlungen spürt. Der gesamte Prüfablauf erfordert 20 Minuten. Die 
Zahl der Reize wachst von 5 auf 20 in der Minute. 

Als Prüfwerte werden festgehalten die mittlere Reaktionszeit und die Anzahl 
der Fehler bei Bedlenung der Prüfeinrichtung. Alles geschieht selbsttatig. Der 



Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn 


34t 


eigentlichen Prüfhandiung geht eine Einübung voraus, bei der der Prüfling mit 
der Einrichtung und allen HandgrifFen vollstandig vertraut gemacht wird. Zur 
Erleichterung des Prüfers und Beschleunigung der Prüfung ist zur Vorübung 
eine vereinfachte Fahrerprobe geschaifen worden, an der die Prüflinge in die 
hauptsachlichsten Einzelheiten der Einrichtung und in den Zusammenhang der 
Prüfhandiung eingeführt werden. Dieses Hilfsmittel bat sich sehr bewahrt. 

Die mehrfach angeschnittene Frage, ob das Reizbild beweglich sein solle, um die 
Wirklichkeitsnahe zu vergröQern und die gefühlsmaOige Einstellung des Prüflings ahniich 
wie im Betrieb zu erreichen, ist für die Dresdner Prüfstelle nach langen Erörterungen und 
mehreren praktischen Versuchen bis auf weiteres verschoben worden. Es erscheint nach 
den Erfahrungen mit der Hallbauerschen Fahrerprobe, die den bewegten Reizstreifen hat, 
kaum noch zweifelhaft, daO eine groQe Zahl Menschen der Tauschung, selbst bewegt zu 
sein, nicht unterliegen. Die technisch einwandfreie Lösung der Frage würde für die in 
Dresden schon vorhandene Einrichtung ganz bedeutende Schwierigkeiten gemacht haben, 
die nicht im Verhaltnis zur Wirkung gestanden hatten. Vor allem schien aber schon vor 
mindestens einem Jahre nachgewiesen zu sein, daO die Dresdner Fahrerprobe auch mit 
unbeweglichem Reizbild hinreichend sichere Ergebnisse erzielte. 

Eine andere, verwandte Frage, die hier haufig hineinspielt, ist die, die Reizeinrichtung 
so zu gestalten, daO unvorhergesehene auDergewöhnliche Betriebszustande dargeboten 
oder Zufalligkeiten planmaOig herbeigeführt werden können, wobei sich dann Umsicht, 
Ruhe, Überlegung und Entschlossenheit des Prüflings zeigen sollen. Diese Untersuchung 
laDt sich m. E. nur an fertig ausgebildetem Personal auf einer Versuchsbahn ausführen, 
nicht im Laboratorium. Die praktische Lösung einer solchen Versuchsbahn dürfte keine 
besonderen technischen Schwierigkeiten, nur einige Kosten machen. 

2. Der Wandermarkenapparat, der die Fahigkeit zu raschem und ent- 
schlossenem Handein zeigen sollte, hat grundsatzlich weniger Anderungen er- 
fahren. 

Es werden jetzt nur volle Markengleichen vorgeführt, d. h. die Striche kommen stets 
in voller Breite nebeneinander zu stehen, so daO die frühere Gewichtsbewertung der 
Markengleichen wegfallt. Jedem Prüfling wird die gleiche Zahl Markengleichen und in 
derselben Reihenfolge vorgeführt. Das Gerftt des Prüflings ist als kraftiger Hebei aus- 
gebildet worden. Die beiden Prüfwerte: getroffene Markengleichen und falschliche Hebel- 
bedienungen werden mit Hilfe elektrischer Zahler selbsttatig festgestellt. Ein verbesserter 
Apparat, der zugleich für Geschwindigkeitsschatzungen benutzt werden kann, ist im Bau. 

3. Der Geschwindigkeitsschatzer, jetzt Schatzuhr genannt, tragt vorn nur 
noch einen Zeiger. Als objektive Nullpunkte für die Einstellung der Messing- 
marke dienen jetzt nur 50° und 150°. 

Die Registrierung der Schatzungsfehler geschieht auf der Rückseite mittels Schlepp- 
zeigers und Prüfkarte, auf der die Schatzungsfehler und auch gleich in der für die rech- 
nerische Weiterverarbeitung erwünschten MaCeinheit nach jeder Schatzung sofort ein- 
genadelt werden. Jede Probe wird fünfmal wiederholt. Die verschiedenen Geschwindig- 
keiten des Zeigers sind verlassen worden, weil sie keinerlei Streuung ergaben. Das Gerat 
des Prüflings ist jetzt ein kraftiger Morsetaster. 



342 


Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn 


Als Prüfwerte geiten der konstante Fehler und die mittlere Variation im Ge- 
wichtsverhaltnis 1:4. Die Ermittlung der Variation geht mit einer Art Rechen- 
schieber rasch und sicher vonstatten. 

Die früher mit diesem Gerat noch geübte Ortsschatzung ist aufgegeben worden, 
weil die Streuung ganz gering war. 

4. Die Prüfung der von Ulbricht Raumgedachtnis benannten Fahigkeit wird 
auch heute noch vorgenommen. Das frühere Punktnetz ergab jedoch keine ge- 
nügende Streuung. Das neue Prüfgerat ist eine unregelmafiig begrenzte, dunkel- 
gefarbte Flache und fiinf Metallblattchen in der GröCe eines Groschens. Der 
UmriC der Flache erinnert an die Silhouette einer Tenderlokomotive. Auf der 
Flache sind fünf gröDere Punkte in bestimmter Lage zum UmriC eingezeichnet. 

Der Prüfling prSgt sich 1V 2 Minute lang „die Lage der Punkte auf der dunkeln Flache 
scharf ein“ — wie, ist ihm ganz freigestellt — und legt dann alsbald fünf Metallblattchen 
auf derselben dunkeln, aber jetzt leeren FlSche nach dem Gedachtnis auf. Die Fest- 
stellung seiner Leistung geschieht in seinem Beisein mit Hilfe von Ringschablonen, die 
aufgelegt werden. Die Probe wird dreimal mit verschiedener Lage der fünf Punkte wieder- 
holt. Der Prüfwert ist die Summe aller Abweichungen vom objektiven Nullpunkt, aus- 
gedrückt in Ringzahlen. Die Streuung ist sehr gut. Urn die Einwirkung von Nachbildern 
zu vermeiden, wird stets eine andere Probe eingeschoben. 

5. Der Ergograph, Bauart Dubois, mit dem früher die körperliche Ermüdung 
festgesteilt werden sollte, wird heute hauptsachlich als Energieprobe gewertet. 

Früher waren dem Prüfling Hubhöhe und Tempo freigestellt. Aus dem Ergogramm 
wurde rechnerisch und zeichnerisch die Abnahme der Leistung in der Zeiteinheit er- 
mittelt und als Ermüdung angesprochen. Durch Ansetzen eines Zahlwerkes und einer 
Zeitmarkierung, die die Gesamtleistung in jeder Minute leicht festzustellen gestattet, 
konnte nachgewiesen werden, daC alle Prüflinge bei Abnahme ihrer Hubhöhe im 
Tempo schneller werden, so daO die minutlichen Leistungen, gemessen in mkg, im 
groben Durchschnitt so gut wie konstant bleiben, die Ermüdung also nicht als Ab¬ 
nahme der Leistung in der Zeiteinheit definiert werden kann (unter den damaligen Prüf- 
gewohnheiten). Das führte, im Hinblick auf die Verhaltnisse beim Eisenbahnbetrieb, dazu, 
von allen Prüflingen eine Mindestleistung zu fordern. Diese ist aus den zahlreich vor- 
handenen Ergogrammen für Lokomotivpersonal zu 1 m Gesamthubhöhe in jeder Minute 
bei 7,5 kg Hubgewicht auf die Dauer von 15 Minuten festgesetzt worden. Die Hubhöhe 
jedes Prüflings wird durch einen kurzen Vorversuch ermittelt und dann mit zwei Puffern 
auf den Gleitstangen eingestellt, das Tempo dazu aus einer Tabelle abgelesen und dann 
mit dem Metronom gegeben. Um aber auch die sehr ungleiche Art der Arbeitsausführung 
scharfer zu erfassen und die Arbeitsbedingungen für alle möglichst gleich schwer zu ge¬ 
stalten, ist ein Dreitakt eingeführt worden, der sich gut bewahrt hat: 1 = ziehen, 2 = ab- 
lassen, 3 = ruhen. Einer ganzen Anzahl von Prüflingen macht die Einhaltung dieses Drei- 
taktes Schwierigkeiten. Die verlangte Leistung wird von etwa 74 % aller Prüflinge voll- 
bracht, 17 % lassen in den letzten fünf Minuten nach, 9 % fallen schon nach der dritten 
Minute ab. 

Es besteht die Vermutung, daO die rhythmisch schwach begabten Prüflinge 
auch das Bremsen eines Zuges nicht gut erlernen werden. Doch konnten hier- 



Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbahn 


343 


über noch keine festen Beziehungen aufgefunden werden. Ein Bremsgefühls- 
prüfer ist erst im Bau. 

6. üm einen Einblick in die Willenseigenschaften des Prüfiings zu gewinnen, 
sind seit Anfang 1922 einige Arbeitsproben cingeführt worden. 

a) Sortierprobe I und II. Papierblattchen zwölf verschiedener Formen sind 
zu sortieren. Arbeitszeit ist 30 Minuten. Aufgabe: So rasch wie möglich arbeiten, 
aber ohne Fehler. 

Die Zahl der abgeworfenen Blattchen = d gilt als Arbeitsgeschick, die Fehlerzahl ƒ, 

dividiert durch x (x + 1), wo x = als Sorgfalt. Die Anforderung, die diese Probe 

an die Formvisualitat der Prüflinge stellt, ist keineswegs zu hoch, denn alle Prüf- 
linge sind gelernte Schlosser, seit mindestens einem Jahre in der Lokomotivreparatur 
tatig und daher hinreichend gleichmaOig auf das Beobachten und Erkennen von Form* 
unterschieden eingestellt. Trotzdem ist die Streuung mit den gewahlten Formen erstaun- 
lich groC: d schwankt bei Schlossern zwischen 100 und 700 Stück, ƒ zwischen 0 und 30%. 
Meistens gehen die schnelle und gute und die langsame und schlechte Arbeit zusammen. 

Um auch denen noch gerecht zu werden, die ein schwaches Formerkennungsvermögen 
besitzen, sind bei der Sortierprobe II die Formen der Blattchen so vereinfacht, daU die 
Arbeit von einem fünf^ahrigen Kinde mit Leichtigkeit verrichtet wird. Aufgabe: 1200 Stück 
ohne Fehler abwerfen und dabei arbeiten, wie es in der Natur des Prüfiings liegt. Die 
Arbeitszeit steht frei. Die Streuung bei der Zeit betragt 30 bis 80 Minuten, bei den Fehlern 
ist sie so gering, daO sie vernachlassigt werden kann. 

Die Zeit wird als Arbeitseifer gewertet. Meistens geht die schwache Leistung 
in beiden Proben überein. Die an sich höchst wünschenswerte Verlangerung 
der Proben zur Dauerarbeit lalit sich leider prüftechnisch nicht gut durchführen. 

Kürzlich ist auch die Sortierprobe automatisch hergestellt worden. Die zwölf ver- 
schiedenen Formen sind auf Messingmarken schwarz eingelassen. Nach jedem Einwurf 
wird vorn am FuOe sofort die nachste Marke ausgeliefert. d und ƒ werden durch elektrische 
Zahler selbsttStig angezeigt. 

b) Eine andere Arbeitsprobe, die erstens die Art erkennen lalJt, wie sich ein 
Prüfling mit einer einfachen Arbeit überhaupt abfindet, und die zweitens ge- 
stattet, ihn unter einem gewissen Drück arbeiten zu lassen, wie es im Eisenbahn- 
betrieb bei Verspatungen oder bei starkem Verkehre haufig vorkommt, ist vor 
kurzem in der sogenannten Schlieliprobe aufgenommen worden. 

Sie besteht aus 20 SchloIJkasten mit je zwei Schlüsseln. In jedem Schloö steekt 
ein Schlüssel, der nicht entfernt werden kann, bis er mit Hilfe eines zweiten Schlüssels 
freigemacht wird. Dabei wird aber dann der zweite Schlüssel im SchloC festgehalten. 
Der freigewordene Schlüssel schlieUt dann das nüchste Schloö auf usf. Erste Aufgabe: 
Samtliche Schlosser schlieöen und den Schlüssel im letzten Schloö freimachen! Zeit 
ist beliebig. Alle Schlüssel sind verschieden, die Schlosser in der Reihenfolge ver- 
tauscht. Erforderlich ist also, zu jedem freigemachten Schlüssel nach der Bartform das 
neue zugehörige Schloö zu suchen und dann beide Schlüssel zu schlieöen. Zweite Auf¬ 
gabe: Die Arbeit in umgekehrter Reihenfolge in einer bestimmten, kürzeren Zeit als das 
erstemal tun! Die Zeit wird von fünf zu fünf Sekunden angesagt, um damit auf den Prüf- 



344 


GISsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbabn 


ling einen Drack auszuüben. Die Schilderung einer bestiminten Eisenbahnbetriebslage 
soll die gewünschte Einstellung des PrüFlings herbeiffihren helfen. 

Die Beobachtung des Prüflings gibt vorzüglichen AufschluO über Ruhe, Um- 
sicht, Arbeitsgeschick, Arbeitstrieb bzw. Tragheit. Es komint mitunter vor, daO 
Prüflinge bei der Arbeit unter Druck vollstandig den Kopf verlieren und die 
Arbeit selbst abbrechen. Eine genaue, zahlenmaDige Bewertung macht zunachst 
noch einige Schwierigkeiten, die Beobachtung wird ausschlaggebend bieiben*). 

7. Die Augenuntersuchung auf Nachtblindheit wird zunachst weiter als 
Gutachten für den Augenarzt vorgenommen. Die Untersuchung auf Farben- 
tüchtigkeit ist noch ausschlieOlich Sache des Augenarztes. Versuche, den Augen- 
prüfer auch dafür nutzbar zu machen, sind im Gange. 

Das von UIbricht gebaute, seinem Kugelphoto- 
meter nachgebildete Prüfgerat ist nahezu unver- 
andert erhalten. Nur die Lichtstufung wurde ver- 
feinert. An Stelle der H*förmigen Reizformen 
werden jetzt verschieden begrenzte, schwach er- 
leuch^ete Flachen vorgeführt, die sich sicherer für 
die Beurteilung erwiesen haben. Festgestellt wer¬ 
den die Reizschwelle nach vollkommener Dunkel- 
anpassung der Augen und nach einem bestimmten 
Abbildung 2 Hellreiz (Blendung). Urn die vollst&ndige Dunkel- 

anpassung zu erreichen, kommt der Prüfling zu- 
nSchst 20 Minuten in eine Dunkelkammer. Die Kurve in Abbildung 2, die experimenten 
gefunden und wiederholt nachgeprüft worden ist, zeigt den EinfluO, den das MaQ der 
Dunkelanpassung des Auges auf die Reizschwelle hat, d. h. in wie hohem MaQe und wie 
lange die Nachwirkung des Tageslichtes im Auge die Prüfergebnisse beeinfluDt. Die ge- 
wonnenen Reizschwellenwerte mussen aber vergleichbar sein. Das setzt jedoch gleiche 
Prüfbedingungen, also gleichen Anfangszustand der Augen voraus. Die Kurve zeigt, daO 
erst nach mindestens 15 Minuten eine Art Ruhezustand erreicht ist. .Zwischen je zwei 
Ablesungen wurde eine volle Hellanpassung von je fünf Minuten an das Tageslicht ein- 
geschoben, die im allgemeinen schon nach zwei bis drei Minuten hergestellt ist. 

Entsprechende Untersuchungen liegen über die notwendige Lange des Hellreizes vor. 

Augenuntersuchungen auf Nachtblindheit sind an etwa 380 Schlossern ge- 
macht worden. Nachtblindheit hat bis jetzt nur in seltenen Pallen zur Aus- 
schlieOung des Bewerbers geführt. 

8. Für die handwerklich nicht vorgebildeten Lokomotivheizer ist eine Probe 
auf technisches Verstandnis angewendet worden, die sich gut bewahrt hat. 

Sie besteht in einer Reihe einfacher Bilder über Bewegungsvorgange und Gleich- 
gewichtszustande, an die genau gefaOte Fragen, meist über Ursache und Wirkung, ge- 
knüpft werden und den Prüfling zum Nachdenken zwingen sollen. Die Bewertung geschieht 
auf Grund der jetzigen Prüfergebnisse nach Punkten. 

*) Inzwiscben ist auch eine zablenmSBige Auswertung der Schlieüprobe gelungen, die an 
über 100 Prüflingen erprobt wurde. Prüfwerte sind: Erstens die Arbeitszeit bei freier Arbeit als 
MaB für Oberblick, Arbeitsgeschiik, Arbeiisirieb usw. Zweiiens ein bestimmtes Verhaltnis zwischen 
Arbeitszeit bei freier Arbeit und Arbeitszeit unter Druck als MaB für Ruhe, Umsicht und Ge- 
faBtbleiben. Die Beobachtung durch den Prüfer erscheint auch weiterhin wichtig. 




Glisel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reichsbahn 


345 


VI. Ober Zahler 

Ohne mechanische Registriervorrichtungen für die Prüfwerte sind Massenprüfungen 
nicht gut durchführbar. Die Prüfer sind entlastet, grobe Fehler werden vermieden, vor 
allem wird Zeit gespart. 

Alle Zahler werden so eingerichtet, daQ sle von Null an vorwarts oder von 
einer bestimmten Zahl an rückwarts laufen. Bei jeder Prüfung ist dann nur eine 
einzige Ablesung nötig, mehrmaliges Ablesen, Rechnen und damit wesentliche 
Fehlerquellen sind so ausgeschaltet. 

Der nachsteSchritt ware der, die gezahlten Werte sofort auFdie Prüfkarte aufzudrucken 
oder aufzustempein, um die Fehlerquelle, die immer noch im Ablesen und Aufschreiben 
liegt, ganz zu beseitigen. 

VII. ErfolgskontroIIen 

Die Bedingungen für eine Erfolgskontrolle am psychotechnisch ausgewahlten 
Lokomotivpersonale sind volikommen verschieden von allen anderen bisher be- 
kannt gewordenen Pallen. Die besonderen Schwierigkeiten liegen in folgendem: 

1. Der industrielle Lehrling oder Arbeiter steht dauernd unter Aufsicht. Seine 
Leistung ist sichtbar und bestandig, sie kann jederzeit nachgeprüft und verglichen 
werden. Die Kontrollmöglichkeit beginnt sofort nach der Einstellung. Der 
psychotechnisch ausgewahlte Lokomotivführer-Anwarter besucht erst ein Jahr die 
Werkschule und kommt erst dann auf die Lokomotive, wo er zunachst etwa ein 
Jahr lang als Heizer fahrt und allmahlich in der Fahrkunst ausgebildet wird. 
Bis er zur Fahrreife gelangt, vergehen so zwei bis drei Jahre. Der Lehrführer 
wird haufig ein und mehrere Male gewechselt. Die Lehrführer können nicht so 
sorgfaltig ausgesuchte Krafte sein wie der Lehrmeister im industriellen Betrieb. 
Die Leistung des Lokomotivpersonals ist nicht bleibend sichtbar, nachprüfbar, sie 
kann höchstens wahrend der Fahrt selbst beobachtet und beurteilt werden. Alle 
anderen Kontrollversuche, die slch auf Berichte, Akten u. dgl. stützen wollen, 
müssen versagen. Der Lokomotivführer, der aus dem Bahnhof hinausgefahren 
ist, ist nahezu völlig jeder naheren Aufsicht und Kontrolle entzogen. Nur bei 
gröberen UnregelmaOigkeiten hat seine vorgesetzte Dienststelle Veranlassung, 
sich mit seinem Können oder Nichtkönnen zu befassen. Einen Zug von einem Bahn¬ 
hof zum andern bringen, kennzeichnet aber noch langst nicht einen guten Führer. 

2. Der StraOenbahnführer erfahrt jetzt nach Berliner Muster eine elftagige 
Ausbildung, dann kommt er sofort als selbstandiger Führer auf den Motorwagen. 
Im groOstadtischen Betrieb gerat er nahezu taglich in alle überhaupt möglichen 
Betriebslagen, auch in die nicht durchschnittlichen, so daD sein Verhalten unter 
Umstanden in wenigen Stunden beobachtet und beurteilt werden kann. Sein 
Stromverbrauch, der sich leicht genau messen laOt, ist ein guter MaOstab für 
seine Fahrkunst. Beim Lokomotivführer dauert die Ausbildung, wie schon er- 
wahnt, zwei bis drei Jahre. Lauft der Betrieb planmalJig ab, so kann die rich- 
tige Führung der Maschine auch von einem schwach befahigten Führer geleistet 



346 


Glasel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbahn 


werden. Schlüsse auf sein Verbatten in besonderen Betriebslagen waren auQerst 
gewagt. Dort aber erst zeigt sich gerade der fahige Mann. Betriebliche Ge- 
Fahrfalle lassen sich heute nicht künstlich schaffen. Oazu ware die schon er- 
wahnte Versuchsbahn nötig. Diese gibt es aber noch nicht. Die wirtschaftliche 
Seite der Fahrkunst, also Ersparnis an Kohlen, Ö1 und Wasser, tritt im Loko- 
motivbetrieb ganz zurück. Zustand und Leistungsfahigkeit der Lokomotiven und 
Güte der Kohlen sind zu verschieden und wechselnd, um hieraus irgendwelche 
sicheren Beurteilungen ableiten zu können (von Einzelfallen abgesehen). Kon- 
trolleinrichtungen für Öl- und Kohienverbrauch sind auf den Maschinen nicht 
gebrauchlich. 

Trotzdem ist es jetzt gelungen, die Frage von anderer Seite her in Angriff zu 
nehmen und zu einem gewissen AbschluB zu bringen. Die Prüfstelle hat dazu 
drei Wege beschritten. 

a) Von etwa 100 mindestens ein Jahr selbstandig fahrenden Führern, die in 
den ersten Jahren des Bestehens der Prüfstelle versuchswelse psychotechnisch 
geprüft, aber noch nicht nach dem Prüfungsausfall eingestellt worden waren, sind 
Anfang 1922 aus den Personalakten alle Anstande: Ermahnungen, Verwarnungen, 
Geldstrafen, Unfalle u. dgl. zusammengestellt und mit dem Urteile der früheren 
Eignungsprüfung verglichen worden. Die Personalakten sind nur eine sehr 
dürftige Quelle für solche Angaben, zumal die verflossene Zeit noch recht kurz 
war. Auch waren die Eignungsprüfungen in den Jahren 1917 und 1918 mehr 
noch im Stadium der Versuche. Dennoch zeigte sich, daB diejenigen Leute, die 
hauhger durch solche Anstande auFhelen, schon in der Eignungsprüfung hin- 
sichtlich Aufmerksamkeit und Auffassungsgabe als schwach beurteilt worden 
waren, und daB von den in der Eignungsprüfung als „gut“ bezeichneten Prüf- 
lingen noch zwei Drittel, bei den als „ungeeignet” bezeichneten jedoch nur noch 
ein Drittel keinerlei Anstande ergeben hatten. Der Versuch ist bis jetzt nicht 
wiederholt worden. Er verspricht keinen gröBeren Erfolg. 

b) Sommer 1922 und Sommer 1923 konnten je rund 50 Schlosser, die etwa 
V 4 Jahr vorher durch die psychotechnische Prüfung zwecks Zulassung zur Lauf- 
bahn als Lokomotivführer-Anwarter gegangen waren, nochmals in genau gleicher 
Weise geprüft werden. Ihre Gruppierung in beiden Prüfungen ergab eine Rang- 
platzkorrelation von p = 0,75 und eine mittlere Rangplatzverschiebung von m= 16%. 

Bei dieser Untersuchung hat sich gezeigt, daB die Einstellung der Prüflinge 
zur Prüfung das Ergebnis entscheidend beeinflussen kann. Wenn der Prüfling 
nicht mit dem gleichen Ernst und Trieb an die zweite Prüfung herangeht, kann 
er ein ganz anderes, scheinbares Bild seiner beruflichen Veranlagung ergeben. 
Diese Vorbedingung bei beiden Prüfungen gleichzumachen, ist die gröBte 
Schwierigkeit der ganzen Untersuchung, zugleich ein Hinweis darauf, daB die 
Prüflinge erst dann ihre volle Leistungsfahigkeit offenbaren werden, wenn sie 
mit dem BewuBtsein zu einer Prüfung kommen, daB von deren Ausfall wichtige 
Entscheidungen für ihre Zukunft abhangen. Ihr EinfiuB drückt sich in einer ver- 


GISsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbabn 


347 


haltnismaQig groDen Streuung aus, ohne daO dieser genauer abgegrenzt werden 
könnte oder sich befriedigend ausschalten liefie. Diese Schwierigkeit möchte 
bei der Bewertung der obigen Korrelation mit beachtet werden. 

Diese Wiederholungsprüfungen gestatteten zugleich, ein zahlenmaOiges Bild 
über den EinfluO der Wiederholung auf die Prüfleistungen zu gewinnen. Ab- 
bildung 3 gibt die als Ausgleichslinie ermittelte „Hebungskurve", d. h. einen 
ungefahren Anhalt für das MaB, um das sich die Leistung eines Prüfllngs nur 
durch die Wiederholung der Arbeit bei der zweiten Prüfung heben sollte. Sie 
wird benutzt, um in besonderen Pallen (Wiederholungspriifung an einzelnen 
Leuten, Gutachten über fertig ausgebildete Anwarter) den EinfluB der auBeren 
Umstande und der dienstlichen Verhaltnisse des Prüflings mit zu überschlagen. 



Der EinfluB der Wiederholung der Prüfung auf die Leistung einer bestimmten 
Gruppe von Bewerbern laBt sich noch anders darstellen. Bildet man nach den 
Leistungen bei der ersten Prüfung eine Rangreihe, so entspricht jedem Rangplatz 
eine gewisse Leistung. Tut man dasselbe für die zweite Prüfung, wobei jetzt 
jeder Rangplatz im allgemeinen von einem anderen Prüfling eingenommen sein 
wird, und vergleicht man dann jeweils die auf jeden Rangplatz fallenden Lei¬ 
stungen miteinander, so zeigt sich für alle Rangplatze eine nahezu gleiche Hebung 
der Leistung bei der zweiten Prüfung von 8,4 %. In bildlicher Darstellung der 
beiden Leistungswerte über jedem Rangplatz ergabe das zwei fast gleichlaufende 
Linien im Abstande von %. Das bedeutet: Die Übung durch die erste 
Prüfung erleichtert die zweite Prüfung und verbessert den Gesamtausfall, so daB 
man sagen könnte, die Prüflinge stellen bei der zweiten Prüfung eine besser be- 
fahigte Gruppe von Menschen dar als die der ersten Prüfung. Der Unterschied be- 
tragt im Durchschnitt 8,4%, nur verteilt er sich in Wirklichkeit nach Abbildung 3. 

c) Der unmittelbare Vergleich mit dem Urteile der Praxis ist auf folgendem 
Wege versucht worden, den ein giücklicher Zufall ermöglichte, leider nur gerade 
jetzt und dies eine Mal. In der praktischen Ausblldung befanden sich Früh- 





348 


GISsel, Von der Dresdner Prüfstelle der Reicbsbahn 



Erfolgskonlrolle-Prüfungen an 182 Lokf.-Anwdri-. 


jahr 1923 nahezu 200 Lokomotivführer-Anwarter, die vor 1922 ohne Eignungs- 
prüfung dazu ernannt worden waren. Diese sind im Mai und Juni dieses Jahres 
nachtraglich geprüft worden. Von ihren Lehrführern wurden nach einem ein- 
heitlichen Plane schriftliche Beurteilungen über ihre berufliche Veranlagung ein- 
gefordert. Im ganzen sind 182 Mann erfaCt worden. ^ Nach dem Ergebnis der 

Eignungsprüfung und nach den 
Lehrführergutachten sind sie 
dann gruppiert und die beiden 
Reihen miteinander verglichen 
worden. Abbildung 4 zeigt die 
Gegenüberstellung schematisch. 
Jeder Strich stellt einen An- 
warier dar und verbindet seinen 
Platz in beiden Rangreihen. Eine 
feinere Stufung der Lehrführer¬ 
gutachten ist nicht gut möglich. 
Die Einstufung der einzelnen 
Anwarter liegt zum Teil im Er- 
messen und Gefühl des Bearbei- 
ters. Die Lehrführergutachten 
sind trotz aller Vorsorge und 
Mühe für eine sachliche und 
gleichmaOige Urteilsabgabe mit 
allen Einflüssen persönlicher, 
politischer, gewerkschaftlicher, 
dlenstlicher Art usw., behaftet 
und demgemaO vorsichtig zu be- 
werten. Was Moede kürzlich In 
der „Praktischen Psychologie" 
über den Fragebogen ausgeführt 
hat, gilt sinngemaQ auch hier. 
Immerhin zeigt sich deutlich, 
erstens, daO der Lehrführer aus 
Vorsicht und ais Mensch geneigt ist, zu gut zu urteilen, und zweitens, daQ 
von den 100 Mann mit mindestens 50 % Leistung in der Eignungsprüfung 
keiner vom Lehrführer schlecht beurteilt wird, sich die psychotechnisch Aus- 
gewahlten in der Praxis also bewahrt haben würden. Und das dürfte der 
Kern der ganzen Untersuchung sein, da die Dresdner Eignungsprüfungen dank 
genügenden Angebotes an Nachwuchs noch „Auswahiprüfungen der Besseren" 
sein können. Die Übereinstimmung der schwacheren Gruppen nimmt 
zwar wesentlich ab, doch spricht die Verschiebung zugunsten der Eignungs¬ 
prüfung. 


Abbildung 4 



GI3sel, Von der Dresdner PrQfetelle der Reicbsbahn 


349 


Die rechnerische Bearbeitung der Gegenüberstellung muGte von der Gruppen- 
bildung der Lehrführergutachten ausgehen und konnte nur Gruppenplatze zu- 
grunde legen. 

a) Eine Berechnung nach W. Wirth ergab einen Rang-Korrelations-Koeffizienten 
p = 0,587 bei einem milderen Fehler iv, — 0,0318 (vgl. hierzu untenstehend). 

b) Der mildere Fehler aus den Gruppenplalzverschiebungen im Verhallnis 
zum möglichen maximalen Wen der Gruppenabweichungen, berechnel als 
miiderer Fehler von Wenen gleicher Genauigkeil nach der Meihode der 
kleinsien Quadrale, ergab im Gesamivergleich aller sieben Gruppen 

m=l,34 bei mmfl* = 4,12, 
was einer Obereinsdmmung von 67% enlsprichl. 

Erslrecki man diese Berechnung nur über die vier. obersien Gruppen (100 
bis 50% Leislung), so sielli sich die Übereinslimmung auf 80,3%. 

c) Die einfache Gruppenplaizverschiebung, die im GröOifalle vier Gruppen 
beiragl, belaufl sich bei den sieben vorhandenen Gruppen 

auf 13,1 %. 

Das Wesendiche der Unlersuchung bleibl aber doch der Nachweis, wie die 
in der Eignungsprüfung als .gul" bezeichneien und danach eingesielllen An- 
warier sich im praklischen Diensie bewahren, wie groO also die Obereinsdmmung 
der beiden Beurieilungen für die oberen Gruppen isi. GröDere Abweichungen 
bei den unieren Gruppen sind daher weniger von Belang, zumal sie zugunsien 
der Eignungsprüfung liegen, so daQ auch der unier a) berechneie Wen nichl als 
bedenklich zu wenen isl. 

Von den 100 Mann der vier obersien Gruppen (100—50% Leislung) werden 
nur sechs Mann von den Lehrführern schlechler beurieili als in der Eignungs¬ 
prüfung, und auch nur in geringem MaOe, ergeben also keine ganz befriedigende 
Übereinslimmung. Bei der Gruppe .Genügend" (Leislung 50—35%) beiragl die 
volle Obereinsdmmung beider Beurieilungen nur 28%, der Lehrführer urleili 
in 68% aller Falie besser und nur in 4% aller Falie schlechler. Bei den 
schlechten Bewerbern wird die Obereinsdmmung noch geringer. 

Der Zweck der Dresdner Eignungsprüfungen, die befahiglen Bewerber heraus- 
zufinden, dürfle hiernach als erfülll angesehen werden können und damii zugleich 
der Nachweis erbrachl sein, daQ das Dresdner Prüfverfahren geeignel erscheini, 
die berufliche Veranlagung von Lokomoiivpersonal mil hinreichender Sicherheii 
feslzuslelien. 

Die Einzelguiachlen haben bis auf einen Fall zur Ablehnung der Geprüfien 
geführl, so daQ eine weiiere Verfolgung der diensdichen Laufbahn dieser Leule 
nichl möglich gewesen isl. 

Über eine Erfolgskonirolle für die Heizerprüfungen vgl. Abschniii Vlll: Heizer- 
prüfungen, leizier Absatz. 



350 


Glasel, Von der Oresdner Prüfstelle der Reichsbahn 


VllI. Helzerprüfungen 

lm Juni dieses Jahres sind zum erstenmal Eignungsprüfungen für Lokomotiv- 
heizer abgehalten worden. Sie nahmen dadurch eine besondere Stellung ein, 
als bei den Prüflingen sehr starke Unterschiede im Alter, in der beruflichen 
Vorbjldung und in der Einstellung zur Prüfung bestanden. Die Bewerber sind 
Lokomotivheizer mit mindestens zehnjahriger praktischer Tatigkeit im Fahrdienst, 
stehen im Alter von 34 bis 61 Jahren und haben die Absicht, in die Führer- 
laufbahn überzutreten. Sie besitzen ausnahmslos keine Vorbildung als Schlosser, 
eine ganze Anzahl sind aber gelernte Handwerker anderer Fachrichtung. 

Die Priifungen haben zunachst 100 Mann erfaCt. Das Prüfverfahren war das 
gleiche wie bei den jungen Anwartern, auch wurden die gleichen Anforderungen an 
die Prüflinge gestellt. Nach den bisherigen Feststellungen bleiben die Leistungen 
der Heizer betrachtlich hinter denen der jungen Anwarter von 20—24 Jahren 
zurück, so daO der EinfluB des Alters unverkennbar ist. Da aber zur Zeit weitere 
40 Heizer in Arbeit sind und die bereits vorliegenden Untersuchungen über 
diesen Punkt mit den neuesten Prüfwerten weiter gestützt werden mochten, sollen 
eingehendere Mitteilungen hierüber heute zurückgestellt werden. 


Berufskundliche Untersuchung des Rangierdienstes 

Von Regierungsbaurat Dr.-lng. Busse 

D ie Zusammenstellung der Unfalle des Eisenbahnpersonals zeigt, daB die Zahl 
der im Rangierdienste Getöteten und Verletzten bei weitem gröBer ist als 
in den anderen Dienstzweigen. Wenn nun auch zweifellos viele Unfalle durch 
Unvorsichtigkeit, Gleichgültigkeit gegenüber der standigen Gefahr beim Arbeiten 
zwischen den Wagen und hauBgem Überschreiten der Gleise sowle durch Ent- 
gleisungen usw. herbeigeführt sind, so ist doch auch hauhg der Mangel an be- 
stimmten Fahigkeiten und Eigenschaften (z. B. Körpergewandtheit, EntschluBfahig- 
keit, Konzentrationsfahigkeit) die ürsache von Unfailen. Diese lieBen sich aber 
durch entsprechende Auswahl mittels einer Eignungsprüfung vermeiden. Die 
Auswahl ist aber auch wichtig für die reibungslose und sichere Durchführung 
des schwierigen Betriebes auf groBen Bahnhöfen. Dort muB jeder Rangierer 
nach kurzer Einarbeitung rasch und zielbewuBt arbeiten, um nicht den auf die 
Minute eingestellten Betrieb aufzuhalten. Rangierer, die nicht allen Anforde¬ 
rungen genügen, überlasten die anderen, hindern den Betrieb und bilden eine 
stiindige Gefahr. 

Die im folgenden wiedergegebenen Ergebnisse einer berufskundlichen Unter¬ 
suchung des Rangierdienstes sind aus eigenen Beobachtungen hergeleitet und 
sollen als Grondlage für die Ausarbeitung einer Eignungsprüfung für Rangierer 
dienen. Die Untersuchung beschrankte sich auf den Betrieb gröBerer Bahnhöfe, 
da für die einfacheren Betriebsverhaltnisse kleinerer und mlttlerer Bahnhöfe eine 
Eignungsprüfung zunachst entbehrt werden kann. 



Busse, Berufskundliche Untersuchung des Rangierdienstes 


351 


Der Dienst des Rangierers umfaOt im wesentlichen folgende Arbeiten, wobei 
der Begriif des Rangierens wohl als allgemein bekannt vorausgesetzt werden kann: 

a) Bremsschuhlegen in den Rangiergleisen 

Zum Aufhalten der heranrollenden Wagen wird je nach ihrer Laufgeschwindig- 
keit und Beladung in verschiedenen Entfernungen vor der Stelle, an der der 
Wagen zum Stehen kommen soll, ein eiserner Bremsschuh auf die Fahrflache 
einer Schiene des Gleises gelegt. Das vordere Wagenrad wird beim Auflaufen 
auf den Bremsschuh festgehalten und die lebendige Kraft des sich zunachst 
weiterbewegenden Wagens durch die gleitende Reibung zwischen Schiene und 
belastetem Bremsschuh allmahlich bis zum Stillstand des Wagens aufgezehrt. 
Der Schuh muO rasch und in einer ganz bestimmten Lage auf die Schiene ge¬ 
legt werden, damit er nicht von dem anrollenden Wagen beiseite gestoOen wird 
und der Wagen ungebremst weiterlauft. Ebenso darf der Wagen nicht durch 
faische Wahl der Bremsstrecke zu früh oder zu spat gebremst werden, weil er 
sonst vorzeitig stehen bleibt oder auf andere Wagen aufprajlt. Jeder Brems- 
schuhleger hat vier bis fünf Gleise auf den Zulauf von Wagen zu beobachten. 

b) Bedienen der Gleisbremse am Ablaufberg 

Auf Verschiebebahnhöfen verwendet man zur Ersparung von Lokomotivkraft 
beim AbstoOen und Hin- und Herbewegen der Wagen schiefe Ebenen (Ablauf- 
berge), von denen die Wagen eines ganzen Zuges unter gleichmaOigem Druck 
einer Lokomotive nacheinander frei herunterlaufen. Je nach ihrer Beladung, 
dem zurückzulegenden Wege, den Witterungsverhaltnissen (Gegenwind, Rücken- 
wind. Eis usw.) wird dann ihre anfangliche Laufgeschwindigkeit am FuOe des 
Ablaufberges durch eine Gleisbremse geregelt. Dies geschieht durch Auflegen 
eines Bremsschuhes — wie oben geschildert —, der jedoch durch eine besondere 
Vorrichtung jedesmal an einer bestimmten Stelle des Gleises zur Seite gleitet 
und das Rad vor dem völligen Stillstand des Wagens freigibt. Der Grad der 
Abbremsung wird von dem Rangierer durch Bemessung der Entfernung zwischen 
Auflage- und Abgleitpunkt des Bremsschuhes bestimmt. Der Rangierer hat ferner 
darauf zu achten, wie weit die Rangiergleise bereits besetzt sind, und dies bei 
der Abbremsung zu berücksichtigen. 

c) An- und Abkuppeln von Wagen 

Das Ankuppeln erfolgt nach dem Hineinkriechen in den Raum zwischen den 
Wagenstirnwanden durch Überwerfen der herunterhangenden Kuppelung des 
einen Wagens auf den Kuppelhaken des anderen. Das Abkuppeln geschieht 
durch Hochheben der Kuppelung. An den Ablaufbergen bedient man sich meist 
zum Abkuppeln einer Entkuppelungsgabel, wobei das gefahrliche Arbeiten zwischen 
den Wagenwanden fortfallt. Sle besteht aus einer langen, am Ende gabelförmigen 
Eisenstange, die von der Seite zwischen Kuppelung und Kuppelhaken gestoCen 





352 


Busse, Berufskundliche Untersucbung des Rangierdienstes 


wird, worauf durch rasche Drehung der Gabel die Kuppelung herunterfallt. Da 
dies meist wahrend der Bewegung des Zuges über den AblauFberg geschieht, ist 
besondere Geschicklichkeit erforderlich. 

d) Teilen der ankommenden Züge nach den für ihre Neubildung 

vorgesehenen Gruppen 

Der abkuppelnde Rangierer muO aus den Bezettelungen der Wagen die Emp- 
fangsstation ablesen und rasch entscheiden, zu welcher neuen Gruppe und in 
welches Rangiergleis der Wagen gehort. Er muQ also genau im Gedachtnis 
haben, wenn er sich z. B. in Halle befindet, daO ein von Berlin kommender nach 
Suhl i. Th. bestimmter Wagen zur Gruppe Neudietendorf gehort und nach Gleis 14 
lauFen muD. In das gleiche Gleis laufende Wagen, die zwar nach verschiedenen 
Empfangsstationen bestimmt sind, aber zu derselben Gruppe gehören und hinter- 
einander stehen, darf er nicht entkuppeln, da sie zur Zeitersparnis zusammen 
ablaufen. Der Rangierer muO ferner beim AblauFen der Wagen dem Stellwerk 
jedesmal die betreffende Gleisnummer übermittein, damit der entsprechende 
Fahrweg eingestellt wird. 

e) Begleiten von Rangierabteilungen 

Die Rangierer müssen auch hautig Wagengruppen begleiten, hierbei auf sich 
bewegende Fahrzeuge aufspringen oder von ihnen abspringen und standig darauf 
achten, ob der Weg für ihre Abteilung richtig eingestellt und Frei ist oder sich 
andere Abteilungen nahem. 

F) Abgabe und Beachtung optischer und akustischer Signale 

Wahrend der Rangierarbeiten haben sich die Rangierer mit dem Lokomotiv- 
führer und den Weichenstellern durch Signale zu verstandigen, die aus einem 
oder mehreren verschieden langen Horn- oder Pfeifentönen bestehen, zu denen 
gleichzeitig bei Tage mit dem Arm, bei Nacht mit der Laterne genau vor- 
geschriebene, sichtbare Signale gegeben werden müssen. Von der rechtzeitigen, 
deutlichen Abgabe, Weitergabe und Beachtung dieser Signale hangt die Betriebs- 
sicherheit hauptsachlich ab. 

g) Leitung von Rangiftbewegungen 

Jeder anstellige Rangierer kann nach entsprechender Ausbildung zur Leitung 
von Rangierbewegungen herangezogen werden. Er erhalt dann vom Rangier- 
meister haufig mehrere verschiedene Gleis- und Zugnummern enthaltende Auf- 
trage, die er selbstandig erledigen und nicht miteinander verwechsein darf. 
Hierzu muO er den oft recht verwickelten Bahnhofsplan beherrschen, urn bei 
Überfüllung des BahnhoFs oder Sperrung von Gleisen und Weichen durch Un- 
falle rasch seine Abteilung auch auf Umwegen an die richtige Stelle zu bringen. 
Da es Ziel jedes Rangierers ist, einmal solchen Posten zu erhalten und das Vor- 



Busse, Berufskundlicbe Untersuchung des Rangierdienstes 


353 


handensein der hierzu nötigen Fahigkeiten allein die von jedem Rangierer zu 
fordernde Umsicht verbürgt, muQ die Eignungsprüfung beim Eintritt auch hierauf 
ausgedehnt werden. 

Die Zergliederung obengenannter Aufgaben des Rangierers an dieser Stelle 
würde zu weit führen. Es soll daher nur das Endergebnis der Untersuchung in 
Form einer Tafel der erforderlichen Fahigkeiten mit einigen Erlauterungen mit- 
geteilt werden. 


Tafel der erforderlichen F&hlgkelten 

1 . Fahigkeit, Geschwindigkeit und Wucht von Fahrzeugen zu be¬ 
urteilen und zwar sowohl bei Fahrzeugen, die sich auf den Rangierer 
zu- oder von ihm wegbewegen, als auch bei solchen, auf denen er sich 
befindet (vgl. a, b und e). 

2 . Fahigkeit, bei gegebenen Verhaltnissen den voraussichtlichen 
Bremsweg abzuschatzen und hieraus rasch die jeweils nötige Ent- 
fernung zwischen dem Auflagepunkt des Bremsschuhes und dem Haite- 
punkt des Wagens bzw. Abgieitpunkt des Bremsschuhes zu bestimmen oder 
hiernach rechtzeitig Signale abzugeben (vgl. a, b und f). 

3. Gutes Sehvermögen (Sehscharfe, GesichtsfeldgröQe und Farbenunter- 
scheidungsvermögen). Die Beobachtung vieler langer Gleise und der je 
nach Stellung der Weiche verschiedene Zeichen zeigenden Weichenlaternen 
erfordert gute Sehscharfe und GesichtsfeldgröQe. Das gleiche gilt für das 
Auffassen von Signalen aller Art, wobei jedoch noch das Farbenunter- 
scheidungsvermögen (besonders Rot - Grün) von Wichtigkeit ist (vgl. b, e und f). 

4. Sehfahigkeit bei geringer und rasch wechselnder Helligkeit. Bei 
Nacht tritt der Rangierer oft aus der grellen Beleuchtung elektrischer Lampen 
oder Scheinwerfer der Lokomotiven in das Dunkle und umgekehrt. Bei 
langsamer Anpassung an den Lichtwechsel kann er nahende Fahrzeuge 
leicht übersehen und zu Schaden kommen. Menschen mit langsamer An- 
passungsfahigkeit sind daher auszuschlieQen. 

5. Gutes Hörvermögen. Oft kann das Heranrollen von Fahrzeugen, die 
von anderen verdeckt sind, nur durch das Gehör wahrgenommen werden. 
Ebenso bedarf es eines guten Gehörs, um bei Sturm oder gröOerer Ent- 
fernung akustische Signale (Pfeife oder Horn) richtig zu verstehen (vgl. 
a, e und f). 

6 . Raumrichtungsauffassung. Der Rangierer muO, um sich vom Rücken 
oder von der Seite nahernde Fahrzeuge rechtzeitig wahrnehmen zu können, 
neben gutem Gehör auch über gute Raumrichtungsauffassung verfügen. 
Dasselbe ist notwendig für die Aufnahme akustischer Signale, um die rich- 
tigen von solchen anderer auf dem Bahnhof arbeitender Rangierabteilungen 
sicher unterscheiden zu können (vgl. e, f und g). 

P. P. IV, II. 


24 



354 


Busse, Berufskundliche Untersuchung des Rangierdienstes 


7. Aufmerksamkeit in Dauerleistung. Der Dienst des Rangierers er- 
fordert angestrengte Aufmerksamkeit, da jede Ablenkung die Ursache von 
ünfallen oder Betriebsstörungen bilden kann. Menschen mit mangelhafter 
Konzentrationsfahigkeit sind daher ungeeignet. 

8 . Verteilung der Aufmerksamkeit. Die vorstehend geforderte Aufmerk¬ 
samkeit muO sich aber auch hauiig auf mehrere Punkte erstrecken zur 
gleichzeitigen Beobachtung mebrerer VorgSnge, z. B. am Ablaufberg, wo 
der Rangierer nicht nur die herablaufenden Wagen, sondern auch die für 
die Aufnahme dieser Wagen bestimmten Rangiergleise zu beobachten hat, 
urn bei starker besetzten Gleisen die Wagen entsprechend abzubremsen 
oder bei den haufiger vorkommenden Entgleisungen den weiteren Wagen- 
zulauf rasch abzustoppen. 

9. Geschicklichkeit (Treff- und Griffsicherheit). Beim Auflegen der Brems- 
schuhe, beim Gebrauch der Entkuppelungsgabel und beim Überwerfen der 
Kuppelung ist eine besondere Treff- und Griffsicherheit erforderlich (vgl. 
a, b und c). 

10. Körperliche Gewandtheit. Nur körperlich gewandte Menschen können 
ohne Gefahr Bremsschuhe dicht vor dem rollenden Wagen auflegen, auf 
sich bewegende Fahrzeuge aufspringen oder von ihnen abspringen und 
unter den Wagen hindurchkriechen (vgl. a, b, c und e). 

11 . Körperkraft und Ausdauer sowie geringe Ermüdbarkelt. Schwach- 
liche und leicht ermüdbare Menschen sind den körperlichen Anstrengungen 
des Rangierdienstes bei jeder Witterung nicht gewachsen und daher aus- 
zuschlieflen. 

12 . Geringe Erregbarkeit und Schreckhaftigkeit auch in Gefahr- 
situationen. Leicht erregbare oder schreckhafte Menschen müssen vom 
Rangierdienst ferngehalten werden, da sie sonst bei ZusammenstöOen, Ent¬ 
gleisungen oder auch nur gefahrdrohenden Situationen versagen und so 
sich und andere, sowie den ganzen Betrieb gefahrden. 

13. EntschluOfahigkeit. Jeder Rangierer braucht ein hohes MaQ von Ent- 
schluDfahigkeit, um an seinem Posten jederzeit selbstandig handeln zu 
können, wenn es gilt, durch geeignete rasche MaOnahmen Gefahren ab- 
zuwenden, wie sie durch Flankenfahrten, Entgleisungen, falsche Weichen- 
stellung oder dergleichen taglich auftreten. Auch das Auflegen der Brems¬ 
schuhe und die Abgabe von Signalen im richtigen Augenblick erfordern 
EntschluOfahigkeit (vgl. a, b, e, f und g). 

14. Gute Auffassungsgabe. Der Rangierer muO sich rasch in die Betriebs- 
verhalcnisse seines Bahnhofs einarbeiten und alle gegebenen Signale schneli 
in ihrer Bedeutung erfassen, um danach handeln zu können (vgl. d, f und g). 

15. Kombinationsfahigkeit. Die Wagen tragen haufig unvollstandige oder 
unleserlich gewordene Anschriften, aus denen sich z. B. der den ein- 
gelaufenen Zug abkuppelnde Rangierer oft das Richtige erst erganzen muO. 





Busse, Berufskundlicbe Untersuchung des Rangierdienstes 


355 


Ebenso ist bei der Leitung von Rangierbewegungen der richtige EntschluO 
haufig nur unter Berücksichtigung verschiedener Tatsachen und Möglich- 
keiten zu fassen (vgl. d und g). 

16. Gutes Gedachtnis für die Zuordnung mehrerer Ortsnamen zu 
einer Gruppe oder zu einem bestimmten Gleis. Urn den Gleisplan 
beherrschen zu können, muC derRangierer die Gleisgruppen, Gleisnummern 
und die Bestimmung der Gleise genau kennen (vgl. d und g). 

17. Gute Merkfahigkeit für mehrere Auftrage und rasches Ablegen 
nach Erledigung (vgl. g). 

Auf Grund dieser berufskundlichen Untersuchung und der Tafel der erforder- 
lichen Fahigkeiten ist ein Programm der Eignungsprüfung und eine Anzahl von 
Versuchen und Vorrichtungen ausgearbeitet worden, deren VeröfFentlichung aber 
vorlauhg noch nicht erfolgen kann, da die neue Eignungsprüfung erst erprobt 
und auf Grund der Versuchsergebnisse weiter ausgebaut werden soll. 


Individuelle Beobachtung bei Eignungsprüfungen 
und Erfolgskontrollen 

Von Regierungsbaurat Karl Wildbrett 
Psychotechniscbes Laboratorium der Reicbsbahndirektion MQncben 

Z U den Grundforderungen der psychotechnischen Eignungsprüfverfahren ge¬ 
hort Objektivitat des Urteils. Sie wird erreicht durch genaue Vorschrift 
für den ganzen Hergang der Prüfung einschlieOlich der Erklarung für den Prüf- 
ling, durch vollkommene Festlegung der LeistungsmaBstabe und durch Voraus- 
bestimmung der Urteile für jeden Leistungsgrad. Bei strenger Durchführung 
dieser Grundsatze wickeit sich die gesamte Prüfhandlung und Urteilsbildung in 
gewissem Sinne mechanisch ab. Die Mechanisierung der Prüfung ist unver- 
meidlich, wenn, wie z. B. bei der Reichsbahn, Gewahr bestehen soll, daO an 
zahlreichen, örtlich getrennten Stellen durch notwendigerweise verschiedene 
Personen einheitlich verfahren wird; sie kann aber auch für einen einzelnen ge- 
schlossenen Betrieb zweckmaBig sein, urn unwillkürliche Störungen der Gleich- 
maBigkeit zu verhüten. Abgesehen davon, daB dieser Mechanismus zur Unter¬ 
suchung von Individuen seibstverstandlich viel zu empHndlich ist, als daB er 
von jedermann ohne weiteres in Gang gesetzt und gehandhabt werden könnte, 
muB man sich stets vor Augen halten, daB man es bei den Eignungsprüfungen 
nicht mit einer toten, gesetzmaBig gebildeten Masse, sondern mit dem unendlich 
mannigfaltigen Menschen zu tun hat. Zwar können wir durch bestimmte Proben 
zu einem bestimmten Zeitpunkt das Vorhandensein gewisser Eigenschaften und 
Fahigkeiten feststellen. Für den ersten Zweck der Eignungsprüfung, namlich von 
einem Arbeitszweige zweifellos ungeeignete Bewerber im voraus fernzuhalten, 
genügt das. Denn eine überangstliche Berücksichtigung aller etwa möglichen 

24* 





356 Wildbrett, Individuelle Beobacbtung bei Eignungsprüfungen und ErfolgskontroIIen 

Beeintrachtigungen der Prüfleistungen kann hier ebensowenig in Frage kommen 
wie bei irgendwelchen anderen Prüfungen, welche über die Zukunft der Kandi¬ 
daten entscheiden; „hic Rhodus, sic salta" muO eben auch hier geiten. lm weiteren 
Verfolge der Eignungsprüfergebnisse ist dagegen stets zu bedenken, daO die 
untersuchten Gebiete nur ein Teil des Gesamtmenschen sind und daQ die übrigen 
Komponenten sowohl seine Verfassung im Augenblick der Prüfung als auch sein 
künftiges Verhalten wesentlich beeinhussen. Da aber diese Komponenten zum 
groOen Teil dem Experiment überhaupt nicht oder wenigstens praktisch nicht 
zuganglich sind, so müssen sie durch eine nebenher laufende individuelle Be- 
obachtung und Beurteilung ergründet werden. 

Bei der Eignungsprüfung selbst bezweckt diese individuelle Beobacbtung zu- 
nachst, die Arbeitsbedingungen bei allen Prüflingen nach Möglichkeit gleichzu- 
machen, indem MiOverstandnisse und Abschweifungen beseitigt, Unredlichkeiten 
verhindert, schüchterne und angstliche Gemüter ermutigt werden. Insbesondere 
kann bei auffalligen Leistungen sofort den vermutlichen Ursachen nachgegangen 
werden, wozu spater keine Gelegenheit mehr ist. Man findet z. B. immer wieder 
Leute, die trotz der eingangs gestellten Fragen über Wohlbehnden, Krankheiten, 
aufregende Ereignisse in der Familie usw., Umstande, welche ihre Leistungs- 
fahigkeit beeintrachtigen können, aus Ehrgeiz, Scheu oder sonstigen Gründen 
verheimlichen. So konnte von einem Lehrlingsbewerber, der bei sehr schlechten 
Leistungen durch besondere Stille und Verschlossenheit auffiel, nur mit Mühe 
und nach langem Zureden herausgebracht werden, daO er durch den zwei Tage 
vorher erfolgten Tod des Kindes seiner Schwester stark angegriffen wurde. 
Wahrend bei so erheblicher Beeintrachtigung der LeistungsFahigkeit Aussetzung 
der Prüfung geboten ist, liefern die übrigen angedeuteten Erscheinungen schon 
wertvolle Beitrage zur Charakteristik der Prüflinge. Die Beobacbtung soll aber 
nicht bei diesen sinnfalligen Merkmalen stehen bleiben, sondern ein tunlichst 
umfassendes Bild des Charakters und der Arbeitsweise der Prüflinge anstreben. 
Dadurch wird sie der Ausgangspunkt für die Erfolgskontrolle. 

Die Bewahrung einer Eignungsprüfung kann ja auf dreierlei Weise untersucht 
werden: durch wiederholte Eignungsprüfungen, durch die tatsachliche Arbeits- 
leistung oder durch Vorgesetztenurteile. Nun geben Prüfungen und Probearbeiten, 
welche nicht über das Fortkommen entscheiden, gerne ein entstelltes Bild von 
der wahren LeistungsFahigkeit, weil Höchstleistungen im allgemeinen nun einmal 
nur unter dem Druck drohender Gefahr (im weitesten Sinne) zu erreichen sind. 
Auch die tatsachliche Arbeitsleistung ist zum groOen Teil eine Funktion von 
mannigfachen auDeren Umstanden, wie z. B. von der Organisation des Betriebes, 
von der Güte des Werkzeugs und Materials, bei Führerberufen von Witterung, 
zufalliger Belastung usw., so daO eine absolute Vergleichsbasis meist schwer zu 
hnden ist. Gelegentliche Urteile von Vorgesetzten und Lehrmeistern hangen sowohl 
von der Selbstkritik und dem Charakter des Urteilenden als auch von seinem 
augenblicklichen Gemütszustand ab und stehen im allgemeinen unter dem Eindruck 



Wildbrett, Individuelle Beobachtung bei EignungsprQfungen und Erfolgskontrollen 357 


der allerletzten Zeitspanne, vielleicht sogar eines unmittelbar vorangegangenen 
Ereignisses. Trotz derünzulanglichkeiten ist man auf diese Wege der Bewahrungs- 
kontrolle angewiesen. Es gilt also, sie nach Möglichkeit zu verbessern. Dazu 
kann in erster Linie die individuelle Beobachtung beitragen, vorausgesetzt, daG 
sie nach bestimmten Richtlinien erfolgt. Gelingt dies, so erlangt nicht nur die 
Methode der Vorgesetztenurteile bedeutend mehr Zuverlassigkeit und Wert,sondern 
wird gleichzeitig reichliches Material gewonnen, welches in die augenscheinlichen 
Widersprüche zwischen Eignungsprüfung und Bewahrung hineinleuchtet. 

Das ist aber der Kernpunkt der Erfolgskontrolle: Aufklarung der Ursachen, 
welche die Widersprüche zeitigen können; denn allein auf der Kenntnis dieser 
Ursachen kann die Vervollkommnung der Prüfverfahren aufgebaut werden, und 
die Ursachen wiederum können, da sie in dem nicht experimenten erfaBten Teil 
des menschlichen Ich liegen, nur durch individuelle Beobachtung ergründet 
werden. 

Es fragt sich nun, wie die individuelle Beobachtung anzustellen ist, um als 
Kontrolle fiir die Eignungsprüfung zu taugen. 

Die erste Forderung ist Normung des Urteils nach den zwei Richtungen: 

a) Beobachtungsgebiete, 

b) UrteilsmaDstab. 

Die Vorgabe der Beobachtungsgebiete ist nötig einerseits, um das Urteil um- 
fassend zu erhalten, andererseits um den urteiienden Personen die analysierende 
Gedankenarbeit möglichst zu vereinfachen. LaGt man dem Urteil freien Lauf, 
so ergeht es sich meistens auf Gemeinplatzen. Das ist natürlich, wenn man be¬ 
denkt, welche Leute im allgemeinen Urteil zu geben haben. Es müssen natürlich 
Personen sein, welche mit den zu Beurteilenden in standiger unmittelbarer 
Fühiung stehen, das sind also bei Lehrlingen die Lehrmeister und Lehrgeseilen, 
bei alteren Dienstanfangern vielfach verhaltnismaGig wenig Höherstehende, so daG 
an Vorbildung gewöhnlich nicht mehr als Volksschule und Fachschule angenommen 
werden kann. Diesen Personen fehlt daher auf dem Geblete, das hier in Frage 
steht, zum mindesten der Sprachschatz, wenn nicht überhaupt das scharfe Ana- 
lysierungsvermögen, um aus sich heraus ein charakteristisches Urteil zu bilden. 
Wird ihnen dagegen gewissermaBen eine Anzahl von Kastchen (für die ver- 
schiedenen Beobachtungsgebiete) in die Hand gegeben und gleichzeitig das 
symptomatische Merkmal für jedes Kastchen gezeigt, so haben sie schlieGlich 
nur die einzelnen Bepbachtungsgegenstande, in unserem Falie Prüflinge, Lehr- 
linge oder Dienstanfanger einzuordnen. Diese Tatigkeit ist erheblich einfacher 
und kann schon nach einiger Übung befriedigend ausgeübt werden, vorausgesetzt, 
daG die betreffende Person überhaupt zu einer Urteilsabgabe und damit zum 
Lehrmeister befahigt ist. 

Natürlich muB auch der MaBstab für die^Urteile gegeben werden. Wenngleich 
der subjektive Einschlag des persönlichen Gradmessers damit nicht ganz aus- 
geschaltet ist, so wird der Urteilende doch von selbstherrlicher Einschatzung 



358 Wildbrett, Indivlduelle Beobachtung bei Eignungspi üfungen und Erfolgskontrollen 


abgelenkt und kann altmahlich durch Übung und Scharfung der Kritik auf eine 
feste einheitliche Bahn geführt werden. 

Bei der praktischen Ausführung der Urteilsnormung ist nun möglichste Be- 
schrankung und Einfachheit anzustreben, damit ihre Handhabung auch wirklich 
eine wiilkommene Erleichterung bedeutet und nicht wegen Umstandlichkeit oder 
Schwierigkeit als Arbeitsmehrung gescheut wird. 

Bei meinem ersten Versuche anlaOIich Lehrlingsprüfungen beschrankte icb 
mich darauf, den Prüfhelfern die wichtigsten Gesichtspunkte für eine erganzende 
Beurteilung zu erzahlen; dabei erhielt ich nur allgemeine, wenig brauchbare An- 
gaben. Ich ging dann dazu über, einen Merkzettel mit folgenden Leitpunkten 
auszuhandigen: 

1 . Körperliche Beschaffenheit; kraftig — schwach — unterernahrt 

reinlich —unsauber 
aufmerksam — zerstreut 
leicht —schwer begreifend 
ehrlich — unaufrichtig 
ehrgeizig — gleichgültig 
gewissenhaft — oberflachlich 
gewandt — ungeschickt — umstandlich 
sicher —unsicher 
schnell —langsam 
frisch —langweilig verschüchtert 
ruhig — aufgeregt. 

Daraus waren die passenden Urteile zu entnehmen und in die Fehlerlisten 
als Bemerkung einzutragen; das Ergebnis war bereits erheblich besser, wenngleich 
die Neigung zu gut zu urteilen nicht zu verkennen war. Nachdem auch bei 
Bewahrungskontrollen ahnliche Beobachtungen gemacht wurden, wird nun für 
Lehrlinge und Handwerker folgendes Schema angewendet, welches für andere 
Berufsgruppen leicht sinngemaO umgestaltet werden kann. 

Die Beobachtungen erstrecken sich auf folgende Geblete; Aufmerksamkeit, Auf- 
fassung, Gedachtnis, Beobachtungsgabe, Arbeitsgeschick, Sorgfalt, FleiO, Ordnungs- 
sinn, Willenskraft, körperliche Ausdauer, Nervenruhe, Regsamkeit, Verhaiten gegen 
Vorgesetzte, Verhaiten gegen Kameraden, Ehrlichkeit. 

Bei Prüfungen wird, da dieser ganze Komplex eine zuweitgehende Verteilung 
der Aufmerksamkeit verlangen und Ermüdung der Beobachter verursachen würde, 
nur auf Aufmerksamkeit, Auffassung, Arbeitsgeschick, Sorgfalt, Ordnungssinn, 
Nervenruhe, Regsamkeit und Ehrlichkeit geachtet. 

Die Urteile werden in Form von Noten gegeben und zwar bedeutet: III = durch- 
schnittlich, II ^ erheblich über dem Durchschnitt, IV — erheblich unter dem Durch- 
schnitt; I und V werden nur verwendet, wenn zur Kennzeichnung auOerordentlicher 
Verhaltnisse der Stufen II und IV nicht genügen. (Der im wesentlichen nur drei- 
teilige WertmaCstab mit breiter Durchschnittszone entspricht der Tatsache, dafS 


2 . Geistige Eigenschaften: 

3. Sittliche Eigenschaften: 

4. Arbeitsweise: 

5. Auftreten: 



Wildbrett, Individuelle Beobachtung bei Eignungsprüfungen und Erfolgskontrollen 359 


Für Bewahrungskontrollen ausschlieOlich die Zahl der Ausfalle maOgebend ist, 
welche auf diese Weise genügend charakterisiert werden können.) 

Die zweite Forderung an die individuelle Beobachtung ist Stetigkeit. Fehlt 
diese, so krankt die Beobachtung von vornherein an denselben Übeln wie das 
gelegentliche Vorgesetztenurteil. Die individuelle Beobachtung hat daher bei der 
Eignungsprüfung einzusetzen und wahrend der Lehrzeit, wenn es die Verhaltnisse 
gestatten, auch darüber hinaus, ununterbrochen anzudauern. Auch hierbei ist 
wiederum so zu verfahren, daO der Vollzug nicht lastig empfunden wird. Des- 
halb wird grundsatzlich nur dann ein Urteil verzeichnet, wenn bei einem Prüf- 
ling oder Lehrling eine auffallige Erscheinung beobachtet wird, wenn also ein 
erhebliches Abweichen von dem nicht weiter vermerkten Durchschnitt voriiegt. 
In solchem Falie hat der Urteilende sich über das Wesen der auffallenden Er¬ 
scheinung (das Kastchen, in welche sie einzuordnen ist) klar zu werden und 
bei der einschlagigen Eigenschaft die entsprechende Note mit Tagesangabe in 
eine Liste samtlicher Beobachtungspersonen einzutragen. Auf diese Weise ist 
einerseits die Schreibarbeit auf ein KleinstmaO beschrfinkt, andererseits das Ge- 
dachtnis des Lehrmeisters vom Merken besonderer Vorkommnisse entlastet. 

Urn nun aber Übersehen und Versehen zu verhüten und gleichzeitig gewissen- 
hafte Beobachtung allmahlich zu vertiefen, soll in regelmaOigen Zeitabschnitten, 
z. B. alle Vierteljahre, einmal über alle Lehrlinge Rechenschaft abgegeben werden, 
indem bei jedem einzelnen Lehrling samtlicheBeobachtungsgebiete durchgenommen 
und dafür Notenurteile abgegeben werden. 

Die gesamte Anordnung, welche noch kurze Hinweise zur sicheren Unter- 
scheidung der einzelnen Eigenschaften und Fahigkeiten enthalt, wird den mit der 
Beurteilung betrauten Personen in der Form von „Beobachtungsrichtlinien" in 
die Hand gegeben. 

Urn etwaigen MiOverstandnissen vorzubeugen, möchte ich am Schiusse be- 
sonders darauf hinweisen, daQ diese subjektiven Beobachtungen in das für die 
Einsteliung maSgebende, zahlenmaOige Ergebnis der Eignungsprüfungen nicht 
einbezogen werden, sondern ausschlieOlich zur Erfolgskontrolle der Prüfverfahren 
verwendet werden. Sie sollen auf diesem Wege die Sicherheit der psycho- 
technischen Prüfaussagen erhöhen. Darüber hinaus können sie vielleicht in Be- 
trieben, wo mit den ausgebildeten Lehrlingen besondere Arbeits- oder Vertrauens- 
posten besetzt werden sollen, schatzbare Anhaltspunkte liefern. 


Aufbau und Wirkungsweise von Zweihandprüfern 

Von S. Einder, Psychotechnische Versuchsstelle der deutschen Reichsbahn, Berlin 

Z welhandprüfer prüfen die Fahigkeit zur Zusammenarbeit beider Hande, d. h. 

es sollen vom Prüfling mit beiden Handen gleichzeitig Bewegungen so aus- 
geführt werden, daO die resultierende Bewegung eines Schreibstiftes einem ebenen 
Linienzuge folgt. Der Schreibstift muQ also zwei Bewegungsfreiheiten haben. 




300 


Finder, AuFbau und Wirkungsweise von Zweihandprüfern 


und es ist unzulassig, daD etwa eine Hand beide Freih'eiten ausnutzen kann und 
die andere Scheinarbeit leistet. 

Gute Erfolge bei einer sehr groOen Zahl von Versuchen zeigt der Moede- 
sche Zweihandprüfer, der im wesentlichen dem Kreuzsupport einer Drehbank 
gleicht (s. Praktische Psychologie 1919, Heft 3), 

Trotz der Einfachheit der nachzuzeichnenden Figur ergeben sich groGe 
Streuungen, so daG die DifFerenzierung der Ergebnisse selten Schwierigkeiten 
macht. Die Bewertung erfolgt auf Grund subjektiver Schatzung der Fehler, 
Die Psychotechnische Versuchsstelle der Reichsbahnverwaltung versuchte nun 
auf Anregung von Regierungsbaurat Dr. Busse, zu einer selbsttatigen objektiven 
Fehlerermittelung zu gelangen. Der Vordruck wurde durch ein IV 2 mm breites 
Kupferband ersetzt, auf welchem ein Metallstift an Stelle des Schreibstiftes gleiten 
kann. Zu beiden Seiten dieses Bandes laufen parallel dazu je drei Messing- 
streifen von 1 mm Breite, die gut gegeneinander isoliert sind. Jeder Metall- 
streifen ist mit einem elektrischen Zahler verbunden. Auf den beiden Wellen 
sind je eine Kontaktscheibe befestigt. Bei jeder vollen Kurbeldrehung wird der 
Stromkreis zweimal unterbrochen. Jeder StromstoG, der durch das Gestell, den 
Schreibstift und den berührten Metallstreifen geleitet wird, betatigt den zu- 
gehörigen Zahler, so daG man die Zahl der Kurbeldrehungen bzw. die Milli¬ 
meter, die der Metallstift auf den einzelnen Streifen geführt wurde, ablesen kann. 
Urn beurteilen zu können, in welchem Verhaltnis'die Angaben der Zahler zu 
den subjektiv beurteilten Leistungen stehen, ist der Arm, an welchem der Metall¬ 
stift sitzt, verlangert und daran ein Schreibstift befestigt, der auf einem Blatt 
Papier den Linienzug mitzeichnet. Die bi'sherigen Versuche zeigen, daG die 
Zahlerangaben mit dem subjektiven Urteil meistens übereinstimmen. Natürlich 
müssen für die einzelnen Metallbander je nach der Entfernung vom kupfernen 
Mittelband Wertziffern eingeführt werden, deren GröGen aus den im Gange be- 
hndlichen Untersuchungen ermittelt werden. 

Leider sind die Herstellungskosten des Apparates so hohe, daG bei der Reichs¬ 
bahnverwaltung an eine Verwendung auGerhalb des Laboratoriums wegen der 
groGen Zahl der Prüflinge nicht gedacht werden kann. Die Psychotechnische 
Versuchsstelle der Reichsbahnverwaltung suchte daher einen einfacheren Zwei¬ 
handprüfer zu bauen, der sich mit geringen Mitteln herstellen laGt. Das Er- 
gebnis ist ein handlicher Apparat, der die Abhangigkeit zweier um einen ge- 
meinsamen Punkt drehbaren Hebei in Verbindung mit zwei in geeigneter Weise 
verbundenen Staben benutzt (Abbildung 2). AuQerlich betrachtet, scheint er 
einem von Professor Rupp erbauten Apparat (Abbildung 1) ahnlich zu sein. 
Dieser Apparat hat aber den eingangs erwahnten grundsatzlichen Pehler, daG die 
Bedienung auch mit einer Hand möglich ist. Die Verschiedenheit beider Appa- 
rate geht aus den folgenden Systemskizzen deutlich hervor: 



Finder, Aufbau und Wirkungsweise von Zweihandprüfern 


361 


Die Stabe a sind um den festen Punkt A drehbar, die Stabe b um den 
Punkt B bzw. Bj und Bg. S stellt den Schreibstift dar, bei Hi und Bg bewegt 
der Prüfling das System. Es ist ohne weiteres klar, dafi bei Abbildung 1 ein Be¬ 
wegen von Hz genügt, um den Schreib¬ 
stift jede Figur, die in der Stabebene 
oder parallel dazu liegt, nachfahren 
zu lassen, soweit ihre GröCe die Lange 
der Stabe nicht überschreitet. Hi 
machtnurScheinbewegungen. Beider 
Anordnung nach Abbildung 2 würde 
das Bewegen von Hi oder Hz allein 
nur eine Kreisbewegung von S um 
Bi oder Bz zur Folge haben. Um be- 
liebige Bewegungen in der Ebene zu erzeugen, mussen Bi und Hz gleichzeitig 
bewegt werden. 

Bei den kommenden Prüfungen der neu einzustellenden Werkstattenlehrlinge 
wird der von der Psychotechnischen Versuchsstelle der Reichsbahnverwaltung 
gebaute Apparat in gröBerer Zahl verwendet werden. 



Rundschau 


Bericht 

Am 12. und 13. September fand in Dres- 
den die erste Sitzung des Psychotechnischen 
Ausschusses der Reichsbahnverwaltung statt. 
Ministerialdirektor Hltzler, alsdann Ge- 
heimrat Schwarze vom Reichsverkehrs- 
ministerium, dem die deutsche Eisenbahn- 
Psychotechnik unterstellt ist und der um 
ihre Einführung und Ausgestaltung groBe 
Verdienste hat, sowie der Herr Prasident 
der Reichsbahndirektion Dresden, Dr. 
Mellig, sprachen einige einleitende Worte, 
worauf der Vorsitzende des Ausschusses, 
Dr.-Ing. BloB, Dresden, über das all- 
gemeine Arbeitsgebiet der Psychotechoik 
vortrug. 

Den Eröffnungsvortrag über Ziele und 
Grenzen der Psychotechnik im Eisenbahn- 
wesen hielt Professor Dr. Moede, der seit 
Gründung der Psychotechnischen Versuchs¬ 
stelle Berlin als fachpsychologischer Beirat 
angehört. 


Es folgten Berichte über die bislang aus- 
geführten Arbeiten, und zwar referierten 
Oberbaurat Professor Dr.-lng. Skutsch 
über die Arbeiten der Psychotechnischen 
Versuchsstelle Berlin, Regierungsbaurat 
Dr.-Ing. Glasel über das Psychotechnische 
Laboratorium der Reichsbahndirektion Dres¬ 
den und Regierungsbaurat Wildbrett über 
dasjenige der Zweigstelle Bayern in München. 

Es schlossen sich Spezialberichte an über 
die Prüfung der Handwerkslehrlinge auf 
geistige Fahigkeiten allgemeiner und beruf- 
licher Art, die Regierungsbaurat Wasmer 
und Eisenbahn-Oberingenieur Breithaupt 
übernommen hatten, über Handgeschick- 
lichkeitsprüfung, über die Regierungsbaurat 
Dr.-Ing. Busse und Werkstattenschlosser 
Hage referierten, sowie über Sinnestüchtig- 
keit und körperliche Anforderungen der 
Lehrlinge, worüber Obermedizinalrat Dr. 
Zeitlmann und Lokomotivführer Ludwig 
Ausführungen machten. 



362 


Rundschau 


Die psychotechnischen Anforderungen an 
Fahrkartenverkaufer waren der Gegenstand 
eines Vortrages der Herren Skutsch und 
Eisenbahn-Oberinspektor S c h m i 11. Es wur- 
den vor allem die Ergebnisse der Studiën 
von Couvé von der Psytev-Berlin zu- 
grunde gelegt. Den Fragen der Auswertung 
von Eignungsprüfung sowie den Erfolgs- 
kontrollen war ganz besondere Beachtung 
geschenkt worden, und die Herren Glasel, 
Wildbrett sowie die Baurate Behrens und 
Karmann auDerten sich zu diesen Fragen. 

SchlieDlich berichtete Moede über die 
bei der Industrie zur Erhöhung der Wirt- 
schaftlichkeit eingeführten Anlernverfahren 
auf psychotechnischer Grundlage. 

Den Vertragen schloO sich eine rege und 
fruchtbare Aussprache an, als deren Er- 
gebnis Beschlüsse und Leitsatze formuliert 
wurden. 

Diese erste Sitzung führte Vertreter der 
Wissenschaft und Praxis, Angehörige der 
verschiedensten Berufszweige aus den man- 
nigfachsten Teilen Deutschlands zusammen, 
die in gemeinsamer zweitSgiger Arbeit wohl 
ausnahmslos reiche Anregungen erhalten 
haben, die der Fortentwicklung der Psycho- 
technik im Rahmen der Reichsbahnverwal- 
tung nur nutzbar sein können. 


Eingegangene Schriften 

Ahlenstiel, Dr. Heinz, Über die Stellung 
der Psychologie im Stammbaum der 
Wissenschaften und die Dimension 
ihrer Grundbegriffe. (56 S.) S®. Berlin 
1923. S. Karger. Gz. 1.40. 

Apfelbach, H., Der Aufbau des Charakters. 
Elemente einer rationalen Charakteriologie des 
Menschen. Mit einem Anhang über dieGesetze 
d. eroiischen Attraktion. (VIII,21 IS.) 8®. Wien 
u. Leipzig 1924. Wilhelm Braumüller. Gz.7.—. 


Busse, Dr. H., Das literarische Verstin d- 
nis der werktatigen Jugend zwischen 
14 und 18. Eine entwicklungs- und sozial- 
psychologische Studie. Beihefte zurZeitschrift 
f. angewandte Psychologie, Beiheft32. (X, 289S.) 
8®. Leipzig 1923. Joh. Ambr. Bartb. Gz. 8.—. 

Flscher, Ludwig, Die Arbeit des Patent- 
ingenieurs in ihren psycbologischen 
Zusammenblngen. (Vlu.96S.) 8®. Berlin 

• 1923. Julius Springer. Gz. 2.40. 

Gefimann, G. W., Magnetismus und Hyp- 
notismus. Mit 62 Abbildungen und20Tafel- 
bildern im Text nach photographischen Ori- 
ginaiaufnahmen. 3.,erweiterte Auflage. (232S.) 
8®. Wien und Leipzig 1923. A. Hartlebens 
Verlag. Gz. 5.—. 

Giese, Dr. Fritz, Berufspsycbologiscbe 
BeobacbtungenimReicbstelegrapben- 
dienst. (Schriften zur Psychologie der Be- 
rufseignung u. des Wirtschaftslebens, hrsg.von 
Otio Lippmann u.William Stern, Heft24.) (74 S.) 
8®. Leipzig 1923. Joh. Ambr. Bartb. Gz. 2.50. 

Giese, Dr. Fritz, Psycbotecbniscbes Prak¬ 
tik urn. (153 S.) 8®. Halie a. S. 1923. Wendt 
& Klauwen. Geb. Gz. 3.15, geb. Gz. 4.15. 

Handbuch d. biologisohen Arbeitsmethoden, 
brsg. von Emil Abderbalden. Abt. VI, Me¬ 
thoden d. experimentellen Psychologie, TeilB, 
Heft 2. (Lieferung 111.) 
Piorkowski,Curt,DieKombinationsmethode 
(Prüfung des Kombinationsvermögens). 
Fiscber, Siegfried, Die Methoden der In- 
dividualpsycbologie der Spracbe. 

Hoeker, Karl, Phanomenologie des reli- 
giösen Gefühles. (592 S.) 4°. Berlin u. Wien 
1923. Urban & Sebwarzenberg. Gz. 3.90. 

Jaensch,E.R., Über den Aufbau derWabr- 
nehmungswelt und ibre Struktur im 
Jugendalter. EineUntersuebungüberGrund- 
lagen und Ausgangspunkte unseres Weltbildes. 
(XXIV,567 S.)8o. Leipzig 1923. J.A.Barth.Gz.15.-. 

Katona, Dr. G., Psychologie der Rela- 
tionserfass ung und des Vergleichens. 
(1V,114S.) 8®. Leipzig 1924. J.A.Bartb. Gz.3.—. 

Lahy, J. M., Professor an der Universitlt Paris, 
Taylorsystem und Physiologie der be- 
ruHichen Arbeit. Deutsche autorisierte 
Ausgabe von Dr. J. Waldsburger. Mit 11 Ab¬ 
bildungen. (XV, 154 S.) 8®. Berlin 1923. 

Julius Springer. Geb. Gz. 3.—, geb. Gz. 4.—. 

Lauber, H., Handbuch der Srztiichen Be- 
rufsberatung. Mit 6 Figuren. (XXIV,586S.) 
gr. 80. Berlin u. Wien 1923. Urban & Schwar- 
zenberg. Geb. Gz. 15.—, geb. Gz. 18.—. 

Liertz, Rhaban, Wanderungen durch das 
gesunde und kranke Seelenleben bei 
Kindern und Erwachsenen. (IX, 168 S.) 
8®. Kempten 1923. Verlag Kösel & Pustet. 
Geh. Gz. 2.—, geb. Gz. 2.80. 


Diesem Heft liegt ein Prospekt der Firma Emmanuel Reinicke, Leipzig'bei 
über die 6. Auflage BUcher, Arbeit und Rhythmus. 

Für die Schriftleitung verantwortlich; Prof. Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Laitpold- 
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von Breitkopf Sr Hartel in Leipzig. 






PRAKTISCHE PSYCHOLOGIE 

4. JAHRG. DEZEMBER 1923 12. HEFT 

Die Praktische Psychologie erscheint {q monatlichen Heften lm Umfange von zwel Bogen. Frels des Heftes 1.50 Goldmark Tur 
das Inland, 1.90 Schwelzer Franken ftir das Ausland. Bei unmittelbarcr Zustellung unter Kreuzband 1.70 Goldmark für das 
Inland und 2.20 Schwelzer Franken für das Ausland. Besteliungen nehmen alle Buchhandlungen, sowle die Verlagsbuchhandluog 
entgegen. Anzelgeo vermittelt die Verlagsbuchhandluog S. H i rzel in Lelpzig, KönigstraOe 2. Postscheckkooto Leipzig 226.— 
Alle Manuskriptsendungen und darauf bezügliche Zuschrlften sind zu richten an die Adresse der Schrlftleltung: Professor 
Dr. W. Moede und Dr. G. Piorkowskl, Berlin^X’' 30, LuitpoldstraOe 14. 


Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 

Von Professor Dr. phil. et med. W. Po ppelreuter 
(Aus dem Institut für klinische Psychologie und Berufsbegutachtung Bonn) 

I. Zum Studium der Gesetzlichkeit von körperlichen Arbeitsvorgangen bieten 
sich zwei Wege. Erstens das Laboratoriumexperiment, die von Mosso begründete 
Ergographie (s. Abbildungen 1 und 2) und zweitens die Analyse wirk- 
licher Arbeltsleistungen. 

Für die letztere reicht die übliche Betriebsregistrierung, die in summarischen 
Zahlen über Stunden-, Tages- und Wochenleistungen besteht, keinesfalls aus, da 




wir zur Auffindung von Gesetzlichkeiten die Arbeitskurve, den mathematischen 
Verlauf der Arbeit innerhalb der Zeitabschnitte, brauchen. 

Wie man solche Arbeitskurven von praktischer Arbeit mittels meiner „Arbeits- 
schauuhr" gewinnt, habe ich schon früher beschrieben*). 

Als Beispiel hierfür diene die Abbildung 3, welche von einer praktischen Schwer- 
arbeit mitten aus der Fabrikation heraus gewonnen wurde. Der Arbeiter hatte Eisen- 
scharniere an einer Presse durch Schraubendruck zu bördeln. Hierzu gehorte eine ganz 
tüchtige Einzelanstrengung, so daO man bei pausenlosem, raschem Arbeiten schon nach 
kurzer Zeit deutlich müde wurde. Bei jeder einzelnen Pressung machte der Steiger der 
Arbeitsschauuhr auf dem Wege eines elektrischen Kontaktes einen kleinen Ruck aufwarts, 
wahrend die Trommel sich gleichmaOig mit der Zeit fortbewegte. Alle zehn Minuten 

*) Die Arbeitsschauuhr. Ein Beitrag zur praktischen Psychologie. Langensalza 1917. Jetzt 
Verlag Marhold, Halle. 


P. P. IV. 12. 


25 





364 Poppelreuter, Ober die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 


wurde durch eine Kontaktuhr der Schreiber wieder zur Nullinie heruntergebracht. Die 
Ordinaten verzeichnen also die in der Zeiteinheit erzielten Mengen. Die Schrage gibt die 
Geschwindigkeiten des Arbeitens. Die horizontalen Unterbrechungen sind die Pausen. 

Bei dem Versuch einer Analyse solcher praktischen Kurven hat sich ergeben, 
daO zwischen der Laboratoriumergographie und der Praxis noch eine ungemein 
breite Lücke klafft; es war gar nicht daran zu denken, mit der von der Laboratorium¬ 
ergographie herstammenden Gesetzlichkeit eine befriedigende Interpretation von 
praktischen Arbeitskurven vorzunehmen. 

Diese Lücke muCte von den zwei Seiten her überbrückt werden. Einerseits 


durch Ausdehnung des Laboratoriumexperimentes auf diejenigen Faktoren, 
welche sich bei der wirklichen Arbeit als wirksam erwiesen, anderseits durch 

die eine Mittelstellung zwi- 
! t schen Laboratoriumergogra- 

i\^kiln(yr\All / /IPrH P*’*® wirklicher freier 

fjlfvlf/fjlf I lif 1 1 Praxis einnehmenden ex- 
- } l/KlJfKl/iyi/lrML/ Ir-JY 1/ L perimentellen modell- 

q40 1125 ^ 

Abbildung 3 gemaö praktischen Ar- 

beiten*). 

Hiervon teile ich im folgenden einiges mit; es ist nicht nur wenig, weiPdie 
Kostspieligkeit der Abbildungen dazu zwingt, sondern auch deshalb, weil ich 
mich auf das beschranken möchte, was unabhangig von der Theorie von 
wirklich praktischer Bedeutsamkeit ist. 

Dabei beschranke ich mich auf diejenige Art der körperlichen Arbeit, die 
ohne wesentliche intellektuelle und handwerkliche Beanspruchung vollzogen wird, 
und hierbei noch auf die kurzen Zeitverlaufe. Die Gesetzlichkeiten von Arbeits¬ 


kurven handwerklicher Art und von tage-, wochen- und monatelanger Dauer- 
arbeit mussen je in einem Rahmen für sich besprochen werden, verlangen über- 
dies das hier Gebrachte als Vorarbeit. 


Die in der Literatur zumeist übliche Interpretation auch der praktischen kör¬ 
perlichen Arbeitskurve nach der typischen Mossoschen Kurve (s. Abbildungen 
1 und 2), die sich darin auQert, daO man das Progressive Absinken der Kraft- 
werte durch Ermüdung in den Vordergrund stellt, ist sicherlich unberechtigt. 

Dafür spricht schon allein die überwiegende Abweichung der prak¬ 
tischen Arbeitskurven von dem Mossoschen Typus, 

Wenngleich das Mossosche Ergogramm Ausgangspunkt der theoretischen 
Analyse sein kann, so ist es darum doch nicht Typus der praktischen körper¬ 
lichen Arbeit. 


Vergleichen wir doch nur Duchtig den Tatbestand eines üblichen Laboratorium- 
ergogramms und einer körperlichen Tagesarbeit, etwa des Mauerns: 


*) Einige modellgemati praktische Arbeiten habe ich beschrieben in „Herabsetzung der 
körperlichen LeistungsfShigkeit und des Arbeitswillens bei Hirnverletzten itn Vergleich zu Nor¬ 
malen und Psychogenen. Leipzig, Verlag von VoiJ, 1919. 



Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 365 


lm Laboratoriumergogramm haben wir entsprechend der maximalen Belastung 
bzw. maximaier Anstrengung schon nach ganz kurzer Zeit eine deutliche Er- 
müdung bzw. Erschöpfung, die sich nicht nur in den einzelnen Kraftwerten, 
sondern auch in dem ganzen physiologischen Habitus der Versuchsperson auDert; 
abgesehen von geringen Schwankungen des „Antriebes" wird mehr oder weniger 
progressiv bis zu dem Punkte deutlicher Ermüdung fortgearbeitet. 

Demgegenüber erscheint der praktische Arbeitsverlauf ais gleichförmig. 
Nur sehr geübte Augen werden in der 6.-8. Stunde des Arbeitstages eine Er¬ 
müdung des Maurers bemerken können, von Erschöpfung ist gar nicht zu reden. 

Die Willensanspannung bei ergographischen Versuchen ist maximal. Von 
vornherein geht die Versuchsperson mit dem gröBten Antrieb an die Arbeit 
heran. Das Ergogramm ist „Hetzarbeit". 

Das fehlt in der Praxis. Nur in besonderen Pallen werden geübte Augen 
feststellen können, daO bei der praktischen Arbeit eine höhere Willensanspannung 
vorhanden ist. 

Das Tempo des Ergogramms pflegt maximal zu sein, d. h. sehr nahe an der 
Grenze der Leistungsfahigkeit zu liegen. 

Bei der praktischen Arbeit ist auch dies nicht der Fall. Man sieht es den 
Hantierungen des Maurers direkt an, dali er sie der physiologischen Möglichkeit 
nach mit viel gröOerer Geschwindigkeit ausführen könnte. Er halt ein 
Tempo ein, welches unterhalb des an sich physiologisch möglichen ist, wie weit 
unterhalb, laOt sich nicht einmal schatzen. 

Das Tempo des typischen Ergogramms ist gebunden, durch Metronom- 
schlage bestimmt, das Tempo der praktischen Arbeit ist zumeist frei, 
d. h. durch das Individuum selbst bestimmt. Das Tempo des Ergogramms pflegt 
- konstant zu sein, das Tempo der praktischen Arbeit ist Schwankungen unter- 
worfen. 

Beim Ergogramm sind Pausen entweder nicht erlaubt, oder aber sie sind 
festgelegt. 

lm Gegensatz dazu phegen bei der praktischen Arbeit die Pausen spontan, 
in ihrer Hauhgkeit, Zeitlage und ihrer Lange Frei, in das Belieben des Indivi- 
duums gestellt zu sein. 

Die allgemeine psychische Einstellung zu beiden Tatbestanden ist recht 
verschieden. lm Laboratoriumexperiment handelt es sich urn ein „Abhetzen 
aus Prinzip“, bei der gewöhnlichen Arbeit um die „Einstellung auf vul- 
gare Tagesarbeit". 

Die praktische Arbeit unterliegt zumeist der Einstellung auf die Hervor- 
bringung eines Arbeitsproduktes und wird hierdurch mehr oder weniger 
beeinfluBt. Das Laboratoriumergogramm ist „Anstrengung an sich“. 

Angesichts solch groBer Unterschiede muB man sich eigentlich darüber wun- 
dern, wie man überhaupt vom Laboratoriumergogramm aus eine Aufklarung der 
Gesetzlichkeit des Verlaufes freier Arbeit erwarten konnte. Das ist nur zu ver- 


25* 



366 Poppelreuter, Ober die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 


stehen aus einer, wie wir sehen werden, unberechtigten Einengung auf 
eine mehr physiologische Betrachtungsweise. Wonach man schema- 
tisierte: Ermüdung == Progressive Minderung der Leistung. 

Man kann die Unterschiedlichkeit des Laboratoriumergogramms mit dem prak¬ 
tischen Ergogramm in den Gegensatz fassen: Die Ergogramme des Labora¬ 
toriums sind gebundene, die der Praxis freie Arbeitsverlaufe. 

Die Gesetzlichkeit freier Arbeitsverlaufe zu ermitteln, scheint von vornherein 
schwierig. Wir müssen uns ja, urn Gesetze zu finden, der Laboratoriumversuche 
bedienen, und diese sind ja keine „freien Willenshandlungen", sondern „ge¬ 
bundene Sollhandlungen". Doch erscheint die Aufgabe verhaltnismaCig leicht 
durchführbar, wenn wir uns der Methode bedienen, die „freien" Faktoren 
komponentenweise in den im übrigen experimenten „gebundenen" Arbeits- 
verlauf einzuführen. 

11. Die überwiegende Beachtung des Mossoschen Ergo- 
gramms brachte es mit sich, dali man ganz allgemein er- 
wartete, in dem mathematischen Verlauf einer Kurve den 
EinfluO der Ermüdung auch stets manifestiert zu erhalten. 
Dies ist aber auch nur dann der Fall, wenn die Mosso- 
sche Bedingung der maximalen Belastung erfüllt ist, nicht 
aber, wenn diese, wie in der Praxis zumeist, gar nicht vorliegt. 

Nehmen wir eine einfache Versuchsanordnung. Wir lassen am Mossoschen 
Ergographen mit einem so leichten Gewicht arbeiten, daB es für eine langere 
Zeit ohne gröBere Anstrengung die ganze zur Verfügung stehende Hubhöhe ge- 
hoben werden kann. Wir lassen nun nach dem langsamen Takt eines Meironoms 
diese Arbeit ausführen, und zwar so, daB wir sowohl unten als auch oben auf 
der Schreibführung einen Anschlag anbringen. Unter der Voraussetzung, daB 
die Versuchsperson bestrebt ist, stets die gleiche Kraftleistung zu vollführen, 
wendet sie hierzu mit fortschreitender Ermüdung fortschreitend mehr Anstrengung 
auf. Solange dann noch für diese jeweils gleiche Kraftleistung keine Erschöpfung 
vorliegt, also noch bei schwerster Ermüdung, kann das Kurvenbild völlig stereo- 
typ verlaufen, die Ordinaten behalten ihre gleiche Höhe (s. Abbildung 4). 

Unter der Bedingung nicht maximaler Belastung kann also trotz 
erheblicher Ermüdung eine körperliche Arbeitskurve völlig parallel 
derAbszisse verlaufen, d. h. es kann erhebliche Ermüdung da sein, ohne daB 
sie sich in dem Ordinatenverlauf des Ergogramms manifestiert. 

Diese Überlegung, so selbstverstandlich und primitiv sie ist, hat doch eine 
sehr groBe Bedeutung für die Interpretation freier Arbeitskurven. In der Praxis 
liegt ja die Sache zu allermeist so, daB gleichbleibende untermaximale An- 
strengungen fortlaufend verlangt werden. Nehmen wir nur das Beispiel der Be- 
dienung einer Exzenterpresse. Hier werden jedesmal in einem bestimmten 
Tempo, welches durch die Maschine gegeben ist, wenige Zugkilogramme ver¬ 
langt. Die Leistung ist also, wenn sie vollführt wird, genau ebenso durch die 



Abbildung 4 



Poppelreuter, Über die Gesetzlicbkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 367 

auQeren Bedingungen festgelegt, wie bei dem eben geschilderten ergographischen 
Versuche. Die registrierte Arbeitskurve ist die registrierte Maschinenleistung, 
sie bleibt ebenso stereotyp; trotzdem aber ist, falls das Tempo schnell bzw. 
die Kraftwerte hoch sind, mit fortlaufender Zeit eine Ermüdung des Arbeitenden 
unverkennbar. Ermüdung ist da, sie manifestiert sich aber nicht in der Arbeits¬ 
kurve, ebensowenig die Übung und auch der Antrieb, obwohl selbstverstandlich 
beides eine erhebliche Rolle spielen muO. 

Wenn wir daraus den Grundsatz machen, daO immer ausdrücklich 
untersucht werden muB, ob sich Ermüdung, Übung, Antrieb usw. auch 
in der Arbeitskurve manifestieren kann, so ist das für die Analyse 
der praktischen Arbeitskurven schon von erheblicher Fruchtbarkeit. 
Pinden wir doch dann sehr haufig, dalJ Kurven die Einflüsse von Ermüdung, 
Übung und Antrieb nur scheinbar vermissen lassen, weil eben die Möglichkeit 
der Manil'estation dieser Faktoren in der Gestaltung der Arbeitskurve nicht ge- 
geben ist. 

DaI3 auch bei dem oben beschriebenen Ergogramm die Faktoren der Ermüdung, 
Übung und des Antriebes verhanden sind, kann man, abgesehen von der Befragung und 
der Habitusbeobachtung auch feststellen, wenn man genau zuhört. Mit zunehmender Er¬ 
müdung wird das Gerausch, welches durch den oberen Anschlag entsteht, weniger kraftig, 
und dafür das Gerausch, welches durch Auftreffen des Gewichtes auf den unteren An¬ 
schlag entsteht, starker. Die Erklarung ist einfach. Je frischer die Versuchsperson ist, 
desto gröDer ist der beim jedesmaligen Heben des Gewichtes aufgewendete Impuls, 
deuto lauter also auch der Ton des Anschlages; je müder die Versuchsperson ist, urn so 
mehr kommt die unwillkürliche Bremsung des herabfailenden Gewichtes in Fortfall. 
Schreibt man die Ergogramme auf rascher Trommel, so zeigen sich die Verschiedenheiten 
der Impulsgebung auch in der Form. Der ,ermüdete“ Impuls oder der Impuls geringeren 
Antriebes — in diesem Falie laCt sich beides nicht genau differenzieren — ist langsamer, der 
„frische“ schneller. Es laOt sich ein müdes „Pressen" von einem frischen „Schleudern" 
differenzieren. 

III. Für die völlige Stereotypie in vorgenannter Anordnung ist wesentlich die 
Anbringung des unteren und besonders des oberen Anschlages. Hierin hat 
die Versuchsperson ein Kriterium ihre Impulse zu dosieren. Lafit man ohne 
den Anschlag arbeiten, so ist die Ordinatengleichheit nicht mehr vorhanden, 
es zeichnen sich in der Verbindungslinie der Spitzen jetzt wellenförmige 
Schwankungen auf, die wie die Selbst- und Fremdbeobachtung ergibt, den 
Antriebsschwankungen parallel gehen. (Die Kurven sind so ahnlich der 
Abbildung 6, dali darauf verwiesen werden kann.) 

Diese Wellen zeigen einen Zusammenhang mit der Ermüdung dadurch, daC 
sie progressiv höher und haufiger werden. 

Die Ermüdung — bzw. die Resultate von Ermüdung und Antrieb, denn ge¬ 
nau differenzieren laCt sich beides nicht — auDert sich dann nicht in der 
typischen Form des Absinkens der Ordinaten, sondern in ihrem 
Sch wanken. 






368 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 


Da diese Art der Ermüdungsmanifestation in der Arbeitskurve entsprechend 
dem ursachlichen Faktor, der nicht maximalen Belastung, im Verlauf eine groOe 
gesetzliche Rolle spielen inuO, so berichte ich noch über Versuche, bei denen 
dieser Faktor besser zum Vorschein kommt. Es sind dies die Ergogramme, die 
man durch Arbeitenlassen an einem weichen Dynamometer gewinnt. 

Ein weiches Dynamometer ist ein Instrument, bei dem durch das Zusammen- 
drücken der Feder ein verhaltnismaOig groOer Weg zurückgelegt wird. Verwenden 
wir z. B. einen Zugmesser, der 25 kg Bereich hat, d. h. wo eine vollstandige 
Zusammendrückung der Feder durch eine Belastung von 25 kg erfolgt, wobei 
aber die Weglange = 25 cm ist, so ist eine Zusammendrückung dieses Dynamo¬ 
meters mit der Hand gar nicht möglich, weil die Weglange, die im Handdruck 
liegt, kleiner ist als 25 cm. Der Weg, den das Ende des Handgelenkes bis zum 
völligen HandschluD zurücklegt, betragt je nach GröCe der Hand 6—10 cm, und 
es kann daher an einem solchen weichen Dynamometer ein Handdruck nicht 
mehr Zugkilogramme erzeugen als der Weglange entspricht, also bei dem oben 
verwendeten Beispiel ebensoviel Kilogramme als Zentimeter der Handpressung 
ausmachen. LaBt man an einem solchen Dynamometer im langsamen Tempo 
drücken, so müBte theoretisch die Kurve infolge gleicher Ordinatenhöhe absolut 
gleichmaOig sein, so wie die Abbildung 4 zeigte, da ja die jedesmalige An- 
strengung nur wenige Zugkilogramme betragt, weniger als der Kraft entspricht. 

Der wirkliche Versuch aber zeigt ein ausgesprochenes Schwanken der 
Werte, und diese Schwankungen sind, wie die Seibst- und Fremdbeobachtung 
zeigt, proportional den Antriebsschwankungen. Wird der Antrieb geringer, 
so werden auch die Kraftwerte geringer, die Ordinaten niedriger; wird der An¬ 
trieb gröBer, so werden auch die Kraftwerte gröBer, die Ordinaten höher. Wahit 
man das Verhaltnis von Weglange und Zugkilogramm passend und das Tempo 
entsprechend langsam, so kommt für eine lange Zeit der Faktor der Er- 
müdung in einem kurvengestaltenden EinfluB — nicht etwa überhaupt — zum 
Fortfall bzw. zur geringeren Wirksamkeit und eine solche Kurve am 
weichen Dynamometer ist in ihrem mathematischen Verlauf ein 
Spiegelbild der Antriebsschwankungen (s. Abbildung 5). 




Abbildung 5 

Macht man derartige Ergogramme bei gleichbleibendem langsamem Metronom- 
tempo, so ist bei vielen Versuchspersonen gesetzmaBig, daB gegenüber dem 
Mossoschen Ergogramm das Maximum der Leistung gar nicht auf den 
Anfang fallt, sondern erst nach einiger Zeit sich einstellt. Nach der 
Seibstbeobachtung kommt man bei dieser Art des Arbeitens erst nach einiger 


Poppelreuter, Ober die Gesetzlichkeit der praktiscben körperlichen Arbeitskurve 369 


Zeit „in Gang", man arbeitet sich ein, der Antrieb nimmt zu und damit geht 
parallel eine VergröBerung der Ausschlage (s. Abbildung 6). 



Abbildung 6 

Man könnte hier von einer „Ubung* sprechen, die unter den obwaltenden 
Bedingungen den EinflulS der Ermüdung überwiegt, wenn wir eben das „In-den- 
Zug-Kommen“ auch unter den Sammelbegriff der „Übung“ einreihen. Man hat 
sich beinahe gewöhnt, bei rein körperlicher, zumal anstrengender Arbeit die 
Übung als solche zu ignorieren, weil ja bekanntlich der Anfangsanstieg der ergo- 
graphischen Kurve bei der Mossoschen Anordnung ein nur ganz geringer ist, 
oft sogar fortfallt. Wir lemen aus diesen Versuchen, daö dieser EinfluD nur 
deshalb gering erscheint, weil mit maximaler Belastung gearbeitet wurde; je 
weniger maximal die Belastung ist, desto mehr zeigt sich auch bei Kraft- 
anstrengung, selbst ermüdenden, die motorische Einübung, das In-den-Zug- 
Kommen, in einer progressiven Erhöhung der Ordinaten. 

Diese GesetzmaGigkeit ist hervorzuheben, weil wir bei praktiscben körper¬ 
lichen Arbeitskurven mit Ausdehnung der zeitlichen Lange einer Zunahme an 
Leistung begegnen werden. 

Zunahme an Leistung trotz progressiver Ermüdung, die wir haufig 
bei praktiscben Arbeitskurven finden, ist also nicht paradox. 

IV. Die groDe Bedeutung des Antriebes und das Zurücktreten der Ermüdung 
als kurvengestaltenden Faktors tritt uns auch entgegen beim Vergleich ver- 
schiedenen Menschenmaterials. Je ehrgeiziger und disziplinierter, 
je arbeitswilliger die Versuchspersonen sind, urn so mehr kommt das 
Ergogramm dem physiologischen nahe, ist also durch progressives 
Absinken charakterisiert. Es entfernt sich davon um so weiter, je 
weniger arbeitswillig und diszipliniert die arbeitenden Individuen sind. 

Individuen, die etwa zum Zwecke der Rentenbegutachtung der Prüfung unter- 
worfen werden und keinen guten Willen zeigen — ich meine nicht etwa Simu¬ 
lanten, die haben schiechten Willen —, zeigen ausgesprochen unregelmaBige 
Ergogramme, Ergogramme, in denen die Ermüdung nicht als typisch form- 
bestimmend hervortritt. Es sind dann diese Kurven weniger Ermüdungskurven 
als „Antriebskurven"*). 

Derselbe Unterschied zeigt sich für die Gruppe der Erwachsenen einerseits 
und der Kinder anderseits. Ein Ergogramm von einem achtjahrigen Knaben 
mit den typischen starken Antriebsschwankungen zeigt Abbildung 7. Die Er- 
müdungsmanifestation ist dann ganz entsprechend gering. Vergleicht man all- 

*) Vgl. hierzu Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie, I. Band. — Poppelreuter, 1. c. 


370 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 


gemein und obenhin, so kann man sagen; Die bei praktischer Arbeit ge- 
wonnenen Arbeitskurven ahneln mehr denjenigen, welche von schlech- 
ten als von guten Versuchspersonen gewonnen werden. 

Man kann auch künstlich Ergogramme dadurch „freier‘‘ gestalten, daC man 
den Versuchspersonen aufgibt, nicht mit maximaler Mühegabe, sondern nur 

Abbildung 7 

mit mittlerer oder gar schlechter Willensspannung zu arbeiten, urn dann Ergo¬ 
gramme zu erhalten, welche bezüglich des Willensverhaltens mit der praktischen 
Arbeit wesentlich besser übereinstimmen. 

Hierbei fallen die Kurven deutlich variabel aus; es besteht bezüglich der 
Kurvenformen kein wesentlicher Unterschied zwischen dem künstlich herab- 
gesetzten Antrleb und einem an sich herabgesetzten Antrieb, wie wir ihn bei 
Rentenfallen, undisziplinierten Kindern, Schwachsinnigen usf. hnden. (Jedenfalls 
nicht Unterschiede von der Art, daC sie hier in Betracht kamen.) 

Bemerkenswert hnden wir hier individuelle Unterschiede. Wir hnden einer- 
seits Versuchspersonen, welche bei der Instruktion nür mittlerer Willensspannung 
Kurven liefern, die nur im Anfang eine gewisse Ahniichkeit mit der ergo- 
graphischen Kurve haben, um dann im spateren Verlaufe ziemlich gleichmafiig 
parallel zur Abszisse zu sein. Dlese Versuchspersonen arbeiten, wie ihre Selbst- 
aussage und die auDere Beobachtung zeigt, „gleichmaOig bequem". Der Antrieb 
ist an sich gering, aber es sind auch gering die Antriebsschwankungen infolge 
Überwiegens eines rhythmischen Automatismus. 

Der zweite Typus ist gekennzeichnet durch ein starkeres Hervortreten der 
Wellenzeichnung (ahnlich, nur noch starker wie bei Abbildung 5). Die Be¬ 
obachtung ergibt, daO die Versuchspersonen, man könnte fast sagen, ohne daO 
sie es wollen, doch gegen die Instruktion von Zeit zu Zeit wieder einem starkeren 
Antrieb verfallen. Es ist sonderbar, daB die Aufgabe, mit geringerer Willens¬ 
spannung zu arbeiten, durchaus nicht einfach und leicht befolgbar ist. Es liegt 
in der Art und Weise des ergographischen Arbeitens ein Anreiz, sich Mühe 
zu geben, so daB viele Versuchspersonen — was nur dem paradox ist, der die 
Versuche nicht selbst mitgemacht hat — gegen ihren guten Willen sich mehr 
anstrengen, als sie wollten. Es zeigt sich das darin, daB gewissermaBen ein 
typisches Ergogramm neben das andere zu stehen kommt, wodurch das Schwanken 
der Werte ganz besonders groB wird. 

Der dritte Typus ist der, welcher sich bei der Instruktion einer geringen 
Willensspannung eigentlich überhaupt keine oder nur sehr- wenig Mühe gibt. 
Derartige Kurven zeichnen sich aus durch die Verbindung der zwei Momente, 
geringe Höhe, wellenförmige Schwankungen, und geringe Unterschiede von An- 
Fang, Mitte und SchluB. 





372 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktiscben körperlichen Arbeitskurve 

Sekunden statt eine Sekunde — Kurve B, Abbildung 9 — 
so ergibt dieMessung derZeiten umgekehrte Ten- 
denz, d. h. eine Tendenz, rascher zu werden. Das 
Tempo nimmt zu. Die Versuchsperson arbeitet 
schneller, und zwar trotzdem sie auch in dem 
zweiten Falie deutlich milder wird, wie sich in dem 
Absinken der Kraftwerte zeigt, wenngleich sie weniger 
milder wird, als bei dem anderen Versuch A. 

Diese Tendenz ist, wie sich an einer Mehrheit von Versuchspersonen zeigt, 
stets nachweisbar. Eine solche Beschleunigung des Tempos mit Zu- 
nahme der Ermüdung scheint paradox zu sein, laOt sich aber auf- 
klaren. Sie liegt zu allererst in der Tatsache des persönlichen Tem¬ 
pos, des individuellen Bestrebens, ein bestimmtes Tempo einzuschlagen, und 
zwar in teilweiser Unabhangigkeit von der Ermüdung. lm Sonderfall 
ist es die Tendenz, ein bestimmtes Tempo durch Zunahme jeweiligen Antriebes 
konstant zu halten, falls die Ermüdung eine Herabsetzung bewirken will. 

Wir sehen also, dall dann, wenn bei praktischer Arbeit eine Be¬ 
schleunigung des Arbeitstempos auftritt, dies mit Zunahme der Er¬ 
müdung gesetzlich vereinbar ist. Diese Gesetzlichkeit werden wir spater 
bei der modelIgemaBen Schwerarbeit wiederfinden. 

Aufklarung über die Gesetzlichkeit des freien Tempos kann man ferner er- 
warten von solchen Versuchen, bei denen Tempo und Kraftleistung gegenüber 
der Mossoschen Anordnung reziprok sind. Beim Mosso ist das Tempo kon¬ 
stant, die Variable ist das Absinken der Kraftwerte. Reziprok ware das 
Konstanthalten der Kraftwerte und die Variation des Tempos, dabei 
das Ausbleiben bzw. Aufschieben der Ermüdung. Theoretisch müBte 
eine solche Kurve so aussehen, wie die Abbildung 10 zeigt. 

Das wirkliche Experiment stöBt aber hier auf groBe Schwierigkeiten, gibt uns 
aber dafür fruchtbare Erkenntnisse. 

Ich gebe hier nur die Versuche wieder, bei denen (ex fortiori) auch Pausen er- 
laubt waren. Die Versuchsanordnung war die übliche des Gewichtsergographen. Die 
Belastung war maximal, für jede Versuchsperson besonders ermittelt. Die Instruktion 
war: „Schnellanfangen,dannTempo 
maBigen und Pausen einlegen; es 
muB aberjedesmal das Gewicht auf 
die maximale Höhe gebracht wer¬ 
den!" DaB diese Aufgabe von den 
Versuchspersonen nicht befolgt werden 
konnte, zeigt ein nur flüchtiger Bliek auf 
die zwei Beispiele(Abbild. 11). Sie lassen 
sich beide in drei voneinander zeitlich 
abgegrenzte Phasen a, b und c zerlegen. 




Abbildung 9 


Poppelreuler, Über die Gesetzlicbkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 373 

a) Schon im Anfang wird der 
Bedingung der jedesmaligen 
gleichen Hubhöhe nicht ge- 
nügt. Es wird vielmehr 
ein typisches Ergogramm ge- 
schrieben, die Ordinaten fallen 
progressiv ab. Das hierbei 
eingeschlagene spontaneTem- 
po bleibt zuerstziemlich gleich 
und muOte schnell genannt 
werden; es variierte bei den verschiedenen Versuchspersonen von erner zu drei 
Sekunden. 

b) Dann zeigt sich bei allen Versuchspersonen, plötzlich elnsetzend, eine er- 
hebliche Tempoverlangsamung bei Gleichheit der erniedrigten Hubhöhen. 

c) Auch dieses langsamere Tempo erweist sich noch als zu schnell, die Ver¬ 
suchspersonen sind danach ziemlich erschöpft, sie bringen das Gewicht nur müh- 
selig oder gar nicht auf die erreichte Höhe, sie mussen ziemlich übergangslos 
langere Pausen einlegen, die trotzdem in ihrem Erholungswerte nicht ausreichen, 
um der Bedingung der gleichbleibenden Höhen gerecht werden zu können. 

Das schwierige Moment des reziproken Ergogramms liegt in der allmah- 
lichen entsprechenden Verlangsamung, die sich keinesfalls halb- oder gar 
unwillkürlich einstellt. Die Gesetzlichkeit einer der progressiven Er- 
müdung entsprechenden Verlangsamung ist keinesfalls in unserem 
Nervensystem vorgebildet. Bei gutem Arbeitswillen ist die sich von selbst 
einsteilende Verlangsamung vielmehr viel zu gering, als daO man ihr die 
Rolle eines Ermüdungs-Kompensationsmechanismus zuweisen dürfe. Die 
natürliche und, wie wir hinzufügen wollen, unökonomische Verhaltungs- 
weise ist das Zuschnellnehmen des Tempos, das Streben nach Beibehalten eines 
bestimmten Tempos und der Ausgleich bei Ermüdung durch Einlegen von Pausen 
bzw. Aufhören. 

Trotzdem ich einen Versuch dieser Art in einem Kursus als Massenversuch 
machte, zeigte sich diese Tendenz, sich abzuhetzen und die Unmöglichkeit einer 
Regulierung des Tempos zur Ermöglichung einer konstanten Kraftleistung als 
ganz allgemein. Sogar dann noch, als die Instruktion verscharft wurde: „Ar- 
beiten Sie so langsam wie möglich, nur mussen Sie jedesmal das Ge¬ 
wicht auf die volle Höhe bringen, Sie dürfen auf keinen Fall müde 
werden." Trotzdem der MiBerfolg. 

Bis eine Versuchsperson einfach folgendes Verfahren einschlug. Sie drückte 
einmal, machte dann eine ganz lange Pause von ungefahr einer halben Minute, 
drückte dann ein zweites Mal, machte wieder eine so lange Pause und sah sich 
triumphierend um: „So könnte ich es bis morgen früh.“ Das war natürlich keine 
Lösung des Problems, sondern ein Ausweichen, zeigt aber, worauf es ankommt: 






























374 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 


das Arbeitstempo so zu regulieren, daO jedesmai eine maximale An- 
strengung gerade möglich ist, stellt sich als eine ungemein schwierige 
Aufgabe heraus, die nur dann gelost werden kann, wenn man sich aus- 
drücklich darin übt. Zu dieser Übung kommt man dann, wenn man erkannt 
bat, dafi man in bezug auf die Einschatzung der eigenen Kraft und Ausdauer sehr 
wenig inteiligent ist. Dann muO man ausdrücklich und willküriich ein 
, Tempo herausfinden, das einerseits so langsam ist, daB der Forderung der 
maximalen Kraftleistung genügt und anderseits auch ein unzulassiges Fauienzen 
vermieden wird. 

lm allgemeinen ist man also in bezug auf das Tempo zu optimistisch. Man 
pflegt das Tempo schneller zu wahlen, als zur jedesmaligen Vollführung der 
einzelnen Kraftanstrengung ausreichend ist. Dieser Optimismus ist sogar dann 
vorhanden, wenn schlechter Arbeitswille da ist, d. h. selbst dann, wenn man von 
vornherein den Willen hat, sich nicht übermaOig anzustrengen, wird man infolge 
zu schnellen Tempos eher müde, als man es gedacht hat. Abbildung 12 (von 

iiiiiiiiHiiiiiiiiniiiiiiiiii 

Abbildung 12 

rechts nach links zu lesen!) zeigt uns eine reziproke Arbeitskurve einer Versuchs- 
person, die in die Gesetzlichkeit eingeweiht und vorgeübt beinahe die Aufgabe 
löst. Wir sehen, dafi von vornherein langsam angefangen und das Tempo pro- 
gressiv sehr stark verlangsamt wird bzw. Pausen eingelegt werden. Cha- 
rakteristischerweise sind hierbei die spateren Hubwerte gröBer als 
die anfanglichen. Das beruht nicht etwa darauf, daB die Versuchsperson sich 
zu Anfang bei der einzelnen Kraftleistung nicht maximal anstrengt, sondern ist 
— ich kann diese Gesetzlichkeit hier nicht des genaueren begründen — Zu- 
nahme an Kraftleistung, die sich dann einstellen kann, wenn ein langsames 
Anfangstempo unter Einlegung von gröBer wordenden Pausen noch weiterhin 
kontinuierlich verlangsamt wird. Es scheinen dann die Verhaltnisse so gelegen 
zu sein, daB die „Übung” die „Ermüdung" überwiegt. 

DaB das Beibehalten eines konstanten Tempos das „natürliche" Verballen 
darstellt, geht aus der viel gröBeren Leichtigkeit hervor, mit der die Versuchs- 
personen die Aufgabe lösen: „ein konstantes, langsames Tempo zu wahlen, 
so daB sie es langere Zeit aushalten können”. Es werden dann ziemlich 
regelmaBige Kurven geschrieben in einem anfangiich ziemlich konstant gehaltenen 
Tempo. Aber charakteristisch ist, daB auch hierbei die Tendenz zu einem 
zu schnellen Tempo sich noch deutlich auspragt. Gibt man die Instruktion 
etwa, die Versuchsperson solle in einem Tempo arbeiten, „das eine Siunde lang 
ohne Unterbrechung unter Beibehaltung maximaler Hubhöhe beibehalten werden 
könne", so pflegen die meisten Menschen hierfür ein viel zu schnelles Tempo 




Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperltchen Arbeitskurve 375 


einzuschlagen. Das richtige Tempo hierfür liegt urn V 4 ~V 2 Minute 
herum, wahrend die Versuchspersonen ein Tempo von 4—8 Sekunden 
einzuschlagen pflegen. 

Diese Tendenz zum schnellen Tempo, wenn sie auch allgemein ist, wird 
zweifellos durch die Art des ergographischen Arbeitens sehr begunstigt. Es geht 
von der Art der ergographischen Betatigung ein direkter Anreiz aus, schnell zu 
arbeiten, d. h. unwillkürlich verfallt man in ein schnelles Tempo. Willkitflich 
ist die Bremsung auf Grund von Überlegung und Erfahrung. Diese 
Einstellung zeigt sich natürlich beim ergographischen Versuch, wo der allgemeine 
Antrieb maximal ist, starker ausgepragt als bei der gewöhniichen praktischen 
Arbeit. Er ist aber auch, wie wir sehen werden, bei der praktischen Arbeit 
selbst nachzuweisen, selbst dann, wenn kein besonders guter Arbeitswille vor- 
handen ist. 

Nach diesen Versuchen werden wir also kaum erwarten können, bei 
praktischen Arbeitskurven im freien Tempo ein Verhalten vorzu- 
finden, welches dem typischen Mosso-Ordinatenverlauf irgendwie 
reziprok ware. 

VI. Die Komplikation wird nun noch weiter vermehrt durch das Einlegen von 
Pausen. 

Pausen wahrend der Arbeit haben vier Ursachen. Erstens werden Pausen 
gemacht infolge Ermüdungsgefühls, Erholungspausen, zweitens infolge Unlust, 
Nachlassen des Antriebes, drittens aus einer Gewohnheit, zwischendurch 
Pausen zu machen, viertens infolge Ablenkung durch innere oder auOere Ge- 
schehnisse. 

Es leuchtet ein, daC nur die Pausen der ersteren und zweiten Art der ex- 
perimentellen Forschung im Laboratorium zuganglich sind, daC wir uns in bezug 
auf die beiden anderen Arten nur auf eine Analyse praktischer Arbeitskurven 
stützen können, wobei es sich aber dann niemals urn Gesetzlichkeit, sondern 
nur um Aufklarung im einzelnen Fall handeln kann. 

Urn AufschluB darüber zu gewinnen, ob sich in bezug auf spontane Erholungs¬ 
pausen Gesetzlichkeiten finden lassen, empfiehlt es sich zu trennen: a) die Lange 
der spontanen Pausen, b) ihre Lage innerhalb des Zeitverlaufes. 

Versuche erster Art fanden so statt: Gearbeitet wurde diesmal am weichen 
Dynamometer-Ergographen im Sekundentempo. Es wurde jedesmal mit dem 
vollen Handdruck je ein kurzes Ergogramm von zehn Hüben geschrieben. Da- 
nach sollte die Versuchsperson eine Pause machen und dann erst spontan zum 
nachsten Ergogramm von je weiteren zehn Hüben übergehen, wenn sie sich von 
dér Ermüdung erholt fühlte. Die Lange dieser Pausen war also dem spontanen 
Verhalten der Versuchsperson überlassen. Versuchslange eine Stunde. 

Die Auftragung der zwischen den Teilergogrammen liegenden Pausen als 
Ordinaten (s. Abbildungen 13a und b) ergab folgende Gesetzlichkeit: 






376 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 

1. Durchweg nehmen die Pausen progressiv in ihrer Lange zu, zuerst un- 
gefahr im Sinne einer arithmetischen Reihe. 

2. Im spateren Verlauf werden die Pausenzuwachse wieder geringer und bleiben 
sich schlieOlich gleich. Sie schwanken dann um einen Mittelwert herum. 

Die ganze Kurve wird also in ihrer Gesetzlichkeit bezeichnet werden können 
als hyperbolisch. 

Diese Gesetzlichkeit könnte man ohne viele Worte als Ermüdungskompen- 
sation erklart haben; ganz geht das nicht, da sie auch hervortritt als Folge ver- 

I I 

-Bt—H—JH_H_M_Hl_Hl-_Hl_Hl-WL 

•—» 

Abbildung 13a 

ringerten Antriebes auch bei solchen Arbeiten, wo man von eigentlicher Ermü- 
dung nicht sprechen kann. Das kann man aus praktischen Arbeitskurven ablesen; 
in experimentellen Verlaufen habe ich letzteren nicht untersuchen können*). 

Das zunehmende GröBermachen von spontanen Pausen ist bei prak¬ 
tischen Arbeitsverlaufen nahezu die Regel, wenngleich natürlich so genaue 
mathematische Verhaltnisse wie im Experiment sich hierbei nicht vorfinden. 



In bezug auf die Lage bzw. die Hauhgkeit der Pausen gilt das Gesetz; Spontane 
Pausen werden mit Zunahme der Ermüdung haufiger. Ich verzichte 
darauf, dieses auch schon an sich seibstverstandliche Gesetz aus ergographischen 
Laboratoriumversuchen abzuleiten, weil wir dies gleich bei der Analyse der 
modellgemaO praktischen Arbeit tun und uns so Wiederholungen sparen können. 

VII. Ohne die Erörterung all dieser vom typischen Mosso abweichenden Be- 
funde ware uns, wie wir gleich sehen werden, die Analyse einer modell- 
gemaO praktischen experimentellen Schwerarbeit nicht gelungen 
(s. hierzu Abbildung 14). Die Arbeit, die wir modellgemaO nachahmen, ist eine 
Hebe-Bück-Arbeit, die Arbeit des Lagerarbeiters. Eine Holzkiste von 42 cm 
Höhe und je 40 cm Breite und Lange, an deren Seitenwanden zwei 27 cm über 


*) Eine ausführliche Arbeit hierüber ist in Vorbereitung. 




Poppelreuter, Über die Gesetzlicbkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 377 


dem Boden befindliche eiserne HandgrifFe angebracht sind,wird durch Einlegen von 
Eisenschrot auf das Gewicht von einem halben Zentner gebracht. Transportiert 
man eine solche Kiste und hebt sie etwa auf einen Tisch von einem halben 
Meter Höhe, so bedeutet das eine ganz tüchtige Einzelanstrengung. Oiese liegt 
auch darin, daO die Kiste sperrig ist; sie ist ihrer GröOe und Form wegen 
unangenehm zu transportieren. Entsprechend der Erfahrung, daö bei der 
praktischen Arbeit der Vorgang sinnvoli ist im Gegensatz zum sinnlosen Ergo- 
graphieren, wurde hngiert, daO die Kiste abgewogen werden sollte, und zwar, 
daO es jedesmal eine andere Kiste sei. Auf der Wage, die links neben dem 



Abbildung 14 


Tisch steht, ist das obere Brett urn ein gefedertes Scharniergelenk beweglich. 
Wird die Kiste aufgesetzt, so senkt sich das obere Brett etwas. Dieses Senken be- 
wirkt durch einen Klinkmechanismus ein Weiterdrehen einer in Sechzigerteilung 
mit lauter verschiedenen Zahlen versehenen, unsichtbar angebrachten weiOen 
Pappscheibe von 18 cm Durchmesser, so daO jedesmal, wenn man die Kiste auf- 
setzt, oben am Zifferblatt der Scheinwage durch einen kleinen Spalt eine andere 
Zahl erscheint. Die Aufgabe bestand nun darin, die Kiste von einem Eckplatz, 
der sich rechts vom Tisch zwei Meter entfernt von der Wage befand, aufzuheben, 
zu transportieren und dann auf die Wage zu setzen, die dann erscheinende Zahl 
abzulesen, im Gedachtnis zu behalten und die Kiste wieder auf ihren alten Platz 
zu bringen. An diesem Eckplatz hing, an einem Strick befestigt, ein Grünstift, 
mit welchem dann im Bücken auf ein oben auf dem Deckel der Kiste geheftetes 
Blatt die Zahl der gerade vollzogenen Wagung aufgeschrieben wurde. Damit 
die Versuchspersonen ihre Kleider nicht beschadigen und urn Hemmungen, die 
sich bei körperlicher Arbeit in guter Kleidung von selbst einstellen, zu vermeiden. 




378 Poppelreuter, Ober die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 


wurde ein Lederschurz vorgebunden. Die Versuchsperson arbeitete ohne Jacke 
und Kragen. 

Wie alle Versuchspersonen übereinstimmend erklart haben, hat diese Arbeit 
tatsachlich die Struktur einer wirklichen Arbeit. Man glaubt wirklich zu wiegen. 

Die exakte Messung dieser Arbeitsleistung geschah als Aufzeichnung auf 
meine Arbeitsschauuhr*), die sich im Nebenzimmer befand. Bei jedesmaligem 
AuFsetzen der Kiste auf die Wage machte der Schreiber einen Hub nach aufwarts 
dadurch, daO ein auf der Wage befindlicher elektrischer Kontakt im Moment 
der Belastung bedient wurde. Ein- und ausgerückt wurde der Schreiber in zehn 
Minutenphasen. Die so gewonnenen Arbeitskurven zeigt Abbildung 15. Die 
Dauer des Versuches, die Lange der Abzisse, betrug eine Stunde. Eine jede 

Treppenstufe bedeutet eine 
einzelne Wagung. Der Ab- 
stand zwischen je zwei 
Treppenstufen bedeutet die 
Pause, die zwischen den 
einzelnen Wagungen ge- 
macht wird. Das Tempo, 
in welchem die einzelnen 
Wagungen volizogen wer¬ 
den, wird dargestellt durch 
die Schrage derTreppe; je 
schneller gearbeitet wurde, 
desto steiler ist die Treppe, 
je iangsamer, je flacher. 
Die Ordinate ist direkt proportional den in je zehn Minuten geleisteten Wagungen; 
die Gesamtieistung bemiOt sich als deren Summe. Die Pausen, die in Analogie 
mit der wirklichen Arbeit gemacht werden durften, markieren sich deutlich als 
die horizontalen Teile zwischen je zwei Stunden. Eine solche Kurve gibt 
also als Mengenkurve gesetzmaOig den Gesamtverlauf der betref- 
fenden körperlichen Arbeit wieder (s. Abbildung 15). 

Die Instruktion war folgendermaUen: Die Arbeit wurde zuerst als Wiegearbeit 
demonstriert und erklart mit dem Zusatz: ,Sie dürfen Pausen machen, wobei 
Sie sich auf den danebenstehenden Stuhl setzen sollen." Von der Registrierung 
dieses Sitzens wurde als unnötig Abstand genommen, weil sich ja die Pausen 
im Kurvenbild deutlich genug markieren und nach ihrer Dauer berechen lassen. 

Mit Absicht wurde eine ausdrückliche Mahnung zur Mühegabe oder 
Schnelligkeit unterlassen, um der Einstellung vulgarer Arbeit nahezukommen, 
bzw. den „natürlichen Arbeitstyp". hervortreten zu lassen. 

Die Arbeitsdauer betrug bei allen Versuchspersonen eine Stunde. Dies wurde 
ihnen nicht mitgeteilt, da wir den künstlichen „SchluOantrieb" ausschalten wollten. 

*) Modell von Zimmermann, Leipzig. 









Poppelreuter, Über die Gesetzlicbkeit der praktischer! körperlichen Arbeitskurve 379 

AuffaUend an den zehn Arbeits- 
kurven (Abbildung 15 gibt eine Aus- 
wahl) ist ihre groBe Mannigfaltig- 
keit. Sie geben damit das an prak- 
tischen Arbeitskurven im Gegensatz zu 
Laboratoriumergogrammen charakterl- 
stischeBild:Bei praktischen Schwer- 
arbeitskurven pragt sich in den 
groBen Variationen aus, daB die 
individuelien Verschiedenheiten 
die generellen Gesetzlichkeiten 
überiagern. 

Ihrer Spontaneitat überiassen schia- 
gen die Arbeitenden ganz verschiedene 
Verfahren ein; der eine arbeitet langsam 
und pausenlos, der andere schnell mit 
Pausen, wieder ein anderer mit seltenen iangen, oder mit hauBgen kurzen Pausen 
usw. usw. 

Des Zusammenhangs wegen bespreche ich zunachst die hier aufgetretene Ge- 
setzlichkeit der spontanen Pause bei den acht Versuchspersonen, die solche ge¬ 
wacht haben. 

Zahlen wir zuerst die Pausen ohne Rücksicht auf ihre HauBgkeit in ihrer 
Dauer zusammen, und zwar getrennt die Pausensumme der ersten und zweiten 
Versuchshalfte, so ergibt sich ausnahmslos deren Verlangerung (Tabeile I). 

Zahien wir dann die Zahl der Pausen, die bei je einer Versuchsperson in 
der ersten und in der zweiten Halfte gemacht werden, so ergibt sich (Tabeile 2): 

Danach ist wohl eine Tendenz zur Zunahme der Haufigkeit unverkennbar; 
sie ist aber im Verhaltnis zur VergröBerung der Pausendauer nur 
gering ausgesprochen. 

Beides für sich genommen erscheint ziemlich selbstverstandlich, nicht selbst- 
verstandlich, sogar gegen die ursprüngllche Erwartung ist aber der Befund, daB 
bei spontanen Pausen die Verlangerung die gröBere Haufigkeit soweit- 
aus überwiegt. Das ist, wie hier nicht weiter bewiesen werden kann, für prak¬ 
tische Arbeit beinahe ein ausnahmsloser Befund. Ob dieses Verhalten in er- 
müdungsphysiologischen Faktoren seinen Grund hat, ob es ökonomisch ist usw., 
all dieses ware spater noch zu untersuchen; wir begnügen uns hier mit der 
Tatsache. 

Wir wenden uns nunmehr zur Ermüdungsmanifestation bezüglich der 
Kraftwerte. 

Wir untersuchen zuerst das Absinken der Lelstung in der Zeit, indem wir 
die Zahl der Wagungen der ersten Halbstunde mit der der zweiten zusammen- 
stellen. Das ergibt die Tabeile 3, in welcher die Versuchspersonen je nach 

P. P. IV, 12. 26 


Versuchs¬ 

person 

I. Halbzeit 

II. Halbzeit 

1 

5' 11"< 

7' 46" 

2 

2' 58" < 

3' 42" 

3 

9' 54" < 

11'41" 

4 

4' 4" < 

10' 44" 

5 

3' 42" < 

11' 28" 

6 

- < 

4' 26" 

7 

1' 28" > 

— 

8 

6' 34" < 

18' 16" 

9 

8' 52" < 

14' 26" 

10 

— 

— 


Tabeile 1. Summen der Pausen 



























380 Poppelreuter, Ober die Gesetzlicbkeit der praktiscben körperlicben Arbeitskurve 


Versuchs- 

person 

HSufigkeit der Pausen 

1 

Pi nach 38 Wagungen 

Pa , 26 

Pa - 44 

P 4 nach 20 Wagungen 

Ps » 37 

2 

Pi nach 66 Wagungen 

Pa - 49 

3 

Pi nach 12 Wagungen 

Pa » 9 

Pa I» i 4 n 

P 4 - 14 

P 5 nach 16 Wagungen 

Pe - 15 

P 7 , 19 

Pa « 20 

4 

Pi nach 74 Wagungen 

P 2 » ^2 ff 

5 

Pi nach 19 Wagungen 

Pa . 14 

Pa , 20 

P 4 nach 20 Wagungen 

Ps , 15 

6 

P nach 99 Wagungen 

7 

P nach 25 Wagungen 

8 

Pi nach 31 WSgungen 

Pa » 1 ® « 

P 3 nach 15 Wdgungen 

P 4 » 9 „ 

9 

Pi nach 17 Wagungen 

Pa „ 13 

Pa » 12 

P 4 nach 8 Wagungen 

Ps . 8 

10 

Keine Pause 


Tabelle 2 


ihrer absoluten Leistung in eine von oben nach unten gehende Rangreihe ge- 
gebracht worden sind. 

Daraus ergibt sich: eine im Nachlassen der Leistung sich auQernde Ermüdungs- 
manifestation fehlt bei zwei Versuchspersonen, wo wir sogar Mehrleistung finden, 

bei weiteren drei Versuchs¬ 
personen ist sie sehr ge¬ 
ring. 

Für denjenigen, welcher 
die körperliche Arbeit im 
Banne des Mossoschen 
Ergogramms betrachtet, ist 
das besonders bei Würdi- 
gung des Umstandes, daD- 
es sich hierbei um eine 
recht anstrengende Arbeit 
gehandelt hat, erstaunlich,. 


Vp. 

w, 

w. 

A 

Wi+W. 

1 

97 

91 

— 6 

188 

2 

73 

67 

— 6 

140 

3 

64 

73 

+ 9 

137 

4 

75 

58 

— 17 

133 

5 

55 

48 

— 7 

103 

6 

58 

41 

— 17 

99 

7 

43 

47 

+ 4 

90 

8 

49 

34 

— 15 

83 

9 

34 

23 

— 11 

57 

10 

32 

25 

— 7 

57 


Tabelle 3 






Poppelreuter, Über die Gesetzlicbkeit der praktiscben körperlicben Arbeitskurve 381 

urn so mehr, da ja die Pausenverlangerung, die ein Absinken der Leistung be- 
wirken müOte, schon feststeht. 

Verwenen wir aber jetzt unsere ergographischen Laboratoriumversuche, so 
findet sich kein AnlaO zum Verwundern: Die Bedingung zum Ausbleiben der 
Ermüdungsmanifestation war hier durchaus erfüllt, die einzelne Teilleistung, das 
Abwiegen, war noch unterhalb der maximal möglichen Kraftleistung. 

Ebenso war das spontane Tempo noch unterhalb des maximal Möglichen. 

Danach kann es uns also nicht mehr überraschen, wenn wir eine nur geringe 
Beziehung zu dem typischen Mossoschen Ermüdungsabfall vorfinden. 

Vergleichen wir diesen Befund mit dem vorigen, so ist bemerkenswert, daD 
die Veriangerung der Erholungspausen der Ermüdung eindeutiger 
entspricht als das Absinken der Kraftleistung. 

Wir wiesen schon früher nach, daO eine mit zunehmender Ermüdung parallel 
gehende Tempoverlangsamung, so selbstverstandlich sie erscheint, nicht aus- 
nahmslos ist. Wie wenig gesetzlich sie aber in dem freien von Pausen unter- 
brochenen Schwerarbeitsverlauf ist, das zeigt uns die Tabelle 4. 

In dieser Tabelle findet 
sich — was man an den 
schaubildlichen Arbeitskur- 
ven leicht ausmessen kann — 
eine Berechnung des einmal 
„durchgangig® zu nennen- 
den Tempos. Dies ist das- 
jenige Tempo, welches der 
Arbeitende in den Teilen des 
Arbeitsverlaufes einschlagt, 
in weichen er ohne Pausen 
arbeitet. In den Schaubildern 
der Abbildung 15 sind es 
die nicht durch die Pausen unterbrochenen Schragen. Der Einfachheit halber 
geben wir nur wieder das durchgangige Tempo je der ersten und je der letzten 
Halfte zusammengerechnet. 

Die Diiferenz A zeigt uns das Verhaltnis des durchgangigen Tempos des 
Anfanges zu dem des Endes. 

Die Spalte A zeigt uns, daO von den zehn Versuchspersonen nur vier lang- 
samer, sechs dagegen schneller geworden sind. 

Auch dieses „trotz Ermüdung schneller werden® ist uns aus ergogra¬ 
phischen Versuchen bekannt geworden; bemerkenswerterwelse ist es bei der 
praktiscben Arbeit noch ausgepragter. Auch diese Schnelltendenz tragt wesent- 
lich dazu bei, daO trotz Zunahme der Pausen die Leistungsminderung der zweiten 
gegenüber der ersten Halfte der Versuchsarbeit soviel geringer ausgefallen ist, 
als man erwartete. 


Vp. 

d.T, 

d.T, 

A 

|(T,+T,) 

1 

45,8 

43,9 

- 1,9 

44,9 

2 

66,4 

70,5 

+ 4,1 

68,5 

3 

56,8 

45,3 

— 11,5 

51,1 

4 

62,5 

62,0 

— 0,5 

62,1 

5 

86,7 

75,6 

- 11,1 

81,2 

6 

93,5 

114,4 

+ 18,9 

104 

7 

120,2 

116,9 

— 3,3 

118,6 

8 

87,0 

60,5 

— 26,5 

73,8 

9 

116,1 

124,8 

+ 8,7 

120,5 

10 

170 

218,9 

+ 48,9 

194,5 


Tabelle 4 


26* 




382 Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 


Daraus kann man die für die Praxis so wichtige Folgerung ziehen, daO man 
aus einer Beschleunigung des Tempos bei körperlicher Schwerarbeit 
keinesfalls den SchluO auf fehlende oder geringe Ermüdung ziehen darf. 

Diese Schnelltendenz des durchgangigen Tempos erscheint urn so ausgepragter 
das Kurvenbild zu beherrschen, je mehr die Pausen eine erholende Wirkung 
ausüben können. 

Wie aus ahnlichen Versuchen entnommen werden kann, tritt bei anstrengender 
körperlicher Arbeit, bei der Pausen nicht gemacht werden durften, die Schnell¬ 
tendenz gegenüber der Verlangsamung zurlick. Beziehungsweise handelt 
es sich hier urn die Einschiebung kleinster Pausen zwischen die Teilarbeit, die 
als Tempoverlangsamung imponieren. Ich teile diese Versuche hier nicht mit, 
da sie uns in das Problem der Ökonomie hineinführen wiirden und übrigens 
Schwerarbeit ohne Gelegenheit zu Erhoiungspausen praktisch nicht vorkommt. 

Betrachten wir nunmehr die Beziehungen, die das individuelle durchgangige 
Tempo zur individuellen Leistung aufweist, so führt dies zu einer, wie mir 
scheinen will, auDerst wichtigen generellen Gesetzlichkeit. 

In Tabelle 5 finden sich die Versuchspersonen der Reihe ihrer Leistung nach 


geordnet; durch Berechnung 


d. Tj -|- d. T 2 
2 


gewinnen wir das mittlere durch¬ 


gangige Tempo für jedes Individuum. 

Die auffallige Korrelation ist unverkennbar. Berechnen wir nach Bravais- 
Spearman den Korrelationskoeffizlent, den die aus der Spalte 2 und 3 berechnete 
Rangreihe zu der Spalte 1 hat, so bekommen wir 0.89, d. h. die absolute Höhe 
der erreichten Schwerarbeiterleistung hangt ganz überwiegend von 
dem durchgangigen Tempo ab. 

Das ist deshalb so erstaunlich, weil bei der Berechnung des durch¬ 
gangigen Tempos doch die Pausen völlig ignoriert wurden und diese 
doch von allergröOter individueller Variation waren. 

Die individuen groBe Verschiedenheit der Pausenlange beeinfluBte also das 
Leistungsergebnis nur sehr gering gegenüber dem fast als ausschlaggebend er- 
scheinenden Faktor des durchgangigen Tempos. 

Anders ausgedrückt: OfFenbar kommt die Lange der Pausen durch ihren Er- 
holungswert der Beibehaltung eines schnellen durchgangigen Tempos zugute, 
so daB also die Leistungsergebnisse bei wenigen und bei vielen Pausen 
auf dem Umwege über das durchgangige Tempo dieselben bleiben 
können. In die Praxis übersetzt heiBt dies: Man kann aus der absoluten 
Lange der spontanen Pausen keineswegs auf die mehr oder weniger 
gute Leistung schlieBen. 

Das gilt natürlich nicht für das Extrem, wo aus Mangel an gutem Arbeits- 
willen der gröBte Anteil der Arbeit aus Pausen besteht. 

Umgekehrt kann bei Schwerarbeit auch ein völliges Unterlassen 
von Pausen sich mit schlechter Leistung kombinieren. 



Poppelreuter, Über die Gesetzlichkeit der praktischen körperlichen Arbeitskurve 383 

Legt man also auf „Einkomponenten-Rechnung* Wert — was ich nur 
der Praxis, nie aber der Wissenschaft zubilligen kann —, so kann bei mit 
spontanen „beliebigen" Pausen durchsetzter Schwerarbeit das MaO an 
Leistung in dem durchgangigen Tempo gefunden werden. 

Es wird Aufgabe spaterer Veröffentlichungen sein, von den nunmehr ge- 
wonnenen Erkenntnissen aus zur gesetzlichen Interpretation wirkiicher praktischer 
Arbeitskurven, die aus dem Werkstattbetriebe entnommen sind, zu kommen: Sie 
liegen schon in groOer Zahl vor und sind bei den vorstehenden Ausführungen 
zwischen den Zeilen schon mitverwertet worden. 

Das hier Gebrachte genügt aber wohl schon, urn zu zeigen, daO man auch 
den weitgehend in der Spontaneitat begründeten, scheinbar willkürlichen, freien 
— was in der Sprache der Praxis „beliebig", „gesetzlos" bedeutet — praktischen 
Arbeitskurven mit genau demselben Erfolg analytisch gesetzlich nachgehen kann 
wie den Laboratoriumergogrammen, deren Bedingungen man viel leichter ein- 
deutig experimenten festlegen kann. 

Damit erst haben wir die Basis, auf welche wir eine „gesetzliche 
Ökonomik* der freien praktischen Arbelt bauen können. 


Rundschau 


Übungsffihigkeit und Eignungsprüfung 

Von Dr. Maria Schorn, Würzburg 
Methodologisch gehort die Frage der 
Übungsfahigkeit in das Gebiet der Erfolgs- 
kontrolle. Denn die Erfolgskontrolle hat zu 
untersuchen, inwieweit sich die Rangreihen, 
die durch die Prüfung gewonnen wurden, 
im Laufe der Praxis verschieben. Die Ur- 
sachen der Verschiebung können einerseits 
in den Proben selbst liegen: die Proben 
geben nur Zufallswerte und garanderen 
keine Konstanz. Anderseits können die Ur- 
sachen auch in den Prüflingen selbst liegen, 
z. B. in verschiedener charakterologischer 
Veranlagung: der eine Prüfling zeigt gröBe- 
ren FleiO und Ausdauer als der andere und 
kann daher bei geringerer Begabung viel- 
leicht gerade soviel oder mehr in der 
Praxis leisten als der höher Begabtere aber 
weniger Fleiöige und Ausdauernde. Oder 
der eine könnte sich vielleicht als übungs- 
fahiger erweisen als der andere und da- 
durch um mehrere Rangplatze in der Praxis 
heraufriicken. 


Wenn es nun in der Erfolgskontrolle ein" 
zelner Prüfungen gelungen ist, eine sehr 
hohe Korrelation zwischen Laboratorium- 
rangreihe und Rangreihe der Praxis zu er- 
zielen*), so ist man wohl ohne weiteres für 
diese Prüfungen zu dem SchluO berechtigt, 
daO die Proben nicht nur Zufallswerte lie- 
fern und ferner zu dem allgemeinen SchluB, 
daB die charakterologischen Faktoren und 
die Faktoren verschiedener Übungsfahigkeit 
der Prüflinge nicht so groB sein können, wie 
man dies vielleicht a priori erwartete und 
besonders in Laienkreisen immer wieder als 
Argument gegen die Eignungsprüfung an- 
geführt wird. 

Um genauere Einblicke in die Übungs¬ 
fahigkeit zu gewinnen, um ihren Verlauf bei 
den einzelnen Prüflingen studieren zu kön- 

*) Vgl. den Korrelationskoeffizienten 0,87 der 
Lebrlingsprüfung des Instituts für Industrielle 
Psychofechnik der Technischen Hocbschule 
Cbarlottenburg (Moede, Ergebnisse der indu- 
striellen Psycbotecbnik; Prakt. Psycb. 1920/21, 
Heft X.) 



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Rundschau 


nen, um vor allen Dingen zahlenmaOiges 
Material zu gewinnen über den Anteil der 
verschiedenen Übungsrahigkeit an den Rang- 
platzverschiebungen in derErfolgskontrolle, 
empfiehlt es sich natürlich, die Frage der 
Übungsfahigkeit gesondert zu betrachten. 
Die folgenden Ausführungen beziehen sich 
aufdieKritikzweierArbeiten,diedieÜbungs- 
fdhigkeit zum Gegenstand der Untersuchung 
machen. Es sind die Arbeiten von Annelies 
Argelander: „Beitrage zur Psychologie der 
Übung“ mit dem Untertitel „Übungsfahig¬ 
keit und Anfangsleistung" (Zeitschrift für 
angewandte Psychologie, 1921 und 1923). 

Verfasseringeht bei ihrenUntersuchungen 
zunachst nicht von dem Gesichtspunkte der 
Eignungsprüfung aus, sie wird zunachst von 
rein theoretischen Interessen geleitet. Aber 
aus ihren Resultaten zieht sie weitgehende 
Folgerungen für die Eignungsprüfung, so dafi 
wir uns unter diesem Gesichtspunkte die 
Untersuchungen naheransehen müssen, zu- 
mal Verfasserin zu sehr skeptischer Ansicht 
über die Eignung nach ihren Resultaten ge- 
neigt ist. 

Was zunachst die erste der beiden Ar¬ 
beiten anbelangt „Beitrage zur Psychologie 1“ 
(Zeitschrift für angewandte Psychologie 1921, 
S. 1), so können wir mit der Verfasserin die 
Folgerungen für die Eignungsprüfung nicht 
ziehen, da wir die Untersuchung sowohl hin- 
sichtlich ihres Zieles wie ihrer Methode und 
ihrer Resultate für diese Folgerungen nicht 
als beweiskraftig ansehen können. 

I. Als Ziel der Untersuchung wahlt Ver¬ 
fasserin die Feststellung des Quantitats- 
zuwachses innerhalb des Übungsverlaufes. 
Kritisch möchte ich dazu bemerken, dal3 die 
Quantitat, der Zeitfaktor, eine geringe Rolle 
bei der Eignungsprüfung spielt und daher 
aus einer verschieden groOen Übungsfahig¬ 
keit hinsichtlich der Quantitat nicht auf eine 
verschieden groDe Übungsfahigkeit über¬ 
haupt geschlossen werden kann. Nehmen 
wir z. B. die Lehrlingsprüfung des Instituts 


für Industrielle Psychotechnik der Tech- 
nischen Hochschule Charlottenburg, so (in¬ 
den wir nur bei zwei Proben, der Drabt- 
biegeprobe und am Zweihandprüfer eine 
Mitbewertung der Zeit. 

II. Auch die Methode können wir nicht 
für zweckmaOig halten, um zu allgemeinen 
Folgerungen für die Eignungsprüfung zu ge- 
langen. Verfasserin studiert den Übungs- 
anstieg am Erlernen der Schreibmaschine 
bei sechs Versuchspersonen. Versuchsper- 
son hat mit einem Finger der rechten Hand 
einen Text abzuschreiben. Der Versuch 
dauert Vz Stunde und wird 20 Tage lang 
fortgesetzt. Der Arbeitsvorgang an der 
Schreibmaschine ist unseres Erachtens viel 
zu kompliziert, um zu allgemeinen Resul¬ 
taten zu gelangen. In den Untersuchungen 
des Instituts für Wirtschaftspsychologie der 
HandelshochschuleBerlinzeigtendieÜbungs- 
kurven an der Schreibmaschine einen von 
der allgemeinen Übungskurve abweichenden 
Verlauf, die auch auf keinen Fall mit dem 
20. Tage schon als abgeschlossen geiten 
konnte. 

III. Was schlieOlich die Resultate an- 
geht, so berechtigen sie auch nicht zu den 
skeptischen Folgerungen der Verfasserinhin- 
sichtlich der Eignungsprüfung. Die Resul¬ 
tate bestehen darin; 1. daD die schlechteren 
Leistungen einen höheren prozentualen 
Übungsanstieg aufzuweisen haben als die 
guten Leistungen; 2. daO die individuellen 
Differenzen der Anfangsleistung weitgehend 
ausgeglichen werden. Für die Praxis der Eig¬ 
nungsprüfung wird eigentlich nur daszweite 
Resultat wichtig, wenn namlich eine Rang- 
reihenverschiebung durch die verschiedene 
Übungsfahigkeit eintritt. Betrachten wir dar- 
aufhin die Versuchspersonen der vorliegen- 
den Arbeit. Verfasserin bemerkt selbst: 
„Unsere Versuche haben ergeben, daO die 
beiden Versuchspersonen mit der besten 
und die Versuchsperson mit der schlech- 
testen Leistung ihre Rangplatze am Anfang 
und Ende der Rangreihe im Endresultat nicht 



Rundschau 


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verlassen haben.“ Die drei mittleren Ver- 
suchspersonen vertauschen ihre RangplMtze 
miteinander. Berechnet man aus den mit- 
geteilten Rangreihen die mittlere Rangplatz- 
differenz, so ergibt sich 0,64, ein Resultat, 
das fürdie praktischenZweckederEignungs- 
prüfung vollauf genügen dürfte. 

In der zweiten Arbeit („ Beitrage zur Psycho¬ 
logie der Übung II—IV“, Zeitschrift für ange- 
wandte Psychol., 1923, S. 225) wird in einem 
ersten Teile die Übungsrahigkeit der Lei- 
stungsqualitat zum Gegenstand der Unter- 
suchung gemacht. Die Versuchspersonen 
batten Strecken zu schatzen nach dem Tast- 
eindruck. Zu diesem Zwecke wurde eine 
30 cm lange Metallröhre benutzt, in deren 
Lüngsrichtung in einem Einschnitt zwei ver- 
schiebbare Stifte R und L angebracht waren. 
Ein feststehender Stift M bezeichnete die 
Mitte. Von der Mitte aus war nach beiden 
Seiten eine Skala in Millimetereinteilung an¬ 
gebracht. Der Versuchsleiter steilte auf der 
einen Seite der Skala eine Strecke ein und 
lieD die Versuchsperson mit geschlossenen 
Augen auf der anderen Seite eine gleiche 
Strecke einstellen. Diese Einstellung hatte 
in vier verschiedenen Arten zu geschehen. 
In der Versuchsreihe a strich die Versuchs¬ 
person mit dem Finger die gegebene Strecke 
entlang undverglich durch Fingerbewegung 
die von ihr hergestellte mit der gegebenen 
so lange, bis sie die richtige Einstellung ge- 
funden zu haben glaubte. In der Versuchs¬ 
reihe b war dieser Vergleich mit der ge¬ 
gebenen Strecke dagegen nicht statthaft. 
In der Versuchsreihe c und d wurde die Ein¬ 
stellung der Strecke nicht nach dem Be- 
wegungseindruck, sondern nach dem Gröfien- 
eindruck der Spannung zwischen Daumen 
und Zeigehnger verlangt, und zwar durfte 
in Versuchsreihe c die eingestellte Strecke 
durch Vergleich mit der Normalstrecke 
immer wieder kontrolliert werden, bei Ver¬ 
suchsreihe d dagegen nicht. Die Versuche 
wurden auf neun Tage ausgedehnt. Die An- 
-zahl der Versuchspersonen betrug acht. 


Die Ergebnisse der vier Versuchsanord- 
nungen ist insoweit interessant, als bei zwei 
Versuchsanordnungen b und d und teilweise 
auch bei c sich kein höherer prozentualer 
Leistungsanstieg bei schlechterer Anfangs- 
leistung aufweisen laBt. Wenn nur durch- 
weg in der Versuchsanordnung a bei sonst 
gleichen Bedingungen der Leistungsanstieg 
bei schlechterer Anfangsleistung prozentual 
höher ist, so mussen wir daraus den SchluB 
ziehen, daB prinzipiell nicht die X ge- 
prüfte Fahigkeit als solche in ver- 
schiedenem Grade übungsfahig ist 
bei den einzelnen Versuchspersonen, 
sondern daB lediglich dieVersuchsanordnung 
als solche die sich hier ergebenden Resul- 
tate erzielte. 

In einem zweiten Versuch wurde eineSub- 
stitutionsprobe bei 34 elf- bis zwölfjahrigen 
Volksschülern angestellt. Eine Anzahl von 
Wörtern sollten an Hand eines mitgegebenen 
Schlüssels, den die Versuchsperson standig 
benutzen durfte, in ein anderes Alphabet 
übertragen werden. Der Versuch dauerte 
zehn Minuten und wurde an sechsTagen mit 
je einem Tag Zwischenraum wiederholt. — 
Leider erstreckensich diegewonnenenResul- 
tate nur auf die Quantitkt der'Leistung; wir 
haben also hier wiederum nur eine reine 
Zeitmessung vor uns. 

In einem dritten Teile dieser zweiten Un- 
tersuchung über (jbungsFahigkeit sammelt 
Verfasserin Zahlen über die Zeiten, die 
die Lehrlinge in einem GroBbetriebe der 
Metallindustrie für ihre in der Werkstatt 
angefertigtenÜbungsstückegebrauchtenund 
berechnet auch hier den Übungsverlauf für 
die einzelnen Lehrlinge. Da wir gerade in 
diesem Falie den Zeitfaktor im Verhaltnis 
zur Qualitat für ziemlich belanglos halten, 
so besagen die gewonnenen Zahlen für die 
Eignungsprüfung sehr wenig und berech- 
tigen nicht zu dem SchluB, den Verfasserin 
zieht, „daB bei der Auswahl von Lehrlingen 
nicht ohne weiteres eine einmaligeEignungs- 



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Rundschau — Eingegangene Schriften 


prüfung für die Einstellung in den Betrieb 
entscheidend sein dürfte.® 

Eingegangene Schriften 

Lindworsky, J., Der Wille, seine Erschei- 
nung und seine Beherrschung. Nach 
den Ergebnissen d. experimentellen Forschung. 
3., erweiterte Auflage. (VI, 282 S.) S". Leipzig 
1923. Joh. Ambr. Barth. Gz. 7.—. 
Lindworsky, J., UmriOskizze zu einer 
theoretischen Psychologie. 2. Auflage. 
Sonderabdruck aus der Zeitschrift für Psy¬ 
chologie, Band 89. (47 S.) 8®. Leipzig 1923. 
Joh. Ambr. Barth. Gz. 1.20. 

Oberth, Hertnann, Die Rakete zu den 
PI a n e t e n r a u m e n. Mit 2 Tafeln und 
58 Textabbildungen. (92 S.) gr. 8®. München 
und Berlin 1923. R. Oldenbourg. Gz. 2.—. 


Ordinans, Die Welt als Subjekt = Objekt. 
EinfOhrung in die Lehre von den allgemeinsten 
Gedanken. (XII, 323 S.) 8®. Berlin 1923. 

Konrad Grethleins Verlag. Gz. 4.—. 

Paull, Prof. Dr. R., PsychologischesPrak- 
tikuro. Leitfaden für experimentell-psycho- 
logische Übungen. 3., verbesserte Auflage. 
Mit 100 Abbildungen im Text und 4 Tafeln. 
(XVI, 247 S.) 8®. Jena 1923. Gustav Fischer. 
Geh. Gz. 5.—, geb. Gz. 6.—. 

Sachs, H., Die Trager der experimen¬ 
tellen Eignungspsychologie. (Schriften 
zur Psychologie der Berufseignung und des 
Wirtschaftslebens, hrsg. von Otto Lippmann u. 
William Stern, Heft 25.) (34 S.) 8®. Leipzig 
1923. Joh. Ambr. Barth. Gz. 1.20. 


Für dieSchriftleitung verantwortlich: Prof. Dr. W.Moede und Dr. C. Piorkowski in Berlin W30, Luitpold- 
strafie 14. — Verlag von S. Hirzel in Leipzig. — Druck von BreitkopfCr Hartel in Leipzig. 

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