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2 Auswahl der beſten modernen Romane aller Völker
Alle 14 Tage erſcheint ein Gand
preis jedes Bandes SO Pf. Elegant in Leinwand geb. 75 Pf.
(26 Bände jährlich, Befamtpreis broſchiert 13 Mark, gebunden 19 Mark 50 pf.)
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Der Ram ndere Geſchich⸗
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vor den großen Mauern. Von Katha- -Dempire- ung dem Englischen
ring Zitelmann. Lebende Bilder. Von paul Oskar
Entgleiſt. Von 8. m. Croker. Aus Höcker. 2 Bände.
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Aus dem Franz
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Von Börge Janſſen. Aus dem
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Adtundzwanzigfter Jahrgang
ardy von Arnbergs Zeidensgang. Von
? Wa 5 Bände.
Der Fall von millbank. Von S. d.
Elöridge. Aus dem Engliſchen.
Kismet. Von Severin Lieb in. Aus
dem Norwegiſchen.
die ſchöne Meluſine. Vo
v. Rohlenegg. 2 Bände.
die W Von E. J. Dance. Aus
dem Engliſchen. .
Romddianten. Von Carry Brachvogel.
Die ftolze Katharina. Von 8. M. Croker.
Aus dem Engliſchen. 2 Bände.
Die verſchwundene Frau.
Von Max Dürr.
Das gaftlihe haus. Von J. W. Tomps
eins. Sr dem Englischen.
emordete Wald. Von Fedor von
obeltitz. 2 Bände.
victor
Der
ein Semeindekind. Von T. Combe.
Aus dem Franzöſiſchen.
Paftings duve. Von Marianne mewis.
Raffles als Richter. Von E. W. Hornung.
Aus dem Engliſchen. 2 Bände.
Cenzl von der Blauen Senziane. Von
Richard voß. .
Leslie und ihre verehrer. Von Anne
Warner. Aus dem Engliſchen.
Der Roman einer hofdame. Von Ruth
Freifrau von Sagern-Rospoth
(Ruth Gräfin Fau). 2 Bände.
Der Inſpektor auf Siltala. Von Harald
Selmer⸗-Seeth. 25
Aus dem Schwediſchen.
der nebelreiter und andere Geſchichten.
Von helene Raff. n
die letzte Karte. Von henry de vere
Stacpoole. Aus d. Engliſchen. 2 Bde.
Neununodzwanzigſter Jahrgang
Die Lieſegang⸗Mädchen. Von Victor
v. Kohlenegg. 2 Bände.
Di | laifance.
er veoh.
Seine Stunde. Von Elinor Glyn. Aus
dem Engliſchen.
Allzumal Sünder. Von Charlotte Niefe,
2 Bände.
der Mann im Keller. Von Palle Roſen⸗
krantz. Aus dem Däniſchen.
Stille Waller. Von Emmi Lewald
- (Emil Roland).
Ruhm. Von 8. M. Croker.
Engliſchen. 2 Bände.
Roberts Srautfahrt. Von Jean de la
Sröte, Aus dem Franzöſiſchen.
Lebendig begraben. Von Arnold
Bennett. Aus dem Engliſchen.
Muſikſtudenten.
Von Paul Oskar Höcker. 2 Bände.
Miſericordia. Von Johannes höffner.
Das wollene Kleid. Von henry
Bordeaux. Aus dem Franzöſiſchen.
Aus dem
der Traum des Johann Senapius.
Von Marie diers. 2 Bände.
—
Ey
Der lange Arm. Von S. m. Garden⸗
hire. Aus dem Engliſchen.
Ein neuer Band höchſt ſpannender
und vorzüglich erzählter Kriminalge—
ſchichten des den Leſern von Engel⸗
ei Nomanbibliorbef bereits wohl:
elannten Verfaſſers.
Das Glück des Haufes Rottland. Von
Julius N. haarhaus.
Ein hochorigineller Eifelroman von
einem alten Freiherrn und ſeiner
jungen Frau aus niederm Stande, von
Glücksvögeln und Kühen! Alles iſt
fein humoriſtiſch, teilweiſe mit fräfs
tigem Realismus gegeben und doch
rührend und poetiſch austlingend.
Tragödien der Zeit. Von Richard voß.
2 Bände.
Das jüngfte Werk des Dichters führt
uns in die Stadt Goethes und Schillers,
in das Weimar der letzten Jahre; es iſt
ein hinreißendes Zeitgemälde, das Voß
hier mit jeiner Meiſterhand vor uns ent⸗
wirft. In Charakteren, Einzelgeſtalten
von monumentaler Größe und Einfach⸗
heit zeichnet erdie widerſtreitenden Strö⸗
mungen unſrer heftig gärenden Zeit.
Um Frauenehre. Von mrs. Belloc
Zowndes. Aus dem Engliſchen.
Mit atemlofer Spannung verfolgen
wir in dieſem glänzend aufgebauten,
packenden Roman die tragiſchen Folgen
eines Schrittes vom Wege und die ver⸗
. Bemühungen des Helden
en Ehrenſchild der geliebten Frau bis
über ihren Tod hinaus vor der Welt
rein zu erhalten.
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Auf meſſers Schneide.
Von Elſe Franken.
Ein glänzend geſchriebener Hoch⸗
ſchulroman der beliebten Schriftſtel⸗
lerin aus einer Univerſität des deut»
ſchen Nordens, der das Weſen einer
ſolchen Gelehrtenrepublik mit großer
Sachkenntnis an einer Reihe ſcharf und
doch liebevoll beobachteter Tupen ſchil⸗
dert. Sad 1 ya 1125 755 einer
ener Ho ultragödien, die gelegent-
f im . ſpielen und auch
andere, Unſchuldige
in den Sturz
hineinziehen.
Das
ahr des Irrtums. Von Walther
chulte vom Brühl. 2 Bände.
Unterſtützt von feiner feinen hiſtori⸗
ſchen Bildung und getragen von ſtarkem
künſtleriſchem Empfinden, zeichnet der
bekannte Verſaſſer der „Revolutzer“
und des „ e mit
vollendeter Meiſterſchaft die große Zeit
vor hundert Jahren in ihrem heroiſchen
Aufſchwung wie in ihren ſtilleren,
vom Wege abſeits liegenden idylliſchen
Epiſoden.
Dreißigſter Jahrgang
Der Schläfer von Sulz.
Von hermann Stegemann. 2 Bde.
So lebendig die ganze landſchaft—
liche Umwelt und das Volksleben
childert ſind, das Werk erhebt
och weit über die Dorfgeſchichten ges
wöhnlicher Art und wächſt zu einem
Drama empor, in dem der alte Kampf
333 Licht und Finſternis, zwiſchen
em Idealismus einer hochgeſtimmten
Seele und den brutalen Machten des
Stumpfſinns und der Selbſtſucht durch⸗
gekümpft wird.
(Staatsanzeiger für Württ.)
du mußt mir glauben!
Von Hanns von Zobeltit.
Der große Reiz diefer ange be⸗
ruht keineswegs nur auf dieſem glän⸗
3 entwickelten kriminellen Vorwurf,
eſſen Behandlung den Leſer bis zur
letzten Seite in ſtärkſter Erregung hält.
Es tft vielmehr die feine pſychologiſche
Begründung, es find tiefe Seelen—
vorgänge, die der reiſen 1
ihre großen Zauber verleihen un
ihre nachhaltige Wirkung.
paul Becks Unterſuchungen.
Von M. me donnell Bodkin.
Eine Reihe glänzend geſchriebener
Kriminalgeſchichten, deren Held, der
den Leſern von Engelhorns Romans
bibliothek wohlbekannte Detektiv Paul
Beck, ſich auch hier das Intereſſe und
die Bewunderung ſeiner zahlreichen
Freunde zu erhalten weiß.
Das Heiratsdorf.
Von Nanny Lambrecht.
2 Bände.
Amüſante Typen, urwüchſige Milteu⸗
ſchilderung, eine hinreißende Hand—
lung — das ſind die Merkmale dieſes
glänzend geſchriebenen allonenro⸗
manes, den wir mit Freude und Bes
friedigung aus der Hand legen.
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In der Schuld und andere Geſchichten.
Von Hermine Dillinger.
Die Geſtalten Hermine Villingers
ſtehen alle in überraſchender Lebendig⸗
keit vor uns; friſcher köſtlicher Humor
wechſelt mit tragiſcher Größe, und ſei
es nun, daß die Verfaſſerin uns zu
ihren beſondern Vertrauten, den
chwarzwälder Bauern, führt oder
uns das innere Werden eines begabten
5 miterleben läßt — ſtets
ſtehen wir im Bann ihrer außer⸗
ordentlichen erzähleriſchen Begabung
und künſtleriſchen Reiſe.
meine Töchter,
Von dora Melegari.
Aus dem Franzöſiſchen.
Außerordentlich fein iſt es, wie ſich
in dieſem höchſt anziehenden Roman
in den Charakteren der drei Töchter
die Natur der erzählenden Mutter
ſpiegelt, wie die Töchter ſich im
Eturm der Leidenſchaſten durch ie
und Unglauben hindurch entwickeln
und läutern müſſen.
Bravo rechts! Von Oſſip Schubin.
2 Bände.
In überaus packender Weiſe und
munter ſchillernden Farben zeichnet
Aflip Schubin hier ein treffendes Bild
der bevorzugteſten Kreiſe des böhmi⸗
chen und öſterreichiſchen Adels. Wun⸗
ervoll friſch und lebendig ſind dieſe
Geſtalten geſehen, iſt die atemraubend
8 Handlung erzählt, während
ein prickelnder Humor das Ganze
durchzieht.
mit marſchall vorwärts.
Von Hanns von Fobeltitz.
Nur ein gründlicher Kenner der
Jahre 1813115, ein wirklicher Dichter
und ein leidenſchaftlicher Patriot konnte
dieſe ergreifenden, herzenswarmen Er⸗
8 ſchreiben, die in unſrem
olke ſtärkſten Widerhall finden müſſen.
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Das junge Geſchlecht
Engelhorns Allgemeine
Roman-⸗Bibliothek
Eine Auswahl der beſten
modernen Romane aller Völker
Band 20
Einunddreißigſter Jahrgang
Das junge Geſchlecht
Erzählungen von
Helene Raff
Stuttgart 1915
Verlag von J. Engelhorns Nachf.
Alle Rechte, namentlich das Überſetzungsrecht, vorbehalten
Copyright 1915 by J. Engelhorns Nachf.
Druck der Union Deutſche Verlagsgeſellſchaft in Stuttgart
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Die Starken von Oſterried
„Und ſollen wir uns hier nicht wiederſehen, hurra, hurra!
Dann hoffen wir auf jenes beſſ're Land.“ —
ie ſangen es nicht im Takt und nicht ganz rein.
Aber darauf kam jetzt im Geringſten nichts an.
Die Nachſchauenden kümmerten ſich nur darum, was
man in der Stadt, in der Kaſerne ſagen würde zu
den Burſchen, die da auf der ſtaubigen Straße hin⸗
trappten, jeder ſein Köfferchen oder ſeine Taſche in
der Hand. Die Meiſten juſt nicht ſchön, aber lauter
feſte Mannsbilder, mit Armen und Pratzen, die ſchon
etwas ausrichten konnten. Wenn das Bayerland dem
Reich viele ſolcher Rekruten ſtellt! —
„Ju—hu— uhu!“ — gellte es vielſtimmig zum
Dorfe zurück, ehe der Zug künftiger Soldaten um
die Wegkrümme bog. Nachher würde man ſie nicht
mehr ſehen. Sie ſteckten ihre Mützen auf die Stock⸗
griffe und ſchwenkten ſie gegen die Zurückbleibenden.
Noch ein paarmal hörte man ſie jauchzen, zuletzt ſchon
ganz von fern —
„Furt ſan's“ — ſagte der Schmied. Er nickte
vor ſich hin, machte Kehrt und trollte heim. Die
anderen desgleichen.
Große Gefühlsäußerungen ſind bei den Bauern
nicht Brauch. Höchſtens, daß hie und da ein Mutterl
naſſe Augen hatte. Aber auch die mußte ſie abwiſchen,
N fie ſähe zur Arbeit. Man hatte ja ſchier nicht
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6
Hände genug, nun all die junge Mannſchaft fort war,
mitten in der fleißigſten Zeit des Jahres!
Ehemals galt ein Sprichwort: „Kommt Sankt
Magdalen — Muß ſie über Stoppeln gehn.“ Aber
Magdalenen⸗Tag fällt gegen Ende Juli, und es wird
alſo ſchon ſtimmen, daß die Erde ſchön langſam kälter
wird. Denn Anfang Auguſt ſteht, wenigſtens in
Bayern, die Frucht noch vielfach auf dem Halm.
Die Leute von Oſterried ſchickten ſich ordentlich,
obgleich nur Weiber und Alte daheim geblieben waren.
Die Buben waren fort im Krieg, die Röſſer auch.
Vom Schmied⸗Jackl ſtanden zwei Buben draußen, der
Bartl und der Hans. Dennoch ward er als einer der
erſten mit dem Kornſchneiden fertig, dank ſeiner eigenen
unermüdlichen Arbeit und ſeiner Tochter, der Michela.
„Daß ma di net g'nommen hat zu'n Militär!“
zogen die Nachbarn ſie auf.
Ganz beſtimmt: an Bruſtumfang und Schulter⸗
weite nahm die Michela es mit manchem Burſchen
auf. Und Beine und Arme hatte ſie — Reſpekt vor
dem Herrgott, der ſo was wachſen läßt! Grad gut
zuſchauen war ihr, wenn ſie ihren ſchlanken hoch⸗
ſtämmigen Körper bog und die Sichel durch die reifen
Ahren fliegen ließ.
Ihre Gedanken weilten indeſſen weitab, auf einem
anderen Feld, wo der Schnitter Tod Schaffer iſt und
die junge deutſche Kriegerſchar ihm mähen helfen
muß! — Die Michela faßte den Stiel der Harke wie
ein Gewehr und hielt mitunter beim Eſſen das Meſſer
gezückt, ohne ſich, wie ſie gewollt, ein Stück Brot
damit abzuſchneiden. „Was haſt?“ — fragte ſie die
Mutter — „du ſchauſt ſo kurios.“ — „Ich möcht'
7
beim Bartl fein," gab Michela offenherzig zurück.
„Ja, gelt, möchtſt es wieder machen wie dazumal!“
Und die Mutter erzählte die eigentlich jedem bekannte
Geſchichte: wie die kleine Michela als Schulmädel
viel lieber mit Buben geſpielt hatte, ſelbſt wenn ſie
noch ſo grob mit ihr waren. Und daß ſie einmal
am Hauptfeind ihres Bruders Bartl, dem Schloſſer⸗
friedl, wie eine Katze hinaufgeſprungen war und ihn
in die Hand gebiſſen hatte, die er eben erhob, um dem
Bartl eine Watſche zu geben.
Der Bartl war ihr alles von jeher, während ſie
mit dem Hans nicht viel machte. So wie die anderen
Mädeln vom Ort an ihre Schätze dachten, ſo dachte
des Schmieds Michela an ihren Bruder Bartl. Wenn
die Mutter zuweilen bei einer Nachbarin ihrer Sorge
Worte verlieh: ob der Himmelvater wohl ihre Buben
würde heil zurückkommen laſſen? — dann fuhr die
Michela dazwiſchen: „Der Bartl muß wieder⸗
kommen!“ —
Zuerſt hatte jeder gemeint und gehofft, es werde
ein kurzer Krieg ſein. Mittlerweile ward es Herbſt,
und der Schmiedjackl, nachdem er eine Weile ſo her⸗
umgezipft hatte, legte ſich zu Bett. Man befragte
ein paar „wiſſende“ Ortsbewohner, die aber nichts
wußten; ſchließlich konnte man es doch nicht vermeiden,
den Kreisarzt zu Rate zu ziehen. Der kam, beklopfte und
behorchte Rücken und Bruſt des Kranken und ſagte:
das Herz ſei nicht in Ordnung. Der Jackl hätte ſich
halt mit der Erntearbeit und ſeiner Hantierung zu
viel angeſtrengt, dazu die Kriegsaufregungen! — Wenn
er wieder werden ſollte, müßte er ſich eine Dallang
völlig ſchonen!
„Da kaamſt recht!“ ſagte der Schmied. „Damit
ſich mir derweil die Kundſchaft ſchön ſtad verlauft?“
Der Kreisarzt zuckte die Achſeln. „Von mir
aus mach, was du magſt! Ich hab dir geſagt, wie
es iſt.“
Die Michela hatte der Unterredung zugehört.
Während der Doktor dem vor ſich hinbrummenden
Vater noch etwas aufſchrieb, ging ſie in die Werkſtatt
und band über ihre Röcke des Vaters Schurzfell. So
angetan, trat ſie wieder in die Stube.
„Vater,“ ſagte ſie, „dös braucht's net, daß die
Kundſchaft ſich verlauft. Die bedien' halt nachher
ich.“
Der Kreisarzt war ſtarr. Der Schmied fuhr auf:
„Ach ſo ein Unſinn! Dös gibt's net“ — da ſtockte
er, weil ihm einfiel, wie geſchickt ihm die Michela
ſchon etlichemal in der Werkſtatt geholfen hatte. Faſt
ſo gut wie der Bartl. Dem Hans ſeine Hilfe be⸗
deutete weniger: der hatte keine rechte Freud zum
Geſchäft und tat dem Vater nie recht genug.
In Gottes Namen: ſo lange die beiden Buben
draußen waren und er ſelbſt noch ſerbelte (kränkelte),
konnte man es ja mit der Michela verſuchen!
Das Ding ſprach ſich herum. Einige Tage ſpäter
kam der Bachmüller und führte ſeinen Schecken
daher, der beſchlagen werden ſollte. Die Michela
ſtand richtig am Amboß, und die Glut aus der Eſſe
ſtrahlte auf ihr rotwangiges Geſicht. Der Bachmüller
plinkte dem Knecht, der das Roß am Zügel hielt,
verſchmitzt zu: „Das gibt eine Mordsgaudi!“ Denn
der Scheck war ein zuwideres oder, wie ſein Herr
ſagte, „nerviöſes“ Vieh. Blies ihm ein Wind um die
9
Ohren, fo ſenkte es den Kopf, als wäre es ein Hirſch
und wollte jemand aufſpießen; fühlte es einen Bremſen⸗
ſtich, ſo ſtieg es kerzengerade in die Höhe; und bei
ſchlechter Laune feuerte es mit den Hufen hintenaus —
haſt du nicht geſehn!
Die Michela fürchtete das Roß nicht. Sie kraute
ihm die Stirn, ließ es von ihrer flachen Hand eine
Brotkruſte freſſen und richtete dann umſichtig das Eiſen
her. Der Scheck ſchnob unwirſch: ſein Herr hielt ihm
das Maul, der Knecht das auf den Amboß geſchobene
Bein; und die Michela paßte ihm das Hufeiſen ſo
richtig hin, daß es um kein Härchen fehlte, ſchlug auch
beim Feſtmachen keinen Millimeter zu tjef.
„Herrgottſaxen, Mädel, du kannſt was!“ ſagte
der Bachmüller. Er gab ihr dies Zeugnis auch, wo
immer ihn jemand darum fragte. So wußte nach
einigen Wochen jedermann: die Schmiedin Michela
ſei wirklich ein brauchbarer Schmied.
Der alte Schmiedjackl kam fleißig, ihre Arbeit zu
beſchauen. Es war ihm ſchon anzumerken, daß er
einen gelinden Stolz hatte auf ſie. Und die Söhne
draußen im Feld, die hielten ſich auch brav. Der
Bartl war Gefreiter, und der Hans war vorgeſchlagen
zum Eiſernen Kreuz.
Bis mit einmal vom Bartl jede Nachricht aus⸗
blieb.
Durch den Bruder war ſie nicht zu erlangen; denn
der Hans ſtand in Oſtpreußen, während der Bartl
in Nordfrankreich focht. Die Mutter, der Vater, die
Schweſter ſchrieben, ganz gegen ihre Gewohnheit, Brief
auf Brief. Sie kamen alle wieder mit dem lakoniſchen
Vermerk: „Unbeſtellbar zurück!“ Der letzte Brief
10
trug noch die Beiſchrift: „Verwundet. Lazarett un⸗
bekannt!“
Verwundet! Schwer oder leicht? Wo liegt er?
Wer pflegt ihn? — Trotz ſeiner Kränklichkeit machte
der Vater ſich auf, fuhr hinein nach der Hauptſtadt,
ins Kriegsminiſterium. Sie zeigten ihm ſeines Sohnes
Namen unter den Verwundeten in der Verluſtliſte;
bald — vertröſtete man ihn — werde er Näheres
hören!
Er fuhr heim. Schwer war ſein Herz und ſein
Tritt. Seine Weiber liefen ihm mit hoffnungs vollem
Blick entgegen, aber wie er nichts ſagte, ſondern nur
ſacht den Kopf ſchüttelte, wurden ſie ſtill.
Ein paar Tage noch ſtand es an — da kam ein
Brief.
Ein Unteroffizier von Bartls Regiment ſchrieb der
Familie, daß der Bartl ſeinen ſchweren Wunden er⸗
legen ſei: es tue ihnen allen um den tapferen Kame⸗
raden leid!
Ein ſchrecklicher Abend war es im Hauſe des
Schmieds. Der Vater in ſich zuſammengeſunken wie
eine baufällige alte Hütte — die Mutter weinte,
weinte. — Aber das ärgſte von allem war die Mi⸗
chela, die daſtand, ohne Wort und ohne Tränen,
ſchneeblaß, zitternd am ganzen Leib! Der Bartl, ihr
Lieblingsbruder! —
Aus dem Kriegsminiſterium ward die Trauernach⸗
richt beſtätigt. Von dem Feldlazarett, in dem der
Bartl verſtorben war, langte ein Päckchen an, das
enthielt des Toten Uhr und Bruſtbeutel. Die Mutter
zog um die Photographie ihres Buben ein immer⸗
grünes Kränzel und ließ fleißig Meſſen leſen für ihn
11
zum Erſatz des ihr verſagten Troſtes, ſein Grab pflegen
und zieren zu können. Sie bekam indes genugſam
an ihrem Manne zu pflegen; denn der Gram ver⸗
ſchlimmerte ſein Übel und er mußte oft zu Bett liegen,
mit einem Bündel Kiſſen geſtützt, weil er dann leichter
„ſchnaufte“. Die Nachbarn, zumal die Nachbarinnen,
fanden ſich häufig als Klagehelfer ein: „O mein,
o mein, is dös was! Grad an die Bräyſten geht's
hinaus! So ein lebfriſcher Bub und ſo jung davon
müſſen! Und weiß Gott, was er zuvor noch aus⸗
geſtanden hat! Dös is was Grauſams, ſo ein Krieg,
lieber Heiland! Daß der Jackl ſich dadrüber zu Tod
kränkt, wundert mi net. Werdt's ſehgn: es ſtoßt
ihm noch 's Herz ab — oder mit lauter Studieren
und Drandenken ſchlagt ſich die Waſſerſucht dazu. O
mein, o mein, is dös was!“
Von all dem Gejammer und barmherzigen Getu
hörte die Michela wenig. Sie ſtand am Amboß, am
leeren Platz des Vaters, und hieb auf die Eiſenſtange,
oder was ſie juſt unter Händen hatte, ein, daß die
Funken nur ſo flogen. Der Schein aus der Eſſe
rötete ihr Geſicht, das hart und unbeweglich ausſah,
mit feſt aufeinandergepreßten Lippen; die kräftigen
Arme waren rund und feſt wie aus Eichenholz.
Von der Michela hieß es im Ort allgemein: ſie ſei
eine zuwidere Perſon — nicht ein bißl was Liebes
und Weiches, ſelbſt bei einer ſolchen Heimſuchung.
Eine tüchtige Arbeiterin, das wohl. Aber keinen Mann
kriege ſie für gewiß nicht; die tät einem jeden die
Schneid abkaufen — die ſchon!
Doch behielt niemand viel Zeit und Gedanken, die
Schmiedstochter durchzuhecheln; denn ſo wenig wie
12
des Jackls Haus blieben andere Häuſer verſchont.
Der Rautner hatte zwei Söhne verloren, die junge
Müllerin ihren Mann, der Mesner ſeinen Bruder.
Auch Verwundete gab es genug, leichte und ſchwere.
Des Schloſſers Friedl hatte in demſelben Gefecht, wo
der Bartl gefallen war, einen Armſchuß bekommen
und lag im ſelben Lazarett.
„Um den iſt kein Schad,“ ſagte die Michela, als
ſie davon hörte. Sie konnte dem Friedl nicht ver⸗
geſſen, daß er ihres Bruders Widerſacher bei allen
kleinen Gelegenheiten geweſen war. Und da nachher
verlautete: es beſſere ſich etwas mit dem Friedl, warf
ſie höhniſch die Lippen auf. „Der wird ſchon durch⸗
kommen. Ich ſag's alleweil: Unkraut verdirbt nicht.“
Eines Tages hieß es: der Friedl werde heim⸗
kommen, um ſich vollends auszupflegen. Mit dem
Eiſernen Kreuz käme er heim. Das würde ein Freuden⸗
tag für die Schloſſeriſchen — meinte man. Des Friedl
älterer Bruder, ein ſchiefgewachſener, unanſehnlicher
Menſch, machte ſchon eine „Bletſchen“ (hängendes
Maul, mürriſches Geſicht) vor Verdruß, was die
Leute nun mit ſeinem Bruder aufſtellen würden.
Aber es ward anders. Freude und Stolz erſtickten
unter dem Jammer, den die Ankunft des Friedl her⸗
vorrief.
Kurz vor ihm langte eine Karte an, gleichwie die
früheren Briefe von der Pflegeſchweſter im Lazarett
geſchrieben. Der Friedl ließ melden: was er zuvor
den Seinen ſchonend angedeutet hatte, ſei Wahrheit
geworden — man habe ihm den halben Arm abnehmen
müſſen.
Das gab ein Wehklagen! Und es entbrannte
13
aufs neue, als der Friedl ankam, blaß und ſchlank,
den unteren Ärmel feines feldgrauen Waffenrocks leer
herabhängend.
Die Mutter — ſein Vater war bereits geſtorben —
wußte ſich nicht zu faſſen darüber, daß ihr einſt ſo
ſtattlicher Bub nun ein Krüppel ſein ſollte ſein Leben⸗
lang. Der ältere Bruder ſagte ganz offen: beinahe
wär' es für den Friedl beſſer geweſen, gleich tot zu
bleiben als ſo! Einer, der nichts mehr ſchaffen
könne, bloß alleweil ſo umeinand hocken — ſolch ein
Leben ſei doch ſchlimmer als keins!
Wenn es die anderen auch nicht ſo derb heraus⸗
redeten — eine ähnliche Meinung hatten ſie ge⸗
wiß.
Der Friedl ging hinaus an das Wehr, über das
der die Ortſchaft durchſtrömende Bach weit draußen,
oberhalb der Mühle, herabſtürzte. Das Waſſer war
nicht eingefroren — breit und dunkel rauſchte es
zwiſchen dem verſchneiten, leicht vereiſten Gelände hin⸗
durch und bildete einen ſtarken Überfall, bevor es auf
das Mühlrad zutrieb. Was da hineinfiel, wurde
unwiderſtehlich mitgeriſſen, bis das Rad es zer⸗
knickte —
Wie der Friedl da ſtand und hinabſchaute, kam
die Schmieds⸗Michela des Weges und fragte ihn
obenhin: ob ihm leicht was ins Waſſer gefallen ſei?
— Der Haſcher mit ſeinem einen Arm bringt es doch
nie mehr heraus — dachte ſie dabei.
Nein! ſagte der Friedl — er hätte nichts verloren.
Und er gab ſich einen Ruck, grüßte militäriſch und
machte Kehrt. Am Wehr ward er fürder nicht mehr
angetroffen. Überhaupt ſah man ihn wenig: er ſchien
14
ſich meiſt zu Haufe zu halten. Nicht weil er noch
der Pflege bedurft hätte; denn die Wunde war gut
geheilt, und er litt nicht, daß man ihm viel beiſprang,
wie es ſeine Verſtümmelung zu erfordern ſchien. Was
irgend ginge, wollte er ſelbſt tun, erklärte er.
Ein ſonderbarer Menſch war das, der Friedl.
Seine Mutter hatte beim Krämer erzählt, wie er
etliche Tage nacheinander abſichtlich einen Strick oder
ein Band verknotete, ſo ſehr er vermochte, und den
Knoten dann aufzulöſen trachtete mit einer Hand, unter
Nachhilfe ſeiner Zähne. Einmal war er hereingekommen
zu ihr, beinahe vergnügt ausſchauend. „Mutter, jetzt
kann ich's,“ hatte er geſagt.
„So war er von jeher — der laßt fein net aus!“
verſicherte ſie.
Der Friedl hätte es gar nicht nötig gehabt, ſich
ſo zu plagen. Er hätte, wenn er gewollt, ſich ins
Wirtshaus ſetzen und den Mittelpunkt eines ſtaunen⸗
den, gruſelnden Zuhörerkreiſes bilden können durch
Erzählungen von draußen, vom großen Krieg. Sein
Invalidengehalt vom Staat war ihm ja ſicher. Aber
der Friedl ſprach nie von dem, was er erlebt und
getan hatte und im Wirtshaus vollends ließ er ſich
nicht blicken. Auf das Anſinnen der Seinigen, Sonn⸗
tags einmal mitzugehen, hatte er geantwortet: „Ich
bin kein Aff und kein Afrikaner nicht, daß ich mich
herzeigen und anſchaugn laſſen muß wie am Oktober⸗
feſt.“
Er mied die Dorfgenoſſen, ihr Mitleid und ihre
Neugier überhaupt. Deſto verwunderſamer war es, daß
er eines Tages ungerufen den Kopf in die Schmied⸗
werkſtatt hineinſteckte. „S God!“
15
„S God!“ verſetzte die Michela, die allein drin
war, gedehnt. Der Friedl, ohne den froſtigen Emp⸗
fang zu bemerken, ſah ſich überall um und fragte
dann: „Mit Verlaub, kann ich da ein bißl zu⸗
ſchaugn?“
„Wa—a3? Wenn dich das freut, habt's doch ihr
ſelbſt eine Werkſtatt daheim.“
„Da iſt mein Bruder drin und der Vetter ſamt
dem Altgeſellen. Die laſſen mich an nix hin. Und
keine Geduld haben fie z'erſt net.“
„Ja, Herrgott, und du meinſt: bei mir tuſt du
dir leichter?“
„Doch! 's Mitleid oder die Grobheit von einem
Frauenzimmer laßt man ſich ehnder gefallen.“
Die Michela wußte nicht, was ſie ſagen ſollte.
Ein Menſch, dem ſie nie freund geweſen, traute ſich,
ihr ſeine Gegenwart aufdrängen zu wollen und ihr
bei ihrer Arbeit im Weg umzugehen. Wenn der Friedl
zehnmal ein Krüppel war — die Zumutung deuchte ihr
doch einigermaßen unverſchämt.
Sie ſchwieg. Der Friedl wußte dies Schwelgen
zu deuten. Er ſagte: „Bitt um Entſchuldigung!“,
ſetzte ſeine Militärmütze, die er abgenommen hatte,
wieder auf den Schädel und verließ die Werkſtatt.
Die Michela war nun wieder völlig ungeſtört.
Trotzdem ging ihr an dieſem Tage nichts von der
Hand. Der Friedl hatte ſo ein extriges Geſicht ge⸗
macht beim Fortgehen; das kam ihr beſtändig vor. —
Bald darnach langten noch andere Urlauber an:
ſolche, die nach kurzer Erholungsfriſt wieder zurück
mußten in die Front. Darunter war der Unteroffizier
von Bartls Kompanie, der ſchon totgeſagt worden
16
und nur wie durch ein Wunder am Leben erhalten
worden war. Er ſuchte die Schmiedsleute auf und
fand alle beiſammen in der Stube, weil es dem Vater
eben ein wenig beſſer ging. Das mit dem Bartl ſei
ihm halt arg geweſen — ſagte er. Und er berichtete
von dem Gefecht jenes Unglückstages, wo ſo viele
von Bartls Kompanie Leben oder Freiheit hatten
laſſen müſſen. Den Bartl hätten die Feinde auch,
verwundet wie er war, mit fortgeſchleppt, wenn der
Schloſſer⸗Friedl nicht ſo viel Schneid bewieſen hätte.
Über dem Bartl und noch einem zu Tod getroffenen
Kameraden ſtehend, hätte er ſo mit dem Gewehrkolben
um ſich geſchlagen, daß die Nachſtürmenden Zeit ge⸗
wonnen hätten zum Entſatz und zum Zurücktreiben
der Feinde. Bei der Gelegenheit aber ſei dem
Friedl durch einen Schrapnellſchuß der Arm zerſchmet⸗
tert worden!
Da die Michela das hörte, ſchlug ihr das Herz
bis zum Hals hinauf. Sie erinnerte ſich, daß ſie den
Schloſſerbuben vormals in die Hand gebiſſen hatte
ihrem Bruder zulieb. Nun hatte er Hand und Arm
eingebüßt um ihres Bruders willen — und ſie war
ihm dafür noch unfreundlich begegnet. So was Un⸗
gutes!
Als der Beſucher gegangen war, ging auch ſie.
Geradewegs ins Schloſſerhaus.
Der Friedl ſaß allein in der Stube und ſah zum
dickgefrorenen Fenſter hinaus. Die Michela ſchritt
zu ihm hin und eröffnete ihm ohne Umſchweife, daß
ſie gekommen ſei, ſich zu entſchuldigen. Sie habe
neulich auf ſeine Anfrage nicht ſogleich geantwortet,
weil ſie unſicher geweſen wäre, ob ihr die Leute nicht
17
etwas anhängen würden, wenn fie mit einem jungen
Burſchen zufammen in der Werkſtatt hantiere. Die
Leute ſeien gar zu bös! Aber ſie hätte ſich das Ding
überlegt, und ſie frage niemand nichts nach — und
der Friedl ſolle nur getroſt kommen!
„Wirſt dir's überlegt haben, daß ich eh bloß
ein halbetes Mannsbild bin!“ ſagte der Friedl und
lächelte — ein bißchen weh. Doch dann ſagte er: ja,
er käme gern!
Seine Mutter trat herein und bot der Michela
Grüß Gott; das nutzte die Michela, um der Schloſſerin
einmal recht auszudeutſchen, was ſie und der ganze
Ort für Urſache hätten, auf den Friedl ſtolz zu ſein.
Der Herr Feldwebel hätte es erzählt und ſie hoffte
nur: er erzähle es überall! „Daß mein Bartl bei den
Unſeren hat ſterben dürfen, gepflegt und geehrt und
betrauert, das danken wir auch dem Friedl. Weiß
Gott, was ihm die elendigen Krabaten, die Feinde,
ſonſt noch antan hätten!“ Der Friedl ward ob ſolchen
Rühmens ſchamrot wie ein Mädchen und verließ eil⸗
fertig die Stube. Das ſeien die ganz Braven — meinte
die Michela — die vor keiner Gefahr ausriſſen, wohl
aber vor ihrem Lob! Sie ſagte es abſichtlich recht
laut, damit der Bosnickel, der ältere Schloſſersſohn,
es hören ſollte, wenn er etwa nebenan ſei. Die
Schloſſerin, ein zermürbtes Weiblein, der ihr Alterer
ohnehin ihre Vorliebe für den Friedl auf jede Brot⸗
kruſte ſtrich, ging bei den kräftigen Worten der Michela
ordentlich auf wie eine welke Blume am Licht.
Gemäß der Verabredung fand der Friedl ſich in
der Schmiedewerkſtatt ein und wandte keinen Blick
von dem, was die Michela angab und tat. Bisweilen
XXXI. 20 2
18
ſagte er: „Wie — laß mich einmal probiern!" — und
wenn er ſich dabei fo ſtellte, daß die Michela die Lippen
feſt aufeinanderbiß, ſetzte er gutmütig hinzu: „Derfſt
ſchon lachen! Weißt ja, was ich dir geſagt hab: vor
einem Mädel ſchämt unſereins ſich net ſo. Warum,
das könnt' ich net ſagen!“
Aber ſie hatte gar nicht ſo häufigen Grund zum
Lachen; denn der Friedl begriff ſchnell und gut.
Nach Feierabend kam er auch manchmal zu ihren
Eltern und ſaß mit in der Stube oder an ihres
Vaters Bett. Der mochte ihn leiden, und der Friedl
vertrieb ihm gern die Zeit, während er ſich von den
übrigen Ortsgenoſſen nach wie vor zurückhielt. —
Mittlerweile erſchien der Valentinstag und dieſer
Tag war des Bachmüllers Namensfeſt. Das hätte
nun weiter nicht viel ausgemacht, wenn der Bachmüller
ſelbiges in der Stille mit etlichen guten Werken ge⸗
feiert hätte; aber leider zog er vor, ſich, ob es gleich
auf einen Werktag fiel, ins Wirtshaus zu ſetzen und
einen ausgiebigen Trunk zu tun. Der entflammte ihn
allmählich ſo, daß er begann, mächtig aufzurebellen
und zu ſpektakeln, ſo daß jedermann froh war, als
er endlich den Heimweg antrat.
Dieſer Weg führte ihn, der fortwährend vor ſich
hinbrummelte und mit den Armen focht, an der
Schmiedewerkſtatt vorbei. Drinnen ſtand die Michela,
und die Glut der Eſſe vergoldete ihr Geſicht wiederum
auf die Art, die dem Bachmüller ſchon damals gefallen
hatte, als er ihr ſein ſtörriges Vieh zum Beſchlagen
zugeführt. Heute nun leuchtete das angeſtrahlte Mädchen⸗
antlitz ihm ſo in die Augen, daß er plötzlich ein Ver⸗
langen nach näherer Bekanntfchaft empfand. Alſo
19
ftolperte er ohne Umſtände hinein und begrüßte die
junge Schmiedin mit einem Schwall zärtlicher Sprüche,
der ihr höchſt ungelegen kam. Sie hatte ſoeben ihr
Feuer löſchen und ihr Gerät zuſammenräumen wollen,
denn es war kurz vor Aveläuten — da kam der noch
daher!
Sie ließ ihn kurz an und trachtete ihn wegzu⸗
ſchaffen; aber der Trunkene, dadurch nur hartnäckiger
geworden, packte fie täppiſch um den Leib. „A Bußl
mußt mir geben, Schatzl, geh, gib's her!“ — „Müller,
du haſt zu viel. Schau, daß d' weiter kommſt!“ zürnte
die Michela und verſetzte ihm einen Stoß, daß er über
Meterslänge von ihr wegtaumelte. Da geriet er in
Zorn, und der erhöhte ſeine Kraft. Denn obſchon er
infolge des Rauſches hin und her ſchwankte, war der
Bachmüller ein ſtarker Kerl, einer, dem man es gar
nicht vergönnt hatte, daß er vom Krieg hatte daheim
bleiben dürfen, weil er ſchon hoch in den Vierzig ſtand.
„Das mußt gutmachen, ſofort!“ Wie ein Wilder
packte er ſie dasmal an — ſein rauſchiger Atem ſchlug
ihr ins Geſicht. Keuchend rang die Michela. — Hätt'
ich die Stange nur, die Eiſenſtange aus dem Eck!
Oder käm' eins, mir zu helfen! dachte ſie wirr und
bang. Da — während ſie den Kopf ganz hinab⸗
krümmte, dem Kuß des Bedrängers auszuweichen — da
rutſchte dieſem jählings der Hut übers Geſicht, daß
er, geblendet, mit beiden Händen in die Luft fuhr.
Die Michela war frei.
Das Herabrutſchen des Hutes rührte davon her,
daß jemand dem Bachmüller von rückwärts einen
ausgiebigen Fauſtſchlag verſetzt hatte. Der Jemand
war der Friedl.
20
Er war vor einer Weile hier geweſen und fchon
fortgegangen — da hatte er im Gehen von weitem
den Bachmüller geſehen, wie er mit ſeinen Beinen
allerhand Schnörkel beſchrieb. „Holla, ſo ein Ka⸗
merad braucht Aufſicht“ — hatte der Friedl gedacht.
Und er hatte ihm nachgeſchaut; und da der Betrunkene
die Richtung des Schmiedhauſes hielt, war er ihm
gefolgt.
Der Bachmüller gröhlte wütend auf, ſchimpfte,
ſuchte ſeinen Hut zurechtzurücken, um den Gegner zu
erblicken und Rache nehmen zu können. Aber ehe ihm
das gelang, hatte der Friedl, als ein Kampfgeübter,
ihn mit ſeiner einen Fauſt im Genick gepackt, nicht
anders als einen jungen Hund, und ſchubſte ihn, mit
Knieſtößen nachhelfend, der Türe zu. Ein beſonders
kräftiger Stoß noch — da flog der Bachmüller über
die Schwelle, alſo daß er ſich überkollerte und davor
liegen blieb. Hinter ihm ſchlug die Tür krachend zu.
Der Hingeſunkene fluchte eine Weile ganz läſterlich,
bis er ſich endlich aufraffte und unter fortgeſetztem
Schimpfen ſeines Weges torkelte.
„Am geſcheitſten: er legt ſich ſchlafen!“ — meinte
der Friedl. |
Die Michela, da er zu ihr zurückkehrte, hatte ihr
Haar geglättet und ihre Kleider in Ordnung gebracht.
Verſtört ſtand ſie da; am Heben und Senken des
Bruſttüchls ſah man, daß ihr Atem zitternd ging.
„Das war jetzt mein Glück, daß du grad her⸗
kommen biſt,“ ſagte ſie zum Friedl. Und nach
kurzem Schweigen ſetzte ſie hinzu: „Vergelt dir's
Gott!“
„Es hat leicht ſein können,“ meinte der Friedl.
21
Schwer ſchien es ihm wirklich nicht gefallen zu fein.
Er war ſo ruhig wie immer.
Die Michela mußte in den nächſten Tagen viel
darüber nachſinnen, was doch der Friedl für einer
ſei. Einen Arm hat er hingegeben fürs Vaterland
und zum Beiſtand ſeiner Kameraden; in dem einen
überbliebenen hat er noch Kraft genug, um Unheil
abzuwenden von ihr, der Michela! Wirklich ein
Mannsbild, der Friedl!
Es wäre ihm etwa nicht zu verdenken geweſen,
wenn er etwas hätte verlauten laſſen von dem, was
er doch zuweg brächte mit nur einem Arm. Aber
er tat ſich nicht groß damit, ſondern ſchwieg gegen
jedermann. Nur in ihm ſelbſt bewirkte das Ge⸗
ſchehene eine Wandlung. Seitdem er geſehen hatte,
was er noch vermochte, lag in dem Weſen des Friedl
eine leiſe ſtille Fröhlichkeit. Er bezeigte ſich auch um⸗
gänglicher als ſonſt, wich den anderen nicht mehr aus;
und wenn ihn jemand etwa recht wehleidig bedauern
wollte, ſo hatte er ein feines Spottlächeln von oben⸗
her, vor dem alles klägliche Getue bald verſtummte.
Die Lehrſtunden aber in der Schmiedewerkſtatt
ſetzte er eifrig fort und zwar nicht bloß als Zu⸗
ſchauer, ſondern bereits als Geſelle. Er hantierte
flink und ſicher mit jedem Gerät, ſo daß der alte
Schmied, wenn er zum Zuſchauen daherkam, ihn
ſchlankweg loben konnte. Dann lachte der Friedl,
daß ſeine Zähne blinkten; die waren weiß und
ſtark, als ſollte er damit Knochen zerbeißen und
Bäume zernagen. Man ſah ihm gleichſam an den
Zähnen an, daß er der Mann ſei, jedwede Nuß zu
knacken, die das Schickſal ihm aufgab.
22
Einmal, als der Friedl wieder in die Schmiede
ging, war die Michela nicht drinnen; da bog er ums
Haus herum und ſah durchs Fenſter der Wohnſtube,
ob er ſie nicht erblickte. Richtig ſaß ſie da — aber
ihr gegenüber ſaß einer, den der Friedl am wenigſten
hier zu ſehen geglaubt hatte: der Bachmüller!
Im Sonntagsrock ſaß er da, an einem gewöhn⸗
lichen Werktag, und die zwei Alten machten auch ſo
beſondere Geſichter — da wußte man, was los war.
Der Friedl trat ſacht vom Fenſter zurück. Im
Dahingehen ſtellte er innerlich eine Rechnung auf, ſo
wie er ſie beinahe an den Fingern abzählen gekonnt,
falls er nämlich noch alle gehabt hätte. — Er hat reich⸗
lich zwanzig Jahr mehr auf dem Buckel als ich, der
Bachmüller, und ein zuwidrer Kerl iſt er auch, kommt's
mir vor. Aber er hat ein ſchönes Sach und ſeine
graden Glieder beiſammen, während ich ſo gut wie
nichts krieg von zu Haus. Freilich, die Penſion und
die Invalidenrente vom Staat, die iſt was Feſtes
— aber dafür bin ich halt ein Menſch mit einem
Arm. Das ſieht ſo wild her!
Alſo wahrſcheinlich wird die Michela ihn nehmen.
Da wird nichts zu machen ſein! —
Die Abſicht des Bachmüller war wirklich die vom
Friedl ihm zugetraute. Er hatte gleich beim Eintritt
in die Schmiedeſtube eine lange Entſchuldigung be⸗
gonnen deswegen, daß er neulich zu viel gehabt und
ſich ſo unſchön aufgeführt habe. Wohl inſtändig
hoffe er, die ehrengeachtete Jungfrau werde ihm dieſe
ſchwache Geiſtesgegenwart und groben Unfug ver⸗
zeihen. Denn es ſei gar nicht ſo unrecht vermeint
geweſen — indem daß — ja indem ſie ihm über⸗
23
haupts fo gut gefiele, und er ſei ein Mann, der auf
niemand aufzupaſſen habe, ſondern heiraten könnte,
wen er wollte. Wenn es alſo der Michela recht ſei
und ihren Eltern auch —
Den Eltern war es recht, der Mutter zumal: die
hatte ſich ſchon heimlich geſorgt, daß die Michela
einmal wegen ihrer zu großen „Reſchen“ keinen
Mann bekäme. Dem Schkmiedjackl tat es hinwieder
weh, daß man alsdann das Schmiedgeſchäft einem
Fremden verkaufen müßte; denn die Michela konnte
nicht gleichzeitig Bäuerin und Schmiedin ſein. Und
daß der Hans beim Militär verblieb, ſtand ohnehin
ſchon feſt! Noch aber war des Alten Kummer ver:
ſrüht; denn die Michela erklärte: ſo auf einen Plutz
könne ſie ihr Ja nicht geben — eine ſo ernſte Sache
müſſe in Gottesnamen recht bedacht ſein! Dabei ver⸗
harrte ſie, und der Bachmüller mußte ſich wohl oder
übel darein ſchicken.
Innerlich meinte er, es könne ihm nicht fehlen.
Er war nur froh, daß, mit Ausnahme der Dirn
ſelbſt und ihrer Eltern, keines den üblen Ausgang
ſeiner erſten Werbung um die Michela wußte. Er
verzieh dem Friedl beinahe jene tätliche Zurecht⸗
weiſung, weil er doch geſchwiegen und ihn nicht in
der Leute Mäuler gebracht hatte. —
Zwei Tage, nachdem der Bachmüller als richtiger
Freiersmann aufgetreten war, kam die alte Schloſſerin
zur Michela, beſtellte ihr einen ſchönen Gruß vom
Friedl, und ſie ſolle ſich nicht wundern, wenn er
nimmer zum Schmieden der Weil' habe. Er ſei
nämlich fortgereift, der Friedl; vielleicht bliebe er
länger aus.
24
„So, wohin denn?“ warf die Michela gleich⸗
gültig dar.
„In die Stadt! Er kriegt einen künſtlichen Arm
— den muß er probieren und gewöhnen,“ meldete
wichtig die Schloſſerin.
„So, nachher wünſch' ich alles Gute!“ verſetzte
die Michela.
Wieder war ſie allein in der Werkſtatt; einen
Geſellen bekam man jetzt gar ſchwer. Die Wochen
verſtrichen; der Friedl blieb immer noch aus — und
die von Michela ausbedungene Bedenkzeit wegen dem
Bachmüller lief mählich ab.
Die Michela ſah müd und verdroſſen aus in
dieſer Zeit, zumal wenn die Leute ſie aufzogen mit
allerhand Herumreden in Betreff des Bachmüller.
Einſilbige Antworten gab ſie, als ſei jedes Wort ihr
leid. Vielleicht wurde ihr doch die ſtrenge Arbeit
zu viel.
Da kam der Alte, der Schmied, kopfſchüttelnd zu
ihr und der Mutter herein. Ein Zeitungsblatt hielt
er in der Hand. „Der Friedl, das iſt ſchon ganz
ein Extriger; gar in der Zeitung ſteht er jetzt.“
Der Michela ſank die Näherei in den Schoß. —
„Ja, wie denn das?“
Der Vater entfaltete das Blatt und las daraus
vor, daß in einer großen Stadt eine Zuſammen⸗
kunft geweſen ſei von lauter Herren, die ſich um
die Kriegsverſtümmelten annähmen, und da ſei an
Beiſpielen aufgezeigt worden, wie man trotz der
Verſtümmelung noch ganz viel zuweg bringen könnte.
Unter anderen hätte ein einarmiger Schmied ſich
vorgeſtellt, der mit einem einfachen Erſatzſtück ſo
25
geſchickt und nachdrücklich den Amboß bearbeitet
hätte, daß alle darüber in Staunen geweſen. Da
ſähe man, was der Wille vermöchte in einem rechten
Mann; und die Tapferkeit im täglichen aufreibenden
Kampf gegen ein körperliches Gebrechen, gegen den
Unverſtand der Menſchen, die einem nichts zutrauten,
ſei noch höher anzuſchlagen, als die auf dem Schlacht⸗
feld im Rauſch der Kriegswut und Begeiſterung.
Das hatten die Herren ſämtlich geſagt.
Die Zeitung aber, darin das ſtand, hatte der
Friedl ſeiner Mutter geſchickt und dazu geſchrieben,
daß er der Schmied wäre, und ein Zeugnis hätte er
bekommen, und ein Herr, der ein Hammerwerk hätte
irgendwo im Norden, hätte ihn gleich angeſtellt.
Aber dem Friedl wäre es zu weit weg geweſen; er
bliebe lieber daheim. Die Mutter möchte doch ſo
gut ſein, dem Schmiedjackl oder der Michela das
Blatt zu geben; denn er dächte immer daran, daß
ſie ihm behilflich geweſen wären und laſſe ſie dank⸗
ſchuldig grüßen!
„Was ſagſt jetzt dazu?“ fragte der Schmied die
Michela.
„Nix! Wo er ohne ‚Pfüt Gott‘ ſagen davon iſt,
hätt's den Gruß auch net braucht.“ —
Es lenzte ſchon ein wenig in der Luft und die
Sonne begann von den Ackerſchollen den Schneerahm
hinwegzulecken — da kam der Friedl heim. Er ſah
friſch und mannhaft drein — den künſtlichen Arm,
der ſich wirklich ganz täuſchend ausnahm, verſtand er
auch bereits leidlich zu verwenden. „Kraft hat man
keine drin,“ ſagte er, „aber zum Feſthalten taugt
er doch.“
26
Einer feiner erſten Gänge war zum Schmied.
Ein erregtes Durcheinander ſcholl ihm entgegen, gleich
als würde drinnen laut und heftig geſtritten. Da
mochte Friedl nicht ſtören, ſondern machte nur ein
klein wenig die Tür auf und rief hinein: wenn der
Schmied der Weil’ hätte, ſollte er mit ihm, dem
Friedl, einen Augenblick in die Werkſtatt hinüber⸗
gehen — er hätt' ihm etwas zu ſagen!
Der Alte kam herübergehumpelt, die Stirn in
krauſe Falten gelegt. „Was willſt?“
„Ja, grad eine Frag' hätt' ich. Es iſt doch an
dem, daß dein Hans kapituliert?“
„Freilich wohl!“ Der Schmied ſeufzte. „Er hat
ſchon immer s Militär im Kopf gehabt.“
„Alſo nachher, wo die Michela jetzt ausheiratet,
müßteſt du 's Schmiedgeſchäft doch verkaufen. Ich
aber ſuch' eins, das ich ſelbſtändig betreiben kann;
denn daß es mit meinem Bruder zuſammen nicht
geht, wirſt wiſſen. Konkurrenz machen mag ich ihm
auch keine; drum, weil ich doch wie ein Schulbub
hab' neu anfangen müſſen, hab' ich lieber gleich was
anderes angefangt. Iſt dir's recht, ſo kauf' ich dir
die Schmied'n ab.“
„So? Und mich tät' man gar nicht fragen?“
klang es ſcharf von der Tür her. Das war die
Michela, die da ſo unverhofft in der Werkſtatt ſtand.
Einen bitterböſen Blick warf ſie auf den Friedl.
„Das iſt ein ſauberer Dank, den man hat von
dir,“ fuhr ſie ihn an. „Daß du hergehſt und einem
hinterrucks ſein Sach' abſchwätzen willſt!“
„Michela, ſei g'ſcheit!“ ſprach der Friedl — ein
bißchen blaß war er geworden. „Was tuſt denn du
27
mit der Schmiedhantierung, wenn du jetzt bald ein
Weib biſt und ein Hausweſen haſt. Da tät' der
Bachmüller ſchon was einreden.“
„Der! Der hat mir nix einzureden, jetzt net und
überhaupts net! Mich wundert bloß, daß der Vater
das nicht gleich geſagt hat.“
Der Friedl ſchaute den Schmiedjackl an; der nickte
ſorgenvoll. „Ja, ja, ſie mag halt 'n Müller net.
Meine Alte iſt ganz auseinand.“
Der Friedl tat einen tiefen Schnaufer, indes die
Michela ſich bitter beſchwerte: erſt habe man ihr den
groben Kerl aufhängen wollen, und jetzt täte man
gar noch über ihren Kopf weg das Geſchäft ver⸗
kaufen, mit dem ſie ſo viel Plag und Mühe gehabt.
„Daß vollends du dazu hilfſt und mich nausdrucken
willſt, hätt' ich mir nicht vermutet,“ beſchuldigte ſie
den Friedl.
„Ja Herrgott,“ platzte er heraus, „bald du den
andern nicht nimmſt — nachher —“
Da ſaß er feſt; aber deſto beredter war ſein An⸗
ſchauen. Die Michela ward mit einem Male ganz
ſanft, ſtrich an ihrer Schürze und ſagte zum Alten:
„Ob's nicht gut wär', der Vater tät' einmal zur
Mutter ſchaugn, daß fie ſich nicht fo in den Zorn’
hineinrennt gegen mich?“
Der Schmiedjackl willfahrte ihr ſogleich mit liſtig
vergnügter Miene; denn ein Licht war ihm aufge⸗
gangen. Als er ſich außer Hörweite befand, nahm
der Friedl ſeinen ganzen Soldatenmut zuſammen.
„Michela,“ ſprach er, „ich hab' wohl nur einen Arm
— der künſtliche zählt nicht. Wär' dir's trotzdem
recht, wenn ich einheiraten tät' auf die Schmied'n da?“
28
Diesmal brauchte fie keine Bedenkzeit. Ganz
einfach ſagte ſie „Ja!“
Alle Leute zu Oſterried freuten ſich mit, da ſie
das Verlöbnis erfuhren. Der Bachmüller machte eine
Ausnahme; doch durfte er nicht wagen, dem Begün⸗
ſtigten irgend eine Tücke anzutun. Denn ein fürs Vater⸗
land Verwundeter iſt unantaſtbar, und jede Rache wäre
dem Bachmüller übel bekommen. Alſo begnügte er
ſich, nur ſo recht „bagatellmäßig“ von oben her zu
ſagen: „Meintswegen, wenn ihr der Krüppel beſſer
gefallt! Ich krieg' andere genug.“
Die Michela aber, wenn jemand ſie darauf an⸗
redete, daß ihr der Einarmige recht ſei, oder wenn
man ſie neckte, daß ſie ihn nur nähme, um in der
Ehe obenauf zu bleiben, lachte vergnügt. „Da ſeid
ihr fein irr, der Friedl iſt der allerſtärkſte in jedem
Betracht; dem wird niemand Herr. Könnt' ich ihrer
hundert haben — keiner wär' mir lieber als der!“
An Oſtern hielten ſie Hochzeit, der Friedl und
die Michela. Der Hans, der noch lebende Bruder
der Braut, kam auf Urlaub dazu; ſchier das ganze
Dorf nahm teil. Trotz des Kriegsdruckes war es
eine fröhliche Hochzeit; und wenn die dem Ehepaar
dargebrachten Wünſche nur teilweiſe in Erfüllung
gehen, ſo wird durch die beiden das Geſchlecht der
Starken von Oſterried in alle Zukunft fortgepflanzt.
> > > > > > > > > > > > > > > > > ILL LLC ee s
Gottes Streiter
as Nachſpiel der Orgel verklang; der Pfarrer
Gotthold Engelbrecht verließ die Kanzel. |
Er war ſo erſchüttert, daß er in der Sakriſtei
an der Wand lehnte und ſich zu ſammeln trachtete
nach dem, was er erlebt und geredet hatte. All dieſe
Geſichter, auf denen der gewaltige Ernſt der Stunde
ſich ſpiegelte: als Verſtörung, als Weihe, als Er⸗
gebung oder feſter Entſchluß! Und denen er Troſt
und Kraft hatte ſpenden ſollen! So überwältigt war
er geweſen vom Anblick derer, die ſich Haupt an
Haupt vor ihm drängten, daß er des geſchriebenen
Konzeptes ſeiner Predigt vergaß, daß, von der Macht
dieſer Stunde ihm eingegeben, andere Worte auf
ſeine Lippen traten, Worte, die er nicht erdacht. Zum
erſtenmal ahnte er, wie den Apoſteln geſchehen ſein
mußte, da der Geiſt des Herrn mit fremden Zungen
aus ihnen ſprach. —
Gotthold Engelbrecht war ein Kind des langen
Friedens. Der deutſch⸗franzöſiſche Krieg der Jahre
1870/71 kam in den Geſprächen feiner älteren Be⸗
kannten vor als eine große Erinnerung. Als er ſelbſt
ſeine Militärzeit abgedient, hatte er an die Möglich⸗
keit eines Krieges zuweilen gedacht; ſeither hatten
Amt und Familie ſeine Gedanken weit davon abge⸗
wandt. Jetzt war das unſinnig Scheinende Wirklich⸗
keit geworden; alle uranfänglichen Leidenſchaften, die
niedrigſten wie die größten, walteten frei.
30
Das Gefühl von alledem war vorhin, bei dem
Gottesdienſt für die hinausziehenden Krieger, über
ihm zuſammengeſchlagen. Nun war Pfarrer Engel⸗
brecht feiner ſelbſt wieder Herr. „Wir müſſen hin⸗
durch!“ — ſagte er ſich — „Gott wird mit uns ſein.“
Er hatte den Beruf des Geiſtlichen aus innerſtem
Drang erwählt, um zu kämpfen für das, was ihm
als wahr und ewig galt, gegen Irrtümer und
Schwächen auf geiſtigem Gebiet. Heute, während er
den Talar ablegte, gelobte er ſich noch einmal kurz,
ein treuer Streiter ſeines Gottes zu ſein auch in
dieſer Zeit. —
Am Seitenausgang der Kirche erwartete ihn ſeine
Frau. Ihr zartes Geſicht war gerötet, die Augen⸗
lider zumal. Sie griff ſchweigend nach ſeiner Hand
und drückte ſie in der ihrigen — ſo gingen ſie ſtill
nebeneinander heim.
Unterwegs fragte er: „Hatteſt du die Kinder bei
dir, Hilde?“ — „Ja, ſie ſind mit dem Mädchen
vorausgegangen.“
Sie waren ſchon daheim und paßten den an⸗
kommenden Eltern auf. Das Töchterchen, raſcher
und lebhafter als der Knabe, lief dem Vater ent⸗
gegen. „Sag doch, Vater, nicht wahr, wir gewinnen
den Krieg?“
Der Vater ſtrich ihr über den Kopf und be⸗
deutete ihr: das könne niemand vorher wiſſen.
„Aber du haſt doch geſagt, Gott hilft uns gewiß.“
„Er kann auch helfen, wenn wir unterliegen, kann
machen, daß aus Unglück Segen quillt. Nur müſſen
wir uns ſo halten, daß wir's verdienen; darauf
kommt alles an.“
31
„Siehſt du, ich hab's gewußt, wie es Vater
meint, ſagte der Knabe, ein etwas zartes und lang»
ſames Kind, zum Schweſterchen. Die ganze Tiſchzeit
über haftete ſein träumeriſch glänzender Blick an des
Vaters geneigtem Antlitz. Der ſprach wenig, die
Mutter desgleichen; in ihnen beiden hallte die Stim⸗
mung des Morgens nach.
Als das Mahl beendet war, ſolgte die Frau dem
Manne in ſein Zimmer. Er ſchloß ſie ſtumm und
feſt in die Arme.
Sie hing einen Augenblick eng hingeſchmiegt an
ihm. „Iſt es Sünde, ſich an eigenem Glück zu
freuen angeſichts fremden Unglücks?“ — flüſterte ſie.
„Aber Liebſte! Wie du ſo etwas fragen kannſt?“
„Dann bin ich fündhaft," ſagte fie traurig.
„Denn vorhin habe ich Gott gedankt, daß du nicht
mit mußt.“ — Gotthold Engelbrecht ſchwieg.
An dieſem Tage ſtand ſeine Türe ſelten ſtill. Es
kamen Gemeindekinder, ihm für die Predigt zu danken;
Soldaten kamen, um Abſchied zu nehmen und ihm
ihre rückbleibenden Familien ans Herz zu legen. Als
es ſpät auf den Abend ging, kam noch der letzte.
Es war der Sohn einer wohlhabenden Handwerker⸗
familie von ſtrenger, etwas puritaniſcher Frömmig⸗
keit; Pfarrer Engelbrecht pflegte lächelnd von ihnen
zu ſagen, daß ſie geiſtlicher ſeien als er, der Geiſt⸗
liche. Der Sohn Matthias — er war ſeines Zeichens
Elfenbeinſchnitzer — trug ſchon die feldgraue Tracht;
ſie paßte nicht recht zu ſeinem verſonnenen Grübler⸗
antlitz.
Bei des Pfarrers freundlichen Grußworten ver⸗
hielt er ſich anfänglich ſtill. Plötzlich fragte er in
32
einem kurzen trockenen Ton: „Herr Pfarrer, von
Ihnen möcht' ich wiſſen, ob ich mit gutem Gewiſſen
gehen darf?“
„Lieber Hähnel,“ ſagte Gotthold verwundert,
„Sie gehen ja den Weg der Pflicht."
„Ja, Herr Pfarrer, meine Pflicht als Staats⸗
bürger tu' ich — die ſchon! Aber auch als Chriſt?“
Der Pfarrer bedeutete ihm: freilich ſei es chriſt⸗
lich, der Obrigkeit gehorfam zu fein und dem Kaiſer
zu geben, was des Kaiſers iſt. Jedoch Matthias
Hähnels Augen behielten ihren ſeltſamen Zweifel⸗
blick.
„Alles recht, Herr Pfarrer. Aber wir ſollen auch
Gott geben, was Gottes iſt. Und Gott ſpricht: Du
ſollſt nicht töten — und im Evangelium ſteht: Wer
das Schwert nimmt, wird durch das Schwert um⸗
kommen.“ |
„Ziehen Sie denn aus als ein Raufbold und
Mörder?“ ſprach Gotthold nachdrücklich. „Nicht
vielmehr in der heiligſten Notwehr, die ein Menſch
üben kann? Nehmen wir einmal an, unſere Re⸗
gierung und unſer Heer dächten zu chriſtlich, um das
Schwert zu ziehen, und ließen ergebungsvoll geſchehen,
daß der Feind, der nahe genug an den Grenzen
ſteht, in unſer Land hereinbräche! Dann würde das
Blut aller Hingewürgten, aller, die da beraubt, ge⸗
ſchändet und verſtümmelt würden, Sie vor Gott ver⸗
klagen wie jeden, der zum Schutze und zur Verteidi⸗
gung hoher, ihm anvertrauter Güter ſäumig iſt.
Was hätten Sie alſo damit gewonnen? Wenn ein⸗
mal in die ſittliche Ordnung ein ſo ungeheurer Bruch
kommt, iſt es, leider! für den einzelnen unmöglich,
33
feine Hände und fein Gewiſſen völlig rein zu ers
halten. Was nun die Verantwortung für den Welt⸗
krieg betrifft, ſo ſchieben wir ſie auf die Feinde, und
ſie ſchieben ſie auf uns. Aber glauben Sie, glaubt
ein ſtrenger Chriſt, daß irgend ein Ding der Welt
ganz ohne göttliche Zulaſſung geſchieht?“
Matthias Hähnel ſchüttelte den Kopf. „Gewiß
nicht! Es heißt doch, wir ſollen jedes Übel empfangen
als uns vom Herrn geſchickt.“
„Nun denn: ſo nehmen Sie auch dies Argſte als
etwas, darum er weiß und das er gefchehen läßt!
Das Weshalb und Wozu iſt uns Menſchen ver⸗
borgen; wir können nur unſere Pflicht erfüllen an
dem Platz, auf den wir geſtellt ſind. Tun Sie des⸗
gleichen: tragen Sie tapfer Ihr Teil an Mühſal und
Gefahr, beweiſen Sie ſich menſchlich, wo immer es
angeht, bringen Sie, wenn es Ihnen verhängt iſt,
Ihr Leben bereitwillig dar! Dann ſterben Sie un⸗
bedingt als ein Chriſt im Soldatenrock.“
Des jungen Hähnel Stirn und Augen waren
mählich heller geworden, während der Pfarrer ſprach.
„Es wird ſchon ſo ſein,“ verſetzte er aufatmend,
„der Herr Pfarrer hat ja meiſtens recht. Damals,
wie meine Schweſter mit anderen Kindern iſt kon⸗
firmiert worden, haben Sie auch ſo ſchön geſprochen;
meine Mutter redet immer noch davon. Ich will
alles gut merken, was Sie mir geſagt haben; und
jetzt mach' ich meinen beſten Dank und, wenn's Gott's
Wil’ iſt, Hoff’ ich auf Wiederſehn!“
Er ſchüttelte ein wenig linkiſch die Hand, die
ſein Seelſorger ihm bot, ſtand militäriſch ſtramm
und ſchritt ſichtlich beruhigt davon. —
XXXI. 20 3
34
Gotthold Engelbrecht aber ſchlief unruhig in der
darauffolgenden Nacht. Das Geſpräch mit Matthias
Hähnel hatte ihn erregt.
® ® ®
Die Erregung wich nicht mit Anbruch des Tages.
Durch die vielfältigen Sorgen, die mancherlei Amts⸗
geſchäfte der erſten Kriegswochen, zitterte ſie hindurch.
Gotthold war ein Menſch, der alle äußeren Dinge
mit einer gewiſſen Freiheit und Leichtigkeit zu be⸗
handeln pflegte. Deſto ſchwerer nahm er alles Inner⸗
liche: jede Möglichkeit eines begangenen Irrtums,
jede Unklarheit über den zu gehenden Weg, jede noch
ſo geringe Trübung des eigenen Bewußtſeins.
Er hatte in der Unterredung mit dem Soldaten
Hähnel nichts geäußert, das er nicht wirklich meinte
und dachte. Wäre dies ihm widerfahren, ſo hätte
er jenen noch vor ſeinem Ausmarſch aufgeſucht und
ſich ſelbſt berichtigt. Alſo das war es nicht, was
ihm im Sinne lag.
Kein Zwieſpalt vermochte dem Pfarrer ſo ſchwere
Stunden zu ſchaffen wie der zwiſchen theoretiſcher
Überzeugung und praktifſchem Handeln. So weit als
es möglich war, ſuchte er das, was er lehrte, an ſich
ſelbſt zu verwirklichen. In ſeinem Amte wie in
ſeinem Hauſe hatte er als oberſtes Geſetz befolgt:
Übe ſtets das, was du von andern begehrſt! Aber
das, was du ſelbſt nie tun würdeſt, mute es auch
andern nicht zu!
Es hatte viel Aufſehen erregt, daß er eines
Tages den Karren mit zwei hochgetürmten Wäſche⸗
körben ziehen geholfen, den ein armſeliges, ſchwäch⸗
35
liches Weiblein nur mühfam von der Stelle brachte.
Damals, während ſie einträchtig miteinander zogen,
er, der Mann im ſchwarzen geiſtlichen Rock, und das
Frauchen, das vor ſchämigem Geehrtſein in den
Boden ſinken wollte, hatte er ſich ſo ſicher und be⸗
friedigt gefühlt wie ſelten. Er hatte des Gaffens
einiger Begegnenden nicht acht; er dachte nur: ſo
würde Er es gewollt haben, Er, der Eine, der Vor⸗
bildliche! Der uns einander zu Brüdern und Dienern
geſetzt hat!
Wer aber Gebote verkündigte, die er ſelbſt nicht
wenigſtens annähernd hielt, wer von andern forderte,
was er nicht auch zu tun ſtrebte, war inwendig un⸗
wahr. So dachte Gotthold Engelbrecht. —
Die Kirche wimmelte allſonntäglich von Andäch⸗
tigen in dieſer Zeit. Und der Pfarrer ſtand auf der
Kanzel und ſprach in Worten, die heiß und unmittel⸗
bar aus ſeiner Seele quollen, über das, was jetzt
vor allem not ſei: Selbſtverleugnung, freudiger Opfer⸗
wille, Hintanſetzen der eigenen Wohlfahrt. Denn
„Wer ſein Leben findet, der wird es verlieren; und
wer ſein Leben verliert um meinetwillen, der wird es
finden.“
Da war es, als ſäße hinter ihm ein kleiner,
ſchadenfroher Dämon, der ihm zuraunte: „Ei, wenn
das ſo köſtlich iſt, alles hinzugeben, das Leben ſo⸗
gar, warum tuſt du nicht desgleichen? Andern pre⸗
digen iſt leicht; ihnen das Beiſpiel der Selbſtopferung
geben, iſt ſchwer.“
Gotthold Engelbrecht ließ es nicht beim Predigen
bewenden: er ſuchte um eine Stelle als Feldgeiſt⸗
licher nach. Das Regiment, das ſonſt in der Stadt
36
lag, war jedoch bereits verſorgt mit geiſtlichem Bei⸗
ſtand; und während Gotthold ſich anſchickte, ſein
Heil anderwärts zu verſuchen, kam unendlich Vieles
an ihn, das für den Augenblick vorging. All das
leibliche und geiſtige Elend derer, deren Söhne,
Gatten, Väter draußen ſtanden im Krieg oder als
Zivilgefangene zurückgehalten wurden in Feindesland!
Bisweilen ſtimmte er ſeiner Frau zu, die es ihm
ausſprach, wie notwendig er der Gemeinde ſei, gerade
jetzt, ſo notwendig wie einer der Seelſorger im Feld.
Dann wieder beſchlich ihn der Gedanke, daß er zwar
an Mühe und Arbeit ſich jedem der Hinausgezogenen
vergleichen konnte, nicht aber an Entbehrungen, an
grauenhaftem Erleben, an Gefahr. Es erſchien ihm
als ungerechte Teilung, daß ſeine Brüder vor Gott
Laſten trugen, die er nicht mittrug.
Zum erſten Male ging ein Riß durch die Einheit
ſeines Lebens, feiner Überzeugung. Ein Widerſpruch
zwiſchen Lehre und Handeln tat ſich auf. Er ſegnete
die, ſo da auszogen zum Kampfe, nannte von der
Kanzel den Krieg einen heiligen Krieg und pries die
Gefallenen ſelig. Wenn irgend ein Zweifel in ſeinem
Herzen gewohnt hätte, während er ſo ſprach, wenn
er damit nur der allgemeinen Stimmung hätte zu
Willen ſein wollen, ſo war ſeine Rede Lüge und
Gleisnerei. Mit aller Strenge prüfte er ſich darauf⸗
hin, ob es ſo ſei, und ob er insgeheim geſündigt
hätte wider den heiligen Geiſt. Aber er durfte ſich
freiſprechen; denn jedes Wort war ſeiner innerſten
Überzeugung entſprungen. Dann blieb nur die Frage:
Warum beſiegelte er ſeine Überzeugung nicht durch
die Tat? Warum zog er nicht mit hinaus?
37
Nicht als Feldprediger nur — nein — faſt er
ſchrak er vor dem mächtig aufſchwellenden Wunſch:
als Kämpfer!
Als gewöhnlicher Streiter, wie die Hundert⸗
tauſende anderer.
Er ſah ein Unrecht darin, verſchont zu bleiben.
Was man für wahr erkennt, dafür muß man Zeugnis
ablegen mit jedem Opfer, auch mit dem des Lebens.
Oft hatte er andere vor der Überſchätzung des eigenen
Lebens und Wohlbefindens gewarnt da, wo es
Größeres und Allgemeineres galt. Warum durfte
er nun nicht ſich ſelber darbieten, da die Sache des
Opfers würdig war?
Die Antwort lautete einfach: Weil nach altem Her⸗
kommen die Geiſtlichen vom Kriegsdienſt befreit ſind.
Einem „Diener am Wort“ — wie ſein Stand ſeit
deutſcher Vorzeit geheißen hatte — geziemte das
Waffenhandwerk nicht.
In dieſem ſtillſchweigend zum Geſetz erhobenen
Brauch verbarg ſich die Meinung, die er Matthias
Hähnel ausgeredet hatte und in ſeinen Predigten
widerlegte. Die Meinung, daß Kampf und Krieg
in jedem Falle der Lehre Chriſti entgegen, alſo un⸗
chriſtlich ſei.
; Genau betrachtet wären die ſtehenden Heere und
die Heranziehung jedes geſunden Mannes zum Heeres⸗
dienſt dann ſchon zu tadeln. Denn die militäriſche
Ausbildung im Frieden geſchah im Hinblick auf den
Krieg.
Aber Joſua und David und Judas Makkabäus
waren gebenedeite Helden vor Gott. Und der Haupt⸗
mann von Kapernaum war in der Gnade des Herrn.
38
Pfarrer Engelbrecht hatte klar im Gedächtnis, was
Luther und andere Reformatoren geſchrieben hatten
zur Verteidigung des Krieges. Warum dann ſtand
es dem heutigen Geiſtlichen nicht an, Soldat zu
ſein? —
Gottholds Gedanken bewegten ſich in einem Kreiſe,
der ſich enger und enger um ihn ſchloß.
Eines Tages beſuchte ihn ein Amtsgenoſſe von
auswärts, um über Abhilfe irgend eines beſonderen
Notſtandes mit ihm zu beraten. Geſprächsweiſe warf
Gotthold, wie im Scherz, die Bemerkung hin: „Wir
ſollten eigentlich auch hinaus.“ Der geiſtliche Be⸗
ſucher lächelte: „Ja, das ſchickt ſich nun einmal nicht
für unſereinen. Unſer Schlachtfeld iſt daheim; da
braucht man auch Leute!“ Damit kehrte er zum
Gegenſtand der Unterredung zurück. Nur beim Fort⸗
gehen ſagte er der Pfarrerin, die ihn zum Kriegs⸗
kaffee dabehalten hatte, ein Neckwort über ihren
Mann, der durch die erſten Sieges botſchaften ganz
kriegeriſch erregt ſcheine und am liebſten mitmöchte.
Unwillkürlich ſah Gotthold ſeine Frau an, aber ſie
blieb unbefangen und ſtimmte in den heiteren Ton.
Wie war es möglich, daß ſie nicht empfand, was in
ihm vorging!
Es war immer ſein heimlicher Stolz geweſen,
daß ſeine Ehe den höchſten Einklang zweier Menſchen
darſtellte. Hildes Feinfühligkeit erriet das Ungeſagte,
kam ihm, wenn ihn nach Ausſprache verlangte, auf
halbem Weg entgegen. Wenn ſie jetzt nichts ge⸗
wahrte von ſeinem Kampf, ſo war es entweder, weil
ſie, ſelbſt eines Pfarrhauſes Tochter, nicht zu faſſen
vermochte, daß es ein Hinausſtreben gab über die
39
ehrwürdige Überlieferung. Oder: fie ſah nicht, weil
ſie nicht ſehen wollte. In der Selbſtſucht ihrer
Liebe hatte ſie aufgejauchzt, daß ſein Kleid ihn von
der Einberufung ausſchloß. Dieſe Gewißheit, an
die ſie ſich feſtklammerte, machte ſie ſtark inmitten
verdoppelter Arbeitslaſt.
Und war er ihr denn nichts ſchuldig, für ihre
Liebe, für die Tapferkeit, mit der ſie ſo vieles trug
und ſchon getragen hatte? Nach der Geburt des
kleinen Mädchens hatte ſie wochenlang zwiſchen Leben
und Tod geſchwebt; ein Herzübel, das damals zuerſt
aufgetreten war, erforderte umſtändliche Kuren, quä⸗
lende Trennungen vom Gatten und dem älteſten
Kind. Und Gotthold Engelbrecht wußte: was ſie
aufrecht erhielt in der langwierigen Leidenszeit, war
nicht der Glaube allein, auf den jeder ſeiner Briefe
ſie verwies, ſondern die Liebe zu ihm und der Wunſch,
um ſeinetwillen geſund zu werden. Als ſie ihm ge⸗
heilt wiederkam, hatte er in ſeiner Seele das Ge⸗
lübde getan, daß ſie hinfort keine rauhe Stunde
haben ſollte durch ihn. Muß man an ſeinen Nächſten
nicht getreu ſein, eben weil es die Nächſten ſind?!
Als Gotthold Engelbrecht ſich einſt nach einem
der neu errichteten Lazarette begab, kreuzte ſeinen
Weg ein Mann, deſſen ſchwarzes Prieſtergewand
länger war als das ſeinige. Gotthold kannte ihn
von häufigem Sehen; der katholiſche Pfarrer zu
Sankt Agathen war fein naher Nachbar und be-
gegnete ihm beſonders oft in dieſer Zeit, da gleiche
Sorge ſie die gleichen Wege führte. Ihr Verkehr
beſchränkte ſich auf ein paar gelegentliche Höflichkeits⸗
worte; doch hatte das, was er von dem anders⸗
40
gläubigen Prieſter vernommen, Gotthold mit einer
innerlichen Achtung erfüllt.
Der Pfarrer von Sankt Agathen trug am Arm
eine violette Binde — das Zeichen der Feldgeiſtlichen.
Unwillkürlich blieb Gotthold ſtehen. „Sie gehen dort⸗
hin, Herr Pfarrer?“
Der andere nickte bejahend. „Übermorgen.“
„Was ſagt Ihre Frau Mutter?“ — Man wußte:
des Pfarrers betagte Mutter führte ihm die Wirt⸗
ſchaft.
„Etwas Angſt hat ſie ſchon. Die muß ſie eben
tragen wie alle Mütter, nach“ — „nach dem Beiſpiel
der heiligſten Schmerzensmutter‘ — hatte er ſagen
wollen. Vor dem Proteſtanten unterdrückte er das
Wort.
„Ich könnte Sie beneiden,“ ſprach Engelbrecht.
— „Je nun,“ meinte der andere, „man nützt viel⸗
leicht draußen nicht mehr als hier.“
„Freilich — zumal, wenn man nicht Streiter
ſein darf.“
Er warf das Wort nicht abſichtslos hin, vielmehr
von einer ſeltſamen Neugier getrieben. Der hier iſt
nicht meines Glaubens; immerhin iſt er Chriſt und
Prieſter! Wie findet er ſich ab?
Der andere verſetzte gelaſſen: Ein katholiſcher
Geiſtlicher, der ſich aktiv an kriegeriſchen Kämpfen
beteiligte, ſei bekanntlich mit der Strafe der Irregu⸗
larität bedroht. Dürften doch auch die Zöglinge der
Prieſterſeminare ſich im Zweikampf nicht ſchlagen!
„In dem Stifte zu T.. , wo ich ſeinerzeit meinen
Studien oblag, war uns jungen Theologen das gleich⸗
falls unterſagt. Die Anſchauung iſt alſo völlig die⸗
41
ſelbe. Dennoch: was täten beiſpielsweiſe Sie, Herr
Pfarrer, wenn etwa verſprengte Feinde eben dahin
gerieten, wo Sie einem Verwundeten geiſtliche Tröſtung
ſpenden, und ihn mit greulicher Roheit überfielen?“
„Dann würde ich zunächſt die Waffe der Er⸗
mahnung erproben.“ — „Und wenn ſie nicht ver⸗
fängt?“ |
Auf dem klugen Geſicht des Pfarrers trat ein
kennbarer Willenszug hervor. „Es kommt ſicher bei
allen Dingen auf die Meinung an, aus der ſie ge⸗
ſchehen. Wer Unrecht duldet, wird mitſchuldig. Gott
wird meine Meinung verſtehen, wenn ich in meiner
Gegenwart keine Sünde begehen laſſe.“
„Gott befohlen, Herr und Stiefbruder!“ ſprach
Gotthold mit einer Anwandlung von Humor, während
der andre höflich grüßend davonging. Der „Stief⸗
bruder“, wie er ihn hieß, hatte ihm gefallen. Unter
der langen Soutane hatte er deutlich einen markigen
Mann gefühlt. —
Sonderbar, wie das, was ſie ſonſt trennte, in
dieſer Zeit zurücktrat! Und erging es den Gegen⸗
ſätzen auf anderem Gebiete, dem Parteienhader und
Klaſſenhaß, nicht ebenſo?
Das Ziel des Krieges iſt der Frieden. Seine
erſte Frucht war der Frieden im Innern; vielleicht
daß auch der nach außen ihm entreift! Je mehr
Gotthold dieſem Gedanken nachſann, deſto heller ward
es in ihm. — Einer nur kennt das Ende, und er kann
nicht wollen, daß es anders als gut ſei. Iſt aber
das Ende gut, ſo mögen wir getroſt den Pfad be⸗
ſchreiten, der uns zu ihm führt; es iſt der rechte, ſelbſt
wenn er uns entſetzens voll dünkt.
42
Die Leute des Lazarett, das ſoeben die erſten
Verwundeten aufgenommen hatte, meinten bei ſich:
Noch nie habe der Herr Pfarrer ſolch eine freundlich
feierliche Miene gehabt. —
® ® ®
Gotthold Engelbrecht war ſich klar, unerſchütter⸗
lich klar: „Ich glaube, daß dieſer unſer Krieg nicht
gottlos iſt; alſo dürfte ich ihn mitfechten ebenſowohl
als andre dazu ſegnen.“
Ein kleines Erlebnis kam, das ihn eigen berührte.
Matthias Hähnel ſchrieb aus dem Feld, um zu danken
für Liebesgaben, die ihm die Frau Pfarrer gefchidt.
Er berichtete, daß ihm neulich, bei der blutigen Er⸗
ſtürmung einer von den Franzoſen beſetzten Anhöhe,
der Tod ganz nahe geweſen war. Eine Schrapnellkugel
hatte ihn gerade in der Herzgegend getroffen, war
durch den Waffenrock gedrungen, aber abgeprallt an
dem Beutel, den Matthias unterm Rocke trug und
der ſeine Uhr nebſt Geldbörſe enthielt. Die Uhr,
durch den Anprall beſchädigt, war ſtehen geblieben —
Matthias Hähnel wollte ſie nie mehr herrichten laſſen,
wie er ſchrieb. Sie ſollte ihm zeitlebens ein Andenken
wunderſamen göttlichen Schutzes ſein, denn — das
war der Hauptgrund ſeines Schreibens — er ſehe
nun wohl, wie der Herr Pfarrer recht gehabt hätte,
und daß ſein Tun Gott nicht mißfällig ſei. Sonſt
hätte er ihn nicht ſo augenſcheinlich behütet.
In der Küche des Pfarrhauſes ward dieſe Be⸗
weisführung faſt andächtig geglaubt. Gotthold runzelte
die Stirn.
Seine Frau meinte beſchwichtigend: eine gewiſſe
43
rührende Kindlichkeit ſtecke in Hähnels Vertrauen.
Heftig widerſprach der Mann.
„Es iſt Selbſtgerechtigkeit, Selbſtüberſchätzung.
„Ich bin in Gottes Huld und ſein Lieblingskind;
darum ſchützt er mich, während Tauſende fallen oder
verſtümmelt werden!“ Solch ein Phariſäertum! Hat
nicht beinahe jeder Kämpfer auf unſrer wie auf geg⸗
neriſcher Seite jemand, der Gottes Schutz für ihn
erfleht? Und die nicht erhört werden, dürfen ſie des⸗
halb an ihm verzweifeln? Iſt der Tod des einzelnen
ein Beweis dafür, daß er oder ſein Volk unrecht hat?
Dann müßten die erſten Chriſten an ihrem Glauben
irre geworden ſein, ſobald ſie ſahen, daß Gott ihre
Marterung und ihren Tod zuließ!“
Er ſchritt im Zimmer auf und ab, um die Er⸗
regung zu meiſtern, die wider Willen aus ihm her⸗
vorbrach.
„Als Gnade und Vorrecht ſollen wir betrachten,
wenn wir leiden und ſterben dürfen für das, was
uns das Heiligſte dünkt. Jeder ſo Geſtorbene iſt
eine Siegesbürgſchaft; und ſelbſt wenn ſein Glaube
irrt, bereichert ſein Beiſpiel noch die Menſchheit.
Selig, wer ſeiner Überzeugung ſterben darf!“
Die Frau ſaß unbeweglich, als wage ſie nicht zu
atmen; aber ſie wandte kein Auge von ihm. In ihre
Schläfen, unter deren durchſichtiger Haut man das
blaue Geäder ſah, ſtieg das Blut.
„Ich will nach den Kindern ſehen,“ ſagte ſie plötz⸗
lich, ſtand raſch auf und verließ den Raum.
Der Mann hatte deſſen kaum acht — ſo erfüllt
war er von dem Einen.
® ® S
44
Gotthold Engelbrecht erzählte in freien Stunden
ſeinen Kindern viel vom Krieg. Er wollte nicht, daß
ſie verzerrte oder oberflächliche Kunde durch andere da⸗
von erhielten. Über hohe Verluſtziffern der Feinde in
Jubel auszubrechen oder ſich über dieſe in törichten
Schmähungen und Verkleinerungen zu ergehen, ver⸗
wehrte er ihnen ſtreng. Aber gern verweilte er bei
der Schilderung von deutſchen Heldentaten, von dem
unermüdlichen Pflichtgefühl und Opfermut derer da
draußen. Und von der Gleichheit aller in Not und
Gefahr, von dem Kameradſchaftsgefühl, das Hoch und
Nieder verbindet. Wenn er das beſchrieb, leuchteten
ſeine Augen, und in ſeinem Ton war nicht nur Be⸗
wunderung, ſondern eine unbezwingliche Sehnſucht.
Er ſprach zu ſeinen Kindern, wie von einer Höhe,
die er nicht erreichen würde.
Der Kleine mußte das fühlen. Denn plötzlich
ſagte er: „Vater, möchteſt du mit draußen ſein?“
Gotthold zögerte kurz. „Ja“ — ſprach er dann.
Die Kinderaugen wurden groß. „Aber — kannſt
du denn nicht?“
„Sieh mal“ — er ſtrich ſacht über ſeines Büb⸗
chens Haar — „ich kann doch nicht ſo fort von der
lieben Mutter und euch — und von meiner Gemeinde.
Das ſind doch alles Pflichten, die ich habe, Menſchen,
für die ich ſorgen muß. Deshalb bleibe ich!“
Die kleine Elsbeth hatte währenddeſſen aufmerk⸗
ſam ſein Geſicht beobachtet; nun rief ſie in ihrer
ſchnellen Art: „Aber neulich, in der Predigt, haſt du
geſagt: man darf nicht zurückſchauen, wenn man die
Hand an den Pflug legt — und unſre Soldaten
ſollen getroſt hinausziehen, weil der liebe Gott bei
45
denen iſt, die zu Haus bleiben. Dann wäre er doch
auch hier bei uns.“
Sie fühlen den Widerſpruch! — dachte Gotthold.
Es traf ihn wie ein Stich.
„Das iſt es nicht allein,“ ſprach er nachdrücklich.
„Es ſchickt ſich — es entſpricht nicht der Gepflogen⸗
heit, daß Geiſtliche in den Krieg ziehen — als Sol⸗
daten, meine ich.“ Die Erklärung machte ihm Mühe.
Die Kinder verſtanden auch nicht, was eine Gepflogen⸗
heit ſei; ſie hielten ſich an den Hauptpunkt. „Wäre
es denn alſo unrecht, wenn du Soldat würdeſt?“
fragte der Knabe.
„Nein — gewiß nicht. Nach meiner Überzeugung
nicht.“
Der frühe Scharfſinn des Mädchens hatte be⸗
griffen. „Laß Vater in Ruhe!“ mahnte ſie das
Brüderchen. „Du ſiehſt doch: es wird ihm ſchwer,
weil er will und nicht darf.“
Was ſelten geſchah: Gotthold empfand es als
Erleichterung, daß die Kinder ſich fortſtahlen und
ihn allein ließen. Er atmete tief auf, da ſie draußen
waren. Wie ſchmerzlich der Seufzer klang, wußte er nicht.
Nun ſaß er an ſeinem Schreibtiſch und verfaßte
ein Empfehlungsſchreiben für irgend eine Bedürftige,
die auf Arbeit ausging. Plötzlich hob er die Augen
unterm Zwang eines Blickes, der feſt auf ihn ge⸗
richtet war. Vor ihm ſtand ſeine Frau.
Sie ſah ſehr ſchmal und blaß aus. Der ſchlanke
Hals und das zartwangige Antlitz ſchienen von der
Laſt des ſchweren Blondhaars wie bedrückt. Er hatte
ihren Tritt nicht gehört, ſo ſtill mußte ſie herein⸗
gekommen ſein.
46
„Gotthold,“ fagte fie, „nun weiß ich: du haft
mich nicht mehr lieb.“
Vor Staunen über die Anſchuldigung fand er
kein Wort.
„Zum erſtenmal in unſrer Ehe leideſt du und
läßt mich nicht teilnehmen daran. Weil du an kein
Verſtehen glaubſt bei mir.“
„Nein,“ ſagte Gotthold einfach, „weil ich dich
liebe und dich ſchonen will.“ In ihre dunkel um⸗
randeten Augen trat ein wehmütiger Spott. „Ach du!“
Sie zog ſich einen Stuhl neben den ſeinen heran.
„Meinſt du wirklich, daß du dich vor mir verbergen
kannſt? All die Zeit her hab' ich mein Teil getragen
und in mir gekämpft wie du. Aber ich war feig
und redete nicht; ich hoffte: der Kelch ſollte vorüber⸗
gehen. Nun erſt ſehe ich: es kann nicht ſein.“
„Wenn du mein Fortgehen meinſt, Hilde, ſo
haſt du unrecht. Du weißt ja, ich bleibe hier.“
„Du bleibſt als ein zweifaches Opfer,“ ſagte ſie,
„mir zulieb und dem Herkommen, gegen deine Über⸗
zeugung. Ich war vorhin nebenan und hörte dich
mit den Kindern reden. So darf es nicht weiter⸗
gehen.“
Er leugnete nichts. Aber er ſtreichelte ihre Hand
und gab ihr zu bedenken, daß manche Sehnſucht un⸗
geſtillt vorübergeht und keines Menſchen Empfindung
unfehlbar iſt. Er laſſe gern dahingeſtellt, ob ſein
Recht ſtärker ſei als das ihre an ihn und ein durch
Überlieferung geheiligter Brauch. Während er ſprach,
glitt über das blaſſe junge Antlitz ein ſchöner ver⸗
klärender Schein; ſie ſchüttelte ſacht den Kopf.
„Nein, Lieber! In zehn glücklichen Jahren haſt
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du mir die Lehre eingepflanzt, daß ein Menſch keinen
ſichereren Wegweiſer hat als ſein Gewiſſen und ſein
inwendiges Muß. Irrt er dann, ſo tut er's im ein⸗
fältigen guten Glauben. Ich will dem, was du mich
gelehrt haſt, nicht untreu werden, darum ſag ich:
Geh!“
Ihn deuchte, er habe ſich verhört, ſo unfaßbar
war ihm, daß ſie das über ſich vermochte. Da er
ihren Ernſt ſah, ſtand er auf und neigte ſich zu ihr,
ihre Stirn zu küſſen. Seine Lippen zitterten und
ſeine Stimme auch.
„Das lohn' dir Gott, Hilde!“ ſprach er. „Du
biſt ſtärker als ich.“
® ® ®
Gotthold Engelbrecht hatte an das Konſiſtorium
geſchrieben, ſeinen Wunſch begründet und ein freund⸗
lich verſtändiges Antwortſchreiben erhalten, durch das
kaum ein leiſes Befremden hindurchklang. Einzelne
Amtsgenoſſen, ſo der Kollege, der ihn neulich beſucht
hatte, äußerten ihre Bedenken etwas deutlicher. Aber
beim Generalkommando war man von ſeinem Ent⸗
ſchluß entzückt und erbaut.
Hilde half ihm die eiligen Vorbereitungen treffen,
umſichtig und freudig, ohne ein Wort der Klage.
Die Kinder faßten das Ereignis mehr wichtig denn
traurig auf; Elsbeth verkündete es ſtolz ihren Spiel⸗
gefährtinnen: „Du, denk mal, jetzt geht Vater auch
mit!“ Sie ſchien zu glauben, daß damit eine erfreu⸗
liche Wendung des Krieges beſiegelt ſei.
Und der Tag kam, an dem Gotthold Engelbrecht
zum letztenmal — wenigſtens für lange Zeit — auf
der Kanzel ſeiner Kirche ſtand.
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Seine Züge waren ruhig, ſeine Stimme war klar.
„Meine liebe Gemeinde, es iſt nicht Gleichgültig⸗
keit, die mich fortgehen läßt. Denn Gott weiß: ich
löſe mich ſchwer von euch.
„Es iſt auch nicht Hochmut oder Ehrſucht; denn
auf meine kleine Perſon kommt es ſicher da draußen
nicht an, und es wird wenig Unterſchied machen, ob
ich mitſtreite oder nicht.
„Aber es iſt um der Wahrheit willen, daß ich
gehe. Ich habe dieſe Jahre her getrachtet, in Wahr⸗
heit vor euch zu wandeln, und will es auch jetzt.
„Die Sitte, kein Geſetz, verbietet uns Geiſtlichen
die Teilnahme an Kampf und Krieg. Zum erſten⸗
mal in dieſer Zeit habe ich der Berechtigung dieſer
Sitte nachgedacht. Ein tiefer chriſtlicher Kern ſteckt
in ihr; denn die meiſten Händel dieſer Welt ſind
nicht derart, daß ein Verkünder von Gottes Wort
ſich tätlich daran beteiligen kann ohne Schaden ſeines
Gewiſſens.
„Von dieſem Krieg aber ſagen wir: er iſt not⸗
wendig, er geht um unſer Alles und Höchſtes. Auch
wir Pfarrer ſagen das und zwar aus Überzeugung;
wir ermutigen unſere Krieger und loben ſie. Wenn
in unſerm Innern der Hintergedanke ſchlummerte:
‚und unchriſtlich iſt es doch!" fo dürften wir das
nicht tun. Ich an meinem Teil habe ſtets geglaubt
und darnach gehandelt, daß, was einem Geiſtlichen
nicht anſteht, dem Chriſten überhaupt nicht ziemt.
Ihr kennt mich als Gegner des Zweikampfs, als
einen, der bei jedem Zwiſt zum Frieden und zur
Verſöhnlichkeit unter euch geredet hat. Das alles iſt
nun anders geworden: ich habe jedem, der eine Waffe
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tragen konnte, zugerufen: „Geh mit! Zieh in den
Krieg! Und währenddeſſen iſt mein Entſchluß gereift:
ich will nichts Beſſeres denn meine Brüder ſein!
„Ich will kein Standesvorrecht, das mir Sicher⸗
heit verbürgt. Ich will wie der letzte Soldat im
Schützengraben hungern und frieren, von meinen
Lieben getrennt und in Todesgefahr ſein. Nicht um
des geringen Nutzens willen, den ich damit ſtifte,
ſondern um des Beiſpiels willen, und damit meine
Lehre durch die Tat erwahrt wird. Ihr ſollt nicht
ſagen dürfen: unſer Pfarrer bleibt daheim, der hat
es gut! ſondern: unſer Pfarrer dient wie unſereiner
nur dienen kann!
„Kehre ich wieder, ſo werden wir dadurch enger
denn je verbunden ſein. Wenn ich aber nicht heim⸗
komme, ſo fei Gott mit euch!“
In der Kirche war es lautlos ſtill geweſen; nur
viele geſenkte Häupter ſah man! Mählich hob ſich
ein leiſes Schluchzen unter den Hörern, den Frauen
zumal; ſie ſtanden auf, die ganze Gemeinde, und die
Tränen rannen ihnen die Wangen herab.
Sie weinten nicht nur wegen ſeines Fortgehens.
Sie weinten, weil ſie ſtolz waren auf ihn.
® ® ®
Gotthold Engelbrecht hatte ſich nicht zu viel zu⸗
getraut, ſoweit es ihn leiblich betraf. Er ertrug die
Anſtrengungen, die Entbehrungen mit der Kraft ſeiner
jugendlichen Mannheit. Aber was er ſah und hörte,
ging faſt über ſeine ſeeliſche Kraft.
Bilder des Verderbens und Entſetzens, Bilder,
die an Hölle und Fegfeuer gemahnten, vor deren
XXI. 20 4
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Anblick ſtarke Männer in nervöſes Weinen oder plöß-
liche Geiſteszerrüttung verfielen! Während Gotthold
ſich äußerlich mit den andern durch all das Grauen
hindurchfocht und ſeine ſoldatiſche Schuldigkeit tat,
war in ihm ein verzweifeltes Ringen, dem er zu er⸗
liegen drohte. Habe ich nicht doch geirrt? Muß ſich,
wer Chriſti Namen bekennt, nicht ſchaudernd ab⸗
wenden von dieſen Greueln, gleichviel zu welchem
Endzweck ſie geſchehen?
Sein Glück war, daß eine Art Betäubung ihn
überkam, in der ſeine Beobachtung ſich abſtumpfte.
Als er langſam wieder zu ſehen begann, da fielen
kleine Züge ihm auf unter dem kriegshart gewordenen
Volke, die ihm zu Herzen gingen. Da war ein
ſtämmiger Musketier, der nach Erſtürmung eines
feindlichen Schützengrabens mit einer Hand ſich ein
Tuch auf die ſtark blutende Nackenwunde drückte,
mit der andern einem gefangenen Franzoſen — ver⸗
mutlich dem, der ihn angeſchoſſen — ſein Zigarren⸗
täſchchen hinhielt. „Da, armer Tropf, rauch eine!“
Und ein andrer, den man nach einem Gefecht ver⸗
wundet vom Felde auflas, erzählte, wie ein gleich⸗
falls verwundet neben ihm liegender Franzoſe ſich
das Halstuch abgeriſſen hatte, um ihn, den Deutſchen,
damit zu verbinden. Gotthold ſah deutſche Soldaten,
die ihre Eßration redlich mit notleidenden Dorfbe⸗
wohnern teilten; er ſah franzöſiſche Frauen, die neben
den Gräbern ihrer Gefallenen auch die der Deutſchen
ſchmückten. Da ward er ruhig und getroſt; er fühlte:
der ewig Lebendige iſt überall, auch hier! Er läßt
das Menſchliche im Menſchen nicht untergehen.
Viele Amtsbrüder traf er an, die bei den
51
Kämpfern und in Feldlazaretten unermüdlich ihres
Amtes walteten, oft unter eigener Gefahr. Eines
Tages kam über ein Blachfeld hinter den Gräben,
das noch nicht außer Treffweite der feindlichen Ar⸗
tillerie lag, ein Feldgeiſtlicher dahergeſprengt — Gott⸗
hold erkannte ein Geſicht von daheim. „Herr Pfarrer!“,
rief er laut und freudig. Der Pfarrer von Sankt
Agathen ſaß ſtramm zu Roß, als der Abkömmling
eines alten Bauerngeſchlechtes, der in jungen Jahren
manch ein Pferdlein getummelt hatte. Er bog ſich
vor nach dem Rufer im feldgrauen Waffenrock und
ſtutzte, da er den „Stiefbruder“ erkannte, wie Gott⸗
hold ihn einſt genannt. Aber ſogleich glänzte ein
gutmütiges Lächeln über ſein Geſicht, mit geſtrecktem
Finger deutete er auf ſich und jenen. „Ecclesiae mili-
tantes!“ rief er launig und ſtob davon; denn er
hatte Eile, da es zu einem Sterbenden ging. Gott⸗
hold Engelbrecht aber lächelte über das doppelſinnige
Scherzwort, lächelte zum erſtenmal im Krieg.
Er erwähnte der Begegnung auch in dem Briefe,
den er ſeiner Frau daheim ſchrieb. Anfänglich, in
den ſchweren erſten Wochen, hatte er ihr nur kurze
Zettel und Karten geſendet, damit ſie nicht heraus⸗
fühlen ſollte, wie es um ihn ſtand. Nun aber der
der Mut ihm wiedergekehrt war, ſchrieb er ihr lang
und ausführlich: von allem, was er erlebt und was
ihn innerlich aufgerichtet hatte. Er dankte ihr heiß
und innig für alles; denn ſein Erleben war ihr Ver⸗
dienſt, da ſie ihn freiwillig von ſich gelaſſen hatte,
während er noch zauderte, ihr das anzutun. Von
den Kameraden im Schützengraben, den ſeine Kom⸗
panie nun bezogen hatte, ſchrieb er ihr. Nach dem
52
Pfarrer von Sankt Agathen hatte er hier noch einen
Bekannten getroffen. „Stell dir vor: der Matthias
Hähnel iſt da! Er hatte große Freude, mich wieder⸗
zuſehen, ich desgleichen. Denn er iſt in ſichtlicher
Veränderung begriffen: freier, friſcher, jugendlicher
als er ſonſt war. Hauptſächlich aber hat er von
ſeiner mich oft verdrießenden Selbſtgerechtigkeit ver⸗
loren, glaubt nicht mehr, daß der Vater im Himmel
ihm eine beſondere Tugendprämie ſchuldet, ſondern
iſt einfältiger und dankbarer geworden. An allen
tiefer Gearteten merkt man hier ſolche Entwicklungen,
während die Rohen nur verrohter werden. Was ſich
zumal ſteigert — ich ſehe es an mir und den andern —
iſt das Gefühl vom Wert des Daſeins, ſo paradox
das klingt. Ein junger Leutnant iſt hier, der ehe⸗
mals ſeiner Mutter durch lockeres Leben manchen
Kummer bereitet hat und ihr nun faſt täglich ſchreibt,
um ihr einſtweilen mit Worten zu vergüten, wie er
künftig hofft, es mit Taten zu tun. Wer dieſer
Feuertaufe entrinnt, wird ein neuer Menſch. Ich
ſelbſt habe nie ſo ſehr zu leben gewünſcht und mich
auf das Daſein nach dieſer Zeit gefreut wie jetzt.“
Mit vielen zärtlichen Grüßen an ſie und die
Kinder ſchloß er den Brief. Es fröſtelte ihn. Etwas
kalt war es ſchon im Unterſtand des Schützengrabens,
wo er geſchrieben hatte.
Seine Gedanken nahmen einen andern Lauf. Sie
wandten ſich der bevorſtehenden Weihnachtszeit zu:
wie er ſeinen Leuten das Weihnachtsevangelium leſen
und ausdeuten wollte. Gerade die zum Teil Tod⸗
geweihten ſollten wiſſen, daß der Herr des Lebens
auch zu ihnen komme.
53
Plötzlich ein ſchrilles Klingeln, durch den ganzen
Graben vernehmbar. Telephoniſche Meldung: die von
drüben greifen an! Sie ſind ſchon am vorderſten Graben!
Im Nu iſt alle Mannſchaft auf den Füßen, kampf⸗
bereit! Kommandorufe — Geknatter von hüben und
drüben — ſie ſtürmen aus der Deckung vor.
Gotthold Engelbrecht iſt mitten darunter, hält
die Waffe feſt umſpannt, ſieht ſchon rechts und links
Getroffene hinſinken. Mechaniſch, wie im Fieber,
wiederholt ſein Hirn noch, was er zuvor gedacht —
Ehre fer Gott in der — ! Hei, wie das knallt und
pfeift! — und Friede auf Erden — das galt ihm!
— Friede —
Einen ſtarken Schlag ſpürt er — ſpreizt die Hände
aus — taumelt — ſtürzt—— — — — — — —
® ® ®
Brief des Soldaten Matthias Hähnel an Frau
Pfarrer Engelbrecht.
Sehr geehrte Frau Pfarrer! Wenn auch gewiß
ſchon vom Regiment aus an Frau Pfarrer geſchrieben
wird, möchte doch auch ich nicht unterlaſſen, mit
tiefem Schmerz zu melden, daß unſer lieber Herr
Pfarrer vorgeſtern den Heldentod erlitten hat. Es
war bei einem mörderiſchen Gefecht, wo die Franzoſen
und Engländer uns einen Schützengraben weggenom⸗
men haben. Aber wie der Herr Pfarrer fiel — es
hat ihn jedes ſo gern gehabt — da wurden wir alle
ſo wütig; und der Herr Leutnant von unſerm Zug,
der auch ſo an ihm gehängt iſt, hat geſchrieen:
„Drauf und dran, wir müſſen ihn rächen!“ Da ſind
wir drauf wie die Wilden und haben die andern
54
zurückgeworfen und unſern Graben richtig wieder
erobert. Heute war nun die Beſtattung und iſt große
Trauer geweſen; und ich weiß es, weil ich doch ein
Glied ſeiner Gemeinde war, daß wir ſo einen Herrn
Pfarrer unſer Lebtag nicht mehr bekommen. Man
meint ordentlich, daß man kein Recht zum Leben hat,
wenn es ſo die Beſten trifft! Es iſt der einzige Troſt,
daß es ſo der Wille der göttlichen Vorſehung ge⸗
weſen iſt und man dawider nichts machen kann, wie
Frau Pfarrer gewiß auch einſieht und ſich mit den
lieben Kindern hinein ergibt. Der liebe Gott wolle
Ihnen beiſtehen und Kraft und Geduld verleihen, wo⸗
mit ich vielmals grüßend bin
Ihr betrübter und dankſchuldiger
Matthias Hähnel.
Do > > > > > > c
Wehrkraft
Se berall im Gewühl der Stadt, vor den Pforten
der öffentlichen Gebäude, auf dem von abreiſen⸗
den Soldaten überfüllten Bahnhofe, ſah man ſie. Auf
Schritt und Tritt begegnete man den halbwüchſigen
flinken Geſtalten in ſtrammer Haltung, zu Rad, zu
Fuß. Die Wehrkraftjungen.
Sie waren die unverdroſſenen Botengänger des
Roten Kreuzes, der Lazarette, der Wohlfahrtsaus⸗
ſchüſſe. Rotwangig und entſchloſſenen Blickes tauch⸗
ten ſie auf inmitten der Maſſen tiefernſter ſorgen⸗
voller Menſchen, die ihr Denken noch nicht eingeſtellt
hatten auf die Tatſache: Wir leben im Krieg! In
einem Weltkrieg! |
Von den alten Einwohnern, die der Wehrkraft⸗
beſtrebung wie allen ähnlichen neuzeitlichen Grün⸗
dungen mißtrauiſch gegenüber geſtanden hatten, ward
mancher bekehrt. Manche bekümmerte blaſſe Frau
lächelte matt, wenn ein paar der eifrigen Kerlchen
an ihr vorbeiſauſten: „Nett ſan's, die Wehrkraft⸗
buben! Der Meinige is aa dabei.“
Sie hatten bisher nur den Zweck eigener Ab⸗
härtung und Disziplin im Frieden gekannt. Seit
Beginn des Krieges ſtanden ſie im Dienſt der Stadt⸗
hilfe und waren ein kleines treibendes Rad in der
großen vaterländiſchen Organiſation. Jeder ſtrebte
die ihm erteilten Aufträge gut auszuführen und die
56
gelbe Armbinde zu erlangen, die den als verläſſig
Befundenen verliehen ward.
Noch hatten ſie ſämtlich Ferien, konnten ſie nicht
beſſer nützen, als indem ſie ihre Kräfte ganz der
einen Sache widmeten, die über Nacht zu der alles
verdrängenden Hauptſache geworden war.
Ein Zug der Wehrkraftjungen hatte draußen auf
dem breiten Wieſenfeld, in der Nähe der Kaſernen, ein
richtiges Feldlager aufgeſchlagen; ſtraffe Zucht und
Ordnung herrſchte darin. Mit Genuß atmeten die
Buben die nahe Kriegsluft ein, erzeigten den Sol⸗
daten jede Dienſtleiſtung und fühlten ſich geehrt
durch ein anerkennendes Wort. Auf den Waffen
und denen, die ſie führten, ſtand jetzt alle Hoffnung;
das wußten ſie, das hörten ſie täglich daheim. Wenn
ſie im Zuge aufmarſchierten, ſuchten ſie ſich Haltung
zu geben wie altgediente Truppen; dann klangen im
Chor der hellen Stimmen alle Kriegs- und Vater⸗
landslieder, die „Wacht am Rhein“, „Deutſchland,
Deutſchland über Alles“ und das neue, ſchnell heimiſch
gewordene:
„Gloria, Gloria,
Gloria, Viktoria,
Mit Herz und Hand — fürs Vaterland.
Die Vögelein im Walde
Die ſang'n ſo wunder⸗wunderſchön:
In der Heimat, in der Heimat,
Da gibt's ein Wiederſehn.“
Die Stimme, die am hellſten und ſtärkſten vor⸗
tönte, das wußten alle: die gehörte dem Zeidner⸗
Veſtl.
Fünfzehn Jahre war der Veſtl alt, ein ſchlanker
57
Burſch von ſehnigem Körperbau, mit ſo dunklen
Augen, daß ſie gar nicht recht deutſch ausſahen.
Aber der Veſtl wäre jedem zu Leibe gegangen, der
das geſagt hätte.
Der Veſtl, richtig Sylveſter Zeidner, war ein
echter Bayernbub, geboren in dem alten Stadtteil
zwiſchen dem Markt und der Hauptkirche, wild wie
ein kleiner Teufel und dabei voll ſchämig verſteckter
Liebeswärme. Seine Mutter, die in ihren Einzigen
ſchaute wie in einen güldenen Kelch, ward ihm nicht
Herr; ſein Vater war Reiſender für ein größeres
kaufmänniſches Geſchäft und öfters nicht daheim.
Außerdem lebte er der Anſicht: an einem Buben
dürfe man nicht in einem fort herumnörgeln und
erziehen, ſondern müſſe ihn ſeine Hörnlein ſelbſt ab⸗
ſtoßen laſſen.
Der alſo in Freiheit wuchernde Veſtl hatte ſich
bei ſeinen Schulgenoſſen während der Spielſtunden
in Reſpekt zu ſetzen gewußt. „Der, wenn anfangt,
der verhaut einen, daß 8 aus is!“ lautete die Mei⸗
nung über ihn. Aber er hatte ſich „gefangen“, wie
es im Volksmund heißt, ſeit er in die Reihe der
Wehrkraftjungen getreten war. Sein Überſchuß an
Kraft und Temperament fand einen natürlichen Aus⸗
weg durch die Übungen im Freien; auch lernte er
verſtehen, was Gehorſam ſei. Er brachte es ſogar
zum Halbzugsführer, hielt ſeine Gruppe in ſtrammer
Ordnung und ſeine Kommandorufe hallten klar und
laut. Jetzt gar zeigte er ſich unermüdlich wie einer.
Es gab auch Mädchen, die ihre Heimatliebe be⸗
kunden wollten durch die Tat. Die Annerl, die dem
Hauſe von Veſtls Eltern gegenüber wohnte, und noch
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zwei Mitſchülerinnen aus ihrer Klaſſe gehörten den
„Pfadfinderinnen an, und die begnügten ſich nicht
bloß mit dem Stricken und Nähen daheim. Sie
waren bereit, ſich ebenfalls verwenden zu laſſen im
Dienſt der Stadthilſe und boten ſich den Wehr⸗
kraftjungen gelegentlich zu williger Handreichung an.
Im allgemeinen iſt die Meinung von heranwachſen⸗
den Jungen über Mädchen keine allzuhohe; der Veſtl
namentlich erklärte: „Mit Weiberleuten hab ich's nicht.“
Aber die gemeinſame Liebe und Pflicht, das Bewußt⸗
ſein, Deutſche zu ſein, band dieſe tatluſtigen Kinder
doch bald feſt zuſammen.
Der Nachbarſchaft wegen begegneten Veſtl und
Annerl ſich öfter. Der Veſtl hatte ſchon immer ſeine
Schulhefte gekauft in dem Laden von Annerls Eltern,
einem ſauberen kleinen Lädchen, wo allerhand Schreib⸗
gerät zur Schau ſtand: bunte Federhalter, Käſten mit
vielfarbigem Briefpapier, drollige Tintenwiſcher und
goldgeränderte Bildchen als Angedenken der Firmung
und des erſten heiligen Abendmahls. Auch Poſtkarten
gab es zu kaufen; da ſie alle ſich nunmehr um den
Krieg drehten, bildeten ſie für Veſtl die Haupt⸗
anziehungskraft. Einmal, mit Annerl heimkehrend,
traf er im Laden auch eine Verwandte ihrer Mutter,
ein ſchmächtiges Perſönchen mit kluger, ſpitzer Naſe,
das zum Kleidermachen in die Häuſer ging. Das
Annerl erzählte Veſtl mit Stolz, was für feine
Damen die „Fräul'n Bas“ als Kundinnen hätte: die
Frau Profeſſor drüben in dem großen Eckhaus, die
Frau Kommerzienrat Wollmeder, die Frau Oberſt
Brüning —
Dem Veſtl gab es einen Ruck. „Die Frau Oberſt
59
mit den graublonden Scheiteln? Die in der B.jtraße
wohnt?“
„Ja, die! Kennſt ſie denn?“
Der Veſtl reckte ſich hoch. „Die! Aber das iſt
ja die Mutter von meinem Leutnant!“
Auch ohne die Silbe „mein“ hätte Veſtls Ton
genügt, um jedem klarzumachen, daß er von ſeinem
liebſten Menſchen ſprach.
Der junge Leutnant Brüning mit den hellen
Augen und der warmen Stimme war Zugsleiter des
Zuges von Wehrkraftjungen, dem Veſtl angehörte.
Er beſaß einen Naturſinn, der auf jeder Ferien⸗
wanderung ſich den Jungen mitteilte; er ging auf die
Beſonderheit der einzelnen ein, ohne daß die Ordnung
des Ganzen je darunter litt. So hatte er es verſtan⸗
den, ihrer aller unbegrenztes Vertrauen und zugleich
ihren unbedingten Gehorſam zu gewinnen. Veſtl zu⸗
mal war ihm ergeben, wie nur in den Geſchichts⸗ und
Sagenbüchern ein Lehnsmann ſeinem Lehnsherrn, ein
Knappe ſeinem Ritter geweſen war. Gerade weil
Veſtls Natur und Erziehung ihm jeden Überſchwang,
jede rührſelige Gefühlsäußerung verwehrte, war die
ganze Kraft dieſes Gefühls nach innen geſchlagen und
im Inneren gewachſen. Veſtl hatte ſeine Eltern auch
gern — gewiß. Er wäre ſich ſündhaft vorgekommen,
wenn nicht. Aber was ihn für den Herrn Leutnant
erfüllte, war etwas ganz andres, höheres, ihm ſelbſt
unerklärliches. Der Leutnant war ſein Vorbild.
Da kam die Nachricht, die plötzlich auf die fried⸗
liche Welt kleiner Leute niederſtieß, wie ein Habicht
auf eine arglos pickende Hühnerſchar. Die Nachricht:
es gibt Krieg!
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Zuerſt hatte der Veſtl, in der Prügelfreude eines
richtigen Jungen, ſie mit Hurra aufgenommen. „Die
ſollen nur kommen, die Lumpenbagaſch! Denen ſchmei⸗
ßen wir die Köpf entzwei!“ Dann mit einmal war
er ſtill geworden. Es war ihm eingefallen: der Herr
Leutnant müßte natürlich mit!
Einesteils war Veſtl ſtolz darauf. Er hätte gar
nicht gewollt, daß Deutſchland gerettet würde ohne
Mitwirkung ſeines Leutnants. Aber doch: ihn ſo
lange nimmer ſehen! Und gefaßt ſein müſſen, daß
er verwundet würde oder gar — den Gedanken wies
Veſtl ganz von ſich.
Es war der erſte große Schmerz in Veſtls Leben.
Ein Schmerz, auf die ſeltſamſte Weiſe vermiſcht mit
einem Rauſch von Jubel, Gehobenheit, Tatendurſt.
Er hatte mit Kameraden draußen geſtanden in der
hohen, von Rauch durchwehten, von Kriegsliedern er⸗
tönenden Bahnhofshalle! Auf den Waggontüren In⸗
ſchriften, Karikaturen, die der Soldatenhumor daran
gekritzelt hatte! Aus den Waggontüren nickend, win⸗
kend lauter fröhliche, von Kampfluſt glühende Sol⸗
datengeſichter! Und Veſtls Leutnant war auch da⸗
geweſen, und Veſtl und die andern hatten ſich heran⸗
gedrängt — „B'hüt Ihnen Gott, Herr Leutnant!“
„Daß ma uns g'ſund wiederſehn!“ — „Daß 's Ihnen
gut geht, Herr Leutnant!“ — Der Leutnant Brüning,
der ſoeben von ſeiner Mutter und den Schweſtern ſo
heiteren Abſchied genommen hatte, als ginge es nur
zum Manöver hinaus, hatte plötzlich beim Anblick der
Knabengeſichter feuchte Augen bekommen. Und er
hatte ſeine Hand, die Veſtl gar nicht loslaſſen wollte,
raſch zurückgezogen und dem Veſtl nur ſtumm zugenickt.
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Nun waren zwei Wochen vergangen ſeitdem; und
der junge Leutnant Brüning, der war tief in Feindes⸗
land.
Der Veſtl ſann Tag und Nacht, wie er ſeinem
Leutnant nachfolgen könnte. Er redete von nichts
anderm. |
Seine Mutter ging in ihrer Not zur Mutter des
Leutnants, einer freundlichen, früh verwitweten Frau.
„Wenn halt gnä Frau meinem Buben einmal ins
Gewiſſen reden taten! Ich werd' ihm nimmer Herr;
er is rein aus'n Häusl.“
Alſo wurde Veſtl zu der Dame geführt, in die
Wohnung ſeines Leutnants. Er ſuchte mit den Augen
überall umher, nach Dingen, die an den Entfernten
gemahnten. Die Frau Oberſt ſprach ernſt und liebe⸗
voll zu ihm, von ſeiner großen Jugend, von der
Pflicht, den Eltern gehorſam zu ſein. Der Junge
verharrte anfänglich in ſcheuem Schweigen, dann hob
er den Kopf und ſagte leiſe: „Ich hab' ſo Zeitlang —
nach meinem Herrn Leutnant.“
Es zuckte im Antlitz der Frau Oberſt. Wie hilfe⸗
ſuchend ſah ſie auf den Mann ihrer älteſten Tochter,
der ſoeben eintrat und alsbald Veſtls Bekanntſchaft
machte. Er bewies dem Jungen klar und ſcharf, daß
ein noch nicht einmal Sechzehnjähriger nirgends ge⸗
nommen werden würde, bei keinem Truppenteil. Und
was denn die Herren Feinde denken müßten, wenn
Deutſchland Kinder zu Felde ſchickte gegen ſie?
„Bleib du daheim, lern was und werd' ein tüch⸗
tiger Kerl für die Zukunft! Mit der Selbſtzucht und
dem Gehorchenkönnen fängt die Fähigkeit zum Soldaten
an; das hat gewiß dein Leutnant euch auch geſagt?“
62
Veſtl nickte.
„Siehſt du,“ ſagte die Frau Oberſt und klopfte
ihm auf die Schulter, „dann mußt du brav ſein und
ihm folgen. Ich will ihn grüßen von dir.“
Die drei Schweſtern des Leutnants, die ver⸗
heiratete und die beiden ledigen, waren auch ſehr
freundlich mit dem Veſtl und ſchenkten ihm Schoko⸗
lade. Sein wortkarger Dank wurde ausgeglichen
durch die beredten Dankſagungen ſeiner Mutter, mit
denen ſie ihn hinwegnahm.
Noch auf dem ganzen Heimweg predigte ſie in
ihn hinein: „Siehgſt es, jetz haſt es g'hört und jetz
ſei geſcheit!“
Veſtls Vater betrachtete die Sache viel gelaſſener.
Er war der Anſicht: ſolche Umſtände und Geſchichten
hätt' es nicht gebraucht. Der Bub hätt' ſchon von
alleinig ein’ Ruh gegeben.
Außerlich traf das zu. Veſtl ergab ſich. Aber
was dieſe Ergebung ihn innerlich koſtete!
Daß er des Nachts bisweilen weinte, durfte nie⸗
mand ahnen. Er ſchämte ſich der Tränen zu ſehr.
Aber auch die Träume und Phantaſiebilder ſeiner
ſtillen Stunden behielt er für ſich. Sie drehten ſich
alle um die Heldentaten, die er hätte vollbringen
mögen, mit ſeinem Leutnant und für ihn!
Draußen im jungen Wehrkraftlager ſchaffte er
ſich Luft, indem er alle an Tätigkeit überbot. Er
kannte keine Müdigkeit. Wenn ein Ruf von irgend⸗
woher erſcholl, wenn es eine Nachricht zu bringen,
die Spenden für eines der Lazarette abzuholen galt,
war er der erſte, allezeit voran. Zwiſchen ihm und
der Annerl wob ſich ein Band, weil ſie, wenn auch
63
nur durch eine Verwandte, in Beziehung zum Haufe
ſeines Leutnants ſtand und wenigſtens vom Hören⸗
ſagen wußte, was für ein Menſch das war.
Die Annerl hatte durch ihre Baſe auch gehört,
daß der Veſtl nicht fort dürfte. Sie war deſſen ſehr
froh und diente ihm um ſo williger als treuer Hand⸗
langer bei allem, was er unternahm. An Kraft er⸗
reichte ſie ihn nicht; aber ein Paket zubinden und
ſauber einpacken verſtand ſie beſſer als er.
Einmal hatte ſie es durchgeſetzt, den Handkarren
ſchieben zu helfen, auf dem der Veſtl die geſchenkten
Wolldecken in eines der zur Aufnahme von Verwun⸗
deten beſtimmten Schulhäuſer fuhr. Als ſie ihre Bürde
im Hof abluden, ſagte die Annerl: „Wie lang wird's
noch hergehn, fangt die Schul wieder an.“
Veſtl ſeufzte.
„Ja, freut dich das nimmer? Ich hab' gemeint,
du lernſt ſo gern?“
„Schwatz net jo dumm daher! Wie ſoll einen 8
Lernen und Stillſitzen noch freuen, wenn man doch
hinaus möcht in den Krieg!“
„Aber 's Lernen is notwendig, wenn du was
werden willſt,“ ſagte Annerl altklug. „Dein Leut⸗
nant wird's auch gemußt haben.“
„Ja, der!“ Veſtls Augen leuchteten. „Das war
einer! All's hat er gewußt.“
Annerl hatte über den Leutnant Brüning nur
Gutes vernommen. Jedoch fein beſtändiges Lob aus
Veſtls Munde verdroß ſie. „Geh zu!“ machte ſie
ſpitzig. „Der alleinig Geſcheite wird dein Leutnant
auch net ſein. Da gibt's ſchon mehr ſolche.“
Veſtl richtete auf die Läſtererin einen Blick, vor
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dem Annerl eigentlich hätte zu Staub werden müſſen:
eine ſo vernichtende Verachtung lag darin.
„Jawohl,“ ſagte er. „Das wirſt grad du ver⸗
ſtehen!“
Wie er das „du“ betonte!
Sie fprachen kein Wort mehr miteinander. Die
Annerl machte ein gekränktes Geſicht. Dem Veſtl tat
es leid, daß er ihr nicht lieber ein paar Tüchtige
heruntergehauen hatte. Aber freilich: die Annerl war
nur ein Mädel.
Der Annerl tat ihre geſchnappige Rede auch leid.
Sie wußte nicht recht, wie ſie ſelbige gut machen
ſollte und ſann darauf, dem Veſtl irgend einen rechten
Gefallen zu tun. Inzwiſchen fügte ſie ihrem Abend⸗
gebet jedesmal die Worte hinzu: „Lieber Himmel⸗
vater, laß dem Veſtl ſeinen Leutnant geſund heim⸗
kommen, ich bitt' dich recht ſchön!“
Ein paar Tage verſtrichen, da kam Veſtls Mutter
in die kleine Stube von Annerls Mutter geſtürzt,
keuchend vor Aufregung.
„Ach lieber Heiland, is des was! So ein Un⸗
glück!“ Sie rang nach Luft. „Ja, was gibt's denn?“
fragte Annerls Mutter neugierig und teilnehmend.
„Der Herr Leutnant! Unſerm Veſtl ſein Leutnant!“
— „Iſt er verwundet? Oder gefallen?“ — „Ge⸗
fallen! — das heißt: ich weiß nicht, wie ich ſagen
muß. In Belgien, wie ſie durch ein Dorf zogen ſind,
hat aus einem Fenſter eine Weibsperſon ihn er⸗
ſchoſſen.“
„ „Jeſus!“ machte die Annerl, die herbeigekommen
war und drängte ſich mit großen Schreckensaugen
an den Stuhl ihrer Mutter. Die ſchlug bekümmert
65
die Hände zuſammen. „Was für Leut' gibt's auf
der Welt!“
Veſtls Mutter erzählte weinend, wie ihr auf dem
Markt die alte Köchin der Frau Oberſt begegnet ſei
und ihr alles geſagt hätte. Ganz verſtört wäre die
gute Perſon geweſen und hätte ihr noch aufgegeben,
es dem Veſtl und den andern Wehrkraftjungen zu
ſagen — ſie hätten ihn ja alle ſo gern gehabt!
„Ich trau' mir net! Der Veſtl, wenn's hört, weiß
Gott, was der anſtellt! Er iſt imſtand und tut ſich
was — er iſt an dem Herrn Leutnant zu ſehr ge⸗
hängt. Was fang' ich an, Herrgott, was fang' ich
grad an!“
„Wenn's ihm die Annerl ſagen tät!“ — ſchlug
die Nachbarin vor. „Sie hat einen Gang zu der
Fräuln Baſ'n, da kann ſie leicht den Umweg machen
übers Wieſenfeld, da wo dem Veſtl ſein Zug liegt.
Iſt er jetzt draußt?“
„Nein, er beſorgt noch was. Aber gewiß kommt
er bald hin. Wenn's ihm du zu wiſſen tatſt, Kind,“
ſie wandte ſich direkt an Annerl, „eine Staffel in
Himmel tätſt du dir bauen. Ich kann's auf Ehr
nicht; mir tut's gar zu weh.“
Die Annerl ſagte „Ja“ — die Tränen liefen ihr
dabei übers Geſicht.
„Hoffentlich iſt der Veſtl nicht gar unfein mit
dem Mäderl vor lauter Verdruß!“ ſagte Veſtls
Mutter, da die Kleine ging. — „Ach, ſo Kinder
haben immer Glück,“ verſetzte Annerls Mutter zu⸗
verſichtlich.
Annerl dachte unterm Gehen fortwährend das
Eine, daß das Unglück nun geſchehen ſei u der
XXXI.
66
Himmelvater, trotz ihrer Bitten, es nicht verhütet
hatte. Das tat ihr weh — aber am meiſten leid war
ihr um den Veſtl.
An der nächſten Straßenecke drängten ſich die
Leute vor einem Telegramm, das ſoeben angeſchlagen
worden war. Eine Siegesnachricht — das Wort
„Sieg“ war mit Rieſenlettern gedruckt und ſtand auch
auf allen Geſichtern zu leſen. Zu anderer Zeit wäre
das kleine Mädel gleich gelaufen, die frohe Botſchaft
überall zu verkündigen; jetzt war ſie zu betrübt.
Still wand ſie ſich zwiſchen den Menſchen, die ſie
ſtießen und überrannten, hindurch.
Im Lager der Wehrkraftbuben ging es geräuſch⸗
voll zu. Der Veſtl war dieſen Augenblick eingetroffen
und hatte die neue Kunde gebracht.
„Ein großer Sieg! Bei Tannenberg! Wir müſſen's
fein den Leuten anſagen, daß ſie Fahnen ausſtecken;
die denken womöglich nicht drauf! Mein Vater ſagt:
Anno ſiebzig hätt's länger angeſtanden bis zu die
erſten großen Sieg'!“ Er war ganz aufgeregt; es
dauerte lange, bis er die Annerl gewahr ward, die
ihn zu ſich winkte, abſeits von den andern. „So,
biſt du auch da!“ machte er geringſchätzig, folgte dem
Wink aber doch.
„Ja, weißt, deine Mutter ſchickt mich; ſie —,“
Annerl ſtockte; ſie bekam ſolche Angſt.
„Was iſt's nachher? Druck einmal los!“ for⸗
derte Veſtl ſchneidig. Er glühte von Luft und Be⸗
wegung; die Augen funkelten ihm trutzig und friſch.
„Ich — ich ſoll dir ſagen — Es iſt was —
mit deinem Leutnant —“
Veſtls Züge veränderten ſich jäh; ſie wurden alt
67
und ſpitz. „Iſt ihm was geſchehen? iſt er gefangen?
Iſt er —?“ Die Beſtätigung deſſen, was er nicht
ausſprechen wollte, las er auf dem traurig ihn
anblickenden Kindergeſicht. Da verlor er alle Be⸗
herrſchung.
„Nicht wahr iſt's! Er darf nicht tot ſein — du
lügſt!“ ſchrie er die Kleine an.
„Ich lüg' nicht, du! Da drunten in Belgien hat
eine auf ihn geſchoſſen — eine Frau — vom Fenſter
aus.“
Ein Laut erſtickter Wut — beide geballte Fäuſte
hebt der Bub ſchüttelnd auf.
„Die Beſtien! Die verfluchten ſchuftigen Kanallien
die! Meinen Leutnant —!“ Durch ſein Wüten klingt
Jammer: „Alle andern freuen ſich über den Sieg,
und er erlebt ihn nicht! Weil ſo ein elendes Weib⸗
ſtück ihn hinaufgeſchoſſen hat!“ Das Mädchen bei
den Handgelenken packend, preßt er ſie mit ſo brutaler
Kraft, daß ſie ächzt vor Schmerz. „So ſeid ihr!
So hinterrücks, ſo falſch, ſo gemein!“ — Doch die
Annerl, die ganz weiß geworden iſt, ſchaut ihn feſt
und zürnend an.
„Du biſt gemein — viel ſchlimmer wie die Bel⸗
gier. Die überfallen die Unſrigen, weil die halt ihre
Feinde ſind. Du machſt's denen ſo, die dir's gut
meinen.“
Da ließ der Bub ſie los. Stumm wich er
zurück.
„Alle Abend,“ ſagte Annerl und rieb ſich die
mißhandelten Gelenke, „alle Abend hab' ich für deinen
Leutnant gebetet — und du biſt ſo! An dir hätt'
er keine Freud' gehabt.“ Darauf wandte ſie ſich
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kurz um und biß in ihre Schürze, damit der Veſtl
ihr Schluchzen nicht hören ſollte.
Sie wollte gar nichts mehr wiſſen von ihm. Sie
verhärtete ſich abſichtlich gegen das Mitleid, das er
ihr dennoch einflößte. Wenn einer ſo bös ſein
kann. —
Er fühlte, daß er bös und ungerecht geweſen war.
Das mit den Belgiern, die ſich zur Rache befugt
hielten, hatte ihn getroffen. Aber in dem Augenblick,
da er das erfuhr, haßte er alle, die lebten, während
der eine tot war. Und die Annerl haßte er, weil
ſie ihm die Nachricht gebracht hatte, und weil ſie ein
Mädel war, die gar nicht wiſſen konnte, was der
Tote ihm galt.
Gegen das Zureden und Bedauern der Seinen
wehrte er ſich, abwechſelnd verſtockt und gereizt. Er
war wie ein junges wundes Tier, das in ſeinem
Schmerz nach der Hand beißt, die ſich ihm entgegen⸗
ſtreckt. Sein Weh äußerte ſich als Wildheit. Zum
erſten Male empfand er die menſchliche Ohnmacht
vor der Unerbittlichkeit des Todes; zugleich erbitterte
ihn maßlos die Art, wie er ſein Idol verloren hatte.
Nicht in ehrlichem Kampf zu fallen, ſondern aus dem
Hinterhalt erſchoſſen zu werden, durch ein Weib! —
Veſtl verlernte Schlaf und Lachen. Er magerte
ſichtlich ab.
Nach einer Woche etwa ſchickte die Frau Oberſt
ihre Nähterin, Annerls Baſe, die der Trauerkleider
wegen nun täglich im Hauſe war.
Der Veſtl ſollte hinaufkommen! ließ die Frau
Oberſt ſagen. Es ſei ein Brief da von dem Herrn
Leutnant ſelig — der ginge ihn auch an.
69
Die Bubenaugen weiteten ſich groß. Ein plötz⸗
liches Rot ſtieg in das bläßlichbraune Geſicht. „Ja,
ich komm'.“
„Schlecht ſchaut er aus, der Bub,“ ſagte die
ſcharfblickende Baſe. „Grad wie die Annerl, die
nimmt ſich's auch ſo zu Herzen.“ Veſtl horchte auf
— das hätte er ſo einem dummen Ding wie der
Annerl gar nicht zugetraut.
Andern Tages machte er ſich auf den Weg zu
ſeines Leutnants Mutter. Während er die Treppen
hinaufſtieg, mußte er denken, wie oft ſein Leutnant
ſie ſtarken fröhlichen Schrittes erklommen hatte, im⸗
mer zwei Staffeln auf einmal, ſo war ſein Brauch!
Ein geſpenſtiſches Gefühl von der Gegenwart des
Verſtorbenen durchrann den Jungen; er wagte faſt
nicht zu klingeln und ſprach, als er eingelaſſen ward,
gedämpften Tones wie in einer Kirche.
Die Frau Oberſt trug ſchon ganz ſchwarze Kleider,
in denen ſie lang und hager ausſah. „Gelt, nun
haben wir ihn verloren?“ ſagte ſie mit verweinter
Stimme. Veſtls Eltern hatten ihm daheim eingelernt,
daß er ſagen ſollte: „Mein herzlichſtes Beileid!“ —
das fiel ihm nun nicht mehr ein. Er ſagte nur:
„Ja, Frau Oberſt,“ und ſtarrte auf den Kreppſaum
ihres Kleides, immer bemüht, nirgend anzuſtoßen,
keinen Lärm zu erregen in der Wohnung ſeines
Toten.
„Ich wollte dir etwas zeigen.“ Sie ging und
holte aus ihrem Schreibtiſch ein Blatt Papier mit
dem Feldpoſtſtempel, das ſie entfaltet ihm hinreichte.
Der Brief des Leutnants Brüning war ſpäter
eingetroffen als die Todesmeldung, die der Regiments⸗
70
kommandeur der Mutter geſandt. Zwei Tage vor
ſeinem Ende war das Schreiben datiert; und er
plauderte darin mit heiterer Ruhe von aller Entbeh⸗
rung, allen Mühſalen, die er ausſtand, ganz unper⸗
ſönlich, wie wenn ſie ihn nicht berührten. Eine Stelle
des Briefes lautete: „Was Du vom Zeidner⸗Veſtl
ſchreibſt, hat mir viel Spaß gemacht; das iſt ein
lieber Kerl! Grüß ihn von mir, ſag ihm, er ſoll nur
recht an ſich arbeiten, damit er mal ein richtiger
Mann wird. Und Geduld ſoll er haben; die Zeit,
ſich zu bewähren, kommt ſchon noch an ihn. Was
die daheim gelaſſenen Schuhe betrifft —
Nun ging der Brief ins Alltägliche, Familiäre
über. Der Veſtl las auch nicht weiter; ſein Blick
hatte ſich feſtgeſaugt an den paar Zeilen, die der
zitternde Finger der Frau Oberſt ihm gewieſen. Er
prägte ſich die Worte ein, um ſie nie zu vergeſſen,
um ſie ſich wiederholen zu können in jedem Augen⸗
blick des Tages, der Nacht. Die Worte, mit denen
ſein Leutnant zwei Tage vor dem Sterben noch ſeiner
gedacht hatte.
Die Frau Oberſt war bang geweſen vor einem
Schmerzensausbruch, der ihr eigenes Weh erneuern
würde. Aber Veſtl ſchluchzte nicht; die Tränen, die
in ſeinen dunklen Augen ſtanden, rollten nicht herab.
Ganz ſteif, militäriſch, ſtand er vor der Frau im
ſchwarzen Gewand. „Ich ſag' vergelt's Gott, Frau
Oberſt,“ brachte er heiſer heraus.
Ihre kalte Hand legte ſich einen Augenblick in
die ſeine. „Du und die andern, ihr ſollt ſpäter noch
kleine Andenken an ihn haben,“ ſagte ſie müd.
„Wenn ich erſt dazu komme, an ſeine Sachen zu
71
rühren. Jetzt kann ich's nicht. Geh — und ſei
brav!“ |
Er ging. Eine Sehnſucht nach Haufe erfüllte ihn
plötzlich. Weil er unter den Wehrkraftlern doch nicht
zeigen konnte, wie weich ihm zu Mut war. Ganz
anders als vorher — wie wenn man vom Friedhof
kommt. Nur Mitleid und Ehrfurcht waren in ihm;
ſie übertäubten ſogar den Wunſch, ſeinen Leutnant
blutig zu rächen.
Da er in die Nähe ſeiner elterlichen Wohnung
gekommen war, tauchte aus dem Schatten irgend
eines Hauſes ganz unverhofft eine kleine Geſtalt.
„Annerl!“
Er ſah gleich, daß ſie wußte, wo er geweſen war,
und daß ſie ihm aufgepaßt hatte. Zu anderer Zeit
würde er ihre Tröſtabſicht ſchroff zurückgewieſen haben.
Jetzt aber —
Sie hielt Schritt mit ihm. „War's ſchön, was
dein Leutnant geſchrieben hat?“ fragte ſie ſcheu.
„Sehr ſchön! So ſchön, daß man's nie vergißt.“
„Gelt, da biſt du doch froh? Samt allem Un⸗
glück?“
„Schon,“ nickte Veſtl ernſthaft. Es war freilich
ein andres als Freude, was er empfand. Es war,
wie wenn ſein Leutnant ihm noch einmal lobend und
aufmunternd über den Kopf geſtrichen hätte, mit der
Hand, die Veſtl damals beim Abſchied nicht loslaſſen
gewollt.
Ganz feſt hatte er ſich vorgenommen, von jetzt
ab ein richtiger Mann zu ſein. Das war die Art,
auf die er ſeinen Toten ehren wollte.
Ein richtiger Mann muß mit Schwächeren lind
72
umgehen. Und jedes Unrecht, das er begangen hat,
bald gut machen. Darum hielt Veſtl der Annerl die
Hand hin. „Gelt, du tragſt mir's nicht nach, daß
ich neulich ſo grob war mit dir?“
„Nein,“ ſagte Annerl, „gewiß nicht. Ich hätt'
auch mehr Verſtand haben ſollen — wo ich doch ge⸗
ſehen hab', du biſt vor Schreck nimmer bei dir?“
Sie kramte in ihrer Rocktaſche — „und deszwegen
hab' ich dir auch was gebracht.“
Er ſtarrte verwundert auf das blanke Geldſtück,
das ſie in flacher Hand ihm hinhielt. „Was meinſt
damit?“
„Schau her, das iſt in meiner Sparbüchs ge⸗
weſen, ſeit meinem Namenstag. Jetzt hab' ich ge⸗
meint: Du ſollſt deinem Leutnant Meſſen leſen laſſen
dafür. Oder einen ſchönen Kranz ſchicken, nach Belgien,
aufs Grab.“
Er ſchob die Münze ſacht zurück. „Behalt's!
Weißt: Kranz bringen wir jetzt für gewiß keinen
hinaus. Und Meſſen braucht mein Leutnant keine.
Die fürs Vaterland fallen, ſagt meine Mutter, die
kommen von Mund auf in Himmel.“
„Nachher,“ ſagte Annerl entſchloſſen. „Nachher
gib's den Verwundeten. Die können's brauchen;
denen gibſt's, im Namen von deinem Leutnant.“
„Richtig!“ Er ward ganz eifrig bei dem Ge⸗
danken. „Arg brav iſt das von dir; gleich wollen
wir's tun.“
„Da hat dein Leutnant dann eine rechte Freud.
Wenn er doch im Himmel iſt, ſieht und weiß er ja
alles was geſchieht; und ſo was gefallt ihm dann.“
Veſtl ſtaunte förmlich. Was für Einfälle die
73
Annerl hatte. Eben das ſprach fie aus, was er vor⸗
hin zu ſpüren vermeint: das Mitwiſſen und die
Gegenwart ſeines Toten. Nun verzieh er der Annerl
auch, daß ſie ein Mädel war.
„Das hab' ich gar nicht gedacht,“ ſagte er, „daß
du doch ſo geſcheit biſt.“
Vertraulich nahm er ſie bei der Hand und drückte
die ihre ein wenig zwiſchen ſeinen harten Buben⸗
fingern.
Sie empfand es mit Stolz, daß er ſie nun wirk⸗
lich als ſeine Kameradin anſah. Ganz feſt ſetzte ſie
ſich vor, es auch immer zu ſein, in jeder Betrübnis
und Fährlichkeit. | |
So gingen die beiden deutſchen Kinder getroft und
einig der Zukunft entgegen.
D > >> > > > > > > > > > > > > > > CA LLC LLC 4
Friedrich der Römer
eit beinahe fünf Jahren war Johann Friedrich
Holtmann in Rom. Und er glaubte es manch⸗
mal noch nicht, daß er wirklich da war. Daß das Ver⸗
langen eines ganzen Lebens ſich ihm erfüllt hatte!
In einer deutſchen Provinzſtadt aufgewachſen, hatte
er Italien nur aus Abbildungen, aus Schulſtunden
und Büchern gekannt. Aber mit dem Erwachen ſeiner
Seele regte ſich, noch traumhaft, der Wunſch, die
Stadt, das Land zu ſehen, die weder ſein Vater noch
irgend ein Glied ſeiner Familie je geſehen hatte.
Er war als Knabe eine Zeitlang kränklich ge⸗
weſen und während dieſer Zeit mehr verhätſchelt
worden, als im Hauſe ſonſt Brauch war. In ein⸗
ſamen Stunden verſchlang er jeden ihm zugänglichen
Leſeſtoff und baute ſich aus Geleſenem und Gedachtem
eine innere Welt, die zu ſeiner Umwelt in völligem
Gegenſatze ſtand.
An ſeiner Umgebung mißfiel ihm alles. Der bürger⸗
liche Zuſchnitt des Elternhauſes, die zumeiſt neuen,
langweilig regelmäßigen Straßen ſeiner Geburtsſtadt,
das Wichtignehmen des lieben Nächſten und der all⸗
täglichen Dinge. Die hauptſächlichſten Gebäude ſeiner
Nachbarſchaft waren eine Fabrik und eine Kaſerne. —
Beides ſtieß ihn gleichmäßig ab.
Der Heranwachſende las Winckelmann und Goethes
italieniſche Reiſe. Seiner Studentenbude kahle Wände
75
waren geſchmückt mit Radierungen und Photographieen
antiker Kunſtwerke, für die er den Kaufpreis ſich vom
Mund abgedarbt hatte. Denn Friedrich Holtmann
war eines von fünf Kindern, die aus des Vaters
kargem Beamtengehalt mühſam genug erzogen wurden.
Seine Mutter behauptete von ihm: er begnüge ſich
nötigenfalls mit einem Stück trockenen Brotes, doch
müſſe es ſo fein als möglich angerichtet ſein! Sie
begriff, gleich allen übrigen, weder den Drang
ihres Sohnes nach ſchöner äußerer Form, noch einen
herrſcherhaften Zug, der mehr und mehr an ihm
hervortrat.
Er wurde einſam dadurch. Man verſchrie ihn
als hochmütig. Auf der Univerſität, wo er, neben
klaſſiſcher Philologie, Aſthetik und Literaturgeſchichte
hörte, hießen die Kommilitonen ihn ſcherzhaft den
„Einſiedlerkrebs“. Einer von ihnen kritzelte heimlich
ſein Bild ins Kollegienheft; Friedrich bemerkte es und
verlangte die Zeichnung zu ſehen, die der Urheber
ſchämig lachend ihm darreichte. Es war kein Zerr⸗
bild, ſondern zeigte des jungen Holtmann wenig ver⸗
gröberte Züge: die feſte Stirn und fcharfe Naſe mit
einem Lorbeerkranz darüber, dazu als Abſchluß die
Falten einer Toga. „Sie ſehen ſo ausgeſprochen
römiſch aus!“ meinte der Zeichner. Friedrich gab
das Bildchen nicht mehr her; ſolche Freude hatte er
daran. Ob wirklich der Geiſt den Körper beeinflußte?!
Er hatte früh den Weg zu den alten Klaſſikern
gefunden, hatte einzelne Dichtungen von Catull und
Prachtſtellen des Salluſt, deſſen Stil es ihm angetan,
mit Geſchmack und nicht gewöhnlichem Formgefühl
überſetzt. Während er daran feilte, malte ſeine Phan⸗
76
tafie ihm die ſonnenvergoldete Stadt der fieben Hügel,
als Gegenſatz zu der Heimat, deren kühles Licht und
„ſpießige“ Gemütlichkeit, wie er es nannte, ſeinem
Weſen nicht entſprach. Jeder tiefere Menſch hat ein
Traumland. Das ſeinige hieß: Rom.
Die Überſetzungen erſchienen da und dort gedruckt,
ſpäter ſogar als Sammlung und wurden rühmend
beſprochen, desgleichen die Aufſätze, die er gelegent⸗
lich in Fachzeitſchriften veröffentlichte. Daß er eine
gute Feder führte, war ſein Glück; denn zur Gymnaſial⸗
laufbahn taugte er nicht; er beſaß keine pädagogiſche
Begabung. Auch die Verſuche, die er als Hauslehrer
machte, fielen mißlich aus — das eine Mal, weil er
die Eltern ſeines Zöglings ſein geiſtiges Übergewicht
zu ſehr hatte fühlen laſſen, das andre Mal, weil
die bleichſüchtige Haustochter ſich in den — bereits
anderweitig gebundenen — jungen Philologen mit dem
ſtrengen Medaillenprofil verliebt hatte.
Als er ziemlich ſpät — er war ſchon verheiratet —
es durchſetzte, ſich an der kleinen Univerſität zu habili⸗
tieren, wo er vordem ſtudiert hatte, brachte er es
nicht über drei bis vier Hörer und kam zu ihnen in
kein perſönliches Verhältnis. Die Gabe mündlicher
Mitteilung lag nicht in ſeiner abgeſchloſſenen Natur;
ihm war am wohlſten, wenn er an ſeinem Schreib⸗
pult ſitzen und ſich in eine Überſetzung oder eigene
Arbeit verſenken konnte. Ging er unter Menſchen,
ſo hatte ſeine Art leicht die Schärfe eines, dem es
an Austauſch und Gegenrede fehlt.
Er ſtand hoch in den Vierzig, war Titularprofeſſor
ohne die Hoffnung, mehr zu werden, als das geſchah,
was ſein Leben ummodelte. Seine Pate ſtarb, ein
77
ſäuerliches enges Geſchöpf, das zeitlebens über Dürftig⸗
keit geklagt und dem Patenſohn ſein mühſeliges Empor⸗
kommen mit nichts erleichtert hatte. Nun ſie tot war,
fand ſich, daß ſie im Beſitz eines artigen Vermögens
geweſen; und dies Vermögen hatte ſie Holtmann ver⸗
erbt, wohl minder aus Liebe als aus geſchmeichelter
Eitelkeit, weil er ihr, noch auf Betreiben ſeiner in⸗
zwiſchen verſtorbenen Eltern, ſeine Habilitationsſchrift
gewidmet hatte — wahrſcheinlich die größte Aufmerk⸗
ſamkeit, die ihr jemals zuteil geworden war.
Noch redete man von der plötzlichen Glückswen⸗
dung — da erhielten die Teilnehmenden einen neuen
überraſchenden Geſprächsſtoff. Friedrich Holtmann er⸗
klärte: er wolle fort! Seiner Tätigkeit entſagen! —
in der er, wie man nunmehr ſand, noch ſo viel hätte
leiſten können! Ein Mann, der noch nicht fünfzig
zählte! Was wollte er denn mit den Jahren, die ihm
blieben, mit all ſeiner Zeit und Kraft anfangen? —
Nur den Wenigen, die ihm etwas näher ſtanden, gab
Holtmann Antwort darauf.
„Ich habe all die Zeit wie in der Verbannung
gelebt. Ich hatte nicht die Möglichkeit, mir meinen
heißeſten Herzenswunſch zu erfüllen. Jetzt endlich kann
ich's und will es, will mir genug tun, ſolang ich noch
nicht mit dem Kopfe wackle. Ich gehe nach Rom!“
Die ihn kannten, verſtanden das. Die ihm Frem⸗
deren, das heißt die Mehrzahl, beklagten gefühlvoll,
daß durch den Tod ſeiner Frau der Profeſſor völlig
von der Heimat losgelöſt ſcheine. Sie hätte vielleicht
ſeinen Entſchluß zu hindern vermocht; in jedem Falle
wäre das unverhoffte Schickſalsgeſchenk auch ihr zu
gönnen geweſen.
78
Seit Jahresfriſt ſchlief Frau Juliane Holtmann
draußen auf dem Friedhof. Sie war eine ſtille,
ſchüchterne Frau geweſen, von der zarten Hübſchheit,
die raſch verblüht, wenn ſie nicht Sonne genug hat.
Ihr Mann hatte ſie als Student kennen gelernt und
damals auf ſeine Weiſe ſehr geliebt; aber die Jahre
des Aufeinanderwartens hatten die erſte Glut ge⸗
dämpft. Die Braut legte jeden übrigen Pfennig zu⸗
rück, harrte, hoffte und grämte ſich. Aber auch als
ſie endlich verheiratet waren, blieben im anmutigen
Geſicht der jungen Frau die Sorgenfältchen und ver⸗
tieften ſich noch. Das ſcharf ausgeprägte Weſen ihres
Gatten ließ keine gegenſeitige Beeinfluſſung zu; ſie
fühlte, er ſei das Eiſen und ſie der Ton. Sie ge⸗
wöhnte ſich, ihm immer nachzugeben — und je mehr
ſeine Perfönlichkeit erſtarkte, deſto mehr verblaßte
die ihre. Noch einmal ſah man ſie ſo beglückt lächeln,
wie in vergangenen Brauttagen: das war, als ihr
Sohn geboren ward.
Von da ab hatte ſie etwas beſeſſen, das ſie mit
all der brachliegenden Zärtlichkeit ihres Herzens um⸗
faßte, das ihre Augen und taſtenden Hände noch
ſuchten, als ſchon der Tod an dies Herz trat.
Damals war Cäſar — ſo hieß er nach des Vaters
Willen — ſchon Primaner, was nicht hinderte, daß er
aufſchluchzte wie ein kleines Kind und ſich hinwarf
über ſeiner Mutter erkaltenden Leib. Der Gatte ſtand
daneben, düſter, doch beherrſcht; er beherrſchte ſich
auch, nachdem ſie wirklich gegangen war und ihn mit
dem Sohn allein gelaſſen hatte. Nicht als ob er
ihren Verluſt nicht ſchmerzlich empfunden hätte; nur
hatte er minder das Gefühl, daß er eine geliebte Ge⸗
79
fährtin verloren als vielmehr die fröſtelnde Empfin⸗
dung, wie wenn ein Mantel, der ihn lind und warm
eingehüllt, ihm plötzlich fortgezogen worden wäre.
Er wartete nur, bis Cäſar ſein Abiturium be⸗
ſtanden hatte. Dann verkündete er den Entſchluß,
der ſoviel Widerſpruch erweckte, und den manche mit
dem Scheiden ſeiner Frau zuſammenbrachten. Es be⸗
ſtand ein Zuſammenhang, inſofern er ſich nun ganz
frei wußte. Seine Frau war tot, ſein Sohn bezog
die Univerſität — was hielt ihn ſonſt?
Aus einem Bedürfnis verſpäteten Gutmachens
heraus hatte man dem Scheidenden ein Feſtmahl und
noch allerlei Ehrungen zugedacht. Er lehnte alles ab;
nach Abſchiedsrührung war ihm nicht zumute. Nur
einen Abſchied nahm er: vom Grabe ſeiner Frau.
Mechaniſch las er die Inſchrift, die nach ihrem
Wunſche den dunklen Granit des Denkſteins ſchmückte:
„Die Liebe höret nimmer auf.“ Er las und ſann —
ſo wie auf dem Bahnhof ſich der Zurückbleibende
manchmal zergrübelt, was er dem ſeinen Blicken Ent⸗
ſchwundenen noch hat ſagen wollen. Und wenn es
ihm einfällt, iſt es doch zu ſpät. —
Nun war Friedrich Holtmann fertig und konnte
reiſen.
® ® ®
Bis Verona hatte er ſich von feinem Sohne be-
gleiten laſſen. Dann trennten ſie ſich. Cäſar ging
nach Deutſchland zurück, während ſein Vater tiefer
nach Italien hineinfuhr.
In Florenz war er ſchon einmal geweſen, auf
einer Ferienreiſe, kaum zehn Tage lang. Das war
viel zu kurz — dennoch hielt er ſich jetzt nicht auf.
80
Die jahrelang verhaltene Sehnſucht war fo mächtig
erwacht, daß er keinen Gedanken hatte, als nur
vorwärts! ſo ſchnell wie möglich vorwärts! Ihm,
der ſich von Aberglauben ſonſt frei wußte, graute
davor, daß irgend etwas ſeine Fahrt hemmen, ihm
in letzter Stunde den Becher von Be Lippen reißen
könnte, ehe er in Rom war.
Allein nichts dergleichen geſchah. Breit und
großlinig begann ſich bereits die Campagna vor den
Inſaſſen des Schnellzuges auszudehnen; den Horizont,
verſchwimmend in der durchſichtigen Luft, begrenzten
die Albaner⸗ und Sabinerberge.
Schon eine Stunde vor der Ankunft des Zuges
hatte Holtmann ſich rückſichtslos zum Fenſter Bahn
gemacht. Er ſtand zuvorderſt im Durchgangswagen
und ſchaute, ſpähte geſchärften Blickes hinaus. Seine
Augen ſuchten inmitten der geſtreckten flachen Land⸗
ſchaft ſie, die eine, die ewige Stadt.
Schienengewirr und ſchmutzige Waggons, Vor⸗
ſtadthäuſer — dieſelbe häßliche, charakterloſe Ein⸗
fahrt wie in allen Großſtädten. Aber da tauchte
hinter dem Alltagsgerümpel etwas auf, ein grauer
zerbröckelter Mauerreſt: die Ueberbleibſel der ſervia⸗
niſchen Stadtmauer!
Und der Anblick des Stückes Gemäuer ließ dem
fernher gereiſten Manne die Freude heiß zu Herzen
ſchwellen. Endlich, wirklich war er in Rom! —
® ® | ®
Wie für viele, bedeuteten für Holtmann die erſten
römiſchen Tage eine Enttäuſchung. Es hielt ſchwer,
das Gebilde ſeiner Phantaſie mit dem der modernen
— 5 — — —. —
81
Großſtadt zu vereinigen. Er entfloh der Umgebung
des Bahnhofes, wo er in einer der großen Fremden⸗
herbergen abgeſtiegen war, und tauchte unter in das
Gewinkel ſchmaler alter Straßen, wo ein Durchein⸗
ander aller möglichen Dinge feilgeboten und jede Tätig⸗
keit im Freien betrieben ward, ganz wie vor Zeiten.
Er ſtieg zum Pincio hinauf und erlebte die Schau,
die keiner, der ſie genoſſen, je vergißt: den Augen⸗
blick, da über der drunten gelagerten Stadt goldiger
Abendglaſt zu weben beginnt und hinter der Kuppel
von Sankt Peter die Sonne niedergeht. Er beſchritt
den kapitoliniſchen Hügel und ſtand im Angeſicht des
Palatin, überſah die ſteinerne Welt des Forum, die
Via sacra, den Portikus der zwölf Götter, den Sep⸗
timiusbogen, die ganze grabentſtiegene Herrlichkeit. —
Seine Bewegung war ſo heftig, daß ihn, den
nicht Gefühlsſeligen, ein Zittern durchrann. Sein
Traumland! Nun hatte er davon Beſitz ergriffen,
nun ſtand er darin!
Von da an war er kein Fremder mehr, ſondern
erſchien ſich wie heimgekommen. — Er hatte eine
Wohnung gefunden unweit des ſpaniſchen Platzes, bei
einer Witwe, die an Fremde vermietete. Von ſeinem
Fenſter im dritten Stock ſah er die ſpaniſche Treppe,
überragt von der Kirche della Trinitä, buntglänzend von
der Blumenfülle, die aus den Körben der dort ſtehenden
Verkäufer duftete und ſchimmerte — ein Bild voll
unſäglicher Heiterkeit.
Holtmanns Wirtin, die Signora Erminia, war
eine beleibte ſtattliche Dame mit Adlernaſe und ſchwarzen
Funkelaugen. Sie freute ſich des ſoliden Mieters und
übervorteilte ihn deshalb bei der , Ab⸗
XXXI. 20
82
rechnung nur ganz wenig, ſorgte auch faft fo treulich
für ihn wie für Micietto, ihren großen ſchwarzen
Hauskater. Das wollte viel heißen; denn die Katzen
nehmen in Rom eine bevorzugte Stellung ein.
Mit Hilfe deſſen, was die Signora herbeiſchleppte
und was er ſelbſt auf dem Trödelmarkt erſtand, richtete
ſich Holtmann ſein großes Zimmer und die daran
ſtoßende Bettkammer wohnlich ein. Er galt allen
Umwohnern als ein Signore, weil er nicht für den
Lebensunterhalt zu arbeiten brauchte. Seines Sohnes
Zukunft war geſichert. Holtmann hatte um nichts zu
ſorgen; er war frei wie der Vogel in der Luft.
Er bemerkte in den erſten Monaten kaum, daß
er allein war. Anfänglich hatte er etliche Male in
einer Fremdenpenſion gegeſſen, die ſich mit ihm in
gleichem Hauſe befand. Aber bald hatten die ver⸗
ſchiedenen Typen des Romreiſenden: der Enthuſiaſt,
der für ſein Geld pflichtſchuldigſt immer in Wonne
ſchwimmt, der Blaſierte, der an allem herummäkelt,
der Gehetzte, der im roten Handbuch nervös ſein
Penſum zuſammenſtoppelt und nachrechnet, in wie⸗
viel Zeit er es „machen“ kann — ihn zu ſehr
abgeſtoßen. Dieſe Leute verdarben ihm ſein Rom.
Die Deutſchen — er geſtand es ſich mit Bedauern —
vor allem. Ihr lautes Auftreten, ihr Zanken über
Ungewohntes, ihre Art, mit den Eingeborenen jovial
zu ſcherzen und deren ſpöttiſches Lächeln ob ſolcher
Vertraulichkeit zu überſehen! Holtmanns Selbſtgefühl
fand ſich in jedem ſolchen Landsmann perſönlich ver⸗
letzt. Die Engländer waren auch unausſtehlich, aber
wortkarger, und vor allem: ſie gingen ihn nichts an!
So zog der Empfindliche ſich zurück und blieb fortan
83
für ſich mit Ausnahme der Kneipabende, die er ge⸗
legentlich in einem kleinen Kreiſe von Gleichgeſinnten
verbrachte.
Es waren ein paar Männer ſeines Alters, meiſt
Angehörige der deutſchen Kolonie; doch auch ein⸗
heimiſche Gelehrte und Künſtler fanden ſich hinzu.
Man traf ſich in einer unterirdiſchen Oſteria hinterm
Trajansforum, angeblich einer alten Baſilika. Da
gab es guten Frascatiwein und gutes Geſpräch, das
ſich noch fortſetzte, wenn einer oder der andere
Holtmann auf ſeinem nächtlichen Heimweg geleitete.
Mitunter aber, in Vollmondnächten zumal, ſtahl
er ſich heimlich fort und ſtand einſam auf dem kapi⸗
toliniſchen Hügel oder im öden Rieſenrund des
Koloſſeums, mit der grellgelben Mondkugel über ſich.
Er fühlte leiſe erſchauernd, wie es lebendig wurde
um ihn, wie Schatten ſich herandrängten von ſolchen,
die er vordem nur aus Büchern gekannt hatte und
die Fleiſch und Blut gewannen hier im römiſchen
Mondlicht.
Einzelne der Schatten waren beſonders hartnäckig,
begehrten von ſeinem Blut zu trinken, damit ſie mit
wieder lebendiger Stimme zu den Lebendigen fprechen
könnten. Friedrich Holtmann kehrte mit erneutem
Eifer zu ſeiner alten Lieblingstätigkeit zurück: der
Übertragung römiſcher Klaſſiker. Er gab eine neue
vermehrte Auflage ſeiner früher erſchienenen Samm⸗
lung heraus mit einem ausführlichen Geleitwort; er
ſchrieb Studien über Dichter und Philoſophen des
Altertums, in einem Stil voll dichteriſcher Wärme,
der ſich zu ſeinem einſtigen verhielt wie das Schauen
zur bloßen Ahnung. Und was er über die Alpen
84
fandte, fand dort ungeteilten Beifall, bemundernde
Anerkennung — einen Erfolg, wie Holtmann ihn bis
dahin nicht gekannt. Daß ſeine eigenſte Begabung
ſich ſo entwickelte und zu ihrem Gipfel ſtieg, auch das
verdankte er Rom.
Eine ſeiner erſten Arbeiten hatte ihn auf ihm
ſonſt ferner liegendes Gebiet geführt; angeregt ward
er dazu durch einen kleinen Zufall, der ihn ſeltſam
berührte. Bei ſengender Mittagsglut war er einſam
auf dem Forum gewandelt, unter den Trümmern
des ehemaligen Veſtaheiligtums, wo die Bildnis⸗
ſäulen toter Veſtalinnen ſtanden. Eine verſtümmelte
weibliche Gewandſtatue fiel ihm auf durch die Fein⸗
heit der — anſcheinend ſpäten — Arbeit. Sich nieder⸗
beugend, las er am Sockel den Namen des Errichters:
Prätextatus, der Sohn des Craſſus!
Das durchrann den Leſenden wie ein Handwinken
aus einer andern Welt. Denn oft genug war er dem
Namen des Prätextatus begegnet, des Präfekten von
Rom zu der Zeit, da das Kreuz höher emporwuchs
und die Welt der Antike vor ihm in den Staub ſank.
Prätextatus der Stadtpräfekt wurzelte mit ſeiner ganzen
Seele in dieſer alten Welt; er empfand nichts als
Widerwillen gegen die Religion der Einfältigen und
Unwiſſenden, die gleich einer Seuche im Finſtern
ſchlich. Und er kämpfte dawider aus allen Kräften,
richtete geſtürzte Altäre wieder auf, rang um die Er⸗
neuerung der Antike, wie Julian der Abtrünnige.
Weil des Mannes Weſen und Denkart ihn an⸗
zog, ging Friedrich Holtmann ſeinen Spuren nach und
veröffentlichte eine größere Studie über Vettius Agorius
Prätextatus, den Präfekten von Rom.
85
Auch fie, wie alles Vorherige und Nachfolgende,
ward von der Kritik mit Achtung empfangen; nur
meinte eine angeſehene Zeitſchrift: das eigentlich Ge⸗
ſchichtliche ſcheine des geiſtreichen Verfaſſers Stärke
nicht zu ſein! Er mache keinen Verſuch, den hiſto⸗
riſchen Strömungen gerecht zu werden, ſondern zeichne,
ſichtbar mitempfindend, die Stellung eines einſamen
Hochentwickelten gegenüber einer Maſſenbewegung und
gebe zugleich ein leidenſchaftliches Liebesbekenntnis für
die antike Geiſteswelt.
Holtmann nahm das gleichmütig auf. Der wohl⸗
weiſe Kritikus hatte ja recht: er hatte die Gelegen⸗
heit nur benutzt, um ſein perſönliches Credo abzu⸗
legen. Hiſtoriker von Fach war er nicht, hätte es
ſchon nicht ſein können, weil der Begriff „Staat“
ihm nie recht vertraut geworden war. Das Wort
bedeutete ihm ſo etwas wie die Beſchränkung des
wertvollen Einzelnen durch die Geſamtheit; ſelbſt
das mächtige Gebilde des alten römiſchen Staats⸗
weſens blieb ihm, dem Romſchwärmer, im Grunde
fremd.
Seine Eigenart, die ihm vormals hinderlich ge⸗
weſen, jetzt genoß er ſie, und ſie trug ihm Frucht.
Die paar Landsleute, mit denen er umging, ſprachen
ihm artig ihre Anerkennung aus; und die Bewohner
ſeines Stadtviertels, obſchon ſie keine Zeile ſeiner
Schriften leſen konnten, zeigten ihn ſich als den famoso
professore, der über Rom ſo wunderſchön ſchrieb.
® G S
Friedrich Holtmann verbrachte ſeine Vormittage
meiſt auf einer Bibliothek oder, umgeben von Folianten,
auf ſeiner Arbeitsſtube. Dann hatte die Signora
86
Erminia ſtrengen Befehl, ihn nicht zu ftören. Einmal
aber wagte ſie den Friedensbruch dennoch; mit Reu⸗
und Bittgebärden erſchien ſie und bat tauſendmal um
Entſchuldigung. Sie habe ganz unſchuldigerweiſe im
Hauſe erzählt, was für ein großer Gelehrter ihr Herr
Einmieter ſei. Und da ſei aus der Penſion drunten
vorhin eine junge Signora heraufgekommen, die ſo an⸗
mutig gebeten habe, ob der Signor Profeſſore ihr nicht
ein Buch über Rom leihen oder empfehlen könnte,
etwas Beſſeres als die gewöhnlichen Reiſehandbücher?
Sie würde gewiß ſorglich darauf achtgeben!
Holtmann griff in den Bücherſtänder neben ſeinem
Schreibtiſch, langte ein Buch heraus und warf es
ziemlich unſanft auf den Tiſch. „Ich verleihe zwar
grundſätzlich keine Bücher, habe meine Erfahrung
darin; aber in Gottes Namen will ich eine Ausnahme
machen. Bringen Sie das der Dame! und dann,
bitte, laſſen Sie mich in Ruhe!“
Erſt viel ſpäter fiel ihm ein, daß es vielleicht
höflich geweſen wäre, die Dame hereinzubitten. Ob⸗
wohl er ſich darum keine Skrupel machte, beſchloß er,
es nachzuholen, wenn ſie käme, das Buch zurückzu⸗
bringen. Nach etwa vierzehn Tagen trat der Fall
ein. Er hörte draußen eine weibliche Stimme ein
fremdländiſches Italieniſch reden, trat hinaus und
leitete die Beſucherin, die eben ihre Karte mit dem
Buch abgeben wollte, in ſein Studiergemach.
Er erkannte ſie ſofort als eine Erſcheinung, die
ihm bisweilen auf der Treppe begegnet war in Be⸗
gleitung einer älteren Dame, deren Antlitz ein Ge⸗
wirr krauſer ſilbriger Löckchen umgab. Amerikane⸗
rinnen oder Engländerinnen! — ſo hatte er ſie
87
eingeſchätzt. Die Junge, wie fie nun vor ihm ftand,
hatte ein freimütiges kluges Knabengeſicht; die Geſtalt
in ihrer feinen herben Schlankheit erinnerte ihn an
Polyklets Wettläuferin im Vatikan. „Ich uollte ſehr
danken,“ ſagte ſie und deutete auf das Buch, das ſie
ihm einhändigte.
„Sie ſprechen Deutſch?“ ſagte Holtmann. „Das
iſt mir eine Befriedigung, da ich Ihnen auf Gerate⸗
wohl eine deutſch geſchriebene Monographie über Rom
gegeben hatte, ohne zu wiſſen, ob ſie Ihnen verſtänd⸗
lich iſt.“
„Oh doch! Mama war deutſch!“ Sie ſah ſich
mit großen Augen rings im Zimmer um. „Uie
hübſch es bei Sie iſt!“
Er war nicht unempfindlich gegen das Lob. Zwar
hatte er bei Ausſchmückung ſeines Heims nicht gerade
an künſtleriſche Wirkung gedacht; aber unwillkürlich
hatte es den Stil ſeiner Perſönlichkeit angenommen.
Die aufgeſtellten Bücher, zum Teil in ſchönen alten
Einbänden, verdeckten die ſchadhafte Tapete; der
Tiſch und die hochlehnigen Stühle ſtammten aus dem
verſteigerten Erbhausrat irgend eines verarmten
italieniſchen Adelsgeſchlechtes. Auf dem Schreibpult
fehlte nicht die unvermeidliche römiſche Ampel; und
inmitten des Tiſches ſtand in einem antiken Dreifuß
der Blumenſtrauß, den die zungenfertige Verkäuferin
an der ſpaniſchen Treppe dem Signore täglich auf⸗
ſchwatzte.
Das Stück vom Aſtheten, das in ihm geſchlum⸗
mert, war durch die römiſche Luft zur Entfaltung
gelangt. Mit einem gewiſſen äſthetiſchen Wohlgefühl
betrachtete er auch die klaren Farben und den eben⸗
88
mäßigen Wuchs des Mädchens vor ihm. Mittler
weile entledigte ſie ſich der Bitte, die ihr am Herzen
lag: nämlich daß er ihr doch eine ganze Liſte von
Büchern, gleichviel ob deutſche oder engliſche, auf⸗
ſchreiben möchte, um einen wirklichen Einblick zu ge⸗
winnen in die Vergangenheit Roms. „Ich höre,
Sie verſtehen ſoviel davon. Und Tante Evelyn — ſie
iſt Papas Schweſter, uiſſen Sie! — fragt nicht danach,
ob ſie etwas, das nicht Amerika iſt, wirklich kennt.
Es genügt ihr, wenn ſie es geſehen hat, ſo wie es
alle Welt ſieht. Mit mir es iſt anders: ich liebe
Gründlichkeit. Bitte, helfen Sie mich!“
Die Unbefangenheit des Anſinnens entwaffnete
ſeine Abwehr. Das konnte er ihr ja zu Gefallen tun.
Wenn er jemand Rom erſchloß, ſein Rom, empfand
er etwas vom Stolz des Beſitzers.
Miß Gladys empfing nicht nur eine Liſte, ſondern
einen ganzen Pack von Büchern und Anſichten, mit
dem ſie vergnügt abzog. So entwickelte ſich mit
Holen und Wiederbringen ein Verkehr zwiſchen ihnen,
der ſich allmählich zu gemeinſamen Muſeumsgängen
und Ausflügen verſtieg. Das junge deutſch⸗amerika⸗
niſche Miſchlingsblut war lernfähig und lernbegierig;
dazu brachte ſie in das abgeſchloſſene Leben des
Mannes das weibliche Element, das ſchon ſein Schön⸗
heitsſinn nicht hätte miſſen mögen. Um ihretwillen
ertrug er es ſogar, daß die Tante, der Nichte ſehr
unähnlich, ſich bisweilen anſchloß.
„Uiſſen Sie, was ich denke?“ ſagte Gladys eines
Tages, mitten in ein Geſpräch über Bernini hinein.
„Man uürde gar nicht glauben, daß Sie find deutſch!
Mama war viel deutſcher; Sie könnten ein Römer ſein.“
89
Er lächelte. „Sagen Sie das auch?!“
Nun begann er, ihr von ſich zu erzählen, von
ſeiner nüchternen ſorgenbeſchwerten Jugend, von ſeiner
Sehnſucht nach dem Lande des Lichts und der Antike.
Eine Sehnſucht, die uraltes deutſches Erbteil war.
Er ſchilderte, wie er, der vordem unter Spießbürgern
und Bierphiliſtern hatte leben müſſen, ſich hier ſelbſt
gefunden hatte inmitten eines Volkes von angeborener
Lebenskunſt und glücklich unbefangener Formſicherheit.
So kam er auf ſeine Arbeiten zu reden, die Gladys
noch nicht kannte; und nun begehrte ſie dieſe gleich zu
leſen. Er dachte bei ſich, die würden ihr wohl zu
„wiſſenſchaftlich“ fein; aber da er ihr zögernd will⸗
fahrt hatte, enttäuſchte ihr Entzücken ihn auf das
angenehmſte. Sie war ganz hingenommen, von der
Prätextatusſtudie zumal, und in ihren freundſchaft⸗
lichen Ton gegen ihn miſchte ſich ein ehrfürchtiger
Beiklang.
„Nun ſehe ich, daß Sie nirgendwo hingehören als
hier,“ ſagte ſie. „Die Hauptſtadt der alten Welt iſt
Ihre Heimat.“
Friedrich Holtmann hatte ſich auch nie fo glück⸗
lich gefühlt wie in dieſer Zeit, unter römiſchem Himmel,
im Austauſch mit dieſer jungen empfänglichen Natur.
Er wünſchte nichts mehr als ſo fortzuleben bis ans
Ende und dann im Schatten der Ceſtiuspyramide
begraben zu ſein.
® S
Holtmann hatte ſich gegen die Mittagszeit von
feinen Manuffriptblättern losgeriſſen, um in feiner
angeſtammten Oſteria ſein Mahl einzunehmen. Da
begegnete ihm vor dem Hauſe der postino, der Brief⸗
90
träger und reichte ihm einen Brief. Holtmann fah
ihn obenhin an und ſchob ihn dann in die Taſche
ſeines Rockfutters. Er wartete, bis er an dem ge⸗
wohnten kleinen Tiſche ſaß, den Teller mit Spaghetti
vor ſich, ehe er das Schreiben ſeines Sohnes hervor⸗
zog und las.
Cäſar ſchrieb nur kurz. Er dankte für einen
Aufſatz, den ihm der Vater überſandt hatte und mel⸗
dete nebenbei fein beſtandenes Doktorexcamen — magna
cum laude. |
Holtmann goß fein gefülltes Weinglas auf einen
Zug hinunter. Bravo! — ſo war dieſe Stufe auch
zurückgelegt! Den Staatskonkurs hatte Cäſar bereits
gemacht. Er dachte wohlgefällig, wie leicht dem
Jungen die Laufbahn war, die er, der Vater, ſich
mühſam, Schritt für Schritt, hatte erkämpfen müſſen.
Anfänglich hatte er Zweifel geſetzt in Cäſars Be⸗
gabung und Willenskraft — der Bub hatte manchmal
ſo etwas Verträumtes. Aber dann zeigte ſich, daß
Cäſar ohne Anſtoß im Gymnaſium vorwärts kam,
und daß man ihn ruhig ſich ſelbſt überlaſſen konnte.
Das hatte Holtmann von da an getan. Später
in den Univerſitätsferien zwar hatte er ihn ſtets bei
ſich gehabt; ſie waren miteinander gereiſt: in der
Schweiz, an die italieniſchen Seen. Aber dann war
eine längere Trennung eingeriſſen, da Cäſar ſein
Freiwilligenjahr hatte abdienen müſſen. Er war in
jüngerem Alter raſch aufgeſchoſſen und etwas ſchmal⸗
ſchulterig, nicht kräftig genug dazu geweſen. Holt⸗
mann hatte dieſen Pflichttribut als ein ſtörendes Muß
empfunden. Aber es gab dawider kein Kraut; und
der Vater entſchädigte ſich durch die Erfüllung eines
91
langgehegten Wunſches: eine Reife über Sizilien nach
Griechenland.
Danach hatten ſie ſich wieder nur kurz geſehen;
ſodann mußte Cäſar ſeine Doktorarbeit beginnen.
Er machte die Vorſtudien dazu nicht in Rom; denn
er war Neuphilologe. Auch hierin hatte der Vater
ihn ſchließlich, obgleich ungern, gewähren laſſen.
Nun regte ſich in ihm plötzlich ſo etwas wie Ge⸗
wiſſensbiſſe über die lange Trennung. Ein Menſch
in den Zwanzig, ein angehender Doctor phil.
brauchte keine Kindsfrau, gewiß nicht — in ſolchem
Alter war Selbſtändigkeit das Beſte. Aber es ließ
ſich nicht leugnen, daß er, der Vater, über ſeiner
eigenen ſpäten Entwicklung einigermaßen verſäumt
hatte, ſich viel um die ſeines Jungen zu kümmern.
Im Bedürfnis, etwas gutzumachen, und in der
Freude an ſeines Sohnes neuer Doktorwürde ſchob
Holtmann den Teller zurück und ließ ſich Schreibzeug
geben nebſt einem Briefumſchlag. Er riß aus feinem
Notizblock ein Blatt, auf das er ſeinen Glückwunſch
kritzelte und eine Einladung für Cäſar beifügte.
„Komm und bleib! Über Oſtern, über den Sommer,
daß wir uns einmal gründlich wiederſehen! Es er⸗
wartet Dich
Dein Vater.“
® ® &®
Ein leuchtender Lenztag war es, an dem Friedrich
Holtmann ſeinen Sohn von der Bahn holte. So
hatte die Sonne geſchienen, als er ſelbſt hier einfuhr
und mit trunkenen Blicken das Bild der gelobten
Stadt ſuchte. Wie damals im Durchgangswagen
brach er ſich auch jetzt breitſchultrig Bahn durch die
92
Menge, die harrend den Bahnſteig erfüllte. Er konnte
den Augenblick nicht erwarten, da er ſeinem Sohne
zurief: „Willkommen in Rom!“ |
Nun war der Augenblick da: grüßend ſprang
Cäſar heraus. Eine flüchtige Weichheit überkam den
Vater im Wiederfinden des hübſchen ſtattlichen
Menſchen, der aus ſeinem etwas linkiſchen Knaben
von ehedem geworden war.
Während das offene Wägelchen mit ihnen dahin⸗
rollte, drückte er nochmals die Hand ſeines Jungen.
„Na, ſag doch, haſt du dich denn gefreut?“
1 Cäſar Holtmann lächelte, ein ernſtes ſinnendes
Lächeln. „Doch, Papa, ſehr! Auf dich und Rom.“
Das war ein gutes Wort! Der Alte erkannte
darin ſeine Art. Was für ein lebendiger Leichnam
müßte der Menſch auch ſein, der ſich nicht freute auf
Rom!
Die Signora Erminia empfing ihren neuen Gaſt
mit einem Schwall italieniſcher Liebenswürdigkeiten,
von denen Cäſar fürs erſtemal wenig verſtand. In
Ermangelung rechten Sprachvermögens neigte er ſich
zu Micietto herab, der mit hochgeſtelltem Schweif
ſeine Kniee umſtrich, und ſtreichelte ihn zart, eine
Huldigung, durch die er ſich alsbald das Herz der
Padrona gewann.
Es hatte ſich gut getroffen, daß neben den beiden
Stübchen, die Holtmann inne hatte, juſt ein drittes
frei geworden war. Es enthielt ſogar einen Ofen,
man denke! Die Signora Erminia ward nie müde,
dieſen Vorzug zu rühmen. Hier ſchlug Cäſar Holt⸗
mann ſein Zelt auf und teilte in allem die Lebens⸗
weiſe ſeines Vaters; Holtmann führte ihn zu ſeinen
93
Lieblingsſtätten; eine kleine Eitelkeit war in ihm
auf die gute ſchöne Haltung des Jungen, der neben
ihm ſchritt. Er war viel mannhafter geworden,
und die ſchärferen Züge mahnten wenig mehr an
die des Knaben von einſt. Nur die Augen ſeiner
Mutter ſchauten aus dem veränderten Antlitz dunkel
hervor.
Der Vater brachte ihn auch zu den Gefährten
ſeiner bevorzugten Trinkſtube; zufällig war ſoeben ein
namhafter italieniſcher Archäologe anweſend, der ſich
als Gaſt öfters einfand. Er begrüßte den jungen
Fremdling ſehr artig und äußerte: er hätte den Herrn
Doktor überall als Deutſchen erkannt.
Warum? wollte Holtmann wiſſen. Der Italiener
erklärte: wegen ſeiner ausgeſprochen militäriſchen Hal⸗
tung.
Später, als Holtmann mit dem Sohne heimging,
kam er nochmals darauf zu ſprechen, wie eigentümlich
es ſei, daß man jedem Deutſchen den Soldaten an⸗
ſehe. Die Wehrpflicht ſei doch auch anderwärts, auch
hierzulande eingeführt — und dennoch! —
„Bedauerſt du das?“ fragte Cäſar lachend. „Das
müßte dir als Römerfreund und gar den Italienern,
die ſo gern ihre Abkunft von den alten Römern unter⸗
ſtreichen, doch gerade gefallen. Denn die alten Herren
waren ja ein Kriegervolk, ſozuſagen die Preußen des
Altertums, und wußten genau, wie einem Kommiß⸗
knopp“ zumute iſt.“
Holtmann empfand etwas wie unwilliges Staunen.
Einmal weil ein junger Mann ſein Rom von ganz
andrer Seite anging als er und ihn gewiſſermaßen
darüber belehrte. Außerdem ward ſein Stilgefühl
94
durch das Wort „Kommißknopp“ auf dem Trajans⸗
forum verletzt.
Für heute ſetzten ſie das Geſpräch nicht fort; ſie
fühlten beide die Klippe einer ſtarken Meinungs⸗
verſchiedenheit.
Es verſtand ſich von ſelbſt, daß Cäſar auch die
Bekanntſchaft der amerikaniſchen Damen machte. Die
Tante ſagte ihm ſo wenig zu wie ſeinem Vater: ſie
war zu ſehr der Typ der Weltbummlerin. Mit Gla⸗
dys kam er bald in den kameradſchaftlichen Ton, den
Jugend leicht zu Jugend findet.
Eines Sonntags unternahmen ſie ſelbdritt eine
Wanderung nach dem Forum. Gladys ging in⸗
mitten zwiſchen beiden Männern. Es herrſchte eitel
Andacht und Eintracht unter ihnen, bis Cäſar,
eigentlich durch die anregende Führung ſeines Vaters
dazu veranlaßt, die Bemerkung machte: vom ide⸗
ellen Gehalt dieſer reichen Welt hätten doch die
Deutſchen mehr Nahrung gezogen als die Italiener
ſelbſt.
Holtmann zog die Brauen hoch. Ehe er ant⸗
worten konnte, ſagte Gladys verwundert: „Oh, Ihr
Vater ärgert ſich fo oft über ſeine Landsleute.“
Cäſar meinte, da habe ſein Vater nicht recht.
Die Erleichterung des Verkehrs habe es mit ſich ge⸗
bracht, daß man auf Reiſen alle möglichen, auch ſehr
ungeſittete Leute treffe. „Gefallen Ihnen zum Bei⸗
ſpiel alle Amerikaner?“
Gladys lachte. „Nein, gewiß nicht!“
„Nun alſo. Man behält immer die unange⸗
nehmen Menſchen und Erlebniſſe im Gedächtnis,
während man das Angenehme als ſelbſtverſtändlich
95
hinnimmt und vergißt. So kommt man dazu, falſche
Regeln aufzuſtellen.“ ö
„Mein Sohn iſt nämlich ein ſehr überzeugter
Deutſcher,“ ſprach Holtmann kühl. Cäſar nickte nur.
Gladys ſah ihn aufmerkſam an.
Immer häufiger traten zwiſchen Vater und Sohn
gelegentliche Meinungsverſchiedenheiten zutage —
namentlich was ihr Verhältnis zu Menſchen betraf.
Holtmann bemaß deren Wert nach dem geiſtigen Reiz,
der etwa von ihnen ausging; an ihrem Ergehen nahm
er keinen Teil. Er war eben ein ſich abſchließender
Geiſtesariſtokrat. Cäſar dagegen hatte ſeines ſozialen
Empfindens kein Hehl. Er kümmerte ſich um die
Lebensbedingungen eines jeden, der Armeren zumal,
um die Art ihres Broterwerbes und ihrer Unter⸗
weiſung. Er erzählte dem Vater von Verbeſſerungen
daheim, von hygienischen und techniſchen Einrichtungen,
die Holtmann gänzlich fern lagen. Noch ablehnender
verhielt dieſer, der auf ſeine freidenkeriſche Geſinnung
ſtolz war und ſich ſcherzhaft einen Heiden nannte, ſich
gegen pſychologiſche Experimente und neue religiöſe
Strömungen, denen Cäſar gern nachging. Es fruchtete
nichts, daß ihm Cäſar wiederum ſeine alten Römer,
ihren Glauben und Aberglauben entgegenhielt. Nur
die dekorative Wirkung der religiöſen Zeremonien,
kirchlichen Aufzüge und dergleichen hätte er nicht miſſen
mögen. |
Cäſar dachte, daß fein Vater, trotz aller Bedeutung,
doch merkwürdig in ſich begrenzt ſei. Selbſt ſein
Rom ſah er nur von einer Seite an.
„Wie komme ich zu dieſem Sohn!“ — dachte
Friedrich Holtmann hinwieder, ſtaunend und grollend.
96
Er mußte lernen, was jeder Vater nur ſchwer und
widerwillig begreift: daß ſein Sohn nicht ſeine Fort⸗
ſetzung war, ſondern ein Weſen ganz für ſich, in
vielem ſein Gegenſatz!
Ob es die Art der Mutter war, die ſich in ihm
verkörperte? Friedrich Holtmann konnte es nicht
mit Beſtimmtheit ſagen, denn — er geſtand es ſich
ſchamvoll — fo genau hatte er auch fie nicht ge⸗
kannt.
„Wie weit man doch voneinander iſt, trotz
Bluts⸗ und Ehebanden!“ ſtellte er innerlich feſt.
Dies Zuſammenſein in Rom hatte ſie einander
näher bringen ſollen und es entfernte ſie nur mehr
voneinander mit jedem Tag. Cäſar, ſo empfänglich
er war, ſo friſch er jeden ſchönen Augeneindruck ge⸗
noß, hatte auch hier zu allen Dingen eine innere
Beziehung, völlig verſchieden von der ſeines Vaters.
Als Holtmann über das Niederreißen alter
maleriſcher Straßenteile ſchalt, behauptete Cäſar
kühn: die Leute hier hätten ſo gut ein Recht auf
geſundes Wohnen, auf Luft und Licht wie jeder
andere. „Wir ſehen in ihnen immer nur die Hüter
ihrer Vergangenheit, die lebendige Staffage eines
herrlichen Bildes — ich glaube gar nicht, daß ſie
uns das beſonders danken.“
„Ach was: ihre Vergangenheit iſt ihr Ruhm,
und ſie wiſſen das recht wohl.“
„Verzeih! ich glaube, du vergißt über dem Rom,
das einſt war und das zum geiſtigen Beſitz der
ganzen Menſchheit gehört, die Hauptſtadt eines
modernen Staatsweſens. Eine Stadt, deren Be⸗
völkerung, wie alle Großſtädter ihre eigenen Be⸗
97
dürfniſſe und Neigungen — manchmal recht bedenk⸗
liche — hat. Ich halte es in vieler Hinſicht für
ſchlimm, daß beides unter einem Namen geht und
fortwährend verwechſelt wird, zumal von uns
Deutſchen.“
„Natürlich: wir — und wir!“ — Holtmann ver⸗
trug es nicht gut, wenn man ihn unter die Sammel⸗
begriffe „wir“ und „uns“ mit einbezog. Er fühlte
ſich als Weltbürger, wie es die großen Dichter und
Denker ſeines Volkes waren.
Die Regeln und Anſichten aber, die ſein Sohn
„von draußen“ mitbrachte, erſchienen ihm unpaſſend
hier, wo es ſich ſo viel ſelbſtiger und unbefangener
lebte.
Sonderbarerweiſe konnte Cäſar, ſobald ſein Schul⸗
Italieniſch durch Übung etwas geläufiger geworden
war, mit den Einheimiſchen, namentlich den jüngſten,
beſſer umgehen, als ſein Vater gekonnt.
Einmal ſtand Holtmann mit ihm an der Kirche
San Giorgio in Velabro, vertieft in Betrachtung des
ſchönen kleinen Vorbaues, der als „Ehrenpforte der
Wechſler“ bekannt iſt. Während er die Opfer⸗
bräuche deutete, deren Reliefdarſtellungen die Pforte
ſchmückten, ſchaute er zufällig um und gewahrte
ſeinen Sohn am Boden hockend, inmitten einer Schar
barfüßiger kleiner Schmierfinken, die zwiſchen der
Kirche und dem gegenüberliegenden Janusbogen
im Straßenſtaub ſpielten. Der junge Mann ſtrich
mit zarten Fingern über das ſchwarzlockige Köpfchen
eines hübſchen etwa dreijährigen Bengels, während
dieſer, ein kleiner Realiſt, ihm das ſchmierige Händ⸗
chen hinreckte und bettelte: „Da soldino!“
XXI. 20 7
98
Holtmanns Unmut war wiederum durch Staunen
gehemmt. Einmal wirkte das Bild der Kinderſchar
mit dem ernſten jungen Mann ebenſo anmutig wie
der blühende Mandelbaum, der über eine hohe
Gartenmauer ſeine roſigen Zweige in die Ruinen⸗
pracht herniederreckte. Und dann war es doch merk⸗
würdig, daß in einem Junggeſellen und neugebackenen
Dr. phil. ſolches Vatergefühl ſteckte! Holtmann entſann
ſich genau: er ſelbſt hatte in den erſten Lebensjahren
ſeines Sohnes, trotz aller natürlichen Zuneigung,
nichts mit dem Kleinen anzufangen gewußt.
Anders Cäſar. Er trat ſogleich in ein beſonderes
Verhältnis zu jeder menſchlichen Kreatur. Cecchino,
den Jungen der Hausmeiſtersleute, einen ſchwarz⸗
äugigen Kobold voller Streiche und Finten, wußte
er allein zu bändigen nach ganz kurzem Aufenthalt.
Er verwies ihm das Lügen und bewog ihn, einen
gefangenen jungen Vogel fliegen zu laſſen, indem er
ihn fragte, was wohl Sant' Antonio, der Schutz⸗
heilige der Tiere, zu ſolcher Grauſamkeit ſagen
würde? Nie im Leben wäre es Friedrich Holtmann
eingefallen, ſich mit dieſem kleinen Nichtsnutz ſo
eingehend zu befaſſen. Er warf ihm einen Soldo hin,
wenn der Junge ihn durch irgend welche Kapriolen
beluſtigte und fuhr ihn rauh an, wenn er ihm im
Wege war; darauf beſchränkte ſich ſein Verkehr mit
ſolcher römiſchen Straßenbrut.
Cecchino aber ward eine Quelle neuen Verſtänd⸗
niſſes zwiſchen Cäſar und der jungen Amerikanerin.
Gladys hatte bisher an dem kleinen Unhold eine
gelegentliche Mütterlichkeit geübt; ſie überraſchte
Cäſar dabei, wie er ihm eine ſeiner eindrucksvollen
99
Standreden hielt und klatſchte ihm Bravo! aus dem
Treppenwinkel heraus, von wo ſie zugehört hatte.
„Es iſt hübſch von Sie, daß Sie ſich ſeiner an⸗
nehmen“, ſprach ſie hervortretend, worauf er ver⸗
ſetzte: es ſei kein eigentliches Verdienſt, das zu tun,
was Neigung und Anlage einem eingebe. Gladys
erzählte nun, wie viel man ſich in Amerika mit
social work beſchäftige, und daß ſie es auch getan
hätte. Sie hätte einen Kurſus für Kranken⸗ und
Kinderpflege beſucht und eine Sonntagsſchule ge⸗
halten, aber hier ſei ſie ganz müßig. „Wir ſollten
zuſammen etwas anfangen; Sie müſſen dableiben
und mich helfen“ — ſchlug ſie ihm vor. Er lächelte
kopfſchüttelnd. „Nein, ich gehe heim. Unſereins ge⸗
hört nach Deutſchland.“ N
„Sind die meiſten jungen Männer in Deutſchland
wie Sie?“ fragte Gladys nachdenklich. Cäſar ver⸗
neinte. „Es gibt auch ſolche, die ſich als Kultur⸗
blüten fühlen, wenn ſie ſtundenlang über Stimmungen
und Wirkungen reden können. Und andere trinken Sekt
und tanzen Tango. Ich halte das für Masken —
denn im deutſchen Weſen liegt es nicht.“
Fortab tat Gladys oft ähnliche Fragen an ihn,
ſogar in Gegenwart ſeines Vaters. So warm ſie ſich
vordem für das alte Rom begeiſtert hatte, ſo ge⸗
weckt war plötzlich ihre Teilnahme für das neue
Deutſchland. Cäſar mußte ihr berichten von ſtaat⸗
lichen und geſellſchaftlichen Zuſtänden, von der Jugend⸗
fürſorge, von den Reformen des Erziehungsweſens,
der Wehrkraftbewegung und dergleichen mehr. Holt⸗
mann ſchritt daneben und kam ſich ausgeſchaltet,
überflüſſig vor. Dies Verſenken der beiden in Dinge,
100
die ihm fern lagen, von denen er nichts wußte, bes
leidigte ihn, als hätten ſie in ſeinem Beiſein eine
ihm unverſtändliche Sprache geſprochen. Warf er
etwas dazwiſchen, was ihre Aufmerkſamkeit ablenkte,
ſo wußte er: es war nur für kurze Zeit.
Auch im Schweigen empfand er ſich als benach⸗
teiligt. Wenn fie zuſammen auf dem Trödelmarkt
ſtanden und er zuſah, wie Gladys' ſchlanke Finger
über einen farbenſatten alten Brokat ſtrichen oder
in einer Schale voller Halbedelſteine wühlten, ſo
wußte er, daß ſein Sohn ihm zur Seite die gleiche
Schau genoß.
Es war nicht die gewöhnliche Eiferſucht von
Mann zu Mann, die ihn darunter leiden ließ. Es
war die Bitterkeit eines geiſtigen Herrſchers, dem
ſein Volk abtrünnig wird. |
Wie jeder Alternde ſehnte er ſich nach Jugend,
nach Erben für das, was er zu geben, nach willigen
Hörern für das, was er zu ſagen hatte. Über ſeinen
Sohn hatte er in dieſer Hinſicht ſchon das Kreuz
gemacht; nun ward auch Gladys ihm untreu.
Nicht, daß er jemals hätte um ſie werben wollen!
Nur ſeiner Seele war ſie das, was dem alten König
David die junge Abiſag.
Früher hatte er oft an ihr die Anpaſſungsfähig⸗
keit der Frauen bewundert, ſich etwas darauf zu
gute getan, wie leicht ſie ſeine Ideen und ſeine Be⸗
lehrung annahm. Jetzt dachte er zürnend, wie doch
bei jedem Anlaß der weibliche Wankelmut ſich zeigte.
Denſelben Feuereifer, den ſie heute einer Sache zu⸗
wendeten, entfalteten ſie morgen für etwas ganz
anderes.
101
Dennoch ſuchte er Gladys wieder herüberzuziehen,
indem er ſie bei Gelegenheit eines Alleinſeins mit
ihr zu ſeiner Vertrauten machte. Er ſprach offen
und wohlwollend zu ihr über ſeinen Sohn, beklagte
nachläſſig, daß Cäſar anſcheinend in ein einſeitiges
Fahrwaſſer geraten ſei. Er wurzle mit feinen Ans
ſichten leider ganz in den Eindrücken des Tages und
laufe Gefahr, ein Durchſchnittsdeutſcher zu werden,
ohne weite eigene Welt.
„Ich glaube gar nicht, daß Ihr Sohn Durch⸗
ſchnitt iſt,“ widerſprach Gladys lebhaft. „Mir ſcheint
— verzeihen Sie! — daß Sie ihn nicht verſtehen.
Er iſt anders als Sie, aber auf ſeine Weiſe er hat
recht. Jeder Menſch hat recht, dem es mit eine Sache
ernſt iſt.“
Holtmann biß ſich die Lippen. Sie nahm ſchon
ſeines Sohnes Partei gegen ihn!
Das mißbehagliche Gefühl, das zwiſchen ſie ge⸗
treten war, verdarb ihnen von nun an jede gemein⸗
ſame Wanderung. Es verſchärfte den Ton der
Männer gegeneinander und ließ bald den einen, bald
den andern der jungen Dritten im Bunde fremd be⸗
gegnen. Denn Cäſar war zu feinfühlig, um nicht
zu ſpüren, daß es ſeinen Vater aufbrachte, wenn er
ſich an Gladys gleichſam eine Bundesgenoſſin warb.
Auf den Marmortrümmern des Forums waren
bereits die Iris verblüht, und von den hohen Säulen⸗
ſchäften blätterten die blauen Glyeinientrauben herab.
Nun wurde es bald heiß in Rom. —
Von einem abendlichen Ausgang heimkehrend, be⸗
gann Holtmann mit ſeinem Sohn ein Geſpräch über
deſſen Zukunft. Er meinte, es ſei allmählich an der
102
Zeit, die Stadt zu verlaffen, irgendwohin an einen Meer:
ſtrand zu überſiedeln. Ob Cäſar ihn begleiten wolle?
Oder ob er vorziehe, nach Deutſchland zurückzukehren?
„Du wirſt doch jetzt an deine Habilitationsſchrift
denken müſſen. Haſt du eigentlich ſchon ein Thema
dafür?“
Eine Weile zögerte der Junge. Dann kam er
ſtockend mit der Antwort heraus.
„Weißt du: ich habe gar nicht die Abſicht, mich
als Privatdozent niederzulaſſen.“
Holtmann glaubte, er habe ſich verhört.
„Nicht daß mich die akademiſche Laufbahn nicht
verlockte. Ich habe als Student gehört bei ſolchen,
deren Vorbild wohl zur Nachahmung aneifern konnte.
Aber ich möchte Volkserzieher werden im eigentlichen
Sinn, von unten auf. Anfangend bei den ganz Jungen,
den ganz Eindrucksfähigen. Während meiner Dienſtzeit
iſt der Plan in mir gereift. Alſo werde ich Lehrer
an einer ſtaatlichen Schule, einem Gymnaſium; am
liebſten würde ich ein Heim gründen für Knaben, die
jeder liebevollen Aufſicht entbehren und dann ganz
unter der meinen ſtänden. Die zu tüchtigen Menſchen
erziehen, geſund an Leib und Seele — das wäre die
Aufgabe, die ich mir wünſche.“
Holtmann empfand eine nervöſe Lachluſt. Er ſah
im Geiſte ſeinen Sohn umgeben von einer Horde blöd⸗
ſchauender, verwahrloſter Rangen, an die er Zeit und
Kraft vergeudete. „Das iſt ja Unſinn!“ fuhr er rauh
heraus. |
„Es tut mir leid, daß du es dafür anfiehft, Vater.
Aber es iſt das, was ich als meinen Beruf erkannt
habe.“
103
Der Vater nahm ſich zuſammen und ſetzte dem
Jungen auseinander, daß man wohl am meiſten nütze
durch die richtige Ausbildung des eigenen Ich, das
ja doch wieder der Geſamtheit zugute komme. Sich
vorzeitig unfrei zu machen, um andrer willen, ſei ein
gefährliches Ding, und der durch Erziehung zu ſtiftende
Nutzen keineswegs unzweifelhaft.
Cäſar gab das alles zu; doch geſtand er, daß eben
ſeine innere Veranlagung, wie er fühle, nicht pro⸗
duktiv nach irgend einer Seite ſei. Er ſei jemand,
der nur als Empfänger und Weitergebender wirken
könne für die Allgemeinheit. „Und außerdem iſt die
Jugend eines Volkes koſtbarſter Beſitz.“
„Ach laß die Phraſen! Als ob es darauf an⸗
käme, daß unter der Maſſe, die doch aus Dumm⸗
köpfen beſteht, ein paar weniger Dumme herum⸗
laufen!“
„Lieber Vater, glaube doch nicht, daß ich mir
gerade Trottel und Verwahrloſte ausſuchen will, aus
Opferwut oder dergleichen! Du weißt gar nicht, was
in unſerm Volke wohnt — ſchau dir einmal den
Buben eines bayriſchen Bergbauern oder norddeutſchen
Heidebauern an, was das für Kraftkerle ſind, die der
Bildung wohl verlohnen!“
„Dann ſollen ſie ſich ſelbſt darum plagen — das
ſtählt. Euch Heutigen ſteckt ſo ein gewiſſer Humanitäts⸗
duſel im Blute — und der Hang zur Schulmeiſterei,
zum Drill, den man nicht mit Unrecht den Deutſchen
vorwirft. Ich ſtehe der Einbildung, andre beſſern
oder reformieren zu wollen, ſehr ſkeptiſch gegenüber;
in einer internationalen Umgebung wie der meinigen
verlernt man das.“
104
„Nicht fo ganz,“ verſuchte Cäſar zu fcherzen.
„Wenn beiſpielsweife Miß Gladys ſagt, daß ſie dir
viel verdankt, ſo handelt es ſich doch auch um er⸗
zieheriſches Wirken.“
„Das iſt etwas ganz andres,“ fertigte der Vater
ſchroff ab.
„In jedem Falle,“ ſprach Cäſar, nun auch ge⸗
reizt, „weiß ich, wie viele Heranwachſende aus Mangel
an verſtändiger Leitung verkümmern. Ich ſelbſt habe
als Knabe und junger Menſch oft ſchwer darunter
gelitten, daß —“
Er ſtockte; aber ſchon war das Unheil geſchehen:
Holtmann verfärbte ſich. „Soll das ein Vorwurf
ſein?“ fragte er.
Cäſar, ſchwer erſchrocken, ſuchte das wirklich ab⸗
ſichtslos geſprochene Wort zu rechtfertigen, zu er⸗
klären. Aber gerade weil der Vorwurf, den er nicht
erheben gewollt, eine gewiſſe Wahrheit enthielt, war
der Vater aufs Empfindlichſte davon getroffen. In
ausbrechender Heftigkeit ſchrie er Cäſars Beſchwichti⸗
gungsverſuche nieder, beſchuldigte ihn der Verſtändnis⸗
loſigkeit für ſeine, des Vaters, Geiſtesrichtung. Punkt
für Punkt warf er ihm all das ins Geſicht, worüber ihre
Anſichten auseinandergingen, all die Male, da er ſich
über den Sohn geärgert hatte. Was ſchon lange in
ihm wühlte und ſchwärte — bei dieſem Anlaß mußte
es heraus!
Cäſar ſah ein, daß ſeine Erwiderungen zu nichts
fruchteten, als den Erregten noch mehr aufzubringen.
Die traurigen Augen feſt auf Holtmann gerichtet,
ſchwieg er und biß ſich nur die Lippen, während er
ſich, kaum verblümt, als einſichtsloſen Herdenmenſchen
105
hinſtellen hörte. Endlich, da es ihm zu arg wurde,
ging er ruhig zur Türe hinaus.
Des andern Morgens teilte er dem Vater mit,
daß er von ein paar Bekannten zu einer Gebirgs⸗
wanderung aufgefordert ſei. Wie lange er fortbleibe,
wiſſe er noch nicht. Holtmann nahm die Nachricht
kühl auf: „Allerdings glaube ich ſelbſt, es iſt beſſer,
daß wir uns eine Weile aus dem Wege gehen.“
So trennten ſie ſich. Einige Tage ſpäter als ſein
Sohn reiſte Friedrich Holtmann ab.
Zuvor beſuchte er noch Gladys, die gleichfalls im
Begriffe ſtand, Rom zu verlaſſen. Auch ſie ſuchte
mit der Tante einen Strandort auf, nicht allzuweit
von dem ſeinigen entfernt. Man würde ſich wohl
wiederſehen, meinte ſie. Er aber hörte, mißtrauiſch
aufhorchend, aus ihrer Rede einen Zwang heraus,
den Zwang, der zwiſchen Menſchen von ungleicher
Denkart beſteht.
„Hat ſich mein Sohn vor der Abreiſe von Ihnen
verabſchiedet?“ warf er hin. Die Art, wie Gladys
bejahte, zeigte ihm, daß Cäſar wahrſcheinlich ein⸗
gehend über alles mit ihr geſprochen hatte. Er ſagte
ihr das auf den Kopf zu, ohne ſie, wie er gewollt,
in Verwirrung zu ſetzen.
„Ad, warum fragen Sie danach? Da Sie mich
doch nicht hören wollen!“
Sie gab ihm offenſichtlich unrecht. Sie ließ ihn
merken, daß man die Eigentümlichkeit eines andern,
zumal wenn es eine edle Eigentümlichkeit ſei, ver⸗
ſtehen und gelten laſſen müſſe. Man dürfe nicht ſo
„eingemauert ſein in die eigene Meinung, die eigene
Weltanſchauung.
106
Friedrich ſah fie an. Seine frühe römische Arbeit
über Prätextatus, den hartnäckigen Heiden, kam ihm
zu Sinn. Wenn man mit dem Aufrichten ſeiner
Welt, an die man ein Leben gewendet hatte, fertig
war und ſich freute an dem wohlgefügten wohnlichen
Bau, dann waren inzwiſchen die andern heran⸗
gewachſen, die ihn einzureißen trachteten, weil ſie
andre Bedürfniſſe hatten. Das hieß Menſchenlos;
dafür hatte man gelebt!
Die bittere Empfindung, mit der er von Gladys
geſchieden, nahm er an ſeinen Meerſtrand mit. Es
wurden nicht Wochen behaglichen Dahinträumens,
ſondern peinlichen einſamen Grübelns. Er dachte
ſeines Sohnes als eines eigenwilligen Phantaſten,
der ihn kränkte und enttäuſchte. Er grollte dem
Mädchen, dem er viel von ſeinem Inneren geſchenkt
hatte und das ſeine Sache verließ, ſobald ein Jüngerer
auf dem Plan erſchien. Unfroh ſchlenderte er zwiſchen
dem glitzernden Blau des Himmels und des Meeres
dahin.
Die Zeitungen, die von Rom eintrafen, las er
gewohnheitsmäßig. Er folgte der ſich ſteigernden
Feindſeligkeit zwiſchen Oſterreich und Serbien bis
zum Ausbruch des Krieges ſo wie ein blaſierter Zu⸗
ſchauer vom Parkett aus die Vorgänge auf der Bühne
verfolgt. Die Gefahr, daß andre Länder mit hinein⸗
geriſſen würden, deuchte ihn weit entfernt — wer
möchte die Verantwortung übernehmen?!
Aber eines Tages verbreitete ſich unter den er⸗
ſchreckten Strandgäſten mündlich die Nachricht: der
Krieg ſei da! Oſterreich führe ihn und Deutſchland
erſt recht! Ganz verworren lautete die Kunde. Un⸗
107
gefähr jo, als habe der deutſche Kaiſer aller Welt
den Krieg erklärt und ſein Land ins Verderben ge⸗
ſtürzt. |
„Abſurdes Zeug!“ ſagte Holtmann. Er glaubte
kein Wort davon — bis die verſpätet eingetroffenen
Zeitungen in Sperrdruck ähnliche krauſe Unheilsnach⸗
richten brachten. Da ſchien es ihm doch geratener,
auf ein paar Tage wenigſtens heimzukehren nach
Rom.
An allen Ecken Gruppen aufgeregter geſtikulieren⸗
der Menſchen. Jeder Zeitungsverkäufer umlagert, um⸗
drängt, im Nu ausverkauft! Die Signora Erminia
empfing ihren Mieter mit einem Wortſchwall, den
er zum erſtenmal als unerträglich empfand. Wenn
in Wahrheit ſich ſchwere weltbewegende Dinge vor-
bereiteten, warum konnten dieſe Menſchen, die Enkel
der Römer, ihnen nicht mit würdiger Faſſung be⸗
gegnen?! |
Er hatte die Schwätzerin hinabgeſchickt zum Por⸗
tier, ihm das neueſte Blatt zu holen. Da kam ſie
wieder, ſchwenkte es wie eine Fahne hoch über ihrem
Kopfe: „La guerra, la guerra!“
Alſo doch! Alſo wirklich der Krieg! Er begriff
es nicht. In unſern Tagen fortgeſchrittener Zivili⸗
ſation! Mit dumpfem Jammer dachte er der Kultur⸗
werte, die da bedroht waren.
Aber es mußte wohl wahr ſein! Der Telegraph
meldete es: Deutſchland und Oſterreich machten mobil,
gegen Rußland, Serbien, Frankreich. Ungewiß war
noch, was England tun würde — und was Italien?
Die Antwort auf die Gedankenfrage ward ihm
ſoeben. Von der Straße, aus einem der zuſammen⸗
108
gerotteten Haufen, kreiſchte es herauf: „A Trieste,
a Trento!“ — Ja, richtig: Trieſt und Trient, die
Oſterreich entriſſen werden ſollten, von dem bis⸗
herigen Bundesgenoſſen!
Ein Alptraum! Ein häßlicher Alptraum ſchien
alles zu ſein und war doch Wirklichkeit. In ſeine
Betäubung hinein vernahm Holtmann deutlich das
grelle Klingeln an der Flurtüre, die Stimme des
Telegraphenboten. Eine Depeſche für ihn. |
Während er fie aufriß, wußte er in plötzlichem
Hellſehen, was darin ſtand. Sein Sohn nahm Ab⸗
ſchied. Es war ſo. Mit wenigen eiligen Worten
teilte Cäſar mit, daß er als Reſerveleutnant ſofort
nach Deutſchland fahre, ſich zum Heer ſtellen müſſe.
Er bat den Vater, ſeiner im Guten zu gedenken, ließ
Miß Gladys grüßen, verſprach baldige Nachricht —
Aus einem kleinen tiroliſch⸗italieniſchen Grenzort waren
die Zeilen datiert.
Sein Sohn mußte mit! Seltſam, daß er an
dieſe ihn zunächſt berührende Folge des Krieges noch
gar nicht gedacht hatte!
Er trat in deſſen verödetes Zimmer und machte
ſich klar, daß Cäſar hier wohl nie wieder eintreten
würde. Vielleicht — nein, den Gedanken wehrte der
Vater von ſich ab. Aber er hatte das Gefühl,
daß ſie nicht ſo unvermittelt hätten ſcheiden dürfen,
daß ſie ſich noch etwas zu ſagen gehabt hätten.
Niemand wußte, wann es nun dazu kam.
Die Ereigniſſe jagten, überſtürzten ſich. Schon
andern Tages ward bekannt, daß auch England gegen
Deutſchland ging.
„Bande!“ murmelte Holtmann zwiſchen den Zähnen.
109
Die mit dem rotgebundenen Murray unterm Arm,
die vor den größten Natur- oder Kunſtwundern
„Very nice“ ſagten — die hatte er nie gemocht.
Aber lange würde der Krieg demnach dauern,
ſehr lange!
Die Signora Erminia war andrer Anſicht. Und
die meiſten Römer mit ihr. Sie waren überzeugt:
in wenig Wochen würde Deutſchland beſiegt ſein.
Vollſtändig zu Boden geworfen! Und zwar mit Recht;
denn warum, liebe heilige Madonna, hatten die an⸗
dern Deutſchen den Auſtriaci beigeſtanden? Man
hätte ſie ihre Suppe ruhig allein auslöffeln laſſen
ſollen. Als die Padrona dieſe ihre Überzeugung
wieder einmal vollſtimmig verkündete, geſchah etwas
Unerwartetes: Holtmann ſchlug mit der Fauſt auf
den Tiſch.
„Corpo di Dio! So iſt man eben nicht bei uns!
Man hält ſein Wort und läßt Bundesbrüder nicht
im Stich.“ Er ſchwieg, beſchämt von ſeiner eigenen
Heftigkeit. Was ging das Weibergerede ihn an?
Aber freilich hörte er Ahnliches auch von Männern
behaupten — und dieſe Männer waren Abkömmlinge
des Regulus!
Hatte ſein Sohn ihm nicht zu verſtehen gegeben,
er verwechſle das alte Rom mit der heutigen Stadt?!
Er ſpürte trotzdem keine Luſt, an ſeinen Meer⸗
ſtrand zurückzukehren, unter die ſchwatzende Bade⸗
geſellſchaft. Hier kamen die Nachrichten wenigſtens
früher an. Und gegen das römiſche Fieber wußte
er ſich gefeit.
Seines dort zurückgelaſſenen Koffers wegen hatte
er auf dem Bahnhof zu tun. Da zog ihm eine
110
Schar Ankömmlinge entgegen, die ein ſoeben ein-
gefahrener Zug gebracht hatte: junge Männer in
den verſchiedenſten Anzügen, augenſcheinlich aus allen
Ständen — jeder eine Taſche oder einen Reiſeſack
in der Hand. Eine kleine Papptafel an einer Stange
ward ihnen vorausgetragen: „Deutſche aus Palermo“
ſtand darauf. Auch die waren im Begriff, unter die
heimiſchen Fahnen zu eilen, nötigenfalls zu ſterben
für das Land, dem ſie den Rücken gekehrt. Sie ach⸗
teten nicht der ſcheelen und ſcheuen Gafferblicke um⸗
her; erhobenen Hauptes und mit getroſtem Antlitz
ſchritten ſie durch die Menge.
| Am Abend erzählte Holtmann in feiner Oſteria
von den Abreiſenden, die er getroffen. Ein dabei
ſitzender Kunſthändler zuckte bekümmert die Achſeln:
„Da gibt's noch andre! Ich habe Nachricht, daß
mein Sohn aus Texas nach Deutſchland will. So
ein Wahnſinn! Er kommt nicht hin oder kommt zu
ſpät.“ |
Nach den italienischen Zeitungen zu ſchließen, war
es bereits zu ſpät. Jedes Blatt brachte ſpaltenlange
Berichte von deutſchen Niederlagen, von glänzenden
Siegen der verbündeten Franzoſen, Engländer, Ruſſen.
Und das leichtbewegliche Volk jubelte darüber, wie
über das verdiente Schickſal eines verhaßten Frem⸗
den, nicht eines Verbündeten. Schon daß Italien
neutral blieb, war Holtmann eine Enttäuſchung ge⸗
weſen. Nun aber dies! ö
Holtmann wußte ziemlich Beſcheid über alle Gründe
deutſcher Unbeliebtheit im Ausland. Jedoch eine
zürnende Verwunderung ſtieg in ihm auf, da er ſah,
was für abgeſchmackte, von kritikloſem Haß erſonnene
111
Nachrichten zu Deutſchlands Nachteil bereitwillig ges
glaubt wurden.
Sie haben uns hierher pilgern ſehen, durch Jahr⸗
hunderte, nicht den großen Haufen von heute, nein,
unſere Beſten, die ihre Seele tränkten hier an dem
ewigen Quell! — Er dachte eines Hauſes am Corſo,
dem Palazzo Rondanini gegenüber, das die Gedenk⸗
tafel trug: „In dieſem Hauſe erſann und ſchrieb
Wolfango (das deutſche ‚Wolfgang‘ war den Ita⸗
lienern unmöglich) Goethe unſterbliche Dinge.“
Und trotzdem halten ſie uns für blöde Raufbolde!
Sie haben ſich alſo gar nicht die Mühe gegeben, uns
kennen zu lernen! Er verachtete ſolche Unwiſſenheit.
Die Beileidsmienen, mit denen die Einheimiſchen
ihm das Mißgeſchick ſeines Volkes berichteten, em⸗
pörten ihn. „Laſſen Sie ſich doch ſo was nicht weis⸗
machen!“ ſagte er rauh zu einem jungen Pflaſter⸗
treter, der ihm im Café Aragno irgend eine Hiobs⸗
poſt zu melden kam. Der riß die Augen auf, ver⸗
zog ſpöttiſch die Miene und ſchlich zu ſeinen Tiſch⸗
genoſſen zurück, um mit ihnen Witze über den ver⸗
bohrten Deutſchen zu reißen. Friedrich Holtmann
ſtand auf und entfernte ſich.
5. Er ſchloß ſich gegen Verkehr ab, mehr denn ſonſt.
Und unwillkürlich, während er ſonſt ſeine Landsleute
gemieden, mied er jetzt die Ausländer.
Selbſt Gladys erſchien ihm ferner gerückt.
Einen herzlichen Brief voll tiefer Beſorgniſſe ſchrieb
ſie ihm aus ihrer Meerfriſche. Natürlich fragte ſie
nach ſeinem Sohn. Er antwortete ihr, indem er zu⸗
gleich Cäſars Abſchiedsgrüße beſtellte.
Mit dem September traf ſie ſelbſt in Rom ein,
112
ganz unerwartet und ohne die Tante. Als er nicht
ſofort den früheren Ton ihr gegenüber fand, fragte
ſie, warum er ſo fremd ſei? — Er meinte auswei⸗
chend: er habe nur gedacht — da ſie mit ihren
Sympathieen vermutlich auf engliſcher Seite ſtünde.
„O, da jrren Sie! Tante Evelyn, ja, ſie tut!
Aber ich, ich kann nicht vergeſſen, daß Mutter deutſch
war.“ Sie ſah ihn freundlich an und erkundigte
ſich, was er für Nachricht habe?
„Keine! Die Verbindung mit der deutſchen Feld⸗
poſt ſcheint ſchlecht.“ Gladys riet ihm, ſich an die
deutſche Botſchaft zu wenden, auch wegen der Be⸗
förderung von Paketen; denn ſie müßten Cäſar doch
etwas ſchicken. „Praktiſches Amerika!“ ſagte Holt⸗
mann, ihr zunickend. Schon öfter hatte er erfahren,
daß ihr Weltverſtand über den ſeinigen ging.
Er ſtieg das Kapitol hinan, zur deutſchen Bot⸗
ſchaft. Dabei widerfuhr ihm das Seltſame, daß der
Schauer von Gehobenheit, den dieſer Weg ſonſt in
ihm erregte, völlig ausblieb. Es war ihm gleich⸗
gültig, die Steine des Kapitols zu treten, ihm.
Im Palazzo Caffarelli erteilte man ihm eingehend
jede gewünſchte Auskunft. Es gingen leider jetzt ſo
viele Nachrichten verloren — das war der Krieg!
Nebenbei erfuhr Holtmann ein paar deutſche Siege,
die von den römiſchen Blättern bis jetzt totgeſchwiegen
wurden. Sein Herz ſchlug ſchneller. „Iſt das un⸗
zweifelhaft?“ | 8
„Ganz beſtimmt. Es iſt amtlich.“
Die amtliche Nachricht wurde ihm freundlich zur
Einſicht gereicht. Der alte Lateiner genoß die knappe
Form, in der jedes Wort ſaß wie ein gut gezielter
113
Schlag, nicht minder als den Inhalt. Unwillkürlich
hielt er das Haupt höher, da er dankend Abſchied
genommen hatte und die klaſſiſchen Stufen wieder
hinabſtieg.
Als er heimkehrte, bot ſich ihm vor der Haus⸗
türe ein überraſchender Anblick. Vermutlich durch
den Krieg angeregt, waren etliche Gaſſenbüblein in
eine wilde Keilerei verwickelt; der Hauptkämpfer war
Cecchino, der Portiersjunge. Er hockte katzengleich
auf einem halb niedergeworfenen Gegner, kratzte und
biß ihn, während er einen von rückwärts Angreifen⸗
den mit beiden ſtrampelnden Füßen abwehrte.
Vor dem Lärm, den die Rangen verurſachten,
hörten ſie Holtmanns Kommen nicht, bis er gebiete⸗
riſch fragte, was da los fei? Da hielten ſie inne und
ſahen ihn mit verlegener Unverſchämtheit an; Cec⸗
chino aber gellte im höchſten Ton: „Sie lügen, ſie
lügen! Der da“ — er hieb auf den Überwundenen
— „hat geſagt: alle Deutſchen ſind Schufte, und das
iſt nicht wahr, denn der Signore Ceſare war ein
Deutſcher und ſehr gut.“
Holtmann gebot allen, die Keilerei ſofort einzu⸗
ſtellen, ſonſt würde er Cecchinos Vater herrufen.
Die Jungen ſtoben davon; Cecchino erhielt von Holt⸗
mann eine Kupfermünze geſchenkt, mit der er luſtig
ins Haus ſprang.
„Die Gerechtigkeit ſcheint ſich manchmal ſeltſame
Schlupfwinkel zu ſuchen!“ dachte Holtmann. „So
im Herzen dieſes kleinen ſchmutzigen Unbands!“
Aber es rührte ihn ein wenig, daß der Unband
ſeinen Sohn ſo dankbar in Erinnerung behielt.
® &
XXXI. 20. 8
114
Nach ein paar Tagen erhielt er eine Feldpoſt⸗
karte ſeines Sohnes. Cäſar ſchrieb, daß er geſund
ſei und bat ſeinen Vater um ein Wort der Nach⸗
richt; er habe auf ſeine Karten bisher noch nichts
erhalten, gar nichts. Freilich könne das raſche Vor⸗
rücken der Truppen daran ſchuld ſein. Denn ſie, die
Deutſchen, ſchritten vorwärts, unaufhaltſam; auch
Cäſars Regiment hätte die Feuertaufe ſchon emp⸗
fangen. — |
Zwiſchen den wenigen Zeilen ſtand viel Unge⸗
ſchriebenes, ein Durchzittern todesmutiger Begeiſte⸗
rung. Holtmann las die Karte zwei⸗, dreimal.
Er verſuchte, die Eindrücke ſeiner erſten Jugend,
die er gern vergeſſen hatte, zuſammenzuſtückeln. Natür⸗
lich hatte er auch einen Krieg miterlebt als Gym⸗
naſiaſt — ja, den des Jahres 1870! — aber die Er-
innerung daran beſchränkte ſich auf Schulfeiern, auf
häufiges Abſingen der „Wacht am Rhein“, auf Feſt⸗
— gottesdienſte. Die waren ihm verleidet geweſen durch
die Perſon des Predigers, bei dem er zugleich den
Religionsunterricht empfing, und zu dem er in
einem ſtillen Feindſchaftsverhältnis ſtand. Im übrigen
hatte es eine Beteiligung der Schuljugend am Krieg,
abgeſehen vom Scharpiezupfen der Mädchen, nicht
gegeben; und in Friedrichs Elternhauſe war die
Reichsgründung nur daraufhin beſprochen worden,
welchen Einfluß ſie etwa hätte auf das leibliche Ge⸗
deihen. Ach, die troſtloſe Enge ſeiner Umgebung —
wie er ſich herausgeſehnt hatte aus ihr!
Eben dieſe große Sehnſucht — das begriff er
jetzt — hatte ihn vaterlandslos gemacht.
Als junger Doktor hatte er ſpöttiſch gelächelt,
115
wenn, wie es Brauch war, irgend jemand an Kaiſers
Geburtstag oder am Sedanstag tönende Reden vom
Stapel ließ. Die Hurrapatrioten waren Holtmann
verhaßt.
Aber das von heute — er fühlte es wohl —
das war ein anderes. |
Er ftieg zu Gladys hinab, ihr die Botſchaft mit⸗
zuteilen und traf ſie umgeben von allerhand umher⸗
geſtreuten Dingen, einen geöffneten Koffer vor ſich.
Als ſie die Karte in ſeiner Hand erblickte, ließ ſie
alles im Stich und lief ihm entgegen.
Ein helles Freudenrot ſtieg ihr in die Wangen,
während er vorlas. „Wenn es nur wirklich gut
geht!“ ſagte ſie leiſe, „wenn ſie nur durchhalten
können!“ Daß ein Volk ſich im Kampf gegen ſieben
andere — denn inzwiſchen waren Japan, Belgien,
Montenegro hinzugekommen — ſiegreich behaupten
könne, ſchien ihr viel unmöglicher, als ſie dem Vater,
der da vor ihr ſtand, geſtehen wollte.
„Sie reiſen ab?“ fragte Holtmann, auf den Koffer
deutend.
Ja, ſie hielt es nicht aus in der ſommerlichen
Glut von Rom. Und ans Meer wollte ſie nicht
zurück — „weil ich mich mit Tante Evelyn verzankt
habe wegen das Krieg“ — geſtand ſie. Nun reiſte
ſie nach München, wo ſie entfernte Verwandte hatte
und trachten würde, ſich irgendwie nützlich zu machen.
„Man erhält alle Nachrichten viel direkter als hier;
und wenn es unglücklich geht — mir als Amerika⸗
nerin man kann nichts tun.“
Nach kurzem Schweigen ſetzte ſie hinzu: „Kom⸗
men Sie nicht mit?“
116
Er ſenkte die Stirn. Neben ihrer unverzagten
Entſchloſſenheit erſchien er ſich feig. Aber noch konnte
er ſich nicht losreißen von hier. Ein Vorgefühl ſagte
ihm: gehe ich fort, ſo iſt es für immer! '
„Ich nütze ja auch dort nichts!“ Das war fein
äußerer Grund. So ließ er ſie ziehen.
Cecchino, der Kleine, half ſehr eifrig, das Gepäck
ſeiner ſtets freigebigen Gönnerin auf das von ihm
herbeigeholte Gefährt zu laden. Noch im letzten
Augenblick trug er ihr Grüße an den buonissimo
Signore Cesare auf. Vermutlich dachte er: der
ganze Krieg ſpiele ſich auf deutſchem Boden ab!
Gladys lachte, obſchon ein anderes ihr näher ſtand.
Und nun war ſie auch fort, und Friedrich Holt⸗
mann war allein. |
® D 0
Allein in einer brütenden Schwüle, inmitten einer
Bevölkerung, aus der die Gebildeten und Beſitzenden
ſich längſt auf ihre Landſitze begeben hatten, während
die meiſten Fremden, ſofern ſie nicht des Krieges
willen abgereiſt waren, Rom vermieden wegen der
Fiebergefahr.
In den Zeitungen las er täglich Schmähungen
auf Deutſchland und pomphafte Siegesberichte der
Gegner. Auf den Straßen, in den Läden bot man
Poſtkarten feil, die in Wort und Bild den deutſchen
Kaiſer und ſein Volk mit gemeinen Beſchimpfungen
überhäuften. Im Gegenſatz dazu kam bisweilen ein
Kartengruß Cäſars, der von gutem Fortſchreiten und
ruhiger freudiger Zuverſicht ſprach. Noch war er
unverſehrt.
Holtmann ſchrieb Antwort, ſchrieb überhaupt,
117
wenn ſchon kurz, doch häufiger denn je zuvor. Es
machte ihm jedesmal einen eigentümlichen Eindruck,
den Friedensberuf und den Aufenthaltsort ſeines
Sohnes auf der Adreſſe unerwähnt zu laſſen. Nur
„Leutnant der Reſerve, ſoundſovieltes Infanterie⸗
regiment, in dem und dem Armeekorps“. Kein Menſch
mehr — einer von Millionen, die man bloß nach
Ziffern und Fahnen unterſchied!
Er nahm die Botſchaften des Draußenſtehenden
zu ſeiner abendlichen Tafelrunde mit; das Häuflein
Deutſcher, das gedrückt beiſammen ſaß, empfing jede
ſolche Nachricht als Tautropfen in der Wüſte! Wenn
er ſie anderwärts zeigte, ſtieß er auf Wah Dr
mitleidigen Unglauben.
Die heißeſte Zeit war vorbei; man ſah Be
zugereiſte und heimgekehrte Gefichter. Eines Abends,
auf ſeinem regelmäßigen Gang zum Trajansforum,
begegnete Holtmann einem kleinen Trupp jüngerer
Männer in Sportskleidung. Die Straße war eng;
er, in Gedanken dahinſchreitend, wich nicht rechtzeitig |
aus. Die anderen ſchienen aber gefliffentlich nicht
Platz machen zu wollen; ſo kam es, daß der zu
äußerſt Gehende hart gegen ihn ſtieß.
„So geben Sie doch acht!“ rief der Fremde ihn
in gequetſcht klingendem Italieniſch an. |
„Das wäre an Ihnen geweſen,“ wollte Holt- 5
mann erwidern; aber ein zweiter, offenbar ein Ein⸗
geborener, redete dazwiſchen. „E un tedesco“ — 5
äußerte er geringſchätzig gegen ſeinen Begleiter. N
„Oh, ich ſehe! Sie find Barbaren ſelbſt in
Kleinigkeiten.“ Die übrigen lachten zuſtimmend.
Holtmann ſtieg das Blut zu Kopfe. Nicht heftig
118
werden, fich nichts vergeben — nicht! Aber da er
den erſten ſagen hörte: „Nun, jetzt wird ihnen An⸗
ſtand gelehrt“ — war es um ihn geſchehen.
„Wenn es bei euch Anſtand heißt, ruhige Be⸗
gegnende anzurempeln, ſo paßt das zum ganzen. Zu
eurer Rüpelei und Scheinheiligkeit, ihr Engländer;
denn nur ein Engländer mißhandelt die Vokale ſo
und iſt daran immer kenntlich. Und ihr anderen,
ihr Erben der Cäſaren, ſchämt ihr euch der Geſell⸗
ſchaft nicht? Meint ihr, man braucht uns nicht Ge⸗
rechtigkeit zu erzeigen und Treue zu halten, weil wir
Barbaren ſind? Ja wohl, wir ſind die Barbaren,
die Abkömmlinge derer, vor denen Roms Weltherr⸗
ſchaft zerbrochen iſt. Ein Volk von Kriegern, keins
von Lügnern und Krämern! Ich bin ſtolz, hört ihr,
ſtolz darauf, ein Barbar zu ſein!“
Er hatte es mit erhobener Stimme, faſt ſchreiend
hervorgeſprudelt. Zu ſicherer Verſtändlichkeit auf
Italieniſch, das ihm ja ebenſo geläufig war wie
Deutſch. Nur ſich gründlich Luft machen, nur nicht
erſticken an der plötzlich aufgeloderten Wut! Ohne
daß er es wußte, hatte er dabei mit ſeinem Stock ge⸗
fuchtelt, nichts Sonderbares hier im Lande der leiden⸗
ſchaftlichen Geſte! Aber der Italiener, dadurch auf⸗
gereizt, ſprang auf ihn los, faßte ihn beim Kragen,
indes der andere in ſeinem fremden Kauderwelſch
brüllte: „E una spia! Una spia! Es iſt ein deutſcher
Spion!“
Wo die Menſchen nur alle herkamen! Als riefe
dies Wort ſie aus den Pflaſterſteinen hervor! Ein
paar Augenblicke, da ſah ſich Holtmann von einer
ſchreienden drohenden Menge umringt, die ihm zu
119
Leibe wollte. Er erhob feine Stimme: „Man hat
mich roh beleidigt, bloß weil ich ein Deutſcher bin!“
Aber in dem Durcheinander der Herzudrängenden
verhallte, was er ſprach! Ein paar hielten ihn ge⸗
packt, indes ein Beſonnener nach einem Carabiniere
lief. Holtmann wollte die ihn haltenden Fäuſte ab⸗
ſchütteln — da fiel ihm das Handgemenge der
Straßenjungen ein, das er damals unterbrochen
hatte! Er ſtand plötzlich ganz ruhig, mit gekreuzten
Armen, und ſein Blick war ſo verächtlich, daß aus
der lärmenden geſtikulierenden Menge einige ſtill
wurden. Die anderen aber ſtürzten ſich deſto wütiger
auf ihn — in dieſem Augenblicke brach ein fein aus⸗
ſehender älterer Herr ſich Bahn durch den Haufen
und fragte: „Ma cosa c’&?“
Es war der italieniſche Gelehrte, dem Holtmann
einſt die Bemerkung über Cäſars militäriſches Aus⸗
ſehen verübelt hatte. In beiderſeitigem Erkennen
blickten ſie einander an — dann trat der Profeſſor
raſch an Holtmanns Seite. „Ich kenne den Herrn,“
ſagte er nachdrücklich, „er wohnt ſeit vielen Jahren
hier und iſt eine Ehre für unſere Stadt. Man tut
ſehr unrecht, ihn zu beleidigen.“
Die Menge wich murmelnd zurück. Der Pro⸗
feſſore Commendatore Giuſtini war eine ſehr popu⸗
läre und hochangeſehene Perſönlichkeit. Außerdem
war er Mitglied der Deputiertenkammer.
Auch der Carabiniere, der nun endlich widerwillig
herbeigeſchlendert kam, ſalutierte ihn unter reſpektvollem
Lächeln. Nach kurzer Aufnahme des Tatbeſtandes
und noch kürzerer Verſtändigung mit dem Commen⸗
datore trieb er den Menſchenknäuel mit graziöſer
120
Herrſchergebärde auseinander. „Geht heim, meine
Lieben! Eh via! Fort, fort!“ Von den Anſtiftern
des Tumultes war nichts mehr zu ſehen; die Tap⸗
feren hatten anſcheinend bei der für Holtmann gün⸗
ſtigen Wendung alsbald das Weite geſucht.
Die beiden Altersgenoſſen ſchritten durch die leer
gewordene Straße dahin „Ich habe Ihnen zu
danken,“ begann Holtmann. Mit höflicher Abwehr
unterbrach ihn der andere. 5
„Bitte, nein! Ich habe mich als Römer bei
Ihnen zu entſchuldigen für unſer Volk.“
Holtmann dachte, wie es ihm ehemals geſchmei⸗
chelt hatte, wenn man ihn für einen Römer hielt.
„Ich hoffe,“ fuhr Giuſtini fort, „Sie werden ſich
dadurch zu keinem falſchen Urteil hinreißen laſſen.
Glauben Sie mir, die Kultivierten unter uns wiſſen
genau die großen Eigenſchaften Ihres Volkes, des
Einzelnen zumal, zu ſchätzen. Nur die gedankenloſe
Menge iſt ungerecht.“ |
„Deſto wohler tut es, einem Gerechten zu be
gegnen,“ ſprach Holtmann. „Seit Cecchino faſt dem
einzigen,“ ergänzte er innerlich. =
Mit Wärme fuhr Giuftini fort: „Alle, die je in
Deutſchland waren, die es kennen, wünſchen ihm
Gutes und verwahren ſich gegen die Verleumdungen
ſeiner Widerſacher. Aber die Aufhetzung durch eine
Reihe einflußreicher Perſönlichkeiten, vielgeleſener
Blätter wird ſyſtematiſch betrieben und die Beſſer⸗
wiſſenden ſind in der Minderzahl. Der Italiener im
allgemeinen reiſt nicht fo viel wie der Engländer und
Deutſche. Über fremde Länder und Völker muß er
ſich manches aufſchwatzen laſſen. Und die Gegner
121
Deutſchlands lügen ſogar in Bildern. In den hie⸗
ſigen Kinemas werden falſche Films von deutſchen
Greueltaten abgerollt; als ich meinen Schneider neu⸗
lich darüber aufklärte, war er nicht zu bekehren.
‚Ma che! Signor Professore, eine Photographie lügt
doch nicht.‘ — Und dann die Verwechſlung des Reichs⸗
deutſchen mit dem Oſterreicher, den unſer Volk ein⸗
mal nicht leiden kann.“
„Nicht leiden kann“ — wiederholte Holtmann
nachdrücklich. „Erlauben Sie, Herr Profeſſor, wenn
man mit einem früheren Gegner ein Bündnis ein⸗
geht und über dreißig Jahre aufrecht hält, ſo nimmt
man an, daß das Vergangene vergeben iſt, wie es
zwiſchen Widerſachern ja geſchehen kann. Wenigſtens
wir Deutſche in unſerem einfältigen Begriff von Auf⸗
richtigkeit deuten das ſo. Daß man um Vorteils
willen ſich anſcheinend verſöhnt, dann um Vorteils
willen den Haß wieder hervorholt, das iſt —“
Giuſtini machte eine Bewegung. Sein feines
Geſicht unter dem weißen Haar, gegen das die dunklen
Brauen ſeltſam abſtachen, trug einen abweiſenden
Zug.
„Nein, fürchten Sie nichts! Ich ſage das Wort
nicht. Aber dieſe Feindſeligkeit gegen unſre Bundes⸗
brüder erſtreckt ſich auf uns ſämtliche andre Deutſche,
auf Schweizer ſogar. Haben wir in ſo viel Jahren
des Handels und geiſtigen Austauſches, des Reiſe⸗
verkehrs dazu jemals Grund gegeben?“
„Caro mio, Sie begreifen, daß bei alledem auch
der Genius der Raſſe mitſpricht. Germanen und
Romanen, ſo ſehr fie ſich achten mögen, find nicht
eines Stammes — vielmehr zieht es die meiſten
122
Italiener zu Frankreich! Was wollen Sie, verehrter
Herr! das Blut, die Raſſe iſt eben eine Macht.“
Friedrich Holtmann blieb ſtehen.
„Sie haben recht,“ ſagte er rauh und feſt. „Die
Raſſe entſcheidet. Sie iſt ſtärker als jedes geiſtige
Bindeglied. Ich war ein Tor, daß ich das nicht
früher einſah. Seien Sie bedankt, auch für dieſe
Belehrung — und leben Sie wohl!“
„Wohin ſo eilig? Was haben Sie jetzt vor?“
„Wohin ich will? Das iſt ſehr einfach: Ich will
nach Deutſchland. In das Land, wo ich daheim
bin, für das mein Sohn kämpft. Morgen gehe ich
fort.“
® ® 2
| Holtmann faß im Bahnzug, der über den Brenner
fuhr. —
Bei ſeinem Abſchied hatte die Signora Erminia
viele Tränen geweint, ihm auch noch alles erdenkliche
Liebe und Gute angetan. Sie und ſämtliche Haus⸗
genoſſen, denen fein Scheiden mehr oder minder zu
Herzen ging, hatten ihm von der Türe nachgewinkt:
„Glückliche Fahrt, Signor! Auf Wiederſehen! Kom⸗
men Sie gut zurück!“ Er lächelte bitter dazu.
Die Gegend, die er durchſauſte, hatte er beinahe
keiner Betrachtung gewürdigt, auch Rom keinen
Scheideblick gegönnt. Nur da der Zug den Bahn⸗
hof verließ, hatte er im Innern den Riß verſpürt,
der anzeigt, daß einem die Liebe eines Lebens ver⸗
ſinkt.
An der Grenze gab es, dem Krieg entſprechend,
allerhand Paß⸗ und Zollplage. Von hier an ge⸗
wahrte er, der von den Begleiterſcheinungen des
123
Krieges nichts gewußt, deren erſte: die bewaffneten
Bahnwachen.
Er hielt ſich nirgends auf, ſondern fuhr in einem
Zuge durch nach München. Von einer der Stationen
vorher hatte er ein Telegramm an Gladys geſandt.
Dann ſaß er wieder und lauſchte unwillkürlich den
Geſprächen der mitreiſenden Deutſchen und Oſter⸗
reicher über den Krieg. Die meiſten wußten von
Waffenerfolgen zu berichten, äußerten Zuverſicht, ja
Begeiſterung. Holtmann ſaß ſtumm dabei.
Was hätte er ſagen ſollen? — „Dort, wo ich
herkomme, glaubt niemand an euren Sieg. Dort
hält man euch für verloren und des Verlierens wert.“
Lieber ſchwieg er und lauſchte den Reden, aus
denen hervorging, daß jeder irgendwie vom Kriege
betroffen war. Aber alle trugen ihr Betroffenſein
mit einem gewiſſen Stolz.
Faſt auf jeder Station ſtiegen Soldaten ein:
über die Hälfte des Zuges war von ihnen voll. Auf
der Strecke Kufſtein — München wurden ihrer mehr
und mehr. Holtmann hatte nie gewußt, daß es ſo
viel wehrfähige Mannheit gab. Er entſann ſich, wie
er vorgeſtern in Rom ſich zum erſtenmal des alten
Waffenruhms der Germanen gerühmt hatte, gerühmt
mit Worten, ähnlich denen ſeines Sohnes.
München! Er war am Ziel! In der Ausſteig⸗
halle hieß es, ein wenig warten, weil eben wieder
ein endloſer Zug mit Soldaten abgelaſſen wurde.
Alle waren mit Blumen geſchmückt, die für ſie bereit⸗
ſtehenden Wagen bekränzt. Vielſtimmig durchbrauſte
ihr kräftiger Geſang die Halle: „Lieb Vaterland,
magſt ruhig ſein!“
124
Und dann die Stadt! —
Ein Getriebe, eine Geſchäftigkeit, wie ſich Holl
mann nie entſann, geſehen zu haben. Es nahm ihn
wunder, daß kein Unheil geſchah bei ſolchem ge⸗
ſteigerten Verkehr. Was ihm aber noch mehr auf⸗
fiel, war die Ruhe unter aller Haſt. Jedes Ding
klappte, war in Ordnung; jeder Menſch war auf
ſeinem Platze, tat ſeine Schuldigkeit. Der Zugereiſte
las die Geſichter und las neben tiefem Ernſt eine
gefaßte Entſchloſſenheit, die zu ſagen ſchien: „Ja,
nun geht es alſo um unſer Daſein, um alles, was
wir haben und ſind. Aber das iſt kein Grund, da⸗
mit Verwirrung und Pflichtloſigkeit einreißt.“
Auf der Bahn bedeutete man ihm: es würde
etwas länger dauern, bis er ſeinen Koffer bekäme.
Im Gaſthof bat man ihn höflich, etwas Nachſicht mit
der Bedienung zu haben, da über die Hälfte der An⸗
geſtellten zum Heer eingerückt ſei. Doch nahm der
Betrieb ſeinen gewohnten Gang. Nur in einer miß⸗
trauiſchen Erregung des Volkes gegen Fremde äußerte
ſich das, was in den Gemütern wühlte und grollte.
Er ſah, wie die Begegnenden ihn argwöhniſch
muſterten, um des ausländiſchen Zuges willen, der
ihm anhaftete. Und Miß Gladys, die in einer ihr
- empfohlenen Penſion abgeſtiegen war, erzählte, da
ſie ihn zu beſuchen kam: ſie hätte ihrer angliſieren⸗
den Ausſprache wegen beinahe Unannehmlichkeiten
auf der Straße gehabt. Sie nahm es jedoch mit
Humor und trug nur ſeitdem ein kleines Stern⸗ und
Streeifenbanner als Abzeichen auf der Bruſt. Jetzt
war ſie genugſam geſchützt durch die Tracht der
Krankenpflegerin; denn ſie hatte es erreicht, eine
125
Stelle als Helferin zu finden an dem Lazarett, das
die amerikaniſche Kolonie aus eigenen Mitteln er⸗
richtet hatte.
Sie konnte ihm auch nur beſchränkte Zeit sit
men, ihn über die erſten paar Stunden des Unbe⸗
hagens in der fremden Umgebung hinwegtäuſchen.
Dann rief die Pflicht ſie ab. Holtmann aß einſam
zu Nacht und machte, von der Milde des Herbſt⸗
abends verlockt, noch ſpät einen Spaziergang.
Er wählte abgelegene Straßen. Die Allerwelts⸗
häuſer, die da in den ſacht verdämmernden Himmel
ragten, taten ſeinem verwöhnten Auge weh. Er
ſehnte ſich — nach Rom.
Getrappel von Pferdehufen. Ein Zug Reiterei
kam daher. Wieder Truppen — wuchſen ſie denn
aus dem Boden hervor? Und ebenſo, wie durch
Zauber, war die wenig belebte Straße im Nu mit
Menſchen erfüllt. Dichte Reihen ſtanden den Fuß⸗
ſteig entlang, entblößten Hauptes; etliche ſchüttelten
den Reitern die Hand, riefen ihnen einen kräftigen
Abſchied zu. Eine junge Frau, mit einem etwa halb⸗
jährigen Kindchen auf dem Arm, drängte ſich an des
vorderſten Reiters Pferd heran, reckte ſich und legte
das Händchen ihres Kleinen in die Soldatenhand.
„Wiſſen Sie: die Unſchuldigen bringen Glück,“ ſagte
ſie treuherzig.
Lange war Friedrich Holtmann nichts ſo zu
Herzen gegangen wie dieſer Zug ſeeliſcher Anmut in⸗
mitten von all dem finſteren Ernſt. —
® ® ®
In die Stille feines Zimmers ſchlug ein braufen-
des Hurrageſchrei an fein Ohr. Wieder ein Sieg —
126
was konnte es ſonſt fein! Er lächelte faſt über fich
ſelber, daß ihn das ſo froh machte. Da doch die
Lage deshalb nicht minder gefährlich ward!
Als er die Treppe hinabſtieg, trat ein Bedienſteter
des Hauſes zu ihm heran und überreichte ihm die
Poſt. Ein Stadtbriefchen von Miß Gladys und eine
Karte — Feldpoſt — von der deutſchen Botſchaft in
Rom ihm nachgeſandt. Es ging Cäſar noch gut —
Gottlob!
Gladys hatte ihm ein Stelldichein im Deutſchen
Muſeum gegeben; er nahm ihr die Karte dorthin
mit. Dabei fand es ſich, daß Gladys ſelbſt ſchon
wiederholt Nachrichten erhalten hatte; es kam ihm
nicht überraſchend, da Cäſar ihn um ihre Münchner
Adreſſe gebeten. Ein wenig lächelte er, als er ſah:
ſie trug den jüngſt empfangenen Gruß „ganz zu⸗
fällig“ im Täſchchen mit ſich.
„Es iſt nur gut,“ ſagte Gladys, „daß Italien
neutral bleibt.“ — „Bis jetzt,“ ergänzte er kurz. Sie
erſchrak.
„Mein Himmel, wenn das auch noch käme! Und
wie hart für uns, die wir dort gelebt haben, nament⸗
lich für Sie.“ — Er zuckte nur die Achſeln. „Ich
glaube in dieſer Hinſicht an nichts mehr.“
Einſtweilen richtete er ſich in München häuslich
ein. Gladys half ihm, ein paar Zimmer in einem
freundlichen Hauſe ſuchen. Gegen dieſe Stadt wehrte
ſich nichts in ihm wie gegen ſeinen ehemaligen klein⸗
ſtädtiſchen Wohnſitz. Er war vor vielen Jahren
einmal hier geweſen, um die Muſeen zu ſtudieren.
Nun feſſelte ihn ein anderes.
Er lernte Deutſchland kennen!
127
Er hörte Dinge, die ihn mit einem erſt ungläu-
bigen, dann gerührten Staunen erfüllten. Ein deut⸗
ſcher Profeſſor, an den er empfohlen war, erzählte
ihm bei einem Beſuch vom Ende eines jungen, hoch⸗
begabten Mannes, der kurz vor Kriegsbeginn ſeinen
Doktor gemacht hatte. Der hatte mit ſeinen Kame⸗
raden ein Dorf verteidigt, das ſie ſchließlich vor
franzöſiſcher Übermacht räumen mußten. Die Kom⸗
panie des deutſchen Doktors befand ſich noch im
Rückzug durch die enge Dorfgaſſe, als die Franzoſen
ſchon eindrangen. Er ſperrte den Eingang der Gaſſe
mit einem von ihm bedienten Maſchinengewehr und
feuerte, feuerte, um die kleine Schar ſeiner abziehen⸗
den Gefährten zu retten. Eine Schrapnellkugel traf
ihn in den rechten Arm — er ſchoß weiter, mit dem
linken, ſchoß, nachdem er noch von drei Kugeln ge⸗
troffen war, bis endlich eine ihm den Kopf zer⸗
ſchmetterte. Aber da war die Kompanie in Sicher⸗
heit. —
„Mucius Scävola!“ — dachte Holtmann. „Nein,
mehr als das!“
Ein anderes erlebte er ſelbſt. Er war zu einer
der Sammelſtellen gegangen, wo für die Chriſt⸗
beſcherung der Soldaten geſpendet ward und hatte
die Summe hingetragen, die er ſonſt um dieſe Zeit
des Jahres an ſeinen Sohn geſandt. Da kam, wäh⸗
rend er ſeinen Zoll entrichtete, eine Bäuerin ſchüch⸗
tern hereingetrippelt, ein Altchen, deſſen Antlitz ſo
durchfurcht und durchgraben war wie eine holperige
Landſtraße, vermutlich weil der Karren des Schickſals
ſo hart darüber gefahren war. Die knüpfte mit
großer Umſtändlichkeit einen verſchnürten Pack auf,
128
aus dem fie etliche Meter feſte ſchöne Bauernlein⸗
wand entwickelte. „Das hätt' für mein Sterbehemd
ſein ſollen und für mein letztes Leintuch,“ ſagte ſie.
„Jetzt tät ich halt bitten, daß man's verarbeitet für
die Unſern im Feld.“ Der Abnehmer des Geſchenkes
hielt es mit einer gewiſſen Ehrfurcht und begehrte
den Namen der Spenderin zu wiſſen. Sie lächelte
verſchämt. „Das braucht's nicht,“ ſagte ſie, nickte
und ging hinaus.
Das Bild der Alten blieb das einzige nicht, das
Friedrich Holtmanns Seele in dieſen Wochen auf⸗
nahm und ſich einprägte. Er ſah junge Frauen in
Trauerſchleiern, Väter und Mütter, die über Nacht
grau geworden waren durch den Tod des Sohnes
oder gar der Söhne. Faſt alle hielten das Haupt
nicht geſenkt, ſondern trugen es mit ſtiller Ruhe auf⸗
recht, als ſtrömte aus der Leidenskrone, die ihnen
aufgelegt worden, eine weihende Kraft. Holtmann
mußte ſich geſtehen, daß hier etwas lebte, was er
tot und vergangen gewähnt: das Heldentum in der
Menſchheit, in ſeinem Volke zumal. Ja, der Geiſt
der Antike war es, der im heutigen Deutſchland ſieg⸗
reich auferſtand!
Er wollte auch nicht müßig ſein. Er ſchrieb
Briefe und Aufſätze, überſetzte die Auslaſſungen un⸗
parteiiſcher Blätter. Überallhin verſandte er das Ge⸗
ſchriebene; er begleitete es mit Zeitungsausſchnitten,
die das ſchilderten, was er täglich erlebte und ſah.
Er verlangte ja nicht, daß man Partei ergreifen
ſollte für ſein Vaterland, er forderte nur das eine:
„Seid gerecht! Glaubt uns! Seht uns, wie wir
ſind!“
129
Selten, ſehr felten, daß ein freundliches Echo ihm
zurückſchallte! Meiſt kam keine Antwort, oder ſie
klang kühl; mehrmals wurden Beſchimpfungen ſein
Lohn.
Die Menſchen, die mit ihm gelebt, die ihn als
das Gegenteil eines verblendeten Chauviniſten ge⸗
kannt hatten, glaubten ihm nicht. Sie ſahen in ihm
nichts mehr, denn den Angehörigen einer Raſſe, die
ſich, wie behauptet ward, auf Erden zu breit machte
und deshalb unbeliebt war.
Sein Traum vom Weltbürgertum! Es gab ja
keine Weltbürger; jedem ſchien die Welt innerhalb
ſeiner Grenzpfähle die einzige.
Nur Giuſtini ſchrieb Antwort in einem warmen,
vornehmen Ton und hieß ihn vertrauen auf ihrer
beiden Völker geiſtiges Band.
Ahnlich wie Holtmann erging es auch Gladys.
Mit dem Verſuch, auf ihre Landsleute jenſeits des
Meeres zu wirken, war es ihr ſo ſchlecht geglückt,
wie ihm mit Italien. Sie hatte aufklärende Zei⸗
tungen und Flugſchriften hinübergeſandt, hatte ge⸗
ſchrieben, daß die Waffenlieferung von Amerika an
Deutſchlands Gegner ihr und anderen hier lebenden
Amerikanern kränkend ſei, als ein Verſtoß gegen
ihres Landes Freiheit und Unparteilichkeit. Aber es
war umſonſt geweſen.
Sie gelobten ſich gegenſeitig, die Aufklärungs⸗
verſuche, die ihnen nichts als bittere Erfahrungen
einbrachten, zu unterlaſſen. Holtmann tat nach Gladys
Vorbild: er trachtete zu helfen. Obgleich der helfen⸗
den Hände ſo viele waren, gelang es ihm dennoch.
Der ſtattliche Mann mit dem engen en
XXXI. 20
130
Römerkopf erregte Aufſehen und Zutrauen, gepaart
mit der Ehrfurcht vor einem Vater, deſſen Einziger
im Felde ſteht. Holtmann hatte das Gefühl, als
wandle der Entfernte neben ihm und gebe ſein Wort
zu allem, was er tat.
Er hatte ſeinem Sohn dies ſein Erleben ge⸗
ſchrieben, ausführlich. Das würde Cäſar freuen!
Nach etlichen Tagen aber lag der Brief, den er
ins Feld geſandt, nebſt einem Päckchen guter Dinge,
wieder auf feinem Frühſtückstiſch. Beides trug die
lakoniſche Aufſchrift: „Zurück“.
Warum zurück? War Cäſar zu einem anderen
Heeresteil gekommen? — Oder war er verwundet?
Holtmann ſuchte Gladys auf und traf ſie be⸗
ſtürzt. Sie hatte gleichfalls zwei Kiſtchen mit Schoko⸗
lade als unbeſtellbar zurückerhalten. Auf dem einen
ſtand hinter dem Worte „Zurück“ noch ein zweites
Wort gekritzelt: „Vermißt“.
Sie vermieden einander anzuſehen. Eines verbarg
dem andern ſeine Angſt. Gladys war ſtill und
ſehr blaß.
Holtmann ging ſogleich aufs Kriegsminiſterium.
Obſchon Cäſar keinem bayeriſchen Truppenteil an⸗
gehörte, ward dem Vater freundlicher Rat gegeben,
wie er ſich am eheſten ſichere Auskunft verſchaffen
könnte. Einige Tage freilich würden verſtreichen, ehe
die Nachricht kam.
Einige Tage! Wie endlos lang wurden ſie!
Auf einſamen Wanderungen, in ſtummen Dämmer⸗
ſtunden rief ſich Holtmann das karge Beiſammen⸗
fein mit ſeinem Sohne zurück. Er wiederholte ſich
deſſen hingeworfene Reden, ſuchte ſich ſeine Mienen
131
zu vergegenwärtigen. Und was ihn früher gereizt,
was ihm der ſchroffſte Gegenſatz ſeines eigenen
Weſens gedeucht hatte, beſaß nun keinen Stachel
mehr. Ja, er erkannte darin verwandte Züge, bloß
umgemodelt durch Verſchiedenheit des Alters, der
Umgebung, des Temperamentes. Er, der Vater,
hatte ſich nur die Mühe nicht genommen, ſeinen Sohn
unbefangen kennen zu lernen, ſo wenig wie er deſſen
verſtorbene Mutter gekannt. |
So kam Weihnachten heran.
Friedrich Holtmann rüſtete in ſeiner Stube den
Tiſch; denn Gladys hatte ihm zugeſagt, nach der
Beſcherung im Lazarett zu ihm zu kommen. So gut
er vermochte, brachte er etwas Traulichkeit inmitten
der gleichgültigen Einrichtung ſeines Mietzimmers
zuſtande. Auf den weißgedeckten Tiſch ſtellte er die
— zufällig mit eingepackte — römiſche Ampel, da⸗
neben zwei Armleuchter mit brennenden Kerzen. Die
beſten Glasſchalen ſeiner Wirtin hatte er entliehen,
um ſie mit Weihnachtsgebäck, Datteln und Manda⸗
rinen zu füllen; auch ein echt italieniſches ſtroh⸗
umflochtenes Fiasco voll Südwein fehlte nicht. Das
alles kränzte er mit Tannenzweigen und legte dann
das Beſte dazwiſchen: ein Bild ſeines Jungen aus
der Studentenzeit, das er hervorgeſucht und für
Gladys hatte vergrößern laſſen. Nun war er fertig.
Im Hauſe gegenüber glommen durchs Fenſter
allerhand zitternde, gleichmäßig verteilte Sternchen
auf. Durch ſeine Wirtin wußte Holtmann, daß da
drüben die Großeltern und die junge Mutter den
Chriſtbaum anzündeten für zwei Kleine, deren Vater
im Felde ſtand. In Sinnen verſunken ſtarrte er
132
nach den Glitzerſternchen, bis ein Geräuſch ihn auf-
ſchreckte. Ein Brief ward ihm hereingereicht — er
trug den Stempel von ſeines Sohnes Regiment. —
Holtmann hatte das Gefühl, daß eine würgende
Hand ihm an die Kehle griff. Er riß das Schreiben
auf und las —
In ſchonenden, mitfühlenden Worten ward ihm
eröffnet, daß ein paar Kameraden ſeinen Sohn hätten
fallen ſehen. Zwar habe man den Toten nicht ge⸗
funden — indes — —
Der Vater ſtand unbeweglich; die Lichter drüben
funkelten und tanzten vor ihm. Nun alſo war alles
aus! — Alles! —
Eine helle Stimme — ein Kleiderrauſchen — er
wandte ſich kaum — ach: Gladys!
Sie gewahrte ſogleich, was er in der Hand hielt.
Und den weſenloſen Blick, mit dem er ſie anſah. Ein
Zittern überfiel ſie, daß ſie ſich am Tiſche ſtützen mußte.
Er reichte ihr den Brief. Sie ſtarrte mit über⸗
quellenden Augen darauf hin — glitt facht in einen
der Sefſel am Tiſche, — ihr Kopf ſank auf die
Arme, die ſie über dem Bilde verſchränkt auf die
Platte gelegt hatte. Holtmann ſtand und ſah, wie
unter dem weichen, hellen Stoff, in den ſie gekleidet
war, die junge Bruſt ſich zuckend hob, und wie ihre
Tränen zwiſchen den Fingern hindurch auf das Bild
fielen, gleich dem Wachs, das langſam von den
Leuchtern tropfte. Er trat hinter ſie und ſtreichelte
ihr Haar.
„Sie haben ihn lieb gehabt,“ ſprach er ſanft. Sie
erwiderte nichts, neigte nur bejahend die Stirn —
und ſchluchzte.
133
Er dachte daran, daß die Ahnung hiervon ehe⸗
mals ſeine ſpäte Manneseitelkeit — denn etwas
anderes war es nicht geweſen — peinlich berührt
hatte. Und heute hätte er alles hingegeben, wenn
der, dem dieſe Tränen galten, hier geſtanden hätte,
um ſie beide an ſein Herz zu ſchließen. Denn nun,
da es zu ſpät, und der Sohn ihm auf immer ver⸗
loren war — nun liebte er ihn auch! —
®
Die Zeit ſchien ſtillzuſtehen. Holtmann wenigſtens
empfand ihr Vorrücken nicht mehr.
Automatenhaft ging und ſprach er, tat, was ihm
oblag. Er betrachtete die übernommenen Pflichten
wie ein Vermächtnis ſeines Sohnes. Ohne daß er
darüber redete, ſchritt er all deſſen Gedankengänge
nach.
Das war ſeine Art, ihn ſich auferſtehen zu laſſen.
Eine andre Auferſtehung glaubte er nicht.
Mit der vollen Herbheit, die er hervorkehren
konnte, wehrte er ſich auch dagegen, ein milderes
Schickſalsverdikt zu erlangen. Gladys hatte viel⸗
fältige Nachforſchungen angeſtellt, durch das Rote
Kreuz, durch auswärtige Konſulate: ſie hoffte noch.
Er wies die Hoffnung ab; ſeine ſchonungsloſe Selbſt⸗
kritik ließ ihn das, was ihn betroffen hatte, als ge⸗
recht empfinden.
Und die Trauer ſchien noch erträglicher als die
ſchreckliche Leere, die in ihm war. Sein verfloſſenes
Leben war doch im Grunde nichts geweſen als etwas
Unwirkliches, eine fortgeſetzte Selbſttäuſchung. Er
hatte einen Sohn verloren, ehe er ihn beſeſſen. Er
134
hatte ſich daheim gefühlt in einem Lande, das er fein
Wunſchland nannte, und das eigentlich nur in ſeiner
Vorſtellung beſtanden hatte. Die Wirklichkeit, die
dem Bilde ſo wenig glich, vertrieb ihn daraus.
Die Heimat, der er den Rücken gewandt hatte,
weil ſein Lebenskreis darin ihm mißfiel, ſtellte ſich
ihm höher, größer, liebenswerter dar, als er je ge⸗
glaubt. Aber das Wiederfinden geſchah zu ſpät. Sie
hatte ihm nichts mehr zu geben als ein Grab für
ſich und ſeinen Sohn. Nein: ſein Sohn, der ſie ſo
geliebt hatte, lag in der Fremde draußen — irgend⸗
wo —
Alles war eitel geweſen — und alles war tot!
Die Welt umher mochte aus dieſem furchtbaren
Ringen vielleicht erneut hervorgehen. Seine innere
Welt, in der er gelebt, war zerbrochen und dahin —
® ® ®
Das neue Jahr brach an. Schwer für alle Welt
— am ſchwerſten für einen, der ſeine Zukunft be⸗
graben hat.
Schnee ſtiebte vom Himmel. Holtmann, der von
ſüdlicher Sonne Verwöhnte, dachte fröſtelnd an ver⸗
eiſte Schlachtfelder, an rotgefärbten Schnee —
Durch das Fenſter ſah er jemand haſtig auf das
Haus zukommen, in Mützchen und Muff. Trotz des
verſchleiernden Stöberns erkannte er Gladys. Warum
lief ſie ſo? Es gab doch für ſie beide nichts Eiliges
mehr auf der Welt.
Aber was bedeutete das? Sie hatte ihn am Fenſter
erſpäht, winkte mit den Armen, ſchwenkte ihren Muff.
— Eine Aufregung bemächtigte ſich ſeiner, ſo jäh,
135
daß er aufſprang, alles ftehen ließ, hinauseilte, bar⸗
haupt, durch den Hausflur, bis ans Tor.
Sie ſtürzte ihm entgegen, umhalſte ihn, lachte,
weinte in einem Atem: „Er lebt!" — — — — —
. a a ig ame: —— ũ?T:!:!:! .. . | | Semmemerme:. 0 SS
Zuerſt hatte er es nicht faſſen können. Allmäh⸗
lich begriff er, daß es wirklich ſo war. Aus einer
elſäſſiſchen Stadt hatte Gladys die Nachricht erhalten,
daß Cäſar ſchwerverwundet im dortigen Lazarett lag.
Wie er dorthin gelangt, warum die Nachricht nur an
ſie und nicht an den Vater gekommen war, blieb un⸗
aufgeklärt. |
Sie machten fich beide ſogleich auf; fie reiften
Tag und Nacht, keiner Mühſal achtend. So er-
reichten ſie das Ziel und fanden ihn.
Es ſtand nicht gut. Er hatte einen Schenkel⸗
ſchuß und eine Kopfwunde, die hart am Leben vor⸗
beigegangen war. Ob das Leben wirklich erhalten
bleiben und kein ſieches ſein würde, ſchien ungewiß.
Nur die Jugendkraft des Verwundeten ließ es hoffen.
So begann das qualvolle Warten aufs neue.
Tage, die mit der bangen Frage anfingen: „Wie wird
es heute ſein?“ — Nächte, in denen die Angſt vor
dem Morgen den Schlaf verſcheuchte! Dieſer Zuſtand
hielt durch Wochen an. Sie durften nicht einmal oft
und lange bei ihrem Verwundeten weilen. Mitunter
erkannte er ſie — dann wieder nicht.
Gladys bot all ihren Mut auf; Holtmann duldete
in ſtarrer Ergebung, wie einer, der mit gebücktem
Nacken des unausweichlichen Streiches harrt.
136
Aber der Streich fiel nicht herab. Selbſt an dem
Tage nicht, da der Arzt ihn und Gladys, nach der
täglichen Unterſuchung Cäſars, beiſeite nahm. „Es
geht zu Ende — nun wird er es uns ſagen,“ dachte
Holtmann. Jedoch der Arzt ſagte etwas ganz
andres.
„Der Heilungsprozeß ſchreitet vorwärts, wenn
auch langſam. Ich glaube: wir dürfen unſern Kranken
als gerettet anſehen.“
® S
Behutſam geleiteten ſie ihn nach München, wo er
in einer der Kliniken Aufnahme fand. Er litt noch
viel; dennoch hatten ſie alle drei das Gefühl, in
ihrem Leben nie glücklicher geweſen zu ſein.
Cäſar war des wiedergewonnenen Daſeins ſo
froh, ſo dankbar, ſie beide bei ſich zu haben. Nun
erfuhren ſie auch, wie er ihnen erhalten geblieben
war. Als er getroffen niederſtürzte, war ſein Be⸗
wußtſein geſchwunden. In tiefer Nacht kam er
mählich zu ſich, von Wundſchmerz und brennendem
Durſt gepeinigt, rings um ihn her ein Wall von Toten,
Freund und Feind. So grauenvoll deren Nähe war,
graute ihm noch mehr davor, den vielleicht das
Schlachtfeld abſuchenden Feinden in die Hände zu
fallen. Langſam, ſo langſam, daß niemand ihn ſehen
konnte, war er auf allen Vieren vorwärts gekrochen
zwiſchen den Leichen, weit hinweg aus der Nähe der
feindlichen Gräben und Geſchoſſe. Wie ein wundes
Tier hatte er zu ſeiner Erquickung Schnee geleckt und
den brennenden Kopf im Schnee gekühlt. Am Rand
eines Wäldchens war er abermals bewußtlos zu⸗
137
ſammengebrochen; dort hatten deutſche Sanitäter mit
ihren Hunden ihn entdeckt nach geraumer Zeit und
ihn zunächſt in ein Feldlazarett verbracht, dann zu
beſſerer Pflege in die Stadt, wo die Seinen ihn ge⸗
funden hatten. |
Ehemals hatte Holtmann, der ſeit der Knabenzeit
nicht mehr krank geweſen, eine inſtinktive Abneigung
gegen körperliche Leiden, Gebrechen und Wunden ge⸗
hegt. Bei dem Bericht ſeines Sohnes empfand er
nur das Erſchütternde, die wilde Poeſie des modernen
Heldengedichts.
Warum an ihn, den Vater, keine Nachricht ge⸗
ſandt worden, war ſchon früher zutage gekommen.
In dem Dämmerzuſtand, den ſeine ſchwere Verwun⸗
dung verurſachte, hatte Cäſar dem Lazarettarzt, der
ſich zur Benachrichtigung der Verwandten erbot,
ſeines Vaters römiſche Adreſſe gegeben. „Mit zer⸗
ſchoſſenem Schädel denkt man ungenau, weißt du!
Und in meiner Vorſtellung warſt du unzertrennlich
von Rom.“ — Dann aber hatte der Arzt ihn nochmals
gefragt, ob nicht auch in Deutſchland ſich irgend welche
ihm Naheſtehende aufhielten? Denn insgeheim hatte
er für Cäſars Leben gefürchtet und Angehörige her⸗
beirufen wollen, die ſchneller eintreffen könnten als der
Vater aus Rom. Da hatte Cäſar Gladys genannt.
Gladys hatte es erreicht, ihre bisherige Wirkſam⸗
keit aufgeben und dafür Cäſar pflegen zu dürfen.
Sie tat es mit ſo heiterer Selbſtverſtändlichkeit, als
gehörte er in erſter Linie ihr.
Und nach einigen Wochen war es auch wirk⸗
lich ſo.
Holtmann hatte es gewußt und erwartet. Er
138
war keineswegs überrafcht, da er eines Tages, beim
Eintritt in ſeines Sohnes Krankenzimmer, die bieg⸗
ſame Geſtalt der Pflegerin in Cäſars noch matten
Arm geſchmiegt fand. „Meine Kinder!“ ſagte er
einfach und ſtreckte ihnen glückwünſchend die Hände
hin, noch ehe ſie ihm in wohlgeſetzter Rede ihre Braut⸗
ſchaft melden und ſeine Einwilligung erbitten konnten.
Sie waren unbeſchreiblich glücklich. Sie bauten
gemeinſam das Luftſchloß ihres künftigen Lebens aus.
Cäſar neckte Gladys, ob es ſie nicht ſtören würde,
falls das Haar über der Kopfnarbe dünn nachwüchſe?
und ſie lachte und meinte: für das, was er vorhätte,
ſähe es eben recht würdig aus. Ein großes Er⸗
ziehungsheim wollten ſie gründen und berieten alle
die hygieniſchen und ethiſchen Grundſätze, nach denen
die darin aufgenommene kleine Menſchheit aufwachſen
ſollte. Geſund und abgehärtet, aber keine bloßen
Sportsleute, herzhaft fromm ohne Muckerei, fried⸗
fertig aber nicht ſchwächlich, tapfer, doch nicht rauf⸗
luſtig, voll Liebe für die ganze Menſchheit, am meiſten
aber für das eigene Vaterland.
„Mit einem Wort: lauter Idealmenſchen!“ be⸗
merkte Holtmann dazu. „Es iſt merkwürdig, der
Deutſche ſchulmeiſtert gar zu gern, auch wenn er eben
aus dem Kriege kommt.“ — Die beiden verargten
ihm den Spott nicht; ſie hatten vielmehr eine zarte
und liebe Art, in ihre Zukunftspläne ihn einzu⸗
beziehen. Gladys, die ſchon den Bau des künftigen
Hauſes überſann, hatte ſich eine hohe luftige Erker⸗
ſtube für den Vater ausgedacht, mit freiem Blick in
die Landſchaft — und Cäſar ſagte: die Einrichtung
müßte ganz ſo ſein wie in Rom, damit der Vater,
139
von dort kommend, ſich gleich heimiſch fühlte. „Werde
ich je wieder dort ſein, von dort kommen?“ — fragte
ſich Holtmann innerlich. Allein er ſprach es nicht
aus. Er ſprach auch von dem nicht, was ſie alle
drei ſich im Stillen ſagten: daß Cäſar, wenn er völlig
geſundete, zunächſt wieder hinaus mußte ins Feld.
Sich nicht erinnern! Nicht an die Zukunft denken!
Die Gegenwart war mächtig genug.
Er war jetzt täglich bei ſeinem Sohn. Anfäng⸗
lich nur kurz, damit es nicht zu viel würde für die
langſam wiederkehrende Kraft des Geneſenden. Dann
mählich länger. Immer hatte er ihm etwas zu er⸗
zählen, ihm Kunde zu bringen von draußen. „Ihr ſeid
für mich wie Wotans beide Raben,“ ſagte Cäſar
ſcherzhaft von ihm und von Gladys.
Und einmal, da ſie allein waren, ſprach er zu dem
Sohn auch von dem, was ſie getrennt hatte.
„Ich habe euch Heutige nicht gekannt. Ich habe
euch für ſchwächlich und dekadent gehalten, weil ihr
dem Einzelnen ſo viel nachfragtet, weil eure Sehn⸗
ſucht am Überſinnlichen herumtaſtete, weil ich, in
meiner Welt feſtgewurzelt, die eurige nicht verſtand.
Jetzt ſehe ich, wie ſtark ihr ſeid, ſo einfach und ſelbſt⸗
verſtändlich ſtark wie die Helden des Altertums. Wir
Alteren müſſen uns ſchämen vor euch.“
„Nein, Vater, das müßt ihr gar nicht. Denn
ihr ſeid es, die uns erzogen haben. Den Begriff des
Heldentums und den viel belächelten deutſchen Idea⸗
lismus habt ihr in uns gepflanzt; uns unbewußt hat
er in uns gekeimt und ſich entfaltet, wenn auch an⸗
ders als ihr es gedacht. Ihr, die ihr zwiſchen zwei
Kriege fielt, hattet nicht zu bewähren, was ihr uns
140
gelehrt; nun machen wir der Schulung * auf
unſre Art.“
Im Dämmer des Krankenzimmers bog der Vater
ſich über das Bett und tat etwas, das er ſeit Cäſars
Kindheit nicht getan hatte: er küßte ſeinen Sohn.
® ® S
Cäſars Geneſung war ſo weit vorgeſchritten, daß
er am Stocke, ſogar ohne ſtützenden Arm, im Hof⸗
garten friſche Luft ſchöpfen konnte. Dort lenzte es
mit Macht: die Bäume blühten; die Beete zwiſchen
dem jungen Raſen funkelten frühlingsbunt. Und die
Sonne ſchien ſo wundervoll warm.
Gewöhnlich ſaßen ſie zu dreien auf einer Bank,
von den Vorübergehenden mit Achtung und Wohl⸗
gefallen betrachtet, weil dort ein verwundeter junger
Krieger ſaß.
Auch von draußen kam Frühlingsbotſchaft; die
da gefallen waren, hatten nicht umſonſt mit ihrem
Blute die braunen Schollen getränkt. Nun keimte die
Saat; vom Oſten, vom Weſten ward gemeldet: Sieg!
Aber von Süden her zogen dunkle Wolken auf;
eine Verlängerung des Krieges ſchien von dorther
zu drohen. Es hieß: nun rüſte Italien ſich zum
Krieg! Der mögliche Abfall des durch dreißig Jahre
verbündeten Volkes rührte mächtiger an die Gemüter
als alle Gegnerſchaft der bisherigen Feinde gekonnt.
Manches heftige Wort der Anklage wider das
Land, das ſeine Wahlheimat geweſen war, hatte
Holtmann ſchon hören müſſen. Er hatte geſchwiegen
dazu. Und Cäſar wie Gladys hatten jeweils das
Geſpräch geſchickt abgelenkt.
141
Nur heute, da fie beiſammen ſaßen auf ihrer
Sonnenbank und alles Licht und Friede um ſie her
war, huben ſie von der Entſcheidung zu ſprechen an,
die unmittelbar bevorſtand. Wenn Italien, nicht zu⸗
frieden mit dem Zuwachs, den Ofterreich durch Deutſch⸗
lands Vermittlung ihm bewilligen wollte, zum Schwerte
griff, ſo verzögerte es mindeſtens der beiden Sieg.
Daß es ihn vereiteln könnte, glaubte Cäſar ſo wenig
wie irgend einer, der im deutſchen Heer mitgefochten
hatte. N
Aber als Sohn empfand er tief, welch eine Ent⸗
täuſchung damit ſeinem Vater angetan ward.
Wenn er am Ende noch kämpfen müßte gegen
ſeines Vaters Lieblingsland. — „Das würde dich doch
ſo ſchmerzen!“ |
Holtmann zuckte die Achſeln. „Es geht jetzt in
einem hin.“
So ruhig er darüber ſprach, in ſeinem Innern
wehrte er ſich noch gegen dieſe Möglichkeit. Er ent⸗
ſann ſich der Worte Giuſtinis, er wußte: wie jener,
ſo dachten Hunderte, Tauſende anderer, der beſte
Teil der Nation! Dieſe mußten die Macht haben,
dem anſchwellenden Kriegswahnſinn zu ſteuern. Italien
konnte, durfte nicht mit Deutſchlands Gegnern gehen!
Die Aufregung und die Spannung wuchſen, je
wirrer und wilder die Nachrichten von jenſeits der
Alpen lauteten. Sie wuchſen bis zum Unerträglichen;
jede Gewißheit, auch die ſchlimmſte, war vorzuziehen.
Holtmann hatte ſeinen Sohn und deſſen Braut
auf ihrer Sonnenbank verlaſſen, um nach den neueſten
Telegrammen zu ſehen, die um dieſe Zeit angeſchlagen
wurden. Er ſah von weitem: etwas Wichtiges!
142
Denn die Menſchen drängten ſich vor dem Anſchlag.
Er brach ſich Bahn — er las — Die Kammer in
Rom gab der Regierung unbeſchränkte .
Das war der Krieg!
Als er zurücktrat, berührte eine Hand ſeinen Arm.
„Herr Profeſſor, Sie auch hier?“ Einer aus ſeiner
Tafelrunde vom Trajansforum, der Kunſthändler,
deſſen Sohn aus Texas zur Erfüllung ſeiner Heeres⸗
pflicht geeilt war.
„Sie ſind geflüchtet?“ fragte Holtmann. „Ja,
ich mußte. Es gibt dort kein Plätzchen mehr für
unſereins.“
Sie reichten ſich die Hand, die beiden Alternden;
ihre Blicke tauchten tief ineinander. Ohne Worte
wußte einer, was im andern vorging. Mit dem
Sonnenland, der Wahlheimat war es vorbei.
Holtmann ſchritt zu den Seinen zurück, aufrecht
wie ſonſt. Seine Gedanken nahmen Abſchied von
dort drüben, für immer. Noch eine Regung des
Dankes für alles, was er dort empfangen und ge⸗
noſſen hatte, eine Regung des Mitleids für all die
Unſchuldigen, die den Krieg nicht wollten und von
ihm mitbetroffen wurden. Dann nichts mehr!
In dieſen Monaten durchrüttelnden Erlebens hatte
ſeine Seele heimgefunden. Er war ein Deutſcher und
wollte nichts andres ſein.
Cäſar und Gladys ſchauten ihm fragend entgegen.
Sie laſen in ſeinen Mienen die Antwort, noch ehe er
ſprach: „Der Krieg iſt da.“
Gladys bekam feuchte Augen: ſie hatte immer
gehofft. Cäſar ergriff ſeines Vaters Hand; der hielt
die ſeine feſt und drückte ſie ſtark.
143
„Es macht nichts. Hauptſache iſt, daß du lebſt
und Deutſchland lebt.“
Und mit einem Anflug früherer Schroffheit ſetzte
er hinzu: „Wenn du noch einmal mit mußt, wenn
es gegen die von da drüben geht, ſo tu dein Beſtes,
hörſt du! Wir müſſen ſie unterkriegen!“
In Engelhorns Nomanbibliothek
ſind ferner erſchienen
von
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Der Nebelreiter. (XXVIII. 24)
Naturgewalten. (XVI. 8)
Zu haben in allen Buchhandlungen
und auf Bahnhöfen
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mit Luhsaugen.
und André Eoupreur.
Franzöſiſchen.
Der Held dieſer höchſt originellen
Kriminalgeſchichte iſt ein junger Ge—
lehrter, der durch die Anwendung eines
Serums, das ihn befähigt, die Gedanken
ſeiner Nebenmenſchen zu leſen, einen
unſchuldig Verurteilten befreit und den
eigentlichen Mörder aufdeckt.
Erfüuung. Von Eliſabeth Ruylen⸗
ierna-Wenfter. Aus dem Schwe—
iſchen. 2 Bände.
Wie Gretchens, der lebensdurſtigen
Sucherin, Charakter ſich feſtigt, wie
fie zu einem innerlich reifen Menſchen
heranwächſt, wie in der Fremde die
Liebe zu ihrem früheren Bräutigam
wiedererwacht, — das alles iſt in die⸗
ſem im beſten Sinne modernen Roman
mit großer Feinheit und Lebenstreue
wiedergegeben.
die Infel der ſchönen Menſchen und an⸗
dere Geſchichten. Von Richard voß.
Der unerreichte Meiſter der italieni⸗
ſchen ee führt uns in dieſem
herrlichen Buche wieder nach dem Wun⸗
derland Italien und ſchüttet mit ver⸗
ſchwenderiſcher Freigebigkeit das Füll-
u feiner unerſchöpflichen poetiſchen
eftaltungstraft über all das leiden»
. bewegte Geſchehen aus. Eine
erle wie die 5 kann
ſchlechthin als Meiſterwerk bezeichnet
werden.
Die Tarantella der Carmelina und ans
dere Geſchichten. Von Richard Voß.
Die Geſtalten dieſes Buches ſind
nicht nach dem Süden verpflanzte
Nordländer: fie find auf dem vullan⸗
heißen Boden Kampaniens gewachſen,
find wundervoll in ihrer urſprünglichen
Friſche und leidenſchafterfüllten Kraft.
walökinder. Von 8. M. Croker.
Aus dem Engliſchen. 2 Bände.
Wenn unſre alte Freundin Mrs.
Croker mit einem neuen Roman er⸗
cheint, ſo kann ſie bei alt und jung einer
nn Aufnahme ſicher fein, zumal
wenn es ein ſo packender und reizvoll
geſchriebener tft wie dieſe Dſchungel⸗
eſchichteaus den Zentralprovinzen In-
iens, die ſie in treuer Anhänglichteit
ihren deutſchen Leſern gewidmet hat.
Der Lebende hat Recht. Von Klara Hofer,
Der tragiſche Konflikt, der aus der
Verbindung zweier von Grund aus
weſensverſchiedener Geſchlechter er⸗
wächſt, und das verzweiſelte Ringen
eines durch generationenlange Ülbers
kultur degenerierten Edelgewächſes
Von Michel Coròday
Aus dem
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gegen die a Triebnatur
eines friſchen Schößlings gibt das
Thema zu dieſem höchſt klugen und
ſeſſelnden Roman, mit dem ſich die
rühmlich bekannte Verfaſſerin außer⸗
ordentlich vorteilhaft in unſre Roman⸗
bibliothek einführt.
Droſchke No. 44. Von R. F. Foſter.
Aus dem Engliſchen.
Eine Kriminalgeſchichte von derarti⸗
em Raffinement, daß der Leſer durch
te ſich häufenden Komplikationen all—
mählich in die größte Verwirrung gerät
und bis zum Schluß genasführt wird.
nichts über Mich! Von Ida Boy⸗Ed.
2 Bände. 0 r
Ein Roman aus dem Hamburger
Großkaufmannsleben mit ſeinen Be⸗
glebungen über den großen Teich hin⸗
iber, voll packender Handlung in ſeinem
krimlnellen Vorwurf und von bezwine
ender Wirkung. Der fkrupelloſe
(merikaner, der ehrenhafte Kaufmann,
das Leben in den Hamburger Familien
Es mit ſicherem Blick gezeichnet, der
m Gerichtsſaal ausklingende Schluß⸗
akkord iſt von wahrhaft tragiſcher Größe.
Ein weiblicher sürgermeiſter. Vonhelen
m. Winslow. Aus dem Engliſchen.
Stürmiſchen Jubel auf der einen,
lebhaften Widerſpruch auf der andern
Seite wird dieſer außerordentlich zeit⸗
gemäße Roman erwecken, und ſicher
wird er, da er hervorragend amüſant
und ſpannend geſchrieben ift, überall mit
größtem Vergnügen geleſen werden.
Zum Irrgang.
Von Margarete v. Oertzen.
Ein ganz eigenartiger, ſaſzinierender
Reiz gebt von dieſer Alplergeſchichte
aus; die tieſe Glut der Hochgebirgsſlora
leuchtet uns entgegen, und der Geiſt
des einſamen Hochtals mit ſeinen tief⸗
ründigen Menſchen und vullanartigen
eidenſchaſten zieht uns mit magiſcher
Gewalt in feinen Bann.
Die 3 Inſel.
Von G. Bronſon- Howard.
dem Engliſchen. 2 Bände.
Ein höchſt ſpannender, abenteuer:
licher Roman, in dem eine von Japan
unterſtützte Verſ wörung etlicher in-
ternationaler Deſperados, die ſich die
Losreißung der Philippinen von Ame⸗
rika zum Ziel geſetzt haben, entdeckt
und unſchädlich gemacht wird. Dieſe
außerordentlich aktuelle Geſchichte 70 50
fie IM auch in hervorragendem Maße
.
Aus
ie reifere Jugend.
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Die indiſche Tänzerin.
Von paul Oskar Böcker. 2 Bände.
In ſeiner „Indiſchen Tänzerin“ zeich⸗
net der allſeits beliebte Erzähler das
buntbewegte Schickſal einer jungen
Frau, die aus artſtotratiſchen Kreiſen
ſtammt und ihr Talent der leichtbe—
ſchwingten Muſe wetht, als äußere
Not ihr den Lebenskampf aufzwingt.
Wie fie Herrin ihres Schickſals wird
und auch die Anfeindungen nieder—
zwingt, die ſie in ihr bürgerliches Aſul
verfolgen, das ift mit grober Kraft,
viel innerer Wärme und der ganzen
Meiſterſchaſt Häckers erzählt.
Glück und Segen.
Von Ada von Gerssorff.
An einer Reihe vorzüglich beobach—
teter und mit reizendem, feinem Humor
geſchilderter Charaktere aus ſpießbür⸗
r Kreiſen Berlin-Wilmersdorſs
zeigt hier die Verſaſſerin des berühmten
Romans „Ein ſchlechter Menſch“, wie
das „Glück“ eines großen Lotterie—
gewinſtes nicht immer auch ein „Segen“
für die Gewinner iſt. Die lebhaft be⸗
wegte Handlung verleiht dem ausge—
zeichneten Noman großen Spannungs—
re iz.
Der grüne Götze. Von F. A. Kummer.
lus dem Amerikaniſchen.
Wir glauben dafür einſtehen zu
können, daß niemand die Löſung des
in dieſer außergewöhnlich ſpannenden
Ariminalgeſchichte liegenden geheim—
nisvollen Rätſels erraten wird, ehe
er anf der letzten Seite angelangt iſt,
ſo geſchickt ſind die Fäden geſchlungen,
jo gewandt iſt der Knoten geſchürzt.
Peter Karn. Von Ernſt von Wolzogen.
2 Bände.
Mit dieſem Roman voll Heiterkeit,
Wärme und reifer Lebensweisheit hat
der Dichter ein Seitenſtück zu dem er—
folgreichſten Werke ſeines Lebens, dem
„Kraft: Mayr“, geſchaſſen. Auch im
> Karn“ werden in künſtleriſcher
Miſchung von Dichtung und Wahrheit
die tragikomiſchen Schickſale einer lie⸗
benswürdigen, echt deutſchen Muſi⸗
kantenſeele geſchildert, auch hier iſt
einem großen Meiſter, Johannes
Brahms, ein entſcheidender Einfluß
auf den inneren wie äußeren Werde—
ang des Helden eingeräumt und ein
höchſt ſeſſelnder Beitrag zur deutſchen
Muſikgeſchichte gelieſert. Zwanzig
Jahre liegen zwiſchen der Entſtehung
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Princeton University Library
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des „Kraft-Mayr“ und der des „Peter Yır-
Karn“ — doch der Humor des Sech— 967
zigers iſt, wenn auch weniger laut und (
Rh jo doch gleich männlich und MR,
lebensfroh geblieben wie der des (A
Vierzigers. Ta
Mithen, malchen und die Slasſervante. WW: |
Bon Elfe Franken. N
Eharafterifierungstalent und Schil⸗ WW;
derungstunſt der beliebten Erzählerin
erweiſen ſich in dieſen Erzäblun en >
wieder glänzend. Ob der Held der W
Geſchichte ein eigenartiger Knabe, ob (A).
er ein durch ſein Gewiſſen belaſteter NM
Mann iſt, immer ſpricht eine ſtarke „N
Logik des Herzens eine eindringliche
Sprache. Auch der Humor kommt zu 1 9
feinem Recht. 2
er
Der preſſeball.
Von Seorg Wasner. U Mm
Kaleidoſtopartig ziehen die Teils
nehmer des großen Ballfeſtes an uns
vorüber, ſcharf 5 und in bunt⸗
ſchillernben Farben. Der höchſt origi⸗ G
nelle Grundgedanke hat dem bekannten
Verfaſſer Gelegenheit gegeben, eine A
von tauſenderlei treffenden Beob-
achtungen und köſtlicher Jronie durch-
gogene Erzählung zu ihaffen, für die \Ay
5 Wort „amüſant“ einmal wirklich f
paßt. .
Aus tiefem Schacht.
Von Fedor von Zodeltitz. 2 Bände. ie
„Aus tiefem Schacht“ gehört zu der A
Serie märtiſcher Romane von Fedor (
von Zobeltitz, in denen ſeine Liebe zur 1 2
heimiſchen Scholle am reinſten und WM
beſievollſten zum Ausdruck kommt. (A
rich Schmidt nannte den Roman eine 6 *
erfreuliche „Rücktehr zu Fontane“, und Ay
in der Tat: alle, die Fontane lieben, .
werden auch dieſes Buch in ihr Herz 6. *
ſchließen. Es tft Heimatkunſt im beſten
Sinne des Worts. ee
peterſen und ihre Schweſtern.
Von Ingeborg vollquartz. —
Aus dem Däniſchen. N
ut N
e⸗ (A
einen ganz beſonderen sd in der
allein als Buch viel taufend Herzen. |
erfreut, ſondern iſt auch dramatiftert
worden und hat ſich mehrere Winter TAI
Abend für Abend vor ausverkauftem
Hauſe die Herzen erobert.
SICH LIT LI
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