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Full text of "Psychologische Untersuchungen"

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FRDMTHE-  LlfeRARY  OF 

TRINITYCOLLEGE  TORONTO 

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THE  WILLIAM  CIAARK 
MEMORIAL  LIBRARY 

DONATED  1926         A.D. 


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Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  witli  funding  from 

Univers ity  of  Toronto 


Iittp://www.arcliive.org/details/psycliologisclieun01lierb 


Psychologische 

(  ;.';,''.flau 


*^ 


Untersuc  B^ii  n  ff  e  n 


V  O  II 


H  e  1*  li  a  r  t.   i/j 


Erstes  Heft. 
Mit  zvvev  lithographirtcn  Tafeln. 


€}  ö  t  t  i  11  g;  e  11^ 

Drnclj  und  Verlag  der  Dlelcriclisclien  Biicliliandhing. 
t  §  3  9. 


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He  f. 


LIBRARY         ^ 


V  o  r  r  e  el  e. 

Für  die  Psychologie  sind  zwey  Klassen  von 
Untersuchungen  gleich  nolhwendig;  die  eine  von 
den  zugleich  sinkenden ,  die  andre  von  den  zu- 
gleich steigenden  Vorstellungen.  Jene  muss  voran  • 
gehn,  weil  die  ursprüngliche  Klarheit,  welche  in 
der  Wahrnehmung  liegt,  erst  einen  Verlust  muss 
erlitten  haben,  bevor  sich  das  Vorstellen  der  ver- 
lornen Klarheit  wieder  bemächtigen ,  oder  wenig- 
stens wieder  annähern  kann.  Aber  die  zweyte 
Klasse  von  Untersuchungen  muss  folgen,  wenn 
nicht  eine  Art  von  Einseitigkeit  in  der  Wissen- 
schaft entstehen  soll,  \Yodurch  ihr  praktischer  Ge- 
brauch ,  und  selbst  die  richtige  Auffassung  des  Gan- 
zen leiden  würde, 

Der  ersten  Klasse  einige  niatheraallsche  Be- 
stimmtheit zu  geben ,  hatte  der  Verfasser  schon 
vor  vielen  Jahren  versucht;  da  er  in  einem  grössern 
Werke  die  Begriffe  der  Statik  und  Mechanik  des 
Geistes  durch  die  ersten  nothwendigen  Grundfor- 
meln zu  hxiren  suchte.  Was  die  zweite  Klasse 
anlangt,  so  wird  schon  etwas  dadurch  gethan  seyii, 
dass    die    Einseitigkeit,    welche    ohne    sie    entstehn 

.1  * 


IV 

könnte,  angezeigt  wird;  übrigens  ist  ein,  freylich 
sehr  schwacher,  Keim  dessen  was  hlehcr  gehört, 
In  jenem  Werke  zu  finden  *). 

Etwas  mehr  auch  hierin  zu  leisten ,  dazu  wurde 
das  jetzige  Unternehmen  anfänglich  bestimmt ;  al- 
lein indem  die  Papiere,  welche  sich  darauf  bezie- 
hen, fiir  den  Druck  zu  ordnen  waren,  ergab  sich, 
dass  zuerst  selbst  der  frühem  Arbelt  einige  Erwei- 
terungen von  solcher  Art  nöthig  scyn  möchten,  wo- 
durch bestimmte  Thatsachen  könnten  benutzt  wc- 
den,  um  daran  die  Theorie  erproben  zu  lassen. 
So  ist  das  vorliegende  erste  Heft  entstanden  ;  wel- 
ches seinen  Werth  hauptsächlich  in  der  Auswahl 
der  Thalsachen  sucht.  Nicht  als  ob  dieselben  an 
sich  zu  den  am  meisten  interessanten  gehörten. 
Sondern  darum,  weil  es  darauf  ankommt,  aus  den 
Yorräthen  der  empirischen  Psychologie  solche  Ge- 
genstände auszuwählen,  die  sich  mit  Präclsion  auf- 
stellen lassen;  und  deren  glebt  es  nur  sehr  wenige, 
daher  man  eben  diese  wenigen  sehr  sorgfältig  be- 
nutzen muss,  wenn  man  wissen  will,  ob  eine  ge- 
gebene Theorie  sich  in  der  Anwendung  bewähre 
oder  nicht. 

Mögen  nun  Andere,  die  eine  bessere  Theorie 
zu    besitzen    glauben,    nicht   bloss    widersprechen, 

*)  Psycliologle  als  Wissenschaft,  neu  gegründet  auf 
Erfalirung,  INletapliysik  uud  IMaltiematik.     §.  93. 


sondern  auch  mit  eignen  Kräften  sich  auf  diesen 
l  ebungsplälzen  hervorthun.  Für  einzelne  Facta 
lassen  sich  leicht  scheinbare  Deutungen  erkünsteln; 
wo  aber  ganze  Systeme  von  Thatsachen  auf  ein- 
mal vorliegen,  die  man  nicht  vereinzeln  kann,  da 
muss  es  sich  verralhen,  ob  die  Erklärungen  er- 
künstelt sind,  oder  sich  ungezwungen  auffinden 
Hessen.  Alsdann  verliert  die  Frage,  was  Dieser 
oder  Jener  einräumen  und  bewilligen  möchte,  alle 
Bedeutung.  Klare  Thatsachen  liegen  ausser  dem  Be- 
reiche der  Wortgefechte ;  einmal  richtig  verslan- 
den,  reden  sie  lauter  als  irgend  eine  Schule  re- 
den kann  *).  • 

*)  Gegen  die  elugeblldele  Herrschaft  euiiger  Scluilen 
zu  protestiren  wäre  überflüssig;  gegen  die  Streitsucht, 
die  sich  immer  von  neuem  regt,  vmd  bey  jedem  neuen 
Anlauf  wieder  leichtes  Spiel  zu  haben  meint,  soll  hier 
bloss  an  den  ersten  Band  der  Metaphysik,  nebst  der 
—  damit  zu  verbindenden  —  analytischen  Beleuchtung 
des  Natnrrechts  und  der  Moral,  erinnert  werden.  Zur 
Fortsetzung  dieser  kritisch -historischen  Schriften  wäre 
Stoff  genug  vorhanden;  die  jetzige  Absicht  ist  aber  nicht 
darauf  gericlitet ,  den  Formwechsel  aller  Lehrmeinungen 
in  seinem  Gange  zu  stören.  Wegen  des  allgemeinen 
Zusammenhanges  der  Untersucluuigen  ist  auf  des  V  erfs. 
kurze  Encyklopädie  zu  verweisen.  Dort  ist  einiger- 
maassen  für  die  Bequemlichkeit  Derer  gesorgt,  die  noch 
immer  das  "NTort  ^letaphysik  scheuen.  Auf  den  all- 
gemeinen Zusammenhaug  hinzuweisen,  ist  um  desto 
nöthiger,  je  mehr  man  (wie  in  der  vorliegenden  Schrift 
geschieht)  sich  auf  specielle  Gegenstände  einlässt,    denn 


VI 

Mathematische  Psychologie  sieht  der  Natur  der 
Sache  nach  zwischen  Metaphysik  und  Erfahrung. 
Mit  blosser  Erfahrung  allein  würde  sie  nicht  in 
Gang  kommen ;  denn  die  Analysen  der  Erfahrung 
linden  eine  solche  Verwickelung  von  Umständen 
vor,  —  das,  was  in  uns  geschieht,  zeigt  sich  der 
Beobachtung  so  bunt  und  so  schwankend,  dass 
man  nicht  deutlich  sieht,  was  für  ein  Gegen^ 
stand  eigentlich  vorliege,  an  welchen  die  Rech- 
nung angebracht  werden  könne.  Ob  man  durch 
glückliche  Hypothesen  den  Eingang  der  Unter- 
suchung hätte  finden  können ,  mag  dahin  gestellt 
seyn ;  es  ist  wenigstens  Jahrhunderte  lang  nicht 
geschehen.  Gesetzt  aber  auch,  es  geschähe:  so 
würden  Begriffe,  welche  der  Metaphysik  angehö- 
ren, dabey  nicht  zu  vermeiden  seyn,  nämlich  die 
Causal- Begriffe.  Alles  kommt  darauf  an ,  welche 
Meinung  von  der  gegenseitigen  Wirksamkeit  des- 
sen was  sich  ?»bwechse|nd  in  uns  regt,  man  zum 
Grunde  lege.  Für  den  Vortrag  entsteht  hieraus 
ferner  die  Schwierigkeit,  dass,  wie  bestimmt  auch 
diese  Meinung  gedacht  seyn  möge,  sie  auf  neue 
Schwierigkeiten  stösst,  wenn  sie  in  \^^orten  aus- 
gedrückt werden  soll.  Für  metaphysische  Gedan- 
ken bleibt  der  sprachliche  Ausdruck   allemal  man- 

über  dem  Einzelneu   darf  das  Ganxe   nicht  aus  den  Au'- 
cen  verloren  werden. 


VIl 

gelliaft,  weil  er  entweder  von  der  gewöhnliclien 
Umgangssprache  sich  zu  weit  entfernt,  oder,  falls 
er  populär  seyn  will,  die  Einmischung  des  popu- 
lären Melnens  und  Denkens  nicht  abwehren  kann. 
In  dieser  Beziehung  können  die  mathemalischen 
Formehl  zu  Hülfe  kommen ;  nämlich  in  der  Vor- 
aussetzung, dass  man  sie  benutze,  um  von  ihnen 
aus,  nachdem  sie  einmal  da  stehn ,  auf  die  bey 
ihnen  zum  Grunde  liegenden  Ca usal -Begriffe  zu- 
rückzuschliessen.  Man  wird  in  dem  ersten  der 
nachstehenden  Aufsätze  (womit  noch  der  Schluss 
der  dritten  Abhandlung  kann  verglichen  werden,) 
die  Begriffe  der  Spannung,  der  Energie,  und  der 
Wirksamkeit  zusammengestellt  linden ;  und  zwar 
gemäss  der  früher  schon  angegebenen  Piechnung; 
dergestalt,  dass  aus  der  Piechnung  erkannt  wer- 
den möge,  wie  der  Begriff  des  Gleichgewichts  un- 
ter den  Vorstellungen  hier  zu  verstehen  sey.  Es 
zeigt  nämlich  die  Piechnung  kein  Gleichgewicht  un- 
ter den  Spannungen,  auch  keius  unter  den  Ener- 
gien; sondern  unter  den  Wirksamkeiten,  welche 
darin  bestehn,  dass  jede  Vorstellung  der  Hemmung, 
die  über  alle  verhängt  ist,  hinreichend  entgegen- 
ßtrebt,  um  nicht  mehr  als  ihr  zukommt  davon  zu 
übernehmen.  Denn  jede  einzelne  Vorstellung  wehrt 
der  Hemmung,  und  setzt  ihr  eine  Gränze.  Die 
Annäherung  ,an  diese  Gränze  geschieht  allmählig ; 
bey  denjenigen  Vorstellungen ,    die  ganz  aus    dem 


VIII 

ßewusstseyn  verdrängt  werden,  ist  diese  Gränze 
imaginiir;  (sie  fällt  ins  Negative,  was  bey  Vorstel- 
lungen nicht  möglich  ist,)  die  übrigen  gelangen 
niemals  ganz  dahin.  Würden  die  Gränzen  erreicht, 
alsdann  wäre  Piuhe  vorhanden;  und  nichts  ande- 
res, als  diese  Pvuhe,  verstehn  wir  unter  dem  Gleich- 
gewicht der  Vorstellungen.  Dies  wirft  ein  Licht 
zurück  auf  die  der  Piechnung  zum  Grunde  liegen- 
den Causal- Begriffe.  Würde  ein  anderer  Begriff 
von  dem  Causal- Verhältnisse  der  Vorstellungen 
zum  Grunde  gelegt,  so  würde  derselbe  ohne  Zwei- 
fel in  einer  andern  Form  der  Pvechnung  seinen 
Ausdruck  finden;  und  hieraus  zurückschliessend 
würde  der  Leser  den  Unterschied  der  Causal -Be- 
griffe deutlicher  erkennen ,  als  ihm  derselbe  in 
blossen  Worten  könnte  dargelegt  werden.  Wel- 
cher von  den  Causal  -  Begriffen  aber  nun  der  Wahr- 
heit gemäss  sey,  dies  würde  nicht  die  Pvechnung 
entscheiden ,  sondern  einerseits  müssten  die  Be- 
griffe metaphysisch  untersucht  werden,  anderer- 
seits käme  es  auf  Erfahrung  an ,  welche  die  Re- 
sultate der  Piechnung  zu  erproben  und  zu  be- 
währen hätte.  Dass  übrigens  neue  Untersuchun- 
gen der  Prüfung  und  vielleicht  der  Berichtigung  be- 
dürfen, weiss  Jedermann,  und  gilt  hier  wie  es  bey 
allen  ähnlichen  Unternehmungen  gelten  wird. 


Inhalt. 

Seite 
I.     lieber  die  Wichtigkeit  der  Lehren  von  den 

Verliältnissen  der  Töne,  und  vom  Zeitmaasse, 

für  die  gesanimte  Psychologie 1 

IL     Ueber  die  Tonlehre 39 

IIL     Ueber    die    ursprüngliche    Auffassung    eines 

Zeitmaasses 143 

IV.     Bemerkungen    über    die   Bildung   und  Ent- 

wickelung  der  Vorstellungsreihen    ....     184 


lieber  die  TTichtlijkeit  der  Lehre  von   den  f^erhält- 

nissen    der    Töne  ^     und    vom    Zeitmaasse ,    für   die 

gesummte    Psychologie. 

Als  Kant,  die  reine  Vei'nunft  krltlslreutl ,  deu  Ver- 
stand auf  die  Erfalaung  verwies:  da  war  es  Zell,  den 
Iransscendenten  Begriiren  einstweilen  Ruhe  zu  gönnen ; 
und  über  die  Möglichkeit  der  Erfahrung  zuvörderst  ge- 
nauer nachzudenken,  um  später  mit  besserer  Vorbei'ei- 
lung  zu  höhern   Untersuchungen   zurückzukehren. 

]Man  würde  bald  gefunden  haben,  dass  aus  angenom- 
menen Formen  des  Vei'standes  imd  der  Sinnlichkeit  sich 
keine  Möglichkeit  der  Erfahrung  ergiebt ;  weil  Formen, 
die  auf  immer  gleiche  Weise  in  uns  liegen,  keine  Un- 
terschiede dessen,  was  sich  zur  Beobachtung  darbietet, 
erklären  köiuieu. 

Man  würde  weiter  gefunden  haben,  dass  die  Granzo 
zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  unrichtig  müsse  ge- 
zogen seyn.  Denn  um  die  Formen  des  Verstandes,  die 
Kategorien,  vollständig  aufzufinden,  hatte  sich  Kant  an 
die  reine  Logik  gewendet;  diese  sollte  ihm  einen  Leit- 
faden gewähren,  welcher  den  Einthoilungen  der  Urlheile 
entlehnt  war.  Eben  diese  Logik  nun,  welche  für  die 
eigentliche  Wissenschaft  des  Verstandes  galt,  verräth 
durch  ihre  ganze  Kunstsprache  ein  Bedürfniss  räumlicher 
Vorstellungsart;    ohne  welche    weder    von    Gegensalzeu 

A 


noch  vom  Unifang  imd  liihnlt  tler  Begriire,  ■weder  von 
Sätzen  iiüih  Sclilii.ssen,  weder  von  Prämissen  iiüch  Con- 
clusioneu  zu  reden  Nvure.  Das  ganze  Oben,  Unten,  ]Mit- 
ten,  was  bey  Begrillen  und  Scldüssen  uns  überall  be- 
gleitet, zeigt  eine  Gemeinscbalt  mit  dem  Uaume,  der 
vei-meinlen  Form    der  Sinnlichkeit. 

Nach  solchen  Bemerkungen  gegen  die  Art,  aus  einer 
Zusanunenwirkung  der  Sinnlichkeit  luid  des  Verstandes 
die  Möglichkeit  der  Erfahrung  zu  erklären,  musste  auch 
die  Frage,  wie  sind  synthetische  Urtheile  a  piioi-i  mög- 
lich? von  neuem  in  Erwägung  kommen.  Das  mindeste, 
was  man  dabey  thiui  konnte,  war,  den  Umfang  des 
Feldes  zu  betrachten,  worin  dergleichen  Urtheile  sich 
darbieten.  Gleich  der  Raum  liefert  nicht  bloss  mathe- 
matische ,  sondern  auch  ästhetische  Urlheile  in  Menge. 
Die  Zeit  liefert  dergleichen  in  Verbindung  mit  der 
Sprache  und  IMusik.  Die  Musik  hat  an  der  Tonleiter 
eine  Fülle  von  Verhältnissen,  die  als  consonirend  und 
dissonirend  unmittelbar  beintheilt  werden;  mit  einer 
Evidenz,  wie  bey  geometrischen  Axiomen.  Woher  diese 
synthetischen  Urtheile?  Sollte  dafür  eine  neue  Form 
der  Sinnlichkeit,  die  Tonlinie,  analog  dem  Räume,  an- 
genommen werden?  Oder  meinte  man  im  Ernste,  der 
Tonkünstler,  welcher  Musik  nicht  bloss  hört  sondern 
denkt,  em])finde  einen  Nervenkitzel  in  Folge  zusammen- 
trelf ender    Schallwellen?  — 

Diese  kvu'zen  Erinnerungen  an  INIanches ,  was  schon 
anderwärts  gesagt  worden,  müssen  hier  als  Anknüpfungs- 
pvmcte  genügen.  Man  gedenke  dabey  der  Schwierigkeit, 
für  die  Psychologie  solche  Thatsachen  aufzustellen,  wel- 
che hinreichend  scharf  beobachtet  sind  ,  um  der  Unter- 
suchung zu  Slützpunctcn   zu  dienen.     Wo  es  an  vesten 


Palleten  fehlt,  deren  Bedürfnlss  man  lebhaft  fühlt,  da 
ist  immer  eine  grosse  Versuchung  vorhanden,  nach  eig- 
ner Bleinung  solche  Vestungswerke  zu  errichten,  wie 
Kant  und  so  Viele  nach  ihm  unternahmen ,  indem  sie 
jedes  einzelne  Seelenvermögen  durch  genaue  Granzbe- 
slimmungen  veslstellen  wollten ,  tuid  dabey  besonders 
über  Verstand  luid  Verninift  in  niclit  geringe  Streitig- 
keiten geriethen.  Kein  Wunder,  dass  späterhin  es  sehr 
übel  genommen  winde,  als  der  Verfasser  die  sammtli- 
chen  Seelenvermögen  für  mythologische  V\^esen  erklärte. 

Giebt  es  aber  wirklich  gar  keine  vesten  Puncto  iür 
die  Psychologie  ?  Oder  müssen  w  ir  uns  w  ohl  gar  nocli- 
mals  auf  das  Fichtesche  Ich  einlassen  ,  so  wenig  Vestig- 
keit  dieses  auch  in  der  neuern  Geschichte  der  Philosophie 
bewiesen    hat  ? 

Veste  Puncte  in  der  Psychologie  wird  man  vor  allem 
xmter  den  stehend  und  bleibend  gewordenen  Producten 
des  menschlichen  Vorstellens  zu  suchen  haben.  Diese 
erzählen  zwar  nicht  selbst  die  Geschichte  ihres  ersten 
Ursprungs  und  ilu-er  alhuahligeu  Ausbildung;  aber  auch 
nicht  bey  allen  ist  diese  Geschichte  so  verwickelt  und 
60  schwer  zu  finden,  wie  beym  Ich;  und  nicht  alle  in- 
dividualisiren  sich  so  mannigfaltig  wie  das  Selbslbewusst- 
seyn.  Auch  stehen  nicht  alle  so  vereinzelt  wie  dieses, 
für  welches  mau  keine  passenden  Vergleichungen  auf- 
finden kann.  Sondern  es  giebt  deren,  die  gruppenweise 
beysammen  liegen,  so  dass  die  Erklärung,  nachdem  sie 
irgendwo  einen  Anfang  gewann,  leicht  von  selbst  fortlauft. 

Als  bleibende  Erzeugnisse  des  menschlichen  Geistes 
müssen  besonders  die  ächten  und  anerkannten  ästheti- 
schen Urtheile  angesehen  werden.  Diese  Producte  ha- 
ben das    Schwankende  abgelegt,    was    sonst    die    Bevve- 

A* 


4 

gungen  des  Denkens  und  Fühlcns  charakterlsirt ;  und  die 
andersvärts  so  schwierige  Frage:  ob  sie  einen  realen 
Gegeusland  unniltlelbar  zu  erkennen  gelten  ?  —  diese 
Frage,  welche  die  Untersuchung  über  das  Ich  so  un- 
säglich erschwerte,  —  findet  bey  ihnen  gar  nicht  statt. 
Denn  Jedermann  weiss,  dass  ein  ästhetisches  Verhält- 
niss  das  nämliche  bleibt ,  ob  es  nun  bloss  vorgestellt 
oder  äusserlich  walu'genonunen  werde. 

Schon  die  Geschichte,  wo  sie  Völker  und  Zeiten  in 
deren  Figenthümlichkeit  aufzufassen  sucht,  findet  ein 
wichtiges  Ilülfsmittel  der  Charakteristik  in  den  "Wer- 
ken der  schönen  Kunst,  welche  zu  Documenten  aus  der 
Vorzeit  dienen.  Sie  betrachtet  diese  als  sprechende  Re- 
präsentanten der  Bildungs  -  Stufe  und  Bildungsweise  der 
Orte  und  Zeiten;  während  in  den  Thalen,  ja  selbst  in 
den  Gesetzen,  viel  mehr  Schwebendes,  Abhängiges,  Zu- 
fälliges liegt;  welches  selbst,  wenn  es  sich  lange  blei- 
bend einhielt,  docli  oft  nur  blieb,  weil  es  einmal  da 
war.  Was  durch  seine  Schönheit  bleibt,  hat  dagegen 
zugleich  das  Zeugniss  der  nachfolgenden  Zeilen  für  sich, 
die    es  gegen  den  Untergang    schützten. 

"Wiederum  aber  ist  nnter  den  ästhetischen  Gegen- 
ständen ein  grosser  Untersclüed  für  die  Psychologie,  je 
naclidem  ihre  Regel  mehr  oder  w^cniger  genau  vestge- 
stellt  ist.  Die  Frage:  worin  liegt  der  Grund 
dieser  Regel?  wie  hängt  sie  mit  den  Gesetzen  der 
geistigen  Thätigkeit  (sowohl  bey  den  Künstlern  als  den 
Zuschauern  und  Hörern)  zusammen?  diese  psycholo- 
gische Frage  wird  schwierig,  wo  die  Regel  noch 
schwankt;  —  hingegen  veranlasst  sie  desto  belehren- 
dere Untersuchungen,  je  entschiedener  die  Ueberzeugung 
ist,    dass  die  Regel  nur    so  und   nicht  anders    anecuoju- 


jiien  Nvcrilen  könne.  AN  äre  liior  von  räumlichen  Ge- 
genstanden zu  reden ,  so  würden  wir  eben  deshalb  der 
Psychologie  friilieren  Gewinn  von  der  Bclrachlung  ar- 
chitektonischer Regeln  versprechen,  als  von  Reilexionen 
über  Plastik  und  jMalcrey.  ISicht  als  ob  den  letztern 
ein  geringerer  AVerth  beyzulegen  wäre!  Aber  die  Ar- 
chitektin' hat  weit  veslere  Formen ;  luid  bey  ihr  kann 
man  viel  leichter  das  Felilerhafte  im  Gegensatze  des 
Richtigen   erkennen. 

Wer  indessen  bey  der  AYahl  des  Gegenstandes,  wor- 
an die  Unlersuclnnig  sich  üben  viud  bewähren  soll,  die 
Einfachheit  luid  hiemit  die  Bcslimmtheit  der  Probleme 
zu  schätzen  weiss,  worauf  eine  anhaltende  INIedilalion, 
fern  von  aller  Zerstreuung  durch  ein  buntes  Vielerley, 
sich  heften  muss:  der  wird  den  Raum,  mit  den  Ver- 
wickelungen seiner  Gestalten  in  drey  Dimensionen,  gern 
80  lange  zur  Seite  legen,  als  ihm  die  Zeit,  die  nur 
eine  Dimension  hat,  noch  Fragepuncte  genug  darbietet« 
Und  einfacher,  möchte  man  glaulien ,  lasse  sich  kaum 
etAvas  finden ,  als  das  Zeitmaass ,  welches  zwischen 
zwey  momentanen  AA^ahrnehmungen  eingeschlossen, 
sich  gleichföi-mig  wiederhohlt  ,  wenn  die  nämlichen 
AA'ahrnelmmugen  stets  in  gleichen  Zeitdistauzen  erneuert 
werden. 

Dennoch  giebt  es  einen  Gegenstand,  der  den  ersten 
ElementarbegriiTeu  der  Psychologie  noch  näher  liegt  als 
die  Zeit  mit  ihrer  Couliuuität,  und  der  Tact  mit  seinen 
Abtheiluugeu.  Es  sind  die  Zusammenstellungen  einfacher 
Töne,  wodurch  die  Tonkunst  ihre  charakteristisch  ver- 
schiedenen Intervalle  und  Accorde  bildet.  "VA'ir  werden 
diesen  Gegenstand  zuerst  ins  Auge  fassen.  Denn  hier 
lässt  sich  bestimmter,  als  irgendwo  sonst,    augeben: 


Was   soll   die   Psycliologie    erklären? 

Wie  genau  trifft  die  Erklärung  mit  dem  Erklär- 
ten zusammen  ? 
INIan  bemerke  wolil ,  in  ^vclcllem  Sinne  hier  von 
vesten  Punctcn  für  die  Psychologie  geredet  wii-d.  Die 
Meinung  ist  niclit  etwa  diese:  als  sollten  die  vesten 
Puncte  als  Principicn  der  Erklärung  gebraucht  -werden. 
Die  Psychologie  liat  in  demjenigen  Gebiete,  -worin  wir 
uns  hier  versetzen,  nicht  eigentlich  zu  lernen,  sondern 
sie  lehrt,  in  Folge  der  Principien,  die  sie  schon  besitzt; 
und  ihre  Lehre  geht  ohne  allen  Vergleich  -weiter,  als 
bloss  auf  üie  Tonkunst,  die  vielmehr  ein  sehr  unt^r- 
geordneter  Gegenstand  für  die  Lehre  im  Ganzen  genom- 
men ist.  Allein  indem  sie  lehrt,  —  indem  sie  Con- 
structionen  a  priori  entwirft,  —  entsteht  der  uns  -wohl 
bekannte  Zweifel,  ob  die  Lehre  nicht  etwan  ein  Hirn- 
gesjiinnst  sey,  wie  es  viele  giebt.  Darinn  bedarf  die 
Leine  einer  Bestätigung;  und  hiezu  werden  in  der 
Erfahrung  veste  Puncte  gesucht,  mit  denen  die  Lehre  zu- 
sammentreffen soll.  Denn  eben  diese  sind  das,  was  sie 
erklären  soll.  Rünnte  man  solcher  vesten  Puncie 
viele  finden,  so  hätte  die  Tonlehre  keinen  besondern 
\  orzug.  Allein  während  es  der  Bestätigungen  viele  und 
mancherley  giebt,  sind  sie  doch  nicht  alle  von  gleichem 
Werthe,  weil  in  vielen  andern  Fällen  die  Leliren  der 
Psychologie  bestimmter  lauten,  als  dasjenige  sich  beob- 
achten lässt ,  was  in  der  Erfahrung  mit  ihr  zusammen- 
treffen sollj  indem  es  vielmehr  so  schwankend,  zerflie- 
ssend,  vieldeutig  ist,  dass  für  die  Yergleichung  keine 
sichern  Resultate  gewonnen  werden.  Was  würde  es 
nützen ,  wenn  wir  z.  B.  eine  psychologische  Lehre  zur 
Erklärung  des  Unterschiedes  zwischen  dem  Bittern,  Schar- 


feil,  Gewürzliafleu ,  besasson':'  Diesen  Unterschied  un- 
abhängig von  aller  Tiehre,  schon  bloss  ihatsächlich,  vest- 
zustellen,  würde  nidit  gelingen ;  man  ^viirde  die  Theorie 
mit  keiner  sichern  Erfahrung  vergleichen  können.  Ganz 
anders  verhält  es  sich  mit  dem  Unterschiede  zwischen 
einer  Quarte,  falschen  Quinte,  i-eiuen  Quinte ;  deren  jede 
von  der  andern  so  weit  getrennt  ist,  dass  es  lächerlich 
se}ai  würde,  hier  von  einer  Gefahr  der  Verwechselung 
auch  nur  zu  träunien  ;  und  zwar  dergestalt  getrennt,  dass 
lediglich  das  musikalische  Denken  ,  ohne  leibliches  Hö- 
ren,  luid  vollends  ohne  Theorie,  hinreicht,  um  sie  zu 
luilerscheiden. 

Jedoch  wollen  wir  nicht  verhelilen,  dass  eine  abso- 
lute Genauigkeit  auch  hier  nicht  statt  findet.  Wenn 
wir  die  Lehren  der  Psycliologie  noch  beyseite  setzen,  so 
finden  sich  schon  zweyerley  Bestimmungen  der  Tonver- 
hältnisse,  von  denen  nicht  geläugnet  werden  kann,  dass 
aus  ihnen  eine  geringe  Schwankung  hervorgeht.  Die 
erste  Bestimmung  ist  das  ästhetische  Urtheil  selbst,  wel- 
ches im  blossen  Hören  oder  Denken  die  musikali- 
schen Intervalle  von  den  dazwischen  fallenden  (deren 
Zahl  unendlich  ist)  unterscheidet.  Würde  man  aber  ver- 
langen, dass  hiediuxh  alle  Intervalle  bis  auf  ein  Tauseud- 
theil  der  Octave  sollten  vestgeslellt  werden,  so  möchte 
wohl  der  geübteste  Musiker,  wenigstens  bey  Dissonan- 
zen, sich  dazu  unfähig  bekennen.  Die  zweyte  Bestim- 
mung ist  vollkommen  scharf,  denn  sie  geht  von  den 
Schwingungen  oder  den  Längen  der  tönenden  Körper 
aus;  und  man  verdankt  sie  den  mathematischen  Physi- 
kern. Indem  sie  aber  praktisch  angewandt  wird ,  zeigt 
sich  ein  kleiner  Unterschied  zwischen  dem  leiblichen  Hö- 
ren  und  dem  musikalischen   Denken.      ]Man  hört  schon 


8 

bey  geringer  vVbAVciclmng  von  den  Angaben  der  Pliysiker 
ein  gewisser  Ziltcrn  der  Töne,  und  hält  dies  leicht  für 
das  Zeichen  imreiner  Intervalle.  Deiniocli  liisst  man 
sich  bey  Tasten  -Instrumenten  die  gleichschweb  ende  Tem- 
peratur gefallen,  (die  nolhwendige  Bedingimg  freyer 
Bewegung  durch  alle  Tonarten,)  welches  nicht  möglich 
wäre,  ■svenn  das  musikalische  Denken,  welches  dem  Hö- 
ren von  innen  her  appercipireud  entgegenkommt,  an 
jener  vorausgesetzten  Unreinheit  Ansloss  nähme.  Hier 
bleibt  nun  zweifelhaft,  ob  das  musikalische  Denken  aus 
Nachsicht  einen  Nothbehelf  sich  gefallen  lassl ;  —  oder  ob 
insgeheim  das  ästhetische  Urlheil  mit  der  gleichscliwe- 
benden  Temperatur  naher ,  als  man  meinte  ,  überein- 
stimmt ;  so  dass  es  sehr  zufrieden  seyu  würde,  w  e  n  n 
sich  tönende  Körper  fänden,  die  im  Stande 
wären,  ihre  Schwingungen  nach  der  gleich- 
schwebenden  Temperatur  einzurichten.  Ein 
solcher  Zweifel  fällt  denen  nicht  ein,  welche,  um  die 
Reinheit  eines  Intervalls  zu  prüfen,  sich  aufs  Horchen 
legen,  ob  die  leiblich  gehörten  Töne  schwirren  imd  zit- 
tern oder  nicht.  Darauf  aber  können  wir  die  psycho- 
logischen Lehren  nicht  beschränken;  vielmehr  werden 
wir  bey  einigen  geringen  Dillerenzen  das  Zeugniss  der 
gleichschwebenden  Temperatur  als  Bestätigung  anführen, 
wo  die  physikalische  Angabc  zugleich  von  ihr  und 
von  unserer  Rechnung  \un  ein  Geringes  abweicht. 
Jetzt  aber  müssen  wir  fragen :  welcher  Zusammen- 
hang ist  überhaupt  zwischen  den  Schwingungen  tönen- 
der Körper,  und  dem  musikalischen  Denken?  Ohne 
Zweifel  hat  mau  eher  Töne  gehört,  als  Töne  gedacht; 
so  wie  man  eher  Körper  sah  luid  belastete,  ehe  man 
geometrische  Körper    daehte.      Allein   die    synthetischen 


9 

UrllieJle  a  priori,  deren  ^vIr  vorhin  erwähnten,  binden 
sicli  in  der  JNIusIk  eben  so  ^venig  als  In  der  Geomclrie 
an  das  ansserlicli  Angescliaule.  Um  dies  benierklleh  zu 
machen,  und  den  F.niplrlsnuis  des  leiblichen  Hörens  zu 
vermeiden,  Avollen  wir  einen  Augenblick  annehmen,  Je- 
mand bestünde  auf  der  nicht  ungewöhnlichen  (beym 
Mangel  aller  bessern  l'^rklarung  nicht  übel  zu  deutenden) 
Hypothese:  Das  Harmonische  des  reinen  Accordes  be- 
ruhe auf  dem  Zusammentreffen  der  Schallwellen  im  leib- 
lichen Ohre.  ^A'ir  könnten  ihm  etwa  folgende  Fragen 
vorlegen : 

1)  Wenn  zwey  reine  Accorde  einander  in  gleicher 
Lage  unmittelbar  folgen :  wariun  sind  die  Quinten  und 
Oclavcn  unerträglich?  Und  zwar  so  ganz  mileidlicli, 
dass  sogar  die  sogenannten  verdeckten  (nur  als  Ucber- 
gang  hinzugedachten,  kelnesweges  •wirklich  gehör- 
ten) Q)uinlen  und  Octaven  von  den  Tonkünsllcrn  ver- 
boten und  gemieden  werden?  Und  warum  doch  nur 
dann  verboten,  wenn  einerley  Paar  von  Stimmen 
diese  Fortschreitung  macht?  Was  haben  die  Schallwellen 
mit  den  paarweise  zusaiumengefassten  Stimmen  zu  thun? 

2)  "Woher  der  Unterschied  zwischen  den  beyden 
gleich  reinen  Accorden ,  dem  Dur  inid  INIoll  ?  "VVas  liat 
die  kleine  Terze  düsleres,  wenn  sie  vom  Grundloii  be- 
stimmt wird,  da  sie  im  Dur -Accorde  doch  aucli  vor- 
handen ist,  nämlich  zwischen  der  grossen  Terz  und  der 
Quinte  ? 

3)  Warum  bedient  man  sich  in  der  jMusik  der  Disso- 
nanzen, deren  schlecht  zusammeustosseude  Schallwellen 
mau  ja   vermelden  sollte? 

4)  Warum  liegt  in  der  Septime  eine  Notliwendlgkcit, 
sie  nach  unten,  —  im  Leitton,  ihn  nach  oben  aufzulösen? 


10 

5)  Warum  ist  der  übermässige  Secundenspriiiig  ver- 
hol en? 

C)  Warum  bleibt  ein  Aecord  sich  immer  gleich,  wie 
man  auch  die  Lage  desselben  verändere;  während  die 
Veränderung  eines  einzigen  Tones,  nur  um  eine  kleine 
Secundc,  den  ganzen  Aecord  iimschafft? 

Am  hall)en  Dutzend  Fi-agen  mag  es  genug  seyn,  lun 
anzudeuten,  was  Derjenige  unternimmt,  der  die  Tonlehre 
erklären  will.  Soviel  möge  man  einstweilen  glauben, 
dass  hier  mit  Schallwellen  wohl  nimmermehr  etwas  aus- 
zurichten SC}!!  dürfte.  Wir  gedenken  luis  ihrer  gar 
nicht  zu  bedienen;  denn  Schwingungen  der  Körper  sind 
keine  Vorstellungen,  keine  innern  Zustände  der  Seele; 
inid  die  Angaben  der  Physiker  konmien  uns  nur  in  so- 
fern in  Betracht,  als  das  ästhetische  Urtheil  —  w^elches 
uns  die  verlangten  vesten  Puncte  darbietet,  —  damit  lui- 
ZNveydeutig  einvei'standen  ist. 

Da  nun  die  Wichtigkeit    der  Tonlehre  für  die  Psy- 
chologie darin  gesetzt  wird,  dass  hiedurch  eine  Bestäti- 
gung zu  gewinnen  ist:  so  entsteht  die  zwiefache  Frage: 
Erstlich:    was   soll  bestätigt  werden? 
Zweytens :    worin   liegt  vmd   wie   weit   reicht  die 
Bestätigung  ? 

Auf  die  erste  Fi'age  ist  nur  Weniges  zu  antworten. 
]Man  kennt  die  Schwellenformel  c  =  b  1/  —  ~t  j  >velche 

'       a  -j-  b  ' 

in  verschiedenen  Schriften  ist  entwickelt  worden ;  und 
auf  deren  Ableitung  wir  weiterhin  noch  zurückkommen 
müssen.  Diese  Formel  kann  in  derjenigen  Bedeutung, 
worin  sie  ursprünglich  gefunden  wird_,  unmöglich  diuxh 
die  Eifahrung  bestätigt  werden,  —  nämlich  wenn  mau 


11 

Gcnauigkcll  verlangt.  r3cnn  im  Allgciiiciucn  zwar  ist 
gcvviss,  dass  unsere  Vorstellungen  einander  ans  dem  Bc- 
Avusstseyn  \erdrangcn ;  aber  zu  beobachten ,  ob  z>vey 
stärkere  Vorstellungen  a  luid  b  gerade  hinreichen ,  um 
ein  nur  wenig  sclnvächeres  c,  als  das  obige,  verschwin- 
den zu  machen,  diess  würde  erstlich  eine  luiniögliche 
Abmessiuig  der  Stärke  des  a  und  des  b,  und  noch  oben- 
drein die  Beobachtung  dessen  erfordern,  was  sich  der 
Beobachtung  entzieht ,  indem  es  aus  dem  Bewusstseyn 
entweicht.  Da  waren  wir  also  bey  den  Unmöglichkei- 
ten, die  oft  genug  der  malhemalischen  Psychologie  von 
Unkundigen  sind  vorgeworfen  worden.  Hätte  man  sich 
erinnert,  was  schon  vor  mehr  als  dreyssig  Jahren  in  den 
Hauptpuncten  der  INIetaphysik  war  gesagt  worden,  so 
würde  man   viel  leere   Worte  gespart  haben. 

Die  erwähnte  Formel  soll  nun  dennoch  bestätigt  wer- 
den ;  nämlich  in  solcher  Anwendiuig,  die  sich  beobach- 
ten lässt.  Dazu  gehört  nicht  das,  was  aus  dem  Be- 
wusstseyn verschwindet,  sondein  was  bey  gewissen  Ver- 
liältnissen  des  Drucks  und  Gegendrucks  im  Bewusstseyn 
bleibt.  Und  hiezu  wiederum  ist  nölhig,  dass  die  Vor- 
stellungen in  Gegenwirkung  wider  sich  selbst  versetzt 
werden;  wie  es  erfolgen  muss,  wenn  eine  Vorstellung 
in  Bezug  auf  eine  andre  gleichzeitige  in  Gleiches  und 
Entgegengesetztes  zerfällt.  Solches  geschieht  schon  bey 
zwey  gleichzeitigen  Tönen ;  es  ereignet  sich  auf  eine 
mehr  verwickelte  Weise  bey  drey  gleichzeitigen  Tönen, 
d.h.  beym  Dreyklange.  Und  die  Folgen  davon  werden 
gefühlt,  indem  man  den  Dreyklang  als  harmonisch  oder 
disharmonisch  bezeichnet.  Es  ist  nun  auf  vielfacheWeise 
jene  einzige  Formel ,  welche  den  Aufschluss  über  den 
Unterschied  der  Intervalle    und   Accorde    liefert.      JNoch 


12 

melir:  wir  werden  (lurcligelicnds  nur  zwey  ver- 
scliledeue  Anwendungen  gebraiiclien ,  indem  entweder 
a  m  b,  oder  a  ZZ  5  und  b  ZI  4  (beynahc,  denn  die 
genauere  Bcstinnnung  Ijleibt  vorbehalten)  zu  setzen  ist. 
Das  Zusammentreffen  der  Rechnung  mit  den  Thatsacheii 
muss  selbst  Derjenige  vor  Augen  sehn,  der  sich 
in  die  Begriffe  nicht  finden  kann;  inid  diess 
ist  die  Bestätigung,  um  welche  es  zu  thun  ist.  Denn 
wenn  die  Formel  sich  in  der  Tonlehre  bewährt,  und 
zwar  nicht  bloss  einmal,  sondern  sovielemal,  dass  die 
ganze  Toulehre  davon  erleuchtet  wird,  so  ist  sie,  sammt 
dem  ganzen  Zusannnenhange,  in  den  sie  gehört,  bestät-gt. 

Die  zweyte  Frage  war;  worin  liegt,  und  wie  Aveit 
reicht   die   Bestätigung  ? 

Hier  ist  Verschiedenes  zu  sondern.  Erstlich,  die  In- 
tervalle zweyer  Töne.  Dann  die  reinen  Accorde.  Dar- 
auf die  nicht  consonircndcn,  xuid.  besonders  die  Auflö- 
sung der  Dissonanzen.  Von  den  einzelnen  Intervallen 
"wurden  zuerst  die  Erklärungen  der  Quinten,  der  Quarte, 
der  Terzen  inid  der  Secvmde  gefunden,  und.  schon  iu 
den  Hauplpunctcn  der  JMetaphysik  kurz  angezeigt.  Ganz 
neuerlich  beym  Rückblick  auf  die  ältere  Arbeit,  bot 
sich  die  Erklannig  der  übrigen  Intervalle,  (der  beyden 
Sexten  und  der  Septime)  dar,  genau  übereinstimmend 
mit  jenen  früher  erklärten,  welche  auch  als  Umkehrun- 
gen der  letztem  können    betrachtet  werden. 

In  einem  Aufsatze  vom  Jahre  1811  (im  Rönigsber- 
ger  Archiv)  wurde  die  Erklärung  der  reinen  Accorde 
gegeben  5  der  wichtigste  Punct  von  allen.  Damals  blieb 
aller  noch  im  Dunkeln,  worin  der  Unterschied  bcyder 
reinen  Accoixlc  bestehe;  hierüber,   so  wie  über  einiges. 


13 

was  ille  Dissonanzen  luul  ille  Tonleiter  belnlFt,  w.nren 
dort  unrichtige  IMelnungen  geäussert. 

Die  neuerliche  Untersuchung  liat  nun  auch  hierüber 
Licht  gegeben. 

AA'egeu  der  Grundlage  imscrer,  hier  anzuwendenden, 
Theorie  sollte  es  billig  genügen,  auf  die  früheren  Schrif- 
ten lediglich  zu  verweisen.  Allein  während  hier  auf 
die  Frage:  wie  jene  Grundlage  gefunden  sey,  nichts 
ankommt  (denn  wir  wollen  hier  nicht  begründen  son- 
dern l)est;iligen,  inid  dazu  dienen  die  Thalsachen):  ist 
dennoch  dahin  zu  sehen,  dass  die  Theorie  in  den  Haupl- 
])inKten  richtig  verstanden  Averde.  An  JMisverständnis- 
scn  aber  ist  kein  JMangel.  Und  nicht  alles  jMisverstehcn 
rührt  her  von  Uebelwollen  oder  Unverstand.  Auch  der 
"Wohlwollendste  sucht  mit  Piecht  eine  neue  Lehre  mit 
seinem  frühern  \A  issen  in  Ziisanunenhang  zu  bi'ingcn; 
darum  werden  Verknüpfungen  gewagt,  Analogien  ver- 
folgt, die  allmiihlig  den  alten  Voriirlheilen  den  Zugang 
olTnen  ,  und  ihnen  das  Uebergewicht  verschallen.  Vie- 
les thut  auch  die  Sprache,  vieles  die  Darstellung.  Wo 
sich  noch  keine  vesle  Kunstsprache  gebildet  hat,  da  kann 
man  sich  nicht  in  der  Kürze  verständlich  machen;  wel- 
che Darstellung  man  aber  auch  Avähle,  sie  wird  eine 
Quelle  von  JMisverstandnissen  schon  durch  das  Ueber- 
ilüssige,  was  sie,  blosser  Erläuterung  wegen  einmischt. 
So  ist  es  namentlich  der  Lehre  von  der  llcnnnungs- 
summe  ergangen ;  wobey  viär  iinsre  eigne  Darstellung 
einer  L^ngenauigkeit  beschuldigen  müssen ,  die  freylich 
der    Zusanunenhang    sehr     leicht     aufklären    koinile    '*'). 

*)  Psycliologle  §.42.  Es  licisst  dort;  Die  Ilemmungssuiiiiiie  sov 
entweder  u,  oder  L  ;  und  weiter:  "das  Zu  -  Hemmende  ^^iir- 
de    zu  a  sevn,    wenn    b    ungehemmt    bleiben    sollte."      Diese 


14 

Schon  tlies  einzige  Beispiel  ermahnt  uns  ,  dass  es  nicht 
iiberilüssig  seyn  werde,  die  Begrill'e  von  der  llemmungs- 
sunime  und  dem  Henimiuigs  -  Verhältnisse  hier  noch- 
mals kurz  zu  entwickeln.  Erreichen  wir  auch  damit 
nur  andre  Worte,  so  mag  man  wenigstens  diese  mit 
den  friibern  vergleichen,  um  sich  nicht  so  gar  leicht 
an  den  einzelnen  Ausdrücken  und  Rede  -  Wendungen 
zu   stossen. 

Jedermann  weiss,  dass  unsre  Vorstellungen  im  Be- 
wusstseyn  bald  mehr  bald  weniger  hervortreten.  Die 
gewöhnlichsten  Beyspiele  abwechselnder  Rellexionen  kön- 
nen dies  schon  allenlalls  vorlaulig  bezeugen.  Denkt 
man  sich  eine  Rose  und  eine  Lilie,  so  kann  man  bald 
auf  die  Farben  dieser  Blumen,  bald  auf  den  Lilienstan- 
gel  und  den  Dornstrauch  der  Rose  die  Aufmerksamkeit 
richten ;  betrachtet  man  die  letztern ,  so  vermindert  sich 
das  Vorstellen  der  Farben.  Zufallig  ist  jedoch  in  die- 
sem Beyspiele  der  Umstand,  dass  ein  willkührliches 
Aufmerken  angenonunen  wurde ;  denn  unsre  Gedanken 
wechseln  oft  genug  auch  ohne  alle  W  illkühr  so  sehr, 
dass  andre  an  die  Stelle  treten,  wähi-end  die  frühern 
mehr  oder  minder  schwinden;  auch  einige  ganz  ver- 
schwinden. 

Ungeachtet  dieser  Veränderlichkeit  aber,  bleiben  die 
Vorstellungen  selbst  (z.  B.  jezie  der  Rosenfarbe  und 
Worte  bezeichnen  bloss  eine  vorläufige  Reflexion  dessen,  der 
die  H.  S.  noch  sucht ,  und  nicht  gefunden  hat.  Gleich  wei- 
terhin zeigt  sich,  dass  die  wahre  H.  S.  n:  b  ist,  woraus  un- 
mittelbar folgt,  die  Vorstellung  b  bleibe  ungehemmt, 
wenn  auch  von  a  nur  ein  Quantum  nz  b  gehemmt  wäre, 
so  dass  der  Rest  a  —  b  ebenfalls  ungehemmt  bleiben  würde. 
Ein  solches  Ilemmungs  -  Verhältniss  ist  zwar  unmöglich, 
allein  wir  reden  hier    von  der  Ilemmungssu  m  nie. 


15 

der  liillonfarbe)  die  uämllchen.  Auch  ihr  Vei'hällniss 
(z.  Vi.  der  Unterschied  des  Uoseurolh  und  Lilien- 
>veiss)   bleibt    luiverändert. 

AVir  wollen  dieses  unveränderliche  VerhÜltniss  jetzt 
zuerst  in  Betracht  ziehn  ;  und  können  dabey  schon  jetzt 
auch  auf  solche  Beysplele  hinweisen ,  die  uns  -weiterhin 
besonders  beschälfligen  sollen ;  nanilich  auf  die  unverän- 
derlichen Unterschiede  der  Töne.  Eine  reine  Quinte 
bleibt  immer  das  nämliche  Intervall,  ob  man  nun  den 
Gnuidlon  stärker,  und  die  Quinte  schwacher,  oder  um- 
gekehrt,   höre  oder  deidce. 

In  dem  Unveränderlichen  Hegt  zunächst  das,  was 
wir  die  Hemmuugssumme  nennen.  Unsre  Theorie  sagt 
nämlich,  (gleichviel  aus  welchen  tiefern  Gi'ünden,  um 
die  wir  uns  hier  nicht  bekümmern,)  dass  bey  Vorstel- 
lungen, die  im  conträren  Gegensatze  stehen,  (wie  jene 
beyden  Farben  oder  Töne)  aus  dem  Gegensatze  selbst 
eine  Nothwcndigkeit  entstehe,  vermöge  dei*en  die  Vor- 
stellungen an  Klarheit  verlieren  nn'issen;  ein  Verlust, 
der  oft  so  weit  geht,  dass  die  Vorstellungen  völlig  ver- 
dunkelt, imd  im  Bewusstseyn  nicht  mehr  gegenwärtig 
sind.  \Yie  gross  ist  diese  Nothwendigkeit  ?  —  Da  sie 
gar  nicht  vorhanden  ist  bey  ganz  gleichartigen  Vorstel- 
lungen, welche  vielmehr  zu  einem  einzigen  xmgetheilten 
Vorstellen  verschmelzen,  so  bestimmen  wir  ihi'e  Grösse 
nach  der  Abweichung  von  der  Gleichartigkeit;  also  nach 
der  Grösse  jenes  Unterschiedes  oder  conträren  Gegen- 
satzes ;  den  wir  den  H  e  m  m  u  n  g  s  g  r  a  d  nennen ;  erinnern 
uns  aber  dabey,  dass  die  Vorstellungen  auch  schon  ur- 
sprünglich eine  verschiedene  Stärke  besitzen,  (wie  bey 
hellerem  oder  schwächerem  Lichte  die  Farben,  und  bey 
släxkerem  oder  schwächerem  Klange  die  Töne) ;  welche 


16 

ursprüngliche  Intonsllat    luclit  verwechselt    -werden    darf 
mit  jener  veranderliclien  Klarheit  im  Bewusslscyn.     Die 
ursprüngliche  Starke   mxd    ihre    Verschiedenheit,  fnidet 
man  in  den  Wahrnehmungen  des  Hörens,  Sehens  xi.  s.  \v. 
liingegen  die  veränderliche  Klarheit    in    den  Erinnerun- 
gen, welche  nachbleiben ;  in  den  Gedanken,  welche  kom- 
men und    gelieu.      Soll    nun    die    Nolhweudigkeit    jenes 
Verlustes,  d.  h.  die  llemmungssumme,  ihrer  Grösse  nach 
beslimmt  werden,  so  koiiunt   es   zugleich   auf  den  Ilcjn- 
mungsgrad   und    aul"    die    lusprüngliclie    Stärke    an.      Je 
grösser  der  llemnuuigsgrad,  desto  mehr  Nolhweudigkeit 
des  Verlustes  oder  des  Sinkens  ;  je  grösser  die  ursprü'ig- 
liclic  Stärke,  desto  weniger  JNolli wendigkeit  des  Sinkens. 
Allein  hier   droht   schon    eine   Verwechselung.      üic 
ursprüngliche  Stärke  ist  das  Eigenlhum    jeder  einzelnen 
Vorslellung    für  sich;  hingegen    der    Henmuuigsgrad    ist 
für   keine  einzelne   au    sich    vorhanden ;    er  beruhet  auf 
ihrem  coulrären  Gegensalz,  also  auf  dem  Verhältiüss  der 
einen  zur  andern.    Welches  von  diesen  beyden: — Ilcn:- 
nuu'gsgrad,  —    ursprüngliche    Stärke,  —    konnnl    nuix 
zuerst  in  Betracht,  wo  das  nolhwendige  Sinken  soll  bc- 
sliniml  werden?     Oll'enbar  xilclit  die  Stärke.     Durclx  sie 
aüeiu  erlitigt   kein  Sinken;    vielmehr,    weim   schon  die 
IN'olli wendigkeit    des   Sinkens    da    ist,    dann   widcrslelit 
jetle    Vorstellung    luu    desto    mehr,    je    stärker    sie    ist. 
AVolil   aber   kommt    zuerst    der  Hemmungsgrad    in  Be- 
tracht;   denn  in   ihm  beginnt    die    Nothwendigkeit    des 
Sinkens.     Da  nun,  wie  zuvor  bemerkt,  der  Hennnungs- 
grad  für  keine  einzelne  Vorstellung  allein ,  sondena  nur 
für  ohi  Paar  derselben  vorhanden  ist ;  und  in  ihrem  Un- 
terschiede liegt:  so  kommt  die  jNothwendlgkelt  des  Sin- 
kens zuerst    für    das   Paar    in  Betracht,    imd   daraus 


17 

erst  kann  cUo  nämliche  Notliwencligkeit  für  jetlc  ein- 
zelne Vorstellung  abgeleitet  werden.  j\Ian  darf  also 
die  eine  und  die  andre  dieser  Betrachtungen  nicht  ver- 
wechseln. Mit  andern  "Worten:  man  muss  die  Hem- 
niuugssumme  von.  dem  Hemmuugs  -  Verhaltiiiss 
unterscheiden. 

INIöchte  auch  das  Hemmungs -Verhaltniss,  worin  jede 
einzelne  Voi'Stellung  an  der  Nothweudigkeit  des  Sin- 
kens ihren  Antheil  bekonunt,  unbestimmt  bleiben  ;  möchte 
sich  darüber  nichts  ausmachen  lassen:  nichts  destoweui- 
ger  müsste  sich  die  Henmiungssumme  erkennen  lassen, 
wenigstens  für  ein  Paar  von  Vorstellungen.  Denn  hat 
die  Nothweudigkeit  zu  sinken  einen  Grad :  so  ist  eben 
dieser  auch  der  Grad  des  Gegensatzes,  wenn  man  einst- 
weilen die  Stärke  bey  Seite  setzt,  das  heisst,  sie  gleich 
annimmt.  Und  umgekehrt:  caeteris  paribus  ist  der 
Grad  des  Gegensatzes  seinem  Begriffe  nach  die  Grössen- 
bestimmung  der  Nothweudigkeit  des  Sinkens.  Will 
man  das  leugnen ,  so  hat  mau  dem  Begriffe  etwas  von 
Unterschieden  beygemischt,  wobey  die  Yorstellmigeu 
mit  einander  vertraglich  bleiben  wüi-deu,  wie  bey  dis- 
paraten Verschiedenheiten.  Die  conträr  entgegengesetz- 
ten schliessen  einander  gegenseitig  aus ;  und  wie  der 
Gegensatz  erfahrungsmässig  eine  Grösse  hat  (wie  bey 
höhern  und  tiefern  Tönen)  so  soll  hier,  —  das  ist  unsre 
Grund  -  Annahme  —  diese  Grösse  den  Grad  der  Noth- 
weudigkeit des  Sinkens  bestimmen.  Realisirt  sich 
diese  Grösse  in  einem  Paar  schwacher  oder  starker 
Vorstellungen  (die  Avir  für  jetzt  als  unter  sich  gleich 
betrachten):  so  ist  sie  dem  gemäss  weniger  oder 
mehr  realisirt.  Sind  also  x  und  y  ein  paar  verändex-- 
liche  Grössen,  wodurch  wir  die  Stärke  der  beydenVor- 

B 


18 

Stellungen  bezeichnen,  ist  ferner  xzzy,  und  der  Hem- 
mungsgrad rz:  m ,  einem  ächten  Bruche,  der  liöchstens 
=r  1  werden  kann  ,  so  ist  m  x  rr  m  y  die  Hemmungs- 
sumnie;  luid  dass  sie  es  ist,  liegt  imniiltelbar  in  ihrem 
Begriffe. 

Oder  sollte  etwan  mx  -\-  my  die  Hemmungsumme 
seyn?  Das  widerlegt  schon  der  erste  Blick.  Wenn 
mx  gehemmt  ist,  so  braucht  niclit  auch  noch  my,  we- 
der ganz  noch  theilweise  geliemmt  zu  werden-,  eins 
von  beyden  ist  genug,  weil  der  Nothwendigkeit  des  Sin- 
kens Genüge  geschali ,  und  dieselbe  aufhört,  sobald  von 
zweyen  Entgegengesetzten  das    eine   verschwindet. 

Ist  nun  ferner  y  <<^  x ;  so  realisirt  sich  die  Grösse 
des  Gegensatzes  darum  nicht  in  einem  grössern  Paar. 
Der  Ueberschuss  des  x  über  y  vergi^össert  zwar  x  selbst, 
aber  auf  x  allein  passt  kein  Begriff  eines  Gegensatzes. 
Darum  ändert  sich  auch  nicht  die  Hemmungssumme, 
sondern  sie  bleibt  =  m  y ;  weil  sie  mit  keiner  einzel- 
nen Vorstellung  etwas  zu  thun  hat. 

Wemi  dagegen  y>x,  so  ist  der  Ueberschuss  des  y 
über  x  niclit  für  das  Paar  vorhanden;  die  Hemmungs- 
simime  ist  nun  z:z  mx. 

Sollen  wir  nun  etwa  diese  Darstellung  noch  ver- 
einfachen? Wir  würden  es  können,  wenn  die  Vor- 
stellungen eben  so  wenig  ein  Quantum  ursprünglicher 
Stärke  in  sich  trügen,  wie  die  Fixsterne  für  das  Auge 
einen  merklichen  Durchmesser  haben.  Dann  bliebe  doch 
noch  immer  eine  Gradbestimmuug  für  Klarheit  und 
Verdunkelung;  so  wie,  im  Gleichnisse,  für  die  Fix- 
sterne ein  Unterschied  der  Klarheit  in  Folge  der  heitern 
oder  trüberen  Atmosphäre.  Dann  würden  wir  geradezu 
sagen:    der  Hemmungsgrad  m  ist  selbst  die  Hemmungs- 


19 

summe ;  uiul  zwar  unmittelbar  durch  den  BegiülF,  well 
tue  Hemmuugssumme  eben  uiclils  anderes  seyu  soll,  als 
die  gefoderte  Negation  der  Klarheit,  d.h.  der  Wirk- 
lichkeit des  Vorgestellt- Wer  de  n  s  in  dem  gege- 
benen Paar.  (Wir  drücken  uns  so  aus,  damit  man 
nicht  eine  Verdunkelung  mit  einer  Verminderung  der 
ursprünglichen  Starke  verwechsele.) 

Wie  aller  bcy  den  uns  nähereu  leuchtenden  Körpern 
es  einen  Durchmesser,  also  eine  Vervielfältigiuig  der 
leuchtenden  Puncte  giebt,  und  ausserdem  auch  eine 
Intensität  des  Lichts  für  jeden  einzelnen  Punct :  so  giebt 
es  für  ein  Paar  Vorstellungen ,  die  gleich  stark  sind, 
erstlich  einen  gemeinsamen  Grad  dieser  gleichen  Stäi'ke 
(analog  der  scheinbaren  Grösse  der  leuchtenden  Fläche) 
und  zweyteus  eine  Intensität  des,  in  diesem  Paare  lie- 
genden Gegensatzes ;  (analog  der  Intensität  des  Lichts). 
Darum  entsteht  ein  Product,  worin  beyde  Grösseube- 
stimmimgen  sich  vereinigen.  Den  Grad  der  gleichen 
Stärke  nannten  wir  oben  x  oder  y;  die  Intensität  des 
Gegensatzes  m;  daher  das  Product  mx  oder  my.  In 
diesem  Product  ist  m  der  Multiplicandus ;  x  oder  y  der 
Älultiplicator ;  wären  aber  x  und  y  etwan  nicht  gleich, 
so  könnte  der  Ueberschuss  des  einen  über  dem  andern 
sich  mit  dem  Begriff  m  nicht  verbinden,  der  überall, 
bey  jedem  INIinimum  seiner  Anwendbarkeit,  ein  Paar 
voraussetzt. 

Ungeachtet  dessen  nun ,  was  hier  vom  Ueberschusse 
gesagt  worden ,  liegt  vor  Augen ,  dass ,  falls  x  >  y,  die 
Hemmungssumme  auch  dann  verschwindet ,  wenn  mx 
gehemmt  wird;  lediglich  dariun,  weil  die  wahre  Hem- 
mungssumme my  in  der  Grösse  mx  als  ein  Theil  der- 
selben   enthalten    ist.      Diese  Ueberlegung   gehört   dahin, 

B  * 


20 

wo  für  drey  Vorstellungen  die  Hemmungssumine  ge- 
sucht "Nvird*);  welches  für  jetzt  in  Ansehung  der  Schwie- 
rigkeit, die  aus  Verschiedenheit  der  Henunungsgrade 
entstehen  kann,  nicht  in  Betracht  kommt.  Nur  einen 
Pimct  müssen  wir  erwähnen. 

IMan  könnte  nämlich  aus  dem  Vorstehenden  den  un- 
richtigen Schluss  ziehen,  bey  drey  Vorstellungen  gäbe 
es  drey  Paare,  folglich  für  jedes  Paar  eine  Hemmungs- 
sunnne,  die  sich  solchergestalt  aus  drey  Grössen  zu- 
sammensetzen würde.  Wenn  z.  B.  m  z=:  1 ,  und  für 
drey  Vorstellungen  a,  b,  c  (wovon  a  die  stärkste,  c  die 
schwächste)  die  H.  S.  zu  suchen  wäre:  so  hätte  man 
in  dem  Paare  ab ,  die  H.  S.  rrr  b ;  in  ac  wäre  sie  c ,  in 
bc  nochmals  c;    mithin  zusammen  b -|- 2c. 

Allein  in  dem  Paare  ab  —  wiewohl  wir  von  dem 
Henunungs-Verhältuiss  noch  nichts  Bestimmtes  erwähn- 
ten ,  wirtl  doch  gewiss  nicht  a  den  grössten  Theil  der 
Hemmung  erleiden,  sondern  mehr  als  die  halbe  Hem- 
mungssumme wird  auf  das  schwächere  b  fallen.  Des- 
gleichen in  dem  Paare  ac  mehr  als  die  halbe  Hemmungs- 
simime  wird  auf  c  fallen.     Also  auf  b  und  c  zusammen 

2c 
mehr  als  4  (b  -j-  c)  ,  mithin  mehr  als  —  zz:  c.     Daher  ist 

die  Hemmungssunune,  welche  in  dem  Paare  bc  anzu- 
nehmen wäre,  schon  überstiegen;  wie  könnte  man  denn 
dieses  Paar  noch  von  neuem  in  Rechnung  nehmen? 
Die  Hemmungssimime  ist  demnach  b  -{-  c. 

Was  nun  ferner  das  Hemmungs  - Verhältuiss  anlangt, 
so  ist  der  einfachste  Gedanke,  der  sich  sogleich  dai'- 
bietet,  dieser:  Nachgeben -Müssen  ist  Schwäche;  das 
Gegeutheil  ist  Stärke.      Je  mehr  Stäi'ke,    desto  geringer 

*)   Psychologie   §.  52. 


21 

die  Nolhwendigkelt,  nach/Aigeben.  Also  Nvenn  die  Ilem- 
muugssumnie ,  die  ^vir  durch  den  allgemeineu  Begriff 
der  Nollnveiidigkeit  des  Sinkens  dachten,  jetzt  auf  jede 
eiuzehie  Yox-stelking  bezogen  wird :  so  entsteht  —  zwar 
nicht  Vertheikuig  einer  wirklichen  Last,  —  aber  eine 
solche  Determination  jenes  allgenWuen  Begriffs,  dass  es 
für  die  schwächeren  Vorstellungen  nothwendiger  sey  zu 
sinken  (d.  h.  an  Klarheit  zu  verlieren),  als  für  die 
stärkeren.  Auf  den  Comparativ:  nothwendiger, 
kommt  es  hier  an;  denn  der  Positivus:  noth wendig, 
liegt  schon  in  der  Hemmungssumme.  Die  Stärke  hat 
Widerstand  zur  Folge  gegen  die  Veränderung  des  Zu- 
standes  jeder  Vorstellung;  die  stärksten  Vorstellungen 
erleiden  die  geringste  Veränderung,  und  zwar  einfach 
in  Folge  der  Stärke.     Das  heisst,    sie  erleiden  die  Vei'- 

dunkeluug    im    umgekehrten    Verhältniss    ihrer    Stärke. 

1       11 

Daher    a,  b,  c    in    den    Verhältnissen    — ,    — ,    —    oder 

a        b         c 

bc,  ac,  ab;  imd  weil  die  Hemmungssumme  ein  Quan- 
tum ist,  welches  den  sänimtlichen  einzelnen  Verdunke- 
lungen gleich  kommen  muss,  so  wird  die  Vertheilungs- 
rechnuug  nötliig,    welche  so  steht: 

'bc  bc  (b  +  c) 

bc  -^  ac  -|~  ab 

(bo  +  ac  +  ab):    jac    =(b  +  c):     ^^ 

[ab  ,  ab(b  +  c) 

bc  -J-  ac  -}"  ab« 
Daran  knüpfen  wir  sogleich  eine  leichte  Bemerkung. 

INlan   multiplicire  a  mit   dem   was   von   ihm   soll   ge- 
hemmt werden;  desgleichen  b ;   endliche.    ]Man  bekommt 
a.bc(b-{-c)  b.ac(b  +  c)  c.ab(b  +  c) 


bc  -f-  ac  -|-  ab         bc  -j-  ac  -|-  ab        bc  -}-  ae  +  ab. 


22 

Diese  Grossen  slud  'srinimtlicli  gleich.  Auf  ähnliche 
Weise  kann  man  schon  für  zwey  Vorstellungen  gleiche 
Producte  erhalten ,  wenn  jede  Vorstellung ,  sofern  sie 
durch  eine  Zahl  als  Bezeichnung  ihrer  verhältnissmassi- 
gen  Stärke  ausgedrückt  ist,  multiplicirt  wird  in  das 
Quantum  Hemmung, -♦•was  sie  zu  erleiden  hat.  Der 
Sinn  hievon  ist  nicht  schwer  zu  finden.  Nach  der  Hem- 
mung sind  die  Vorstellungen  im  Gleichgewichte.  Die 
allgemeine  Nothwendigkeit  des  Sinkens  war  für  alle 
gleich;  diese  Gleichheit  zeigt  sich  eben  so  wohl  in  dem 
geringeren  Nachgeben  der  stärkeren,  als  in  dem  grossem 
der  schwächern.  Betrachtet  man  die  Hemmung  als 
Spannung,  d.  h.  als  einen  Grad  des  Zurückstrebeus  in 
die  ursprüngliche  Klarheit,  so  ist  die  Wirksamkeit  der 
zurückstrebenden  Vorstellung  theils  abhängig  von  der 
ursprünglichen  Stärke,  theils  von  der  Spannung;  wenn 
nun  jede  Vorstellung  gleich  stark  wirkt  gegen  die  an- 
dern ,  vun  ihnen  die  allgemeine  Nothwendigkeit  des 
Sinkens  aufzuerlegen;  so  ist  Ruhe  mitten  in  der  Span- 
nung. "Weitere  Aufkläruug  hierüber  hängt  ab  vom  Be- 
griffe der  Spannung.  Zuvörderst  aber  können  wir  die- 
jenige Formel  erreichen,  auf  welche  im  Folgenden  am 
ijieisten  ankommt.   Es  ist  diejenige,  welche  entsteht,  wenn 

ab  (b  +  c) 

c  —  

bc  -j-  ac  -j-  ab 

Gesetzt  wird.      Daraus  ersieht  sich 


=b/^; 


a  -j-  b 

Wir  haben  diese  Formel  mit  dem  Namen  der 
S  c  h  w  e  1 1  e  n  f  o  r  m  c  1  bezeichnet.  Wäre  die  schwächste 
der  drey  Vorstellungen  genau  in  dem  Verhältniss  zu 
beyden  stärkern,   wie  die  Formel  anzeigt,   so  wäre  das 


23 

Gehemmte  gerade  so  gross  wie  die  Vorstellung  selbst ; 
sie  würde  ganz  "gehemmt,  doch  so,  dass  der  mindesle 
Zusalz  ihr  die  Kraft  geben  würde,  nocli  eine  Spur  von 
Klarheit  neben  den  stärkern  Vorstellungen  zu  behalten, 
also  gleichsam  sich  auf  der  Schwelle  des  Bewusstseyns 
zu  behaupten. 

Die  Bemerkung,    dass  für  ar=b  sich  ergiebt 
cr^bv^i-, 
wird  im  Folgenden  oft  gebraucht  werden. 

Gegen  die  obige  vorläufige  Darstellung  vom  Gleich- 
gewichte der  Vorstellungen  wird  man  vielleicht  ein- 
^venden,  sie  passe  nicht  auf  mehr  als  zwey  Vorstellun- 
gen in  den  Fällen,  wo  ungleiche  Hemmungsgrade  vor- 
kommen *).  Die  Quanta  der  Hemmung  erscheinen  näm- 
lich dort  vuiter  der  Form: 

für  a,  für  b,  für  c, 

bcfS  acTjS  abi>S 

Lcf  -|-  ac;;  -\-  ahO-       bc«  -\-  ac;y  -j-  ahO-       hci  -\-  aciy  -}"  ^'^"^ 

IMultiplicirt  man  diese  Grössen  nach  der  Reihe  mit 
a,  b,  c,  so  fallen  die  Producte  ungleich  aus,  weil  die 
Factoren  f,  i-,  d,  ungleich  sind.  Allein  diese  lucon- 
gruenz  ist  blosser  Schein. 

Zwischen  a  und  b  sey  der  Hemmungsgrad  p,  zwi- 
schen a  und  c  sey  derselbe  n,  zwischen  b  und  c  S3y 
er  m;  wo  p,  n,  m,  ächte  Brüche  oder  höchstens  zu  1 
sind.  Alsdann  bedeutet  in  den  obigen  Formeln  allemal 
£  ~  p  -j-  n ,  i]^i^-\-m,  1?  =  m  -{-  n.  Diese  Werthe 
setze  man  in  die  Formeln,  und  überlege  zugleich,  dass 
dadurch  das  Gehemmte  von  a,  b,  c,  jedesmal  in  zwey 
Theile  zerfällt,  und  dass  es  darauf  ankommt  zu  sehen, 
ob  a  mit  b,  a  mit  c,  b  mit  a,  b  mit  c,   c  mit  a,   c  mit  b, 

*)    Psychologie    §.  54. 


24 

also  saimnlliclie  Paai'e  unter  sich  im  Gleichgewichte  seyen. 
Nach  geschehener  Blultipllcatioii  der  Hemniungsgrössen 
mit  a,  b,  c,  erglebt  sich,  weuu  wir  den  überall  gleichen 
Divisor  weglassen : 

für  a  für  b  für  c 

1)  a .  bcSp  3)  b  .  acSp         5)   c .  abSm 

2)  a .  bcSu         4)   b  .  acSm         6)   c .  abSn 

wo  1  mit  3,  2  mit  C,  und  4  mit  5  im  Gleichgewicht, 
und  hiemit  Pvuhe  vorhanden  ist. 

Dies  wirft  ein  Licht  zurück  auf  die  obige  Reclmung 
für  den  überall  gleichen  Hemmungsgrad  mml.  Denn 
dort  auch  muss  eigentlich  a  sowohl  mit  b  als  mit  c, 
desgleichen  b  mit  a  ,imd  mit  c,  und  c  mit  a  sowohl  als 
mit   b    ins   Gleichgewicht    treten.      Ist    m  iz:  n  zu  p  =r  1, 

-,    1-    r^   ..  2bcS 

so  wird  £  rz:  ?;  i^  ^  =  2 ;  und  die  (jrossen  - — ■ 

'  '  2bc -J- 2ac  +  ^ab 

U.S.W,  verlieren  bloss  den  Factor  2,  weil  er  im  Neuner 
und  Zähler  gleich  ist.  Dagegen  wenn  m,  n,  p,  ungleich 
sind,  bestimmt  jeder  von  diesen  Hemmungsgraden  in 
einem  Paare   die  Hemmung. 

Es  bleibt  jetzt  noch  übrig,  dass  M'ir  den  Begriff  der 
Spannung  genauer  bestimmen.  Er  drückt  das  Verhält- 
niss  aus,  welches  zwischen  der  ganzen  Vorstellung,  in 
Hinsicht  ihrer  ursprünglichen  Stärke,  und  ihrcju  Ge- 
hemmten statt  findet.  ]Man  kann  von  einer  Vorstellung 
rz  10,  wenn  ein  Q)uantum  derselben  zzz5  gehemmt  wor- 
den, sagen,  sie  sey  eben  so  gespannt,  wie  eine  andre 
r=  6 ,  wenn  von  derselben  das  Quantum  zzz  3  gehemmt 
ist.      Heisst    das    Gehemmte,    oder    j^ie    Depression,    D, 

die  Vorstellung  A,  so  ist  die  Spannung  r=:  — .     Wendet 

A. 

mau  dies  an  auf  das  Hemmungsverhältniss  dreyer  Vor- 


25 

stellimgen  a,  b,  c,    also  auf  tlic  Vcrliäluüsszalileu 

hcs ,     ac>;,     abi9', 
so  ist  das  Verhälluiss   der  Spaunuugen 

l)Cf       ac/;       al)i9- 

>     —r-  » 

a  I)  c 

oder  h'^c'^6,     a^c^;;,      a^b-ö , 

so  dass,  wenn  g -rr  7;  zz  i9- ,  alsdann  die  Spannungen  dem 
(Quadrate  der  Verliällnisszahleu  gemäss  bestimmt  wer- 
den. Der  Begriff  der  Spannung  ist  nun  ein  ganz  ab- 
stracter  Begriff  von  dem  Zustande,  worin  eine  Vor- 
stellung sich  befinde,  indem  sie  mehr  oder  weniger  ge- 
hemmt, also  von  der  ursprünglichen  Klarheit  abgewichen, 
und  in  Verdunkelung  gerathen  ist.  Das  Quantum  des 
Gehemmten  sowohl  als  das  Quantum  des  ursprünglich 
klaren  Vorstellens  ist  hier  durch  die  Abstractiou  bey 
Seite  gesetzt.  AVill  man  den  abstracten  Begriff  durch 
Determination  zu  demjenigen  zurückführen,  welcher  die 
ATirksamkeit  jeder  Vorstellung  im  Gleichgew^ichte  mit 
andern  bestimmen  soll :  so  gehören  dazu  zwey  Schritte, 
und  man  kann  sich  dieselben  in  folgender  Art  deutlich 
machen.  Erstlich  ist  die  angegebene  Spannung  in  jedem 
beliebigen  Theile  der  von  der  Hemmung  betroffenen 
Vorstellung  zu  finden ;  und  die  Energie ,  welche  aus 
der  Spannung  hervorgeht,  ist  grösser  oder  kleiner,  wenn 
bey  gleicher  Spannung  die  Vorstellung  selbst  grösser 
oder  kleiner  ist.  ]\Ian  multiplicire  also  die  zuletzt  an- 
gegebenen Verhältnisszahlen ,  welche  der  Spannung  gel- 
ten, durch  die  Stärke  der  Vorstellungen  selbst;  so  kommt 
ab2c2£ ,  ba2c2j; ,  ca2b2^. 
Jetzt  ist  weiter  zu  überlegen,  dass  diese  gefundeneu 
Energie- Verhältnisse,  (welche  den  Hemmungsverhält- 
nissen  bc£,  ac?;,  abi9^,    gleich   sind,  weil  man  durch  abc 


26 

divldiren  kann ,)  noch  mit  demjenigen  müssen  verglichen 
■vs^ertlen,  was  jede  Energie  zu  bewirken  hat,  und  worauf 
sie  deshalb  verwendet  ward.  Bey  der  schwächsten  Vor- 
stellung ist  zwar  die  Energie,  worin  sie  duixh  stärkere 
Spannung  versetzt  ist,  am  grössteu;  dagegen  ist  desto 
mehr  vou  ihr  gehemmt  worden ,  und  die  Wirksamkeit 
der  Energie  fällt  desto  geringer  aus,  je  mehr  da- 
durch zu  vollbringen  ist.  Umgekehrt  verhält  sichs  bey 
den  starkem  Vorstellungen.  W^as  zu  vollbringen  ist, 
das  bcslimiut  sich  nach  dem  Quantum  des  Gehemmten; 
denn  dies  soll  wo  möglich  wieder  in  die  Klarheit  zu- 
rückversetzt werden.  Um  also  aus  den  Energiecn  die 
"Wirksamkeiten  zu  finden,  mulliplicire  mau  die  Energie- 
Verhältnisse  mit  den  umgekehrten  Verhältnissen  des 
Gehemmten.      IMan  hat  demnach 

ab^c«*       ba^c^iy       ca^b^Ö- 
bcf  ac;/  ab«9- 

oder  abc,        bac,        cab, 

das  heisst,  die  Wirksamkeiten  sind  gleich;  oder  das 
Gleichgewicht  ist  vorhanden,  während  die  Spannungen 
von  dem  umgekehrten  Verhältniss  der  Quadrate  der 
ursprünglichen  Stärke   abhängen. 

Es  war  demnach  nicht  einmal  nöthig,  die  Factoren 
€,  r,  &,  in  ihre  Bestandtheile  aufzulösen;  jedoch  war 
es  dienlich,  um  das  Gleichgewicht  in  sämmtlichen  Paaren 
nachzuweisen.  Sind  die  Hemmungsgrade  gleich,  so  kann 
mau,  statt  mit  bc,  ac,  ab  zu  dividiren,  auch  mit  a,  b,  c 
muUipliciren.  Dies  dient  zur  Vergleichuug  mit  dem 
Obigen. 

Hiemit  wird  die  Irrung  vermieden  seyn,  welche  aus 
einem  minder  behutsamen  Gebrauche  des  Worts  Span- 
nung   in    dem    grössern    Werke,     vielleicht    dann    ent- 


27. 

stehen    kÖnnle ,    Nvenn    man    den  Z\i?aninienliang   ausser 
Acht   Hesse  '''"). 

Die  Liei'  entwickcllen  Begriffe  sind  allgemein; 
imd  man  mag  sie  in  ihrer  Allgemeinheit  prüfen,  nm 
sich  zu  überzeugen,  dass  dabey  auf  keine  specielle  An- 
wendung gerechnet  wird;  während  alle  Proben,  wox'iu 
sie  sich  bewähren  sollen,    nur  speciell  seyn  können. 

Nur  Weniges  ist  noch  bej  zufügen  in  Ansehung  des 
zweyten  der  hier  folgenden  Aufsätze.  Weniges  kann 
genügen ,  weil  die  Wichtigkeit  der  Untersuchung  über 
das  Vorstellen  des  Zeitlichen  für  die  gesammte  Philo- 
sophie ,  allgemein  bekannt  vind  anerkannt  ist.  W  ir 
erinnern  kurz  an  Kant.  Bey  ihm  hing  die  Religions- 
lehre an  der  Freyheitslehre;  die  Freyheit  aber,  als  ein 
Glaubens -Artikel  (nicht  als  ein  Gegenstand  des  eigent- 
lichen Wissens,  denn  das  sollte  sie  nach  ihm  überall 
nicht  seyn,)  hing  am  kategorischen  Imperative.  Wie 
war  denn  diese  Verbindung  beschaffen':'  Das  kategori- 
sche Sollen  trat  in  deu  schärfsten  Gegensatz  gegen  alles 
I>lüssen;  dem  IMüssen  aber,  das  heisst,  der  ISaturnoth- 
wendigkeit,  wurde  die  gesammte  Zeitlichkeit  zuge\^ie- 
sen.  In  die  Zeit  fiel  die  Causalität,  soweit  Causal- 
\  erhältnisse  Gegenstände  der  Erkenntniss  seyn  möchten. 
Um  der  imbegreiiliclien  Causalität,  welche  daneben  der 
Freyheit  eingeräumt  bleiben  sollte ,  Respecl  zu  ver- 
schailen ,  musste  ihr  Zeitlosigkeit  bejgelegt  werden. 
Dies  stand  in  der  genauesten  Verbindung  mit  der  Kanti- 
schen Lehre  von  der  Zeit  als  einer  reinen  Anschauung, 

*)  Psychologie  §.  58.  weiset  zurück  auf  §.  43. ,  und  liieniit  auf 
den  Satz:  die  Vorstellung  wirkt  in  dem  Verhältniss,  in 
welchem  sie  leidet. 


28 

welche,  mau  weiss  nicht  warum?  und  wie?  niui  ein- 
mal dem  menschlichen  Geiste  inwohnen  sollte. 

Was  wir  gegen  diese  Lehre  (sowohl  in  der  Psycho- 
logie als  in  der  JNIetaphysik)  schon  laugst  vorgetragen 
haben ,  bedarf  für  jetzt  keiner  Wiederholung  noch  wei- 
teren Ausführung.  Wir  lassen  auch  hierüber  die  That- 
sachen  reden;  Thatsachen,  die  man  hatte  genauer  un- 
tersuchen können,  wenn  auch  nur  der  mindeste  Gedanke 
an  Mechanik  des  Geistes  dazu  gekommen  wäre.  Scheut 
man  sich  freylich  vor  diesem  Gedanken,  so  unterlässt 
man  die  Untersuchung;    aber  die  Thatsachen  bleiben. 

Dass  eine  solche  Untersuchung  an  die,  in  der  Zeit 
fortlaufende,  Evolution  luiserer  Vorstellungsreihen  erin- 
nert ,  liegt  vor  Augen ;  und  die  Wichtigkeit  der  Reihen- 
bildung wird  immer  mehr  erkannt  werden,  je  tiefer 
mau  in  die  Psychologie  eindringt. 

Auf  der  Pieihenbildung,  und  der  davon  abhängenden 
reihenförmigen  Reproductiou,  beruht  auch,  wie  am  ge- 
hörigen Orte  gezeigt,  die  Auffassung  des  Fiäumlicheu. 
Hiemit  sind  Hemmungen  wegen  der  Gestalt 
verbunden ;  deren  Untersuchung  durchaus  verschieden 
seyn  muss  von  jener  Bestimmung  der  Hemmuugssiunme 
und  des  Hemmuugs- Verhältnisses  in  Ansehung  derjeni- 
gen Wahrnehmungen,  welche  in  unmittelbarer  Empfin- 
dung bestehn.  Wer  nur  im  mindesten  geübt  ist,  Form 
und  INIaterie  der  Erfahrung  zu  unterscheiden,  der  sollte 
dies  wissen ;  allein  es  scheint  dennoch  nöthig  daran  zu 
erinnern.  Denn  der  Hauptgi'und,  weshalb  die  obigen 
Lehren  von  der  Henunungs- Summe  und  dem  Heminungs- 
Verhältniss  so  wenig  sind  begriffen  worden,  liegt  allem 
Anschein  nach  darin,  dass  man  versuchte,  sie  anzubrin- 
gen  wo    sie    nicht    passen.      Die    Henummg   wegen    der 


29 

Gcslalt  dringt  sich  jeden  Augenblick  als  Thatsaclic  auf; 
wer  nur  nieinl ,  diese  Tlialsache  habe  umniltelbai' 
durch  jene  Principien  erklärt  ^verden  sollen,  der  ^ven- 
dct  die  Principien  falsch  an ,  und  es  kann  nicht  fehleuj 
dass  er  in  Verwirrung  gerathe.  Lediglich  um  solcher 
Verwirrung  zu  steuern ,  ^vollen  wir  hier  einige  Satze 
nackt  hinstellen ,  die  man  leugnen  mag  wenn  man  kann ; 
ihren  Dienst  werden  sie  leisten,  wenn  sie  begr^eillich 
machen,  dass  Hemmung  wegen  der  Gestalt  etwas  an- 
deres seyn  müsse,  als  Hemmung  imter  einfachen  Em- 
pfindungen. 

Ein  Puuct,  auf  einer  gleichfai'bigen  Ebene  gesehen, 
zieht  den  Blick  you  allen  Seiten  zu  sich  hin,  und  ent- 
lässt  ihn  nach  allen  Seiten. 

Zwey  Punkte,  auf  einer  gleichfarbigen  Ebene  gesehen, 
ziehen  den  Blick  gegen  ihren  IMittelpunct  hin. 

Eine  gerade  Linie  lenkt  den  Blick  von  einem  Puncte 
zum  andei'n ,  und  nach  beyden  Seiten  über  die  End- 
puncte  hinaus  zu  einer  unbestinnnlen  Verlängerung  der 
Linie. 

Ein  W^inkel  lenkt  den  Blick  zwischen  seine  Schenkel, 
gegen  den  Winkelpunct  hin,  und  von  da  zurück  unbe- 
stimmt in  den  Sector  hinaus,  welcher  dem  ATinkel  zu- 
gehört. 

Drey  Puncte  in  einer  Ebene  können  gleichmässig 
nur  von  dem  JMittelpuncte  des  Kreises  aus  gesehen  wer- 
den, in  dessen  Peripherie  sie  liegen.  Nun  entstehen 
grosse  Unterschiede ,  wenn  dieser  jMittelpunct  in  der 
Fläche  des  Dreyecks ,  oder  ausserhalb  derselben  liegt. 
Beym  gleichseitigen  Dreyeck  findet  das  Auge  ihn  leicht; 
beym  spitzigen  gleichscheuklichten  Dreyeck  sucht  es  ihn 
auf  der  JMittellinie ,  wird  aber  bald  gegen  die  Mitte  der 


30 

Gruiidlinie ,  bald  gegen  die  Spitze  liingeleukt ;  bc)  m 
slumpfen  gleichschenklichlen  Dreyeck  gelaugt  es  kaum 
über  die ,  dem  Dreyecke  zugehörige  Fläche  hinaus ; 
beym  ungleichseitigen  Dreyecke,  besondei's  wenn  darin 
ein  stumpfer  \Yinkel  yotkommt,  gerath  es  vollends  in 
ein  ungewisses  Schwanken.  Derjenige  Punct,  von  wel- 
chem die  Entfernungen  der  gegebenen  drey  Puncte  zu- 
sammengenommen ,  ein  IMinimum  ausmachen  würden, 
sollte  eigentlich  das  Gesichtsfeld,  als  Mittelpunct  des- 
selben ,  bestimmen ;  allein  wenn  auch  der  Blick  sich 
auf  diesen  Punct  heftete,  so  würde  doch  immer  der 
entfernteste  Punct  des  Dreyecks  schwächer  gesehen  \^er- 
deu ,  als  die  beyden  näher  liegenden ,  die  das  Auge 
mehr  für  sich  gewinnen,  und  es  gegen  den  INlittelpunct 
ihrer  Distanz  hinziehn.  Sobald  dies  geschieht,  geht  die 
Auffassung  der  Gestalt  fühlbar  vei-loren;  der  entfernteste 
Punct  wird  wieder  gesucht ;  aber  die  ganze  Auffassung 
pflegt  eher  abzubrechen ,  bevor  jenes  Hin  -  und  Her- 
schw^anken  völlig  zur  Ruhe  .gekommen  ist. 

Wir  wollen  nun  nicht  etwa  noch  bis  zu  uuregel- 
mässigen  Vierecken  und  Fünfecken  fortschreiten ,  deren 
Auffassung  noch  schwieriger,  und  mit  grösserer  Unruhe 
verbunden  ist,  weil  sich  der  ]Mittelpimct  desjenigen  Ge- 
sichtsfeldes, welches  dem  Zusanunenfassen  zinn  gleich- 
massigen  Sehen  am  günstigsten  wäre,  noch  scluverer 
möchte  bestimmen  lassen;  und  weil  selbst,  wenn  er 
gefunden  wäre,  doch  immer  noch  an  der  Gleichniässig- 
keit  etwas  mangeln  vnirde. 

Regelmässige  Polygone,  je  mehr  Seiten  sie  haben, 
werden  um  desto  leichter  gefasst,  weil  sie  sich  dem 
Kreise  nähern,  und  hiemit  den  Blick  in  dessen  IVIittel- 
punct  lenken.      Daraus   ersieht   man   sogleich,    dass   die 


Vorstellung  eines  regelmässigen  Hundertecks  und  eines 
regelmässigen  Tausendecks  sich  fast  gar  nicht  hemmen, 
weil  bcyde  in  der  Vorstellung  des  Kreises  bcynahe 
zusammenfallen  •,  während  Quadrat  und  gleichseitiges 
Drcyeck  einander  noch  stark  entgegengesetzt  sind,  ob- 
gleich bey  weitem  nicht  so  sehr,  als  die  Voi'stellungen 
solcher  ungleichseitigen  Dreyeckc,  deren  Winkel  sehr 
verschieden  sind. 

"Wie  nun ,  wenn  Jemand  ims  zwey  ungleichseitige 
Dreyecke  vorlegte,  mit  der  Zumuthung,  hier  die  Hem- 
mungssumme und  das  Henimungsverhältniss  zu  bestim- 
men ?  Wie  vollends ,  wenn  man  eine  solche  Aufgabe  in 
Bezug  auf  zwey  verschiedene  Gesichts -Bildimgen,  oder 
nur  in  Bezug  auf  die  Mienen  stellte,  in  welche  ein  vnid 
dasselbe  Gesicht  kann  verzogen  werden? 

Fragen  aufwerfen,  imi  Zweifel  zu  erregen,  ist  leicht. 
Wer  aber  Fragen  zu  beautAvorten  wünscht,  muss  zu- 
erst Ordnvmg  in  die  Fragen  bringen. 

Wer  noch  an  dem  Vorurtheil  hängt,  das  Räumliche 
sey  simultan,  folglich  auch  die  Vorstellung  des 
Räiunlicheu  ohne  Succession ,  der  enthalte  sich  aller 
Fragen  an  die  Psychologie  in  Bezug  auf  das  Räumliche. 
Die  Rcintische  JNIeinung  von  den  sogenannten  reinen 
Anschauungen  a  priori,  als  den  Schätzen,  worin  alle 
räumlichen  und  zeitlichen  Constructionen  enthalten  wä- 
ren, so  dass  man  sie  nach  Belieben  herausgreifen  könne, 
hatten  alle  Untersuchung  dieser  Gegenstände  erdrückt ; 
aus  dieser  Befangenheit  musste  man  zuerst  herausgehn. 
Dann  aber  folgte  die  Ueberlcgung,  dass  die  Nachfor- 
schung in  Ansehung  des  Zeitlichen  wenigstens  einfacher 
ist,  als  die  des  Räumlichen  mit  seinen  drey  Dimensio- 
nen;  und  dass  selbst  die  des  Zeitlichen  nicht  eher  mög- 


lieh  ist,  als  bis  man  die  Reprotluctioiis- Gesetze  kennt, 
nach  welchen  dei'  Gedankenlauf  sich  zeitlich  entwickelt 
luid   gestaltet. 

Fragt  z.  B.  Jemand ,  welche  Hemnuing  statt  finde 
zwischen  einem  Hexameter  mid  einem  Pentameter?  so 
bietet  sich  leicht  die  Antwort  dar:  der  Pentameter  lässt 
in  der  Mitte  und  am  Ende  eine  Sylbe  Yermisseu,  welche 
der  Hexameter  besitzt.  Aber  woher  das  Vermissen  ? 
Das  setzt  eine  versuchte  Reproduction  voraus;  und  um 
dies. zu  verstehen,  muss  man  erst  Untersuchungen  über 
die  Auffassung  der  Rhythmen  angestellt  haben,  zu  wel- 
chen wieder  die  Untersuchung  über  das  Zeitmaass  den 
yVeg  bahnen  muss. 

Wäre  die  Rede  von  der  Abschätzung  räumlicher 
Grössen  durchs  Augenmaass,  also,  um  beym  Einfachsten 
stehen  zu  bleiben,  davon,  wie  man  es  anfange,'  die 
Distanz  zweyer  Puncte  so  aufzufassen,  dass  man  den 
dritten  Punct  finden  könne ,  welcher  vom  zweyten  eben 
so  weit  abstehn  solle,  als  der  zweyte  vom  ersten:  so 
kämen  drey  Umstände  in  Frage.  Erstlich :  die  Ver- 
schmelzung unter  den  Vorstellungen  des  ersten  und 
zweyten  Punctes;  denn  diese  Verschmelzung  wird  ge- 
ringer, wenn  der  Zwischenraum  grösser  ist.  Zweytens 
das  Einschieben  des  Umgebungsraums,  den  Avir  zu  jedem 
sichtbaren  Gegenstande,  vermöge  der  unbestimmten  Re- 
production früherer  Raum- Vorstellungen,  hinzudenken. 
Drittens  diejenige  Reproduction  des  ersten  Puncts,  durch 
welche  wir  denselben  in  Gedanken  an  die  Stelle  des 
zweyten  setzen,  lun  von  da  aus  noch  einmal  die  näm- 
liche Distanz  zu  wiederholen;  auf  ähnliche  Weise,  wie 
wenn  man  einen  Maassstab,  anstatt  ihn  unizuschlagen, 
vielmehr    soweit   fortrückt,    als   seine   ganze    Lange   be- 


33 

tragt.  Alle  ilrey  Umstände  können  beym  Augenmaasse 
zusammen  \virken.  jMan  bemerkt  leicht,  dass  es  für 
jeilen  derselben  eine  Analogie  beym  Zeitmaasse  giebt. 
Daher  mag  luan  Vergleichuugen  zwischen  Augenmaass 
inid  Zeilmaass  anstellen;  nur  ist  nicht  zu  vergessen, 
wie  viel  schwieriger  die  Betrachtung  des  Zeitmaasses 
werden  muss ,  weil  für  das  yVuge  zwar  die  gegebene 
Kaum -Distanz  stehen  bleibt,  und  der  Beobachtung  im- 
mer zugänglich  ist,  hingegen  das^  Zeitmaass  verloren 
geht,  wenn  es  einmal  verfehlt  war  inid  nicht  von  neuem 
gegeben  wird. 

Dass  aber  das  Zeitmaass  sich  festhalten  lasst,  zwar 
nicht  mit  mathematischer  Genauigkeit,  jedoch  zu  man- 
nigfaltigem Gebrauche  hinreichend,  ist  Thatsache.  ISun 
liegt  jedes  Maass  zwischen  zwey  Grunzen,  und  bedarf 
sowohl  der  einen,  als  der  andern,  um  vestgehalten  zu 
werden.  Also  kann  das  Zeitmaass  nicht  eher  gegeben 
seyn,  als  bis  der  zweyte  Einschnitt  in  die  Zeit  zum 
ei'sten  hinzukommt;  und  es  wäre  schon  verloren  noch 
ehe  es  gegeben  ist,  wenn  der  erste  Einschnitt  nicht 
vestgehalten  wäre,  indem  der  zweyte  dazu   trit. 

Das  blosse  Vesthalten  aber  würde  auch  nichts  hel- 
fen. Bliebe  eine  durchs  Wahrnehmen  gewonnene  Vor- 
stellung unverändert  im  Bewusstseyn,  so  würde  sich 
dieselbe  durch  W  iederhohlung  bloss  verdoppeln,  ver- 
dreyfachen,  überhaupt  verstärken.  Also  muss  die  Vor- 
stellung, durch  welche  der  erste  Einschnitt  in  die  Zeil 
gegeben ,  uml  der  erste  Zeitpunct  vestgestellt  wird, 
sich  während  der  von  nun  an  verlaufenden  Zeit  irgend- 
wie verändern.  Diese  Veränderung  muss  nahe  der  Zeit 
selbst  proportional  seyn,  weil  sich  das  Zeitmaass  inner- 
lialb    solcher   Gränzen ,    die    sich    nicht    genau    angeben 

C 


34 

lassen,  beliebig  vestslellen  liisst.  Es  gle])t  nämlich  Zelt- 
absclinilte,  die  zu  nahe,  andere,  die  zu  fern  slehn,  als 
dass  ihre  Distanz  sich  unmittelbar  schätzen,  vollends 
sich  zur  Auffassung  des  Tacts  gebrauchen  Hesse;  es 
glebt  aber  z^Yischen  Beydem  noch  eine  ziemlich  ^Yeit 
offene  Möglichkeit  schnellern  und  langsamem  Tactes, 
•worin  die  Zeit  so  abgemessen  wird ,  wie  man  ihr  Blaass 
willkiihrlich  bestlnunt  halte. 

Welche  Veränderung  ist  es  mm,  die,  proportional 
der  Zeit,  mit  der  Vorstellung  des  ersten  Tactzeichens, 
■während  des  ersten  Zeit-Thcils,  vor  sich  geht;  derge- 
stalt, dass  die  Grösse  dieser  Veränderung  zum  IMaassc 
■wird,  dessen  Gleichheit  sich  wieder  erkennen  lässt, 
■wenn  zum  zweyteu  Tactzeicheu  das  dritte,  zum  dritten 
das  \ierte,  und  so  ferner,  hinzukommt?  —  Wenn  der 
Arzt  den  Puls  fühlt,  so  sind  die  Pulssclilage  die  Tact- 
zeicheu. Wie  ■weiss  nun  der  Arzt,  ob  der  Puls  gleich- 
massig  geht  oder  nicht?  Sein  Vorstellen  dessen,  was 
er  fühlt,  muss  während  der  Zwischenzeiten  beharren, 
aber  auch  sich  verändern ;  die  Veränderung  muss  be- 
stimmt seyn  durch  den  langsamem  oder  schnellem  Puls; 
luid  die  Gleichheit  der  Veränderungen  muss  ihm  be- 
merklich seyn,  mit  hinreichender  Genauigkeit,  damit 
er  den  Zustand  des  Kranken  darnach  beurtheile.  Wel- 
ches sind  diese  Veränderungen?     Das  ist   die  Frage. 

IMan  kann  an  qualitative  oder  an  quantitative  Ver- 
änderungen denken.  Eine  qrialltalive  Veränderung  er- 
eignet sich  bey  solchen  Vorstellungen,  die  an  Schärfe 
der  Bestimmtheit  verlieren.  ]Man  hat  etwa  eine  Per- 
son im  blauen  Kleide  gesehn ;  sollte  man  aber  dean 
Kaufmann,  der  viele  blaue  Tuchproben  vorzeigt,  ange- 
ben, welches  Blau?  so  würde  mau  schwanken  zwischen 


35 

mehrern  Nuancen.  INIan  Aveiss  clwa,  dass  eine  eben 
gehörte  Musik  in  C  dur  gesetzt  ist ;  brächte  aber  nun 
Jemand  meln-erc  Slimmgabehi  lierbey,  und  man  sollte 
sagen,  nach  welcher  von  diesen  Stinnngabeln  die  Instru- 
mente gestinnnt  waren,  so  bemerkt  man,  dass  die  Vor- 
slellungen,  die  man  aufbehalten  hat,  nicht  so  vest  be- 
stimmt sind,   um  hierüber   zu   entscheiden. 

Vielleicht  also  ist  jene  Veränderung  während  des 
Verlaufs  einer  kurzen  Zwischenzeit,  nach  welcher  beim 
Pulsschlage  gefragt  wurde,  auch  schon  ein  anfangendes 
tJbergehn  aus  Bestimmtheit  in  Unbestimmtheit;  und  die 
Erneuerung  der  Pulsschläge  ist  eine  Wiederkehr  zur 
vorigen  Bestimmtheit.  Die  Auffassung  des  Tacts  wäre 
dann  zum  Theil  eine  Art  von  Grad-lNIessung  solches 
Übergangs,  nämlich  wegen  der  Zeit,  welche  der  IJbex'- 
gang  verbraucht. 

]Man  wird  tiefer  unten  die  verworrenen  Neben -Vor- 
stellungen berücksichtigt  finden '''•),  durch  welche  die 
Tactzeichen  ihre  Bestimmtheit  verlieren  können.  Wir 
haben  geglaubt,  diesen  Umstand  von  der  Untersuchung 
nicht  ausschliessen  zu  dürfen;  jedoch  wir  sind  weit  ent- 
fernt, uns  auf  ihn  allein  zu  verlassen.  Nicht  sowohl 
deshalb,  weil  die  Unbestimmtheit  eben  unbestimmt  ist, 
denn  wenn  sie  in  den  nach  einander  folgenden  Zeit- 
Abschnitten  nur  gleich  bleibt,  so  kann  sie  auch  deren 
Gleichheit  fühlbar  machen.  Es  ist  nicht  einmal  nöthig, 
dass  sie  ganz  gleich  bleibe;  die  entferntem  Neben- 
vorstelluugen  können  durch  die  Hemmung  abgeschnitten 

*)  Dass  man  die  verworrenen  Vorstellungen  dessen ,  was  iiim 
Umfange  eines  Allgemein -Begriffs  gehört,  von  den  bloss  ver- 
dunkelten sorgfältig  unterscheiden  niuss,  haben  wir  längst  be- 
nierklich  gemacht.     Psychologie  §.  122. 


36 

werden,  •wälirend  die  nähern,  fast  gleichartigen,  sich 
mehr  emporheben;  im  Aufmerken  auf  den  Tact  liegt 
xil)erdies  ein  absichtliches  Abslrahiren  von  dem,  was 
nach  dem  Tacle  geschieht  oder  gethan  wird.  Es  ist 
auch  gewiss,  dass  der  Tact  wirklich  nicht  immer,  wo 
er  vorkommt,  auch  wahrgenommen  wird;  vielmehr 
wird  er  leicht  verloren,  luid  es  gehört  nicht  geringe 
tibung  dazu,  ihn  vestzuhallen ;  zunächst  aber  kommt 
nur  das  iu  Betracht,  was  der  Möglichkeit  einer  solchen 
IJbung  lU'sprünglich  zum  Grunde  liegt.  Endlich  darf 
mau  die  Frage,  ob  Jemandem  die  Zeit  lang  oder  kurz 
vorkomme,  hier  nicht  einmischen,  denn  was  lang  oder 
was  kurz  scheint,  kann  gleich  gefunden  werden;  auch 
hängen  die  Gränzen,  innerhalb  deren  im  Allgemeinen 
der  Tact  bemerkbar  ist,  nicht  von  subjectiven  Gemüths- 
Slimmungen   ab. 

Allein  es  giebt  eine  Klasse  von  Thatsachen,  die  uns 
erinnerten,  auf  jene  qualitative  Veränderung  des  Vor- 
stellens  nicht  zuviel  zu  rechnen.  Diese  Thatsachen  sind 
dem  Zeitmaasse  so  eigenthiimlich,  dass  schwerlich  beym 
Aulfassen  gleicher  Grössen  im  Räume  etwas  Ähnliches 
kann  nachgewiesen  werden.  Es  sind  die  Unterschiede 
der  guten  und  schlechten  Taclzeiten,  die  in  der  ]Me- 
trik  lind  INIusik  eine  so  wichtige  Rolle  spielen.  Diese 
aus  irgend  welchen  Einschiebungen  verworrener  Neben- 
vorstellungen  zu  erklären,  scheint  unmöglich.  Rlag  im- 
merhin das  Eingeschobene,  und  liiemit  der  Übergang 
aus  Bestimmtheit  in  Unbestimmtheit,  gleich  gross  seyn; 
vuid  mag  damit  das  Einschieben  eines  Voi'Stelleus  des 
Umgebungs- Raumes  zwischen  zwey  Raumpuncte  (etwa 
zwischen  zwey  Sterne,  während  man  den  nächtlichen 
llinunel  betrachtet,)   noch  so  genau  correspondiren :    so 


37 

Nverileii  doch  ilie  guleii  mul  scIiIclIiUmi  Taclzeileii  ini- 
gleidi  aufgefassl;  und  diese  Ungleiciiheit  bey  aller 
Glcicliheil  der  Zeildislanzen,  welche  gei'ade  dem  Zeil- 
liclien  seilest  beygelegt  wird,  und  keineswegs  elwan  ans 
andern,  fremden  Umständen  hergehohll  ist,  scheint  das 
Problem  in  solchem  Grade  zu  erscluveren,  dass  wir  von 
jedem  Versuch  der  Aullösung  hätten  abstehen  müssen, 
wären  uns  nicht  die  Principien  der  Mechanik  des  Gei- 
stes zu  Hülfe  gekommen. 

Auch  hier  aber  musste  erst  ein  Zweifel  überwun- 
den werden.  Es  konnte  nämlich  scheinen,  als  wäre 
das  Fortsetzen  einer  Zeilreihe  uacli  gegebenem  Zeit- 
maasse  bloss  ein  besonderer  Fall  der  Reproduction  ge- 
gebener Reihen  übei'haupt ;  auch  lässt  sich  nicht  leug- 
nen ,  dass  Verse  oder  Melodien ,  die  man  aus  dem  Ge- 
ilächlnisse  wiederhohlt,  zur  Evolution  der  Reihen  gehö- 
ren. Aber  nach  allem,  was  wir  von  dieser  Evolution 
erforscht  haben ,  geschieht  sie  durch  ein  continviirliches 
Heben  und  Sinken  der  Reihen -Glieder;  und  so  blieb 
in  Frage ,  woher  denn  die  bestinunten ,  plötzlichen  Ein- 
schnitte in  die  Zeit  kommen  sollen,  welche  man  durch 
Tactschläge  bezeichnet';'  Dieser  Umstand  wies  uns  end- 
lich dahin ,  das  Zusammenlrell'en  einer  sinkenden  und 
einer  steigenden  Vorstellung,  die,  in  wiefern  sie  in  Ge- 
meinschaft gerathen  sind,  auch  eine  gemeinschaftliche 
Bewegung  zu  macheu  hätten ,  genauer  zu  untersuchen. 
Bey  dieser  Gelegenheit  liat  sich  das  Resultat  herausge- 
stellt ,  dass  man  für  'die  psychologische  Rechnung  die 
Einheit  der  Zeit  mit  Wahrscheinlichkeit  auf  zwey 
bis  drey  Secunden  setzen  kann;  schwerlich  viel  kürzer 
und  gewiss  nicht  viel  längei\  Die  Frage  nach  den  Ein- 
heiten ,  welche  den  Zahlen  zum  Grunde  liegen ,  ist  dem- 


38 

nach  kein  IMeclusenliaupt,  woinlt  man  ille  matliemati- 
sclie  Psychologie   schrecken  könnte. 

Diejenigen,  welche  gewohnt  sind,  In  ihren  Betrach- 
tungen über  das  Zeitliche  mit  der  unendlichen  Zeit  an- 
zufangen, mögen  zusehn,  wie  sie  in  ihrem  Herabsteigen 
zum  Endlichen  das  Zeitmaass  erreichen,  und  die  ange- 
führten Thatsachen  erklären  wollen.  Rönnen  sie  das 
nicht,  oder  begnügen  sie  sich  mit  Allgemeinheiten,  die 
sich  nicht  ins  Einzelne  vei'folgen  lassen,  so  mögen  sie 
begreifen,  dass  sie  vom  Unendlichen  nicht  hätten  aus- 
gehen sollen.  Ferner  mögen  sie  alsdann  begreifen,  dass 
ihnen  der  unendliche  Ilaiun  eben  so  wenig  dienen  kenn, 
ihm  bestimmte  Constructionen  abzugewinnen;  am  we- 
nigsten solche ,  die  einen  ästhetischen  Werth  oder  Un- 
werth  in  sich  tragen.  Das  Abwerfen  der  Schranken 
bezeichnet  in  der  Philosophie  den  Anfänger;  Maass 
und  Gestalt  wieder  zu  gewinnen,  Ist  die  Aufgabe  für 
die  INIelster. 

Nicht  anders  verhält  sichs  Im  Gebiete  der  Begriffe. 
Leere  Allgemeinbegriffe  treiben  sich  überall  herum;  da- 
mit Ist  weder  die  geistige  noch  die  köiperliche  Natur 
zu  erkennen. 

Unser  Zweck  war,  die  Quellen  der  Psychologie 
weiter  als  bisher  zu  eröffnen.  Darum  haben  wir  inis 
becpiemt,  aus  der  Höhe  der  Allgemeinheiten  so  tief 
als  möglich  herabzusteigen,  und  bestimmte  Thatsachen 
in  Betracht  zu  ziehn.  Gelangt  man  einmal  zu  der  Ein- 
sicht, wie  viel  diese  zu  denken  g'eben,  so  wird  man  ja 
hoffentlich  auch  überlegen,  wie  viel  noch  zu  thun,  und 
wie   die  Hülfsmiltcl  des  Denkens  zu  benutzen  sind. 


39 


lieber    die    Tonlehre* 

1.  Erste  That Sache.  Von  jedem  beliebigen 
Toue  aus  kanu  man  continuirlich  zu  höhern  und  zu 
liefern  Tönen  forlschi-eiten,  ohne  dass  die  höchsten  oder 
tiefsten  Töne,  die  man  hören,  vollends  die  man  sich 
denken  könne,    sich  bestimmt  angeben  Hessen. 

2.  Zweyte  Thatsache.  Die  Unterschiede  je 
zweycr  Töne  lassen  sich  als  Maasse  gebrauchen ,  nach 
welchen  man  andre  gleich  grosse,  grössere  oder  klei- 
nere Unterschiede  abmessen  kanu.  Solche  Waasse  sind 
unter  dem  Namen  der  Intervalle  bekannt. 

3.  Anmerkung.  Für  die  IMusik  sind  alle  gleich- 
namigen Intervalle  gleich  gross.  Innerhalb  einer  jeden 
Oclave  l)efinden  sich  die  kleine  und  grosse  Secunde, 
kleine  und  grosse  Terze,  Quarte,  falsche  Quinte,  reine 
Quinte,  kleine  und  grosse  Sexte,  kleine  und  grosse  Sepr 
lime,  —  völlig  auf  gleiche  Weise,  ob  nun  der  Grund- 
ton, von  welchem  anfangend  diese  Intervalle  bestimmt 
werden,  höher  oder  tiefer  liege.  Eine  Octave  liefert 
genau  eben  so  viele  und  eben  solche  zu  unterscheidende 
Intervalle ,  als  eine  andre.  Die  geometrischen  Verhält- 
nisse der  Physiker  verwandeln  sich  für  die  Musik  in 
arithmetische. 

4.  Folgerung,  Da  zwischen  je  zwey  Tönen 
ein  Contlnuum  möglicher  Übergänge  vom  tiefern  zum 
höhern    liegt:     so    muss    jedes     endliche     Intervall    sich 


40 

dlvIcHreu  und  nuilliplicireu  lassen;  mid  joder  endliche 
Divisor  oder  JMulliplicalor  inuss  eine  endliche  Grösse 
liefern. 

5.  Frage:  Gesetzt,  man  habe  ein  Inlervall,  wel- 
ches nicht  unendlich  klein,  sondern  schon  zu  gross  sey, 
als  dass  die  Töne ,  z^yiscllen  denen  es  llcgl ,  für  völlig 
einerley  genommen  werden  könnten:  mit  Nvelcher  Zahl 
würde  man  es  nniltipliclren  oder  dividircu  müssen,  um 
dasjenige  Intervall  zu  finden,  dessen  Töne  völlig  ver- 
schieden   seyen  ? 

G.  Anmerkung:  Es  liisst  sich  leicht  crrathen, 
dass,  wenn  jenes  Intervall  ein  Bruch  der  Octave  ist^  es 
mit  dem  lungekehrten  Bruche  müsse  nuilliplicirt  wer- 
den, imi  die  Octave,  luid  hiemit  das  Intervall  der  völ- 
ligen Verschiedenheit  zweyer  Töne  zu  ergeben.  Um 
aber  dieses  zu  beweisen,   müssen  wir  weiter  gehn. 

7.  Dritte  Thatsache.  Z\xey  Töne,  deren  Di- 
stanz eine  Octave  ist,  haben  gegen  jeden  mittlem  Ton 
die  gleiche  harmonische  Bedeutung  in  sofern,  als  sie  zu 
einem  und  demselben  Accorde  gehören. 

Das  heisst:  die  Secundeu  sind  umgekehi'te  Septi- 
men, die  Terzen  umgekehrte  Sexten,  die  Quarte  ist 
die  umgekehrte  Quinte. 

Damit  man  nicht  bloss  das,  worauf  es  hier  an- 
kommt, sich  genau  vei'gegeuwärtige ,  sondern  auch  an 
eine  weiterhin  ganz  unentbehrliche  Bezeichnung  sich 
gewöhne:  dienen  zunächst  die  ersten  vier  Figuren  auf 
Jjeyliegender  Tafel.  Der  Ton  c  ist  hier  immer  durch 
eine  Querlinie  angedeutet ,  welche  dreyzehn  senkrechte 
Parallelen  durchschneidet.  Zu  diesem  c  ist  das  obere 
d  die  Secunde;  das  untere  d  die  Unter- Septime j  der 
Abstand  beyder  betragt  eine  Octave;  und   der  Secunden- 


41 

Accorcl  von  c  gilt  gleich  dem  Scplinicn  -Accorde  von  d. 
\\\  der  Figur  ist  das  obere  d  durch  einen  Slricli  nacli 
ü^en,  das  iinlcre  durch  einen  Strich  nacli  miten  ange- 
deutet; man  darf  aber  nicht  an  der  Stelle  des  Strichs 
den  Ton  d  selbst  suchen,  welcher  hier  lediglich  In 
so  lern  betrachtet  wird,  als  c  demselben  nahe,  hinge- 
gen von  e,  f,  fis  weiter  entfernt  Hegt.  Die  Absicht 
der  Figur  wird  klarer  werden,  wenn  man  sich  c  auf 
einem  Tasten- Instrumente  liegend  denkt,  wo  rechtshin 
d  folgt,  aber  linkshin ,  Nveiter  abwärts,  das  um  eiiie 
Oclave  tiefere  d  seinen  Platz  hat.  Vergleicht  mau  näm- 
lich «jetzt  die  zweyte  Figur  mit  der  ersten,  so  ist  leicht 
zu  bemerken,  dass  ein  paar  Striche,  deren  einer,  auf- 
wärts gerichtet,  das  obei^e  e,  der  andre  abwärts  ge- 
hende ,  das  untere  c  bezeichnen ,  beyde  weiter  rechts- 
hin liegen ,  als  die  ähnlichen  Zeichen  für  d  in  der  er- 
sten Figur.  Eben  so  liegt  f  in  der  dritten  Figur  noch 
weiter  rechts;  desgleichen  fis  in  der  vierten  Figur, 
während  man  aiich  hier  sich  hüten  muss,  die  Töne  an  den 
Sielleu  zu  suchen,  wo  ihre  Zeichen  stehu;  da  vielmehr 
die  ganze  Lange  der  Querlinie  uur  den  Ton   c  bedeutet. 

Dasjenige,  worauf  es  in  diesen  figürlichen  Darstel- 
lungen am  meisten  ankommt,  ist  dies:  für  den  gegen- 
wärtigen Zweck  kann  ein  solcher  Ton ,  der ,  wie  hier 
c ,  als  liegend  zwischen  höhern  und  niedern  soll  auf- 
gefasst  werden,  nicht  bloss  als  ein  Fun  et  in  der 
Tonlinie  (was  er  eigentlich  ist),  sondern  er  muss 
so  betrachtet  werden,  als  ^väre  er  auseiuandergezogen, 
und  als  besässe  er  eine  Ausdehnung  in  die 
Länge.  Denn  es  soll  in  ihm  seine  Verschiedenheit 
von  einem  höhern  und  von  einem  niedern,  als  ein  Quan- 
tum   angesehen   werden,    auf    dessen    Bestijnnumg    sein 


42 

harmonischer  Werlli  beruhet.  Die  Ausdehnung  rechts- 
hin  nun  bedeutet  Gleichlielt  mit  Tönen,  die  rechts 
liegen,  und  Gegensatz  gegen  Töne  die  links  liegen; 
die  Ausdehnung  linkshin  bedeutet  GleicJdieit  mit  Tö- 
nen, die  links  liegen,  und  Gegensatz  gegen  Töne  zur 
Rechten.  In  der  vierten  Figur,  wo  c  als  liegend  zwi- 
schen dem  obern  und  dem  untern  fis  erscheint ,  sieht 
man  sogleich ,  dass  dem  c  gleich  viel  Ausdehnung 
rechtshin  und  linkshin  musste  geliehen  werden,  um 
anzudeuten ,  dass  In  Ihm  der  Unterschied  von  dem 
untern  fis  und  dem  obern  fis  gleich  gross  sey.  Hat  da- 
gegen c  mit  dem  untern  fis  noch  etwas  gemein,  — 
^velches  als  das  Gleiche  in  beyden  betrachtet  wer- 
den könne ,  —  so  hat  es  mit  dem  obern  fis  gerade  ebeu 
so  viel  gemein,  denn  es  soll  hier  als  der  genaue  IMIt- 
telpuuct  zwischen  beyden  angesehen  werden. 

Geht  man  nun  rückwärts  zu  den  vorigen  Figuren, 
so  sind  auch  diese  leicht  zu  vei'stehen.  Hat  c  mit  dem 
obern  ßs  noch  etwas  gemein ,  so  ist  seine  Gemeinschaft 
mit  dem,  ihm  näher  liegenden/,  e,  J,  gewiss  grösser 
und  grösser;  darum  giebt  ihm  jede  Figur,  von  dem 
aufwärts  gerichteten  Theilstriche  an,  mehr  Ausdeh- 
nung rechtshin,  das  heisst,  dorthin,  wo  auf  Ta- 
sten-Instrumenten der  höhere  Ton  zu  suchen 
ist.  Umgekehrt,  hat  c  mit  dem  untern  fis  noch  etwas 
gemein,  so  ist  seine  Gemeinschaft  mit  dem,  ihm  ferner 
liegenden,  untern/,  e,  tf,  gewiss  kleiner  und  kleiner; 
darum  giebt  ihm  jede  Figur,  von  dem  abwärts  ge- 
richteten Theilstriche  an ,  weniger  Ausdehnung  links- 
hin, das  heisst,  dorthin,  wo  auf  Tasten -Instrumenten 
der  liefere  Ton  zu  suchen  ist.  Wie  nun  die  Ausdeh- 
nung rechtshin,    Gemeinschaft    mit   höhern,    so   bezelch- 


43 

net  die  Ausdehnung  llnkshln,  Verscliledcnlielt  von  hö- 
heru, —  und  wie  die  Ausdehnung  links  hin,  Gemeinschaft 
mit  niederu ,  so  bezeichnet  die  Ausdehnung  rechtshin, 
Vci'schiedenheit    von  uiedern  Tonen. 

Worin  besteht  aber  das  Älerkwürdige  der  oben  an- 
gegebenen dritten  Thatsache?  Darin,  dass  die  Ausdeh- 
nungen rechts  und  links  sich  allemal  zur  Octave  er- 
gänzen müssen,  wenn  sie  für  den  mittlem  Ton  (hier 
beyspielsweise  den  Ton  c)  seine  Gemeinschaft  oder  seine 
Verschiedenheit  mit  zwey  solchen  Tönen  bezeichnen 
sollen,  die,  gegen  ihn,  die  gleiche  harmonische 
Bedeutung  haben. 

8.  Könnte  denn  nicht  ein  gleicher  Absland  nach 
oben  und  nach  unten,  einen  gleichen  harmoni- 
schen AVerth  ergeben?  Etwa  wie  in  Figur  5,  das 
obere  g  und  das  untere  /  nach  entgegengesetzten  Sei- 
ten gleichen  Abstand  von  c  haben?  Die  Erfahrung  ver- 
neint dies  durchaus;  es  wäre  denn,  dass  man,  wie  in 
Figur  4,  die  halbe  Octave,  oder  aucli  die  ganze  Octave 
zur  Bestimmung  des  Abstandes  wäldle. 

9.  Oder  könnte  nicht  dasjenige  Intervall,  zu  wel- 
chem die  beydeu  Abstände  sich  ergänzen  sollen, 
kleiner  oder  grösser  seyn,  als  die  Octave?  Etwa 
wie  in  Fig.  6,  wo  die  Querlinie  immer  noch  den  Ton 
c  bedeutet,  aber  statt  der  vorigen  drcyzehn  Senkstriche, 
zwischen  denen  zwölf  kleine  Absfände  Platz  hatten, 
nur  zehn  Senkstriche  mit  neun  Abständen  übrig  gelas- 
sen sind.  Das  Intervall,  zu  welchem  sich  ergänzend 
die  beyden  andern  den  gleichen  harmonischen  Werlh 
bekämen,  wäre  also  nicht  mehr  die  Octave,  sondern 
die  grosse  Sexte.  Die  übermässige  Secunde  c  —  dis  ist 
jdavon    ein    Drittheil ;     und    die   falsche    Quinte    dii  —  a 


44 

zwey  Dritthell.  TSach  uuten  hin  ^vürde  man  /Air  Er- 
gänzung die  falsche  Quinte  c — fis  nehmen,  um  die 
übermässige  Secunde  bis  zur  Sexte  zu  erweitern;  und 
die  Gemeinschaft  zwischen  c  und  fis  betrüge  nicht  mehr 
(wie  oben)  gleichviel  wie  die  Verschiedenheit,  sondern 
nur  noch  halb  soviel,  nämlich  soviel  als  die  Distanz 
von  ßs  bis  zuni  untei'n  dis.  Demnach  sollten  in  Be- 
zug auf  c  nunmehr  die  beiden  Töne  dis  untl  fis  den 
gleichen  harmonischen  Werth  haben ;  eine  musicali- 
sche Ungereimtheit  der  ärgsten  Art.  Ahnliche  Unge- 
reimtheit wird  man  unter  ähnlichen  Voraussetzungen 
überall  finden. 

Es  ist  hier  für  das  Verstehen  der  Figur  immer  ge- 
nau vestzuhalten ,  dass  der  Querstrich  allemal  den  näm- 
lichen Ton  c  bezeichnet.  Diesem  hat  man  die  Ausdeh- 
nung gegen  dis  rechtshin,  gegen  fis  linkshiu  geliehen, 
um  nach  Abzug  der  Verschiedenheit,  das  übrige  Ge- 
meinschaftliche darzustellen.  Die  Unwahiheit  der  Fi- 
gur liegt  in  der  Unwaluheit  der  Voraussetzung.  Der 
Wahrheit  gemäss  müsste  die  Figur  für  dis ,  w^elches  von 
c  rechts  liegt,  rechtshin;  für  ßs,  v?elches  von  c  links 
liegt,  linkshin,  um  die  w^eggelassenen  drey  Senkstriche 
erweitert  werden;  dann  aber  käme  sogleich  zum  Vor- 
schein ,  dass  ßs  und  dis  keineswegs  für  c  die  nämliche 
harmonische  Bedeutung  haben;  denn  zählte  mau  die 
Senkstriche  von  links  nach  rechts,  so  käme,  M'ie  sichs 
gebührt,  das  Zeichen  von  dis  zwar  auf  den  vierten, 
hingegen  das  für  ^5  auf  den  siebenten. 

10.  Jetzt  lässt  sich  die  (unter  5)  aufgeworfene 
Frage  zuvörderst  nach  ihrem  Sinne  näher  bestimmen. 
Sie  betrifft  dasjenige  Intervall,  bei  welchem  die  Gleich- 
heit, die  im  contiuuirlichen  Fortschreiten  oder  vielmehr 


45 

Fort  {Hessen  der  Töne  nicht  plölzlicli  verschwinden 
konnte,  ganz  aufhört.  Dies  Aul'hören  kann  nur  da 
eintreten,  avo  die  Verscliiedenheit,  oder  besser  gesagt, 
der  Gegensatz  (weil  die  Töne  nicht  disparat,  son- 
dern contrar  sind)  \ollständig  wird.  Denn  die  Intensi- 
tät der  Töne  wird  liier  überall  als  gleich  angenommen ; 
inid  so  nuiss  das  Entgegengesetzte  wachsen,  wie  das 
Gleiche  abnimmt. 

Gleichheit  und  Gegensatz  als  wirklich  abgeson- 
dert vorstellen  zu  wollen,  als  ob  jedes  einzeln  wahr- 
nehmbar wäre,  ist  desto  luizulässiger,  da  offenbar  bey- 
des  die  Relation  zu  einem  willkührlicheu  Grundion  vor- 
aussetzt. Die  Absonderung  geschieht  nur  in  Begrif- 
fen; ist  aber  durchaus  nothwendig,  weil  mau  das  con- 
tinuirliche  Fliessen,  w^elches  bey  v  o  1 1  k  o  m  m  n  e  r  Gleich- 
heit der  Töne  seinen  Anfangspunct  hat,  nicht  ab- 
leugnen kann. 

11.  Satz.  Das  Intervall  des  vollkommenen  Ge- 
gensalzes ist  die  Octave. 

Beweis.  Obere  und  untere  Töne  können  in  An- 
sehung eines  mittlem  niemals  einerley  Gleichheit  oder 
Gegensatz  erlangen;  denn  gerade  der  Unterschied  des 
Oben  und  Unten  besteht  daiün  ,  dass  jeder  positive  Zu- 
wachs nach  der  einen  Seite  einen  negativen  nach  der 
andern  in  sich  schliesst.  iSichtsdestoweniger  lehrt  die 
Thatsache,  dass  obere  luid  untere  Töne  hai-monisdi 
gleichgeltend  für  den  mittlem  seyu  können;  sie  lehrt 
hicmit,  dass  es  zwar  auf  die  Eintheilung,  aber  nicht 
darauf  ankomme,  welcher  Theil  gleich,  und  wel- 
cher entgegengesetzt  sey.  Da  nun  der  mittlere  Ton 
in  bey  den  Fällen  in  Gleiches  und  Entgegengesetztes 
zci'legt  wird,    ob   mm   ein  oberer,    oder  ob  ein  unterer 


46 

Ton  die  Elntlielliuig  bestimme:  so  kann  die  Zerlegung, 
die  von  beiden  Seiten  heri'ülirend  gleiclie  Wirkung  tlmt, 
Hur  in  Ansehung  des  Theilungspunctes,  wohin  sie  fällt, 
mithin  des  Verhältnisses  unter  den  Th eilen, 
von  solcher  Bedeutung  seyn,  dass  der  harmonische 
Werth  dadurch  bestimmt  wird.  Die  Einerleyheit  des 
Theilungspuncts  aber  ist  nur  möglich,  Avenn  das,  was 
von  der  einen  Seite  als  Gleichheit  abgeschnitten  wird, 
von  der  andern  Seite  als  Gegensatz  zurückbleibt;  und 
umgekehrt.  Nun  ist  der  mittlere  Ton  der  Nullpunct, 
zu  dessen  beyden  Seiten  Grössen  liegen,  deren  jede,  ne- 
gativ genommen,  zu  der  andern  positiven  kann  addirt 
werden.  Diese  Addition,  bezogen  auf  die  Gleichheit, 
nniss  anzeigen,  wie  weit  die  Gleichheit,  hingegen  auf 
den  Gegensatz  bezogen,  anzeigen,  wie  weit  der  von 
der  Gleichheit  noch  nicht  völlig  befreyte  Gegensatz  sich 
erstrecke.  Bey  den  Tönen  ergiebt  sich  aus  solcher  Ad- 
dition allemal  die  Octave.  Also  ist  die  Octave  das  In- 
tervall verschwindender  Gleichheit  und  vollgewordenen 
GegenSiitzes. 

12.  Folgerung.  \Yenn  wir  bloss  um  jenen  har- 
monischen Werth  vuis  bekümmern,  so  ist  einerley,  wel- 
cher von  zwey  gleichnamigen  (um  eine  Octave  ent- 
fernten) Tönen  über  oder  unter  dem  mittlem  liege.  In 
so  fern  kann  also  z.  B.  die  Figur  1 ,  anstatt  den  Ton 
c  zweymal  darzustellen,  so  verändert  werden,  dass  ein 
einziger  Querstrich  genügt,  in  welchem  das  Theilungs- 
zeichcn  zugleich  aufwärts  und  abwärts  geht;  wie  Fig.  7 
anzeigt;  wo  man  sich  d  oberwarts  oder  unterwärts  den- 
ken mag. 

13.  Der  Umstand,  dass  alle  Verschiedenheit  der 
harmonisclien  Werlhe    innei'halb    der  Octave   liegt  (3), 


47 

lind  class  in  liöhern  luiil  nieilern  Oclavcn  sich  immer 
dieselben  Werlhe  wiederhohleii ,  —  ^vährend  vom  Grade 
des  Gegensatzes  einzig  luid  allein  solche  Werthbestim- 
nnuig  abhängt,  —  reicht  eigentlich  schon  hin,  um  den 
obigen  Satz  zu  beweisen.  Denn  über  die  Gräuze  hin- 
aus, welche  die  Octave  gesetzt  hat,  können  Unter- 
schiede des  gi'össern  und  geringern  Gegensatzes  nicht 
mehr  unmi  t  telb  ar  statt  finden;  so  gewiss  es  übri- 
gens ist,  dass  ein  nur  einigermaassen  geübtes  Ohr  sie 
noch  mittelbar  (vermöge  eingeschobener,  d.  h.  hin- 
zugedachter Octaven)  i-echt  gut  vernimmt.  Allein  die 
vorstehenden  Entwickelungen  waren  für  das  Nachfolgende 
durchaus  unentbehrlich. 

14.  Weitere  Folgerung.  Zwey  Töne  zerlegen 
sich  allemal  gegenseitig;  und  da  das  Gleiche  in  bejden 
gleich  gross,  so  muss  allemal  nach  Abzug  desselben  auch 
das  rein-Entgegengesetzte  des  einen,  der  Quantität  nach 
gleich  seyn  dem  rein -Entgegengesetzten  des  andern.  Es 
giebt  demnach  allemal  zum  mindesten  drey  Grössen  für 
eine  Hemmungs- Rechnung;  nämlich  zwey  gleiche  Quanta 
des  rein-Entgegengesetzten,  und  das  Quantum  der  Gleich- 
heit welche  als  Gleichheit  nur  eine  ist,  und  von 
den  gleichen  T heilen,  die  dem  einen  und  dem 
andern  zukommen ,   noch  luiterschieden  werden  nuiss. 

15.  Satz.  Die  Gleichheit  widerstrebt,  als  Eine, 
den  beyden  Gegensätzen. 

Beweis.  Wären  die  Töne  ganz  gleich:  so  würde 
ihre  Gleichheit  der  Grund  ihres  völligen  Zusammenge- 
hens in  Ein  Yorslellen  seyn;  da  es  in  der  Seele  keine 
Scheidewände  giebt.  Dasselbe  sollte  statt  finden,  in 
wie  weit  die  Gleichheit  \orhauden  ist.  Aber  dann 
müsste  das  Entgegengesetzte,    weil   es  sich   in   den    ein- 


48 

fachen  Tönen  niclit  von  den  Gleichen  absondern  kann, 
in  dieselbe  Einheit  hineingezogen  werden.  Die  Gleich- 
heit lindet  also  Widei'Stand,  und  ist  hierin  jedem  der 
beyden  rciu-Enlgcgengesetzlen  auch  ihrerseits  rein  und 
vollkommen  entgegen.  Die  gleichen  Theile,  einzeln  ge- 
nommen ,  gelangen  entweder  gar  nicht ,  oder  doch  nur 
imvoUkommen ,  zur  Vereinigung;  und  können  deshalb 
nicht  unmittelbar  als  Eine  Summe  in  Rechnung  kom- 
men, welche  als  eine  durchaus  uugetheilte  Kraft  wirk- 
sam wäre.  Ob  und  wie  fern  eine  solche  Summe  den- 
noch in  Betracht  zu  ziehn  sc}',  wird  sich  in  der  Folge 
zeigen. 

16.  Vierte  Thatsache.  AVenn  die  Octave  in 
zwey,  oder  drey,  oder  vier  gleiche  Theile  zerlegt  wird: 
so  entsteht  allemal  Dissonanz.  Diese  Dissonanzen  sind, 
wenn  c  für  den  Grundton  genonunen  wird: 

a.  Bey  zwey  gleichen  Abständen:  c  inid  gcs, 
die  falsche  Quinte  ;  oder  c  fis,  die  übermässige  Quarte. 

h.  Bey  dreyen :  c,  e,  gis ,  c ,  drey  grosse  Tei-- 
zen.  Den  Unterschied  der  grossen  Terze  von  der  ver- 
minderten Quarte  gis  c  können  wir  hier,  wo  es  nur 
auf  den  Abstand  ankommt,  bey  Seite  setzen. 

c.  Bey  vieren:  c,  dis,  fis,  a,  c;  vier  kleine  Ter- 
zen; (der  verminderte  Septimen -Accord  von  dis.^  Auch 
hier  kommt  der  Unterschied  der  übermässigen  Secunde 
von  der  kleinen  Terz   nicht  in  Betracht. 

17.  Anmerkung.  Dieser  Umstand  ist  von  der 
grössten  Wichtigkeit  in  Ansehung  des  Unterschiedes 
zwischen  IMusik  und  den  ästhetischen  Bestimmungen 
über  räumliche  und  zeitliche  Verhältnisse;  für  welche 
die  Symmetrie  allemal  von  Bedeutung,  und  meistens 
Bedingung  des  Schönen  ist. 


4Ö 

Im  Allgemcluen  ist  der  Grund  der  Dlslmrmonle  nicht 
■vveit  zu  suchen.  Die  gleichen  Theile ,  worin  eine  jede 
VorsteHung  zei'legt  wird ,  streiten  mit  gleichen  Kräften 
wider  einander.     AVir  betrachten  zuvörderst  näher 

18.  die  falsclie  Quinte.  Hier  sind  nicht  bluss 
die  TJieile  des  einen  und  des  andern  Tones  gleich,  son- 
dern die  Gleichheit  beyder  (15)  strebt,  das  Entgegenge- 
setzte von  beyden  zusanunen  zu  zielien;  so  entsteht  ein 
Conilict  unter  drey  gle ich  e u  Kräften;  ein  Streit  ohne 
IJbergewicht  auf  einer  Seite. 

19.  Fünfte  Thatsache.  Die  reine  Quinte  wird 
als  die  vollkommenste  Consonauz  nächst  der  Octave  all- 
gemein anerkannt. 

20.  Fragen:  a)  Da  die  reine  Quinte  (z.  B.  c,  g) 
von  der  falschen  Quinte  (z.  B.  c  ßs  oder  genauer  aus- 
gedrückt c  gcs)  sich  nur  inn  einen  halben  Ton  {fis  g) 
imterscheldet,  wie  kann  bey  solcher  Nahe  ein  so  grosser 
Conti-ast  entstehn ,  wie  der  zwischen  einer  harten  Dis- 
sonanz und  einer  vollkommeuen  Consonauz? 

h)  Da  die  reine  Quinte  von  der  Octave  beynahe 
um  die  Hälfte  der  ganzen  Octave  entfernt  ist:  wie 
kann  sie  der  Beschail'enheit  nach,  nämlich  als  Consonauz, 
der  Octave  zunächst  stehen? 

21.  Vorbereitung  zur  Antwort.  Wenn  die 
Autwort  völlig  klär  und  zureichend  seyn  soll:  so  muss 
aus  einem  und  demselben  Grunde  erhellen :  d)  derje- 
nige Streit,  an  welchem  die  falsche  Quinte  leidet,  sey 
bey  der  reinen  Quinte  auf  ein  minimum  reducirt;  und 
V)  die  Gleichheit,  welche  bey  der  Octave  gar  nicht  statt 
findet,  (indem  sie  gerade  das  Intervall  der  verschwin- 
denden Gleichheit  ist,  nach  11,)  sey  bey  der  reinen 
Quinte  der  Wirkung  nach  aufgehoben. 

D 


50 

AnlNVOrt.  Beydes  findet  In  der  Tliat  zugleich 
statt,  weil  die  Gleichheit  der  reinen  Quinte  zu  beyden 
Gegensätzen  gerade  In  dem  Verhältnisse  sieht,  nach 
welchem  unter  drey  geistigen  Kräften,  deren  beyde 
stärksten  gleich  sind,  die  dritte  schwächere  auf  die 
Schwelle  des  Bewusstseyns  getrieben  wird;  nämlich  die 
Gleichheit  verhält  sich  zu  jedem  der  Gegcnsätzp  wie 
y^i  zu  1.  Hiemit  haben  die  Gegensätze  vollkommnes 
Übergewicht. 

Dies  kann  man,  einstweilen  nur  die  Octave  In  zwölf 
gleiche  Distanzen  theilend  (genauere  Rechnung  bleibt 
vorbehalten,)  schon  daran  erkennen,  dass  in  Fig.  8. 
beyde  Gegensätze  durch  7  von  jenen  Distanzen  ausge- 
drückt werden,  mithin  nur  5  für  die  Gleichheit  übrig 
bleiben  =^).  Es  Ist  nämlich  y/^^ :  1  =:  1 :  sT'^—  1^  '•  ^^^  ^^ 
oder  nahe  5:7. 

23.  Verglelchung  mit  der  Angabe  der  Phy- 
siker. Gestützt  auf  Seh wingungs- Verhältnisse  tönen- 
der Körper,  oder  auf  Saiten  -  Längen ,  giebt  man  ge- 
wöhnlich das  geometrische  Verhältniss  der  Quinte  zum 
Grundton  an  wie  3  :  2.  Nun  sind  im  musicalischen  Ge- 
braviche  nicht  nur  alle  Octaven  gleich  gross,  sondern 
es  müssen  überhaupt  anstatt  der  von  den  Physikern  be- 

*)  Die  Figur  kann  benutzt  werden ,  um  die  Art  der  Bezeich- 
nung nochmals  in  Betracht  zu  ziehn.  Der  Ton  g  ist  eigent- 
lich ein  Punct  in  der  Tonlinie;  man  denke  ihn  sich  ur- 
sprünglich da,  wo  der  mit  c  bezeichnete  Theilungsstrich 
steht.  Von  hier  an  ist  er  auseinander  gezogen,  um  links- 
hin  die  Gleichheit  mit  c,  rechtshin  den  Gegensatz  gegen 
c  hemerklich  zu  machen.  Aber  auch  c  ist  ein  Punct  in  der 
Tonlinie;  diesem  musste  wegen  der  Gleichheit  mit  g  die 
Ausdehnung  rechtshin,  wegen  des  Gegensatzes  linkshin  ge- 
liehen werden. 


5t 

stimmten  geometrischen  Verhältnisse  die  entsprechenden 
arithmetischen  gesetzt  werden;  (nach  3.)  Das  lieisst : 
wenn  die  Physiker  den  Gnindton  durch  1,  die  Octaven 
durch  2,  die  reine  Quinte  durch  |  ausdrücken,  so  muss 
gesetzt  werden 

statt    1,  2,  § 

hier  0,  log  2,  log  ^ 
wo  ,  weil  es  niu-  auf  Verhältnisse  der  Logarithmen  an- 
kommt, mit  gemeinen  Logarithmen  eben  so  gut  als  mit 
natürlichen  kann  gerechnet  werden.  Es  ist  nun  12 
=  0,30103;  %|  =  0,17009;  dem  gemäss  verhält  sich 
der  volle  Gegensatz  der  Octave  zu  dem  Gegensatz  der 
Quinte  wie  30103  :  17609  =:  1  :  0,58496;  zieht  man  nun 
0,58496  ab  von  1 ,  so  ergiebt  sich  0,41504  als  die 
Gleichheit  der  Quinte.  Es  ist  aber  0,41504:0,58496 
—  1  :  1,4094,  nahe  wie  U  y/^2,  oder  0,58496  :  0,41504 
=  1 :  0,70952,  nahe  wie  1 :  -y^^. 

Der  Unterschied  beyder  Berechnungen  ist  an  sich 
unbedeutend;  er  kommt  vollends  deswegen  nicht  in 
Betracht,  weil  bey  Tasten- Instrumenten  die  sogenannte 
gleichschwebende  Temperatur  nöthig  ist,  wenn  man  sich 
in  den  verschiedenen  Tonarten  frey  bewegen  will ;  wäre 
aber  der  einen  oder  andern  Rechnung  ein  Vorzug  zu 
geben,  so  hat  man  zu  überlegen,  dass  Bestimmungen, 
welche  den  tönenden  Körpern  gelten,  eigentlich  ganz 
verschieden  sind  von  psychologischen  Erklärungen  des- 
sen, was  im  Vorstellen  sich  ereignet;  und  dass  die  letz- 
tern sich  nicht  im  mindesten  auf  jene  stützen,  obgleicli 
sie  nahe  genug  damit  zusammentreffen,  um  von  daher 
eine  Bestätigung  zu  empfangen.  Weitei'hin  wird  sich 
noch  eine,  etwas  weniges  abweichende,  Berechnung  aus 
einem  andern  psychologischen  Grunde  ergeben. 

D=^ 


52 

24.  Anmerkung.  Nachdem  die  reine  Quinte  be- 
stimmt worden,  scheinen  die  übrigen  Ii\tervalle  sich  aus 
dem  Quinten  -  Cirkel  (r,  g,  d,  a,  u.  s.  w.  bis  zu  his, 
welches  auf  Tasten  -  Instrumenten  mit  c  zusammen  fal- 
len muss)  von  selbst  zu  erzeugen.  Allein  das  ist  viel 
zu  weit  hergehohlt.  In  der  INIusik  werden  die  Inter- 
valle nicht  erst  abgeleitet,  sondei-n  immlllclbar  empfun- 
den, und  eine  psychologische  Erklärung  kann  sich  auf 
Ableitungen  welter  nicht  einlassen,  als  ftur  in  wiefern 
wirklich  eins  zum  andern  hinzugedacht,  wenn  auch 
nicht  leiblich  gebort  wird.  Dagegen  aber  Ist  allerdings 
das  musikalische  Denken  die  Hauptsache ;  und  dar 
thörichten  Einbildung,  als  \väre  die  INIusik  ein  Nerven- 
kitzel, widerspricht  die  Untersuchung  schon  dadurch, 
dass  sie  Fragen  aufglebt  und  beantwortet,  die  sonst  nicht 
aufs  entfernteste  angeregt  wurden. 

25.  Sechste  Thatsache.  Die  Quarte  wird  zwar 
oft  als  umgekehrte  Quinte  vernommen ;  dennoch  couso- 
nirt  sie  weit  weniger  als  diese ;  ja  es  giebt  Einige ,  die 
ihr  kaum  den  Rang  einer  Consonanz  zugestehen  mögen. 

26.  Erklärung.  In  der  reinen  Quarte  verhält  sich 
der  Gegensatz  zur  halben  Gleichheit  wie  1  :  \^h' 
Sollte  nämlich  die  Gleichheit  in  der  That  das  Entgegen- 
gesetzte vereinigen:  so  müsste  sie  den  einen  Ton  zum 
andern ,  aber  auch  den  andern  zu  jenem  fügen ;  ibr 
Streben  müsste  demnach  in  eine  zwiefache ,  ja  selbst 
entgegengesetzte  Wirksamkeit  übergebn.  Diese  "VTIrk- 
samkeit  wird  bey  der  Quarte  im  Entstehen  gehemmt ; 
denn  die  Stärke  der  rein  entgegengesetzten  Thelle  ist 
hier  noch  hinreichend,  um  die  Hälften  der  Gleichheit 
auf  die  Schwelle  des  Bewusstseyns  zu  treiben.  Die 
Quarte  macht  daher  eine  Gränze  zNvischen  dem  Gebiete, 


53 

wo  die  Gleichheit  vorherrscht  (bey  den  engern  Inter- 
vallen) und  der  Gegend,  worin  sie  streitet  und  welter- 
liin  bald  unterliegt.  Davon  mehr  bey  der  Melodie.  (05.) 
Das  angegebene  Verhällniss  leicht  zu  erkennen, 
theile  man  zuerst  mir  wie  vorhin  ,  die  Octave  in  zwölf 
gleiche  Abstände.  Fig.  9  zeigt  7  Theile  Gleichheit  ge- 
gen 5  Theile  Gegensatz.  Die  halbe  Gleichheit  verhält 
sich  demnach,  obenhin  genonnnen,  zum  Gegensatze  wie 
7- :  5  =  7  :  10  =  0,7  :  1,  nahe  wie  y^h  :  1. 

27.  Verglelchung  mit  den  Angaben  der 
Physiker.  Wie  oben  in  Bezug  auf  schwingende  Sai- 
ten giebt  man  der  Quarte  das  geometrische  Verhältulss 
zum  Grundton  wie  4:  1,  also  zur  Octave  wie  4:2, 
Nach  (23)  ist  nun  zu  setzen 

anstatt     1,  2,  4 

hier  0,  log.  2,  log.  4 
Es  ist  Z  2  =  0,30103;  log  i  =  0,12494.  Dem  ge- 
mäss verhält  sich  der  volle  Gegensatz  der  Octave  zu  dem 
Gegensatze  der  Quarte  wie  30103  :  12494==  1 : 0,41504. 
Zieht  man  0,41504  ab  von  1,  so  erglebt  sich  0,58496 
als  die  Gleichheit  der  Quarte.  Davon  soll  aber  hier  die 
Hälfte  genommen  werden,  weil  es  darauf  ankommt,  die 
ältere  Bestimmung  in  die  Verglelchung  mit  obiger  TheOr- 
rie  einzuführen.  Also  die  halbe  Gleichheit  ist :=:  0,29248; 
und  diese  nun  verhält  sich  nach  der  alten  Lehre  zu  je- 
dem Gegensatze  wie  0,29248  ;  0,41504  =  0,7047: 1,  d,  h. 
nahe  wie  y/^h  •  1. 

28.  Siebente  Thatsache.  Nach  der  gleichschvve- 
benden  Temperatur,  welche  bey  Tasten  -  Instininienteu 
die  Bedingung  ihres  glelghmässigen  Gebrauchs  für  alle 
Tonarten  ist,  müssen  drey  grosse  Terzen  (wie  c,  e,  gis,  c) 
und  vier  kleine  Terzen    (wie    c,   es,  gcs  oder  fis,  a,  c) 


54 

die  Octave  gleichmässlg  ausfüllen.  Demnach  hat  die 
grosse  Terz  ein  Drittheil  Gegensatz  gegen  den  Gnmd- 
ton,  lind  zwey  Drittheile  Gleichheit;  die  kleine  Terz 
aber  ein  Yiertheil  Gegensatz  und  drey  Viertheile  Gleich- 
heit. Hievon  -Nveichen  die  Bestlmnuingen  der  Physiker 
in  so  weit  ab,  dass  auch  dem  Gehör  einiger  Unterschied 
merklich  wird. 

29.  Zusatz.  Die  psychologische  Bestimmung  der 
Terzen  kann  zwey  verschiedene  Wege  einschlagen,  welche 
nicht  genau  dasselbe  Piesultat  liefern.  Allein  bevor  dies 
gezeigt  wird,  ist  derjenige  Unterschied  zu  bemerken, 
welcher  zwischen  dem  leiblichen  Hören  imd  dem  nui- 
slkalischen  Denken  statt  findet.  Die  psychologische  Be- 
stimmung gründet  sich  auf  letzteres  allein;  jenes  hinge- 
gen hängt  zum  Theil  von  den  Schwingungsgesetzen  der 
tönenden  Körper  ab.  Daher  kann  mau,  leiblich  hörend, 
ein  Verhältniss  als  disharmonisch  empfinden,  wo  im 
musikalischen  Denken  keine  Disharmonie  vorhanden 
ist.  Und  so  hat  die  gleich -schwebende  Temperatur  für 
einen  jNothbehelf  der  Tasten-Instrumente  gelten  können, 
Avährend  sie  dem  musikalischen  Denken  mehr  angemes- 
sen war,  als  man  glaubte.  Indessen  ist  in  diesem  Puncte 
eine  tiberlegung  von  allen  Seiten   nöthig. 

30.  Frage.  Lassen  sich  die  beyden  Terzen  unab- 
hängig vom  Dur  imd  JMoll  der  reinen  Accorde  zuläng- 
lich bestimmen? 

31.  Antwort.  Einerseits  sind  die  reinen  Accorde 
die  Hauptstützen  der  INIusik;  anderentheils  sind  doch  die 
beyden  Terzen  nicht  auf  reine  iVccorde  beschränkt,  son- 
dern von  weiterem  Gebrauche.  Kommt  es  nun  einst- 
Aveilen  bloss  darauf  an ,  die  Terzen  durch  bestimmte 
INIcrkmalc  als  gewisse  Puncte   auf  der  Tonlinie    von    al- 


55 

leu  anderen  Punclcn  zu  unterscheiden:  so  hat  man  nicht 
nölhig,  die  Terze  bloss  als  den  dritten  Ton  zu  zweyen 
schon  gegebenen  (Gruudton  luid  Quinte)  zu  betrachten. 
Daher  niuss  die  obige  Frage  verneint  werden  5  allein 
mit  dem  Voi'behalt,  auch  die  Bedingungen  des  reinen 
Accordes  zu  erwägen,  und  diese  nicht  etwan  von  jenen 
]Merkmalen,  als  durchaus  vestgestellt,  abhängig  zu  machen. 

Was  nun  zuvörderst  die  grosse  Terze  anlangt,  so  ist 
ohne  Zweifel  der  Punct  der  Tonlinie,  wo  die  halbe 
Gleichheit  dem  Gegensatze  gleich,  und  ihre  vereinigende 
Wirkung  mit  jedem  Gegensalze  im  Gleichgewichte' ist, — 
als  ein  von  anderen  Puncten  der  Tonlinie  verschiede- 
ner, sich  auszeichnender,  zu  betrachten.  Dies  triift  zu- 
sammen mit  der  gleichschwebeuden  Temperatur,  nach 
welcher,  wie  schon  gesagt,  (28)  die  ganze  Gleichheit 
zwey  Dritlheile  gegen  ein  Drittheil  Gegensalz  betiägl. 
Hieraus  allein  aber  würde  sich  das  Hai-monlsche  der 
grossen  Terz,  was  sie  im  reinen  Dur  bekonmit,  nicht 
erklären  lassen. 

Was  zweytens  die  kleine  Terz  anlangt:  so  hat  man 
den  Punct  aufzusuchen ,  wo  die  beydeii  Hälften  der 
Gleichheit  gegen  die  beydeii  Gegensätze  stark  genug  sind, 
irni    letztere  auf  die  Schwelle    zu    drängen.       Nach    der 

bekannten    Formel    czizh    1/ L_    oder    wenn     b=:a, 

'^     a  +  b 

c  =  i^^,  muss  hier,  wenn  jeder  Gegensatz  =0;,  die 
Gleichheit  =  1  —  a;,  die  halbe  Gleichheit  =  -Ilf ,  ange- 
setzt werden 

2         - 


woraus     % 


1  +  2  V^2 


5(5 

=  0,201203, 
und  die  halbe  Gleichheit  r=  0,3C939. 

32.  Vei'gle  i  chimg  mit  deu  Angaben  der 
Physiker.  JNach  ihnen  yerlialt  sich  die  grosse  Terz 
zum  GrundlQn  wie  5:4,  die  kleine  zmn  Gruudtou  wie 
6  :  5.  Diese  geometrischen  Yerliällnisse  mit  Hülfe  der 
Logarithmen  auf  arithmetische  zurückführend,  haben  wir 

1)  für  die  grosse  Terz,  anstatt  des  Verhältnisses  der 
Tei'ze  zur  Octave  wie  5:8,  oder  ^^2,  das  Ycrhältniss 
hg  ^:  log  2  =  9691  :  30103  =  0,32193  :  1 ,  mithin,  da 
der  Gegensatz  r=  0,32193,  die  Gleichheit  rz:  0,67807, 
und  deren  Hälfte  r=:  0,33903,  etwas  grösser  als  den  G*»- 
gensatz. 

2)  für  die  kleine  Terz,  anstatt  des  Verhältnisses  der 
Terz  ziu'  Octave,  wie  6  zu  10,  oder  f  :  2,  hier  das 
Verhältniss  log  |  :  log  2=  7918  :  30103  =  0,26303  :  1, 
welches  nach  obiger  psychologischer  Bestimmung  (31) 
hätte  seyu  sollen  0,261203  :  1,  also  nahe  damit  zusam- 
mentrifft. 

33.  Frage.  Da  die  beyden  Sexten  als  umgekehrte 
Terzeu  vernommen  werden  (nach  der  dritten  Thatsache 
in  7):  müssen  sie  nur  hiedurch  bestimmt  werden;  oder 
gibt  es  für  sie  auch  unmittelbar  solche  Gründe  der  Be- 
stimmung, dass  füglich  die  Terzen  als  umgekehrte  Sexten 
zu  betrachten  wären? 

34.  In  Ansehung  der  grossen  Terze  liegt  sogleich 
am  Tage,  dass,  was  bey  ihr  Gleichheit,  bey  der  kleinen 
Sexte  Gegensatz  ist,  und  umgekehrt.  Also  ist  bey  der 
letztern  zwischen  dem  ganzen  Gegensatz  jedes  Tons, 
und  der  Summe  ihrer  gleichen  Tlieile,  Gleichgewicht 
vorhanden.  Rechnet  man  nach  Zwölfteln  der  Octave, 
so  hat  beym  Intervall  der  kleinen  Sexte  jeder  Ton  acht 


57 

Zwölflcl  Gegensatz  und  vier  Zwölftel  Glelclilielt  relativ 
gegen  den  andern  Ton;  gesetzt  also,  man  könne  die 
l)eyden  gleichen  Theile  addiren ,  so  ist  ihre  Summe 
gleich  gross  ^vie  jeder  von  den  Gegensätzen. 

Bey  der  kleineu  Terze  kann  ebenfalls  in  Bezug  auf 
die  grosse  Sexte  bemerkt  -werden,  dass  Glciclies  und 
luitgegengesetztes  ihre  Stellen  vertauschen;  inid  dies 
führt  hier  zu  folgender  Rechnung. 

Die  Summe  der  g  1  e  i  c  h  e  n  T  h  e  i  1  e  sey  zu  jede  ni 
der  rein-entgegengesetzteu  Theile  in  dem  Vei"hältnis8, 
dass  sie  auf  die  statische  Schwelle  gedrängt  werde:  so 
hat  man,  wenn  jeder  gleiche  Theil  =zx,  jeder  entge- 
gengesetzte r=  1 — X, 

2a;  =  (l— o;)  ./^-^ 

oder  X  = 

1  +  2  y/  2 

welches  genau  mit  der  Angabe  in  (31)  zusammentrifft, 
nur  dass  hier  Gleiches  ist  was  dort  Entgegengesetztes  war. 
Sind  die  Vorstellungen  der  Töne  nach  der  Hennnung 
sattsam  verschmolzen ,  so  hat  die  vorausgesetzte  Addition 
kein  Bedenken;  man  kann  also  dann  auch  die  Terzen 
für  umgekehrte  Sexten  nehmen ;  eine  nothweudige  Ab- 
hängigkeit der  Sexten  von  den  Terzen  ist  nicht  zu  be- 
haupten. 

35.  Frage.  Kann  man  auf  ähnliche  "Weise,  wie  über 
Terzen  und  Sexten,  auch  über  die  Septimen  und  Se- 
cunden  Aufschluss  erlangen? 

36.  Antwort,  a)  In  Folge  der  Verschmelzung 
kann  jeder  einzelne  Ton  als  verbunden  mit  dem,  was 
im  andern  ihm  gleich  ist,  betrachtet  w^erden.  So  eul- 
slelin  durch  die  Addition  jedes  Tons  zu  der  Gleichheit, 
zwey  Kräfte,  neben  welchen  die  entgegengesetzten  Theile 


58 

auf  die  Schwelle  mögen  gedrängt  wei'deu.  Das  Gleiche 
heisse  x,  das  Entgegengesetzte  1 — x;  so  entstellt  fol- 
gende Rechnung: 

(1+:.)   V"4=:l-a; 
woraus         tv  =  ( ^/^2  —  1 )  2  z=:  0, 1 71 58 

i)  Oder  man  nehme  an,  die  Vorstellungen,  AA'elche 
durch  die  halben  Gleichheiten  zur  Vereinigung  getrie- 
ben werden,  seycu,  durch  diese  halbe  Gleichheit  ver- 
stärkt, im  Conllicte  mit  den  einzelnen  dergestalt,  dass 
jede  verstärkte  wider  die  andere  einzelne,  aber  auch 
jede  gegen  die  andere  verstärkte  dränge.  Das  Entge- 
gengesetzte   heisse    jetzt  x,     also    die    halbe    Gleichheit 

= ,    so  hat  man  ( 1  -|- )  -^/^h-^^l;  wenn  1  auf 

die  Schwelle  fallen  soll ;  woraus  wiederum 

o;  =  1  — 2  V^2 -|- 2  z=  (^2  —  1 ) 2 z=  0,17158. 
Von  diesen  beyden  Rechnungen  dient  die  erste  zur  Be- 
stimnuing  der  kleinen  Septime;  die  zweyte  bestimmt 
die  grosse  Secunde;  und  beyde,  unabhängig  von  einan- 
der, treffen  genau  zusammen.  Es  ist  nämlich,  wenn 
man  den  Gegenstand  obenhin  nach  Zwölfteln  der  Octave 
betrachtet,  leicht  zu  sehen,  dass  die  kleine  Septime 
nur  noch  zwey  Zwölftel  Gleichheit  enthält.  Addirt 
man  diese  zwey  Zwöflel  der  einen  Vorstellung  zu  der 
andern  ganzen,  so  entsteht  das  bekannte  Verhältniss 
zum  Gegensätze  wie  14  :  10;  und  hievon  ist  die  erste 
der  beyden  Rechnungen  nur  der  genauere  Ausdruck. 
Bey  der  grossen  Secunde  beträgt  die  Gleichheit  nahe 
zehn  Zwölftel;  davon  die  Hälfte,  nämlich  fünf,  addirt 
zu  jeder  ganzen  Vorstellung,  so  konunt  das  Verhält- 
niss zur  andern  un verstärkten  wie  17  :  12,  nahe  wie 
14  :   10;  und  dies  isls,    was    die    zweyte  Rechnung    ge- 


59 

nauer  bestimmt.  Der  Buclislabe  x  bedeutet  in  der  er- 
sten Rechnung  das  Gleiche,  in  der  zweyten  das  Entge- 
gengesetzte, -weil  Septime  und  Secunde  sich  zur  Octave 
ergänzen. 

37.  Vergleichung  mit  den  Angaben  der 
Physiker.  Die  kleine  Septime,  als  Quinte  der  klei- 
nen Terz,  (eine  ganz  unpassende  Voraussetzung,  weil 
die  ursprüngliche  kleine  Terz  von  der  des  reinen  Ac- 
cordes  bedeutend  abweicht,)  soll  sich  zum  Grundton 
verhalten  wie  3^  :  1 ;  also  zur  Octave  wie  ^  :  2.  Nach 
einer  andern  Angabe  (wobey  richtiger  die  Septime  als 
Quarte  der  Quarte  betrachtet  wird)  soll  das  Yerhält- 
niss  zum  Grundtou  =z^^  :  1 ,  also  zur  Octave  =::  ^y"  zu 
2  seyn.     Nun  ist 

log  1^6  :  log2z=  0,24988  :  30103  =  0,83008  :  1, 
mithin  bey  der  Septime   der  Gegensatz  r:=  0,83008,  also 
die  Gleichheit  r=0,lG992,  welches  von  unserer  Bestim- 
mung, =  0,17158,  nur  sehr  wenig  abweiclit. 

Die  grosse  Secunde  wird  so  angegeben ,  dass  ihr 
Verhältniss  zum  Grundton  sey  r=  ^  :  1 ,  also  zur  Octave 
=  Ä  :  2.     Aber 

/  I  :  /  2  n:  5115  :  30103  =  0,16992  :   1 
also    stimmt    diese    Angabe    der   Secunde    mit  jener   der 
Septime  genau  zusanunen,  wie   es    seyn  muss,    weil  der 
Secunden- Accord  nichts  anderes  ist  als  der  umgekehrte 
Septimen  -  Accord. 

Dass  hier  die  Abweichung  zwischen  der  Aussage 
der  Physiker  und  der  psychologischen  Bestimmung  äu- 
sserst unbedeutend  ist,  erhellt  sogleich,  wenn  man  sich 
erinnert,  dass  sich  die  angegebenen  Brüche,  welche  um 
etwa  anderthalb  Tausendtel  verschieden  sind ,  auf  die- 
jenige   Einheit    beziehen,    welche    den    Ausdruck    der 


60 

Octave  ausmacht.  Bey  einer  Septime  oder  Sccunde, 
also  einer  Dissonanz,  ein  paar  Tausendtel  der  Octave 
mehr  oder  weniger  zu  untei'scheiden ,  möchte  schwei'- 
lich  selbst  geübten  Ohren  gelingen.  Und  bey  allen 
diesen  Rechnungen  darf  man  nicht  einen  Augenblick 
ausser  Acht  lassen,  dass  (nach  obigem  Beweise,  11,) 
die  Octave  dasjenii:e  Intervall  ist,  wo  der  Gegensalz 
voll,  oder  =:=  1  wird;  so  dass  von  dieser  Einheit  die 
sämmtlichen  Bestimmungen  so  wohl  der  Gleichheit  als 
des  Gegensatzes  abhängen. 

3S.  Schon  oben  (31)  blieb  vorbehalten,  der  reinen 
Accorde  wegen,  den  bisherigen  Bestimmungen  der  In- 
tervalle einige  andre  an  die  Seite  zu  setzen,  von  denen 
man  nicht  voraussetzen  darf,  dass  sie,  auf  eigenthüm- 
lichcn  Gründen  beruhend,  mit  jenen  ganz  genau  zu- 
sammen treffen  werden.  Bevor  wir  jedoch  dazu  kom- 
men, ist  hier  noch  die  Frage  nach  der  kleinen  Secunde 
oder  grossen  Septime  zu  erheben,  welche  den  sogenann- 
ten halben  Ton  ergeben  muss.  Ware  der  Unterschied 
des  Entgegengesetzten  überall  gleich  bey  zwey  nächsten 
der  zuvor  bestinunten  Intervalle  :  so  könnte  man  diesen 
Unterschied  als  den  halben  Ton  betrachten. 

Das  Entgegengesetzte  —  was  wir  manchmal  der 
Kürze  wegen  den  Gegensatz  nennen,  —  muss  zuerst 
nachträglich  für  die  reine  Quinte  und  Quarte  aufgesucht 
werden. 

Nach  (22)  soll  bey  der  reinen  Quinte  der  Gegensatz 
r=  X  sich  zur  ganzen  Gleichheit  zrz  1 — x  verhalten  wie 
1:V^^.    Also 


:  l  —  x  =  l:y/^^ 


woraus  x— ? —  —  2  (i—xTk)  =  0,58578. 

1  +  V^i  ^        V    2; 


61 


Nach  (26)  soll  bey  der  reinen  Quarte  der  Gegen- 
satz zzz  X  zur  halben  Gleichheit  sich  verhalten  wie 
1   :  v^i.     Also 

woraus         x  =  -^^r-  =  V"2  —  1  =z  0,41421. 

2  +  ^2         ^ 

Hiermit  stellen  wir  die  obigen  Angaben  (31,  34,  36,) 
zusammen,     und    erhallen    folgende    Tafel,    woraus    das 
Fortschreiten  des  Gegensatzes  von  einem   Intervall   zum 
andern  hervorgeht: 
Gegensalz  der 

grossen  Secunde 


kleinen  Terze 
grossen  Terze 
Quarte 


=  0,17158 
=z  0,26120 
=  0,33333 
=  0,41421 


falschen  Quinte  —  0,50000 

reinen  Quinte  =  0,58578 

kleinen  Sexte  zzz  0,66666 

grossen  Sexte  =r:  0,73879 


Unterschiede 

•  0,08962 
0,07213 

■  0,08088 

•  0,08579 

•  0,08579 

-  0,08088 

-  0,07213 

■  0,08962 


kleinen  Septime  =  0,82841. 
INlan  sieht,  dass  die  Abweichung  In  diesen  Unter- 
schieden hauptsächlich  von  der  kleinen  Terz  und  gro- 
ssen Sexte  herrührt;  es  entsteht  daraus  die  Frage,  ob 
beyde  nicht  in  anderer  Hinsicht  einer  andern  Bestim- 
mung entgegengehen  werden?  Dies  muss  sich  bey  der 
Untersuchung  über  die  Accorde  aufklären.  Gicbt  es  hier 
eine  Bedenklichkeit,  so  liegt  sie  dai-iu,  dass  unsre  Ta- 
sten-Insti'umeute,    deren  gleichmäsölge  Temperatur  glel- 


62 

clie  Unterschiede  mit  sich  bringt,  dem  Gehör  keine  so 
bedeutenden  Fehler,  als  daraus  anscheinend  entstehen 
müssten,  fühlbar  machen.  Die  Bestimnmng  der  Physi- 
ker, (32),  nach  welcher  anstatt  0,2G120  vielmehr 
0,26303  zu  setzen  wäre,  macht  die  Abweichung  nicht 
geringer  sondern  grösser;  daher  kann  von  dorther  keine 
Abhülfe  der  anscheinenden  Schwierigkeit  erfolgen.  Wir 
müssen  erst  welter  gehn. 

39.  Fragen,  ä)  Worin  liegt  das  Harmonische  der 
reinen  Accorde? 

t)  Wai'um   glebt    es   nur    zwey    reine   Accorde? 

c)  Worin  liegt  der  Griuid,  dass,  bey  gleicli  voll- 
kommner  Harmonie,  doch  das  Dur  einen  Vorzug  der 
grossem  Ruhe  besitzt,  das  Moll  dagegen  mehr  einer 
getrübten  Gemüths  -  Stimmung  entspricht? 

40.  Vorläufige  Bemerkungen.  Die  ersten 
beyden  Fragen  laufen  in  einander  zurück;  so  dass, 
wenn  die  erste  vollständig  beantwortet  Ist,  sich  die 
zweyte  von  selbst  erledigen  muss.  Wir  werden  daher 
die  zweyte  als  Anlass  benutzen,  der  Antwort  auf  die 
erste  einige  nähere  Bestimmungen  beyzufügen.  Denn 
wenn  das  Harmonische  des  reinen  Accordes  genau  er- 
klärt ist,  so  kann  die  Erklärung  nicht  welter  passen 
als  nur  auf  die  beyden  reinen  Accorde;  sonst  würde 
es  deren  mehr  als  zwey  wirklich  geben. 

Glaubt  man  aber  Im  Zusammentreifen  der  Schall- 
wellen, (welches,  beyläufig,  eine  unausführbare  Genauig- 
keit und  Reinheit,  sowohl  des  Gesanges  als  der  Instru- 
mental-IMusIk  erfodern  würde,)  den  Grund  der  reinen 
Accorde,  zu  finden:  so  bleibt  die  dritte  Frage  unbeant- 
wortet. Denn  ob  im  reinen  Accorde  die  kleine  Terz 
(wie  c,  es)  unten,    und  die  grosse  Terz  oben  liege  (wie 


63 

es,  g)  oder  umgekolirt,  (wie  c,  e,  g):  Immer  haben 
beyde  auf  gleiche  Weise  Platz  in  der  Qiiinlc  (wie  c,  g); 
da  immer,  nach  den  angenommenen  Verhällnissen,  4.^ 
=  #  gie1)l.  Unsrc  frühem  Bestinunungcn  ofienbarcn 
dagegen  eine  sclieinbare  Schwierigkeit.  Der  Gegensatz 
der  Quinte  soll  seyn  m  0,58578  ,  aber  die  beyden  Ge- 
gensätze der  Terzen  addirt  geben  0,26120  -f-  0,33333 
n::  0,59453 ;  niilhin  hat  die  Quinte  nicht  Raum  genug 
für  die  beyden  Terzen.  Es  wird  sicli  zeigen,  dass  dar- 
aus für  das  jMoll  etwas  anderes  folgt  als  fürs  Dur.  Im 
leiblichen  Hören  kann  übrigens  der  Grund  des  Unter- 
schiedes um  desto  weniger  gesucht  werden,  da  auch  die 
Tasten -Instrumente  bei  gleichschwebender  Temperatur 
keinen  Unterschied  offenbaren;  denn  sie  geben  der  gro- 
ssen Terz  ein  Dritlheil,  der  kleinen  ein  Viertheil  der 
Octave;  und  immer  ist  |^ -{- ^  =  j'j,  wie  man  die  beyden 
Terzen  auch  legen  möge.  INIan  muss  das  musikalische 
Denken  untersuchen. 

41.  Beantwortung  der  ersten  Frage.  Indem  je 
zwey  VorsteHuugen  von  Tonen  sich  gegenseitig  brechen, 
(niimlich  in  Gleiches  und  Entgegengesetztes,)  müssen 
drey  solche  Yoi'stellungen  sich  doppelt  brechen;  derge- 
stalt dass  in  jeder  drey  Theile  zu  unterscheiden  sind. 
Im  reinen  Accorde  verhalten  sich  die  drey  Theile  alle- 
mal wie  die  Zahlen  3,  4,  5,  beynahe;  sucht  man  nun 
zu  4  und  5   die  dritte  auf   der   statischen   Schwelle,   so 

ergiebt  die  Formel  cr=Z»  /^    "     ,  wenn  i=4,  a  nr  5, 

a  -|-  b 

für  c  den  Werth  =2,9814;  das  heisst,  beynahe  3;  der- 
gestalt, dass  bey  höchst  geringer  Abänderung  der  Zah- 
len 3,  4,  5,  vollkommen  ein  solches  Verhaltniss  statt 
finden  wird,    wie    schon    oben   bey    den   luteivallen  als 


64 

der  Grund  der  Consonanz  erkannt  wurde.  Jedoch  ist 
liier  ein  wichtiger  Unterschied.  Bey  den  Intervallen 
befanden  sich  solche  Kräfte  im  Conllict ,  die  yon  den 
Vorstellungen  zwcyer  Töne  herriilu'ten;  liiugegen  hier 
enthält  jeder  einzelne  Ton  des  reinen  Accordes  iu 
Folge  der  doppelten  Breclnnig  alle  drey  Theilcj  unter 
denen  das  angegebene   Verhällniss  sich  findei. 

42.  Erläuterung.  In  Figiir  10  sieht  man  die 
Brechungen  in  sämmtlichen  Tönen  des  reinen  Accordes 
von  c  dur.  In  Figur  11  dagegen  die  Brechungen  in 
sämmtlichen  Tönen  des  reinen  Accordes  von  c  niüll. 
Die  Figuren  stellen  dasjenige  als  abgesondert  vor  Au- 
gen, was  man  abgesondert  nicht  hören  kann,  aber,  als 
wäre  es  abgesondert,  denken  muss,  um  die  Art  des 
innern  Streits  zu  überlegen,  worin  eine  an  sich  einfache 
Vorstellung  begriffen  ist,  indem  sie  von  zwey  andern 
zugleich  zerlegt  wird  in  Gleiches  und  Entgegengesetztes. 
43.  Zusatz.  Der  angegebene  Grund  der  Harmonie 
ist  so  allgemein,  dass  er  nicht  bloss  in  jeder  Lage,  die 
man  dem  reinen  Accorde  geben  kann ,  der  nämliche 
bleibt,  sondern  auch  die  von  jenem  abgeleiteten  Ac- 
corde, den  Sexten-  ixnd  Sext- Quarten- Accord,  sammt 
ihrem  Unterschiede,  erklärt.  Die  veränderten  Lagen, 
welche  entstehen,  wenn  man  entweder  die  Octave,  oder 
die  Terz,  oder  die  Quinte  oben  legt,  verändern  in  den 
Figuren  bloss  die  Pachtung  dei'jenigen  Striche ,  ^velche 
die  Brechung  anzeigen,  in  so  fern,  dass  man  sie  jenen 
Abänderungen  gemäss  nach  oben  oder  nach  unten  zie- 
hen kann ,  je  nachdem  die  Brechung  von  einem  obern 
oder  untern  Tone  herrührt.  Damit  ändert  sich  an  der 
Brechung  gar  nichts;  das  heisst ,  der  Unterschied  ist 
nicht  harmonisch,  sondern  er  hat  nur  Bedeutung  für  die 


65 

Melodie,  von  der  wir  liier  nicht  sprechen.  Was  aber 
den  Sexten- und  Sext  -  Quarten -Accord  anlangt,  so  ent- 
stehn  diese  dui'cli  Ilinzufügiuig  einer  Bass-Note,  welche 
entweder  der  Grundton,  oder  die  Terze,  oder  die 
Quinte  ist.  Dies  nun  verstärkt  wohl  eine  oder  andre 
Brechung,  verändert  sie  aber  auch  nicht.  "Wird  eine 
Brechung  durch  die  Terze  oder  Quinte  verstärkt,  so  ist 
die  Art  der  Auffassung  des  Harmonischen  nicht  im 
Gleichgewichte ;  (man  kann  sich  das  an  den  Figuren 
vor  Angen  stellen,  wenn  man  von  den  Strichen,  welche 
die  Brechung  anzeigen ,  einen  oder  den  andern  etwas 
dicker  oder  länger  zeichnet.)  Daher  gewähren  die  ab- 
geleiteten Accorde  nicht  die  vollkommene  Ruhe,  wie 
der  reine  Accord  besonders  dann,  w^enn  der  Grundion 
unten,  und  zugleich  die  Octave  oben  liegt.  Die  Octave 
bringt  keine  neue  Brechung  hervor;  sie  sichert  aber 
dem  Grundton  das  IJbergewicht,  indem  sie  nicht  ihn, 
wohl  aber  gemeinschaftlich  mit  ihm  die  beyden  andern 
Töne  bricht.  Wer  etwa  fragen  möchte ,  welcher  Ton 
das  Vorrecht  habe ,  der  Gruudton  zu  seyu ,  der  müsste 
vei'gesseu  haben,  dass  die  Quinte  die  vollkom- 
menste Consonanz  ist,  und  dagegen  die  Quarte, 
welche  aus  ihrer  Umkehrung  entsteht ,  ihr  in  der  Con- 
sonanz nicht  gleich  kommt.  Im  Accorde  von  c  muss  c 
selbst  der  Grimdton  seyn,  damit  g  als  Quinte  deutlich 
vernommen  werde ,  nicht  aber  etwa  die  Q)uarle  bilde ; 
und  so  bey  jedem  andern  reinen  Accorde.  Man  vergleiche, 
w^as  oben  (22  und  26)  von  der  Quinte  xuid  Quarte 
gesagt  worden.  Die  Quarte  endigt  nur  die  Wirksam- 
keit der  halben  Gleichheit,  die  Quinte  erst  endigt 
den  Streit  der  Gleichheit  wider  die  Gegensätze ;  und 
dadurch  kommt  sie  der  Octave  als  Consonanz  am  nächsten. 


66 

44.  Beslaligung  durcli  eine  That  Sache. 
Besonders  nierkvviirilig  ist,  dass  unler  allen  Lagen,  die 
man  dem  reinen  Accorde  geben  kann,  diejenige  am 
vollkonimenslen  das  Harmonische  fühlbar  macht,  welclie 
cnlsleht,  wenn  man  den  Accord  nicht  in  die  Distauz 
einer  Oclave  einschliesst ,  sondern  ihn  dergestalt  in  zwey 
Octaven  verlheilt,  dass  zunächst  über  dem  Grundton 
die  Quinte  liegt,  dann  statt  der  Terze  die  Decime  folgt, 
und  oben  ibe  zwe)  te  Oclave  den  Accord  abschliesst. 
Die  Folge  da\on  ist,  dass  der  Grundton  xuimitlelbar 
nur  durch  die  Quinte  gebrochen  wird,  luid  hiemit  voll- 
kommen consonirt ;  dann  aber  bey  der  Quinte  sowohl 
als  bey  der  Decime  sich  ein  Umstand  ereignet,  den  wir 
näher  beleuchten  müssen. 

INIan  vergleiche  Fig.  12  mit  Fig.  10,  und  eben  so 
Fig.  13  mit  Fig.  11.  Der  einzige  Unterschied  in  Anse- 
hung der  Töne  e  und  g,  es  und  g,  scheint  darin  zu  be- 
stehen, dass  die  Richtung  der  Brechungsstriche  etwas 
verändert  ist.  Allein  hiemit  hangt  eine  Erinnerung 
zusannnen  an  die  Bedingung,  unter  der  die  allge- 
meine  Schwelleuformel    zur  Anwendung    gelangt.      Soll 

c^^h    [/ auf  der  statischen  Schwelle  sevn:  so  müs- 

sen  ö,  /»,  c  im  vollkommenen  Gegensatze  stehen.  Nun  Ist 
zwar  jeder  Brechungsslrich  das  Zeichen  des  vollkom- 
menen Gegensatzes,  denn  er  sondert  die  Älischung  des 
Gleichen  und  Enlgcgengeselzten,  und  die  JNlischung  ist 
damit  rein  aufgehoben.  Allein  in  Fig.  10,  avo  der  Ac- 
cord als  innerhalb  einer  einzigen  Octave  eingeschlossen 
ei'scheiut,  ist  der  mittlere  Theil  zwischen  den  beyden 
Brechungsslrichen  z^^iefach  in  Betracht  zu  ziehen.  Ei- 
nerseits als  Entgegengesetztes,  anderutheils  als  ein  Stück 


67 

der  Gleichheit.  Um  dieses  für  einen  Fall  beyspiel weise 
vollends  zu  beleuchten,  nehme  man  in  Fig.  10  (h'e  Dar- 
stellung des  Tones  e.  Der  Theil  zwischen  heyden 
Brechungsstrichen  ist  einerseits  ein  Slück  von  dem,  was 
e  mit  g  Gleiches  hat,  und  in  so  fern  demjenigen,  was 
von  ilim  links  liegt,  rein  entgegengesetzt;  er  ist  ande- 
rerseits ein  Stück  von  dem,  was  e  mit  c  Gleiches  hat, 
und  in  so  fern  demjenigen,  was  von  ihm  rechts  liegt, 
rein  entgegengesetzt:  aber  in  anderer  Rücksicht  ist  er 
gleichartig  dem,  was  links  liegt,  wiefern  beydes  zusammen 
die  Gleicheit  mit  c  bezeichnet;  und  eben  so  gleichartig  dem, 
was  rechts  liegt,  wiefern  beydes  zusammen  die  Gleichheit 
mit  g  bezeichnet.  Dieses  In -wiefern  und  In-sofern  ver- 
schw^indet  bey  der  vollkommensten  Lage  des  reinen 
Accordes.  In  Fig.  12  sind  die  Theile  rechts  und  links 
die  Gleichheiten  nach  unten  und  nach  oben,  daher  unter 
einander  entgegengesetzt  wie  Unten  und  Oben;  der 
mittlere  Theil  aber  ist  nun  Gegensatz  in  doppeltem 
Sinne;  zugleich  nach  oben  und  nach  unten.  Dasselbe 
bemeikt  man  ohne  IMülie  bey  Fig.  11  vmd  13. 

45.  Antwort  auf  die  zweyte  Frage.  Da  der 
Grund  der  Harmonie  durch  die  Schwellen  form  el  ange- 
geben worden:  so  kann  es  scheinen,  dieser  Grund  wäre 
nicht  ausschliessend ,    wie   er  doch  seyn  soll.      Denn  in 

der  Formel    c-=.h    l^  — sind   a  und  h    beliebig   an- 

'^  a  +  b 
zunehmende  Grössen;  man  kann  demnach  für  c  unzäh- 
lige Werthe  finden.  Nun  kommt  zwar  hier  eine  zweyte 
Gleichung  hinzu ,  nämlicii  a  -\-  h  -\-  c  =  1 ,  indem  a ,  h, 
c  als  entstanden  aus  einer  einzigen  Vorstellung  zu  den- 
ken sind,  welche  Vorstellung  durch  Brechung  in  die 
Theile  a,  b,  c,    weder  grösser  noch  kleiner  wird,    son- 


68 

dem  (las  Eine  uiul  Ganze  ist,  worauf  jene,  als  Brüche 
desselben,  sich  beziehen.  Allein  wo  bleibt  die,  zur  völ- 
ligen Bestimmiuig  nölhige  drille  Gleichung?  —  Nach 
einer  solchen  darf  man  hier  gar  nicht  fragen ;  wir  ha- 
ben der  Bestimmungen  nur  zu  viele.  Es  sollen  näm- 
lich so  genau  als  möglich  diejenigen  Bestim- 
mungen vestgehalten  werden,  Avelche  in  den 
einzelnen  Intervallen,  wo  die  Töne  paar- 
weise genommen  wurden,  schon  liegen.  In 
diesem  Betracht  ist  die  Aufgabe,  den  reinen  Accord  zu 
conslruiren,  sogar  mehr  als  beslinunt,  und  eine  ganz 
genaue  Auilösung  überall  nicht  möglich.  Für  den  prakt*- 
schen  Gebrauch  genügt  eine  Annäherung  vollkommen  j 
aber  sie  ist  nur  in  den  beydeu  reinen  Accorden  erreichljar. 

46.  Auslührlichere  Beantwortung  der 
zweyten  Frage.  Da  die. Quinte  nächst  der  Octave 
die  vollkommenste  Consonanz  ist,  (22)  so  nehme  man 
zuvörderst  in  der  Schwellenformel  für  a  die  Gleichheit 
der  Quinte.  Der  Gegensalz  ist  =z  0,58578,  also  die 
Gleichheit  rr:  0,41421.  JMan  versuche,  ob  sich  hieraus, 
in  Veibindung  mit  jenen  beyden  Gleichungen ,  für  h  und 
c  solche  W^rlhe  gewinnen  lassen,  welche  der  Voraus- 
setzung entsprechen,  dass  die  reine  Quinte  aus  einer 
grossen  und  einer  kleineu  Tcrze  bestehen,  und  dieselben 
in  sich  fassen  solle. 

Die  drey  Bestimmungen  sind  also : 
a  -\~  h  -\-   c  ^:::z   \ 
a  =  0,41421 

c  =  b  /IL 

a-f  b 

Nun  ist    r  =  1   —  (a  -|-   h) 

]Man  setze  a  -|-  h  z=zx-^    und  h  =z  x  —  a,    so   konimt 


69 

1    —    2u;  -j-  :v^  ziz  : ,    \vürau»    die    Cleicliung 

:v 

a;3  —  (2  -|-  rt  )   a;2  _|.  ( 1  _|_  o^z^)  ^  —  a"'  =  0 
Diese    Gleichung     förjnlicli    aulVAilösen    ist    nicht    nölhlg, 
denn  man  kennt  x  schon  sehr  nahe.      Man  weiss ,    dass 

h  fast  ^==  Yj  -—  ^  j  "^^*i  ^  f^*'*^  — -  T"-  '■>  ^^^'^  sehi'  nahe 
a -|- Ä  r::^  a;  =  ^;  daher  ist  nur  die  gewöhnliche  Annä- 
herung zur  "Wurzel  nocli  übrig.  Also  setze  man  ;i;rz:^ 
-{-  u.     Nach  gehöi-iger  Rechnung  findet  man 

u  =:  0,0003. . .  woraus  b  =  0,3361 ;  o  =z  0,2497 
so  dass  b  noch  über  4,  c  noch  nicht  völlig  =:  ^  wird. 
Das  heisst:  die  grosse  Tei-ze  müsste  (freylich  sehr  we- 
nig) mehr  betragen,  als  ihr  die  gleichschwebende  Tem- 
peratur, einstimmig  mit  unserer  obigen  Angabe,  ein- 
räumt :  dagegen  weicht  die  kleine  Terze  merklich  ab 
sowohl  von  unsrer  frühern  Rechnimg  als  von  der  An- 
gabe der  Physiker,  während  ihr  die  gleichschwebende 
Temperatur,  nach  der  sie  nz:  ^  seyn  muss,  so  nahe  kommt 
als  man  irgend  verlangen  kann.  Unsre  frühere  Rech- 
nung, da  wir  die  kleine  Terz  unabhängig  vom  reinen 
Accorde  bestimmten,  gab  ihr  den  Gegensatz,  d.  h.  elie 
Entfernung  vom  Grundton,  =:  0,2612;  eine  so  grosse 
Distanz  passt  aber  nicht  in  den  reinen  Accord ,  näm- 
lich nach  der  jetzigen  Voraussetzung,  welche  sich  dar- 
auf stützt,  die  Quinte  solle  vollkommen  i'ein  seyn.  Be- 
kanntlich ^vird  ihr  dies  von  der  gleichschwebenden  Tem- 
peratur nicht  zugestanden ,  sondern  sie  muss  inn  ein 
"Weniges,  was  jedoch  dem  Gehör  schon  merklich  ist, 
abwärts  schweben ;  also  dem  Grundtone  sich  annähern. 
Dass  dies  einen  sehr  guten  Grund  hat,  wenn  man  ihn 
gleich  in  etwas  weiterer  Ferne  sachte ,  als  da ,  wo  er 
zu  allernächst  Hegt,    wird  sich  bald  vollends  aul klären. 


70 

47.  Zweyteus  uelinie  man  die  kleine  Terz  als 
schon  bestimmt  an,  nach  (31).  Ihr  Gegensatz  ist  dort 
m:  0,2612  gefunden  worden.  Nun  lasst  sich  zwar  schon 
vorausselm,  dass  dies  die  schlechteste  Bestinunung  des 
reinen  Accordes  seyn  wird.  Denn  wenn  c  =.  0,2612, 
mithin  grösser  als  vorhin,  so  zeigt  schon  die  Schwel- 
lenformel c  =.  b  f^ — ~ — ,  dass  b  ziemlich  nahe  propor- 
a  -|"  1^ 

tioual  mit  c  wachsen  muss,  Avelches  die  grosse  Terz 
noch  grosser,  die  Gleichheit  der  Quinte  kleiner,  also 
die  Quinte  selbst  nicht  kleiner,  sondern  grösser,  und 
über  den  Punct  der  Reinheit  hinaufgetrieben  gebep 
würde.  Indessen  wollen  wir  die  Rechnung  dennoch 
ausführen,  da  für  die  Untersuchung  dieser  Gegenstand 
bedeutend  ist.     Man  hat  also 

a-\-  b-\-c  =  l 

c  =  0,2612  . 

c=:b    l/Jl 
a+b 

Nun  ist  a  =  1  —  [}>  -\-  c),  und  a -\- b  =.  \  — c 

Daher      c'^  (1— c)  = /.^  (^\_i_c),  oder 

i3_/,2  (l_c)   =:c2  (1  — c)  =0 

wo  b  die  unbekannte  Grösse  ist. 

Da  b  nahe  :=  i ,  so  setze  man  &  =;  ^  -f-  "  5  die  Rech- 
nung ergiebt  jf  =  0,0336,  also  Ä  =  0,3669,  und  a  — 0,3719, 
so  dass  der  Gegensatz  der  Quinte  ::=  0,628,  welcher 
seyn  soll  =z  0,58578,  sogar  die  Hälfte  der  Distanz  von 
hier  bis  zmn  Gegensatz  der  kleinen  Sexte  —  welcher 
0,6666  beträgt,  —  noch  übersteigen  würde. 

48.  Drillens  nehme  man  die  grosse  Terz  als  schon 
beslinnnt  an;  nach  (31).  Ihr  Gegensatz  ist  dort  :=  ^ 
gefunden.     jNIan  hat  demnach 


71 

a  +  b 
IMaii  sclze    a-\-  b  :=.  x,  also  <;  =r  I  — x-,  luul 

(  1  —  a  )2  ^=  /;2.    ,  woraus 

X 

X^  —  2.i;2  -f-  (  1  _  ^2)    ^  _j.  /,5  —  0 

Wiederum  sey  :i;  r=:  ^  -{-  u ,  so  Ihulet  sich  u  ^=:  0,00 136, 
X  =  0,75 1 36 ,  a  =  x  —  h=:  0,4 1 80 ,  der  Gegensatz  der 
(^)uinte  =:  0,5819;  da  er  nun  seyii  sollte  n::  0,5857,  so 
braucht  mau  die  Quinte  nur  kaum  merklich  abwärts 
schweben  zu  lassen.  Der  Gegensatz  der  kleinen  Terz 
wird  jetzt  c  r=  0,2486 ,  also  sehr  wenig  kleiner  als  ^; 
daher  nunmehr  Alles  ganz  nahe  mit  der  gleichschwc- 
beudeu  Temperatur  übereinkommt,  welche  nach  dem, 
was  hier  entwickelt  worden,  wohl  nicht  mehr  für  ei- 
nen Nothbehelf  gelten   diirlte. 

49.  Beantwortung  der  dritten  Frage  (in  39). 
Die  sehr  befremdende  und  schwer  sclieinende  Frage, 
weshalb  das  IMoll  völlig  gleich  consonirend  wie  das 
Dur,  dennoch  —  man  weiss  nicht  recht  wie?  —  mui- 
der  befriedigt,  wie  jenes,  (so  dass  vortreffliclie  Musiker 
selbst  in  Werken,  die  dem  INIoll  angehören,  oft  ganz 
am  Ende  ansiall  des  IMoll  noch  im  Dur  schliessen,  lun 
den  letzten  FUdiepunct  zu  gewinnen);  weshalb  es  über- 
dies mehr  geeignet  ist,  Trauer,  Schwermulh,  Zorn, 
selbst  Grillen  und  Humor  auszudrücken,  als  das  Dur, 
während  es  zur  reinen  Heiterkeit  und  zum  Frohsinn 
nicht  passt:  diese  Frage  kann  auf  dem  jetzigen  Staud- 
puucle  der  Untersuchung  auf  eine  W^eise  beantwor- 
tet werden,  die  ins  Auge  fällt,  sobald  man  nur  auf  die 


72 

schon  bekannten  Zeiclinungen  zurückblickt.  Beym  Diir- 
Accorde,  wie  ihn  Fig.  10  darstellt ,  entsteht  der  schwäch- 
ste unter  den  drey  Theilcn,  worin  jede  Ton -Vorstel- 
lung gebroclien  wird ,  allemal  dadurch ,  dass  er  übrig 
bleibt,  naclidem  in  Bezug  auf  den  Grundton  die  grosse 
Terz  und  die  Quinte  vestgestellt  worden.  Beym  INIoU 
hingegen  ist  es  der  Grund  ton,  gegen  welchen  die  kleine 
Terz  unmittelbar  bestimmt  wird.  Hätte  nun  dies 
Intervall  freyen  Raum  im  reinen  Accorde ,  —  oder  dürfte 
der  Accord  ihm  genügend  construirt  werden,  so  läge 
hierin  nichts,  was  dem  Dur  nachstände.  Allein  es  ist 
(in  47)  gezeigt  worden,  dass  alsdann  die  grosse  Terz 
und  die  Quinte  unerträglich  müssten  überspannt  werden. 
Demnach  ist  nicht  bloss  die  kleine  Terz  gepresst,  son- 
dern im  Moll  fällt  die  Abweichung,  die  sie  erleidet,  auf 
den  Grundton  selbst ,  welcher  sich  vertiefen  müsste, 
wenn  dem  wahren  Verhältnisse  sollte  genügt  Averdeu. 
Dies  kann  eben  so  wenig  geschehen ,  als  die  Quinte  darf 
erhöhet  werden. 

50.  Vergleichung  mit  der  Angabe  der  Phy- 
siker. W'^as  die  kleine  Terz  anlangt,  so  ist  diese,  wie 
oben  schon  bemerkt,  nach  der  Bestimmvuig  durch  die 
Schwingungen  tönender  Körper  sogar  noch  grösser,  als 
wir  sie  fanden ;  nämlich  ihr  Gegensatz  beträgt  nicht  bloss 
0,2612,  sondern  0,  26303.  So  hätte  sie  noch  weniger 
Platz  im  reinen  Accorde.  Dagegen  verengt  die  Angabe 
der  Physiker  die  grosse  Terz  so  sehr ,  dass ,  wenn  sol- 
ches dem  musikalischen  Denken  gemäss  wäre,  die  gleich- 
schwebende Temperatur  unerträglich  seyn  müssle.  Wäh- 
rend nun  diese  ein  unverwerlliches  Zeugniss  gegen  das 
Verfahren ,  Töne  nach  Schwingungen  der  tönenden  Kör- 
per zu  bestimmen ,    ablegt :    versperrt    die  physikalische 


73 

Ansicht  sich  ganz  und  gai-  den  "Weg ,  zwischen  Dur  und 
Moll  einen  -w-esentllchen  Unterschied  zu  linden.  Ihr  ist 
der  i-eine  iVccord  immer  recht,  denn  immer  giebt  0,2G303 
den  Abstand  der  kleinen,  0,32193  den  Abstand  der 
grossen  Terz ;  und  immer  ist  0,32193  -f  0,26303  =  0,58496, 
dem  Gegensatz  der  Quinte,  ob  nim  die  kleine  Terz  un- 
ter oder  über  der  gi'ossen  liege.  Die  Tauschung ,  dass 
hierin  kein  wesentlicher  harmonischer  Unterschied  lie- 
gen könne,  wird  desto  vollständiger,  da  die  bekannte- 
sten Thatsachen  es  bezeugen ,  dass  durch  Umkehrungen, 
w^ie  man  sie  auch  anstellen  möge ,  kein  Intervall  seinen 
harmonischen  Wertli  verändert;  —  nämlich  wenn  das 
Intervall  selbst  umgekehrt  wird. 

51.  Frage.  Woher  rührt  es,  dass  die  INIusik 
bey  einiger  Abweichung  von  der  strengen  Reinheit  (die 
sich  in  der  Ausführung  olmehiu  nicht  mit  mathemati- 
scher Genauigkeit  erreichen  lässt)  noch  verständlich  und 
selbst  wohlklingend  bleibt?  Und  wie  lassen  sich  dafür 
mit  einiger  Bestimmtheit  die  Granzen  angeben? 

52.  Jenes  rührt  nicht  bloss  her  von  Unvollkom- 
menlieiten  des  Geliörs,  sondern  wesentlich  auch  davon, 
dass  einige  Verschiedenheit  in  der  Art,  den  reinen  Ac- 
cord  zu  bestimmen,  (vergl.  46  und  48)  und  einige  Ab- 
weichung der  hieraus  hervorgehenden  von  den  ursprüng- 
lichen Intervallen  muss  zugelassen  werden.  Was  inner- 
halb der  Gränzen  solcher  Verschiedenheit  und  Abwei- 
chung schwebt ,  kann  nicht  schlechthin  als  unrein  ver- 
worfen werden. 

53.  Zusatz.  Indem  wir  zu  den  beyden  Gleichun- 
gen a-\-  h  -\-  c=  1  und  c  =  b    y    ^   noch    eine  Be- 

a-|-  b 

Stimmung    für   ein    schon   vestgestelltes    Intervall, 


74 

also  für  «,  oder  für  b,  oder  für  c  hiiizunaluuea :  er- 
schöpften wir  die  ganze  Sphäre  der  Möglichkeit  rei- 
ner Accorde;  (denn  dass  nicht  daran  zu  denken  war, 
eUva  die  falsche  Quinte  oder  die  Secunde  mit  den  Be- 
dingungen des  reinen  Accordes  zu  vereinigen,  übersieht 
mau  auf  den  ersten  Blick)  wenn  wir  also  jetzt  weiter 
fortgehn,  so  verlassen  wir  gewiss  diese  Sphäre;  aber 
es  fragt  sich,  ob  wir  damit  sogleich  in  das  Gebiet  der 
Dissonanz  eintreten  werden,  oder  ob  es  noch  etwas 
IMillleres  gebe?  Dies  veranlasst  zunächst,  an  Thalsachen 
zu  erinnern. 

54.  That Sachen.  Es  giebt  Accorde,  denen  die 
Ruhe  der  reinen  Accorde  fehlt,  bey  denen  man  also 
nicht  bleiben  kann,  sondern  auf  welche  etwas  folgen 
muss.  In  einigen  dieser  Accorde  sind  Töne,  die  eine 
bestimmte  Pachtung  anzeigen,  wohin  man,  von  ihnen 
ausgehend,  sich  -wenden  müsse.  Diese  Töne  heissen 
Dissonanzen  im  engei'n  Sinne.  Dasjenige  Beispiel,  was 
sich  als  das  nächste,  gewöhnlichste  darbietet,  ist  die 
kleine  Septime  im  Septimen-Accorde  mit  der  grossen  Terz. 

Die  Frage,  wie  sind  Dissonanzen  möglich? 
zerfällt  hiemit  in  die  allgemeinere :  wie  kann  es  Accorde 
geben,  denen  eine  solche  Unruhe  iuwohnt,  dass  man 
bei  ihnen  nicht  bleiben  könne?  und  in  die  mehr  spe- 
cielle :  wie  kann  es  in  diesen  Accorden  Töne  geben,  die  als 
Dissonanzen  eine  bestimmte  Art  von  Auflösung  erfodern? 

55.  Thatsaclie.  Derjenige  Accord,  welcher  aus 
dem  JMoU  entspringt,  wenn  man  in  ihm  anstatt  der 
reinen  Quinte  die  falsche  nimmt,  enthält  keine  Disso- 
nanz im  engern  Sinne  (54);  aber  es  liegt  in  ihm  eine 
unbestimmte  Unruhe ,  vermöge  deren  man  bey  ihm  nicht 
bleiben,  dagegen  aber  auf  verschiedene  Weise    von  ihm 


75 

aus  fortschreiten  kann.  Man  sehe  die  bekannten  Fort- 
schreitungen in  Fig.  14,  15,  16,  welchen,  wenn  man 
die  INIelodie  nicht  zu  verletzen  fürchtet,  der  über- 
mässige Secundensprung  Fig.  17  um  so  mehr  beygefügt 
werden  kann,  da  das  Harmonische  in  Fig.  18  eigent- 
lich das  nämliche  ist. 

56.  Frage.  Was  ist  der  Grund  der  Unruhe  in 
dem  vermintlerten  Dreyklange? 

57.  Vorbereitung  der  Antwort.  Innere  Un- 
ruhe ,  vermöge  deren  etwas  nicht  bleiben  kann ,  ent- 
hält eine  Negation,  die  nicht  auf  etwas  Äusseres,  also 
auf  einen  Punct  im  Innern  gerichtet  seyn  muss.  So 
lange  man  nicht  Eins  vom  Andern  im  Innern  dergestalt 
unterscheiden  kann,  dass  klar  werde,  w^ie  imd  warum 
jenes  diesem  widerstreite,  lässt  sich  der  Grund  der  in- 
nern  Unruhe  nicht  augeben.  Im  vorliegenden  Falle  kennt 
man  nun  zwar  die  falsche  Quinte,  bey  welcher  jeder 
Ton  in  zwey  gleiche  und  entgegengesetzte  Kräfte  ge- 
brochen wird ;  allein  diejenige  Unruhe ,  Avelclie  daraus 
entsteht,  ist  nicht  nolhweudig  dieselbe  wie  im  erwähn- 
ten Accorde ;  denn  sie  nünmt  einen  ganz  andern  Cha- 
rakter an,  und  gewinnt  die  Bestimmtheit  einer  eigent- 
lichen Dissonanz,  Avenn  man  einen  Grundton  hinzufügt, 
gegen  welchen  die  falsche  Quinte  zur  Septime  wird ; 
z.  B.  wenn  man  zu  h  f  den  Grundton  g  oder  gis  hin- 
zudenkt. Auch  kann  zu  den  nämlichen  Tönen,  die  wir 
h.  f  nannten,  eis  hinzukommen,  dann  entsteht  eine  ganz 
andre  Bestimmtheit;  nun  wird/  als  übermässige  Quarte 
gegen  h,  die  aufwärts  strebt,  vei-nommen,  unter  dem  Na- 
men eis,  ohne  dass  der  Ton  selbst  merklich  braucht 
verändert  zu  werden;  den  wir  vielmehr  gemäss  der 
gleichschwebenden    Temperatur,     beständig    als    in    der 


76 

Mitte  der  Octave  von  h  zum  höhern  h  slebeud  voraus- 
setzen. Die  falsche  Quinte  allein  wüide  also  die  iiu- 
bestiinuite  Unruhe  des  Accordes  h  d  f  nicht  erklären, 
viel  weniger  die  Verschiedenheit  seiner  Fortschreitun- 
gen begreiflich  macheu. 

58.  Antwort.  JNIan  kennt  aus  dem  Obigen  den 
Gegensatz  der  kleinen  Terz.  Beyde  kleine  ,Terzen  h  d 
imd  d  f  sollen  hier  passen  in  die  Distanz  der  falschen 
Quinte  h  f.  Allein  wenn  wir  den  Gegensatz  der  klei- 
nen Terz  =0,2612  verdoppeln,  so  giebt  dies  0,5224; 
welches  sehr  merklich  grösser  ist  als  die  Distanz  der 
falschen  Quinte  z=z  0,5.  Um  diese  Grösse  zu  schätzen, 
muss  mau  sie  mit  der  Distanz  der  falschen  und  reinen 
Quinte  vergleichen,  die  wir  oben  =0,08578  fanden. 
Die  Überschreitung  der  falschen  Quinte,  welche  zwey 
kleine  Terzen  hervorbringen  würden,  beträgt,  wie  man 
sieht,  0,0224,  nähme  mau  sie  vierfach,  so  käme  0,0896; 
also  nähert  sich  eine  so  arg  überschrittene  falsche  Quinte 
um  jnehr  als  ein  Viertel  der  Distanz,  ihrer  Nachbarin, 
der  reinen  Quinte.  Eine  solche  Abweichung  von  der 
ursprünglichen  Bestimmung  der  Intervalle  ist  unmög- 
lich ;  sie  Avürde  allen  Zusanmienhang  der  JMiisik  aufhe- 
ben. Also  die  falsche  Quinte  bleibt ;  aber  jede  der 
kleinen  Terzen  wird  beynahe  in  den  nämlichen  Piaum 
eingeengt,  den  im  reinen  Accoi'de  eine  einzelne  bekommt. 
Hiezu  kommt  noch  ein  andrer  Umstand,  den  die  Figur 
bemerklich  macht. 

In  Fig.  19  sieht  man  die  Brechung  des  Grundtons 
h  durch  d  und  /.  Die  drey  Theile  sind  im  Verhält- 
nisse von  6,  3,  3;  oder  2,  1,  1.  War  schon  Gleich- 
heit der  Kräfte  zwisclien  den  Theilen ,  welche  in  der 
falschen  Quinte    gebrochen    sind;    so  ist    nun  wiederum 


77 

Gleichheit  der  Kräfte,  also  grösst-mögliclier  Streit  ohne 
Sieg,  zwischen  den  beyden  kleinern,  unter  sich  entge- 
gengesetzten Theilen. 

Demnach ,  während  das  Streben ,  die  kleinen  Terzen 
rein  zu  hören,  wider  die  falsche  Quinte  wirkt,  sind 
auch  nocli  die  beyden  Terzen  unter  sich  im  Widerstreit. 

Kennte  man  nicht  thatsachlicli  diesen  Accord :  -würde 
man  es  einer  Theorie  wohl  glauben,  dass  die  blosse 
Veränderung  der  reinen  Quinte  in  die  falsche,  durch 
Erniedrigung  eines  Tones  um  ein  Zwölftheil  der  Octave, 
eine  solche  Corruption  des  reinen  Accordes  hervorbrin- 
gen könne?  Vermuthlich  eben  so  wenig,  als  der  Un- 
kundige das,  %vorauf  es  ankommt,  in  den  Zeichnungen 
erblicken  wird. 

Was  nun  die  Fortschreitungen  anlangt :  so  hat  zwar 
derjenige  Ton ,  der  einer  eigentlichen  Dissonanz  am  näch- 
sten kommt,  nämlich  die  falsche  Quinte,  eine  vorwie- 
gende Neigung  nach  unten,  aber  nicht  mit  der  Entschie- 
denheit, wie  wenn  derselbe  zur  Septime  ^vird.  Wollte 
man  in  Fig  15  den  Gruudton  g  hinzufügen  oder  hinzu- 
denken ,  so  würde  die  Fortschreitung  /  g  nicht  ertra- 
gen werden.  Dagegen ,  dass  die  Fortschreitung  / 
gis  nur  des  Secundensprunges  wegen  gern  vermieden 
wird,  während  sie  in  der  Umkehrung  (Fig.  18)  höchst 
gewöhnlich  ist,  —  dies  zeigt  gerade,  dass  ein,  für  die 
Harmonie  zufälliger.  Umstand  den  Grund  der  vorherr- 
schenden Neigung  nach  unten  enthält.  Setzt  man,  wie 
in  der  Tonleiter,  von  a  moll,  fis  statt  /",  so  ist  durch 
diese ,  der  Tonart  fremdartige  Erhöhung  der  Weg  nach 
oben  geöffnet,  und  es  fehlt  nicht  am  Streben,  ihn  zu 
betreten. 

In  dem  Allen    ist   nichts   Anderes   zu   erkennen,    als 


78 

eine  Compresslon  der  Terzen  durch  die  falsche  Quinte, 
wobey  es  auf  Nebenumstande  der  Tonart  und  dessen 
was  vorhergeht,  ankommt,  nach  welcher  Seite  hin  der 
Druck  gelüftet  werde.  Der  Druck  entsteht  hier  aus 
dem  Bestreben,  das  Intervall  in  seiner  eigenthümlichen 
Bestimmtheit  zu  vernehmen. 

59.  Thatsachen.  In  den  verschiedenen  Septimen- 
Accorden,  sammt  deren  Umwandlungen,  sind  die  Septi- 
men selbst  Dissonanzen  im  engeren  Sinne;  das  heisst, 
sie  bestimmen  die  Fortschreitung,  durch  welche  sie  auf- 
zulösen sind. 

Dies  aber  gilt  in  ganz  vorzüglichem  Grade  von  der 
kleinen  Septime  in  Verbindung  mit  der  reinen  Quinte 
und  grossen  Terz ,  welche  letztere  dann  zum  Leitton  wird. 

CO.  Frage.  Woher  rührt  diese  Entschiedenheit, 
womit  der  eben  erwähnte  Septimen -Accord  die  ihm  ge- 
bührende Auflösung  anzeigt  und  fordert? 

61.  Vorbereitung  zur  Autwort.  In  der  klei- 
nen Septime,  für  sich  allein  betrachtet,  kann  der  Grund 
nicht  liegen.     Denn: 

Ei'stlich:  für 'sich  allein  lasst  sich  die  kleine  Septime 
von  der  übermassigen  Sexte  nicht  zulänglich  unterschei- 
den. Wenn  man  in  (38)  zum  Gegensatze  der  grossen 
Sexte  ziz  0,73879  einen  halben  Ton  als  Erhöhung  der- 
selben addirt  und  den  halben  Ton  (dessen  Grösse,  wie 
dort  gezeigt,  sich  nicht  bestimmt  angeben  lasst,)  auch 
nur  zu  0,08088  annimmt,  so  kommt  schon  0,81967  als 
Gegensatz  der  übermässigen  Sexte;  nimmt  man  ihn, 
was  eben  so  füglich  geschehen  kann ,  rr  0,08578  ( der 
Unterschied  der  falschen  Quinte  von  der  reinen,)  so 
ergiebt  sich  für  die  übermässige  Sexte  der  Gegensatz, 
oder  die    Distanz   vom  Grundion ,  =:  0,82457.      Beydes 


79 

ist  von  0,  S2841,  dem  Gegensatze  der  kleinen  Septime, 
nicht  hinlänglich  verschieden,  um  zu  erklaren,  -Nveshalb 
die  Septime,  wie  c  i,  nach  innen  zu  c  a,  hingegen  die 
übermässige  Sexte,  wie  c  ais ,  nach  aussen  zu  h  h  hin- 
drängt. 

Zweytens.  Die  kleine  Septime  sowohl  als  ihr  Um- 
gekehrtes, die  grosse  Secunde ,  sind  nicht  ursprünglich 
verständliche  Intervalle.  IJberlegt  man  die  Weise,  wie 
ihre  Bestimmungen ,  unabhängig  von  einander  und  doch 
genau  zusammentreffend ,  oben  gewonnen  wurden  ( 36 ), 
so  sieht  man  gleich,  dass  die  Auffassung  eines  solchen 
Intervalls  nicht  unmittelbar  geschehn  kann.  Soll  die 
kleine  Septime  aufgefasst  werden,  so  müssen  die  Töne 
dergestalt  abwechselnd  vernommen  seyn,  dass  jeder 
sich  in  der  Verschmelzung  das  Gleiche  des  andern  zueig- 
nen konnte ;  dann  müssen  sie  wieder  ziisanniien  klingen, 
damit  nun  erst  das  Übergewicht  der  vorhin  vei'stärkten 
Vorstellungen  über  dem  Entgegengesetzten  der  einzel- 
nen empfunden  werde.  Soll  die  grosse  Secunde  zur 
Auffassung  gelangen,  so  müssen  zuvor  beyde  Töne  zu- 
gleich vernommen ,  und  durch  die  halbe  Gleichheit  mög- 
lichst vereinigt  seyn ;  dann  müssen  sie  wieder  abwech- 
selnd gehört  werdeir,  damit  sie  als  einzelne  der  vori- 
gen zwiefachen  Vereinigung  widei'stehend  noch  eben 
aus  derselben  hervorlauchen. 

Zusatz.  Der  hier  gefoderte  Wechsel  kann  einige 
INIodification  dadurch  ei-leiden,  dass  bey  längerem  Hören 
verweilend  die  Empfänglichkeit  für  das  Gleiche  all- 
mählig  abnimmt,  und  das  Entgegengesetzte  sich  mehr 
verstärkt.  *)     Darauf  kann  hier  niclit  eingegangen  werden. 

')  Psychologie   §.  98. 


80 

62.  Antwort.  Zuerst  kommt  es  auf  den  Zusam- 
menhang an,  damit  man  nicht  die  übermässige  Sexte  zu 
hören  glaube.  In  Fig.  20  hört  Jedermann  ais ,  und 
nicht  h;  denn  man  ist  im  Zusammenhange  von  e  moll. 
Hingegen  in  Fig.  21,  wo  ä  zum  reinen  Accorde  von  c  dur 
hinzutritt,  denkt  Niemand  an  ais.  Nur  von  Fällen  wie 
der  letzten  reden  wir  hier. 

Wir  setzen  demnach  den  reinen  Dur-Accord  voraus, 
zu  welchem  die  kleine  Septime  hinzutrete ;  und  betrach- 
ten zuerst  die  Veränderung,  die  sie  hervorbringt. 

Zuvörderst  zeigt  die  Fig.  22 ,  verglichen  mit  Fig.  10, 
dass  durch  den  Einbruch  der  Septime  der  reine  Acccrd 
in  seinem  stärksten  Theile  verletzt,  —  also  gewiss 
verunreinigt  wird.  Denn  sowohl  in  c ,  als  in  e ,  als  in 
g  kommt  der  Theilungsstrich,  welcher  h  bezeichnet,  fast 
in  die  Mitte  der  fünf  Zwölftel  hinein,  welche  das  Über- 
gewicht hatten. 

Zweytens:  nun  gewinnt  der  Theil,  welcher  vier 
Zwölftel  beträgt,  und  durch  die  grosse  Terz  abgeschnit- 
ten ist,  das  IJbergewicht. 

Drittens:  vs^iewohl  auch  der  kleinste  Theil,  welchen 
im  reinen  Accox'de  Terz  und  Quinte  übrig  liessen,  jetzt 
aus  dem  Drucke,  der  ihn  zur  statischen  Schwelle  trieb, 
auftaucht:  so  ist  doch  sein  Hervortreten  geringer,  als 
das  der  vier  Zwölftel;  dadurch  wird  an  der  Gränze, 
welche  die  grosse  Terz  bezeichnet,  nur  der  Conflict 
vermehrt. 

Endlich  viertens :  der  kleinste  Theil  von  zwey  Zwölf- 
teln, welchen  jetzt  die  Septime  abschneidet,  sollte  auf 
die  statische  Schwelle  fallen,  und  zwar  schnell,  so  dass 
er  bald  ganz  aufhören  würde,  zu  der  Bestimmung  des- 
sen,   was  vorgestellt  werde,   mitzuwirken.      Allein    die 


81 

Vorstellung  jedes  Tons,  wie  sie  auch  gebrochen  werde, 
bleibt  immer  eine  und  dieselbe;  und  so  lange  sie  selbst 
nicht  ganz  gehemmt  oder  verändert  ist,  kann  auch  kein 
Theil  von  ihr  sich  so  absondern,  als  ob  unabhängig  von 
ihm  das  Übrige  den  Zustand  des  Vorstellens  bestimmte. 
Daher  muss  in  Ansehung  dieses  kleinsten  Theils  die 
ganze  Vorstellung  in  einen  Zustand  gerathen,  den  wir 
nur  nach  einer  entfernten  Analogie  mit  dem,  was  in 
der  Metaphysik  Selbsterhal  tu  ng  heisst^  mit  der  glei- 
chen Benennung  bezeichnen  können. 

63.  Fortsetzung.  Es  folge  die  Aullösung ,  wie 
Fig.  23  zeigt:  was  geschieht  dadurch? 

Erstlich ,  der  Theil ,  welcher  schon  mit  seinem  Über- 
gewicht die  andere  drängte,  wird  noch  verstärkt,  in- 
dem die  grosse  Terz  (durch  die  Forlschreitung  des  Leit- 
tons) sich  zur  Quarte  erweitert,  (welche  Quarte  bey 
gehöriger  Bewegung  des  Basses  zur  Octave  des  neuen 
Gruudtons  wird.)  Dadurch  geschieht,  was  dem  Über- 
gewichte gemäss  ist;  es  wird  gleichsam  seiner  Forde- 
rung entsprochen. 

Zweyteus,  die  beyden  kleinen  Terzen  geben  der  Com- 
pression  (58)  nach,  indem  sie  in  eine  grosse  zusam- 
menfallen.    Sie  gehorchen  dem  Drucke. 

Drittens:  dem  Streben  der  Selbsterhaltung  in  Anse- 
hung des  kleinsten  Tlieiis  wird  ebenfalls  genügt,  indem 
derselbe  sich  bis  zu  dem  Raum  der  kleinen  Terze  (statt 
deren  die  grosse  Sexte  eintrit,)  erweitert.  Hiezu  fol- 
gende Erläuterungen : 

64.  Was  die  eben  erwähnte  Compression  anlangt, 
so  ist  sie  noch  grösser  als  aus  (58)  schon  erhellet.  Man 
addire  den  Gegensatz  der  grossen  Terz  zu  den  Gegen- 
sätzen zweyer  kleiner  Terzen,    um  zu  sehn,    ob  daraus 

F 


82 

die  kloine  Septime  entslelm  könne.  Wir  wissen,  dass 
im  reinen  Accorde  die  grosse  Terz  mindestens  ^  be- 
tragen muss;  (46,47,48);  aus  0,3333 -j- 0,2612 -f  0,2612 
wird  aber  0,8557,  wälirend  der  Gegensatz  der  kleinen 
Septime  nur  0,82841  gefunden  wurde.  Nicht  einmal 
eine  grosse  Terz  und  falsche  Quinte  hat  Raum  genug 
in  der  kleinen  Septime,  denn  jene  beyden  ergeben  0,8333. 
Also  wird  selbst  die  falsche  Quinte  gepresst,  da,  wie 
wir  gesehn  haben,  (xuid  wie  das  Gefühl  des  Leittons 
Jeden  lehrt)  die  grosse  Terz  im  Septimen- Accorde  sich 
ein  Übergewicht  aneignet,  indem  die  Septime  den  rei- 
nen Accord  stört.  Die  Terz  giebt  nicht  nach;  die  fal- 
sche Quinte  muss  sich  in  die  Septime  fügen ;  sie  thut 
es,  indem  sie  sich  zusammenzieht. 

65.  Aber  mau  könnte  fragen,  ob  denn  der  Septime 
eine  Kraft  eigen  sey,  die  falsche  Quinte  zu  unterwerfen? 

Zuvörderst,  wenn  die  Töne,  welche  die  kleine  Septime 
bilden,  des  Zusanuneuhanges  wegen  als  übermässige 
Sexte  vorkommen  werden ,  —  nicht  leiblich  sondern  im 
musikalischen  Denken,  in  welchem  allein  der  Unter- 
schied liegt,  —  so  erfolgt  das  Umgekehrte.  Die  über- 
mässige Sexte  wird  gesprengt  wie  von  einer  ausdehnen- 
den Gewalt.  Vgl.  Fig.  20.  Der  Septime  braucht  in- 
dessen nicht  der  Zusammenhang  mit  schon  früher  ange- 
regten musikalischen  Gedanken  die  Kraft  zu  geben, 
comprimireud  sowohl  auf  die  falsche  Quinte  als  auf  die 
darin  enthalteneu  Terzen  zu  wirken ;  sondern  die  über- 
mässige Sexte  ist  es,  welche  erst  aus  dem  Zusammen- 
hange erhellet,  wenn  sie  vorkommt;  alsdann  aber  ist 
zugleich  die  falsche  Quinte  nicht  vorhanden,  sondern 
die  Töne,  aus  denen  sie  besieht,  werden  als  übermässige 
Quarte  vernommen.     Das  Umgekehrte  der  übermässigen. 


Sexte  ist  die  veriiiiiideite  kleine  Terz  (wie  ais  c ,) 
diese  aber  kann  gleichfalls  nur  in  Folge  des  Zusam- 
menhangs vernommen  werden;  die  Töne,  aus  denen  sie 
besteht,  bilden  an  sich  eine  grosse  Secunde.  Da  nun 
dies  factisch  veststeht,  so  kann  auch  die  Thatsache, 
da  SS  die  kleine  Septime  im  Septimen- Accorde  gegen 
die  darin  liegende  falsche  Quinte  zusammenziehend  wirke, 
nicht  bezweifelt  werden.  Unter  den  Erklärungsgründen 
aber,  die  schon  oben  (62)  dafür  angegeben  worden, 
ist  einer,  der  einer  Auseinandersetzung  bedarf,  näm- 
lich der,  welcher  davon  hergenommen  ist,  dass  der 
kleine  Theil  von  zwey  Zwölfteln ,  welchen  die  Septime 
in  dem  Grundtone  und  in  allen  Tönen  des  reinen  Accor- 
des  abschneidet,  auf  die  statische  Schwelle  gedrängt  wird. 
66.  Dass  neben  dreyen  geistigen  Kräften,  die  sich 
verhalten  wie  4,  3,  3,  eine  vierte,  die  nicht  stärker 
ist  als  die  Verhältnisszahl  2  anzeigt,  nicht  bestimmend 
wirksam  bleiben  könjie ,  zeigt  sich  in  Folge  der  Schwel- 
len form  el 

j  __  //"abc  (b-Hc) 
bc-^-ac-|-ab 
welche  gefunden  wird,  wenn  man  In  der  bekannten 
Hemmungs -Rechnung  für  a,  Z»,  c,  d  erstlich  berechnet, 
wieviel  von  d,  der  schwächsten  Kraft,  zu  hemmen  ist, 
und  dies  alsdann  :=.  d  setzt.  *)  Nehmen  wir  in  der 
Formel  h  =z  c ,  so  wird  kürzer 

d=    /"^ 
2a  +  b 

und  dies  giebt  für  a  :=  4 ,  ä  rr:  3 ,  den  Werth  yfW 
■=.  2,5584.  Hätte  der  kleinste  Theil  unter  denen,  welche 
beym   Septimen- Accorde   avis    der    Brechung    in   jedem 

')  Psychologie    §.   51. 

F* 


84 

Tone  entstelin,  diese  Grösse,  und  könnten  dabey  (was 
unmöglicli)  die  andern  bleiben  wie  sie  sind:  so  wäre 
liier  etwas  Älinlicljes  wie  beym  reinen  Accorde.  Eine 
geistige  Kraft,  die  gerade  nur  auf  die  statische  Schwelle 
gedrängt  zu  werden  geeignet  ist,  kommt  nur  in  unend- 
licher Zeit,  d.  h.  niemals  dahin;  sie  wird  nicht  wirk- 
lich luiterdriickt ,  sondern,  sie  vermag  nur  nicht,  den 
Conllict  der  andern  unter  sich  zu  vergrössern ;  dereu 
Hemmungs- Summe  vielmehr  desto  langsamer  sinkt,  je 
mehr  davon  auf  die  schwächste  fällt.  So  ists  beym  rei- 
nen Accorde.  In  dem  Falle  des  Septimen- Accoixles  aber 
kann  man  fragen,  wieviel  wohl  daran  fehle,  dass  es 
sich  hier  eben  so  verhalte?  Gesetzt,  der  kleine  Theil 
von  zwey  Zwölfteln  ^\^i-de  vergrössert,  und  in  Fig.  22 
rückte  der  Theilungsstrich,  welcher  von  b  herrülirt,  (im 
Septimen -x'Vccorde  von  c)  etwas  weiter  vor,  um  die 
Vergrösserung  auszudrücken:  so  würde  derjenige  Theil, 
welcher  von  der  kleinen  Terze  h  g  herrührt,  um  eben 
so  viel  kleiner.  Angenonunen  ferner,  die  grosse  Terze 
erweitere  sich  um  eben  so  viel,  und  die  kleine  Terz 
g  e  Averde  dadurch  verengt :  so  lässl  sich  bestimmen, 
welche  Veränderung  mit  dem  Septimen- Accorde  vor- 
gehu  müsste,  wenn  er  jener  Bedingung  der  Harmonie, 
dass  der  schwächste  Theil  auf  die  Schwelle  zu  sinken 
bestimmt,  und  hiemit  gegen  die  andern  Theile  entwaff- 
net sey ,  —  Genüge  leisten  sollte.  Nennen  wir  das 
kleine  Quantum  der  Veränderung,  die  mit  jedem  der 
vier  Tlieile  vorgehn  soll,  x,  da  es  noch  unbekannt  ist: 
so  ist  4 -|- a;  anstatt  4,3 — x  anstatt  3,  und  noch2-|-a; 
statt  2,  in  die  B'ormel  für  //  zu  setzen.     Also 

d=  /4Ii±ZI5EZ)!z=2+. 

2(4  +  .v)4-(3-.) 


85  , 

Geordnet :  28  —  78 .»;  —  19  t'^  -j-  a;3  =  0 
Da  man  weiss,  dass  o;  nur  ein  kleiner  Bruch  seyn  kann, 
so  lasse  mau  co^  einstweilen  weg,  luid  behandle  die 
Gleichung  wie  eine  c^uadralische.  Oder,  da  mau  aus 
den  ersten  Gliedern  schon  sieht,  dass  o;  nahe  i=:|-|i:z4j*, 
mithin  wenig  über  0,3  seyn  müsse,  so  nehme  man  x^ 
0,027 ;  alsdann  hat  man  28,027  —  78  x  —  19  :i;2  —  0,  oder 
a;2-f  4,1053  a;  =  1,4751 
vuid      x  =  —  2,0526  rt  A^(  2,0526  )2 -}-  1,47^1 

=  0,3324  (wobey  ^  als  Einheit  zu  denken  ist.) 
Sollte  um  so  viel  die  grosse  Terz  erhöliet,  und  zu- 
gleich die  Septime  erniedrigt  werden,  so  würde  die 
falsche  Quinte  sich  einer  Quarte  um  mehr  als  die  Hälfte 
eines  Zwölftels  der  Octave  (also  eines  halben  Tons) 
nähern.  Eine  so  gewaltsame  Veränderung  der  Inter- 
valle -würde  sich  zu  keinem  Versuche  eignen ;  man  kann 
aber  ziemlich  nahe  dasselbe  Resultat  auf  eine  weit  glimpf- 
lichere Weise  erreichen.  Die  gesuchte  Quadratwurzel 
wird  nicht  viel  grösser  ausfallen,  wenn  die  grosse  Terz 
nur  um  ein  Fünftheil  eines  halben  Tons  erhöhet,  die 
Septime  um  etwas  mehr  als  ein  Viertheil  desselben  er- 
niedrigt wird.  Man  hatte  ursprünglich  die  gegebenen 
Zahlen  4,  3,  3,  2;    nun  setze  man 

anstatt  4  3  3  2 

jetzt  4,2  2,8  2,7  2 -f  a; 
so  findet  man  durch  Ausziehung  der  Quadratwurzel 
aus  dem  Bruche ,  der  jetzt  durch  bekannte  Grössen  ge- 
geben ist,  x  =  0,386,  welches  anzeigt,  dass  bey  der  an- 
genommenen Bestimmung  der  kleinste  Theil  nicht  mehr 
weit  von  der  statischen  Schwelle  entfernt  ist. 

Um    dem  gemäss    einen    leichten  Versuch    nur  oben- 
hin,   (denn    grosse   Genauigkeit    würde    die  JMühe    nicht 


86 

Jolineu),  anzustellen,  kann  man  auf  einem  Pianoforle 
elwan  die  Töne  e  und  h  des  Septimen- Accoixles  von 
c,  um  etwas  verslimmen ;  es  ist  nicht  schwer,  nach  dem 
Gehör  die  grosse  Terz  e  ungefähr  luii  ein  Fünftel  des 
halben  Tons  zu  erhöhen ,  und  zugleich  die  falsche  Quinte 
h  reichlich  um  ein  Viertheii  des  halben  Tons  zu  er- 
niedrigen. Schlägt  man  den  so  verstimmten  Septimen- 
Accord  an ,  so  ist  der  erste  Eindruck  wegen  der  schreyend- 
iiberspannten  grossen  Terz  sehr  widrig;  da  aber  dieses 
seinen  Hauptgrund  in  den  Schwingungen  der  Saiten  hat, 
also  dem  leiblichen  Hören  zur  Last  fällt,  so  suche  man 
den  Versuch  davon  zu  befreyen.  Dies  gelingt  meistens, 
wenn  man  gleichzeitig  im  Basse  ein  paar  vuitere  Octaven 
des  Grundtons  c  stark  anschlägt,  und  nach  einer  klei- 
nen Weile  die  linke  Hand  aufhebt,  während  die  rechte 
noch  den  verstimmten  Accord  vesthält.  Man  vernimmt 
nun  das  Nachlönen  desselben.  Der  verdorbene  Septimen- 
Accord  ist  noch  zu  erkennen;  aber  die  Dissonanz  hat 
ihr  Salz  verloren;  das  Getön  ist  nicht  gerade  beleidi- 
gend, es  klingt  vielmehr  etwas  süssKch  -  fade.  Lasst 
man  die  gewöhnliche  Aullösung  des  Septimen -Accordes 
folgen  (c/a):  so  vei-misst  mau  die  gewohnte  Befrie- 
digung, Und  dies  gerade  bestätigt  unsre  obige  Darstel- 
liuig.  Denn  darauf  kam  es  an,  zu  zeigen,  worin  die 
treibende ,  und  zwar  \i\  bestimmter  Richtung  zur  Auf- 
lösung treibende  Kraft  der  Dissonanz  liege.  Die  Be- 
griffe hievon  lassen  sich  nun  noch  etwas  mehr  ausein- 
andersetzen. 

67.  Erstlich:  die  vier  Kräfte,  worin  der  Septimen- 
Accord  jede  einzelne  Tonvoi'stellung  bricht,  sind  weit 
vom  Gleichgewichte  entfernt.  Wird  eine  geistige  Kraft 
von  den  übrigen  so   stark  gehemmt,    dass   sie    beträcht- 


87 

lieh  unter  die  slalische  Schwelle  fallen  soll,  so  giebt 
ihr  dies  einen  Anlrieb,  welchem  gemäss  sie  nicht  elvvan 
iu  unendlicher  Zeit  (wie  wenn  sie  bloss  auf  die  Schwelle 
gedi'ängt  würde),  sondern  iu  sehr  kurzer  Zeit  aus  dem 
Bewusslseyn  verdrängt  werden  nuiss,  falls  dies  an  sich 
möglich  ist*).  Nun  ist  im  Septimen -Accorde  eine  so 
starke  Hemmung  des  kleinsten  Thcils  vorhanden ,  denu 
eben  zuvor  Avurde  berechnet,  dass  neben  4,  3,  3,  auf 
die  Schwelle  schon  eine  Grösse  rz:  2,5584  würde  getrie- 
ben werden ;  folglich  ist  die  Grösse  z=:  2  gewiss  be- 
trächtlich unter  der  Schwelle. 

Zweytens.  Geschähe  das  völlige  Verdrängen  wirk- 
lich: so  würden  in  demselben  Augenblick  auch  die  bey- 
den  Theile,  welche  durch  die  Verhaltnisszalil  3  be- 
zeichnet wurden ,  einen  plötzlich  verstäikten  Sloss  zum 
Sinken  '*'*)  bekommen ;  den  man  erfahrungsniässig  bemer- 
ken müsste.  Diesen  bemerkt  man  nicht ,  während  die 
innere  Unruhe  jenes   Accordes   sehr  fühlbar  ist. 

Drittens:  Da  es  unmöglich  ist,  von  der  an  sich 
einfachen  Vorstellung  eines  Tons  ein  bestinnntes  Stück 
so  abzuschneiden,  wie  wir  dies  iu  der  Zeichnung  thateu  •, 
vollends  es  dergestalt  abzusondern,  dass  es  dem  ferne- 
ren Andringen  der  entgegenwirkenden  Kräfte  unzu- 
gänglich würde  (wie  dies  der  Fall  bey  den  ganzen  Vor- 
stellungen ist,  sobald  sie  wirklich  auf  die  Schwelle  ge- 
sunken sind):  so  ist  an  ein  wirkliches  Versinken  jenes 
kleinsten  Theils  nicht  zu  denken.  Gleichwohl  ist  wirk- 
lich ein  so  starker  Druck  vorhanden,  der*  ein  solches 
Versinken ,    soviel    an    ihm    ist ,    hervor    zu  bringen  ge- 

*)  Psychologie  §.  75 ,  wo  die  Beispiele  tu  vergleichen  sind. 
'*)  Ebendaselbst. 


88 

eignet  wäre.  Dieser  Druck  kann  nur  durch  eine  Ge- 
genwirkung aufgehalten  werden,  welche  in  demselben 
Maasse,  als  der  Druck  andringt,  zunehmen  muss.  Solche 
Gegenwirkung  muss  in  der  Vorstellung  selbst  sich  er- 
zeugen, denn  das  ganze  Verhältniss,  von  dem  wir  hier 
reden ,  ist  ein  inneres  in  jeder  einzelnen  Vorstellung, 
weil  jeder  Ton  in  jene  vier  Kräfte  gebrochen  wurde. 
Diese  Gegenwirkung  nun  ist  es,  die  wir  Selbsterhaltüng 
nannten,  weil  etwas  Ahnliches  unter  diesem  Namen  in 
der  Metaphysik  vorkommt,  wiewohl  unter  andern  Um- 
ständen und  nähern  Bestimmungen. 

Viertens ;  Dem  Streben ,  was  in  dieser  Gegenwir- 
kung liegt,  kann  von  aussen  Genüge  geschafft  werden, 
wenn  der  kleinste  Thell,  den  die  stärkste  Hemmung 
traf,  durch  veränderte  Brechung  verstärkt  wird.  Dann 
hört  die  Selbsterhaltüng  auf. 

Fünftens :  Dasselbe  Streben  aber  entsteht  gar  nicht, 
wenn  die  Brechung  gleich  Anfangs  darauf  eingerichtet 
wird,  dass  der  Druck  nicht  hinreiche,  es  zu  erzeugen. 
Es  wird  abgespannt ,  indem  man  durch  eine  minder 
wirksame  Brechung  den  Druck  schwächt.  Das  ist  der 
Fall  des  vorerwähnten  Versuchs,  welcher  die  Dissonanz 
entkräftet,  anstatt  sie  durch  Auflösung  in  reine  Harmo- 
nie zu  befriedigen. 

68.  Jetzt  fällt  ein  neues  Licht  auf  den  Grund  der 
Harmonie  in  den  reinen   Accorden. 

Wir  haben  zwar  schon  oben  auf's  Bestimmteste  ge- 
zeigt, dass  der  Schwellenwerth  des  kleinsten  unter  drey 
Thellen,  worin  drey  Ton -Vorstellungen  einander  ge- 
genseitig brechen,  der  allgemeine  Charakter  des  reinen 
Accordes  ist ;  dergestalt  dass  dieses  Kennzeichen  bey 
jedem  einzelnen  Tone  des  Accordes,  in  j  e  d  e  r  L  a  g  e, 


89 

in  allen  abgeleiteten  Accorden ,  untl  gleicher- 
weise beym  dur  und  vwU ,  zutriiFt.  Wir  haben  fer- 
ner die  Schwierigkeit  gezeigt,  dieses  Rennzeichen  mit 
der  vorgängigen  Bestimmung  der  einzelnen  Intervalle  zu 
vereinigen;  dergestalt,  dass  bey  den  reinen  Accorden, 
aber  auch  nur  bey  ihnen,  eine  genügende  Annäherung 
möglich  ist;  daher  dies  zugleich  als  das  ausschlies- 
sende  Kennzeichen  der  reinen  Accorde  muss  anei'kannt 
"werden.  Und  schon  hierüber  verbreitet  die  nächst  voi'- 
hergehende  Untersuchung  ein  helleres  Licht.  Denn 
man  sieht  nun  in  bestimmten  Fällen,  (dem  verminder- 
ten Dreyklange  und  dem  Septimen-Accorde)  unmittel- 
bar vor  Augen,  wie  weit  andre  Brechungen  abweichen 
von  dem  Schwellenwerthe  des  kleinsten  Theils. 

Allein  bey  der  frühern  Darstellung  konnte  man  sa- 
gen: man  sey  zwar  genöthigt,  eiuzui-äumen ,  der  all- 
gemeine und  zugleich  ausschliessende  Charakter  des  rei- 
nen Accordes  müsse  den  Grund  des  Harmonischen, 
was  in  ihm  eigenthümlich  liegt,  enthalten;  man  begreife 
aber  den  Zusammenhang  des  Grundes  mit  der  Folge 
noch  immer  nicht. 

Nun  ist  gewiss ,  dass  nimmermehr  eine  speculative 
Erklärung  ästhetischer  Urtheile  aus  sich  das  Gefühl, 
was  in  diesen  liegt ,  erzeugen  kann.  Aus  dem  Fühlen 
wird  man  herausversetzt  durchs  Denken.  Wohl  aber 
wird  gerade  umgekehrt  bey  solchem  Denken  gefodert 
und  vorausgesetzt,  man  habe  längst  schon  gefühlt  was 
zu  fühlen  war,  sonst  würde  man  nicht  einmal  wissen, 
vrovon  die  Rede  sey,  und  welcher  Gegenstand  solle  er- 
klärt werden. 

So  wenig  wir  demnach  jetzt  erst  das  vorausgesetzte 
Fühlen  hinlennacli  erzeugen  wollen ;  so  können  wir  doch 


90 

jetzt    nachweisen ,    welchen    Contrast    der    dissonirentle 
Accord  gegen  den  consonirenden  macht. 

Erstlich  ist  schon  die  Compression  der  kleinen  In- 
tervalle, durch  die  grossem,  in  denen  jene  Platz  finden 
sollen,  —  oder  überhaupt  die  Incongruenz  der  Inter- 
valle zum  Accoi'de  —  von  welcher  schon  der  reine  Ac- 
cord nicht  ganz  frey,  docli  grösser  beim  dissonirenden. 
(Man  vergleiche  64  mit  48). 

Zweytens  und  hauptsächlich.  Beym  reinen  Accorde 
vermag  einerseits  der  kleinste  Theil  nicht,  den  Conllict 
unter  den  starkem  zu  vermehren;  denn  beym  Schwel- 
lenwerthe  der  di'itten,  kleinsten  Grösse  ist  die  Hei.i- 
miuigssiunme  für  die  grössern  die  nämliche  als  ob  der 
kleinste  nicht  da  wäre*).  Andrerseits  aber  wird  auch 
das  zuvor  beschriebene  Streben  der  Selbsterhaltung  ver- 
mieden, welches  nur  eintreten  könnte,  wenn  der  kleinste 
Theil  geringer  wäre,  als  der  Schwellenwerth  anzeigt. 
W  ir  erkennen  demnach  die  Harmonie  des  reinen  Ac- 
cordes  als  die  richtige  JNIitte,  zu  welcher  die  Mu- 
sik bey  allen  Bewegungen  eben  so  oft  zurückkehrt,  als 
sie  den  reinen  Accord  hören  lässt. 

Drittens:  Da  diese  richtige  Mitte  sich  in  allen 
Tönen  erzeugt,  die  zum  reinen  Accorde  gehören,  und 
da  sie  dieselbe  durch  gegenseitige  Brechung  bestimmen: 
so  unterstützen  sie  sich  gegenseitig  darin,  — 
ilire  verschiedene  virsprüngliche  Eigenheit  verschmilzt 
darin;  und  man  könnte  sagen,  dass  die  richtige  Mitte 
sich  in  jeder  von  ihnen  abspiegelt,  um  übei'all  als  die 
gleiche  erkannt  zu  werden. 

Hier  aber  soll  uns  eine    Bemerkung   nicht  entgehen, 

*)  Psychologie  §.  47,  50. 


91 

die  siel»  ia  der  Vergleicluuig  des  kleinen  Septimen  -  Ac- 
cordes  (mit  grosser  Terz),  und  aller  andern  dissoniren- 
den  Accorde,  leicht  darbietet. 

69.  That Sache.  Der  Accord  der  kleinen  Septime 
mit  der  grossen  Terz  ist,  obgleich  dissonirend,  doch 
heiterer,  und  einer  Consonanz  ähnlicher,  als  der  ver- 
minderte Dreyklang,  und  als  alle  andern  Septimen- 
Accorde. 

70.  Frage.  Da  sich  die  dissonirende  Septime, 
und  das  von  ihr  gestörte  Verhaltniss  des  reinen  Ac- 
cordes  in  allen  Tönen  des  Septimen -Accordes  verviel- 
fältigt, und  gleichsam  abspiegelt  (wie  in  Fig.  22  über- 
all die  Theile  4,  3,  3,  2,  wiederkehren);  wo  kann  d.^n- 
uoch  eine  Ähnlichkeit  mit  der  allgemeinen  Bedingung 
der  Consonanz  vorkommen? 

71.  Vorbereitung  zur  Antwort.  JMan  durchmu- 
stere den  Accord,  um  zu  bemerken,  ob  bey  Weglassuug 
eines  oder  des  andern  der  vier  Töne,  derjenige  zu  finden 
ist,   auf  welchem  der  erwähnte  Vorzug  beruhe. 

Erstlich :  die  Septime  kann  man  nicht  weglassen ; 
ohne   sie  wäre  der  Accord  ein  reiner. 

Zweytens:  die  Quinte  wird  oft  genug  weggelassen; 
sie  wird  in  Gedanken  so  leicht  ergänzt ,  dass  es  bey- 
nahe  scheinen  kömite,  sie  wäre  überilüssig.  Das  Hei- 
tere des  Accordes  wird  auch  so  noch   empfunden. 

Drittens :  die  Terze  darf  nicht  fehlen ;  der  Accord 
wird  sonst  unbestimmt ,  da  die  kleine  Terz  eine  ganz 
andre  Harmonie  bildet,  wenn  sie  hinzu  gedacht  wird. 
Aber  in  ihr  kann  dennoch  jene  Heiterkeit  nicht  hinläng- 
lich begründet  seyn ,  denn : 

Viertens ,  wenn  mau  den  Grundton  weglässt ,  so 
bleibt  nur  der  trübe  verminderte  Dreyklang. 


92 

Nach  dieser  Vorerxnnerung  isl  leiclil  zu  erratheii, 
dass  iii  dem  Grundlon  ein  liarmoiiisches  Veihältiiiss 
liegen  möge,  welclies  sichtbar  werde,  wenn  man  die 
Quinte  ^veglässt. 

72.  Antwort.  Man  untersuche  in  Fig.  22  den 
Grundton  dergestalt,  dass  der  Gegensatz  desselben  gegen 
die  Septime ,  ferner  die  Gleichheit  mit  der  Terze ,  und 
derjenige  Theil,  welchen  jeder  dieser  Theile  in  dem 
andern  absondert,  verglichen  werden. 

Der  erste  ist  nahe  rn:  \%,  der  zweyte  =  ^.,-,  der 
dritte  mittleie  =::  ^;t-  Das  Verhältniss  ist  wie  10  :  8  :  6 
d.  h.  wie  5  :  4  :  3  5  also  gleich  dem  Verhältniss  der 
Thoile,  welche  im  reinen  Accorde  aus  der  Brechung 
entslehn. 

Bekanntlich  kommt  nichts  darauf  au,  welcher  von 
diesen  Theilen  eigentlich  Gleichheit  oder  Gegensatz  sey, 
da  sich  dies  durch  die  verschiedenen  Lagen  des  Accor- 
des  lunkehrt.  Die  Theilung  bleibt  die  nämliche ;  luid 
mit  ihr  das  Verhältniss  der  Theile ,  welches  allein  in 
Betracht  zu  ziehen  ist.  Nachdem  dies  einmal  empfun- 
den wordefi ,  bleibt  die  Reminiscenz  auch  noch ,  wenn 
die  Quinte  "wieder  hinzugefügt  wird. 

73.  Thatsache.  Der  Septimen  -  Accord  mit  der 
kleinen  Septime  und  kleinen  Terze  (wie  c,  es,  g,  h) 
Fig.  24,  lässt  sich  nicht  unmittelbar  aullösen,  sondern, 
indem  die  Septime  sich  auflöset,  entsteht  aus  ihm  ein 
andrer  Septimen  -  Accord ,  (oder  dessen  abgeleiteter); 
welches  so  fort  geht,  bis  ein  solcher  gefolgt  ist,  der 
die  grosse  Terz  enthält;  wie   Fig.  25. 

74.  Frage.  Was  unterscheidet  diesen  Septimen- 
Accord  mit  der  kleinen  Terz  so  sehr  von  jenem  mit 
der  grossen  Terz? 


93 

75.  Vorbereitung  zur  Autwort.  Zuerst  fallt 
auf,  dass  jenes  Hai'inonische  des  Grundtons,  welches 
vorhin  beym  Septimen  -  Accorde  mit  der  grossen  Terze 
bemerkt  worden ,  (72)  hier  wegfallt.  Die  Verhältniss- 
zahlen  10,  9,  7   können  dergleichen  nicht  ergeben.    Setzt 

man  a=z  10,  i  :=:9  in  die  Schwellenformel  cz=zh  y    ? , 

a  -[■  1j 

so  kommt  c  z^z  6,529,  was  weit  von  7  entfernt  ist. 
Auch  fehlt  hier  das  Heitere;  der  Accord  klingt  wie  ein 
schwer  zu  lösendes  Problem.  Man  vernimmt  zwey 
reine  Accorde,  die  aber  einander  gegenseitig  stöi'en. 
{c  muH  und  es  dur.)  Untersucht  man  genauer,  so  mei-kt 
man ,  dass  es  die  kleine  Terz  ist ,  welche  den  Knoten 
bildet.  Die  andern  Töne  des  Accordes  gehn  den  näm- 
lichen Weg  der  Auflösung,  wie  im  Septimen -Accorde 
mit  der  grossen  Terz;  aber  der  Ton,  welcher  die  kleine 
ergiebt,  ist  damit  nicht  weggeschafft;  er  bleibt  liegen, 
imd  verwandelt  sich  in  die  Septime  des  neuen  Accordes, 
der  jenen  zur  Aullösung  dient.  Also  ist  hier  eine  par- 
tielle Auflösung,  und  zwar,  so  weit  sie  reicht,  die  näm- 
liche, wie  man  sie  schon  kemit  (62 — 67) ;  daher  müssen 
auch  die  Gründe,  welche  dort  gegeben  wurden,  hieher 
passen,  mit  Ausnahme  dessen,  was  die  kleine  Terz  an- 
geht. Das  Obige  kann  demnach  hier  von  neuem  ge- 
prüft werden. 

76.  Antwort.  Wenn  zu  c  moll  die  Septime  b 
gesetzt  wird,  so  bricht  der  Theilungsstrich ,  welcher  h 
bezeichnet ,  (Fig.  24)  überall  den  stärksten  Tlieil  des 
i^einen  Accordes;  und  es  gewinnt  auch  hier  derjenige 
Theil,  welcher  vom  Gegensalz  der  grossen  Terz  her- 
rührt, das  tjbergewicht ;  es  entsteht  an  der  Stelle, 
welche    der   Brechung    durch    die    Terz    entspriclit,    ein 


94 

vermehrter  Conflict ;  wie  oben  (62).  Auch  ist  der  Grund 
der  Selbsterhaltung  wegen  des  kleinsten  Theils  hier  der 
nämliche.  Selbst  die  Compression  der  kleinen  Terzen 
ist  hier  zum  Theil  wie  vorhin;  (64)  denn  auch  hier  sollen 
deren  zwey  nebst  der  grossen  Terz  innerhalb  des  Um- 
fangs  der  Septime  statt  finden.  Alles  dies  schafft  die 
kleine  Terz  des  Septimen- Accordes  nicht  weg.  Denn 
der  Septimen-Accord  mit  der  kleinen  Terz  enthält  keine 
falsche  Quinte ;  an  ihrer  Stelle  steht  hier  die  reine 
Quinte  es  b.  Da  nun  die  beyden  kleinen  Tei-zen,  die 
sonst  (im  Septimen-Accord  mit  der  grossen  Terz)  zu- 
sammen in  der  falschen  Quinte  liegen,  jetzt  getrennt 
sind :  so  fällt  der  grössere  Theil  ihrer  Compression  (58) 
hier  weg;  und  es  bleibt  nur  der  Druck  der  Septime  (64). 
Dieser  Druck,  verbunden  mit  dem  Übergewicht  und  der 
Expansion  der  grossen  Terz,  treibt  die  kleine  Terz  gegen 
den  Grundtou,  also  nach  unten,  anstatt  nach  oben;  und 
dieser  Richtung  folgt  sie  wirklich  nach  ihrer  Verwand- 
lung in  die  Septime  des  folgenden  Accordes,  durch  wel- 
chen sie  jedoch  zu  solcher  Bewegung  einen  weit  kräfti- 
gern Antrieb  bekommt. 

77.  Zusatz.  Ist  einmal  eine  raschere  Bewegung 
im  Gange,  so  kann  sie  derselben  Richtung  auch  sogleich 
entsprechen.  Man  sehe  Fig.  26.  wo  derjenige  Septimen- 
Accord,  der  uns  jetzt  beschäfftigt,  nur  im  Durchgange 
vorkomr  t.  Hier  braucht  die  Terze  es  nicht  zu  warten, 
bis  sie  sich  in  die  Septime  verwandle,  (obgleich  sie  es 
füglich  kann,  wenn  man  in  der  Oberstimme  einen  Vor- 
halt anbringen  will).  Allein  die  grössere  Besonnenheit 
bey  langsamen  Bewegungen  verlangt,  dass  sie  erst  als 
Septime  vernommen  werde,  damit  der  Knoten  sich 
auflöse,  und  niclit  zerliauen  werde. 


95 

78.  Anmerkung.  Eine  scheinbare  Ausnahme  von 
der  Regel  entstellt  in  dem  Falle  der  Fig.  25*^,  wo  statt 
des  Septimen -Accordes  sein  abgeleiteter,  der  Sext- 
Quinten-Accord,  gesetzt  worden.  Hier  ist  sehr  ge- 
wöhnlich, zunächst  bloss  einen  roinen  Accord  folgen  zu 
lassen  ;  allein  damit  erreicht  man  keine  Ruhe  sondern 
man  muss  weiter  fortfahren.  Die  Regel  ist  ignorirt, 
aber  das  Gefühl  bleibt.  Noch  ungenügender  fällt  eine 
solche  Bewegung  aus,  wenn  man  statt  des  abgeleiteten 
den  ursprünglichen  Septimen- Accord  setzt. 

79.  Die  Erweiterung  der,  in  dem  Septimen -Ac- 
corde  enthaltenen  grossen  Terz  (es  g  in  dem  Accorde 
c,  es,  g,  b)  zur  Quarte  (es,  as) ,  w^elche  der  Expansion, 
womit  der  Leitton  im  Septimen-Accorde  mit  der  grossen 
Terz  vordringt,  einigermaassen  ähnlich  ist,  hat  zwar 
nichts  gegen  sich;  allein  sie  verändert  auch  nichts  We- 
sentliclies.  Will  man  nicht  g  in  f  gehn  lassen,  so  nuiss 
f  im  Basse  angegeben  werden  ;  die  Brechung  der  Töne 
bleibt  aber  im  Grunde  die  nämliche,  da  zu  jedem  Tone 
sehr  leicht  seine  Octave  hinzugedacht  wird. 

80.  Thatsache.  Wenn  man  die  Distanz  der 
Octave  in  vier  gleiche  Theile  zerlegt ,  und  die  ent- 
sprechenden Töne  zugleich  hören  lässt :  so  entsteht  ein 
unverständlicher  Streit,  der  einer  nähern  Bestimmung 
bedarf,  damit  die  richtende  Kraft  einer  Dissonanz  in 
ihm  vernommen  werde. 

81.  Erläuterung.  Sey  c  der  Grundton:  so 
weiss  man  im  angegebenen  Falle  nicht ,   ob  man 

i)  c  (lis  ßs  a,  oder 

2)  c   es  ßs  a,  oder 

3)  c  es  ges  a,  oder 


96 

4)  his  dis  fis  a,  gehört  habe.  INIau  erfahrt  aber  so- 
gleich die  Entscheidung ,  wenn 

1)  //  dis  ßs  a,    oder 

2)  c  d  ßs  a,  oder 

3)  c  es  f  a,  oder 

4)  his  dis  ßs  gis ,  nachfolgen.  Anstatt  dieser  Accorde 
können  auch  sogleich  deren  Aullösungen  gebraucht  wer- 
den ,  nämlich 

^)  h  e  8 

2)  b  d  g 

3)  desfb 

4)  eis  e  gis;  welche  sammtlich  reine  Moll  -  Accorde^ 
oder  von  solchen  abgeleitet  sind. 

Die  Entscheidung  kann  aber  auch  (wiewohl  nicht 
ganz  sicher)  schon  durch  das  zunächst  Vorhei'gehende 
gegeben  seyn ;  nämlich  wenn  vorherging 

1)  c  d  ßs  a,  oder 

2)  c  es  f  a,  oder 

3)  c  es  ges  as ,  oder 

4)  fi  dis  ßs  a. 

Ganz  sicher  ist  diese  Entscheidung  nicht,  denn  sie  Ist 
nicht  immer  für  Erhöliung  eines  Tons  zu  nehmen;  al- 
lein wir  wollen  sie  hier  als  solche  in  Betracht  ziehn. 
"Wir  reden  demnach  hier  vom  verminderten  Septimen- 
Accorde  und  seinen  abgeleiteten. 

82.  Zusatz.  Es  sollen  jedoch  hier  nicht  die  man- 
nigfaltigen Verwickelungen  vollständig  untersucht  wer- 
den, welche  aus  verzögerten  Auflösungen  entstehn  kön- 
nen (wie  Fig.  27).  Solche  interessiren  mehr  die  prakti- 
sche Musik  als  die  Psycliologie. 

Aus  diesem  Grunde  übergehn  wir  auch  den  Septi- 
men-Accord  mit  der  kleinen  Terze  und  falschen  Quinte. 


97 

83»  Frage.  Wie  und  warum  iinterscliculcl  sidi 
der  verminderte  Septimen "  Accord  von  dem  Scptimen- 
Accorde  mit  der  grossen  Terz,  aus  wekliom  er  durch 
Erliüliung  des  Grundtons  entsteht? 

84.  Vorbereitung,  zur  Antwort.  Zuerst 
nmss  man  überlegen ,  dass  der  verminderte  Septimcn- 
Actord  zNvey  verminderte  Dreyklänge  (55—58)  elilhall. 
Er  scy  eis,  e,  g,  h:  so  ist  eis,  e,  g,  ein  Accord  für  sidi ; 
e,  g,  b,  desgleichen.  Jeder  von  beyden  enthält  zwey 
kleine  Terzen  eingeschlossen  in  dem  Umfange  einer  fal- 
schen Quinte,  die  von  derselben  zusammen  gedi'ückt 
sind.  Der  ganze  Accord  eis,  e,  g,  h,  liegt  demnach  in- 
nerhalb drey  Vierteln  der  Oclave;  und  der  Gegensalz 
zwischen  eis  und  h  muss  0,75  betragen.  Löset  sich  h 
in  a  auf,  welches  von  eis  die  kleine  Sexte  ist:  so  giebt 
die  Distanz  von  eis  bis  a  den  Gegensatz  der  kleinen 
Sexte  :=  0,C6GG ;  also  ist  h  um  0,08333  . . .  herabgesun- 
ken, d.  h.  genau  um  ein  Zwölftel  der  Oclave,  welches 
der  durchschnittliche  oder  mittlere  Werth  des  halben 
Tones  ist. 

jNuii  aber  kommt  es  ferner  darauf  an,  wie  viel  die 
Erljöhimg  oder  Erniedrigung  der  Töne  betrage,  denen 
man  ein  Kreuz  oder  ein  b  vorsetzt;  denn  durch  Erhö- 
hung des  Grundtons  entsteht  die  verminderte  Septime 
aus  der  kleinen.  Hier  giebt  es  nicht  weniger  als  drey 
verschiedene  Bestimmungen. 

1.  Aus  der  Vestsetzung  der  einzelnen  Intervalle, 
wie  sie  ohne  PuicUsicht  auf  die  Accorde  zuerst  vorge- 
nommen war,  fand  sich  der  Unterschied  der  kleinen 
und  grossen  Terz,  also  die  Erhöhung  der  letztern  über 
die  erste,  r^  0,07213.     Aber 

2.  Als  wir  die    reinen  Accorde    untersuchten,    fand 


08 

sFcli  boy  (lovjenlgen  Berechmmg,  die  mit  der  glouhscliwo- 
beiiden  Temperatur  am  besten  übereinstimmt  (4.S),  die 
grosse  Terz  =  0,3333  ,  die  kleine  0,2486  ;  der  Unter- 
schied =  0,0847.  Hicmit  trirtt  die  DÜFerenz  der  falschen 
Quinte,  einerseits  von  der  Quarte,  andrerseits  von  der 
reinen  Quinte  sehr  nahe  zusannncn  ;  denn  sie  beträgt 
0,08578.  (Vergl.  oben  die  Angaben  in  38).  INIan  kann 
demnach  den  Werth  der  Eihöhung  oder  Erniedrigung 
(durch  welche  die  falsche  Quinte  aus  der  reinen  muss 
entstehen  können)  im  Durchschnitt  auf  0,085  setzen. 
Ware  davon  die  grosse  Secunde  das  Doppelte,  so  be- 
trüge ilu-  Gegensalz  0,170;  sie  käme  hiemit  der  Bestim- 
mung der  Physiker  nach  Schwingungsverhältnissen  fast 
gänzlich  gleich,  aus  welcher  sich  der  Gegensatz  0,16992 
ergab.  Die  kleine  Septime,  welche  die  grosse  Secunde 
zur  Octave  ergänzt,  -wäre  nun  0,83.  Ilievon  die  ver- 
minderte Septime,  d.  h.  anderthalb  falsche  Quinten,  oder 
0,75  abgezogen,  lasst  den  Rest  0,08. 

3.  Unabhängig  von  einander,  und  genau  überein- 
stimmend*), sind  die  Bestimmungen  der  grossen  Secunde 
und  kleinen  Septime  gefunden  worden  (36).  Legt  man, 
diesen  gemäss,  den  Werth  der  kleinen  Septime,  nämlich. 
0,82841,  zum  Grunde,  und  zieht  liievon  die  verminderte 
Septime,  also  0,75,  ab:  so  bleibt  der  Rest  0,0784  als 
die  Erhöhung  des  Grundtons.  Diese  Zahl  fällt  zwar 
zwischen  0,07213  und  0,0847;  allein  sie  weicht  von  der 
letztern  noch  bedeutend  ab.  Was  folgt  nun  aus  dem 
Allen? 

*)  Überdies  noch  genau  übereinstimmend  mit  der  Distanz.  zAvi- 
scben  der  Quarte  und  reinen  Quinte.  Man  vergleldie  die  Zahlen 
in  38,  und  nehme  (»,08579  doppelt.  Daraus  findet  sich  genau 
0,17158. 


99 

S5.  Antwort.  Krstlich,  wenn  die  vier  Töne  »los 
vernundeilcn  Septimen- Accordes  zugleich  veriioninien 
werden,  olnie  dass  etwas  voraus  ging:  so  bleibt  \uibo- 
stlniml,  welcher  von  den  vier  Tönen  derjenige  sey,  den 
die  Erhöhung  IjelroH'en  halie.  Alle  oben  angezeigleii 
vier  Fülle  (81)  sind  möglich-,  daher  hört  man  nur  einen 
unverstandlichen  Streit.  (IG)  Diesen  Streit  characlerisirl 
bloss  das  Trübe  und  Gepresste  des  veiuninderteu  Drey- 
klangs ,  der  hier  zwiefach  vorhanden  ist.  (.58)  Drey 
kleine  Terzen  scheinen  vorhanden  zu  seyn  (wie  c  es,  es 
ges ,  wnd  fis  ä)  •  der  Hörende  strebt  sich  diese  völlig 
zu  vergegenwärtigen:  es  ist  aber  nicht  möglich;  denn 
diese  miissten  zusanmien  den  Ujiifang  0,7830  einnehmen; 
welches  von  0,75,  den  anderthalb  falschen  Quinten ,  in 
welchen  der  Accord  eingeschlossen  ist,  weil  abweicht. 
Der  Unterschied  0,0336  ist  ein  bedeutender  Theil  vom 
halben  Ton,  dessen  mittlerer  "NVerlh,  wie  nur  eben  zu- 
vor erinnert,  ein  Zwölftel  rz:  0,08333  ausmaeht. 

Zweylens:  sobald  dagegen  aus  dem  Zusammenhange 
bekannt  ist  oder  wird,  welcher  von  den  vier  Tönen  als 
erhöhet  aus  einem  niedrigem  entstanden  sey:  so  richtet 
sich  danach  die  Art  der  Auirassiuig.  Das  musikalische 
Denken ,  (welches  geringe  Mängel  des  leiblich  Gehörten 
allemal  verbessert,  und  für  welches  der  Schall  der  In- 
strumente oft  nur  eine  Art  von  Zeichensprache  ist.) 
vollzieht  die  Erhöhung  so,  wie  sie  erfolgen  soll ;  derge- 
stalt dass  sie  0,085  oder  mindestens  0,0847  betrage, 
wenn  auch  wirklich  nur  eine  Erhöhung  von  0,0784 
leiblich  gehört  wird.  Dadurch  aber  wiid  die  vermin- 
derte Sei^time,  welche  nur  den  letztern  A^  erth  zulasst 
zusammengedrängt.  Oder,  was  dasselbe  ist,  aber  noch 
stärker  empfunden    wird,    die   übermässige    Secunde  — 

G* 


100 

das  Umgekelirle  und  Harmonisch-Gleicligellendc  der  ver- 
minderten Septime,  —  wird  expandirt,  niclit  anders  als 
ob  eine  starke  Feder  dazwischen  gespannt  wäre.  \Ycr 
dies  etwa  niclit  fühlte ,  dem  könnten  wir  es  in  andrer 
Art  nachweisen;  nämlich  als  eine  mei^kwiirdige : 

87.      Thatsache.       Der    übermässige     Secmiden- 
Spning  ist  verboten. 

Gleichwohl  wird  er  oft  genug  gemacht ,  und  zwar 
da,  wo  man  gerade  das  Harte  desselben,  das  Gefühl 
des  Schwer- zu- Übersteigenden  beabsichtigt.  Und  dann 
wii'd  er  empfunden,  auch  Avenn  die  Tasten  des  Instru- 
ments genau  dieselben  Töne  augeben,  die  sonst  eine 
kleine  Terz  ausmachen.  Es  ist  gar  nicht  nöthig,  dem 
leiblichen  Hören  zu  gefallen  den  Stimmhammer  zu  ge- 
brauchen ;  das  musikalische  Denken  ist  in  diesem  Falle 
mächtig  genug,  um  die  nämlichen  Töne  bald  als  bequeme 
kleine  Terzen,  bald  als  widerspenstige  übermässige  Sc- 
cunden  zu  vernehmen.  Noch  mehr:  die  übermässige 
Secunde  ist  wirklich  nur  sehr  wenig  grösser,  als  die 
kleine  Terz  im  reinen  Accorde ;  und  nicht  eiimial  so 
gross,  als  die  kleine  Terz  an  sich  seyn  würde. 

88.  Das  Übrige  der  Erklärung  ergiebt  sich  nun 
leicht.  Der  Septimen  -  Accord  mit  der  kleinen  Septime 
und  grossen  Terze  ging  entweder  wirklich  vorher,  wie 
in  Fig.  28,  oder  für  das  geübte  musikalische  Ohr  ist  es 
soviel,  als  wäre  er  vorhergegangen.  Die  sämmtlichen 
Töne  haben  also  schon  ihre  Richtung ;  nur  der  Grundton 
ausgenommen.  Jene  folgen  der  Richtung  die  sie  haben ; 
dieser,  aufwärts  dringend,  vollendet  seinen  Gang.  Fig.  29 
und  30  sind  leichte  Abänderungen,  die  keiner  weitern 
Erläuterung  bedürfen. 

89.  Zusatz.      Bey dieser   Veranlassung   ist  es  am 


101 

gclegcnston,  die  Bemerkung  veslzuhalten,  class  sowohl 
lirniedrigung  als  Erliöhuug  eines  Tones,  obgleich  nicht 
ganz  genau  bestimmbar,  (weil  der  Unterschied  der  Ter- 
zen au  sich  etwas  schwankend,  und  jedeufalls  ein  we- 
nig kleiner  ist  als  der  Unterschied  der  falschen  Quinte 
von  ihren  beydcn  Nachbarinnen)  doch  etwas  mehr  be- 
tragen als  der  mittlere  halbe  Ton.  Dieser  ist  0,08333 
jene,  die  Erhöluuig  oder  Erniedrigung,  haben  wir  im 
Durchschnitt  r=  0,085  gefunden.  (84).  Wenn  nun  von 
ZNveyen  Tönen,  die  um  ein  Sechstheil  der  Octave,  also 
ungefähr  um  eine  grosse  Secunde  verschieden  sind,  der 
obere  erniedrigt,  der  untere  erhöhet  wird:  so  treffen 
beyde  Veränderungen  nicht  genau  in  Einem  Puncle  zu- 
sammen; sondern  sie  greifen  über  einander  weg,  und 
lassen  zweynial  den  Unterschied  des  mittlem  halben 
Tons  von  der  Erhöhung  oder  Erniedrigung  zwischen 
sich ;  <1.  h.  zweymal  0,00106 ,  also  0,00333.  So  ge- 
ring diese  Grösse  ist:  so  muss  doch  bemerkt  werden, 
dass  wir  hiedurch  dasjenige  in  Abrede  stellen,  was  die 
physikalischen  Schiüften  von  der  sogenannten  cnharmo- 
nischen  Tonfolge  zu  sagen  pflegen.  Nach  ihnen  sollen 
die  Töne  so  aufeinander  folgen;  c,  eis,  des,  d,  dis,  es,  e, 
u.  s.  w.  anstatt  dass  sie  so  folgen  müssen; 
c,  des,  eis,  d,  es,  dis,  e,  u,  s.  w. 
Damit  man  dies  einsehe,  verweisen  wir  auf  Fig.  31. 
Forlschreitungen  dieser  Art  sind  in  der  INIusik  nicht 
selten.  Nun  weiss  Jedermann,  dass  die  falsche  Quinte 
es  im  Sext  -  Quinten -Accorde  sich  unterwärts  auflösen 
muss;  hingegen  der  Leilton  dis  nach  oben  zu  e  hin- 
slrebt.  Wenn  filso  ein  Violinspieler  oder  Sänger  es 
spielt  oder  singt,  so  treibt  ihn  sein  Gefühl  nach  unten; 
soll   er  nun  es  in  dis  verwandeln,  so  bekonnnt  er  einen 


102 

Impuls  iiacli  oben.  In  Folge  dieses  Impulses  muss  er 
den  Ion  es  nicht  erniedrigen  (denn  es  \vird  ihm  verbo- 
ten, nach  unten  liin  sich  zu  ^Yenden)  sondern  ihn  er- 
höhen, denn  nach  ol)en  hin  Avird  er  getrieben  in  dem- 
selben Augenblick,  nvo  ihm  vorgeschrieben  ist,  dis  an- 
statt es  zu  denken  inid  zn  spielen.  Dagegen  federt  jene 
physikalische  Lehre  von  ihm ,  er  solle  rückwärts  nach 
luiten  gehn  in  demselben  Augenblick,  wo  er  einen  Au- 
trieb aufwärts  bekommt;  und  zwar,  (was  das  Wider- 
sinnige ist)  eben  derjenige  Impuls,  der  ihn  vorwärts 
treibt ,  soll  ihn  xmmittelbar  rückwärts  ti^eiben.  Das 
wird  nicht  geschehen,  wo  nicht  eine  falsche  Theorivj 
sich  einmengt,  und  ihr  aus  Vorurlheil  gehorcht  wird. 

Der  Anfang  des  Irrlhums  liegt  bey  der  ersten  Be- 
stimmung der  grossen  Terz'^).  Diese  nehmen  die  Phy- 
siker zu  niedrig,  indem  sie  den  Schwingungen  nach- 
gehn,  welche  auf  das  Klingen  der  Schallwellen,  nicht 
aber  auf  das  musikalische  Denken  Eiuiluss  haben.  Unsre 
psychologische  Betraclitiuig  hat  gezeigt,  dass  im  reinen 
Accorde  die  grosse  Terz  mindestens  ein  Drittel  der 
Octave  betragen  muss ,  indem  die  beyden  andern  Be- 
stimmungen, (deren  zweyte  wegen  der  dadurch  über- 
spannten Quinte  unbrauchbar  ist,  die  erste  aber  von 
der  reinen   Quinte  ausgeht),  sie  noch  grösser  geben. 

90.  That Sache.  Zu  einer  IMelodie  —  einer  zu- 
sammenhängenden Folge  von  Tönen ,  worin  eine  Stimme 

*)  Nimmt  man  J/s  für  tlic  grosse  Terze  der  Secunde  d,  und 
addirt  die  Gegensätze  beider  Intervalle  nach  den  Angaben  der 
Physiker  (32  und  37),  nämlich  0,32193  -f-  0,16992  ;=  0,49185, 
so  erreicht  man  für  die  Distanz  von  c  bis  zu  ßs ,  (dem  Leitton 
'^ug),  nicht  einmal  die  falsche  Quinte  0,5.  Zieht  man  den  Ge- 
gensatz der  Quarte,  (27),  nämlich  0,41504,  davon  ab,  so  bleibt 
ntu-  0,07681    für  die  Erhöhung  des  /  zu  ßs. 


103 

sich  bcNvogl .  —  imisa  eine  iiiöi^lirlie  Folge  von  llaiiiio- 
iiien  liiiizugedaclit  Avenleii  können.  Sonst  >viiiden  ilie 
Töne  sich  von  denen  einer  l)loss  gesprochenen ,  und  ge- 
dehnten Hede  nicht  luüei'scheiden ,  sie  würden  keine 
musikalische   lieileuUnig  haben. 

91.  Folge.  Daher  sind  nicht  bloss  alle  Mitleltöne 
ausgeschlossen,  die  ausser  der  l'onleiter  liegen  >viir- 
den;  sondern  die  JMelodie  nuiss  auch  bey  jedenx  Tone, 
den  sie  angieiU,  so  lange  verweilen,  ilass  man  die  Ilai- 
monie  dazu  iinilen  oder  vernehmen  könne.  lliemit  er- 
gicbt  sich,  dass  die  Melodie  aus  discrelen  (wiewohl  der 
Zeit  nach  zusammen  hängenden)  Tönen  bestehn  niuss, 
und  kein  Continuiim  derselben  in  sich  aulnehmen  kann. 
Sie  bewegt  sich  auf  einer  Tonleiter,  aber  nicht  in  der 
Tonlinie;  selbst  bey  durchgehenden  Noten. 

92.  \\  eitere  Folge.  Da  kein  einzelner  Ton  für 
sich  eine  musikalische  (Jeltung  hat,  die  reine  Quinte  hin- 
gegen abgesehen  \ou  der  Octave ,  die  vollkommenste 
Consonanz  ist,  (19  —  22)  so  nniss  der  erste  veste  An- 
fangspunct  (weim  ihm  auch  andre  Töne  als  blosse  Ein- 
leitung vorausgehii  sollten,)  die  reine  Quinte  zulassen, 
oder  besser,  hören  lassen.  Diese  giebt  ihm  die  erste 
enlscliiedene  Brechung,  von  der  alle  weitere  Bedeutung 
abhiingt.  Die  Octave  würde  dazu  nicht  taugen,  weil 
bey  ihr  die  Bi-echung  gerade  Null  ist.  (H). 

93.  That  Sachen.  Wenn  eine  Stimme  sich  eine 
grosse  Secunde  aufwärts  bewegt,  und  alsdann  in  den 
ersten  Ton  zurückkehrt,  so  bemerkt  man  entschieden, 
dass  mau  sich  bewegt  hat,  und  nun  bey  der  Rückkehr 
Buhe  iindet.  (Fig.  32.)     • 

Dasselbe  gilt,  wenn  eine  Stimme  sich  eine  kleine 
Secunde  abwärts  bewegt,   Fig.   33. 


104 

Dagegen  contrastiren  die  Bewegungen  und  das  Rück- 
keliren  auf  verschiedene  Weise,  wenn  ein  grösseres  In- 
tervall durclilaufen  wurde.  Fig.  34.  War  das  Intervall 
eine  Terze,  so  hat  mau  zwar  Ruhe  bey  der  Rückkehr, 
aber  mau  bemerkt  weniger  Bewegung.  AVar  es  eine 
Quarte,  so  hat  man  mehr  Bewegung,  aber  am  Ende 
weniger  Ruhe.  War  es  eine  falsche  Quinte,  oder,  was 
hier  gleich  gilt,  eine  übermässige  Quarte,  so  ist  der 
Grundton  zum  Ruhen  verdorben.  War  es  eine  reine 
Quinte,  so  ist  zwar  Bewegung  und  Ruhe  vorhanden, 
aber  man  vernimmt  die  Quinte  auf  eine  zweideutige 
Weise;  vreil  Verschiedenes  kann  hinzugedacht  werdcj. 
Endlich  vergleiche  man  nocli  Fig.  35;  wo  die  kleine 
Untersecuudo  luid  grosse  Obersecunde  um  eine  Octave 
höher  sind  gelegt  worden.  Diese  Gange  sind  ganz  un- 
befriedigend, und  können  durchaus  nicht  anstatt  jener 
ersten  (in  Fig.  32  und  33)  gebraucht  werden. 

94.  Folge.  Man  sieht  also,  dass  bey  der  IMelo- 
die  nicht  mehr  gleichgültig  ist,  was  für  die  harmoni- 
sche Geltung  gleichbedeutend  war,  nämlich  ob  ein  Ton 
eine  Octave  hölier  oder  tiefer  liege.  Deshalb  wixxl  man 
für  die  INIelodie  zuerst  in  Betracht  ziehn,  wie  weit 
die  Gleichheit  eines  Tons  mit  den  höhern  oder  tiefem 
w^irksam  werden  könne. 

95.  Satz,  Die  Wirksamkeit  der  Gleichheit  um- 
fasst  eine  kleine  3eplime,  in  deren  INlitte  der  Hauptton 
liegt.  (^lan  verwechsele  hier  nicht  die  Gleichheit  mit 
den  gleichen  Theileu,  woyou  oben,  15,  das  Nölhige  ge-^ 
sagt  ist.) 

96.  Beweis.  In  der  Quarte  verhält  sich  der  Ge- 
gensatz zur  halben  Gleichheit  wie  1  :  y/"^.  Das  heisst, 
hier    ist    die    Gränze,    bis    wohiii    die    Töne    durch    die 


105 

z^vic fache  Wirkung  dessen,  was  In  ihnen  gleich  und 
in  sofern  Eins  ist,  einer  zum  andern  hingedrängt 
werden,  als  ob  sie  in  einen  Ton  zusanunen  fallen  soll- 
ten. (26.)  Bcy  grössern  Intervallen  unterliegen  die 
Hälften  der  Gleichheit;  bey  der  falschen  Quinte  sind  die 
Gegensätze  schon  eben  so  stark,  wie  die  ganze  Gleich- 
heit; bey  der  reinen  Quinte  herrschen  sie  dergestalt, 
dass  bey  noch  grössern  Intervallen  nicht  mehr  die  Gleich- 
heit, sondern  die  gleichen  Theile,  welche  man  in  Ge- 
danken absondert,  in  Beti'acht  kommen.  Dies  Alles 
ist  oben  ausführlich  entwickelt  worden. 

Da  man  dieses  Aveiss:  so  erhellt  der  Salz  sogleich 
von  selbst.  Denn  vom  Haupttoue  nchtne  man  eine 
Quarte  aufwärts ;  beyde  zusammen  unifassen  eine  kleine 
Septime;  und  diese  ist  das  Gebiet,  worin  seine  Gleich- 
heit dergestalt  wirksam  ist,  dass  sie  die  Töne  zum  Zu- 
sammenfallen antreibt. 

97.  Zusatz.  Da  die  eine  Hälfte  dieses  Gebiets 
imter  dem  Haupttone  liegt,  so  versetze  man  dasselbe 
eine  Octave  höher,  und  mau  erhält  Platz  für  die  Ton- 
leiter; dergestalt  aber,  dass  dieser  Platz  aus  zwey  ge- 
trennten Theilen  besteht,  luid  zwischen  beyden  die 
Distanz  einer  grossen  Secuude  (mit  einer  merkwürdigen 
Genauigkeit)  offen  bleibt.  Die  falsche  Quinte  liegt  mit- 
ten in  dieser  Distanz  isolirt;  aucli  gehört  sie  nicht  zur 
Tonleiter. 

98.  Frage.  Wenn  eine  Stimme  sich  um  eine 
grosse  Secunde  aufwärts  und  wieder  zurück  bewegt: 
wie  wirken  die  daraus  entstehenden  Vorstellungen? 

99.  Vorbereitung  zur  Antwort.  Innerhalb 
der  Distanz  einer  kleinen  Terze  können  ein  paar  Töne 
als  beyaahe  gleichartig   angesehen    werden ,    so    dass   ei- 


100 

iier  grösstenthells  die  Forlselziing  des  antlern  sey.  Denn 
die  Bestimmung  der  kleinen  Terz  ging  davon  aus,  dass 
die  beyden  Gegensätze  von  den  halben  Gleichheiten  zur 
Schwelle  gedrängt  werden.  Dies  gab  die  Gegensätze 
r^  0,2612;  -welcher  Werlh  späterhin  für  den  Gebrauch 
in  den  Accorden  noch  zu  gross  gefunden  wurde.  (47  u.s.w.) 

Nun  sollen  zwar  bcy  der  grossen  Secunde  (36)  die 
einzelnen  Ton- Vorstellungen  noch  auf  der  Schwelle 
seyn  neben  der,  durch  die  halbe  Gleichheit  verstärkten; 
die  wir  als  durch  frühere  Übung  gewonnen  voraussetzen 
(nach  einer  Bemerkung  in  61.)  Allein  während  dies 
für  zusammenklingende  Tone  gilt,  verändert  es  sich  da, 
"WO  einer  nach  dem  andern  vernommen  wird.  Der  vor- 
hergehende erleidet  hier  eine  Ilenuiiung  durch  den  fol- 
genden ;  zugleich  wird  er  in  der  früheren  Yerworreu- 
lieit  reproducirt  inid  bestärkt;  er  kann  denmach  über- 
haupt nicht  ganz,  aber  am  wenigsten  in  seiner  ui'sprüng- 
lichen  Integrität  im  Bewusstseyn  bleiben.  Rückwärts 
gilt  dies  von  dem  folgenden  Tone  nur  in  so  fern ,  als 
man  von  dem  momentanen  Hören  des  ursprünglich  rei- 
nen Tons  hinwegsieht.  Das  schon  Vernonunene  wird 
von  der  halben  Gleichheit  ergrilfen ,  und  mit  dem  noch 
übrigen  Vorstellen  des  vorigen  Tons  verschmolzen. 
Daher  wird  die  Secunde  als  ein  andrer  Ton,  der  nur 
nicht  völlig  der  erste  sey,  vernommen.  Wäre  die  Se- 
cunde der  Hauptton  selbst:  so  würde  sie  nur  als  sie 
selbst,  ohne  ein  Gefühl  des  Andersseyns  und  Abwei- 
chens,  vernommen  werden.   Iliezu  nehme  man  Folgendes: 

100.  Antwort.  Wir  haben  vorausgesetzt,  der 
erste  Ton  habe  schon  eine  entschiedene  Brechung  durch 
die  reine  Quinte  (92).  Kommt  nun  cltuch  die  Secunde 
eine  neue   Brechung  hinzu:    so     ist  der    erste  Ton    dop- 


107 

pell  gcbroclieii,  mul  z^var  dcrgcslall ,  ilass  in  Anseluing 
seines  kleinsleii  Theils  eiue  Selbslerlialtiiiig  statt  finden 
sollte;  (02,  67.)  nämlich  in  dem  INIaasse ,  als  derjenige 
Druck,  welcher  von  den  starkem  Theilen  der  niimli- 
chen  Vorstellung  herrührt,  den  sclnvachsten  zu  verdran- 
gen im  BegrilF  ^vare.  Dies  setzt  den  Druck  als  eben 
letzt  wirksam,  mithin  die  Brechung  als  geschehen  voraus. 
Allein  in  wiefern  der  erste  Ton  seiner  Inlegrilät  beraiil)!, 
also  nicht  in  völliger  Bestimmtheit  dem  BeNvusstseyn  ge- 
genwärtig ist,  trüft  ihn  die  Brechung  weniger. 

Dagegen  hat  der  zwcyle  Ton,  (die  Sccunde)  in  je- 
dem Augenblick  des  Hörens  seine  ursprüngliche  Klar- 
heit; er  ist  der  Brechung  bloss  gestellt,  welche  iheils 
vom  Hauptton,  iheils  von  der  hinzugedachten  Quinte 
desselben  ausgeht.  Bey  ibm  also  irit  die  Selbst -Erhal- 
tung um  desto  sicherer  ein,  da  er  im  Anfange  des  Er- 
tönens ein  erst  entstehendes,  nur  bey  längerem  Verwei- 
len anwachsendes  Vorstellen  liefert,  welches  der  schon 
starken  Vorstellung  des  frühei-n  Tons  sehr  geringen  A>'i- 
dersland  entgegensetzt. 

iSun  rührt  die  TSülhigving  zur  Sclbsterhallung  bloss 
von  der  zu  starken  Gleichheit  her;  und  >vürde  ver- 
schwinden, wenn  dieselbe  sich  nur  um  ein  Zwölflhoil 
der  Octave  verminderte, —  oder  wenn  statt  des  Haupl- 
tons,  sofern  dieser  uoch  im  Bewusstseyn  gegenwärtig 
ist,  dessen  kleine  Unlersecuude  (der  Leittou),  zu  hö- 
ren wäre. 

Der  Leitton  macht  mit  der  Ober-Secunde 
eine  kleine  Terz.  Diese  Distanz  würde  der  Se- 
cunde  die  Selbsterhaltung  ersparen,  weil  ihr  gemäss 
die  Gegensätze  schon  auf  der  Schwelle ,  und  nicht  mehr 
darunter  sind.  (Vergl.  99.) 


108 

Gesetzt  nun,  es  sey  in  Folge  zweckmässiger  Übung 
(wie  jede  JMusik  sie  fast  jeden  Augenblick  darbietet,) 
neben  der  Obersecunde  der  Leitton  gehört  worden ;  so 
wird  derselbe,  falls  kein  Ilinderniss  eintrit ,  leicht  hin- 
zugedacht, wenn  man  vom  Haupttone  zur  Secunde  fort- 
geht; denn  er  ist  es,  welcher  das  durch  jene  Brechung 
ci'regle  Streben  befriedigt. 

Damit  ist  aber  die  Vorstellung  des  Haupttons  nicht 
sowohl  verdrängt  als  verworren;  denn  nur  die  Integri- 
tät dieser  Vorstellung  war  verschwunden.  Hingegen 
die  Hemmung  selbst  ist  so  unbetleutend,  dass,  nachdem 
die  Secunde  aufgehört  hat,  zu  ertönen,  sich  der  Haupt- 
ton von  selbst  wieder  hervordrängt ,  und  sobald  er  wirk- 
lich erklingt,  Ruhe  in  ihm  gefunden  wird. 

101.  Thatsächliche  Bestätigung.  INIan  gehe 
die  Tonleiter  durcli,  und  versuche,  den  Grundton,  so- 
viel möglich  dabey  vestzuhalten.  Den  Erfolg  zeigt 
Fig.  36.  Gleich  bey  der  Secunde  verschwindet  der 
Grundton ;  späterhin  kann  man  ihn  in  Gedanken  behal- 
ten, bis  zum  Leiltüu;  zu  welchem  die  Secunde  muss 
hinzugedacht  werden. 

102.  Erläuterung.  Warum  verschwindet  der 
Grundton  bey  der  Secunde?  Was  verdrängt  ihn  aus 
dem  Bewusstseyn?  Darüber  mag  man  sich  wundern! 
Denn  au  eine  starke  Henmiung  ist  hier  nicht  zu  den-» 
kcn.  Die  entferntem  Töne, Terz,  Quarte,  Quinte,  Sexte,— 
alle  haben  einen  stärkern  Hemniungsgrad  gegen  den 
Gruudton,  als  die  ihm  so  nahe  liegende  Secunde.  Warum 
dulden  sie  den  Gruudton  neben  sich ;  und  wie  macht 
es  die  Secunde,  ihn  zu  vertreiben?  Besonders  aber, 
wenn  sie  ihn  vertrieb,  wie  ist  es  möglich,  dass  ein 
starkes  Streben,  ihn  wieder  zu  hören ,  entstehe,  welches 


100 

sich  <lmgcnl)llcklich  befnetligt  fiiulcl,  sol)aKl  entweder  zu 
ihm  selbst,  wie  in  Fig.  32,  o<ler  auch  nur  zti  seiner 
Terze,  wie  liier,  zurückgegangen  wird? 

Die  Distanz  der  Secundc  ist  nur  0,17158,  oder  nahe 
ein  Scchstlieil  der  Octave.  Tlieilte  sich  nun  auch  die 
hieraus  entstehende  Ilemniungs-Sunune  zwisclien  der 
Secunde  und  dem  Grundloue  sogleich:  so  würde  die 
Henunung  des  letztern  nur  jV  betragen.  Aber  ersllkb: 
eine  so  geringe  Hemnumgs -Summe  sinkt  laugsam;  und 
zAveytens,  der  Klang  der  Secunde  muss  verweilend  an- 
halten, bevor  die  Vorstellung  desselben  eine  gleiche 
Starke  erlangt,  wie  der  vorhergegangene  Grundton  im 
verweilenden  Hören  schon  erlangt  hat. 

INlit  einem  Worte:  an  ein  wirkliches,  so  bedeuten- 
des Verschwinden ,  an  eine  so  plötzliche  Hejiimung  der 
Vorstellung  des  Grundtons,  wie  hier  im  ersten  Augen- 
blicke, da  die  Secunde  ertönt,  sich  zu  ereignen  scheint, 
ist  nicht  im  Ei-nsle  zu  denken.  Nicht  Hemmung ,  son- 
dern Verworrenheit  ist  eingetreten.  Die  halbe  Gleicli- 
heit  macht  sich  gelten.  Das  von  ihr  verunreinigte  Vor- 
stellen verdrängt  die  reine ,  lautere  Vorstellung.  Darum 
kann  maji  nicht  sagen,  dass  man  den  Grunton  im  Ge- 
danken vcst  gehalten  habe ;  ausser  mit  einer  Art  von 
Anstrengung,  deren  Widi'iges  man  fühlt.  Vollends  wer 
den  Leitton  kennt,  der  denkt  ihn  hier  unwillkührlich 
hinzu ;  er  verändert  dadurch  die  Brechung  soweit  uö- 
thig,  um  dem  Sti-eben  der  Selbst erhaltung  zu  Hülfe  zu 
kommen.  Eben  darum  nun,  weil  der  Grundton  bey- 
uahe  gar  nicht  gehemmt  war ,  bedarf  die  Vorstellung 
desselben  auch  keine  merkliche  Zeit,  um  wiederzukeh- 
ren, sondern  das  Gleichgewicht  ist  sogleich  wiedei'her- 
gestellt,    und   Ruhe    trit  ein,    indem    der  Grundton     er- 


110 

klingt.      ]\Iaii    fiiick't    Hin  \invei"iinilerl   wieder,    (leÄi  er 
halte  keine  ^YesentIiclle  Brecliung  erlitten. 

103.  Fernere  Erläuterung.  Den  stärksten  Con- 
Irnst  gegen  diesen  letztei'u  Umstand  macht  der  Gang  in 
die  falsche  Quinte  oder  übermässige  CKiarte.  Fig.  34*^. 
Kehrt  man  von  da  zum  Grundton  zurück,  so  ist  er  ver- 
dorben; er  gewahrt  keine  Ruhe  mehr.  Denn  er  ist  in 
der  jMitte  gebrochen ,  und  befindet  sicli  im  stärksten 
Widerstreit  mit  sicli  selbst.  Die  andern  Fälle  der 
Fig.  34  verralhen  zwar  ebenfalls  sämmtlich,  dass  an  dem 
Grundlone  etwas  kleben  bleibt;  allein  die  Ursache  ist 
von  andrer  Art.  Terzen  und  die  reine  Quinte,  Sexien 
und  die  Quarte  passen  mit  dem  Grundtone  in  Einen 
Accord.  AVenn  in  ihnen  die  IMelodie  fortschreitet,  so 
empfindet  man  wenig  Bewegung,  weil  die  Harmonie 
auf  gleiche  A\  eise  hinzugedacht  wird ,  wenn  dies  nicht 
dmch  nähere  Bestimmungen  gehindert  ist.  Hingegen 
darin  gleichen  sich  die  Secunde  und  die  falsche  Quinte, 
dass  beyde  gegen  den  Grnndton  dissoniren;  und  dieser 
Ähnlichkeit  ungeachtet  un  terscheiden  sie  sich 
dennoch  so,  dass  bey  der  Secunde  nicht  deren  Accord, 
sondern  dessen  Aullösung,  hingegen  bey  der  falschen 
Quinte  der  Accord  selbst,  in  welchen  diese  mit  dem 
Grundton  passt,  (zunächst,  wenn  andre  Bestimmungen 
fehlen,  der  verminderte  Dreyklang)  hinzugedacht  wird; 
und  zNvar  so,  dass  dies  Hinzugedachte  nicht  w  eicht  son- 
dein  bleibt,  indem  man  in  den  Grundton  zurückgeht; 
anstatt  dass  mit  der  Secunde  auch  die  Vorstellung  ihrer 
Aullösung  verschwindet,  und  der  Rückgang  in  den  Grund- 
ton die  Ruhe  wieder  herstellt.  Dies  war  der  Punct, 
a\if  den  es  ankam.  Die  Secunde  verändert  ihre 
eigne  Brechung,    indem  der  fieitton   hinzxigedacht   wird; 


lll 

die  falsclio  Qiünle  bleibt  in  iler  Brocliimg,  iiml  bricht  den 
(jrundloii.  Jenes  gesiliieht  durch  die  Selbslcrlialtung  gegen 
die  -Nlaclit  der  Gleichheit;  dieses  trit  ein,  weil  die  Gleichheit 
viel  zu  gering  Ist,  lun  eine  Selbsterhaltung  licrvorzurufen. 
Sehr  zu  beachten  ist  hiebey  der  Umstand,  dass  der 
Gang  in  die  Secunde  nicht  luit  dem  Gange  in  die  Noue, 
oder  Unterseptime  (Fig.  35  //  und  c)  darf  verwechselt 
^verden.  Hier  fehlt  es  an  Gleichheit,  daher  fehlt  die 
Sclbstcrhaltung  sannnt  der  veränderten  Brechung.  Es 
geht  wie  bey  der  falschen  Quinte ;  man  denkt  den  dis- 
sonirenilen  Accord  (etwa  d,  f,  a,  c,  oder  c,f,  a,  d,)  hinzu, 
und  behalt  ihn  In  Gedanken  auch  bey  der  Rückkehr 
in  den  Grundion,  die  niui  keine  Ruhe  gewährt. 

104.  Frage.  A\  enn  eine  Stimme  sich  um  eine 
kleine  Secunde  abwärts  luid  aufwärts  bewegt:  wie  wir- 
ken die  daraus  entstehenden  Vorstellungen? 

105.  Vorbereitung  z  u  r  A  n  t  w  o  r  t.  Wir  setzen 
hnmer  voraus,  der  Ilauptton  sey  als  solcher  vestge- 
stellt ;  und  zwar  hauptsächlich  durch  seine  reine  Quin- 
ten. In  andrer  Verbindung  z.  B.  wie  Fig.  37,  wüi'de 
ein  ganz  andres  Resultat  lierauskommen ,  als  für  den 
Hauptton  c  In  Fig.  33,  der  die  Bewegiuig  c,  //,  c,  macht, 
während  g  hinzugedacht,  ist.  Aur  von  diesem  Falle  Ist 
hier  die  Rede;  imd  h  soll  unter  c  liegen;  keinesweges 
oberwärts,  wie  in  Fig.  35  a. 

IOC.  Antwort.  Alles  kommt  wieder  auf  die 
Gleichheit  an.  Indem  h  ertönt,  scheint  c  aus  dem  Be- 
wusstseyn  zu  verschwinden ;  In  der  That  aber  wdrd  es 
nur  sehr  wenig  gehemmt;  dagegen  trit  die  Vorstellung 
desselben  als  durch  h  vorworren  hervor,  indem  die 
halbe  Gleichheit  hier  noch  weit  wirksamer  ist  als  Im 
vorigen  Falle.     Die  Brechung,  welche  h  erleidet,  würde 


112 

chien  noch  klclnoi-n  Tlicll  von  ihm  ahschnculcn,  und 
dieser  >vürde  ditnh  die  grössern  Theile  derselben  Vor- 
slelhuig  noch  schneller  auf  die  Schwelle  geworfen  wer- 
den, wenn  nicht  die  SelbslcrhaUung  zuvorkäme.  Ihrem 
Streben  aber  wird  genügt,  wenn  die  Gleichheit  derge- 
stalt vermindert  wird,  dass  die  Brechung  sich  bis  zu 
der  einer  kleinen  Terz  verändert ;  welches  liier  durch 
die  obere  Secunde  d  geschehn  muss.  Rennt  man  diese 
Befriedigung  einmal:  so  wird  sie,  wenn  nicht  gehindert, 
leicht  hinzugedacht.  Allein  die  kaum  ein  wenig  ge- 
liemmte  Vorstellung  des  Haupttous  drängt  fortwährend 
dagegen;  trit  nun  der  Ilauplton  wieder  ein,  so  ist  Iluhe 
vorhanden.  Der  Fall  ist  die  Umkehrung  des  vorigen, 
nur  noch  entschiedener  wegen  der  grössern  Gleichheit. 

107.  Frage.  Warum  ereignet  sidi  nicht  das  Näm- 
liche, wie  in  den  vorigen  Fällen,  dann,  wenn  die  Stimme 
eine  kleine  Secunde  aufwärts  und  ziunick,  oder  eine 
grosse  Secunde  unterwärts  und  zurück  sich  bewegt? 
Und  worin  liegt  der  Unterschied  vom  vorigen?  (JMan 
sehe  Fig.  38.) 

lOS.  Antwort.  In  der  That  wird  aus  obigem 
Grunde  leicht  die  kleine  Terz  (zu  des  h,  zu  b  des)  hin- 
zugedacht; allein  die  Quinte  ^,  .durch  welche  der  Haupt- 
ton c  bestimmt  ist,  bildet  nun  mit  des  und  b  den  ver- 
minderten Dre) klang,  dessen  unbestimmte  Unruhe  man 
kennt.  (55  —  58).  Diese  lässt  sich  durch  llückkehr  iu 
den  Hauptton  niclit  wegschaffen. 

109.  Zusatz.  Eigentlich  ist  die  Auffassung  der 
kleinen  Ober -Secunde  schwankend,  wenn  nichts  hinzu- 
kommt ;  denn  sie  kann  gegen  die  Quinte  auch  Erhöliung 
des  Griuidtons  und  Übergang  zur  grossen  Secunde  seyn, 
wie  Fis.  39. 


113 

110.  Frage.  AA'üiliircli  w'nd  dio  (Jiii'nto  zur  ohcrn 
Doniinaule? 

111.  Vorho  r  oi  t  II  ng  zur  Antwort.  Zuerst 
iiiuss  der  Uiilerscliied  liemerkt  wei'den  zwischen  iler 
Domliiaiile  uiul  der  Ijlossen  Q)uinte.  Es  koninit  auf  den 
ITnterscIiIed  der  jNlelodle  und  Harmonie  an.  Nnr  ^^enn 
eine  Stimme  sicli  so  bewegt,  dass  zum  ersten  Ton  der 
tlur- Accord  der  Quinte  geliürt,  inid  alsdaini  der  reine 
Accord  des  Haupitons  folgt,  wird  in  dieser  Mewegmig 
die  Quinte  ziu-  Dominante. 

112.  Antwort,  lügentlicli  domlnirt  die  Quinte, 
wie  aus  dem  Obigen  erhellet,  schon  dadurch,  dass  durch 
sie  der  Ilauptlou  vcstgcslellt  Ist.  Zugleich  aber  halben 
wir  gezeigt,  dass  die  nächsten  IJewegungen  des  llaupt- 
tons,  wenn  beym  Iiückgange  in  ihn  llulie  entslelin  soll, 
nicht  jene  in  die  kleine  Obcrsecunde  oder  grosse  Unter- 
secunde  seyn  können ,  sondern  entweder  in  die  grosse 
Secunde  aufwärts,  oder  in  die  kleine  Secunde  unter- 
wärts geschelien  müssen;  und  dass  in  beyden  Fallen 
der  Dur -Accord  der  Quinte,  wo  nicht  gehört,  so  doch 
gedaclit  wird.  Darum  Ist  die  Quinte,  als  Grundton  die- 
ses Accordes ,  dergestalt  vorherrschend ,  dass  sie  die 
nächsten  Bewegungen  des  Hanpttons  beslinnnt. 

112.  Anmerkung.  Die  Quarte  dagegen  bestimmt 
die  nächste  Bewegung,  welche  die  reine  Harmonie  ma- 
chen kann,  während  der  Hauptton  ruliet.  Man  weiss 
aus  dem  Obigen,  dass  sie  die  Gränze  setzt,  bis  zu  wel- 
cher die  AYirksamkelt  der  Gleichheit  mit  dem  HaujU- 
ton  sich  ei'streckt  (9.')).  Als  untere  Quarte  fällt  sie  mit 
der  Oberdominante  zusammen;  als  obere  Quarte  hat  sie 
die  Terzen  zu  nächsten  Nachbarn ,  welche  sich  ohne 
Sprung   zu   ihr  hin    jjcwcgen  können.      Zur    Ausfüllung 

H 


114 

der  leinen  Harmonie  geliört  alsdann  diejenige  Sexte^ 
\v eiche  von  der  kleinen  oder  grossen  Terze  die  reine 
(Quarte  ist;  daher  richtet  sich  das  Dur  oder  Moll  des 
hieraus  entstehenden  Accordes  nach  demjenigen  des 
Haupttons,  indem  über  die,  den  Terzen  zugehörige 
Sphäre  der  Gleichheit  nicht  hinausgegangen  wird.  Beym 
Dur  macht  denmach  die  Quinte  die  Bewegung  einer 
grossen  Secunde  aufwärts;  beym  INIoU  geht  die  Terze 
den  nämlichen  Gang.  Aus  beyden  ergiebt  sich  ein  natürli- 
cher Rückgang  in  die  Töne  des  reinen  Accordes  vom 
Hauptton.  Will  man  nun  Bewegung  des  Haupttons 
selbst  folgen  lassen ,  so  entsteht  der  bekannte  Gai.g 
Fig.  40,  \^'elcher  die  nächsten  Bewegungen  sowold  des 
Haupttons  als  seiner  reinen  Harmonie  zusammenfasst, 
und  ihn  hiemit  in  möglichster  Kürze  veststellt. 

114.  That Sache.  Die  Tonleiter  stellt  sämmlliche 
Töne,  welche  zu  den  eben  erwähnten  beyden  Bewegun- 
gen gehören,  in  eine  Reihe,  die  man  nach  zweyen  ent- 
gegengesetzten Richtungen  durchlaufen  kann.  Ilierbey 
zeigt  sich  der  Leitton  als  empfindliche  Note,  die  selbst 
bey  der  IMoll- Tonart  im  Heraufgehn  nicht  entbehrt 
werden  kann,  obgleich  sie  dort  den  übermässigen  Se- 
cundensprung  (87)  hervorbringt,  wenn  man  nicht  den 
vorhergehenden  Ton  erhöhen  will. 

115.  Frage.  Woher  rührt  die  Empfindlichkeit 
des  Leittons,  und  die  in  ihm  fühlbare  Nothwendigkeit, 
ihn,  als  ob  er  eine  Dissonanz  wäre,  in  die  Octave  auf- 
zulösen? 

116.  Vorbereitung  zur  Antwort.  Blan  nehme, 
indem  man  die  Tonleiter  hinaufgeht,  statt  seiner  die 
kleine  Septime :  so  bleibt  man  innerhalb  der  Linie,  wor- 
in die   Quarte  den  Mittelpunct    bildet;    also    wird  diese 


115 

iler  Punct  ,  iii  welclion  die  Wirksamkeit  der  Glelcliheit 
alle  Töne  /iisainmenzuzielm  siiclil   (05). 

117.  Antwort.  Der  Leittou  übersclireltet  diese 
Tiinie;  die  Gleichheit  mit  ihm  zieht  die  beydeu  vorigen 
'lonc  nach  oben ,  während  sie  die  Quarte  nicht  mehr 
beheri'schend  sondern  streitend  erreicht  (18). 

Die  übermässige  Quarte  nämlich,  welche  der  Leitton 
gegen  jene  Quarte  des  Grundtons  bildet,  Ist  In  Ansehung 
der  Distanz  als  gleich  der  falschen  Quinte  zu  betrach- 
ten. (Vergl.  84  mit  38.).  Der  Leitton  versetzt  sich 
also  nicht  bloss  in  Streit  gegen  die  Quarte,  sondern  er 
entzieht  ihr  auch  die  JMacht,  den  IMiltelpunct ,  wohin 
alle  Töne  sich  neigen  würden ,  zu  bestimmen.  Hiezu 
kommt  seine  schon  früher  gewonnene  Veibindung  mit 
der  obern  Secunde  des  Grund  tons  (100).  In  Ansehung 
der,  ihm  zunächst  vorhergehenden,  Sexte,  ist  ein  Un- 
terschied beyni  Heraufgelni  im  Dur  und  jNIoII,  näher  zu 
betrachten. 

Nämlich  bey  der  Dur-Scala,  welche  von  der  grossen 
Sexte  zum  Leitton  fortschreitet,  beträgt  diese  Foii- 
schreitung  eine  grosse  Secunde ;  was  daraus  folgt,  weiss 
man  aus  dem  Obigen  (102).  Die  Viustellung  der  Sexte 
geräth  in  Verworrenheit.  Das  Streben  der  Selbsterhal- 
tung (106)  wird  dm-ch  Rückkehr  in  einen  tiefern  Ton 
befriedigt,  wozu  sich  hier  die  nur  kurz  vorhergegangene 
Oberdoniinante  darbietet.  Alles  zusammen  erglebt  den 
Gang  Fig.  41. 

Etwas  anders  verhält  sich  die  Moll-Scala,  wenn  die 
hier  einheimische  kleine  Sexte  gebraucht  wird,  und 
darauf  der  übermässige  Secunden-Spruug  folgt.  Fig.  42. 
Hier  ist  die  Gleichheit  zwischen  der  kleinen  Sexle  und 
dem  Leitton  zu  gering,  um  die  Sexte  in  Verworreuheit 

H^ 


116 

zu  vcrsel/eij.  Man  Jiört  vielmcljr  fortdauernd  das  Marie 
der  übermässigen  Secunde ;  s  i  e  1j  1  e  i  b  t  k  1  c  I)  e  n  ,  und 
bildet  mit  dem  Leitton,  der  Quarte  tiud  Secunde  einen 
Sext- Quinten  -  Accord.  Dies  wird  beym  gewölmlichen 
Gange  durcli  die  grosse  Sexte  vermieden,  welcher  Gang 
aus  der  ^Nachgiebigkeit  gegen  den,  vom  Leitton  herrüh- 
renden Zug  nach  oben  entstanden  ist. 

118.  That Sache.  Beym  Contrapuncte,  d.  h.  bcy 
der  Bewegung  einer  Stimme  gegen  eine  andre,  hat  man 
nothig  gefunden,  .drey  Falle  zu  unterscheiden;  indem 
die  andre  entweder  still  steht,  oder  in  entgegengesetzter 
oder  in  gleicher  Richtung  sich  bewegt.  Der  letzte  Fall 
wird  im  allgemeinen  als  gefährlich  bezeichnet,  indem 
leicht  Fehler  dabey  begegnen  können;  vorbotene  Quin- 
ten,  Octaven  ,  Terzen. 

119.  Frage.  Lässt  sich  hiebcy  ein  allgemeiner 
Grund  der  Gefahr  angeben? 

120.  Antwort.  "Wenn  eine  Stimme  ruhet,  wäh- 
rend eine  andre  sich  bewegt:  so  ändert  sich  das  Ver- 
hältniss  der  Gleichheit  zum  Gegensatze.  "\Venn  die  be- 
wegte Stimme  sich  der  ruhenden  nähert ,  so  wächst  die 
Gleichheit,  und  der  Gegensalz  nimmt  ab;  das  Umge- 
kehrte gilt,  wenn  jene  sich  entfernt.  Beydes  geschieht 
aus  doppeltem  Grunde  bey  der  Gegenbewegung.  Allein 
bey  der  sogenannten  geraden  Bewegung,  welcher  gemäss 
beyde  Stimmen  einerlcy  Richtung  nehmen,  kommt  et- 
was vor,  das  sich  aufhebt.  Eine  Stimme  nähert  sich 
der  Stelle,  welche  soeben  die  andre  einnahm;  die  andre 
enlfernt  sich  von  derselben  Stelle,  und  v^ereitclt,  wenig- 
stens tlieilwcise,  die  Annäherung.  Hatten  sich  nun 
Gleichheil    und    Gegensatz   in  Wechselwirkung    gesetzt  : 


117 

so   wild  diese  AVechsehviikung  zugleich  aiifgeliulien  und 
wiederhergestellt. 

121.  Thalsaclie.  Octavcu,  die  sich  vom  Anfang 
eines  nuisikalisclien  Salzes  an,  foi'l\vahrend  begleiten, 
sind  nicht  anslössig. 

122.  Erklärung.  INIan  hört  in  diesem  Falle  ei- 
nerley  jMelodie  doppelt,  indem  von  Anfang  an,  die 
Slimmeu  sich  niclit  gegenseitig  ))rechen ,  sondern  nur 
die  Tone,  welche  in  eiuerley  Stimme  liegen,  unter 
einander  in   Veihältniss  treten. 

123.  Tliatsache.  Dagegen  sind  in  solchen  Salzen, 
worin  Anfangs  die  Stimmen  andre  Intervalle  bildeten, 
mehrere  Oclaven  nach  einander  unzulässig;  und  so 
widrig,  dass  selbst  die  sogenannten  verdeckten  Oclaven, 
welche  durch  leicht  hiuzugedaclite  IJborgänge  entstehen 
können,  gern  vermieden  werden. 

124.  Erklärung.  Hatten  einmal  die  Stimmen 
sich  durch  irgend  ein  Intervall  in  gegenseitige  Brechung 
versetzt,  so  wird  die  Oclave  als  ein  Aufhören  der  Bre- 
chung ,  und  als  ein  Durchgang  durch  verschiedene  Bre- 
chungen empfunden.  Folgt  nun  eine  zvveyte  Oclave:  so 
nähert  sich  eine  Stimme  der  Stelle,  wo  so  eben  die  andre  lag  ; 
hiemit  entsteht  ein  Grad  von  Gleichheit,  welcher,  im  Au- 
genblick des  Überganges  vernommen,  sogleich  durch 
die  sich  ausbildende  neue  "NYahrnehmung  völlig  zurück 
gestüssen  wird. 

125.  Tliatsache.  Noch  unerträglicher  sind  zwey 
reine  Quinten  unmittelbar  nach  einander  bey  gerader 
Bewegung  der  nämlichen  Stinnnen;  während  sie  bey 
eu  tgegengesetzter  Bewegung,  oder  wenn  es  nicht 
die  nämlichen  Stimmen  sind,  die  in  das  zweite  Quinten- 
Verhältniss  treten,  kaiuu  empfunden  werden.  I'"ig.  43,  u,h,c. 


116 

126.  Erklärung.  Es  kommt  aiitli  hier  auf  den  Au- 
genblick des  Überganges ,  und  die  in  ihni  entsiebende 
Wahrnehmung  einer  Gleichheit  au,  welche  zurückge- 
stossen  wird.  Sind  es  nicht  dieselben  Slininieu,  so 
fehlt  der  Übergang;  bey  der  Gegenbevvegung  fehlt  die 
entstehende  Gleichheit,  wenn  sie  nicht,  wie  freylich 
durch  Transposition  in  die  höhere  Octave  leicht  geschieht, 
hinzugedacht  wird. 

Aber  in  dem  eigentlich  fehlerhaflen  Falle  erhebt 
sich  nicht  bloss  die  Gleichiieit  durch  die  sich  der  vori- 
gen annähernde  Stimme:  sondern  dieses  gleicht  der  Er- 
liebung  nach  einer  Niederlage  zu  neuem  Streite. 
Denn  bey  der  reinen  Quinte  wird  die  Gleichheit  von 
den  Gegensätzen  auf  die  Schwelle  getrieben  (20 — 22). 
Folgt  nun  eine  Quinte  der  andern,  so  empfindet  man 
bey  der  zweylen  Quinte  eine  gewaltsame  Spannung  der 
Töne  gegen  einander,  die  uotlnvendig  erfolgen  muss, 
indem  die  Selbstständigkeit  jedes  Tons  gegen  den 
andern  wider  die,  von  neuem  auftauchende,  Gleichheit 
sich  geltend  macht. 

127.  T  hat  Sache.  Auch  eine  falsche  und  eine 
reine  Quinte  dürfen  einander  in  dem  nämlichen  Paar 
Stimmen  nicht  unmittelbar  folgen;  doch  ist  dieser  Feh- 
ler nicht  so  unerträglich  wie  der  vorige. 

128.  Erklärung.  Auch  hier  nähert  sicli  eine 
Stimme  der  Stelle,  wo  unmittelbar  zuvor  die  andre  lag. 
Auch  hier  also  entsteht  im  Moment  des  Übergangs  ein 
neuer  Grad  von  Gleichheit,  der  sogleich  niedergedrängt 
wird.  Der  Unterschied  vom  vorigen  Falle  ist  jedoch 
der,  dass,  wenn  die  falsche  Q)uinte  vorangeht,  nicht 
eine  ganz  darniederliegende  sondern  im  Streite  begriffene 
Gleichheil    sich    vergrössert    und    dann    zurückgedrängt 


119 

^vird;  ^vomx  uingekclirt  die  i'eine  Quinte  vürangolit,  die 
im  JMomcnt  des  Lberganges  auftauchende  Gleichheit 
nicht  ganz  verdrängt  sondern  nur  wieder  in  den  Stand 
des   Streits  wider    die    Gegensatze    zuriickgebracht  wird- 

129.  T  hat  Sache.  Zwey  grosse  Terzen  sind  in 
einigen  Fällen  (die  wir  nicht  einzeln  durchlaufen  wollen) 
ebenfalls  in  so  fern  verboten,  dass  sie  nicht  in  dem 
nämlichen  Paar  Stimmen  einander  unmittelbar  folgen 
dürfen. 

130.  Erklärung.  Bey  der  grossen  Terz  sind  die 
Gegensätze  im  Gleichgewicht  mit  dem  zwiefachen  An- 
triebe der  Gleichheit,  wodurch  die  Vorstellungen  in 
Kine  würden  verschmolzen  werden  (31).  In  dem,  am 
gewöhulichsleu  vorkommenden  Falle,  Fig.  44'',  erhebt 
sich  die  Oberstimme  aus  der  grossen  Tei'z  zur  übermäs- 
sigen Quarte,  welche,  wie  öfter  bemerkt,  als  Distanz 
betrachtet  der  falschen  Quinte  gleich  kommt.  Hiemit 
trit  an  die  Stelle  des  vorigen  Gleichgewichts  der  be- 
kannte Streit  In  der  falschen  Quinte.  Würde  nun  die 
Unterstimme  eben  so  hoch  sich  erheben,  wie  In  Fig.  44^; 
so  wäre  der  Gleichheit  In  demselben  Übergänge  Streit 
gedroht  und  Gleichgewicht  eingeräumt.  Dies  wird 
Fig.  44<^  vermieden  durch  Erniedrigung  der  Unterstimme 
in  eine  tiefere  Octave;  zum  Zeichen,  dass  es  bloss  dar- 
auf ankam,  die  Gleichheit  nicht  wachsen  zu  lassen; 
und  ebenfalls  wird  es  Fig.  44*^  vermieden,  indem  die 
Oberstimme  sich  theilt,  während  die  Uuterstlmme  ruhet ; 
zum  Zeichen,  dass  nur  der  Übergang  soll  vermieden 
werden,  worin  einerley  Paar  Stimmen  mit  sich  selbst 
in  ^yiderstreit  geratheu  würde. 

131.  Zusatz.  Bleiben  die  Fortschreitungen  inner- 
halb der  Distanz  einer  Quarte,  —  wie  wenn  ein  paar  he- 


120 

uaihbarle  kleine  Terzen,  oder  ancli  eine  grosse  Terz 
einer  kleinen  Iblgt,  —  oder  sind  es  Quarlcu,  die  ein- 
ander folgen :  so  bleibt  man  auf  eine  oder  andre  Weise 
iu  dem  Bezirk,  >voriu  von  einem  gegebeneu  Pimcle 
nach  einer  Seite  hin  die  halbe  Gleichheit  ^^•irksam  ist. 
Dass  alsdann  die  Folgen  der  streitenden  Gleichheit 
nicht  entstehen  können,  w'n\\  keiner  -sveilern  Erläute- 
rung bedürfen. 

Alhjemcinc  Anmcvkuuijcn. 
A.      Thatsächliches. 

Ein  Gelehrter,  der  die  Tonkunst  theoretisch  inid 
praktisch  kennt,  hat  folgendes  mitgethellt: 

„Achte  Erfahrungen  des  ästhetischen  Ifrlheils  über 
Tonverhältnisse  werden  gemacht  bey  dem  zwey  -  und 
mehrstimmigen  Gesänge  ohne  Instrumental -Begleitung ; 
vorausgesetzt,  dass  die  Sänger  reine  Ohren  und 
Stimmen  haben ,  ohne  durch  akustische  Berechmnigen 
der  Intervalle  zu  vorgefassten  JNIeinungeu  bestunmt  zu 
seyu.  Die  Unterschiede  sind  zu  klein,  als  dass  nicht 
JMeinuugen,  wo  sie  einmal  vorhanden  sind,  auf  ihre  Be- 
urtheilung  einen  Einlluss  ausüben  sollten.  Die  folgen- 
den Bemerkungen  gelten  nur  unter  jener  Voraussetzung". 

„1.  Cis  ist  höher  als  des,  äis  höher  als  es,  u.  s.  av. 
Es  gilt  dies  von  jedem  zufällig  crhöbetcn  und  zufällig 
erniedrigten  Tone,  wenn  beyde  auf  dem  Clavier  die- 
selbe Taste  haben". 

„Dem  Scheine  nach  macht  folgendes  Beyspiel  hievon 
eine  Ausnahme.  IMan  nehme  a.\d  fis  den  Sext-Quinten- 
Accord  mit  der  falschen  Quinte  und  grossen  Sexte  (//*, 
a,  r,  dis ,  Fig.  45).  JNIan  lasse  nun  ,  während  die  drey 
übern    Stimmen    auslialleu,  fis    in  /  herabsinken;    imd 


121 

gclie  von  da  zum  Soxl-Quartcn-Atconl  auf  c  (r,  a,  c,  e,) 
>vclchem  der  reine  Aecord  \ün  c  ihir  lolge.  Hier  Tühll 
der  Sänger  der  tielslen  Summe  eine  Surge,  das  aui  Jis 
iülgende  /  ja  liocli  genug  zu  singen.  Hingegen  in  einem 
andern  Falle  ist  von  dieser  Sorge  keine  Spur  mehr  7ai 
l'ühlen.  ]Man  l^eginne  nämlich  mit  dem  Secunden-Ac- 
corde  auf  ^e^,  ^vekhem  mit  obigem  Sext- Quinten  -  Ai- 
corde  von  Jis  die  gleichen  Claviertaslen  gehören ,  [ges, 
a,  c,  es,  Fig.  4(3j;  lasse  nun  ges  in  /herabsinken,  und 
schliesse  in  b  diir.  Hier  könnte  man  erwarten,  dass 
der  Sänger  um  desto  eher  besorgt  seyn  würde,  das  / 
hoch  genug  zu  trelfeu,  weil  ges  tiefer  ist  ah  Jis ;  daher 
denn  das  auf  ges  folgende  /  leichter  zu  lief  werden 
könnte,  als  im  Ijbergange  von  fis  zu/.  Allein  diese 
Besorgniss  bemerkt  mau  ulcht". 

Es  dürfte  nicht  schwer  seyn ,  den  Grimd  liievon  zu 
finden.  ]Man  sehe  zurück  auf  das,  was  oben  von  der 
Veränderung  gesagt  woi'den,  welche  sich  schon  Ijeym 
reinen  Accorde  ereignet,  wenu  zu  ihm  die  kleine  Sep- 
time trit,  also  wenn  die  grosse  Terze  sich  in  den  Leil- 
ton  verwandelt.  Diese  Terze  bekonnnt  dadurch  ein 
tjbergewicht ;  sie  strebt,  sich  zu  erNveileru.  AYill  der 
Sänger  diesen  Effect  nicht  hervorbiüngen ,  (und  im 
ersten  der  angegebenen  Falle  darf  er  es  nicht,)  so  nniss 
er  sich  hüten ,  den  Grundton  (im  Beyspiele  das  /)  zu 
tief  zu  nehmen;  daher  jene  Sorgfalt,  es  ja  hoch  geiuig 
zu  treffen;  denn  sonst  könnte  nicht  der  Sext-Quarten- 
Accord  von  e  folgen,  wie  doch  geschehn  soll.  Umge- 
kehrt, wo  der  Sclduss  in  b  dur  beabsichtigt  wird,  da 
Süll  a  der  Leitton  werden;  also  muss  /tief  genug  gc- 
nonunen  werden,  und  wird  so  geuonuneu,  obgleich  es 
auf  ges  folgt. 


122 

„2.  Eine  ähnliche  Sorge,  wie  im  obigen  ersten  Falle, 
empfindet  der  Sänger,  wenn  er  eine  IMoll  -  Tonleiter 
herabsingend  dabey  den  übermässigen  Secundensprung 
anbringen  soll;  z.  B.  a,  gis,  f,  e  u.  s.  w.  Auch  hier 
liegt  ilim   daran,  das  /  hoch  genug  zu  nehmen". 

Dieser  Fall  ist  vom  vorigen  verschieden,  ungeachtet 
der  anscheinenden  Gleichartigkeit.  Hier  kommt  ein 
Leitton  nur  in  so  fern  in  Betracht,  als  rückwärts  vom 
Hauptton  zum  Leitton  herabgegangen  war.  Vorausge- 
setzt nun,  man  habe  gi's  hoch  genug  zu  nehmen  sich 
bemüht,  so  könnte,  wenn  darin  zu  viel  geschehen  wäre, 
die  Distanz  von  gi's  zu  /  eher  zu  gross  als  zu  klein 
werden.  Nach  unserer  obigen  Angabe  (84)  soll  die 
verminderte  Septime  genau  -J  der  Octave  (anderthalb 
falsche  Quinten),  mithin  die  übermässige  Secunde  nicht 
mehr  als  ^  der  Octave  betragen.  Hierauf  können  wir 
folgende  Berechnung  gründen:  Mau  nehme  gis,  wie  es 
seyn  niuss,  als  grosse  Terze  von  e,  der  reinen  Quinte 
des  Grundtons;  zu  welchem  die  Scala  heruntergeht. 
So  ist  der  Gegensatz  der  grossen  Terz  z=  0,33333  .  .  . 
vuid  der  reinen  Qiüute  z=:  0,58578  zu  addiren,  um  die 
Höhe  des  Leittons  gis  n::  0,91911  zu  finden.  Hievou 
abgezogen  ^  z::^  0,25  ergiebt  nun  0,66911  für  die  Höhe 
des  Tons  /,  Eben  dieses  /,  als  kleine  Sexte  des  Haupt- 
tons, hat  die  Höhe  =  0,66666  (man  sehe  oben  38). 
Der  Sänger,  wenn  er  genau  um  eine  übermässige  Se- 
cunde herabsteigt,  wird  also  noch  nicht  ganz  die  kleine 
Sexte,  oder  untere  grosse  Terz  des  Haupttons,  erreichen, 
und  es  wird  scheinen,  als  hätte  er  sich  gefürchtet,  sie 
zu  tief  zu  nehmen,  weil  er  sich  hütet,  die  übermässige 
Secunde  zu  übertreiben.  Die  Beobachtung  ist  eben  so 
richtig  als  fein.    Nähme  man  auch  die  vcrnüuderle  Sep- 


123 

tiDie  für  die  Summe  einer  falschen  Quinlc  und  eiiier 
solchen  kleinen  Terz  \vie  im  reinen  Accordc  (48),  also 
0,5  -j- 0,2486  rzz  0,7486,  demnach  die  übermässige  Se- 
c»inder=0,2514:  so  käme  doch,  dies  vom  Lcillon  al)- 
gezogen,  noch  immer  0,0677  für  jenes  /;  millüu  iimner 
noch  mehr  als  0,66666. 

„3.  Säuger  von  geringer  Reizbarkeil,  denen  also 
Ruhe  ein  grösseres  Bedürfuiss  ist,  als  Bewegung,  ■ — 
nehmen  die  grossen  Terzen  meistens  zu  stumpf,  so  dass 
ein  bedeutendes  Sinken,  eine  Unreinheit  beynx  Forl- 
schritt unvermeidlich  wird.  Z.  B. 
e  f  d  e  f 
c     a     b     g     a 

Nach  einer  solchen  Folge  von  Terzen  und  Sexten 
kann  die  letzte  Sexte  {f  ci)  fast  schon  um  i  Ton  zu 
tief  geworden  seyn,  wenn  die  zweite  Stimme  der  ersten 
im  Sinken  folgt.  Sank  sie  aber  nicht  uiit,  zwang  sie 
vielmehr  die  erste  Stimme,  schon  beym  ersten  Fort- 
schritt von  e  zu  /,  das  /  rein  zu  nehmen,  so  wird  eine 
misfällige  Rückung  fühlbar,  indeju  der  halbe  Ton  e  f 
zu  gross  wird.  Sänger  von  viel  I^eizbai^keit ,  die  auch 
zum  Beschleunigen  der  Bewegung  geneigt  wären,  neh- 
men die  grossen  Terzen  immer  scharf;  doch  selten  hö- 
her als  die  gleichschwebende  Temperatur  sie  giebt." 

Das  obige  Beispiel  enthält  zweymal  den  Fortschritt 
vom  Leittou  zum  Hauptton ;  dabey  dürfte  wohl  eine 
Art  von  natürlicher  Nachlässigkeit  im  Spiele  seyn,  mit 
der  man  gewöhnlich  auch  im  Vortrage  den  Hauptton 
behandelt,  wenn  er  dem  Leitton,  der  ihn  schon  auniel- 
deto,  nachfolgt.  Er  wird  hart,  wenn  man  ihn  eben 
so  stark  hervorhebt,  als  den  Leitton. 

„4.      Im    INIoll-Accorde    wird    der    Grundton    leicht 


124 

zu  tief  genommen;  uud  es  ist  nicht  die  kleine  Terz, 
sondern  die  Quinte,  welche  ihn  veslhält;  vielmehr  drängt 
die  kleine  Terz  ihn  abwärts,  indem  er  zugleich  von 
der  Quinte  rein  erJiailen  wird.  (Dies  ist  nichts  als  Er- 
fahrung, und  für  die  trübe  AVirkung  des  jNloll-Accor- 
des  liegt  kein  anderer  Erklärungsgrund  näher.)  Das 
Obige  ist  am  fiihlbai-sten  in  Sätzen  von  solcher  Art, 
wo  zuerst  nur  der  Gruiidton  ,  dann  hinzutretend  mit 
ihm  gleichzeitig  die  kleine  Terz,  und  zu  beyden  hinzu- 
kommend, gleichzeitig  die  Quinte  vernommen  wird." 

Diese  wichtige  Bemerkung  bestätigt  das,  was  oben 
vom  Unterschiede  des  IMoU  vom  Dur  gesagt  worden,  so 
auffallend,  dass  es  scheinen  wird,  die  Theorie  (in  40J 
sey  aus  der  Erfahrung  geschöpft.  Gleicliwohl  sind  die 
vorliegenden  rein  praktischen  Bemerkungen  erst  mitge- 
thcilt  worden,  nachdem  der  Druck  dieser  Blätter  schon 
begonnen  war.     Folgendes  gehört  noch  dazu: 

„5.  IMischt  sich  dagegen,  etwa  durch  den  Sinn  der 
untergelegten  AA'orte,  der  Affect  der  Trauer  in  den  Ge- 
sang, dann  wird  nicht  bloss  die  kleine  Terz  leicht  zu 
tief  genommen,  sondern  auch  der  Sauger  der  tieferen 
Stimme  hält  den  Grundton  gern  dagegen  vest,  in  so  fci'u 
er  den  Affect  theilt.  Bleibt  er  aber  gleichgültig  und 
sorglos,  dann  lasst  er  sich  abwärts  drängen;  und  die 
Quinte  muss  ihm  folgen,  wenn  der  Accord  nicht  völlig 
unerträglich  werden  soll.  IMerkwürdig  ist,  dass,  wenn 
Griuidton  und  Quinte  rein  bleiben,  und  die  kleine  Terz 
luitcr  den  angeführten  Umständen  hcrabgedriickt  wird, 
die  nun  zu  scharfe  grosse  Terz  (es  g  in  dem  Accorde 
von  c  Moll)  nicht  bemerkt  wird,  ja  die  Wirkung  zu  be- 
^iünstisen  scheint." 


..6.     Ich  liörle  cliisl   folgoudc   ("adrii/, : 
h  a 

f 
8  f 

f 
in    sehr   laugsamer  Bewegung    dimmuendo    so    vortragen, 

(auf  Bogen -Instrumenten,)  dass  der  erste  Geiger  sein 
h  ins  a,  der  zweytc  sein  e  ins  /,  alhnählig  überiliessen 
Hess;  was  mir  aus  mehreren  Gründen  das  giösste  IMis- 
fallen  erregte;  besonders  aber  deswegen,  weil  es  e  i- 
nen  jMoment  gab,  in  welchem  a  nicht  mehr  als 
Auflösung  der  \orhergehenden  Septime  b  erschien; 
und  der  f  dur  Accord,  zwar  mit  freundlichem  Gesiclit, 
wie  ein  Fremder  in  die  Gesellschaft  trat,  die  ihm 
seine  Freundlichkeit  nicht  gleich  erwiedern  konnte." 

Sprechender  konnte  wohl  kein  Ausdruck  gewählt 
werden  für  das,  was  oben  über  die  Abstumpfung  der 
Dissonanz,  ohne  Gewinn  einer  wahren  Cousonanz,  ge- 
sagt worden,  wenn  die  allgemeine  Bedingung  der  Har- 
monie, aber  durch  unreine  Intervalle,  erfüllt  wird.  (G6. 67.) 

F.s  folgt  nun  eine  Bemerkung  über  consccutive  reine 
Quinten,  womit  man  zunächst  Fig.  43  4 ,  dann  aber  vor- 
züglich Fig.  47  vergleichen  mag.  Der  Fortschritt  vom 
zweyten  zum  dritten  Tacle  war  von  geübten  Ohren 
neu  und  ausserordentlich  schön  gefunden  worden.  Das  IJr- 
theil  änderte  sich  nicht,  als  auf  die  Quinteufolge  hin- 
gewiesen wurde.  Darin  liegt  eine  Bestätigung  zum  Obi- 
gen (in  125).  Lbrigeus  werden  liier  die  Quinten  desto 
eher  bemerklich,  weil  die  Altstimme  den  Grundton  ver- 
doppelt. Es  wäre  leicht,  sie  noch  weniger  misfallig  zu 
machen,    wenn    der  Alt    in  es    ginge,    und    darnach    die 


126 

weitere  Tonfolge  sich  riclitele,  welches  tlurcli  einige 
Al)anderung  des  Tenors   gescheliu  könnte. 

Hier  mag  niin  noch  eine  Erinnerung  an  durcligelientle 
\oten  Plalz  finden,  und  an  das,  womit  ihre  INIöglich- 
keit  in  Verbindung  steht,  nanilich  die  Bestimmungen 
der  Starke  und  der  Zeit  (sowohl  des  Eintritts  als  der 
Dauer)  der  Töne. 

Durcligehende  Noten  gehören  nicht  der  vorliandenen 
Harmonie,  sondern  der  Melodie  einer  einzelnen  Stimme. 
Der  Hörer  soll  also  nicht  alles  Gleichzeitige  zusammen- 
fassen, sondern  er  soll  den  Gang  jeder  einzelnen  Stimme 
für  sich  verfolgen.  Das  wird  zwar  leicht,  und  ist  leicht 
begreiflich ,  wenn  der  Klang  der  Stimme  verschieden  ist, 
wie  etwa  der  Klang  der  Hoboe  und  der  Geige;  aber 
diese  Voraussetzung  passt  nicht  überall.  Singstimmen, 
Bogen- Instrumente,  selbst  Blas -Instrumente  sind,  jede 
Gattung  für  sich  genommen,  nicht  immer  deutlich  ver- 
schieden; die  Tasten  des  Forte -Piano  geben  vollends, 
wenn  eine  Fuge  gespielt  wird,  keine  Hülfe,  damit  dein 
Zuhörer  die  Unterscheidung  der  Stimme,  worauf  docii 
sehr  gerechnet  Ist,  erleichtert  werde.  Nun  gelingt  dies 
zwar  dem  Ungeübten  sehr  schlecht,  aber  schon  damit 
es  eine  Möglichkeit  der  Übung  gebe,  müssen  durchge- 
hende Noten  wenigstens  in  Einer  Stijnme  sich  leichter 
mit  den  Hauptnoten  dieser,  als  der  übrigen  Stimmen, 
Yei'binden.  Dabey  kommt  es  zuerst  daranf  an,  dass  die 
durchgehenden  Noten  den  Hauptnoteu  nahe,  gewöhn- 
lich dazwischen  (im  Durchgange)  liegen.  Ferner  ist 
hier  die  Geschwindigkeit  der  Bewegung  sehr  wesentlich. 
Anfänger  im  Spielen  eines  Instruments,  die  nur  lang- 
sam fortkönnen  und  oft  stocken ,  finden  die  vortrefl- 
lichsteu    Musikstücke    voll     unerträglicher   Disharmonie, 


127 

McIl  sie  den  diircligcliertden  Noten  zu  viel  Daner  geben, 
und  denselben  gestalten,  in  die  Auffassung  der  Harmo- 
nie einzugreifen.  Also:  Beym  richtigen  Vortrage  ver- 
sclinielzen  die  durchgehenden  Noten  nur  mit  den  Ilaupl- 
ncften  der  Stimme  "Nvozu  sie  gehören ;  dies  geschieht 
schnell,  denn  die  Verschmelzung  "wird  durch  die  Nahe 
])egünstigt ;  sie  verschmelzen  nicht  (oder  doch  nur  un- 
iH'deutend  -wenig)  mit  den  entlerntern  Tönen  der  an- 
dern Stimme,  denn  dazu  würde  mehr  Zeit  gehören  als 
man  ihnen  liisst.  So  ists  meistens ;  und  abgesehen  von 
solchen  Fällen,  wo  die  Sonderung  der  Stimmen  entweder 
al)sichtlich  erschwert  und  verzögert ,  oder  nur  dem  Ge- 
übten zugemuthet  wird.  Jedenfalls  tragen  die  durchge- 
henden Noten  dazu  hey ,  ein  allzulangsames  Tempo  zu 
verbieten.  *) 

*)  Der  gelehrte  Freund,  von  welchem  die  obigen  Bemerkun- 
gen herrühren,  hat  unmittelbar  vor  dem  Abdruck  tlicses  Rogens 
noch  Folgendes  nachgeliefert,  was  nicht  füglich  mehr  in  den  Text 
kann  verwebt  werden: 

,, Vorhalte,  durchgehende  Noten,  Orgelpuncte,  treffen  darin 
zusammen,  mehrere,  in  sich  vollständige  INIelodien  lu  einem  Gan- 
zen zu  vereinigen.  Den  Begriff  des  Orgelpuncts  muss  man  der- 
gestalt erweitern,  dass  er  nicht  bloss  am  Schlüsse  eines  Stücks, 
sondern  auch  in  der  Mitte,  und  allenthalben  angewandt  werden 
dürfe,  und  dass  der  liegende  Ton  nicht  bloss  im  Basse,  sondern 
in  jeder  beliebigen  Stimme  sich  finden,  ja  gän/Jich  fehlen  dürfe; 
zu  welchem  allen  J.  S.  Bach   die  Beispiele   liefert." 

„Ein  in  sich  vollständiger  melodischer  Satz  ist  eine  Reihe  von 
Tonvorstellungen ,  in  welcher  nicht  bloss  die  einzelnen  Glieder 
innig  mit  einander  verschmolzen  sind,  sondern  es  gesellt  sich  auch 
noch  zu  den  wirklich  klingenden  Tönen  eine  blosse  Ton -Vor- 
stellung, nämlich  die  von  dem  Ziele,  wohin  der  melodische 
Satz  eilt,  und  welches  bald  nach  dem  Anfange  der  Reihe  nicht 
mehr  iweifelhaft  ist.  Diese  Vorstellung  als  blosse  Vor -Ahnung 
von  dem  Ziele,  schliesst  sich,  sobald  sie  hervorgerufen  ist,  jedem 
Gliede  der  melodischen   Reihe  an ,  und  wird  durch  jedes  folgende 


128 

Der  rldiüge  Vortrag  —  ille  Bedingung  richtiger 
AuiFassnng,  —  erfodert  ferner  solclie  Unterschiede,  die 
sich  theils  auf  die  Starke  und  Schwäche,  theils  auf  die 
Dauer  der  Töne  beziehn.  Nicht  bloss  das  sogenannte 
Forte  und  Piano  für  ganze  Theile  der  grössern  musi- 
kalischen   Perioden,    sondern    die  Stärke    und  Schwäche 

Glied  verslürkt  iiiid  voi-(l(:ut!icht ,  Ms  sie  am  Schhisse  wirklicli  in 
<lIo  Wiilirnchnumg  einifit.  Sie  ist  glelclisam  im  Zuslande  «ler 
lJcgiei-(le,  die  ihrer  Befriedigung  bis  /.um  Schlüsse  immer  iiälicr 
kommt,  und  die  also  einen  immer  stärkeren  Rei?.  erliäU.  —  Sol- 
cher Reihen  von  JMelodien  können  melirere  gehlldet  werden,  die 
alle  nach  demselben  Ziele  streben,  in  denen  also  dieselbe  vorge- 
fiihlte  \  orslelliing.  sich  jedem  Gliede  stets  verstärkt  anschliesst, 
und  wodurch  alle  diese  verbundenen  Reihen  mit  einander  harmo- 
nlren ;  besonders  wenn  sie  so  gebildet  sind,  dass  der  Reiz  des 
Wachsens  jener  gemeinsamen  Vorstellung  auf  die  gleichzeitigen 
Glieder  der  Reihe  trifft,  und  durch  das  harmonische  Zusammen- 
treffen noch  gesteigert  wird.  —  Nun  braucht  aber  jenes  Ziel 
nicht  ein  einziger,  nicht  derselbe  Ton  zu  seyn ,  sondern  es  liegt 
nahe,  dafür  etwa  den  Accord  der  Tonica  zu  nehmen.  So  strebte 
dann  der  Sopran  zur  obern  Octave,  der  Alt  zur  Quinte,  der  Te- 
nor zur  Terz,  und  der  Bass  zur  Prime.  INIachen  nun  die  Melo- 
dien sich  gellend  als  vollständig  verschmolzene  A'orstellungsreiheu, 
dann  verschwindet  das  ästhetische  Rediirlhiss  ungetrübter  Harmo- 
nien von  den  einzelnen  lusammentrefienden  Puncten ;  und  das 
l  rtlieil  ist  nicht  auf  das  Verweilende  gerichtet,  sondern  auf  das 
zum  gemeinsamen  Ziele  Forteilende.  Alles  Ist,  mit  einem  Worte, 
melodisch  ;  und  selbst  das  Harmonische  wird  nur  in  diesem  Sinne 
gedacht,   nämlich   als  vorwärts   drä'ngend. 

„Eins  der  rcichslen  Beispiele  vom  Oigelpuncte  befindet  sich 
In  einem  Vorspiele  vcm  J.  S.  Bach  auf  dem  Choral:  ^  om  llim- 
mel  hoch   da   komm   Ich  her." 

(Man  sehe,  am  Ende  der  beyliegenden  Tafeln,  A  und  B.) 
„a.  Erste  Strophe.  b.  .\hnlich  der  umgekehrten  ersten  Stroph'e. 
c.  Zwevte  Strophe  ;  d.  Dritte  Strophe.  e.  Ahnlich  der  umge- 
kclirten  ersten  Strophe.  f.  Letzte  Strophe,  luid  die  untere  Terz 
derselben   ähnlich,     g.  Ähnliche  erste  Strophe." 

,, liier  sind  also  alle  Stropiien  einer  Choral-Meloilie  fast  gleich- 
zeitig über  einem    liegenden  Basse    zu    einem    fünlstimmlgen    Ge- 


129 

einzelner  Noten  koninit  hier  in  Pjclraclit ;  iibcrclicss 
Avollen  einige  gestosscn ,  andi-c  gelullten  und  z.mveilen 
selbst  gedcliiit,  einige  sorgfältig  verbunden,  andre  ge- 
trennt seyn.  ITier  kommen  auch  Quanliläls- Bestim- 
mungen zum  Vorschein;  aber  diese  Quantitäten  sind 
von  ganz  andrer  Art,  als  jene  der  Intervalle  und  Ac- 
corde;  luid  die  Beslininuuigeu  sind  nicht  so  scharf, 
nicht  so  leicht  zu  verletzen  \vie  jene.  Kia  jMusikslück 
niisFällt  darum  noch  niclit,  wenn  auch  etwas  an  dem 
Licht  und  Schatten  fehlt,  was  der  Vortrag  hineinbrin- 
gen sollte.  Es  ist  hier  wie  bevm  Vorlesen ;  wer  deut- 
lich lieset,  wird  iu)ch  verstanden,  obgleich  an  dem  Ac- 
cent,  am  Hervorheben  der  ITauptworle,  an  BeoI)acliUiug 
der  Interpxniction  u.  s.  w.  vieles  vei'misst  werden  möge. 
Die  Gedanken  können  die  nämlichen  bleiben,  ob  auch 
einer   oder   der   andere   mehr  oder  minder  Im  Bewusst- 

snnge  vereinigt.  Der  Rass  ist  lilor  noiliwendig,  weil  die  vier  ge- 
gebenen Melodien,  selbst  in  ^'el•bindnng  mit  der  fiinften  Stimme, 
sich  auf  den  Scbluss  -  Accord  nicht  stark  genug  beziehen,  um  die 
Vorstellung  von  ihm  früh  genug  /.u  erwecken;  er  muss  also  in 
seinem  Grundtone  sich  wirklich  hören  lassen.  Harmonisch  l)e- 
trachtet  ist  nun  in  diesem  Satze  des  INlisfälligen  genug  ;  aber  die 
N'erelnigung  mehrerer  in  sich  geschlossener  Melodien  drängt  sich 
zum  gemeinsamen  Schlüsse;  man  muss  nur  die  iNIelodien  bestimmt 
und  deutlich  genug  im  Sinne  haben". 

„Auf  das  Tempo  kommt  weniger  an,  als  man  glauben  sollte. 
Jenes  Beyspiel  soll  in  dem  grossen  Räume  einer  Kirche  verständ- 
lich werden:  man  muss  es  also  langsam  spielen.  Von  den  Achteln 
dürfen  höchstens  80  auf  die  Minute  gehn.  Indessen  ist  in  den 
so  verbundenen  Ton- Vorstellungen  eine  bestimmte  Unruhe;  die 
ein  gewisses  r>Iaass  der  Bewegung  hat,  welchem  das  gewählte 
Tempo  nicht  widersprechen  darf.  Eine  zu  grosse  Langsamkeit 
könnte,  wenn  ein  sehr  starkes  Drängen  zum  Ziele  in  den  ver- 
bundenen Reihen  fühlbar  wäre,  den  Zuhörer  zur  ^'erz^vciflung 
bringen". 

I 


130 

soyii  Jicrvürirc'to.  So  bleibt  ein  Accord  der  nämliche, 
üb  nun  die  Qiünle,  oder  die  Terze ,  oder  die  Oclave 
lauter  gesungen  werde.  Die  Septime  soll  freylich  da, 
wo  sie  am  rechten  Platze  ist,  deutlich  angegeben  wer- 
den, und  hinreichend  zu  hören  seyn,  damit  sie  nicht 
bloss  als  Slöinnig  des  reinen  Accordes,  sondern  als  trei- 
bend zur  Auflösung  vernommen  werde;  aber  wenn 
auch  dagegen  gefelilt  würde,  der  Septimcn-Accord  bleibt 
doch  iniverändert ;  er  hängt  nicht  ab  von  der  Stärke 
oder  Schwäche  einzelner  Töne. 

Dagegen  hängen  mit  dem  Vortrage  sehr  wesentlich 
die  Gemiilhs -Zustände  zusammen,  welche  beym  Zuhö- 
rer entstelui.  Dies  gilt,  wie  beym  Vorlesen,  so  auch 
l)ey  der  Musik.  Sie  verliert  grossentheils  ihre  so  oft 
bewunderte  Gewalt,  Airecteii  zu  erregen  und  zu  be- 
sänftigen, zur  Freude  oder  zur  Trauer  zu  stimmen, 
wenn  man  sich  begnügt,  die  Töne  bloss  rein  und  tact- 
mässig  vorzubringen.  Diese  Gewalt  liegt  mehr  in  der 
Melodie ,  als  in  der  Harmonie ;  sie  ist  anders  bey  der 
Flöte  als  bey  der  Geige;  sie  ist  stärker  bey  der  Slng- 
slimme  als  bey  irgend  einem  Instrumente ;  sie  wächst 
ihells  durch  die  Kunst  des  Gesanges,  theils  durch  die 
Anzahl  der  Singstimmen. 

Nichts  desto  weniger  würde  mau  der  IMusik  ihre 
Basis  entziehen ,  wenn  man  die  Harmonie  wegnähme ; 
denn  schon  die  einfachste  Melodie,  von  einer  einzelnen 
Stimme  ohne  Begleitung  vorgetragen,  setzt  voraus,  dass 
eine  Harmonie  liinzugedacht  werde,  wodurcli  die  Inter- 
valle, welche  der  Gesang  durchläuft,  ihre  Bedeutung 
erhallen. 

]Mit  der  Erwähnung  der  Airccleu   aber,    welche  von 


IM 

der  JMusIk  erregt  werden  köiiiien,  eröffnet  sich  i'iii 
Blick  auf  das  Ganze  der  Psychologie.  Denn  die  INIiisik 
steht  hier  niclit  mehr  in  ihx'cr  Eigenthümlicldveit  allein. 
IJie  nämlichen  Aü'ecten  können  ganz  andre  Ursachen 
haben.  INlan  mag  nun  überlegen,  worin  das  Gemein- 
schaftliche aller  solcher  Ursachen  bestehe,  was  sich  in 
der  Gleichartigkeit  ihres  Wirkens  zeigt.  Damit  können 
wir  uns  hier  niclit  beschäfftigen ;  genug,  Nvenn  wir  an  den 
Unterschied  des  Dur  und  JMoll,  an  die  innere  Unruhe 
aller  andern  Accorde  ausser  dem  reinen,  an  das  Trei- 
bende der  Dissonanzen,  an  halbe  inid  Trugschlüsse,  an 
die  solchergestalt  gespannten  und  immer  veränderten 
Erwartungen,  an  Kühe  und  Bewegung,  an  die  Ver- 
schiedenheit der  Bewegung  beym  Contrapunct  erinnern  j 
welches  y\lles  zu  den  ersten  Bedingungen  gehört,  ohne 
welche  die  IMusik  jene  Gewalt  über  die  Alfecten  nicht 
besitzen  würde.  Etwas  Analoges  muss  überall  vorkom- 
men, wo  Affecten  erregt  werden ;  und  die  letzten  Gründe 
davon  können  denen,  die  wir  in  der  JMusik  nachge- 
wiesen haben,  nicht  ganz  ungleichartig  seyn. 

Damit  ist  aber  nicht  gesagt,  dass  man  nun  andre 
Gegenstände  der  Psychologie  eben  so  behandeln  solle, 
wie  wir  hier  die  IMusik  behandelt  haben.  Wenn  ander- 
wärts die  Zustände,  worLn  die  Vorstellungen  sich  durch 
ihre  Unterschiede  versetzen,  anders  geartet  sind, 
wenn  daraus  auf  andre  Weise  Ruhe  und  Unndie,  Ei- 
wartung  und  Täuschung,  Autrieb  und  Befriedigung  ent- 
springt: so  hat  man  erst  die  Eigenthümlichkeit  solcher 
Zustände  zu  erforschen,  bevor  man  die  Untei'suchung 
in  Gang  setzt,  die  sich  darauf  beziehen  soll.  Welche 
Behutsamkeit  dabey  nöthig  sey,  wird  einigermaassen 
schon  aus  dem  Folgenden  erhellen. 

r 


132 

B.  Theorellsclie  Bemerlamyen. 
Wir  wollen  jetzt  auf  die  Grundlage  unserer  Unter- 
suchung einen  Rückblick  werfen.  Als  Ankniipfungs- 
punct  mögen  die  Farben  dienen.  Gesetzt,  es  wolle  Je- 
mand die  Farben  auf  ähnliche  Weise,  wie  die  Töne, 
In  Betracht  ziehn,  so  wird  er  zuerst  die  Frage  auf  den 
Hemmungsgrad  zweyer  Farben  richten  müssen. 

Iliitlen  w^ir  nicht  die  Octave  als  die  Distanz  voller 
Hemmung  unter  zwey  Tönen  gekannt,  Innerhalb  welcher 
Distanz  die  merkwürdigen  Puncte  aufzufinden 
seyn  miisstcn,  welche  das  ästhetische  Urlheil  auszeich- 
net, weil  in  ihnen  die  Hemmung  l^esonderc  Kigenhelien 
gew'Iunt :  so  w  ürde  die  vorstehende  Untersuchung  kei- 
nen Anfang  gefunden  haben.  Es  wäre  dann  nicht  mög- 
lich gewesen,  die  allgemeinen  Begriffe,  der  Hemmungs- 
smnmc,  des  Hemmungs -Verhältnisses ,  der  Schwellen 
u.  s.  f.  darauf  anzuwenden.  Wussten  wir  dagegen,  dass 
z.  B.  die  falsche  Quinte  dem  Grundton  halb  entgegen 
nnd  halb  gleich  ist,  dass  überdies  die  Gleichheit  aus 
zwey  Vorstellungen  Eine  macht,  so  sahen  wir  nicht 
bloss  überhaupt  den  Streit  des  Verelnigens  und  des  Un- 
vereinbaren, sondern  auch  das  Beharren  In  diesem 
Streite  zwischen  drey  Thellen ,  deren  keiner  stärker  Ist 
als  der  andre.  Wussten  wir,  dass  die  reine  Quinte 
nahe  ein  Zwölftel  Gegensatz  mehr,  mithin  ein  Zwölftel 
Gleichheit  Aveniger  als  die  falsche  Quinte,  in  sich  trägt, 
so  konnten  wir  nach  schon  vorhandenen  Formeln  den 
Sieg  der  Gegensätze  über  die  Gleichheit  finden  ;  womit 
das  Gefühl  der  Selbslstaudigkelt  beyder,  um  eine  i'clne 
Quinte  entfernten  Töne  genau  übereinstimmt.  Auf 
ähidiche  Weise  konnten  wir  auch  die  andern  merkwür- 
digen Puncte  nicht  nur  finden  und  bestimmt  anzeigen, 


133 

soutlcru  auch  uacliwelseu,  woilu  die  Kiyeiilhiimlichkeil 
eines  Jeilcu  besiehe;  wiihreiul  andre  Puncle  der  Tou- 
linie  keine  besondre  Auszeidinung  besilzeii.  Siihe  man 
aber  zwey  Rosen,  eine  weiss,  die  andre  iölhlich,  so 
würden  zNvar  die  Farben  durch  ihren  Unlersthied  ein 
Gefülil  hervorbringen,  indem  irgend  ein  Grad  der 
Gleichheit  und  des  Gegensatzes  in  Conilict  träte:  allein 
so  lange  man  nicht  angeben  kann,  welcher  Grad  der 
Gleicliheit  und  des  Gegensalzes,  ist  hier  keine  Unter- 
suchung möglich ,  wenn  man  auch  den  weit  wichtigem 
Unterschied  der  Gestalt,  also  der  Raum- VerhäÜnisse, 
die  von  ganz  andrer  Art  sind,  bey  farbiglen  Gegenstän- 
den beseitigen  könnte. 

Wir  wissen  bis  jetzt  nicht,  ob  die  reinen  Farben, 
roth,  blau,  gelb,  paarweise  genommen,  einen  vollen 
Gegensatz,  wie  die  Oclave,  ausmachen;  wir  wissen  nicht 
eiimial  das  reine  roth,  blau,  gelb,  bestimmt  nachzu- 
weisen. Soviel  ist  klar,  dass ,  wenn  reines  roth  und 
reines  blau  etwa  noch  nicht  den  Gegensatz  der  Oclave 
erreichen  sollten,  er  dann  auch,  voju  Rolhen  zum 
Blauen  fortschreitend,  nicht  mehr  jenseits  des  Blauen 
erreicht  werden  kann ,  weil  es  über  das  Blaue  hinaus 
keine  Fortsetzung  der  Entfernung  vom  Rothen  zum 
Blauen  mehr  giebt.  Das  ganze  Conllnuum  der  Farben 
ist  anders  beschaffen  als  das  der  Töne. 

Um  die  Sache  näher  zu  beleuchten,  nniss  man  zu- 
riickgehn  auf  die  charakteristische  Eigenthiimlichkcil  der 
Oclave  (11).  Diese  lasst  sich  in  allgemeinen  Begrillen 
denken,  ohne  Rücksicht  aid"  Töne;  aber  die  ßegrille 
linden  in  der  Erfahrung  keine  andre  Anwendung,  ausser 
nur  auf  Töne.  Der  allgemeine  Gedanke  lüssl  sich  ehva 
so  ausdrücken: 


134 

1)  ürey  Vorslelluiigen ,  V,  Q,  R,  sollen  so  be- 
sclialTeii  seyn,  dass,  ^veiin  Q  näher  au  R  rückt,  es  sich 
xnn  eben  soviel  von  P  entferne.  Die  drey  Vorstellun- 
gen sollen  also  in  einem  qualitativen  Continuum  liegen. 
Annäherung  ist  hier  ein  Übergang,  dessen  Fortsetzung 
zur  völligen  Gleichheit  führt ;  die  Continuität  aber  liegt 
darin,  dass  bey  der  Entfernung  die  Gleichheit  nie  plötz- 
lich verloren  geht,  sondern,  indem  sie  sich  vermindert, 
der  Gegensatz  allmählich  wächst.     Hieraus  folgt: 

a)  Der  abnehmende  Gegensatz  des  Q  gegen  R 
bildet  einen  zunehmenden  Gegensatz  des  O  gegen  P; 
und  eben  so  die  Avacliscnde  Gleichheit  des  Q  mit  R 
eine  abnehmende  Gleicliheit  des   Q  und  P. 

h)  Erstreckt  sich  die  Gleichheit  mit  P  über  O 
hinaus,  so,  dass  R  noch  Antheil  habe  an  derselben,  so 
ist  dieser  geringere  Antheil  enthalten  in  der  grössern 
Gleichheit  des  (>  mit  P. 

c)  Desgleichen,  wenn  umgekehrt  die  Gleichheit 
mit  R  sich  über  Q  hinaus  erstreckt ,  so  dass  P  noch 
Antheil  daran  hat ,  so  liegt  dieser  Antheil  in  der  grös- 
sern Gleichheit  des  Q  mit  R. 

d)  Also  begegnen  einander  die  beyden  Gleich- 
heiten in  Q ;  und  ein  Theil  von  Q  kann  angesehen 
werden  als  gemeinsame  Gleichheit  sowohl  mit  R  als  mit  P. 

e)  Wenn  hingegen  diese  gemeinsame  Gleichheit 
in  {)  verschwindet:  dann  ist  auch  keine  Gleichheit  zw^i- 
schen  P  und  i? ;  sondern  zwischen  beyden  reiner  und 
vollkommner  Gegensatz. 

2)  O  soll  einen  ästhetischen  Charakter  durch  R  be- 
kommen ,  imd  dieser  Chai'akter  soll  von  der  Distanz 
des  Q  und  /{  allein  abhängen;  dergestalt,  dass  er  mit 
der  Voränderuiiii  dieser  Distanz  sich   verändere. 


138 

3)  Der  Uslhelische  Charakter  des  O  soll  am  li  (UulIi 
P  bestiiniul  werden  können. 

4)  Q  wird  in  beyden  Fällen  in  Gleiches  und  Ent- 
gegengesetztes gebrochen ;  es  fragt  sicli  nun ,  ob  seine 
Gleichheit  mit  P  etwas  gemein  hat  mit  der  andern 
Gleichheit  zwischen  Q  und  R. 

5)  Findet  eine  gemeinsame  Gleichheit  (ci)  wirklich 
statt,  so  liegt  diese  gemeinsame  Gleichheit  zwischen 
zwey  Gränzen,  deren  eine  durch  R,  die  andre  durch  /' 
bestimmt  wird.     Daraus  folgt: 

a)  die  beyden  Brechungen  sind  veischicden; 
also  auch  die  ästhetischen  Charaktere. 

b)  P  und  R  sind  nicht  in  vollem  Gegensatz,  son- 
dern es  giebt  zwischen  ihnen  noch  einige  Gleicliheit. 

6)  Verschwindet  dagegen  die  gemeinsame  Gleichheit, 
so  fallen  deren  Gränzen  zusammen.     Daraus  folgt : 

a)  Beyde  Brechungen,  sowohl  durch  P  als  durch 
R,  ergeben  einerley  Theilung  des  Q;  und  hiemit  eiuer- 
ley  ästhetischen  Charakter  desselben ; 

b)  P  und  R  sind  alsdann  im  vollen  Gegensalz, 
mid  es  giebt  zwischen  ihnen  keine  Gleichheil. 

7)  Beyde  eben  angegebene  Folgen  (a  imd  b)  llies&en 
dergestalt  aus  Einem  Grunde,  dass  wenn  auch  die  ge- 
meinsame Gleichheit  sich  nicht  abgesondert  zu  erkennen 
giebt,  daim  doch  aus  dem  gleichen  ästhetischen  Charak- 
ter, welcher  durch  Brechungen  von  entgegengesetzten 
Seiten  her  in  Q  entsteht,  auf  den  vollen  Gegensatz 
zwischen  P  und  jR  zu  schliessen  ist. 

So  weit  die  allgemeine  Darstellung  ohne  Ijeziig  auf 
Töne  und  Farljen.  Nimmt  man  P  für  einen  beliebigen 
Ton,  R  für  dessen  Octave,  Q  für  irgend  einen  mittlem 
Ton  zwischen  beyden ,   so    kann    man    veigleichen .    was 


13(5 

üben  (11)  schon  kurz  gesagt  Avar.  Dort  wurde»  Q,  ei- 
gentlich eui  Punct  in  der  Tonliule,  unter  dem  liilde 
einer  Linie  vorgestellt,  auf  welcher  man  Gleiches  und 
Entgegengesetztes  sowohl  mit  höhern  als  mit  tiefern 
Tönen  abschneiden  könne.  Wäre  zwischen  P  und  li 
eine  kleinere  Distanz  als  die  Octave,  so  würde  das, 
was  Q  mit  dem  einen  und  dem  andern  gemein  hat,  in 
einander  greifen,  wie  in  Fig.  10  bey  derjenigen  Quer- 
linie, welche  den  Ton  e  als  gebrochen  durcli  das  liefere 
c  und  das  höhere  g  vorstellt ;  wo  die  gemeinsame  Gleich- 
heit zwischen  den  mit  c  und  mit  g  bezeichneten  Tliell- 
slrichen  Hegt.  Soll  die  gemeinsame  Gleichheit  ver- 
schwinden, so  muss  man  für  P  imd  R  solche  Töne  neh- 
men, die  unter  sich  eine  Octave  bilden.  Erfahriuigs- 
mässlg  gegeben  ist  nun  zwar  nicht  diese  bildliche  Dar- 
stellung, wohl  aber  der  gleiche  harmonische  Charakter, 
welcher  dem  mittlem  Tone  durch  den  hohem  sowohl 
als  durch  den  tiefern  zu  Thell  wird,  sobald  dieselben 
unter  einander  eine  Octave  ausmachen.  Durch  diese 
EInerleyhelt  des  harmonischen  Charakters  wird  bekannt, 
wie  viel  Ausdehnung  nach  entgegengesetzten  Seiten  mau 
einem  Tone  beilegen  müsse ,  um  seine  Gleichheit  und 
seinen  Gegensalz  gegen  einen  andern  Ton  richtig  abzu- 
theilen.  Dass  man  alsdann  die  Gleichheit,  negativ  ge- 
nommen, zum  Gegensatze  addiren,  oder  als  dessen  Er- 
gänzung beti-achten  könne,  versteht  sich  von  selbst. 

Jetzt  aber  nehme  man  Farben  anstatt  der  Töne.  IMan 
kann  zwar  dieselben  so  annehmen,  dass  deren  drcy  in 
gerader  Linie  liegen;  Avie  z.  ]'.  Grün  dem  Gelben  desto 
näher  liegt,  je  weiter  es  vom  Blauen  entfernt  ist.  Auch 
bekommt  Grün  einen  ästhetischen  Charakter;  w'enn 
Blau,  oder  wenn  Gell)  daneben  slclilbar  ist.     Allein  Nie- 


137 

maiul  ^Yil■^l  sagen,  dass  aus  irgend  Nvelclien  Ziisanimcn- 
slellimgen  dieser  Art  die  Ein  crley  h  eit  des  aslheli- 
sclieu  Charakters  für  eine  mittlere  Farbe  entstelle,  wenn 
von  entgegengesetzten  Seilen  her  ein  paar 
andre  mit  ihr  verglichen  wei'dcn.  Wenigstens  ist  nichts 
Ahnliches  bekannt;  ^vährend  die  verschiedenen  Lagen 
eines  und  desselben  Accordes,  und  die  damit  verbunde- 
nen Umkehrungen  der  Intervalle  zu  den  bekaruiteslcn 
Dingen  gehören.  Jede  solche  Umkehi'ung  versetzt  von 
zweyen  Tönen  einen  um  eine  Octave  höher  oder  tiefer, 
während  der  Accord  im  Wesentlichen  der  nämliche  bleibt. 
Noch  mehr !  Bey  gleichzeitiger  Auflassung  zwcyer 
Farlien  ist  immer  ein  Auseinandersetzen  im  Gange;  man 
kann  nicht  z\vey  Farben  an  Einem  Orte  sehen.  Bey 
gleichzeitigen  Tönen  alier  giebt  es  kein  Auseinander- 
setzen (es  wäre  denn  die  Unterscheidung  der  Stimmen 
in  der  Reflexion  des  geübten  JMusikers).  Hier  würde 
Derjenige,  der  von  gesonderten  oder  imgesonderten 
Theilen  einer  und  der  andern  Vorstellung  spräche,  wenn 
er  daraus  Einwürfe  gegen  uusre  Theorie  ableiten  wollte, 
nicht  weit  kommen;  denn  die  Töne  eines  Accordes  durch- 
dringen einander;  untl  die  Sonderung  der  geschriebenen 
Noten  in  ihren  fünf  Linien  ist  keine  Trennung  der  Voi'- 
stellungen,  wenn  die  Töne  ins  Ohr  fallen,  oder  besser, 
wenn  sie  im  Geiste  ihre  harmonische  Wirkung  ihun. 
Dagegen  würde  man  nicht  ganz  ohne  Gi'und  bey  Farben 
die  JMöglichkeit,  dass  deren  Vorstellungen  einander 
dui'chdringen  könnten,  bezweifeln  —  oder  vielmehr  be- 
schränken ,  obgleich  bei  weitem  nicht  ganz  ableugnen 
können.  Demi  wenn  verschieden  gefärbte  Puncte  ein- 
ander gar  zu  nahe  liegen,  so  glaubt  man  eher  eine  mitt- 
lere Farbe,    als   ein    Verhällniss    >Yahrzunehmen.      Dem 


138 

Auseluaudersetzen  miiss  einiger  Spielraum  gestattet  wer- 
den, welches  allerdings  einer  ganz  vollkommenen  Durch- 
dringung einigen  Alibruch  thut.  Übrigens  wird  ganz 
unleugbar  eine  Harmonie  der  Farben  oft  genug  empfun- 
den; und  höchst  wahrscheinlich  wüi'de  mau  zu  bestimm- 
teren Resultaten,  als  bisher  bekannt  sind,  durch  geord- 
nete Versuche  gelangen,  wenn  dieselben  von  richtigen 
theoretischen  Gesichtspuucten  ausgehend  geleitet  wären. 
Fände  mau  unter  Farben  einen  ähnlichen  Übergang  von 
Verhältnissen,  wie  jener  aus  der  falschen  Quinte  in  die 
reine,  von  da  in  die  Sexten  u.  s.w.;  so  hatte  man  hie- 
mit  Bestimmungen  der  Hemmungsgrade;  und  von  da 
aus  könnte  man  hoffen  weiter  zu  kommen;  nämlich 
durch  continuirliches  Abändern  der  Verhältnisse;  wozu 
allerdings  die  Geduld  und  Genauigkeit  experimentireu- 
der  Physiker,  verbunden  mit  dem  scharfen  Blicke  eines 
geübten  IMalers  gehören  würde.  Vielleicht  finge  man 
sicherer  mit  Zusammenstellung  dreyer  Farben  an,  als 
mit  zweyen,  um  nämlich  die  erste  Spur  der  Untersu- 
chung zu  gewinnen.  Denn  darin  scheinen  (wie  mau 
bey  bimteu  Blumenbeeten  und  ähnlichen  Gegenständen 
leicht  bemerkt)  die  Farben  den  Tönen  ähnlich  zu  seyn, 
dass  die  einzelnen  Vorstellungen  doppelt  gebrochen  wer- 
den müssen,  um  ein  lebhaftes  Gefühl  des  Schönen  her- 
vorzurufen. Alsdann  hätte  man  rückwärts  die  Paare 
zu  untersuchen,  welche  in  der  harmonischen  Ternion 
von  Farben  lägen ;  nämlich  um  die  richtigen  Intervalle 
zu  bestinmien. 

Wir  wollen  hier  eine  Vermuthung  wagen.  Zwi- 
schen je  zwey  möglichst  reinen  Farben ,  in  deren  Un- 
terschied   sich    nichts    vom    Schwarz    und   AVeiss 


139 

ciiiiiusclit  *) ,  sclieint  überall  keine  so  grosse  Distanz, 
wie  die  Octavc,  statt  zu  finden.  Die  paarweise  zu- 
sammengestellte Farben,  welche  man  auch  wähle,  ^vii'- 
keu  zu  stark  auf  einander,  als  dass  man  die  Abwesen- 
heit aller  Brechung,  wie  bey  der  Octave,  glaublich  fin- 
den möchte.  Reines  Gelb  und  reines  Roth  oder  Blau, 
erregen  zusammengestellt  eher  ein  Gefühl  der  Selbststän- 
digkeit jeder  Farbe,  ähnlich  dem  der  reinen  Quinte. 
Vielleicht  gäbe  es  einen  Weg,  dies  mit  einiger  Wahr- 
scheinlichkeit näher  zu  beleuchten.  Eine  Analogie  der 
Erhöhung  der  Töne  oder  auch  der  Erniedrigung  (wie 
des  d  in  dis  oder  des)  lasst  sich  bey  Farben  in  so  weit 
erkennen,  als  manchmal  bey  der  Vergleichuug  nahe  liegt 
zu  sagen,  die  eine  Farbe  sey  nur  eine  Abänderung  der 
andern.  INicht  aber  alle  Farben,  welche  zwischen  zwey 
andern  liegen,  werden  so  aufgefasst.  Grün  liegt  zwi- 
schen Gelb  und  Blau;  gleichwohl  wird  reines  Grün  ge- 
wiss nicht  als  Abänderung  vom  Blau  oder  Gelb  aufge- 
fasst. Gesetzt  nun,  das,  was  wir  eben  vom  reinen  Grün 
sagten,  gelte  eigentlich  nicht  bloss  von  einerley,  sondern 
von  zweyerley  Grün,  welches  überdem  eins  vom  an- 
dern noch  vseit  genug  verschieden  sey,  um  nicht  als 
eine  blosse  Nuance  angesehn  zu  werden ;  ja  es  sey  eine 
hinreichende  IMannigfaltigkeit  des  Grünen  zwischen  Gelb 
und  Blau  vorhanden,  um  selbst  noch  etwas  mehr  als 
zwey,  von  einander  ganz  entschieden  abweichende  grüne 
Tinten  zwischen  Blau  vmd  Gelb  einzuschieben :  so  ge- 
wönne das  vorhin  Gesagte,  nämlich  die  Vergleichung 
dieser  Distanz    mit  der  reinen  Quinte,    an  Wahrscheiu- 

*)  Zinnober-Roth,  Schwefelgell),  Himmelblau,  möchten  einiger- 
maassen  für  reine  Farben,  oder  solchen  nahe  kommend,  gelten 
können.     Schwerlich  gicbl  es  hier  ganz  vestc  l'uncte. 


140 

lichkelt.  ÜMau  würde  naniHch  etwas  mehr  als  drey 
grosse  Secunden  zwischen  Blau  iiud  Gelb  einschalten, 
Avcun  Blau,  Blaugriin,  Gelbgrün,  und  Gelb,  eine  Unter- 
scheidung abgäbe,  die  noch  etwas  zu  grosse  Schritte 
machte,  um  die  ganz  entschiedenen  Abweichungen  des 
einen  Punkts  \om  andern  nächsten  angemessen  zu  be- 
zeichnen. Fände  sich  gar,  dass  drcy  uud  ein  halber 
solcher  Schritte  uothig  Avaren,  so  hätte  man  beinahe  die 
Analogie  der  Schi-itte  von  c  zu  d,  e,fts,  g. 

AVir  wollen  diese  sehr  unsichern  Betrachtungen  niclit 
verfolgen.  Wichtiger  ist  eine  Erinnerung  an  die  Cau- 
salbegriil'e,  Avelche  hier  zum  Grunde  liegen;  und  an  die 
Verschiedenheit  der  Art  und  Weise,  wie  Vorstellungen 
als  Kräfte  auf  einander  wirken  können,  ohne  doch  ur- 
sprünglich Kräfte  zu  seyn  oder  zu  haben.  INIan  braucht 
luu',  um  sich  vor  Einseitigkeit  zu  hüten,  neben  den. 
Farben  auch  der  räumlichen  Foi'men  zu  gedenken.  Ein 
Beet  voll  blühender  Ilyacinthen,  Aurikeln,  Nelken,  Geor- 
ginen, gefällt  nicht  bloss  dui'ch  die  Gegensätze  der  man- 
nigfaltigen Farben,  die  es  dem  umherwandelnden  Blicke 
darbietet;  sondern  jede  Blume  besitzt  eine  Schönheit 
der  Gestalt,  welche  die  nämliche  bleibt  bey  verschie- 
dener Farbe.  ISichtsdestoweuiger  kann  die  Gestalt  nur 
gesehen  werden  mit  Hülfe  dessen  was  sichtbar  ist;  das 
Sichtbare  aber  ist  eben  die  Farbe.  Also  das  nämliche 
Sichtbare  veranlasst  zweyerley  ganz  verschiedene  Klas- 
sen von  ästhetischen  Urtheilen.  Es  muss  eine  doppelte 
Causalität  unter  den  Vorstellungen  geben,  die  uns  ei- 
nerley  Anblick  gewährt.  Wir  wollen  hier  nicht  auf 
die  psychologische  Frage  von  dem  Grunde  des  räumli- 
chen Vorstellens  eingehn;  mir  damit  man  auch  hier 
nicht  bey  leeren  Allgemeinheiten  Hülfe  suche,  dient  eine 


141 

noyallvo  Benicrkiau;;  iiäjnllch  diese,  dass  ^Yietlerum  In 
den  räumlichen  Aiiirassungen  eines  und  dc8se]l)en  (ie- 
genslandcs  grosse  Uiilerschiedc  vorkommen.  Die  CJe- 
stalt  einer  ßlume  sielil  man  nicht,  ^vie  der  Mathema- 
tiker eine  Linie  von  doppelter  Krümminig  auifasst,  durch 
Projectionen  auf  zwei  Ebenen ,  sammt  zugehörigen  Ab- 
scissen,  Ordinalen,  Gleichungen.  Die  Schönheit  der 
Ijlume  ist  niclit  jene  intellecluale  Scliönheit  der  Cykloidc, 
■welche  einst  durch  ihre  besondre  Fügsamkeit  in  Kech- 
nungsformeln  den  INIalhematikern  so  viel  Vergnügen 
machte.  Niemand  aber  kann  sagen,  die  mathematische 
Betrachtxnigsart  \v;ire  den  Gegenständen  nicht  angemes- 
sen. Vielmehr  besteht  hier  mancherley  neben  einandci*. 
So  nun  auch  bestehen  neben  einander  die  verschie- 
denen Anwendungen,  welche  von  der  Hemmungs-Rech- 
lunig  auf  die  Töne  gemacht  werden.  Die  Brechung  der 
Töne,  worauf  ihr  nnisikalischer  Werth  beruht,  ist  un- 
abhängig von  der  Starke-,  die  Stärke  aber  thut  ilire 
Wirkung,  indem  die  schwächern  Vorstellungen  mehr 
aus  dem  Bewusstseyn  vei-drangt  werden.  Anzuzeigen, 
dass  die  INlelodie  einer  Singstimme  solche  inid  solche 
Intervalle  durchlaufe,  dazu  reicht  die  leiseste  Beglei- 
tung hin;  und  die  Begleitung  muss  leise  seyn ,  wenn 
jene  allein  als  Ilauptstimme  soll  vernommen  werden, 
(wie  in  Liedern  und  Arien.)  "VVofei-u  aber  mehrere 
IMelodicu  zugleich,  und  mit  gleicher  Aufmerksamkeit 
sollen  verfolgt  werden ,  wie  Cliöre  und  vollends  Fu- 
gen dies  fordern) ,  so  ist  gleiche  Stärke  der  Stimmen 
nothweudig,  weil  sonst  die  allgemeinste  Wirkung 
eintrit,  vermöge  deren  das  Entgegengesetzte  sich 
aus  dem  Bewusstseyn  vordrängt,  und  die  schwächern 
Vorstellungen  davon  am  meisten  zu  leiden  haben.    Darin 


142 

liegt  nichts  Befremdendes.  Die  Brechung,  welche  einen 
Ton  zu  einem  bestimmten  Intervall  macht,  versetzt  ihn 
in  einen  bestimmten  Innern  Zustand;  mit  diesem  Zu- 
stande kann  er  im  Bewusstseyn  steigen  oder  sinken. 
Eben  so  bey  Gemälden.  Die  Vorstellung  eines  solclien 
enthält  alle  einzelnen  Vorstellungen  der  farbigten  Stel- 
len in  denjenigen  Brechungen,  welche  das  Gemälde  zu 
diesem  und  keinem  andern  machen ;  das  ganze  Gemälde 
kann  vergessen  und  wieder  in  Erinnerung  gebracht  wer- 
den; was  nun  im  Bewusstseyn  sinkt  und  steigt,  das 
sind  die  Vorstellungen  mit  und  in  den  Zuständen,  welclie 
das  Kunstwerk  in  ihnen  erzeugte.  Bey  diesem  Sinken 
und  Steigen  sind  sie  den  allgemeinen  Gesetzen  der  Hem- 
und  Reproduction  unterworfen. 

Aus  dem  Umstände,  dass  Kunstwerke  einen  weit 
tiefern  Eindruck  zurücklassen  als  das  Kunstlose  und  Re- 
gellose, folgt  ohne  Zw  eifel  eine  grosse  Gewalt  ästhetischer 
Verhältnisse;  allein  man  braucht  darum  noch  nicht  an- 
zunehmen, dass  ursprüngliche  Gesetze  einer  weit  stär- 
keren Vei'schmelzung  für  solche  Vorstellungen  statt  fin- 
den ,  die  mit  einander  ästhetische  Verhältnisse  eingehn , 
als  für  die,  welche  dazu  imtauglich  sind.  Denn  die  häu- 
fige Wiederholung  jirägt  diejenigen  Verhältnisse  immer 
tiefer  ein,  von  welchen  die  Künste,  sobald  sie  einmal 
in  Gang  kommen,  fortwährend  erneuerte  Anwendiuigen 
maclien;  mit  Ausschluss  alles  dessen,  was  ihnen  nicht  die- 
nen kann.  Daraus  entspringt  die  Übung  der  Zuhörer 
undZuscliauer;  deren  Empfänglichkeit  für  die  Kunst  we- 
nigstens eine  Zeitlang  mit  der  Übung  wächst;  wenn 
schon  späterhin  eine  nur  zu  oft  bemerkbare,  Übersätti- 
gung eintreten  kann. 


143 


Über    die   ursprüngliche    yiuffassung 
eines   Zeitnuiasses. 

Vor erin n erung.  Wir  reden  niclit  vom  BegiulF 
eines  solchen  Zeitmaasses,  welches  durch  Älultiplicatlon 
oder  durch  Division  eines  andern,  schon  aufgefassten, 
Zeitmaasses  entstehen  kann;  auch  nicht  von  dem  allge- 
meinen Begriffe  irgend  eines  Zeitmaasses,  welcher  durch 
Abstraction  von  bestimmten  Zeitmaassen  erhalten  wird; 
sondern  von  der  ursprünglichen  Auffassung  einer  solchen 
Zeit ,  die ,  nachdem  sie  da  ist ,  zum  IMaasse  dient ;  also 
sich  vervielfältigen  und  dividiren  lässt ;  und  alsdann 
auch  in  Gedanken  eingeschoben  werden  kann  zwischen 
solche  Zeitpunkte,  die  einander  zu  fern  oder  zu  nahe 
stehn,  als  dass  man  unmittelbar  und  ursprünglich  ihre 
Distanz  hätte  bestimmt  wahrnehmen  können.  Über  die 
anscheinende  Schwierigkeit  des  Gegenstandes  ist  schon 
in  der  ersten  Abhandlung  (S.  33  u.  f.)  gesprochen. 

1.  That Sache.  "Wie  gross  die  Zeit  sey,  die  sich 
unmittelbar  auffassen  lässt,  kann  man  zwar  nicht  genau 
bestimmen;  allein  zur  becfuemen  Auffassung  eignet  sich 
eine  Zeit-Secunde ,  oder,  ihr  nahe  kommend,  die  Zeit 
zwischen  einem  Pulsschlage   und  dem  nächstfolgenden. 

2.  That  Sache.  ]\Ian  kann  aber  auch  beträchtlich 
kleinere  oder  grössere  Zeitmaasse  willkülirlich  veststel- 
len ,  so  dass  sie,  einmal  angegeben,  sich  wiederliohlen 
und  beobachten  lassen.  Solches  geschieht  unter  andern 
beym  Älarschiren,  Tanzen,  Trommelschlagen. 


144 

3.  Thalsaclic.  INIaii  kann  eine  solche, zum ]Maassc 
einmal  angenommene  Zeil  auch  eintheilen,  (nicht  etwan 
bloss  in  Begriiren,  sondern  unmittelbar  im  Vorstellen 
luid  Handeln.)  Solches  geschieht  in  der  IMusik,  wo  der 
einmal  gegebene  Tact  in  halbe  Tacte,  Viertel,  u.  s.  vv. 
zerlegt  Avird. 

4.  Thatsache.  Diese  Zerlegung  geschieht  am  be- 
quemsten nach  den  Brüchen  -J,  ^,  deren  Producten  mid 
Potenzen.  Daher  der  -4  Tact,  ^,  ^,  u.  s.  w.  bis  zum 
lg-  Tact;  und  die  klelnei'n  Zerlegungen  bis  zu  ^t^. 

5.  Thatsache.  Auch  die  JMultiplicationen  ganzer 
Tacte  werden  unmittelbar  empfunden.  Daher  der  Pe- 
riodenbau  der  Älusik.  Eine  leiclite  Probe  sintl  die  zu- 
sammengehörigen acht  Tacte  in  der  Tanz-]Musik,  statt 
dereii  man  nicht  sieben  oder  neun  Tacte  würde  anwen- 
den dürfen. 

C.  Thatsache.  Die  Zeitdistanzen  lassen  sich  nicht 
bloss  auffassen ,  sondern  sind  ül)erdies  Gegenstand  ästhe- 
tischer Urtheile,  wie  in  der  Älusik  und  Äletrik. 

7.  Thatsache.  Nicht  bloss  erfüllte  Zeiten,  in 
denen  etwas  wahrgenommen  wird,  lassen  sich  als  län- 
ger oder  kürzer  unmittelbar  auffassen:  sondern  auch 
leere  Zelten  zwischen  den  "SA'ahruehmungen,  d.h.  Pau- 
sen. Diese  werden  in  der  ^Musik  eben  so  nolhwendig 
beobachtet,  als  die  Dauer  eines  Tons. 

8.  Thatsache.  AVenn  man  beabsichtigt,  ein  Zeit- 
maass  vestzustelleu ,  so  findet  man  es  am  bequemsten 
imd  sichersten,  dasselbe  durch  Pausen  anzugeben.  IMan 
vermeidet  zu  diesem  Behufe  die  Dauer  jeder  AA  ahruch- 
mung  so  viel  als  möglich. 

9.  Thatsache.  Es  ist  an  sich  gleichgülüg,  durch 
welchen    Sinn  die  Wahrneluuungen  geschehen,    wofern. 


145 

sie  nur  so  nalie  als  möglich  nionienlan  sliiil,  damit  das 
Zeitmaass  als  Pause  zwischen  ihnen  leer  bleibe.  iJbri- 
gens  -würde  eine  Gesichts-Empfindung,  (durch  plötz- 
liche und  sehr  kurze  Bewegung  eines  Stabes,  beyiu  Di- 
rigiren  einer  Musik,)  oder  eine  Gefühls -Jünpfindung 
(wie  beyrn  Pulsfühleu,)  die  nämlichen  Dienste  leisten, 
wie  eine  Gehörs -Empfindung,  -wenn  sie  nur  der  Fede- 
rung, momentan  zu  seyn,  eben  so  nahe  kommen  köimte, 
■wie  beym  Hanunerschlage ,  beym  Tropfenfalle  ,  bey  den 
Schlägen  der  Secunden-Uhr. 

10.  That Sache.  Die  mojncnlanen  Wahrnehmun- 
gen ,  deren  leere  Zwischenzeiten  als  Pausen  sollen  vor- 
gestellt werden,  wählt  man  am  bequemsten  so,  dass  sie 
unter  sich  gleichartig  seyen;  luul  bey  der  ursprünglichen 
Veststellung  des  INIaasses  müssen  sie  gleich  stark  seyn. 

11.  Erläuterung.  Wenn  der  Musikdirector  die 
Schläge  dergestalt  luigleich  macht,  dass  der  erste,  dritte, 
fünfte  Schlag  (und  so  fort  nach  ungeraden  Zahlen)  unter 
sich  gleich  stark,  aber  stärker  seyen,  als  der  zweyte, 
vierte,  sechste,  (und  so  fort  nach  geraden  Zahlen):  so 
wird  die  Zeit  zwischen  dem  ersten,  dritten,  fünften, 
zum  JMaasse,  und  die  schwachem  Schläge  theilen  dies 
Maass  in  Hälften.  Wenn  er  aber  den  ersten,  vierter, 
siebenten,  zehnten,  u.  s.  f.  stärker  macht  als  die  jedes- 
mal dazwischen  fallenden  zwey  andern,  —  den  zweyten 
und  dritten,  fünften  und  sechsten,  achten  und  neunten, 
u.  s.  f.:  so  ergeben  die  stärkern  Schläge  tuiter  sich 
das  Zeitmaass,  welches  nun  durch  die  zwischen  fallen- 
den schwächereu  in  Drittel  zerfällt.  Die  Stärke  ist 
also  nicht  gleichgiillig;  sondern  die  Wahrnehmungen, 
welclie  das  jNIaass  veststelleu  sollen,  müssen  unter  sich 
gleich  stark  seyn. 

R 


146 

12.  Frage:  Was  ^vircl  vorgestellt,  indem  man 
eine  Pause  wahrnimmt? 

13.  Vorbereitung  zur  Antwort.  Die  Frage  erin- 
nert an  die  berülinvte  Schwierigkeit,  leere  Zeit  wahrzu- 
nehmen ;  und  nichts  ist  gewisser ,  als  dass  eine  solche 
nicht  bloss  wahrnehmen ,  sondern  auch  als  kürzer  oder 
länger  unterscheiden,  ganz  etwas  Anderes  seyn  muss, 
als  ein  bloss  sinnliches  Wahrnehmen.  Das  Vorstellen 
darf  während  der  Pause  nicht  aufhören,  wenn  sie  soll 
beobachtet  werden ,  und  das  fortdauernde  Vorstellen 
muss  auch  ein  Vorgestelltes  haben,  denn  Vorstellen  ohne 
Vorgestelltes  ist  eine  Ungereimtheit. 

Bey  der  Antwort  werden  wir,  wie  sich  von  selbst 
versteht,  uns  nicht  auf  die  blosse  Möglichkeit  einlassen, 
dass  vielleicht  eine  ganz  zufällige,  fremdartige  Vorstel- 
lung während  der  leereu  Zeit  ins  Bewusstseyn  treten 
könnte.  Dadurch  würde  ein  ganz  andrer  Gedankengang 
beginnen.  So  etwas  geschieht  bey  gar  zu  langei>  Pau- 
sen ;  mit  der  Beobachtung  der  Pause  ists  aber  dann 
vorbey. 

Wir  werden  aber  auch  nicht  einen  noch  ungebilde- 
ten Geist  voraussetzen;  denn  alle  obige  Thatsachen 
können  wir  nur  im  Kreise  von  einigermaassen  gebilde- 
ten Menschen  nachweisen.  Jedoch  ist  gar  keine  Be- 
stimmung einer  gewissen  Bildungsstufe  uölhig,  wie  man 
sogleich  sehen  wird. 

14.  Ant-svort.  Wir  bezeichnen  zuvörderst  dieje- 
nigen, möglichst  momentanen  Wahrnehmungen,  wo- 
zwischen  die  Pausen  fallen  sollen,  (Trommelschläge,  Tact- 
scliläge,  Schläge  der  Secuuden-Uhr  10  d.  gl.)  mit  hi,  h^, 
h^  ,  A4 ,  u.  s.  w. 

Ferner  sclzcii  wir  voraus,    eine    solche    Vorstellung, 


147 

wie  h,  soy  doin  Waliruelimcnden  nichts  Neues,  sondern 
er  hal)e  sie  sclion  früher,  -svenn  man  Nvill,  längst  gehabt, 
und  viehnals  wiederholdt. 

So  ergiebt  sich  aus  der  Waln-uchmung  des  ielzigen 
hl   sogleich   eine  zwiefache  Folge. 

Erstlich,  die  ältere  gleichartige  Voi'stellung ,  welche 
wir  mit  //  bezeichnen,  beginnt,  sich  zu  reproducircn. 
Diese  Reproductlon  braucht  einige  Zelt,  welche  man' 
immerhin  sehr  klein  annehmen  mag;  aber  ohne  Still- 
stand; denn  die  re[)roducirte  Vorstellung  ist  fortwährend 
im  Stelgen  oder  Sinken  begrllFen'"").  Nach  Verlauf  der 
Zeit  /.  habe  sich  von  der  ganzen  Vorstellung  IJ  das 
Quantum  r  reproducirt. 

Zweitens:  die  Wahrnehmung  }ii  sey  noch  so  mo- 
mentan: dennoch  verschwindet  das  hiemll  begonnene 
Vorstellen  lii  nicht  plötzlich  aus  dem  Bewusstseyn, 
sondern  es  muss  sich  allmählig  ins  Gleichgewicht  setzen 
gegen  irgend  welche  andre  Vorstellungen,  (an  denen  es 
nie  ganz  fehlen  kann,)  die  entweder  unmittelbar  oder 
mittelbar,  durch  ihre  Verbindungen,  darauf  hemmend 
wirken. 

Also  gleichzeitig,  während  der  Pause,  ist  r  im  Stei- 
gen uikI  hl   im  Sinken  begriffen.- 

Beyde  verschmelzen  iil)erdies,  so  weit  sie  können. 

Hierauf  würde  das  Vorstellen  während  der  Pause 
sich  beschränken,  wenn  die  Vorstellung  //  in  keinen 
Verbindungen  stände.  Allein  wofern  sie  zu  irgend 
einem  Contlnuuni  gehört,  (wie  jenes  der  Töne.)  oder 
wofern  sie  auch  nur  mit  einigen  andern  verschmolzen 
ist,  so  beschränkt  sich  die  Reproductlon  nicht  auf  sie 
allein;    sondern    gemäss   der    abgestuften  Verschmelziuig 

«)  Psychologie  §.  82. 


148 

erhebt  sie,  schneller  Einiges,  langsamer  Anderes, 
mit  sich  empor;  es  entsteht  eine  Wölbung,  d.  h. 
mehr  von  den  nächsten,  minder  von  den  entferntem 
Neben- Voi'steiluugen;  ti-it  verworren  mit  ihr  ins  Be- 
wusstseyn  hervor. 

15.  Zusatz.  Vorausgesetzt  nun,  die  ältere  Vor- 
stellung H  stehe  in  solchen  Verbindungen,  und  repro- 
ducire  mit  sich  ein  solches  verv^'^orrenes  Vorstellen:  so 
verschmilzt  auch  dies,  soweit  das  während  der  Pause 
geschehen  kann,  mit  der  sinkenden  Vorstellung  Äj. 

16.  Frage.  Was  verändert  sich,  indem  die  mo- 
mentane Wahrnehmung  A2  hinzukommt,  und  liiemit  die 
erste  Pause  geendigt  wird? 

17.  Antw  ort.  Die  verworrenen  Nebenvorstellun- 
gen ,  sofern  sie  dem  h  entgegengesetzt  sind,  erleiden  ei- 
nige Hemmung;  indem  zugleich  der  altern  Vorstellung 
H  mehr  freyer  Raum  geschafft,  und  mit  ihr  verbunden 
dem  noch  im  Sinken  begrilfenen  hi  möglich  gemacht 
wird,  sich  von  neuem  zu  erheben;  wiewohl  bey  wei- 
tem nicht  ganz  bis  zum  ungehemmten  Vorstellen. 

IVIan  bemerke,  dass  auf  die  ältere  Vorstellung  // 
zwey  entgegengesetzte  Wirkungen  gemacht  werden. 
Einerseits  ist  es  der  von  ihr  ausgehenden  Reproduction 
entgegen,  dass  ihre  Nebenvorstellungen  eine  Hemmung 
erleiden ;  andrerseits  Avird  ihr  eignes  Steigen  begünstigt, 
und  dem  zufolge  auch  ihr  Reproduciien.  Der  Unter- 
schied dieser  ihr  widerfahi'enden  Gunst  und  Ungunst  ist 
um  deslo  grösser,  je  stärker  die  momentane  Wahrneh- 
mung ho  ;  und  für  die  entfernteren  Nebenvorstellungen 
ist  er  ungünstiger  als  für  die  näheren. 

18.  Frage.  \^'as  ereignet  sich  während  der  zwcy- 
len  Pause? 


149 

19.  Antwort.  Wir  nehmen  an,  hx  sey  eben  so 
stark  wie  hi  :  so  ist  zur  Reproduction  der  Nebenvor- 
stellungen eben  so  \Iel  Grund  vorhanden,  "vsie  in  der 
ersten  Pause.  Die  Hemmung  derselben  kann  also  nur 
vorübergehend  seyn ,  und  die  Reproduction  erneuert 
sich  ;  beginnend  wieder  von  den  näheren ,  und  fortlau- 
fend zu  den  entfernteren  Nebenvorstellungen,  die  mehr 
von  der  Hemmung  waren  getroffen  worden.  Aber  diese 
Reproduction  geht  jetzt  nicht  bloss  von  der  altern  Vor- 
stellung H.  aus.  Sondern  //j,  wie  weit  es  während  der 
ersten  Pause  mit  den  Nebenvorstellungen  verschmolzen 
war  (15),  so  weit  wii'kt  es  mit,  um  dieselben  steigen 
zu  machen. 

Auch  sinkt  hi  während  der  zweyteu  Pause  aus  dem- 
selben Grunde,  wie  hi  während  der  ersten  sank.  Gleich- 
zeitig steigen  y  und  hi ,  indem  beyde  mit  h^  verschmel- 
zen ,  so  weit  sie  können.  Die  verworrenen  Nebenvor- 
stellungen, so  weit  sie  reproducirt  werden,  verschmel- 
zen mit  //2. 

20.  Frage.  Vorausgesetzt,  die  zweyte  Pause  sey 
eben  so  lang  wie  die  erste;  auch  seycn  Äj  ,  //^ ,  und 
das  am  Ende  der  zweyten  Pause  hinzukommende  h^,  alle 
gleich  stark:  was  verändert  sich,  indem  h^  nun 
eintrit  ? 

21.  Antwort,  Die  verworrenen  Neberivorstellun- 
gen,  in  so  weit  sie  dem  h  entgegengesetzt  sind,  erlei- 
den für  den  Augenblick  wieder  einige  Hemmung.  Da- 
gegen hört  //2  auf,  zu  sinken.  Es  gewinnt  freyen 
Raum ,  um  sich  heben  zu  können.  Desgleichen  erlangen 
y  und  hl  noch  mehr  freyen  Raum,  als  sie  schon  hatten. 

22.  A  n  m  e  r  k  u  n  g.  Der  Faden  der  verwori-enen 
Nebenvorstellungen,   welche    an  sich  im  continuirlichen 


150 

Hervorlreten  begriiren  sind ,  war  durch  hi  an  einer 
beslinunten  Stelle  abgesclmitlcii  worden,  indem  hier  die 
Hennnuug  eintrat.  Bey  gleicher  Länge  der  zweyteu 
Pause  mit  der  ersten,  hat  hi  dazu  mitgewii'kt,  sie  ge- 
rade so  weit,  als  sie  mit  ihm  während  der  ersten  Pause 
verschmolzen  waren,  wieder  hervorzuheben;  aber  nicht 
weiter,  weil  die  Vei-schmelzung  nicht  weiter  ging.  Un- 
terdessen ist  eben  so  viel  von  jenem  Faden  mit  /i2 
verschmolzen, 

23.  Frage.  Was  geschieht  während  der  nun  fol- 
genden dritten  Pause? 

24.  Antwort.  In  den  gegolienen  freyen  Raum 
erheben  sich  alhnähllg  y,  lii  luid  h^,  wahrend  A3  sinkt. 
JNach  kurzer  Hemmung  der  verworrenen  Neben vorstel- 
limgen  wirken  mit  y  auch  hi  und  //2  111  so  weit  gemein- 
scliaftlich  zur  Erhebung  dieser  Nebeuvorstellungen,  als 
sie  mit  denselben  verschmolzen  sind.  Da  nun  eine 
gleiche  Länge  jenes  Fadens  der  Nebenvorstellungen 
mit  lii  und  hl  verschmolzen  war :  so  sind  beyde  auch  in 
gleichem  INJaasse  zur  Reproduction  desselben  Fadens  wirk- 
sam.   ]\lit  der  reproducirten  Länge  verschmilzt  auch  h^. 

25.  Frage,  Vorausgesetzt,  die  zweyte  Pause  sey 
länger  als  die  erste:  alles  librige  wie  vorhin  (20);  wie 
uutersclieidet  sich  dieser  Fall  vom  vorigen? 

26.  Antwort.  Während  der  Pause  wirken  y  luul 
hl  zusammen  reproducirend  auT  die  Nebeuvorstellungen ; 
allein  mit  dem  Unterscliiede,  dass  hi  nur  soweit  dazu 
wirkt,  als  seine  Verschmelzung  ging;  dagegen  y  wei- 
ter fortfährt,  die  Nebenvorstellungen  zu  reproduci- 
ren ;  also  den  hervortretenden  Faden  derselben  ver- 
längert. 

27.  Folge.      Also    können    während    der    dritten 


15t 

Pause  auch  nicht  gh'iclic  Reproduclioneu  durch  //i  mul 
//2  bewirkt  werclen;  denn  ilire  Verschmelzung  ist  nicht 
gleich. 

28.  Frage.  Vorausgesetzt,  die  zweyte  Pause  sey 
kürzer  als  die  erste;  alles  iJbrige  -wie  vorhin:  wie  un- 
terscheidet sich  dieser  Fall  vom  vorigen  ? 

29.  Antwort.  Da  der  Faden  der  Nebenvorstel- 
lungen kürzer  abgeschnitten  wird:  so  kann  /<2  nicht 
so  weit  mit  ihm  verschmelzen  als  //j  ;  welches  letzlere 
nun  sammt  y  in  seinem  Streben,  Jioch  weiter  zu  repro- 
duciren ,  gehindert  ist. 

30.  Folge.  Also  können  während  der  drillen  Pause 
wiederum  nicht  gleiche  Repi'oductionen  durch  Äj  und  //^ 
bewirkt  werden. 

31.  Anmerkung.  Wegen  der  verworrenen  Ne- 
ben -  Vorstellungen  kann  auf  die  vorige  Abhandlung 
verwiesen  werden.  Der  Ton  c  (Fig.  4S)  gehe  über  in 
d,  und  mag  dort,  grösserer  Deutlichkeit  wegen,  länger 
verweilen;  so  dass  man  schon  beym  Anfange  des  fol- 
genden Tactes  sehie  Piückkehr  erwarte.  Wird  d  als 
Secunde  vernommen ,  so  geschieht  dies  tladurch ,  dass 
die  Vorstellung  c  nicht  so  wohl  gehemmt,  (denn  die 
Hemmung  ist  gering,)  als  verunreinigt  ist  durcli  cUe  mit 
ihr  verbundene  halbe  Gleichheil  des  d  und  c.  (Vorige 
Abhandlung,  36,  101,  102)  Die  solchergestalt  verun- 
reinigte Vorstellung  c  ist  ein  ßeyspiel  verworrener  Ne- 
benvorstellungen. Ein  eben  so  gutes,  ja  noch  stärkeres 
Beyspiel  giebt  der  Gang  von  c  in  des  (Fig.  48"^);  deuu 
din-ch  die  halbe  Gleichheit  beyder  Töne  wird  die  Vor- 
stellung c  noch  stärker  aus  ihrer  Reinheit  heraus  ver- 
setzt, weil  die  Gleichheit  grösser  ist.  Ein  minder  gutes 
ßeyspiel  wäre  Fig.  49,  wo  ein  es  geht;  denn  bey  der 


152 

kleinen  Terz,  wenn  sie  genau  ist,  beginnen  die  Gegen- 
sätze schon  gegen  die  halben  Gleichheiten  aufzutauchen ; 
das  heisst,  die  Keinheit  ist  nicht  mehr  ganz  getrübt. 
Für  den  jetzigen  Zusammenhang  kommt  es  auf  ein  be- 
stinnntes  Intervall  nicht  an,  dergleichen  sich  ausserhalb 
des  Tongebiets,  und  für  solche  Wahrnehmungen,  wo- 
durch man  den  Tact  anzugeben  pflegt,  ohnehin  nicht 
nachweisen  lässt.  Soll  aber  eine  Pause  wahrgenom- 
men werden,  so  darf  die  Vorstellung,  welche  die  Tact- 
schläge  angiebt,  eben  so  wenig  in  ihrer  Pveinheit  vest- 
gelialten  werden,  als  völlig  aus  dem  Bewusstseyn  ver- 
schwinden. Zwar  kann  Jenjand,  während  c,  c,  init 
zwischenfallenden  Pausen  ertönen,  leicht  die  Vox'Stellung 
c  absichtlich  vesthalten  (wie  Fig.  50  andeutet) ;  je  bes- 
ser ihm  aber  dies  gelingt,  desto  gewisser  giebt  es  für 
ihn  keine  Pause.  In  der  Pause  muss  das  Voi'gestellte 
seine  Bestimmtheit  fahren  lassen. 

32.  That Sache.  Wähi^end  der  dritten  Pause  kann 
schon  die  Gleichheit  der  Zeitdistanzen  wahrgenommen 
werden;  nicht  aber  früher.  Denn  die  zweyte  Pause, 
welche  der  ersten  gleich  ist,  wird  durch  den  dritten 
Schlag  abgeschnitten;  so  lange  dies  noch  nicht  geschah, 
waren  nicht  zwey  gleiche  Zeitdistanzen  gegeben. 

33.  Zusatz.  Die  dritte  Pause  muss  aber  minde- 
stens eben  so  lange  dauern,  als  die  beyden  vorigen,  wo- 
fern die  beyden  gleichen  Reproductiouen  (24)  sich  ent- 
wickeln sollen. 

34.  Frage.  Wie  geschieht  das  Vesthalten  des 
Zeit-Maasses  in  Gedanken? 

35.  Vorbereitung  zur  Antwort.  Dazu  ist  nö- 
thig,  dass  diejenigen  Vorstellungen,  von  welchen  eine 
Reprodnction  ausgehen  und  bewirkt  werden    soll,    sich 


153 

liiiireiclicnd  stark  im  Bewusslseyn  crliallen;  und  ilass 
auch  die  Art  ihrer  yerbindiiiig  unter  einander  nicht 
verändert  werde.  Es  wird  also  das  Vesthallen  des  Zeil- 
inaasses  befördern ,  wenn  noch  mehrere  Tactschläge  mit 
gleichen  Pausen   einander  folgen. 

36.  Antwort.  Dem  gemäss  verlängern  wir  die 
Reihe  der  hi ,  h^,  fi^  .  .  .  bis  h,t ,  wo  n  eine  beliebige 
Zahl  seyn  mag.  Je  grösser  diese  Zahl ,  desto  mehr 
ist  die  Stärke  der  Vorstellung  h  durch  die  Wiederhoh- 
lung  und  Verschmelzung  gewachsen. 

Nun  würde  aber  die  blosse  Verstärkung  der  Vor- 
stellung h  nichts  weniger  als  ein  Zeitmaass  ergeben.  Ein 
jedes  Maass  liegt  zwischen  zwey  Abschnitten.  Das  Ab- 
schneiden ist  eine  Negation  dessen,  was  abgeschnittea 
wird.  In  den  Vorstellungen  selbst,  die  wir  mit  h  be- 
zeichnen, liegt  keine  Negation. 

Ferner  ist  beym  Gebi-auche  jedes  Maasses  nolhwen- 
dig,  dass  seine  Abschnitte  dahin  gelegt  werden,  wo  die 
abzumessende  Grösse  ihre  Gränzen  bekommen  soll.  Und 
beym  Erkennen  der  Gleichheit  solcher  Grössen,  die  schon 
nach  dem  Maasse  bestimmt  sind,  müssen  die  Abschnitte 
des  Älaasses  mit  den  Gränzen  der  gegebenen  Grössen 
wahrnehmbar  zusammenfallen. 

Wii'd  ein  Zeitmaass  durch  Tactschläge  gegeben,  (wie 
bey  den  Schlägen  der  Secundeu-Uhr,  um  hier  an  das 
einfachste  Beyspiel  zu  erinnern),  so  sind  die  Pausen  das 
IMaass,  welches  zuerst  abgeschnitten  wird  durch  die 
Tactschläge;  dann  aber  auch,  nachdem  es  duixh  öftere 
Wiederhohlung  gehöiig  eingeprägt  war,  leisten  die  Tact- 
schläge den  Dienst,  den  Gebrauch  des  Maasses  zu  ver- 
mitteln, indem  sie  den  Anfang  und  das  Ende  jeder  ab- 
zvunessenden  Zeitgrösse  bezeichnen.    Hiebey  muss  jedoch 


154 

die  Reproduction  vorausgesetzt  werden.  Würden  nicht 
die  Vorstellungen  der  früheren  Tactschlage  reproducirt, 
und  zwar  dergestalt,  dass  in  den  Augenblicken,  da  die 
spateren  gegeben  worden,  die  Reproduction  beginne, 
so  wären  die  Abschnitte  des  IMaasses,  und  hiemit  das 
Maass  selbst,  verschwunden ;  folglich  könnte  keine  Gleich- 
heit der  Zeitdistanzen  wahrgenommen  werden.  Über- 
dies muss  die  Reproduction  auch  die  Abschnitte  in  ihrer 
früher  bestimmten  Distanz  wieder  darbieten  ;  denn  wenn 
die  Distanz  sich  vermehrte  oder  verminderte,  so  wäre 
das  Maass  verändert. 

Also  geschieht  das  Vesthalten  des  Zeitmaasses  in  Ge- 
danken durch  das  Vesthalten  eines  bestimmten  Rcpro- 
ductionsgesetzes ;  welches  weiter  zu  untersuchen  ist  (50.) 

37.  Zusatz.  In  vorstehender  Antwort  kann  zu- 
nächst das  dunkel  scheinen,  dass  Negation  und  Position 
ihre  Plätze  tauschen.  Das  JMaass  ist  positiv;  seine  Be- 
gränzung  durcli  Abschnitte  ist  eine  Negation.  Hier  aber 
ist  eine  Pause  das  Maass;  die  Vorstellungen  der  Tact- 
schlage bilden  die  Abschnitte.  Und  doch  ist  Pausireii 
eine  Negation;  Vorstellen  dagegen  positiv. 

Bevor  wir  weiter  gehn ,  wollen  wir  an  das  Maass 
im  Räume  erinnern.  INlan  kann  INlaassstäbe  aus  Holz 
und  Äletall  verfertigen.  Mau  kann  aber  auch  mit  dem 
geölfneten  Zirkel  messen;  alsdann  liegt  zwischen  den 
Zirkel-Spitzen  ein  leerer  Raum ;  dieser  dient  zum  Maasse, 
indem  man  die  Spitzen  hier  und  dort  einsetzt. 

Zu  näherer  Beleuchtung  können  noch  andre  That- 
sachcn  beytragen. 

38.  That  Sache.  Zum  Zeitmaasse  kann  auch  eine 
fortdauernde  Wahrnehnuuig  dienen ,  wofern  in  ihr  Ab- 
schnitte mit  hinreichenden  Zwischenzeiten  gemacht  wer- 


L-)5 

den.  Figur  51  stellt  ilics  vor  Augen,  indem  lange  No- 
ten durch  Vorschlage  abgethcilt  wei'den ;  wobey  jedocli 
die  Abwechselung,  welche  durch  die  Vorschläge  entsteht, 
nicht  bis  zur  Geschwindigkeit  eines  Trillers  gehu  darf, 
denn  dieser   ist  zum  Zeitmaasse  nicht  passend. 

39.  Zusatz.  Auf  ähnliche  Weise  vernimmt  man 
das  Zeitmaass  in  manchen  andern  Fällen ;  z.  B.  da  wo 
ein  tönender  Körper  wiederhohlt  mit  einem  Hammer 
angeschlagen  wird ;  indem  jedes  Anschlagen  ein  augen- 
blickliches Geräusch  und  eine  momentane  Verstärkung 
des  Tons  hervorbringt.  Beym  Singen  der  Worte  auf 
lange  .Noten  bewirken  die  Consonanten  ein  Zwischen- 
Geräusch,  auch  wenn  die  Noten  die  nämlichen  bleiben. 
Ja  schon  beym  blossen  Sprechen  sind^  es  die  Consonan- 
ten ,  welche  dadurch ,  dass  sie  die  Sylben  tlieilen ,  Ein- 
schnitte in  die  von  den  Vocalen  ausgefüllte  Zeit  machen ; 
daher  sich  der  Tact  zuei'st  in  der  Sprache  durch  das 
IMetrum  geltend  gemacht  hat. 

40.  F'rage.  Was  leisten  hier  die  momentanen 
Wahrnehmungen,  wodurch  die  Abschnitte  bezeichnet 
sind? 

41.  Antwort.  Es  ist  klar,  dass  die  momentanen 
Wahrnehmungen  nicht  mit  den  Augenblicken ,  in  welche 
sie  fallen,  so  verscliwinden  dürfen,  als  ob  sie  ver- 
gessen wären.  Sobald  Vergessenheit  einträte,  würden 
sie  aufhören,  das  Maass  zu  bestimmen,  dem  sie  zur  Be- 
gränzung  dienen  sollen.  Also  werden  die  Vorstellungen 
jener  begranzenden  Wahrnehnmngen  fortdauern,  und 
sich  mit  den  anhaltenden  Wahrnehmungen  dessen,  was 
zwischen  die  Abschnitte  fällt,  verbinden.  Diese  Ver- 
bindung aber  darf  auch  nicht  einen  Augenblick  genau 
die    nämliche    seyn,    wie    im    andern  j    sonst  würde    die 


156 

längere  oder  kürzere  Zeltdlstanz  zwischen  den  Abschnit- 
ten keinen  bemerkbaren  Unterschied  des  INIaasses  erge- 
ben. Auch  muss  diese  Zeitdistanz  gross  •  genug  seyn, 
damit  ein  merklicher  Unterschied  in  der  Verschmelzung 
entstehen  könne. 

42.  That Sache.  Das  Zeitmaass  kann  auch  durch 
abwechselnde  Wahrnehmungen  von  gleicher  Zeitlänge 
gegeben  werden ;  wie  Fig.  52. 

43.  Zusatz.  Dahin  gehört  das  Sehen  einer  Pen- 
del-Schwingung. Hier  eben  sowohl  als  bey  wechseln- 
den Tönen  liegt  in  der  zweyten  Wahrnehmung  eine 
Verneinung  der  ersten;  indem  beym  Pendel  die  Bewe- 
gungen in  entgegengesetzter  Richtung  geschehen;  unter 
den  Tönen  aber  ein  Hemmungsgrad  statt  findet. 

44.  Frage.  Worin  besteht  der  Unterschied  dieser 
Ai't,  das  Zeitmaass  anzuzeigen,  von  den  vorigen? 

45.  Antwort.  Da  hier  jede  Wahrnehmung  die 
andre  abschneidet,  so  ist  das  Zeitmaass  eigentlich  zwey- 
nial  gegeben;  jedoch  vereinigen  sich  beyde  INIaasse  zu 
einem  doppelten ,  "welclies  zwischen  dem  Anfange  und 
der  W'iederkehr  einer  und  derselben  Wahrnehmung  liegt. 
W  eil  nun  sowohl  die  erste  als  die  zweyte  dieser  Wahr- 
nehmungen zum  Anfange  des  doppelten  INIaasses  dienen 
kann  (wobey  Fig.  50  mit  49  zu  vergleicli^n) :  so  muss, 
wenn  diese  Unbestimmtheit  soll  gehoben  werden,  der 
Anfangspunct  noch  auf  andre  Weise  vestgestellt  seyn, 
welches  wegen  des  bekannten  Unterschiedes  der  guten  und 
schlechten  Tactzeit  ohnehin  nöthig  ist.    Davon  weiterhin. 

46.  In  die  Zeit,  welche  das  JMaass  erfüllt,  können 
die  mannigfaltigsten  Vorstellungsreihen  fallen ;  und  dies 
wird  auf  die  verworrenen  Neben -Vorstellungen,  falls 
eine  Pause    eintrit,   Einiluss    haben.     Anders  wird  Der- 


157 

jenige  während  der  Pansen  in  Erwartung  seyn,  der  Verse 
zu  reciliren,  anders  der,  welcher  Gestirne  zu  beobachten, 
anders  der,  welcher  IMusik  zu  machen,  anders  der,  wel- 
cher zu  tanzen  oder  zu  niarschiren  gewohnt  ist.  Für  die 
blosse  Beachtung  des  Zeitniaasses  sind  diese  Unterschiede 
gleichgültig.  JNicht  einmal  auf  das  Quantum  der  ein- 
geschobenen Neben -Vorstellungen  kommt  es  unmittelbar 
an.  Wer  am  Pendel  die  Zeit  beobachtet,  mag  Schwin- 
gungen in  grössern  oder  kleinern  Bogen  vor  sich  ha- 
ben ;  bey  den  grössern  sind  zwar  mehr  veränderliche 
Bügen  des  Pendels  gegen  den  unbeweglichen  Hintergrund 
zu  sehen,  als  bey  Schwingungen  in  kleinern  Bogen,  und 
die  Vorstellungen  werden  durch  den  Gegensatz  jener 
Bogen  in  stärkere  Hemmung  unter  einander  gerathen ; 
allein  es  kommt  hier  nicht  auf  die  Dichtigkeit  dessen 
an,  was  in  die  Zeitabschnitte  eingeschoben  wird,  sondern 
nur  darauf,  dass  gleiche  Zeitabschnitte  durch  die  Gleich- 
heit der  Zeit  erkannt  werden,  welche  jedesmal  zu  den 
Reproductionen  erfordert  werden,  wodurch  die  Tact- 
schläge  wirken. 

47.  Wenn  dagegen  bestimmte  Vorstellungsreilien 
durch  mehr  oder  v>'eniger  Übung  geläufig  werden,  so 
verkürzt  sich  mehr  oder  minder  das  Zeitmaass,  welches 
den  Abschnitten  in  diesen  Vorstellungsreihen  entsprechen 
soll.  Auswendig  gelernte  Gedichte  oder  Tonstücke  lang- 
sam vorzutragen,  kostet  desto  mehr  Anstrengung,  je 
weiter  die  llbung  fortschrit. 

48.  Dabey  nun  ollenbart  sich,  dass  jedes  "Werk, 
welches  zu  einer  successiven  kuustmässigen  Darstellung 
gelangen  soll ,  sein  Tempo  erfodert ;  indem  bey  zu  lang- 
samem Vortrage  das  Successive  nicht  genug  ineinander 
greift;    bey    zu    schnellem    dagegen    das    Gefühl    sich  iu 


158 

keinem  Puncte  ausbilden  kann;  zum  Beweise,  dass  die 
Vorstellungen  Ihre  bestimmte  Zelt  brauchen,  um  alle 
diejenigen  Zustände  zu  durchlaufen,  auf  welche  das  Kunst- 
werk eingerichtet  Ist. 

49.  Ob  das  Zeltmaass  durch  Pausen  und  eintretende 
Nebenvorstellungen ,  oder  durch  Einschnitte  in  fort- 
dauernde Wahrnehmungen  (38)  oder  durch  Bewegungen 
und  Stillstände,  wie  beym  Pendel,  oder  durch  abwechselnde 
Wahrnehmungen  mit  gleichen  Zeitlängen  (42)  gegeben 
werde:  es  kommt  Immer  auf  eine  Folge  von  Zuständen 
an,  welche  die,  den  Tact  bezeichnenden,  oder  ausfüllen- 
den, Vorstellungen  während  der  Zeit,  welche  dem  Zelt- 
maasse  gleich  Ist,  durchlaufen  müssen. 


50.  Um  nach  dieser  vorläufigen  Beleuchtung  der 
nothwendigsten  Thatsachen  eine  genauere  Untersuchung 
einzuleiten,  müssen  wir  uns  an  die  Princlpleu  der  Me- 
chanik des  Geistes  anwenden;  und  es  muss  zuerst  der 
Unterschied  zwischen  dem  Sinken  und  nachmaligen  Stei- 
gen einer  Vorstellung  bemerkt  wei^den,  die  zu  andern 
hinzukommend  von  denselben  gehemmt,  dann  aber  durch 
eine  ihr  gleichartige  reproduclrt  wird. 

Die  momentane  Vorstellung  Äj  werde  eben  jetzt  ge- 
geben: so  entsteht  zwischen  Ihr,  und  andern  im  Bc- 
wusstseyn  vorhandenen  Vorstellungen  eine  Hemmungs- 
summe, wovon  ein  Theil  auf  Äj  fällt.  Dieser  Thoil 
von  hl  sinkt  in  der  ersten  Pause  nach  einem  solchen 
Gesetze,  dass,  für  eine  kurze  Zeit,  das  Sinken  als  pro- 
portional der  Zeit  kann  angesehen  werden.  ]Man  er- 
kennt dies  schon  in  der  allgemeinen  Formel  für  eine 
sinkende  Hemmuniissumme.  nämlich 


159 

0  =  5(1  — c-') 
wo  0  (las  Gehemmte  nach  Ablauf  der  Zeit  /,  und  S  die 
ganze  Henunungssuninie  bedeutet.     Noch  genauer  geliört 
hieher  die  Formel 

ö=  — (1— c-'/O 

•wo  (j  den  Bruch  von  Iij  bezeichnet,  welcher  soll  ge- 
hemmt werden  *). 

Schon  nach  diesem  Gesetze  wird  das  Sinken  allmäh- 
lig  langsamer.  Ein  anderes  Gesetz  des  noch  langsamem 
Sinkens  trit  ein,  nachdem  die  Hemmungssumme  vollends 
gesunken  ist. 

Dagegen  richtet  sich  die  Reproduction ,  wenn  am 
Ende  der  ersten  Pause  h^  hinzukommt,  anfangs  nach 
dem  Quadrate  der  »Zeit**),  wie  aus  Nachstehendem  er- 
hellen wird. 

51.  hl  sey  während  der  ersten  Pause  so  weit  ge- 
henniit,  dass  von  ihm  noch  Y,  ein  Quantum  wirklichen 
Yorstellens,  im  Bewusstseyn  übi'ig  bleibe.  Also  h — Y 
ist  gesunken.  Dies  ist  die  Energie  des  Strebens,  womit 
lii  ins  volle  Bewusstseyn  zurückkehren  würde,  wenn 
auf  einmal  alle  Hemmung  wegfiele.  Jetzt  aber  kann 
das  hinzukommende  /i2  mir  die  vorhandene  Hemmung 
des  hl  vermindern;  indem  es  den  hemmenden  Vorstel- 
lungen einen  neuen  Antrieb  zum  Sinken  giebt,  welchem 
sie  allmählig  gehorchen.  Es  entsteht  nämlich  durch  h^ 
eine  neue  Hemmungssumme.     Wir  wollen  dieselbe  fürs 

*)  Psychologie  §.  77. 

**)  ebendaselbst,  §.  82,  wo  aljcr  auf  Aiilass  der  Voraussetzung, 
die  reproducirtc  Vorstellung  sey  auf  der  statischen  Schwelle,  ein 
Irrlhuni  entstanden  ist,   welcher  hier  soll  berichtigt  werden. 


160 

erste  bloss  in  so  fern  in  Betracht  ziehn,  als  sie  aber- 
mals im  ersten  Beginnen  nahe  proportional  der  Zeit 
sinken  muss.  Derjenige  Tlieil  von  ihr,  ^velcher  auf  die 
hemmenden  Vorslelhnigen  fallt,  nölhige  dieselben  zu 
einem  allmähligen  Sinken  r=a;;  welches  wir  einstweilen 
nur  so  bestimmen,  dass  xmnt  seyn  möge.  Nun  erhält 
eben  durch  dieses  Sinken,  das  heisst,  durch  das  Nach- 
lassen der  Hemmung,  jenes  aufstrebende  // — Y  Freylieit, 
hervorzutreten.  Nach  Verlauf  der  Zeit  =zt  sey  bereits 
ein  Quantum  von  ?ti ,  welches  wir  mit  y  bezeichnen, 
hervorgetreten,  also  h — y  noch  gehemmt  und  im  Auf- 
streben begriffen.  Im  nächsten  Zeittheilchen  dl  ist  die 
Freylieit  des  weitern  Hervortretens  =:  a;J/;  die  Energie 
des  Hervortretens  =  A — y,  also  das  Hervortretende 
x{h — y)  (lt:^dy. 
Und  da  wir  voiläufig  x=int  geeelzt  haben, 

dti 

ntdt=:,— — 
h  —  y 

—  i«/^  =  log  tzl 
lur  i:=^o  wird  1  :r=  — — — 


...       1  n  / "       '' 

mithin  e      i"^    =  r 


h  —  Y 

und  r  =  h  —  {h  —  Y)  e—  2  "'' 

Schon  hier  sieht  man,  dass  der  Zuwachs  von  r  sich 
Anfangs  nach  dem  Quadrate  der  Zeit  richtet. 

Wir  haben  die  Grösse  n  unbeslimmt  gelassen;  weil 
über  das  etwa  noch  fortdauernde  Sinken  der  hemmen- 
den Vorslellungen    wegen    der  Wirkung    von    hi    nichts 


161 

vesigeselzl  werden  soll.  Nelinieri  wir  aber  an.  dass  die 
liemmenden  Vorstellungen  sclion  wieder  nahe  zu  ihrem 
vorigen  Znstande  ziu'iickgekehrt  seyen ,  oder  dass  die 
lleniniungssunmie  gleich  Anfangs  zu  gering  gewesen  sey, 
um  den  Zustand  derselben,  verglichen  mit  ihrer  ganzen 
Stärke,  bedeutend  zu  verändern:  so  kann  folgende,  der 
AValu'heit  nahe  kommende  Rechnung  Platz  finden. 

Es    sey    mo    das    Quantum    der    Hemmungssumme, 
welches  auf  die  hemmenden  Vorstellungen  wirke ;    aucli 

wie    oben    (50),    o^zS  (1 — c~0'    ""'^    sonst    nichts    zu 
berücksichtigen:    so    ist    nun,    anstatt    dass    wir    voihiu 
a.rz:n/ setzten,  vielmehr  xzn^mS  (\ — ^~^)'t  und 
mS  (l  —  e - 0   {It  —  r)  dt  =  dy 

oder  mS  (1  —  e~*)  dt:=i   — - — 

//  —  y 
Alsdann   wird 

//  —  \ 


mSt  ■•\'  mSe     *  z=.  —  log 

c 

p..  .    ,     —  wi5       h  — 

lur  t:=.o  wird  e  : 


C 


C 
mithin  C—{h—  Y)  e"^^ 

und  {h  —  Y)e'''^^^-'~'-^^—h  —  y 
also  y  =  h—  (/i_J)ß '»*(!- <■"'-') 
Nun  ist  \—e—t—t  =  —  ^t^^-il^—,.. 
woraus  erhellt,  dass  y  wiederum  mit  einem  Gliede,  wie 

y-}-ih—r).hnSt^ 

anfangen  muss,  wo  das  vorige  nz=mS. 

Oder  wenn,  nach  der  andern  Formel  in  50,  gi= — (1 — e~  ^  ), 

wo  (/  ein    ächter    Bruch,  —  und    wenn    wir    allgemein 


162 

slalt  h  die  Ilenimungssumnie,  die  gerade  vorhanden  seya 

mag,  r=  S,  iiuthin  a;=: (1  —  e     '')  setzen:  so  koninit 

7 

7     ■ 

m  S  .  „  ,^  d  y 

i\—e~1*)dt=-~- 

ij  h — r 

(/-f.— e-V')=— log         ^ 


w5        .      <      —'7'^ 


C 


7nS         j y  rnS 

Fiir/z=o,  e      ^2  z=. a\soCz:z(Ji — l')e  tj'i 

rnS  — qt 

also  r  =h  —  [h  —  l)e(/2'        ^ 
Nun  ist   1  — 7/— ß- '/<=  —  . iv^i^+i  y'/^  —  ... 

und)Z=iY-\-(li—r).mS{U^—^qt^...) 

52.  Um  nun  das  Vorige  zusammenzufassen,  erlu- 
uern  wir  uns  der  ersten  Voraussetzung,  unter  welcher 
überhaupt  nur  an  ein  Wahrnehmen  des  Zeltmaasses 
kann  gedacht  werden;  es  ist  ohne  Zweifel  die,  dass 
während  desselben  keine  bedeutende  Veränderungen 
in  Ansehung  der  Bedingungen  des  Laufs  der  Vorstellun- 
gen sich  ereignen.  Dies  schliesst  jedoch  erfahruugsniäs- 
sig  die  Beschäfftigungen  nicht  aus,  die  nach  dem  Tacte 
(nur  nicht  gegen  ihn)  so  oder  anders  können  vorge- 
nommen   werden.       Demnach    werden    wir    annehmen, 


1G3 

(]a89  die  Spaiiming  der  hemmenden  Vorstellungen  diirdi 
den  ersten  Tacischlag  niclit  nierklkli  verändert  sey; 
dass  also  die  Vorstellung  hx  niclit  bedeutend  anders 
sinke  als  //j  gesunken  ist;  sondern  -wie  diese  nahe  |)ro- 
portional  der  Zeit  vvälirend  der  ersten  Pause  sinkt, 
eben  so  muss  auch  dasselbe,  unter  niclit  Nvesenllich  ver- 
änderten Umständen,  von  h^,  in  der  zweyten  Pause  gellen. 
Allein  wälircnd  hi  sinkt,  erhebt  sich,  nach  dem  so 
eben  angegebenen  Gesetze,  Zij.  So  lange  die  Zeit  klein 
ist,  bezeichnet  das  Quadrat  der  Zeit  noch  kleinere  Forl- 
schritte;  jedoch  solche,  die  sich  beschleunigen.  Geht 
die  Zeit  fort  .wie  j^^,  -^^,  ^^^,  so  gehört  dazu  ein  Fort- 
schritt wie  -ihö'i  T^ö'  To^ü*  ^"  solciier  Weise  sich  erhe- 
bend, kann  lii  während  der  zweyten  Pause  zwar  nicht 
beträchtlich  hoch  steigen,  (besonders  wenn  h — Y,  d.  h. 
das  vorige  Sinken,  und  inS,  also  der  Druck,  welchen 
die  hemmenden  Vorstellungen  durch  ]i2  erlitten,  nicht 
zu  beträchtlich  ist,)  allein  da  seine  Bewegung  beschleu- 
nigt wird,  und  da  es  zugleich  mit  dem  sinkenden  //2 
allmähllg  verschmilzt,  so  kann  es  sehr  wohl  auf  letzte- 
res einen  last  momentanen  Stoss  dann  ausüben ,  wann 
hl  eben  vniter  die  Tiefe  h — Y  herabzusinken  im  Begrld" 
ist.  Verschmolzene  Vorstellungen  nämlich 
geben  einander  einen  Antrieb  z  u  m  g  e  m  e  i  n- 
Samen  Steigen  oder  Sinken.  Bliebe  nun  auch  lii 
in  der  Tiefe  h — Y  während  der  zweyten  Pause  stehn, 
so  würde  es,  in  dieser  Stellung  mit  hi  in  Verbindung 
getreten,  dieselbe  nicht  behaupten  können  ,  wenn  hi 
noch  tiefer  sänke.  Nun  ist  aber  wegen  des  beschleu- 
nigten Stelgens  die  Verschmelzung  des  hi  mit  hi  im 
schnellen  Zunehmen  begriffen,  ihre  entgegengesetzten 
Bewegungen    müssen    in   einem  Augenblicke,    da   beyde 


164 

gemeinscliafllich  sich  bejnalie  in  der  Tiefe  Ji — Y  befin- 
den ,  einen  Stillstand  ,  oder  vielleicht  ein  paar  Ilückun- 
gen  hervorbringen ,  indem  erst  die  eine ,  und  gleich 
darauf  die  andre  der  beyden  Vorstellungen  mehr  in  ih- 
rer Bewegung  unterbrochen  wird.  AVir  wollen,  nicht 
unternehmen,  dies  genauer  zu  b^limmen:  es  ist  auch 
nicht  uöthig.  Denn  jedenfalls  entsteht  hieraus  ein  Ge- 
fiihlzusland ;  wie  allemal,  wenn  eine  Vorstellung  einen 
Antrieb  zum  Sinken  empfangt  oder  empfangen  hat,  dem 
sie  nicht  nachgeben  kann. 

Dieser  Gefühls -Zustand  wird  nun  noch  anders  mo- 
dificirt,  indem  am  Ende  der  zweyteu  Pause,  also  fast 
in  dem  eben  bezeichneten  Augenblick,  h^  dazu  kommt; 
wodurch  jenen  beyden  freyer  Kaum  zum  gemeinsamen 
Steigen  eröffnet  wird. 

53.  Jetzt  können  wir  den  Unterschied  der  zwe)^- 
l heiligen  und  dreytheiligen  Tact- Arten,  desgleichen  die 
sogenannten  guten  \md  schlechten  Tact-Zeiten  berück- 
sichtigen. 

Zuvor  ist  zu  erinnern,  dass  der  Viervierteltact  schon 
durch  seinen  Namen  als  das  eigentlich  vollständige  Ganze 
bezeichnet  wird,  wovon  die  gebräuchlichem  andern  Tact-* 
Arten  Brüche,  einige  seltnere  aber  Erweiterungen  sind. 

Ferner  ist  zu  erinnern,  dass  im  Viervierteltact  der 
Anfang  die  beste  Zeit,  die  Glitte  eine  minder  gute, 
das  zweyte  und  vierte  Viertel  aber  die  schlechte  Zeit 
ausmachen. 

Auf  ähnliche  Weise  werden  oft  in  Versen  zwey 
Füsse  zusammengefasst  um  ein  Ganzes  mit  den  Unter- 
schieden besserer  und  schlechterer  Zeiten  zu  bilden. 

]Man   denke   sich  nun  //j  als  das  erste,  //2  ^•'^•^  zweyte 


165 

//j  das  dritte  Viertel  anzeigend.  So  erhellet  aus  deju 
Vorigen,  dass  ^2  ^^^  Dienst  leistet,  hi  zu  reprotluciren, 
und  zNvar  aus  einer  Tiefe  des  Sinkens,  zu  weicher  /12 
seihst  herahgedrückt  wii'd ,  bis  es  den  Gegeustoss  des 
reproducirteu  hi  empfangt,  und  in  demselben  Augen- 
blick mit  diesem  zugleich  durch  h^  wieder  gehoben  wird. 

Hier  kann  der  Zweifel  enlstehu ,  ob  der  Gegenstoss 
nicht  zu  früh  erfolgen  werde?  Denn  //^  erhebt  sich; 
und  wenn  auch  h^  nicht  merklich  schneller  sinkt  als 
in  der  ersten  Pause  hi  gesunken  war:  so  scheint  es 
doch,  die  Verbindung  beyder  wei'de  eine  JNöthigung  des 
gemeinsamen  Sinkens  oder  Sleigens  noch  eher  herboy- 
tiihren,  als  die  zweyte  Pause  der  ersten  gleich  gewor- 
den ist. 

Der  Umstand  aber,  dass  A^  iü  die  schlechte  Tact- 
zeit  fällt,  zeigt  au ,  dass  dieser  Tactschlag  schwächer 
seyn  darf  als  der  erste.  INun  ergiebt  eine  frühere  Un- 
tersuchung, dass  wenn  zu  andern  Vorstellungen  eine 
neue  kommt,  diese  unter  übrigens  gleichen  Umständen 
etwas  mehr  Zeit  zum  Sinken  braucht,  wenn  sie  schwä- 
cher, als  wenn  sie  stärker  ist*).  Kigentlich  braucht 
also  ^2  nicht  ganz  die  Tiefe  h — Y  zu  erreichen,  wofern 
es  zu  einer  geringern  Tiefe  langsamer  sinkt,  und  dies 
wird  geschehu,  wenn  es  schwächer  ist  als  hi.  Um  wie- 
viel schwächer?  das  fühlt  man  freylich  leichter  als  es 
sich  möchte  berechnen  lassen;  viel  beträgt  der  Unter- 
schied nicht.  Aber  stärker  darf  /j2  gewiss  niclit  seyn 
als  hl  ;  sonst  verliert  sich  der  Eindruck,  dass  der  Tacl 
nüt  lii  begann,  luid  Ä2  auf  //|  sich  bezieht,  indem  es 
elasselbe  erneuert. 

■')  Psychologie  §.  77. 


166 

AA  aruiii  7/3  iu  eine  bessere  Taclzell  füllt  als  hj,,  kann 
nach  dem  Vorstehenden  ^vol)l  kaum  zweifelhaft  seyii. 
INIit  ihm  vereinigt  sich//i,  welches  jetzt  schon  im  schnel- 
lern Steigen  begriffen,  durch  die  unvollkommne  Ver- 
schmelzung mit  Ä2  um  desto  weniger  seine  Bewegung 
verzögert,  da  beyde  zusammen  freyen  Raum  gewinnen. 
Das  Gefühl  der  Vereinigung  des  dritten  mit  dem  ersten 
Tactschlage  wird  Psicmand  leugnen  ;  es  äussert  sich  na- 
türlich durch  die  etwas  grössere  Stärke,  welche  man 
dem  dritten  Tactschlage  zu  geben  pllegt. 

54.  Bey  dem  vierten  Viertel  entscheidet  die  grös- 
sere oder  geringere  Stärke  des  Schlages,  ob  der  Tact 
drey  oder  vier  Vierlei  enthalten  wird. 

Es  ist  leicht  möglich,  dass  der  vierte  Schlag  ein 
erster  des  neuen  Tacts  werde.  Denn  //j  und  Ä2  gemein- 
schaftlich üben  jetzt  einen  Gegenstoss  gegen  das  sin- 
kende //3 ;  das  Gefühl  davon  w^ird  stärker  seyn  als  beym 
dritten  Tactschlage;  und  es  braucht  nur  unterstützt  zu 
werden  durcli  den  vievten  stärkern  Schlag.  Der  vor- 
herbemerkte Umstand ,  dass  schon  der  dritte  Schlag 
stärker  seyn  konnte  als  der  zweyte,  steht  hier  gar 
nicht  im  AVege;  vielmehr  ist  es  erfahi-ungsmässig  be- 
kannt genug,  dass  im  Dreyviertel-  und  vollends  im  Drey- 
achtel-Tact,  oft  das  drille  Tactglied  sich  vor  dem  zwey- 
ten  hervorhebt,  und  sich  vorbereitend  zugleich  dem  fol- 
genden Tacte  anscjiliesst. 

Allein  gesetzt,  es  erfolge  gar  kein  vierter  Schlag: 
was  wird  in  Folge  des  psychischen  Älechanismus  geschehn  1* 

Zweyerley  kann  sich  ereignen.  Erstlich  wird  der 
vierte  Zeitpunkt  schon  durch  //2,  welches  gegen  h^  sich 
erhebt,  bemerklich  geniachl.     Zweylens,   auch  ein  fünf- 


167 

tcr  Zollpunct  kann  bezeichnet  werden,  uud  zwar  als 
erster  eines  neuen  Tacts.  Dazu  ist  nur  nötliig,  dass 
der  dritte  Tactschlag  gegen  den  ersten  in  ein  solches 
Verhällniss  getreten  sey,  wie  in  andrer  llinsiclit  der 
zweyte  gegen  den  eisten.  Und  dies  geschieht  sehr 
leiclit.  Hat  der  dritte  Tactsclilag  irgend  eine  grössere 
Ahnliclikeit  mit  dem  ersten  als  der  zweyle,  so  entsteht 
eine  Rcproduction  dieser  Ähnlichkeit,  die  nun  eine  dop- 
pelt so  lange  Zeit  einnimmt  wie  die  vorige.  Am  be- 
stimmtesten lasst  sich  dies  erkenneu,  wenn  die  guten 
Zeiten  doppelt  oder  selbst  dreyfach  durch  eigne  Zeichen 
angegeben  werden,  wie  in  Fig.  54.  Allein  dies  ist 
nicht  durchaus  nöthig.  Beym  Reeitiren  von  Vei'sen 
reicht  sclion  eine  geringe  Hebung  und  Senkung  der 
Stimme,  oder  eine  vermehrte  und  verminderte  Stärke 
der  ausgesproclienen  Laute,  dazu  hin,  dass  sich  dop- 
pelte und  dreyfache  Reproductionen  bilden,  wodurch  die 
schlechteren  Tactglieder  in  die  besseren  eingeschlossen 
weixlen.  Hierin  mag  etwas  dunkel  bleiben ,  was  sich 
bis  jetzt  nicht  ganz  aufklären  lasst;  wie  sehr  aber  diese 
Reproductionen  von  der  Ähnlichkeit,  also  von  der 
grössern  Verschmelzung  unter  den  Vorstellungen 
abhängen ,  sieht  man  sogleich ,  wenn  man  den  Tact  mit 
denselben  in  Widerspruch  setzt,  wie  Fig.  55  und  56; 
wo  Fig.  55  einem  zwoytheiligen  Tacte  angehört,  und 
in  den  dreytheiligen  hineingezwungen;  Fig.  56  aber 
noch  auffallender  dem  dreytheiligen  Tacte  entspricht, 
und  dagegen  in  den  viertheiligen  gesetzt  ist.  Schreibt 
mau  IVIusik  im  Fünfvierteltact,  so  zeigt  sich  vollends, 
wie  leicht  derselbe  in  zwey  und  drey,  oder  drey  und 
zwey  unter  sich  verbiuidene  Glieder  gleichsam  zerbricht: 
daher  derselbe  nicht  üblich  ist.     Die    nündesle    Hervor- 


168 

raguiig  des  dritten  oder  vierten  Viertels  eutscheidet,  ob 
sich  dißs  jenem,  oder  jenes  diesem  uutci'ordneu  soll. 

Folgt  mau  also  dem  unwillkülirliclieu  psychisdien 
Mechanismus,  so  entsteht  der  Viervierteltact,  indem 
das  dritte  Viertel,  irgend  wie  dem  ersten  ähnlicher 
als  das  zweyte,  auch  vollständiger  auf  das  erste  repro- 
ducirend  wirkt,  und  gleichsam  dasjenige  nachhohlt,  was 
an  der  ersten  Reproduction  gefehlt  hat.  Hiemit  brau- 
chen nur  die  Wahrnehmungen  wirklicher  Tactschläge 
zusammenzutrelTen.  IMan  kann  das  vierte  Viertel  des 
ersten  Tacts  durch  hjf.  angel)en ;  man  kann  dies  auch 
fehlen  lassen;  jedenfalls  trllft  //5  mit  dem  Stosse  zusam- 
men, welchen  h^  durch  die  von  ihm  bewirkte  Repro- 
duction aus  dem  ei'sten  Tactschläge  empfängt.  Solcher- 
gestalt liegt  das  eigentliche  Zeitinaass,  nämlich  der  halbe 
Tact ,  zweymal  in  dem  Ganzen;  der  ganze  Tact  aber 
wird  in  der  musikalischen  Periode  wiederum  verdoppelt, 
seltener  verdreyfacht,  wo  nicht  kühnere  W^euduugeu 
einen  andern  Pihylhmus  in  Anspruch  nehmen. 

Die  Zerfällungen  der  Viertel  in  Achtel,  Sechzehntel, 
u.  s.  w.  wiederhohleu  solche  Einschaltungen  im  Kleinen. 

55.  Zwey  Bemerkungen  bieten  sich  hiebey  noch 
dar.  Die  eine:  Der  Stoss,  welchen  eine  reproducirte 
Vorstellung  durch  ihre  beschleunigte  Bewegung  hervor- 
bringt, wird  unter  gleichen  Umständen  desto  nachdrück- 
licher ausfallen,  je  tiefer  dieselbe  zuvor  gesunken  war; 
wenigstens  innerhalb  gewisser  Gräuzen.  Darauf  deutet 
die  Formel  in  51,  indem  /  mit  dem  Quadi^ate  der  Zeit 
um  so  mehr  wächst,  je  grösser  h — Y,  das  heisst,  je 
kleiner  Y.  IMan  unterstützt  dies,  indem  man  zugleich 
diejenigen  Tactschläge  verstärkt,  welche  in  den  Anfang 
jedes  Tacts  fallen,  wodurch  m  S  vergrössert  wird. 


169 

Die  zweyle  Bemerkung:  Aus  den  untergeordneten 
Gliedei'u,  in  welche  man  den  Tact  zerlegt  hat,  entstehn 
lieihen  von  Vorslelluugen,  welche  mit  den  Ilauplschla- 
gen  verschmelzen ,  von  ihnen  wo  möglich  reproducirt, 
und  in  spätei'e  Zeildislanzen  eingeschaltet  wei'den;  mei- 
stens aber  sich  in  ein  unbestimmtes  Streben  zur  Repro- 
duction  verlieren  müssen,  wegen  der  Gegensätze,  die  sie 
unter  einander  bilden.  .So  wenn  Jemand  eine  Zeitlang 
mit  IMusik  oder  Poesie  oder  Beobachtungen  beschUfftigt 
war.  Kurz:  wir  sind  hier  wieder  bey  jenen  verworre- 
nen Neben- Vorslellungen,  für  welche  zwar  ein  be- 
stimmtes Reprodiiclions -Gesetz  sich  nicht  nachweisen 
lässt,  die  aber  doch  nicht  als  gesetzlos  auzusehen  sind; 
und  wobey  es  für  jetzt  nur  darauf  ankommt,  dass  sie 
in  die  nach  einander  folgenden  Zeitdistauzen  auf  gleiche 
Weise  eingeschoben  werden.  Wenn  z.  B.  der  Uuter- 
ofücier  seinen  Piekruteu  marschireu  lehrt,  und  dabey, 
jede  Sylbe  dehnend,  spricht: 

Rechten,  Linken,  Rechten,  Linken, 

oder  Einundzwanzig  Zweyuudzwanzig , 
so  liegt  das  Einschalten  in  der  Dehnung  jeder  Sylbe; 
ohne  dass  ein  bestimmtes  Vorgestelltes  könnte  angege- 
ben werden,  wodurch  die  ausgedehnten  Sylbeu  an- 
schwellen; wohl  aber  soll  in  die  angezeigten  Zeitdi- 
stanzen die  Bewegung  des  Rekruten  fallen.  Eben  so, 
wenn  Jemand  während  des  Clavierspieleus  den  Tact 
lautsprechend  zählt,  so  liegt  in  dem 

Eins,  Zwey,  Drey,  Vier 
an  sich  keine  Zeilbestimmung,    denn  man  kann  schnel- 
ler oder  langsamer  zählen;    aber    man   hat    längst  diese 
Zahlen    zu   mannigfaltiger    ]Musik    ausgesprochen;    daher 
fehlt  es  gewiss  nicht  an    unbeslinunleu   Neben -Vors lel- 


170 

lungeu,  die  man  lu  den  einmal  angegebenen  und  aufge- 
fassten  Tact  einschalten  könne;  und  "welche  nur  beytra- 
gen,  um  ihn  gleichmassig  festzuhalten,  während  die  eben 
jetzt  auszuführende  IMusik  durch  ihn  geordnet  werden  soll. 

56.  INIan  wird  die  Gestaltungen  in  der  Zeit,  zu  welchen 
für  Metrik  und  IMusik  der  Tact  die  Grundlage  bildet, 
ohne  Zweifel  zu  Gegenständen  erneuerter  Untersuchung 
machen.  Wir  ziehen  uns  hier  zu  einem  ganz  einfachen 
Fragepuncte  zurück,  welcher  übrig  bleibt,  wenn  man 
alle  Unterschiede  der  Tactschlage  und  alles  JMancheiley, 
was  In  gegebenen  Zeitdistanzen  eintreffen  oder  hinein- 
gedacht werden  kann,  bey  Seite  setzt.  Wir  wollen  an- 
nehmen, Jemand  habe  lediglich  die  ganz  einförmigen 
Sehläge  einer  Uhr,  oder  das  Fallen  der  Tropfen,  oder 
ähnliches  völlig  gleichartiges  in  gleichen  Zeitdistanzen 
wahrgenommen;  aber  so  oft  wiederhohlt,  dass  an  keine 
Unterscheidung  des  ersten,  zweyten ,  dritten ,  u.  s.  w.  zu 
denken  Ist.  ATir  suchen  nun  das  Einfachste,  was  erst- 
lich ihn  bestimmt ,  die  Zeitdistanzen  als  gleich  zu  er- 
kennen, zweytens  ihn  befähigt,  dieselben  fortgesetzt  an- 
zugeben, auch  wenn  die  Wahrnehmung  aufhört. 

Wenn  die  gleichen  Wahrnehmungen  hi ,  Ä2 ,  //s ,  A4, 
...  Ä//,  hn-\-l,  sich  sehr  oft  wiederhohlt  haben,  so  kann 
jede  neu  hinzukommende  nur  noch  unbedeutend  wenig 
an  der  Stärke  der  aus  allen  verschmolzenen  allmählig 
entsprungenen  Gesanuntvorstellung  verändern;  besonders 
da  die  Empfänglichkeit  abnimmt  *).  Auch  wird  sich 
nach  gehörigem  Zeilverlauf  diese  Gesammtvorstellung 
sehr  nahe  nül  dem  hemmenden  Voi'Stellungen  ins  Gleich- 
gewiclil    gesetzt    haben.     Jedoch  kann    nicht  etwan   alle 

»)    Psychologie  §.  94. 


171 

Hemmung  aufgeliürl  haben;  sonst  würde  die  Vorstellung 
//  fortwährend  ungehennnt  vorhanden  seyn,  und  die 
Pausen  könnten  nicht  vom  erneuerten  Eintreten  unter- 
schieden werden.  Hieraus  erglebt  sich  niui  eine  leichte 
Abänderung  dessen,  was  in  52  schon  angegeben  ist.  Die 
dortige  Tiefe  h  —  Y,  wozu  das  erste  //  herabsank,  kann 
hier  nicht  passen,  weil  eine  sehr  verstärkte  Vorstellung, 
nach  vielfacher  Wiederhohlung,  nicht  mehr  so  sinken 
wird  wie  die  erste  sinken  musste.  Aber  wie  gering 
auch,  bey  geringer  Henunung  die  Tiefe  sey,  worin  sich 
h^  beym  Einlrilt  von  h  >.  befindet,  dennoch  schafft 
letzteres  einigen  freyen  Raum,  einige  Repi-oductiou ,  ei- 
nigen Zusanimenstoss  derselben  mit  ihm  selbst,  dem  sin- 
kenden, welches  nun  gleichsam  auf  elastischen  Boden 
fällt,  und  wenigstens  im  Sinken  aufgehalten  wird,  indem 
CS  der  stärkeren  und  älteren  Gesammtvorstellung  den 
Antrieb  giebt,  mit  ihm  zu  sinken,  welches  nicht  gesche- 
hen kann.  Der  Augenblick  des  Zusammenstosses  muss 
nach  den,  sich  gleich  bleibenden  Zeitdistanzen  der  Schläge, 
nach  der  Starke  derselben,  nach  der  Grösse  der  noch 
übrigen  Hemmung,  sich  längst  gleichförmig  bestimmt 
haben.  "NA'ir  brauchen  nicht  anzunehmen,  dass  die  Zeit- 
dislanz  dieses  Augenblicks  von  dem  vorigen  Schlage, 
gleich  sey  der  Zeitdislanz  zwischen  den  Schlägen  selbst. 
Gesetzt,  der  nächstfolgende  Schlag  komme  später:  so 
hat  sich,  weil  derselbe  schon  innerlich  vorgebildet  wurde, 
ein  Gefühl  des  Aufschubs,  luid  des  Wartens  erzeugt, 
welches  selbst  ein  Gegenstand  der  Innern  Apperccption 
wii'd;  die  Folge  der  Schläge  wird  nun  als  mehr  oder 
weniger  langsam  empfunden.  Oder  der  nächstfolgende 
Schlag  kommt  früher:  so  beschleunigt  er  die  Repro- 
duclion,  und  es  enlsleht  ein  Gefühl  der  Aufregimg;  lür 


172 

die  Appercepliou  die  Empfindung  des  Sclinellcu  und 
Eilenden.  Haben  diese  Gefühle  sich  durch  Wiederhoh- 
lung  ausgebildet,  so  braucht  der  Appercipirende,  um 
das  Zeitmaass  nicht  bloss  aufzufassen,  sondern  selbst 
fortgesetzt  anzugeben,  nur  die  Vorstellung  h  in  Gedan~ 
keu  vestzuhalten,  und  es  alsdann  geschehen  zu  lassen, 
dass  sie  den  Wechsel  der  Gefühle  durchlaufe,  die  rei- 
henförmig  mit  ihr  \erbunden  sind.  Trifft  er  beym  Ver- 
such, im  äussern  Handeln  eine  ähnliche  Zeilreihe  her- 
voi'zubringeu ,  nicht  gleich  das  i^echte  JMaass,  so  Avird 
auch  nicht  das  nämliche  Gefühl  des  Langsamen,  oder 
Schnellen,  oder  Bequemen  hcrvorgehn ;  abgeänderte  Ver- 
suche werden  den  ersten  bald  berichtigen;  vorausgesetzt, 
dass  niclit  Umstände,  dergleichen  wir  bey  Seite  gelegt 
haben,  sich  einmischen. 

57.  Die  Thatsache  nun,  dass  es  einen  Unterschied 
des  Bequemen  im  Gegensatze  des  Langsamen  und  des 
Geschwinden  wirklich  giebt,  ist  das  Allerwichtigste  in 
dieser  ganzen  Untersuchung ;  denn  sie  zeigt ,  dass  wir 
mit  unseren  psychologischen  Rechnungen  nicht  so  im 
Finstern  tappen,  wie  diejenigen  sich  einbilden,  die  von 
solchen  Rechnungen  lieber  nichts  hören  möchten.  Eine 
Tertien-Uhr  taugt  nicht,  das  Gefühl  des  Tactes  zu  er- 
wecken; schon  unsere  Taschen -Uhren  sind  unbequem 
dazu;  eine  Uhr,  die  alle  IMInute  nur  einmal  Ihren  Schlag 
hören  Hesse,  wäre  auf  entgegengesetzte  Weise  dazu  ganz 
unbrauchbar.  Sehr  bequem  dagegen  fasst  man  millelsl 
der  Secunden-Uhr  den  Tact  auf,  wenn  mau  zwischen 
je  zwey  nächstfolgenden  Schlägen  noch  einen  in  Ge- 
danken einschallcl  geschieht  dies  Einschalten  nicht,  so 
findet  man  ihre  Schlage  eher  etwas  langsam,  sie  lassen 
auf  sich  warten.     INun    ist  nus  dem  Vorigen  klar,    dass 


173 

7A\!\r  auch  nach  ciiioi  ^Mimile,  iiml  selbst  nach  viel  laii- 
geren Zeilen  die  Rcproduction  keine  "Schwierigkeit  hal; 
aber  sie  allein  yorliilft  zii  keinem  Gefühl  des  Tacls. 
Soll  sie  dieses  ergeben ,  so  muss  sie  die  Vorsfellnng  des 
vorhergehenden  Schlages  nicht  bloss  noch  im  Bewnssl- 
seyu  antreffen,  sondern  es  nuiss  auch  nicht  eincrley  seyn, 
ob  sie  früher  oder  später  mit  derselben  sich  verbinde. 
Kommt  sie  zu  spat:  so  ist  das  Sinken  der  Vorslellimg 
des  vorhergehenden  Schlages  schon  so  langsam  gewor- 
den, dass  es  fast  dem  Slillslchn  gleicht;  und  daini  isls 
einerley,  ob  sie  noch  etwas  später  oder  früher  eintrifft ; 
der  Unterschied,  auf  dem  das  Tactgefühl  beruht,  ist  nun 
verloren.  Die  Hemmung  muss  noch  nahe  der  Zeit 
proportional  seyn ,  damit  mehr  oder  weniger  Zeit  be- 
merklich "sverde,  und  zwar  so  genau  bemerklich,  dass 
man  unmittelbar  nach  dem  Gefühl  diess  IMehr  oder 
Weniger  anzugeben  unternehmen  könne. 

Von  den  beyden  Formeln  in  50  verliert  die  zweyte 

ihre  Gültigkeit ,  sobald  die  Zeit  =  —  log gewor- 

(j         \  —  q 

den  ist '''■);    wir  brauchen    uns    aber    hier   nicht  um  die 

Bestimmung  des  achten  Bruches  q  zu  bekümmern ;  denn 

schon  die  erste  Formel 

G  =  S{\—e-t) 

welche,  wenn  die  Umstände  ihrer  Voraussetzung  gemäss 

unverändert  blieben,   selbst    für    unendliche  Zeit    gelten 

würde,  zeigt  hinreichend  das,  worauf  es  ankommt.    Die 

Hemmungssumme    S   mag    grosss    oder  klein    seyn,    das 

Gehemmte,  oder  a,    trägt  in  sich    den  Factor  1 — e—*, 

welcher  von    der    Zeit  t  abhängt.      Nun   ist  für  /  r=  -^ 

*)    Psychologie  §.  T7. 


174 

auch  1 — e  '  bcliialie  \,  es  Ist  nainllch  =  0,22H  ... 
hingegen  für  <rz:^  ist  1 — e  '  nur  =r  0,3034.  Also 
hiei'  ist  die  Proportionalität  der  Zeit  schon  sithtljar  ver- 
loren. Wir  werden  dem  gemäss  nicht  sehr  weit  von 
der  Wahrheit  abirren,  wenn  wir  die  Einheit  der  Zeit 
auf  zwey  Secuudeu  setzen;  da,  wie  nur  eben  zuvor  be- 
merkt, nach  hallten  Secuudeu  sehr  bequem  gezählt  wird, 
wenn  man  den  Tact  abmessen  will.  Wo  dagegen  der 
IMusiker  kein  Moderalu,  sondern  ein  AUegru  oder  yldagio 
vorschreibt,  da  sagen  schon  seine  Kiuislausdriicke ,  dass 
er  darauf  rechnet,  ein  Gefühl  entweder  von  Aufregung 
oder  Verweilung  solle  mit  dem  Tacte  verbunden  seyn; 
niemals  aber  wird  er  fodern,  dass  man  die  Zeit  nach 
Tertien  oder  nach  Minuten  abmesse.  Für  die  Besve- 
gung  des  Lichts  durch  den  Raum  einer  Äleile,  oder  für 
das  Wachsen  des  Grases  in  einer  Minute,  haben  wir 
niui  vollends  zwar  Begriffe,  aber  keine  W\ihruehnuuig ; 
weil  in  zu  kurzer  Zeit  unsre  Vorstellungen  ihren  Stand 
im  Steigen  oder  Sinken  nicht  merklich  verändern ;  bey 
zu  langsamer  Bewegung  aber  wir  ihren  Lauf  nicht  auf 
eine  entsprechende  Weise  zurückhalten  können. 

58.  Dass  aber  auch  auf  die  Reproduction  unbestimm- 
ter Vorstellungsreiheu  von  bestimmter  Länge  in  den 
Künsten  gerechnet  wird,  erhellet  am  deutlichsten  aus 
der  Beybehaltung  der  nämlichen  Versart  in  den  Gedich- 
ten. ]Man  wird  im  Verlauf  einer  Älinute  ungefähr  ein 
Dutzend  Hexameter  mit  lauter  Stimme  (wie  ein  Rhap- 
sode in  grösseren  Versammlungen  ihun  mochte)  reciti- 
ren  können ;  mithin  braucht  ein  Hexameter  etwa  fünf 
Secundeu.  Diese  Zeit  wäre  als  Pause  unmittelbar  für 
das  Tactgcfühl  zu  lang;    dagegen    als  erfüllte  Zeit  wird 


175 

die  gleiche  Dauer  der  Hexameter  sehr  lelclit  walirge- 
noinmen,  und  doch  kann  hier  kein  beslimmler  einzehicr 
Hexameter  augegeben  werden  als  derjenige,  durch  wel- 
chen die  Abmessung  geschähe,  deiui  die  Verse  selbst  sind 
verschieden,  und  dem  Zuhörer  wird  auch  nicht  etwan 
ein  Schema  des  Metrums  mitgethellt ;  es.  wird  ihm  nicht 
aufgetragen,  den  Vers  zu  beobachten ;  er  wird  vielmehr 
mit  dem  Gegenstände  des  Gedichts  beschäffligt ;  und  die 
ganze  jMühe  der  Verskunst  wäre  verloren,  wenn  nicht 
unwillkiihrllch  das  INlaass  sich  im  Gemüthe  des  Zuhö- 
rers bildete,  und  die  Gleichheit  der  wohlgemessenen 
Verse  empfunden  würde. 

59.  Unter  den  mancherley  Fragen,  die  sich  in  An- 
sehung der  Schätzung  längerer  Zeiträume  noch  aufwerfen 
Hessen,  wollen  wir  nur  eine  erwähnen.  "Wenn  Bilder 
zur  Schau  gestellt  werden,  wie  lange  darf  ein  jedes  der- 
selben stehen  bleiben,  wenn  der  Zuschauer  wahrnehmen 
soll,  dass  die  Zelten,  die  man  ihm  zur  Betrachtung  ge- 
stattet, unter  einander  gleich  sind?  Ollenbar  hängt  dies 
sehr  von  der  Beschaffenheit  der  Bilder  ab.  Ist  der  Ge- 
genstand reich  an  Figuren,  so  dauert  es  eine  ganze 
Weile,  bis  sich  die  räumliche  Auffassung  vollendet ;  von 
Gemiithszuständen  höherer  Art,  von  Rellexionen  über 
die  Kunst  wollen  wir  ganz  abslrahlren.  Einfache  geo- 
metrische Figuren  sind  schnell  aufgefasst,  besonders  wenn 
dem  Zuschauer  nicht  daran  Hegt,  sie  sich  bestimmt  ein- 
zuprägen. Bleibt  nun  das  Aufgefasste  länger  stehen, 
als  es  beschäff'tigt,  so  sinken  die  Vorstellungen,  indem 
die  Empfänglichkeit  ermattet,  sehr  bald  zu  lief,  als  dass 
auch  nur  einigermaasseu  der  Wechsel  der  aufzufassen- 
den Gegenstände  ein  Tactgefühl  erzeugen  könnte.  Bcy 
zusammengcselztcu     Gegeustäudeu     im    Räume     kommt 


176 

eben  sowolil  als  bey  poelisclien  oder  rhetorischen  Dar- 
slellungeii  viel  auf  die  LJbuiig  und  Vorbildung  derjeni- 
gen Personen  an,  welchen  das  Sehenswerlhe  gezeigt  oder 
der  Vortrag  gehalten  wird.  Dennoch  wird  für  grössere 
Versammlungen  ein  gewisses  Älittelmaass  der  Verwei- 
lung gesucht,  welches,  wenn  es  richtig  getroffen  wurde, 
bey  der  Mehrzahl  der  Anwesenden  ein  Geiiihl  von  gleich- 
massiger  Beschäftigung  und  Zeit -Erfüllung  hervorbringt. 
Das  Bemühen  ein  solches  JMittelmaass  zu  finden,  scheint 
nicht  ganz  so  vergeblich  zu  seyn,  als  man  bey  der  gro- 
ssen Verschiedenheit  der  Individualitäten  wohl  erwarten 
möchte. 

Zusatz. 

Die  angegebene  Bestimmung  der  Zeit -Einheit,  näm- 
lich zwey  Secunden  ungefähr,  wird  überall  in  Betracht 
kommen,  w^o  die  psychologische  Rechnung  die  Zeit  durch 
Zahlen  ausdrückt.  Wenn  z.  B.  nach  den  einfachsten 
statischen  Gesetzen  eine  Vorstellung  zur  Schwelle  sinkt, 
so  liefert  die  Reclmung  eine  Zahl  für  die  Zeit  dieses 
Sinkens. 

Bisher  konnten  wir  solchen  Zahlen  nur  den  Werth 
beylegen,  dass  sie  zu  Vergleiclmngen  dienen.  Wenn  die 
Vorstellung  ozr:3,irr2,  c  z=i  \ ,  so  sinkt  c  zur 
Schwelle  in  der  Zeit  0,944;  wenn  aber  üt  r=:  4,  h-=.Z, 
c  ■=.  2,  so  findet  sich  die  Zeit  r=  2,015  *).  Im  zwey- 
ten  Falle  dauert  also  das  Sinken  mehr  als  doppelt  so 
lange.  Hier  konnte  man  fragen,  ob  die  Zeit,  welche 
sich  mehr  als  verdoppelt,  nach  INIinuten  oder  nach  Se- 
cunden   zu    schätzen  sey.      Denn   freylich    versteht    sich 

*)  J*S}xhologie  §.  75. 


177 

von  selbst,  dass  man  an  Stunden  oder  gar  an  Tage  nlilit 
denken  könne,  weil  der  Wechsel  unserer  Vorstellungen 
in  einer  Stunde  viel  zu  gross  ist,  um  mit  dem  höchst 
einfachen  Ereigniss,  dass  eine  einfache  Vorstellung  aus 
dem  Bewusstseyn  verschwindet,  irgend  passend  vergli- 
cliexi  zu  werden. 

Jetzt  können  wir  mit  Wahrscheinlichkeit  bestinun- 
ter  sprechen.  Im  obigen  ersten  Falle  wird  die  Zeit 
=  1,9  Secunden,  im  zweyten  etwas  über  vier  Secun- 
den  betragen. 

Am  angeführten  Orte  findet  sich  noch  eInBeyspiel. 
Es  sey  an:  10,  in:  10,  c-=.7\  die  Zeit,  in  welcher  c 
zur  Schwelle  sinkt,  wüi-de  unendlich  werden,  wenn  c 
cn  0,707...  wiire;  dennoch  findet  sich,  dem  Scliwellen- 
werlhe  \on  c  so  nahe,   ifrr:4,44..  also  S,S8  Secmideu. 

In  allen  diesen  Beyspielen  ist  der  grösste  mögliche 
Hemmungsgrad  unter  den  sanuiitlichen  Vorstellungen 
angenommen.  Da  der  Gegenstand  durch  die  gefundene 
Angabe  der  Zeit  in  Secunden  ein  neues  Interesse  ge- 
winnt, so  wollen  wir  einige  Pi'oben  derjenigen  Abän- 
derungen aufsuchen,  welche  vom  Hemmungsgrade  ent- 
springen. 

Man  findet  am  angeführten  Orte  die  Formel 

i  =  log.  nat.  ~~ 

qö  —  c 

wo  </  den  ächten  Bruch  bedeutet,  welcher  das  Quotum 

der  sinkenden  Hemmungssummc  für  c  angiebt;  S  ist  die 

anfängliche  Hemmungssummc.      Ware  ^^S'  nicht   grösser 

als  c,  so  würde  c  nicht   gänzlich  aus    dem  Bewusstseyn 

verdrängt;    die   Formel    setzt    also    voraus,    der  Nenner 

solle  immer  positiv  seyn,  indem  qS'^c.     Sie  zeigt  hie- 

mit,    dass  nur  in  äusserst   seltenen  Fällen,    nämlich  bey 


178 

selir  gcringei'  Differenz  zwischen  qS  und  c,  eine  grosse 
Zahl  für  t  herauskommen  kann. 

Nach  dieser  Formel  (deren  Zusammenhang  man  am 
gehörigen  Orte  nachsehen  wolle),  ergeben  sich  folgende 
Zeitbestimmungen : 

A.     Für  a  —  2,  b  =  2,  c  —  \, 
sey  der  Hemmungsgrad  m  =r  1 , 

so  ist  t  —  1,0986  =  2,1072  Secunden. 
m  =  0,9  giebt  t  =  1,3499  =  2,6998         — 
m  =  0,8     —     i=  1,7917:=  3,5834         — 
m  1=0,7     —     f  =  3,0445  =  6,089  — 

Für  m  :==.  0,6  wird  schon  der  Logarithme,  w^elcher 
die  Zeit  anzeigt,  unmöglich;  d.h.  c  siiikt  nicht  mehr 
zur  Schwelle;  der  Hemmuugsgrad  0,6  reicht  nicht  mehr 
hin,  um  das  Drängen  des  a  und  b  gegen  c  so  stark  zu 
machen,  dass  c  ganz  aus  dem  Bewusstseyn  verschwin- 
den müsste. 

B.     Für  «=10,  ÄrzlO,  cr=l, 
sey  der  Hemmungsgrad  /n  rz:  1 , 

so  ist  <  =  0,11552 1=0,23104  Secunden 
m=z0,9  giebt  i=: 0,12921  =  0,25842  — 
7H=:0,8  —  /=:  0,14660  =:  0,2932  — 
m=z0,7  —  /  =  0,16942  =  0,33884  — 
m  =  0,6  —  /  =  0,20067  =  0,40134  — 
m  =  0,5  —  <  =  0,24613  =  0,49226  — 
m  =  0,4  —  i  =  0,31845  =  0,6369  — 
m  =  0,3  —  /  =  0,45198  =  0,90396  — 
m  =  0,2     —     /  =  0,78845  =  1,5769         — 

Für  m  rr  0,1  wird  der  Logarithme  unmöglich. 
Diese  beyden  Beyspiele,    in  welchen  wir   der  Kürze 
wegen    einerley   Hemmungsgrad    für    sammtliche    Paare 


179 

von  Vorslcllungen    augeiioiiuncn   lial)en,    küiiiiou    zu   ei- 
niger  LJbersiclil  schon  liinreichen. 

Dass  für  a  z=.  b  z=.  2  der  Henimungsgrad  m  zz:  0,6 
nicht  mehr  zu  gebrauchen  seyn  würde,  und  eben  so 
wenig  für  a  zzz  b  z=.  \Q  der  Henimungsgrad  in  =z  0,1 : 
dies  zeigt  ein  Täfelchen  in  dem  grössern  psychologi- 
schen Werke  *). 

Denn  für  «j  =r  0,0  soll  dort,  wenn  b=:a,  beydes 
=  2,18  seyn,  um  cz=l  auf  die  Schwelle  zu  treiben. 
Desgleichen  für  ??2:rzO,5,  arrÄrz  2,561 

mz=:(),4,  a  =  b  =  3,MS 

m  =  0,3,  a  =  b  =  4: 

m=zO,2,  a  =  b  =  b,74 

m  =  0,1  ,  a=::b=z  10,84 
welche  letztre  Angabe  zu  erkennen  giebt,  dass  für  a  z=. 
Äz=10  der  Hemmungsgrad  mz=i(),\  schon  zu  klein  war. 
Die  Gleichheit  des  a  und  b  ist  hier  nur  der  beque- 
mern llbersicht  wegen  angenommen  worden.  Den  merk- 
würdigen Umstand,  dass  für  den  Scliwellen>verth  crzl, 
bey  grösstcr  Verschiedenheit  der  Werthe  von  a,  sich  b 
innerhalb  sehr  enger  Granzen  halten  muss,  kennt  man 
aus  dem  frühern  Wei'ke  **).  Eine  Analogie  damit  wird 
sich  anderwärts  zeigen. 

Beym  Anblick  obiger  Zahlen  wolle  man  nicht  fragen, 
mit  welchen  Erfahrungen  wir  unsre  Hunderttauseudtheile 
von  Secundeu  belegen.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dass 
nicht  einmal  die  Huuderttheile  zu  verbüi^gen  sind.  Die 
Zahlen  sind  so  hingeschrieben,  wie  die  Piechmuig  sie 
gab ;    indem    die  Fortschreitung    solcher   Zahlen    einiges 

*)  Daselbst  §.  56.      In    der  Formel  für  b  ist    dort    ein  Druck- 
fehler.    Statt  8/rt^  lese  man  8/n. 
*»)  Daselbst  §.55. 


180 

Interesse  liat,  und  zu  künftigen  Yergleichungen  Anlass 
geben  kann.  Die  Psychologie  wäre  glücklich,  wenn  ihr 
in  allen  Puncten  soviel  erfahruugsmässig  bestimmtes  zw 
Hülfe  käme,  wie  oben  (in  57)  ist  nachgewiesen  worden. 
Mögen  aber  Andre  versuchen,  uns  Erfahrungen  entge- 
gen zu  stellen!  Das  würde  leicht  seyn,  wenn  unsre 
Formeln,  anstatt  der  Bruchtheile  von  Secuuden  etwa 
Minuten ,  oder  selbst  viele  Minuten  anzeigten.  Denn 
alsdann  würde  man  mit  Pvecht  sagen,  ein  so  spat  sich 
herstellendes  Gleichgewiclit  unter  drey  einfachen  Vor- 
stellungen lasse  auf  eine  Trägheit  aller  geistigen  Bewe- 
gungen schliessen ,  der  man  die  menschlichen  Köpfe  im 
Allgemeinen  nicht  anklagen  könne. 

Ein  andrer  wichtiger  Punct,  bey  welchem  die  Ein- 
heit der  Zeit  auf  Bestimmung  wartete,  ist- das  zeitliche 
Entstehen  der  Vorstellungen  *).  AYenn  man  die  Werlhe 
nachsieht,  welche  aus  der  Formel 

2  =  ^(1  —  e-Z^O 
wo  fp  die  Empfänglichkeit,  ß  die  Intensität  einer  an- 
haltenden sinnlichen  Wahrnehmung  bedeutet,  für  ange- 
nommene Zeilen  hervorgehn  *''') ,  so  kann  man  es  eini- 
germaassen  befremdend  linden,  dass  in  so  kurzen  Zeiten 
Avie  i=^^  und  fzrrl,  also  in  einer  oder  zwey  Secun- 
den,  schon  ein  so  bedeutendes  Quantum  des  Vorstellens 
entstehen,  und  so  viel  von  der  Empfänglichkeit  erschöpft 
werden  solle.  Allein  erstlich  konunt  hiebey  Alles  auf 
die  noch  zu  bestimmende  Grösse  ^  an.  Diese  wurde 
in  unsern  Rechnungen  bloss  willkülirllch ,  zum  Behuf 
der  Rechnung,    angenommen.      Zweytens   darf  man  gar 

')  Psychologie  §.  94  u.  s.  f. 
**)  Daselbst    §.  95    vergleiche    man    die  Werlhe    von    z    in    den 
Täfelchen. 


niclit  glauben,  das,  was  uns  im  sinnlichen  Wahrnehmen 
eigentlich  beschäftigt,  und  worüber  die  Zeit  merklich 
hingeht,  sey  das  blosse  Sammeln  der  momentanen  Wahr- 
nelimungen.  Es  ist  vielmehr  hauptsächlich  die  Repro- 
duction  der  älteren  gleichartigen  Vorstellungen,  nebst  dem, 
was  sich  daran  knüpft,  die  Wölbung  und  Zuspitzung  in 
Ansehung  der  oben  erwähnten  verworrenen  Neben-\or- 
stelluugen.  ]Man  sieht,  und  man  strebt  genauer  zu  sehn« 
IMan  hört,  und  man  will  genauer  hören.  Denn  das 
früher  schon  Gesehene  und  Gehörte  drängt  sich  herbey' 
und  doch  ist  es  nicht  genau  oder  nicht  ausschliessend 
das,  was  sich  eben  jetzt,  zum  Sehen  und  Höien  dar- 
bietet. Dazu  kommt  nun  noch  die  Configuration;  beym 
Sehen  die  räumliche,  beym  Hören  gesprochener  Worte 
die  Verknüpfung  der  Vocale  und  Consonanten  zu  Syl- 
ben,  Worten,  Sätzen,  Perioden.  Wer  auf  Umstände 
der  Art  nicht  achtet,  der  wird  niclit  einmal  richtige 
psychologische  Analysen  zu  Stande  bringen;  vielweniger 
zwischen  Rechnung  und  Erfahrung  die  gehörige  Ver- 
gleichung  machen  können. 

Den  obigen  Zeitbeslimnuuigen  könnten  noch  andre 
beygefügt  werden ;  allein  es  scheint  nicht  nöthig.  Was 
die  Zeiten  des  Sinkens  zur  Schwelle  -anlangt ,  so  fallt 
zwar  in  die  nämlicbe  Zeit  ein  geringeres  Sinken  der 
stärkeren  Vorstellungen,  neben  welchen  die  schwächeren 
aus  dem  Bewusstseyn  verschwinden;  und  es  wäre  leicht, 
auch  dies  Sinken  seiner  Grösse  nach  zu  berechnen,  um  es 
jenem  Verschwinden  gegenüber  zu  stellen.  Man  weiss 
aber  schon  aus  den  früheren  Untersuchungen*),  dass 
dieses  durch  die  Ilenuiiungs «Verhältnisse  bestinnnt  ist. 

Indessen  wollen  wir  nicht  unbemerkt  lassen ,  da(>s 
")  Psychologie  §.  75. 


182 

sich  von  diesem  proportionalen  Sinken  mehrerer  ein- 
ander' widerstrebender  Vorstelhmgen  eine  x\nsicht  fas- 
sen lässt,  dergleichen  Einige  bey  der  Lehre  vom  stati- 
schen IMoment  am  Hebel  anznbringen  pflegen.  Denn  ob- 
gleich hier  nichts  vorkommt,  was  sich  mit  der  Länge  der 
Hebel-Arme  vergleichen  Hesse,  so  zeigt  sich  doch  eine  Ana- 
logie mit  dem  grössern  Bogen,  welche  ein  Gewicht  am 
längern  Arme  durchlaufen  miisste,  wenn  es  zur  Bewe- 
gung käme.  Dem  Bogen  nämlich  würde  die  Geschwin- 
digkeit entsprechen ;  imd  das  kleinere  Gewicht  hätte 
eine  grössere  Geschwindigkeit,  mithin  gleich  viel  Be- 
wegung, wie  am  kurzem  Hebel-Arme  das  grössere  Ge- 
wicht. Gegen  diese  Art,  den  Hebel  zu  betrachten,  ha- 
ben wir  zwar  andei'wärts  eine  Erinnerung  gemacht*); 
allein  passender  ist  eine  analoge  Betrachtung  hier,  wo 
Vorstellungen  zusammen  sinken,  weil  sie  noch  nicht  im 
Gleichgewiclite  sind,  sondern  erst  dadurch,  dass  sie  sin- 
ken ,  sich  demselben  nähern.  An  sich  nämlich  ist  eine 
schwächere  Vorstellung  gewiss  nicht  im  Gleichgewicht 
mit  einer  stärkern;  sie  kann  nur  dazu  gelangen,  indem 
sie  gerade  durchs  Sinken  in  den  Zustand  des  Strebens 
übergeht.  Hiedurch  gewinnt  sie  nicht  bloss  übei'haupt 
Energie,  sonder»  mehr  Energie  als  die  minder  sinkende 
stärkere ;  und  durch  diesen  Factor  erst  kann  sie  ersetzen, 
was  der  ursprünglichen  Stärke  ziun  Gleichgewichte  fehlt. 
Vorstellungen,  die  in  endlicher  Zeit  zur  Schwelle  sinken, 
gelangen  z\\ar  niemals  dahin;  sie  müssten  negativ  wer- 
den, welches  ungereimt  ist.  Aber  bevor  sie  zur  Schwelle 
getrieben  sind,  haben  sie  dennoch  eine  solche  Geschwin- 
digkeit, welche  der  Annäherung  zum  Gleichgewichte  (ob- 
gleich ein  solches  hier  nur  ein  imaginäres  ist),  entspricht, 
*)  Melaphysik  §.  387. 


183 

indem  sie  von  der  ursprünglichen  gcnieiiischarilichcii 
Hemniungssumme,  in  Verbindung  mit  den  Heninuuigs- 
Verhältnissen,  bestimmt  wird.  Setzt  man  nun  in  Ge- 
danken die  Gesclnvindigkeiten  des  Sinkens,  wodurch 
die  Energien  erzeugt  werden  (da  die  Vorstelhuigeu  an 
sich  weder  Kräfte  sind  noch  Kräfte  haben),  an  die  Stelle 
der  Energie  selbst,  so  hat  man  hier  eine  ähnliche  Ansicht 
wie  dort,  wo  entgegengesetzte  Bewegungen  sich  aufheben 
sollen,  wenn  den  Geschwindigkeiten  das  umgekehrte  Ver- 
hältniss  der  bewegten  Älasseu  zugeschrieben  wird ;  nur 
dass  hier  nicht  Bewegungen  einander  aufheben  son- 
dern einander  entsprechen,  weil  sie  von  einem  ge- 
meinschaftlichen Grunde  abhängen,  dem  sie,  bey  unglei- 
cher Stärke  der  Vorstellungen,  doch  gleichmässig  Genüge 
leisten  müssen. 


184 


Jicmerkunifen  über  die  Bildung  und  £ntiviehelunij 
der  VorstelliuKjsreihen. 

Am  geliörigeu  Orte  ist  gezeigt  worden,  dass  die  Pve- 
pi'oduclion  einer  vorhandenen  Reilie  von  Vorstellungen 
in  der  nämlichen  Ordnung  und  Folge,  Avie  dieselbe  war 
gegeben  worden,  hauptsaclilich  von  der  Abstufung  der 
Reste  herrühre,  welche  bey  der  reproducirenden  Vor- 
stellung zu  untei'scheiden  sind.  Denn  die  grössern  Reste 
wirken  anfangs  geschwinder  auf  ihre  Clienteu ,  wenn 
wir  solche  Benennung  denjenigen  Vorstellungen  geben 
dürfen,  welche  reproducirt  werden.  Die  kleinem  Reste 
wirken  anfangs  langsamer,  aber  beharrlicher.  Wofern 
nun  hemmende  Kräfte  entgegen  wirken ,  so  giebt  es 
Maxima,  über  welche  die  Reproductioneu  nicht  hinaus- 
gehn;  diese  IMaxima  folgen  nach  einander  in  der  Ord- 
nung jener  grossem  und  kleinem  Reste,  wenn  man  das 
Übrige  gleichsetzt  *). 

Diese  Theorie  bedarf  nun  noch  gar  sehr  der  wei- 
teren Ausbildung.  Gegenstand  derselben  ist  zunächst 
der  gedächtuissmässige  Gedaukeulauf,  welcher  den  Fa- 
den früher  erworbener  Vorstellungen  auf  gegebenen 
Anlass  treulich  so  wieder  abwickelt,  wie  die  Verknüpfung 
war  gebildet  worden. 

Will  man  die  Formeln  dafür  ohne  nähere  Bestim- 
mung so  gebrauchen  wie  sie  vorliegen ,  so  finden  sich 
zwar    die    IMaxima    nach    einander  gemäss    der  Oi'dniuig 

*)   P.N\cliülc)gie  §..  8()    U.S.W. 


185 

jener  Pvcste ,  allein  es  zeigt  sich  daboy  folgender  Um- 
stand. Seyen  die  Vorstellungen  a,  h,  c,  d,  so  gelangt 
h  zu  einem  Maximum,  während  a  nicht  bloss  noch  im 
Bewusstseyn  gegenwärtig  ist,  sondern  auch  noch  nicht 
unter  jenes  Maximum  des  b  herabgesunken  ist.  Dem- 
nach bleibt  a  hervorragend  über  b ;  desgleichen  b  über 
c;  c  über  d,  und  so  ferner.  Die  Vorstellungen  kommen 
dem  gemäss  zwar  allmählig  zu  einander  hinzu,  aber  die 
frühern  weichen  nicht  vor  den  folgenden. 

Nun  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  es  der  Erfahrung 
gemäss  oft  wirklich  so  geschieht ;  und  es  kann  noch 
weit  öfter  so  geschehn  als  wir  es  bemerken.  Denn  so- 
bald irgend  ein  äusseres  Handeln  hinzukommt,  wäre  es 
auch  nur  Sprechen  oder  Schreiben,  so  brauchen  die 
frühern  Vorstellungen  gar  nicht  ihr  Maximum  zu  er- 
reichen ,  lim  die  Handlung  zu  veranlassen ;  erfolgt  aber 
die  Tliat  und  deren  äussere  Erscheinung,  so  wer- 
den hiedurch ,  nämlich  durch  die  Wahrnehmung  dessen 
was  gethan  ist,  die  entsprechenden  Vorstellungen  höher 
gehoben ;  dadurch  verlieren  die  reproducirenden  Reste 
ihre  Spannung  gemäss  der  Folge  der  ausgeführten 
Handlungen;  diese  Spannung  bleibt  aber  den  folgenden 
Resten ,  -  bis  auch  diese  zum  Thun  gelangen ;  und  die 
Reihe  läuft  ab,  ^vährend  die  dazu  gehörigen  Handlun- 
gen eine  zur  andern  hinzukommen. 

Im  täglichen  Leben  greift  der  INIensch  zu  den  äussern 
Hülfsmitteln  der  Beschäfftigung,  oder  er  sucht  Gesell- 
schaft, wenn  er  sich  seine  Vorstellungen  zu  entwickeln 
wünscht.  Dem  Einsamen  und  zugleich  UnbeschälFtigten 
stocken  die  Gedanken.  Das  stille  Denken  ist  übei'dies 
grossentheils  merklich  ein  zin-ückgehaltenes  Sprechen ; 
und    man    hat    allen  Grund    anzunehmen,    dass    wirkliih 


186 

ein  Handeln  dabey  vorgeht,  welches  liir  die  Seele  schon 
ein  äusseres  Handeln  ist;  nämlich  ein  Anregen  der  Ner- 
ven, welche  die  Sprachorgane  regleren;  nur  nicht  stark 
genug  um  die  Äluskeln  zu  bewegen. 

Daher  ist  die  Theorie  nicht  bloss  richtiger  sondern 
auch  vollständiger  als  sie  auf  den  ersten  Blick  scheinen 
möchte.  Sie  macht  aufmerksam,  dass  man  die  Erfahrung 
genauer  beobachten  soll. 

Gleichwohl  Ist  es  einer  fortgesetzten  Untersuchung 
werth,  ob  die  Sache  sich  immer  und  nothwendig  so 
verhalte ;  ob  also  die  Vorstellungen  wirklich  nur  zu 
einander  hinzukommen,  oder  ob  unter  naher  zu  bestim- 
menden Bedingungen  die  frühern  vor  den  spätem  zu- 
rückweichen. 

Sehr  verschiedene  Puncto  kommen  hier  zugleich  In 
Betracht,  die  aber  nur  nacli  einander  können  angege- 
ben werden. 

I.  Die  erste  Voraiissetzung,  unter  welcher  die  schon 
längst  bekannt  gemachten  Formeln  auf  jenes "  Resultat 
führen ,  Ist  diese :  die  reproducireude  Vorstellung  habe 
einen  vesten  Stand  im  Bewusstseyu.  Wie  aber  wenn 
sie  selbst  Im  Sinken  begriffen  ist;  so  dass  eben  die 
lleste,  welche  reproducirend  wirken,  zugleich  während 
dieses  Wirkens,  einer  nach  dem  andern  im  Be- 
wusslseyn  eine  niedrigere  Stellung  bekommen?  Dass 
ihr  Reproduciren  sich  dadurch  vermindern  muss,  dass 
hiemit  auch  die  rcproducirten  Vorstellungen  eine  nach 
der  andern  einen  Verlust  erleiden,  also  die  frühern  den 
spätem  mehr  Platz  machen  müssen,  leuchtet  im  Allge- 
meinen schon  ein.  Und  die  Voraussetzung  eines  vesten 
Slandes  im  Bewusslseyn  passt  zwar  näherungsweise  auf 
die    herrschenden    Vorstellungsmassen,    nicht    aber    auf 


187 

solche  Vorstellungen,  die  selbst  in  einer  sich  cvolvlrenden 
Reihe  liegen ;  auch  nicht  auf  die  stärkern  unter  denselben. 

Um  nun  die  Sache  zu  prüfen,  müssen  wir  zuerst 
das  Gesetz  des  Sinkens  zurückrufen. 

Die  Vorstellung  P  sey  irgend  einer  Hemmungssumme 
dergestalt  unterworfen,  dass  ein  Bruchtheil  von  ihr  sinken 
müsse,  den  wir  mit  AP  bezeichnen.  Kommt  keine  weitere 
Bestimmung  hinzu,  so  ist  ko  der  entsprechende  Bruchtheil 
des  Gehemmten  o  in  der  Zeit  t.  Demnach  kP — ko  das 
noch  Übrige,  welches  in  demZeittheilchen  rfHürPdieNoth- 
weudigkeit  seiner  ferneren  Hemmung  bestimmt,  mithin 
k  (P  —  o)  dt  =  kda 

Wofern  aber  die  nämliche  Hemmungssumme  zugleich 
auf  ältere  Vorstellungen  fallt,  und  diese  nöthigt,  für 
kurze  Zeit  unter  ihren  statischen  Punct  herabzusinken, 
so  streben  sie  fortwährend,  zu  demselben  zurückzukeh- 
ren ;  wirken  dadurch  gegen  P,  dass  es  noch  schneller 
sinke,  welches  wiederum  auf  sie  zurückwirkt;  und  dies 
geschieht  in  dem  IMaasse,  wie  ein  andrer  Theil  der  Hem- 
mungssumnie  sie  während  der  Zeit  i  zum  Sinken  gebracht 
hat.  Das  Gesunkene  derselben  sey  k'o,  so  vermehrt  sich 
die  ganze  Nöthigung  zum  Sinken  während  des  Zelt- 
theilchens  dt  um  k'o,  imd  hievon  fällt  auf  P  der  Bruch- 
theil k.    k'o;  mithin  ist  nun 

k  (P — a-{-k'o)  dt^=:kda 
wo,   wie  schon    zuvor,    der  Factor  k  für  die  Rechnung 
überflüssig    Ist.     Es   sey   aber   ferner  1  —  liz:z<],    so    isl 
kürzer  ausgedrückt 

(P  —  (jo)  dt=zda 
und  da  für  t  zzz  u  auch  a  =^  o, 

9 


188 

wobey  zu  bemerken,  tlass  wenn  jener  Bruclithell  li, 
(welcher  andeutet,  wiefern  die  andern  Vorstellungen  un- 
ter ihren  statischen  Punct  herabgedriickt ,  also  aus  dem 
Gleichgewicht  gebracht  sind)  sehr  gering  ist,  alsdann  q 
sehr  nahe  =:  1  seyn  muss.  Dies  braucht  aber  nicht  im- 
mer der  Fall  zu  seyn. 

Es  sey  nun  P  bis    auf  seinen  Rest  =  /■   herabgesun- 
ken.    So  ist 

r=zP  —  ko=P (1— e— 9') 

9 
Ein  eben  so  grosser  Rest  sey  aus  früherer  Zeit  ver- 
schmolzen mit  dem  Reste  q  der  Vorstellung  77;  er  habe 
während  der  Zeit  t  das  Quantum  ^,  einen  Theü  von 
Q,  reproducirt;  so  ist  dies  geschehen  nach  einer  schon 
bekannten  Formel 

oj  =  Q  (l—e-^) 

welche  sich  erglebt  aus  der  Differentialgleichung 

rg        Q  —  M 

-—.      .      at=zd(o 

n       Q 

Hier  ist  r  die  wirkende  Kraft  5  —    das    Verliältnlss ,    in 

welchem   77  die  Wirkung  annimmt;  — das  Verliält- 

Q 
niss,    worin,    nachdem    schon   0;  im  Verlauf   der  Zeil  / 

hervorgetreten,  jetzt,  im  nächsten  Zeitlhcilchen,  die  Wir- 
kung noch  fortdauert  *).  Dabey  wird  /•  als  conslanl 
vorausgesetzt. 

Weil  nun  die  obige  veränderliche  Grösse 

*)  Psychologie  §.  86. 


189 

in  diese  constante  übergegangen  ist,  so  muss  man  für 
/  einen  bestimmten  Wertli  setzen.  Die  abgelaufene  Zeit 
also,  während  welcher  durch  den  mit  g  verbundenen 
Kest  r  die  Grösse  w  bis  zu  dem  Quantum  A  gehoben 
wurde,  —  werde  mit  t  bezeichnet.  So  lange  diese  Zeit 
noch  in  ihrem  Vei'laufe  begriffen  war,  sank  zwar  P, 
allein  die  reproducirende  Wirkung  auf  77  hing  immer 
\on  einerley  /•  ab,  welches  mit  q  verbunden  war.  Jetzt 
aber  sinkt  P  unter  die  Grösse  =  r  herab ;  also  muss 
auch  die  Reproduction  sich  vermindern,  vnid  die  Formel 
dafür  muss  verändert  w^erden.  "Wir  werden  also  die 
Differentialgleichung  so  abfassen : 

L  9  J        i? 

und  dieselbe  so  integriren ,  dass  für  tz=i{  auch  o}^=-A 
sey.     INIan  findet  zunächst 

(p-c«)e-7/[0-7)''-f.-    ^"''J 
und  hieraus 

w  =  o  —  (p  —  A)  e 
xve„„  „  =  ^  [(l  _  1)  (,  _  /)  +^  (.-«'_,-'/')] 

Um  den  Sinn  dieser  Formel  zu  überlegen,  gehn  wir 
zurück  zu  dem  Ausdrucke  für  r.  Da  nämlich  r  ein 
Bruch  von  P  seyn  soll,  so  sey  /•  =z  mP;  alsdann  ist 

mithin  e~^'  =  1  —  -^  (1  —  m) 

1  1^ 

und  t  =  ~   lo2   r 


(Q-J)e-^[0-iy'V^-     '    ''J 


k  —  (1  —  m)  q 


190 

Hier  darf   der  INenner  niclit    negativ  und    nicht  mo 

werden,    damit  nielit    eine   unniögliclie    oder   luiendliclie 

Zeil  herauskomme;  also  ist  folgende  Gleichung: 

/c  :r=  (1  —  m)  q 

k 
eine  Gränzgleichung,  welche  anzeigt,  dass  m  >  1 , 

7 
also  dass  r  nicht  jeder  beliebig  kleine  Bruch  von  P  wer- 
den könne ,  sondern  dass  dieses  nach  den  angenomme- 
nen Brüchen  k  und  q  seine  Gränze  habe,  die  in  keiner 
Zeit  könne  überschi'itten  werden.  Hat  man,  innerhalb 
der  Gränze,  vi  bestimmt,  so  ergiebt  sich  hieraus,  und 
aus  k  und  q,  die  zugehöi-ige  Zeit. 

Es  kommt  ferner  darauf  an,  k  und  q  zu  bestimmen. 
Soll  die  allmähligc  Hemmung  der  Vorstellung  P  eine 
bedeutende  Folge  haben,  so  wird  man  k  nicht  zu 
gering  —  etwa  zwischen  ^  und  1,  —  annehmen.  Als- 
dann ist  das  Einfachste,  k'=:q  zw  setzen.  Dies  ist  oh- 
nehin die  Voraussetzung,  wenn  die  Hemmungssumme 
zwischen  P  und  den  dadurch  unter  ihren  statischen  Punct 
lierabgedrückten  Vorstellungen  getheilt  Averden  soll;  denn 
alsdannn  ist  {k  -\-  li)  a  "=■  o,  k  -{-  k'=z  1 ,  und  da  9  r=  1 
—  k',  so  folgt  qzzzk.     Hiemit  verkürzt  sich  die  Formel 

k 
für  w.     Denn  nun  ist  1 z=o,  also 

und   oj  r=  p  —  (q  —  A)  e~JfZ  ^^  —  e~^  ) 

Indem  t  wachst,  verschwindet  mehr  und  melir  e  '  > 
und  0)  nähert  sich  einer  Gränze,  die  man,  wenn  i  ein 
kleiner  Bruch  ist,  durch  den  Ausdruck 


191 

huireiclientl  angeben  kann.  Das  abzuziehende  q  —  A 
verscliwindet  also  nicht  ganz;  sondern  die  Gränze  für 
CO,  welche  sonst  q  ist,  findet  sich  um  so  mehr  erniedrigl, 
wenn  das  reproducirende  P  gegen  fj  nicht  zu  gross  ist. 
Während  aber  diese  Reproduction  des  Restes  r  sich 
vermindert,  wirken  andre  kleinere  Reste  von  Pnoch  so 
lange  unvermindert  auf  die  mit  ihnen  verbundeneu  77  , 
77',  77""' u.  s.w.,  bis  auch  sie  von  dem  allmähligen  Sin- 
ken des  P  getroffen  werden.  Stehen  nun  allen  diesen 
Reproductionen  die  hemmenden  Kräfte  entgegen,  (wovon 
weiterhin,)  so  lasst  sich  schon  hieraus  zum  Theil  begrei- 
fen, wie  die  Reihe  abläuft ;  indem  ein  früher  gehobenes 
w  dem  Widerstände  nicht  bloss  überhaupt  (was  schon 
die  altern  Rechnungen  lehren)  früher  weicht,  sondern 
auch  schnell  genug  sinkt,  um  sich  hinter  dem  nächst- 
folgenden 0}  zurückzuziehu.  Und  dies  kann  selbst 
dann,  wenn  q  ein  wenig  grösser  ist  als  k,  sich  nicht 
stark  verändern ,  da  der  Unterschied  zwischen  zwey 
ächten  Brüchen,  die  beyde  nahe  an  1  seyu  sollen,  nicht 
gross  seyu  kann. 

II.  Auf  Vorstellungen,  die  im  Sinken  begriffen  sind, 
wirkt,  so  lange  die  Hemmungssumme  nicht  ganz  gesun- 
ken ist,  eine  Kraft,  der  sie  noch  weiter  nachgeben 
müssen.  Dies  gilt  auch  denjenigen,  von  welchen  die 
Hemmung  herrührt,  so  ^nge  die  Reproduction,  welche 
sie  zwar  verzögern  aber  nicht  ganz  hindern  können, 
noch  fortschreitet.  Während  nun  die  Reste  der  Vor- 
stellung P  das  Hervortreten  der  77,  77',  77  ",  77' "u. s.w. 
noch  fördern  können,  ist  für  diese  77  freyer  Raum  vor- 
handen;   und   es   kommt    in  Frage,    ob   sie    bloss  passiv 


192 

gehoben  werden,  oder  ob  sie  den  freyen  Raum,  wie 
gering  er  auch  seyn  möge,  vielleicht  selbslthällg  be- 
nutzen werden  ? 

Um  hier  wenigstens  den  Begriff  des  Fragepuncts  klar 
zu  machen  dient  folgende  kurze  Rechnung. 

Wenn  w  =  p  (1  —  e     jj) 

doi         r^     ^ 

SO  ist r= e,      II' 

dl       n       ^^ 

Dieses  ist  der  Ausdruck  für  die  Geschwindigkeit,  wo- 
mit in  dem  Zeitlheilchen  dt  die  Reproductiou  des  w 
durch  den  Rest  r  vor  sich  geht.  In  demselben  Augen- 
blick würde  die  Vorstellung  77,  wovon  w  ein  Theil  ist, 
sich,  falls  sie  dazu  stark  genug  wäre,  mit  einer  Energie 
r=  TT — w  erheben,  da  dieser  Tlieil  von  ihr  noch  ge- 
liemmt  ist.     Also  wäre  dann 

do)        „ 

—  =  77— w 

dt 

und  es  kommt  in  Frage,  ob  dieser  oder  jener  Diiferen- 
tialquotieut  der  grössere  sey?  Denn  der  grössere  be- 
stimmt die  augenblickliche  Geschwindigkeit.  Nim  wird 
bey  der  ganzen  Betrachtung  vorausgesetzt,  Anfangs  habe 
sich  77  nicht  von  sich  selbst  heben  können,  wohl  aber 
sey  die  Reproductiou  durch  /•  begonnen  worden. 

Anfangs  also  war 

d  10        r  Q 

dl~~n 

welches  sich  erglebt,  indem  man  in  dem  obigen  Aus- 
druck t  =  o  setzt.  Zugleich  ergiebt  sich,,  dass  diese  Ge- 
schwindigkeit grösser  war  als  77;  sonst  wäre  Anfangs 
dio  =  IJdt  gewesen.     Aber  aus 


193 
folgt  -  >  -- 

n      Q 

■\volclio  Unglelclilielt  der  Verhältnisse  muss  voslgehallen 
werilcu.  Da  luui  die  Geschwindigkeit,  welche  der 
liest  /•  bewirkt,  bestandig  abnimmt,  so  fragt  sich,  ob 
zu  irgend  einer  Zeit  die  Abnahme  so  weit  gehe,  dass 
die  andre  Geschwindigkeit  TT — o)  grösser  werde? 
denn  wenn  dies  geschieht,  so  wird  sich  w  gleichsam 
losreissen  von  /•,  um  für  den  Augenblick  seinem  eignen 
Zuge  zu  folgen. 

Zum  Versuch  setzen  wir    die  Gleichung  auf: 
rg 

n 


//O  \      _LL  rr 

woraus   I—  —  q  \e      ji^zlU  — 


Deutlicher  vielleicht 
—  lo 


'         -  —1 

wo  der  Logarlthme  nicht  negativ  seyn  kann,  weil 
—  ;>>  —  seyn  soll,  nacli  der  Voraussetzung.      Die  Eln- 

n      Q    ^ 

Wendung,  der  Nenner  würde  unendlich,  wenn  U^^^o, 
kann  nicht  statt  finden ;  denn  eine  geringe  Diirerenz 
ist  hier  hinreichend,  und  im  strengsten  Sinne  ungehemmt 
konnte  U  nicht  mit  ;•  verschmelzen,  sobald  die  Vor- 
stellungen n  und  P  auch  nur  im  mindesten  verschieden 
sind. 

III.     Wir  fassen  jetzt  einige,    hier   zunächst   minder 
bedeutende  Umstände  kurz  zusammen. 

N 


194 

1)  Die  friiliern  Glieder  tler  Reihen  bereiten  das 
Steigen  jiiclit  bloss  der  nähern,  sondern  aucli  der  ent- 
fernlern unter  den  nachfolgenden.  Daraus  entsteht  für 
jedes  spätere  eine  Zusammenwirkung  von  mehrern  vor- 
hergehenden ;  die  sich  jedoch  mit  dem  Sinken  der  frii- 
herji  vermindert. 

2)  Die  weiterhin  folgenden  wirken  zurück  auf  die 
vorhergehenden.  Dies  konmit  unter  andern  in  Anse- 
hung des  absichtlichen  Handelns  in  Betracht,  wo  die 
Vorstellung  des  Zwecks  die  Mittel  herbeyruft,  dei'en 
Reihe  bis  zum  Zwecke  fortläuft. 

3)  Je  zwey  nächste  Glieder  sind  unter  sich  verbun- 
den; oft  so  nahe,  dass  sie  fast  in  einander  fliessen; 
wovon  die  beyden  Vocale  eines  Diphthongs  ein  aulfal- 
lendes  Beyspiel  geben;  und  kaum  weniger  auffallend 
die  zunächst  einander  folgenden  Consonanten,  wenn 
solche  nicht  durch  einen  Vocal  getrennt  sind.  Dass 
hiebey  keine  Umkehrungen  vorzukonniien  pflegen,  ist 
eine  starke  Probe  von  der  Gesetzmässigkeit,  welcher 
die  einmal  gebildeten  Vorstellungsreihen  in  ihrer  Ent- 
wickelung  treu  bleiben. 

Indessen  diese  Umstände  sind  nicht  gleich  wesent- 
lich, denn  es  giebt  in  Hinsicht  derselben  grosse  Ver- 
schiedenheiten, die  sich  zwar  daran  ofteubareu,  dass  ei- 
nige Vorstellungsreihen  weh  leichter  als  andere  gefasst 
und  behalten  werden;  die  aber  eben  deswegen  anfangs, 
so  lange  man  nur  im  Allgemeinen  die  IMöglichkeit  der 
Reproduction  untersucht,  müssen  bey  Seite  gesetzt  wer- 
den.    Wir  eilen  zur  llauplscjclie. 

IV.   Von  sehr  allgemeiner  Anwendung  ist  folgendes. 

Man  weiss,  dass  in  der  Psychologie,  wo  kein  Be- 
harrinigsvermögen  (keine  sogenannte  m  inertiae,   wie  bey 


10.-) 

Körpern)    vorküininen    kann,    tlas    Slolgen  oder  Sinken 
der  Vorstellungen   unniillelbar  durch  die  Kräfte  bestinunl 

wird;  indem  also  —  die  Geschwindigkeit  anzeigt,    nvo- 
(Jt 

mit    eben    Jetzt  w  sich  hebt,    erkennt    man    darin    nicht 

etwa  die  blosse  Fortsetzung  einer  frühem  Bewegung, 

sondern  die  jetzige    Wirksamkeit,    wodurch  w    steigt; 

mag    übrigens    der    Sitz    dieser  Wirksamkeit  seyn  wel- 

clien  man  -svolle. 

Gesetzt  nun,  es  gebe  mehrere  solche  Wirksamkeiten 
zugleich ,  und  für  alle  einen  gemeinsamen  Widerstand : 
so  wird  zwar  dieser  \A'idersland,  so  fern  er  nachgiebig 
ist,  durch  jene  alle  gemeinschaftlich  zum  Weichen  ge- 
bracht; allein  dazu  gehört  Zeit;,  luul  in  wie  fern  die 
Geschwindigkeit  diese-s  Weichens  nicht  kann  plötzlich 
vermehrt  werden,  bleibt  in  jedem  Augenblicke  ein  Hin- 
dcruiss  jener  Wirksamkelten  ,  worunter  die  schwächern 
derselben  desto  mehr  leiden  jnüssen,  je  mehr  —  für 
den  Augenblick,  —  die  stärkeren  sich  gelten  machen. 
In  diesem  Sinne  kann  man  sagen,  die  stärkeren  drän- 
gen den  'V^  iderstand  gegen  die  schwächeren. 

AVenn  eine  eben  aufgeregte  Vorstellungsreihe  sich 
Bohn  macht  unter  den  andern  Vorstellungen,  die  sonst 
im  Bewusstseyn  würden  ungestört  gewesen  seyn,  so 
können  wir  diese  andern  als  einen  gemeinsamen  "Wi- 
derstand ansehen ,  (zufällige  Unistände  bey  Seite  set- 
zend;) und  alsdann  unser  Augenmerk  auf  die  Geschwin- 

digkeiten  (wie  -—1  richten,  welche  den  einzelnen  Glie- 
dern der  Vorstellungsreihe   zukommen. 

Zwey  von  diesen  Gliedern  seyen,  wie  vorhin,  77' 
luid    n" \    gehoben    durch    die    mit    ihnen    verbundenen 


196 

Reslc  /•'  und  ;•"  der  reproducirendcn  Vorstclliing  P. 
Also  gemäss  dem,  was  sdion  oben  (11)  erinnert  worden, 
ciobt    die  allgemeine  Formel 


)  —  (jQl—e      j^ij 


d  0)         /•'  o    ^  (I  (•)'  r  o      1^ 

n:  -^  e      ii'   imd    rrr  — ^  c       ii" 

dt      n     ^^         dt      n"      '^ 

Fi-agl  man,  welche  von  diesen  Geschwindigkeiten  die 
grössere,  und  liiemit  gegen  den  Widerstand  die  stär- 
kere sey,  so  zeigt  der  Augenschein,  dass  zwar  für 
f=2  o,     wenn     77'  r=:  Tl" ,    bey     gleichem     q,     hingegen 

;•'  ^  r" ,  die  Geschwindigkeit  die   grössere   und  slär- 

dt 

kere  ist;  dass  sie  aber  nicht  die  grössere  bleibt,  indem 
ihre  Exponentialgrösse  desto  schneller  verschwindet,  je 
grösser  /•.  Demnach  wird  der  Widei'Stand  zwar  An- 
fangs dahin  stärker  drängen ,  wo  in  der  Vorstellungs- 
reihe die  schwächern  r  sich  befinden;  allein  späterhin 
sich  mehr  gegen  die  vordem  Glieder  der  Pieihe  wenden, 
und  diese  gegen  jene  zurückdrängen. 

Es  nuiss  einen  Augenblick  geben,  in  welchem  je 
zwey  solche  Geschwindigkeiten  wie  die  obigen,  unter 
sich  gleich  sind,  also  auch  gleichen  Druck  des  Wider- 
standes tragen.     Alan  setze 

r  Q    _^        r"Q     _^ 

r'if  r't 

so  ist  r    :  r'  =  ^  ""  77  •  ^      7/ 

T    ,         .        .         „       r'i        r't 
und  \o"  r  —  log  /•   zz:  — 

n    n 

nuthm    /7.  — ^- -X — =/ 


197 

JNIaii  dividire  die  Differenz  der  Logarilluneii  der 
reproducirenden  Picsle  durch  die  Diircrciiz  der  llestc. 
selbst;  der  Quotient,  nuilliplicirt  mit  der,  als  gleich  an- 
genommenen, Stiirke  derjenigen  Vorstellungen,  welche 
reproducirt  werden ,  ergicbt  den  Zeitpuncl ,  in  wekheju 
die  Reproductionen  zu  gleicher  Geschwindigkeit  gelangen. 

Diese  Zeitpuncte  scheiden   die    beydeu    Zeilen ,    w  o- 

do)  df(/'  1       ,T-i  1 

rin,    zuerst    — ,  dann  ,  mehr  gegen  den  >\  nlerslanu 

'  dt'  dt'  ö  o 

vordringt.  Um  al)er  die  Folge  dieser  Zeitpuncte  ,  wor- 
auf vorzugsweise  die  Evolution  der  Vorstelluugsreiheu 
zu  beruhen  scheint,  zur  (jbersiciit  zu  bringen  ,  wollen 
wir  für  /•',  /',  u.  s.  w.  eine  lleiiie  von  Zahlen  anneh- 
men. F.s  versteht  sich,  dass  hier  natürliche  Logarith- 
men gebraucht  werden. 

,,  ,  „  .      /lO  — /9 

Ls  sey /•  r=10,  /•    =9,  so  ist 

;'=10,  /■"'  z=8, 
/•'  —  10,  /•""  =  7, 

'  10—  u 

.       ,  /^>  — /8 
ferner/-  =:    9,  /•     ^=:  8     giebt<  =  0,11778 

"/9~/7 

/•  =    9,  /•     z=7  . =0,12505 

9—7 

/9— /O 

r   —    9,  r     =0 ^  =  0.13515 

'  9—  0         ' 

/8— /7 
ferner;-     =    8,/-     =7    giebt =  0,13353 

''  8—7 

,     /8  — /6' 

/-  '  =   8,  /•     =0  =  0,14384 

8=6' 

u.  s.  w. 


10—  9 

z  0,10536 

/lO  — /8 

=0,11157 

10—  8 

110— n 

-0,11889 

10—7 

/10  — /f) 

=  0,12770 

198 

Damit    die    Formel    richtig  verstaiulcii    werde,    muss 

man  bemerken,  dass   -; eine  Zalil  ist,  die  mit  einer 

r  — /•' 

andern  Zald ,  nämlich  log  /•' — log /•",  multiplicirt,  wie- 
der eine  Zahl  giebt.  Diese  letztre  nun  ist  anf  die  Ein- 
heit der  Zeit  zu  beziehen.  Die  Einheit  für  tlie  Stärke 
der  Vorstellungen  ist  hier  nicht  bloss  unbestimmt,  son- 
dern gleichgültig, 

Ist  der  Zeitpunct  der  gleichen  Geschwindigkeit  ver- 
llosscn,  so  kann  man  fragen,  ob  der  entstandene  Unter- 
schied bedeutend  zunehme?  Es  gehe  i  über  In  t-\-u, 
so  sind  die  beiden   Geschwindigkeiten 

do)         r  o    _]l(tA.,t)        ^do)"       r'o    _.  ll' /,_l  ,a 

dt       fi      ^^  dt      n        ^ 

und  wenn  ii  klein  ^enug,  so  ist  nahe 

_f:'"  i'ii       ^  L^'  r"ii 

^^  n  ^^  n 

Beyde  Geschwindigkeiten  sind  Im  Abnehmen  begrif- 
fen ;  die  Verluste  verhalten  sicli  einer  zum  andern  nahe 
wie  /•  :  /• ';  die  Abnahme  übei'haupt  ist  nahe  dem  Zeit- 
iheil  u  proportional. 

Für  die  obigen  Zahlen  kann  man  Beysplelswelse 
77  :==  5  annehmen ;  da  nun  (laut  voriger  Abhandlung) 
die  Einheit  der  Zeit  auf  2  Sccunden  zu  schätzen  ist, 
so  wird  das  Zehnfache  jener  Zahlen  für  die  Zeiten,  In 
welchen  die  Geschwindigkeiten  gleich  werden,  die  An- 
gabe in  Secunden  liefern.  Diese  Zeitbestimmung  ist 
unabhängig  von  q  ;  welches  jedoch  für  jede  Geschwin- 
digkeit und  für  jedes  w  bestimmt  seyn  nniss.  Nicht 
jeden   Theil    von   Fl  darf    man    In  diesem  Zusammen- 


.199 

r       n 

hange  für  o  annolimcn,  da  (iiacli   II)    —  >   — st'\iiinuss. 

//  (> 

]'!s  scy  p  m  4;  dies  wird  passen,  wenn   mir  niclil  /■  l)is 

auf  ()  herab   verjiiindert  ist. 

Also  liir    /7  =  r),   {)  =  4,  /'zizlO,   rindet   man 

d  0) 
Avenn  /  zz:  0,  dann  w  =  0,  inid   —  =i  S 

dt 

do)  ^  ^ 

wenn  /=:=  1,0530  Secunden,  w  zz:  2,()Ü53;  — —  zz:2,/S<). 

dt 

Für  dieselben   VVerlhe  \on  JI  und  q,  aber  r    zz:9, 

do) 
wenn  i:=(),  w=^0,  — =  ^/-^ 

dt 

wenn  /z:n  l,0r)3G  Secunden,  w^z: 2,4502,   zz: 2,789. 

dt 

Hiebey  ist  nun  noch  kein  Widersland  in  Rechnung 
gezogen;  aber  man  sieht,  dass  ein  solcher  vor  der  an- 
gegebenen Zeit  anders  als  nach  derselben  einwirken 
werde,  wenn  er  jedesmal  die  geringere  Geschwindigkeit 
noch  mehr  verzögert.  Denn  die  zuvor  grössere  Ge- 
schwindigkeit verliert  jetzt  in  dem  Verliältniss  10  :  9 
gegen  den  Verlust  der  andern ,  die  ihr  gleich  gewor- 
den war. 

Anmerkung    1.       Wenn    man    den    Ausdruck    für 

r     7  ',      -VI.         rr^^S''  — log'"     .      1        ,-      1- 
die  Zeit,  namlich    i  zm  H ; ,  ni  den    iur  che 

/•  —  /•' 

/■'  o  ''^  r  Q         '  "^ 

Geschwindigkeit,    also     in    — ^  e      TT  oder   in — e     "/7  ^ 

n  77 

substituirt:  so  findet  sich  eine  Bestinmunig  der  gleichen 
Geschwindigkeit  durch  /•'  und  r".  Um  die  gestrichelten 
Buchstaben  zu  vermeiden,  sey  nun  r  zzz  a  luid  r"z:^f'\ 
so  giebt  jene  Substitution 


200 

1 


~dt~~dT  ~n'  Wy 


b 


Dies  fülirt  auf  den  Gedanken,  man  könue  die  gleiche 
Geschwindigkeit ,  worin  je  zwey  Reste  /•  für  einen  be- 
stimmten Allgenblick  zusanimenlreirend  wirken  müssen 
beliebig  annelimen ,  auch  zugleich  die  Diirercnz  jener 
liestc  willkührlich  voraussetzen;  und  hieraus  die  Reste 
selbst  berechnen. 

oey  das  obige  =z—  .  ß  ,  also  /  rz:  (  — -   ) 

""    dt     n    '  Kaf'J 

1      _  /      '^" 

luul  7^-"      "==—-,  auch  die  bekannte  Differenz  n  —  h-=irt. 

während  a  und  h  unbekannt  sind:   so  konuut  a* /'"rz:  ä«, 
oder  b  log  a -\-  n  log  J^z=^a    log  // ;  und    Aveil   az::zb-\-n, 
b  log  (b-\-  n)-\-n  log  /'=  {b  -\-  n)  log  b 

Da  log  (b  -f  n)  =  log  b  -\-   log  f  1  -I-  -^),  so  folgt 

b  log  b  -\-  b  log  f  l-\ j  -j-  n  log  /'=  b  log  b -]- n  log  b. 

oder/Joo(l4-^)=„_^^'i.-|-X^^_l'i_  _{_...  +  „  logr 

2  3 

=  nlog/>undl—i—  + 4- -,—  4:^-^4-...  -hlogr=log/y 

Hat  man    F  und    «    passend    angenommen,    so    dass 
b   hitaeichend   gross  gegen  n  seyu   müsse,  so  wird 
nahe  1  -\-  log  Frzz  log  ä 

]Man  kann  also  auch  noch  immer  n  so  wählen,  dass 
die  Rechnung  bequem  sey  zur  weitern  Annäherung, 
nachdem  /"  schon  vestgeselzt  worden. 

Beyspiel:  lür   /7  =:  .^  und   o=  4  soll  die  gleiche  Ge- 


201 

schwincH"keit  ir:  5  sc^n.     Also  nr^    F   m    5,     \iiul 

°  ^  dt        ' 

'^-^ -z^V.  Nun  ist  1  -|-  log  /' :=  log  17  bejnahe;  mau 
kann  also  fÜGlIcli  n  ■==■  \  setzen;  es  ist  alsdann  1  — ^t- 
-|-  log  '-^  ::=log  16,  49G;  so  dass  imgcfalii-  iz3:lC,5  und 
a:=17,5  wird.  INlan  kann  aber  aucli  «rz:2  setzen,  woraus 
1  —  J^  -|-  log  ^  =  log  1C,018;  also  nahe  h:=^  16  luul 
a=18.  In  beyden  Fallen  wird  die  Zeit  etwa  0,6  Se- 
cuuden  betragen;  und  die  Gescliwindigkeiteu  sind  An- 
fangs beträclillich  grösser,  als  in  dem  frühem  Beispiele. 

log/-' — logr'    , 

Anmerkung  2.      Aus  frzzll- -. siehtman 

/■  - — •/• 

unmittelbar,  dass  die  Zeit  so  kurz  seyn  kann  wie  man 
will,  wofern  man  TT  im  nämlichen  Yerliältuiss  verklei- 
nert. In  Ansehung  der  Reste,  wenn  ;•'  lim  /•"  -|-  '^j  fi^^" 
dct  sich 

i  1  ,      ,     mN         1  u     ,       tfl 

n         u  r  y       r  r  ^  r  ^ 

welches,   wenn    die   Reste  gleich  sind,    also  «  n:  0    ist, 

1 

sich  in  —  verwandelt;    eine    Gränze,    die    nicht    über- 
/• 

schritten  werden  kann;  so  dass,  wenn  t  sehr  klein  seyn 
und  dabey  //  nicht  in  demselben  Verhältnisse  abneh- 
men   soll,    beyde    Reste    sehr    gross   sein  müssen.     IMan 

kann  auch  log  -77  =/  als  eine  gegebene  Grösse  ansehn ; 
dann  ist  /•  =/•    ef  und    —   /•     (e/  —  l)=izf,  mithin 

n 

ir" 

wo/=,  0  für  /•' izz  r"  wird,  und  nicht  negativ  genom- 
men werden   darf. 


202 

V.  Wenn  eine  Vorstellungsrellie  sicJi  im  Bewussl- 
seyii  entwickelt,  so  liat  sie  niclit  bloss  denjenigen  Wi- 
derslaud  zu  überwinden,  welcher  von  andern  Vorstel- 
lungen herrülirt ,  die  sonst  im  Bewusstseyn  wüi'den  ge- 
wesen seyn ,  luid  nun  mehr  oder  weniger  zui-iickge- 
drängt  werden:  sondern  auch  unter  den  Gliedern  der 
Reihe  wird  es  Gegensätze  gel)en*,  daraus  wird  eine 
Hemmungssumme  entslehn;  diese  Hemmungssumme  wird 
sogar  eine  Zeitlang  anwachsen,  luid  jenen  Widerstand, 
der  zu  üljerwinden  ist,  noch  verstärken.  Wenn  wir 
nvui,  der  Einfachheit  wegen,  auch  nur  Eine  reprodu- 
cirende  Vorstellung  P  annehmen,  deren  verschiedene 
Reste  /•',  r",  r"  u.  s.  w.  mit  IT ,  77',  iX"  u.  s.  w. 
(den  Gliedern  der  Reihe)  verschmolzen  sind :  so  geschieht 
doch  die  Reproduction  von  Anfang  an  durch  alle  diese 
Reste  zugleich;  die  Gegensätze  der  verschiedenen  /7 
bildöu  unter  sich  eine  wachsende  Hemmungssumme ,  zu 
welcher  die  sänuntlichen  77  in  dem  Maasse  beytragen, 
wie  sie  im  Bewusstseyn  emporsteigen.  Wie  gross  diese 
Hemmungssumme  sey,  und  nach  welchem  Gesetze  sie 
wachse,  lässt  sich  im  Allgemeinen  nicht  vestselzen;  weil 
die  Reihen  höchst  verschieden  seyn  können.  Im  gemei- 
nen Leben  wird  oft  genug  bemerkt.  Einiges  sey  schwe- 
rer. Anderes  leichter  zu  behalten;  diese  Unterschiede 
kann  man  in  demjenigen,  was  während  der  Repro- 
duction verschiedentlich  nach  Zeit  und  Umständen  iju 
Bewusstsejai  ist,  nicht  suchen,  denn  die  grössere  oder 
geringere  Schwierigkeit  des  Behalteus  (also  eigentlich 
des  Reproducirens ,  worin  die  Probe  des  Behalteus  sich 
zeigt,)  wird  den  Reihen  selbst  zugeschrieben. 

Überdies  kommen  noch  pliysiologische  Nebeniun- 
slände  hinzu ;  indem  Jemand  mehr    oder  weniger  aufge- 


203 

legt  ist,  sich  mit  diesem  oder  jenem  Gegenstande  zu 
beschäfFtigen ,  wenn  das  leibliche  Befinden  besser  oder 
schlechter,  wenn  auch  nur  diejenige  Disposition,  welche 
durch  AfTecten  irgend  einer  Art  hcrbeygeführt  wurde, 
günstiger  oder  ungünstiger  einwirkt. 

Die  IMannigfalligkeit  dessen,  wovon  der  Widerstand, 
abhängt,  ist  demnach  so  gross,  dass  an  eine  allgemeine 
Regel  seines  Wirkens  nicht  zu  denken  ist;  eben  des- 
halb aber  ist  es  passend,  dass  wir  uns  verschiedene 
Formen  aufsuchen,  wie  er  möglicherweise  beschaffen 
seyn  könnte,  und  welche  Folgen,  die  mau  in  der  Er- 
fahrung wieder  erkennen  wird ,  daraus  liervorgeliu 
mögen. 

VI.  Die  einfachste  Voraussetzung  ist  folgende: 
Wenn  durch  den  Rest  r  der  reproducirenden  Vorstel- 
lung P,  von  dem  mit  ihm  in  Verbindung  getretenen 
Reste  Q  der  Vorstellung  77,  im  Laufe  der  Zeit  /  das 
Quantum  oj  hervorgetreten  ist:  so  soll  im  nächsten  Zeit- 
theilchen^/^  der  Bruch  «  von  w  zum  Sinken  gedrängt 
werden;  dergestalt  dass  a  eine  constante  Grösse  sey. 
Also 

~  {q  —  w)  di  —  awdt  r=z  d  b) 


woraus  w  = ~ f  1  —e      ^^/  "*"  ")'^ 


r 

Vergleicht  man   dies  mit  der  bekannten  Formel 


~q\\—e     n) 


welche  aus  dem  eben  gefundenen  Ausdruck  Avieder  her- 
vorgeht, wenn  «  =  o  gesetzt  wird:  so  zeigt  sich,  dass 
w  nun  einer  niedrigem  Granze  sich  geschwinder  nähert; 


204 

(lass  aber  ein  elgenlllchcs  IMaximum ,  worauf  ein  Sin- 
ken folgen  würde,  niclit  statt  findet;  nämlich  nicht  un- 
ter der  Voraussetzung,  «  sey  constant. 

Nun  kann  man  diese  Voraussetzung  zunäclist  da- 
durch zurücknehmen,  dass  man  eine  schnelle  Verände- 
rung zulasst,  die  einer  plötzlichen  nahe  kommen  möge. 
Hieraus   entstehn    schon    zwey   Fragen.      Erstlich:    wie 

stark  müsste  sich  a  ändern,  wenn  z=.0  werden  sollte? 

dt 

Zweylens :  wie  gross  wäre  eine  Veränderung,  wodurch 
die  Erhebungsgräuze  von  w  unter  den ,  zu  einer  be- 
stimmten Zeit  schon  erreichten  Standpunct  sollte  her- 
abgesetzt werden? 

1)   Aus  wrr:--i--  (i_,-(y7+0') 
^  1  _1_  all     \  y 

r 
folgt  ^^.::.'^-(r7+0' 

""  dt     n 

Dieses  würde  m  0  werden,  wenn  eine  gleiche  nega- 
tive Grösse  plötzlich  hinzukäme.  War  also  für  ein  be- 
stimmtes t    und  0) 

—  (p  —  w)  dt  —  aojdtz=.do), 

so  müsste  im  nächsten  Augenblicke  statt  dessen 

—  (^  —  oj)  dt  —  u i<)  dt  —  iuo  dt::::^ do) 

eintreten,  wo  ä  den  nöthigen  Zusatz  zu  «  ausdrückt, 
oder  a  sich  in   fx  -\-  ü  dei'gestalt  verwandeln  würde,  dass 

«  w  =  — e      V  y/  '     y     wäre,  luu  obiges  — — 
fl  dt 

aufzuheben.     Hieraus    folgt    mit  Zuziehung    des  Werllis 

von  (u  niui 


2o:i 
/•  \-  an  1 


ji 


Xt-+«)'_, 


^vclchcr   Ziisalz  um  tlcsto  geringer    wäre,   je    giösser  t 
sdiou  angewaclisen  seyii   ^Yiin^e.     (^lan  denke  sich   elwa 

'•  ,  .        ,  1 

—  =  2,  «  —  0,3,  /  =  1,  so  ist  «  =  2,3.  ^  ^^^  _  ^  ,  also 

wenig  über  ^.) 

X'        .                      ..         I             ^     dif)         rn         C  —J-  J_  '^ 
von  letzt  an   Nvare  uemnacli  rz: — e      K.ji't'^'r''  jt, 

^  dt     n  ^' 

zNvar  kleiner  als  zuvor,  aber  nicht  negativ;  und  die  Er- 
hel)ungsgränze  von  lo ,  wäre   nicht  mehr,  wie  vorhin, 

—  ,  sondern  herabgesetzt  auf  — - 


Auch  würde  sich  wegen  der  Veränderung  des  Ex- 
ponenten, 0)  dieser  Gränze  sclineller  nähern  als  zuvor. 

Wenn  die  Veränderung  von  «  noch  mehr  betrüge, 
als  hier  gefunden  worden ,  so  müsste ,  im  Augenblicke 
der  Vei-änderung,  w  eine  negative  Geschwindigkeit  be- 
kommen, also  herabsinken  von  der  erreichten  Höhe; 
es  würde  aber  gleich  darauf  doch  fortfahren  zu  steigen; 
nur  noch  weniger  als  zuvor. 

2.     Der  Ausdruck  w  ">» ~ —  bezeiclinet  einexler- 

/•  +  (i  /7 

gestalt    herabgesetzte    Erhebuiigsgräuze ,    dass    w    augen- 

l^licklich  zurückgedrängt,  obgleich  dann  wieder  steigend, 

nicht  njehr  auf   seinen   schon   erreichten  Stand   sich   von 

neuem  erheben  könnte.     ]Man  halte  also 

oder,  Avenn  man  der  Gränzbeslinimung  wegen  das  Gleich- 
heilszeichen anstatt   des  Zcicliens  der  Ungleichheit  selzl. 


206 


+  T, 


e  —   1 


■wo  der  Nenner  die  Vei'gleicliung  mit  dem  \orliin  (1.) 
gefundneu  Werllie  erleiclitert;  indessen  kann  man  viel- 
leicht noch  deutliclier  so   schreiben : 

■Ct+«)'' 


«  +  77^ 


u 


<^+«> 


1  —  e    ^'n 

Dass  nun  auch  minder  plötzliche  Veränderungen  des 
"Widerstandes  doch  schnell  entstehen,  inid  den  vorigen 
nahe  kommen  können ,  wird  nach  dem  was  oben  (be- 
sonders unter  IV)  gesagt  worden ,  wohl  nicht  zu  be- 
zweifeln seyn.  Auch  ist  klar,  dass  wenn  u  plötzlich, 
oder  schnell,  kleiner  wird,  alsdann  umgekehrte  Erfolge 
eintreten  müssen.  AYahrscheinlicher  jedoch  sind  solche 
Bestimmungen,  vermöge  deren  der  Widerstand  allmah- 
lig  wächst,  indem  die  Glieder  der  Vorstellungsreihe 
emporsteigen,  und  dasjenige  gegen  sich  in  Spannung 
versetzen,  was  ihnen  im  Wege  ist.  Zu  einer  solchen 
gehen  wir  jetzt  über. 

VlI.     Anstatt    des    obigen  a  setze  mau  ft  (o ,   wo  /t 
einen  beliebigen  ächten  Bruch  bedeutet.     Also: 

-—  (o  —  w) dt  —  II  CO '^ill  =:z  du) 

n  ^^ 

dio 
oder  di  r= 


n  ^        77 


—  W  /tW* 

I  r  I 


Setzen  wir    ^  4/t  ^  -^  -{-  ^-^zzz  a,  so  giebt  die  Rech- 


7/    '    W 

nunc 


2o: 


t  =  —  log  ■ .  (  onst. 

r 

a ■ 

uiul  da  tzz=.o  für  w  =  ü,    so  ist  Const  z=. inilliia 


voUstaudia 


fl  -j — -  4"  2/?  w    a 


1               '    77    '      '                  7/ 
/=r  — .log . 

und  liieraus,  \\cnn  man  noch  der  Kürze  wecen  —  =  Z» 

''     n 

setzt, 

nt  4 


/.2 


e 


Avoraus  ferner,  indem nr — ^, 


(i  —  ]) 
Wenn  die  Zeit  unendlich,  Avird  w  = ;  das  ist, 

^ '^' 

w  rr: — — — — ;  luid  eben  ilen  nämlichen 

2  /,  /7 
AVerlh  findet  man,  Avenn,    um  JwrrrO  zu  setzen,    der 

iSenner  —^ —  w — /t  w^  in  Facloren  zerlegt,  also  die 

Gleichung    ii  oj^  +  -—  w  =  — ^    aufaelöset    wird.      Dem- 

'      '77        n 

nach  ist  die  Erhebungsgränze  für  oj  zugleich  das  IMaxi- 
mum ;  und  auch  hier,  wie  im  vorigen  Falle,  findet  ein 
eigentliches  ]Maximum,  worauf  ein  Sinken  folgen  sollte, 
nicht  statt. 


208 

Setzt  man  in  dem  so  el)en  angegebenen  Ausdrucke 
^f  =  (),  so  wird  w=r|};  wenn  man  aber  Nenner  luid 
Zähler  nach  /t   did'erenliirt,   und  alsdann  ^(  z:::  0  setzt,  so 

hnclet  sich  -—^ =:  q,   wie  es  seyn 

muss,    indem    für   fi-ziz{)    nichts  Anderes  als  das  längst 

— — ^ 
l)ekannte  w  :=:=:()  V  1 — ^    7/ y  herauskommen   kann,  des- 
sen llrhebinigsgränze  zu  q  ist. 

Ueberhaupt  kann  für  geringe  Werlhe  von  fi  die 
jetzige  Foi^mel    nidit    weit    von   jener    abweichen.      Die 

zuvor  mit  a  bezeiclinete  Grosse     r     4  n  o ist 

=■  —  für  jii  z=  0;  xmd   dann  auch  az:=i  b. 

Um  nun  den  Faden  der  Untersuchung  in  IV  wieder 
aufzunehmen,  müssen  wir  zuerst  für  zwey  versclüedene 
Pieste  /•'  und  /•"  den  Zeitpunct  aufsuchen,  wo  beyde 
dem  steigenden  m  eine  gleiche  Geschwindigkeit  erlheilcn. 
Hier  würden  M'ir  in  eine  abschreckende  ATeitlauftigkeit 
der  Piechnung  gerathen,  wenn  unmittelbar  aus  der  Gleich- 
heit zweyer,  von  ?•'  und  /•"  abhängiger  Differentiale  doj 
und  dai'  sollte  t  gesucht  werden.  Allein  wenn  p  nicht 
zu  gross  genommen  wird,  ist  durch  die  Rechnung  in  IV 
der  Werth  von  t  schon  nahe  gefunden,  und  wird  sich, 
so  weit  uöthig,  berichtigen  lassen. 

Bey spiel:  Wie  oben  sey  /•' =:  10,  /•"  rr  9,  n=z5, 
()  ri:  4,  fizuz^-;  demnach  ö  zz:  2,6833  und  /;  zrr  2  für 
?'  =:  10:  und  a  =z  2,4738  und  b  =z  1,8  für  r"  z=  9.  Aus 
/  —  77  ^og  f'  —  log  f" 


209 

und  —  = — ^  .  — 

do)  ,    d(o' 

ergiebt  Sich  nun    —  =  2,3835   und  =  2,4108  :bey- 

dt  dt 

des,  wie  natürlich,  etwas  kleiner,  als  in  dem  Beyspiel, 

,  ^       du) 

welches  oben  in  Iv   berecJuiet  wurde,  — -=  2,789: uber- 

dt 

du)"         do) 
dies  ist  aber  — —   >>  •- —  :    die    Zeit    der    gleichen    Ge- 
dt  dt 

schwindigkeit  ist  also  überschritten,  da  im  Anfange  dm 
grösser  war  als  Jw";  und  so  weit,  als  die  eben  gefun- 
denen Zahlen  angeben,  können  daher  die  Geschwindig- 
keiten im  rechten  Augenblicke  noch  nicht  abgenommen 
haben.  Es  kommt  nur  darauf  an,  eine  nicht  gar  zu 
beschwerliche  Correctur  zu  gewinnen,  wenigstens  auf 
den  Fall,  dass  man  eine  solche  für  nöthig  hielte. 

Der  Nenner  werde  entwickelt;  alsdann  Zähler  und 

Nenner  mit  e "  dividirt ;  und  in  das  letzte  Glied  des 
letztern  der  vorige  AYerth  von  i  subsütuirt,  welches 
füglich  angeht,  weil  dieses  Glied  gering  ist  im  Ver- 
gleich gegen  tlie  andei^n.  Nach  gehöriger  Rechnung  kann 
man  ferner  i=.i  -\~u  setzen,  und  auf  bekannte  Weise 
dem  Werthe  von  u  sich  annähern.  Wäre  es  nöthig, 
so  würde  man  mit  dem  hiedurch  verbesserten  /  die 
Operation  wiederhohlen.  Also: 
<l(ö_2rQ^  2a2e«' 

__2r'Q 2a2 

n   \(^a-j-  bf  e"^ -^  2{a^—  b^)-{~{a—bye-''^ 
Hier  wird  man  in  e~  "*  den  Werth  setzen,  welcher 

0 


210 

für  /  in  IV  gefunden  war,  und  folglicli  (a  —  h)'^  .  e~  " 

einstweilen    als    conslant    belrachlen.      Wenn    nun    auf 

,     d  0) 

älmliclie  "N'V  eise  auch  nut  verfahren    worden ,    lasst 

di 

sich  beydes  gleich  setzen,  und  naclideni  die  beyden  ver- 

anderliclien  Grössen  auf  eine  Seite  gebracht  worden,  hat 

die  Gleichung  folgende  Form : 

y4e"    - — Be."*:z^C,  oder,   t'  -\-ii  für  t  gesetzt, 

>    a"t      au  T,    nt'        au  /-. 

Ae       .  e         —  iJe       .  e        :=  C, 

alsdann  kann  e"  "  und  e""  in  eine  Reihe  aufgelöset, 
luid    u    mehr    oder    weniger    genau    berechnet    >vei'den. 

Wir  wollen  lür  das  obige  Beyspiel  nur  e""=  l-\-au 
nehmen.  Es  ergiebt  sich  «  =r  —  0,0577,  und  da  (nach 
IV)  der  Werth  von  1  =.  Fl  .  0,10536  war,  mithin  für 
77=:  5,  /:=  0,5268,    so  haben    wir   nunmehr  verbessert 

/n:  0,469.     Setzt  man  dies  in   — ,  so  kommt  für /'nr  10, 

dt 

-^  =  2,7518 ;  und  für  r'  =  9,  -^  =  2,7465 ;  die  Dif- 
dt  dt 

fereuz  der  Werlhe ,  welche  eigentlich  gleich  seyn  soll- 
ten, beträgt  jetzt  also  nur  noch  0,0053;  anstatt  vorhin 
0,0273.     Der  Fehler  in  t  ist  nun  dem  vorigen  entgegen- 

gesetzt:  denn ist  noch  nicht  zur  Gleichheit  mit  

"  '  Jf  dt 

gelangt;    und    t   sollte    noch   ein    w^eniges    grösser  sejn; 

gewiss    aber   liegt    es    nun   bedeutend    näher    bey   0,469 

als    bey   0,5268,    und    ist   hiemit  hinreichend    begranzt. 

VUl.     Da  für  /•  die  Erhebungsgränze  von 


— /•  +  V";2  4-47-p^r /7 
: selunden  wurde  (NU):    so 


211 

suche  man  dasjcuiye  fi' ,    (ür    Avelclics    der    Host   /■"    dio 
jiämliche    Erliebungsgräiizc    gebe,    Avic  /•'    liir  //.      y\lso 

T  ^'  +  \/  r'^  ^4r  of,'  n  _  —,''-{-^fr'^^4r"Qft"n. 
2/('//  "~  277' 77 


Der  Ivurzc  NVOüien  soy ^^-^i zzi/% 

so  llndct  man 

Im  obigen  Bcyspiele  (Vll)  ist  Zi'=r:  3,416;  und  die- 
ses ist  das  nämliche  für  fizri-^^  und  /•'r:rlO,  wie  für 
/t"  =  0,0901  und  7'"  =  9.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
dass  Avenn  das  kleinere  /•"  die  Reproduction  des  m  eben 
so  weit  bringen  soll,  als  das  grössere  /•',  dann  der  Wi- 
derstand etwas  geringer  seyn  nuiss.  Der  Unterschied 
aber  ist  klein  zwischen  beyden  p,  wenn  nicht  die  Reste 
Aveit  verschieden  sind.  Wird  der  Unterschied  des  Wi- 
derstandes grösser,  also  //'  kleiner  oder  fd  grösser,  so 
gehört  zu  /• '  eine  höhere  Erhebungsgrauzc ,  als  zu  dem 
grössern  /■'. 

Nun  kann  in  Folge  dessen,  was  in  IV  und  V  über 
den  Widerstand  gesagt  worden,  (vollends  wenn  noch 
das  hinzukäme,  was  in  I  angeführt  ist,)  nachdem  der 
Zeitpunct  der  gleichen  GescliAvindigkeit  (Vll)  vorüber 
gegangen,  jener  Unterschied  leicht  grösser  werden;  und 
hiemit  wirklich  für  w"  eine  höhere  Granze  der  Annä- 
herung eintreten  als  für  w';  mithin  lo,  wenn  schon  stei- 
gend, doch  hinter  oj"  zurückbleiben.  Es  kommt  jetzt 
darauf  an,  dies  genauer  zu  untersuchen. 

Zu  diesem  Zwecke  wenden  wir  uns  nochmals  zu 
der  Integration  von 

0* 


n 

woraus  gefunden  war 


212 

(o —  w)  (1t  —  /'  w^  dt^=.ä  0) 


.  a-\ ]-  2ifM 

' — los— .  tonst. 


a 


n        ' 


In  dem  Zeitpuncte  glelclier  Gescliwindlgkelt  sey 
iz::zT,  und  oj=  0;  die  Constaule  soll  dem  gemäss  be- 
slimmt,  also  in  so  fern  die  Rechnung  abgeändert  werden, 
imi  alsdann  ein  grösseres  oder  geringeres  /i  nach  jenem 
Zeitpuncte  aimehmen  zu  können. 

Zuvor  sey  noch  bemerkt,  dass  bis  zu  dem  erwähn- 
ten Zeitpvmcte  hin  die  beyden  fi  füglich  für  gleich  kön- 
nen angenommen  wei'den,  in  der  Voraussetzung  näm- 
lich, dass  auf  r'  und  /•"  noch  viele  andre  kleinere  Reste 
/•"',  /•'"',  u.  s.  w.  folgen ,  vermöge  deren  die  reproduci- 
rende  Vorstellung  P  auf  die  spätem  Glieder  der  Vor- 
gtellungs- Reihe  wirkt.  Denn  wenn  schon  der  grösste 
Rest  /•'  anfangs  am  meisten  vordringend  den  Widerstand 
gegen  die  spätem  Glieder  treibt,  so  leiden  doch  davon 
die  schwächern  Reproduclionen  gemeinschaftlich,  inid 
diejenige,  welche  unter  ihnen  noch  die  stärkste  ist,  also 
die  von  /•"  ausgeht,  am  wenigsten:  so  dass  /•'  von  /•" 
sehr  verschieden  seyn  niüsste,  um  hier  eine  bedeutende 
Verzögerung  zu  veranlassen.  Dagegen  ist  schon  in  IV 
gezeigt,  dass  /•'  nicht  bloss  von  /■",  sondern  sehr  bald 
auch  von  /•'"  überilügelt  wird,  also  jti  schon  deshalb 
einer  fortgesetzten  Vergrösserung  unterworfen  ist. 

Da  nun    7'=i;  — log  ~- ,  Const. 

a  a  —  - 2/,  O 


213 

.  ,r      .           a—h-2jiiO       aT    ,    . 
so  ist  Lonst.  izz  — ; .  e      ,  indem  wir,  Nvie 

vorhin,  —  r=.  b  setzen.     Also  voUständiG 

'  n 

1  .  a-\-h  A~2  no)  a  —  h—2fiO  „r 
a  ^  a  —  b  —  %  fi  oi'  a  -\-  b  -\-  2  lii  O 
wo  nun  vor  Augen  liegt ,  dass  die  Erhebungsgränze  so 
bestimmt  wird,  als  ob  vor  Ablauf  der  Zeit  T  kein  an- 
deres /(  statt  gefunden  hätte.  Denn  wenn  t  r—  CX), 
kann  der  Logarithme  nur  dadurch  unendlich  werden, 
dass  a  — r  b  z=.  2  fiw, 

a-\-b  4-  2  f,  O 

Zur  Abkürzung   sey  — ~- — ■- — r:::  K  , 

a  —  b  —  1  fi  0 

1  a  +  A  +   2  /f  fo    e  "  ^ 

also  i  :=  —  log 


so  ist         w  r:^ 


a  a  —  b  —  2  jitoj      K 

(a  —  b)Ke'*^'~'^^—(a-{-b) 
2^i{Ke"^'-^^-^l) 


und 


da,         a^  Ke"^*-^^ 


dt  ft     (^'/('-^^-{-1)2 

Um  hier  das  obige  Beyspiel  zu  verfolgen,  müssen 
wir  zuerst  vi  und  w"  nach  der  Gleichung  in  VII  für 
den  Zeilpunct  der  gleichen  Geschwindigkeit,  also  für 
/  nz  0,469  oder  kürzer  für  t  =■  0,47  (da  es  etwas  grö- 
sser seyn  wird,)  berechnen.  Dies  giebt  w  =  2,3513, 
und  w"  ::zr  2,2072.  Nun  wollen  wir  niu"  eine  geringe 
Veränderung  von  fy  annehmen,  so  dass  füglich  aus  den 
angegebenen  Gi-üuden  eine  stärkei^e,  zwar  nicht  plötz- 
liche, aber  sehr  bald  entstehende,  könnte  erwartet  wer- 
den. Es  sey  also,  anstatt  des  frühem  /t' =  0,1,  jetzt 
/t  zi:  0,  12.  Da  so  eben  gefunden  woi'den,  dass  die 
veränderte  (oiislante  keinen  Einlluss  auf  die  Formel  für 


die  Erlicbungsgränze  liat,  so  ist  in  die  naiuliclie  Formel 
nur  das  veränderte  //  zu  setzen;  alsdann  ergiebt  sich, 
dass  ('/  sich  bis  zu  dem  AVerthe  rz:  3,3333  erheben 
würde,  wenn  die  Zeit  unendlich  wäre.  Hingegen  w", 
dessen  ft"  wir  unverändert  lassen,  würde  steigen  bis 
zu  dem  Werthe  m  3,369.  Vermöge  der  Art,  wie  w' 
und  w"  von  Exponentialgrössen  abhängen,  ist  klar,  dass 
sie  bey  längerer  Zeit  sehr  bald  so  gut  als  constaut  wer- 
den; man  kann  also  das  Empoi'stcigeu  von  den  zur  Zeit 
/  r=  0,47  erlangten  Werthen  bis  zu  den  Erhcbungs- 
gränzen  fast  als  gleichförmig,  demnach  als  geradiinigt, 
ansehen.  Demnach,  wenn,  nach  jenem  Zeitpuucte,  w' 
)ioch  um  3,3333  —  2,3513  rzz  0,982,  luid  oj"  noch  \nu 
3,309  —  2,207  zz:  1,162  steigen  soll:  so  kann  man  dem 
(')"  eine  grössere  Geschwindigkeit  des  Steigens  beylegen; 
und  zNvnr  so,  dass  näherungweise  die  Geschwindigkeiten 
des  0)  und  w"  sich  verhalten,  wie  der  Wachsthum  in 
gleicher  Zeit,  also  wie  0,982  :  1,162.  Es  wird  dem  ge- 
mäss einen  Zeitpunct  geben,  in  welchem  w  z=:  w".  jMan 
setze  2,2072 -|- a  =^  2,3513 -{- r,  wo  a  und  y  dasjenige 
bedeuten,  um  wieviel  w'  und  lo  noch  zunehmen  müs- 
sen, um  gleich  zu  werden,  und  zwar  in  gleicher  Zeit. 
Verhält  sich   solches   Zimehmen    wie    1,162  :  0,982,   so 

0.982 

ist    X   irr   1,162/    und    r  rz:  0,982/,    und    r   =:  — a. 

'  '  1,162 

Hieraus  x  =  0,9303,  y  =  0,7862,  /  =:  (),800G.  Da 
liier  /  von  dem  Zeitpuucte  der  gleichen  Geschwindig- 
keiten anfängt,  so  nuiss  man  für  die  obigen  Formeln 
0,47  -}-  0,8006  rr;  1,2706  =  /  nehmen;  und  es  fragt 
sich  nun,  ob  dieser  Werlh  nahe  richtig  sey.  Wir  könn- 
ten, um  dies  zu  prüfen ,  in  die  Formel  für  to",  welche 
unverändert  ihr  voriges  /«"  irr  0,1  behält,  das  eben  ge- 


215 

fuudene  t  selzen;  allein  das  Verfaliren  lasst  sich  um- 
kelu'cn ,  und  wix'  wei'den,  weil  t  sicli  mehr  verändert 
als  w,  vielmehr  in  die  Formel  für  t  (nach  VII)  denjeni- 
gen Werlli  von  w  selzen,  welcher  als  der  wahrschein- 
liche ans  der  ehen  geführten  Rechnung  hervorgeht. 
Wenn  uämlich  x  oder  y  zu  dem  Irüliern  w"  \n\d  o)  ad- 
dirt  wird,  so  findet  man  oi"  =z  oj'  z::z  3,1375.  Ange- 
nommen dies  sey  richtig,  so  giebt  die  Formel  für  t  in 
VII  nunmehr  /  zzz  1,1378;  welches  von  dem,  als  erste 
Annäherung  gefundenen,  1,2706,  nicht  so  sehr  abweicht, 
dass  weitere  Rechnung  deshalb  nöthig  wäre,  die  Jeder 
leicht  würde  anstellen  können. 

Hier  kam  es  nur  auf  den  Begriif  dessen  an,  was  zu 
berechnen  Ist.  ]Man  sieht  nämlich,  dass  b  e  y  der  R  e- 
production  der  Vo.rstelluugs  -  Reihen  die  frü- 
hern Glieder,  während  sie  selbst  noch  steigen, 
von  den  nachfolgenden  können  überstiegen 
w  e  r  d  e  n. 

IX.  Wir  wenden  uns  zu  andern  möglichen  Formen 
des  Widerstandes ;  und  zwar  zu  einer  ganzen  Klasse 
dieser  Formen,  von  denen  die  einfachsten  näher  in  Be- 
tracht sollen  gezogen  werden.  Der  Widerstand  kann 
nach  Potenzen  der  Zeit  bestimmt  seyn;  er  mag  einfach 
tler  Zeit,  oder  einer  Potenz  der  Zeit  proportional,  oder 
eine  solche  Function  derselben  seyn,  die  man  nach  Po- 
lenzen  der  Zeit  entwickeln  würde.  An  die  Stelle  des 
vorigen  fi  o)^    trete   jetzt  fi  i,  so  haben   wir 

—  (o  —  0))  dt  —  ft  /  d  t  ":=:  d  w, 

woraus,  wenn  für  /  z=  0  auch  w  nz  0, 


=  Q^-^'"T^O-'    ^i^-f'  7 


216 

Hier  kann  w  :=  0  werden,  nachdem  es  ein  INIaxi- 
niuni  hatte.  Der  Dißerential- Quotient  zeigt,  dass  w  bis 
gegen  das  JMaxiniuni  hin  fast  eben  so  zunimmt,  wie 
Avenn  kein  Widerstand  wäre ;  vorausgesetzt  nämlich, 
dass  /t  ein  kleiner  Bruch  sey.  Alan  kann  auch  so  schreiben : 

also  fürs  Maximum 

Ist    diese   Zeit    gross    genug,    damit   man  allenfalls 

rt 

e  ^^  neben  1  weglassen  könne,  so  kann  imi  desto  ge- 
wisser für  w  =  0  dasselbe  zur  ersten  Annälierung  dici- 
neu;  und  danr»  igt,  indem  w  verschwindet,  nahe 

fin   ^    r 

Für  die  vorigen  Annahmen  r  ^  10,  ^  =  4,  /7r=:5, 
ft  m  y!g,  wird  fürs  IMaximum  t  ^=:  2,54,  imd  für  w  r=  0, 
/  nz  80,5  •,  also  steigt  oj  schnell  und  nimmt  langsam  bis 
auf  0  ab. 

Da  für  kurze  Zeiten  die  Bewegung  des  w  fast  gänz- 
lich derjenigen  gleichkommt,  die  für  fti.  =  0  statt  fin- 
den würde,  so  kann  hier  verglichen  werden,  was  oben 
(in  IV)  gefluiden  worden.  Die  Geschwindigkeiten  zweyer 
Reste,  wie  r  =■  10  und  /•'  z=  9,  werden  unter  Voraus- 
setzung jener  Werthe  von  77,  Q ,  fi ,  viel  früher  gleich, 
als  das  JMaximum  eintrit.  "VYenn  nun  wiederum  der 
Zeitpunct  gleicher  Geschwindigkeiten  eine  Veränderung 
des  /i  herbey führt,   so   muss    der   Erfolg  dem  schon  be- 


217 

kannleu  (VIIl)  zlcmlicli  ähnlich  ausfallen;  nur  wird  ilann 
zugleich  das  Älaximum  für  r  z=z  10  etwas  eher  kommen. 

x\ndre  Werlhe  von  r,  77,  q,  fi,  so  weit  solche  brauch- 
bar sind,  bringen  in  der  Zeit  fürs  INIaximum  nur  ge- 
ringe  Veränderung    hervor.      INIan    weiss    aus    II,    dass 

—  >>  — ;  überdies  ist  o  ein  Theil  von  77,  und  obgleich 
77         Q 

hier  /t  ^  1  genommen  werden  kann ,  so  wird  man 
doch  nicht  leicht  eine  grosse  Zahl  dafür  nehmen,  wenn 
die  Enlwickelung  der  Yorstellungsreihe  nicht  unter- 
drückt werden  soll.  Innerhalb  der  hiedurch  vorgeschrie- 
benen Gränzen  ändert    sich    eine   logarithmische  Grösse, 

wie  t,  nur  wenig;  vollends  wegen    des  Coefficienten  — , 

/• 

welcher  kleiner  wird,  wenn  /•  gegen  77  vergrössert.  Hier, 
wo  ein  Maximum  statt  findet,  kann  man  die  Zeit  des- 
selben nicht  viel  leichter  verrücken,  als  bey  dexa  zuvor 
angenonuuenen  Gesetzen  des  Widerstandes  (in  VI,  VII, 
VIII,)  ein  Maximum  denkbar  gewesen  wäre. 

Es  richte  sich  jetzt  die  Form  des  Widerstandes  nach 
dem  Quadrate  der  Zeit.     Also: 

—  (o  —  <jj)dt  —  fit'^dt  —  d  (a 

W^oraus  tu  ^=- 

do)        r  /-       2fin\--  77     ,ium 

dt  UK  r^      J  '^     r  ;'2 


und 


welches  letztere  man  auch  schreiben  kann 

dm 
dt 


dm        rp  -^4    .    2/r772 


'^r^+i^0-.-;7)_^^, 


218 

Bcy  der   Integration    ist  w  r=  0  für  t  er:  0  genommen. 
Um  die  Zeit  des  Maximums  aus  der  Gleichung 


r    /  2^cn\     -^ 


1'  r" 

bequem  zu  finden,  kann  zunächst  die  Bemerkung  dienen, 

dass  t  gewiss  grösser  ist  als  — ,   weil    dadurch  die  bey- 

/• 

den  letzten  Glieder  sich   aufheben  würden.     Man  nehme 

n/7 

<  :r= ,  wo  n  eine  beliebige  Zahl;  so  lasst  sich  für  die 

/• 

angenommenen  Werthe,  mit  Hülfe  der  bekannten  Tafeln 

70        — '»       2  /«  77  2 
leicht  erkennen ,  ob  —  .  e        ~>  — — - — ■   (n  —  1).      Ist 

hiedurch    ein    nahe  kommender  Werth    von  t  gefunden, 
>velehen  wir  mit  T  bezeichnen,  so  sey  t  nr  T-\-u, 


,.2 


r 

—   —  ■    T 

und    e       il  z::z  31;  alsdann  ist 

w^oraus  wegen  e     II      :^  1 —u-^-^-pr:^    u^  —    .  .  • 

u  leicht  gefunden  wird. 

Hier  kann  nun  eher  als  im  vorigen  Falle  für  /»  eine 
Zahl  >  1  gesetzt  werden,  da,  so  lange  ^  <C  1 ,  das 
Hervortreten  von  w  durch  das  Glied  jut'^dt  nicht  so 
sehr  gehindert  erscheint,  als  vorhin  durch  fitdi. 

Indem  für  die  jetzt  angenommene  Form  des  Wider- 
slandes eine  ähnliche  Untersuchung,  wie  in  VII,  soll 
geführt  werden,  stossen  wir  zuerst  wieder  auf  die  Frage 
nach  dem  Zeitpuncte,  wo  die  Geschwindigkeiten  für  /•' 
und    r"  gleich    sind.       Diese    Frage    bedarf   jedoch    hier 


1219 
iiiclil  viel  mehr  als  eine  Riickweisung  auf  IV.     Um  iiäni- 

(l  M  d  10 

hell    —  ziiz zu  rinden ,  wird   man  die  Wcrllie  die- 

dt  dt  ' 

ser  DilFerenlial  -  Quotienten  für  /•'  und  /•"  zu  bestimmen 

haben.     Wenn  nun  dort,  weil  t  für  den  gesuchten  Zeit- 

r  t 

puncl  nicht  gross  scyn  kann,  1  — e     ^l     in     die    Reihe 

vi  r'^t^  r^t^ 

1  —  1  -{-  -=r  ^ —  7r  — ^  +  }   — :  — '  •  •  •  aufgelöset,  und  mit 

2  n  n^ 
dem  Factor — multiplicirt  wii'd,  so  sieht  man  gleich, 

,.2 

1        '^f'  n^    rt  2/,   77 

class  . —  .  —  sich  gegen  das  lolgende  (jlied t 

v^      n  r 

2/«,  772  /•2/2 

aulhebt ;    ferner  dass —  .  ^  -:——  =:  /(  i^  für  /•'   und 

,.2  -  /72  /" 

r'  gleich  ausfallt,  und  liiemit  aus  der  Gleichung  ver- 
schwindet; endlich  dass  auch  die  Glieder,  welche  von 
i^  abhängen,  nur  sehr  wenig  verschieden  seyn  können, 
wenn    nicht    eine    grosse    Dillerenz    zwischen    r    und  /•' 

,  ,   .,  dvi         d  Oi" 

vorausgesetzt  war.     Also  bleibt  von   zzz  nicht 

°  dt  dt 

r' t  ,t  r"t 

viel  mehr  librig  als    „  e       IL  ^z.  — e       ^^ ,      Dies    aber 
"         77  77 

ist  aus  IV  bekannt,  und  wir  werden  die  dortigen  Wer- 
the  liier  gebrauchen   können. 

Nun  müssen,  wie  in  VIII,  w'  und  w'  für  jenen  Zeil- 
punct  berechnet  werden.  Wir  nehmen  Beyspielsweise 
wiederum  /•'  nr  10,  /•"  =  9 ;  also  den  Zeitpunct  glei- 
cher Geschwindigkeit  m  5  .  0,1053  =:  0,526.  Dies  in 
die  Gleichung  für  w  gesetzt,  wobey  [i  -z^  \  seyn  mag, 
(desgleichen  wie  zuvor  q  ■=:.  A,  Tl  z:=.  5,)  giebt 
w'  =  2,445   und   w"   1=  2,406 


220 

Ferner  soll  aus  den  früher  angegebenen  Gründen  der 
\^  idersland  sich,  \on  dem  erwähnten  Zcilpuucte  an, 
mehr  gegen  w'  wenden.  Wie  in  VIII  verändern  wir 
die  Constanle  in  der  Formel  für  w,  damit  o)  =  0  für 
/  z=.  T  seyu  möge;  um  alsdann  ein  etwas  grösseres  ft 
eintreten  zu  lassen.     Die  Integration  von 

—  (()  —  w)  dt  —  fii'^  dlz^du) 

crgiebt  ursprünglich 

e,  ==  ^  _  ^,  ZZ^/2_?_?^,_.^^^^Con8t.e~  5? 

EsseyO  =  Q  —  fc--{T^  —  ^^^  (t ))+ Const.e~7/^ 

und  man  bezeichne  0  —  q-{-/c  —  (T^ (T )  ) 

r 

—  T 

r^  K,  so  ist  KeJJ^        =  Const.  5  und  vollständig 

/j  77/' ^      217/'       n-\\  —L(t_T)     ,  , 

woraus 

do)        InTJrTl  \       ^^    r        —~{t—T) 

dt  r      Kr  J  77 

Soll  dieser  Differentialquotient  nr  0  seyu,    so   hat  man 

2  ,(t  77  /*  77n  ^^     r      _  —  (f  _  T) 

Um  in  der  Berechnung  des  Beyspiels  fortzufahren, 
suchen  wir  zuerst  aus  jenem,  der  Formel  (//)  zugehö- 
rigen Diiferentialquotienten,  auf  die  schon  angegebene 
Weise,  die  Zeit  des  JMaximum  für  /•"  ^r  9,  also  für  w"; 
indem  /i  =;:  1,  wie  vorhin ,  stehen  bleibt.  Es  ergicbl 
sich  t  zzi  1,2176;  und  daraus  das  IMaximum  selbst, 
nämlich  w"  =::::  3,1705.      Nachdem  dies  gefunden,    wel- 


221 

dies  der  Vergleicliung  wegen  nölliig  ist,  kann  in  der 
Formel  (B)  nunnielir  nach  Belieben  fi  verändert  wer- 
den; indem  man  sich  den  Widerstand  gegen  w  mehr 
oder  weniger  vergrössert  denkt,  w'elches,  wie  aus  dem 
Obigen  erhellet,  nach  den  verschiedenen  Umständen  ver- 
schieden scyn  kann.  Hiebey  wird  also  der  Bequemlich- 
keit der  Rechniuig  etwas  einzuräumen  seyn.  IMan  kann 
die  Zeit  des  JNIaximums  für  w  als  die  anzunehmende 
Grösse  beti-achlen  ;  so  erglebt  sich  daraus  das  hiezu  nöthige 
veränderte  jti.  ]Man  setze  z.  B.  in  dem  zur  Formel  (B) 
gehörigen  Differcntialquotienten,  /  r=z  1,2  ;  so  findet  man 
f(  nr:  1,061 ;  und  das  IMaximum  von  w'  =  3,236.  Oder 
soll  t  =  1,15  seyn,  so  kommt  jii  n:  1,263,  und  das 
IMaximum  von  w'  r=  3,1653.  Im  ersten  Fall  steigt  oi 
höher  als  w'  sich  etwas  später  (in  der  Zeit  /  nr  1,2176) 
erheben  wird ;  im  zweyten  Falle,  bey  verstärktem  Drucke 
des  durch  ft  angedeuteten  Widerslandes  hat  w'  sein 
Maxinnun  noch  früher  als  vorhin ;  es  gelangt  nur  bis 
3,1653.  Für  die  nämliche  Zeit,  t  :=^  1;15,  findet  man 
0)'  =  3,171;  schon  nahe  seinem  jMaximum  nr:  3,1765. 
Da  nun  w'  von  Anfang  an  grösser  war  als  w',  so  nuiss 
es  einen  Zeitpunct  gegeben  haben,  worin  beyde  gleich 
waren ;  und  dieser  Zeitpunct  nuiss  eingetreten  seyn, 
während  beyde  noch  im  Steigen  begrilfen  waren.  Die- 
ser Fall  ist  ähnlich  dem,  was  schon  in  VIII  gefunden 
wurde.  Allein  es  lässt  sich  erwarten,  dass  auch  ein  an- 
drer Fall  —  der  dort  nicht  vorkommen  konnte,  weil  das 
Gesetz  des  Widerstandes  kein  JMaximum,  sondern  nur 
eine  Erhebungsgränze  erlaubte,  —  hier  möglich  sey ; 
nämlich  der  FalL,  dass  eine  Vorstellung  erst  vom  JMaxi- 
mum wieder  herabsinke,  bis  die  andre  ihr  naclikommt 
und  sie  übersteist. 


22'i 

Wir  setzen  nun  die  Zeit  des  JMaxinnims  für  0/  aiil 
/  =  1,16;  und  finden  /t  z=  1,219;  0/  =  3,1802.  Von 
liier  sinkt  w'  herab  •,  und  bey  dem  naniliclien  fi  lii-t  es 
um  die  Zeit  <  n::  1,2176  nur  noch  den  Werth  0/  =  3,1752; 
geinnger  als  der  gleichzeitige  Werth  von  w"r:r  3,1765. 
Fasst  man  dies  mit  dem  vorigen  zusanunen,  so  ergiebt  sich : 
für  t  =  1,16  o/=r  3,180;  0/' zwischen  3,171  und  3,176, 
für  t  =  1,2176  ü)'  =  3,1752;  w"  =  3.1765. 
Also  muss  ein  gleicher  Werth  für  beyde  statt  gefunden 
haben,  nachdem  schon  m    sein  Maximum   erreicht  hatte. 

Indessen  fällt  hier  der  Zeitpunct  der  gleichen  Wcr- 
the  sehr  nahe  an  den  Zeitpunct  des  Älaximums  für  w". 
]Man  kann  das  Beyspiel  verändern.  Wir  nehmen  den 
Zeitpunct  des  IMaximums  für  od'  ein  wenig  früiier;  etwa 
/  z=z  1,155;  und  finden  das  dazu  nöthige  /t  rr  1,2407; 
woraus  w'  ==:  3,17244;  hingegen  für  t  =  1,2179  ist 
0/  =:  3,1669.  Ferner  ist,  für  /  rz:  1,155,  w"  =  3,1716. 
Zusammengestellt 

für  t  —  1,155;  0)    =.  3,17244;  0/'  =  3,1716 
für  i  =  1,2176  0)   z=  3,1669;   10"  =  3,1765. 

Sucht  man  nun  die  Stelle,  wo  die  beyden  w  sich 
kreuzen  oder  wo  sie  einerley  Werth  haben,  so  macht 
hiebey  sich  der  Umstand  bemerklicli,  dass  eine  Grösse 
in  der  Nähe  ihres  IMaxinuuns  sich  nur  wenig  verändert. 
IMan  versuche  t  =  1,17,  es  findet  sich  10  =  3,1721, 
aber  zugleich  co"  =  3,1735,  welches  zu  gross  ist,  und 
anzeigt,  man  müsse  die  Zeit  noch  kleiner  nehmen.  Also 
sey  nun  /  =  1«16;  hier  wird  w'  rr:  3.17240,  und  10" 
z=:  3,1723;  also  sind  beyde  noch  nicht  vollends,  doch 
ganz  nahe  gleich,  allein  0/  ist  kaum  von  dem  Werthe, 
der  sein  IMaximum  war,  zu  unterscheiden.  Dieser  Um- 
stand,   der  allgemein  seyn  muss,   weil  er  auf  einem  all- 


223 

gemeinen  und  bckannlen  Grunde  beruht,  ist  Nviclilig  in 
Ansehung  der  Art,  ^vie  die  Voi'Stellungen  selbst  da,  wo 
die  vorige,  von  ihrem  JMaxInnun  herabsinkend,  der  fol- 
genden weicht,  in  einauder  greifen.  Die  spätere  steigt 
sclinell,  während  die  vorige  noch  ihren  Platz  zu  be- 
haupten scheint,  wiewohl  sie  sclion  im  Sinken  begrilfen 
seyn  mag. 

Ueberhaupt  zeigt  sich  nun,  dass  wenn  zwey  re- 
producirte  Vorstellungen  nach  einander  ein 
Maximum  haben,  zwischen  beyden  eine  Kreu- 
zung i  h  r  e  r  W  er  t  li  e  statt  finden  könne.  Die 
genauem  Bestimmungen  hievon  sind  jetzt  zu  suchen. 

X.     Die  Gleichung  (y^),  nämlich 
nimmt  durch  Auflösung  in  eine  Reihe  folgende  Form  an: 

=  «>(l  -  """)  -i/'t'  +  r'il'^t* 

Hier  sieht  man  deutlich,  dass  die  Grösse  /n  nicht 
eher  merklich  vermindernd  in  Betracht  kommt,  als  bis 
der  Kubus  der  Zeit  bedeutend  wird;  und  dass  alsdann 
selbst  dass  Verhältniss  /•  :  ü  auf  diese  Verminderung 
noch  wenig  EinQuss  hat,  der  jedoch  sehr  gross  wird, 
wenn  die  spätem  Glieder  heranwachsen.  Indessen  auf 
lause    Zeit    wird    die    Bedeutun"    der    Formel    niemals 


224 

ausgedehnt  werden;  mid  bekanntlich  shid  Reihen  dieser 
Art  ihrer  Natur  nach  elgentllcli  immer  convergent,  we- 
gen der  zunehmenden  Zahlen  in  den  Nennern  der  Coef- 
ficienten. 

Unterwirft  man  die  frühere  Gleichung 

einer  ähnlichen  Behandlung,  so  erglebt  sich 

dass  also  hier,  wo  der  Widerstand  proportional  der 
Zeit  wachsend  angenommen  war,  der  Eiulluss  der  Grösse 
/i  zunächst  schon  vom  Quadrat  der  Zeit  abhängt. 

In  Ansehung  des  Differentialquotienten  zu  (//)  ist 
die  analoge  Bemerkung  schon  vorhin  gemacht  worden. 

Jene  Umformung  kann  veranlassen,  für  kleine  t  einen 
zum  Rechnen  bequemen  Ausdruck  für  die  Differenz 
Oi    —  w"  zu  suchen.     Aus 

C5  =  Q  {l-e-n)-ifct^  +  _l^y  1  ,4_  ,^l_^,'  L.^,5 

und 

r"A  't    II  •!    iin 

wird  w  —  lö'  ■=:Q{e      n  —  e     JI    ) (/*   —  fi  ) 

,      t^  {fl  r  —  fi" r")   _  f^{f{  r'^  ~  f^'  ''"^)  _\ 
"^  12/7  GOT/  '^"' 


225 

Auch  aus  der  urspfüuglicheii  Geslnlt  der  Gleichung 
iasst  sich  ein  endlicher  Ausdruck  für  w' • — w'  linden; 
>vie  für  grössere  t  nüthig   ist.     Aus 

»'=(?- -71-)  (»-»   ")+-7^-'--r' 

luid 


wird 

Könnte  man  diesen  Ausdruck  zz:  0  setzen,  und  dar» 
aus  t  berechnen  j  so  waren  die  Kreuzungen  der  Werthe 
mehrerer  w  gefunden;  und  der  \Veg  wäre  gebahnt,  tun 
unter  diesen  Kreuzungen  die  maucherley  nähern  Be- 
stimmungen aufzuspüren,  welche  bey  der  Keproductiou 
der  Yorstellungsreihen  eintreten  können.  Nim  lässt 
sich  ohne  Zweifel  eine  einzelne  Gleichung  von  solcher 
Form  leicht  genug  auflösen;  damit  aber  ist  wenig  oder 
nichts  gewonnen;  denn  es  kommt  auf  eine  bequeme 
Uebersicht  der  verschiedenen  Falle  an,  welche  unter 
jenem  Ausdruck  enthalten  sind,  Drey  vei'schiedene  Mög- 
lichkeiten lassen  sich  sogleich  aus  der  Menge  hervor- 
heben : 

1)  -r  =  ^.  NVüdurCh  das  letzte  Glied  wegfalll. 
/'  .         r    ' 

P 


226 

2)  4^  =  773  j  wodurch  das  vorletzte  Glied  verschwindet. 

»  it 

3)  ~z=:-r^.      Was    dieser   Fall   bedeute,    erkennt 

man  am  leichtesten  aus  den  Gleichungen  für  w'  und  w", 

deren  erstes  Glied  eine  Erhebungsgränze  anzeigt.     Diese 

»  'f 

Gränze  wird  für  beyde   die   nämliche,   wenn  -7:=v5> 

nur  geht  für  w'  die  Annäherung  an  dieselbe  schneller 
als  für  w'.  Dass  es  bey  dieser  Annäherung  nicht  bleibt, 
vielmehr  nothwendig  für  jedes  w  ein  Maximum  eintrit, 
war  schon  durch  den  oben  angegebenen  Differential- 
Quotienten  ersichtlich. 

Vor  genauerem  Eingehn  auf  die  einzelnen  Fälle  muss 
im  Allgemeinen  bemerkt  werden,  dass  für  das  IMaximum 
von  (f) ,  wenn  die  Zeit  dafür  als  bekannt  angesehen 
wird ,   ein  selir  einfacher  Ausdruck  statt  findet.      Denn 

weil  —  =  —  (  p '—r-  )  ß     n  —2u—t4-  ~^—^- 

dt        77  V  r^     /  ^    r     ^      r^ 

,    /        2/»773\    ~      2/^772 
=  0  seyn  muss,  so  ist  auch  {  g ~-z —  )  e     Jl ~  t 

2/1  77^ 

-|-^^^— -r— ^^  ^5    "^^^   ^^  ^^^®   diese  Glieder  sich  in  dem 

allgemeinen  Werthe  von  w  belinden,  so  verschwinden 
sie  für    den  Fall    des    INIaximums,   und    es  bleibt  bloss 

übrig  10=:  Q 1^ ;  wie  auch  aus  der  ursprünglichen 

Differentialgleichung  erhellet.     Folglich  sind  für  w'  und 

w"  die  Maxima  gleich,  wenn     -,      i"^  =  - — ;,—  t"^,   das 

heisst,  wenn 


227 

<'2   •    <"2   Z=^—   •     ^   =Z       "/•'    •       ',"    =    —    ■    — 
r"       r  fi       fi' 

Nach  dieser  Vorerinuerung  wenden  wir  uns  zu  dein 

zweyten    der    nur    eben    vorhin    unterschiedenen     drey 

Fälle.     Es  sey  also    —-=-;—,    oder   /«,':#(,"  r=  r'^  :  r"^. 

Denn  ein   gx-össeres  -7-  gehört  zur  kürzern  Zeit   t,    ein 
/• 

kleineres  -7;   zur  längern  Zeit  t" ,  um  die  beyden   w  auf 
/• 

denselben  Punct   zu  bringen.      Dies   lässt    sich  mit   dem 
vorigen  verbinden,  und  giebt 

•      <'2  :  i"2-  —  ,."  :  ,.' 
DieQuadrate  derZeiten  für  s  jMaximum  v  er- 
halten sich   alsdann  umgekehrt    wie  die  zu  ih- 
nen   gehörigen   r  e  p  r  o  d  u  c  i  r  e  n  d  e  n  Reste,    wenn 
die  JMaxima  gleich  sind. 

Nun  ist  von  selbst  klar,  dass  wenn  w'  und  w'  nach 
einander  ein  gleiches  Maximum  haben,  in  der  Zwischen- 
zeit beyde,  das  eine  sinkend  und  das  andre  steigend, 
irgendwo  zusammentreffen  müssen ,  wo  w'  —  oi'  zzz  0  ist. 
Der  zweyte  jener  drey  Falle  entspricht  also  ganz  vor- 
züglich dem,  was  im  Vorhergehenden  untersucht  wurde; 
und  die  Bcyspiele  welche  schon  in  IX  berechnet  sind, 
können  dies  hinreichend  ins  Licht  setzen;  obgleich  dort 
nicht  streng  ein  ganz  gleiches  IMaximum  gefodert  wurde, 
sondern  nur  zwey,  zwisclien  denen  die  Kreuzung 
sich  ereignen  könne.  Wenn  /t,"  z=i  \  ,  und  /•'  :  r"  =:=  10  :  9, 
so  ist  /•'2  :  ,"2  —100  :  81  =  1,  2346  :  1,  und  die 
Zahl  1,2346  fällt  zwischen  die  dortigen  /»/  =z  1,219  und 
/*  =■  1,2407.  Desgleichen  in  dem  zweyten  Beyspiele,  wo 
dlelNIaxima  fast  ganz  gleich  sind,  quadrire  man  die  Zei- 


228 

len  1,155  und  1,2176.  Man  findet  4,3340  und  1,4826, 
ferner  ist  ^\  .  1,4826  —  1,33534,  also  sind  die  Qua- 
drate der  Zeiten  fast  ganz  im  umgekehrten  Verhältnisse 
der  zugehörigen  Reste,  obgleich  das  Beispiel  nicht  eiu- 
inal  genau  für  den  vorliegenden  Fall  gewählt  war.  End- 
lich nehme  man  die  Biquadrate  der  Zeiten  1,155  und 
1,2176;  man  findet  ihr  Verhältniss  wie  1  :  1,235,  wel- 
clies  fast  ganz  dem  obigen  Verhältnisse  der  beyden  ft, 
entspricht.    Es  folgt  nämlich  unmittelbjxr  aus  dem  Vorigen: 

.'4.    .     ,''  A.    __      "  <y  '7     "  t 

i  *  :  t  ^  ^=.  r  ^  l  r  ^  =z  ft  :  ft, 
Wenn  also  reproducirte  Vorstellungen  nach  dem  jetzt 
angenommenem  Gesetzp  des  Widerstandes  gleiche  Maxima 
im  Bewusstseyn  erreichen,  so  werden  sfe  einander  sehr 
schnell  folgen ,  wofern  nicht  die  reproducirenden  Reste 
bedeutend  verschieden  an  Stärke,  und  die  Grade  des 
Widerstandes  noch  mehr  verschieden  sind.  Die  Zeiten 
rücken  zusammen  wie  die  Quadratwurzeln  der  Reste, 
und  wie  die  Biquadratwurzeln  der  Grade  des  Wider- 
standes. Jener  Eine  Zeitpunct  aber,  in  welchem  w'  —  w" 
ciro,  oder  in  welchem  ihre  Werthe  sich  kreuzen,  kann 
alsdann  nicht  schwer  zu  finden  seyn,  denn  er  liegt  zwi- 
schen den  beyden  Zeiten  des  JMaximums. 

Wir  betrachten  nun  zunächst  den   ersten  der  unterr 

'.  '' 

schiedeneu  drey  Fälle;  essey-r  :^=  —7,   oder  n'  j-"  =:jii"t'. 

/•  /• 

Wollte  man  diese  Annahme  mit  der  obigen  Bedingung 
der  Gleichheit  des  JMaximums  verbinden,  so  kämp  eine 
Ungereimtheit.     Nämlich 

/  2  :  <"  2  c=  jii"  r  '.  fi'  r"  gäbe  nun  i  zzz  l"  ;  welches 
ein  gleiches  Bewegungsgeselz  beyder  ta  voraussetzen 
würde.  Vielmehr  ist  klar,  dass  hier  dem  stärkern  Reste 
bey  AV eitern  nicht  genug  Widerstand  entgegentritt,    um 


229 

(las  von  Iliin  l)ewirktc  Maxiimnn  so  weit  zurückzudrän- 
gen, bis  es  dcmienigeu  gleich  ^YÜrde,  Avelches  von  dem 
scliwäcliern  Reste  abhängt. 

Dennoch  wird  es  in  diesem  Falle  eine  Kreuzungs- 
slclle  geben;  nur  weit  entfernt  von  jedem  JNIaximum. 
Um  dies  zu  erkennen,  ist  nur  nöthig,  die  Glieder  in 
dem  Ausdrucke  für  to'  —  vi'  durchzumustern.  Das  erste 
Glied  entliält  vei'sclnviudende  Exponenlialgrössen.  Das 
zweyle  ist  constant.  Das  di'itte  enthält  abermals  ver- 
schwindende Exponentialgrössen.  Das  fünfte  ist  der 
Voraussetzung  gemäss  z=z  o.     Das  vierte  aber  enthält  den 

Factor  -7-  — -   -rn; ,  welcher,   wenn  —r=:^rr}    sich    so 
j.  j,         j.  2  r  r 

schreiben  lässt:  —7-  (  — ; ;; ).     Da  nun  j-"  <^  r,  so  ist 

r    \r  r  / 

11 

—r<C—rr]  das  Glied  also  ist  negativ  ungeachtet  des  po- 
r  r 

sitiven  Yor^seicheus ,  und  da  ilun  der  Factor  t  enthalten 

ist,  so  wächst  dies  negative  Glied,  bis  zu  w' — (a"=zo-, 

auch  bekommt  es   von  hier   an    einen  negativen  Werth, 

indem  oj'  nun  >   lo. 

Für  /•'  —  10 ,  7"  =  9 ,  IT=  5,  q=^4,  fi"  :=\,   sey 

der  Annahme  gemäss,   dass  ^t'/"rr /t"r',  nunmehr /t' r=  y 

=  1,111...      Man    setze   /  :=  1,8   in  die  Gleichung   für 

0/  —  w",    so    ei'hält   man    to'  —  w"  =  —  0,005837;    also 

ist  die  Zeit    der  Gleichheit   beyder    w   schon    ein   wenig 

überschritten.      Für  die  nämliche  Zeit  findet  sich  unge- 

dw                                                        doo" 
fähr    — r  ==:  —  1,37  .  . .  desgleichen  rrz  —  1,12  ..  . 

dt  °  dt 

und  beyde  w  über  1,5 ;  wo  die  negativen  Differential- 
Quotienten  anzeigen ,  dass  die  Maxima  überschritten, 
und  die  positiven  Werthe  von  oj,    dass    die  reproducir- 


230 

ten  Vorstellungen  noch  im  Bewusstseyn  gegenwärtig 
sind.  Hieraus  erhellt  die  Möglichkeit  ei- 
ner solchen  Kreuzung,  wo  beyde  reprodu- 
cirten  Vorstellungen  zugleich  von  ihrem  Maxi- 
mum herabsinken,  und  während  dieses  Sin- 
kens   noch    diejenige,     welclie    bis    dahin    die 

andre  überragte,  hinter  derselben  zurücktrit. 

I  ff 

Was    den    dritten  Fall  •  anlangt ,   nämlich    -y-z  =  v^> 

so  lässt  sich  voraussehn,  dass  er  keine  gleichen  Maxima 
ergeben  wird.      Denn  zu  solchem  Behuf  muss ,  wie  oben 

gezeigt,   von   einerley  o  die  gleiche  Grösse  ' i"^  abge- 

r 

zogen   werden.      Soll    diese    Grösse    in   einer    kurzem 

Zeit    entstehn,    so   erfordert    dies   nach    der  Natur   der 

Sache  ein  grösseres  r;    xmd   für    das    einfach    grössere  r 

soll  die  Zeit  quadratisch  abnehmen.     Wenn  nun  t"^  :  t'^ 

11  /t       /i" 

rz:-77  :  — ;-,  und  überdies  t"^  :  t^  = —r   :   -rr,  s,o  folgt 
r         r  r         r 

11        /l'      ft  ,,       fl       fl  ,  - 

aus    — ;;  :  — 7"  rr:  -7-  :  -77    von  selbst  -7-  zz:  -^ ,    welches 
r         r  r         r  r^        r  ^ 


jener     zweyte    rall   war;     aber    nicht    -pr:r=-—  ,     wo 

fb  :  fl'  z:=z  r^  :  r" ^  einen  viel  zu  sehr  verstärkten 
Druck  in  der  kurzem  Zeit  anzeigt,  als  dass  die  JVIaxima 
gleich  werden  könnten. 

Um  das  Beyspiel  mit  denen  in  IX  vergleichbar  zu 
machen,  muss  es  unter  den  dortigen  Umständen  nach 
der  Formel  B  berechnet  werden.      Für  /  =::  10,  /•"  m:  9, 

,'3 
,."3" 


n'=\,    wird    /;   nun    ''At^  =:  V,^  =  1.3718.       Der 

r 


zur  Formel  B  gehörige  Diilerentialquotient ,  (in  welchem 


231 

man  der  lelchlcrii  Kcclmung  wegen ,  erst  für  angenom- 
mene t  suchen  mag  ein  fi  so  zu  fnulen ,  dass  es  dem 
gegebeneu  nahe  komme,)  erfordert  für  jenes  /t  ein 
/n:  1,1276.  Hieraus  das  Maximum  von  w'r:r3,1277S. 
AYie  zu  erwarten  war,  die  Zeit  ist  kürzer,  luid  das 
JMaxinumi  niedriger  als  bey  den  Beyspielen  in  IX;  auf 
welche  übrigens  nur  nölliig  ist  zu  verweisen. 

XI.     Die    vorhin    schon    angegebene    Dillxirentialglei- 
clunig 

-—    {q — w)  dl  —  füdt  rz:  din 

erfodert  ztuii  IMaximum 

dui  f(.  nt  fi  Jlt 

— —  =:  o;  Q  —  o)=z  ,  und   w=:=(» 

dt  r  r 

Also  für  gleiche  31axima  bey  gleichem  q  und  77 

,       ,,  /t"   ^    /^ 

r  /•' 

Aus  dem  Integral 

nt 


fokt 


Von  den  in  X  bemerkten  drey  Fällen  giebt  es  hier 
nur  zwey:  nämlich 

.    fi         /t" 

Ij  — r  =  — 77,  wodurch  das  letzte  Glied  wegfällt,  und 
/•  /■ 

«'ine  Curve  üljer  das  IMaximum  der  andern  hinweg  geht; 


augenoninien  werden  -7-  r=  — 77,-  also  fi  z=.  ^y**  =:r  i,lll . . . 


232 

2)  -—  =  -—  ;  wodurcli  das  zweyte  Glied  verschwln- 
r  ^       r  ^ 

det,  und  gleiche  Maxima  entstehn. 

Beysplel  für  den  ersten  Fall.     Es  sey  r"  z^9,  (>::=:  4, 

77=  5 ,  fi"  =.  1 ',    nun  soll  für  r  =  10 ,    p rz: 4,  11=:^, 

t  n 

r  r 

Wir  suchen  zunächst  die  Maxima  für  beyde  w,  und 
setzen  alsdann  die  zugehörigen  Zeiten  aus  jeder  Glei- 
chung in  die  andere,  so  findet  sich 

für  t  r=  1,3672  w'  =3,2405  w"  =3,1814 
für  /  =1,4645  ü)  =3,2262  w"  =3,1864 
Setzt  man  in  die  Gleichung  für  w' —  w"  nun  t  =2,21, 
so  erhält  man  schon  einen  kleinen  negativen  Werth, 
nämlich  w'  —  oi'  z=z  —  0,00167.  Dass  aber  beyde  w 
lüer  noch  lange  nicht  aus  dem  Bewusstseyn  verschwun- 
den seyn  können,  zeigt  ein  Blick  auf  den  Werth  von 
/  für  w  =  o,    welcher   schon    in    IX    angefülut    worden, 

nämlich   t  =  --—  -1-  — .  hier  nahe  gleich  für  beyde  w ; 
fiTl  r 

beynahe    8,5  n:  ^      IMan    sieht,    dass   die   Curve   für   0/ 

über  das  Älaximum  von  w"  hinweg  geht,    aber   um  die 

Zeit  2,2  die  Werthe  sich  kreuzen,   so  dass  w'  sich  nun 

hinter  w"  zurückzielit. 

Beyspiel    für    den    zweyten    Fall.      Es   sey  /•"  =  9, 

ß  =  4,  iT=5,   /t"=l;    nun    soll  für  /•'=:10,  ()  =  4, 

'  i< 

n=z^),  angenommen  werden -— =:=  -;7-;  also /f'^=  1,2346. 

Aus  dem  (schon  oben ,  in  IX  angegebenen)  Werthe  der 
Zeit  fürs  IMaxinmm  findet  man  /  r=  1,31809;  imd  das 
INIaximum  w'rr  3,1864.  Diesem  gleich  ist,  wie  schon 
für  den  ersten  Fall  gezeigt,  w"  für  /zz:  1,4645.     Nimmt 


233 

man  zwischen  den  Zelten  das  arltlimetische  Mittel,  also 

<  =  1,3913,   und  setzt  diesen  Werlh  in  die  Formel  für 

V) — w",   so   ergiebt    sich    w'  —  oj"  =  0,0003 ,    also    bey- 

uahe  ^=  o. 

>  (/ 

Also  auch  hier  giebt  -7-  =  —-  gleiche  IMaxima.    Der 
r  ^       r  ^ 

Grund   ist    der   nämliche    wie  in  X,    und  er   lasst  sich 

leicht  noch  weit  allgemeiner  fassen.     Es  sey  angenommen 

—  (e  — w)    dt  —  /it*'Jt=d(a 

Welclje  Zahl  nun  auch  n  seyn  möge :  immer  folgt 

ab)  11  Fl' 

aus  — —  rr;o,  o  —  w= t 

dt  ^  r 

Zu  i^  gehört  immer  ein  bestimmtes  /•,    und  aus  der 

Natur  der  Sache  folgt    immer,    dass    je   kürzer  /,    desto 

11 

grösser  r.     Wenn  nun  <'  "^  :  < ' "  zz:   — ^  :  -77 ,  und  über- 

r         r 

dies ,  weil  für  gleiche  IMaxima  die  Grösse t "  gleich 

r 


bleiben    muss,     auch    t^    :    <""  z=.  —r,  i  -ry ^     so    folgt 

r        r 

1        1         ti'       II  it"        it 

—  :—  =  -,:—,  und   --  =  — . 
r         r  r         r  r  ^        r  ^ 

Je  höher  die  Potenz  n,  desto  naher  bey  einander 
liegen  die  Wurzeln  von  r,  denen  die  Zeiten  proportio- 
nal seyn  sollen.  Umgekehrt,  wenn  n  ein  ächter  Bruch 
wäre^  würde  das  Verhältniss  der  Zeiten  durch  Poten- 
zen der  Reste  bestimmt  werden,  und  es  gäbe  mehr 
Zwischenzeit  zwischen  einem  INIaximum  und  dem  andern. 

Wir  haben  bisher  nur  solche  Gesetze  des  Wider- 
slandes in  Betracht  gezogen,  deren  Begrilf  sehr  leicht 
fasslich,    luid  iür  die  Rechnung  nicht  besonders  schwie- 


234 

rig  ist.  Alan  könnte  zu  anderen  übergelien;  auch  ge- 
hören hieher  noch  Untersuchungen  anderer  Art*);  al- 
lein es  ist  besser,  der  Recluiung  einstweilen  Ruhe  zu 
gönnen,  und  dagegen  über  die  Anwendungen  etwas  bey- 
zu  fügen. 

XII.  Schon  die  oberflächlichste  Vergleichung  dieser 
und  der  beyden  vorhergehenden  Abhandlungen  reicht 
hin ,  um  eine  grosse  Verschiedeulieit  wahrzunehmen, 
die  ihren  Grund  in  dem  Gegenstande  hat.  Thatshclieu 
lassen  sich  voranstellen,  wenn  sie  eine  präcise  Auffas- 
sung ohne  Mühe  gestatten ;  allein  dies  ist  in  dem  wei- 
ten Gebiete  der  Psychologie  nur  eine  seltene  Ausnahme. 
Viel  öfter  muss  die  Selbstbeobaclitung  erst  durch  die 
vorangehende  Theorie  auf  dasjenige  hingewiesen  wer- 
den, was  zu  bemerken  ist;  und  auch  aladann  lässt  sich 
nur  unvollkommen  wiederfinden,  was  die  Rechnxmg  be- 
stimmt angiebt.  Diles  ist  besonders  deshalb  unvermeid- 
lich, weil  das  Verschwinden  und  schon  die  Verminde- 
rung des  Vorstellens  sich  niemals  unmillelbar  beobach- 
ten lüsst.  Dass  man  etwas  vergessen  habe,  bemerkt 
man  oft;  dass  man  eben  jetzt  etwas  vergesse,  weiss 
man  niemals  und  kann  es  nicht  wissen.  Auch  steigende 
Vorstellungen  mögen  innerlich  beobachtet  werden,  wenn 
sie  sich  ihrem  INIaximum  nähern ,  aber  der  Anfang  des 
Steigens  bleibt  unbeiiierkt.  W  ie  soll  man  es  denn  an- 
langen, jene  Kreuzungen  steigender  und  sinkender  Vor- 
stellungen factisch  nachzuweisen ,  von  welchen  zuvor 
geredet  worden?  Doch  etwas  lässt  sich  thuu ;  man  kann 

*)  Im  §.  100  der  Psychologie  ist  ein  andrer  Faden  angespon- 
nen,  dessen  weitere  Benutzung  vorbehalten  bleibt. 


in    den  Proiluclcii    ilcs  Vorslcllcns   im   AUgeincInen    er- 
kennen ,  dass  so  elNvas  vorgegangen  seyn  müsse. 

Unsre  Vorstellungen  gestalten  sich,  indem  sie  re- 
producirt  werden.  Diese  Gestaltung  ist  nicht  genau  eine 
bleibende;  ihr  Producl  keine  veste  Gestalt,  doch  aber 
oft  der  Vestigkeit  nahe  genug,  um  erkannt  zu  werden. 

Drey  verschiedene  Arten,  wie  die  Vorstellungen  sich 
kreuzen  können,  sind  im  Obigen  als  möglich  zum  Vor- 
schein gekommen. 

1)  Die  zweyte  Vorstellung,  anfangs  hinter  der  er- 
sten zurück,  kann  diese  übersteigen,  während  beyde 
fortwährend  steigen.  INlan  setze,  dass  eine  dritte  gleich 
darauf  die  zweyte  eben  so  übersteige ;  so  wird  nun  die 
zweyte  ihre  Stellung  zwischen  der  ersten  und  dritten 
haben;  diese  Stellung  wird  während  des  Steigens  nahe 
die  nämliche  bleiben.  Eben  so  werde  die  dritte  von 
der  vierten,  die  vierte  von  der  fünften,  u.  s.  f.  über- 
stiegen. Nähern  sich  alle  diese  Vorstellungen  einer  Er- 
hebungsgränze  (VII,  VIII,)  so  erscheint  das  gesammte 
Vorgestellte  gleich  einem  emporgestiegenen  Bau,  dessen 
aümähliges  \^  eiden  man  mit  angeschaut  hat. 

2)  Die  zweyte  Vorstellung  bleibt  hinter  der  ersten 
lange  genug  zurück,  damit  die  erste  ihr  JMaximum  er- 
reichen könne;  dann  durchkreuzt  sie  dieselbe,  und  ge- 
winnt selbst  ein  nahe  liegendes  JVIaximum.  Nun  folge 
eben  so  der  zweyten  die  dritte;  so  wird  die  zweyte 
ein  Durchgangspunct,  durchweichen,  als  den  zwischen 
liegenden ,  man  von  der  ersten  zur  dritten  gelangt. 
Wenn  dies  bis  zur  vierten,  fünften,  u.  s.  w.  fortgeht, 
so  entwickelt  sich  ganz  eigentlich  eine  Reihe,  von  der 
jedes    vorhergehende  Glied    dem  folgenden  weicht.      So 


236 

bey  der  gedächtnissmässigen  Reiiroduction ;  Beym  Auf- 
zählen, Aufsagen,  u.  d.  gl. 

3)  Die  zweyte  Vorstellung,  von  der  ersten  gleich- 
sam eingehüllt ,  hat  ein  Maximum ,  und  erst  von  diesem 
herabsinkend  übertrifft  sie  die  erste,  welche  jetzt  noch 
schneller  sinkt,  und  dadurch  hinter  der  zweyten  sich  zu- 
rückzieht. Eben  so  sey  eine  dritte  Anfangs  von  den 
beyden  vorhergehenden  eingehüllt;  indem  sie  langsamer 
sinkt  als  die  zweyte ,  ziehe  sich  diese  hinter  ihr  zurück. 
AVähreud  des  Sinkens  hat  nun  wieder  die  zweyte  eine 
mittlere  Stellung,  aber  die  Ordnung  der  ersten  und  drit- 
ten ist  umgekehrt.  Dies  geht  so  fort  zur  vierten,  fünf- 
ten, U.S.W.  So  giebt  das  Gesammt -Vorgestellte  das 
Gegenstück  zu  einem  sich  erhebenden  Bau;  es  ist  das 
Bild  eines  Verfalls ,  welcher,  während  das  Höhere  sammt 
dem  INiedern  sinkt,  zugleich  das  Innere  nach  aussen 
kehrt  und  nackt  vor  Augen  stellt. 

Von  der  Wichtigkeit  des  Zwischen  für  die  Psy- 
chologie ist  in  frühem  Schriften  vielfältig  gesprochen ; 
es  wird  kaum  nöthig  seyn,  hier  noch  an  den  Raum, 
und  dessen  Analoga  zu  erinnern,  die  man  bis  in  Logik 
und  Sprachlehre  hinein  verfolgen  kann.  Jedermann 
weiss,  dass  die  Präpositionen  durchgeheuds  auf  räum- 
liche und  zeitliche  Verhältnisse  hinweisen.  Wichtiger 
noch  für  den  Gedankenbau  sind  die  Conjunctionen ,  auf 
die  wir  vielleicht  anderwärts  zurückkommen ;  hier  schlic- 
sseu  wir  mit  einem  Worte  von  Jean  Paul :  „im  einzi- 
gen Zwar  steckt  ein  kleiner  Philosoph," 


Psychologische 


Untersuchungea 


von 


H  e  1*  1»  a  r  t. 


Ziveytes  Heft. 


Crötting^eii^ 

Druck  lind  Verlag  der  Dietcriclisehcn  Buchhandlung. 
19  40. 


Vorrede. 


Dies  Heft  enthält  die,  schon  im  vorigen  er- 
wähnte, Untersuchung  über  zugleich  steigende  Vor- 
stellungen ;  und  hlemit  den  nothwendigsten  Nach- 
trag, welcher  zu  des  Vfs  grösserem  psychologi- 
schen Werke  musste  geliefert  werden. 

Ausserdem  wird  man  hier  eine  Abhandlung  fin- 
den, worin  die  Kanfischen  Kategorien  mit  den  Con- 
junctionen,  deren  sich  die  Sprache  bedient,  zusam- 
mengestellt werden.  Der  Bau  der  Sprachen  giebt 
Thatsachen  an  die  Hand,  welche  zwar  nicht  ma- 
thematische Bestimmtheit  (wie  Tonlehre  und  Zeit- 
maass),  aber  doch  grammatische  Vestigkeit  besitzen; 
Thatsachen,  die  jedem  Individuum  auf  gleiche  Weise 
vorliegen,  und  nicht  mit  den  Schwankungen  zu  käm- 
pfen haben,  welchen  die  innere  Wahrnehmung  un- 
terliegt. Sucht  man  für  die  psychischen  Thatsachen 
eine  solche  Reihenfolge,  in  welcher  sie  mehr  oder 
weniger  genau  können  aufgefasst  werden,  so  kommt 
eine  ganz  andere  Rangordnung  zum  Vorschein,  als 
die,  welche  unsre  psychologischen  Compendien  dar- 
bieten. — 

a2 


IV 

Kurz  vor  geendetem  Drucke  dieser  Blätter  wurde 
dem  Verfasser  eine  Stelle  aus  einem  Buche  in  glaub- 
hafter Abschrift  vorgelegt,  worin  ein  Ausfall  auf 
die  mathematische  Psychologie  enthalten  ist.  Man 
kann  wohl  einmal  nachsehn,  von  wo  das  Wider- 
sprechen ausgeht,  und  wie  weit  es  führt. 

Herr  geh.  Ilofrath  Fries  widerspricht,  indem 
er  behauptet : 

„Blosse  Verhältnisse    sind  nur  eine  malhema- 
„tische    Abstraction,    bey    deren    Anwendung 
„auf  bestimmte  Falle,    wenn    auch  nicht    die 
„Messung,  doch  die  Messbarkeit  der  vergliche- 
„nen  Grössen  vorausgesetzt  werden  muss." 
Also   Anwendung    auf   bestimmte  Fälle    —    davon 
redet  Hr.  geh.  Hofrath  Fries.       Er   zeige   nun   die- 
jenigen Anwendungen    auf  bestimmte  Fälle,  die  er 
widerlegt  habe. 

Messbarkeit  verglichener  Grössen  —  davon  redet 
Hr.  F.  Wie  beweiset  er,  dass  denjenigen  Grössen, 
welche  zu  messen  bis  jetzt  keine  Hülfsmittel  bekannt 
sind,  die  Messbarkeit  abzusprechen  sey? 

„Die  Messbarkeit  von  intensiven  Grössen  ist 
„nur  möglich,  wenn  ihnen  eine  extensive  Scale 
„an  die  Seite  gesetzt  werden  kann." 
Also  vom  Messen -Können  —  nicht  von  der  Mess- 
barkeit der  Grössen  selbst  und  an  sich  —  redet 
hier  Hr.  F.;  vertieft,  wie  er  zu  seyn  pflegt,  in  sei- 
nen eignen  Gedanken. 


Wir  müssen  doch  wohl  für  Solche,  die  nicht 
bloss  Sich  hören,  sondern  das  beachten,  wovon 
ihnen  g^egeuüber  die  Rede  ist,  obige  Stelle  etwas 
verändern. 

Blosse  Verhältnisse,  in  nialhematlscher  Abstra- 
ction  gedacht,    müssen    so  weit   verfolgt  wer- 
den, bis  sich  Gesetze  und  charakteristische  Un- 
terschiede zeigen,  die  sich  in  ganzen  Klassen 
von  Thalsachen  wiedererkennen  und   zu  fort- 
gesetzter Vergleichung  benutzen  lassen.      Da- 
bey  werden  Grössen  vorausgesetzt,  die  an  sich 
messbar  seyn  würden,  wenn  wir   zur  wirkli- 
chen Messung  schon  die  Mittel  besässen. 
Von  Anwendungen    auf  bestimmte  Fälle,    des- 
gleichen   von    empirisch    gemessenen   Grössen,    die 
man,  um  nur  überhaupt   zu  Anwendungen  zu  ge- 
langen, in  die  Formeln  substituiren  müsste,  ist  hier 
im  Allgemeinen  nicht  die  Rede;  und  um  so  weni- 
ger von  extensiven  Scalen  für  intensive  Grössen. 
Gegen  folgende  Behauptung : 
„für  die  intensiven  Grössen  des  geistigen  Le- 
„bens  könne  keine  Einheit  gegeben  werden", 
welche  Behauptung  sich  etwas  voreilig  auf  die  Hö- 
hen des  geistigen  Lebens  verstiegen  hat,  —    wird 
man  in  der  Region,  wo  die  Fundamente  der  Psycho- 
logie liegen,  ganz  einfach  sagen,  dass  zwey  Lich- 
ter  doppelt   so  stark  leuchten    als  eins;   dass   drey 
Saiten  auf  einer  Taste  dreymal  so  stark  tönen   als 


VI 

eine.  Kurz:  jede,  erste  beste  sinnliche  Empfindung 
dient  .ils  Einheit,  wo  das  Empfundene  sich  gleich- 
artig vervielfältigt.  Um  die  Unsicherheit,  welche 
dabey  Stall  finden  kann,  kümmern  wir  uns  hier, 
wo  es  auf  Einzelnhellen  nicht  ankommt,  wenig; 
noch  viel  weniger  jedoch  um  eine  andre  Art  vor- 
geblicher Unsicherheit,  worauf  Hr.  F.  ein  Gewicht 
legt,  als  hätte  er  von  hoher  Hand  einen  Schatz 
empfangen.  Er  trägt  nämlich  ganz  ernsthaft  fol- 
genden Satz  vor: 

„Bey  Intensilätsrechnungen    gelten    die    ersten 
„Grundsätze     der    Arithmetik     nicht     sicher. 
„Zum    Beysplel :    wenn    die    eine   Grösse 
„kleiner,    die   andre    grösser,    als  eine 
„drille  ist,  so  folgt  nicht,  dass  die  grössere 
„auch  grösser  als  die  kleinere  sey." 
Worauf  beruhet  denn  die  Evidenz  der  Arithmetik 
bcy  extensiven  Grössen  ?     Etwan  auf  der  Extension, 
die  in  den  Zahlen  mangelt?     Der  anthropologische 
Empirismus    wird   vielleicht   sagen :    Man  sehe    mit 
den   leiblichen  Augen,  dass  drey  Fuss  mehr  ist 
als  zwey,  vier  Fuss  mehr  als  drey,  und  dann  auch 
vier  Fuss    mehr    als  zwey.      Man  lerne    durch  die 
tägliche    Erfahrung,    dass    zweymal    zwey   Fuss 
wirklich   vier  Fuss   ergeben !      Achtet   aber   Hr.  F. 
eine  solche  Sprache  (als  ob  die  Zahlbegriffe  Zwey, 
Drey,  Vier,  an  den  Füssen  klebten,)  seiner  unwür- 
dig, so  zeige  er  nun  das  Vorrecht  des  Exten- 


VII 

siven  vor  dem  Intensiven,  welches  zu  beweisen 
seine  Sache  wäre.  —  Statt  des  Beweises  bringt  er 
ein  Beyspiel  für  jenen  Satz  vom  Intensiven;  ein 
Beyspiel,  weit  erhaben  über  die  Fundamente  der 
Psychologie,  und  das  doch  in  der  That  handgreif- 
lich zu  heissen  verdient.  Es  ist  hergenommen  von 
—   der  Geschicklichkeit  im  Schachspiel. 

„Wenn  A  mit  B  spielt,  gewinnt  meist  A\ 
„wenn  B  mit  C  spielt,  gewinne  meist  B\  so 
„folgt  nicht,  dass,  wenn  A  mit  C  spielt,  C 
„meist  verlieren  würde." 
Wenn  der  Körper  A  langer  ist  als  B^  und  der 
Körper  B  breiter  als  C,  so  folgt  nicht,  dass  A 
grösser  sey  als  C  Auch  bey  Extensitäts-Rechnun- 
gen gelten  die  ersten  Grundsätze  der  Arithmetik 
nicht  sicher,  —  vielmehr,  sie  gelten  ganz  und  gar 
nicht,  wenn  man  bey  einer  Grösse,  welche  meh- 
rere Factoren  enthält,  unterlässt,  die  Factoren  ein- 
zeln und  sämmtlich  zu  berücksichtigen.  An  Facto- 
ren der  Geschicklichkeit  im  Schachspiel  —  als  da 
sind :  Geschick  im  Gebrauch  des  Springers,  Läufers, 
Thurms,  der  Königin,  der  Bauern  u.  s.w.  erinnern 
die  eignen  W^orte : 

„denn  die  Unterschiede  der  Geschicklichkeiten 

„können  von  sehr  verschiedener  Art  seyn." 

So  schlägt  sich  Hr.  F.  mit  seinen  eignen  W^affen. 

Das  Beyspiel    lehrt,    dass   in  Bezug    auf    intensive 

Grössen  einige  Übung  im  Denken  nöthig  ist.      Hr. 


VIII 

F.  stelle  sich  in  Gedanken  neben  einem  in  aller 
Hinsiclit  grössern  Mathematiker,  und  einem  in  al- 
ler Hinsicht  kleineren.  Er  wird  sogleich  wissen, 
dass  Jener  grösser  sey  als  dieser;  und  die  mathe- 
matische Evidenz  wird  hier  nicht  von  Lineal  und  Zir- 
kel abhängen.  Oder  auch:  Hr.  F.  stelle  sich,  wenn 
es  ihm  beliebt,  an  die  Spitze  der  Philosophen.  Er 
gehe  nun  den  verschiedenen  Geschicklichkeilen  nach, 
welche  im  Philosophiren  liegen.  Er  stelle  alle  ihm 
bekannten  Philosophen,  —  nicht  etwan  in  Fveih' 
und  Glied,  —  sondern  von  sich  ausgehend  weise 
er,  nach  seinem  Gutdünken,  allen  andern  die  Plätze 
an ,  die  sie  in  gehörigen  Distanzen  als  grössere 
oder  kleinere  Logiker,  grössere  und  kleinere  Meta- 
physiker,  Psychologen,  Naturphilosophen,  Ethiker 
U.S.W,  einnehmen  sollen.  Er  spalte  wiederum  die 
GeschickHchkeiten,  um  die  Distanzen  genauer  zu 
bestimmen.  Wir  wollen  diesmal  um  die  Plätze 
nicht  streiten;  Hr.  F.  wird  aber  wissen,  dass  es 
Streit  darum  giebt,  weil  die  Grössenschätzung 
nicht  ausbleiben  kann,  obgleich  keine  Messung 
nach  Füssen  und  Zollen,  mittelst  extensiver  Scalen, 
hiebey  anzubringen  ist.  Bey  aller  Unsicherheil 
solcher  Grössenschätzung  wird  Hr.  F.  doch  genug 
davon  in  Gedanken  behalten,  um  nicht  Schüler  und 
Meister  durch  einander  zu  werfen,  Forlschritte  der 
Schüler  abzuleugnen,  Geschwindigkeit  oder  Lang- 
samkeit des  Fortschreitens  der  Unbestimmtheil  preis 


IX 

zu  geben.  Die  Quantiläts  -  Begriffe  werden  ihn 
nicht  verlassen,  obgleich  man  ihm  hiebey  nicht 
mit  Rechnungen  beschwerlich  zu  fallen  gedenkt. 
Was  un gewiss  bleibt,  ist  darum  noch  nicht  an 
sich  unbestimmt  und  maasloss;  es  giebt  auch  hier 
Grössenverhällnisse,  nach  denen  gefragt  wird;  es 
giebt  Proben ,  Zeichen ,  indirecle  Erkenntnissmitte], 
aus  denen  ein  Mehr  oder  Weniger  kann  geschlossen 
werden.  Dass  aber  den  sehr  zusammengesetzten 
geistigen  Thätigkeiten  des  wissenschaftlichen  Den- 
kens andere,  minder  zusammengesetzte  zum  Grunde 
liegen,  —  dass  man,  immer  weiter  zurückgehend, 
endlich  deren  so  einfache  annehmen  kann,  welche 
sich  der  Rechnung  unterwerfen  lassen ,  —  und 
wozu  das  diene :  dies  Hrn.  F.  deutlich  zu  machen, 
darauf  muss  man,  wie  es  scheint,  Verzicht  leisten; 
wenn  er  n'ämlich  nicht  selbst  des  mathematischen 
Hebels,  des  Falls  im  luftleeren  Räume,  der  Schwin- 
gung ohne  Reiben,  und  dgl.  sich  erinnert. 

Zurückblickend  auf  jenen  angenommenen  Fall 
des  Schachspiels  könnten  wir  noch  die  Wahr- 
scheinlichkeit bemerken,  dass  wenn  B  gegen  ^, 
C  gegen  B  oftmals*)  verliert,  dann  auch  C  ge- 
gen yl  verlieren  werde.  Sind  aber  die  Intensitäten 
so  sublimer  Natur,  dass  sie  sich  den  ersten  Regeln 

*)  Anstatt  des  verfangliclien  IVIeist;  wobey  luibe- 
stimmt  bleibt,  wiefern  das  Gewinnen  als  Probe  der  Ge- 
schicklichkeit im  Ganzen  könne  angesehen  werden. 


der  Arillimetik  entzielien,  so  geht  nicht  bloss  diese 
Wahrscheinlichkeit  verloren,  sondern  es  ist  zu  be- 
sorgen, dass  an  ihnen  auch  eine  Auctorltät,  die 
—  messbar  oder  nicht,  —  doch  eben  nicht  grösser 
ist,  als  die  der  Arithmetik,  die  Auctorität  der  logi- 
schen Regeln,  denen  man  bekanntlich  keine  exten- 
siven Scalen  an  die  Seite  setzen  kann  (wenn  nicht 
etwa  die  Cirkel,  wodurch  man  wohl  die  Sphären 
der  Begriffe  zu  bezeichnen  pflegt,  anstatt  der  Sca- 
len gelten  sollen,)  etwas  einzubüssen  haben  werde. 
Beliebe  denn  unser  berühmter  Logiker  nachzusehn, 
ob  etwa  folgender  Syllogismus  seinen  Beyfall  hat: 
Geschicklichkeit  im  Schachspiel  ist  nicht  mess- 
bar. Geschicklichkeit  im  Schachspiel  ist  eine 
intensive  Grösse.  Also:  keine  intensive  Grösse 
ist  messbar? 
Es  mag  nun  das  Ende  des  letzten  Aufsatzes  in 
diesem  Hefte  verglichen  werden;  wo  sich  Gelegen- 
heit gefunden  hat,  einiges  hieher  Gehörige  beyzu- 
fügen.  Der  Aufsatz  ist  zwar  nicht  gegen  Hrn. 
geh.  Hofr.  Fries  geschrieben;  es  kann  aber  theil- 
weise  so  scheinen,  und  mag  dafür  angesehen  wer- 
den. Dabey  ist  um  desto  weniger  Bedenken,  weil 
Hr.  F.  nicht  bloss  (um  seine  eignen  Ausdrücke  zu 
gebrauchen,)  verwerfend  angefangen  und  abspre- 
chend geendigt  hat,  sondern  auch  seine,  nach  ei- 
ner andern  Seite  hin  geäusserte,  Geneigtheit  zum 
Unterhandeln    an    durchaus    unzulässige  Bedingun- 


gen  knüpft.  Qualitäten  im  Pluralis  und  Seelenver- 
mögen sollen  die  Basis  der  Unterhandlung  abgeben. 
Eine  unbekannte  Qualität  gilt  ihm  für  keine;  er  er- 
zählt (mirabile  diciii)  von  einer  „Hypothese,  die 
ein  qualitätsloses  einfaches  Wesen  zum  Grunde 
\^^^'^  Schreiber  Dieses  weiss  zwar  von  keiner  sol- 
chen Hypothese,  wird  aber  niemals  einräumen, 
dass  man  das  Einerley,  was  die  Seele  ist,  mit  dem 
\ielerley,  was  sie  kann,  verwechseln  und  vermen- 
gen dürfe.  Die  vielen  Qualitäten  würden  keine 
wahre  Einheit,  nicht  das,  was  die  Seele  ist,  aus- 
machen; und  wenn  wirkliche  Qualitäten  in  blossen 
Möglichkeiten,  die  man  Vermögen  nennt,  bestehn, 
oder  umgekehrt  diese  Vermögen  die  Stelle  wirkli- 
cher Qualitäten  vertreten  sollen,  so  schwankt  Alles 
zwischen  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  auf  eine 
Weise,  die  man  zwar  blossen  Empirikern  nicht 
übel  nimmt,  die  aber  bey  einem  so  entschiedenen 
Freunde  der  Kategorien,  wie  Hr.  F.,  beynahe  ins 
Unbegreifliche  fällt.  Was  endlich  solche  Imperative 
anlangt,  wie:  „man  hätte  sich  sollen  schon  durch 
Kants  Antinomien  abhalten  lassen",  so  darf  sich 
Hr.  F.  das  Zeugnlss  geben,  dass  Er  es  während 
beynahe  vier  Decennien  an  Ermahnungen  zum  Ge- 
horsam im  Kantischen  Reiche  keinesweges  hat  er- 
mangeln lassen.  Warum  der  Gehorsam  nicht  er- 
folgte, scheint  er  noch  bis  jetzt  nicht  zu  wissen. 
Monadologie  ist  bey  Hrn.  F.  ein  unbeliebtes  Wort. 


XII 

Gleichwohl  bedient  er  sich  desselben,  und  zwar 
auf  eine  Weise,  die  noch  mehr  als  das  Übrige 
zu  einer  Entgegnung-  auffodern  könnte.  Anstalt 
auf  Leibnitzens  Lehren  und  Kantische  Kritiken  ein- 
zugehn,  genüge  es  hier,  auf  ein  neues,  vielumfas- 
sendes Werk  zu  verweisen,  welches  Hr.  Taute  zu 
Königsberg,  unter  dem  Titel:  Pieligionsphilo- 
sophie,  schreibt,  und  wovon  die  erste  Lieferung 
bereits  vorliegt.  Für  einen  so  stabilen  Kantianer, 
wie  Hr.  F.,  hier  einige  Worte  aus  der  Vorrede: 
„Ganz  und  gar  der  wissenschaftlichen  Forschung 
hingegeben,  hatte  Kant,  wie  man  es  nennt,  eine 
Pievolution  im  Reiche  der  Begriffe  vollbracht.  Wo- 
rin dieselbe  bestehe,  und  was  ihre  Hauptergebnisse 
seyen,  —  ob  das  Ding  an  sich,  oder  die  Ideen,  ob 
die  Verstandeserkenntnisse  mit  ihren  Kategorien,  dem 
synthetisch-apperceptiven  Ich  und  den  Grundsätzen, 
oder  die  Vernunftansicht  mit  den  regulativen  Prin- 
cipien;  ob  die  metaphysische  oder  die  ethische  Seite 
des  Systems,  die  Begründung  des  Wissens  oder 
des  Glaubens  —  das  weiss  man  eigentlich  nicht. 
Vielleicht  soll  auch  der  Begriff  der  Revolution,  die 
bekanntlich  niemals  recht  weiss  was  sie  will  und 
was  sie  schafft,  darauf  hindeuten." 

Hier  war  geschlossen,  und  die  Abschrift  aus 
des  Hrn.  F.  psychischer  Anthropologie  (S.  VI — VIII) 
bey  Seite  gelegt.  Aber  es  kommt  eine  neue  Ab- 
schrift,  welche  des    nämlichen  Hrn.  F.  Geschichte 


XIII 

der  Philosophie  (zweyten  Bandes  S.  708)  citirt.  Je 
langer  Hr.  F.  sich  macht,  desto  mehr  müssen  wir 
abkürzen ;  also  nur  eine  Probe !  Da  ist  etwas  zu 
lesen  von  stetigen  Grössen,  welche  der  Einfachheit 
der  Seele  untreu  werden.  Wer  einmal  vom  Hören- 
sagen (oder  weiss  Hr.  F.  eine  bessere  Quelle?) 
die  Spukgeschichte  vom  qualitätslosen  Wesen  auf- 
nimmt, dem  müssen  sich  wohl  die  Selbsterhaltun- 
gen, sammt  deren  Grössen,  in  ein  gespenstisches 
Treiben  verwandeln,  denn  Was  hätte  wohl  ein 
qualitätsloses  Wesen  zu  erhalten?  —  Da  sollen 
ferner  „nur  bey  dem  musikalischen  Yerhältniss  der 
Töne  hinlänghch  einfache  Vorslellungs -Reihen 
zur  Anwendung  der  Formeln  gefunden  seyn." 
Herrn  F.  diene  zur  Nachricht,  dass  wir  die  psycho- 
logische Untersuchung  musikalischer  Vorslellungs- 
reihen  recht  füglich  dem  zwanzigsten  Jahrhundert 
überlassen  können,  sie  ist  bis  jetzt  unberührt.  In- 
tervalle und  Accorde  bestehen  aus  gleichzeitigen  Tö- 
nen; auch  die  Auflösung  einer  Dissonanz  wird  Nie- 
mand eine  Reihe  nennen.  Die  ganze  Untersuchung 
über  Bildung  und  Wirkung  der  Reihen  hat  damit 
nichts  zu  thun ;  auch  sind  wir  noch  nicht  so  weit, 
dass  wir  diese  auf  das  melodische  Fortschreiten 
anwenden  könnten.  Hr.  F.  thäte  wohl,  auf  seinem 
heimathlichen  Grunde  und  Boden,  das  heisst,  in 
seinem  System  zu  bleiben;  denn  mit  seiner  Geo- 
graphie des  Auswärtigen  ist  es  noch  schlechter  be- 


XIV 

stellt,  als  bey  jenem  Franzosen,  der  ein  paar  Fremde, 
einen  ans  dem  Norden,  den  andern  aus  dem  Süden 
von  Deutschland,  einander  als  Landsleute  vorstellte, 
und  da  beyde  sich  über  die  weite  Entfernung  ih- 
rer \Yohnorte  äusserten,  zur  Antwort  gab:  n^'im- 
porte;  c'est  toujoiws  lä  bas.  —  Hr.  F.  weiss  auch 
zu  erzählen:  „H.  hat  sich  von  Anfang  an  von 
Fichtes  Phantasie  leiten  lassen,  dass  alle  mensch- 
liche Erkenntniss  aus  dem  Sich -Selbst- Setzen  des 
Ich  abzuleiten  sey;  dies  führte  ihn  auf  seine  Hypo- 
these, dass  die  Seele  ein  einfaches,  gestörtes  We- 
sen sey";  —  welches  dann  noch  obendrein  der  „ei- 
gentliche Grundfehler"  seyn  soll.  Dass  jahrelang 
vor  dem  Eintritt  in  die  Fichtesche  Schule  des  Vfs 
philosophisches  Denken  durch  Wolfische  und  durch 
Kantische  Lehren  in  Gang  gesetzt  war,  natürlich 
in  weiterem  Umfange,  als  den  die  bekanntlich  sehr 
enge  Fichtesche  Schule  hätte  eröffnen  können:  dies, 
sollte  man  meinen,  brauche  eigentlich  nicht  gesagt 
zu  werden,  da  es  offenkundig  ist,  wieviel  Anzie- 
hungskraft die  Fichtesche  Sphäre  gegen  Andre  aus- 
geübt hat.  Aber  so  etwas  zu  errathen,  ist  der  Di- 
vination  Derjenigen  zu  schwer,  die,  was  sie  syste- 
matisch nicht  begreifen,  gleichwohl  historisch  zu 
deuten  und  zu  erklären  unternehmen,  ohne  damit 
auch  nur  factisch  bekannt  zu  seyn. 


Inhalt. 

Seite 
I.     Über  Analogien ,  in  Bezug  auf  das  Fundament 

der  Psychologie 1 

II.     Über    frey   steigende  Vorstellungen      ...       35 
III.     Über  Kategorien  und  Conjunctionen     .     .     .     171 


Uehev  Analoijlen, 
in  Bezug  auf  das  Fundament  der  Psychologie. 

Der  Empirismus  fühlt  sicli  slark  durch  seine  Ver- 
bindung mit  der  Mathematik;  oh  a])er  die  IVIathematik 
an  den  Epiplrismus  gebunden  sey  ?,  das  ist  die  Frage. 
Zwar  begnügen  sich  die  Physiker  gewöhnlich,  die  Ge- 
setze zu  kennen,  welche  die  Erscheinungen  dergestalt 
befolgen ,  dass  man  im  Stande  ist  sie  vorherzusagen. 
Für  die  Wissenschaft  aber  hat  das  Prophezeihen  nur 
den  Werth  einer  Probe ,  ob  man  auf  dem  rechten  Wege 
der  Forschung  sey;  und  daraus  folgt  nicht,  dass  die 
JMathematik  in  ihren  möglichen  Leistungen  auf  jene  Ge- 
nügsamkeit sich  beschranken  müsse. 

Im  vorigen  Hefte  Nvurde  die  Tonlehre  auch  zu  einer 
Probe  benutzt,  ob  die  psychologische  Rechnung  auf 
richtigem  Wege  sey.  Es  kam  aber  nicht  darauf  an,  zu 
prophezeihen  was  längst  bekannt  ist,  sondern  darauf, 
ein  ganzes  System  von  empirischen  Kenntnissen  durch 
Nachweisung  seiner  innern  Gründe  in  Zusammenhang 
zu  bringen.  Dabey  Avurde  die  Mathematik  auf  Begriffe 
angewendet,  die  nicht  aus  der  nackten  unmittelbaren 
Erfahrung  nach  der  Weise  des  Empirismus ,  sondern  aus 
der  durch  Metaphysik  bearbeiteten  Erfahrung  hervor- 
gehn,  und  die  mit  Hülfe  der  Rechnung  zur  Erfahrung 
II.  Heft.  A 


zurückkehren.  Es  hat  sich  dort  gefunden,  dass  zweyer- 
ley  ganz  verschiedene  Erfahrungskreise,  nämlich  von 
Sch^vingungen  tönender  Körper,  und  von  ästhetischen 
Urtheilen  über  vorgestellte  Töne,  darum  Vf^eil  sie  sich 
in  einigen  wenigen  Puncten  sehr  nahe  zusammentreffend 
berühren ,  vermengt  worden  sind ;  w^ährend  von  Disso- 
nanzen und  deren  Auflösung ,  von  den  Grundregeln  des 
Contrajiuncts,  von  den  verbotenen  Fortschreitungen  ge- 
rade der  reinsten  und  vollkommensten  Consonauzen  u. 
s.w.  in  den  bloss  physikalischen  Kenntnissen,  hätte  man 
diese  sich  selbst  allein  überlassen,  keine  Spur  anzutreffen 
seyu  würde.  Nur  durch  jene  Vermeugung  hat  der 
Chladnische  Sand  dahin  gelangen  können ,  für  ein  Hülfs- 
mittel  der  Akustik  zu  gelten.  Für  die  Bewegungen 
schwingender  Körper  mag  er  seine  belehrenden  Curv^n 
zeichneu ;  damit  weiss  mau  noch  nichts  von  der  Thätig- 
keit  des  Gehörnerven ;  viehveniger  vom  Hören  selbst, 
und  am  allerwenigsten   vom  musikalischen  Denken. 

Durch  unsre  Untersuchung  der  Tonlehre  ist  nun  zu- 
gleich für  die  Psychologie  eine  Vormauer  gegen  mög- 
liche Angriffe  gewonnen. 

Nachdem  solchei'gestalt  für  die  Sicherheit  gesorgt 
ist,  kommt  jetzt  die  Reihe  an  den  Versuch,  Vorkehrun- 
gen gegen  Älisverständnisse  zu  treffen ,  welchen  vorzu- 
beugen,  als  ob  sie  noch  nicht  da  w^äreu,  oft  besser  ist, 
als  mit  einer  schon  ausgebildeten  falschen  Ansicht  und 
JMeinuug  sich  zu  befassen.  Wer  richtig  verstehen  will, 
wird  gern  zurückgehen  bis  auf  eluen  Standpunct,  wo 
das  Misverstehen  noch  nicht  angefangen  hatte. 

Schon  im  ersten  Hefte  Avurde  der  Analogien  gedacht, 
welche,  wo  sie  zur  Anknüpfung  des  Neuen  an  das  alte 
Bekannte  sich  darbieten,    zu  Ilauptquellen  von  Misver- 


stäuduissen  >ver(len  können.  Es  hat  niclil  an  Veranlas- 
sungen gefeliU,  hierauf  zurückzukommen.  Folgendes  ist 
ein  Beyspiel.  Von  schätzbarer  Hand  wurde  die  Bemer- 
kung milgelheill,  es  könnte  wohl  Jemand  auf  den  Ge- 
danken kommen,  eine  Analogie  mit  der  Wahrschein- 
lichkeitslelue  hervorzurufen.  Denn  wie  Ein  Ton,  ob- 
gleich an  sich  einfach,  doch  in  Bezug  auf  einen  andern, 
höhern  oder  tiefern  Ton,  in  Gleiches  und  Entgegenge- 
setztes zerlegt  zu  denken  sey,  so  zerfalle  in  der  Wahr- 
seheinlichkeitslehre  die  Einheit ,  als  Ausdruck  der  Gewiss- 
heit, in  die  einander  entgegengesetzten  Wahrscheinlich- 
keiten. .Freylich  aber  müssten  nun  (natürlich  um  die 
Analogie  zu  verfolgen)  auch  beyde  Theile,  worin  Ein 
Ton  zerlegt  worden,  als  Gegensätze  erscheinen;  und  da 
sey  denn  das  Wort  Gleichheit  anstössig. — 

Gäbe  es  keinen  weitern  Anstoss  als  nur  diesen ,  so 
wären  wir  freylich  bald  fertig.  Denn  in  der  That  ist 
die  Gleichheit,  als  treibend  zur  Verschmelzung  zweyer 
Töne,  vollkommen  entgegen  jedem  der  Gegensätze, 
welche  sich  der  Verschmelzung  widersetzen;  und  hier- 
auf beruhet,  wie  am  gehörigen  Orte  gezeigt,  unmittel- 
bar die  Bestimmung  der  reinen  und  der  falschen  Quinte. 
Nun  aber  kommen  noch  die  Terzen,  die  Sexten,  die 
Secunde  und  die  Septime;  mit  ihnen  kommt  der  Unter- 
schied der  halben  Gleichheiten  von  der  ganzen,  und  der 
gleichen  Theile  von  der  Gleichheit.  Es  ist  nicht  zu  er- 
warten, dass  man  jene  Analogie  auch  hier  werde  vest- 
halten  wollen;  da  aber  einmal  aus  so  weiter  Ferne  — 
Wahrscheinlichkeilslehre  und  Musik  sind  doch  wohl 
entfernt  genug! —  sich  eine  Analogie  zufällig  eingestellt 
hat,  so  mag  man  den  Zufall  benutzen.  Man  berechne 
also  die  Wahrscheinlichkeit,    welche   unsre  Theorie  zu- 

A* 


YÖnlerst  dadurch  erlangt,  dass  sie  in  der  Tonlinie 
eben  so  viele  merkwürdige  Puncte  nachweiset,  als 
bekannte  Intervalle  in  der  Dur-  und  Moll-Scala  vor- 
lianden  sind.  Sollte  etwa  diese  Wahrscheinlichkeit  noch 
gering  scheinen,  so  nehme  man  den  Umstand  hinzu, 
dass  jedem  einzelnen  dieser  Puncte  seine  Stelle  durch 
eine  besondre  Rechnung  bestimmt  ist,  welche  mit  dem, 
was  bisher  für  richtig  galt,  nahe  genug  zusammentrifft, 
und,  (was  beynahe  noch  bedeutender  ist,)  die  gleich- 
schwebende  Temperatur  da  vertheidigt,  wo  sie  von  der 
bisherigen,  vermeintlich  richtigen  Rechnung  merklich 
abweicht.  Hat  man  auch  so  noch  nicht  Wahrschein- 
lichkeit genug,  so  steht  nun  die  ganze  Lehre  von  den 
Accorden  u.  s.  w.  in  Rereitschaft,  die  man  freylich  wohl 
nicht  in  jene  Wahrscheinlichkeits- Rechnung  wird  auf- 
nehmen können,  denn  die  innere  Consequenz  einer  zu- 
sammenhängenden Theorie  ist  darüber  hinaus,  nach  ei- 
ner Summe  von  zutreffenden  Einzelnheiteu  geschätzt  zu 
werden. 

Vor  Analogien ,  die  nicht  sehr  nahe  liegen ,  sich  zu 
hüten ,  darf  man  wohl  einem  Jeden  überlassen ,  der  ge- 
nauer auf  unsern  Gegenstand  einzugehen  ernstlich  be- 
absichtigt. Anders  verhält  es  sich  mit  solchen  fast  un- 
vermeidlichen Vergleichungen ,  die  schon  durch  den  Aus- 
druck Statik  herbeygerufen  werden.  Deshalb  ist  schon 
im  ersten  Hefte  des  Hebels  Erwähnung  geschehen ;  denn 
der  Hebel  ist  ja  das  erste,  einfachste  Beyspiel,  was 
sich  aufdringt,  wo  Etwas  vom  Gleichgewichte  vorkommt. 
Es  ist  wiinschenswerth ,  dass  solche  Eiünneriuigen ,  die 
man  nicht  wegschaffen  kann,  einer  Umformung  zugäng- 
lich seyn  mögen,  wodurch  sie,  anstatt  den  Gesichtspuuct 
zu    verrücken,    vielmehr   behülilich    werden    ihn    sicher 


zu  stellen.  Bey  genauerem  Nachdenken  über  den  He- 
bel hat  sich  mm  Einiges  dargeboten,  welches  hier  soll 
vorgelegt  werden ;  ohne  Besorgniss ,  als  würde  es  gar 
zu  fremdartig  scheinen.  Am  Ende  dieses  Aufsatzes  wird 
sich  zeigen,  dass  hinreichender,  und  selbst  doppelter 
Grund  vorhanden  ist,  die  Betrachtung  des  Gleichgewichts 
vmter  Vorstellungen  mit  derjenigen,  wozu  der  Hebel 
Anlass  giebt,  in  Verbindung  zu  setzen. 

Beym  Hebel  pflegt  man  sogleich  zunächst  an  Umdre- 
hung einer  unbiegsameu  Linie  um  einen  vesten  Puuct 
zu  denken;  dabey  treten  die  drehenden  Kräfte  unter 
einander  in  Gegensatz.  Man  vergleicht  also  die  Pro- 
ducte  aus  den  Kräften  in  die  Wege,  welche,  wenn  die 
Umdrehung  geschehn  soll,  müssen  durchlaufen  werden; 
und  Alles  scheint  fertig,  wenn  diese  Producte  gleich  und 
entgegengesetzt  sind.  Um  Bestinunung  des  Drucks,  wel- 
clien  der  veste  Punct  leidet,  brauchte  man  demnach  sich 
nicht  zu  bekümmern.  Gleichwohl  gehört  derselbe  sehr 
w^esentlich  zur  Sache,  denn  wenn  der  Punct  diesem 
Drucke  ohne  Widei'stand  nachgiebt,  ist  an  Umdrehung 
um  ihn  nicht  zu  denken.  Vollständiger  vrenigstens  ist 
eine  andere  sehr  bekannte  Darstellung,  welche  ausge- 
liend  vom  gleicharmigen  Hebel  mit  gleichen  Gewichten 
P,  im  Unterstützungspuncte  dem  dort  aufwärts  gerich- 
teten Gegendrucke  ein  halb  P  niederwärts  entgegensetzt, 
überdies  einen  Hebelarm  verdoppelt,  am  Ende  dessel- 
ben auch  ein  halb  P  niederwärts  anbringt,  alsdann  noch 
ein  ganzes  P  mitten  zwischen  den  halben,  aufwärts  zie- 
hen lässt,  und  endlich  ausstreicht  was  sich  aufhebt;  so 
dass  nicht  bloss  J  P  am  doppelten  Arme  mit  P  am  ein- 
fachen im  Gleichgewichte  steht,  sondeini  auch  der  Druck 
r=  #  P   im    Unterstützungspuncte    deutlich    hervortritt: 


—  vou  wo  der  Weg  zum  dreyfachen  ,  vierfachen  ,  «fa- 
chen Hebelarme  u.  s.  w.  offen  steht,  indem  an  flngirten 
Gewichten,  die  beym  wirklichen  Hebel  uiclit  vorkom- 
men ,  die  aber  als  Rechnungsgrössen  eingeführt  und  wie- 
der weggestrichen  werden,  niemals  Mangel  seyn  kann. 
Allein  mit  dieser  Darstellung  können  wir  uns  nicht  be- 
freunden.    Denn 

Erstlich:  Auf  solche  Weise  wird  zwar  demonstrirt, 
aber  nicht  erklart.  Die  Frage  bleibt  offen,  was  denn 
da  geschehe,  wo  die  zur  Demonstration  nöthigen  Hiilfs- 
gewichte  nicht  vorhanden  sind,  und  dennoch  Gleichge- 
wicht statt  fuidet.  Der  Hebel  ist  hier  wie  ein  Gedan- 
kending behandelt.  Die  nämliche  Einwendung  gilt  ge- 
gen alle  Beweise,  welche  durch  Hülfsgrössen  und  belie- 
bige W^endungen  des  Denkens  ans  Ziel  gelangen,  ohne 
sich  um  die  innere  Nolhwendigkeit  ihres  Gegenstandes 
zu  bekümmern.  Man  kann  gar  mancherley  denken; 
die  Frage  ist,  ob  man  durch  die  Natur  der  Sache  dazu 
gezwungen  sey,  und  ob  es  zur  vollständigen  Auffassung 
derselben  wesentlich  gehöre.  Beliebige  Hülfsgrössen 
sind  nun  schon  schlimm  in  der  reinen  Mathematik;  aber 
der  Übelstand,  den  sie  verursachen,  wird  auffallender 
in  der  angewandten,  wo  bey  allen  Abstractionen ,  die 
man  nicht  vermeiden  kann ,  doch  immer  die  Aussicht 
auf  wirkliche  Dinge,  und  auf  das,  was  mit  ihnen  ge- 
schieht,  offen  bleiben  muss. 

Zweytens:  nicht  bloss  der  veste  Punct,  und  der  Druck, 
den  er  wegen  seiner  vorausgesetzten  Vestigkeit  leidet, 
ist  beym  Hebel  wesentlich,  sondern  das  Gleichgewicht 
selbst  hat  hier  zunächst  seinen  Sitz ;  und  die  Umdrehvmg, 
welche  geschehen  würde,  wenn  kein  Gleichgewicht 
wäre,  gehört  nicht  wesentlich  zur  Sache.     Wenn  paral- 


lele  Kräfte  an  einer  unbiegsameu  Linie  ziehen,  so  wir- 
ken sie,  um  die  Linie  zu  bewegen,  zusammen,  und  nicht 
wider  einander;  wenn  nun  ein  vester  Punct  ihnen  wi- 
dersteht, so  trifft  dieser  Widerstand  beyde  zugleich; 
und  wenn  er  beyde  zugleich  aufhebt,  so  ist  Ruhe  vor- 
handen, ohne  irgend  ein  Streben  zur  Umdrehung.  Man 
nehme  den  bekanntesten  und  einfachsten  Fall :  Gewichte, 
welche,  ihrer  Natur  nach,  parallel  niederwärts  ziehen. 
Dass  man  diesen  Gewichten  ein  Streben  zur  Umdrehung 
beylegt,  ist  eine  Absicht,  die  man  ihnen  unterschiebt; 
sie  wollen  Nichts,  als  nur  sinken.  Befindet  sich  zwi- 
schen ihnen  der  veste  Punct  gerade  an  der  rechten  Stelle, 
damit  sein  Widerstand  sich  auf  beyde  gehörig  verthei- 
len  könne ,  um  beyden  das  Sinken  zu  verwehren ,  so 
geschieht  weiter  nichts;  die  Sache  ist  abgethan. 

Also:  die  Vertheilung  des  Drucks,  ist  das,  worauf 
es  zuerst  ankommt.  Dass  nun  auch  keine  Umdrehung 
erfolgen  kann,  ist  ein  Umstand,  den  man  hinzudenken 
mag;  wir  beseitigen  für  jetzt  diesen  Umstand,  mit  dem 
Vorbehalte,  darauf  zurückzukommen. 

Schon  hier  erhellt,  dass  die  Analogie  zwischen  dem 
(Jleichgewicht  am  Hebel  und  dem  Gleichgewicht  unter 
Vorstellungen  eine  etwas  bequemere  Gestalt  gewinnt, 
indem  hier  wie  dort  eine  Vertheilung  vorliegt.  Damit 
ist  noch  lange  nicht  gesagt,  dass  man  der  Analogie  sich 
nun  dürfe  unbehutsam  überlassen;  wohl  aber  giebt  es 
noch  einen  Punct,  auf  den  die  jetzige  Betiachtung  hin- 
weiset, um  Vorsicht  zu  empfehlen;  nämlich  auf  den 
Fragepunct:  wo  denn  eigentlich  das  Gleichgewicht  zu 
suchen  sey,  und  zwischen  welchen  gleichen  und  entge- 
gengesetzten Grössen    es   eiceutlich   statt   finde  i'     Dieser 


Fragepiuict    kann    bey    den  Vorstellungeu    noch  leiclitei* 
verfelilt  werden,  als  bey  in  Hebel. 

Was  hier  nun  weiter  vom  Hebel  soll  gesagt  wer- 
den, bezieht  sich  bloss  auf  den  angegebenen  Begriff  der 
Vertheilung  des  Drucks.  INlit  dem  Winkelhebel  haben 
wir  nichts  zu  thun;  denn  Zerlegung  der  Kräfte  (oder 
vielmehr  der  Richtungen)  ist  etwas  fremdartiges,  worauf 
uns  einzulassen  hier  nicht  nöthig  seyn  wird.  Eben  so 
wenig  wollen  wir  die  angenommene  unbiegsame  Linie 
weiter  untersuchen;  genug  wenn  irgend  eine  solche  Vc- 
stigkeit  vorausgesetzt  wird,  die  man  sich  unter  dem 
Bilde   einer  geraden  unbiegsamen  Linie  denken  könne. 

In  Einer  Hinsicht  aber  werden  wir  die  Vorstellung 
des  Hebels  nach  unsrer  Bequemlichkeit  umformen.  Die 
unbiegsame  Linie  braucht  nicht  zur  Drehung  bereit  zu 
liegen ,  nachdem  wir  diesen  Begrilf  schon  zurückgewie- 
sen haben.  JMan  mag  an  Vertheilung  einer  Last  denken, 
die  von  einer  auf  zwey  Puncten  ruhenden  Stange  ge- 
tragen wird;  ein  Gegenstand,  bei  welchem  gewöhnlich 
die  Lehre  vom  Hebel  als  bekannt  vorausgesetzt  wird, 
obgleich  kein  Drehen  dabey  vorkommt.  Der  Hebel  ist 
das  Umgekehrte  jener  Stange.  Das  Wesentliche  aber 
ist:  dass  ein  Druck,  der  von  einem  Puncto  auf 
einen  andern  entfernten  wirken  soll,  erst  die 
Distanz  dieser  Puncto  durchlaufen  muss; 
sonst   wäre  keine  Verbindung   vorhanden. 

C 

t 


A  1)  E  B 

Es  gehe  ein  Druck  in  C  aufwärts;  die  Linie  AB  sey 
in  A  und  B  bevestigt;  man  fragt,  wie  sich  der  Druck 
von  C  aus  auf  die  Puncto  A  und  B  vertheile,  wenn 
CB  =z  "^AC, 


9 

Der  Druck  geht  von  C  aus  nach  bcyden  Selten  die- 
ses Puncts  gleichniässig,  Avofern,  wie  hier  vorausgesetzt 
wird,  die  Linie  ylB  gleichförmig  in  sicli  zusamnienhiingl. 
Ist  der  Druck  linkshin  bey  yl  angelangt,  so  wird  er 
hier  aufgehalten  durch  die  Bevestigung  in  yi.  Soll  die 
Linie  in  Ruhe  bleiben,  so  nuiss  in  J),  wo  ein  gleicher 
Druck  statt  findet,  wenn  CD  :=:CA,  derselbe  mit  eben 
so  viel  Gewalt  zurückgehalten  werden  wie  in  J.  \Yenn 
der  ganze  Druck  in  C  :=:  1 ,  so  ist  er  in  A  und  in  I) 
:=:=  ^2.  Er  wird  aber  in  D  nicht  zurückgehalten,  weil  hier 
keine  Bevestigung  vorhanden  ist.  Demnach  gilt  in  l), 
was  in  C  galt;  der  Druck  aufwärts  in  V  wdrd  von  Z> 
aus  gleichmässig  nach  beyden  Seiten  fortgepflanzt.  Er 
gelangt  also  nach  A  und  B  gleichmässig,  das  heisst,  auf 
B  kommt  ^  und  auf  A  \.  Nun  war  der  Druck,  der 
von  C  nach  A  gelangte,  =.  4.  Da  nun  .^- -{- -|^  nr  ^ ,  so 
ist  der  Druck  in  A  dreymal  so  gross  als  in  B ;  und 
hiemit  im  umgekehrten  Verliältnisse  der  Entfernungen 
vom  C. 

Man  verlängere  in  Gedanken  die  Linie  AB  über  B 
hinaus,  also  rechts  hin,  bis  zu  einem  Puncte,  den  wir 
F  nennen;  dergestalt,  dass  BF=zAB;  überdies  verlege 
man  die  Bevestigung  von  B  nach  J^.  Wird  der  Druck 
in  B,  wo  er  z=z  ^  war,  nicht  aufgehalten,  so  vertheilt 
er  sich  nach  A  und  F  gleichmässig ;  und  beträgt  an 
beyden  Orten  ■^.  Also  in  A  Ist  ein  Druck  |^-|-^zrr|., 
und  in  F  ein  Druck  =  ^;  da  nun  AB  :=■  4  AC  =  BF, 
so  ist  AF—  AB  +  BF=:  8  AC,  und  CF=  AF—  AC  =  7AC, 
und  hiemit  wiederum  der  Druck  in  umgekehrtem  Ver- 
hältnisse der  Entfernung  von  C  vertheilt. 

Die  Entfernung  AU  war  =^2AC;  die  Entfernung 
AB  z=  4AC;    ferner  AF  =  S  AC.     Man  nehme  über  F 


10 

hinaus  eine  Entfernung  AG  =  2"^ylC.  Der  Di'uck,  wel- 
cher in  1)  :=.  ^  Avar,  inuss  in  G  :=  (.^-)"  seyn;  desgleichen 
der  in  A  ist  z=  ^  -j-  ^  -}-  i  -|-  . . .  +  Q.)-  =  1  _  (^)«. 
Nuu  ist  CG  =  AG  — AG  =  2«y/C  —  AG  ==  (2«  —1)AG, 
also  AG :  GG  =  1:2"^ —  i;  und  der  Druck  iu  G  verhält 

sich  zum  Druck  in  A  wie  (^)"  :  f  1 j  =  1  :  (2"  —  1), 

also  entspricht  der  Druck  in  A  der  Entfernung  des  an- 
dern Puncts  G  von  C,  welche  Zalil  auch  möge  für  n 
angenommen  werden. 

Wir  kehren  jetzt  in  den  Anfang  der  Betrachtung 
zurück.  Der  Druck ,  welcher  von  G  ausgehend  sich 
eben  jetzt  nach  beyden  Seiten  ausbreitet,  sey  bis  A  und 
1)  gelangt.  Nacli  dem  Vorstehenden  sieht  man  voraus, 
in  welches  Gleichgewicht  der  Druck  A  mit  dem  in  F 
treten  wird,  wenn  dort  die  Bevestigung  angebracht  ist; 
eben  so,  in  welches  Gleichgewicht  der  Druck  in  D  mit 
einem  links  jenseits  A  treten  müsse,  falls  dort,  in 
einer  Entfernung,  die  von  G  angerechnet  z=.  GB  sey,  der 
veste  Punct  sich  befindet.  Es  soll  nämlich  laut  dem 
Vorstehenden  beti'agen 

der  Druck  in  A,  ^\    in  F,  ^ 

in  Z),  1^;  links  in  der  Entfernung  GB,  \. 
Also  zwischen  dem  Druck  in  A  und  iu  F  das  Verhältniss 
7:1,  zwischen  dem  in  1)  und  jenem  links ,  das  Ver- 
hältniss 3:1.  Oder  das  erste  Verhältniss  ist  1:^,  das 
andre  1  :  4-.  Setzt  man  nun  den  Druck  in  A  und  in  D 
z=.  \  ,  so  stehn  damit  die  Drucke  in  den  Entfernungen 
7 AG  und  "iAG  im  Gleichgewichte,  wenn  sie  sich  ver- 
halten wie  ^  :  -1-. 

Allgemein:   die  Entfernungen  nacli  beyden  Seiten  von 
G  seyen  im  Verhältniss  (2'^  —  1)  AG :  (2"  +  ^  —  1)  AG,  und 


11 

mau  nehme  die  Einheit  des  Drucks  in  der  Entfernung 
AC  auf  beyden  Seiten,    so   steht    damit    einerseits   ein 

1  .         .  1  . 

Druck ,    andrerseits    eui  Druck    - — ,      -  im 

2«—  l'  2"  +  *—  1 

Gleichgewichte ;    also   sind    diese  Drucke   unter  sich   im 

Gleichgewichte,    wenn  sie  sich  verhalten  wie 

(2"  +  l_l)  :  (2«—  1). 

Nun  kann  man  AC  so  klein  nehmen  wie  mau  will, 
und  n  so  gross  wie  man  will.  Es  sey  n  =  CO,  so 
verschwindet  die  Zahl  1  neben  2"t*  und  2".  Aber 
2"t  :  2"  :=:::  2  :  1 ;  das  heisst,  wenn  die  Eutfernungen 
sich  verhalten  wie  1:2,  so  müssen  fürs  Gleichgewicht 
die  Drucke   sich  verhalten  wie  2:1. 

Dies  lässt  sich  durch  einen  Rückblick  auf  das  Vorige 
auch  direct  zeigen.  Es  sey  nämlich  jetzt  die  Bevesti- 
gung  in  yl  und  in  E ;  auch  CE  zz:  2  AC.  Hat  der  Druck 
von  C  aus,  sich  einerseits  bis  A  ausgebreitet,  so  ist  er 
andrerseits  bey  D  gleich  stark.  Da  er  hier  keinen  Wi- 
derstand findet,  so  vertheilt  er  sich  von  D  gleichmässig 
nach  E  und  C.  In  E  beträgt  er  -^j  in  ^,  ^\  iu  C  auch 
^,  aber  dies  muss  wegen  IMaugels  an  Widerstand  aber- 
mals vertheilt  wei'den.  So  kommt  auf  A  noch  ^,  auf 
D  -^j  welches  wieder  vertheilt  für  E  noch  J^^  für  c  auch 
j^Q  giebt.  Verfolgt  man  dies  weiter  ins  Unendliche,  so  hat 
man  für  den  Puuct  A  die  Reihe  4  +  g-  -{-  ir^  +  •  •  •  (i)^"  "'"  *' 
für  den  Punct  E  die  Reihe  7  -}-  tf  ~1~  •  •  •  (^)^"*  ^^^  erste 
Reihe  hat  eine  Gränze  =^,  die  andre  =-n-,  also  ist  der 
Druck  auf  yl  doppelt  so  stark  wie  auf  den  doppelt  ent- 
fernten E;  allein  die  Sache  ist  hier  doch  nicht  so  einfacli, 
wie  im  vorigen  Falle ;  die  unendlichen  Reihen  wollen 
durchlaufen  seyn;  sie  zeigen  eine  Annäherung,  aber  kein 
plötzliches,  auf  Einen  Sclilag  vorhandenes  Gleichgewicht. 


12 

Denn  der  Druck  Uaiin  nicht  eher  zu  den  eiit- 
feriilern  Stellen  gelangen,  bis  er  die  nähern 
erreicht  hat;  und  erst  nachdem  er  vollständig  ver- 
tlieilt  worden ,   bildet  sich  das  Gleichgewichl. 

Noch  etwas  verwickelter  ist  der  Fall ,  wenn  ein  He- 
belarm fünfmal  so  lang  ist  als  der  andre.  IVIan  denke 
sich  rechts  von  C  einen  Punct  //,  so  dass  CH  irr  5  AC. 
Ist  der  auf  C  angebrachte  Druck  bis  ü  gelangt,  so  ver- 
theilt  er  sich,  wie  gleich  Anfangs  gezeigt,  von  hier  wie- 
der auf  A  und  B,  da  er  früher  nicht  aufgehalten  wird. 
Er  beträgt  bey  ß,  wie  vorhin,  J.  Weil  auch  hier  die 
Bevestigung  fehlt,  muss  er  sich  v^iederum  verlheilen. 
Wälirend  von  ilnn  i  bis  //  gelaugt,  wirkt  das  andre  -^ 
auf  ü;  luid  sö  beginnt  von  diesem  Puucte  aus  eine  neue 
Vertheilung,  welche  den  schon  gezeigten  Weg  immer 
von  neuem  durchlaufend  eine  unendliche  Fveihe  bildet. 
Man  hat  nun  die  Gränze  dieser  Reihe  für  den  Punct  // 
zu  bestimmen.  Der  ersle  Druck  auf  D  betrug  -^  ;  der 
jetzige  ^;  von  dem  ersten  gelangte  nach//^,  von  jetzigen 
1 

"8.4 

111  1 

die  unendliche  Reihe  --  -f- f-  — — — -  +  •  •  •  ^ 

8     '    8.4    '    8.4.4     '  8.4" 

4«  _}_  4'i-i  4-  4'£  — 2  J_  ...  4  _1_   1 

:rz ' ' wo  nz=OC. 

8  .  4« 

4«  +  l 

Die  Reihe  im  Zähler  ist  =   -—  ;    also    die     Gränze 

o 

4  1 

des  Bruches  r=  =  -.     Es  versteht  sich  von  selbst, 

3.8  G 

dass  am  andern  Ende,    bey  J,    der    Druck    bis    zu  der 

Gränze  :=  |  anwächst,  da   der  Druck    sich    ganz  auf  J 

und  //  vertheilcn  muss.     Das  Yeriiältniss  hier  und  dort 

ist  demnach  1:5. 


,  weil  |-  :  i  =r  4  :  1.     Dieses  verfolgend  findet  man 


13 

Von  tleni  Falle ,  da  ein  Arm  siebenmal  ;;o  lang  ist 
als  der  andre,  wurde  schon  gesprochen ;  man  hat  ge- 
sehn,  dass  er  keine  iniendliche  Reihe  erfordert,  son- 
dern nächst  jenem,  wo  CB  =  3  yj C ,  der  einfachste  ist, 
und  aus  diesem  uuniiltclbar  folgt. 

Wir  ziehen  noch  ein  paar  Falle  In  iiclracht;  wäre 
es  aucli  nur,  um  die  Verschiedenheit  einlcuchlender  zu 
machen.  Der  Punct  //  rücke  weiter  hin;  und  CII  sey 
nun  nz  1 1  yiC.  Vorhin  hatten  wir  C F  ■=z  1  AC;  bey 
F  war  der  Druck  r=  i.  Fehlt  nun  bey  F  die  Bevcsti- 
gung  ,  und  befindet  sich  dieselbe  bey  //,  so  gelangt  dort- 
hin zunächst  J- ;   das  andre  -rV  aber  kehrt  von  F  zurück 

1  o  '  1  o 

in  eine  Entfernung  zzz  F 11;  es  findet  dort  den  Punct 
B,  denn  BF  ■r:z  FIl  :=  4:  JC.  Also  von  B  aus  geht 
nun  eine  Vertheilung  in  unendlicher  Reihe  fort.  Be- 
kannt ist  aus  dem  Vorigen,  dass  von  dem  Drucke  r=  i 
bey  B  sich  auf  das  jetzige  //  der  Druck  r=  -^^j  vcr- 
pllanzt;  nun  beträgt  der  neue  Druck  auf  jß  nur   j^^,  also 

1 

der  daraus  entstehende  auf  H  ist   ;  dies  fortgesetzt 

16.4'  ^ 

11  1  4 

giebt    die     Reihe \- -|-  ... ;:==    — — 

^  IG     '     IG. 4  ^  16.  4"-  3.16 

=  ^V;  '"^'ii  andern  F.nde  ^.V;  und  das  Verhältniss  1:  11. 
Der  Punct  //rücke  noch  weiter;  es  sey  CH  =  ISAC. 
Von  dem  Drucke  rr  i  bey  F  gelangt  nun  ^f.  nach  H; 
aber  FII  ist  jetzt  =z  6y/C,  also  das  andre  ^L  kehrt  zurück 
bis  ü,  weil  auch  FD  =z  (S  AC.  Bey  B  betrug  der  er- 
ste Druck  ;|-;  von  dort  gelangle  nach  dem  jetzigen  f/yL. 
Aber  i-  :  Jg^  ri:  8  :   1  .      Vom    jetzigen    neuen    Druck 

1 

—  J|j  gelangt  also  nach   //  noch  :    inul    die  Fieihe 

16.8' 

der      successiven     Vertheilungeu     ergiebt     für     11    nun 


14 

1  18  1 

'''^+  iöTs  +  •••  TO^  =  7Tl6  =  15-  Auf  d«  an- 

dre  Ende  kommen  |^,  und  das  Verhaltnlss  ist  1  :  13. 

Fragt  man,  wohin  dies  Alles  führe  ,  so  ist  die  na- 
türliche Antwort:  gewiss  nicht  dahin,  das  Ungleichar- 
tige gleichartig  zu  machen.  Unendliche  Reihen,  und 
deren  Granzen ,  sind  nicht  gleichartig  mit  solchen  Grös- 
sen ,  die  auf  einmal  bestimmt  vorliegen ;  imd  die  ange- 
gebenen Fälle  zeigen  deutlich,  dass  selbst  die  unendli- 
chen Reihen  nicht  immer  von  den  nämlichen  Puncten 
ausgehn ;  indem  ihnen  mehr  oder  weniger  von  bestimm- 
ter Vertheilung  muss  voraugeschickt  werden.  Verlangt 
man  aber  einen  Weg  zu  dem  bekannten  allgemeinen 
Resultate,  unbekümmert  um  die  verschiedenen  Weisen 
wie  es  erreicht  wird,  so  lasst  sich  etwa  Folgendes 
bey  fügen. 

Zuvörderst  ergeben  sich  aus  den  Bestimmungen  für 
ungleiche  Hebelarme  nach  den  Verhältnissen  1:2,  1:3, 
1:5,  1:7,  1:11,  1  :  13,  viele  Zusammensetzungen  von 
selbst.  Theils  nach  Potenzen;  indem  z.  B.  der  Druck 
A  am  neunfachen  Arme  dem  i  am  di-ej  fachen ,  und  die- 
ser dem  Drucke  1  am  einfachen  ,  also  der  i  am  neun- 
fachen dem  Drucke  1  am  einfachen  gleich  gilt.  Theils 
dadurch  dass  man  die  Potenzreihen  unter  einander  zu- 
saminenstellt;  also  etwa  den  Druck  h  am  dreifachen, 
J  am  neunfachen  Arme  mit  dem  Drucke  4  am  doppel- 
ten ,  -i  am  vierfachen  Arme ;  wo  der  einfache  Druck 
am  einfachen  Arme  das  JNlittelglied  der  Vergleichung 
bildet.  Die  Producte  kommen  hinzu ;  z.  B.  der  Druck 
1  am  Cfachen  Arme  gilt  gleich  dem  Drucke  ^  am  dop- 
pelten; dieser  dem  ganzen  am  einfachen  Arme:  also 
dem  letztern  auch  J  am  sechsfachen;  eben  so  beym  zehn- 


15 

fachen  Arme  als  ilcni  doppelt  fünrfachen.  Auch  bey 
Primzahlen  vermittelt  der  einfache  Druck  bey  einfacher 
Länge  die  Vergleichuug.  So  findet  sich  der  allgemeine 
Satz  für  alle  kleinem  Zahlen  der  Reihe  nach  richtig, 
so  weit  man  gehen  will.  Hicbey  kann  mau  die  Ein- 
heit der  Längen  unendlich  klein  nehmen.  —  Ferner, 
imi  zu  grössern  Zahlen  zu  gelangen ,  dient  die  Bemer- 
kung, dass  zu  einer,  den  Armen  lungekehrt  proportio- 
nalen Verthcilung  des  Drucks  eine  andre  eben  so  pro- 
portionale liinzukommt.     Das  Verhältniss  der  Arme  sey 

1 

1  :  m,  der  Drucke  wie   1  :  — ;  der   ursprüngliche  Druck 

m 

(in  C)  sey  rz  1 ;  man  verlängere  den  längsten  Arm ,  und 
das  Verhältniss  sey  nun   1  rm-j-n;    so  muss  der    Druck 

1  .  . 

; — -  sich  welter  vertheilen ;  und  zwar  umgekehrt  wie 

m  -j-  1 

n  zu  m  -j-  1.     Auf  den  Endpunct  des  verlängerten  Arms 

1 

kommt — I — -,  auf  den  andern   Endpunct  kommt 

('«  r  1  +  ") 

71 

Dies  letztere  vereinigt  sich  mit 


dem    dort    schon    vorhandnen    Drucke  nr ;      die 

m4-  1' 

^  .      m  (m  -f-  1  +  n)  -j-  «  (m  4-  n) 

Summe  ist  —V-l       ! — ^_ ' —  —  ^     ~    ^ .     also 

die  Drucke  auf  beyde  Endpuncte  sind  wie  m -\-  n  :  1. 
Aus  dem  Drucke  yL  ^'^^  zehnfachen  Arme^  und  der  Ver- 
tiieilung  desselben  für  die  Endpuncte  nach  der  Verlän- 
gerung, (wenn  m  z=  10 ,  n  =:  3)  konnte  man  das  Ver- 
hältniss 13  :  1  finden,  wenn  man  nicht  ausführlich  die 
Art  der  Vertheilung,  sondern  nur  das  Resultat  wissen 
wollte.  So  Nvird  man  überall  von  kleinem  zu  grössern 
Verhältnissen   fortgehn  können:  und  hierin  liegt  die  be- 


16 

kannte  allgemeine  Regel.  Aber  auch  das  liegt  vor  Au- 
gen, (lass  die  Regel  ungleichartige  Fälle  umfasst,  die  sie 
nur  scheinbar  gleichstellt. 

Wir  wollen  den  Gegenstand ,  den  wir  nun  einmal 
berührt  haben,  noch  etwas  weiter  verfolgen;  nämlich 
zu  der  Yertheilung  des  Drucks  auf  drey  veste  Punete, 
die  mit  der  gedrückten  Stelle  in  einerley  Ebene,  aber 
nicht  in  gerader  Linie  liegen.  ]\Ian  denke  sich  ein  Drey- 
eck,  dessen  Seiten  a,  h,  c,  und  gegenüberstehende  Win- 
kel bey  den  Puncten  A,  B,  C;  gesucht  wird  der  Druck 
n  auf  A,  n'  auf  />,  /7"  auf  C.  INichts  ist  leicbter 
und  scheinbar   mehr   genügend    als    folgende  Vorschrift: 

Auf  c  falle  von  der,  innei'halb  des  Dreyecks  liegenden, 
Stelle  Q,  wo  der  Druck  -^iz  P  unmittelbar  angebracht 
ist,  ein  Perpendikel;  dies  mit  P  multiplicirt  giebt  das 
]Moment  der  Umdrehung  um  die  Seite  c.  Ein  andres 
Pei'pendikel  aus  dem  gegenüberstehenden  Winkelpuncte 
C  auf  dieselbe  Seite  c,  multiplicirt  mit  dem  dortigen 
Drucke  77  ',  muss  ein  eben  so  grosses  Moment  der  näm- 
lichen Umdrehung  ergeben,  damit  der  dortige,  dem  77' 
entgegen  wirkende,  Widerstand  die  wirkliche  Umdre- 
hung um  die  Seite  c  verhindere.  Die  beyden  Perpen- 
dikel zeigen  die  Höhe  der  beyden  Dreyecke ,  welche 
Q,  und  C,  mit  der  Seite  c,  das  helsst,  mit  den  Win- 
kelpuncten  yl  und  B  bilden;  und  da  die  Dreyecke  bey 
gleicher  Grundlinie  c  sich  wie  die  Hohen  verhalten ,  so 
kann  man  sagen:  P  verhalt  sich  zu  77'  wie  das  Dreyeck 
ABC  zum  Dreyecke  ABQ.  Eben  so  gut  aber,  als  eine 
Umdrehung  um  die  Seite  c ,  kann  auch  eine  Umdrehung 
um  a  und  um  h  angenommen  werden;  mögen  denn 
aus  den  gegenüberstehenden  Winkelpuncteu  und  aus  Q 
die  nöthlgen   Pei'pendikel    auch  auf  a  und  b  fallen  ;  da- 


17 

nach  bestimmen  sicli  auch  hier  die  Momcnlc  der  Um- 
drcliung ,  welclie  gleich  scyn  müssen;  und  die  Höhen 
der  Dreyecke  ABC,  BCQ,  ACQ.  OlFcnbar  zerOillt  also 
dei-  ganze  Druck  irr  P  in  77,  TI' ,  11 " ,  nach  den  näm- 
lichen Verhältnissen ,  wonach  das  ganze  Dreyeck  ABC 
zerfällt   in  die  Dreyecke  BCQ,  ylCQ,  ylBQ. 

Damit  ist  die  Frage  beantwortet;  und  doch  kann 
man  weiter  fragen :  wandert  der  Druck  P  wirklich  so, 
wie  die  eben  angestellte  Betrachtung,  bey  den  Seiten 
des  Dreyecks  vnnher,  versuchend,  ob  um  eine  oder  an- 
dre die  Umdrehung  gelingen  könne ;  und  protestiren 
alsdann  jedesmal  die  gegenüberstehenden  vesten  Puncte? 
Oder  versucht  der  Druck  P  etwan  alle  drey  Umdrehun- 
gen zugleich?  Wenn  nicht:  was  geschieht  denn  ei- 
gentlich, indem  die  Stelle  Q  wirklich  gedrückt  wird, 
und  die  vesten  Puncte  wirklich  widerstehen? 

Damit  die  Frage  etwas  fühlbarer  wex'de,  wollen 
wir  einen  Fehlschluss  anzeigen,  zu  welchem  man  durch 
die  vorstehende  Betrachtung  wohl  verleitet  werden 
könnte.  Wir  denken  luis  noch  einmal  jenes  Perpen- 
dikel, welches  aus  dem  Puncte  Q  auf  die  Seite  c  fällt; 
derjenige  Punct  auf  der  Linie  c,  wohin  das  Perpen- 
dikel fällt ,  heisse  K.  Nun  bleibt  die  Linie  QK  inuner 
die  nämliche ,  wohin  auch  der  Wijikelpunct  C ,  und  mit 
ihm  der  Druck  17"  fallen  möge,  gegen  dessen  JMoment 
das  Product  P .  QK  im  Gleichgewicht  stehen  soll.  Aber 
auch  der  Druck  77"  kann  unverändert  bleiben,  wenn 
der  Punct  C  nur  nicht  seine  Entfernung  von  der  gegen- 
überliegenden Linie  c  verändert.  IMan  ziehe  durch  C 
eine  Parallele  mit  c ;  in  dieser  Parallele  verrücke  man 
nach  Belieben  den  Punct  C\  immer  wird  die  Höhe  des 
Dreyecks  ABC  die  nämliche  bleiben;  immer  auch  einer- 

II.  Heft.  B 


18 

ley  Verhällniss  P :  H"  gerunclen  werden;  und  da  dies 
Verhältniss  immer  durch  die  Linie  QK  bestinnut  ist,  so 
\Yird  vernnithlich  der  Punct /i^  immer  einerley  Widerstand 
leisten ;  welcher  Widerstand  ohne  Zweifel  z=z  P  —  J7" 
seyn  wird.  Alsdann  kann  dies  P  —  Tl'  auf  die  Tra- 
gepuncte  A  und  B  der  Linie  c  so  vertheilt  werden,  wie 
das  umgekehrte  Verhältniss  der  Entfernungen  AK  und 
BK  es  mit  sich  bringt ;  —  und  hiemit  ist  der  unge- 
reimte Satz  fertig :  wenn  der  Punct  C  sich  in  der 
Parallele  mit  c  verrückt,  so  bleibt  sowohl  II''  als 
der  Gegendruck  in  K  unverändert;  dieser  Gegendruck 
vertheilt  sich  immer  auf  gleiche  Weise  auf  A  und  ß; 
das  Verhältniss  /7,   Tl' ,  FL" ,  ist  immer  dasselbe. 

Diese  Absurdität  zu  widerlegen  ist  nicht  nöthig; 
es  kommt  vielmehr  darauf  an,  sie  zu  vermeiden,  also 
den  Aulass  wegzuschaffen,  der  dazu  verleitete.  Mau 
werfe  das  halbe  Dutzend  Perpendikel,  die  zur  obigen 
Demonstration  gehören,  auf  einmal  weg;  denn  durch 
diese  wurde  im  buchstäblichen  Sinne  der  rechte  Punct 
verfehlt.  Folgende  Betrachtung ,  wiewohl  etwas  weit- 
läuftiger  als  die  obige  Demonstration,  (die  im  Fluge 
ans  Ziel  kam ,  aber  die  Sache  nicht  aufklärte) ,  gehört 
wesentlich  hieher. 

In  der  Ebene  ABC  verbreitet  sich  der  Druck  P  vom 
Puncte  Q  aus  gleichförmig  nach  allen  Seiten;  also  con- 
centrlsch  in  Kreisen  lun  Q.  Läge  nun  etwa  Q  im  Mit- 
telpuncte  des ,  ein  gleichseitiges  Dreyeck  ABC  um- 
fassenden Kreises;  so  wäre  ohne  irgend  einen  weitern 
Beweis  11  =^  Tl'  =  TT'  z=  ^  P.  Da  jedoch  dies  nur 
Ein  Fall  unter  miendlich  vielen  möglichen  Fällen  ist,  so 
wollen  wir  das  Dreyeck  ungleichseitig,  und  die 
Distanz  OC  kleiner  nehmen  als  die  Distanzen  QA  und  OB. 


19 

Hat  miu  die  krelsföi-mige  Ausbreitung  des  Drucks  den 
nächsten  Punct  C  erreicht ,  so  erfordert  das  Glcichge- 
wiclit  einen  zweyten  Widerstand  ,  welcher  dem  Wider- 
stände in  C  direct  entgegenwirke,  wie  zwey  Kräfte  am 
Hebel.  IMan  ziehe  eine  gerade  Linie  durch  die  Puncte 
C  und  Q;  in  dieser  Linie  muss  der  zwcyte  Wider- 
stand liegen,  damit  der  Druck  in  Q  sie  nicht  bewege; 
und  zugleich  in  der  Linie  yiB ,  oder  c;  denn  er  kann 
nur  von  den  Puncten  yd  und  B  geleistet  werden.  Wir 
kommen  also  hier  nicht  auf  den  vorigen  Punct  K ,  wo- 
fern nicht  etwa  die  Linie  CQ  senkrecht  gegen  c  gerich- 
tet ist;  und  das  ist  sie  gewiss  nicht  immer,  wofern, 
wie  vorhin  angenommen  wurde,  der  Pimct  C  seinen 
Ort  in  der  Parallele  mit  c  verändert.  Derjenige  Punct, 
in  welchem  die  Linie  c  von  CQ  durchschnitten  wird, 
heisse  q.  Allerdings  muss  nun  der  Druck  in  q,  welcher 
die  Linie  CQ  in  Ruhe  halten,  folglich  mit  77"  gleiches 
Moment  haben  soll,  sich  auf  die  Puncte  /i  und  B  gehö- 
rig vertheilen.  Um  dies  vollends  zu  bestimmen,  be- 
zeichnen wir  zuerst  die,  in  dem  gegebenen  Dreyeck 
y^BC  gleichfalls  gegebene ,  Distanz  QC  mit  /;  und  be- 
nennen mit  u  und  y  die  Winkel ,  worin  durch  die  Linie 
/  der  Winkel  C  zerlegt  wird.  Diese  Winkel  mögen 
ebenfalls  gegeben  seyn ;  so  dass  auch  die  Winkel  bey 
dem  Puncte  (j  bekannt  sind ;  man  wird  nämlich  im 
Dreyeck  JC(j  einen  Winkel  =:  180^  —  (y^-j-^)  an 
einer  Seite  der  Linie  Cq ,  und  im  Dreyecke  BCq  den 
Neben  -  Winkel  =  180°  —  (ß  -j-  u)  an  der  andern  Seite 
der  Linie  Cq  haben.  Endlich  werde  noch  die  Linie 
Cq  ■=.  F  gesetzt.      So  ist  Sin  (^A  -\-  v):  Sin  A  zzz  b  :  F; 

und  Sin  {A  -\-  i>):  Sin  B  =:  a:F;  also  Fz=  ^;r^  ,—7-. — ; 

Sin(^-j-(>) 

B  2 


20 

a  Sin  B 


—   -,.     ,   ^  ,     .-•      Um    nun    zuerst    den    Druck  77"   zu 
bin  (^-j-i') 

bestimmen,    hat    man    P.  {F  —  f)  =  11"  F;    also   77" 

P.F—f  f 

=  — -^;   P  —  n"  =z  P~,    das  heisst  P  —  77' 

F  F 

P.FSm(J  4-  i>) 

= 7~—~ — -•      Dieser    Druck    P  —   77      fällt 

h  Sin  ^ 

auf  q,  luid  er  ist  es,  welcher  auf  die  Puncte  y4 
und  B  sich  vert heilt;  und  zwar  im  umgekehrten 
Verhältnisse  der  beyden  Theile,  worin  die  Seite  y^B 
(oder  c)  durch  den  Puncl  q  zerfällt.  Einer  dieser  Theile 
findet  sich  durch  die  Proportion  Sin  (^yl  -\-  c)  :  Sin  \>=^Ij 

•  ^; — ,       — r ;  der  andre  durch  die  Proportion  Sin  (^-j-c) 
Sm  (^-|-o) 

„.  a  Sin  u  ,  ... 

:  Sm  u  =:  a  :  - — :—r—. — i  ,  wobey   man    sich    erinnern 

Sin(^-l-p)'  ^ 

mag,  dass  Sin  (^-f-p)  =  Sin  (ß -{- ")•     ^^®  ^^"'^  ^^^ 

b  Sin  p 
ganze  Seite  c  sich  verhält  zu  ihrem  Theile  r — -        — :  , 

Sin  {^A  -Y  v) 

80  soll  der  Druck  P  —  77      sich    verhalten  zu  demjeni- 
gen Theile  von  ihm,  der  auf  B  fällt;  und  wie  die  ganze 

a  Sin  u 
Seite  c  sich  verhalt    zu   ihrem   Theile    -^ — ; ; — ,  ,   so 

Sin  {A  -|-  i>) 

soll  der  Druck  P  —  77"    sich    verhallen   zu    demjenigen 

b  Sin  Q 

Theile  von  ihm,  der  auf  ^  fällt.  Demnach  c  :  -: — ; — r 

Sin  i^A  -f-  v) 

f  Sin  (A-\-i>)  Sin  c  ,  a  Sin  u 


b  Sin  ^       '     ■^'  c  Sin  ^  '  Sin  {A  -j-  c) 

^    f  Sin  (A-\-v)         ^  a  Sin  u  ,^.      .      . 

=  P.  -^ -^^ !— '^  :  Pf. .       Hiemit    ist    die 

b  Sin  A  -'    cb  Sin  A 

a  Sin  u 

Vertheilung  geschehen.  Denn  wir  haben  11=:  Pf — ■— , 

cb  Sin  A 

«'  ^r  Sin  ''  „„  /•  /  Sin  (A  -4-  v)>. 

n'   =z  Pf-^r^,    77"   zz:   P  fl    -  ^— -1_X__^>) 

c  bin  ^  \  b  bin  ^         y 


21 

und  die  ganze  Sache  lautet  kurz  so:  durch  de^  gedrück- 
ten Puuct  und  den  nächsten  Tragepunct  ziehe  man  eine 
gerade  Linie;  der  Durchschnittspunct  dieser  Linie  mit 
der  gegenüber  liegenden  Seite  des  Dreyecks  verbindet 
zwey  Hebel,  deren  jeder  im  Gleichgewicht  stehn  muss. 
Dass  nun  dies  mit  obiger  Vorschrift  im  Resultate 
zusammenstimmt,  lasst  sich  leicht  zeigen.  Das  Dreyeck 
BCQ  =  -h  af  Sin  u  und  das  Dreyeck  JCQ  =  ^  bf  Sin  o 
werde  dividirt  durch  das  ganze  Dreyeck  ^£C::=:  ^  hc  Sin  A, 
so  findet  man  77  und  II  \  das  dritte  Dreyeck  yJBQ  ist 
=  I  c  (F— /)  Sin  (^+(');  die  Division  durch  JBC 

(F  —  f)  Sin  (J  -f  v)  Sin  (J+o) 

giebt  ^^ 4r ^ -^--  =  1  —  / ^.-^—  '  weil 

^  b  Sin  yj  '       b  Sin  A 

F  =2 —- — ; ,  und  hiemit    ist   auch  77"  gefunden. 

Sin  (^  -[-  f) 

Aber   die   Flächen    der   Dreyecke    sind   überflüssig,    wo 
nur  drey  Tragepuncte  gegeben  werden. 

Was  ist  nun  erträglicher ,  jene  Lehre  von  den  drey 
Umdrehungen,  oder  die  übliche  Darstellung  des  Hebels 
mit  fiugirten  Gevvicliten,  die  wieder  verschwinden  sol- 
len, weil  sie  sich  unter  einander  aufheben?  In  solcher 
Vergleichung  möchten  die  Umdrehungen  doch  noch  ei- 
nen Vorzug  behalten.  Denn  obgleich  es  einleuchtet, 
dass  die  drey  Umdrehungen  nicht  auf  einmal  können 
versucht  werden;  auch  schwer  zu  sagen  seyn  möchte, 
ob  etwa  der  erste  Versuch,  zudrehen,  gegen  die  Seite, 
welche  dem  gedrückten  Puncte  zunächst  liegt,  mithin 
die  grösste  Winkelgeschwindigkeit  darbietet,  oder  lie- 
ber gegen  die  entfernteste ,  wogegen  der  Druck  das 
grösste  INIoment  hat,  solle  vmternommen  werden,  — 
jedenfalls  noch  ehe  der  Druck  auf  die  Endpuncte  be- 
stimmt   worden,    denn   diese    Bestimmung   will    man   ja 


22 


erst  durch  die  sämmtlichen  Drehungs- Versuche  errei- 
chen, —  so  liegt  doch  wenigstens  der  Gedanke  des 
möglichen  Umdrehens ,  falls  etwan  einer  der  Stützpuncte 
ein  wenig  nachgäbe,  im  Kreise  der  Frage  und  der  mit 
ihr  verbundenen  Begriffe ;  er  ist  nicht  gänzlich  aus  der 
Luft  gegriffen ,  sondern  die  Fiction  wiid  vom  Gegen- 
stande dargeboten.  Wann  hingegen  am  Hebelarm  von 
dreyfacher  Länge  das  einfache  Gewicht  sich  mit  dem 
dreyfachen  Gewichte  am  einfachen  Hebelarme  ausgleicht, 
so  findet  sich  hierin  nicht  die  mindeste  Sjour  ron  Nö- 
thigung  zu  folgender  Annahme: 

A  C  B  DE 

1)  In  ^  3  Pfund  niederwärts;  in  ß  3  Pfund  nieder- 
wärts; in  C  6  Pfund  aufwärts. 

2)  In  C  2  Pfund  niederwärts;  in  D  zwey  Pfund  nie- 
derwärts; in  B  4  Pfund  aufwärts. 

3)  In  E  1  Pfund  niederwärts;  in  ß  1  Pfund  nieder- 
wärts; in  ü  2  Pfund  aufwärts. 

4)  Also  in  A  3  Pfund  niederwärts;  in  C  6  —  2=4 
Pfund  aufwärts;  inß3  —  4+1  =  0  Pfund,  in 
D  2  —  2  =z  0  Pfund,  in  E  1  Pfund  niederwärts. 
Hier  hat  map 

wirkliche  Pfunde 
1)  in  ^,         3  Pfund 


in  C, 


4  Pfund 


2) 


3)  in  E,         1  Pfund 


8  Pfund 


fingirte 

Pfunde 

in   B, 

3  Pfund 

in   C , 

2  Pfund 

in  C, 

2     — 

in  D, 

2      — 

in  B, 

4      — 

in  B, 

1      — 

in  D, 

2      — 

16  Pfund 

23 

Sechzehn  fiugirte  Pfunde,  um  acht  wirkliche  Pfunde 
ins  Gleichgewicht  zu  bringen. 

Es  giebt  allerdings  Falle  genug ,  wo  man  froh  seyn 
muss,  Begriffe  durch  Begriffe  verknüpfen  zu  können, 
ohne  sich  an  die  Reihe  Dessen  was  geschieht,  zu  bin- 
den. Der  spinozistische  Satz:  ordo  et  Cünnexio  idea- 
rum  idem  est  ac  ordo  et  connexio  reriim ,  ist  ganz  und 
gar  kein  Canon  für  das  menschliche  Forschen.  Allein 
hier  ist  nicht  einmal  bloss  die  Abweichung  der  Gedan- 
kenreihe von  der  Folge  des  "Wirklichen,  sondern  sogar 
die  Abweichung  der  Gedanken  vom  gedachten  Gegen- 
stande zu  tadeln.  Ein  ähnliches  ganz  einfaches  Bey- 
spiel,  wo  überall  nicht  vom  Wirklichen  die  Rede  ist, 
mag  der  Satz  geben :  Sin  {A-\-B)  z=  sin  J  cos  B  -{-  sin 
B  cos  yL  Bekanntlich  giebt  es  Lehrbücher ,  die  sicli 
ganz  ernsthaft  die  IMühe  geben ,  diesen  Satz  zu  beweisen, 
während  er  nur  einer  zweckmässigen  Zeichnung  bedarf, 
wenn  man  nicht  etwan  die  Nachweisung,  dass  in  der 
Figur  sich  ein  Winkel  wiederhohlt ,  für  einen  Beweis 
gelten  lässt.  Alan  zeichne,  um  es  bequem  zu  haben, 
den  ersten  Radius  horizontal ,  öffue  aufwärts  den  Win- 
kel A,  weiter  aufwärts  den  Winkel  B;  zeichne  ferner 
die  linearen  Sinus  von  A,  B,  und  A  -\-  B  wie  gewöhn- 
lich; und  bemerke  nun  den  Punct,  wo  der  Sinus  und 
der  Cosinus  von  B  zusammenstossen.  Aus  diesem  Puncte 
werde  eine  horizontale  und  eine  lothrechte  Linie  gezo- 
gen ,  und  zugleich  beachtet ,  dass  in  dem  obersten  Puncte 
der  Figur,  von  wo  sich  der  Sinus  von  ß  und  von  y4-}~  ^* 
herab  senken ,  der  Winkel  A  sich  wiederhohlen  muss ; 
(wegen  Gleichheit  zweyer  Scheitelwinkel  und  zweyer 
rechter  Winkel,  die  gar  nicht  zu  verfehlen  sind).  Weiss 
man  dieses ,    so   liegt    der    Sinus  von  A  -\- B  als   beste- 


24 

hend  aus  zwey  Theilen,  immillelbar  vor  Augen ;  dem 
obern  Theile  kann  man  keine  andi'e  Benennung  geben 
als  Sinus  B  mal  Cosinus  A,  dem  untern  keinen  andern 
Namen  als  Cosinus  B  mal  Sinus  yl.  Daher  bleibt  hier 
zum  Beweisen  kein  Raum;  und  eben  so  unmittelbar 
liegt  in  der  nämlichen  Figur  der  Satz  Cos  (^A  -{-  B) 
=z  cos  B  cos  yj  —  sin  B  sin  A  vor  Augen. 

Man  vergleiche  hiemit  den,  halb  construirenden  halb 
rechnenden ,  aus  einem  Viereck  und  einem  Dreyeck  im 
Kreise  hergeholillen,  und  die  Eigenschaften  des  Kreises 
mehrfach  in  Anspruch  nehmenden,  Beweis,  welchen 
Klügel  in  seinem  mathematischen  Wörterbuch  (Artikel 
Goniometrie,)  für  den  leichtesten  Beweis  aus- 
giebt.  Histoiüsch  merkwürdig  mag  es  seyn,  dass  Pto- 
lemäus  auf  den  nach  ilim  benannten  Satze  die  Berech- 
nung der  Chorden  gegründet  hat  ,•  für  den  iunern  Zu- 
sammenhang aber  entscheidet  dieser  Umstand  nichts 
mehr,  als  der,  dass  einst  ein  Mathematiker  begehrte, 
man  solle  den  Pythagoräischen  Lehrsatz  aus  dem  Pto- 
lemäischen  beweisen.  Warum  nicht  gar  etwan  den 
Satz  von  den  gleichen  Rechtecken ,  wenn  zwey  Chorden 
des  Kreises  sich  schneiden,  aus  der  allgemeinen  Lehre 
von  den  Kegelschnitten  ableiten?  Wirklich  scheint  zu- 
weilen durch  Erhebung  zum  Allgemeinsten  der  Logik 
ein  Respect  erwiesen  zu  werden ,  den  sie  schwerlich 
verdanken  möchte,  wenigstens  nicht  durch  einen  Ge- 
winn an  Klai'heit  verdanken  kann.  Nicht  alle  abslrac- 
ten  Begriffe  werden  dadurch  gewonnen ,  dass  man  un- 
nölhige  IMerkmale  beseitigend  die  Begriffe  vereinfacht ; 
und  niclit  jeder  abstracte  Satz  enthält  alles  das,  wor- 
auf bey  den  ihm  luitergeordneten  Fällen  die  volle  Ein- 
sicht in  seine  Walirheit  beruhet.     Man  kann  den  Kreis 


25 

der  Ellipse,  als  dem  allgemeinern  Begriff,  subsumircn ; 
dennoch  ist  der  Begriff  der  Ellipse  weit  mehr  zusam- 
mengesetzt; man  soll  zwey  Axen  unterscheiden,  man 
kommt  zu  zwey  Breuupuncten ,  man  verliert  die  gleich- 
förmige Krümmung  des  Kreises ,  es  kommen  die  Durch- 
messer, die  Krümmungshalbmesser  zum  Vorschein,  u.  s.w. 
Wo  läge  nun  ein  Verdienst,  wenn  man  wirklich  den 
Kreis  aus  der  Ellipse  demonsti'iren  könnte?  Und  was 
die  volle  Einsicht  in  die  Falle  anlangt,  die  unter  einer 
allgemeinen  Regel  befasst  waren :  davon  ist  eben  hier 
,  ein  Beyspiel  gegeben.  Mau  mag  überlegen,  ob  das  volle 
Einsicht  ist,  dass  am  Hebel  das  Gleichgewicht  ein  um- 
gekehrtes Verhältniss  der  Arme  und  der  Kräfte  erfo- 
dert ;  so  lange  nämlich  die  Frage  umgangen  war,  wie 
denn  der  Druck ,  welcher  den  Kräften  entgegenwirkt, 
an  den  Hebelarmen  fortgeleitet  werde,  um  sich 
mit  den  Kräften  und  die  Kräfte  unter  einander  in  Ge- 
meinschaft zu  bringen.  Dass  er  von  Ort  zu  Ort  muss 
fortgeführt  werden,  und  zu  den  entfernteren  Stellen 
nicht  gelangen  kann  ohne  die  näheren  zu  durchlaufen, 
liegt  am  Tage ;  aber  man  hatte  sich  nicht  darum  be- 
kümmert, und  die  ungleichartigen  Falle  des  mehr  oder 
weniger  schnell  und  bestimmt  sich  ausbildenden  Gleich- 
gewichts wurden  nicht  unterschieden. 

Zu  unserer  Absicht  ist  hoffentlich  nicht  nöthig,  auch 
noch  desjenigen  Falles  zu  gedenken,  welcher  eintrit 
wenn  ein  Balken  auf  drey  oder  mehrere  Stützen  gelegt 
wird,  die  in  gerader  Linie  stehn.  Bekanntlich  reicht 
hiebey  die  gewöhnliche  Betrachtung  des  Hebels  nicht 
hin.  Auch  würde  die  Vertheilung  auf  drey  Puncte  in 
gerader  Linie  unmöglich  seyn,  wenn  der  Balken  voll- 
kommen   uubiegsam,    oder    die    Stützen     durchaus   vest 


26 

Nvären;  denn  alsdann  müsslen  die  beydeu  Stützen,  zwi- 
schen welche  der  Schwerpunct  fällt,  das  Gewicht  ganz 
tragen.  Anders  ists,  wenn  der  Balken  gedacht  w^ird, 
als  hinge  er  in  drey  Stricken  ;  da  lasst  sich  die  etwas 
schiefe  Lage  bestimmen,  welche  der  Balken  annehmen 
wird,  und  hiemit  auch  der  Antheil  am  Gewicht,  wel- 
chen jeder  Strick  zu  tragen  bekommt.  Oberflächlich 
angesehen,  hat  dieser  Fall  noch  mehr  Ähnlichkeit  als 
die  vorigen  mit  dem  ungleichen  Sinken  dreyer  Vorstel- 
lungen von  ungleicher  Stärke ;  allein  er  ist  zu  verwickelt 
für  unsern  »Zweck;  und  wir  gehen  nicht  darauf  aus, 
Analogien  zu  empfehlen ,  sondern  solche  die  sich  auf- 
dringen, unschädlich  zu   machen. 

Mag  der  Druck,  dessen  Verth eilung  untersucht 
wurde,  sich  so  oder  anders  vertheilen:  immer  wird  er 
getragen;  es  ist  Druck  und  Gegendruck,  es  ist  auch 
Gleichheit  beyder  vorhanden,  luid  hierin  kein  Unter- 
schied zwischen  vertheiltem  Druck  und  demjenigen,  wel- 
cher unvertheilt  getragen  wird,  wo  eine  Masse  auf  Ei- 
ner vesten  Stütze  ruhet. 

Allein  die  Bedeutung  des  Wortes  Gleichgewicht 
ist  hierauf  nicht  beschränkt.  Der  Gegensatz  zwischen 
Statik  und  Mechanik  erfodert,  dass  mau  Ruhe  und  Be- 
Nvegung  einander  entgegen  setze.  An  die  Stelle  der  Be- 
wegung, einer  Veränderung  des  Orts,  trit  alsdann  für 
Vorstellungen ,  die  einmal  nichts  Räumliches  sind ,  das 
Ubergehn  von  Klarheit  in  Verdunkelung  und  umgekehrt. 
Dies  IJbergehn  hat  in  jedem  Augenblicke  für  jede  Vor- 
stellung seine  bestimmte  Geschwindigkeit;  wenn  aber 
die  Geschwindigkeit,  welche  durch  wider  einander  wii'- 
kende  Vorstellungen  notliwendig  gemacht  war,  jetzt  rz:  0 
wird ,  dann  ist    Stillstand ,    und    mit   ihm  Gleichgewicht 


27 

in  so  fern  vorhanden ,  als  die  Vorstellungen  in  ihrer 
"Wechselwirkung  den  Punct  erreicht  haben,  über  den 
sie  nicht  hinaus,  jenseits  dessen  sie  nichts  mehr  aus- 
richten können. 

Nun  gehe  man  zum  Hebel  zurück.  Ungleiche  Ge- 
wichte an  ungleichen  Hebelarmen ,  bey  umgekehrtem 
Verhältnisse,  sind  unter  sich  im  Gleichgewicht.  Aber 
hier  ist  nicht  jenes  zuerst  erwähnte  Gleichgewicht  zweyer 
gleich  starker  Drucke,  die  wegen  entgegengesetzter 
Richtung  sich  aufheben.  Die  ungleichen  Gewichte  wer- 
den nicht  dadurch  gleich,  dass  mau  sie  an  ungleichen 
Hebelarmen  aufhängt.  Nur  darum ,  weil  keins  das  an- 
dre bewegen  kann,  schreibt  man  ihnen  Gleichgewicht 
zu.  Man  denke  hier  an  die  Umdrehung  des  Hebels, 
welche  jedes  Gewicht  bewirken  würde,  wenn  das  an- 
dre schwächer  oder  dem  Unterstützungspuncte  näher 
wäre.  Man  verrücke  ein  Gewicht ,  und  die  Umdrehung 
erfolgt;  man  bringe  es  wieder  au  die  rechte  Stelle, 
und  die  Älöglichkeit  des  Drehens  verschwindet.  Also 
diese  Stelle,  die  wir  die  rechte  nannten,  bringt  die  JMög- 
lichkeit  der  Bewegung  auf  Null. 

Wo  nun  zwischen  ungleichen  Kräften  Gleichgewicht 
erfolgen  soll,  da  sieht  man  sogleich,  dass  ein  Umstand 
hinzukommen  muss,  der  die  Ungleichheit  aufhebt.  Das 
heisst  nicht:  die  ungleichen  Kräfte  au  sich  gleich  macht, 
denn  sie  sind  eben  der  Voraussetzung  nach  ungleich, 
—  sondern  der  hinzukommende  Umstand  muss  einen 
Erfolg ,  den  die  Kräfte  haben ,  begünstigen  auf  der  einen 
Seite ,  und  vermindern  auf  der  andern.  Beym  Hebel  isls 
die  Länge  der  Arme,  welche  hier  günstig  dort  ungün- 
stig auf  den  Erfolg,  nämlich  auf  die  Umdrehung  nach 
einer  oder  der  andern  Seite  wirkt.     Was  bey  den  Vor- 


28 

stelluugen  au  die  Stelle  der  Hebelarme  trit,  davon  gleich 
weiterhin;  wiewohl  jnau  es  als  längst  bekannt  voraus- 
setzen dürfte. 

Zunächst  aber  wollen  wir  hier  aussprechen,  dass 
bey  den  frey  steigenden  Vorstellungen,  (welche  den  Ge- 
genstand der  folgenden  Abhandlung  ausmachen),  auch 
jener  erste,  engste  Begriff  des  Gleichgewichts,  —  wirk- 
liche Gleichheit  des  Drucks  und  Gegendrucks  —  seineu 
Platz  finden  wird.  Es  wird  ein  Unterscliied  zum  Vor- 
schein kommen,  dessen  Analogon  wir  am  Hebel  schon 
nachgewiesen  haben.  Ein  Unterschied,  der  nothwendig 
beaclitet  werden  muss,  weil  zwey  ganz  verschiedene  Be- 
griffe sich  dem  Nachdenkenden  leicht  wechselsweise  dar- 
bieten können,  die,  wenn  man  unvermerkt  aus  dem  einen  in 
den  andern  hinübergleitet,  einander  gegenseitig  verderben. 

Am  Hebel  ist  eigentlich,  wie  oben  gezeigt  wurde, 
Gleichgewicht  zwischen  beyden  Gewichten  zusammen- 
genommen einerseits,  und  dem  Gegendrucke  amUnter- 
stützungspuncte  andererseits,  vorhanden.  Hier  ist  die  wirk- 
licheGleichheit  desDrucks  und  Gegen  drucks. 

Aber  am  Hebel  können  auch  die  Gewichte,  in  so 
fern  sie,  anders  angebracht,  eine  Umdrehung  hervor- 
bringen würden,  einander  entgegengesetzt  werden,  und 
hier  haben  wir  jene  Gleichheit  nicht  der  Kräfte 
sondern  der  Erfolge. 

Beyde  Begriffe  sollen  auf  die  Vorstellungen  an- 
gewendet werden;  nur  nicht  vermengt  sondern  jeder 
am  rechten  Orte. 

1)  Älehrere,  unter  sich  entgegengesetzte,  Vorstellun- 
gen seyen  aus  dem  Bewusstseyn  verdrängt  gewesen: 
plötzlich  verschwinde  alle  Hemmung.  Sogleich  w^ird 
jede ,    gemäss    ihrer    ursprünglichen    Stärke ,    anfangen, 


29 

sich  empor  zu  riclitcn.  Aber  indem  sie  sämmllich  her- 
vortreten, entstellt  unter  ihnen  selbst,  gemäss  den  Gra- 
den ihres  Gegensatzes,  eine  Hemmung.  Wie  lange 
werden  sie  fortfahren  zu  steigen?  Und  wie  weit  wer- 
den sie  kommen':*  —  Noch  ehe  dies  durch  Rechnung 
bestimmt  wird,  sieht  man  im  Allgemeinen  gleich  Fol- 
gendes: die  Hemmung  ist  das  Hinderniss;  die  ursprüng- 
liche Stärke  ist  es ,  welche  zum  Steigen  treibt.  Da  ist 
Druck  und  Gegendruck.  Wie  gross  das  Quantum  der 
Hemmung,  so  gross  muss  der  noch  übrige  Antrieb  zum 
Steigen  seyn ;  nicht  eher  kann  das  Steigen  aufliören; 
nicht  länger  und  nicht  weiter  kann  es  fortfahren.  Also: 
ist  die  Gränze  des  Steigens  erreicht,  so  muss  sich  fin- 
den, dass,  wenn  das  Quantum  des  hervorgetretenen 
Vorstellens  abgezogen  wird  von  der  Summe  der  Vor- 
stellungen selbst  nach  ihrer  ursprünglichen  Stärke,  der 
Rest  gleich  sey  der  hervorgetretenen  Hemmungssumnie. 
Wegen  der  hieher  gehörigen  Rechnungen  verweisen  wir 
auf  die  folgende  Abhandlung. 

2)  Mehrere,  unter  sich  entgegengesetzte  Yoi*stellun- 
gen  entstehen  eben  jetzt  in  unmittelbarer  Wahrnehmung. 
So  können  sie  nicht  bleiben ;  sie  sind  weit  entfernt 
vom  Gleichgewichte ;  sie  müssen  sinken  wegen  des  Ge- 
gensatzes. Wie  unterscheidet  sich  aber  dieser  Fall  vom 
vorigen?  —  Erstlich:  die  ganze  Hemmungssumme  ist 
auf  einmal  da;  sie  entsteht  nicht  erst,  sie  hängt  nicht 
ab  von  dem  was  noch  geschehen  ^vird ;  ihr  kann  nichts 
versagt  werden;  sie  ist  eine  unabäudei'liche  Nothwen- 
digkeit  dessen  was  geschehen  muss.  Also  kann  sie  auch 
nicht  in  irgend  ein  Gleichgewicht ,  wie  wenn  sie  ein 
Glied  desselben  wäre,  eintreten.  Aber  zweytens;  sie 
kann  auch    nicht    allein    bestimmen ,    wieviel    von    jeder 


30 

einzelnen  Vorstellung  sinken  werde;  sondern  dies  hängt 
davon  ab ,  In  welchem  Verhältnisse  die  Vorstellungen 
gegen  die  Hemmung  nachgiebig  sind.  Drittens :  die  Vor- 
stellungen sind  nicht  ursprünglich  Kräfte ;  aber  sie  wer- 
den es  in  dem  Maasse ,  In  welchem  der  gewaltsame  Zu- 
stand wächst,  worin  die  Hemmung  sie  versetzt.  Also:  un- 
ter den  Vorstellungen  muss  sich  das  Gleichgewicht  bilden; 
und  zwar  dadurch,  dass  die  schwächern  mehr,  die  stärkern 
weniger  In    den   gewaltsamen  Zustand  versetzt  werden. 

Diese  Begriffe  sollen  nun  zwar  nicht  aus  der  Lehre 
vom  Hebel  verstanden  werden ,  als  ob  sie  von  dort  ent- 
lehnt oder  abgeleitet  wären.  Aber  vorausgesetzt,  man 
könne  sich  der  Analogien  nicht  enthalten,  so  mag  man 
nun  zusehii,  wie  jene,  beym  Hebel  vorkommenden  Be- 
griffe hieher  passen. 

Wo  die  Hemmungssumme  nur  soweit  anwächst,  als 
das  Stelgen  der  Vorstellungen  sie  mitbringt,  da  gleicht 
sie  einer  Last,  die  getragen  wird,  und  sich  mit  den 
Krähen  ins  Gleichgewicht  setzt.  Hier  haben  wir  den 
Druck,  der  sich  verthellt. 

Wo  aber  die  Hemmungssumme  ursprünglich  da  ist, 
da  soll  unter  den  Vorstellungen  ein  Umstand  hinzu- 
kommen, welcher  mache,  dass  der  Erfolg  eine  Gränze 
finde ,  worüber  hinaus  kein  weiteres  Wirken  statt  habe. 
So  soll  unter  den  Gewichten ,  so  fern  sie  den  Hebel 
drehen  könnten,  eine  Ungleichheit  der  Arme  hinzu- 
kommen ,  vermöge  welcher  das  kleinere  Gewicht  Im 
Stande  sey,  die  Umdrehung  durchs  grössere  zu  hindern. 
Anstatt  der  Ungleichheit  der  Arme  hat  man  bey  den 
Vorstellungen  die  schon  geschehene  Hemmung,  also  den 
gewaltsamen  Zustand,  welchen  die  schwächern  mehr  als 
die  stärkern  erleiden   müssen,   bevor    an    Gleichgewicht 


31 

denken  ist.  Naclulem  dieser  Unterschied  des  Mehr  und 
Weniger  seine  gehörige  Grösse  erreicht  hat,  ist  die 
Möglichkeit  der  weitern  Hemmung,  des  tiefern  Sinkens, 
auf  Null  gebraclit;  in  so  fern  sie  nämlich  von  den  in 
Wechselwirkung  beginfFenen  Vorstellungen  abhängt.  Man 
hat  also  hier  nur  ein  Gleichgewicht  des  Erfolgs;  es  be- 
darf keiner  Gleichheit  weder  der  Energien  noch  der  ur- 
sprünglichen Stärke ;  eben  so  wenig  als  beym  Hebel 
Gleichheit  der  Gewichte  und  Gleichheit  der  Hebelarme 
uothwendig  ist.  Vielmehr  dienen  gerade  die  entgegen- 
gesetzten Ungleichheiten  zur  Ausgleichung. 

Wir  haben  gesagt,  die  Gleichheit  des  Drucks  und 
Gegendrucks  komme  bey  den  zugleich  steigenden  Vor- 
stellungen zur  Anwendung.  Dies  darf  nicht  so  verstan- 
den werden,  als  ob  dort  die  andre  Art  des  Gleichge- 
wichts fehlte.  Vielmehr  liegt  es  in  der  Natur  der  Saclie, 
dass  nicht  bloss  die  Hemmungssumme  sich  gegen  das 
noch  übrige  Aufstreben  der  Vorstellungen  ins  Gleich- 
gewicht setzen  muss ,  sondern  überdies  noch  in  An- 
sehung der  Hemmungssumnie ,  als  einer  unabänderli- 
chen Nothwendigkeit  des  Sinkens,  die  Vorstellungen 
selbst  durch  die  Art,  wie  sie  dies  nothwendige  Sinken 
unter  sichtheilen,  unter  einander  ins  Gleichgewicht 
treten.  Die  folgende  Abhandlung  wird  zeigen ,  dass  zur 
Unterscheidung  beyder  Foderungen  der  Calcul  selbst 
eine  ungesuchte  Hülfe  leistet;  indem  er,  mit  einer  merk- 
würdigen Genauigkeit ,  zweyerley  Exponentialgrössen  her- 
beyführt,  von  denen  nur  die  eine  sich  auf  die  Hem- 
mungssumme bezieht. 

Soviel  von  der  Analogie  mit  dem  Hebel.  Mau  erin- 
nert sich  vielleicht  einer  andern ,  ebenfalls  beynahe  un- 
vermeidlichen Analogie  der  Vorstellungen  mit  elastischen 


32 

Körpern.  Diese  Vergleichung  ist  unentbelirlicli  im  Vor- 
trage für  Anfänger,  die  von  dem  Beharren  der  Vorstel- 
lungen, —  und  zwar  in  ihrer  ganzen  ursprünglichen 
Stärke  —  auch  dann ,  wann  sie  aus  dem  Bewusstseyn 
verdrängt  sind ,  ]\lühe  haben  den  Gedanken  anders  als 
so  zu  fassen:  Die  Vorstellungen  seyen  elastisch,  und 
hieinit  einer  Form- Änderung  fähig  ohne  Verlust  des 
Vermögens ,  sich  von  selbst  wieder  in  ihren  ursprüng- 
lichen Zustand  zu  versetzen,  naclidem  das  Hinderniss 
entweiche.  Will  man  nun  diese  Analogie  weiter  durch- 
führen, so  bietet  sich  zunächst  dieses  dar,  dass  meh- 
rere neben  einander  liegende  Stahlfedern  gemeinschaft- 
lich ein  Gewicht  zu  tragen  haben,  unter  welchem  die 
schwächern  Federn  sich  mehr,  die  stärkern  weniger 
krümmen  -werden;  das  Gewicht  bedeutet  die  Hem- 
mungssumme, die  verschiedene  Nachgiebigkeit  der  Fe- 
dern das  Hemmungsverhältniss.  Allein  diese  Analogie 
vei'leitet  zu  der  Meinung:  wie  das  Gewicht  zwar  um 
Etwas  sinke,  dann  aber  getragen  werde,  so  sinke  auch 
die  Hemmuugssumme  ein  wenig,  dann  setze  sie  sich 
ins  Gleichgewicht  gegen  den  Widerstand  der  Federn, 
und  sinke  nun  nicht  weiter.  Sie  muss  aber  ganz 
und  gar  sinken;  sie  ist  nichts  anders  als  diese  Noth- 
•wendigkeit  des  Sinkens  so  lange,  bis  sie  wirklich  voll- 
ständig gesunken  ist;  und  auch  bey  steigenden  Vorstel- 
lungen geschieht  das  Sinken  während  des  Steigens ;  man 
kann  zuletzt,  das  heisst  eigentlich  nach  unendlicher 
Zeit,  denjenigen  Theil  der  noch  aufstrebenden  Vorstel- 
lungen, welcher  am  ferneren  Steigen  gehindert  ist,  als 
die  gesunkene  Hemmungssumme  betrachten ,  so  dass  man 
auch  sagen  kann ,  sie  ist  nichts  Anderes  als  die  Unmög- 
lichkeit des  ferneren  Steigens;  welche    aus    dem   gegen- 


33 

scitigeii  Drucke  des  wirklich  hervorgetretenen  Vorstel- 
lens  entsteht.  Als  llechnungsgrösse  betrachtet,  findet 
man  sie  nun  auch  in  diesen ,  wirklich  hervorgetretenen 
Vorstellungen;  dann  aber  ist  sie  anzusehen  als  eine  Last, 
die  nicht  im  geringsten  sinken  kann ,  weil  sie  zuletzt, 
bey  völlig  ausgebildetem  Gleichgewicht,  auch  vollkom- 
men getragen  wird. 

]Man  kann  versuchen ,  auch  diese  Analogie  in  eine 
andre  Form  zu  bringen ,  daniit  wenigstens  jeuer  Irrthum 
vermieden  werde.  Wir  denken  uns  zuvörderst  eine 
Reihe  von  Cykloiden,  dergleichen  ein  Punct  in  der  Pe- 
ripherie eines  Rades  nach  einander  beschreibt ,  während 
das  Rad  auf  ebenem  Boden  immer  fortrollt.  Zvvey  oder 
drey  solcher  an  einander  gehefteten  Cykloiden  seyen 
eben  so  viele  Stahlfedern.  Die  beyden  ausserslen  End- 
puncte  dieser  Reihe  von  Bogen  (auf  deren  cykloidali- 
sche  Gestalt  hier  nichts  ankommt)  seyen  eingeschroben 
in  ein  paar  Balken ;  und  von  diesen  beyden  Balken  stehe 
der  eine  vollkommen  vest ;  der  andre  sey  beweglich. 
Nun  werde  mit  Gewalt  der  letztere  wirklich  von  der 
Stelle  gerückt,  so  dass  seine  Entfernung  vom  erstem 
um  ein  bestimmtes  Stück  wachse ;  alsdann  aber  wei'de 
derselbe  gleichfalls  an  seinem  jetzigen  Platze  vollkom- 
men bevesligt.  Die  zwischen  den  Balken  befindlichen 
Stahlfedern  w^erden  sich  ausdehnen  müssen;  alle  um 
gleichviel,  wenn  sie  gleich  stark  sind;  falls  aber  unter 
ihnen  einige  starker,  andere  schwächer  sind,  so  ist 
nicht  eher  Gleichgewicht  unter  den  Federn,  als  bis  die 
schwächern  eben  dadurch ,  dass  sie  sich  mehr  aus- 
dehnen,  auch  mehr  Energie  gewinnen,  um  der  fernem 
Ausdehnung  sich  zu  widersetzen.  Nach  solcher  Umfor- 
mung der  Analogie  gewinnt  man  soviel,  dass  die  Hem- 
Heft  II.  C 


34 

inungssuinme  nicht  mehr  einem  wirklichen  Dinge  (wie 
vorhin  dem  Gewiclite)  kann  verglichen  werden;  und 
überdies,  dass  die  Entfei-nung  der  Balken,  welche  eben 
das  Gleichniss  für  die  Heninuuigssumme  ist,  als  eine 
unabänderliche  Nothwendigkeit  sich  darstellt,  die  nicht 
selbst  in  ein  Gleichgewicht  eingeht,  sondern,  (wie  bey 
sinkenden  Vorstellungen)  bloss  die  Stahlfedern  nöthigt, 
unter  einander  ein  Gleichgewicht  zu  bilden,  indem  sie 
die  erzwungene  Ausdehnung  unter  sich  theilen.  Allein 
nun  fehlt  der  Analogie  ein  Hauptpuuct;  dieser  nämlich, 
dass  die  Hemmungssumme  von  den  Vorstellungen,  in  so 
fern  sie  entgegengesetzt  sind ,  lierrührt ,  während  das 
Gleichniss  ihr  das  Ansehen  einer  äussern  Gewalt  giebt. 
Um  wiederum  diesen  Uebelstand  zu  vermeiden, 
könnte  man  gar  auf  den  Gedanken  kommen,  die  Vor- 
stellungen mit  chemisch  dilferenten  Stoffen,  etwan  Säu- 
ren und  Alkalien ,  zu  vergleichen.  Da  wäre  der  Ge- 
gensalz selbst  der  Griuid  einer  Hemmung,  —  nämlich 
der  Neutralisirung  ,  wobey  die  sinnlichen  Eigenschaften 
jedes  einzelnen  Stojffes  verloren  gehn,  —  und  zugleich 
der  Grund  einer  neuen  Gestaltung,  —  nämlich  der  Kry- 
stallisation ,  womit  nun  die  Bestimmung  des  Hemmungs- 
verhältnisses ,  und  die  hievon  abhängende  Verschmel- 
zung der  Vorstellungen  nach  der  Hemmung ,  verglichen 
zu  werden  sich  gefallen  lassen  müsste.  Was  ist  das 
Ende?  Alle  Analogien  werden  Denjenigen  im  Stiche  las- 
sen, der  nicht  Achtsamkeit  oder  Fähigkeit  genug  be- 
sitzt, um  die  Sache  selbst,  unnüttelbar  wie  sie  ist, 
zu  begreifen.  Onine  sintile  Claudicat.  Alan  kann  durch 
Gleichnisse  nur  aufmerksam  machen ;  den  Begriff  selbst 
muss  immer  nocli  das  eigne  Nachdenken  erzeugen. 


35 


lieber  ß'ey  steigende   f^or Stellungen. 

Einleitung. 

Die  Untersuchungen,  -welclie  hier  folgen,  können 
ihren  Kreis  erweitern  bis  zu  einem  Seitcnstiick  für  die 
schon  bekannten  Gruntllinien  der  Statik  inul  INlechanik 
des  Geistes ;  denn  man  stösst  hier  und  dort  auf  ähnliche 
Fragepuncte.  Damit  ist  ihnen  nun  zwar  ihre  Stelle  be- 
zeichnet;  allein  es  ist  nicht  ganz  so  leicht,  ihren  Zu- 
sammenhang mit  den  Thatsachen  vor  Augen  zu  legen. 
Zwar  iSsst  sich  kurz  sagen ,  man  möge  sich  erinnern 
an  das  Erwachen  aus  dem  Sclilafe,  und  an  die  hiemit 
von  selbst  hervortretenden  Gedanken;  an  das  Wieder- 
kehren zum  Geschafft  nach  einer  störenden  Unterbre- 
chung, Avobey  die  Vorstellungen  der  Gegenstände,  wo- 
mit man  beschäfftigt  war,  sich  von  selbst  aufs  neue  er- 
heben ,  nachdem  sie  für  eine  Zeitlang  verdrängt  waren. 
Das  freye  Steigen  solclier  Vorstellungen  ist  keine  Re- 
production  in  dem  Sinne,  wie  wir  dies  Wort  zu  neh- 
men pflegen:  denn  es  bedarf  dazu  keiner  reproduciren- 
den  durch  Wahrnelmuuig  gleichartiger,  oder  durch  Ver- 
bindung anderer  Gegenstände  mit  dem,  was  sich  jetzt 
im  Bewusstseyn  erliebt.  Die  Störung  braucht  nur  auf- 
zuhören; der  Scldaf  braucht  nur  zu  entweichen.  Dass 
nun ,  wenn  mehrere  unter  einander  entgegengesetzte  Vor- 

C2 


Stellungen  unter  solchen  Umstanden  zugleich  steigen, 
sich  die  Fragen  nach  ihrer  Hemmung  und  Verbindung 
erneuern  müssen;  und  dass  die  Untersuchung  eine  andre 
Gestalt  annehmen  wird  als  bey  den  zugleich  sinkenden, 
sieht  man  auf  den  ersten  Blick.  Fragt  man  nach  der 
Möglichkeit  der  Untersuchung ,  so  ist  die  Antwort,  sie 
geschieht  in  Folge  schon  bekannter  Gründe,  und  ist 
nur  Fortsetzung  des  längst  Begonnenen.  Dies  Alles 
reicht  jedoch  nicht  hin,  um  das  Eingreifen  der  Betrach- 
tung frey  steigender  Vorstellungen  in  das  Ganze  der 
Psychologie  hinreichend  deutlich  zu  machen. 

Wollte  man  sich  an  die  verschiedenen  Seelenvermö- 
gen wenden,  so  würden  deren  Anhänger  vielleicht  je- 
dem derselben  frey  steigende  Vorstellungen  beylegen 
wollen;  frey  steigende  Begriffe,  Urtheile,  Schlüsse  eben 
so  wohl  als  Phantasien  und  Vorräthe  des  Gedächtnis- 
ses. Wir  lassen  uns  darauf  nicht  ein,  sondern  erinnern 
bloss,  dass  zwar  gegen  das  freye  Steigen  auch  der  ver- 
schiedensten Vorstellungen  nichts  einzuwenden  ist,  dass 
aber  die  Untersuchung  ihren  Anfang  nur  da  nehmen 
kann,  wo  noch  keine  Verwickelungen  vorkommen;  und 
dass  man  des  Anfangs  wegen  zu  der  Voraussetzung  ein- 
facher Vorstellungen  zurückgehen  muss. 

Gerade  dieses  nothwendige  Beyseitsetzen  aller  Ver- 
wickelungen nun  erschwert  am  meisten  die  Anknüpfung 
an  das  Bekannte;  denn  wir  finden  in  unserer  Selbst- 
beobachtung den  Zustand  unserer  Vorstellungen  nicht 
einfach ;  wir  finden  uns  mitten  in  der  Verwickelung, 
die  im  Laufe  langer  Jahre  entstanden  ist. 

Den  allbekannten  JMiltelpunct  unseres  Bewusstseyns 
bildet  das  eigne  Selbst,  das  Ich.  In  dem  grössern  psy- 
chologischen   Werke,    welches    diesen    Untersuchungen 


37 

zum  Grunde  liegt,  Ist  vom  Selbslbewusstseyu ,  und  noch 
früher  von  der  Apperceptlon ,  ausfühillcli  gehandelt  \s Or- 
den, Vom  dortigen  Vortrage  gehe  man  im  eignen  Nach- 
denken weiter,  nur  nicht  vorwärts  zu  den  Folgen,  son- 
dern rückwärts  zu  den  Voraussetzungen ;  imd  man  wird 
gelangen  bis  zu  dem  Gegensatz  zwischen  unserm  Innern 
und  Ausseren ;  man  wird  überlegen,  dass  eine  beständige 
Wechselwirkung  Statt  findet  zwischen  dem,  was  die 
Wahrnehmungen  von  aussen  bringen,  mid  was  im  In- 
nern schon  ist ,  sey  es  nun  ,  dass  man  dieses  Innere  als 
einen  vorhandenen  Vorrath  oder  als  reizbar  und  reg- 
sam betrachte. 

Richtet  Jemand  den  Blick  auf  sich  selbst,  und  soll 
das  Selbst  mehr  bedeuten  als  bloss  den  Leib,  so  ist 
dieser  Blick  gewiss  ein  Blick  nach  Innen.  Betrachtet 
Jemand  sich  als  ein  vorstellendes  Wesen ,  so  hat  er 
ohne  Zweifel  schon  Vorstellungen  als  solche  unterschie- 
den von  vorgestellten  Dingen.  Vergangenes,  oder  Ab- 
wesendes hat  ihm  vorgeschwebt ;  oder  irgendwie  hat 
er  Dinge  ihrer  Beschalfenheit  nach  angetroffen  >vo  sie 
in  der  Wirklichkeit  nicht  waren ;  er  hat  sie  dort  als 
Bilder  angesehen ,  denen  die  Wirklichkeit  fehle.  Ohne- 
hin ist  der  Mensch  in  einem  beständigen  Durchgehn 
durch  mancherley  Wohl  und  Wehe;  in  diesem  Durch- 
gange finden  sich  Voi'stellungen,  zu  denen  der  Vorstel- 
lende hinzugedacht  wird,  Dass  nun  der  Mensch  seine 
Vorstellungen  ursprünglich  mit  Hülfe  der  ihm  verlie- 
henen Sinne  erzeugte  ,  diese  Betrachtimg  würde  uns  hier 
zuweit  rückwärts  fiihren;  in  dem  Augenblicke  der  Er- 
zeugung werden  die  Vorstellungen  nicht  als  solche, 
nicht  als  blosse  Bilder  aufgefasst;  der  Sehende  glaub l 
die  Dinge  selbst  zu  sehen ,  der  Tastende  glaubt  die  Dinge 


selbst  zu  belasten.  Dass  die  Yorslellungeu,  welche  der 
IMenscli  sich  zuschreibt,  einer  fei-nern,  höchst  mannig- 
faltigen Ausbildung  fähig  sind,  diese  Betrachtung  würde 
uns  zu  weit  vorwärts  führen;  denn  hier  soll  nicht  von 
höhern  Bildungsstufen  geredet  werden.  Dass  sowohl 
die  im  Innern  schon  vorhandenen  Vorstellungen ,  als 
auch'  die  neuen,  noch  hinzukommenden  Wahrnehmun- 
gen ,  in  langen  Reihen  reproducirend  auf  andre  und 
andre  Vorstellungen  wirken,  diese  Betrachtung  würde 
uns  seitwärts  von  unserm  Ziel  ablenken.  Vieles  von 
dem,  woran  man  unwillkührlich  denkt,  wenn  ins  In- 
nere der  Blick  gelenkt  wird,  muss  absichtlich  bey  Seite 
gesetzt  werden ,  weil  es  die  Untersuchung  stören  würde. 
Auch  des  Selbstbewusstseyns  ist  hier  nur  deshalb  Er- 
wähnung geschehen,  um  einen  bequemen  oder  doch  be- 
kannten Auknüpfungspunct  zu  haben.  ISicht  einmal  die 
Apperception  dessen,  was  der  JMensch  als  zeitlich  wech- 
selnd in  sich  wahrnimmt ,  gehört  Ijieher.  Freylich  kann 
man  sich  schon  die  gewöhnlichsten  geistigen  Zustände 
(noch  abgesehen  von  jeder  besondern  Aufregung)  nicht 
anders  deutlich  auseinandersetzen,  als  indem  man  die 
vorhandenen  Vorstellungen,  die  hinzukommenden  Wahr- 
nehnunigen  ,  die  von  beyden  ausgehenden  Reproductio- 
nen ,  und  die  x\pperceptionen  beachtet  inid  unterschei- 
det. Von  diesen  vier  Buncten  aber  sind  es  bloss  die 
ersten  beyden  ,  die  hieher  gehören ;  und  wiederum  sol- 
len von  den  eben  vorhandenen  Vorstellungen  diejenigen, 
welclie  etwan  kurz  zuvor  durch  Reproduclion  oder 
Wahrnehmung  mochten  herbeygeführt  seyn,  abgerechnet 
werden ,  damit  nur  die  frey  aufgestiegenen  übrig  bleiben. 
Bey  weiterer  Ijbertragimg  indessen  wird  man  leicht 
gewahr  werden ,    dass    jenes    zur    Seite    Gelegte    darum 


39 

nicht  bestimmt  ist  iu  Vergessenheit  zu  geralhen.  Wie- 
wohl die  bevorstehende  Untersuchung  es  nicht  unmittel- 
bar in  sich  auTnehmen  kann,  so  hat  sie  doch  darauf  sehr 
nahe  liegende  Beziehungen.  Denn  welche  VorstelUui- 
gen  mögen  diejenigen  seyu,  die  zum  freyen  Hervortre- 
ten sich  eigneten?  Die  schwächsten  gewiss  nicht;  denn 
sie  müssen  der  Hemmung  überlegen  seyn ,  die  Alles  das- 
jenige, was  nur  als  Vorralh  von  Kenntnissen  dienstbar 
ist,  aus  dem  Bewusstseyn  entfernt  hält  solange  es  nicht 
gebi-aucht  und  durch  das  Bedürfniss  reproducirt  wird. 
Hat  man  sich  einigermassen  mit  dem  Gedanken  solcher 
Hemnuing  vertraut  gemacht,  so  weiss  man  schon,  dass 
unter  den  frey  steigenden  Vorstellungen  gerade  die  stärk- 
sten, bleibendsten,  einflussi-eichsten  müssen  gesucht  wer- 
den ;  Vorstellungen  von  dem ,  was  zu  thun ,  zu  bewir- 
ken, oder  doch  zu  erwarten,  zu  hoifen,  zu  fürchten 
sey;  Vorstellungen,  welche  in  unsere  ZweckbegriiTe 
eingehen,  wo  nicht  gar  zu  denen  gehören,  die  dem 
IMenschen  selbst  wider  seinen  Willen  Anti'ieb  und  R^ich- 
tung  im  Denken  und  Handeln  geljen;  Voistellungen,  die 
nicht  bloss  einmal  steigen  imd  bald  wieder  sinken,  son- 
dern jeden  Tag  mit  jedem  neuen  Erwachen  von  neuem 
steigen,  und,  einmal  hervorgetreten,  nun  nicht  mehr 
weichen,  ausser  in  kurzen  FVisten,  um  sogleich  ihren 
alten  Platz  wieder  einzunehmen. 

Dass  solche  Vorstellungen  den  entscheidendsten  Ein- 
lluss  auf  das  Selbslbewusstseyn  haben,  dass  sie  bestim- 
men, was  der  INlensch  von  sich  halt,  was  er  seyu  will 
und  nicht  will,  was  er  wagt  und  wovor  er  zagt,  ja 
selbst  was  er  in  sich  sieht  weil  er  sucht,  oder  in  sich 
verkennt,  weil  er  es  vermeiden  möchte:  dies  gehört 
zu  den  bekannten  Dingen ,    deren   Ausmalung   man  hier 


40 

iiiclil  erwarten  wird.  Auch  darf  mau  nicht  allen  frey 
steigenden  Vorstellungen  die  nämliche  praktische  Wich- 
tigkeit heylegen.  Es  gieht  deren  genug,  die  als  alte  Er- 
innerungen auftauchen,  als  Phantasien  und  Träume  um- 
herschweben ;  auch  sind  sie  nicht  alle  gleich  stark ; 
luid  manche  scheinen  nur  die  leere  Zeit  zu  benutzen, 
welche  entsteht,  wenn  ein  Geschafft  nicht  vorrückt  oder 
zu  ernstem  Denken  die  leibliche  Disposition  ungünstig  ist. 

Im  Allgemeinen  haftet  die  Wichtigkeit  unserer  jetzi- 
gen Untersuchung  an  jener  schon  erwähnten  Wechsel- 
wirkung zwischen  dem  Innern  und  dem  Äusseren;  wo- 
bey  nicht  unbeachtet  bleiben  darf,  dass  die  Glieder  die- 
ser Wechselwirkung,  und  hiemit  auch  ihr  Verhalten 
zu  einander,  sich  im  Laufe  der  Jahre  beständig  verän- 
dern. Das  Innere  w'ird  bereichert  durch  Erfahrungen ; 
seine  Regsamkeit  aber  wird  vermindert  durch  das  was 
abgelhan  oder  misluugen  ist.  Der  Knabe  spielt;  der 
JManu  ist  des  Spiels  grössteutheils  müde ,  und  kennt  den 
Widerstand  der  Aussenwelt.  Das  Kind  phantasirt;  seine 
fi'ey  steigenden  Vorstellungen  beleben  die  Puppe ;  sie 
zeigen  sich  im  Bauen  imd  Zerstören;  der  Knabe  ver- 
sucht; der  ]Maun  handelt  oder  denkt;  je  reifer»,  je  um- 
fassender seine  Pläne,  desto  mehr  hat  sich  das  Innere 
vom  Äussern  geschieden,  und  desto  empfindlicher  wird 
der  Gegensatz  zwischen  der  Aussenwelt,  wo  sie  den 
von  innen  vordringenden  Gedanken  nicht  entspricht,  und 
diesen  Gedanken  selbst,  welche  entweder  sich  dennoch 
nach  eignen  Gesetzen  weiter  ausbilden ,  oder  aber  nach- 
geben, ermatten,  zurücksinken. 

Es  bedarf  indessen  keiner  harten  Proben,  damit  diese 
Empfindlichkeit  sich  zeige.  Schon  das  Gewöhnlichste, 
was  man  hörte  oder  sah,  verändert    seine  Form,    wenn 


41 

es  frey  steigend  wieder  ins  Bewusstseyn  trit.  Gescliicli- 
tcn  werden  anders  weiter  erzählt  als  sie  geschahen;  die 
Sage  ist  keine  wahre  Geschichte  mehr.  Ja  man  braucht 
nur  eine  Landcharte,  die  man  früher  sah,  noch  einmal 
anzusehen,  um  zu  bemerken,  dass  ihre  Züge  anders 
sind  als  man  meinte  ;  besonders  aber,  dass  sie  vester,  be- 
stimmter sind  als  die  schwebende  Erinnerung,  die  da- 
von übrig  geblieben  war.  In  solchen  Fällen  mag  man 
zwar  fragen,  ob  das  Steigen  ganz  frey  vor  sich  ging, 
oder  ob  nicht  vielmehr  die  erneuerte  Wahrnehmung 
das  Ihrige  beytrug,  die  Hemmung  zurückzutreiben.  Al- 
lein die  Frage  vom  ganz  freyen  Steigen  ist  die  ein- 
fachste; sie  nuiss  zuerst  zur  Sprache  kommen,  ehe  man 
etwas  fremdartiges  einmischt. 

Die  genauere  Betrachtung  hat  nun  vorzugsweise  den 
Unterschied  zwischen  den  zugleich  sinkenden  (wohin 
die  Wahrnehmungen  gehören,)  und  den  zugleich  stei- 
genden Vorstellungen  (den  innern)  ins  Licht  zu  setzen. 
Dieser  Unterschied  beruht  wesentlich  auf  der  Hem- 
mungssumme; welche  für  die  zugleich  sinkenden  gleich 
Anfangs  eine  gegebene  constante  Grösse  ist;  hingegen 
bey  den  steigenden  sich  erst  im  Steigen  selbst  erzeugt, 
und  nicht  grösser  werden  kann,  als  das  Entgegengesetzte, 
indem  es  hervortrit,  sie  mit  sich  bringt.  Die  Folge 
hievon  ist,  dass  die  steigenden  einen  höhern  Stand  im 
Bewusstseyn  erreichen,  als  denjenigen,  bey  welchem 
die  nämlichen  Vorstellungen ,  falls  sie  sinken ,  sich  im 
Gleichgewichte   befinden. 

Mit  diesem  ersten  Hauptpuncte  verbindet  sich  ein 
zweyter :  die  Vorstellungen  treten  steigend  in  ein  Ver- 
liältniss,    welches    der   Gleichheit    näher    ist    als     beyiu 


42 

Sinken.  Denn  sie  welchen  von  ihrem  ursprünglichen 
Verhältniss  nicht  so  weit  ab. 

Und  cli'itteus :  diese  Abweichung  geschieht  nur  aUmählig. 

Zu  Beyspiclen  der  einfachsten  Art,  nur  für  zwey 
Vorstelhmgen ,  benutzen  wir  die  Formehi ,  welche  man 

^ l         f,2 

im   ersten    Capitel    linden    wird:    a  =^  a •  — ; 

k  a 

k  a-\~b 

1)  für  a  =:  2,  b  =  1. 

Hieraus  u  =:  ^,  ß  '==:  ^.  Dies  ist  die  Granze  des 
Steigens,  oder  die  Ei-hebungsgriinze  für  a  und  /;.  Das 
Verhältniss  wie  3  :  1.  Zugleich  sinkend  behielte  a  jmr 
den  Rest  4,  b  den  Rest  ^;  das  Verhältniss  wäre  5  :  1*). 
Die  Gränze  würde  erst  in  unendlicher  Zeit  erreicht 
werden.  Für  t  =  1  findet  man  a  =  1,  1914 ;  ß  =z  0,4866 ; 
hier  ist  das  Verhältniss  noch  wenig  mehr  als  2  :   1. 

2)  für  a  =   10,   b  =  1. 

Hieraus  a  =  -.^  ,  ß  =  ^{,  Das  Verhältniss  209:11. 
Zugleich  sinkend  behielte  a  nur  den  Rest  ^^j,  b  den 
Rest  Jy;  das  Verhältniss  wäre  109  :   1. 

Überlegt  man  die  Folgen,  welche  diese  Umstände  im 
Grossen  haben  müssen,  so  wird  bald  klar,  dass  unsi'e 
frey  steigenden  Vorstellungen  sich  unter  einander  weit 
besser  vertragen ,  als  imsre  Wahrnehmungen.  In  der 
Gedankeuvvelt  slossen  sich  die  Dinge  lange  nicht  so  arg, 
als  in  der  wix'klichen.  Die  Gedankenwelt  behält  immer 
etwas  phantastisches,  mährchenhaftes,  ja  traumähnliches, 
im  Vergleich  gegen  das  Harte,  Strenge,  SchroIIe  der 
Erfahrung.     Konunt  die  Wahrnehmung'   zu  dem  Gedan- 


o 


*)  Psychologie    §.  44. 


43 

ken ,  so  findet  sie  immer  etwas  zu  corrigiren ,  zu  be- 
gränzen  ;  noch  glücklich,  wenn  sie  den  Gedanken  nicht 
geradezu  umstösst,  wie  das  Wachen  den  Traum  ver- 
scheucht. Oft  genug  zwar  rührt  dies  von  übersehenen 
Umständen  her,  die  man  wohl  hätte  bedenken  können? 
—  wenn  nämlich  die  Reproduclionen  bekannter  Reihen 
sich  vollständiger  entwickelt  hätten.  Aber  dies  erklärt 
tlie  Sache  hey  weitem  niclit  ganz.  Man  duldet  oft 
recht  gern  auch  das,  was  keinesweges  übersehen  wii'd. 
JNIan  ergötzt  sich  am  Spiele,  am  Phantastischen  und 
Mährchenhaften,  wohl  wissend,  es  sey  nur  Spiel,  und 
gar  nicht  gesonnen,  daraus  Ernst  zu  machen  und  es  in 
der  Wirklichkeit  zu  einfahren.  Dies  Dulden  selbst  des 
Ungereimten  wäre  nicht  möglich  ,  wenn  die  Gegensätze 
der  frey  steigenden  Vorstellungen  sich  so  scharf  und 
so  dringend  schnell  abstiessen  wie  jene  der  Walirneh- 
mungen.  Der  handelnde  JMensch  aber  nuiss  sich  bey 
allem  seinen  Thun  gefallen  lassen,  dass  die  Dinge  an- 
dei's  kommen  als  er  meinte;  er  versucht,  er  lernt  und 
versucht  aufs  Neue.  Das  ist  jene  Wechselwirkung  zwi- 
schen dem  Innern  und  Ausseren. 

Die  Formeln,  welche  bald  folgen  werden,  geben 
noch  einen  besondern  Umstand  zu  erkennen.  Sie  ent- 
halten immer  zwey  Exponentialgrössen  ,  1  —  e  ~  *  und 
1  —  e  ~  ^'^ ,  wo  k  grösser  als  1.  Demnach  haben  die 
steigenden  Vorstellungen  eine  doppelte  Bewegung;  mit 
der  einen  steigen  sie  schneller  als  mit  der  andern.  Die 
Grösse  e  —  ^^  verschwindet  früher  als  die  Grösse  e— '^. 
Dabey  ist  das  Auifallendste ,  dass  die  Hemmuugssumme 
immer  nur  von  einer  dieser  Grössen ,  nämlich  1  —  e  —  ^t 
abhängt,  also  von  dei-jeuigen  Exponentialgrösse,  welche 
am    ersten    verschwindet.      Die    Hemmuusssumme    kann 


44 

demnach  sclion  als  constant  angesehen  werden,  während 
die  Vorstellungen  noch  in  merklicher  Bewegung  sind, 
um  vollends  ins  Gleichgewicht  unter  einander  zu  treten. 
Boy  dreyen  oder  melirern  steigt  alsdann  die  stärkste  am 
meisten,  während  die  schwächste  allemal  zui'ücksinkt. 
Man  kann  sich  fragen,  was  wohl  geschehen  würde, 
wenn  irgend  eine  Gewalt  hinzukäme,  wodurch  die  Vor- 
stellungen gegen  das  Ende  ihrer  Bewegung  gehindert 
■würden,  dieselbe  fortzusetzen?  Wenn  sie  gleichsam  un- 
terwegs gefesselt  stehen  bleiben?  Eine  solche  Gewalt  ist 
nicht  w^eit  zu  suchen;  der  Leib  übt  eine  solche  im 
Traum ,  —  und  theil weise ,  —  nämlich  für  die  soge- 
nannten fixen  Ideen,  im  Wahnsinn.  Da  werden  auch 
diejenigen  Vorstellungen,  welche  wegen  der  Hemmung 
durch  die  Gegensätze  zum  Sinken  bestimmt  sind,  vest- 
gehalten.  —  Allein  dieser  Faden  der  Untersuchung  mag 
für  jetzt  fallen;  es  ist  nöthig,  einenx  andern  nachzugehen. 
Die  Grösse  k  ist  abhängig  von  den  Vorstellungen ; 
sie  ist  verschieden  mit  jeder  Verschiedenheit  der  Fälle ; 
ehen  so  die  Grösse  1  —  e  —  ^^  Dies  kann  nicht  uner- 
w^artet  seyn.  Schon  im  vorigen  Aufsatze  kam  der  Haupt- 
satz vor: 

Wenn  das  Quantum  des  hervorgetretenen  Vorstel- 
lens  abgezogen  wird  von  der   Summe   der  Vorstel- 
lungen selbst  nach    ihrer  ursprünglichen  Stärke;  so 
ist    der    Rest    gleich    der    hervorgetretenen    Hem- 
mungssumme. 
Dieser  Rest  nämlich    ist   das  noch  übrige   Streben    zum 
Hervortreten ;  und  gegen  ihn  muss    sein  Hinderniss,  die 
Hemmungssumme,  sich  genau  ins   Gleichgewicht    stellen. 
Indem  nun,  wie  die  Folge    zeigen  wird,  die    Rechnun- 
gen  diesen  Satz  bestätigen ,    müssen  sie    für    jeden   Fall 


45 

von  der  Annahme  der  Vorstellungen  ausgelin;  die  Grösse 
k,  welche  in  den  Formeln  für  die  Vorstellungen,  und 
auch  in  denen  für  die  Hemmungssumme  vorkommt,  niuss 
nach  Verschiedenheit  der  Falle  eine  verschiedene  Bedeu- 
tung annehmen,  um  sich  jedesmal  der  vorkommenden 
Hemmungssumme,  und  ihrem  Gleichgewichte,  anzupassen. 

Desto  seltsamer  mag  es  auf  den  ersten  Blick  schei- 
nen ,  dass  noch  eine  zweyte  Exponentialgrösse ,  die  mit 
der  Hemmungssumme  nichts  zu  thun  hat,  (denn  sie  rich- 
tet sich  nicht  nach  der  Grösse  A,)  in  den  Formeln  für 
die  Vorstellungen  angetroffen  wird;  und  zwar,  was  das 
Sonderbarste  ist,  immer  eine  und  dieselbe  Grösse  1  —  e  — '. 
Sie  findet  sich  schon  in  der  Formel  für  die  stärkste 
unter  zweyen  Vorstellungen ;  dann  aber  in  allen  For- 
meln für  drey  und  mehrere  Vorstellungen ;  ja  sie  kehrt 
wieder  bey  zugleich  steigenden  Complexionen.  Endlich 
erinnere  man  sich,  dass  es  die  nämliche  Grösse  ist,  die 
auch  bey  zugleich  sinkenden,  noch  nicht  verschmolze- 
nen, Vorstellungen  allemal  vorkommt.  HIemit  nun  ist 
der  Aulschluss  des  Rathsels  so  gut  als  gefunden;  man 
darl  nur  zurückblicken  in  den  vorigen  Aufsatz,  und  die 
dortige  Entwickelung  zweyer  verschiedener  Arten  des 
Gleichgewichts  hier  anwenden. 

Nämlich  bey  zugleich  sinkenden  Vorstellungen  ge- 
nügt eine  einzige  Exponentialgrösse  1  —  e—  '^,  welche 
aus  der  höchst  einfachen  Gleichung  Ja  =  (S  —  o)  dt 
hervorgeht ;  —  weil  hier  die  Vorstellungen  zwar  in 
Folge  der  Hemmungssumme,  aber  nicht  mit  ihr,  son- 
dern unter  sich  ins  Gleichgewicht  treten  sollen ;  indem 
die  Hemmungssumme  eine  unabänderliche  Nothwendig- 
keit  ist,  der  nichts  versagt  werden  kann.  Bey  zugleich 
steigenden  Vorstellungen  muss    nun    diese   Nolhweudig- 


46 

keit,  die  Heminungssnmme ,  sich  erst  nach  ihren  eignen 
Bedingungen  des  Gleichgewichts  ausbilden;  ist  aber  dies 
so  gut  als  geschehn,  —  das  heisst ,  ist  die  Zeit  so 
weit  vorgesclirilten,  dass  man  ohne  merklichen  Fehler 
1  —  e  —  ''^  =  1  setzen  könne ,  —  dann  ist  noch  ein 
anderes  Gleichgewicht  uöthig,  nämlich  eben  jenes  der 
Vorstellungen  unter  sich,  (und  nur  in  Folge  der 
liemmungssumme,  aber  nicht  gegen  dieselbe,)  welches 
auch  schon  bey  sinkenden  Vorstellungen  eintreten  muss. 
Diese  Foderung  ist  immer  die  nämliche,  bey  aller  Ver- 
schiedenheit der  Hemmungssumme ;  daher  immer  einer- 
ley  Formel  1  —  e  — '. 

Zwar  grössteutheils  bildet  sich  dieses  zweyte  Gleich- 
gewicht schon  während  der  nämlichen  Zeit,  in  welcher 
das  erste  entsteht;  und  in  völliger  Strenge  kann  man 
überhaupt  die  Zeiten  nicht  von  einander  sondern. 
Nichtsdestoweniger  ist  es  wahr,  dass  eine  Grösse  wie 
1  —  e  —  ^'^j  wo  /c  ^  1 ,  sich  schneller  ihrer  Granze 
nähert  als  eine  andre  wie  1  — e  —  ^;  die  Coefficienten, 
welche  von  den  Vorstellungen  selbst  abhängen,  mögen 
übrigens  seyn  welche  sie  wollen.  Der  verschiecfene 
Rhythmus  im  ersten  und  zweyten  Falle  ist  vollkommen 
hinreichend,  um  die  BegrÜFc  der  beyden  Arten  des 
Gleichgewichts,  und  ihre  wesentliche  Verschiedenheit, 
aufs  deutlichste  zu  bezeichnen.  Weshalb  das  zsveyte 
Gleichgewicht  sich  langsamer  ausbildet  als  das  erste,  ist 
nun  ebenfalls  klar.  Das  zweyte,  nämlich  das  der  Vor- 
stellungen unter  einander,  folgt  seiner  Natur  nach  aus 
der  Hemmungssumnie  als  einer  schon  bestinunten  Quan- 
tität des  n  otli  w  eu  dig  -  bc  vor  s  t  e  h  e  nde  n  allinäh- 
ligen  Sinkens;  daher  kann  es  innner  nur  in  so  fern 
nachfolgen ,   in    wiefern   die   Hemmungssunune    wirklich 


47 

sclion  besllnimt  ist.  Die  Formeln  zeigen  lilcrin ,  wie 
sie  müssen,  die  strengste  Consequenz  iler  liegrilFe;  und 
leisten  Alles ,  was  man  nur  wünschen  mag,  um  dieselben 
klar  vor  Augen  zu  stellen. 

Jetzt  blicke  man  zurück  auf  den  Hebel,  um  zu  über- 
legen, welche  zweydeutige  Hülfe  die  Analogien  leisten. 
Nichts  ist  leichter ,  als  zu  sagen :  Auch  beym  Hebel 
giebt  es  ein  zwiefaches  Gleichgewicht ;  die  Kräfte  zu- 
sammengenommen, sind  mit  dem  Widerstände  am  Un- 
terst iitzungspuucle  im  Gleichgewicht;  die  nämlichen 
Kräfte  stehen  auch,  in  wie  fern  sie  im  Begriff  sind 
den  Hebel  zu  drehen,  unter  sich  im  Gleichgewichte. 
Aber  auf  welche  dieser  beyden  Ansichten  soll  nun  der 
Beweis  des  Gleichgewichts  sich  immittelbar  beziehen? 
Auf  beyde  zugleich  mit  Hülfe  der  fingirten  Kräfte? 
Dass  ein  solcher  Beweis  zwar  demonstrirt,  aber  nichts 
erklärt,  Ist  im  vorigen  Aufsatze  gezeigt  worden.  Ver- 
lässt  man  diese  Art  des  Beweisens,  so  scheint  es  gleich- 
gültig, ob  man  die  eine  oder  die  andre  Ansicht  vorziehe. 
Genau  genommen,  wie  oben  bemerkt,  gehört  das  Dre- 
hen nicht  einmal  wesentlich  zur  Sache;  die  parallelen 
Kräfte  sind  einander  nicht  entgegen;  luid  der  gleiche, Ge- 
gendruck am  Unterstülzungspuncte  bringt  sie  zur  Ruhe. 
Also  —  man  kommt  leicht  dahin,  die  eine  oder  die 
andre  Ansicht  vorzuziehen,  und  damit  sich  zu  begnügen. 
Zum  Behuf  der  Psychologie  hingegen  müssten  beyde 
Ansichten,  eine  und  die  andre,  ausgebildet  vorliegen, 
wenn  die  Analogie,  welche  der  Hebel  darbietet,  zu 
etwas  dienen  sollte.  Dies  um  desto  mehr,  da  die  Be- 
griffe völlig  verschieden  sind.  Der  erste  Begriff,  wel- 
chen das  Wort  Glelcligewicht  herbeyführt,  ist  unstrei- 
tig  der    zweyer    gleicher    und    entgegengesetzter   Kräfte. 


Der  zweyte  aber,  vermöge  dessen  Statik  und  IMechanik 
einander  entgegenstehn,  stützt  sicli  auf  Ruhe  als  Gränze 
der  Bewegung;  also  auf  Erfolge,  die  nicht  bloss  von 
den  Ri'äften  sondern  auch  von  den  Bedingungen  des 
Wirkens  derselben  abhängen.  Werden  beyde  vermengt, 
so  wird  keiner  deutlich  gedacht;  und  wo  sind  Analo- 
gien, die  nicht,  anstatt  Hülfe  zu  leisten,  vielmehr  selbst 
der  Hülfe  bedürften,  um  dem  deutlichen  Denken  voll- 
ständig zu  entsprechen? 

Am  Ende  dieser  Einleitung  mag  noch  eines  Puncts 
gedacht  werden,  der  Schwierigkeit  machen  kann;  und 
der  zwar  schon  die  sinkenden,  aber  auch  die  steigenden 
Vorstellungen  betrifft.  Hat  man  Summe  und  Verhält- 
niss  der  Henuuung,  \vie  sichs  gebührt,  sorgfältig  imter- 
sclüeden,  also  einerseits  das  Quantum  des  noth wendigen 
Sinkens,  andererseits  die  verschiedene  Nachgiebigkeit 
der  stärkern  und  schwächern  Vorstellungen  ins  Auge 
gefasst;  —  luid  fragt  man  sich  nun,  welchen  Einiluss 
denn  die  Verschiedenheit  der  Hemmungsgrade  mit  sich 
bringen  möge:  so  entsteht  leicht  die  IMeininig ,  dieser 
Einiluss  liege  in  der  Hemmungssumme ,  welche  bey  ge- 
ringern Hemmungsgraden  geringer,  bey  grössern  grösser 
ausfallen  müsse,  —  also  liege  er  nicht  in  den  Hem- 
mungsverhältnissen, welche  vielmehr  lediglich  nach  der 
Stärke  der  Vorstellungen  zu  bestimmen  seyen.  Oder 
aber,  falls  dennoch  auch  diese  Verhältnisse  von  den 
Hennnungsgraden  abhingen,  so  werde  der  ganze  Unter- 
schied zwischen  der  Summe  und  dem  Verhallniss  un- 
deutlich, wo  nicht  gar  zweifelhaft. 

Um  nun  hierüber  kurz  und  bestimmt  zu  spre- 
chen, wollen  wir  gleich  drey  Sätze  neben  einander 
hinstellen. 


49 

1)  Die  Ilemmungssummc  kann  niclit  das  Vcrliallniss 
ilcr  HemmuDg  bestiimneii. 

2)  Das  Hemimingsverhältniss    kann    niclit    die  Ilcin- 
mungssumme  bestimmen;  aber 

3)  Bcyde  entspringen  aus  einem  gemeinsamen  Grunde, 
Avelclieni  jedes  von  beyden  vollständig  entsprechen  muss. 

Die  ersten  beyden  Sätze  sollten  wohl  keiner  Erläu- 
terung mehr  bedürfen.  Mau  erinnere  sich  erstlich,  dass 
schon  unter  zwey  Vorstellungen  die  stärkere  wachsen 
kann  bis  zum  Unendlichen,  ohne  im  mindesten  die 
Hemmungssumme  zu  vermehren ,  weil  diese  aus  dem 
Gegensatze  entspringt,  der  Gegensatz  aber  nur  in  einem 
Paare  als  solchem  vorhanden  ist.  IMan  mag  sich  allen- 
falls den  Gegensatz  verdünnt  denken ,  wenn  das  kleinere 
h  dem  grossem  und  noch  immer  wachsenden  a  gegen- 
über steht,  und  sich  über  dem  a  der  Gegensatz  verbrei- 
ten muss;  aber  grösser  wird  das  Quantum  des  Gegen- 
satzes durch  diese  Verdünnung  oder  Verbreitung  nicht. 
Hingegen  das  Verhältniss  der  Hemmung  vei'ändert  sich 
fortwährend  zum  Nachtheil  des  Schwächern ,  wenn  das 
Stärkere  im  Wachsen  begriffen  ist.  Man  erinnere  sich 
zweytens,  dass,  wo  nur  ein  einziges  Paar  Vorstellungen 
angenommen  wird,  in  der  That  ohne  Piücksicht  auf  den 
Hemmungsgrad  das  Verhältniss  der  Hemmung  sogleich 
als  das  imigekehrte  der  Stärke  hervor  springt ,  während 
die  Hemmungssumme  nicht  eher  kann  bestimmt  werden, 
als  bis  man  den  Hemmungsgrad  vestsetzt.  Werden  drey 
Vorstellungen  bey  voller  Hemmung  (d.  h.  für  den  Hem- 
mungsgrad r=  1)  angenommen,  so  ergiebt  sich  durch 
sehr  leichte  Proportionen,  die  im  Kreise  herumgehn, 
wieviel  von  der  ersten  die  dritte  leide,  weil  sie  in  einem 
gegebenen  Verhältniss  schwächer  sey  als  die  zwcyte,  u.  s.  f. 
Heft  IL  D 


50 

Dies  ist  am  gehörigen  Orte  *)  ausführlich  entwickelt  wor- 
den ,  und  es  zeigt  sich  dort  das  Verhältniss  der  Hem- 
mung völlig  entschieden,  während  das  Quantum  derselben 
durch  eine  unbekannte  Grösse  ausgedrückt  ist  und  bleibt. 
Jetzt  aber  andere  mau  bey  drey  Vorstellungen  die 
Voraussetzung  des  vollen  Gegensatzes  dahin  ab,  dass 
in  jedem  Paare  ein  eigner  Hemmungsgrad  statt  finde. 
Hätte  nun  auch  jedes  Paar  seine  eigne  Hemmungssumme, 
so  wäre,  wie  zuvor,  der  Hemmungsgrad  gleichgültig. 
Aber  nichts  könnte  verkehrter  seyn,  als  die  Hemmuugs- 
summe  für  jedes  Paar  insbesondre  zu  bestimmen  5  wäh- 
rend jede  Vorstellung  den  Gesanimtdruck  aller  andern 
erleidet,  und  rückwärts  jede  einzelne,  in  so  fern  sie 
weicht,  dadurch  jeder  andern  etwas  an  der  Noth- 
wendigkeil  des  Weichens  erspart;  denn  die  ganze  Ver- 
theihiug  des  nothwendigen  Sinkens  beruht  auf  dem  Ent- 
weder Oder ,  dass ,  welchen  Tlieil  die  eine  auf  sich 
nimmt,  diesen  die  andre  niclit  zu  tragen  braucht.  Also: 
weil  die  Hemmungssumme  nur  Eine  für  alle  ist,  darum 
kann  ein  Paar  unter  dreyen  Vorstellungen ,  wenn  sein 
Hemmungsgrad  geringer  ist,  mehr  gegen  die  dritte  drän- 
gen ,  und  diese  mehr  leiden  machen ,  als  dem  blossen, 
umgekehrten  Verhältniss  der  Stärke  gemäss  seyn  würde; 
und  dies  kann  nicht  bloss  geschehn,  sondern  es  muss 
geschehen.  Denn  für  die  Vorstellungen  a,  h,  c  seyen 
die  Hemmungsgrade  m,  n,  p\  und  zwar  m  zwischen  a 
und  h,  n  zwischen  a  und  c,  p  zwischen  b  und  c;  mau 
weiss  ferner  für  den  Hemmungsgrad  =  1  die  Ver- 
hältnisse *'*) 

*)  Psychologie    §.  43. 

***)  Bekanntlich  muss  man  hier  vor  Augen  haben ,   dass   keine 
Vorslellung  an  sich    eine    angreifende    Krafl  Ist.     Man  darl  daher 


51 


ilcr  Hemmung  des  /;  durcli  a  :rr  -;  des  a  durcli  /;  z=.  - 

h  a 

des  c  durcli  az=:  --^  des  a  durch  r  i=  — 
c  a 

des  h  durch  c  n:  - ;  des  c  durch  h  ■=.  — 
b  c 

Nun  vermindern  sich    alle   diese    Hemmungen    durch 

die  ächten  Brüche  m  ,  n ,  p ;  also  werden  die  Verhältnisse 

der  Hemmung  des  h  durch  a  =  — -;  des  a  durch  bzrz  — 

h  a 

des  c  durch  a  z=  —  ;  des  a  durch  c  =  — 
c  a 

des  h  durch  c  =.  —  :  des  c  durch  b  =.  — 

b  '  c 

INIIlhin  ist  die  Verhältnisszahl 

(m  -}-  n)  X 

des  a,  ■=■ — 

a 

A..    1     —  (^"  +  P)  * 
des    b ,  rz: 

'  b 

des  c,  =  ^'L±Al 
c 

wobey  der  Hemmungssumme  vorbehalten  bleibt ,  das  un- 
bekannte X  zu  bestimmen,  nicht  aber  an  den  Verhält- 
nissen etwas  zu  ändern. 

In  dem  Gegensatze,    als   dem    gemeinsamen  Grunde, 
wurzelt  das  Verhältniss   eben   so  wohl  als   die    Summe 

durchaus  nicht  dem  Einfall  nachgehen,  als  miisste  c  mehr  von  a 
als  von  b  leiden,  weil  a'^h,  —  sondern  man  muss  schliessen: 
weil  c  ■<t,h,  so  leidet  c  mehr  als  b  dadurch,  dass  a  gegen  den 
Druck  reagirt;  denn  a  wirkt  nicht  aggressiv  sondern  defensiv. 
Daher  darf  der  Satz  nicht  befremden :  bey  gleichen  Hemmungs- 
graden leidet  jede  Vorstellung  von  der  zwe)ten  und  von  der  drit- 
ten gleichviel.  Anders  ists,  wenn  ungleiche  Hemmungsgrade  wie 
ungleiche  Federn  in  den  Paaren  wirken. 

D  2 


52 

der  Henimimg.  Ist  der  Gegensatz  für  die  verschiedenen 
Paare  verschieden,  so  kann  das  Gedränge  in  den  Paaren 
nicht  gleich  stark  seyn ;  vielmehr  ist  es  gleich  Anfangs, 
sclion  im  ersten  Augenblick,  indem  die  Vorstellungen 
da  sind,  verschieden.  ]Mau  darf  sich  nicht  der  Einbil- 
dung überlassen,  als  ob  in  der  Wirklichkeit  so  wie  in 
der  Rechnung  die  Hemmungssumme  früher,  das  Ver- 
hältniss  später  käme;  sondern  die  verschiedenen  Hem- 
muugsgrade  müssen  sich  sogleich  doppelt  gelten  macheu, 
erstlich  in  den  Verhältnissen  des  Sinkens,  zweytens 
in  der  Geschwindigkeit  des  Sinkens,  welche  der 
Hemmuugssumme  entsprechen  muss.  Da  jedoch  niemals 
ein  Hemmungsgrad  grösser  seyn  kann  als  die  Summe 
zweyer  anderer ,  so  nähern  sich  die  Grössen  m  -{-  n, 
m  -\-  p,  n'\-  p ,  allemal  der  Gleichheit ;  deshalb  ist  zu 
oberflächlichen  Schätzungen  die  Annahme  eines  gleichen 
mittlem  Hemmungsgrades  meistens  hinreichend. 

Es  wird  in  der  Folge  nicht  bloss  von  einfachen  Vor- 
stellungen, sondern  auch  von  Complexionen  zu  sprechen 
seyn.  Bey  solchen  ist  das  Hemmungsverhältniss  etwas 
verwickelt;  und  es  mag  nützlich  seyn ,  hier  gleich  etwas 
darüber  beyzufügen ,  weil  doch  einmal  dasjenige,  was 
zur  Erörterung  jenes  Verhältnisses  beyti^agen  kann,  schon 
bereit  liegt.  Zuerst  ist  uöthig,  die  Bezeichnung  des 
Vorhergehenden  dergestalt  abzuändern ,  dass  sie  für  Com- 
plexionen a  -\-  c(=z  A ,  b  -^ ß=^B,  c  -{-  y  =.C  bi-auch- 
bar  werde.     Wir  schreiben  zunächst 

Hemmung  des  B  durch  Azi^- — :  des  ^  durch  5  =  — 
°  B  '  A 

des  C  durch  ^  zr:  — :  des  A  durch  C  :=.  — 
C'  A 

des  B  durch  C=  — :  des  C  durch  J5  r=  — 
B  '  C 


53 

Wir    schreiben    ferner    1  .m  slalt  m,    l  .rt  slall   n,   1  . /» 

^1  ,    ^^  ^  ^ 

statt  o.     Oder  auch  —  .  m  statt  //i,  -     .  n  statt  n,  —slalt 

ABC 

p ;  welche  Schreibart  wiederum  in .   m    statt    /;/, 

u.  s.  w.  kann  verwandelt  werden.  Diese  Verwandlun- 
gen sind  nun  freylich  höchst  unnütz,  so  lange  die  gros- 
sen Buchstaben  A,  B,  C,  nichts  anderes  bedeuten,  als 
was  oben  die  kleinen,  a,  h,  c  bedeuteten.  Allein  man 
kann  doch  schon  jene  obigen  einfachen  Vorstellungen 
a,  b,  c  in  Gedanken  aus  Stücken  zusammensetzen;  und 
nachdem  A  anstatt  a,  B  anstatt  b,  C  anstatt  c  geschrie- 
ben worden,  können  nun  die  Stücke  von  A  durch  a 
und  a,  die  Stücke  von  B  durch  b  und  ß,  die  Stücke 
von  C  durch  c  und  y  bezeichnet  werden.  So  seltsam 
es  nun  aussehen  mag,  Brüclie  wie  m,  n,  p,  die  etwan 
§,  ,Vj  ^j  bedeuten  können,  in  die  Weitläufigkeit  jener 
Schreibart    hinzuziehen,    so  kann  man  doch  nicht  leug- 


nen 


,  dass ,  wenn  a  -\-  a  =^  A ,  alsdann  m  z=z 


A 


am  4-  um  am  ivn 

=z  =.   —  -f-    —  seyu  niuss ;  welche  ochrexb- 

A  A  yl 

art  man  ohne  Mühe  auf  n  und  p  übertragen  kann.  W^er 
nun  vergleicht,  was  am  gehörigen  Orte*)  über  das  Mem- 
nuuigsverhältniss  der  Complexionen  schon  längst  gesagt 
W'orden  ,  der  wird  die  Absicht  des  Vorstehenden  leicht 
erratheu;  indessen  wollen  wir  geduldig  die  Sache  hier 
nochmals  entwickeln ,  weil  die  dortige  Darstellung  Eini- 
gen nicht  ganz  klar  geschienen   hat, 

]Man  denke  sich,  das  Stück  «  von  A  vei'löre  auf  ein- 

**)  Psychologie  §.  59.  Daselbst  §.  58  setze  man  statt  des  Wor- 
tes Spannung  den  Ausdruck :  die  in  Folge  der  Hemmung 
erlangte  Energie. 


54 

mal  die  Eigenschaft,  dem  B  entgegengesetzt  zu  seyn;  so 
nuisste  man  sagen,  der  Henunungsgrad  m  passe  nicht 
mehr  auf  et,  und  ma  sey  zr  u)  der  Hemmungsgrad  zwi- 
schen A  und   B  sey    nicht   mehr  m,    sondern    nur  noch 

— .     Uder  umgekehrt,    wenn    das    Stück  u  bliebe    wie 

^  I 

zuvor,  hingegen  das  andre  Stück  a  von  solchem  Verlust 

des    Gegensatzes   gegen    B   betroffen  würde,    so   müsste 

am                                                                    ,«"».,,, 
— -  r=  o  gesetzt,  und   statt  in  nur  noch, bcybehalten 

werden.  Nun  soll  zwar  weder  dieser  nocli  jener  Ver- 
lust wirklich  eintreten ;  dagegen  aber  soll  die  Com- 
plexiou  A  aus  zwey  Vorstellungen  a  und  a  bestehen, 
deren  eine  durch  den  Hemmungsgrad  m,  die  andre  durch 
den  Hemmiuagsgrad  m  auf  die  Theile  b  imd  ß  der  Com- 
plexion  B  einwirkt.  Es  gilt  also  m  nur  für  a,  vmd  m 
nur  für  a,  so  dass  für  jedes  das  andre  Stück  von  yl 
nicht  vorhanden  ist.     Also  wird   man    nun  in  der  That 

am         um  am  -j-  am 

statt  m  setzen   müssen   —  ■+-  ziz Diese 

A   ^   A  A 

Betrachtung    muss    nun    hinreichend    erweitert    werden. 

iVlan  kann  auch  — m  z=z    -  -^  «z  =  — ^  4-  ' —     schrei- 
B  B  B  B 

ben;  und    wo  die   Hemmung    des  A  durch  B    angezeigt 

werden    soll,    da   muss    man   m  und  m'    unterscheidend 

hm  -\-  ßm 

statt  m  setzen —  .     Eben  so    bekommt   man  ein 

B 

zwiefaches  n\  nämlich  die  Complexionen  A  und  C  ha- 
ben zwar  in  ihren  Theilen  a  und  c  den  Hemmungsgrad 
«,  aber  für  ihre  Theile  a  und  y  den  Hemmungsgrad  li. 
Wiefern  nun  C  durch  A  gehemmt,  also  A  als  das  Wir- 

na-\-na 
kcnde  angesehen  wird ,  muss  man  statt  //  setzen ; 


53 

nc  — 1-  71  y 
und  wiefern   A  durch  C,  setzt  man   ; .      Endllcli 

giebt  es  auch  noch  ein  zwiefaches  p\  nämlich  die   Com- 

plexionen  B  und   C  erfodern    im    ähnlichen    Falle,   dass 

hp  -{-  ßp  1  cp  -\-  yp 

man  statt  p  setze —    und    . 

^  B  C 

Wird  nun  in  den  Anfang  der  Untersuchung  zurück- 
gegangen ,  so  zeigt  sich,  dass  die  Grundbegriffe  überall 
die  nämlichen  bleiben,  dass  aber  die  Hemmungsgrade 
da,  wo  sie  verschieden  sind,  eine  Modificatlou  herbey- 
führen,  die  bey  Complexionen  mehr  zusamujengesetzt 
ausfällt,  als  bey  einfachen  Vorstellungen.  Hat  mau  nur 
zwey  einfache  Vorstellungen,  so  ist  der  Hemniungsgrad 
lediglich  für  die  Hemmungssumme  bedeutend;  aus  dem 
Henunungsverhältniss  fällt  er  heraus,  weil  er  auf  einer- 
ley  Weise  zu  der  Hemmung  des  a  durch  h,  wie  des  h 
durch  a,  seine  Bestimmung  giebt.  Sind  al)er  drey  Vor- 
stellungen vorhanden,  so  leidet  jede  von  zweyeu,  und 
zwar  ungleich,  wenn  die  Hemmuugsgrade  ungleich  sind. 
Giebt  es  drey  Complexionen,  so  hängt  die  Wii'ksamkeit 
jedes  Tlieils  derselben  von  dem  eignen  Hemmimgsgrade 
dieses  Theils  ab;  und  deshalb  wird  rückwärts  der  Ein- 
(luss  des  Hemmungsgrades  jedesmal  von  dem  Theile, 
welchem  er  angehört,  —  aber  nicht  bloss  vom  Quan- 
tum dieses  Theils  bestimmt,  sondei-n  von  dem  Vei- 
hältniss  dieses  Theils  zum  Ganzen.  Wo  vorhiu,  bey 
einfachen  Vorstellungen,  nur  der  Hemmungsgi-ad  m  stand, 
da  darf  auch  jetzt,  bey  Complexionen,  nur  eine  Zahlen- 
grösse  vorkommen.  Diese  Zahlengrösse  soll  jetzt  durch 
m  und  m  bestimmt  werden;  aber  in  wie  weit  vou  jeder? 
Von  m  nur  in  so  weit,  als  a  ein  Theil  //,  von  in  in 
soweit,  als  a  ein  Theil  vou  A  ist;  beydes  unter  der  Vor- 


56 

aiissetzung,  A  sey  wirksam  zur  Hemmung  von  JS;  oder: 
die  Hemmung  des  B  rühre  von  yi  her.  Wenn  umge- 
kehrt dem  A  durcli  B  die  Hemmung  augethan  wird,  so 
müssen  h   und  ß  unterschieden  werden,   daher    nun  an- 

T     r,  .  ,   inb -\- m  8        .         -.  , ,,  .  , 

statt  m  die  Zahl  ■ .     Aus  diesem   Allen  ei'giebt 

B 

sich  nun  folgende  Zusammenstelhnig. 

(ma  -f"  "*  tt)  -^ 

Hemmung    des   B  durch  A,  :=■ ; 

A  .  B 

(mb  4-  m'ß)  X 

des  A  durch  iJ,  =  ^ -^ ^ 

5  .  A 

(na  -f-  H  u)  X 

des    C  durch  A,  =  ^ ' —  : 

'  A  .  C        ' 

1        ^11/^  ("^  +  '^V)  •  * 

des  yf  durch   6 ,  z:= 


des  ß  durch  C. 


C  ,  A 
C  .  B       ' 


des    C   durch  5,  =  (p^^JiMl^ 
B  .  C 

Mithin  ist  die  Verhältnisszahl 

,  /inb  -{-   m  ß     ,     nc  4-  ny\       x 

des  y/,  =  ( A ~  )  .  - 

\         B  ^         C       J      A 


des  B,  =  ( 


/'ma  -}-  rn  a  pc  -|-  py 


p^-\-jj\      X 
^         C       J'  B 

aes  c,  =  r"  +  "  "  -{-  ^i±_^^  .  t 
'         V        ^         ^  BJC 

vs'obey   immer    noch   x   von    der    Hemmuugssumme  ab- 
hängt; oder  aus  den  Verhältnisszahlen  herausfällt. 

Verlangt  mau  nun  die  Hemnunig  der  einzelnen  Theile 
jeder  Complexion,  so  findet  man  sie  duixh  die  einfache 
Vertheilungsrechnung. 


57 


\                  ^        B          ^  C  J  A 

V 

(ml)  -f-  m  ß     .     nc  -\-  n  y'\   x  a 

li            '           C       )  A  '  A 


(mh  -\-  m  ß  nc  -j-  n'yN   00       a 

B  '  C         J  Ä  '  Ä 

Will  man  die  Spannung  des  a  und  a  wissen,  so  divi- 
dirt  man  durch  diese  Grössen  ihr  Gehemmtes;  es  er- 
giebt  sich  in  beyden  Fällen 

/mb-^-mß        nc-}-ny\       x 

die  gleiche  bpannung  f 1 I.  — \ 

b  1  "=  \        B         ^        C       J     AA 

Diese  Gleichheit  des  gewaltsamen  Zustandes  in  allen 
Theilen  ist  dem  Grundbegriff  der  vollkommenen  Com- 
plexlonen  gemäss ;  denn  in  ihnen  soll  alles  Leiden  ge- 
meinschaftlich seyn  ,  welches  eine  völlige  Gleichförmig- 
keit des  Zustandes  hervorbringt.  —  Wir  haben  hier 
X  von  X  unterschieden,  um  nicht  die  ganze  Verthei- 
luugsrechnuug  hersetzen  zu  müssen.  In  dem  x'  ist  der 
Divisor,  welchen  die  Addition  der  Verhältnisszahlen 
herbeyf ührt ,  mit  inbegriffen;  desgleichen  die  Hemmungs- 
summe, die  uns  hier  nicht  angeht;  und  bey  Complexio- 
nen  keine  besondre  Schwierigkeit  macht. 


58 


•  E  r  s  t  e  r   A  b  s  c  h  n  i  1 1. 

f^om  Steigen  unverhiindener  f^orstellunffen. 

E  rstes  Ca  p  i  tel. 
f^om  Steiljen    bey  gleichen  Uetnmunysnraden, 

§.     1. 

Sind  drey  entgegengesetzte  Vorstellungen  a,b,  c,  im 
Gedränge  wider  einander  begriffen :  so  hat  jedes  Paar  der- 
selben, nämlich  ab,  ac,  hc,  einen  bestimmten  Grad  des  Ge- 
gensatzes, den  wir  mit  einem  kurzenWorte  den  Hemmungs- 
grad nennen,  und  mit  /?/,«,/;, bezeichnen.  Diesem,  n,/>,  sind 
ächte  Brüche,  oder  höchstens  z^  1,  weil  höchstens  der 
Grad  des  Gegensatzes  so  gross  seyn  kann,  dass  von  zweyen 
Voi'Stellungeu  eine  ganz  gehemmt  werden  müsste,  falls 
die  andre  ganz  ungehemmt  bleiben  sollte,  m  '=■  -k  be- 
deutet dagegen,  dass  h  zur  Hälfte  gehemmt  werden 
müsste,  wenn  a  ganz  ungehemmt  bleiben  sollte.  Zwi- 
schen den  Paaren  ab,  ac ,  bc  können  m,  n,  p,  sechsfach 
versetzt  werden  *).  Hiernach  richtet  sich  nicht  bloss  die 
Hemmungssumme;  sondern  für  die  nachstehenden  P<.ech- 
uungen  macht  es  einen  grossen  Unterschied,  ob  die 
Hemmungsgrade  gleich  oder  ungleich  ,  und  wie  sie  vei*- 
theilt  sind.  Um  nun  vom  Leichtesten  anzufangen,  setzen 
wir  Anfangs  die  mögliche  Ungleichheit  bey  Seite,  als 
ob  in  das  Steigen  der  Vorstellungen  nur  dadurch  ein  Un- 
terschied hineinkäme,  dass  sie  von  verschiedener  Stärke 

*)  Psychologie   §.  52. 


59 

sind,  lind  jede  sich  gemäss  ihrer  Slärke  unter  den  übri- 
gen hervordrängt. 

Ist  nur  ein  einziges  Paar,  ah,  voi-handen,  so  fällt 
ohnehin  die  Ungleichheit  der  Hemmungsgrade  weg,  weil 
in  diesem  Paare  der  Hemmungsgrad  nur  ein  einziger 
seyn  kann.  Für  diesen  Fall ,  den  leichtesten  von  allen, 
Avenn  keine  Nebenumstände  hinzutreten,  findet  man  den 
Anfang  der  Untersuchung  schon  in  dem  grössern  Werke*), 
und  es  kann  daran  hier  unmittelbar  angeknüpft  werden. 

Der  Hemnnuigsgrad  zwischen  a  und  h  sey  m;  nach 
Verlauf  der  Zeit  t  seyen  a  und  ß ,  Theile  von  a  und 
h,  hervorgetreten.  Nun  wird  ß  kleiner  seyn  als  «, 
wenn  h  schwächer  als  a;  demnach  ist,  nach  den  Regeln 
zur  Bestimmung  der  Hemmungssumme  **) ,  die  jetzige 
Hemmungssumme  r=  mß)  eine  wachsende  Grösse,  so 
lange  ß  wächst,  d.  h.  so  lauge  die  Vorstellung  h  mehr 
hervortrit.  Während  aber  die  Hemmungssumme  aus  die- 
sem Grunde  wächst,  nimmt  sie  andrerseits  ab,  weil  sie 
ihrer  Natur  nach  im  beständigen  Sinken  begriffen  ist. 
Ferner  weiss  man  aus  den  ersten  Vorbegrilfeu ,  dass  die 
Hemmungssumme  nichts  für  sich  bestehendes,  noch  ir- 
gend einer  Vorstellung  insbesondre  angehöriges  ist ;  ob- 
gleich also  ihre  Grösse  nach  dem  Quantum  ß  bestimmt 
wird,  so  niuss  dennoch  a  sowohl  als  b  am  Sinken  Theil 
nehmen;  und  zwar  in  umgekehrtem  Verhältniss  der 
Zahlen,  wodurch  man  die  eigne  Stärke  beyder  Vorstel- 

,        ,      hmß 

langen  ausdrückt.      Folglich   ist  mß  zu   theileu  ni  - 

a-\-h 

amß         .  hmß     .  a      i    ••  o-   i 

luid  ;  uamlich  — p —  ist   der    Anlheil    am    öinken, 

a-\-b  a-\~b 

*)  Psycbologie   §.  93. 
*«)  Daselbst  §.  42. 


60 

welcher  auf  a  fallt,  und  — ~—  der  Antheil  des  h.    End- 

licli  eriunere  mau  sich,  dass  jede  Vorstelluug ,  die  ihreu 
Zustand  äuderu  muss,  dies,  in  so  weit  es  von  ihr  al- 
lein abhängt,  mit  derjenigen  Geschwindigkeit  thut,  wel- 
che für  jeden  Augenblick  der  noch  vorhandenen  Ent- 
fernung von  dem  zu  erreichenden  Puncte  angemessen  ist. 
Wäre  a  ganz  allein  sich  selbst  überlassen ;  so  würde, 
nachdem  dessen  Theil  u  hervorgetreten,  luid  nur  noch 
die  Differenz  a  —  a,  sich  im  gehemmten   Zustande  be- 

dn 
fände,  die  Geschwindigkeit  — zzz  a  —  «  sej^n ;  und  mau 

dt 

du 

hätte  um  a  zu  berechnen,  nur  nöthig, ■=.  dt  zu 

a  —  ß   ^ 

integriren.  Nicht  ganz  so  leicht  ist  unsre  jetzige  Auf- 
gabe, von 

J«  =  (  a  —  «  —  — TT  I  dt 


das  Integral  zu  suchen;  denn  es  ist  offenbar,  dass  jeuer 
Antheil  an  der  Hemmungssumme,  welchen  a  überneh- 
men muss ,  und  der  zur  Verminderung  seines  Steigens 
(also  zur  Verminderung  von  du)  in  jedem  Zeittheilchen 
dt  beyträgt,  von  der  Grösse  /S  abhängt;  daher  man  erst 
ß  suchen,  und  alsdann  den  gefundenen  Werth  in  die 
eben  angezeigte  Formel  einführen  muss, 

§'    2. 

Wenden  wir  das  eben  Bemerkte  auf  das  Steigen  von 
i  an :  so  finden  wir  den  Anfang  der  jetzt  zu  führenden 
Rechnung,  wie  er  in  dem  frühern  Werke  schon  war 
angegeben  worden. 

Nach  Verlauf  der  Zeit  t  sey  das  Quantum  ß  von  L 
hervorgetreten.      Wirkte    nun   weiter  nichts    auf   //:  so 


6t 

wäre  (Iß  ■=.  (Ji  —  ß)  (U;  d.  h.  das  augenblickllclic  Stei- 
gen des  b  wäre  proportional  seinem  noch  geliemmlen 
Theile.     Da   aber   die    Ileninuingssumnie  mß  vorhanden, 

und  von  ihr  der  auf  b  lallende    Antheil  rz:  eben 

a-\-b 

jetzt  zum  Sinken  drangt ,  so  ergiebt  sich 

dß  =  (''-/*  -^J  * 

und  ß  =:  --  (jl  —  e  —  Ä'^ )  wenn  ^  =:  1  -| •  . 

k  a-\-b 

Dies  ist  der  Werth  von  ß ,  welchen   man   in  die    obige 

Foi-mel  für  da  einführen  muss.  Demnach  ist  zu  integriren: 

/-  mb^        ,        mb^  ,  N 

oder  da  +  adt  =  {a—        ,  -f  ^-^-jr-,-  e  - '''  )  dt 

Nach     einer    bekannten    Rechnuugsregel    setzt    man 

u  =■  uT,  demnach  da  =  udT  -j-  Tdu\  und  wenn,    um 

abzukürzen,  ferner 

udT  4-  Tdu  +  uTdt  =  qdt 

gesetzt  worden,  desgleichen,    um  T  zu  bestimmen,  udT 

dT 
-\-  uTdt  =z  0,  woraus  —  =  —  dl  und  folglich  T=ze—  '^, 

a  =  u  ß  —  * ,  so  hat  man  noch   Tdu  z=.  du  .  e  —  *  r=  Qdt, 

mithin 

(mb"^    \  ,      mb'^ 

fl— , T-] e' dt -\-  -—-—-.   e(t-A)'^  dt 
{a-\-b)kJ        ~{a-\-b)k 

r             mb'^    N                  mh'^           1 
u=(  a— ;     ■  ,.,   )  e*4- ^. .e(i  — ^)'4-Consl. 

mb'^  m/;2  1  ,        .      ^ 

{a-\-b)k        {a-j-b)k  1 — k  ' 

und  weil  a  =z  o  für  t  =  o,  (denn  die  Zeit  <  fängt  erst 
an,  indem  a  beginnt  zu  steigen,)  also 


62 

r   '( — TTw   •  :; 7  ~1~  ^onst. 


so  ergicbt  sich 

welcher  Ausdruck  eine  bec£uemere  Form  bekommen  kann. 

Zuvorderst  ist  ^z r::  —  . — ■ — ,  da- 

1  —  k  k —  1  am 

"er ; — rr :  um  nun  - — ; — ^  .  e  —  t 

ia-\-L)  k.{\-  k)  ak'  {a-\-h)k 

und  —■  .e    *  zusammenzuzlehn ,   woraus   der    Coefticxent 

ak 

h'^      /'      m  \\ 

—     i     — - —   A-    -    ]     entsteht ,      bemerke     man ,     dass 

k      \a^b~  aJ  ' 

ma-\-a-\-h  ^.     r-,  ^'^       ^ 

•  z=.  k\  ferner  kann  man  die  Grösse  —    ad- 

a  -\-  h  ak 

diren  und  zugleich  subtrahiren;  so  erhält  mau 

womit  zu  verbinden,  was  oben  schon  angegeben 
(2) ß  =|(1  -e-^0  f^r/i  =  l  +  ^^. 

§.    3. 

Gleich  hier  lasst  sich  ein  schon  erwähnter  Satz  ent- 
wickeln, der  zwar  zum  Behuf  der  weitern  Rechnung 
noch  nicht  nöthig,  aber  sehr  geeignet  ist,  Licht  auf  den 
vorliegenden   Gegenstand    der   Untersucluing   zu  werfen. 

Während  die  Exponenlialgrössen  e~t  und  e~^'ver- 

,     .    -.  .  .  f'^ 

schwinden ,  nähert  sich  a  seiner  Erhebungsgränze  a 

a 

Ä2  b 

-| ,  und  ß  der  Gränze  — .     Die  Summe  dieser  Grössen 

ak  k 


(i3 

ziehe  man  ah  von  a -\- /j  ,  so  wiril  man  die  Tlemmuugs- 
sunnnc  erhalten. 

/>2  />2  /,2  1,2^ 


«Ä  a  ak  a-\-  h  -\-  am 

h  h  (a  A-  h)  —  b^m      , 

hiezu  -- ,  so  wird ; ; abgezogen  von  b, 

n  a  -\-  b  -f-  am 

(Indem   a    sich    ohne   Weiteres    von    selbst    hebt,)   und 

„    ,        TTiab  -f-  mbb  ,   .  i      .        i        tt 

man   Imdet    — j — ;  welches  gleich    ist    der   llem- 

a  -j-  b  -^  am 

mb 
mungssumme  mß ,    oder   — . 

ri 

Dies  Hess  sich  voraussehn.  Es  muss  allgemein  gel- 
ten, dass  die  Vorstellungen  nicht  eher  auf- 
hören zu  steigen,  als  bis  ihr  ferneres  Auf- 
streben gerade  gleich  ist  der  Hemmungs- 
summe, die  sie  Ins  Bewusstseyn  gebracht  ha- 
ben; vorausgesetzt,  dass  nicht  fremdartige  Umstände 
sich  einmischen.  Das  fernere  Aufstreben  ist  zunächst 
gleich  dem  noch  übrigen  Gehemmten;  hiemit  muss  die 
Hemniungssumme  ins  Gleichgewicht  treten ,  wenn  sie 
das  wirkliche  AVeiterslelgen  verhindern  soll.  Man  wird 
den  Satz  unmittelbar  einleuchtend  finden ,  sobald  man 
überlegt,  dass  die  Hemmungssumme,  also  das  Hinder- 
nlss  des  Stelgens,  durch  das  Steigen  selbst  gewachsen 
ist;  und  dass  Stockung  eintreten  muss,  sobald  irgend 
eine  Bewegung  sich  selbst  ein  HInderniss  in  den  Weg 
legt ,    welches    dem    Antriebe     zur    fex'nern     Bewegung 


gleich  ist. 


^.    4. 


Es  seyen  nun  drey  Vorstellungen  a,  b,  c,  worunter 
a  die  stärkste  und  c  die  schwächste,  im  freyen  Steigen 


64 

begriffen.     INIau  sucht  ihre    nach  Verlauf  der    Zeit    lier- 
vorgctretenen  Theile  a  ,  ß  ^  y. 

Der  Hemmungsgrad  für    alle  Paare  sey  i=  m,  so  ist 
die  Hemmungssunime  r=  m  (^  -j-  y).      Die   Hemmungs- 

,,..111 

Verhältnisse  kennt  mau");  sie  sind   — ,   — ,  — ,  oder  Ar, 

a      b      c 

hc  ,    ac 

ac ,  ah.    Es  sey    j — ■  ::=  n 


bc  -\-  ac  -\-  ab  bc  -\-  ac  -\-  ab 

ab  ,„  ,  .11,-. 

=  7t    ;  so  hat  man ,  gemäss  dem  Vorigen, 

bc  -\-  ac  -\-  ab 

jetzt  die  drey  Gleichungen 

da  :=^  {a  —  a  —  n'm  {ß  -\-  y))  dt 
dß  =  {b  —  ß  —  n"m  {ß  -{-  y))  dl 
dy  z:=  (^c  —  y  —  n"'m  [ß  -\-  y))  dt 

]Man    addire    die  zweyte    und    dritte   Gleichung,  so  geht 

hervor 

d{ß^y)=::[b-\-c-(ß-{-y)-in"-{'n")miß-i-y)]dt 

woraus 

Mso  k  =  l-\-{n     +  n    )  m  =  -— — — 

bc  -\-  ac  -f-  ab 

Der  Werth  von  ß  -\-  y  muss  nun  in  die  drey  Glei- 
chungen gesetzt  ^verden.  ]Maii  findet  auf  ähnliche  Weise 
w^ie  oben,   zuvörderst 

(,     b-\-c\,,  .,   ,      ,     b4-c     1     . 

Um  nun  diesem  Ausdruck  eine  schicklichere  Form  zu 
geben ,  hat  man  wiederum  die  jetzigen  Werthe  von  k, 
k  —  1,  und  n    zu  beachten.     Dann  wird 

n'm  bc  71  m        b  -\-  c  bc 

k^  ~  ^{b-\-cy  ""     k  —  l   '       k       ~  ^ 
*)  Psychologie  §.  44. 


65 

rasst  man  ferner  n  vi  .  e     '  niii  —  .  e      ''  znsam- 

k  ak 

.    ,  VI .  (b -\- c)  .  a -\-  he  -\-  ac-\-  ah  bc 

luen ,  so   wird  bc  .  — ^ — ^ — -; j — ; =  —  ; 

\l)C  -{-  ac  -{-  ab)  ak  a 

bc 
und  indem  man  noch  —  sowohl   addirt    als    subtrahirl, 
ak 

ei'liäli  mau 

«  =  („-^)(1-.-0+,l(»-^-*')  (3) 

Bey  ähnlicher  Rechnung  für  die  beydeu  andern  For- 
n'm        b  -\-  c  .      c 


mein  verwandelt  siel 


k—\  '       k  k' 


n    m      b-\-c  ,     b  c  b 

- — -—  .  — - —  in  — ;  daher  man ,  —  und  —  an  den  gehö- 

k  —  1        k  k  k  k 

rigen  Orten  addirend  und   subtrahirend,    erhalten    wird 

ß  =  {b  -  c)  (i_e-o  4-^(1  -.-^0 (4) 

y  =  {c-  b){l-e-^)  +  I   (l-e-^O (5) 

Der  gemeinschaftliche  Hemmungsgrad  m  zeigt  sich  in 
diesen  Formeln  deswegen  nicht,  weil  er  in  k  versteckt 
liegt,  dessen  Werlh  sich  nach  ihm  richtet. 

Vor  allem  weitei^n  Verfahren  aber  untersuche  man, 
ob  die  Piechnung  auch  hier  den  Salz  des   §.  3    bestätige. 

Wenn  die  Exponentialgrössen  verschwinden,  so  hat 

bc  bc 

sich  a  erhoben  bis  zu  «  zu  a  —  —  -}-   -— 

a  ak 

b ß  =  b  —   c      -^  ^ 

k 

,     h 
c y  ^=1  c   —   b      "TT 

Die  Summe  dieser  Grössen  ^=.  a 1 — .(  —  -{-<:  + ^^) 

a        k    \a  / 

Heft  II.  E 


66 

ist  das  mmmelir  vorhandene  Ganze  des  wlrkllclien  Vor- 
stellens.  Zielit  man  dies  ab  von  der  Gesammlheit  der 
Vorstellungen  a  -^  h  -{-  c ,  so  muss  das  noch  übrige 
Streben  vorzustellen,  welches  unbefriedigt  bleibt,  her- 
auskommen. Eben  dies  Streben  nun  muss  gleich  seyn 
derjenigen  Hemnunigssumme,  die  als  Rechnungsgrösse, 
nämlich  als  Bestimmung  des  gegenseitigen  Drucks ,  in 
dem  wirklich  gewordenen  Vorstellen  enthalten  ist;  denn 
nur  nach  dein  Maasse  dieses  Drucks  ist  es  verhindert, 
ebenfalls  in  ein  wirkliches  Vorstellen  iiberzugehn.  Die 
Hemmungssumme  z=  m  (^ß  ■\-  y)  ist  aber  nach  dem  Ver- 

h  -{-  c 

schwinden  der   Exponentialgrössen  r=  m  .  .     Um 

k 

nun  mit  Einem  Blicke  zu  übersehen,  dass  die  verlangte 
Bestätigung  des  Satzes  hier  wirklich  durch  die  Rech- 
nung geleistet  wird,  stelle  man  die  Gleichung  so,  wie 
sie  dem  Satze  gemäss  ausfallen  muss ,  und  sehe  dann 
zu ,  ob  die  Gleichheit  eintrifft.     Es  soll  also  seyn 

oder  k  (ah  -\-  ac  -\-  bc)  :rz  bc  -\-  ac  -\-  ab  •\-  in  (/;  -j-  c)  . « 

bc-^(\^m){ac-^ab)^ 

woraus  k  =:  ■ — ^ — ■ —^ 

ab  -\--ac  -{-  bc 

und  dies  ist  eben  der  Ausdruck,  welcher  durch  k  be- 
zeichnet wurde. 

§.   5. 

Die  Formel  (5)  enthält  ein  negatives  Glied  ,  indem 
nach  der  Voraussetzung  b  grösser  ist  als  c.  Es  entstellt 
also  die  Frage,  ob  y  nicht  rr  o  werden  könne?  Denn 
wofern  die  Formel  einen  negativen  Werth  erlangt,  so 
hört  ihre  Gültigkeit  auf,  da  Vorstellungen  nicht  negativ 


67 

werden  können.  Dasselbe  gilt  dann  von  den  Formeln 
(3)  und  (4);  dergestalt,  dass ,  nacluleni  y  völlig  gehennnt 
ist,  die  alsdann  vorhandene  Hcmmungssumme  auf  a  und 
b  fallen  niuss ;  w^elches  eine  neue  Reclininig  erfordern 
wird.  Hieran  nun  knüpfen  sich  die  folgenden  Unter- 
suchungen. 

Zuerst   bietet  sich  die    Granze    dar,    welcher  y  sich 
nähert,  indem  dieExponentialgi'össen  verschwinden.  Sie  ist 

y  =    -^-   -ir^c 

Findet  man  für  angenommene  Werthe  von  a,  /;,  c,  diese 
Grösse  negativ :  so  ist  für  dieselben  Werthe  die  obige 
Frage  bejahend  beantwortet;  und  daraus  entsteht  die 
Aufgabe ,  die  Zeit  zu  berechnen ,  wann  y  =  o  wird. 
Vorbereitet  wird  die  Aullösung  dieser  Aufgabe  zunächst 
durch  ein  paar  leichte  Bemerkungen. 

1)  ;/  hat  allemal  ein  INIaximum.     Denn 


dy 


kt   __  (i  _  ^A    e  —  '  =  0 
dt 

1  h  ^. 

ergiebt   t  =■ .  log.   nat. (6) 

k  —  1  ü  —  c 

welche  Grösse  immer  möglich  ist,  da  ä  ^  c. 

2)  y,    als    Curve    gedacht,  deren    Abscissen    die   Zeit 

darstellen ,  hat  allemal    einen  Wendungspunct.     Denn 

dl^  ^  ^ 

1  kfj 

ergiebt  t  = log. (7) 

k  —  1  b  —  c  ■ 

Auch  diese  Zeit  ist  allemal  möglich. 

§.    6. 
Zwischen  den  Fällen ,  da  der  angegebene  Granzwerth 
positiv  und  negativ  ausfällt,  liegt"  der  Fall 

E2 


68 

h  ,         ,  hc  A-  ac  -\-  ah 

Ä  J_c  oder  h  . .   ^    \      ,"^    . ;  —  I,-\-c=zO 

ab 
daher    c  zzz 


-   />  +  a  (1  +  m) 


A^ 


a'^  b^  .  ab'^m  /c\ 

+  T-i 77-n — ^  •  •  •  •  l») 


(Ä  ^  a  {!-{-  m))2  '  ^,  -I-  a  (1  -|-  ^) 
Hat  c  diesen  Werth :  so  wird  y  nicht  früher  und  nicht 
später  ^=0,  als  wann  die  Exponentialgrössen  völlig 
verschwinden  ,  d.  h.  in  unendlicher  Zeit.  Oder  mit  an- 
dern Worten :  es  wird  nie  ganz  gehemmt ;  wäre  aber 
c  auch  nur  im  geringsten  kleiner  im  Verhältniss  gegen 
a  und  b,  so  würde  sich  eine  Zeit  angeben  lassen,  in 
welcher  es,  von  seinem  JMaximum  wieder  herabge- 
drängt, völlig  aus  dem  Bewusstseyn  verschwände. 

Man  sieht  hier  ein  Analogon  der  statischen  Schwelle  *). 

Wenn  m  =  1 ,  so  giebt  die  Formel 

yTU  —  1 

für  a=l,b=l,c= =  0,4342  .  .  . 

6 

a  =  2,  b  =  1,  c  = =:  0,4G33  .  .  . 

5 

a  z=  3,  b  =:  1,  c  =  ^ =  0.4745  .  .  . 

'  '  14 


V^235  —  5 

a=10,b=:l,    c^=  ~ —  0.491 

'  21 

V^9  —   1 

a  z=  CO,  b  =z  1,    c  =  ~ =z  0,5 

4 

Wenn  a  =  i  z=  1 ,  so  findet  sich 
für  rn  =  1,     c  =  0,4342  wie  vorhin, 
m  =  ^,     c  =  0,2899 
jn  =z  ^jy,  c  =  0,08487 
*)  Psychologie   §.  47. 


69 

§.   7. 
Die  Gleichung 

0  =  {c  —  b)  (i  —  e  -')  +  -  (1   —  ,;  -A') 

aufzulösen,  und  liiemit  die  Zeit  zu  beslimmen ,  wann  y 
aus  dem  Bewusstseyn  verschwinde,  (vorausgesctzl ,  dass 
c  unter  der  angegebenen  Schwelle  zurückstehe,)  kann 
nicht  besonders  schwer  fallen,  ungeachtet  diese  Glei- 
cliung  transscendeut  ist.  Denn  wo  nur  Ein  Älaximum 
und  nur  Ein  Wendungspunct ,  wo  beydes  überdies  so 
leicht  zu  finden  ist,  als  oben  gezeigt  (§.  5.):  da  orien- 
tirt  man  sich  bald ,  um  auch  die  Wurzel  durch  eine 
zweckmässige  Annälierung  zu  entdecken.  Indessen  bie- 
ten sich  einige  Hiilfsmittel  dar,  die  wir  nicht  überge- 
hen wollen. 

Zuerst  ist  eine  allgemeine  Älethode  der  Annäherung 
nöthig,  w^obei  angenommen  wird,  man  habe  irgendwie 
einen  minder  genäherten ,  doch  auch  nicht  gar  zu  feh- 
lerhaften AVerth  schon  gefunden.  Dann  ist  von  der 
Art,  einen  solchen  zu  finden,  nach  Verschiedenheit  der 
Umstände  Verschiedenes  zu  sagen. 

1)  IMan  ordne  die  Gleichung  so : 

b  —  c  —   —   =:(Ä  —  c)  e     '  —    -  e  —  ^* 
k  k 

und  setze  t  -=.  T  -\-  i ,  mithin,  wenn  A  :=:  h  —  c -, 

B  —  (b  —  c)  e-T,  und  C  =  -  tj-^^, 

A  —  Be-t'  —  Ce-  ^^ 

=  B  —Bi  '\-  ^  Bi"^    —  .  .  . 
—  C  -\-Cki  —  \CkH"^-\-  .  .  . 
welche  Reihen  man  verlängern    kann.     Indessen  nuiss  / 
schon  aus  den  ersten  Gliedern  nahe  genug  gefunden  seyn. 


70 

damit  man  aus  dem  erlangten  \N'erllie  die  liöhern  Po- 
tenzen oline  bedeutenden  Felder  berechnen,  und  der 
bekannten   Grösse  beyfiigeu  könne. 

2)  Um  T,  denjenigen  W'erlh  von  f,  welcher  mir  noch 
einer  gelungen  Berichtigung  duixh  /'  bedürfen  soll,  zu 
linden,  wii-d  auf  die  gegebene  Grösse  k  das  Äleiste  an- 
kommen. 

Wir  wollen  zuvörderst  annehmen,  diese  Grösse,  welche 
allemal  zwischen  1  und  2  fallen  muss,  sey  beynahe 
z=:  2;  so  ist  die  Gleichung  beynahe  quadratisch;  dem- 
nach sey  /c  :::=  2  —  u,  auch  setze  mau  e  —  *  ::=  -x,  mit- 
hin e~~^^  =  x^  =.  ■x'^~  "■ ,  und 

0   =:    —  —  b-\-  c    -\-  {h  —  c)x  —  --.%'^.x  —  ^,  oder 

ri  li 

k(h—i)             ,     k(b—c) 
0  =z   :t;2  .  o;   -  " ^^ ^  .  x  -j-   -^- ^   —  1. 

Hier  ist  x~  "■  ein  Coeflicient  der  unbekannten  Grösse, 
mit  welchem  man  die  Gleichung  dividiren  würde,  wenn 
er  bekannt  wäre.  "Wofern  nun  u  nicht  zu  gross,  mit- 
hin u;  ~ "  der  Einheit  nahe  ist,  so  wird  man  diesen 
Coefficienten  hinreichend  kennen  lernen,  indem  man 
anfangs,  ohne  ihn  zu  berücksichtigen,  die  Gleichung 
aullöset.  Dies  macht  keine  Älühe.  Denn  die  Gleichung 
hat  folgende  Form : 

0   =  x"^  —  qx   -\~   (^   —    1 ,   wo    q  =.  — —   . 

Hier  ist  offenbar  eine  "NYurzel  z:r  1 ,  und  unbrauchbar, 
weil  sie  von  den  vei^schiedenen  Wertheu,  welche  (j  ha- 
ben mag,  nicht  abhängt.  Die  brauchbare  Wurzel  aber 
ist  fj  —  1 ,  welches  ohne  weitere  Rechnung  vor  Augen 
liegt.  Man  nehme  also  (j —  1  für  x,  berechne  x  —  ", 
dividire   hiemit    die    Gleichung,    und   behandle    sie    wie 


71 

jede  quadratische  behandelt  wird.  Die  weitere  Berich- 
tigung bleibt  dann  der  obigen  allgemeinen  Näherungs- 
nietliode  überlassen. 

3)  Die  Gleichung  wird  beynahe  kubisch  seyn,  wenn 
k  seinem  mittlem  Werthe  :=z  ^  nahe  ist.  Man  setze 
alsdann  x  =z  y"^,  und  berechne  y  aus  der  Gleichung 

b  h 

Man  hat  nämlich  x^  =  j2fe  =:  ^2(4  — w)  ^-  ^3  — 2»   und 

der  noch  unbekannte  Coefficient,  durch  welchen  zu   di- 

vidiren  vorbehalten    bleibt,   ist    nun  y~~^^'-.      Die    Form 

der  Gleichung 

0    =r    y^    -    ^y2    ^    ^    -    l 

zeigt  auch  hier,  dass   1   eine  Wurzel   der  Gleichung  ist. 

Daher  lasst  sich  mit  y  —  1   ohne    Rest   dividiren,    und 

diese  Division  giebt  y"^  +  (1  —  ?)  7  ~l~  (^  —  ?)?  wobey 

zu  bemei'ken,  dass  nach    der   Natur  der   Sache  «/  ^  1. 

Man  schi'eibe  also 

y2  _  (,/  -l)y-  (y-1)   =  0 

woraus  y  =^  -^  (ij  —  OH"    ^     — —   -j-  V  —   !• 

Ist  dies  berechnet,  so  findet  sich  der  Coefficient  j— 2i< 
mit  welchem  die  Gleichung  muss  dividirt  werden,  inn 
für  eine  berichtigte  kubische  gelten  zu  können;  deren 
brauchbare  Wurzel  man  schon  so  weit  kennt,  als  nö- 
thig ,  um  die  gewöhnliche  Annäherung  zu  unternehmen. 
Zur  letzten  Berichtigung  wendet  man  sich  wieder  au 
die  obige  allgemeine  Näherungsmethode.  —  Es  versteht 
sich  von  selbst,  dass  u  positiv  oder  negativ  zu  nehmen 
ist,  jenachdem  k  entweder  >»  oder  <!  |. 

4)  Man  gebe    der  Gleichung  folgende  Form: 

h        _  1  —  e-t 

k{b—c)  ~~   1    —  e-^^* 


72 

Wenn  nun  die  ersten  Versuche  schon  zeigen ,  dass  e  —  ^'- 
gegen  1  gering  ausfallen  müsse :  so  wird  eine  sehr  leichte 
Rechnung  hiureichen.  Aus  dem  ersten  Werthe  \on 
xzz:  e  —  ^,  der  sich  darbietet,  bestimmt  man  e  —  ^'^,  mul- 

tiplicirt  dann mit  1  —  e  —  ^',    berechnet    hier- 

^  k{h—c) 

aus  ß  ~~ ',  sucht  hieraus  von  neuem  e  —  ^*,  und  setzt 
dies  fort  wie  zuvor. 

5)  Wäre  keine  von  den  angegebenen  Verfahmings- 
arten  bequem  genug,  so  bliebe  für  solclie  Falle  immer 
noch  das  Hülfsmitlel,  zuerst  den  Wendungspuuct  durch 
seine  Abscisse  und  Ordinate  zu  bestimmen ;  von  wo 
aus  die  Wurzel  sicli  durch  Versuche  (mit  Hülfe  des 
dortigen  Differential- Verhältnisses)  entdecken  lässt. 

In  folgenden,  unter  sich  vergleichbaren,  Beyspielen 
soll  zugleich  das  Maximum  berücksichtigt  werden. 

Erstes  Beysi^iel.  a=:il5,  Z/=10,  c  ■=.  \,  und 
mn:l.  So  ist  Ä  =  1,9428 ,  und  zt  =  0,0571.  Daher 
^  —  1  n=  0,7485.  Dies  für  t  genommen,  giebt  nach 
der  Division  mit  %  — "  (oder  Älultiplication  mit  x  ")  die 
berichtigte  Gleichung 

a;2  _  1,7198a;  -j-  0,73623  =  0 
woraus  x  =  0,8033;  und  folglich  t  =  0,21904.  Wen- 
det man  hiei^auf  die  zuerst  gezeigte  allgemeine  Nähe- 
rung an,  so  ergiebt  sich  t  =  0,01894,  mithin  das  ge- 
suchte t  =  0,23798.  Bis  zu  dieser  Zeit  war  y  im  Be- 
wusstseyn  gegenwärtig,  dann  verschwand  diese  Vorstel- 
lung. Um  die  Zeit  0,1123  hatte  sie  (nach  der  Formel 
(C)  im  §.  5.)  ihr  INIaximum  gehabt;  und  während  der 
Zeit  0,1257  war  sie  von  da  herabgesunken.  Sie  sank 
also  ein  wenig  langsamer  als  sie  stieg.  Ihr  IMaxi- 
nuun  betrug  0,0552  (nach  Formel  5  im  §.  4,  in  welche 


t  =  0,1123  zu  selzen  ist).  In  tliesem  Zeilpuncte  des 
JMaxiimim  für  y  war  /;  bis  ßz=:  1,057,  und  a  bis  «=i  1,59 
gestiegen  (nach  Formel  3  und  4).  Diese  Grössen  ver- 
hallen sich  ziemlich  nahe  wie  a  zu  b.  Für  den  Zeit- 
punct  des  Verschwindens  von  y,  also  für  t  =.  0,23798, 
ist  (ungefähr)  /J  i=  2,1  ...  und  «  =z  3,2  ..  . 

Zweytes  Beyspiel.  c  z=.  2;  a,  b ,  m  wie  vorhin. 
IMan  findet  A  r=  1,9;  uz=.  0,1;  q  —  1  :=  0,52;  die  berich- 
tigte Gleichung 

a;2  __  1,4238  a;  -{-  0,48708  =  0 
woraus  x  =  0,57154,  und  hieraus  t  =  0,55943  ;  als- 
dann noch  zur  Verbesserung  t  =.  0,01529,  also  das 
verbesserte  t  =  0,57472.  Die  Zeit  des  Maximums  war 
z=:  0,24794.  So  lange  dauerte  das  Steigen ;  hingegen 
das  darauf  folgende  Sinken  bis  zum  Nullpuncte  brauchte 
eine  Zeit  =z  0,32678.  Das  IMaximum,  wozu  sich  y  er- 
hob, betrug  0,2207;  ungefähr  viermal  soviel  als  im  vo- 
rigen Beyspiel,  obgleich  die  Vorstelhuig  c  selbst  nur 
doppelt  so  stark  angenommen  worden;  sie  hat  aber  auch 
mehr  als  doppelt  so  lange  Zeit  zum  Steigen  gehabt. 
Indem;/  dies  Maximum  erreicht,  findet  sich  ^  rz::  2,15  . . 
und  a  =  3,26  . .  Im  INIoment  des  Verschwindens  von 
y,  für  t  =  0,5747,  ist  (ungefähr)  /?  =  4, 1 ;  und  a  z=  6,3  ... 

Drittes  Beyspiel.  c=4;  a,  b,  m  wie  vorhin. 
Mau  findet  k  =.  1,840;  u  =  0,16;  q  —  1  =  0,104;  wel- 
ches zuei'st  für  X  zu  nehmen  ist ,  also  für  e—  '^.  Hier 
sieht  man  gleich,  dass  e—^'^  gering  ausfällt  gegen  1; 
man  kann  also  von  der  Form 

b  __  1  —  e-t 

k{b  —  c)~'\—e-''t 

Gebrauch  machen,  wie  oben  gezeigt;  und  findet  nach 
einander  e  —  t~  0,10828,  dann  e  — '^  =  0,10936,  hier- 


,  74 

auf  e  —  tz=  0,10905,  woraus  t  =  2,2104.  Diese  Zelt 
ist  mehr  als  das  Dreyfache  vou  der  im  vorigen  Bey- 
spiele,  obgleich  der  Werth  von  c  nur  verdoppelt  ist. 
Die  Dauer  einer  Voi\stelking  im  Bevvusstseyn  gewinnt 
in  weit  grösserem  Verhältnisse  als  ilire  Stärke.  Das- 
selbe gilt  vou  der  Zeit  des  Steigens  bis  zum  Maxinuun, 
welche  hier  rr  0,60812  gefunden  wird;  noch  mehr  vou 
dem  ]Maximum  selbst,  denn  y  erhebt  sich  bis  zu  0,9261. 
Um  eben  diese  Zeit  ist  b  bis  zu  /?  =z  4,197  und  a  bis 
zu  «  =  6,595  hervorgetreten.  In  jenem  Zeitpuncle, 
worin  y  verschwindet,  ist  ß  =■  7,48  . ..  und  a  n:  12,4  ... 
Viertes  Beyspiel.  Hier  soll  der  Hemmungsgrad 
m ,  der  Vergleichung  wegen,  verändert  werden.  Es 
sey  demnach  m  z=.  -4^.  Man  weiss  aus  ^.  6,  dass  für 
c  =  4,  y  nicht  zur  Schwelle  zurückfallen  würde;  wir 
nehmen  nun  c  =  2,  zur  Vergleichung  mit  dem  zweyten 
Beyspiele;  übrigens  wie  vorhin,  a  =z  Ih ,  b  =z  10. 
Hieraus  wird  k  =.  1,45.  Mau  kann  zwar  im  vorlie- 
genden Falle  durch  Aufsuchung  des  Wendungspuncts 
leicht  zum  Ziele  gelangen ;  allein  derselbe  lasst  sich 
auch  zu  einem  Rückblick  auf  das  angezeigte  Verfahi'eu 
mittelst  einer  kubischen  Gleichung  benutzen ;  und  dies 
soll  hier  geschehen.  Nachdem  q  —  1  =  0,16  gefun- 
den worden,  hat  man  y  z::z  0,48792,  und  hieraus,  nach 
geschehener  Division  mit  r  —  o,i^,Jie  berichtigte  Gleichung 

0  =  f  —  1,0797  f  +  0,14892 
woraus,  nach  gewöhnlicher  Verbesserung  des  vorigen 
Werths,  /  =  0,5110,  oder  a;=:  0,2617,  oder  ^r=  1,3404. 
Wenn  jetzt  noch  die  allgemeine  Näherung  hinzukommt, 
so  ergiebt  sie  /'  =  0,0044,  also  das  gesuchte  /zu:  1,3448. 
Diese  Zeit  ist  wenig  mehr  als  das  Doppelte  von  jener 
im    zweylen    Beyspiele.      Die    Vorstellung  o  bleibt    also 


75 

iingelalir  doppelt  so  lange  im  Bewusslse)  u ,  well  ihr 
Ilemimmgsgrad  mir  halb  so  gross  ist  als  zuvor.  Ihr 
IMaximum  hal  sie  in  dem  Zeitpuucte  0,4959,  und  das 
IMaximum  selbst  beträgt  0,4087.  Im  zweyten  Beyspicl 
war  es  0,2207,  also  ist  es  nicht  völlig  verdoppelt.  In 
eben  diesem  Zeitpuncte  0,4959  hat  ß  den  Werth  3,83 . . 
erreicht,  und  «  ist  rz:  5,814.  Für  die  Zeit  1,344  ... 
da  ;/  =  0  wird,   ist  ß  =  7,063  ...  und  a=  10,84  . . . 

§.    8. 

Wir  richten  jetzt  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die 
Voi'Stellungen  a  und  /;;  zuvörderst  um  zu  sehen,  wel- 
che Veränderung  ihrem  Aufsteigen  dadurch  begegnet, 
dass  eine  dritte  ihnen  entgegengesetzte  zu  gleicher  Zeit 
mit  ihnen  hervortrit.  Das  dritte  Beyspiel  kann  den 
Unterschied  am  axifTallendsten  machen,  weil  c  dort  am 
grössten  angenommen  wurde.  Die  Formeln  (1)  und  (2) 
des  ^^.  2  müssen  zeigen ,  wie  hoch  a  und  //  sich  zu  den 
im  dritten  Beyspiele  angemerkten  Zeitpuncteu  würden 
erhoben  haben,  wenn  keine  dritte  Vorstellung  vorhan- 
den gewesen  wäre. 

Wir  nehmen  also,  wie  dort,  a  =  15,  i  r=  10, 
7}i  =z  1.     Hieraus  k  =z  1,6.     Man  findet 

für  die  Zeit  0,60812,  «  =  6,388;  ß  z=  3,887 
für  die  Zeit  2,2104,  «  =  11,46  ;  ß  =  6,068. 
Demnach  a  beydemal  fast  doppelt  so  gross  als  ß.  Dies 
kann  nicht  befremden,  wenn  man  die  Formeln  (1)  und 
(2)  ansieht.  Die  Exponenlialgrösse  e  —  ^^  nimmt  schnel- 
ler ab  als  e  —  '^.  Auch  ist  gleich  Anfangs  erinnert  wor- 
den, dass,  wenn  a  oder  6  einzeln,  und  gar  keiner  Hem- 
mung unterwoi'fen  ,  aus  dem  ganz  gehemmten  Zustande 
hervorträten,  dann  ihre  Differentiale  seyu  würden 


76 

da  =z  (a  —  a)  dt  und  dß  =z  (h  —  ß)  dt 

mithin   «  =:  a  (1  —  e  — ')  und  ß  -=ih  (1  —  e  — '). 

Zusammen  steigend  aber    hindern  sie  einander;  und  da- 

bey  leidet  h,  als  die  scliwachere,   am  meisten;    es  wird 

h  ,  .        .  .        . 

ihr  eine  Gräuze  zzz  —  cesetzt,  der   sie    sich    mit    einer 

dß 
Geschwindigkeit  =:  —   :=.  h  —  kß  annähern  muss.    Die 
dt 

stärkere  Vorstellung  leidet   weniger;    dies   zeigt  sich   in 

dem  ersten  Gllede  der  Formel  für  « ;    worin    noch   die 

Grösse  1  —  e  —  '^  vorkommt,  wiewohl   nicht    mit    dem 

ganzen  a  multlplicirt. 

Vergleicht  man  aber  die  Beyspiele  des  vorigen  §,  so 
fällt  sogleich  der  grosse  Unterschied  ins  Auge.  Dort 
wird  die  Hemmungssumme  ziun  grössten  Theil  auf  die 
dritte,  schwächste  Voi'stellung  geworfen.  Daher  sind 
dort  sänimtliche  Werthe  von  «  und  ß  für  die  nämli- 
chen Zeiten  grösser  gefunden ;  und  überdies  behält  ß 
gegen  a  noch  ziemlich  nahe  das  ursprüngliche  Verhält- 
niss  von  i  zu  a,  nämlich  10  :  15  :=:  2  :  3.  Der  Vor- 
iheil  ist  also  am  grössten  für  ß. 

Dies  ist  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  die  stärkern 
Vorstellungen  gegen  die  schwächern  in  Verbindung  trä- 
ten ;  vielmehr  werden  für  jetzt  noch  die  Vorstellungen 
als  völlig  unverbunden  betrachtet.  Sondern  es  ist  die 
blosse ,  unmittelbare  Folge  von  der  Natur  der  Ilem- 
mungssumme,  die  aus  allen  gleichzeitigen  VorstelUmgeu 
als  eine  gemeinschaftliche  Last  für  alle  hervorgeht,  im 
umgekehrten  Verhältnisse  des  "Widerstandes  sich  ver- 
thellt,  und  In  jedem  Augenblicke  mit  einer,  ihrer  Grösse 
proportionalen  Geschwind  gkeit  sinkt. 


77 

§.  9. 

Was  ^vir(l  mm  geschehn,  nachdem  y  gesimken  ist 
bis  axif  Null?  Die  Hemnuingssummej  welche  eben  vor- 
hauclen  ist ,  und  unmittelbar  zuvor  noch  am  meisten 
gegen  y  drängte,  fallt  auf  einmal  dem  a  uhd  b  zur  Last; 
vorzüglich  dem  letztern,  als  dem  schwächeren.  Ähnliches 
kommt  schon  bey  sinkenden  Vorstellungen  vor  *) ;  nur 
ist  es  hier  mehr  verwickelt,  und  die  plötzlichen  Abän- 
derungen   können    im  Bewusstseyn   merklicher  werden. 

In  dem  Augenblicke ,  da  y  =  0  wird ,  sey  ß  z=  B', 
und  a  '=■  A.  IMan  lasse  von  hier  eine  neue  Zeit  be- 
ginnen; so  müssen  die  Formeln  (t)  und  (2)  in  Anse- 
hung der  Constauten  verändert  werden.     Aus 

dß  z=  Ch  —  ß  —f^^-'\  dt  oder  {h  -  kß)dt      . 
^  ß  — J—  by 

folgt  zwar  auch  jetzt  noch 

loa      ^LUJII    —    —    kt 

*    Coust. 
aber  Const.  z=z  h  —  kB,  und 


kt 


(9) ß  =  -(i-.-Ä.)  ^  B 

Hiernach  bekommt  die  Formel  für  «  einen  Zusatz,  in- 
dem das  (>  des  ^^.  2  noch  ein  Glied  in  sich  aufnehmen 
muss.  Die  ganze  Formel  kann  übrigens  bleiben,  vi^ie 
sie  war;  mau  hat  nur  folgendes   beyzufügen : 

Bmh  .  1  s    ,      1 

Wenn  a  =  i5,  b  =z  10,  wie  in  vorigen  Beyspielen,  so 
ist  die  Erhebungsgränze    des    ß    nach    Formel  (2)  nicht 

10  .  5 

höher  als  — '—    =z  6,25.      Im    dritten    Beyspiele    war 

*)  Psychologie  §,  75. 


78 

aber  ß  emporgestiegen  bis  7,48  ■=.  B.     Folglich 

(11)  dß  =  {h  —  Bk)  e  —  ^t  dt 

ist  beyni  Anfang  der  neuen  Zeit  r=  —  \ß(Jdt.     Die  Ge- 

dß  ,  .  .  , 

schwinuigkeit   =   -y    ist   negativ;   h  nuiss  sinken. 

Ferner   giebt   die    Formel   (1),    in    Verbindung    mit 
dem  so  eben  augezeigten  Zusätze 

du  /  Ä^  mhB  \    e      t 

—  =^  ( (i —  ^'*   +  T. ; — ; ; r  i 

dt       y  a  {fi  —  1)  («  -f  Ä)y 

4-   ( . )  e-  f"'  ...    (12) 

Für  die  angenommenen  Werthe ,  welchen  gemäss 
m==:  1  und  ^  =  1,6;  auch  tzzzO,  giebt  dieser  Ausdruck: 

—  0,401 ;  also  ist  auch  die  Geschwindigkeit  von  a  negativ. 

i2                        rnhB 
öetzt  mau   endlich  a A-4-   ; ^^^P, 

a  ^  fk—\){a-{-h)      ' ' 

ä2  k  mhB      _ 

7  "~  {k  —  1)  '   (a  +  b)  —  ~  ^7' 

und  alsdann  pe  —  '^  z=  <je —  ^'^,  oder  —  =:  0, 

In  .     . 

woraus  /  z=. .  log.  — (13) 

k  —  1  p 

so  muss  um  diese  Zeit  a  ein  IMiuimum  haben.  Im  Bey- 
spiel  findet  sich  «  rr  12,313;  es  war  aber  in  dem  Au- 
genblick, da  y  verschwand,  «  r=  12,409;  also  ist  es 
um  0,096  gesunken.  Die  Zeit  seines  Sinkens  betragt 
0,6069.  Nach  Verlauf  dieser  Zeit  ist  ß  von  7,4806 
herabgesunken  bis  auf  6,7159;  also  hat  es  0,7647  ver- 
loren ;  ungefähr  8  mal  so  viel  wie  «. 

Alan  bemerke  noch,  dass  die  Zusätze  wegen  yJ  und 
B,  welche  die  vorigen  Formeln  liier  bekommen  haben, 
an  den  Glänzen,  denen  sich  u  und  ß  annähern,  nichts 
verändern  können.     Denn  sie  hängen  von    Exponential- 


79 

grossen  ab,  die  für  grössere  t  bald  so  gut  als  völlig  un- 
bedeutend Nverden.  Vielmehr  sinkt  ß  langsam  zu  sei- 
ner Granze  6,25;  und  a  steigt  vom  JMinimum  allmäli- 
lig  bis  12,5. 

^   10. 

Vermuthen  lässt  sich,  dass  von  vier  Vorstellungen, 
ß,  Z»,  c,  d,  die  drey  scliwächern  zuerst  sich  grossen- 
theils  ähnlich  jenen  bewegen  werden;  und  dass,  nach- 
dem d  zur  Schwelle  gesunken,  ihm  c  bald  nachstürzen, 
lind  dadurch  für  a  und  b  das  vorige  Verhalten  eintre- 
ten werde.  Anstatt  hierüber  vveitlauftige  Piechnungen 
anzustellen*),  wollen  wir  die  schon  geführte  Rechnung 
etwas  erweitern. 

Gesetzt,  es  gebe  mehrere  Vorstellungen  von  gleicher 
Stärke  z=.  h,  deren  Anzahl  nr  fi,  und  auch  mehrere 
r::r  c,  deren  Anzahl  r=  ^/:  so  hat  man  die  nämlichen 
Diflerentialgleichungen  wie  im  §.  4,  allein  die  zweyte 
und  dritte  mehrmals.     Um  zunächst  die  Grössen  n,  n", 

hc 


n 


zu  bestimmen:  so  findet  sich  n  =■ 


hc  -j-  ftac  -{-  rab 
ab 


hc  ■\-  pac  -\-  1  ab  bc  -\-  /nac  -\-  pab 

Ferner  da  =^  {a  —  «  —  n  in  {fiß  -\~  vy))  dt 
dß={b  —  ß^  n"m  (/,ß  +  ry))  dt 

dy  =  (c  —  y  —  n"m  {ftß  -}-  vy))  dt 

giebt  beym  Addiren  der  dß  und  dy 

*)  Zu  bemerken  ist,  dass  man  auch  bey  vier  Vorstellungen 
nicht  mehr  als  zwey  Esponenlial  -  Grössen,  von  der  Form 
("l  — «  *0  und  (1  —  <?— 0»  finden  wird;  nur  die  Coenicienlen 
sind  weit  mehr  verwickelt. 


80 

(1  [fiß  -}-  vy)  rr  [fih  -f-  vc  —  [fiß  -\-  vy)  —  (/m"  -|-  vn") 
m  {iiß-\-vy)]di,   uml  fiß -^  vy  =^"\/''\l  —  e-''') 

ri 

wo  /c :=  1  -f-  (/(TT  -\-r7i    ).m=l-\-T}i. 


hc  -\-  fiac  -{-  rab 
Ist  hier  /«  zz:  1 ,  so  wird  für  ein  kleines  c  sich  k  —  1 
fast  ganz  nr  1 ,  oder  A;  :rz:  2  setzen  lassen.  Uberdem  ist 
dann  n  sehr  gering,  d.  h.  «  bewegt  sich  fast  wie  wenn 
keine  Hemmung  darauf  wirkte.  Daher  wollen  wir  die 
Rechnung  nui:  für  ß  und  y  fortsetzen.  Wie  im  §.  2 
schreiben  wir 
dß -\- ßdt  =  Qdi,  woraus,  wie  dort,  du  .ß— '^:rr  Qdt, 

du—Qc'dt—\  h—n.- '  )e,'dt-\-n  ^ .  e  ^^-^)tdi 

^  k       ^  k 

„   =     {^,-n  .-— ;.,+u  __^..(i-;c>4_Const. 


un 


d  weil  ^  —  0  für  f  =  0, 


r 7  "     1"^'  +  *'^^     I       ',  /<^'  -^  rc    ,    ^ 

»  =  (.''-«•  '-^J  +  «   '^^T)  +  ^°"^^- 

so  ergiebt  sich 

oder  h  (1— ß  — ,)  _  n"  .  ^'^"^^^  (1  — ß^O 

Falls  ohne  bedeutenden    Fehler  k  z=:  2  und  k  —  1  1=  1 
genommen  werden  kann,  ergiebt  sich 


81 

1//;  —L.  -r/f 

(15)  .../S  =  b{\—e  —  t)—n    '     ^      (i-j-g— A^— 2e— ^) 
und  eben  so 

(16)  ...y=c(l—e-^)  —  n"J^^^i^il-]-e—^^  —  2e—') 

K 

Die  Berechnung  für  y=zQ  ist  liier  ausserordentlich 
leicht,  da  man,  die  nämliche  Abkürzung  durch  /c  nz  2 
beybehaltend,  schreiben  kann 

0— c(l— e— ')  —  -1-  n"  (/,i  +  rc).(l— e  — 0^ 

oder  0  =  c  —  ^  yi'"  (/(^-{-rO  (1  —  e,  — ') 

2c 
also  1  —  e  —  t  =  -77 r-r-r-r — ;: 

n"  {fih  -\-  rc) 

n"  {jub -\- vc)  —  2c 

Dieser  Ausdruck    lässt  sich    für   manche  Falle    noch 

ab 

bedeutend     abkürzen.      Denn    n"  =  1 ; : 

bc  -f-  fiac  -j-  rab 

wird    für    ein    grosses    fia    oder    rn,    indem     man    bc 

b 

weglässt,  beyuahe  n:  j ,  daher  nahe 

fic  -\-vb 

b  (nb  -{-  rc 
t  r=  log.  — -,  ,.  .      Ist    ferner    c   klein   ge- 

"     fl    (i2_2c2)—   vbc 

nug,    damit    vorläufig    auch    noch  2c'^    neben  b'^    wegge^ 

lassen  werden  könne,  so  hat  man  beynahe 

rc 

fib  -\-  VC  "•"  /77>     r*'^      ''^^' 


und  log.      „.  .     .     . : ~  =  t 


log.    '  /'^>_2r:^+^^  +...-1 


fib         ^^                                  ... 
1 

Übrigens  lassen  sich  die  Formeln  auch  nach  Analo- 
gie der  obigen  (3,  4,  5)  anordnen ;  um  dies  an  der  For- 
mel für  b  kurz  zu  zeigen  ,  dient  Folgendes. 

iib  — t—  i'C 
Anstatt  —  n' '- (1   —  e  —  0    schreibe    mau 

Heft  II.  F 


„  fih-\-vc  ,,    f(b-\-vc      1   —  k 

nämlich  —  n  •  — ; =  n   •  — .  — ; —  ,    oder 

k  k  —  1  k 


82 

„   [nh  -j-  rc  „      ftb  -\-vc 

getrennt  —   n    . ; -f-   ii     - ^  —  S    und 

k  k 

vereinige   den  letztern  Tlieil  mit  n" r-  ß  ~  ' ;  so 

k.{k — 1} 

.  1  ^  .         ^  -,(/'^'+»'')   _, 

wird  wegen  1  + r=  , -aus  beydem  n   — —e    • 

k — 1        k — 1  k  —  1 

Ferner  zerlege  man  den  ersten  Thell  in  zwey  Ausdrücke; 

lämlich  —  n  •  — ; — 

k 

„fih  4-  fC              ,,  fth-\-VC         ^.  , 

u  ■ n     .       Dieser    letztere    negative 

{k—\).k  k  —   \ 

Ausdruck,  zusammeugelasst  jiiit  jenem,    der   die    Grösse 

e  — '^  mit  sich  führt,  ergiebt  —  n"  — (1  —  e—') 

k  —  1 

welclies  mit  h  {X  —  ^  ~  ')  zu   verbinden  ist.      Eben  so 

•  1    .             "  f'^'  -\-vc      .  .     . 

lasst  sich  jenes  n —  mit    demjenigen    1  heile    der 

\K —  l  j  •  fi 

Formel  verknüpfen,  welcher  die  Exponentlalgrösse  e — ^'^ 

,,    r.  h   -4—    'i'C 

enthält:  man  hat   alsdann  n     ' (l — e — ''O«  Die 

[k  —  l).k^  ^ 

ganze   Formel  ist  nun 

Und  eben  so 

Beyspiel.  a  =  15,  i  r=  10,  c  =  1,  /t  =  l,  r=4. 
Jedes  der  vier  y  hat  um  die  Zeit  =  0,3533  das  Maxi- 
mum =  0,1488;    und   verschwindet   aus    dem  Bewusst- 


83 

seyn  um  die  Zeit  rz:  0,9044.  Dies  Bcyspiel  gcslaüet  eine 
iloppelle  Vergleicliung.  Zuersl  juil  tloiu  erslcii  Boyspicle 
des  ^^.  7.     Wir  stellen  also   zusammen 

Maximum       Zeit  des  Maximum.  Zeit desVe^sch^^indcns 
dort   0,0552  0,1123  0,2370 

hier   0,148S  0,3533  0,9044 

Der  Grund  des  Unterschiedes  ist  klar.  Der  bclrachl- 
liche  Theil  der  Hemmuugssumme,  der  aus  ß  enispringt, 
fiel  dort  meistens  auf  ein  einziges  c.  Hier  ist,  ^Yie 
dort,  c  zzz  \  gesetzt,  aber  es  sind  solcher  c  vier  ange- 
nommen. Diese  vermehren  zwar  die  Hemmungssumme; 
allein  weit  erheblicher  ist  der  Umstand,  dass  sie  als 
Träger  der  gemeinsamen  Last  dienen;  als  solche  hallen 
sie  mehr  imd  länger  aus ;  beyuahe  dreyfach. 

Die  zweyte  Vergleichimg  bietet    das    dritte    Beyspiel 
des  \.  7.     Dort  war    nur   ein  einziges  c  rzz  4  angenom- 
men; hier  ist  dieselbe,  dem   a  und  h  entgegenwirkende 
Grösse    in  vier   Tlieile    gleichsam    zersplittert.      Es  war 
IMaximum     Zeit  des  INIaximum.  Zeit  desVerschwiudens. 
dort  0,9261  0,6081  2,2104 

hier   0,1488  0,3533  0,9044 

wobey  besonders  auffällt,  wieviel  länger  dort  die  Zwi- 
schenzeit zwischen  der  des  INIaximums  und  des  Ver- 
schwiudens  verhältnissmässig  dauert,  als  hier.  Dort 
wird  die  Zeit  des  Älaximums  beynahe  vierfach  genom- 
men den  Zeitpunct  des  Verschwindeus  ergeben ;  liier 
nicht  einmal  dreyfach.  Das  Sinken  geht  viel  langsamer, 
wo  eine  grössere,  das  heisst  in  diesem  Falle,  eine  bes- 
ser concentrirte  Energie  sich  demselben  widersetzt.  Am 
meisten  gewinnt  das  Maximum,  welches  sich  im  Rey- 
spiele  nahe  sechsfach  vergrössert  zeigt,  wo  der  Wider- 
stand als  Gesammlkraft  wirkt. 

F  2 


84 

Wir  liaben  noch  auf  «  iiml  ^i  zu  sehen.  Wegen 
li  ist  sclioa  erinnert  worden,  dass  darauf  die  Ilemnuuig 
unter  den  jetzigen  Voraussetzungen  keinen  sehr  merk- 
lichen Eiufiuss  haben  könne.  In  der  That  ist  n  hier 
nicht  vollends  r=  -q^^,  also  kann  ein  so  kleiner  Tlieil 
der  Hemnuuigssumme,  neben  «  selbst ,  in  der  Gleichung 
du  =  {a  —  «  —  n  {ftß  -\~  ry))  dt  kaum  in  Betracht 
kommen.  Denkt  ujau  sich  nmi  «  ganz  ohne  "Wider- 
stand steigend,  so  ist  um  die  Zeit  =z  0,9044,  u  = 
a  (1  —  e  — ')  =  8,9283.  Beynahe  dasselbe  könnte 
man  auf  b  anwenden ;  denn  n"  ist  noch  nicht  vollends 
■Jy*,  stiege  nun  ß  ohne  Widei-sland,  so  wäre  um  die 
nämliche  Zeit,  p  zzz  5,9522.  Bloss  um  die  Geringfü- 
gigkeil des  Unterschiedes  zu  zeigen,  wollen  wir  ^  aus 
der  Foimel  berechnen;  mit  der  Bemerkung,  dass  der 
Unterscliied  hier  dennoch  bedeutender  ist  als  bey  <;, 
weil  fj  kleiner  ist ,  und  ein  grösserer  Zusatz  daneben 
weniger  darf  vernachlässigt  nn  erden.  Es  findet  sich 
nämlich  /?  =  5,8927. 

Jetzt  erneuern  sich  die  Betrachtungen  des  §.  9.  Es 
sind  a  und  />  fast  ohne  Widerstand  bis  zu  u  und  ß 
emporgestiegen  ,  so  lange  die  vier  gleichen  c  ihren  Druck 
übernehmen.  Plötzlich  verschwindet  diese  Unterstü- 
tzung; und  die  beträchtliclie  Ilcmmungssumme  =  5,8927 
fällt  auf  a  und  b.  So  eben  noch  stieg  ß  fast  mit  der 
Geschwindigkeit  b  —  /?  =  4,107;  plötzlich  trit  die  viel 
geringere  Geschwindigkeit,  =  0.5716,  an  deren  Stelle, 
die  sich  (nach  Formel  llj  noch  überdies  coutinuirlich 
vermindert.  Auch  die  Geschwindigkeit  von  a  muss  sich 
auf  einmal  vermindern,  wie  man  ohne  Rechnung  leicht 
genug  übersieht.  Zu  einem  JNIinimum  von  «  kommt 
es    indessen     hier    nicht,    weil     kein     Sinken     erfolgt. 


85 

sondern    nur    ein  Stocken,  das    lür    h    fast  einem    Slil!- 
stande  gleiclit. 

Werden  zwey  Vorstellungen ,  jede  von  der  Stärke 
rr  10,  statt,  wie  zuvor,  einer  solchen,  angenommen, 
das  iibi'ige  wie  vorhin:  so  findet  sich  jedes  ^  nz  0  für 
die  Zeit  0,43947;  um  diese  Zeit  ist  jedes  ß  =.  3,502; 
und  «  =  5,3343.  Die  Formchi  (4)  und  (5)  ergeben 
zur  Erhebungsgränze  für  jedes  ß,  5  -|-  ^  ;  und  zur  Gränze 
von  « ,  12  -{-  I ;  demnach  sind  beyde  b  und  u  noch 
weit  von  ihrer  Gränze  ,  können  noch  beträchtlich  stei- 
gen,  und  ihre  Gescliwindigkeit  wird  weniger  gestört, 
indem  die  sammtlichen  c  zur  Schwelle  zurücksinken. 
Die  Zeit  war  zu  kurz,  als  dass  sich  jene  schon  bedeu- 
tend hätten  ilirer  Gränze  nähern  können.  Hätte  man 
eine  grössere  Anzahl  der  c  angenommen,  so  würde  die 
Zeit  ihres  Zurücksinkens  sich  verlängert  haben,  wie 
aus  dem  vorigen  Beyspiele  zu  ersehen  war. 

Zweytes  Capilel. 
f^om  Steigen    hey  uniflcichen  Hcmmunifstfradcu. 

^.  11. 
Das  bisherige  Verfahren  berulit  wesentlich  auf  der 
Addition  derjenigen  Gleichungen ,  welche  zusammen  ge- 
nommen die  veränderliche  Hemmungssumme  ergeben 
müssen.  Dieser  Vortheil  der  Rechnung  geht  verloren, 
wenn  die  Hemmungsgrade  ohne  Einschränkung  ungleidi 
seyn  sollen-,  man  kann  ihn  aber  noch  beybehalten,  wenn 
w^enigstens  diejenigen  Hemmungsgrade  gleich  sind,  die 
in  der  llemmungssunune  vorkonunen.  Um  dies  kurz 
zu  zeigen,  nehmen  wir  an,  in  einer  Hejnmungssunune 
wie  nß  -\-  py,  sey  n=z  p. 


Es  scy  nun  ii    z=z 


86 

Lee 


hc8  -j-  CIO]  -\-  ahd" 


y*     =   .- — i ; — ~  ,  n 


aiuh  die  liennnungssuninie  :=  n  (/i-}-^),  und  mau  habe 

wie   vorhin   die  drey  Gleicluingen 

du  =^  (a  —  a  —  ii'n  (/?  -{-  y))  dt 
dß  =(/j~  ß  —  nn  {ß  4-  y))  dt 
dy  =  (c  —  y  —  n"'n  (ß  -j-  y))  dt 

so  ist  auch  jetzt  nocli 

d(ß  ]-y)  =  {h-]-  c—  k  (ß  -{-  y))  dt 

„  f,,.  .  ao]  -\-  ahd 

^\o  k=z\-{-n  {n    +  71  ')  r=    \ -\- n  .  ■ -^-! —- — 

'        ^         '         ^  '         ÄC5  +  aci]  4-  ab» 

und  die  Rechnung  lauft  auf  bekanntem   Wege  fort   bis 

zu  den  drey  Gleichungen  von  völlig  gleicher  Form: 

tt   r=   1  a  —  71  n   — ^ —   J   (1  —  ^~0 
+  ^''"  ^^  .    ^,j  .  («-'  -  ^-^0     (17) 

ß  =  Q,  -  ^"«^)  (1-^-0 

4-  7*"/z  --^  .  -1^  (,-^   _  e  -  ^0     •     •    •    •     (18) 

y  =   (c  —  ^"'„iif)  (1-e-O 

Ä  -I-  r  1 

+  n"n  — ^—  .    —  e  —t  —  e—^')     ....     (19) 
^  k —  1 


*)  Ps}  chologle  §.  54,    wo  die    Verhähnisszahlen ,    (nach    denen 

das  Qiianlum,  was  gehemmt  wird,  zu  verlheilen  ist,)  durch  -,  ^ 

a  o' 

— ,  ausgedrückt  sind;  indem  i,  y,  &,  jedesmal  solche  Summen 
von  Ilemmungsgraden  ,  wie  p  •\-  n,  oder  /j  -|-  w  ,  oder  m  -^  n  be- 
deuten, gemäss  den  verschiedenen  Umständen,  wie  dieselben  mit 
«,   b,  c,  zu   verbinden   sind. 


87 

welche  nach  Verschiedenheit  der  n\  tt",  n" ,  und  nach 
dem  Unterschiede  der  Ilcninningssummen  und  Henimungs- 
grade ,  andre  und  andre  Bedeutungen  annelinien  wer- 
den. Ist  die  Ilemmungssumnie  n  («  ~\~  y)  ^  s^  addirt 
man  die  erste  und  dritte  Gleichung;  ist  sie  n  ((<  -j-  ^i), 
die  erste  und  zweylo. 

^.  12. 
Für  die  Reclinung  mit  drey  verscliiedenen  Hem- 
mungsgraden sollen  andre  Buchstaben  gewählt  werden, 
damit  man  denselben  die  vorhin  ge!)rauchten  nach  Ver- 
schiedenheit der  Umstände  substituiren  könne.  Hiedurch 
wird  nicht  bloss  den  Verwechselungen  vorgebeugt,  wel- 
che sonst  bey  verschiedenen  Hemmungssunnnen  entste- 
hen möchten,  sondern  die  Rechnung  wird  auch  auf 
mehrere  gleich  starke  Vorstellungen  (wie  im  ^^.  10)  sich 
erweitern  lassen. 

Zum  Anfange  bedarf  man  nur  der  beyden  Gleichun- 
gen, worin  diejenigen  Vorstellungen  sich  befinden ,  von 
welchen  die  Hemmungssumme  abhängt.  Diese  beyden 
Vorstellungen  bezeichnen  wir  ihrer  Stärke  nach  mit  ,1' 
und  Y,  welche  Grössen  constant  sind ;  ihre  veränder- 
lichen Theile  mit  x  imd  y.  Zu  ihnen  gehören  zwey 
Hemmungs-Coefficienten,  wie  die  obigen  n"  und  ti' '; 
diese  mögen  jetzt  /.  und  A'  heissen.  Die  Hennnungs- 
summe  sey  fx  -|-  hy,  wo  /  und  h  die  darin  vorkommen- 
den Hemmungsgrade  bedeuten.  Alsdann  hat  man  fol- 
gende Gleichungen : 

dx  =  {X  —  X  —  k  {fx  +  Ar))  dt 
dy  =z{Y  —  y  -  X  {fx  -f  hy))  dt 
oder  etwas  anders  geordnet 

dx  -f-  {x  -{-  )fx)  dt  =  {X  —  ;.//,)  dt 
dy  -y  {y  -f-  A'Aj)  dt  =  (F  —  Xfx)  dl 


88 

Die  zweyte  dieser  Gleichungen  multiplicire  man  mit  ei- 
ner noch  unbestimmten  Grösse,  deren  Bestimmung  vor- 
behalten bleibt*);  dieselbe  sey  d^.     Also 

ddy  J^  dy  {l   -\-  X'h)  dt  =  &  {Y  —  y.fx)  dt. 
Diese  Gleichung  zur  ersten  addirt  giebt 

dx  4-  ddy  ■\-  [x  (!  +  ;/)-{-  dy  (1  +  A'//)]  dt 
—  [x  -  Ihy  -f.  ^  (r  —  A'/x)]  dt 
und  geordnet 

Ja-  +  ddy  -f  Lc  ^_|_   Xfd^  -h  r  \       +  AÄ       J  <^^ 

z=  {X  +  &Y)  dt. 
Der  Integration  wegen  führen  wir  eine   neue   veräudor- 
liche  Grösse  z  ein ;  dergestalt   dass 

*  ( ^  V/^  +  :^  i    +  ).h    —  (^  +  ^/  +  ^y-^)  ^ 

mithin 

""  +  1  +  V  +  x/^»   -^ 

Jetzt  werde  das  vorhin  angenommene  ^  so  bestimmt,  dass 

9.  _  ;./^  +  (1  +  >^'h)  ^ 
1  +  ¥  +  /'/^ 

Dies  führt    auf   eine    quadratische    Gleichung    für  &. 
Der  grössern  Deutlichkeit  wegen  schreiben  wir   anfangs 
_  B  +_ß> 

oder  r/i^  +  ^/,92  =  B  -\-  B'&,  woraus 


2./'  4^' 2 

Da  nunß'  —  ^z=  1 -f  A'ä  —  (1  +  A/),  also  (ß'  — ^2—. 

(;;ä)2  —  2A'ä;/-j-  (Ay)2,  und  4A'b  =  4A'//ä,  so  lässt 

**)   Die  Mflhode    leint  u.  a.    Lacroix    im    traite^  ele'm.    de    calc. 
d.  el  int.  §.  286. 


89 

sich   die    Quadratwurzel   ausziehen;   und    die    ilechnung 
giebt 

^  Xh  -  ;/  4-  AjMrJ/ 
2A'/  2;;/ 

h 

also  der  eine  Werth  ist  ^  r=  — 

der  andre      .      .      .      .     S-  "=■ ^ 

Ferner  hat  man    für  die   neu    eingeführte    veränderliche 
z  die  Gleichung 

dx  -f  &dy  -j-   Cl   +  ;/  4-  Xf&)  zdt  =  {X  -\-  {tY)  dt 
das  heisst 

Jz  -f  (1  +  ;/  +  X'f&)  zdt  =  (X  +  ^Y)  dt 
weil   zuvor  ^  auf  die  angegebene  Weise    war  bestimmt 
worden.     In  diese  Gleichung  führe  mau  die  beyden  be- 
rechneten Werthe  von  ^  ein,  so  hat  man 

1)  dz-\-  (1  4-;i/-f  A'Ä)  zdt  =  (X  -j-  -^   Y)  dt 

2)  dz  ^  zdt  =  {X  —  ^  Y)  dt 

Beyde  Gleichungen  haben  die  Form 

dz  +  Fzdt  =  Cdt 
imd  ergeben 

1       ,       C  —  Fz 

-j.lo,.^^^  =  t 

woraus   alsdann 

F  ^  ^ 

Das  heisst,  weil  z  z=:  x  -\-  ^y. 

1)  2  — -^^iM_   ^|_._(l  +  >l/+iA)/N  _^    1  -^y 

^  X' (.^  —  e-')  =  X  —  j,  y 

Aus  diesen  beyden   Gleichungen    ergeben   sich   x  luid  /. 


90 

IMan  setze    zur    Abkürzung   k  z=  l  -\~  ).f  -\-  )!h,  so  ist 

;/+;;//    fk     ^^    '    ■>  ;/+;//;     a'     '^    '  ^-^ 

X'f         X     fX-\-hY     ,^ 
äZ-HAä     X         fk  ^  ^ 

-f-;y-}-A'Ä*/  A'         ^^         ^      ;-'«' 

oder,  etwas    mehr    symmetrisch   und    mehr   zusammen- 
gezogen : 

Es  bleibt  jetzt  noch  übrig,  das  Hervortreten  der 
dritten  Vorstelhmg  zu  bestimmen,  welche  in  den  Aus- 
druck der  Hemmungssumme  nicht  eingeht. 

Die  Stärke  dieser  Vorstellung  sey  nr  U;  der  ver- 
änderliche Theil  dieses  constanten  U,  welcher  Theil  all- 
mählig  im  Bewusstseyn  hervortrit ,  sey  n:  u,  der  zu- 
gehörige Hemmungs-Coefficient  (den  wir  sonst  mit  n 
bezeichneten)  sey  A";  so  hat  man 

du  =:  (U  —  u  —  A"   {fjo  -\-  h'))  dt\  und 
dx  =:  {X  —  X  —  A    {fa  -^  hy))  dt ;  ferner 

~,   du  ■=.  {-TT  {U — ")  —  X  (fx  -\-  hy)j   di;  woraus 
d  {co-L  u)  =  {X  -  X  -  ^  (U  -  »))  dt, 


=  (A-  -  ^  f/  -  (o.  -  i,  «))  dt 


also 

a  -  i  «  r=  (.r  -  ^,  U)  (1 
A  A 

und 


91 

(22)     u  =  '-,,-\-(U-^  X)  (1  -  e-  ') 

Daher,  wenn  :i;  berechnet   ist,  u  sehr  leicht    daraus  ge- 
funden wird. 

f.  13. 
Zur  Probe  der  vorstehenden  Rechnung  kann  es  die- 
nen, aucli  in  dieser  Allgemeinheit  den  Satz  des  ^^.  3 
nachzuweisen.  Zu  diesem  Behuf  stellen  wir  zuerst  die 
Gränzwerthe  von  m,  o; ,  /  zusammen,  wozu,  wie  be- 
kannt, nöthig  ist,  die  Exponential  -  Grössen  wegzulas- 
sen ,  indem  diese  beym  Verlauf  der  Zeit  verschwinden. 
Die  Gränzen  sind  folgende: 

;;(A"  +  hY)     f{xx-  XY) 


Von  Y, 


()f^X'h)k  Xf-\-Xh 


x(fx-\-hr)    ,    h(X'Ä'—xr) 

V  on  i: - -       I  ^ { 

■ '   (;/  +  x'h)  k  ^      xj  +  x'h 

X"  (fX  +  hY)       X"h  {X'X-  XY)       X' 

^-^ "'   TT/ +WT  +  T(;/+  Xk)  - 1 ^  +  ^- 

Die  Summe  dieser  Werthe,  welche  y,  x,  u,  in  unend- 
licher Zeit  erreichen  würden,  heisse  S]  die  ganze  als- 
dann vorhandene  Hemmungssumme  fx  -\-  hy  heisse  ^, 
(worin  also  x  und  y  nach  ihren  eben  angegebenen  Wer- 
then  zu  nehmen  sind,)  so  ist  der  Satz  dieser: 

U-\-X-\-Y—  S  =  S, 
oder  U-\-X^Y—  Z=S. 

Nun  ist  zuvörderst  klar ,  dass  U  von  selbst  wegfällt, 
denn  es  ist  in  S  enthalten  ;  und  man  mag  schreiben 

X-l-   Y  —  Z  =  S  —  U. 
Ferner  hebt  sich  in  2  nach   geschehener   INIultiplicatlon 
mit /und  h  sogleich   der  negative  Theil  von  y  gegen  den 
entsprechenden  positiven  Theil  von  x,  und  es  bleibt  nur 


92 

JMan  hat  also  auf  der  einen  Seite  der  Gleichung 

-■?+-- V" 

Jetzt  ist  zu  bemerken,  dass  X  -}-  X'  -{-  X"  =  1,  daher 
i  —  X  =  X'  -\-  X"  und  X  -{-  X'  =  i  —  X". 
Auf  der  andern  Seite  der  Gleichung  hat  man 

Man  fasse  erst  die  Grössen  zusammen,  welche  von  X 
abhangen ,  dann  die ,  worin  Y  vorkommt.  Jene  müs- 
sen zusammen  X —  ausmachen ;    diese    müssen    sich 

k 

^        hY  .   . 

zu    y  —   —  veremigen. 
k 

Von  X  abhängis  ist 


O'O 


ßc       ,     x'x {hx—fx-\'X"h)       r  ,,    , 

-|- ^h— ! Ä,  oder 


(A  — 1)./£'Ä  — 1  X  X 

,,      f.    ,   ,   '  Vf+kX'  {hX-fX-\-X"h)~X"{k-l)lc], 
(& —  l).k.X 

Anstatt    X"  (k — i)  k    schreibe   man  k  .  {X'X'h  -{-  X'Xf), 

so  wird  die  eingeklammerte  Grösse 

-Xf-\-k,  {xx'h  -  fi  (;;  -h  r))  z=z ;/+  k  (xx'h-fx  (i-x)). 

Aber  xx'h  —  fX  (1  —  A)   =  X  (X'h  +  /A  —  /)  ist 

=  X  {k  —  l  —  f);  ferner  Xf -\-  k  (XX'h—fX  (1  ~  X) 

=  XU-\-  k(k-l)  -  kn=z  X.ik-1)    {k-f). 

Nachdem  die  eingeklammerte  Grösse  hierauf  red ucirt  ist, 

zeigt  sich  sogleicli ,   dass  gefunden  worden   was  vorher- 

X 
zusehen  war;  denn .  X  {k  —  \  {k  —  /) 

__  X  {k  -  f)  __  fX 

~        k        -  '^~T 


93 

Von    Y  abhängig  ist  die   Grosse 
hY  XY 


G-/+^);oclerbe 


sser  ae- 


{k  —  i)  k        k  —  l\        •''       A 

ordnet .  \~ —).h-\-}f~X"h\    Anstatt /i  (A +  A'') 

setze    man  h  (l  —  A),    so    verwandelt    sich   die    eingc- 

h 
klammerte  Grösse  in  —  —  fi  4-  k  —   1 

k 

__  h  —  hk-{-  k  (k  —  1)  {k  —  1)  (k  —  h) 

— , =   ; ,  also  die 

k  k 

ganze  von    Y  abhängige  Grösse  ist  nunmehr 

k-  h  Yh        . 

=■    1    .  - — ; z=    1    —  -— - ;    wie    verlaugt    und  er- 

k  k 

wartet. 

§.    14. 

In  §.  10.  wurde  angenommen,  man  habe  mehrere 
Vorstellungen  von  gleicher  Stärke  =  h,  deren  Anzahl 
m  jti ,  desgleichen  mehrere  c ,  deren  Anzahl  =  v ,  in 
Rechnung  zu  bi'ingen.  Was  dort  unter  Voraussetzung 
gleicher  Hemmungsgrade  entwickelt  worden,  ist  nun  auf 
vuigleiche  Hemmungsgrade  zu  erweitern.  Die  Hem- 
mungs-("oefficienten  sind,  ähnlich  deueu  im  §.  11, 

hce  -j-  ^lact]  -\-  tab&  bce  -f-  //flc»;  -}-  'vabd- 

n"  :=    ; ; —  die  gegebnen  Gleichungen 

bcs  -j-  /tacf^  -f-  rab&; 

aber  müssen  eine  Heminungssunime  enthalten ,  welche 
durch /(Ä  und  o^c  bestimmt  wird,  wofern  nämlich  dieselbe 
von  b  undc  abhängt;  die  nöthige  Veränderung,  falls  a  dar- 
in vorkommt ,  wird  leicht  zu  finden  seyn.  Überdies  ent- 
hält die  Hemmungssumme  noch  ein  paar  Hemmungs- 
grade, wie  m,  «,  p,  um    deren  Auswahl    wir  uns  hier 


94 

nicht  bekümmern  *)  ;  ihre  Bezeichnung  durch  /  und  h 
kann  für  jetzt  beybehalten  werden.  Demnach  sey  die 
Hemmuugssumme  rz:  ffiih  -\-  hrc,  und  die  gegebenen 
Gleichungen  seyen 

du  =  (a  —  a  —  n    {fpß  -\-  hry))  Jt 
dß  ={b  —  ß~  n"  {ffiß  -f  hpy))  dt 

dy  =  {c  —  y  —  n"  {ffiß  -j-  hvy))  dt 

Dergestalt,  dass  die  Gleichung  für  dß ,  [i  mal,  und  die 

Gleichung  für  dy,  v  mal  statt  finde.     Nun  sey  ftß  z=.  a, 

^fZ»  =  A',   /<7i''  =  A,  vy  ^=-  y i  vc  =z   Y,  vn"  =  Xt 

so  ist 

fulß  =  (/tb  —  f,ß  —  /m"  iffß  +  /'i'7))  ^^ 

und    vdy  =z  [rc  —  ry    —  vn"  (J'/tß  -\-  hvy))  dt 

ausgedrückt  durch 

dx  =  {X  —  X  —  l  (>  -j-  ///))  dt 

und  dj  =  (  Y—  y  —  X  U'x  +  Ä/))  dt 

Hieraus    wird  man  nach   ;J.  12,  a;  und  y ,   folglich    auch 

X  T 

H  z=:  —  und  y  zz:  - ,  berechnen. 

Zur  Vergleichung  mit  der  frühern,  auf  ganz  andere 
Wege  geführten  Rechnung  nehmen  ^Yir  f  ■=.  h  zzz  rn; 
überhaupt  die  Hejnmungsgrade  gleich;  alsdann  ergiebt 
sich,  indem  auch  noch  m  rzi  1  gesetzt  wird, 

^j.b-hrc^^_  _^^-(n"L-n"c)  _ 

'         /^  — 1         k       '  ^~        k  —  l  ^ 

welches  mit  der  im  f.  10  für  ß  gegebenen  Formel  ei- 
uerlcy  seyu  nuiss.  Um  die  Einerleyheit  nachzuweisen, 
bemerken    wir    zuerst,    dass   n'  -\-  /iin     -j"  ^^"'  ^^^  ^» 

*)  Vergl.  Psychologie    §.  52. 


95 

nillhln  rn"  r=   1   —  n    —  /m".     Al)cr  1    —  ii" 

hc 

z=.  \   —   ; r  (tlenn  wegcu  Gleichlicit  der 

hc  -\-  ['MC  -j-  roh 

ITejiumuigsgrade  sind   auch    f,  ?;,  &    gleich,    und    fallen 

(lac  -\-  vah 

weg,)  also  \  —  71    = j j =    k    -~    \, 

bc  -f-  fiac  -\-  vab 

.  ,  .        VII  ,  iin'  -   V  .{n'  h  —  n  r) 

niilhin =r   1  — -,  und  ; 

k  ~  \  k  —  1'  k  ~   1 

- '' '  ]r=ri  -  Y^^x  -  ^  -  r— l  ^^'^+"'^ 

Folglich    ß  =  -^J±±^  i^,  -  e-^.) 

-\-   {h  —  n"'  — —  )  (1  —  e  — ')  welches  mit  der 

Formel  am  Ende  des  ^.  10  genau  übereinstimmt. 

f.    15. 

Wenn  die  Formeln  (20)  und  (21)  im  ^.  12  differen- 
tiirt,  und.  die  Diirerentiale  r:r  0  gesetzt  werden ,  so  er- 
giebt  sich  für  das  Älaximum  von    Y , 

(23)     i  =  -^    log.  >^Aß±lIl 

und  für  das  IMaximum  von  cc, 

(24)     .  ^  -1-    log.  im^tAD 

^    ^  k—  1      °   h  {XY—k'Ä) 

wo  sogleich  ins  Auge  fällt,  dass  wenn  eins  davon  un- 
möglich ist,  (wegen  X'X  <<  A  Y)  alsdann  das  andre  mög- 
lich wird.  Beym  Wenduugspuncte  kommt  die  nämliche 
Bedingung   der  Älöglichkeit  vor. 

In  den  meisten  Fällen  enthält  die  Hemmungssumme 
die  beyden  schwächern  Vorstellungen  b  und  c;  also 
meistens  J  =:  b  und   Y  =z  c;    auch   ist  Ä  "^  Y   oder 


96 

mindestens  .1':=  Y  zu  nehmen;  überdies  gewölinlicli 
X  >  ). ;  Ausnahmen  hievon  können  nur  bey  einer  be- 
sondern Stellung  der  Hemmungsgrade  vorkommen.  Wir 
richten  daher  die  Aufmerksamkeit  jetzt  vorzüglich  auf 
y,  welches,  wenn  es,  wie  gewöhnlich,  ein  Maximum  hat, 
die  Frage  veranlasst,  ob  es  nicht  auch  z=^  0  werden  könne? 

§.  16. 

Zuvörderst  muss,  wie  im  §.  6,  die  Gränze  unter- 
sucht werden,  welcher  sich  y  nähert,  wenn  man  die 
Zeit  unendlich  setzt.  Diese  Granze  ist  in  f.  13  ange- 
geben; wir  setzen  sie  r^  0,  und  suchen  den  Werth  von 
-v,  welcher  dazu  erfordert  wird.     Also 

X'  (fX+  hY)  _  f{XX-  XY)  ^ 
{li  ~~  \)  k  k  —  1 

oder  /'  {fX  -^  hY)  =  kf  {X'X  —  XY) 

IVlan  schreibe  1  -\-  k  —  1    für  k,    und    lasse   weg   was 
sich  aufhebt;  mithin 
X'hY  +  )JY  =  ik  —  1)  Y  =  {k-\)fQ:x—XY) 

folglich   Y  -\-fXY  =  fX'X,  oder   Y  =  J^^- 

Hat    man   also    für   gegebene    Grössen    die    Hemmungs- 

Coefficienlen    X'  und    X   berechnet,    so    findet    sich   sehr 

fX'X 
leicht,  ob    Y  grösser  ist  als  1^ — —,  dass  heisst,  ob  es 

über  der  Schwelle  bleibt;  oder  ob  es  kleiner  ist  als 
dieser  Ausdruck,  wodurch  angezeigt  wird,  dass  es  in 
endlicher  Zeit  aus  dem  Bewusstseyn  verschwindet.  Will 
man  aber  dasjenige  1^  bestimmen,  welches  neben  den 
übrigen  gegebenen  Grössen  in  unendlicher  Zeit  zur 
Scliwelle  sinken  würde,  so  muss  die  Rechnung  noch 
einen    Schritt    weiter   gehn.      Es   ist    hier    nöthig,    die 


97 

Henumings  -  Coefiicienten  X  und  /'  zu  eiilwickeln  ;  zu- 
gleich sey  nun  F  :=z  c,  Ä  =z  b;  wahrend  /  immer  den 
Hemmungsgrad  bezeichnet ,   der  in  der  Hemmungssumme 

als  Factor  von  ä  vorkommt.   Da  A  ::= • , 

bce  -\-  ac7j   -\-   abd- 

abd-  ..  ^^  fk'X 

A    rr     ; — -      ,   so  ist  anstatt  Y  =  —^, 

hce   +   ac7]  +   abd-'  'l  +  /A 

fab'^S- 

nunmehr  c  rr:    ; ; — — ; zu    setzen. 

bcF.  -\-  acf]   (1  -\-f)   -f  t^^d" 

Bequem  ist,  c  für  die  Einheit  zu  nehmen,   und  dafür  b 

zu  bestimmen.     Also 

b  {e-\-ad)  -f  at^  (1  -t-./)  =fab'^S' 
woraus 


2fad-  V  2fad-   ^    "^  &  f 

Dies  führt  auf  eine  Betrachtung  ganz  ähnlich  jener  im 
f.  55  der  Psychologie.  Der  kleinste  Werth  von  a  ist 
a  ziz.  b ,  der  grösste  a  r=  OO»  Setzt  mau  a'=z  b ,  so 
muss  die  Gleichimg  etwas  anders  geordnet  w^erden ;  man 
findet  nach  der  Division  mit  b 

aus  e-^  b&-^  7]{\-\-f)  =fb'^d- 


hingegen  für  o  =  CO,   aus  (23) 


SO  dass  der  Unterschied  bloss  auf  der  Weglassung  von  e 
(welches  höchstens  =  2)  beruhet.  Der  Sinn  hievon  ist, 
in  Worten  ausgedrückt,    folgender: 

Wenn  die  schwächste  der  drey  VorsteUuugen ,  näm- 
lich f  r=  1 ,    durch  die   zugleich  mit  ihr  frey  steigenden 
b  und  a    nicht   mehr    und    nicht   weniger    soll    gehindert 
Heft  II.  G 


98 

■werden,  als  so,  dass  sie  erst  in  luiendlicher  Zeit  wieder 
ganz  aus  dem  Jjewusstseyu  würde  verdrängt  werden : 
so  ist  h,  die  mittlere  an  Stärke,  innerhalb  enger  Gränzen 
dergestalt  zn  wählen,  dass,  wäre  b  schwäclier  als  in 
(25),  auch  das  stärkste  a  nicht  hinreichen  würde,  um 
den  verlangten  Druck  gegen  c  hervorzubringen ;  wäre 
aber  b  stärker  als  in  (24),  alsdann  a  (welches  der  Vor- 
aussetzung nach  mindestens  r:=  b  ist)  jedenfalls,  wie  man 
es  auch  annehmen  möchte,  mehr  als  den  verlangten 
Druck  gegen  c  ausüben ,  also  c  schon  in  unendlicher 
Zeil  aus  dem  ßewusstseyn  ganz  verdrängen  würde. 
Kurz:  eiue  Veränderung  der  mittlem  Grösse  b  ist 
hier  viel  bedeutender  als  eine  gleich  grosse  Veränderung 
der  stärksten  seyn  kann;  und  dieses  gilt,  welches 
auch  die  Hemmungsgrade  seyn  mögen ;  obgleich  von 
ihnen   die   angegebenen  Gränzen  abhängen. 

Setzt    man    die    Hemmungsgrade    gleich ,     also    auch 
£  3=  ?;  =  i9^,    so  folgt 

1  +  xTl  -I-  8/+ 4/2 


b  — 


und 


^ 

1   -{-  V"l  -{-4/-J-4/2 


1  -4-  yJ  \% 

für    i  z=.  \    sind    also    die    Gränzen    • und   2. 

J  2 

Hier  schliesst  sich  die  Rechnung  an  jene  im  f.  G.      Dort 

war  A  =  1  gesetzt,  und  es  ergaben  sich  für  c  die  Werlhe 

und  A-     Es  ist  aber,  da  jetzt  c  zum  Maasse 

6 

der  Grössen  genommen,  oder  als  Einheit  betrachtet  wird, 

1   -f  \/^13  _  \l^\l  —   1 

•  2  "~  6     ~~  ■ 

»uul  1   :  2  z=:  1  :   L 


99 

^".  17. 
Aus  (loni  Vorstehenden  wird  nun  vollends  klar,  dass 
die  Fälle,  in  welchen  die  dritte  frey  steigende  Vorstel- 
lung von  den  beyden  släi'kern  ganz  zurückgedrängt  wird, 
zwar  mannigfaltig  genug,  aber  doch  weit  seltener  seyn 
müssen ,  als  die  andern  Falle ,  in  wclclien  es  bey  eini- 
gem Zurücksinken  vom  erreichten  IMaximum  sein  Be- 
wenden liat.  Um  dies  ausführlicher  zu  betrachten,  mag 
als  Gegenstück  der  früliern  Voraussetzung,  die  Hem- 
mungsgrade seyen  gleich,  nun  die  Annahme  dienen,  die 
Vorstellungen  selbst  scyen  von  gleicher  Stärke,  und  nur 
die  Hemmungsgrade  ungleich.  Bevor  diese  Annalmie 
entwickelt  ist,  wollen  wir  die  Ausdrücke  für  die  Gränz- 
werthe  von  A"  und  Y  (j.  13)  noch  um  etwas  vereinfachen. 

X  {fÄ  -{-  hV)         f{XX—XY)      ^     ., 

Anstatt    ; — schreibe    man 

{k  —  \)  .  k  k  —  \ 

1     p;  CA-  +  hY)  ~  kf{Xx  ~  xrn 

und  im  Zähler  statt  k  noch  i  -\-  k  —  1 ,   so  ergiebt  sich 
1       FA'/X  jl-k)  -\-  Y  {X'h  f  ;/)  +  (/c  -  1)  uf-\ 

/.— 1  L  k  J 

also,    weil   k  —  1   ::=  Xh  -\-  ).f, 


k 

und  el)en  so  wird  aus 


als  Gräuze   von  r  für  t  =:  (3C  ; 


X  {fX  -j-  hY)         h  {XX  —  XY) 

{k—  i)7k    "'        k  —  1 

X+hiX'X—XY)    ^   ^  ..  „..    ^      ^^ 

nunmehr — ■   als  Granze  von  :i;  lur  /  =  (\j. 

k 

Dass   aus  x  die  stärkste  Vorstellung   u  sehr  leicht   folgt, 

ist  schon  im  §.  12  bemerkt, 

G2 


100 

Wem»   nun  .1  zz:  Y  =:   l  ,    so  sind  die   Granzwcrllie 

1  -I-(A-A')/                     1  +  (A'  -  ;■)  h 
lur  r    W'id für  x  zwar 

k  ■  k 

nicht  bloss  durch  die  Hemmungsgrade  bestimmt,  denn 
die  Ilemmungs-Coelficienten  A  und  X  hängen  nocl»  von 
U  ab;  allein  wir  können  auch  dies  :rz  1  setzen,  und 
alsdann  beyspielsweise  die  Hemmungsgrade  recht  ungleicli 
nehmen,  damit  sich  zeige,  wie  viel  Einfluss  diese  Un- 
gleichheit  auf  das  Steigen   der  Vorstellungen  ausübe. 

Es  seyen  nun  die  Vorstellungen  a,  h,  c  sämmtlicli 
=:  1;  die  drey  Hemmungsgrade  m,  n,  p,  mag  man  so 
gestellt  denken,  dass  m  nz  1  zwischen  a  und  c ,  n  =  % 
zwischen  a  und  b,  endlich  p  zz:  ^  zwischen  b  und  c 
statt  finde.  Die  Hemmungssumme  hängt  nun  von  a  und 
c  ab,  weil  diese  den  stärksten  Druck  erleiden;  sie  ist 
=  jia  -\-  pc  zn  \  ,  (bei  jeder  andern  Voraussetzung  wäre 
sie  grösser,  und  deshalb  unrichtig  angenommen),  also 
für  die  veränderlichen  a  und  y  ist  sie  na  -\~  py,  und 
weil  a  noch  mehr  gedrückt  wird  als  c,  so  ist  das  obige 
Y  hier  rz:  a,  mithin  hzz:n=z  ^,  x  dagegen  ist  hier  =  ;', 
mithin  f  z=:  p  zzi  ^.  Auch  ist  e^=-n-\-Tnz=.^-^')^zzin 
-\-  p  zzz  \\    -d-  '=zz  m -\-  p  ^=.  ^.    Ferner  X ,  der  Hemmuugs- 

Coefficient  für  x,   oder  hier  y,   wird j 

bc£  -\-  act]  -4-  abd- 

zzz  4;    und  eben  so  /',   der  Uemmungs- 


6   -\-  Tj-^  d 

Coefficient  für  a ,  wird 


zz:  -f>.j,   mithin  a  —   A'   =  —   ^V,  also,  da  k  =  1  -j-  )./ 
-\-  hX'  =^  1  +  ^  .  i  -|-  ^  .  j  •^-  z=  ^^,  der  Granzwerth  für 

1  ■+  (A  — ;.')  f 

a  zz: —  zz:  4^  .  ||  zzz  0,7;  und  der  Gränz- 


101 

werlh  für  c  =  ^  —  'i^ '  2  o  =^  "'  ^^  !  ^'"^^- 
lieh  der  Gräuzwerlli  für  u,  hier  />,  isl  A (r — ;/), 

wo  A    ^=    . T-~    =:=■    ",-     7       :::=  4 ,    also    -- 

hcs -\-  acy -{- abß-        e-\-i;-\-&        "*  A 

zn:  3^  _    (c  _  p,)  =   3  (1  _o,7G)  =  0,18;   mithin  der 

A 

Gränzwerth  für  h  in  Zahlen  =  0,82.  Man  sieht ,  dass 
die  drey  Gränzwerlhe  0,7;  0,76;  0,82  iingeaclitet  der 
grossen  Verscliiedenheit  der  angenommenen  llcmnuuigs- 
grade  doch  nur  wenig  von  einander  abweiclicn.  Lber- 
dies  trit  die  Abweichung  nur  alluiählig  ein.  Das  IMaxi- 
nunn  für  u  fällt  in  die  Zeit  6,9635;  es  beträgt  0,70006 ; 
kaum  zu  unterscheiden  von  dem  Gränzweithe  0,7.  Die 
Exponeutial- Grössen  sind  um  diese  Zeit  beynahe  ver- 
schwunden, also  auch  die  andern  beyden  Vorstellungen 
ihren  Granzen  schon  so  nahe,  dass  sie  für  stationär 
gelten  können.  Schätzen  wir  die  Einheit  der  Zeit  auf 
zwey  Secunden,  so  ist  das  ganze  Steigen  ungefähr  nach 
einer  Viertel -Minute  so  gut  als  vollendet.  Und  diese 
Zeit  ist  lang  im  Vergleich  gegen  jene  in  den  Bcyspielen 
des   §.  7. 


102 


Zweite  1'   Abschnitt. 
f^om  Mitivirhen   der  Hülfen. 

Erstes    Capitel. 

f^on    Ilülfen    bey    fr ey steinenden    Vorstellnngen    von 

(fleichev    Stärke. 

§•  18. 

Damit  zuvörderst  die  Fragepuncte  ins  Licht  treten, 
beginnen  wir,  wie  zuvor,  bey  der  leiclitesteu  Voraus- 
setzung. Die  Stärke  der  Vorstellungen  lässt  sich  nicht 
ganz  bey  Seite  setzen;  es  ist  aber  am  einfachsten,  sie 
als  gleich  stark   anzunehmen. 

Von  a  sey  ein  Theil  a  mit  b  verbunden;  gleichviel 
zunächst,  ob  complicirt  oder  verschmolzen:  so  kann 
man  fragen,  ob  diese  Verbindung  irgend  einen  Einlluss 
auf  das  Steigen  des  a  oder  des  b  haben  werde?  Ganz 
allgemein  nun  sieht  man,  dass  hier,  wo  inmier  nur 
vom  fr  eye  n  Steigen  die  Rede  ist,  die  Verbindung 
nicht  anders  wirken  kann,  als  in  dem  Falle,  wo  das 
freye  Steigen  langsamer  geschehn  würde,  wenn  es  sich 
allein  überlassen  bliebe;  die  Frage  ist  also,  ob  die  Hülfe 
eine  grössere  Geschwindigkeit  bewirken  könne.  Hiemit 
beschränkt  sich  die  Allgemeinheit  der  jetzigen  Frage; 
sie  passt  nicht  auf  Complicationen,  sondern  nur  auf  Ver- 
schmelzungen. Denn  da  wir  a  und  b  gleich  stark  an- 
nehmen, so  leuchtet  ein,  dass  ein  Theil  von  a  nicht  im 
Stande  ist  eine  grössere  Geschwindigkeit  zu  vermitteln, 
als  die,  welche  die  ganzen  Vorstellungen  schon  von 
selbst  haben;  es  sey  denn,  dass  wenigstens  irgend  ein 
llinderniss  zu   überwinden  vorkomme.     Ein  solches  liegt 


103 

nicht  in  der  Coui[)lic'aüoii  clisparator ,  wohl  aher  in  dci- 
Heniniuug  eutgegengesetzler  Vorstcllnngeii.  Dies  ein- 
heimische ilinderniss,  auch  bey  übrigens  freyeni  Steigen, 
haben  wir  in  der  vorstehenden  Untersuchung  schon 
überall  vorausgesetzt,  au  die  ohne  eine  llenimungssunune 
nicht  zu   denken   war. 

Damals  nun ,  als  a  und  h  zuerst  in  Verbindung  tra- 
ten, mussle  ihr  Gegensatz  diese  Verbindung  beschran- 
ken. War  nun  der  Theil  a  von  a  im  Bewusstseyn 
gegenwärtig,  als  das  ganze  h  sich  mit  ihm  Ins  Gleich- 
gewicht setzte,  so  konnte  auch  nur  von  a  die  ITem- 
nuingssumme  abhängen,  wahrend  das  Ve  r  ha  1 1  n  i  s  s 
der  Hemnuuig  durch  die  ganze,  ursprüngliche  Slärke 
von  a  und  b  beslinunt  wurde.  Das  ganze  b  wäre  un- 
gehemmt geblieben:  bey  voller  Hemmung,  wenn  «'. 
oder  bey  dem  H  emmun  gsg  rade  m,  wenn  via  ge- 
hemmt wäre.  Demnach  ist,  nach  bekannten  Grund- 
sätzen, ina  die  Hemmungssumme,  wo  übrigens  m  auch 
=z  1   seyn  kann.     Diese  Summe  aber  musste  sich  verthei- 

ma  b  tun  a 

len    in    — j —  iura,  und  hw  h\  das  erste  Quanlum 

a-\-  b  a  -\-  b 

,  ,  ina  b 

abgezogen  von  a    gab  den  Rest  a ,   das  zwevle 

a  -\-  b 

den    Rest    b  —  — ■  .       Hieraus    die    Verschmelzuiigs- 

a  -\-  b 

hülfe  *) 

nib 


und 


(inb    \        /  niaa\ 
^  a  -\-  b)  '  \  ~  a-j-b) 

a 

\            aA-bJ       \  a4-h/ 


für  u 


b 

**)  Psychologie    §.  (i3  u.  09. 


'  ^   -   für  b. 


104 

Allein  der  Unterschied  der  Buchstaben  a  und  />  erin- 
nert hier  nur  an  die  Vorstellungen  einzeln  genommen. 
Ihre  Stärke  haben  wir  gleich  gesetzt ;  wird  also  bloss 
auf  das  Quantum  gesehen,  so  verwandeln  sich  beyde 
Ausdrücke  in  folgenden : 

—  .  (1   —  \in)  .  [a  —  ^ma) 
a 

Jede  Yerschmelzungshülfe   wirkt    nur  bis   zum  Ver- 

schmelzuugspuncte  *).     Also  a  kann   von  h  nur  gehoben 

mab  ,    .  ,     N      ,  • 

werden    bis   a j — •  :rz  a    (1   —   i-w),    hingegen   h 

md  a  ,       ,  1      TT  1  •   1 

von  fl  bis  Z»  —  — ; —  zzz  a  —  i  ma ,   wo  der  unterschied 
a-\-b 

zwischen  a   und  d  ergiebt,    dass  h  höher  von  a,    als  a 

von  b  gehoben   werden   kann,    obgleich   die  Stärke   der 

Hülfe  an  sich  gleich  ist. 

Wenn    nun    die    Hülfen   zur   Wirksamkeit   gelangen, 

so  ist  nach  den  Grundsätzen  der  Mechanik  des  Geistes, 

ähnlich  der  Formel  -^  .  .  dt  z=.  dio,    wo  sich  q 

n      Q 

im  Nenner  und  Zähler  hebt,   hier 

d«  1       /  mda  \  /  ,  mdb  \ 

(25)   —  =  -.(/> nJl" i-y— «) 

dt  a      \  a-^  by  \  a-\-b  J 

z=.  —  (a  —  -|-  md^  {d  —  -i  ma  —  «) 
a 

,      .      dß  1        /  ,  mdb\/  mda  \ 

=  -  (1   —    1   m)  (a  —  ^  md  —  ß) 
a 

wobey  sogleich   mag    bemerkt   werden,    dass,    weil   für 
t  ^z  0  auch  «  und  ß  z=  o  sind,  im  ersten  Beginnen  der 

»)  Psychologie    §.  86. 


105 

Hebung,  falls  dieselbe  wirklich  durch  die  Hüllen  ge- 
schähe, d(t  und  d^j  gleich  seyu  würden;  hingegen 
weiterhin  ist  dß  allemal  grösser,  indem  der  Factor 
a'  —  4-  ma  —  a  sich  der  Null  schneller  nähert ,  als 
a  —  ^  ma  —  ß ,   weil  a  <1  a. 

Nach  der  Anwendbarkeit  der  so  eben  aufgestellten 
Gleichungen  wird  nun  gefragt ,  und  es  sollen  deren 
Gränzen  und  Bedingungen  entwickelt  werden.  * 

§.    19. 

Vor  weiterm  Eingehen  in  die  bevorstehende  Unter- 
suchung mag  hier  eine  Nebenbemerkung  Platz  finden, 
die  sich  zwar  eigentlich  von  selbst  versteht,  aber  doch 
das  Folgende  erleichtern  kann. 

Ohne  alle  Formeln  weiss  man  im  Allgemeinen,  dass 
die  Verschmelzung  desto  mehr  Wirksamkeit  erwarten 
lässt,  je  grösser  das  Verbindungsglied  a,  und  je  kleiner 
der  trennende  Hemmungsgrad  m  genommen  wird.  In- 
dessen wii'd  dies  doch  dui'ch  die  Formel  etwas  be- 
schränkt. Betrachtet  man  die  Verschmelzungshülfe  als 
abhängig  von  a,   so  kann  man  sie  füglich  so  schreiben : 

1        ,  ,  ,     , 

—  .  (1  —   h  m)  [aa  —  ^  rim  a  ) 
a 

und  ihr  Differential  wird 

—  .  (1  —   }f  tu)  {a  —  ma)  da . 
a 

Sieht  man  m  als  veränderlich  an,    so  hat  man  aus 

a  ,  , 

das  Diilerential 


106 

Also  was  mau  im  Allgemeinen  erwartete,  ist  der 
Wahrheit  um  desto  mehr  gemäss,  je  kleiner  ä  und  vi\ 
aber  es  passt  weniger  auf  grössere  d  und  m.  Ein 
grösseres  ä  giebt  zwar  mehr  Verbindung,  aber  auch 
eine  grössere  Hemmungssumme.  Ein  kleineres  m  giebt 
eine  geringere  Hemmungssumme ;  aber  auch  im  Product 
der  Reste  ein  Glied,  worin  ni^  mit  dem  positiven  Zeichen 
vüilvommt,    und  dies  wächst  mit  m. 

§.    20. 

Die  Bewegung  des  Steigens  geschieht,  wenn  mehr'^re 
Gründe  dafür  zusammentreffen,  immer  nach  dem  Rhyth- 
mus desjenigen  Grundes,  der  die  grösste  Geschwindigkeit 
liervorbringt  *).  Die  übrigen  Gründe  können  gegen  Hin- 
dernisse mitwirken,  aber  nicht  beschleunigen.  Folglich 
wird  in  unserm  Falle  die  Verschmelzung  nicht  eher 
helfen,  als  bis  etwa  das  fi'eye  Steigen  jeder  Vorstellung 
durch  sich  selbst,  seinem  Zielpunct  so  nahe  gekommen 
ist ,  dass  es  langsamer  wird  als  diejenige  Bewegung, 
■welche  von  der  Hülfe  kann  bewirkt  werden.  Ob  ein 
solches  Nachlassen  des  freyen  Steigens,  und  ein  Über- 
treffen des  letzlern  durch  die  Hülfe  möglich  sey,  muss 
nun  untersucht  werden. 

Zu  diesem  Zwecke  sehen  wir  nach ,  was  heraus- 
komme, wenn  man  beyde  Geschwindigkeiten,  die  des 
freyen  Steigens  und  die  von  der  Hülfe  bewirkte,  ein- 
ander gleich  setzt  ?  Dabey  wird  sich  ein  Unterschied 
für  a  und  b  ergeben. 

1)  Wir  haben  aus  §.  1  für  das  Steigen  von  a  die 
Gleichung 

*)  Psychologie   §.  87. 


107 

(bmß  N 
a  —   a j-—  )  dt 

oder,  da  a  =  b,  du  =  {a  —  (1  -]-  i  '«)  «)  dt,  weil  für 
gleiclie  a  und  h  auch  a  '=■  P  seyn  muss. 

Hieniit  verbinden  wir  die  Formel  (25)  im  !?.  22;  und 
versuchen,  ob  folgende  Gleiclisetzung  der  Geschwindig- 
keiten  bestehen   könne : 

du  /IN  1    /^         mci\    /"  ,      ma  N 

-  =  a-(l+im)„  =  -.(^a-— j.i^a-  — -«;. 

Nun  leuchtet  auf  den  ersten  Blick  ein ,  dass  wenigstens 
der  Anfang  des  Steigens  nicht  von  der  Hülfe  beginnen 
könne.  Denn  für  «  r::  o  ist  da  =  adt  vermöge  des 
freyen   Steigens,    während   die  Hülfe  mit  der   sehr  viel 

geringeren   Geschwindigkeit  d  {\  —  h  ni)  C  \   —  J 

beginnen  würde.  Die  Frage  ist  nur,  ob  das  freye 
Sieigen,  was  freylich  allmählig  nachlassen  wird,  irgend 
einmal  so  sehr  langsam  werde,  dass  ein  späterer  Werth 
von  a  in  die  versuchte  Gleiclisetzung  passe  ?  Es  findet 
sich  nämlich 

a  -  a    (l-im)(l   _  ^)  =  „  .  ■  „, .  (l  +  ^^ 

Also  je  grösser  a,  desto  grösser  müsste  «  erst  im 
freyen  Steigen  geworden  seyn,  bevor  die  Hülfe  ein- 
greifen könnte.  Nehmen  wir  a  so  klein  als  möglich, 
damit  a  sich  hinreichend  erheben  möge :  so  ist  doch 
mindestens  a  z:^  d ;  das  Ganze  gleich  seinem  Theile. 
Aber  dann  kommt  «  =  a  (1  —  ^m)  oder  a  (1  —  \  m). 
Diese  Höhe  kann  die  Hülfe  überall  nicht  erreiclien.  Sie 
reicht  nur  (wie  schon  im  ^^.  22  erinnert)  bis  d  (l  —  l,  m). 
Also  findet  die  versuchte  Gleichselzung  nicht  Statt. 

2)    Wir  haben  für  ß  die  Gleichung 


108 

.,  =  (.-, -^^j. 

oder  für  a  '=z  h , 

d^  =  (Ä  —  (1   +  ^  m)  ß)  dt. 
Wir  versuchen  nun  die  Gleichsetzung  nach  Formel  (26) 

(27)  ....  demnach 

ß  r(l  +  i-m)  —  -  (\—y,n)]  =  b~"^  (1—  1  m){a—hrna). 

Gesetzt  nun ,    es  wäre   h  ■=.  (1  -\-  ,V  m)  .{a  —  \  nia), 

so    Hesse    sich    diese  Gleichung    durch    den  Coefficienten 

a 
von  ß,  nämlich  durch   1  -|-  ^m (1  —  -^m)  dividiren; 

a 
man   behielte   nur  ß  =z  a  —  ^tna;    dies  aber  ist  gerade 

die  Höhe,  wohin  b  von  a  kann  gehoben  werden.  {§'22) 
Unter  dieser  Voraussetzung  würde  freylich  diejenige  Ge- 
schwindigkeit, welche  dem  frey  steigenden  b  schon  für 
sich  allein  zukommt,  von  der  Hülfe  gerade  erst  in 
dem  Puncte  erreicht,  über  welchen  hinaus  die  Wir- 
kung der  Hülfe  nicht  geht.  Aber  es  sey  b  kleiner  als 
(1  -^  ^m)  .{a  —  ^  ma) ,    so    gehört    zu    einerley    ß   ein 

dß    . 
schwächeres    —    im    freyen    Steigen    ohne    Hülfe :     und 

dieser  geringeren  Geschwindigkeit  des  freyen  Steigens 
kann  eine  Geschwindigkeit  der  Hülfe  gleich  kommen, 
noch  ehe  letztere  das  Ziel  erreicht  findet,  wohin  sie  zu 
heben  im  Stande  ist.  Ist  sie  erst  derselben  gleich,  so 
wird  sie  weiterhin  dieselbe  übertreffen ;  welches  die 
Rechnung  darzuthun  hat. 

§.    21. 
Aus  />  zii:  rt  <[  (1  -j-  i  m)  .  (a  —  k  niti)   folgt 
a  —  a'  >   ^  mä , 


109 

mithin  ^  C~  —  0>*"» 

oder  ■ "^  a. 

2  -\-  m 

Dies  ist  die  Bedingung  der  jetzt  folgenden  Rechnung, 
welcher  gemäss  die  Beyspiele  zu  wählen   seyn   werden. 
Aus  den   beyden  Gleichungen 
dß  =  (b  —  (1   -f  -i  m)  ß)  dt 

imd      dß  =:  —  (\  —   h  ni)  («  —  ^  ma  —  ß)  dt 
a 

hat  man  ß=-^^(\  —  e-  (1  +  ^'«)') (A)' 


und       ß  =  {a—lma){\  —  e     «  '       )---(B). 


(28) 


welche  beyde  Formeln  nur  für  den  einzigen  Werth  von 
ß    zusammen    stimmen    sollen ,    welcher    einer    gleichen 

Geschwindigkeit,    oder  einem  gleichen   —  angeliört. 

dt 

Wir  betrachten   zuerst  die  Erhebungsgränzen.     Statt 

26  .2a 

— setzen    .»'ir  ; wegen   h  nz  a.      INun   soll 

2  -f  m  *>  -f  m         ^ 

2a  ,  ,  2a 

~>  a    seyn.     Setzen  wir  dennoch   a    zz: . 

2  -}-  m  -^  2  -f-  m 

2a 
in  a  —  4  'fia  ,  so  giebl  dies  — —  ,  d.  h.  die  Erhebungs- 

2  -j-  m 

gränzen  erscheinen  gleich,  weil  wir  die  in  Formel  (B) 
zu  klein  gemacht  haben.  Also  ist  der  Wahrheit  nach 
die  Erhebungsgränze  der  Formel  (B)  höher  als  die  der 
Formel  (A) ;  d.  h.  die  Hülfe  hebt  höher,  als  ß  für  sich 
allein  würde  gestiegen  seyn. 

Ferner :    —  ist  ein   ächter  Bruch ,    und   —  (1  —  |  m) 
a  a 

ist   kleiner   als    1  -|-  4  m.      Daher  verscliwindet  die  Ex- 


110 

ponentialgrösse  in  der  Formel  B  langsamer,  als  in  der 
Formel  A;  d.h.  die  Hülfe  wirkt  aulialtender,  als  ß  für 
sich  allein  würde  gestiegen  seyn;  ihre  Geschwindigkeit 
lässt  weniger  nach ,  als  die  eigne  Geschwindigkeit  vo-n 
ß,    nachdem  sie  dieselbe  einmal  erreicht  hat. 

Demnach :   bis   derjenige  Werth   von  ß   erreicht   ist, 

dß 
welcher  nach  beyden  Formeln  dem  nämlichen   —  ange- 

dt 

hört,     steigt   ß    mit    der    ihm    eignen    Geschwindigkeit, 

welche    bis   dahin   die    grössere   ist.     Sobald  aber  dieser 

Werth   eintrit,    folgt   nunmehr  ß  der  Hülfe,    weil   von 

jetzt    an    deren    Geschwindigkeit    die    grössere    ist ;    und 

wird  zu  der,    ihr  angehörigen  Höhe  gehoben. 

Zu  den  beyden  Formeln  A  und  B  gehören  nun  noch 
die ,  welche  die  Zeit  bestimmen  sollen.  Um  dieselben 
zweckmässig  einzurichten,  muss  die  erste  mit  einer  Con- 
stante  für  f=.o  und  ß-=.o,  die  andre  aber  mit  einer 
Constante  für  t  :==  T  und  ß  =:  B  versehen  seyn ,  derge- 
stalt dass  man  zu  dem  aus  (27)  gefundenen  ß  =.  B  zu- 
vörderst aus  der  ersten  Formel  t  ziz  T  bestimme,  und 
dieses  sammt  B  alsdann  in  die  zweyte  Formel  setze, 
um  die  fernere  Erhebung  durch  die  Hülfe,  verfolgen 
zu  können. 

Zu  (A)  gehört  t  =  -^  .  log.  j—j.\_,     ,.  •  •  •  (A)  (29) 

Zu  (B)  gehört  zunächst 

log.  Const.  —  log.  (a  —  ^ma  —  ß)  =  —  (i  —  \m)t. 

a 

Wenn  nun  /  =  T  für  ß  =  B,    so  kommt 

2a  a  —  h  rtia  —  B  .„.   .  .^^, 

T  4-  7^,—- .-7  .  log.  ;       ,       ^  =  /  .  .  .  (B)(29) 

(2  —  m)a  a  —  k  rua  —  ß 


111 


woraus  endlich ,    wenn  (2  —  vi)  .—-  .(t  —  T)  =  (j , 

(a  —  -i  ma')  (1  —  e"  1)  +  Be-  1  —  ß (30). 


h'   22. 

Noch  ein  Schritt  Ist  nölhig,  bevor  wir  zu  Beyspielen 
füglich  übergehen  können.  Nämlich  ß  ist  als  eine  Func- 
tion von  d  zu  betrachten,  und  lässt  sich  als  solche 
differentiiren.  Setzt  man  alsdann  dß  z=z  o,  so  findet 
man   ein  Miniinum  von  ß  für 

rsn  -  =  1  4-  ^  "^  -  V^l  ""  +  7  "'"^ 

^      ^  '  '  '  '    a  \    -    }r  m 

Natürlich  ist  hier  die  Rede  von  demjenigen  ß,  bcy 
welchem  die  vorerwähnten  Geschwindigkeiten  gleich 
werden ;  und  welches  aus  der  Formel  (27)  gefunden 
wird.  Also  von  dem  Puncte  sprechen  wir,  bey  welchem 
das  fernere  Steigen  anfängt  von  der  Hülfe  beschleunigt 
zu  werden ,  in  so  fern  als  die  Hülfe  schneller  wirkt, 
als  das  freye  Steigen.     Diesen  Punct  findet  man  für  das 

angegebene  —  niedriger  als  für  jedes  grössere  oder  klei- 
a 

uere  — .      Sind   also   viele   h    mit    verschiedenen    a,    das 
a 

heisst,  kleinern  und  grössern  Theilen  von  a  verbunden, 
so  entsteht  hier  eine  bestimmte  Ordnung,  in  welcher 
die  von  a  ausgehenden  Hülfen  auf  die  verschiedenen  h 
wirken  um  ihr  Steigen  zu  fördern.  Alan  begreift  ohne 
Zweifel,  dass  davon  die  Gestaltung  bey  frey  steigen- 
den Vorstellungen  abhänsen  müsse. 


112 

Wennmrrrl,    so  ist  aus  (31)— z=  3  —  ^f'^    =0,35425 

a 

m  =  ^ I r=0,4 

5  — /"iS 

in  —  ^k =  0,46481 

3 

m  =  \ 4  .  .  .  .   =0,57143 

21  — xTei 

^^ -  =  0,69419 

19 


_i 

10 


§.    23. 

Beyspiel.  m  =  ^,  am^izr^l,  a'::^:^.  Aus  der 
Formel  (27)  wird  ß  =  ^^.  Um  so  weit  aus  eigner 
Kraft  zu  steigen ,  braucltte  ß  die  Zeit  ==  2,3879  nach 
Formel  (29,  A).  Bliebe  es  nun  seinem  eignen  Steigen 
überlassen,  so  käme  es  nach  Formel  (28,  A)  in  der  Zeit 
=  3  bis  zu  den  Werthe  0,71550.  Es  steigt  aber  vermöge 
der  Hülfe  in  der  Zeit  t  —  T  =  3  —  2,3879  =  0,6120, 
geschwinder;  so  dass  um  die  Zeit  :=  3 ,  /j?  rz:  0,72127 
nach  Formel  (30)  geworden  ist.  Die  Erhebungsgränze 
der  Hülfe  ist  =  0,85 ;  sich  selbst  überlassen  hätte  ß 
nur  die  Gränze  =  0,727  erreicht. 

Z  NV  e  y  t  e  s  Beyspiel,  z  u  r  Y  e  r  g  1  e  i  c  h  u  n  g  mit 
dem  vorigen.  AVie  vorhin  m  r=  ^,  a  =^  h  =z  l, 
aber  a  =  V-  Aus  (27)  ß  =  0,7022 ;  soweit  zu  steigen 
braucht  ß  die  Zeit  =  2,4507.  Also  T=  2,4507,  und 
t  —  T=:  0,5493,  wenn,  wie  vorhin,  <  =  3.  Um  diese 
Zeit  =z  3  wird  ß  von  der  Hülfe  gehoben  bis  zu  dem 
Werlhe  =  0,71958,  Die  Eihebungsgränze  der  Hülfe  ist 
zz:  0,8125.  Beyde  zuletzt  gefundenen  Wertlie  sind  ge- 
ringer als  im  vorigen  Beyspiele,  Die  Formel  hat  a  mit 
dem  negativen  Zeichen  in  dem  Factor  a  —  .^  ma.  Dass 
der    Anfangspunct    der    Einwirkung    der    Hülfe    spater 


113 

koiiimeii,  imd  erst  bey  einem  grössern  ß  zu  finden 
seyn  würde  als  im  vorigen  Falle,  dies  wiissle  man  vor- 
aus;  da  für   a  zzz  '^  ein   IMinimum  statt   finden  sollle. 

Drittes  Beyspiel,  zu  vergleichen  mit  bey- 
den  vorigen.  Wir  wollen  jetzt  a' <1  §  nehmen.  Es 
sey  wie  vorhin  7«:=|^,  a  z=i  i  z::::  1 ,  aber  a  -^z  \.  Aus 
(27)  ß  =:  0,7000.  Dazu  die  Zeit  des  Steigeus  =  2,4119. 
"Wenn  nun,  wie  vorhin,  für  ^  =:  3  gesucht  wird,  wie 
hoch  die  Hülfe,  die  bey  dem  eben  angegebeneu  ß  ein- 
trat, dasselbe  heben  muss,  so  ist  t — 7" n:  0,5881;  vind 
um  die  Zeit  =  3  findet  mau  ß  =z  0,72097.  Die  Erhe- 
bungsgränze  ist  ■=.  0,875. 

Es   bedarf  keiner  weitern  Beyspiele.     Man  lasse  nur 

d  abnehmen  bis  auf  0,  so  wird  in  (27)  ß{\-\-  ijvi)^^h, 

.      dß 
aber  für  diesen  Werth  ist   —  =  0,  d.h.  die  Geschwin- 

dt 

digkeit   hat   aufgehört;    und   in   Formel  (29,  A)  wird  t 

unendlich,    d.  h.  die  Zeit   kommt   nie.      Die  Erhebungs- 

gränze,  wenn  es  eine  solche  gäbe,  wäre  ziz  a  nach  (30); 

d.h.    wenn    a     sehr    klein,     nur    nicht    völlig   Null    ist, 

dann  hebt  die  Hülfe  bis  zum  höchsten  Puucte;  sie  fängt 

aber  auch  immer  später  an,  zu  wirken,  je  kleiner  a    ist. 

Umgekehrt    lasse    mau    a     wachsen :     so    stösst    man 

2a 

nach  ^.21.  an   die   Bedingung   a  <C  •;    iii   unseren 

2  -j-  m 

Beyspielen    a  <C  i\.      Bis    dahin    findet   mau   die   Hülfe 

immer  mehr  verspätet,  imd  die  Erhebungsgränze  a  —  hma 

immer  abnehmend. 

f.    24. 

Im    ersten   und    dritten    Beyspiele   lässt   sich,    indem 
man  sie  vergleicht,  bemerken,  dass  die  Hülfe  des  a'=^, 
Heft  II.  H 


114 

später   begonnen,    jene   des   a=^  bald    einholen   und 
übertreffen  muss.     Schon  um  die  Zeit  =.  3  ist  das  Ein- 
holen sehr  nahe;  der  Unterschied  zwischen  0,72127  und 
0,72097  ist  gering;    die  Erhebungsgräuze  des  kleinen  a 
liegt  aber  höher  als  die  des  grössern. 

Solches  Einholen  kommt  bey  den  Hülfen  durch  grössere 
a  jenseits  des  Minimums  nicht  vor;  wohl  aber  bey 
denen  durch  kleinere  a',  welche  durchgehends  später 
beginnen  und  höher  führen. 

Man  kann  fragen,  wie  der  Zeitpunct  des  Einholens 
zu  berechnen  seyn  möchte?  Das  Einholen  setzt  einerley 
^  und  einerley  t  voraus ,  welche  durch  zwey  verschie- 
dene Gleichungen,  beyde  von  der  Form  wie  (30),  be- 
stimmt seyn  müssen.  Wie  oben  für  die  Zeit  zrr  3, 
nach  (30),  /5  =  0,72127  aus  a' =  |  und  T  =  2,3879 
gefunden  worden,  desgleichen  aus  derselben  Formel  (30) 
ß  =  0,72097,  aber  mit  verändertem  a'.  und  T,  nämlich 
a  =z  ^  und  Tzr:  2,4119,  eben  so  soll  für  eine  noch 
unbekannte  Zeit,  die  man  suchen  wird,  aus  der  Formel 
(30),  aber  mit  zweyerley  a'  und  T,  einerley  ß  hervor- 
gehn,  welches  gleichfalls  unbekannt  ist.  Welches  nun 
auch  dies  ß  seyn  möge;  die  Einerleyheit  desselben  ist 
der  Punct,  worauf  es  ankommt.  Wir  schreiben  also: 
(a  —  4  ma')  (1  —  e"  !?')  -j-  B'e-  9'  ^  ß 
r=  (a  _  I  rna")  (1  —  e"  ^")  +  ß'e-  ^" 
oder  abkürzend,  wenn  a — ^maz=:A' ,  und  a — ^ma"=:A", 
A'  (1  —  e-  -?')  -I-  JB'e-  ?'  =  A"  (1  —  e"  l")  +  B"e-  ?", 

,       2  —  m      ,    ,  ,^  ,     „      2 — m      ,,    ,        „„^ 

wo  q  = .a  .{t~T),  und  o  = ,a    .{t  —  T  ). 

1a  1a 

Hier  sind  q    und  q"  beyde  unbekannt,    so  lauge  t  noch 

gesucht  wird. 


11') 


Für  jene  Beyspiele  hat   mau 

Ä  =z  0,85  ./"  ==  0,875 


in 


.1 


B'  =  0,7  ß"  =  0,7009  a   —    I 


«    =  -r  « 


5 

T'  =  2,3879  r"  =  2,4119. 

Bekannt  ist,  dass  die  gesuchte  Zeit  etwas  grösser  seyu 
nuiss  als  3.  Es  sey  t=z3-{-:i ,  also  t  —  T'  =  0,6121  -|-  ■x; 
t—T"=0,588l-}-cv;  ti—0,n30-^^x;  (f"=  0,1225 -\-^\x', 
daher  wird  die  Gleichung 

A'  —  {A'  —  B')  e-  <l'  =  A"  —  {A"  —  B")  e"  'j"     nun 
0,85  — 0,15e-<*''^53-|.v_Qg75_(^j^4j^_0,1225-^.r. 

Das  ist 

—  0,12872  e-i-^'  —  0,025  —  0,15403  g-^-^ 

oder     12872  e~  ^ -^  =z  15403  e~^''  —  2500 

oder     2500  e^"^"  =  15403  e^-^'  —  12872 
oder  endlich ,    wenn  ^  x  ■=.  y, 

2500  ey  =  15403  e^^  —  12872. 
Wir   lösen    die    beyden    Exponentialgrössen    auf    bis 
zur  dritten  Potenz;    also 

2500  [1  -f-y  +   .Vj2_|.    i^.3j 

=  15403  [1  +  1  y  +  ^V  y^  4-  töVf  /^]  -  12872, 
daher 

404,7  j3  _|.  1036  y2  --  67^1  ^  _^  31^ 

Da  vorherzusehn  ist,  dass  /  ein  kleiner  Bruch  seyn 
muss,  so  kann  diese  Gleichung  mit  vorläufiger  Weglas- 
sung  des  höchsten  Gliedes  wie  eine  quadratische  be- 
handelt werden.     Demnach 

y2  _  0,06477  y  =  0,02992, 
woraus     /  =  0,20836. 
Wird    dieser  Werth    in    das    zuvor   weggelassene    Glied 
gesetzt,    so  ergiebt  sich  verbessert  y  =.  0,19803.     Folg- 

H2 


116 

lieh  a- r=  0,79212;  und  die  gesuchte  Zeit  =3,79212. 
Dass  Jiian  die  Auflösung  der  Exponentiälgrössen  noch 
weiter  treiben,  und  zu  grösserer  Genauigkeit  benutzen 
könnte,    bedarf  kaum  einer  Erinnerung. 

§.   25. 

Was  hier  von  der  Hülfe  des  a':rr  ^  gezeigt  worden, 
das  gilt  nach  §.  23  von  allen  a',  welche  kleiner  sind 
als  a'rz:^,  d.h.  kleiner  als  dasjenige,  welches  für  den 
Henimungsgrad  m  rz:  ^  zuerst  auf  das  mit  ihm  verbun- 
dene h  erhebend  wirkt.  Sie  alle  holen  dies  b,  oder  das 
wachsende  ß  wieder  ein,    obgleich  sie  spater  anfingen. 

Ein  ähnliches  System  von  Vorstellungen,  wie  diese 
b,  welche  von  a  gleichsam  entfaltet  werden,  kann 
es  nun  für  jeden  andern  Hemmungsgrad  auch  geben;  es 
giebt  also  für  ein  einziges  a  unendlich  viele  solche  Sy- 
steme unendlich  vieler  b;  ohne  dass  wir  noch  die  anfäng- 
liche Beschränkung  auf  a  zzz  b  zurückgenommen  hätten. 

Nur  um  der  Betrachtung  hierüber  noch  einige  Stütz- 
puncte  mehr  zu  geben,  suchen  wir  die  kleinsten  ß  des 
f.  22  auch  noch  für  die  andern  dortigen  m. 

für  m  r=  1    und  -  =  0,35425  ist  das  kleinste  ß  =  0,64576 
a 

m  =  |     0,4    bekanntlich 0,7 

m  =  i     0,46481 0,76760 

m  =  |     0,57143 0,85714 

m  =  ^ 0,69419 0,93060 

Hiebey  aber  muss  man  sich  die  Gränze  gegenwärtig 

r 

erhalten,    welche    —    nicht   überschreiten    darf   (f.  21). 
a 

^T      ,.  ,     ö'  2      ' 

Nämlich    —  <  • 

a    ^  2  4-  m' 


117 


also   für    m  zz:   1 


1 , 

a 

<l    —  0,0666 

s 

7     5 

a' 
a 

<  fr  =  0,7272 

1 

o' 
a 

<  t1t=  0.8 

i> 

a 
a 

<  f    rz  0,8888 

tV, 

d 

<  -2  0rr:  0,9524. 

Das  System  von  Vorstellungen  also,  welches  in  Folge 
eines  bestimmten  Hemmungsgrades  von  einer  einzigen 
Vorstellung  kann  gestattet  vs^erden ,  ist  bey  grössern 
Hemmungsgradeu  vorzüglich  dadurch  beschränkt,  dass 
der  helfende  Theil  dieser  Vorstellung  nicht  zu  gross 
darf  genommen  werden  (weil  er  sonst  die  Hemmungs- 
summe allzusehr  vergrössert) ;  bey  kleinern  Hemmuugs- 
graden  aber  beginnt  die  Hülfe  später,  und  wirkt  erst 
dann,  wann  die  Vorstellungen  schon  von  selbst  ihrer 
Erhebungsgräuze  nahe  kamen. 


?.  26. 
Um  nun  das  Resultat  der  Untersuchung  noch  augen- 
fälliger zu  macheu,  kehren  wir  in  den  ^^.23  zurück, 
und  fügen  demselben  einige  Erhebungsgrauzen  bey.  Es 
sey  also  wiederum  mrz:^ ,  so  sind  die  Erhebungsgrauzen 
folgende : 


für    a'  rr  y^ 
Gränze:  0,7272  0,7  0,775 
Dahin  kommt 
ß  von  selbst 
Anfänge        grössere^ 
der  Erliebung: 


0,812 


0,7022 


0,85 


0,7 
Klein- 

stes 


0,875  ,0,925 


0,7009 


grö-  - 
ssere  /5 


118 


Man  bemerke,  dass  die  Erhebungsgranzen  gleichsam 
eine  gerade  Linie  bilden ;  wie  natürlich  nach  der  Formel 
a  —  -i  ma  ,  wo  nur  a  als  veränderlich  angenommen 
wird.  Auch  versteht  sich  von  selbst,  dass  für  grössere 
ß  die  Anfänge  der  Erhebung  (nämlich  durch  die  Hülfe) 
später  kommen ;  weil ,  um  bis  dahin  zu  gelangen ,  h 
länger  aus  eigner  Kraft  hat  steigen  müssen. 

Wenn    m  ^=  1 ,    so  findet  mau 


für     a    =i 
Gränzen :   keine 


3 
ö 

0,7 


Anfänge:    grössere^ 


0,354  . .       l     \ 
0,8      0,822  0,9    I 

0,645  grössere  ß 

Kleinstes 

Denkt  man  sich  die  gleichen  Erhebungen  vieler  glei- 
chen h ,  wie  sie  imverbunden ,  von  selbst  steigen ,  als 
Annäherungen  an  eine  wagrechte  Linie :  so  erhebt  da- 
gegen das  System  der  von  a  ausgehenden  Hülfeu  sie 
alle  zu  einer  schrägen  Linie,  welche  mehr  oder  weniger 
schräg  liegt ,  je  nachdem  der  liemmungsgrad  grösser 
oder  kleiner  angenommen  wird.  Diese  Linie  macht 
gegen  jene  einen  Winkel  in  dem  Puncte ,  wo  die  Erhe- 
buugsgränze  der  Hülfen  in  die  der  unverbundenen  b 
hineinfällt.  Die  nämliche  Linie  bildet  sich  aber  im 
Laufe  der  Zeit  nur  allmählig  aus.  Ihre  erste  Spur  zeigt 
sich  in  dem  Puncte  des  vorerwähnten  kleinsten  ß-^  von 
da  erhebt  sie  sich  zu  beyden  Seiten.  Deutlicher  möchte 
sich  das,  was  die  Formeln  gelehrt  haben,  schwerlich  in 
Worten  aussprechen  lassen. 

Nimmt  man  noch  hinzu,  dass  die  verschiedeneu  h 
auch  unter  einander  ihre  llemmungsgrade  haben  können; 
so  wird  das  eben  Beschriebene  zwar  nicht  genau  so  zur 
Ausführung  gelangen :  dann  ist  aber  dagegen  ein  B  e- 
streben    im   Bewusstseyn,    es    zu    Stande    zu   bringen, 


119 

Avelches  Bestreben  in  der  Vorstellung  a  seinen  Sitz  hat, 
sofern  man  bey  der  bisherigen  Voraussetzung  bleibt,  die 
verschiedenen  b  seyen  unter  e  i  n  a  n  d  e  r  nicht  ver- 
bunden. Viel  mannigfaltiger  wird  Alles,  wenn  auch  die 
b  auf  einander  gegenseitig  wirken.  Allein  auf  die  Ver- 
wickelungen vieler  Vorstellungen  wollen  wir  nicht  ein- 
gehen ;    wir  kehren  zurück  zu  zweyen. 


Zweytes    Capitel. 

f^on   Hülfen    bey    freysteiy enden    yorstelUingen    von 

ungleicher    Stärke. 

§•  27. 
Es  sey  immer  a  die  stärkere  Vorstellung.  Diese 
nun  kommt  entweder  mit  ihrem  Theile  a  in  Verbin- 
dung mit  b;  oder  umgekehrt,  ein  Theil  b'  von  b  ist 
mit  a  verbunden.  Der  Fall,  wo  nur  Theile  von  beyden 
in  Verbindung  getreten  waren ,  lassen  wir  unberührt. 
In  der  ersten  Voraussetzung  aber  ist  noch  etwas  zu 
unterscheiden.  Der  Theil  a'  ist  entweder  kleiner  als  b, 
oder  grösser. 

I. 

§.  28. 
a  sey  kleiner  als  b.  Wobey  hinzugedacht  werden 
mag,  dass  etwan  das  im  Sinken  begriffene  a  bis  auf  den 
Theil  a  aus  dem  Bewusstseyn  verschwunden  war,  als 
b  gegeben  wurde.  Die  Hemmungssumme  wird  nun 
=zma',  wie  oben  §.18;  wo  auch  schon  die  Verschmel- 
zungshülfe  für  b  ist  angegeben  worden,  nämlich 
a        /  inb    \        /  ma  a  \ 

l'V-  a-fb)  •  V'  ~  H^J- 


120 

Soll   nun   für   irgend   einen  Werth   von  ß   die  Wir- 
kung   der    Hülfe    gleich    werden    der    Geschwindigkeit, 
womit  h  von  selbst  steigt,    so  muss  seyn 
dß      a    /  mb  \    /        viä a         \  /     .     am  \ 

l=r('-.+i)-0-.-+*-'*)='-0+;^)^' 

nach  ^^.  20. 

[am  a'      f  mh     \' 

a       /  mh   \       /  vm  a  \  . . 

~    h .   (  1 —  ).(/,_   -_^   )   .  .   .  (32). 

(am    \       /'  rna  a  \ 

1  A 1 )  '  [  f'  —    — i —  )'    ^o 
a  -\-  by       \  a-\-  by 

liesse  sich  durch  den  Coefficienten  von  ß  dividiren ,  und 

ma' a      „  ,  ,.  ,    dß 
man  hätte  ß  z=.b  — ■  — — ,  folglich  —  =  0.     Afso  muss 
a-\-b  dt 

h  kleiner  seyn,    d.  h. 

(a  -{-  />)^  .  b   <C.  (ö!  ~{~  ^  ~}~  '^"O  •  iP^  -\-  bb  —  ma'a),    oder 

<  />  —  a, 


mithin    ni  -<^ 
und        a'  <C 


a  -\-  b 

{b  —  a)  {a  +  b) 


a  a 

b  (a  -j-  b) 


fl  -[-  Ä  -|-  ma 

Sey  fl  rz:  2,    b  zzz  \ ,    so   ist  zAivördei'St  m  <C ; —  .  o- 

a 
INIan  nehme    m  =  1 ,     so  ist    a'  <:;^  ^ 

m  =^   Ir,  a    <C  ^ 


Sey  a  rr  5 ,    b  =  i ,    so  ist  m  < ^ .  f.         Man 

nehme 


m  =-^,                a    <f^. 

1   —  «' 

ft  r=  1 ,    so  ist   m  <C ; 

a 

6 

m  =   1 ,     so  ist    a'   <C.  yV 

m  =   h,                  a    <  if 

m  =iTs,                  a    <  f|. 

121 

Wäre   a    sehr    gross,     und   könnte    man    h    daneben 

vernacldässigen ,    so    näherten   sich    jene   Ausdrücke    den 

folgenden  : 

b  —  a 
m  < 


und  a    <C 


1  -f  m 

für  m  r=  1    liieraus   a    <1   .i 

m   :=:  4t  a     <C  -j 

Dies,  verglichen  mit  §.25,  zeigt  schon,  dass  hier  alles, 
was  im  voiigen  Capitel  betrachtet  worden,  wiederkehrt; 
mit  der  geringen  Veränderung,  dass  für  grössere  a  sich 
die  Schranken,  welche  dort  gesetzt  waren,  um  etwas 
Weniges  enger  zusammenziehu. 

f.    29. 
Differenllirt   mau   dasjenige  ß,    welches    der   vorher- 
gehende §   ergiebt,    nach  a,    so  wie  im  §.22  geschehen 
war,    so   erhält    man    für   dß  =z  0    folgenden   Ausdruck 

für  a  : 

(33)  .  .  .  .  a 

= —.[a^b^am  —  V  {a^b).{2a^b)  .m-\-Tn^a% 

welcher  für  a-=.b  sich  in  jenen  des  §.  22  vei'wandelt. 
Hingegen  für  ein  grosses  a  nähert  sich  derselbe  nach- 
stehendem Werthe : 

a    =  b  {\   -\-  m  —  yTlm  -}-  m^) 

Es  mag  nun  genügen ,  einige  wenige  berechnete 
W^erthe  anzugeben. 

Für  a  =  5 ,  /;  =  1 ,  sey  zugleich  m  ■=.  \.  Das 
Minimum  von  ß,  welches  alsdann  von  der  Verschmel- 
zungshülfe    kann    erreicht,    und   zum    schnellern  Steigen 


122 

gebracht  werden ,  findet  nach  der  so  eben  angegebenen 
Foi'inel  statt  für  a  z=z  0,2921.  Das  IMinimuni  selbst 
beträgt  ^r^  0,51313.  Dazu  gehört  die  Erhebuugsgränze 
0,7565.  Setzen  wir  einen  grössern  Werth  Yon  a' ,  so 
muss  ^  schon  höher  steigen,  um  von  der  Hülfe  weiter 
gefördert    zu    wei'den.       Ist    a    nz:   .V  ?     so    gehört    d 


azu 


ß  :=■  0,53432,  und  die  Erhebungsgränze  ist  niedriger 
als  vorhin ;  nämlich  ==.  0,58333.  Ein  kleineres  a'  er- 
fordert auch  ein  grösseres  ß;  aber  die  Erhebungsgränze 
liegt  nun  höher.  Für  a'  =  j\j  findet  sich  ß  =■  0,52778, 
aber  die  Erhebungsgränze  ist  =  0,91667. 

Ahnliches  zeigt  sich  für  kleinere  m.  JMan  nehme 
wie  zuvor  a  rr  5 ,  /;  rz:  1 ,  aber  m  z^:  -^.  Das  kleinste 
ß  gehört  nun  für  a'  =  0,52174.  Das  Kleinste  selbst  ist 
/?=  0,78261;  und  hiezu  die  Erhebungsgränze  —0,8913. 
Dagegen  giebt  a'  =  ^  den  Anfang  der  Beförderung  für 
/S'  =  0,81762.  Die  Erhebungsgränze  =0,8333.  Und 
a'  —   jiy  giebt  ,5  =  0,81452;    die  Granze  =  0,97916. 

Die  Voraussetzung  a'  <^  h  sciiehit  demzufolge  wenig 
]Manu  ig  faltig  es  darzubieten.  Wir  schreiten  fort  zur  zwey- 
ten  Voraussetzung. 

II. 

i^.     30. 

Der  Theil  a    sey  grösser  als  b.     Hiemit   ändert  sich 

schon    die   Hemmungssumme,    welche    jetzt    nicht    mehr 

von  a  ,   sondern  von  h  der  Grösse  nach  bestimmt  wird, 

weil  mb  <^  ma  .     Die  Verschmelzungshülfe'  für  b  ist  daher 

1        ^   ,  mhh  N        /'  mal  x 

und  die  Geschwindigkeit  der  Einhebung,  falls  diese  von 
der  Verschmelzungshülfe  abhängt, 


12c 


dß  1         /-    ,  nth'^  N        /'  mah  v 

11  ~~  ~b  '  \  ~  a-\-h)  '  \  ~  '^b  ~  ^)' 
Die  Frage  ist,  ob  eine  Gescliwindigkeit  der  Hülfe 
für  irgend  einen  Werlh  von  ß  gleich  seyn  könne  der 
eignen  Geschwindigkeit  des  Steigens  ohne  Hülfe ;  ob 
demnach  von  dem  Puncte  dieser  Gleichheit  an,  wie  im 
Vorigen,  ein  solcher  Wechsel  statt  finden  könne,  ver- 
möge dessen  eine  der  beyden  Geschwindigkeiten  von 
der  andern  übertroiren  werde?  So  allgemein  fassen 
wir  die  Frage ,  weil  noch  unentschieden  ist ,  ob  die 
Geschwindigkeit  des  freyen  Steigens  sich  von  der  Hülfe 
übertreffen  lasse,    oder  umgekehrt  diese  von  jener. 

Wir  setzen  demnach  wiederum  versuchsweise 
dß      /■a  mh  "N    ^         mah  •\  /"     .     am  N 

am.  /'a  mh 

(a  mh     "N     /"  mah   N 

i  -  ^  J  0  -  ^ü  ■  ■  ■  (3*> 

Hier  kann  man  freylich  nicht,    der  Analogie  mit  den 

frühern  Fällen   nachgehend,    schreiben 

/'       ,         am    \        /'  am    N 

b  =  (l   -] —    )   .   (  1 ■ )    .  b. 

\     ^  a  -\-  hj      \  a  -\-  hj 


r       ,        am  /"a  mb    "\~i 

woraus     ß  \  l  -\-   — ; ( ) 

^    L     ^  aA-b  \b  a-\-  hJj 


^bj  '  \  «  + 

(ii  ^m  ^   ^ 
1 )  b : 


allein   eben   darum  setzen  wir 

/"  am    \        /"  mah  \     ,         ö^m^ 

'  =  C*  +  a+J  ■  ('  -  V+d  +  ^^+l)^  ■  *' 

so  findet  sich  in  Folge  der  Division  mit  dem  Coefficien- 

ten  von  ß 

mah     .      a^m'^b 
ß  :^:z  h 

L    '^ a\b       \b        a  +  bJj 


124 

wobey  offenbar  das  letzte  Glied  sich  mehr  zusammen- 
zieht,  so  dass  herauskommt 

Cam  aP'rn^b  -i 

^   ~  a-{-h  ~  Ja  -f  /;)2.(a'_(l  ^  m)h)J 

Sollte  es  Verdacht  erregen,  dass  dieser  Ausdruck 
sich  nicht  von  selbst  auf  dem  gewöhnlichen  Wege  des 
Caiculs  darbietet,  so  mag  es  nützlich  seyn,  denselben 
noch  durch  folgende,  freylich  viel  weitläufigere  Rech- 
nung zu  erweisen. 

Mit  dem  Coefficienten  von  ß  dividirend  haben  wir 
unmittelbar 

Ä  _  r^  _  -^^-^^  (b  -  -^^^^ 

\b           a-{-  by   \           a  -\-  bj 
p  = ,    oder 

1   4-  m 

~  h 

(a  -}-  b)H  —  [ja  -}-  //)  a'  —  mh'^]  .{a-\-b—  am) 
^'  (a  -f  Ä)2  .  {b  —  a     -\-  mb)  * 

Der  Zähler  hievou  wird  sich  in  fünf  Glieder  entwickeln. 
Bevor  wir  sie  hersetzen,  ist  anzuzeigen,  dass  wir  erst- 
lich die  Grösse  (a  -j-  b)  mab  addirend  und  subtrahirend 
beyfügen  werden;  zweytens  desgleichen  noch  atn{a-j-byyib 
addiren  und  subtrahiren ;  endlich,  drittens  das  addirte 
am  (a  -\-  b)  mb  auflösen  werden  in  a^m'^b  und  in  am'^b'^. 

Jetzt    schreiben    wir    die    Glieder,     worin    sich    der 
Zähler  entwickelt,    in  einer  verticalen  Reihe  unter  ein- 
ander,   und  bemerken   das  Beyzufügende. 
(a  +  bfb 

—  (a  4-  bfa 

-j-  (a  -|"  '0  ^'  •  ^"*  —  (^  ~h  ^)  ^<^^  —  ^"^  (^  \'  ^'^  "'^ 
-f-  (a  +  Z/)  m/y2   +   (a  -f  //)  mab  =  mb  (a  -f-  b)^ 

—  amH^  -}-  am%'^  =  0 

+  a'^mH. 


125 

Man  fasse  die  Glieder  zusammen,  ^\elclle  {a-\-lj)'^  ent- 
halten, desgleichen  die,  welche  am  {a -\- h)  enthalten, 
so  ergiebt  sich  der  obige  Ausdruck  für  ß;   nämlich 

r  am  a^m%  ~] 

P-^'\}--^l-{a^l,Y.{a-{\^m)h)y''^^^^' 

Hier  leuchtet  sogleich  ein,  dass  ß  kleinei'  als  h  seyn 
muss ;   aber  auch 

a^vT^'h 


1    >    -7-7    + 


indem  ß  nicht  negativ  seyn  kann.  Ferner  ist  a'  grösser 
zu  nehmen  nicht  bloss  als  b,  sondern  auch,  wie  aus 
dem  Vorigen  unmittelbar  folgt, 

^ h  (1  +  '«)^'  <  «    (36). 

{a  -Y  bf  —  (a  +  b)am  ^  "^    ^     ^     ^  ^     J 

Überdies  ist  a    höchstens  =.  a.     Dies  vorausgesetzt,    so 
folgt  eine  Bestimmung  für  m.     Nämlich 
a^m^b 


{a  -\-  bf  —  (a  4-  b)am 
wird 


+  (1  4-  m)b  ==  a 


(a+Ä).(a2  +  Ä2) («_Ä).(«  +  i)_2^^^^^^^^ 


a&2  ab"^ 

Wo  sogleich  klar  ist,  dass  man  nicht  a'=.b  setzen  darf, 
(was  ohnehin  gegen  die  jetzige  Voraussetzung  wäre,) 
weil  sonst  m  >  1  würde ,  oder  vielmehr  =  0 ,  indem 
man  das  negative  Zeichen  vor  der  Wurzelgrösse  wird 
nehmen  müssen.  Allein  bey  der  Auflösung  der  Gleichung 
zeigt  sich  auch,  dass  für  grosse  a  wiederum  m  sich  der 
Null  nähert.  Es  mag  genügen,  hier  einige  obenhin  be- 
rechnete Werthe  von  m  anzugeben,  welche  den  Gang 
dieser  Grosse  hinreichend  bezeichnen. 


126 

für   Ij  =z  l ,    «  =  2 ,    isi  m  z=  0,65  liöchslens. 

ß  rz:  3             /n  rr  0,85  — 

a  =  4            m  =  0,925  — 

o  =:   5             m  =  0,951  — 

ß  =  10          m  =  0,99  — 
Grössere  Genauigkeit  ist  hier  nicht  nöthig,  weil  man 
a'  nicht  völlig  n:  a  nehmen  wird. 

§.   31. 

Es  wird  sich  nun  lejcht  darthun  lassen,  dass  in  vie- 
len Fällen  nicht  bloss  ein  Wertli  von  ß  statt  findet, 
welchem  gleiche  Geschwindigkeit  der  Hülfe  und  des 
eignen  freyen  Steigens  angehört ,  sondern  dass  aucli, 
gerade  entgegen  den  bisher  betrachteten  Fallen,  alsdann 
die  Geschwindigkeit  gleich  Anfangs  von  der  Hülfe  be- 
stimmt wird ;  daher  der  so  eben  erwähnte  Wertli  von 
ß  hier  zu  erkennen  giebt,  dass  mit  ihm  die  Hülfe 
nicht  erst  anfängt,  sondern  schon  aufhört,  das 
weitere  Steigen  zu  bestimmen  ^  welches  von  diesem 
Puncte  an  sich  selbst  überlassen  bleibt. 

Für  den  Anfang,  also  für  ßz=0,    ist  die  Geschwin- 

digkeit    des    freyen    Steigens    —  =■  h.      Die    der   Hülfe 

dt 

dagegen  ist  nach  §.  30 

dß  /'a  mb    N  /"  ma    N 

It    ~   \J  ~  a-{-bJ  \     ~~   a-{-  bj  * 

Man  setze  sie  gleich,    also 

(a  mb     N    /"  ma     \ 

T  ~  a  -\-  bj  V  ~  a-flj  ~   *' 
Nun    ist    im    vorigen   §    gefunden ,    a     sey    grösser    als 

(1  -{-  my».     Also  —  >>  1  -|-  wj.     Demnach  sey  —  :=  1  -|-  mx, 


127 
iiiul  man  sclireibe  mm 

1    +  mx -—     )   .   (  1    —  ■ 1   =   1, 

daher     x  =  ^ — (38). 

Wäre    dies    der   Werth  von    x   in    der   Bestimmung 

r 

1  -j-  mx  =  —  ,    so  hätte   im  Anfange   die  Hülfe   gerade 

die  Geschwindigkeit  des  freyen  Steigens.  Nimmt  man 
X  grösser,  und  demzufolge  auch  a'  grösser,  so  ist  gleich 
Anfangs  die  Hülfe  geschwinder  j  also  lässt  sich  die  Vor- 
stellung b  dann  gefallen ,  eine  Zeitlang  von  a  empor 
getragen  zu  werden ;  und  dies  dauert  bis  zu  dem  Werthe 
von  ß,    welchen  die  Formel  (35)  anzeigt. 

Die  Formel  (38)  ist  wesentlich  die  nämliche  wie 
jene  (36),  nur  etwas  transformirt  imd  auf  einem  andern 
Wege  der  Betrachtung  gefunden,  wodurch  die  Sache 
klärer  wird. 

Aus  §.  30  hat  man  nun  ferner 
dß         /a  mb    \    /  mab 

mb 


/a  mb    \    /  mab  \ 

,    =:  ( ,  -    )  ib — r  —  ß),   und  hieraus 

dt         \b  a-\-b/   \  a-\-b         '  / 

^^n^  1  h{a^b)        ,  hb-\-ab(^i—m) 

(40)    und  i  =  -ri — ^-^^ — - —  log ^^ <■ 

^     ^  a{a-\-b)  —  mbb     ^  bb-\-ab{l—m)  —  ß{a-\-b) 

Hat  aber  nach  (39)  ß  den  Werth  erreicht,  welchen 

(35)  anzeigt,    so  sey  dieser  Werth  =B,    für  eine  Zeit 

=  T:   man  setze  beyde  in  das  Integral  von 

äfi  =  iö-(i  +  ^^-)  fi)  * 

=  (6  —  kß)  dt  wenn    1  -{ —  =  k, 

a  -f-  b 


128 

so    erhält   man    für    den  Fortgang    des   nunmelir    freyen 
Stelgens 

(41)        ^  r3    -  (1    -  e^  (^  -  '))  +  Be^  (^  "  ') 

ri 

^.    32. 

Beysj)iel.  a=z:5,  h  z=.\.  Hier  müssen  wir  uns 
zuerst  nach  der  Begränzung  von  m  umsehu.  Es  darf 
nach  f.  30  nicht  rz:  1  gesetzt  werden,  sonderen  <1  0,951. 
Demnach  sey  m  =z  0,9.  Um  nunmehr  vor  einer  un- 
passenden Wahl  von  a'  gesichert  zu  seyn ,  wenden  wir 
uns    au    die   Formel    (38).       Das    dortige    x    wird    hier 

36  ~  4,5         31,5      ,  ,  ,  .       ,   n         .        ,  .  . 

=.  ■ ;  daher  a   ">  4,15:  alsdann  ist  gleich 

36  —  27  9    '  ^    ^      •>  ö 

im  Anfange    das  Steigen   nicht   frey,    sondern    empfängt 

eine   grössere   Geschwindigkeit   durch    die   Hülfe.      (Für 

eben   dieses    a    kann   man    sich   auch    der   Formel   (36) 

bedienen,    welche  mit   jener   gleichgeltend  ist.)      Es  sey 

nun  a   rr  4,5.     Jetzt  muss  die  Formel  (35)  den  Werth 

von   ß   angeben ,     bey   welchem    die    Geschwindigkeiten 

gleich  werden.     Er  ist  :=  0,10864. 

Fragt    man    nach    der   Anfangs  -  Geschwindigkeit   des 

Steigens:    so  hat  man  für  ßzzLQ\ 

—  =  { )  (  b  =z     )  hier  =  1,0875. 

dt  \b  a  +  bJ  \  a^bJ 

Das    heisst,    die    Anfangs -Geschwindigkeit    vermöge 

der  Hülfe  ist   1,0876   mal   so   gross  als  sie  durch  freyes 

Steigen   gewesen    wäre,    denn    für    letzteres   hätte   man 

hier    ^  =  &  nr  1. 
dt 

Nun    nimmt    die    Geschwindigkeit    schnell    ab ;     wie 

die  Exponeutialgrösse   in  (39)   anzeigt,    deren  Exponent 


129 

m  4,3')  ist;  und  es  lohnt  nicht,  für  dieses  Beysplel  die 
kurze  Zeit  zu  berechnen,  bis  ß  =  0,10864  wird,  von 
wo  das  freye  Steigen  beginnt.  Docli  ist  ß  zu  diesem 
"VYerthe  etwas  früher  gelangt,  als  durch  freyes  Steigen 
geschelm  wäre;  und  dies  Verfrühen  trifft  alle  Zeit- 
inincte  für  die  AVerthe,    die  es  nach  einander  erlangt. 

Absichtlich  haben  wir  ein  Beyspiel  gewählt,  bey 
welchem  die  Hülfe  nur  wenig  Einiluss  auf  das  Steigen 
hat;  nämlich  um  bemerklich  zu  machen,  wie  sehr  ein 
grosser  Hemmungsgrad  diesen  Einfluss  vermindert.  Denn 
indem  m  n:  0,9  angenommen  war,  blieb  für  a'  nur 
eine  Wahl  zwischen  den  Gränzen  4,15  und  5;  auch 
konnte  die  Foi^mel  (35)  nur  ein  geringes  ß  anzeigen. 

Zweytes  Beyspiel.  a  =  5 ,  b  =  1 ,  m  =  ^. 
Die  Gränze  für  a  ist  z=  1,3048.  Jetzt  lässt  sich  eine 
Reihe  von  Werthen  für  a  annehmen,  nebst  zugehörigen 
Anfangsgeschwindigkeiten ;  desgleichen  den  Werthen  von 
/?,  bey  welchen  die  Hülfe  dem  freyen  Steigen  Platz 
macht;  und  den  Zeitpuncten  bis  zur  Erreichung  dieser 
Werlhe.     So  ergiebt  sich  folgende  Zusammenstellung: 


Anfangsge- 

Aufhören 

Zeit  des 

schwindigkeit. 

der 

Hülfe. 

Aufhörens. 

1,4 

dß 
dt 

=  1,0753 

bey^: 

=  0,50231 

t  =  0,74097 

1,5 

1,1545 

0,61805 

1,0405 

2 

1,5503 

0,73379 

1,3357 

3 

2,3420 

0,76686 

1,1706 

4 

3,1337 

0,77588 

0,98908 

Am  auffallendsten  ist  hier  das  Zu-  und  Abnehmen 
der  Zeit.  Indessen  sieht  mau  aus  (40)  wie  dies  zu- 
sammen   hängt.      Ändert    sich    a'   wenig,    ß   mehr,     so 

Heft  II.  I 


130 

■wJicbst  /  Hill  tlen  Logarillinien  in  jener  Foiniel;  ändert 
sicli  ß  \Yenig,  und  a  mehr,  so  nimmt  der  Coefficient 
des  Logarillinien  ab,  indem  a  zunimmt.  Starke  Hülfen 
Avirkeu  nicht  lauge;  aber  sie  bringen  die  Vorstellungen 
viel  früher  auf  die  Standpuncte,  welche  bey  freyem 
Steigen  später  wären  erreicht  worden. 

^.    33. 

Im  §.30  haben  wir  gefunden,  a  sey  grösser  als 
(1  -f-  vi)h-)  während  sich  doch  recht  gut  Fälle  denken 
lassen,  iu  welchen  zwar  die  Bedingung  a  ~^  h  erfüllt, 
aber  zugleich  a  <^{\  •\-  in)h  seyu  würde.  Es  ist  nun 
leicht  einzusehen,  dass  diese  Fälle  aus  der  jetzigen  Un- 
tersuchung ausgeschlossen  sind,  indem  sie  gar  keinen 
Eiulluss  der  Hülfe  herbeyführen,  sondern  das  freye  Stei- 
gen ganz  imgeändert  lassen.  Durch  eine  grössere  An- 
fangsgeschwindigkeit kann  es  iu  Folge  der  gefundenen 
Gräuzbestimmung  nicht  verändert  werden;  aber  auch 
nicht  später,  nachdem  das  freye  Steigen  schon  im  Gange 
ist,  kann  die  Hülfe  eingreifen.  Denn  wir  wissen  aus 
§.29,  dass  solches  Eingreifen  nur  möglich  ist,  wenn  a 
um  eine  bestimmte  Grösse  kleiner  ist  als  h.  Zwischen 
den  Fällen,  die  wir  beobachtet  haben,  in  welchen  die 
Hülfe  entweder  Anfangs  oder  später  die  Geschwindigkeit 
bestimmt,  liegt  der  mittlere  Fall,  dass  im  freyen  Steigen 
nichts  verändert  wird;  und  zwar  dergestalt,  dass  die 
Sphäre  dieses  mittleren  Falles  gleichsam  zu  beyden  Sei- 
ten iu  der  Nähe  der  Voraussetzung  a'  ziz  h  eine  ge- 
wisse Breite  hat.  So  klar  nun  dies  aus  dem  Vorigen 
schon  ist,  so  kann  man  doch  sehr  leicht  den  Frage- 
punct,  w  euu  es  ein  solcher  wäre,  der  Rechnung  unter- 
werfen. 


131 

Die  Formel  (35),   nämlich 

r  am  o^mH  "1 

^^^•L^~HPi~(a  +  Ä)2.(a'-(l+m).6)J 

kann    für    a'  <<  (1  -|-  m)i    auch    füglich   so    geschrieben 
werden : 

Cam  a^m^b  -| 

^  "  a-\-b  "^  («  f  /O^  •  [(^  +  "0  ^  —  «']-!* 
Nun  darf  zwar  ß  nicht  negativ,  und  auch  nicht  grösser 
als  h  seyn.  Man  könnte  aber  als  Gränze  den  Fall  so 
stellen ,   dass  gerade  ß  '=.1  wäre ,   mithin 

am  a'^m'^b 


a-\-h         (a  4-  bf  .{(1  -I-  vi)  b  —  a'] 
amb 

a    =:  (1  -{-  m)  Ä j z=:  b  -\- 


,     oder 
und 


a  -\-  b  a  -\-  b 

Setzt  man  diesen,  oder  einen  kleinern  Werth  (denn 
grösser  darf  er  nicht  seyn,   damit  nicht  ß  'P'  b)  in 

dß  /"«'  mb    N    •*  ma    'S 

dt   ^   \b    ~'  a-\-b)  \     ~~  a-\-bJ  *     ' 

.   ^     dß  ^    /  ma   \ 

so  wird     -^   ^  (  1 ; — )  .  b  <C  b, 

dt   =  \  a-\-b/ 

also  kann   davon    die   Anfangsgeschwindigkeit   nicht  be- 
stimmt  werden;     und    setzt    man    denselben   Werth    in 

mab 

(39),  so  findet  mau  dort  die  Erhebuugsgränze  b — -, 

a-\-b 

welche   niedriger   liegt   als    dasjenige  ß,    welches    sollte 

erhoben    werden.       Mithin    kann    wxder   Anfangs    noch 

später,    als   ob   die   Geschwindigkeiten   gleich    geworden 

wären,    die  Hülfe  wirksam  eintreten. 

12 


132 

in. 

§.    34. 

Ein  Tlieil  //  von  h  sey  in  Verbindung  mit  a.  Bevor 
ilie  Verbindung  sich  ausbildete,  inussle  die  Heuimungs- 
sunnne    mh'   \erllieill    werden ;    von    h'  -wurde    gehemmt 

"'"^'  ,,-,11,  .'  "'"^''  T         X- 

— j — ;   es  blieb  clor  liest  rr  ^ j —  ;   tue  Vcrschniel- 

ti-\-  b  a-\-  h 

zungshülfe   für  h  wurde 

b       \  a+  bJ   \  a  -Y  f>^ 

die  Frage  ist  jetzt,    ob 

seyn  könne?   so  dass 

(a  mb     *\    /"  ,  mab  x 

T  ~  ^'/J*V   "  a  -}-  bj' 
IMan  bemerkt  leicht,  dass  im  vorliegenden  Falle  ß  nicht 
■Nveit    zu   steigen   habe,    wofern    dies   auf   die  Hülfe  an- 
kommt.     Denn  a   soll   grösser  seyn    als  b;    b  wiederum 
grösser    als   sein  Thcil   // ;    wird    nun  /j    von    der   Hülfe 

mab 

abhängig,    so  fände    es   seine  Gränze   bey    b   — , 

a  -j-  b 

wenn  es  nicht  zum  freyen  Steigen  übergehn  könnte. 
Indessen  wird  doch  lür  ein  grosses  a  die  Hülfe  be- 
trächtlich; dann  ist  zu  vermuthen,  dass  sie  gleich  An- 
fangs wirksam  seyn  werde.  "NYir  untersuchen  daher  zu- 
vörderst die  Bestinnnungeu,  welche  bey  der  Anfangs- 
^esch^^ilHliakeit   vorkonuneji  können. 


133 

b'uv  li  z::z  i)   haben   wir 

(a  ml/    \   /"  ,  wafj     \ 

j  ~  7+1,)  V  -  ,7+t;  '  "''"■ 

Ä    __  /"a  nib'    N     z'//  rnb'    N 

a  \fj  "  "j-  ^'^    V  a         a  -\-  bj 

Da   CS  auf  die  Bestimmung  von  m  und  b'  ankominl, 

und   eine  kleine  Grösse  seyn  kann,  so  setzen  vvir 

a  -\-  b 

vib 

zu.  x  5    und 

a  -]-  b  t 

'ab  ■*  \      ö/y      /ab 


^voraus    r 


Die    Wurzelgrösse    verträgt    liier    nur    das    negative 

2  I  17' 

Zeichen.      Denn    o;    ist    ein    achter    Bruch ;     .V  . — 

ab 

aber  ist  ^  .U     Nun  darf  aber  x  auch  nicht  negativ  seyn; 

«2    I    IjII 

also  muss  die  \^'urzelgrösse  kleiner  seyn  als    ^^ . } 

ab 

.     .      b  b' 

mithin   —  <<[  —     Hat   man  diese  Bedingung  in  der  An- 
a  b 

nähme    von   //    neben   a  und  b    eriiillt ,    so   ist   das   dazu 

,  ..  .                     '-^  {a  -I-  /.) 
i!elioi!i;c    7//   z::: . 

Hiebcy  kann  noch  erinnert  werden,  dass  x?-  in  man- 
chen Fällen  klein  genug  seyn  mag  um  vernachhässigt  zu 
werden;    dann   hat  man    näherungsweise,    oder  zur  vor- 

,      .          •        .                   ai:  —  b"^ 
läuhiien  Lbersicht,    x  n^ . 

""  '  «2  _|.  /,/,' 

Dies  Alles  unter  der  V'oraiisselzung  /?  =r  0 .  d.  h. 
%venn    die    gesuchte  Gleichheit   der  Geschwindiiilsciten  ia 


134 

mb' 


den    Anfang    des   Steigens    fällt.      Ist    aber    x  z^ 

a  -\-  b 

kleiner  als  nach  diesen  Angaben,  so  Ist  die  Geschwin- 
digkeit der  Hülfe  gleich  Anfangs  die  grössere,  und  ß 
folgt   zunächst   der  Formel 

WO/U    gehört 

(aA-h)b  ,  hb' ^  ab' (l —■  m)  ,     ^ 


•«2-[-/;(a— 7«Ä')       ^   bb'-^ab\l—Tn)—ß{a-\-b) 

f.    35. 
Zur    weltern    Auseinandersetzung    wird    es    dienen, 

1 

"wenn  wir   b  z=  1  nehmend   der  Foderung   —  <I  ^'  nach- 

a 

gehen ,    und   für   eine   Reihe   von  a   einen   der  kleinsten 

und    einen    der    grössten    Werlhe    von    b'    wählen,     um 

dafür  X  und  hiemit  m  zu  bestimmen.      Da  wir  uns  aer 

Kürze  wegen  hiebey  der  Formel  xz=- — — ,   bedienen 

a^  -\-  b 

wollen,    so   ist    noch    in  Ansehung   der   Correctur,    die 

man  vermissen  könnte,    etwas  zu  erinnern. 

Aus    —  =  (—  —  xj  f xj    folgt   nämlich 

2  «2  _|_   /,//    _    ^2  _  fjl^' 

ab  ab 

Gesetzt  nun,  man  habe  einen  Werlh  von  x  gcfimden, 
welcher  der  Wahrheit  nahe  konunend  zugleich  ein  kleiner 
ächter  Bruch  ist,  so  wird  man  diesen  quadrirt  für  x"^ 
setzen,  und,  wenn  wir  ihn  mit  ti  bezeichnen,  folgender- 
maassen  weiter  rechnen: 


135 

ä2  ._  ah'  «2  _j_  i,f; 

«^ r=  x  .  -— , 

ab  ab 

li^  .  ah  ah    —  ä^ 

daher     -  ,  +  ,  =  x, 

a-^  -f-  hh  a^  -{-  üb 

au^         ^     ah'  —  1  .,    ,  ^        ^^^ 

oder    -- — j y  -4 — j =:  x    weil    6  rr  1.       Weiiu 

a-^  -\-  h  a^  -\-  h 

nun  h'  ein  geringer  Bruch  ist,    so  beträgt  die  Correctur 

nicht    völlig    — ;    und   lasst    sich   hiemit   schätzen ,    auch 
a 

w^un  man   sie  nicht  berechnen  will. 

Folgende  Zusammenstellung   mag  nun  die  llbersicht 

gewähren,    deren  die  fernere  Betrachtung  bedarf.      Bey 

den  drey  grössern  Werthen  von  h'  für  a=:2,  3,  5,    ist 

die  Lorrectur benutzt  worden. 

«2  _(-  h' 

,  lA'rr:0,6  wirdrrrr^        daher  m  =  A 
iur  az=:2  und  < 

\h'=:0 


9 0,1741 0,5805 

(// — 0 
für  a  r=  3  und 


\Z*'^0,9 0,1806 0,8028 

h=()ß 0,1386 0,9244 


-./.        1  K'— ^'^    •   -weniger  als  ^i^ ly^ 

furö=ilOund<  ,  ,^  ,,  ^  „^ 


1  _  5  5 

1 

0,08 


^.    36. 

Es  ist  nun  leicht,    passende  Beyspiele  zu  wählen. 

Für  a  —  2.,  h  =z  1 ,  sey  h'=:z  0,7;  m  z=i  ^.  Man  findet 
die  Anfangsgeschwindigkeit,  welche  von  der  Hülfe  her- 
rührt, =  1,3607;  dasjenige  f>\  worin  die  Geschwindig- 
keiten gleich  werden,  so  dass  die  Fortsetzung  des  Steigens 
von  i  selbst  abhängt,   m  0,4398. 

Für  azzzS,  t  rz=  1 ,  sey  //  =:  0,7;  m  ==  4.  Die  An- 
fangsgeschwindigkeit    ist     grösser,     nämlich    =;   1,7642. 


136 

Hingegen  das  vorerwähnle  /?rrr  0,42105  ist  sogar  kleiner. 

Die  Exponentialgrösse  in  (43)  verschwindet  hier  schneller. 

Etwas    vollständiger    wollen    wir   die    Voraussetzung 

a  =:  5 ,    b  ^^  1 ,    m=::z-^,    durchführen.     Es  sey  nun 

Aufangsge-  Aufhören  Zeit  des 

schwindigkeit.  der  Hülfe.  Aufliöi'eus. 

^'^ 
//=:0,3;    ^  =  1,1845     für  /5  =  0,04882     /  =  0,04613 
(it 


1/  =2  0,5  ; 

1,9709 

0,25747 

0,2111 

b'  ~  0,7 ; 

2,7547 

0,46G37 

0,37064 

b'  —  0;9 ; 

3;5358   ' 

0,67540 

0,59601 

Dritter   Abschnitt. 
fon   steigenden    Couiplexionen. 

f.  37. 
Bey  Complexionen ,  deren  Wesen,  wenn  sie  voll- 
kommen sind,  darin  besteht,  dass  die  verbundenen  Vor- 
stellungen stets  in  gleichem  Zustande  der  Spannung  scyn 
müssen ,  liegt  es  schon  in  diesem  Begrill'e ,  dass  jede 
Hemnumg  sich  unter  den  verbundenen  gleichmässig  ver- 
1  heilt.  Ist  hier  der  Hemmungsgrad  zwischen  a  und  b 
grösser  als  zwischen  den  mit  ihnen  complicirten  a  und 
ß,  so  überträgt  sich  die  stärkere  Hemmung  des  ersten 
Paars  auf  das  letztere ;  und  es  kann  das  paradoxe  Re- 
sultat herauskommen ,  dass  von  einer  starken  Com- 
plexion  ein  weit  grösseres  Quantum  gehemmt  wird,  als 
von  einer  schwachen,  weil  inngekehrt  von  einer  schwa- 
chen Vorstellung  weniger  gehemmt  wird  als  von  einer 
starken.  Davon  ist  am  gehörigen  Orte  '"'')  ein  Beyspiel 
gegeben,  welches  eine  nähereBeleuchlung  veranlassen  kann. 

*)  Psychologie    §.   öd. 


137 

Die  ^  orslelluDg  eines  Farbiglen  sey  r:=3,  die  eines 
anelcrii  Farbiglen  =  1.  Wenn  diese  beyden  aliein  unter 
sicli  in  Hemmung  traten ,  so  würde  für  den  Ilcmmungs- 
grad  :=  1 ,  die  llemniungssumnie  z=z  1  sicli  so  verllieüeii, 
dass  ein  Viertel  \ün  3,  und  drey  Viertel  von  1  zu 
liemmen  wären.  Der  hieraus  entspringende  gewaltsame 
Zustand,  oder  die  Spannung,  wäre  nun  in  der  scliwä- 
cliern  Vorstellung  neunmal  so  gross  als  in  der  stärkern; 
weil  die  dreyfacli  scliwädiere  dreymal  soviel  verliert. 
Dies  kann  verhindert  werden,  wenn  eine  dritte  Vor- 
stellung mit  jener  schwachem  coniplicirt  ist;  denn  als- 
dann überträgt  sich  das  Leiden  der  schwachem  auf  die 
dritte;  wie  stark  aber  auch  die  dritte  seyn  möge,  sie 
wird  ganz  in  dies  Leiden  hereingezogen,  und  ihre  Wirk- 
samkeit besteht  alsdann  nicht  bloss  darin,  der  Hemmung 
jener  schwachem  eine  Gränze  zu  setzen ,  sondern  sie 
strebt  auch,  ihr  eignes  Gehemmtes  wieder  ins  Bewusst- 
scyn  zu  bringen.  Im  Beyspiel  ist  angenommen,  die 
dritte  sey  =11,  eine  Gefühlsvorstellung;  während  noch 
eine  vierte  z=.  1 ,  ein  Klang ,  mit  jener  m  3  coniplicirt 
sey.  Zwischen  einem  Gefühl  (etwa  eines  Stosses  oder 
der  Wärme)  und  einem  Klange  ist  kein  Gegensatz;  und 
diese  beyden  können  nur  mittelbar,  durch  die  Farben, 
in  Gegenwirkung  treten.  Hiebey  ist  ein  offenbarer  Nach- 
llieil  für  die  Vorstellung  irz  11,  da  sie  nur  durch  die 
schwache  rz:  1  mit  den  andern  in  Verbindung  gesetzt 
wird.  Wäre  statt  dieser  schwachen  :zr  1  vielmehr  eine 
zz:  2  vorhanden,  so  würde  die  =z  11  jener  nz  3  besser 
entgegeuNvirken  können.  Dies  übersieht  man  ohne  Rech- 
nung; wir  wollen  aber  jetzt  die  Grössen  allgemein  be- 
zeichnen. Statt  des  obigen  3  und  1  setzen  wir  a  und 
h-,    statt  11   nun  /^ ;    jenes  1,    welches   nüt   3   coniplicirt 


138 

ist,  lieisse  a.  Die  Hemniuiigssuinme  sey  z=  S.  Diese 
vertheilt  zwischen  a  und  b  siebt  die  Theile   und 

• —  —  ;  und  daran  kann  die  Coniplication  nichts  ändern, 
a  -f-  b 

weil  ci  und  ß  nur  dem  Druck  unterworfen  sind,  der 
ihnen  mitgetheilt  wird,  und  nur  in  dem  IVIaasse  wirk- 
sam seyn  können,  als  sie  von  diesem  Drucke  getroffen 
werden.  Je  grösser  nun  ^,  um  desto  weniger  gerath 
es  durch  einen  Druck  von  einmal  gegebener  Grösse  in 
Spannung;  man  darf  also  nicht  erwarten,  dass  es  be- 
sonders stark  zurückwirken  werde.  Vielmehr,  die  Hem- 
mung   j —    zerfällt  in  zwey  Theile  nach  dem  Verhält- 

a  -\-  b 

nisse  der  complicirten  b  und  /?;    eben  so  die  Hemmung 

in  zwey  Theile   nach  dem  Verhältnisse  der  com- 

a-}-b  ^ 

plicirten  a  und  « ;    die  vier  Theile  sind : 

abS  .  baS 

für  a, ; —  .  für  b, 


(a +/.)(«-{-«)  {^a-^b){b^^) 

übS  ßaS 

'"'  "'    {a  +  ,,)(a  +  .)  f"  ^'    la+lW+ß) 

woraus  man  die  Spannung  einer  jeden  Vorstellung  so- 
gleich findet,  indem  man  ihr  Gehemmtes  durch  ihre 
eigne  Grösse  dividirt.     Das  Verhallniss  der  Spannungen 

b  a  /      I    z  \       /      I      \ 

von  a  und  b  ist  nun  : — ; — -:=:  b{b-\- /yj  :  a[a-\- a), 

a-\-  a    b-j- p 

im  obigen  Zahlenbeyspiele  demnach  wie  1:1,  während 

es   ohne  Coniplication,    also    für   ^  z=  0,    a  =  0,    seyn 

würde    wie    b'^  :  a^;    in    jenen   Zahlen    wie    1  :  9.      Das 

Gehejnmte    von   b   in   Zahlen   ist   nur  y^jj    anstatt  ohne 

Complicalion  |z:;:z  };^.     Der  Erfolg  der  Coniplication  ist 


139 

also  für  das  schwache  i  rr  1  sehr  bedeutend ;  aber  er 
■wird  damit  erkauft,  dass  von  ^=11  das  Gehemmte 
nicht  weniger  als  ^^r  beträgt;  und  dass  diese  stärkste 
Vorstellung  gleich  stark  wie  das  schwache  a  in  Span- 
nung geräth.  Nähme  man  /?  noch  grösser,  so  würde 
zwar  seine  Spannung  geringer,  aber  sein  Antheil  an  der 
Hemmung  würde  wachsen. 

Wir  haben  hier  den  äussersten  Fall  der  Verschie- 
denheit beyder  Hemmungsgrade  (p  =z  1 ,  n  =-0)  ange- 
nommen ;  andere  Fälle  mag  man  danach  schätzen. 

Ferner  ist  das  Zahlenbeyspiel  so  gewählt,  dass  es 
den  Nachtheil  zeige,  worin  sich  ß  wegen  des  geringen 
b  (ähnlich  einem  Gewicht  an  einem  kurzen  Hebel-Arme) 
befindet.  Wäre  Ijz=2,  die  andern  Zahlen  wie  vorhin, 
so  ergäbe  sich  das  Verhältniss  der  Spannungen  wie 
20  :  12  =  13  :  6. 

In  solchen  Fällen,  wie  der  vorliegende,  hat  man 
zwar  keine  Hoffnung,  das  Resultat  der  Rechnung  pünkt- 
lich mit  Erfahrungen  vergleichen  zu  können.  Fragt  man 
sich  aber,  woher  die  so  häufig  bemerkbare  Empfindlich- 
keit in  Kleinigkeiten  kommen  möge,  z.  B.  die  Empfind- 
lichkeit gegen  Sprachfehler,  verzogene  Mienen,  geringe 
Abänderungen  der  gewohnten  Kleidung  u.  dgl.;  so  sieht 
man  sogleich,  dass  an  sich  das  Scliwache  nicht  Grund 
einer  starken  Empfindung  ist,  sondern  dass  es  auf  die 
Gewohnheit,  d.  h.  auf  die  Complication  starker  mit 
schwachen  Vorstellungen  ankommt.  Hiebey  ist  zu  über- 
legen, in  welchem  Zustande  sich  das  obige  b  befinden 
muss.  Wiewohl  sein  Gehemmtes  im  Beyspiele  nur  yL 
beträgt  —  den  zwölften  Theil  dessen,  was  es  ohne  die 
Hülfe  der  Complication  betragen  würde ,  —  so  ist  es 
doch    darum  nicht  befreyl  von  dem  Drucke  des  stärke- 


140 

reu  n,  soiuleru  dieser  Druck  ^A'J"rcl  nur  aufgeliobeu,  iu- 
dem  durch  b  liindurch  wirkeud  das  noch  stärkere  ^i 
sich  dem  Siiikcu  des  ö  entgegensetzt;  dalier  b  gei-ade 
in  wiefern  es  nicht  sinken  kann ,  sondern  im  Bewussl- 
seyu  gehalten  wird,  von  beyden  Seiten  Gewalt  leidet; 
und  dies  ist  die,  sich  von  selbst  darbietende  Erklärung 
jener  Empfuidlichkeit,  deren  Sitz  gerade  dann  schwache 
Vorslellungen  sind,  wann  sie  mit  starken  in  angewohn- 
ter Verbindung  stehen.  Doch  darüber  ist  schon  ander- 
wärts gesprochen   worden. 

§•  38. 
Nach  diesen  Vorerinnerungen  mag  nun  die  Beli'acli- 
lung  zweyer  zugleich  steigender  Complexionen  folgen. 
Hier  bietet  sich  gleich  eine  Verschiedenheit  dar,  welche 
auf  die  Rechnung  Einlluss  hat.  Die  Hemmungssumme 
für  die  Complexionen  a-\-a  und  b-\-  /S  richtet  sich  nach 
den  Hemmungsgraden  p  zwischen  a  und  b,  und  n  zwi- 
schen ci  und  ^.  Ist  a>Z/,  so  braucht  zwischen  bey- 
den nur  pb  gehemmt  zu  werden.  Ist  a'^ ß,  so  ist  hier 
•aß  zu  hemmen;  allein  während  a'^b,  kann  a<Cß  seyn ; 
alsdann  ist  für  dieses  Paar  na  zu  hemmen;  daher  wird 
die  ganze  Summe,  die  sich  aus  den  beyden  Paaren  er- 
gibt, entweder  pb-\--nß  oder  p  b -\- n  a.  Alan  denke 
sich  etwa  ein  paar  Gegenstände,  die  zugleich  dem  Ge- 
sicht und  dem  Gehör,  oder  dem  Gesicht  und  dem  Ge- 
ruch oder  Geschmack  ihre  IMerkmale  liefern  —  wie 
Rose  und  Eilie,  Nelke  und  Tuberose,  "Wasser  und  Wein; 
jeder  solthe  Gegenstand  ist  für  uns  eine  Complexion  sei- 
ner jMerkmale ;  aber  es  gibt  zwischen  solchen  eine  mehr- 
fache Hemnuiug,  indem  ein  paar  Merkmale  fürs  Gesicht, 
ein   anderes    Paar   für    einen    andern  Sinn    einen  Gegen- 


141 

salz  bilden.  Nennen  wir  ')  die  ganzen  Coniplcxionen 
«-|-fi;=:y/,  und  h -\- ß  z=.  B ,  ihre  im  Verlauf  der  Zeil 
/  hervorgelrelcnen  Theile  yf  und  li' ,  die  bereits  vor- 
haudeue  Heniniungssumme  S' ,  die  Hemmungs-Coefficieu- 
ten,  welche  das  Verhälluiss  der  Hemmung  anzeigen,  n 
und  n":  so  strebt  im  Zeittheilchen  dt,  yl  —  A  und 
B  —  B'  liervorzutrcten,  zugleich  aber  sinken  n  S'  dt 
und  n' S'  d t ;  also  allgemein : 

dÄ  =  [A  —  A'  —  n  S']  dt 
dB'  z=  [B  —  B'  —  n"S']  dt 
Die   Rechnung    erfodert   nun,    dass    mau    für  S'    seinen 
Werth  setze;  das  Gleiche  kann  geschelm  für  A'  und  B'. 
Also  entNveder 

1)  da-\-  du'—  [A  —  {a-\-  «')  —  n  {j>h' ^  nß')]  dt 

db'^  dß'=^  [B  —  {b'-\-  ß')  —  n'iph'-^.  7xß')]  dt 

oder   2)  da'-\-  du'=^  [A  —  (a'-|-  u)  —  n  {pb'-{-  na')]  dt 

db'-\-  dß'—  [B  —  (Ä'+  ß')  —  n"{pb'-\-  na)\  dt 

Im  ersten  Falle  ist  die  Gleichung  für  db'-\-dß'  eine 

Summe  zweyer  Gleichungen,  nämlich 

dU  =  [b  —  V  —  n'pb']  dt,  und 
dß' =:  [ß —  ß' —  n"  iiß'~\  dt,  AYOraus 

h  =  7-7—77-  .  i   (1  —  e  ) 

1  -f-  n  p 

/5  =  ,-^-77-    ./^(l    --  ^ 

Hieraus  würde  sich  B=  ^  ~\~  ß'  ergeben ,  wenn  die 
Theile  der  Ilemmungssumme  abgesondert  wirkten,  und 
keine  andre  Bedingung  zu  erfüllen  wäre.  Allein  nach 
der  Natur  der  Complexionen  soll  ein  Theil  nur  in  so 
fern  steigen  als  der  andre  in  gleichem  Verhältniss  fol- 
gen kann.  Es  sollen  also  die  veränderlichen  b'  und  ß' 
»)  Psychologie  §.  58—60. 


142 

immer  das  ursprüngliche  Verhältuiss  b  :  ß  beybehalten ; 
mithin  h' :  (//  ^  ß')  =  b  :  {b  ^  ß)  oder  b' :  B' =  h '.  B; 
ein  constantes  Vei'hältniss;  eben  so  ß''.{J)'-\-ß'^z=zß'.{b-\-ß\ 
oder  ß':B'  =  ß:B',  auch  pb' :  nß' :=.  ph  mß;  und  wenn 
pb'  =:  //  B',  desgleichen  nß'  =  h"B',  so  ist  auch  //  :  //' 
=  ph  :  ^ß ,    ein   constantes   und    gegebenes  Verhältniss. 

Nun  sey  h  =  h  -\-  7i'  =  ^ ^  = ,    so 

^  ^  B   ^   B  b  -\-  ß 

kann  man  statt  pb'  -]-  nß'  setzen  hB',  und  aus 

dB'  =  {B  —  B'  —  n'hB')  dt  wird 

1  +  n  h  ^ 
Der  Unterschied  gegen  die  vorige  Rechnung  ist  klar 
genug.  Denn  h  ist  weder  ^:z  p  noch  r^  n,  sondern  .ent- 
hält einen  Bruchtheil  von  beyden,  daher  kann  weder 
die  Expouential-Grösse  genau  so  verschwinden,  noch  die 
Erhebungsgränze  die  gleiche  seyn  wie  oben. 

Der  gefundene  Werth  von  B' ,  und  hiermit  von  hB' , 
ist  nun  anstatt  pb' -\- nß'  in  die  Gleichung  für  dA'  zu 
setzen. 

dÄz:=.lA-Ä—  -,--"-  .  5  (1  -  e    '  ^       'm 
also 

-f-n  nj  (\-fnh)n  h 

Die  Erhebungsgräuzen  sind 

für  B,  —. 


,     /,       n'hB  \^^       -^  ,      n'hB       1-    "^    -(l+:r"A)^ 
^K^-1  JT^Y^-'  ^^7Tr-^^'  —i^'-'  ) 

\         1 4-71  h/  {14-n  h)  n  h 


1  +  n"h 

für  A,      A  —  — ■ -— 

'  1  -f  yi   h 

n 

Deren  Summe,    A -\ tt   (1 — Ti'h)  abgezogen  von 

i  -\-  n  h 


143 

J4-B  lässt  i^  (  1 —  )  — i~  =z -- 

^  V         l-\-n'hy  l-j-n'/t  l-^n"h 

weil  die   lleinnuings-Coefficienten  n"   und  n'  zusanunen 

der   Einheit    gleich    sind.      Die    zuletzt    hervorgetretene 

Hemmungssuuime   ist    ebenfalls j^—   wie   gehörig, 

1  -{-  n    h 

weil  sie  mit  dem  noch  übrigen  Streben  der  Vorstellun- 
gen im  Gleichgewichte  stehen  muss,  wie  mehrmals  er- 
innert worden. 

Die  Hemmungs-Coefficienten   sind  bekanntlich  (wie 

r^  ■    \       '  hp  -{-  ßn  - 

a.  a.  0.  gezeigt),  n   =  f       ,     j.        ,     ^       .     >?^        "°^ 

,,  ap  -\-  an 

n    ^^ . 

(a -\- h)  p  -\~  {a -\-  ß)  n 

Zu  dem  jetzt  berechneten  ersten  Falle  gehören  un- 
ter andern  die  ähnlichen  Complexionen,  für  welche 
a  :  n  =  b  :  ß,  oder  a  :  b  =.  a  :  ß ,  denn  wenn  hier 
b  kleiner  als  a,  so  ist  auch  ß  kleiner  als  a,  daher  dann 
durch  b  und  ß  die  Hemmungssumme  bestimmt  wird. 

"Wir  gehen  über  zum  zweyten  Falle,  wo  a  <i  ß, 
daher  die  Hemmungssumme  -^z  pb  -\-  na.  Hier  setze 
man,  wie  zuvor,  pb'  z:^  kB',  und  diesem  ähnlich,  na' 
=  iA' ,  so  kommt 

dA'  =z  [A  —  A'  —  n    (JiB'  -{-  iA')']  dt 

dB'  =  [B  —  B'  —  n"  (//ß'  +  iA')]  dt 
oder 

dA'  -\-  A'  {\    +  n'i)  dt  =  {A  —  nliB')  dt 
dB'  4-  JB'  (1   -{-  n"h)  dt  =  {B  —  n"iÄ)  dt 
Die  erste  Gleichung  multiplicirt  mit  &,  und  zur  zwey- 
ten addirt,  giebt 

=  {B-\-d-A)  dt 


144 

Man  selze  B 4- dA  =  zz=zB  A ;,      .      /      .  A 

also  d^  =  7-|^'/-T^ '7  o. 

ni — n"h  1/ fni — ^'''"N^   i^  ^'"' 

~"       2yi7i        ~  \~1  n'h     )      •"  ^ 

f.  r'7  '.     I  "i 

ni  —  nh  ni  -j-  n  n 

—    -I—    . ! 

2nh  2  n'h 

tt 

das  lielsst,  d-  ist  entweder  =  —  oder  rr - 

h  n 

Wenn  ferner  dz  -{-  Fzdt  =  Cdt ,  woraus 

so  Ist  hier  Cz^B-\-&A,  und  F:=:\-\-n"h-\-nhd', 
also   wegen   des    doppelten  Werths   von    ^9-   kommt    ein 
zwiefaches  z,  nämlich 

.       ST       .        ^i  B — n  A  _/ 

z=B r^= -, (1  — e      ) 

Jetzt  sey  /c  =  1  -|-  7i"h  -\-  ni,  so  findet  sich 

n'B  —  n'A  _/ 

-, {1  —  e      ) 

Nach  verschwundenen  Exponential-Grössen  ist  dife  letzte 
Hemmungssumme  hE -\- iA -=. ,  weil  in' -\-hn" 


145 

=z  k  —  1.  Um  zu  zeigen,  dass  auch  hier  die  letzte  Hem- 
mungssumme  im  Gleichgewichte  steht  mit  dem  noch  übri- 
gen Aufstreben  der  Vorstellungen,  muss  man  in  den  Gränz- 
werthen  von  A'  und  B'  die  Tlieile,  welche  von  yi,  und 
die,  welche  von  ß  abhängen,  zusammenfassen;  und  sie 
dann  abziehen  von  y4  und  von  B.     Man  hat  nämlich 

\        k  —  1  k  )~       k—\\        k) 

B—B=B(i—- — -. 4- — -  1  +  ^-^ -(l—  t) 

\        k-\  k  )~       k  —  1  V        k/ 

Da  k=l-\-k  —  i,  so  wird  ni-]-kh7i"={k  —  l){l-]-h7i") 
und  n"  li  -\-  kin    wird  (k  —  1)  (I-J-Zti).     Daher  nun 

.  /•  \-\-hn"\    ,         hn 

B  —  B'=B^^        1  +  in 


0-^)+--'f 


Es  ist  aber  k  — ■(!-{-  hn")  :=:  i'ti',  und  k  —  (1  -{-  in)  r=  n'h 
also 

j^B-(^J'^B')  =  j  {in  +  in")  -\-  j  {hn  +  hn) 

wobey  nur  noch  zu  erinnern ,  dass  die  Hemmungs-Coef- 

ficienten  n  -\-n'  :=z\ ,  so  findet  sich   wie  gefo- 

k 

dert  war. 

Man  bemerke  hier  die  bequemern  Ausdrücke  für  die 

Gränzwerthe.      Es    ist    nämlich    von  yl'   der  Gränzwerth 

A  {\-\-hn")  —  nhB  ,  „-    .        ^    . 

=  und    von    B    der    Gränzwerth 

k 

_  B{\^in')~in"A 
~~  ~~k  ' 

Es  sind  nun  die  Maxima  zu  bestimmen.     IMan  findet 
Heft  II.  K 


146 

<1A'  __  nJhB 4-  lA)  _ j^f'--     h  (n'B  —  n'A)     _ , 

IT  ~"       k^^l        ^  k  —  1 

,  JE'       ii"(hB-}-L4)  _j^t    ,    i(nB  —  n"A)  _, 

und   r= e         -\ ; e 

dt  k  —  1  ^  k  —  1 

Daher  fürs  Maximum  von  A' 

—      ^  Tt'  {hB  +  JA 

*  ~~  r^^    ""^  h  {n'B  —  n"A) 

und  fürs  INIaximum  von  B' 

1       ,         n"  (hB  4-  T^ 

t  ■=. lor 


k  —  V      ""  i  {n'A  —  n'B) 
Die  Nenner  zeigen,  dass  die  Logaiithmen  für  B  möglich 
sind  wenn  unmöglich  für  A,  und  umgekehrt.     Über  das 
Maximum  sogleich  ein  INIehreres. 

Es  trit  liier  ein  Unterschied  hervor  zwischen  dem 
ersten  und  zweyten  Falle.  Denn  im  ersten  Fall  zeigt 
die  Formel  für  B'  auf  den  ersten  Blick,  dass  kein  INIaxi- 
mum von  B'  möglich  ist;  viehveniger  von  dem  grösse- 
ren A' ,  sondern  beide  Vorstellungen  eilen  zu  ihrer  Er- 
hebungsgränze.  Hingegen  im  zweyten  Fall  muss  es  für 
eine  der  beyden  Complexionen  ein  IMaximum  geben; 
ausser  von  n" A'=:=-  n'B',  denn  alsdann  wird  die  Zeit  da- 
für unendlich.  Diesen  Umstand  müssen  wir  zuerst  ins 
Auge  fassen. 

Aus  den,  nur  kurz  vorhin  erwähnten,  Werthen  von 
n  und  n'  ergiebt  sich,  dass  n  A  z=.  n  B  nach  Weglas- 
suug  der  gleichen  Nenner  von  n  und  n" ,  soviel  heisst  als 

{ap  -\-  e(n)A  =  {hp  -\-  ßn)  B 
"Wenn  dies  wirklich  statt  findet,  so  folgt 

ttuA  — ßnB  r=  hpB  —  apA 

,       aA  —  ßB         p 

oder — -    z=.  — 

bA  —  aA  n 

welcher  Bruch  ein  ächter  oder  ein  unächter  seyn  wird, 


147 

je   nachdem   n  oder  p  der  grössere  Hemmiingsgrad   ist. 

Es   muss   aber   —    eine   positive  Grösse   seyn.      Da    nun 

vorausgesetzt  wird,  A  sey  grösser  als  B,  so  muss,  wenn 

€t<Cß,  (wie  der  hier  angenommene  Fall  es  mit  sich  bringt), 

nothwendig   a'^h   seyn;    folglich   hB  <CciA.      Deshalb 

IM  •     P         ßB  —  aA      ^^      ,  ,  ,  . 

schreiben  wir  —  =z  .     Nun  kann  man  «  klein 

n  aA  —  hB 

genug  nehmen,  damit  diese  Bedingung  sich  erfülle.  Nimmt 
man  es  noch  kleiner,  so  wird  n" A  <C  n  B,  das  heisst, 
die  Complexion  A  bekommt  ein  Maximum.  Doch  wird 
dies  natürlich  der  seltnere  Fall  s^yn ;  auch  ist  zu  erin- 
nern ,  dass  der  Logarithme ,  welcher  die  Zeit  anzeigt, 
nicht  bloss  möglich  seyn  muss,  sondern  auch  nicht  ne- 
gativ  seyn  darf. 

Hieran  knüpft  sich  die  weitere  Frage,  ob  A  oder  B 
könne  auf  die  Schwelle  gedrängt  werden?  Um  dies  zu 
beantworten,  muss  der  Gränzwerth,  etwa  der  von  B', 
=  0  gesetzt  werden ;  ergiebt  sich  daraus  ein  brauchba- 
rer Werth,  so  folgt,  dass  ein  noch  kleineres  B  in  end- 
licher Zeit  verschwinden  kann. 

Der  Gränzwerth  ist 

_  n"  QiB  +  iA)         i  {n"B  —  n'A 

Dies  =  0  gesetzt  giebt  zunächst 

{n"h  -f  kin)  B  =  in"  A  (k—l) 

und  weil  k  zur  1  -|-  /c  —  1 ,  auch  k  =  1  -\-  n'h  -\-  n'i, 

(1  +  in)  B  =z  in'A, 

_  in"A  n  .  77«  . 

B  =  — : =  — ; 7  wegen  lA  :=.  na. 

\-\-in  \-\-in 

Da  n    und  n  ächte  Brüche,  so  ist  dieser  Werth  von  B 

gegen  die  Bedingung  u<Cß,  also  auch  (jc<CB.    Das  heisst, 

K  2 


148 

B  darf  nicht  so  klein  angenommen  werden,  dass  der 
Gränzwerth  von  B'  könnte  r=  0  werden. 

Da  gleichwohl  ein  Maximum  statt  findet,  so  kann  man 
vermuthen,  dass  die  Zeit  für  dies  Maximum  durchgehends 
viel  später,  als  bey  gemeinsamem  Steigen  dreyer  einfa- 
cher Vorstellungen,  eintreten,  und  alsdann  bald  der  Wen- 
dungspunct  folgen  wird,  von  welchem  an  das  Sinken 
äusserst  langsam  fortgeht ,  und  die  sinkende  Complexion 
beynahe  als  stehend  zu  betrachten  ist.  Einige  Beyspiele 
werden  dies  bestätigen.  Zuvor  ist  nur  noch  die  Formel 
für  die  Zeit  des  Wendepuncts  anzugeben ;  sie  ist 

1       ,        kn"(hB4-iA 

t  =  log  -—V —      , 

k  —  l      °  i  {n'A  —  nB) 

Hier  mag  nun  auch  daran  erinnert  werden,  dass  bloss 
der  Rechnung  wegen  der  Ausdruck  hB'  -\-  iA'  anstatt  ph' 
•\-ncc,  also  hB -\- iA  statt  pb-\-na,  eingeführt  wurde. 

Will  man  Beyspiele  berechnen,  so  ist  die  Grösse  k 
beschwerlich ,  denn  ä  r=  1  -j-  n"h  -j-  n'i  bedeutet 

.  ap-\-un  ph  bp-\-ßn  na 

~"  («+*)  P-\-{^-\-ß)  n'B^  {a-\-b)  p^{a-\-ß)  n '  ~2 
Anstatt  aber  aus  angenommenen  a,  b,  a,  ß,  p,  n,  die- 
ses k  zu  berechnen,  wird  man,  wo  es  nur  um  Beispiele 
zu  thuu  ist,  bequemer  n  und  n"  annehmen  (mit  der  Be- 
dingung n'-j-  n"=^l)  und  hiernach  insbesondere  für  die 
übrigen  Annahmen  den  Hemmungsgrad  n  bestimmen. 
Wir  wollen  für  nachstehende  Beispiele  p  =:  l  setzen, 
damit  der  Einfluss  der  Hemmung  deutlich  hervortrete; 
ferner   sey  a  =  Xb,  und  n"  >  n,   auch  n" :  n  ■=.  m:  n, 

daher  n"  = ■ —  und  n  = j — .     Alsdann  ist  auch 

m-{-n  m-\-n 

{ap '\-(xn)'  {bp -\- ßn)  =  mi  n;  oder,  da  p=zl, 

n  {a  -\-  Xbn)  =  m  .  (/>  -{-  ßn) 


149 


uud    n  ::= 


pr  mß  —  nXb 

Für  die  nächsten  Beispiele  mag  X=^\,  d.  li.  a:=-lj  seyn. 
Erstes  Beyspiel.    a  =  10,  h  =  2,  «  =  2,  ß  =  \0, 
p=:l,   n"=^%,  n  =  jr,   also  jn=:  2,  n  =  1 .     Hieraus 

10  —  4  " 

~- =71=:^.     Nun  kann  das  Beyspiel  der  beque- 
men Übersicht  wegen  so  gestellt  werden : 


\  2  10/ 

11  II 

tt  71   ^  ß 

Man  hat  vor  Augen,  dass  die  Complexion  B,  wiewohl 
an  sich  gleich  stark  mit  ^,  doch  stärkern  Druck  von 
^  erfährt  als  sie  zurückgeben  kann ;  weil  a  und  ß  ein- 
ander weniger  drängen  als  a  und  b,  und  /;  weit  mehr 
von  a  angegriifen  wird  als  umgekehrt.  Indem  A  luid  B 
zugleich  steigen,  lehnt  sich  die  wachsende  Hemmungs- 
summe  immer  mehr  gegen  /i  wegen  der  Schwäche  von 
b,  und  dies  kann  nicht  durch  einen  gleichen  Druck  des 
ß  gegen  a  aufgewogen  werden;  denn  diese  beyden  er- 
zeugen den  geringem  Tlieil  der  Ilemmungssunnne,  luid 
der  stärkere  Druck,  den  ß  erfährt,    rührt  her   von  sei- 

pb 
uer  Vei'bindung  mit  b.      INIan  findet  nun  //  nz  --  =  ^, 

X» 

ff»  r/ 

/  —  —  =  Jg,  mithin  /i  =  1  -{-  §  .  1  -I-  4  .  yV  o<ler  k  =z 

\  -{-  j^^;  ferner  71"  (///>-{-  iJ)  oder  n"  {pb  -\-  na)  =■  *y^, 
luid  i  {ji" A  —  n'B)'^^'^,  daher  endlich  fürs  Maxijnum 
von  ß  die  Zeit  /  r=  Y  log.  nat.  1/.  f  =  16,04;  vuid  für 
den  >^  endepunct   /  =  V  ^og  |^  .  V'.  |  =  16,98. 


150 

Schätzt  man  die  Einheit  der  Zeit  auf  zwey  Secimden, 
so  veriliesst  bis  zum  IMaximum  ungefähr  eine  halbe  Mi- 
nute, und  ein  paar  Secunden  später  erfolgt  dei*  Wende- 
punct,  von  welcliem  an  das  Sinken  sogut  als  aufhört, 

Zweytes  Beyspie  .  ar=Z»  =  4;  das  Übrige  wie 
vorhin.  Man  findet  71^=-^,  und  das  Beyspiel  steht  so: 
a  p  =  l  h 

II  II 

(10  41 


B 

4  101 


}= 


«  n  =  l  ß 

Hier  wird  kz=z  \-\-  ^,  und  die  Zeit  des  Maximum 

t  =  ff  log.  nat.  2  . 1 .  3 .  2  z=  14, 28 
etwas  kürzer  wie  vorhin,  da  die  Henimungssumme  ver- 
hältnissmässig    grösser   ist    wie    zuvor.      Dass   auch  hier 
der  Wendungspunct  bald  folgen  muss,   zeigt  der  Werth 
von  k,  der  wiederum  nicht  viel  über  1  beträgt. 

Maximum  und  Wendepunct  sind  aber  in  Beyspielen 
solcher  Art  kaum  zu  unterscheiden  von  Ei'hebungsgrän- 
zen.  Denn  wenn  schon  Werthe  wie  t  =14  oder  t  z=zl6 
hervorgehn,  so  sind  Grössen  wie  1  —  e~^  oder  1  —  e~~^^ 
lür  :^=1  zu  nehmen,  da  e~^^  schon  weniger  ist  als  ^2W1>* 

Drittes  Beyspiel.  Es  sey  7i"rr0,9;  Tc'rrO,!. 
Also  m  =  9,  n=z  1;  ferner  A=2,  a  =z  10,  h=zl,  a 
=  2,  ß  —  3.  Man  findet  n  =  ^,  Ä  =  1  -f  -ß^,  und 
am  Ende  i  z=  11,7;  also  wiederum  die  Exponentialgrössen 
sogut  als  verschwunden,  daher  das  Maximum  auch  hier 
anstatt  einer  Erhebungsgränze  kann  genommen  werden. 

Gleichwohl  ist  der  Unterschied  des  zweyten  Falles 
vom  ersten,   der  kein  Maximum    mit  sich  bringt,    nicht 


151 

unerheblich.  Denn  ein  sehr  geringer  Druck,  eine  fremil- 
artige  Hemmung  aus  andern  Ursachen,  kann  lelclit  das 
Maximum  verfrühen  und  erniedrigen,  da  schon  einige 
Zeit  vorher  die  Geschwindigkeit  des  Steigens  fast  ver- 
schwunden seyn  musste. 

Das  dritte  Beyspiel  erinnert  daran,  dass  der  Hem- 
mungsgrad n  sehr  klein  seyn  muss,  wenn  in  dem  Hem- 
mungsverhältnisse m :  n  eine  bedeutende  Ungleichheit  vor- 
kommen soll.  Der  Vortheil,  durch  welchen  die  stärkere 
Complexion  u4  der  andern  so  weit  überlegen  ist,  beruht 
darauf,  dass  ihr  schwächerer  Theil  wenig  Widersland 
findet,  während  ihr  starker  Theil  gegen  den  schwachen 
der  andern  Complexion  mit  starker  Hemmung  vordringt. 

Noch  ein  Beyspiel,  worin  n'P'p,  und  welches  auf 
ein  Maximum  für  die  stärkere  Complexion  hinweiset. 

fl  n J_  A 

r  —  10 
li  11 

A  =  a  2\z=zB 

\l  3f 

il  II 

n  7E  =  1  ß 

Man  findet  hier  n  =  ^^,  n"=z^l,  k=l-\-^\^^,  n'B 
—  n"A  =  ^^,  und  fürs  Maximum 

t  =  Wy*.  3,6889,  grösser  als  36,  über  eine  Mi- 
nute, so  dass  längst  zuvor  die  ExponentialgrÖssen  als  ver- 
schwunden gelten  müssen.  Merkwürdig  ist  hier  dennoch 
die  Wirkung  der  Complication,  indem  A  bedeutend  grösser 
ist  als  B.  Im  vorliegenden  Fall  kann  der  starke  Theil 
von  A,  wegen  des  geringen  p,  das  nicht  zurückweisen, 
was  er  um  des  schwachen  Tlieils  willen  zu  leiden  hat. 

Hier  ein  Rückblick  auf  die  Differenlialquotienten. 
Wie  A'  und  B'  selbst,   so  hängen  auch  diese   von  zwey 


'\    152' 

Exponentlalgrössen ,  aber  nicht  beyde  auf  gleiche  Weise 
ab.  Dasjenige  Glied ,  worin  e~ ^  vorkommt,  ist  negativ 
für  die  Complexion ,  welche  ein  Maximum  hat;  hingegen 
positiv  für  die  andre.  Jene  steigt  nur  in  so  fern,  als  sie 
zugleich  von  der  Exponentialgrösse  e  bestimmt  wird. 

Noch  ist  zu  zeigen,  dass  es  auch  Beyspiele  geben 
kann,  worin  die  Zeit  fürs  Maximum  kurz  genug  aus- 
fällt, damit  noch  nach  demselben  die  Vorstellungen  eine 
merkliche  Bewegung  behalten.  Um  dies  zu  finden,  muss 
ein  grosses  a,  hingegen  zwischen  a,  ß,  h,  wenig  Ver- 
schiedenheit angenommen  werden. 

Es  sey  a  —  990,  «  =  10,  A  =  1000;  ferner  h  =  12, 
ß  =z  11 ,  B  =  23;    auch   p  =^  n  =  i.      Demnach   n  = 

.   _2  3  „"  1000.     /,  _  12 

i  =  ^  =  j-LOj^,    k  —  l  =  n'h  +  n'i  =  0,51024;   und  k 
A 

1=1,51024.  Hieraus  /  r=  1,5462  fürs  Maximum;  das 
heisst,  ungefähr  drey  Secundeu.  Für  diesen  Werth  von  t 
sind  die  Exponentlalgrössen  noch  keineswegs  als  ver- 
schwunden auzusehn ,  xmd  die  Complexionen  sind  noch 
ziemlich  weit  von  ihren  Gränzwerthen  entfernt. 

{.  39. 

Wir  gehen  über  zu  drey  zugleich  steigenden  Com- 
plexionen. Dieselben  seyen  ^rzra-}-«,  B:z=.h-\-ßj 
C  :=.  c  -\'  y.  Hierzu  gehören  sechs  Hemmungsgrade ; 
nämlich 

p  zwischen  a  und  h 

n a   .  .  .  c 

m fj    .  .  .   c 


153 

n  zwischen  «  und  ß 
V    .....    a  .  .  '  y 

!'• ß  "'   Y 

Wie  die  Hennnungssumme  zwischen  «,  h,  c,  zu  bestim- 
men sey,  desgleichen  zwischen  a,  ß,  y,  wird  als  bekannt 
vorausgesetzt  *).  Für  die  folgende  Rechnung  aber  das 
obigG  Verfahi'en  beobachtend,  werden  wir  die  Grössen 
a,  h,  c,  a,  ß,  y,  sofern  davon  einige  oder  andere  in  die 
Hemmungssumine  eingehn,  auf  yi ,  B,  C  zurückführen. 
Daher  muss  jetzt  ausser  der  obigen  IiB  und  i'A  noch  eine 
Grösse  gC  vorkommen,  wobei  g,  so  wie  vorhin  h  und  /, 
zu  bestimmen  ist.  Wäre  z.  B.  die  Hemmungssumme 
=z  mc  -\- ph' -\- 7ia-{- vy,  so  hätte  mau  pl/ zzz  kB' ,  na 
=.iA',  und  mc  -\-vy'  =  gC,  daher  auch  mc-\-vy  =  gC, 

mc  -{—  ■j'V 
und  g  =  —  .     Jedenfalls  sind  die  drey  Gleichungen 

folgende : 

dJ'  =  [A  —  A'—n  ijA'  +  hB'  -{-  gC')]  dt 
dB'  =:[B  —  B'  —  n"  (W  -f  hB'  -\-  gC')]  dt 
dC  =  [C  —  C—  n"  (/>/'+  hB'  4-  gC')]  dt 
wo  n  ,  n' ■)  n"  wiederum  die  Vertheilung  der  jedesma- 
ligen Hemmungssumme  (welche  bekanntlich  im  Wachsen 
begriffen  ist)  bedeuten;  daher  n  -\- 7i'' -\- n"' =  1. 

Man  multiplicire   die    zweyte  Gleichung    mit   S^,    die 

dritte  mit  &',   und  addire   alle  drey  Gleichungen.     Also 

dA'-\-^dB'-{'  d'dC'-\-A',  [1  +  n'i  -f  n'id-  +  n"id^';\  dt 

+  B'.  [(1-|-  7i"h)d'-\-  nh  -h  7i"'hd']  dt 

-\-C  1{IJ^  n"'g)^'-\-n'g-\-n"gä'\dt 

=  {A  +  dB  -{-  d-'C) .  dt 

nh  +  (1  -f-  n"h)d-  -\-  n"hd' 
Jetzt  sey  &  ~    LA — ! _^ ! — _ — _ 

\  -\-  n  i  -\-  n  id-  -\-  n    i& 
**)  Psychologie  §.  52. 


154 

und  ^'  z=  ^>+'^'V'»+0  +  ^"»' 

1  -f~  !^  *  i~  7l"?d'  4~  ^"  iif'' 

SO  folgt 
^  ;  ,9-'  z=  (ti'A  +  (1  +  n"h)9-  +  7i"'äö-') :  (7^V  +  n'gd- 

+  (i-{-^"V)^') 

oder  //^'  (n-^  n"&  +  n'"y)  =  g&  {n' ■\-  n^d  +  ti"'-^') 
oder  kurz   ^'  rr  -  ^ 

Ä 

Dies  für  ^'   in  den  Werth  von  &  substituirend ,  findet 

man  aus 

&{\-\-  ni-\-n"i^-\'  n'id-')  =  n'h  +  {\-\-n"h)&-\-  n'hb' 

zuvörderst 

I  {n'li  -\-  n"g)&^-\-  h  .  n'i  —  n'h  —  n"'g)d-  "==■  n  li^ 

und  nach  der  Auflösung  der  Gleichung  ergeben  sich  die 
beyden  Werthe: 

1)  ^  =  +  * 

2)  ^  = 


"l.    I        "' 
n  n-\-  n   g 

wozu  noch  gehören  die  beyden  Werthe  von  d-' 

1)  y  =  -{-  f 

i 

f  gn 

2)  &    =  ^ 


71    fl  -]-  71     g 

INIau  hat  nun  wie  oben 

dz  -\-  Fzdt  z=  Const.  dt 

und  hieraus  z  =.  .  (1  —  e~     ) 

Aber  in  jetziger  Rechnung  ist 

F=:l-\-  Tii  -\-  Ti'id-  -\-  7i"'iit' 
und  Const.  z=  A  -\-  dB  -j-  &'C 
welche  Grössen    wegen  ■&  und  d'  zwey  Werthe  haben, 


155 

nämlich 

1)  F  =  l-\-  ni  +  n'h  +  n'g 

Const.  :=z  A  -\-  : 

i 

2)  F=l 

Bhn  Cgn 

Const.  ^=.  A  — 


n  n  -\-  n   g        n  li-\-  n  g 
Demnach 

i  (1  -j-  ni  4-  n"h  -\-  n"'g) 

i  i 

und 

/  ,     hB-^gC\^^       -^_^'      hnB'-\-gnC' 

\  TrÄ-f-Ttg^/  n  li-\-  n   g 

Um  hieraus  ^',  5'  und  C  zu  finden,  muss  man  zu  den 

gegebenen  Gleichungen  zurückgehn.     Aus 

dA'  =[A  —  A'  —  n  (jA'  -{-hB'-\-  gC')]  dt 

und  dB'  =[B  —  B'  —  n'ijA'^  hB' -\-  gC)]  dt 

wird  durch  Multlpllcatlon  der  zweyten  mit  —77,  und  Sub- 
traction  von  der  ersten, 

dA'-'^'„dB'=:l'A-^B-{A'-^B ')!  dt 

also     (a^^,b'^  (\-e-')=zA-^,B' 
\  n       y  n 

und    B'='^A'~('^A-B^.{1~. 


-') 


Man  kann  diesen  Werth  von  B'  substitulren ;  es  er- 
glebt sich,  wie  zu  erwarten, 

*)  Diese  Gleichung  ist  eigentlich  ein  Inbegriff  zweyer  andern, 
welche,  wie  sogleich  folgt,  durch  Elimination  gefunden  werden. 
Um  dies  z.u  bemerken ,  mag  man  entweder  li  oder  g  =  0  setzen. 


156 


n  \n  y 


Also    -5'-f-l^' 


__  hn"  ■irn"g  ^^^,      nm"-^gn"  ^  _  hJB-^gC\  _, 

n'i  ^        ni  i       ' 

Mau  setze  1  -|-  n'i  ■\-  n"h  -\-  n" g  =  ä;  so  ist 

TT .(1  — e       j  —  ^  -| —- Ji 

iK  n  i 


__  /hn-\-gn"'  ^  _  hB-VgC\  ^i_^-/) 

,  fiA-\-hB-\-gC\  ,         -kt 
oder    nA ^     A  )  (^  —  ^        )=r(^'  — 1)^ 

-  [(A^"  +  ^^"')^  -  "'(/^ß  +  ^C)]  (1-e-O 

mitbin  endlich 

n'.{iyl-\-hB-{-gC)  kt. 

'*'                    /t  — 1  ^  ^ 

^  =   -^   -k-{l—l ^*~'       ^ 

+ -f—Ti  ^^-'     ^ 

_  n"'{iJ-\-hB^  gq  ,, 

■^  k—1  ^  ^ 

Nach  verschwundeneu  Exponenlialgrössen  ist  die  letzte 

iJ^hB-\-gC 
Hemimingssumme  ij4  -\-hB  -\- gC  =:::  > > 

indem  die  mit  (1  —  e     ')  multiplicirten  Grössen  sich  auf- 
heben, und  in-\~/in"  -{-  gfi"  z=.h  —  1.     Zur  Uechnungs- 


157 

probe  dient  nun,  dass  die  letzte  Hemmungssumme  hier, 

wie  immer,  dem  noch  nicht  hervorgebrachten  Vorstellen 

gleich  seyn  muss;    also  nach  verschwundenen  Exponen- 
tialgrössen 

Auf  ganz  ähnlichem  Wege,  wie  dies  oben  für  zwey 
Complexionen  gezeigt  worden,  wird  man  finden 

B-B'  =  B(\-'^  "''/  "  ^'^ )  +  """'^  +  """^^ 

C^c'  =  c(i-  i±iii±^')  i-  !Li^^^^? 

,^      .              1  +  n'h  +  7r"  V        71  i            l+n'i-h  n"g 
N„u  ,s,  1 -^ ^  =  -^;  1 j ^ 

n"h  \-\-ni-\-n'h        n"  g 

=  — - — ;  1 =.  — - — .     Also  die  öumme 

k  k  k 

jener  Grössen    A  ^  B  -{- C  —  ^— B'  —  C 

— -  (.^  ~r  ^  "T  ^  )  ~ 7 — — ~ 

und  n  -j-  n'  -\-  n"  =  1 ;  daher  das  Resultat  wie  voraus 
gesehen  war. 

Bey  Vergleichung  der  jetzigen  Rechnung  für  drey  Com- 
plexionen mit  jener  für  zwey  dergleichen,  ergiebt  sich 
in  den  gefundeneu  Gleichungen  eine  so  deutliche  Ana- 
logie, dass  man  für  vier  und  mehrere  Complexionen 
ohne  vorgängige  Berechnungen  die  Formeln  leicht  treffen 
könnte.  Dann  würde  auch  der  Gang  des  Bewei-ses  für 
das  Zusammentreffen  der  Formeln  mit  dem  Satze  von 
der  Gleichheit  der  Hemmungssumme  und  des  noch  zurück- 
gehaltenen Vorstellens,  eben  so  leicht  gefunden  werden. 


158 

Die  Hauptsaclie  ist ,  dass  sich  die  Anzahl  der  Exponen- 
tial- Grössen  nicht  vermehrt,  und  dass  die  Abänderung 
des  Werlhs  der  Grösse  h  ebenfalls  vor  Augen  liegt. 
Die  Bewegung  der  Vorstellungen  bleibt  also  wesent- 
lich die  nämliche,  wie  gross  auch  die  Anzahl  der  zu- 
gleich steigenden  Complexionen  seyn  möchte. 

Die  IMannlgfaltlgkelt  der  Bedeutungen,  welche  man 
den  gefimdenen  Formeln  geben  kann ,  ist  sehr  gross ; 
und  soll  hier  nicht  ins  Einzelne  verfolgt  werden.  Es 
muss  genügen,  etwas  Specielles  herauszuheben. 

Es  sey  b  =zc,  ß  =  y,  also  B  =  C.  Ferner  p  =  n, 
n  "=■  V'i  um  nun  zuvörderst  die  Hemmungs-Coefficienten 
n',  7i",  ii"  zu  bestimmen,  muss  man  zu  den  Hemmuugs- 
Verhältnissen  für  vollkommne  Complexionen  zurückgehn. 
Diese  sind  *)  im  Allgemeinen 

'bp  -\- ßn         cn  -\-  yv^      1 


für  A 


(bp  -{-  ßn         cn  -\-  yv\ 
~~B  C      ^ 


A 

1 

A  C      ^'B 

für  C:   K:—r-         ^'i,— )  '  n 


inrB:^—-—         —77— J  • 


A  B      ^     C 

Sie  vereinfachen  sich  unter  den  gemachten  Voraussetzun- 
gen dergestalt,  dass  herauskommt 

für  Ai    2{bp-\-ßn)B 

für  J5 :   B  {ap  -\-an)  ■\-  A  (bm  +  ßjri) 
auch  für  C :    B  (ap  -{-  an)  -\-  A  (bm  -\-  ß/t) 

Auch  so  noch  würden  n,  n",  n"  ziemlich  verwlk- 
kelt  ausfallen.  Wir  vereinfachen  weiter  durch  die  An- 
nahme p  =  n,  7n  =  f,i;  auch  kann  man  noch  j?i  z=  ft, 
=  cjp  setzen,  wo  jedoch  q  nicht  grösser  als   z=  2  seyn 

•)  Psychologie  §.  59,  und  im  vorliegenden  Hefte  S.  56. 


159 

darf,  well  der  grösste  Hemmungsgrad  nicht  grösser  als 
höchstens  die  Summe  der  beyden  kleinen  seyn  kann. 
Jetzt  ergeben  sich  folgende  Verhältnisszahlen: 

für  A,  1B 

für  B  und  C,  {\.-\'q)A 


Also  fi'r= 


^  „''_.-_         (1-f^)^ 


yi  =   ,,    .    ^.    . — r — :»   TT 


und  7i'-|-  n  •\-  n  '  =■  1   wie  gehörig. 

Ferner,  wenn  a'^b  und  c,  u'^ß  und  y,  so  Ist  die 
Hemmungssumme  für  a,  b,  c  gleich  pb-^pc,  und  für  a, 
ß,  y  gleich  pß-\~pyj  also  die  ganze  Hemmungssumme 
=  2p(Z>-j-^)  z=.  2pB.  Es  kann  nun  kein  Tlieil  von  ihr 
durch  A  ausgedi'ückt  werden,  folglich  ist  ?  znO;  hinge- 
gen IiB  =z  p(b-\- ß),   also  h=p,   und  gC==p(c-\-y) 

=  p{b+ß),  also  g=p.    Mithin  X- ^ l  +  p ^^i±^H_ 

Setzt  man  nun  diese  Werthe  in  die  Formel  für  B'  oder 
C',  so  zeigt  sich  gleich,  dass  derjenige  Theil,  welcher 
1  —  e~^  enthält,  Null  wird;  daher  können  B'  und  C" 
kein  Maximum  haben ;  sie  nähern  sich  vielmehr  einer 
Erhebungsgränze  um  desto  geschwinder,  je  grösser  /-, 
das  heisst,  je  grösser  p  imd  je  kleiner  B.  Dies  ist  ana- 
log dem  ersten  Falle  bey  zwey  Complexionen. 

Jetzt  sey  a'^b  und  0,  aber  cc<aß  ^^^  /•  Die  Hem- 
mungssumme für  a,  b,  c  bleibe  demnach  =  pb-\-pc, 
aber  für   «,  ß,  y  sey  dieselbe   z=  pa       my  oder  ^=z  pu 

PK 

-\-pcjß.    Hiemit  pa=:iA,  also  iz=-—-,  ferner  j^b-^-qpß 

A 

=  kB,  also  h  =  Pttjl'l  ^  uud  pc  -  gC,  also  ^  r=  ^ 
:=.——.     Es  ist  hier  eine  Zweydeutigkeit,  die  aber  nicht 


160 

schadet;  man  könnte  nämlich  wegen  ß  z=.  y  clen  Thell 
qpß  auch  auf  C  zurückfiitiren ;  allein  in  der  Formel  ent- 
steht bey  h  und  bey  hB-\-gC  die  gleiche  Summe,  und 
in  dem  Theile,  welcher  1  —  e~^  enthält,  heben  sich  we- 
gen n"  =  n"  und  B  =  C  die  Grössen ,  worin  g  und  h 
vorkommen.     Nun  wird 

'^  B-{-{\-\-q)A' a'^  2{B-\-[\-\-q)A'\      B       ~^  b) 

__ ,  , p (^  ,  (i  +  y)-^-(26-f-^/m 

und  mit  Weglassung  der  Grössen,  die,  wie  so  eben  be- 
merkt, sich  aufheben;   überdies  mit  Beachtung,  dass  n' 
1B 


(1  +  ?)^' 


B'  —  C 


p,{\-\~q)J        r«  +  2&  +  (7^  j,t 


mBf  (--") 


2  (ß -f- (1  +  9)  ^)  L  ^^.(^'  — 1) 

+ ^((45- -0  (--')] 

woraus 

dB^_clC^_        p.{\-{-q)J        ra^lh^qß     _kt 
dt  dt  2(J5+(14-^)^)  L         k—\ 

^    k—\    V(l -1-^)^2  y  J 

und  nachdem  dies   =:=  0  gesetzt  worden,  fürs  Maximum 

X-  — 1*     ''       «[(l  +  fy)^2_2Z?2j 
Wäre  a  z=:  OOj  also  auch  A-=zOD,  so  würde  in  h  —  1 

Ba 
sowohl  B  neben  {\-\-q)A,  als  auch  — —  verschwinden; 

demnach  wäre  ä;  —  1  r=   — ^ — -^ — ,  und 


2B 


25 


p(26-{-r//¥) 


.  log  f  1  -f        ^^^  J 

V  et  ■^ 


161 

welches  für  g  r=  2  sich  verwandelt  In 

^  :=  -  log  ( 1  H ) 

Gesetzt  nun,  p  wäre  =  |^,  i?  =r  2,  a  i=  1 ,  so  hatte  man 
^  nz  2  log.  nat.  5  n:  3, 21  ...  Wiewohl  nun  dies  nur  eine 
Gränzbestimmung  ist,  so  sieht  man  doch  hinreichend,  dass 
auch  zwey  schwächere  Complexioneu  neben  Einer  stär- 
kern in  ziemlich  kurzer  Zeit  zu  einem  IMaximum  kön- 
nen gebracht  werden,  von  wo  sie  wieder  herabsinken 
müssen. 

Dass  neben  zwey  stärkern  Complexioneu  eine  dritte 
schwächere,  nachdem  sie  vom  Maximum  herabsank,  auch 
ganz  aus  dem  Bewusstseyn  könne  verdrängt  werden,  ist 
nicht  zu  bezweifeln.     Hieher  gehört  Folgendes. 

Zuerst  muss  der  Gränzwerth  für  C  einfacher  ausge- 
drückt werden,  ohne  ihn  zu  beschränken.     Derselbe  ist 
nach  dem  Vorhergehenden ,  indem  wir  die  Exponential-' 
grossen  weglassen : 

,  _  •jt"'{iA-^hB^gC)       {iii-^rn'h)  C  —  n"{iA-^hB) 
^  —         /•  .{k  —  \  '  h  —1  ■ 

Man  multiplicire  das  zweyte  Glied  im  Zähler  imd  Nen- 
ner mit  /■,  und  setze  Tczzzl-\-h — 1,  so  kommt,  da  X'  —  1 
=  ni  -{-  ii'Il  4-  n"g , 

{k-.\)C^{k  —  \)  [(tz'Z -f-  n"h)  C  —  n"\iA -\-  kB)] 


C'  = 


k  .  {k  —  1) 
C  (1  +  ni  +  n'h)  —  n"\iA  -\-  kB) 


k 
Soll  nun  dieser  Gränzwerth  Null  seyn,  das  heisst,  soll 
C  in  unendlicher  Zeit  aus  dem  Bewusstseyn  verschwin- 
den —  so  dass,  wenn  es  noch  kleiner  ist,  als  nach  die- 
ser Bestimmung,  es  in  endlicher  Zeit  verschwindet,  — 
so  hat  man 

Heft  II.  L 


162 

C  (1  -I-  n'i  +  n'h)  =  n"  {iA  -{-  kB) 
Hieraus  C  zu  finden,  kann  wegen  der  Verwickelung  in 
n  ,  n' ,  n",   beschwei-licbe  Rechnungen  veranlassen;    es 
genügt  für  jetzt,  die  sämmtlichen  sechs  Hemmungsgrade 
pz:znrzi?n=:n^^r:=-jit=1i   zu  setzen.       Dadurch 

111 

werden  die  Hemmungsverhältnisse  wie  —z  '•  ^  '•  y^j  ^^so 

BC  „  AC 

n 


BC-\-AC-\-AB'        ~~  BC-\-AC-\-AB' 

r,r  AB 

^^    ~  BC  +  AC-\-AB 
mithin 

C  (BC  4-  AC-\-  AB  +  BCi  +  ACh)  =  AB  (iA  -|-  7iB) 
Hier  muss  bemerkt  werden,  dass  i  und  h  sich  in  ihren 
Bedeutungen  nach  der  jedesmaligen  Hemmuugssumme 
richten;  da  iA  und  kB  jedesmal  aus  a  oder  a,  und  b 
oder  ß  entstanden  sind.  Kommt  weder  a  noch  a  in  der 
Hemmungssumme  vor,  so  ist  i  =z  o',  kommt  weder  b 
noch  ß  darin  vor,  so  ist  Ämro;  kommen  b  und  ß 
beyde  in  der  Hemmuugssumme  vor,  so  liegen  beyde  in  //, 
welches  immer  das  Quotum  von  B  bezeichnen  muss,  was  , 
in  die  Bestimmung  jeuer  Summe  eingeht.  Dies  voraus- 
gesetzt, so  hat  die  Auflösung  der  Gleichung  keine  Schwie- 
rigkeit ;   denn   aus  C^  [B  (1 -\-  i) -^  A  (1  +  Z^]  -{-ABC 

ci  b 

=:  AB(iyJ-\-hB)  wird,   falls   i  :=        ,  und  h=:  —j 

A  B 


Falls  aber  nichts  von  A  in  der  Hemmungssumme 
vorkommt,  dagegen  sowohl  b  als  ß,  so  fällt  i  weg;  und 
für  unsere  jetzige  Annahme,  dass  alle  Hemmungsgrade 
=:1,  wird  auch  h  ziz  i ,  indem  das  ganze  B  in  die  Be- 


163 

Stimmung  der  Hemmungssiimme  eingclit.     Dann  hat  man 
C'2  {B  -i-  2A)  +  JBC  =:  ^B^ 
Beyspiel.       n   =    i  ß  z=  'i 

rt  =    9  b  =  2 

^  =  10  B  —  5 

Da  C  unbekannt,  so  kennt  man  auch  seine  Theile  c  und 
y  nicht;  und  die  Rechnung,  welche  nur  das  ganze  C 
ergeben  wird,  lasst  die  Annahme  Frey,  dass  weder  c 
noch  y  gross  genug  sey,  um  aus  der  Bestimmung  der 
Hemmungssumme  wegzubleiben.  Demnach  wird 
zwisclien  a,  b,  c   die  Hemmungsumme    2  -f-  c 

zwischen  cc,  ß,  y '^  ~{-  y 

also  ist  i^  =  1  und  7iB  =  2;  hiemit  i  =  ^L  und  h 
=  ^;  daher  giebt  die  Rechnung  C  =  i,77. . .  Wie  man 
dieses  C  auch  theilen  möchte,  weder  c  noch  y  kann 
gross  genug  seyn,  um  aus  der  Hemmungssumme  wegzu- 
bleiben; die  Theile  c  und  y  bleiben  demnach  unbestimmt. 
Zweytes  Beyspiel,  vergleichbar  mit  dem  vorigen. 
«  =    5  /?  =  3 

a  =    5  6  =  2 

^=10         ^=5 
Hier  ist  zwischen  n.  b,  c  die  H.  S.  =z  2  -f-  c 
zwischen  a,  ß,  y     .      .     .     .     'i  -{-  y 
also   1=^0,  h=zl;    und  man  muss   die  zweyte  Formel 
brauchen;  woraus  C=  2,3166;   grösser  als  vorhin,  ob- 
gleich y4  und  B  unverändert  blieben.     Der  Grund  liegt 
vor   Augen;    die   Hemmungssumme    ist    grösser,    Indem 
nicht  a    sondern  ß  in  sie  eingeht.     Die  Theile  c  und  v 
sind  auch  hier  unbestimmt. 

§.   40. 
Es  ist   noch  übrig,  von  den   unvollkommenen  Com- 
j)lexionen  das  Nöthigste  zu  sagen.      Zuerst  muss  in  An- 

L2 


,  164 

sehung  der  sinkenden  dasjenige  ergänzt  werden,  was  Im 
grössern  Werke  nur  obenhin  und  niclit  ganz  richtig 
angedeutet  war;  doch  werden  wir  wegen  der  Verwicke- 
lung, die  in  dem  Gegenstande  liegt,  uns  auf  zwey  Com- 
plexionen  beschränken ;  sclion  diese  erfodern  nicht  weni- 
ger als  zehn  von  einander  iniabhängige  Grössen.  Zur 
Vorbereitung  dient 

Erstlich:  folgendes  Schema 

Cl  r  Q  cc 

p  it 

h  r  Q  ß 

a  und  «    sind  complicirt,  jedoch  nicht  vollkommen, 

sondern  nur  deren  Reste  r  und  q  sind  in  die  Verbindung 

eingegangen.     Eben  so  /"'  und  p',  die  Reste  von  b  und  ß. 

Zwischen  a  und  h  ist  p  der  Hemmungsgrad;  desgleichen 

n   zwischen  «  imd  ß. 

Zweytens:  folgende  Abkürzungen:  Man  setze 


Daher  auch 


a' 


-\-rQ  ''  /S-^-hre 


Die  Entwicklung  der  Sache  lasst  sich  nun  ganz  an 
die  Betrachtung  der  vollkommneu  Complexionen  knüpfen. 
"Wie  dort,  ist  die  Hemmungssumme  der  Inbegriff  zweyer 
Hemmungssummen,  nämlich  zwischen  a  und  b,  und  zwi- 
schen ö  und  ß.  Nur  das  Hemmungsverhältniss  ist  ver- 
wickelt. 


165 

Die  Einleitung  zu  gegenwärtiger  Abhandlung  schloss 
mit  folgender  Angabe  der 

{ina  -\-  nia)x 


Hemmung  des  B  durch  Jl,  = 


A  .  B 


des  A  durch  B,  =  (^^Jlllh 

B  .  A 

Anstatt  m  und  m  wollen  wir  die  sonst  gebrauchten  Buch- 
staben p  und  n  zurückführen ;  zugleich  ist  zu  erinnern, 

dass  (wie  die  Einleitung  zeigte)  der  Ausdruck  — • — — 

an  die  Stelle  des  Hemmungsgrades  m  getreten  war,  wo 
die,  von  der  Complexion  Az^.  a-\~  a  ausgehende, 
Hemmung  des  B  sollte  bezeichnet  werden ;  eben  so 
bui-\-ßm  ,  wo  B  das  Hemmende,  A  das  Gehemmte  ist. 
Anstatt  des  ersten  dieser  Ausdrücke  schreibe  man  nun 

(ap  ttn\      1  -  , 

—j-  -f-  —jj  .  -— ,    und  statt   des  zweyteu 


( 


A    '     A/     B 
B  '^   b)'  A 


Für  vollkommene  Complexionen  A  und  B  verhält  es 
sich  so;  allein  diese  Verhältnisszahlen  müssen  für  un- 
vollkommene Complexionen  eine  Abänderung  erleiden. 
Denn  wo  sonst  Az=za-\-a  stand,  da  ist  jetzt  a  nicht 
mehr  mit  dem  ganzen  u  verbunden,  sondern  ihm  gehört 
von  «  nur  noch  der  Rest  p,  beschränkt  durch  die  An- 
eignung im  Verhältnisse   /•  :  a ;    oder  kurz ;   die  Compli- 

cationshulfe   —  .     Ebenso:  wo  sonst  B  stand,  da  gehört 
a 

dem  h  nur  noch  die  Hülfe  —^  .      Ahnliches  gilt  von  a 

b 

und  ß.     Um  dies  desto  sicherer  zu  verstehen,  überlege 

man,  dass  man  anstatt  A  auch  sagen  kann:  a,  welches 


m 

verbunden  ist  mit  a,  oder:  a,  welches  verbunden  ist 
mit  a,  Beydes  ist  vollkommen  gleichbedeutend,  wenn 
eins  mit  dem  andern  ganz  verbunden  ist;  aber  es  bleibt 
nicht  gleichbedeutend,  sondern  spaltet  sich  in  zwey  Be- 
deutungen, wofern  «  nur  theil weise  mit  a,  und  a  nur 
theilweise  mit  u  verbunden  ist,  A  ist  vermindert;  aber 
auf  zweyerley  verschiedene  Weise;  und  nun  ist  a,  so- 
fern es   verbunden  ist   mit  «,  r::  a -}-  — ,   und   cc ,   so- 

a 

ro 
fern  es  verbunden  ist   mit  a,  =  «-j-       .     Der  Bruch 

a 

a    .  a^  ,  .  «     •  .  -11 

—    ist  nun  — :    hingegen  —    ist   nun    so   viel    als 

A  a^-\-rQ'         ^  °       A 

— ;  denn  A  nuiss  im  erstem  Falle  dem  a,  im  zwey- 

«^  4"  ^Q 

teil  Falle  dem  (x,  entsprechen.     Also 

ap                             ap                    a^p 
anstatt    —  setze  man    z=.  —^- z^  pui) 

'      a 

an  an  a'^n 

A  «4-—  o.^-\-rQ 

'      b 

ßn  ßn       ß'^n       __ 


B 


ß^q.  ß^  +  r^ 


rj-=n{ß) 


Nun  fällt  der  Druck  p{ci)  von  a,  und  n{a)  von  a,  zwar 
auf  B,  aber  i?  selbst  ist  zerfallen,  und  es  giebt  slalt  des- 

sen    zwey   unvollkommene  Verbindungen    h  -\-  — ^   und 

b 

ß  -\ .     Dies  hat  eine  doppelte  Folge. 


167 
Erstlich:   der  Druck  p{a)  trifft   unnuttelbar  b,   und 
durch  dieses  auch  dessen  Complicationshiilfe  —  .     Also 

der  Druck  vertheilt  sich  in  dem  Verhältniss  hi        ,  das 

b 


ist  b'^irg',  daher  die  Vertheilungsrechnung 
[rg 


i.      ,,"(<.)  ^j^=K«).('') 


Ebenso  geschieht  die  Vertheilung  der  Drucke  n  (a) ,  p  (b), 

n{ß)]  demnach 

p(a)   theilt  sich  in   p(a).(b')  und   /?(«).[!  —  (b)] 
n{a) n{u).{i5)    .  .   n  (a)  .  [i  -  (/3)] 

/'W /'W-C«)    •  .    K^)  •[!-(«)] 

n(ß) ^(/^).(«)    .  .   niß).[l-iu)] 

Zweytens:  Um  nun  zu  bestimmen,  in  welchen  Verhält- 
nissen a,  b,  a,  ß  von  der  Hemmung  leiden,  muss  man 

1  1 

auch  die  Divisoren  —  und  —  gehörig  abändern.     Diese 

Divisoren  bezeichnen  den  Satz :  jede  Vorstellung  wider- 
steht der  Hemmung  im  umgekehrten  Verhältniss  ihrer 
Stärke.  Das  galt  auch  von  J5  und  A  als  voUkommnen 
Complexionen ;  jetzt  gilt  es  von  jeder  einzelnen  Vorstel- 
lung, sofern  dieselbe  mit  ihrer  Complicationshiilfe  eine 
Gesammtkraft  ausmacht  und  als  solche  Widerstand  lei- 
stet.    Also  hat  man 

r-  1        ,..   .  1  «  («) 

mr  a  den  Divisor  -  —  — 


für  h 


'     a 
1 

*+r 

h 

168 
lur  a  den  Divisoi'    rz:  — 

,.,....... -^      =» 

Jetzt  lässt  sich  Alles  zusammenstellen.  Man  über- 
lege, dass  a  einestheils  unmittelbar  den  Druck  von  ij, 
und  andern theils  mittelbar  -wegen  seines  Piestes  /•,  der 
zur  Complicalionshülfe  für  «  gehört,  einen  Druck  von  /S 
leidet.  Der  erste  ist  ■=zp{b){a)-,  der  zweite  ist  n{ß^ 
[1  —  («)]•  Ebenso  leidet  jede  andere  Vorstellung  gleich- 
falls einen  doppelten  Druck,  theils  den  unmittelbaren, 
theils  den,  welcher  die  von  ihr  ausgehende  Hülfe  trifft. 
Daher  besteht  die  Verhältnisszahl  für  eine  jede  aus  zwey 
Tlieilen  mit  Beylügung  des  ihr  gehörigen  Divisors.    Also 

für  a  ist  die  Verhältnisszahl  (p{h){a)-\-n{ß)\\—{u)'\\r^ 

für  6 (^p(^a){h)^n{u)[\-mY^ 

für  « {n{ß){a)^p(h)i\-{a)i^H 

für/^ (<«)G?)  +  K«)[l-W])-y 

So  verwickelt  nun  die  Vertheilungsrechnung,  da  man 
alle  diese  Verhältnisszahlen  addiren,  und  alsdann  die 
Summe  ins  Verhältniss  zu  jeder  einzelnen  stellen  muss : 
so  lassen  sich  doch  zum  Behuf  willkührlicher  Beyspiele 
auch  einfachere  Fälle  herausheben.  Was  sich  auf  den 
ersten  Blick  darbietet,  ist  folgendes  Verfahren :  Nachdem 
die  acht  Grössen  a,  h,  a,  ß,  r,  q,  r,  q  beliebig  angenoui- 
nien  sind ,  so  setze  man 

p{b){a)  =:  n{ß){a),  mithin   --  =  -— — - 


169 

Belracbtet  man  das  Verliällniss  der  rieniimingsgrade  p  :  71 
liieiuit  als  gegeben,  so  liat  man  noch  die  Wahl,  entwe- 
der p  oder  71  Nvillkiilirlich  anzunehmen;  und  die  Ver- 
hältnisszahleu  sind   nun 

für    a  ,  71  (/*;)  "^"-^ 

iur   /;,  n  ((<:)  -— 

h 

für    «  ,  p  (/>)  -^"^ 

deren  Summe  =  {a){ß)  [^  +  j^]  +  (-OC^O  [^  +  f] 

Den  hierunter  begriffenen  Fällen  werden  andere,  in  wel- 
chen die  Differenz  p{}i){ii) —  7i\ß){u)  nicht  gross  ist, 
nahe  kommen. 

Für  zugleich  steigende  unvollkommene  Complexiouen 
muss  nun  vorausgesetzt  werden,  man  habe  die  Hemmungs- 
Coefficienten  77',  71",  71",  ti"" ,  welche  entstehn,  indem 
jede  einzelne  Verhältnisszahl  durch  die  Sunune  aller  di- 
vidirt  wird,  bereits  gefunden.  Es  sey  die  Hemmungs- 
summe  =iiph-\-7iu,  so  sind  für  die  veränderlichen  d,  b', 
u,  ß'  folgende  Gleichungen  anzusetzen: 

1)  da   =  {a  —  a  —  tx'  {ph'  -\-  na))  dt 

2)  da  =■  («  —  a  —  7c"  {jph'  -{-  yra'))  dt 

3)  dh' ={h  —  b' —  7i"'lj>b'-\-7ia))dt 

4)  dß'  =lß  ~  ß'  —  n""{ph'-\-7ia))  dt 

Mit  Hülfe  der  früher  schon  gebrauchten  Rechnungs- 
arten ergiebt  sich : 

zuvörderst  aus  2)  und  3),  indem  k'=:.\-\- 71'" p-\- 71"  71, 
,  _n"{pb-\-7ia)  _iLf         p{7i"b—7i"u)  _/ 


170 

;/  —  ^^H:^)  f.      ^^ i•/^   ,    ^ {n"b—n"u)  t 

Hieraus  zunächst  die  Hemmungssumme 

;>Ä  +  71«  —  '-— I- {\—e    ^') 

K 

weil  nn' -\- pn"  z=:  k  —  1 ;  luid  indem  diese  Hemmungs- 
summe  in  die  beyden  noch  übrigen  Gleichungen  gesetzt 
wird, 

Ist  die  Hemmungssumme  pb  -}-  nß,  so  wird  man  auf 
Uhnliche  Weise  die  Gleichungen  3)  und  4)  verbiudenj  uod 
daraus  1)  und  2)  berechnen. 


Ueher  Kutetjorien  und  Conjunctionen. 


In  der  Sprache  liegen  die  Conjunclionen  als  Formen 
der  Gedanken -Verknüpfung;  in  der  Sprache  suchte  Ari- 
stoteles die  Kategorien  als  Erkenntnissbegriffe;  dem  An- 
schein nach  ganz  verschiedene  Dinge.  Allein  die  Kanti- 
schen Kategorien  bilden  einen  Übergang.  Erkenntniss- 
begriffe  wollen  sie  seyn ,  ähnlich  den  Aristotelischen ; 
aber  auch  Formen  der  Verbindung.  Durch  die  Art, 
wie  sie  aufgesucht  wurden,  stehn  sie  mit  jenen  im  offen- 
baren Gegensatze.     Aristoteles  sagt : 

7.\ov  "keyofiiviov  ta  fuv  y^ara  cv/inXont^v  )JyeTai' 
ia  öh  avfv  ov/tnXoi(ijg.  t«  /idv  ovv  aara  ovf(nXoy.r,v' 
oiov  cüvdQOiiJos  TQfXH-,  cCv&QMnog  rtxc'c  z«  d'h  üvtv 
ovfinXoitijs'  olov  äv&Qwnog,  ßovs<,  ZQtyet,  riy.u.  Und 
weiter:  2V)V  zard  fii^äe/iiciv  cv/dnXoyijP  Xtyojiievwv  6- 
VMorov  ihoi  ovoiav  oj/iiaivsi  ^  0}  nooor,  y  noior,  tj 
nQog  Tc,  rj  vioij-,  y  nore,  y  neiG&ui,  y  lyeiv^  y  7ioiEtr, 
y  nüoyfir.  Hier  ist  beym  Aufsuchen  der  Kategorien 
die  Urtheilsform  geradezu  abgewiesen.  Kant  im  Gegen- 
theile  wendet  sich  eben  an  die  Urtheile,  indem  er,  um 
die  Kategorien  vollständig  zu  finden,  von  jenen  die  be- 
kannten Eintheilungen  nach  Quantität,  Qualität,  Rela- 
tion und  Modalität  zusammenstellt. 


172 

IJber  Kategorien  als  Erkenutnissbegrlffe,  bey  deneu 
mit  vollem  Rechte  die  ovat'a  an  der  Spitze  steht,  und  die 
ccviiiceijceva  wenigstens  nachgeholt  werden  (im  achten  Ca- 
pitel  beyin  Aristoteles),  ist  schon  anderwärts  gesprochen'''). 
Bey  Gelegenheit  der  Conjunctionen  wurde  später  bemerkt, 
dass  deren  genauere  Betrachtung  zugleich  die  Kantisclicu 
Kategorien  trifft.  Wie  dies  möglich  sey,  lasst  sich  im 
Allgemeinen  leicht  begreifen.  Urtheile  sind  Verknüpfun- 
gen von  Gedanken ;  ihre  Eintheiluugen  geben  verschie- 
dene Formen  der  Verknüpfung;  die  Conjunctionen  sind 
auch  Formen  der  Gedanken- Verbindung;  diesen  und  je- 
nen Formen  sind  ähnliche  psychische  Gründe  nachzuwei- 
sen, über  welche  die  Sprache  ilir  eben  so  wichtiges  als 
unwillkürliches  Zeugniss  ablegt.  Dabey  ist  nicht  zu  ver- 
gessen, dass  das  Urthellen  die  Form  ist,  welche  das  Den- 
ken beym  Sprechen  annhnmt;  nur  begnügt  sich  dann 
das  Denken  nicht  mit  einzeln  stehenden  Urllieilen,  son- 
dern die  Urtheile  müssen  auch  unter  einander  ver- 
knüpft werden;  und  hier  ist  vorzugsweise  der  Ort  für 
die  Conjunctionen. 

Bekanntlich  nennen  die  Grammatiker  copulative,  dls- 
junctive,  conditlonale,  adversative,  causale,  concessive, 
conclusive,  ordinative  Conjunctionen;  sie  bemerken,  dass 
dadurch  bald  einzelne  Worte,  bald  Satze,  bald  ganze  Pe- 
rioden verbunden  werden.  Das  heisst :  in  der  Vorstel- 
lungsmasse, welche  durch  eine  oder  mehrere  Peiiodeu 
ausgedrückt  wird,  giebt  es  für  die  Begriffe,  welche 
den  iSennwörtern,  Zeltwörtern,  Adverbien  entsprechen, 
nicht  bloss  Verknüpfungen  durcli  Flexlonszelchen  und 
durch  Präpositionen;  sondern  die  Gedanken -Bewegung, 
welche  die  kleinern  und  grössern  Verknüpfungen  durch- 

*)  Psychologie  §.  124. 


173 

laufend  (las  Gefiige  der  Vorstellungsmasse  erkennen  lasst, 
bedarf  noch  besonderer  Fingerzeige,  um  verständlich  zu 
machen,  dass  sie,  von  mehr  oder  weniger  vesten  Punc- 
ten  ausgehend,  bald  gerade,  bald  in  verschiedenen,  oft 
wider  einander  stossenden  Richtungen  sich  fortsetzt. 
Hieran  hat  die  Urtheilsform  zwar  ihren  Antheil,  und  kann 
nicht  unerwähnt  bleiben;  aber  auf  einzeln  stellende  Ur- 
theile  kann  man  sich  nicht  beschränken ;  da  vielmehr 
die  innere  Construction  einer  Yorstellungsmasse 
den  eigentlichen  Gegenstand  der  Untersuchung  ausmacht. 

Eine  bloss  analytische  Untersuchung  würde  nicht  wei- 
ter führen ,  als  man  längst  war.  Für  eine  bloss  synthe- 
tische aber  ist  der  Gegenstand  zu  schwierig.  Man  muss 
die  Synthesis  mit  der  Analysis  verbinden;  und  vom  Leich- 
testen ausgehn.  Zur  Anknüpfung  dient  das  Evolutious- 
Vermögen  einer  Reihe ;  und  da  von  der  Sprache  soll  ge- 
handelt werden,  mögen  die  Buchstaben  eines  Wortes 
das  nächste  Beyspiel  abgeben.  Auf  die  Kategorien  wer- 
den wir  am  Ende  zurückkommen ;  voraussetzend, 
dass  man  vor  Augen  habe  und  vergleiche,  was  hierüber 
in  der  Psychologie  schon  war  gesagt  worden.  Es  wird 
sich  finden,  dass  die  Kantischen  Kategorien  in  eine  viel 
weitere  Sphäre  der  Untersuchung  müssen  versetzt  wer- 
den. Um  diese  Sphäre  zu  bezeichnen,  sind  die  Conjun- 
ctionen  genannt  worden;  man  wird  sich  indessen  nicht 
wundei'n ,  auch  einige  Bemerkungen  über  den  Satzbau 
mit  eingeflochten  zu  finden ;  denn  es  kommt  überhaupt 
darauf  an,  die  Sprache  als  einen  Spiegel  für  die  geistige 
Thätigkeit  zu  benutzen;  wenigstens  in  so  fern  dies  nö- 
thig  ist,  um  für  jene  Kategorien  einen  freyern  Blick  zu 
gewinnen. 

Iliemit  werden  wir   die  Betrachtung  einfacher  Vor- 


174 

Stellungen  und  der  aus  Ihnen  gebildeten  einfachen  Reihen 
überschreiten.  Dies  ist,  falls  man  Ungeübte  berücksich- 
tigen will,  schon  ihrentwegen  nolhwendig;  denn  in  den 
elementarischeu  Untersuchungen  "wissen  sie  sich  gerade 
der  Einfachheit  wegen  nicht  zu  Orientiren.  Für  sie  giebt 
es  zuerst  Dinge,  das  heisst.  Complexionen  von  Merk- 
malen ;  aber  schon  daran  halben  sie  IMühe  sich  zu  gewöh- 
nen, dass  sie  die  Vorstellung  eines  Dinges  als  zusammen- 
gesetzt aus  den  Voi'stellungen  der  JMerkmale  betrachten 
sollen;  vollends  stocken  ihnen  die  Gedanken,  wenn  sie 
die  Vorstellung  eines  bekannten  Dinges  als  eutslanden 
aus  dessen  vielen  successiven  Wahrnehmungen,  und  dann 
noch  jede  Wahrnehmung,  die  eine  gewisse  Dauer  hafte, 
als  ein  Integral  ausehn  sollen,  dessen  Dilferential  die  mo- 
mentane Wahrnehmung  ist.  Kommen  nun  Eigenschaf- 
ten und  Verhältnisse  der  Dinge  an  die  Reihe,  so 
meinen  sie  dabey  bald  das  Ding,  bald  den  Raum,  bald 
die  Zeit,  bald  die  Verstandesbegriffe,  bald  das  Ich,  bald 
dies  Alles  zusammen  als  schon  vorhanden  annehmen  und 
voraussetzen  zu  müssen,  welches  die  richtige  psycholo- 
gische Ansicht  verdreht  und  verdirbt.  Daher  Einwürfe, 
an  deren  Widerlegung  man  die  Zeit  verlieren  würde. 
Schon  deshalb  ist  es  nothwendig,  die  Gewohnheiten  des 
angelernten  Kantianismus  in  ihrem  ursprünglichen  Sitze 
aufzusuchen.  Aber  auch  abgesehen  von  den  Ungeübten, 
kann  man  in  der  Erklärung  der  psychischen  Thatsachen 
uicht  umhin,  sich  auf  die  Zusammensetzungen  einzulas- 
sen; weil  bey  dem  ausgebildeten,  zur  Selbstbeobachtung 
fähigen  INIenschen  die  Vorstellungen  schon  längst  nicht 
mehr  einzeln  slehn  und  einzeln  wirken,  sondern  in  gan- 
zen Massen;  dergestalt,  dass  selbst  die  Betrachtung  der 
einzelnen  Massen  noch  als  elementarisch  erscheint  in  Ver- 


175 

glclcli  gegen  die  geistige  ThÜtlgkelt  im  Ganzen  genommen, 
welche  durchgeliends  von  melirern  Massen  zugleich  ab- 
hängt. INIau  wird  aber  kaum  irgend  eine  bequeme  Form 
der  Darstellung,  auch  nur  der  Construction  einer  einzel- 
nen Älasse  gewinnen  können,  wenn  man  sich  nicht  zu- 
erst an  die  Sprache  wendet.  Kann  man  irgendwo  die 
Gedankenbewegung,  die  von  den  Innern  Verbindungen 
der  Vorstellungsmasse  abhängt,  als  ein  Object  fassen,  und. 
vorlegen,  als  ob  es  ein  stehender  Gegenstand  wäre,  der 
sich  der  Beobachtung  unterwerfen  und  für  sie  still  hal- 
ten müsste, —  so  ist  es  hier.  Dazu  kommt,  dass  die 
Muttersprache  zu  den  bekanntesten  und  geläufigsten,  die 
fremden  Sprachen  zu  den  gesuchtesten,  zu  den  am  mei- 
sten studirlen  Gegenständen  gehören.  Ferner,  dass  die 
Sprachen  zu  den  ausgedehntesten,  reichhaltigsten  Syste- 
men von  Thatsachen  unter  allen,  die  sich  der  psycho- 
logischen Analyse  darbieten,  zu  rechnen  sind.  Daher 
gilt  hier  wieder,  was  schon  im  ersten  Hefte  bemei'kt 
wurde :  wo  ganze  Systeme  von  Thatsachen  auf  einmal 
vorliegen,  die  man  nicht  vereinzeln  kann,  da  muss  es 
sich  verrathen,  ob  die  Erklärungen  erkünstelt  sind,  oder 
sich  ungezwungen  auffinden  Hessen. 

In  einem  Hauptpuncte  freylich  stehen  die  Thatsachen 
der  Sprache  weit  zurück  hinter  denen,  welche  im  er- 
sten Hefte  den  Gegenstand  der  Untersuchung  ausmachten. 
Die  Spraclilehre  hat  nichts,  was  schon  nach  Zahl  und 
IMaass  bestimmt  wäre.  Dagegen  bot  uns  die  Tonlehre 
ihre  schon  abgemessenen  Intervalle  dar;  und  wiewohl 
die  vorgefundene  Abmessung  nicht  genau  richtig  war, 
—  da  man  sie  aus  dem  ganz  falschen  Princip,  Schall- 
wellen mit  Ton  -Vorstellungen  zu  verwechseln ,  abgelei- 
tet hatte, —  so  kam  doch  das  ästhetische  Unheil  zu  Hülfe, 


176 

lim  (las  In  jenen  Abmessungen  Verfehlte  zu  bericlitigen. 
F.benso  beyni  Zeilmaasse.  Bey  weitem  nicht  soviel  Ge- 
nauigkeit Irisst  sich  in  der  Auffassung  des  Factischen  er- 
reichen, Avenn  von  Conjnnctionen  und  vom  Satzbau  die 
Rede  ist.  Hinter  einer  reinen  oder  falschen  Quinte,  ei- 
ner Terze  und  Sexte,  einer  Secundc  und  Septime,  liegt 
der  psycliische  IMechanismus  lange  nicht  so  fern  und  so 
tief  verborgen  als  hinter  dem  Zwar  und  Doch ,  dem 
Entweder-Oder,  den  Partikeln  Jpa  und  ye.  Deshalb 
müssen  wir  dem  Leser  hier  etwas  Mehr  znmulhen  als 
dort,  wo  schon  die  Kenntniss  der  ersten  Elemente  hin- 
reichen konnte.  Hier,  bey  den  Conjunctioneu,  ist  auf 
den  analytischen  Theil  der  Psychologie  zu  verweisen; 
der  Ursprung  der  Pieihenformen  (Raum,  Zeit,  Zahl,  Grad 
U.S.W.)  wird  hier  als  bekannt  angesehen;  desgleichen 
der  Ursprung  der  Negation,  —  oder  wenn  nicht  als  be- 
kannt, danu  als  ein  Solches,  was  jeder  Einzelne  seiner 
künftigen  Untersuchung  vorbehalten  mag.  Denn  die 
Analyse  der  Conjunctioneu  führt  nicht  tiefer  als  bis  auf 
Reihenform,  Negation,  Gewissheit  und  Ungewissheit;  (un- 
ten 47).  Wem  noch  das  Zwischen  —  das  Charakteri- 
stische aller  Pveihenformen  —  ein  Räthsel  ist,  der  muss 
nicht  verlangen,  dass  man  ihm  das  fidv  und  rJV,  ja  auch 
nur  das  le  und  nal,  und  den  Unterschied  des  re  vom 
einfachen  d'i',  psychologisch  erkläre.  Wer  noch  nicht  ge- 
fragt hat,  wie  es  zugehn  möge,  dass  aus  der  kleinen  An- 
zahl der  Sprachlaute,  welche  das  Alphabet  anzeigt,  die 
W^orte  so  vieler  Sprachen  ihren  Stoff  hernehmen,  — 
dass  also  die  Bezeichnung  der  Gedanken  weit  mehr 
durch  die  Stellung  der  Si)rachlaute  in  den  Worten,  als 
durch  die  Laute  selbst  erreicht  wird ,  —  dass  eben  diese 
Stellung  schon  von  dem  Kinde  behalten  und  angeeignet 


177 

wird,  indem  es  die  Spraclie  lernt,  statt  deren  es  jede 
andere  Sprache  auch  hatte  lernen  können ,  —  dass  für 
die  unzähligen  Genossen  der  nämlichen  Spraclie  diese 
Stellung  unverriickt  bleibt,  während  die  mindeste  Ver- 
änderung auch  den  Sinn  der  Worte  verändern  kann, — 
dass  die  Yestigkeit  dieser  Stellung  sich  in  den  Sprach- 
wurzeln selbst  mitten  unter  den  Flexionen  und  Ablei- 
tungen behauptet :  wer  für  diese  erste  Bedingung  der 
Sprache  noch  keinen  psychologischen  Grund  verlangt  hat, 
der  ist  auf  dem  Standpunkte  unserer  Untersuchung  noch 
nicht  angelangt. 

Schon  hier  mag  eine  vorbereitende  Bemerkung  Platz 
finden,  für  welche  weiterhin  sich  keine  bequeme  Stelle 
darbieten  möchte.  Als  Sprach -Wurzellaute  betrachtet 
man  gewöhnlich  nur  die  Cousonauten,  da  die  Vocale 
sich  die  mannigfaltigsten  Abänderungen  gefallen  lassen. 
Allein  es  kommt  nicht  bloss  auf  die  Consonanten ,  auch 
nicht  bloss  auf  deren  Stellung  an.  Niemand  verwech- 
selt bald  und  Blatt;  obgleich  in  beyden  Worten,  da  der 
Unterschied  des  d  und  t  am  Ende  nicht  hörbar  ist,  nach 
Wegnahme  des  Vocals  nur  die  Laute  llt  in  gleicher  Stel- 
lung übrig  bleiben.  Dasselbe  zeigt  sich  in  den  W^orten 
gilt  und  glitt,  w^o  auch  nach  Wegnahme  des  Vocals,  in  glei- 
cher Stellung  nur  die  Laute  glt  übrig  bleiben.  Und  doch 
würde  man  eher  Geld  als  glitt  mit  gilt  verwechseln ;  imd 
eher  glitt  als  galt  mit  glatt;  keius  von  diesen  W^orten  aber 
mit  Geleit.  Eher  bey  etwas  unrichtiger  Aussprache  den 
Imperativ  gleite  mit  kleide.  Offenbar  kommt  ausser  der 
Stellung  noch  die  Distanz  der  Consonanten  in  Be- 
tracht. In  einem  Falle  liegt  das  /  näher  dem  t  oder  d; 
im  andern  das  l  näher  dem  g;  in  Geleit  ist  das  /  vom 
G  und  vom  t  gesondert.  Die  Distanz  hat  Einfluss  auf 
Heft  II.  M 


178 

die  Reproductions-Geselze,  welche  weiterhin  den  Haiipt- 
gegenstand  der  Betrachtung  ausmachen  werden.  Fürs 
erste  wollen  wir  nur  die  Thatsache:  dass  ein  anschei- 
nend so  geringer  Unterschied ,  wie  der  zwischen  geleiten, 
gleiten,  gelten,  doch  hinreicht,  um  durch  das  mehr  oder  we- 
niger Successive  der  Laute  g,  l,  i,  ganz  verschiedene  Be- 
griiFe  zu  bezeichnen:  mit  einer  andern,  schon  früher  be- 
leuchteten Thatsache  zusammenstellen,  nämlich  dass  der 
Unterschied  des  Successiven  vom  Simultanen  die  JMelodie 
von  der  Harmonie  trennt,  und  hiemit  sogar  ganz  ver- 
schiedene ästhetische  Urtheile  begründet.  Man  denke 
an  jene,  im  ersten  Hefte  gleich  Anfangs  erwähnte  Frage 
von  den  verbotenen  Quintengängen  zurück.  Unerlaubt 
ist,  eine  Stimme  von  /  zu  a  oder  as,  und  zugleich  die 
andere  Stimme  von  c  zu  e  oder  es  fortschreiten  zu 
lassen;  aber  der  Accord  face  oder  fasces,  welcher 
die  nämlichen  beyden  Quinten  simultan  in  sich  ent- 
hält, kommt  oft  genug  im  strengsten  Satze  vor.  Darum 
bezog  sich  unsere  Erklärung  der  verbotenen  Quinten  auf 
das,  was  sich  im  Übergänge  ereignet;  und  wird  sich 
hier  auf  die  Abstufung  in  der  Verschmelzung  beziehen. 
Analytische  Untersuchungen  müssen  einander  aushel- 
fen, und  zwar  dadurch,  dass  sie  von  verschiedenen  Sei- 
ten her  sich  in  der  Verstärkung  ihrer  gemeinsamen  syn- 
thetischen Grundlage  vereinigen.  Die  Tonlehre  dient  den 
ersten  Elementen  zur  Bestätigung;  aus  den  Elementen 
ergiebt  sich,  was  zur  Erklärung  der  Reihenform,  der 
Negation,  der  Gewissheit  und  Ungewissheit  nöthig  ist; 
die  Richtigkeit  dieser  Erklärung  wird  bestätigt  durch 
die  Sprachlehre.  Auf  diese  Weise  muss  man  fortschrei- 
ten; und  man  würde  es  leichter  als  jetzt  vermögen, 
wenn  nicht  Vorurtheile  —  alten  und  neuen  Ursprungs  — 


179 

im  Wege  ständen ,  die  wir  fürs  erste  umgehen,  weiter- 
hin zum  Theil  erwähnen  werden. 

1.  Die  Vorstellungen  P  und  77,  deren  Hemmungs- 
grad :=.  m,  seyen  mit  ihren  Piesten  /•  und  p  vei'sclimol- 
zen;  dann  beyde  aus  dem  Bewusstseyn  Yerschwunden. 
Jetzt  erhebe  sich  P.  Man  setzt  alle  Neben -Umstände 
bey  Seite,  und  fragt  bloss  nach  der  Reproduction  des  P, 
inwiefei'u  zugleich  g  durch  r  reproducirt  wird. 

Auch  ohne  Rechnung  ist  klar,  dass  mit  q  eine  wacli- 
sende  Hemmiingssumme  hervortritt,  die  zwar  Anfangs 
unbedeutend  (wenn  r,  g  und  m  nicht  gross  sind),  doch 
mehr  und  mehr  theilweise  der  Erhebung  des  P  selbst 
entgegenwirkt.  Sie  wird  die  Erhebungs-Grenze  des  P 
fortwährend  erniedrigen;  und  P  muss  mit  g  in  ein  sol- 
ches Gleichgewicht  treten,  wie  es  durch  die  gegebenen 
Grössen  bestimmt  wird. 

2.  In  wirklichen  Fällen  wird  P  nicht  bloss  mit  Ei- 
nem 77,  sondern  mit  vielen  verbunden  seyn;  es  wird 
dafür  viele  verschiedene  Reste  r  und  g  geben ,  und  die 
wachsende  Hemmungssumme  wird  von  ihnen  allen  zu- 
gleich ausgehn,  besonders  wenn  auch  noch  die  Jl  unter 
einander  entgegengesetzt  sind. 

3.  Nach  diesen  Vorerinnerungen  ist  das  Evolutions- 
Vermögen,  welches  der  Gesammt -Vorstellung  eines  Wor- 
tes zukommt,  näher  zu  überlegen.  Es  sey  das  Wort 
Hamburg;  und  wir  nehmen  an,  die  Vorstellung  der 
Stadt  sey  mit  allen  Buchstaben  in  diesem  Worte  gleich 
genau  verbunden  (wenn  auch  diese  vorausgesetzte  Gleich- 
heit weiterhin  einiger  Beschränkung  möchte  unterworfen 
werden).  Beyspiels weise  sey  nun  das  obige  P  hier  der 
Vocal  a,  und  77  der  Vocal  u.  Wenn  die  Vorstellung 
der  Stadt    den  Namen   hervorruft,    so   werden  a   und  u 

M2 


180 

gleichmässig  gehoben ,  und  würden  liiedurch  gleichzeitig 
ins  Bewusstseyn  treten.  Allein  der  Name  lieisst  nicht 
Hiimbarg  sondern  Hamburg;  mithin  war  a  sclion  im 
Sinken  begriffen,  als  u  hinzukam;  hingegen  u  war  un- 
gehemmt, als  von  a  nur  noch  ein  Rest  im  Bewusstseyu 
war;  diesem  Umstände  gemäss  sind  r  und  q  zu  bestim- 
men*). Während  r  nur  ein  Theil  von  a  ist,  muss 
dagegen  p  fast  dem  ganzen  u  gleich  geschätzt  werden; 
wenigstens  ist  hier  q'^t. 

Daraus  ergiebt  sich  sogleich  folgendes:  Sollte  dem 
Streben  des  P  vollständig  Geniige  geschehn,  so  miisste 
nicht  bloss  P  selbst,  sondern  auch  q  zur  Reproductiou 
vollständig  gelangen;  an  dem  letztem  wird  aber  desto 
mehr  fehlen,  je  geringer  /•  ist,  von  welchem  die  Re- 
production  des  q  abhängt.  Soll  andererseits  dem  Stre- 
ben des  77  genügt  werden ,  so  muss  mit  77  auch  r  ganz 
hervortreten;  dies  letztere  nun  kann  desto  leichter  ge- 
schehn, je  kleiner  /•,  und  je  grösser  q  ist.  Sieht  man 
also  auf  das  Ende  der  Reproductionen,  so  gelhigt  eine 
solche  dem  77  besser   als  dem  P. 

4.  Dieser  Umstand  ist  vollständiger  zu  überlegen ; 
er  gilt  nicht  bloss  denVocaleu,  sondern  auch  den  Cou- 
sonanten  eines  Wortes ;  er  gilt  allen  entgegengesetz- 
ten Gliedern  einer  Vorstellungsreihe.  Jedes  vorherge- 
hende Glied  strebt  die  sännntlichen  nachfolgenden  zu  re- 
prodnciren,  und  zwar  eben  so  weit,  als  sie  mit  ihm 
verschmolzen  waren.  Es  ist  aber  Mehr  von  ihnen  mit 
immer  geringern  Resten  des  vorhergehenden  verschmol- 

*)  In  dem  gegebenen  Bejspiele  sind  die  beyden  Vocale  durch 
zwey  Consonanlen  getrennt.  Ware  nur  ein  Consonant  dazwischen, 
so  wäre  r  grösser;  ständen  drey  oder  mehr  Consonanlen  dazwi- 
schen ,  so  wäre  r  kleiner. 


181 

zen  ^  als  imigekelirt  ein  uaclifolgendes  Glied,  du  es  noch 
fast  ungehemmt  eintrat,  von  den  schon  sinkenden  vor- 
liergehenden  in  sich  aufnahm.  Sieht  man  nun  auf  das 
zu  reproducirende  Quantum,  so  sollte  das  vorhergehende 
Glied  beynahe  die  ganze  Summe  der  nachfolgenden  ins 
Bewnsstseyn  erheben;  hingegen  das  nachfolgende  hat  nur 
die  abgestuften  Reste  des  vorigen  zurückzurufen.  Sieht 
man  auf  die  Kraft:  so  wirkt  das  vorhergehende  nur  nut 
seinen  abnehmenden  Resten  auf  die  folgenden,  und  die 
Abnahme  der  Reste  richtet  sich  nach  dem  Abstände  der 
weiter  und  weiterhin  folgenden;  hingegen  das  spätere 
Glied  der  Reihe  hat  mit  seiner  ganzen  Starke  die  Reste, 
die  es  beym  Eintreten  vorfand,  sich  angeeignet,  kann 
also  auch  mit  seiner  ganzen  Starke  (abgesehn  von  der 
Beschränkung  durch  die  Hemmiuigsgrade,  die  auf  bey- 
den  Seiten  die  Verbindung  schwächen)  zur  Reproduction 
wirken.  Das  Ende  der  Reproduction  fällt  demnach  so 
aus,  dass  dem  Streben  des  Nachfolgenden  mehr  Erfolg, 
dem  Streben  des  Vorhergehenden  weniger  Erfolg  ent- 
sprechen wird. 

5.  Anders  verhält  eichs  mit  dem  Anfange  der  Re- 
production. Wenn  mit  dem  ganzen  77  der  Rest  r  ver- 
bunden ist,  so  muss  77,  falls  es  aus  einem  gehemmten 
Zustande  eben  jetzt  erst  wieder  hervortrit,  für  jeden 
Grad  seiner  eignen  Reproduction  auch  eine  proportio- 
nale Reproduction  des  r  anstreben.  Hinwiederum,  wenn 
mit  dem  Reste  r  das  ganze  IT  verbunden  ist,  so  ist  zwar 
/•  nur  ein  Theil  von  P;  und  P,  falls  es  aus  einem  ge- 
hemmten Zustande  liei'vortrit ,  wirkt  für  jeden  Gi-ad  sei- 
ner eigenen  Reproduction  nur  in  dem  Verhältnisse  r :  P 
dahin,  dass  auch  77,  aber  dieses  ganz,  wieder  hervor- 
trete.     Wenn    nun    auch   nicht   das  ganze  77,    sondern 


182 

dessen  Rest  q  mit  r  Yerbunilen  Ist,  so  bleiben  wir  doch 
bey  der  obigen  Voraussetzung,  dass  g'^r;  so  dass  Tl  der 
höchste  Werth  ist,  welchen  man  dem  q  beylegen  kann. 
Der  Anfang  der  Reproduction  ist  das,  was  wir  nun  ge- 
nauer zu  entwickeln  haben. 

6.  Da  hier  die  reproducirende  Kraft  als  wachsend 
soll  betrachtet  werden,  müssen  wir  die  sonst  gebrauchte 
Bezeichnung  um  etwas  abändern. 

Derjenige  Rest  von  P,  -welcher  mit  dem  Reste  q  von 
n  verschmolzen  ist ,  soll  jetzt  nicht  mehr  mit  r,  son- 
dern mit  R  bezeichnet  werden.  Aber  auch  der  Buch- 
stabe Q  muss  jetzt,  wie  /•,  eine  veränderliche  Grösse 
bedeuten;  daher  wollen  wir  den  constanten  Rest  von 
77,  welcher  sonst  g  hiess,  für  jetzt  mit  dem  griechischen 
P    benennen.      Denniach    ist    die    Verschmelzungshülfe 

für    P   nicht    mehr   nüt  -^  zu  bezeichnen,  sondern  mit 

n 

——.     Wenn    R   gleich    Anfangs    im  Bewusslseyn  wäre, 

und  unveräudei't  Stand  lüelte,  so  müsste  die  bekannte 
Formel  für  do)  so   geschrieben  werden: 

-— :  (  P — to)  dt=.d(a 

Auch  ist  das  eben  erwähnte  Verhällniss  nicht,  wie 
zuvor,  durch  /•  :  P,  sondern  durch  RxP  auszudrücken. 

Es  ist  nun  zwar  nicht  nöthig",  das  Gesetz  zu  bestim- 
men,  wonach  P  reproducirt  wird;  allein  soviel  sieht 
man,  dass  diese  Reproduction  nicht  ganz  frey  seyn  kann 
(als    ob    plötzlich    alle   Hemmung    für   P    verschwunden 

RP 
wäre);  denn  alsdann  wäre  Anfangs  dm  =z    — -  dt,  in- 
dem auch  die  Hülfe  frey  wirken  würde.     Unsre  jetzige 


183 

Meinung  ist  aber,  dass  ihre  Wirkung  nur  in  Folge  des 
allniälilig  hervortretenden  R  geschehe.  Denuiacli  niuss 
auch  P  nur  alhnählig  freyen  Raum  bekommen.  Man 
weiss,  dass  in  solchem  Falle  der  Anfang  des  Ilervor- 
tretens  dem  Quadrate  der  Zeit  proportional    ist*). 

Die  wachsende  Freyheit  des  Hervorlretens  ziz  x 
kann  alsdann  bekanntlich  für  den  Anfang  als  der 
Zeit  proportional  angesehen  werden;  also  x  :^z  nf,  wo 
n  unbestimmt  bleibt,  und  von  den  Umständen  abhängen 
mag;  t  ist  hier  als  das  erste  Glied  von  1 — e~^  zu  belrach- 

ten ;   oder  vielmehr  von  — (1 — e     ^)    wo  q   ein    achler 

Bruch  ist,  und  oft  ein  kleiner  Bruch  seyn  kann.  In 
dem  Maasse,  wie  diese  Freyheit  wächst,  wirkt  P  zu 
seinem  eignen  Hervortreten  mit  der  ganzen  Stärke  seines 
noch  gehemmten  Theils '■''*) ;  aber  nur  in  dem  vorerwähn- 
ten Verhältnisse  R  :  P,  um  den  noch  gehenmiten  Theil 
von   'P    zu    reproduciren.      Heisst    nun    das    wirksame 

r 
Quantum  von  P  jetzt  ;•,  so  ist  /•  zzz  Pnt,  und  anstatt  — 

(o  —  oj)  dlzzzdo)  haben  wir 

— . (P  —  Ol)  dt  zzz  dvi 

p    n  ^        ^ 

oder  —-ntdt  =:::  ^ 


n  p—Vi 

woraus  w=:  /' l  1 — e     -  IL      ) 

Dieser  Werth  von  w  entspriclit,  der  Form  nach, 
dem  Werthe  für  die  sich  selbst  reproducireude  Vor- 
stellung /i,  nämlich 

•)  S.  160  —  162    (los    ersten    Hefts;    wo   man    Y  =  o    setzen 
kann,   wie  wir  es  hier  für  t  =  o  voraussetzen. 

")  A.  a.  O.  mit  der  Stärke  h    —   Y. 


184 

y  —  h  (1— e  ^  ) 
^venn  h  anstatt  P,  und  F=  o  (a.  a.  0.)  gesetzt  wird, 
■woraus  man  scliHessen  mag,  dass  auch  wenn  nicht  bloss 
obenhin  xzr^iit  genommen,  sondern  der  freye  Raum  ge- 
nauer bestimmt  würde,  die  Pieproduction  durch  Ver- 
schmelzung ähnlich  der  Art,  wie  P  sich  selbst  reprodu- 
cirt,  ausfallen  müsste;  wie  dies  ohnehin  zu  erwarten 
ist.  Indessen  liegt  immer  noch  eine  bedeutende  jNlodi- 
fication  im  Exponenten,  welcher  von  P».  und  77  abhängt. 

Man  bemerke,  dass  r  hier  nicht  der  wirklich  her- 
vorgetretene Theil  von  P,  sondern  grösser  ist;  indem 
das  Hervortreten  allemal  hiutoi'  der  gegebenen  Freyhelt 
zurückbleibt. 

Es  kann  aber  nur  für  den  Anfang  xr=znt  genommen 
werden;  daher  man  nicht  eine  so  schnelle  Annäherung 
an  die  Erhebungsgränze,  wie  die  Formel  anzeigt,  fort- 
wahrend erwarten  darf. 

7.  Wir  haben  bisher  P  als  die  reproducirende  Voi'- 
stellung  betrachtet.  Es  sey  nun  umgekehrt  77  die  re- 
producirende; und  10  derjenige  Theil  von  P,  welcher 
durch  'P,  insofern  es  zur  freyen  Wiiksamkeit  gelangt, 
soll  reproducirt  werden.  Um  die  Umstände  gleich  an- 
zunehmen, soll  wiederum  die  wachsende  Freyheit  a;n://f 

seyn.     Anstatt    der  Formel  ^  (/•  —  w')    dt  =::  dm    haben 

wir   nun,    da   q^=z  fjnt   seyn    muss,    vuid    dessen  Wirk- 
samkeit durch  das  Yerhältniss  'P  :  TT  beschiänkt  wird; 

'p  rint  . 

'^r  .  — 7j-   {R  —  w)  dlz:::zdvi) 

woraus  0}=:zR  il — e     '  ^      j 

8.  Unsre    Absicht    ging    dahin,    (5)  den  Anfang  der 


185 

beyden  Rcproduclionen  zu  vergleiclien.     Löset  man  luui 
w  und  10    in  eine  Reihe  auf,  so  ist 

von  w  das  Aufanasclied  n^ 'P  .  i — fi 


von  v)    das  Anfangsglied  m:  R  .  }f  -7-.  {^ 


'Pn 

also  beyde  sind  für  HzzzP  gleich;  und  im  Bisherigen 
ist  noch  kein  Grund  zu  erkennen ,  \YeslialI)  die  Repro- 
duction  des  einen  oder  des  andern  frülier  beginnen 
sollte ;  besonders  da  ein  Glied  mit  i^  nicht  vorkommen 
kann,  indem  das  zweyte  Glied  schon  t'^  enthält.  Würde 
man  o;  genauer  bestimmen,  so  käme  zwar  ein  Glied  mit 
t^  zum  Vorschein;  aber  es  könnte  nur  unbedeutend  ge- 
ring ausfallen,  so  lange  %—int  eine  hinreichende  Annä- 
herung gewährt.  Daraus  folgt  nun,  dass  man  die  Be- 
trachtung erweitern  muss.  Ohnehin  liegt  am  Tage,  dass 
weder  P  noch  77,  falls  keine  andre  Bestimmung  hinzu- 
kommt, auf  die  Verschmelzungshülfe  warten  könne. 
Oben  (3)  ist  angenommen  worden,  dass  beyde  gleich- 
massig  gehoben  werden.  Welches  nun  auch  das  Gesetz 
der  Erhebung  seyn  möge,  die  Hülfen,  die  sie  einander 
gegenseitig  leisten  können ,  sind  immer  nur  in  so  fern 
zur  Wirksamkeit  geeignet,  als  sie  selbst  schon  von  der 
Hemmung  Irey  gemacht  wurden,  welcher  sie  bis  dahin 
unterlagen. 

9.  W^ähreud  P  und  Tl  zugleich  freyen  Raum  be- 
kommen ,  entsteht  unter  ihnen  beym  Steigen  eine  Hem- 
muugssumme;  und  zwar  schleunig  wachsend,  indem 
beyde  sich  gemäss  dem  Quadrate  der  Zeit  erheben.  Da- 
durch wird  nicht  der  gegebene  freye  Raum  vermindert, 
aber  das  wirkliche  Hervortreten  muss  sehr  bald  eine 
Vci'zögeruns  erleiden.     So  können  nicht   bloss  die  Hül- 


186 

fen  Zelt  gewinnen,  um  zum  Mitwirken  zu  gelangen, 
sondern  nun  kommt  es  auch  noch  darauf  an,  welche 
von  den  Hülfen  mehr  oder  "weniger  geeignet  sey,  den 
Widerstand  zu  überwinden.  Ob  nun  dieser  Wider- 
stand bloss  von  der  Hemmungssumme,  oder  wovon 
sonst  herrühren  möge:  wir  wollen  ihn  mit  a  bezeich- 
nen. Unter  den  Vorstellungen  P  und  77  ist  hier  der 
oben  bemerkte  Untei'schied ,  (4)  welcher  aus  R  <^  ' P 
folgt.  Das  kleinere  R  soll  dem  grössern  ^P,  das  grös- 
sere 'P  dem  kleinern  R  zur  Reproduction  Hülfe  leisten. 
Findet  die  zwiefaclie  Pxeproduction  Widerstand:  so 
trifft  derselbe  mehr  das  grössere  ' P,  minder  das  kleinere 
R.  Also  wenn  der  Formel  für  doi  und  do)  ein  negati- 
ves Glied  wegen  «  beyzufügen  ist,  so  kann  man  es  für 

do)  durch  - — -  u,  hingegen  für  du)  durch  ,—  a  ausdrü- 
cken; indem  die  Verminderung  des  Wachsens  (also  des 
du)  und  dl»')  desto  mehr  beträgt,  je  geringer  die 
Kraft  im  Verhältniss  dessen  was  durch  sie 
geschehen  soll,  librigens  muss  w  als  Factor  hinzu- 
kommen, weil,  je  grösser  es  schon  ist,  desto  mehr  sein 
W^achsen    Widerstand    erleidet.       Demnach    ist    in    der 

'P 

Formel  für  doi  noch  das   Glied  —   —   «wt//,  für  dw  nocli 

—  , —  ao)dl  beyzufügen.     Also 

- — --  tdt  —  "„-  midi  —  —  UV. dt  =z  dca 
ff  77  R 

unu  — ——  tdt  —     ,^    V)  tdt  —  - — ■  «tu  dt  =  dm 


P  P  'P 

10.  Für  den  jetzigen  Gebrauch  lassen  sich  diese 
Formeln  abkürzen.  Bekannt  ist,  dass  die  Ueihe  für  w 
mit  einem  Gliede    anfangen    muss,    worin  /^  vorkommt. 


187 

Ein  solches  cnlsl(>lü  aus  idi]  tlagegcn  aus  v.dt  ein  Glied 
niil  /^,  aus  o)idf  ein  Glied  mit  t"^  durch  die  Inlcgration 
hervorgehn  muss.  Das  letztere  kann  vernachlässigt 
werden,  da  nur  kleine  Werllie  von  i  beabsichtigt  sind. 
Beyde  Formeln  bekommen  alsdann  die   Gestalt 

hidt  —  cvull  =  du) 
und  hieraus  durch  Integration 

das  heisst  w  r::   t  1^  —  h  uO  -\-  ... 

,      ,         ,  'PnR  „  n7l2 

und  w  =  -h  —jj—  V-  —  \  —73-  ut^  -\-  ... 

11.  Unter  der  Voraussetzung  P  ^n  11  erleidet  dem- 
nach b)  weniger,  hingegen  w  mehr  Abzug  in  Folge  des 
Widerstandes  a\  also  c/  ^  w;  das  heisst,  P  empfangt 
Anfangs  mehr  Hülfe  von  //  als  es  ihm  leistet,  liiemit 
ist  das  frühere  Hervortreten  des  P  entschie- 
den; und  das  um  so  mehr,  da  die  Glieder,  welche  den 
Unterschied  in  sich  tragen,  nicht  vom  einfachen  Ver- 
hältnisse ' P  :  Fl,  sondern  vom  quadratischen  ' P"^  :  B?- 
abhängen. 

Was  die  Zeit  anlangt:  so  kommt  es  hier  darauf 
an,  wie  weit  man  1  — e~  annäherungsweise  durch 
das  blosse  t  darstellen  kann.  In  der  Abhandlung  über 
die  ursprüngliche  Auffassung  des  Zeitmaasses  *)  ist  be- 
merkt, dass  für  t  =z  ^  der  Fehler  noch  nicht  gross, 
und  bis  etwa  f^z^  noch  eine  leidliche  Schätzung  ge- 
stattet ist;  auch  dass  t=:z\  für  ungefähr  zwey  Secun- 
den  kann  genonunen  werden.     Nun  ist  zwar  die  Länge 

«)  Erstes  Heft,  S.  174. 


188 

der  Sylbeu  eben  sowohl  als  Geschwindigkeit  des  Spre- 
chens sehr  verschieden;  da  man  jedoch  allemal  auf  eine 
Secunde  mehrere  Sylben  rechnen  kann,  so  bedarf  es 
gewiss  keiner  gar  zu  langen  Zeit,  damit  beym  Sprechen- 
Lernen  die  Verschmelzung  der  einzelnen  Sprachlaule 
sich  bilde ,  und  ^viederum  damit  beym  Gebrauch  der 
Sprache  die  Keproduction  sich  nach  der  Stellung,  und 
selbst  nach  der  Distanz  der  Buchstaben  (wie  in  bald 
und  Blatt)  gehörig  entwickele. 

12.  Ganz  kurz  nuiss  hier  nun  noch  an  einen  wich- 
tigen Umstand  erinnert  werden.  Wir  haben  vorhin 
x-=.nt  gesetzt.  Dies  hangt  ab  von  der  Voraussetzung, 
dass  die  Hemmungssumme,  welche  freyen  Raum  schallt, 
(6)  momentan  entstehe.  Eine  solche  Annahme  ist  die 
einfachste,  und  in  der  angeführten  Abhandlung  über 
das  Zeitmaass  war  sie  die  passendste,  weil  die  Tact- 
schläge  wo  möglich  momentan  seyn  sollen ,  indem  sie 
für  sich  keine  Dauer  haben,  sondern  das  Dauernde  ab- 
zutheilen  bestimmt  sind.  Obgleich  nun  die  Hemmungs- 
summe momentan  entsteht,  (man  vergleiche  im  ersten 
Hefte,  S.  159,  die  Worte:  es  entsteht  durch  Ä2 
eine  neue  Hemmungssumme,)  so  sinkt  sie  den- 
noch succcssiv,  und  zwar  Anfangs  nahe  proportional  der 
Zeit;  daher  ot^^^nt.  Allein  dies  verhalt  sich  anders, 
sobald  die  Hemmimg  der  eben  vorhandeOen  Vorstellun- 
gen durch  eine  solche  neue  Wahrnehmung  bewirkt  ist, 
welche  niclit  als  momentan  kann  betrachtet  wei'den, 
sondern  eine  merkliche  Zeit  verbraucht.  Im  Grunde 
geschieht  es  so  bey  jeder  sinnlichen  Wahrnehmung, 
selbst  bey  denen  des  Gehörs,  obgleich  hörbare  Tact- 
schliige  sich  noch  am  ersten  als  momentan  betrachten 
lassen.     INinunt  man  nun  Ilücksicht    auf  die  Dauer  ei- 


189 

ner  Wahrnehmung,  so  ist  die  daraus  entstellende  Hem- 
mungssunime  eine  waclisende  oder  überhaupt  eine  ver- 
änderliche Grösse.  Gesetzt  (um  das  Einfachste  anzu- 
nehmen), die  Empfindung  behalte  während  ihrer  Dauer 
einerley  Starke  z=z  ß,  so  entsteht  daraus  ein  Vorstellen 

rr:  2  r=  y  (1  —  e~  ^'  ),  wo  (p  die  Empfänglichkeit  be- 
deutet, und  hieraus,  wenn  man  durch  7^  den  Grad  des 
Gegensalzes  gegen  die  vorhandenen  Vorstellungen  an- 
deutet, eine  Hemmungssumme 

_  ijßrp    (  _^j^  _A 

V^=- \e.     '     — e        I 

1—/!?   V  / 

nämlich  wenn  v  =  für  <  ziz:  o.  Das  augenblickliche  Sin- 
ken dieser  Hemmungssumme  ;::::  rät  ergiebt  das  Gesun- 
kene nach  Verlauf  der  Zeit  /, 

In  eine  Reihe  aufgelöset  enthält  dieser  Ausdruck 
keine  Constante,  auch  nichts  in  der  ersten  Potenz;  son- 
dern die  Reihe  beginnt  mit  ^  y  ß'^  t"^.  Über  dies  Alles 
mag  die  vollständigere  Auseinandersetzung  am  gehörigen 
Orte*)    verglichen  werden;    hier  brauchen  wir  nur  das 

•)  Psychologie  §.  94,  95,  und  97.  Im  §.  97  bat  man  statt 
fudt  —  az  —  bz^  —  y  T-M  setzen  {fvdt  —  az  —  bz^)  (h — j ) 
in  Folge  der  Beiichligung,  welche  im  ersten  Hefte  dieser  Unter- 
suchungen   S.  160  gegeben    worden.       Auch    mag    noch    bemerkt 

werden,    dass    wegen  a  =  —  nicht    völlig  5  =  o  anzunehmen, 

und  von  den  schon  berechneten  Werthen  von  Z  nur  einer  in 
Gebrauch  zu  ziehen  ist,  um  b  zu  bestimmen.  Dies  reicht  aber 
auch  hin,  da  nur  für  den  Anfang  der  Zeit,  oder  für  sehr  kurze 
Zeiten,  die  Rechnung  gelten  soll;  überdies  ist  5  genau  genommen 
niemals  vollkommen  =:  o,  wie  dies  §.  95  der  Psychologie  schon 
erinnert  worden,  und  ein  geringer  Werlh  von  ä  kann  als  zurei- 
chend betrachtet  werden. 


190 

Resultat  In  Anseliung   des  freyen  Raums,  welcher  durch 
die   sinkende  Hemmungssuninie  gesclialft  wird. 

]Mag  eine  neue  Wahrnehmung,  (oder  irgend  ein 
andrer  Grund)  gl  eich  massig  anhaltend  diejenige 
Hemmung  herbeiführen,  welcher  nachgebend  die  vor- 
handenen Vorstellungen  entweichen ,  so  dass  die  ältere, 
der  neuen  Walnuiehmung  gleichartige  (oder  irgend  wel- 
chem Grunde  der  Reproductiou  entsprechende) ,  nun 
Freyheit  zum  Hervortreten  gewinnt :  diese  Freyheit 
richtet  sich  immer  nach  dem  Entweichen  des  Hinder- 
nisses, das  heisst,  nach  dem  Sinken  der  Hemmungs- 
sunime;  und  wächst  folglich  gemäss  dem  Quadrat  der 
Zeit,  wofern  dies  Sinken  in  solcher  Art  fortschreitet. 
Daher  müssen  wir,  falls  die  Hemmungssumme  nicht 
momentan  entsteht,  sondern  auf  die  vorbeschriebene 
Weise  zugleich  anwächst  und  sinkt,  das  obige  x  nicht 
mehr  zzz  nt ,  sondern  x  rr  nt'^  setzen ;  und  hiernach 
die  Rechnung  verändern. 

Hiemit  wird  r  =  Pnfi,  und  eben  so   ^  rr  77«/'^.    Fer- 
ner giebt 

——  [  P  —  w)  dt=do) 

,       /  1 /  s\ 

nunmehr  wrzrPM  —  e     ^77      1 

'Pni'2 
vuul  eben  so  (R  —  w')  dt  =::  doj 

giebt  oj  =R\t  —  e~^  p  '^J 

Desgleichen  t'^dt i'^ohU aiodt  =  dta 

°  n  n  R 

,   'PriR    ^            'Pn    ,   ,  ,  R        ,  , 

und  — — -  t'^dl — -  t^oi  dl  —  ,—  aw  dt  =  du) 


101 

können  jetzt,  da  nocli  mehr  als  vorhin  zur  Weglassung 
des  Gliedes  mit  /  und  (o,  Grund  \urlianden  ist,  abge- 
kiirzt  durch 

ht'^dt  —  co.dt  m  du) 
ausgedrückt  werden,  ^voraus  sich  ergiebt 

w  =   _ .  (c2z2  _  2ct  4-  2  —  2e~  "^'j 

RnP  'P 

das  heisst   w  =   "^Tn"  (^^  —  i  "^  ut"^  -^  . . .) 
oll  Jri 

und  oj    r=  -^--  (^3  _  ^  _  «i+-f  .  . .) 

]Man  -wird  \vohl  nicht  zweifeln ,  dass  In  Ansehung 
des  schleunigen  Ilervorspringens  reproducirter  Vorstel- 
lungen, diese  Formeln  der  Erfahrung  noch  besser  ent- 
sprechen als  die  vorigen.  Auch  die  Wirkung  des  Wi- 
derstandes, worauf  es  uns  hier  hauptsächlich  ankommt, 
zeigt  sich  noch  mehr  beschleunigt. 

13.  In  Bezug  auf  das  obige  Beyspiel  (in  3)  könnte 
man  sich  nun  so  ausdrücken:  Wenn  wir  an  die  Stadt 
Hamburg  denken,  und  hiemit  uns  des  Namens  erinnern, 
so  mag  immerhin  das  a  und  das  u  gleich  genau  mit 
dem  Gedanken  der  Stadt  selbst  verbunden  seyn;  es 
mögen  auch  die  Umstände,  dass  dem  a  mehr  vom  u 
inwohut,  aber  schwächer,  hingegen  dem  u  weniger  vom 
a,  jedoch  vollständiger,  verschmolzen  ist,  einander  ge- 
genseitig compensiren;  (daher  in  8  noch  kein  Unter- 
schied zum  Vorschein  kam):  dennoch  wird  das  a  seinen 
Vortritt  vor  dem  u  behalten,  weil  es  von  diesem  nach- 
drücklicher gegen  den  Widerstand  unterstützt  wird, 
als  es  seinerseits  dem  u  zu  Hülfe  kommen  kann  (11). 
Dasselbe  Verhältuiss ,  wie  hier ,  ist  zwischen  jedem 


192 

vorhergelieuden  untl  allen  seinen  nachfolgenden  Gliedern, 
desgleichen  zwischen  jedem  nachfolgenden  und  allen 
seinen  vorhergehenden  Gliedern  einer  Reihe. 

14.  Fasst  man  aber  die  Sache  allgemeiner,  so  ist 
nicht  zu  übersehen,  dass  jede  Hülfe  nur  bis  zum  Ver- 
hindungspuncte  wirkt.  Hebt  sich  eins  der  vorhergehen- 
den Glieder,  so  wii'd  es  von  der  Hülfe  der  hintersten 
Glieder  bald  verlassen ,  nämlich  sobald  es  den  Verbin- 
dungspnnct  übersteigt,  welcher  bestimmt  wurde  als  die 
Reihe  sich  bildete.  Damals  konnte  mit  dem  hintersten 
nur  noch  der  geringste  Rest  des  vorhergehenden  ver- 
schmelzen. Ein  grösserer  Rest  verband  sich  mit  jedem 
näher  stehenden  unter  den  nachfolgenden  Gliedern.  Die 
gesammte  Hülle  läuft  demnach  in  so  fern  von  hinten 
nach  vorn,  als  die  minder  entferntem  länger  mitwirken 
können. 

15.  Wir  haben  angenommen,  die  Hauptreproductlon, 
welche  von  dem  Gedanken  zu  dem  Namen  geht,  sey 
vollkommen  gleichförmig  (3).  Ganz  streng  richtig  kann 
dies  nicht  seyn ,  da  die  ersten  Buchstaben  noch  vor  der 
Hemmung  durch  die  folgenden  mit  dem  Gedanken  com- 
plicirt  wurden.  Im  Beyspiele  war  die  Sylbe  Harn  früher 
mit  der  Vorstellung  der  Stadt  verbunden,  ehe  die  andre 
Sylbe  Burg  dazu  kam.  Hingegen  die  folgenden  Glieder 
der  Reihe  —  hier  die  Laute  der  zweiten  Sylbe,  — 
wurden  vernommen,  indem  die  vorigen  schon  hem- 
mend einwirkten ,  und  die  Complication  des  Gedan- 
kens mit  dem  Namen  um  etwas  verminderten.  Wenn 
nun  ein  solcher  Unterschied  nicht  als  völlig  un- 
bedeutend zu  vernachlässigen  ist  (welches  jedoch 
allermeistens  der  Fall  seyn  möchte,):  so  liegt  schon 
in    der    Haupt -Reproducliou    ein   Grund,    weshalb  der 


193 

Name  vom  Anfangs- Buchstabeu  ausgehend  ins  ßewussl- 
seyn  trit. 

16.  Wenn  dagegen  die  Haupt-Reproduction  nicht  von 
einer  ganz  oder  doch  beynahe  gleichmässigen  Coniplicalion 
des  Gedankens  und  des  Namens  bestimmt  wird :  so  ist 
ein  Streit  zwischen  ihr  und  jenen  partialen  Reproductio- 
neu  der  einzelnen  Buchstaben  unter  einander  leicht  mög- 
lich. Alle  diese  partialen  Reproductionen  zusammen 
wollen  wir  die  innere  Reproductiou  nennen.  Diese  ist 
wenig  verschieden  bey  den  Namen  Hamburg,  Homburg, 
Homberg,  Amberg  u.s.w.  Daher  werden  geringe  Ne- 
ben-Umstände  Anlass  zu  Verwechselungen  geben  können, 
wenn  nicht  die  Haupt-Reproduclion  durch  eine  slarke 
Complication  gesichert  ist. 

17.  Den  Namen  einer  Stadt  haben  wir  als  Beyspiel 
eines  Worts  in  Bezug  auf  den  dadurch  bezeichneten  Ge- 
danken gewählt.  Bey  kurzen  Worten  wird  der  Lauf  des 
Denkens  nicht  merklich  durch  Reproductiou  der  Worte 
aufgehalten;  hingegen  lästig  wäre  jenes  bekannte  Distichon 

conturlahaniur  Constantinüpolitani 

innumerahilibus  soUicitudinibus 
schon  weil  der  Gedanke  der  bedrängten  Stadt  nicht  leicht 
so  lange  unentwickelt  still  hält  als  der  Ausdruck  fodert, 
auch  wenn  die  Verse  ilu-en  Rhythmus  nicht  so  unbehol- 
fen fühlbar  machten.  Die  innern  Reproductionen  müs- 
sen zu  Stande  kommen  während  der  Zeit,  die  ihnen 
der  Gedaukeulluss  willig  zugesteht.  Man  wird  übrigens 
von  solchen  überlangen  Worten  beym  Lesen  weit  weni- 
ger gestört  als  beym  Hören,  weil  beym  Lesen,  welches 
schneller  geht,  nur  eine  höchst  geringe  Evolution  der 
Reihe  von  Sylben  und  Buclistaben  nöthig  ist,  um  den 
Gedanken   zu  erkennen. 

Hefi  II.  N 


194 

18.  Ferner  sind  Worte  überhaupt  als  Beyspiele  für 
solche  Picproductloneu  zu  betrachten,  da  mit  Erhebung 
Eines  Gedankens  eine  Vorstellungsreihe  sich  evolvireu 
muss.  Andre  Beyspiele  würden  mancherley  Fertigkeiten 
liefern  können ,  in  deren  Ausübung  kaum  eine  Succession 
bemerkt  wird,  z.B.  das  Anziehen  oder  Ablegen  eines 
Kleidungsstückes,  nachdem  die  nöthigen  Handgriffe  so 
geläufig  wurden,  dass  man  ihre  Folge  kaum  noch  ge- 
wahr wird. 

19.  In  den  bisher  betrachteten  Fällen  ist  die  Re- 
production  wesentlich  der  besimmteu  Form  einer  Reihe 
unterworfen.  Sie  bleibt  es  noch,  wenn  wir,  zurückkeh- 
rend zu  Worten  und  Namen,  die  benannten  Gegenstände 
als  eine  Reihe  beti-achten.  Wer  etwa  die  sieben  römi- 
schen Könige  nach  ihrer  Folge  hersagen  will,  der  ent- 
wickelt eine  Reihe  von  Personen  so,  dass  bey  jeder  ein- 
zelnen Person  der  Gedanke  zugleich  die  Evolution  der 
Buchstabenreihe  fodert,  welche  in  jedem  Namen  liegt. 
Die  Haupt -Reproduction  aber  geht  hier  von  dem  Be- 
griffe der  römischen  Könige  aus;  und  in  Beyspielen  wie 
dieses  wird  es  schon  merklich,  dass  eine  genaue  Gleich- 
mässigkeit  der  Complication ,  welche  zum  Grunde  liegt, 
nicht  immer  darf  erwartet  werden.  Man  denkt  wohl 
eher  an  den  Servius  TuUius  als  au  den  Tullus  Hostilius, 
eher  an  den  Tarquinius  Superbus  als  an  den  Ancus  IVIar- 
cius;  und  man  darf  sich  nicht  zu  sehr  in  das  Eigene  ei- 
nes Jeden  vertiefen,  wenn  die  Reihe  als  solche  hervor- 
treten soll. 

20.  Was  an  solchen  Reihen  zu  beachten  am  nöthig- 
stcn  ist,  das  wollen  wir  mit  dem  Ausdrucke  specifi- 
sche  Schwere  bezeichnen.  Nämlich  jedes  Glied  dei'- 
selben  besteht  selbst   aus  entgegengesetzten  Gliedern ;  in 


193 

diesen  liegt  eine  Hemmini^ssiimnic,  die  bey  der  Repro- 
duction  allmäldig  liervorlrelend  anfangs  mehr  die  hintern, 
sjfater  mehr  die  vordem  Theile  drückt,  im  Ganzen  aber 
auch  der  Ilaupt-lleproduclion  entgegenwirkt,  und  von 
jeder  zufällig  gerade  vorhandenen  Hemmung  muss  imtcr- 
schieden  werden. 

Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  hiebey  ein  Maximum 
der  Gegenwirkung  vorkommen  muss.  Denn  Anfangs  er- 
heben sich  die  vordem  Tlielle,  gegen  den  Widerstand  un- 
terstützt durch  die  hintern;  dann  treten  mehr  und  mehr 
die  länger  anhaltenden  Geschwindigkeiten  der  Reste  je- 
ner vordem  Theile  hervor,  wodurch  die  hintern  gehoben 
werden  (nach  der  frühern  Abhandlung*)),  je  mehr  aber 
die  hintern  gewinnen,  desto  geringer  wird  das  Quantum 
dessen,  was  von  den  vordem  bis  zu  deren  Verschmel- 
zungspuncten  im  Bewusstseyn  zu  halten  ist  (nach  4.). 
Die  Hemmungssumme,  welche  zuvor  im  Wachsen  begrif- 
fen war,  vermindert  sich  demnach,  indem  ihr  zufolge 
die  vordem  Theile  wirklich  sinken.  So  geschieht  es  in 
jedem  einzelnen  Gliede  der  Hauptreihe.  In  dem  Bey- 
SjDiele  jenes  Distichons  (17)  liegt  eine  solche  Hebung  und 
Senkung,  also  ein  INIaximum,  zunächst  in  dem  Worte  coii^ 
fui-babanluj",  dann  eine  zweyte  Hebung  und  Senkung  in 
dem:  Constaniinopülitani;  u.s.  f.  Der  Gedanke,  welcher  sich 
in  dem  Distichon  ausspricht,  muss  demnach  umgekehrt 
bey  der  Repi'oduction  jedes  einzelnen  Wortes  eine  Hem- 
mung  und  wiederum  eine  Erleichterung  erfahren. 

21.     Erweitert  man  diese  Betrachtung  von  einzelnen 

Worten  auf  die  Satze,  aus  welchen  die  Perioden  bestehn, 

so  ergiebt  sich  von  selbst,   dass  lauge  Sätze  und  seltene 

Interpuuclionen   auf  ähnliche  Art  lästig  werden  müssen, 

*)  Der  IcUlen  des  ersten  Heftes, 

N2 


196 

wie  ille  vielsylbigen  Worte.  Sie  strengen  an,  weil  eine 
zu  lang  anwachsende  Hemninngssumme  durch  den  Ge- 
danken getragen  seyn  will ,  der  liir  sich  allein  schneller 
forteilen  würde. 

22.  Hier  aber  slossen  wir  auf  das  sonderbare  IMis- 
verhältniss  zwischen  der  Sprache,  welche  genölhigt  ist 
alle  Worte  in  die  gerade  Linie  einer  Zeitreihe  zu  stel- 
len, und  der,  davon  vielfach  abweichenden,  iuuern  Con- 
s  t  r  u  c  t  i o n  d  e r  G  e  d  a  u  k  e n.  JMan  bemerkt  dies  am  leicli- 
testen,  wenn  ein  räumlicher  Gegenstand,  mit  seinen  drey 
Dimensionen,  und  mit  den  verscliiedenen  Eigenschaften 
seiner  einzelnen  Tlieile,  soll  beschrieben  werden;  wozu 
die  Reihe  der  Worte,  die  nur  Eine  Dimension  haben  kann, 
durchaus  nicht  passl. 

23.  An  einem  Körper  kann  jeder  hervorragende  Punct 
als  Anfang  oder  als  Ende  vieler,  von  dort  ausgehenden, 
oder  dorthin  zusammenlaufenden  und  wider  einander 
stüssendeu  Reihen  angesehu  werden.  Wie  nun  eine  von 
solchen  Vorstellungsreihen  sich  bey  der  Auffassung  ge- 
bildet hat,  so  wird  sie  unter  Umständen  bereit  seyn, 
sich  zu  reproduciren;  aber  in  der  vollständigen  Auffas- 
sung liegen  alle  diese  Reihen ;  und  wenn  auch  die  Re- 
production  nicht  vollständig  ist,  so  lasst  sich  doch  er- 
warten, dass  mehrere 'dieser  Reihen  zugleich  anfangen 
hervorzutreten.  Alsdann  aber  reproduciren  die  Glieder 
der  Reihen  einander  gegenseitig  im  Durchgehen  durch 
das  Zwischenliegende.  Es  beginnt  eine  Gestaltung  theils 
nach  innen  (wie  wenn  man  den  Zusammenhang  der  Stras- 
sen einer  Stadt  durchläuft),  theils  nach  aussen  (wie  wenn 
man  sich  die  Umgegend  ins  Gedächtniss  ruft). 

24.  Gesetzt,  die  Gedankenfäden,  welche  durch  die 
Sprache  sollen  bezeichnet  werden,  seyeu  auch  geeignet, 


197 

mehrfach  von  Einem  Puncte  auszngehn,  und  in  einander 
zurückzulaufen,  ja  einander  hemmend  zu  begegnen:  so 
muss  die  Sprache  nicht  bloss  den  Vorrath  des  Gedachten 
mit  Namen  belegen,  sondern  auch  ihre  unpassende  Form 
der  gerade  fortgehenden  Zeilreihe  verbessern. 

Nun  wenden  wir  uns,  schon  der  Deutlichkeit  wegen, 
zu  analytischen  Betrachtungen,  welche  die  Grammatik 
veranlassen  kann,  indem  sie  auf  die  Formen  der  Gedan- 
ken-Verknüpfung aufmerksam  macht.  Weniger  Licht 
aber  möclite  die  conventionelle  Grammatik  der  neuern 
Sprachen  geben,  als  die  natürliche  und  reichhaltige  der 
alten ;  und  wiederum  liegt  uns  weniger  an  dem  kunst- 
reichen Ausdrucke  der  rhetorisch  gebildeten  Schriftstel- 
ler, als  an  der  Sprachweise  solcher,  die  «ngezwungen 
dem  Gedankenflusse  folgen,  und  ihn  so  zeigen,  wie  er 
den  einfachen  Gesetzen  des  psychischen  IMechanismus  am 
nächsten  bleibt.  "Während  nun  die  periodische  Schreib- 
art klassischer  Auetoren  ohne  Zweifel  vorzugsweise  geeig- 
net ist,  von  der  Ausbreitung  verschiedener  Gedanken- 
reihen, die  in  Einer  Yorstellungsmasse  liegen,  ein  Zeiig- 
niss  abzulegen;  ja  man  möchte  sagen,  ein  anschauliches 
Bild  darzubieten:  wollen  wir  doch  fürs  erste  noch  die- 
jeliigen  Conjunctionen  und  Flexions- Zeichen  bei  Seite 
setzen,  welche  jedem  Theile  einer  Periode  seinen  Platz 
und  Zusammenhang  anweisen;  denn  es  ist  zuerst  nöthig, 
solche  Beyspiele  vor  Augen  zu  haben,  wie  sie  auch  der 
Rinderspraclie  eigen  sind,  die  noch  keinen  in  sich  ver- 
wickelten Gedanken  auszudrücken  im  Stande  ist.  Wir 
wählen  zu  ßeyspielen  zuerst  den  Homer;  wo  wir  neben 
grosser  Fügsamkeit  der  Sprache  auch  für  mannigfaltige 
Verflechtung  der  Gedanken,  doch  den  einlachen  kind- 
lichen Ausdruck,   wenn  er  hinreicht,   lüclit  verschmähet 


198 

lincleii.  W  eilerhin  könnten  etwa  Beysplele  von  Xeno- 
plion  und  von  Cäsar  folgen,  denen  die  Rhetorik  zwar 
zu  Gebole  stand,  die  sich  aber  nicht  von  ihr  beherr- 
schen Hessen.  Weniges  wird  hinreichen,  was  Andere 
weit  vollständiger  ausführen  mögen. 

25.  Als  die  einfachste  Gedanken -Verbindung,  der 
eine  blosse  Reihenbildung  der  Vorstellungen  zum  Grunde 
liegt,  wird  diejenige  ei'scheinen,  welche  in  den,  von  den 
Grammatikern  so  genannten  copulativen  Conjunctionen 
ihren  Ausdruck  findet.  Allein  hier  müssen  wir  sogleich 
einen  Unterschied  bemerklich  machen;  nämlich  den  zwi- 
schen der  bloss  copulativen  und  der  cumulaliven  Form. 
Das  deutsche  Sowohl  —  als  auch  ist  cumulaliv,  das 
deutsche  Und  wird  oft  als  hinreichend  gebraucht,  wo 
der  Lateiner  durch  sein  wiederholtes  et  die  Cumulation 
andeutet;  das  griechische  zui  entspricht  dem  lateinischen 
et]  wo  aber  der  Grieche  die  blosse  Copulation,  ohne  cu- 
mulative  Absicht,  ausdrückt,  da  bedient  er  sich  des  ein- 
fachen ^f ,  welches  Homer  ohne  Scheu  vor  der  Eintönig- 
keit immer  wiederholt,  so  lange  der  Gedanke  keine  an- 
dere Anknüpfungs weise  verlangt.     So  in  dem  Verse 

/lovnrjöev  öh  neomv^  ciQäßtjas  (J'e  Tsvyy  in    cwtoj. 
Desgleichen:  —  TIÜtqohXos  Se  (f'iXu)  ene7i£i&e&  iraiQO), 

iit  ^'  aya'/e  nXio'ir^Q  JjQiOffida  actXXtnaQyov, 

ddöxE  ö'uyetV  10)  d^ avTig  I'tijv  nugci  vijccg  ^Ayatöiv. 

tj  6'^  aezova   äfia  toiot  yvvt]  zUv  *) 
und  mit  wenigen  Unterbrechungen   über   zwanzigmal  in 
der  Erzählung   von  der  Wunde,    die  Odysseus    auf   der 
Jagd  empfing  **) : 

rj/iios  (5'  rjihoQ  natidv,  neu  int  Hviqag  ijXdi-, 

*)  Iliados  I,  345. 
^*^)  Otlyss.  XIX ,  42f). 


199 


()'/;    T0T6    KOl/LtfJGCCVTO-)    ««/    V71V0V    SmQOV    {-XoVtOt 

y/ios  ö'  r.Qtyiviio,  (fävT]  QododdutvXos  ')jo)g, 
ßccv  Q    i'jtiev  es  '&i^QijV  7]ftlv  nvveSi  '>]^£  Kai  avrol 
viees  AviolvKov.   /tetci  toIgi  Se  ^iog  'OSvooevg 
i}'t'€V'  Ktnv  d'  oQos  nqoslßuv  yaTuei/iiivov  vXy 
JlaQvijoaov'  tuya  ö'  inavov  nrvyag  '^ve/iioeGauS' 


Ol  d^  ig  ßijGoav  i'xavov  inanriJQes'  ^Qo  ()'  «^  ccviwv 
'X^V  ^Q^vrwvTig  xvveg  t^iouv'  avTccQ  onicdev 
v'ihg  ^vToXvHov'  fuexa  toicc  dh  Stog  'OövoGsvg 
i]iev  Kyyi  kvvmp-,  tcQaddcov  öo)uyoGHiov  e'yyog. 
l'vd^a  (J'  (xQ   IV  Xöyjc}]  nvmvfj  zatixeno  [.Uyag  ove' 


Tov  d^  avSoöJv  Tc  zvvöjv  IS  71£q\  KTvnog  7]X&e  nodoi'i'v-, 
vtS  indyovreg  inf^caV  6  d'  dmi'og  in  ^vXoyoto 
ffQi'^ug  £v  Xoffir^Vi  nvQ  d   6^&aX/ioiGi  ^'eJ'opjjw^, 
orij  Q  ttvT(äv  oyjEÖo&sv  o  J"  äga  nQOJtiGTog^OdvoGsvg 
£OOVt\  uvuGyöftevog  d'oXiyov  öoqv  y^eiQi  vraysii]-, 
ovTafuvai  /Lie/iaug'  6  de  jittv  ffda^ierog  sXuoev  cvg 
yovvog  vneQ'  nolXov  dh  önjfpvoe  octQxog  oöovic 
XiHQi(p\g  (x'i^agt  ov^   ooriov  ihsio  ywTog. 
tov  ö'     OdvGosvg  ov%r^Ge  ivyß)V  xavtl  (^£^i6v  o)/tov, 
fxvTixQV  d'e  öir;X&£  (fcc£ivov  dovgog  cckojk/^ 
«aJ  6'  £7ita'  iv  HovhjGi  fiunoip'  and  d'  emaro  &v/iog» 
TOV  fthv  liQ  Av%olvY.ov  naidsg  (plXoi  djKfftnivovto' 
wzetXtjV  ()'     OdvGoriog  dfivfiovog,  dvTi&ioio 
diJGav  iTtiGTafiirwg'  inaoidi]  ö   ai/iu  y.£).aivov 
£Gy£^ov'  aJxpa  ()'  i'xovio  rpiXov  ngog  öiöpaTu  naTQog^ 


200 

Kurz  vor  dieser  Stelle  findet  sich  eine  andre  cumulative, 
wo  das  Gastmahl  des  Autolykos  beschrieben  wird  *). 
aiiTiaa  d   eiüüyayov  ßovv  ccQüeva  •nsvrcujr^Qov' 
i6v  digov^  d/Kfi    d^  l'nor-,  v.ai  fnv  ditymav  ünavTci^ 
/(iGTvXXov  %    liQ    tTitora/iiiVwg,  iieigdv  %   oßfXoiair^ 
v'jnT7]aür  ts   THQKpQadiwg,  Säoavzo  ts  fioigac. 
wo  das  TS  ebenso  ungescheut  wiederholt  wird,  wie  zu- 
vor das  St. 

26.  Hier  gleich  mag  eine  der  allerhäufigsten  An- 
knüpfungen der  Homerischen  Redeweise  bemerkt  wer- 
den; nämlich  durch  die  Partikel  ic(>(i  oder  öa.  Der  Sinn 
ist  weder  copulativ,  noch  cumulativ;  die  Rede  schreitet 
dadurch  nicht  fort;  sie  verbindet  nicht  eins  und  ein 
anderes;  sondern  sie  bleibt  auf  derselben  Stelle,  oder 
beydem,  was  man  zunächst  erwarten  konnte;  oder  sie 
tührt  auf  den  Punct  wieder  zurück  von  dem  sie  ausging. 
Daher  steht  diese  Partikel,  wo  es  heilst,  so  habe  Einer 
gesprochen.  Z.B.  Ilias  XIII,  125:  ojg  ^a  xsXevriöwv 
yanjoyog  wqcsv' Ayaiovs;  Hi^s  XIII,  754:  ^  qcc,  ^iai  o)Q- 
/n]d^t];  821 :  ws  aga  ol  einövii.  Oder  bey  Gleichnissen, 
wie  Ilias  XIII,  198: 

WGTE  dv^  (xlya  Xtovre,  kvvmv  vno  xaQyaQoöovrcjv 
iiQ7id^avT€,  (piQi^TOV  civa  gwnr/i'a  nvHPn, 
vipov  viiIq  yah]Q  aa%d  ydfirpißijOiv  s'yovre' 
wg  (ja  rov  vxjjov  i'yovTs  övm  yii'avis  hoqvotu 
revyea  mi}.ijTi;v. 
Desgleichen  ebendaselbst  334: 

(oe  J'  öd'  VTio  Xiymv  (ive/nwv  anegycoGii'  deXXui 
ij/tiari  TW,  6'tc  tc  nXelort]  y.6vig  dfi^l  KeXtvd^ovg, 
o'iT    dfivdis  KOv'n]S  fteydXt]v  cozccoiv  o/ilyXi^v' 
wg  dgu  2WV  Ofiöo    ijXd-e  fi>dyr^. 


201 

Und    XV,  361 : 

sQeine  (Jh  reiyog  ^ jiyamv 
Qeia  fidX\  ojg  öre  rig  ipa/na&ov  nai's  ^^yj-  S^aXaoGtjs-) 
'60%    insi  ovv  notrjaf]  uß-vQ/iara  Vfjnth^oiv, 
äip  avTig  üvveyevs  noaiv  kki  yeQGtr^  u&vqvw. 
log   Qa    oVf   o^i'e    ^oiße^    noXvv   yM/itaiov    ymI   oi'^vv 
avyyeag  'u4Qye('o)V. 
In  andern  Stellen  findet  sich  dieselbe  Partikel  schon 
in  den  Gleichnissen  eingeschaltet,  mit  der  nämlichen  Be- 
deutung, dass  hier  die  Erzählung  nicht  fortschreitet,  z.  B. 
Ilias  XIII,  795: 

Ol  de  i'aav,  agyaXfWV  avipiav  uialuvioi  afXX?j, 
7;  Qcc  -d-   vno  ßgovzijg  nargog  //16g  sJoi  nidovöe» 
Ahnlichen  Stillstand  bezeichnet  der  Vers : 

ojg  €(pa&''  Ol  d  ccQa  navxeg  d-/,r]v  eytvoPTO  Gttünij' 
Hier  ist  Stillstand  in  der  Begebenheit,  obgleich  Forl- 
sclu'itt  zu  andern  Personen ;  und  auch  so  noch  ist  das 
i'iQo,  das  Gegentheil  von  öh ,  durch  welches  immer  die 
Vorstellungsreihe  wächst,  indem  zu  deren  vorigen  Glie- 
dern ein  neues  hinzukommt  '''). 

*)   In    der  Schrift    des  Aristoteles    von    den  Kategorien    kommt 
das  uQu  nicht  häufig,   aber  an  folgenden  Stellen   vor: 

1)  III,  22  :   fl  117]  uQU  Tt?  fvloraiTO,  (f  ((axo)ji  x.  t.  X. 

2)  IV,  9:  rwv  di  uk^Mv  ovö'iv  uino  xad^  uino,  uXX'  tj  uqu  xutiI 
axiixßfßt]xö<;. 

3)  IV,  11:   il  fijj   UQU  ro  Ttokv  tw  okLyo)  ifcuT]   nq  (tvui  ivuvriov. 

4)  IV,  14:  il  yuQ  iari,  to  fiiyu  tw  fiixQO)  (vuvtiov,  to  J''  amö 
iaxiv  ufia  i^lya  xal  fiiy.Qov'  y.al  uvto  fainü  uv  firj  ivavTiov. 
iiXXu  T(üv  aSvvuxüiv  iariv,  ui'ro  fuvrm  ti  ih'Uv  IvuvtIov.  ovk 
iartv  UQU  TO  fifya   tw   juixqm   ivavTLov. 

5)  VI,  20:  il  l'oriv  ij  dixfiioowi]  rij  uö'iy.iu  h'uvriov,  noiov  di  // 
6iKui,oaiivtj '  Tioiov  ufja  x«i  ij  ddixla, 

<))  VI,  26:  röiv  di  xad-  i'xaorov  oiid\v  «i'to,  öntQ  fOiiv,  hfiioii 
Xfyniu'  oiov  7]  yftuf^/A.arty.i'j  ov  )JyiTut  nvoq  youft/iurix»'/  '  oi'df 
//  iiovaix7]  xivoq  novaix7'].     iIXa    y  uqu   y.urn  ro  yhoi   y.<d  uviai 


202 

27.     Mau  kann  von  hier  übergehen  zu  dem  fdv  und 
diy  dessen   eigentliche  Bedeutung   in   dem  Auseinander- 

TMv  nnöq    xi  Xfyovrut,'    olov   i]   yQKft/iurixrj  Xfyirui   ri.vog   iTii- 

aTrji.li],   Ol'  xivoq  yQu/ii/LiurixTj  '   x.r.k, 
Vielleicbt  sind  dies  die  sämmllichen  Stellen;  viele  andere  wird 
man  in  der  genannten  Schrift  nicht  mehr  finden.     Wir  wollen  sie, 
den  Zusammenhang  andeutend,  übersetzen.     Man  mag  die  Stellen 
im  Zusammenhange  nachlesen. 

1.  Der  Begriff  des  Dinges  gestattet  Gegensätze,  ohne  sich  zu 
vervielfältigen;  ein  und  derselbe  Mensch  ist  bald  warm  bald  kalt, 
bald  zu  tadeln  bald  zu  loben.  Bey  den  andern  Kategorien  zeigt 
sich  so  etwas  nicht,  wenn  nämlich  hier  nicht  Jemand  wider- 
spricht, indem  er  sagt,  u.  s.  w. 

2.  Ursprünglich  nennt  man  Quantum  nur  das  schon  Erwähnte; 
alles  andre  nur  gemäss  einer  Nebenbestimmung.  —  Also  nur  das 
Erwähnte;  von  Anderem  hingegen  nichts  an  und  für  sich,  sondern, 
wie  gesagt,  nur  gemäss  einer  Nebenbestimmung. 

3.  Wenn  nicht  hier  Jemand  sagt,  Viel  sey  das  Gegentheil 
vom  Wenig. 

4.  Wenn  das  Grosse  vom  Kleinen  das  Gegentheil,  und  Einer- 
ley  zugleich  gross  und  klein  ist  (nämlich  in  verschiedenen  Verglel- 
chungen) ,  so  wäre  Einerley  sein  eigenes  Gegentheil.  Aber  das 
kann  nicht  seyn.  Demnach  ist  das  Grosse  nicht  das  Gegentheil 
vom  Kleinen. 

5.  Wenn  die  Gerechtigkeit  das  Gegentheil  von  der  Ungerech- 
tigkeit, und  die  Gerechtigkeit  eine  Beschaffenheit  ist,  so  ist  dem- 
nach auch  die  Ungerechtigkeit  eine  Beschaffenheit. 

6.  Einzelnes  ist  das,  was  es  ist,  nicht  eines  Andern.  So  die 
Grammatik  nicht  Grammatik  von  Etwas,  Musik  nicht  Musik  von 
Etwas.  Sondern  nur  nach  dem  Gattungsbegriff,  wie  gesagt, 
gehören  beyde  zu  dem,  was  sich  auf  Anderes  bezieht.  So  ist  die 
Grammatik  ein  Wissen  von  Etwas.  (Kurz  vorher  hatte  Aristoteles 
schon  gesagt:  a/iöoy  tnl  vtüvrojv  roiv  roiot'ioiv  rä  yh'T]  röiv  7i()uq  rt 
Xfymu.  Ebenso  verhält  es  sich  bey  der  zweyten  der  angeführten 
Stellen;  es  wird  hier  wie  dort  unzweydeutig  eine  Wiederholung 
durch  das  uQa  zu  erkennen  gegeben.) 

Nun  heisst  u[}u  nicht  nämlich,  denn  nämlich  bedeutet  na- 
mentlich; es  heissl  nicht  hier,  denn  hier  bezeichnet  einen  Ort; 
CS  Leisst  nicht  wie  gesagt,  denn  das  setzt  ein  Sagen '  voraus; 
CS  heisst  auch  nicht  demnach,  denn  darin  liegt  ein  Nach.     Aber 


203 

treten  nach  verschiedeneu  Richtungen  besteht,  ohne  dass 
jedoch  ems  über  dem  andern  aus  den  Augen  verloren 
wird ;  daher  häufig  der  Sinn  bloss  copulatlv  zu  seyn  scheint, 
während  man  ilin  bey  genauerer  Betrachtimg  vielmehr 
cumulativ  findet,  aber  mit  Unterscheidung  dessen,  was 
zusammengehäuft  wird.  In  der  nämlichen  Rhapsodie  der 
llias,  woraus  die  vorigen  Beyspiele  entnommen  waren, 
spricht  Poseidon  mit  dem  Idomeneus;  am  Ende  des  Ge- 
spi'ächs  trennen  sie  sich,  v.  239: 

WS  dnoiv y  o  filv  avris  t'ßt]  •deog  d/itnorov  uvÖqmv' 
Iöo/(£V6vs  6   Öte  öf]  xXtGirjV  ivTVurov  inavsv,  etc. 
Ebenso   llias   XIV,  224,    wo  Here    und   Aphrodite    sich 
trennen,  und  nach  verschiedenen  Seiten  fortgehn: 
7]  filv  eßy  ngos  Swfia  /tiog  d^vy^tr^Q  ^^ffQodiif]^ 
' Hqtj  6^  uT^aoa,  Xinev  q'iov  OvXvinnoio 
und  daselbst  286,  wo  der  Gott  des  Schlafs  zurückbleibt, 
e'V'dt   vnvos  filv  i'/uive,  nuQOS  ^los  oaaa  idio&ai 

"Uqt]  äh  TtQccinvüJs  ngoge/Sr^oaro  Pvcgyccgov  aKOOV. 
Auffallend   ist  das  verlegene  Hinschauen  nach  entgegen- 
gesetzten Seiten    in   den  Worten    des  Eurymachos    zum 
Odyssevis,  nachdem  Antinoos  gefallen  war,  Odyssee  XXII, 
45: 

:ille  diese  unsere  Ausdrüclce  bezeichnen  ein  Stillstehen,  An- 
ita Iten  des  Gedankenflusses.  Dieses  giebt  das  h(ju  zu  erkennen. 
Daher  passt  es  be)'^  Einwendungen;  bey  Wiederholungen  und  Kück- 
weisungen;  bey  Folgerungen,  indem  es  auf  deren  Prä  m  issen 
zurückweiset.  Eben  darum  giebt  es  unzählige  Stellen,  worin  maa 
es  mil  also  übersetzen  kann,  ohne  dadurch  ein  Fortrücken  des  Ge- 
dankens auszudrücken.  Im  Anfange  der  Republik  sagt  Piaton  :  yii- 
S«To  UQU,  bjq  ioiAiv,  o  2i.[i(i)vidij<;  noiTjTty.wi;  ro  d'Uuiov  o  liij ;  und 
einige  Zeilen  weiter:  ro  toi'?  qü.ovq  uqu  ni  TioifTy,  xul  zoig  f/- 
i'/^ioi'i;  y.uy.wq'^  dixuionvvijv  )Jyfi.  In  bejden  Stellen  wird  nur  ein 
Gedanke  vesigehaltcn ,  der   schon  ausgesprochen  v  ar. 


204 

el  fuv  St]  'OSvoaevs  'I&aKfjotos  elXfjXovß^ctg-, 
TavTo,  fiEV  aiatfia  slnsgy  öoa  Qf^eonov  y^yaiol, 
noXXd  fdv  iv  /nsyaQoioiv  drda&aXa,  noXXa  d'en  dygov- 
«AA.'  o  fihv  i^Si]  itaTtti,  6g  aiTiog  enXcTO  ndvioiv, 

vvv  ()'  6  jtdv  iv  fio'iQf]  niffaTai'  ov  Sh  qjeiSso  Xccmv. 
Sehr  verschieden  würde  hier  das  /tiiv  im  Deutschen  lau- 
ten. „Wenn  du  denn  wirklich  gekommen  bist  —  zwar 
jenes  hast  du  mit  Recht  gesagt,  —  theils  im  Hause, 
theils  auf  dem  Lande,  —  aber  jener  dort  liegt  gestraft 
—  und  Du  schone."  Das  Gemeinschaflliche  in  allen  die- 
sen /lev  ist  nur  der  Gegensatz,  in  den  jetzigen  Umstän- 
den gegen  die  frühern,  im  Recht  und  Unrecht,  in  den 
Orten  und  den  Personen. 

Auf  den  ersten  Blick  scheint  hiervon  die  cumulative 
Bedeutung,  die  man  häufig  findet,  weit  abzuweichen. 
Z.  B.  bey  Xenophon  gleich  auf  den  ersten  Blättern  der 
Cyropädie,  wo  das  ftev  und  Ss  fast  unserem  nicht  nur 
sondern  auch  entspricht:  Kvqm  yovv  io/iiev  id-e?Jj- 
GciVTag  Tisi&eo&ai,  rovg  ftev,  aneyoviag  nccfinöXXiop 
TjusQvyv  odov^  Tovg  de,  nal  fit;vür,  Tovg  J'f,  ovS  £w- 
Qa^oiag  nomote  uvtcv,  rovg  Sl,  zat  ev  elSozagt  Ott 
orS'  dv  löoicv.  Und  weiterhin:  wgt  ndvra  fuv  növov 
dvarXri^'ait  ndvTcc  dh  Y.ivSvvov  xnofieivat  tov  inatvel- 
cdai  e'vencc;  (nicht  nur  INlühe  sondern  aucli  Gefahr). 
Dagegen  heisst  es  unmittelbar  zuvor,  wo  die  Eltern  des 
Cyrus  genannt  werden,  einerseits  und  andererseits, 
naioog  fdv  —  fir^xQog  de.  Mau  bemerkt  aber  leicht, 
dass  diese  letztere  Bedeutung  in  die  cumulative  über- 
geht, sobald  dasjenige,  was  zu  einem  andern  Jiinzukom- 
mcn  soll,  zuvor  als  demselben  gegenüberstehend  belrach- 


205 

tct  wird.  Das  deulsclie  nicht  nur  tragt  eine  Negation 
hinein,  die  in  dem  ftiv  genau  genommen  nicht  liegt. 
Nocli  weniger  al)er  darf  man  diese  Negation  in  das  grie- 
chische 16  —  Tf,  oder  %e  und  vmI  hineinlegen,  welche 
Partikeln  heyde  rein  affirmativ  sind ,  und  nicht  einmal 
den  Gegensatz  des  Einerseits  und  Andererseits  in 
sicli  tragen.  Das  für  und  öl  hält  die  Glieder,  deren 
eijis  zum  andern  kommen  soll,  nur  bestinmit  auseinan- 
der; und  die  Cumulation  wird  nicht  so  unmittelbar  aus- 
gedrückt, wie  die  in  dem  le  imd  nai. 

28.  Die  deutschen  Conjunctionen  Zwar  und  Aber 
führen  dagegen  immer  auf  einen  solchen  Gegensatz,  der, 
ganz  ausgesprochen,  eine  Negation  erfodern  würde.  Z.  B. 
zwar  klein  aber  stark;  zwar  kräftig  aber  rauh; 
zw^ar  stolz  aber  ehrlich.  Bcy  der  Kleinheit  würde 
man  die  Stärke  nicht  erwarten,  an  dem  Kräftigen  ist 
die  Rauhheit  nicht  zu  loben,  des  Stolzes  wegen  -will 
man  den  Charakter  nicht  verwerfen.  Hier  enthält  das 
Aber  die  Verneinung,  welche  das  Zwar  schon  von  fern, 
als  entgegentretend,  anmeldete.  Deutlicher  trit  beydes 
hervor,  wenn  die  beyden  Conjunctionen  vor  ganzen  Sa- 
lzen stehn.  Z.B.  Z%var  die  Blut  he  stand  gut,  aber 
die  Frucht  ist  abgefallen;  zwar  der  Vortheil  ist 
gering,  aber  die  Ehre  ist  gross.  Hier  enthält  die 
Vorstellungsmasse,  welche  sich  entwickelt,  zwey  Vor- 
stellungsreihen, deren  eine  sich  wider  die  von  der  an- 
dern herrührende  Hemmung  hervorarbeitet.  Daher  ist 
das  Zwar  nicht  häufig  im  Munde  der  Kinder;  die  Hem- 
mung hält  es  zurück.  Eben  dahin  gehört  das  Obgleich, 
und  überhaupt  alle  concessiven  Conjunctionen.  Viel  frey- 
gebiger  sind  sie  mit  dem  Aber,  dem  Doch,  den  adver- 
sativen Partikeln;  in  welchen  die  Negation  hervorbricht, 


206 

und  iiiclit  erst,  wie  im  Zwar,  als  eine  künftige  voraus- 
gesehen wird.  Übrigens  mag  bemerkt  werden,  dass 
ausser  der,  in  dem  Aber  schon  liegenden  Negation  aucli 
eine  unmittelbar  ausgesprochene  vorhanden  seyn  kann. 
Alan  vergleiche  die  vier  Fälle: 

zwar  M,  aber  N, 

zwar  nicht  3T,  aber  N, 

zwar  M,  aber  nicht  N, 

zwar  nicht  71/,  aber  auch  nicht  iV, 
welche  Formeln  sich  leicht  von  Begriffen  auf  ganze  Sätze 
erweitern  lassen. 

Den  deutschen  Adversativ- Conjunctionen  entspricht 
das  griechische  cc},Xü,  aber,  sondern,  doch.  Z.B. 
Ilias  I,  387,  wo  Achill  über  den  Agamemnon  klagt: 

dkXd  tiaxöjg  ufp'ui^  ugaregov  ^  inl  fiv&ov  ersXXe. 
Aber  es  gefiel  ihm  nicht,  —  sondern  er  gab  Übeln  Be- 
scheid.     Etwas  früher   v.  280: 

£1  öh  ov  xaQteQÖs  ioat^  -^eu  Si  oe  yeivazo  firjtrjQy 

«AA'  'öys  (ftQxeQog  ioriv. 
Wenn  du   stärker  bist,   er   ist   doch   mächtiger.      Man 
sieht  hier   den  Unterschied  des  copulativeu  J'f  vom  ad- 
versativen «AA«. 

Das  deutsche  Sondern  ist  das  Gegenstück  zum  Zwar. 
Dies  letztere  lässt  eine  kommende  Negation  voraussehu; 
jenes,  das  Sondern,  hält  die  Erinnerung  an  die  schon 
vorübergegangene  Negation  vest,  indem  es  dasjenige  an- 
meldet, was  an  den  Platz  des  Verneinten  treten  soll. 
Das  Doch  ist  der  Ausdruck  des  Bestehens  wider  eine 
Hemmung;  es  ist  weniger  geeignet,  das  Hemmende  selbst 
zu  bezeichnen.  Alan  sagt  etwa :  ich  möchte  wohl, 
aber  icli  habe  dazu  kein  Geld;  nicht  leicht  liingegcii: 


207 

ich  möchte  wohl,  doch  ich  habe  dazu  kein  Geld. 
Eher  so:  ich  möchte  wohl,  doch  will  ich  weder 
Geld  noch  Zeit  daran  wenden;  welche  Redensart 
das  Veslstehen  anderer  Entschlüsse  ungeachtet  dessen, 
was  sie  wankend  machen  könnte,  verkündigt. 

29.  Im  Begriff  zu  den  digjunctiven  Conjunctionea 
übci'zngehn,  erwähnen  wir  das  Weder  —  Noch;  worin 
die  Cumulation  des  Sowohl  —  Als  auch  verboi'gen  Hegt, 
aber  mit  der  Verneinung  verbunden,  die  auf  dem  An- 
stossen  an  die  Hemmung  beruht*).  Aus  dem  Weder 
entspringt  das  Entweder,  und  hiemit  auch  das  Oder. 
Das  Entweder  enthält  eine  Negation,  die  man  zurück- 
zunehmen bereit  ist,  wenn  sie  auf  das  andere  Glied  fiele, 
welches  durch  Oder  angekündigt  wird.  Die  lateinische 
Sprache  hat  dafür  nicht  bloss  ihr  aut  —  aiit,  sondern 
auch  ihr  uirum,  —  an,  und  überdies  die  Adjectiv-Forni 
vtcr,  so  wie  die  griechische  ihr  ti6t£Q0V  und  noTfQog. 
Daneben  besitzt  jene  noch  das  uterque,  jeder  von  bey- 
den,  welches  wir  durch  unser  gewöhnliches  beyde  nur 
unvollkommen  ersetzen,  denn  hier  fehlt  die  Gegenüber- 
stellung der  zusammengefassten  Glieder.  Die  griechische 
Sprache  hat  das  ty^ÜTSQOS,  welches  sammt  dem  izuoTOS 
von  ixcig.,  ferne,  abstammt;  und  hiemit  deutlicher  als 
unser  Je  —  Der  anzeigt,  man  solle  je -Einen  gelrennt 
vom  andern  betrachten,  obgleich  man  sie  so,  wie  zwey 
räumlich  entfernte  Gegenstände,  beyde  zugleich  vor  Au- 
gen hat. 

Wenn  für  einen  Zweck  unter  mehrern  Sachen  oder 
Personen  soll  gewählt  werden:  so  wird  das  oder  der 
erste  sich  darbietende  entweder  gefallen  oder  nicht. 
Gefällt  es,  so  wäre  die  Wahl  vollzogen,  aber  noch  an- 

»)  Psychologie   §.  123. 


208 

dere  bieten  sich  dar;  damit  ist  sie  aufgeschoben.  Es  ent- 
sieht nun  Ungewisshelt,  weil  nur  Eins  kann  gebraucht 
oder  angeschairt  werden.  Gefällt  es  nicht:  so  wäre  es 
verworfen;  aber  die  andern  sich  darbietendem  sind  viel- 
leicht nicht  besser;  damit  ist  das  Verwerfen  aufgescho- 
ben. Es  entsteht  wieder  Ungewissheit,  weil  Eins  muss 
gebraucht  werden.  Im  ersten  Falle  wird  durch  das  Ent- 
weder Oder  eine  Position  zui-ückgehalten ;  im  andern 
eine  Negation.  In  beyden  Fallen  aber  bildet  der  Begriff 
des  Zweckes  einen  vesten  Punkt,  von  wo  die  Betrach- 
tung nach  zwey  Richtungen  ausgeht,  zwischen  denen  sie 
schwankt. 

Wenn  wegen  der  möglichen  Erfolge  einer  Begeben- 
heit ein  Entweder  Oder  bemerkt  wird,  so  bildet  die  Be- 
gebenheit einen  ähnlichen  vesten  Punct ;  die  Schwankung 
ist  der  vorigen  analog. 

"Wenn  bey  Eintheilungen  das  Entweder  Oder  vor- 
kommt, so  ist  es  der  einzutheilende  Begriff,  welcher 
den  vesten  Punct  ausmacht;  die  Theilungsglieder  schlies- 
seu  einander  aus,  wie  jene  verschiedeneu  möglichen  Er- 
folge, oder  die  zur  Wahl  dai'gebotenen  Gegenstände. 

Wenn  dagegen  der  blossen  Willkühr,  ohne  voraus- 
gesetzten Zweck,  melirere  Güter  oder  mehrere  Übel 
vorliegen,  so  würde  die  Willkühr  eine  Summe  aus  die- 
sen Übeln  machen,  und  jene  sämmtlich  ergreifen,  diese 
sämmtlich  verwerfen,  wenn  sie  könnte.  Hier  fehlt  ein 
vester  Punct;  und  das  Schwanken  zwischen  abwechseln- 
den Gemüths -Zuständen  während  der  Unentschiedeuheit 
würde  gar  keine  Zusammenfassung  durch  das  Entweder 
Oder  ergeben,  wenn  nicht  die  Person  sich  selbst  ein  Ge- 
genstand der  Beobachtung,  und  ihr  Sclnvanken  für  sie 
selbst    ein  Schauspiel   wäre.      Hiemit    aber   kehrt    dieser 


200 

Vall  lii  ieiieii  zurück,  wo  eine  Begebenheit,  nämlich  ilie 
Anerbictung  otler  Zuniulhiing  der  ^^  ahl,  eine  >rehrheit 
enigogengcöclzler  Folgen  crwaitcji  lässl. 

30.  Zuuaclisl  verwandt  mit  dem  lintweder  Oder 
ist  die  Disjunclion  Üb  —  oder  Ob.  Hier  bemerkt  man, 
dass  eigentlich  kein  Oder  nölhig  ist;  das  blosse  Ob  kann 
für  sich  allein  vorkommen.  Alsdann  ist  von  dem  Knt- 
Nvedcr  nur  die  Ungewissheit  vorhanden;  der  andere  be- 
slimmte  Punct,  welchen  das  Entweder  schon  ini  Voraus 
erblicken  liess,  mangelt;  und  anstatt  desselben  schwebt 
in  Gedanken  ein  unbestimmtes  Oder  nicht,  welches 
die  mannigraltigslen  liestimmuugeu  annehmen  könnte. 
Den  Übergang  dazu  macht  das  Entweder  Oder  in  sol- 
chen Fällen ,  wo  eine  vmübersehbare  INlenge  derjenigen 
Glieder,  die  mit  dem  Oder  könnten  bezeichnet  werden, 
aus  dem  Gesichte  verlöre«  wird.  jMan  fragt  zum  Bey- 
spiele,  ob  etwas  an  einem  bestinunten  Orte  zu  finden, 
oder  zu  einer  bestimmten  Zeit  geschehen  sey,  wofür  sich 
viele  andre  Orte  und  Zeiten  denken  lassen,  so  dass  alsdann 
der  beslimmle  Ort  oder  Zeitpunct  davon  nicht  besetzt 
seyn  würde.  Jener  veste  Beziehungspunct,  iür  welchen 
das  Entweder  Oder  seine  entgegengesetzten  Glieder  zu- 
sammenhält,—  jener  Zweck,  für  welchen  die  \A  ahl  zu 
trelleu  ist,  jene  Begebenheit,  von  welcher  die  möglichen 
Folgen  erwartet  werden,  jener  BegrilF,  welchem  in  der 
Eintheilung  entweder  dieses  oder  jenes  jMerkmal  soll  bey- 
gefügt  werden ,  —  kann  bey  dem  Ob  ganz  füglich  fehlen, 
da  keine  Zusammenfassung  des  Entgegengesetzten  ver- 
langt wird. 

31.  Logisch  genommen  lässt  sich  die  Disjunction: 
Entweder  A  oder  B,  auflösen  in  die  beyden  Hypothesen: 
AYenn  r/,   dann  nicht  B]    und    wenn  B,  dann   nicht  A. 

lieft  11,  O 


210 

Für  hypolhelisclie  Sätze  ist  jedoch  eine  solc}ie  Verbin- 
dung zufällig;  sie  ist  nur  als  ein  specieller  Fall  dersel- 
ben anzusehn.  Daher  sind  die  disjunctiven  Salze  den 
liypothetischen  logisch  untei'zuordnen.  Allein  für  die 
Psychologie  ist  das  Verhältuiss  umgekehrt.  Das  Vor- 
stellen beginnt  nicht  vom  Allgemeinen,  sondern  es  er- 
hebt sich  zum  Allgemeinen.  Deshalb  knüpfen  wir  die 
condilionalen  Conjunctionen  an  die  disjunctiven;  und  der 
Übergang  liegt  in  dem  eben  erwähnten  Ob.  Zwar  aucli 
ohne  dies  ist  der  Gedankengang  natürlich:  P  ist  entwe- 
der A  oder  ^;  wenn  nun  A,  dann  /!/;  wenn  B,  dann 
A^.  Allein  man  braucht  nicht  auf  beyde  Falle  sich  ein- 
zulassen; man  konnte  einfach  fragen,  ob  P  wohl  J  sey? 
und  fortfahren:  wenn  es  A  ist,  so  folgt  M.  Hier  bleibt 
in  dem  Wenn  die  Ungewissheit  des  Ob;  von  dem  Un- 
gewissen aber  geht  der  Gedanke  als  von  einem  neuen 
Anfangspuncte  aus  zu  dem,  was  damit  zusammenhängt. 
Bey  den  bedingten  Sätzen  macht  bekanntlich  jede 
Sprache,  besonders  die  griechische,  einige  Verschieden- 
lieiten  der  Auffassung  beanerklich.  Die  Verwandtschaft 
der  hypothetischen  mit  den  disjunctiven  Sätzen  trit  mehr 
oder  weniger  hervor,  je  mehr  oder  weniger  Rücksicht 
auf  die  in  der  Disjunclion  auszuschliessenden  Fälle  genom- 
men wird.  Au  diese  erinnert  vmser  deutsches  falls  und 
das  griechische  iap,  welches  den  Conjunctiv  herbejiührt, 
nämlich  so,  dass  sie  zum  Vorschein  kommen  können 
oder  auch  nicht.  Der  blossen  Ungewissheit,  ohne  Er- 
wartung dessen,  was  man  noch  erfahren  wii'd,  dient  et 
mit  UV  oder  mit  dem  Optativ.  Dagegen  hat  il  den  lu- 
dicativ,  wenn  das,  was  wir  nicht  wissen,  doch  an  sich 
bestimmt  vorhanden  oder  nicht  vorhanden  ist.-  Versetzt 
man  sich   aber    in   eine   andre  Lage  der  Umstände,   die 


211 

von  der  wirklichen  abweicht,  so  enlsleht  die  eigentlich 
couditionale  Ilede,  die  wie  in  einer  Gedankenwelt  fort- 
lauft; und  wo  sie  für  die  dahin  gehörenden  Vorstellungs- 
reihen die  Anfangspuncle  durch  wenn  ausdrückt,  findet 
sich  im  Griechischen  das  Iniperfectum  mit  «V  im  Nach- 
satze, oder  für  die  vergangene  Zeit  der  Aorist.  Im 
Deutschen :  „wenn  jenes  geschehen  wäre  oder  geschehen 
könnte,  so  würde  ich  dies  oder  das  thun;"  mit  der  hinzu- 
gedachten Negation :  „nun  geschah  es  aber  nicht,  also"  —  . 
32.  Von  den  beyden  IMerkmalen  des  Wenn,  dass  es 
eine  Ungewissheit,  also  ein  Schweben  zwischen  Position 
und  Negation  ausdrückt,  und  dass  es  den  Anfangspunct 
einer  neuen  Vorstellimgsreihe  bezeichnet,  kann  eins  oder 
das  andre  bleiben  oder  verloren  gehn.  Die  Ungewissheit 
bleibt  in  dem  concessiven  Wenn  auch,  Wenn  schon. 
Wenn  gleich;  während  hier  nicht  eine  damit  zusam- 
menhängende, sondern  entgegengesetzte  Vorstellungsreihe 
folgt;  und  der  Begriff  der  Dependenz,  den  man  den  hy- 
pothetischen Sätzen  zuzuschreiben  pflegt,  von  der  Ver- 
neinung getroffen  wird.  Die  griechische  Sprache,  wo  sie 
die  Negation  voranstellt,  zeigt  dies  selir  deutlich.  Z.  B. 
Ilias  IX,  385,  wo  Achill  spricht: 

ovS'  et  fioi  Toaci  doir],  öaa  ipä/tadSg  re  novig  7«, 
oväe  aev  wg  tti  ßviiiov  ijLiov  naiaei    y/ya/ni/ivco}'- 

ovo'   61   yQVoeifj    Arfood'nT]  aaXXos  iQi^oi, 
i'gya  J''  '^d}]Vah]  yXavuomid'c  ioocpaoi^oi, 
ov^i  fiiv  tiuff  yafübu 
Diese  Satze  sind  weit  verschieden  von  den  hypothe- 
tischen mit  negativem  Nachsatze,  nach  der  Formel: 

Wenn  A    ß  ist,  so  ist  C  nicht  D. 
Denn  hier  wii'd  der  Satz,  C  sey  D,  verneint  auf  den  Fall 

02 


212 

dass  A  wirkllcli  }]  sey;  die  Verneinung  \vlrd  demnach 
als  depeudent  anerkannt;  liingegen  bey  dem  "NA  enn-auch 
Avird  die  Dependeuz,  welche  jemand  annehmen  möchle, 
geleugnet. 

Die  Bezeichnung  des  Anfaugspuncles  einer  neuen  Reihe 
bleibt  dagegen  in  dem  Übergänge  des  "Wenn  ins  Weil, 
der  conditionalen  zu  den  causalen  Coniunctionen,  wah- 
rend hier  die  Ungewissheit  verschwindet. 

33.  Von  den  causalen  Conjunctioneu  erinnern  wir 
nur,  dass  einige,  das  Weil  und  die  verwandten,  den 
Grund  vorstellen  können;  das  Denn  hingegen  ihn  nach- 
holt, also  den  Gang  des  Vorslellens  umkehrt  (von  der 
Couclusion  zu  den  Prämissen  zurückweiset);  das  Damit 
aber,  und  die  ähnlichen  Piedensarten ,  eine  Absicht,  de- 
ren Erfüllung  in  der  Zukunft  liegt,  als  Giund  angiebt. 
Dies  letztere  hängt  bekanntlich  damit  zusammen,  dass 
im  Lateinischen  yw/a  imd  t^uod  zwar  den  Indicativ,  m/, 
nCy  (juo  hingegen  den  Conjuncliv  regieren,  indem  die  Zu- 
kunft stets  etwas  Ungewisses  oder  doch  Unbestimmtes 
in  sich  trägt. 

Die  conclusiven  inid  ordinativen  Coniunctionen  wer- 
den kaum  einer  Erläuterung  bedürfen.  Jene  führen  eine 
Gedankenreihe  fort ;  diese  weisen  den  Gliedern  derselben 
ihi-e  Plätze  au. 

Nur  einen  merkwürdigen  Punct  wollen  wir  hier  noch 
berühren,  der  im  Deutschen  seltsamer  aussieht  als  im 
Griechischen;  diesen  nämlich,  dass  bey  einer  vorausge- 
selieuen,  entfernten  Negation  eine  Art  von  Rückzug  auf 
einen  vesten  Punct  geschehen  kann,  der  sich  in  eine 
verstärkte  Bejahung  verwandelt.  Alan  vergleiche  unser 
deutsches  und  zwar  nüt  dem  griechischen  ye.  Letzte- 
res   sucht  man  bekanntlich   im  Lateinischen   mit  (/indem 


213 

oder  certe  auszudrücken;  Im  Deutschen  muuler  treffend 
durcli  wenigstens.  Dem  Weniger,  wohin  sich  das  ye 
zurückzieht,  stellt  ein  grösserer  Ansprucli  gegenüber, 
den  man  wohl  machen  möchte,  der  aber  versagt  werden 
könnte.  In  dieser  vennutheten  Verweigerung  liegt  eine 
Negation,  der  man  eutgegentrit,  damit  sie  nicht  zu  weit 
greife.  INIan  behauptet  also  das  \A  eiligste;  dieses  aber 
um  desto  gewisser.  Daher  gewinnt  das  ye  die  Kraft  der 
Bejahung.  Viel  wunderlicher  ei'scheint  auf  den  ersten 
Blick  das  deutsche  und  zwar;  in  solchen  Redensarten, 
wie:  Ich  will,  dass  es  geschehe;  und  zwar  sogleich. 
Hierin  liegt  kein  Wenigstens;  und  doch  dient  die  näm- 
liche Partikel,  die  sonst  eine  entfernte  Negation  anmel- 
det, zur  verstärkten  Foderung  oder  Behauptung.  Indes- 
sen ist  der  Fall  dem  vorigen  ähnlich;  denn  eine  Weige- 
rung oder  Leugnung  wird  vorausgesehn ,  welcher  man 
eutgegentrit.  In  jener  Redensart  liegt  eine  Ellipse.  Ich 
will,  dass  es  geschehe,  und  (zwar  wird  man  zö- 
gern, doch  will  Ich  es)  sogleich.  Ebenso  ists  mit 
dem  lateinischen  qui(lcm\  die  Sprachen  untersclieideu  sich 
mehr  durch  häufigem  oder  seltenern  Gebiauch,  als  durch 
die  Bedeutung  der  A'N  orte.  8ie  kommen  darin  iiberein, 
eine  Zuversicht  ungeachtet  der  Beschränkung  auszudrük- 
ken;  nur  enthält  das  griechische  ys  deutlicher  eine  Ge- 
wissheit mitten  in  der  Unge wissheit. 

34.  Um  die  Art  und  Weise,  wie  die  Vorstellungs- 
niassen  sich  beym  Aussprechen  entfalten,  vollständiger 
zu  ei'grüuden ;  oder  (was  dasselbe  ist),  um  aus  dem 
sprachlichen  Ausdruck  die  wahre  innere  Constructiou 
einer  Vorstellungsmasse  zu  erkennen  :  wird  man  sich 
noch  auf  die  Satzbildung  einlassen  müssen.  Es  wäre  er- 
wünscht, wenn  die  Ausdrucks-Weise  Homers  auch  liiezu 


214 

Wiuke  au  die  Haiid  gäbe.  Um  ihr  wenigstens  Etwas 
abzugewinnen,  erinnern  wir  zuerst  an  die  oft  bewunder- 
ten und  gewiss  bewundernswürdigen  Umrisse  der  grös- 
sern Partien  in  den  Homerischen  Kunstwerken.  Wir 
sehen  nicht  bloss  ein  scheinbar  kunstloses  Sammeln  und 
Vei'kniipfeu  kleinerer  Theile  zu  einem  grössern  Ganzen : 
—  so  erwächst  in  der  Ilias  aus  dem  Hader  des  Achill 
und  Agamemnon,  aus  der  iniuria  spreiae  forniae  zweyer 
olympischer  Damen,  aus  einem  Siegslraum  des  Agamem- 
non, aus  der  Prahlerey  des  Paris  und  dem  treulosen  Pfeil- 
schuss  des  Pandaros  ganz  allmälig  die  Gluth  des  Streits 
und  die  Gefahr  iür  die  Schilfe  der  Griechen.  Und  so 
häufen  sich  in  der  Odyssee  die  Leiden  des  Odysseus  aus 
den  mannigfaltigen  Fehltritten  seiner  Gefährten,  aus  sei- 
ner Hache  am  Polyphem ,  aus  dem  Unfuge  der  Freyer 
und  der  Schwäche  der  Volksversanmilung  in  Ithaka  bis 
zu  dem  Grade,  dass  er  im  eignen  Hause  als  Bettler  auf- 
treten und  durch  den  gewagtesten  Kampf  sich  Recht 
schalfen  inuss,  Wir  sehen  noch  mehr;  nämlich  eine 
kunstreiche  Concentratlon  der  Erzählung  dadurch,  dass 
sie  von  einigen  Hauptpuncten  rückwärts  sowohl  als  vor- 
wärts greifend  eine  jMenge  von  Anknüpfungen  möglich 
macht;  daher  ein  reich  ausgestattetes  Ganze  sich  zur 
Übersicht  weit  bec[uemer  darbietet,  als  dies  durch  blosse 
Fortführung  eines  historischen  Fadens  geschehen  würde. 
"VN  Ir  sehen  überdies  das  gemächlichste  Fliessen  der  Er- 
zählung durch  die  kleinsten  Umstände,  deren  Geringfü- 
gigkeit mit  der  Grösse  und  Pracht  anderer  Schilderun- 
gen einen  wohlthätigeu  Contrast  hervorbringt,  welcher 
kaum  irgendwo  das  Gefühl  der  Überspannung  aufkom- 
inen  lässt,  dagegen  eher  und  öfter  ein  Verlangen  der  Ab- 
kürzung aufregt. 


215 

35.  ISIaii  mag  überlegen,  ob  etwas  Analoges  in  dem 
Satzbau  bey  Homer  zu  erkennen  ist.  IMelirenlbeils  bil- 
det schon  ein  einziger  Vers  einen  Salz;  oft  sind  zwey 
Verse  dazu  nölhig;  zuweilen  drey,  selten  vier  und  noch 
seltener  fünf.  Also  keine  langen  Perioden;  auch  nicht 
künstlich  verschränkte  Wortstellungen ;  der  Vers  aber 
Nvird  manchmal  durch  eine  für  den  Gedanken  unnöthige 
Dehnung  gefüllt.  Sehr  häufig  findet  man  das  Verbum 
in  der  Mitte,  das  Object  wohl  eben  so  oft  als  das  Sub- 
ject  vorgeschoben,  dann  aber  hinter  dem  Pradicat  aller- 
ley  nachgeholte  Bestimmungen,  und  an  diese  noch  man- 
cherley  angeknüpft,  welches  den  weitei'n  Verlauf  der  Rede 
veraulasst.  Dabey  eine  sehr  genaue  Anordnung  der  Ge- 
danken, "WO  es  dai-auf  ankommt,  einen  bestimmten  Zu- 
eammenhaug  derselben  auf  einmal  vorzulegen.  Hiervon 
ein  paar  Proben ;  zuerst  bey  einem  minder  bedeutenden 
Gegenstande.  Odysseus  geht  mit  der  Hekatombe  zu  Schiiie 
nach  Chryse;  Ilias  I,  435.! 

—     —     Tijv  ^''  US  ÖQfiov  7iQotQvaaav  igerfiois. 
ix  d  evvag  tßaXov^   y.ara  de  -nQvpvr^oi    tdijOuV 
in  de  Hai  avioi  ßuivov  int  QV/y/iivi  S-aXaoofjs' 
ix  rf'  ixarü/ußijv  ßi]aav  ixijßoXw    A^ioDmvI" 
ix  dh  XQVO%(g  V7;6s  ßij    novronoonio. 
Hier    wird    die  Vorstellung    des   Aussteigens    vestgehal- 
ten,    während    vier    verschiedene   Reihen,    in    gehöriger 
Folge,  von  ihr  auslaufen.     Wichtiger  ist  die  Zusammen- 
stellung dreyer  möglicher  Fälle  in  Ansehung  des  Vertrags 
zwischen  Griechen  und  Trojanern,  IHas  III,  281: 
€1  fiiv  xtv   MeviXaov    jlXi^avÖQos  xaTani(pv>]^ 
uvios  tmid-    ' EXivr^v  kyttu)  y.ui  XTi^ftciTa  navta^ 
tjlLuig  d  iv   rr^iooi  reojji(6&ic   novionögoiüiv' 


1216 

'TQMag  t7retd    EXiVtjv  v,iu  v.Ti^ftaxu  iiuvx  Cmodovvui, 
Tifir^v  d    \tQY^iois  unorirt/uv  ijvriv'  ioixev, 
H  le  xui  tooo/ui'oiot  /m  ih'S(jomotoi  nt).r^%cii. 
ei  ()'  (XV  ejiioi  Ti/n;v  Jlgia/iog  Ugiä/ioiö  ts  naid'eg 
2\veiv  ov»  idtXowiVf  \'i).tlävÖQOio  ntoovTOSt 
uvitiQ  tyvi  nai  tixKTu  /iiuytooo/tat^  eivexcc  noivi;s-, 
UV  dl  fitnor^  t'iwg  ns  teXog  noliuoio  xtyeio). 
Aliiiliche  Pünklliehkeit    der  Auseinauderselzung    des 
Vergangenen,  Jetzigen,  Kiiufligeu,  nach  allen  Rücksich- 
ten, zeigt  sich  im  Gebete  des  Achill,  da  er  den  Palroklos 
entsendet,     llias  XVI,  23G: 

7;  fthv  07]  noT*  ifiüv  i'nog  i'icXveg  eir^a/tievoto. 
tifn]ocig  fitv  tjnl,  fityu  ö*  i'UiciO  /.aov  ^ jiyamv' 
fjd   tri  yal  vvv  ftoi  Tod   iTitHQijrjvov  iiXdviQ' 
avtog  fitv  yuQ  tyio  fuvto)  vr^öiv  iv  ayiövi, 
ciXX   i'jdQov  nefino)^  noXiaiv  /ttstu  31vqjiu^6v6üüi , 
ftüQvciodcit'  TW  Kvdog  ü/ia  ngöeg,   evgvona  Ztv' 
^uQOvrov  öi  Ol  7;toq  tri  ffofotv,  öifQa  vm!  " Ekxioq 
ii'otzuif  ij  ga  neu  oiog  i7iioti;r(xL  noXe/m'^eiv 
ijiiieQog  ■dcQunwv,  i]  01  tots  ytiQsg  uamoi 
fiaivovd^^  onnox   iyd)  mg  iia  psTa  /miöXop  'y/gi;og. 
livrao  iTi€i  ia   vino   vavcpi   fxuyr^v  h'onrjv  re  öir^iat, 
c(Gxi;ß^}'^e  /toi  i'nena  &o(xg  htl  rf^ag  izono, 
levyf.oi  rt  ^vr  iiäoi  xaJ  ctyyejtiüyoig  irügoioiV' 
]Mit  dieser  glänzenden  Klarheit,    die  keiner  ^veilern 
Proben  bedarf,    ist  jedoch    keine  Künslliclikeit   der  Ein- 
schalliuigen  verbunden,     IMan  sehe  z. }),  Hins  XIV,  409, 
wo  Ajas  nach  dem  Heklor  vs  irft : 

lov  /ilv  i'-Ji^n    LiiiiövTci  fnyag  Te)Mfi6viog  jii'ag 
yi{)/iud'l('),  tu  ()ii  jioAA«,  do^Mv  i'y/iuTu  vidi', 
iiug  iivo)  f(uQvci/iiro)v  tyivXivöb'io'  <ivJv  iv  ihioug, 
ojfiJog  ßtßXl^y.^i, 


217 

liier  geht  die  Conslrucllon  übei*  die  Linsclialliiiig  vcilo- 
ren,  oder  wird  wenigstens  so  inideiillich  durch  das  7V)V 
fv  vceiQui;,  dass  man  sie  nur  mit  undankbarer  IMiihc  ver- 
theidigeu  würde.  Anders  wäre  es,  weiui  twj'  weglicle, 
und  yiQfuiöio)V  als  Genitiv  dem  ev  tuigus  voranginge. 

Desto  leichter  verliert  sich  die  Hede  in  Gleichnissen, 
verfolgt  dieselben,  und  bedarf  alsdann  einer  neuen  An- 
knüpfung an  den  Ilauplgegcnsland.  So  llias  X\  I,  bald 
nach  dem  vorhin  angcfülirten  Gebete;  da  die  INlvrinido- 
nen  ausziehn : 

uvTi'y.a  J'e  affii';x6aatv  toiy.öies  f^iyjovjo 
sivodioig,  oi/j?  nalö'es  f:Qidpa.ivovoiv  tdovies-) 
cui  Hegrojitiovieg,  od'iö  i'nt  oiy.i    l'yovias-^ 
vr^niayoi'  ^vvov  dh  tcccy.ov  no/.ieooi  itSewi. 
Tovs  (H'  £t   ^£Q  nagu  ti's  T£  y.tojv  avOQMnog  oöiii^s 
Hivi^oei  i'i6xo)r,  oi  ()'  u).yjpov  i^joQ  l'yovits 
TiQoooo)  viäg  iiiieTaii  xat  ufivrti  oioi  ir/.taaiv. 
iöjv  tote  MvQjiiidöreg  nQudnjv  y,cii  &v}iov  i'yovies 
ix  vr^o)V  tyjovjo. 

AVer  beyni  Lesen  des  Homer  kritischer  Laune  ist, 
der  möchte  wohl,  wenn  auch  die  IMyrmidouen  durch 
die  starkmülhigeu  AYespen  schicklich  bezeichnet  werden, 
doch  fragen,  was  denn  der  uv&Qomos  öd)'ji;s  bedeuten 
solle ;  ja  schon  die  spielenden  Knaben  könnten  überflüs- 
sig ei'scheinen,  da  sie  an  sich  nichts  bedeuten,  sondern 
blos  den  Zorn  der  AVespen  erklären  sollen.  Anstatt  aber 
solcher  Kritik  auch  nur  den  mindesten  Werth  beyz.ule- 
gen,  wollen  wir  vielmehr  dem  Dichter,  der  seine  Ge- 
danken so  rein  und  zwanglos  ausspricht,  vertrauen,  er 
werde  inis  auch  durch  seinen  Salzbau  dasjenige  bezeu- 
gen, was  über  die  nalürlicUe  F,nlfallung  des  Gedankens 


218 

zu  sagen  ist,  der  iii  der  Form  eines  Satzes  seinen  Aus- 
druck sucht. 

36.  Bekanntlich  rechnet  man  zum  Satze  vor  allem 
Subject  und  Pradicat;  dann  die  nächsten  und  eutlerntern 
Objecte,  ferner  die  Nebenbestimmungen  durch  Adjective, 
Participien,  Adverbien,  oder  vermittelst  der  Präpositio- 
nen ;  endlich  die  Conjunctionen ,  falls  solche  dem  Zusam- 
menhange nöthig  sind.  Der  Gedanke,  welcher  soll  aus- 
gesprochen werden,  ist  die  Verbindung  aller  dieser  Theile; 
und  wenn  Jemand,  der  viel  zu  sagen  hat,  irgendwo  un- 
vorbereitet auflrit  um  zu  reden,  so  entwickeln  sich 
seine  Gedanken  erst  während  des  Redens  zu  einer  Rei- 
henfolge von  Worten.  AYie  wird  diese  Reihenfolge  sich 
bihlen? 

Durch  jeden  Satz  will  er  Etwas  aussagen  von  den 
Gegenständen,  die  ihm  vorschweben.  Das,  was  er  ei- 
gentlich sagen  will,  liegt  im  Prädicate;  nur  dass  dieses 
nicht  allgemein,  sondern  schon  in  der  Bestimmtheit,  wie 
es  den  Gegenständen  zukommt ,  gedacht  wird.  Unter 
diesen  Gegenständen  ist  der  Unterschied  des  Subjects  und 
Objects,  wo  beyde  in  dem  Verhältniss  des  Thätigen  und 
Leidenden  stehn,  nicht  wesentlich;  man  kann  die  acti- 
ven  Sätze  auch  in  gleichgeltende  passive  verwandeln, 
deren  Subjecte  die  nämlichen  Gegenstände  sind,  welche 
in  der  activen  Form  die  Stelle  der  nächsten  Objecte  ein- 
nehmen. Da  jedoch  im  activen  Satze  der  Accusativ  das 
Object  anzeigt,  so  kann  der  Gegenstand,  welcher  als  lei- 
dend gedacht  wird ,  falls  dessen  Vorstellung  mehr  her- 
austrit ,  auch  ohne  Hülfe  der  passiven  Form  seinen  Platz 
einnehmen,  wenn  nur  die  Sprache  durch  Ihre  Declina- 
lionsformen  den  yVccusatIv  kenntlich 'genug  macht. 

Wir  bedürfen   hier   der  ßeyspiele,    inid  werden    mit 


219 

deren  Hülfe  deutlicher  seyn  als  es  im  Allgemeinen  mög- 
lich wäre. 

3IyviP  c(€nh,  Qed,  ni]h'jiädeta  ^^yiUjos 

Fragt  man  sich,  in  welcher  Ordnung  hier  die  Gedan- 
ken eigentlich  hervortreten,  so  sieht  man  gleich,  dass 
die  einzelnen  Worte  und  deren  Folge  darauf  keine  hin- 
reichende Antwort  geben.  Ein  Gesang  wird  verlangt ; 
aber  nicht  ein  beliebiger ;  auch  nicht  bloss  von  irgend 
einem  Groll,  sondern  der  verderbliche  Groll  des  Achill 
soll  besimgen  werden.  In  dem  Worte  /ii^vtr  liegt  diese 
Beslinmiung  nicht ,  aber  der  Gedanke  trägt  dieselbe 
gleich  in  sich,  und  dieser  Gedanke  bleibt  der  stehende 
von  Anfang  bis  zu  Ende  des  Verses;  und  selbst  noch 
weiterhin.  Mitten  im  Verse  steht  das  Wort  aeide,  von 
welchem  der  Accusativ  fni-viv  ovXo/iivtjV  abhängt.  Dem- 
nach wird  die  Foderung  eines  Gesanges  weder  früher 
noch  später  gedacht ;  sie  ist  gleichzeitig  mit  dem  unge- 
theilten  Gedanken  des  zu  besingenden  Gegenstandes. 

Hier,  wo  das  Subject  im  Relativum  liegt,  steht  das 
Verbum  am  Ende.  Dies  wird  auf  den  ersten  Blick  zu- 
fällig erscheinen,  besonders  beym  Dichter,  dessen  Wort- 
stellung vom  Verse  grossentheils  bestimmt  wird ;  eine 
Einwendung,  die  bey  jedem  andern  Verskünstler  vom 
gross teu  Gewicht  seyn  w^ürde.  Bedenkt  man  indessen, 
dass  die  deutsche  Sprache,  die  sonst  das  Prädicat  dem 
Accusativ  in  der  Ptegel  voranschickt,  davon  bey  relati- 
ver Anknüpfung  regelmässig  abweicht,  so  kann  mau 
aufmerksam  werden.  Nun  ist  zwar  das  Relativum  beym 
Homer  nicht  sehr  gewöhnlich;  luid  man  könnte  mühsam 
nach  Beyspielen  suchen,  um  zu  finden,  ob  die  INIehrjcaiil 


220 

der  Beysplele  jener  Woi'tslellung  gemäss  sey;  wenn  niclit 
tler  Schiirskalalüg  deren  eine  jMenge  auf  einmal  vorlegte. 
Dort  aber  ist  das  oi'  iö'  'Tgii^v  irt/iovTo,  oi  %  ^ Eltw 
tlyovt  oi'  te  KoQMvetuv y  xal  noil^vS-^  ^j4Xi(xQT0Vi  oi' 
TS  TD.axaiov  t'yov  u.  s.  w.  so  dicht  bey  einander,  dass 
die  entgegengesetzte  Wortstellung ,  wie  o'i  %  eyov  A'i- 
yirav  (llias  II,  562),  gerade  nur  dazu  dient,  um  zu  zei- 
gen, der  Dichter  sey  niclit  durch  eine  Sprachregel  ge- 
bunden; er  hätte  können  viel  öfter,  dem  Verse  zu  ge- 
fallen, den  Accusativ  hinter  das  Verbum  stellen,  und  hie- 
mit  auch  nach  dem  Relativum  das  PiUdicat  in  die  Mitte 
bringen.     Doch  wir  gehn  weiter. 

noXXus  d^  l(pdifiovs  V'vyug  ä'i'^i  i(QoiurpiV 

Hier  gilt  wieder,  was  bey  der  ersten  Zeile  bemerkt 
wurde;  der  Gedanke  trill't  ungetheilt  die  rpvyug  t'gown'', 
mitten  zwischen  den  Worten  steht  das  aTd't  nQo'i'uV'eVi 
welches  von  jenen,  als  dem  Gegenstande,  ausgesagt  wird; 
das  Geschehen  und  der  leidende  Gegenstand  sind  hier 
gleichzeitig.  Alan  folge  dem  Dichter  immer  weiter  nach, 
so  findet  mau  die  Verba  tevye,  —  eTeXn'eTO,  —  diaaTf}- 
T7]V,  —  Ivvhjxe,  —  if'iQOs  —  rjTijiir^oe  —  u. s.w.  so  häu- 
fig zwischen  den  Worten,  wodurch  die  Gegenstände  be- 
zeichnet werden ,  und  verhältnissmässig  so  viel  seltener 
am  Ende  oder  im  Anfange,  dass  schwerlich  ein  Zweifel 
übrig  bleiben  wird,  welche  Wortstellung  sich  als  diejenige 
ankündige,  die  sich  dem  zu  cntwickelndeii  Gedanken  am 
besten  anschliesse.  Doch  wir  wollen  noch  den  Anfang 
der  Odyssee  vergleichen. 

37.  l'ls  kann  kaum  inibemerkt  bleiben,  dass  die  bei- 
den Ankündigungen  der  llias  und  Odyssee  wie  nach  Ei- 
nem INlusler  ccformt  sind. 


"Avö'QCi  fioi  L'rrt'iif,Movoaf  no'/.viQonot',  6<; [tuXu,  noD.ä 

nXi'tyy&i;. 
INichl  irgend  ein  Mann,  sondern  der  vielfach  Undier- 
ge\vorrene  soll  besungen  werden;  die  AN'orle  lirÖQa  7io- 
XvTQonov  bilden  einen  gleich  anfangs  hervorlrelenden, 
luid  mit  dem  i'i'vene  gleichzeitigen  Gedanken,  der  im 
Begriir  ist,  sich  noch  ^veiler  zu  entwickeln.  Das  Re- 
lalivum  ög  hat  sein  Yerbum  hinten,  und  die  nächsten 
AVorte 

in£t   TQoii;g  legov  niohedQov  i'nsQoe 
scheinen  noch  in  derselben  Abhängigkeit  gedacht  zu  seyn. 
Hingegen  in  den  folgenden  Versen 

noXküv  ()'  livÜQconoiv  idev  uorea,  y.ixt  voov  t'yvio' 

noXXci  ä'  öy  iv  növrio  nüd^ev  äXyecc  6v  xard  dv/nor. 
sieht  wieder  das  idev  und  das  na&tv  in  der  jNlitte;  und 
dem  Verse 

avirnv  ya.Q  afp€TiQijoiv  utaGdaXhjoiv  oXovto 
folgt  gleich  ein  Zusatz,    so  dass   beym   öXovJO   der  Ge- 
danke nicht  sinken  kann : 

vijniot,  0?  KUTu  ßovs  vnegiovog    IltXioio 

i'ja&tov  ccvTccQ  6  toioiv  (xtfeiXtro  röort/iov  ij/iag. 
Anstatt  nun  weiter  die  Beyspiele  zu  häufen,  welches 
zu  nichts  führen  würde,  wollen  wir  nur  auf  ein  irülie- 
res  zurückblicken,  und  ein  einziges  Paar  beyfügen.  In 
jener  Stelle,  welche  das  Anlanden  bey  Chryse  beschreibt, 
ist  der  Hauptgedanke  das  Aussteigen;  und  alle  drey  Verse, 
welche  das  Wort  ßaivtiv  enthalten,  haben  es  in  derlMitte. 
Giebt  es  feiner  irgend  eine  Stelle  im  Homer,  welche 
Ruhe  auszudrücken  bestimmt  ist,  so  ist  es  der  schöne 
Vers  (Odyssee  XIII,  92) 

dtj  T07f  y  ccTQe/ius  fvJ't,  XeXuofiivos  öoa  ^neiiov&et. 
Dieser  schliesst  zwar  mit  einem  Zeilwort,  aber  mit  dem. 


222 

welches  von  dein  relativen  '6oa  abhängt ;  der  Hauptge- 
danke Hegt  in  dem  evöe,  welchem  noch  das  XeXaa/nivog 
als  Zusatz  zum  SubjectbegrilTe  nachfolgt.  Nicht  anders 
ist  es  ebendaselbst   79: 

«ai  zw  vijövfioQ  vnvos  i'^it  ßXsrpaQoiai'i'  tnime 
vt^yQETog,  ijöiaros,  davaroi  uyytoTu  ioittoog, 
wo  ebenfalls   über    das   enime   hinaus    die  Bezeichnung 
des  Subjects  sich  vei-längert. 

38.  Bloss  des  Contrastes  wegen,  und  damit  das  eben 
Gesagte  noch  besser  hervortrete,  erinnern  wir  nun  an 
die  bekannte  Gewohnheit  der  römischen  Wortstellung. 
Beym  Cäsar,  der  ohne  Zweifel  der  Sprache  vollkommen 
mächtig  war,  und  sich  in  der  Beschreibung  seiner  Kriege 
zum  Künsteln  keine  Zeit  nahm,  finden  wir  zwar  Stellen, 
welche  dem  Anschein  nach,  der  Homerischen  Redeweise 
ähnlich  sind;  insbesondere  bei  geographischen  Beschreibun- 
gen, wo  auf  allgemeine  Fragen  nach  der  Lage,  Grösse, 
Eintheilung  des  Landes,  Antwort  zu  geben  ist.  Gallia 
est  omnis  divisa  in  partes  tres,  —  una  pars  initium  ca- 
pit  a  flumine  Rhodano,  continetur  Garumna  —  attingit 
Rheuum  —  vergit  ad  Septemtriones.  Belgae  —  perli- 
nent  ad  inferiorem  partem  Rheni.  Ebenso,  wie  hier  im 
Anfange  der  Bücher  vom  Gallischen  Kriege,  lauft  auch 
der  Faden  der  Rede  im  vierten  Buche,  cap.  X.  Mosa 
profluit  ex  monte  Vogeso,  qui  est  in  finibus  Lingonum, 
et  parte  quadam  Rheni  recepta  —  insulam  efficit  Bata- 
vorum.  Rhenus  autem  oritur  ex  Lepontiis  etc.  Mau 
könnte  versucht  werden,  diese  Stellung,  nach  welcher 
dasVerbum  in  der  Mitte  oder  voi'u  seinen  Platz  bekommt, 
bey  allen  Beschreibungen  zu  erwarten.  Allein  um  sich 
vom  Gegentheil  zu  überzeugen,  braucht  man  nur  die  Stelle 
im  sechsten  Buche  aufzuschlagen,  wo  die  Druiden,  und 


1223 

weilei'liln  die  Geriiianen  beschrieben  wertlcn.  Selbst  in 
den  kürzesten  Sätzen,  wo  die  Functionen  der  Druiden 
aufgezählt  werden,  trit  der  Gegenstand  voran;  das  Ver- 
bum  folgt  nach.  Uli  rebus  divinis  inlersunt,  sacrificia 
publica  et  privata  procurant,  religiones  interpretantur ; 
ad  hos  niagnus  adolescentum  numerus  disciplinae  causa 
concurrit.  De  controversiis  constitmuit,  et  si  quod  est 
admissum  facinus,  si  caedes  facta,  si  de  hereditate,  de 
linibus  controversia  est,  iidem  decernunt.  —  Gerniaui 
multum  ab  hac  consuetudine  difFerunt,  uam  neque  Drui- 
des  habent,  qui  rebus  divinis  praesint,  neque  sacrificils 
Student.  Eher  findet  man  in  lebhaften  Erzählungen  Stel- 
len, wo  das  Verbum  vorangeht;  z.  B.  VI,  38:  Erat  aeger 
in  praesidio  relictus  P.  Sextius  Baculus,  qui  —  dieni  iam 
quintum  cibo  caruerat.  Hie  diffisus  suae  ac  omnium  sa- 
luti,  inermis  ex  tabernaculo  prodit;  videt  immiuere  ho- 
stes,  atque  in  summo  esse  rem  discrimine;  capit  arma 
a  proximis  —  seqiiuniur  hunc  cenluriones,  —  relinquit 
animus  Sextium,  —  prucurrunt  equites,  etc.  Aber  hier 
bilden  die  voranstehenden  Verba  eine  Reihe  von  Zustän- 
den, welche  Reihe  soll  zusammengefasst  werden.  Auf 
ähnliche  Weise  soll  aus  den  Zügen,  wodurch  die  Ner- 
vier  charakterisirt  werden  (II,  15),  ein  Bild  hervorgehn; 
quorum  de  natura  moribusc£ue  Caesar  quum  quaereret, 
sie  reperiebat:  milluni  adituni  esse  ad  eos  mercatoribus; 
ulhil  pati  vini,  relic[uarumque  rerum  ad  luxvn-iam  per- 
tinentium,  inferri;  quod  his  rebus  relanguescere  animos, 
eorumque  remitti  virtutem  existimarent.  Esse  homines 
feros,  niagnaequae  virtutis;  increpitare  atque  incusai'e 
reliquos  Beigas,  qui  se  populo  Romano  dedidissent,  et 
patriam  virtutem  proiecisseut.  Confirmare,  sese  neque 
legatos  missuros,  nec^ue  uUam  conditionem  pacis  acceptu- 


224 

ros.  Reyläiifig  bemerken  wir  hier,  tlass  die  Nebensalze, 
welche  mit  quod,  qui,  oder  in  Form  des  Accnsativs  mit 
dem  Infinitiv  angelügt  sind,  das  Verbum  auch  hier  hin- 
ten haben.  Was  die  Lebhaftigkeit  der  Schilderung  an- 
langt, so  würde  diese  allein  schwerlich  eine  Abweichung 
von  der  gewohnten  Wortstellung  veranlasst  haben.  Cä- 
sar konnte  eher  etwas  aufgeregt  seyn,  als  er  den  An- 
griff der  Nervier  beschrieb  (II,  10)  Subito  Omnibus  copiis 
provolaverunt ,  impetumque  in  noslros  milites  fecerunt. 
His  faciie  pulsis  ac  perturbalis,  incredibili  celeritale  ad 
ilnmeu  decucurrerunt,  ut  paene  uno  tempore  et  ad  Sil- 
vas, et  in  llumine,  et  iam  in  manibus  nostris  hostes  vi- 
derentur.  Eadem  autem  celeritate  adverso  colle  ad  no- 
slra  castra,  alque  eos,  qui  in  opere  occupati  eraut,  con- 
tenderunt.  Caesari  onniia  uno  tempore  erant  agenda. 
Yexillum  proponendum,  quod  erat  insigne,  cum  ad  arma 
concurri  opoi'teret.  Signum  tuba  dandum;  ab  opere  re- 
YOcandi  milites;  qui  pauUo  longius,  aggeris  petendi  causa, 
processerant,  arcessendi;  acies  instruenda,  milites  cohor- 
landi,  signum  dandum:  quarum  rerum  magnam  partcm 
temporls  brevitas  et  incursus  hostium  impcdiebat.  INoch 
lebhafter  hebt  sich  die  I-'.rzählinig  da,  wo  der  beyuahe 
iniglückliche  Ausgang,  welchen  die  Schlacht  schon  zu 
nehmen  drohte,  beschrieben  wird.  Ein  Unfall  folgte 
dem  andern;  quibus  rebus  permoli  Treviri,  quorum  in- 
ter  Gallos  virtutis  opinio  est  singularis,  qui,  auxilii  caussa 
a  civilntc  missi,  ad  Caesarem  venerant,  quum  nudtitu- 
diue  hostium  castra  nostra  compleri,  legiones  premi  et 
paene  circumventas  teneri,  calones,  equites,  funditorcs 
Numidas,  diversos  dissipatosque  in  omnes  partes  fugere 
vidissent,  desperatis  nostris  rebus  domum  conlcnderunl ; 
Uomanos   pulsos    superalosque,    caslris   impedimentistjuc 


225 

eonim  hostes  potitös,  civitati  renuntiaverunt.  Caesar, 
ab  decimae  legionls  coliortatlone  ad  dextrum  cornu  pro- 
fectus,  tibi  siios  urgeri,  signisque  in  unuin  locuni  coUalis 
duodeclmae  legionis  milites  confertos  sibi  Ipsis  ad  pugnam 
esse  impedimento,  quartae  cohortis  Omnibus  centurioni- 
bus  occisis,  signiferoque  interfecto,  signo  omisso,  reli- 
quarum  cohortium  Omnibus  fere  centurionibus  aut  vul- 
nei'alis  aut  occisis,  in  liis  primipilo  P.  Sextio  Baculo, 
fortissimo  \iro,  niultis  gravibusque  vulneribus  confeclo, 
ut  iam  se  sustinere  nou  posset,  i^eliquos  esse  lai-diores, 
et  nonnullos  a  novissimis  desertos  proelio  excedere  ac 
tela  vitare;  bestes  necjue  a  fronte  ex  inferiore  loco  sub- 
euutes  iutermitlere,  et  ab  utroque  latere  inslare^  et  rem 
esse  in  angusto  vidit,  neque  ullum  esse  subsidium,  c|uod 
submitti  posset:  scuto  ab  novissimis  uni  militi  detracto 
(quod  ipse  eo  sine  scuto  veuerat);  in  primam  aciem  pro- 
cessit;  centurionibus  nominatim  appellatis,  reliquos  co- 
hortatus  milites,  signa  inferre  et  manipulos  laxare  ius- 
sit,  quo  facilius  gladiis  uti  possent.  Huius  adventu  spe 
illata  militibus,  ac  redintegrato  animo,  cum  pro  se 
quisque  in  conspectu  imperatoris  etiam  extremis  suis 
rebus  operam  navare  cuperet,  paullum  hostium  impetus, 
tardatus  est. 

Der  Moment,  da  Cäsar,  den  ersten  besten  Scbild  er- 
greifend, vortrat,  bat  ibm  obne  Zvs^eifel  in  der  Erinne- 
rung scbon  vorgescbwebt,  indem  er  die  Worte:  ubi  suos 
urgeri  niederscbrieb,  und  das  dazu  gebörige  vidit  noch 
aufschob,  um  sich  das  Gedränge  zu  vergegenwärtigen,  wel- 
ches durch  die  lauge  Einschaltung  geschildert  ist.  Die 
ganze  Masse  der  Ereignisse  musste  sich  in  den  Vorder- 
satz zusammenpressen,  damit  Piaum  wurde  für  den  Um- 
schwung, den  seine  Entschlossenheit  herbeygeführt  hatte. 
Heft  II.  '  P 


226 

Man  sieht  hier  in  einem  grossen  Beysplele  und  nach  ei- 
nem grossen  INIaassstabe,  das  Verhältniss  eines  Vorder- 
satzes, der  seine  Abhängigkeit  gleich  anfangs  durch  die, 
au  die  Spitze  gestellte,  Conjuuclion  ankündigt,  zu  dem 
Nachsatze,  welcher  den  eigentlichen  Hauptgedanken  ent- 
halt. In  diesem  liegt  die  treibende  Kraft  der  ganzen 
Aussage. 

39.  Es  lässt  sich  nicht  leugnen,  dass  im  Ganzen  die 
römische  Prosa  sich  zu  der  Gewohnheit  neigt,  diejenigen 
Verba,  welche  den  Hauptgedanken  des  Prädicats  aus- 
drücken, nach  hinten  zu  bringen;  allein  wenn  man  die 
kunstreichen  Perioden  des  Cicero  näher  betrachtet,  so 
findet  man  sehr  oft  eine  Ähnlichkeit  mit  dem  Homeri- 
schen Salzbau,  nach  welchem  das  Prädicat  in  der  Mitte 
liegt,  und  gewissermaasseu  als  der  Träger  des  Ganzen 
erscheint,  welches  auf  ihm  ruhend  sich  gemächlich  ver- 
breitet. Von  unzähligen  Beyspielen  nur  wenige  Proben. 
Gleich  im  ersten  Capitel  des  ersten  Buchs  de  oratore 
findet  sich  folgendes :  neque  vero  nobis  cupientibus  at- 
que  exoptantibus  fructus  otii  datus  est  ad  eas  artes,  qüi- 
bus  a  pueris  dediti  fuimus,  celebrandas,  interque  nos  re- 
colendas.  —  Tibi  nec[ue  hortanti  deero,  neque  roganti, 
nam  neque  auctoritate  quispiam  apud  nie  plus  valere  te 
potest,  neque  voluutate.  Ganz  in  ähnlicher  Art  geht 
der  Vortrag  fort.  Weiterhin :  cjuocumque  te  animo  et 
cogitatione  converteris,  permultos  excelleutes  in  quocjue 
geuere  videbis  non  mediocrium  artium,  sed  prope  maxi- 
marum.  Und  um  noch  eine  Probe  herzusetzen  von  der 
Art,  das  conditionale  si,  welches  sonst  an  der  Spitze  des 
Vordersatzes  seinen  Platz  hat,  gleichsam  einzuwickeln, 
entnehmen  wir  folgende  wenige  AVorte  aus  den  28steu 
Capitel:  quae  singularum  rerum  artificcs  singula  si  nie- 


227 

diocriter  adcpti  sunt,    probanlur,  ea,   nlsi  onmia  sumnta 
sunt  in  oratore,  proljari  non  possunt.     Eine  solche  Stel- 
lung  ist  aber    ollenbar    nur  Ausnalime;    im  Allgemeinen 
muss    nicht   nur    das  Wenn,    sondern    auch    das  Weil 
vorangehn;    die   Prämissen    verdienen    ihren   Namen,    so 
wie  der  Vordersatz  den  seinigen;  und  es  ist  immer  eine 
Art  von  Inversion,  wenn  die  Behauptungen  früher  aus- 
gesprochen werden    als  die  Beweise.       Doch   dies    hangt 
zusammen    mit   dem  Verhältnisse   des  Subjecls   und  Pra- 
dicats ;    und    eben  davon   ist  jetzt    genauer    zu    sprechen, 
lun  das  Vorige  zusammenfassen  und  erläutern  zu  können. 
40.     Zunächst  blicken  wir   zurück  auf  die  Verschie- 
denheit der  Thatsachen,  welche   uns  beschäfftigt  haben; 
und   zwar    in  Bezug    auf   die  Frage,    in  wie  weit    diese 
Thatsachen  geeignet  sind,   der  psychologischen  Untersu- 
chung  einen   erwünschten   Stoff   darzubieten.      Auf  Be- 
quemlichkeit ist  hier    nicht   zu  rechnen.      Das    am  mei- 
sten Interessante    ist   dasjenige,    was    an  Unbestimmtheit 
und  Schwankung  am  meisten  leidet.     Ganz  vest  liegt  nur 
das  Factum,  dass  die  Laute  der  Worte,  die  Buchstaben, 
in  einer   einmal   geläullg   gewordenen  Sprache,    sich  bcy 
jedem  Gebrauche  in  der  nämlichen  Reihenfolge  reprodu- 
ciren.     Nicht  so  ganz  bestimmt  lässt  sich  das  Thatsäch- 
liche  in  Ansehung  der  Conjuuctionen  hervorheben,  son- 
dern   das  Conventionelle    der  Sprachen   macht   sich   hier 
fühlbar.      Lange  genug  wird  man  darüber   streiten  kön- 
nen, —   wenn  auch  ohne  Grund   und  ohne  Gewinn,  — 
ob  das  griechische  de  mehr  als  eine  coj)ulative,  oder  als 
eine  adversative  Conjunction  zu  betrachten  sey?     Ob  das 
uQc<  zu  den  conclusiven  gehöre,  da  man  es  mit  also  zu 
übersetzen,  oder  kaum  zu  beachten  pflegt?    Ob  das  jitiv 
noch  eine  concessive  Conjunction  heissen  dürfe,  da  man 

P2 


228 

weiss,  dass  oft  genug  die  Übersetzung  durch  unser  zwar 
ganz  unpassend  ist?  Ob  eben  dies  deutsche  zwar,  des- 
sen Stelking  gegen  das  nachfolgende  aber  klar  genug  ist, 
einen  Zusammenhang  mit  dem  streng  veststellenden  und 
zwar  habe,  wodurch  andre,  abweichende  Auffassungen 
zurückgewiesen  werden?  Dies,  und  so  \ieles  Andre, 
was  die  Grenzbestimmung  zwischen  den  Conjuuctionen 
disputabel  macht,  erinnert  uns,  dass  wir  hier  nicht  mit 
solchen  Thatsachen  zu  thun  haben,  die  gleichen  Ranges 
mit  denen,  welche  Im  vorigen  Hefte  behandelt  wurden, 
für  die  Theorie  zu  Prüfsteinen  dienen  könnten; 
sondern  mit  solchen,  die  von  der  Theorie  ihre  Ausein- 
andersetzung erwarten.  Zu  der  grossen  Klasse  der  letz- 
tern gehören  nun  vollends  die,  welche  der  Perlodenbau 
darbietet;  denn  die  Bemerkungen,  zu  denen  er  veranlasst, 
müssen  von  Beysplelen  hergenommen  werden,  welchen 
man,  wie  zahlreich  sie  auch  seyn  möchten,  immer  noch 
andre  Beyspiele  entgegensetzen  kann ;  so  dass  dem  Zwei- 
fel Raum  bleibt,  als  habe  hier  der  Vers,  dort  der  Wohl- 
klang, und  mehr  als  beyde  die  Gewohnheit  über  die 
Sprache  geherrscht.  In  solchen  Fällen  lasst  sich  der 
blossen  Beobachtung,  der  Zusammenstellung  dessen,  was 
factisch  vorliegt,  bey  allem  auch  noch  so  grossen  Reich- 
thum  an  Thatsachen,  doch  nicht  unmittelbar  ein  klares 
und  entscheidendes  Resultat  abgewinnen.  Vielmehr  muss 
die  Theorie  eintreten,  um  das  Wesentliche  vom  Zufälli- 
gen, das  Ursprüngliche  von  den  Umbildungen  zu  unter- 
scheiden. Hier  eröffnet  sich  ein  weites  Feld,  welches 
durch  nachstehende  Bemerkungen  vollständig  zu  durch- 
laufen wir  keinesweges  gemeint  sind. 

41.     Anknüpfend  bey  dem,  was  schon  oben  (36.)  ge- 
sagt war,  bemerken  wir  zuerst,  dass  im  Prädicate  jedes 


229 

Satzes  dasjenige  zu  suchen  ist,  was  vom  Subjecte  soll  ge- 
sagt \verden.  INIag  ein  verbum  activum  oder  passivum, 
oder  intransitiviuu  zum  Pradicate  dienen,  in  jedem  die- 
ser Fälle  drückt  zwar  das  Wort,  welches  der  Sprechende 
gebraucht,  den  allgemeinen  BegrilF  eines  Thuns,  Leidens, 
Zuslandes  aus :  allein  derselbe  versetzt  sich  nicht  in  den 
weiten  Umfang  dieses  Begriffs,  sondern  ihm  schwebt  ge- 
rade der  bestimmte  oder  doch  begrenzte  Fall  vor,  wel- 
cher das  Subject  betrifft.  Bey  dem  Satze:  Cäsar  er- 
oberte Gallien,  denkt  Niemand  an  die  Franken,  welche 
auch  Gallien  erobert  haben.  Bey  dem  Satze:  alle  Köi'- 
per  sind  theilbar,  denkt  Niemand  an  die  Theilbarkeit 
einer  Erbschaft,  oder  an  die  logische  Theilbarkeit  der 
Sphäre  eines  Allgemeinbegriffs.  Während  nun  auf  den 
Umfang  des  Prädicats  nichts  ankommt:  ist  dagegen 
der  Inhalt  des  Subjects  in  Betracht  zu  ziehn.  Dieser 
hat  noch  andre  INIerkmale  ausser  denen ,  welche  das  Prä- 
dicat  angiebt;  und  sehr  gewöhnlich  bezeichnet  das  letztre 
eine  Veränderung  des  Zustandes;  insbesondere  ist  immer 
das  Thua  oder  Leiden  im  Gegensätze  gegen  die  vorige 
Ruhe.  Sagt  man  im  Frühjahr:  die  Bäume  werden 
grün,  oder  im  Sommer:  die  Früchte  werden  reif, 
oder  im  Herbste:  die  Blätter  fallen  ab,  so  hat  man 
Bäume,  Früchte,  Blätter  in  ihrem  früheren  Zustande 
vor  Augen;  aus  welchem  sie  jetzt  heraustreten,  um 
die  Pradicate  anzunehmen.  In  Bezug  auf  Urtheile  die- 
ser Art  kann  man  sagen:  das  Prädicat  (sofern  es  in  dem 
Satze  vorkommt  und  gedacht  wird,)  ist  ganz  verschmol- 
zen mit  dem  Subjecte;  hingegen  das  Subject  nur  theil- 
weise  mit  dem  Prädicat.  Yei^folgeu  wir  die  Pieihe  je- 
ner Beyspiele  bis  zum  Winter,  und  sprechen  etwa:  der 
Schnee  ist  weiss,  so  entsteht  die  Frage:  ob  wohl  Je- 


230 

mand  wirklich  im  Winter  eine  so  triviale  Bemerkung 
vorbringen  möchte?  Und  warum  nicht?  Hier  ist  das 
Subject:  Schnee,  ganz  verschmolzen  (oder  vielmehr 
complicirt)  mit  dem  Prädicate  weiss.  Wer  aber  Frey- 
lieh  zur  logischen  Ijbung,  etwan  im  Vortrage  der  Logik, 
vom  Schnee  aussagt,  er  sey  weiss,  kalt,  locker,  krystal- 
linisch,  der  bildet  aus  den  Älerkmalen  eine  Reihe,  und 
nachdem  diese  Reihe  auseinander  getreten  ist,  findet  sich, 
dass  man  den  Schnee  auch  von  andern  Seiten  betrach- 
ten konnte.  Nun  ist  die  so  zerlegte  Vorstellung  des 
Schnees  nur  theil weise,  nämlich  insofern  man  auf  die 
Farbe  reflectirt,  in  Verbindung  mit  dem  Prädicate;  und 
damit  fallt  dieses,  sammt  allen  ähnlichen  Urtheilen,  mit 
den  vorerwähnten  wieder  in  Eine  Klasse. 

Hieraus  ergiebt  sich  nun  zunächst,  weshalb  das  Sub- 
ject als  das  Vorhergehende,  das  Prädicat  als  das  Nach- 
folgende angesehen,  und  meistens  auch  so  ausgesprochen 
■wird. 

IMan  blicke  zurück  zu  dem ,  was  gleich  anfangs  (3.) 
von  dem  Worte  Hamburg  gesagt  worden.  Der  vorher- 
gehende Vocal  a  war  im  Sinken  begriffen,  als  der  Vo- 
cal  u  vernommen  wurde.  Darum  ist  a  theilweise  mit 
dem  ganzen  (oder  beynah  ganzen)  u  verschmolzen.  Wei- 
terhin ergab  sich,  dass  hierin  unter  Voraussetzung  eines 
Widerstandes  der  Grund  liegt,  weshalb  a  früher  als  u 
reproducirt  wird.  Das  nämliche  ist  nun  auf  Subject  und 
Px'ädicat  anzuwenden. 

42.  Allein  eben  dies  gilt  auch  vom  Prädicate  und 
Objecte.  Nicht  bloss  vom  Cäsar  wäre  mehr  zu  sagen, 
als  dass  er  Gallien  eroberte,  sondern  auch  von  Gallien 
mehr,  als  dass  es  vom  Cäsar  erobert  wurde.  Der  näm- 
Uche   Antrieb,    vermöge    dessen    dieses  Ereigniss    ausge- 


231 

spiocheii  wird,  kann  demnach  sowohl  Gallien  als  den 
Cäsar  voi-anstellen.  Dennoch  isl  die  passive  Form:  Gal- 
lien ^vurde  von  Cäsar  erobert,  nicht  ganz  so  natür- 
lich als  die  active:  Cäsar  eroberte  Gallien.  Der  Un- 
terschied liegt  hier  nicht  in  der  Art,  wie  Subject  und  Ob- 
ject  mit  dem  Prädicate  verbunden  sind;  sondern  in  der  Na- 
tur einer  Handlung.  Diese  geht  vom  Thal  igen  zum  Lei- 
denden; darum  wird  mit  Recht  die  active  Form  als  die 
primitive  angesehen;  die  passive  als  die  umgewandte. 

43.  Nun  aber  treten  in  Ansehung  derjenigen  Ent- 
wickelungen,  welche  dem  Subjecte,  dem  Prädicate,  dem 
Objecte  angehören,  die  grössten  Verschiedenheiten  hervor. 
Jedes  von  bliesen  kann  sich  zu  einer  Reihe,  oder  zu  ei- 
nem Geflechte  von  mehrern  Reihen  ausdehnen.  Ist  der 
thätige,  oder  auch  der  leidende  Gegenstand  (letzterer 
entweder  in  der  passiven  Form  als  Subject,  oder  in  der 
activen,  vermöge  des  Accusativs)  vorangestellt  worden, 
und  soll  nun  gleich  seine  Picihe  sich  ausdehnen,  so  muss 
das  Prädicat  warten,  bis  es  zum  Worte  gelangen  kann; 
dieser  Stillstand  ist  aber  nicht  ohne  Zwang  gegen  den 
psychischen  Älechanlsmus  möglich.  Gemächlicher  fliessen 
die  Gedanken,  wenn  bald  nach  Ankündigung  des  Gegen- 
standes (gleichviel  ob  des  leidenden  oder  thäligen)  das 
Prädicat  ausgesprochen  wird,  und  nun  erst  die  vestge- 
haltene  Vorstellung  des  Gegenstandes  sich  vollends  aus- 
breitet, fortwährend  getragen  durch  das  immer  noch  ge- 
genwärtige Prädicat. 

Es  wird  kaum  nöthig  seyn,  hier  noch  gegen  eine  Ein- 
bildung zu  warnen ,  die  nur  dem  ganz  oberflächlichen 
Beobachter  begegnen  könnte,  nämlich  als  ob  wirklich 
die  Gedanken  so  kämen  und  gingen,  wie  die  Wortlaute 
nach  einander   ins  Ohr  fallen,  oder  wie  die  Buclistabea 


232 

sich  vor  den  Augen  in  Reih'  und  Glied  stellen.  Die  ganze 
Bewegung  der  Vorstellungen  ist,  wie  man  längst  weiss, 
nur  ein  Schwanken  mit  geringem  Übergewicht  der  einen 
über  der  andern.  TSlan  rufe  zurück,  was  oben  (36.)  über 
den  Homerischen  Satzbau  gesagt  wurde. 

44.  Offenbar  jedoch  ist  diese  bequeme  Art,  die  Vor- 
stellung des  Gegenstandes  gleichsam  über  das  Prädicat  hin- 
weg fortlliessen  zu  lassen,  nicht  immer  möglich.  Dann 
nämlich  nicht,  wenn  beyde,  Subject  und  Prädicat,  oder 
vollends  alle  drey,  Subject,  Object  und  Prädicat,  auf  eine 
weitere  Entwickelung  Anspruch  machen.  Hier  verengen 
sie  sich  den  Raum,  treten  einander  in  den  Weg;  imd  es 
bleibt  nichts  übrig,  als  dass  eins  aufs  andre  warte,  bis 
Platz  wird. 

Dies  nun  ist  ganz  besonders  bey  Vordersätzen  und 
Nachsätzen  der  Fall;  das  heisst,  da,  wo  das,  was  man 
eigentlich  sagen  will  —  der  Nachsatz  —  nur  als  verbun- 
den mit  einer  Voraussetzung,  die  selbst  schon  die  Form 
eines  Satzes  hat,  vorgetragen  wird.  Der  Vordersatz  bil- 
det hier  das  Subject,  der  Nachsatz  das  Prädicat.  Ander- 
wärts (in  der  Logik)  ist  bemerkt,  dass  die  sogenannten 
kategorischen  Sätze  (wie:  v4  ist  B),  wenn  man  sie  streng 
nur  als  Urtheile  auffasst,  in  die  Klasse  der  hypotheti- 
schen zurückfallen  (wenn  imd  inwiefern  A  gedacht  wird, 
kommt  ihm  B  als  Merkmal  zu).  Hier  können  wir  bey- 
fügen,  dass  der  gewohnten  Art,  kategorische  Sätze  mit 
Voraussetzung  des  Daseyns  oder  doch  der  Gültigkeit  ih- 
rer Subjecte  auszusagen,  diejenigen  Vordersätze  analog 
sind,  welche  mit  weil  oder  nachdem,  oder  irgend  ei- 
ner solchen  Partikel  beginnen,  wodurch  das  schwankende 
wenn  von  der  Ungcvvissheit,  die  es  ausdrückt,  und  von 
dem  Vorbehalt,  es  zurückzunehmen,  befreyet  wird. 


233 

In  allen  solchen  Verbindungen,  ^vo  ganze  Salze  an 
die  Stelle  der  blossen  Begriffe  treten,  wird  jenes  Aus- 
dehnen uölhig ;  mul  auch  Homer  konnte  hier  seineu 
sonst  so  bequemen  Satzbau  nicht  anbringen.  Eine  andre 
kunstreiche  Verbindung  bietet  er  uns  in  jenem  Beyspiele 
des  Vertrags  mit  den  Ti'ojanern  dar  (35.).  Agamemnon 
will  sagen:  auf  den  Ball,  dass,  wenn  Paris  unterliegt, 
die  Trojaner  mir  nicht  genügen,  so  werde  ich  den  Krieg 
fortsetzen.  Hier  liegt  eine  Bedingung  in  der  andern ; 
eine  neuere  Sprache  möchte  sich  Yielleicht  nicht  besser 
zu  helfen  wissen,  als  durch  das  copulative  und.  „Wenn 
Paris  fällt,  und  wenn  alsdann"  u.  s.w.  Diese  Copulation 
bildet  zwar  .eine  richtige  Zeitreihe;  aber  sie  drückt  die 
Bedingtheit  der  Bedingung,  dass  die  Trojaner  nicht  ge- 
nügen, nämlich  durch  die  Voraussetzung,  Paris  sey  ge- 
fallen, nicht  ganz  so  deutlich  aus,  als  dieses  die  Home- 
rischen Worte :  AXt^uvÖQOio  neaövTOS  leisten,  welche 
dem:  et  ()'  uv  tfioi  iifir^v  lireiv  ovx  id^elwatp  beyge- 
lügt  sind.  INachdem  auf  diese  Weise  der  Vordersatz  be- 
seitigt ist,  bleibt  offener  Raum  lür  die  kräftige  Ei'klä- 
rung,  der  Krieg  solle  fortgehu,  bis  die  Trojaner  wer- 
den gebüsst  haben. 

45.  Es  wird  nun,  im  Allgemeinen  wenigstens,  ein- 
leuchten, dass  für  solche  Darstellungen,  worin  bey  je- 
dem Gegenstande  auf  Vielerley  zugleich  Rücksicht  zu  neh- 
men ist,  also  für  den  rhetorischen,  historischen,  philo- 
sophischen Vortrag,  sich  ein  Periodenbau  allmälig  aus- 
bilden musste,  woi'in,  durch  die  Eutwickelung  des  Sub- 
jects  und  der  Vordersätze,  das  Prädicat  mit  den  ihm  an- 
gehörigen  Bestimmungen  nach  hinten  gedrängt  wurde; 
so  dass  nun  mehr  Kunst  dazu  gehörte,  es  nur  nicht  im- 
mer ans  Ende  zu  stellen,  sondern  zur  Abwechselung  es 


234 

manclinial  der  Mitte  näher  zu  bringen,  und  wenigstens 
deniVerbum  einen  frühem  Platz  zu  verschaffen,  über  wel- 
chen dann  ein  Theil  der  Rede  hinweglliessen  mochte. 

Nur  Eines  Umstandes  erwähnen  wir  noch,  der  oben 
schon  berührt  wurde;  dessen  nämlich,  dass  in  Zwischen- 
sätzen, die  mit  dem  Pronomen  relalivum  beginnen,  das 
Verbum  noch  häufiger  als  sonst,  nach  hinten  zu  i'ücken 
liflegt.  Wenn  das  Subject  schon  im  Vorhergehenden  liegt, 
und  nur  durchs  Relativum  noch  braucht  darauf  hinge- 
wiesen zu  werden ,  so  wirkt  der  vom  Prädicate  aus- 
gehende Antrieb,  welchem  in  Ansehung  des  Subjects 
schon  genügt  ist,  desto  eher  aufs  Object;  und  umgekeiirt, 
wenn  auf  das  Object,  als  dem  schon  Hervorgehobenen, 
nur  hinzudeuten  ist,  dann  treibt  das  Prädicat  desto  leich- 
ter aufs  Subject;  in  beyden  Fällen  bekommt  das  Verbum 
die  letzte  Stelle ;  doch  wird  man  sich  nicht  wundern, 
wenn  in  den  beweglichen  Sprachen  des  Alterthums  der 
geringste  Umstand  irgend  eines  Nachdrucks,  der  auf  dies 
oder  jenes  Wort  soll  gelegt  werden,  einer  so  wenig  noth- 
"wendigen  Anordnung  entgegentreten  und  dieselbe  abän- 
dern kann. 

46.  Was  die  Coujunctionen  anlangt,  so  liegt  der  Un- 
terschied der  cumulativen  von  den  copulaliven  offenbar 
darin,  dass  bey  jenen  die  Vorstellungen  zusammen  im 
Steigen  begriffen  sind,  während  bey  diesen  das  vorige 
Glied  sinken  mag,  indem  das  folgende  dazu  trit.  Hier- 
über ist  eine  frühere  Abhandlung  *)  zu  vergleichen ;  und 
nur  dabey  zu  erinnern ,  dass  dort  von  einfachen  Vorstel- 
lungen die  Rede  war,  hier  aber  von  Gedanken,  die  nicht 
bloss  ganze  Worte,  sondern  oft  schon  ganze  Sätze  zu 
ihrer  Bezeichnung  nölhig  haben.  Schien  dort  der  Fall, 
*)  Dif:  letzte  des  ersten  Helles. 


233 

dass  ein  vorhergehendes  Glied  einer  Reihe  sinkt,  wäli- 
rend  ein  folgendes  steigt,  vex'haltnissniässig  seilen,  und 
der  andre  Fall,  dass  die  frühere  Vorstellung  noch  steigt, 
während  sie  von  der  folgenden  überstiegen  ist,  häufiger 
vorzukommen:  so  wird  dagegen  bey  zusammengesetzten 
Vorstellungen  zu  erwarten  seyn,  dass  die  oben  (20.)  er- 
wähnte specilische  Schwere  derselben  ein  Ilinderniss  des 
Steigens  ausmachen  werde;  daher  dann  die  Cumulatiou 
leicht  seltener  werden  kann,  als  die  blosse  Copidalion. 
Bekanntlich  zeigen  aber  die  alten  Sprachen  oft  genug 
die  Cumulation  bestimmt  an,  während  es  in  den  neuern 
bey  der  Copulation  sein  Bewenden  hat. 

47.  Von  dem  Zwar  und  Aber,  desgleichen  vom 
Entweder  Oder  ist  kavun  nöthig  noch  etwas  anzumer- 
ken. Da  hierin  Negationen  verborgen  sind ,  so  sieht  man 
sogleich,  dass  in  Einer  Vorstellungsmasse  meh- 
rere Reihen  liegen,  die  in  ihrer  Eutwickelung 
sich  gegenseitig  hemmen.  IMan  gehe  nun  zurück  in 
den  Anfang  der  Betrachtung  (32.  24.).  Was  gegen  die  Hem- 
mung anstösst,  ist  insofern  einVerneintes,  worüber  das  All- 
gemeine längst  anderwärts  vorgetragen  worden  *).  Dass 
eine  Verneinung  als  bevorstehend  sich  anmeldet  in  dem 
Zwar,  sich  ausspricht  im  Aber,  in  Erinnerung  gebracht 
wird  durch  das  Sondern,  zurückgewiesen  wird  durch 
das  Doch,  liegt  in  den  obigen  Entwickelungen ;  das  Ent- 
weder Oder  ist  ebenfalls  betrachtet  worden;  man  weiss, 
dass  es  einen  Punqt  voraussetzt,  von  wo  mehrere  Vorstel- 
lungsreihen  ausgehn;  überdies,  dass  es  ausser  der  gegensei- 
tigen Verneinung  noch  dieUngewissheit  des  Wenn  in  sich 
schliesst.  Wir  brauchen  jetzt  nicht  auch  noch  an  das  Ob 
und  das  Damit  zu  erinnei'u,  um  zum  Resultate  zu  gelangen. 

»)   Psychologie   §.123. 


236 

Es  Ist  nämlich  mm  leicht  genug,  den  Hauptgedanken 
aus  Allem,  was  über  die  Conjunctionen  gesagt  worden, 
hervorzuheben ;  —  und  liiemit  zugleich  die  Verwandt- 
schaft der  Conjunctionen  mit  den  Kantischen  Kategorien) 
sofern  dieselben  aus  der  Urtheilsform  entsprungen  seyn 
wollen,  darzuthun.  Indessen  ist  zu  bevorworten,  dass 
von  der  metaphysischen  Bedeutung  der  Begriffe,  welche 
Kant  unter  die  Kategorien  versetzte,  keinesweges  die 
Rede  ist ;  mithin  weder  von  der  Substanz  noch  von  der 
Ursache  —  worüber  auf  die  Metaphysik  zu  verweisen 
wäi-e,  —  sondern  vom  kategorischen  und  hypothe- 
tischen Denken,  vom  Fortschreiten  des  Vorstel- 
lens  im  Bereiche  des  Vielen,  sey  es  Mehr  oder 
Weniger,  von  der  stärkern  oder  schwächern 
Assertlou,  wenn  das  Wirkliche  zwischen  dem 
INIögllchen  und  Nothwendigen  erscheint;  kurz 
von  dem,  was  von  den  Kategorien  übrig  bleibt,  wenn 
man  die  eigenthümliche  Bedeutung  jedes  einzelnen  Be- 
griffs bey  Seite  setzend  bloss  den  Umstand  vesthält,  dass 
ihr  ursprünglicher  Sitz  in  den  Urthellsformen 
sollte  nachgewiesen  werden.  Was  war  In  diesen 
Urthellsformen  zu  finden  ? 

48.  Auf  drey  Puncte,  auf  die  Reihenform,  die  Ne- 
gation, die  Gewissheit,  lässt  sich  das  Wesentliche  reduciren. 

Der  Reihenform  gehören  die  copulativen  und  cumu- 
lativen  Conjunctionen;  auch  das  aQa,  welches  auf  seiner 
Stelle  stehen  bleibt  oder  auf  die  alte  Stelle  zurückwei- 
set, ebenso  das  jiuv  und  ds,  welches  sich  nach  verschie- 
denen Richtungen  verbreitet.  Der  Reihenform  gehört  In  , 
den  Urtheilen  das  Umhervvandern  im  Gebiete  der  Viel- 
heit, möge  man  sich  zur  Allheit  ausdehnen  oder  auf  Ein- 
heit conceutriren. 


237 

Das  Reich  der  Negation  liaben  wir  bey  den  Conjun- 
cllonen  gross  und  mannigfaltig  genug  gefunden;  wahrend 
das  Ja  und  Nein  von  der  Urtheilsform  gerade  die  Grund- 
lage ausmacht. 

Gewissheit  trit  im  Weil  und  Denn,  und  im  katego- 
rischen Urtheile  hervor,  sofern  man  es  (gleichviel  hier 
ob  logisch  giillig,)  dem  hypothetischen  Urtheile  entge- 
gensetzt. Ungewissheit  dagegen  findet  sich  im  Wenn, 
im  Entweder  Oder,  vollends  im  Ob.  Die  nämliche 
Ungewissheit  liegt  im  hypothetischen  und  disjunctiven 
Urtheile;  und  überdies  auch  in  dem  Gegensatze  des  bloss 
Möglichen  gegen  das  Wirkliche  und  gegen  dessen  gestei- 
gerte Gewissheit  im  Nothwendigen ;  wobey  zu  bemerken, 
dass  der  Unterschied  der  Gewissheit  und  Ungewissheit 
zwar  nicht  ausschliessend  aber  doch  vorzugsweise  von 
dem  Unterschiede  zwischen  den  zugleich  sinkenden  und 
den  zugleich  steigenden  Vorstellungen  herrührt.  Denn 
die  letztern  sind  es,  welche  sich  eine  Gedankenwelt  bauen, 
deren  meistens  sehr  unsicheres  Verhältnlss  zur  wirklichen 
die  Erfahrung  jeden  Augenblick  von  neuem  in  Erinne- 
rung bringt.  Aus  solchen  Erinnerungen  entspringt  die 
Gewohnheit  des  Rückzugs  aus  dem  Ungewissen  ins  Ge- 
wisse, welchen  das  den  Griechen  habituelle  ye  ausdrückt. 

49.  Was  nun  die  Reihenform  und  die  Gewissheit  an- 
langt, so  kann  zwar  das  Urthell  von  dort  her  Bestim- 
mungen annehmen;  aber  sie  entspringen  nicht  aus  ihm; 
sie  sind  der  Urtheilsform  nicht  wesentlich.  Wenn  man 
spricht :  das  Brod  ist  theuer,  so  ist  der  Quantität  nach 
das  Urtheil  allgemein  für  den  Ort,  wo  es  theuer  ist; 
aber  particulär  für  die  Zeit,  denn  nicht  immer  war  und 
bleibt  es  theuer;  die  Quantität  hängt  ab  von  der  Auf- 
fassung des  Subjecls.     Wer  da  spricht:  wenn  der  Mond 


238 

aufgellt,  so  wird  der  Weg  hell  genug  zum  Pieisen,  der 
mag  wissen  oder  nicht  wissen,  ob  es  jetzt  Neumond 
oder  Vollmond  sey;  die  Urtheilsform  bleibt  die  näm- 
liche, obgleich  das  Urtheil  zwischen  Gewissheit  imd  Uu- 
gewisshcit  schwankt.  Wesentlich  für  die  Fornr  des  Ur- 
theils  ist  von  den  angegebenen  Arten  allein  das  Ja  luid 
Nein;  wenn  dies  weggenommen  wird,  giebt  das  Urtheil 
keine  Entscheidung;  es  ist  nicht  mehr  Urtheil  sondern 
Frage.  Denn  in  der  Frage  liegt  das  Yerhältniss  zwi- 
schen Subject  und  Pradicat,  welches  vom  tJrtheil  nur 
die  erste  Grundlage  ausmacht. 

Sollte  also  den  Einthellungen  der  Urtheile,  welche 
in  der  Logik  vorkonunen,  noch  etwas  IMehr  abgewon- 
nen werden  als  die  Kategorien  Piealitat  und  Negation, 
—  oder,  wie  es  eigentlich  hätte  heissen  sollen,  die  Be- 
griffe des  Bejahten  und  Verneinten  *),  —  so  mussten 
tiefer  liegende  Gründe,  sowohl  von  den  Vorstellun- 
gen der  Reihenform,  als  der  Gewissheit  und  Un- 
gewissheit,  aufgesucht  werden.  Das  Wesentliche  der 
Uilheilsform  reichte  nicht  hin.  Und  selbst  von  der  Ver- 
neinung würde  man  umsonst  versuchen  nachzuweisen, 
dass  sie  ausschliesslich  nur  in  den  Urtheilen  entspringe, 
während  sie  vielmehr  dem  Vermissen  und  Entbehren 
verwandt  ist. 

50.  Kant  hat  zwar  von  seinen  Kategorien  die  man- 
nigfaltigsten Anwendungen  gemacht;  besonders  von  den 
vier  Begriffen  Quantität,  Qualität,  Relation  und  INIodali- 
tät,  die  eigentlich  seine  Haupt -Kategorien,  nicht  aber 
blosse  Überschriften  und  Rubriken  sind.  Allein  an  der 
Stelle    der  Vernunftkrilik,    wo    der  Sitz    der   Lehre    ist, 

*)  Von  eigentlicher  Realität  kann  hier  gar  nicht  die  Rede  seyn. 
Vergl.  IVIelaphysiii  I.  §.  37. 


239 

sieht  man  iliii  weit  weniger  mit  der  Verscliiedeuheit  der 
Kategorien,  als  vielmehr  mit  der  Behauptung  beschäirtigt: 
die  Kategorien  seyeu  sämmllich  nur  zum  Erfahrungs-Ge- 
brauche  bestinmit.  Hier  ist  die  Gegend,  von  wo  später- 
hin  die  Fichtesche  Icldehre   ausging. 

51.  Fichte  gei'ielh  in  die  Widersprüche  des  ideali- 
stischen Ich,  welches  sich  als  Totalität  der  Realität  se- 
tzen sollte,  statt  dessen  aber  sich  durch  ein  ungeheures 
Nicht-Ich  (die  gesammte  Aussenwelt)  begränzt  setzt,  und 
hiemit  sich  selbst  verneint.  Dabey  kam  der  Widerspruch 
in  dem,  seiner  nothwendigen  Beziehungen  beraubten, 
nackt  hingestellten  Begriffe  des  Ich  zum  Vorschein,  nach 
welchem  sich  das  Ich  nicht  bloss  in  Object  und  Subject 
spaltet,  sondern  auch  mitten  in  der  Spalte  das  wahre 
Ich  liegen  soll,  nämlich  die  Identität  beyder  Entgegen- 
gesetzten. Dass  die  blosse  Analyse  der  Ichheit,  wenn 
man  die  nothwendige  synthetische  Untersuchung  (die 
nicht  im  Ich  stecken  bleiben  darf)  uuterlässt,  nichts 
Anderes  ergeben  kann  als  diesen  Widerspruch,  daran  zu 
denken  war  Kant  weit  entfernt.  Ihn  beschäfftigte  eine 
ganz  andre  Synlhesis;  eine  solche,  die  längst  vor  Augen 
lag,  und  die  er  viel  zu  weit  herholte,  indem  er  dazu 
eigener  Handlungen  des  Geistes  zu  bedürfen  meinte.  Er 
fragte  sich :  wie  doch  das  IMannigfaltige  der  Wahrneh- 
mung in  die  Vorstellung  Eines  Ob jects  zusammentreten 
möge  ?  Und  er  antwortete :  „die  Einheit  der  Apperce- 
„plion  ist  diejenige,  durch  welche  alles  in  einer  An- 
„schauung  gegebene  IMannigfaltige  in  einen  Begriff  vom 
„Object  vereinigt  wird"  '').  Ferner:  „unter  der  Synthe- 
-,,sis  der  Appreheusion  verstehe  ich  die  Zusammensetzung 
„des   Mannigfaltigen    in    einer    empirischen    Anschauung, 

*)  Kritik  der   reinen  Vernunft   §.  18. 


240 

„wodurcli  Wahrnelimimg  möglich  wird"  *).  Und  einige 
Zellen  weiterhin :  „Wenn  ich  die  empirische  Anschauung 
„eines  Hauses  durch  Apprehension  des  JMannigfaltIgen  der- 
„selben  zur  Wahrnehmung  mache,  so  Hegt  mir  die  noth- 
„wendige  Einheit  des  Raums  zum  Grunde;  —  wenn  ich 
„das  Gefrieren  des  Wassers  wahrnehme,  so  apprehendire 
„ich  zwey  Zustände,  Flüssigkeit  und  Vestigkeit  als  solche, 
„die  in  einer  Pielatiou  der  Zeit  gegen  einander  stehen." 
Nun  sollen,  nach  Kant,  Pvaum  und  Zeit  schon  selbst 
Anschauungen  seyn ;  sie  sollen  ein  JManuIgfaltlges  ent- 
halten, verbinden,  vereinigen;  sie  sollen  Bedingungen 
aller  Wahrnehmung  seyn,  und  hieniit  auch  die  Bedin- 
gung der  Syuthesis  aller  Apprehension  enthalten.  Und 
diese  Synthesis  soll  eine  andere  voraussetzen,  die  nicht 
den  Sinnen  angehört.  Denn:  „die  synthetische  Einheit 
(welche  als  Bedingung  der  Synthesis  aller  Apprehension 
schon  mit  jenen  Anschauungen  gegeben  Ist),  kann  keine 
andre  seyn ,  als  die  Verbindung  des  JMannIgfaltigen  einer 
gegebenen  Anschauung  überhaupt  in  einem  ursprüng- 
lichen Bewusstseyn,  den  Kategorien  gemäss,  nur 
auf  unsere  sinnliche  Anschauung  angewandt." 
Schon  vor  dieser  Stelle  findet  man  **)  den  Satz:  „die  Ein- 
heit der  Anschauung  ist  allein  möglich  durch 
die  ursprüngliche  synthetische  Einheit  der  Ap- 
perception";  und  noch  früher  **''')  ist  diese  ursprüng- 
liche Apperceptlon  erklärt  als  dasjenige  Selbst  be- 
wusstseyn, was,  indem  es  die  Vorstellung:  Ich  denke 
hervorbringt,  die  alle  andern  muss  begleiten  können,  — 
und  in  allem  Bewusstseyn  ein  und  dasselbe  ist,  —  von 

*)  Kritik  der  reinen  Vernunft  §.  26. 
**)  Ebendas.  §.  20. 
***)  Ebendas.  §.  16. 


241 

keiner  weiter  begleitet  werden  kann.  —  So 
sehr  verlegen  war  Kant  wegen  der  Verbindung  aller, 
zur  Wahrnehniung  eines  Objccts  (des  Hauses,  des  Was- 
sers II.  dgl.)  gcliörigcn  Tiieil -Vorstellungen,  dass  er,  an- 
sialt unmittelbar  deren  Gestaltung  in  Betracht  zu  ziehn, 
erst  den  Raum,  „als  Gegenstand  vorgestellt,  wie  man  es 
in  der  Geometrie  bedarf",  und  auf  ähnliche  Weise  die 
Zeit,  zu  Hüire  rief;  und  dann  noch  den  Verstand  in 
Bewegung  setzte,  um  vermittelst  der  Kategorien  endlich 
den  vesten  Einheitspunkt  des  Selbstbewusstseyns  zu  er- 
reichen. Denn  so  lautet  seine  Aussage:  „Ein  Mannig- 
„faltiges,  das  in  einer  Anschauung,  die  ich  die  meinige 
„nenne,  enthalten  ist,  wird  durch  die  Synthesis  des 
„Verstandes  als  zur  nolhwendigen  Einheit  des  Selbslbe- 
„wusstseyns  gehörig  vorgestellt,  und  dieses  geschieht 
„durch  die  Kategorie"  *). 

Fichte  hingegen  scheint  aus  der,  nicht  wenig  verwor- 
renen Kantischen  Kategorien -Lehre  sich  vorzugsweise 
den  Satz  heraus  gelesen  zu  haben:  „Wie  aber  das  Ich, 
der  ich  denke,  von  dem  Ich,  das  sich  selbst  anschauet, 
unterschieden,  und  doch  mit  diesem  letztern  als  das- 
selbe Subject  einerley  sey;  wie  ich  also  sagen  könne:  Ich, 
als  Intelligenz  und  denkendes  Subject,  erkenne  mich 
selbst  als  gedachtes  Object,  sofern  ich  mir  noch 
üb  er  das  in  der  Anschauung  gegeben  hin  (nur, 
gleich  andern  Phänomenen,  nicht  wie  ich  vor  dem  Ver- 
stände bin,  sondern  wie  ich  mir  erscheine),  hat  nicht 
mehr  und  nicht  weniger  Schwierigkeit,  als  wie  ich 
mir  selbst  überhaupt  ein  Object,  und  zwar  der  An- 
schauung und  innerer  Wahrnehmungen  seyn  könne." 
Hätte  sich  Kant  selbst  ei^nstlich  mit  dieser  Fi'age  beschalf- 

*)  Ebcndas.  §.  21. 

Heft  II.  Q 


242 

tigt,   so  wäre  seiue  Lehre,  und  liiemit  ,die  ganze  neuere 
Philosophie,  eine  andere  geworden. 

52.  Ein  starkes  Zeiclien,  dass  Kant  diesen  Theil 
seiner  Untersuchungen  nicht  durchgearbeitet,  nicht  zur 
Reife  gebracht  hatte,  liegt  in  der  gänzlich  vernachlässig- 
ten, und  dennoch  sich  unmittelbar  aufdringenden  Frage: 
warum  wird  nicht  das  Haus  mit  dem  Baum  daneben, 
mit  dem  IMenschen  davor,  —  warum  nicht  das  AYasser 
mit  seinem  Gefässe  als  Eins  aufgefasst?  Die  Synthesis, 
welche  in  der  Vorstellung  des  Raums  schon  liegt,  die 
Einheit  des  Selbstbewusstseyns,  worin  jene  Vorstellun- 
gen als  die  meiuigen  zusammentreten,  sammt  dem  be- 
gleitenden: ich  denke,  und  sammt  allen  Kategorien, 
alles  dies  steht  bereit,  um  noch  viel  mehr  Mannigfalti- 
ges, als  das,  was  zu  Einem  Objecte  geliört,  zu  vereini- 
gen. Woher  nun  Begränzung  und  hiemit  Gestaltung 
der  Objecte  ? 

Das  ist  leicht,  möchte  Einer  sagen.  Man  sieht  ja 
die  Dinge  sich  bewegen.  Die  Menschen  gehn  vor  dem 
Hause  vorüber;  das  Wasser  wird  ins  Gefäss  hinein  und 
wieder  heraus  gegossen. 

Aber  diese  natürliche  Antwort  scheint  sehr  fern  ge- 
legen zu  haben;  denn  Kant  sagt  in  einer  Note:  „Bewe- 
gung eines  Objecls  im  Räume  gehört  nicht  in  eine  reine 
Wissenschaft,  folglich  nicht  in  die  Geometrie;  weil,  dass 
etwas  beweglich  sey,  nicht  a  priori,  sondern  nur  durch 
Erfahrung  erkannt  werden  kann.  Aber  Bewegung,  als 
Beschreibung  eines  Raumes,  ist  ein  reiner  Actus  der 
successiven  Synthesis  des  JMannigf altigen  in  der  äussern 
Anschauung  überhaupt  durch  productive  Einbildungs- 
kraft (später  ein  Lieblingswort  Fichte's,)  und  gehört 
nicht   allein    zur  Geometrie,   sondern   sogar    zur  Trans- 


243 

sceudental- Philosophie."  So  vertiefl  war  Kaut  in  die 
Synthesis,  dass  ihn  die  Frage  nach  der  Sonderung  und 
Gegenüberstclhing  der  Objecte  gar  nicht  zu  berühren 
schien.  Und  doch,  wenn  ein  Gegenstand  verschiedene 
Theile  hat,  kann  er  nicht  einmal  als  Ein  Ganzes  aufge- 
fasst  werden ,  bevor  seine  Theile  gesondert  sind ;  denn 
ohne  Theile  giebt  es  kein  Ganzes. 

53.  Will  man  sich  in  die  Kantische  Kategorien- 
Lehre  vollständiger  hinein  versetzen ,  so  ist  dienlich, 
jene  berühmte  Stelle  in  Betracht  zu  ziehen,  welche  uer 
Unterscheidung  zwischen  Phänomenen  und  Noumenen 
voransteht.  „Wir  haben  jetzt  das  Land  des  reinen  Ver- 
standes nicht  allein  durchreiset,  und  jeden  Theil  davon 
sorgfältig  in  Augenschein  genommen ,  sondern  es  auch 
durchmessen,  und  jedem  Dinge  auf  demselben  seine  Stelle 
bestimmt.  Dieses  Land  aber  ist  eine  Insel,  und  durch 
die  Natur  selbst  in  unveränderliche  Gräuzen  eingeschlos- 
sen. Es  ist  das  Land  der  Wahrheit,  umgeben  von  einem 
weiten  und  stürmischen  Ocean,  dem  eigentlichen  Sitze 
des  Scheins,  wo  manche  Nebelbank  und  manches  bald 
wegschmelzende  Eis  neue  Länder  lügt ;  und  indem  es 
den  auf  Entdeckungen  herumscliwärmenden  Seefahrer 
unaufhörlich  mit  leeren  Hoffnungen  täuscht,  ihn  in 
Abentheuer  verflicht,  von  denen  er  niemals  ablassen, 
und  sie  doch  auch  niemals  zu  Ende  bringen  kann." 
Diese  Stelle  schon  drohet  der  rationalen  Psychologie,  den 
autinomischen  Sätzen,  der  speculativen  Theologie;  es  sind 
kritische  Zwecke,  welche  dem  Kritiker  vorschweben, 
und  der  Hauptsatz  seiner  Kategorien -Lehre  ist  der: 
„die  Kategorie  hat  keinen  andern  Gebrauch  zur  Erkeunt- 
uiss  der  Dinge,  als  ihre  Anwendung  auf  Gegenstände 
der  Erfahrung." 

Q2 


244 

Für  (leu  ki'itischen  Zweck  nun  seinen  nicht  nöthJg, 
dem  Ursprünge  der  Kategorien  tiefer  nachzuforschen. 
Daher  die  Behauptung:  „Von  der  Eigenthiimlichkeit  un- 
„seres  Verstandes,  nur  vermittelst  der  Kategorien,  und 
„nur  gerade  durch  diese  Art  und  Zahl  derselben,  Eiu- 
„heit  der  Apperception  a  priori  zu  Stande  zu  bringen, 
„lässt  sich  eben  so  wenig  ferner  ein  Grund  angeben,  als 
„warum  wir  gerade  diese  und  keine  andre  Functionen 
„zu  urtheilen  haben;  oder  warum  Zeit  und  Raum  die 
„einzigen  Formen  unsrer  möglichen  Anschauung  sind." 

In  demselben  Sinne  fortfahrend  würde  ein  Gramma- 
tiker sagen :  von  der  Elgenthümlichkeit  unserer  Sprache, 
nur  vermittelst  der  Conjunctiouen,  und  nur  gerade  durch 
diese  Art  und  Zahl  derselben,  Zusammenhang  in  den 
Ausdruck  unserer  Gedanken  zu  bringen,  lässt  sich  eben 
so  wenig  ferner  ein  Grund  angeben,  als  warum  zu  ei- 
nem Satze  ein  Hauptwort  und  ein  Zeil  wort  gehört,  und 
warum  Sätze  zu  Perioden  verbunden  werden  können. 

54.  Was  war  denn  nöthig  für  den  kritischen  Zweck? — 
Nichts  weiter,  als  die  Sache  so  liegen  zu  lassen,  wie  sie 
in  der  Kautischen  Ansicht  schon  lag?  Freylich  nach  die- 
ser Ansicht  standen  nun  einmal  das  Mannigfaltige  der 
Empfindung  und  die  Einheit  des  Bewusstseyns  einander 
gegenüber;  zwischen  beyden  gewisse  Formen,  die  sich 
geschickt  zeigten,  das  Mannigfaltige  in  sich  aufzunehmen. 
War  es  nun  genug,  auszusprechen:  Seht!  diese  Formen 
sind  die  Eurigen;  gebraucht  sie,  wozu  sie  gut  sind  — ? 

In  der  Tiiat  enthält  die  Stelle  der  Vernunftkritik  "), 
wo  der  Gel^rauch  der  Kategorien  auf  Erfahrung  be- 
schränkt wird,  sonst  nichts  Wesentliches.    Es  heisst  dort: 

ö)  A.  a.  O.  §.  22. 


245 

„Zur  Erkenntniss  gehören  zwey  Stücke:  erstlich  der  Be- 
griff, wodurch  überhaupt  eiu  Gegeustaud  gedacht  wird 
(die  Kategorie);  uud  zweytens  die  Anschauung,  wodurch 
er  gegeben  wird." 

Wie,  wird  man  fragen,  zuerst  der  leere  Gedanke, 
und  dann  erst  das  Gedachte?  was  ist  denn  ein  Denken 
ohne  Gedachtes? 

Unbekümmert  um  solche  Fragen  fahrt  Kant  fort: 
„Denn,  könnte  dem  Begriffe  eine  corresiDondirende  An- 
„schauung  gar  nicht  gegeben  werden,  so  wäre  er  ein  Ge- 
„danke  der  Form  nach,  aber  ohne  allen  Gegenstand,  — 
—  „und  durch  ihn  gar  keine  Erkenntniss  von  irgend  ei- 
„nem  Dinge  möglich;  weil  es,  soviel  ich  wüsste, 
„nichts  gebe,  noch  geben  köxinte,  worauf  mein  Ge- 
„danke  angewandt  werden  könnte." 

„Nun  ist  alle  uns  mögliche  Anschauung  sinnlich, 
„also"  — 

Das  Übrige  versteht  sich  von  selbst;  die  vorgebliche 
intellectuelle  Anschauung  wird  sich  dadurch  nicht  wider- 
legt bekennen. 

55.  Was  unternahm  aber  Kant  für  seinen  kritischen 
Zweck  durch  seine  Kategorien -Lehre? 

Die  vorhandenen  Formen,  welche  zur  Aufnahme  des 
Mannigfaltigen  (seiner  Meinung  nach)  bereit  standen, 
mussten  wenigstens  aufgesucht,  und  durchmustert  wer- 
den. Mangel  an  Vollzähligkeit,  Aufraffen  dessen,  was 
sich  gerade  dargeboten  habe,  wirft  er  dem  Aristoteles 
vor;  in  die  weite  Schatzkammer  der  Sprache  lüneinzu- 
gehn  mochte  ihm  als  Anlass  zu  ähnlichem  Aufraffen  be- 
denklich scheinen.  Das  Capitel  von  den  Urtheilen  in 
der  Logik  ist  freylich  nicht  so  gross,  dass  man  wegen 
der   Weite    des    Raumes    sich    darin    veriiren    könnte ! 


246 

Eben  hier  nuu  meinte  er  den  Leitfaden  zur  Entdeckung 
aller  reinen  Verstandesbegriffe  zu  finden. 

Das  Wesentliche,  worauf  er  sich  stützt  *),  ist  die  Be- 
hauptung :  jeder  Begriff  sey  als  Prädicat  eines 
möglichen  Urtheils  zu  denken.  „Er  ist  also  nur 
dadurch  Begriff,  dass  unter  ilim  andre  Vorstellungen 
enthalten  sind."  Darum,  meint  er,  könne  der  Verstand 
von  Begriffen  keinen  andern  Gebrauch  machen, 
als  dass  er  dadurch  urt heile.  Natürlich  ist  nun 
der  Schluss:  also  lernt  man  alle  Arten  des  Verstandes- 
gebrauchs kennen ,  wenn  man  die  Arten  der  Urtheile 
kennt. 

Sind  denn  aber  die  sämmtlichen  Begriffe  nicht  an- 
ders zu  gebrauchen,  ausser  so,  dass  sie  in  den  Urthei- 
len  die  Stelle  des  Pradicats  einnehmen?  Woher  dann 
die  Subjecte  für  diese  Pradicate?  Und  wie  sollen  sich 
die  Arten  des  Verstandesgebrauchs  in  Kategorien  ver- 
wandeln, do  h.  in  Begriffe  von  den  Gegenständen, 
welche  mögen  erkannt  werden?  Gesetzt  z.  B.  es  gebe 
eine  kategorische  Urtheilsform ,  vermöge  deren  man  sa- 
gen könne:  grosse  Hitze  und  Kälte  sind  tödlich,  —  ist 
denn  nun  diese  kategorische  Art,  den  Begriff  tödlich 
als  Prädicat  für  Hitze  und  Kälte  zu  gebrauchen,  etwa 
die  Kategorie  der  Substanz  ?  Und  was  ist  nun  die  Sub- 
stanz in  diesem  Beyspiele?  der  Begriff  tödlich  gewiss 
nicht,  denn  eine  Substanz  ist  nur  Subject  und  nicht  Prä- 
dicat. Sind  denn  etwa  die  Subjecte  Hitze  und  Kälte, 
beyde  auf  gleiche  Weise,  für  Substanzen  erkläi't  oder 
auch  nur   dalür  gehalten  und  angenommen,   weil  einer- 

**)  A.  a.  O.  im  Eingange  zum  §.  9;  unmittelbar  vor  der  Tafel 
der  Eintheilungeii  der  Urtiieile. 


'247 

ley  Prädicat  ihnen  kategorisch  beygelegt  wurde?  Oder 
stehen  hier  etwa  Hitze  und  Kälte  am  unrechten  Orte, 
indem  sie  nicht  als  Prädicate  auftreten,  wiewohl  sie  frey- 
lich Prädicate  anderer  möglicher  Urtheile  seyn  können? 
Es  scheint  schwer,  hier  nur  irgendwie  den  Kantischen 
Zusammenhang  der  Gedanken  zu  errathen. 

Begriffe  treten  so  oft  und  überall  in  den  Platz  des 
Subjects,  dass  kaum  zu  begreifen  ist,  wie  auf  den  Um- 
stand, dass  sie  auch  als  Prädicate  vorkommen,  ir- 
gend ein  Gewicht  mochte  gelegt  werden  *).  Wo  \on 
Bäumen  und  Steinen,  von  IMenschen  und  Thieren  etwas 
ausgesagt  wird,  da  wird  geurlheilt,  und  indem  die  Be- 
griiFe  Baum,  Stein,  Mensch,  Thier,  anstatt  sichtbarer 
Gegenstände  gebraucht  sind,  liegt  der  Act  des  Urlheilens 
dai'in,  dass  ihnen  selbst,  als  den  Fieprasentanten  dieser 
Gegenstände,  irgend  welche  Prädicate  beygelegt  werden. 
Darum  sind  sie  Subjecte,  wiewohl  sie  auch  Prädicate 
seyn  könnten. 

Man  mag  alles  Vorerwähnte  —  die  gesuchte  Verei- 
nigung des  Mannigfaltigen  in  der  Wahrnehmung,  damit 
ein  Begriff  vom  Object  herauskomme,  also  die  Synthesis 
der  Apprehension,  die  Einheit  der  Apperception ,  das  be- 
gleitende: Ich  denke,  selbst  jene  successive  Synthesis 
durch  productive  Einbildungskraft,  —  kurz  Alles,  was 
in  dieser  speculativeu  Angelegenheit  wesentlich  schien, 
zusammennehmen :  damit  erreicht  man  noch  immer  keine 
Erklärung  des  Misgriffs,  die  Kategorien  nach  Anleitung 
der  Verschiedenheit  in  den  logischen  Urtheilsformen  zu- 
sammen  zu  suchen.      Auch   ist   in   den    andex'n  Schulen, 

*)  Wir  wollen  hier  nicht  wiederholen,  was  gegen  den  Fehler, 
den  Begriffen  schon  als  solchen  einen  Umfang  beyzulegeii,  ander- 
wärts ist  gesagt  worden.     Man  vergleiche  Psychologie  §.  120. 


248 

die  späterliiu  aus  der  Kanllsclien  hervorgingen,  dieser 
WIsgrllT  allmälig  unwirksam  geworden. 

Selbst  der  Satz :  „die  logische  Form  aller  Urthelle 
besteht  in  der  objectiven  Einheit  der  Apperception  der 
darin  enthaltenen  Begriffe"  *),  konnte  Anlass  zu  besse- 
rer IJberzeugung  geben.  Denn  die  objective  Einheit  der 
Apperception  lasst  keine  nolhwendigen  Verschieden- 
heiten der  logischen  Formen  erblicken;  als  ob  in  ihr, 
als  dem  eigentlichen  Sitze  aller  Urthelle,  etwas  von 
Quantität,  Qualität,  Relation,  Modalität  begründet  wäre. 
Dagegen  halte  man  Jahrhunderte  lang  in  den  Vorträgen 
der  Logik  das  A,  E,  I,  0  imterschleden ,  ohne  an  obje- 
ctive Einheit  der  Apperception  zu  denken. 

56.  Schon  die  Gerechtigkeit  gegen  Kant  erfodert, 
an  den  wahren  und  richtigen  Aufaugspunct  seiner  Be- 
trachtungen zu  erinnern.  Diesen  erkennt  man  am  leich- 
testen aus  der  Art,  wie  er  seine  Lehre  von  Raum  und 
Zeit  einführt.  Er  sagt:  „Damit  gewisse  Empfinduu- 
„gen  auf  etwas  ausser  mir  bezogen  werden,  desgleichen 
„damit  ich  sie  als  ausser  und  neben  einander  vorstellen 
„könne,  dazu  muss  die  Vorstellung  des  Raumes  schon 
„zum  Grunde  liegen." 

Also  bis  auf  die  Empfindungen  ging  Kaut  zurück. 
Der  Zusatz,  die  Vorstellung  des  Raums  müsse  schon 
zum  Grunde  liegen,  ist  zwar  nichts  als  eine  petiiiu  pn'n- 
cipn;  aber  was  die  Empfindungen  anlangt,  so  ist  unbe- 
streitbar, dass  in  dem  Grün,  Gelb,  Hart,  Weich,  jedes 
einzeln  genommen,  kein  Ausser -Einander  liegt;  und  dass 
hieraus  vorläufig  eine  Ungewissheit  folgt,  woher  die  Vor- 
stellung —  zwar  nicht  des  Raums,  der  noch  nicht  hle- 
her  gehört,  —   aber  des  Räumlichen,  als  einer  Sonde- 

*)  Kritik  der   reinen  Vernunft   §.  19. 


249 

rung  des  Empfundenen,  wohl  kommen  möge?  Die 
Auseinanderselziing,  und  ebenso  das  Nacheinauder-Setzen, 
bedarf  einer  Erklärung,  denn  das  Gegebene  scheint, 
wenn  man  es  in  alle  Partial-Vorstellungen  auf- 
lösen könnte,  die  nämliche  Summe  derselben 
zu  enthalten,  wenn  auch  die  Gestaltung  verän- 
dert würde. 

Über  den  Fehlschluss  aus  der  Notfcv.'endigkeit  der 
Vorstellung  des  Raums,  desgleichen  über  die  imrichtige 
Behauptung,  der  Raum  werde  als  eine  unendliche  gege- 
bene Grösse  vorgestellt,  ist  anderwärts  gesprochen  *). 

Diese  Unrichtigkeiten  hindern  nicht,  dass  man  jene 
Bemerkung  über  die  Empfindungen  weiter  benutze.  Im 
Gegentheil,  die  nämliche  Bemerkung  trifft  die  sämmt- 
lichen  Formen  der  Erfahrung. 

Dass  nun  die  Synthesis  in  Raum  und  Zeit,  die  Syu- 
thesis  in  den  Begriffen  von  Substanz  und  Accidens,  Ur- 
sach und  Wirkung,  die  Synthesis  in  den  Urtheilen,  die 
Synthesis  im  Selbstbewusstseyn,  dem  anscheinend  un- 
verbundeuen  Mannigfaltigen  der  Empfindung  gegen- 
über hervortrat;  dass  Kant  hierauf  seine  ganze  Aufmerk- 
samkeit richtete,  dass  er  hierin  die  ursprüngliche  Mit- 
gabe des  menschlichen  Geistes  zu  finden  glaubte:  —  dies 
Alles,  fehlerhaft  wie  es  ist,  konnte  bleiben  wie  es  war, 
ohne  dass  deshalb  die  Erkenntuissbegriffe,  die  Katego- 
rien, in  den  Arten  der  Urtheile  brauchten  gesucht  zu 
werden. 

57.  Hingegen  würde  dies  Alles  sich  plötzlich  bedeu- 
tend vei'ändert  haben,  wenn  Kant  sich  die  Frage  vorge- 
legt hätte:  wie  ist  Beobachtung  möglich? 

Denn    in   der   Beobachtung    eines    gegebeneu  Gegeu- 

*)  Psychologie   §.  144. 


250 

Stands  hängt  die  Synthesis  von  der  Empfindung  ab.  Be- 
dürfte man  keiner  Empfindung,  um  zu -den  Bestimmun- 
gen des  Objects  zu  gelangen,  so  könnte  man  die  Mühe 
des  Beobachtens  sparen;  was  man  a  priori  besitzt,  bringt 
man  schon  mit;  aber  damit  erfährt  man  nichts  von  dem: 
Wie  lang?  wie  breit?  wie  früh?  wie  spät?  —  Nichts 
von  den  Umständen,  welche  bey  einem  Experiment  we- 
sentlich oder  zufällig  sind.  Zu  allem  diesen  gehört  Se- 
hen, Hören,  Tasten,   also  Empfinden. 

Und  die  Empfindung  bestimmt  nun  wirklich  gIc  ver- 
laugte Synthesis.  Also  war  es  eine  unrichtige  IVIeinung, 
dass  sie  nur  ein  uuverbundeues  Mannigfaltiges  liefere. 
Also  ergiebt  sich,  dass  Verbindung  zwar  nicht  im  Em- 
pfundenen liegt,  aber  mit  dem  Empfundenen  gege- 
ben wird,  indem  das  Empfundene  sich  unter  ein- 
ander verbludet. 

58.  Daraus  folgt  nun  eine  gänzliche  Umkehrung  der 
Rantischen  Ansicht  über  jene  Synthesen ;  und  über  die 
vorgeblich  bereit  stehenden  Formen. 

Die  Synthesis  versteht  sich  überall  von  selbst,  weil 
keine  Scheidewände  im  Bewusstseyn  (eigentlich  in  der 
Seele)  vorhanden  sind. 

Dem  gemäss  sollte  Alles  In  ein  ungeschledenes  Eins 
zusammenfallen.  Insbesondere  der  Raum,  —  von  wel- 
chem Kant  bemerkt,  er  enthalte  Zusammenfassung  des 
Mannigfaltigen  in  eine  anschauliche  Vorstellung, —  sollte 
völlig  in  einander  schwinden,  so  dass  es  kein  Ausser- 
einander  mehr  gäbe;  die  Zeit  sollte  ebenso  ihr  Nach- 
einander vei'lieren,  und  nur  ihr  Zugleich  behalten.  Das 
ereignet  sich  aber  nicht.  Und  dass  es  sich  nicht  ereig- 
net, davon  sind  die  Gründe  aufzusuchen,  weil  es  kei- 
ner Gründe  der  Synthesis  bedarf. 


251 

Man  weiss,  dass  wir  dainlt  bescliäfliigt  waren  mid 
sind;  denn  von  nichts  Anderem  ist  die  Rede,  als  \on 
den  gegenseitigen  Hemmungen  unter  den  dazu  geeigne- 
ten Vorstellungen.  Es  kam  hier  nur  darauf  an,  gele- 
gentlich den  Gegensatz  gegen  die  Kantische  Lehre  zu  be- 
zeichnen. Formen  der  Hemmung  (anstatt  der  Formen 
der*Synthesis),  wie  wenn  dergleichen  ursprüng- 
Hch  in  der  Seele  lägen,  wird  Niemand  hier  erwar- 
ten; und  es  ist  nicht  daran  zu  denken,  obgleich  sich  da- 
durch das  Gegenstück  vollenden  würde.  Dennoch  sind 
Raum  und  Zeit  allerdings  eben  sowohl  Formen  der  Tren- 
nung, als  Formen  der  Zusammenfassung.  Doch  wir 
kehren  zurück  zu  den  Kategorien;  und  zwar  zunächst 
zu  den  Kanlischeu. 

59.  Es  ist  aus  dem  Vorhergehenden  offenbar,  dass 
man  dieselben  in  doppelter  Hinsicht  betrachten  kann, 
erstens  als  Begriffe  von  den  Verschiedenheiten  in  den 
Formen  der  Urtheile,  zweytens  als  Erkenntniss-Begriffe. 
Nach  ihrem  Ursprünge  können  sie  nur  das  erste,  nach 
ihrer  Bestimmung  sollen  sie  das  zweyte  seyn. 

Der  erste  Gesichtspunkt  veranlasst  zwar  zuvörderst 
die  Frage,  ob  die  vier  Eintheilungen  der  Urtheile  rich- 
tig aufgestellt  seyen?  Darüber  können  wir  indessen  xms 
hier  hinwegsetzen.  Denn  von  der  logischen  Geltung  ist 
nicht  die  Rede ;  für  die  Psychologie  aber  ist  die  That- 
sache,  dass  die  bekannten  zwölf  Arten  der  Urtheile 
wirklich  vorkommen ,  und  beym  Gebrauch  unterschieden 
werden,  nicht  zu  bezweifeln;  der  Anspruch  auf  Voll- 
ständigkeit kommt,  wie  mau  bald  sehen  wird,  nicht  in 
Betracht.  Allein  wenn  wir  nun  die  Tafel  jener  Einthei- 
lungen nehmen  wie  sie  vorliegt,  so  können  wir  doch 
unmöglich    einräumen,    dass    die   Kautischen   Kategorien 


252 

daraus  abzuleiten  seyen;  denn  es  ist  kaum  zu  begreifen, 
wie  man  je  daran  denken  konnte,  blosse  Bejahung  für 
den  Begriff  der  Realität,  kategorisches  Urtheilen  für  An- 
zeige der  Substantialität,  logische  Dependenz,  wenn  sie 
auch  wirklich  immer  das  Verhältniss  von  Grund  und 
Folge  enthielte,  für  Ursach  und  Wirkung,  Disjunction 
für  reale  Gemeinschaft  gelten  zu  machen.  Da  dies  Alles 
gänzlich  unzulässig  ist,  müssen  wir  zuerst  diejenigen  Be- 
griffe hinstellen,  welche  wirklich  das  Verschiedene  der 
zwölf  Urtheilsformen  anzeigen  *).     Sie  mögen  so  benannt 

werden : 

Quantität 

Allgemeines 

Besonderes 

Einzelnes 
Qualität  Relation 

Bejahung  Entscheidung 

Verneinung  Bedingung 

Begränzung  Schwankung 

Modalität 

Zulassung 

Annahme 

Behauptung 

60.  Jetzt  fragt  sich:  haben  diese  Begriffe  da,  wo  sie 
sich  finden,  nämlich  in  den  Urtheilen,  auch  ihren  Grund 
und  Boden;  dergestalt  dass,  wenn  sie  noch  anderswo 
vorkommen,  nöthig  sey,  sie  als  abgeleitet  aus  sol- 
chen Functionen  unseres  Geistes,  wie  Bejahen,  Vernei- 
nen, Entscheiden,  Bedingen,  Zulassen,  Annehmen  u.s.w. 
anzuerkennen? —  (Den  Ausdruck:  Functionen,  bietet 

*)  Aus  Nachgiebigkeit  ist  hier  die  Begränzung  an  ihrer  ge- 
wohnten Stelle  gelassen;  es  ist  hier  nicht  nöthig,  dagegen  Ein- 
spruch zu  erheben.     Man  vergleiche  unten  68  und  71. 


253 

uns  Kanl,  tlcr  von  der  logischen  Function  des  Verstan- 
des in  Urllieilen  redet,  und  kurz  zuvor  von  den  Functio- 
nen der  Einheit  in  den  Urtheilen.) 

Gesetzt,  man  müsse  diese  Frage  bejahen,  so  entsieht 
die  Aufgabe,  jene  Conjunctionen  der  Sprache,  die  copu- 
hTliven  und  adversativen,  die  conditlonalen ,  causalen, 
conchisiven ,  sammt  den  disjunctiveu  und  concessiven, 
aus  dem  Innern  der  Urtheile,  aus  den  Formen  jener 
Einheit,  worin  sich  das  Prädicat  dem  Subjecte  anlügt, 
abzuleiten.  Jenes  Zusammenfassen  also,  was  vollstän- 
dig in  der  Form  des  allgemeinen,  minder  vollständig  in 
der  des  parlicularen  Urtheils  liegt,  müsste  von  dort- 
her, wo  Alle  oder  Einige  als  Subject  auftreten,  herüber 
gewandert  seyn,  um  sich  in  die  engen  Behausungen  sol- 
cher Wörtchen,  wie:  Und,  Sowohl  als  auch,  te  und 
VMi  (allenfalls  auch  fiiv  und  Jf ,)  zu  begeben.  Dies  um 
desto  gewisser,  wenn  die  logische  Allgemeinheit  sich  in 
Allheit,  die  logische  Particularität  in  Vielheit  trans- 
formiren  soll.  Ferner  müsste  das  Nein,  welches  zwi- 
schen Subject  und  Prädicat  steckt,  seinen  dortigen,  ver- 
meintlich ursprünglichen,  Wohnsitz  verlassen  haben,  um 
die  verschiedenen  Gestalten  des  Zwar,  Aber,  Sondern, 
Doch,  Weder  Noch,  Entweder  Oder  anzunehmen. 
Am  Entweder  Oder  würde  sich  dann  auch  das  Be- 
dingen und  Schwanken  einen  Antheil  vindiciren.  Aus 
dem  Zulassen  und  Bedingen  möchte  man  das  Ob,  sammt 
den  Verwandten,  dem  Obgleich  und  Wenngleich,  zu 
construii-en  vei'sucheu;  doch  bey  letzteren  würde  auch 
etwas  vom  Verneinen  sich  einmischen.  Um  aber  voll- 
ends das  Weil,  und  Dann,  und  Damit  zu  erreichen, 
möchte  wohl  das  Annehmen,  ja  das  Behaupten  sich  mit 
dem  Bedinceu  in  ircend  eine  Verbinduns  einlassen  müssen. 


254 

Man    mag    nun    liier    die    obigen   Auseinandersetzungen 
(45  —  47,  sammt  dem  was  vorliergelit)  vergleichen. 

61.  Hat  man  vom  psychischen  Mechanismus,  und 
von  der  möglichen  Verschiedenheit  und  Bewegung  der 
Vorstellungsmassen,  auch  nur  den  ersten  BegriiF  gefasst: 
so  weiss  man ,  dass  zwar  alle  Sprachen  der  Welt,  sammt 
allen  ihren  Conjuuctionen  und  Hülfsmitteln  jeder  Art, 
immer  nur  einen  unvollkommenen  Ausdruck  für  die  Stru- 
ctur  der  Vorstellungsmassen  liefern  können;  dass  aber 
die  Urtheilsformen  davon  noch  viel  weiter  entfernt  sind, 
indem  selbst  der  Periodenbau  mit  aller  seiner  INIannigfaltig- 
keit  noch  lauge  nicht  hinreicht,  um  das  Innere  völlig  aus- 
zusprechen. Gleichwohl  liegt  in  den  Perioden  und  deren 
"'Verknüpfungen  das  Bestreben,  sich  auszusprechen; 
die  Urtheile,  als  Bestandtheile  der  Perioden,  müssen  zur 
Äusserung  jenes  Bestrebens  bey tragen,  soviel  sie  können. 
Kein  Wunder  also,  dass  Etwas  von  dem,  was  man 
in  den  Conjunctionen  vollständiger  wahrnimmt,  auch 
schon  in  den  Urtheilen  zu  sehen  ist;  nur  kann  man 
aus  den  Urtheilen  nicht  mehr  herausnehmen,  als  was 
i  n  ihnen  liegt ;  die  Verbindung  der  mehrern  Urtheile 
in  der  Periode,  der  Perioden  in  der  Rede,  endlich  der 
aus  der  Gedanken -]Masse  hervortretenden  Rede  in 
dieser  IMasse  selbst,  welche  der  Schooss  und  Ursprung 
von  dem  Allen  ist,  —  bleibt  die  Hauptsache;  und  diese 
Hauptsache  ist  weder  in  den  einfachen  Urtheilen,  noch- 
in  dem  Wenigen,  was  die  Logik  von  den  zusammenge- 
setzten (den  hypothetischen  und  disjunctiven)  Urlheilen 
zu  sagen  pflegt,  gehörig  zu  erkennen. 

Hatte  nun  Kant  einmal  die  Richtung  genommen,  Re- 
flexionen über  die,  ihatsachlich  vorhandenen,  in  der  Lo- 
gik verzeichneten.  Formen  der  Urtheile  anzustellen;  gc- 


255 

dachte  er  die  wahre  Natur  unseres  Verstandes  durch 
solche  Reflexionen  zu  ergründen;  wollte  er  davon  einen 
kritischen  Gebrauch  machen :  so  musste  diese  Art  von 
Kritik  einen  viel  breitern  Boden  bekommen,  und  sie 
konnte  ihn  erreichen,  wenn  von  Urtheilen  zu  Perioden, 
von  Perioden  zum  Bau  der  Sprachen  überhaupt  fortge- 
gangen wurde.  Dann  wäre  der  unglückliche  Name: 
trausscendentale  Logik,  wodurch  dem  Worte  Logik 
ganz  falsche  Nebenbedeutungen  angehängt  wurden,  wahr- 
scheinlich niemals  in  Gebrauch  gekommen;  denn  die  philo- 
sophische Untersuchung  über  den  Sprachbau,  der  das  blosse 
Aneinanderreihen  der  Worte  zu  verbessern  sucht, 
damit  die  wahre  Configuration  der  Gedanken  zu  erken- 
nen sey,  —  würde  sich  wohl  passendere  Benennungen 
gewählt  haben. 

Durch  solches  Fortschreiten  in  der  einmal  eingeschla- 
genen Richtung  hätte  sich  nun  freylich  Kant  noch  wei- 
ter vom  Aristoteles  entfernt;  aber  die  Folge  wäre  kein 
Nachtheil,  sondern  sehr  annehmlich  gewesen.  Die  Kate- 
gorien, welche  man  schon  in  einzeln  stehenden 
Worten  entdeckt,  wären  dem  Aristoteles  als  sein 
Eigenthum  verblieben;  den  Zusammenhang  derselben  mit 
dem  psychischen  IMechanismus  hätte  Kaut  noch  immer 
aufzudecken  Gelegenheit  genug  behalten. 

62.  Soll  nun  zweytens  (nach  59.)  auch  noch  von  der 
Bestimmung  der  Kantischen  Kategorien  gesprochen  wer- 
den: so  ist  zuvörderst  offenbar,  dass  dieselbe  den  Kreis 
der  Aristotelischen  nicht  überschreitet.  Aristoteles  redet 
von  Erfahrungs- Gegenständen;  selbst  seine  oi'o/a,  die 
man  unpassend  mit  suhstantia  übersetzt  hat,  ist  ein  sinn- 
liches Ding,  wie  Mensch,  Pferd;  und  er  findet  zunächst 
nur  uöthig,  dem  Worte  eine  zwiefache  Bedeutung  zu  ge- 


256 

ben,  nämlich  so,  dass  es  erstlich  und  vorzugsweise  (ttqo)- 
ro)S  xat  fiuXiGTo)  das  Individuum,  dann  zweytens  die 
Art  {eldos)  bedeute.  Erst  gegen  das  Ende  der  Betrach- 
tung bemerkt  er,  die  ovoia  könne,  ohne  sich  zu  ver- 
vielfältigen ,  entgegengesetzte  Bestimmungen  annehmen 
{f]  ovoia,  EV  zal  Tavtov  rtÖ  ccQid-/i(p  ov,  dszrtni]  xwv 
ivaVTiwv  ioTiv).  Dabey  aber  fällt  ihm  luoch  immer  nicht 
ein,  den  Kreis  der  Sinneudinge  zu  überschreiten.  Der 
Mensch,  sagt  er,  kann  warm  und  kalt,  besser  vmd 
schlechter  werden  *). 

Dass  die  Kantischen  Kategorien  ebenfalls  bestimmt 
waren,  den  Erfahrungskreis  nicht  zu  überschreiten,  liegt 
am  Tage;  denn  wir  lesen  ausdrücklich  bey  ihm  den  Satz: 
„die  Kategorie  hat  keinen  andern  Gebrauch  zur  Erkeunt- 
niss  der  Dinge,  als  ihre  Anwendung  auf  Gegenstände 
der  Erfahrung." 

Ob  er  diesem  Satze  treu  geblieben  sey,  ist  eine  an- 
dre Frage.  Er  lehrt  weiterhin :  bey  allem  Wechsel  der 
Erscheinungen  beharret  die  Substanz,  und  das  Quantum 
derselben  wird  in  der  Natur  weder  vermehrt  noch  ver- 
mindert. Er  fährt  fort:  „Ich  treffe  von  diesem  synthe- 
tischen Satze  nirgends  auch  nur  den  Versuch  von  einem 
Beweise  an.  In  der  That  ist  der  Satz,  dass  die  Sub- 
stanz beharrlich  sey,  tautologisch.  Denn  bloss  diese  Be- 
harrlichkeit ist  der  Grund,  warum  wir  auf  die  Erschei- 
nung die  Kategorie  der  Substanz  anwenden;  und  man 
hätte  beweisen  müssen,  dass  in  allen  Erscheinungen 
etwas   Beharrliches    sey,    an    welchem    das  Wandelbare 

*)  Kaum  ist  noch  der  Mühe  werth,  etwas  so  Offenbares  zu 
bestätigen,  sonst  könnte  wegen  des  Worts  ovala  noch  auf  des  Por- 
phyrius  isagoge  11,  24  verwiesen  werden,  wo  es  heisst:  we.Tfo  y 
ovoia,  uvonäcm  ovaa  tm  fiTj&iv  ilvui,  noo  uvvij<i  yivog,  ijv  xo  yivi- 
y.ioTUTov  y..  %•  A, 


257 

nuhls  als  Beslimmnng  seines  Daseyns  ist."  Also  in  den 
Erscheinungen  inAvohuend  soll  etwas  Beliarrliclies  seyni' 
Das  müsste  selbst  erscheinen,  und  brauchte  dann  nicht 
erst  be%'V"iesen  zu  \Yerden.  Dass  aber  in  die  Exschei- 
nungeu  etwas  hineingedacht  wird,  welches  als  der  ge- 
meinsame Träger  (das  suhslratum)  aller  simultanen  und 
successiven  sinnlichen  IMerkmale  Eines  und  desselben  Din- 
ges angesehen  wird:  das  ist  eine  Thatsache  nicht  des  Er- 
scheinens sondern  des  Denkens.  Dabey  erhebt  sich  die 
zwiefache  Frage:  erstlich,  ist  das  Denken  richtig  und 
gültig?  Zweytens:  wenn  richtig  und  gültig,  ist  es  auch 
vollendet?  oder  nur  ein  angefangenes,  weiter  fortzufüh- 
rendes? —  A\&  solches  haben  wir  es  längst  nachgewie- 
sen und  entwickelt;  hier  ist  nicht  der  Ort,  diese  rein 
metaphysische  Betrachtung    zu  erneuern  *).     Der  Kanti- 

*)  Man  wird  leicht  beinerK'cn,  dass  die  vorliegende  Ahliand- 
lung  weit  davon  entfernt  ist,  sich  auf  i\en  Standpunct  zu  stellen, 
von  wo  eine  umfassende  Kritik  der  Kanlischen  Lehre  möglich 
seyn  würde.  Die  Kategorien,  von  denen  hier  gesprochen  wird, 
sind  zu  den  einzelnen  fehlerhaften  Parlhien  dieser  Lehre  zu  rech- 
nen, dergleichen  überhaupt  nicht  hätten  vorkommen  können,  Wenn 
die  Anlage  der  ganzen  Arbeit  richtig  gewesen  wäre.  Bey  Ivant 
ist  zwischen  den  Erscheinungen  und  der  inlelligibeln  Welt  eine 
unübersleigliche  Kluft,  weil  die  Motive,  derentwegen  diese  zu  je- 
nen muss  hinzugedacht  werden,  nämlich  die  Widersprüche  in  den 
Formen  der  Erfahrung,  bey  ihm  gänzlich  im  Dunkeln  bleiben. 
Daiier  sieht  seine  ganze  Speculation  so  aus,  als  käme  es  nur  dar- 
auf an,  sich  mit  guter  Manier  aus  einem  verwickelten  Handel  zu 
ziehn.  Dass  die  Späteren  in  den  Widersprüchen  stecken  blieben, 
war  ihr  Fehler,  den  man  jedoch  durch  Rückschritte  zur  Kanti- 
schen Lehre  iiichi  wieder  gut  machen  würde.  Die  vermeinte  Kluft 
kann  nicht  bloss  übei'slicgen  werden,  sondern  das  muss  in  so  weit 
geschehen,  als  Psychologie  und  Naturphilosophie  den  menschlichen 
Erfahrungskreis  zu  ergänzen  dienen ;  nur  darf  damit  nicht  eine 
Schwärmerey  verbunden  werden,  als  ob  man  jenseits  der  Milch- 
strasse   eine  Heise    gemacht  hätte,    und  davon    zu  erzählen    wagen 

Heft  IL  F^ 


258 

sehe  Beweis  aber  ist  leJiglich  cljarakteristisch  für  Kants 
Ansichten.  „Die  Zeit  —  bleibt  und  wechselt  nicht. 
Die  Zeit  aber  kann  für  sich  nicht  wahrgenom- 
men werden.  Folglicli  —  muss  in  den  Gegen- 
ständen der  Wahrnehmung  das  Substrat  anzu- 
treffen seyn,  welches  die  Zeit  überhaupt  vor- 
stellt. Es  ist  aber  das  Substrat  alles  Realen 
die  Substanz." 

Dieser  vorgebliche  Beweis  ist  nun  eine  unpassende 
Darstellung  jener  Thatsache  des  Denkens;  denn  die  Zeit 
ist  hier  unnöthig,  und  der  Einheitspunct  schon  der  si- 
multanen Merkmale  verfehlt.  Das  Gold  muss  schon  als 
Substanz  gedacht  werden,  wenn  es  als  das  Eine  aufge- 
fasst  wird,  welches  ausgedehnt,  starr,  gelb,  glänzend, 
schwer,  und  in  gewissem  Grade  hart,  zugleich  ist; 
man  hat  gar  nicht  nölhig,  es  auch  noch  als  dasjenige 
zu  denken,  welches  zu  anderer  Zeit  dehnbar,  schmelz- 
bar, feuerbeständig,  und  seinen  chemischen  oder  mer- 
kantilischen  Verhältnissen  angemessen  befunden  wird. 
Die  Zeit  dagegen  muss  als  die  Form  des  Wechsels  ge- 
dacht werden;  und  bevor  dies  geschehen  ist,  lässt  sich 
in  den  Worten:  sie  bleibe  und  wechsele  nicht,  auch 
nicht  einmal  ein  Sinn  finden.  Das  Beharrliche  bloss  als 
solches  kann  gar  keine  Zeit  vorstellen;  es  ist  das  Zeit- 
lose, und  geräth  in  die  Zeit  nur  durch  das,  was  als  zu- 
fällig an  ihm  wechselnd  angesehen  wird.  Auf  das  selt- 
same Postulat:  die  Zeit  müsse  wahrgenommen  werden, 

dürfte.  Übrigens  bleibt  das  grosse  Verdienst  Kants,  die  prakti- 
sche Philosophie  gänzlich  unabhängig  von  der  theoretischen  hin- 
gestellt zu  haben ,  hier  unberührt  und  unbestritten.  Man  mag 
vergleichen,  was  im  ersten  Baude  der  iMela[)h)Äik  über  die  Kan- 
lischc  Lehre  gesagt  worden. 


welches  dem  vorgcbliclicn  Beweise  zum  Grunde  liegt 
(den«  ohne  diese  VoraussetzAUig  wäre  niclit  abzusehen, 
warum  ein  Repräsentant  der  Zeit  auftreten  müsstc), 
brauchen  wir  uns  hier  nicht  einzulassen. 

Also  während  Aristoteles  sich  im  Kreise  der  Erfah- 
rung hält,  geht  Kant  widg:*  seinen  Willen  darüber  hin- 
aus, indem  er  vom  Substrat  alles  Realen  redet,  welches 
jenseits  der  Erscheinung  liegt,  und  niemals  in  den  Kreis 
derselben  eintreten  kann.  War  dies  Hinausgehen  ein- 
mal geschehen,  so  musste  es  fortgesetzt  werden;  wir 
wollen  es  als  nicht  geschehen  betrachten ;  denn  wir  wol- 
len (ür  jetzt  im  Kreise  der  Kategorien,  ihrer  angekün- 
digten BestinuHung  gemäss,  bleiben. 

63.  Die  am  gehörigen  Orte  *)  längst  gegebene  An- 
zeige der  vier  Haupt -Kategorien,  Ding,  Eigenschaft, 
Verhältniss,  Verneintes,  war  der  Hauptsache  nach 
nicht  als  etwas  Neues  auzusehn.  Sie  trifft  ganz  nahe  mit 
der  Angabe  des  Aristoteles  zusammen ;  wie  auch  schon 
dort  hinreichend  bemerklich  gemacht  worden.  Es  kommt 
zuerst  darauf  an,  dass  die  ovoia  (ohne  Anspruch  an  die 
metaphysische  Bedeutung  des  Seyenden)  an  die  Spitze 
gestellt  werde,  oder  vielmehr  stehen  bleibe,  wie  Aristo- 
teles sie  gestellt  hatte.  Denn  die  Kategorien  sollen  Er- 
kenntuiss -Begriffe  seyn ;  das  setzt  den  Gegenstand  vor- 
aus, woi-auf  unmittelbar  imd  zunächst  das  Erkennen 
sich  richtet.  Dann  trit  die  Urtheilsform  hinzu;  nämlich 
die  ganz  allgemeine  aller  Urlheile,  ohne  Erwähnung  ir- 
gend welcher  Arten  und  Eintheilungen.  Das  Allgemein- 
ste, was  selbst  die  BVage  mit  dem  Urtheile  gemein  hat, 
ist   die  Anknüpfung    des  Prädicats    an   das  Subject;    der 

«)  Psychologie    §.  124. 

R2 


2G0 

bestimmte  Unterschied  des  Urtlieils  von  der  Frage  liegt 
im  Ja  und  Nein.  Das  Nein  aber  liegt  in  der  Kategorie 
des  Verneinten,  und  entspringt  mit  ihr  aus  den  wi- 
der eine  Hemmung  ans  tossenden  Vorstellungen, 
wo  sie  mit  dem  Vermissteu ,  Entbehrten,  Begehrten  ei- 
nerley  Grund  und  Boden  hat.  Die  Kategorie  iür  jedes 
Prädicat  würde  Eigenschaft  seyn,  wenn  nicht  sehr  viele 
Prädicate  ihren  Sitz  bloss  im  zusammenfassenden  Den- 
ken hätten ;  so  dass  ein  Unterschied  hervortrit ,  je  nach- 
dem ein  Gegenstand  für  sich  allein,  oder  in  Verbindung 
mit  andern  aufgefasst  war.  Nur  im  ersten  Fall  kann 
das  Prädicat  ihm  selbst  zugeeignet  werden,  so  dass  er 
es  behalte,  auch  wenn  Anderes  kommt  und  geht.  Im 
zweyten  Falle,  wo  der  Gegenstand  nur  für  die  Zusam- 
menfassung mit  Andern  ein  Prädicat  annimmt,  welches 
wegfällt  sobald  die  Zusammenfassung  verschwindet  oder 
sich  ändert,  entsteht  die  Kategorie  des  Verhältnisses. 
Diese  letztre,  wenn  man  ganz  genau  seyn  will,  beruht 
auf  dem  bedingten  Verneinen  ;  nämlich  auf  dem  Weg- 
fallen des  Prädicats  nach  aufgelöseter  Zusammenfassung; 
allein  bey  veränderter  Zusammenfassung  wird  das  Auf- 
hören der  vorigen  wenig  bemerkt ;  daher  natürlich  ge- 
nug Eigenschaft  und  Verhältniss  einander  können  gegen- 
über gestellt  werden. 

Nun  hat  Aristoteles  in  den  letzten  Capiteln  der  Schrift 
von  den  Kategorien  einige  Nachträge  hinzugefügt;  der 
erste  davon  ist  der  BegrilT  des  Entgegengesetzten,  jle- 
ystai  exeQov  irfQO}  avTineiodai  rergcr/olg'  y  oig  tcc 
TiQog  iif  rj  ojg  Ta  tvavri«^  ?;  ü)S  oreQv^üis  neu  l'^ig}  fj 
WS  y.mu(paGis  nai  anöffaoiS'  Dass  hier  die  Verneinung 
zum  Grunde  liegt,  bedarf  keiner  Erläuterung.  Das  tiqos 
11   war  schon  in  der  ersten  Angabe  der  Kategorien  mit 


261 

aufgeführt.  Das  nooov  und  iioiov  haben  wir  als  Ualer- 
abllieiliuig  der  Eigenschaft  betrachtet,  worüber  weiter- 
hin noch  eine  Bemerkung  folgen  soll.  Was  die  übri- 
gen Aristotelischen  Kategorien  anlangt,  so  ist  das  äyeiv^ 
wie  das  letzte  Capitel  aussagt,  vieldeutig,  jedenfalls  aber 
den  vorigen  unterzuordnen-,  das  nov  ,  norl^  Ktladui, 
noielv,    nüay^eiv    gehören    sännntlich    in    die   Klasse    des 

7i()6s  11. 

G4.  Für  den  Mangel  bey  Kant,  dass  dort  an  der 
Spitze  der  Kategorien  die  ovo.'tu  fehlt,  kann  man  auf 
den  ersten  Blick  glauben,  dreyfachen  Ersatz  bey  ihm  zu 
finden.  Unter  der  Rubrik:  Qualität  (gemäss  dem  was 
bey  den  Urtheilen  Qualität  heisst)  hat  er  die  Realität; 
unter  der  Rubrik:  Relation  Hihrt  er  die  Subsistenz  auf; 
endlich  bey  der  JModalität  bietet  er  noch  die  Wirklich- 
keit an.  Ist  nun  die  ovot'u,  das  Ding,  unter  der  Rea- 
lität, oder  Subsistenz,  oder  \'V  irklichkeit  zu  verstehen? 
Vielleicht  unter  allen  dreyeu;  vielleicht  unter  keiner 
von  diesen.  W^as  er  bey  der  Realität  gedacht  hat,  zeigt 
die  sogenannte  Anticipation  der  Wahruehmuiig ,  das 
Reale,  was  Gegenstand  der  Empfindung  ist,  habe  inten- 
sive Grösse,  oder  einen  Grad.  Es  ist  nun  schon  ein 
sehr  wunderlicher  Ausdruck,  von  einem  Gegen  stau  de 
der  Empfindung  zu  reden.  Empfindungen  sind  Zu- 
stände; nämlich  in  uns,  nicht  aber  etwas,  das  uns  ge- 
genüber steht.  Dass  aber  die  Gegenüber-Stellung  nicht 
und  niemals  in  der  Empfindung  liegen  kann,  war  ge- 
rade der  Hauptgedanke  (55.),  aus  welchem  die  notli- 
wendigsteu  Betrachtungen  über  Raum  und  Zeit  hervor- 
gingen. Für  den  BegrüF  des  Grades  oder  der  intensiven 
Grösse  sollte  ein  Plat'z  gesucht  werden.  Diesen  räumen 
wir   ihm    uubedcriklich    bey   der  Empfindung   ein ;    eben 


26'i 

darum  aber  kann  das  Empfundene  nicht  dasjenige  Be- 
jahte seyn,  welches  dem  Begriile  des  Dinges  entsprechen 
soll.  Oder  was  würde  wohl'  Aristoteles  gesagt  haben, 
wenn  man  ihm  zugejiiuthet  hatte,  bey  Mensch  und  Pferd, 
als  Beyspieleu  der  otola.,  vollends  bey  den  allgemeinen 
Begrilfen  davon,  die  er  als  eine  zweyte  Art  von  Dingen 
betrachtet  wissen  will,  an  den  Grad  der  Empfindung  zu 
denken,  welcher,  wenn  wir  jene  Gegenstände  sehen, 
von  der  starkem  oder  schwächern  Beleuchtung,  wenn 
wir  den  Menschen  reden  und  das  Pferd  wiehern  hören, 
von  der  Stärke  des  Schalls  bey  der  weitern  oder  gerin- 
gern Entfernung  abhangt?  Soll  Realität  das  Bejahte  der 
Empfindung,  Negation  das  Mangelnde  der  Empfin- 
dung bedeuten,  so  hat  jene  nicht  die  Bedeutung  des 
Dinges,  diese  nicht  die  Bedeutung  des  Verneinten. 

Was  zweytens  die  Subsistenz  anlangt,  so  hat  ihr 
Kant  das  Correlatum:  Inhärenz  ausdrücklich  vorge- 
schoben. Da  hätten  wir  auf  einmal  die  bey  den  Kate- 
gorien Ding  und  Eigenschaft,  wenn  nicht  beyde  lür 
Eine  gelten  wollten,  und  wenn  nicht  diese  Eine  sich 
schon»»unter  die  Rubrik  Relation  gelügl  hätte.  Nun  ist 
ein  Ding  gewiss  keine  Pielation.  Wohl  aber  kommt 
eine  sehr  wichtige  Relation  zum  Vorschein,  wenn  Ein 
Ding  viele  Eigenschaften  —  zum  Theil  gleichzeitig, 
zum  Theil  nach  einander  —  besitzt ;  denn  da  sollen  die 
Vielen,  obgleich  sie  viele  sind,  doch  auf  das  Eine,  wel- 
ches nicht  Vielerley  seyn  darf,  bezogen  werden.  Dass 
Kant  nicht  an  die  simultane,  wohl  aber  voreilig  an  die 
successive  Vielheit  dachte,  und  dass  er  hiemit  auch  in 
die  allerdings  sehr  natürliche  Versuchung  gerieth,  den 
Erfahrungskreis  zu  überschreiten,  wurde  schon  oben  be- 
merkt (Cl).     Also  bey  der  Subsistenz  ist  das  Ding  über- 


263 

Sprüngen,  was  bey  der  Realilat,  welche  In  der  Empfin- 
dung  gesucht  wurde,   noch  niclit  erreicht  war. 

Wie  steht  es-  denn  um  die  Wirklichkeit,  welche 
zwischen  der  INIoglichkeit  und  Nolhwendigkeit  Platz  ge- 
nommen hat?  Rauls  eigne  Aussage  lautet:  „Die  Kate- 
gorien der  IModalität  liaben  schon  das  Eigene  an  sich, 
dass  sie  den  Begriif,  dem  sie  als  Prädicate  beygefügt 
werden,  als  Bestimmungen  des  Objects  nicht  im  minde- 
sten vermehren,  sondern  nur  das  Verhältniss  zum  Er- 
keuntuissvermögen  ausdrücken."  Also  das  Object  setzen 
sie  voraus;  das  Ding  muss  schon  da  seyn,  ehe  man 
überlegen  kann,  ob  und  wie  man  es  in  ein  weiteres  Ge- 
biet der  Möglichkeit  hineindenken  könne.  Wiederum 
war  demnach  bey  der  Wirklichkeit  der  Begriff  des  Din- 
ges  schon  überspriuigen. 

Das  Resultat  ist:  unter  den  Kantischen  Kategorien 
fehlt  die  erste  und  nolhwendigste  aller  Kategorien.  W^e- 
der  die  Realität,  noch  die  Subsistenz,  noch  die  Wirk- 
lichkeit  kann  dafür  gelten. 

65.  Ungeachtet  alles  Redens  von  der  Synthesis  also, 
und  von  der  objectiven  Einheit  der  Apperception,  — 
ungeachtet  jener  viel  zu  weit  offenen  Einheit  des  beglei- 
tenden:  Ich  denke,  in  welche  nicht  bloss  die  gege- 
bene Einheit  der  Merkmale  Eines  Dinges,  sondern  die 
sämmtlichen,  gegebenen  und  gedachten,  Dinge  hinein- 
fallen, —  sieht  doch  die  Reihe  der  Kategorien  so  aus, 
als  ob  jene  Synthesis  entweder  noch  bevorstände,  oder 
schon  andern  Reflexionen  Platz  gemacht  hätte.  In  dem 
wahren  Erfahrungsbegriff  des  Dinges  ist  dagegen  die  Syn- 
thesis der  JNlerkmale  vorhanden,  noch  ehe  und  bevor 
deren  Vielheit  unterschieden  und  die  Synthesis  be- 
merkt wird.     Weit  eher  werden  viele  Dinge  unter- 


264 

schieden ,  ehe  die  Vorstelhing  Eines  Dinges  in  das 
Vielerley  der  Eigenschaften  zerlegt  wird.  Hievou 
nuisste  Rechenschaft  gegeben  werden,  wenn  es  darauf 
ankam,  den  psychischen  Process  der  Auffassung  von 
Erfalirungs -Gegenständen    psychologisch   zu    entwickeln. 

Aber  der  Salz:  die  Kategorien  seyen  nur  zum  Er- 
fahrungs  -  Gebrauche  bestimmt,  sollte  der  JMctaphysik 
den  Weg  sperren.  Das  half  nichts ;  denn  bey  der  Zer- 
legung kommt  das  Vielerley  der  Eigenschaften  Eines 
Dinges  doch  zum  Vorschein ;  die  vorhandene  Synthesis 
wird  nicht  bloss  zum  Räthsel,  sondern  es  wird  auch 
noch  überdies  ihre  Gültigkeit  bezweifelt ;  wie  dieses  in 
Ansehung  des  veränderlichen  Dinges ,  und  seiner  wech- 
selnden, entgegengesetzten  IMerkmale,  schon  bey  den 
Allen,  namentlich  den  Eleaten  und  dem  Piaton,  so 
deutlich  hervortrit ,  dass  eben  der  Veränderung  wegen 
das  Sinnliche  als  Schein  verworfen,  höchstens  als  Ge- 
genstand des  Mcinens,  aber  nicht  des  Wissens,  be- 
trachtet wird. 

Wir  haben  anderwärts  erinnert,  dass  Kant  den 
Widerspruch  fühlte,  an  welchen  jene  xAlten  Anstoss 
nahmen*);  aber  auch,  dass  er  ihn  seltsam  genug  be- 
deckte. Eben  dahin  gehört  das  Obige  (62.),  dass  er 
die  Substanz  bloss  als  das  Beharrliche  bezeichnet,  und 
sie  zum  Repräsentanten  der  Zeit  macht.  Freylich  ent- 
hält die  Zeit  nichts  von  den  entgegengesetzten 
wechselnden  Merkmalen,  denn  die  Zeitpuncle  werden 
als  gleichartig  vorgestellt.  Wer  seinen  Blick  lediglich 
auf  die  Zeit  riclitet,  der  übersieht  gerade  das,  worauf 
es  bey  den  Sinnengegenständen  ankonnnt,  sobald  sie  als 
Substanzen  gedacht  werden. 

*)  Psychologie   §.  142,    in  der  Anmerkung. 


265 

Wie  i'sl  es  denn  aber  nur  niöylicli,  dies  zu  über- 
sehen? Gerade  dadurch  ist  es  möglich,  dass  der  BegiilT 
des  Dinges  viel  fiiiher  vorlianden,  viel  tiefer  in  der  all- 
gemeinen Gewohnheit  gewurzelt  ist,  als  der  Begriff  der 
Substanz.  Den  meisten  Menschen  fallt  es  gar  nicht  ein, 
die  Einheit,  welche  der  Substanz  zukommt,  zu  unter- 
scheiden von  dem  Aggregat  der  ]Merkmale  und  dem  Fa- 
den der  Veränderungen,  wodurch  das  Ding  als  ein  un- 
geschiedenes Eins   gedacht  wird. 

Wo  nun  der  BegrilF  des  Dinges  nicht  gehörig  vest- 
gestellt  wird ,  da  ist  für  den  Erfahrungsgebrauch  nicht 
einmal  der  gehörige  Anfangspuuct  bezeichnet ;  natürlich 
wird  also  auch  die  Fortsetzung  verfehlt ,  welche  dem 
rechten  Anfange  wurde  entsprochen  haben.  So  konnten 
die  Rantischeu  Kategorien  ihre  Bestimmung,  als  Er- 
kenntnissbegriffe, (58.)  nicht  erreichen. 

66.  Während  man  nun  hiemit  der  heutigen  Zeit 
nichts  Neues  sagt,  —  denn  die  heutigen  dreyzackigen 
Systeme  legen  wenig  Werth  auf  die  Rantischen  Katego- 
rien ,  —  ist  es  doch  nicht  überflüssig ,  die  „artigen 
„Betrachtungen,  welche  vielleicht  erhebliche 
„Folgen  in  Ansehung  der  wissenschaftlichen 
„Form  aller  Ver  n  u  n  f  t  -  Er  k  e  n  n  t  uiss  e  haben 
„könnten"*),  wieder  ins  Gedächtniss  zu  rufen.  In 
diesem  Puncte  hat  Kant  einen  unbegreillichen  Gehox'sam 
erlangt.  Wo  Quaiitität,  Qualität,  Relation  und  Moda- 
lität vergessen  sind,  wo  man  sich  um  das  Verbot,  den 
Erfahrungsgebrauch  der  Kategorien  nicht  zu  überschrei- 
ten, schon  längst  nicht  mehr  kümmert,  da  ist  gleichwohl 
noch  jene  Symmetrie  der  Dreytheiluugen  im  hohen  Grade 
beliebt,   welche  Kant    zwar  nicht   bey    den  vier  Haupt- 

«)    Krit.   d.   r.  V.   §.  11. 


266 

Kategorien  (die  man  als  blosse  tJberschriften  gering 
schätzt),  aber  bey  den  untergeordneten  einführte.  Es 
ist  der  Mühe  werlh ,  von  der  langen  Geschichte  dieser 
Symmetrie  den  Anlang   zu  beleuchten. 

Die  artige  Beti-achtung  selbst,  welche  hieher  gehört, 
lautet  so:  „dass  allerwärts  eine  gleiche  Zahl  der  Kate- 
„gorien  jeder  Klasse,  nämlich  drey  sind;  welches  zum 
„Nachdenken  auffodert,  da  sonst  alle  Eintheilung  a  priori 
„durch  BegriiFe,  Dichotomie  seyn  muss  *).  Dazu  kommt 
„noch,  dasa  die  dritte  Kategorie  allenthalben  aus  der 
„Verbindung  der  zweyten  mit  der  ersten  ihrer  Klasse 
„entspringt.  So  ist  die  Allheit  (Totalität)  nichts  Anderes 
„als  die  Vielheit  als  Einheit  betrachtet,  die  Einschrän- 
„kung  nichts  Anderes  als  Realität  mit  Negation  verbun- 
„den ;  die  Gemeinschaft  ist  die  Causalität  einer  Substanz 
„in  Bestimmung  der  andern  wechselseitig;  endlich  die 
„Noth wendigkeit,  nichts  Anderes  als  die  Existenz,  die 
„durch  die  IMögllchkelt  selbst  gegeben  ist.'' 

Ehe  wir  uns  auf  dieses  —  an  Spinoza  erinnernde  — 
nßiil  aliud  einlassen,  - —  waren  denn  wirklich  allerwärts 
Drey,  noch  vor  dem  Nachdenken,  zu  welchem  sie 
auffodern?  Man  sollte  meinen,  das  Nachdenken  hätte 
vorangehu,  und  die  Drey  herbeyführen  sollen.  Ver- 
muthlich  setzen  INIauche,  die  sich  noch  jetzt  die  gemäch- 
liche Dreyzahl  wohl  gefallen  lassen,  im  Stillen  voraus, 
das  Nachdenken  sey,  bey  einer  so  zur  Sitte  gewordeneu 
INIanier,    schon  durch  ihre  Vorgänger  lange  abgethan. 

Bey  Kant  ist  es  ernstlich  zu  nehmen,  dass  die  Drey 
allerwärts  —  erst  sind,  und  dann  zum  Nachdenken 
aulTodei'u.      Denn    am    Ende    des    uachstvorhergeheuden 

*)  Bekanntlich  nach  dem  contradictoriscben  Gegensalze,  des- 
sen Vollständigkeil   sicher  isl. 


2ü7 

Paragraphen  sagt  Kant :  „Die  Fächer  sind  einmal  da ; 
es  ist  nur  nöthig,  sie  auszufüllen."  Wo  sind  denn  diese 
Fächer?  Antwort:  „Dieselbe  Finiction,  welche  den 
„verschiedenen  Vorstellungen  in  einem  Urtheile  Einheit 
„giebt,  die  giebt  auch  der  blossen  Synlhesis  verschiede- 
„ner  Vorstellungen  in  einer  Anschauung  Einheit,  welche, 
„allgemein  ausgedrückt ,  der  reine  Verstandes  -  Begiill" 
„heisst.  Auf  solche  Weise  entspringen  gerade  so  viel 
„reine  Verstandes -Begriffe,  als  es  in  der  vorigen 
„Tafel  logische  Functionen  in  allen  möglichen  Urtliei- 
„len  gab;  denn  der  Versland  ist  durch  gedachte  Func- 
„tionen  völlig  erscliöpft,  und  sein  Vermögen  dadurch 
„gänzlich  ausgemessen."  Die  vorige  Tafel  ist  keine  an- 
dere als  jene  der  eingetheilten  Urtheile.  Wenn  also 
neben  dem  alten  A,  E,  I,  O,  die  einzelnen,  und  die 
unendlichen  Urtheile  weggelassen  werden,  so  fehlt 
in  der  entsprechenden  Kategorientafel  die  Einheit  und 
die  Limitation ;  wenn  Jemand  die  disjuuctiven  Urlheile 
auf  verkürzte  hypothetische  zurückführt  (31.),  oder  gar 
den  logischen  Unterschied  der  kategorischen  von  den 
hypothetischen  Urtheilen  nicht  gelten  lasst,  so  fehlt  dort 
die  Kategorie  der  Gemeinschaft,  hier  gar  die  der  Sub- 
stanz; und  es  ist,  als  halle  man  dem  Verstände  sein 
Urrecht  auf  sein  angebornes  Eigenlhum  bestritten.  Kein 
Wunder,  dass  einige  Kantianer  für  die  Eintheilungen 
der  Urtheile  wie  pro  ans  et  focis  gestritten  haben. 

An  das  eben  erwähnte  nihil  aliud  sind  folgende  Be- 
merkungen in  der  Kürze  anzuknüpfen : 

1)  Die  Allheit  erfodert,  dass  von  dem  Vielen,  wel- 
ches als  vereinigt  aufzufassen  ist,  nichts  un vereinigt 
übrig   bleibe. 

2)  Einschränkung    setzt    den   Versuch    der    weitern 


268 

Ausdehnung  des  Bejahten  voraus.  Ein  Baum  ist  nicht 
darum  eingeschränkt,  weil  er  nicht  spriclit  und  nicht 
leuclitet,  sondern  wenn  er  in  einem  schlechten  Boden 
oder  einem  rauhen  Klima  nicht  gehörig  wachst,  blüht, 
Früchte  trägt. 

3)  Unter  Gemeinschaft  versteht  Kant  erst  Einfluss 
(„wie  eine  Substanz  Ursache  von  etwas  in  einer  andern 
Substanz  werden  könne",)  dann  Wechselwirkung  („wie 
in  einem  Körper,  dessen  Theile  einander  wechselseitig 
ziehen  und  auch  widerstehen").  In  beyden  Fällen  ent- 
steht die  Frage,  ob  er  hey  der  Causalität  noch  nicht 
an  die  Ursache  als  Substanz  gedacht  hatte ,  da  erst  die 
Kategorie  aus  der  Verbindung  jener  beyden  (Substanz 
luid  Ursache)  entstehen  soll? 

4)  Wäre  Nothwendigkeit  die  durch  blosse  Möglich- 
keit gegebene  Existenz ,  so  hatte  die  JMöglichkeit  mehr 
gegeben,  als  sie  hat,   und  geben  kann. 

Aber  Kant  liess  sich  durch  solche  Bedenken  nicht 
abschrecken.  Am  Ende  der  Einleitung  zur  Kritik  der 
Urtheilskraft  (jener  reilectirendeu  Urtheilskraft,  welche 
in  der  Natur  eine  Art  von  Zweckmässigkeit  nicht  fin- 
den, sondern  in  sie  hineintragen,  und,  wenn  das  etwa 
zuweilen  gelänge,  sich  daran  wie  an  einer  erreichten 
Absicht  freuen  sollte ,  —  gewiss  eine  der  seltsamsten 
Paradoxien,  womit  je  ein  geistreicher  Kopf  gespielt 
hat,)  macht  er  einen  Unterschied  zwischen  analytischen 
(den  gewöhnlichen  logischen)  und  synthetischen  Einthei- 
lungen ,  welche  letzteren  allemal  dreytheilig  ausfallen 
sollten.  Denn  —  es  sollen  dazu  gehören:  1)  Bedin- 
gung, 2)  ein  Bedingtes,  3)  der  Begriff,  der  aus  der 
Vereinigung  des  Bedingten  mit  seiner  Bedingung  ent- 
springe.    Ungefähr    wie    wenn   Jemand    eiu   Urtheil   so 


260 

cinlhcilon  würde:  1)  Subject,  2)  Prädicat,  3)  das  Ur- 
theil  selbst,  welches  aus  der  Vereinigung  des  Subjecls 
und  Prädicats  entspringt.  Nanilicli  Bedingung  und  Be- 
dingtes beziehen  sich  auf  einander;  das  helsst,  jedes 
setzt  das  andere  voiaus;  es  giebt  keine  Bedingung  ohne 
Bedingtes,  und  kein  Bedingtes  ohne  Bedingung;  der 
BegrilF  der  Bedingtheit  umfasst.beyde,  so  wie  der 
Begriff  eines  Urtheils  Subject  und  Prädicat  umfasst. 
Nun  giebt  es  zwar  für  jede  Beziehung,  auch  wenn  sie 
nur  einseitig  ist,  eine  Theilung;  man  kann  Bezogenes 
und  Beziehungspunct  von  einander  untei'scheiden ;  aber 
die  Theilung  ist  keine  Eintheilung;  am  wenigsten  darf 
mau  die  Beziehung  selbst  noch  als  ein  Drittes  neben 
jene  beyden  Theile  hinzählen,  denn  sie  lag  schon  in 
beyden  als  deren  Voraussetzung. 

G7.  Gleichwohl  wurde  in  der  Periode  des  Kantia- 
nismus  das  Kunststück  nicht  bloss  angestaunt,  sondern 
nachgeahmt. 

Zwar  lässt  sich  die  Confuslon ,  die  Fichte  anrichtete, 
als  er  analytische  und  synthetische  Urtheile  mit  beja- 
henden und  verneinenden,  den  Satz  des  Grundes  mit 
einer  Vereinigung  Entgegengesetzter  durch  den  BegrilF 
der  Theilbarkeit,  ja  sogar  Spinoza's  Substanz  mit 
dem  Substrat  der  Theilbarkeit,  worin  beyde, 
das  Ich  und  Nicht-Ich,  —  Spinoza's  Intelli- 
genz und  Ausdehnung  —  gesetzt  seyen,  durch 
einander  warf  und  vermengte*),  nicht  vollständig  aus 
den  vorerwähnten  Rantischen  IMisgriffeu  ableiten  oder 
dadurch  entschuldigen;  vielmehr  liegt  die  wahre  Ent- 
schuldigung darin,  dass  zu  jener  Zeit,  da  die  schon  von 
den  Alten  bemerkten  Widersprüche  der  Erfahrungsfor- 
*)    Ficlile  Wissenschaftslehre  vom  Jahre  1794,    S.  31  —  48. 


270 

men  in  tiefer  Vergessenheit  begraben  lagen,  iloch  end- 
licli  einmal  Einer  der  Erste  seyn  niussle,  der  in  de« 
Wald  dieser  "Widersprüche  hinein  gerieth  5  wozu  denn 
allerdings  die  nähere  Betrachtung  des  Ich  einen  hin- 
reichenden Anlass  darbieten  konnte.  Dass  aber  hiebey 
so  verkehrt  zu  Werke  gegangen  wurde,  daran  hatten 
allerdings  die  Ranlischen  Kategorien  und  vermeinten 
Synthesen  einen  bedeutenden  Antheil.  Ich,  ]\icht-Ich, 
gegenseitige  Begränzuug  beyder,  wurden  auf  die  Kanti- 
schen Kategorien  der  Qualität  gedeutet.  Fichte  schliesst 
seinen  ersten  Theil  '*')  ausdrücklich  mit  den  Worten: 
„W^enn  von  der  bestimmten  Form  des  Urtheils,  dass  es 
„ein  entgegensetzendes  oder  vergleichendes,  auf  einen 
,,Unterscheidungs-  oder  Beziehungsgrund  gebautes  ist, 
„völlig  abstiahirt,  und  bloss  das  allgemeine  der  Hand- 
„luugsart,  —  das,  eins  durchs  andre  zu  begränzen,  — 
„übrig  gelassen  wird,  haben  wir  die  Kategorie  der  Be- 
„stimmung,  Begranzung,  bey  Kaut  Limitation.  Nämlich 
„ein  Setzen  der  Quantität  überhaupt,  sey  es  nun  Quan- 
„tität  der  Realität,  oder  der  Negation,  heisst  Bestim- 
„numg." 

Was  ferner  die  Kantischeu  Synthesen  anlangt,  — 
jene  Syuthesis  in  der  Apprehensioii  des  Mannigfaltigen, 
wodurch  etwa  die  Anschauung  eines  Hauses  zur  Wahr- 
nehmung gemacht  wird,  (50.)  —  dann  jenen  reinen 
Actus  der  successiven  Syuthesis  durch  productive  Ein- 
bildungskraft ,  vermöge  dessen  Bewegung  als  Be- 
schreibung eines  Raumes,  vorgestellt  wird,  (51.)  — 
überdies  jene  Syuthesis  des  Verstandes,  wodurch  ein 
INIannigfalliges  der  Anschauung  als  zur  nothwendigen 
Einheit    des    Selbstbewusstscyns    gehörig    gedacht    wird 

»)    A.  a.  O.  S.  48. 


271 

(51.):    so    wollen  wir  denselben   zur  kurzen  Probe  eine 
Aussage    Fichte's  *)    gegenüber  stellen. 

„Keine  Antitliesis  ist  möglich  ohne  eine  Synthesis ; 
denn  die  Antitliesis  besieht  ja  darin,  dass  in  Gleichen 
das  entgegengesetzte  Merkmal    aufgesucht   wird" ;  — 

(Darin  besieht  sie  nun  zwar  nicht;  wohl  aber  erfo- 
dert  sie ,  dass  in  Einem  Vorstellen  die  Entgegengesetz- 
ten zusammen  gehalten  seyen ;) 

„aber  die  Gleichen  wären  nicht  gleich ,  wenn  sie 
nicht  erst  durch  eine  synthetische  Handlung  gleich- 
gesetzt waren.  In  der  blossen  Antitliesis  wird  davon 
abstrahirt,  dass  sie  erst  durch  eine  solche  Handlung 
gleichgesetzt  worden :  sie  werden  schlechthin  als  gleich, 
u  n  u  n  t  e  r  s  u  c  h  t    woher,    angenommen" ; 

(soll  heissen :  nach  der  Älöglichkeit  des  Zusammenhal- 
teus  der  Entgegengesetzten  wird  nicht    gefragt;) 

„bloss  auf  das  Entgegengesetzte  in  ihnen  wird  die 
„Reflexion  gerichtet,  und  dieses  dadurch  zum  klaren 
„und   deutlichen  Be wuss tseyn  erhöbe n." 

(Also  in  der  Reilexion  steigen  die  Vorstellungen, 
in  der  Abslraction  sinken  sie   im  Bewusstseyn). 

„So  ist  auch  umgekehrt  keine  Synthesis  möglich, 
ohne  eine  Antithesis.  Entgegengesetzte  sollen  vei'einigt 
werden;  sie  wären  aber  nicht  entgegengesetzt,  wenn 
sie  es  nicht  durch  eine  Handlung  des  Ich  wären, 
■von  welcher  in  der  Synthesis  abstraliirt  wird,  um  bloss 
den  Beziehungsgrund  durch  Reflexion  zum  Bewusstseyn 
zu  erheben." 

Hier  handelt  zwar  nicht  dies  oder  jenes  Erkeuntniss- 
vermögen,  Sinnlichkeit,  Einbildungski-afl,  Verstand; 
sondern  das  Ich ,  welclies  zuvor  als  Grund  aller  Realität 


ä 


)    A.  a.  O.  S.  35. 


272 

proclamlrt  worden,  trit  selbst  handelnd  auf;  dennoch 
hat  es  von  den  Rantischen  Seelenvermögen  sein  Han- 
deln gelernt,  und  setzt  nur  unter  etwas  veränderten 
Jjestiinmungen  fort,    was  jene  begonnen  hatten. 

Kein  Wunder,  dass  nun  das  Sinken  und  Steigen 
der  Vorstellungen  im  Bewusstseyu  mit  solchen  Namen 
Abstraction  und  Pie  flexi  on,  belegt  wird,  als  ob 
auch  dazu  eigne  Handlungen  von  dem  Ich  miissten  vor- 
genommen ^yerden.  Das  Fichtesche  Ich  hat  überhaupt 
das  Schicksal,  Vieles  zu  thun,  wovon  es  nichts  weiss, 
und  dies  Nichtwissen  erst  durch  eine  späte  Selbster- 
kenutniss  zu  verbessern.  So  lesen  wir  unter  andern 
S.  286.  der  Wissenschaftslehre :  „Da  alle  diese  Functio- 
„nen  des  Gemüths  mit  Noth wendigkeit  geschehen,  so 
„wird  man  seines  Handelns  sich  nicht  bewusst,  luid 
„muss  noth  wendig  annehmen,  dass  man  von  aussen  er- 
„halten  habe ,  was  man  doch  selbst  durch  eigne  Kraft 
„nach  eignen  Gesetzen  producirt  hat." 

So  lautet  die  Sprache  des  Idealisten,  der  den  psy- 
chischen Älechanismus  nicht  kennt,  aber  sucht,  in- 
dem er  allerdings  speculative  Bedürfnisse  empfindet,  von 
denen  die  IMenge  nichts  merkt  und  begreift. 

68.  Durch  Anführung  jener  Stelle,  welche  besagt, 
ein  Setzen  der  Quantität  heisse  Bestimmung,  Begrän- 
zung,  bey  Kant  Limitation,  haben  wir  es  Fichten  über- 
lassen ,  eine  Bemerkung  auszusprechen ,  die  freylich 
beym  Anblick  der  Kantischen  Kategorientafel  sich  Jedem 
leicht  aufdringen  kann;  nämlich,  dass  die  Limitation, 
welche  dort  unter  der  Rubrik:  Qualität,  erscheint, 
in  das  Gebiet  der  Quantität  zurückgreift.  Dieser 
Punct  wurde  oben  (63.)  schon  vorläufig  erwähnt.  Ohne 
uns  hier  auf  den   offenbaren    Kanlischen    Fehler   weiter 


277 

einzulassen,    haben    wir   mit   Fichten    —    und   mit  dem 
Aristoteles  zu  thuu. 

Fichte  will  zwar  den  Begriff  der  Schranken  nicht 
analytisch  aus  der  Vereinigung  der  Realität  mit  der 
Negation  entwickeln.  Aber  ein  Paar  Seiten  weiter  hin 
schreibt  er:  „Alles  Entgegengesetzte  =  — A  ist  ent- 
„gegengesetzt  einem  A'.,  und  dieses  A  ist  gesetzt.  Durch 
„das  Setzen  eines  — A  wird  A  aufgehoben,  und  doch  auch 
„nicht  aufgehoben.  INIithin  wird  es  nur  zum  Theil 
„aufgehoben."  Wir  iintei'brechen  ihn  hier;  denn  un- 
abhängig von  dem  anscheinend  räthselhaften  Fortgange 
seiner  Hede   ist  hier  eine  Entwicklung  nöthig. 

A  ist  hier  zum  Gegenstande  einer  Bejahung  und 
Verneinung  gemacht;  luid  gefodert  wird,  dass  die  Ver- 
neinung nicht  als  auslöschend  das  Bejahte  angesehen 
werde.  Also  das  Bejahte  bleibt  stehen ;  das  Verneinte 
bleibt  auch  stehn.  So  steht  zweymal  A]  einmal  für 
die  Bejahung,  das  audremal  für  die  Verneinung.  Es 
sind  zwey  Exemplare  von  A  gedacht  worden ;  beyde 
fallen  unter  Einen  allgemeinen  Begriff,  den  Begriff  von 
A,  welcher,  wie  jeder  Multiplicandus,  logisch  höher 
steht,  als  die  Anzahl  der  vorhandenen  Exemplare. 
Wie  nun  jedem  hohem  Begriffe  ein  Umfang  zugeschrie- 
ben wird ,  so  hat  auch  hier  der  allgemeine  Begriff  des 
A  eine  Sphäre,  und  in  diese  th eilen  sich  die  Exem- 
plare. Das  Seltsame,  demjenigen  A,  welches  Gegen- 
stand der  Verneinung  seyn  soll,  einen  Platz  in  der 
S|)häre  des  Begriffs  A  anzuweisen,  mildert  sich  etwas, 
indem  Fichte  gleich  weiterhin  ein  B  einführt,  welches 
durch  das  Setzen  des  A  nicht  gesetzt,  und  in  so  fern 
ein  verneintes  A  sey;  darauf  fährt  er  fort:  „Durch  das 
Heft  II.  8 


278 

Gleicliselzen  beyder  (B  =  A)  wird  weder  A  noch  B, 
sondern  irgend  ein  X  gesetzt,  welches  z=  X  und  rr  A 
und  =B  ist."  Was  er  damit  sagen  will,  zeigen  etwas 
weiterhin  die  Beyspiele.  Der  Vogel  ist  ein  Thier 
(der  Beziehungsgrund  soll  seyn:  animalisch  belebte  Ma- 
terie, der  Unterscheidungsgruud :  zwey  oder  vier  Füsse 
u.  dgl.).  Eine  Pflanze  ist  kein  Thier  (Bezieluings- 
grund  :  Organisation  ;  Unterscheidungsgrund :  specifische 
Differenz  zwischen  Pflanze  und  Thier).  Die  Beyspiele 
zeigen  eine  logische  Theilung  logischer  Sphären.  Damit 
ist  nun  noch  immer  nicht  der  Begriff  der  Limitation  ge- 
wonnen; wohl  aber  allerdings  eine  Annäherung  an  den- 
selben. IMan  braucht  nur  in  das  letzte  Beyspiel  noch 
den  Begriff  der  Zoophylen  einzuführen,  und  mit  ihnen 
einerseits  die  verschiedenen,  mehr  ausgebildeten  Pflan- 
zen, andererseits  die  mehr  ausgebildeten  Thiere  zu  ver- 
gleichen, so  bilden  in  dieser  Vergleichung  die  Zoophy- 
ten  einen  Übergang  aus  einem  Gebiete  in  ein  anderes, 
nachdem  jedes  dieser  Gebiete  für  sich  eine  Weite  der 
Ausdehnung  bekommen  hatte,  worin  mancherley  grad- 
weise musste  unterschieden  werden.  Der  Übergang 
setzt  eine  Gränze  voraus;  und  der  Begriff  der  Limitation 
entsteht  da,  wo  Vieles  mehr  oder  minder  Entgegenge- 
setzte zusammengehalten,  und  nach  entgegengesetzten 
Richtungen  zusammeugefasst  wird. 

Um  Fichtes  eigentliche  Absicht  an  dieser  Stelle,  das 
absolute  Ich  als  den  Grund  und  Boden  darzustellen, 
worauf  das  beschränkte  Ich  und  das  beschränkte  Nicht- 
Ich  neben  einander  stehen  sollten,  bekümmern  wir  uns 
nicht  weiter,  da  unsre  Absicht  bloss  auf  die  Kategorie 
der  Quantität  gerichtet  ist;  welche  wir  am  gehörigen 
Orte    der  Qualität  coordinirt,   beyde  aber   dem  höheren 


279 

Begriffe  der  Eigenschaft  subordinirt  haben.  Zur  Erläu- 
terung mag  Aristoteles  veranlassen. 

69.  Aristoteles  stellt  zwar  ganz  gemächlich  sein  no- 
aov  und  iioiov  neben  einander;  ja  er  lässt  in  der  nä- 
hern Betrachtung  noch  das  tiqos  ti  dazwischen  kommen, 
welche  Einscliiebung  wenigstens  nicht  mehr  pflegt  nach- 
geahmt zu  werden.  Allein  die  fernere  Entwickelung 
zeigt  Quautitäts-Begriffe,  wo  man  dergleichen  nicht  er- 
warten möchte,  wenn  man  die  Aufzählung  der  Katego- 
rien als  eine  reine  Auseinandersetzung  ansieht.  Ob  bey 
den  einzelnen  Kategorien  ein  Mehr  oder  Minder  vor- 
komme ?  dies  wird  bey  ihm  zur  vielfach  wiederkehren- 
den Frage.  Bey  der  ovai'a  und  dem  noaov  wird  die 
Antwort  verneinend,  bey  dem  ngog  it-,  dem  noiov, 
dem  noieiv  und  ndoyeiv  wird  sie  bejahend  gegeben. 
Zwar  auf  die  Individuen  soll  der  Begi-iff  der  ovoi'a 
mehr  passen,  als  auf  die  Arten  und  Gattungen;  aber  in 
der  Anwendung  dieser  Kategorie  auf  einen  und  densel- 
ben Gegenstand  soll  kein  Mehr  und  Minder  (kein  Com- 
parativ  des  Seyn)  vorkommen.  Beym  tiooov  wird  das 
Maass  von  zwey  Ellen,  die  Zahl  Drey  oder  Fünf  bey- 
sj)ielsweise  angeführt ;  darin  nun ,  dass  ein  Gegenstand 
durch  solches  Maas  oder  solche  Zahl  bestimmt  ist,  Hegt 
kein  INIehr  oder  Äliuder.  Hingegen  bey  einigen  Verhält- 
nissbegriffen passt,  nach  Aristoteles,  ein  Älehr  oder  We- 
niger; Ähnlichkeiten  sind  grösser  oder  kleiner.  Bey  den 
Beschaffenheiten  gleichfalls;  Weisses  kann  noch  weisser 
werden;  Warmes  noch  wärmer;  der  Traurige  noch  trau- 
riger; daher  auch  das  Erwärmen,  Betrüben,  und  das 
solchem  Handeln  entsprechende  Leiden  (Caleg.  VI,  21; 
VII,  3). 

Halle  nun  Aristoteles  auf  dasjenige  Weisse,  welches. 


280 

obgleich  es  weisser  seyn  könnte,  doch  nicht  weisser  ist, 
—  oder  auf  dasjenige  Warme,  welches,  obgleich  es  wär- 
mer seyn  könnte,  doch  nicht  Avärmer  ist,  reflectirt: 
so  würde  er  seineu  Satz  von  dem  tiocov  haben  anbrin- 
gen können,  dass  hier,  nämlich  in  der  Anwendung  ei- 
ner einmal  vestsleheuden  Gradbestimmung,  kein  Mehr 
und  kein  INIiuder  Statt  finde.  Allein  er  scheint  sich  mit 
intensiven  Grössen  nicht  sonderlich  befreundet  zu  haben. 
Bey  dem  nooov  beginnt  er  seine  Betrachtung  damit, 
discrete  und  stetige  Grössen  zu  unterscheiden.  Zu  jenen 
rechnet  er  nicht  bloss  die  Zahlen,  sondern  auch  die 
Worte,  mit  dem  etwas  harten  Satze:  ov  yaQ  iori  itoivog 
OQOS)  ^Qos  ov  cil  ovD.ußvu  ovvdmovoiv,  «AA  lnäoit] 
dtMQio%ai  ciVT'^  }ia&'  aviTjV.  Dagegen  erkennt  er  dem 
Räume  und  der  Zeit  die  Contluuität  zu.  Nachdem  nun 
noch  ein  Unterschied  zmschen  Lage  und  Ordnung  ge- 
macht worden  (jene  für  das  Räumliche,  diese  für  Zeit 
und  Zahl:)  fährt  er  fort:  nvQi'o}s  <Jf  noau  ravta  )Jye- 
rcii  fiova  T«  uQijf^dva'  xa  81  uXXa  mxVTa  ttccra  ovfi- 
ßeßi;yiög'  eis  Tumcc  yciQ  caioßlinovteg  nal  ra  allu 
Tiood  /Jyofiev.  oiov  nolv  10  hvxov  XlysTai,  rw  ys 
%rjV  intrpdveiuv  nollr^v  tlvai'  aal  1)  nqalis  fiaKQa, 
70)  ys  %6v  yQovov  noXvv  tivat'  hcci  1]  idvrjGts  noXh;' 
ov  yccQ  ycad-  uvro  e'y.aozov  tovto)V  nooov  Xfyerai'  — 
y.ai  10  Xtvy.ov  nooov  11  dnoöiöovs-,  tf]  inKpavela  ogtei' 
Ööf]  yccQ  äv  rj  enirpäveia  ei'i],  tooovtov  y.cu  Xevzov  (f>i]- 
oeuv  i(V  elvai.  Wo  bleibt  hier  jenes  Mehr  oder  INlin- 
der  des  Weissen,  welches  noch  weisser  werden  kann? 
Daran  erinnert  sich  Aristoteles  erst  beym  noiov.  An 
solche  Quantitäten  und  Begränzungen ,  wie  jene  inner- 
halb der  logischen  Sphären  (68.)  scheint  er  bey  den  Ka- 
tegorien vollends  nicht  zu  denken. 


281 

70.  Wer  die  Weisse  dei'  Leinwand,  des  Papiers, 
des  Bley weisses,  des  Älondes,  des  Schnees  verglelcl»t, 
der  bekümmert  sich  nicht  um  die  grössere  oder  kleinere 
Oberlläche;  wohl  aber  findet  er  bestimmte  Grade  der 
Weisse,  zwischen  welchen  ein  JMehr  oder  Weniger 
liegen  könnte.  Er  findet  ein  nooov,  ein  bestimmtes,  in- 
tensives Quantum  Weisse  des  Schnees,  von  dem  die  min- 
deren Grade  als  Brüche  zu  betrachten  sind.  Bey  wach- 
sender Beleuchtung  würden  diese  Grade  zugleich  wach- 
sen; und  wenn  die  Leinwand  auf  dem  Schnee  liegt,  so 
wachsen  sie  beym  Anbruch  des  Tages  wirklich  zugleich 
iür  den  Zuschauer. 

Wer  eine  IMelodle  von  mehrern  Stimmen  zugleich 
singen  hört,  der  hört  stax'kere,  Töne  von  Vielen,  schwä- 
chere von  einer  kleinei'n  Zahl  der  Sänger;  und  wenn 
zu  den  vorigen  Säugern  auf  einmal  zehn  neue  hinzutre- 
ten, so  überspringt  die  Verstärkung  des  Tons  auf  ein- 
mal alle  diejenigen  geringern  Verstärkungen ,  welche 
durch  einen  oder  zwey,  durch  acht  oder  neun  Beytre- 
tende  wären  erreicht  worden.  Allein  w-enn  der  Hörende 
sich  dem  Gesänge  allmählig  nähert,  so  wird  für  Ihn  die 
Stärke  des  Tons  contluulrllch  wachsen ;  und  die  Distan- 
zen jener  spruugweisen  Verstärkungen  werden  für  ihn 
ausgefüllt  seyn. 

Wenn  Jemand  In  eine  schwache  Salzlauge  eine  Hand- 
voll Salz  auf  einmal  nachschüttet,  so  wird  der  salzige 
Geschmack  sprungweise  stärker  werden ;  während  die 
allmählige  Verstärkung  durch  langsames  Zugiesseu  einer 
gesättigten  Salzlösung  konnte  bewirkt  werden. 

Auf  den  Unterschied  der  stetigen  und  der  discreten 
Verstärkiuig  ist  hier  deshalb  hingewiesen,  weil  beym 
Aristoteles  das  [iCdXov  neu  ijrzov  einen  weitem  Umfang 


282 

bekommen  hat  als  das  noGov.  Es  sieht  aus,  als  hätte  er 
in  der  intensiven  Grösse  nicht  vesten  Fuss  fassen  kön- 
nen, und  als  wäre  es  ihm  zwar  leicht  geworden,  ein 
unbestimmtes  Mehr  oder  Weniger  in  Gedanken  zu  ver- 
folgen und  vorüber  schweben  zu  lassen,  aber  schwer, 
das  Schwebende  in  irgend  einem  Puncte  vestzuhalten, 
wobey  es  sich  in  ein  bestimmtes  Quantum  würde  ver- 
wandelt haben. 

Am  leichtesten  findet  es  dagegen  Aristoteles,  mit  Hülfe 
der  d-iots  imd  zalig  Raum-  und  Zeit- Grössen  aufzufas- 
sen. Freylich  ist  das:  nov  Ixciarov  nelrai  hier  bequem 
anzugeben;  das  aber  wird  gewöhnlich  nicht  bemerkt, 
dass  man  in  die  Widerspiüche  der  Continuitat  eben  des- 
halb hineingeräth ,  weil  das  Intensive  hier  nicht  an  sei- 
ner rechten  Stelle,  und  doch  nicht  zu  verscheuchen  ist. 
Der  Raum  sollte  ein  reines  Ausser-Einander,  die  Zeit 
ein  reines  Nach-Eiuander  seyn;  die  nächsten  Theile  aber 
fliessen  in  einander,  und  ihre  Unterscheidung  darf  nicht 
veslgehalten  werden.  Alte  Gewohnheit  bedeckt  hier  die 
Schwierigkeit.     Doch  zurück   zur  Hauptsache. 

71.  Eben  deshalb,  weil  bey  den  Erfahrungs- Gegen- 
ständen das  nooov  sich  überall  ins  noiov  eindrängt,  — 
weil  man  Beschaffenheiten  ohne  Quantitäten  nirgends  an- 
geben kann,  —  und  weil  die  Kategorien  ihre  Bestimmung 
in  dem  Erfahrungskreise  haben  (59.  62.),  und  so  genom- 
men werden  müssen,  wie  sie  dort  vorkommen:  haben  wir 
in  der  Psychologie  bey  der  Haupt -Kalegox'ie  der  Eigen- 
schaft (63.)  sogleich  Qualität  und  Quantität  zusammen- 
gestellt. Auf  die  Frage:  was  iür  ein  Ding?  kommen 
desto  gewisser,  je  bestimmter  man  sie  beantworten  will, 
beyde  zugleich  zur  Sprache;  bald  die  Quantität  der  Qui>li- 
tät  —  der  Grad;  bald  cUe  Qualität  der  Quantität  —  die 


283 

Gestalt,  der  Rliyllnmis  u.  dgl.  in.  Dies  nun  hindert  zwar 
nicht,  dass  man  Quantität  und  Qualität  als  zwey  Kate- 
gorien unterscheide ;  vielmehr  behält  Aristoteles  Recht, 
dass  unter  den  sprachlichen  Ausdrücken  (to^j^  Xeyo/Kt- 
VMv)  einige  das  Wieviel,  andre  das  WiebeschaiFen  an- 
zeigen. Allein  beyde  müssen  zusammen  der  Kategorie 
des  Verhältnisses,  dem  7700^^  ri,  gegenübertreten,  bey 
welchem  die  allgemeine  Frage  Was?  überschritten,  imd 
von  einem  zu  einem  andern  hingeschauet  wird.  Quan- 
tität und  Qualität  bleiben  noch  bey  Einem  Dinge,  oder 
bey  Einem  Aggregat  von  Dingen ;  ihr  Unterschied  ist 
€in  subordinirter ;  er  gehört  nicht  in  die  Reihe  der 
Haupt -Kategorien.  Fragt  mau  nun  aber  nach  der  rech- 
ten Stelle  für  den  Begriff  der  Limitation,  so  sieht  man, 
dass  eine  neue  Unterordnung  uöthig  wird.  Ohne  Zwei- 
fel gehört  Begränzung  zu  den  Quantitäts-Begriffen;  mit 
blosser  Position  und  Negation  ist  hier  nichts  auszurich- 
ten. Die  Gränze  erfodert  ein  Feld,  in  welchem  sie  laufe; 
oder  mindestens  ein  zwiefaches  Quantum  nach  entgegen- 
gesetzten Seiten;  wenn  nicht  eiu  wirklich  zurückwei- 
sendes, so  doch  ein  gesuchtes  für  den  Versuch,  jenseits 
der  Gränze  noch  etwas  zu  setzen,  wäre  es  auch  nur 
das  Leere,  wo  das  Etwas  vermisst  wird.  Bis  an  die 
Gränze  muss  ein  Zusammenfassen  stattgefunden  haben, 
welches  nicht  weiter  geht,  aber  den  Gedanken  des  Wei- 
ter in  sich  trägt.  Darum  haben  wir  bestimmte  Quanti- 
tät von  der  unbestimmten  unterschieden;  dergestalt,  dass 
Einheit  und  Allheit  zu  jener,  die  blosse  Vielheit  aber 
zu  dieser  gehören. 

In  dem  nämlichen  Zusammenhange,  da  der  Ursprung 
der  Kategorien  sollte  angezeigt  werden,  musste  denn 
auch   der  natürlichen  Neigung,    alle  Grössen    als  exten- 


284 

slve  vorzustellen,  Erwähnung  gescliehn.  Der  Ursprung 
liegt  in  den  Reproductionsgesetzen.  „Ohne  die  Repro- 
ductionsgesetze,  die  Eins  zwischen  Anderes  setzen, 
würde  es  eben  so  wenig  jemals  eine  Kategorie  der 
Quantität  gegeben  haben,  als  einen  Raum  und  eine  Zeit; 
denn  die  Einheit  der  Seele  würde  die  Theile  des  Vielen 
so  völlig  verschlingen  und  in  sich  versenken,  dass  gar 
kein  Mannigfaltiges  mehr  in  ihm  könnte  geschieden  wer- 
den. Was  insbesondere  die  Zahlen  anlangt,  so  scheint 
hier  alles  Zwischen -Liegende,  welches  die  darin  enthal- 
tenen Einheiten  trennen  könnte,  zu  mangeln.  Allein 
dies  beweiset,  dass  die  Zahlbegriffe  nichts  Primitives  sind. 
Die  ursprünglichen  Zahlen  sind  Anzahlen  gesonderter  Ge- 
genstände. Diese  zeigten  sich  den  Versetzungen  unter- 
worfen. Also  hemmten  sich  die  bestimmten  Reihen, 
welche  die  Wahrnehmung  erzeugt  hatte.  Dennoch  blieb 
das  Streben  zur  Sonderung.  Alle  Zahlen  suchen,  sich 
auseinander  zu  setzen ;  sie  streben  zur  Gestaltung.  Da- 
her die  allgemeine  Neigung,  sie  bald  als  Abscissen  und 
Ordinaten  darzustellen,  bald  als  figurirt  zu  betrachten; 
bald  sogar  ihnen  mystische  Eigenschaften  beyzulegeu." 

Diese  Stelle  mag  an  ihrem  Orte  '*)  im  Zusammen- 
hange nachgelesen  werden.  Die  rä^ig,  welche  Aristo- 
teles der  Zeit  und  der  Zahl  zuschreibt,  verwandelt  sich 
in  eine  ^eoig,  sobald  die  Zeit  (wie  das  merkwürdige 
Wort  Zeitraum  andeutet)  zwischen  bestimmten  Gräu- 
zen  zusammengefasst,  oder  vollends  nach  Kant  als  das- 
jenige angesehen  wird,  „welches  bleibt  und  nicht  wech- 
selt" (62.);  und  sobald  zwischen  den  Zahlen  Brüche  ein- 
geschaltet, Irrationalgrössen  gesucht,  die  immer  dichter 
liegenden  Wurzeln   grösserer  Zahlen   in  Betracht   gezo- 

*)  Psychologie   §.  124. 


285 

gen  werden.     Dies  geschieht,  ohglelch  mau  keinen  Zelt- 
raum nach  Füssen  und  Zollen  ausmessen ,  keiner  Distanz 
zweyer  Zahlen,  für  sich  allein  betrachtet,  eine  bestimmte 
Grösse  beylegen  kann.     Es  geschieht,  weil  jeder  Unter- 
schied der  Zelten  oder  Zahlen   zum  Maassstabe  für  an- 
dere   gleichartige,    gi'össere   oder  kleinere,  Unterschiede 
genommen    werden    kann ,    indem    es    dabey    bloss    auf 
Vergleichungen  und  Verhältnisse  ankommt.     Was  aber 
möchte  Aristoteles   zu  der  heutigen  Unterscheidung  von 
Sternen   erster,   zweyter,  dritter,  vierter  Grosse   u.  s.  w. 
gesagt  haben?     Hatte  er  seinen  Satz  vesthalten  wollen: 
das  Quantum  des  Weissen   werde   nach  der  Grösse  der 
Oberflächen  bestimmt  (68.),  so  müsste  er  auf  den  Schluss 
gekommen  seyn,  der  Sirius   gebe  uns  eben  so,  wie  der 
Jupiter ,    viel   Weisses    zu    sehn ,    nämlich    wegen    einer 
grossen  Oberfläche ;  die  schwächern  Sterne  weniger  we- 
gen kleinerer  Oberflächen;    während  heutiges  Tages  Je- 
dermann weiss,  dass  die  Fixsterne   für  uns   mathemati- 
schen Puncten  gleichen,  bey  denen  wir  nur  die  Intensi- 
tät   unserer    Licht -Empfindung    einer    Grössenschätzung 
nach  Zahlen    unterwerfen  können.      Diese  Grössenschä- 
tzung schwankt;    aber  nur  in  unserm  Denken,  welches 
die  Empfindung   zu  seinem  Gegenstände  macht.      Dabey 
liegt  die  Voraussetzung  zum  Grunde,  dass  die  Intensität 
jeder  einzelneu  Licht-Empfindung  nicht  etwan  auch  eben 
so  schwanke,  wie  der  Gedanke,  der  in  den  angegebenen 
Zahlen  einen  Ausdruck  sucht,   ohne  ihn  genau   verbür- 
gen   zu  können;    dass   vielmehr  jedesmal   jede   gegebene 
Licht -Empfindung    an    sich    eine    bestimmte    intensive 
Grösse  besitze,  die  nicht  au  sich  maasslos,  sondern  nur 
für   die   Künste    unserer   Photometrie    unerreichbar    ist. 
Läge   diese  Voraussetzung   nicht   zum  Grunde,    so  hätte 

T 


286 

man  niemals,  auch  nicht  bey  solchen  Vergleichungen, 
die  mehr  oder  minder  erreichbar  sind,  an  eine  Photo- 
metrie denken  können;  denn  was  an  sich  schwankt,  da- 
von kann  Niemand  hoffen  eine  veste  Auffassung  zu  ge- 
winnen. Übrigens  wollen  wir  das  blosse  Abzählen  ei- 
ner Folge  bemerkbarer  Unterschiede  (wie  bey  den  Ster- 
nen) auf  keine  Weise  mit  einer  Messung  vergleichen; 
dagegen  aber  wollen  wir  uns  erinnern,  dass  Zahlbegriffe 
ihrem  wahren  Sinne  nach  weder  mit  Extension  noch  mit 
Intension  etwas  gemein  haben.  Zahlen  sind  Multiplica- 
toren,  welche  über  die  Frage,  von  welcher  Art  ihr  Mul- 
tiplicandus  sey,  überall  nichts  bestimmen. 


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